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Deulſche
Roman-Zeikung.
Dreiunddreißigfler Jahrgang. 1896.
Vierter Band.
Unbefugter Nahdrud aus dem Inhalt diefer Zeitung tft unterfagt.
Berlin, 1896.
Berlag von Otto Janle.
STANFORD UNIVERSITY
LIBRARIES
Jul = w sol
STANFORD UNIVERBITY
LIBRARIES.
JUN 18 1982
lräkzicen. — Be
Schwertklingen.
73— 100;
687 — 1702;
Die neue Herrin.
99 —128.
Ohne Gott.
Inhalt des vierten Bandes,
Roman von €, Karl.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
— sl an —
Seite:
721-758; 793—828; 865—89%6.
FSortfegung und Edhluß.
Seite:
Seite: 169-200; 241-272; 311-344; 375 —4W.
433-468; 505—542; 577-616; 649-686;
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
Selte
VWetternadht. Bon Hanna Chin . .
Eine Xoilette vor adptzehnhundert Jahren. Bon
57
Adolf Kable . . —— 68, 135
Unverzagt. Bon Auguft Arauſe ee ee er OR
Die Umerllanerin in Ergland. Bon Luife
Rent . . ö 63, 131
Der wilde Rofenbufd. "Bon Gertrud Triepel 65
Verigiedened. Bon Biltor von Kohlenegg . 67
Deine Toten. Bon Agathe en 73
Randbemerlungen. Bon 3. Brebfen . . 72
Sommermärden. Bon R. von Auerdwaltt „ . 139
Im Walde. Bon 3. B. M... e . 1839
Sommertag. Bon #. Weip . FRE 130
Mittagsfrieden. Bon Anna Behniſch — 180
Sommerabend. Bon Dito — — 130
Sommei nacht. Von Felicitaß. ne 181
Wedruf. Bon Hans Biermann . 134
„Blüten im düji’cen Hof’. Bon — von
Monfterberg . . . 497
Der Dorffrtebhof. Bon 8. v. Dberbofen . eo 00. 143
Grillenliedchen. Von Helene Bernard . 201
Er ſpricht doriſch. Ein Wenrebild auß Haffifhen
Tagen. Bon Däkar Eine . . . 0. . 201
Bute NRadt. Bon Luz Scheibe . . 207
Bei Seiner Green, Bon Marie Schwarz .. 207
Es iſt ein Reif gekommen. Von 2, Ballanı „ 211
Altes Goid. Von Konrad Nieß . . 278
Die Anfänge der jüngften litterarifchen Bewegung
in Deutfhland. Bon OD von keimer . . 278
Zwei Gedichte. Bon Karl Banfeloew . . 283
Die Liebespoefle in ber alten ——— Bon
Doris kilie . . . de An gi 282
Erinnerung. Bon Klara Müller 287
Gebe . . . — . 288
Schnfuct Ben €, Theodor Shulg 315
Wann über Bord. Bon Dbmwald SeUgnE 345
Rofenlieder. Bon M. M, 350
Ihr Ideal. Eine moderne Vhegefgige vı von Georg
a, Albert — re . 850, 433
Seite
immmel und Erde. Bon OSlar Line. 355
te Kunft, zu vergefien. . . . 355
Einem Kinde. Bon WM. von Daffow — . 359
Sprüche und Splitter. Bon Eduard Echmidi 359
Gaite, Galte, laß den Streit. Von Robert
Burns, deutſch von W. — . 419
Mopi. Bon Mar Heuer . 419
Deurſch polniſch. Von G. Hermann . 433
Befänftigung. Bon Dito Doeptemeyer . 439
Aus dem Leben für daß xeben. Bon D. vd, e.
429, 644,
An der Brust be Reichfreiherin vom Stein zu
zrüdgı bei Em. Bon Wilhelm Joel . .
Aus meinen Erinnerungen. Bon Dtto von —
Maitönigd Tod. Bon Wilhelm Shoof . .
Der Zimmerberr. Bon Biltor von ——
Mein Leid. Bon Hans Biermann . . .
Tilettantiömuß. Bon M..M. ....x.
Trugbild. Bon Paul Köhler. . —
Sommernacht. Von Anna Behnifh”
Erinnerung. Bon Erid Schwarg .
Ein Fe Brief. Bon bel Wilpelm
Morgenlied. Bon Odtar Linke — EEE
Achter die Lchrerin. Bon M. Müller . . . .
In Ruhe fingen. Bon Roga . . 2. 2.2.
Aphorismen. Bon Conrad Timm . .
Die „unehrlihen? Leute = Deiielalters, Bon
A. Etanidlad. . . Sr 571,
Mädchens Klagelid . 2 >» 2 0 20 0a
Krant. Bon DM. Sommerfelb. . .
Taß goldene Sprüdlein. Von Bertrud Triepel
Die Dde. Bon Doroihee Gocbeler . . .
Eine Tragödie auß ber Großſtadt. Lebenß⸗ und
Stimmungßbilder von 3. Gebhardt 639,
Beeihovens Comoll⸗Konzeit. Von M. un ;
Welteß Blatt. Bon Hanna Ebleaı . . . a
Terfäumt. — Max Brenke...
Laß nur... Von Hans Blermanı . . :
77
487
488
492
493
501
603
504
. 659
559
566
867
569
570
708
573
633
633
703
644
703
708
710
Vaterländiider Roman von Hans Werber. Fortlegung und Schluß. Seite: 1—28;
145—168; 217—240; 289312; 361—374; 467—486; 543 —560; 615—632;
159 —174; 829-844; 895—912.
Roman von Karl Erdm. Edler. 27—58;
Geile
Bom Wege. Bon Ana Behnifd 714
Herdfilteder. Bon Dtto Kiefer . . 7175
Die liebe Bequemlichtelt. Auß dem Leben von
Martha Sommer . 778
Auf der Heide. Bon Ghr. Dieur. Oiweſen .. 780
Die villen auf Schloß Soöporg Von A. same 781
Morgenlied Bon Elifabeth Kolbe „ . . 785
Scfam. Bon A. Hindeideyn . . 845
Das freudige Teitament. Bon Karl Bıöu 86,
911
Daß Ende. Bon Glara Müller . . & 849
Allerlei zur Frauenfrage. Bon M. Müler . 849
Wiegenlied. Bon ©. X. Wenjel. . 856
Ein MRetjterwert der veroielfätigenben Kunfı
Bon OD. v 856
Das Lied vom Schmerz. von Zu, homfen . 857
Sinnfprühe. Bon 9. 9.. oe. 860
Betrachtungen. Bon €, Arneidi FE.) |
Spiitter. Von &. . 200. 861
Scmmernadt. Bon Gertrud Triepel RS 9
Stiergefeht. Bon Dom Alfredo Sad Misıno
(Deutſch von Alfr. u Oman.) 020.00. 95
A los Toros. Bon Max Xule . . 916
Nähtlihe Wanderung. Bon Tilia Suignon . . 9383
Das ift ein Iuftigeß terben . ... Bon Balentin
Traubt > a a .. 994
Sprüde, Bon Hans "Rorbet . 000. 98
Litteratur.
Der Seilterfeber. Von Baum . 0.2... 66
Deuter Slaube . . . ... 68
Berjgüttet. Dichtung von Unna Bauer 2.6
Dirt Kluin. Epiſches Sebiht von 9. Gannır . 66
Sempach. Kin Schweizer Freiheitsſlied von Guſtav
Ad, Erdmann . 66
Grethen. Ein Gang aus ben Breieitrigen
von Theodor Herold ; 66
Die Kugelfucberin. Bon Warimillan von —
ber ‘ ® “ “
Judas. on Ernji Staufen —
Ein Schlagwort der Zeit. Von Fedor von Zobeitih
Leidenſchaften. Geſchichten von Geerg Frhuvon
Ompted.. .
Reine Liebe. Geſchichten aus dem fernen Oſten
von C. Eſchrichtt... 0 een
Berliner Hoͤllenfahrt Ernſtes und Heiteres auß
der ReichsShauptſtadt von Rudol ——
Sein AH. Bon Emil Roland . . R
Reindeit Novelle von Wilhelm ven Fo’ enz
Penſion Fratelli. Von Felix Holläuder...
Um das Weib, Bon Hand Land
Aus den erften Univerfitättjahren. Bon vu
Nanfen. .
Diffonanzen. Von George Egerten. "Deut von
Dora Lande .„ .
Sibila Dalmar, Roman aus dem” Ende dieſes
Jahrhunderis. Von Hedwig Dohm ..
Das Hungerlos Eine tragitomiſche ——— ven
9.8. Schuhmader .
Volniſche Wirtſchaft. Von Ottat Höder . —
Die Pflicht des Starken. Von Rudolf side
Lebensrärfel. Von E. Qunder (Elfe Schmieden)
Der Fels von Erz. — — Roman von
ECmil Brachvogel ..
rauenehre. Von Marie Eiabl . —
ie Freierſsfahrten und Freierämelnungen des
weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer.
Herausgegeben von Otto Julius Bierbaum
Rezepte. Satiren von Guſt Schwartzkopf.
Ermft Wigert8 „Sefammelte Verle . . . .
Das Magdalenenhaar Bon Jcan Rameau .
„Selbfigereht?. Bon Kriedrihd Eptelhagen
Roman: Studien. Von Jerome 8. Rerome . .
Augendftürme. Bon Kart Bulle. . 2.2.
Wären. Bon 5 Hermanı . .
Anna Dtarie. Gin Berliner sn "von Ludwig
Zacobomßli . .
en Novellen. und Skigzen von
Onkel Johns Prinzipien. "Bon Johanna zeümann
Die Madonna von Swidlowice, Bilder und
Skizzen von Tarraß Kunowsti..
Rabubu Altägyptiſcher Original « Roman "in
deutfhher Bearkteitung von Leon Ritter .
Die Elfäfjertn. Das Gonntagekind. Zwei Nos
vellen von Kurl Etord . —
Seite
138
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Meyers Konverſationblexikn..
Napoleon J. von Armaud Daythtt . 2...
Das Waltharilied. Ein Heldenſang aus dem 10.
Jahrhundert im Versmaße der Urſchrift
überfegt von Bref. Dr. Hermann Althef .
Das deutjhe Drama in ben litterarifchen Bes
mwegungen der Gegenwart, — von
Berthold Litzmann. ODritte Aufl...
Robert Kurns Lieder und Balladen .
Sonja et au von Gparlotie
Leffler. — —
Edgar Allan Poes Erzahlu
— von
überſetzt von Johannes Hoogs..
Kunfizgefibichte de Altertumß und beß Mittelalters
von Brof. Dr. Dar Sg. Zimmermann . .
Wir Gebildeten. Nachdenkfame BEIDEN. Ben
Hans Shlicepmann . . . 5
Dulcamara. Von Paul Gerin
Dram atiſche Handwerkslehre. Von Avonianus
Die ſieben Schwaben und ihr hervorragendſter
Hiſtoriograph Ludwig Auerbacher. Von Max
Radlkofer ..
Der Wandel deuiſchen Gefuͤhlalebens. Bon Dr.
Georg Steinh’uferr . . Be
Tom beutfihen Handwerk und feiner Boefie. Bon
Theodor Ebner . .
Die fibyNinifchen Bücher in Rom. Bon Dr. Rarl
Schul . .
Bertha von Wiarenpolg-Bülom. Bon Henriette
Solbihmidt . .
Die Bildung deß Harzgebir tged Bon Dite Lang
Soldatenlieder auß Dem deutich: franzdjischen Kriege
1870/71. Bon Martin Wagner ;
Miltons Jugendjahre und Jugendwerke. Bon
Prof. Immanuel Schmidt .
Drei Eſſays. Von Ralph Walbo Enerfon.
Teutih von Thora Weigdand . .
Aus meined Yebend Vai. Bon X. Behmaun.
Bedite und Erzählungen . 5
Xiebeßnonne. Lieder von E. Kling . .
Natur und Welt Bon Julius Gersdoiff
Lautenfpieler8 Lieder. Bon bemifelben . . . .
Eliana. Cine Symphonie von demfelben . .
Träumen. Berichte von Abolf Holt . . . .
Nach ſieben Jahrzehnten Won Karl Stelter. .
Aus Habdlaub8 Heim. Gedichte von Zrip Rohrer
Valaden und postifche Erzählungen ve drang
Dittmatt . . 2 2 08 0 08a
n :
gen Harte, . Kell,
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Hiltorien. Bon Garl Pol. . ;
Dentfhe Dichtungen von Aleſſandro Strabelli .
Aungbeutjche Lieber. Bon Friedrich ne .
Zeitfonette. Bon Tb Wiaurerr . i
Rügelieder. Bon Wilhelm Welgand .
Morgenfilmmen und andere. Bon Mar Hoffmann
Schmetterlinge. Gebichte von Earl von Amswaltt
und Albrecht Mendelsfohn-Bartboliy . .
Böttinger Viufen- Almanach für 1896 . .
Aus Tag und Traum. Gedidte ven n Submig
ZJucobomild . . 2 2 02. Pag
Vermißſchtes.
Noch ein engliſches Urteil über das ur Heer
Bom Älteften Maß und Gewiht.. . ei
Adalbert Stifter-Dentmal in Binz x .
Schrepenbauer . . » 2 2 0 6
Der heilige Niemınd ; W
Der derühmte „olle Irieche“ Bultmann 4
Fine befannte Borfänpferin . . ———
In einem Dotfe bei Schwedt a. O....
Kigenmädtige Zul. - 2 4
Kardinal Nikolaud von Eufa .
Soeben hat der allgemeine deutſche Spracverein
Profeffor Unger . . ae
Eineß Xaged wurde baß Ergdentmat' —J
Der König Friedrich Wilhelm J......
Charles Gravier .
Die zerrifiene Shleppe - - 2 2 2 2 2 0.
Unter Pennalisms . . u a ar Be
In Wiener Stubententreifen ä
Bon Mommjenß Zerftreutheit
Zemand befuchte fürzlich bie Beiiminfierabtel
Eine Zueiguung . Pe
Die velfenben Sandwertiburigen —
Brieffaften.
Seite: 141, 215, 618, 792, 861, 925.
Seite
787
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859%
859
„24
934
924
924
— — — — —— — —— — — —
— — a —
Deutſche
—1896.
Roman-Zeitfung.
Erfcheint wöchentlih zum Preife von 34 #4 vierteljährlid. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
ämter nehmen dafür Beitellungen an. Durd alle Budhhandlungen aud) in Monatsheften zu N. 4)
beziehen. Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober. = —
Schwertklingen.
Baterländifcher Roman
von
Bans Werder.
(Fortfegung.)
Die Königin wollte etwas ermwidern, lebhaft —
und zweifellos zuftimmend, doch hielt fie inne und
blidte erwartungsvol auf die Thüre, weldher von
außen ber ein mwohlbelannter Schritt fi) genäbhert.
Der König trat herein. Er flußte leicht bei
den unerwarteten Anblid des Prinzen. eben
anderen lieber, als gerade diefen Saufewind mit
dem Teuerherzen hätte er bei feiner Gemahlin an-
treffen mögen, der er für fein unentichloffenes Jagen
Sympathie einzuflößen gehofft.
„Euer Liebden haben es eilig gehabt,” begann
der König zögernd. „Sa, befinden uns in einer
traurigen Situation! Werden mich gewiß barin
verfteen! Ganz unerhörter Tyrevel! Wölter- und
Fürftenrechte verlegt! Und doh nah Lage ber
Dinge unmöglich, Konful zur Recdhenichaft zu ziehen,
wie biernad) verdient!”
Prinz Louis ftand frei und ftolz, do mit dem
Ausdrud der Ehrerbietung feinem Könige gegenüber.
„Da jei Gott vor,” fagte er mit von tiefer Be:
wegung durchbebter Stimme, „daß Eure Majeftät
aud jeßt nody in der Lage fein follten, biefen Frevel
ungeräht hinnehmen zu müflen! Wellen bedarf es
denn weiter? Die Armee fteht Ichlaggerüftet da,
ein Heer von Führern wartet nur mit Ungebuld
auf den Befehl, fie dem Feinde entgegen zu führen!
Der Moment ift gelommen, Majeftät! Erklären Sie
den Krieg! Ach Iprehe im Namen des ganzen
Heeres! Es ift niemand unter uns, ber fidy nicht
danad) jehnte, Blut und Leben freudig für unferen
König und des Baterlandes Ehre dahinzugeben!”
Eine tiefe Erregung arbeitete in den ftillen,
edlen Zügen des Könige. War das nicht bes Ver:
fuhers Stimme?! War es nicht heiße Verjuchung
für das Hobenzollernberz, aufzufahren wie ein Adler
und mit einem Wurf das Joch der Demütigungen
abzujhütteln? Doch nein, die Anmwanblung ging.
Nomansfeltung 1896. Lie. 40
vorüber, eine Schwäche! Die Pflicht ftand eijern
vor ihm ba.
„Smmer das alte Lied!” rief er mit abweilen:
ber SHandbewegung. „Kennen wir bereits! Will
Shre gute Gefinnung nicht unterfhägen, Couſin
Louis, darf fie aber nicht zu der meinigen maden!
Bin froh, daß Ste unfer Land nit zu regieren
haben! — Halte Liebe zum Frieden für Landesvater
wichtiger, al® Vergnügen am Xosichlagen bei jeder
Heinen Widerwärtigleit! — Andere Mächte audy alle
fehr erregt, natürlih, doh für uns momentan
nirgends ficherer Bundesgenofle!”
Heldenmütig bezwang Prinz Louis die in ihm
aufihäumende Empfindung. Nur feine feinen Nafen-
flügel bebten wie die Nüftern eines edlen Streit:
rofjes, das warten muß, und fih bezwingen, und
gehorchen.
„Majeftät — aus Liebe zum Frieden nimmt
Preußen gegen alle Mächte eine friedliche Stellung
an unb wird in berfelben einmal von einer Macht
Ihonungslos überrafht werden, wenn diejer ber
Krieg gerade recht ift! Dann fallen wir — ohne
Hilfe! Und vielleiht au gar noch ohne Ehre!” *)
Wie von peinlihder Empfindung berührt, trat
König Friedrih Wilhelm einen Schritt zurüd. Es
war noch gar nicht lange ber, als er den Prinzen
um biejer felben Reben willen für längere Zeit von
feinem Angefiht und aus Berlin verbannt hatte.
Doh heute war es ihm nicht möglich, in gleicher
Weile dem feurig Erregten mit Zorn und Strafen
entgegenzutreten. Bu tief fühlte er im Grunde
feines Herzens, daß Wahrheit in den Worten bes
Prinzen lag. Zu Kar flammten ihm die jelbftlojen,
bodpherzigen Gefühle, der Ausbrud einer reinen
Helvenjeele aus den Augen besielben entgegen.
Hatte nicht Königin Luife vorhin ähnlich fo zu ihm
*) Des Prinzen eigene Worte.
3 Schwertllingen.
geiproden? Ob fie nicht doch vielleicht beide recht
hatten? D, wer das willen könnte! Mer doch der
Nichtigkeit feiner Entjchließungen gewiß fein durfte,
ohne fich niedergedrüdt zu fühlen von der Kalt
übermenfchliher Verantwortung! — Einen jchmweren
Seufzer erpreßte dem jorgengequälten Monarchen
diefe Gedantlenfolge.
„Sind Anfihten!” fagte er beflommen. „Wollen
uns heute nicht darüber ftreiten, können ein ander:
mal darauf zurüdftommen! Bin jegt wichtiger be:
Ihäftigt!" Ein kühler Abjchiedegruß mit der Hand
und der König verließ das Gemad).
Des Prinzen Blide folgten ihm flumm. Ale
die Thür fich geichloffen, wanderten fie zur Königin
zurüd. Schweigend hatte fie der kurzen Unterredung
zugehört, Ichweigend ftand fie da, die herabhängen:
den Hände leicht gefaltet, einen tiefbewegten Ausdrud
auf dem wunderijhönen Antlig.
„Habe ich wieder einmal das Unglüd gehabt,
meinen föniglichen Gebieter zu verlegen?” fragte
Prinz Louis mit gepreßter Stimme.
„Rein, ich denke, er hat Sie verftanden!” ent:
gegnete die Königin feft und blidte zu ihm auf, die
großen, feelenvollen Augen von einem Glanze heiligen
Ernftes erfült. „DO, Vetter Louis, verfennen Sie
ihn nit! Halten Sie e8 nicht für zaghafte Schwäche,
was doc nur die übergroße Mäßigung unendlicher
Pflichttreue ift! Unterihägen Sie nit den un:
geheuren Drud der Verantwortung, der auf eines
Könige Herzen laftet! Sein Gemillen, fein Bolt,
die Gelhichte fordern NRechenichaft von ihn für jede
feiner Thaten. ft es da zu tadeln, wenn er fie
wägt und zaudert,. und darüber fich’s verjagt, als
ein Seld zu erjcheinen!“
„Wie aber, wenn Volk und Geichichte bered):
tigt find, ben Helden in ihm zu fordern?” jchaltete
er ein.
Ein ftolzger Zug ging über der Königin Gelidht.
„Bott lalje uns bald den Tag erleben, da wir den
Helden in ihm mwiedererlennen bürfen, und ftolz auf
ihn jein! — Und wenn der Tag lommt, Wetter,
dann werden Sie dem König zur Seite ftehen? Sie
find ein Hohenzoller wie er! Sie werden ihn ver:
jtehen, zu ihm halten, audy wenn alles ihn verließe!
35h glaube mid darin nicht zu täufhen! Wenn
es auch anderen jcheinen will, als irrten Ihre Wege
gar oft von den unfrigen ab — mein Vertrauen zu
Ihnen iſt unerſchüttert!“
Das ſtolz getragene Haupt des Prinzen neigte
ſich tief. Unwillkürlich faßte ſeine Hand zum Herzen.
„Majeſtät, wenn Sie an mich glauben, was ficht es
mich an, ob die ganze übrige Welt mich verleugnet
und verleumdet! Dann halte ich mich der höchſten
und heiligſten Aufgaben für wert!“
„Ja, mein Couſin, ich glaube an Sie,“ ent—
gegnete die Königin. „Ich glaube feſt an die Auf—
richtigkeit Ihrer Geſinnungen! Auch an Ihre un—⸗
getrübte, ehrliche Freundſchaft für mich! Und habe
auch dann nicht an ihr gezweifelt, als man ſie mir
zu verleumden verſucht hat!“
Der Prinz hob raſch den Kopf und blickte ſie
forſchend an. Er verſtand ſie. Zwei Jahre war es
Roman von Hans Werder. 4
her, als an ſeiner eigenen Tafel von übermütigen
Zechgenoſſen ſeine anbetende Begeiſterung für die
königliche Frau in ein zweifelhaftes Licht gezogen
und zum Gegenſtand der Spötterei gemacht worden
war. In aufflammendem Zorn, wie ihn nur ſelten
jemand an ihm geſehen, hatte er die Frevler zum
Schweigen verwieſen, von Stund' an den Verkehr
mit ihnen abgebrochen. Der Vorgang aber war
dadurch bekannt geworden und hatte Aufſehen erregt.
In böswilliger Entſtellung, ja in ſein Gegenteil ver—
kehrt, war er auch zu den Ohren des Königs ge—
drungen und hatte dieſen tief und nachhaltig gegen
den Prinzen erzürnt. So hatte auch die Königin
davon erfahren. Und das wußte er. Doch niemand
konnte ihm ſagen, ob ſie's geglaubt, und ob auch ſie
bereit geweſen, das reinſte und edelſte Empfinden
ſeines Herzens für Lüge und Gemeinheit zu halten.
Was er gelitten unter dieſem Zweifel, unter der Un—
möglichkeit, ſich zu reinigen von dem unwürdigen
Verdacht, das konnten nur die wenigen ermeſſen, die
ihn kannten in der glühenden Leidensfähigkeit ſeines
Herzens. Sie aber, die Kluge, die feinfühligſte aller
Frauen, ſie hatte ihn verſtanden, lange ſchon. Und
bei der eiſten Gelegenheit, die ſich ihr bot, löſte ſie
mit linder Hand dieſen Stachel aus ſeiner Bruſt.
Prinz Louis ſank auf ein Knie vor ihr nieder
und berührte den Saum ihres weißen Gewandes
mit ſeinen Lippen. „Meine Königin — Dank habe
ich nicht — Anbetung bis in den Tod!“
Königin Luiſe ließ ihn gewähren. Sie kannte
ihn, ſeinen heißen Ungeſtüm und den edlen Kern
ſeiner Seele! Sie wußte, daß Liebe und Vertrauen
ihn emporzuziehen vermochten, über ſich ſelber hinaus
— das Gegenteil aber ihm nur Schaden zufügte.
Mit all der holden Anmut, welche ihre Freundlichkeit
beſaß, blickte ſie ihn an, als er ſich langſam wieder
erhob. „Alſo, mein Vetter, wir ſchließen einen Bund
miteinander?“ Er bejahte mit ſeinem ſtummen Blick.
— „Wenn endlich die erſehnte Stunde kommen wird,
wenn das Vaterland Sie ruft zu ſeinem Schutze,
dann ſtehen Sie zu uns!“
„Bis zum letzten Blutstropfen! So wahr ich
ein Hohenzoller bin!“ Mit feſtem Druck hielt er
die dargereichte Hand der Königin, neigte ſich tief
darüber und küßte ſie.
Dann entließ ſie ihn. —
Weiter rollten die Schickſalswürfel. Der Frevel
von Vincennes blieb ungeahndet. Napoleon Bona—
partes Macht und Übermut kannte keine Grenzen
und wuchs empor wie eine Palme, die mit ihrer
Krone zum Himmelsdom hinauf begehrt, und Europa
Ihaute, vom falihen Xicht geblendet, ehrfurdtspoll
und ftaunend zu. Wenige Monate jchon nach diejem
legten Verbreden — es war im Mai 1804 — ließ
er fi zum Kaifer der Franzoſen ausrufen und jeßte
mit eigener Hand die Krone auf jein und feiner
Gemahlin Haupt.
Die europäilchen Höfe ermangelten nicht, den
neuen Kaijer in jeiner Würde anzuerlennen und
bradten ihm demütig ihre Glüdmüniche dar.
— — — —
VIII.
Der alte Diener mit weißgepuderter Perücke
und Schnallenſchuhen öffnete weit die Thür zu dem
Wohngemach des Oberſtlieutenant von Veldegg in der
Wilhelmſtraße. „Herr von Rochlitz!“ meldete er
dabei in feierlichem Tone.
„Sehr angenehm!“ lautete der Beſcheid, den
die ſchöne, blonde Julie in ihrer Würde als Wirtin
und Tochter des Hauſes darauf erteilte. Sie lehnte
behaglich in den Kiſſen des Kanapees und ſonnte
ſich in der Glut der Bewunderung, welche ihr ge:
zollt ward. Ein junger Künſtler ſaß ihr gegenüber,
blaß und blond, mit ſchmalen Schultern und dürftiger
Kleidung, und verſchlang ſie mit den Blicken.
Sie ſchaute erwartungsvoll auf die Thür. Herr
von Rochlitz, das konnte doch nur der elegante Hil—
mar vom Regiment Gendarmes ſein!
Doch nein, es erſchien ein Huſar in dunkel—
rotem Dolman, ſchlank, and elaftiid — mit dicht
Iprofjendem rötlihem Schnurrbart und dunklen Augen.
„Hallo!“ rief Julie und lachte, denn fein Anblid ver:
gegenmärtigte ihr fogleih mand fröhlihen Moment,
ben jein eigenartiger Humor ihr bereitet.
„unter Haflo!” rief zugleih der Künjtler und
Iprang von feinem Stuhle auf in unverfennbar
freudigem Schreck. Und —
„Haſſo!“ rief Renate jubelnd. Sie hatte, in
ein Buch vertieft, in einer Ecke des Zimmers ge—
ſeſſen. Das Buch flog zur Erde und ſie eilte ihm
entgegen. „Haſſo, Sie ſind Lieutenant geworden!“
Mit dieſem einen Blick hatte ſie die Abzeichen der
neuen Würde an ſeiner Uniform erkannt.
„Ja — und zur Schwadron des Rittmeiſters
von Zieten nach Berlin verſetzt!“ erwiderte er und
grenzenloſe Freude klang aus ſeiner Stimme.
„Das iſt ja herrlich! Sie verdanken es gewiß
Ihrem hohen Gönner und Jagdgenoſſen — ſonſt
hätte Lichnowsky Sie nicht fortgelaſſen!“ meinte
Renate mit wichtiger Miene. Sie war jetzt fünfzehn
Jahre alt und fühlte ſich vollberechtigt, zuweilen mit—
zuſprechen.
„Ich glaube, er war recht froh, mich los zu
werden,“ erwiderte Haſſo leichthin. „Aber daß ich
überhaupt jetzt ſchon Offizier geworden, iſt freilich
zu verwundern!“
Renate fand das gar nicht. Ihre Freude war
groß, alle Welt ſollte daran teilnehmen und ſo eilte
ſie hinaus, den Vater herbeizuholen.
„Ludwig Zürn — was tauſend, Dich gerade
treff' ich hier?“ rief Haſſo indeſſen, den jungen
Muſiker bei den Schultern faſſend und im Kreiſe
herumdrehend. Er war der Sohn des Reckentiner
Pfarrers, um deswillen der alte Herr ſich für Haſſos
Fortgang aus dem Elternhauſe hatte gewinnen laſſen.
„Brechen Sie ihn nicht entzwei, Haſſo!“ mahnte
Julie. „Aus ſo ſolidem Stoff wie Sie iſt er nicht
gefertigt! Sie verſtehen noch nicht mit der Kunſt
umzugehen. Jetzt aber, wenn Sie wünſchen in dem
Freundeskreis des Prinzen acceptiert zu werben,
müſſen Sie das lernen!“
5 Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 6
„Nun, gnädiges Fräulein, von Marzipan iſt er
doch auch nicht gerade, und von Glas ebenſowenig!
Wenn Sie mir Unterricht geben, lerne ich's vielleicht
bald. — Oder biſt Du von Marzipan, Ludwig, holder
Engel, ſo komm und ſchmilz an meinem Herzen!“
„Wenn auch nicht gerade von Marzipan,” er:
widerte der Künftler mit janftem Lächeln, „jo bin
ih doch bereit, an Deinem Herzen zu jchmelzen,
Sunler Hajo, und zwar aus lauter Dankbarkeit.
Durh Deine Empfehlung bin ih in diefes Haus
gelommen — und no nicht einmal hinaus:
geworfen!”
„Rührende Seele! Es freut mich übrigens,
wenn ich mich mit meiner Empfehlung nicht blamiert
habe!” gab Haflo zurüd und ber Ausdrud warmer
Herzensgüte, der aus feinen Augen ftrahlte, fland
wie jo oft im Wider|prud) mit dem übermütigen Ton
feiner Worte.
Renate Tam jet zurüd in Begleitung ihres
Baters, der den Hufarenlieutenant beglüdwünjchte.
Hallo verlebte mit ihnen den Abend wie in trautem
Familienkreile und als ein befonders belebendes Mit:
glied desjelben.
Sehr oft Fehrten diejfe Abende wieder. Haſſo,
der nie dad Gefühl wirklicher Heimat gelannt, fand
bier einen Erjag für diefen Mangel. Die Kleine
Renate ftrahlte vor Freude, wenn er fam. Sie
fannte nichts Schöneres, ale die Plauderftunden
mit ihm, als die Streihe und Schwänte, die er mit
feinem Humor und Nahahmungstalent erzählte. Be:
jonders feine Soldatengejhichten feflelten fie. Denn
das Militär, die preußilche Armee, die patriotilche
Begeifterung jpielten die Hauptrolle in dem Gedanten-
leben bes kleinen Mädchens. Seit nun Haflo in
ihrer Seele den Franzofenhaß nährte, den Wunjd
des Krieges, der Unterbrüdung des übermütigen
Feindes, gemwöhnte fie fih zu Mademoijelles Ber-
zweiflung fogar das Franzöfiihiprehen ab. Diele
geplagte Dame fuhr deshalb fort in ihrem Grol
gegen Haflo, jo wie einft Mamjell Chriftiane in
Nedentin, und Lottes Kate auf dem alten Hofe.
Es war fchade, daß er fih fo oft unbeliebt machte,
wie Renate mit Bedauern feitftellen mußte. —
Ludwig Zürn war viel im Veldeggihen Haufe.
Er unterrichtete beide Töchter, Renate im Klavier:,
Sulie im Guitarrefpiel und dieler Elagte er in den
Saiten des zarten Sinftruments jeines Herzens Sehnen
und Verlangen. Die jchöne Yulie ließ fich’S gern
gefallen, obgleih ihr Jnterefie gefellelt war durch
die Huldigungen des eleganten Paul von Gonreuth,
des Erben von Tiefenfee, in der Nahbarichaft von
Benzlom. Er ftand in Botsdam beim Regiment des
Königs, und fie jah ihn oft in ihrem Baterhaufe,
traf ihn in jeder Gejellihaft. Es waren jehr be-
Ninmte Träume und Wünfche, welche fie an diejen
Verkehr Enüpfte, daneben aber bereitete ihr die An-
betung des empfindfamen SKünftlers ein gemilles
Ihmeichelndes Behagen. Sie hatte das ftolze Bes
mwußtjein, ihn durch ihre PBroteftion zu fördern und,
einer Göttin gleich, ihre Jhügenden Flügel über ihm
ausgebreitet zu halten. -
Sebt jollte ihrer Anficht nah Ludwig Zürn ein
7 Schwertklingen
. Roman von Hans Werber. 8
Konzert geben, um in der Gejellihaft befannt zu
werden und Schüler für feinen vortrefflichen Unter:
riht zu gewinnen. Zur Ausführung ihrer Abfichten
hielt fie e8 notwendig, das nterelle des Prinzen
Louis für ihren Schügling zu erweden. Die Auf:
gabe war nicht leicht, aber wenn einer fie auszu-
führen vermodte, jo war dies Hallo mit feiner ge:
wandten Entichlojlenheit. Er übernahm bereitwilligft
diefe Ehrenpfliht und ging alabalb mit Seuereifer
an feinen Plan. Zunächft machte er Bejuch bei Frau
von Srayen, in deren Hauje der Prinz intim ver:
fehrte. Dann führte er Ludwig Zürn bei ihr ein,
und gewann die kunftliebende Frau für fein nterefie.
Sie erllärte fich bereit, ein gemütliches Zufammen:
fein mit dem Prinzen herbeizuführen, zu welchem je:
bob auch Veldeggs berangezogen werben jollten.
Auf das Erjheinen der Kleinen Renate legte fie be:
fonderen Wert. Der Prinz fand zuweilen Gefallen
daran, fih von freimütiger Kinderart überrajchen zu
lafien, darum follte Renate als Fürjprecherin ihres
Mufillehrers bier, wie Hallo fi ausbrüdte, ins Ge:
fecht geführt werben.
Der verabredete Abend war gefommen. Prinz
Louis hatte jein Erjcheinen angemeldet, um, wie fo
häufig, feinen engeren $reundesfreis in Frau von
Srayens Haufe beifammen zu finden.
Sn großer Aufregung, mit Elopfendem Herzen,
trat Renate in ihres Vaters und Schweiter Yulies
Begleitung in die ihr jo fremde Gejellichaft.. Tröft-
lih erjchien es ihr, als fie darunter das liebe Antlig
ihres Freundes Hallo erfannte, ber fie mit einem
ftrahlenden Blid des Einverftändnifjes begrüßte.
Das noh völlig Eindlide, fünfzehnjährige
Mädden, Ichlank und zierlich in ihrem Ihmudlojen
Ichneeweißen Kleide, bildete eine durchaus eigenartige
Erſcheinung. Mit den großen, fragenden Augen in
dem feinen Kindergeficht glich fie eher einer Elfe als
einem wirklichen Menſchenkinde. Lebhaft empfand
Frau von Crayen dieſen fremdartigen Reiz. Sie
zog Renates Arm durch den ihren und führte ſie
freundlich umher, hie und da eine Bekanntſchaft für
ihren jungen Gaſt vermittelnd.
„Sehen Sie nur, gnädige Frau, wer iſt dieſe
zarte Erſcheinung dort, mit den großen, dunklen
Augen?“ flüſterte Renate.
„Die kennen Sie nicht, liebes Kind? Das iſt
ja die Rahel Levin! Ich will Sie präſentieren,
wenn es Ihnen Freude macht!“
Mit forſchendem Blick muſterten die klugen
Augen der Jüdin das unreife Kind. „Lilienknoſpe!“
ſagte ſie und ſtreckte ihr die Hand hin. „Sie kommen
ſo freudig auf mich zu, mein junges Fräulein, als
hätten Sie mir etwas Beſonderes zu ſagen! Darf
ich's nicht hören?“
„Nichts Beſonderes, Mademoiſelle! Ich freue
mich ſo ſehr, Sie kennen zu lernen!“
„Eh bien! So reine helle Freude, wie ſie in
Ihren Augen geſchrieben, die erſcheint mir dennoch
als etwas Bejonderes. Und woraus entipringt fie?
Warum freut es Sie, mich fennen zu lernen?“
„Mein guter Freund, Herr von Rodlik, Hat
mir von Shnen erzählt, Mademoijelle!“
„Rohlig? Der Gendarmes:Lieutenant oder
der flotte Hular dort, mit dem unternehmenden Ge:
ficht und den melandholifhen Augen?”
„Ja, dieſer!“
„O, der gefällt mir außerordentlich. Schon
weil er Ihr Freund iſt, meine Kleine! Wollen Sie
ſich nicht zu mir ſetzen und ein wenig mit mir
plaudern, Fräulein von Veldegg? Sie müſſen mir
noch Näheres von ihm erzählen!“
Sie hatte wohl das Recht, ſolch eine Erlaubnis
als Gunſt zu erteilen, denn die auserleſenſten
Menſchen drängten ſich nach derſelben. Selbſt wer
den Vollwert ihrer Perſönlichkeit nicht zu ſchätzen
verſtand, beachtete ſie doch, ſchon wegen ihres eigen⸗
artigen Freundſchaftsverhältniſſes mit dem Prinzen.
So kam ſie mit den verſchiedenſten Menſchen in Be:
rührung und hatte ſich gewöhnt, ſie nach ihrem per—⸗
ſönlichen Werte, nicht nach Rang und Stellung ab⸗
zuwägen. Auch in ihrem erlauchten Freunde liebte
und bewunderte ſie einzig den Menſchen, der ihr
groß und herrlich und liebenswert in ihm entgegen⸗
trat. Daß er nebenbei noch königlicher Prinz von
Preußen war, intereſſierte ſie nur inſofern, als eben
dieſer Begriff an ſich von ſeiner Perſönlichkeit un⸗
trennbar war. Und ſie wußte, daß auch er ſie nicht
hätte höher ftellen, fie nicht mit anderen Augen an:
ſchauen Tünnen, wenn fie eine Fürftin gemwelen wäre.
Der eigentümliche Reiz diefer berühmten Kleinen
Verfon, der geiftvolle Ausdrud ihres Gefichts, ihrer
anmutigen Sprecdhweile, umfing au Nenate mit
dem oft bewährten Zauber.
Plöglid verftummte die Unterhaltung in dem
ganzen Kreile. Die Herren erhoben fih. Nabel
Ihaute auf und ein Strahl der Freude leuchtete aus
ihren jchwarzen Augen.
Ein neuer Anfümmling.
Renate beftete einen großen, durchdringenden
Blid auf ihn. Ein General, jo jugendli noch, jo
ihön und jchlant! Das mußte er fein — Prinz
Zudmwig, der Held! Er trug den blauen Gefellichafts-
tod jeines Magdeburger Regiments, mit weißen
Beinkleidern und Hohen fchwarzen Laditiefeln, in
der Hand den großen Seneralshut, den er zumeilen
beim Spredhen wie einen Fächer hin und her bewegte,
als er die Anmwejenden begrüßte und bie und da ein
kurzes Gelpräh anfnüpfte. Sett drang jeine Stimme
an ihr Ohr, tiefer, weicher, muſikaliſcher Wohllaut,
und jein Lachen. Lebhaft mechielte während der
Nede der Ausdrud feiner Augen, getreuer Spiegel
feiner Seele, in der es brandende Hodflut und zu
Zeiten verfiegende Ebbe gab. Enblih trat er auf
Rahel zu.
„Rahel, warum find Sie geftern abend nicht
gelommen?” Ein Vorwurf in liebenswürdigiter Be-
deutung jprah aus dem Tone. Nabel legte ihre
fleine feite Hand in jeine dargereichte Rechte.
„Mein gnädigfter Prinz, ich ließ Ihnen durch
Affefor Vetter jagen, warum ich nicht fäme. Wollen
Sie meine angegebenen Gründe nicht gelten laflen,
oder verlangen Sie, daß ich fie Hinter Entjchulbi:
gungen verbarriladiere?”
„Entihuldigungen, nein, was jollte e8 mir wohl
EEE g
9 Schwertklingen.
helfen, wenn ich die von Rahel verlangte!“ lachte
der Prinz. „Entſchädigung fordere ich, nichts weiter!
Sie ſollen ein andermal kommen. Morgen, über:
morgen, wann Ihre unerbittlichen Gründe es ge—
ſtatten! Wann wird es ſein, Kleine?“ Er hielt
ihre Hand noch und drückte ſie feſter, wie mit un—⸗
geduldiger Mahnung.
„Ich kann es heute noch nicht beſtimmen, König—
liche Hoheit! Sonſt wiſſen Sie ja, wie gern ich
dieſe liebenswürdigen Anſprüche erfülle!“
„Gut, ſo komme ich morgen und hole mir Be—
ſcheid. Aber ich flörte hier ein töte-a-tete. Wollen
Sie mich gütigft präfentieren, WMademoijelle!" Ein
Blid des feinen Frauenftenners mufterte dabei die
zarte Mädchengeftalt mit prüfendem MWohlgefallen.
Renate machte den allertiefften Knide, defjen fie
ih von der Tanzftunde her erinnerte.
„sräulein von Veldegg ift heute nur bier, um
Eure Königliche Hoheit zu jehen und zu jprechen!“
fagte Rahel. „Sie hat Shnen eine Bilte vorzu:
tragen.“
„Mir, eine Bitte? OD, Mademoifelle!” Er jchob
ihr einen Stuhl hin, in den fie fih folgfam nieder:
ließ, und feßte fih zu ihr. Eine Freundlichkeit und
Güte jpra aus dem Blid, nit dem er fie ermartungs:
voll anjchaute, eine Anmut aus jeinem ganzen Welen,
die ihr jede Scheu benahm. “eile und beicheiden
trug fie ihm ihr Anliegen vor. Er follte fi für
ein Konzert ihres Mufillehrers interejfieren und dem:
jelben dadurch zu Glanz verhelfen.
Prinz Louis jah nachdenklih aus. „Wollen Sie
mir zunähft den Künjtler zeigen. ch zmweifle nicht,
daß er Ihre Teilnahme verdient. Aber es ift mit
der Kunft eine eigene Sade! Ehe ih einen ihrer
Sünger fördern belfe, muß ich mich jelbit überzeugt
baben, ob er deilen würdig ſei!“
„Er ift hier, darf ich ihn rufen?” Auf ihren
Wink holte Haflo, der in der Nähe geitanden, feinen
Shüpling herbei.
„Halo, Sie aud bier? MWeidmanns Heil!“
rief Prinz Louis. „Wie geht es unjerm Penzlomwer
Sagdfreund, was machen die Hirihe? Sch denke,
nähften Sommer pirjhen wir wieder zujammen.
Vielleiht auch einmal bei mir, in Schride! — Doc
wen bringen Sie mir bier?
„Sie dienen derjelben Kunft, die auch ich als
meine Herrin betrachte!” redete Prinz Louis den
Mufiler freundlich an.
„a, Königliche Hoheit, aber ich diene ihr nur
unvollommen!” ermwiderte diefer mit etwas mühlam
erzwungenem Freimut. „Mein Freund bier verfichert
mich oft, daß es nur einen wahren Künftler auf dem
Fortepiano gäbe und da er das Glüd gehabt, diefen
bören zu dürfen, meine Eljays ihn forthin nicht mehr
tontentieren könnten!”
Der Prinz ftreifte Haflo mit einem lächelnden
Blid. „Ich bin überzeugt, daß Herr von Rodlik
über meine weidmännijchen Leiltungen mit abjoluter
Sadılenntnis zu urteilen verliebt. Wo es fi aber
um Fragen der Kunft handelt, da lafien Sie fidh
durch jeine Meinung nicht einfhüchtern, wenn ich
Shen raten darf, Monfteur Zürn! Wollen Sie
Nomen von Hans Werder. 10
mir aber,“ fuhr er fort, „einen Einblid geltatten,
jo haben Sie die Güte! Der Flügel der Frau von
Crayen ift vorzüglich, ich Tenne ihn gut!”
Ludwig Zürn nahm an dem Flügel Pla und
ipielte Beeihovens E-Dur-Sonate. Die zumeift aus
Kunſtfreunden beſtehende Geſellſchaft ſaß aufmerkſam
lauſchend umher. Prinz Louis ruhte in einem tiefen
Seſſel, den Kopf leicht geſenkt, die Augen mit dem
Ausdruck tiefſten Zuhörens auf den Muſiker geheftet.
Er las gleichſam von der blaſſen Stirn desſelben den
Gang der arbeitenden Phantaſie, die das Spiel der
Hände leitete. Als die Sonate geendet, blickte der
Künſtler auf, befangen, ungewiß und ſtrich ſich mit
nervöſer Hand über das lange, ſchlichte Haar.
„Ihre Muſik intereſſiert mich ungemein, Herr
Zürn!“ ſagte endlich der Prinz. „Sie klingt mir
ſo, als hätten Sie viel der Sachen von Johann Se—
baſtian Bach geſpielt, ſo geſchult und korrekt!“
Ludwig Zurn ſprang auf wie elektriſiert. „König⸗
liche Hoheit, wer das heraushört aus meinem Spiel
— der — dann — dann — o — das verrät Meiſter⸗
ſchaft!“
Der Prinz lächelte flüchtig. „Darf ich um eine
Fuge des großen Orgelmeiſters bitten?“
Ludwig Zürn gehorchte. Als die mächtigen
Klänge verſtummt waren, trat ein Schweigen ein.
Dann erhob ſich der Prinz und lehnle ſich auf den
Flügel.
„Ich möchte Ihnen gern helfen, Herr Zuürn.
Wo es in meiner Macht ſteht, der Kunſt zu dienen,
einem Kuünſtler förderlich zu ſein, da thue ich's mit
Freuden. Aber wie fangen wir das an? Wenn ich
Ihr Konzert beſuche, wie es die kleine Veldegg plant,
ſo kann ich mir davon nicht ſonderlichen Erfolg ver⸗
ſprechen. Ich bin dem Publikum kein ſo unge—
wohnter Anblick, daß es ſich danach zerreißen ſollte!
Was wollen Sie ſagen, Rochlitz?“ mit dieſer Frage
ſtreifte fein Blick Haſſo, der an Zürns Seite ge:
treten war.
„Wenn Königliche Hoheit die Gnade hätten,
ſelber ein Stück in dem Konzert vorzutragen, dann
käme die ganze Stadt, die ganze Geſellſchaft!“
Der Prinz lachte. „Ein verrückter Einfall,
Haſſo — ſieht Ihnen ganz ähnlich!“ — Er beſann
ſich ein wenig und fuhr dann fort. „Ich habe das
nämlich ſchon einmal gethan — vor Jahren in
Frankfurt am Main.“) Da ging es! Ich war noch
ſehr jung! — Aber jetzt — hier in Berlin! — Enſio,
ich will es mir überlegen und mit kompetenten Leuten
darüber ſprechen. Mein Adjutant, Herr von Kleiſt,
wird Ihnen Nachricht von mir bringen!“
„Der von Kleiſt wird ſeine helle Freude an der
Eskapade haben!“ flüſterte der Hofrat Gentz mit
einiger Ironie in Rahels Ohr. „Aber in Scene gehen
wird ſie deshalb doch! Darauf können Sie ſich ver—
laſſen! Der Prinz iſt nicht imſtande, eine Bitte
abzuſchlagen!“
„Das iſt richtig,“ erwiderte Rahel. „Wenn er
es könnte, es wäre oft beſſer für ihn! Und doch —
*) Hiſtoriſch.
11 Schwertklingen.
mir würde dann etwas fehlen an der Unendlichkeit
des Gefühls in diefem großen Menichenherzen!“
IX.
Der Abjutant von Kleift war allerdings in ge:
linder Verzweiflung, als er dem Monfieur Zürn die
Nachricht bradite, Königliche Hoheit wären entichloffen,
jelber in bem fraglichen Konzert eine Mufikpiece vor:
zutragen. Nur einen öffentlihen Charakter durfte bie
Sade nicht annehmen, der Schein des geichlofjenen,
privaten Kreijes jollte unter allen Umfländen gewahrt
werben. Die Vorkehrungen zu dem in einigen Tagen
fattfindenden Mufiffeft waren vertrauensvoll in Frau
von Crayens Hand gelegt. —
Der große Saal füllte fi bis auf den Teßten
Plag. Hofgelelichaft, DOffizierlorps, Künftler: und
Gelehrtenfreife, alles war vertreten. Alle, denen es
die „Einladungstarten” ermöglichten, waren berbei-
geeilt, diefen neuerflandenen Schügling des Prinzen
—— zu hören und vor allen Dingen den Prinzen
e
Auch ſeine Schweſter, die Fürſtin Radziwill, er⸗
ſchien in Begleitung ihres Gemahls, und die junge
Prinzeſſin Wilhelm. Prinz Louis begrüßte ſie mit
einem Ausdruck der Freude und Genugthuung. „Alſo
iſt über meine Caprice doch nicht völlig der Bann
geſprochen?“ ſagte er mit ſeinem leichten Lachen.
„Sonſt hätten weder meine Schweſter noch Sie,
ma belle cousine, mir die Freude Ihres Kommens
bereiten dürfen!“
„Am liebſten wäre die Königin ſelber erſchienen!“
gab Prinzeß Wilhelm freundlich zurück. Sie wollte
noch etwas hinzuſetzen, ſtockte jedoch.
„Doch das wäre der Gnade zu viel geweſen!“
vollendete er ſelber mit dunkler werdendem Blick.
Das Konzert begann. Prinz Louis ſtreifte die
Handſchuhe von ſeinen ſchlanken Ritterhänden und
nahm vor dem Flügel Platz. Ein unterdrücktes
Lächeln zuckte um ſeine feinen Nuſtern. Die Si—
tuation amüſierte ihn. Er ſpielte eine ſeiner eigenen
Kompoſitionen. Die Menge lauſchte entzückt dem
herrlichen Vortrage, der weichen, ſchwermütigen Muſik,
die romantiſch wie Mondſchein und Märchenduft ihr
Ohr umſchmeichelte. Als der Prinz geendet, erhob
er ſich und kam langſam die Stufen des Podiums
herab. Der Beifall, der ſich anfangs nur ſchüchtern
hervorwagte, brach endlich mit enthuſiaſtiſchem Un—
geſtüm los. Er galt der Muſik ſowohl als der Perſon
des von allen vergötterten Helden.
„Königliche Hoheit, wer wird mich nach Ihnen
noch hören wollen?“ ſtammelte Ludwig Zürn, als
der Prinz auf ihn zutrat.
„Wenn Sie Bach und Beethoven ſpielen?“ fragte
dieſer zurück. „Ich bin in Ihrem Intereſſe bei der
Wahl meines Komponiſten ſehr beſcheiden geweſen!“
„Königliche Hoheit!“ rief Zürn faſt vorwurfsvoll.
Der Prinz legte ihm freundlich die Hand auf
die Schulter. „Nun gehen Sie nur, und möge Apoll
Ihnen zum ſchönſten Erfolge verhelfen!“
mpathie, welche der hohe Herr ihm ſomit
Roman von Hans Werder.
12
auf den Weg gab und die bei der Zubhörerſchaft ein
unwillkürliches Echo fand, hob den Künſtler wie auf
Flügeln empor über Bangigkeit und Scheu. Mit
der Sicherheit kam Begeiſterung über ihn und er löſte
die große Aufgabe, die er ſich geſtellt, mit Meiſterſchaft.
Reichlicher Beifall belohnte ihn. Er hatte mithin er—
reicht, was er angeſtrebt, Wurzel gefaßt in der öffent—
lichen Meinung und durfte von dieſem Standpunkt
aus hoffen, immer weiter zu gelangen. Wonne—
trunken nahm er die Glückwünſche ſeines hohen
Gönners, ſeiner Freunde und Schüler entgegen.
Die Fürſtin Radziwill richtete huldvolle Worte an
ihn. Sie war gleich ihrem Bruder muſikaliſch und
voll feinſten Verſtändniſſes.
Auch Renate hatte ihren Lehrer begrüßt.
„Ach, da iſt ja unſeres jungen Künſtlers Pro:
tektorin!“ rief Prinz Louis gut gelaunt. „Sind Sie
denn zufrieden mit dem Siege Ihres Meiſters,
Mademoiſelle?“
„Ja, ſehr!“
„Und ſind Sie auch mit mir zufrieden?“ fragte
er wieder. „Habe ich das Vertrauen gerechtfertigt,
das Sie auf mich geſetzt hatten?“
„Ja, Königliche Hoheit haben mich fehr obli—⸗
Ich danke Ihnen vieltauſendmal!“
Er blickte mit ſchalkhaftem Vergnügen in die
ſtrahlenden Augen. „Dieſer Monſieur Zürn iſt aber
ein Glückspilz!“ bemerkte er neckend. „So wie Sie
ſich erſt für ihn verwendet haben und jetzt für ihn
danken, erſcheint er mir beneidenswert!“
Sie bog das Köpfchen zurück. Ein herber, fünf—
zehnjähriger Hochmut, der ſie reizend kleidete, kräuſelte
ihre Lippen. „Für beneidenswert halte ich ihn nicht,
Königliche Hoheit, ſonſt würde ich mich nicht für ihn
verwandt haben!“ —
„Wer war das charmante kleine Mädchen, das
Dich ſo herzlich zum Lachen brachte?“ fragte Fürſtin
Radziwill, als ſie am Arm ihres Bruders den Saal
verließ.
Er erzählte ihr im heiteren Tone, wer die Kleine
ſei und was er mit ihr geſprochen.
„Louis, Du biſt heute wie in Sonnenſchein ge⸗
taucht, ſo ſah ich Dich lange nicht!“ flüſterte die zärt—
liche Schweſter.
„Lange nicht!“ wiederholte er.
Sie ſianden in dem Vorzimmer. Forſchend, ge—⸗
dankenleſend, blickte Fürſtin Luiſe zu ihm auf. „Ich
weiß — Du haſt wieder Frieden gemacht mit Deiner
ſchönen Madame Wieſel, Dich mit ihr ausgeſöhnt!
Ich las es, als Du hereinkamſt, in Deinen Augen,
ſonſt hätte nicht fo viel Licht darin geſtrahlt!“
„Meine Enge Schwefter!” fagte er leile.
„Und nit wahr, fie war bier?“ fuhr die Prin-
zeffin fort. „Ich fah eine wunderfchöne Perjon mit
goldenem Haar, in griehifhem Gewande — fie jaß
zwilchen der Baronin Grotthuß und Deinem Freund,
dem Afjellor Vetter, und verwandte fein Auge von
Dir!”
„Das war fie!” beftätigte er mit träumerijchem
ck
giert!
* *
— — —
ö— — — — —
13 Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 14
Prinz Louis hatte ſich von ſeinen fürſtlichen
Verwandten getrennt. Das Haus der Baronin Grott-
buß fuchte er auf, denn er wußte, er würde zu diejer
Stunde fie dort finden, die Schöne, die Einzige, in
deren Banden feine Seele gefeljelt lag. Es war
noch nicht lange ber, feit er Pauline Wielel kennen
gelernt. Sie war die Tochter der Geheimrätin Cäjar
in Berlin, in zarter Jugend an einen ältliden, un:
geliebten Dann verheiratet, der nur feinen eigenen
Ssntereflen lebte, und dem ehrgeizigen Streben nad)
Stellung, Anjehen und Reichtum jedes Gefühl zum
Opfer bradte. Er batte jeine junge Gattin nad
Paris geführt und in die große Welt. Jr das lodere,
Iaddende, über blutigen Abgründen bintanzende Paris
bes „Erften Katjerreih&“, welches die Schreden ber
Revolution zu vergellen trachtete über dem Siege®:
jubel und der Macht feines neuen, gewaltigen Be:
berriherse. Dort war fih Pauline ihrer Schönheit
bewußt geworden und der fiegenden Macht diejer
Schönheit. Yhr Mann ergögte fih an den Triumphen
jeiner Gattin und wußte diejelben für feine Zmede
auszubeuten. Die junge Frau geriet auf eine ab-
Ihüjfige, gefahrvolle Bahn. Shrem Gatten, der ihr
feinen Halt gewährte, entfremdete fie jidh völlig, und
er war e& zufrieden.
So kam fie nad Berlin zurüd, verwöhnt, auf-
geklärt, genußjühtig und in ihrer Haltlofigkeit tief
unglückich.
Da lernte Prinz Louis ſie kennen. Er ſah ſie
öfter, ſah ſie täglich, und bald gab ſein Herz ſich
ihrem Liebreiz zu eigen in anbetender Leidenſchaft.
Das Glück, das ſie entbehrte, wollte er ihr geben mit
ſeiner Liebe, und er ſelber meinte in ihr das Glück
ſeiner Seele zu finden, das er ſehnſüchtig ſein Leben
lang geſucht.
Aber Pauline war nicht ganz das, was ſein
verklärender Blick in ihr ſah. Weder ihr Herz noch
ihr Charakter ſtanden auf der Höhe, die er voraus—
ſetzte, und ihre Liebe bereitete ihm, zumal jetzt, da
er gewiſſermaßen noch als Werbender vor ihr ſtand,
ein „Glück ohne Ruh“.
Heute jedoch, wie Fürſtin Luiſe richtig durch—
ſchaut, war eitel Sonnenſchein. Als Prinz Louis den
Salon der Frau von Grotthuß betrat, umfaßte ſein
erſter Blick ſie, die er ſuchte, — eine herrliche Geſtalt
von ſchlanker Fülle und jenem edlen Ebenmaß der
Formen, das die Meiſter griechiſcher Kunſt uns als
das Ideal der Schönheit hingeſtellt haben. Ihr Antlitz
trug den Ausdruck lebensvoller Friſche und einen
Liebreiz, der ſeinen Eindruck auf ihre Umgebung faſt
niemals verfehlte. Wie ein Magnetismus, gegen
den er kein Schutzmittel beſaß, wirkte er auf den
Schönbeitsfinn des Prinzen und auf fein heißpochen-
des Herz.
Sn volllommener Haltung begrüßte er die An:
wejenden, Pauline zulegt. Es lag fogar ein Etwas
von Zurüdhaltung,; wenn nicht Befangenheit in feinem
Wejen gegen fie.
„3b dachte nicht, daß Königliche Hoheit noch
fommen würden,” bemerfte Afjellor Better. „An diefem
der Kunft geweihten Abend unter einen Kreis Funft-
fremder Laien —” er jprah mit einem Anflug von
Sronie im Tone. Er felbft war einer von Paulinens
wärmften Anbetern und jah mit Bangen dem frag-
lojen Siege feines fürftlichen Freundes entgegen.
Diejer 309 die Augenbrauen empor. „Was fällt
Shnen ein, Better? Haben Sie mir’s jchon je zuvor
verdadt, wenn ich durch rajhen Wedel den Genuß
bes Lebens zu erhöhen juchte? Machen Sie’s nicht
ebenjo?“
„Gewiß, Königliche Hoheit! Aber heute jchienen
Sie jo ganz Künftler von Beruf zu fein, baß id
glaubte, Sie würden fih für den Reft des Abends in
feinem anderen Fahrmwaller mehr amüfieren können!”
Prinz Lonis zudte die Achleln. „Spreden Sie
doch nicht von Amüfieren! Sch kenne nichts Trivialeres
wie biefen Ausdrud! — Kinder, Hofbamen und Fähn-
ride — die amülieren fih. Aber ein Mann, beflen
Berftand fich beichäftigen, der denken, fühlen, genießen
fann, der amüftert fi nicht!” *)
„> Königlide Hoheit, jo lallen Sie uns mit
Ihnen denken, fühlen, genießen,” rief die Grotthuß
enthufiaftiid. „Dann freilid find wir berechtigt,
auf jedes ‚Amüjement' zu verzichten! Aber ich dente,
für dieſe Anſchauung werden Sie Verftändnis bei
vielen Menihen finden!”
Brinz Louis machte eine abwehrende Bewegung.
„Derftändnis bei den Menfchen, gnädige Frau, das
fenne ich nicht! — Gott, wie find die Menichen!
Bosheit, Falte Bosheit gilt ihnen als Wit und Ber:
ſtand! Sie fchänen fih, jelbft gutmütig zu fein!
Und zu lieben — verftehen die wenigjten! Gie
treiben fi in der Welt herum ohne Luft und ohne
en mit erjchlafftem Gemüt und berzlojer
ruft!”
„Hören Sie's, Better — Pauline —“ rief Die
Baronin lähelnd. „Uns wird die Aufgabe zufallen,
unferes hohen Herren Anjhauung über die Menjchen
wieder in eine günftigere Richtung zu lenten!”
Die Unterhaltung ward noch eine Zeitlang in
dieſer Weile fortgeführt. Pauline, melde fih nicht
daran beteiligt, erhob fich leife und verließ das
Zimmer. Sie ging langfam, und wie die weichen
Talten ihres hellen Gewandes über die Schwelle
binglitten, war es, als flöffe ein Lichtitreif dort
hinaus und bielte den Blid des Nachichauenden ge:
fefelt — und zöge ihn nad.
Es war das Bouboir ber Baronin, welches fie
betrat, ein laujchiges, zierliches Gemad, von rötlichem
Ampellicht erhellt. Da blieb fie ftehen, gerade unter
der Ampel, die Hände gefaltet, das Haupt gelenkt,
die Augen vor fich Hinfchauend ins Ungewilje, als
grübelte oder horchte fie.
Dualvolle Tage lagen Hinter ihr. Sie war in
einer Anwandlung böjer Zaune dem Prinzen mit herz:
lojer Kälte begegnet, einer tofetten Art von Kälte, die
fein feines Gefühl aufs tieffte verlegt. Und er hatte
fie gemieden, lange Tage, länger als fie gemeint,
daß er’s ertragen fönnte. Aber er ertrug es, ob:
Ihon frantend an der Herzenswunde, tiefer als fie
es verltand. Doch auch fie litt jchmerzlid. Und
*) Diefe, wie alle folgenben Außerungen de Prinzen
in diefem Kapitel, wörtlih feinen Briefen an Pauline
Wiefel 2c. entnommen.
15 Schwertklingen.
als ſie ſah, er kam nicht wieder, er würde nimmer
wiederkehren, bis ſie gut gemacht, was ſie ihm zu—
leid gethan, da überwand ſie ihren Stolz und ſchrieb
ihm zum erſten Male, reuevoll, flehend. Und ſo—
gleich kam er hierher, wo er ſie zu finden wußte.
Sie ſtand und wartete auf ihn. Da endlich,
ſein leichter Schritt auf der Schwelle — und noch
ehe fie aufgeſchaut, fühlte ſie ſih von ſeinem Arm
umſchlungen. Ihr Haupt ſank an ſeine Bruſt in
ſeligem Selbſtvergeſſen. Leidenſchaftliche, zärtliche
Hingebung war es, die er über ſie ausſchüttete, und
doch kam er als der Verzeihende — ſtand vor ihr
als der Gebietende.
„So darfſt Du mich nicht wieder von Dir
weiſen, Pauline, nicht ſo vor mir fliehen!“ ſagte er
mit weicher, tiefer Stimme, welche ſein heißes
Empfinden durchzitterte wie die Saiten eines edlen
Inſtrumentes. „Sieh mir in die Augen! Sag —
könnteſt Du mich vergeſſen? — Nie!“ Er hob mit
zärtlicher Bewegung ihr Haupt zu ſich empor. „Nie!
Geliebteſte, nicht Stolz, nicht Eitelkeit ſpricht dieſes
Wort aus! Mein iſt Dein zukünftiges Leben!“
„Ja!“ ſagte ſie und ſchaute ſtrahlend, in be—
glüdter Hingabe zu ihm auf. „Dein ift mein zu:
fünftiges Leben! — Aber wie, Geliebtefter, wirb
mein 208 fi dadurch geftalten? Der Krieg, Du
Krieger — die Jagd, Du Zäger — die Mufil, Du
Mufltus — biefe drei find meine ftarlen Rivalen.
Dann erit fommt die Liebe! Bei mir aber giebt es
feine Teilung! Sch liebe nur Di allein in der
Welt, alles andere töteft Du in mir!” *)
Prinz Louis Ferdinand lächelte, das entzüdte
Lächeln des Siegere. „Du haft diefe Rivalen nicht
zu fürdten, wenn Du Deine Liebe dagegen ein-
jegeft und mir Dein PBertrauen giebt! Dann bin
ih Dein, — ewig! Nur Du kannt mid von Dir
trennen! — Pauline, Du wirft mich wieder an das
Glüd gewöhnen!“
X.
Wie ein echtes Kagdihloß, Hein und fchlicht,
nur den Bebürfniflen des fürftlihen Sägers und
jeiner ländlichen Gelelligfeit entiprechend, lag Schride
einlam, weltvergeflen zwilhen den unermeßlichen
Wäldern, die fein Jagdrevier bildeten. Denn aud
die rings umberliegenden Magdeburger Forften hatte
der König dem Prinzen für fein frohes Treiben zur
Verfügung geftelt. Sn diefem Sommer follte der
erftie Verfuchh der VBarforcejagb gemacht werben. Die
benadhbarten Fürften hatten ihre Hunde dazu ber:
gejandt, um den Vielbewunderten in jeinem Unter—
nehmen zu unterftügen.**)
Schon harrte auf dem Hofe des Yagdichlofjes
die zujanmengeloppelte Meute, Ichon ftanden einzelne
Pferde gefattelt. Die Jagdgejelihaft begann fich
zum Frühftüd zu verjammeln.
*) En Wiejeld eigene Worte.
**) Siehe Karl v. Noſtitz' Tagebuch.
Roman von Hans Werder. 16
„Wer kommt da auf den Hof geritten?“ fragte
Prinz Louis, durchs Fenfter blidend. „Ein Qufaren:
offizier?” Er trat in die Hausthür. Der An:
fümmling fprang eben vom Pferde und meldete fi
in dienfllider Haltung bei feinem hohen Wirte.
„Willlommen, Nochlig!” rief Ddiefer. „Sie
jehen, ich komme Ahnen fchon in der Hausthür ent:
gegen, damit Sie mir nicht die Treppe hinauf durch
die Zimmer reiten!“
„Sanz wie Königliche Hoheit befehlen! Mein
Pferd jomohl wie ich willen zu gehordhen!” ermwiberte
Hallo mit der leichten Schlagfertigfeit, die ihm eigen.
„Elegantes Pferd übrigens!” fagte der Prinz.
„Tadellos auf allen vier Beinen! Hat es Bieten
nicht früher geritten? &s& Tommt mir jo belannt vor!“
„Binde von meinem Regiment hat es geritten,
Königlide Hoheit! ch habe es vor einigen Tagen
von ihm gekauft!”
„Und Sie fommen bdirelt von Berlin?”
„gu Befehl! Bin gegen Abend abgeritten!”
„Run, dann ift der Rappe müde! Morgen
werden Sie ihn mir in der Sauhat vorreiten. Heut
darf ich Yhnen eines meiner Pferde zur Verfügung
ftellen! Beforge das, Drdorf!” befahl er feinem
Leibjäger. „Laß die Stute fortführen und ver:
pflegen. Und Sie begleiten mich hier hinein, Hallo,
Sie fommen gerade recht zum Frühftüd. Sie Tennen
Herrn von Rodlig bereits, Noftig?” wandte er fi
an feinen Adjutanten. „Als der Bruder SYhres
Kegimentsfameraden hat er ja noch ein bejonderes
Anrecht an Ihr Intereſſe!“
Der Lieutenant Karl von Noſtitz vom Regiment
Gendarmes war ſeit kurzer Zeit als zweiter Adjutant
des Prinzen kommandiert, ein rieſengroßer Menſch,
ſchön und ſtattlich, mit klugem, männlichem Geſicht,
die urwüchſigen Formen ſeines Auftretens gemildert
durch das Übergewicht eines feingebildeten und eigen—
artigen Geiſtes. Dabei feurig, verwegen und zu
jeder Art von Unternehmung aufgelegt, erſchien er
wie geſchaffen zum Schildknappen ſeines jungen Ge—⸗
bieters, da er auf allen Punkten ſeines Weſens mit
ihm harmonierte, ohne ihm nur in einem überlegen
zu ſein. Er trat deshalb auch bald in vertrautere
Beziehungen zu ihm als der Hauptmann von Kleiſt,
der in ſeinem ernſten, förmlichen Weſen weniger mit
der freien Leichtlebigkeit ſeines Herrn übereinſtimmte.
„Ich freue mich beſonders, Sie hier zu finden,
Herr von Noſtitz,“ ſagte Haſſo, von ſeinem Frühſtück
zu dem ihm gegenüber Sitzenden aufblickend. „Ich
bin ſonſt ziemlich fremd unter dieſer Geſellſchaft!“
„Dieſer Zuſtand pflegt bei Ihnen nicht lange
anzuhalten!“ erwiderte Noſtitz. „Doch auch ich freue
mich, Sie gerade hier zu begrüßen und hoffe ſehr,
wir werden uns nähertreten in gemeinſamer Ver—
ehrung eines Herrn, wie's keinen zweiten auf der
Welt giebt. Stoßen wir an auf gutes Zuſammen⸗
halten!“
Die Gläſer klangen aneinander. Zugleich er—
Die
hoben ſich beide mit der ganzen Tafelrunde.
Gefellſchaft brach auf.
Herrlich verlief die Jagd bei köſtlichſtem Hubertus⸗
wetter. Prinz Louis betrieb jede Art von Weidwerk
17 Schwertllingen.
mit Sadlenntnis und Leidenichaft.
— ———— Do LI m ———
Gar zu bald
ermüdete ihn ſonſt in allen Wettübungen das Be—⸗
wußtſein des leichten Sieges, den er über alle Ge—
noſſen davontrug. Das Jägerhandwerk aber war
für ihn kein Sport, ſondern ein Austoben der in
ihm wohnenden Kraft und Thatenluſt, eine An—
ſtrengung, die das Einſetzen der vollen Kraft und
Entſchloſſenheit von ihm forderte, durch die er ſich
freier, geſunder und wie veredelt fühlte. Er ver—
traute deshalb gern von vornherein den Menſchen,
die er als Jäger kannte und wählte aus ihrem
Stande mit Vorliebe ſeine Dienerſchaft. Aus
dieſem Grunde rechnete auch Noſtitz darauf, Haſſo
in immer nähere Beziehung zu dem Prinzen treten
zu ſehen und trank ihm deshalb zu auf „gutes Zu:
ſammenhalten!“
Müde, auf dampfenden Roſſen, doch in heiterer
Stimmung kehrte um fünf Uhr die Jagdgeſellſchaft
heim. Eine Stunde ſpäter verſammelte ſie ſich zur
Tafel in der mit Jagdtrophäen ausgeſchmückten Halle
des Schlößchens. Einige Freunde des Prinzen, die
am Weidwerk nicht teilnahmen, und dazu gehörige
Damen harrten ihrer bereits.
Auserleſene Speiſen, gute Weine, perlender Sekt
wurden geboten. Bald ſtieg die Stimmung zu einer
Höhe und Freiheit, welche an die Gelage genußfroher
griechiſcher Antike erinnerte, doch nie das Maß des
Schönen überſchritt.
Längſt war das eigentliche Mahl beendet, doch
unverändert dauerte das Beiſammenſein fort. Immer
aufs neue wurden Erfriſchungen herbeigetragen und
zu beliebiger Auswahl hingeſtellt. Die Frauen ruhten
in den Polſtern eines Diwans, die Huldigungen der
Kavaliere entgegennehmend und die Unterhaltung in
den Grenzen des Zarten feſthaltend.
Der Hand des Prinzen erreichbar ſtand ein
Piano, unter allen Freunden ſeines Lebens ihm der
wertvollſte und unzertrennlichſte. Eine Wendung nur
aus der Unterhaltung heraus, und ſeine Hand führte
dieſelbe weiter in der Sprache der Töne, feuriger
noch und ſüßer, als es Worte vermochten. In ſeiner
Nähe ſaß Duſſek, ſein Klavierſpieler und ſteter Be—⸗
gleiter, der dieſe Sprache ſeines Herrn verſtand wie
keiner ſonſt, und antwortend griff auch er in die
Taſten. Hinüber, herüber klangen und wogten die
Töne und gaben in berückendem Wohllaut wieder,
was man gefühlt und empfunden, angeregt durch
den freien Austauſch der Gedanken.
Doch auch Karten und Würfel blieben nicht
ausgeſchloſſen von dieſen ſeltſam frohen Gelagen.“)
Unmerklich verrannen die Stunden. Durch die
geſchloſſenen Läden herein drang endlich die helle
Morgenſonne und ſchien auf abgeſpannte, übernächtige
Geſichter.
Todmüde ſuchte Haſſo ſein Lager auf. Doch
wenige Stunden tiefen, geſunden Schlafes genügten,
ihn wieder friſch und zu allen erdenklichen Unter—
nehmungen aufgelegt zu machen. Er war der erſte, der
morgens unten im Frühftüdsjaal erihien. Niemand
*) Alle diefe Schilderungen dem Tagebud) von Noftit
entnommen.
Romansfeitung 1896.
Roman von Hans Werder. 18
dort, au Noftit nicht. So fehlenderte er entdedungs:
Luftig in den Garten hinaus. Sonnenbeichienene
Rajenflähen und verjchnittene Heden umgaben das
Haus. Doh daran Ihloß fi gar bald die Forft,
die mit ihrem raufhenden Wipfelmeer den Reiz und
Charakter der Umgegend bildete.
Tiefer im Garten, unter freundlidem Grün
balb verborgen, entdedte Hafjo ein Häuschen, zierlich
anzujhauen. Gewiß war das die „Meierei”, die er
geltern mehrfah hatte erwähnen hören. Als er
näber kam, blieb er überrafcht ftehen. Im Schatten
eines SFliederftraudes, allein und unbejorgt ihres
Lebens fich freuend, nur von einem großen Neufund:
länder gehütet, erblidte er zwei Kinder. Das eine,
dem Alleingebraud) ſeiner Füßchen noch nidt an:
vertraut, in zierlihen Wagen gebettet, ein zartes,
ſchneeweißes und roſiges kleines Geſchöpf. Das
andere, ein Knabe von etwa vier bis fünf Jahren,
ſchlank gewachſen und ſchön, mit freier Haltung
und leuchtendem Blick. Er war in hellblauen Sammet
gekleidet, mit breitem Spitzenkragen, auf den das
blonde, leichtgelockte Haar herabfiel.
Haſſo kannte dieſe Kopfhaltung und die Ge—
ſichtszüge, wie dieſer Knabe ſie trug. Er konnte
nicht im Zweifel ſein, weſſen Kinder er hier vor ſich
ſah. Ein tiefes, faft peinigendes Staunen über:
fam ihn.
Wer aber war die Mutter diefer holden Ge:
Ihöpfe? Sene hbübjche, blonde, junge Frau vielleicht,
die er gejtern in fo eifriger Unterhaltung neben dem
Klavierjpieler Dufjet bei Tiich hatte fiten fehen, und
die man ihm als Demoijelle Fromm genannt? Er
hatte fie für eine ber Gäfte gehalten, bis er zufällig
gejehen, wie der Prinz fie durch einen zwar freund:
lien, aber doch kurzen Wink bedeutet, fich zurüd:
zuziehen. „Henriette Fromm” — ja, das mußte
fie jein.
Er wäbherte fih den Kindern. Der Knabe bob
den Kopf und fjah ihm gejpannt entgegen. Hafjo
war von feinen früheren, kindliden Anjchauungen,
KH Prinzen und Fürftenlinder mit goldenen Kronen
und Purpurgewändern vorzuftellen, längit zurüd:
gefommen. Sept fühlte er Neigung, Sich denfelben
wieder zuzumenden. „Es ilt doch ein eigen Ding,”
dadhte er bei fih, „um jolh ein Nolergejchlecht,
jelbft wenn man die junge Brut in dem Neft einer
Haustaube findet!”
Die blauen Louis Ferdinands:Augen ‚mufterten
ihn prüfend, ein wenig von oben herab. „Bilt Du
auch einer von Papas Gäften? ch Tenne Dich ja
no gar nicht?”
„Sa, Du Kleines Herrhen, wenn Du nichts
dagegen haft! Gieb mir doc Deine Hand! Wie
beißt Du denn?”
„Louis heiße ich!”
„Louis! Was taufend, aud das noh! — Und
dies bier ift Deine Schweiter?”
„a, das ift Blanche!”
Haflo trat an den Kinderwagen und ließ fi
auf ein Knie nieder. „Blande! Ei, was bift Du
für eine nieblide Puppe! So etwas ift mir ja in
meinem Leben noch nicht vorgelommen! Sieb mid
IV, 2
19 Schwertklingen
doch einmal an mit Deinen merkwürdigen Guck—
augen!“
Über das ſüße Geſicht der Kleinen ging ein
nachdenklicher Schatten bei dieſer ihr ungewohnt
klingenden Rede. Doch blickte ſie ihn nicht ohne
Wohlwollen an. Er ſtreckte ihr einen Finger hin,
die Hand konnte er ihr nicht bieten, denn bie er:
ſchien ihm größer als die ganze kleine Perſon, und
ſie erfaßte ihn zutraulich. Warm und weich wie ein
Flaum war das Händchen, ein Allaspolſter mit
winzigen Grübchen darin. Haſſo berührte es leiſe
mit den Lippen. Es war ihm zu Mute, als habe
er einen verborgen gehaltenen Schatz entdeckt.
„Papa!“ rief plötzlich der kleine Louis und
eilte jubelnd quer über den Nafenplag dem An-
fommenden entgegen.
„Ah, mignonne, nimmft Du fon Cour an in
aller Morgenfrühbe?” rief die weiche mufikklingende
Stimme des Prinzen.
Hallo Iprang auf. „Königliche Hoheit wollen
gütigft entiehuldigen —” begann er in leichter Ber:
legenbeit.
„Bitte jehr! Ich freue mich, die Kinder in
jo guter Gejelihaft anzutreffen!” Er beugte fi
über den Wagen. Sett erft ließ Blanche den Finger
ihres neuen Verehrers fahren und ftredte beide
Armen dem fhhönen jungen Vater entgegen.
Prinz Louis bob das Kleine MWejen empor bis
zur Höhe des eigenen Hauptes und fchaute jefunden:
lang ftumm, mit einem Blid voll Liebe in die
ftrahlenden Augen feines Kindes. Dann füßte er
es zärtlih, tändelnd und ließ es janft zurüdgleiten
in die jpigenumjäumten Kiffen, die er mit anmutiger
Hand zuredhtrüdte.
Als er fih wieder fortwanbte, bödcandie er
Haflos fragendem Bid und ein nicht zu unter:
drüdendes Lächeln ging über fein Gefiht. „Nun,
was zerbreden Sie fi den Kopf! Kommen Sie,
mein Junge, das Dejeuner wartet auf ung!“
Sn diefem Augenblid öffnete fi die Thür der
Meierei und die hübjhe blonde Frauengeitalt, die
Haffo geitern bewunbert, erichien, licht und frifch in
hellem Sommermorgentlleidte. Sa, es war Henriette
Fromm. Am Fortgehen begriffen, z0g er grüßend
den Hut. Der Prinz aber jah fie nicht, achtete
nicht auf fie. Sn dem Blid, der ihm folgte, lag
fein Magnet, der ihn zurüdzog an ihre Seite oder
audh nur den Kopf ihn wenden ließ, einen Gruß
mit ihr zu taufhen. Der Zauber war erlojchen, der
einft bier gemwaltet. Haflos ungeübtem, doch fein-
fühligem Verftändnis ward es Kar: der Prinz hielt
fie wert und in Ehren als die Mutter jener Kinder.
Er bielt fie mit Treue und Anhänglichleit und dedte
fie mit dem Schilde feiner Fürjorge, feines Schußes
um der Kinder willen, an denen feine Seele hing.
Doch Tängit fchlug fein heißes Herz in anderen
Tefleln und ging dur Tiefen der Sehnjudt und
des Hoffens, der Leiden und Glücdjeligkeit, die fern:
ab lagen von diefem JdyN Teidenjchaftslofen Familien:
glüdes. Hallo Hatte von ihr gehört, er wußte den
Namen und hatte fie gejehen, Pauline Wiejel, Die
vielgenannte Frau, die wunderſchöne,
. Roman von Hans Werder. 20
die jetzt des
Prinzen Liebe beſaß. — —
„Rochlitz,“ ſagte dieſer plötzlich, friſch und leb—
haft den Gedankengang ſeines Begleiters durch—
ſchneidend, „Ordorf meldete mir ſoeben einen groben
Keiler, in den Tannendickungen der Wettiner Forſten
geſpürt. Das Hetzen geht dort nicht! Was meinen
Sie, wir reiten beide dieſe Nacht hinüber und jagen
morgen früh! Zum Diner find wir dann wieder
bier!“
Hallos Augen jlammten. „Königlidde Hoheit,
a \ollte e8 fein, den diejer unerhörte Vorzug
trifft! ?”
„Sa Sie!” erwiderte Prinz Louis gutgelaunt.
„Kenn ih Sie nit als birjähgerecdhten Jäger? Da
denfe ich werden Sie fih aud bei der Sagd auf
den Seiler bewähren. Außer meinem geireuen
Noftig, der feinen Mann in jeder Feuerprobe ftcht,
wüßte ich feinen unter meinen Gäften, von dem ich
das jagen könnte! Der aber muß bier bleiben und
die Honneurs madhen! Sie fchen, es bleibt auf
Ihnen ſitzen!“ —
Der Tag verging wie der geſtrige mit Hallo
und Hundegebell, mit tollkühnem Reiten und fröh—
lichem Halali, ermüdeter Heimkehr, kurzem Ausruhen
und geſelligem Gelage. Oftmals während der Tafel
ſchweiſte Haſſos Blick hinüber zu der blonden
Henriette Fromm, welche wieder neben Duſſek ſaß
und großes Intereſſe an dem Muſiker zu nehmen
ſchien. Sie gefiel Haſſo nicht. „Gewiß,“ dachte er,
„mag ſie lieblich, ſanft und hingebend geweſen ſein
und dadurch den Sinn des ritterlichen Helden ge—
feſſelt haben. Aber auf die Dauer können Tauben
und Hühner ſich im Adlerneſt nimmermehr wohl
und an ihrem Platze fühlen!“
Er äußerte dieſe Anſicht zu Noſtiz, welcher neben
ihm ſaß. Der ſah ihn an und lachte. „Sie haben
recht! Mit dieſem einen Wort iſt die ganze Situa—
tion gekennzeichnet. Der Demoiſelle Fromm hälte
einſt, ſozuſagen, eine große Aufgabe zufallen
können, doch war ſie derſelben nicht gewachſen. Sie
hat ihren hohen Gebieter nie verſtanden, nie zu
würdigen gewußt — das Huhn den Adler! Darum
konnte ſie auch auf die Dauer weder ſein Herz aus—
füllen noch ſelber beglückt ſein!“
„Sie kennen die Madame Wieſel?“ fragte Haſſo.
„Gewiß!“ Noſtitz ſah ihn bei der kurzen Ant:
wort flüchtig von der Seite an. Haſſo lächelte.
„Bitte, Herr von Noſtitz, halten Sie mich nicht
für indiskret, wenn ich mich nicht gar ſo leicht zur
Ruhe verweiſen laſſe! Sie wiſſen, ich verehre den
Prinzen ſo ſehr hoch, ich möchte ihn auch gern in
allen Dingen verſtehen und bewundern können!“
Jetzt wandte Noſtitz den Kopf zu ihm herum
und ſeine klugen Augen ſchauten ihn ernſt und nach—
denklich an. „Mein lieber Rochlitz, bewundern
dürfen Sie den Prinzen überall! Verſtehen werden
Sie ihn vielleicht nicht ſo bald! Aber Sie werden
es einſt, wenn Sie das Leben und die Menſchen
beſſer kennen gelernt und erfahren haben, was für
ein Menſch er iſt!“ Er warf einen langen Blick zu
ſeinem Herrn hinüber, der die ihm zunächſt Sitzenden
21 Schwertklingen.
| in einem Sprühfeuer der Unterhaltung mit ſich
fortriß.
Haſſo folgte dem Blick. „Ich meine faſt, ich
müßte ihn auch jetzt ſchon verſtehen,“ ſagte er. „Ent—
ziehen kann ich mich dem Einfluß ſeiner Perſönlichkeit
nicht! Entweder ich muß mich mit einem großen
Fragezeichen von ihm wenden oder ihn lieben und
bewundern! Gleichgültig zu bleiben iſt unmöglich!“
„Unmöglich!“ beſtätigte Noſtitz lebhaft. „Aber
ich kann Ihnen nur zu dem letzteren raten, was auch
die Tugendphiliſter darüber ſagen mögen, die ihn
nimmermehr zu würdigen verſtehen! Man hat
ihn von Jugend auf herabzudrücken verſucht, durch
Mangel an würdiger Beſchäftigung, durch ſtrenge
Entfernung von allem, was ſeine großen Eigenſchaften
in einem würdigen Wirkungskreiſe angeſpannt hätte!
Wenn dann ſein feuriges Naturell hie und da auf
Abwege gerät, ſo ſtempelt man das fein ſittſam mit
dem Namen Immoralität und nennt ihn einen ver—
lorenen Menſchen! Nun frage ich Sie aber, iſt der
verloren, der bei Weibern, beim Zechen und in allem
wilden Jubel der Jugend ſich ſelber nie verliert, der
immer bleibt, was er iſt? Der ſich in dem Adel
ſeiner Seele und in der Freiheit ſeines Geiſtes aus
jeder Tiefe im Adlerflug erhebt, und das niedere Volk
im Schlamm weit hinter ſich läßt!““) Er hielt inne,
faſt erſchrocken über das Feuer, in das er ſich hin—
eingeredet, und das doch ſo aus der Tiefe ſeines
treuen, begeiſterungsfähigen Herzens flammte.
Der, dem dieſe Begeiſterung galt, ſchaute jetzt
herüber wie in magnetiſchem Verſtändnis und hob
ſein Glas auf. „Proſit, Karl!“
Noſtitz ſprang auf und leerte ſein Glas. Der
Prinz winkte ihn zu ſich heran und ſprach leiſe einige
Worte zu ihm, dann erhob er ſich ſchnell und verließ,
mit einigen verbindlichen Worten der Entſchuldigung
an ſeine Gäſte, das Zimmer. Haſſo folgte ihm.
Ein ſcharfer Ritt war es, bei Nacht und Nebel,
durch die Dunkelheit der meilengroßen Waldungen,
über Thal und Hügel, durch Schluchten und Sümpfe,
oft ohne Weg und Steg. Haſſo hatte ſchon manch
wunderſame Mär gehört von dieſen verwegenen,
nächtlichen Ritten des Prinzen. Jetzt erhielt er eine
Probe davon, die ihn mit Entzücken erfüllte.
Als die kalte, rötliche Morgendämmerung das
Waldesdunkel zu lichten begann, hatten fie Burg
Wettin erreicht. Eine verfallene Ruine war es, von
didem Epheu umfponnen. Zwei Zimmer darin für
den fürftlihen Jagdherrn zur Unterkunft hergerichtet,
ein drittes für den Kaftellan, einen alten, invaliden
Förfter, defien Lebensaufgabe es war, der Ankunft
feines Gebieterd gemwärtig zu fein. Sn dem raud):
geihwärzten Kamin fladerte ein euer, das zugleich
den niebriggewölbten Raum mit unrubigem Licht er:
bellte. Davor faßen bie beiden Herren und tranten
heißen Grog zur Neubelebung nad dem Ritt. Prinz
Louis loderte feinen SJägerrod ein wenig und dehnte
die Schlanke Rittergeftalt in dem uralten, hochlehnigen
Seffel. Zwei Jagdhunde kauerten zu ſeinen Füßen.
Haſſos Sinn war empfänglich für Romantik
*) Wörtliche Außerungen von Noſtitz.
Roman von Hans Werder. 22
und Poeſie. Er glaubte ſich in eine alte Ballade
verſetzt, in einen dunkel märchenhaften Traum, der
ihn beglückte, und aus dem er zu erwachen fürchtete.
Der Oberförſter wurde gemeldet — damit war
die kurze Raſt beendet. Die Herren brachen auf.
Ein Hauptſchwein war beſtätigt, und ſachkundig
waren die Saufinder auf der Fährte ſeines Einwechſels
angelegt.
Prinz Louis ſtand auf ſeinem Poſten in einer
von niederen Tannen umgebenen Waldblöße, lange
ſchon, in geſpannter Erwartung — als endlich einer
der Hunde, laut Hals gebend, bei ſeinen Kumpanen
ein weit durch den Wald hinſchallendes Echo hervor—
rief. Dazwiſchen ertönten die Hatzrufe des die Hunde
führenden Jägers. Das Schwein ſchien die bergende
Dickung nicht räumen zu wollen, ſondern tapfer mit
ſeinen Ruheſtörern den Kampf aufzunehmen, wie hin
und wieder das Schmerzgeheul eines ſchwer getroffenen
Hundes andeutete.
Mit Aufbietung aller Sinne war Prinz Louis
dem Gang des Kampfes gefolgt und mit jägeriſcher
Sicherheit zu dem Entſchluß gekommen, ſich nicht von
ſeinem Poſten zu rühren. Er erkannte es als das
Richtige, denn plötzlich war der Standlaut nahe vor
ihm. Die Tannen knackten und bogen ſich, die
ſchwarzbraune Schwarte eines Hauptſchweins wurde
ſichtbar. Die ſchußbereite Büchſe des Prinzen flog
an die Wange und ſuchte ihr Ziel. Doch halt. Zwei
Saufinder, die ſich feſt verbiſſen, waren mit gefährdet.
Der Keiler hatte jetzt den Rand der Waldblöße
erreicht. Plötzlich gewahrte er den neuen, den fürft:
lichen Gegner. Mit Blitzesſchnelle wandte er ſich
gegen dieſen, ihn anrennend, daß er ſtrauchelte. Die
Büchſe entlud ſich in die Luft und wehrlos ſtand der
Prinz dem Wildſchwein gegenüber. Kurz kehrt machte
das Untier, wobei es ihm gelang, die Hunde abzu-
ihütteln, und flürzte fi) zum zweiten Male auf den
Prinzen. Durd einen gewandten Seiteniprung wid)
diefer dem Schlage aus, erfaßte gleichzeitig mit eijernem
Griff den Heiler an den Gehören und warf fi mit
der ganzen Kraft feines Körpers auf ihn, um bie
Beftie zu Boden zu drüden. Es war ein Ringen
auf Tod und Leben. „Kraft mißt fih an Kraft“.
Erlahmte die des Mannes, fo fonnte der Kampf einen
böjen Ausgang nehmen. Da — auf einen Moment
gelang es ihm, die Hand frei zu bekommen. “Der
Moment genügte. Aus der Scheide fuhr das Weib:
meſſer zum tödlichen Fang. Tod der Stoß war nicht
ftart genug, die Bewegung dur den Kampf gehemmt.
Mit MWutröcheln verdoppelte das Untier die Gewalt:
anftrengung, fich feinem Bezwinger zu entwinden.
Diefem verging der Atem, auf feine bläulihen Lippen
trat der Schaum. Wie lange noch follte der biegjame
Stahl feiner Muskeln die übermenjhlide Anipannung
ertragen?
Da plöglich ein Zuruf, ein wilder Schrei. Eine
zweite Klinge bligte in der Luft und traf den Keiler
mit töblicher Kraft. Todesmatt ward jein Sträuben,
dunfelroter Schweiß milchte fich dem Geifer, der dem
Gebrehe entquol. Dann flredte der unförmliche
Maldriefe verendend feine ftruppigen Glieder.
Aufreht fand Prinz Ludwig da — heil und
EEE EEE —— —
23 Schwertilingen.
unverjehrt. Er nahm den Hut ab und ftridh fid
langfam über die feuchte Stirn. „Hallo — das
waren Sie?” — Hallo antwortete nit. Das Herz
ihlug ihm noch von der furdtbarften Aufregung, die
er je empfunden. Mit einem warmen, weichen Blid
ſah der Prinz auf ihn. „Hab’ ih Ahnen zu danten
für die Verlängerung diejes nuglofen Lebens? Ich
glaube faft, ohne Zhr Dazwilchentreten läge ich jeßt
da im Moofe, und die Beftie lachte fih anftatt meiner
ins Fäuſtchen!“
„Gewiß nicht, Königliche Hoheit,“ entgegnete
Haſſo jetzt. „An einem ſolchen Gegner wie Sie
hatte ſelbſt dieſe Beſtie genug, ohne mein Zuthun!
Ihr Weidmeſſer ſitzt tadellos! Ein klein wenig tieſer,
— hätte der Kampf nicht mehr gedauert, bis ich
am!“
„But, behalten Sie Ihre Anſicht und geſtatten
Sie mir, bei der meinigen zu bleiben!“ ſagte Prinz
Louis mit der bezaubernden Liebenswürdigkeit, die
ihm eigen. „Ich werde Ihnen dieſen Augenblick
nicht vergeſſen, Rochlitz!“ Er ſtreckte ihm die Hand hin.
Entblößten Hauptes nahm Haſſo dieſe Hand
und küßte ſie. „Gnädigſier Herr, wenn ich für Sie
mein Leben hätte hingeben dürfen, ſo wäre ſein Zweck
damit erfüllt und erſchöpft geweſen!“
xl.
Wieder ging ein Schrei der Wut und Entrüftung
durch die preußiihen Lande. Napoleons Truppen
unter Bernabotte hatten, Anfang Ditober 1805, das
preußifche Gebiet Ansbadh: Bayreuth befegt und hauften
darin wie in Feindesland. Das war ein neuer, un:
erhörter Angriff auf Preußens Ehre, eine gröbliche
Verlegung ber von des Königs Seite jo mühlam
gegen alle europäifhen Mächte und gegen die laut
redende Bolfsfimme aufrecht gehaltene Neutralität.
Da erwahte auch der Zorn in des Königs Herzen
mit bem Bemwußtjein, nicht länger dulden zu dürfen,
wo bas heilige Gebot der Ehre ftolzes Aufraffen
forderte. Einen fchmweren Kampf mit feinem pflicht-
getreuen Herzen, das die Erhaltung des Friedens für
die höchfte Negentenpflicht erfannte, hatte er dennoch
zu beftehen. Der Minifler Haugmwig wurde an Napoleon
entfendet, Rechenichaft zu fordern für diefe unerhörte
That, und um Sühne und neue Friedensbedingungen
mit ihm zu unterhandeln.
Am Abend vor feiner Abreile war Eleiner
FSamilienzirfel bei der Königin, und Graf Haugmwiß,
noch immer ber Vertraute des Königs, war dazu ge-
laden. Er jollte fich bei ber Gelegenheit von der
Königin und den Mitgliedern des Herriherhaufes
verabihieden dürfen, denn vorausfichtlich fonnte feine
Abwefenheit jehr lange währen. Napoleon war auf
fiegreihem Feldzuge gegen Uflerreih begriffen, an
feines Heeres Spite bald bier, bald dort anzutreffen,
dem rollenden Donner gleich, der über das geängitete
Land binzog, feine Blibe fhleudernd, wohin es ihm
gefiel. So galt es vielleicht, ihn mühjam aufzujuchen,
wodhen:, monatelang hinter ihm berzuziehen, auf der
Fährte feiner rauchenden, blutigen Siege.
Roman von Hans Werder. 24
Graf Haugwig jedody jah keine Schwierigkeit in
dem ihm zu teil gewordenen Auftrage. Seine Ber:
ebrung für Bonaparte war überjchwenglich groß, fo
groß wie jeine Berftändnislofigfeit für das, was
König, Volk und Vaterland von ihm, als ihrem erften
Minifter, zu fordern hatten. Es dünfte ihm ein
Vorzug und eine Ehre erjten Ranges, mit dem Sailer
der Franzojen unterhandeln zu dürfen, und zugleich
eine Quelle von Erfolg, Ruhm und Ehren für feine
eigene ruhmbebürftige Perfon.
„Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich wahr:
baftig nicht gelommen!” bemerkte Prinz Louis halb-
laut, doch im leichten unverfänglichen Unterhaltungston
zu der neben ihm fitenden Fürftin Nadziwill,
Sie blidte mit einem Eugen Lächeln auf, in ihres
Bruders Augen. „Du wärelt doch gelommen! Oder
wiegt Dir etwa diejer ganze Mann, jo lang und breit,
wie wir ihn dort hüpfen fehen, jchwerer als ein Stirn:
runzeln der Königin über eine jchwad) motivierte
ne Mehr als der Verluft eines Abends in ihrer
Nähe?“
Das Lächeln ging auch auf ſeine Züge hinüber.
„Du haſt recht, wa petite soeur, ich beuge mich
Deinen Argumenten! Wann hätte ſchon eine Dame
mit Klugheit und Anmut Waffen gegen mich ins
Feld geführt, denen ich mich nicht gebeugt? Aber nun
gieb auch Du mir recht! Um mit einem Auftrage,
wie dieſer es iſt, vor den ſiegestrunkenen Eroberer
hinzutreten, dazu gehörte ein Charakter von der Art
der alten Römer, aber kein Haugwitz!“
„Ja, Louis! Es gehörte dazu ein Mann, wie
es biſt!“ erwiderte die junge Fürſtin in innigem
one.
Über Prinz Louis Ferdinands Antlitz ging ein
ſchmerzliches Zucken. Eine abwehrende Bewegung war
ſeine Antwort.
Der Ausdruck „Hüpfen“, den Fürſtin Luiſe ge—
braucht, war auf den würdigen Miniſter nicht ganz
mit Unrecht angewandt. Unendlich zierlich und ver—
bindlich lächelte und tänzelte er da vor der Königin,
ſich ihrer Huld und Gnade bis zu ſeiner Rückkehr
empfehlend. Dann in ähnlicher Weiſe den anweſenden
Prinzeſſinnen, endlich den Prinzen. Mit hämiſch
triumphierendem Lächeln trat er vor Prinz Louis hin.
„Haben Eure Königliche Hoheit keine Befehle für
mich nach Wien?“
Es ſollte eine Anſpielung ſein auf die Reiſe nach
Wien, die der Prinz das Jahr zuvor zu Haugwitz'
Ärger unternommen, und auf welcher er ſo warne
Sympathien für ſterreich gewonnen, als man ihm
dort Bewunderung und Huldigungen entgegengebracht.
Ein einziger Blick aus den Hohenzollernaugen
glitt auf den Höfling herab. „Herr Graf, hätte ich
Befehle zu geben — Sie würden ſie nicht über—
bringen!” *)
Graf Haugmwit folgte dem König in defien Ge:
mäder, um bort noch befondere Suftruftionen ent:
gegenzunehmen.
Als Prinz Louis fih ummandte, jah er den
Blid der Königin auf fich gerichtet, von einem Lächeln
*) Hiſtoriſch.
ö — — — — —— — — — ꝰ õ õä õ õ ä ä ———
25 Schwertklingen.
begleitet, ſo ſchalkhaft und anmutig zugleich, wie es
nur ihrem Liebreiz gegeben war, ſich zu äußern.
Verſtohlen drohte ſie ihm dabei mit dem Fächer.
Raſch und lebhaft trat der Prinz zu ihr. „Galt
dieſe Drohung mir, Majeſtät? Nun, dann wiſſen Sie
auch, daß es nur eine Hand auf der Welt giebt,
von der ich willig und gern alles hinnehme, was ſie
über mich verhängt! auch eine Drohung! Aber wo:
durch habe ich fie verdient? Welches Vergebens machte
id mich ſchuldig?“
Das leile, doch deutlich vernehmbare Kniftern
eines jchweren Seidengewandes berührte warnend
fein Ohr. Ein übermütiges Lächeln blitte über jein
Gefiht. Er verftand — e8 war die Gräfin Voß,
die ftrenge Hüterin ber Etikette, die nahe hinter ihrer
Herrin ftand und ihn erinnerte, in feinen Neben und
Manieren nicht allzu vertraulih zu werden. Die
Frau Oberhofmeifterin liebte ihn nit! Sie trug ihm
leilen Groll jeit jenen längft vergangenen Tagen,
da er der Schweiter der damaligen Kronprinzejlin,
der nachherigen Fürftin Solms, in auffallender Weije
den Hof gemadt. Die fchlaflofen Stunden, die er
da der treuen Wächterin bereitet, konnte fie nicht ver:
gellen. Er mußte das wohl, doch ging es ihm nicht
fonderlich zu Herzen. Der Beifall fittenftrenger alter
Damen war nie das Ziel jeines Chrgeizes gemelen.
Auch die Königin veritand jenes ausdrudsvolle
Kniftern. Auch fie erichredte es nicht. Der gefunde
Humor, ein Beitandteil und zugleih Ergebnis ihrer
hohen Geiftes: und Charalterftärte, hob fie leicht und
fiher über Etiketten und fonftige Vorurteile empor.
Er leudtete jett wie ein Sonnenftrahl in ihrem
Ihönen Auge auf, als fie mit halbem Blid den ihres
Vetters ſtreifte.
„Nehmen Sie es nicht als Drohung, mein
Couſin! Ihre Antwort an den Grafen war gut —
aber ſie war ſcharf! Und ich wollte Sie nur warnen
— Sie ſehen, es wird hier heute viel gewarnt!“
ſchaltete ſie lachend ein. „Ich ſehe nicht gern in
Ihrem Auge den großen Zornfunken, ſelbſt wenn er
ſich auf dieſe Zielſcheibe richtet!“
Prinz Louis unterdrückte einen Seufzer. „Die
Zielſcheibe, welche Graf Haugwitz heißt, dürfen Eure
Majeſtät immerhin meinen Zornfunken preisgeben!
Sie ſchaden ihm, leider Gottes, nicht, ſie erreichen
ihn nicht einmal! Aber meine Gefühle ihm verbergen,
das kann ich nicht, ob ich auch ſeiner Rache nur zu
gewiß bin!“
Die Königin neigte ſich näher zu ihm hin.
„Rache — Vetter Louis welch ein Wort! Trauen
Sie ihm ſchon die Abſicht zu, das mag ſein! Aber
die Macht beſitzt er nicht, wenigſtens nicht, wo er
dazu ſeines Einfluſſes auf den König bedarf! An
dieſem Felſen ſcheitern Verleumdungen und Rache—
gelüſte!“
„An dem Felſen, welcher Königin Luiſe heißt —
ja, da ſcheitern ſie, Gott ſei es gedankt! Aber glauben
Sie mir, Majeſtät, viel leichter würde ich jede De—
mütigung ertragen, die mir aus meines Königs Hand
zu teil wird, wenn ich wüßte, ſein unbeeinflußtes
Urteil diktierte ſie ihm! Doch überall und immer
wieder erkenne ich Haugwitz' Hand! Seine Dolchſtiche
En
Roman von Hans Werder. 26
find es, bie ich hinnehmen muß, feinen Hohn oben:
drein! Und das ift hart!”
Königin Luife beftete einen forihenden Blid
auf ihn. Da war wieder der große Funte, den fie
nicht zu jehen gewünjdht, aber es war nit Zorn,
den er jpiegelte, ſondern verhaltener, Leidenj&haftlicher
Schmerz.
„Was ift wieder vorgefallen? Sagen Sie es
mir!” befahl fie.
„D, nichts Neues, eine alltäglihe Sade! Ich
bat — Majeftät, ich bat! mir bei der jegigen Mobil-
madung eine SHeeresabteilung jelbftändig anzuver:
trauen! Jh glaubte, was ich vor zwölf Jahren ge:
leiftet, würde man mir auch jegt zutrauen lönnen.
%h ward abichlägig beihieden. Die Regimenter find
ausgerüdt — ich fige hier! Ah, Majeftät, willen Sie,
was Tantalusqualen bedeuten?”
Die Königin bewegte leife ihren Fächer bin und
ber, wie in ernfter Erwägung. Dann näherte fie
ih ihm wieder. „Vetter — was grämt Sie bdiele
Mobilmahung, die fi gegen die Koalition, gegen
unfere natürliden Verbündeten richtet. Sie jelbft
verurteilen biefelbe am bhärteften! Wenn wir erft
unfere Heere gegen den Feind rüften werden, dann
erhalten Sie einen felbftändigen Oberbefehl, verlafjen
Sie fih darauf!”
Prinz Louis bob einen tummen Blid zu ihr
auf. Sie nidte ihm freundlich zu und wandte fi
mit einer lebhaften Frage an die junge Prinzeß
Wilhelm, ihre Schwägerin, diejelbe zu einem Sofa-
plat binführend. Die Unterhaltung ward eine all-
genteine.
Sept Lehrte der König zurüd, fichtlich beunruhigt,
jorgenerfült.e. Er wäre gern mit jeiner Gemahlin
allein gewejen, und wenn er aud biefem Munich
keinerlei Ausdrud verlieh, jo wirkte doch der Drud
feiner Stimmung lähmend auf die der hohen Bäfte.
Der Fluß der Unterhaltung drohte zu ftoden, dod)
Königin Luife wußte jolhem Unfall vorzubeugen.
„Better Louis, geben Sie uns ein wenig Mufit!
Ich dente, es wird meinem Manne angenehm jein?”
"wandte fie fi mit lieblicher Freundlichkeit an diejen.
„Allo machen Sie uns die Freude!”
Prinz Louis fprang auf: „Wenn Eure Majeflät
befehlen, unendlich gern!” Die Aufforderung entiprach
feiner Stimmung. Er nahm vor dem geöffneten
Flügel Plat und mit den fchlanften Händen darüber
hingleitend, juchte er mit leichtgefalteter Stirn in
jeiner Erinnerung.
Dann aber quoll e8 aus den Taften hervor,
majeftätifh, beldenhaft, eine Flut der Begeifterung,
wie nur die Mufif fie hervorzuzaubern vermag. -Ind
fie wirkte in den Herzen einer Zuhörer aufrüttelnd
— fortreißend. Sie fang ihnen von Baterlandsliebe,
von Heldengröße, von Sieg und blutigem Tod, von
unfterblihem Lorbeer. E8 war Beethovenihe Mufik,
die er ihnen gab. Als er fie einft jo vor des Meijters
eigenem Obr geipielt, da fagte diefer bemundernd
von ihm: „Er jpielt gar nicht prinzlich, jondern wie
ein echter, tüchtiger Mufiter!“ *)
*) S, Kohl, „Beethoven”.
27 Die neue Herrin.
Roman von Karl Erdm. Ebler.
Der Heldengefang verftummte und tiefes, be: |
wegtes Schweigen lag über der hohen Verfammlung.
Sn dem Auge der Königin Ichinmerte eine Thräne
und rollte langfam über die zarte Wange hinab.
Deutfhland keinen Helden,‘ erklärte er mir, ‚ich habe
Prinz Louis gemwahrte fie mit dem einen Blid, ben
er zu ihr hinüberfandte.
„Vorzüglid — kann man nicht anders jagen!”
meinte der König. „Habe Dich nie jo gehört, Zouis!
Mas war es, das Du jpielteft?”
Prinz Louis erhob fi langlam und jtrich mit
dem feinen Seidentuh über die Stirn. „Es war
28
Vorwurf gemadt, und er jagte mir, daß er fie Bona-
parte zuerteilt, als derfelbe feine Siege in Ägypten
und Stalien erfochten, ehe er der Feind unjeres
Baterlandes geworden. ‚Sh FTannte zur Zeit in
auch jett noch feinen erfannt. Aber er wird fommen,
bes bin ich gewiß! Er wird auferfiehen und Deutich:
lands Größe wieder aufrichten, herrlicher als je zu-
vor. Db Schon bald — als Sieger über den Helden
|
meiner Eroica, das weiß ich nicht! Kommen aber wird
er einit, uns an dem Unterdrücker zu rächen! Und
eigentlich feine Klavierlompofition, Majeftät ,“ fagte dann fol ihm, wer e8 auch) jei, die Eroica gewibmet
er mit bededter Stimme. „Ich hatte es nur jo in ber | fein!‘ Sn diefem Sinne |prah Meifter Beethoven zu
Erinnerung, — die sinfonia eroica von Beethoven!”
Mit rafher Bewegung fah die Königin auf.
„Aber Louis, wie kannit Du die fpielen!“ be-
|
mir, und legte damit gewifjermaßen ein Vermächtnis
in meine Hände!” Prinz Xouis trat vor die Königin
hin. „Auf diefen Helden warten wir!“ fuhr er fort.
merkte Prinz Auguft, fein jüngerer Bruder, ein da- |
- voltommenbeit die Sinfonia der Größe meines Vater:
mals ebenjo gejetter und ehrbarer junger Herr, als
ber ältere Das Gegenteil davon war. „Die Eroica ift auf
Napoleon Bonaparte gejchrieben und ihm gewidmet!
ih dadte nicht, daB Du Did mit joldem Werte
abgeben mwürbdeft!“
„Rein,“ fagte Prinz Youis feit und er wandte |
„Snzwilchen aber weile ich mit des Meiftere Macht:
landes, ich weihe fie dem Genius, den wir anbeten,
‚ der beilbringend und fiegverheißend über Preußen
|
|
|
fſchwebt!“
Königin Luiſe ſah ihn an, und ſie neigte in
königlicher Demut ihr Haupt vor dem Glorienkranze,
ſich damit an die Königin, deren UÜberraſchung ihm den er mit ſeinen Worten darauf gedrückt.
nicht entgangen war. „Ich ſelber habe dem Meiſter,
als ich ihn in Wien beſuchte, dieſe Wiomung zum
Sie entließ ihre Gäfle.
(Fortfegung folgt.)
Die neue KHerrin.
Roman
von
Barl Erdm. Edler.
(Fortſetzung.)
Es leuchtete dabei Franziska zum erſten Male
ein, weshalb die Mutter immer von den „Hunnen—⸗
augen“ und von der „Etzelhand“ Hoͤtvarys redete.
Es lag doch etwas Wahres in diefen Bezeichnungen
verborgen. Der Blick brannte ſo heiß, daß ſie noch—
mals tief errötete, und der Händedruck war ſo feſt
umklammernd, daß er ſchmerzte. Aber beides that
ihr ſeltſamerweiſe doch ſo wohl. Eigentlich koſtete
es ſie nicht geringe Uberwindung, Hetraͤty nicht um
den braunen Hals zu fallen. Als ſie endlich den
Sieg über ſich Jelbit dDavongetragen hatte, that es
ihr doch leid um den armen Menfcden, und fie ver:
meinte, ihm einen Eriaß für dieje verhaltene Um:
balfung bieten zu müflen. So gab fie ihm denn
dafür wenigftens nadträglih die Antwort, die fie
vorhin auf feine Frage chuldig geblieben war, ob
fie mit ihm „auf unjere Pußta” ziehen wollte. Sie
nidte ihm nämlich treuberzig zu. Sie that es zwei-
mal, und das zweite Mal ungeheuer auffällig, da-
mit es ihm ja nicht entgehe. Weil er aber gar jo
verzüdt und verwirrt ausjah, traute fie ihm fchließ:
lich doch nicht recht zu, daß er das Nicden ordentlich
verjtehe. Darum eradhtete fie es für alle Fälle als
erſprießlich, ſeinem Verſtändnis mit einem Heinen
Kommentar zu Hilfe zu eilen, und jagte, indem fie
die Augen niederfchlug: „Auf Wiederfehen, und —
faft hätte ich es vergefien — ih will es mir
anjehen fommen, ob die Brunnen dort wirklich nicht
genug Waller haben zu allen diefen ... .” Und ba-
bei drängte fie ihn ängfllih zur Thüre hinaus.
Denn der „Hunnenblid” machte ihr auf einmal
ihweren Kummer. Sie las in bemfelben deutlich,
daß Hetvary fie jegt gleih, und trogdem der Papa
im Nebengemady zujhaue, umarmen werde. ALS fie
ihn ohne Gefährbe glüdlih durch die Thüre gebracht
hatte, benahm er fi zwar etwas beruhigender.
Gleichwohl ſah ihn der Freiherr jehr erflaunt an,
als er erflärte, er werde morgen wiederlommen, um
ibm und der Freiin eine wichtige Sadje zur Ent:
Iheidung vorzulegen.
Franzisfa unterbrach energilh alle weiteren
Auseinanderfegungen, indem fie fih zwilhen Papa
und Hetväry wie ein Keil einihob. Sie fand aud)
feine Rube, bis fie jelbit hinter Hetwäry die Thüre
geihloflen Hatte und ihm nadblidte, wie er auf
feinem Stappenhengft in Sturmeseile zum Hofthore
binausjagte. E& war ein präcdtiger Anblid — nur
zu furz dauernd! Und fie dachte mit einer gemwiffen
29 Die neue Herrin,
Befriedigung daran, um wieotel länger fih auf
der weitgedehnten Rußta die Augen an einem joldden
Scaufpiele weiden lünnen. Sie Jah die Pußta
wieder vor fi: groß, weit, flah, oben die Sonne,
unten auf dem lichten Wollengrund die Dduntle
Reitergeftalt, erft groß, dann Heiner, dann winzig,
immer näher dem Saume des Himmels entgegen:
eilend, bis fie wie ein Vogel bineintaudte und ver:
ſchwand.
Der Freiherr rieb ſich inzwiſchen die Hand,
welhe Hetväary zum Abfchiede gedrüdt hatte, und
betrachtete fie dann aufmerliam von allen Seiten,
ob fie nod die übliche Form befige. Nachdem er
fih über ihre äußere Geftalt beruhigt und fi) aud
dur mehrmaliges Schlenlern von ihrer inneren Un:
verjehrtheit überzeugt hatte, jagte er zu Franzisfa
mit unverbohlenem Verdruß: „Was fällt denn
Heivary um des Himmels willen wieder ein? Wir
baben do genug Brunnen in Oberlingen, über:
genug. Nur zuviel eigentlih und zu kalte. Wozu
aljo noch andere, die Du Dir anjehen wilfi?! Die
Mama ift imftande, wenn fie von bDiefen neuen
Brunnen hört, wieder ... . kurz, daß Du mir ja
nicht etwa der Mama davon zu Jhwaten anfängii.”
„Lieber Papa, ih . . .” fagte fie errötend.
Sie fand jedoch keine rechte Erwiberung und benützte
endlich ſeine eigene ſtereotype Antwort, indem ſie
ausrief: „Der Mama? Das fällt mir nicht ein-
mal im Traume ein.“
„Mir auch nicht. Weißt Du, Fanny, ſie iſt
ein Phänomen und wäre imflande . .
Aber Franzisfa war bereits wieder zum Klavier
geeilt, um weiteren Auseinanderfegungen über Die
geographiſche Lage der geheimnisvollen Brunnen zu
entihlüpfen. Dajelbft wühlte fie fi vor neugierigen
Fragen, die etwa noch aus dem Raudgemwölf des
Nebenzimmers bereintönen konnten, in ein dröhnen:
bes Fortilfimo ein, jpielte nacheinander eine ungarische
Nhapjodie von Lilzt, die ungariihen Tänze von
Brahms, dann wieder eine ungariihe Rhapjodie von
Liſzt, und verſuchte endlich die Pußtaphantaſie Het:
varys weiterzujpinnen. Aber der Cymbal Elang wie
eine Harfe, und aus ben bunllen Zigeunerweilen
wuchs es auf einmal fo blond und fchliht und weid
heraus, und hörte fih ganz an wie das alle:
Ad, wie ift’8 möglich dann,
Daß ih Dich lafien faun?
Hab Did von Herzen lieb,
Das glaube mir!
Dann ward zwar jchleunigft wieder nah Ungarn
zurüdgelentt; alein auch jett behaupteten fidy die
heldenhaft klirrenden Anklänge an den Raͤkoczi⸗-Marſch
doch nur wenige Takte lang und bildeten bloß eine
etwas befremdende Einleitung zu dem lieblichen:
Wir winden Dir den Jungferkranz
Mit veilchenblauer Seide.
—R
Es hatte ſich wunderlich gefügt, daß die leibliche
Tochter Gittas zur ſelben Stunde flügge ward, in
welcher dieſe ihre Adoptivtochter Martina unter ihre
Roman von Karl Erdm. Edler. 30
ſchützenden Fittiche zu nehmen ———— Gitta war
über das Leben in Wartenkcon genau unterrichtet
und brannte vor Eifer, umgeſtaltend in dasſelbe ein—
zugreifen. Jetzt war die Gelegenheit da, und ſie ge—
dachte diejelbe feit beim Schopf zu paden. Als ſich
Martina nad der Beratung über die Kindermälche
verabjchieden wollte, rief Gitta: „Nur noch einen
Augenblid! Sieh Dir doc wenigftens meine Zimmer
an! Du mußt nämlih willen — nein, Du fannft
nicht wiflen, welden Aufwand an geiftiger und körper:
liher Arbeit mid das geloftet hat. Und welche
Mühe, der Ichablonenhaften Routine diejer begriff:
ftügigen Handwerler ein wenig genialen Schwung
anzubilden! ch babe ihnen das Leben fauer genug
gemadt, aber, wie Du fiehft, es ift nett geworden,
nit wahr? Und zugleih praltiih. Alles meine
See. Bitte, lafie Di doch einmal auf biefe Gau:
jeufe nieder! Was? Nicht wahr? Das ift einmal
ein Siten! Audh meine Erfindung Weißt Du,
mein Mann hätte mih mit der größten Seelen:
ruhe in dem gebanfenlos Eonftruierten Mobiliar
weiter vegetieren laflen, welches noch jeine Groß:
mutter... nebenbei gejagt, jeine Großmutter war
eine geborene Wartentron. Daher hat Andre ficher
den Mangel an Eigenwillen geerbt. Ale Warten:
froner haben das. Ulrich hat gleichfalls ein gut Teil
von diefem Erbe mitbefonmen. Draußen flellt Ler,
drinnen Thomafine die Almadht vor, Ulrid aber
läßt fih von beiden...
„PBardon, ich muß doch wohl aufbrechen,” unter:
brad Martina, fi erhebend. Das warme Entgegen:
fommen Gittas beim erften Zujammentreffen auf
Wartenkron hatte ihr wohl gethan. Sie war fich ihrer
Unerfahrenbeit zu gut bewußt, um fih dur Gittas
Abficht, fie bevormunden zu wollen, gebemütigt zu
fühlen. Auch zählte fie nicht fo viele Freunde, um
nicht eine Hand feftzubalten, die fich ihr herzlich,
wenn aud etwas jelbftbewußt, entgegenftredte. Aber
wider Ulrich follte die Freiin nit reden, und fie
wollte e8 nicht anhören.
Gittas Icharfen Augen war diele ablehnende
Haltung nit entgangen. Der plöglide Aufbrud
riß ihr den jchön geiponnenen Faden jäh ab. Aber
GSitta war feine geborene Wartentron und bejaß
einen unerihöpflihden Worrat an Eigenmwillen. So
drüdte fie denn Martina energiih auf die Caufeufe
nieder, nahm die beiden Enden des Yadens ruhig
auf und Inotete fie EZunftreich wieder zulammen,
indem fie jagte: „Berzeih, Du haft mich nicht aus:
reden lafien. Bift Du wehleidig, und haft Du ge-
ahnt, daß jegt die Reihe an Dich fonımt, beanftandet
zu werden? Sch jagte: Ulridy läßt fich von beiden
fortichieben, und Du — wollte ih fortfahren, als Du
mich unterbrachſt — Du bilfft den beiden nod) dabei,
ihre Herrichaft zu verewigen. Du haft mir erlaubt,
Dih als meine Tochter anzufehen. Alfo denke Dir,
eine Mutter redet zu Dir, die e& gut mit Dir meint,
und renne mir nit davon, wie Du Deiner Mutter
nicht davonlaufen würdeſt, wenn fie offen mit Dir
fpreden würde! Zunähft laß Dir jagen, Kind, daß
man, um biejen Herren der Schöpfung zu gefallen,
fein Ausbund von allen erbenkliden jchönen Eigen:
a ea en nr
— — —— DD6 6 —
31 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 32
ſchaſten zu ſein braucht. Im Gegenteil, es ſteckt
etwas Verderbtes in ihnen, und eine ſolche Voll—
kommenheit ſchreckt ſie eher ab. Um ihnen liebens—
wert zu erſcheinen, genügt eine einzige Eigenheit, die
ihnen juſt zuſagt, und das iſt häufig keine Tugend,
ſondern eine ganz gräuliche Schwäche. So hat auch
Thomaſine ihren Mann nicht mit einem auserleſenen
Strauß von edlen Eigenſchaften bezaubert, ſondern
mit einem Fehler. Eigentlich war ſie ganz und gar
nur eine Verkörperung dieſes Fehlers — außen und
innen nichts anderes als Unterhaltungsſucht. Nicht
ich allein, jeder weiß das, der ſie ein einziges Mal
mit den unerbittlichen Augen der Unbefangenheit ge—
ſehen hat. Daß ihr Mann dieſe Augen niemals im
Kopfe Hatte, dafür giebt es hundert und etliche Ur:
jahen. Da ift vorerft fein Sdealismus, der jedesınal
lange braudt, ehe er von einer Zllufion zurückkommt.
Zumal um fi betreffs Thomafinens enttäufchen zu
Tönnen, war die ihm gegönnte Frift einer dreijährigen
Ehe viel zu kurz. Was fage ih: Ehe! Drei Sahre
Schonzeit find e& gewejen. Schonung während der
Brauttage, der Flitterwochen, der Honigmonde, jcho:
nendes Entgegenfommen bei ihren Bizarrerien vor
der Geburt des Kindes, nach derfelben fchonender
Erfag für das inzwilhen PVerfäumte, fchonende
Erholung von bdiefem tollen Nachholen, jchonende
Pflege in der nun folgenden Krankheit — Schonung
vom eriten Augenblid bis zum legten! Er ift nicht
dazu gefommen, fie ein einziges Mal nicht Schonungs:
bedürftig zu erbliden und entzaubert zu werden, jo
weit ein jo eingefleilchter Spdealift überhaupt einer
Entzauberung zugänglidh ift. Sehr weit ficher nicht!
Sch glaube fait, er wäre auch nad einem halben
Sahrhundert nicht zur Railon gelommen. Denn juft
Thomafinens Sudt nad Unterhaltung, Aufregung,
Abwechslung war der Zauber, der ihn Inedtete.. .”
„Sprich nicht jo hart von ihr!” unterbrad fie
Martina. „Sie war ein liebliches, reizendes — armes
Kind.”
„Du mißverftehit mid. Es fällt mir nicht im
Traum... ih will fagen: ich denke nicht daran,
Thomafine zu tadeln. Sm Gegenteil. Meine ganze
Rede verfolgt den Zwed, fie Dir al8 Mufter anzu:
empfehlen. Sie war eine ruheloje Natur, die ihren
Mann nie zu Atem fommen ließ. Dafür babe ich
nicht nur feinen Tadel, fondern perfönlid viel Syın-
pathie. Ah bin gleihfals, wenn auch in anderer
Rihhtung, eine ruheloje Natur, Mein Mann muß
gleichfalls außer Atem gehalten werden, überhaupt
— merle Dir das, Kind — überhaupt mehr oder
minder alle Männer. Sie verfallen Jonft in eine träge
Tyrannei, in eine empörend egoijtiiche Behaglichkeit,
machen bodenloje Anfprüche, und wollen den ganzen
Vorrat an aufopferungsvoller Xiebe des MWeibes all-
täglich als Hausmannstoft aufgetiicht befommen. Alle
Männer neigen dazu, alle ohne Ausnahme — aljo
aud) der meine und der Deine. Darum müjlen fie
furz gehalten werden. Das ift pure Selbiterhaltungs:
pfliht. Wenn man biezu unglüdlicherweile feinen
inneren Antrieb verjpürt, wie Du, mein armes Kind,
jo muß man fih ein wenig zwingen. Biß zu einem
gewillen Grade fanın man fih das aud durh An:
— — —⸗
bildung eigen machen, und ſo viel Wandelbarkeit der
Phantaſie findet ſich ſchließlich in jedem Frauenkopfe
vor, um dem Herrn Gemahl abwechſelnd den Stein
des Siſyphus, das Rad des Irxion, das Faß der
Danaiden zur heilſamen Beſchäftigung anzuweiſen —
nicht zu vergeſſen die Leckerbiſſen des Tantalus. Wohl—
gemerkt: abwechſelnd! Und ohne daß er ahnt, was
eben jetzt an die Reihe kommt — es muß dabei immer
auf eine Überraſchung herauskommen. Haſt Du Dich
einmal hineingearbeitet, ſo geht es von ſelbſt, und
dann wird Dir auch die Luſt daran ſteigen.“
„Ich glaube nicht,“ entgegnete Martina. „Und
ſiehſt Du, ich möchte es auch nicht. Es widerſtrebt
nicht allein meiner Natur, ſondern — aber Du darfſt
nicht böſe werden — es ginge auch gegen mein
Gewiſſen.“
„Das habe ich von Dir erwartet, mein armes,
armes Kind! Ich böſe werden? Und Dir? Weil
Du ſo ſtupid-ſublim-herzensgut biſt? Ein Gewiſſen
würdeſt Du Dir daraus machen? Mein Gott, Kind,
wie naiv Du noch biſt! Du ſcheinſt alſo nicht einmal
zu ahnen, daß ſich dieſe Herren zumeiſt vor Entzücken
nicht zu faſſen wiſſen, wenn ſie nach Art des Siſyphus
und dergleichen behandelt werden. Setzt man dies
ſcharfe Verfahren konſequent fort, ſo verwandelt ſich
— wie bei meinem Mann — das Entzücken mit den
Jahren in das ruhigere Gefühl dauernder Zufrieden—
heit. Geh und frage André, und wenn er Dir nicht
glücklich ſcheint, ſo will ich mir auch ein Gewiſſen
daraus machen. So, und dann geh zu Ulrich und
frage auch ihn! Thomaſine iſt ihm täglich ein neues
Räiſel geweſen, an deſſen Löſung er ſich ſelbſtoer—
geſſen abmühte. Jedes Wort kam unverhofft, alles
Thun war eine Überraſchung, kein Tag ſah dem
anderen ähnlich, keine Stunde brachte, was die vor—
hergehende erwarten ließ. Entzückt vom Reiz end—
loſer Abwechslung, ließ er ſich in einer Art Taumel
aus einer Aufregung in die andere mitreißen, und
iſt dabei nie zur Ruhe, ja kaum zur Beſinnung ge—
kommen. Jetzt kann er ausruhen. Du, Kind, machſt
Dir ein Gewiſſen daraus, ihn aufzuſtören. Du biſt
gut und hell und durchſichtig wie friſches Quellwaſſer
— das ſchäumt nicht und berauſcht nicht. Du haſt
ihm vom erſten Augenblick an nichts zu erraten ge—
geben, und was in der nächſten Stunde, morgen, in
einem Jahre, das ganze Leben hindurch von Dir zu
gewärtigen iſt, ſteht klar vor ſeinen Augen wie in
einem aufgeſchlagenen Buche.“
„Und ſoll denn das nicht fo fein?” fragte Mar:
tina lächelnd,
„Sewiß joll es fo fein. Aber das ift eben das
Verderbte und Berfehrte in der Männernatur, daß
ihnen das lieber ift, was nicht fein fol. Was Jein
fol, langweilt fie leider. So ruht fih aud Ulri
jegt bei Dir von Thomafinen aus, aber, glaube mir,
er langweilt fih dabei. Es ift — ih made Dir das
Zugeltändnis — eine behagliche Xangmeile, beruhigend,
erquidend. Eine Weile thut das wohl, wie Waldes-
bämmern nah den fprunghaften Sonnenlidhtern
und frafien Farbenzujammenftellungen eines bunten
Blumengartend. Aber wenn man jo fortwandert,
ftunipft fih der zarte Reiz ab — es bleibt immer
ie nun ee A ee
„ut _
33 Die neue Herrin.
dasjelbe Grün nah und fern. Sieh Dir einmal,
wenn Du beimlommft, diefen Ulrich bei guter Be:
leudhtung genau an, ob er derzeit in Deinem rub-
famen Waldesjchatten ebenjo entzüdt ift, wie er e8
ehedem in Thomafinens grellfarbigem Srrgarten war.
Sollteft Du dabei ein Deficit für Deine Methode
entdeden, dann . . .”
„Ich . ..“
„Kind, ich weiß, was Du ſagen willſt. Aber
verſchwöre es nicht, antworte mir nicht jetzt, beſchlafe
es erſt — es iſt praktiſch ...“
„Praktiſch, das mag es wohl ſein,“ jagte Mar:
tina verſonnen. „Aber ich beginne nachgerade zu
glauben, daß ich ſelbſt zu dem einfachſten natürlichen
Einfluß unpraktiſch bin, geſchweige denn zu dem ver⸗
worren künſtlichen, an welchen Du denkſt. Mir er—
geht es Deinem Rat gegenüber genau ſo, wie vorhin
beim Vorſchlage Deines Mannes, künſtliche Raud:
ringe um die Wette zu bilden — ich kann nicht
einmal rauchen.“
„Nein, ich ſehe es, das kannſt Du wirklich nicht.
Weder Tabak- noch Illuſionsrauch verſtehſt Du jeman—
dem vorzumachen. Es iſt mit Dir nichts anzufangen,
als Dich um den Hals zu nehmen und nach Herzens—
luſt abzuküſſen ... ſo, Du widerſpenſtiges Kind!
Aber ich habe Dich doch lieber, als wenn Du prak—
tiſcher wäreſt. Im Vertrauen geſagt: ich hätte mich
ſelbſt lieber, wenn ich manchmal weniger praktiſch
ſein würde. Andere praktiſche Leute kann ich eigentlich
nicht recht ausftehen, wie zum Beilpiel den Hetväry.
Du aber bift mir jegt erft recht ans Herz gewadjlen,
und wer Dir ein Härdhen frümmt, der bat es mit
mir zu thun!”
Unter allerlei geheimnisvollen Kriegserklärungen
gegen jemanden, den fie offenbar im VBerdadhte jolches
Haarkrümmens hatte, begleitete fie mit dem Freiherrn
und mit Franzisfa ihr Adoptivlind zum Wagent.
Zahäus ließ diefen eine jener eleganten Bogenlinien
beichreiben, die ihm kein Sterblicher nachkutſchierte,
und fuhr, von dem Freiherrn bewundert und fid
felbft bewunbernd, zum Thore hinaus.
„Run, wer zulegt lacht, lacht am beiten,” jagte
-Gitta zu dem Freiherren, der noch immer den wunder:
baren Schwung der NRäderjpur im Hoflande an:
ftaunte.
„Wer?” fragte er aufblidend.
„Wer? 3h. Sch werde zulett laden. Mit
Martina ift nichts anzufangen. Sie tft eben ein
Engel, und wenn man glaubt, man hat fie jchon,
jo entfaltet fie gelaflen ihre Flügel und fchmebt
bimmelwärts. Aber Ulrich ift fein Engel... .”
„Rein, ein Engel ift er nicht!”
„Habe ich das behauptet? m Gegenteil. Aber
Du mußt immer widerjprehen. Nebenbei gejagt,
will ih mir anftatt Martinas jest diefen Ulhih um
die Singer wideln!“
„Thu das! Du wirft das im Handumdrehen
zuftande bringen. Diejer alberne Ulrih! Ach glaube
gar, er hat ihr das Rauden verboten!” fagte der
Freiherr, ließ fih ein Pferd jatteln und ritt nad
einem entlegenen Meierbof.
Als er abends heimfam, war er fo ermübdet,
Roman-Zeitung 1896,
= BE — — —— - — * =
— — — — —— — * — —
Roman von Karl Erdm. Edler. 34
daß er bald nach dem Souper im Schlafzimmer ver⸗
ſchwand. Franziska hatte zwar von jeder ſervierten
Schüſſel eine große Portion auf ihren Teller ge:
nommen, diejelbe jedoch unberührt wieder wegtragen
laflen. Dann war auf einmal ihr Stuhl leer. Gitta
beforgte noch einige Korreipondenzen. Dabei hatte
fie die unllare Empfindung, als jumme beftänbig
irgend etwas Melandolifhes und zugleich Erotifches
um ihre Ohren. Als fie beim Couvertieren eines
Briefes einmal aufmerkjamer borchte, erlannte fie in
der erotilhen Melancholie einen ungarifchen Cjardas,
welden Franzisfa, durch zwei Zimmer von ihrem
Schreibtifh entfernt, auf dem Klaviere jpielte. Sie
nahm ji vor, ihr morgen ernftli ins Gewiflen zu
reden, daß fie fih mehr mit Flaffischer Muftt abgebe,
und jchrieb weiter. Das Summen ging auch weiter.
Als fie nah einer halben Stunde abermals einen
Brief zullebte, Eang es immer noch berüber wie
Sporengellirr und Ferjenftampjen, Cymbalichlag und
Tiedellang.
„Was fol denn das heißen?” jagte Sitta zu fi)
jelbf.. „Das Fannerl wird ja ein ganzer Zigeuner:
frag!” Dabei erhob fie fi auch jchon empört und
ftürzte ins Klavierzimmer mit den Worten: „Was
treibft Du denn da feit einer Stunde für einen un:
civilifierten Unfug? Um des Himmels willen, wie
Du nur ausfiehft! Not, verweint, zitternod — was
baft Du denn, Kind?”
„ziebe Mama, Hetvary ift da gemejen und...
und wird morgen wiederlommen.”
„Das thut er gewöhnlich, umd ich verftehe nicht,
wie das... .”
„Er will Dir etwas jagen.”
„Das thut er gewöhnlich nit. In der Regel
Ichweigt er. Aber ich begreife immer noch nicht, we:
halb Du. . .*
„Er will mit Dir von Brunnen reden.”
„Bon Brunnen?”
„Sa, und von der Pußta, und...
von mir.”
Gitta betrachtete jett Franziska fehr aufmerlfam.
Diele aber warf auf einmal beide Arme um Gittas
Hals und barg ihr Gefiht an deren Bruft.
„Mama, liebe Mama!” ftammelte fie chluchzend.
Bitta jagte nichts, fie wartete.
„Mama ... er wil mid nämlich mitnehmen
auf die Pußta.”
„Sonft nichts? Und Du?”
„IH? Ih, Mama — weißt Du, liebe Mama —
ich lafje mi ganz gerne mitnehmen.”
„Mitnehmen? Schon bei bem Gedanken daran
tönnte man das Grufeln lernen. Nein, Kind, daraus
fann nie und nimmer etwas werden. Das ift fein Mann
für Dih, Fannerl. Ein Hunne! Halt Du die Gejdhichte
der Völkerwanderung ſchon ſo ganz vergefien? Ein
Menich, der imftande ift, feinen Wohnfig auf irgend
einem firuppigen Pferde aufzufchlagen, wenn ihm
feine Frau einmal eine ernfte Vorfiellung macht, und
der fih jein Beefftenl unter dem Sattel gar reitet,
wenn er aus Troß oder Bosheit nicht mit feiner
Frau Ddinieren will!”
„Aber Mama, die Magyaren ftammen gar nicht
. und aud
IV. 3
35
von den Hunnen ab. Und wenn au, fo ift diefe |
Geihichte von der Beefitealreiterei bereit8 ein und
ein halbes Sahrtaufend alt. Das ift Schon jo lange
ber... .*
„Biel zu wenig lange. Beobadte ihn nur ein:
mal, wenn er reitet! Ganz als ob der Pferderüden
fein eigentlihdes Domizil wäre. Oder betrachte Dir
ihn, wie er auf meinen niedrigen Salonftühlen mit
feinen enblofen Hunnenbeinen reitet, wenn er mit
dem Papa Schach jpielt! Ganz als ob er auf einem
furzbeinigen Steppenpferde fein Diner mürbe galop-:
pieren würde. Sieh Dir das genau an, und dann
werden Dir diefe Lölferwanderungsgeichichten nicht
mehr jo alt vorfommen. Und fein Blid, fein Hände:
dbrud — Fannerl, ich fage Dir, der Generaladjutant
Epels hat nicht um ein Haar anders ausgejeben als
diefer Hetvary.”
„Dann muß diefer Adjutant gar nicht übel aus:
gejehen haben — jei nicht böfe, liebe, liebe Mama!
Aber fiehft Du, das alles ift ja doch fein Grund, um...“
„Kein Grund? a, wenn Du mir nadıgeraten
wäre! Dann wäre es in ber That fein Grund,
weil Du den alten Egel in diefer neuen Hetväry:
Auflage zähmen würdeft. Aber Du blondes, blau-
äugiges Kind mit dem weichen, traumhaften, deutjchen
Heraden — und diefer kaffeebraune, glutäugige, ener:
oifhe Steppenreiter! In aht Tagen würde er Dich
maltraitieren.”
„Liebe Mama, id made mir nichls daraus,
daß er energiih if. Sch glaube nicht recht daran,
aber, fiehft Du, von ihm ließe ich mich gerne aud)
ein bißchen maltraitieren.”
„Höre ich denn recht? Wie ift es möglich, daß
ein Gejhöpf mit jo verjchrobenen Anfichten unter
meinen Augen bat aufwadjen fönnen? Und biejer
Nomade fiedelt überdies nicht in der Nachbarſchaft,
nicht einmal in demjelben Lande, wo er wenigiteng
unter meiner mütterliden Zudt ftände. Aber wie
wilft Du, daß ih Dich hier in Oberlingen gegen
die Barbaren:Delpotie Ihüte, mit welcher er Did
auf feiner Aparenfteppe Inechtet? D, der Plan ilt
furdtbar praltiih: Dich irgendwohin an das Ende
der Welt jchleppen, und mich bier am andern Ende
laffen! Er ift überhaupt durch und durch praftifch,
biefer Hetvary! Daß Du es nur weißt: Ler bat
Urjadhe zu glauben, Hetväry habe fih nur deshalb
als Volontär auf Wartentron feitgejegt, um jich in
die Sabrilsgeheimnilfe der Glashütten einzufchleichen,
welche Fremden gegenüber ftreng gehütet werben.
Diejelben betreffen jowohl Slasforten als auch Glas:
farben — durdaus Erfindungen von Ulrich Warten:
fron, ber in feinem Laboratorium oben ein Genie
fein fol. 2er it der Meinung, Hetvary wolle auf
feinem Gute Glashütten errichten und mit den bier
erihlichenen Erzeugungsmethoden betreiben. ch bin.
überzeugt, er jpefuliert auch darauf, neben bieje
Glasfabrif eine Iufrative Kaltwafler:Heilanftalt bin:
zubauen, und lodt mir alle meine neuen Sbdeen für
deren Ausftaltung ab. Darum hat LXer alles daran
gelegt, daß der allzu praftiihe Herr möglichjt meit
abjeit der Fabrif Beichäftigung finde. Die Heide:
höfe haben gerade die rechte Entfernung.
Die neue Herrin. Roman von Karl Erbm. Edler. 36
Franziska hob das Gefiht von der Bruft Gittas,
warf den Kopf mit einer heftigen Bewegung rüdwärts,
daß die blonden Zöpfe einen unwirhen Sprung
madten, und dur die feuchte Bläue der Augen
hoffen Blite. — „Mama,“ fagte fie, und alle
Meichheit war aus ihrer Stimme gewidhen — „Herr
von Hetvräry ift ein Mann von Ehre, und Herr von.
Thurmbrud iſt ein ſchlechter Menſch!“ — Damit
wandte ſie ſich und wollte gehen.
Gitta hielt ſie am Arme zurück und ſagte nach—
drücklich: „Noch eins. Ich verpflichte Dich, von der
vertraulichen Außerung Thurmbrucks gegen niemanden
Gebraud zu maden, amı allerwenigiten gegen Hetvärı)
jelbit, falle Du mit ihm an einem zweiten Drte zu:
jammentreffen fjollteft — bier wirft Du nicht mehr
in die Lage kommen. Was die Merbung jelbit an:
belangt, fo jei überzeugt, daß Herr von Hetvary
fih einer entidhiedenen Ablehnung mit Gleichmut
fügen wird. Praktiſche Naturen nützen ſich nicht
umſonſt in ausſichtsloſen Kämpfen ab. Was Dich
betrifft, ſo iſt es eine Kinderei, die Du Dir morgen
aus dem Kopfe ſchlagen und übermorgen ſchon ver—
geſſen haben wirſt. Geh, ſei mein kluges Kind, und
denke lieber ſchon heute nicht mehr daran! Wenn
Du es beſchlafen haſt, wirſt Du morgen früh ſelbſt
über dieſes Hunnenmärchen lachen.“
„Es giebt Märchen, über die man auch weint.
Er wird nicht mehr kommen, ich werde ihn nicht
mehr ſehen — Du willſt es ſo. Ich darf ihm auch
nicht ſagen, weshalb ... nicht einmal einen Wink
von der Bosheit ſoll ich ihm geben, die der argliſtige
Thurmbruck gegen ihn erſonnen hat. Ich gehorche
Dir, Mama. Aber lieb haben werde ich ihn doch,
morgen, und übermorgen, und immer. Verzeih mir,
aber dafür kann ich nichts, und dagegen kannſt Du
nichts! Praktiſche Naturen — haſt Du vorhin ge—
ſagt — nützen ſich nicht umſonſt in ausſichtsloſen
Kämpfen ab. Du biſt eine praktiſche Natur, Mama,
thu mir alſo nicht umſonſt wehe in meinem Gefühle!
In allem anderen bin ich Dir ja zu Willen. Gute
Nacht, Mama!“ —
Gitta ſtand noch immer und ſtarrte auf die
Thüre, durch welche ihre Tochter verſchwunden war.
„Iſt denn das unſer Fannerl?“ ſagte ſie ganz er—
ſtaunt zu ſich ſelbſt. „Sie fängt auf einmal an,
mir nachzugeraten. Gar nicht übel! Als Neſtling
ſchien ſie mir ganz aus meiner Art nn... aber
jeßt, da fie flügge wird, ift die Ahnlichkeit nicht
mehr zu verlennen. Die Krallen wadjen, jogar ber
Schnabel wird härter und fpiger. Sch follte mid
darüber freuen — wenn nur der Anlaß ein erfreu:
liderer wäre. Ah was! Es ift doch nur eine
Kinderei, und fommt Zeit, fommt Rat!”
XVL.
Helvary Fam nach Oberlingen und warb um
Sranzislas Hand. Es war die längfte Rede, die der
Ihmeigjame Mann in feinem Leben gehalten Hatte.
Die Antwort darauf mochte die fürzefte fein, welche
die redjelige Gitta je erteilt hatte. Es war ein un:
37 Die neue Herrin.
verblümtes entichiedenes Nein. Als fie fah, wie
feine „Öunnenfarbe” dabei von einer fahlen Bläffe
überhaucht wurde, motivierte fie die Furze Abmweilung
wenigftens böflih damit, daß fie über ihre Tochter
bereits anders entichieden babe. Er verneigte fich
Humm und ging. Im Korridor drüdte ihm jemand
etwas in die Hand. Er war fo verwirrt, daß er
die Gabe eine Weile umflammert hielt, ohne nad)
zujehen, was es war. Als er fih dann befann und
um fich blidte, war der SKtorridor leer. An der Hand
hielt er ein fchmales Streiflein Papier. Darauf
ftanden die Worte:
„Spreden darf ich nicht mehr. So |chreibe
ih denn, wenn aud nur Dies einzige Mal. Nötig
wäre es auch diesmal nicht, weil das, was ich
Ihreiben will, felbftverfländlih ift: daß ich halte,
was ih veriproden habe. Sch thue es nur des-
halb, weil ich gelefen habe, daß Neitervölfer einen
ungeduldigen Charakter befigen, und weil es bo
nicht geichehen Tann, daß ich mir die Brunnen in
der Pußta glei anſehen kann, wahrſcheinlich auch
nicht bald — aber einmal ficherlidh!
Franziska.“
Hetvary preßte die Zeilen an die Lippen, warf
den Kopf empor und fchritt hochaufgerichtet die Schloß:
treppe hinab. Unten Sprang er mit elaftilcdem
Schwung in den Sattel und galoppierte in ftolzer
Haltung zum Thore hinaus. Gitta, die ihm nad:
blidte, murmelte: „Ob ich nicht redht habe? Wie
mit dem Rappen zufammengewadlen! Ganz, mie
wenn er als Trdonnanzoffizier bei den Gentauren ge:
dient hätte. Und das will einen friedlichen Haus:
und Familienvater bei meinem blonden Fannerl ab:
geben! Lächerlich!“
Das blonde Fannerl aber jagte fich hinter der Vor:
bangipalte: „Und da8 da unten ift nun berfelbe
Erwin, der vor fünf Minuten mit gelenkten Kopf,
bleih, zufammengebroden aus Mamas Bimmer
ſchwankte. Was jo ein winziges Zettelhen vermag!
Wie dasjelbe ihn kühn, ftattlih, beldenhaft gemacht
bat, und fo tannengerade hoch und fchlant, fogar eine
Taille hat es ihm angebrechlelt — alles mein Zettel:
hen. Das liebe Zettelhen! Aber die Mama befommt
eine Abfchrift davon — wenn fie auch einen Augenblid
böje wird, e8 wäre unrecht, ihr nichts davon zu jagen.”
Hetvary fam nicht mehr nach Dberlingen, und
FSranzista verlegte fich Seitdem Ieidenichaftlid auf
das Schadjipiel. Sie war imftande, mit dem Papa
eine ganze Partie zu Ende zu fpielen, ohne ein ein-
ziges Mal aufzufpringen, was fie früher alle fünf
Minuten lang gethan hatte. Und biebei hatte fie
noh dazu bloß Unannehmlicdhkeiten zu überdauern.
Denn angenehm war es doch nicht, jeden Augenblid
von Papa hören zu müflen, wie Hetvary in Diefer
Lage einen anderen Zug gewählt, wie er jenen
Zmwifchenfall Tängft vorausgefehen, wie er überhaupt
die Partie in einer finnreicheren Weile durchgeführt
hätte. Allein der Tadel Papas über ihr „Eleinlich
einhertrippelndes Dilettantentum” Hang ihr mie bie
Ihönfte Mufil. Sie war ungeheuer zufrieden, wenn
er die großartige Gelaflenheit Hetvarys in den ver-
zmweifeltiten Momenten rühmte und ihr vorwarf, fie
— — — BET re ee Tre en
m — — — — — 2—
Roman von Karl Erdm. Edler. 38
mache ſchon in einem halbwegs bedenklichen Falle
ein Geſicht, als ob ihr die Hühner das Brot weg—
gefreſſen hätten. Sie hörte ihm ſchrecklich gerne zu,
wenn er Hétvaͤrys Meiſterleiſtungen auf ihre Koſten
hervorhob, und es ward ihr immer wohler, je tiefer
er ſie ſelbſt taxierte. Sie machte ſich manchmal
ſogar hinterdrein Vorwürfe, daß ſie ein klein
wenig verſucht hatte, dem Glücke nachzuhelfen, aber
immer nur zu ihrem Nachteile, um aus Papa einen
feurigen Hymnus zu Hétvaͤrys Preis hervorzulocken,
der ſchließlich in eine Elegie über den verlorenen
Partner ausklang. Er ſeufzte, und ſie ſeufzte auch —
damit endete jede Partie.
Doch auch in ſonſtigen Gewohnheiten hatte ſich
manches an Franziska geändert. So war von dem
früheren hurtigen Flattern und Herumſchlüpfen einer
Meiſe nichts mehr an ihr zu bemerken. Sie glich
jetzt mehr einem Vöglein, das im Käfig auf ſeinem
Stäbchen unbeweglich fitzt und das enge Gegitter
anſtarrt. Und wie das gefangene Voöglein ſang ſie
aus Gram, aus Sehnſucht, aus Hoffnung, zu
Zeiten auch aus Zorn. In der hoffnungsreichen
Stimmung ſang ſie ungariſche Volksgeſänge, in der
ſchmerzlich weichen deutſche, in der grimmigen jedesmal
engliſche Lieder, weil ſie das Engliſche nicht leiden
konnte. In der Geſindeſtube aber verbreitete ſich
eines Morgens die ſchauerliche Märe, die Baroneſſe
ſchließe ſich am Abend in ihrem Zimmer hinter
Schloß und Riegel ein und lerne Chineſiſch. Die
Kammerjungfer hatte es gehört, und es hatte den
Aufſchriften der chineſiſchen Theebüchſen ungeheuer
ähnlich geklungen, ganz wie: „Aſſam-Pecco“-Blüten“
oder ſchwarzer „Seofajun“, oder aromatiſcher
„Ljanſin“⸗Thee. An demſelben Abend waren bie
Hausnäherin, das Stubenmädchen und die Kammer⸗
jungfer in dem Zimmer der letzteren verſammelt.
Sie redeten nichts, ſie lauſchten nur. Aus dem an—
ſtoßenden Gemach tönte es in einförmigem Tonfall
herüber:
„il. Fall. Kedves gyérvizü gémeskütaim,
meine lieben ſpärlichen Ziehbrunnen;
2. Fall. Kedves gyervizü gemeskuütaim’,
meiner lieben jpärlihen Ziehbrunnen;
3. Fall. Kedves gyervizü g&meskütaimnak,
meinen lieben jpärliden Ziehbrunnen;
4. %all. Kedves gyervizü gemeskütaimat,
meine lieben fpärlichen Ziehbrunnen.” —
Es war in der That die Stimme der Baroneffe,
und fie las die ganze Deklination dreimal hinter:
einander ber. Ein viertes Dial ging es unvergleichlich
langlamer — mwahricheinlih jagte fie es jet aus:
wendig auf. Als fie dabei fteden blieb, flug fie
zwar mit der Hand ungeduldig auf den Tiih, fing
jedoch gleich danady wieder an:
„i. Fall. Kedves gyervizü gemeskütaim,
meine lieben ſpärlichen Ziebbunnen;“ —
und ſo weiter, ganz wie vorhin. Das klang freilich
der Theebüchſen-Sprache ungeheuer ähnlich, und
fortan ſtand, von drei Ohrenzeugen beſtätigt, unbe—
ſtreitbar die Thatſache feſt, die Baroneſſe habe ſich
dem Studium des Chineſiſchen ergeben.
Aber es war bloß eine ungariſche Grammatik,
39 Die neue Herrin.
die fih SFranzista, nebit dem Schlüffel zum Selbft-
ftudium, von ihrem Tajchengelde beftellt hatte. Sie
war fchredlih neugierig auf die „Hunnenfprade”.
Als fie aber ihr Näschen darein vertiefte und fich
mit Feuereifer auf die Dellinationen und Konjugationen
ftürzte, belfam fie reichlihe Gelegenheit, fih in der
Geduld zu üben. Es war „unfinnig Ichwer”, und
fie hatte jeden Augenblid irgend einen triftigen An:
laß, mit dem Fäuftchen den Tiih abzuflopfen. Die
ganze ungariihe Srammatif erjhien ihr gleich der
Pußta ungeheuer groß und weit, und wie bie dunklen
Balkenlinien der Ziehbrunnen fanden an allen
Eden und Enden der Wörter drohende Anhängiel,
„die Suffire”, wie diefer „unausftehliche” Grammatiter
fie nannte. Sie hängten fi, eines hinter das andere,
einem unglüdlichen Worte rüdmwärts an, und diejes
mußte fie dann feuchend mit fich jchleppen, wie bie
Zolomotive einen unüberjehbaren Laftzug. Der immer
„unausſtehliche“ Grammatiker ſchrieb natürlich mit
der größten Seelenruhe Dinge her wie: alkalmatlan-
kodom oder meggyözödéséhez, die doch zum Weinen
und zum Verzweifeln waren. Bei dem entſetzlichen
tapaszatalasokkal war fie nahe daran, dem Aber:
glauben ihrer Mama von der Hunnenabftammung
der Magyaren doch einige Beredhtigung zuzugeltehen.
Wortfoltern wie igazsagtalansägot fonnte eigentlid)
doh nur der graufame Ehel anmenden, wenn er auf
der Pußta mit Frau Helle, oder nad deren Tode
mit Frau Kriemhild eine unangenehme Konverjation
hatte. Bor einem jolhen Heerwurm von Nachfilben
lernte fie erft begreifen, wie aus der lieblichen
Kriemhild vom Rheine in Ehels Landen ein fo ent:
jeglih rahlüchtiges Weib werden konnte. Denn diele
Suffire verbitterten ihr jelbit den Tag und durd:
geifterten die Träume der Naht als grauenhafte
Gejpenfter, jedes mit einer langen Schleppe, auf
deren Endjaum das nädjlte Gelpenft jaß, jelbft wieder
mit einer langen Schleppe, und jo fort ohne Ende.
Aber Franzisfa gab nit nad. Diele „elenden
Suifire” follten fih nicht berühmen, daß fie die
Oberhand behalten hätten! Und mit Troß, Hart:
nädigfeit, Fleiß, Tiihabflopfen und Füßeltampfen
brachte fie diejelben auch glüdlich unter. Lim jedoch
auch einer anderen Seite der ungariihen Bolfsjeele
näber zu treten, magyarifierte Franzista ihr Klavier:
ipiel volftändig.e. Wenn fie daheim allein fpielte,
gab fie fih ausichlieglihd mit ungarilhen Kompo-
fitionen ab, und fuchte denfelben beim vierhändigen
Spielen mit Martina möglichit die Obmacht zu fichern,
wenn fie nah Wartentron berauflam. Das lehtere
geihah jet häufig und jedesmal ziemlich Lange.
Bitta war nämlid im vollften Zuge, auf
Wartenkron „normale Berhältnifje zu ftiiten”. Sie
hielt es für eine unabmeisbare Pflicht, ihre originelle
und praftiide Begabung zu Nuß und Srommen ber
ärmlicher Bedadhten zu verausgaben. Sie wäre fidh
wie der ungetreue Knecht des Evangeliums vorge:
fommen, der fein Pfund vergrub, wenn fie bas
Wartenktroner Leben hätte jo weiter gehen laflen,
daß die Nachbarn es belädelten oder bejpöttelten,
amüfant oder toll, unpaflend oder fomilh fanden.
Die Neugeftaltung der Kinderwälche für Agnes bot
‚dem Herzen.
Roman von Karl Erdm. Ebler. 40
ihr die willkommene Gelegenheit, ſich halbe Tage
lang auf Wartenkron anzuſiedeln. Da Martina
nicht zu einem energiſchen Verfahren umzuſtimmen
war, ſo verſuchte Gitta an ihr wenigſtens das Talent
des Ausfragens, um das Terrain für die Bearbeitung
Ulrichs genau zu ſondieren. Aber Martina beſaß
ihrerſeits das Talent des Schweigens. Seitdem
nahm Gitta jedesmal Franziska mit und warf ſie
Martina gleichſam als Opfer hin, um deſto un—⸗
geſtörter ihre Kreiſe um Ulrich ziehen zu können.
„Liebes Kind,“ ſagte ſie zu Martina, „ich weiß
durch Wimbacher, daß Du ein muſikaliſches Phänomen
biſt. Mit Händen und Füßen vor Wonne ſtrampelnd,
hat er mir erklärt, daß Du nicht bloß mit den
Fingern, ſondern auch mit dem Herzen und mit dem
Kopfe zugleich Muſik machſt. Nimm Dich doch der
Fanny an! Sie macht bloß mit den Fingern Muſik,
oder eigentlich „mit den Pfoten“, wie Wimbacher
draſtiſch zu ſagen pflegt. Alſo ich laſſe ſie Dir.“ —
Seither ſpielte Martina mit Franziska vier—
händig. Es ſtellte ſich heraus, daß letztere in der
That bloß „mit den Pfoten“ Muſik machte. Nur
wenn etwas Ungariſches auf dem Pulte lag — und
Fannerl ſchürfte unter dem Notenvorrat mit Vor⸗
liebe dergleichen heraus — dann ſpielte ſie auch mit
Und dieſes Herz gab ſich dabei ſo
ungeſtüm, ſo leidenſchaftlich, ſo überquellend leidvoll
und freudvoll, daß Martina nachgerade merkte, das
ſei nur ein Mittel, den gepreßten Gefühlen Luft zu
machen. Eines Tages hatten ſie die ungariſchen
Tänze von Brahms geſpielt, dann folgte Schuberts
Divertiſſement à la Hopngroise, und zuletzt kamen
Volkmanns ſieben ungariſche Skizzen daran. Da
geſchah es, daß Fannerl mitten in der vierten von
den ſieben mit den Fäuſtchen in die ſchöne Klaviatur
des Erard hineinſchlug und vor Martina in die
Knie ſtürzte, um ihr Geſicht in deren Kleid zu ver—
bergen. Als Martina hierauf das ſchluchzende Kind
an ihre Bruſt emporzog, erfuhr ſie in halb er—
ſtickten Worten, was ihr die ungariſchen Melodien
bereits verraten hatten. Nun war Martina in dem
naturgemäßen Elemente, das ihr ganzes Weſen be—
ſtimmte. Sie übte auch diesmal ihre Zaubermacht
mit dem altgewohnten Erfolge. Als Fannerl mit
der Mutter heimfuhr, ſchien ihr die Welt wieder ſo
ſchön, hell, hoffnungsreich, und mitten darin winkte
die liebe Pußta mit ihren Ziehbrunnen als ſichere
Belohnung für Mädchen, die brav und folgjam, ge:
dDuldig und mutig bleiben.
„Weshalb kommt Herr von Hetvary niemals
herauf?” fragte Martina Ulrih, Sobald Gittas
Magen davonrollte.. „Wie Du ermwähntelt, ift er
Dein Studiengenofje gewejen, und man jagt mir,
er jei ein tüchtiger, gebildeter, adhtungswerter Mann.
Wäre das nicht eine angenehme Gefelichaft für Dich?“
„Hetvary ift ein goldener Menih. Auf ber
Hochſchule waren wir täglich im Laboratorium beim
chemiſchen Braftitum beifammen.. Wir trieben
damals beide Agrikulturhemie. Er blieb auch dabei,
während ih zur Chemie der Farbitoffe überging,
die mid wegen unjerer Glasfabrikation jehr inter:
effierte. Hetväry ift ein Lenntnisreiher Donom
—— — —
41 Die neue Herrin.
geworden, hat dann vielſeitige Studien im Auslande
gemacht und Anſichten über den landwirtſchaftlichen
Betrieb mitgebracht, welche Lex leider nicht billigt.
Wir ſind übereingekommen, daß er auf einem Meier—
hof ſeine Ideen ſelbſtändig verwirklicht. Er disponiert
dort unumſchränkt über Hof und Leute, was dadurch
leichter ermöglicht iſt, daß die Heidehöfe abgeſondert
als Enclave in dem ehemalig Thurmbruchſchen, jetzt
Wildenſchildſchen Beſitztum liegen. Dieſe Abſonderung
hat den Reibungen zwiſchen ihm und Lex ein Ende
gemacht, und er kommt bloß deshalb nicht herauf,
um mit Lex nicht zuſammenzuſtoßen. Ich bedaure
das ſehr; denn ich ſchätze Hetväry als Menſchen, als
Landwirt, als Edelmann aufrichtig, aber Lex ...“
„St Herr von Hetvarı vermögend? Man bat
es mir verfihert, aber dann begreife ich nicht, weshalb
er unter Jolhen Verbältnifien bier bleibt.“
„Hetvary ift der einzige Sohn eines reichen
Mannes. Der Bater ift noch rüftig genug, um den
großen ungariihen Grundbefig verwalten zu können.
Der Sohn ftudiert indefjen die Wirtjchaftsorganifation
anderer Länder. Daß er troß des unglüdieligen
BZerwürfnifies mit Ler auf ben Heibehöfen ausharrt,
mag jo zu erklären fein, daß er fich felbit die Probe
liefern will für jenes Bewirtihaftungsfyftem, welches
er gegen Xer bei uns eingeführt willen möchte. Denn
auf dem fetten Weizenboden feines ungarifchen Gutes
fann er das Experiment nicht madjen. Er ift auf meine
drängende Einladung bier als Volontär eingetreten,
hat mich jedoch gleih nad den Zwift mit Xer er:
juct, ihm die Heidehöfe in Pacht zu geben, was id)
ihm auf der Stelle zujagte. Ler, der eben ab:
wejend war, zeigte fih von diejer Maßregel jehr
wenig erbaut. Aber ich hatte mein Wort gegeben,
und fo ijt es dabei geblieben.”
Während Martina fih Franzisfas am Klavier
annahm, halte Gitta einigemal Rekognoscierungen
gegen Ulrih unternommen, wobei es bereits zu
Heinen Gefechten gefommen war. Nun hielt fie Die
Zeit für gelommen, den Hauptichlag wider ihn zu
führen. Bei dem nädjften Bejuch eröffnete fie die
Feindjeligleiten damit, daß fie ihm glei im vor:
hinein den Rüdzug abihnitt. Sie übeıfiel ihn
nämlich ohne weiteres mit einer Flut von Vorwürfen,
daß er das junge Frauen nirgends binbringe,
niemanden binauftufe, fie in die Einfamfeit förmlich
einwidle, eigentlich lebendig begrabe. Als er einzu:
wenden verjuchte, die Urfache jolder Zurüdhaltung
jei die beiderjeitige Trauer, hatte fie ihn glüdlich
dort, wo fie ihn haben wollte. „Lieber Ulrich,”
Ipradh fie, „ih habe Sie als Kind gelannt, ich war
eine Freundin Ihrer Eltern und bin eine Verwandte
Khres Haufes. Erlauben Sie mir, einmal offen mit
Shnen zu reden — als Verwandte, oder befjer noch
— wie ih mit meinem Sohne reden würde?”
Uri nidte mit dem Kopfe und blidte nach:
dentlih vor fih Hin.
„Sehen Sie, lieber Freund, diefe Ihre Trauer
ift es eben, über die ich mit Shnen fprechen möchte.
Es ift eine Ihöne Sade um die Trauer, und die
Toten haben es gut. Ale Mängel und %ebler,
Flecken und Schatten find mweggewilht, und Die
Roman von Karl Erdm. Edler. 42
Phantafie ftürzt fih mit einer Art wahnmibiger
Übertreibung auf das Ausmalen ihrer Tugenden.
Die Läuterung fteigert fich zur Verklärung, bdieje zur
Bergötterung. Es fann vorlommen, daß auf Diele
MWeife ein nicht eben bedeutjames, vielleicht Togar
launifhes und Findifhes Welen unmittelbar nad
feinem Hinjheiden Flügel belommt und fih zum
Engel ummandelt, dann immer höher wählt, bis es
fih endlih auf den Himmelsihron niederläßt und
mit der ruhigften Miene jagt: ‚Du jollft feine fremden
Götter haben neben mir!" Das erinnert mid an
einen Abend, an dem ih mit Andre die SKreuzheide
entlang fuhr. Sch war in eine neue dee vertieft
und fuhr erjchroden empor, als Andre auf einmal
brummte: ‚So jhön! Das wäre mir nit im
Traum eingefallen.‘ ch wiederhole: erihroden fuhr
ih empor! Denn Andre ift fein Naturichwärmer,
und bejonders die Kreuzheide war mit ihrer unbe-
fiegbaren Unfrudtbarkeit immer ein Gegenftand feines
Grolles. Es giebt da nichts als Heidefraut, Flechten
auf dem Geftein, bie und da verfümmerten Wach—
bolderanflug, alles gebörrt und gebräunt von der Glut
des Tages. Seht freilich erihien das alles ganz
nett, weil fi die Sonne gerade als rotglühende
Kugel davonmadte. PVerklärung des Abjchieves —
nichts weiter! Andre aber ging dabei jogar die
Cigarre aus. Sn der rüdfichtslofeften Weile, als ob
ih Zuft wäre, drüdte er mich beifeite, um die von
ihm fo tief veradhtete Heide beiler überbliden zu
fönnen, und rief, als ob ich es nicht fchon gehört
hätte, und fo laut, ala ob ich halb taub wäre, nod
einmal: ‚So Ihön! Wirflid — nit einmal im
Traum wäre mir fo etwas eingefallen!‘ So wird
durch die überfcehwenglide Abjciebsillunination aus
der Kreuzbeide der Zaubergarten Armidas, und bie
eigene treue Lebensgefährtin auf dem Wagenſitz zur
Nechten wird Luft. Von dem falfchen Glanzlicht des
Abjihiedsjchmerzes geblendet, hat man fein Auge
mehr für das, was einem am nädhlten fteht. Es faın
dies zum Beilpiel eine Frau fein, deren Liebreiz
und Anmut jeden binreißt, deren Selbitverleugnung
und jchrantenlofe Güte feinen ungerührt läßt, deren
Charalterhoheit und Gefühlstiefe die Bewunderung
jedermanns erregt. hr Mann allein ift blind dafür,
weil er als ungetröfteter Witwer no) im verklärenden
Abſchiedsſchmerze ſchwelgt.“
„Sie wollten wie eine Mutter zu mir ſprechen,
Gitta,“ ſagte Ulrich aufſeufzend. „Darum habe ich
Sie nicht unterbrochen. Aber Sie haben wie eine
ungerechte Mutter geredet. Einem Sehenden ſticht
man nicht den Star. Kein Menſch kann ſchärfer
als ich ſehen, worin Sie mir Blindheit vorwerfen.“
„Deſto ärger! Wenn jener Mann nicht blind
iſt, dann iſt er ungerecht. Dann unterſchätzt er das
Neue, weil es nicht das Alte iſt — ich meine das
Alte, nicht wie es war, ſondern wie er es ſich hinter—⸗
drein erträumt. Dann möchte er wenigſtens der zweiten
Frau ihren eigenen Kopf abnehmen und ebenſo allen
Heiligen, Engeln, Erzengeln und der Madonna dazu,
und ihnen insgeſamt das Haupt anzaubern, deſſen
Anblick allein ihn beglückt. Wie wäre es denn
übrigens auch nur denkbar, daß ein lebendes Weib,
und wenn fie an Seele und Leib jo niederzwingend
berrlih wäre wie... turz, daß ein bloß anbetunge:
wertes lebendes Weib in Wettitreit treten könnte mit
einem bereits angebeteten vergötterten Welen nad)
deflen Himmelfahrt!” |
| „Aud darin würde eine Mutter mir nahe treten,
Bitte. Sch bin nicht ungereht, und kein Menſch
fönnte höher als ich den Wert deflen jchägen, was
ihm zu teil geworden ift,” fagte Ulrih, zu Boden
blidend.
„Das ift ziemlich einerlei für die arme Frau,
wenn ihr thatfächlih doch immer nur jene Wlindheit
oder Geringfhäßung zum Bewußtfein gebradt wird.
Mir hat die Sahe Kummer gemadt, und ich habe
die junge Frau ausgeholt . . .”
„Sitte, Sie haben . . .2”
„Beruhigen Sie fih! Sie verfteht befier zu
Ihmweigen, als ich zu fragen. Sie ift eben in allem
und jedem ein Weib wie fein zweites auf Erden.”
„Das ift fie,“ beftätigte Ulrich überzeugungsvoll.
Sitta blidte ihn zunädhft tief erftaunt, dann
naddenflih an. Erft nad einer Weile fuhr fie fort:
„Anvertraut bat fie mir nichts. Glüdlicherweile
disponiere ich über jo viel Menfchenkenntnig, um
auh ohne Ohrenbeichte manches zu erfahren. ch
will e8 Yhnen als ehrliche Freundin nicht verhehlen.
ch denke, fie ift eine Heilige an Selbftverleugnung
und Geduld. Es ift nit Schwadhheit,, die es
als pflichtgemäß erachtet, fidh einer Kräntung demütig
zu beugen; nicht Klugheit, die bloß Zeit und Ge:
legenbeit ablauert, um dann mit der Schnellfraft
bes zurüdgehaltenen Bogens loszubrehen, auch nicht
Gelafjenheit de8 Temperaments, weldhe gleichmütig
die Dinge zu fich berantreten Täßt. Ih bin aud
überzeugt, daß fie fich jelbit noch nicht ein einziges
Mal gefragt bat: ‚Was habe ich denn diefem Mann
Urges angethban, daß er jo gegen mich ift!* Ach
glaube vielmehr, daß fie fih immer nur das eine
fragt: ‚Was kann ich denn diefem Mann no Gutes
thbun, auf daß er gegen fi felbft anders if“
Herzensgüte, nichts als unfäglihe Herzensgüte ift
alles an ihr — fie ift ein wahrer Engel. Ich bin
ein nüchternes praftiiches Gejchöpf, aber jehen Sie,
lieber Ulrih, es ift ein ftiller, tiefer Zauber um
diefe Frau, den ich jelbft jegt nicht mehr milien
mödte. Er gleitet jo jacht und gleihmäßig janft
beran, daß man ihn wohl vorüberziehen laflen kann,
ohne fich jonderlich feines Neizes bewußt zu werden;
aber ich meine, hinterbrein mag man fi dann wohl
frank danach jehnen.”
„Krank danah jehnen,“ wiederholte Ulrih in
dem einförmigen Ton eines gänzlich Verjonnenen,
der unbemußt vor fich hinredet.
Gitta ftarrte Ulrich verblüfft an. Plöglich zudte
es wie ein Lichtftrahl über ihr Gefiht. Es war ein
Einfall — nein, etwas Höheres: eine Eingebung,
die alles durchhellte. Sie betrachtete Lllrich jeßt mit
einer ungebeuren Neugierde, wie er fih in ihrer
neuen Beleuchtung ausnehme Aber fie zwang fich
zu einer leidenjchaftslofen Kühle und fragte in nad:
läffig bingeflreuten Worten: „Krant danadh jehnen
— fagten Sie vorhin. Wonah?”
43 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdn. Edler. 44
Uri Hatte die Hand über den Augen liegen.
Yeht nahm er fie herab und blidte Gitta betroffen
an. „Bardon,” fagte er verlegen, „ich war einen
Augenblid zerftreut. Ih fjann nodh über Shre
früheren Worte nah. Herzensgüte haben Sie vorhin
das einzige Motiv von WMarlinas Handlungsweije
genannt. Nun fragte ih mi: was ift das Motiv,
daß fih fo. viel Güte gerade einem Menjchen zu:
wendet, der nach Shrer Anficht für diefelbe blind ift
oder fie gering Ichäßt?”
Sitta lächelte. Es ift fait unglaublich naiv von
dem Manne, wie er fi ihr jo an Händen und
Füßen gebunden jelbft zur Probe für ihre Eingebung
augliefert. Einen Augenblid jhwantt fie, ob fie
diefe Probe darauf machen joll, was er hofft, oder
darauf, was er fürdten mag. ie enticheidet fich
für das legtere — eine enttäujchte Miene jcheint
ihr lesbarer zu fein als eine befriedigte. „Martinas
Herzensgüte für Sie, lieber Freund?” jagt fie nad):
denktlih, indem fie ihn mit mitleidigem Wohlwollen
betrachtet. „ch dente, es ift eine jchöne Legierung
von feelifher Krankenpflege und von einer jchwelter:
lihen, vielleicht faft mütterlihden Zärtlichleit. Das
Ganze mag matter glänzen als die Liebe des Meibes
zum Mann, aber es ift foldem Edelmetall wohl
gleihwertig zu erachten und eine gute Mifchung.”“
„Das alfo!“ murmelt er, jpringt auf und be-
ginnt in dem Zimmer heftig auf und ab zu gehen.
Gitta lächelt weiter — die Brobe ftimmt. Gie
erhebt fih, und da er wieder an ihr vorbeiftürmt,
erhafcht fie feine Hand. Diefe Hand ift heiß und
umflammert die ihre mit einem frampfhaften Drud.
Es thut wehe, aber fie lächelt darüber, daß fie vor-
ausgelehen hat, es werde wehethbun, und weil fie
ihre Eingebung jet fogar handgreifli fühlen kann.
„Auf Wiederjehen, lieber Ulrih!” jagt fie, fich ver-
abjichiedend. „Ach werde Sie nicht wieder mit jolchen -
Dingen quälen. Und menn ich heute darin weiter
gegangen fein follte, als Jhnen angenehm und mir
felbft lieb ift, nun, jo denten Sie: Gitta ilt eine
alte Freundin, und unter Freunden nimmt man e8
nicht gar fo ftreng!”
XVIII.
Stolz wie ein Triumphator fuhr Gitta heim.
Sie fühlte ihre Bruſt von dem ſchwellenden Be—
wußtſein gehoben, Ulrich aus aller Irrung auf den
richtigen Weg in Martinas Geleiſe hervorgelockt zu
haben — alles infolge ihrer Eingebung. Aber es
giebt Eingebungen, mit denen bloß ein neckiſcher
Dämon die Phantaſie am Narrenſeile führt. Und
derſelbe boshafte Poſſenreißer bringt es zu ſtande,
daß ſich zwei auch auf demſelben Weg und Geleiſe
gegenſeitig nicht näher rücken, ſondern ſogar immer
weiter bis zum völligen Verlieren entfernen — er
ſcheucht ſie einfach mittels ſeiner täuſchenden Ein⸗
gebungen nach entgegengeſetzten Richtungen aus:
einander.
Ulrich war allmählich in einen Zuſtand geraten,
der ihn tief beunruhigte. Es begann damit, daß
- - FZ2>"” en ri — nt UT. —
45 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 46
ſeine Trauer verſiegte. Er konnte ſich darüber nicht
mehr täuſchen. Die Wunde vernarbte und that auch
nicht mehr wehe. Nur wenn Lex mit aller Wucht
darauf hämmerte, erwies ſich die Stelle noch
empfindlich; hingegen war es nicht einmal eine un—
angenehme Empfindung, ſobald die zarte Hand
Martinas lind darüber hinſtrich. Dieſe Erkenntnis
demütigte ihn unſäglich vor ſich ſelbſt. Er war
empört ˖ über ſein ſeichtes Gefühl, über die Stumpfheit
oder Roheit ſeines Herzens, über die leichtſinnige
Wandelbarkeit ſeines Charaklters. Noch mehr jedoch
war er gegen Martina aufgebracht als die Ur—
heberin dieſer beſchämenden Wandlung. Er hatte
von einer Art Suggeſtion geträumt, welche die tote
Thomaſine auf die lebende Martina ausüben ſollte.
Es hatte ſich jedoch im Gegenteil eine Suggeſtion
Martinas auf den ganzen Willensbereich der Ber:
ſtorbenen entwickelt. Und es war eine Seelen—
wanderung geworden in dem alten tiefen Sinn der
Läuterung auf einer höheren Stufe der Vollkommen—
beit. Mit Ingrimm vertiefle ſich Ulrich in die Be—
trachtung dieſes Aufſchwunges. Es war eine
feſſelnde Plaſtik, eine abgeklärte Ruhe in Martinas
Weſen, welche die zielloſen Anläufe, das Unfertige,
Zerſplitterte, Sprunghafte der vorangegangenen Zeit
ſieghaft aus der Erinnerung verdrängen mußte.
Ulrich konnte ſich ſogar den bitteren Vorwurf nicht
erſparen, daß er dieſe Erinnerung, wenn ſie gleich—
wohl heranſchlich, bereits ungeduldig beiſeite ſchob,
als ob ſie ihm irgend eine Ausſicht verſtellen würde.
Mit Scham, Reue, Mißachtung blickte er auf ſich
ſelbſt, auf Martina aber mit jenem dumpfen Groll,
welchen der Schuldige gegen den Mitſchuldigen fühlt.
Und wie ein Reumütiger in ſolcher Zerknirſchung
dem Gekränkten gar nicht genug thun kann an Liebe
und Treue, ſo hatte Ulrich noch nie Thomaſine ſo
beſtändig im Munde geführt wie jetzt, da ſie ihm
aus dem Herzen geſchwunden war. Niemals auch
hatte ihn Martina ſchwerer befriedigen können als
in den Tagen, da ihm die Unebenheiten an Thoma—
ſine ſichtbar zu werden begannen. Indem er ſich
mit allen Kräften gegen die Anerkennung einer voll:
fommeneren Gegenwart fträubte, geriet er in eine
Tyrannei, bie feinem Wejen nicht nur fremd, jondern
bei jpäterem Befinnen ihm jelbft unverftändlich und
beihämend erihien. Von jener Güte, die er an
andere im Übermaße zu vergeuden pflegte, fiel für
Martina au nicht ein Brofamen ab. Shre bloße
Gegenwart jchien fein Gemüt zu verjcdhatten und zu
erfälten.
Nun war unglüdjeligermweile noch der Ber:
mittelungsverjuh Gittas dazugelommen. Was Bitte
als Motiv von Martinas aufopfernder Herzensgüte
für ihn angeführt hatte, machte die Verftimmung
unbeilbar. „Eine fchöne Legierung von feelijcher
Krankenpflege und einer fait mütterlihen Zärtlich:
feit —” hatte fie es genannt. Und dies waren un:
zweifelhaft Martinas eigene Worte, da G®itta offen
zugegeben hatte: „ich babe die junge Frau ausgeholt.“
Er erinnerte fih nicht, daß ihn irgend etwas je jo
Bat, gedemütigt, beleidigt hatte wie diejer Ge:
anfe.
une
Sp regte Reue wegen des Alten und Kränfung
durch das Neue beftändig feine Seele auf. Er war
auffallend zerftreut, jelbft im Verlehre mit Zer, der
jett das Ventil gänzlich öffnete, ja alle Thore auf:
riß, um demjenigen rechtzeitig Abzug zu Ichaffen, was
in Ulrih gärte, und was ihm um fo bedenklicher
erihien, als er es nicht ergründen fonnte. Ulrich
benüßte jevoh Thurmbruds Bentile widerwillig und
irrte zu anderen Dingen ab. Er unterbrad ihn
mitten in ber intereffanteflen Auseinanderjegung, um
in den Hof binabzueilen und fih dafelbit jämtliche
Reit: und Sagdpferde vorreiten zu laflen; aber er
ad gar nit nah ihnen Hin, jondern betrachtete
aufmerlfam ben Zug der Wollen. Oder er befahl
einzulpannen, weil er bald diefe, bald jene Wagen:
pferde erproben wollte; wenn er aber herabfam, ließ
er den Kuticher fahren und ging oder ritt in das
bolzige Hügelland hinein. Am häufigften geriet er
dabei auf die Heidehöfe zu dem ſchweigſamen Hét—
vary. Sie jaßen dann beilammen, rauchten, ritten
dur die Felder, ohne ein Wort zu reden, oder
gingen auf die Jagd, ohne etwas zu fchießen. Beide
waren in heftiger Aufregung und Juchten in heftiger
Körperbewegung dazu ein Gegengewicht. Sinfolgedefjen
artete der Ritt jedesmal in einen tollen Galopp aus,
und beim Gehen gerieten fie Jchließlih immer in
einen weit ausholenden Sturmidhritt. So verarbeiteten
fie auch äußerlih, was fie im Innern durdlämpften,
ahen aneinander vorüber in die Quft, als ob fie
dort etwas Juchhten, und jeder hatte für ben andern
eine rechte Sympathie, ohne fih Kar zu machen,
worauf diejelbe beruhte. Nachdem ji Ulrich jo mit
Hetvary ausgeichwiegen hatte, nahm er daheim Zei:
tungen oder Revuen vor, wobei ihn Ler einige Male
darauf ertappte, daß er die Blätter verkehrt in der
Hand hielt. Dann verihwand er in feinem Labora-
torium, wo er bis in die jpäte Nadt vor feinem
Glasmalerofen brütete und braute, objwar er biezu
bei Tage genug .Zeit und ein richtigeres Licht ge:
habt hätte. Er hatte der Fabrik neue Yarbentöne
für das Farbenglas und für das farbig überfangene
Glas geliefert, er hatte zumal für die Glasmaler
Farbennuancen gefunden, die bisher noch nie beim
Brennen berausgelommen waren. Er jchien dielen
Experimenten jebt weit mehr Eifer als ehedem zu
widmen; denn man hatte ihn nie vorher jo oft in
das Laboratorium gehen jehen. Gleichwohl konnte
Lex dafelbft weder einen neuen Erfolg, no aud)
irgend eine erhebliche Förderung des bereits Ange-
bahnten wahrnehmen. Ebenjowenig fanden Sorre:
Ipondenzen eine Erledigung, obzwar Ulrih ji mit
großer Aufmerkjamteit in diejelben zu vertiefen Ichien.
Bei allem fteigerte fich feine nervöje Halt von
Tag zu Tag; das plöplice Abjpringen von jedem
eben begonnenen Thun ward nachgerade zur Regel.
Martina fand fih nicht mehr zuredt in der
Blanlofigfeit eines jo zerftücdten Dafeins. Ulrich ging,
man wußte nicht wohin, er fam, man mußte nicht
woher, er verihwand plöglid und tauchte plößlid)
wieder auf; fein Erjcheinen war eine Überrajhung,
fein Thun und Laflen war das Unermartete. Mar:
tina erriet nicht, was er wollte, fie erriet vor allem nicht,
47 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 48
was er von ihr wollte. Sie forfchle mit einer Jchmerz:
lihen Neugier in feinen Augen, was er noch mehr
begehrten könne. Was fie darin las, war entweder
eine Enttäufchung, die filh dumpf in das Unvermeibd:
liche ergiebt, oder eine Gereiztheit, die fich gegen Un:
erträgliches auflehnt. Unter diefem jeltfjamen Blid
I\hwand Martina die anmutige Unbefangenbeit,
fröftelnd 309 fi ihr Herz zufammen, das gewohnt
war, feine Wärme offen auszuftrahlen. Seder Schritt,
den fie that, Shien ihr nun felbft falich, fie zögerte
ratlos mit faum mehr gefaßter Seele. Sie wagte
faft nicht zu Sprechen oder fprah nur, um nichts zu
jagen; was fie auch vorbringen mochte, er jchien es
anders erwartet, vielleicht dabei nad) der MWeife und
Sprade ber Verftorbenen ausgehordht zu haben.
Urih fühlte aus Martinas Schweigen, aus
ihren abgezirkelten Reden, aus dem Gezwungenen
ihres Benehmens bloß neue Kränfungen heraus. Er
gedadte der Zeiten, da diejelbe Martina um ihren
Bater jo inniges Wohlbehagen zu zaubern wußte,
wo ihr Reden und Schweigen, Blid und Wiene,
Nuhe oder Bewegung, ja ihre bloße Gegenwart wie
Morgenhaud und Frühlingsduft erquidend anmutete.
Das war nun vorbei — für „die jchöne Legierung”
wäre dies ein finnlofer Qurus gemwelen, welchen fie
offenbar vor fich felbft nicht hätte rechtfertigen können.
Sn jeiner Berbitterung mied er ihre Gegenwart und
beichränfte fich darauf, bei den Hauptmahlzeiten mit
ihr zufammenzutreffen. Er fam, verneigte fich, er:
griff in fteifer Haltung ihre Fingerfpigen und fragte
mit einem gleichgültig Jcheinenden Ausdrud: „Dein
Befinden?” — Dann jpradh er ungewöhnlich lebhaft
mit Zer, und wenn er dazwilhen das Wort an
Martina richtete, jo war es eine nichtsfagende höfliche
Kedensart. Dabei Jah er fie nicht an, fondern blidte
neben ihr bin, oder betrachtete aufmerkjam eines der
Tiihgeräte. Er beeilte fi mit dem Elfen, ward un:
geduldig und trieb die Diener zu rajcherem Ser-
vieren an. Auch nah dem Efjen bielt er es bloß
wenige Augenblide im Rauchzimmer aus, und hatte
gewöhnlich ein dringendes Gejchäft im Auge, das ihn
abberief.
E83 lag mwucdtend über den Häuptern wie Ge
witterſchwüle. Beide hatten bas Gefühl, es könne
unmöglih fo weiter geben. Gleichwohl wichen fie
vor dem Gemwölle zurüd, aus welchem der erlöjende
Blig niederzuden follte.
Ler war für mehrere Tage in die Refidenz ge:
fahren. Gitta hatte fi verfühlt und mußte das
Zimmer hüten, wobei ihr Franzista Gejellichaft Leiftete.
Ulih und Martina waren aufeinander angemwiejen,
und dies um jo mehr, als der Winter in jeiner
unmirtlidhften Geftalt eingebrohen war und jeden
weiteren Ausflug verhinderte. An einem diejer Düfteren
furzen Tage war ed. Schon über der Mittagszeit
laftete eine trübe Dämmerung, bald dunfelte es wie
am jpäten Abend. NAjchgraue Nebel ballten fich in:
einander und ftießen zu bleigrauen Mafjen zufammen.
Bulegt ftanden fie als undurdhdringlide Wände —
oben, unten, nad allen Seiten hin nichts als das
öde graue Einerlei. Ulrih war mit Martina beim
Diner beilammen gewejen. Sie hatten einige ge:
zwungene Worte gemechlelt, dann war Schweigen
über beide gefommen, bis er jchließlich troß des
Nebels in den Hof hinabgegangen und fie zu Agnes
zurüdgelehrt war. Am Abend fanden fie fih zum
Souper wieder zufammen. Draußen war inzwijchen
ein ungeftünmes Wehen von Dften bereingeftürzt und
hatte wilde Stöße in die Nebelmand geführt, jo daß
diefelbe wie bei einem Erdbeben in unrubiges Wogen
geriet, auseinanderklaffte, abjeits niederbradh. Darüber
fam dem Sturmmind erft die rechte Yuft und Kraft:
mit wuchtigen Fäuften in die Brejche greifend, riß
er fie unter entjeglidem Gelächter auseinander und
Ihlug aufheulend in die Trümmerflumpen, daß fie
zerjplittert umberflogen, fi als mwirbelnde Wöltchen
bimmelan retteten, als zerftäubter Schutt auf bie
Erde Janten.
Martina und Ulrih waren nad) dem Souper
in das Nauchzimmer gegangen. Er jucdhte feine ge:
wohnte Ede auf, fie jaß dicht vor dem Kamine. Sie
fröftelte und hatte die Füße auf die niedrige Metall:
Barriere geftellt, welche das Kaminfeuer umzäunte.
Die Flammen büpften in jähen Sprüngen auf und
nieder, oder griffen in mädtigen Sägen jeitwärts
aus. hre unrubigen Lichter Yujchten ſchimmernd,
anglänzend, aufbligend über Martina bin und er:
lojhen hinter ihr im Dämmernden Dunkel. Zumeilen
bielt der friedlos zudende Flanımenfchein einen Augen:
blidE an und lag unbemwegt auf ihrem Antlif. Es
war eine wunderbare Ruhe in diefer hohen Geltalt,
wie fie jo janft zurüdgelehnt da jaß, das edle Haupt
mit dem herrlichen Profil Teile jeitwärts neigend.
Ultih erinnerte fi genau an das Frauenbildnis
unter den Parthenonfiguren, dem fie jo merkwürdig
ähnlich erihien. Zugleich hätte er viel darum ge:
geben, nicht bier verweilen zu miüjlen, wo alles
Frieden, Wärme, Licht und Schönheit war, fondern
draußen in der durdhftürmten, froftigen, jchwarzen
Naht. Und er barrte jehnfühtig des Augenblides,
wo er allein bleiben würde.
Beide jchwiegen. Der Sturm brüllte unerfättlich
weiter. Draußen hatte er nunmehr jein Werk gethan
und den Nebel gänzlich weggefegt. Aber er war
noch nicht befriedigt, fondern chien auch drinnen
Derartiges zu planen. Denn auf einmal fam er
feuchend durh den Kamin beruntergeraft. Unter
Winfeln und Heulen ftürzte er fich über den Feuer:
berd. Der ganze Brand jchauerte verjchredt zufammen,
die noch eben emporzüngelnde Blut ledte verzagt am
Boden hin, die vorher aufftrebenden Flänınden büdten
und dudten fihd — immer niedriger, immer Kleiner.
Doh da half nicht Troß, nicht Demut mehr, nur
noch Flucht. Die ganze fladernde Lohe flürzte plöglich
fopfüber herein, im Gemadhe Rettung Judhend. So:
gleich ftieß der Orkan in feiner Verfolgungsmut faufend
herab, wühlte Funfen, Aihe und Raud in einen
Stnäuel zujammen und jchleuderte ihn der flüchtenden
Slamme in das Zimmer nad. Die Funken flogen
über die Barriere und |prühten über Martinas Kleid
bin, welches jogleich zu brennen begann.
Ulhih war in demfelben Augenblid neben ihr,
riß den Stuhl zurüd, warf den Fußteppich über fie
und preßte ihn um das brennende Kleid. Dadurd)
49 Die neue Herrin.
war jede Gefahr im Entftehen unterdrüdt. Martina
dankte ihm mit bewegten Worten und tabelte ebenjo
ihre eigene Unvorfichtigleit, wie fie feine Geifles:
gegenwart und Entichlofienheit rühmte. Er bat fie,
fi) fogleih umzuziehen und ihm vor dem Schlafen:
gehen no Nadhriht zu Ichiden, ob ihr die Auf:
regung nicht geihadet habe. Sie verließ ihn, über
die ängitlihe Sorge erftaunt, die er nad) der Härte
und Herbheit der legten Zeiten ihr auf einmal zu-
wendete. Aber noch mehr erftaunt wäre fie gewelen,
und fie hätte nicht gewußt, was fie mit jeinem Blide
anfangen follte, wenn fie gejehen hätte, wie er ihr
nadftarrte. Er jelbit wußte fich nicht zu beuten,
was ihn fo aufregte. Er hatte einen Augenblid für
ein Menjhhenleben gezittert — aber das war nun
vorüber, jagte er fich jelbft beruhigend. Gleichwohl
fand er feine Ruhe. Plöglich jchritt er der Thüre
zu, um nad dem rechten Flügel zu gehen und jelbft
zu fragen, wie e8 Martina gebe.
Sr demjelben Augenblid öffnete jemand die
Thüre. Es war Martina, die mit einem zaghaften
Lächeln auf der Schwelle ftehen blieb und Jagte: „Sch
bin doch Lieber jelbft gelommen, anftatt Nachricht
berüberzufchiden. Du tannft nun mit eigenen Augen
jehen, daß ich volllommen wohl bin, nadhdem Du fo
gut geweien bift, Dich darüber zu beunrubigen. Auch
danfen wollte ih Dir no einmal. Das Kleid ift
an fünf Stellen durdbrannt, und auh an dem
Unterkleid ift der Stoff ftelenweile gebräunt und
zerbrödelt morjch bei der Berührung. E83 war feine
geringe Gefahr, weldder Du mich entrifien hafl. Wenn
ih nur aud für Dich etwas thun Fönnte! Sch meine
jo, wie e8 Dir recht wäre. Denn in der jüngften
Zeit hatte ich bei allem eine unglüdliche und unge:
Ihidte Hand — aber verzeih! Ach vergelle Deine
Hände, mit denen Du den brennenden Saum bes
Kleides zufammendrüdteft. Und doch bin ich gerade
deshalb vor allem felbft gelommen. Bitte, Deine
Hände! Gott jei Dant, eine einzige Brandblaje auf
dem Kleinen Finger. Aber fie ift groß! Du erlaubft,
daß ich mein altes Hausmittel dafür anmwende? Es
it harmlos und lindert den Schmerz, wie ich oft im
Snftitute erprobt babe. Man ergiebt fih inmitten
ber zabllojen winzigen Schmerzen der Kleinen un:
vermerft der Duadfjalberei, und wird eine leiden:
Ihaftlide Kurpfufcherin. Und nun —” dabei überflog
ein heller Strahl ihre Züge, wie er in den lebtver:
floflenen Tagen nie, und aud fonft Selten, an ihr zu
jehen war, ein traulich Ichalthaftes Lächeln, welches
in dem ernften, edlen Antlit binreißend wirkte —
„und nun will ih denn, wie für das Kleine leibende
Bölklein des SInflitutes, ebenjo für den armen Kleinen
Finger Arzt und Mütterchen fein!”
Da war fie wieder, „die jhöne Legierung”.
Man hielt diejelbe für ihn ganz jo bereit wie für
die fremden Kinder, für jeden Leidenden oder Be:
Dürftigen, dem man eben begegnet. Sie unterjudhte
nob die Brandblaje, als er ihr plöglich die Hand
entzog. „Danke, danke,“ ftieß er hervor. „Es ilt
dDurhaus nicht nötig. Und wenn aud, id mag
bergleihen nicht, ich danke.” — Dabei wandte er
fih ab, trat zum Kamin und jchürte mit dem euer:
baten in dem verglimmenden Brande herum.
Roman⸗Zeitung 1896.
Roman von Karl Erdm. Edler. 50
Martina ſtand und blickte ihm verſtändnislos
nach. Daß ihr unterdrücktes Gefühl in dieſer glück⸗
lichen Stunde nicht an ſich halten konnte, war doch
nur gekommen, weil er ſelbſt ihm mit ſeiner Rettungs⸗
that und dann mit ſeinen fürſorglichen Worten die
Schleuſe geöffnet hatte. Und jetzt hemmte er es und
ſtieß es zurück, da es ihm rückhaltlos zuſtrömen
wollte. Es war alles wie gelähmt in ihr. Sie
rührte ſich nicht, ſie ſagte auch nichts. Nur die
Augen ſprachen in dem bleichen Geſicht. Beredter
als es Worte vermöchten, rang ſich aus ihnen die
wehe Frage der gequälten Seele empor: „Was habe
ich Dir denn gethan?“
Er richtete fich langjam aus der gebüdten Hal-
tung vor dem Kamine empor. PBlögtlich redte er ich
mit einem gemwaltiamen Entihlufje in feiner ganzen
Höhe auf und fagte: „Qergieb, ich rede und handle
unverantwortlih! Auch was Du vorhin von Deiner
unglüdlihen Hand in der jüngften Zeit vorgebradht
baft, fällt einzig mir zur Laft. Das Unrecht ift bloß
auf meiner Seite: ih habe geichwiegen, wo id; hätte
reden jollen. Das Schweigen mag ja gut fein, um
zu verhüten und vorzubeugen; aber ein PBalliativmittel
it fein Heilmittel und taugt nicht mehr, wenn das
Leiden einmal zum Ausbruch gekommen it. Nun
denn: wenn es zuleßt nicht war, wie es bätte jein
follen, jo erflärt fi dies aus einer Lörperlichen und
feeliihen Berftimmung, die mich reizbar madt. Ich
fühle mi nit wohl und hänge diefem Gefühle
bypohondriih nad. Das kommt von dem Einerlei
des Alltagslebens, wo e8 heute jo ift, wie es geitern
war, und wo es morgen wie beute fein wird. Ich
glaube, ein anderes Klima wird mich wohlihätig an:
regen. Dazu die neuen Eindrüde, die ablentenden
Unbequemlidteiten des NReilens jelbft — id bin
früher jo viel gereift, daß mir vielleicht bloß das
Reifen jelbit abgeht. Auch möchte ich mir den einen
oder den anderen campo santo in Stalien anjehen
— vielleiht findet fih da ein teilweile verwendbares
Vorbild für Thomafinense Maufoleum. Und dann
— fur, e8 giebt außer den angeführten noch eine
Menge von ‚Weil‘, mit denen ich Dich nicht lang:
weilen möchte.”
Shre Augen jchienen in jeinem Snnern zu lelen.
Sie ſahen jo aus, als wüßten fie alles das, was er
etwa noch hätte fagen fünnen. „Weil!“ Iprach fie
endli leile. „Und jo ein ‚Weil‘ auf das andere
getürmt, wie ein Stein auf den anderen, bis bie
Mauer jo hoch geworden ift, daß eines das andere
nicht mehr jehen kann.“
„Ich glaube nit, daß Du Dich auf die Fuß:
Ipigen ftellen wirft, um berüberzufhauen,” entgegnete
er in einem jcherzhaften Tone, welchen die barte
Miene Lügen ftrafte. — „Ih bitte Did um Ber:
gebung,” fagte er gleich darauf. „Du fiehit nun
jelbft, wie rankhaft fogar meine Redeweile fih an-
läßt. Mir kommen Worte in den Mund, die un:
höflich, ja geradezu roh find. Wollte ich doch damit
nichts anderes ausdrüden, als daß Deine felbitändige
Eigenart feiner Anlehnung bedarf. Ych bitte Dich,
zu glauben, daß dies fein Vorwurf ift, jondern die
einfahe Anführung einer Thatſache. Aus derjelben
folgt, daß Du Di ohne mich behelfen wirft, fobald
IV. 4
Hl Die neue Herrin.
ih nicht mehr da bin, wie Du Did ohne mich be:
bolfen haft, während ich da war. Um das, was
lonft zurücbleibt, jorge ich nicht — ich Hinterlafje es
in Deinen Händen wohlgeborgen. Was endlich mich
betrifft, jo bringt die Ferne zumeilen erftaunliche
Wirkungen hervor. Vielleicht” — rief er, in einen
bitteren Ton verfallend — „vielleicht fliegt mir von
jelbft eine richtigere Anjchauung ber Dinge an, wenn
id mir nur einmal Wartentron in die gehörige Ent:
fernung rüde. So tritt ja der Maler von dem Ge:
mälde zurüd, um es befler zu jehben. Man wird
außerdem jo Elug in der Fremde und jo jelbitändig
— am Ende lernt man fi} jogar emanzipieren von
mitleidiger Pflege und einer faft mütterlichen Be-
treuung.”
Martina ftarrte ihn fragend an. Er aber blidte
gar nicht auf, Jondern redete in feiner berben Weife
weiter, bis er plöglich innehielt und in dem eifigen
Tone förmlicher Höflichkeit beifügte: „Wergieb, ich
rede wie ein Fieberfranter! Achte nicht darauf, es
ift auch gar nit der Beahtung wert! Es beweiſt
Dir nur die Unerläßlichfeit meines Vorhabens.
Bielleiht ift es die Unruhe des Ortswechſels, das
Mipbehagen des Körpers, der müßig daheim bodt,
indes der Geift bereits auf Reifen if. Kind und
Haus überantworte ich Deiner Hut. Ych weiß, daß
es in der Welt niemanden giebt, bei dem beide befler
aufgehoben wären — aud bei mir nidt. Daß Du
die alten Eltern drüben nicht vergeflen wirft, braude
ih Di gleichfalls nicht erft zu bitten. Für das
übrige ift Ler da. Sullte einmal während feiner
Abmejenheit eine unaufidhiebbare Entiheidung zu
treffen jein — aber nur in einem wirklidd dringen:
den Falle — bitte ih Did, Hetvary rufen zu laflen,
er wird fih aus Freundjchaft für mich gerne zu
jedem Dienfte bereit erklären.”
Martina war es, als müfle fie noch etwas fragen
oder jagen. Aber mieder rief es in ihr: thu es
nicht, laß es! Wozu jollen Worte noch führen —
dadite fie — wenn man einmal jo weit gelommen
ift, auseinanderzugehen! Und aud das Reden ann,
wie es Ulrih vorhin vom Schweigen gejagt hatte,
nit mehr verhüten und vorbeugen, wenn das Leiden
einmal zum Ausbruch gelommen if. „Gute... .“
Iprady fie, aber die Stimme verfagte ihr, und mit
einem neuen Anlauf wiederholte fie leife im Hinaus:
gehen: „Gute Nacht!" —
Am näditen Morgen fam Ler zurüd und
bradte den ganzen Tag in Beipredhungen mit Ulrich
zu. Am folgenden Tage reifte Ulrich ab. Martinas
Augen hatten ein zitterndes, verjchleiertes Leuchten,
da fie unter den Bärenjäulen des Portals von ihm
Abihied nahm. Es war zugleich der Abjchied von
allen Hoffnungen und Träumen, von ber reichbe:
jegten, blumengejhmüdten Tafel des Erdenglüdes.
Hungernd und dürftend fjchied fie von dem großen
sreubdenmahle, bevor fie fih no an ihrem Plate
niedergelaffen hatte, und die Blumen, die dajelbit
ihrer barıten, hatten fich Schon entblättert, als fie
nn von weitem die Hand zaghaft nad) ihnen aus:
edte.
Noman von Karl Erdm. Edler. 52
XIX.
Martina hat dem Schlitten Ulriche nachgeblidt,
bis er durch das Hofthor verfhwunden war. Dann
geht fie in ihr Gemad. Sie tritt an das Fenfter
und blidt in das neblige Dämmern ber Winter:
landicdaft. Ein dunkler Vogel Ereift einfam in einem
mädtigen Bogen über den Schneewehen bes Matthias:
baues. &s ift ein ftilles, rubevolles Gleiten, mühe:
08, ohne Slügelichlag. Unbemwegt liegen die großen,
Ihmarzen Schwingen ausgeweitet, Tein Schrei tönt
berab, ein leifer Laut. Die Bäume in der Tiefe
niden mit den weißen Häuptern jadhte wie müde
Sreife beim Abenddämmern — die Blumengloden
des Grabhaujes dort unten mögen fie wohl in ben
Traum einläuten. Dann ftehben auf einmal bie
Wipfel ohne Regung, den dunklen Vogel hat bie
Schneewolke verſchlungen, ausgeödet ift rings Die
Erde. Nur die Glödlein des Waldhaufes läuten
no immer und ohne Ende weiter.
Martina wendet fih ab — fie will zu Agnes
gehen. Sie muß bei dem “Pfeilerjpiegel vorüber,
welder ihr das eigene Widerbild aufzwingt. An
bejlen Augen hängen Tropfen wie an Blumen, wenn
der Gemwitterregen längft vorüber if. Nun weiß fie
erft, daß fie geweint bat. Aber Agnes fol es nicht
wiflen, nicht einmal ahnen. Sie trodnet die Tropfen
und wartet geduldig, bis fich jede Spur berfelben
verloren hat. Sie wird auch morgen und alle Tage
die Thränen niederzwingen, bevor fie ihr bie Augen
trüben. Dem fnojpenden Seelchen bes Kindes muß
fie die Freude erhalten; darum läßt fie den Schmerz
niht aus der Tiefe aufichreien, die Kette der Ent-
täufhungen darf nicht Hirten, kein dDumpfes Brüten
ol fih merkbar machen. GSelbft nit ein jedes
Lächeln ift gut genug für Agnes. Martina kann
fih nicht begnügen zu lächeln, wie etwa die um:
düfterte Herbitionne matt durch Schleier hervor:
Ihimmert, no auch mie das froftige Winterlicht,
das nicht wärmt, fondern nur aufdämmert, um als:
bald im grauen Schneegewölt zu verlöihen. Nur
ein Lächeln taugt für die zarte Menichentnofpe,
und darum glänzt ed auh aus Martinas Antlig
über diejelbe hin. Es it das Lächeln der Morgen-
jonne an einem Maientag.e So ermädhlt ihr aus
der Hingebung an das Kind eine Stüße, an ber fie
feftgelehnt Kraft fammeln kann. Die Aufmerkjamteit,
welde fie dem bilflojen Wejen unablälfig widmen
muß, ruft auch alle wandernden Gedanten heim. Sie
Ihweifen nur no um das Kind herum — aud in
jenen Stunden, da fie allein if. Was foeben nod
vor ihr gezappelt und fie umtlreift hat, fie fieht es
Ihon als aufblühendes, als halbreifes Mädchen, als
Sungfrau. An jede diefer Stufen Inüpfen fi)
Pläne der Lebensführung, bis fie der herangewadhle:
nen Tochter jchließlich einen Mann ausmählt. Nun
wendet fih diefem alle Geftaltungstraft der Phan-
tafie zu, einer idealen Blüte der Menjchheit, wie fie
die unvolllommene Erde nod) nie gezeitigt hat. Der
Umgang mit folden geliebten Traumgebilden ihrer
zärtlihen Einbildungstraft benimmt ihr das Gefühl
53 Die neue Herrin.
der Einjamkeit — immer ift Agnes in irgend einem
Klein: oder Großformat der Altersentwidelung an
ihrer Seite. Aber wenn fie wieder das rofige Ge:
fihtehen betrachtet, und Agnes die Händchen um
ihren Hals jchlingt, jo feit, daß fie ganz rot wird
und börbar aufatmen muß von der Anftrengung,
dann verwirft fie alle die Träumereien. Dann madt
es ihr keine Freude mehr, an die größere, ober gar
an eine große Agnes zu denken, am wenigften jeboch
an den Fünftigen Mann derjelben. Es ift doch un:
vergleichlich beiler, wenn fie bleibt, wie fie jeßt ift:
etwas jo Kleines, Herziges, das am liebflen auf der
Mutter Schoß fiebelt und am beiten an der Mutter
Herz Ichläft, das am lautelten zwitichert, am hellften
lat, wenn die Mutter dabei if. Es erjcheint fo
jüß, diejem bilflojen, flaumweihen Neftling alles zu
fein, daß fie gern dies holde Glüd weiter ausge:
Iponnen hätte, immer weiter ohne Ende. Agnes
jelbft blüht dabei auf in beweglicher Frifche und ge:
runbeter Fülle, zu roten Wangen und felten Mar:
[hierbeinden, wie es in jo Furzer Frift fein Arzt
und fein Heilmittel der Erde zu ftande gebracht
hätte. Martina ftaunt jelbit über das liebliche
Wunder. Daß fie es ift, die es vollbracht bat,
daran denlt fie ebenjowenig, wie der Maihaud,
wenn er über ein kümmerlich verwailtes Gärtlein
weht, und nun darin urplöglid das Grünen und
Sproffen anhebt, das Knofpen und Blühen.
Die Kraft, mit welcher Martina um des Kindes
willen ihr Herzeleib niederrang, fie bielt dann in
anderen Stunden gleichfalls vor. Es erichien ihr
unerläßlih für das Gebdeihen des ihr anvertrauten
Haufes, die Würde von defjen Herrin zu wahren.
Das höhnische Kächeln, mit weldem Thurmbrud bei
Ulrihs Abreife fie angeblidt hatte, war von jeinen
zudenden Mundwinteln unter die Beamten und
Diener geiprungen und durcdhwanderte wieder, wie
nach dem Einzuge, alle Schloßräume. Aber es ließ
fih doch auf den Tippen der meiften anders an als da:
mals, gutmütiger, milder, und Martina konnte die
Wahrnehmung maden, daß fie die Leute zuweilen
mitleibig von der Seite anjahen. Da bielt fie ftill
und ließ fich gebuldig betradgten. Weil fie dabei
nihts von ihr abjeben konnten, was anders als
fonft gemwejen wäre, und weil fi in allem Reben
und Thun der janfte Ernft von ehedem zeigte, fo
gaben fie e8 auf. Allein jenes Lächeln war aud
wieder nach allen Weltgegenden auseinandergeiprüht.
Es gab abermals anregende Unterhaltungen über
diefe „Scheidung im Guten”, driftlide und im:
hriftlihe Hypothefen, barmberziges Bedauern und
unbarmberzige Witte. Martina bejab der Trauer
wegen bloß zur nädhften Nahbarihaft Beziehungen,
und aud diefe hatten fih auf je einen Befuh und
Gegenbefuch beichräntt. Yn diefer engeren Umgebungs-
runde jchien man allerjeits übereingelommen zu fein,
eben jebt fei der geeignete Zeitpunkt, im Borbeifahren
auf Wartenfron gelegentlich nachzujehen. Während
biefer Beluche lachte Martina weder gezwungen, noch
weinte fie fich vertraulich aus, fie geriet nicht einmal
in Berlegenbeit, jobald man mit zarten Umfchreibungen
nah Ulrich fragte. Er hatte für jeine Gejundbeit
Roman von Karl Erbm. Edler. 54
eines Klimamwechiels beburft und war deshalb nach
Stalien gegangen. Sie jagte das jo ruhig, ba fidh
die meiften damit zufrieden gaben, zumal da Doltor
Grilling dasjelbe behauptete.
Sie fämpfte tapfer ihren Kummer nieder und
that, was die Gegenwart verlangte. Mit einem
ttillen großen Blid umfaßte fie die Forderung jeder
Stunde und ftredte die Arme willig aus, ihr gerecht
zu werden. So weit diefe Arme reichten, wurben
Menihen und Dinge gefördert, und das Alte mich
einem Neuen, das befier war. Gitta behauptete,
diefes raftloje Abmühen Martinas ei bloß die Ab-
lentung einer tiefen Verzweiflung, jomwie ihre milde
Ruhe nur die Maste eines nagenden Kummers.
Sie war wie vom Donner gerührt gewelen, als fie
in ihrer Krankenftube Ulrihs Abreife vernahm. Ihre
Eingebung, ihr Stolz auf dielelbe, ihr genialer Plan,
nicht mehr an den Dingen zu rühren, ba fie bereits
überreif von felbft in den Schoß fallen würden —
alles war nichtig. Sie faßte einen leidenfchaftlichen
Haß gegen Ulrih und empfing Martina, als ihr
diefe einen Krantenbefuh machte, mit zerichmelzendem
Erbarmen,. Allein dieje redete mit der alten Un:
befangenheit über alle anderen Dinge und jchwieg
mit der früheren Zurüdhaltung über bie intimen
Vorgänge auf Wartentron. Sie lächelte Franziska
zu wie jonft, fegte fih mit ihr an das Klavier und
jpielte meifterhaft wie immer. Unterweifung und
Verbefierung brachte fie nebenbei in den Baufen und
dabei zärtlich wie eine Lieblojung vor, jo daß das
Mädchen hingerifien fih an fie jchmiegte oder fie mit
ftiller Anbetung verzüdt anjdhaute. Gitta wäre faft
eiferfüchtig auf Martina geworden, wenn das grenzen:
oje Erftaunen über deren Gelafjenheit fie nicht davon
abgelentt hätte. Sie ging von der Anfiht aus, daß
man einen foldhen Kummer vor einer mütterlichen
Freundin offen zur Schau tragen folle. Sie jelbft
hielt fie für verpflichtet und auch für befähigt, diefen
Kummer auf eine praltiihe Weile gänzlich aus ber
Welt hinauszudisputieren. Aber Martina bot nirgends
eine Handhabe für Troftreden. Gitta betrachtete fie
fortan als eine ungeheuer jchwierige Charabe, bei der
es gilt, die Silben einzeln aufzujpüren, um fchließlich
das Ganze mühjelig zu ergründen. Sie grübelte
jeder Nede und Miene Martinas nad und beichaute
fie danıı wieder finnend vom Kopf bis zu den Füßen.
Endlih fchidte fie Franzisfa mit einem Auftrage
hinaus, um vielleiht unter vier Augen Martinas
Vertrauen herauszufordern. Allein dieje redete noch
immer nicht von fich jelbit und folgte auch der vor:
fihtigen Fragerin nicht auf diefes Gebiet, fondern
lenkte im Gegenteil das Gejpräh auf Gittas eigenen
Hausbann. Sie jpradh von Franzisfas veränderten
Wejen: daß die ehedem herumbligenden Augen jeßt
gern verfonnen auf einem Punkte mweilten, daß bie
blonden Zöpfe ale Schnaden, Schnörkel und Sprünge
verlernt hätten, daß über dem ganzen fonft uued:
filbernen Figürden eine feltiame Windftille lafte.
Sie lenkte dann zu Hetvary ab und bob jein mann:
baftes, tüchtiges Wejen hervor, deijen verhaltene Kraft
man erft ahnıe, wenn fie einmal zufällig zum liber:
ftrömen gebracht werde.
55 Die neue Herrin.
Gitta gab den bedauerlichen Umſchwung in
Franziskas Benehmen zu, ſie beſtritt auch nicht die
Anſammlung innerer Kraft in Hetvary. „Aber eben
deshalb,” jchloß fie, „mwürbe er für mich nicht zum
Manne taugen.”
„Für Di?” fragte Martina eritaunt.
„Ja, für mid. Das ift mein Mapftab. Denn
Sannerl ift mein Ebenbild. Sie hat, wie ich jelbit,
zu viel innere Kraftiammlung.“
„Berzeib, aber ich glaube, Franziska ift wirklich
nicht ganz jo wie Du. . .”
„Dann jol fie es werden, und an der Geite
eines Hetvary ift feine Ausfiht darauf. Das ift ein
Menih aus einem Guß, dem nirgends beizulommen
if. Hammer oder Amboß — und meine Tochter
fann unmöglich für eine Amboßrolle geihaffen fein.
Übrigens ift dies eine afademiiche Disputation. Die
Sade ift feit Jahren entichieden: Fannerl befommt
den Mar Wildenihild in Thurmbrud drüben zum
Mann. Er it ein harmlojer phlegmatiiher unge
mit viel Schlaf und gefundem Appetit, durh und
durch gutmütig, ohne allen Eigenfinn. Dazu wird
er Majoratsherr und bleibt immer unjer nädhlter
Nachbar.”
„SH babe ihn bloß einmal gefehen und möchte
nicht zu vorjchnell urteilen. Es fihien mir, als jei
er eine etwas magere Sntelligenz . . .”
„Defto befier — das prädeftiniert ihn zu meinem
Schwiegerjohn. Fannerl bat genug Antelligenz für
fih und für ihn. Er bietet in jeder Hinfiht das
Moterial, aus dem Eluge und feite Frauenbände,
wie bie meiner Yanııy, fich einen idealen Ehemann
Ineten.”
„IH fürdte wirklich, Gitta, das Kind wird bie
Hände in den Schoß legen, weil e8 zu biefem Kneten
feine Zuft haben wird. Haft Du mit ihr bereits
darüber geiprochen?”
„Welche See! Mit der Mama Wilbenjchild
babe ih die Sahe abgemadt. Die beiden Kinder
wiflen fein Wort davon. Auch das haben wir ab-
gemadt. Nichts Unpraftilcheres, als wenn man die
jungen Leute einander offen aufdrängt. Sie find
dann imftande, einen fürmlihen Widermwillen gegen:
einander zu belommen, wie Kleine Kinder gegen den
Brei, den man ihnen gemwaltiam aufzwingt. Wir
laflen nur beide möglichfi oft zulammen fommen —
natürlih in unauffäliger Weile. Die janft feflelnde
Macht der Gewohnheit eritarlt almählid, das Ge:
wohnte wird zum Unentbehrlien, und jo weiter —
kurz, die Sache macht fich von Jelbit.”
„I fürdte, Gitta, Du unterfhägeft Franzistas
Gefühl für... .“
„Du meinft für Hetvary? Das ift eine Kinderei.
Du wirft es doch nicht ernft nehmen? Mein Gott,
ih fenne das! %h babe mih als Badfiih bei
meiner erften Eilenbahnreife für einen Lofomotiv-
führer begeiltert. Er Hatte einen großen fchwarzen
Bart und jah auf feiner feuer: und rauchipeienden
Maſchine ganz aus wie Herkules, Thejeus, Berjeus
und dergleichen Ungetümbezwinger. ch babe eine
Naht von ihm geträumt und den Tag darauf ver:
ädhtliche Blide auf alle anderen Menjchen geichleudert,
Roman von Karl Erdm. Edler. 56
weil fie nicht Lokomotivführer waren. Am nächlten
Tag waren wir in ber Refibenz, und über ben
Dffizieren, welde die Neitallee belebten, babe id)
augenblidlih mein rußiges deal vergeflen. Gerade
jo mag bas Erxotiihe an Hetväry, diefes gemifie
intereffante Sunnentum, für ein Weilchen den praktiſchen
Sinn in Fannerl Tlahmgelegt haben. Aber diejes
Übel liegt nach meiner eigenen Erfahrung jo feicht
an der Oberfläche, daß es fih Ihon auf phyfiichem
Wege bejeitigen läßt. Sch werde fie einfadh dazu
anhalten, fleißiger und kälter zu dufhen. Du mirft
jehen, wie leicht fie jede Spur folder Badfiihichwäche
dabei abbadet.” —
Franziska begleitete Martina zum Schlitten
hinab und fing plöglid an zu weinen, als dieje fie
zum Abjehied fühle. Martina drüdte fie feit an fi)
und fuhr in trüben Gedanken von Überlingen fort,
um mit hellen Plänen in Wartentron anzulommen.
Der Kreis ihrer Nützlichkeit ermeiterte fich fortan um
die Sorge für Franzistas gequältes Herzen. So
ſcharf ſie die Trugſchlüſſe Gittas durchſchaute, konnte
ſie einen Widerſtreit der Tochter gegen die Mutter
nicht unterſtützen. Wohl aber lenkte ſie die reißende
Gefühlsflut Franziskas in vielen ſeichten Bächlein
ab. Der Hauptſtrom floß zwar immer noch weiter,
aber harmlos geduldig zwiſchen geſicherten Ufern;
nur das dammbedrohende UÜbermaß des Schwalles
wurde unſchädlich auseinandergeleitet. Die rührende
heimliche Anbetung, welche ihr Franziska widmete,
drängte in biejer zeitweile den Gedanlen an Hetvary
nah dem Hintergrunde. So lange fie auf Warten:
fron vermeilte, vergaß fie, daß fie nicht glücdlich fei,
und war fiil zufrieden, wenn fie neben der untrenn-
baren Dreieinigfeit — Martina, Agnes, Puppe —
als vierte fiten oder auf den ausgeichaufelten Garten:
wegen zwilhen den hohen Schneewänden einher:
Ichreiten Fonnte. Niemand ftörte diefen innigen
Verkehr. MWimbaher war der einzige, der regel-
mäßig am Sonntag berauffam. Es wurde gute
Mufit gemadt, Wimbacher jchwelgte im fiebenten
Himmel, Franzisla aber gewann Freude am
Mitwirten und Frieden in der Andaht des Zu
börens. m übrigen führte Sranzisfa ein wunder:
lides germanifchmagyariihes Doppelleben. Auf
Wartentron wurde Beethoven geipielt, Schubert ge-
jungen, ®öthe gelefen. Dder man verlegte fi mit
Stift und Pinfel auf die Romantit des deutlichen
Mittelalters, wie fie fih in dem winterlichen Bilde
des Matthiasbaues jo malerifch daritellte, wenn man
durch das Fenfter von Martinas Genad hinausblidte.
Sn der anderen Fenfterniihe jaß Deartina und
malte an einem Aquarellporträt von Agnes für bie
Großeltern jenjeit des großen Waflers, während das
feine Modell inmitten des Zimmers auf dem Teppich
jaß und mit der Puppe fpielte. Dabei wurde von
beuticher Kunft und Art geiprocdhen, deutihen Gemüts:
regungen zart und jachte nachgegangen, und deutjche
Geduld geübt. An Oberlingen hingegen war alles
ungariih: ungeduldiges Sporenklirren im Kopfe, im
Herzchen, auf dem Klavier, in den Worten, jelbit in
der Stimme, deren natürliher Unifang Hinauf:
geihraubt erihien. Sogar die blauen Augen jchienen
57 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 58
nad) einem fernber erlaufchten Sporengellirr auszu:
Ipäben. Sie hatten nichts mehr von jener finnigen
Verfenfung, mit welcher fie den beichränfkten Erben-
ausfchnitt von Wartentron zu betrachten pflegten,
jondern den weit auslangenden, jehnjüchtig bin:
ſchweifenden Blid, vor welddem fich ein unüberjehbarer
Horizont aufgethan hat. Diefer ungeheuere Gefichts:
treis ftand jo anfchaulich vor ihr, daß fie fich den:
jelben in einem umfangreihen Aquarell verbildlichte.
Es ftellte eine weite Ebene dar, im Hintergrund hing
am Himmelsjaum eine feuerrote Sonne, den Mittel:
grund durdichnitten magere Balkenlinien eines Zieh:
brunneng, im Vordergrund ftand ein Hirt mit Kleinem
Hüthen und großem Schafpelz;, den Beilftod in der
Hand, einen Wolfshund zu feinen Füßen. Es war
eine ibeale Landichaft ohne alle lokalen Borltubien,
an welcher Franzisfa mit Feuereifer in ihrem Ober:
linger Stübcdhen arbeitete. Das Notengeftell war mit
ungarischer Mufil vollgepfropft, auf dem Schreibtilch
und im Bücherlaften wimmelte e8 von ungarijchen
Büchern ober von Büchern über Ungarn. Das alles
gab ihr eine angenehme Beihhäftigung bie zum Ein-
Ihlafen und verfüßte auch noch ihre Träume. Dagegen
übertam fie beim Erwachen gewöhnlich eine fummervolle
Stimmung; benn zugleich mit der nüchternen Morgens»
beleudtung jehlihen regelmäßig die Sorgen um ihre
höchft zerrütteten Finanzen herein. Das Portemonnaie
wies gänzlich veröbete Fächer auf, in der Sparbüdjle
Eirete e8 auch nicht ein wenig, das Tajchengeld für
den ganzen Monat verfhwand bereits in beflen erften
Tagen, und — dies war das Entieglichite — es gab
überdies no Schulden. Sn der Tiichlade lag nämlich
die noch nicht bezahlte Rechnung des Mufilalien:
bändlers über ſämtliche ungariſche Rhapſodien von
Liſzt. Der ganze, vom Taufdukaten an zufammen-
geſparte Barſchatz Franziskas war dem ungariſchen
Buch- und Muſikalienhandel zu gute gekommen.
(Schluß folgt.)
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
Welternacht.
Im Wetterflammen iſt der Tag verſunken,
Der ſonnenfroh in goldnem Glanz gelacht,
Vom Himmelsbrande ſprühn die letzten Funken
Aus Wolkenſchutt, durch trübe, ſchwüle Nacht.
Auf naſſen Fluren weißes Nebelwallen:
Der letzte Atem jäh gelöſchter Glut;
In regenſchwerem Laub ein Tropfenfallen
Gleich müdem Weinen nach des Sturmes Wut.
Der Nachtwind ſchläft; kein friſcher Hauch will tragen
Erſehnte Kühlung durch das dunſt'ge Land.
Ein Unkenpaar ſtimmt an die Totenklagen
Um alle Schönheit, die im Dunkel ſchwand. —
Zu ſolcher Stunde wacht geſtorbnes Sehnen,
Aus Todesſchlummer ſchreckt es wild empor,
Und fieberſchauernd pocht's in irrem Wähnen
An einſt'gen Glückes feſtverſchloſſnes Thor.
„Mach auf — mach auf — laß mich noch einmal ſtehen
Im Sonnenglanz, im goldnen Tagesſchein —
Laß Roſen blühn — und blaue Lüfte wehen —
Laß mich noch einmal — einmal glücklich ſein!“
Umſonſt. — Dahin — in Wetternacht verſunken
Der goldne Tag, der ſonnenfroh gelacht.
Im Weidenſumpfe klagen dumpf die Unken,
Ein müdes Weinen zittert durch die Nacht.
Sauna Ehlen.
ze Voifette vor ahtzehnhundert Dahren.
Bon Adolf Kable.
I.
Vor acdtzehnhundert Sahren war bie Taunenhaftelte,
emancipiertefte aller Göttinnen, die Mode, noch nicht viel in
ber Welt herumgeweien; fie war noch nicht heimatlos und
doch überall zu Haufe, am allerwenigfien hatte fie Luft, ihr
zartes Füßchen in bie falten, jumpfigen Wälder Deutichlands
zu fegen, bentiche Frauen zu puten und beutihe Ehemänner
feufzen zu machen. Monfteur und Madame gingen in
gleiher Traht — welches Glüd, daß dem heute nicht mehr
fo ift: wie mander Mann würde für feine Frau, und wie
mande Frau für ihren Mann gehalten werden!
„Bebedung ift allen ein Mantel,“ jagt Tacitus, der faft
einzige Schriftfteller, der uns menigften® eiwas von unferen
Borfahren erzählt, „burd; eine Spange oder, wenn diefe fehlt,
durch einen Dorn zufammengeheftet. Die Wohlhabendften
unterfcheiden fi) durch ein Kleid, das nicht fo weit fie uns
ichließt, wie bei ben Sarmaten und Parthern, fondern eng
anfigt und die Glieder erkennen läßt. Sie tragen aud) die
VBelze wilder Tiere; die dem Ufer am näcjften Wohnenden
ohne Sorgfalt, die weiter im Innern ausgejuchter, da ihnen
fein anderer Schnuud durdy Hanbel zu teil ward; die ab«-
gezogenen Häute bes Wildes fprenkeln fie mit Tleden und
Sellen anderer Tiere, die ber Ocean und ein unbefanntes
Meer erzeugt. Auch haben die Frauen feine andere Tracht
als die Männer, außer daß fie des Ktleides oberen Teil
nicht in Armel ausdehnen; Arme, Schultern und Hals find
bei ihnen unbebedt.“
Einfadh, Shmuds und kunſtlos müſſen demnach unſere
deutſchen Damen damals ausgeſehen haben, und doch —
ſollte man es glauben — wurden ſie um einen Teil ihrer
Toilette von der ſtolzen, macht- und glanzvollen Römerin
beneidet! Das lange rotgoldene Haar der deutſchen Frauen
5) Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung. 60
wurbe teuer in Nom erftanden und die daraus gefertigten
Hanrtouren und Chignons zierten die Nöntcrin bei glänzenben
Selten. Wie Supenal erzählt:
„— Sie bauet Stodwert auf Stodwert
Sich auf den Kopf und erhöht ihn durd) Bindebalten zum Turnte, *
St Nom allein fühlte fih damals die Göttin Mode
heimisch unter dem cwig Haren Himmel, beim Dufte ber
Narziffen, beim Kaufen und Flüftern der Pinien und
Cedern, dort Shmüdte fie mit der glühenden Stanıelie und
berrichte frei und Tauniich über Nömerin und Römer, über
Gold und Perlen, über die Schäge der ganzen Welt, die dag
jtolze Rom gefammelt ıınd geraubt hat und ihr demütig zu
Füßen legte. — Wad jett die ftolzefte Yürftin, die Hoch»
gebietende Frau eines engliihen Großen in Indien, was
die Iaunenhaftefte ruffiiche Knefin faum in der übermütigjten
Herriherlaune von ihren Dienerinnen verlangen und mit
al ihren Schägen faun bezahlen fann, da8 madjte die Frau
eines römifchen Scnators, eines römifchen Ritters, der ganze
Länder geplündert, Könige zu feinen Füßen gefehen und
Hunderte von Sklaven und Sklavinnen aus ben unter:
iohten Provinzen in feine Häufer nah Rom und Italien
geichleppt Hatte, alle Tage des Jahres in ihren Hauie
möglid. Die Toilettengegenftänbe heutiger Zeit, die fofts
barften Stoffe des jetigen Lurus, fie wären faum beachtens-
werte Dinge in den Augen der reichen, ftolzen Römerin
geweien. Ein Blid ins alte Rom mit feiner Pracht, mit
jeinen Paläften, ein Blid in das Boubdoir der Senatorsfrau
mag ung von der Wirklichkeit des Gejagten überzeugen.
E3 ift no früh am Morgen; die Sonne hat joeben
erft ihre Bahn am mwolfenlofen Himmel begonnen. Hinter
uns liegt das Kapitol in ftolger Majeftät auf dem tarpejifchen
Felfen, ein riefiger Bau, der Verfammlungsort der Senatoren;
dicht davor die Nojtra, die Rebnerbühne von Stein, mit
den Schiffsichnäbeln erbeuteter Schiffe geziert, von ber herab
fo manches Wort gelungen, daS die ganze Welt erzittern
machte, nmiandje Weisheit gefprochen,- die noch nad) zwei
Sahrtaujenden bewundert wird. Geradeaus von ber Roftra
geht ber breite Weg an herrliden, mit Säulen geihmüdten
Tenpeln vorbei bis zum rieſenhaften Koloſſeum. Rechts der
palatinifche Hügel mit dem goldenen Haufe des Nero, einer
ganzen Reihe der pradhtvollften Paläfte uud lints hart am
Tempel des Kaftor und Pollur, deilen Eoftbare Marmorfäulen
einst in Athen gejtanden und zur Akropolis hinaufgejhaut,
ficht der Palaft der Nömerin, der wir heute einen DBefud
zugedadht. Die Wege find noch öde, nur hin und wieder
erfheinen Stlaven in braunen oder erdfarbenen wollenen
Ktitteln von grobem Gewebe und tragen Wafler in Krügen
oder faufen Schnee zur fünftlichen Bereitung des Eifes und
zur Kühlung des Weines. Mädchen und rauen kommen
mit Blumen und Früdten zum Markt, und der DBefiker
eines Fühlen offenen Gewölbes an der Ede einer Neben-
ftraße bat dasjelbe foeben geöffnet; weiche Polfter an ben
Wänden besfelben laden ben von Staub und Hite Er⸗
ihöpften zur Nuhe ein, außgeipannte Leinwand fehügt den
weiten Eingang vor den Sonnenftrahlen und auf dem
Marmortiih im Gewölbe fteht das beliebte Gemiſch von
Wein, Waffer und Honig in mannigfacd geformten Thonvajen
ihon fertig bereitet.
Noc einige Schritte, und wir ftehen vor dem Palaft
unferer Nömerin Terentilla, der Zrau eines reichen Senator?.
Eine herrlide Dede auf [hönen forinthiihen Säulen wölbt
fih vor dem Eingange; wir treten in die Vorhalle, rechts
und Iinfs führen Thüren zu Eleineren Gemächern, geradeaus
fommten wir in den Hauptraum des ganzen Haufes, in da3
Arium. Säulen aus ägyptifdiem Marmor tragen das Dad),
weldhes in der Mitte offen ift. Gerade darunter ift ein
großes Beden zum Auffangen ded Negens. Ein Streis bon
prädtigen Marmorftatuen umgiebt dasfelbe, um deren
Eodel die jeltenften Edylingpflanzen fih Tchniegen. Der
Sußboden befteht aus dem feiniten Mofait und der dunfel-
braune Hintergrund der Wände läßt die auf denjelben be-
findlichen herrlichen Gemälde in den fchönften Farben er—
Iheinen. Dem Gingang gegenüber tragen vier 1ächtige
Marmorjänlen dag Gebälf; wir [chlagen den herunterwallenden
purpurnen Vorhang zurück und find im zweiten Hauptgemad),
ähnlich dem vorigen, nur pradjtvoller. Das Licht fällt nicht
wie im erften von oben hinein, jondern fommt von der offenen,
dem Eingange gegenüberliegenden Seite, deren Säulenbogen
einen zauberhaften Blif in den üppig Ichönen Garten ge=
währen. Die TIhüren recht? führen in die Gemächer des
Hausherrn, die linf® zur Gebicterin. Wir treten ein in ihr
Ankleidezimner und ruhen aus von dem weiter Wege auf
ben jchwellenden Bolftern der Eoftbaren griedhiihen Sejjel.
Ein Schwarm von Sklaven erwartet fon feit Stunden
die Herrin in dem geräumigen Gemadj; leije und ängſtlich
flüftern fie in verjchiedenen Gruppen, fein Kichern wird ges
hört, kein heiterer Blick iſt bei ihnen möglich: in Furcht
und Zittern erwarten ſie die Gebieterin, deren Lanne frei
ſchalten kann über Leben und Tod. Endlich erſcheint die
gefürchtete, die ſtolze, reiche und mächtige Römerin. Toch —
wo iſt die majeſtätiſche Geſtalt, von der wir geträumt, wo
die dunklen Augenbrauen, unter denen das dunkle Auge
feurig brennt, wo die Korallenlippen, durch die das blendende
Weiß der tadelloſen Zähne ſchimmert? Ein Geſpenſt
glauben wir zu ſehen, über das uns Lucian folgende Aus—
kunft giebt:
„Sollte jemand dieſe Frauen in dem Augenblicke ſehen
können, wo ſie ſich endlich aus ihrem Morgenſchlaf er:
heben, er würde ſicher glauben, er begegne einer Meerkatze
oder einem Pavian, mit welchem beim erſten Ausgang am
Morgen zuſammenzutreffen man im gemeinen Leben für
eine ſehr ſchlechte Vorbedeutung zu halten pflegt. Ein Teig
von Brot und Eſelsmilch iſt der ſtolzen Schönheit geſtern
abend vor dem Schlafengehen auf das Geſicht gepackt, um
die Geſichtsfarbe weiß zu erhalten und die Runzeln zu ver—
treiben; die trockene, rußig gewordene Kruſte bedeckt jetzt
die Züge, nur die Augen blicken daraus hervor; wer kann
daher dem Dichter verargen, wenn er dabei an eine Meer⸗
katze denkt, wer dem Martial ſein Epigramm verübeln:
„Galla, Dich ſetzt Dein Putztiſch aus hundert Lügen zuſammen;
Während in Rom Du lebſt, rötet Dein Haar ſich am Rhein.
Wie Dein ſeidenes Kleid, ſo hebſt Du am Abend den Zahn auf
Und zwei Drittel von Dir liegen in Schachteln verpackt.
Wangen und Augenbrauen, womit Du Erhörung uns zuwinkſt,
Malte des Mädchens Kunſt, die Dich am Morgen geſchmückt.
Darum kann auch kein Mann Dir: ich liebe Dich! ſagen.
Was er liebt, biſt nicht Du! Was Du biſt — liebt kein Mann!“
Doch — mag die herbe Täuſchung uns nicht hindern,
unſere Neugier zu befriedigen, halten wir mutig aus und
betrachten wir ungeſehen den Vorgang der Toilette.
Terentilla winkt zuerſt der Sklavin, die das Amt der
Thürſteherin vor ihrem Ankleidezimmer hat und erteilt ihr
Befehle, welche Kaufleute, Wahrſager, Unterhändlerinnen und
Briefträgerinnen jetzt allein Zutritt erhalten können. Für
61 Beiblatt der Deutihen Noman-Zeitung. 62
jeden reund, jeden Bekannten ift fie frank; fie gebentt der
Worte des Dichters:
„Alles dient zur Schönheit. Doch ijt’S fein reizender Anblid,
Das entitehen zu feh’n, was nur entitanden gefällt.”
Endlid nimmt fie Pla in dem zahlreihen, ängftlid
harrenden Streife ihrer Zofen und Schmucdbereiterinnen;
jede derjelben bat ihr eigenes Amt, jede beftrebt fih, burd
pünftlihe Beobadtung ihrer Pflichten und die gewanbtefte
Behänbdigfeit, ihrer Gebieterin wenn audy nur einen hulbd-
reihen Blid abzugewinnen. Tas ganze Heer der Sklapinnen
ift, der gehörigen Ordnung willen, in Kleinere Abteilungen
geteilt. Sie treten jegt gleihfam fompagnieweife auf. Ein
Mädchen naht fih der Gebieterin mit filbernem Beden, in
dem fi) Taue Ejelgmilch befindet; zwei andere nehmen zarte
Shwämme von Nhodus, feuchten die Krufte des Gefichtes,
bis fie fih ILöft und entfernen dieſelbe behutſam. Eine
andere fommt mit lauem Waffer, in weldhes Schönheits-
effenzen getröpfelt find und wälht damit und mit wohl:
riehenden Seifen das Gefiht der Gebieterin. Segt kommt
die Schminferin an die Neihe. Das reingewafchene unb
mit weißen Tüchhern getrodnete Antlig wird mit Not und
Weiß bemalt, doc darf die Sklavin diefe Operation nicht
eher vornehmen, bevor fie einen metallenen Epiegel ange:
baucht und Diefen der Gebieterin zum Beriechen dargeboten
hat. Daran erkennt diefe, ob da8 Mädchen reinen Speichel
im Munde führt, ob fie die borgefchriebenen Paftillen ſchon
gefaut hat, benn mit Speihel muß die Schminke erft an-
gerieben werden. Saum hat dic Sklavin ihre Arbeit vollendet,
fo tritt fhon eine andere heran, in der linfen Hand eine
Mujchel mit fein gepulvertem, eigens bereitetem Bleiglanz,
in der rechten einen PBinfel. Dur ihre Kunft mwölben fid)
zwei jchöne Augenbrauen, bie an ber Najenwurzel eng zu=
fammenjhließen müffen, um die Gebieterin ber jcdhön-
äugigen Yuno ähnlid) werden zu lafjen. Die Zahnpugerin
folgt; fie bringt in Eleiner golbener Schale weißgelbliche
Maftirfömer, bie die Herrin faut; in einer anderen
pulverifierten Bimftein, der durh Beimifhung fehr fein
geriebeiien Marmor in allerlei Yarben jpielt; aus Fünftlid)
geformter Kapfel nimmt fie die bereits geputten Zähne aus
Elfenbein, welche mit Goldbrabt im Munde befeftigt werben.
Wahäfugeln in ben Stinnbaden, zur Hebung der einge:
fallenen Wangen, find bei Terentilla no nicht nötig, fie
befindet fi) nody in den beiten Sahren.
Jeßt begiebt Terentilla fidy in den Kreis ihrer Haar:
Ihmüderinnen, die heute alle ihre Verſchönerungskünſte
aufbieten müffen, um die geftrenge Herrin zufrieden zu
ftelen. Bergeblid) war bisher verfucht, durd) Fünftliche
Mittel ihr Haar fhön goldgelb zu färben; das Cchmwarzbraun
war zwar liter, aber nidt Hodgelb, nicht Yichtrot
geworden. Ehon war fie entichloffen gemwefen, den, von
vielen ihrer Freundinnen beliebten Schritt zu Ihun, das
eigene Haar abzujchneiden und eine blonde, von deutlichen
grauen genommene Perüde zu fragen, allein der Betrug
war ihr wegen der häufigen Bäder zu Yäftig. Jetzt wird
die Blafe, in welche die Haare mit den Eauftifchen neuen
Mitteln abends zuvor gepadt waren, abgenommen und:
„Ei wie rot!” ruft die ganze Schar von Mädchen entzüdt aus,
als wäre ein Signal dazu gegeben; ZTerentilla, von dem
einftunmigen Erftaunen erfreut, glaubt felbft im Spiegel bie
Beftätigung bdeffen zu fehen, was fie fo eifrig zu jehen
wänjcht; fie lächelt gnädig und nimmt auf dem Seflel
Pag, um von vier Dienerinnen auf einmal den Eoftbaren
Bau ihres Haarputes vollenden zu laffen. Die eine crs
hist dag DBrenneifen im filbernen Nichbeden und fräufelt
die Haare an ber Stirn unb den Schläfen; eine andere
beiprigt mit ftaunenswerter Fertigkeit die überall aufgelöften
und geloderten Haare mit Ekoftbarem Nardenöle und mwohl-
riehenden Efjenzen. Die britte tritt heran und muß bie
vorher eingefalbten und wohldurdfämmten Haare in zierliche
Flechten von hinten zufammenlegen, bann in eine Art von
Wulft über dem Scheitel fo gefchict auftürmen, baß ein
Haarput daraus entiteht, der in fich felbit durch die mannig«-
faltigften Verzierungen verfchieden tft. Sie ift jet damit
fertig und nimmt aus einem Schmudfäftchen von Elfenbein
die von der Gebieterin unter den vielen gewählte Nadel
und fticht Diefelbe zwiihen bie zufammengeflochtenen und
funftmäßig übereinander gewidelten Zöpfe, wie Martial jagt:
„Daß die gejalbien Haare das feidne Gewand nicht befleden,
Hält den gewundenen Zopf jichrer die Nadel Dir feit.”
(Säluß folgt.)
Anverzagt.
Ob auch übers dunkle Land
Schwarz die Wolkennacht ſich breite,
Iſt zum Himmel doch gewandt
Eine golo'ne Sonnenſeite.
Wenn auch hart ein Schmerz Dich drückt,
Unverzagt durchs Leben ſchreite,
Auch das ſchwerſte Leiden ſchmückt
Eine gold'ne Sonnenſeite.
Auguſt Krauſe.
Die Amerikanerin in England.
1.
An To ausgebehnter Weife man in England aud) jeit
Sahren ben gänzlid; veränderten Ansprüchen und Ziclen des
weiblichen Gefchlehts Necdnung getragen hat, fo irren wir
hier zu Lande, wo bie Srauenbewegung einen jpäteren Anfang
nahm und Tangjamere Fortichritte machte, dennoch in der
Annahme, e8 jei dort bereit ba Mögliche erreicht. Freilich
hört man fortwährend von neuen Univerfitäten, Golleged
und Slaffen, die fich dort den Schon beftehenden Zehranftalten
für Frauen anreihen und aud) in unabhängigen Verhältnifien,
in denen man bie geiftige Ausbildung nicht etwa als Sriftenz-
mittel betrachtet und verwertet, thut fih ber neuerwacte
Drang ber rauen nad) Vollentwidelung aller Sräfte deutlich
fund. Das großartige Syften ber Wohlthätigfeit, da3 be:
fanntlich fomwohl in London wie auf dem Lande jede Art
ber Bebürftigen und Notleidenden umfaßt, ift ein weiterer
Ausflug diefes Dranges. Die Energie unb der praftifche
Sinn der englifchen Frauen, bie felbftlofe Hingebung vieler
einzelnen unter ihnen wirken mit ben fegensreichften Folgen
bei biejen Liebeswerfen und e3 beteiligen fih an benjelben
neben den Mitgliedern bes Ktönigähaufes faft alle engliſchen
Damen, eine sede in ihrer Weife, möge übrigens ihre foclale
und politifhe Nichtung fein welche fie twolle.
Bekannt ift ferner, daß viele englifche Frauen ber Setzt:
63 | Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung. 64
zeit e8 nicht bei dem Streben bewenden laſſen, das Wiſſen,
die Rechte und die lInabhängigkeit des Viannes zu erlangen,
feine Yeihäftigung und feinen Beruf zu ermwählen, fonbern
daß fie aud) feine Gewohnheiten, feine Sprache, ja felbft
jeine Kleidung nadjahmen und die früher beobadjteten Yormen,
weiblichen Sitten und Gepflogenheiten beijeite legen. Von
feiten des in feiner Dafeinsberehtigung , feinen Charatter-
eigenschaften und jeinen Eriftenzmitteln nad allen Richtungen
bin hartbebrängten Mannes erfcheinen jeit lange Ihon niehr
oder weniger ernft gemeinte Nufe der Notwehr, pathetifche
Klagen über die gefchehenen Übergriffe und Beihmwörungen
an das Ichöne Geihleht, zu weibliden Thun und Sein
zurückzukehren.
Männliche Beſucher beſchreiben die neugegründeten weib—
lichen Klubs in London, die Zufluchtsorte für die Freiheits—
prediger der Frauenbewegung und unter dieſen beiſpielsweiſe
den luxuriös eingerichteten, mit Rauchzimmer und ſonſtigen
Bequemlichkeiten verſehenen Pionierklub in Bruton Street.
Sie ſchildern ihre Verwunderung, dort viele hübſche junge
Mädchen, ja, was noch mehr ihr Staunen erregt habe,
auch verheiratete und zwar glücklich verheiratete Fmuen ge⸗
funden zu haben und bemerken mit gutmütigem Spott, daß
ſich manche dieſer Mitglieder allerdings noch herablaſſen,
mit den Männern — natürlich auf dem Fuß der Gleichheit
— zu verkehren, daß ihre Führerin indeſſen ſtrengeren Regeln
folgt und beiſpielsweiſe unlängſt eins der beſten Werke
Robert Brownings aus der Klubbibliothek verbannte, auf
Grund ſeines allzukühnen Titels „Männer und Frauen“,
da ihre eigene Deviſe unwandelbar laute „Frauen und
Männer“.
Könnte es ſomit freilich ſcheinen, als ſei den engliſchen
Frauen kaum noch eine Grenze ihrer Freiheit geſteckt — es
können gleichwohl alle hier erreichten Siege ſich nicht entfernt
mit denen meſſen, deren Früchte die Amerikanerinnen ſeit
lange ſchon in abſoluter Ruhe genießen. In Amerika, wo
alles einen koloſſaleren Maßſtab hat als in Europa — die
Berge, die Seen, die Flüſſe und Waſſerfälle, die ungeheuren
Privatvermögen, der Luxus, die Rieſenhotels, die Unfälle
— wurden auch die dort weit ältern Reformverſuche des
weiblichen Geſchlechts gleich ins Große und Weite getragen.
Die damit zuſammenhängenden Excentricitäten nahmen einen
bizarreren Charakter an als in andern Ländern und alles
in England Erreichte, ſelbſt die verwegenſten Verſuche der
Britinnen verſinken in Kleinlichkeit und Nichts gegenüber
den Erfolgen ihrer transatlantiſchen Schweſtern. In England
glaubte man beiſpielsweiſe neuerdings in Bezug auf die
Gewohnheit des Rauchens große Fortſchritte gemacht zu
haben. Früher blieb dies faſt ausſchließlich den Männern
überlaſſen und pflegte daheim ſelbſt für dieſe ſtreng in die
Grenzen des entlegenen Rauchzimmers gebannt zu werden.
Jetzt hat man in vielen, ſogar in einigen der früher ſtrengſten
Häuſer nicht nur dieſe Regel erheblich gelockert, es leiſten
manche der Damen den Herren bis in ſpäte Nachtſtunden
ſogar thätige Geſellſchaft bei dieſem Zeitvertreib. Gehört
doch ſelbſt eine gewiſſe Anzahl von Cigarren- und Cigaretten⸗
kaſten und-Taſchen bereits zu dem Trouſſeau einer modernen
Braut. Aber was will das bedeuten gegen die Freiheit,
die in dieſer Beziehung in Amerika herrſcht! Als jüngſt in
England Lady Colin Campbell, eine ſchöne, geiſtreiche Frau,
für ihre Mitſchweſtern das unbeſtrittene Recht des Rauchens
in Anſpruch nahm und behauptete, das weibliche Geſchlecht,
dem in ſo hohem Maße die Mühen und Beſchwerden des
täglichen Lebens zufallen, ſolle unbedingt auch teilhaben an
der Beruhigung und Erholung, die ſich die Männer durch
dieſen Sorgenbrecher, dieſe Pangcee gegen alle Übel verſchaffen,
da fand ſich alsbald aus weiblicher Feder eine kräftige Ent⸗
gegnung, welche die Folgen einer ſolchen Geſchmacksverirrung
geißelte und die cigarettenrauchende Zofe beim Friſieren der
Herrin, die am Herde mit ihrer Pfeife hantierende Köchin
in draſtiſcher Weiſe vorführte. Die Amerikanerin dagegen
hält ſich bei dergleichen Vorreden nicht mehr auf, bei ihr
bedarf es des Kampfes um dieſes Vorrecht nicht mehr. Bei
einer Sammlung für notleidende Grubenarbeiter ſchickte ein
amerikaniſches Mädchen vor kurzem drei Schilling mit dem
Zuſatz: „Erſparnis durch achttägiges Enthalten vom
Rauchen.“ Ja es fehlt dieſem Rechte ſelbſt die gerichtliche
Beſtätigung nicht mehr; als unlängſt in Louisville drei
Amerikanerinnen wegen Rauchens auf öffentlicher Straße
vor dem Richter erſchienen, entſchied dieſer, daß dieſe Ge—
wohnheit, möge ſie auch an einigen Orten noch von der
öffentlichen Meinung beanſtandet werden, eine Geſetzwidrigkeit
jedenfalls nicht enthalte. In ähnlicher Weiſe wird jeder
andere hier gemachte Fortſchritt der Frauen drüben an
Gründlichkeit und Vollſtändigkeit weit übertroffen.
Die ganze Erziehung der Amerikanerin fördert ihre
Eigenart und dient dazu, einen entſchloſſenen, faſt männlichen
Sinn und eine Kraft und Schärfe des Urteils auszubilden,
die nichts zu wünſchen übrig laſſen. In ihren Sitten und
Gewohnheiten, ihrer Sprache und ihrem ganzen Weſen ver⸗
ſteht ſie in ſehr entſchiedener Weiſe das Recht völliger Frei—⸗
heit und Unabhängigkeit in Anſpruch zu nehmen. Aus dem
allen entwickelt ſich ein höchſt eigenartiges Weſen, das dem
iungen Engländer eine neue, ſehr reizvolle Offenbarung war,
als es vor einigen Jahren für die vornehme männliche
Jugend Englands Mode wurde, zum Zweck des Vergnügens
und der Belehrung Reiſen nach Amerika zu unternehmen.
Der Ideenreichtum der Amerikanerin, ihre Art und Weiſe,
die ganze pikante Verſchiedenheit, die zwiſchen ihr und ſeinen
Landsmänninnen beſtand, entzückte den jungen Mann. War
doch die Engländerin der vornehmen Stände bis vor ver—⸗
verhältnismäßig kurzer Zeit überhaupt noch in einer gewiſſen
Lethargie und beſchaulichen, nutzloſen Unthätigkeit befangen,
die ſie zu einem ziemlich unnützen Mitgliede der Geſellſchaft
machte. Von Kindheit auf bewacht, behütet und bevormundet,
an großen Luxus gewöhnt, aber an geiſtiger Entfaltung
und Kraftentwickelung gehindert und beſchränkt, war ſie eher
ein koſtbares, wenngleich oft ſehr anmutiges Spielzeug für
den Mann, als ſeine intelligente, hilfreiche Gefährtin. Sie
war, wie ein ſcharfſichtiger Beobachter beider Nationen ſich
ausdrückte, monoton, einfarbig im Weſen wie im Leben, in
Anſichten und Charakter. Der Mann aber bedarf der Ab—
wechſelung, er würde ſelbſt einer Schmetterlingsnatur den
Vorzug vor einem Weſen geben, das ſo gänzlich der In—⸗
dividualität ermangelt. Und wäre in einem ſolchen ſelbſt
das Rohmaterial zu einer entzückenden Frau vorhanden, der
junge Brite fühlt ſich zu dem erforderlichen Erziehungswerke
weder fähig noch berufen, weit lieber wählt er das Fertige
und ihm wirklich Zuſagende. In der Amerikanerin nun fand
er, was er wünſchte, alle Vorzüge der Britinnen und viele
andere, die jenen fehlten. Intelligenz, Ideen, Lebhaftigkeit,
Ausbildung und Wiſſen von mehr als gleicher Höhe mit
dem ſeinen, dazu Friſche und Temperament, häufig glänzende
Eigenſchaften, ſtets aber unbedingt eine eigene Individualität.
Das war ihm völlig neu und bezaubernd, kein Wunder,
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65 Beiblatt der Deutjchen Roman-Zeitung. 66
daß er diefe anziehenden Welen feinen Landsmänninnen
borzog. EB wurde Mobe unter der vornehmen Jugend
Englands, fich die Lebensgefährtin von ienfelt bes Dceanz
zu holen. Die erften Fälle biefer Art waren ein Ereignis,
faft eine foctale Revolution. Bet einer diefer Verbindungen,
bon der man unerwünichte verwanbtichaftliche Verwidelungen
für das englifhe und deutiche Königshaus voranzfehen wollte,
wurbe, fo erzählt man, mit großem Fleiß zuvor bie Anficht
und Haltung ber bezüglidhen Herrfcherfamilien erkundet; bie
Trage gelangte fucceffive an die hauptlächlichiten Mitglieder
derjelben und endlich an Bismard, ber kurz und dharakteriftiich
entſchied, es ſei abſolut nleihgältig, wen der Betrefiendbe
heirate!' In der Folge dachte allerdingd niemand mehr
daran, dergleichen Fragen aufzumwerfen, man gewöhnte fi) an
ben Stand ber Dinge Die britifhe Mutter freilih, jo
fpottete man, bie ihre Tochter fürber auf dem Heiratsmarlte
nit mehr anbringen fonnte, Magte bitter über bie einges
tretene Gejchmadsvertrrung und über biefe Wilberer in bem
beimifchen Nevier, die, wie fie behauptete, nicht durdy bie
Macht ihrer Reize fiegten, fondern vielmehr durd) ihre Ränfe
und bie berecinenden Künfte, mit denen fie ben vornehmen
engliihen Gemahl zu ködern veritanden.
(Schluß folgt.)
Der wilde Hofendufd).
Sch hab’ im Wald einen Lieblingsfled,
Ummwudert von Dornen und Ranfen,
Die Falter irren durdy mein Berftecd
Wie ſtille Sehnſuchtsgedanken.
Und auf dem ſonnigen Grunde ſteht
Ein Dornſtrauch, blütenbehangen,
Sobald der Wind durch die Stoppeln weht,
Treibt hin mich ein ruhlos Verlangen.
Stumm lehne mein Haupt ich an einen Baum,
— Hoch über mir krächzen die Raben —
Hier hab' ich einſt einen lieben Traum
Mit heißen Thränen begraben! — —
Gertrud Friepel.
Hene Epik.
Belprocden von Karl Stord.
Sept, in biejen ſchönen Sommertagen, lieſt es ſich gut
draußen im Freien, ſelbſt wenn man nicht zu zweien iſt,
wie es der darin ſachverſtändige Sänger vom Oberrhein für
feinen „Trompeter“ verlangte So füllte ich denn beide
Nodihöße mit Büchern und z0g hinaus an ein ftilles Wald»
plägchen. — Aber die Vögel mögen nody jo Iuflig fingen,
die Bäume nod fo traulich raufchen, bie Blätter der Bücher
rafheln nur um fo bürrer, wenn fein frifches Leben darin
ift. Und dag pulfiert nit allzu reich in den mir vorliegen»
ben eptichen Gedichten.
Baum, Der Geifierfeder (isriebenau » Berlin bei G.
Bohres) und Deuter Glaube (anonym) (Berlin, Guftav
Schabe) intereffieren nur, infofern fie ein Zeichen dafür find,
Romansfeltung 1896.
daß unfere Zeit des öden Materialiamus gründlich müde
ift und fi nach einem Lande jehnt, wo auch die Seele das
heim ift.
Audh Anna Bauer Dichtung Berfgüttel (Dresden,
€. Pierfon) kann, felbft wenn man von der unwahrideins
fihen Handlung abfieht, tiefere Teilnahme nicht erweden.
Dagegen ift Dirk Alutm, epiiches Gedicht von 9. Garmer
(Pleudongm) (Közlin, Alfred Hofmann) bag Werk eines
großen Talentes, dag, wenn e8 fich energiicher zufammens
nimmt, den Stoff mehr ausreifen läßt, noch Befleres bieten
wird. Aber auch die vorliegende Dichtung tft aller Achtung
wert. Ein ergreifender, piychologiich Scharf zugeipigter Vor-
gang ift in Teidenfchaftlicher, nur bisweilen etwas gewalt-
famer Sprache geftaltet. Die tiefempfundenen Iyriichen Ges
dichte find nicht — wie fo häufig in Epen — eine überflüffige
Zugabe, fondern eng mit dem Stoff verwadfen und ben
Gang ber Handlung förbernd. Alles in allem ein Buch, bas
auf feinen feinen Eindrucd verfehlen wirb.
Die beiden Dichtungen
Seupaß, ein Schweizer Treiheitslied von Guftad
Ad. Erdmann (Wittenberg, NR. Herrofe) und
Green, ein Sang auß ben reiheitäfriegen von
Theodor Herold (Münfter i.W., Heinrih Schöningh)
fordern in mancher Hinfiht zum Vergleich heraus. Beide
haben die Freiheitsfämpfe eines Volles zum Gegenitand.
Uber während Herold uns bie Liebesgefhichte eines unter
den Lütowern fämpfenden Grafenfohnes zu einem bürger-
liden Mädchen erzählt, die weltbewegenden Ereignifje nur
im Hintergrund jchauen läßt, madt Erbmann gerabe diefe
zum Gegenftand feiner Dichtung. Und doch hat Herold ein
befjeres Bild jener Tage gegeben — von denen Th. Körner
an feinen Vater jchreiben konnte: „Gott, was tft dag für
eine große, herrliche Zeit. Alles geht mit fo freiem, ftolgem
Mute dem großen Kampfe fürd Vaterland entgegen, alles
brängt fi, zuerft für bie gute Sache bluten zu können. 68
ift nur ein Wille, nur ein Wunfch in ber ganzen Nation,
und da abgenugte: Sieg oder Tod! befommt neue, heilige
Bedeutung (22. März 1813)* — als der Dichter des Sempad;-
liedes. Solche Vorgänge, zumal blutige Schlachten, verjagen
leihht unter der Hand des Kunftdichters, fie gelingen faft
nur dem Volksepiker. Vom Kunſtdichter verlangen wir
Menſchen, Individuen, und er wird, wenn er große Vor⸗
gänge ſchildern will, dieſe in einzelnen Perſonen uns mit⸗
erleben laſſen. Bei Erdmann iſt alles, was nicht zur eigent⸗
lichen Schilderung des Schweizeraufſtandes gehört, in der
nebenſächlichen Epiſode ſtecken geblieben, mit dem Hauptſtoff
nicht tiefer in Verbindung gebracht. Die einzige Ausnahme
machen die Winkelried betreffenden Abſchnitte. Aber wie
vollſtändig aus dem Stoff fallend iſt die einen breiten Raum
einnehmende Liebesgeſchichte des Falkners Vitus zur ſchönen
Röſi. Jener wird der heimiſchen Sache untreu, hält zu
Habsburg und verſtößt auch die Schweizermaid, die darüber
wahnſinnig wird. In öſterreichiſchem Dienſte wird er auf
einer Kundſchaft erſchlagen. Hätte er wenigſtens beim Feinde
Ehre errungen und dann im Kampfe gegen das Vaterland
den Lohn für ſeinen Verrat gefunden, ſo wäre von einer
gewiſſen poetiſchen Gerechtigkeit die Rede, das Schickſal des
einzelnen könnte mit dem Ganzen in Zuſammenhang gebracht
werden, der Verfaſſer hätte überdies Gelegenheit zur Schilde⸗
rung des Seelenkonflikts des Verräters gefunden. So werden
auch ſonſt manche Fäden angeknüpft, die nachher nicht weiter⸗
geſponnen werden. Schade, daß der Stoff nicht beſſer durch⸗
IV. 6
EWR —
67 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 68
gearbeitet tft, die Sprache ift fehr [hön und Eräftig und dem
Berfafier eignet, troß aller nötig gemwefenen Ausftellungen,
eine nicht unbedeutende Dichterfraft.
Herold® Epos ijt viel anipruchslofer. Die Liebed-
geihichte erwedt die Teilnahme des LVeferß, die verichiebenen
Stimmungen der Zeit fpiegeln fi in den einzelnen Berföns
lichkeiten. Manche Tiebgewordene Geitalt auß der Schar ber
Freiheitsfämpfer, vor allem bie ftrahlende Körners, treten
aus dem Hintergrund hervor — kurz, da8 Ganze ift eine
genußreiche Lektüre, obwohl das Bud höhere Bedeutung
nicht beanfpruchen darf. Das beigegebene Bild ift bödhft
überflüffig und durchaus feine Zierde des fonft gut außs
geitatteten Buches.
Vexſchiedenes.
Von Pilktor von Kohlenegg.
J.
Müde warſt Du ach vom weiten Gehen,
Schleppend war Dein Schritt und trüb Dein Auge,
Leer Dein ſtarrer Blick in bleichem Antlitz.
Liebend neigt' ich mich zu Dir hinüber,
Wollt' Dich ſorglich ſtützen, treulich führen
Ohn' Ermatten, ſo von Herzen gerne.
Leiſe nahm ich Deine kalten Hände,
Wärmte ſie an meinen heißen Lippen —
Müde ſchritteſt Du an meiner Seite,
Müde ach vom einfam=wetten Gehen;
Langiam wandeft Du die blafjen Hände
Aus dem inn’gen Griffe meiner Finger,
Sahft mir ftarr und mübe in die Augen,
Hießeft mich mit leifer Stimme gehen —
Zögernd ging id), langjam, weiter, weiter... .
Aus der Ferne jah ich dann zurüd...
Einfam fchleppteft Du die müben Glieder,
Und Dein Antlig war jo bleidh in Totenftarrheit . .
II.
Ein Adler hatte auß Laune fidh
Zur Tiefe hinabgelafien;
Da lam etwas geflogen die Quer
Als wollt’3 den Adler faflen.
Der ftugte und hadte jo nebenher
Nach dem raufhenden Wunbdertier,
Und als er fich’8 genauer beiah,
War's ein Sinäuel Zeitungspapier.
Il.
E3 ruht eine Saite in meiner Bruft,
Hab’ früher nicht? von ihr gemußt,
&3 ift eine heimliche Saite;
Dort wo das Herz am tiefften ift,
Tönt leife fie zu mancher Fyrift,
Sang lei3, ald wär’3 im Leide.
Sie Elinget in den Werfeltag,
Ich weiß nicht, wad daß werden mag,
Möcht' mich zur Freude wenden;
Doch immer ſüßer wird der Klang
Und weckt ein Sehnen herzensbang
Nach weichen Frauenhänden.
IV.
Du darfſt nicht immer in Dich greifen,
Manche Gedanken wollen reifen
Nach eignem Geſetze; aus eigner Macht
Sich heben, verbinden im Seelenſchacht.
Das giebt wohl für Zeiten ein unſchlüſſig Wollen,
Der Thörichte wird Deiner „Weichlichkeit“ grollen;
Doch heimlich, beglückend in tiefſter Bruſt,
Da webt und glüht die Werdeluſt.
Und geht Dir auch Zeit und Geld verloren —
Ein tiefer Gedanke wird Dir geboren.
Vermiſchtes.
Die „Alldeutſchen Blätter“ ſchreiben unter dem
Titel „Noch ein engliſches Urteil über das deutſche Heer“
folgendes.
Zur Erheiterung unſerer Leſer teilen wir ihnen heute
einige Auszüge aus bem Buche: „Kriegsabenteuer eines
Telbarztes" mit, das ein Engländer, Dr. Ryan, ber als
freiwilliger Arzt einen Teil des Tseldzuges von 1870/71
auf franzöfiiher Seite mitgemacht hat, kürzlich veröffentlichte.
E8 ift gar ergößlicy zu fehen, daß ihm die beutfche Kriegs:
führung und da8 beutfche Heer jehr gegen feinen Willen
dod) Bewunderung abgerungen haben; dieö offen zugugeftehen,
fann Dr. Ryan fi jedbod nicht überwinden, und fo zieht
er e8 denn vor, feine fhiefen Anfichten und Übertreibungen
auf den Markt zu bringen, um ben verhaßten Deutichen,
die feine lieben Franzojen jo gründlich zu fchlagen wagten,
doch wenigftens eins anzuhängen.
Nachdem er die Kataftrophe von Sedan gefchildert, fi)
lebhaft über die mangelhafte Ausrüftung der franzöftichen
Solbaten, über bie Unfähigkeit ihrer Offiziere und die Nicht-
adhtung, der fie von feiten ihrer Mannfchaften ausgefeßt
geweſen jeien, außgeiprochen hat, fchreibt er über die deutjchen
Soldaten folgendes:
„Mein Eindrud von ihnen ift der: Man bekümmere fich
nit um einen deutfhen Soldaten, man beläftige ihn nicht,
man trete ihm nicht in den Weg, bejonder8 dann nicht, wenn
er die Befehle feiner Vorgefegten ausführt, und er wird fo
harmlos und fo leicht zu befriedigen fein wie ein Kind.
Uber wenn man amnbdrerjeits ji in feine Angelegenheiten
mifcht und feine Wut durch irgend etwas reizt, danı wird
feine Rache nicht weniger fchnell als fchredlich fein. Auf
dem Schlachtfeld gebraudt er, wenn er erft erregt ift, fein
Bajonett und fein Gewehr wie ein Zulu feinen Affegai ober
ein Indianer feinen Tomahawfl. Seine Manteren find im
beiten Fall ungeihladt, um nicht zu jagen wiberwärtig und
beim Efjen efelhaft. Er ift ein großer Effer, bem nicht viel
an der Qualität dejien liegt, was er verichlingt, fo lange
die Quantität ausreichend tft, und obgleich er ein Quantum
Bier trinkt, da8 jeden andern Europäer hoffnungslos be:
raufchen würde, fit er fjelten betrunfen. Nichts reizt ihn jo
fehr als Hunger und Durft, worin er den häßlidhiten Gegen-
faß zu dem franzöfifhen Soldaten bildet, der immer ge-
duldig und heiter ift unter jolden Entbehrungen. Wenn
der deutfhe Soldat in diefer Weile phnfiih litt (mas
übrigen felten vorfam, bei der bewundernswerten Ein
richtung der deutfchen Heereßverpflegung) pflegte er zu rauben
und zu plündern, wa8 vor ihn fan, um Efjen oder Bier zu
69 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 70
befommen. Für jolhe Ausschreitungen wurde er, wenn er
dabei ertappt wurbe, unbarmberzig geitraft. Und der deutiche
Soldat unterwirft fih bebingungslos dDiefer Behandlung
feitens feiner Offiziere, als ob er ein Hund fei, fcheinbar
ohne fie nachzutragen. Sch Habe Offiziere und ihre Unter-
gebenen auf den Duais von Orleans ihre Mannichaften
wiederholt fchlagen jehen, und bei der Barade die Refruten
mit dem flahen Säbel in gerade Reihen richten fehen —
ein niederträchtiges Verfahren, dem fi weder ein englifcher
nody ein franzöfiiher Süngling unterwerfen würde.“
Die Meinung des VBerfaffers von den beutichen Offizieren
ift in vieler Hinfiht durhaus nicht fchmeichelhaft. Indem
er von ben hödjften Rangftufen fpridt, von Prinzen, Her-
zögen und Generalen, erklärt er, baß wenngleich er nidyt
behaupten molle, während eined Feldzuges könnten Die
Regeln des Anftandes immer beobachtet werden, e8 doch jo
etwas gäbe, wa& man das Betragen eines Gentleman nennt,
und baß er „inmitten ber großen Verfammlung, welde fich
des älteften deutichen Blutes rühmte, wenige fah, die fi
fo verhielten, wic man e3 von einem engliichen Offizier
erwartet.”
Dr. Ryan verurteilt hart die Gottlofigkeit der Franzofen
und Schreibt ihrer Veradhtung der Religion und Moral ben
größten Teil ihres Unglüds zu; aber die Deutichen follen
fih jkanbalös betragen haben in Bezug auf Slirchen unb
Dome. So fand Dr. Ryan 3. B. in der Pfarrfirhe von
Etampes eine Anzahl Kavalleriepferde untergebracht, und kann
er fih nicht genug über diefe Gottlofigfett entiegen, während
er, wollte man ihm die Plünderung der rheinifchen Dome,
die Schändung der Gräber in ihnen burd die TFranzofen
enigegenhalten, hierfür wahricheinlih nur ein Achfelzuden:
c’est la guerre! haben würde.
Nah Furzer in England verbraditer Ruhezeit fährt
Dr. Ryan nah Franfreih zurüd in Gejelihaft eines
Kapitüns Bradenbury, der feinerfeits in das Hauptquartier
bes deutichen Sronprinzen zurüdfehrte.e Als die beiden
Herren fih Dieppe nähern, jehen fie in ber Morgenfonne
die Bajonette „dieler allgegenmwärtigen preußiihen Scilb-
wachen“ glänzen, und nun erzählt Dr. Ryan:
„Sie gingen auf und ab auf bem Hafendamm in einer
herausfordernden, um nidt zu jagen drohenden Art. Sch
mnß fagen, der Anblid erfchredte mich, wir Hatten den An-
blif von England no vor unjern Augen, und Dieje ehr:
geizigen Krieger jchienen zu gefährlihd nahe. Ic empfand
den Wunich, fie beim Kragen zu nehmen und ins Meer zu
werfen. Sch Eonnte nit umbin, zu Kapitän Bradenbury
zu jagen, baß ich fie gern fragen möchte, nad) waß fie über
den Stanal hinausſchauten. Aber, wie diejer troden bemerkte,
ihre Antwort würde fein, daß fie nad einer Eleinen Sniel:
feftung (England natürlih!) auf hoher See ausihauten,
ein Heiner Punkt ber Schöpfung im Vergleich zu dem großen
beutfhen Neihe, welches Soeben in Verfailles verfünbet
worden war.”
Und gegenüber biejer trodenen Antwort des Kapitän
Brackenbury zog es Dr. Ryan do vor, die bdeutjchen
Schildwadhen lieber nicht zu befragen, gefchweige fie denn
in3 Meer zu werfen, und daran hat er wohlgethan! Aber
das in Seiner Erzählung enthaltene unbewußte Eingeftändnis
feiner Angft und ohnmädtigen Wut gegenüber den Deutichen
ift darum nicht minder föftlich.
Vom alleſten Naß und Gewicht. Daß zwiſchen Ge⸗
wicht und Längenmaß ein gewiſſes, häufig ſogar ganz be—
ſtimmtes Verhältnis beſteht, weiß heutzutage jedes Schulkind.
Bildet doch ſchon ſeit Jahren das für wiſſenſchaftliche Zwecke
geradezu unentbehrlich gewordene Meterſyſtem auch im ge⸗
wöhnlichen Verkehr die Regel, indem als Grundgewicht das
„Kilogramm“ gilt, d. i. das Gewicht eines Kubikdecimeters
deſtillierten Waſſers im Zuſtande ſeiner größten Dichtigkeit
(etwa 40 Celſius). Den Rauminhalt dieſes Kubikdecimeters
als Hohlmaß nennt man „Liter“, der ungefähr 1,145 preuß.
Quart entſpricht, während das Kilogramm genau zwei alte
Pfunde aufwiegt. Übrigens haben es ſchon die älteſten
Kulturvölker verſtanden, mit Zuhilfenahme eines Längenmaßes
das Gewicht zu beſtimmen. Die römiſche „Amphora“ z. B.,
welche bei den byzantiniſchen Kaiſern noch bis ins 10. Jahrh.
n. Ch. im Gebrauch war, mußte geſetzlich 80 römiſche Pfunde
wiegen, was einem Hohlmaße gleichkommt, deſſen drei Di⸗
menſionen wieder genau die Länge des römiſchen Fußes
aufweiſen. Auch die Griechen gingen bei ihren Gewichts⸗
beſtimmungen meiſt vom Waſſergewicht des ſogenannten
„attiſchen Metretes“ aus, einem kubiſchen Maße, dem der
griechiſche Fuß zu Grunde lag. Die römiſche Amphora faßte
etwa zwei Drittel vom Inhalt des attiſchen Metretes.
Neuere Forſchungen haben nun ergeben, daß die Hellenen
keineswegs die Erfinder dieſer Methode zur Feſtſtellung
eines Normalgewichts geweſen ſind, ſondern damit nur
älteren und zwar morgenländiſchen Vorbildern folgten. Auf
babyloniſchen Trümmerſtätten nämlich wurden Mengen von
Gewichtsſtücken aus Bronze, Eiſen und Stein (in Form von
Löwen oder Enten) aufgefunden, welche in aramäiſcher
Sprache Inſchriften über Gebrauch und Bedeutung enthalten.
Da guterhaltene Stücke von 15 Minen bis herab zur Viertel⸗
mine feine Seltenheit find, fo konnte die babyloniſch⸗-aſſyriſche
„Mine* als das Normalgewiht auch annähernd feftgeftelft
werden: fie wog (nad) Brandis) etwa 545 gr. Betradyten wir fie
als Gewichtseinheit (Pfund), fo zerfiel fie wieder in 60 Schekel
oder Säkel (Lot), während anderfeit3 60 Minen ein Talent
(Sentner) ausmadhten. Hiernach hätte das Talent alio ur:
fprünglih 3600 Schekel gezählt, Doch verboppelte fidy in ber
fpäteren Zeit fein Gewicht, weshalb audy fchmwere und leichte
Talente unterfhieden werben. Bei Edelmetallen rechnete man
die Mine nur zu 50 (das Talent aljo zu 3000) Scefel,
und gab hier Ion das Wertverhältnis den Ausfchlag, denn
e3 wird ausdrüdlicdh zimiichen Gold und Siibertalenten unter:
ihieden. Diejes babylonische Gewichts- und Teilungsiyften
war natürlich fpäter auch auf die Wertbeftimmungen de
Geldes, d. h. der gemünzten Metalle (Gold, Weißgold,
Silber und Kupfer), von großem Einfluß. Die älteften und
befannten Münzen überhaupt find von Gold und ftammen
aus dem 7. Sahrh. v. Chr., doch haben ficher viel früher
ihon edle Metalle in Barren= oder Ringform mit beftimmter
GewichtSbezeihnung zu Taufchzmweden gedient und das Geld
im öffentlihen Berfehr erjegt. Für die Nidjtigfeit des Ge-
wicht? bürgte gewöhnlid) ein von Staats wegen den einzelnen
Stüden aufgedrüdter Stempel.
Der berühmte Ägyptologe, Prof. Brugſch-Paſcha, ſtellte
zuerſt im Gegenſatz zu andern Forſchern die Behauptung
auf, daß die Idee eines Normalgewichts ſowie des darauf
fußenden Syſtems nicht babyloniſchen ſondern viel eher wohl
ägyptiſchen Urſprungs ſei, und daß demnach das geſamte
Haffifhe Altertum audh Maß und Gewidht wie no manches
andere dem geheimnisreihen Nillande zu danken hätte. Syn
der That deuten alle Spuren in dieje Richtung, ar den
heiligen Nil, wo noch heute Bauwerke und Denkmäler über-
— —
71 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 12
rajchende Kunde geben von einer um Sahrtaufende zurüds
liegenden Kultur in geradezu unerreichter Vollendung. Prof.
Brugih gelang e8, altägyptiiche Inichriften aus dem 3. Jahrh.
vb. Chr. aufzudeden und zu entziffern, welche genauen Aufs
Ihluß über Maß und Gewicht gaben und feine Behauptung
zur Thatfache erhoben. Wieberholt ift ba nämlich von ganz
beftimmten Gewichtsmengen ber vier oben erwähnten Ebel-
metalle die Rebe, welde genau mie unfer Gelb gebraudt
wurden: man bemaß 3. B. banad) ben von befiegten und
unteriohten Yürften zu entrichtenden Tribut, berechnete
Arbeitslöhne und kaufte oder taufchte bafür ein lebende und
tote Waren, der, Gärten u. |. w. Diefen Spuren nadjzu=
gehen, erwies fi als fehr Iehrreid.
Schon auf Darftellungen aus ber Zeit ber Pyramiden
bauten (3500 v. Chr.) ericheint bie Standiwage in primitivfter
Geftalt als Mittel zu Gewichtsbeftimmungen. Der Wages
balten ruht mit den an beiden Enden herabhängenden Schalen
für die Gewichte auf einem aufrechten hölzernen Doppelftänder,
was unverkennbar an ein Ichbendes Modell, ven Wafferträger,
erinnert. Etwa 1500 Sabre fpäter dagegen zeigt die Wage
fhon eine künftleriiche Yorm, welche die genaueften Angaben
bi8 zum Hleinften Bruchteil des Gewichts ermöglichte. Vom
16. Zahrh. an pflegten die Äghpter ben größeren Gewichten
bie Geftalt lebender Tiere (ganze igur), den Eleineren bie
bon Tierföpfen (Qöwen, Rinder zc.) zu geben. Die Baby:
lonier haben diefe Manier alfo einfady nachgeabmt, nur daß |
fie auch Vögel ald Modelle benugten, was in Ägypten nie
mals geſchehen iſt.
Eingehende Vergleichungen und Unterſuchungen an
derartigen Stücken, von denen ein abgeplattetes Kugelgewicht
mit der Aufſchrift: „ß Lot Schatzkammer von Heliopolis“,
ſich in Forſcherkreiſen beſonderer Berühmtheit erfreut, ergaben
für das altägyptiſche Lot etwa 9,096 gr. Das Zehnfache
hiervon (90,96 gr) hieß „Wote“ oder „Uote“ und würde uns
gefähr unſerer Bezeichnung „Pfund“ entſprechen. Bei den
alten Hebräern mußte gleichfalls abgewogenes Edelmetall
das gemünzte Geld erſetzen, wie der öfter wiederkehrende
bibliſche Ausdruck „jemandem Geld abwägen“ (für bezahlen)
verrät. Der Kurswert diefer Metalle nad) heutiger An-
Ihauungsweife war bei den einzelnen Völkern ein ganz ver:
fchledener. Das Verhältnis von Gold zu Silber beilpiels-
weiie Ihwanktt im Altertum zwilchen 13%/s:1 und 10:1,
da8 von Silber zu Kupfer gar von 2834:1 biß 48:1,
während heut im erften Galle die Proportion etwa 15%/2 : 1,
im zweiten 90:1 lauten dürfte. Sämtliche antite Gemwichtd-
Iofteme, bad fteht unumftößlich feft, find vom ägyptifchen
Lot ald Einheit ausgegangen, dem da3 babylontihe Mi-
nimalgewicht (!/so Mine, der Schekel) gleihlommt. Man
tanın alfo unbebenklich behaupten, daß der Weltverfehr Maß
und Gewicht eigentlich jenen roten Linien an den 5000 Sahre
alten Pyramiden verdankt, die als äguptiiche Ellen zu deuten
find. */s biefer Elle, der Zuß, war für die Dimenfionen
bes Hohlmaßes beftimmendb, und Iettered wiederum biente
zur Teftftellung de3 Gewichts. Hier gilt demnad vor allem
das Wort: Eleine Urfachen, große Wirkungen!
A. Stanislas.
Weine Voten.
Trüh ftarb in mir der Glaube
Un Menfchentreu bahin,
Shm folgte bald der leichte,
Lenzfrohe Kinderfinn;
Dann bettete den Frieden
Der Seele ich zur Ruh —
Auf ſpätes Glück das Hoffen
Ich legt' es jüngſt dazu.
So ſtarb, was einſt geweſen,
Was lebte froh und licht,
Willſt Du die Grabſchrift leſen?
Schau mir ins Angeſicht.
Agathe Nopſcowicz⸗ Ahlmann.
Randbemerkungen.
Wenn ſich Frauen nach Jahren wiederſehen, zählen ſie
zuerſt in der Frende des Wiederſehens ihre durchgemachten
Leiden auf.
Geſelligkeit pflegen iſt die Kunſt: anderen das zu geben,
was man ſelbſt haben will.
**
Der Welt geht es wie ſo manchen ſchönen Lokalen —
die dort verkehrende Geſellſchaft bringt ſie in ſchlechten Ruf.
3. Grebſen.
— —
Inhalt der No. 40.
Schwertklingen. Vaterländiſcher Rman von Hans
Werder. Fortſ. — Die neue Herrin. Roman von Karl
Erdm. Edler. Fortſ. — Beiblatt: Wetternacht. Von Hanna
Ehlen. — Eine Toilette vor achtzehnhundert Jahren. Von
Adolf Kahle. J. — Unverzagt. Von Auguſt Krauſe. —
Die Amerikanerin in England. J. — Der wilde Roſenbuſch.
Bon Gertrud Triepel. — Neue Eprik. Beſprochen von
Karl Stord. — Berjchiedened. Bon Viktor von Kohlen:
ine. — Bermildtes. — Meine Toten. Bon Agatbe
oHfcomwiczsUhlmann. — Handbemerlungn. Bon
J. Grebſen.
— —
WE A Zur Beachtung! “Tu
Alle unverlangt an die Leitung oder den Verlag bes Blattes eingejenbeten Manufkripte — größere
Romane ausgenommen — werben nur zurüdgeiendet, wenn ein mit ber Abrefje verfehener, freigemachter
Umschlag einliegt. Irgendwelche Bürgfchaft für Zurüdjendung wird nicht geleiftet, Gedichte werden überhaupt
nicht zurüdgelendet.
Feitung und Verlag der Roman-Beitung.
BVBerantwortlider Leiter: Dtto von Leirner in Berlin. — Berlag von Dtto Janke in Berlin — Drud der Berliner Buchdruckerei⸗Aktien⸗Geſellſchaft
(Geperinnenfgule deß Leite Verein).
Deutſche
Moman-Beitung.
18%,
ämter nehmen dafür Beitellungen an.
Erfheint wöchentlih zum Preife von 3% AM vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Boit-
Durd) ale Buchhandlungen aud in Monatsheften zu
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Dftober.
Ne 41.
Schwertklingen.
Baterländifcher Roman
von
Dans Werder.
(Yortfegung.)
All.
Die Antwort, weldhe Napoleon auf des Königs
Ichriftlihe Zurücdweifung feines Auftretens erteilte,
lautete völlig ungenügend. Sa, mehr als das, fie
war böhnifch und verädhtlich, und in dem edlen Herzen
des Hohenzollern erwachte eine grenzenloje Entrüftung
gegen den übermütigen Parvenu! „Ich will mit dem
Menjchen nichts mehr zu Ihun haben!” war feine
ganze Antwort, ald Lombard und Beyme, Haugmwit’
Geihöpfe, den König noch einmal mit Napoleons
Sandlungsmweife auszuſöhnen verſuchten. Als gleich
darauf, Anfang November 1805, der Zar Aleranber
zum Bejuch in Berlin erihien, jchloß der König mit
ihm ein Bündnis, das am Sarge Friedrichs des
Großen mit Schwüren und Umarmungen feierlich
befiegelt wurde. Das preußifhe Heer rüdte weiter
nad Sadjen vor, und mwährenddeflen reifte Haugmwig
noh immer hinter Napoleon ber, ohne ihn aufzu:
finden — vermutlih, weil es ihm doch nadjgerabe
ängftlich wurde, welche Rolle er eigentlich bem Welt:
eroberer gegenüber mit feiner Milfion würde zu
Ipielen haben.
In Erfurt, dem Hauptquartier des „General
en chef” Fürften von Hohenlohe, traf jegt auch Prinz
Louis ein. „Durd feine frühere glorreihe Waffen:
probe am Rhein,” *) fchreibt fein Vertrauter Noftig
über ihn, „und buch natürliches Übergewicht ragte
Prinz Louis über die Erften des Heeres hervor.
Seine Milde jebodh, fein Scherz und jeine famerab-
Ihaftlihe Art begegnete dem Neid und beugte alle
Häupter. Dhne jhwerfälige Berührung jchritt er
über die meilten von ihnen und die, bei denen er
ih aufhielt, die mußten ihm Freunde jein, wenn er
*) Erjtürnung der Zahlbadher Schanzen vor Mainz 1792,
a er, im Alter von 20 Sahren, zum Generalmajor befördert
wurde.
Koman⸗Zeitung 13886. Lief. 41.
zu ihnen trat, denn ſeine Gegenwart übte eine
ſiegende Gewalt, wo er ſich nur zeigte.“
Bei der ſchlagbereiten, doch immer nur zum
Warten verurteilten Armee traf die Kunde der Schlacht
von Auſterlitz ein, in welcher Napoleon die Kaiſer
von Rußland und Oſterreich aufs Haupt geſchlagen.
Unendliches Entſetzen verbreitete ſich, doch um ſo
heißer loderte der Wunſch zum Losſchlagen in der
Armee empor. „Tantalusqualen“, ſagte Prinz Louis
immer wieder. Er rückte jetzt mit der Vorhut, aus
Preußen und Sachſen beſtehend, ins Erzgebirge vor
und nahm fein Hauptquartier in Zwidau. Eine be:
lebte Hofhaltung bildete dasjelbe den langen, thaten:
ofen Winter hindurch. Außer feinen Adjutanten und
dem SKapellmeifter Duffet, die jeine tete Umgebung
bildeten, gingen Generale und Dffiziere aller Waffen:
gattungen bei ihm ein und aus und vereinigten fi)
an feiner Tafel zu froher, unterhaltender Gejellichaft.
Daneben bildete die Mufit auch jegt die Nahrung
feiner Seele, der einzige Freund, der durdh& ganze
Leben ihm die Treue hielt, wie er jelber jagte, und
die Ichönften jeiner Werke fomponierte er bier.
„Wir anderen vom Schweif,” fchreibt Nofti,*)
„überließen uns ganz unjeren Neigungen, denn ber
Heine philojophiiche und abjprechende Kleift abjorbierte
alle Dienftgeichäfte, jo daß ich nur ganz von weiten
zujhaute und mich allein die perjönlichen Beziehungen
zum Prinzen vor gänzlicher Nullität vetteten. — —
„Sb bing wie ein Jünger griehifcher Welt:
weifen an ben Lippen bes fürftlichen Meiftere, und
was ich damals von feinen Bemerkungen, Ausiprüden,
Tiipreden eilig aufs Papier geworfen hatte, würde
ala Beleg und teure Reliquie feines jcharfen, tiefen
und edlen Geiftes dienen, wäre nit die Sammlung
im Sturme ber Zeiten mit meinen anderen Skip:
turen untergegangen.”
) Tagebuch.
75 Schweriklingen.
Unterdeſſen hatte Napoleon nach dem Auſterlitzer
Siege den armen, herumirrenden Haugwitz endlich
vor ſein Angeſicht treten laſſen, ihm gedroht, ge—
ſchmeichelt, und ſo mit leichter Mühe, unter ſchmäh—
lichen Bedingungen mit Preußen ein Schutz- und
Trutzbündnis abgeſchloſſen.
Ein wenig beſchämt durch dieſen unerwarteten
Erfolg ſeiner Sendung trat Haugwitz zögernd und
langſam die Rückreiſe an, um ſeinem Allerhöchſten
Gebieter perjönlid und mit den nötigen Entichuldi-
gungen das trofiloje Ergebnis zu unterbreiten.
Eine unbeichreiblide Wut und Erbitterung ging
durch alle Herzen, weldye für des Vaterlandes Ehre
Ihlugen. Das kampfbereite Heer ward zurüdberufen
und bezog grollend, in ohnmädtigerr Wut jeine
Triedensgarnijonen.
Spät am Abend eines Februartages traf Prinz
Louis zu Berlin in feiner Wohnung ein. Stür:
miihen Schrittes eilte er die Treppe binan, ohne
um fi zu bliden, vhne einen der ihn Ermwartenden
zu beadten. Er verihwand in feinem Zimmer und
Ihloß die Thür hinter fih ab, Mit kummervoller
Miene laufchte der alte Francois, jein Kammerdiener,
ftundenlang an der verjchloflenen Pforte. Er wünjdhte
jeinem Herrn einen $mbiß anzuridten, ihn zu ent
Heiden für die Nachtruhe — doch) der jhhien ihn ver:.
geflen zu haben, wie er Schlafen, Efjen und Trinken
vergaß. Ruhelos wanderte er auf und ab in dem
weiten Gemadh, in heißem Kampfe mit feinen auf:
braujenden Gefühlen. D dies Bemwußtlein der Echmad!
Er trug es nicht nur als einer aus dem an jeiner
Ehre gefräntten Volke, als einer der Kriegsdurftigen,
die das balbgezogene Schwert in die Scheide zurüd:
ftoßen und fih wenden mußten zu ruhmlofer Heimtehr.
Nein — er fühlte die Schmach des ganzen Preußen:
landes vereinigt auf feinem Haupte brennen, fein
Ihmerzzerrilfenes Herz unter der Laft zufammen:
breden. Er, ein Hohenzoller, den Prinz Heinrich,
der „Teldherr ohne FSehle”, erzogen, damit er ein
geiftiger Nachlomme Friedrich des Einzigen werde!
Ganz allmählich erft wurde er ruhiger, warf
jih auf fein Lager und drüdte fill den Kopf in
beide Arme, wartend, ob ein milder Edhlummer das
ungeſtüme Herz zur Ruhe wiegen mödhle.
Es war jehr jpät am Vormittage, als er ben
Riegel zurüdihob und nad) Francois Elingelte. Den
ganzen Tag blieb er ftil in feinen Zimmern, un:
möglich Ichien es ihm, fich den Bliden jener Menfchen
auszujegen, die bei jeinem Ausmarjch ihm zugejauchzt
als dem Helden und Erretter des Vaterlandes.
Am Abend erft, bei bereingebrocdhener Duntel:
beit, befahl er einen verjchloffenen Wagen und fuhr
allein durh die Straßen dem Palais feiner Eltern
zu. Als er fih dem Hauje des Minifters Grafen
Hardenberg näberte, traf eigentümlih wüfler Lärm
fein Ohr. Ein Volkshaufe ſcharte fi zufammen,
der dur jein Gedränge den Wagen am Weiter:
fahren binderte.
„Das find königliche LTioreen, das ift der Jäger
des Prinzen Louis!” riefen Stimmen aus der Menge,
und verwundert beugte fih der Prinz aus dem
Wagenfenfter. Der Schein einer Laterne beleuchtete
roman von Hans Werber.
76
grell jein Geficht, welches die Soldaten ala das ihres
Lieblingshelben, ihres Schlachtengottes erfannten. Ein
Gebrül erhob fi, „Prinz Zouis hoh! Prinz Louis
jo leben! Unfer Held, unfer Befreier! Prinz Louis ge-
hört zu uns, er darf uns nicht im Stich lalfen!” Der
MWagenichlag wurde ftürmifch geöffnet. Mit Entjegen
erfannte der Prinz Dffiziersuniformen der Garde du
Corps und Hujaren unter der Menge. Haftig ver:
ließ er den Wagen.
„Meine Herren, um Gottes willen, was thun Sie
bier! Ruhe vor allen Dingen! Gedenken Sie Shrer
Uniform, Ihres Eides —“
„Wir gedenken unferes Eides, Königlide Hobeit
— mir thun nichts Böles — wir haben dem Grafen
Hardenberg ein Ständchen gebradt, und nun wollen
wir —”
„Nichts weiter, es it gut — nun gehen Sie
nad Haufe, ich beihwöre Sie!”
„Nichts da, wir lafjen Sie nicht fort, gnädigiter
Herr, Ihüten Sie das Vaterland,” riefen wieder
die Stimmen aus der Menge.
Prinz Louis aber Ichob entichloffen einen Hufaren:
ojfizier zur Seite, der vor ihm ftand, und verschwand
eiligen Schrittes im Duntel des Gemwühles. Zu Fuß
legte er den Weg bis zum Palais feines Vaters zu:
rüd. Diejer hatte fich bereits zur Ruhe begeben —
Prinzeilin Ferdinand, die Mutter, aber war in ihrem
Salon, wo fie den Sohn erwartete. Brinz Auguft
und Fürftin Radzimill, ihre Tochter, waren jcdyon
bei ihr. Prinz Auguft, auch einer der ruhmlos
beimgefehrten Krieger, fand fi durd dieſes Schick⸗
jal verftiimmt und gereizt, do nicht viel mehr
als das. Fürftin Zuife aber trat ihrem Lieblings:
bruder mit Thränen in den Augen entgegen. Gie
las in feinem befümmerten Herzen wie in einem auf:
geihhlagenen Buch, und litt mit ihm von ganzer Seele.
Prinzeifin Ferdinand konnte einen Vorwurf
nicht unterdrüden, daß ihr Sohn erjt jebt käme, Die
Mutter nach der langen Trennung zu begrüßen, da
er doch Ichon vergangene Nadıt in Berlin eingetroffen.
Prinz Louis antwortete nicht darauf. Er nahın
den Sejlel in ihrer Nähe, den fie ihm angemiejen,
fügte den Arm auf fein Knie und verdedte bie
Augen mit der Hand. Vorwürfe anzuhören, heute
— audh das noch?
Fürftin Zuife, die Liebreihe Schweiter, beugte
ih über ihn und füßte feine Schläfe und jein
duftiges Haar.
„Ein ftiliehmweigender Proteft gegen meinen un:
gerehten Vorwurf!” bemerkte die alte Prinzejlin
lähelnd. „Sei gut, mein Louis, ich) weiß, Dein
Herz ift jchwer, und Dein Auge fieht trübe in bie
Zukunft!“
Prinz Louis ſchaute auf. Er ergriff die Hand,
welche ſeine Mutter ihm gütig hinreichte, und zog ſie
voll Ehrerbietung an die Lippen.
„Nicht nur trübe, hoffnungslos ſehe ich in die
Zukunft! O, meine verehrte Mutter, Sie ſind ein
Mitglied unſeres Königshauſes wie ich, wir ſind es
alle vier, ich kann mich ungehindert ausſprechen! Ich
glaube nicht an den Sieg unſerer guten Sache! Die
Armee Friedrichs des Großen iſt nicht mehr, was ſie
77 Schwertllingen.
war, nicht, was fie jein muß, um den Siegesfcharen
Napoleons gegenüber zu ireten. Das Selbitbewußt-
jein ihrer Führer entipricht nicht ihrem Können, noch
ihrer Tüchtigleit, die Siegesgewißheit, die ich überall
gefunden, nicht den Schäden und Viängeln, die mir
Ihreiend an allen Eden und Enden entgegentraten!”
„rouis, wie lannit Du das jagen!” mahnte
Brinz Auguf. „Du fiehit zu Schwarz! Wo auf
Erden giebt e8 denn eine Armee, die ber unfrigen
gleichkommt!“
Prinz Louis Ferdinand antwortete nicht. Das
Herz that ihm buchſtäblich weh bei den Worten ſeines
Bruders, denen er nicht beiſtimmen konnte und die
ihm deshalb wie ein Hohn erſchienen.
„Ich muß dem beipflichten,“ nahm Prinzeß
Ferdinand wieder das Wort. „Du ſiehſt zu ſchwarz,
mein Sohn! Du, der Neffe unſeres großen Friedrich,
ſollteſt ſolchen Kleinmut aus Deiner Seele verbannen,
ſollteſft zu ſeiner Armee und ihren Heerführern
größeres Vertrauen haben. Du wirſt anders ſprechen,
mein junger Feldherr,“ fügte ſie mit einem Lächeln
mütterlichen Stolzes hinzu, „wenn Du ruhmgekrönt
aus ſiegreichem Feldzuge zu mir zurückkehrſt!“
„Und wenn der Feldzug nicht ſiegreich wird?“
fragte Fürſtin Luiſe mit herber Betonung. „Was
dann?“
„Was dann?“ Prinz Ludwig blickte auf, in
ihre Augen. In den ſeinen flimmerte es wie Fieber—
glut. „Dann wolle Gott dem Vaterlande gnädig
ſein! Ich — überlebe das nicht!“
Die Schweſter lehnte ſich in den Seſſel zurück
und ſchloß für einen Moment die Augen, als graute
ihr vor dem Zukunftsbilde. „Und Du meinſt nicht,“
fragte ſie faſt vorwurfsvoll, „daß dann gerade das
Vaterland Deiner am dringendſten bedürfen würde,
Louis? Wenn es vom Glück verlaſſen iſt, müſſen
dann nicht ſeine Helden aufrecht ſtehen bleiben und
mit letzter Kraft ihm dienen?“
„Bis in den Tod, ja — und mit ganzer Seele,“
erwiderte er glühend. „Doch ich habe ihm noch
niemals recht dienen können! Und es wird mir auch
fernerhin nicht vergönnt ſein! In der Schlacht, ja,
ſo Gott mir gnädig ſein wolle! Wo ich handeln
darf auf eigene Verantwortung und aus eigener
Kraft. Sonſt aber — ſind mir nicht überall die
Hände gebunden? Zu nah am Thron, um meiner
Bewegungen Herr zu ſein, zu fern dem Thron, um
ihm mit meinem Einfluß nahen zu dürfen, durch
Eiferſucht und Mißtrauen ferngehalten, ſo habe ich
meine fürſtliche Geburt mein Leben lang nur als
eine Kette empfunden!“
„Die Idee iſt mir unverſtändlich!“ ſchaltete
Prinz Auguſt trocken ein.
„Mir wenigſtens klingt ſie ſehr betrübend!“
fügte die Prinzeſfin-Mutter hinzu. „Es liegt auch
ein Irrtum darin, Louis. Gieb dem heiligen Glühen
Deines Herzens keinen falſchen Namen. Du könnteſt
niemals ganz das ſein, was Du biſt, wäreſt Du
nicht der Abkömmling eines ſo großen Heldenge⸗
ſchlechtes, ae Ti das preußilche Königshaus ift!“
3 N Shnen nicht mwidertpreden, teure
Mutter, “ — Prinz Louis. „Doch meine ich,
—— ⸗—— — —— — —
Roman von Hans Werder. 78
in anderer Stellung und Lebenslage hätte ich die
Gaben, die mir angeboren ſind, beſſer verwerten
können. Ein Regiment zu exerzieren jahraus, jahr—
ein, das iſt keine Lebensaufgabe für mich. Und
drüber hinaus gönnte man mir nicht einen Schritt!
Für einen preußiſchen Prinzen giebt es feine Be:
wegungsfreiheit. Die härteſten Feſſeln überall, wie
ich ſchon ſagte: Eiferſucht und Mißtrauen!“ Er
ſprang auf und durchmaß das Zimmer mit heftigen
Schritten. Dann, wie erſchöpft, ſank er in den
Seſſel zurück.
„So haben ſie meine Seele eingeſchläfert,“ fuhr
er wie zu ſich ſelber redend fort, „und warfen mit
Steinen auf mich, wenn ihr Selbſterhaltungstrieb
ſie wachrütteln wollte, indem ſie ſich in Thorheit und
Leidenſchaften ſtürzte! Und ſo wird es bleiben!
Keine Beſſerung zu hoffen!“
„Doch!“ ſagte Luiſe mit Betonung. „Wenn
endlich der Krieg ausbricht, ſo werden wir ſehen, daß
Deine Seele ſich nicht einſchläfern ließ, ſie wird ihre
Schwingen ausbreiten im Adlerflug und unſere Heere
aufs neue ſiegen lehren!“
Prinz Ludwig ſah ſie an. In ſeinen Augen
brannte eine düſtere Flamme. „Oder vielmehr: Wenn
Preußen ein Reis ſeines Königsſtammes braucht als
Totenopfer für ſeine Freiheit und Größe — dann
ſoll es mich bereit finden!“
Er ſchwieg und die anderen mit ihm. Die
Mutter war ſchmerzbewegt durch ſeine Worte. Fürſtin
Luiſe aber fühlte in tiefem Leid mit ihm den Schmerz
und ſtolzen Todesmut, der ſeine Bruſt erfüllte.
Prinz Auguſt hielt es für angezeigt, dem Ge—
ſpräch eine leichtere Wendung zu geben. Er fragte
ſeinen Bruder, ob er auf der Herfahrt Lärm ver⸗
nommen, die Straßen hätten ihm einen unruhigen
Eindruck gemacht. Prinz Louis erzählte kurz, was
er vor Hardenbergs Hauſe erlebt.
„Hardenberg ein Vivat gebracht,“ wiederholte
Fürſtin Radziwill, „dann wird doch auch Haugwitz
ſein Pereat bekommen haben! Glaubſt Du, daß ſie
ſchon von dort kamen, oder vielleicht jetzt vor ſeinen
Fenſtern ſtehen und ihm Schmeicheleien zurufen?“
„Mon Dieu, das will ih nicht annehmen —-“
Prinz Louis erinnerte fih mit Schred des Aufes:
„wir haben Hardenberg ein Ständen gebradt und
nun wollen wir —” ja was? Luife mochte recht
haben. „Das wäre mir jehr fatal! Ach will nod)
heute abend Drdborf ausichiden, er jol fich erfundigen !“
Die Nachricht, melde Drdorf zu jpäter Nacht:
ftunde feinem Gebieter überbradhte, war keineswegs
erfreulih. Es Hatte vor dem Haule des Grafen
Haugmwig ein entjeglicher Lärm ftattgefunden, der fid
ungebührlich lange ausgedehnt. Ein Offizier oder
Kornett der Gödingfhen Hujaren und ein Schüler
batten Steine nah den Fenftern des Berbaßlen ge:
worfen, welhem Beilpiel die Menge alsbalb ge:
folgt war.
m Laufe des nädten Tages bejudhten Fürft
Radzimil und Prinz Auguft den Bruder. Gie
bradten die Nachricht, daß der Vorfall des geftrigen
Abends bereits allgemein bekannt und aud dem
Könige zur Kenntnis gebradht wäre. Und zwar mit
— —— — — — — *
19 Schwertklingen.
dem Vermerk, daß Prinz Louis als Urheber genannt
ſei, ſowohl der Ovationen für Hardenberg als der
Inſulten gegen Haugwitz.
„Cola va sans dire!“ war des Prinzen ganze
Entgegnung. Dann aber warf er ſich in das Polſter
zurück und hell auflachend ſchlug er ſeine Hand über
die Augen. „Als einen Rebellen werden ſie mich
noch brandmarken, das wird wohl die nächſte
Folge ſein!“
Bruder und Schwager wechſelten einen Blick
miteinander. Ja, es wurden ihm nicht nur rebelliſche
Gelüſte untergeſchoben, ſondern auch Reden und
Thaten bereits. Doch wozu das „löwenkranke“ Herz
auch damit noch verwunden. „Ich kann ja bezeugen,
daß es alles Verleumdung iſt!“ ſagte Prinz Auguſt
beſchwichtigend. „Ich habe Dich geſtern geſehen und
geſprochen zur ſelben Zeit als das geſchah! Ich
werde verſuchen, gelegentlich beim Könige —“
„Dank Dir, lieber Junge! Es wird nicht viel
nützen! Ob die Königin —“ er ſtockte.
„Dafür laß Luiſe ſorgen!“ unterbrach ihn ſchnell der
Fürſt. „Die Königin ift niemals geneigt, Dir zu miß-
trauen!”
Als die beiden ihn verlafien, kam Noſtitz. Er
wußte bereits alles, und der Prinz beipradh fidh ein-
gehend mit dem Dertrauten.
„Es ärgert mich zu jehr, daß ich nicht dabei
war!” grollte diefer. „Königliche Hobeit jollten fidh
jeßt gar nicht ohne Khren Scildinappen binausbe:
geben. Das Augenmerk des ganzen Volles ift auf
Sie gerichtet! Bei bdiefer aufgeregten Stimmung
fann durch hr Erjcheinen überall Unruhe hervor:
gerufen werden. Dann ift es gut, wenn jemand
zugegen war, der feftitelen fanı, wie’s zuge:
gangen ijt!“
„Und der auch mich gleichzeitig ein wenig in
Ordnung hält! Wollten Sie das nicht jagen, Noftig?“
„Nein, mein gnädigfter Herr! das wollte ich
ganz und gar nicht jagen!” erwiderte Noftig gereizt.
Der Prinz ladte. „Sei do nicht feindlich,
Karl! Du am Ende trauft es mir nicht zu, daß ich
zu meinem ‘Brivatvergnügen Haugwig die Fenfter
einwerfen lafje! Darauf rechne ih ja noch!“
Es war eine befannte Gewohnheit des jungen
Herrn, diejenigen, welche ihm innerlich nahe ftanden,
zuweilen mit Du anzureden. Da es aber nur biejen
wiederfuhr, fo fühlten fie jih immer angenehm be:
rührt. GSelbft dem alten Blüher erging es nicht
anders.
„Weißt Du übrigens,” fuhr Prinz Louis fort,
„wer der Qufarenlieutenant gewelen ift, der ben
Fenſterſcheiben-Eclat pecciert hat?”
„Nein, ich weiß es nicht und bitte, daß König-
lihe Hoheit mir erlauben, meine etwaigen Ber:
mutungen für mich zu bebalten!”
„Ih erlaube es Dir, denn ich glaube, ich habe
diefelben wie Du! Beranlajle doch bitte, daß Noch:
lit beute abend bei Dunkelheit zu mir fommt!“
Haſſo Rochlitz erſchien zum befohlenen Zeitpunkt.
Der freie, ſelbſtbewußte Ausdruck, mit welchem er
dem Prinzen gegenüber trat, deutete auf ein zu:
friedenes Gewiſſen hin.
Roman von Hans Werder. 80
„Rochlitz, wiſſen Sie, wer der Offizier Ihres
Regiments war, der geſtern abend den erften Stein-
wurf gegen die Fenſter des Grafen Haugwitz aus—⸗
führte?“ redete der Prinz ihn an.
Über Haſſos Geſicht blitzte es wie ſtolze Sieges⸗
freude. „Zu Befehl, Königliche Hoheit —“
„Still!“ mit einer raſchen Handbewegung ſchnitt
der hohe Herr gleichſam die Antwort ab. Er ſah
deutlich genug, daß er den Miſſethäter vor ſich hatte,
und daß dieſer ſich im Bewußtſein einer Heldenthat
ſonnte.
„Weiß es noch jemand außer Ihnen?“ fragte
er wieder. Auf ſeiner Stirn zeigte ſich eine ſtrenge
Falte, die Haſſo noch niemals dort geſehen. Seine
Zuverſicht ſank um einige Grad. „Nein, Königliche
Hoheit, das glaube ich nicht!“
„Gut, dann wünſche ich auch nicht, daß es
jemand erfährt. Auch ich ſelber will es nicht wiſſen.
Man hat bereits Seiner Majeſtät dem Könige be—
richtet, daß ich der Urheber diejes Unfuges fei! —
Es wäre mir nicht angenehm, wenn biejes Gerücht
an Wahrjcheinlichleit Dadurch gewönne, daß man ben
Thäter joldhen Streiches als einen erlennte, den ich
in mein Haus und in meinen Verlehrstreis gezogen!”
Von Haſſos Antlig war alle Farbe gewichen,
fein Atem ging | hwer. Das freilich hatte er nimmer:
mehr gewollt, noch geahnt. Nicht nur erzürnt Hatte
er ben angebeteten fürftlihen Herrn, auch geſchädigt
hatte er ihn, der Verleumbung preisgegeben. Und
das ohne allen Zwed und Grund, nur dem wilden
Hange zu tollen Rnabenftreihen folgend, der wie
eine zweite Natur ihn beberrihte. Er jah wohl, es
war nicht einerlei, ob man zu Haus der Mamiell
Ehriftiane die Fenfter einwarf, oder hier dem Minifter
Haugmwig. Und obenein war dies le&tere mit einem
jo ne Gefühl der Genugthuung verbunden ge
wein — —
„Hat man in Jhrem Regiment Recherchen über
die Sache angeftellt?” fragte der Yirinz wieder.
„Nein, Königlihe Hoheit! Und wahrjhheinlich
wird es auch nicht geichehen!”
„Woher glauben Sie das?”
„Der Regimentsadjutant W’Eftocg jagte es heut
in meiner Gegenwart zu dem von Nheinbaben und
von Münfter, die au dort waren. Nur wenn
Seine Mojeftät extra eine Iinterfuhung befehlen
ſollten!“
„So hoffen wir, daß das nicht geſchehen wird!
Zum Ruhme dürfte dem Thäter dieſe tour de gamin
ohnehin nicht gereichen! Ich hoffe, Sie haben mich
verſtanden, mein lieber Rochlitz!“
In tiefer Beſchämung nahm Haſſo dieſen ſcharfen
Verweis entgegen. Er durfte ja nicht ſagen, wie
leid ihm ſeine Thorheit war. Deutlich aber ſprach
der flehende Blick es aus, den er zu dem Prinzen
aufſchlug. Dieſer betrachtete ihn ſekundenlang und
ſein menſchlich fühlendes Herz ward davon gerührt.
„Nun gehen Sie nach Haus, mein Junge, und
thun Sie Ihren Dienſt,“ fuhr er in milderem Tone
fort. „Und laſſen Sie mich ſtets von Ihnen hören,
daß Sie ein — FTaugenichts‘ ſind, der höchſtens
81 Schwertklingen.
einmal ſeinen eigenen Ruf ſchädigt, aber nie die
Ehre der Uniform, die er trägt!“
„Zu Befehl, Königliche Hoheit!“ war Haſſos
leiſe Antwort. Doch ſie klang wie ein Gelübde.
Gütig entließ ihn der Prinz.
XIII.
Im Berliner Tiergarten hielt der Frühling
ſeinen Einzug mit grün aufknoſpendem Schmuck der
Bäume und des Raſens, mit Vogelgeſang und ſüß—
berauſchendem Blütenduft. Ob es auch in Reckentin
ſchon Frühling ward? Die Frage zog ſehnſüchtig
durch Haſſos Herz. Einſam wanderte er durch den
Tiergarten dahin. Sein Schleppſäbel ſchlug klirrend
hin und wieder auf einen Stein im Wege.
Wie breit in den Schultern er geworden war,
nicht ſehr groß, doch biegſam und ſtählern. Tadellos
ſaß ihm der pelzverbrämte, dunkelrote Schnürenrock.
Das Geſicht erſchien nicht mehr ſo dürftig und klein,
das Haar nachgedunkelt. Nur der für ſein Alter
ungewöhnlich volle Schnurrbart zeigte noch die röt⸗
liche Schattierung, die ſeiner Pflegemutter einſt ſo
unangenehm geweſen. Selbſt dieſe hätte ſich jetzt
beim beſten Willen nicht mehr über ſeine Häßlichkeit
aufregen können.
Dieſe Betrachtung ſtellte der elegante Gendarmes⸗
Offizier an, der einen Seitenweg daherkam und den
in Gedanken Verſunkenen beobachtete. Endlich, in
ſeiner unmittelbaren Nähe angelangt, rief er ihm ein
etwas gereiztes Halt entgegen. „Haſſo, biſt Du denn
im Traum, ſiehſt und hörſt nicht, was um Dich vor—⸗
geht! Denn abſichtlich wollteſt Du mich doch wohl
nicht für Luft anſehen, hoffe ich!“
„Hilmar — entſchuldige! Ich war in Ge—
danken!“
„Ja, das bemerkte ich! Aber wo rennſt Du
denn hin? Komm mit mir, mein Weg hat ein Ziel,
das Dich intereſſieren wird!“
„Nein, danke, Hilmar, ich kann nicht!
andermal!“
„Weshalb nicht? Haſt Du Dienſt?“
Einen Befehl viel:
„Nein, eine Einladung!
mehr!”
„zum NRudud, Menih, laß die Geheimnis:
främerei, ich habe nicht Luft, Dir jedes Wort ab-
zufragen. Wohin bift Du eingeladen?”
„Rah Moabit!”
„Moabit — zu wem?”
„Aber Hilmar, Du braudft mich ja gar nicht
zu fragen,” lachte Haflo. „Wenn ich nur einfilbige
Antworten geben mag, was fann ih dafür, wenn
Du jo neugierig bift!“
„Sanz egal — ih muß willen, zu wem Du
geht — für wen Du Deine erite Garnitur ange:
zogen haft! Mer ift in Moabit?”
Haflo aögerte eigenfinnig no einen Moment,
dann aber fıgte er: „Sn Moabit ift das Sommer:
bäuschhen des Prinzen Louis!“
„Und dorthin bift Du befohlen?”
„.30!"
Ein
Roman von Hans Werder. 82
Hilmar verftummte und eine Wolle ging über
fein Gefiht. Er hatte keine Erklärung dafür, daß
diefer Knabe, diefer Neuling in der Gejellichaft, ein-
und ausgeben durfte in des vergötterten Kriegshelden
Haufe, deilen Pforten fi ihm, dem eleganten Garbe:
offizier noch niemals geöffnet hatten. Er gönnte
fonft feinem Pflegebruder alles Gute, ja wie er
meinte, das Belte von ber Welt. Aber Diele uner:
hörte Auszeichnung vor ihm, vor fo vielen Würbi:
geren, nein, die gönnte er ihm nicht!
„Darf ih mir die Frage erlauben,” begann
Hilmar nad längerer Paufe ablentend, „ob Du
dieje vielen Uniformen jchon bezahlt haft, die der
Umgang im prinzliden Palais Dich Loftet? Und
die teuren Pferde, melde Du jett zu reiten pflegit,
mwahrjeinlih den Sagden in Schride zu Ehren?”
„Entiäuldige, Hilmar,“ ermwiderte Hallo Fübhl,
„ih jehe nit ein, warum Du Dir die Frage er:
lauben barfjt!”
„Das heißt aljo mit anderen Worten, fie find
nicht bezahlt! Und mein Vater kann fi auf eine
bübide Schulbenfumme gefaßt machen, die eines
Tages von ihm eingefordert werden wird,” gab
Hilmar Iharf zurüd.
Ein Gefühl der Entrüftung ftieg in Haflo auf.
No niemals hatte jein Bruder fo mit ihm geiprodhen.
„Das glaubft Du ja felber nicht,” fagte er Furz und
ichroff, doch weiter nihts. Er kannte den anderen
und wußte, baß eine Art von Neid oder Eiferjucht
aus ihm Iprad, darum that er ihm leid.
„IH würde Dir alles glauben,” rief Hilmar
heftig, „wenn Du mir nicht überhaupt Dein Ber:
trauen entzögeft und Deine eigenen Wege gingeft,
als wäre ich nicht mehr auf der Welt!“
Mit einem ftumm:berebten Blid jah Haflo ihn
an. Das war jo ganz das alte befannte Haflo:
Gefiht, weldhes fih jo unzählig oft mit unausge-
Iprodhener Bitte an das brübderliche Herz gewanbt.
So erkannte Hilmar ihn wieder. Und mit der alten
Zuneigung regte fi bas befiere Empfinden bei ihm.
Er ließ das peinlihe Thema fallen.
„SH will nun übrigens weniger fpröde ein
ale Du und Dir erzählen, wo ih bingehe und Dich
mitnehmen wollte, wenn Du nicht unterdes zum
Hofmann geworden wäre. Zu Onkel Ruprecht
gehe ich.”
Haflo jah ihn verfländnislos an. „Zu Onkel
Nupredt? Hier in Berlin?“
„Sa, weißt Du nicht, daß Onkel Rupredt jebt
hierhergezogen ift?”
„Keine Ahnung! Woher fol ih das mwifjen?
Sit es wirklih wahr?”
„Ja fiher! BProfeflor Fichte ift jegt bier, und
da hielt’s den guten Ohm nicht länger auf dem alten
Hofe. — Was das eigentlih für ein Meergreis ill,
biefer Herr Fichte und was der Dhm an ihm ge:
frefjen bat, davon habe ich feinen Schimmer. Genug,
biefer ift nun hier, und das ift mir die Hauptſache.“
„And Lotte mit?”
„Natürlich do! Bob Blig, dent Du, id
würde um den Dhm Ruprecht mit jeinem verräu-
herten Pelzrod in Aufregung geraten und mid) darum
— — ———— — —————— ———— — ————— ——— — — — —
83 Schwertklingen.
ehauffieren, ob er bier oder im Y:fefferlande Logis
nähme?” Seine blauen Augen bligten in glüd:
feligem Übermut bei biefen Worten.
Hallo Ichwieg. Seit Wochen war Lotte jchon
in feiner Nähe und nahm fih nit einmal Die
Mühe, es ihn willen zu lafjen. So wenig verlangte
fie danach, ihn wiederzufehen.
„Lotte wird fi übrigens wundern, daß Du
noch nicht bei ihr warjt,” bemerkte Hilmar noch zum
Überfluß.
Haſſo zuckte die Achſeln. „Hätte ſie mir ihr
Hierſein mitgeteilt, ſo würde ſich kein Grund zum
Verwundern geboten haben.“
„Warum kommſt Du doch niemals zu mir!“
zürnte Hilmar, ſich gegen den Vorwurf wehrend.
„Ich werde Dich nächſtens beſuchen, vielleicht
morgen ſchon. Adieu, Hilmar, ich muß jetzt gehen.“
„Soll ich Lotte von Dir grüßen?“
„Danke —“ das Nein verſchluckte Haſſo und
ging raſch weiter. An der nächſten Wegecke begeg—
nete er Noſtitz, dem ſchlanken Rieſen in Gendarmes—
Uniform.
„Guten Abend, Rochlitz, wohin des Weges?“
rief ihm dieſer entgegen. „Nach dem Sommer—
häuschen an der Spree? Charmant, da gehen wir
zuſammen. War das nicht übrigens einer meiner
Regimentskameraden, mit dem Sie da eben Unter—
haltung pflogen?“
„Jawohl, mein Vetter.“
Noſtitz ſtreifte den Huſarenlieutenant mit einem
Seitenblick. „Sagen Sie, Haſſo, warum ſind Sie
eigentlich nicht auch bei meinem Regiment einge—
treten?“
„Wiſſen Sie das nicht?“ fragte Haſſo lächelnd
zurück. „Seine Eltern wünſchten nicht, daß ich
unwürdiges Subjekt ihm durch mein Vorhanden—
ſein die Stellung im Offizierkorps verderben möchte.
Ich nehme an, daß Sie das erklärlich finden
werden.“
Noſtitz ſtieß mit ſeinem Pallaſch auf den Boden,
daß es klirrte. „Vomben und Granaten — —
Nun, wiſſen Sie, dann hätte Hilmar ſich lieber an—
derswohin verfügen ſollen und Sie uns überlaſſen,
das iſt meine Anſicht von der Sache.“
„Dieſelbe iſt für mich ſehr ſchmeichelhaft,“ be—
merkte Haſſo, „doch weniger für meinen Vetter.
Mögen Sie ihn nicht, Noſtitz?“
„Wenn Sie mich fragen, nein! Er ift Salon:
men, ganz und gar, kein Soldat. Geht mich ja
nichts an, aber ich liebe das nicht. Sie dagegen —
was man jo fagt — nun, im übrigen paljen Sie
auch beiler zum Hufaren, als zum Küraffier. Unfer
gnädigiter Herr findet das aud.”
„Nun, dann ift ja alles erfüllt,“ beftätigte Hallo
lähhelnd. „Seit wann ift denn der Prinz von
Schride zurüd? Er fann nit lange dort gemwejen
fein?”
„Nein, nur kurze Zeit,“ berichtete Noftik, „und
diesmal ganz allein. ch las einen rührenden Brief
an Madame Wiefel, in dem er ihr fein Einfiedler:
leben bejchreibt. Um fieben hr ausgeritten, nachher
auf Zagd, bis neun Lhr in die Briücher, wie er fi
Roman von Hans Werder. 84
ausdrüdt, um Schnepfen und Belaffinen zu Ichießen.
Dann diniert und Tchließlich Höchit ermübdet zu Bett
gegangen. Das ift jein Tageslauf, wie er ihn liebt
und wie er ihm zuweilen notwendig if. Mir ward
unterdes der ebhrenvolle Auftrag, das Moabiter
Häuschen zu kaufen und nah dem Geihmad der
Madame Wiefel einzurichten.” *)
„Da bin ich ja doppelt neugierig,” meinte Hallo.
„Es ift wunderbar, Noftig, wie ausgezeichnet gut
Sie zu Ihrem Herrn pafjen. Yhm überall gewachlen
und nirgend überlegen, ihn nie überjehend und doch
voll Verfländnis für ihn. Ganz geeignet, ihn Schild-
Inappe und Freund zugleich zu fein. — Woher hat
der Prinz Sie fo gut gefannt, um diefe Wahl zu
treffen?”
„Sr bat mid gar nicht gelannt, als er mid)
wählte,” erwiderte Noftit. „Aber jest, glaube ich,
fennt er mich befler als irgend ein Menjch auf der
Melt. Nie werde ich den Abend vergeflen, als ih
zum eriten Mal an feinem Tiihe Jaß. Es war
in jenen Tagen, wo wir alle die Mobilmahung er:
warteten, und er war jo firahlend vor Freude in
dem Gedanken, wie ih ihn nie fonft gejehen. Fürft
Nadziwil jaß neben ihm, die beiden Schwäger
ließen an auf einen fröhlichen, friichen Krieg. ‚Wir
wollen ung mit Ehren betragen‘, jagte unjer Prinz,
ih hör’ ihn no. ‚Der Erfolg ift aber nicht leicht,
darum muß alles dran, und einer für den andern
ſtehen! Amd dann wandte er fih zu mir —” der
Erzähler ftodte.
„Bitte weiter, was fagte er?” mahnte Haflo.
„Er jagte: ‚Nun Noftig, ich hoffe eine gute
Mahl an Ihnen gemacht zu haben! Sie werden mir
ein Kriegsgefährte fein, auf den ich in allen Fällen
zählen kann!" — Ach trat zu ihm, um ihm zu danten.
Da umarmte er mid. Und diejer Augenblid machte
mi ihm unterthänig auf Leben und Tod.” **)
’k *
28
In Moabit, abſeits von dem Getriebe der großen
Stadt, maleriſch am Ufer der Spree, im Schatten
blühender Kaſtanien, lag das kleine Landhaus, welches
der Prinz für ſeine ſchöne Freundin Pauline Wieſel
hatte herrichten laſſen. Außerlich unſcheinbar, wie
ein zierliches Bauernhäuschen, innen ein Feenneſt an
Schönheit und Luxus, eine glänzende Faſſung, würdig
dieſen Karfunkel zu umſchließen.
Da ruhte ſie, in einem tiefen Seſſel hingeſtreckt,
durch die offene Glasthür hinausſchauend auf die
langſam vorüberfließenden Waſſer der Spree, auf die
lichtgrünen Väume des Tiergartens am jenſei—
tigen Ufer.
Das weiße, antike Gewand, das ſie trug, durch
einen goldenen Gürtel zuſammengehalten, ſchien ihre
Schönheit nur zu verhüllen, um ſie deſto beſſer zur
Geltung bringen zu können. Das blonde, gold—
flimmernde Haar war gleichfalls nach Art der Antike
geordnet. Wie eine Göttin war ſie anzuſchauen aus der
*, Büchner, Briefe des Prinzen Louis Ferdinand.
**) Wörtlich, Noſtitz' Tagebud).
35 Schwertflingen.
Ihönbeitsfrohen Griechenzeit — do voll warmen,
blühenden Lebens. Es war fein Wunder zu nennen,
wenn der jchönfte der Fürftenföhne zu ihren Füßen bie
ganze übrige Welt vergaß.
Er jaß neben ihr, ein wenig jeitab, den Blid
ihr zugewandt mit geipannt erregtem Ausdrud. Sie
aber jchaute ihn nit an. Unverwandt ruhte ihr
Auge auf dem eintönigen Frühlingsbilde draußen,
und um ihre purpurrote Xippen zudte e8 wie von
unterdrüdten Weinen. Es jah wiederum aus, ale
brächte diejes Liebesglüd nicht eitel felige Stunden.
Auf der Stirn des jungen Kriegsgottes lagerte eine
Wolke, die auf Gewitter deutete, auf ein fchon vor:
übergebraujtes, das aber dennoch nicht alles Gewölt
mit binmeggeräumt. Etwas von Groll lag no in
dem Blid, mit dem er fie betrachtete.
„Wenn ich mich doch nicht immer zur Heftigfeit
reizen ließe,” begann er endlich gepreßt, „es ilt fo
thörit, da ih ja doch weiß, daß es Dir Freude
madt, mich zu quälen! Diefe Scenen haben aber
das Üble, daß fie alles jchöne, große Gefühl in mir
zurüdichreden, und in der®egenwirkfung au in Dir!“*)
Pauline wandte rajch den Blid ihm zu — aus
großen, tiefdunflen Augen, einen falten, troßigen
Blick — und eigenfinniger nod) als zuvor hob fid
die volle Unterlippe.. Ein Zuden ging um jJeine
Augen. Doch allmählich milderte fih der Groll darin
und der dunkle Schatten der Schwermut breitete fich
über die blauen Tiefen.
„Pauline, es fteht Dir fchlecht an, eiferfüdhtig
zu fein!” fjagte er weicher als vorhin. „Du weißt
ja doh, daß Du die einzige bift auf der ganzen
Welt! Beurteile mich nicht falih, die erbärmlidhen
‚bonnes fortunes‘ find für mich nicht reizend! Oft
wünjdhte ih, nie mehr als ein Weib im Leben ge:
liebt zu haben!“
Sie zudte wie in Geringihätung die Scäultern.
„Das wäre do Ihade um alle die berühmten Aben-
teuer bes galanten Prinzen! Wie jagt Doch Leporello
— im ganzen taufend und drei! Schade jelbit um
die interejlanten Abmwechjelungen, die auch jegt nicht
ausbleiben — —”
„Pauline, jag’ das nicht noch einmal!” gebot er
ruhig und feft, und nur das Flimmern in feinem
Blid deutete abermals auf unterdrüdtes Zorngemwitter
bin. „®eliebte, verbanne doch diele erbärmliche,
eine Anfiht von meinem Charakter. Die Farbe,
das Kolorit, das meine Handlungen tragen, ift, weil
es andern gleicht, nicht dasjelbe wie jene! Sch habe
10 hohe, heilige Begriffe von der Liebe, daß fie Dir
und manden andern vielleiht unbegreiflih ſcheinen
würden. Die berben Erfahrungen bes Lebens haben
mein Herz nicht erkaltet, nicht abgeftumpft gegen
diefe himmlifche Poefie des Lebens! Sie allein be-
greift das Glüd in fich!“
„Ein jhönes Glüd, das ich genieße!” **) Tamm es
no immer trogig, doch jhon zaghafter von ben
Lippen der Schönen. AYmmer noch fehaute fie Hin:
aus, an ihm vorüber. Er fchüttelte leife den Kopf.
*) Alle Außerungen des Prinzen in biejer ganzen Scene
wörtlich feinen Briefen entnommen.
*, Baulines eigene Worte.
Roman von Hans Werder. 86
„Bei Gott, Pauline, Du kennft mich nicht, wenn
Dih wirkli der Gedanfe beherriäht, daß ich Frauen
leicht liebe, daß der Wunih nah Belit ftets rege
in mir jei!” Er unterbrach fih durch eine unge:
duldige Bewegung. „Gerwiß, ich liebe die Frauen!
Sch finde etwas Sanrtes, Angenehmes in ihrer Ge:
jelichaft! Nahels Freundichaft zum Beilpiel hat einen
Charakter, der viel jüßer ift als alles übrige! Ach
fühle das lebhaft! Der Männer Freundichaft ift jo
jelten, fo ungenügend! Ich finde es angenehm, mit
Frauen umzugehen! — Aber Did, Süße, Did) liebe
ih! Du weißt es ja, ich bin beftimmt, Dich zu lieben!”
Der Klang feiner Stimme war tiefer geworden, wie
der einer Saite, die voller und mächtiger in der
Kraft ureigenen Empfindens ertönt. Er drang ihr
tief, unmiderftehlich zum Herzen, und eine Thräne
löfte fih von den bunflen Wimpern.
Prinz Zouis Ichlang den Arm um ihren Naden,
jo daß feine Hand ihr Kinn umfaßte und leife das
gelenkte Haupt emporridhtete. So küßte er zart die
Ihimmernden Tropfen von ihren Wimpern fort.
Nicht Länger vermochte Bauline dem unausipredlichen
Zauber jeines Wefens zu wiberftehen. Tiefer fentte
fie das Haupt. SYhr Antlig verbarg fich in jeiner
Sandflähe und ihre bebenden Lippen berübrten
zärtlih, kaum merkbar die jchlanfen Finger bdiejer
großmütigen Fürftenhand.
„Pauline,“ fagte er leife, „wenn Du nur bie
Hälfte der Mühe, die Du gebrauchft, mir zu jchaden,
oder mich falfeh zu beurteilen, anmwenben mollteft,
mich zu entichuldigen, jo würde ich glüdlich fein!”
Einen Seufzer, unbörbar, fühlte fie nur wie einen
linden Haud an ben Haarmellen ihrer Schläfe zittern.
„SH brauche Dich nicht zu entjchuldigen, Youis,
ih liebe Dih, ich bete Dih an, fo wie Du bift!“
und die [hönen Arme jchlangen fi um feinen Naden
in bingebender Zärtlichkeit.
D, fie hatte wohl Grund ihn zu lieben, jo wie
er war, fich genügen zu laflen an ber Xiebesfülle,
die er ihr bot. Hatte er auch in vergangenen Zeiten
von frübften Zünglingsjahren an fein ungeſtümes
Herz in ungezählten Abenteuern, XTändeleien und
Leidenſchaften zerjplittert, Gefühl und Seelenfräfte
vergeudet — mas er biejer feiner leßten Liebe
gab, war ein fo unverfiegbarer Reichtum edelfter
Hingebung, daß auch eine höher veranlagte Natur,
als Pauline Wiefel, beglüdt und befeligt dadurd
bätte jein können. Und fie |prah es aus — Hahre
ſchon, nachdem das hochſchlagende Heldenherz die
Grabesruhe gefunden — in einer Stunde ſchmerzlichen
Erinnerns:*)
„Gott wie hat der geliebt! Wie Goethe jagt:
‚Wahre Liebe ift die, die immer und immer fich gleid) bleibt,
Ob man ihr alles gewährt, ob man ihr alles verfagt!‘" — —
Es war gut, daß der Friede nun wieder herge-
ftellt, die Stirn des jungen Mars entwölft war, und
die Rofenlippen der Schönen wieder lächelten. Denn
ihon nahten fi) einige der Gäfte, wie fie allabendlic)
im Haufe des Prinzen anzutreffen waren. Humboldt,
Hardenberg, Sohannes von Müller ja man am
*) Brief Paulines an Rahel S. Barnhagen.
87 Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 88
bäufigften, zuweilen felbft den Minifter Stein, an
weldhen fih Prinz Louis mit Verehrung und Bu:
trauen angeichlofien, wie ber jünger an jeinen
Meifter.*) .
Heute waren es Humboldt und Hardenberg, die
zuerft bereintraten. Wie fortgeweht waren von des
Prinzen Antlig die Spuren der vorangegangenen
Ecene, vergefien Liebesleid und :Glüd. Was bieje
Männer ihm entgegenbradten, nahm jeinen Sinn
und Snterelle gänzlich gefangen.
Neue politifche Ereignifje bereiteten fich vor. Der
König weigerte fih, dem Rheinbunde beizutreten, in
welhen Napoleon die deutfchen Länder zujammen:
jchmiedete, um das Ganze alsdann wie einen Spiel:
ball in feiner Hand zu halten.
Noch immer verjudhte Haugwig den König aud
zu biefer Nachgiebigkeit zu überreden, um dadurch
das jammervolle Bünbnis mit Napoleon zu Trönen
und deilen Freundihaft für Preußen zu gewinnen.
Doh nein — mit Entrüftung wies der Herricher
das Ichmähliche Anfinnen zurüd. Soeben hatte er
fih in diefem Sinne zu Graf Hardenberg geäußert,
der fogleih glüdjirablend dem Nrinzen Louis Mit:
‘teilung hiervon machte.
„Endgültig hat es Majeltät abgelehnt! ich ver-
fihere Sie, Königlide Hoheit, jelbft Graf Haugmwiß.
wird davon nun nicht wieder anfangen. Selten jah
ich foldde Entichlofienbeit auf ber Stirn unferes Aller:
gnädigften Gebieters! D ih wußte c3 glid —
ihon ala ih bHineinging in das Kabinett Seiner
Majeftät, da begegnete mir die Königin, die eben da
heraus fam! — Ab, Königliche Hoheit,” fuhr der
elegante Kavalier mit einem Ceufzer innigfter Be:
geifterung fort, „wenn ich jemals Shre Majeftät be:
wundert habe, jo war es in biefem Augenblid, als
fie an mir vorüberging und mich mit einem Lächeln
grüßte. Welche Huld und Gnade lag darin! Welche
frohe Zuverficht zugleich, und weldde Königinnenwürbe!
Es wollte mid bedünfen, als hätte fie, ohne ge-
fämpft, ohne es gewollt zu haben, einen Sieg er:
fohten! ch koflete die Früchte davon, und lege fie
nun Sbhnen, mein gnädigfter Herr, zu Füßen, wenn
ih mich jo ausdrüden barf!”
Prinz Ludwig hatte feine Erwiderung für die
ibm fo erwielene Aufmerfjamleit. Bewegt, mit warmem
Händedrud nahm er fie entgegen. „Gott fei Dank!”
lagte er nur dabei. — „Aber nun verjudhen Sie,
beiter Graf, Majeftät in folder Stimmung zu er:
balten!” nahm er dann das Wort. „Sett müjjen
die Waffen Ipreden! Diefe Zurüdweilung ift zu
völlig, zu großartig, als daß Napoleon fie einfteden
fünnte. Er bat deren jchon mehrere erhalten, wenn
auch leider ohne den nötigen Nahdrud des Schwertes!
Und das war ein Mangel, ja mehr als das: eine
Gefahr! Hier gilt gewiß das Wort meines großen
Obeims: Il est dangereux d’offenser a demi —
et quiconque menace, doit frapper!“
Höher leucdhteten Prinz Yudwigs Augen, während
er jo jpradh, und fein fein gebräuntes Antlig färbte
fich tiefer. Er ftand mit einem Arm auf ben Flügel
*) Noftig.
gelehnt, bineinverjentt mit glühbender Seele in das
feffelnde Gelpräh mit ben beiden jo bemwanderten
Männern.
Endlih öffnete fih abermals die Thür des
Solond. Bon ihrem guten Freunde, dem Afjeflor
Better, begleitet, trat bie Rahel herein. Lebbaft
richtete der Prinz fih auf und ging ihr entgegen.
„Xiebe Kleine, lafien Sie fi endlih einmal
jehen!“ rief er, mit beiden Händen ihre Rechte um—
Ichließend.
Die zierlihe Yüdin jah mit ftrahlendem Blid
zu ihm auf. „OD mein teurer Prinz, es ift gültig,
ja rührend, daß Sie mich heute jo begrüßen, nadhdem
ih Shnen geftern lauter unverbindlide Dinge ge:
agt habe!”
„Dann find meine Begrüßungen für Sie immer
rübrend, liebe Rahel,” rief er lebhaft. „Denn Sie
lagen mir jehr oft unverbindlie Dinge. Es ift Jhr
Vorreht und Sie nüben e8 aus, das willen mir
beide Doch zur Genüge!”
„Nein, mein Prinz, ih muß Sbhnen wider:
Ipreden,“ erwiberte Rahel. „Daß id Ahnen die
Wahrheit jage, ja — das willen wir beide! Aber
die Wahrheit braucht Jhnen gegenüber nur in jeltenen
Fällen Unfreundlichleiten zu enthalten!
„Heute aber,” fuhr fie fort, „bin ich lediglich
gefommen, WBauline wieberzujehen und das neue
Quartett mit anzuhören. Selbft den unmuſikaliſchen
Better hat es begeiftert. Wie viel mehr darf ich mir
davon veripredhen!”
„Es fol SJhnen werden, Kleine! Aber auf Vetters
Empfehlung, wo es fih um ein Mufiljiüd handelt,
würde ich feinen großen Wert legen — wenn id)
auch fonft von tiefftem Reſpekt vor feiner Geiftes-
größe erfüllt bin! Nicht wahr, Better, davon find
Sie überzeugt!”
„Sa, Königlide Hoheit, bis auf einige Löcher,
die fich in biefer Reipeltstoga doh wohl bin und
wieder zeigen dürften,” lachte Afjefior Vetter. Er
war ein hübjcher, begabter, junger Mann und burfte
ih mit gutem Recht zu ben vertrauteren Freunden
bes Prinzen zählen. Daß er einftmal® Pauline
Wiefel geliebt, bis die Leidenjchaft des hohen Herrn
fie wie eine unfihtbar madhende Wolle umhüllt und ihm
entrüdt, ja, daß er fie vielleicht jet noch liebte, hinderte
das Fortbeftehen diefer Freundjchaft feinesmweg.
Der Kreis der Anmelenden jammelte fi jett
um eine Kleine Tafel mitten im Zimmer, wojelbft
Speilen und Getränke zu beliebiger Auswahl auf:
getragen waren. 8 ging jehr zwanglos zu bei
diefen Zufammenfünften.
Karl Noftig und Haflo traten herein. Der
Prinz erhob fih leiht und kam ihnen entgegen.
„Noſtitz, gut, daß Sie da find! Fefleln Sie für
einige Minuten die Aufmerkfamfeit, damit niemand
meine Abmejenheit merlt.e Ein paar Atemzüge
friiher Luft nur will ich Shöpfen! Mir brennt ber
Kopf! Kommen Sie mit, Rodlig!”
. Sie traten durd) bie Glasthür ins Freie hinaus.
Uber den Bäumen des Tiergartens war ber Mond
aufgegangen und warf ein zitterndes Net von Silber:
fäden über das bdunfel fließende Wafler der Spree.
89 Schwertklingen.
Ein feuchter Windhauch ſtrich herüber und kühlte
lind die heiße Stirn des kriegeriſchen Helden, in
deſſen Seele das Hoffen der nahenden Entſcheidung
Flammen entfachte. Schweigend ging er einige
Male auf und nieder, am Ufer entlang, ohne auf
ſeinen Begleiter zu achten. Dann aber hemmte er
plötzlich den Schritt.
„Rochlitz, unſer letztes Zuſammenſein war ein
wenig ſtürmiſcher Art. Ich hoffe, das heutige wird
fih deito erfreulicher geftalten!”
Haflo atmete tief auf. Diefen Moment batte
er erfehnt. „Darf ih hoffen, daß Eure Königliche
Hoheit für mein Vergehen Berzeihung haben?”
fragte er mit bemegter Stimme. Dabei fiel ihm
ein, daß er nun zum erftien Male und fo ganz frei:
willig eine Bitte um Verzeihung ausgeiproden, die
feit feinen Kinderjahren niemand weder dur Güte
no Härte battle erprefien können. Auch bas alio
hatte der angebetete Held über ihn vermodt!
„Sa, Hallo, das ift erledigt! Ach Habe jegt
eine andere Frage an Sie! Wenn wir nun ins
Feld rüden follten, Gott gebe es, bald, wollen Sie
dann bei mir ordonnanzieren? Überlegen Sie fidh’s!
Sch denke, Sie werden mir feinen Korb geben!” —
Als fie ins Haus zurüdkehrten, waren SKapell-
meifter Duffet und NRittmeifter von Möllendorf an:
gelommen. Die Künftlerichaft war jomit beifammen
und das Konzert begann. Tas wundervolle Duartelt
FMol, fein reifftes und gediegenftes Werk, im ver:
gangenen Winter in Zmwidau fomponiert, ward vor:
geführt, zum Entzüden der Zuhörer.
Rahel hielt fi den Blid auf den fürftlichen
Mufiter gerichtet. Für fie war es nicht allein der
MWohllaut der Töne, ber zu ihrem Empfinden Iprad)
als vielmehr der Herzihlag, den fie zmilchen ben
Tönen pochen hörte, voller Luft und Web, voller
Kraft und Ungeftüm, bald Ihmwermütig, bald über:
mütig, doch immer edel und tief empfunden.
Als das Quartett beendet, wandte der Prinz
ih fort, mit einer abgeichloffenen Bewegung, die
weder Frage noch Kundgebung zuließ. Auh Mufil
wollte er beute nit mehr. Zu deutlich hatte er
jegt bei jeinem Were noch einmal nadhempfinden
müfjen, was damals burch feine Seele geflürmt war, ala
er ihatenduritig, zum Harren verurteilt, ſeine pochenden
Nerven zu beruhigen verfuht im Dienfte der Kunft.
Erregt und heiß trat er zur Tafel, füllte ein
KReldhglas mit perlendem Selt und flürzte ihn hinunter.
Mit Halbem Ohr nur nahm er weiter an ber
Unterhaltung teil, die unter feinen Gäften fortge:
führt wurde. Bald empfahlen fich dielelben nad}
einander. Auch Pauline 309 fi zurüd,
Prinz Ludwig ftand allein und fchaute in bie
Mondnadt hinaus. Er dachte jett nicht an feine
Liebe, vernahm nicht mehr den Nadyllang der Mufit,
die ihn fo tief bewegt. Die nimmer raftende und
neu aufglühende Sehnfuht nad Größe und Helden:
tum wob ihren Traum um ihn. Es war, als breitete
feine Seele ihre Schwingen aus zu mädhtigem Fluge,
alles Unmelentlihe und Geringe tief unten zurüd:
laflend, wie der Adler, der einfam emporfteigt mit
gewaltigem Flügelichlage, zur Sonne hinauf.
Romunsgeitung 1896.
Roman von Hans Werber. 90
Dritter Abfchnitt.
Des Udlers Todesflug.
Nur Todgeweihten
Taugt mein Anblid.
Wer mich erihaut,
Gelder vom XebenBlict!
Auf der Walftatt allein
Su Baia ich den Helden,
Dig —X
dahr t Big!
Nach En folgt Du mir!
I.
Der Sommer des Jahres 1806 ging zu Ende.
Preußens Schidjal drängte immer gewaltjamer
zur Entfeidung hin. Das Deutihe Rei war auf:
gelöft worden, das taujendjährige Neih Karls bes
Großen zu Grabe getragen. Ein Dritteil desjelben
ftand, zum Rheinbund vereinigt, unter dem Schuße
bes franzöfiihen Sailer als feine Vajallen und
Verbündeten. UOfterreih, Rußland und England
Ihlofien mit Frankreih Frieden. Preußen jab fi)
allein und jhußlos dem Haß und Übermut Napoleons
überantwortet, an den es durch ein unfreimilliges
Bündnis gefettet war. Diejes Bündnis erhielt erft
feine richtige Form, als Haugmwig, nah Paris ent:
fendet, dort mit Napoleon den Allianzvertrag ab:
ſchloß. Dieler aber glich mehr einer Kapitulation,
als einer freiwilligen Handlung. Haugmwig’ Günftling
Lombard jpielte in Berlin den Spion des franzöfiichen
Gefanbten, Jo daß Napoleon, über alle Vorfälle und
Schwankungen im preußiſchen Kabinett unterrichtet,
dasjelbe nur um jo übermütiger bintergehen und
Preußen feine Tlberlegenheit fühlen laſſen konnte.
Auf beiden Seiten bäuften fih Kränftungen und
Verftiimmungen, die unvermeidlid den Ausbrud
bes Krieges heraufbeichiooren. Wie ein Raubtier mit
erhobener PBranke beobachtete Napoleon die Windungen
des preußifchen Kabinetts, das noch immer feinem Ge:
waltichlage zu entkommen hoffte. Er wartete falten
Blutes auf den richtigen Augenblid, die wehrlofe
Beute zu zermalmen, mit all der Fülle von Haß
und Radhjucht, deren feine Korjennatur fähig war.
Der König von Preußen aber hoffte noch jett auf
die Möglichkeit einer friedlichen Löjung, jelbit da,
al8 die Heere ſchon gegeneinander vorzurüden be:
gannen. Und dieje Unficherheit wirkte lähmend und
verderbli jelbft auf die Entichließungen der Heer:
führer ein. Auch unter diefen gab es feinen ein-
beitliden Willen, feine gegenfeitige Verfländigung
und Unterordnung. Und jo 309 man den fieg:
gewohnten Scharen Napoleons entgegen, mit halbem
Herzen und halben WMaßregeln, voller SYUufionen
und Selbittäufchungen und doch ohne rechte Sieges:
freudigleit. Mit mattem Flügelihlage 309 ber Abler
aus, — dem Iprungbereiten Tiger entgegen.
Das Regiment Gendarmes hatte Befehl zum
Ausrüden erhalten, übermorgen fıühb. So war heute
der vorlegte Tag in Berlin.
Hilmar Rohlig ging rafhen Schrittes in der
Abendftunde die Häuferreihen entlang, der Dorotheen-
ftraße zu, in welder Dntel Rupreht Wohnung ge:
IV, 7
91 Schwertklingen.
nommen, wo die Geliebte ihn erwartete. Es war
ſpät und dunkel und wurde jetzt ſtiller auf den un—
ruhig belebten Straßen. Sein klirrender Schritt
hallte auf dem unebenen Steinpflaſter. Als er ſich
der Hausthür, der wohlbekannten, näherte, trat, von
entgegengeſetzter Richtung kommend, ein anderer
gleichfalls auf dieſelbe zu. Ein Mann mit waffen⸗
klirrendem Schritt, im goldverſchnürtem Hufaren-
dolman, wie der Schein der Straßenlaterne ihm zeigte.
„Haſſo, Du?“
„Ja, Hilmar, ich!
dieſer Stunde zu kommen!
Abſchiedsbeſuch bei ihr ſein!“
„Gewiß — aber wart' noch einen Augenblick —
ich will Dir ſagen, warum ſie Dich zu dieſer Stunde
gerade gerufen. Es iſt beſſer, Du erfährſt es hier,
jetzt gleich! — Siehſt Du, wie hell die Fenſter da
oben ſind? — Zu meiner Hochzeit gehe ich hinauf!
Unſer Trauzeuge ſollſt Du ſein, Haſſo!“
„Ach, Hilmar, wirklich?“
„Ja wirklich! Freuſt Du Dich nicht mit mir
darüber?”
„Serwiß, ja, ih freue mih! hr wünjchtet
es Euch ja wohl beide feit lange! Aber nun — zu
Anfang diefes Krieges — — arme Lotte!”
„Arme Lotte — ift das Dein ganzer Glüd:
wunſch?“
„Was ſagen Deine Eltern dazu?“
Haſſo zurück.
„Ich habe es Mama in größter Eile mitgeteilt,
aber ich weiß lange, daß ſie mit meiner Wahl von
Herzen einverſtanden iſt! — Wir hätten freilich noch
eine Ewigkeit warten müſſen, wenn nicht dieſer
herrliche, fröhliche Krieg — — komm, nun ſchnell,
Haſſo! Wir haben ihnen allen das Recht über den
Kopf genommen!“
Er flog die Treppe hinan, raſcher, ſtürmiſcher
mit jeder Stufe, und die Zimmerthür öffnete ſich vor
ihm. Da ſtand ſeine Braut im ſchlichten, weißen
Kleide, ein Myrtenkränzlein in dem braunen Haar,
und wartete auf ihn. Mit einem leiſen ſchluchzenden
Laut, halb Jubel, halb Weh, ſank ſie an ſeine Bruſt.
„Arme Lotte!“ ſagte er unwillkürlich.
Sie hob den ſchüchtern geſenkten Veilchenblick zu
ihm auf mit banger Frage. „Warum ſagſt Du das
Hilmar?“
„Hallo jagte es, aber das Wort joll feine Vor:
bedeutung für uns haben, meine jüße Lotte! Mit
Gottes Hilfe Fehre ich wieder aus dem Selde, fieg-
reih und glüdlih, und unfjere Wonne dann wird
unendlidh fein!” Er flüfterte e8 leije ſchmeichelnd
und tröftend in ihr Obr.
Dann aber löfte fie fidh fanft aus feinem Arm.
Sie waren nit mehr allein. Ihr Vater ftand da,
mit verlegener, unbefriedigter Miene. Xhm vor allen
war das Recht über den Kopf genommen und er
vermodte noch nicht, fih in die Sachlage zu finden.
Ein Freund und Regimentslamerad von Hilmar,
Lieutenant von Bredow, war Zeuge, ber Geiftliche
im Drnat vollzog die Trauung. Hilmar und Lotte
von Rodhlig waren Mann und Weib.
Hafjio jah das tiefe, innige Glüd aus beider
Lotte hat mich gebeten, zu
E3 ol zugleih mein
fragte
Roman von Hans Werber. 92
Augen ftrahlen und gönnte es ihnen von Grund
jeiner Seele. Dod das Herz war ihm jchwer dabei.
Sie gingen einer dunklen Zulunft entgegen! Er
nahm Abjchied von beiden und verließ mit Bredomw
zujammen das Haus.
Seiner Mutter hatte Hilmar die Nachricht der
fo raid beichlofjenen Heirat gefandt und fie und
den Vater um ihren Segen gebeten. Derjelbe ward
ihm nicht vorenthalten. Die Mutter war bejeligt
dur das Blüd ihres Sohnes, das aus feinem
Briefe jubelnd zu ihr jprah. Wäre nur nicht die
qualvolle Angit damit verbunden gemweien, daß nun
wirklich der Krieg begann und ihr Liebling mit hinaus:
ziehen mußte in Strapagen und Todesgefahr. So
war e8 für fie ein Glüd unter Ängften und Thränen.
Einen Stihd ins Herz gab ihr zugleich Die
Nahriht, daß Haflo zum LDrdonnanzoffizier bes
Brinzen Louis Ferdinand fommandiert wäre. Wie
kam diejer Stalljunge — jo bezeichnete fie ihn in
ihren Selbftgelpräden — zu folder bevorzugten
Stellung und an den Hof des Prinzen? Diejes leicht:
finnigen jungen Herrn, der noch dazu gewiß feinen
Spott mit ihm trieb und ihn zum Trinken, Spielen
und wer weiß was fonft noch für Lajtern verführte!
Den Knaben, den fie aufgezogen unter fo viel Sorgen
und Mühen!
Herr von Rodhlig aber verwies ihr diefen Aus:
fall auf den königlichen Prinzen. Wenn ber Schlingel,
der Haflo, zu Grunde ging, fo war dies feine eigene
Schuld! Den Neffen feines großen Königs aber
dafür verantwortlich zu machen, den jungen Kriege:
belden, der fi jhon als zwanzigjähriger Jüngling
duch die Erftürmung der Zahlbaher Schanzen Jo
prächtig bewährt, von dem er jegt jo Großes er:
wartete — Sole Unbilden duldete er in jeinem
Haufe nidt. Und Frau von Rohlik gab fi zu:
frieden. Mocte denn Hallo zu Grunde gehen, wie
und buch wen er wollte, modte er fich Jelbit einer
bevorzugten Stellung erfreuen! Wenn nur Hilmar
ihr erhalten blieb, der Abgott ihres Herzens! Wenn
nur bdiejer Krieg vorüber ging, ohne ihn zu ge:
fährden — feinen andern Wunjh und Sehnen mehr
fannte ihr Herz!
Als Haflo das Haus feiner Verwandten ver:
laflen, ging er nad der MWilhelmftraße. Dort
erwartete ihn Renate zum lebten gemütlichen Bei-
jammenfein in altgewohnter Weije und zum Abfchieb:
rehmen. Denn übermorgen rüdte au er aus im
Gefolge feines Prinzen.
Nenate war in heller Begeilterung. Am liebjten
wäre fie jelber mit binausgezogen in Schladht und
Sieg, und fie beneidete die Wtänner, denen biejes
herrliche Vorrecht vergönnt war.
Herr von Veldegg, der mit ganzer Seele zur
Kriegspartei gehörte, war Feuer und Flamme für
die Sache. Eingehend ſprach er alle die Hoffnungen
und Ausſichten des Feldzuges in ſeiner lebhaften
Weiſe durch, und Haſſo mußte ihm berichten über
die Stimmung und Anſichten des Prinzen, ſo viel
er nur irgend vermochte.
Und dann kam der Abſchied. Als Haſſo ſeinen
Säbel umſchnallte, die ſcharfe Huſarenklinge für den
— — — —.. —— — — —
93 Schwertklingen.
mörberiihen Krieg, da kam e8 Renate plöglih ins
Bewußtlein, daß er jet von ihnen ging, in grimme
Todesgefahr hinaus. Daß er nach langer Zeit erft
wieberlehren würbe, ein friegserfahrener Mann, ein
Held und Sieger, oder vielleiht auch nimmermehr! —
Und wie er nun vor ihr fland und ihre Hand
in ber feinen bielt zum innigen Abjchied, da flofien
ihre Thränen unaufbaltfam, als jollte ihr das Herz
zeripringen im Trennungsleid.
Mit tiefem, warmem Blid jah Hafjo auf fie
nieder. So meinte fie um ihn und würde um ihn
bangen, für ihn beten, während er draußen im
Kriege war, und würde fih freuen, wenn er lebend
wieberlehrte? Ach, daß er die Gewißheit mit bin:
ausnehmen burfte! Das Herz Ihwol ihm in zärt:
liher Dankbarkeit. Nie, bis zum lebten Atemzuge
würde er ihr bas vergeflen, nie aufhören, fie zu
lieben für diejes füge Mitgefühl, durch das fie ihm
jo unendlid wohlgethan.
Prinz Louis Ferdinand jaß allein in feinem
Zimmer am Screibtiid. Die zu dem Korps bes
Fürfien Hohenlohe gehörige Avantgarde war unter
feinen Befehl geftelt.e. Morgen wollte er den fchon
ausgerüdten Truppen folgen, um fi zunädft in
— Hauptquartier des Fürften nach Dresden zu bes
geben.
Mit fiebernder Ungeduld jah er die Entiheidung
näher rüden. Morgen endlich jollte dem Ausharren
in friedlicher Umgebung ein Ende gemadt werden.
Es war ber lebte Abend, und ein jchwerer Tag lag
hinter ihm. Bon feinen Eltern batte er Abichied
genommen und von Fürftin Luife, der geliebten
Schweiter. Wie traurig war das gemweien! Sie
hatte ja bie großen Ziele vor Augen wie er, und
ihre Seele war die einer Heldin! Er mußte fi
eins mit ihr im Wollen und Empfinden, jo wie e8
nur möglich zwilchen Bruder und Schweiter, zwei
Reilern aus einer Wurzel, an einem Stamm ge:
wadhjen. Darum verftand er wohl das hoffnungs-
loje Web, mit dem fie ben vielgeliebten Bruder
Icheiden jah. Es war auf Nimmerwiederjehen!
Dann der Abichiedb von Henriette und von
feinen Kindern. Ste wußten nidt, die abnungs-
Iojen Heinen Gej&höpfchen, was ihnen widerfuhr, als
er da von ihnen ging, mit thränenjchwerem Blid
ihre unjhuldigen Lieblofungen erwidernd. Er aber
wußte, daß der Schuß feiner Liebe und Fürjorge
ihnen genommen ward mit diefem Augenblid und
fie fortan allein, verlaffen zurüdblieben fürs Leben.
So gut er fonnte, hatte er für fie und ihre Mutter
gejorgt. Doch wie viel blieb noch zurüd, jein Herz
mit fchwerer Sorge zu belaften! —
Er hatte alle feine Arbeiten beendet, alle
Pflichten erledigt, und nun lag aud) der Abjchieds-
brief an die Königin vollendet vor ihm da. Sie
hatte Fürzlich Berlin verlaflen, während er fich bei
jeinem Regiment in Magdeburg befand. So hatte
er ihr nicht Lebewohl jagen, nicht ihren Segen er:
bitten fünnen für diefen Kampf, in welchen er aus:
zog als ihr Paladin, das Herz von glühendenm Zorn
erfüllt, feine Königin an dem korfiihen Barbaren zu
rächen. Schon jegt hatte diejer begonnen, beißende
— — — — —— — —
Roman von Hans Werder. 94
Schmähworte gegen ſie, die edelſte aller Frauen, zu
richten, und ſich dadurch in ſeiner Unritterlichkeit
und Gemeinheit zu brandmarken für alle Zeiten. Ja
— ihr Rächer hoffte Prinz Ludwig zu werden.
So hatte er an ſie geſchrieben, in feurigen
Worten ſeinen Abſchiedsgruß und ſeine Huldigung
dem Siegesgenius und Schutzengel Preußens zu
Füßen gelegt, hatte ſie angefleht um ihren Segen
und um ein gütiges Gedenken, falls ſein Auge ſie
nicht wieder erſchauen ſollte in dieſem Leben. Der
Brieſ war fertig und Prinz Louis blickte ſinnend
darauf nieder, den Kopf in die Hand geſtützt. Auf
ſeinem Antlitz lag ein tiefer Schatten, welcher Todes⸗
ahnung bedeutete.
Und zugleich zog es durch ſeine Seele wie ein
Rückblick auf das vergangene Leben. In ſeinem
vierunddreißigſten Lebensjahre ſtand er jetzt. Eine
Jugendzeit lag hinter ihm voll brauſender Stürme
und glühenden Sonnenlichtes, ſchwarz wie Gewitter⸗
nacht und rofig wie ſanfter Abendſchein. Sie war
zu Ende, die reifen, ernſten Jahre ſtanden vor ihm,
in denen er handeln und wirken ſollte, ſich be⸗
währen als ein Mann und ein Held. Würden fie
fommen, oder wartete fein das frühe Grab? Ad
um bie verlorenen Sabre! Um all die unerfüllten
MWünfche, vernichteten Hoffnungen, all die Seelen:
träfte, die fih aufgezehrt im Kampf der Leiden:
Ihaften, der inneren und äußeren Raftlofigkeit.
Wieder gingen feine Augen über den Brief
bin, der vor ihm lag. „Meine Königin, über allen
Abgrundtiefen meines Lebens ftandeft Du wie ein
Harer Stern und warfit Dein Spiegelbild hinein,
läuternd und veredelnd. Hätte ih no einmal
nur vor Dir ftehen dürfen und Dir Beichte ab-
legen über mein Srren und Streben! Hätteft Du
Deine gütige Hand auf mein Haupt gelegt, Tegnenb
a bie legte Weihe zu geben — für den nahen
To ___M
Wie aus fohwerem Traum fuhr er endlih auf
und berührte die filberne Slode auf feinem Schreib:
id. — „Meinen Wagen, Drdorf! — Nah ber
Sägerftraße!”
Rahel erwartete ihn. Sie hatte viel gelitten
und viel geweint den Tag bindurd. Seht war fie
ruhig, denn fie wußte, daß der heißgeliebte Freund
der Ruhe und Klarheit ihrerjeits bedürfen würde.
Die Wachskerzen, auf hoben filbernen Leuchtern
brennend, erhellten freundlich das traulide Gemad).
Der Prinz trat herein. Stumm grüßten fie
feine Augen. Er warf fi in eine Ede des Kana-
pees, dort, wo er jo mandes Mal ein Nilles Aus:
ruhen gefunden, wenn die Welt und bes eigenen
Herzens Stürme ihn müde gebegt. Rahels dunkle
Augen ruhten auf ihm voll Liebe und Weh. Es
lag in feinen Augen der Ausdrud eines unlösbaren,
doch unwiderſtehlich anziehenden Rätſels.
„Er war die feinſte Seele,“ ſagte ſie einſtmals
von ihm, „von beinah niemand gekannt, wenn auch
viel geliebt — und viel verfannt!”*)
Sie aber Tannte ihn.
*) Barnhagen, „Salerie von Bildniffen”.
91 Schwertklingen.
nommen, wo die Geliebte ihn erwartete. Es war
ſpät und dunkel und wurde jetzt ſtiller auf den un—
ruhig belebten Straßen. Sein klirrender Schritt
hallte auf dem unebenen Steinpflaſter. Als er ſich
der Hausthür, der wohlbekannten, näherte, trat, von
entgegengeſetzter Richtung kommend, ein anderer
gleihfalls auf diefelbe zu. Ein Mann mit waffen:
flirrendem Schritt, im goldverignürtem Hufaren-
dolman, wie der Schein ber Straßenlaterne ihm zeigte.
„Hallo, Du?”
„sa, Hilmar, id!
diefer Stunde zu kommen!
Abſchiedsbeſuch bei ihr ſein!“
„Gewiß — aber wart' noch einen Augenblick —
ich will Dir ſagen, warum ſie Dich zu dieſer Stunde
gerade gerufen. Es iſt beſſer, Du erfährſt es hier,
jetzt gleich! — Siehſt Du, wie hell die Fenſter da
oben find? — Zu meiner Hochzeit gehe ich hinauf!
Unſer Trauzeuge ſollſt Du ſein, Haſſo!“
„Ach, Hilmar, wirklich?“
„Ja wirklich! Freuſt Du Dich nicht mit mir
darüber?“
„Gewiß, ja, ich freue mich! Ihr wünſchtet
es Euch ja wohl beide ſeit lange! Aber nun — zu
Anfang dieſes Krieges — — arme Lotte!“
„Arme
wunſch?“
„Was ſagen Deine
Haſſo zurüd.
„Ich habe es Mama in größter Eile mitgeteilt,
aber ich weiß lange, daß ſie mit meiner Wahl von
Herzen einverſtanden iſt! — Wir hätten freilich noch
eine Ewigkeit warten müſſen, wenn nicht dieſer
berrliche, fröhlide Krieg — — lomm, nun jchnell,
Hallo! Wir haben ihnen allen das Recht über den
Kopf genommen!”
Er flog die Treppe bhinan, rajcher, ftürmifcher
mit jeder Stufe, und die Zimmerihür öffnete fich vor
ibm. Da Stand feine Braut im jchlichten, weißen
Kleide, ein Myrtentränzlein in dem braunen Haar,
und wartete auf ihn. Mit einem leijen jchluchgenden
Laut, halb Yubel, halb Web, jant fie an feine Bruft.
„Arme Lotte!” fagte er unwillfürlid.
Sie hob den Ihüchtern gefenkten Veilhenblid zu
ihm auf mit banger Frage. „Warum fagit Du das
Hilmar?”
„Hallo Tagte es, aber das Wort fol feine Vor:
bedeutung für uns haben, meine füße Lotte! Mit
Gottes Hilfe Fehre ich wieder aus dem Felde, flieg:
reid und glüdlih, unb unjere Wonne dann wird
unendlich jein!” Er flüfterte es leije jchmeichelnd
und tröftend in ihr Ohr.
Dann aber löfte fie fich janft aus feinem Arm.
Sie waren nicht mehr allein. hr Vater ftand da,
mit verlegener, unbefriedigter Miene. Yhm vor allen
war das Redht über den Kopf genommen und er
vermochte nod nicht, fi in die Sachlage zu finden.
Ein Freund und Regimentstamerad von Hilmar,
Lieutenant von Bredow, war Zeuge, ber Geiftliche
im Drnat vollzog die Trauung. Hilmar und Lotte
von Rodlig waren Mann und Weib.
Safio fah das tiefe, innige Glüd aus beider
Lotte hat mich gebeten, zu
Es ſoll zugleich mein
Eltern dazu?” fragte
Lotte — ift das Dein ganzer Glüd:.
Roman von Hans Werber. 92
Augen ftrahlen und gönnte es ihnen von Grund
feiner Seele. Doch das Herz war ihm fjchwer dabei.
Sie gingen einer bunflen Zulunft entgegen! Er
nahm Abichied von beiden und verließ mit Bredomw
zujammen das Haus.
Seiner Mutter hatte Hilmar die Nachricht der
fo rajch beichloffenen Heirat gelandt und fie und
den Vater um ihren Segen gebeten. Derjelbe ward
ihm nit vorenthalten. Die Mutter war bejeligt
durh das Glüd ihres Sohnes, das aus jeinem
Briefe jubelnd zu ihr Iprad. Wäre nur nidt bie
qualvolle Angft damit verbunden gemwejen, daß nun
wirklich der Krieg begann und ihr Liebling mit hinaus:
ziehen mußte in Strapazen und Todesgefahr. So
war 8 für fie ein Glüd unter Ängften und Thränen.
Einen Stih ins Herz gab ihr zugleih die
Nahriht, daß Haflo zum Ordonnanzoffizier des
Prinzen Louis Ferdinand fommandiert wäre. Wie
tam biefer Stalljunge — jo bezeichnete fie ihn in
ihren Selbitgeiprähen — zu Joldher bevorzugten
Stellung und an den Hof bes Prinzen? Diefes leicht:
finnigen jungen Herrn, der nody dazu gewiß feinen
Spott mit ihm trieb und ihn zum Trinten, Spielen
und wer weiß was jonft noch für Laftern verführte!
Den Knaben, den fie aufgezogen unter jo viel Sorgen
und Mühen!
Herr von Rodhlit aber verwies ihr diefen Aus:
fall auf den königlichen Prinzen. Wenn ber Scylingel,
der Hallo, zu Grunde ging, jo war dies jeine eigene
Schuld! Den Neffen feines großen Königs aber
dafür verantwortlich zu machen, den jungen Kriegs:
belden, der fih jchon als zwanzigjähriger SJüngling
durh die Erftürmung der Zahlbadher Schanzen jo
prächtig bewährt, von dem er jekt jo Großes er:
wartete — Jolde Unbilden duldete er in feinem
Haufe nit. Und Frau von Rodhlik gab fich zu:
frieden. Mocdte denn Hallo zu Grunde gehen, wie
und dur wen er wollte, mochte er fich Jelbit feiner
bevorzugten Stellung erfreuen! Wenn nur Hilmar
ihr erhalten blieb, der Abgott ihres Herzens! Wenn
nur diejer Krieg vorüber ging, ohne ihn zu ge-
fährden — feinen andern Wunjh und Sehnen mehr
fannte ihr Herz!
Als Hallo das Haus jeiner Verwandten ver:
laffen, ging er nah der Wilhelmftraße. Dort
erwartete ihn Renate zum legten gemütlichen Bei:
jammenfein in altgemohnter Weile und zum Abfchied-
rehmen. Denn übermorgen rüdte au) er aus im
Gefolge feines Prinzen.
Renate war in heller Begeifterung. Am liebjten
wäre fie felber mit binausgezogen in Schladt und
Sieg, und fie beneidete die Männer, denen biejes
berrlihe Borredht vergönnt war.
Herr von VBeldegg, der mit ganzer Seele zur
Kriegspartei gehörte, war Feuer und Flamme für
die Sache. Eingehend Ipradh er alle die Hoffnungen
und Ausfihten des Feldzuges in jeiner lebhaften
Weile durh, und Hallo mußte ihm berichten über
die Stimmung und Anfichten des Prinzen, jo viel
er nur irgend vermochte.
Und dann fam der Abichied. Als Haflo feinen
Säbel umjchnallte, die jhharfe Hufarenklinge für den
— — — — — —— — — —
93 Schwertklingen.
mörberiihen Krieg, da lam es Renate plöbßlich ins
Bewußtlein, daß er jegt von ihnen ging, in grimme
Tobesgefahr hinaus. Dap er nach langer Zeit erft
wieberlehren würbe, ein friegserfahrener Mann, ein
Held und Sieger, oder vielleicht auch nimmermehr! —
Und wie er nun vor ihr fland und ihre Hand
in der feinen bielt zum innigen Abihied, da floflen
ihre Thränen unaufhaltiam, als jollte ihr das Herz
jeripringen im Trennungsleid.
Mit tiefem, warmem Blid jah Hallo auf fie
nieder. So meinte fie um ihn und würde um ihn
bangen, für ihn beten, während er draußen im
Kriege war, und würbe fich freuen, wenn er lebend
wieberlehrte? Ach, daß er die Gemwißheit mit bin:
ausnehmen burfte! Das Herz Ichwoll ihm in zärt-
liher Dankbarkeit. Nie, bis zum lebten Atemzuge
würde er ihr das vergellen, nie aufhören, fie zu
lieben für bdiejes jüße Mitgefühl, dur das fie ihm
jo unendblid wohlgethan.
Prinz Louis Ferdinand faß allein in feinem
Zimmer am Schreibtiid. Die zu dem SKorps des
Fürften Hohenlohe gehörige Avantgarde war unter
feinen Befehl geftelt.e. Morgen wollte er den fchon
ausgerüdten Truppen folgen, um fi zunädft in
. Hauptquartier des Fürften nad) Dresden zu bes
geben.
Mit fiebernder Ungeduld jah er die Entſcheidung
näber rüden. Morgen endlich jollte dem Ausharren
in friedliher Umgebung ein Ende gemacht werben.
Es war ber lette Abend, und ein jchwerer Tag lag
hinter ihm. Bon feinen Eltern Hatte er Abfjchied
genommen und von Fürftin Quife, der geliebten
Schweiter. Wie traurig war das gemwelen! Sie
batte ja die großen Ziele vor Augen wie er, und
ihre Seele war die einer Heldin! Er mußte fidh
eins mit ihr im Wollen und Empfinden, jo wie es
nur wmöglid zwilhen Bruder und Schweiter, zwei
Reilern aus einer Wurzel, an einem Stamm ge:
wadhfen. Darum verftand er mohl das boffnungs:
loje MWeh, mit dem fie den vielgeliebten Bruder
ſcheiden ſah. Es war auf Nimmerwiebderjehen!
Dann der Abjchied von Henriette und von
jeinen Kindern. Sie mußten nidt, die ahnungs:
Ilojen Kleinen Geihöpfchen, was ihnen wibderfuhr, als
er da von ihnen ging, mit thränenjchwerem Blid
ihre unfchuldigen Lieblojungen erwidernd. Er aber
wußte, daß der Schuß feiner Liebe und Fürjorge
ihnen genommen ward mit diefem Augenblid und
fie fortan allein, verlaffen zurüdblieben fürs Leben.
So gut er Eonnte, hatte er für fie und ihre Mutter
gejorgt. Doch wie viel blieb noch zurüd, jein Herz
mit jchwerer Sorge zu belaften! —
Er hatte alle feine Arbeiten beendet, alle
Pflichten erledigt, und nun lag aud der Abjchieds-
brief an die Königin vollendet vor ihm da. Gie
hatte Türzlich Berlin verlallen, während er fich bei
jeinem Regiment in Magdeburg befand. So hatte
er ihr nicht Lebewohl jagen, nicht ihren Segen er:
bitten können für diejen Kampf, in welchen er aus:
zog als ihr Paladin, das Herz von glühenden Zorn
erfüllt, feine Königin an dem korfiihen Barbaren zu
rächen. Schon jebt hatte diejer begonnen, beißende
Roman von Hans Werber. 94
Schmähmorte gegen fie, die ebelfte aller Frauen, zu
rihten, und ſich dadurch in feiner Unritterlichkeit
und Gemeinbeit zu brandmarlen für alle Zeiten. Ja
— ihr Nächer hoffte Prinz Ludwig zu werben.
So hatte er an fie gejchrieben, in feurigen
Worten feinen Abichiebegruß und feine Huldigung
dem Siegesgenius und Schußengel Preußens zu
Füßen gelegt, batte fie angefleht um ihren Segen
und um ein gütiges Gedenken, falls fein Auge fie
nicht wieber erjchauen jollte in diefem Leben. Der
Brief war fertig und Prinz Louis blidte finnend
darauf nieder, den Kopf in bie Hand geflüßt. Auf
feinem Antlig lag ein tiefer Schatten, welcher Tobes-
ahnung bedeutete.
Und zugleich 309 es durch feine Seele wie ein
Nüdblid auf das vergangene Leben. Syn feinem
vierunddreißigften Lebensjahre fand er jebt. Eine
Sugendzeit lag binter ihm voll braufender Stürme
und glühenden Sonnenlichtes, Ihwarz wie Gewitter:
naht und rofig wie fanfter Abendichein.. Sie war
zu Ende, bie reifen, ernften Sahre ftanden vor ihm,
in benen er handeln und wirken jollte, fich be-
währen als ein Mann und ein Held. Würden fie
fommen, oder wartete fein das frühe Grab? Ad
um die verlorenen Sabre! Um all bie unerfüllten
MWünjche, vernicteten Hoffnungen, all bie Seelen:
fräfte, die fi aufgezehrt im Kampf der Leiden-
Ichaften, der inneren und äußeren Raftlofigkeit.
Wieder gingen feine Augen über den Brief
hin, ber vor ihm lag. „Meine Königin, über allen
Abgrundtiefen meines Lebens ftandeft Du wie ein
Harer Stern und warfft Dein Spiegelbild binein,
läuternd und veredelnd. Hätte ich noch einmal
nur vor Dir ftehben dürfen und Dir Beichte ab-
legen über mein irren und Streben! Hätteft Du
Deine gütige Hand auf mein Haupt gelegt, jegnenb
an die legte Weihe zu geben — für den nahen
To — —“
Wie aus ſchwerem Traum fuhr er endlich auf
und berührte die filberne Glode auf feinem Schreib:
id. — „Meinen Wagen, Drborf! — Nah ber
Sägerftraße!”
Rahel erwartete ihn. Sie hatte viel gelitten
und viel geweint den Tag hindurch. Set war fie
ruhig, denn fie wußte, daß der heißgeliebte Freund
der Ruhe und Klarheit ihrerjeits bedürfen würde.
Die MWachskerzen, auf hohen filbernen Leuchtern
brennend, erhellten freundlich das traulide Gemad.
Der Prinz trat herein. Stumm grüßten fie
feine Augen. Er warf fih in eine Ede des Kana-
pees, dort, wo er jo mandes Mal ein Nillee Aus:
ruhen gefunden, wenn die Welt und bes eigenen
Herzens Stürme ihn müde gebegt. NRahels dunfle
Augen rubten auf ihm vol Liebe und Weh. Es
lag in feinen Augen der Ausdrud eines unlösbaren,
doch unwiderſtehlich anziehenden Raͤtſels.
„Er war die feinſte Seele,“ ſagte ſie einſtmals
von ihm, „von beinah niemand gekannt, wenn auch
viel geliebt — und viel verfannt!”*)
Sie aber fannte ihn.
*) Barnhagen, „Salerie von Bilbniffen”.
95 Schwertllingen.
„Rahel, es war ein harter Kampf,” fagte er
endiihd. „Er hatte mich müde gemadt. Nun bin
ih ruhig. Wenn man mit Freudigfeit in den Tod
gehen will, dann muß man ruhig fein -— nicht müde!“
„SR der Abichied überwunden?” fragte Rahel.
„Bon allen, außer von Pauline. — An Sie,
Rahel, ‚mein Freund‘, aber babe ich ein Verimädht:
nis!” Er firedte bie Rechte nah ihr aus, als wollte
er fie näher zu fi ziehen. Nabel erfaßte bieje
Hand und drüdte einen langen Kuß darauf. Er
jah fie an mit warmem Blid. „Wenn ich tot bin,
Nabel, werben fie alle mi mit der Zeit vergeflen,
nur Du nit! Meine Kinder werben unter Fremden
aufwadjen und niemand wird in ihren Seelen das
Bild ihres Vaters lebendig erhalten. Die Welt wird
ben Stab über mich brechen, wie fie es bisher ge:
ihban. Zch gab ihr leider gar oft ein Net dazu.
Wenige verflanden mi — außer Dir! Was in
meinem Herzen vorging — Du haft e8 immer ge:
wußt, — Du follft es meinen Kindern fagen, folft
fie lehren, mich auch nad meinem Tode zu lieben.
WAR Du das, Rahel?“
„Sa, fo wahr ih Sie liebe!”
Cr bob den weichen, tiefen Blid zu ihr auf.
„Das ift ein großer Schwur, denn Deine Liebe ift
groß. Sie war mir fehr teuer im Leben, und wird
mir über den Tod hinaus Die Treue halten!”
„Sie lohnen mir wie ein Königsfohn! ch
will e8 verdienen!” *) jagte Rahel mit tiefer, jelter
Stimme Er jhloß fie in feine Arme zum legten
Abiehied — und ging.
Der Ichwerfte Augenblid war ihm noch vorbe:
halten — die Trennung von Pauline. Zum Aus:
mar fertig, in der Morgenfrühe ritt er vor ihr
Haus und flieg vom Pferde. Maffenklirrend eilte er
hinauf, doch nicht vermochte der Friegerifhe Klang
den bangen Schlag feines Herzens zu übertönen.
Schluchzend ſank Pauline in feine Arme. „Rinm
mi mit, Louis, ich folge Dir in Schladht und Ge-
fahren! Mein Plag ift an Deiner Seite! Jh kann
nit leben ohne Dich!”
Mit Ichmerzlihem Lächeln blidte er nieder in
das traurige Antlit. „Nein, mein Lieb! Der
preußiihe Soldat läßt feine Lieben daheim, Du
fannft mich nicht begleiten! — Weine nit! Laß
mich ein ungetrübtes Bild von Dir mitnehmen, und
lo mid Did To liebend wiederfinden, wenn id
beimlehre, den Sieg in Händen! Dder —” Dod
nein, er jprad e8 nicht aus! Das war nidt für
Paulines Ohr.
hr Schmerzensausbrud, als fie ihn unerbitt:
ih fand, that ihm weh, weher vielleicht als ihr
jelber. Do vermodte er feine Standhaftigkeit nicht
zu erjhüttern und auch nicht einmal feine Aube.
Das war vorbei. Sein Blid blieb vorwärts ge-
riet, den Ereignillen zu, die große Anforderungen
an ihn fliellten. Was den Kreis feines eigenen
Lebens ausgefüllt, verjant davor in die Dämmerung
der Vergangenheit.
Freilich Konnten ihn jelbft in ber Ferne bie
*, ©. Fannı) Lewwald.
Roman von Hans Werber. 96
Sorgen und der Bwielpalt feiner eigentümlichen
Berhältnifie nicht verichonen. Auch bier blieb Rahel
die Vertraute feiner Kümmernifle, auf deren Ber:
ftänbnis er zuverfichtlid bauen Tonnte.
Dom Hauptquartier aus jchrieb er an fie:
Den 11. Sept. abends 1806.
„Liebe Kleine, bier, wo ich Baulinen wie fie
mich jehnlihft zu ſehen wünſchte, empfing ich
diefe beiden Briefe. Wie alles diefes mich beugt,
meinen Schmerz und bie Angft, die ich darüber
babe, Tönnen Sie leicht erraten. Gott! Hier
hide ich Jhnen zwei offene Briefe, einen an
Pauline, einen an Settchen, in der Angit und im
Schmerz geichrieben. Sie jehen alles darin — Io
wahr es in meinem Herzen liegt, meine heiße
Leidenſchaft für Pauline, meine innige Anhänglid;
teit an Henriette, fiegeln Sie fie beide zu und
Ihiden fie bin. — — —
Hier ward ich mit Liebe, Freude und Ber:
trauen aufgenommen. Einen früheren Freund,
mit dem ich feit vorigem Kriege ehr aufrichtig
verbunden war, Blumenftein, ein Franzole oder
Eljafler, fand ich hier wieder — e8 ift eine $reund-
I&haft, die jo alte Kameradichaft, Achtung für Tapfer-
feit, die eriten Gewehrjhüfle zufammen gehört zu
haben, Berluft gemeinjchaftlider Jugendbelannten
und alle mit der Jugend verbundenen been, er-
zeugt bat, die fi aber über diejfe Grenze nicht
erhoben, weil die meilten Sranzojen über biele
falfierten Spdeen nicht erhaben find. Heute haben
wir bier ein Rendezvous der verjchiedenen brei
Avantgarde:Chefs gehabt, des General Blücher, des
General Rüchel und mir, der die bes linlen Armee:
forps fommandiert. Morgen geht jeder zu jeiner
Beltimmung, und am 20. bin ih am Fuße des
böhmifhen Gebirges mit meiner aus Preußen
und Sadjen zulammengejegten Avantgarde. Ein
Wort gaben wir uns alle, ein feierlicheg, männ:
liches Wort — und gewiß es fol gehalten werden
— beftimmt das Leben daran zu jeßen, und
diefen Kampf, wo Ruhm und hohe Ehre ung er:
wartet — oder politiihe Freiheit und liberale
See auf lange erflidt und vernichtet werben,
wenn er unglüdlih wäre, nicht zu überleben! —
E3 fol gewiß fo fein! Der Geift der Armee ift
trefflih und würde es noch mehr fein, wenn mehr
Beflimmtheit und erregende Kraft von oben wäre,
und ein feiter Wille die Shwahen und jchwanten:
den Menihen beftimmte! Was ift biejes er:
bärmlidhe Leben, nichts, auch gar nichts! Alles
Schöne und Gute verjehwindet, erhaben ift das
Schledte, und die traurige Erfahrung reißt un:
barmherzig alle jchöne Hoffnungen von unferen
Herzen! So muß es in dielem Zeitalter fein,
denn jo erjtarben auch alle ſchönen, menſchenbe—
glüdende odeen! Nur das Erbärmliche blieb, nur
diefes fiegt — warum aljo fich beklagen, wenn
nn seinen geihieht, woran ein ganzes Zeitalter
eidet! —
Einen Brief von Pauline, aus Scride mir
geichrieben, fand ich bier, er war gut und liebend
und wahr. Wenn ih mich jo oft ins meibliche
97 Schwertklingen.
Herz hinein dachte, ſo glaubte ich, nichts heiliger
müßte einem Weibe ſein, als den Geliebten im
Kriege zu wiſſen; ihn zu betrüben, ja vielleicht
noch mehr zu thun, wär' in meinen Augen noch
ſchlimmer als ein Mord! —
Hier, liebe Kleine, einen Brief, einen langen
Brief für Paulinen, ich gebrauche eine Eſtafette,
die nach Berlin geht, geben Sie ihr dieſen Brief,
er iſt ſo lang, ſo ſchlecht geſchrieben, allein ich litt
zu viel, als ich ihn ſchrieb, und meine Ideen
konnte ich alſo wenig ordnen, bitten Sie Paulinen,
ihn zu leſen, und des undeutlichen Schreibens
wegen nicht zu ermüden. — Leben Sie glücklich
— ſchreiben Sie mir oft. — Wachen Sie über
Pauline — ſeien Sie wahr gegen mich, und lieben
Sie mich etwas, weil ich es verdiene.
Louis.“
II.
Eine bunte, intereſſante Geſellſchaft fand ſich in
Dresden zuſammen, als dem Mittelpunkt der Be—
gebenheiten, die man erwartete, und von denen man
einen Umſchwung der Verhältniſſe Europas erhoffte.
Aller Augen waren auf Preußen gerichtet, als auf
den Felſen, an dem Bonapartes Macht wenigſtens
eine Hemmung erleiden ſollte. Das preußiſche Haupt⸗
quartier bildete den Brennpunkt der Dresdener Ge—
ſellſchaft. Die Stadt war ein Zufluchtsort franzöſiſcher
Emigranten, politiſcher Märtyrer, die vor Napoleons
Bedrückung entflohen. Jetzt ward ſie der Sammel—
platz neugieriger Zuſchauer für das große, erwartete
Kriegstheater.
Wie auf der Bühne wurden die einzelnen be—
deutenden Perſönlichkeiten als Helden des zukünftigen
Dramas beobachtet und mit Intereſſe verfolgt. Mit
doppelter Wärme natürlich der Stern unter ihnen,
der gefeierte, intereſſante Prinz Louis Ferdinand.
Sein Hoflager ward auch hier der glänzende Mittel—
punkt allen geſelligen Lebens.
Mitten in dieſem Treiben bewegte ſich Haſſo
von Rochlitz als Ordonnanzoffizier des Prinzen mit
unbefangener Sicherheit, als ob er unter den Ver—
hältniſſen eines kriegeriſchen Hoflagers groß geworden
wäre. Einigen der Herren, mit denen er in tägliche
Berührung kam, ſchloß er ſich an in freundſchaſt—
lichem Verkehr und galt bei ihnen als ein treuer,
warmherziger Kamerad und luſtiger Geſellſchafter.
Andere wieder, welche weder Sympathie für ihn
empfanden noch bei ihm erweckten, ſahen in ihm
einen ſchroffen, unzugänglichen Charakter, tadelten
übermütiges Gebaren und mochten ihn nicht
eiden.
„Sie ſind eigentlich ein rabiater Geſelle, Haſſo,“
ſagte der Prinz einmal zu ihm. „Freundſchaft oder
Feindſchaft, eine neutrale Stellung kennen Sie gar
nicht! Erſchwert Ihnen das, zumal bei Ihrer großen
Jugend, nicht den Umgang mit den Menſchen?“
„Mag ſein, Königliche Hoheit, ich kann das
nicht beurteilen,“ erwiderte Haſſo. „Ich bin von
Treiben.
Roman von Hans Werder. 98
klein auf daran gewöhnt, allein meinen Weg zu
gehen und mir ſelber zu meinem Recht zu verhelfen.
Dabei habe ich gelernt, rückſichtslos gegen diejenigen
zu fein, die mir's erſchwerten. Vielleicht aber —“
fügte er nachbenklih hinzu — „paßt das nicht für
meine jetige Stellung?”
„So war das nicht gemeint,” entgegnete Der
Prinz. „Sie find ja fein Hofmann, Sie find Soldat!
Gegen mich werden Sie ja wohl nicht rüdjichtslos
fein, denn ich babe Fhre Rechte nicht beeinträchtigt,
foviel ich weiß. Und den anderen gegenüber jehen
Sie zu, wie weit Sie fommen. Sich jelbit zur
Geltung zu bringen ift gut und geboten für einen
Soldaten!” Ein leichter Seufzer begleitete diele
Worte. Prinz Louis wußte wohl, daß der eilerne
Drud der Verhältniffe ihn binderte, fein Selbit fo
zur Geltung zu bringen, wie er die Kraft und Be:
re&ptigung bazu in fi fühlte. Ob ihm der fo heiß
erjehnte Feldzug dieje Möglichkeit gewähren würde?
Ehe in den legten Septembertagen das Haupt:
quartier von Dresden aufbradh, folgte Prinz Louis
nodh einer Einladung bes Fürften Loblowig nad)
Eifenberg, jenjeits der böhmiichen Grenze. Yür zwei
Tage nur. Dann eilte er feinen bereits ausgerüdten
Truppen nad und traf am zweiten Marichtage, in
Obderau, bei benfelben ein. Der kurze Aufenthalt
unter den ihm fo mohlgelinnten öfterreichiichen
Freunden hatte ihn erheitert, mandhe ihrer Äußerungen
jeine Zuverficht neu belebt. Eine aufregende Sau:
jagd, durch die man ben hohen Beluch gefeiert, feine
Nerven erfriiht. Noftit Jah es auf den erften Blid,
als der Prinz aus dem Sattel ftieg, den Gruß feines
Getreuen burdh ein Lächeln erwidernd.
„Ih babe ihnen viel zu erzählen, Noftig!
Bor allen Dingen müflen Sie aber jett meine neueite
Errungenschaft bewundern, auf die ich jehr ftolz bin!
Ein Pferd, das ich mir gefauft habe! Laß uns den
‚Slop‘*) vorführen, Drborf!“
„Slop“ ftand dba, vom NReitlneht lang am
Zügel gehalten, ein englifches Vollblutpferd, von
Ihlanfem, Traftoolem Gliederbau und unvergleid-
liher Schöndeit.
Bewundernd ftanden die Herren umber. Prinz
Louis ftreichelte Tieblojend die feine Mähne, den
atlasglänzenden Hals bes Renners. „Mein tapferer
Ramerad in der Schladht folft Du werden! —
Wirft Du mid) auch fiher zum Siege tragen?”
Leije wieherte das NRoß und legte den fchönen,
feinen Kopf auf die Schulter feines Herrn. Es
Hang nicht freudig, eher einem Seufzer ähnlich.
Prinz Louis ward ernft. Wie tröftend glitt jeine
Hand noch einmal über die Jammetweihe Nüfter.
„Führ ihn fort, Drdorf!” — |
Immer kriegeriſcher geſtaltete ſich jetzt das
Die Quartiere wurden enger, die Märſche
anſtrengender. In größeren Maſſen drängten ſich
Truppen zuſammen. Ein Befehl jagte den andern.
Die Dispofitionen der Generale wurden häufig um—
geftoßen und dur andere erjegt, die Ordonnanz⸗
offiziere jagten mit den wideriprechendften Befehlen
*) Hiftorifd).
99 Die neue Herrin. Roman von Karl Erbni. Edler. 100
bin und ber und das Ganze gab ein aufregendes, | wohnter, bligjcharfer Weile Ausdrud verliehen. Der
bo wenig erfreulides Schaujfpiel. : Tadel jeines Vorgejeßten änderte an jeiner An:
Endlih wurde in den erften Oftobertagen das : Ihauung nit. „Wie fol ih ben Krieg nicht
Hauptquartier zu Sena aufgefhlagen. In Erfurt wünſchen,“ antwortete er berb, „da nur er ung
erwartete man den König und den Herzog von ' fihert! Das Erftürmen des ‚Butterberges‘ thut’s
Braunjhweig, der den Oberbefehl über die gefamte : halt nimmermehr!" Das Wort vergaß ihm der
Armee übernommen hatte. Fürft Hohenlohe mit Herzog nicht.”)
feinem General:Quartiermeifter Oberft von Maßen: Mit fieberhafter Ungebuld wartete Prinz Louis
bah wurde zum Kriegsrat dorthin befohlen. Des in ena auf die Entfheidung aus dem Hauptquartier
Prinzen Anweſenheit war nicht gewünſcht worden zu Erfurt. Doch ſie kam noch immer nicht! Gar
und dieſer blieb in Jena zurück. ... zu vieles hatte man dort zu erwägen und zu be—
‚Der Herzog von Braunſchweig war ihm nicht | raten, zu viele Ratfchläge fürmten auf den jagenben
wohlgefinnt. Einft an öffentlicher Tafel zu Magder | Mut bes Königs ein und raubten ihm jebe Feftig:
burg jaßen fie einander gegenüber. &8 war am ; feit bes Entichluffes. Nicht einmal, ob Krieg ober
Schluß der Herbitmanöver und der Herzog feierte | abermals Frieden fein jollte, ftand ganz feft bei ihm,
denjelben gleichfam jedes Jahr dadurch, daß er mit dafür ſorgte Haugwitz durch feine unermüblicen
großer Anftrengung und Weitläufigkeit den unweit | Schlangenwindungen.
Magdeburg gelegenen „Butterberg” erftürmen ließ.
Da tadelte ber alte Herzog mit Iharfen Worten die
Kriegsliebe des Prinzen, der diejer foeben in ge: | *) Noftig.
(Fortfegung folgt.)
Die neue Herrin.
Noman
bon :
s Barl Erdm. Edler.
(Schluß.)
Snzwilhen hatte Martina auch in einen näheren | Häufern annehmen wollte. Ym übrigen fümmerte
Verkehr mit dem Manne treten müflen, welchem zu: | er fih faum mehr um fie und kam höchſt ſelten
liebe Franzista jenen fremdländifhen Dingen nad | von Unter:Wartenfron herauf.
hing. Martina war nämlid) unerwartet vor eine Die Poft hatte Martina ein Patet Schriftitüde
Entiheidung geftelt worden, weldhe in ber That | gebradht nebit der Tobesnadhriht eines Fräuleins
unaufihiebbar war, wie es Wlrih als Bedingung | von XKeftenah, deren Verlaflenihaft der Gräfin
für Hetvarys Berufung gefordert hatte. Die zweite | Wartentron als Erbe anbeimfale. Es war ein
Bedingung, die er biefür als unerläßlich betont hatte, | großes Vermögen — fie erichral vor der märden-
fehlte dagegen: Xer war derzeit nicht abmwejend. | haften Ziffer der Gefamtjumme Es war dasjelbe
Gleichwohl legte Martina die Angelegenheit nicht | Vermögen, welches einft die Tante ihrem Vater zu:
ibm vor; denn es handelte fi zunädft nicht um | gedacht, dann jedoh in launenhaften Groll einer
dag Haus Wartenfron, jondern um das Haus | Eoufine vererbt hatte. Diefe, eine unvermählte Dame,
Leftenad. Enticheiden jollte übrigens auch KHetväary | deren eigener Reichtum ebenjo Iprichwörtlicy geworben
nicht darüber, die Enticheidung hatte fie jchon jelbft | war wie ihr Geiz, hatte das Erbe nicht nur nicht
getroffen, bevor fie ihn berief.” Nur des Rates | angegriffen, fondern mit Zins und Zinfeszins an-
ermangelte fie, wie fie ihren Willen auszugeftalten | jchwellen laffen. Urſprünglich ſchon bedeutend, fiel
habe, und zu jfoldem Rate bedurfte fie eines Mannes, | eg nun verboppelt an Martina Wartenfron, bie
dem fie rüdhaltlos vertrauen konnte. Ler hatte fi | Iette LXeitenadh; dazu erbte fie noch die ganze reiche
offen als ihr Widerfacher erwielen, und mar heimlih | Eigenhabe der Verfiorbenen.
ihr bartnädigfter Verfolger geweien. Seit Ulrichs Martina las die Dokumente flüchtig Durch, legte
Abreife nahm er fih biezu zwar nicht mehr die | fie dann auf ben Schreibtiih und fuhr fi mit
Mühe — Martina war eine geftürzte Größe, die er | der Hand über die naffen Augen. Bor den Schäten,
zu fürchten aufgehört hatte. Es wäre Verfhwendung | die ihr da unverhofft in den Schoß fielen, hatte fie
gewejen, die wohl gejpitten und vergiiteten Pfeile | nur den einzigen Gedanken: Hätte doch mein armer
an ein jo nichtiges Ziel zu wenden; daß er diejelben | Vater das erlebt! Und fie fühlte einen empörten
gleihwohl ftets Jchußbereit im Köcher hielt, trat jo: | Widerwillen gegen diefen Reichtum, der zu Ipät kam.
fofort zu Tage, wenn Martina fi eines armen | Dem Bater hätte er Freude gemacht, ihm Lörperlich
Kindes oder einer Tranken Frau in den Arbeits: | und geiftig aufgerichtet, ihm vielleicht das Leben
101 Die neue Herrin.
verlängert. Zu ſpät! Unaufhaltfam floffen ihr bie
Thränen über die Wangen — ber Rechtsanwalt
hätte nicht wenig geftaunt über eine folde Wirkung
jeiner vermeintliden Freudenbotihaft. Zu fpät für
den Vater — und was follten biefe Unfummen ihr
jelbft, die nicht einmal ihr Nabelgeld verbrauchte,
weil ihr Ler in den Arm fiel, fo oft fie irgend ein
Werk der Barmberzigkeit unter den Arbeitern üben
wollte! Traurig erhob fie fich endlich und trat zu
dem Fenſter. Dort ragte die Matthiasburg, und
der auftauende Schnee fraß an dem morjcdhen Ge-
mäuer. Dbzwar die Aufrichtung des alten Baues große
Summen Ekoften würde — hatte Wlriy gejagt —
tönne er gleichwohl ben Plan als Vermächtnis feines
Baters nicht aufgeben, ſondern barre günftigerer
Zeiten. Er follte nicht mehr harren, date Martina.
Sn dieje jeine Lieblingsidee follte er ihr Erbe ver:
bauen. Aber der Rechtsanwalt hatte jofortige Antwort
gewünjcht und Befehle über die nächflen Maßnahmen
erbeten. Martina wandte fi von dem TFenfler,
läutete und befahl, einen Neitlnedht an Herrn von
Hetvary nach den Heibehöfen zu jchiden.
Zwei Stunden danah ritt Hetväry in den
Wartentroner Hof ein. Martina trat ihm wie
einem alten Freunde entgegen. Daß er ihr Freund
fei, wußte fie, objwar fie ihm nur felten begegnet
war; in ihr war jener feine SKinderinflinft noch
nicht abgeftumpft, der eine wohlmollende Seele un:
trüglid berausfühlt. Sie wußte aud, daß fein
ganzes Herz an Franzista hing; er dagegen wufßfte,
wie warmberzig fie fich derjelben Franzista annahm.
Sie durften beide nicht über das liebe Mädchen
reden, aber fie verftanden einander und dachten beide
an fie, während fie fih die Hände reichten. Martina
legte ihm die Dokumente vor und erbat ich jeinen
Rat, indem fie ihre Willensmeinung dahin ausiprady,
das Erbe jei als eine nadträglid eingelangte
Mitgift zu betrachten, welche fie in die Ehe mitgebracht
babe. Hetväry bedeutete ihr, jeßt ließe fich ſolches
nur in Form eines Gejchenkes an Ulrich oder eines
Vertrages mit ihm bewertitelligen.
„3b bin e8 zufrieden,” erwiderte Martina.
„Die Form ift für mich dabei gleichgültig.”
„Aber nicht für den Grafen,” warf Helvary
ein. „Man müßte body die Annahnıe diefes großen
Sejchentes mit einiger Wahricheinlichleit vorausjegen,
und fomweit ih den Grafen kenne .. .”
„zweifeln Sie an jeiner Zuftimmung? Sie
haben redt. Cr würde bdiejelbe verweigern. Wir
müflen eine andere Form wählen. Aber welche?”
„zunädlt feine. Doch nicht allein in ber Form,
auh in der Sade ift derzeit feine bejondere Ent:
Iheidung zu treffen. Es genügt, daß Sie vorerft
nidt über das Vermögen zu Shren perjönlichen
Zweden verfügen, jondern es unangetaſtet laſſen,
um fpäter damit irgend einen Familienzwed, irgend
ein Wartenfroner Sjnterefle zu fördern. Sn foldher all-
gemeinen Faflung wird der Graf faum etwas ba-
gegen einwenden. Das Erbe ift aljo zu übernehmen,
fiher anzulegen und daran nit zu rühren, bis der
Graf heimfehrt. Jh fahre noch heute abend mit
Shrer Vollmadht in die Refidenz und ordne die An-
Roman von Karl Erdin. Edler.
102
gelegenheit in biefem Sinne, wenn es Shnen fo
recht if.” —
Martina gab ihre Zuflimmung, unb acht Tage
jpäter legte Hetväry die ganze Angelegenheit gefichert
und geordnet in ihre Hände.
XX
Inzwiſchen war über Nacht der Vorfrühling
hereingekommen, für den Landbewohner die unan—⸗
genehmſte Zeit des Jahres. Dem einzigen Zachäus
gefiel ſie wunderſchön; er konnte täglich für ſein
Comteßchen einſpannen, weil an einen Spaziergang
nicht zu denken war. Die Alleen des Parkes trieften,
auf den durchweichten Gartenwegen ſank der Fuß bis
zum Knöchel ein, die Straße war unterwaſchen. Im
Walde träufelte es von den Baumwänden, auf allen
Pfaden luſtwandelten hurtige Wäſſerlein, von der
Höhe kamen die Quellen in breitem Geſtröm über
den Moosboden niedergeſtürzt und fegten allen Moder
des Wintertodes hinweg. In Unter-Wartenkron ſahen
die Fabrikbeamten mit beſorgten Blicken auf den an—
ſchwellenden Bach, während Okonomiebeamte und
Schloßgärtner einander unter Kopfſchütteln ver—⸗
derblichen Spätfroſt prophezeiten.
Aber es wandte ſich alles zum Guten. Der
Matthiasturm lüftete das Viſier des Wolkenhelmes,
welchen er bisher trotzig aufgeſtülpt hatte. Dann
nahm er denſelben ganz herab — es mußte ihm
dort oben in der Sonnennähe wohl zu ſchwül ge—
worden ſein. Da ſaß auch ſchon auf ſeinem bemooſten
Haupte ein kecker Edelfink und begann ſogleich das
Vorſpiel zu dem gewaltigen Frühlingsſange der Natur.
Es beſtand aus einem fröhlich herausfordernden
Pfeifen, woran jedesmal ein übermütig geſchmetterter
Schnörkel gehängt wurde — „ein Suffix“ nannte
es Franziska, welche dem munteren Bürſchlein mit
Martina andächtig lauſchte. Agnes ſah lieber den
beiden Störchen zu, die auf einer Mauerkante des
Matthiasbaues ſaßen. Sie waren erſt geſtern von
ihrer Reiſe angelangt, aber es ſchienen alte Be—
kannte von Agnes zu ſein; denn ſie lächelte ihnen
zu, rief ihnen Koſenamen hinauf und ergänzte dieſe
mit einer leidenſchaftlich zärtlichen Gebärdenſprache.
Sie ſchienen dies alles auch gut zu verſtehen und
wohl zu würdigen, denn ſie verneigten ſich ſehr
höflich, obzwar ſie bloß auf einem Beine ſtanden.
Aber dann hielten ſie es doch in dieſer ceremoniöſen
Steifheit nicht mehr aus, ſondern klapperten vor
lauter Luſt und Freude des Wiederſehens, wie kleine
Gaſſenjungen mit Oſterklappern.“ Wenn ſolche tief⸗
ernſte Geſellen einmal in das Luſtige geraten, kommt
ihnen gern das Maß abhanden, und ſo begannen
ſie denn in wilder Ausgelaſſenheit Agnes zu necken,
indem ſie, bald verſchwindend, bald wieder auftauchend,
zwiſchen dem Ruinengemäuer hinflogen. Agnes
wollte ihnen durchaus nach, um mit ihnen Haſchen
zu ſpielen, aber da ſtürzten ſie ſich thalwärts und
kamen nicht zurück. Franziska beruhigte die ſchmerzlich
berührte Agnes mit der Erklärung, ihre beiden lang⸗
beinigen Freunde ſäßen jetzt unten am Waſſer bei
103 Die neue Herrin.
ihrem Befperbrot unb fämen erft nad geftilltem
Hunger wieder an ihr gewohntes Lieblingsplägchen.
Martina aber wies ihr zum Erjat für die Zwilchen-
zeit die zahllojen weißen Wölklein oben — eine große
Lämmerherde, welde über den ganzen Frühlings:
himmel ausgebreitet war und langjam einherweibete.
Sn Unter-Wartentron war ber drobend ange:
Ihmwollene Waflerihwall wieder zum friedbfamen Bade
geworden. KHarmlos hüpfte er zwilhen den grünen
Uferrändern einher und raufchte nur noch unwillig
auf, wo ihm eine Schleufe das Iuftige Fließen ver:
legte oder ein Rad feine freien Wellen Inedhtete.
Hafeljtauden beugten fi laufchend über das brodelnde
Wafler, jaftige Weiden langten mit jchlanten Armen
Ipielend in die Flut, untermijht mit Erlen, welde
in berjelben den Fuß babeten. Sie ftanden zu
beiden Seiten, das Ufer entlang und bildeten einen
fortlaufenden lebenden Zaun in den Vorgärten der
Arbeiterhäushen. Sn jenen Tagen, da der ver:
ftorbene Graf die Smduftrie als Notftandsbeichäftigung
einführte, mußte er zunädhfit wohlgejchulte Arbeiter
als Lehrer der Einheimifchen aus der Ferne herbei-
rufen. Für dieje fremden Glasbläſer, Vorrichter,
Maler, Schleifer, Mobellbrecheler waren die niedlichen
Arbeiterhäuschen bergeitellt worden, je eines für zwei
Familien mit einem zmweiteiligen Vorgärthen am
Bade. Nah der NRüdfeite bin bejaß jedes einen
ummauerten Hof mit Hübnerverichlägen und Kleinen
Ställen für Ziegen oder Borftenvieh. Die Häuschen
blieben falt wie eine Eigenhabe im Befite derjelben
Arbeiterfamilien und waren zumeift von den Söhnen,
mande jhon von den Enteln der uriprünglidhen
Bewohner bejett. Diejer eingewanderte Kern der
Arbeiterfchaft, weldem jchon jeiner Gejchidlichkeit
balber gewille Vorrechte eingeräumt worden waren,
hatte fih durch Fleiß und Sparjamfeit zu einem
behaglihden Wohlftand aufgefhwungen, aud wohl
ein Kartoffelfeld ober eine Wieſe für eine Kuh er:
worben. Den Arbeitern trat der alte Graf willig
ein Stüd Grund ab, während er fonft feinen Fuß-
breit Wartenfroner Bodens veräußerte; er jah es
gern, wenn fi biedburd) das Gefühl der Seßhaftig:
feit und Heimat in ihnen feftigte. Es ging ihnen
gut in Wartentron. Der Fall fam überhaupt nicht vor,
das einer ausgewandert wäre. Der Nahmudhs der Ein:
beimijchen geriet den eingewanberten Lehrmeiftern in
allem und jedem nach. E8 wurden neue Häuschen am
Ufer aufgebaut, und auch in diefen gab e8 genügendes
Austommen und mit der Zeit Erjparnifle, die endlich
zur Erwerbung von Feld und Viehftand führten.
Es war auch in diefer neuen Generation fein Bei-
jpiel von Auswanderung erlebt worden. Wejentlich
verändert hatten fi dieje Verhältniffe unter Xer.
Die jüngeren Arbeiter wollten fi feiner Tyrannei
nit fügen und zogen fort. Sie mußten durd
rende erjegt werden, zumeift untauglicdhe, filten:
rohe, arbeitiheue Elemente mit unklar gärenden
jocialiftiihen oder bereits abgellärten anardiftiichen
been im Kopfe. Auch von bdiejen hielten es viele
nicht lange aus, e8 gab ein ruhelojes Kommen und
Gehen, und jeder folgende Nahihub war ein ver:
Ichlechterter Abklatih des vorangegangenen. Die
Roman von Karl Erdm. Ebler.
104
älteren Meifter blieben, jedoch nicht mehr wie vor
Zeiten deshalb, meil es ihnen gut ging; fie blieben
jeßt, troßgdem es ihnen jchledht ging. Sie mußten
jelbft das Unleidlihe von Ler geduldig ertragen,
weil fie die Scholle fefthielt, welche ihnen gehörte.
Häuschen und Garten waren wie ihr Eigentum, Ader
und Wiefe, Kuh und Hiege waren e8 in der That.
Die Freizügigkeit hatte für fie als anfällige Leute
bloß ben Sinn, aus dem Wohlftand freiwillig in
die Bettelarmut fortziehen zu fönnen. Denn die
unbemwegliche Habe, welde ihre Eltern und fie jelbit
mit Weib und Kind erarbeitet und zufammengejpart
hatten, war höchitens um einen lächerliden Echleuder:
preis an den Mann zu bringen. Das wußte Xer,
und daran bielt er fie fell. Die Beamten mußten
Thurmbruds Beilpiel folgen und jeine bis zum
Widerfinn peinlihen Disciplinarregeln in feiner ab:
ftoßenden Weile handhaben. Der Direltor Würz
forgte dafür, daß diefen Abfichten genau entiprodhen
werde, und wo fich feine ungeheure Körperfülle durch
eine Thüre hereinklenimte, nahm felbft der niedrigite
Auffeher Ichärfere Worte in den Mund und verbärtete
feine Miene. Daß fi trogdem in der Arbeiterjchaft
der willenloje Sklavenfinn nidht jo völlig einbürgern
wollte, wie e8 Zer wünjchte, rührte nach feiner Über:
-zeugung davon ber, daß es ihnen immer no zu gut
ging. Er führte infolgedejlen ein unbarmbherzig er:
Elügeltes Syftem von Gelpftrafen und Lohnabzügen
ein, feßte den Stüdlohn für fämtlihe Arbeiten
herab, und veridärfte die Strenge bei der Durch
mufterung des Gelieferten. Ein Austommen war
dabei nicht mehr zu finden. Man arbeitete fich ent:
weder frant, oder man lebte vom Eriparten und
verarmte. Das Wirtshaus war niemals jo gut be:
jucht gewejen; dafelbit ertränktte man die verzweifelten
Gedanten über die hoffnungsloje Zage und die argen
Gedanken gegen die Vorgejegten.
Sp mar in diele Mufterlolonie des verftorbenen
Grafen durh Ler Dürftigkeit, Siehtum und ein
empörter Geijt verpflanzt . worden. Das rollen,
welches fih lange ftumm verhalten hatte, war all:
mählih laut geworden, erft in unverfländlichem
Murren oder in Geflüfter, dann in offener Rebe,
endlid bei dem jüngeren Volle in Gejchrei und
Tojen. Als diejes bedenklich zu werden anfing, faßten
fih um des beiderjeitigen Wohles willen die jechs
älteften Meijter ein Herz und Elopften an das Thor
der Billa, welde Ler in Unter-Wartentron bewohnte.
Sie mußten lange warten, erjt im Flur, dann im
Vorzimmer. Endli wurden fie vorgelaffen.
Ler lag im Fauteuil zurüdgelehnt, rauchte eine
Cigarette, hatte den rechten Fuß über das linfe Knie
gelegt und hielt fih gleihlam an dem türkifchen
Bantorjel mit der linfen Hand fell. Mit einer Nad:
läjfigleit, die unverlennbar Veradtung ausdrüdte,
bob er ein wenig die Rechte und winkte ihnen, zu
reden. Das thaten fie in Ehrfurcht, bejcheiden warnend,
demütig bittend. Er bejah indellen feine Finger, be:
mwegte fie langjam auf und ab, und ließ die koftbaren
Ringfteine daran bligen, während die linke Hand mit
dem Pantoffel jpielte. Dieje zweifache Unterhaltung
Ihien ihn ganz in Anjprud zu nehmen. Er ließ
105
die Männer reden, er unterbrad fie nicht, er erhob
feinen Einwand; es war, ala ob er fie gar nicht
böre, denn auch feine hochfahrende Miene zeigte nicht
die mindefle Veränderung. Aber es war bloß bie
Trägheit der Geringihätung. Als die Männer
Ihmwiegen, blidte er mit feinem böjen Lädheln auf.
Er fagte noch immer nichts, er betrachtete fie nur
grinfend von oben bis unten. Er fah babei nicht
die jchneeweißen Haare, bie durdhfurdten Gefichter,
die malten Augen, welche länger als ein halbes Sahr-
hundert dur die Feuerbrille au fchauen gemohnt
waren; er beadhtete auch nicht die nervigen Hände,
welche fi ebenfolange in mwaderer Arbeit gemüht
batten, wahre Künftlerhände, geübt, im Fluge die
Ihöne Form aus einem Stoff zu geftalten, der nur
einen Augenblid bildjam bleibt. Er hatte auch bei
ihren Reden nicht herausgehört, daß fie nit aus
Selbftjuht warnten und baten, fondern weil fie für
Wartenkron das Ärgfte fürdteten. Er fah und hörte
nur eines, und er jagte es ihnen auch, indem er
mit Bantoffel und Ringdiamanten weiterjpielte, in
Ihleppenden Worten, falt, ohne jede Erregung: „Was
die Jungen draußen laut ausbrüllen, das bringt Ihr
bier ftödish mit Ränken und Kniffen vor. Stänter,
‚Krafeeler, Rebellen jeid $hr alle miteinander, ob hr
mit der Fauft in der Luft herumfuchtelt, oder ob
Shr fie in der Taſche ballt und mir dabei allerlei
Mittel und Mittelhen vorihlagt. Sch kenne bloß
ein Mittel für Euch) alle: das Müffen. In weſſen
Haufe wohnt Ihr? Meilen Brot eflet Yhr? Habt
Shr nie gehört, daß ein Hund, der wider feinen
eigenen Herrn belt, fih dafür hinterbrein auf das
Winfeln und Heulen verlegen muß? Nun denn, da-
mit das widerbelliihe Murren einmal gründlid) ab:
getban wird, und auf daß fich alle anderen an dem
Heulen der Betroffenen ein heilfames Exempel nehmen,
jo feid hr jehs Wortführer hiemit aus dem Arbeits:
verhältnis entlaflen. Laut meiner neuen Bertrags:
Haufel, die Jhr alle unterfchrieben habt, werdet Yhı
in vierzehn Tagen Euere Arbeit am Ofen oder
Säleifrad einftellen und Euere Wohnhäufer in ordent:
lihem Zuftand übergeben.” Langlam erhob er fi
und jchlenderte, ohne fie eines Blices zu würdigen,
in das Nebengemad).
Die jeh8 alten Männer jhritten gejentten Hauptes
hinaus, drei zu den Glasöfen, drei in Die Schleifereien.
Eine halbe Stunde jpäter verließen mitten in ber
Arbeitzeit Jämtlihe Meifter die Yabrilgebäude in
einem ftillen, faft feierlihen Zuge, und gingen beim.
Unfug und Boflen treibend, lärmend und drohend
Ihwärmte der größere Zug der Gehilfen und Lebt:
linge dur die Ortichaft. Die Arbeit war in ganz
Unter:-Wartentron eingeflelt. Lex erhielt die Nad}:
riet davon durch den Direktor Würz, welcher leuchend
mit ängftlider Beflifienheit auseinanderfegte, um der
lieben Ruhe willen wäre es doch am beiten, von der
Entlaffung der ſechs lteften abzufehen.
Lex hatte wieder fein arges Lächeln, indem er
entfchied: „Die jechs bleiben entlaffen. Die Öfen
werden Talt geftellt, und wenn auch die Spaten in:
zwilden darin niften follten, bis Ddiejes Pad zum
Kreuze Trieht. Wir wollen jehen, wie lange fie fi
Roman-Zeltung 1896.
Die neue Herrin. Noman von Karl Erdm. Ebler.
106
jelbft aushungern werden. Adieu, lieber Würg —
dieje Tollhäusler unterfhäßen mi” — dabei brüdte
er dem Direktor die Hand und begann eine Opernarie
zu ſummen.
Am ſelben Nachmittag hatte ſich die geſamte
Jugend der Arbeiter auf der Kreuzheide verſammelt.
Das Wetter war warm, in dem Heidewirtshaus fanden
die Getränke reißenden Abſatz, die Stimmung wurde
allmählich erregter. Böſe Andeutungen fielen, ge—
fährliche Drohungen wurden laut, man plante ver:
derblihde Anichläge und erörterte fchon die äußerften
Mittel.
Ein einziger Mann redete zum Guten, lentte
ab, beihmwidtigte.e Er war jehr bleid und hüftelte,
er trank nicht und raudte nidi. Wenn er rebete,
geihah es in heilerem Tone, und bie anderen ließen
ab vom Tofen, um ihn zu hören. Elmer war der
geihidteite in der ganzen Schleiferzunft, dazu ein
mwaderer Kamerad und ein braver Menih. Sein
Bater war wie er ein fleißiger und gejhidter Meifter
gewejen, jo lange er fi nit in der XZuft der
Scleiferei, welche von jchneidenden Glasatomen flirtt,
die jurchtbare Schleiferfrankheit in die Zungen geatmet
hatte. Dann erhielt Elmer den fiechen Vater und
die jüngeren Gejhmwilter mit feiner Arbeit allein, bis
der Alte ftarb und von den Kindern bloh feine
Schweiter Magdalena übrig blieb. Aber nun fiechte
er Selbit an der Krankheit der Glasjchleifer dahin,
nachdem er fih vom Morgengrauen bis zum Abenp:
dämmern keinen Atemzug in gejunder Luft und Dabei
bloß die notdürftigfte Nahrung gegönnt hatte. Doc
auch jeßt arbeitete er mit unvermindertem Eifer fort,
obzwar er den Tod vor Augen hatte. Er that es
für feine Schweiter. Er hatte fie immer von den
Fabrifarbeiten ferngehalten aus Angft, fie werde
auch dahiniterben wie die übrigen Gejchmwilter. Sie
führte bloß feine Eleine Wirtihaft und beichäftigte
ih daneben mit Handarbeiten. Nun mar fie ein
blühendes jchönes Mädchen geworden, feiner geartet
als die anderen Srauen und Mädchen von Warten:
fron, welde beim Einbinden und Derpaden bes
Glajes, als Handlangerinnen bei den Holzjägen oder
beim Felbbau beichäftigt waren. Magdalena war
Elmers Stolz, feine Liebe, die Stüße, die ihn auf:
recht erhielt; er lebte nur noch, um den Sparpfennig
zu mehren, welden er ihr binterlafien wollte. Der
Strife war ihm nit willlommen; er verlor durd
denjelben Arbeitzeit und mußte zu gut, daß er ba:
von nur noch jehr wenig vor fich habe. Doc empörte
audh ihn des Freiheren Verfahren gegen die jech®
greilen Männer; nur wollte er mit jeinem redlichen
Sinn die Sade im guten geichlichtet willen, weshalb
er von jeder Gewaltthätigleit abriet. Als er jeine
beihwichtigende Mahnung beendet hatte, war es einen
Augenblid fill. Dann riet aus der Menge eine
höhnifhe Stimme: „Natürlid! So kann nur ber
gnädige Herr Schwager unjeres ungnädigen Herrn
Barons reden!”
Elmer blidte fragend auf den Mann. Es war
einer von den Fürzlich Eingewanderten. Diejer lachte
ihm jpöttifch ins Geficht. Elmer jah die befreundeten
Genofjen an, bie in feiner Näbe ftanden. Sie jchlugen
IV. 8
107 Die neue Herrin.
‘vor jeinem forjhenden Blid die Augen nieder oder
wandten fi ab. Elmer faßte den nädjlten beim Arm
und führte ihn aus dem Gebränge abjeits. Dort
erfuhr er, wa8 alle mußten, nur er allein nidt:
Magdalena war Thurmbruds Geliebte. Elmer jagte
fein Wort, ließ den Erzähler ftehen und ging ohne
Abichied Heim. Mit gefeftetem, ruhigem Geficht betrat
er Magdalenas Kammer, mit entftellter, zerwühlter
Miene verlich er diefelbe und jchrilt geradeaus auf
Thurmbrude Villa zu. Den Diener, der ihn auf:
halten wollte, jchleuderte er beifeite.e. Dem Frei:
berrn, der jich überrajcht ummandte, fagte Elmer mit
unbeimliher Ruhe: „Herr Baron, Sie werden meine
Schweſter Magdalena heiraten!”
„Dhne weiteres?” fragte Ler auflahend. „Und
font haft Du feine anderen Schmerzen?”
„Herr Baron, Sie werden meine Schwelter
Magdalena heiraten!” wiederholte Elmer ınit ge:
ſpenſtiger Gelaſſenheit.
„Mein lieber Elmer, Du biſt ſehr jung. In
Deinem Kopfe ſpuken noch allerlei rührſelige dumme
Geſchichten herum, die Du in Leſebüchern und auf
Schönſchreibvorlagen geleſen haſt. Deine Schweſter
iſt ein netter Schatz — ich werde für ſie anſtändig
ſorgen, das iſt ſelbſtverſtändlich.“
„Herr Baron, Sie werden meine Schweſter
Magdalena heiraten!“ kam es abermals eintönig von
Elmers Lippen.
„Zu Euch ſoll man nie mit Worten reden,
ſondern immer mit der Reitpeitſche!“ ſchrie Lex voll
Zorn und ſtampfte heftig auf. Dann ſchleuderte er
einen Stuhl, der neben ihm ſtand, gegen die Wand,
verſetzte ſeinem Hund, welcher ihm gerade im Wege
lag, einen unbarmherzigen Fußtritt in die Rippen
und langte nach dem Glockenzug. Bevor er denſelben
jedoch erreicht hatte, faßte Elmers Hand ſeinen Arm.
Es war dieſelbe Hand, deren Muskelkraft gewohnt
war, vom Morgen bis zum Abend die Gläſer an das
Schleiftad zu preſſen. Wie eine eiſerne Schrauben—
klammer hielt ſie umſpannt, was ſie einmal ergriffen
hatte.
Kreidebleich, vor Wut knirſchend, mit halb er—
ſtickter Stimme ſtammelte Lex: „Das ſollſt Du mir
bezahlen! Und Dein huldreiches Schweſterlein mit,
das Dich angeſtiftet hat, das nichtswürdige, elende
Geſchöpf ...“
Da ſchnellte die eiſerne Schraubenklammer von
dem Arme ab und ſprang jäh an Thurmbrucks Kehle,
weitere Schmähungen erſtickend. Lex war ein Rieſe
an Größe und Stärke gegen Elmer, er war ein ge—
ſunder und mutiger Mann, er wehrte ſich, wie ſich
das blühende Leben gegen den Tod zur Wehr ſetzt.
Ein furchtbares Ringen folgte, ein entſetzliches Keuchen,
ein grauenhaftes Röcheln. Aber der Hals konnte die
Hand nicht abſchütteln, ſo ſehr er ſich drehte und
wand; ſie war es gewohnt, daß ſich unter ihr das
Schleiferrad noch viel heftiger in raſendem Kreiſen
regte. Zulegt lag der Freiherr auf dem Teppich hin:
geitredt, während Elmer vor ihm Tniete und mit den
zähen Fingern immer noch feinen Hals fefthielt.
Elmer hordhte. Das war nur noch fein eigener Atem,
welden er vernahm, und aus der Zimmerede das
Noman von Karl Erdbm. Eoler.
108
wehe Winjeln des Hundes, dem jein Herr vorhin
den Fuß in die Rippen geftoßen hatte. Elmer neigte
fih tiefer über den Liegenden und laufchte mwieber.
Aber der Freiherr war ganz fill geworben, er fymähte
nicht mehr auf Magdalena, er rödhelte nicht, er atmete
nit. Elmer ftand langlam auf, verbeugie fich ehr:
furhtsvol gegen den Xoten und fagte eintönig:
„Hert Baron, Sie werden meine Schweiter Magdalena
heiraten!” Hierauf ging er in bie Zimmerede, bob
den ftöhnenden Hund auf, nahm ihn unter den Arm
und jchritt ruhig heim. Dort öffnete er ein wenig
die Thüre zu Magdalenas Kammer, jchob ben nody
immer winjelnden Hund binein und fagte freundlid:
„Da haft Du Dein Hochzeitsgeichent!” Ehe fie auf:
ftand und zur Thüre fam, war er bereits hinter dem
Haufe verihwunden. Er geriet aus der unnatürlichen
Nuhe auf einmal in große Eile und ftürzte ber
Antoni:Slashütte zu. Zn dem Ofen, melden die
ausftändigen Arbeiter dajelbit in Stich gelafjen hatten,
glomm das Feuer nur no malt weiter, und darin
ftanden die Glashafen mit der nunmehr halbflüjfigen
Kryftallmaffe. Elmer riß die Thüren des Dfens auf
und fchleuderte mit jener ungeheueren Kraft und Be-
weglichkeit, wie fie nur der Wahnfinn verleiht, große
Holzjcheite hinein, bis e8 darin wieder hell aufbrannte.
Dann ftellte er fi dicht vor ein gebrecjeltes Guß-
modell und jagte eintönig: „Herr Baron, Sie werden
meine Schweiter Magdalena heiraten!” Als er jedod
feine Antwort erhielt, faßte er dasjelbe mit der
eilernen Klammerhand, preßte es wütend und warf
e8 unter die anderen Holzmodelle hin. Aber er riß
auch noch einen Feuerbrand aus dem offenen Dfen
und jchleuderte ihn wütend dem Modelle nad, und
jo einen zweiten, einen dritten, bis alles gedrechjelte
Holz mit den zur Feuerung aufgefhichteten Scheiten
in einer Flamme zujammenfchlug.
Der Abend war angebrochen. Die Arbeiterjugend
309 von der Kreuzheide jingend und joblend beim.
An der Spite und zu beiden Seiten des Zuges
trugen einige brennende Fackeln, welche fie joeben
jelbft im Walde aus harzigem Holze zugehauen hatten.
Diejelben waren nicht notwendig, denn e8 bämmerte
no; aber es jhien der grell fladernden Stimmung
der Menge befjer zu entiprehen, bei Fadelliht zu
marſchieren. Doh audh für folde ftimmungsvolle
- Beleuchtung erwiejen fih die Fadeln als überflüffig,
jobald fie um die Thalede bogen. Denn die ganze
große Antoni:Glashütte brannte wie eine ungeheuere
-Sadel bimmelwärts. Der Zug bielt einen Augenblid
im Gehen und Zärmen an und ftarrte in den Brand.
Da war es auf einmal, als leuchte der Flammen:
Ihein in die verwirrten trunfenen Köpfe hinein. Sie
hatten ftundenlang auf der Kreuzheide beraten, ge:
plant, geitritten, ohne zu einem feiten Entihluß zu
gelangen. Sett wußten fie in einem Augenblid genau,
was jie zu thun hatten. Das Feuer dort drüben
gab das Mufter her — fie braudten es ihm nur
nadhzuthun oder ihm auch bloß nadyzuhelfen, um alle
diefe verhaßten Arbeitzwinger dem Crbboden gleich
zu maden. Wie fie jo gierig in den giftig roten
Schein ftarrten, fteigerte fih die Trunfenheit zum
Wahnfinn, zur Tollheit. Mit einem weithin hallenden
109 Die neue Herrin.
Wutgejhhrei geriet die Dienge plöglich wieder in Be:
wegung. Allein dies war kein Gehen mehr, jondern
ein Stürmen. Der Wudht und Raferei dieler an-
pralenden Menſchenmaſſe hielt auch nichts mehr
fand. Die Lölhenden wurben verjagt, die Beamten,
welde die Xölcharbeiten leiteten, umringt und in ein
Amtshaus gedrängt, die Thüren desjelben verjperrt
und mit einer ftarfen Wache bejegt. Hierauf ftanden
fie und jahen dem Brande mit einer freubigen Neu:
gier zu, wie Kinder einem Feuerwerf. Einige padte
mitten in dem wirren Taumel ein faft lächerlicher
Ordnungstrieb, und fie bradten die Spriten und
lonftigen Löfchgeräte forglam in das Eprigenhaus.
Ein anderes Häuflein trennte fih und begann mit
Steinen nad) allen Fenfteriheiben zu werfen, wobei
fie wetteten, wer befler zielen könne. Die Fadelträger
des Zuges fühlten fi mit einer gewiflen Beihämung
völlig überflüjfig, deshalb marjchierten fie zur Theo-
bald-Glashütte und mühten fi), Ddiejelbe nach dem
Mufter der Antonihütte in Brand zu bringen. Es
gelang ihnen au, worüber fie unbändig ladten.
Danıı fam einer gelaufen und fagte: „Der Baron
it erihlagen.” Da ließen fie vom Feuer ab. Es
freute fie nicht mehr. Sie fahen, der Brand war
gar nicht das rehte Mufter gewejen. Diefes hatten
fie jeßt erft vor den Augen. Was nütte es, bie
Zwinger zu zerftören, wenn die PBeiniger blieben?
Bor allem diefer Teufel Würz und feine treuen Helfer
und Helfersbelfer? Diefe mußten dem Baron nad),
man wollte ihrer ledig fein für alle Ewigkeit, und
das fogleih! Allein weder Würz war in feinem
Haufe, noch fein Selretär, noch auch feine rechte Hand,
der Ober:Controleur. Aber man mußte fie finden.
Und fie fucdhten.
Auf Schloß Wartentron war an demielben
Nachmittag der junge Baron Mar Wildenihild zu
Gaſte. Er hatte in Oberlingen zu Mittag geipeiit
und mar jowohl von Gitta wie von Andreas mit
einem Auftrag für Schloß Martentron bedadjt worden,
an weldhem er auf dem Heimmwege nah Thurmbrud
vorüberritt. Dem Freiherrn Andreas, welchen Ulrich
die Obforge über Stall und Meute anvertraut halte,
lag daran, daß Wildenfchild beides einmal gründlich
anjehe. hm felbft mangelte es der Frühjahrebe:
ftelung wegen an Zeit, und Mar, der fonft gar
nichts verftand als Hunde: und Pferdezudt, Ichien
ihm ein verläßlider Erjfagmanı. Gittas Auftrag
dagegen war bloß eine praftiihe und geniale inte,
um ihren fünftigen Schwiegerlohpn Martina zur
näheren Kenntnisnahme aufzudrängen. Sie follte
fih einmal in der Nähe „das harmloje Material”
bejehen, aus dem fih Franzisfa „einen idealen Ehe-
mann Ineten” würde. Harmlos war er in der That
bis zur Lächerlichkeit, und auch wirklih bloß ein
Material, aus dem erft irgend etwas gefnetet werben
follte. Aber Martina begann bald zu zweifeln, daß fich
daraus jemals etwas Rechtes würde formen laflen.
Er redete ihr von Pferden, Hunden, Stroh, Heu
und Hundefutter vor, infpizierte dann unter großem
Gejchrei die genannten Tiere und Gegenftände zwei
Etunben lang in den Ställen und Höfen von Ober:
Wartentron, und fam endlich herauf, um abermals
Roman von Karl Erbm. Edler.
110
von diejen jelben Xieren und Gegenfländen mit
Martina zu reden.
Da erihien ein Bote mit der erften Schredens:
nahriht aus Unter-Wartenfron, und bald darauf
ein zweiter, der bdiejelbe ergänzte. Martina erhob
ih. Sie läutete und befahl, augenblidlih ihren
Magen einzuipannen.
Mar Wildenihild war bei der Schilderung der
Greuelfcenen auffallend bleich geworden. SJebt Iprang
er auf und verabjchiedete fih mit überflürzter Haft,
indem er ftammelte, er wolle lieber allein voraus:
reiten und nicht neben Martinas Wagen, obzwar
fie denjelben Weg hätten — man müfle unnötiges
Aufiehen vermeiden. Der große, ftarke, dide Men
Ichlotterte dabei vor Angft. Im Hinausgehen bradte
er auf der Schwelle do noch die Phrafe zu ftanbe:
„Ih bedaure nur, Gräfin, daß ich Ihnen in dieſer
fatalen Situation mit nichts bienlih fein kann.“
„Doch, Baron, Sie reiten auf dem Heimweg
an den Heibehöfen vorbei. Benadrichtigen Sie
Herrn von Hötvary! Ach bitte ihn, zu kommen —
Ichnell, gleid. Er findet mich in Unter-Wartenfron.
Aber Sie müßten rafh reiten — Jonft fchide ich
lieber einen von den Scloßleuten, obzwar vielleicht
jeder Mann bier oben von nöten jein Tann.”
„Ih werde rafch reiten,” flüfterte der große
Menih, job fich eilfertig hinaus und galoppierte
mit der verfprochenen Raſchheit aus dem Sinnenhof.
Einige Dinuten jpäter ftieg Martina in den
offenen Wagen. Dem Diener, welcher fi neben
den Kutfcher jegen mollte, befahl fie, daheim zu
bleiben, und rief Zahäus zu, fo Ihnell als möglich
zu fahren. Der alte Dann nidte, und die Pferde
raften thalmärts. Hinter ihm ließ nah Martinas
Auftrag der Schloßverwalter alle Thore der Schloß:
böfe abiperren und bielt die Leute zu etwaiger
Abwehr hinter dem äußeren Turme beifammen.
Als Zahäus den Wagen über die Brüde des
Fabritbahes donnern ließ, bot Unter-Wartenfron
ein fchredenerregendee Bild. Die weitgeftredten
Gebäude der Antoni: und Theobald:Glashütte lohten
in zwei ungeheuren Bränden zum Himmel auf;
dazwifchen ledten da und dort aus Häufern, Maga:
jinen, Arbeiterwohnungen, SHolzvorräten niedrigere
Flanımen empor. Sn das PBrafleln der Feuersbrunft
hallte wildes Gejchrei, aus dem fich zuweilen ein
Brülen emporwühlte, wie von einem Nudel
bungriger Naubtiere, da® vergebens nad) Beute
judt. Sie fudten aud alle und allerorten. Und
überall, wo fie Würz nicht fanden, ließen fie ihre
Enttäufhung blindwütig an ben Dingen aus, indem
fie alles zu Splittern und Feen auseinanderfchlugen.
Kerze, Lampe oder Span, womit fie in Verftede ge:
leuchtet, jchleuderten fie achtlos weg, jo daß bald
da, bald dort neue Flämmdhen aufzüngelten. Alles
war nur nodh ein gräßlides Gemildh von Feuer,
Raub, Gebrül, Herumtaumeln entmenfdhter Ge-
Ihöpfe. Aus diefem Brodem ftieg auf einmal ein
greller Freudenfchrei. Jmmer lauter, immer viel:
fimmiger ward das fchauerlide Saudzen. Würz
war gefunden. In dem äußerſten Pochwerk nächſt
der Brücke, welche nach dem Schloß Wartenkron
111 Die neue Herrin.
führt, hatte er fich hinter den großen Kiesfäflern
versteht. Das war höchft gelegen. Man brauchte
ih nit die Mühe zu nehmen, ihn weiter zu
f‘hleppen; er war bereit® an bem geeignetiten Tr.
Die Gewalt des Pochmwerkes, welde den sties Hein
ftampft, würde mit dem aufgedunjenen Fettllumpen
jpielend fertig werben. Unter allgemeinem Jubel
zerrten fie den halbtoten Mann dem Pocher zu,
weldher ihn jhon im nädften Augenblid zu einer
formlofen Mafle zerdrüden mußte.
Da bob fich plöglich aus der weiß beftäubten
Umgebung der Wände. und Kiesfäfler, wie ein jcharf
ausgeſchnittenes Schattenbild, eine jhwarze Frauen:
geftalt ab. „Die neue Gräfin!” murmelte aufblidend
der Borderfte an dem Bocher.
Halt!” fagte Martina. Sie überlegte nicht,
fie plante nichts, fie folgte dem inneren Antrieb und
ftellte fih fchügend vor Würz bin. Es war ein
furchtbares Wageflüd, und jelbft anzufehen erjchredend.
„Halt!“ wiederholte fie lauter, als die Außen:
ftehenden nadhdrängten, hielt das Haupt hochragend
über der mwütenden Menge und jah unverwandt in
die vermwilderten, entitellten, verzerrten Gelichter. Es
war fein Stolz in ihrem Blid nod aud Verachtung,
auch feine Furt und fein Jagen — nur mitleidige
Trauer. E& wurde ihnen weh bei diefem Blid. Sie
ftarrten auf die Hohe, ftile Geftalt, in das blafie
Antlig, in die Jchwermütigen Augen. So ftanden
fie und rührten fih nidt. Es war ganz fill ge:
worden.
„Und lafjet ab von ihm!” jagte fie in ruhigen,
feftem Ton.
Aber fie ftanden und wichen nicht. Im Hinter:
grunde murrten Ihon wieder einige, und plöglic
rief eine Jchrille Stimme: „Der Baron ift erichlagen.
Würz muß ihm nad! Erft der Herr, dann der
Diener!” — 8 war ein Schicljalsjchwerer Augenblid,
und er mußte fie mit binabreißen, wenn fie zagte
oder auch nur ratlos zögerte.e Schon erhob fidh
wieder die fchrille Stimme und rief unwirſch: „Unſer
Herr, der uns bis aufs Blut gequält bat, ift er:
Ihlagen, und . . .”
„And darum bin ich jegt Euer Herr,” feßte
Martina feine Rede fort, und plöglich überflog das
traurige, bleie Antlig jenes leife, Ihalkhafte Lächeln,
weldes fdhon einmal bei der eriten Begrüßung in
der Schloßhalle die Arbeiter Hingerifien hatte. „Und
da denfet hr wohl, auch ich werde Euch quälen?”
fragte fie weich.
Wenn fhon jenem Lächeln Tein Menfch miber:
ftehen fonnte, bei dem guten, jchlichten, herzlichen
Ton, mit dem fie diefe Frage in die Menge hinmwarf,
bob fih auf einmal ein tojender Lärm. „Nein,
nein!” vief e3 rings um fie und fehüttelte mit den
Köpfen und hob die Arme abmwehrend in bie Höhe.
„Rein, nein!“ jchrieen fie leibenjchaftlich weiter, be:
leidigt über diefe Zummutung, und wurben böfe auf
fie, daß fie jo etwas glaubte. Dazmwilchen aber rief
eine helle Stimme, welche bas dumpfe Gemwirr über:
tönte: „Qivat unjere neue Herrin!” — Und ber
Ruf ging weiter und hinaus.
Sie ftand und lächelte immer no. Dann jagte
Roman von Karl Erbm. Ebler.
112
fie: „Nun denn, fo laflet Würz frei und aud die
anderen! Nieniand von Euch glaubt, daß Eure neue
Herrin Euch peinigen wird. Glaubet Ihr etwa, fie
wird Eu) von anderen peinigen lafien? Würz ift
nicht mehr Euer Direltor — gebet Raum!” Indem
fie Würz, der faum aufrecht ftehen konnte, bei dem
Arme faßte, führte fie ihn hinaus, half ihm jelbit
in ihren Wagen und befahl Zadhäus, ihn rajch in
das Echloß hinaufzufahren. Dann jchritt fie auf
das Sprigenhaus zu, und die Menge mit ihr, endlos
rufend: „PBivat unjere neue Herrin!” Wie ein
Zauffeuer pflanzte fi der Huldigungsruf von einem
Ende des Drtes zum andern fort. Von allen Seiten
ftrömten die verlaufenen Häuflein herbei und wieder:
holten: „Vivat unfere neue Herrin!” Gie riffen
die Thore des Spritenhaufes vor ihrem Winte auf,
fie fpannten. fich jelbft vor die Sprigen, und jene,
die am lauteften gelärmt hatten, waren jeßt Die
eifrigften beim Löfchen. Ä
Dann kam Hetvary jamt feinen Kinechten mit
Sprigen und Löjheimern angefahren. Ein Ader:
Inecht, welcher um bie Thalede heimfehrte, hatte ihm
das Schhabenfeuer angezeigt. Er Fam nod zeitig
genug, um die ohnmädtige Magdalena Elmer aus
bem brennenden Häuschen zu retten. Es geichah
mit Lebensgefahr, indem er mit ihr durch das
flammenumzüngelte Fenjter binabjprang, während
das Dach zujammenbradh. Aber es glüdte. Bloß
fein Ichwarzer „Hunnenbart” und aud eine Seite
der Kopfhaare war dabei verbrannt. . SJnywilchen
raflelte auch die Schloßfprige von Oberlingen heran,
und ihr voran fprengte der Freiherr Andreas an
der Spite berittener bewaffneter Knete — ein
friegeriiher Haufe, der feinen Syeind mehr vorfand.
Wohl aber gab es bei den vereinzelten Branditätten
noch genügende Arbeit für ihn fowie für die Nachbarn,
die nad) und nad von allen Seiten mit Löjchgeräten
und Mannen herbeieilten.
Der Morgen dämmerte bereits, als „die neue
Herrin” beimfuhr. Sn den Wagen unterbradte fie
die betäubte Magdalena mit Hilfe des Doktor
Grilling, welder fi zu der Kranken fegte und fie
ftügend umfaßt hielt. Martina jelbft fette fich auf
den Kutihbod neben Zahäaus und fagte zu ihm:
„Sabre langfam, redht langfam — des armen
Mädchens wegen!”
Der Alte fab auf fie mit einem Blic! hin, wie
der verzüdte Beter fein Heiligenbild anjhaut. Weil
fih aber jein übervolles Gemüt irgendwie Luft maden
mußte, jo trat ihm unmilllürlich über die Lippen,
was er die ganze Nadhıt hindurch viele hundert Male
gehört hatte: „Wivat unfere neue Herrin!”
„Mein guter Alter!” fagte Martina gerührt.
Da begann Zahäus auf einmal zu Tchluchzen,
und große Thränen liefen in den tiefen Wangen-
furhen wie auf wohl eingebämmten Weglein hin.
Er fah weder Straße no Pferde mehr, und Mar:
tina erhajchte eben noch die Zügel, als fie zu Boden
gleiten wollten. Ungelentt jchritten die Pferde die
gewohnte Bergitraße hinan den erften Sonnenftrahlen
entgegen, die hinter dem Matthiasbau fchräg hervor:
braden. Aus der Waldestiefe tünte das Morgenlied
= — — — — — — — ⏑ Te
113
ber Amfel herauf, und die Blumengloden des Grab:
hauſes begleiteten e8 mit fachte verfchwebenden
Klängen. Neben Dlartina aber. weinte der weiß-
baarige Alte leife vor fih hin wie ein Meines Kind.
Es gehörte alles zu einander und. ftimmte rührend
zufammen — aber das Schönfte war do, was fie
oben zu hören befam, ber jauchzende Freudenruf ber
erwahenden Agnes: „Mama! Mama!”
XXI
Sin Oberlingen hatte man den Aufftand und
Brand von Unter-Wartentron durh Mar Wilden-
Ihilb erfahren. Derjelbe war mit Martinas Auf:
trag an Heträry bereitwillig den Wartenfroner Berg
binabgaloppiert. Als er jedoch das Feuer, den Lärm,
dus Stimmengewoge, bie dunklen Menichenhaufen er:
blidte, an denen er vorüber follte, um nad den
Heidehöfen zu gelangen, da befann er fih nidt
lange und peitichte fein Roß in der entgegengejebten
Richtung nad) Oberlingen. Dort berichtete er, vor
Schred noch ganz verftört, die Gefchehnijle.
„Und Sie haben Heträry nicht benadhrichtigt?”
fragte Gitta. „Sie haben es überhaupt zugelaflen,
daß die Gräfin binunterfährtt? Sie find nidt an-
ftatt ihrer mit den Hoffnechten binabgeritten, um
Ordnung zu jhaffen? Und wenn fhon — Eie find
nicht mit ihr gefahren oder neben ihr hergeritten?“
Wie Hiebe mit der Reitpeitihe jauften ihm Gittas
Worte um die Ohren. Dann mandte fie fih und
rief: „Andre!” Aber der Freiherr war bereits an
ber Thür, um binauszueilen. Sie ging ihm nad),
gab ihm einen herzlihen Kuß und fagte: „Du bift
mein lieber Mann! Bannerl, umarme den Papa
zum Abſchied! Ihm fällt von felber ein, mas
Menfchen: und Chriftenpflicht if. Ihm braudt man
nicht zu jagen, was ein Mann und Edelmann zu
thun bat, jelbft wenn es ihm ans Leben geht. Gute
Nacht, Baron Wildenſchild!“
In der trägen Maſſe, welche Wildenſchild ſein
Hirn nannte, begann doch etwas wie eine Ahnung
aufzudämmern, als ſei ihm ſoeben eine Art moraliſchen
Fußtrittes verſetzt worden. Franziska aber ging an
ihm vorüber wie an den „naſſen Greueln“ der Bade—
requiſiten, mit zurückgebeugtem Oberkörper, die Hände
auf dem Rücken, um jede Berührung zu vermeiden.
Einen Augenblick danach hörte man unten die
Donnerſtimme des Freiherrn Knechte und Pferde
aufſtürmen, und alsbald raſte der Oberlinger Hilfs—
ſchwarm zu Roß auf der Straße gegen Wartenkron.
Erſt ſpät am nächſten Morgen, als alle Arbeit gethan
war, kam der Freiherr heim. Aber er legte ſich nicht
ſchlafen, ſondern erzählte Gitta und Franziska eine
geſchlagene Stunde lang nur von Martina. „Dieſe
kleine Wartenkron!“ ſchloß er ſeinen feurigen Bericht.
„Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Das
iſt ein Weib wie kein zweites ... Dich ausge—
nommen!“
„Auch mich nicht ausgenommen, Andréè. Du
mußt immer etwas zu mäkeln haben, ich begreife
Dich nicht. —
Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler.
114
„Allo — weißt Du was, Bitta — jagen wir:
fie ift ein Mann wie fein zweiter. Sie hat es heute
bewiefen. Das madt ihr keiner von uns nad, Feiner!
Ich habe einen ungeheuren Reipelt vor ihr. Aber
ihr zunächlt kommt der Hetvary.” — Nun erzählte
er ausführlich, wie Hetvary das ohnmäctige Mädchen
dur die Flammen trug, und wie unmittelbar nad
feinem verwegenen Sprung burh das Fenfler das
Dachgebälk des Hauſes einſtürzte.
Franziska hörte bleich und zitternd zu. Dann
ging ſie in ihr Zimmer. Dort ſaß ſie eine Weile
mit gefalteten Händen. Später ſetzte ſie ſich an das
Klavier. Aber ſie ſpielte nichts Ungariſches. Es
war Beethovens Eroica.
Gitta ließ ſogleich einſpannen und fuhr nach
Wartenkron. „Du biſt ein tapferes Herz!“ rief ſie,
Martina leidenſchaftlich umarmend. „Noch unſere
Kindeskinder werden von Dir erzählen und ſtolz auf
Di fein — wir find es alle: Andre, Fannerl, id)
— nebenbei, Du bift mir auch in anderem über.
Ich habe Dir geftern ben Mar zugeihidt, damit
Du Dir ihn anfiehlt. Er ift dann zurüdgelommen,
bei welcher Gelegenheit ih mir ihn genauer als bis:
ber befiytigt babe. Du haft redt. Das ilt kein
Mann für Fannerl. Das ift überhaupt fein Mann.
Das ift eine Vogelſcheuche.“
„Ih wüßte einen Erſatz,“ jagte Martina.
„Hetea’y? Andre behauptet, er: fei wie ein
Salamander im Feuer berumfpaziert. Au ein
Mädchen hat er mit Lebensgefahr gerettet. Eigent-
fih Handelt er troß feines Hunnentums doc wie
ein braver germanifdher Chriftenmenih. Ach glaube,
es wäre praftifh, ihn bei folder Ummandlung zu
ermutigen, auch follte man feine wadere Rettung®:
that irgendwie belohnen — ich denke, Fannerl taugt
eigentlich ausnehmend gut für diefe beiden Ymede...
aber Martina, liebes’ Herz, Du erdrüdft mich ja mit
Deiner Umarmung! Und weinen? Weinen wie ein
Kind, Du, die Heldin, die Bezwingerin diejer
mwütenben Arbeiterhorde? Ach glaube, Du haft mein
Fannerl lieber als Dich jelbfi. Überhaupt haft Du
alle Menfchen lieber als Dich jelbft. Darum hängen
fie au an Dir wie die Zecen, jelbit wenn fie in
der tolliten Rebellion find. Und was den Heträry
betrifft, jieht Du, To habe ih im Innerften immer
eine gemiffe Schwähe für ihn gehabt. Aber eine
unerläßlide Bedingung fee ih, und Du mußt mir
im vorbinein veriprehen, Dih daran zu balten.
Alfo gut, ich babe Dein Wort. Andre jowie alle
Nachbarn werden Dir in diejer erften Verwirrung
helfen, jelbft wenn fie daheim alles jtehen und liegen
laffen müßten — eritens weil es Nädhftenpflicht if,
zweitens weit fie Dich nach ber heutigen Schredens:
naht insgefamt vergöttern werden, wie es Andre
jegt Schon thut. Wer Dir jedoch am beiten helfen
fann, ilt Hetvary. Du braudit ihn jeßt wie das
täglihe Brot. Darum darf er nichts davon er:
fahren, daß ih ihm mein Fannerl geben will. Er
ol nicht zerftreut nad Bergißmeinnicht herumjuchen,
er fol Feine Hunnenritte nach Oberlingen maden,
er fol nicht ftundenlang vor Fannerl Süßholz
rafpeln — er jol an nichts anderes benfen als an
111 Die neue Herrin.
führt, hatte er fich Hinter ben großen Kiesfällern
verftedt. Das war hödjit gelegen. Man braudte
ih nit die Mühe zu nehmen, ihn weiter zu
fhleppen; er war bereit an bem geeignetiten Urt.
Die Gewalt des Pochmerkes, welche ben Nies Mein
ftampft, würde mit dem aufgebunjenen Fettflumpen
jpielend fertig werben. Unter allgemeinem Jubel
zerrten fie den balbtoten Mann dem Pocher zu,
welder ihn jhon im nädjiten Augenblid zu einer
formlofen Mafle zerbrüden mußte.
Da bob fich plößli aus der weiß bejtäubten
Umgebung der Wände. und Kiesfäller, wie ein jcharf
ausgefchnittenes Schattenbild, eine fchwarze Frauen:
geftalt ab. „Die neue Gräfin!” murmelte aufblidend
der Vorderfie an dem Bocher.
„Halt!“ fagte Martina. Sie überlegte nidt,
fie plante nichts, fie folgte bem inneren Antrieb und
ftellte fih fchügend vor Würz bin. Es war ein
furchtbares Wageflüd, und felbft anzujehen erjchredend.
„Halt!“ wiederholte fie lauter, als die Außen-
ftehenden nachbrängten, hielt das Haupt hochragend
über der wütenden Menge und jah unverwandt in
bie vermwilberten, entftellten, verzerrten Gelichter. €
war fein Stolz in ihrem Blid nod auch Veradjtung,
aud feine Furt und fein Jagen — nur mitleidige
Trauer. E& murde ihnen meh bei dielem Blid. Sie
ftarrten auf die hohe, ftille Geftalt, in das blafie
Antlig, in die jhwermütigen Augen. So ftanden
fie und rührten fih nidt. Es war ganz till ge:
worden.
„Und laflet ab von ihm!” jagte fie in rubigem,
feſtem Ton.
Aber fie ftanden und wichen nit. Im Hinter:
grunde murrten Shon wieder einige, und plößlic
rief eine fohrille Stimme: „Der Baron ift erjchlagen.
Würz muß ihm nad! Erft der Herr, dann ber
Diener!” — E38 war ein Schicjalsjchwerer Augenblid,
und er mußte fie mit binabreißen, wenn fie zagte
oder au nur ratlos zögerte. Schon erhob fidh
wieder die fehrille Stimme und rief unwirſch: „Unſer
Herr, der uns bis aufs Blut gequält bat, ift er:
Ihlagen, und . . .”
„And darum bin id jet Euer Herr,” Tebte
Martina feine Rede fort, und plöglich überflog das
traurige, bleihe Antlig jenes leiſe, ſchalkhafte Lächeln,
welhes jhon einmal bei der eriten Begrüßung in
der Schloßhalle die Arbeiter bingerifjen hatte. „Und
da denfet Ihr wohl, auch ich werde Euch quälen?”
fragte fie mweid.
Menn Ihon jenem Lächeln fein Menich wider:
ftehen konnte, bei dem guten, jchlichten, herzlichen
Ton, mit dem fie diefe Frage in die Menge hinwarf,
bob fih auf einmal ein tojender Lärm. „Nein,
nein!” rief e8 rings um fie und jchüttelte mit den
Köpfen und bob die Arme abmwehrend in die Höhe.
„Nein, nein!” jchrieen fie leidenfchaftlich weiter, be:
leidigt über diefe Zumutung, und wurden böje auf
fie, daß fie jo etwas glaubte. Dazmwilhen aber rief
eine helle Stimme, welche das dumpfe Gemirr über:
tönte: „Bivat unfjere neue Herrin!” — Und der
Nuf ging weiter und hinaus.
Sie ftand und lächelte immer nod. Dann fagte
Roman von Karl Erdm. Edler.
fie: „Nun denn, fo laffet Würz frei und auch die
anderen! Niemand von Euch glaubt, daß Eure neue
Herrin Euch peinigen wird. Glaubet Yhr etwa, fie
wirb Euch von anderen peinigen lafjen? Würz ift
nit mehr Euer Direltor — gebet Raum!” Indem
fie Würz, der faum aufrecht ftehen konnte, bei dem
Arme faßte, führte fie ihn hinaus, Half ihm felbft
in ihren Wagen und befahl Zadhäus, ihn rajch in
das Schloß hinaufzufahren. Dann fchritt fie auf
das Sprigenhaus zu, und die Menge mit ihr, endlos
rufend: „Vivat unfere neue Herrin!” Wie ein
Zauffeuer pflanzte fich der Huldigungsruf von einem
Ende des Drtes zum andern fort. Bon allen Seiten
ftrömten die verlaufenen Häuflein herbei und wieder:
holten: „Vivat unfere neue Herrin!” Sie rifjen
die Thore des Spritenhaufes vor ihrem Winte auf,
fie fpannten. fich jelbft vor die Sprigen, und jene,
die am lauteften gelärmt hatten, waren jegt die
eifrigften beim Löjchen. |
Dann fam Hetvary famt feinen Knedhten mit
Sprigen und Löfcheimern angefahren. Ein Ader-
Inecht, weldher um bie Thalede heimfehrte, hatte ihm
das Schabenfeuer angezeigt. Er fam noch zeitig
genug, um die ohnmädtige Magdalena Elmer aus
dem brennenden Häuschen zu retten. Es geichah
mit Lebensgefahr, indem er mit ihr durch Das
flammenumzüngelte Fenfter binabjprang, während
das Dah zufammenbrad. Aber es glüdte. Bloß
fein jchmwarzer „Hunnenbart” und aud eine Seite
der Kopfhaare war dabei verbrannt. . Sinzwilchen
rafjelte au die Schloßiprige von Oberlingen heran,
und ihr voran Iprengte der Freiherr Andreas an
der Spite berittener bemwaffneter Knete — ein
friegeriiher Haufe, der einen Seind mehr vorfand.
Wohl aber gab es bei den vereinzelten Brandftätten
noch genügende Arbeit für ihn jowie für die Nachbarn,
die nad) und nad von allen Seiten mit Rölchgeräten
und Mannen berbeieilten.
Der Morgen dämmerte bereits, als „die neue
Herrin” beimfuhr. In den Wagen unterbradte fie
die betäubte Magdalena mit Hilfe des Doktor
Grilling, welder fi zu ber Kranken feßte und fie
ftügend umfaßt hielt. Martina jelbft fette fih auf
den Kutihbod neben Yahäus und fagte zu ihm:
„Fahre langlam, redht langlam — des armen
Mädchens wegen!”
Der Alte jah auf fie mit einem Blid Hin, wie
der verzüdte Beter fein Heiligenbild anjhaut. Weil
fih aber jein übervolles Gemüt irgendwie Luft machen
mußte, jo trat ihm unmwillfürlih über die Lippen,
was er die ganze Nacht hindurch viele hundert Male
gehört hatte: „QWivat unfere neue Herrin!”
„Mein guter Alter!” jagte Martina gerührt.
Da begann Zahäus auf einmal zu Ihluchzen,
und große Thränen liefen in den tiefen Wangen-
furden wie auf wohl eingedämmten Weglein bin.
Er jahb weder Straße noch Pferde mehr, und Mar:
tina erhajcdhte eben noch die Zügel, als fie zu Boden
gleiten wollten. Ungelenkt jchritten die Pferde die
gewohnte Bergitraße hinan den erften Sonnenftrahlen
entgegen, die hinter dem Matthiasbau Tchräg hervor:
braden. Aus der Waldestiefe tönte das Morgenlied
113
ber Amfel herauf, und die Blumengloden des Grab:
baufes begleiteten es mit jachte verfchwebenden
Klängen. Neben Martina aber meinte ber weiß-
baarige Alte leife vor fih hin wie ein Heines Kind.
Es gehörte alles zu einander und, ftimmte rührend
zulammen — aber das Schönfte war do, was fie
oben zu hören befam, der jauchzende Freudenruf ber
erwachenden Agnes: „Mama! Mama!”
XXI.
In Oberlingen hatte man den Aufſtand und
Brand von Unter-Wartenkron durch Max Wilden—
ſchild erfahren. Derſelbe war mit Martinas Auf—
trag an Hétraäry bereitwillig den Wartenkroner Berg
hinabgaloppiert. Als er jedoch das Feuer, den Lärm,
dus Stimmengewoge, die dunklen Menſchenhaufen er⸗
blickte, an denen er vorüber ſollte, um nach den
Heidehöfen zu gelangen, da beſann er ſich nicht
lange und peitſchte ſein Roß in der entgegengeſetzten
Richtung nach Oberlingen. Dort berichtete er, vor
Schreck noch ganz verſtört, die Geſchehniſſe.
„Und Sie haben Hétväry nicht benachrichtigt?“
fragte Gitta. „Sie haben es überhaupt zugelaſſen,
daß die Gräfin hinunterfährt? Sie ſind nicht an—
ſtatt ihrer mit den Hofknechten hinabgeritten, um
Ordnung zu ſchaffen? Und wenn ſchon — Sie ſind
nicht mit ihr gefahren oder neben ihr hergeritten?“
Wie Hiebe mit der Reitpeitſche ſauſten ihm Gittas
Worte um die Ohren. Dann wandte ſie ſich und
rief: „André!“ Aber der Freiherr war bereits an
der Thür, um hinauszueilen. Sie ging ihm nach,
gab ihm einen herzlichen Kuß und ſagte: „Du biſt
mein lieber Mann! Fannerl, umarme den Papa
zum Abſchied! Ihm fällt von ſelber ein, was
Menſchen- und Chriſtenpflicht iſt. Ihm braucht man
nicht zu ſagen, was ein Mann und Edelmann zu
thun hat, ſelbſt wenn es ihm ans Leben geht. Gute
Nacht, Baron Wildenſchild!“
In der trägen Maſſe, welche Wildenſchild ſein
Hirn nannte, begann doch etwas wie eine Ahnung
aufzudämmern, als ſei ihm ſoeben eine Art moraliſchen
Fußtrittes verſetzt worden. Franziska aber ging an
ihm vorüber wie an den „naſſen Greueln“ der Bade—
requiſiten, mit zurückgebeugtem Oberkörper, die Hände
auf dem Rücken, um jede Berührung zu vermeiden.
Einen Augenblick danach hörte man unten die
Donnerſtimme des Freiherrn Knechte und Pferde
aufſtürmen, und alsbald raſte der Oberlinger Hilfs—
ſchwarm zu Roß auf der Straße gegen Wartenkron.
Erſt ſpät am nächſten Morgen, als alle Arbeit gethan
war, kam der Freiherr heim. Aber er legte ſich nicht
ſchlafen, ſondern erzählte Gitta und Franziska eine
geſchlagene Stunde lang nur von Martina. „Dieſe
kleine Wartenkron!“ ſchloß er ſeinen feurigen Bericht.
„Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Das
iſt ein Weib wie kein zweites ... Dich ausge—
nommen!“
„Auch mich nicht ausgenommen, Andréè Du
mußt immer etwas zu mäkeln haben, ich begreife
Dich nicht. —
Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler.
114
„Allo — weißt Du mas, Gitta — jagen wir:
fie ift ein Mann wie kein zweiter. Sie hat es heute
bewiejen. Das madt ihr feiner von uns nach, feiner!
xh habe einen ungeheuren Refpelt vor ihr. Aber
ihr zunähft kommt der Hetvary.” — Nun erzählte
er ausführlich, wie Hetvary das ohnmädtige Mädchen
dur) die Flammen trug, und wie unmittelbar nad
feinem vermwegenen Sprung dur das Fenfter das
Dachgebälk des Haufes einftürzte.
Sranzista hörte bleih und zitternd zu. Dann
ging fie in ihr Zimmer. Dort faß fie eine Weile
mit gefalteten Händen. Später fette fie fih an das
Klavier. Aber fie fpielte nichts Ungariihes. €8
war Beethovens Eroica.
GSitta ließ jogleih einipannen und fuhr nad
Wartenfron. „Du bift ein tapferes Herz!” rief fte,
Martina leidenfchaftlid umarmend. „Noch unjere
Kindestinder werden von Dir erzählen und ftolz auf
Di fein — mir find es alle: Andre, Fannerl, id
— nebenbei, Du bift mir auch in anderem über.
%h babe Dir geftern den Mar zugeihidt, damit
Du Dir ihn anfiehft. Er ift dann zurüdgelommen,
bei welcher Gelegenheit ich mir ihn genauer als bis:
ber befichtigt habe. Du haft redt. Das ilt fein
Monn für Fannerl. Das ift überhaupt fein Mann.
Das ift eine Vogeliheuche.”
„Ih wüßte einen Erjag,” jagte Martina.
„Hétväry? Andre behauptet, er: fei wie ein
Salamander im euer berumfpaziert. Au ein
Mädchen hat er mit Lebensgefahr gerettet. Eigent-
lid handelt er troß feines Qunnentums doch wie
ein braver germanifcher Chriftenmenih. ch glaube,
e8 wäre praltiih, ihn bei folder Umwandlung zu
ermutigen, auch jollte man feine wadere Rettungs:
that irgendwie belohnen — ich denke, Sannerl taugt
eigentlich ausnehmend gut für dieje beiden Ywede...
aber Martina, liebes’ Herz, Du erdrüdit mid) ja mit
Deiner Umarmung! Und weinen? Weinen wie ein
Kind, Du, die Heldin, die Bezwingerin dieler
wütenben Arbeiterhorde? Ach glaube, Du haft mein
Fannerl lieber als Dich jelbft. Überhaupt haft Du
ale Menichen lieber als Dich felbfi. Darum hängen
fie au an Dir wie die Zeden, jelbft wenn fie in
der tollften Rebellion find. Und was den Hetrary
betrifft, fiehft Du, fo habe ich im Snnerften immer
eine gemiffe Schwäche für ihn gehabt. Aber eine
unerläßliche Bedingung fjege ih, und Du mußt mir
im vorbinein veripreden, Dih daran zu halten.
Alfo gut, ich habe Dein Wort. Andre fowie alle
Nahbarn werden Dir in diefer erjten Verwirrung
helfen, jelbft wenn fie daheim alles jtehen und liegen
laffen müßten — erftens weil es Nädhltenpfliht if,
zweitens weit fie Dich nach der heutigen Schreden®:
naht inegefamt vergöttern werben, wie e8 Andre
jegt Ichon thut. Wer Dir jedoh am beiten helfen
fann, ift Hetvary. Du braudft ihn jeßt wie das
täglihe Brot. Darum darf er nichts davon er:
fahren, daß ich ihm mein $annerl geben will. Er
Sol nicht zerftreut nach Vergißmeinnicht herumfudhen,
er Soll feine Hunnenritte nad Oberlingen machen,
er fol nicht ftundenlang vor Fannerl Süphol;
rafpeln — cr fol an nichts anderes denten als an
rn nn nn EEE nenn
115 Die neue Herrin.
Wartenkron. Du baft mir im vorhinein Dein Ver:
prehen gegeben — binterdrein hätte ih e& Dir
doh nicht abzwingen können, ich weiß. Aljo ich be:
dinge mir: fein Wort davon zu ihm, nod aud zu
ihr! Sobald einmal Ulrih bheimgelehrt und alles
wieder im Gang ift, dann erit Ichide mir Dielen
braunen lieben ungen herüber, und lafje mich wifjen:
der Mohr bat feine Arbeit getdan, der Mohr fanıı
geben. Und nun Ichlafe Dih tüdhtig aus — Du
baft es Dir verdient, meine Heldin, mein liebes,
liebes Kind!” —
Aber Martina jchlief fih nicht aus. Denn kurz
nah Gittas Abfahrt Fam Hetvary. Sie erkannte
ihn faum. Da ihm das Feuer den Bart und teil:
weile aud) die Kopfhaare veriengt hatte, fam er glatt
rafiert und kurz gejchoren. Über die Schläfe lief bis
zur Wange herab ein Pflafter, das ihm Grilling an-
geheftet hatte, der linke Arm rubte verbunden in
einer Chlinge. Martina fagte ihm feine lob-
preilenden Worte, fie drüdte ihm nur herzlich die
gejunde redte Hand. Schliht, wie er ihr eine
Hilfe ohne Worte als etwas Selbftverftändliches ent-
gegenbradte, nahm fie dielelbe von dem treuen
Freunde an. Es murden jogleich die dringendften
Vorkehrungen vereinbart und ein Plan für die
nächſte Zukunft feitgefeßt. Dann jchloß Hetväry
die Beratung in jeiner entichiedenen Weile mit
den Worten: „Set will ich die beiden “Briefe
in Shrem Sinne fchreiben. Sie aber, Gräfin,
müſſen Ichlafen!” Darauf ritt er nah Unter:
Wartenktron, wo er fid in der Direktionskanzlei ein
Teldbett und einen Schreibtiih aufftellen ließ. Nad-
dem er fich fo häuslich angefiedelt hatte, jchrieb er
die zwei Briefe. In dem erften beauftragte er
Martina Rechtsanwalt, ohne Verzug einen Teil
des Leilenahhichen Erbes flüjfig zu madhen und an die
Gräfin Wartenfron zu fchiden, ber zweite war an
den Grafen Wartenfron gerichtet.
Ulrih Hatte kurze kühle Briefe zuerft aus Ober:
Sstalien, dann aus Rom, aus Neapel, aus Sizilien
gejchrieben. Plöglih war er wieder in Genua, um
ih für Amerifa einzuihiffen, weil die alten Eltern
erkrankt feien. Er jchrieb, er werde der Freiin Die
Nachricht bringen, Thomafine jei außer ftande, an
ihr Krankenlager zu eilen, da fie felbft dur ein
Leiden feitgehalten werde. Um die alte Zrau nicht
zu erjchreden, dürfe bloß ein unbebenkliches Leiden
sum Vorwand gewählt werden — er werde alfo
lagen: eine Sehnenzerreißung am Fuße. Schließlich
bat er Martina, gleihfalle in bdiefem Sinne zu
Ihreiben, daß fie an die Chaifelongue gefeflelt jei
und ihr Fuß in einem PVerbande feitliege. Dies
hatte Martina gethan. Jetzt gab Heträry in einem
geihäftliden Schreiben an WUlrih eine gebrängte
Darftellung der Ereignilfe und der zunädlt ge:
troffenen Maßregeln. Hierauf fam als Antwort
ein Kabeltelegramm mit der Gutheißung des Ge:
thanen und der Nadhriht von einer Berfchlimmerung
im Zuftand der beiden Kranfen, die er nicht ver:
laſſen könne. Dasfelbe meldete ein jpäterer Brief
in ausführlicher Weife und jchloß mit der Bitte, alles
Nötige mit unbejchräntter Vollmacht zu verfügen.
Roman von Karl Erbm. Ebler.
116
Heträry berief einen ihm perjönlich befannten
tüchtigen Direktor für die Glasfabrifen. Die Leitung
der Landwirtichaft übertrug er einem Unterbeamten,
der wegen feiner Umfiht und Ehrlichkeit bisher ab-
wegs gehalten und zu unmwejentlider Dienjtleiftung
verwendet worden war. Überhaupt waren gerade
die niederen Stellen zumeift mit brauchbaren, red:
lihen Männern bejegt, und KHetvary bedeutete
Martina, „daß viel Korn unbeadhtet unter dent
Stroh gelegen hatte.” Was fi von dem Beamten:
förper als unverläßlich erwies, erjegten die neuen
Direktoren mit bejjeren Männern. Dabei überbot
ih die Nahbarihaft in Welteifer, der tapferen
Gräfin Wartentron mit Rat und That, mit Anbot
von Menfhen und Dingen beizuftehen, und in den
älteften Herren erwachte ein ritterlicher Geift, fo daß
fie fih der jungen Frau für jeden MWunjdh zur Ver:
fügung ftellten.
Die neuen Beamten ginnen vorerft an bie
Mufterung der Bücher und Kallen. Xer hatte Fein
feftes Gehalt bezogen, jondern die Kaflen ftanden zu
feiner uneingefchräntten Dispofition. „Du bift mein
Kompagnon,” hatte ihm Wlrich bei Jeiner Beftallung
gejagt, „Deine Einlage ift Deine mühevolle Arbeit.”
Sett ftellte es fich heraus, daß Xer in jene franl-
bafte Vergeudungsmanie zurücgefallen war, welche
er vom Vater geerbt, und durch die er den Familien:
befig überjchuldet hatte. Er pflegte von Zeit zu
Zeit mit vollen Händen aus den Kafjen zu jchöpfen
und in die Refidenz zu reifen. Dort verfehwanden die
mitgenommenen Summen binter den Balletcouliflen,
auf dem Nennplaß, zumeift jedoh am Spieltiich mit
einer unglaublichen Leichtigkeit. Die größten Beträge
waren für ihn bloß ein flüchtiger Belig, welchen er an
einem Abend, im beiten Falle binnen wenigen Tagen
losihlug. Zu Haufe fträubte fich fein hochfahrendes
Blut dagegen, wie ein Bankbedientefter fiir die rich:
tige Einfaffierung der Gelder zu jorgen. Würz und
Maltdörfer waren dazu bier, die Kaflen zu füllen,
und zwar möglichlt ausgiebig und zum gemwünfcten
Zeitpunkt. Dafür jah er ihnen nicht auf die Finger,
wieviel beim Einlegen an denfelben Tleben geblieben
war; ebenjo hatten fie die unbewadhte Nachleie,
wenn er fi jeinen Bedarf vorweg genommen hatte.
Sie waren ihm, er ihnen dienlih, und fie jelbft
wieder bis zu einem gemwillen Grade den nädhjiten
Dberbeamten. Die Unterbeamten blieben als Une
eingeweihte von dem Bunde ausgejhlofen, und die
Arbeiter trugen die Koften davon. Ober-Wartenfron
erhielt der Form halber einige lächerliche Reſte der
Einnahmen, lebte von feinen anderweitigen Renten,
und befam beim Büderabihluß unabänderlich die
Phrafe zu hören: „Es it eben Heuer wieder ein
ſchlechtes Jahr geweſen.“
Mit Schauder blickte Martina in dieſe ſchmach—
vollen Verhältniſſe, welche ihr Hétväry darlegte,
nachdem er dieſelben durch Sachverſtändige hatte
klarſtellen laſſen. Und wie viel blieb noch übrig,
was ſich nicht ziffermäßig als Unterſchleif nachweiſen
ließ, aber doch keine helle Beleuchtung vertrug!
Leichtſinn an der Spitze, Veruntreuung oben, Aus:
ſaugung unten! Der Betrug der Oberbeamten um—
117 Die neue Herrin.
faßte nachweisbar fo bedeutende Summen, daß bie
Sadverjtändigen ein gerichtliches Einjchreiten befür-
worteten. Als Hetvary dies Martina mitteilte, ent:
Ihied fie: „Nein. Wenn der Ridhter die Fäden un:
verwirrt in feiner Hand behalten will, welche fi
durch diefe Ihlammigen winkligen Schleihpfade fort:
i&längeln, jo muß er fie alle an er anknüpfen.
2er aber ift ohne Schuld, weil er über die Ein:
gänge frei verfügen burjte und ein Recht hatte, zu
thbun, wie er that. Wenn er dies Recht weiter aus:
nügte, als ein anderer gethan hätte, jo hat er dafür
eine Entjhuldigung: es war eine ererbte Krankheit.
Der Gerichtshof kann ihm nichts anhaben, wohl
aber könnten ihm SSernerftehende eine Schuld bei:
mefien. Ih will nicht, daß der Name Thurmbrud
in Berhandlungen und öffentliden Berichten herum:
gezerrt werde. Auf Thomafinens Bruder fol kein
Makel fallen — er verdient ıhn auch in diefer Sache
nit. Und die ihn verdienen, jollen e8 dem Toten
danten, daß fie einem gerechten Gerichte entgehen.” —
Aber die ehrlihe Entrüftung, welde Martina auf
die Ehhuldigen hinabbligte, die ächtenden Worte, mit
denen fie aus dem Amte gefegt wurden, waren auch
ein Geridt.
Nun, da Unterjhleif und Mikbraucdh befeitigt
waren, galt es, die ganze Verwaltung meu zu
Ihaffen. Es war eine fchwere Zeit für Martina.
Eine verhängnisvolle Stunde hatte fie dazu aufge:
rufen, das flille Leben des Meibes mit dem
Drängen, Stoßen und Ringen des Männerwerfes
zu vertaufhen. Die Notwendigkeit hob die Tüchtig-
feit ihres Wejens mie eine edle getriebene Arbeit
aus der Fläche hervor, und im Bemwußtjein der Ber:
antmwortlichleit wuchs ihre Thatkraft zu bewunderns:
werter Höfe. Sie Hatte den unerjchütterlichen
Glauben, daß fie alle die Arbeitslaft zu einem
glüdlihen Ende führen werde, und darum brachte
fie e8 zu Stande. In dem harten Boden ihrer
arbeitfamen, aufopferungsvollen Sugend lagen bie
Wurzeln folder unermüdlichen Energie, der Wiß-
begierde, die jelbit jehen und hören will, des un:
trügliden Snflinktes, der errät, wo Auge und Ohr
verfagen. Sie ging zu den Mrbeitern in ihre
Häufer, in die Magazine, auf die Felder, um mit
eigenen Augen zu fehen, welde Übertretungsfünden,
welche Unterlafjungsfünden an ihnen gut zu maden
waren. Sie lernte die Menihen, ihre Berhältnifie,
ihre Bebürfniffe fennen. Die Arbeiter fühlten, daß
die Augen der neuen Herrin nicht in müßiger Neu:
gier auf ihnen ruhten, fondern mit herzlicher Wärme,
mit jener fchwefterlihen Teilnahme, die fich felbft
einen Teil des großen Meltleives tapfer auf:
bürdet, auf daß es die Schwächeren nicht erbrüde.
Wo fie als Geberin fam, da rührte mehr noch als
das Gejchen? die Art, wie fie e8 ihnen reichte. Man
ah ihr die helle Freude des Schenfens an, und ba-
bei erichien es ihr jo felbftverfländlih, daß fie bie
Gabe jtill Hinlegte oder oft auch ganz unbemerft
das Verbraudte mit dem Neuen vertaufchte. Wie
fie mit ihren guten, ehrlichen Bliden den Beamten
und Arbeitern gerade in die Augen fchaute, jo fagte
fie ihnen auch ihre ehrlide Meinung geradeaus. !
Roman von Karl Erdm. Ebler.
118
Wo fie jelbft eingriff, that fie es einfach, uhne da:
mit wichtig zu thun. Dabei bildete fie zugleich ein
beilfames Gegengewicht zu den weit ausgreifenden
Mapregeln Heträrys, der mit feinen PBußtaaugen
in große Horizonte zu jchauen gewohnt war und
deshalb zuweilen überjah, was zu feinen Füßen lag.
So fam es, daß feine Fehlgriffe geihaben, und daß
jedermann der neuen Herrin recht gab. Aber mehr
noch als der Berftand thaten Gemüt und Stimmung
dazu. Daß fie bei allem ihr Herz zu Rate 309,
welches jelbit im ſtürmiſchen Wellengang geprüft
worden war, daß fie den Zuftrom ihrer Gedanken
an diefem Herzen erwärmte, bevor fie denfelben in
Wort oder That umfehte — darin lag das eigent:
liche Geheimnis der Macht, melde die neue Herrin -
ausübte. Das Vertrauen wudhs zu einer tiefen
Zuverficht, die fih oft in wahrhaft rührender Weile
äußerte.
Für ausgiebige Arbeit hatte die neue Herrin
gleid am erften Tage nad dem Aufftande gejorgt.
Die Antoni: und die Theobald:Glashütte waren
vollftändig niedergebrannt ; ebenjo eine Tleinere
Sdleifmühle, zwei Beamtenhäufer, mehrere Maga-
zine, eine ganze Reihe Arbeiterhäufer und endlich
große Holzuvorräte. Es ftand noch eine dritte Glas:
fabrif, die fogenannte „alte Hütte”. Sie wurbe
den älteften Meiftern zur Verfügung geftelt, und
diefe begannen dafelbft jchon am nädjlten Tage: das
Einlegen in den Dfen. Die Thätigleit in ber
großen Scleiferei, am Glasmalerofen, in der
Dredslerei ging ungeflört weiter. Die Arbeitslojen
wurden zum Abräumen des Schuttes gerufen. Sie
fanden beim erften Vorbringen unter den Brand:
trümmern der Antonihütte den halbverfohlten LXeich-
nam Elmers. Zunädhjft gingen fie daran, den Schutt
der beiden Fabrilen zu bejeitigen, um vorerjt wieder
Arbeitftätten für die Glasarbeiter zu jchaffen. Alle
unbeichäftigten älteren Hände, das vereinte junge
Volk griff raftlos zu, ale Wagen und Pferde waren
in Thätigkeit. Wenige Tage danadh kamen Maurer
und Zimmerleute, und abermals griffen alle Hände
zu, um Stein und Holz berbeizufchleppen. Zuletzt
erfhienen fremde Dfenbauer und errichteten neu:
artige Gasöfen. So ftanden durd allfeitiges ange:
ftrengtes Mühen jomwie durch den Zauber des Geldes,
das man nicht zu jparen brauchte, in unglaublich
furzer Zeit die Antoni: und die Theobald-Glashütte
an den alten Stätten. Martina wurde gebeten, fie
einzumeihen. Als fie die Antonihütte betrat, riefen
alle: - „Wivat unfere neue Herrin!” und die alten
Meifter um/pannen fie nach hergebradter Sitte mit
Blastäden im Kreife. Nach bergebradter Sitte follte
fie ih nun aus folder Haft Iosfaufen. Das üb-
lide XLöjegeld befteht in einem guten Trunk für
Meifter, Gehilfen und Zuträger.
Martina ftand lächelnd inmitten der Glasfäden
und jagte zu den alten Meiftern: „Wie Yhr mid)
da umftridt habt, daß ih müßig anhalten muß, jo
umftridt Euch alle das Alter. Löfet mi, fo will
auh ih Eud löjen! IH will Eud ein Haus hin-
bauen mit PBiründen für die, welche in der Arbeit
bier alt geworden find, auf daß fie dort jorglos und
119 Die neue Herrin.
a a
bequemlich ausruben.
der Brüde ein Plägchen dafür. Es ift grün, fill,
mit freunblidem Ausblid, der Bach raufcht vorüber;
die Sonne wird vormittags warm auf den Garten:
bänklein vor dem Haufe liegen, am Abend aber an
deſſen NRüdjeite auf dem weiten Wiejenplag. Das
jei mein Löjegelb!" —
Sn der neuen Theobaldhütte löfte fie jih aus
dem Glasgelpinit, indem fie verfprah, neben Die
Schule ein Haus zu errichten für eine Kleinkinder:
bewahranftalt und für eine Krippe. Sn der
Scleiferei, welche neu eingerichtet und mit finn:
reichen Bentilationsapparaten verjehen worden war,
lagte fie eine allgemeine Erhöhung des Stüdlohnes
zu. Außerdem fündigte fie jämtlichen Arbeitern die
Erridtung eines Spitales an mit einem abgejonderten
Pavillon für Kinderkrantheiten.
Die Nadhridten Ulrihs lauteten inzwiſchen
immer betrübender. AZuerft war der alte Thurm-
brud unbeilbar erkranlt. Die Freiin konnte nichts
mehr für dies meißhaarige Kind thun, um welches
fie feit jeher geforgt hatte. Er war nun verjorgt
für diefe Welt, und als fei damit ihr Tagemwerf bie-
nieden vollendet, madte auch fie auf Erden Feier:
abend. Sie ließ fi von der Chailelongue auf das
Bett legen und barıte geduldig des Augenblides,
mit ihrem Manne. in die Ewigkeit zu ziehen; fie
fonnte fih ihn auch dort drüben nicht ohne ihre
Bevormundung denken. Er bejaß eine ungemeine
MWiderftandskraft, und fie wollte nicht vor, nicht nad)
ihm hinübergehen, jondern, weil er ihrer bedurfte, zu:
gleih mit ihm. So kämpften denn jein riefiger
Körper und ihr ftarrfinniger Wille monatelang gegen
die Vernichtung. Einen erfahrenen Arzt hatte Ulrich
dem nädjften Etabtipital entnommen und für die
ausihließlihe Behandlung des alten Paares ge:
wonnen. Er bradte ihn nebit einer Hausapotheke
auf die Thurmbrudihe Beligung und teilte fih mit
ihm in die Pflege. Beide Kranke waren nicht an:
Iprudevol. Die Augen des Freiherın mit dem fteis
verwunderten Kinderblid hingen zumeilt an jeiner
Frau. Shre Blide jchweilten von ihm zu der Wand,
wo ein verblichenes Stinderbild Thomafinens bing,
und daneben ein Aquarellportrait der Kleinen Agnes,
das ihr Thomafine erit vor wenig Tagen geichidt
hatte. — „Sie hat meifterhaft malen gelernt,” jagte
die Freiin einmal nah langer Betrachtung des
Aquarelles zu Ulih. „Auch, mandes andere.”
„Was, liebe Mama?”
„Auh mandes andere bat fie gelernt. . ch
hätte e8 ihr nicht zugetraut. Sie muß fich jehr
geändert haben — Gott fjei Dank!”
„Worin, meinen Sie, geändert?” fragte Ulrich,
beunruhigt durd) ihren nachdenllihen Zon.
„sm innerftien Weſen. Die Briefe aus den
erften Yahren haben mir Sorge gemadt um Guer
beider Glüd. Dagegen bradte mir jeder Brief ber
legten Monate einen Felttag.e Auch an ihr ift wahr
geworben, daß der Menih nur zu wollen braudt;
dann fallen ale Echladen von ihm ab. Untenntlich
ift fie mir faft geworden.
jagen.
Engelhaft — möchte ich
Das bante ih Dir, Ulrid. Du haft mein
— *
Roman von Karl Erdm. Edler.
Ich weiß am Waldrand vor
klärung des Scluſſes.
120
Kind ſo gluclich gemacht, daß es vor Glück edler
wird. Der ſchönſte Dank, den ich Dir dafür geben
kann, iſt, daß ich Dich die Briefe leſen laſſe. Hier
der Echlüſſel — dort in der grauen Schublade rechts
liegen alle, die alten und die neuen. Nimm, lies,
und vergleiche ſelbſt!“
Uri that nah ihrem Geheiß. Wehmütig
durchblätterte er die zwei getrennten Bücher ſeines
Lebens, welche für die Sterbende bloß ein einziges
Werk bilbeten, von der menjchlichen Unvollfommenheit
im Beginne fih fteigernd bis zur engelhaften Ver:
Das echte ältere Häuflein
bot das mwohlbefannte, nur ctwas nadgebunfelte Bild
haftigen Dabinjagens, raftlofen Wechliels, abipringender
Gedanken, zeriplitterten Gefühles, ewig ledhgenden
MWollens — alles unter die einheitliche Beleuchtung
eines entzüdenden Eindlichen Xächelns gebradjt. Aber
jeltfjam: er hatte ehedem diejen jonnigen Lidhtitrahl
allein geliehen, jeßt Jah er auh, was berjelbe mit
jeinem täujhenden Glanz überwebte. Und er erichrat
über die grauen Schatten, über die dunklen Ahnungen,
bie im Hintergrunde des Bildes lauerten, indem er
die Morte der Sranten wieberholte: „Die Briefe
aus den eriten Tagen haben mir Sorge "gemacht um
Euer beider Glüd.”
Nun Famen die Briefe an die Reihe, welche
von Martina geichrieben waren. Martina hatte jeit
ihrer Kindheit ihr Leid liebreih vor den Vater,
Iheu vor Fremden gehehlt, und das, was fie fonft
bewegte, Teujch verichloflen dabingetragen. Der alten
Mutter dagegen legte fie ihr Herz offen bin — fie
jollte ja ihr Sind fein. Wie ein Kind am Mutter:
berzen ftammelte fie al ihr Sinnen und Fühlen aus.
Es mar aber nichts als Freude, Glüd, Liebe, wovon
fie der alten Mutter berichtete — genau jo, wie fie
das Bild ihres Lebens auf Wartenfron fi einft
ausgemalt, wie fie es als füßen Traum im Herzen
getragen hatte. Alles war von einem verklärenden
Licht übergoldet und auf einen feligen Ton geflimmt,
welder rührend an das alte Diuiterherz jchlagen
und beglüdend darin verklingen mußte. Zuweilen
trat aus den Worten eine verhaltene ftile Größe
bervor, welde den eingejhrumpften Geift der alten
einjamen Frau ausweiten mußte. Auch diefe neueren
Briefe erjhienen Ulrich wohlbelannt — es war ihm,
als habe er fie ale mit erlebt und nur nicht be:
achtet, weil feine Augen von einer einzigen Bifion
erfült waren. Diele ift jeßt zu unbeftinmiter Er:
innerung zerijhmolzen, und hinter ihr tritt rührend
aus der Umnadhtung ein anderes Bild von holder
Hoheit, von Tpfermut, von Leidenskraft. ngelhaft
bat e8 die Mutter genannt. Erjchredt blidt er zu
demjelben empor mit der bangen Stage, ob e8 zu
der Fähigkeit, alles zu ertragen, auch jene befige,
alles zu vergeben.
Aber es mwährte noch viele lange Moden, bevor
er fie jelbjt fragen konnte. Ter Frühling war längft
in den Sommer übergegangen, als es mit dem Frei-
bern zu Ende ging. Den Tag nah jeinem Hin:
Iheiden erlojh auch die Freiin frieblih, ohne daß es
jemand merkte. Es fiel Ulrich erft nachträglich auf,
daß fie ihm die Hand lange gedrüdt hatte, wie zum
121 Die neue Herrin.
Abihied. Dann hatte fie wohl ruhig zu fich Telbft
gejagt: „Ih will fierben” — und ihren Willen
Ihliht ins Merl gefegt. Die Ordnung der Hinter:
laflenihaft vermodte Ulrich nicht zurüdgubalten; er
gab dem treuen Verwalter VBollmadıt unb eilte ohne
Säumen in das PBaterland zurüd.
XXI
Ulrich hatte nichts von feiner Abreife gejchrieben,
er wollte unangemelbet zu Haufe eintreffen. Als er
id am letzten Reifetage der Wartentroner Bahn:
ftation näberte, beftiegen zwei alte Herren fein Coupe.
Es waren Sutsnadhbarn Ulrihs, und von ihnen
erfuhr er alles, was Martina gethan, und was ihm
Hetväry auf deren Wunich verjchwiegen hatte. Ihr
beifpiellojer Heroismus erwedte felbft in den beiden
weißbärtigen Landebelleuten eine jugendlihde Be:
geifterung und feurige Berebfamleit. Ulrich aber ward
dabei immer ftiller.
Endlih fland er vor ihr. Sie fagte nichts über
fein langes Fernbleiben und über fein unermwartetes
Heimlommen. Spradlos reichte fie ihm die Hand,
das Antlig von Frieden überglänzt. Es war basfelbe
bleidhe, holde Antlig, wie er es in der Erinnerung
mit fih genommen hatte; aber der Ausdrud war
ein anderer geworden. &8 wirkte nicht mehr burd)
feine Trauer und Demut; es ftrahlte jet fanft
gebietend, in ruhevoller Majeftät. Es rührte nicht
mehr, es jchücdhterte ihn ein. Als fie endlich zu reden
begann, da jah er ein, daß fie au im übrigen
eine andere geworben war, ein ernfles Weib, wie e8
wohl die Ehe aus einem Icheuen Mädchen zu bilden
pflegt. Aber nit er ift es gemweien, fonbern fie
felbft, die fi jo umgebildet bat. Sie ift Fein
Windling, welder gelehrig Ihmiegfan an der Stüße
aufklettert, jondern ein Lärdenbaum, bo, ftolz,
fturmgefeftet, bligableitend. Er bat das Gefühl, daß
die Zwilchenzeit fie ihm gänzlich entfremdet und in
unnahbare Ferne gerüdt bat.
Dann eilte fie hinaus und führte an der Hand
die trippelnde, jauchzende, blühende Agnes dem Vater
zu. Auf dem anderen Arm trug fie, von Hüllen
ummidelt, ein winziges Kindlein, das volllommene
Abbild von Agnes. „Das Töchterlein des unglüd:
lihen Ler und der armen Magdalena, welde ihm
bald in den Xod nadgegangen ift!” jagte fie.
„Hetväry hat fie aus den Flammen gerettet. Wir
haben fie heraufgenommen und betreut. Aber id
glaube, das Leben war ihr eine Laft nad allen den
Greueln, an denen fi die Arme die Schuld beimaß.
Nun habe id zwei Kinder. Sie jehen einander wie
Geihrifter ähnlih, und fieh nur” — fie bielt ihm
das Kind näher hin — „die großen blauen Augen
mahnen getreu an die Augen drüben auf den Bildern,
ganz Thomafinens Augen!” Sie fagte es mit jo
berzlichem Eifer, fie lächelte jo beglüdt, daß es offen:
bar mwurbe, wie ihr bDiefe hnlichkeit lieb und teuer
jein mußte. Und dabei jah fie Ulrich an, dem fie mit
Remans>Zeitung 1896.
Roman von Karl Erdm. Edler.
— — u —— - in — — — 1)
122
Mitteilung eine holde Überraſchung hatte machen
wollen.
Sie vernahm nur einen leiſen Seufzer, mit dem
er fich raſch abwandte. Hetva’y trat ein, und Alrich
fuhr mit ihm nach Unter-Wartenkron. Als er zurück—
kehrte, faßte er Martinas Hand und ſagte: „Ich
danke Dir. Was könnte ich auch ſonſt ſagen? Alle
Worte würden es ja doch nicht ausreden, wie tapfer
und wie weiſe Du gehandelt haſt. Alle Worte
ſchienen auch den Menſchen unten unzulänglich, die
mir von der heldenhaften, klugen und guten neuen
Herrin erzählt haben. Dein Vater faßte es in den
Ausſpruch zuſammen: ‚Sie ift ein wackeres Herz.“
Wartenkron, ſeine Bevölkerung, ich — wir alle bleiben
Deine Schuldner für alle Zeit. Was Du dabei auch
von Deinem Vermögen bergeliehen haſt, wird mein
Bevollmädtigter Deinem Anwalt zurüderitatten.”
„Zergieb — das dariit Du nicht thun! Es ift
fein Gehen? gewejen, noh aud eine Anleihe an
Wartentron, fondern ein Werk der Barmherzigkeit.
Die Arbeiter waren dur den Brand der Fabriken
brotlos, für fie babe ich diejelben raid aufgebaut.
Dann habe ih für die Armen, für die Snvaliden,
für die Kinder vorgeforgt. Du fiehlit, für Di ift
bei diejfen Thaten der Nächitenliebe nicht das mindelte
abgefallen. Es gelchah aus ChHriftenpfliht und wird
auch fürderhin jo geihehen — das madıt mich glüdlich,
und bie Freude wirft Du mir nicht nehmen wollen.
Wenn Du gleihwohl meinft, e8 jei damit aud)
Wartenkron jelbft gedient worden, und wenn Did
dies dermaßen drüdt, daß Du e8 nit annehmen
magft, jo jchente mir eine Gegengabe! Sie ift nicht
allein mir, fondern auh Dir weit mehr wert ale
das, was ih an jene Samariterwerle gewendet habe.
Du madft dabei einen fchlehten TZaufhd — mwillit
Du? Du nid. SH danle Dir. Nun denn —
von bdiefer Stunde an ift das Matthiasihloß mein
Eigentum. Vielleicht wird Agnes oder Magdalena
bereinft darin haufen wollen. Morgen lafje ich die
Wieberaufrihtung der Burg beginnen — nidt aus
Laune, nit Dir zur Augenweide, jondern gleichfalls
als Wert der Barmberzigteit, ale Notftandsbau. Es
find viele Bauarbeiter bergezogen zur eiligen Her:
ftellung ber Fabrilen, es leben audh bier viele, zumal
unter der weiblihen Bevöllerung, die Beichäftigung
brauden — ber Wiederaufbau des Matthinsichlofjes
fol ihnen diejelbe auf eine Reihe von Jahren hinaus
gewähren.” —
Am nähften Morgen fuhr Martina wie all:
täglid nad Unter: Wartenfron hinab. Als Die
Direktoren, Beamte, Arbeiter fich ihre Befehle ein-
holen famen, fagte die neue Herrin: „Won heute ab
befiehlt der Graf. Jh bin nur noch einmal berab-
gefommen, um Eud) allen von Herzen zu banken für
Euren treuen Beiltand in der jchweren Zeil.” —
Dann fchidte fie au den Baumeifter zum Grafen
hinauf, daß er befjen Anordnungen erfrage betreffs
ber Schuttabräumung im Matthiasbau, bevor der
Architeki aus der Reſidenz eintreffe. Zuletzt wandte
fie fih an Heiva’y mit ben Worten: „Kommen Sie,
mein getreuer Kompagnon in der Not, auh Ihr
Werk ift zu Ende!” Sie bat ihn, zu ihr in ben
—————— —— — —— —
IV, 9
123 Die neue Herrin.
Wagen zu fleigen. Diejer fuhr jedoh nit nad
Wartentron hinauf, fondern Ihlug den Weg nad
Oberlingen ein. Hetvary wollte fi verabjdhieden
und den Wagen verlaflen, jobald die Dberlinger
Schloßalle in Sit fam. Aber Martina erbat fich
feine Begleitung bis zum Schloßthor. Dafelbft ftieg
fie nicht ab, fondern Tieß durch den Diener die
Baronefle Franziska herabbitten, weil fie nur wenige
Augenblide zur Verfügung babe. Franzisfa Faın
atemlos die Treppe herab, blieb jedoch errötend vor
dem Portale ftehen, als fie Erwin erblidte. Martina
aber jagte zu Letväary: „Ih danke Shen, lieber
Freund, für Shre treue Begleitung beute und die
ganzen legten Monate hindurdh. — Da haft Du ihn,
Fannerl — ich braude ihn nicht mehr, er gehört
jegt Dir allein! Deine Mama bat nichts dagegen.
Führe ihn nur hinauf und melde ihr nebjt meinem
Gruß: Der Mohr hat feine Arbeit getan, der Mohr
farnın gehen.”
Hetvary war mit einem Sat aus dem Wagen
und im nädften Augenblid auf der Bortaljchwelle.
Aber Franziska, die. noch immer hodhrot und bebend
daftand, wollte jeßt auf einmal zu dem Wagen hin:
eilen, um an Marlinas Herzen ihre Seligfeit zu
bergen. Martina war fo jelbftlos, daß fie auch Dies
erfte Entzüden nicht dem edlen Freunde entziehen
wollte. Bligfchnel batte auf ihren Wint Zachäus
den Wagen dur das Oberlinger Thor verjchwinden
lafien. PWartina blidte nicht mehr zurüd, fie jah
auch nicht vor fih hin, weil ihr die Augen vol
FSreudenthränen hingen. Sie hörte nit einmal, wie
Franziska flüflerte: „Magam jövök el, hogy kedves
gyervizü gemeskuütaimat meglätogassam!*“
Der Magyare Hetvary verftand zwar biele
magyariihen Worte nicht, aber e8 dämmerte ihm
etwas wie eine Ahnung auf, daß fie bedeuten fünnten:
„sch werde jelbft hinfommen, meine lieben, fpärlichen
Biehbrunnen zu bejuden.” Es war nämlich ein
Ihauerlih faliher Accent darin, wie man fich ihn
anzueignen pflegt, wenn man eine Sprade heimlich
mit einem Schlüfjel lernt. Aber e3 war ungarild.
Da erlebte Franzisfa erit, wie jehr die Mama recht
gehabt hatte. Erwin war ganz und gar einer jener
Wildlinge, die fie aus der Gefchichte der Völker:
wanderung fannte, ein Hunne, wie er im Buche fteht.
Er Ichaute fie mit jeinen glühenden hwarzen Augen
verzüdt an und trug fie dann ganz einfach bie
Schloßtreppe hinauf. —
Martina fam beim, jegte fid) an Magdas Wiege
und bob Agnes auf ihren Schoß. Der Fuß jchaufelte
die Wiege, die Hand ftreichelte Agnes’ Lödchen.
Plöglic” atmete fie tief auf wie der Taucher, welcher
wieder in das gewohnte Lebenselement emporkoninit.
Nun konnte fie ausruhen von der übermenjchlichen
Anftrengung in nervenverzehrender Männerarbeit.
Es war Feierabend, obzwar die Sonne hob am
Simmel hing. Die Wiege ftand auf einmal ftill,
die Hand lag unbeweglich auf Agnes’ Köpfchen. Sie
Ihlummerte, Als fie erwacdhte, fühlte fie im ganzen
Körper eine Müdigkeit, wie nad) einer erjchöpfenden
Wanderung. Ein Übermaß war in allem gemwefen,
was fie in jo kurzer Frift gefühlt, geduldet, gethan
Roman von Karl Erbm. Eoler.
124
hatte; nun folgte die natürlide Abfpannung. Es
zeigte fih ein Nadhlafien in der Haltung, in ber
Stimme, im ganzen Velen. Am deutlichiten fihtbar
wurde die Veränderung in den Augen; fie waren
tief eingefunfen und von dunklen Schatten umgeben,
jo daß fie größer und erniter erichienen. m Berlehr
mit Ulri beobachtete fie eine gleihmäßige Zurüd-
haltung. E8 war nichts Unfreundliches darin, jondern
nur jene unübermwindlide Scheu, die fi nicht mehr
vorwagen mag. AU jein jehnliches Bemühen ver:
mochte diefem Zagen feinen Vorjprung abzugemwinnen.
Gie hatte den Ton an jenem Tage angenommen, da
er fortzog, fie hatte ihn behalten für die dazmwijchen
liegende und, wie e8 fehien, für alle künftige Zeit.
Welde Saite Ulrich auch greifen, wie immer er fie
anihlagen mochte, es blieb ftets diejelbe verhaltene,
umjchleierte Stimmung,
Seine Haltung vor ihr war die eines Verbrechers,
den man verurteilt, jedoch begnadigt hat. Er weiß,
er ift aus ihrem Leben berausgefallen, er hat fein
Anrecht mehr auf ihr Vertrauen, doppelfinnig Elingt
feine Rebe, verbädtig erfcheint fein Thun, gelähnıt
finft Auge und Hand vor dem argmöhnifch forfchenden
Blid. Er hätte ihr jo gerne jein Herz aus der Bruft
geihält, auf daß fie jehe, wie es fich verwandelt hatte.
S$enes alte, thörichte Herz, das fie einft gefannt hatte,
er fannte es jet jelbft nicht mehr. Wildfremd, un:
begreiflich erfchien ihm alles Vergangene — fein
Fühlen in feinem Haufe oben, jein Verhalten in
feinem Befigtum unten. Die Hände, die unthätig
alles Ler überlaflen hatten, griffen jett bis zur Er-
müdung in bas vielräderige Getriebe ein. Sein
idealer Sinn hatte es verjhmäht, fi an Kleinigkeiten
und Einzelnem zu bethätigen, da er fid) des Großen
und Ganzen neben Ler nicht bemädtigen Fonnte.
Dirfe Spröbdigfeit einer ftolgen Natur wid nun
einem rubelojen Schaffen, weil dasfelbe der Mühe
wert erihien, und meil er fich fein Fleines Reich
endlich ganz nad feinem deal geftalten fonnte. Es
war fein Umbau, jondern ein Weiterbau deifen, wozu
„die neue Herrin” den Grund gelegt hatte, und es
erfüllte ihn mit unfäglicher Freude, daß fein deal
auch das ihre war. So wurde er in unermüdlidher
Thätigfeit für Unter:Wartenkron thatählich „ein neuer
Herr”, und „faft jo gut wie die neue Herrin”, jagten
die Leute. Wenn er dann voll Sehnjudht für eine
Stunde hinaufeilte und vor Martina trat, empfing
ihn ein Lächeln, defjen wehmütige- Heiterkeit ihm wie
ein Dolhftih ins Herz drang. Rafch wandte er fidh
ab und jchritt ruhelos bin und ber. Er jah ihr
Gefiht nicht, aber er wußte, daß fie jegt aufgehört
hatte zu lächeln, und es war für ihn ein tiefer Schmerz,
nicht einmal diefes Teife Lächeln mehr in ihrem Antlig
zu wiflen. Shre bloße Nähe war Glüd und Dual
zugleidh; er hätte ihre Gegenwart mit feiner anderen
Freude vertaufchen mögen, und er fannte nichts, was
ihm mehr wehe thun konnte. Er ftaunte nicht darüber:
was von dieler Frau fam, machte edel, gut, gejegnet,
jelbft wenn es der tieffte Schmerz war. Und wenn
fie audy nicht lächelte — die fanfte Schwermut, melde
dann in ihrem Antliß rubte, war immer nod) leuchtend
wie die Sonne hinter dünnen Wolkenfchleiern.
125 Die neue Herrin.
Einmal aber brach diefe Sonne auf ein Stündchen
mit ihren hellften Strahlen hervor. Dies gelchah
an jenem Tage, da GBitta mit ihren Dann bei
Martina eintrat, und hinter ihnen Franzisla mit
Hötvary. GBitta erflärte, fie komme, um bie beiden
in aller Form feierlih als Brautpaar vorzuftellen.
Sranzisfa warf fih ftürmiih an Martinas Hals und
flüfterte ihr in das Ohr: „Das verdanfe ich Dir,
Du immer Gute!” Der Freiherr Andreas aber jagte
zu Ulrich, indem er einen ftolzen Blid auf Hetrary
warf: „Ich danke Dir für Deinen Glüdwunfcd,
lieber Ulrich. Es ift wirllid ein Siid — ein
Pradtmenih diejer Erwin, hat Raſſe! Tüchtig in
allem, was er anfängt: Okonomie, Reiten, Schach—
ſpielen, Leben retten und Franziska den Kopf verdrehen.
Ich habe ihn ſeit jeher gut leiden mögen, aber leider
meine Frau — kurz, es wäre mir nicht im Traum
eingefallen, daß er mein Schwiegerſohn werden könnte.
Aber da war wieder meine Frau — nun ja, ſie ift
ein Phänomen!“
Gitta nahm inzwiſchen Martina beiſeite und
flüſterte im vertraulichen Tone: „Weißt Du, daß ich
über dieſe Verlobung Fannerls entzückt bin? Doch
nein, das kannſt Du noch nicht wiſſen, weil das
eine neue Idee von mir iſt. Dieſe Ehe dient höheren
Zwecken, und Fannerl wird als Frau von Hétvaͤry
eine Miſſion zu erfüllen haben. Eine große Miſſion!
Haſt Du nie gehört oder geleſen, daß die Ungarn
alles magyariſieren? Daß ſie die Siebenbürger
Sachſen, die Deutſchen am Südhang der Karpathen,
und was ſonſt in Kolonien oder vereinzelt vom
germaniſchen Stamme unter ihnen ſiedelt, ihrer
Nationalität entfremden? Glaubſt Du, daß man
kaltblütig zuſehen wird bei ſolcher Erdroſſelung des
Deutſchtums durch die Magyaren?“
„Meinſt Du,“ erwiderte Martina mit ihrem
ſachten, guten Lächeln, „daß deutſche Mädchen dieſer
Erdroſſelung Einhalt thun, wenn ſie ihr deutſches
Herzchen einem Magyaren ſchenken und ungariſch
parlieren?“
„Liebes Kind, Du haſt eine zu geringe Meinung
von Erwin. Das iſt ein edler Menſch — Du haſt
ihn ſeit jeher unterſchätzt. Ich begreife Dich nicht.
Ein Mann, der ſich ſein Wiſſen, ſeine Bildung und
ſchließlich ſeine Frau von den Deutſchen holt, iſt
wohl über den Verdacht erhaben, zu dieſen Meuchlern
des Germanentums zu gehören.“
„Gewiß, das meinte ich auch,” entgegnete Mar:
tina, erfreut über den Eifer, mit welchem Gitta jetzt
für den einſt ſo ſchlecht behandelten Erwin eintrat.
„Und darum entfällt zum Glück für Franziska die
Miſſion, bei ihrem Mann ...“
„O doch nicht! Meine neue Idee iſt kühner. Wenn
ſie dort das Deutſchtum erdroſſeln, ſo kann man ja
die Sache umkehren. Und Fannerl iſt meine Tochter.
Sie fängt ihre Miſſion ſchon hier als Braut an.
Du mußt ſie nur hören, wenn ſie Erwin korrigiert,
weil er zuweilen die deutſchen Worte auf der erſten
Silbe betont und ‚Gelegenheit‘ ſagt. Sie läßt ihn
‚die Wacht am Rhein‘ fingen, obzwar er feine Stimme
bat und es gar nicht vertrauenerwedend klingt, wenn
er in jchauerlich falichen Tönen losbridht: ‚Lieb Vater:
Roman von Karl Erdm. Edler.
126
land magft ruhig fein!‘ Geftern hat fie ihn Goetheſche
Gedichte aufjagen laflen, obgleich er genau fo ab:
Ihredend deflamiert, wie er fing. Und danır, was
ih jo abjeits und mit gelegentlichen Seitenbliden
wahrgenommen babe: wenn er ihre germanijchen
blonden Zöpfe anftarrt, jobald fie abgewendet fchmollt,
oder wenn er in die ebenjo germanilchen blauen
Augen jhaut, jobald fie wieder gut ift, da vergißt
Dir diefer Menih volftändig, was für ein Lanbs-
mann er if. Das Magyarentum ift bereits halb
erdroflelt.. Fannerl verfteht ihre Miffion. Daß fie
berjelben nicht vergißt, dafür werde ich ſorgen. Ich
werde zeitweilig nadhihauen fommen in diejfe Hunnen-
fteppe. Heutzutage giebt es gar feine Entfernung
mehr, alles ift nur no ein Katenfprung... guten
Tag, lieber Freund,” rief fie dem eben eintretenden
Doktor Grilling entgegen. „Gut, daß Sie fommen!
Sagen Sie, wird Helvary die Brandnarbe an ber
Shläfe behalten?”
„Leider ja. Aber das thut ja nichts zur Sache.”
„Leider? jagen Sie. Sie find eben ein neidifcher
Menih, Doktor. Leider! Sm Gegenteil. Das ift
eine Lebensrettungsmedaille, die nicht abgelegt wird.
Mich freut es. Bei jedem Bi auf fein Geficht wird
dies feine Frau mahnen, daß ihr Mann ein ganzer
Mann if. Und das thut fehr viel zur Sade. Gie
fteht ihm eigentlich jehr gut, diefe Narbe! Martina,
meinft Du nicht?”
Urih führte den Doktor in eine Feniterver:
tiefung und machte ihn auf Martinas Trankhaft ver:
ändertes, ermattetes Wejen aufmerkjam.
„Wundert Sie das?” entgegnete Grilling. „Nach
der ungeheueren Ülberanftrengung folgt eben ber ent:
iprehende Grad der Reaktion. Das thut nichts zur
Sade. Ruhe mat alles wieder gut.” —
Nach der Abfahrt der Oberlinger beipradh Grilling
mit Uri nod) einige hygienische Neuerungen in ben
Habrilräumen. Dann begab er fih in den rechten
Schloßflügel, wohin ihm Martina vorangegangen
war. DWeartina jaß in der Fenfterniiche und blickte
hinaus. Sie vernahm nit einmal fein Eintreten,
jo verjonnen war fie.
„Woran denken Sie, Gräfin?” fagte er, ihre
Hand ergreifend. Diejelbe war eilig falt, und der
Buls, an weldem er wie zufällig taftete, Tchleichend
und unregelmäßig.
„Woran ich dente? An die zwei lieben Menichen,
welche ich jegt auch verliere, weil fie in ein fernes
Land fortziehen. Aber das ift nun einmal nicht zu
ändern, wie jo vieles andere nit. Laß es, laß
es — jagt man endlich zu fich ſelbſt. Laſſen wir
es denn, mein Freund! Werfen Sie lieber einen
Blid auf die ftille Schönheit dort draußen, wie fie
gemeinfam von Himmel und Erde hingezaubert wird.
So janft ift die Farbenjtimmung, daß man im
Schauen von einem füßen Traum ummoben wird.
Es ift, als fächle eine milde Hand alles Leid Hin-
weg, und als enthalte die Welt ringsum nur nod
den tiefften Frieden, das reinfte Glüd — dies alles
ift ja au zu finden auf Erden, man muß fi nur
begnügen lernen und vom Leben jo wenig fordern —
ah, jo wenig! Man muß die Sehnjudht nad Un:
127 Die neue Herrin.
erreihbarem verbannen und die Wünjche berab-
fimmen, ober am beften fie ganz ftill nacheinander
zur Ruhe legen — nur fo ift Frieden, jo ift Glüd
möglich, anders nit!” —
Doktor Grilling ging zu Ulrih zurüd, obzwar
er fih fon von ihm verabfdhiedet hatte, und fagte:
„IH würde Sie nicht unnötig beunruhigen, aber die
Sade ift ernfter, als fie fi beim erjten Anblid
bargeftellt hat. Es ift auch eine Abipannung der
Seele da. Die Gräfin ift immer fo tapfer, mutig,
ftart gewejfen — ich erfenne fie nit mehr. Es
fehlt die rechte Vebensfreubigkeit und jelbit der Wille
bazu. Dies erjchwert dem Körper ungemein das
Aufraffen aus folhen Depreifionen. Sie müflen
ernftllid nah ihr jehen, Herr Graf, und auf ihr
Gemüt einzuwirlen tradhten.”
„Auf ihr Gemüt einwirken!” murmelte Ulrih
und dadhte mit bitterer Neue, daß biezu jeder andere
befler tauge als er jelbit. „Ernftlich nad ihr fehen,”
wieberholte er eintönig Grillings Worte. „Ernitlid!”
rief er plöglihd laut, prang in jähem Schreden
auf und eilte nach dem rechten Flügel.
Da faß fie noh in der Fenfternifche, aber fie
blidte nicht mehr hinaus, fondern auf die beiden
Kinder. Magda lag in einer Polfterhülle auf ihrem
rehten Arm, Agnes jaß auf ihrem Schoß feit gegen
ben linten Arm gelehnt. Beide jchlummerten, und
Martina regte fih nicht. Als er eintrat und ihr die
Hand entgegenftredte, flüfterte fie: „Verzeihb — bie
Kinder, fie haben mir beide Arme mit Beichlag be:
legt.” Dabei hatte fie wieder das matte Lächeln,
nad weldhem er fo jehnjüchtig ausipähte, und das
ibm do jo mwebe that.
Er hielt einen Augenblid an und wollte etwas
jagen. Aber eine ungeihicte Schüchternheit jchloß
ihm die Lippen, und er wandte den Blid ab, als
fie verwundert beflen flebenden Ausdrud gewahtrte.
Haftig trat er in die zweite Fenfterniihe, um fi
vor ihren Haren Augen zu retten. Dies war das
treffendfte Bild — dadte er — fie hatte zwei Arme,
aber beide waren ſchon mit Beichlag belegt — für
ihn blieb nichts mehr übrig! Ein Seufzer entglitt
feinen Lippen, jo leife, wie ihn nur eine Frau ver:
nehmen fann, die mit dem Herzen laufdt.
„Bühl Du Dih nicht wohl?” fragte fie jachte
berüber. „Du bift fo blaß —
Er wandte ſich und wollte antworten. Aber
wie er ihren Kopf weit vorgeneigt um die Fenſter—
En
Roman von Karl Erbm. Ebler.
128
fante nah ihm ausjhauen jah mit dem ängfllid
forfhenden guten Blid, da war es vorbei mit aller
Kraft, auch) nur den Schein der Fallung zu wahren —
er Iniete plöglih zu ihren Füßen und barg fein
Haupt in ihrem Schoß.
„Was Haft Du?” ftammelte fie erjchroden.
Und da fie die beiden Arme der Kinder wegen nicht
rühren fonnte, fo neigte fie das Haupt tief zu Dem
feinen hinab und bob mit ihrer Stirne feine Stirn
fadhte in die Höhe, bis fie jein Antlig bicht vor
ihren Augen batte.
„Um Gottes willen,” rief fie, „Ulrih, was
fehlt Dir?”
„Du,“ Sagte er. „Du, Martina, fehlft mir,
Du haft mir immer gefehlt. Ich mußte es nur nicht,
ih babe jogar verblendet dagegen angefämpft. Ich
weiß, Du trägit anderes im Herzen: Agnes, Magda,
alle Xeidenden, alle Dürftigen. Dulde benn wenigftens
meine Liebe! Deine beiden Arme find mit Befchlag
belegt — jo laß mich zu Deinen Füßen, wie jeßt!
Sieh, mein thörichtes wirres Leben und Treiben,
jeit ich Dich Fenne, ift ja nichts anderes geweien,
als die unbewußte Sehnjudt, vor Dir auf die Knie
zu fallen.“
| „Und mein armes Leben, Ulrich, Teit ih Dich
fenne,” flüfterte Martina errötend, „fieb, es ift nie
etwas anderes geweien, als die Sehnfuht, Dir um
den Hals zu fallen.”
Er flarrte fie einen Augenblid an, dann jagte
er: „Das bift eben Du, Du allein! Du rähft nicht
an mir, Du verdammt mich nit, Du wilft mich
jogar nit ohne Troft laffen, weil Du gut bift wie
ein Engel, und barmberzig wie die Heiligen, während
ich ſchuldvoll ...“
„Laß es, laß es, Ulrich!“ unterbrach ihn
Martina. „Seht iſt ja alles gut.“ Dabei ſtand
fie auf und trug die ſchlummernden Kinder mit
ſich fort. Nachdem ſie Magda in die Wiege und
Agnes in ihr Gitterbettchen gelegt, kam ſie zu—⸗
rück und ſtand mitten im Gemach ſtill. Eine leiſe
Röte war in die bleichen Wangen aufgeſtiegen, und
die Augen waren niedergeſchlagen. „Ulrich!“ ſagte
fie leiſe, und zum erſten Mal ſeit ſeiner Heimkehr
ſah er das hinreißende ſchalkhafte Lächeln auf dem
ernſten Antlitz. „Ulrich, ich habe nun beide Arme
freil“ — Aber im nächſten Augenblick, da er zu ihr
hinſtürzte, lagen ſie feſt um ſeinen Hals.
De
——— mein
En
129 Beiblatt der Deutihen NRoman:Zeitung. 130
Beiblatt der Pentihen Noman- Zeitung,
- : 111.
Sommer im Siede. S——
I. Müd’ blidt der warme Sommertag
Eommermärden. In feinem ftählern blauen Kleibe;
Eine Fee fah ich vorüberfchreiten Des Windes lauer Flũgelſchlag
Durch das Wieſenland. Tönt mattgedämpft nur von der Heide.
Ihren Zauberſtab, den goldnen, Die Häupter neigt der rote Mohn
Hielt ſie in der Hand. Und träumt in grüne Einſamkeiten,
Leicht berührte ſie die Blumen, Und dann und wann ein Glockenton,
Siehe da, und flink Verloren aus umblauten Weiten.
Wandelte ſich dieſe, jene, Heut ſchweigt und ſchlummert jeder Schmerz.
Um zum Schmetterling. In dumpfem Bann liegt Wunſch und Wille,
Weiße, gelbe, bunte flogen Und auch das tiefbewegte Herz,
Gaukelnd durch die Luft, Das ſtürmiſche, iſt einmal ſtille.
Badeten befreit ſich ſelig Y. Weltz.
In dem Blütenduft.
Flatterten im Sonnenſchein *
Träumend hin und her, Mitagofrieden.
Und erzählten ihren Schweſtern
Wunderſame Mär.
Dieſe ſtanden ſtumm und traurig
Auf dem Wieſenland,
Ihre ſüßen Blütenaugen
Zu der Fee gewandt.
Aber lächelnd ſprach die Holde,
Guütig: „Morgen Ihr!
Heute dient dem grünen Grunde
Noch zur lichten Zier.
Morgen fang' ich Eure Schweſtern
Alle wieder ein,
Ei, und dann könnt Ihr ein Weilchen
Schmetterlinge ſein.“
A. von Auerswald.
II.
Im Walde.
Von Finkenruf und Amſelſchlag
Tönt wieder Baum und Hecke;
In Zweig und Buſch, am blum'gen Hag
Welch luſtige Verſtecke.
Wie ſchmettert es laut, und wie klingt es ſo hell
Und wiegt ſich und ſchwingt ſich von Stelle zu Stell',
Als ging es mit tänzelndem Neigen
Zum Reigen.
Ein Blütenhauch, ein Roſenduft
Geht um auf allen Wegen,
Mit weicher, warmer Lenzesluft
Auf alles ſich zu legen;
Es ſchmeichelt uns fpielend um Stimme und Haar
Und wehet fo lieblih, jo würzig und Mar
Und nimmt ung mit glübenden Wangen
Gefangen.
I X. A.
Ein zitternd Goldgeſpinſt liegt auf den Fluten,
Im Sonnenduft verſchwimmt der Berge Zug,
Die Erde träumt im Bann der Mittagsgluten,
Der Menſchengeiſt ruht aus von ſtolzem Flug.
Auch nur ein leiſes, wunderſames Träumen
Bebt durch des Herzens unerforſchten Grund
Und wie die weißen Wogen wallend ſchäumen,
Heilt in der Seele ſtill, was krank und wund.
Ein altes Hoffen regt ſich ſcheu verſtohlen
Und bringt des Herzens Blütenzeit zurück,
In lichten Schleiern naht auf weichen Sohlen
Ein himmliſch Bild und ſegnet mich — das Glück.
Mir iſt, als ob ſich Gottes milde Hände
Im Mittagsfrieden mir aufs Haupt gelegt,
Daß alles ſich fortan zur Freude wende,
Was mir die Bruſt in banger Furcht bewegt.
Auna VFehuiſch.
V.
Sommerabend.
Soweit umher mein Auge ſchaut,
Iſt Fried' und ſüße Ruh:
Da fällt der abgetriebnen Welt
Das müde Auge zu.
E3 tritt die fanfte Dämmerung
Mit Ieifem Yuß herein
Und hüllt, was alles fchroff fidh jchied,
Sp mildverföhnend ein.
Und was der grelle Tag getrennt
In meiner eignen Bruft,
Nun fließt e8 friedevoll in einS:
Der Kummer und die Luft.
Stto Doepkemeyer.
131
v1.
Sommernadt.
D Sommernadt im Rollmondiceine!
Dem duntelblauen Ebelfteine,
Aus deffen Tiefen Lichter Iprühen,
Vergleich” id) Deines Himmels Glühen!
Mondftrahlen jchlafen in den Roſen,
Im Buſch die Nachtigallen koſen,
Vom Mondnachtzauber wonnetrunken
Umſchwirrt's den Hain wie Feuerfunken.
Es fliegt ein Rauſchen in den Bäumen,
Das wiegt Dich ein wie Liebesträumen,
Duftwellen fluten um die Sinne,
Aus Roſenlauben winkt Frau Minne,
Der Himmel glüht in Strahlengarben,
Die Erde blüht in Zauberfarben —
Ein Paradies iſt uns geblieben,
Und offen ſteht's, wo zwei ſich lieben.
Jelſicitas.
Die Amerikanerin in England.
(Schluß.)
Kommen übrigens bei dieſen Eheſchließungen auch Fälle
vor, in denen, wie es kürzlich geſchah, der junge Edelmann
es vorzieht, die Hochzeit drüben zu feiern, da er es ſchlechter⸗
dings unmöglich findet, die Eltern ſeiner Braut in die
ariſtokratiſchen Kreiſe daheim einzuführen, ſo iſt dagegen
die Erwählte ſelbſt gar bald in dieſen Kreiſen daheim und
erregt in ihnen ein ſehr berechtigtes Erſtaunen. Sie entzückt
nicht nur durch ihre unleugbaren Reize und ihre graziöſe
Sicherheit, ſondern auch durch jenen ihrer Schönheit und
ihrem ganzen Weſen innewohnenden Zug von Vornehmheit
und ariſtokratiſcher Verfeinerung, den man bisher gewohnt
war, zu den Vorzügen zu zählen, die echte Raſſe giebt und
die nur im Lauf der Generationen durch eine lange Reihe
von Ahnen fortgepflanzt zu werden pflegen. Wie es ſcheint,
beſitzt die junge Amerikanerin eben in eminentem Grade
jene leichte Beweglichkeit und das ſchnelle Verſtändnis, die
ſie befähigen, ſich ſowohl ein vielſeitiges Wiſſen, wie jegliche
Art geſellſchaftlicher Politur zu eigen zu machen. Sind es
auch hauptſächlich die vornehmen Kreiſe, in denen dieſe Ver⸗
bindungen ſtattfinden, ſo hat man in England in letzter
Zeit auch in anderen Umgebungen reichliche Gelegenheit zu
näherer Bekanntſchaft mit dieſen eigenartigen Weſen, ihrer
Anmut, ihrem kühlen Gleichmut, ihrer herriſchen Beſtimmt⸗
heit und ihren verſchwenderiſchen Gewohnheiten, da ſich jetzt
viele Amerikanerinnen in England aufhalten. Denn wie
der Bürger des „freieſten Landes der Erde“ trotz feines
republikaniſchen Stolzes und der vorgeblichen Nichtachtung
aller Standesunterſchiede eine große Vorliebe für die ehr⸗
würdigen Inſtitutionen, die prächtigen alten Landſitze und
den Adel Albions hegt und für „einen lebenden Lord“ eine
unzweifelhafte Hochachtung empfindet, ſo hat auch für die
Amerikanerin die vornehme Geſellſchaft Londons einen außer⸗
ordentlichen Reiz und manche unter ihnen laſſen es ſich
namhafte Opfer koſten, um von einer engliſchen Dowager,
deren beſchränkten Verhältniſſen zeitweiſe aus der Aufnahme
einer dieſer reichen Fremden ein wünſchenswerter Zuſchuß
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
132
erwächſt, bei Hofe vorgeſtellt und in jene begehrten Kreiſe
eingeführt zu werden. Ihrerſeits erregen ſie dort oft unzweifel⸗
haftes Aufſehen. Ihre eigenen Vorzüge werden aufs beſte
unterſtützt durch die großen Mittel, die dieſem oft anmutigen
und reizenden, ſtets pikanten, zielbewußten und kühl über—
legenden Weſen zu Gebote ſtehen und dieſe Mittel, die
ihnen aus der Silbermine, der Goldgrube oder dem
Diamantenlager ihres Vaters oder aus einem der kommerziellen
Unternehmen zufließen, aus denen dieſe amerikaniſchen
Millionäre ihren Reichtum ſchöpfen, ſetzen ihren verſchwen⸗
deriſchen Launen und originellen Ideen nach außen kaum
eine Schranke.
Ihre haushohen Koffer bergen Schätze an Kleidern
und Schmuck, die ſelbſt die an den größten Luxus gewöhnte
Engländerin in Staunen verſetzen. Mit einer unglaub—
lichen Nichtachtung des Preiſes verwenden ganz junge
Mädchen die reichſten Stoffe und die koſtbarſten Spitzen zu
ihrer Toilette und tragen Diamantſchmuck von fabelhaftem
Wert, was in England anfänglich um ſo mehr auffiel, als
dort bis vor kurzem das Tragen von Diamanten für bie
Jugend überhaupt nicht für paſſend galt. Das amerikaniſche
Mädchen legt eine vier Meter lange Boa aus friſchen, an
den Stengeln aufgereihten Chryſanthemumblüten von der
Farbe des Ballkleides um, unbekümmert um die Vergäng-—
lichkeit dieſes Schmuckſtückes, das höchſtens einige kurze
Abendſtunden dauert, und bekundet auch in jeder anderen
Hinſicht ein ähnliches Talent, die meiſtens unbegrenzte
väterliche Freigebigkeit zum Nutzen und zum Schmuck ihrer
reizenden Perſönlichkeit zu verwenden. Mit dieſer Nicht—⸗
achtung der Koſten und mancher freigebigen Wallung und
Laune verbindet ſie indeſſen ein äußerſt kühles, praktiſches
Verſtändnis von dem Wert der Dinge, eine ſichere, gewandte
Art, zu prüfen und zu rechnen, und eine ſcharfe Beſtimmtheit
gegenüber Verſuchen der Erpreſſung oder Übervorteilung,
die dem Beſitzer der beſcheidenſten Mittel Ehre machen
würden und die bei denen, welche hofften, von der Uner⸗
fahrenheit oder Leichtgläubigkeit eines jungen Mädchens
Vorteil zu ziehen, einen ſolchen Gedanken ſicherlich nicht
zum zweiten Male aufkommen laſſen.
Freilich iſt ſeit ihren Kinderjahren in ihrem Leben,
ihrer Erziehung und Gewöhnung alles darauf berechnet,
eine frühreife Entwickelung zu fördern und die faſt unbe—
grenzte Freiheit im Reden und Handeln zu befeſtigen, die
ſie überall kennzeichnet. Als Kind von 5 bis 6 Jahren
trägt ſie Ringe an ihren kleinen rundlichen Fingern und
darf laut mit drein reden; von 12 oder 14 Jahren nimmt
ſie an den ſpäten Diners und der Unterhaltung teil, mit
16 Jahren werden ihre geſellſchaftlichen Erfolge in den
Zeitungen beſprochen. Eine ganze Spalte in einem
faſhionablen Blatte iſt den Leiſtungen der Schulmädchen
von New York und Waſhington während ihrer Ferienzeit
gewidmet, man beſpricht die Hotels, die ſie bewohnen, ihre
Toiletten und ihr Treiben. Dieſe jungen Mädchen geben
ihren Freundinnen Feſte, bei denen der Blumenluxus —
bekanntlich nehmen in Amerika die Blumenſpenden, das
ſogenannte bunching, überhaupt unglaubliche Dimenſionen
an — ſamt den tauſend originellen, mit verſchwenderiſcher
Pracht ausgeführten Ideen und dem Naffinement in jeglichem
Detail, geradezu verblüffend wirken. Entwickelt ſchon der
ungeſtörte Verkehr beider Geſchlechter eine große Freiheit
im Umgange, ſo iſt vollends die Unabhängigkeit, die dem
amerikaniſchen Mädchen in Bezug auf die Wahl eines
133
—
—
Lebensgefährten von ihren Eltern gewährt wird, eine abſolute.
Ob dies Verfahren zu loben iſt, oder wünſchenswerte Folgen
hat, das erſcheint allerdings angeſichts des ſehr zweifelhaften
Eheglückes manches jungen Paares und der drüben ſo
häufig vorkommenden Eheſcheidungen im hohen Grade fraglich.
Die Folgen des Einfluſſes, den dieſe unternehmende
Weiblichkeit ſeit geraumer Zeit in Altengland erlangt hat,
machte ſich übrigens in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen
noch in anderer Weiſe unerfreulich bemerkbar. Als der
jungen. Engländerin die Einſicht kam, daß ſie ihre Herrſchaft
über den Mann verlor und daß er ſich augenſcheinlich ihrem
Geſchmack nicht anpaſſen wollte, bequemte ſie ſich zu dem
ſeinigen. Eine ganze Anzahl weiblicher Weſen ahmte die
Gewohnheiten des Mannes, ſeine Manieren, ſeinen slang,
den Sport, das Treiben auf dem Turf und auf der Fuchs⸗
jagd nach, ſie wurden mit Stall und Hundezwinger, manch⸗
mal auch mit dem Rauchzimmer vertraut und nicht ſelten
hörte man von friſchen jungen Lippen Ausdrücke, deren
Bedeutung der Redenden ſelbſt vermutlich zum großen Teil
unverſtändlich war. Sie ſelbſt veranlaßten den jungen
Mann zu denken, daß er ſich in Geſellſchaft der Damen
keinerlei Zwang oder Rückſicht aufzuerlegen brauche.
Daß ſich indeſſen das weibliche Geſchlecht irrte, wenn
es mit ſolcher Nachgiebigkeit den Mann dauernd zu feſſeln
dachte, das zeigte ſich ſelbſt zur Zeit der größten Form⸗
loſigkeit bei denen unter den jungen Engländerinnen, die,
unbekümmert um das allgemeine Treiben, unentwegt an
vornehmem Ton und feiner Form feſthielten. Ihnen gegen⸗
über ließ ſich der junge Mann keinerlei Nachläſſigkeit oder
Rückſichtsloſigkeit zu Schulden kommen. Üübrigens iſt der
Einfluß der Amerikanerin nicht nur in der erwähnten Will-
fährigfeit zu fuchen, au) ift e3 feinesmweg3 etwa der Neichtum
allein, der fie „wirkungsvoll“ madjt. GSelbft in nrittellojen
Verhältniffen weiß fie einen Weg zum Fortfommen zu finden
und fie ift in diefer Beziehung unerfhöpflich in neuen Ssdeen.
Sunge hübihhe Amerifanerinnen haben unter anderen in
harakteriftiicher Weife eine neue Erwerbaquelle barin ge=
funden, daß fie fih mährend einiger Abendftunden damit
befhäftigen, für die englifcde jeunesse doree graziöfe
Sramattentnoten zu fchlingen, da der englifche masher längft
zu der Überzeugung gekommen ift, daß die fertig gefnüpften
weit weniger leicht und gefällig find und er außerdem einen
pifanten Reiz darin findet, biefen Teil jeines Mbendanzuges
bon hübjchen Mädchenhänden vervollftändigen zu lafien.
Eo viel Nadeiferung in gutem und fchledhtem Sinne
die Amertfanerin aud) herausgefordert hat, fo ift fie ihren
engliihen Schweftern doc im Grunde feinesiwegs verftänd-
Tih oder fympathiih. Die antagoniftiihe Haltung zwiichen
den Bewohnern beider Xänder tritt indeſſen weit weniger
Ihroff zu Tage alö ehemals und insbejondere hat die früher
faum verhehlte Verachtung der Britin für ihre transatlantifche
Schwefter fid angelihts der gejellfchaftlihen Erfolge der
legteren allerdings erheblich vermindert.
Sm ganzen fallen die Vergleiche, die don Sennern
beider Länder zwifchen der Amerikanerin und Sngländerin
angeftellt werben, zum Nachteil der erfteren aus. In Eng:
land, fagt einer diejer Kritiker, findet man eine weit größere
Anzahl Shöner Mädchen und Frauen. Und begegnet man
freilih auch in New Hork einer Menge hübfcher Gefichter, jo
wird ihr Neiz doc) gar jehr beeinträchtigt durch den felbft-
bewußten Ausdrud, den fie im Durdichnitt alle tragen.
Bei dem beiten Typus der engliihen Mrijtofratin findet
Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung.
134
man von foldem Selbftbewußtfein feine Spur und Diele
anmutige linbefangenheit ift einer ihrer größten Reize. Die
Blütezeit der Amerikanerin ift zudem eine weit Eürzere ala
bie ber Engländerin. Möge der Grund bavon in ber
Überfättigung aller Genüffe liegen, eine natürliche Folge
der befchriebenen, fo frühzeitig entwidelten Gewohnheiten,
ober in einer durd) ein Übermaß von Thee, Eis und Süßig—
feiten gejhädigten Konftitution — genug, die Amerikanerin
altert früher al ihre englifhe Schweiter. Nad dem
bierzigften Jahre wird fie plöglid grau und jchweigfam
und ihre vertrodneten, fcharfen und farblofen Züge bilden
einen großen Kontraft mit denen ber englifdyen Matrone,
die biß zu einem weit höheren Alter ihr hübfches, fFrifches,
fröhliches Ausfehen bewahrt. Am intereffanteften ift die
verheiratete Amerilanerin von 25 Jahren bis zu dem ers
wähnten Eritifchen Alter. Worausgefegt, daß fie keine zu
große Vorliebe für Stofaine und jene gemwifjen franzöfiichen
Romane auf grauem Papier befigt, tft fie die unterhaltendfte
Gefährtin, die e8 geben kann. Gemwöhnlih hat fie mehr
geiehen, gelefen und gedacht al& die Englänberin und ver:
fteht e8 befjer als diefe, das Erlebte und durch Reifen und
Lektüre Aufgenommene zu verarbeiten und fid) zu cigen zu
machen. Dabei wird ihre belebte Unterhaltung nicht durd)
ähnliche Geiftesabmwejenheit geftört, wie fie Die Sorge für ihre
Kinder bei der jungen englifhen Mutter mitten im Gefpräd)
hervorzubringen pflegt. Und doch widmet die Amerikanerin
ihren Kindern im Grunde eine weit eingehendere und um:
faffendere Sorgfalt ala die Engländerin, nur verfteht fie e8
freilich, fich diefe Sorge während der Unterhaltung, für Die
fie überhaupt ein großes Talent befigt, ganz au8 den Ge:
danken zu jchlagen.
Die Amerikanerin, fo fchließt derjelbe Kenner, ift wie
die englifhe Nofe und Welke ohne deren Duft, oder mie
Duft mit fortwährendem Tauten Pedal; fie tft wie das
eleftrijche Licht, ganz Glanz und Feuer, e8 fehlen ihr gänz-
lich die mwohlthuenden fühlen Schatten, die Zurüdhaltung
der Engländerin verleiht.
Fuife Rebentiſch.
Weckruf.
Durch den jungen Frühlingstag
Geht ein mildes Düften,
Finkenlied und Droſſelſchlag
Schallt aus Hecken und Lüften;
Lauſchend halt ich ein im Streit,
Senkend die ſchlagerhobenen Waffen; —
Will im Hauch der Frühlingszeit
Träumend mein trotziger Sinn erſchlaffen?
Starkes Herz! vergiß Dich nicht!
Schwerterklang und Singen
Mag gar wohl im hellen Licht
Frendig zuſammenklingen.
Schlag den Takt zum Liederklang,
Laſſe die Waffen blitzen und funkeln!
Ohne Sang und ohne Klang
Kämpfſt Du noch lange genug im Dunkeln.
Hans Biermann.
135
sine Voilelte vor ahtzehnhundert Dahren.
Von Adolf Kate.
Echluß.)
Die letzte der vier Dienerinnen vollendet nun den
Kopfputz; die Herrin hatte die Form der hohen Schleife
beliebt. Letztere beſtand aus den Haaren ſelbſt, die vorn
über der Stirn zuſammengeſchlungen und ineinandergeknüpft
wurden. Dieſe Art von Toupet wurde auf beiden Seiten
mit Locken eingefaßt; das übrige Haar wurde um Stirn
und Schläfen geführt, eine goldene Platte wurde davor be⸗
feſtigt und das Haar ſelbſt mit Perlen geſchmückt.
Niemand hat während dieſes ganzen Getümmels eine
ſo ſchreckliche Aufgabe, als die Sklavin, welche der Herrin
den Spiegel bald zur Rechten, bald zur Linken vorhalten
muß. Drehbare Spiegel auf Toilettentiſchchen waren noch
nicht erfunden, und ſo mußte die Sklavin einen lebendigen
Spiegelhalter abgeben, mußte mit kunſtmäßiger Gewandtheit
den Blick ihrer Gebieterin auffangen. Aber es verlohnte
ſich, für einen Spiegel, wie den der Terentilla, ein eigenes
Mädchen zu halten. Er iſt nicht von Glas, ſondern be—
ſteht aus einer ſilbernen, ſchön polierten Platte, deren hintere
Seite mit getriebenem Goldblech überlegt iſt und deren
Rand von den koſtbarſten Edelſteinen umfaßt wird. Die runde
Spiegelplatte ruht auf einem aus Elfenbein künſtlich ge⸗
drehten Griffe, an welchem zu beiden Seiten zwei Schwämmchen
befeſtigt ſind, um den geringſten Hauch von der Spiegel⸗
fläche ſogleich abzuwiſchen. Weit mehr koſtet der Spiegel
als die Sklavin ſelbſt; wehe ihr, wenn ſie ihn fallen ließe!
Terentilla würde zur Nadel greifen und Arme und Bruſt
der Unglücklichen damit peinigen.
Die Thüurſteherin meldet, daß eine alexandriniſche Kranz⸗
flechterin vorgelaſſen zu werden wünſche. Dieſelbe darf
eintreten, und zwei kleine Sklaven bringen teils friſche,
teils künſtliche Blumen, Levkoyen, Narziſſen, Lilien, Krokus,
Hyazinthen und Roſen ſchlingen ſich um zarte Myrten⸗
ſprößlinge mit der feinſten Berechnung der Schattierungen.
Kaum würdigt Terentilla all die Pracht eines flüchtigen
Blickes, ſie wählt einen andern Kranz der jetzt allbeliebten
Mode: zarte Schnüren aus dem feinſten Baſt der Papyrus⸗
ſtaude gedreht, und in zierliche Bandſchleifen verſchlungen,
bilden den Körper des Kranzes, aus welchem in kleinen
Zwiſchenräumen Palmenblätter von weißem Silberblech wie
Strahlen hervorragen. Hinten, wo der Kranz ſich zuſammen⸗
fügt, flattern Bänder, die beim Aufſetzen über die Schultern
fallen. Die Blumenhändlerin wird entlaſſen, und während
die Nägelputzerin ihre Arbeit verrichtet und mit einem in
Weineſſig getauchten Schwämmchen die Finger der Ge—
bieterin abreibt, teeten zwei, in die feinſte ägyptiſche Lein⸗
wand gekleidete, zierlich aufgeſchürzte und ſchön gelockte
Knaben in das Zimmer und bringen der Gebieterin das
Frühſtück. Der eine trägt eine ſilberne Kochmaſchine, aus
welcher die Dämpfe des Waſſers ziſchend hervorbrodeln.
Der andere hat ein Körbchen aus mattpolierten Silber:
ſtäben, in welchem acht der ſchönſten Feigen auf Wein⸗
blättern liegen, auf einem aus Citronenholz geſchnitzten
Teller trägt er eine koſtbare Vaſe, in welcher der feurige
Wein von Chios ſich befindet, und zwei ſilberne Schälchen,
um in das eine das kochende Waſſer, in das andere den
Wein zu gießen, um ſo ſeiner Herrin, wenn ſie die Feigen
genoſſen, den glühenden Wein zu kredenzen. Während
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
136
Terentilla mit dem Frühftüd beichäftigt ift, Lieit eine Sklavin
von einem befichriebenen Täfelhen die dur den eigen?
dazu angeftelten Hauspbilofophen gefanımelten Neuigkeiten
der Stadt, die Chronique scandaleuse. Mit häufigen
LZädeln hat die Herrin zugehört; bag Lejen ift beendet,
und fie befiehlt dem betreffenden Mädchen, den Anzug zu
bringen. Diejes eilt zu der im Seitenflügel des Palaftet
gelegenen Garderobe, vorbei an den Stuben der Spinnerinnen,
der Meberinnen, der Kleidermadjerinnen und Kleider:
falterinnen — denn all die Arbeiten berfelben werben im
Haufe felbft von eigenen Sklavinnen beforgte — und fehrt
mit der Schar der Sleiderfalterinnen zurüd, über deren
Armen die verfchiebenen Teile des Anzuges gebreitet find,
während eine andere Sklavin bereits der Herrin.die Schuhe
von weißem Leder angezogen hat. Statt de noch nid
erfundenen SKorfett3 werden jchmale Purpurfireifen um Die
Bruft gewunden, worüber die Tunila geworfen wird.
Diele bildet das Hanptgewand, an dem bie meifte PBradjt
verfchwendet ift. Ste befteht aus der feinften milefiichen
Wolle, mit baummollenem Einihlag gewebt und ift don
blendend weißer Sarbe. Das Gewand hat furze Slrmel,
die nur den Oberarm bebeden und welde aufgeihligt und
wieder mit goldener Agraffe zujammengefegt find. lber
dem Ausfchnitt der Bruft ift fie mit einem zwei Yinger
breiten PBurpurftreifen eingefaßt. Von bderfelben Tarbe ift
auch die unterfte Einfafjung der Yalbel, die für das aus-
zeichnende Mierkinal ber römijchen Bamentunila gehalten
wird. Die einfache, weiße TZunila gebt nämlich nur etwas
über die Knie herab und wurde von ben einfadyeren Frauen
nur fo getragen, mobei jedodh mehr ober minder Zoftbare
Fußbänder über den Knöcheln befeftigt wurden. Die Tunika
ber Terentilla hat jedod einen befonderen Anfag, in viele
Fältchen gelegte Yalbel, die fomweit herabgeht, dab man
faum die Fußfpigen erblidt. Seingeichlagene Goldbleche find
darauf geheftet, gebiegene Goldfäden durchziehen biejelbe,
ein weiter Purpurrand faßt fie ein und eine Fünftlich aufs
geftedte Perlenfchnur hebt ihren Glanz nodh mehr Die
Schmucdbewahrerin tritt jegt mit dem Schmudtäftchen vor
die Gebieterin; das Siegel ift noch unverjehrt, welches ftatt
des Scloffes daran befeftigt ift; XTerentilla befichlt «8 zu
öffnen und die Perlenfchnur zu wählen. Diefelbe bejteht
eigentlich aus drei Schnüren, wovon die eine, enger ans
gezogen, nur ben Hals, bie zweite und dritte aber, melde
weiter und loderer herabhängen, den Bufen bebeden und
fi) in der Mitte etwas tiefer hinunterfenten. Die oberfte
Schnur, das eigentlihe Halsband, befteht nur aus Perlen,
die beiden anderen aber haben nody zwiichen jeder Perle
einen grünen, goldigen oder perlfarbigen Edelftein. Diefes
Halsband hat, nad) der BVerfiherung des bejchreibenden
Autors, dem Herrn Gemahl dte Stleinigkeit von 300 000 ME.
gekoftet. Die dazu gehörigen Ohrgehänge werden ans
gelegt; fie beftehen aus je brei fünftlih nebeneinander ges
fügten Glodenperlen; endlicd; werben die Ringe ausgejudt.
Sie wählt Heute eine Sommergarnitur; da nämlich jäntliche
Ringe mit Gemmen oder gefchnittenen Steinen geziert
find, werben die großen und Eoftfpieligen ihrer Schwere halber
für die Ealten Monate aufbewahrt. Die jchönften werden
an den Heinen Finger geftedt, der, wie die andern, außer
ben frei bleibenden Mittelfinger, mit zwei Ringen ges
Ihmüdt wird; aljo fecdhzehn Ninge erglänzen heute an
Terentillag zarten Händen. |
Sept wird der Mantel oder die Balla umgelegt. Diejes
137
Umlegen oder Ummwerfen bildet ein Hauptftüd der Toilette.
An Feithalten derjelben durd) Bänder, Agraffen, oder gar
durd; Stednabeln, diefer barbarifchen Erfindung fpäterer
Zeiten, war dabei nicht zu denten. Die Pala wurde fd
gefaßt, daß der eine Teil, unter der rechten Bruft fidh
herumichlingend, den rechten Arm und bie rehte Schulter
völlig unverhült Jieß, ber andere aber über bie linfe
CE dhulter geworfen, und vom linken Arm, den er oft ganz,
oft bis zur Hand bededte, gehoben wurde. Bor allem
kam es dabei auf einen zierlichen Faltenwurf an; fie fonnte
tiefer und höher getragen werden, um bie Falbel der Tunita
in ihrem Glanze mehr oder weniger zu zeigen; fchleppen
durfte fie niemal2.
Die Toilette ift vollendet. „Herrlih!* rufen mit ge
heucheltem Staunen die Sktlavinnen, „Herrin, ganz Rom
wird auf Did) fchauen, jo ſchön mwarft Du nod niel“
Die Herrin lächelt, dann aber — verzeih, jchöne Leierin
— fpeit fie dreimal in ihren Bufen, um das Unglüd, mweldjes
diefe Qobeserhebungen mit fich bringen könnten, abzumenden.
Sie tritt teßt vor den großen Spiegel aud mächtiger Silber:
platte, der ihre ganze Geftalt zeigt, lädhelnd jchaut fie ihr
Bild. Edel geformt find die Züge, herrlich — maieſtätiſch
eriheinen fie trog ber Schminke, doc) fo manches Yältchen
zeugt von wilden, wüften Leben und auf ber hohen, plaftiich
fhönen Stimme thront die Göttin des Hochmutes, kalt blickt
das ftolze Auge und nie hat die innige, aufopfernde Liebe
ein Plägchen im Herzen der Terentilla gefunden. So ſteht
fie da vor dem Spiegel, von dem Seneca verfihert, daß er
alfein mehr als in früheren Zeiten die ganze Ausftener ge=
fojtet hat.
Eine Sklavin eilt der Herrin voraus und die übrige
Schar geleitet fie zur Sänfte, die draußen unter dem
Portituß ihrer hart. PBurpume Kiffen ruhen auf dem
koſtbar vergoldeten Geftell; acht riefige fappabocifhe Sklaven
find die Träger. Terentila nimmt eine halb Tiegende
Stellung auf dem Nuhebett der Sänfte ein, ihre Liebling3=
ftlapin bringt ihr zwei Kugeln, eine von Bergfryftall‘, eine
von Bernftein, welde zur Kühlung in ben Händen gehalten
werden. Ein anderes Mädchen übergiebt ihr die Kleine
zahme Lieblingdfchlange, meldher ber Pla am fchönen
Bujen der Herrin zufommt. Enblid) ift alles vollendet. Die
acht Kappadocier heben In einem Moment die Sänfte auf
bie Schulter, der Zug feßt fih in Bewegung. Voran zwei
Mohren aus dem Macyten-Stamme, gekleidet in meißes
innen mit breiten, fchön verzierten Arme und Fußringen
von Silberbleh; zur Nechten der Terentilla ihre Lieblings
fflavin mit dem Wedel aus Slamingofebern, zur Linken
eine andere mit dem hohen Schirm von Bambus, dahinter
zwei Skflapinnen mit purpurnen Siffen, für den Fall die
Herrin weicher zu liegen wünjdt, und zum Schluß zwei
Sklaven mit Fußfchemeln, um der Herrin ein ctwaiges
Aufftehen zu erleichtern. In gemefjenem Taftichritte bewegt
fih der Zug vorwärt® — die Schöne Terentilla macht ihrer
Freundin eine einfadye Morgenpifitel
„Blüten im düfren Hof“.
Sn einem engen, düfter feuchten Raum,
Des Lichtes faft beraubt von hoher Mauer,
Steht voll erblüht ein junger, ihwanter Baum,
. Um fich verjtreuend dichten Blütenſchauer.
RomansZeitung 1896.
Beiblatt der Deutiden Roman-FZeitung.
138
Talt ohne Sonnenftrahl und Elare Luft,
Eritrahlt er doh im fchönften Blütenprangen — —
Wie viele Sinofpen, wonntg rein, voll Duft,
Sind Ihon in büftren Raum erblüht — vergangen?!
Elimar v. Monflterderg.
Heue Romane und andere Unterhaltungs
bücher.
Angezeigt von &. v. £.
l.
In anderen Jahren pflegt in der Zeit vom Mai bis
Anfang Auguft eine gewiffe Nuhe im deutichen Verlag eins
zutreten: die Schonzeit für die VBerichterftatter. Diele Mal
aber find alle Teufel Io8 und befonbers der Romanteufel, fo
daß die Flut der Bücher zu einem Papiermeer angeihmwollen
ift. Und die Wogen ergießen fich über die Armen, die vom
Schidfal zum Beiprechen beftimmt find. Ad, wie gerne be:
fpräche id) fie mit einem kräftigen Zauberiprüdjlein, daß fie
in da8 Hirn der Erzeuger zurückröchen! Aber ich habe leider
den Höllenzwang nicht in ber Gewalt und muß mich mit
meinen Scidfalsgenofien fügen.
Belonderd eifrig ift der Verlag von Fontane & Co.
(Berlin W.), der una großmütig gleich zehn Bände tn den
Schoß geworfen hat. Unter ihnen find einige bemerfenömwerte
Arbeiten, bejonders:
Die Augelfuderin. BonMarimilianpon #ofenberg.
Der Verf. ift eine reife Kraft, ein Kenner des Lebens
und der Menihen, mit gelundem Bli für das Gute und
Böfe. Entichiedener Wirklichkeitsfinn zeichnet ihn aus, aber
er flieht Helle® und Dunkles und verfteht,. ohne fünftliche
Made, im Heinen Rahmen ein Weltbild zu geben. Einzelne
Abichnitte find etwas gedehnt; etwas größere Straffheit wäre
für eine zweite Auflage von großem Vorteil. Die Haupt»
trägerin der Handlung ift vortrefflih ausgeführt; aber auch
die anderen Geftalten feffeln dur innere Lebensmwahrbeit.
Zu rühmen tft die forgfältige Behandlung der Spradie; ab:
gebrauchte Wendungen find jehr felten. (S. 307 „Blutroter
Nebel legte fih auf meine Augen“ — diefer „blutrote Nebel“
ift zu einem Glide geworden, da8 ein Schriftfteller wie
Rojenberg nicht benügen dürfte) ch empfehle da® Buch
ernten und reifen Lejern. Wenn ich bemerfe, daß e8 zu:
weilen an Otto Qudwigs Art erinnert, dürften fie wiffen,
was fie zu erwarten haben.
Indas. Von Ernit Claufen. 2 Mt.
Den Hauptitoff bildet die Geichichte zweier Freunde, die
dag gleiche Mädchen Lieben und deren einer, Weltmenfch, ehr:
geizig, an dem zweiten zum Qubas wird. Das Ganze ift
geihidt gebaut, obwohl am Schluß überhaftet. Die Dar:
ftelung tft gewandt, entbehrt aber noch der Eigenart; aud)
muß der Verf. ftreben, den Stil von Flüchtigfeitsfehlern frei
zu machen. „Sliegend geht die Feder“ (158) und ähnliche
Wendungen darf ein ftrebjamer Schriftfteller nicht ftehen
laffen.
Eis Schlagwort der 3ett. Bon Fedorvon Zobeltik.
2 Bde. S Mt.
Dem frifch geichriebenen und gut gebauten Roman liegt
ein gejunder Gedante zu Grunde, der, ohne fi vorzubrängen,
da8 Ganze beherricht. Der Verf. wendet fich gegen die faliche
IV. 10
139
Auffaffung des Begriffe „modern“, der Beute nicht nur bei
Künſtlern und Scriftftellern, jondern aud) im geſellſchaftlichen
Leben viel Verwirrung anſtiftet, das Gute geſunder Über:
lieferung untergräbt und ſo oft auch begabte Menſchen um
die geiſtige oder ſittliche Klarheit bringt. F. v. Z. hat ſich
gehütet, den dargeſtellten Träger des Modernen zu übertreiben
und zu verzerren; ſie ſind alle wahrſcheinlich, was die Be⸗
weisſskraft der Vorgänge verſtärkt. Der Roman ſpielt in
Berlin und in der Provinz und entnimmt ſeine Geſtalten
den Ständen, die in unſerer Geſellſchaft am meiſten hervor—⸗
treten. Wohlthuend iſt's, daß er die Hauptgeſtalt nicht in
dem Wirbel zu Grunde gehen läßt; eine reine Liebe weckt
das Gute in ihm und führt ihn aus dem Treiben der Welt—
ſtadt und deren überhitzter Stimmungen in klare Verhältniſſe,
in denen ſeine tüchtigen Eigenſchaften die Führung des Lebens
übernehmen. Etwas einſeitig iſt des Verfaſſers Standpunkt,
aber heute iſt auch das berechtigt. Der Stil iſt gewandt, wenn
auch nicht frei von einzelnen Flüchtigkeiten. J1. 62 z. B. läßt
er eine Bügelfalte ſich blähen. Eckiges kann ſich nicht
blähen.
Feidenſchaften. Männliche, weibliche, ſächliche Ge⸗
ſchichten. vVon Georg Frh. von Ompteda. 3,50 ME.
Der Band enthält neun Geſchichten. Drei davon haben
litterariſchen Wert: „Sonnenzeit“, eine wirklich ſonnige No—
velle mit friſchen, liebenswerten Menſchen; „Der Spiegel“,
eine Seelenſchilderung in Selbſtgeſprächen, als Ganzes un⸗
möglich, aber fein und geſchickt gearbeitet, und „Das Kriegs⸗
recht“. Dieſe Arbeiten ſind der Anerkennung wert, beſonders
die erſte. Das andere beweiſt die Gewandtheit des Verfaſſers,
aber erhebt ſich in keinem Zuge über den Durchſchnitt.
Meine Liebe. Geihihten aus bem fernen Often von
C. Eſchricht.
Der Band enthält zwei Erzählungen: „Unter ben Ver—
ihidten” und „Passio pura“. Das Bud verdient wegen
der Spunigkeit und Sraft der Darftellung, die einzelne
Schwächen vergeſſen laſſen, wärmſte Anerkennung. Die
erſte Erzählung erſchüttert, obwohl ungewöhnliche Mittel nicht
angewendet ſind; der ſchlichte Vortrag erhöht die Wirkung.
Hier iſt nicht ein Wort zu viel; die Kennzeichnung der
Menſchen iſt tadellos, und die der Umgebung von genauer
Kenntnis zeugend. Die zweite Geſchichte iſt äußerlich viel
reicher an Geſtalten, entbehrt auch nicht — beſonders in der
Darſtellung der Judenfamilie — Komik, aber die ganze
Technik iſt nicht frei vom Einfluß ruſſiſcher Vorbilder. Aber
jedenfalls verdient das Buch warme Empfehlung.
Verliner Höllenfahrt. Heiteres und Ernſtes aus der
Reichshauptſtadt von Rudolf Stratz.
Der Band enthält ſechzehn Skizzen, denen aber alles
Diaboliſche fehlt. Der Verf. will es mit „Tout Berlin“ nicht
verderben und ſo hat er Handſchuhe, ſehr weiche, angezogen.
Die Leſung kann unterhalten.
Sein 3ch. Von Emil Roland. 3Mk.
Lebhaft erzählt; der Stoff feſſelnd, die Hauptgeſtalten
geſchickt durchgeführt; neben dem Ernſt des leitenden Ge⸗
dankens kommt auch drollige Frohlaune zur Geltung; der
Eindruck des Ganzen gut.
Reinheit. Novelle von Wilhelm von Polenz. 3Mk.
Der Verf. iſt in allen ſeinen Arbeiten bemüht, ſein Beſtes
zu geben. Überall tritt eine ernſte Geſinnung als das Leitende
hervor; die Sprache wird mit Sorgfalt behandelt. Wenn
ich auch die Novellen nicht ſo hoch ſtellen kann, wie den
Roman „Der Büttnerbauer“, ſo ſind doch auch ſie als Er-
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
140
zeugniſſe eines ehrlichen Künſtlers zu bezeichnen und reifen
Leſern beſtens zu empfehlen.
Vom Verlage S. Fiſcher, Berlin, ſind uns folgende
Werke zugekommen:
Venſton Fratelli. Von Felix Holländer. Ein kurzer
Roman und anderes.
Der Band enthält fünf Geſchichten, die das Mittelmaß
nirgendwo überragen. Überall zeigt ſich das Beſtreben des
Verfaſſers, ſich über ſein natürliches Maß zu ſtrecken, aber er
muß auf den Zehen ſtehen, um größer zu ſcheinen. Dabei
erinnert jede Geſchichte an fremde Vorbilder, nirgendwo
offenbart ſich ein Selbſt, das aus eigenem Beſiz geſtaltet.
Seit dem Roman „Frau Ellen Röte*, der zwar zu breit war,
aber dod; Gutbeobadhtetes bot, hat der Schriftfteller feinen
Fortichritt mehr gemadt. Das Angelefene und Aufgeleiene
drängt fi immer mehr vor.
Um das Weit. Bon Hans Land. 3 ME.
Die früheren Arbeiten litten unter der zu ftarf herbor-
tretenden Iehrhaften Abficht. Dieje tritt hier zurüd und fo
fommt die Begabung des Berfafjer® mehr zur Geltung. Der
Eindrud der Hauptgeftalt, des Schriftiteller8 Oft und ber
anderen Tsedermenfchen ift vortrefflih, da fie in ihrer Art
typifch ausgeitaltet find, für meitere Kreife aber jhwädt fi
die Wirkung ab, weil diefe das Sennzeichnende nicht zu be=
urteilen vermögen und auch die Schuld Ojfts nicht recht ver-
ftehen werden. Diefer hat an das dramatiiche Bruchftüd aus
dem Nachlajje eines Freundes die fehlenden Akte gefnüpft
und damit einen großen Erfolg errungen. Das Bewubßtfein
diefer halben Unehrlichkeit verwirrt fein ganzes Snnenleben.
Das tft fein durchgeführt, aber body) um einen Ton zu jchrill.
Über trogdem verdient daB Buch Anerkennung, weil e8 das
Streben nad) Vertiefung offenbart.
Aus den erfien Aniverfitätsjaßren. Von PeterNanien.
Überfegt von Matth. Mann.
Nanfen ift einer ber neueften Lieblinge der Diode. Ein
Teil der Preffe hebt ihn in den Himmel, findet in ihm die
lauterfte „Natur“. Sc vermag dieje Begeifterung nicht zu
teilen. Auch bei Nanfen tft jehr viel Künjtelei und Dlache,
was mir bejonder3 „Maria, ein Buch der Lichbe“ bewiejen
hat. Die Geſchichte des Studenten, der fi in furzer Zeit
von allen zu Haufe erhaltenen Überlieferungen und An
fhauungen loslöft und aud mit dem Vater bridt, enthält
figer jehr viel richtige Züge. Aber den Ktunftwert fann id)
nicht hod, bemefjen. Die Briefform, in der der Roman ab-
gefaßt ift, bringt an fih etwas Schwanfendes mit fid), ba
fih jehr Schwer in ihr ein allfeitig außgearbeitetes Bild geben
läßt. Außerdem ift der Stoff durchaus nicht neu oder durch
beſondere Züge ausgezeichnet. Derartige „überwindungen“
ſind ſchon häufig und tiefer dargeſtellt worden, als es hier
geſchehen iſt.
Diſſonanzen. Von George Egerton. Deutſch von
Dora Lande.
Auch diefe Engländerin ift durch eine Laune des Ges
ihmad3 in die erfte Neihe der beliebten Schriftftellerinnen
gehoben worden. Geift fol ihr nicht abgeiprochen werden.
Aber es ift ein unfrudhtbarer, auflöfender; eijige Kälte Liegt
über allen jeinen ußerungen, tiefere warmes Gemüts-
leben offenbart fit nirgends. An deilen Stelle tritt
fränfelnde Neizbarkeit der Empfindung. 8 ift be=
zeichnend, daß ein Zug mehrmals wiederfehrt: wenn die
Heldinnen fid in wirrer Stimmung befinden, beißen fie
fih in den Arm, um fi dur förperlihen Schmerz abzu-
141
Ienten. Rein verftandesmäßige Crörterungen fchieben fi
in den Ablauf der Gefühle, die jich bei dem geiftig und
törperlich gefunden Weibe von felber orbnen. Das Leitende
find ftetö die Beziehungen zwiichen Mann und Weib. Der
Mann ericheint fait ftet? als Beftie, die nur das „Weibchen“
fucht. In der legten Novelle „Wiedergeburt“ aber hat die
Verf. jo eine Art von Leitbild für Ehe und Liebe aufgeitellt:
die erfte erfaßt als freien Bund, der auf Zeit geichlofien
wird. E83 tit diefer Gedanfe bei den Vertretern ber
radifalen Anfichten heute fehr beliebt. Wie tief dadurd das
Weib fänfe, wenn er fich vermwirklichte, darüber zerbricht man
fi nicht den Stopf. Übrigens ift auch biefe Novelle ganz
fünftlih aufgebaut. Eine Modedame, die fih niemals mit
etwas Grnfterem beichäftigt hat, reich und verwitwet, lernt
einen Dichter kennen, deffen Worte ihre Seele erweden. Im
Handumdrehen wirb fie ein wirtichaftlides Genie und
gründet eine Art von „harmonifcher Gemeinde“, die fie allein
ordnet und beherriht. Das ift jehr unwahricheinlid. Dann
fommt fie wieder durch einen faft undentbaren Zufall mit
dem Dianne zujammen, der geradezu ein Walchlappen ift,
und fie geben als „freier Dann“ und „freies Weib“ den Ver:
trag auf Kündigung ein.
Natürlich begegnet man auch bei dieler Schriftitellerin
Stirner und Niepfhe. Wie George Sand ihre Gedanken
von Sandeau, Muffet, Lilzt, Lammenaiß, Bourges, Lerouzr
bezog, fo muß auch die Egerton ihren Geift von Männern
befruchten laffen. Wo das geichieht, giebt die rau ihren
angeborenen Reichtum auf, um dafür mit geborgtem zu
prunfen. Die Überjegung ift mäßig. ©. 113 beißt «8
„io. unflätig wie Sterne“. Das kann unmöglich richtig
jein. Das Berlinifch, mit dem die Verdeuticherin die Mund-
art in „Eheitand“ wiedergiebt, ift ftellenweife jehr gefünitelt.
Sibiſta Dalmar. Roman aus dem Ende diejed Jahrs
hundert?. Bon Hedwig Dohm. 4 Mt.
Die Verfafferin tft eine rau von ungewöhnlichen
Verftande und bedeutendem Wilfen; in beiden überragt fie
bie Egerton um vieles. Das beweijen auch ihre älteren
Schriften. Der Anlage nad könnte man fie, die Eitelkeit
abgerechnet, einen weiblichen Lafjalle nennen. Ihr Verftand
ift viel Ichärfer entwidelt, al8 der irgend einer der vielgenannten
Frauenredtlerinnen; dazu befigt fie Ironie, die oft harmloſer
iheint, als fie ift. Aber aud ihr Verftand ift nur ver:
neinend, in folder Einfeitigfeit, daB er, um eine Warze auf
der Nafe gründlich zu entfernen, den Kopf abichneidet. Für
da3 Leben und Weben des deutichen Gemüts, für das Glüd
ftilen Waltens, die fih hingebende Liebe fehlt ihr daS Ver:
ftändnis, und fie hat faft nur Worte des Spottes für die
Hauöfrau, vielleicht weil fie, ein Großjtabdtfind durd und
burh, nur Berrbilder folder kennen gelernt hat. Daß des
Volkes Wohl auf den echten Müttern und echten Hausfrauen,
auf beren Gemütseigenichaften beruht und nicht auf einem
oder zweien Taufenden gelehrter rauen, die in allen
„Rechten“ dem Deanne gleichftehen, befümmert fie nicht.
Aus diefen Anfhauungen heraus will aud) diejer Roman
beurteilt fein. Er enthält, da8 wird jeder Kenner Berliner
Verhältniffe jehen, viel Selbftbeobadhtetes und nod) mehr
Selbftgelebtes. Die eigentliche Trägerin des Hauptgedantens
ift eine Berlinerin, und zwar, wie aus einer Bemerkung bom
„Sudenjhidjel” zu entnehmen, der Sprößling eines Hauſes
von jüdijcher Abftammung. Diefe Sibilla fchreibt mit zwölf
Sahren in ihr Tagebud: „— — fie ift ein Kind und das
bin ich nicht mehr, vielleicht bin id) e8 nie gewefen.“
Beiblatt der Deutihden Roman-Zeitung.
142
Und da3 ftimmt. Diefes Mädchen hat die Dämmerungen
ded Gemüts, au8 benen erft der echte Dann, das rechte Weib
hervorgehen, nie gelannt; fie befigt überhaupt Gemüt nidıt.
Über viel Verftand, viel Sronie; lieft ala Kind ichon Uns
menge von Romanen, und dann Ipäter alles mögliche. Ein
Hirngeihöpf, mit ftarfen Nerpenbewegungen, die zumeilen
Leidenihaft hHeucheln. Wohl fpricht fie.in den Briefen, bie
fie al8 Gattin eines reihen Mannes an ihre Mutter jchreibt
— diefe Briefe find der Stern des Ganzen — von „Über-
Ihuß an Thatkraft“. In Wahrheit hat fie gar feine. Alles
tft nur Vorftellung; fie bejigt zu wenig fittliche Bildung, zu
wenig wahre Innerlichkeit, um ihr Zeben geftalten zu können,
daß e8 nüße Sie verpufft ihren Intelleft in Kleinen oder
großen Bosheiten, in Wien und Wigeleien, in verblüffenden
Wendungen, die nicht felten mit „Kalauern” verwandt find.
Und diejer thatkraftloje Srrwilch, der nichts als fein Sch
fennt, jagt: (©. 205) „Mein Beruf wäre geweien. zu denken,
niht8 weiter. Al männliches Geihöpf wäre ich vielleicht
Spencer oder Stuart Mill oder Niegiche geworben.“ Sie
irrt fih; denn jelbft zu dem Denten diejer beiden Engländer,
die nirgendwo in daß Tieffte geben, gehört Thatfraft und
Beharrlichfeit — die fie nicht befigt; und auch ein Niegfche
zu fein, muß man neben der Phantafie ein jehr weiches
Herz befigen — feine Härte ift ja nur maßstierte Weichheit.
GSibilla aber hat ein weiches Herz nit. So find alle foldye
Bemerkungen Seuerwerl. Wie fie innerlich herrihlüchtig tft,
beweift ihr Leitbild von einem Manne (©. 170) „— — —
und Brofefjor müßte er fein, ein jehr gelehrter. Und fanft
bon Gemüt und naid wie ein Kind will ich ihn, einen
Menihen will ich, dem ich die Hände küffen möchte". Wohl
deutet der legte Sat auf den unklaren Drang, zu dienen,
aber das ift dody Schein. Sibille will das „Kind“ beherrichen,
e3 Überfchen. Hätte fie einen folden Mann befommen, er
wäre ihr in einem halben Jahre zum Sterben langweilig
geweſen.
Wenn die Verf. nur eine Zeitkrankheit hätte ſchildern
wollen, dann wäre die Kennzeichnung trotz manches ver⸗
künſtelten Teiles vortrefflich. So aber ſtehen hinter dem
Ganzen alle lehrhaften Abſichten, alle Überzeugungen der
äußerſten Linken, Sibille ſoll als Opfer ihrer Zeit gelten,
die den Weibern nicht die volle Gleichheit mit den Männern
zugeſteht und dadurch die großen Geiſter unter ihnen zu
Grunde richtet. Durch dieſe Abſicht wird die Beweiskraft
des Einzelfalles vernichtet. Denn Sibille iſt nicht ein groß⸗
angelegtes Weib, ſondern nur das Ergebnis einer durchaus
ſchlechten Erziehung durch eine thörichte Mutter und
einen leichtſinnigen Vater, die beide im Grunde nur dem
Scheine gelebt haben, durch das Treiben im Geſellſchaftsleben,
das ſchon Kinder künſtlich erhitzt, ihnen das Gemüt vergiftet.
Das aber, was Schuld einzelner iſt, der „Zeit“ — einem
Begriff — als Schuld aufzulaſten, iſt rechtswidrig.
Dennoch ſei der Roman empfohlen, da er wertvolle
Beiträge zur Kenntnis der Stimmungen in einem kleineren
Kreiſe der Frauen bietet.
Im „Deutſchen Verlagshaus Bong und Co.
Berlin M. ſind erſchienen:
H. V. Schumacher „Das Hungerlos“.
komiſche Geſchichte.
Der Anfang des Werkes hält den Leſer zum beſten.
Wir werden auf ein Gut geführt, wo, wie es ſcheint aus
Not, die äußerſte Sparſamkeit, ja Filzigkeit herrſcht. In⸗
deſſen ſorgen kleine komiſche Auftritte, daß der Eindruck nicht
Eine tragi⸗
143
quälend wird. Weshalb ber Befiger fih und bie Seinigen
zum „ÖQungerlos“ verdammt, trogdem er wohlhabend ift, wird
erft gegen Ende offenbar. Die Geichichte barf fi mit Redt
tragtlomish nennen, denn beide Beftandteile find in ihr
borhanden und fehr gefchidt vereint. Der Verf. hat uns
ftreitig für diefe Art befondere Begabung; zuweilen zwar
übertreibt er, aber er verfällt niemals in jene rohe Komif,
die heute oft ala „Humor“ gilt. Das Buch fei befonders
unſern Lefern auf dem Lande beftens empfohlen; die werden
auch für drollige Züge, die den Stabtleuten nicht recht ein-
gehen, das richtige Verftänbnis haben. (3 ME.)
- Der Dorffriedhof.
Als wär’ e8 Schlafenzzeit, regt fih fein Laut,
Die grünen Hügel mit vermorfchten Kreuzen
Sind herbitlih Ihon vom Abendtau betaut;
Es iſt ſo ſtill.
Die welken Blätter, die der Wind verweht,
Sie konnten müde nun zur Ruh' gelangen
Und in ber Qufl’c8 ſchwebt ein ſtumm Gebet;
Es iſt ſo ſtill.
Grün webt ſich's über jeden Hügel hin,
Es miſcht ſich Epheu mit den Herbſtzeitloſen.
Ein wehmutsvoller Friede füllt den Sinn —
Es iſt ſo ſtil.
Wenn tiefer noch das Thal der Schatten füllt
Erklingt das Glöcklein für die Ruh' der Toten
Und jeder Ton mir aus dem Herzen quillt.
Es iſt ſo ſtill.
&. v. Oberhofen.
Dermildttes.
Wir haben folgende Zufchrift erhalten:
Adaldert Htifter-Denkmal in Linz Sn Linz, der
Hauptitadt Oberöfterreihs, in der Adalbert Stifter mehr als
zwanzig Qahre Tebte, al8 Schulmann wirkte, hat fi unter
dem Ehrenvorfige des Bürgermeifters ein Ausfchuß gebildet,
um dem Dichter des „Hochwaldes“ an ben lifern der rauichen-
den Donau in Angefiht der Berge und Wälder, der Aus:
läufer feines heimatlihen Vöhmerwaldes, ein mürdiges
Denkmal zu errichten.
Der Ausschuß wendet fi hiebei an alle Verehrer von
Adalbert Stifter Mufe mit der Bitte, ein Scherflein bei-
autragen, um diefen Zwed zu fördern. Adalbert Stifters
Werke find heute nody wahre Perlen deuticher Erzählungss
tunft ınd gewähren heute noch Taufenden von Lejern einen
Beiblatt der Deutichen Roman-ZBeitung.
mir die Reime jenbeft,
144
hohen Genuß und hohe Freude. Möge jeder, den biejer
Dichter erquidt und begetftert, e8 auch als eine Pflicht an
fehen, dazu beizutragen, daß ein würbiges Denkmal an ber
Stätte, wo ber Dichter lebte und wirkte und jchrieb, von
der Dankbarkeit feines Volkes Stunde geben kann.
Jeder Beitrag ift willlommen, und mir bitten, ben-
felben an ben Ausfhuß zur Errichtung eine Adalbert
Stifter-Denfmals in Linz a. d. Donau, zu Handen des
Schatmeifter, Herrn f. u. E. Hofbuchhändler® Vinc. Fink,
jenden zu wollen. Der Ausihuß zur Errichtung eines
Adalbert Stifter- Denkmals in Linz a. d. Donau.
Briefkaften.
Frl. M.M. in 8. „Nofenlieder” 2.0.3 angenommen.
1. tft zu fpielrifh. — Frl. ® L. in H. Niht ganz fo
gut, wie manches frühere. Die Arbeit fommt; verzeihen Sie,
daß ich Ihre Geduld fo Hart geprüft habe. Beften Gruß.
— Herm Fri H. in M. Die Gedichte find gut gemeint,
aber nod zu unreif in Form und Inhalt — Ein Suchen:
der. Das haben Sie falih aufgefaßt. Wer mir fein Ver:
trauen jchenkt, Menfch zum Dienfchen, der mag mir fchreiben,
wie viel er will; ich werde ihm gerne, wenn auch furz ant=
worten und nad befter Einfiht meine Meinung jagen.
Nur muß e8 fih um wirklich ernfte Lebensfragen handeln.
Alfo fchreiden Sie, Ihren Namen brauche ic) ja nicht zu
willen. — Frl. EM. in D. Gedichte werben nicht zurüd:
geiendet. Die 20 Pf. find in eine Sammelbücdje für die
„serienkolonten geftekt worden. Leider unbrauhbar. —
Herrn stud. B. in 2. Neines Gefühl, aber zu empfind-
jam und im Ausdrud noch ohne Eingenart. — Alter
Abonnent in Wiesbaden. Ein Buch „Der Mönd von
Amalfi* ift mir nicht zugelommen. — Herrn Relt. W. 3. in
WB. „An der Gruft“ werde ih wohl bet günftiger Gelegen-
heit etwa8 gefürzt bringen. — Frl. M. Br. in. Daß
Du, im Schein der Sonne lebend, „wonnebebend“ bichteft,
auf Deiner Heimat Höh’n, tft Shön. Doc daß Du Did nicht
zur Einfiht wendeft, nit auf den Drud verzichteft und
nit meine Qualen enbeit, bemweift
einen Geift der Graujamteit und des Gemütes Nauhfamteit!
Inhalt der io. 41.
Schwertflingen. Baterländifher Roman von Han
Werder. Fortj. — Die neue Herrin. Roman bon Karl
Erdm. Edler. Schluß. — Beiblatt: Sommer im Liede.
— Die Amerifanerin in England. Bon Luife Reben:
tiih. Schluß. — Wedruf. Bon Hans Biermann. —
Eine Toilette vor achtzehnhundert Sahren. Bon Adolf
ahle. Schluß. — „Blüten im büftren Hof. Bon
Elimar von Monfterberg. — Neue Romane und andere
Unterhaltungzfchriften. Angezeigt von D. dv. 2. — Der Dorf:
friedhof. Von. v.Oberhofen. 2” Bermifchtes, — Briefkaften.
— —
WE Zur Beachtung! ur
Alle unverlangt an bie Leitung oder den Verlag des Blattes eingejendeten Manujtripte — größere
Romane ausgenommen — werden nur zurüdgejenbet,
Irgendwelche Bürgichaft für Zurüdiendung wird nicht geleiftet, Gedichte werben überhaupt
Umſchlag einliegt.
nicht zurückgeſendet.
wenn ein mit der Adreſſe verſehener, freigemachter
FSeitung und Berlag der Roman Zeitung.
Verantwortlicher Xeiter: Dito von Leirner in Berlin. — Verlag von Dtts Janke in Berlin. — Drud ber Berliner Buchdrudereis Aktien» @ejellihaft
(Segerinnen s Schule beB Fettes Bereinß).
Deutſche
ı Roman Zeilung.
Erjcheint wöchentlich zum Preijfe von 31; A vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bolt.
Durd) alle Buchhandlungen aud) in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober.
_18%.
ämter nehmen dafür Beltellungen an.
beziehen.
Ne 4,
36wertklingen.
Vaterländiſcher Roman
von
Dans Werder.
(Fortſetzung.)
Tag und Nacht wartete Prinz Louis auf den
Kurier, den ihm Hohenlohe verheißen. Daß in dem
bisher feſtgeſetzten Schlachtplan verhängnisvolle Ände⸗
rungen eingetreten waren, wußte er bereits und
ſchwere Sorge erfüllte ſein Herz. Ach, dies Schwanken
und Zagen, während die Heere des Feindes ſich wie
eine große Klammer um die preußiſche Armee zu—
ſammenzogen! All die heiße Kampfesungeduld, die
ſeit Jahren an dem jungen Heldenherzen genagt,
preßte ſich jetzt zuſammen, da an der Verſäumnis
einer Stunde der Erfolg zu ſcheitern vermochte, und
brannte wie verzehrende Flamme.
Die Stunden verrannen. Prinz Louis war ſtill
und ernſt. All die freimütige Offenheit ſeines Weſens
war von ihm gewichen, der kameradſchaftliche Ton
verſchwunden, als Feldherr nur ſtand er den Seinigen
gegenüber und zeigte ihnen eine ruhig heitere Stirn,
die Qual der Sorge ſtumm in ſeiner Bruſt ver—
ſchließend. Doch die ihn kannten, errieten nur um
ſo leichter, was in ſeiner Seele vorging und trugen
ſtill mit ihm die Sorge.
Der kluge, klare Blick ſeines treuen Noſtitz er⸗
ſchien dem Prinzen jetzt allzu hellſehend, er ſandte
ihn voraus nach Rudolſtadt, dem dortigen Fürſten
von Schwarzburg ſeine Grüße zu überbringen und
bei ihm Quartier zu beſtellen. Nach dorthin mußte
unter allen Verhältniſſen ſein Marſch ſich richten.
Die Nacht brach herein. In überreizter Müdig—
keit warf der Prinz ſich endlich in voller Uniform
auf ſein Lager. Da ſchreckte ein Poſthorn ihn auf.
Sofort flog er empor und ſtand aufrecht in bebender
Ungeduld — Drbdorf öffnete feine Thür, Fürft Hoben-
Iohe felbft trat zu ihm herein. „Durdlaudt — Gott
jei Dant, daß Sie fommen!” mit dem Ausruf empfing
ihn der Prinz.
Zwei Stunden währte bie Unterredung, dann
verließ ihn der Fürft wieder. Prinz Zouis hatte bie
nötigen Sinftrultionen empfangen. Sogleih brad er
Romansfeltung 1896. Lief. 42.
mit jeinen Truppen auf und traf alsbald — am
T. Dftober — in NRudolftadt ein. Noftig ritt ihm
entgegen und traf feinen Herrn auf der Zandftraße,
furz vor den Thoren der Stadt. „Bott fei Dant —
endli bat man fich zu etwas entjchloflen!” rief ihm
diefer entgegen.
Der Prinz mit feinem Gefolge, beitehend aus
Nofig, Kleift, Nohlig, dem Duartiermeifter Haupt:
mann von Balentini und einigen anderen Offizieren,
bezog Quartier im Schlofje des Fürften, der ihn mit
ftrahlender Freude empfing. Ein großes Feftmahl
und Ball folte am Abend die Ankunft des be-
wunberten Gaftes feiern. Die Adjutanten beftanden
darauf, daß der Brinz fi vorher einige Stunden
zurüdziehen und der Ruhe pflegen jollte, und er ließ
ih die Fürforge gefallen. Seht, da für den Augen:
blid die furdtbare Spannung von ihm gemwidhen,
vermochte er fich einem Furzen, erquidenden Schlummer
hinzugeben.”
Abends an ber Feſttafel ſeines fürſtlichen Wirtes
ſchien er dann völlig wie ſonſt zu ſein — der liebens—
würdige Geſellſchafter, der ſpielend die Unterhaltung
beherrſchte und durch ſeine geiſtvollen Äußerungen
alles bezauberte.
Zu dem Ball, welcher auf das Galadiner folgte,
erſchienen zahlreiche Offiziere der Feldarmee. Es
war ein glänzendes Feſt, mit Tanz und rauſchender
Muſik. Die edelſten Weine aus dem fürſtlichen Keller
ſorgten dafür, die fröhliche Stimmung auf der Höhe
zu erhalten. Und doch waren die Herren nur mit
halbem Herzen dabei. Gar zu nahe bevor ſtand die
Schlacht und die Blicke der Offiziere ſuchten das
Antlitz ihres hohen Führers, das in ſeiner ernſten,
geſchloſſenen Ruhe nicht wie ſonſt auf ihre Stimmung
zünnenD- wirkte. Die edle Fürftin fühlte mit ficherem
) Alles, aud) das folgende, genau hiftorifch, zum Teil nad)
Nojtig” Erzählung.
IV. ı1
147 Schmertflingen.
Talt heraus, daß der laute Subel in bem Herzen =
ihres Gaftes fein Echo fand. Sobald es angängig
war, nahm fie feinen Arm und verließ mit ihm den
Balljaal. Nur die fürftlide Familie nebit den Hof:
ftaaten folgten ihnen und der Eleine Kreis blieb noch
in zwanglofer Unterhaltung beifammen.
„Mein Prinz,” wandte fih die Fürftin an
diefen, „Sie fehen, dort fteht der Flügel geöffnet,
das Renommee von der Künftlerjchaft des Prinzen
Louis ift auch zu uns gedrungen, ich glaube, Sie
würden ein dantbares auditoire in uns finden!”
„Eure Durdlaudht haben über mich zu befehlen!”
erwibderte der Prinz, „nur um einige Minuten Zeit
bitte ih noch!”
Die Unterhaltung ging weiter. Allmähli ward
er jchweigfam, als hörte er nicht mehr, was um ihn
ber geiprohen wurde und feine Augen nahmen einen
in fich gelehrten Blid an. Langjam erhob er fidh
und nahm vor dem Flügel Plat. Das ganze Ge:
Iprähd — jedes Flüftern verftummte. Atemloje Stille
berrichte im Saal. Prinz Zudwig begann zu jpielen.
Freie Phantafien fluteten buch feine Seele, über die
Saiten hin. Schwermütig erft und büfter. Auf:
jauchgende XLebensluft und fchmerzvolles Entjagen
rangen miteinander in titanenhaftem, erjchütterndem
Kampf. Süße Liebesklage flüfterte firenengleih da—⸗
zwilhen. Dann aber ward die Stimmung jreier,
mächtiger. Kriegerifhe Klänge jchienen die Geele
aus der Betäubung wadh zu rütteln. Hehr und ge-
waltig wuchlen fie an, doch nicht wie Siegesfreude
über den fliehenden Feind, jondern feierlid, er-
Ihütternd, wie der Einzug erichlagener Helden in
Walhalla. Triimphierend löften fich die Diffonanzen.
Klar und fieghaft brach es hindurdy wie Sonnenlidt,
befreit und erlöft von Erdennot und Enge, aufatmend
in großen, freien Harmonien, jo verhallte endlich der
Heldengejang und verjtummte.
Gefungen hatte der töniglide Schwan und id)
die Bruft befreit, und aufwärts gerichtet blieb fein
Blid, dorthin wo jeine Schwingen ihn trugen, zum
Siegen oder Sterben.
111,
Wieder brach ein neuer Morgen an, der ben
Tag der Enticheidung näher rüdte. Noftig trat in
jeines Herrn Gemad, die Befehle desfelben entgegen:
zunehmen. Der Prinz jaß an jeinem Schreibtilch,
den Kopf leiht in die Hand geftügt. Vor ihm ftand
fein Frübftüd, zurüdgeihoben, nur wenig berührt.
Ein angefangenes Schreiben an den Fürlten Hohen:
lohe lag vor ihm. Noftig ftand am Schreibtiih und
ber Prinz gab bie erwünjchten Befehle. Dann aber
unterbra er fih und lächelte — er wollte unter:
brüden, was er zu jagen hatte, und erlag boch ber
Verſuchung.
„Noſtitz — denken Sie, daß mir dieſe Nacht
die weiße Frau erſchienen iſt!“
„Königliche Hoheit!“ es klang wie ein zürnender
Vorwurf.
Roman von Hans Werder.
148
Prinz Louis mußte lachen. „Natürlich war es
ein Traum, obgleich ich mich nicht erinnere, geſchlafen
zu haben! Sie ſtand vor mir und ſah mich an, die
Züge erinnerten mich an die der Königin, aber
geiſterhaft. Sie lächelte, ein ſo trauriges Lächeln,
und berührte mich mit ſchneeweißem Finger am Kopf
und auf der Bruſt! Ich wollte zu ihr ſprechen, aber
ſie ging fort, langſam, mit nachflatternden, weißen
Schleiern. Ich hätte ſie gern noch zurückgehalten!“
„Nun, zu ſagen hat das nichts, gnädigſter Herr!“
bemerkte Noſtitz nach einer kleinen Pauſe. „Die
weiße Frau, die unſerm Königshauſe bedeutungsvoll
ſein will, die ſpukt im königlichen Schloſſe zu Berlin
— nicht hier in Thüringen!“
„O Noſtitz, wenn ſie mir wirklich etwas zu
ſagen hätte, meinſt Du nicht, ſie könnte ſich um
meinetwillen bis hierher in mein Kriegslager be—
mühen? Sollte ich das nicht verdient haben um die
Frauen?“ Er weidete ſich ſekundenlang an dem
mühſam beherrſchten Ausdruck auf dem Antlitz ſeines
Adjutanten. „Laß es gut ſein, Noſtitz, wen es treffen
ſoll, den trifft es, dafür ſind wir im Kriege! Aber
wer es auch ſei von uns beiden, Du oder ich, immer
wird der Zurückbleibende ſich ſagen können, daß er
getreu zu dem andern gehalten hat, bis in den Tod!“
Er reichte ihm herzlich die Hand hin, welche Noſtitz,
keines Wortes mächtig, an ſeine Lippen drückte.
„Und nun ſchicke mir Valentini her,“ fuhr Prinz
Louis in verändertem Tone fort, „er ſoll dieſen
Brief an den Fürſten Hohenlohe bringen — ich denke,
die Entſcheidung iſt da!“
Zwiſchen den Herrſchern der beiden kriegeriſchen
Mächte waren endlich die Würfel gefallen. Der
König hatte ein „Ultimatum“ geſtellt, auf welches
Napoleon mit höhnendem UÜbermut geantwortet. „Man
giebt uns ein Rendezvous auf den 8. Oltober,“
ſchrieb er an einen ſeiner Generale. „Ein Franzoſe
läßt nie auf ſich warten. Man ſagt aber, eine ſchöne
Königin wolle Zeuge ſein bei den Kämpfen, gut, wir
wollen artig ſein und ohne Aufenthalt nach Sachſen
marſchieren!“
Unmittelbar ftanden die feindlichen Heere ein-
ander gegenüber. m preußifchen Hauptquartier aber
berrichte Uneinigfeit nach wie vor. Unabläffig wurden
die Dispofitionen geändert, und feiner der Sseldherren
fonnte ganz ficher fein, von dem andern jeine Be:
fehle nicht wenigitens umgangen zu jehen.
Prinz Louis Ferdinand wußte das alles. Auch
die legten Jlufionen waren ihm geichwunden und
damit zugleich der Glaube an den Erfolg. Aber fein
Bagen und fein Verzweifeln fam in jeine Seele.
Konnte die heilige Sache, für bie er in den Kampf
gezogen, nach Veritandesberechnung nicht mehr auf
Gelingen hoffen, fo wollte er fi) und das ihn an:
vertraute Heer in die Schanze jchlagen, verdoppelt
gleihjam, im heiligen Feuer des Todesmutes, und
ehrenvoll untergehen, wenn der Sieg unmöglid) war.
So hatte er mit feiter Hand das Los über fich ge
worfen, und nichts trübte ihm mehr die befreite
Seelenrube.
Die Naht vom 9. zum 10. DOftober ging zu
Ende. Der Prinz vernahm Schüfle, die ihm ver:
149 Schwertklingen.
kündeten, daß ſeine Vorpoſten mit denen der Fran—
zoſen zuſammengetroffen waren. Aus den hochgelegenen
Fenſtern ſeines Quartiers im Schloſſe ſah er die
feindlichen Wachtfeuer fern am Horizont entlang.
O, wäre die Nacht erſt vorüber!
Eine letzte Botſchaft aus dem Hauptquartier
erwartete er noch. Doch da ſie ſeiner Anſicht nach
nichts anderes bringen konnte, als den Befehl zum
Angriff, ſo traf er daraufhin alle Anordnungen aufs
beſtimmteſte. Bei Tagesgrauen erreichte ihn die
Kunde, jenſeits Saalfeld ſeien die vorgeſchobenen
Poſten in ein Gefecht verwickelt und vermöchten ſich
nicht zu halten. Der Prinz erteilte ſofort die nötigen
Befehle. Um acht Uhr traf er ſelbſt bei der Ko—
lonne ein.
Den Stern des Schwarzen Adlerordens auf der
Bruſt, den Federbuſch auf dem Haupte, das Sieges—
leuchten im Auge, ſo ritt er der Schlacht entgegen,
„wie der erſtgeborene Sohn des Mars“.
Die franzöfiſchen Truppen, welche der Prinz zu—
nächſt für eine „ſtarke Avantgarde“ gehalten, er—
wieſen ſich bald als den ſeinen um das Dreifache
überlegen. Ein heißes Gefecht entbrannte. Mit großer
Tapferkeit fochten Preußen und Sachſen unter ihrem
fürſtlichen Führer, doch die Übermacht des Feindes
war zu groß und alle Vorteile auf gegneriſcher Seite.
Als der Prinz ſich auch in der Flanke attackiert ſah,
ohne dort die nötige Deckung zur Hand zu haben,
befahl er, dem dringenden Rate ſeiner Umgebung
folgend, nach Schwarza hin zurückzugehen. Schweren
Herzens begab er ſich ſelber, von Noſtitz und Haſſo
begleitet, an den gefährdetſten Punkt jenſeits von
Saalfeld, um den Rückzug zu leiten. Doch ſchon in
der Stadt traf er überall Haufen fliehender Füſiliere
und Jäger. Bei ſeinem Anblick prallten ganze
Trupps zurück und blieben ſtehen. Im Bügel ſich
hebend, rief er mit weithin ſchallender Stimme ihnen
zu: „Preußen, wollt Ihr mich im Stich laſſen, Euren
General, Euren Prinzen!?“ Ein ſtürmiſches Hurra
war die Antwort. Sie ſcharten ſich um ihn, als
gehorchten ſie einer Zaubermacht, und bald ſtanden
die Reihen wieder, wie von dem Blick ſeines Auges
gebannt. Ruhig, gelaſſen beherrſchte er die Situation,
kein Blick, keine Bewegung verriet den ungeheuren
Schmerz ſeiner Seele, obſchon die ganze Größe der
Gefahr und die Ausſichtsloſigkeit des Kampfes ihm
klar vor Augen ſtand. Sein Erſcheinen ſtellte die
geſtörte Ordnung wieder her, Mut und Ruhe ver—
breitend, wo er ſich zeigte.
Inzwiſchen war Kavallerie und Artillerie nach
Wölsdorf hin zurückgegangen. Die Artillerie hatte
ſich in einem Hohlwege feſtgefahren. In dieſem ge—
fahrvollen Augenblick erſchien zahlreiche franzöſiſche
Kavallerie, um, in zwei Treffen entwickelt, die Ar—
tillerie anzugreifen. Mit mörderiſchem Feuer wurde
ſie empfangen, und das vorderſte der franzöſiſchen
Regimenter zog ſich eilig wieder zurück. Das war
der Moment, der dem Prinzen Rettung zu verheißen
ſchien. An der Spitze der bereits vereinigten fünf
Schwadronen ſächſiſcher Huſaren warf er ſich auf den
Feind, von den weiter zurückſtehenden Schimmel:
pfennig-Huſaren Hilfe erwartend. Doch fie kamen
Roman von Hans Werder.
150
zu ſpät. Schon griff ihn das zweite Treffen franzö—
ſiſcher Kavallerie mit erdrückender Übermacht in der
Flanke an. Von Minute zu Minute wurde der
Widerſtand ſchwieriger und endigte mit wilder Flucht
ſeiner aufgelöſten Reiterſchar. Noch wollte der Prinz
ſie zum Stehen bringen — es war vergebens. Sie
hörten ſeine Stimme, ſie ſahen auf ihn, doch alles
verſchlang das Entſetzen der Flucht und des Kampfes.
Im dichteſten Handgemenge, wie ein Löwe, focht
Prinz Ludwig, den Tod herausfordernd, Bruſt an
Bruſt.
In Todesangſt drängten die Seinen ſich um ihn.
„Retten Sie ſich, mein Prinz, um Gottes
willen!“ ſchrie Noſtitz ihm verzweifelnd ins Ohr.
„Was liegt an meinem Leben! Die Schlacht
iſt verloren!“ klang ſein Ruf zurück.
„Alles, Herr! — man nimmt Sie gefangen,
das iſt ſchlimmer als die verlorne Schlacht!“
Gefangen! das Wort ſchlug ihm zündend in die
Seele. Keine Verzweiflung, auch jetzt nicht. Überall
gab es Rettung, nur in der Gefangenſchaft nicht!
Schon warf Noſtitz gewaltſam des Prinzen Pferd
mit dem ſeinen herum. Der Feind folgte unmittel—
bar, nur eiliges Fliehen konnte Rettung bringen.
Wie ein Vogel flog „Slop“, der Nenner, über ben
Boden dahin, über Gräben und Hecken — nicht—
achtend — nur vorwärts! Ein hoher Zaun ver—
ſperrte den Weg. Das iſt kein Hindernis für den
Reiterfürſten! — Schenkel und Sporn dem Pferde
— und wie ein Pfeil zum Sprunge ſtreckt ſich der
Renner — hinüber! Doch ſchon iſt ſeine Kraft er—
mattet nach des Tages ſchwerer Arbeit — er bleibt
hängen mit einem Fuß und ſtürzt nieder.
Eilig raffte Prinz Louis ſich auf, der Hut war
ihm im Sturz vom Kopfe geflogen. Schon um—
drängten ihn feindliche Reiterhaufen. Ein Säbelhieb
traf ſein entblößtes Haupt. Er ſchwankte. Doc
einen Augenblick nur und feſt ſaß er wieder im
Sattel. Wie die Raſenden fochten die Seinen neben
ihm. Wie einen Schild, mit ſeinem Leibe ihn deckend,
warf ſich Haſſo vor ihn hin, doch ein wuchtiger Hieb
über den Kopf ſtreckte ihn zu Boden.
„Herr, Ihren Degen, Sie ſind mein Ge—
fangener!“ ſchrie ein franzöſiſcher Wachtmeiſter dem
Prinzen zu.
„Da haſt Du ihn!“ — und noch einen Todes—
ſtreich führte das Preußenſchwert in der löwenhaften
Fauſt. Da aber traf ein Degenſtoß die unbewehrte
Bruſt. Noch hielt der Held ſich aufrecht. Um ihn
drängten fi Noftig und Balentini, mit ihrem Herz
blut ihn zu ſchützen, auch Rochlitz, ſich aufraffend,
blutüberſtrömt, zu kämpfen mit letztem Atemzuge.
Der Prinz ſchwankte. In ſeinen Armen fing
Noſtitz den Sinkenden auf und hielt ihn, ſtützte ihn.
Schon verhauchte er ſein Leben.
„Prinz Louis, mein geliebter Herr!“
Schwer lag das Haupt des ſierbenden Helden
auf ſeiner Schülter. Das Löwenherz hatte ſeinen
letzten Schlag gethan.
Mit der Raſerei der Verzweiflung fochten die
beiden andern, um nur den geheiligten Toten den
Feinden zu entreißen. Schon lähmte eine Wunde
147 Schwertflingen.
Talt heraus, daß der laute Subel in dem Herzen =
ihres Gaftes fein Echo fand. Sobald es angängig
war, nahm fie feinen Arm und verließ mit ihm den
Balljaal. Nur die fürfilihe Familie nebft den Hof:
ftaaten folgten ihnen und der Feine Kreis blieb noch
in zwanglofer Unterhaltung beifammen.
„Mein Prinz,” wandte fih die Fürftin an
biefen, „Sie jehen, bort fteht der Flügel geöffnet,
das Renommee von der Künftlerichaft des Prinzen
Louis ift auch zu uns gebrungen, ih glaube, Sie
würden ein dantbares auditoire in uns finden!“
„Eure Durhlaudt haben über mich zu befehlen!”
erwiderte der Prinz, „nur um einige Minuten Zeit
bitte ich noch!”
Die Unterhaltung ging weiter. Allmählich ward
er Ihweigiam, als hörte er nicht mehr, was um ihn
ber geiprochen wurde und feine Augen nahmen einen
in fich gefehrten Blid an. Langjam erhob er id
und nahm vor dem Flügel Plat. Das ganze Ge:
ſpräch — jedes Flüftern verftummte. Atemloje Stille
berrichte im Saal. Prinz Ludwig begann zu jpielen.
Freie Phantafien fluteten durch feine Seele, über die
Saiten hin. Schwermütig erft und büfter. Auf:
jauchzende Lebensluſt und ſchmerzvolles Entjagen
rangen miteinander in titanenhaftem, erſchütterndem
Kampf. Süße Liebesklage flüſterte ſirenengleich da-
zwiſchen. Dann aber ward die Stimmung ſreier,
mächtiger. Kriegeriſche Klänge ſchienen die Seele
aus der Betäubung wach zu rütteln. Hehr und ge—
waltig wuchſen ſie an, doch nicht wie Siegesfreude
über den fliehenden Feind, ſondern feierlich, er—
ſchütternd, wie der Einzug erſchlagener Helden in
Walhalla. Triumphierend löſten ſich die Diſſonanzen.
Klar und fieghaft brach es hindurch wie Sonnenlidt,
befreit und erlöft von Erdennot und Enge, aufatmend
in großen, freien Harmonien, jo verhallte endlich der
Heldengefang und verjtummte.
Gejungen hatte ber königlide Schwan und fid)
die Bruft befreit, und aufwärts gerichtet blieb fein
Blid, dorthin wo jeine Schwingen ihn trugen, zum
Siegen oder Sterben.
In.
Wieder bradh ein neuer Morgen an, der den
Tag der Entiheidung näher rüdte. Noftig trat in
jeines Herrn Gemad, die Befehle desjelben entgegen:
zunehmen. Der Prinz jaß an jeinem Schreibtifch,
den Kopf leicht in die Hand geftügt. Vor ihm ftand
jein Frühftüd, zurüdgeihoben, nur wenig berührt.
Ein angefangenes Schreiben an den Fürften Hohen:
lohe lag vor ihm. Noftik ftand am Schreibtiih und
ber Prinz gab die erwünfchten Befehle. Dann aber
unterbrad er fih und lächelte — er wollte unter:
drüden, was er zu fagen hatte, und erlag doch der
Verſuchung.
„Noſtitz — denken Sie, daß mir dieſe Nacht
die weiße Frau erſchienen iſt!“
„Königliche Hoheit!“ es klang wie ein zürnender
Vorwurf.
Roman von Hans Werder.
148
Prinz Louis mußte lachen. „Natürlich war es
ein Traum, obgleich ich mich nicht erinnere, geſchlafen
zu haben! Sie ſtand vor mir und ſah mich an, die
Züge erinnerten mich an die der Königin, aber
geiſterhaft. Sie lächelte, ein ſo trauriges Lächeln,
und berührte mich mit ſchneeweißem Finger am Kopf
und auf der Bruſt! Ich wollte zu ihr ſprechen, aber
ſie ging fort, langſam, mit nachflatternden, weißen
Schleiern. Ich hätte ſie gern noch zurückgehalten!“
„Nun, zu ſagen hat das nichts, gnädigſter Herr!“
bemerkte Noſtitz nach einer kleinen Pauſe. „Die
weiße Frau, die unſerm Königshauſe bedeutungsvoll
ſein will, die ſpukt im königlichen Schloſſe zu Berlin
— nicht hier in Thüringen!“
„O Noſtitz, wenn ſie mir wirklich etwas zu
ſagen hätte, meinſt Du nicht, ſie könnte ſich um
meinetwillen bis hierher in mein Kriegslager be—
mühen? Sollte ich das nicht verdient haben um die
Frauen?“ Er weidete ſich ſekundenlang an dem
mühſam beherrſchten Ausdruck auf dem Antlitz ſeines
Adjutanten. „Laß es gut ſein, Noſtitz, wen es treffen
ſoll, den trifft es, dafür ſind wir im Kriege! Aber
wer es auch ſei von uns beiden, Du oder ich, immer
wird der Zurückbleibende ſich ſagen können, daß er
getreu zu dem andern gehalten hat, bis in den Tod!“
Er reichte ihm herzlich die Hand hin, welche Noſtitz,
keines Wortes mächtig, an ſeine Lippen drückte.
„Und nun ſchicke mir Valentini her,“ fuhr Prinz
Louis in verändertem Tone fort, „er ſoll dieſen
Brief an den Fürſten Hohenlohe bringen — ich denke,
die Entſcheidung iſt da!“
Zwiſchen den Herrſchern der beiden kriegeriſchen
Mächte waren endlich die Würfel gefallen. Der
König hatte ein „Ultimatum“ geſtellt, auf welches
Napoleon mit höhnendem Übermut geantwortet. „Man
giebt uns ein Rendezvous auf den 8. Oltober,“
ſchrieb er an einen ſeiner Generale. „Ein Franzoſe
läßt nie auf ſich warten. Man ſagt aber, eine ſchöne
Königin wolle Zeuge ſein bei den Kämpfen, gut, wir
wollen artig ſein und ohne Aufenthalt nach Sachſen
marſchieren!“
Unmittelbar ſtanden die feindlichen Heere ein-
ander gegenüber. Im preußiſchen Hauptquartier aber
herrſchte Uneinigkeit nach wie vor. Unabläſſig wurden
die Dispoſitionen geändert, und keiner der Feldherren
konnte ganz ſicher ſein, von dem andern ſeine Be—
fehle nicht wenigſtens umgangen zu ſehen.
Prinz Louis Ferdinand wußte das alles. Auch
die letzten Illuſionen waren ihm geſchwunden und
damit zugleich der Glaube an den Erfolg. Aber kein
Zagen und kein Verzweifeln kam in ſeine Seele.
Konnte die heilige Sache, für die er in den Kampf
gezogen, nach Verſtandesberechnung nicht mehr auf
Gelingen hoffen, ſo wollte er ſich und das ihm an—
vertraute Heer in die Schanze ſchlagen, verdoppelt
gleichſam, im heiligen Feuer des Todesmutes, und
ehrenvoll untergehen, wenn der Sieg unmöglich war.
So hatte er mit feſter Hand das Los über ſich ge—
worfen, und nichts trübte ihm mehr die befreite
Seelenruhe.
Die Nacht vom 9. zum 10. Oktober ging zu
Ende. Der Prinz vernahm Schüſſe, die ihm ver:
149 Schwertklingen.
fündeten, daß jeine Vorpoften mit denen der Fran:
zojen zujammengetroffen waren. Aus den hochgelegenen
Fenftern feines Duartiers® im Schlofe jah er bie
feindlihen Wachtfeuer fern am Horizont entlang.
D, wäre die Nacht erit vorüber!
Eine legte Botihaft aus dem Hauptquartier
erwartete er noh. Doch da fie feiner Anficht nach
nichts anderes bringen Tonnte, als den Befehl zum
Angriff, fo traf er daraufhin alle Anordnungen aufs
beflimmtefte. Bei TQTagesgrauen erreichte ihn bie
Kunde, jenjeits Saalfeld jeien die vorgefchobenen
Voften in ein Gefecht verwidelt und vermöchten fich
nicht zu halten. Der Prinz erteilte jofort die nötigen
Befehle. Um adht Uhr traf er jelbft bei der Ko:
lonne ein.
Den Stern des Schwarzen Adlerordens auf der
Bruft, den Federbufh auf den Haupte, das Sieges:
leuten im Auge, jo ritt er der Schlacht entgegen,
„wie der erftgeborene Sohn des Mars“.
Die franzöfiihen Truppen, weldhe der Prinz zu:
nädhft für eine „starte Avantgarde” gehalten, er:
wielen fih bald als den feinen um das Dreifache
überlegen. Ein heißes Gefecht entbrannte. Mit großer
Tapferkeit fochten Preußen und Sachen unter ihrem
fürftlihen Führer, doch die TÜbermadht des Feindes
war zu groß und alle Vorteile auf gegnerifcher Seite.
ALS der Prinz fih auch in der Flanke attadiert jah,
ohne dort die nötige Dedung zur Hand zu haben,
befahl er, dem dringenden Rate jeiner IImgebung
‘folgend, nad Schwarza hin zurüdzugehen. Schweren
Herzens begab er fich felber, von Noftit und Haflo
begleitet, an den gefährbetiten Punkt jenfeits von
Saalfeld, um den Rüdzug zu leiten. Doch fchon in
der Stadt traf er überall Haufen fliehender Füftliere
und Jäger. Bei jeinem Anblid prallten ganze
Trupps zurüd und blieben ftehen. Jm Bügel fich
bebend, rief er mit weithin jchallender Stimme ihnen
zu: „Preußen, wollt hr mid) im Stich laffen, Euren
General, Euren PBrinzen!?” Ein ftürmiihes Hurra
war bie Antwort. Sie jcharten jih um ihn, als
gehorchten fie einer Jaubermadt, und bald ftanben
die Reihen wieder, wie von dem Blid feines Auges
gebannt. Ruhig, gelaflen beherrichte er die Situation,
fein Blid, Teine Bewegung verriet den ungeheuren
Schmerz jeiner Seele, obſchon die ganze Größe ber
Gefahr und die Ausfichtslofigkeit des Kampfes ihm
Har vor Augen ftand. Sein Erfcheinen fiellte die
geftörte Ordnung wieder ber, Mut und Nube ver:
breitend, wo er fich zeigte.
Inzwiſchen war Kavallerie und Artillerie nad
MWöledorf hin zurüdgegangen. Die Artillerie batte
fih in einem Hohlwege feftgefahren. In biefem ge-
fahrvollen Augenblid erjhien zahlreihe franzöftiche
Kavallerie, um, in zwei Treffen entwidelt, die Ar:
tillerie anzugreifen. Mit mörderiihem Feuer wurde
fie empfangen, und das vorberfte der franzöftfchen
Regimenter 309 fi eilig wieder zurüd. Das war
der Moment, der bem Prinzen Rettung zu verheißen
dien. An der Spige der bereits vereinigten fünf
Schwadronen fähfischer Hufaren warf er fi auf den
Feind, von den meiter zurüdftehenden Schimmel:
pfennig-Hufaren Hilfe ermartend. Doch fie famen
Roman von Hang Werder.
150
zu jpät. Schon griff ihn das zweite Treffen franzö:
fiiher Kavallerie mit erdrüdender Übermadht in der
Slanfe an. Bon Pinute zu Minute wurde der
Wideritand jchwieriger und endigte mit wilder Flucht
leiner aufgelöften Reiterichar. Noch wollte der Prinz
fie zum Stehen bringen — es war vergebens. Gie
hörten feine Stimme, fie fahen auf ihn, doc alles
verihlang das Entjegen der Flucht und des Kampfes.
Sm bichteften Handgemenge, wie ein Löwe, focht
Prinz Ludwig, den Tod herausfordernd, Bruft an
Bruft. |
Sr Todesangft drängten die Seinen fi um ihn.
„Retten Sie fih, mein Prinz, um Gottes
willen!” jchrie Noftig ihm verzweifelnd ins Ohr.
„Was liegt an meinem Leben! Die Schladht
ift verloren!” Eang jein Ruf zurüd.
„Alles, Herr! — man nimmt Sie gefangen,
das ift Schlimmer als die verlorne Schlacht!”
Gefangen! das Wort jhlug ihm zündend in bie
Seele. Keine Verzweiflung, au) jegt nicht. Überall
gab es Rettung, nur in der Gefangenihaft nicht!
Schon warf Noſtitz gewaltſam des Prinzen Pferd
mit dem ſeinen herum. Der Feind folgte unmittel—
bar, nur eiliges Fliehen konnte Rettung bringen.
Wie ein Vogel flog „Slop“, der Renner, über den
Boden dahin, über Gräben und Hecken — nicht—
achtend — nur vorwärts! Ein hoher Zaun ver—
ſperrte den Weg. Das iſt kein Hindernis für den
Reiterfürſten! — Schenkel und Sporn dem Pferde
— und wie ein Pfeil zum Sprunge ſtreckt ſich der
Renner — hinüber! Doch ſchon iſt ſeine Kraft er—
mattet nach des Tages ſchwerer Arbeit — er bleibt
hängen mit einem Fuß und ſtürzt nieder.
Eilig raffte Prinz Louis ſich auf, der Hut war
ihm im Sturz vom Kopfe geflogen. Schon um—
drängten ihn feindliche Reiterhaufen. Ein Säbelhieb
traf ſein entblößtes Haupt. Er ſchwankte. Doch
einen Augenblick nur und feſt ſaß er wieder im
Sattel. Wie die Raſenden fochten die Seinen neben
ihm. Wie einen Schild, mit ſeinem Leibe ihn deckend,
warf ſich Haſſo vor ihn hin, doch ein wuchtiger Hieb
über den Kopf ſtreckte ihn zu Boden.
„Herr, Ihren Degen, Sie ſind mein Ge—
fangener!“ ſchrie ein franzöſiſcher Wachtmeiſter dem
Prinzen zu.
„Da haſt Du ihn!“ — und noch einen Todes—
ſtreich führte das Preußenſchwert in der löwenhaften
Fauſt. Da aber traf ein Degenſtoß die unbewehrte
Bruſt. Noch hielt der Held ſich aufrecht. Um ihn
drängten ſich Noſtitz und Valentini, mit ihrem Herz⸗
blut ihn zu ſchützen, auch Rochlitz, ſich aufraffend,
blutüberſtrömt, zu kämpfen mit letztem Atemzuge.
Der Prinz ſchwankte. In ſeinen Armen fing
Noſtitz den Sinkenden auf und hielt ihn, ſtützte ihn.
Schon verhauchte er ſein Leben.
„Prinz Louis, mein geliebter Herr!“
Schwer lag das Haupt des ſterbenden Helden
auf ſeiner Schulter. Das Löwenherz hatte ſeinen
letzten Schlag gethan.
Mit der Raſerei der Verzweiflung fochten die
beiden andern, um nur den geheiligten Toten den
Feinden zu entreißen. Schon lähmte eine Wunde
151 Schwertklingen.
Noſtitz' Arm und Seite, er konnte ſich nicht mehr
halten. Des Prinzen Brieftaſche zog er heraus, und
nun galt es Rettung aus äußerſter Geſahr. Wütend
hieb der Rieſe ſich durch den feindlichen Knäuel.
Nur Haſſo hielt noch mit beiden Armen den
teuren Leichnam umklammert. Doch ſchon ſchwand
ihm das Bewußtſein, und wie ein vom Sturm ge—
troffener junger Eichbaum brach er nieder zu Füßen
des erſchlagenen Herrn.
Das war der Tag von Saalfeld. Verloren die
Schlacht. Und erſchlagen auf blutiger Walſtatt lag
Prinz Ludwig von Preußen, der Held — von Todes:
wunden überdeckt, ein heiliges Opfer — der Not des
Vaterlandes dargebracht. Hinweg war er genommen,
ehe Schmach und Jammer mit tauſendfachen Schmerzen
ihm das Herz gebrochen hätten. In hoffnungsloſer
Ferne lagen für Preußen die Tage der Rache und
Vergeltung. Doch als ſie endlich kamen, da ſchwebte
es vor Preußens ſieghaften Fahnen her, gleich
rauſchenden Fittichen, wie ein Ruf zur Freiheit, wie
ein Siegestraum: der Geiſt des toten Königsadlers!
— — — — — — — —
Zweiter Teil.
Vierter Abſchnitt.
Unter des Siegers Fur.
„Deutſches Volk, Du konnteſt fallen,
Aber ſinken kannſt Du nicht!“
J.
Der blutige Tag von Saalfeld war nur
ein Vorſpiel zu der grauſigen Tragödie von Jena
und Auerſtädt, der Preußens Macht zum Opfer
fallen ſollte. Die Nachricht jenes unglücklichen Gefechtes
trug weſentlich dazu bei, die Ratloſigkeit und Un—
entſchloſſenheit im preußiſchen Hauptquartier zu er—
höhen. Uber die Stellungen des Feindes herrſchten
nur dunkle Gerüchte. Als man dem Herzog von
Braunſchweig am 11. Oktober meldete, daß die
Franzoſen am nächſten Tage in Naumburg ſein und
das preußiſche Heer vollſtändig umgangen haben
würden, erwiderte er ruhig: „Sie wollen mich wohl
glauben machen, daß die Franzoſen fliegen können?“
Ach, leider Gottes, ja! Auf Flügeln der ſtolzeſten
Siegeszuverſicht zog das Verderben heran. Mit ſcharf
berechnender Klugheit ſenkte es ſich auf ſein Opfer
hernieder. Kaiſer Napoleon ſeinerſeits hielt es für
nicht glaublich, daß die preußiſchen Feldherren ihm
ſo ganz alle Vorteile der Sachlage ſollten überlaſſen
haben. Bei Nacht und Nebel ritt er auf ſeinem
Falben, wie ein Geiſterfürſt, über Heide und Felder,
die Stellungen des preußiſchen Heeres in Augenſchein
zu nehmen, und über ſein ehernes Antlitz leuchtete
triumphierender Hohn: „Les prussiens se trompent!
Ils se trompent furieusement, ces vieilles
perruques!“ — Sein Schlachtplan ſtand bereits feſt.
Am nächſten Tage, — es war der 14. Oktober 1806 —
ging hinter dichtem Nebel die Sonne auf. Ach, in
—
Roman von Hans Werder.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — ——
152
blutigen Wolken ging ſie für Preußen unter — auf
lange Zeit. Ihr Angeſicht verbarg ſie vor der Schmach
und dem Jammer! Es war der Tag von Jena und
Auerſtädt!
Die Schlacht war geſchlagen, und Preußen lag
am Boden, in den Staub getreten.
„Wo iſt der König?“ fragte die Königin mit
ſtockendem Herzſchlag den Kurier, welcher ihr die
Schreckenskunde überbracht.
„Majeſtät — ich weiß es nicht!“ war ſeine
Antwort.
„Aber iſt der König denn nicht bei der Armee?“
„Die Armee? — Sie exiſtiert nicht mehr!“
Preußens Armee — das Heer des großen
Friedrich exiſtierte nicht mehr. Vor dem verfolgenden
Feinde her flohen vereinzelte Scharen — aufgelöſte
Haufen — gehetzt — unaufhaltſam! Mit den wenigen,
noch geſchloſſenen Truppenteilen in Oſtpreußen Ber:
bindung zu ſuchen war ihr nächſtes Ziel oder auch
nur Leben und Freiheit davonzubringen vor den
verfolgenden Siegerſcharen. Nichts weiter konnten
die Flüchtigen retten. Ruhm und Ehre waren ver:
loren, das Vaterland vernichtet, Preußens Größe
zu Spott und Schanden gemadjt.
Der fiegestrunfene Eroberer z0g am 27. Dftober
unter dem Donner ver Geihüte und dem Läuten
aller Gloden durch das Brandenburger Thor in bie
preußilche Königsitadt ein. Eine Schar von Marjhällen
und Generalen in bligenden Uniformen, mit Sternen
und Ordensbändern geihmüdt und mit wallenden -
Federn auf den Hüten, bildete das glänzende Gefolge
des KRailers. Er jelbit, ohne Shmud noch Abzeichen
jeiner Macht, im Ihlichten Kriegerrod — der Kriege-
gott jeiner Scharen ritt er einher, in nacdhlälliger
Haltung, mit gleihgültigem Blid, die Augen ber
ganzen Welt auf fi) gerichtet. Sein prädtiger, an:
dalufiiher Schimmelhengft nahm anftatt feines Herrn
mit ftolzem Kopfniden die Grüße der Menge, ben
brüllenden Siegesjubel der Garden entgegen. Regungs:
[08 blidte das Antlit des Smperators, gelbbraun wie
aus Bronze gegofien. Wohnte denn eine menjchliche
Seele mit lebendigem Fühlen hinter diejer ehernen
Stirn? D ja! Das große, dunfelblaue Auge fonnte
Todesblige der Vernichtung jchleudern und Sonnen:
Ihein jpenden. Die feingefchnittenen Tippen Tonnten
verführerifch lächeln. Doch nicht jegt. Mit gleich:
gültiger Verachtung ftreifte jein Auge bin über
Preußens bezwungene Königsitadt und das vor ihm
im Staube liegende Voll. In dem hohenzollernſchen
Königsichlojje Ichlug der Kaifer jein Hoflager auf.
Totenftille berrichte in den Straßen, die der
Siegeslärm nicht erreihte. Dumpf und jchauerlich
tönte er berüber. Und die Gloden läuteten bes
Baterlandes Macht und Ehre zu Grabe.
Oberjtlieutenant von Beldegg war in feiner
Wohnung und hHordte auf das Getöfe der in ber
Serne vorübermarjchierenden Kavallerie.
Ssegt 309 die erfte Einquartierung in fein Haus.
Er Hatte die Befehle zur Aufnahme der Feinde ge-
geben und jaß nun ftumm, feine beiden Töchter
neben fi, das linvermeibliche über fich ergeben
lajjend. Des Vaterlandes Feinde und Befieger wurden
— — —— — —, — dimmmemn GENE — — —
153 Schwertklingen.
Herren in ſeinem Hauſe — auf Jahre hinaus — wie
ſie die Herren des Vaterlandes geworden.
Blaß und ſtill kauerte Renate neben ihm. Die
Augen thaten ihr weh und ihr Herz war müde vom
vielen Weinen. Die Nachricht vom Tode des Prinzen
Louis war zu ihnen gedrungen und erfüllte ſie mit
tiefſtem Leid. Sie hatte ihn bewundert in dem Zauber
ſeiner Schönheit und Liebenswürdigkeit, hatte ihn in
der Seele ihres Freundes angebetet und die Hoffnung
des Vaterlandes in ihm verkörpert geſehen. Auch
dieſe war nun hinweggenommen, ſo ſchien es ihr,
mit ſeinem heldenhaften Tode, wie aller Glanz
und Sonnenſchein von dieſer Erde! Mit ſeinem
Prinzen mußte auch Haſſo gefallen ſein — er konnte
und wollte ihn nicht überleben, das wußte ſie gewiß.
Und doch hoffte ſie und betete für ſein Leben und
ſeine Wiederkehr mit aller Inbrunſt ihrer jungen
Seele. Wie ein ſcheues Wild, in den ſtillſten Winkel
geflüchtet, vertrauerte ſie ihre Tage. Schon der
Blick aus dem Fenſter bereitete ihr grauenhaftes
Entſetzen, denn er bot ihr den ſteten Anblick des
napoleoniſchen Heeres. Viele Generale der Garden
wohnten dort in der Nähe — täglich wurden die
Adler am Hauſe vorübergetragen. Die ganze Wilhelm—
ſtraße entlang reihten ſich dieſe weltberühmten
Grenadiers de la Garde mit dem ſelbſtbewußten
Ausdruck des unbezwinglichen Siegers in Haltung
und Mienen. Auf und ab wogte das Meer ihrer
feuerroten Federbüſche, hallte das widerlich heulende
franzöſiſche Kommando, der helle Klang ihrer
Trommeln, unausgeſetzt oft, von früh bis ſpät. O,
es war eine Folter für jedes deutſch ſchlagende Herz.
Entſetzlich waren die Schilderungen von dem
Auftreten Napoleons und ſeiner Marſchälle. In
Potsdam ſchon empfing der Kaiſer die Deputation
des Berliner Magiſtrats. Und unwillig, nur dieſe
und nicht auch eine Abordnung des hohen Adels vor
ſich zu ſehen, ließ er ſie den ganzen Zorn ſeiner Laune
fühlen und verſchmähte es nicht in den roheſten Aus—
fällen ſelbſt über den König und die Königin ſich zu
ergehen.
„Pourquoi avez-vous permis aux otficiers des
Gardes, de casser les fenetres de Monsieur de
Haugwitz?“ war die erfte Frage, mit ber er fie
anjchnaubte. „Mon cousin Frederic Guillaume avait
cesse de regner, des le moment qu’il a manque
de faire pendre le prince Louis pour cette cause la!“
Mit grenzenlojem Entjegen hörte Renate durch
einen Herr der Deputation dieje Worte ihrem Vater
wiederholen. Sie allein wußte ja, wer jenen wilden
Knabenftreih an den Senftern des Grafen Haugmiß
vollbradt, wußte am beiten, daß Prinz Louis und
der Berliner Magiftrat unjhuldig daran waren und
wie dies VBorfommnis ihrem Freunde einit den erften
Unwillen feines geliebten Prinzen eingebradt. —
Sie kam fi vor wie eine Mitjchuldige den Drohungen
Napoleons gegenüber.
Neue Schredensfunden liefen ein, der Fall all
der Seftungen nacheinander: Magdeburg, Erfurt,
Stettin, Küftrin — dann die Kapitulation des
SHobenloheihen Korps bei Prenzlau.
Prinz Auguft, Louis Ferdinands Bruder, hatte
Roman von Hans Werber.
154
ih tapfer gegen die anftürmenden franzöfiichen
Dragoner verteidigt. Bei Brenzlau, an der Uder
entlang, verjuchte er darauf fein Grenadier-Bataillon
in Sicherheit zu bringen, doch vergebens. Gräben,
Sümpfe und Moräjte binderten fein Vorbringen,
Ipotteten aller Anftrengungen und machten die Rettung
unmöglid. Der Prinz hatte fein Pferd am Zügel
geführt. E& war Slop, der engliihe Renner, der
feinen Heldenbruder Yudwig auf dem Tobesritt in
der Saalfelder Schleht getragen. Das edle Roß,
die Schmad ber Gefangenihaft ahnend, riß fih [os
und fprang in die Uder hinein — Freiheit oder
Untergang.*) Vielleicht daß fein toter Herr es ge-
rufen — zum Ritt nah Walhalla.
Gefangenichaft war nun das %08 des tapferen
Prinzen. Er wurde von Prenzlau nad) Berlin ge-
bradt. Ohne Hut, mit zerfeßter Uniform und ab:
geriffenem Orden, wie er war, mußte er vor dem
Raifer eriheinen. Und troß diejes elenden Aufzuges
ein Fürft vom Scheitel bis zur Sohle, in edler,
würdiger Haltung, fland der junge Hobenzoller vor
dem rohen Groberer, der ihn mit übermütigen
Schmähungen empfing.
„Haben Eure Königlihe Hoheit fi jekt Die
Kriegshige ein wenig abgekühlt?” Tpöttelte der Kaijer.
„Sie hat Shnen und Khrem ‚Bruder Louis lange
genug den Kopf verbreht! Xhm hat fie den Kopf
gekoftet! Und Sie, Monfeigneur —” Jein DBlid
mufterte mit vieljagendem Ausdrud die junge Krieger:
geftalt vom Kopf bie zu dem verwundeten Fuße.
„Verwechſeln mich Eure Majeltät bitte nicht mit
denen, welche bie Kapitulation von Prenzlau ab:
geichlofien haben!" war Prinz Augufts alte Er:
widerung. Napoleons Übermut vermochte folcher
Haltung gegenüber nur jelten Triumphe zu feiern.
Er z30g alsbald höflichere Seiten auf und verficherte
den Prinzen feines Reſpektes vor der bewiejenen
Tapferkeit.
Mit ewigen Lettern fiehen alle die Worte im
Schidjalsbuch verzeichnet, durch welche der plebejiiche
Eroberer unfer Königshaus zu verunglimpfen gewagt!
Die Vergeltung ijt über jein Haupt dahingegangen
wie ein eijerned® Rad, das ihn zermalmt hat,
mitten in der Laufbahn feines bimmelftürmenden
NRuhmes! — —
„Bott fei gelobt, daß Prinz Kouis in der Schlacht
gefallen ift!” rief Herr von DBeldegg, als er biefe
Geihichte vernahm. Und Renate ftimmte ihm im
Herzen bei. Biel taufendmal befier für den Königs-
adler der ehrenvolle Schlachhtentod, als jo entweiht,
zerfeßt, geihunden das Linerträglide zu überleben.
Und er hätte e8 doch nicht überlebt! XLießen
Ihon des eigenen Xebens Kümmernifje jo oft in ihm
den Wunjch entbrennen, des heißen Herzens Schlag
zu ewigem Schweigen zu bringen, wie hätte er jo
Ungeheures ertragen jollen — des ganzen großen
Baterlandes Sammer und Schmad) zulammengepreßt
in der eigenen Bruft, wie ein Brennglas das
Himmelsfeuer in fih zujammenfaßt. Es mußte
Hiſtoriſch.
155 Schwertklingen.
darunter brechen — heilig glühend Herz! Wohl ihm,
daß es vorher ſeinen letzten Schlag gethan.
Wie groß aber mußte das Unglück ſein, daß
dieſer tiefbetrauerte Verluſt des Helden dagegen als
ein Troſt erſcheinen konnte!
Schwere Trübſal bereitete auch überall das
Geſchick der tapferen Gendarmes. Das Regiment
hatte ſich zwiſchen den Seen von Boitzenburg gegen
die Übermacht der Franzoſen gewehrt, und ſich
ſchließlich übermüdet und verſchmachtet nach Wolfs—
hagen hin zu retten vermocht. Endlich mußte es
ſfich doch ergeben und wurde — eine verzweifelte
Schar Gefangener — nach Berlin transportiert.
Zu Fuß, teilweis ohne Stiefel und Hüte, wie eine
Herde, trieb man die Reiter durch die Stadt. Das
Offizierlorps die Linden entlang, nach dem Luft:
garten bin, wo der Kailer gerade die Parade über
jeine Fußgarden abhielt Dort mußte au das ge:
Ihlagene, einft jo ftolge Regiment in feinem jammer:
vollen Aufzuge an ihm vorbeidefilieren. Hinter dem
Dom blieben fie ftehen, der Befehle des SKaifers ge:
wärtig, und ftundenlang ließ man fie warten. General
Duroc, der in dem Major von Schad einen alten
Belannten aus fröhlichen Zeiten in Paris wieder:
erfannte, ritt heran und bot ihm feine Dienfte und
feine Börfe an. Herr von Schad lehnte die Freundlich:
feit dankend ab. „Wollen Sie fih aber gütigft
unjerer alten Beziehungen erinnern,” fügte er hinzu,
„jo bitte ich Sie für mich und alle meine Kameraden
um die eine Gunft: Sagen Sie dem Sailer, er
möchte Barmherzigkeit üben und uns alle im Hofe
des Schloſſes erſchießen laſſen!“
Duroc ritt an den Kaiſer heran und überbrachte
ihm die Bitte der Unglücklichen. „a Spandau!“
war ſeine kurze und kalte Antwort.
Und nach Spandau zu ging der Zug die Linden
entlang. Einen Monat war es her, als ſie den—
ſelben Weg geritten, zum Brandenburger Thor hin—
aus, glänzend in ſtolzer Siegeshoffnung! Damals
begleiteten ſie die Hurrarufe der frohen Menge,
jetzt trafen höhniſche Zurufe, grauſamer Spott ihr Ohr.
An ihren verſchloſſenen Wohnungen kamen ſie vor—
über, doch durften ſie nicht hinein, nicht eine Minute,
um ſich mit friſcher Kleidung, Wäſche und Geld zu
verſehen.
Unter die Menſchenmenge, welche die Offiziere
vorüberziehen ſah, drängten ſich die Frauen derſelben,
um ihren Männern nach Möglichkeit einen Gruß
oder irgend einen Troſt zu ſpenden. In vorderſter
Reihe ſtand Lotte Rochlitz und ſchaute ſie an, die
müden, gequälten Geſichter, von Schweiß und Staub
entſtellt, die den Stempel hoffnungsloſer Verzweiflung
trugen, eins wie das andere! Sie ſchaute und ſuchte.
Da fand ſie das Antlitz ihres Gatten — war er
das wirklich? Er ſah auf, von ihrem flehenden Blick
gefeſſelt, und ſah ſie an aus matten, eingeſunkenen
Augen. Er ſchrack nervös zuſammen, als er ſie er—
kannte und öffnete die trockenen Lippen, als wollte
er ihr zurufen. Lotte ſchob ſich gewaltſam zu ihm
heran und griff nach ſeiner Hand. Er erfaßte die
ihre und preßte ſie kurz und heftig. „Kannſt Du
Roman von Hans Werder.
mir helfen, Geliebte, mir Geld und Wäſche ſenden —
156
ich bin wie ein Bettler! Nach Spandau!“
„Ich werde thun, was ich kann, Hilmar!“ ſie
ſchob ein Täſchchen in ſeine Hand, das ihre ganze
Habe enthielt. Dann ward ſie zurückgedrängt, von
dem Zuge getrennt und bahnte ſich mühſam den
Weg zu der Stelle hin, wo ihr Vater ſie erwartete.
Mit ihm kehrte ſie in ſein Haus zurück, doch Lebens—
mut und Glückeshoffnung hatte ſie draußen gelaſſen.
Hilmars verftörtes Antlig und der Blid der Ver:
zweiflung in feinem Auge ftanden vor ihrer Seele
bei Tag und Nadt. Sie wußte, daß des Pater:
landes Unglüd ihr eigenes Lebensglüd zerbrochen,
in der Wurzel vernichtet hatte!
* *
X
Um dieſe Zeit drang die Kunde von der Schlacht
bei Jena auch in das ſtille Herrenhaus von Reckentin.
Der Pfarrer Zürn war nach der Stadt gefahren,
und als er abends zurückkehrte, ließ er ſein ſtroh—
durchflochtenes Wägelchen zuerſt vor dem Neuen
Hofe halten.
„Iſt der gnädige Herr zu ſprechen?“ rief er
mit ſeiner hellen Stimme hinauf.
Der alte Seydlitz-Dragoner ſaß ſtill auf dem
Kanapee in ſeiner behaglichen Kemnate und dampfte
aus kurzer Pfeife gemächlich die Rauchwolken vor
ih hin. Draußen wehte kalter Herbfiwind. Dann
Ihmerzte ihn die alte Kunersdorferr Wunde und
feine Gedanken wanderten zurüd in vergangene
berrlihde Tage voller Schlahten und Todesgefahr,
vol Sieg und fühner Abenteuer, die unvergeßlichen
Zeiten des alten Srig! Und diefe Tage Jollten ich
jeßt erneuern! Die Armee des großen Friedrich
tand dem Feinde gegenüber, demjelben ‘einde, der
einft bei Roßbach vor ihnen hergetrieben wurde! —
est war jein Sohn mit darunter, fein einziger
Sohn, und lernte, was es hieß, zu fämpfen für
König und Baterland, und zu fiegen.
Ein Lächeln ging über des alten Striegers Ge—
ficht, als er die Stimme des Pfarrers erkannte. a,
er Jollte nur fommen, der teilte feine Kriegsbegeifterung
und feinen Siegesmut, und ließ fih jo gern immer
wieder die alten Geichichten erzählen!
Aber das Lächeln verging ihm, als der Pfarrer
bereintrat. „Himmelfreuzgewitter — Herr Pfarrer,
was maden Sie für ein Gelihte? Wo waren Sie,
was bringen Sie für Kunde?”
„5% war in der Stadt, Herr Oberfitwacdhtmeilter,
und ich bringe böfe Kunde! Der Herr bat fein
Angeiht im Zorne von uns gewendet — hat ung
in die Hand der Feinde gegeben!”
„Der — Feinde —” die Hand des Dragoner:
majors padte mit frampfhaftem Griff den Arm des
Pfarrers.
„Hier — lejen Sie jelber, mas die Blätter be-
rihten! — Uniere Armee ift bei Sena und Auerftädt
aufs Haupt geichlagen — der König geflohen!”
„Das ift nicht wahr!” brüllte der Major. „Unfer
König — unfere Armee — geichlagen — das Heer
des alten Frig! — Sie lügen, Herr — die Zeitungen
157 Schwertllingen.
lügen — hören Sie mid? — Es ift nicht wahr,
ſage ich Ihnen!“
Erſchüttert faltete der Pfarrer die Hände. „Des
Herrn Zorn iſt ſchrecklich über uns entbrannt! Seine
Fluten gehen über unſer Haupt daher!“ murmelte
er — „Kyrie eleiſon — Herr erbarme Dich!“
Währenddeſſen aber las Herr von Rochlitz mit
ſtarren Blicken die Schreckensnachrichten aus den
Zeitungsblättern. „Geſchlagen! Auch die Garde?
Mein Gott, das iſt ja nicht möglich, es kann ja
nicht ſein! Und das Regiment Gendarmes? Das
kann doch nicht auch geſchlagen ſein — das Regiment,
bei dem mein Sohn ſteht!“
„Das Regiment ſoll bei Prenzlau kapituliert
haben und gefangen ſein!“
„Gefangen — doch nicht das Offizierkorps!
Wer wagt eine ſolche Verleumdung über das Offizier⸗
korps der Gendarmes?“
„Man ſagte mir ſo, Herr Oberſtwachtmeiſter —
das ganze Regiment!“
„O Du barmherziger Gott!“ rief Herr von
Rochlitz aus. „Dann alſo iſt mein Hilmar tot! Denn
gefangen — gefangen kann mein Sohn nicht ſein!“
II.
Bei Wöhlsdorf, unweit des Schlachtfeldes von
Saalſeld, lag eine kleine Bauernhütte, einſam, unter
Waldbäumen halb verſteckt und deshalb vom Schlacht—
getöſe verſchont geblieben. Die beiden alten Leutchen,
die darin hauſten, ſahen ihr Leben gerettet und ſogar
das alte, liebe Dach über ihrem Haupte unverſehrt.
Als nun der Kampf vorbei und die Truppen abge—
zogen waren, wagte der alte Mann ſich zaghaft hin—
aus, zu ſehen, ob draußen die Welt noch ſtünde,
deren alsbaldigen Untergang während des ſchrecklichen
Kanonendonners er als wahrſcheinlich angeſehen hatte.
Vorſichtig ſpähte er umher. Es lagen Tote und
Verwundete überall — Freund und Feind durchein—
ander — und herzzerreißendes Stöhnen und Jammern
drang an ſein Ohr. „Wenn man hier doch helfen
könnte,“ dachte der Bauer. „Allen, das iſt ja nicht
möglich! Aber einigen doch! Ein wenig Leinenzeug
zum Verband wird meine Alte wohl haben! Ein
paar von unſeren tapferen Kerlen könnten doch ge—
rettet werden!“
Seine Aufmerkſamkeit ward gefeſſelt durch kläg—
liches Hundegeheul. Da ſtand ein ſchlanker, braun—
und weißgefleckter Hühnerhund und verkündete ſeinen
Jammer in herzbrechenden Tönen. „Sollte die arme
Kreatur verwundet ſein? Wollen ihr den Garaus
machen,“ dachte der Bauer und naäherte ſich dem
Hunde. Doch dieſer lief vor ihm her, ängſtlich zurüd:
ſchauend, als wollte er ihn bitten, ihm zu folgen.
Und der Bauer erfüllte die Bitte.
Unweit des breiten Grabens, an welchem man
vor einigen Stunden die Leiche des Prinzen Louis
Ferdinand aufgehoben, blieb der Hund laut auf—
heulend ſtehen. Ein verwundeter Huſar ſaß hier
am Boden und hielt in feinen Armen einen jungen
Offizier, ſeinen Herrn, wie es ſchien.
Roman von Hans Werder.
158
„Helf Er mir, Alter — mein Lieutenant lebt
noch!“ ſtöhnte der Huſar.
Der Bauer trat näher und beugte ſich über den
Offizier. Das Antlitz desſelben war bleich und ſtarr.
Eine tiefe, klaffende Wunde lief von der Mitte der
Stirn aufwärts über den Schädel hin. „Ich gebe
keinen Sechſer für das Leben Seines Lieutenants,“
bemerkte er trocken.
„Sie haben mir das Bein zerſchoſſen, die Ca—
naillen — ſonſt würde ich ihn tragen!“ ächzte der
Huſar. „Fides hat ihn gefunden! Helf Er mir,
Bauer, ich will es Ihm mein Leben lang gedenken!“
Der Bauer holte Hilfe und ſo brachten ſie den
Lieutenant von Rochlitz in die Hütte. Jägers Fritze,
ſein Burſche, ſchleppte ſich ihnen nach. Seine Wunde
war nicht gefährlich und er konnte der Bäuerin in
der Pflege ſeines Herrn beiſtehen. Sie war wohl
bewandert in der Heilkunde und das junge Blut,
das da ſo hilflos vor ihr lag, dauerte ſie von Herzen.
Durch ihre treue Sorgfalt rangen ihn die beiden
dem Tode ab.
Eines Tages öffnete Haſſo die Augen. Es
dauerte lange, bis er begriff, wo er fich befand und
was Mit ihm geichehen war. Er jah nur, wie Fibes
jeine Hand ledte und daß Jägers Frige bei ihm
faß — das war ja zunädft ein ganz wohlthuendes
Gefühl. Allmählich aber dämmerte eine furdtbare
Erinnerung in feinem Hirn herauf.
„Srige, jag’ mir, ob es wahr ift — haben wir
die Schladht verloren?”
Srige jenkte den Kopf, als trüge er die Schuld
an dem Unglüd. „Sa, Herr Lieutenant!” mur:
melte er.
„Aber der Prinz — Sag’ es mir, Trike —
Prinz Louis, mein Herr — ift er noh am Leben?”
Srige Ichwieg, feine Augen füllten fih mit
Thränen. Hallo jah eg — und die Erinnerung kam
ihm wieder, die Erinnerung an den fürdhterlichiten
Augenblid, den das Dajein mit allen Schrednifien
der Hölle ihm bereiten lonnte. Bon Entießen ge-
troffen, fuhr er auf.
„Prinz Louis ift tot — mein Herr, mein Held —
und ich lebe noch, wie ift das möglich! Dein Gott,
warum ftarb ih nit auh — ih darf — ich kann
ja ohne ihn nicht weiter leben!” Und er griff mit
beiden Händen nad feinem Haupt, als wolle er den
a. von jeiner Wunde gemwaltiam herunter:
reißen.
Da richtete von einem zweiten Strohlager neben
ihm ein anderer fih empor und bielt ihm mit feftem
Griff die Hand. E8 war ein junger Infanterie:
offizier, Lieutenant Scriver, ben bie alten Leutchen
gleih ihm in ihr Haus gebracht, mit ihm zujammen
gepflegt und vom Tode gerettet, der aber früher
Ihon als Hafjo dur) Genefungsanfänge ihre Mühen
zu belohnen jchien.
„Degeben Sie feine Thorheiten, Kamerad,”
lagte er ruhig. „Wenn wir unjerem herrlichen
Prinzen dadurdh das Leben wiedergeben könnten, ich
rifje mir das Herz aus der Bruft, wie Sie! Aber
da ihm das nicht mehr nügt, jo wollen wir unfer
159 Schwertllingen.
König und Vaterland!”
„Ih wollte ihn Ihügen — was jol ih nun
auf der Welt!” gab Hallo traurig zurüd.
„Sie haben hr möglichftes gethan!” erwiberte
der andere. „Sie hielten $hren Herrn umklammert,
als wollten Sie au im Grabe nit von ihm laffen.
%h jah es mit an, ale man Sie losriß von der
Leiche!”
Laut ftöhnend warf fih Haflo auf fein Zager
zurüd. Sm milden yieberphantafien ging abermals
fein Bemwußtfein unter, ihn befreiend von der Dual
jeines verzweifelten Schmerzes. Schon fürdhteten
fie, das junge Xeben würde diesmal nicht anfämpfen
fönnen gegen die verheerende Slut bes %iebers.
Endlih jedoh fiegte aufs neue feine Jugendkraft
über die Gewalt der Krankheit. Das Fieber wich,
die Wunde beilte.
Der Sinfanterielieutenant hatte mit feiner Gene-
jung bereits beilere Fortichritte gemadt. Er ver:
mochte das Beit zu verlaflen und übte feine Kräfte
durch Geh: und jelbft Schüchterne Turnverfuche. Haflo
begleitete ihn dabei mit müden, ungebuldigen Bliden
aus den krankthaft großen Augen. Der Lieutenant
fühlte diefen Blid. Er fegte fih auf einen hölzernen
Schemel in die Nähe des Dfens und beftete feine
fühlen, hellen Blauaugen mit forfchendem Sinterefle
auf den franfen Kameraden.
„Ih will Shnen etwas jagen, Herr von Rodhlig,
beeilen müflen Sie fich jett, geJund zu werden. Gie
fönnen es, wenn Sie wollen und es ift hohe Zeit!”
„Warum meinen Sie da8?” fragte Hafjo mit
einiger Vermunderung.
„Weil der König feine Offiziere braucht! Unjer
braves Bäuerlein bat uns mit Lift und Courage bier
verftedt gehalten — Dank feinem braven Herzen!
Aber nun müllen wir fort, Tonft bringen wir uns
und unjere Gajtfreunde in Gefahr! Der Feind iült
im Lande, Sie willen noch nicht alles, was geichehen
ift jeit dem traurigen Tage von Saalfeld — er war
nur der erite in der Neihe der Unglüdsichläge, die
uns betroffen haben!“ Er beugte fih zu Hafjo nieder
und erzählte ihn leife, was er während feiner Kran:
beitshaft, zumeift Durch den Pfarrer des nahen Dorfes,
ber die VBermundeten zuweilen bejucht, erfahren, von
den Schlachten, die das preußilche Heer vernichtet,
von dem Siegeszuge der Franzojen dur) das zer:
tretene, gelnechtete Zand.
Mit zufammengebifjenen Zähnen hörte Hafjo der
Erzählung zu. Das Herz ftand ihm ftil vor namen:
Iofem Entjegen. „Sa, ih will gejund werben,” jagte
er endlid. „Sch danke Shnen, daß Sie mir alles
gejagt! Aber gehen Sie nit ohne mid! Ein paar
Tage gedulden Sie fih noh, dann komme ich mit
Ihnen!“
Nach einigen Tagen verließen die drei Schickſals—
gefährten zuſammen das ſchützende Obdach. Der
patriotiſch geſinnte Pfarrer, der an den Verwun—
deten that, was er konnte, ließ ihnen auch jetzt nach
Kräften Hilfe angedeihen. Zunächſt verfchaffte er
ihnen die zur Flucht notwendigen Kleidungsſtücke.
So gingen ſie denn gut ausgerüſtet aus dem Häuschen
Roman von Hans Werder.
160
Leben bewahren, um es nochmals einzuſetzen für hervor, der ſchlanke hagere Scriver als ehrſamer
Schulmeiſter, im langen, ſchwarzen Rock, mit leicht⸗
gebeugter Haltung, eine Brille auf der Naſe. Jägers
Fritze als Bauersmann verkleidet, und Haſſo, der
Kleinere, als deſſen Sohn. Die verräteriſche Wunde,
mit dem ſchwarzen Heftpflaſter auf der Stirn, war
durch eine tief herabreichende Perücke verdeckt, unter
der das magere, verwegene Geſicht ſeltſam genug
hervorſchaute. Jetzt, da er die große Körperſchwäche
des Blutverluſtes und Fiebers glücklich überwunden,
war ihm ſein todverachtender Mut und ſein aben—
teuerſuchender Übermut zurückgekehrt. Es durchglühte
ihn der heiße Wunſch, mitzuhelfen an der Vergeltung
und zu retten, wo noch zu retten war.
So wanderten die drei quer durch das vom
Feinde beſetzte Land, von Saalfeld nach Schlefien.
Es war ein gefahrvolles Wagnis für preußiſche
Offiziere. Sobald ſie den geringſten Verdacht er—
regten, waren ſie verloren. Nicht nur durch die
Franzoſen allein drohte ihnen Gefahr. Sie hatten
auch alle Urſache ſich in acht zu nehmen vor jenem
großen Teil der Einwohnerſchaft, die, knechtiſch
kriechend vor dem ſiegreichen Feinde, bereitwilligſt
ihr Vaterland und ihre Brüder verriet. Und ſchwerlich
wären ſie unbeargwohnt hindurchgekommen. Doch
Haſſo mit ſeiner Geſchmeidigkeit und ſeinem merk—
würdigen Talent ſpielte den thüringiſchen Bauern—
burſchen in Sprache und Manieren ſo täuſchend,
durch die unbefangene Dreiſtigkeit ſo verblüffend,
daß man die Wanderer ungehindert überall paſſieren
ließ. Die beiden Genoſſen, nicht geübt in dieſer
Mimenkunſt, ſchwiegen fein ſtill und ließen ihren
„Jüngſten“ für ſich reden.
In Schleſien hielt General Graf Götzen noch
das Feld gegen die aus Kontingenten des Rhein—
bundes beſtehende Armee des Prinzen Jérôme Bona—
parte, der die Feſtungen belagerte. Schweidnitz war
noch nicht eingeſchloſſen und dorthin gingen die drei.
In dem Vorterrain der Feſtung gab es tägliche Ge—
fechte und mit Hochgenuß meldeten ſich die Saal—
felder Flüchtlinge dort zum Dienſt. „Gott ſei Dank,“
ſagte Haſſo, als er zum erſten Mal wieder in preußi—
ſcher Uniform die Glieder dehnte. „Es iſt keine
Kleinigkeit für einen pommerſchen Junker und Ru—
dorff-Huſaren, ſich als thüringiſcher Bauernlümmel
durch die Welt zu ſchlagen!“
Ach, es waren herrliche Tage, da man wieder
fechten konnte im offenen Kampf gegen den ver—
haßten Feind — den Tod ihm entgegenſendend, und
ſelber dem Tode ins Angeſicht ſchauend.
Doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange. Die
Feſtung wurde cerniert, das Bombardement begann.
Der Kommandant erklärte ſich außer ſtande, wegen
Mangel an Lebensmitteln und Munition, eine Be—
lagerung durchzuhalten. Es gebrach ihm am rechten
Vertrauen in ſeine heilige Sache. Es gebrach ihm
an Umſicht und Überſicht, an Seelenſtärke und dem
Mut der Verantwortung, der allein befähigt, ſolchem
entſcheidenden Poſten vorzuſtehen.
Er kapitulierte.
Entwaffnung der Truppen, Überführung in Ge—
fangenſchaft! — ſo lautete die Übergabe-Konvention.
ED
161 Schwertklingen.
Starr vor Wut und Entſetzen hörte Haſſo dieſen
Beſchluß. „Das mache ich nicht mit!“ erklärte er.
„Ich bin hierhergekommen, die Feſtung verteidigen
zu helfen, aber nicht in Gefangenſchaft zu gehen.
Das hätte ich früher haben können! Mögen ſie mich
über den Haufen ſchießen oder ſonſt mit mir machen
was ſie wollen — aber das thue ich nicht!“
„Und wie wollten Sie ſich dieſem Verhängnis
entziehen?“ fragte Richard Scriver geſpannt. Er
ahnte bereits, daß Rochlitz etwas ganz Beſonderes
im Schilde führte.
„Ich entziehe mich der Übergabe-Konvention,
ich kapituliere nicht mit! Wenn die Namen der
Offiziere aufgerufen werden, die ihre Säbel abzu—
geben haben — ich bin nicht dabei! Prinz Louis
kannte nur eine Antwort, als man ihm ſeinen Degen
abverlangte — ich folge ſeinem Beiſpiel und wenn
ſie mich in Stücke hacken!“
„Ich auch!“ ſagte Scriver. „Ich thue mit,
was Sie thun. Beſſer, wir ſterben zuſammen einen
ehrlichen Soldatentod, als dieſer Höllenbande zum
Opfer zu fallen. Das Gaudium wollen wir ihr nicht
bereiten.“
„Weiß Gott, ſie hat ohnehin Gaudium genug!“
knirſchte Haſſo vor ſich hin. „Wir wollen wenigſtens
nicht die Muſik dazu machen! — Aber Fritze —
was thun wir mit dem?“
„Ihren Fritze müſſen Sie ſeinem Schickſal über—
laſſen,“ entſchied Scriver. „Das, was wir beide
vorhaben, kann nur ein Mann aus eigener, freier
Initiative unternehmen und vollbringen, um ſeiner
ſelbſt und um der Ehre und Überzeugung willen!
Kein Diener aber aus Liebe zu ſeinem Herrn, kein
ſchlichter Soldat, der all ſeine Kameraden ſich willig
und anſtandslos ergeben ſieht!“
„Mag alles ſein, aber ſchade iſt es doch um
ihn!“ brummte Haſſo. „Könnten wir uns nicht zu
dreien ebenſogut durchhelfen?“
„Nein, ſicher nicht Glauben Sie mir nur
diesmal, Rochlig, im übrigen will ih mich ja blind
Shrer Leitung anvertrauen!”
„Bis auf die Momente, wo Sie felber die
Leitung übernehmen!” gab Hafjo lahend zurüd.
Die beiden Herren jaßen gemütlich zufammen
in dem warmen und gut eingerichteten Wohnzimmer
des reipeftablen Bürgerhaufes, in dem fie Quartier
genommen. XTherejel, die hübjdhe rotwangige Magd,
trug joeben auf dbanıpfender Schüflel das Mittageflen
herein, welches der Lieutenant von Rochlig mit wohl:
gefäligen Außerungen begrüßte. Bald erjchien der
Hausherr, der behäbige Drechslermeilter Lamprecht,
und fein Sohn und Gefelle, ein Stil und nüchtern
dreinichauender SZüngling. Eine Hausmutter mar
nicht vorhanden.
„Willen die Herren Ihon — wir Fapitulieren!”
rief der Meifter mit Wichtigkeit. „Ach, jammer:
Ichade ift es um unfere jchöne, ftolze Feitung, daß
fie ar doch dem Franzmann in die Hände fallen
muß!”
„Wir kapitulieren —” wiederholte Hafjo. „Wenn
Ihr das thut, mein braver Meifter, ich thue es
teinesfals! Wenn wir mit franzöfiicher Gefangen:
RomansZeitung 1896.
Roman von Hans Werder.
Ihaft unfere Raufbahn beenden wollten, jo hätten
wir das bequemer haben können, mein Kameradb und
ih, ohne diefe mühlame Reife nah Schweidnig zu
vollführen!” Er war während biejer Worte dem
Beilpiel feines Wirtes gefolgt und hatte an dem
jauber gededten Tiih Pla genommen, bieb aud
mit Fräftig gejundem Appetit in die mwohlgefüllte
Ecüjlel ein.
„Sa, aber was wollten Sie thun, Herr Lieute-
nant?” entgegnete der Meifter. „Uns allen mwirb’s
wohl jauer genug! Eine Weile, dente ih, hätten
wir uns noch halten können. Aber jchließlid —
auf Entfag durfte man nicht rechnen bei diejen Zeit:
läuften, und wenn uns dann die Häufer über dem
Kopf eingeihollen worden, wenn die Lebensmittel
zu Ende gingen und Hungersnot ausbrad, wie weiland
in dem belagerten Serufalem —” er Yielt inne bei
den fhaubervollen Bildern, die in feiner Seele herauf:
fiegen und blidte feufzend an feinem ftattlichen Leibes⸗
umfange bernieder.
„Bor der Hungersnot & la Sjerufalem jeib hr
diesmal bewahrt geblieben,“ bemerkte Richard Scriver.
„Sm übrigen aber werden bie Franzofen Euch bald
bemweifen, wozu Eure reipeftablen Vorräte von Naß
und Troden gut find, darauf fünnt Shr Euch ver:
laflen, mein werter Meifter!”
„Ach Gott, ach Gott, diefe Franzofenmwirtichaft!
Herr Lieutenant, wenn ih Rat Schaffen könnte!”
„Nat Ichaffen gegen Kapitulation und Einquar:
tierung, das könnt hr nicht, Meifter!” nahm Haflo
wieder das Wort. „Uns beiden aber helfen bei dem,
was wir vorhaben, das fünnt Shr gewiß!”
Rihard Ecriver blidte nachdentlih auf feinen
Teller nieder, die drei anderen aber ftarrten dem
Spredher mit weit aufgerifienen Augen der Neu:
gierde ins Gelidht.
„Shr drei gerabe müßt ja in unferem Bunde
fein,” fuhr Haffo fort, „jeder von Euh muß aus:
helfen und einverftanden fein, darum Tann ih mid)
jegt gleich darüber äußern. Wir beide, Herr Lieute:
nant Ecriver und ich, entziehen uns der Kapitu:
lation, wir geben uns nicht gefangen! Wollt hr
uns in Eurem Haufe verbergen, Meilter?”
Dem Meifter fiel vor Schred das Meiler aus
der Hand. „Herr Lieutenant — —“ er erftarrte in
Entjeßen.
„Das geht niht — ad) Gott, Herr Lieutenant,
das geht nicht!” flüfterte der Sohn aus beflommener
Kehle. Therejel aber fchaute den Lieutenant an.
Was hätte fie nicht für ihn gethan, und wenn’s das
junge Leben gegolten hätte! Wie freundlich begeg-
nete er ihr ftets. Und wie verftand er zu erzählen!
Solche ſchnurrigen Geſchichten und ſolche kurioſen
Einfälle, dergleichen hatte Thereſel in ihrem Leben
noch nicht gehört. Auch ſolche Augen hatte ſie noch
nicht geſehen. Es gab keinen Panzer, oder wenigſtens
die Thereſel hatte keinen, der ihr Herz vor dem
dunklen, ſchimmernden Blick dieſer Augen hätte ſchützen
können. Wie ſie nun aufſchaute, begegnete ſie ſel—
bigem Blick.
„Aber Anton, ſeid nicht ſo ängſtlichen Gemütes!“
gab fie auf den verneinenden Seufzer des Meilter:
IV, 12
162
—
163 Schwertllingen.
lohnes zurüd. „Warum jollten wir die Herren nit
verfteden können! In biefem großen Haus wird
Doch wohl Plat genug jein?”
„Schweige Sie, Therejel!” verwies ber Meifler
die Vorlaute. „Sie weiß nicht, was Gie Ipridt.
Wenn nachher das Haus voll franzöfiiher Einquar:
tierung ftedt, wo jollte da wohl Plag fein, zwei
preußiihe Offiziere zu bergen, jo daß der Feind fie
nicht findet?“
„Dben auf der Bodenfammer, Meijter!” ent:
gegnete Therefel unverzagt. „Wenn wir bie Herren
. unter dem Gerümpel verfteden, findet fie feine
abe!”
„Und wenn bie Kate fie dennoch findet — und
e8 geht den Herren ans Leben — uns vielleiht an
den Kragen? Nein, nein, To gerne idh’s thäte —
zwei eble, tapfere Offiziere — jo liebensmwürbige
Herren!” Er jchwieg. Desgleihen auch jein Sohn.
Herr Richard Scriver lächelte vieljagend. Haflo und
Therejel taufchten einen Blid miteinander, und ver:
ftanden fi.
ID.
Die Feltung Schweidnig hatte Fapituliert. Der
Trommelwirbel der fiegreiden Truppen ballte burd)
die Straßen der Stadt — der Feind war darinnen
und begehrte Quartier in den friedlichen Bürger:
bäufern. Zum Glüd waren e8 zumeift Deutjche,
gemütliche Württeımberger, darum war das Entjegen
nicht jo furdtbar, wie die franzöfifchen Sieger es
um filh zu verbreiten pflegten, mit denen feine Ver-
ftändigung möglid war, welde kein Erbarmen
kannten.
Das preußiſche Beſatzungsheer wurde entwaffnet,
um dann in die Gefangenſchaft abgeführt zu werden.
Die Zahl und Namen der Ojfiziere wurden feſtgeſtellt.
Zwei darunter fehlten, die Lieutenants Scriver und
von Rochlitz waren nicht zur Stelle. Der Kommandant
zog Erkundigungen ein, doch ohne jeden Erfolg. In
ihrem Quartier beim Drechslermeiſter Lamprecht
waren ſie ſchon ſeit früh morgens nicht geſehen worden.
Der Meiſter ſelber und ſein Sohn durchſtreiften die
Stadt, ſie zu ſuchen, wobei das böfe Gewiſſen ihnen
die hellen Schweißtropfen der Angſt auf die Stirn
trieb. Die beiden Offiziere mußten deſertiert, auf
unbegreifliche Weiſe entkommen ſein, daran war kaum
zu zmweifeln.*)
Wieder jchallte Trommelmwirbel durch die Straßen
der Stadt. An ben Eden, auf den ‘Bläten verlas
man eine Orbre des franzöfiihen Kommandanten
von Schweidnig. Die Lieutenants von Rodhlik und
Ecriver wurden als Tonventionsbrüdig für vogelfrei
erklärt. Auf ihre Einlieferung ward eine Belohnung
gejegt, ein Unterftügen ihrer Flucht mit jchwerer
Strafe bedroht. Sie felbft waren verurteilt, ftand-
rechtlich erichoflen zu werden, und Batrouillen durd-
zogen die Stadt, um die Delinquenten einzufangen.
*) Alles wirkliche Erlebniffe nach den Aufzeichnungen des
betreffenden Offiziers.
Noman von Hans Werder.
164
Hoch oben unter dem Biegeldah des Lam:
prechtichen Haufes, Hinter einem Bretterverichlag, der
dem Urväter-Hausrat zur unmwandelbaren Herberge
diente, vergraben unter zerbrochenen Möbeljtüden,
altem Eijen und anderen wertlofen Uberbleibjeln
einer einft nüglihen Vergangenheit, lauerten die
zwei preußijchen Difiziere, deren Xodesurteil unten
auf der Straße verfündigt wurde. Dab Menichen
unter diefem Gerümpel verborgen lagen, war nicht
leiht anzunehmen, ja man konnte es nicht einmal
für möglich halten. Wären die beiden nicht ſo ſchlank
und geichmeibig gewejen, jo war e8 eben auch eine
Unmöglidleit. Ein Fenfter bejaß der Raum nicht,
doch zwilchen den Elapprigen Ziegeliteinen jchimmerte
der belle Tag bindurd. Auch Kälte, Wind und
Regen verhießen auf dieſem Wege zu ihnen herein:
zudringen. Aber ebenjo der Schall von ber Straße
ber, die fchnarrende Stimme der DOrdonnanz, melde
das Todesurteil über die Flüchtlinge verlas, man
hörte jeden Ton, verftand jede Silbe. Mit angehaltenem
Atem laujchten die beiden. E& war immerhin inter:
ejlant, was fie da zu hören befamen.
„Seriver,” flüfterte Hafjo, „iegt bin ih SZhnen
dankbar, daß Sie mich verhindert haben, meinen
FSrige mit bier hereinzuziehen! Yh fühle mid
zwar höliich behaglich in diejem lieblichen Quartier —
aber die Verantwortung möchte ich denn doch nicht
auf mich nehmen für einen, der fih um meinetwillen
da bereinbegeben!” *
„Auch mödte ih wohl willen,” fette Scriver
binzu, „wo ein dritter bier no Pla finden Jollte,
ohne uns alle drei bemerkbar zu maden. Enger
eingeihacdtelt al& wir beide hier, das vermag meine
Phantafie nur jhwer fih auszumalen!”
„Richard,“ fragte Hafjo leile, „it es Shnen
auch wahrhaftig nicht leid, daß Sie fi) zu diefem
Streih haben überreden lallen? ch möchte nicht
gern jemand auf dem Gemwillen haben! Es ift eine
faule Sade, wenn man nicht mit ganz unbejhwertem
Herzen in fol einen Scherz bineingehen Tann!“
„Hören Sie, Rohlig, jett will ich Ihnen etwas
lagen! Sie haben diefe Frage jhon einmal an mid)
geitellt und nun habe ich’s fat. Ach wußte genau,
was ich that, als ih auf Ihren Vorſchlag einging.
Ein Zurüd giebt es nicht mehr für uns, nur ein
Vorwärts und Zufammenhalten ohne Zweifeln und
Fragen, mit feftem Verlaß einer auf den andern,
bis in den Tod, oder in die Freiheit!”
„Schlagen Sie ein!” ergänzte Haflo, ihm die
Hand binhaltend. Es war eine fühle, feite Männer:
band, weldhe den Drud der feinen erwiderte. —
Unten in der Wohnftube faß an dem mohl-
befannten Eptijch die feindliche Einquartierung, zwölf
Mann an der Zahl, und ließ fih fchmeden, was
Therejel gekocht hatte. Dieje ftand am Herd und
blidte trüben Auges in die Flammen. Den Riegel
der Küchhenthür hatte fie vorgejhoben. Anton trug
die Speifen für das fremde Kriegsvolf hinein, denn
Meiſter Lamprecht wünſchte diefem den Anblid der
hübſchen Dirne jolange als möglich vorzuenthalten.
Sie war jehr froh darüber. Auch fie hatte die in
den Straßen verlejene Ordre mit angehört und ihre
165 Schwertllingen.
Seele war voll Angft und Sorge um bie beiden,
die fie unter ihre Dbhut genommen, um „ihren“
Lieutenant zumal.
Der Meifter aber faß auf feinem Bett in bem
Kämmerlein, das er bei der jetigen Raumbebrängnis
mit feinem Sohne teilte, und rang die furzen bdiden
Hände in Angit und Verzweiflung. „Ans Leben
wird e8 mir gehen — nit nur den armen Herren,
auh mir! Ah und mein Sohn Anton! Hätte ich
do den Unfug nicht geduldet! Wenn ich nur ge:
wußt hätte, daß die Sadhe jo barbariich ernft ge-
nommen würde! Todesftrafe! Ach, hätte ih doh —
nun ift es zu ſpät — ad, hätte ich doch!“
Der jugendblide Anton fam bereingejchlichen,
anzufhauen wie die wandelnde Betrübnis, und nahm
an feines Vaters Seite auf dem Bettrande Pla.
„Vater, fie reden von nichts als von unjern
beiden Lieutenants! Die Hausjuchungen follen morgen
nod einmal und gründlicher vorgenommen werben!
Wenn fie die Herren finden — Bater, ac, Vater,
dann ifl’s um uns geihehen!”
Die Angflichkeit feines Sohnes erwedte in ber
Bruft des Baters einen Heldenmut, der folange
nicht zu Tage getreten, aljo vermutlich in derjelben
geihlummer. „Schweig und rede Di nicht in
unnötige Bejorgnis hinein! Daß wir die Harmlojen
Ipielen und nit dur Armejündermienen Verdacht
erregen, darauf allein fommt es an! Nimm Dich
zulammen, Sjunge, und behalte den Kopf oben!
Können wir jo viel nicht einmal thun für unjeren
König,” fuhr er mit immer wahljendem Tapferleits-
bemwußtfein fort, „daß wir ihm zwei fo brave Dffiziere
zu retten verjucdhen, dann find wir’s auch nidht wert —
nun, wie fol ich glei jagen — preußilche Zandes-
finder zu heißen! — Über nun höre, Anton, dies
ift das lette Mal, daß wir darüber reden! Die
Wände haben Ohren. Wir müflen dies — Pad
(feine Stimme dämpfte fi unwilfürlid) nun im
Haufe dulden, fie haben die Macht, aljo find wir’s
unferer eigenen Haut jhuldig, mit peinlichiter Vor:
fiht und Kaltblütigleit aufzutreten!”
Anton Zampredt nidte trübjelig mit dem Kopfe.
Er glaubte, was fein Bater jpra und war zu jeder
Art von „peinlichiter VBorficht” bereit, darüber Tonnte
gar fein Zweifel auffommen.
„Wenn Deine Mutter felig noch lebte,” begann
ber Vater aufs neue, „jo fönnten wir bie Sade
nimmermebr verjhweigen! Ohne ihr nahetreten zu
wollen — fie war eine brave Frau! Gott hab’ fie
jelig, aber den Mund zu halten, das verftehen bie
MWeibjen einmal nicht und wenn’s Kopf und Kragen
foftet!' Ob wohl die XTherefel wird dicht halten
tönnen? JR mir jehr zweifelhaft!”
Da fuhr Herr Anton aus feinem Brüten auf.
„sa, Vater, die Therefel — die hält reinen Mund —
tönnt Euch drauf verlaflen! Das ilt’s ja eben, der
Lieutenant bat’s ihr angethan, der mit den Augen,
und für ben thut fie alles — alles —” feine
Stimme ward mweinerlih und ftodte. —
Zu |päter Abendftunde, als die württembergijchen
Soldaten nah der guten Aufnahme in des Drechsler:
meifters Haufe im feften Schlummer ruhten, fchlüpfte
Roman von Hans Werber.
166
Therejel leife, Ieife auf unhörbaren Sohlen bie
Stiege hinauf, die zur Bodenlammer führte. Sie
blieb fliehen und laufchte — alles war ftill, es mußte
fie niemand gehört haben. PVorfichtig chlug fie Licht
mit dem Feuerftein und zündete die Unfchlittlerze an.
Dann babnte fie ih den Weg zwildhen dem Ge
rümpel bindurd und räumte geräufchlog einige Stüde
— hinweg, bis ſie der Verfolgten anſichtig
ward.
„Nun, Thereſel, wie ſteht's?“ fragte Haſſo leiſe.
„Für den Augenblick gut, mein lieber Herr
Lieutenant! Hier laſſen's die Herren ſich wohl be—
kommen!“ Sie reichte jedem ein Krüglein warmer
— und eine derbe Brotſchnitte mit kaltem Fleiſch
elegt.
„Thereſelein, Gott woll' es Dir vergelten, was
Du an uns thuſt!“ raunte Haſſo ihr zu, und dann
vertilgten die beiden das Mitgebrachte mit dem ge-
ſunden Hunger vielſtündigen Faſtens und kräftiger
Jugend.
„Morgen ſoll noch einmal Hausſuchung in der
ganzen Stadt vorgenommen werden,“ erzählte Thereſel
indeſſen. „Die Herren müſſen liegen wie im Schraub⸗
ſtock! Ich werde noch mehr Schurrmurr darauf
packen, damit's recht unverfänglich ausſieht!“
Das nennt ſie unverfänglich, wenn wir hier
unter Schurrmurr erſticken! Nun mein gutes Thereſelein,
packe nur auf! Wenn wir erſtickt ſind, ſagen wir's
Dir!“
Am andern Vormittag kam wirklich noch einmal
die Hausſuchungs-Kommiſſion in das Lamprechtſche
Quartier. Die Wohnräume wurden durchſtöbert bis
in die letzten Winkel, Küche, Keller, Vorratskammern,
Drechslerwerkſtatt. Kein Schrank und keine Truhe
blieb uneröffnet. Jetzt knarrte die Treppe, die Hin-
auf zur Bodenlammer führte, das Schloß ward ge:
öffnet. „Ein japperlotiches Loch tft dies daher oben!“
Inurrte eine bärbeißige Stimme. „Wenn bier bie
Spigbuben halt unterfälupft find —” ein Boltern
mit Kiften und Kaften unterbrach die Rebe.
Regungslos lagen die beiden da — fein Atem-
zug — nur das Blut Eopfte und hämmerte in ihren
Adern.
„Schau halt diefen Rumpelhaufen !” fchrie ein
zweiter. „Liegen die Sappermenters bier berunten,
jo holt fie alleweil der Teufel!” Er ftieß mit einem
Fußtritt in das morjhe Möbelmwert, daß es darunter
erfradte. Ein benkellojer Krug ward dabei durch
eine Stuhllehne Hindurchgeftoßen und fjchlug Hallo
gerade ins Gefiht. Er zudte nicht.
„Keine Ra pfeift hier innen, wieviel weniger
zwei preußiihe Ganaillen! Der Henler mag halt
wiffen, wo er die fchon am Kragen gefabt bat!
Komm, Kamerad!”
Die Bobdenthür warb zugeichlagen, verjchlofien
mit bes Meifters raflelndem Schlüffelbund. Die
Stiege erbröhnte unter den jchweren Tritten ber
Herabfteigenden. Tief aufatmeten die Gefangenen
in ihrer Enge.
Unten am Feuerherd ftand Therefel und betete
in Herzensangft um Schub und Errettung für ihre
Pfleglinge. Dann hörte fie herablommende Schritte
Ss
167 Schwertklingen.
— die Stimmen — fie fah auf und jubelte im
Herzensgrunbe: ihre Schüglinge waren gerettet.
Die mwürttembergiihe Cingquartierung machte
fih’s völlig beimifh in dem Lampredtihen Haufe.
Kein Winkel war vor ihnen fiher und Therejel hatte
große Mühe, für ihre Gefangenen da oben zu jorgen,
ohne daß jene e& gewahr wurden. Wären fie nur
nicht noch obendrein jo zubringlich gegen das hübjche
Mädchen geweien und Hätten fie mit ihren Auf:
merkjamfeiten in Ruhe gelafien! So aber geitaltete
ih ihr freimilliges Kerlermeifteramt no um vieles
ihmwieriger! Borfihtig fahl fie fi eines Abends
die Treppe hinauf, einen Korb in der Hand, der
das Abendbrot für ihre Schüßlinge enthielt. Da
gerabe, ehe fie um die Treppenwindung verihwand,
trat ein Württemberger in den Hausflur. Es war
der Zange, Semmelblonde, der ihr jo befonders zu:
gethan, und jo bejonders zumider war.
„Sungfer, wo geht Sie hin, was trägt Sie da?”
rief der Soldat ihr zu. Kopflos ftürzte Therejel
vorwärts. Wenn er fie einholte — das Efjen in
ihrem Korbe jah und fih Gedanfen darüber machte,
aus welchem Grunde fie den Korb da oben hinauf:
bradte! Nein — das durfte nicht fein! Zn langen
Sägen flog fie hinauf. „Sungfer, Zungfer, Sie fann
ja fpringen als a Gambe!“ rief der Soldat ihr
atemlos nah. Aber da Hatte fie jchon den ge:
wünjhten Vorjprung erreiht, job mit einem Ruck
den Korb zwifchen zwei Schränfe und ergriff den
erften beften Belen, der gerade ihrer Hand erreid):
bar. So blieb fie ftehen und erwartete ihren würltem:
bergiſchen Verehrer, der keuchend jetzt erſchien.
„Was will Er hier!“ herrſchte ſie ihn ungnädig
an. „Kann ich nicht einmal die Treppe abfegen, ohne
daß Er mich dabei moleſtiert?“
„Die Treppen kehren — aber Jungfer, das
war doch kein Beſen, den Sie da in der Hand ge—
habt? Sah mir doch halt aus wie a Körbel!“
„Hier hat's kein Körbel!“ rief ſie in edlem
Zorn erglühend. „Er wird mir wohl weiß machen,
was ich in der Hand gehabt hab! Laß Er mich
ungeſchoren, ſonſt kann Er noch was erleben!“ Und
ſie ſchwang den Beſen über ihrem Haupt mit drohen—
der Gebärde. Der Württemberger verludte noch,
fie zu bejänftigen, und endlich ftieg fie mit ihm die
Treppe hinab, auf das Abfegen derjelben für heute
verzichtend.
Zu vorgerüdter Stunde erft Ichlih fie wieder
hinauf, holte das „Körbel” aus einem Berjted und
Ihaffte e8 jorglih nach feinem Beltimmungsort.
„Ihr habt uns ja heute jo lange jchmadhten
laflen, Süngferlein?“ bemerkte Ecriver. Ad, jeder
neue Tag ward ihnen länger als der vorhergehende.
Die enge Haft war faum noch zu ertragen. Therelel
Roman von Hans Werber.
— — — — — — — —
168
erzählte ihr Abenteuer mit der Gambs, dem Körbel
und dem Beſen. Haſſo ſah nachdenklich aus. Ein
kleines Verſehen dieſes Mädchens — und ſie waren
verloren, das war klar wie der Tag.
„Thereſelein,“ ſagte er, „Du verſprachſt mir,
zuzuſehen, ob die Feſtungsgräben ſchon zugefroren
ſeien! Warſt Du ſchon dort?“
„Ja, ich war dort, noch hielt das Eis nicht,
aber vielleicht friert es dieſe Nacht ſtärker — es iſt
ſehr kalt!“
Ja freilich — das brauchte Thereſelein ihnen
nicht zu erzählen. Eiſig drang die Kälte durch die
Ritzen des Daches herein und trotz der Decken, die
das gute Kind ihnen herbeigeſchafft, froren die beiden
in ihrer regungsloſen Lage bis ins Mark hinein.
Am nächſten Abend kam ſie wieder. Ihre
Augen glänzten vor Aufregung. „Das Eis hält,
Herr Lieutenant, auf den Wallgräben ſchlitterten
heute die Buben.“
„Dann vorwärts!“ entſchied Haſſo ſofort. „Mich
dünkt, Scriver, wir haben kein Zeit zu verlieren!“
Sie krochen aus ihrem Verſteck hervor, in
der bäueriſchen Tracht, in welcher ſie einſt nach
Schweidnitz gekommen, und rüſteten ſich leiſe zum
Aufbruch. Mit Geld waren ſie verſehen, für einen
fräftigen Imbiß und die nötige Schnapsflafche forgte
Therejel. „Aber ich weiß nicht,” meinte fie zagend,
„überall mag das Eis doch noch nicht Halten! Wenn
nur die Herren nicht zum Unglüd fommen! OD bu
bimmliihe Güte, dann wär’s durch meine Schuld!”
Scriver jah ein, daß fie recht haben könnte.
„Wir wollen’s menigftens verjudhen!” jchlug er vor.
„Wil Sie am Küdhenfenfter auf uns warten, Sungfer,
und uns aufmadhen, wenn mir wiederfommen?
Sind wir in einer Stunde nicht zurüd, dann kann
Sie annehmen, daß wir hinaus find aus der Falle!“
„Ich will aud zwei Stunden warten — aud)
drei — die Herren fönnen fih auf mich verlaffen!”
ſchwor Thereſel.
Aus dem niedrigen Küchenfenſter, das ſie leiſe
geöffnet, ſchwangen die beiden Herren ſich geräuſch—
los nieder auf das Steinpflaſter der Straße. Es
war eine ſternenhelle, eiskalte Nacht. Sie mußten
vorſichtig gehen, daß ihre Schritte nicht ſchallten auf
den Steinen.
„Ich hab' dem Thereſelein gar nicht ordentlich
Adieu geſagt,“ bemerkte Haſſo plötzlich. „Das wird
wohl eine Vorahnung ſein, daß ich noch einmal
zurück muß in ihr Haus!“
„Unſinn!“ brummte Richard Scriver ärgerlich
als Antwort.
„Hier in dieſem Turmſchatten müſſen wir den
Wall überklettern!“ ſagte Haſſo. „Hier ſieht uns
niemand und drüben iſt das Eis!“
(Fortſetzung folgt.)
169 Ohne Gott.
Roman von E. Rarl.
170
Ohne Gott!)
Roman
bon
€. Rarl,
I.
Schneidend pfiff der Norboft durch die Straßen
der alten Stadt, fegte ftoßmweije den lofen, trodenen
Schnee von den Dächern und ließ ihn über Die
Köpfe der Paflanten binftieben. Schräge weiße
Streifen davon lagen auf dem überfrorenen Pflafter,
wie die Laune der Windsbraut fie gerade bingemweht
batte, um fie im nädjften Nugenblid in tollem Spiel
wieder aufzurollen und nebelgleih vor fih berzu-
treiben.
Wer ein Heim hatte, ftrebte ihm zu, und wen
fein Beruf den Aufenthalt im “Freien gebot, der
Ihlug menigftens den Rodkragen in die Höhe und
rieb gelegentlih Wangen und Obren, bie von den
iharfen Kıryitallen wie mit Nadeln geflohen wurben.
Die Abenddämmerung janf bereits herab und
immer \chärfer ward der Sturm, immer unbeimlicher
das Saufen in der Luft, das Klappern auf den
Dächern. E3 fam mohl vor, daß ein fjchlecht be:
feftigtes Fenfter oder ein loderer Dachftein auf die
Straße Mlirrte, und die Vorfichtigen hielten fi in
der Mitte derjelben.
Meit ab vom Mittelpuntt der Stadt und fern
vom Geheimratspiertel, in einer der langen häßlichen
Straßen, die vorwiegend der Arbeiterbevölferung
zum Wohnplag dienten, jchritt eine einfame Frau.
Sie gehörte ihrer Kleidung nach den befjeren Ständen
an, war feit in einen Mantel gehüllt und hatte zu
beilerem Schu gegen das Iinwetter ein Tuch über
den Hut geihlungen. So verwahrt jchritt fie ziel:
bewußt weiter, und man fah es den Bewegungen
ihrer mittelgroßen, rundliden Geftalt an, daß fie
nicht gewohnt war, fi) durch äußere Hindernifle von
ihrem Wege abbringen zu laflen.
Faft am legten Ende der Straße, nahe ber
großen Eifengießerei, die einen Zeil ihrer Bewohner
ernähtte, trat die Frau in die Thür eines dreiftödigen, |
ärmliden Bette lag, „wie gebt e& heute? Hat
aber jehr verwahrloft ausjehenden Haufes. Sin dem
Ihwaden rötliden Schein, den die Abenddämmerung
durch Ichmale Fenfter auf die fteilen Stiegen warf,
Iohritt fie aufwärts und erflomm auch die vierte und
legte derjelben, die bereit auf dem Dachboden bes
Haufes endete. Menichlihe Hubgier hatte aber aud
diefem unmirtlihen Raum nodh zwei „Wohnungen“
abgezwungen und menjchlidhes Elend fie als joldhe
bezogen.
Als auf leifes Klopfen an der nädhften Thür
Zimmer. Das Abendrot, durch Fein gegenüber:
liegendes Gebäude mehr gehindert, leuchtete durch
das ziemlich große Fenfter und füllte den Raum
mit rofigem Licht, gligerte aber auch auf den mit
Eisfryftalen überzogenen Wänden. Die Feniter:
iheiben hatten Kinderhände teilweile von der Eis-
Schicht befreit, um einen Blid auf den pradtvoll
geröteten Himmel und die jagenden Wollen zu ge:
winnen. Ein etwa jehsjähriger Junge ftand davor
und baudhte in bie fteifen Hände, während ein zwölf:
jähriges, ehr Trank ausjehendes Mädchen fich mit
ebenfo fteifen Fingern abmühte, den lebten Tages:
Ichein für eine Hälelarbeit zu verwerten.
Der äußerft dürftige, aber peinlich jauber ge:
baltene Raum hätte durch Diele lettere Eigenſchaft
anmutenb wirken können, wenn bie eifige Kälte, die
ihn erfüllte, nicht jedes Gefühl des Behagens jchon
im Entftehen unterbrüdi hätte. Die Temperatur
ftand jedenfall no) etwas unter dem Geftierpunft,
benn das Wafler des MWajchbedens in der Ede zeigte
eine leiſe Eisſchicht.
Die Dame löſte unter freundlichen Begrüßungs—
worten das Kopftuch und enthüllte damit das rund—
liche Geſicht einer Fünfzigerin. Die friſche Hautfarbe
deutete auf Geſundheit, das dunkle, ſprechende Auge
unter kräftigen Brauen auf Klugheit, ein Zug von
Energie um den feingeſchnittenen Mund ſprach von
Lebenserfahrung; aber über dem ganzen Geſicht, das
von welligem, ergrautem Haar eingerahmt wurde,
lag, wie Sonnenſchein auf einer Herbſtlandſchaft,
eine ſolche Fülle von Herzensgüte und Liebens—
würdigkeit, daß jedes Auge ſich wohlthuend davon
berührt fühlte. Frau Profeſſor Niederſtetter war
aus einem anmutigen Mädchen nach und nach eine
würdige Matrone geworden, ohne ihre Beliebtheit
einzubüßen, weil die Schönheit ihrer Seele über den
Verfall des Körpers hinwegtäuſchte.
„Nun, Minna,“ wendete ſie ſich an die kranke
Frau, welche unterhalb der ſchrägen Decke in einem
Mariechen Dir die Suppe, die ich ſchickte, ſchön ge—
wärmt und hat ſie Dir geſchmeckt?“
Über die eingefallenen, fieberglühenden Wangen
der Kranken rollten große Thränen, ſie hielt die dar—
gereichte Hand des Gaſtes feſt und führte ſie an ihre
trockenen Lippen. „Ach, gnädiges Frauchen, ich hab'
die Suppe gegeſſen, weil Sie es ſo haben wollten,
und damit ich bald zu Kräften komm, Appetit hab'
ich noch gar keinen. Ach Gott, was ſoll doch aus
eine ſchwache Antwort erfolgte, öffnete die Dame uns werden,“ klagte ſie, „Köhler hat ſeit vier
und trat in das ſchmale, auf einer Seite abgeſchrägte Wochen, ſeitdem der Fluß zu iſt, keine Arbeit, und
*) Wenn auch die leitenden Gedanken dieſes Romans unſeren Anſchauungen nicht ganz entſprechen, ſo glaubten wir
doch die Arbeit unſeren Leſern nicht vorenthalten zu follen, weil ſie gewiſſe Strömungen unferer Tage in klarer Weiſe wiedergiebt.
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeltung.
;— — — — — —— —— — —— —— —— — — — — — —
171 Ohne Gott.
ih Liege bier und fann auch nichts verdienen. ch
hab’ Ichon alles ins Leihhaus geichidt, ober an bie
alte Bänken verfauft, was ich irgend abgeben Eonnte,
nun hab’ ich nichts mehr, und bie Kinder Bungern.
Wir wären ja jhon längit verfommen und verborben
ohne Sie, Frau Profeflern, aber wir können Shnen
doch nicht immer zur Laft liegen.”
„Run, das lalle meine Sorge fein, Minna,”
antwortete die Dame freundlich, „ich thäte gern nıehr,
wenn ich es fünnte, das weißt Du ja, aber ih muß
mid) doch auch nach meiner Dede ftreden. — Was
madt denn das Kleine?”
„Ih dene’, e8 wird nicht lange mehr leben,”
antwortete die Kranke in müdem Ton, „es ift zu
Ihwadh, und die jchlehte blaue Mil befommt ihm
auh nicht. Der Doktor jagt, ih fol ihm von ber
Milh aus der neuen Anftalt geben, aber die koftet
dreißig Pfennig der Liter, und foviel fünnen wir in
Tage nicht für uns alle ausgeben. Da muß der
Kleine denn fterben und es ift ja auch das befte
für ihn und für uns. — Wenn ich nur milßte, wie
wir den Sarg bezahlen follen?”
Die Frau Profefjor Hob von der Wanbjeite des
Bettes ein Bleines Bündel herauf und enthüllte aus
den darumgeſchlungenen Tüchern ein winzig Kleines
Menſchenkind.
„Es war ſo ein hübſches Kindchen,“ ſeufzte
die kranke Frau, „wenn ich geſund geblieben wäre
— ich hätte es gewiß groß bekommen.“
Die alte Dame ſah mitleidig auf das dem Tode
geweihte Geſchöpfchen herab, dem der Erſatz für die
fehlende Muttermilch nicht beſchafft werden konnte,
weil die geringen Mittel ſelbſt eine ſo kleine Aus—
gabe nicht geſtatteten. Wer da beſſern könnte, wer
die Macht zu energiſcher Abhilfe hätte; denn ſo wie
hier das eine, gingen in der großen Stadt jährlich
Hunderte zu Grunde — aus Mangel an Nahrung,
an Pflege, an Aufſicht. Wöchentlich brachten die
Zeitungen Mitteilungen über verbrannte, überfahrene
oder aus dem Fenfter geflürzte Kinder, und nur in
den jelteniten Fällen war Nadjläffigfeit der Mütter
die Urſache. Sie hatten derweil ums tägliche Brot
gearbeitet. Wer aber zählte erft die Säuglinge, bie,
wie dieler, der Not erlagen.
„Entjeglih,“ murmelte die warmherzige Fran.
„der Menichheit ganzer Sammer faßt mich an!‘”
Das Würmchen begann leife zu meinen, es fror
wohl in dem falten Raum. Frau Niederftetter hüllte
es wieder ein und fchob es unter die Bettbede, dann
wendete fie fi an das Mädchen, das eben der herein:
brechenden Duntelheit wegen die Hälelarbeit fort:
gelegt hatte.
„Hattet Yhr denn heute kein Feuer? Es ift ja
bitterfalt bei Euch.”
„Doch, gnädige Frau,” fprach des Kind, indem
es näher trat, „aber e& waren nur noch einige Späne
da, die gerade langten, den Kaffee zu kochen. Das
bigchen Wärme hat der Sturm wieder herausgeblajen,
das Feniter Tchließt jo Jchlecht.”
Frau Niederftetter trat zum Feniter, von dem
der kleine Junge fich entfernt hatte, um zu den
Füßen feiner Franken Mutter ins Bett zu Eriechen,
Roman von €, Karl.
172
es war da wärmer. Der Fenfterrahmen zeigte breite
Spalten, die man notbürftig mit Qumpen verftopft
hatte; die lofen Scheiben Elirrten, und die nur einen
Biegel Starke Mauer jchien unter den Stößen des
Windes zu erbeben. Ab und zu ging ein polterndes
Geräufeh über die fchräge Fläche oberhalb des Bettes
hin. — Es war der Sturm, der die Dachpfannen
bewegte, fie waren dem Auge dur eine bünne
Bretterchicht entzogen.
Frau Niederftetter griff in die Tale und
wendete fih dann an Mariehen, um ihr einen
Auftrag zu geben; ehe fie aber dazu fam, begann
das Kind furchtbar zu buften. Sn entfeglicher Atem:
not lehnte es fich gegen bie bereifte Mauer, während
dunlelrote Flede auf den Wangen erihhienen, unb
die Augen aus ihren Höhlen traten. DVergebens
blidte die erjchredte Frau nah irgend einem
Linderungsmittel umber; das eisbededte Wafler aus
dem vorhandenen Waflertruge wagte fie der Huftenden
nicht zu bieten.
„zafen Sie man, Frau Profeflern, da hilft
do nichts mehr,” flüfterte die Kranfe, und von
neuem |hoß ein Thränenftrom aus ihren Augen.
Endlich beruhigte fi das Mädchen und fank jchweiß-
bededt und atemlos auf einen Holzichemel. Die alte
Dame fprad) ihm gütig zu, ftrih ihm das feudhte
Haar aus ber Stirn und flüfterte ihm leife Worte
ins Obr, die zur Folge hatten, daß die matten Augen
plöglih zu glänzen begannen. Dann fprang bie
Kleine auf, um die Stube zu verlafien.
„Halt, halt,“ rief die alte Dame, „jo erhikt
darfit Du nicht in die Kälte,” und fie nahm ihr
eigenes Tuch, das fie auf den Tifch gelegt hatte, und
büllte das Kind forglih hinein. „So, nun lauf,
und der Kleine Bruder kann helfen, er befommt dann
die Zugabejemmel.“
Mit einem Sa war der Kleine aus dem Bett
und zur Thür hinaus.
Frau Niederftetter jah fih in dem jett faft
dunfeln Zimmer um, fragte nah Feuerzeug und
Lampe und zündete biefe an, dann nahm fie am
Bette Plat. „Was ift es mit Mariehen? Geht
e3 dem Kinde wieder jo jchleht? Du follteft doch
den Arzt fragen.”
„3 bab’ ihn vorige Woche gefragt,” meinte
die Frau, „als Mariehen fo ftarke Bruftiegmerzen
hatte, da bat er fie unterjucht und gemeint, länger
als ein bis zwei Jahre wird es nicht mehr mit ihr
dauern, fie hat eine ganz Franke Zunge. Aber fie
weiß es nicht und fpricht fchon von ihrer Einfegnung,
und daß fie dann Kindermädchen werben will. Sie
friert immer fo und denkt dabei an die warme
Stube, in der fie dann fiten fann. — Ach Gott,
gnädiges Frauden, wenn id auh das Kind nod
hergeben muß, dann weiß ich nicht, wie ich weiter
leben jol. ch habe ja fchon vier auf dem Kirchhof,
aber fie waren doch noch Hein. Diefes Mädchen ift
mein einziger Troft und meine Hoffnung gemelen,
aber ich weiß ja jchon feit drei Sahren, baß es au
fterben muß.“
„Berliere den Mut nit, Minna,“ Iprach bie
Profefforin tröftend, „Gott ift barmherzjig, und bie
113 Ohne Gott.
ärztliche Wiflenihhaft nicht unfehlbar. Nege Dich nicht
auf, jondern fieh zu, daß Du wieder ganz gejund
wirft, es geht Dir ja Schon befler, und dann — zum
Frühjahr — Ichide ih Mariehen für einige Wochen
auf das Gut meines Bruders, da wird fie fich fchon
erholen.”
Die Kranke hajchte wieder nach der Hand der
gütigen Frau, um fie an ihre Lippen zu führen.
„Der liebe Gott vergelte Ihnen tauſendfach,
was Sie an uns thun,” Ipradh fie inbrünftig, fügte
dann aber zögernd hinzu: „Sie jagen ja aber, es
giebt Teinen Gott, und manchmal denfe ich wirklich,
die Leute haben recht.”
„Am Gottes willen, Minna, laß Dich nicht zu
loldem Unglauben bethören,” rief die alte Dame
entjegt, „gewiß giebt e8 einen Gott, der die Welt
Ihuf und fie erhält, laß Dich nicht irre machen, laß
Dir den Glauben an ihn nicht nehmen.”
Ein jcharfer Luftzug machte fie plöglih um:
hauen. In der Thür, deren Offnen fie überhört
batte, ftand eine jchlanfe Männergeftalt, groß, aber
nicht fräftig, bie bei den legten Worten der alten
Frau jarkaftiih auflahte.. Der Mann lehnte gegen
den Pfoften der offenen Thür, als fuhe er einen
Halt, er war augenicheinlih beraufht. Diejer Um:
ftandb ließ ihn aud den fonft geübten Reſpekt der
MWohlthäterin feiner Familie gegenüber vergeflen.
„Sie ftehen wohl mit dem lieben Gott auf Du
und Du, Frau Profeflern, daß Sie jo genau Be:
ſcheid wiſſen,“ ſprach er höhniſch. „Ich find' auch,
daß er alles ſehr ſchön eingerichtet hat. Die Reichen
können drei Tage in eins praſſen und ſchlemmen,
ohne daran zu erſticken, und wir können noch länger
hungern und frieren, bis wir über unſere eigenen
Füße fallen, und ſterben noch lange nicht daran. Der
liebe Gott hat wirklich alles ſehr ſchön gemacht.“
„Kommen Sie herein, Köhler,“ ſprach Frau
Niederſtetter ſtreng, „und ſchließen Sie die Thür, es iſt
ohnehin ſchon kalt genug, weil Sie das Geld, das
den Ihrigen eine warme Stube und warmes Eſſen
verſchafft hätte, vertrunken haben. Schämen Sie ſich!“
Der Mann ſchloß die Thür, ließ ſich ſchwer auf
den nächſten Schemel fallen und antwortete trotzig:
„Die lumpigen fünfzig Pfennige, die mir heute ein
Herr gab, dem ich zwei Stunden lang ſein Pferd
hielt, hätten nich hin, nich her gereicht für ſo viele
— und etwas muß ein Familienvater doch auch für
ſich ſelbſt thun, um ſeine Kraft zu behalten.“
„Die Kraft aus der Kneipe macht ſchwache
Beine, wie ich ſehe,“ bemerkte Frau Niederſtetter
ſarkaſtiſch und wendete ihm den Rücken. Sie beugte
ſich über das Bett, um den Kleinen, welcher in—
zwiſchen zu ſchreien begonnen, in friſche Wäſche zu
hüllen, die die Mutter an ihrem fiebernden Körper
gewärmt hatte.
„Ach mein Gott, mein Gott,“ ſeufzte die Leidende,
„wenn nicht bald Hilfe kommt, dann geht mein Mann
zu Grunde. Er kann das Elend nicht ertragen und
ſucht es im Schnaps zu erſäufen.“
Auf der Treppe polterten die Füße der zurück—
kehrenden Kinder, nun traten ſie, im Vorgenuß der
zu erwartenden Herrlichkeiten, mit ſtrahlenden Augen
Roman von E. Karl.
174
ein. Sie trugen zwiſchen ſich einen Korb mit
Brennmaterial, das Mädchen außerdem ein Hand—
körbchen, in welchem Bierflaſchen und eine blecherne
Milchkanne ſichtbar waren, und der Junge unter
dem Arm ein großes Brot. Die verheißene Zugabe—
ſemmel hatte er bereits zwiſchen den Zähnen.
Die vier Treppen unter ziemlich bedeutender Laſt
hatten den kleinen ſtämmigen Kerl nicht im geringſten
angefochten, Mariechen dagegen keuchte hörbar und
die Flecke auf den bleichen Wangen brannten in leb⸗
haftem Inkarnat. Trotz deſſen ſchickte ſich das Kind
ſofort an, mit flinken Fingern Feuer zu entzünden,
während Frau Niederſtetter eine Flaſche entkorkte
und ihm Anweiſung gab, aus Brot, Bier und Milch
eine Suppe zu bereiten. Auch die Milchflaſche des
Kleinen ſollte friſch gefüllt und für die Kranke eine
Taſſe Kakao aufgebrüht werden, von dem die Dame
eine Büchſe voll in ihrer Handtaſche mitgebracht
hatte. Sogar ein Töpfhen Schmalz entwidelte fich
aus derielben und wurde den jubelnden Kindern ale
Zukoſt zum Brote übergeben.
Ale alles genügend vorbereitet war, um ben
geihidten Händen des Heinen Mädchens zur Boll- '
endung überlaflen zu werben, wendete fih Frau
Niederftetter an den Mann, der bisher teilnahmlos
in der Ede geleflen hatte, jebt aber durch die
appetitlihen Gerüche, die vom SKKochofen berüber:
drangen, aus jeiner Lethargie gewedt zu werben jchien.
„Sie haben, wie mir fchien, vor einer Weile
dem lieben Goti fein Dafein abgejprochen, er jenbet
Shnen aber dur mid ein Zeichen davon.” Damit
zog fie einen Zettel hervor und reichte ihn dem
Manne. „Melden Sie fih damit morgen früh in
dem Comptoir der Eifengießerei, Sie haben ja jhon
einmal da gearbeitet, bevor der Betrieb zeitweile
eingej&hräntt werden mußte.”
Der Mann ftierte auf das Blatt in feiner
Hand. „Der Arbeiter Gottlieb Köhler erhält in
meiner Fabrik Beichäftigung als Hilfsarbeiter,” ftand
darauf, durch die Unterfchrift des Beſitzers beglaubigt.
Das Bapier begann in feinen ohnehin zitternden
Fingern zu flattern, wie vom Winde bewegt. Mit
der den Trunlenen eigenen Maßlofigleit jchlug feine
Stimmung plöglih ins Gegenteil um. Hatte er
vorher bramarbafiert, jo begann er jegt zu weinen.
„Und nun noch eins, Köhler,” fuhr die Dame
fort, „mögen Sie an Gott glauben oder nicht, ein
tüchtiger, braver Menih können und müflen Sie
unter allen Umftänden fein, wenn Sie fih nidt an
Weib und Kindern verjündigen wollen. Kehren Sie
um von dem Wege, den Sie in lehter Zeit ge
gangen find, er führt direlt ins Elend. Meiden
Sie die Schente und ihre Befuher — was man
Shnen da predigt als Geift der neuen Zeit, find
ganz oder halb verkehrt verftandene Anichauungen,
die von Euch) allen ebenjowenig verbaut werden, als
ob man Euh WBerlen und Edelfteine zum Mittag:
eilen vorjegen wollte. 33h Habe mich für Sie ver:
bürgt, Köhler, habe Sie als einen ordentlichen,
nüchternen Mann geidhildert, mahen Sie mir feine
Schande.”
Der Mann griff laut fchluchzend nad ihren
175 Ohne Gott.
Kleiderfalten und drüdte das Geficht hinein. „Sie
Tönnen fih auf mich verlaffen, Frau Profeffor, Sie
jolen mich einen Hund ſchimpfen, wenn id) mid)
noch ein einziges Mal betrinte.“
Die Dame löfte ihr Kleid fanft aus den
Händen des Mannes und trat, fich verabichiebend,
an das Belt der Kranlen. „Nur Mut und Zu
verfiht, Minna, es kommen wieder beflere Zeiten.
Sprid Deinem Manne freundlich zu, daß er die
Kneipe läßt; nur nicht Schelte oder Vorwürfe, Du
jagft ihn damit vollends aus dem Haufe, das ihm
jegt ohnehin durh Deine Krankheit nicht be:
haglich iſt.“
Sie ſah ſich nach ihrem Tuch um. Mariechen
hatte es noch nicht abgelegt, ſondern kauerte ſelbſt—
vergeſſen, die Hände darunter geborgen, neben dem
Kochofen, auf dem die Suppe ihrer Vollendung ent—
gegenging. Es war der alten Dame unmöglich,
dem kranken Kinde die wärmende Hülle zu nehmen.
„Leuchte mir die Treppe hinunter, Mariechen,
ich will noch bei Liedkes anſprechen, das Tuch darfſt
Du behalten, mein Hut iſt mir warm genug.“
* *
x
Die Dame flieg zwei Treppen tiefer und Elopfte
an die rüdmwärts gelegene Stubenthür, binter der
ihr müfter Kinderlärm entgegenfhalltee Derfelbe
verftummte zwar bei ihrem Eintritt, do Fonnte Die
wilde Keine Bande die Spuren ihrer Beichäftigung
nicht Schnell genug bejeitigen und Frau Niederftetter
hatte noch einen tief betrübenden Anblid.
Am Senfter des jegt durch ein Lämpdhen be:
leuchteten Zimmers aß in einem alten Lehnftuhl
eine völlig gelähmte Frau von etwa ftebzig Jahren,
die die rohen, jchledht erzogenen Kinder zum Gegen:
ftand ihrer Beluftigung gemadt Hatten. Eine fpiße
Bapiermüge thronte über dem welfen Geficht, dem
fie mit Kohle einen gewaltigen Schnurrbart gemalt
hatten, während in den unbemweglien Armen ein
Bejen und ein Schrubber rubten, Teßterer ein Scheuer:
tuch wie eine Fahne tragend.
. Mit einigen Fräftigen SKlapfen fuhr Frau
Niederftetter über die Meinen Unbolde ber und
Iheuchte fie von ihrem Opfer hinweg, dann befreite
fie diefe8 von Jeiner jonderbaren Verkleidung.
„Ad, gnädige Frau, wie danfe ih Ihnen, daß
Sie mid von diejer Rotte Korah erlöjen,” jprad
die Alte dankbar, während die Dame mit einem
Handtuch ihr die Kohlenftrihe abwulh. „So quälen
fie mid jchon zwei Stunden, jeildem die Male, bie
no die Beite ift, fortgehen mußte. Es find zu
ungezogene Rangen.”
„Aber warum behalten Sie denn bie Familie in
Ihrer Wohnung, Juden Sie doch ruhige Leute.”
„IH finde fie fo jchwer,” antwortete die Alte,
„und fanın do nicht allein bleiben, feildem meine
gute Schwiegertochter geitorben ift und meine Groß:
tohter Alma Tag für Tag jchneidert, um Brot für
uns zu jchaffen. Es will niemand fold elenden
Krüppel, der gefüttert und wie ein Kind aus: und
angezogen werden muß, um ich dulden. Da muß
Roman von ©. Rarl.
176
ich eben nehmen, was fih findet, die ftädtilche Unter:
flügung reiht nur zur halben Miete.“
„Sie arme Frau,” Iprad die Profefforin mit:
leidig, „verlieren Sie nur nidt die Geduld, Gie
willen ja, daß Sie ins Siehenhaus fommen follen,
obald eine Stelle frei wird.”
„Ih die Geduld verlieren,” rief die alte Frau
eifrig, „denken Sie das ja nit, Frau Profeflor.
Des Herrn Hand liegt fchwer auf mir, aber id
murre nit. Unfer Hergott weiß, was er thut und
wen er lieb hat, den züchligt er. Sch weiß, daß er
mich einft in fein himmlifhes Reich rufen wird —
darauf warte ih. Nun find es bald zwanzig Jahr,
daß ih jo dafite, nun wird meine Prüfungszeit
bald beendet fein.”
„Schon zwanzig Jahre find Sie fo völlig be:
wegungslos?” fragte Frau Niederftetter, die erft feit
furzer Zeit dur ihre Scneiderin Alma in Die
näheren Familienverhältniffe eingeweiht war.
„3a, e8 ift bald jo lange, gnädige Frau, daß
ih auf diefem Stuhl fige, ih befam den böjen
Nheumatisnıus in die Beine, als ih noch Wajdı:
frau war. — Sehen Sie, wenn einer immer in den
zugigen Waſchhäuſern fteht und dann erhikt ans
Wafler jpülen geht und nachher feine Zeit hat, fich
trodene Strümpfe anzuziehen, da fann jo was fomımen.
Aber ih hab’ nadhher noch zehn Jahre menigitens
bäfeln und ftriden fönnen und hab’ meinem Sohn
nicht zur Laft gelegen. — a, wie der liebe Gott
meinen armen Jungen dann zu fih genommen bat
— GSie willen, er war Maurer und flürzte vom
Gerüft — da hab’ ich meiner Schwiegertochter noch
was abgeben können und die Alnıa erziehen helfen.
Aber danı, wie wir in der naflen Bordertihen
Wohnung wohnten, da ift die Krankheit in meinen
ganzen Körper gelommen und nun bin ih nur
nod ein unnüßes Holz, das der Herr je eher, je
lieber ausreißen fönnte. Aber meine Schwiegertochter
ift immer gut zu mir gewelen und die Alma ift es
auh. ch freue mich bloß auf das GSiedhenhaus,
weil das arme Kind mich dann los ift und feinen
Verdienft für fich behalten kann. Auch giebt es dort
wohl feine ungezogenen Kinder.”
Frau Niederftetter rief die Kinder heran und
hielt ihnen eine eindringliche Standrede, fie glaubte
aber jelbft faum an den Erfolg und nahın fi vor,
im Armenverein, deflen Vorligende fie war, für
anderweitige Alnterbringung der armen Dulderin
zu plaidieren.
„5% freue mich, daß Alma fi) jo gut eniwidelt
bat,” iprach fie dann zu der alten Frau, deren Ge:
ficht Sich bei dem Xobe der Enkelin völlig verklärte,
„Ne ift eine recht geichidte Arbeiterin und ein liebene-
würdiges Mädchen dazu. ch ziehe fie ganz zur
Familie, wenn fie bei mir arbeitet.”
„sa, es ijt ein gutes Kind, die Alma,” antwortete
die Großmutter, „wenn fie fih nur nicht mit dem
Menihen, dem Schmieder, einläßt, der ihr immer nad):
geht. Ich bitte den lieben Gott alle Tage, er möchte
ihr Herz von ihm abwenden, aber bis jeßt ift noch
feine Bellerung zu fpüren, fie wird immer fchon rot,
177 Obne Gott.
wenn fie nur feinen Namen hört. Und er fann fie
doch nicht heiraten.”
„Warum kann er fie nicht heiraten?”
„Weil er Ihon eine Frau bat, wenn fie aud)
von ihm fort ift. Sie haben fi nicht veriragen,
aber es fol ja mehr an ihm als an ihr gelegen
haben. Und dazu ift Schmieber einer von den ganz
Gottlojen, er predigt den Leuten, daß es gar feinen
Gott giebt.”
Die Thränen waren ber alten Frau aus ben
Augen geflürzt, und die PBrofeflorin mwünjchte fie zu
beruhigen.
„3% denke, Sie haben für Alma nichts zu fürdten,
liebe Frau, fie ift ein braves Mädchen und wird zur
Befinnung kommen.”
„D, Sie tennen den Schmieder nit, gnädige
Frau, der fann reden wie ein Bud, er ift ein halb
Studierter und dazu ein hübfcher, anjehnlidher Dann.
Ah, Frau PBrofefior, ich habe meinen Mann und
alle meine Kinder überlebt, aber wenn meine alten
Augen noch jehen jollten, wie mein Fleifh und Blut
in Schande fällt — das müßte mir den legten Stoß
geben. D mein Gott und Herr,“ betete fie, „erbarme
Did und laß das nicht geichehen. ch babe Dir
fill gehalten in allem Elend, denn ich weiß, daß Du
mich im Sjenfeits dafür belohnen wirft, aber bas —
Das eripare mir.”
Sie halte die Finger, das einzige, was fie an
ihrem Körper noch etwas bewegen Tonnte, im Schoß,
wo die Hände nebeneinander ruhten, zu falten ver:
Judt und blidte zur Dede empor; jo blieb fie einige
Augenblide unbeweglih, dann neigte fie leile das
graue Haupt und fpradh ergeben: „Herr, Dein Wille
geichehe, Du weißt, was Du thuft.”
Tief erjchüttert verabichiedete fih die Profefjorin.
Hier hatte fie gejehen, was die Religion den Armen
und Elenden ift. — Wie hätte wohl diefes bedauern:
werte Wejen das Leben ertragen können, ohne den
Glauben an einen gütigen Gott, ohne die Hoffnung
auf ein beſſeres Jenſeits.
II.
Als Frau Profefjor Nieberftetter auf die Straße
fam, faßte fie der Sturm mit berjelben Heftigkeit,
aber er blies ihr in den Rüden und beichleunigte
nur ihre Schritte. Bald lag das Arbeiterviertel
hinter ihr, die Straßen wurben breiter und freundlicher,
die Menjhen darin Jahen beiler genährt aus und
waren befler gekleidet. Seht rollte die Equipage
eines befannten Millionärs vorüber, Kutjcher und
Diener in dide Pelze gehüllt, der Beliger nadhläjfig
in bie feidenen PBolfter gelehnt, ein rechtes Bild des
thatenlojen MWohllebens. Mit dem, was diejer befannte
Lebemann zuweilen an einem Tage ausgab, hätten
die armen Familien, von denen fie eben fam, ein
Sabr forgenfrei leben Tönnen.
Die Frau jeufzte tief auf. AR es den Armen,
die bungern und frieren und die Shrigen aus Mangel
fterben jehen, wohl zu verdenten, wenn fie mit Groll
auf jolde Eriftenzen bliden und wenn fie in ihrer
Roman-Zeitung 1896.
Roman von ©. Rarl.
178
Kurzlichtigfeit wähnen, eine gleihmäßige Verteilung
aller vorhandenen Werte könne bie irdifche Glüdfeligkeit
herbeiführen ?
Nein, zu verbenlen ift es ihnen nicht, aber auf
dem Mege, den fie fich vorftellen, ihnen zu belfen,
ift ebenfalls unmöglih. Nur der Zwang bringt das
Gros des Menjchengejchlechtes zur Entfaltung feiner
Leiftungsfähigkeit, man nehme ihm die treibenden
Faktoren, und es verfinkt in Trägbeit und Genußſucht.
Der Großvater des Mannes, der eben auf
Gummirädern an ihr vorüberrollte, war einfacher
Arbeiter gewelen, fein Vater hatte als armer ingenieur
begonnen, um als Kröjus zu fterben. Der Sohn
genoß, was der Bater erworben, er verjchleuderte die
Srüchte jeines Fleißes, ohne an ihre Ergänzung zu
denfen. Seine Nahlommen mochten einft wieder
auf demfelben Punkt enden, wo ihr Ahın angefangen,
als Arbeiter oder Kleine Beamte. So war der Kreis:
lauf gemefen jeit Beginn unjerer Civilifation und
jo wird es bleiben, wenn es nit gelingt, den
moraliſchen Gehalt des Menſchengeſchlechtes durchweg
auf eine höhere Stufe zu heben.
Die Mehrzahl arbeitet nur „der Not egen
nicht dem eignen Trieb“, und viele der heftigſten
Schreier, die „das Recht auf Arbeit“ nicht genug
betonen können, würden ſie als überflüſſige Zuthat
betrachten, — man ihnen die Mittel zur Exiſtenz
ohne Gegenleiſtung gäbe. Nur der kleinere Teil ſteht
hoch genug, um zu erkennen, daß die Arbeit nicht
nur Mittel zum Zweck, ſondern der wahre Zweck
des Lebens iſt. Freiwillige Arbeit im Dienſte
der Allgemeinheit.
Aber werden wir je dahin gelangen? Das
ſocialdemokratiſche Ideal eines Zukunftſtaates mit
Zwang zur Arbeit für alle, ohne perſönlichen Vorteil
für den einzelnen würde ſchlimmere Tyrannei ſein,
als der jetzige Zuſtand. Es liegt in den meiſten
Menſchen der Trieb, ihr oder der Ihrigen Wohl—
ergehen und Behagen durh eigene Thätigfeit zu
fördern; noch über das Grab hinaus gewillermaßen
der Schußgeift ihrer Geliebten zu fein. Man nehme
ihnen diefe Möglichkeit und nur ein jehr Heiner
Teil wird feine ganze Leiftungsfähigfeit für ein Seal
einſetzen.
Frau Niederſtetter überjchritt jegt eine Straßen:
treuzung, fie näherte fich bereits ihrem Heim. Ein
Herr, der aus der Geitenftraße trat, 30g ebrerbietig
den Hut.
„Suten Abend, liebe Tante! So jpät in diejem
Unmetter auf der Straße?”
„Ei fieh da, Egon — bift Du auf dem Wege
zu ung?”
„Jawohl, liebe Tante, ich wollte Dir und dem
Dnfel mitteilen, daß ih am nächſten Sonntage in
der Altitadt meine erfte Predigt halten werbe.
Vieleicht fchenlfi Du mir Deine Gegenwart. Auf
Onfelchen darf ich wohl nicht rechnen.”
Frau Nieberftetter late. „Raum, Du tennfl
ja feine Abneigung gegen Kirchenluft, ich aber komme
beftimmt.”
„Run aber Jage mir, wo Du berlommit, Tantchen,
Du ieh ja wie ein Schneemann aus und es ift
IV. 13
179 Ohne Gott.
nicht anzunehmen, daß Du Dir diefes Höllenwetter
freiwillig zur Promenade ausfuchteft.”
„Ich komme aus dem Elend,” antwortete die
alte Dame fehr ernft. „Denke Dir eine Mutter,
die durh Schuld einer unwillenden Frau fchwer
frank daniederliegt und ihre Gejundbeit wohl nie
völlig zurüderhalten wird. DenkeDir ihrNeugeborenes,
ein urjprünglich gelundes, Träftiges Kind, flerbend
aus Mangel an Pflege und geeigneter Nahrung,
denfe Dir dazu als Stüße und PVerjorgerin der
Familie ein zmölfjähriges, Ihmindjüchtiges Mädchen
und einen bisher ordentliden Mann, den Not und
Verzweiflung zum Truntenbold gemadt haben. Dente
Dir diefe alle in einer zugigen, ungeheizten, eis-
umfrufteten Dachlammer, von Cichorienbrühe und
trodenem Brot lebend, und Du baft einen Ylid in
das Elend gethan, das fih in unjerem Arbeiterftande
breit madt, ſobald Krankheit oder Arbeitslofigkeit
die Familie heimjuchen.“
„Welch furhtbares Bild entrolft Du ba, Tante,“
Iprad) ber Kandidat erjhüttert, „Tann man denn nicht
helfen?”
„Sn diefem einen Falle vielleicht etwas, wenn
auch nur wenig. ch thue, was ich fann, aus Snterefle
für die Frau, mein ehemaliges Dienftmäbchen, wer
aber hilft allen denen, die feine Gönner und Freunde
haben? Das Schidjal meiner Minna ift keine jeltene
Ausnahme. Es droht jedem und jeder. Der einzige
Lichtblid in allem Sammer der Köhlerichen Häuslichkeit
ift ein prächtiger, Fleiner Junge, wohl das einzige
von jieben Kindern, das ihnen erhalten bleiben wird.”
„Der Herr bat fie ihnen gegeben, der Herr hat
fie genommen,” Ipradh der Kandidat fromm.
Frau Niederftetter, die gerade im Flur ihrer
Wohnung den Mantel ablegte, fuhr herum. „Sa:
wohl, der Herr hat fie genommen,” rief fie jarkaltiich,
„er ließ eines durch das Seniter auf die Straße
fallen, zwei fi} in der Nadhbarwohnung die Diphtheritis
holen, als die Mutter im Wochenbeit lag und fie
nicht beauffichtigen konnte. Das vierte ließ er an
ganz natürlider Schwäde fterben. Vielleicht hätte
es aber etwas mehr Lebenstraft mit auf die Welt
gebracht, wenn jeine Mutter weniger jchwer gearbeitet
und dafür etwas befjer gelebt hätte Cs fam am
Ende eines Winters zur Welt, in dem der Mann
eine fchwere Lungenentzündung durdgemadt hatte
und drei Monate arbeitsunfähig gewejen war.”
Die Stirn des Kandidaten hatte fich gerötet.
„Aber liebe Tante,“ jchaltete er ein.
„Ss ift merkwürdig," fuhr Frau Niederitetter
fort, „daß der liebe Gott immer nur den Armen bie
Kinder, die er ihnen gab, in jo großer Zahl wieder
fortnimmt. 3b fürchte faft, daß ihm dann Volke:
findergärten, Kleintinderbewabranftalten und Kinber-
beilftätten ein Greuel find, fie arbeiten ihm ja ent-
gegen.”
zrau Niederftetter und ihr Gafl waren in:
zwilchen ins Wohnzimmer getreten, einen freundlichen,
etwas altmobiihen, aber unendlich behaglih einge-
richteten Raum. Die Dame jhritt zu einem Tiich,
auf dem bereits Theegerät ftand und entzündete bie
Spiritusflamme unter dem jpiegelnd blanten Theekeflel.
Roman von ©. Karl.
180
„Ih bin durchkaltet an an Leib und Seele, ie
freue mich auf ben warmen Tranl,” jprad) fie, „meine
Skhütlinge haben nun ihre Extrafuppe auch bereits
gegefien und jammeln in ihrer durhwärmten Stube
Kraft für die Leiden des näcdlten Tages.”
„Hält Du es für angebradt, liebe Tante,
wenn ih die unglüdliche Familie befuhe, um fie
mit geiftlihem Troft zu unterftügen?” fragte Egon
Schmidt.
Die Frau Profeffor fann nad. „Du kannt es
ja verfucdhen,“ meinte fie jchließlih, „obwohl ih Dir
für den Erfolg nicht ftehen kann. Es ift in unfere
Arbeiterkreife Schon zu viel von dem gedrungen, was
Du ‚das Gift der Aufflärung‘ nennt. Das beißt
alfo Kenntnis vom natürlihden Welen der Dinge.
Die focialiftiichen been, meiftenteils mit frafjeftem
Materialismus gepaart, find jeder pofitiven Religion
abholb. Die Kenntnis ber Naturwiflenichaften erobert
fih immer weitere Kreife, und unfer Chriftentum in
feiner jegigen Form ift nicht in der Lage, den Kampf
mit jo unerbittliden Gegnern aufzunehmen.”
Der Kandidat ftarrte der Sprecherin ins Geficht,
als traue er feinen Ohren nicht. „ft es möglich,
Tante, Du Iprichit unjerer göttlihen Religion die
Kraft ab, den Geift des Atheismus, der jebt bie
Melt Durddringt, zu überwinden? Das beißt ben
Untergang des Chriftentums prophezeien.”
„Den Untergang der chriftlichen Kirche in ihrer
jegigen Geftalt allerdings, aber das Unglüd wäre
nicht zu groß, denn die Kirche ift nicht identiich mit
dem Chriftentum. Wir find weit abgefommen von
dem, was Chriftus lehrte, obwohl feine Lehre der
reinfte Socialismus war, freilih in mehr idealer
Form als man ihn heute fordert. Wenn es aber
auch möglich wäre, feine Lehre in ihrer urfprünglichen
Reinheit mwiederherzuftellen, jo würde fie dem heutigen
Bedürfnis nicht genügen. — Keine Religion, aud)
nicht die idealjte, kann unverändert dauern für alle
Beiten.“
„Ih muß Dir widerjprechen, liebe Tante,“
ſprach der Kandidat feſt, „unſere uns von Gott
offenbarte Religion kann die Zeit ſehr wohl über—
dauern, eben weil ſie göttlich iſt. Es gehen An—
fechtungen über die Erde, ſchwere, dunkle Zeiten, in
denen das Wort Gottes gleichſam am Boden liegt.
Aber wie ein Samenkorn in dunkler Erde, bleibt es
dem menſchlichen Wahrnehmungsvermögen wohl eine
Zeitlang verborgen, um dann ſiegreich als ſtrahlende
Blüte emporzuſteigen ans Licht der Sonne.“
„Richtig,“ ſtimmte die Tante bei, „aber wenn
das Erdreich ſich ändert, muß ſich die Pflanze ihm
anpaſſen, oder ſie geht zu Grunde. In dieſem Falle
befindet ſich zur Zeit unſer religiöſes Bekenntnis.
Der Boden, aus dem es zuerſt herauswuchs, war
ein weſentlich anderer als unſere Jetztzeit mit ihrer
hoch entwickelten Wiſſenſchaft ihn der Religion bietet,
und doch ſteift Ihr Gottesgelehrten Euch darauf,
immer noch die alten Märchen aufrecht zu erhalten.
Ihr verſchmäht es, das zarte Pflänzchen Religion ſo
zu kultivieren, daß es den ſcharfen, kritiſchen Luftzug
der neuen Zeit vertragen kann, und wundert Euch
dann, wenn es verdorrt. Hütet Euch, daß Ihr nicht
181
durh eigene Schuld eine Sandbwüfte jchafft, wo
blühende Landichaft fein Tönnte. Das Religionsbe:
dürfnis liegt tief in der menjchliden Natur begründet,
aber e8 ift uns Modernen nicht zuzumuten, im
eigenen Gemüt eine Dunkellammer einrichten zu follen,
in die fein Strahl vom Lichte der Wiflenichaft fallen
darf. Das aber müflen wir, wenn mir an unjer
Hriftlides Dogma glauben follen.”
„Der Glaube und die Willenihaft haben fi
ftetS feindlich gegenüber geftanden, liebe Tante. AU
unfer Willen ift Stüdwert, Menjchenwerl, wie weit
wir au im legten Jahrhundert gelommen jein
mögen. Unjere uns durch Chriftus, ben Gottesjohn,
offenbarte Religion mit diefem Maß zu mellen, haben
wir fein Reht — uns ziemt nur demütiger, aber
felfenfefler Glaube. Unb das eben ift ber Krebs:
Ihaben ber heutigen Zeit. Es giebt feinen Glauben
und darum keine Religiofität mehr. Man lieft bie
Bibel nur, um fie auf MWiderjprühe ober noch
Ihlimmere Dinge anklagen zu können, man taftet
an den SHeilswahrbeiten herum, wie an einem
anatomilhen Präparat, anftatt fie binzunehmen und
zu bewahren wie ein beiliges Kleinod. Der Glaube
it die Himmelsleiter, auf der wir vom Sichtbaren
zum Unfichtbaren auffteigen.“
„Richtig, wo das Begreifen aufhört, bleibt
uns nur das Nichts oder der Slaube, aber man
muß ihn uns nicht in einer Form zumuten, die dem
bereits Begriffenen widerjpriht. Das aber thut hr
—: hr Strenggläubigen — und Ihädigt die Menic-
beit damit jchlimmer als der eifrigfte Socialdemofrat,
wenn er jagt: ‚Bott ift Unfinn, die Kraft ift alles.
Sie war und wird fein und weiter nichts‘.”
Der Profeflor trat ein, um am Abenbthee teil-
zunehmen. Er war ein lleines, bürres Männden
mit faltigem, gelblidem Gefiht, in dem die intelligenten
Augen hinter fcharfen Brillengläjern funtelten und
- deflen mächtige Stirn nur no von jpärlichem
grauem Haar umlränzt wurde. Nachdem er Gattin
und Neffen berzlich begrüßt hatte, nahm er am Tifche
PBlat und griff die legten Worte der alten Dame
wieder auf.
„Die Kraft ift auch alles, Anna, und Euer
alter Gott nur ein menichlicher Begriif, ein vom
Menihen erichaffenes Welen, das feine Eigenichaften
änderte, je nad) dem Stande der augenblidlichen
Kultur. Als Moloch forderte er lebendig gebratene
Menihenopfer, als der Yehova der erjten Bücher
Mojes mwütete er mit Feuer und Waflerfluten gegen
das Ihwadhe, jündige Menjchengeichleht, das er
jelbft doch fo geichaffen haben follte und befjen mangel-
- bafte Beichaffenheit er als Allwifjender doch fennen
mußte. Als bedeutend veredelter Gott des Chrilten-
tums ließ er fi zwar herbei, diverfe Wunder zu
verrichten und feine von ihm jelbft geichaffene Welt:
ordnung damit auf den Kopf zu fielen, aber bas
einzig Richtige that er nicht. Er unterließ es, den
wahren Glauben To deutlich zu ‚offenbaren‘, daß
Zweifel daran ausgejhhloffen blieben. Er, ber Al:
wiflende, alles Worberbeftimmende, Eleidete feine
‚DOffenbarungen‘ in fo unbeftinmte $ormen, daß fich
bie chriftliche Menfchheit ein paar Yahrtaufende lang
Ohne Gott, Roman von €. Karl.
182
gegenfeitig zerfleiiden konnte, um dahinter zu fommen,
weldhe Auslegung etwa die richtige fein dürfte. Er
ließ und läpt Millionen Menjchen ohne ihr Zuthun
in Gegenden geboren werden, in bie noch nie ein
Strahl jeines Lichte — wie Yhr Geiftlihen jagt —
gedrungen ift, und jchidt fie dann als Heiden in bie
Hölle. Sn diefelbe Hölle, die er Do fjamt ihrem
Beherricher, dem Teufel, jelbft geichaffen haben müßte,
wenn man ihn als ‚alleinigen Gott, Schöpfer Himmels
und der Erde‘, anjehen joll. — Geht mir mit Eurem
Bibelgott, der Glaube an ihn bat unfägliches Unheil
über die Welt gebradht.”
Der Kandidat wendete fih mit gefränkter Miene
ab, er ftritt grundfägli nicht mit dem Obeim, ben
zu überzeugen er nicht hoffen durfte Frau Anna
aber fprang auf und rief mit bodhroten Wangen:
„Und bob ift ein Gott und er offenbart fich
ftündlih vor Euren Augen, Yhr Eugen Herren, wenn
Shr diefe nur aufthun wollte. ch bin leider eine
ganz ungelehrte Frau, befige nichts von der glänzenden
Dialektil, die es Euch ermöglicht, jcheinbar Logiich
zu bemweilen, daß jhwarz eigentlich weiß ift. Jh muß
zu Deinen Gründen oft jcehweigen, weil mir das
Nüftzeug der Gelehrjamteit fehlt, un ihnen zu be:
gegnen, und doch fühle ih, daß fie unridhtig, will
lagen, nicht erjchöpfend find. An den aus Wiber:
jprüdhen zulammengejegten Gott, wie ihn die Bibel
lehrt, kann auch ich nicht glauben, aber muß man
denn feine Eriftenz abjtreiten, weil die Form, unter
der man ihn bisher darftellte, fi als unbaltbar er:
weit? SH muß Dir zufliimmen, wenn Du bie
finnlide Borftelung Gottes als ein Produft bes
Menfchengeiftes bezeichnet, auch Goethe jagt:
‚Wie einer tft, fo tft fein Gott,
Darum wird Gott fo oft zu Spott.‘
Rohe Völker haben aljo rohe Götter, fie können in
ihren Begriffen nicht über fich jelbft hinaus. Darum
fann auch, wie ich erfl zu Egon äußerte, eine Ne:
ligionsform niemals ewig währen, jedes Belenntnis
ift nur ein Sleichnis für ein uns Unbefanntes — es
muß fi ändern, jobald mit fleigernder Erkenntnis
das Gleichnis nicht mehr paßt. Soll ich aber Gott
darum leugnen, weil ih ihn mir nicht vorftellen
tann? Sol ih die Unendlichkeit, die Ewigkeit
leugnen, weil ich keinen Begriff dafür habe?”
„Das thun au wir nicht,” Tprach der Profeffor,
„wir willen, baß es für unjer Willen eine Grenze
giebt, aber wir haben der Natur bereits genug hinter
die Gouliffen geihaut, wir haben ertennen gelernt,
daß Kraft und Stoff die wahren Götter find. Sn
unendlihem Wechjel verkinden und Iöjen fich Die
Stoffe, aber nit willtürlih auf göttliches Gebot,
fondern nad) Gejeten, die feines Gottes Hand durdj=
breden Tann.”
„Und woher kamen biefe Gelege und woher fam
der Stoff? Mögt Ihr nad Darwin vom Urjchleim
reden, mögt hr mit Laplace als losmilhe Materie
eine Art Nebel annehmen, die den Weltraum erfüllte,
um fi mit Hilfe der Anziehungstraft und Notation
zu Sonnenfyftemen zu verdichten, immer müßt hr
etwas bereits Vorhandenes vorausjegen und einen
Willen, oder nenne es eine Kraft, die diefem Bor:
nn nn
f
183 Ohne Gott.
hbandenen ben richtigen Anftoß gab, um aus dem
Gleihförmigen ein Mannigfaltiges zu ſchaffen.
Diefer Wille, diefe bewußte Kraft ift Gott. Ach
möchte ihn das Weltbemußtjein nennen. Da er
aber die Naturgefege nicht willlürlih durchbrechen
darf, wenn er fein eigenes Werk nicht zerflören will,
fo kann er fi nit in plumper Form ‚offenbaren‘,
er muß e8 unferer fteigenden Entwidelung überlafien,
feinem wahren Wejen näher zu lommen.”
Die Frau Shwieg und blidte den Gatten an;
aber dieſer fchien nicht gewillt, fie zu unterbrechen, da
fuhr fie fort:
„Ihr Tagt jehr geiftreih: ‚Was den Menjchen
vom Tier unterjcheidet, ift die Fähigkeit, Geilt zu
entwideln, zu denten.‘ — Nun, ijt diefer Geift, der
fid auf der Stufenleiter des Gemworbenen erft beim
Menihen findet, der ihn befähigt, innerhalb ber
Grenzen ber Gejegmäßigfeit jelbftändig zu handeln,
reipeltive zu Ichaffen — ift er nicht ein Teil Gottes?
Wir können uns einen lebenden Menjchen nicht vor:
ftellen ohne diefen Geift, warum jollen wir ung denn
das Weltall nur ale Materie, nur als geiltlofen
Körper voritelen? Mir geiftesbegabten Menſchen
denken und handeln troß unferer Icheinbaren Willens:
freiheit nur im Banne der Gejegmäßigfeit und doc
bewußt. — Warum fol der Geift, der den ganzen
Organismus des MWeltals durchdringt, nicht erft recht
fih jeiner jelbft bemußt fein und innerhalb gegebener
Grenzen immer no Ichaffen, bewußt jchaffen? Wir
jehen, daß Tiere, in andere Zonen verlegt, anderen
Gefahren ausgefest, ihre Farbe, ihre Korm verändern.
Shr Belz wird im hohen Norden dider und nimmt
weiße Farbe an, um die Kälte ertragen und ber
Verfolgung durch Feinde fih auf den weißen Schnee:
und Eisfeldern befjer entziehen zu können. Syhr
nennt das ‚Selbftihuß der Tiere‘; habt hr aber jchon
erlebt, daß irgend ein Geihöpf nur einem feiner
Heare aus eigener Kraft eine andere Farbe gegeben
hätte? Die ‚Natur‘ jorgt allo nad Bedürfnis für
ihre Gelhöpfe. Sollte fie das unbemußt thun?
Warum jorgt fie denn nicht für den vernunftbegabten
Menihen? Der Estimo kommt auf Grönland ebenfo
nadt zur Welt wie der Afrikaner am Äquator, fein
Haar ift nicht weiß wie das des Eisbären — es
a fih alfo bier nicht um ein allgemeines Natur-
geſetz.“
Der Profeſſor lachte und ſtrich liebevoll über
das erhitzte Geſicht ſeiner Gattin. „Ich ſtreite nicht
mit Frauen,” ſprach er dann mit dem ganzen Selbſt—
bewußtſein des gelehrten Mannes, „ſonſt könnte ich
Dir beweiſen, daß auch der Geiſt des Menſchen nur
eine Außerung ganz beſtimmter Naturkräfte iſt, daß
er ſich im menſchlichen Körper entwickelt und mit
ihm ſtirbt; aber Ihr Weiber feid ja nicht zu über—
zeugen.“
„Nein, Friedrich, in dieſem Falle bin ich es
wirklich nicht, denn ich habe Deine und anderer Ge—
lehrten geiſtreiche Abhandlungen darüber geleſen, ohne
daß ſie mich überzeugt hätten. Ich möchte Euch Ge—
er ber Naturwiſſenſchaften wieder mit Goethe zu:
rufen:
Roman von €, Rarl.
184
‚Daran ertenn’ ich den gelehrten Herrn!
Was hr nicht taftet, fteht Euch meilenfern!
Was Jhr nicht fabt, das fehlt Cud) ganz und gar!
Mas ar nicht rechnet, glaubt Zhr, jet nicht wahr;
Was hr nicht wägt, bat für Euch fein Gcewidt;
Was Zhr nidt münzt, dad, meint Shr, gelte nicht.‘“
Der Profeflor lachte abermals, der Eifer feiner
Gattin amüfierte ihn augenjcheinlic.
„Sahrhundertelang,” fuhr diefe fort, „haben
einzelne die Erxiftenz der Eleftricität geahnt, ohne fie
beweifen zu fönnen. Heute ift fie bewielen, und wie
würdeft Du über einen Menidhen laden, der fie
leugnen wollte, weil die Majchine, die fie — nicht
erzeugt, denn fie ift überall in der Natur vorhanden
— Sondern zur Eriheinung bringt, zerbrocden ift.
Sch glaube wirklih, daß es mehr Dinge zwilchen
Himmel und Erde giebt, als Eure Schulweisheit fich
träumen läßt, wenn ich dabei auch anderes im Sinne
babe wie Hamlet.”
„Nun, fo bleibe bei Deinem Glauben, Kind,
aber verlange nicht, daß ich ihn teile.”
„Wem ein Glaube oder Linglaube wie ber
Deinige genügt,” rief feine Gattin, „wer jein Leben
bei völliger Entfaltung feiner Geiftesträfte voll aus-
leben darf und bamit zufrieden ift, dem will ich feinen
Glauben weiter aufdrängen, er vermißt ihn ja nidt.
Aber, Friedrih, es ftehen nicht alle Menjchen auf
Deinem Standpunkt. Millionen ringen in unerträg-
liben Berhältnillen ums tägliche Brot, fie jehen fich
oder die Shrigen vor der Zeit von mörderiichen Zu:
fällen, die abzuwenden fie feine Macht haben, dahin:
gerafft und Zhr nehmt ihnen den einzigen Troft und
Halt, den fie no haben, die Religion. In einer
Volkslitteratur, die bisher ihresgleichen ſuchte, ver:
arbeitet die Socialdemokratie die Errungenjchaften der
modernen Willenfchaft und verdiente damit, indem
fie allgemeine Geiftesbildung fördert, den mwärmften
Dant aller Gebildeten, wenn fie nit aus Partei:
interefje in einfeitiger Weije vorginge. Sie fördert
ben Atheismus, um bie arbeitende Klalfe aus ihrer
Lethargie aufzurütteln. Sie joll niht an ein Sen:
jeits glauben, damit fie das Diesjeits beſſer ausnüßt.
‚Macht Euch das Leben gut und fchön,
Kein Ienfeits giebt’3, fein Wiederjehn,‘
ift ein belannter focialdemofratifher Sprud. Aber
er kann denen, die nicht die Macht haben, ihr Leben
gut und Schön zu geftalten, nur Verzweiflung bringen.
hr Modernen reißt das Alte ein und hr thut
reht daran, wo es fih um Berrottetes banbelt.
Aber hr baut nicht Neues, oder das Neue nicht zwed:
entiprehend. Statt warmer, behagliher Wohnungen
baut hr Talte, nüchterne Räume, in denen das
Menihengeihhlecht erfriert und verdirbt.”
„ziebe Anna, wenn die Wahrheit kalt ift, fo
fönnen wir fie nicht fünftlih erwärmen, ohne fie zu
zerftören,” |prach der Profeflor.
„Wer jagt Euch aber, daß alles Wahrheit ift,
was hr predigt? Wie zwei entgegengeleßte Richtungen,
folgerichtig durchgeführt, fich Ichließli berühren, fo
fann man umgefehrt, von demjelben Buntt ausgehend,
zu ganz verichiedenen Anfchauungen gelangen. hr
Materialiften wollt aber nur mit dem rechnen, was
Eure Sinne wahrnehmen können, wo die Natur Euch
185 Ohne Gott.
einen Schleier vor das jpürende Auge zieht, da
proflamiert Shr das Nichts und ahnt nicht, weld
Ihwere fociale Gefahr Zhr damit heraufbeichmwört.
Der Materialismus wirkt verrohend auf die Maflen,
nur einzelne fittlih bochitehende Menichen fünnen ihn
ohne Schaden vertragen. Sie überwinden ihn, wie
der gejunde Organismus ein Gilt. Anders aber
fteht e8 um unjere breiten Bolleihichten und um
weiche, gemütswarme Naturen. ihnen genügt Eure
talte Lehre nicht, fie bliden auf dem wilden Meer
des Lebens angftvoll nach einem rettenden Hafen aus,
fie liegen fjchmerzzerrifien auf den Gräbern ihrer
Lieben und verlangen Troft, und Shr haltet ihnen
ftatt deilen das ‚Nichts‘ entgegen; das Nichts, das hr
nicht beweilen könnt.”
„Liebe Tante,” milhte fih jet endlich ber
Kandidat in das erregte Gelpräch, „hier aber ift der
Punkt, wo unfere Thätigleit einjegen muß, wer noch
jo fühlen, fo nad Höherem verlangen kann, beflen
Ohr ift der ewigen Wahrheit noch nicht verjchloflen.”
„Do, mein Sohn,” war die Antwort. „Sn
weſſen Verſtand das Licht der Wifenfhaft einmal
bineingeleuchtet hat — und es leuchtet heute au
dem einfacdhiten Arbeiter, wenn er danad) verlangt —
der verjchließt jein Ohr der jogenannten Wahrheit,
die Yhr ihın bietet, ihm allein bieten dürft, wenn
Ihr nicht von Amt und Brot fommen wollt. Er:
neuert erft das Gebäude der dhriftlichen Kirche, brecht
es ab bis auf das Fundament der unvergleichlichen
hriftlihen Sittenlehre, deren oberfter Grundfag hieß:
‚liebe Deinen Nädjften wie Dich felbit,‘ und dann
baut darauf ein neues Gotteshaus, in dem auch der
wiflenichaftlih Gebildete beten fann, ohne Augen und
Ohren zu fchließen, in das die Sonne der Willen:
Ihaft bineinfcheinen darf, ohne Eure Altarkerzen mit
ihrem Licht zu verdunfeln. Schafft uns eine Nteligion,
die wir glauben können, und Millionen Menfchen
werden e8 Euch danken.”
Der Profeſſor erhob ich vom Tiich, er hatte fein
Mahl beendet.
„Du meint e8 gut, Anna,” jprad er, fie auf
die Stirn fülfend, „aber Du wirft nichts erreichen.
Uns befehrit Du nit, und die Theologie, die Du
jo zum Brüdenbau aufforderft, wird Di in Acht
und Bann erklären. Nicht wahr, Egon?“
„Das wohl nicht,“ ermwiderte der Neffe, „denn
Tante meint es gut, fie will nad rauenart ver:
mitteln. Aber damit ift uns nicht gedient. Wir
fönnen feine Halben gebrauden, wer fidh zu Chriftus
befennt, jol e8 ganz und voll thbun. Nicht die chrift-
lihe Sittenlehre ift das Fundament unferer Kirche,
jondern der Glaube an Chriftus als unfjern Erlöfer,
ber fein teures Blut für unfere Sündenichuld vergoß.
Und wem es nur rechter Ernft ift mit dem Glauben,
der wird fich dieje bejeligende Gewißheit nicht nehmen
lafien, der Wilfenfchaft zum Troß. Das Chriftentum
ift den Menihen gegeben als ein Licht, den Geift zu
erleudhten, und als eine Kraft — eine Kraft Gottes,
die Anfechtung zu beitehen und die Herzen zu freudiger
Buverficht zu erheben.“
Der VBrofeflor ladhte auf. „Da haft Du das
Roman von €. Karl.
186
Nejultat Deiner Predigt. — Yh mwünjidhe eine ges
jegnete Mahlzeit.”
Er verließ das Zimmer, feine Gattin aber jentte
das Haupt in ihre Hände und feufzte aus tiefftem
Herzen.
III.
Der Frühling war ins Land geloinmen und
hatte Schnee und Eis mit feinem Belen aus Sonnen:
trahlen binweggefehrt. Die von Eryftallener Fellel
befreiten Wellen des Stromes trugen wieder ftolze Kauf:
fahrteifchiffe, und die Fracht, die fie brachten und hin:
wegnahmen, gab Hunderten fleißiger Hände das be:
icheidene Brot der Arbeitereriften;.
Auch große Traften Holz famen den Strom ab:
wärts und auf den Holzpläßen entwidelte fich reges
Leben, die Stadt trieb großen überfeeifchen Holzhandel.
Zur Feierabendflunde jchoben fih zahlreiche
Voltsmaflen durh den Stadtparf, um das frilche
Grün zu genießen und den Nachtigallen zu laujchen,
die in den Büjchen ihre LTiebeslieder fangen. Manch
junger Burjhe ging da Arm in Arm mit feinem
Liebhen, aber manch trübes Auge ftreifte auch nur
gleichgültig ale die junge Pracht und ftrebte dem
niedern, bunfeln Thor zu, das aus dem Park ins
Freie führte, denn da draußen lagen die Friedhöfe
und manch friiher Hügel hatte fih im Lauf des
Winters dort gemölbt.
Auch das SKtöhlerjche Ehepaar hatte fein jüngites
Söhnen dort zu den vier vorangegangenen Kindern
gebettet, der erfte Wochenlohn aus der Eijengießerei,
in der der Mann Arbeit erhalten, hatte den Sarg
geliefert. Aber die Mutter war am Leben geblieben
und fogar ziemlich gefund geworden; nur jehr Ihonen
mußte fie fich, fie hatte, wie ihr Mann jagte, „einen
Knar weg”.
Sie hatte eine Stelle als Aufmärterin mit
täglich dreiftündiger Arbeit angenommen, der Mann
hatte jein VBeriprechen gehalten und die Schente ge:
mieden. Er arbeitete nicht nur fleißig in der Fabrik,
jondern faft an jedem Sonntagmorgen mit einem:
Belannten zufammen am Hafen, um die Schiffe
bineinzufchaffen, die fich veripätet hatten.
So gab es denn wieder beflere Koft und man
hatte fogar begonnen, die verjegten Befigtümer wieder
einzulöjen. Der Meine Karl jah aus wie ein Bors:
dorfer Apfel, und Mariechen jchrieb mit ungelenfer
Kinderhband jede Woche eine glüdlihe Epiftel. Sie
hatte Schulurlaub und war auf dem Lande.
Audh noch eine Einnahmequelle war der armen
Familie geworden. Der Armenverein hatte auf Bitte
ber Frau Profellor die alte rau Liedfe bis zu ihrer
\berfiedelung ins Siehenhaus bei Köhlers in Pflege
gegeben. Die neben der Stube gelegene Bodenfammer
fonnte jett in der guten Jahreszeit von Köhler und
leinem Söhnden als Schlafraum benußt werden, jo
war im Zimmer Raum für die alte Frau geworden.
Da jaß fie nun in ihrem alten Holzlehnftuhl am
Senfter und freute fich über die Shöne Ausficht, über
die Ruhe und über die Sauberkeit, die fie umgab,
187 Ohne Gott.
Abends und Sonntags fam Alma und las ihr vor
— es war fein Vergleich mit ihrem früheren Leben,
wo die rohen Miteinwohner fie vernadläjligt und
geplagt hatten. Wie dankte fie Gott und wie freute
fie fi über die Feine Einnahme, die der arbeitfamen
. Hausfrau dur ihr Koftgeld erwuchs. Sie hätte fi
am liebften nur halb fatt gegellen, um nicht zu viel
zu verbrauden.
Alma aber drang auf gute Pflege der Groß:
mutter und fteuerte von ihrem Berdienft bei, joviel
fie fonnte. Sie fchlief noh im alten Logis, mied
aber den Aufenthalt darin foviel wie möglich, weil
ihr die habjüchtigen Leute die Entfernung der alten
Frau nadtrugen. Eines oder das andere der Kinder
hatte fih immer noch aus dem Napf der geduldigen
Alten gefättigt, wenn Alma abwejend war.
So entitand auch zmwiigen Alma und den
Köhlerihen Familiengliedern eine Art Freundichaft,
obgleih das Mädchen als ehemalige Schülerin einer
guten Bürgerfhule und als Schneiderin nicht recht
in den Kreis bineinpaßte. Die Dankbarkeit über:
brüdte die Kluft.
Sa, es war überall Frühling und goldene Beit. —
Ein Sonntagabend war’s und die Nadtigallen
iohienen ihre füßeften Lieder zu fingen, da faßen ein
Mann und ein Mädchen auf einjamer Bank im
Stadtparl. Er Hatte den Arm um ihre Schulter
geihlungen und flüfterte Worte heißer Leidenjchaft
in das Ohr der atemlos Laujchenden.
Cs war ein fchönes Baar, der Former Hans
Schmieder, von feinen Kameraden fchlechtiweg
Schmiederhang genannt, und die Schneiderin Alma
Liedle. Er ein bochgewadjlener, blonder Menich
mit energiihem, vielleicht etwas herrifchem Geſichts⸗
ausdrud, dem der Vollbart prächtig ftand, fie ein
zartes Mädchen, mehr ſchwärmeriſch und weich an—
gelegt. Er eine auf ſich ſelbſt geitellte, wohl ent-
Ihieden jelbjtherrlide Natur, fie eine fügjame,
führungsbedürftige, mehr zaghaft als energiih ver:
anlagte Seele.
So eridienen die beiden dem Beichauer auf
den eriten Blidl, fie trugen den Stempel ihrer Per:
Tönlichkeit gewiſſermaßen zur Schau und waren
ſchon in dieſer Äußerlichkeit ein Beweis, wie gerade
die Gegenſätze ſich anziehen.
„Ich kann nicht, Hans, ich kann es wirklich
nicht thun,“ flüſterte das Mädchen.
„So liebſt Du mich eben nicht mit der rechten
Liebe, dieſe kann alles,“ war die unmutige Antwort.
Das Mädchen brach in Thränen aus. „O
könnte ich Dich in mein Herz ſehen laſſen, könnte
ich Dir meine Liebe zeigen — könnte ich für Dich
ſterben,“ rief es ſchwärmeriſch und umſchlang ihn mit
den Armen.
„Das ſind Romanphraſen, die ich auf ihre
Echtheit gar nicht prüfen will,“ ſprach der Mann
kühl, indem er ſich aus ihrer Umſchlingung löſte.
„Wir brauchen heutzutage keine unklaren Gefühle,
kein Sterbenwollen, wir brauchen Thaten, wenn
wir die neue glückbringende Zeit heraufführen
wollen. Wir Pioniere der neuen Kultur müſſen
den Mut haben, mit den hergebrachten Formen der
Roman von E. Karl.
188
alten zu brechen und zwar durch die That. Da
hilft kein Mundvollnehmen, kein Redenhalten, da
hilft allein das Beiſpiel, wenn wir nicht wie Schafe
in ihrem Pferg immer in die Runde gehen wollen.
Glaube mir, Liebchen, die Zukunft wird diejenigen
als Bahnbrecher preiſen, die kühn den Ring be—
ſchränkter Vorurteile durchbrechen und andern den
Weg weiſen.“
„Aber die Gegenwart wird mit Fingern auf
ſie zeigen,“ warf das Mädchen ein.
„So mag ſie doch,“ rief der Mann, „es hat
zu allen Zeiten Märtyrer gegeben, die für ihre Idee
und deren Verbreitung gelitten haben, die Nachwelt
preiſt ſie als Heilige oder Helden, baut ihnen
Kirchen oder ſetzt ihnen Denkmäler.“
Dieſer Aufruf zu einem Märtyrertum ſchien
das ſchwärmeriſche Mädchen tief zu berühren.
„Du biſt ſo klug, Hans,“ ſprach es, „Du weißt
die Worte ſo zu ſetzen — man merkt es, daß Du
das Gymnaſium beſucht haſt, ich komme mir Dir
gegenüber immer ſo dumm vor, ich kann zuweilen
gar nicht begreifen, warum Du nur ein Arbeiter
biſt. Mir ſcheint es manchmal, als hörte ich den
Herrn Rechtsanwalt ſprechen, für deſſen Töchter ich
arbeite.“
Die Bewunderung der Geliebten ſchien dem
Manne wohl zu thun, obgleich ſie damit der Ant—
wort auf ſein Verlangen auswich. „Glaube doch
ja nicht, daß ich meine Klugheit‘, wie Du es nennſt,
dem Gymnaſium verdanke, ich habe es, Gott ſei
Dank, nur bis Oberſekunda beſucht, ſonſt wäre ich
heute vielleicht ein ebenſo beſchränkter Bureaukrat
wie der erſte beſte höhere Beamte. Glaube mir,
Leute, welche Abiturienten- und Staatsexamen hinter
ſich haben, beſitzen ſelten noch die geiſtigen Fähig—
keiten, um das, was die moderne logiſche Wiſſen⸗
ſchaft uns handgreiflich bietet, überhaupt verſtehen
und begreifen zu können.“
Das Mädchen ſah ihn erſtaunt an. „Ja, meinſt
Du denn, daß ſtudieren dumm macht? Alles, was
Du mir von den Errungenſchaften der Wiſſenſchaft
erzählt haſt, iſt doch von ſtudierten Leuten aufge—
funden worden.“
Der Mann lachte, ihm fiel im Augenblick keine
Antwort ein.
„Ich denke mir, es muß damit doch nicht ſo
ſchlimm ſein,“ fuhr das Mädchen fort. „Als ich
geſtern mit Rechtsanwalts am Tiſch ſaß — ich eſſe
nämlich am Familientiſch — kam die Rede auf die
Schule und die Frau Rechtsanwalt meinte, es wäre
doch recht gut, wenn man die Gymnaſien endlich
verbeſſern wollte; die armen Jungen lernten ſich
ganz dumm an allerlei, was fie jpäter nicht ge-
braudten. Da fagte der Herr Rechtsanwalt — und
ih babe gut aufgepaßt, weil Du do auch das
Gymnafium bejudht haft und es mich baber inter:
eifierte — da jagte der Herr Rechtsanwalt: ‚Wer
nur einen hellen Kopf bat, der lernt fih nicht Dumm,
auh wenn er das Erlernte jpäter nicht braudt. Wie
feine Körperfräfte muß man auch feinen Berftand
üben, wenn er leiftungsfähig werben jol. Ob man
ihn nun an diefem oder jenem übt, ift ziemlich gleich:
189 Ohne Gott,
Roman von E. Rarl.
190
‚68 erben fid; Gefe und Rechte
gültig. Wer fi einmal an folgerichtiges Denen in
einer Disciplin gewöhnt hat, kann es mit Leichtig-
teit auch auf eine andere übertragen.‘ — So fagte
er und ich habe ihn ganz gut begriffen, das ift ebenjo
al8 wenn ein Maler malen lernt. Da wird es
wohl aud gleich fein, ob er Menjchen oder Tiere
malt und ob er feine Bilder gleich brauchen kann
oder nicht, wenn er dabei nur lernt, wie man e8
maht, um aus einzelnen Farben ein Bild berzu:
ftellen.”
Alma ſprach lebhaft, es war, als wollte fie den
Mann verhindern, auf das frühere Thema zurüdzu:
fommen. Aber es balf ihr nichts.
„Run, wenn Du jo fürs Lernen bit, Schab,”
jprad er, „jo lerne doch auch die Forderungen der
neuen Zeit verftehen. Ich frage Dich noch einmal:
Wil Du in freier Liebe meine Gattin werben?”
„Aber Hans,” Ijchrie das Mädchen auf, „wie
ann ich denn jeßt jchon Deine Frau werben, wo
Du nodh eine bafl. Wir leben doch nicht in der
Türkei.“
Der Mann ſprang heftig auf und ſtampfte mit
dem Fuß. „Ich habe keine Frau mehr, ich habe
mich von ihr geſchieden, weil das innere Band
zwiſchen uns längſt zerriſſen war. Nach den An—
ſchauungen Eurer Pfaffen hätten wir zwar unſer
Leben lang nebeneinander hergehen und uns das
Daſein nach Kräften verbittern müſſen, um im Jen⸗
ſeits dann die Belohnung für unſere Tugend zu er—
halten. Wir Neuen aber erachten es ſür unſittlich,
eine Ehe weiter zu führen, der die innere Berechtigung
fehlt. Nur in Liebe ſollen die Geſchlechter ſich be—
gegnen.“
„Aber Du haſt ſie doch einſt geliebt, kann
Liebe denn ſterben?“
„Ich habe die Frau geliebt und wie geliebt,
aber dieſe Liebe war ein Irrtum. Unſere Charaktere
paßten nicht zu einander. Sie iſt eine kleinliche, be—
ſchränkte Natur, die nicht über ſich ſelbſt hinauskann.
Darum auch hat ſie mir die geſetzliche Scheidung
verweigert. Unſere erbärmlichen Geſetze geſtatten
aber eine ſolche nicht einſeitig auf ideale Gründe
hin und zu andern hat ſie mir keine Veranlaſſung
gegeben. Es bleibt alſo bei der freiwilligen
Trennung.“
„Dann können wir uns auch nicht heiraten,
Hans, vor dem Geſetz biſt Du ein Ehemann und
das göttliche Gebot lautet: Du ſollſt nicht ehe—
brechen.“ Das Mädchen brach in Thränen aus.
„Wir müſſen entſagen, Hans, wir dürfen uns hier
nicht wiederſehen. — Vielleicht im Jenſeits —“
„Es giebt kein Jenſeits, Mädchen, ich habe es
Dir ſchon einmal geſagt, und es giebt auch kein gött—
liches Gebot, weil es keinen Gott giebt. Was Ihr
Gott nennt, iſt eine Naturkraft, die jedem Dinge
und jedem lebenden Weſen die zu ſeiner Entwicklung
nötigen Bedingungen ſchafft. Das Tier wird vom
Inſtinkt getrieben, das ſeiner Art Zukömmliche zu
wählen. Wir denkenden Menſchen aber gehen oft
in die Irre, wir ſchaffen uns Geſetze, die wider
— Natur ſtreiten, und ſtöhnen dann unter ihrem
Joch.
Wie eine ew'ge Krankheit fort,
ſagt ein Dichter, aber er läßt es wohlweislich vom
Teufel ſagen, damit man ihn ſelbſt für den Aus—
ſpruch nicht verantwortlich machen kann. Solch ein
vererbtes Geſetz iſt die lebenslängliche Dauer der
Ehe — es iſt zur Krankheit geworden, alſo fort
damit.“
„Aber Hans, ich kenne doch ganz alte Eheleute,
die fi immer noch innig lieben.”
„Sewiß, mein Herz, und auch wir werden, wie
ih hoffe, ein jolches Paar fein. Wenn die Leiden:
Ihaft, die die Individuen verjchiedenen Gejchlechts
aneinander bindet und fie zur Erfüllung ihrer
Pflicht gegen das Naturgejeh treibt, fi nicht ver:
flüchtigt, fondern fih, vermöge übereinftimmender
Geiftes- und Charaftereigenihaften in Freundichaft
ummwandelt, dann fann ein folches Verhältnis bie
an den Tod beftehen.”
„Das verftehe ich nicht, Hans, bas ift mir zu
hoch. Du haft jo viele Bücher gelefen, Bebel und
Nordau und — und ih kann die Namen nicht alle
behalten — Du magit es ja willen. Ich weiß nur,
daß ih Dich liebe und lieben werde bis ans Grab.
Wie es aber dann fein fol, wenn Deine Liebe fi
verflüchtigt oder in Freundichaft ummanbdelt, während
ih mit ganzer Seele an Dir hänge, das weiß ich
nit. Soll ich dann Deine Freundin fein, während
Du Dir zum Lieben eine andere Frau nimmt?”
„Aber Närrhen, wer denlt daran, wer wird
fich überhaupt mit folden Sorgen plagen. Heute lieben
wir ung, darum wollen wir uns angehören, unbe:
fümmert um das Gefchrei der Philifter. Mein Haus
ift leer und barrt der Herrin, Du weißt, die Ein-
rihtung darin gehört mir, ich bin niemand Reden:
Ihaft jhuldig. Deine alte Großmutter ift verjorgt,
fie gebraudt Dich nicht und weitere Blutsverwandte
bat Du nicht. — Komm, die Nacht finkt herab, laß
fte unjere Brautuacht fein.”
Er umjhlang die Zitternde und küßte leiden:
ſchaftlich ihr bleiches Geſicht.
„Und meine Kundſchaft, mein ſicheres Brot?“
ſtammelte ſie angſtvoll. „Es wird mich kein an⸗
ſtändiger Menſch mehr anſehen.“
„Wer Dich, die Du aus freier Wahl das ehrliche
Weib eines ehrlichen Mannes biſt, nicht mehr anſieht,
der verdient nicht, daß Du Dich um ihn grämſt.
Wir ſind hier eine kleine Gemeinde vorurteilslos
denkender Menſchen, unter ihnen wirſt Du geehrt
und geachtet ſein wie jede durch Pfaffenwort ver⸗
heiratete Frau, und ich will Dich auf Händen durchs
Leben tragen. Komm —“
Er verſuchte die Zögernde vom Boden aufzuheben,
ſie fühlte ſeinen heißen Atem in ihrem Nacken —
da ging es plötzlich wie Entſetzen durch ihren ganzen
Körper, ſie ſtieß den Verführer von ſich und floh
wie ein geſcheuchtes Reh den Weg entlang. Eine
Weile folgte er ihr in wilden Sprüngen, dann kam
ihm ein Trupp Menſchen entgegen und zwang ihn,
wollte er nicht Aufſehen erregen, die Verfolgung
aufzugeben. Mit vor leidenſchaftlicher Aufregung
191 Dbne Gott.
pohenden Schläfen ließ er fih atemlos auf eine
Bant fallen. Ä
„Ste ift noch nicht reif für die neue Lehre, fie
hängt noch zu jehr am alten Aberglauben; aber nur
Geduld — Geduld — ”
Tief verftedt im Gebüjch aber lag ein Mädchen
auf den Knieen und rang verzweiflungsvoll die
Hände. „Gott, o Gott, gieb mir ein Zeichen, wenn
Du bift, damit ich weiß, ob Deine Gebote gelten
oder nicht. Ich weiß ja nicht mehr, was recht und
unrecht if. — Gieb mir ein Zeichen, guter Gott.“
Der Mond ftand Mar am Himmel und goß fein
Silberliht über die Ichlafende Welt, die Nachtigallen
Ihlugen immer nodh und die Nebel lagen duftig
über den Partwielen. — Aber das erbetene Zeichen
kam nicht.
IV.
Der Sommer kam und ging, die reifenden
Früchte mahnten an den Herbſt, und der Wind ſpielte
nicht mehr mit ſchwankenden Ahren, er fegte über
kahle Stoppeln. Noch aber lag heiterer Sonnenſchein
über Stadt und Land, und der neue Ernteſegen half
Schiffe und Eiſenbahnzüge befrachten. — Am Hafen
und Bahnhof regten ſich Hunderte fleißiger Hände.
Auf dem Damm, der am Ufer des Fluſſes hin—
führte, um einerſeits die weiten Wieſenflächen vor
ſeinen Fluten zu ſchützen, andererſeits bei Windſtille
den Segelſchiffen Gelegenheit zur Weiterbeförderung
durch Menſchen oder Pferde zu geben, ſchritten zwei
Perſonen, der Arbeiter Köhler und ſein Genoſſe
Braun, ein kleiner ſtämmiger Menſch mit rohem
Geſichtsausdruck.
Es war Sonntagmorgen und eigentlich Feiertag,
die beiden aber waren trotz deſſen keine Spazier—
gänger. An ſchräg über die Bruſt laufenden Gurten
hatten ſie lange Seile befeſtigt, mit deren Hilfe
ſie noch vor Beginn des Gottesdienſtes ein ſchweres
Schiff in den inneren Hafen ſchleppen ſollten. Sie
„treidelten“, wie der Fachausdruck lautete. Im
allgemeinen beſorgten kleine Schlepppampfer das
Hineinſchaffen der Schiffe, am Sonntage ruhte aber
der Schleppdienſt.
Den kräftigen Braun ſchien die Arbeit wenig
anzuſtrengen, dem ſchwächlicheren Köhler lief der
Schweiß trotz der Morgenkühle ſtromweiſe über das
Geſicht. Es ging gegen Wind. Endlich blieb er
ſtehen und rang nach Atem. „Ein Hundeleben,“
fluchte er, als er endlich zu Atem gekommen war.
„O ja, es iſt recht pläſierlich,“ meinte der Ge—
fährte giftig, „ich kann mir nichts Schöneres denken,
als in der Sonntagsfrühe fpazieren gehen und ſo ein
niedliches Schiffchen wie ein Hündchen am Strick
hinter ſich herziehen. Wirklich ein reizendes Ver—
gnügen und wert, dafür um drei Uhr aufzuſtehen.“
„Aber der Verdienſt,“ meinte Köhler, „iſt doch
gut mitzunehmen, am Sonntag zahlen die Leute
doppelt.“
Die Seile zogen ſich plötzlich ſtraff, als wollten
Roman von E. Karl.
verſorgt ſind.
192
fie die Arbeiter rüdwärts reißen, und vom Schiff
ertönte ein unwilliger Zuruf.
„Ra, denn man jüh,” rief Braun, indem er
ih kräftig in den Riemen legte; „das Beet will
abſchwimmen.“
Weiter ging es, die kurze Raſt hatte die
Arbeiter doch erfriſcht, ſie nahmen die unterbrochene
Unterhaltung wieder auf.
„Warum kommſt Du denn gar nicht mehr in
die ‚Laterne‘?” fragte Braun.
Der Angeredete murmelte etwas in den Bart.
„Ra, laß Dihd man von Deiner Profellern nid
zu jehr unterbrüden, was fie an Euch thut, ift ja
recht Ichön, aber doch nur ihre verflucdhte Pflicht und
Schuldigkeit, Deine Minna hat ihr doch fechs Jahre
treu gedient.”
„Na, fie bat aber aud guten Lohn und gute
Behandlung gehabt,” meinte Köhler, der ein lebhaftes
Gerechtigkeitsgefühl befaß, „eigentlich hat doch feiner
mehr was zu fordern, wenn er den Dienft aufgiebt.
Und die Minna bat felbft gekündigt, weil mir
heiraten wollten.”
„Ne ja, aber wozu haben Profeflers denn ihr
gutes Eintommen und no Vermögen daneben, das
fönnen fie ja gar nich verbrauchen, jeit die Kinder
Macht ihnen man Ios, fo viel hr
önnt.“
„Das ſaaſt Du ſo,“ meinte Köhler, „aber mir
kommt es doch undankbar vor, nich zu thun, was
die Frau will. Ohne ſie wär' meine Minna auf
dem Kirchhof, ſie hat ihr einen tüchtigen Doktor ge—
Ihidt und immer foviel Effen — fie hat mir aud)
Arbeit beforgt und fidh über mein Trantes Mariechen
erbarmt. Da hab’ ich ihr verfprochen, nich zu trinken,
nu muß ich mein Wort jchon halten.”
„Das i8 wohl ganz Ihön, Du braudjft Dich ja auch
nich zu betrinfen, aber binfommen fannit Du doch?
Soviel freien Willen wirft Du dodh noch haben.”
„Ih weiß doch nid,” meinte Köhler zögernd.
„Ad, mah Dich nich niedlich!” rief der andere
ärgerli, „der Schmiederhang fommt heute um fünf
Uhr hin und wird uns aus einem neuen Buch über die
Unfterblichkeit vorlefen. Das jol alles bloß Mumpit
fein, was die Pfaffen lehren.“
„Allo lefen wollt Zhr, nicht trinken?” fragte
Köhler, halb gewonnen.
„Sins thbun und das andere nich laffen. Wir
fiten im Garten in einer verjtedten Laube beim
GSlafe Bier, und der Schmiederhang lieft oder erzählt,
was er gelejen hat, und wer für Bildung is, hört
zu. Wenn er fertig is, kann nach Haufe gehn, wer
will, aber wir bleiben meift beilammen, der Laternen:
wirt führt gutes Bier und bejonders fräftigen
Schnaps. Aber Du braudft ja feinen zu trinken.”
„Ich möcht' doch lieber zu Haufe bleiben,”
meinte Köhler [hüchtern.
„Dummer Kerl,” fuhr Braun auf. „Wirft Dich
gerad’ von einem alten Weib am Schürzenband
führen lallen. Du bift mir ’n netter Held. Zieh
Dir 'n Weiberrod an.“
Köhlers Geficht färbte fih mit dunkler Nöte.
193 Ohne Gott.
„sh werd’ fommen!” rief er baflig, als fürchte er,
es fönne ihn wieder gereuen. |
Sie waren bald darauf am Hafen angelommen,
löften die Taue und nahmen die Bezahlung in
Empfang. Braun ging zunädhft in ein primitives
Srübftüdslofal, Köhler dagegen eilte beim, eßte
aber zehn Pfennige feines Jchwer verdienten Geldes
in Kuchen um, den er den Kindern mitbradte.
Minna war bei feiner Heimkehr noch nicht von
ihrer Aufwarteftelle zurüdgelehrt, Mariechen hatte aber
wie immer die Wohnung fauber gefegt und gewilcht,
Gemüje zum Mittagefien vorbereitet und den Kleinen
Bruder und Frautiedke jonntäglich herausgepugt. Nun
brachte fie dem Vater einen Topf Kaffee, den fie
jo gut wie möglich in der Alche warm gehalten hatte,
und legte auf das dazugehörige, umfangreiche Butter:
brot ein großes Stüd Lebermurft. „Weil beute
Sonntag ift und Du Icon fchwer gearbeitet haft,”
erklärte fie ftrahlend, „hat Mutter Wurft für Dich
holen laflen.“
Der Mann ab langjam und mit Behagen,
während er den Arm um fein Töchterchen legte.
Das trante Mädchen war fein Lieblingslind, an dem
er mit rührender Zärtlichkeit hing. Wenn fein mehr
paffiver Geift fih einmal zum Bau von Luftichlöflern
erhob, jo waren bieje Iuftigen Gebilde ftets für
Mariehen bejtimmt. E83 war gewiß gar nicht jo
hlimm mit ihrer Krankheit. Wenn er nur genug
Geld Hätte, um eine jchöne große Wohnung und
gutes Efjien zu bezahlen, dann würde das Kind
gewiß gejund und kräftig werden. Er fah auf das
ſchmale, dürftige Figürchen herab — felbft der Auf:
enthalt auf dem Lande hatte es nicht runden, den
blafien Wangen feine Farbe geben können. Nur der
böje Huften hatte nachgelafien, aber wer wußte, was
der Winter wieder brachte.
Er 309 das Kind noch feiter an fih und jeine
Gedanken gingen Bahnen, die ihnen bisher fremd
gewefen. Da war der Sohn jeines Prinzipals, ein
hoch aufgeſchoſſener Jüngling von achtzehn Yahren.
Wie friid und gejund der jet ausjah, und vor zwei
Sabhren, nach der böjen Qungenentzündung, hatte man
ihn als Todestandidaten bezeichnet. Da hatte ihn
fein reicher Vater ein ganzes Jahr fortgeihidt, ganz
weit fort, in Länder, wo es feinen Winter giebt,
hatte ihm einen jungen Arzt als Begleiter und
Pfleger mitgegeben, und nun war er wieder da und
jo gejund, als wäre er nie frank gewejen. Das
Geld jeines Vaters hatte ihm das Leben gerettet.
Wenn er jein Mariehen au fo fortichiden
tönnte, dahin, wo fie gejund werden müßte. Wenn
er für fie eine feine Gouvernante engagieren lönnte,
anftatt daß fie mit ihrer franten Bruft die Stube
fegen und bie Steinfohlen vier Treppen binauftragen
mußte. — Warum nur das Geld jo verjchieden
verteilt war. —
Die ungebildeten Leute find jelten jehr zart
fühlend in ihren Außerungen, fo trug der Mann denn
auch fein Bedenken, die Kleine zu fragen: „Wird
es Dir jehr jehwer werden, Mariehen, wenn Du
en bald fterben mußt? Möchteft Du gern
eben?”
RomansZeitung 1896.
Roman von €. Karl.
194
Das Schmale Gefichtchen bebedte fich mit leb-
bafter Nöte. „AK ja, Vater, ich möchte jo gern
leben und groß und gejund werden. Die alte Frau
Liedle jagt zwar, wenn ich fterbe, komme ich in ben
Himmel und werde ein Engel; aber das kann ih
ja auch jpäter noch, ich will gewiß recht fromm und
gut bleiben. Erit möchte ich viele, viele Jahre leben.”
Dem Manne ftieg es heiß ins Gefiht — Gelb,
Geld, wenn er nur Geld hätte — warum jollte
fein Kind nicht ebenfogut gejund werben wie das
feines Prinzipals. Einftweilen hatte er das dringende
Bedürfnis, feinem Heinen Hausgeiſt etwas Liebes
zu thun, jo Schnitt er denn ein Stüd von feiner
Wurft ab, jchob es dem Kinde in den Mund und
lagte laloniih: „Da if.“ Und Mariehen aß, war
jeelenvergnügt und vergaß alle Todesgedanten.
Ald der Nachmittag gegen die fünfte Stunde
vorrüdte, wurde Köhler unruhig, fein Verjprechen, in
die „Laterne“ zu fommen, reute ihn fait, aber er
Ihämte fi vor den andern Männern, fie hatten ihn
ihon einmal mit feiner Abhängigfeit vom Willen der
Frau Profeflor genedt. Und dann — der Schmieber-
hans wollte über die Unfterblichkeit lefen — wenn fein
Mariehen doch vielleicht nicht groß wurde — er
wollte gern willen, was die „Neuen” anderes zu
lagen hatten als der Pfarrer.
So übertäubte er denn fein leife mahnendes
Gewillen, trennte fih von Frau und Kindern, die
nod ein Stüdchen fpazieren gehen wollten, und eilte
in den Biergarten.
Das Abendeilen wartete an diefem Tage ver-
gebens auf den Hausvater. Die müden Kinder
gingen zu Bett, und es warb Mitternacht, ehe Minna,
die laufhend auf der Treppe faß — fie wußte, ihr
Mann hatte feinen Hausfchlüllee — ihn an der
Thür lärmen hörte. Sie Hufcdte die Treppen
hinunter, öffnete und bat ihn flehentlich, fi rubig
zu halten. Aber der jchwerberaufhte Mann ließ
fih nicht bedeuten, mit rauher Stimme brüllte er
unaufhörlich:
„Macht Euch das Leben gut und fchön,
Kein Senfeits giebt’S, fein Wieberfehn.“
Vergebens beichwor ihn die weinende Frau,
til zu fein, er jehrie nur immer ärger:
„Leben wollen wir, Minnadhen, leben und
luftig fein, nachher frefien uns nur die Würmer
und es ift alles aus — aus — aus —”
Mit Mühe und Not fchaffte die Frau den
Truntenen in die Wohnung, wo er fhwer auf fein
Bett niederfiel, ohne fi auszulleiden.
* %
3
In derſelben Woche, an einem berrlichen,
ionnigen Septembertage, beitieg eine heitere Ge⸗
jelipaft einen ber regelmäßig kurfierenden Ber:
gnügungsdampfer, um eine Fahrt ftromaufwärts
nad) einem vielbefuchten Dörfchen zu madhen. €s
waren Profefior Niederftetter nebit Gattin, der Fabrif:
beiiger Wahrholm mit Gattin und Sohn, Brofefjor
Steiner mit feiner neunzehnjährigen Tochter Hilde
und Kandidat Egon Schmidt. Man faß in beiterfter
IV. 14
195 Ohne Gott.
Laune auf dem Hinterded des Eleinen Dampfers
und freute fi der wundervoll Haren Luft, die die
Heinften Gegenflände bis in weite Ferne fichtbar
werben ließ.
Die Landichaft zeichnete fih nicht durch hervor:
tragende Schönheit aus, fie war zu flach, um romantiſch
oder intereflant zu fein, aber die weiten Wiejenflächen,
von Viehherden belebt und in der Ferne von walbd-
bededten Hügeln begrenzt, das breite, blaue, jchön
geihwungene Band des Flufles dazwiihen und ber
fare Himmel darüber gaben ein harmonijches,
beiteres Bild, das von der feinfinnigen Gejellichaft
in feiner Eigenart richtig gewürdigt wurde.
Die Mitglieder derjelben hatten fich gruppiert, wie
Zufall oder perjönliche Snterefien fie zufammenjührten,
und da gleiches Lebensalter ähnliche Sintereflen mit fich
zu führen pflegt, batten fih die Alten zufammen:
gethban und es den ungen, die fi wenig Tannten,
überlaflen, ebenfalls Antnüpfungspunfte zu finden.
So jaßen denn Hilde und Egen nebeneinander, aber
e8 wollte feine rechte Plauderei zu ftande kommen.
Hilde Ihaute finnend in die freundliche Land:
Ihaft hinaus, und der junge Mann hatte Zeit, die
feine Linie ihres Profils zu ftudieren.
wendete fie fih um und jah ihm mit zwei Tlaren
blauen Augen ins Gefiht. „O wie herrlich ift es
do auf der Welt, man möchte fi noch einen
Sinn mehr wünjden, um alles Schöne recht ge:
nießen zu können.“
„Ja, wunderſchön ift Gottes Erde und wert,
darauf vergnügt zu fein,“ citierte der Kandidat.
„Heißt e8 nicht weiter: ‚Drum will ich, bis ich
Alhe werde, mich biejer fchönen Erde freu’n?‘“
fragte Hilde.
„Jawohl, unjer alter Hölty fingt jo.”
„Ih muß SJhnen zu meiner Schande geitehen,”
late das Mädchen, „baß ich bis vor furzem diejen
Bers, in etwas veränderter Form, für den Anfang
eines Kirchenliedes gehalten babe, Natürlich bat
ih dem braven Hölty meinen argen Verdacht herzlich
ab, als ich neulih die richtige Fallung in feinen
Werten entdedte.”
„Warum abbitten, Fräulein Steiner,” meinte
ber Kandidat verwundert. „Der Berfaller eines
Ihönen, tief empfundenen Kirchenliedes fein, ift Doc
wabhrlidy feine Schande. Übrigens haben wir wirklich
eines, das ähnlich beginnt.”
Das Mädchen errötete. „Sch meinte nur, daß
es unjerm modernen Empfinden widerftrebt, fich
einen wirkliden Dichter als Fabrilanten eines
Kirchenliedes denten zu jollen. Freilich ift die freie
Richtung der gejamten gebildeten Menſchheit erſt
ein Produkt der Neuzeit und wir dürfen der älteren
Generation ihre Vorurteile nicht zu jehr verübeln, fie
verftand es nicht beiler. — Darwin, Karl Vogt,
Büchner, Renan und Strauß hatten die Fadel nod)
nicht entzündet, die dem alten Aberglauben beim:
leuchten jollte.”
Faft entfegt ftarrte der junge Mann auf bie
tofigen Lippen, die jo unjugendlid, ja, wie es ihm
ihten, jo frevelhaft plauderten. Endlich erwiderte
er, indem der Unmut ebenfalls feine Stirn rötete:
Roman von ©. Ratrl.
Endlich
196
„Sie dürften doch irren, mein Fräulein, wenn Sie
annehmen, daß die geſamte gebildete Geſellſchaft
zur Fahne der genannten Herren ſchwört. Man hat
es Sie im Hauſe Ihres Herrn Vaters ſo gelehrt,
weil er ſeine eigenen Anſchauungen in Sie zu ver⸗
pflanzen wünſchte, aber glauben Sie ja nicht, daß die
abſolute Negation alles Göttlichen und Uberirdiſchen
eine Notwendigkeit für den geiſtig Hochſtehenden
ſei. Sie finden ebenſo bedeutende Geiſter, wie im
Lager der Materialiſten, auf der entgegengeſetzten
Seite; Sie wiſſen es nur nicht.“
Hilde war ſehr verlegen geworden, jetzt erſt
fiel ihr ein, daß ſie einen Theologen vor ſich hatte.
„Wilhelm von Humboldt,“ fuhr Egon fort, als
ſie nicht antwortete, „ſagte kurz vor ſeinem Tode
zu feinen Kindern, indem er das Bild ſeiner ver⸗
ſtorbenen Gattin, welches er lange betrachtet hatte,
aus der Hand legte: ‚Jh will fie von Euch grüßen,
ih werde wohl heute noch bei ihr fein.‘ Werden
Sie Wilhelm von Humboldt jegt für einen Schwad)-
topf halten?“
Das Mädchen errötete noch tiefer und fchaute
befangen in den Schoß, es war ihm jehr fatal, daß
ed feine Weisheit jo an die faljche Adrefle gerichtet
batte; der junge Mann aber blidte mit innigem Snter:
:efje in die rofigen Züge, aus denen Glüd und
Lebensluft ftrahlie. Hinter Ddieler glatten Stirn
hatten wohl noch niemals geiftige Stürme getobt und
ihr Gemüt glihd wohl noch der Maren Waflerfläche
vor ihnen, die den Himmel wiederfpiegelte.
„Mein Fräulein,” brach er endlich das Schweigen,
„ed gebt Zhnen wie den meiften Menjchen, bie
innerhalb einer Partei ftehen, fie hören nur bie
Anihauungen eben diefer Partei und jehen verächtlich
auf alles andere herab.“
Hilde machte eine abwehrende Bewegung.
„Nein, leugnen Sie nidt, es ilt ja in der
Politit nit andere. Der Konfervative hält fid
für zu vornehm, um eine focialdemokratiiche Zeitung
oder Brojchüre zu lefen, der Socialdemofrat oder
Sreifinnige fürchtet zu ‚verdummen‘, wenn er ein
tlerifales Blatt in die Hand nimmt. So kommt es,
daß — die Führer ausgenommen — in jeder Partei
faft nur PBarteiorgane gelejen werden, die die wirkliche
Meinung der Andersdentenden in mangelbafter, oft
geradezu gebäjliger Weile zum Ausdrud bringen.
Und da fprehen die Leute denn von Überzeugung.
Ahnen, mein Fräulein, hat man die Religion vor:
enthalten und Sie fprehen davon wie der Blinde
von der Farbe. Sie find weder getauft nocd ein-
gejegnet, haben mithin keinen Neligionsunterricht
empfangen. Wie wollen Sie da urteilen? Waren
Sie jhon je in einer Kirche?“
„Rein,“ antwortete Hilde Kleinlaut, „Papa gebt
zumeilen zu einem Konzert in den Dom, er liebt die
Mufit jehr, aber ich bin ganz unmufilaliich.”
Sn dem Kandidaten regte fi der Geiftliche,
„Würden Sie mir eine große Gunft erweilen, mein
Fräulein?” Iprady er bittend.
Hilde Ihoß wieder das Blut ins Gefiht, als
fie in feine ernften braunen Augen blidte; fie ärgerte
fi darüber, denn jegt war gar fein Grund dazu vors
197
handen, aber fie mochte ihn nicht noch mehr kränten,
hatte fie e8 aus Achtlofigkeit doch jchon gethan, in-
dem fie berabjegte, was ihm heilig war. So nidte
fie denn zuftimmend.
„Ditte Tommen Sie Sonntag — aljo über:
morgen — über adt Tage um neun Uhr in die
Kirche der Altftabt, ich werbe dort den beurlaubten
Geiftliden vertreten. E8 würde mir Freude machen,
vor Hhnen zu predigen.” -
Hilde erfhrat. Sie, ihres Baters Tochter,
jollte ohne jein Wiffen die von ihm als Verbummungs:
anftalt bezeichnete Kirche befuhen? Denn ohne jein
Wiffen mußte es gefchehen, wenn fie nicht furdtbar
nusgeladht jein wollte. Sie entzog fi der Antwort,
indem fie den jungen Mann auf einige Leute auf:
merffjam machte, die auf einem gerade begegnenden
Transportihiif einen lufligen Tanz aufführten.
Egon fühlte, daß fie das ernftle Geipräh ab:
zubreden wünjchte, er ging auf das neue Thema
ein und bald jcherzten die feindlihen Parteien wie
zwei fröhliche Kinder und dachten weder an Vogt
noh an Darwin.
Auh der ältere Teil der Gelelihaft war in
eifrigfiem Geipräh begriffen, denn der Fabrifbe:
figer Wahrholm batte foeben eine Mitteilung ge-
macht, die namentlich die Frau Profeior aufs höchite
intereffierte. Sie jprang in ihrer lebhaften Weiſe
vom Sit auf und Ichlug mit den Worten: „Aber
das ift ja unglaublich!” die Hände zufammen.
„Bas ift unglaubli!* fragte ihr Gatte.
„Dente Dir,“ belehrte ihn die erregte Frau,
„unjere Alma bat mit dem Former Schmieber eine
wilde Ehe geidjlofien. Sie haben im Kreile einiger
Bleichgefinnten eine Art Hochzeit gefeiert und dann
bat er fie in fein Haus geführt. — Da bört doc
alles auf.“
Der Profeflor jehüttelte den Kopf. „Wer hätte
das von Alma gedacht, ich bielt fie ftets für ein
ordentliches, fittlihes Mädchen.”
„Sie dürfen auch jett nicht jchleht von ihr
denten,” mijchte fih der Fabrikbefiger hinein. „Sie
bat fih von Schmieder, den fie abgöttifch liebt, mit
allerlei neumodiihem Kram, als da ift: freie Liebe,
Erfüllung der weiblihen Beftimmung und jo weiter,
ben Kopf verdrehen laflen und glaubt ein ver:
bienftlich Werk gethan zu haben, glaubt eine Pionierin
ber beileren Zeit zu fein. So etwa lautete der
Ausipruh, mit dem mir Schmieder jeine ‚Ber:
beiratung‘, wie er e8 nennt, anzeigte.“
„Sa, warum heiratete er denn das Mädchen
nicht gejeglich?” fragte Profeflor Steiner, ein langer,
bünner, alter Mann mit bäßlihem, aber jehr geift-
vollem Gefidt.
„Weil feine erfte Frau lebt und bartnädig die
Scheidung verweigert, was aber Schmieder, wie ich
glaube, ganz recht ift. Der Menjch hat dem Mäbchen
lange nachgeftellt und es endlich überredet. Schade
darum, es ijt ein anmutiges Gefchöpf.”
„Wer ift eigentlich diefer Schmieder?” fragte
Frau Niederftetter. „Ih babe ihn zufällig einmal
zu Geficht befommen und bin aus ihm nicht recht
Ohne Gott. Roman von €. Rarl.
198
Hug geworden. Er trug bie Arbeiterblufe und ſprach
wie ein gebildeter Menſch.“
„Schmieder iſt ein Zmwitterding, wie es unjere
Zeit zumeilen bervorbringt,” erklärte Wahrholm.
„Als Sohn eines gut bejoldeten Subalternbeamten
— id glaube fein Vater war NRendant — bat er
eine jorgfältige Erziehung erhalten, Sprade und Im:
gangsformen der gebildeten Gejelihaft angenommen
und das Gymnafium einer Provinzialitadt bejucht.
Aber jein etwas unbändiger, jeden Zwang baflender
Charakter hat ihn verhindert, auf diefem guten Funda-
ment weiterzubauen.
„Rah dem frühen Tode jeines Vaters, ber
wohl noch einigermaßen Einfluß auf ihn ausübte,
bat er das regelrechte Studium als geilttötend bald
über Bord geworfen und tft als ‚freier Menjch‘, wie
er e8 bezeichnete, in die Welt gegangen, um fid
einen ihm zufagenden Beruf zu Juden. Sein Lebens:
lauf, wie er ihn mir erzählte, ift die wahre Nobin-
fonade, aber wie vielerlei er auch verjucdht, nirgends
bat er gefunden, was ihm zulagte, denn es giebt
wohl keinen Beruf, der ganz ohne Zwang fidh aus:
üben ließe. Er glaubt aber Feinen Zwang ver:
tragen zu können. Deshalb jhilt er auf alles Be:
ftehbende. Wollte man aber, was ihm wünjchenswert
Icheint, gejeglih einführen, fo würde es ihn ebenjo
unerträglich dünlen. |
. „So hat ihn denn die Notwendigkeit und der
Mangel an ausreihendem, geordnetem Wiflen zum
Arbeiter gemacht, er jelbit aber behauptet, es frei-
willig geworden zu fein. Er nennt fich einen Apoftel
der neuen Zeit und meint durch feine Bildung zur
Hebung des vierten Standes beitragen zu müflen.
Natürlich ift viel Eitelkeit dabei, er will der erfte
fein, fei e8 auch nur unter Arbeitern. Übrigens bat
er viel gelejen und redet wie ein Buch.“
„Die arme Alma thut mir unendlidh leid,“
äußerte Frau Wahrholm auf den langen Bericht
ihres Gatten, „einem Mann feiner Art wird jede
dauernde Verbindung, mag fie gejeßlih oder un-
gejeglich fein, zur unerträgliden Tyrannei werden
und die Frau wird darunter leiden.”
„Sanz ficher,” pflichtete ihr Gatte bei, „ich gebe
der Herrlichkeit zwei SYahre höchitens.”
„Hat er den wenigftens guten Verdienft?” fragte
Profefjor Steiner.
„Er verdient nodh einmal foviel wie meine
andern Arbeiter, da ich ihn gelegentlich als Techniker
beichäftigeund bezahle, obgleich er eigentlich nur Former
ift. Zudem bat er vor ein paar Zahren jeine Mutter
beerbt und außer einigen Taufend Mark eine hübjche
Hauseinrihtung erhalten. Er gilt unter meinen
Arbeitern als Kröjus einerjeitse und als Licht der
Weisheit andererjeits und das ift es, was ihn reizt.
Es ftedt eine Sroßmannfudht in ihm, von der er felbft
nichts ahnt. Er revoltiert gegen jeden Drud, würde
aber gegebenen Falle jelbft Deipot fein.
„Meine arme, verblendete Alma,” IHagte Frau
Niederfteiter, „ih will do in den nädhjlten Tagen
zu ihr geben. ch muß ohnehin Jhr Stadtviertel
befuden, Herr Wahrholm, der Arbeiter Köhler joll
199
jeit einigen Tagen wieder unausgejegt betrunten
fein, feine Frau Magte es mir heute.“
„SH babe es zufällig auch bemerkt,“ antwortete
Wahrholm, „bitte jagen Sie ihm, er folle fi zu:
jammennehmen, ich vertrüge in jolden Dingen feinen
Scherz. Der Mann ift ohnehin feiner Ehwädlic-
feit wegen fein befonders tüchtiger Arbeiter, jehe ich
ihn noch einmal betrunfen, jo it er entlaflen.“
Das Schiff näherte fi feinem Beitimmungs:
orte, der auf der rechten lupjeite fi in Geftalt
eines freundliden Dörfchens präjentiertee Ein
mäßiger Hügel, von Parkanlagen bevedt, flieg un:
mittelbar vom Flußufer auf und trug auf jeiner
Spige, dur grüne Bäume verdedt, ein ländliches
Gafthaus. Ein Stüdhhen davon lag die altertüm-
lihe Kirhe, ebenfalls in Grün gebettet, und tiefer,
wie ein Kranz darum geordnet, die bejcheidenen
Bauernhäushen. Das Ganze ein Koyll ohne jede
Prätenfion, aber lieblihd und berzerfreuend.
Der junge Wahrholm, die Röte der Gejundheit
auf den Wangen, fam von der andern Seite des
Dampfers, wo er mit einem Belannten geplaudert
hatte, herüber; ein paar Körbe mit befjeren Lebeng-
mitteln, als fie bier zu haben waren, wurden aug-
geladen, die Herren bemädhtigten fich ihrer dienft-
eifrig und der Eleine Zug ftieg bergan, um bald
darauf von einer Art Belvedere Belit zu nehmen,
das fih oben am Rande des Parfes erhob.
Die Damen padten belifaten Kuchen aus und
eine ländliche Hebe jervierte recht guten Kaffee auf
fauberem Tifhtuh. Da faßen nun acht befreunbete
Menihen in munterem Geplauder und fchauten in
das freundliche grüne Thal hinab. Der Fluß durd;
Ihnitt die weite Wiejenfläche in zwei breiten Armen
und weiße Segel, duftige Rauhmöltchen, den Dampfern
entjirömend, bezeichneten weithin feinen Lauf. Auf
den Wiejen regten fich fleißige Hände, präcdtiges Vieh
belebte die Landichaft. —
Ein liebliches Bild, fo recht zu harnılojem Genuß
einladend und do — der Menich trägt in jedes Bild,
jei es Tieblich und reizgend oder großartig und fchauer:
lich, feine eigene Stimmung hinein, und bier pocdhte
mehr als ein Herz in unrubigen, abnungsreichen
oder jorgenvollen Schlägen und fühlte nur halb den
holden Frieden der Natur.
Nach dem Kaffee Ichidten die beiden Brofefloren
fih zu einem botanischen Spaziergang an, die älteren
Damen wünjhten auf dem anmutigen Blat figen zu
bleiben und Herr Wahrholm ihnen Gelellihaft zu
leiften. So blieb es denn den drei jungen PBerjonen
überlaffen, ebenfalls zu bleiben oder ihre eigenen
Wege zu gehen, und fie zogen das leßtere vor.
„Wir wollen zunädhft einmal auf den Kirchhof
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
200
geben, er gewährt eine bübjche Ausfiht nad ber
andern Seite, die bier dur die Bäume verdedt
wird,” Schlug der junge Wahrholm vor, „vielleicht
finden wir auch bie Kirche offen — es jcheint eine
Hochzeit im Dorfe zu fein — es find interefjante
alte Bilder darin.”
Der Vorihlag wurde angenommen und jofort
zur Ausführung gebradt. Durd ein Pförtchen er:
reihte man die Landftraße, die fih im Lauf ber
Sabhrhunderte wie eine Rinne zwilhen Kirchhof und
PBarf hineingewühlt hatte, und, fie überjchreitend, ben
geflafterten Aufftieg zur Kirche.
Auf dem ländlichen Friedhof jah es allerdings
anders aus, als die Stäbter es gewohnt waren.
Hier gab es feinen üppigen Blumenjhmud, keine
von Gärtnerhband gemundenen Kränze auf den
Hügeln; einfach und beicheiden war alles, oft aud
ärmlih und jchmudlos, aber man fah doch, baf bie
Hand der Liebe au hier waltete und hätte fie ihre
Thätigkeit: nur durh die Sauberkeit des grünen
Hügels beweilen können.
Die Ausfiht vom Kirchhof war wirklich anmutig
und der Blat jelbft bot Unterhaltung burdh einen
gewiflen unfreiwilligen Humor, der bei der Abfaffung
einzelner Grabjchriften gemwaltet hatte.
Hilde lachte zuweilen laut auf, jentte aber
jofort befhämt die Augen, wenn ein vorwurfsvoller
Blid Egons fie traf. Er hatte ja ganz recht, fie zu
tadeln, wenn ihre natürliche Heiterkeit fie fortriß.
Die Worte, die da fanden, hatte tiefer Schmerz
diktiert, wer durfte laden, wenn die Form verfehlt
war, oder wenn der brave Dorflünftler in Bezug
auf die Drthographie das Prädilat „mangelhaft“
: verdiente.
An die Kirche war die Grablapelle einer Adels:
familie der Nahbarfhaft angebaut. Paul Wahrholm
machte auf das chöne fchmiedeeiferne Gitter des alter:
tümliden Baues aufmerffam, erklärte den Bauftil
der Kirche und der fpäter angebauten Kapelle und
erwies ji im diefen Dingen, troß feiner Jugend,
durdaus jachverftändig.
Eben verließ auch der ländliche KHochzeitszug
die Kirche und nad Berftändigung mit dem Küfter
betraten die drei Spaziergänger den Hleinen, aber
intereffanten Raum. Das Baumer! war über fechs-
hundert Yahre alt und no völlig unverändert.
Deutlid erfannte man die Spuren des Katholicismus,
ber e8 errichtete. Die Nebenaltäre waren zwar ver:
ſchwunden, aber diejelben Bilder und Holzichnigereien,
die ji darüber erhoben hatten, hingen noch an ben
Mauern und bildeten die Rüdwände tunftvoll ge:
Ihnigter und vom MNAlter gebräunter Kirchenftühle,
die wohl den LZandadel zugehörten.
(Fortfegung folgt.)
201
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
202
Deiblatt der Dentihen Noman:Zeitung.
Grillenliedchen.
Singe, ſinge, kleine Grille,
Singe in der Abendſtille
An dem klaren, grünen Rhein;
Wo die Nixen heimlich lauſchen,
Wenn die Elfen Grüße tauſchen
Bei des lichten Mondes Schein.
Zu dem Klange Deiner Lieder
Schweben leicht ſie auf und nieder,
Nippend wilder Blumen Duft.
Welch ein ſommernächtig Leben,
Welch ein Wogen, welch ein Weben
In den Wellen, in der Luft!
Und der Blüten Köpfchen neigen
Leiſe ſich in ſüßem Schweigen,
Träumend an dem grünen Rhein.
Singe, ſinge, kleine Grille,
Heimlich in der Abendſtille,
Sing auch mich in Träume ein.
Helene Bernard.
SEr ſpricht doriſch!
Ein Genrebild aus klaſſiſchen Tagen.
Von Gollar Linke.
Zur Zeit der großen Dionyſien, wo nach Athen eine
Unzahl Fremder aus anderen helleniſchen Städten zuſammen⸗
zuſtrömen pflegte, um teilzunehmen an der allgemeinen Luſt⸗
barkeit und Freude, ſowie das neueſte Luſtſpiel eines Kratinos
oder die neueſte Tragödie eines Sophokles mit anzuſchauen,
hatte ſich eine junge Geſellſchaft aus mancherlei helleniſchen
Stämmen zuſammengefunden in dem Fühlen, geräumigen
Epeifefaale eines äußerlih fchlihten Haufe, das einem
reihen, jungen Athener gehörte. Aber wenn aud die Außen-
jeite diefeß Haufes, wenig von anderen unterfchieben, fich
durch jeine Armfeligkeit fchier auffallend abhob von der rings
aufragenden Praht der Marmortempel und Hallen und
öffentlichen Gebäude, fo verbreitete doch die erwadte Sonne
des perifleifchen Zeitalter ihre Wirkung auf die innere
Häußglichkeit derart, daß die Einrichtung eines vornehmen
Hauje3 auch zumeift den Reichtum feines Befiterd wibers
jpiegelte.
Unfer junger Athener Hatte e8 jih nicht nehmen laffen,
fein Haus, zumal da8 jäulengetragene Perifiyl und den
großen Männerfaal dur mancherlei Zierrat und Schmud
auszuftatten, nicht bloß um zufällig bei ihm einfehrenben
Gaftfreunden aus Sparta oder Theben zu zeigen, wie jet
dem Athener der Vorrang gebührte in der Pflege des Schönen,
fondern aus eigener Quft für die Augen und im Gebanten
an die Kürze des rofigen Lebens, der freilich nur felten und
porübergehend wie jommerlicdher Abendmwolfenhaud) die heitere
Seele zu trüben vermochte.
{
ı
Wie eS zu gejchehen pflegte, wenn Mitglieder ver»
icyiedener hellenifcher Stämme beim Mahle zufammengelagert
rubten, fo war auch bier in Verlaufe be3 Sympofions bas
Geipräh auf die mannigfaltigen Sitten und Gebräuche der
einzelnen Bölkerfchaften gefommen, welche fi oft wie Tag
und Naht voneinander unterfchteber, ohne daß fie barum
aufhörten, fih als Hellenen zu fühlen.
Der Boiotier wurde gehänfelt twegen feiner Vorliebe für
ein ledere8 Mahl und wegen feiner Vernahläffigung bes
Schönen, obwohl er fi) barauf berufen konnte, daß Bindaros,
der Sänger von Theben, bie Kunft des Iyrifchen Sanges
als unübertroffener Meifter gepflegt; und obwohl — wie
jeltfam von den Göttern gefügt! — die Frauen aus Theben
oder Theipiai die Schönften von Helles hießen.
Den gleichen Vorwurf mußte fi der Spartaner gefallen
lajjen, Soviel ihm auch feine Pflege des Guten, zumal der
Tapferfeit, nachgerühmt wurde.
„Breilih,* meinte der anweiende Dorer, „Ihr Athener
vom jonifhen Stamme, fürs Schöne forgt Ihr; Indeffen, ich
meine, Ihr vergeßt darüber das Wichtigere und wandelt
auf abjchüffiger Bahn. Denn allgufehr, bünkt mich, hat e8
Euren Augen und Obren das Sirenenwort Sreibeit ans
gethan. lind wenn man bie Sache bei Licht befieht —”
„Namlid mit doriihen Augen!“ fchaltete lachend der
athenifche Bajtgeber ein.
„Mit dorifchen Augen!“ fagte ruhig der Spartaner, „Io
jeid Shr gerade jet unter Perifles unfreier als jemals. Er
it gleihfam Euer heimliher Tyranın; wie das immer ber
Tal fein wird, wenn fich jemand unter feinen Mitbürgern
erhebt, dem die Himmlifchen etwas mehr Verftand als allen
übrigen zufammen und auch da8 zugebörende Glüd gegeben
haben.“
„Dei der Palas Wihene,“ fiel ibm fchlagfertig der
Athener in? Wort, „ich glaube das nicht. In dem einzigen
Berikles ift gegenwärtig ber Wille des gefamten Bolfes
zum Ausdrud gelangt; aber die Möglichkeit it vorhanden —
denn fein Weib beißt Aipafia! — daß Perifles und das
athenifche Volt nicht immer dasfelbe bebeuten!“
„Sch möchte e8 beinahe erleben,” entgegneic der Spartaner,
„damit Du fäheft, in welchen Augen das Licht jaß, ob in
ben boriihen oder den joniichen Augen!“
„Bei den Böttern!* rief ba ein fchwerfälliger Thebaner
aus, „ich fehe fchon, der Streit läuft darauf hinaus, zu ent:
icheiden, weldhen von den helleniihen Stämmen bie Führer:
Ihaft zufomme. Liebe Freunde, vergeflen wir nicht, daß wir
in ben Tagen ber Dionyfien leben, daß vor uns der Wein
plüht und anf unferen Häuptern der Myrtenkranz mit den
lächelnden Veilhen! Mich kümmert und befünmert die Politik
gar nicht; denn diefe machen zu guter Lett die Hinmliichen
felber nad) ihrer tieferen und uns armen Sterblichen meiiten-
teils rätjelbunteln Einficht. Lieber höre ich da einige Inftige
Scherzfragen, mid) im übrigen an das vor kurzem bernommene
Skolion haltend:
Wohl glühe der Wein, wo erblühen der Luſt
Sanftſchimmernde Veilchen und Roſen;
Doch glüh' auch der Wein, wo die Männer vereint
Heiß fröhlichen Kampfes gedenken!
203
Ein Becher ertön’ an den anderen an:
Den Freien ein jauchgender Hochruf!
Hinftürz’ er jobann aus gefhhwungener Hand —
So mögen fie fallen, die Knedjte!
Noch viel lieber aber neige ich meine Ohren einem Inftigen
Geichichtlein. Und da wir wohl augenblidlich von Euch beiden
feines zu erwarten haben, jo will ich mich entichließen, eines
zum beiten zu geben. Ich Babe e8 vor einigen Sahren bei
einem Spmpofion während der pythlichen Spiele zu Delphi
von einem alten Spartaner gehört.“
„Srzähle, erzähle!“ riefen einige junge Athener da⸗
zwijchen; „aber befeuchte erft mit einigen Tropfen bes feurigen
Nafjes von Chios Deine Kehle; fie möchte Dir fonft während
be3 Vortrages verfiegen wie ein attifdhes Bädjlein in ben
Sluttagen der Panathenänen!“
„Seid unbejorgt!* erwibderte gutinütig lächelnd ber wohl:
beleibte Thebaner. Nachdem er aber feine Phiale geleert und
über die Sculter einem Hinter ihm fichenden Sklaven ge:
reicht halte, fe ihm. von neuem zu füllen, begann er fo zu
erzählen:
„Bar vielfah Hatte [hon das Leben einen jungen
Zaufendlünftler und Gaufler umbergeworfen. Adanıas,
wie er fih nannte wegen feiner athletenbaften Stärke und
Größe, die an Herafled gemahnte, befand fich eines Tages
fern überm Meere auf jonifhem Boden, in einer Lleinen
Stadt, um feine Künfte dort der Dienge zu zeigen, die wegen
"des Frühlingsfeftes zahlreid) aus den benachbarten Orten
und Weilern herbeigeftrömt ivar.
„Während abfeits am Wege jein treues Maultier ftand,
das ihm feine Habjeligkeiten und Sünftlergerätfchaften trug,
hatte er fchnell ein leichtes Zelt aufgeichhlagen und fuchte nun,
wie c8 bei folhen Leuten üblich tft, durch allerhand mwohl-
flingende Redensarten über feine ans Unmögliche ftreifenben
Runftfertigkeiten die Dienge oder vielmehr die Kleinen Obolen
diefer vielföpfigen Menge an fih zu Ioden.
„Bald Hatte fih um den fremden Gaufler ein bichter
Kreis von Zufchauern verjammelt, unter been fi auch ein
vom Geſchick Hierher verſchlagener autochthoner Athener
befand.
„So zierlich und zartgebildet ſich nun auch diefer ‚Sohn
der Pallas Athene‘ dem rieſigen Gaukler gegenüber aus—⸗
nahm, blickte er dennoch mit einem gewiſſen höhniſchen
Mitleid zu dieſem empor, lächelnd über den Schwulſt ſeiner
prahleriſchen Worte. Adamas, an alle Schwächen der
Menſchen gewöhnt und wenig dadurch beläſtigt, ſo lange er
nicht in ſeiner Jagd auf die Obolen gehindert wurde, ſah
ſeinerſeits wieder voll Verachtung auf den windigen Knirps
herab, deſſen ärmlicher, mit Kreide notdürftig zu neuem
Glanze ausgeſtatteter Chiton ihm ſelber kaum bis zu den
Hüften gereicht hätte.
„Der Athener verſuchte jedoch bald, den Mann zur Ziel—⸗
ſcheibe ſeiner Scherze zu machen. Mit größter Seelenruhe
hörte der Rieſe hin und wieder ein Wörtchen eſſigſauren
Spottes in ſeinen Ohren erklingen; aber er hielt an ſich,
ſprach in ſeiner alten Weiſe weiter und zeigte auch manches
erſtaunliche Zauberſtückchen ſeinen verehrlichen Zuſchauern,
denen ein zwiefacher Genuß geboten wurde, inſofern als ſie
über die ſpöttiſchen Witze des Atheners lachten und auch mit
offen ſtarrenden Augen die unheimlichen Künſte des Rieſen
bewunderten.
„Als aber Adamas berichtete, nur Wiſſensdurſt hätte
ihn getrieben, ſich auf dieſe Künſte zu legen, in denen er es
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
ſcheu ſich auseinanderteilende Zuſchauermenge,
204
zu einer noch ‚nie bagewejenen‘ Meifterichaft gebradht, und
als er hierauf ein langes Schwert dom Tifhchen nahm und
e8 mit rafchem Stoße fih bis ans Heft in ben Hals ftieh,
ba — indeffen er breitbeinig baftand und den Oberleib nad
hinten übergeneigt hielt — mußte er hören, mie ber Elcine
Athener witelnd einige Worte fpradh, fogleih in sorm eines
Trimeters:
‚Das Wiſſen ſchwand, doch übrig blieb allein der Durſt!“
„Alle im Umkreiſe lachten laut auf. Die ziemlich roten
Wangen des ſtarken Geſellen wurden ein wenig röter gefärbt
vor innerem Ärger. Ein drohender Blick flammte aus ſeinen
Augen nieder auf den kleinen Spötter. Aber dieſer ſchien
ſich ſo frei und ſicher zu fühlen wie nur je ein Poet auf der
komiſchen Bühne im Lenaion zu Athen.
„Noch immer bewaährte ſich Adamas ſeine zur Schau ge⸗
tragene Ruhe und Gleichgültigkeit — ein ſtolzer Löwe, welcher
die neben ihm ſpielende Maus unbeachtet läßt.
„Als nun aber von neuem der Gaukler allerlei ſtaunen⸗
erregende Kunſtſtückchen zeigte, darunter einige, welche ein
nicht menſchengewöhnliches Maß von Leibesſtärke verlangten,
und als er nad Vollendung feiner ‚Herallesthaten‘ jcheinbar
ermüdet und doch ftolzerfüllt wie ein Sieger auf der olympifchen
Nennbahn erklärte, derartiges fönne nur ein Dorer leiften,
denn die ftärfften Männer in Hellas, bie wären in Lafonien
daheim, da höhnte laut fpottend der Athener:
„Tu spricht Doris? Ei, mein Urenfel de gewaltigen
Herafles und damit gar ein Ururenfel des himmlischen Zeus
jelber, id weite hier auf der Stelle taujend Drachmen gegen
eine, daß Du niemals als Anabe ben Eurotas burdihwommen
hajt, ja vielleiht niemals den Ghorgefang einer attifchen
Tragödie vernommen. Ei, meine Tieben jonifchen Stammes:
genofien in ber Runde, beim Apollon, hört den Mann, wie
er borifc Ipricht! Hört biefe einem aus ber Ferne her
Hingenden SKuhgebrüle ähnlichen, dumpfen Selbftlauter!
Beim Helios und fämtlichen Göttern über fowie unter ber
Erbe, das ift ein herrliches Doriih — noch nie dageweien —
nie dagemweien!
- „Adamas aber, defjen Augen vor Wut rollten, konnte
fih vor innerer Empörung nidyt mehr mäßigen. Ab warf
er das Himation, weldies er eben in die Hand genommen
hatte, damit e8 ihm bei einigen Fingerkunſtſtückchen dieſelben
Dienite leiften follte, wie der befannte, unfidhtbar machende
Helm des Hermes, und ftürzte jodann mit einem fräftigen
Sate von feiner Höhe herab mitten unter bie verianımelte,
indem er
donnernd ſchrie:
„Nun ſollt Ihr ſehen, mit eigenen Augen ſehen, wie
ich doriſch ſpreche! Jetzt habt acht, Leutchen, wie man
doriſch redet, ſoweit die Sprache reicht — zweier kräftiger
Fäufte!‘
„Darauf nahm er den Eleinen Athener, der erbleichend
nit mehr zu flüchten vermochte, padte ihn mit fchnellem
Griffe am Halje, legte ihn wie einen ungezogenen Schul:
buben über feine Siniee und prügelte ihn mit feiner Rechten
nad urälteften Regeln weijer Pädagogik durd).
„Der Lleine Athener ftrampelte erbärmlich und fchrie aus
Leibeskräften; allein feiner der Anmefenden fprang ihm zu
Hilfe. Zu fomijch wirkte der Anblid. Sie fonnten nur aus
vollem Halje Tadhen und empfanden zum Teil wohl aud
heimliche Schabenfreude über diefe gerechte Beitrafung des
Gegners.
„Beim Herafles! geichieht ihm recht. Ich hätte e8 auch
205
—— — — — — — — — —
jo gemacht, ſagten jetzt diejenigen, die zuvor über die luſtigen
Bosheiten des Kleinen am meiſten gelacht hatten.
„Und ein angehender Philoſoph von einundzwanzig
Jahren ſchrieb fich folgende Bemerkung in ſeine Schreibtafel:
„Gegen die Logik zweier Menſchenfäuſte kämpft die
ſchlagfertigſte Rede vergeblich an! ...
„Als nun aber der winzige Athener in ſeiner ohnmächtigen
Schwebelage gar verſuchte, den gewaltigen Rächer zu beißen,
und zwar in die blühenden Schenkel, da verſetzte ihm der
große Adamas lachend einige Hiebe gegen den Kopf, daß
dieſer taumelnd wackelte wie der eines Trunkenen; und
ſpottend rief er dazu aus:
„Pfui, Du ungezogenes Büblein, willſt gar noch mit
Deinen Zähnchen beißen? Sind Deine Erzeuger Hunde ge⸗
weſen? Siehſt Du, mein überkluges Pallasſöhnlein, nun
machen wir beide zuſammen Kunſtſtücke und erfreuen die
Herzen der Zuſchauer nicht minder! Sei froh, daß Hellenen
umherſtehen und keine menſchenfreſſenden Barbaren! Dieſe
hätten Dich längſt um klingendes Silber von mir gekauft
und ſich heißhungrig geſehnt nach ſo wacker geklopftem und
wohlbearbeitetem Fleiſche! Aber Du biſt ſehr leicht, wie eine
Huhnfeder! Jetzt laßt uns ſehen, ob Du am Ende auch
fliegen kannſt, leichtſinniges Bürſchlein mit Deiner leichtbe⸗
flägelten Zunge!‘
„Spradh’8 und wie ein Bündel Neifig warf er ihn eine
weite Strede durdy die Quft bin, fo daß der Aihener mit
dumpfem Fall auf den Boden ftürzte und bort Liegen blieb,
ala wäre die Seele aus feinem Leibe geflogen.
„Gerubig fehrte Adanıas zurüd. Als er fi aber bald
wieder umjah und bemerkte, dab der Athener fi nicht rüttelte,
fondern in jeiner regungslofen Stille verharrte, da erfaßte
den gutmütigen Riefen nicht feige Angit, fonbern weiches
Mitleid. Er eilte zu ihm bin, bob ihn wie ein Kind auf
und trug ihn nach feinem Zelte, wo er ihm bie blutunter:
laufenen Stellen mit frifdem Waffer fühlte.
„Der junge Athener mwinfelte vor Schmerz, als ihm
Adamas mitleidsvoll ale Blieber bed Leibes berübrte,
um die Stelle des Schmerzes zu finden. Da jah er zu
jeinem eigenen Bedauern, daß der Athener beim Nieberfallen
fih ba8 rechte Bein verftaucht hatte.
„Bol Teilnahme blidten die Zufchauer auch) auf biejes
eigenartige, unerwartete Schaufpiel. Der Gaufler aber
forderte einige auf, ihm gu helfen und den Süngling auf
leichtem Pfühle nady dem nahen Asklepiostempel zu tragen.
„Nachdem Abamaz die Obhut feines Maultierd dem be-
dienenden Sklaven übertragen und das Zelt geichlofien hatte,
mit der Erllärung, am anderen Morgen würde erft da8
wahrhaft Großartige beginnen, er wolle ihnen etwas bors
führen, was ihm nur Männer aus ben fernen Sonnenländern
am Indos nadymachen könnten, begab er fich jelber zum nahen
Tempelfrantenhaufe famt einigen Männern, die mit ihm be=
hutlanı das fchnell Herbeigeihaffte Auhepfühl trugen, auf
welchem der junge Athener dalag, zitternd, leife vor fidy hin
wimmernd, die Augen gefchlofien.
„Die im Tempelheiligtum anmwefenden Pıiefter erklärten
dem ängftlich breinichauenden Abamas, daß die Heilung wohl
einige Zeit beanjpruchen würbe; jedenfalls aber dürfte der
Süngling mit Ende der Frühlingsfeftfeier wieder gefund fein;
denn die Verftauhung wäre nur unbebeutender Art.
„Wohlan,‘ ſprach Adamas, ‚hier find einige Silber:
müngzen, pflegt mir ben Bebauernöwerten gut und gebt ihm
alles, was er ſich wünſcht. Auf Hellenenwort verpflichte
Beiblatt der Deutihen RomansBeitung.
206
ih mich, jedes Mehr treu nacdhzuzahlen. Sch bin zwar ein
bon Stadt zu Stadt, von Land zu Land reifender Gaufler,‘
jagte er zu dem alten Briefter des Asfleplos, der im langen,
weißen Himation würdevoll vor ihm ftand, ‚inbeflen ich hoffe
mit diefem Sabre, fowie die Plefaden untergehen, meinen
Srrfahrten ein Ende zu machen, um als glüdliher und nicht
ganz armer Landmann bahetın in der fruchtbaren, böotifchen
Ebene am Kopaisfee all das Schöne nadzugenichen, was
mir vorher die Armut nicht erlaubte.‘
„Bier Tage waren vergangen, da fahen fich beide fchon
wieder in eincr Herberge an vielbewanderter Lanbftraße.
„Adamas und der junge Athener lagen zu Mabhle bei
funlelndem Wein in einer von wilben Rofenbüjchen umblühten
Laube und feierten das Felt bes Wieberfehens und lebend»
länglicher Freundſchaft. Gutmütig lächelnd aber ſprach
Adamas zu dem raſch verſöhnten Athener:
„Siehſt Du, mein Freund, ich bin zwar ein Thebaner,
aber des Lebens Not — und den Göttern ſei Dank! — die
eigene Kunſtfertigkeit und Anlage zwangen den Adamas, dieſe
Beſchäftigung zu ergreifen, die ihn bisher redlich ernährt hat
und ihm geſtattete, manche Silbermünzen beiſeite zu legen.
Ich hoffe, Du bewahrſt nun in Deinem klugen Kopfe, ohne
mir zu grollen, wie das Doriſche geſprochen wird! Komm,
Junge, neige Dich zu mir und gieb mir einen herzhaften
Kuß der Verföhnung! So! —
„Dann aber ipradh er ernfthaft, nachdem er einen
Sklaven befohlen hatte, neuen Wein herbeiguichaffen:
„Freue ſich jeder der Gaben, die ihm bie Götter vers
lichen, daß er fie würdig verwerte; aber fuche er fie nur da
anzubringen, wo fie am Plage find.
‚Mit feiner Schlauheit prahle nicht der Fuchs vorm Leu’n,
Der ihn mit einem Tagenhieb zu Boden fchlägt.‘“
* *
*
Sp Iautete die Beichichte bes jungen Thebanerd. Die
Anmwelenden Iachten laut auf zu ber fcherzhaften Begebenheit,
zumal ber Spartaner. Der athenifhe Baftgeber lich durch
jeine befränzten, jugenblich fhönen Sklaven die Becher von
neuem füllen und hieß fie, da er zugleich für ben Abend
Sympoſiarch war, leeren auf ba8 Wohl der ganzen, unteil-
baren Hellas. „Denn,“ fagte er, und verftändnisvoll bes
gegneten fid; feine Blicke mit denen bes Spartanerd und
Thebaners, „da® Schöne und Große ift nit ein Eigen-
artiges, fondern etwad Mannigfaches und Vielgeftaltiges.
Athen ift nicht Hellas und Hellas tft nicht Athen!“
„Aber wir bleiben immer Hellenen!*“ riefen die anderen
dazwiſchen.
„Wohlan,“ ſprach der Thebaner begeiſtert, „ſo laßt uns
dieſe neuen Becher leeren auf Bakchos, den Beherrſcher dieſer
feſtfröhlichen Lenzzeit, auf unſeren Dionyſos, den ewig wieder⸗
erſtehenden Gott der unſterblichen Freude!“
Und darauf ſangen ſie alle zuſammen:
Den Veilchenkranz im duftenden Haargelock,
So liegen wir auf blumigem Polſterpfühl
In trauter Freundſchaft, vor uns leuchtet,
Schöner Dionyſos, Deine Gabe!
O Seelentau, lichtſonnige Rebenflut,
Du hebſt das Herz zu lachenden Götterhöh'n;
Tief unter uns liegt, was der Erde
Trauriges Erbe, die düſt're Sorge.
— ꝰä — —— — — — — — — — — — — — — —— — — —
207
Du bauft die Sehnfudht. Aber Du giebit nod) mehr
ALS Sceptermadit und Fülle des Gold’S und Prunt!
Schmerzlos auf einmal beuft Du alles,
Schön zu genießen im Gaufeltraumipiel.
Nichts kümmert uns, fein Morgen, aud Geftern nicht!
Mir atmen heut! Und fänfe des Himmel! Dad)
Bei nähfter Dämm’rung über unfern
Yäupiern zufammen, die legten Worte,
Sie Hängen Dir, Du fchöner Dionyfos!
Sie Hängen Dir, Du rofenumhaudte Luft!
D Freude, Du nur wedit im Herzen
Götilihes! — Leert die gefüllten Becher!
Hute Nacht.
Nun wird e8 Abend, mein fühes Sind,
Nun bift Du müb;
Der Nahtwind murmelt fo lei und Iind
Dein Schlummerlied.
Er raufht in den Wipfeln dem fcheibenden Tag
Eintön’gen Sang,
Vom Turm Elingt verhaflender Stundenidlag
Da3 Thal entlang.
Die Wollen zieh’n über die Berge hinaus,
Der Mond ift bleidh;
Wie Schatten wanfet der Flieder vorm Haus,
Die Weib’ am Teich.
Ein verirrter Lichtftrahl Dein Angefiht traf
Mit blaffen Schein;
Du lähelit müde, ihon halb im Schlaf,
Und [hlummerft ein!
Fu qheibe.
Bei Seiner Sxcellen;.
Von Marie Swars.
In dem Vorzinnmer des Minifter® für innere Ange:
legenheiten wartete fchon feit zwei Stunden ein hagerer,
ältliher Maın mit gefurhtem Antlig und befünmerter
Miene auf den Augenblid, wo aud er Zulritt zu dem viel-
bermögenden Danne erhalten follte. Er hatte vor Sahren,
nachdem er in den ruhmreihen Feldzug gegen Trankreich,
ben Erbfeind, mitgefochten, bis eine franzöfifhe Kugel ihn
invalid gemadt, einen Civilverforgungspoften ala Schreiber
erhalten. Aber, du lieber Himmel! er war au danad!
Eigentlih nur dem Namen nad ein cehrender Dank dafür,
daß er ji mit Begeifterung Hatte zum Krüppel hießen
lafien für König und Vaterland. Allein hätte fih noch
davon leben laffen; aber der arme Schreiber, ber Herz und
Hand fon vor dem Kriege einen treuen, lieben Mädchen
verpfändet, hatte auch Verlangen danad) getragen, fidh einen
häuslichen Herd zu gründen. linb da hatte er’8 nun, den
Weheftand im Eheftand! Mit Frau und Sindern hatte
man jhon faum das liebe Leben gehabt; nun aber feine
Frau, die fonft fleißig mitverdienen half, felt länger als
einem Sahr frank lag, Hatte ein fürmlicher Notftand bei
ihn P lag gegriffen. —
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
208
Um feines armen WVeibcs willen, dem twahrlid) befiere
Pflege not that, entihloß jih unfer armer Tyamilienvater
endlich), beim Minifter felbft um Aufbeflerung jeines Ge-
haltes, reipektive linterftügung vorftelig zu werben. Gem
that er e8 nicht, denn er war ein fchüchterner, beicheidener
Mann, und feine Nedegemwandtheit gerade nicht groß, barım
fam ihn der Gang recht fauer an. —
Heute nun war er endlich zur Aubienz befohlen, batte
aber noch auf Abfertigung verichiedener Petenten zu warten,
die vor ihm gelommen waren.
Als der Iette von ihnen das Arbeitälfabinett des
Minifters verließ, und der Schreiber fid, fhon erwartungßs
voll erhob, trat der Diener, welcher bie Wartenden aufzus
rufen hatte, an ihn heran und fagte: „Der Herr muß fidh
noch etwas gedulden, Seine Excellenz halten jet Frühſtücks⸗
paufe.“
Damit ging er hinaus, und ber in banger Erwartung
Harrende blieb allein und zwar in recht Schlechter Stimmung.
E3 traf fih nämlich für ihn fo Schlecht wie möglid) mit dem
Audienztage; feit der Nacht fhon plagte ihn mäütender
Zahnſchmerz.
Während er ſein mit einer ſcharfen Eſſenz befeuchtetes
Taſchentuch an die Backe hielt, kam eilfertig ein kleines,
hageres, einfach gekleidetes Männchen aus dem Aller⸗
heiligſten heraus und ſchritt quer durch das Vorzimmer nach
der Ausgangsthür.
Bei dem Bittſteller vorbeikommend, fixierte er ihn und
ſagte vertraulich: „Nun, was ſchaffen's denn hier, wollen
Sie auch was bei uns?“
Unſer Schreiber war ſonſt der höflichſte Mann von
der Welt, nicht nur gegen ſeine Vorgeſetzten, denn das will
gar nichts beſagen, ſondern, was ſtets für wahre Herzens⸗
höflichkeit ſpricht, auch Gleichſtehenden und ſelbſt unter ihm
Stehenden gegenüber. Heut verſchuldete es daher lediglich
dieſer ſich von einer Zeit zur anderen und wohl durch das
Fieber der Erwartung noch mehr ſteigernde Zahnſchmerz,
wenn er unwirſch erwiderte: „Geht Sie ja gar nichts an!“
„Ei, ſeien Sie doch nicht ſo grob!“ verſetzte der kleine
Mann etwas beleidigt, wie es ſchien. „Wenn's mich nichts
anginge, würd' ich doch nicht fragen!“
„Einerlei!“ ſagte der Schreiber eigenſinnig. „Was ich
will, werde ih dem Herrn Mirniſter ſchon lieber ſelber
ſagen!“ Und er rieb ſeine Backe ſo heftig, daß ſie rot wie
ein Paradiesapfel wurde und grollte: „Erſt ſtundenlang
warten, und mich dann von jedem Narren, dem's beliebt,
um ungelegte Eier zu kakeln, ausfragen zu laſſen — laſſen's
mich in Ruh!“
„Grobian!“ ſagte der kleine Mann, den der Schreiber
für irgend einen Haußoffizianten hielt, darauf lalonifch und
ging hinau2.
Ungefähr eine Viertelftunde verging. Dann fam ber
Diener und meldete: „Seine Ercellenz laffen bitten!“
Der Bittfteller, defien Bade vor Schmerz ganz ge=
Ihwollen war, erhob fi) und betrat des Minifters Kabinett.
Sm eriten Augenblid jah er vor Aufregung gar nidts;
es lag wie ein Nebel vor feinen Augen. Sept galt’s!
Würde e8 ihm gelingen, den allmächtigen, allerhöchften Vor⸗
gefegten von feiner Notlage zu überzeugen, ihn zu rühren?
Als er nad einem tiefen, unterthänigen Diener aber
aufjah, begegnete er nur den Elugen, grauen Augen des
Heinen Wannes, den er vorhin, feiner unzeitigen Neugier
wegen, fo unfreundlid angelafjen.
209
„Ah, das Fragezeichen!“ fuhr’ ihm heraus. „Sind
Sie hier au Schon wieder? Haben mich tmohl nod) etwas
zu fragen vergeſſen? ...“
Bei dem jpöttifchen und dabei vornehmen Blid, der ihn
jegt traf, fam e3 wie eine hödft fatale Erleuchtung über
ihn. „Excellenz? ... .“ ftotterte er fragend.
„Sanz redht, mein lieber Hand Tap8!” entgegnete der
Eleine Herr farkafttih. „Sch bin’ halt wirklid — und aud)
der Narr, der um ungelegte Eier fafelte. Sa, fhaun’s, man
kann gar leiht an den linrechten kommen, welcher doch der
Rechte ft!“
Dem armen Schreiber war ob des fchredlichen Miß-
griffes, den er fi) hatte zu Schulden kommen -Iafien, das
Weinen nahe; verfchwinden mittel3 einer Verfenfung wäre
ihm jeßt das Liebfte geweien. „Crellenz, Verzeihung . . .“
ftammelte er, puterrot vor Verwirrung und Belhämung,
„id — 05 — 05 — wußte niht — id) habe —“
„gahnichhmerz — ba8 jehe ich,“ unterbradh ihn der
Minifter kurz. „Warum aber in aller Welt ließen Sie fidh
den Zahn nicht vorher ziehen, ehe Sie zur Aubdienz kamen?
Wär’ halt praftifcher gewefen!”
„E38 — e8 — Loftet fo fehr viel Geld,“ ftotterte ber
Petent. „Da hält unjereiner jchon lieber aus!“
„Ach fol und andere follen mit Shnen aushalten, Shre
Grobheiten nämlihd! Davon hab’ ich gerad’ genug! Und
nun —* die Kleine Ercellenz machte eine energtiche Bewegung
um feinen Kopf herum — „heraus mit ihm!“
E3 war nicht ganz Har, ob „er“ durh die Dede, in
den Boden ober fonft wohin verfchwinden follte; der auf8
tiefjte erjchrodene Biltfteller wollte fih auf diefen nadhbrüd:
lichen Befehl hin, fchon alles verloren gebend, rüdwärts
ftolpernd, auf dem gemwöhnlicheren Wege durdy die Thür
entfernen. Da rief der gewaltige, eine Mann wieder:
„Pit! Halt da — doc) feinen Unfinn machen!" — und vers
wirrt und ängftlich blieb unfer Schreiber ftehen.
„Wieviel?* fragte die Ercellenz mit gerungzelter Stirn.
„Ad, jo viel — das heißt, jo wenig ald Eure Ercellenz
zu gewähren geruhen ... .”
„5 ift dod) eine wahre Het mit Ihnen! Ich mein’ halt:
Was Eoftet’3 bei dem Zahnreißer?“
„Drei Mark, Euer... .*
Der Minifter z0g die Börfe. „Hier find fiel Und nun
gehen’8 zu meinem Zahndottor hier nebenan und laffen’s
mal jchnell den Attentäter, der Ihnen und mir fo grob kam,
herausholen. Dann wieberfommen. Will jehen, wie ©ie
danach reden fünnen. Menih mit Zahnichmerz halber Mienfch
nur; wa8 der fo hinredet, das ift — da8 tft —* er fudhte
nad einem Ausdrud und fchloß triumphierend, mit einem
bo&haften fleinen Gelächter — „Kakelel ift’3! — Verftanden 3“
Gehorjam ging der Schreiber zu dem berühmten Zahn
profeflor herum, wo ihm mwenigftens ein jchmerzlofes Aus»
ziehen wintte. Ihm war wunderlic zu Mut. FYurdt und
Hoffnung ftritten in feiner Seele, body bie erftere, blaß-
wangige, behielt die Oberhand. Ach, e8 war ja faum dent:
bar, daß Crcellenz ihm feine bobenlofe Grobheit vergab! Gr
war geliefert! Bei der erften Gelegenheit kaſſiert! Er
glaubte, nur zu gut verftanden zu haben.
Gern hätte er fih’8 gejchenkt, noch einmal in das Fege-
feuer beim Herrn Minifter hinein zu müffen; e8 hatte nun ja
dody feinen Zwed mehr. Aber Sreellenz hatten einmal be-
fohlen, da gab e8 feine freie Wahl.
Ein Zettelhen, das er mitbefommen, hatte ihm beim
Roman-Zeitung 1896,
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
210
Zahnarzt troß vieler Wartender fogleid) Einlaß und Abe
fertigung verihafft. In zehn Minuten war er mieber bei
dem Minifter und Fam fi) wie neugeboren vor.
„Zahnihmerz 108°“ fragte Seine Ercellenz.
„Ganz wie Eure Ercellenz befehlen,“ antwortete der
Schreiber unterwürfig.
„Ra, nur nicht in andere Ertreme verfallen,“ meinte ber
Minifter mit halbem Lächeln. „Der Zahnjchmerz war nod)
niemand8 lintergebener, leider! Eher fpielt er. den Meifter
und fchert fih den Kudud drum, wa8 etwa fo’'n Faklicher
Narr — wollt fagen, fo eine Ercellenz befichlt! Aber nun,
da ih ja nun wohl vor weiterem Anfchnauzen ficher bin,
zur Sache! Alſo was wünſchen Sie? Reden's jetzt halt
ſo, wie Ihnen ums Herz herum iſt — eigentlich müßt' man
ſagen: um die Zähne herum.“
Das that denn der Bittſteller auch und er hätte vorher
ſelbſt nicht gedacht, daß er an dieſem Unglückſtage ſeine
Sache noch ſo gut werde führen können. Er ſprach ſich
ſchließlich warm, denn die Begeiſterung des alten Soldaten,
der damals Blut und Leben für nichts im Dienfte des be-
drohten Baterlandes geachtet, kam über ihn in der Rüds
erinnerung, ald er, durch ein paar kurze, vom Minifter
eingeworfene Bemerkungen dazu veranlaßt, erft auf den
glorreihen Tag von Sedan zu fprechen fam, ber ihm dod)
den Dampf gethan. Aber auch er hatte fein Hein Teilchen
dazu beigetragen, wenn damals dem preußifchen Aar mächtig
die Schwingen gewadfen, und man hörte ihm den Stolz
darauf troß aller VBefcheidenheit an.
Der Minifter hatte zulegt ftill zugehört, ohne ihn weiter
zu unterbrechen. Segt madte er fi einige Notizen und
winkte ihm fchweigend zu, daß er entlafien jei.
Ob, ob, da hatte er fich fchön verplaudert! Das war
ja gar nicht die Eleine, mwohlgefegte, ftreng bei ber Sadıe
bleibende Rede gewefen, die er fich zurecht gelegt. Das kam
aber nur davon, daß ihm nad) dem prächtigen Zahnaug-
reißen jo leiht und wohl zu Mut geivefen war! Nun einer:
lei! — Berjehen ift veripielt! — Betrübt und niedergefchlagen
fam der Schreiber nad) Haus. Seine Ausfiht, daß biefe
Audienz den erjehnten Erfolg haben könne, eradhtete er faft
für Null Ta, wenn er höflicher gewefen wäre! Cr hätte
fih wegen feiner Gjelei jelber ohrfeigen fönnen! Und als
feine franfe rau mit Shwader Stimme zu wifjen begehrte,
was er denn ausgerichtet, gab er eine ausmweicdhende Antwort
und machte fich inSgeheim ihretiwegen Doppelte Vorwürfe.
Einige Wochen vergingen; von Entlaflung, fo jehr er
da3 gefürchtet, war feine Rede. Dafür ward ihm, da es in
die vierte ging, aus des Minifters Kanzlei ein amtliches
Schreiben ausgehändigt, das er mit Herzklopfen eröffnete.
Dasfelbe zeigte ihm an, daß Seine Excellenz ihn eine vor-
läufige Unterftügung zur Linderung jeiner augenblidlichen
Not bewilligt habe, zahlbar jofort, und daß jein Gehalt
vom nächſten Eriten an eine wefentlihe Aufbelferung er:
fahren folle.
Unter de Minifter8 Namenszug ftand aber, offenbar
aud; von deifen eigener Hand gefchrieben:
„Nur wer den Zahnfchınerz kennt,
Weiß, wa man leidet *
Dies follte jedenfall eine Parodie auf das befannte
Lied fein: „Nur wer die Sehnfucht kennt, weiß, was ich
leide!" — Diefer gnädige, Heine Scherz eines Kleinen, großen
Mannes ging unferem armen, nun fo od) beglüdten Schreiber
freilich verloren, weil er befagtes Lied nicht Yannte. Eines
IV. 15
211
hatte er au8 dem munberliden Boftifriptum aber dod
richtig herausgeleien, und zwar mit inniger Dankbarkeit
und Rührung: daß dies ein Wink fein folle, die Eleine,
gütige Exrcellenz habe humanerweife feiner durd) ben Zahn
fchmerz und alle feine fonftigen Schmerzen herborgerufenen,
verzweifelten Stimmung verftändnispoll Rechnung getragen.
Der Minifter Hatte fih auf edle Weije gerächt, ganz würdig
eine? Mannes in feiner hohen Stellung, von dem das Wohl
und Wehe jo manchen armen Teufels abhängt.
$5 if ein Reif gekommen.
Es it ein Reif gelommen
Tief in der dunklen Nadt;
Eh’ man e8 wahrgenommen,
Zerftört der Blumen Bradit;
Die geftern noch die Sonne
Mit ihrem erften Licht
Dem Schlaf entriß zur Wonne,
Ermwedt fie heute nicht.
Zur Bruft das Köpfchen wenden
Eie jegt den ganzen Tag,
Ch aud die Sonne fenden
Dis Tpät die Strahlen mag.
Auch mir fchien einft beichieden
Ein jel’ge8 Glüd zu fein.
Die Roien all hienieden,
Sie blühbten mir allein.
Für dieſe höchſte Freude
Erſchien zu eng die Bruſt —
Da ward mir's klar im Leide:
Gebüßt war alle Luſt.
Eh' ich es wahrgenommen,
War in mein Herz mit Macht
Ein tiefer Schmerz gekommen,
Tötend wie Reif bei Nacht.
$- Yalllant.
Heue Romane und andere Unterhaltungs:
bücher.
Angezeigt von ®. v. 4.
Schluß.)
Volniſche Zirtſchaft. Von Oskar Höcker. (6 ME)
Der Verf. muß das Leben in unſerem preußiſchen Oſten
aus eigener Erfahrung kennen; das Buch iſt reich an durch—
aus lebenswahren Zügen; die Polen aller Stände, hoher
und mittlerer Adel, Bauern und Landarbeiter ſpiegeln klar
die Volkseigenart wieder, im Guten und Schlimmen; doch
überwiegt das zweite. Die oft ſinnloſe Wirtſchaft, die aus
dem Vollen lebt, bis nichts mehr da iſt, die Sucht zu prunken,
die raſche Entflammbarkeit neben Mangel an Ausdauer, die
Sicherheit in Beherrſchung äußerer Formen neben ſittlicher
Unreife: all das iſt klar wiedergegeben. Einzelne Züge
jpielen ins „Romantiiche* hinüber, aber zeritören die Wahrs
jcheinlid;feit nicht.
Die Fit des Starken. Ton Rudoli Eldio. (5 ME.)
Der Verf. wandelt auf den Pfaden Spielhagen!. Die
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
212
Kreife, in denen ber Roman fpielt, find bie ber Offiziere
und der adligen Gutsbefiger; daneben ein geabelter Hals
abfchneider und einige bürgerlihe Dienfchen. Der Berf.
bemüht fich, gerecht zu fein, aber man fühlt, daß fein Herz
auf der Seite der „Telbftgemadhten“ Männer fteht. Cin foldher
löft durch feine Klugheit, Güte und fein Geld alle Wirren,
die fich im Laufe der Handlung entwidelt haben, und es
find deren fehr viele. Diefe Häufung von Edelmut giebt
der Geitalt da8 Gepräge des VBeabfichtigten, wodurd) jie an
Wahrjcheinlichkeit verliert. Einzelne Vorgänge find nicht
recht denkbar. Daß auf einem Ebelfig, wo ein großer Ball
ftattfindet, die Mufiter während der Tanzpaufe alle Torten:
reite, Gigarren u. f. mw. einfteden; daß bie OffizierSburfchen
und Autjcher die Vorzimmer und ben Yeltfaal „überfluten*
und Wein und Epeiferefte vertilgen, ift mir undentbar. Die
Sprade ift mit Adytung behandelt.
In dem Verlage von Otto Zanke, Berlin, find drei
Nomane erichienen, auf die ich unfere Leſer aufmerkſam
maden möchte.
$Sebensrätfel. Bon EC. Junder.
3. Aufl. 2. ME.
E3 ift eine der älteren Arbeiten, mit denen die Verf.
ihren Ruf begründet hat. Der Hauptwert bes Romans liegt
in den weiblichen @eitalten, die, voneinander fehr verichieben,
durdhiweg mit großer Stenntnis der Mädchen: und Frauen⸗
feele dargeftellt find. Dabei ift der Stoff feffelnd, und der
leitende Gedante edel.
Au in 3. Aufl. liegt vor:
Der Fels von Erz. Paterländifcher Roman von Emil
Bradhvogel. 4. ME.
Die vom vaterländiichen Geijte bejeelte Arbeit ift ganz
befondber® aud für Bolls- und Schulbüchereien geeignet,
ebenfo zum Gefchent für die reife Sugend. Der Roman
beginnt in der Zeit nad dem breißigjährigen Strieg; eine
Menge vertrauter Geftalten ift mit Gefhid in die Vorgänge
verwebt, das Ganze, trogbem Jahrzehnte vergangen find,
feitdem e8 herausfam, fo friidy, wie mander heutige Roman
in zwanzig Jahren unlesbar jein wird.
Großes Auffehen dürfte der dritte Roman erregen:
Draneneßre von Marie Stahl.
Sch merke fofort an, daß er nur für reife Lefer be
ftimmt if. Mit den leitenden Gedanken, die hier nidht er»
örtert werben können — e8 handelt fi um da3 NRedt auf
freie Liebe — bin ich nicht einverftanden. Die ganze Beiveiß-
führung hinkt, weil der einzelne Fall zur Grundlage allge:
meiner Säge genommen ift. Aber dad Bud ift für
benfende Menſchen intereflant, da e3 ihnen, ähnlih den
Büchern von Hedwig Dohm und der Egerton, die Tenf- und
Gefühlsweife in einem Teile der „modernen“ ;srauenwelt
enthüllt. Die Verf. befist Geift, das ſteht außer Frage, aber
e8 fehlt ihr die Ruhe, aus ihren Sägen alle pindhologiichen
Tsolgerumgen zu ziehen und deren Wirkungen auf die Durd-
ihnittsmenichen, d. bh. die erdrüdende Mehrheit zu prüfen.
Die Freiersfaßrien und Firdiersmeinungen des weißer-
feindfigen Herrn Yankrasius Grannger, der Schönen
Nifienihaften Toktor, nebit einem Anhang, wie jchließlid
alles ausgelaufen. Derausgegeben von Ltto Julius Bier:
baum. (Berlin IStw, Verein für freies Schrifttum.)
4 ME.
Der Verf. beiigt einen Kern gefunder und eigener Des
gabung, aber iit daneben audy durd fremde Cinrlürte leicht
beſtimmbar. In ſeinem erſten Proſageſchichtchen ſtand er
(Elſe Schmieden.)
213
faft ganz im Banne Gonrads und der Süngften; in feiner
Lyrik war er teild von Liliencron, teild von franzöfiichen und
älteren beutichen Worbildern beitimmt, wenn fi auch
in den „Erlebten Gedichten“ warme SHerzendtöne geltend
machten. Ein etwas gegiertes Naturburfchentum, wie e8 bei
manchem der in München lebenden Schriftfteler Mode wurde,
verband jich mit den Einflüjfen bes Naturaliamus; daß Ge:
Ihlechtlihe wurde die Hauptfahe. Man glaubte die ‚Natur‘
zu geben, wenn die Heldin ein Wäfchermabel oder eine
Kellnerin war und es in der Geichichte fehr — natürlid)
herging.
Sn dem vorliegenden Roman wirft ftellenweije all das
nod nad; die Natürlichkeit tit dann „geitellt”; die Gefühle
trotz des jcheinbar naiven Ausdruds geziert; und aud an
geihmadlofen naturaliftiihen Seitenfprüngen fehlt e8 nicht.
Aber dennocd) bedeutet das Buch einen entichtedenen Fortichritt.
In Bierbaum ift nämlich thatfählih ein Zug von frifcher
Launigfeit, von unmittelbarer Frohlaune vorhanden, ber fi
nur lange in fremden Formen bewegt hat. Hier aber in den
beiten Abjchnitten findet er den ihm entiprechenden Ausdrud.
Noch überwiegt das Komifche, aber hier und dort treten Züge
bon Humor zu Tage, in bem fich tiefere Anlage bethätigt.
Wenn der Verf. fih von allen fremden Einflüffen befreit,
feiner angeborenen deutfhen Art folgt, jo mwirb er uns
fünftighin Werke fchenfen, die zum Herzen fpredhen. Ich
freue mich befonders, daß allmählich wieder der Humor, wenn
auch noch nicht in feiner ganzen Bedeutung, wach wirb. Ach
erwarte gerade von Bierbaum, daß er in biefer Richtung fein
Beites jchaffen werbe.
Begepte. Satiren von Buft. Shwargkopf. (Dresben
und Leipzig 1896, Carl Reißner.)
Der Band enthält zwölf Satiren; nach ber eriten ift da8
Buch benannt. Sie behandeln zumeljt Eleine Schwächen ber
Litteratur und de8 öffentlichen Lebens. DQiefer greift der
Berf. nicht; die großen Fehler und die after bleiben un⸗
berührt. Aber dba er über gutmütige Frohlaune verfügt,
fann das Büchlein als unterhaltend empfohlen werden.
Im gleihen Verlage beginnen zu erjcheinen:
Ernſt Wiherts „Gefammelte Merke. Sie jollen
bon Romanen enthalten: „Heinrid von Plauen“ (3 Bde);
„Hinter den Gonliffen” (2 Bde); „Tileman vom Wege“
(3 Bde); „Der jüngfte Bruder“ (1 3b.) und „Der große
Kurfürft in Preußen“ (5 Bde). Seber Band foftet 3 ME.
in guter Ausftattung. Der vaterländifche Geift diefer Arbeiten
ift befannt; vornehmlich jei auf „Heinrid von Plauen” hins
gewiefen, der e8 fhon zur 6. Auflage gebradjt hat. jeder
Noman kann für fid) bezogen werden.
Allgemeine Roman-Bibliothet. (3.Engelhorn,
Stuttgart.)
Bon den in ben legten Monaten erfchienenen Bänden feten
hervorgehoben:
Das Magdalenendaar von Jean Nameau.
„SHelöfigeret*. Bon Griedrih Spielhagen. In
feiner befannten Art gejchrieben.
Moman-Studien. Don Jerome R. Jeronte.
Ein heiterec3 Büchlein.
Ingendflürme. Bon Karl Buile.
Der Roman des jungen Schriftitellers ſei beiten?
empfohlen.
Unterwegs und Ddaßeim. Linterhaltungsbibliothef.
(Schleſiſche Buchdruckerei, Kunjt: und Verlagsanitalt,
borm. Schottlaender, Breslau.)
Beiblatt der Deutihen Roman-geitung.
214
E38 find uns von diefem Unternehmen zwei Bände zu=
fommen.
Würden. Bon 9. Herrmanı.
Der Band enthält fehs® Märchen, deren jedes einen
erniten Grundgedanten in fymbolifcher Weife behandelt. Daß
der Verf. ein innerlich reicher Menfch ift, der nach eigenartiger
Ausprägung jeines getftigen Befiges ftrebt, beweilen auch die
bei uns erfchienenen Gedichte. Bi3 jett ftelle ih ihn al
Lhrifer höher. Obwohl auh in bdiefen Märden fi) dag
warme Gemüt und das rebliche Ningen offenbart, jo fehlt
dod; nod) die durchfichtige Klarheit. Derartige Arbeiten follen
kryſtallhell ſein, ſo daß nirgendwo die beutbilbliche Bedeutung
getrübt erſcheint; ſelbſt die kleinen Züge müſſen innerlich
mit dem Leitgedanken verbunden ſein. Aber leſenswert ſind
die Märchen doch und mögen vor allem ſinnigen Leſern
empfohlen ſein.
Der zweite Band enthält:
Anna Narie. Ein Berliner Idyll
Jacobowski. |
Eine einfahe Gefhichte mit rühmenswerter Einfachheit
erzählt. Daß fie, 188 Seiten umfaffend, ald Brief an eine
Schweiter gelten muß, ift ein Formfehler; jie hätte befler
gewirkt, wen der Verf. ung unmittelbar das Gejichehen ge-
zeigt hätte. So tritt zu jehr die Geftalt des Schreibers
hervor, während die des Mädchens im Halblichte bleibt.
Einige Eleine Bemerkungen fchriebe ein Bruder an die „heilige
Schweiter* nicht. Aber das Ganze ift Doch fauber gearbeitet
und jpriht für das ernftie Streben bes Verfaffers.
Die Ausftattung der Schmaloftav-Bände ift gefällig.
Kartänfergefiten. Novellen und Skizzen von Otto
Ernft. (Hamburg 1896, Sonrad Klof.) 2,25. ME.
Der Band enthält 5 Geihichten: „Anna Menzel“; „Die
Kunftreije nad Hümpeldorf” ; „Der Kartäufer*; „Ein Ein:
fchleiher* und „Hans im Glüd*. Die erfte leidet unter der
Tendenz; jehr unterhaltend ift bie zweite, geiftreich und fein
ift die Schilderung der vorgelefenen Gedichte Goethes, doc
fällt fie aus dem Rahmen des Stoffis.
nel Joßns Principten. Bon Sohanna Feilmann.
(Deutfhe Verlags: Anjtalt, Stuttg.)
Wie ein Deuticher, der fih für einen Stod-Englänber
hält, dur einen Freund und eine liebe Nichte von der
Anglomanie befreit wird, erzählt die Verf. mit fehr viel
Trohlaune. Die einzelnen Geftalten, Deutihe unb Engländer,
find lebendig; die Entwidelung geihidt. Dabei geht die
Komik niemals über die Grenzen des guten Gefchmads, und
dag Ernite zeichnet fich durd; Wärme aus. Ich empfehle das
zierliche Bändchen unjern Lefern.
Kollektion Birtoria Begia-
Baumert und Ronge.
Von diefer Sammlung moderner Novellen und feltener
Werke der Weltlitteratur, die von unserem Mitarbeiter Dr.
Dälar Linfe herausgegeben wird, find und zwei Bände zu-
gefommen. Schon der Name des Herausgebers bürgt für
die gute Auswahl.
Die Madonna von Hwidlowice, Bilder und Skizzen
bon Zubmwig
Großenhain und Leipzig,
von Tarras Runowatli, enthält fünf Kleine Arbeiten, die
ale für entichiedene Begabung iprechen und befonders den
Lejerinnen gefallen werben. Für Männer dürfte bejonderg
intereffant fein:
Tabubu. Altägyptifcher Original:Roman in deuticher
Bearbeitung von Leon Nitter.
Das Wert ift thatfählic; bedeutend in feiner Art.
215
Dankenswert iſt die Einleitung. Beigegeben ift die aus der
XIX. Dynaftie ftammende Geichichte der beiden Brüder, die
zwar Ichon in verichiedenen Werfen inhaltlid) wiedergegeben
ift, aber hier leichter zugänglicdy wird.
Der folgende Band fol Voltaire „Sandide“ bringen.
Die Elfäferin. Pas SHonntagskind. Zwei Novellen
von Harl Stord. (Stuttg. 1896, Sofef Roth.)
Karl Stord gehört neben Frig Lienbard, Chriftian
Schmitt u. a. zu den jungen Elfäfjern, die fidy) mit inniger
Liebe an Deutichland angeichloffen Haben. Schon diele That»
jadye enthält die Verpflitung in fih, daß die Lejer im
Reiche diefen Schriftitellern warme Teilnahme entgegenbringen
follten. Für unbegabte Schmierer nehme ich fie gewiß nicht
in Anſpruch. Aber diefe jungen Dichter zeichnen fich durd-
weg durch geiftige und fittlihe Gejundheit aus; die franls
haften Stimmungen, unter denen die Entwidelung unjerer
Süngften und Jungen fo oft gelitten hat, ließen diefe Eljäfler
unberührt. Auch die Novellen von Karl Stord find rein
in ihrem Gefühlsinhalt, fchlicht und deutich in der Auffaffung
der Menſchen. E3 ift da3 erfte VBuch des jungen, ernit-
ftrebenden Litteraturforfcher8 auf diefem Gebiete. Ich wünfche
herzlich, daß e8 bei unferen deutjchen Frauen eine recht freund»
lihe Aufnahme finde. Die Ausftattung macht e8 zum Ge:
fchenk fehr geeignet.
— — — — —
Briefkaſten.
Frau E. S. in L. Mit beſtem Willen unmöglich.
Auch der neueften Sendung fehlt e8 an bem Nötigen. Das
fann alle Teilnahme mit Shrem trüben Gefchhid nicht ändern.
Shre Begabung ift zu gering — Frl. Aline R. in Br.
1) Gedichte leider ungeeignet. 2) Nein, ein foldhes Mittel
giebt c8 nicht. Übrigens tröften Sie fih. Sie können noch
wachſen. Wenn Sie aber Elein bleiben, mwa3 verichlägt’8 3
Denten Sie nur, Napoleon ift aud Fflein gemelen und
Friedrih II. von Preußen aud. Wacdhlen Sie aljo dann
innerlid. — 6. Kr. in V. Gewandt gejchrieben, aber in
Stoff und Ausdrud zu herfömmlid. — Harn U. 2. in
Gotha. Im zweiten Gedichte ein friiher Zug. Aber dieſe
Stoffe entitammen nit dem Herzen. Sie müfjen erft in
Shr Selbit einfchren, um eigene Klänge zu erlaufchen. —
Herren 3. ©. in DO. „Sm Gemitter* enthält jchöne und
innig gefühlte Stellen. Das Ganze aber ijt ein Brudftüd
ohne Abichluß, und als foldhes zu umfangreid. „Preis der
Noje“ bewegt fih, obwohl in flüffiger Sprade gefchrieben,
zu jehr in herfömmlichen Vorftellungen. — Frl. ©. v. Br.
in Br. In Ihnen lebt Herzensreinheit und warmes Ge-
fühl. Noch find Sie oft unfider in Rhythmus und Reim,
aber e8 ringt etwas Tieferes nad) Geitaltung. Vielleicht
bringe ich gefürzt „Wunfch“. Sie dürfen mir von Zeit zu
Zeit drei Gedichte auf einjeitig beichriebenen Blättern jenden.
Durd) das Leien von Geihichtäwerten fann man fi nod
nicht zum Dichter bilden. Man muß zuerft in fi Einkehr
halten, wenn man Welt und Geift begreifen, in fi nad)
fühlen wil. — Ohne Namen. Mannheim. Wahrheit
allein kann Sie au3 diefer Lage erlöfen. Die Schuld ge-
ftehen und deren Folgen auf fid) nehmen ift Buße vor den
Menſchen und Freifprud Gottes. Wer in der Lüge weiter
lebt, gleitet zum Abgrund. Mögen Sie die Kraft finden,
zu thun, wa8 das höhere Geje gebietet! — Frl. 3. 9. in
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
216
MR. Gie pflegen beim Stiden zu dichten. Cine Löbliche
GemoäHnheit. Set müflen Sie fid) no eins gewöhnen:
reizt e8 Sie, die Gedichte aufzufchreiben, greifen Sie raldh
zur Stiderei. So wird die Nieberfchrift verhindert und ung
beiden tft geholfen. — €. ©. in 3. „Am Ziele” angenommen.
— Herrn stud. B.in Münden. Gut behandelte Sprache, aber
in den Anfchauungen noch zu viel Unjelbftändiges. — Herrn
Spr. in Str. Gewandte Darftellung, aber alleß herföümmlich.
Soldie „Scholaren=Lieber* find in den legten Sahrzehnten
ald MWiederhall zu Taufenden entitanden. Gehen Sie in ihr
Gelbft, da findet fit) wohl Beileres. — Herrn Dr. W. Sch.
1) Der Berfaffer lebt in Bremen. 2) Gebunden 5 ME.
3) Yaft alles in Dtito Zankes Verlag ericyienen bis auf die
Dramen. 4) War ein Drudfehler, wie Sie richtig vermuten.
— Frau Balt. 9. in N. Das fiele zu ehr aus dem NRahnıen
unjere3 Blattes heraus. Wozu find Kochbücher dpa? — Herrn
stud. ®h. in 2. Sch habe gegen den Stoff nidts einzus
wenden. Aber idy bitte dabei, die Leitgedanten unferes
Blattes zu beachten. Wenn Sie mit biefen nicht innerlich
übereinftimmen, dann wählen Sie licber etwaß andered. —
Frau M. D. in #. Sch Habe Icider darüber nichts er-
fahren können. — Frl. 3. Th. in 3. Das hängt zu enge
mit der innerften Anlage eines Dienfhen zufammen. Sch
fenne Sie aber, außer burd) den Brief ein wenig, darin gar
nit. Srankenichweiter nur darum zu werben, um unleib-
Iihen Verhältniffen zu entgehen, Scheint mir falich gehandelt.
Die Srantenpflege fordert, mit dem Drange des Herzens
aufgenommen zu werden. Wüylen Sie den nidt, dann
unterlaffen Sie e8, biefen Beruf zu ergreifen. — Herm Ed.
Sh. in Die Kleinigkeiten und „WVerfcherzt“ behalten.
Beiten Gruß. — Herrn stud. W. Br. in2. „Maienzauber”
und „Streben“ fommen wahrideinlid. Die Sprüdhe find
im Ausdrud etwas jchwerfälig, aber die Gedanken meift
gut. — Frl. EL. 2. in 9 „Tod“ dürfte gelegentlich
fommen. — Herrn D. 2. in 2. Die Wärme Shres Gefühle
und die Kraft der Phartafte überragen den Durdichnitt,
aber Ihr Ausdrud ift leider fo ungelidhidt, daß e3 mir nicht
möglich ift, etwaß zu bringen. — Frl. Th. T. in ® Sie
jchreiben: „Sch bin leider jo vielfeitig begabt: ich finge und
jpiele Klavier, ich male und dichte. Ihr Urteil über da3
legtere wäre mir angenehm.” Menn Sie ebenfo malen und
fingen wie Sie dichten, dann rate ih Ihnen dringend, fi)
in bäuglihen Arbeiten auszubilden. — Luctan. Alles
jehr gut gemeint und für reines, warmeß Gefühl zeugend,
aber dichteriihe Eigenart fehlt. DBeiten Gruß! — Herrn
Prof. Th. in 2. Der Stoff paßt für uns nidt. — Herrn
Med.:R. Dr. W. in 9. Sft bei Cotta erfchienen 1865.
(Der Brieffaften ift am 6. Juli abgejhlofjen. Alles
Nichterwähnte uuntauglich oder irgendwie erledigt.)
Der Leiter der Nom.sZtg. ift verreift und bittet,
ihm in ben nädften 5 Wochen nichts zu jenden, weil es
jonft biß zu feiner Heimkunft umerledigt bleiben muß.
Inhalt der No. 42.
Schwertllingen. Baterländiicher Roman von Hans
Werder. Fortf. — Ohne Gott. Noman von E. Karl.
— Beiblatt: Grillenliedden. Bon Helene Bernard. — Er
ipriht doriih! Don Oskar Linke — Gute Naht. Bon
Luz Scheibe — Bei Seiner GEreellenz. Bon Marie
Schwarz. — C3 ift ein Neif gefommen. Bon 2. Vaillant.
— Neue Romane und andere Unterhaltungsbücder. Angezeigt
bon DO. d. 2. Schluß. — Briefkaften.
Berantwortliger Leiter: Dito von Leirner in Berlin. — Berlag von Dito Janke in Berlin — Drud der Berliner Bugprudereie Wetien» Gefenfgaft
- (Sebertunenfchule beB Kette» Bereing).
ämter nehmen dafiir Beftellungen an.
beziehen.
1896.
Deutſche
Roman-Zeitung.
Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt—
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 43,
Schwertklingen.
Baterländiicher Roman
von
Dans Werder.
(Fortſetzung.)
Leiſe ſtiegen ſie hinauf und glitten jenſeits
wieder hinab. Ihre Füße ſtanden auf der blanken
Eisfläche des Wallgrabens. Raſch und leicht glitten
ſie zwiſchen den finſteren Feſtungswällen, auf ſpiegel⸗
glatter Bahn. Plötzlich knackte das Eis unter Haſſos
Fuß. Zuſammenſchreckend blieb er ſtehen. Das
Waſſer quoll auf und ſchob ſich mit laut gluckſendem
Ton unter der gelockerten Eisfläche hin.
„Halt — wer da —“ rief eine Schildwache in
ſcharfem, langgezogenem Ton.
Atemlos ſtanden die Flüchtlinge in eine Mauer—
falte gepreßt. Leben und Tod hing an einem Haar
für ſie.
Da plötzlich ſtrich eine Schar wilder Enten,
in ihrer Ruhe geſtört, von der breiten, offenen
Waſſerfläche vor ihnen ab, quakend und flügel—
ſchlagend.
Das war Rettung.
Die Schildwache ſah beruhigt den Enten nach
und wunderte ſich nicht, daß ſie auf ihren Anruf
weder Loſung noch Feldgeſchrei als Antwort erhielt.
Die Flüchtlinge aber vermochten für jetzt nicht weiter
vorzudringen, es war undurchführbar. In raſchem
Einverſtändnis wandten ſie ſich zurück. Scriver war
aufs tiefſte verſtimmt durch das Scheitern dieſes
Verſuches. Haſſo aber ließ ſich ſo leicht nicht um
ſeine gute Laune bringen: „Ich ſagt's ja gleich, eh'
ich dem Thereſelein nicht ordentlich Adieu geſagt,
kommen wir aus ihrer Vaterſtadt nicht hinaus!“
„Unſinn!“ vervollſtändigte Scriver abermals
den Monolog.
Thereſel ſtand am Küchenfenſter und wartete.
Sie wußte nicht, ob ſie ſich freuen oder grämen ſollte,
als die beiden Herren plötzlich aus dem Dunkel vor
ihr auftauchten. Behutſam ſchwangen ſie ſich zum
Fenſter herein und ſchlichen einigermaßen niederge—
ſchlagen in ihr Gefängnis zurück.
Rowmansfeilung 1896. Lieſ. 43.
Vater Lamprechts beſorgtes Hausherrnohr hatte
ein wenig von den ungewöhnlichen Geräuſchen der
Nacht vernommen. Beunruhigt erhob er ſich und
eilte in die Küche, wo er Thereſel bereits bei ihrer
Hantierung fand. „Thereſel, um aller Heiligen willen,
was iſt paſſiert — ich habe Schritte gehört — weiß
Sie etwas davon?“
„Pſt!“ machte Thereſel. Und eifrig erzählte
ſie dem Meiſter, was vorgefallen.
Dieſem ſtanden vor Angſt und Beſorgnis die
Haare zu Berge. „Wenn nur die Einquartierung
geſchlafen hat!“
Ja, die hatte geſchlafen. Kein Argwohn ſtörte
die harmloſen Gemüter, als ſie ſich mit gewohntem
Behagen um die dampfende Morgenſuppe gruppierten.
Vater Lamprecht hielt mit ſeinem Sohne ernſten
Rat und dann pilgerte diejer hinaus, um mit un:
verfänglider Miene nochmals die Wallgräben zu
inipizieren. „Es friert Stein und Bein!” berichtete
er mit tröftlicher Gemwißheit. „Die offenen Stellen
find bereits zu, wenn’s fo bei bleibt, fommen bie
Herren diefe Nacht ungehindert hinüber!“
Und es blieb jo „bei“. Mit Rüdfiht auf die
große Kälte braute Herr Anton zum Abendtrunf
feiner Einquartierung einen heißen Bunjh und milchte
ihn jo Stark, daß die waderen Kriegsinechte ihre innige
Freude daran hatten. „Himmel, wenn ich das trinken
follte!” dachte der janfte Anton mit einem Schauder.
Als dann der legte Tropfen die durftigen Kehlen
hinabgeflofien war, begaben fih die Braven zur
Ruhe und bald erzitterte das Haus von dem ge:
waltigen Schnardhen der Schläfer.
Vater und Sohn Lampredt aber, auf Filz:
\ohlen einherfchleihend, halfen diesmal jelber ihren
Gaftfreunden auf den Weg.
„Brauchen Sie auch no) Geld, Herr Lieutenant?
Menn’s auch jchlechte Zeiten find — joldden tapferen
Offizieren —”
„Nein, mein befter Meifter Lamprecht, taujend
IV. 16
219
nn en nn — nn no
Dank! Mit Geld find wir reichlih verjehen, und
Therejele Brot: und Fleifchichnitte Shügen uns auf
Tage hinaus vor dem PVerhungern!”
„Sit au die Schnapsflafhe nicht vergeflen?”
„Nein, nein, bier ift fie!“
„Nun denn — Gott befohlen!”
„Thereſel — noch einmal Ieb’ wohl! Im
meinem Leben vergeß ih Dir’s nidt!" Einen
warmen Kuß drüdte Hallo auf die roten Xippen des
Mädchens, das feine Thränen tapfer bezwang. Un:
hörbar drehte Anton den eingeölten Schlüfjel herum
und öffnete die Hausthür, die Herren traten hinaus,
und faht ward fie wieder ins Schloß gedrüdt.
Mit gejenttem Kopfe eilte Cherefelein ihrer
Kammerthür zu. Anton jah ihr nah, die Laterne
in der Hand, einen fummervollen Ausdrud in den
gutmütigen Augen. „Sie wird’s verwinden!” dDadte
er jtill bei fidh.
Geräufhlos durch die Schatten der Nacht eilten
die beiden denjelben Pfad wie geftern entlang. Un:
hörbar glitten fie auf dem Eisipiegel der Feltungs:
wälle dahin. Set kamen fie zu der verhängnis-
vollen Stelle — das Eis fnadte — body nein, es
hielt — nur weiter. Dröhnend lang der Schritt
der Schildwadhe auf dem harten Boden. Sie näherte
id. Regungslos ftanden die Flüdtlinge an eine
dunkle Mauerede gepreßt. Der Boften jpähte herüber.
Dann lehrte er um und entfernte fi wieder. Her:
vor jegt aus dem Verfted und über die helldaliegende
Flädhe bin wie ein Pfeil — bis zu dem jchwarz
Ihattenden Brüdenbogen, dort waren fie geborgen.
Mit Bligesichnelle war das Werk vollbradt und das
Slußbett der Weiftrig erreiht. Naih und duntel
jahen fie das offene Wafler hart an ihrem Fuß vor—
überfließen.
Die Feltungswälle lagen Hinter ihnen, Gott jei
Dank! Und vor ihnen dehnte fi unter dem nädht-
lihden Winterhimmel die freie, weite Welt!
„Vo nun Hin?“
„Stromaufwärts, wir müllen der böhmijchen
Grenze zu!“
Mühjam Eletterten fie an den hohen Uferwänden
hin. Ein paar Boote lagen bier angelettet und in
= hölzernen Hütte des Fährmanns brannte nod)
icht.
„Wir werden ſehen, was zu thun iſt, müſſen
uns den Mann gewogen machen!“ entſchied Haſſo.
„Losbrechen können wir die Boote nicht, er würde
es doch hören!“ damit ging er auf das Häuschen zu
und klopfte an.
Unwillige Antwort tönte von drinnen, dann
ward die Thür geöffnet und ein ältlicher Mann
ſchaute heraus, mit rotbraunem Schiffergeſicht und
kleinen gelben Ringen in den Ohren. Haſſo, ihm
entgegentretend, drängte ſich ohne weiteres zur Thür
hinein, begrüßte den Hausbewohner mit großer Wärme
und erkundigte ſich ſo herzlich nach deſſen Ergehen,
als läge kein Intereſſe auf der Welt ihm näher,
als das ſeine. Zugleich zog er ſeinen Gefährten mit
zur Thür herein und erzählte dem Schiffer über ihr
beider Herkunft und Reiſeziel einen ſo intereſſanten
Roman und in ſolchem Ton der Sicherheit und
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
220
a en nn nn
Überzeugung, daß dieler nicht wagte, au nur im
mindeften an dem Gehörten zu zweifeln. Alsdann
erfolgte das Anliegen, fie einige Stunden ftromauf:
wärts zu rudern, behufs Erleichterung ihrer langen,
anftrengenden Reije.
„Bas, jegt, heute nacht?”
„3a, lieber Freund, fofort! Ih babe Eu
bob langes und breites erzählt, wie eilig wir’s
haben!”
Etwas wie Mißtrauen blitte nun doh in den
feinen, hellblauen Augen auf. Wenn das nur nicht
Spione waren oder fonft Flüchtlinge, wenn’s ihm
nur doch nicht zulegt Gefahr brächte, fi) mit diejen
abenteuerlihen Geiellen einzulafien?
Er follte e8 ja nicht aus Liebenswürdigfeit thun,
die Fremden boten ihm reichlich Sährgeld, doch er
jhüttelte ben Kopf dazu. Sie verdoppelten das Ge-
bot, da konnte der Mann nidht mehr widerfteben.
Rafh ward ein Kahn von der Kette gelöft, und bald
ging die Fahrt ftromaufwärts mit Träftigen Aubder:
Ihlägen. Die Flüchtlinge halfen ihm dabei auf das
beſte. Endlih als der rötlidhe Schein des ſpäten
Wintermorgens am Himmel erihien, verließen fie
das Boot. Der Fährmann wurde mit Elingender
Münze und freundligem Wort belohnt und dann
begannen fie fräftigen Schrittes ihre Wanderung ins
Land hinein, die Wohnungen der Menjchen ver:
meidend. Ihre Wegzehrung reihte aus, fie vor
Hunger zu Ihügen. Eine ftärkende Raft mit wenigen
Stunden Schlaf fanden fie auf dem Heuboden eines
einfamen Gehöjts. Noch waren fie gut zu Fuß und
in boffnungsvoller Stimmung, als die ölterreichiiche
Stadt Braunau, das angeitrebte Ziel ihrer Reife,
erreicht wurde. Bon der Grenzwadhe aufgenommen,
bie ihre Papiere durhjah und in Ordnung fand,
erbaten fie, den Kommandanten jprechen zu dürfen.
Diefer empfing die Offiziere jofort und begegnete
ihnen böfih, doh mit gemwifler Zurüdhaltung.
Scriver fühlte fih hierdurch etwas verlegt, Hafio
aber fand das Mißtrauen erllärlid und beichloß, es
zu bejeitigen.
Der Kommandant forderte die beiden Herren
auf, am gemeinfamen Dffiziertih mit ihm zu
Ipeifen und fie nahmen die Einladung erfreut an.
Dort nun, im Kreije ihnen gleichgefinnter Männer —
gleichgefinnt in trauernder Vaterlandsliebe und glühen:
dem Haß gegen ben Unterbrüder — trug Haflo die
Gejhichte ihrer Erlebniffe vor, jeit dem Augenblid
der Saalfelder Schladt. Sein lebhaftes Darftellungs:
vermögen, in welchem abwedjelnd warmes Gefühl
und fprühender Humor zum Ausdrud kam, wirkte
binreißend auf die Zuhörer. Schlicht, offenherzig
und mit dem Stempel der Wahrheit wußte er ihre
feltiamen Erlebnifje zu jhildern. In Bewunderung
und Snterefle flogen ihm die Herzen zu und warme
Sympathie jhuf bald einen Kreis von Freunden um
die Srembdlinge.
Einige Tage genojlen fie die Gaftireundfchaft
der öfterreihiicden Kameraden zu Stärlung, NRube
und Erholung für Leib und Seele. Danı aber litt
es die preußijchen Offiziere nicht länger in feiernder
Unthätigkeit. Zurüd in Gefahr und Strapazen, in
221 Schwertklingen.
den Kampf für das untergehende Vaterland, feine
andere Wahl gab es für fie. Man wußte, dag in
Preußen noch eine Fleine Armee für des Königs
Sade kämpfte, daß die Feltung Kolberg ein Hort
und Stüßpunlt derjelben wäre, und dorthin be:
Ihlollen fie zu gehen. Der Weg war weit und jett
zur Winterszeit über alle Maßen beihwerlid. Ein
Heer von Entbehrungen aller Art ftand als Gemiß-
beit vor ihren Augen. Hungern, frieren, betteln,
tödliche Erichöpfung ohne einen anderen Rubheplasß,
als vielleicht den fchneegefüllten Graben. Die Gefahr,
erfannt zu werben als preußifche Offiziere, von feigen
Zandsleuten verraten, von den Feinden aufgegriffen,
ala Gefangene fortgeichleppt, ala Spione erhängt —
.. ja, das waren Ausfidhten, auf welche fie täglich und
ftündlih gefaßt fein mußten. Ihre öſterreichiſchen
Gaftfreunde warnten fie davor und rebeten ihnen
dringend zu, in ihrer Armee Dienfte zu nehmen, doch
vergebens. Sie Jagten ihnen warmen Dank für alle
genofjene Freundlichkeit und zogen ihre Straße,
freudig entihloffen, auch das Schredlichfte auf fi
zu nehmen!
Vorwärts denn, mit Gott, für den teuren
za und für das unglüdlie, vielgelieble Bater-
and!
IV.
König Friedrih Wilhelm III. ließ Kriegägericht
halten über feine Offiziere, melde die ihnen anver:
trauten Feſtungen leichifertig dem Feinde überliefert,
durch Tchlehte Führung oder SKopflofigkeit feine
Schladten verloren, durd;) mangelhafte Haltung bie
gute Sache geihädigt hatten. Es wurde ftreng ver:
fahren. Wohl war das linglüd groß und Ichidfale:
gewaltig, weldjes Preußen vernichtet, doch zahlreich
auh die Häupter der Sculdigen, welche berufen
geweien, der Woge einen Damm entgegenzujegen,
und ftatt deilen fi miderftandslos hatten hinweg:
ſpülen laflen.
Das Ergebnis diejer Triegsgerichtliden Ber:
handlung ward von allen Gutgefinnten im ande
mit jchmerzlichem Synterejle vernommen. Wie viele
Namen fand man, die, geachtet, bewundert, hoch:
geftelt, nun gebrandmarft waren mit unauslöjd:
lihdem Dale. Wie viele Eriftenzen wurden ver:
nichtet durch dieſe Urteilsſprüche — oft nur allzu
wohl verdient, oft aber auch, wie es den Näher—
ſtehenden erſcheinen wollte, mit unnachſichtiger Härte
die Opfer treffend, die büßen mußten für Fehler,
welche höhere Befehlshaber begangen hatten.
Voll fieberhaften Intereſſes begleitete dieſe Er⸗
eigniſſe der alte Erb- und Standesherr auf Reckentin.
Ihm wollte es völlig unfaßbar dünken, daß preußiſche
Offiziere wegen Feigheit und ſchlechter Haltung vor
dem Feinde verklagt und verurteilt werden konnten!
Das Bewußtſein erfüllte ihn förmlich mit Angſt und
Schrecken. Es konnte, es durfte ja nicht ſein! Er
hoffte immer wieder, zu erfahren, daß man keinen
von ihnen für wirklich ſchuldig befunden hätte.
Der Hauptmann von Wollin wurde dem Major
Roman von Hans Werder.
222
gemeldet. Erſchrocken fuhr dieſer aus einem kleinen
nachmittäglichen Selbſtvergeſſen, das einem Schläfchen
nicht unähnlich ſah, empor. Es war etwas wie ein
Schauder, den er empfand, als ſein alter Freund
und Gutsnachbar die Schwelle ſeines Gemaches
überſchritt.
„Morgen, alter Freund — wie geht's, wie
ſteht's!“ rief Herr von Wollin mit Stentorſtimme.
Major Rochlitz erhob ſich, trat dem Gaſt ent—⸗
gegen und ſchüttelte ihm kräftig die Hand. „Kommſt
Du endlich, Wollin! Seit Wochen warte ich darauf,
Dein bärbeißiges Geſicht hier durch die Thür herein—
treten zu ſehen! Biſt Du denn erſt jetzt von Deiner
Reiſe zurückgekehrt?“
„Nein — zurück bin ich fchon ſeit geraumer
Zeit — aber ich hatte es nicht eilig. Die Nach—
richten, die ich bringe, ſind nicht erfreulicher Natur.
Kannſt Dir's denken!“
„Ja, ja — aber doch brennt man darauf, zu
hören, wie es ausſieht in der Welt! Du warſt in
Königsberg — erzähle! Jedes Wort iſt mir wichtig
und wert. Haſt Du den König geſehen?“
„Ja, ich ſah ihn — und unſere herrliche, ge
liebte Landesmutter! Eine kapitale Frau iſt ſie,
Gott ſegne ſie!“
„Ja!“ ſagte Rochlitz. „Und der König? Er—
zähle — wo ſahſt Du ihn und wie war er?“
„In Oſterode war es,“ brummte Wollin. „Ich
wurde mit ein paar Herren von der Garde du Corps
zur Tafel bei Hofe befohlen. Bei Hofe ſag' ich —
Donner⸗-Schlag — das unſer preußiſcher Hof! Blutige
Thränen möcht man weinen. Stell Dir vor, Rochlitz
— ein Lokal eng und duſter, niedriges Zimmer,
ſchmutzige Treppe, klapprige Fenſter, durch die der
Wind hereinfährt, da hält unſer König ſein Hof—
lager! Und das mit der Königin, dem ganzen Hof:
ftaat! Seine ordentliche Etikette, alles jo recht wie
auf der Flut! Die Königin mit Thränen in den
Augen. Ad, wie ein Engel fah fie aus. Donner:
wetter ja — ift die Frau ſchön!“
„Wollin, Du biſt ja rein aus dem Häuschen
über unſere gnädigſte Landesmutter! Nun komm
doch nur wieder zur Raiſon!“
„Ja, ja, ich komm ſchon,“ fuhr Wollin fort.
„Es war ſonſt eben nicht ſehr erquicklich an unſerer
königlichen Tafel. Die alte Gräfin Voß ſchimpfte
in allen Tonarten über Napoleon und ſeinen Hof
von Parvenus — ſie hat ja natürlich recht, aber
eine ungemütliche alte Dame iſt ſie doch, die Voß!
Das kleine, nette Hoffräulein, Comteſſe Tauentzien,
machte auch ein Geſicht dazu, wie die Katze, wenn's
donnert.“
„Ra und der König?”
„Sa, der König! Unfer allergnäbdigiter Herr
jprad) jo allerlei über die Kapitulationen, über bie
Feftungstommandanten! Na ja, verdient haben’s ja
die Kerle! Aber jo ganz abjonderlih Tlang feine
Rede — tadelnd und entrüftet, aber gar nicht, als
ob es fi um feine Offiziere handelte und er ber
Herr und Nichter darüber fei, jondern nur der Zus
Ihaner. Einige Male deutete Majeftät an, es wäre
jein einziger Troft, daß er diejen jchredlichen Strieg
223 Schwertklingen.
nicht gewollt. Himmel und Hölle! Als ob es nicht
an ſich ein Unglück für uns wäre, wenn irgend
etwas geſchehen kann, was der König nicht gewollt!“
„Sag' ſo etwas nicht,“ meinte Rochlitz. „Tadle
ihn nicht, er iſt der König! Und ſchwerer als er
hat's noch keiner gehabt, der auf dem preußiſchen
Throne geſeſſen!“
Eine Pauſe trat ein. Beide Herren folgten dem
Zuge ihrer eigenen Gedanken. Bei beiden waren ſie
peinlicher Natur, das las man auf ihren Geſichtern.
Endlich blickte der Major wieder auf.
„Du ſprachſt von den — Feſtungskomman—
danten. — Hörteſt Du Näheres über die Kriegsver—
handlungen?“
„Ja — ſo einiges! Haſt Du ſchon die neuſte
Nummer der Spenerſchen Zeitung geleſen?“
„Nein!“ lautete ſeine kurze Antwort.
Herr von Wollin faßte in ſeine Bruſttaſche,
und als er das knitternde Papier darin fühlte, zog
er wie erſchrocken die Hand zurück. „Haſt Du mal
etwas von Deinem Sohne gehört?“ fragte er dann
und räuſperte ſich heftig, denn ſeine Stimme klang
heiſer.
„Nein — ſchon ſeit längerer Zeit nicht — wie—
ſo?“ Herr von Rochlitz lehnte ſich in ſeinen Sorgen—
ſtuhl zurück und ſchloß für einen Moment die Augen.
Es war ihm, als ſchwebte eine graue, bleiſchwere
Wolke auf ihn zu und verdunkelte das Himmelslicht.
„Wieſo?“ fragte er wieder.
„Ich meinte nur ſo. — Du fürchteteſt damals,
er würde bei Jena gefallen oder verwundet ſein.“
„Nein, ich fürchtete es nicht, ich dachte nur —
ich wußte nicht, daß ein Oſfizierskorps zu Pferde
könnte gefangen genommen werden! — Das war
damals nicht! Wenn ich ſo denke — Seydlitz —“
er hielt inne.
„Nun aber, wenn Dein Junge lebt und geſund
iſt, ſo bleibt das doch die Hauptſache, Alter — nicht
wahr? Alles andere läßt ſich wieder einholen und
gutmachen, ſollt ich meinen!“
Auf der Stirn des alten Seydlitz-Dragoners
zeigte ſich ein feuchte Tau — er ſelber wußte
nicht, daß es kalter Angſtſchweiß war. Der andere
aber ſah es.
„Nein, bei Gott im Himmel — das iſt nicht
die Hauptſache!“ fuhr er plötzlich auf — und es
kam über ihn wie eine Offenbarung, wie der Pro—
phetenblick des Fieberwahns. „Was hältſt Du mid
mit Reden hin — heraus mit der Sprache — mein
Sohn iſt kaſſiert!“
Herr von Wollin ſtand auf, zog die Zeitung
heraus und legte ſie ausgebreitet vor ſeinem Gaſt—
freund auf den Tiſch. „Hier ſteht alles genau —
lies es ſelber — mein Mund ſoll nicht der Ver—
mittler ſolcher Nachrichten ſein. Ich gehe indeſſen
zu Deiner Frau — wenn Du mich nachher noch
etwas fragen willſt, ſo bin ich bereit.“ Damit ver:
ließ er das Zimmer.
Der Major ſah ihm nach mit gläſernem Blick.
Dann ſetzte er ſich und las. Die Buchſtaben tanzten
vor ſeinen Augen und brannten ſich ihm doch zugleich
ins Gehirn. Er vermochte nicht zu leſen, aber doch
Roman von Hans Werder.
224
ſah er, was da gedruckt ſtand. Urteilsſprüche des
Kriegsgerichts. Der Kommandeur, Major von Löſch⸗
brand, des bei Prenzlau gefangenen, in Spandau
internierten und dann ſpäter wieder freigelaſſenen
Offizierforps der Gendarmes fei vor ein Kriegs:
gericht geftelt und wegen begangener Fehler ver-
urteilt worden. „Der Lieutenant Hilmar Ruprecht,
Kunz von Rodlit ift infam faffiert. Derfelbe war
während der Schladht bei Zena als Ordonnanzoffizier
mit dem Befehl an General Rüchel entjendet worden,
den Drt Vierzehnheiligen unverzüglid anzugreifen.
Der Befehl ift dur die Schuld des Lieutenant von
NRohlig nicht zur Ausführung gelangt, er bat ihn
dem General nicht übergeben.”
So las der Major.
Die Zeitung jpradh fi noch bebauernd darüber
aus, weldy ein Schmerz dies für feinen alten Vater
fein müßte — einen ehrenvollen Veteranen aus den
Schlachten von Roßbah und Kunersbdorf.
Ein Rödeln kam über die Lippen des „Vete:
ranen”. Still lehnte er ih in den Stuhl zurüd.
Er hatte feinen Schmerz no nicht voll erfaßt —
er fühlte nur, daß ihn der Schmerz erfaßte und ihm
wie mit glühender Kralle das Herz zerriß.
Ein lauter Schredensruf aus dem Nebenzimmer,
dem Wohngemad) feiner Frau, drang an fein Ohr.
Cie mußte es jett alfo auch fchon, daß ihr Hilmar,
der Abgott ihrer Seele, unauslölhlide Schande ge:
bracht über feines Vaters graues Haupt! — —
N
Hilmar war in Berlin bei jeiner jungen Gattin.
Arme Lotte! Das eriehnte Glüd der Vereinigung
mit ihm hatte ihr bisher nur Thränen und Herzeleid
gebradt. Erft fein Auszgiehen in den Krieg, Togleich
nad ihrer Trauung, dann die baldige, entjegliche
Nüdkehr als Gefangener. Seine Freilajjung aus
Spandau war ein kurzes Aufatmen gewejen. Das
Shredlichite folgte nur zu bald. Er, ihr Satte, der
vielbewunderte, geliebte, ward vors Kriegsgericht
geftellt, verurteilt und ſchimpflich kaſſiert. So kam
er zu ihr zurück — eine vernichtete Exiſtenz, ein
verlorener Menſch, das ſah ihr liebendes Auge
auf den erſten Blick. Wie gebrochen ſank er vor ihr
nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Ein
thränenloſes Schluchzen machte ibn erzittern am
ganzen Körper. Sie umſchlang ihn mit zärtlichen
Armen und weinte mit ihm in herzbrechendem Leid.
„Aber Hilmar, mein Einziger, es iſt doch nicht
wahr, man hat Dir ja Unrecht gethan, grauſames,
entſetzliches Unrecht —“
Da richtete er ſich auf. „Nein, Lotte — wahr
iſt es! Wahr muß es ſein — denn den Befehl, den
ich überbringen ſollte, — ach Gott, er war wohl von
großer Wichtigkeit, — habe ich thatſächlich nicht ab—
gegeben! Ich habe Excellenz Rüchel nicht gefunden.
Wie es möglich war, weiß ich nicht und werde es nie be:
greifen! Auch nicht die leiſeſte Erinnerung iſt mir
von den ganzen Vorgängen geblieben. Ich muß
225 Schwertklingen.
vollftändig den Kopf verloren haben! Doch das eben
darf der Soldat nit. SKaltblütig und bejonnen!
Steht erit weiß ich, was damit gefordert wird! Aber
um das auszuprobieren, darf man uns nit auf ein
Schlachtfeld von Sena ftellen! — Ad, hätte doc
eine barmberzige Kugel mich binweggerafft, ehe ich
diefe Schande über mid ‚gebradht! Mein armer
Vater — 0 Gott — mas Habe ih ihm zuleide
gethban!“ Dualvol war dieje Vorftellung für ihn,
fie ließ ihn Feine Ruhe finden bei Tag und Nadit.
Heldenmütig und treulich teilte Lotte mit ihm
den ganzen fchweren Sammer. „Hätte ih das ahnen
tönnen, Geliebte,” jagte er traurig zu ihr, „nie hätt’
ih’s gethan, Dich hineinzuzerren in das Shmachvolle
Slend meines Lebens! Wenn ih Di in Frieden
ließ, wie forglos glüdlich könnteſt Du jetzt fein!”
„Unglüdlih fo oder jo, mein Liebfter! Mein
Leben gehört einmal unlösbar zu dem Deinen!”
So verfudhte fie liebend wenigſtens dieſen Selbſt⸗
vorwurf von ihm hinweg zu jcheuden.
Einmal fragte fie ihn, ob er nie wieder feit
dem Ausmarih eine Kunde von Hafjo vernommen.
„Rein,“ jagte er darauf, „wenigflens nichts Gewiſſes.
Wie ich hörte, fol Noftig erzählt haben, daß er tot,
oder doch tödlich verwundet bei der Xeiche des Prinzen
liegen geblieben jei. Xapferer Sunge, ja, der bat
durchgehalten in der Gefahr!”
„der vielleiht war es die barmberzige Kugel,
die Du Dir felber gewünfcht, mein armer Hilmar,
und die ihn vor einem Schidjal wie das Deine be:
wahrt hat!“ wandte Lotte begütigend ein.
„Ab nein, Lotte, dente das nicht, ich Tenne
Hafjo! Er hat faltblütig mit der Gefahr zu jpielen
gewußt, von Hein auf, fie war ihm etwas Altge:
wohntes! Wie ungezählte Male babe ih ihn in
Lebensgefahr gejehen, auf höchfter Dadipige, auf
fhwantender Leiter, morhem Eife oder mit durch:
gehenden Pferden. jeder nur denkbaren Situation
fette er diejelbe nichtsachtende Verwegenbheit entgegen!
Sb weiß, jo itt er auch bei Saalfeld gemwelen.
Wie oft haben ihn meine Eltern wegen feiner Toll-
fühnheit gejcholten und gefchlagen, und er fonnte
doch nicht anders, der arme unge! Ych hätte das
willen müflen und ihm helfen, aber ih fand bie
Strafen verdient, denn ich felber hatte fein Vergnügen
an jeinem Treiben! Und jegt — mein Leben gäb’
ih Hin mit taufendb Freuden, könnt’ ich jo fein wie
er! Dann ftände ich jeßt ficher mit Ehren da, und
mein unglüdlider Vater braudte mid nicht mit
Schmad feinen Sohn zu nennen!” Diejer Gedante
war der Gipfelpuntt der Bein und Verzweiflung für
den armen Hilmar.
Auf Lottes dringendes Anraten entichloß er fich
endlich, an jeinen Vater zu |chreiben. Er jchilderte
ihm der Wahrheit gemäß den Sachverhalt, beihönigte
oder entichuldigte jein Vergehen mit feiner Silbe, bat
aber flehentlich und demütig um die Erlaubnis, jelber
fommen und fich die Verzeihung feiner Eltern erbitten
zu dürfen. Er hoffte viel von dem unterwürfigen
Tone diefes Briefes, er baute auf bie Xiebe feines
Vaters, deren Fülle er bisher noch nie erfchöpfbar ge-
funden. Er rechnete auf die Fürjprache feiner Mutter,
Roman von Hans Werber.
226
die ihn vergötterte. Und jo jah Hilmar der Antwort
mit Sehnen und Hoffen entgegen.
Er fannte feinen Bater noch nicht, der Ärmſte!
Er mußte nit, daß eine Entiheidungsitunde ge:
ihlagen hatte, in der das PVaterherz verftummt und
nur das beleidigte Gefühl des Edelmannes, bes
preußiſchen Offiziers zurüdgeblieben war.
Die Antwort des Majors von Nohlig fam nad
angemefjener Frift.
„Du bift nicht mehr mein Sohn,” hieß es darin.
„Ein Feigling, der nicht würdig it, Des Königs
Rod zu tragen, fol audh nicht würdig jein, mein
Sohn zu heißen und meines Haufes Schwelle zu
überſchreiten!“ Weiter fand nichts in dem Briefe.
Unterzeihnet war er: „Rodhlik, Major a. D.“
Und biejes kurze Major a. D., das den ganzen
herben Soldatenftolz des Kunersborfer Snvaliden
zum Ausdrud bradte, erihien dem Sohne wie ein
Meflerfchnitt, duch den der Vater fi Tostrennte
von ihm.
Hilmar durdhlas den Brief ohne ein Wort, ohne
einen Laut. Dann ließ er ihn aus der Hand gleiten
und warf fih in das Sofa zurüd, flach ausgeftredt
auf das Polfter. So blieb er regungslos liegen, der
unglüdlihe Menih. Sein junges Weib hüllte ihn
in warme Deden und Iniete an feinem Xager Die
ganze Naht. Sein Kopf glühte im Fieber, während
die Glieder bebten vor Froft. Sie fürdhtete eine
jmwere Erkrantung, do die Gefahr ging vorüber.
Nach einigen Tagen traf ein Brief von Hilmars
Mutter ein. Er war fihtlih ohne Vorwiſſen des
Vaters geihrieben und in unverminderter grenzenlojer
Liebe. Sedes Wort war berzzerreißender Sammer,
und Hilmars ftumm binbrütende Verzweiflung wurde
aufgerüttelt zum Erwachen und zu erlöfenden Thränen.
„IH Tann fo nicht weiter leben!” jagte er
endblid. „Entweder ich werde wahnfinnig, oder ich
jude mir den Tod! Aber vorher will ich noch jehen, ob
ih nicht bei Bott oder Menſchen Erbarmen finden
fann! Meine Mutter verfchließt mir ihr Herz nicht,
meine Mutter und mein geliebtes Weib, Gott jei
Dank dafür! Aber das kann mir nicht helfen! ch
muß —” er jann nah, und dann fam ihm ein
Bibelwort in den Sinn, die Geihichte vom verlorenen
Sohn. Und zagend, doch noch immer hoffnungsvoll,
Ipra er die Worte: „Sch will mid aufmachen und
will zu meinem Bater gehen!”
VI
Wie jchlihen die Tage jo qualvol dahin über
das ftille NRedentiner Herrenhaus, wo Vater und
Mutter fchweigend einander gegenüber faßen. Der
Bater, der im Zorn fi losgejagt von feinem einzigen
Sohne, die Mutter, die mit allen Sajern ihrer Seele
fih feftllammerte an das Bemwußtjein, daß ihr Sohn
dennoch unmandelbar ihr gehörte. Wovon jollten fie
reden? Das Leid war gar zu groß. Auf des Vaters
Haupt brannte es als eine Schmad, die ihn weder
Auge noh Stimme erheben ließ. Auf der Mutter
— —
227 Schwertklingen.
Seele laſtete es als eine Ungerechtigkeit, die ſie ſchier
zu Boden drückte.
„Was mag aus Haſſo geworden ſein? Man
hat gar nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Herr von
Rochlitz plötzlich leiſe, mit unterdrückter Stimme, als
ſchäme er ſich zu ſprechen, oder als ſchäme er ſich,
daß dieſe Frage ſich ihm erſt jetzt aufdrängte, ſo
viele Monate, nachdem ſein Pflegeſohn hinausgezogen
in Krieg und Gefahr.
Frau von Rochlitz erzitterte bei der Frage wie
von einer ſcharfen Nadel getroffen. „Er wird wohl
deſertiert ſein!“ kam es herbe von ihren Lippen.
Der Major warf einen finſteren Blick nach ihr
hin. Zum erſten Mal durchfuhr ihn der Gedanke, daß
der wilde, trotzige Burſche, der ihm ſtets zuwider ge—
weſen, vielleicht gar ein viel unverfälſchterer Sproß des
alten Rochlitzſchen Stammes ſei, als ſein bewunderter
Hilmar. Und ſo grimmigen Schmerz ſchuf ihm der
Gedanke, daß er die Zähne aufeinander biß, um das
Stöhnen zu unterdrücken.
In finſteres Schweigen verſanken ſie abermals
beide. Draußen heulte der Sturm. Das Licht der
Kerze vor ihnen auf dem Tiſch flackerte hin und her
und ließ dicke Tropfen geſchmolzenen Wachſes auf
die Tiſchdecke herniederrinnen. Die Wanduhr tickte
langſam, bedächtig und holte zu ſicheren Schlägen
aus. Frau von Rochlitz horchte zählend darauf und
ließ dabei die feinen Hände mit dem Strickzeug in
den Schoß ſinken.
Plötzlich ſchlug draußen eine Thür. Der Schall
ließ ſie bis ins Herz zuſammenfahren.
Die Zimmerthür ward aufgeriſſſe — —
Hilmar!
Blaß wie der Tod war er, die Augen rot unter⸗
laufen, die Lippen verzerrt von der furchtbaren Auf—
regung.
ß Er ſtürzte herein, er warf ſich ſeinem Vater zu
üßen.
„Vater, haben Sie Erbarmen! Vergeben Sie
Ich will die Schande ſühnen!“
Major von Rochlitz war aufgeſprungen. Die
Augen rollten ihm im Kopfe. „Wie kannſt Du mich
Vater anreden! Du biſt mein Sohn nicht mehr!
Ich habe keinen Sohn! Hab' ich Dir nicht mein
Haus verboten? Was wagſt Du — mir unter die
Augen zu treten!“
„Vater, ich liege am Boden vor Ihnen! Ich
weiß, ich habe alle meine Rechte verſcherzt! Ich flehe
um Erbarmen, nichts weiter!“
„Ja, liege Du nur! Für einen Edelmann —
für einen preußiſchen Offizier wäre das kein Platz!
Aber für Dich — Du —“ er hielt inne.
Mit einem Auſſchrei warf ſein Gattin ſich ihm
entgegen. „Schweig ſtill — ſchmähe ihn nicht! Ver—⸗
gieb ihm — ſo Dir Gott Deine Sünden vergeben
ſoll in Deiner Todesſtunde!“
Der alte Kriegsmann ſchüttelte ſie ab mit rauhem
Griff. „Geh Du — und bleibe bei Deiner feigen
Brut! Was gilt Euch die Rochlitzſche Ehre! —
Meine Sünden mögen ſchwarz ſein wie die Hölle —
an meinem König und meinem Vaterland, an meiner
Mannesehre hab' ich nicht geſündigt — ſo möge Gott
mir!
Roman von Hans Werder.
228
mir gnädig ſein! Aber den Feigling ſtoß' ich aus
von Gnade und Recht und Erbarmen!“
Hilmar ſprang auf. Wie glühendes Eiſen traf
ihn die furchtbare Verachtung in den Worten ſeines
Vaters und ſtachelte ihn zu faſt ſinnloſer Verzweiflung.
„Vater — ſo dürfen Sie nicht zu mir reden!
Hab' ich auch Ihren Zorn verdient bis in den Tod
— doch nicht, daß Sie mich mit Füßen treten! —
Um eine Barmherzigkeit nur flehe ich — nehmen Sie
Ihren alten Heldenſäbel von der Wand und ſtoßen
Sie ihn mir ins Herz! — So trag' ich das Leben
nicht weiter!“
Mit flammendem Blick maß ihn der alte Soldat
von oben bis unten. — „Meine tapfere Dragoner:
Hinge — Dir — in die Bruft? Nein — geh und
verdiene Dir erft den Tod!“
Hilmar ftand auf und jah ihn an aus umflorten
Augen. „Sa, Vater, ich werde gehen! Sagen Sie
mir nur das eine nod: Geben Sie mir Jhren
Segen mit, wenn id in ben Tod gebe? Vergeben
Sie mir, wenn ih meine Ehmad) mit meinem
Herzblut gelühnt?“
„WBalh’ die Shmah Dir ab, tel’ Deine Ehre
wieber her — wie und mwodurd, ift Deine Eade!
Dann will ih Dir vergeben, dann fannft Du wieder:
fommen und nad meinem Segen fragen. — Gott
helfe Dir!”
E53 war das lebte Wort, das er hienieden zu
jeinem Sohn geiprodden, der lette Blid, den er auf
ihn geworfen. Es lag in dem Blid weder Zorn
noch Verahtung mehr. Nur ein Gram, der dem
alten Manne das Marl des Lebens aufzehren mußte
— jo nagend, fo bofinungslos. Er ging hinaus
und jchloß die Thür zmwifchen fich und jeinem Sohn.
Hilmar blieb allein mit feiner Mutter. Eine
lange, bange Naht war es. Sie rang mit Gott
um Faflung, das Unmöglihe zu ertragen, fie flehte
um Erhaltung ihres Sohnes, fie hielt ihn umidhlungen
mit ihren Armen und lieblofte jein Haupt mit
zitternden, verjagenden Händen.
Als das Morgengrauen beraufftieg, bleich und
alt wie Tobesihatten, da jchied er von ihr. Der
erwacdhende Tag durfte ihn nicht mehr im Vaterhaufe
antreffen, das fortan ihm verichlofien fein jollte. Er
ging, und die Mutter blieb zurüd, die Unglüdliche.
Das Herz aus ihrer Bruft hatte er mit binmwegge:
nommen als ein Totenopfer — für die unfühnbare
Schmach.
Fünfter Abſchnitt.
Kolberg.
Franzoſen, o ie un wlügel geſchwind,
(#8 naher der Schill, unb er reitet wie Wind,
O weh Fud Zranzofen, iept feid Ihr tot,
3 färbt die Säbel der Weiter rot!
D Sıil, Dein Gäbel thut weh!
J.
Ob auch alle Feſtungen im Königreich Preußen
ſich dem Feinde ergaben, die größeſten und ſtärkſten
jelbft, die beftverwahrten und wohlgefüllten ihm ihre
229 Schwertflingen.
Thore öffneten, als zöge eine Zaubermadt vor ihm
ber, der nichts zu wiberftehen vermöchte: die Feitung
Kolberg ergab fi nicht. Sie kannte es nicht anders.
Schon im fiebenjährigen Kriege hatte fie ih in
dreimal wiederholter Belagerung gegen die Rufen
jo andauernd und heldenmütig verteidigt, daß ihr
Name fortan nur mit Ruhm und Ehren genannt
werden konnte. Die glänzendfte Probe ihrer helden-
baften Ausdauer aber gab fie jett, wie fie aufrecht
daftand als ein Feljen, während alles umher —
das ganze Vaterland — mie morjches Geftein zer:
brödelte unter dem Außtritt des Sieger.
Tapfere, Leine Seite! Da liegt fie durch die
Sabrhunderte unentwegt und bewacht ihre pommerjche
Dftfeefüfte — bewacht das treue, trogige Pommerland
gegen jeden anrüdenden Feind jo wader, als wäre
fie vereidigt, es für ihr Herriherhaus zu hüten bis
an den jüngiten Tag. — Da liegt fie, Sturm und
Winden ausgelegt, an der rauhen Meeresküfte, und
die alte, graue Dftiee fingt ihr ein uraltes Lied von
Sturm und wilder Wut, von Troß und Treue, von
Heldenmut und ewigem Kampf und Streit. Gie
hört auf das Lied auch heute noh. Man bat ihr
Wehr und Waffen genommen, doch ihre alten Schangen
ftehen da als Denkmäler ihrer einftigen Größe, und
die Erinnerung fchwebt darüber wie ein Strahlentranz
bes Ruhmes. |
Die Feftung Kolberg lag abjeits von der großen
Straße, auf der die franzöjiihen Heere dur das
Land nah Preußen binzogen, darum blieb fie vor:
läufig unbeadtet. Auch war fie ja jo klein und un-
bedeutend, keines Ummeges wert! Hatten die großen
Seftungen alle jo bereitwillig ohne einen Schwertitreich
die Waffen geftredt — dies winzige Ding ftedte man
fid wohl fo nebenher in die Talche!
Doh das war ein Srrtum. Dur eben Diele
Verzögerung gewann Kolberg, welches überhaupt nicht
für Krieg und Belagerung ausgerüftet worden, Zeit
und Muße, fih auszubauen, mit Munition und
Lebensmitteln zu verforgen. Zu Wafler und zu Lande
wurden Truppen berbeigezogen und die FSellung in
jeder Weile verteidigungsfertig gemadt. Als dann
die eriten franzöfiiden Parlamentäre vor den Wällen
erihienen, um zur Kapitulation aufzufordern, wurden
fie, ohne irgend welches Änterefje zu erregen, von
den Borpoften abgewielen., Die Franzofen hatten
jolh Verhalten in diefem Feldzuge — leider Gottes —
noh nicht Tennen gelernt. Sie Tannten eben aud)
Kolberg no nidt.
Der Kommandant, Oberft von Loucadou, war
ein greifer, erfahrener und bejonnener Herr, der jeine
Feltung gar wohl für die Verteidigung vorbereitete.
Doch jpäterhin, als die Sache ernitlicher wurde, bat
er, Tich zurüdziehen zu dürfen, und ein Schiff von
Memel ber brachte feinen Nachfolger herein, den
großen Felbherrn Gneijenau, der die Gejdhichte feines
unfterbliden Ruhmes bier zwijchen den Feitungsmwällen
von Kolberg beginnen jollte. Doc jegt, zur Winter:
zeit noch, beherriähte Youcadou das Feld. Zum zweiten
Kommandanten warb der Kapitän von Waldenfels
ernannt, einjugendlicher Held, der pommerjche Leonidas.
Und würdig ihm zur Seite, eine Jchier phantaflijche
Roman von Hans Werder.
230
Heldengeftalt, ftand Serdinand von Schill — bisheriger
Königin-Dragoner, der fi mit jchmwerer Kopfwunde
von Auerftädt hierher gerettet hatte. Sept, noch als
Nelonvalescent mit verbundenem Haupte, jchuf er
ih ein Freilorps von Hufaren und Sinfanterie und
war entihlofjen, mit demjelben, ob au) alles um ihn
ber zerbrah, das Vaterland zu verteidigen bis auf
den legten Blutstropfen. Aus Stargard und Naugard
hatte er durch Belagerung und Sturm die franzöftiche
Bejagung zu vertreiben gefucht. Dies war ihm nicht
gelungen. Nun aber z30g er wie ein Sturmmwind im
pommerjhhen Lande umher, warb Truppen zujammen
und beunruhigte den Feind.
Er eriäwerte ihm die Kommunikation zwilchen
Oder und Weichjel und verhinderte die Einjchließung
von Kolberg länger, ale man dies irgend zu hoffen
gewagt. Durch Erfolge fühn geworden, begann Schill
ernftlich zu überlegen, wie er wohl dem bedenflichen
Mangel an Waffen und Munition in der Feftung
ein Ende bereiten Fönnte. Als nun einer jeiner
Offiziere von einem Streifzuge in die Alt:Dammjche
Gegend die dunkle Kunde mitbrachte von einem großen
franzöfiihen Waftentransport, der fi von Stettin
nad Oftpreußen zu in Bewegung gelegt hätte, ent:
warf er feinen Plan. In derſelben Nacht noch brach
er mit ſeinem Korps von Kolberg auf und pfeilgeſchwind
ritten die Huſaren durch das Land. Stargard mußte
umgangen werden, denn eine ftarfe franzöfiiche Be-
fagung lag darin, die Schill Ion früher fich vergeblich
bemüht hatte, daraus zu vertreiben. Die Umgegend
war ihm von jenen Tagen ber wohl belannt. Er
nahm jeinen Weg zu dem bochgelegenen Dorfe
Schöneberg, von wo er freie Umjchau über die weite
Ebene Halten konnte — auf der einen Seite bis
Stargard hin, deilen ehrwürdige Türme berüber:
Ihauten, Har und jeharf wie Silhouetten vom bellen
Himmel abgezeichnet. Schwerlich vermochte ihm bier
zu entgehen, was fich auf jener Ebene mit ihrer offen
baliegenden Landftraße bewegte.
Seine Kleine Avantgarde unter dem Lieutenant
von Hagen empfing ihn mit der Nachridht, daß vor
furzem ein gewaltiger Wagentrain unter ftarfer
franzöſiſcher Infanteriebedeckung hier durchgekommen
ſei und ſich auf dem Marſche nach Arnswalde befände.
Das war erfreuliche Kunde. Kriegsrat ward gehalten
und eine Raſt von wenigen Stunden. Bald nach
Mitternacht brach die Reiterſchar auf. Eine breite
Mondſichel am ſternklaren Winterhimmel beleuchtete
ihren Pfad. Abwärts von Schöneberg ging es, die
Höhe hinunter ins Ihnathal, über den Fluß, an der
geſpenſtiſch aus weißen Wieſennebeln aufragenden
Ruine der Wedellburg vorüber. Durch das alte
Wedellſche Cremzow, — den beiden Wedells, die mit im
Zuge ritten, ſchlug ſehnſüchtig das Herz. Doch ihr
Weg führte weiter — unaufhaltſam.
Am Rande eines alten Eichenwaldes, der Schutz
gewährte gegen den kalten Nachtwind, machten die
Reiter endlich Halt. Linker Hand, nah des Weges,
blitzte durch die Eichen der Spiegel eines Sees.
„Wo ſind wir hier, Wedell? Sie müſſen ja
orientiert ſein!“ fragte Schill.
„Gewiß, Herr Lieutenant, dies iſt der Bleienſee,
231 Schwertflingen.
vor uns liegt Schönmwerder, Wohnfig des Landichafts-
direltors Bonin, vielleiht zehn Minuten von hier!“
Aus dem Schatten der Eihen tauchten dunfle
Reitergeftalten auf, die vor kurzem zur Aufklärung
entjandte PBatrouille Fehrte zurüd unter Führung bes
zweiten Webell, der als ortskfundig hierzu erjehen war.
„Die Wagenkolonne hat joeben bas Dorf Schön:
werder pajliert, in einer Viertelftunde können wir fie
erreicht haben!” Iautete feine Meldung.
Auf brachen die fchneidigen Hufaren und vorwärts
ging es. Senfeits des Dorfes Schönwerber, auf
offener Fahritraße zwiihen Feldern und Wiefen, 309
langfam auf dem holprig ausgefahrenen Wege die
Ihmwere Wagenreihe dahin, bei der ungemwiflen Be-
leuchtung einem endlos fi) hinfhlängelnden Ungetüm
vergleihbar. Nah allen Richtungen Iprengten bie
Schmwadronen auseinander — von vorn, von hinten,
von rechts und links zugleih warb die Kolonne
attadiert. Die franzöfiihe Dedung Jette fich verzweifelt
zur Wehr, do umfonft. Nach kurzem Kampfe mußte
fie dem ftürmiihen Anprall ber Hufaren weichen.
Der Tag brad) an und zeigte den fiegesfrohen
Reitern die berrlide Beute, die fie errungen.
„Hurra, hiervon bewaffne ich ein ganzes Regiment,
ohne daß unter alter LZoucadbou fi audh nur
Jonderlih beeinträchtigt fieht!“
glüdlich beim Anblid diejes ftolzgen Waffenreichtums,
den er der Feltung nun zuführen konnte.
„Herr Lieutenant, bitte, jehen Sie!“ mahnte
einer der Offiziere.
Bom Dorfe ber, deflen Einwohner zahlreich
berbeiftrömten, näherte ji ihnen jchnell, doch in
äußerft würdevoller Haltung, ein großer, ftattlicher
Herr mit jchmalem, glattrafiertem Antlig, vornehm,
ruhig und fiher; ohne Zweifel der Gutsherr.
Lieutenant von Schill jprang aus dem Sattel, ging
ihm entgegen und ftellte fich vor.
„Ihr Name bat guten Klang bei uns, mein
Herr von Schill,” jagte der Landichaftsdirektor Bonin.
„zallen Sie mid Ihnen danken im Namen unferer
guten Brovinz! Sie pflanzen in Bommern das jchon
gejuntene Banner unferes Königreichs wieder auf!” —
Eine kurze Raft und Stärkung für die Huſaren
im Dorf, für die Dffiziere in dem gaftlihen Hauje
des Edelmannes — dann trat das Schillihe Korps
mit jeiner eroberten Wagentolonne über PBepnid,
Zahan und Freienwalde den Rüdweg nad) Kolberg an.
Zur Beit, da diejes fi) von der Stadt Arnswalde
entfernte, näherte fich derjelben eine andere Kolonne,
weniger großartig, weniger Achtung einflößend. Etwa
zehn bis zwölf Perfonen in jchäbiger, vielgetragener
Bauernkleidung, mit verwetterten Abenteurergefichtern.
„KRanzionierte” waren es, verijprengte Soldaten von
aufgelöften Regimentern oder aus ber franzöfiichen
Gefangenſchaft entflohen. Scharenweis irrten joldhe
jegt im Lande umher, von der Mildthätigkeit der
Einwohner lebend, meift Kolberg, Danzig oder Königs:
berg als Ziel ihrer Wanderung im Auge, um bei
einem gejchloffenen Truppenlörper aufs neue ihr
Heil unter preußifher Fahne zu verfuhen. Daß fie,
zumal bei zahlreihem Erfcheinen, einigermaßen wüſt
und gemwaltthätig auftraten und überhaupt als recht
Roman von Hans Werder.
rief? Schill über:
232
ungemütlihe Rumpane gelten fonnten, verfleht fi
von jelbft.
Etwa zehn joldher Leute ftrebten, von Küftrin
berauffommend, der guten Stadt Arnswalde zu und
nahmen in dem Dorfe Granow Aufenthalt, um in
‚ber dortigen Krugwirtichaft eine Eleine Herzitärkfung
für den kalten Wintermorgen zu erlangen. Geld zum
Bezahlen hatten fie natürlich nicht. Der Wirt Ihimpfte
und fluchte, denn e8 war wahrlich nicht das erite
Mal, daß feine Gaftfreundihaft in diejer Weile in
Anfpruh genommen wurde. „Da drinnen fißen
Ihon zwei jolder jauberen Vögel — nichts zu beißen,
nichts zu bezahlen! — Banlerott wird man Dabei,
für König und Vaterland, und weiß nicht einmal,
er a ih aufhalft mit dem hergelaufenen Ge-
indel —”
Die Ranzionierten verbaten fih alle anzüglichen
Bemerkungen und brohten unangenehm zu werben.
Sie fühlten ih ftart in der Überzahl dem Wirt
und feinem Hausfnecht gegenüber.
„Da drinnen fiten jchon zwei?” griff einer
der Braven die hingeworfene Bemerkung auf. Vol
Ssnterefle an bdiefer Nachricht öffneten fie die Thür
der Scenlitube und drangen hinein. Da faßen
allerdings jchon zwei: junge, friegsfähige Leute wie
fie, in groben, abgetragenen Bauernlitteln, wegmübde,
wettergeprüft wie fie, und doch nicht ihresgleichen.
hr verhungertes Ausjehen deutete an, daß fie Das
Betteln, zumal das erfolgreiche, gemwaltiame, nicht
lernen fonnten. Der müde Blid, mit dem fie die
Eindringlinge muflerten, verriet, daß fie feine Freude
fanden an dem Landftreicherleben, feine Freude an
der Genofjenfchaft der da eben eintretenden Stameraden.
Dieje aber markierten dafür die Freude Doppelt. Sie
jehüttelten ihnen die Hände, Klopften fie auf die
Schultern, fragten woher und wohin und ließen jich’s
nicht verdrießen, daß fie feinen Bejcheid erhielten.
Statt deilen erhoben fich die beiden Fremden, jdhoben
ihre Brotrinden, die milde Gabe des edlen Wirtes,
in die Tajche und griffen nad) Hut und Stod.
„Ja, ja, Shr jeib gute, liebe Kerle,“ jagte der
eine, und fah fich lachend mit feinen großen, bunflen
Augen die wüften Gejellen an. „Wir wollen Eud
darum au) Play machen und Euch nicht Läftig fallen.
Lebt wohl — amüfiert Euh gut — und laßt’3 Eu
wohl befommen. Sa, ja — hr feid gute Kameraden!”
Er mußte ihnen allen nacheinander die Hand jchütteln,
was er aud gutwillig auf fih nahm. Cndlih ge:
lang es ihm, die Thür zu gewinnen, in der fein
Reifegefährte Ichon ungeduldig wartete. Herzlich
dantten fie dem Wirt für Die ihnen ermiejene
Freundlichkeit. Dann fchlugen fie den Weg ein, der
zur nahen Stadt binführte. Yhre Stiefel waren zer:
iffen, die Füße wund. Bon weither mußten ie
gelommen jein. |
„Wo Sie do nur immer und immer wieder
Shre gute Zaune hernehmen, Rodlig! Mit joldem
Gefindel umzugehen! Wäre ich allein ihnen in Die Arme
gelaufen, ich hätte rettungslos Prügel befommen!”
„Dan befigt eben ein wenig Menjchenfreundlid:
feit und Hat Umgang mit Menicdhen ftudiert,
mein lieber Scriver,” lautete die gutgelaunte Ant:
233 Schwertklingen.
wort. „Daß Sie ohne mich ſchon hundertmal Prugel
bekommen hätten, und ich ohne Sie ſchon hundert—
mal in andere ſchreckliche Abgründe geraten wäre,
das wiſſen wir doch beide längſt! Alſo fahren wir
fort, beiderſeitig unſere Stellung auszufüllen wie
bisher!”
„Sa, ja, aber ih wollte, wir tönnten Diele
Stellungen an ben Nagel hängen. Hungern, frieren,
betteln, oͤbdachlos in der Winterkälte und keinen
Groſchen Geld in der Taſche — das will immer—⸗
hin durchgemacht ſein, ehe man leichtfertig über die
Schwierigkeit ſolcher Situationen urteilt! Zu den
Annehmlichkeiten gehören ſie jedenfalls nicht!“
„Wenn uns wenigſtens dieſe infamen Ran—
zionierten nicht immer in die Quere kommen wollten,“
entgegnete Haſſo lachend. „Übrigens fürchte ich,
daß dieſe zehn Braven — Reiſeziel haben wie
wir und uns bald auf den Hacken ſein werden.
Vertilgen wir deshalb unſere ehrwürdigen Brotrinden,
damit ſie uns dieſe unſere einzige irdiſche Habe nicht
abjagen, ehe wir ihrer froh geworden!“ und er biß
mit ſeinen weißen Zähnen hinein, daß es knirſchte.
„Wir wollen in Arnswalde,“ ſagte er dabei, die
Pauſen ausfüllend, „ein Konzert geben — um uns
Geld — für die Weiterreiſe bis Kolberg zu ver—
ſchaffen —“
„Ein Konzert?!“
„Ja, ein Konzert! Die Stadt wird doch einen
Saal haben, darin verſammeln wir die Bürgerſchaft! —
Meinen Sie nicht, daß wir eine Stunde lang Unfug
genug treiben könnten, um die guten Bürger von
Arnswalde glauben zu machen, ſie hätten eine Konzert⸗
vorſtellung angehört?“
„Wir? Nein, ich ſicher nicht!“ verwahrte ſich
Scriver mit Nachdruck. „Was Sie aber fertig
bringen können, die Menſchen glauben zu machen,
mein guter Rochlitz, das überſteigt noch immer mein
Vorſtellungs vermögen, obgleich ich nachgerade daran
gewöhnt ſein könnte.“
„Und doch gelingt es mir nicht einmal, meinen
Schickſalsgefährten glauben zu machen, daß er einen
Br verftändigen Menjhen vor fi hat!“ rief
Hallo.
Der andere johlug ihn lahend auf die Schulter.
„Rein, das gelingt Shnen nit! Der muß nun
Ion zujehen, wie er aud) ohne dieje Zlufion mit Jhnen
austommt!”
Die Freundfchaft zwilchen diefen beiden mußte
eine zuverläffige geworden fein, denn fie war zu:
jammengeichmiedet mit ebernem Sammer, durch ge:
meinfam erlebte Abenteuer der feltenften Art, durch
Gefahren und Todesnot, in treuem Aneinanderhalten
und Einftehen des einen für den andern.
eine harte Zeit gemweien, diefe Wanderſchaft, unter
Verhältnifien, wie fie Rihard Scriver bejchrieben,
mitten durch Feindesland, denn jo mußte man unfere
beimifchen Provinzen nennen in jenem furdtbaren
Sabre. Sie hätten fih nimmer bindurchmwinden
fönnen ohne Scrivers Elare Bejonnenheit, welche die
Gefahren umging; ohne Haffos gewandte Sicherheit,
mit der ertunbefangen den bedentlichften Situationen
begegnete und jede Rolle zu Ipielen wußte, bie ihm
RomansZeitung 1896,
Noman von Hans Werder.
Es war
234
behilflich Ichien, fein Ziel zu erreichen. Und fo waren
fie bis hierher gelangt, ber pommerjdhen Grenze nah.
Das Schlimmite war überwunden.
Bor ihnen, anmutig am Spiegel eines großen
Sees, hoc überragt von uraltem gotilehem Dome
mit unvollendet abgeftumpftem Turm, lag die Heine
märlifhe Grenzitadt Arnswalbde.
„Dies Neft fieht verheißungsvoll aus!” meinten
die beiden Wanderer.
II.
„Alle Heiligen ſtehen mir bei, da ſind die
Ranzionierten ſchon wieder!“ rief Richard Scriver
im Tone der Verzweiflung. „Daß man doch nicht
einen Augenblick Ruhe haben kann vor dem Geſindel!“
„Schimpfen Sie nicht ſo, Richard,“ lachte
Haſſo leiſe. „Wir ſind bedenklich in der Minderzahl
und dürfen uns nicht das Wohlwollen dieſer lieben
Brüder verſcherzen! Sie ſcheinen übrigens nüchtern
und vernünftig zu ſein! Der Wirt des Grand Hotel
de Granow wird ſie ebenſo fürſtlich abgeſpeiſt haben
wie uns!“
„Nun dann gehen Sie und machen Brüderſchaft
mit den lieben Kameraden!“ ſpottete Scriver, „es iſt
die höchſte Zeit!“ —
Die Ranzionierten warteten keine Aufforderung
hierzu ab. Sie waren ſchneller gegangen als die
beiden Offiziere, hatten dieſe jetzt eingeholt und um—
ringten ſie von allen Seiten. Sie wünſchten jetzt
ihre Fragen von vorhin beantwortet zu haben, waren
zwar zudringlich, doch recht gemütlich dabei, und
Haſſo ging auf ihre ſcherzhafte Unterhaltung ein.
Das Rollen eines Wagens hinter ihnen unterbrach
dieſelbe. Sie wandten ſich um. Eine Extrapoſt
mit vier Pferden beſpannt kam die Straße von
Oſten dahergefahren. Das heißt, ſie war eigentlich
mit drei Pferden beſpannt. Das vierte, lahm geworden,
lief angebunden nebenher. Die Poſtchaiſe rollte vor⸗
über, die zwölf Wanderer ſahen ihr nach. Kurz vor
dem Thore von Arnswalde aber hielt ſie ſtill, das
lahme Pferd wurde wieder eingereiht, wahrſcheinlich
des ſtattlicheren Anſehens halber.
Während dieſes Aufenthaltes holten die Ranzio⸗
nierten den Wagen ein, näherten ſich ihm und
guckten neugierig in das Innere.
„Was macht Ihr denn da, Leute?“ fragte Haſſo
ſcharf. Das Gefühl der Verantwortlichkeit für die
Untergebenen erwachte in ſeinem Lieutenantsherzen.
„Hier ſitzen Franzoſen drin!“ berichtete einer
derſelben.
„Das iſt Napoleon!“ erklärte ein anderer. „Ich
kenne ihn!“
„Großartig!“ applaudierte Haſſo. Er ſchob
raſch den Soldaten zur Seite und blickte ſelber in
das Wagenfenſter. Ein älterer franzöſiſcher Offizier
ſaß darin — ſeinen Adjutanten neben ſich. Der
ſcharf prüfende Blick, der ihn aus dieſen herein—⸗
ſchauenden Augen traf, jagte dem Franzoſen einen
Schreck ins Herz. Er befahl, ſchleunigſt weiter zu
fahren. Haſſo hob grüßend die Hand und trat
IV. 17
235 Schwertllingen.
zurüd. Sn furzen, Earen Worten befahl er den
Ranzionierten, das Gefährt zu begleiten. Dasſelbe
rollte langjam weiter, während Haflo und Ecriver
den Pferden zur Seite blieben. Synftinktiv gehordhten
die Leute dem gewohnten Kommandoton. Doch im
Meitergehen betrachteten fie den befehlenden Gefährten
von der Seite. „Sagen Sie mal (bisher hatten fie
ihn Du genannt), Sie find wohl am Ende gar ein
Herr Lieutenant? Sie fünnen ja fo flott fomman:
dieren?”
„Sa, Kameraden! Wir find beide Lieutenants
Seiner Majeltät des Königs. Freut mich, daß Ahr
uns das angemerkt habt! Wir find auf dem Wege
nah SKolberg, zum Freilorps des Lieutenant von
Schill!“
„Wollen Sie ihnen unſere Lebensgeſchichte nicht
noch etwas detaillierter erzählen?“ raunte ihm Scriver
zu. „Sie werden dankbares Publikum finden!“
„Aber Herr Lieutenant, warum haben Sie uns
das nicht gleich geſagt!“ meinten treuherzig die
Ranzionierten. „Wir ſind ja heilfroh, einen zu haben,
an den wir uns halten können!“ —
Auf dem Marktplatz der Stadt Arnswalde,
vor dem Rat- und Poſthauſe hielt die Equipage.
Die Pferde mußten gewechſelt werden. Der Reiſende
ſtieg aus und trat eilig in das Haus. Neugierig
umringten die zurückbleibenden Soldaten den Wagen,
ſtiegen hinein, durchſuchten ihn und nahmen heraus,
was ſie fanden. Haſſo ließ ſie vorläufig gewähren
und blickte aufmerkſam nach den Fenſtern des Poſt—
hauſes. Da ſpähte der Reiſende heraus, mit ängſt—⸗
lichen Blicken nach dem Wagen hin, der ſich vor
ſeinen Augen mit dieſen unliebſamen Gäſten füllte.
Er hatte jetzt den Mantel zurückgeſchlagen, Haſſo
gewahrte ein blitzendes Ordenszeichen, das Großkreuz
der Ehrenlegion, auf ſeiner Bruſt. Ihre Blicke
trafen ſich, der Franzoſe prallte zurück.
„Ein franzöſiſcher General! Kommen Sie,
Scriver!“ Raſch traten ſie ins Haus. Die Thür
zu dem Wartezimmer war verſchloſſen. — Als ſie
auf lautes, endlich wütendes Pochen geöffnet wurde,
war das Zimmer leer, das heißt der General und
ſein Adjutant entwichen.“)
Scriver hatte unterdes die Ranzionierten herein—
gerufen. Das Haus wurde eilig umſtellt und durch—
ſucht, doch vergebens. Die franzöſiſchen Herren hatten
einen Ausweg durch das niedrige Fenſter gefunden
und ihr Heil in der Flucht geſucht.
Mit blitzſchneller Überlegung leiteten die beiden
Offiziere die Verfolgung ein. Daß dieſer Fang ihnen
nicht entgehen durfte, ſtand felſenfeſt.
Hin über Gartenzäune und Hecken, wobei ſein
großer Generalsrock zerriß, eilte der Franzoſe, von
dem Adjutanten gefolgt. Ein ödes Gäßchen an der
Stadtmauer nahm ihn endlich auf, führte ihn bis
zum Mühlenthor und dort ins Freie. Es war die
Richtung nach Stargard zu. Vielleicht wußte er
das. Stargard war franzöſiſche Garniſon.
Querfeldein ging ſein Lauf, überſchwemmte
) Alle dieſe Vorgänge genau hiſtoriſch, nach Thatſachen
erzählt.
Roman von Hans Werder.
236
Wiefe war ſein Weg, deren leichte Eisdecke einbrach
unter jedem Tritt. Und nun ein breiter Waſſer⸗
graben. Entſetzlich — Da — vom Stadthor her
verworren Geſchrei! Ein Volkshaufe — voran die
Ranzionierten. Ein verzweifelter Blick zeigte dem
Franzoſen an ihrer Spitze jenen ſchlanken Va—
gabonden mit dem langen, rötlichen Schnurrbart —
und er gab ſich verloren.
Nach wenigen Sekunden ſah er ſich umringt
und der Vagabond, deſſen Anblick ihm nun ſchon
dreimal zum Schrecken gereicht, bot ihm höflich ſeine
Begleitung an.
Zurück zur Stadt ging der Zug unter Jubel
und Triumphgeſchrei, dem Steinthore zu, wo ein
neuer Volkshaufe ihn empfing. Unter dem Be—
geiſterungsgetöſe, das ſie umringte, konnte es ge⸗
ſchehen, daß die Offiziere für einen Moment ihren
Gefangenen aus den Augen verloren, obgleich ihnen
für immer dieſe Möglichkeit unaufgeklärt blieb.
Der Franzoſe aber, ſeinerſeits ein bewährter
Stratege, machte ſich den Augenblick zu nutze. Er
gewahrte in der Thür einer Hütte, die wie ein
Schwalbenneſt an der Stadtmauer klebte, ein altes
Weib, neugierig den Vorgängen zuſchauend. Ver—
trauen und Hoffnung durchſtrömten ſein Herz. Ein
paar flehende Worte in gebrochenem Deutſch, ein
Goldſtück in ihre knochige Hand, die Dame hatte
ihn verſtanden, und der General verſchwand in dem
Häuschen.
Fort war er.
Haſſo gewahrte es. „Himmeldonnerwetter, hat
ihn die Erde verſchluckt! Franzos, Halunke — wo
biſt Du geblieben! — Dieſe Bude da — hier muß
er ſein! — Aufgemacht — Lumpengeſellſchaft — wir
ſchlagen Thür und Fenſter ein!“ und ſchon dröhnten
die Schläge gegen das ſchwächliche Mauerwerk. Ver⸗
zweifelnd ſchaute die Frau des Hauſes daraus hervor
und ſchrie um Erbarmen.
„Heraus, alte Hexe — aufgemacht — ſonſt
reißen wir Dir das Haus überm Kopf ein. Vorwärts!“
Die Thür ſprang auf, ein drangen die preußiſchen
Soldaten und im Nu ward jeder Winkel durchforſcht.
„Kameraden, brecht den Schrank auf! Hier
das Bett! — drin liegt er nicht! Faß an, Richard!“
Ein Ruck — die wacklige Bettſtelle polterte zur Seite
— unter dem Bette lag der Franzoſenfeldherr!
Staubflocken bedeckten ſein wohlfriſiertes Haar,
grauer Staub umhüllte ſeine glänzende Uniform.
„Ab — mon general! Ahr ganz gehorfamer
Diener! Bebaure unendlih, Sie diejem traulichen
Schlupfwintel entreißen zu müfjen! Darf ich Ihnen
zum Aufftehen behilflih jein? Ich ftehe ganz au
'Shrer Verfügung! Tout a vos ordres, mon general!“
Sie nahmen ihn in ihre Mitte, Haffo rechts,
Richard lints, und zurüd zum Rathauſe ging der
fröhlihe Zug, dem Ausgangs: und Endpunlte des
ganzen Kefleltreibens. Ein wertvolles Wild hatten
fie zur Strecke.
In dem Natbaufe hatte inzwildden der body:
Löbliche Magiftrat der Stadt fih verjammelt und
tagte dort unter Zittern und Bagen. Denn das
war zweifellos: Sobald das franzöfiiche Gouvernement
237 Schwertflingen.
in Stargard von diejen Vorgängen Kenntnis erhielt,
war es um ihre gute Stadt geihehen! Wahrjcheinlich
aud um das Xeben der Ratsherren. Um aber aud
jeinerfeit® bandelnd einzugreifen, hatte ber Bürger:
meifter NRodenwaldt den Bedienten bes Generals
dingfeft gemacht, jeine etwaige Entfernung in ber
Rihtung nah Stargard zu verhindern.
Mit dem General jelber flellte er jekt ein
feierlihes Verhör an. Es ergab fih, daß der Ge:
fangene der Divifionsgeneral Victor, Duc de Bellune
jei, auf der Reife von Warfhau nah Stettin be-
griffen, um dort ein Armeelorpe zu übernehmen
und dasjelbe nad) Kolberg zu führen, zur endgültigen
Belagerung und Einnahme diefer trogigen Fefte.
„Nah Kolberg! — — ah, mon general, das
trifft ich ja ausgezeichnet! Auch ich bin auf dem
Wege nach Kolberg und werde nun die Ehre haben,
mit Ihnen gemeinſam dieſen Weg zurudhulegen!
Sie geſtatten, daß ich mich Ihnen vorſtelle — —“
Es lag durchaus keine Bosheit in Haſſos Worten
noch in ſeinem Ton. Nur die unendliche Freude
über ſeinen bis jetzt ſo wohlgelungenen Streich, die
übermütige, knabenhafte Glüchkſeligkeit ſpiegelte ſich
darin ab. Der Franzoſe aber empfand einen Haß
gegen ihn, als träte in dem kecken, ſchnauzbärtigen
Geſellen der Böfe in leibhaftigſter Perſon ihm
gegenüber.
Noch hütete der Gefangene ſich zwar, dieſe ſeine
Empfindung merken zu laſſen. Durch ausgeſuchte
Artigkeit hoffte er die Sachlage zu ſeinen Gunſten
zu wenden. Er bot der Stadt ein Löſegeld, den
Offizieren ſein Ehrenwort, in Arnswalde bleiben zu
wollen. Doch alles vergebens. Haſſos Höflichkeit
wurde kälter, ſein Ton entſchiedener. Er mahnte
zum Aufbruch. Die Poſtchaiſe des Generals ward
mit friſchen Pferden beſpannt, einige Leiterwagen
für die Ranzionierten ausgerüftet, und zwei Reit:
pferde zur Stelle geichafft. Der General nahm in
jeinem Wagen Blat, ein würdiges Magiftratsmitglied
neben ihm, um bejjen Begleitung er gebeten, ber
Adjutant und Scriver gegenüber. Hallo und der
junge Stadtbürger Kelm folgten zu Pferde, Ießterer
als wegkundig mit einer Laterne voran, denn bie
Nacht brady herein — Io begann die Reife.
„Herr Lieutenant, nun muß ich Ihnen aber er:
zählen, was ich heute gehört habe!” hub Herr Kelm
an. „Geftern hat eine Meile von bier, in Schön:
werder, das Schillihe Korps den FSranzofen einen
Munitions: oder Provianttransport weggelapert! Es
jol fcharf dabei bergegangen jein! Das hätt’ ich
ahnen follen! D diefer Schill! Ych feh’ es kommen,
ih laffe meine Seifenfiederei im Stih und trete
auch) bei feinem Korps ein! Mit Jhnen zujammen,
Herr Lieutenant, was jagen Sie dazu?“
„Bonnerwetter, lieber Kelm, ift das wahr?
Wer hat Ahnen das erzählt?” fragte Haflo hoch:
erfreut zurüd. „Dazu lage ich, daß wir dann fofort und
unter allen Berhältnijien denjelben Weg einjchlagen.
Wir müflen Schill finden und wenn er in bie Hölle
geritten wäre. Jh Halte es außerdem für redt
wahriheinlid, daß man uns von Stargard aus
verfolgen wird. Alfo vorwärts denn, reiten Gie
vor, um Erlundigungen einzuziehen!”
Roman von Hans Werber.
: 238
IM.
Die Reife ging jchnell von ftatten. Dem Schill:
Ihen Korps war man auf der Spur und Jobalb
eine größere DOrtfchaft in Sicht fam, traf Helm bie
nötigen ®orbereitungen zu friihem Borfjpann. Be:
reitwilligft wurde derjelbe dur Bauern wie Befiger
geitelt. Meift fanden bie Pferde jchon bereit, wenn
ber bebeutungsvolle Zug beranlam und raſilos ging
es dann weiter. Dem gefangenen General ward es
bei dieſer Eile ſehr übel zu Mut. Von ganzer Seele
hoffte er auf eine franzöſiſche Verfolgerſchar aus
Stargard, welche dieſe Räuberbande überwältigen
und ihn ruhmbringender Freiheit wiedergeben würde.
Doch von Stunde zu Stunde ſank die Hoffnung.
Dringend forderte er endlich die ihm bisher ver—⸗
weigerte Erholungsraſt. Richard Scriver konnte ſich
nicht länger ablehnend dagegen verhalten. Er bog
ſich aus dem Wagen und rief nach Haſſo — dem
Räuberhauptmann, wie ihn der Franzoſe im Grimm
ſeines Herzens nannte. Bald ſchaute das verwegene
Geſicht vom Sattel herab in das Wagenſenſter.
„Nehmen Sie’s mir nicht übel, mon general,
ih kann Yhren Wunfch beim beiten Willen nicht er:
füllen! Wenn ih Sie nur erft fiher hinter ben
Mällen von Kolberg habe, dann können Sie aus:
ruben nad Herzensluft, niemand wird Sie bort
ſtören, ich verſprech' es Ihnen! — — Trop fatigué?
mais non! Zwei Stunden Geduld noch, dann ſind
wir in Labes, dort bekommen Sie etwas Gutes zu
eſſen — un bon diner!' — Votre serviteur, mon
general!“ Er grüßte verbindlich und weiter ging es.
Endlih war Labes erreicht. Über die holprigen
Straßen des Stäbtchens rollten die Wagen, welde
mit ihren zwei Vorreitern und der von Dorf zu
Dort angemadhjenen Schar von Begleitern einen
merkwürdigen Zug bdarftellten. Die Einwohnerſchaft
itrömte denn auch neugierig herbei und aus allen
Thüren und Fenftern blidte man der Kolonne nad).
So ging es bis zum Marltplag. Da parierte
Hafjo jein Pferd und jchmwentte mit lautem Hurra
die Müße über dem Kopf. Bor fi jah er das Ziel
ſeiner Wünſche: Die Schillihen Hufaren! Ga, fie
mußten es jein! Sn dichten Reihen ftanden bier die
Magen mit den franzölifhen Waffen, die Schill er:
beutet. Hufaren gingen bin und ber, fütterten bie
Pferde, fpannten aus und ein. &s war bas Bild
frohen ſoldatiſchen Treibens. Ach, welch ein erjehnter
Anblick!
„Holla he — Kameraden, iſt der Lieutenant
von Schill hier?“ rief Haſſo. „Seid ſo gut und
führt mich zu ihm! Ich muß ihn ſprechen!“
Verwundert ſchauten die Huſaren zu dem Redenden
auf. Ein Landſtreicher in zerfetztem Rock und zer—
riſſenen Stiefeln, zu Pferde — und dazu die Wagen
und all das Volk — höchſt merkwürdig!
„Da wird er wohl ſein,“ beantwortete endlich
einer von ihnen die Frage und deutete auf ein
Wirtshaus in der Mitte des Platzes. Gleich darauf
ſtieg Haſſo vor der Thür desſelben vom Pferde.
Laut und dringend wiederholte er ſeine Frage nach
dem Lieutenant von Schill. Wieder antwortete ihm
239
neugieriges Zögern. Das Icharfe Dhr des Freilorps-
Führers aber drinnen in der Gaftitube börte den
Lärm. Er jelber, Ferdinand von Schill, trat heraus,
um zu fehen, was es gäbe.
Sn der Hausthür blieb er fiehen. Eine mittel:
große, kräftige Geitalt, fchwarzes, in die Stirn
fallendes Haar, leicht berabhängender Schnurrbart;
ein dunkles Antlig, jchliht und angenehm — das
war der äußere Eindrud jeiner Erjcheinung. Das
gejentte Auge ftreifte fragend über die Gruppe vor
ihm, dann, ala wenn der Sunte des Sinterefjes ein
Feuer darin entzündete, ging e3 weit auf, tiefichwarz
in glühender Leuchtkraft.
„Was giebt es da — wer find die Leute?“
fragte er in dem Tone, der den Befehlshaber fenn:
zeichnet. Der Landftreiher mußte diefen Ton wohl
erfennen. Er trat auf ihn zu und 309 die Müße,
in freier, ficherer Haltung.
„Herr von Schill, darf ich die Ehre haben, mich
hnen vorzuftelen! Lieutenant Rodhlif vom Xeib-
hufaren-NRegiment von Göding. Ach bringe hier den
franzöfiihen General Victor! — Wir haben ihn in
Arnswalde gefangen genommen und find im Begriff,
ibn nah Kolberg zu führen! Wir fuchen den
Lieutenant von Schill!”
Ein Lächeln von jeltiam angenehmen Ausdrud
ging über Schills ernfles Gefiht. „Den Schill haben
Sie Ihon gefunden! Und wenn Sie fi jo bei ihm
einführen — laljen Sie doch einmal jehen, das ift
ja kaum glaublih!“” Er näberte fih dem Wagen.
Hallo warf dem Gefährten Kelm feines Nofjes
Zügel zu und öffnete vajh den Wagenihlag. „Nun
fteigen Sie aus, mon general, ich lege hr ferneres
Scdidjal in würdigere Hände — Monsieur le general
Vietor, Duc de Bellune — Herr Lieutenant von
Schill!" — — —
„Pot Wetter — ift’8 möglich, ift das nicht Hafjo
NRohlig?” Es war ein Ruf ftaunender Überrafchung.
Die Dffiziere des Schillihen Korps umftanden bereits
die interellante Gruppe, um zu jehen, mas fich hier
weiter entwideln würde. — „Menih, wo kommen
Sie her — wie jehen Sie aus! ch denke, Sie jollen
bei Saalfeld gefallen fein?“
Es zudte über Hajjos Geficht wie bei der Be:
rührung einer Wunde, „Leider nit! Nur etwas
nahpdrüdlich über den Kopf gehauen! Unkraut ver:
geht nicht, mein lieber Hagen!”
„sa, das Icheint mir auch jo! Aber ich finde
es recht erfreulih, mein alter Freund!” fagte, ihm
die Hand jchüttelnd, Herr von Hagen. Er war eine
einnehmende Eriheinung, kräftig von Geltalt, mit
edel gejchnittenem Gefidht, feiner, jchöner Nafe und
dem Ausdrud wohlmollender, behagliher Lebensfreude.
Haflo kannte ihn aus der Berliner Garnijonszeit
und freute fih, ihn bier unter jolden Berhältnilien
wiederzufinden.
Auch Herr von Schill war angenehm berührt,
ſogleich durch einen ſeiner Offiziere über dieſen neuen
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
240
Ankömmling unterrichtet zu werden; um ſo mehr, als
ſich derſelbe ſo unvergleichlich bei ihm einführte, mit
einer Beute, deren Wert von unermeßlicher Trag⸗
weite ſein konnte. Mit forſchendem Intereſſe be—
trachtete er Rochlitz, mit ungewöhnlicher Wärme
hieß er ihn unter der Schar der Seinen willkommen.
So einen konnte er gerade gebrauchen!
Auch Richard Scriver ward dem Huſarenführer
vorgeſtellt. Bald fühlten die beiden Fremdlinge ſich
völlig heimiſch in dem Kreiſe der neuen Kameraden.
Jetzt trat der Arnswalder Magiſtratsherr, der
bisher dem Gefangenen zur Begleitung gedient, den
Rückweg an, wohl verſehen mit der Beſcheinigung
des Generals, daß nur die böſen Ranzionierten mit
ihrem wilden Anführer den verbrecheriſchen Streich
verübt, der Magiſtrat aber unſchuldig ſei, vielmehr
ſich tadellos benommen habe. So hoffte er, die gute
Stadt und ihren wohlweijen Rat vor der Rache ber
Franzoſen zu jhüten. Es ift ihnen auch wenigftens
teilmeile gelungen. Der Bürger Kelm fchloß fich dem
Heimreilenden an, do nur, um die Sorge für feine
Seifenfiederei anderen Händen zu übertragen und
dann eiligft zurüdzufehren unter bie Standarte des
Shillihen Korps.
Die Hufaren rüdten am folgenden Tage mit
ihrer reihen Beute in Kolberg ein. Der General
Victor beobachtete beim Hindurchfahren gar aufmerkfam
die Thore der Feltung, die er hatte erobern follen.
„Scheunenthore find e8, leicht zu nehmen!“ fagte er
verädhtlih. „Sa, menn mir die verbammten Spip:
buben nit in die Quere gelommen wären!” Nun
aber jaß er hier machtlos, ein Gefangener!
E8 dauerte lange, bis die Aufhebung bes General
Bictor im franzöfifhden Hauptquartier befannt wurde.
-Die ihm übertragene Belagerung von Kolberg erlitt
nun eine erheblide Verzögerung und biefe föftliche
Frift wurde von Schill und dem Kommandanten auf
das beite benugt, um die Feltungswerfe in Ver:
teidigungszuftand zu fjegen. General Victor mußte
dem Kaijer der Sranzojen mohl eine außergewöhnlich
wertvolle Perjönlichleit bedeuten, bern der Gefangene
diente zur Ausmwechlelung gegen das ebelfte preußilche
Piand, das der Feind in feine Hände befommen:
Es war General Blüher. Diefer hatte fih nad
der Prenzlauer Kapitulation ber Hobenloheichen
Armee mit feinem Korps bis nad Lübed durchge
ſchlagen. In wütender Gegenwehr wie der grimmige
Keiler, der um fih hauend die verfolgenden Rüden
zerfleilcht und zurüdwirft, hatte er fich gewehrt, bis
zur äußerten Verzweiflung. Enblih, müde geheßt
zum Tode, von Munition und Lebensmitteln voll-
fländig entblößt, von ber Übermacht erdrüdt — hatte
er in die Kapitulation von Lübed willigen und fid
jelbit gefangen geben müfjen. In preußiihen Händen
befand fi bi8 dahin Fein franzöfifcher General, ber
für den grimmen Reden zur Auslöfung hätte dienen
fönnen. Nun aber endli umfhloffen die Mauern
von Kolberg General Victor, den franzöfifchen Feld:
berrn, und Blüdher ward frei!
(Fortfegung folgt.)
m Da —
SE»
241 Ohne Gott,
Roman von ©. Karl.
242
Ohne Gott!
Noman
bon
E. Rarl.
(Fortſetzung.)
Es berührte Hilde eigentümlich, daß die beiden
Männer im Eintreten ehrfurchtsvoll das Haupt ent:
blößten, es kam ihr im Augenblick zum Bewußtſein,
daß ſie in einem Raume weilte, der anderen heilig
war, und mit dieſem Bewußtſein überrieſelte es ſie
wie ehrfurchtsvoller Schauer.
Tauſende und Abertauſende hatten hier im
Lauf der Jahrhunderte auf den Knieen gelegen, vor
dem Gott, den die Neuzeit leugnete. Von hier hatten
fie ſich Troſt geholt, wenn Krieg und Peſtilenz ſie
bedrohten, hierher hatten ſie ihre teuerſten Toten ge—
bettet. Faſt der ganze freie Raum des Fußbodens
beſtand aus Grabſteinen.
Die Sonne warf bunte Lichtſtreifen durch die
farbigen Fenſter und die Schritte der Beſucher hallten
dumpf auf den hohlen Steinplatten. Der Küſter
hatte behufs beſſerer Lüftung zwei gegenüberliegende
Thüren geöffnet, und in dem leiſen Lufthauch, der
hereindrang, bebten die alten vergilbten Bänder, die
von verdorrten Totenkränzen herabhingen. Sie hatten
einſt auf den Särgen Dahingegangener geruht und
liebevolle Pietät fie „zu ewigem Gedenken“ in der
Kirche aufbewahrt.
Auf den Fußfipigen nur jchritt Hilde an ber
Seite ihrer Begleiter über bie uralten Grabtafeln
und fie fühlte zum erften Mal die tiefe Poefie, die
jeden Raum erfüllt, der jahrhundertelang die Stätte
eines frommen Kultus war, mag man feine Lehren
teilen oder nicht. Es ift als hätte der Geift frommer
Erhebung eine dauernde Spur hinterlaflen, als er:
hielten lebloje Dinge eine Sprade und rebdeien
damit zum Herzen Ipäterer Gejchhledhter. Hilde, bie
Tochter der neuen Zeit, hatte das Gefühl, ale müfle
fie leife auftreten, um die Schläfer da unten nicht
zu weden, die Toten, die einft Menfchen geweſen
waren wie fie und die nah den ehren der
Materialiften nichts anderes fein jollten ala chemifche
Stoffe; die die eine oder andere Verbindung einge:
gangen waren. Ein WMäushen hulchte über bie
liefen — e8 beftand ja aus denfelben Stoffen, was
war fie denn befleres?
Es fröftelte fie plöglich, als flünde fie vor einer
Ihmarzen, öden Höhle, aus der es fie alt und fchaurig
anmebhte.
Der junge Wahrholm beugte fih zur Erbe
nieder. „Hier die Anfchrift ift deutih und noch
teilweije erhalten, obgleich fie vom Jahr — warten
Sie einmal, die römischen Zahlen find nicht jo leicht
abzulefen — vom Sahr 1680 ftammt. Der bier
liegt, ift aljo ein Zeitgenofje des großen Kurfürften
gewejen.” Er begann zu buchftabieren: „‚Hier ruhet
— in Gott — die Tugendreiche —‘ Der Zujammen-
bang ift nicht mehr zu entziffern, aber es ijt ein
junges Mädchen, die Tochter eines Kirchenpatrong.
Nur die Schlußworte find wieder ganz deutlich: ‚eine
fröhliche Urftänd.‘”
„Eine fröhlide Auferftehung,” überjegte Hilde
leife, das war biefelbe Hoffnung, die fie auch auf
den Kreuzen draußen, in Poefie und Proja ausge
drüdt, gelefen hatte, die uralte Hoffnung des
Menihengeihlehts auf Berbeilerung und Bervoll-
fommnung in einem anderen Leben. Someit ihre
Kenntnis reihhte, hatten alle Völler mit höher ent:
widelter Kultur fie gebegt, die Agypter, die uden,
die Griechen und Römer, ja jogar die altnordifchen,
balbwilden Völterfhaften hatten ihr Walhall gehabt.
— Sollte der Glaube an die Unfterblichleit in der
Menichenfeele Shlummern mie der Snftinft im Tier,
dem die Kenntnis von bem, was zu willen ihm not:
wendig ift, angeboren wird?
Hilde firih die blonden LXödchen mit tiefem
Atemzug aus der Stirn, blidte dur die gotijchen
FSenfter in den blauen Himmel hinauf und in ihr
Herz 309 es wie Wärme und Sonnenjcein.
„Wir müflen wohl zurüdlehren,“ mahnte endlich
Paul Wahrholm, der vereint mit dem Kandidaten
noch verjchiedene Votivtafeln an den Wänden ftubdiert
hatte, „die Damen erwarten ung pünttli um fieben
Uhr, der Dampfer fommt bald danach hier vorüber
und jol ung mitnehmen.”
Er jchritt voraus der Thür zu. Der Kandidat
aber näherte ih Hilde, jah ihr mit warmem Blid
ins Gefiht und fragte eindringlid: „Werben Sie
meine Bitte erfüllen, Fräulein Hilde, und in meine
Kirche kommen?”
„3a,“ ſprach das Mädchen leije, aber bejtimmt.
Über das Gefiht des jungen Mannes hujchte
e8 wie ein Sonnenftrahl, er drüdte herzlich ihre
Sand. „SH danfe Shnen, wenden Sie jih an die
große bagere Kirchenfrau mit der weißen Haube, fie
wird SYhnen einen guten Pla anweijen.“
Die Eonne war längft zur Rüfte gegangen und
weiße Nebel brauten über dem Flußthal, als ber
Dampfer mit den Heimkehrenden fih der Stabt
näherte. In vielzadiger Silhouette bob fi ihr
Profil gegen den Klaren Himmel ab und ein Lichter:
franz Ipannte fi darunter in weitem Bogen über
die Ebene.
„Bat wie Venedig,” jcherzte Paul Wahrholm
auf die Äußerung eines Mitreifenden.
„Der lange Aufenthalt im Süden muß bod
eine reizgende Erinnerung für Sie fein,” meinte
Frau Niederftetter.
„Das ift er au und das Schönfte daran war
— —— — —
247 Ohne Gott.
Roman von ©. Karl.
248
Neuen meinen es auch gut mit dem weiblichen Ge: | das Glüd, und nur wenige willen es zu finden.
Ihleht. E& werden von Sahr zu Sahr weniger
Ehen geichlojlen, und mehr als die Hälfte der Frauen
bleibt von dem eigentlichen Beruf des Weibes aus:
geihloffen. Ein großer Teil der Ehelojen ver:
fümmert darüber an Leib und Seele. Dem wollen
wir durch naturgemäßere Snftitutionen abhelfen.”
„Ih weiß, daß hr e8 gut meint, aber hr
leid im Srrtum, Ahr fchabet, wo hr helfen wollt.
Hütet Eu, die Art an die Wurzel der Familie zu
legen, fie it der ftarle Stamm, auf dem unjere
Kultur ruht. — Denen Sie an Rom, Herr
Schmieder, fein Weltreich zerfiel, feine Kultur ver:
faulte von innen heraus, als Üppigfeit und Gitten:
Iofigkeit überhband nahmen. Auch dort begann ber
Verfall mit dem Ruin des Familienlebens.” —
Alma, die bald nad) der Heimkehr des Mannes
das Zimmer verlaflen hatte, Lehrte jegt zurüd und
madte fih” an einem großen ®lasihrant, der
Borzelan und Glas enthielt, zu jhhaffen, fie bereitete
augenjcheinlih einen Ymbiß vor. Schmieder folgte
ihrer fchlanten Geftalt mit verliebten Bliden und
Ihaute unmutig auf die Thür, als fie hinausging.
Set erihien fie wieder und trug ein Tablet mit
Theegerät und Hleinem Badwerl. Sie hatte alles
jo zierlich arrangiert, wie fie e8 in den feinen Häufern,
in denen fie bisher als Schneiderin arbeitete, gejehen
hatte. Das Porzellan war altmodiih und die Ber:
goldung abgenugt, aber es war einft geihmadvoll
und folide geweien, auch fehlte es nicht an ebenio
jolivem, altem Silberzeug. Die Vorftellung, fi in
der Wohnung eines Arbeiter zu befinden, wurde
Frau Nieberftetter jchwer, und fie jprad es aus,
während fie freundlich eine Tafje Thee aus der Hand
der jungen rau nahm.
„Sie find aus gutem Haufe, Herr Schmieder,
ud haben willenjhhaftlihe Bildung, wie halten Sie
es nur im Verkehr mit dem rohen Arbeitervoll aus?”
„Ih bemühe mid), das rohe Material zu ver:
edeln, gnädige Frau, und finde darin meine Be:
friedigung. Ich babe Xelezirkel und PVortragszu:
fammenfünfte eingerichtet und teile den Genoſſen
von den Errungenjhaften der Neuzeit mit, was ihrem
Faflungsvermögen zugänglid ift. Sie glauben nicht,
weld) danktbares Auditorium ih babe. Mander
Profeſſor könnte mich darum beneiden.”
„Und Sie beginnen aud bier damit, daß Sie
das Fundament zeritören, indem Sie den armen
urteilslojen Leuten die Religion nehmen, indem Sie
ihr armjeliges Leben des lebten Nefites von Boefie
entkleiden.”
„Wir brauden keine Religion und wir brauden
feine Poefie, gnädige Frau, denn wir haben bie
Wiffenihaft.e Uns thut not, allen Ballaft von uns
zu thun, das unklare Sehnen nad einem befjeren
Senjeits, das nur die frifhe Kraft lähmt, damit wir
dem Ziele — daß jeder Menih bier auf Erben
glüdlih jei — immer näher rüden.”
„D, hr Thoren,” rief die Frau, „Glüd, un:
getrübtes Glüd für alle hier auf Erden? — Welcher
Gedanke! — Da müßtet ZYhr das Menichengeichlecht
erft umfhaffen, denn in der eigenen Bruft wohnt
Nicht in der materiellen Zage allein ruht die Be:
friedigung, und könntet Zhr diefe auch für alle gleich:
mäßig geftalten, das Unglüd könnt hr dem einzelnen
nicht fernhalten, und bier giebt die Wiflenichaft feinen
Troft. Was nüßt fie dem, der an den Gräbern
feiner Liebften fteht, was nübt fie dem Armen, den
ein unverjchulbeter Unglüdsfall zum nutzloſen Krüppel
madt. Hier tröftet nur die Religion und ihre Lehre
von der Lnfterblichkeit.“
„Sie wollen alfo,“ warf Schmieder ein, „den
Glauben an die Unfterblichleit erhalten willen, als
Mittel zum Zwed, nit aus Überzeugung.”
„Ich will ihn aufrecht erhalten willen aus
Überzeugung — aus wirklicher Überzeugung, denn
ich glaube daran,” rief die alte Frau feierlich, „ich
glaube daran, trog aller Naturmwiflenfchaft, denn
diefe widerſpricht nicht.“
„Aber fie beweift auch nicht,“ jprady Schmieber,
„und nur der Beweis it enticheidend.”
„Er ift nicht enticheidend, wo es fi um Gebiete
handelt, die unjerer finnliden Wahrnehmung ver:
Ihloffen find. Wie wollen Sie zum Beijpiel einem
Blindgeborenen beweilen, daß man zehn Meilen
entfernte Berge noch wahrnehmen könne? Sie fünnen
es nit, wenn er es Ahnen nidt glaubt. Das
einfache Geleg der Logik jcheint mich auf die Fort-
dauer des Menichengeiftes binzumweilen, weil er allein
unter allem Lebenden aus innerem Trieb nach Ber:
ebelung ftrebt, weil es für ihn ideale Güter giebt.
Dielfer Trieb zur Veredelung ijt meiner Meinung
nad) jhon Beweis genug, denn er wäre unnüß, wenn
feine NRejultate mit dem Sndividuum vergehen
müßten.”
„Doh nicht,” warf Schmieder ein, „nad der
Bererbungstheorie fommt jeder yortichritt der ganzen
Rafje zu gut, und die Natur arbeitet daran, Die
Art nicht nur zu erhalten, fondern zu verbeflern.“
„Nun, dann hat die Natur in den legten fünf:
taufend Jahren in Bezug auf das Menjchengeihlecht
jo ziemlich umjonft gearbeitet, und das pflegt ihr
nicht zu palfieren. Die Ausgrabungen in Grieden:
land und Ägypten in den legten Sahrzehnten haben
ganz merkwürdige Nejultate geliefert. Wir find
heute in der Kultur wohl wenig weiter, als es Die
Ägypter zu Zeiten des Mojes waren. Wenn bie
Natur aber derartigen Wedel, wie er nady dieler
Richtung durhmweg auf der Erde herriht, dauernd
zugiebt, jo bemweift fie damit, daß fie anderes
im Auge bat als eine fortichreitende Berbeflerung
der Art. Ein zweiter Beweis für die Fortbauer
liegt für mid) im Spnftinkt des Menjchen, der immer
wieder darauf zurüdgreift, jo oft feindliche Zeit:
trömungen fi Ddiefer PVorftellung entgegenftellen.
Bliden Sie in die Weltgefchichte zurüd. Aus den
Trümmern eines zerfallenden Kultus wädjlt ftets eine
neue Religion hervor, die denjelben Grundjaß bes
Fortlebens in anderer Form bringt. Sollte aber,
was dem ganzen Menihengejchleht jo eingeboren
it, daß e8 wie ein friiher Quell immer wieder
bervorbriht, wie oft man e8 audh zu verjchütten
verfuht, nicht Fingerzeig der Natur fein? Nein,
245 Ohne Gott.
„Sie find erftaunt, mich hier zu jehen,” begann
die Dame das Geipräh, „es befindet fi aber in
Shrem Haufe, unter jehr merfwürdigen Verhältnifien
ein junges Welen, für das ich berzlichites Intereſſe
bege. Sie werden e8 daher begreiflich finden, wenn
ih gefommen bin, um Sie zu fragen, welche Garantie
Sie für Almas dauerndes Glüd bieten können.”
Dem Manne rötete fih die Stirn, es Argerte
ihn, daß die refolute alte Dame ihm fo die Biftole
auf die Bruft fegte. Er richtete fich ftolz auf, warf
ben Kopf zurüd und erwiderte mit pathetiicher Ge-
bärde: „Die Garantie für das Glüd meiner Frau
liegt in meinem Herzen.”
„Das hört fih recht yübjh an, Herr Schmieder,”
erwiderte Frau Niederftetterr, „und im Grunde
haben Sie aud redt, das Slüd muß im Herzen
der Beteiligten feine Grundlage haben, aber wenn
nun dem Gebäude der Ehe die Stüße der Geleh:
mäßigfeit fehlt und das Herz ins Schwanten gerät
— mas dann? ch denke, Sie haben jchon einmal
bewiefen, daß hr Herz fih irren fann.”
„Jedes Menſchenherz kann irren,“ antwortete
Schmieder ernſt. „Hat denn die Stütze der Geſetz—
mäßigkeit meine erſte Ehe gehalten?“
„Ihre erſte Ehe iſt trotz der Geſetzmäßigkeit
gebrochen, weil Sie ſelbſt keine Achtung vor dem
wohlthätigſten aller Geſetze hatten. Das aber iſt
das erſte Erfordernis.“
„Sie wollen alſo zwei Menſchen unter allen
Umſtänden zuſammenſchmieden wie Galeerenſklaven,
nur weil ſie ſich aus Irrtum einmal vereinigt haben?“
„Bei Leibe nicht,“ rief die alte Dame eifrig,
„ich tadle es lebhaft, daß man ſich in der Geſetz⸗
gebung bemüht, die Eheſcheidung noch immer mehr
zu erſchweren. Es giebt Fälle, in denen eine
Trennung den Beteiligten Erlöſung iſt; aber es
iſt doch ein himmelweiter Unterſchied zwiſchen einem
ſolchen Ausnahmefall und der Regel. Was Sie
und Ihre Geſinnungsgenoſſen an Stelle des alten
geheiligten Inſtituts der Ehe einführen wollen, iſt
unheilvoll für Mann und Weib und am meiſten für
die Kinder, die einer ſolchen Vereinigung entſpringen.“
„Das kann ich nicht einſehen,“ erwiderte
Schmieder, „wenn Kinder Unfrieden zwiſchen den
Eltern ſehen, wirkt es ſchlimmer auf ſie, als
eine Trennung.“
„Das will ich zugeben, darum müſſen Eltern
ihren Kindern den Unfrieden fernhalten. Überſetzen
Sie Ihre Theorien aber doch einmal in Wirklichkeit.
Sie ſind jetzt etwa dreißig Jahre alt und haben die
zweite Frau — bis zu Ihrem fünfzigſten Jahre iſt
fiherlih,, wenn Shnen Thür und Thor offenftehen,
das halbe Dutend vol. Die von Shnen aufge:
gebenen Frauen tröften fi” wieder mit andern
Männern, denn was dem einen recht, ift dem anbern
billig — wer fol für die Kinder jorgen, die nicht
mehr willen, wen fie als Vater und Mutter anzu:
jehen haben?“
„Der Staat,” antwortete Schmieder prompt,
„owie alle Individuen gleihmäßig für ihn arbeiten
jolen, bat aud er für alle gleihmäßig zu forgen.”
„Alfo Findelhaus im großen, Maflenerziehung,
246
Roman von €. Karl.
wie unvermeidlih, nach der Edhablone — als Re:
jultat nicht individuelle Perſönlichkeiten, ſondern
Dugendmenihen ohne Sinn für das SHeiligfte, Die
Familie. Sede behaglich eingerichtete Häuslichkeit
nur eine Art Gafthaus mit wechlelnden Bewohnern.”
„Ganz jo dürfte es doch wohl nicht kommen,”
meinte der Mann überlegen, „aber Sie müflen doch
zugeben, daß unfere heutigen Eheverhältniffe nichts
weniger als befriedigend find.”
„Das muß ich leider zugeben, aber auf die von
Shnen vorgejkhlagene Art werden Sie feine Beflerung
erzielen. E83 ift mit der gejeglichen Ehe und mit
Shrem Surrogat bafür, wie mit einem Haufe, das
man befigt, oder in dem man zur Miete wohnt.
„sn meiner Kindheit bewohnte mein Vater als
Univerfitäts-Bibliothefar eine Dienftwohnung. Wenn
ich heute daran zurüddente, jo Steht fie vor mir als
das non plus ultra von Mangelhaftigfeit und doch
fnüpfen Jich meine jchönften Erinnerungen daran.
Sn dem Bewußtjein, daß ein Wechjel ausgeihloflen
jei, befjertten und pußten wir unausgejegt baran,
freuten uns an jeder VBervolllommnung und waren
Ihließlich der Meinung, daß feine andere Wohnung
jo behaglich jei wie die unfrige. Das alte Haus ift
mir bis zu meiner Berheiratung ein liebes Heim
geweſen.
„Auf eine Wohnung, welche man nach Belieben
wechſeln kann, verwendet man weder Mühe noch
Koſten, man zieht eben aus, wenn ſie nicht zu paſſen
ſcheint, und wer ſich einmal an das Herumziehen ge—
wöhnt hat, hält es auf die Dauer nirgend mehr aus.
So wird es mit der Ehe gehen, wenn Sie den
dauernden Beſitz in einen Vertrag auf Kündigung
verwandeln.“
„Einen Vertrag, der befriedigt, kündigt man
aber nicht,“ wendete Schmieder ein.
Frau Niederſtetter ſchüttelte den Kopf. „Den
meiſten von Euch Männern iſt die Liebe zum Weibe
— das heißt zu einem beſtimmten Weibe — nur
eine Epiſode, die vorübergeht.“
„Und halten Sie es denn für ein Glück, zwei
Menſchen noch länger aneinanderzufeſſeln, wenn dieſe
Epiſode, wie Sie es nennen, vorüber iſt?“
„Lieber Schmieder, ich ſprach von den Männern.
Wir Frauen find anders organiſiert — Ausnahmen
natürlich zugegeben. Was das weibliche Herz ein⸗
mal erfaßt hat, das hält es feſt, wenn man es ihm
nicht gewaltſam zerbricht. Das Weib hängt am
Mann, den es beſeſſen hat, der der Vater ſeiner
Kinder iſt, bis zum letzten Atemzuge, und wenn es
ſich gewaltſam von ihm löſen muß, ſo geht häufig
ſein beſtes Teil dabei zu Grunde. Das aber würde
in den meiſten Fällen der Ausgang ſein. Frei—
willige Aufgabe von der einen Seite, ein gebrochenes
Herz auf der andern. Ich habe Ihre Alma lieb,
ein ſolches Schickſal für ſie würde mich ſchmerzen.“
Der Mann beugte ſich über die Hand der alten
Dame und küßte ſie.
„Sie meinen es herzlich gut, Frau Profeſſor,
aber fürchten Sie nichts, ich bin ein ehrlicher Mann,
und hoffe, mit Alma noch das fünzigjährige Jubiläum
unſerer Vereinigung zu feiern. Glauben Sie, wir
247 Ohne Gott.
Neuen meinen e8 auch gut mit dem weibliden Ge:
Ihledt. E8 werden von Jahr zu Jahr weniger
Ehen gejhlofen, und mehr als die Hälfte der Frauen
bleibt von dem eigentlihen Beruf des Weibes aus-
geſchloſſen. Ein großer Teil der Chelofen ver:
fümmert darüber an Leib und Seele. Dem wollen
wir dur naturgemäßere Snftitutionen abbelfen.”
„sh weiß, daß hr es gut meint, aber hr
ſeid im Irrtum, Ihr ſchadet, wo Shr helfen wollt.
Hütet Euch, die Axt an die Wurzel der Familie zu
legen, ſie iſt der ſtarke Stamm, auf dem unſere
Kultur ruht. — Denken Sie an Rom, Herr
Schmieder, ſein Weltreich zerfiel, jeine Kultur ver:
faulte von innen heraus, als Üppigkeit und Sitten:
lofigfeit überhband nahmen. Auch dort begann ber
Verfall mit dem Ruin des Yamilienlebens.” —
Alma, die bald nad) der Heimtehr des Mannes
das Zimmer verlaflen hatte, Tehrte jet zurüd und
madte fih' an einem großen Glasichrant, der
Borzellan und Glas enthielt, zu Jchaffen, fie bereitete
augenscheinlich einen Ambiß vor. Schmieder folgte
ihrer fchlanfen Geftalt mit verliebten Blidden und
Ihaute unmutig auf die Thür, als fie hinausging.
Set erichien fie wieder und trug ein Tablet mit
Theegerät und Tleinem Badwer!. Sie hatte alles
jo zierli arrangiert, wie fie e8 in den feinen Häulern,
in denen fie bisher ala Schneiderin arbeitete, gejehen
hatte. Das Porzellan war altmodiich und die Ver:
goldung abgenugt, aber es war einft geijhmadvoll
und folide gemwejen, aud fehlte es nicht an ebenfo
jolidem, altem Silberzeug. Die Vorftellung, fih in
der Wohnung eines Arbeiter zu befinden, wurde
Frau Niederitetter jchwer, und fie jprad) es aus,
während fie freundlich eine Tafle Thee aus der Hand
der jungen Frau nahm.
„Sie find aus gutem Haufe, Herr Schmieder,
mıd haben willenihaftlide Bildung, wie halten Sie
es nur im Verkehr mit dem rohen Arbeitervolf aus?”
„IH bemühe mi, das rohe Material zu ver:
edeln, gnädige Frau, und finde darin meine Be:
friedigung. Ah habe Xejezirtel und Vortragszu—
fammentünfte eingerichtet und teile den Genoflen
von den Errungenjchaften der Neuzeit mit, was ihrem
Faflungsvermögen zugänglid ift. Sie glauben nicht,
welh danfbares Auditorium ih babe. Mancher
Profefjor könnte mich darum beneiden.“
„Und Sie beginnen auch bier damit, daß Sie
das Fundament zerftören, indem Sie den armen
urteilslofen Leuten die Religion nehmen, indem Sie
ihr armjeliges Leben des lebten Reftes von Poefie
entkleiden.“
„Wir brauchen keine Religion und wir brauchen
keine Poeſie, gnädige Frau, denn wir haben die
Wiſſenſchaft. Uns thut not, allen Ballaſt von uns
zu thun, das unklare Sehnen nach einem beſſeren
Jenſeits, das nur die friſche Kraft lähmt, damit wir
dem Ziele — daß jeder Menſch hier auf Erden
glücklich ſei — immer näher rücken.“
„D, Ihr Thoren,” rief die Frau, „Glüd, un:
getrübtes Glüd für alle hier auf Erden? — Welcher
Gedante! — Da müßtet Zhr das Menichengeichlecht
erft umihaffen, denn in der eigenen Bruft wohnt
Roman von €. Karl.
248
das Glüd, und nur wenige wiflen es zu finden.
Nicht in der materiellen Lage allein ruht die Be:
friedigung, und fönntet $hr diefe auch für alle gleich:
mäßig geitalten, das Unglüd lönnt hr dem einzelnen
nicht fernhalten, und hier giebt die Wiffenjchaft feinen
Troft. Was nübt fie dem, der an den Gräbern
feiner Liebften fteht, was nübt fie dem Armen, den
ein unverjchulbeter Unglüdsfal zum nuglojen Krüppel
madt. Hier tröftet nur die Religion und ihre Lehre
von der Unfterblichkeit.”
„Sie wollen aljo,” warf Schmieder ein, „den
Glauben an die Unfterblichkeit erhalten willen, als
Mittel zum Zwed, nit aus Überzeugung.”
„3 will ihn aufrecht erhalten willen aus
Überzeugung — aus wirklicher Überzeugung, denn
ih glaube daran,” rief die alte Frau feierlih, „ic
glaube daran, troß aller Naturmwillenfchaft, denn
diefe widerjpricht nicht.“
„Aber fie beweift auch nicht,“ Iprad) Schmieder,
„und nur der Beweis ift entjcheidend.”
„Er ift nicht enticheidend, wo es fich um Gebiete
handelt, die unferer finnlihen Wahrnehmung ver:
Ihlofjen find. Wie wollen Sie zum Beilpiel einem
Blindgeborenen beweijen, daß man zehn Meilen
entfernte Berge no wahrnehmen könne? Sie können
e8 nicht, wenn er es Shnen nicht glaubt. Das
einfache Geleg der Logik jcheint mich auf die Fort:
dauer des Menjchengeiftes binzumeilen, weil er allein
unter allem Lebenden aus innerem Trieb nad Ber:
edelung ftrebt, weil es für ihn ideale Güter giebt.
Diefer Trieb zur DBeredelung ift meiner Meinung
nad jhon Beweis genug, denn er wäre unnüß, wenn
leine Rejultate mit dem Syndividuum vergehen
müßten.”
„Doch nit,” warf Schmieder ein, „nad der
Vererbungstheorie fommt jeder Fortichritt der ganzen
Kaffe zu gut, und die Natur arbeitet daran, Die
Art nit nur zu erhalten, jondern zu verbeflern.”
„Run, dann hat die Natur in den legten fünf-
taujend Sahren in Bezug auf das Menjchengeichlecht
jo ziemlich umjonft gearbeitet, und das pflegt ihr
nit zu palfieren. Die Ausgrabungen in Griechen:
land und Ägypten in den legten Jahrzehnten haben
ganz merkwürdige Nejultate geliefert. Wir find
heute in der Kultur wohl wenig weiter, als es Die
Ägypter zu Zeiten des Mofes waren. Wenn bie
Natur aber derartigen Wechlel, wie er nad dieler
Rihtung durhmeg auf der Erde herriht, dauernd
zugiebt, jo beweilt fie damit, daß Tie anderes
im Auge bat als eine fortichreitende Verbeflerung
der Art. Ein zmeiter Beweis für die Fortdauer
liegt für mid im Snftinkt des Menjchen, der immer
wieder darauf zurüdgreift, jo oft feindliche Zeit:
ftrömungen fih diefer PBorftellung entgegenitellen.
Bliden Sie in die Weltgeihichte zurüd. Aus den
Trümmern eines zerfallenden Kultus wädjlt ftets eine
neue Religion hervor, die denjelben Grundjaß des
Fortlebens in anderer Form bringt. Sollte aber,
was dem ganzen Menfchengeichleht jo eingeboren
it, daß es wie ein friiher Duell immer wieder
bervorbrit, wie oft man e8 au zu verihütten
verfucht, nicht Fingerzeig der Natur fein? Nein,
249
Herr Schmieder, unfer Menfchentum ift unvoll:
fommen und wird ftets unvolllommen bleiben,
darum ift es in meinen Augen nur ein Übergangs:
ftadium, wie wir es in der Natur au fonft noch
beobachten fünnen; aber es ift nicht abgeichloffen. Die
Natur, oder, wie ich jage, Gott, jchafft nichts Un:
vollfommenes.”
Alma präjentierte die friichgefüllte Theetafle.
„Sie haben recht, Alma, mi an Shre Gegen:
wart zu erinnern, wir beide vergaßen Sie über
unſerem Geſpräch.“
„O, ich höre ſo gern zu, liebe gnädige Frau,
ich freue mich ſo, Sie in unſerem Hauſe zu ſehen.“
„Ich wollte mich von allen Verhältniſſen durch
den Augenſchein überzeugen und habe, nun es ge—
ſchehen iſt, noch eine Frage an Sie beide. Sie
haben Ihre ‚Ehe‘é, wie Sie Ihre Vereinigung
nennen, aus freier Liebe geſchloſſen. Das heißt,
Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht,
weil die geſetzliche Ehe für Sie ausgeſchloſſen war.
Würden Sie das Verſäumte nachholen, Herr
Schmieder, wenn es mir gelänge, Ihre Frau zu
einer Scheidung zu bewegen?“
„Gnädige Frau, das hieße meiner eigenen Lehre
ins Gefiht Ichlagen,” antwortete Schmieder.
„And eben jpraden Sie aus, daß Sie mit
Alma Yhre goldene Hochzeit zu feiern Hofften.”
„Sewiß, ih hoffe und wünfjcdhe es, aber die
Hoffnung Joll nit dur Zwang zur Erfüllung ge:
bradht werden.”
„Hm, hm,” madte Frau Niederftetter. Alma
aber warf fi weinend an Schmieders Bruft.
„Hans, lieber einziger Sans, nimm den Bor:
Ihlag der gütigen Dame an, ih bitte Dich von
Herzen.”
Die junge Frau hatte Grund zu bdiejer Bitte.
Seitdem eine Dame, bei der fie früher wöchentlich
gearbeitet hatte, ihren Gruß auf der Straße durd
MWegwenden des Hauptes beantwortet, jeitdem ihre
alte gelähmte Großmutter, die immer noch bei Köhlers
lebte, fie abgemwiejen hatte, war ihr zum Bewußtjein
gelommen, daß die Welt eine VBerworfene in ihr jah,
und viele heimliche Thränen waren fchon über dieje
Erkenntnis gefloffen. Schmieder durfte dieje aber
nicht jehen, wenn fie von ihm nicht feige und Blein-
berzig genannt fein wollte.
„Sehen Sie zu, was Sie ausridten, gnädige
Frau,” Iprad) der Mann endlich zögernd, „mir können
dann weiter jprechen.” Aber es zudte, während er
Iprab, Ipöttiih um feinen Mund, er glaubte das
Refultat zu wiflen. SJmmerhin benugte er die Ge-
legenbheit, um Alma zärtlich zu Tüflen.
Frau Niederftetter erhob fih. „Es ift Ipät ge-
worden, und mein Mann fol nicht auf fein Abend:
effen warten. Wollen Sie mir eine Drofchle holen,
Herr Schmieder? Es giebt wohl aud in diefem
Stadtviertel einen Halteplat.”
„Er iſt jogar ganz in der Nähe, gnädige Frau,
und Sie Jollen fofort bedient fein.”
Er verließ das Zimmer, und Frau Niederftetter
wendete fih zu Alma. „Ach babe Yhnen eben ver:
Iprodhen, liebes Kind, den Verſuch zu machen, Frau
Roman-Leltung 1896.
-—
Ohne Gott. Roman von ©. Karl.
250
Schmieder zu einer Scheidung zu bewegen, weiß aber
nicht, ob meine Bemühungen Erfolg haben werden.
Bevor Sie Schmieders redhtmäßige Gattin find,
fann ih Sie nicht bitten, Shre alten Beziehungen
zu meinem Haufe wieder aufzunehmen, das bieke
Shre augenblidliche Stellung vor der Welt janktionieren,
und das fann ic) nicht, aus Überzeugung nidt. Sie
wiſſen wohl, ich bin fonft nicht feige, mich leitet
nicht die Anihauung anderer, jondern die eigene.
Sind Sie aber einmal in Not,” fuhr fie fort, als
fie Jah, daß Alma erbleihend das Haupt fenkte, „Io
wiffen Sie, wo eine alte Freundin zu finden ift.
Ich werde ſtets bereit fein, mit ganzer Kraft für
Sie einzutreten.”
Frau Niederftetter nahm das Mäntelden aus
Almas Händen, ftrih der jungen Frau, die ihr mit
halb erflidter Stimme zu danten verjuchte, freundlich
über die Wange und verließ das Zimmer. Draußen
fuhr die Drojchle vor, Schmieder half mit der Ge:
wandtheit eines Gentleman beim Einfteigen, und in
tiefen Gedanten fuhr die alte Dame ihrer Wohnung zu.
Der Mann aber fehrte in die Wohnung zurüd
und jchloß feine Geliebte feit in die Arme, als wollte
er fih für den Zwang der legten Stunde enti&hädigen.
„Eine gute Frau, die Profefforin,” fprach er,
„aber no ganz in alten Vorurteilen befangen.
Laß Dir die Laune nicht verderben, mein Lieb, laß
uns das jchöne Leben genießen, jo lange wir nod
jung find und uns lieben.”
Er zog fie Eojend auf das Sofa nieder, und
Alma ermwiderte feine Lieblofungen, aber ihre Ge:
danken flogen weiter, zu der Frau, der der Plat
an der Seite des geliebten Mannes gebührte, und
die man zu einem freiwilligen Verzicht überreden
wollte. — Aud fie hatte einft in feinen Armen ge
ruht, und er hatte ihr von der goldenen Hochzeit
geiprocdhen.
Da mar e8 Alma, als griffe eine eifige Hand
in ihren Bufen und preßte das arme Herz darin zu-
fammen, als jollte es file ftehen. — Sie j&haubderte
zufammen und löfte fih langiam aus den fie um:
Ihlingenden Armen ihres Geliebten.
* *
*
An einem der nächſten Tage fuhr Frau Pro—⸗
feſſor Niederſtetter eine Station mit der Eiſenbahn
und ſchlug dann, nach eingezogener Erkundigung, zu
Fuß den Weg nad einem nahe gelegenen Dorf ein.
Sie wußte, daß dort bei ihrem Vater, dem Schul:
lehrer, Frau Schmieder wohnte.
Cs waren bo ganz jeltiame Gefühle, die die
rejolute Dame überfamen, als fie fih dem Haufe
näherte. Sie fam ja, eine rechtmäßige Gattin zum
Verziht zu Gunften einer unrechtmäßigen aufzu:
fordern.
Eine mittelgroße, recht hübiche Frau, in der
Mitte der Zwanziger, öffnete ihr und gab fidh als bie
Gejuhte zu erfennen. Sie trug das jchmarze Haar
glatt geicheitelt und ihre Gefihtszüge drüdten
ruhiges, gefammeltes Wejen und eine nicht gewöhnliche
Energie aus. Frau Niederftetter jagte fich Jofort, daß
IV. 185
251 Ohne Gott.
diefe Frau mit einem Manne wie Schmieder nur
bei gleihen Anihauungen in Frieden leben konnte.
Gegenfäge mußten harte Kämpfe herbeiführen, denn
Schmieder würde Widerjprud faum vertragen, und
diefe Frau ficherlih niemals etwas gegen ihre Über:
zeugung jagen oder thun.
Frau Schmieder führte den Gaft in die niedere,
ländlich eingerichtete Wohnftube und lud zum Sigen
ein. Frau Niederitetter teilte ihr ohne jeden Rück—
halt den Grund ihres Kommens mit und fragte fie,
ob fie eine Verföhnung mit ihrem Manne wünſche
und jür möglih halte. Ym Berneinungsfalle wolle
fie ihr zu einer gejeglihen Scheidung raten, um das
Argernis, das Schmieder und Alma infolge ihrer
Weigerung der Welt gäben, fortzujchaffen.
„Rein, Frau Brofellor,“ Tautete die rubige
Antwort, „ih Tann Shren Wunidh nicht erfüllen,
e8 ginge gegen mein Gewiflen. Es geht heute ein
Zug durh die Welt, der Sitte und Gele um:
Nürzen will, um etwas Neues dafür einzuführen,
was fi der eine fo, der andere jo dentt. Sch muß
ja zugeben, daß recht vieles in unjeren Einrid)
tungen beiler fein fünnte und auch gebeflert werden
muß. Diejenigen aber, die damit anfangen wollen,
erit einmal alles über den Haufen zu werfen, um
tet gründlid neu bauen zu fünnen, richten nur
Unbeil an und man darf fie daher nicht unterftügen.
„Wenn einer, während er fein Haus neu auf:
baut, darin wohnen muß — und wir lönnen aus
unjerer Welt doch nicht heraus — jo darf er es
nicht erft ganz zufammenfcütteln, dann hat er
einen Steinhaufen ftatt einer Wohnung, und ebe
diefe wieder benugbar wird, find die Bewohner zu
Grunde gegangen. Die Neuen machen fich theoretiich
Spiteme zuredt, die fich gelefen recht hübih an-
hören. Mein Mann hat mir viele Bücher dariiber
gegeben. Aber in der Praris fehen fie anders aus,
denn fie find nur für gedachte Menjhen berechnet.
Wenn fie jagen, daß die Frau nur in der Ehe ihren
wahren Beruf erfült, jo haben fie recht und jedes
Mädchen wird gewiß gern heiraten, wenn ber Rechte
fommt. Aber wir Frauen find nun einmal jo, was
wir haben, wollen wir aud behalten, jonft mögen
wir e8 lieber gar nicht.”
„Da haben Sie gewiß recht, Frau Schmieder,”
Ipra die Profefjorin, „und ich ftimme Ihnen durd
aus bei; wenn nun aber das Band doch jchon ge:
riffen ift, wie bei Ihnen, was hilft es da, gemalt:
jam balten zu wollen, was fih nicht halten läßt?“
Die Frau janıı nad, es wurde ihr augenfchein-
ih nicht leicht, die Gedanten zu Süßen zu formen,
hatte fie aber die Worte gefunden, fo Ipracd fie
ruhig und Klar, wie von ihrer Anjchauung feft durd-
Drungen.
„zrau Brofeflor, mein Mann kann feine brave,
rechtihaffene Frau mehr unglüdlih maden, wenn
ih ihn nicht freigebe. Er gehört zu den Männern,
die nicht treu fein können, weil fie immer nur be:
gehren, was fie nicht haben. Der Befik wird ihnen
bald langweilig, Ich bin ihm aud) nur langweilig
geworden und erft nachträglich hat er es fidh zurecht:
gelegt, daß wir nicht zulammen paflen. Er wird
Roman von ©. Karl.
252
auh der Frau, mit der er jebt lebt, nicht treu
bleiben, dieje hat aber fein Necht zur Klage, fie ift
ja nicht feine Frau. Die Treue liegt eben nicht in
feiner Natur, darum kommt ihm die Xehre von der
freien Xiebe gerade recht, fie erllärt ja als gut und
richtig, was nad) unferer alten Moral fündhaft und
verwerflich if.”
„Wenn Sie aber meinen, daß Ihr Mann Shrer
einfach überdrüffig ift, warum wollen Sie ihn denn
nicht aufgeben?” fragte Frau Niederitetter, „Ahr
Stolz müßte es Yhnen doch jo gebieten.”
„Mit dem Stolz ift es ein eigenes Ding, gnä-
dDige Frau, einer ift auf diejes ftolz und der andere
auf jenes. Mein Stolz ift, meine Pfliht fo zu thun,
wie ih fie auffafle. Ih jagte Shnen jchon den
einen Grund, der mich hindert, ihn freizugeben, es
ift aber nicht der Hauptgrund.“
„Run, und diefer Hauptgrund?” fragte der Gaft.
Eine glühende Nöte breitete fich Tangjam über
Gefiht und Hals der jungen Frau aus. „Frau
Profellor, ich hab’ ihn lieb gehabt — und wenn id)
ihn jegt au) aus meinem Herzen geriffen babe, ich
fühle mich doch als feine Frau. Einmal wird die
Beit fommen, vielleicht wenn er ein alter Mann fein
wird, wo ihn alle jeine Liebehen im Stich laflen,
wo er vielleiht frank und elend fih nad einer
belfenden Hand umfieht. Dann wird bie redhtmäßige
Ehefrau da jein und dann wird er die Ehe, die nur
ber Tod jcheidet, auch; wenn es einmal Stürme darin
giebt, zu ſchätzen wiſſen.“
Die alte Dame erhob fi und reichte der jungen
Frau die Hand. „Wenn das Yhre Gründe find, fo
wil ih Fein Wort mehr verlieren. Ich glaubte,
Sie hätten fich beiderfeitig für immer aufgegeben
und Sie wollten den Treulofen nur Yhre Macht
fühlen laflen. ch perfönlich würde anders handeln
wie Sie, aber das ift Anfihtsiade, Ihre Motive
find bohadıtbare.e Mi Hat nur das Mitleid mit
der armen Alma, die troß ihres eraltierten Charakters
IHwad und leitungsbedürftig, aber liebenswürdig
ift, zu Yhnen geführt. ch freue mid, Sie kennen
gelernt zu haben, Sie find ein Charalter.”“
Die Frauen Ipraden noch über Dinge des
äußeren Lebens und Frau Schmieder erzählte, daß
fie jegt, an Stelle ihrer verfiorbenen Mutter, dem
Vater den Haushalt führe. Nach defien binnen ein
bis zwei Jahren erfolgender Benfionierung wolle fie
mit ihm nad der Stadt ziehen und ein Feines Koft-
baus errichten.
„Dein Jungdhen ift im Alter von jehs Wochen
geftorben, mich allein werde ich ſchon durchbringen,“
meinte die rejolute Frau, „id werde nie nötig
haben, meinen Mann um Unterftüßung zu bitten.”
Sie geleitete ihren Gaft no bis zur Eifenbahn-
ftation, und Frau Niederftetter trat die Rüdfahrt in
jehr ernfter Stimmung an. Almas Schidjal war
jet befiegelt, aber fie mußte die legitime Frau hoch:
Ihäten. Sicher liebte fie ihren treulojen Mann
immer no — melden Schat hatte ber Thor von
ſich gewieſen!
253
VL
Ein berbfillarer Sonntagsmorgen lächelte über
den Straßen der alten Stadt, von allen Türmen
läuteten die Gloden zum Gottesdienft und auf allen
Straßen zogen erbauungsbedürftige Landleute im
. Sonntagspug der Stadt zu.
Sn ihrem zierlihen Mädchenftübchen ftand Hilde
Steiner und Fämpfte einen legten Kampf. Sie
wollte jo gern zur Kirche geben, es z0g fie mächtig
dahin, ohne daß fie fih Necdenihaft über das
Warum abzulegen wußte. „Es muß wohl Neugierde
fein,” meinte fie fchließlih. Und gehen mußte fie
ja eigentlih, fie hatte e8 dem jungen Kandidaten
verfprodyen und ehrliche Leute halten Wort. — Ja,
gehen mußte fie.
Aber wenn die alte Amalie fragte, wo fie
binginge? Dber wenn Papa fie bei der Rüdtehr
beträfe? Sie jann ein Weilden nah und warf
dann energilh den Kopf in die Höhe. Warum das
Zaubern und Zagen. Für Amalie fand fi wohl
eine Ausrede, und Papa würde fie die Wahrheit
jagen, ihren Kirhenbefuh als einen Alt der Höflich-
feit hinftelen. Sie hielt ihn ja jelbit dafür.
Eie vollendete raid ihren Anzug und jchidte
fih zum Gehen an. Halt, gebraudte man nicht in
der Kirche ein Gejangbuh? Sie befaß nod) eines
aus dem Kadlaß ihrer verftorbenen Mutter, es
ftand feitdem unberührt in ber Ede ihres Bücher:
Ihränthens. Da war e8 — aber fie wollte es doc
lieber in die Tafhhe fchieben — wie, wenn eine
Freundin fie fragte, warum fie, die NReligionslofe, in
die Kirche ginge?
Amalie war in der Kühe und Papa in feiner
Arbeitsftube, als fie das Haus verließ. Sie atmete
erleichtert auf und jchlug den Weg zur Altftadt ein.
Das Glodengeläut war längft verftummt und
feierliche Orgeltöne j&hallten ihr entgegen, als fie in
die hochgewölbte Vorhalle eintrat. YZaghaft that fie
einige Schritte — da Tam die große bagere Frau
mit der weißen Haube, von der Egon geiprochen
hatte, auf fie zu — fie jchien fie erwartet zu haben
— faßte fie leife am Armel und führte fie in biefer
abfonberliden Form faft dur die ganze Länge ber
Kirche zu einer Sitreihe, in der ein Plaß leer ge:
blieben war, odgleih rund herum alle Stände dicht
befegt waren. Mit den leilen Worten: „Hier,
BEP wies fie darauf hin und verihwanb
ofort.
Im erſten Augenblick wagte Hilde gar nicht
aufzublicken, ihr war als müßten alle Augen auf
ſie, die zu ſpät Gekommene, gerichtet ſein, aber bald
wurde ſie gewahr, daß immer noch neue Andächtige
eintraten und daß niemand auf ſie achtete, das gab
ihr wieder Mut. Sie zog ihr Geſangbuch hervor
und blätterte unſchlüſſig darin hin und her. Da
traf ſie auf den Namen Paul Gerhard, ſie kannte
ihn aus der Litteraturſtunde, ſie wußte, er war
einer der vorzüglichſten Kirchendichter des ſiebzehnten
Jahrhunderts geweſen. Sie wollte ſich jetzt ſelbſt
überzeugen und las die tief empfundenen Verſe,
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
254
während die Orgel mäßig durch den Raum brauſte
und ihr Herz in banger Erwartung ſchlug, ſie wußte
nicht weshalb.
„Befiehl Du Deine Wege
Und was Dein Herze kränkt,
Der allertreuſten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Giebt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da Dein Fuß gehen kann.“
Ja, troſtreich mußte ein ſolcher felſenfeſter
Glaube ſein, aber wer hatte ihn noch? —
Während ſie die letzten Zeilen las, ſchwieg der
Geſang und die Orgel ſchloß mit einem kurzen
Nachſpiel.
Wie ein leiſes Rauſchen und Kniſtern ging
es jetzt durch die Kirche, die Gemeinde erhob
ſich von ihren Sitzen, um ſtehend das Evan:
gelium anzuhören. Auch Hilde ſtand auf und zum
erſten Mal erhob ſie frei das Haupt und ſchaute
durch den Raum.
Da ging es ihr wie ein elektriſcher Schlag
durch den ganzen Körper. Gerade vor ihr erhob
ſich die Kanzel, ſie hatte es bis jetzt noch nicht be
merkt, und darauf ſtand Egon. Er hatte das Haupt
tief auf die gefalteten Hände geneigt, jetzt erhob er
es und ihre Blicke trafen ſich. Wie ein Leuchten
ging es über ſein Geſicht und es war ein Jubelton
in ſeiner Stimme, als er begann:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß
nicht, was er Dir Gutes gethan hat.“
Er fprach das Gebet und las Evangelium und
Text, aber Hilde hörte die Worte kaum, ſie hielt
die Hände krampfhaft gefaltet und die Augen darauf
geſenkt, bis ihre Nachbarinnen ſich wieder ſetzten
und ſie es ihnen mechaniſch nachthat.
Da erſt wagte ſie wieder den Blick zu dem
Manne zu erheben, auf deſſen Wunjch fie heute ge-
kommen war.
Egon ſprach ſchön, formgewandt und eindring⸗
lich, er unterließ jede Salbung und jedes theatralifche
Pathos. Auch hatte er mit richtigem Takt ver—
mieden, heute, wo er hauptſächlich für Hilde ſprach,
das chriſtliche Dogma in den Vordergrund zu ſtellen.
Der gewählte Text: „Die Himmel erzählen
die Ehre Gottes und die Feſte verkünden ſeiner
Hände Werk,“ ließ eine freiere Behandlung zu. Er
wollte zunächſt als Fundament den Gottesglauben
in dem Mädchen wecken, ehe er zu dem kam, was
für ihn der Kernpunkt des Chriſtentums war.
Hilde lauſchte mit geſpannter Aufmerkſamkeit
und verwandte keinen Blick von dem Redner. Sie
hatte die Schöpfungsgeſchichte in der Schule nach
der Bibel gelernt, ſie damals mit derſelben Gleich—
gültigkeit wie ihre Vokabeln als Schulpenjum be-
handelt und ſpäter, als ihr Vater mit ihr Natur—
wiſſenſchaft getrieben, daran zurückgedacht wie an
ein Ammenmärchen. Jetzt klang die Sache doch
anders und berührte ſie im innerſten Herzen, ihr
war als werde noch einmal ein „Werde“ ge—
ſprochen, das in der eigenen Bruſt ihr eine neue
Welt erſchuf.
255 Ohne Gott.
Und Egon madte auh an fi eine eigen:
tümlide Entdedung Als jeine Tante ihn im
vorigen Winter aufgefordert hatte, eine Brüde zu
bauen zwilhen Willenihaft und Religion, hatte er
es entihieden abgelehnt, und jett — war er im
vollen Bau begriffen: Sn dem Bemühen, diele
Sfüngerin des Moterialismus der Religion zuzu-
wenden, mußte er Wiberjprüche zu befeitigen juchen,
um nicht ihre Oppofition mwachzurufen, und fiebe,
e3 ging.
Wie ein neuer Weg that es fi vor feinen
Augen auf, und er durfte den Weg gehen, ohne
mit feinem Gewiflen in Konflift zu fommen. Dieje
Überzeugung gab ihm eine foldhe innere Freudigfeit,
daß es ihm war, als hätten jeine Worte Flügel,
die ihn über fich jelbit hinaushöben.
Und aud Hilde fühlte, daß er nur für fie
fprad, und es rührte fie. An beiliger Stätte
fnüpfte fi ein Saden von Herz zu Herzen, ohne
daß die Beteiligten es merkten.
Als nad dem Gottesdienit die Gemeinde ins
Freie ftrömte, hörte Hilde verihiedene Außerungen
des Lobes über die jchöne Predigt. Sie zögerte
no in der Kirche, um ihr pochendes Herz zur Ruhe
fommen zu laflen. Sie wollte als lette das Gottes-
haus verlaflen und lehnte an einer Säule, dem herr:
lihen Boftludium laufchend, mit dem der Drganift
den Ausgang der Gemeinde begleitete.
Da Ichritten zwei behäbige ältere Herren, augen:
iheinlih wohlhabende Bürger und vielleicht Kirchen:
räte, an ihr vorüber.
„Den müllen wir uns warmbalten,” meinte
der eine, „wenn unfer alter Boretius nicht mehr ein-
treten Sollte, wollen wir jehen, daß wir den Schmidt
befommen, er madt ja noch Dielen Winter jein
Eramen.”
„Sa, der Tann reden, da haft Du recht,” ant:
wortete der andere, und dann waren fie vorüberge:
gangen. Hildes Herz aber begann vor Freude über
die Anerkennung, die dem jungen Geiltlichen wurde,
zu büpfen, als wäre ihr jelbjt etwas Liebes gejchehen.
Jetzt ſchwieg die Orgel und fie verließ das
Gotteshaus. Langfam jchritt fie die Stufen hinunter
und dachte nicht daran, das Geſangbuch ängſtlich in
der Tale zu verfteden. Wenige Schritte war fie
gegangen, da Klang ein eiliger Schritt und Egon fland
im |hwarzen Gehrod neben ihr. S$ett wieder derjelbe
wie auf ber Dampficiifahrt, während er ihr auf
der Kanzel wie ein junger Apoftel erjchienen war.
„sh danke Shnen, daß Sie gelommen find,”
—— er warm und ergriff ihre lebhaft ausgeſtreckte
Hand.
„Und ich danke Ihnen für Ihre herrliche
Predigt,“ antwortete Hilde in demſelben Ton. „Mir
iſt, als ſei ich erwacht und ſchaute in eine neue, ſchöne
Welt hinein. Ich ſehe eine Weſenheit, wo ich bisher
nur ein Ding ſah.“
Ein helles Rot flog über das jugendliche Geſicht
des Geiſtlichen und er blickte tief in die ſchönen klaren
Augen des Mädchens, die es ſo ehrlich und treuherzig
zu ihm aufgeſchlagen hielt. Sein Herz ſchwoll vor
Seligkeit und was bisher nur als dunkler, un—
Roman von E. Karl.
256
klarer Wunſch in ihm geruht hatte, wurde Vorſatz.
Dieſes Mädchen mit dem warmen ewmpfänglichen
Gemüt wollte er zu erringen ſuchen für ſein Leben.
Er ſprach aus der Tiefe ſeines bewegten Herzens
heraus noch ein paar Worte, die Hilde kaum verſtand,
drückte ihre Hand, zog den Hut und war im nächſten
Augenblick in der Richtung der Predigerwohnung ver⸗
ſchwunden. Hilde aber eilte heim, als hätte fie
Flügel an den Füßen.
Schien denn die Sonne nicht noch einmal ſo
ſchön, hallte die ganze Luft um ſie nicht von Jubel—
ſtimmen wieder? Was war ihr denn nur geſchehen? —
Sie hatte wieder Glück, niemand ſah ihre Heim:
kehr und das freute ſie, denn ſie hätte jetzt mit keinem
Menſchen ſprechen können. Sie ſchloß die Thür ihres
Stübchens ab, ſchleuderte die Straßenkleider von ſich
und warf ſich auf ihr kleines Sofa, um in Thränen
auszubrechen, während ihr Herz doch vor Glück zu
ſpringen drohte.
Das Weib hat im höchſten Ausdruck ſeines Ge—
fühls nur Thränen, ſie fließen dem Glück wie dem Leid,
und wehe der Frau, deren Augen es verlernten, ſie
zu vergießen, ſie wäre ſicher der Unglücklichſten eine.
Hilde Steiner war die Tochter eines Mannes,
der ganz aus eigener Kraft ſich zu dem gemacht hatte,
was er war. Als Sohn eines Seminardirektors war
er unter ſtrenger Zucht in orthodox⸗chriſtlichem Sinn
aufgewachſen und vom Vater zum Theologen beſtimmt
worden. Schon mit ſechzehn Jahren hatte er die Uni—⸗
verſität Berlin bezogen und war dort ſofort in Kreiſe
gekommen, die ihn der Theologie, zu deren Studium
er ſich überhaupt ganz ohne Neigung entſchloſſen
hatte, völlig entfremdeten. Er ſchrieb ſeinem Vater
ſchon im erſten Semeſter, daß er ſich den Natur—
wiſſenſchaften zugewendet hätte und dabei zu bleiben
gedächte. Eine ſchwere Verſtimmung war die Folge,
die zum völligen Bruch wurde, als der Student ſich
in dem darauffolgenden Frühling — dem des Jahres
1848 — an den politiſchen Unruhen beteiligte und
endlich ſein Heil in der Flucht ſuchen mußte.
Der Vater eines „Hochverräters“ zu ſein, ging
dem hochkonſervativen Beamten zu ſehr gegen die
Natur. Er zog ſeine Hand ganz von dem „Unge—
ratenen“, wie er ihn bezeichnete, ab und verbot ihm
ſogar die Führung des väterlichen Namens, ein
Verbot, dem Steiner ſich indeſſen nicht fügte.
Nur mit einem ganz kleinen Notgroſchen, den
die Mutter ihm heimlich zugeſteckt hatte, ausgerüſtet,
ging er in die Fremde, um ſich als Sprachlehrer
etwas zu erwerben und die Zeit zur Rückkehr abzu—
warten. Einige Jahre ſtieß er ſich ſo herum, bis ihm
dieſe gewährt wurde. Sich durch Stunden und ſchrift—
ſtelleriſche Arbeiten ernährend, vollendete er ſein
Studium auf einer ſüddeutſchen Univerſität und ſpäter
in Berlin, doch trug man ihm ſeine politiſche Ge⸗
ſinnung nach und ſtellte ihn nicht an. Seine be:
deutende Begabung konnte aber nicht verborgen
bleiben, ein hervorragender Gelehrter rief ihn zu ſich,
um ſeiner Hilfe bei weitgehenden Forſchungen teil⸗
haftig zu werden, und endlich fand ſich auch ein Lehr⸗
ſtuhl an einer kleinen Univerſität für ihn, den er
inne hatte, bis ein Ruf als ordentlicher Profeſſor
257 Ohne Gott.
an jeinen jetigen Wohnort ihn dauernd in ange:
nehme Lebensverhältnifje verjegte.
So hatte er erit als Vierziger einen Ehebund
Ihließen fönnen, den aber nad) einigen Jahren volliter
Befriedigung der Tod wieder trennte. Seine einzige
Tochter Hildegard war feitdem fein alleiniges Glüd,
und jein heißefter Wunjch, fie möchte ihm einft einen
Scmiegerjohn bringen, der, an Stelle eines leib-
lihen Sohnes, feine geiftige Erbichaft übernähme.
Vielleicht hatte es die mit Dejpotismus verbrämte
firhliche Richtung des Elternhaufes verſchuldet, daß
der Sohn jo radifal mit den Anfchauungen besjelben
brad. Er befannte fih ohne Einihräntung zum
Materialismus, erklärte jede Religion für unfinnig,
ja für Ihädlih, und ging fogar foweit, alle Geift-
liden ausnahmslos für Heuchler zu erllären. Ein
gebildeter Menih könne unter feinen Umftänden
religiös fein, meinte er, entweder er betrüge fich
jelbft, oder er ftreue anderen Sand in bie Augen.
Die legte kirchliche Handlung, an ber er teilgenommen
batte, war feine Trauung gewejen. Er hatte fidh ihr
nicht entziehen fünnen, weil die Civilehe noch nicht
eingeführt war. Daß er politiih auf der äußerften
Linten ftand, war jelbftveritändlih, er bezeichnete
ih fogar als Socialdemokraten, wenngleich er vielen
ber Jocialdemofratiihen LXehren nicht beiftimmte.
Als Menid war PBrofefior Steiner hohadtbar
und troß gelegentliher Schroffheiten und Formlofig:
feiten auch jehr beliebt. Als Gelehrter und Foricher
aber hatte er einen ganz außerordentlich hohen Ruf
und die Wifjenichaft verdankte ihm mehrere hochwichtige
Entdedungen.
Mit Profeffor Niederftetter verband ihn ein
herzliches Sreundfchaftsband, das bis in die Stubenten:
zeit zurüdreichte.e So hatte auch feine früh mutter:
[08 gewordene Tochter an Frau Niederftetter eine
mütterlie Freundin, deren eigene zwei Töchter be-
reits jeit einer Reihe von Jahren verheiratet waren.
Das liebenswürdige Mädchen war ihr in hohem
Grade Iympathilh und fie hätte perjönlich eine Ver:
bindung mit ihrem herzlich geliebten Neffen gern ge:
jehen, wenn nicht die Richtung des Steinerfchen Hauſes
eine fjoldhe Möglichkeit vorweg ausgeichloflen hätte.
VD.
Das jhöne Tlare Wetter des Frühherbftes war
durch Regen und Sturm abgelöft. Die lekten
Blätter wurden von den Bäumen gezauft und tanzten
einen trübjeligen Totentanz in floßweilen Wirbeln,
aber bald fam der ftürzende Negen und brüdte fie
der alten Mutter Erde ans Herz. Dort follten fie
vergehen, um in neuer Form von ber ewig fidh
Berjüngenden wieder geboren zu werden. Die Natur
aber läßt fih vom |pürenden Menichenauge nicht in
ihre geheime Werkftatt fchauen und jo bedt fie das
Schneetuch über alles Geftorbene, wie über bie neuen
Lebengleime, die fich darunter regen. Sept freilich
wob fie no an ben erften Fäden dazu, nur ver:
einzelte Floden mijchten fih unter den Regen, um
zu vergehen, jobald fie die Erbe berührten.
Roman von €. Rarl.
258
Bor vier Wochen etwa hatte es in der Stabt
eine Revolution gegeben, eine unblutige freilih und
e8 war nur toter Hausrat dabei ab und zu in bie
Brüche gegangen. Man hatte dieje oft wiederkehrende
Revolution den Dftober:Ziehtermin genannt.
Auch der Arbeiter Köhler hatte mit jeiner Familie
eine andere Wohnung bezogen, ftatt der Dad: batte
er jebt die Kellerwohnung inne. Unter dem Dad
waren die Bewohner im Winter faft erfroren, im
Sommer vor Hite geihmolzen, bier war e8 gleich-
mäßiger, wenigftens gleichmäßig feucht zu allen Sahres-
zeiten.
Köhler betranf fi zum Kummer feiner Frau
iede Woche mehrmals, hatte es aber auf Mahnung
der Frau Profellor bis jest vor feinem Brotherrn
zu verbergen gewußt. So glaubte er wenigftens.
Seitdem ihm Hans Schmieder in einer der regel:
mäßigen Borlefungen, die er bielt, bemwielen hatte,
daß jeine Eriftenz; mit dem Tode aufhöre, glaubte
er aus diefem für ihn recht jammervollen Leben jo:
viel wie möglich herausichlagen zu müflen und that
e3 auf die einzige Art, die er fannte. Wenn er bie
erſten Gläſer Schnaps binuntergegofjen hatte, glaubte
er plöglich nicht mehr er felbft zu fein, ein Gefühl
der Gehobenheit, der inneren Glüdfeligfeit überfam
ihn, ihm war, als fei die rauchige Kneipe ein Königs:
palaft und er der Herricher darin. Und je mehr er
trant, deito jeliger wurde ihm zu Mut, er mußte
Ichreien und brüllen vor LXebensluft und er that es
aus voller Kehle. Zweimal jchon, als er vor Freude
die Släjer zu zerichlagen begann, Hatte man ben
Truntenen binausgeworfen und der Nahtwächter ihn
mit energiihen Stößen aus ber Gofle, wo er eines
feften Schlafes genoß, aufgeftört. Dann war eine
gräßlide Ernüchterung über ihn gefommen und er,
wie ein Kind mweinend, nah Haufe getaumelt.
Die Tage, welche folhen Nächten folgten, waren
freilich furchtbar. Mit fchmerzendem Kopf und zer:
Ihlagenen Gliedern hatte er früh zur Arbeit müflen,
und läjfig gethan, was fich nicht umgehen ließ, dabei
auf fein jammervolles Schidjal, das ihn zum Arbeiter
gemacht Hatte, fluchend und fih auf den nädjften
Trintabend freuend.
Sn jeinem Haufe wurde ihm der Aufenthalt
audh mehr und mehr verleidet. Minna, mit der er
bisher ganz glüdlich gelebt hatte, gab ihm Fein gutes
Wort mehr, fie weinte, murrte oder jchalt, jo oft fie
ihn jah. Sie verlangte am Zahltag feinen Wochen:
lohn und war außer fid, wenn er ihn nicht heraus:
gab. Da hatte er fi zu helfen gewußt, indem er
die neu angeihafften Stüde in Haushalt und Kleider:
Ihranf, die eine Errungenjchaft des guten Sommer:
verdienftes waren, ins Leihbhaus trug. Dann legte
er der Frau ben Pfandichein einfach auf den Tiich
und fie mußte wohl oder übel die Sachen einlöfen.
Sp kam er zu Geld. Natürlich machte fie ihm hinter:
ber eine furdtbare Ecene, die er nur beenden konnte,
wenn er den eriten beften Gegenjtand ergriff und auf
fie losfhlug. Dann flüchtete fie fchreiend aus dem
Zimmer und er behauptete das Feld.
Sie fpeifte ihn jegt mit jchlechtefter Koft ab, gab
ihm am Sonntage, wo fie in guter Zeit ftets Fleiſch
259
auf den Tiih gebracht hatte, faum einen Hering und
Kartoffeln in der Schale — es war ein Elend.
Wenn er nur mehr Gelb gehabt hätte, wäre er gar
nicht mehr nad Haufe gegangen. Daß fie abends
auf ihn wartete, fam nie mehr vor, er ober jeine
ihn geleitenden Kumpane pocdten an den Laden
des niederen Fenſters, fie Tchloß die Thür auf,
empfing ihn mit Scheltworten und jchloß Hinter ihm
wieder zu, ohne fih darum zu kümmern, ob und wie
er in fein Bett fam. Sie hatte jchon längft beide
Kinder in ihre große Beltitatt genommen und ihm
Mariehens jchmales Bett angewiefen, fie wollte
feinen finnlos Beraufchten neben fich haben.
Einmal war er die Treppe hinuntergetaumelt und
unten auf den Ziegeln liegen geblieben, fie hatte ihn
liegen lafen, bis die Kälte, die aus dem Boden
drang, ihn genügend ernüchtert hatte, um, bejubelt
wie er war, ins Bett riechen zu lünnen. Köhler
hätte fih jagen müflen, daß nur der Efel und
Abiheu feine faubere, ordentlihe Frau jo handeln
ließ, er fah aber darin nur „Nieberträcdhtigfeit”, wie
er e8 nannte und fuchte fie auf jede Weife zu ärgern.
Und noch einen anderen Sammer wollte er im
Alkohol erläufen. Mariechen, jein Abgott, war wieder
franl. Die Herbftftürme und eine Erfältung beim
Umzuge hatten das Kind niebergeworfen. Die gute
Frau Niederfteiter hatte zwar fofort den Arzt ge:
endet und es ging ja au jchon etwas beiler; aber
der Gedanke, daß fein Liebling dem Tode verfallen
jet, den Tode, von dem es fein Erwahen mehr gab,
war ihm doch wieder vor bie Seele gerüdt.
Er arbeitete in ber Fabrik in einer Abteilung,
wo er täglich mehrmals den jungen Wahrholm zu
Gefiht befam und der Anblid diefer blühenden
Jugend gab ihm fiel einen Stih ins Herz. Er
war zufällig dabei gewejen, al$ man vor zwei
Sabren den „Todesfandidaten”, wie man den
Süngling damals nannte, in Kiffen verpadt in den
Wagen getragen hatte, um ihn nach Stalien oder
jonft irgendwohin zu bringen. Set war er fern:
gejund, konnte fteinalt werden und hatte durch feinen
Vater auch Geld genug, um das jhöne lange Leben
genießen zu können.
Und er mußte trinfen, um wenigftens für
Stunden fih glüdlih zu fühlen, und fein berziges
Mariehen mußte fterben, weil er fein Geld hatte,
um es dahin zu fchiden, wo es, wie der junge Paul,
gejund werden mußte. Der Gedanke, fein liebftes
Kind hingeben zu müflen, war ihm immer furdtbar
geweien, aber e8 lag doch immerhin nod ein Troft
darin, daB es dann im Himmel fein und dort auf
ihn warten werde, bis er jeine befchwerlihe Erden:
fahrt vollendet habe. Aber denken zu müflen, daß
er den entjeelten geliebten Körper nur in die Erde
legen Fönne zur Speije für die Würmer, und fi
dann mit bem Gedanken tröften müflen, der All
mutter Natur wiedergegeben zu haben, was ihr ge
bübhre, damit fie anderes baraus jhaffe — das traf
ihn ins innerfte Herz, das konnte er nicht überwinden
und er griff zum Glafe, um wenigitens für Augen-
blide zu vergeflen, was ihm bevorftand. Er Tonnte
auch das bleiche Leidensgeficht der Kleinen nicht mehr
Ohne Gott. Roman von €. Karl.
260
anjehen und er machte fih auch gegen fie abftchtlich
raub und hart, um feinen inneren Jammer zu ver:
bergen.
Er jaß eines Tages nad Arbeitsihluß allein
in der verräucherten Schankftube, feine Kameraden
waren noch nicht erfchienen, fie jaßen daheim beim
Abendeffen. Er aber hatte nur eine Portion Kar:
toffeln mit Salz hinuntergeihlungen und war aus
dem Zimmer gegangen. WMinna batte wieder ge
zanft, weil er von dem geftern erhaltenen Wochen:
lohn ihre nur eine Kleinigkeit zur Beftreitung der
Wirtfehaft abgegeben; fie hatte ihm vorgehalten, daß
fie nit einmal das franfe Kind pflegen, nicht ein-
mal die Medizin bezahlen könne, fie hatte ihn einen
Rabenvater genannt und gemeint, er tolle lieber gar
nicht nach Haufe fommen, er fei die Kartoffeln nicht
wert, die er verzehre. Zu mehr als trodenen Kar⸗
toffeln reiche es ja überhaupt nicht mehr. Der Fabril:
berr habe die Löhnung am Freitag Abend eingeführt,
damit bie Hausfrauen auf dem Sonnabendmarlt
ihre Bebürfnifie einfaufen fönnten, ehe die Männer
Zeit gehabt hätten, ihren VBerdienit am Sonntag zu
vertrinten. — Sie fünne nichts mehr einkaufen,
weil fie einen Säufer zum Mann babe, der den
Ihönen Berdienft fchon dur die Gurgel jage, ebe
er ihm gehöre. — Da hatte er die Thür in die
Hand genommen und war hinausgegangen.
Nun faß er allein in der Kneipe und mwälste
die jammervollfien Gebanken in feinem wülten Hirn.
Einen Rabenvater hatte Minna ihn genannt und er
verdiente ja die Bezeichnung — aber wer wußte
denn, wie ihm zu Mute war. Ob fein Mariedhen ihn
auch für einen Nabenvater hielt? Es fah ihn oft
jo traurig an — fo vorwurfsvoll. —
Der Mann padte das Haar über feiner Stirn
und riß in Verzweiflung daran, bis er einen Büjchel
in der Hand behielt. Sa, ja, er war ein jchlechter
. Kerl, ein ganz mijerabler Samilienvater — er hätte
fich jelbft anipeien mögen, jo verädhtlic fam er fich
vor. Ein Rabenvater — ein Nabenvater — und
Mariehen würbe fterben und diefe Meinung von ihm
mit ins Grab nehmen. — Wenn er doch etwas thun
fönnte, etwa® ganz Ungeheures. Wenn er das Kind
retten fönnte — er ganz allein.
Er hatte jchon mehrere Släjfer Schnaps hin:
untergeftürzt und fein nie mehr ganz Mlarer Kopf
begann zu glühen. — Wenn er zu dem Fabrikheren
binginge und zu ihm Iprähe: „Herr, Jhr Sohn
war todfranf und ift ganz gejund geworden, meine
Tochter jo auch gefund werden. Geben Sie mir
foviel Geld, als gebraucht wird, um dahin zu kommen,
wo die gute Luft ift, die die Kranken geſund macht,
und ich will Ihnen dann zehn Jahre ganz umjonft
dienen.”
%a, ja, jo mußte e8 gehen. — Er fing an zu
berechnen wieviel bares Geld diejer Vorjehlag re:
präfentierte. Er berechnete Jeinen Monatsverdienft,
multiplizierte ihn mit zwölf und dann no einmal
mit zehn. Es war eine jaure Arbeit, die er faum
bewältigte. Er hatte aber ein Stüdchen Kreide in
der Taihe und fchrieb die Zahlen auf den Tiihd — Jo
Tam er endlich zu einem Rejultat, das ihm richtig Ichien.
261 Ohne Gott.
Herrgott, das war ja eine ungeheure Summe,
er hätte nie geglaubt, daß er fo viel wert fei, faft
befam er Ehrfurcht vor fich jelbft, denn er hatte über
viertaufend Markt ausgerehnet. Das viele Gelb
fonnte ja lange, lange nicht verbraucht werben, die
Frau Profefjor würde gewiß alles fehr praftiich ein-
richten, denn daß fie die Sade in bie Hand nehmen
mußte, verftand fich von Jelbft.
Der Mann phantafierte immer weiter. Trinfen
fonnte er dann freilich nicht mehr, aber das war
dann au nicht nötig. Einen alten Rod würbe ihm
wohl fein Herr oder die Frau Profeflor gelegentlich
Ihenfen, den Haushalt mußte Minna allein unter:
balten, fie hatte es ja jchon feit Wochen, feitdem er
alles vertrant, gethan. Sie würde gewiß au
freundlich zu ihm fein, fie hatten fih doch früher
lieb gehabt, und fein Mariechen, wenn es erft gejund
und groß wäre, würde ihn gewiß nicht Not leiden
lafien. Mariehen würde dann jelbft verdienen und
faufte ihm gewiß ab und zu eine Flache Bier, oder
ein Päckchen Tabak. —
Ja, ja, ſo mußte es gehen, Herrgott, warum er
nur nicht früher auf den Gedanken gekommen war.
Er wollte ihn ſofort ausführen, Herr Wahrholm
konnte doch nicht nein ſagen, wo es ſich um ein
Menſchenleben handelte. Er ſtand auf — ſeine
Beine erſchienen ihm wie mit Blei gefüllt, er taumelte
— ſo konnte er doch nicht zu ſeinem Brotherrn gehen,
er würde ihn für betrunken halten.
Köhler ging mit ſchwankendem Schritt einige—
mal im Zimmer hin und her, die Petroleumlampe
mit dem ſchwarz beräucherten Blechſchirm ſchien an
der Decke wie ein Perpendikel zu pendeln, die be—
ſchmutzten Wände ſchienen zu wanken — er hatte doch
wohl etwas im Kopf — ſo konnte er nicht zum
Herrn gehen. Aber trinken wollte er lieber nicht
mehr, es mußte nun damit genug ſein für alle Zeit.
— Er wollte nach Hauſe gehen und ſührte dieſen
Vorſatz, trotz des erſtaunten Zurufs des Gaſtwirts,
auch aus.
Draußen ſtand er ein Weilchen an die Mauer
gelehnt, denn die Straße ſchwankte wie bei einem
Erdbeben. Neben der Kneipe befand ſich ein kleiner
Materialladen. Im Schaufenſter, das noch nicht ge⸗
ſchloſſen war, ſtanden und lagen allerlei Leckereien,
wie ſie von der Straßenjugend bevorzugt wurden,
Kandis und Gerſtenzucker, Johannisbrot und der—
gleichen ſchöne Dinge. Mariechen aß Gerſtenzucker ſo
gern, ob er wohl noch Geld hatte? Richtig, ein
Nickel befand ſich noch in ſeinem Beſitz, er trat ein,
legte ihn auf den Tiſch und erhielt dafür zwei große
Stangen, in grobes Papier gewickelt.
Nun ging er heim. Heute durfte er nicht
klopfen, die Hausſsthür ſtand offen, es war noch nicht
neun Uhr.
Minna blickte erſtaunt von ihrer Näharbeit auf,
der kleine Junge war auch noch nicht zu Bett ge:
gangen, er ſpielte mit Soldaten, die er ſich aus
einem alten Stück Deckelpapier geſchnitten hatte. Es
gehörte einige Phantaſie dazu, die Gebilde für Soldaten
anzuſehen, aber ihm genügten ſie.
Der Mann zwang ſeine ſchwankenden Beine zu
Roman von E. Karl.
262
feſtem Schritt, ging auf das Bett zu und legte die
Tüte auf die Decke. „Da haſt was.“ Das Kind
blickte mit ſtrahlenden Augen bald den Vater, bald
die Näſcherei an und wußte nicht, was es ſagen
ſollte. Der Mann wartete auch keine Antwort ab,
ſondern ſtrich der Kleinen über das ſchlichte, blonde
Haar und fügte hinzu: „Sei man ruhig, Du wirſt
ſchon geſund werden.“
Dann drehte er ſich um, ſchritt zu ſeinem Bett
und begann ſich ordnungsmäßig zu entkleiden.
Minna hatte die Arbeit ſinken laſſen und ſtarrte
ihn ganz faſſungslos an. War ein Wunder ge—⸗
ſchehen? Nach kaum einer Stunde kehrte der Mann
zurück? Wollte er wieder auf den guten Weg ein—
lenken? Dann wollte ſie ihm entgegenkommen. Sie
ſtand auf, trat zu ihm und fragte: „Willſt Du noch
Suppe eſſen, Gottlieb, es iſt noch welche da?“
Er verneinte, aber in freundlichem Ton, und
ce ih zu Belt, um Sofort in tiefen Schlaf zu
allen.
Piinna aber jaß noch lange auf, fie flidte an
feinem Sonntagsrod, der ihm neulih bei einer
Rauferei in der Kneipe zerrifien worden war. Sie
batte die Arbeit mit Murren begonnen und vollendete
fie unter Hoffnungspollen Gedanten. E& war ja
Unfinn von ihrem Mann, Gerftenzuder zu faufen,
wo das Nötigfte im Haufe fehlte, aber vielleicht war
e8 der erſte Schritt zur Umtehr. Gott wolle es
geben. Sie faltete die Hände und Ichidte ein heißes
Gebet gen Himmel.
Mariehen batte den Tleinen Bruder herange⸗
winkt, ihm die Hälfte ihres Schates gegeben und
den Reſt unter dem Kopfliffen verborgen. Sie hatte
feinen Appetit — aber morgen würde ihr gewiß
befier fein, morgen, morgen —
Der nähfte Tag bradıte Hares Wetter und den
eriten Froft.
Köhler erwadhte wie immer mit dumpfem Kopf
und dem elenden Gefühl des Gemwohnheitsjäufers.
Minna jekte einen Topf mit jogenanntem Kaffee vor
ihn bin, legte auch eine Scheibe Brot daneben, er
fonnte aber faum einen Biffen genießen, ihm war
übel. Wenn er nur einen Schnaps gehabt hätte,
wäre ihm bejler geworden. Dodh der Genuß war
ja jegt für ihn vorbei. So feft hatte er fich geftern
in den abjonderliden Gedanten, fich jelbft gemwifler-
maßen zu verlaufen, hineingevadht, daß er ihm aud
heute in jeinem halbwegs nüchternen Zuftande nod
ausführbar erihien, ja ihm war, als hätte er mit
dem bloßen Entihluß jchon das Schwerite gethan.
Der Mann hatte natürlich Teine Ahnung, um was
es fich eigentlich handelte. Er dachte fi, es gäbe
irgendwo auf der Erde einen Ort, an dem die Stranlen
gefund würden, er batte es ja an Paul Wahrholm
erlebt und biefer Ort wäre für alle erreichbar, bie
genug Geld bejäßen. Unmünbdigen Kindern aber
gäbe man einen Begleiter mit, der alles Nötige für
fie beforgte. Diejen Begleiter fand man durd die
Zeitung. Herr Wahrholm hatte es auch jo gemacht,
er, Köhler, hatte damals in der Fabrik gearbeitet und
man hatte in den Arbeiterkreien davon geiprochen.
Es lag aljo nur am Gelde und das wollte er jchaffen.
— — — —— —
263 Ohne Gott.
Herr Wahrholm machte ja eigentlih ein gutes Ge-
Ihäft dabei; wenn ihn zehn Jahre Arbeit noch nicht
genug büntten, wollte er gerne noch zwei zugeben,
das Sollte fein Hindernis fein.
Als e8 etwa acht Uhr war, legte der Mann,
der vorher teilnahmlos in der Ede gejellen und
feinen Bhantafien nachgehangen hatte, Jeinen befjeren
Rod an, es war ber, an dem Minna bis jpät in
die Nacht hinein ausgebeflert hatte, und Ichidte fich
an, zu feinem Brotherrn zu gehen. Vorher trat er
an Mariechens Bett und ftrih dem Finde, das matt
und teilnahmlos in den Kiffen lag, lieblojend mit
ber Hand über das Gefiht. Das Mädchen griff
nad) feiner Hand und hielt fie einen Augenblid feit,
ed freute fih, daß der Vater wieder gut war — aber
— am Morgen, wenn das Fieber nacdhgelafjen hatte,
fühlte es fih jo müde — ad, jo müde. — Die Finger
löften fi) wieder und die Liber fielen über die ein-
gejunfenen Augen.
„Schlaf man, Mariehen, nu wirit Du bald ge-
fund werden,“ Iprah der Mann und verließ das
Zimmer.
hm war aber jammervoll elend zu Mut und
bie Übelfeit wollte nicht nachlaffen, er fonnte eigentlich
in Ddiefer Verfaffung nicht zum Herrn geben, er bielt
fih ja Inapp auf den Füßen. Ein Schnäpschen
war doch nötig. Er ging nad feiner Stammtneipe
und betrat fie dur die Thür des Materialladens,
diefe wurde bis zum Beginn des Gottespienftes ftets
offen gehalten. Er trat in das Schantzimmer und
forderte einen Schnaps. D, wie das gut that, es
ging ihm wie Feuer durch die Adern. Noch einen —
jo nun hatte er jeine Kraft wieder, aber — brauchte
er nicht heute zu diefem jchweren Gange befonders
viel davon? Sa gewiß, er mußte fih Mut trinken.
Der dritte Schnaps verjehwand in feiner Kehle. Nun
aber war e8 genug. —
Er rief dem Wirt zu, jeine Zeche anzufchreiben
— er batte Shon mehr auf der Kreide — und eilte
ind Freie.
Es war doch ein jchwerer, ſchwerer Gang und
ihm war immer noch ſo merkwürdig umnebelt zu
Mut. Der in den leeren Magen gegoſſene Spiritus
war ihm zu Kopf geſtiegen, ohne ihm das ſonſt
empfundene Gefühl der Friſche zu geben. Aber
wenigſtens ſtraff und gerade gehen konnte er.
So fragte er denn das öffnende Stubenmädchen
nach dem Herrn, den er in dringender Angelegenheit
zu ſprechen wünſche und wurde nach eingeholter Er—⸗
laubnis in die Privatwohnung des Fabrikbeſitzers
geführt, er hatte fie noch nie betreten.
Herr Wahrholm faß mit jeinem Sohn nod an
dem gut bejegten Frübftüdstiich und las die Zeitungen.
Die fleißige Hausfrau hatte fich bereits entfernt, der
Hausherr aber liebte ed, das gemütliche Morgen:
ftündden an den Sonntagen jo lange wie möglich
auszudehnen, weil er fich wochentags nur das Inappite
Mat davon geftattete.
Der Arbeiter warf einen Blid dur) das trauliche
Gemad und über den Til), von dem ihm die filberne
Theemajchine entgegenblitte. Ya, das jah anders
aus als bei ihm daheim. Aus der Ichönen, gemalten
Roman von €. Karl.
überflog.
264
— ln un — — mn — —
Taſſe da mundete das Morgengetränk wohl beſſer
als aus dem geſprungenen Topf ohne Henkel, den
Minna ihm heute vorgeſetzt hatte. Daß dieſer Topf
unter ſeiner trunkenen Fauſt dieſe fragwürdige Form
angenommen hatte, vergaß er bei ſeiner Betrachtung.
Ja, ja, ſeine Kameraden hatten wohl recht. Alle
die Hunderte von Arbeitern mäſteten mit ihrem
Schweiß nur den einen.
denn Schinken und Eier zu eſſen, wenn ſeine Arbeiter
ſich von Cichorienbrühe und Kartoffeln nähren mußten.
Er arbeitete doch nicht.
Auf bequemem Stuhl vor dem Schreibtiſch ſitzen
und ſchreiben oder durch die Fabrik gehen und über
alles raiſonnieren, das war keine Arbeit. Die Reichen,
die ſich die Gebildeten nannten, hatten überhaupt
ſonderbare Begriffe von Arbeit, die neue Zeit erſt,
von der Schmieder ſprach, ſollte es ſie lehren, was
Arbeit ſei. Köhler verſtand darunter, nach Art un—
gebildeter Leute, nur körperliche Arbeit, alles übrige
hielt er für Kinderſpiel.
Der Mann war an der Thür ſtehen geblieben.
Herr Wahrholm hatte ſeinen Eintritt nicht ſogleich
bemerkt und ihm dadurch Zeit gelaſſen, ſeine Be—⸗
trachtungen anzuſtellen, jetzt wurde der Fabrikbeſitzer
durch ſeinen Sohn erinnert und blickte auf.
„Sie ſind es, Köhler! Was giebt es denn?“
Der Arbeiter trat näher, drehte die Mütze in der
Hand, fand aber keine Worte.
„Nun? Iſt etwas geſchehen oder haben Sie eine
Bitte an mich?“
„Ich wollte man —“ ſtotterte Köhler, „ic
dachte bloß — weil der junge Herr — und meine
Tochter iſt doch auch ſo krank —“ der Atem verging
ihm, er ſchnappte nach Luft.
Der Fabrikbeſitzer ſah ihn verſtändnislos an.
„Was iſt es mit meinem Sohn und Ihrer Tochter?“
fragte er erſtaunt, während ſein Blick zu Paul hin⸗
Der Arbeiter wiſchte ſich mit der Hand den
Schweiß von der Stirn und nahm einen neuen An—
lauf. „Der junge Herr war doch ſo krank und —
und meine Mariechen is auch ſo krank — und da
wollt' ich gern — daß ſie in die gute Luft könnte —
und ich will auch gern arbeiten — ich will zehn Jahr
arbeiten — erbarmen Sie ſich bloß, Herr — meine
Mariechen muß ſonſt ſterben.“
Herr Wahrholm begriff immer noch nicht, aber
er ſah, daß der Mann ſich in der unglaublichſten
Aufregung befand. Seine Kniee ſchlugen zuſammen
und die lange Geſtalt ſchwankte wie ein Rohr.
„Nehmen Sie ſich einen Stuhl, Köhler,“ ſprach
er gütig, „und dann verſuchen Sie, mir Ihr Anliegen
zuſammenhängend vorzutragen, ich verſtehe Sie nicht.“
Köhler ergriff wirklich einen Stuhl. Es ſchickte
ſich nicht, in Gegenwart des Herrn zu ſitzen, das wußte
er wohl, aber die Füße trugen ihn nicht länger und
in ſeinem Kopfe tobte es wie ein Waſſerfall. Die
im Zimmer Anweſenden wußten nicht, was ſie aus
ihm machen ſollten und warfen ſich fragende Blicke zu.
Nun begann der Mann zu reden. „Meine
Mariechen hat die Auszehrung, und der Doktor ſagt,
ſie muß ſterben, aber der junge Herr is doch auch ſo
Wozu brauchte der Mann
265 Dhne Gott.
frant geweien und wieder gejund geworben — ba
wollt’ ih bloß ben Herrn bitten — mir das Geld
zu geben. — Wenn fie in die gute Luft fommt —
wird fie auch gefund werden, wie der junge Herr —
und ih will alles abarbeiten.”
Seht begann Herr Wahrholm zu veritehen, ohne
bob den ganzen Sinn fallen zu fünnen. Der Ge:
bante, daß ein Arbeiter fein Kind nad) Sttalien jenden
wolle, war zu abjurbd.
„Sie wollen alfo Ahre Tochter dahin jchiden,
wo mein Sohn nad jeiner jehweren Krankheit ge:
weſen iſt?“
Der Mann nickte.
„Ja, aber lieber Mann, haben Sie denn eine
Ahnung, was das koſtet?“
„Wenn ich zehn Jahr für den Herrn arbeite
macht es beinah' fünftauſend Mark — und ich will
einen Schein unterſchreiben — und die Frau Profeſſor
wird ſchon für alles ſorgen. — Die Minna und
der Junge müſſen ſeh'n, wie ſie fertig werden. —
Die Minna is wieder ganz geſund — meine Mariechen
ſoll nich ſterben —“ ſchrie der Mann plötzlich auf,
ſprang in die Höhe und ſtürzte ſo heftig auf ſeinen
Brotherrn zu, daß dieſer unwillkürlich zurückwich.
„Erbarmen Sie ſich, Herr, und geben Sie mir
das Geld.“ Er ſtürzte wie ein gefällter Baum dem
Herrn zu Füßen und griff nach ſeiner Hand.
Wahrholm ſuchte den Erregten in die Höhe zu
ziehen. Jetzt hatte er trotz der abgebrochenen Rede
begriffen, was der Mann wollte und ſein Verlangen
rührte ihn, trotz der unglaublichen Naivetät, die aus
ſeiner Bitte ſprach. „Setzen Sie ſich wieder, Köhler,“
ſagte er freundlich, „Sie denken ſich die Sache doch
wohl anders als ſie iſt. Wenn Ihre Tochter wirklich
die Schwindſucht hat, hilft ihr auch Italien nicht
mehr, und wollte ich Ihnen die geforderte Summe
geben, ſo würden Sie ſehen, daß ſie noch nicht ein—
mal reicht. Glauben Sie aber, ich oder ein anderer
Geſchäftsmann könne ſo thöricht ſein, die Arbeitskraft
eines Menſchen für zehn Jahr voraus zu kaufen, wo
doch niemand weiß, ob er das nächſte Jahr noch er⸗
lebt? Sie find zudem ein fehr läffiger Arbeiter,
Köhler, wie würde es mit hren Leiltungen erft be
ftelt jein, wenn Sie den Lohn voraus hätten. —
Nein, lieber Mann, Sie thun mir leid, aber Shre
Bitte fann ich nicht erfüllen. Da könnten fonft alle
meine Arbeiter kommen.”
Die Augen des Bittenden, der fi) langlam vom
Boden erhoben hatte, waren immer ftarrer geworden
und aus feinem Gefiht war jeder Blutstropfen ge:
widen. So feft hatte er fich in feine dee binein-
gedadht, daß er nur fehr langjam begriff.
„Allo Sie wollen mir das Geld nich geben?”
fragte er nah einer Weile, während jeine Augen
vor Entjegen faft aus ihren Höhlen traten.
„Nein, Köhler, ich Tann es wirklich nicht. Shre
dee ift gut gemeint, aber völlig phantaftiih und
unausführbar, das werden Sie bei ruhiger Überlegung
ih felbft jagen. Seßt gehen Sie und geben Sie
dieſen Zettel der Wirtichafterin, fie wird Ihnen zwei
TSlajhen guten Wein für Ihr krankes Kind geben.
Koman⸗Zeitung 1R9K.
Roman von €. Karl.
266
Ich will mid nad ihm erkundigen und thun, was
ih fann.”
err Wahrholm hatte, während er jprad), ein
paar Worte auf ein Stüd Papier geworfen und
reichte ihm Diefes.
Dem Arbeiter war, als hätte er einen Schlag
vor den Kopf befommen. Er griff nicht nad) dem
Papier, er ftarrte auf den Boden, ber mit einem
wertvollen Teppich bededt war. Die furdtbare Auf:
regung batte feine Truntenheit — indem ſie
ihm alles Blut nach dem Kopfe trieb. Er ſchwankte
fichtlich, murmelte unartikulierte Laute, ging aber
nicht von der Stelle.
„Nun, warum gehen Sie nicht?“ ſprach Wahr⸗
holm immer noch in gütigem Ton; ihn dauerte der
Mann, der ſich für ſein Kind ſo aufopfern wollte,
und er nahm ſich vor, den Fall genau zu unterſuchen.
„Gehen — wieder fortgehen,“ murmelte Köhler
wie im Traum. Plötzlich aber fuhr er in die Höhe
und raſende Wut ſprach aus ſeinen Zügen, die ſich
krampfhaft verzerrten. Er brach in höhniſches Gelächter
aus. „Wieder gehen — wieder in mein naſſes Loch
kriechen und meine Mariechen ſterben ſehn — ja das
paßt Euch wohl, Ihr Blutſauger. Was geht Euch
das elende Volk an, das ſich für Euch plagt und
ſchindet bis aufs Blut. Ihr ſeid die Herren — Ihr
legt Euch Sammet und Seide unter die Füße, damit
Ihr weich geht, und freßt Euch voll, während wir —“
„Hinaus, Köhler!“ rief Paul aufſpringend und
den Arbeiter am Arm packend. „Wie können Sie
es wagen, in meines Vaters Gegenwart ſolche Worte
zu brauchen, weil er Ihr unſinniges Verlangen ab»
weiſen muß. Hinaus —“
„Biſt Du auch da, Kröte —“ ſchrie der Arbeiter
erboſt. „Daß Dein Vater das Geld, was wir ihm
mit unſerm Schweiß verdienten, für Dich mit vollen
Händen fortſchmiß, das haſt Du ganz in der Ordnung
gefunden; wenn aber mal einer von uns Euch um
Erbarmen bittet, dann heißt es nur ‚raus mit dem
dummen Kerl, was denkt er ſich — raus mit ihm,
ins Elend — wo er hingehoͤrt.“
„Sie find in Verzweiflung, Mann, und dabei
betrunken,“ rief Paul, der den widerlichen Fuſelgeruch
ſeines Mundes ſpürte, „darum will ich Papa bitten,
Ihre Worte nicht auf die Wagſchale zu legen, aber
machen Sie, daß Sie hinauskommen.“
Er verſuchte ihn am Arm nach der Thür zu
ziehen, aber der Betrunkene riß ſich los, focht mit
den Armen umher und rief wild: „Rausſchmeißen —
haha — ich geh' ſchon von ſelbſt, aber erſt will ich
Euch die Wahrheit ſagen.“ Er ſpie aus. „So ſpuck“
ich auf Euch alle — habt man noch 'n bißchen Geduld,
treibt es man noch weiter ſo, dann ſetzen wir Euch
den roten Hahn aufs Dach, dann ſollt Ihr ſelbſt
ſchmecken, was Elend is.“
Er ſtieß Paul, der ihn hindern wollte, abermals
zurück und ergriff die gemalte Taſſe des Hausherrn,
um ſie am Boden zu zerſchmettern.
„So werden wir Euch alle Zzerſchlagen, Ihr —
Ihr — Zumpenpad — Ihr —“
Auf ein Glockenzeichen des Hausherrn war ein
Diener ins Zimmer getreten.
267 Ohne Gott.
Roman von €. Karl.
268
„Schaffen Sie den Bann hinaus,“ | eingegangen war, hatte fie die Wohnung der Groß:
Habrifbefiger. „Sie find aus meiner Fabrik entla
Köhler — ih habe Eie nur aus Mitleid ——
Samilie fo lange behalten, benn id weiß fchon jeit
Boden, daß Sie ein unverbefierlidher Eäufer find.
&3 hat aber alles eine Srenze. Sie werden fi nidt
ERBEN. DER ID SEEN JRLDE:
we. gut, iS gut,“ feuchte der Mann, während
der Diener ihn binauszerrte, „macht Eud) das Leben
gut und jhön — ba ba ha ba —
% %
x
Sin der Naht, die diefem Tage folgte, wurbe
Minna Köhler dur Lärm an der Hausthür aus
dem Schlummer, in den fie fid) geweint hatte, unfanft
aufgeftört. Man bradte ihren Mann finnlos be:
trunfen in fein Haus zurüd, das er am Morgen
bereits verlaflen hatte.
„Ra, nu feid hr audy fertig,” lachte einer der
halb beraufhten Männer, die ihn trugen. „Der
Herr bat ihm heut die Arbeit gekündigt, er fol fid
nid mebr bliden lafien.”
Sie ließen den Betrunfenen adtlos auf Die
Dielen gleiten und entfernten fi taumelnd. Dinna
aber jant mit jammervollem Wehelaut in die Kniee.
— Nun war alles vorbei — vor ihr fland das Elend
und grinfte fie mit hohlen Augen an. —
VI.
Prediger Boretius, der zweite Geiftlihe in der
Altftadt, war immer no nit wieder in fein Amt
eingetreten, jeine Krankheit zog fih länger hin, als
man geglaubt hatte und der Kandidat Schmidt ver:
trat ihn immer no, joweit es möglih war. Er
batte fich viel Liebe in der Gemeinde erworben und
dankte dieje nicht jeinem hervorragenden Rednertalent
allein, fondern aud) jeinem warmen, menjchenfreund-
lien Herzen, das ihn die Wohnungen der Armen
und Kranfen aufjuchen hieß, Troft fpendend, wo er
verlangt und angenommen wurde.
Im Haufe des Arbeiters Köhler war er jeit dem
vorigen Winter ein häufiger Gaft. Der Dann hatte
ihn zwar zuerfi mit Gleichgültigleit, in letter Zeit
jogar mit entjchiedener Abneigung behandelt, jeitdem
er verjuht hatte, ihm ins Gewillen zu reden, ben
Frauen aber, und namentlich der alten Frau Xiedfe
waren feine Befuche eine Wohlthat. Sie freute fidh
die ganze Woche auf das halbe Stündchen, das er
ihr wöchentlich zu jchenten pflegte. Das Lejen wurde
ihr immer jchwerer, und Frau Köhler hatte jo wenig
Zeit dazu; Mariehen aber durfte nicht laut lejen,
fie befam jofort einen Huftenanfall. Da war es denn
der Kandidat allein, der ihr das Wort Gottes ver:
mittelte. Er war e8 auch, der ihr über den Verluft
ihrer Entelin, des legten Welens, das noch auf der
Welt zu ihr gehörte, hinmweghalf.
Seitdem Alma die wilde Ehe mit Schmieder
| mutter nicht mehr betreten dürfen, biefe betrachtete
fie wie eine für fie Geftorbene.
Da war es Egon geweien, der ben Sammer
der alten ;srau durch den Hinweis zu mildern gewußt
hatte, Daß aud ein Sünder nit verloren {e, bab
lieren und ihr beizuftehen, wenn fie in Not geriete,
und tröftete die arme, gequälte Frau mit diefem
Beriprechen nod) mehr als mit allen frommen Worten.
Es ging gegen Veihnadhten und jeit dem Beginn
des HRovember war die alte Frau ins Siedenhaus
gelommen, ihre Borgängerin hatte endlid) das Zeit-
lie gejegnet. Run lag kein Grund mehr für den
jungen Mann vor, fo oft die Köhlerihe Wohnung
zu bejuden und er war in Boden nidht dort ge-
weien; da traf er enblid Minna auf ber Straße
und erfuhr von ihr, daß ihr Mann jeht nie mehr
nüchtern jei und daß fie ihn aus dem Haufe gewielen
babe. DMariehden aber jei wieder gelund, jo lange
wie e8 Dauere.
Da beihloß Egon, die Familie an einem der
nädhjiten Tage zu bejuhhen und fid eingehender nad)
den Berhältnifien zu erkundigen, als es auf der
Straße geichehen Eonnte. Das Haus hatte auch nodh
eine Anziehungskraft für ihn. Der Former Schmieber
wohnte jeit dem erften Dezember in der über der
Köhlerihen Behaujung gelegenen Wohnung. Sein
bisheriger Hausmwirt Hatte auf Almas Entfernung
gedrungen, „er wolle feine ungehörigen Berhältnifje
bei fi dulden,” hatte er gejagt, und Schmieder
daraufhin die Wohnung geräumt. Er hatte genommen,
was gerade leer war, fi aber zu Almas Kummer
ſehr verſchlechtet. Die Fenfter der zwei Kleinen
Stuben gingen auf einen dunllen, unfauberen Hof
und die Küche war beinahe finjter, bildete aber troß
deilen den Eingang zur Wohnung.
Egon wünjchte die junge Frau einmal zu Gefidht
zu befommen, um fidh ein Urteil über ihre Berjönlidh-
feit bilden zu können. Bielleiht war ihm der Zufall
günftig, wenn er das Haus, in dem fie wohnte, öfter
bejuchte.
Mit Hilde war der junge Mann jeit ihrem erften
Kirhhenbefudh öfter zufammengetroffen als fonfl. Es
war, als ob der Zug des Herzens ihnen beiden bie
Wege gewiejen hätte. Sie trafen fi, ohne Berab:
redung, bald bei der Tante Niederftetter — aud)
Hilde nannte die alte Dame jo — bald bei be-
freundeten Samilien, bald bei den zahlreichen Armen,
bie Frau Niederftetter unter Dbhut hatte und zu
denen fie im Berbinderungsfalle eine Vertreterin
jenbete.
So oft fie fi) aber trafen und in die Augen
blidten, fühlten fie immer mehr und mehr, daß es
ein unzerreißbares Band zwiidhen ihnen gab, aber
auch immer Elarer wurde ihnen, daß fich ein Hindernis
zwilhen ihnen türmte und ihnen den Weg zum Glüd
unerbittlih |perrte — ihre verichiedene Anſchauung.
ber Hilde war es an jenem unvergeßlichen
269 Ohne Gott.
Sonntag wie eine Dffenbarung gelommen. Sbre
warme, poetiihe Natur hatte nur eines Anftoßes be-
durft, um die Lehre von einem höheren MWejen, nun
fie ihr in annehmbarer Form geboten wurde, mit
Begeifterung in fih aufzunehmen. Für fie hatte
damit das tote Weltall Leben befommen, was nur
Körper gewejen war, hatte ihr eine Seele erhalten.
Aber fie war zu ehr ihres Baters Tochter, um
prüfungslos binzunehmen, was man ihr bot. Shres
Vaters Bibliothet ftand ihr offen — fie las und
ftudierte mit Feuereifer, jobald fie ihn abwejend wußte,
und mit innigfler Sreude warb es ihr Mar, daß bie
Willenihaft nicht widerjprad. Sie war boppelbeutig,
fie gab jedem, was er von ihr verlangte.
Sie ging einen Schritt weiter, nahm Bibel und
Katehismus zur Hand und ftudierte den chriftlichen
Glauben. D web — da waren allerdings Puntlte,
über die fie nicht hinweg fonnte. Der göttlide Ur:
Iprung Chrifti, die Wunder, die Erlöfung durch den
Glauben. — Da madte ihr Verftand einen Strich;
bis hierher und nicht weiter. Nein, Chriftin im kirdh:
lihen Sinn fonnte fie nicht fein.
Die herrliche Sittenlehre, die jelbftlofe Menjchen:
liebe, die Fejus gepredigt und geübt, die Überzeugungs-
treue, die er gelehrt und mit feinem Tode befiegelt
hatte. Der unerjchütterlihe Glaube an ein ewiges
Leben — das waren Dinge, bie fie begriff, die fie er-
hoben. Aber dann —? Gie follte ein göttliches
Wefen als menjchliches Vorbild betrachten und ihm
nadhftreben? Sie follte glauben, daß die ihr als gütig
und gerecht bezeichnete Gottheit, um einer Sünde der
angebliden Stammmutter des Menjchengefchledhts
willen, Ddiejes ganze Menfchengeichleht der ewigen
Derdammnis preisgegeben hätte? Sie follte glauben,
daß Diele gütige Gottheit fih die Strafe durch ein
blutiges Opfer ablaufen ließ, zu dem fie einen
Menichen beftimmte, der eigentlich ein Gott war?
Der gütige Gott hätte aljo zuerft unvollflommene
Menden gei'haffen, fie dann dur Yahrtaufende für
diefe angeborene Unvolllommenheit durch) VBerdanımnis
geftraft und Schließlich einen ganz fündenlofen Menjchen
gebildet, um diejen die Strafe für alle tragen zu
lafien. Und nun durften die Menjchen weiter fündigen,
hatten es bereits dur abermals faft zwei Jahr:
taujende in der alten Weile gethban und blieben ftraf:
los, wenn fie nur an ben Dpfertod Diejes einen
glaubten. Die aber, denen diejer Glaube verjagt
war, jollten verdammt bleiben. Wo blieb da Gottes
Almadt, wo feine Gnade, feine Gerechtigkeit, wo
jeine Weisheit? Nein, nein und aber nein — an
das jo gefaßte riftlide Dogma von der Erlöjung
fonnte Hilde nicht glauben.
Sefus war als Märtyrer für feine Lehre ges
ftorben. Er hatte uriprünglid nichts gewollt, als
das in Formellram verfnöcherte Judentum reformieren,
als die grobfinnliche Vielgötterei des Heidentums ver-
edeln, indem er, jeiner Zeit weit vorauseilend, Gott
ale einen Geift auffallen lehrte und der Menfchheit
höhere fittliche Ziele ftedte. Er hatte die Liebe ge-
predigt und damit den Keim zu jpäterer gedeihlicher
Entwidelung der Menjchheit legen wollen. Was aber
batte man aus bdiejer Zehre gemaht? Dan hatte die
Roman von ©. Rarl.
270
poetifhen Bilder der orientalifchen Sprechweile für
Wahrheit genommen, man hatte die Klare Lehre des
größeflen Menichen, der gelebt, in Myftizismus ge-
bült und fih im Namen ber Liebe, die man auf das
Banier gejchrieben, jahrhundertelang zerfleiicht. Und
dann war bie Neuzeit, die Willenichaft gelommen,
hatte mit ihrer Tadel alle Ungereimtheiten beleuchtet,
und die plöglich geblendete Denfchheit hatte entweder
die Augen zugedrüdt und das Licht nicht jehen wollen,
oder fie hatte über Bord geworfen, was ihr überlebt
erihien; den Srrtum und die Religion dazu. Man
hatte das Kind mit dem Bade ausgejhütte. War
das nötig?
Hilde juchte ih ale Schriften zu verichaffen,
die ihr die Chriflusfigur in biftoriiher Beleuchtung
zeigten. Sie las Renan, Strauß und andere; fie
verglich ihre Anfichten mit den Ausjprüden der Bibel
und baute ich jelbft eine Religion, die mweitab lag
von ben, was Egon lehrte. Und do war ihr die
PVerfon Selus in diefer menjchlihen Form weit ver:
ftändlicher und jympathifher als vorher. So Tonnte
fie an ihn glauben, während er ihr in firchlicher Be-
leuchtung nichts anderes als eine mythiſche Gottheit
gewejen war.
Aber was würde Egon zu diejer Art von
Chriftentum jagen? Konnte er dulden, daß jein
Weib — fie fühlte, er mwünjchte fie fein eigen zu
nennen — fo feiner Lehre ins Gefiht jhlug? Und
Hildes Herz z0g fich jchmerzhaft zufammen, wenn fie
fih diefe Frage vorlegte. hre Ehrlichkeit verbot ihr,
ihn zu betrügen, und ihr Herz Jühlte, daß die Wahrheit
eine Schrante zwifchen ihnen baute. —
E3 waren nur noch wenige Tage bis zum
MWeihnachtsfeft, da trat Egon eines Tages in die
feuchte Kellerwohnung der Yamilie Köhler und fand
zu feiner Befriedigung die Frau daheim und bie
Kinder abmwejend, fie waren in der Nachmittags:
Ihule.. Er jeßte fich zu der fleißig Nähenden, ber
er eine Unterbredung ihrer Arbeit verbot, und fragte
fie na ihrem Manne. |
„Ah Bott, Herr Kandidat,” Teufzte die Frau,
„ih hab’ keinen Dann mehr, ich hab’ ihm die Thür
gewiefen, weil er alles vertran? und mir und den
Kindern faft die Kleider vom Leibe verfaufte, um fich
Schnaps zu jhaffen. Das konnte ich um der Kinder
willen do nicht dulden. Da nahm ich eines Tages
jeine paar eigenen Sachen, band fie in ein Bündel
und trug fie in die Kneipe, in der er immer jaß.
Erft hat er dann fehr geihimpft, als ih ihn nachts
nicht in die Wohnung ließ, und der Nachtwächter hat
ihn wegen NRuheltörung auf die Polizei gebradt,
nachher aber fol er gejagt haben, e8 jei wohl jo am
beiten, nun fei er ganz fein freier Herr.”
„Aber wovon und wie lebt denn der unglüdliche
Mann?” fragte Egon, als die rau jchwieg.
„Er lungert am Hafen herum und hilft hier oder
ba, bis er ein paar Nidel zufammen bat und dann
vertrinlt er fi. Er fol nur von Schnaps und
trodenem Brot leben. Seine Wälhe und jeine
Sonntagslleiber bat er längft verkauft oder verjegt
und eine Wohnung hat er gar nicht. Wenn er einen
Nidel erübrigt, geht er für eine Nacht in eine Schlaf:
271 Ohne Gott.
file — e8 giebt jolde Spelunten, die Gefindel für
eine Naht aufnehmen — wenn er fein Geld hat, Liegt
er in irgend einem Schuppen oder einer Einfahrt, wo
er ein Bündel Stroh findet. Der Nahtwädhter hat
ihn zweimal fon wegen Obdadlofigkeit verhaften
wollen. Auch aus feiner alten Kneipe haben fie ihn
feines Ungeziefers wegen binausgeworfen. Steht gebt
er nur no in Häufer, wo Gefindel verehrt.”
„Allo ganz verfonmen und verborben,” Iprad
Egon traurig.
„Sa, ganz verlommen — und ift dody mein an:
getrauter Mann,“ jchrie die Frau plögli auf und
legte den Kopf auf die gerungenen Hände „OD
mein Gott und Herr, wie fannft Du das zulaflen?”
„Liebe Frau,” jpradh Egon, „bezeichnen Sie mir,
wenn Sie lünnen, den Aufenthaltsort Ihres Mannes,
ih will verfuden, ihm ins Gemwiflen zu reden und
ihn zu Shnen zurüdführen. Dann jeien Sie barm-
berzig und helfen Sie mir, wieder einen Menden aus
ihm machen.“
„Nein, nein,” rief die Frau wild, „ich will nichts
von ihm wiflen. Er haft mich, weil ich ihm oft die
Wahrheit gejagt habe und er verdirbt mir die Kinder.
Ich will ihn nicht mehr jehen, nie, nie!”
BVergeblich bemühte fi) Egon, der Irmften mildere
Gefinnungen gegen den baltlojen, beklagenswerten
Mann beizubringen, vergebens erinnerte er fie an
ihre Pflicht als Ehefrau, fie blieb bei ihrem Willen,
für Lebenszeit fih von ihm zu fcheiden und ihre
Kinder allein zu erhalten.
„Mit meinem Mariehen geht es ohnehin bald
zu Ende. Sie bejudt zwar die Schule, weil fie es jo
gern will, aber fie ift jo Ihwad, daß fie feine Treppe
mehr fteigen Tann und fiebert jede Nat. Die Lehrer
verlangen auch nichts mehr von ihr, fie lernt joviel
fie will. Mandhmal liegt fie au) den ganzen Tag
im Bette und fieht die Dede an. Ich glaube auch,
fie bangt fi nach dem Bater, aber es ift beiler, fie
fieht ihn gar nicht mehr, als daß fie Efel und Ab-
Iheu vor ihm befommt.”
Egon jagte der armen Frau nod einige Troft:
worte und erhob fih, um zu gehen, ba warb bie
Thür geöffnet und eine junge Frau trat ein. Sie
ftugte, als fie den fremden Herrn erblidte und wollte
fih jchnell zurüdziehen, dohd DMinna rief fie an.
„Kommen Sie nur, Alma, diejes ift der junge
Herr Schmidt, der Shrer Großmutter immer Jo
freundlih vorgelefen und fie getröflet hat, als Sie
fortgingen.”
Alma trat ein, brennende Röte auf den Wangen,
feine andere Begegnung konnte ihr peinlicher fein als
biefe. Sie faßte fich aber gewaltiam, ging auf Egon
zu und bot ihm die Hand.
Roman von €. Rarl.
272
„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Kandidat,
für alles Gute, was Sie an meiner Großmutter ge
than haben.”
„Wenn ich wirklich imftande gewejen bin, ihr
Gutes zu erweilen, fo ift es. herzlich gern gejcheben,
Fräulein Liebe, ich lernte Shre Großmutter ehr
ſchätzen.“
Alma zudte bei der Anrede „Fräulein” zu:
fammen, bie Genofien Schmieders pflegten fie
„Madammdhen” zu nennen uud fie batte fidh ge-
wöhnt, fi als rechtmäßig verheiratet zu betrachten.
Die Anrede „Fräulein“ traf fie ftets wie ein Schlag
ins Geiht. Egon fchien auch ihre ausgeftredte
Hand nicht zu fehen, aber er verbeugte fih höflich.
„Wie geht e3 meiner Großmutter?” fragte fie
endblih, um nur etwas zu jagen.
„I Jah fie jeit mehreren Wochen nicht, fie hat
jet Gejelichaft und auch geiftliden Troft und ge
braucht mih nit. Sie ift aber feit dem Verluft
ihrer Entelin jehr zufammengefallen.”
Um Almas Munb begann es zu zuden. „Können
Sie e8 nicht veranlaflen, Herr Kandibat, daß meine
Großmutter mir geftattet, fie zu bejuchen?“
„3 babe es bereits verjudt, Fräulein Liedfe,
weil ih von einer Zujammenktunft zwifhen Shnen.
Gutes erwartete, aber fie hat es mir abgefchlagen, fie
will nur die Reuige an ihr Herz nehmen.”
„3 babe nichts zu bereuen,” Iprach Alma ftolz,
wendete fi) kurz um und verließ das Zimmer.
Der Kandidat wartete, bis ihre Schritte auf der
Treppe verllungen waren, dann verließ auch er das
Haus. Sn tiefen Gedanten fchlug er den Weg nad
jeiner Wohnung ein. E83 war gelindes Yroftwetter,
dabei Sonnenjdein und der Raubreif funtelte auf
den Baumäften, die jeitwärts über eine Hofmauer
ragten. Da mußte es herrlich im Stadtpark fein und
es war faum ein Ummeg, wenn er ihn durdichitt.
Eo bog er denn von ber Straße ab und befand fi
bald im bligenden Reich des Winters. Sa, bier war
es wirklich jchön und bier war es heimlich und fiill.
Wie mit YZuder überfläubt der Rafen, in zarte
ſchimmernde Kryſtalle gehüllt jedes Zweiglein, darüber
der ladende, gegen ben Horizont fi ſchon purpurn
färbende Himmel und der zarte Duft des Haren
Wintertages. Keine Seele weit und breit, nur eine
Kräbenichar, die in eine Baumgruppe fiel und unter
ihren Füßen eine Reifwolte nieberftieben ließ. Das
Flüßchen im Grunde riejelte noch zögernd zwiſchen
der Eisrinde des Ufers und blanke Eiszäpfchen hingen
En Ihlanten Weidenzweigen, die fi) binein-
audten.
(Bortfegung folgt.)
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
2714
Beiblatt der Pdentihen Noman-Zeilnng.
Altes Gold.
Nun bin der Gaſſen lautem Vielerlei
Ich froh entkommen!
Es hat die Einſamkeit der Bücherei
Mich aufgenommen.
Von den Folianten, die rings Wand an Wand
Hochauf erklettern,
Greif ich heraus mir planlos einen Band,
Ihn zu durchblättern.
Verſchollne Reime von verſunknem Glück
Schaun mir entgegen.
Vergilbter Kram! Schon will das Buch zurück
Enttäuſcht ich legen.
Da durch die Strophen ſuchend noch einmal
Die Augen ſtreifen,
Und plötzlich, lodernd wie ein Wetterſtrahl,
Will's heiß mich greifen.
Tief in die Seele flutet heil'ge Glut
Aus dieſen Weiſen —
Wer war der Dichter, deſſen Lebensblut
Ich hier fühl' kreiſen?
Nicht Jahr noch Name nennt das Titelblatt,
Nicht iſt's zu leſen,
Wer, der fo heiß und tief gejungen hat,
Dereinit gewejen.
Doch ob vergefien auch und ungefanınt
Der Sänger modert,
Sein Glüd und Leid, das bier inı Lieb gebannt,
E8 lebt und lodert!
DO, würd’ au mir einft fold) Poetenlos:
Dem Sein entihwinden
Und nur als Lied fortlebend namenlos
Noch Herzglut zünden!
Konrad Ries.
Die Anfänge der jüngflen lifterarifchen
Bewegung in Deutfhland.*)
Bon ®. von femme.
Sn feinem Buche: „Derbitfäben“ (1886) bat der
Berfafier darauf Hingewieien, daß in jeder Zeit Menfchen
vieler Zeiten leben, d. h. Wirkungen von fi) ausgehen
lafien und Wirkungen anderer empfangen. Als das Reich
wiedererjtand, da lebten noch viele, die 1813 mitgezogen
waren gegen Napoleon I.; neben ihnen jolche, die als
Knaben mit leuchtenden Augen die Sieger von Leipzig und
Waterloo begrüßt, fich fpäter in der Sünglingszeit mit ben
Borftellungen des romantischen Deutichtums begeiftert hatten.
Das folgende Gefchleht trat in bie erften Mannesjahre,
®) Auß der 4. Aufl. der „Seichichte der beutfhen Litteratur® (Dilo Spamer,
Leipzig), die etwa im Ditober beraußfommt db vielemori3 ner bearbeitet ijt.
als die Junirevolution in Parts ausfchweifende Hoffnungen
wedte und enttäufhte; die Nachfolgenden nahnıen in fi
die Stimmungen der Zeit vor 1848 auf, Tießen fih von
Herwegh8 aufreizenden Liedern gefangen nehmen oder nährten
in fih den Haß gegen den Zeitgeift. So ging e8 weiter
bis zu den Stnaben, die 1870 auf den Etraßen die „Wadıt
am Rhein” fangen und unter dem ftolzwehenden Banner
des neuen Neich SJünglinge und junge Männer geworden
find. Wir haben gefehen, wie diefe verichiedenen Gefchlechter
verichiedene LXeitbilder befaßen und im Schrifttum für fie
fämpften. Über auch die Bewegungen auf philojophifchem,
religiöfem und wiffenfchaftlichem Gebiete wirkten auf Die
Neihe der Geichlehter verichieden ein. Die Standpuntte
wecfelten mit größerer Schnelligfeit, da der Völferverkehr
wuchs; vielerort8 vermifchten fich die Wirkungen.
Aber die Zeit febt nit von der Zeit allein, fondern
aud; von der Vergangenheit. Seder Gedanke, jede Vor:
ftellung, mögen fie vor Sahrtaufenden entjtanden fein, finden
ftet3 Zaufende von Einzelgeiftern, die in ihnen etwas ers
wanbtes erkennen und fie in fih zu weiteren Wirkungen
verarbeiten. „Das Leben der Menichheit (Leirner,
„Deutihe Worte“, 1887, ©. 20) fennt in tiefitem Sinne
feine Vergangenheit; e8 ift zeitloß wie die Gedanken felbft,
diefe Nährmülter der Stimmungen und Thaten, wie ba8
Urmweien. So ftrömt fiet3, unerfennbar unferen Augen, in
hunderttaufend Heinen Rinnfalen das, was wir Vergangen:
heit nennen, in den Strom der Gegenwart hinein, und unter
uns wandeln träumerifche, weltflüchtige Inder, jchönheitss
gläubige,, lebensfreudige Griechen, ftarrnadige, nüchterne
Römer unb erwerbseifrige Phöniker. E83 ift ala bürfteten
einmal ausgeſprochene Gedanken danach, wieder Fleiſch zu
werden, als bemächtigten ſie ſich der Seelen, um ſie nach
ihrem Willen zu lenken und wirken zu laſſen.“
Kann man auch dieſe ſteten Wirkungen aus dem geſchicht⸗
lichen Zuſammenhange erklären, ſo iſt das nicht mehr mög⸗
lich bei Anſchauungen und Gedanken, die unmittelbar aus
dem innerſten Weſen bedeutender Menſchen hervorgehen.
Wohl iſt ein Gelehrter imſtande, mit Verſtandesſchlüſſen
ſcheinbar den Nachweis zu führen, daß dieſer oder jener Ge⸗
danke, dieſe oder jene That in einer beſtimmten Zeit not⸗
wendig eintreffen mußten. Man kann bei ſolchen Beweiſen
viel Zeit und viel Geiſt verſchwenden. Aber im Grunde iſt
diefe Notwendigfeit unbeweisbar. Daß wir 3. B. eines
Bismard bedurften, Iäßt fi) darlegen; warum aber diefer
jo genannte Menih an diefer Stelle, jo wie er war, ges
fommen ift, woher er fein Wefenhaftes empfangen hat, das
läßt fih durd) die veritandesmäßige Entwidelung der äußeren
Thatfachen nicht ermeifen.
Alle die erwähnten Gruppen von Gefchlehtern find nun
in der Gegenwart zugleich thätig. Wer wagte nun zu bes
haupten, daß er imftande fei, die Wirkungen unb Gegen:
wirfungen aller zu überjchauen, die Fäden, bie fid) von
Milltonen Spulen aus abhajpeln, verknüpfen, verftärken,
bermwirren, zu verfolgen? Sebes diejer Geichlechter Iebt in
feiner Zeit, jedes bringt in feinem Wirkungsraunme Be-
wegungen hervor. Die eine wädlt langjam an, die zweite
ftürmtfch, eine dritte verzittert, um dann plöglich an fernfter
275
Stelle von neuem aufzuzuden, und mieder eine verjchwindet
ſcheinbar ſpurlos.
Dem gegenüber iſt die Frage berechtigt: „Iſt das
Problem der Geſchichtſchreibung jemals rein zu löſen? Wir
dürfen darauf, ohne den großen Geiſtern der Geſchichts⸗
wiſſenſchaft nahezutreten, mit „Nein“ antworten. Und da—⸗
mit iſt auch verneint, daß eine reine Darſtellung der Litte⸗
raturgeſchichte möglich ſei. Nicht nur wirken die großen
Strömungen der Vergangenheit weiter, nicht nur ſind ein
Leſſing, Herder, Goethe und Schiller noch lebendige Mächte,
nicht nur wirken Stimmungen der Romantik, des jungen
Deutſchland u. ſ. w. fort, von jeder Zeit, von jedem Orte
aus können Wirkungen auf die litterariſche Jugend ausge⸗
übt werden. Und jeder einzelne, er müßte denn bloß for⸗
maler Nachahmer ſein — ein ſolcher läßt ſich vielleicht ohne
Reſt „erklären“ — trägt in ſich ein Selbſt, das aus ſich, aus
ſeinen Stimmungen, Gedanken, Gefühlen heraus Wirkungen
entwickelt, deren Urſache er ſelber in kurzer Zeit nicht mehr
anzugeben vermöchte.
Das mußte vorausgeſchickt werden, damit der Leſer
nicht Gebrechen, die in der Sache liegen, dem Darſteller an⸗
rechne. Es ringt ein Neues, wenn auch nicht im Sinne des
jüngſten Geſchlechtes, aus dem Chaos ſich zu löſen; ein
Neues, das in ſich das Beſte des Alten enthalten wird.
Aber ein Chaos iſt noch nicht darſtellbar. Bei unſeren
Klaſſikern ſind es vornehmlich äſthetiſche Einflüſſe, die wirkten,
abgeſehen von dem freien Selbſt der großen Dichter, das
man als gegeben hinzunehmen hat —; ſchon bei den Jung⸗
deutſchen machen ſich eine Menge von Strömungen bemerkbar,
die mit der Kunſt gar nichts zu thun haben; in der jüngſten
Litteratur iſt ſtellenweiſe ein faſt unauflösbarer Rattenkönig
von Einflüſſen vorhanden, die auf Politik, Religion, Socio⸗
logie, Phyſiologie, auf den Darwinismus, auf den ſtarken
Einfluß von Werken der bildenden Kunſt u. ſ. w. zurück⸗
weiſen und ſich mit der Einwirkung fremdländiſcher Vorbilder
verknoten. Im allgemeinen ſind dieſe Wirkungen von den
Schriftſtellern und Dichtern nicht innerlich überwunden und
in lebendigen Fluß gebracht; ſie ſtellen faſt überall künſtleriſch
ungeformte Trümmer dar; kurz, zumeiſt ſind die fremden
Einflüſſe ſtärker als die Begabungen.
An der Wende des neunten Jahrzehnts befanden ſich
die jüngſten Kräfte, die nicht im Lohndienſt der Tages⸗
zeitungen ſtanden, in einer harten Notlage. Mit wenigen
Ausnahmen vermögenslos, nicht ſelten aus mißverſtandener
Genialitätsſucht einem geregelten Beruf abhold, ſtanden ſie
am Markte, ohne Verwendung zu finden. Die ſogenannten
„vornehmen“ Blätter hielten ſich, da ſie nur mit „Namen“
auftreten wollten, die jungen Talente faſt ganz fern, die
großen Tageszeitungen ebenfalls. So begann zunädjft da=
mal die Zeit der verfehlten Blatigründungn. Mar
Hempel (geb. 1857 in Breslau) gab erft die „Monats-
blätter* in Bremen (1879), bann in Berlin „Die Litteratur“
(1850) heraus. Beide gingen nad) Eurzem VBeftehen ein.
Noch zeigt ih dom „modernen“ Geifte jehr wenig; neben
älteren Schriftitellern von Ruf finden fid) nur wenige des
jungen Gejhlehts ein (AUpenarius, Wildenbrudy, Bulthaupt,
Sul. Hart); der Ton der Kritik zeigt zumeilen cine größere
Stiche, aber noch ift der Naturaligmus, wie ihn Zola ver:
förperte, ein Feind, den man bekämpft. Die Leer bes
fümmerten fih um biefe Verjuche ebenjowenig wie um die
meiſten dichterifchen Arbeiten des nachdrängenden Gefchleht8.
Soviel aud in diefen an Inreife und Phrafenfchwulft vor:
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
276
handen fein mochte, e8 war ein Streben nad Höherem uns
verfennbar. Nur im ganz Kleinen reife wirkten die erften
Arbeiten ber Gebr. Hart, Titgers, Wildbenbruchs und anderer
auf die Jüngften, fonft aber begegneten fie überall bei den
Lefern, mie bei ben allermeiften SKunftrichtern der voll
fommenen Gleichgültigfeit; befonders Lyrik und das ernfte
Drama waren wie in Berruf erklärt. Wohl beitanden einige
Zeitichriften, die Gedichte braten, aber meift nur folche
ihrer Abnehmer; e8 waren Hanbelöunternehmungen, bie auf
die Menge der dihtenden Jünglinge und Sungfrauen red):
neten, aber litterariich nicht den Eleinften Einfluß bejfaßen
und meiteren Kreiien unbefannt blieben. Stennzeichnend ift
e3, daß die großen Unterhaltungsblätter faft gar feine Lyrik
bradten, oder nur, wenn e3 galt, zu einem füßlihen Bilde
einige erflärende Berie zu geben.
Dieje Gleichgültigfeit hat viel dazır beigetragen, daß
fih in mandem Jüngften der Pellimismus gegenüber der
„gebilbeten* Schicht einniftete; Diefe Stimmung bildete den
beften Nährboden für die ſocialdemokratiſchen Gedanken, die
im Laufe der Zeit bi etwa 1885 manden Gefolgsmann
aus diefen Streifen gewannen, ber wieder anf Jüngere Eins
fluß ausübte Steigern mußte fid der Widerwille der be-
gabieren Jugend, mwenn fie jenes Schrifttum jah, das fidh
die goldenen Ähren des Erfolges Schnitt: die Erzeuger ber
Moderomane, die Neuromantifer, beren Epen in ungezäblten
Auflagen von den Lefern verichlungen wurden; die Macher,
die faft alle Bühnen beherrichten, fei e& mit eigenen Werfen
oder mit Verdbeutfhungen franzöfifcher Ehebruchsfomödien.
Und die meiften Stunftrichter fanden nur Worte des Beifall
für das herrfchende Schrifttum, für die Gremdlinge nur jenes
mit Bewunderung gemijchte Zweifeln, das Lelfing ben
Meiftern gegenüber vorfchreibt. Die deutfchen Bühnenleiter,
mit wenigen Ausnahmen, reiften bei jedem von Paris ge-
meldeten Erfolg nad der Haupiftadt Frankreichs, um die
Neuigfeit zu erwerben; um bie ringende, oft Hungernde
Sugend der Heimat befümmerte fie fich faft gar nicht. Wie
oft mit der Erbitterung auch Neid vermijcht fein mochte, fie
war jedenfalls in Grenzen mwohlberedhtigt.
Das find nur äußere Verhältniffe geweien, aber aud
fie haben mitgewirkt, die aufrühreriihe Stimmung zu er:
zeugen und zu vermehren. in den erften Sahren des
neunten Sahrzehnts begann e8 fi zu regen. Die Bühnen:
erfolge Wildenbruch®, an deffen Seite fi in Berlin zunädjit
ein Teil der Hohfchuljugend und der jungen Dichter ftellte,
erregten Hoffnungen auf eine befjere Zeit. Zunäcdft begann
ein Eritiicher Kampf, an deffen Spite die Gebrüder Hart
fi) ftellten. Bon 18852—1S84 gaben fie in fedi8 Heften
„Kritiihe Waffengänge”“ (Leipzig) heraus. Sie wandten
ih) zunächft gegen verfchiedene der „Alten“, Ieider nicht
immer mit genugjamer Überlegung, ob bie Geftalt auch als
Vertreter einer auf der Zugend laftenden Strömung gelten
fönne. Weber Sirufe, deifen Bühnenftüde faft gar nicht auf
die Bühne famen, nocd Albert Träger, der im politifchen
Singfang immer mehr verflachte, verdienten die Stanonen=
ihüffe, die auß den Slartaunen der Stritif gegen fie abges
feuert wurden; Lindau wurde al8 Kunftrichter verdammt,
„Das deutjiche Theater de3 Herrn VArronge* (eine Berliner
Bühne, die da8 Wort „deutih” nur zum Scheine trug) ftart
mitgenommen; Spielhagen? yehler in einem fcharf ge-
Ihriebenen Hefte aufgedekt; Zolad Wahrheiten und Irr⸗
tümer befproden. Nur Graf Schad wurde im fünften Hefte
etwas über Gebühr gepriefen.
an SrDEESESESTEEESEESEEEn
nn,
277
Die „Waffengänge“ enthalten vortreffliche, nicht nur
geiſtreiche Bemerkungen. In den Einleitungsworten zum
1. Hefte heißt es: Dwei Worte find eg, mit welchen id)
die Aufgaben des Aderer® wie des Kritifers genügend be:
zeichnen lafjen: PBrlügen ift Pflegen. — — — Hinmeg niit
der Ihmarogenden Mittelmäßigfeit, hinweg alle Greifenhaftig-
feit und Blafiertheit, hinweg das verlogene Recenjententum,
hinweg mit der Gleichgültigleit des PBublitums und hinweg
mit allem fonftigen Geröll und Gerümpel. Reifen wir die
jungen Geifter [08 aus dem Banne, der fie umfängt, machen
wir ihnen Zujt und Mut, fagen wir ihnen, daß das Heil
nicht aus Ägypten und Hellas fommt, fondern da fie fchaffen
müflen aus der germanischen Bolfsfeele heraus, daß mir
einer echt nationalen Dichtung bedürfen, nit den Stoffe
nad), fondern dem Geijte, daB e3 wieder anzufnüpfen gilt an
den jungen Goethe und feine Zeit, und daß wir feine weitere
Sormenglätte braudjen, fondern mehr Tiefe, mehr Glut, mehr
Größe,
Die Forderung, im beutfchhen Geifte zu Ichaffen, war
fiher berechtigt, aber e8 blieb unauzgefprodyen, maß biefcs
Beiftes eigenfte Artung fei. Der Hinweis auf Goethe Hatte
gleichfalls Berechtigung — er fcdheint aus Anregungen des
Litteraturgefchlchtichreiberg W. Scherer hervorgegangen zu
fein — aber überjehen ift, daß fich der Nat nicht ausführen
fäßt, außer von Goethegleihen; mit Recht verlangten bie
Brüder mehr Tiefe, Glut und Größe — fie durften e8, weil
ihre Begabung über der der Mobdebichter ftand — mo bie
Quellen diejer Tiefe, diefer GIut und Größe lagen, das
zeigten fie nicht. Ä
Aber ihr Wort verhallte doch bei den Genofjen nidjt;
e8 hätte zwar mehr gewirkt, wenn nicht fchon der Natura⸗
lismus nach YZolag Vorbild zu wirken begonnen hätte,
wenn nit ruffiihe und norwegiicde Schriftfteller in den
Gefihtsfreis der Jüngften getreten wären. Damit begann
die Bärung, die dem leitenden Gedanken ber Harts ent:
gegenitand.
Aber ıumnbeacdhtet blieb eine andere geiftige Bewegung,
die ohne Litterarifche Einflüffe aus der tiefften ESchnjudt
bon Sunderitaufenden langlam fich bildete und vereinzelt,
faum beadtet hier und dort hüchtern hervortrat. Aus der
Not der Gemüter, ber geiftigen und der körperlichen, ge:
boren, langfam erftartend im Stampfe gegen den ethiichen
Materialismus, in deflen Herrendienft au ein großer Teil
der berrfchenden Litteratur Stand, erwadıte der ethifcherelt:
giöfe Drang der beutichen Voltsfeele. Daß aber in ihm
jener Quell der „Tiefe, Glut und Größe“ vorhanden war,
das jollten bie Jüngsten — nit alle — erft jpäter erkennen.
Wir werben noch fchen, zu welden Srrtümern fie Dabei unter
dem Cinfluffe des Beitgeiftes, befonber8 der foctaldemo-
fratifheu Gedanken gelommen find.
Ganz in den Dienft diejer ftillen Bewegung hatte fi
ihon jehr früh Otto von Qeirner geftellt (geb. am 24. April
1847 m Schloß Eaar in Mähren) Schon als unreifer
Süngling hatte er den Kampf gegen die Fremdländerei mit
unzureihenden Mitteln begonnen, fon damals die Be-
freiung des beutfchen Empfindens als nötige Vorbebingung
einer neuen Zeit zu begreifen angefangen. Durd) bie Be:
Ihäftigung mit der Naturwiffenfhaft war er einige Sahre
in die Schlingen des theoretifchen Materialismus gefallen
und Hatte dann in einer unklaren äfthetiichen Kunftreligion
Befriedigung geſucht. Aber auch in diefer Zeit ging ber
Leitgedanke nicht verloven; er führte ihn allmählicd, zu einer
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
278
reineren Anfhauung und ließ ihn dahin ftreben, die Bes
bürfniffe des beutfchen Gemüts mit den Forderungen ber
tiefer erfaßten Chriftuslehre zu vereinen. Im Sahre 1883
übernahm er bie Leitung ber „Deutihen NomansYeitung“
(Berlin). Schon im Mai bes Sjahres trat er bier gegen
jene Boefle auf, die fid) ganz von der Gegenwart abwenbdete,
gegen bie fpielerifche Neuromantik, gegen die Iyriihen Beilis
miften, die in dem eigenen Leibe fchwelgen, gegen die Befinger
der Liederlichtett.
„Alle hohen Gedanten, die dag Gefchleht unferer Tage
mit Stolz erfüllen,“ fo fehrieb er damals, „find für die Dic)-
tung nicht vorhanden; nicht jene tiefen Schmerzen, die das
Herz der Menfhheit durdmühlen, nidt die aufregenden
Kämpfe des gejelichaftlichen Lebens, nicht der leidenſchaftliche
Drang, der fih in dem religiöfen Empfinden der erniten
Naturen zu fanımeln beginnt” — — — Und den über
ausbleibenden Erfolg Magenden Dichtern rief er zu: „Wendet
Ihr Eud an die ringenden Geilter? Kündet hr pen
Ehiwantenden eine erlölende Botihaft? Habt Ihr es ver»
judt, die freifende Zeit von ihrem Gedanken zu entbinden?
Ringt hr danad), in Euch felbit die Krankheiten der Gegen-
wart zu befämpfen, um dann, felber gefundet, Srzte und
Seher zu fein, die geijtigen Führer in den Kämpfen unferer
Tage?“
Er fprad) fid) gegen bloße „Tendenzdichtung“ aus, aber
verlangte der Yeit gemäß in ber Didyiung aud) Gedanfen:
inhalt, der aber burd) die formgebende Phantafie Ieben3voN
geitaltet fein müffe. Er forderte die Sugend zum Stampfe
gegen alles linreine der Gegenwart auf; fie follte fi
nicht abmenden von dem Hoffen und Ringen des cigenen
Volkes.
„Wohl mag es jtiller fein in jenen Sphären, in
denen die Phantafie ungeftört von: Slamıpfe der Geifter ihre
Beftalten bildet, aber Doch ift’3 heute fchöner, mitten im Ge=
dränge der Weiftegfchlacht mutig mitzufämpfen. Man fürd)te
nit, daB damit die sreiheit der fchaffenden Straft in enge
Grenzen gebannt fei, der Stoff, den unfere Tage bieten, it
unerfchöpflih groß und fait noch unberührt. Eine Boclie,
welche ji) dem Polfsgeifte verbindet, eintritt für die reinfte
Eittlifeit, die im geiftig freien Glauben an das Höhere
wurzelt, eine folhe wird auch im Bolfe immer tiefere Wurzeln
Ihlagen, ihr gehört die Zukunft, weil dann jene Gedanten
Sieger fein werden, zu denen fid) heute nur die Minderheit
befennt, aber eine Minderheit, die niemals vor dem ethifchen
Materialismus die Waffen itreden wird, die fich nicht Icyämt,
zu befennen, daB ihr Mut, ihr Vertrauen auf befjere Tage
aus der Hingabe an Gott fließt, an ihn, von dent allein die
echte Tyreiheit des Menfchengeiltes jtamımt.”
Sm gleihen Sahre wies er nad, daß der auftauchende
Naturalismus in jeiner Entwidelung zur WYällhung der
Natur führen müfje und nur vorübergehende Mode ei, auf
die notwendig ein Nüdichlag folgen werde.
Ein Jahr Später (Junt 1834) begann er in dem ge:
nannten DBlatte eine eingehende linterfuchung zu beröffent-
lihen, die den Titel „Keime der Zufunftsdidtung” führte
(wieder abgedrudt in „Randbemertungen eine Einſiedlers“,
1885). Hter wieß er zunächft wieder die falſche Romantik
ab und forderte für die Dichtung die Neubelebung des Natio-
nalen. Den Inhalt des Begriffs umjchrieb er in folgenden
Worten:
„Bir wollen werden, was wir no nidt find: ein
Bolt; wir jehnen uns danad), alles zu überwinden, was
279
diefe Einheit im jtaatlihen “eben befümpft. Wir wollen den
Spealismus zur Weltung bringen, der folange niedergeiworfen
war, und nad) feinen Forderungen das jtaatlihe und gejell-
Ihaftlihe Leben reinigen vom lingeiite der Selbftfuddt, der
srivolität und des Sceinwefens. Belämpfen wollen mir
die einfeitige Übergewalt des Mammonismus, betämpfen die
Ungeredtigleit der focialen Gliederung. Der Liebe die
Herrichaft zu gewinnen, ethifche Begeifterung zu weden und
dadurd die Gottenifremdung zu überwinden: das jind die
höchſten Ideale der erniten Geilter unferer Zeit, ihre Ge»
italtung, fomweit fie in den Grenzen der Möglichkeit liegt und
ohne Gewalt erreiht werden fanrı, it die Aufgabe, die der
Weltgeiit dem deutfchen Bolfe gejtelt hat, und die wir mit
vollem Bewußtfein und und der Menfchheit zum Heil löjen
müſſen.“
Dieſe Gedanken gingen an mandem ber Jüngften nicht
wirtungslos vorüber; verſchiedene, ſo H. Friedrichs, Karl
Henckell, Herm. Conradi, Arno Holz u. ſ. w. traten dem
Leiter des Blattes brieflich näher, und die „Roman-Zeitung“
war die erſte in weiteren Kreiſen geleſene Zeitſchrift, die
von den Genannten Beiträge gebracht hat, beſonders
lyriſche. Der Nachhall der Anſchauungen Leirners iſt noch
ſpäter in verſchiedenen Kundgebungen der Jüngſten zu ver⸗
folgen geweſen. Aber als ſie mit ihrer erſten gemeinſamen
Arbeit „Moderne Dichtercharaktere“ (Ende 1884),
herausgegeben unter Mitwirkung Conradis und Henckells
von Wilhelm Arent, hervortraten, ſollte ſich ihre Stellung
gegenüber Leixner bald ändern. Dieſer brachte Juli 1885
als der erſte von den nicht zur Gruppe gehörenden Schrift⸗
ſtellern eine eingehende Kennzeichnung der neuen Be⸗
ſprechungen: „Unſere Jüngſten“ (in die Sammlung
„Herbſtfäden“ [1886) aufgenommen). Hier anerkannte er
bie Zeihen von oft großer Begabung, bie aus den Ge:
dichten ber Anthologie fprah, aber er wandte fich ebenio
entichieden gegen bie Übertreibungen, gegen den Meifiad-
wahn, mit ben fih viele beraufchten, den Atheismus, den
andere felbftgefällig vortrugen, die auftaudhende Neigung
zur vaterlandslojen Socialdemofratie und zu Klingenden
Prunkworten, und damit zur Schaufpielerei vor fid und
anderen; gegen daß Spiel mit Ichmugig erotiihen Bor-
jtelungen, die oft nicht einmal Wiedergabe de Erlebten,
fondern nur Ausgeburten frankthafter Erregung waren. Mit
diefer Iinterfuchung hatte e8 ber Verfalfer, trogben auf:
richtige Teilnahme an dem Werdenden aus ihr fpradh, mit
den Süngften verdorben.
Sm Sahre 1885 gründeten Georg Conrad und
Wolfgang Kirhbah in Münden die Zeitichrift „Die
Gefelichaft“, die fid gleich als „realiftiih” anfündigte; im
April bes gleihen Jahres begann Heinrich Hirt die „Ber-
liner MonatShefte” herauszugeben, die fi nicht lange
hielten, während das erite Blatt biß 1895 beftand und im
engen Sreife viel gelefen wurde. Von da an waren ziwei
Mittelpunkte ber „modernen Bewegung” vorhanden, Berlin
für den Norden, Münden für den Süden. Obwohl vielfach
zwifchen beiden Verbindungen beftanden, To ließ fic) doc
bald wahrnehmen, daß da Stammesweien nicht ohne
Einfluß blieb. Aber die „Berwegung* war damals nod)
immer faft nur auf die litterarifchen Sreife beichräntt; das
meifte, was geichaffen wurde, fand faum.Lejer, mochte es
auch in den Gruppen der Süngiten noch jo viel Lärm er-
regen.
Indeſſen tauchte plöglich jene andere, aus tieferen
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
280
Quellen geborene Bewegung auf, die da8 Erwacden be8
fittlihereligiöfen Dranges verfündigtee Überall, in
Nord und Süd, in Ofterreih und im Reiche ftanben ältere
und jüngere Dichter auf, die gegen den lngeift des
Materialismus, für die Rechte einer ibealeren WWeltan-
Ihauung, für eine minbeftens fittliche Neugeburt des Volkes
und der Menichheit eintraten, ohne von ausländiſchen Vor:
bildern angeregt zu fein. 8 mar der Verfaffer diejes
Buches, der in der erwähnten Unterfuhung „Keime der
Zukunftsdichtung“ dieſe ſonſt unbeachtete Thatjache nadj=
wies. In Epen, Iyriihen Gedichten und in allen Formen
be8 PBrofafchrifttung offenbarte fih die tiefe Sehnjudht nad)
einer befferen Zeit; laut außgeiproden mwurbe bie Yorde-
rung, die Liebe wieder ala Herricherin einzufegen, die alles
vergiftende Schlucht zu bekämpfen. Und e8 geichah mit uns
verfälfchter Begetfterung und Herzenswärme, die fi oft zu
einer im hödjften Sinne religiöfen Inbrunft fteigerte. Nicht
felten Elang ergreifend ein Ton de3 MWeltichmerzes bin-
dur, nit aber jener, der in der eriten Hälfte bes Jahr⸗
hundert3 aus ber Ichlucht des einzelnen hervorbrad und
fih oft jo eitel in der Zerriffenheit fpiegelte, denn in ihm
lebten Menfchenliebe und Mitleid und bie tiefe Sehnfudt
nad) Erlöjung des Gemütg.
Das Urſprüngliche diefer Bewegung offenbarte fih auch
darin, daß fie felbjt Wertreter des theoretiihen Diaterialißs
mus crfaßte, bie in dem Wirrfal der Zeit hinwiefen auf die
Lehren Ielus von Nazareth, die doch in ihrem tiefften
Grunde ihrer eigenen Weltanfhauung feindlid) find.
Mit diefem Auferftehen bes fittlihen Bewußtſeins
mußten fi auch focialiftiihde Gedanken und Wahngedanfen
verbinden; e8 lag in ber Strömung bes öffentlichen Lebens.
Taft alle Werte diefes geihilberten Gedantentreifes traten
im Zeitraum eine einzigen Sahres (1883 auf 1884) auf;
einige noch jpäter. Die Verfaffer lebten in ben verfchiebenen
Teilen Deutihlands und Ofterreihs; kaum einer von ihnen
gehörte zu den belannten Namen; die meiften waren noch
jung, aber alle mehr oder minder Dichter von echter Ber
gabung. — — — —
Diejes plößliche Hervorbrehen eine® Gefühle an fo
vielen Stellen wies auf eine mächlige Erregung der Ge-
müter hin, auf die Abwendung von jener äjtbetiichen Selbft-
genußfuht, der fo mancher Dichter bes älteren Geichlchtß,
ein Heyfe, A. v. Schad und andere hulbigten, auf das Er:
jtarfen des deutihen Gewilfens und der Teilnahme an ben
wichtigften gyragen ber Zeit. Dabei aber trat daß Beftreben
hervor, aud) innerhalb der Versbichtung, dort wo «8 Stoff
forderte, gefundem Realismus fein Recht einzuräumen.
Diefer war überhaupt nicht? Fremdes in unferem
Schrifttum, ftelte auch durchaus nicht eine der Haffiichen
geit feindliche Kunftanfhauung dar. Trog allem Schwunge
der deutijhen Phantafie und troß ber Neigung, bie Wirklich:
feit zu überfliegen, fehlt e8 dem Geifte unferes Volkes nicht
an dem Sinn für Beobadhtung und Wiebergabe deö Lebens,
joweit biejes mit den Mitteln der Sprache gegeben werben
fan. Sm 12. und 13. Jahrhundert jchon ift diefer Sinn
für [lichte Auffaffung des fogenannten Wirklichen, daß aber
ftet8 ein in der Seele liegendes Spiegelbild der Erfcheinungen
ift, nicht felten hervorgetreten; er ericheint ftärfer im 16.
und 17. Sahrhundert, in Schwänten und dann im Noman;
er befunbete jih im jungen Goethe und in mandjem Werte
ber anderen Stürmer, ja auch in der eigentlich „Elaffiichen“
Zeit, wie 3. B. „Hermann und Dorothea” von ihm Zeug:
— —— — ——— — — ESS ⏑
281
nid ablegen. Diefer gejunde Sinn für die „Wirklichkeit“
wurde nicht einmal in der Romantik ganz erftidt; weniger
vertrug er fid) mit der jungdeutichen Strömung. Aber in
Proiaerzählungen, wie in den beiten Schöpfungen bed
Bitiud, Freytag, bei Meldhior Meyr („Seihichten aus dem
Nies“), bei Botifrieb Keller u. j. w. jwar Nealiämus in
deuticher Auffaffung unbeftreitbar vorhanden. Im Gegen
fate zur Stunfinovelle, die meift in den verfeinerten Sreiien
jpielte, traten Bürgertum und Bauernitand immer mehr
hervor; das Kleine, Unicheinbare fand liebevolle Schilderer,
die aud vor Tarftelung des Dunkien nicht zurüdicheuten.
So war bei uns eine realiftiihe Strömung längft bors
handen und jegte ji zunädit ohne fremde Einflüffe fort,
die jih erft im Laufe des Sahrzehnts geltend madten und
zum jogenannten Naturalismus führten.
Sn der Zeit zwilchen 1880 und 1885 traten nadjeinander
folhe Vertreter des beutichen Nealismus auf, der in fid) den
Keim des Humors enthält. Wohl machten fi aud) in der
Darjtellung bei einzelnen franzöfifche Einflüffe geltend, aber
fie betrafen mehr das Außerliche — das Sinnenleben blieb
in den Grundzügen dem deutichen Wejen entiprechend.
Bon Ende 1885 ab, etwa nad) dem Ericeinen ber
„Modernen Dichterharaktere“, breitete fid) unter ben Süngjften
dad Gerede von der „Revolution“ im dbeutihen Schrifttum
immer mehr aus. Zuerft gab ein junger 2yrifer, Paul
Sritfhe (1863 — 1888), eine Flugfchrift heraus, „Die mo-
derne Lyrifer-Revolution“ (1885), die im nadhgeahmten
Kraftitil der Stürmer des vorigen Jahrhunderts eine faft
rührende Unreife verrät. Anzumerfen ift, daß er ald Pfad-
finder der Jugend Dranmor, Lingg, Grofle, Schad und
Hamerling nennt. Er befennt, daß die Sugend ganz deutich
jein wolle, „für Thron und Reich” einftehe, aber aud für
den „vierten Stand”, aus Nächftenliebe; fie fei religiös,
aber pantheiftiih, und wolle dad Wolf zu gleicher „Höhe*
Hinaufleiten, und fie befenne fid) ald Gegnerin des Materialiß-
mus. Die fritiihen Ausführungen über die Dichter der
„Modernen Dichtercharaftere* und anderer Werfe find wirr
und oberflädlid.
Mit viel größerem GSelbftbewußtjein trat eine zweite
Slugigrift auf: „Revolution in der Litteratur”
(1886) von Karl Bleibtreu — fie war Georg Conrad
zugeeignet. Das Büchlein Hat in ben Streifen der dichtenden
Sugend großes Aufjehen erregt und tft auch in weiteren
Streiien beachtet worden. Von dem, was jie Gutes enthält,
war faum etwas neu; einem Teile der Züngften machten
die mit unglaublihem Selbjtgefühl verbundenen Urteile über
die Alten, Süngeren und Süngften gebietenden Eindrud.
Gerade dad Gärende und Unreife der Ylugichrift, das heute
ihon als jolches erfannt ift, da3 Wirre in den Ausführungen,
gefiel; mander guten Bemerkung fonnte auch der fchärfite
Berurteiler beiftimmen. Thatlählihe Forderungen ließen
jih jehr jchwer auß dem Ganzen beraußlefen, aber aud
dieje Unbeftimmtheit, die verhüllt immer auf des Verfafjers
eigene dichterijche Ihaten hinwies, mußte in jener Stimmung
wirken, und war geeignet, die Erregung in unfertigen Köpfen
zu mehren.
RomansZeitung 1896.
Beiblatt der Deutihen Romanz-Zeitung.
— — — — — — — — — — —— — ——— — — — — — — — — — RE rss SP mn ET —— —— ———— —— —— ——— ne nn er — ——————— ——
282
Zwei Gedichte.
Bon Karl Banfelow.
Mein Lied.
Sch jang mein Lied in die Nacht hinaus,
Sn die Nacht, die frille, verträumte,
Und mein Lied ging wandern von Haus zu Haus,
Bis e8 fam, wo die Meerflut ichäumte.
Und da bat e8 die Wellen und bat den Wind
Und fragte: „Wie komm’ ich hierüber?
Und Wellen und Wind, die trugen’s geichwind
Nad) dem Land meiner Sehnjucht hinüber.
Und da hat ed nad Dir gejuht — und ich weiß,
E3 hat Dich in Treue gefunden,
Und e8 grüßte Dich ftill, und es küßte Dich [eis
Und lebt nun die glüdlidhiten Stunden.
Seelenrufen.
Meine Seele ruft durch alle Räume
Wie der Pirol durd) die Wälder jchreit,
Nuft nah Dir, Du Sehnfudht meiner Träume,
Daß Du kommt mit Deiner Geligfeit.
Daß Du fommit und in des Tages Brände
Mir die Nacht mit ihren Sternen trägft,
Und mir fühlend Deiner ftillen Hände
Weichen Segen auf die Stimme legit.
Die Siebespoefie in der alten Provence.
Von orig Lilie
Sm ehrwürdigen Dom zu Mainz befand fih bis zum
Ssahre 1842 ein alter, verwitterter Grabftein, deffen Injchrift
völlig unleferlich geworden war. In dem gedachten Sahre
wurbe bdiejes unfcheinbare Erinnerungszeichen dur ein
Ihöne® Denkmal von Schwanthaler® Meifterhand eriegt,
und mit einer einfachen, aber würdigen eier enthüllt. Das
Mittelfeld Diejfes Monumenies zeigt eine Anzahl weinen
der Frauen, die auf ihren Schultern einen Sarg zur Gruft
tragen, in dem Earg aber ruhen bie irdifchen Überrefte
eine® ber liebenswürdigften deutſchen Minnefänger, des
trefflichen Heinrich von Meißen, der fi den ehrennollen
Beinamen „rauenlob*” erwarb. In diejer Bezeichnung find
feine Berdienfte ausgebrüdt; jeine Lieder erflangen zum
Preife der rauen, und in einem Streilgedicht gegen den
Mainzer Schmied und Meifterfänger Barthel Regenbogen
verteidigte er dag Wort „Frau” gegen die Bezeichnung
„Weib“, die er jeltjamermweile für verlegend hielt.
Und wie bdiejer edle Sänger, fo haben nod unzählige
andere Dichter die Schönheit, Tugenden und dag häußliche
Wirken der Frauen in Ihwungvollen Dithyramben gefeiert,
niemal3 aber ftand diefe Art von Poefie in jolcher Blüte,
als zu den Zeiten der Troubadours und der beutjchen Minnes
und Meifterfänger. Wie in jenen Tagen des romantischen
Rittertums bei feftlihen Turnieren die Kämpfer die Sarben
ihrer Dame trugen, und aus Frauenhänden des Gieges
Preis enigegennahmen, fo verherrlidten die Troubadours
ihre Huldinnen in begeifterten Liebern. Frauenliebe und
Srauenleben zu preijen, war die Aufgabe diefer ritterlichen
IV. 20
— — —
283
Sänger, und felbit Fürften wie Richard Löwenherz und
König Alfond der Zweite von Aragonien verfhmähten e8
nicht, diefer Dichtergenoffenfhhaft beizutreten und ihre Kunft
auszuüben. |
Sn den fonnigen Thälern der Provence, an den grünen
Ufern der Garonne, den blütenduftenden SKüften bes Mittel:
meered und den wälderreihen Abhängen der Pyrenäen,
unter einem fangesfrohen und liebebebürftigen Volte, er:
wachte zuerft jene Poelte, welche im Gegenjage zur antiten
die Bezeichnung der romantifhen führt. Hier war ber
Boden, auf welhem criftliches un) maurifches Rittertum
feine gewaltigen Kämpfe ausfocht, hier hatte Sarl der Große
und jeine Baladine gerungen und hier war e8, wo im Thal
Noncesvalles Held Roland jein treue Schwert Durendart
Ihwang; hier war e8 aber aud, wo fi nad) den Stürmen
der Völkerwanderung und den Wirren ber Streuzzüge jene
dichteriiche Eigenart entwidelte, die auf die Geftaltung der
Gejamtlitteratur Europas einen fo mächtigen und nachhaltigen
Einfluß ausübte.
Wie die deutfhen Minnefänger zogen aud die Trouba-
dours im Anfange des elften Sahrhunberts als wandernde
Didter von Hof zu Hof, von Schloß zu Schloß, um ihre
Lieder vorzutragen und dafür ben Bohn aus fchöner Hand
zu empfangen. Die vornehmeren unter ihnen bielten fid
ftimmbegabte Gehilfen, welche den Namen der alten Volks⸗
fünger, Soglars, führten und die Mufgabe hatten, die von
jenem verfaßten Gedichte in deflamatorifcyer oder mufifalifcher
Form zum Vortrag zu bringen; indeffen gab es aud) Zoglarg,
welde unabhängig von einem adeligen Herrn im Lande
umberzogen und ihrer Kunft lebten. Wo die Minnefänger
und Troubadours aud) Einlaß begehrten — überall waren
fie willfommene Gäfte, die in hohem Anfehen ftanden, und
jehr oft in die intimften freundfchaftliden Verhältniffe zu
den Burgberren und deren Angehörigen traten.
Der Einfluß diefer wandernden Dichter erhöhte fih, als
fie aucd, öffentlihe Angelegenheiten, Bolttit, Krieg, Moral,
Religion, in das Bereich ihrer poetiihen Thätigfett zogen.
Man nannte diefe Gattung von Boelien Sirventes, im
Gegenfage zur Kanzone, weldhe in Eunftreichem Versbau bie
Liebe zum ausjchließliden Gegenftande hatte, und die am
meiften gepflegte und geübte Art der höfifchen Lyrik bildete.
Sn diefen politifchen Gedichten mußten fie für beftimmte
Zwede zu wirken und Stimmung zu machen, und dadurch
derjenigen Partei, für welche fie eintraten, nicht felten zum
Siege zu verhelfen.
AS Meifter der Galanterie und ritterlihden Frauen
verehrung wurden die Troubadours häufig an die Yürftens
höfe gezogen, um hier ald Leiter des offiziellen Geremontell®
thätig zu fein. Satier riedrih Barbaroffa, Peter von
Aragon, NRihard Lömwenherz und viele andere Herricher
nahmen folche fahrende Sänger zu diefem Zmede in ihre
Dienfte, und den Iesteren fiel dann gleichzeitig bie Aufgabe
zu, ihre Gebieter und ganz befonders ihre Gebleterinnen
poetiih zu verberrliden. Dafür ward den PDichtern bie
Gunit ihrer Gönner und Elingender Dan zu teil, und leßterer
war oft fo bedeutend, daß bei feitlichen Gelegenheiten Taufende
bon Golditücden geipendet wurden; ja, von dem Dauphin
Robert von Auvergne wird fogar erzählt, daß er an bie
Troubadourd® und Soglars feine Halbe Grafihaft ver-
fhwendet habe.
Nicht felten verbanden dieje ritterlichen PBoeten mit der
Gabe der Dichtkunft aud) die Befähigung, ihre Lieder jelbit
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
284
in Mufil zu fegen, und den eigenen Gejang mit Geige oder
Harfe zu begleiten. Von Pong von Gapdeuil, einem bes
rühmten Troubadour, wird in einer alten Handichrift ge=
jagt: „er verftand gut zu dichten, |hön zu geigen unb treff-
U zu fingen,“ und viele befaßen außer diefen Eigenfchaften
nodh ein befonderes Erzählertalent, jomwie ein gute8 Ge:
bädıtnis, To daß fie ihre Wirte ducch feffelnde Geichichten
zu unterhalten vermoditen. Bon ber Bunft der gajftfreien
Burgbewohner getragen, blieben dieje fahrenden Boeten oft
lange Zeit an einem Orte, bis die alte Wanderluft wieder
in ihnen erwadte, und fie wieder von dannen zogen, hinaus
„ins alte romantifche Band“.
Die Ihwärmerihen Huldigungen, welche die Trouba=
dour3 ihren Damen barbradten, waren nur in feltenen
Fällen mehr als ritterliche Galanterien, wenn e8 auch wohl
zuweilen vorfam, daß fi zwiichen dem Dichter und dem
Gegenitande feiner Verehrung ein wirkfliche® Qiebesverhältnis
entipann. Die wichtigfte Aufgabe des MPoeten war, bie
Schönheit und Tugend jeiner Dame zu befingen, und bies
geihah oft in der überjchwenglicdhiten Korm und den läder-
lichften Übertreibungen. Freilich fegten fi) die Sänger ba-
bei au der Gefahr aus, die Eiferfuht bes Schloßherrn zu
erregen, wie e8 Guillem de Gabeitaing ging, deflen tragtiches
Geihid die Sage erzählt.
Als fi diejer Troubadour am Hofe Raiımunds von
Gaftel-Roufiilon aufpielt, dichtete er nad) der Sitte ber
Zeit auf deffen Gemahlin die begeiftertften Qiebeslieder. Das
entflammte den Zorn des Nitters; er ließ ben Sänger er:
morben und ba8 Herz besjelben zubereitet feiner Gattin
Margaridba vorlegen.
US lettere dies erfuhr, jagte fie:
„Weil ich fo edles Fleifch gegeifen, begehre ich nun fein
anderes mehr!” und am nädlten Morgen fand man fie zer:
Ichmettert im Abgrunde Itegen.
Allein die ruchlofe That Raimunds blieb nicht unge—
jühnt; auf Veranlaffung der Verwandten Margaridas und
Cabejtainga 30g König Alfons von Aragonten gegen den
Übelthäter zu Felde, verwüftete mit Feuer und Schwert
befien Gebiet, nahm den Ritter gefangen und ließ ihn im
Kterfer verhungern. —
Welhe unglaublichen Übertreibungen in der Ber:
himmelung ihrer Damen biefe Sänger zuweilen leiiteten,
davon nur einige Beilpiele. Der ebengenannte Guillem
Gabeitaing fagte von feiner Huldin: Gott habe fie als Ab-
bild feiner eigenen Schönheit erihaffen, und er müfle fie
dereinft als den fchönften feiner Engel in jein Paradies auf:
nehmen — denn ohne fie wäre dasielbe unvollfommen.
Rambeud von Orange erklärte, ein freundlicher Blid
feiner Dame jei mehr wert, als die zärtlichfte Sorgfalt von
vierhundert Engeln.
Richard von Barbezieur behauptet, die Angebetete, welcher
er feine Lieder widmete, habe erft die Herrichaft der Liebe
auf Erden begründet.
PBeire Nogier verfihert ganz ernfthaft, die Schönheit
jeiner Geliebten verbreite einen foldhen Glanz, daß rings
um fie ber die Nacht felbft fid) mit ben glänzenden Farben
des Tages ſchmücke. „Glücklich,“ fügt er mit bichteriichem
Bombait Hinzu, „glüdlich der, deffen Augen fähig find, fo
viel Reize zu erfennen und zu wirbigen!“
Bis zu welchen geradezu widerlichen Ungeheuerlichkeiten
das Beitreben, fich in den Lobeserhebungen ihrer Damen zu
überbieten, die Troubadourg verführte, erhellt aus der Bes
285
merkung Boniface Calvos, daß, wenn Gott eine Sterbliche
lieben wolle, die nur einzig und allein feine Herrin fein
fönne, während fein Zeitgenofie Beire Vidal meint, ein
Hänbedrud feiner Ungebeteten fei ihm lieber als hundert
golbbeladene Kamele.
Ein folhes Übermaß an leerem Phrajentum, mit Haaren
herbeigezogenen Gleichniffen und ſchwülſtigen überſchweng⸗
lichkeiten gereicht natürlich aud) den Gedichten jelbft feines
wega zum Vorteil und viele derjelben verlieren dadurch nicht
wenig an ‚ihrem poetilchen Werte; immerhin aber liegt aud)
in biefen ÜIbertreibungen eine gewifle Stunft und ein Beweis
bon ber regen Phantafie diejer ritterlichen Sänger.
So läderlih und heute diefe WVerhimmelungen vor-
fommen, fo unmwürbdig, ja veräcdhtlich, ericheint uns ber weg
werfende, geringihätige Ton, in weldhem die Troubadourg
von fich felbit Sprechen, die Schüchternheit und jchmwächliche
Beicheibenbeit, die fie der Geliebten gegenüber zur Schau
tragen. Sie erklären die geringfte Gunitbezeigung für un-
berbient, und preifen fih glüdli, daß fie — hoffnungslos
lieben.
Der Ihon erwähnte PBeire Vidal nennt fi) den Sklaven
jeiner Dame; Adalafia, der Gattin de Diengrafen von
Marfeille, giebt er das Nedt, ihn verkaufen oder verfchenten
zu können, und erllärt, daß er lieber zu ihren Süßen ver-
ihmadten wolle, ala einen anderen in ihrer Nähe zu jehen.
Allein diefe Beteuerungen hielten ihn nicht ab, fih bald
darauf mit einer Schönen Griedin von der Inſel Cypern zu
verheiraten, und am Hofe Alfons III. von Mragonien feine
Galanterien fortzufegen.
Bertrand de Born, bdefjen feurige Minnelieder der
Schweiter von Nihard Löwenherz, nahmaliger Gattin
Heinrich® des Löwen, galten, meint, er wolle gern wie ein
Hund vor der Thür feiner Dame liegen, nur Tolle ihn diefe
nicht von jih ftoßen; und doch war er jonjt feineswegs ein
Feigling, fondern einer der tapferiten Srieger feiner Zeit.
Ahnliche Auswüce einer affektierten Selbftverachtung
finden fich faft bei allen Troubadours, aber e3 war ihnen
damit durchaus nicht fo ernft, als fie fid) den Anjchein gaben.
Sm Gegenteil fühlten fie fih in feiner Weife an die fchein-
bar vergötterte Dame gefeffelt, Tonbern verichmähten es nicht,
gelegentlich einem halben Dugend Frauen zu gleicher Zeit
ihre Huldigungen darzubringen.
Der Kultus der Liebe, wie er fih in den Dichtungen
diefer Sänger de3 Mittelalter8 äußert, führte endlich dahin,
daß die Grotif fih zu einer förmlichen Wiſſenſchaft ent-
widelte. 8 bildeten fih fogenannte Liebeshöfe, die in
ihrer Form ganz der Einrihtung der bürgerlichen Geridhtß:
höfe entiprachen, und in allen Fragen und Streitigfeiten,
die fi auf die Liebe bezogen, Recht zu jprehen hatten.
Bon bdieien Liebeshöfen erlangten eine bejondere Berühmt:
heit berienige der Damen von Gascogne und der der Gräfin
Ermengarde von Narbonne; ferner. errichteten derartige In-
ftitute die Königin Eleonore von Aquitanien, die Gräfin
Marie von Champagne, die Gräfin Sibylle von Flandern
und die Frauen von Romanin.
Diefe Liebeshöfe waren entweder nur aus weiblichen
Mitgliedern zujfammengefegt, wie der von Marie bon
Champagne begründete, welcher au8 jehzig Damen beitand,
oder e8 murden auh zur Hälfte Herren hinzugezogen.
Einzelne diefer Minnehöfe ftellten befondere Regeln auf,
weldhe in allen ftreitigen ragen als Richtſchnur zu dienen
hatten. So verorbniete 3. ®. der Liebeshof von Gadcogne
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
286
mit Zuftimmung aler denjelben bildenden Frauen, fein
Urteil jolle ala beftändige Vorichrift dienen, und diejenige
Dame, welche derjelben nicht Folge Ieifte, jolle der Feinde
Schaft aller übrigen Teilnehmerinnen ausgelegt fein. Die
Grundlage der Erfenntniffe aber bildete ein förmliches Gefeßs
bud), deffen jagenhafter Urfprung folgendermaßen erzählt
wird:
Ein bretagnificher Ritter hatte fi einfam in einen großen
Wald vertieft, um den König Artus zu treffen. Da be=
gegniete ihm eine junge rau, melde ihm fagte, fie wife,
was er fuche, aber er werde das nur mit Ihrer Hilfe finden.
Er jei in eine bretagniiche Dame verliebt, welche von ihm
verlange, daß er ihr den berühmten Falten bringe, welcher
am Hofe ded Königs Artus auf einem Stabe fite. Um
biefen Falten zu erlangen, müffe er dur einen Steg im
Zmeifampfe beweijen, daß jene Dame fchöner jei alß irgend
eine don denen, die von den Rittern am Hofe geliebt würden.
Die Frau ging und der Nitterämann zog weiter. Nad)
vielen romantifhen Abenteuern fand er den zalfen auf
einen goldenen Stabe am Eingange bed Palaftes und be=
mächtigte fich deöfelben. An einer Heinen, an dem Stabe
befeitigten goldenen Sette hing ein befchrieberres Papier;
bie8 war das Gefeßbuc, der Liebe, und der Nitter jollte e8
im Auftrage bes Stönigs allgemein befannt machen, wenn
er den Falken ungehindert mitnehmen wolle. Dies gejchah,
und wo ber Ritter da8 Gejegbud; zeigte, wurde e3 anges
nommen und verordnet, daß dasfelbe bei jchweren Strafen
Geltung haben folle.
Offenbar ift diefe Mythe erfunden worden, um bie
Minnehöfe zur fchnellen und bedingungsloien Annahme diejer
Satungen zu veranlaffen; denn der geheimnisvolle Urfprung
berfelben verlieh ihnen in den Augen der Beteiligten fchon
eine gewiffe Autorität. Das Gefegbuch jelbjt befteht aus
einunddreißig Artikeln, die zum Zeil hHöchit wunderliche Be-
ftimmungen enthalten, fpigfindig und verichroben wie ber
zu einer förmlichen Kunft erhobene Minnedienft jelbit.
E83 hieß darin unter anderem:
Die Ehe ift feine legitime Entfchuldigung ber Liebe. —
Der wahrhaft Liebende muß da3 Bild der Geliebten ftets
vor ſich ſehen. — Es iſt durch nichts verboten, daß eine
Frau von zwei Männern, oder ein Dann von zwei rauen
geliebt werde. — Der liebende Teil, mweldher ben andern
überlebt, ift verpflichtet, eine zmeifährige Witwer: oder
Witwenichaft zu halten. — Und fo weiter.
MWelhe Macht aber hatten diefe Liebeshöfe? Welche
Zwangsmittel ftanden ihnen zu Gebote, ihrem Willen Geltung
zu verichaffen, ihre Urteile zu vollftreden? Seine anderen,
al& die Gewalt der äffentliden Meinung, derjelben, welche
einem Nitter nicht geftattete, ruhig und glüdlid im Schoße
feiner Zamilie auf feiner Burg zu leben, wenn die übrigen
über dag Meer zogen zum Sampfe gegen bie Ungläubigen;
derfelben öffentlichen Meinung, welche nod, jet gemiffen
Ständen dad Neht verfagt, ein Duell auszufchlagen, ob
gleich die8 von den Gerichten als ein Vergehen geahndet
wird, berfelben, vor welcher felbft die höchften Gewalten im
Staate fi beugen.
Wie eine ferne Landichaft mit Nitterburgen, von deren
Söller Fraftvolle Heldengeitalten und jchöne rauen dem da=
hinztehenden fahrenden Sänger ben letzten Scheidegruß zu:
winften, liegt die romantiihe Zeit der Troumbadours und
Minnefänger im grauen Nebel der Vergangenheit hinter ung,
aber noch heute blüht namentlich au im dentichen Dichter-
287
walde die Blume der Liebe, da grüne Neis hingebenber
Freundihaft; und daß dieje nimmer verwelfen mögen, dafür
wird auc) ferner der Mund gottbegnadeter Sänger forgen.
Frinnerung.
Das ift der Plag, auf dem ich ftand
Zum legten Mal, zum legten Mal
An Teiner Seite, Hand in Hund —
Nun ging ein Wetter überd Land:
Die Luft ward fühl, dad Laub wird fahl.
Senjeits der Düne ſchäumt das Meer,
Gein Raufchen Elingt wie Klagejang;
Ccharf weht der Wind von Often her —
Mir pocht das Herz jo jehniudhtzichwer:
Sch jah Dich nicht, weiß Gott wie lang!
So idjleppt fih müde Tag um Tag,
Schon färbt ji rot des Waldes Saum;
Sn Thränen fteht der NRojenhag —
Daß ich in Deinen Armen lag,
E3 dünft mid) wie ein Traum...
Klara Aüller.
Meners Konverfations- Sexikon.
(Bibliograpgiiches Snftitut, Leipzig.)
Die neue Auflage ift bis zum 12. Bande fortgeichritten.
E83 ift faft überflüflig, über die neuejten Bände etwas zu
jagen. Der erlag und fein Stab von Arbeitern hat den
redlichiten Willen, da® große Werf „auf der Höhe“ zu er:
halten. Die Arbeit erjcheint leichter, als fie in Wirklichkeit
ift. Denn die Gegenwart eilt im Tyieber vorwärts. Wohl
ift dad zum Zeil nicht gerade ein gejundes Zeichen. Aber
eine Encyflopädie hat nicht allein den Zwed, dad Felt:
ftehende in kurzer Taflung feitzuhalten; fie muß, foll fie alß
Beraterin ihren Zwed erfüllen, auch das ließende, da8
Augenblidliche, da wieder in der nädjften Auflage veraltet
ift, wiederjpiegeln. Dabei nicht Eleinlih zu werden und
ben richtigen Ausdrud zu finden, verlangt Takt, rajches
Urteil und große Schulung der vielen Mitarbeiter.
Sch habe den neuen zwölften Band mit dem entiprechenden
Teil ber vorhergehenden Auflage genauer verglichen und ich
darf mit gutem Gewifjen jagen: er bedeutet in jeder Beziehung
wieder einen Forticritt. Die Zahl der Stihmworte hat fi
ganz aniehnlich vermehrt; der frühere 12. Bd. enthielt jchon
Nathufius—Phlegmone; der neue „Mauria—Nordfee”; alles
Neue hat vollfommen Berehtigung, aufgenommen zu jein;
und daneben ift Überflüjfiges bejeitigt. Die Faflung mander
Abfchnitte ijt gedrängter, wodurh Play für wichtige That»
jahen gewonnen wurde. Der Zeit nad) gehören die Ans
gaben — und das tft ein Hauptvorzug gegenüber den aus
ländiihen Werfen biejer Art — bis Inapp zu ber Ausgabe
der einzelnen Hefte; die neueften Grrungenjchaften der Technif,
die jüngiten Beobadytungen auf dem Gebiete der Ntatur-
wiljenichaften haben Berüdfihtigung gefunden. Auf diejen
beiden Gebieten darf man den „Meyer“ als den beiten Spiegel
der jeweiligen Lage anfehen. Zu einer jchärferen Stritif der
beftehenden Theorien bietet ein jolches Werk nicht den An:
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
288
laß. Sehr reid) ift Die Zahl der neuaufgenommenen Diänner
auf allen Gebieten; die fremden Litteraturen find biß auf
die jüngiten Namen berüdfichtigt; die Politiker und Staats
männer aller Völfer und jeder Farbe ebenfalle.
Einen Auflag nur hebe ich beionders hervor: „Menfch“.
Er ift fehr ftarf bearbeitet und har eine danfenswerte Ver⸗
mehrung über die Geitalt des Menjhen und deren Ber-
hältnifje erfahren. Dem Abjchnitt find ungemein wertbole
und vorzüglic; ausgeführte Bilder beigegeben, vier Männer:
und vier Franengeftalten nach der Natur, und ein brittes
Blatt: Die Geftalt de Menfhen in der bildenden Stunit.
Die Erflärungsworte enthalten vortrefflihe Bemerkungen.
Daß alle Ktarten und Sluftrationen, ob in Schwarz= oder
Buntdrud, tadellos find, verfteht fi von jelbft.
Einer weiteren Empfehlung bedarf es nidt. O. v. L.
Credo.
Wie es ſo ging, ich weiß nicht mehr,
Daß ich verlor den Kinderglauben;
Nur daß es lange, lange her,
Seit Bibel und Gebetbuch ſtauben.
Längſt ſchau ich anders in die Welt;
Ich bin ein Kind der Zeit geworden,
Die nichts von Höll' und Teufel hält,
Und helfe Gott durch Wahrheit morden.
Nur manchmal, wenn zur Abendzeit
Die Augen wandern zu den Sternen,
Und nun die Sphinx Unendlichkeit
Unfaßbar ſtarrt aus dunklen Fernen:
Dann ſtehen alle Rätſel auf,
Und jedes Wiſſen ſinkt zum Schemen,
Dann flieht die Seele bang hinauf,
Sich ihre Zuflucht rückzunehmen.
Doch wie ſie ſucht in Scham und Gram,
Sie iſt allein im Unermeſſ'nen,
Der Kinderwahn ward flügellahm
Mit ſeinem Troſt, dem halbvergeſſ'nen;
Mit ſeiner Einfalt gläub'gem Schluß:
Hoch über allen Sternregionen,
Am Ende aller Welten muß
Doch aller Welt ein Lenker thronen.
O Kinderwahn, der nie gezagt,
Wenn er das Haupt nach oben wandte,
Der nicht nach ew'gen Rätſeln fragt,
Und doch die ew'ge Löſung kannte!
Die Wiſſenſchaft, die ihn verhöhnt,
Wird ſie den letzten Schleier heben?
Ans Fragen hat ſie uns gewöhnt,
Und kann uns keine Antwort geben.
Inhalt der No. 43.
Schwertklingen. Vaterländiſcher Roman von Hans
Werder. Fortſ. — Ohne Gott. Roman von E. Karl.
Fortſ. — Beiblatt: Altes Gold. Von Konrad Nies. — Die
Anfänge der jüngſten litterariſchen Bewegung in Deutſchland.
Von O. von Leirner. — Zwei Gedichte. Von Karl
Vanſelow. — Die Liebespoeſie in der alten Provence.
Von Moritz Lilie. — Erinnerung. Von Klara Müller.
Meyers Konverſations-Lexikon. — Eredo.
Verantwortlicher Leiter: Otto von Leirner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei⸗-Aktien⸗ Geſellſchaft
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗Vereins).
— — —
Deutſche
Roman-Zeitung.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
—1896.
Erjcheint wöchentlich zum Preife von 34 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
duc alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 44,
Schwertklingen.
Baterländiiher Roman
bon
Dans Werder.
(Fortfegung.)
IV.
„Rohlig, wollen Sie fih mit Ihrer Schwadron
die Feuertaufe holen?” fragte Schild. „Wir haben
den Weg nad Stolp fo lange unbehelligt gelaflen!
Reiten Sie einmal dort hinaus und jehen Sie zu,
wie’3 da ausfieht!”
„Dante gehorfamft, Herr Lieutenant! Wenn’s
da jo Ahnlih ausfieht wie in Arnsmwalde, jo ol
mir’s lieb fein!“ ermwiderte Halo mit leuchtenden
Augen. Er führte feit kurzem die neu errichtete
Schwadron. Seine Arnswalder Ranzionierten waren
ihm unterftelt worden. Als jpäter wieder ein Haufe
jolh braver Gejellen eintraf, erblidte er zu feiner
unbejchreibliden Freude SZägers Frigen darunter.
Auf anderen Wegen hatte diefer dasjelbe Ziel wie
fein geliebter Lieutenant erreiht. Die feindliche
Armee, welde ihre Gefangenen berbenweile nad
Frankreich zutrieb, hatte weder Zeit noch Luft, alle
ihre Schüglinge gemwiflenhaft zu überwachen, jo war
es ihnen möglich, in ganzen Trupps zu entlommen,
und folde Gelegenheit hatte Frite nicht unbenupt
gelalien. Bon Kolberg batte er feinen Lieutenant
öfter jprechen hören, und bier fand. er ihn wirklich.
Die Wiederjehensfreude war grenzenlos. Volllommen
aber jollte jelbft diefes Glüd nicht fein. Es fehlte
der dritte in dem trauten Bunde, Fides, der un:
vergleichlihe, war den Xeiden des Gefangenentrans-
portes erlegen. Das war freilid ein Kummer.
Haſſos treuer Schidjalsgefährte Scriver war
dem Bataillon des Kapitän Waldenfels zugeteilt, der
ihn bald mit Auszeihnung in jeine engere Uın-
gebung 309. Lbgleich jo dienftlich getrennt, hielten
die beiden Schweidniger Flüchtlinge doch treulich zu
einander, denn ihre Freundihaft war, wie fie felbft
fagten, mit Feuer und Eijen zufammengejchmiebet.
Doh auch unter den neuen Waffenbrübern Enüpften
"Ramanefeltung 1898. Lie. 44.
fie freundfchaftlide Beziehungen an. Beſonders
fühlte ih Haflo diefe erfte Zeit zu Hagen, feinem
alten Belannten, bingezogen. Von ihm erfuhr er
das Nähere über die jchredlichen Begebenheiten des
Krieges, da Hagen auf dem Schauplat derlelben
geblieben war. Haflos erite Frage war nach Noftik,
dem treuen freunde feines toten Kern. Sagen
wußte, daß er, im Rampfe bei dem Prinzen ver:
wunbet, fi tapfer bis Königsberg durchgeichlagen
hätte, dann aber die Armee verlafen und in ruffijche
Dienjte getreten wäre.
Auh von dem Schidjal der Gendarmes erzählte
er ihm und von Hilmars Unglüd in der Schladt.
Bon dem Spruch bes Kriegsgerichts jedoch wußte er
noch nichts. —
Haſſo ſtand mit ſeiner Schwadron marſchfertig
zum Ausrücken bereit. Er ſollte ſich alſo mit ihr
die Feuertaufe holen. Es war das erſte ſelbſtändige
Unternehmen, das ſeinen Händen anvertraut wurde,
und eiligſt ging er, feine Befehle zu erteilen.
„Holla he!“ es war ein Ruf, der wie heller
Jubel klang. Die drei Lieutenants ſeiner Schwadron
kannten ihn ſchon und wußten, daß er ihnen Gutes
bedeutete. _ Sn der dämmernden Frühe des März:
morgens ritt die Feine Schar hinaus und ftreifte
über den Gollenberg fort, die große Heerjtraße ent:
lang, die über Stolp und Lauenburg nah Danzig
führte. Unermeßlide Fichhtenwaldungen, wie ein
grüner Decean, umgaben die Reiter. SHügelletten,
Ihroff und wild, dazwilhen dunkel umjchattete Seen,
enge Schluchten, romantische Flußthäler — wer ver:
mutet das alles in dem als jo öde verrufenen und doch
jo ernithaft jchönen, weltentfernten Hinterpommern?
Sn burftigen Zügen atmete Haflo die barz-
duftende, Töftliche Heimatluft. Seit fünf Jahren war
er aus ihr verbannt in die YSremde, denn er jelber
war ja fremd zu Haufe! Und do, war er nidt
jelber ein Kraut, auf diejer Heide gewachlen, ein
IV. 21
Ta Tin -
291 Schwertklingen.
Zweig, gleichſam von einem dieſer Fichtenbäume?
Klang nicht ſein Name aus dem Rauſchen des Windes,
ſein Herzſchlag aus dem Murmeln des Baches? Es
war ihm, als müßte ein jeder ſehen und hören, wie
er es ſelber empfand. Ein pommerſch' Kind, daheim
— und doch ein Fremdling in dieſen Wäldern hinter
dem Gollenberge.
An dem romantiſchen Herrenhauſe von Brotzen
ritt er vorbei, durch das Weberdorf Friedrichshuld,
durch die endloſen Forſten von Treblin. Todes-
ſchweigen, der atemloſen Ruhe der Wüſte vergleichbar,
lagerte umher. Kein Laut, kein Leben, Meilen in
die Runde. Den halben Tag ſchon verfolgte er ſo
durch grüne Wildnis eine kleine, franzöſiſche Kolonne.
Ein vornehmer Reiſewagen ſollte es ſein, von
franzöſiſchen Dragonern begleitet, ſo hatte ſeine Pa—
trouille gemeldet. Daß Haſſo Rochlitz Grund hatte,
von einer Begegnung mit ſranzöſiſchen Reiſeequipagen
ſich Genuß zu verſprechen, war zweifellos.
Doch auch den Franzoſen entging die verfolgende
Huſarenſchwadron nicht, und ſie waren auf ihrer Hut.
Hier aber, in der tiefen Waldeinſamkeit der
Trebliner Forſt ereilte ſie das Verhängnis. Wie aus
der Erde gewachſen, von allen Seiten, zwiſchen den
ſchlanken Fichtenſtämmen, ſtoben die Schillſchen Reiter
hervor! Ein verzweifeltes Ringen entſtand, doch nur
minutenlang konnten die franzöſiſchen Dragoner dem
heftigen Anprall widerſtehen. Dann ſah ſich Haſſo
mit ſeinen Huſaren als Herrn der Situation. Der
während des kurzen Gefechts davonjagende Reiſe—
wagen wurde, ſeiner teils gefangenen, teils fliehenden
Bedeckung beraubt, bald eingeholt. Aus demſelben
entpuppte ſich ein Kurier, der in ſeiner Ledertaſche
wichtige Depeſchen trug. Dieſe gaben genauen
Aufſchluß über die nächſten Belagerungsmaßnahmen,
mit denen der Feind gegen Kolberg vorzugehen be—
ſchloſſen.“) Rochlitz las die Depeſchen ſeinen Offizieren
vor. Sie erſchienen ihm von unſchätzbarem Wert für
den Kommandanten, der den Inhalt erfahren mußte,
wenn auch nur einer von ihnen lebend in die
Feſtung zurückkam. Ebenſo wertvoll erſchien den
Herren ein zweiter Fund, den bei näherer Unter—
ſuchung der Wagen herausgab: Eine wohlgefüllte
Kaſſe, für welche die ſtarke Dragonerbedeckung wahrlich
nicht übertrieben erſchien.
Leichte Verwundungen hatten einige der Huſaren
aus dem Gefecht davongetragen, darunter der Lieute—
nant von Blomberg. Dem Schwadronsführer ſelber
war das Pferd unter dem Leibe erſtochen. Der
herrliche Brabanter eines gefangenen, franzöſiſchen
Offiziers aber bot ihm trefflichen Erſatz dafür.
Mit Windeseile traten die Huſaren jetzt ſamt
ihren Schätzen und Gefangenen den Heimweg an.
Beim Überſchreiten des Gollenberges aber mußten
ſie ſich überzeugen, daß ihnen durch franzöſiſche
Truppen die Rückkehr abgeſchnitten ſei. Doch war
man ja hier der Meeresküſte nah. Der in der
Gegend heimiſche Lieutenant von Blanckenburg machte
den Vorſchlag, die Gefangenen mittels einer See—
reiſe in offenen Booten nach Kolberg zu ſchaffen. Es
Alles hiſtoriſch.
Roman von Hans Werder.
292
war bei dieſer Jahreszeit kein freundlicher Gedanke,
zumal für die armen Franzoſen. Der Kurier
empfahl Gott ſeine Seele, doch die Huſaren fragten
nach ſeinen Empfindungen nicht viel. Blanckenburg
erbot ſich, die erforderlichen Strandſchiffer mit ihren
Booten anzuwerben. Einige Huſaren als Bemannung
ſeiner Flotte — er ſelbſt der Kapitän! Seine dunkel⸗
blauen Augen blitzten bei dem Gedanken vor Unter⸗
nehmungsluſt wie blankgeſchliffener Stahl. Haſſo
fand den Vorſchlag herrlich! Am liebſten wäre er
ſelber mitgegondelt, doch ihn hielt die Pflicht bei
ſeiner Schwadron zurück und ſo ſah er beglückt und
ſehnſuchtsvoll zugleich ſeiner davonſchwimmenden
Flotte nach. Fröhlich grüßte der kühne Huſaren—
Admiral ihm zu, indem er ſeinen Säbel über dem
Haupte ſchwang.
Rochlitz, mit ſeiner Schwadron den Heimritt
auf Schleichwegen fortſetzend, ſtieß wiederholentlich
auf den Feind und — „ſchlug ſich durch, mit dem
Säbel in der Fauſt“ — wie die alte Kolberger
Chronik erzählt.
Sn mitternädhtliher Stunde fehrte er zurüd,
nur um wenige Pferde ärmer, melde, erjchoflen,
zurüdgelafien waren. „Hola be!” da war ber
Auf wieder, und diesmal Mang er als wahres
Triumpbgejchrei durch die dunkle, Talte Nacht.
„Da ift unjere Hola he:Schwabron!“ bemerkte
lähelnd der würdige alte Bürger:Nepräjentant
Nettelbed.
„Kommen Sie, wir wollen hören, was fie aut:
gerichtet hat!” fügte Schill zuverfichtlich Hinzu.
„Sit meine Flotte noch nicht gelandet?” war
Haflos erfte Frage.
„Was — Hhre Flotte?” fragte Nettelbed er:
ftaunt und ladend zurüd. NRoclig fegte in kurzen
Zügen den Sachverhalt auseinander. „Nein, Ihre
Flotte ift noch nicht eingelaufen, aber zur Be
unrubigung ift fein Grund vorhanden!” tröftete der
jee- und wetterfundige Nettelbed. „Der Wind ift
ungünftig, aber der Seegang leiht — ein Kinder:
Ipiel für einigermaßen geübte Schiffer!“
Schill hatte hocherfreut Haflos Bericht ent:
gegengenommen. „Sie find ein Teufelsferl, mein
lieber Rodlig! Jeder Franzoſe, der fih in eine
Poſtchaiſe jeßt, follte fi zweimal bebenfen, ob er
Sshnen nicht unterwegs begegnen könne! — Aber
nun gratulieren Sie auh mir! Nach heute ein:
getroffener Kabinettsordre hat Seine Majeftlät bie
Gnade gehabt, mid zum Nittmeifter zu befördern!“
Das gab freilih große Freude unter ben
Schilihen Reitern. Sebder einzige von ihnen fühlte
fih mit geehrt und erhoben in ihrem fühnen, all
geliebten Führer.
In der Morgenfrühe lief Blandenburg mit
feiner Flotte in den Hafen ein. Haffo begrüßte fie
freudig. Kurier, Kalle, Depefhen und Gefangene
wurden dem Kommandanten eingehänbigt.
„Ihre Schwadron hat die Feuer: und Wafler:
probe beftanden!” fagte Schill. „Darüber find mir
einig,“ und nad Ffurzer PBauje feßte er hinzu:
„Kommen Sie mit mir, Rodlit, bier zmwijchen die
Schanzwälle! Ih babe Zhnen etwas zu fagen!”
—
293 Schwertklingen.
Es ſchien ihm ſchwer, den Anfang zu finden, doch
endlich hub er an. „Sie wiſſen nicht, was aus
Ihrem Vetter oder Pflegebruder geworden iſt?“
„Nein, Herr Rittmeiſter —“
„Er iſt hier, er hat ſich geſtern abend bei mir
gemeldet!“
„Ach — das freut mich!“ rief Haſſo aus der
Tiefe ſeines Herzens.
„Freuen Sie ſich noch nicht, Rochlitz! Er iſt
nicht hier als Offizier — er tritt als Gemeiner bei
meinen Huſaren ein!“
„Wie —“ unwillkürlich blieb Haſſo ſtehen und
blickte den Sprecher verſtändnislos an.
Da erzählte Schill, was er geſtern durch den Un—
glücklichen perſönlich erfahren.
Stumm lehnte ſich Haſſo an die Mauer der
Schanze, von Entſetzen überwältigt. — Wie Furcht—
bares enthielt dieſer ſo ruhig geſprochene Bericht.
„Sein Vater — der unglückliche alte Mann!“
klang es endlich von ſeinen Lippen. Schill erinnerte
ſich, daß ihm Haſſo von dieſem ohne Liebe, faſt mit
Bitterkeit geſprochen — darum verwunderte ihn das
namenloſe Mitleid in dieſem Ausruf.
„Was iſt ſein Vater für ein Mann?“
„Ein Veteran von Roßbach iſt er, ein alter
Seydlitz- Dragoner, Invalide von Kunersdorf her.
Wahnſinnig wird es ihn machen! Die Schande —
ach und ſein einziger Sohn — er ſah einen Helden
und Halbgott in ihm! — Mein Gott, wie fol er
dies tragen!”
Beide Männer jchwiegen erichüttert einen
Moment. „Herr Rittmeilter, eine Bitte —” fuhr
Hafjo dann auf. „Geben Sie ihn mir wenigitens
in meine Schwadron, damit ich für ihn forgen kann!“
„Nein!“ entgegnete der Rittmeifter beitimmt.
„Das Tanı ih nit. Er bat-mid — nur das eine
nicht! ch Hatte ja feinen Grund, ihm den Wunſch
abzufchlagen und habe ihn Hagen bereits zugeteilt!”
Hallo jenkte ftumm den Kopf. Ein Ausdrud
von Härte trat in fein Geficht, der ftets feine fcharfen
Linien dort bineingrub, fobald man ihm wech gethan.
Er beurlaubte fih von dem Nittmeifter und ging
feinem Eleinen Quartier zu, das er oben im Haufe
eines Bädermeifters bezogen. An den Broten und
Semmeln vorüber eilte er die jchniale Stiege hinauf,
die zu feinem Zimmerden führte. Als er dasjelbe
betrat, fand Hilmar vor ihm. Eine abgemagerte
Geftalt, ein blafles, vergrämtes Geliht, das blonde
Haar gelichtet. So erjhien er ihm ein anderer, als
er ihn jonft je gefannt. Das Gefühl der Kränkung,
das er eben noch empfunden, ging unter in grenzen:
lojem Mitleid.
„Hilmar!“ Er breitete die Arme aus, und
Hilmar jant an jein Herz. Nie zuvor Hatten fie fi
umarmt, doch Haſſo wußte, was jet dem jo jchwer
Gedemütigten Linderung gewähren konnte.
Diejer richtete fich endlich wieder auf. „Weißt
Du denn jhon, Hallo?”
„sa, ja, ih weiß! Schill fagte mir! Be:
griften habe ich's natürlih noch nicht! Wenn Du
einmal Zeit und Luft haft, fannjt Du mir ja davon
erzählen! Daß es Pech war — entjeglidhes Unglück,
Roman von Hans Werber.
294
und nichts weiter, verfteht fi ja von felbft!” Hilmar
jüttelte ftil abwehrend den Kopf. „Meih es Dein
Bater Schon?” fragte Haflo leife.
Sn ftiller Verzweiflung ftarrten die hellblauen
Augen ihn an. „Mein Vater — 09 ja!” — ein
Lächeln verzerrte feine Lippen. „Mein Vater bat
mid) einen Ehrlofen genannt, mid) von jeiner Schwelle
gejagt! Nicht vor die Augen fol ih ihm fommen
— nidt den Tod babe ich verdient, den Tod von
feiner Hand, um den ich ihn bat! — Sa, was foll id)
denn noch auf der Welt! Schimpf und Schande —”
Er ſank auf einen Stuhl — legte beide Arme
auf den Tifh und den Kopf darauf, fchwer mie
eine Bürbe.
„Nun, Hilmar, daß Dein Bater felber Dich
töten jollte — das Ekonnteli Du ihm eigentlich nicht
zumuten! Sei nidt jo Treuzunglüdlich, Tieber Kerl!
Wenn Du Did wirkliid in die Kopflofigfeit ber
ſchrecklichen Schlachttage haſt mit hineinreißen laſſen
— hier findeſt Du Deine Courage ſchon wieder und
einen ehrlichen Reitertod obenein, wenn's durchaus
ſein ſoll! Sonſt aber auch ein ehrliches Reiterleben!“
Haſſos Worte klangen ſo beruhigend, glättend
in die Hochflut der verzweifelten Empfindungen des
andern hinein. Unendlich wohlthuend fühlte er ſich
davon berührt und hob unwillkürlich das Haupt
wieder empor.
„Es iſt mir lieb, daß Du zu Hagens Schwadron
gekommen biſt!“ fuhr Haſſo fort. „Er iſt ein vor—
nehmer, famoſer Menſch und wird keinen Augenblick
vergeſſen, wen er vor ſich hat. — Es kann ja auch
nur für kurze Zeit ſein, dann biſt Du wieder einer
der Unſeren und dieſe ganze böſe Geſchichte iſt ver—⸗
geſſen! Aber ſag' mir nur, Hilmar, iſt es Dir nicht
wenigſtens lieb, daß Du mich hier gefunden?“ Es
klang dies ſo weich und zaghaft, als wagte er kaum
auf eine Bejahung zu hoffen.
Hilmar lehnte den Kopf zurück und ſah zu dem
vor ihm Stehenden auf. Er dachte daran, wie es
Haſſo einſt verboten worden, in ſeinem Regiment
einzutreten, um ihm nicht durch ſeine Unvollkommen⸗
heiten die glänzende Stellung zu gefährden, die er
darin beſaß. Jetzt kam er ſelber als ein Ausge⸗
ſtoßener und fand hier ben ſtets mißachteten Pflege⸗
bruder angeſehen und ſelbſtbewußt, als Schwadron—
chef in dem berühmten Schillſchen Korps! Und
war er denn je dem Jüngeren, dem Unterdrückten
ſo zart und liebevoll begegnet, als dieſer ihn jetzt
empfing? — Die Frage ging ihm durch den Sinn.
„Ja, Haſſo, ſehr lieb iſt es mir, Dich hier zu
haben! Du hältſt ſo treu zu mir, Bruderherz!
Gott lohn' es Dir! Du weißt nicht, wie wohl Du
mir damit thuſt!“
V.
Wie ein deckender Schild hatte Schill mit ſeinem
Freikorps vor Kolberg geſtanden und es drei Monate
lang vor dem herandrängenden Feinde geſchützt.
Dichter und dichter aber zog ſich jetzt das neu ver—
ſtärkte Belagerungsheer zuſammen und ſchloß die
Feſtung ein. Das Schillſche Korps, zum Patrouillieren
EEE — —
Roman von Hans Werder.
295 Schwertklingen.
und kecken Angriff geſchult und geſchaffen, mußte
jetzt hinter Wällen und Feſtungsgräben liegen und
unter den Leiden der Belagerung doppelt ſeinen
Mut bewähren. Der Schauplatz ſeiner Thaten ward
die Maikuhle, der verſchanzte Wald an der linken
Seite der Perſantemündung, deſſen Verteidigung
Schill übernahm. Es ward eine Zeit ſchweren
Dienſtes, doch ſtete Ausfälle, zurückgeſchlagene An⸗
griffe oder ſonſtige Reibungen mit dem Feinde ver—
liehen ihr hohes Intereſſe. Tägliche Gefahr, Täglich
Gelegenheit zur Auszeichnung, das war das Wahr—
zeichen der Arbeit dieſes tapferen Freikorps.
Dem alten Oberſten Loucadou wurde jetzt ſchwül
und unheimlich zu Mute. Er ſehnte ſich lebhaft
nach einem Erſatz, um der immer drohenderen Ver—
antwortung überhoben zu ſein. Manche notwendige
Vorkehrung war ſeinerſeits vernachläſſigt worden.
Um nun das Verſäumte nachzuholen, hatte er ſchon
in fieberhaftem Thatendrang die Lauenburger Bor:
ſtadt niederbrennen laſſen, ohne die Einwohner der⸗
ſelben vorher zu benachrichtigen. Die Häuſer wurden
ihnen über dem Kopfe angeſteckt, nicht das Geringſte
ihrer Habe, nicht einmal das lebende Vieh ver—
mochten ſie zu retten. Arm wie die Bettler, in Wut
und Verzweiflung waren ſie ſcharenweiſe in die Stadt
geflüchtet. Derſelbe Vorgang ſollte jetzt bei der
„Geldervorftadt” wiederholt werden, dieſelbe grauſame
Übereilung mit dem gleichen Elend im Gefolge. Dies
beihloß Schill zu verhindern. Er bejegte mit einem
Teil feiner Truppen die Vorftadbt und bielt den
Feind zurüd, bis die Einwohner ihre Käufer ge:
räumt hatten. „Es bat noch keine Gefahr — id)
bürge dafür!” gab er als biündige Erklärung für
fein Thun. Dann erft, al® auch der legte fih und
feine Habe in die Stadt gerettet, gab er den Ort
der Verbrennung preis. Unendlih war die Danl:
barleit der Bevölkerung. Oberft von Loucadou aber
ergrimmte in großem Zorn und ließ den Mifjethäter
zu fi bejceiden. Mit ruhiger Beftimmtheit er:
läuterte Schill die Gründe, welde ihn zu jeiner
Handlungsweife bewogen. Doh das verftärkte nur
den Zorn des Kommandanten. Lange Ion war er
eiferfühtig auf des jungen Neiteroffizierg Erfolge
und feinen wadjenden Ruhm. Hier fand er endlid
einmal Gelegenheit, dem Übermütigen, der oft jchon
feine Befehle zu umgehen gewußt, eine empfindliche
Demütigung zu teil werden zu laffen. Schills offen:
tundiger Ungehorfam gab die jchönfte Veranlajjung
dazu. Mit der ganzen Würbe des ftrengrichtenden
Borgelegten diktierte er ihm zwei Tage Zimmerarreft.
Ferdinand von Schi gab feinen Säbel ab und ging
in feine Wohnung. „Schade nur um die zwei Tage
der Unthätigkeit!” fagte er fich mit zürnender Ungedulod.
Die Bürger von Kolberg aber erfuhren von
diefem Vorgang. Eine grenzenloje Entrüftung erhob
ih. Schill, der Schußgeift der Stadt, in Gefangen:
ihaft — unerhört! Das durfte nicht jein! Man ver:
fammelte fi, beriet, was zu thun wäre. Eine Ab:
ordnung erjchien bei dem Kommandanten und forderte
laut und drohend bie Befreiung bes Rittmeifters.
Doppelt erbittert buch diefe Parteinahme der Bürger:
Ihlug Loucadou ihre Forderung ab. Die
Rittmeifter ein.
Sie heraus, zeigen Sie fid — die Kolberger wollen
die Gefangenihaft ihres Helden nicht dulden! €&
giebt eine Gemwalttfat — einen Sftandal ohne:
296
Entrüftung ftieg aufs bhödftee Man beichloß den
gefeierten Helden gewaltfam zu befreien und ber
Zug begab fi} zu des Hufarenführers Wohnung.
Nettelbed, ihnen voraneilend, trat haftig bei dem
„Xieber Herr Nittmeilter, kommen
gleichen, wenn Sie dem nicht entgegentreten!”
„Einen Gewaltftreid — für mid!” rief Schill
entjegt. „Um des Himmels willen, lieber Nettelbed,
beruhigen Sie bie Leute! Der Kommandant ijt
mein Borgejegter! Da ich gegen feinen Befehl ge:
bandelt habe, kann er mich beftrafen, wie es ihm
gut dünt! Ein anderes ift es freilih, ob er es
unter diefen Umftänden hätte thun jollen! Dod
darüber haben weber bie Kolberger nody ich zu ent:
fheiden! Gehen Sie und jagen Sie den Xeuten,
ih ließe fie bitten, fi fill zu verhalten, wenn meine
Bitte ihnen etwas gälte!“*)
Sa, feine Bitte galt ihnen etwas.
ihn — und alles blieb ruhig.
Wenige Tage darauf fchlug der geängfieten
Feftung eine Freudenftunde — Loucadou ward ab:
gerufen und an feine Stelle trat Major von
Gneijenau, ein junger, fraftvoller Mann, ein
genialer Feldherr und ein Held. Seine Maßnahmen
zeigten der Bürgerichaft alsbald, was fie von ihm
zu hoffen hätte. Die feurigen Worte, mit denen er
fie antedete, entflammten ihren jchon gefunfenen
Mut. Sie jhmwuren dem neuen Kommandanten,
mit ihm für die Feftung zu leben und zu fterben,
fie nicht zu übergeben, ob au die ganze Stadt in
Feuer aufginge.
Unterbeflen trieb in der Maituhle das Schilliche
Korps jein Wefen, zum Schuß des Hafens, der allein
nod die Verbindung mit der Außenwelt ermöglichte.
Sonft war alles vom Feinde umjdhloflen.
Hier aber herrfchte trogdem fiegesfroher Ülber:
mut. Oft reisten und nedten die flotten Hujaren
den Feind und weibeten fi bis zur Ausgelafienheit
an den Täufchungen, die fie ihnen bereiteten. ‘Der
ernfte, junge Rittmeifter fchüttelte zuweilen tadelnd
das Haupt zu dem Unfug. „Das ift feine Kriegführung
— das find Kindereien,” fagte er ftreng. Und dod)
ergögten au) ihn diefe Ausbrühe der Freude und
Luft des Kriegerlebens. „Wenn ih nur nicht immer
im voraus wüßte, daß Sie der Urheber von all
diefen Streihen find, Rodlig,” meinte er. „Mid
wundert, daß die Sranzofen noch immer drauf herein:
fallen, wenn Sie mit Shrem Hola be losziehen.
Die Bande ift zu dumm, eigentlid müßte fie nad)
gerade daran gewöhnt fein!“
Haffo fchwieg, denn der Tadel des Rittmeilters
behagte ihm nicht. Blandenburg aber nahm lebhaft
für ihn das Wort. „Glauben Sie nit, Herr Ritt:
meifter, daß es den Franzofen doch einmal Ichledt
befommen fünnte, wenn fie auf unfere Wie nidt
mehr anbeißen wollten?”
„Gewiß, ich glaube alles!” erwiderte Schill mit
*) Schilla eigene Worte.
Sie Tiebten
297 Schwertklingen.
einem lächelnden Blick auf Haſſos ernſtes Geſicht.
„Sie brauden mir gegenüber meine NRodlig-
Schwadron nicht zu verteidigen, ich weiß, was id
an ihr babe!“
Zuweilen aber nahmen die Maikuhlen-Scherze
aud einen fehr erniten Charafter an. Eines Morgens
rüdten die Belagerer mit mehreren Taufend Mann
von der „Epinntothe” nad dem Strande, um einen
Sturm auf die Maiktuhlen-:Schanze zu unternehmen.
SHil ging ihnen mit feiner ganzen Bejaßung ent:
gegen. Er flürmte mit Hurra die Spinntothen:
Schanze und warf den Yeind mit Hilfe von zwei
Kanonen aus mehreren Dörfern bis in die Sellnowiche
Verihanzung zurüd. Es war ein äußerft fcharfes
Gefecht, viele Verwundete und Tote auf beiden Seiten.
„Wer war der Mann,” fragte Schill am Abend
diejes beißen Tages, „ber allein zuerft auf der
Spinntothen-Schanze ftand? Es war fein Dffiier,
wie mir jchien?“
„Es war der Hujar von NRodlig aus meiner
Schmwadron,” berichtete Hagen. „Er ift bleffiert
worden!”
„Ah ſo, Rochlitz!“ Der Nittmeifter verftand.
E3 war nit mehr Mut, es mar todjuchende Toll:
fühnheit gewejen, die jenen da hinaufgeführt. Der
Erfolg Hatte die That zu einer glänzenden unb
beldenhaften geflempelt. „Wo ift er? Ich wünſche
ihn zu ſprechen!“
Hilmar Rochlitz trat vor, mit verbundenem
Kopf und Arm. Sein Blick begegnete dem des
Rittmeiſters. Nicht ein Wort des Lobes wagte dieſer
ihm zu ſagen; er reichte ihm die Hand.
„Melden Sie ſich bei Ihrem Schwadronchef als
zum Unteroffizier ernannt!“ ſagte er. Und leiſe
fügte er hinzu: „Sie werden mir geſtatten, über
den heutigen Tag Ihrem Herrn Vater zu berichten!“
Mit einem ſtummen Händedruck dankte ihm
Hilmar.
„Schreiben Sie den Brief an ſeinen Vater
noch heut, Herr Rittmeiſter,“ bat Haſſo ihn ſpäter.
„Es gehen morgen in aller Frühe einige Boote
aus dem Hafen, in denen unſer Herr Kommandant
ganze Ladungen von Greiſen und Schwächlingen
nach Rügenwalde befördern läßt! Einen habe ich
aus erſehen, der noch Mannes genug ſein dürfte, den
Brief ſicher nach Reckentin zu befördern!“ Der
Rittmeiſter erfüllte gern die Bitte.
* *
*
Zum Leidweſen der Garniſon wie der Bürger:
ſchaft verließ der kühne Huſarenführer, ſein Korps
zurücklaſſend, Kolberg zu Schiffe, um ſich nach Stral⸗
ſund zu begeben und von dort mit Hilfe der Schweden
einen Entſatz der Feſtung zu veranlaſſen. Er wußte
dieſe jetzt wohl aufgehoben unter Gneiſenaus Händen
und glaubte, ihr ſo noch beſſer nützen zu können.
Zu ſeinem Stellvertreter in Kolberg ernannte er den
älteſten ſeiner Offiziere, Lieutenant von Gruben I,
und als zweiten Rochlitz. Die Maikuhle blieb nach
wie vor der Schauplatz ihrer Thaten.
Die Belagerung ward immer ernſtlicher und
—
Roman von Hans Werder.
298
gefahrdrohender. Granaten fielen in die Stadt und
richteten arge Beſchädigungen an. Die Wolfberg—
Schanze, ein ſehr wichtiger Punkt, fiel nach heftiger
Gegenwehr in die Hände der Franzoſen. Sie wieder
zu erobern ward jetzt ein Hauptaugenmerk der
Kolberger Beſatzung. Kapitän von Waldenfels be—
ſchloß mit ſeinem Grenadierbataillon einen Ausfall,
den Sturm auf den Wolfsberg zu wagen.
Es war eine ſtockfinſtere Nacht, das Meer
brauſte ſturmgepeitſcht, dazwiſchen hörte man das
Praſſeln des Regens.
„Gehen Sie mit Gott, Waldenfels!“ ſagte
Gneiſenau. „Es iſt ein hartes Werk, das Sie ſich
vorgenommen haben, aber wenn's einer durchführen
kann, ſo werden Sie es ſein!“
Des jungen Helden blaue Augen leuchteten in
tiefem, heiligem Feuer. Ein hoher Ernſt lag auf
ſeiner Stirn. „Mit Gott!“ ſagte er nur.
In dem Toben der Sturmnacht verhallten die
Tritte der Grenadiere. Voll banger Erwartung
lauſchten die Bürger von Kolberg an den Thüren
ihrer Häuſer. Major von Gneiſenau und der alte
Nettelbeck ſſtanden zuſammen in dem kleinen Wacht—
zimmer des Kommandanten über dem Lauenburger
Thor am offenen Fenſter, ſchweigend, atemlos. Alles
war ſtill, nur die See brüllte wilder und der
Sturm pfiff.
Eine halbe Stunde war vergangen.
Da knatterten Schüſſe auf Schüſſe, größer,
unheimlicher ward das Getöſe. Endlich war es wieder
Nil. Der Regen hatte aufgehört und der Sturm:
wind legte fih. Tiefer, majeflätiiher braufte ber
Gelang ber See dur die Nacht dahin. Wem jang
fie das Grablied?
„Wie find die Helden gefallen!”
Ein Bote trat in das Zimmer des Kommandanten.
Er meldete den Sieg Die Wolfsberg Schanze
war geftürmt — in den- Händen ber Preußen. Der
Feind Hatte fih mit großem Berluft zurüdgezogen.
Doh audh das preußiiche Grenadierbataillon hatte
ſchwer gelitten.
MWaldenfeld war gefallen! Er felbft war der
erite beim Sturm, der erfie auf der Bruftwehr, und
ber erfte, der mit feinem Leben den Sieg erfaufte.
Ein feindlihes Bajonett burhbohrte feine Bruft.
Er jah mit bredendem Auge den Sieg in der Hand
der Seinen und freudig ftrömte fein Herzblut dahin —
vergojlen für des Vaterlandes heilige Sade. So
anf er fiegend im Tode dahin — ber pommerjce
Leonidas.
Leider waren fie nicht von Dauer, die Früchte
diefes edlen Opfers. Die Feinde eroberten den
Wolfsberg zurüd und alle Verfuhe, ihn mieder zu
gewinnen, blieben vergeblih. Immer enger ward die
Feſtung umjchloffen. Bon der Außenwelt drang
feine Kunde mehr in die geängftete Stadt. Bomben
und Granaten jchlugen unausgejegt berein, zer:
trümmerten die Gebäude oder jeßten fie in Flammen.
Leihen, Verwunbete, PVerftümmelte lagen auf den
Straßen, in den Häufern. Unaufbörli eriholl das
Wimmern und MWehllagen. Herzjerreißend waren
die Eindrüde für Auge und Ohr, unermeßlich der
299 Schwertklingen.
Jammer in jedem Winkel der Stadt, grauſenhaft
die Gefahr, die ſich jede Minute ſteigerte. Und doch
ward feine Stimme laut, welche Übergabe der Feſtung
gefordert hätte. Ausbarren bis zur letten Stunde,
das fchien die Lolung jedes Bürgers wie Soldaten
in der ganzen Stadt. Unjerem König die Feltung
erhalten, darauf war jeber zu fterben bereit.
Der erfte Juli brad an. Entjegliches berichtet
die Kolberger Chronit über diefen Tag. No war
die Sonne nicht aufgegangen, als der Donner ber
feindlichen Geihüge die Einwohner aus dem Schlafe
wedte. Bon ben Wällen dröhnte die Antwort des
fürdhterlihen Morgengrußes. Die Erde bebte, ber
Tag des Weltgerichis Ichien gelommen. Aus allen
Batterien der Belagerer rund um die Feftung warfen
Die Sean Tod und Vernichtung in die arme
Stadt.
Zu gleider Zeit unternahm der Feind einen
heftigen Angriff auf die Maituhle. Mit der Wut der
Berzweiflung wehrte fich das Schillihe Korps und ver:
teidigte feinen Plag. Doch die Übermadht des Feindes
war groß — die Verichangungen nicht ftarl genug.
„Wir müfjen die Maituhle Halten! Kolberg
vom Meere abgeihnitten — ilt unrettbar verloren,
wenn ber Feind fih bier feftiegt! Ach, daß Schill
bier wäre!“
„Wir müflen thbun, was Schill gethan hätte!“
war Hafjos Entgegnung auf biefen Ausruf des jungen
Befehlshabers Gruben. „Wir halten die Maituhle,
wir mweihen nicht einen Zol — mögen fie uns in
Stüde baden!”
Und jo thaten fie. Do ihre Zahl verringerte
ih, die des Feindes ſchien ſich zu verdoppeln. Immer
dichter ſchlugen die Kugeln herein und lichteten ihre
Reihen!
Einen ſchlanken Huſaren ſah Haſſo in einer
Breſche ſtehen, welche ſoeben von einer Kanonen—
kugel in den, Wall geriſſen war. Mit ſeinem Leibe
bedte er die Offnung, aus mehreren Wunden blutend.
Da traf ihn ein Gefhoß mitten in die Bruft und
er jant nieder, langlam — lautlos.
„Hilmar!” Mit einem Sprunge war Hafjo an
jeiner Seite. Die Kugeln pfiffen um ihn ber — er
achtete es nicht, er warf fih an des Bruders Seite
nieder. Der öffnete die Augen, matt und jchwer.
Aus feiner Bruft quoll das rote Blut, die erblaflenden
Lippen bewegten fih zum Spreden.
„Sage meinem Vater — ih hätte mir den
Tod verdient!”
„Ja, Hilmar — id werd’ es ihm jagen, Jo
wahr ih ein Rodhlig bin! Du ftirbit als ein Held
und nimmft feinen Segen mit ins Grab!”
Die bleihen Lippen färbten fih mit Blut.
Haflo fprang auf, eine Kugel ri ihm den Kolpat
vom Kopf. Vorwärts drang er an der Spiße ſeiner
Schar. „Blomberg!” rief er diefem zu — „Sie
fahen ihn kämpfen und fallen! Wenn ich bleiben
follte — bringen Sie jein Vermächtnis dem Vater!”
„Isa — ih bring’ es ihm — ih hörte es —
verlaflen Sie fi) darauf!”
immer heftiger wogte der Kampf. Sie rangen
ehem Feinde Zoll um Zoll — mie es Hafjo ge:
Roman von Hans Werber.
‚wollt. Doc es ward zur Unmöglichkeit.
300
Gefangen:
Ihaft oder Rüdzug, es gab keine andere Wahl.
Schritt vor Schritt, in tobveradhtender Verzweiflung
fih Ichlagend, wurden fie zur Stadt zurüdgedrängt.
Herr von Gruben, der Anführer, ward, zum Tode
verwundet, binweggebradt. NRodhlig übernahm die
Führung. Er ließ in Flammen auflodern, was
irgend den Feinden hätte nüten können — audy die
Brüde über den Fluß, jobald fie dDiefelbe überfchritten.
Das lekte Verteidigungswerk des Schillihen Korps,
die Maifuble, war verloren und damit die Herrichaft
über den Hafen in der Hand bes Feindes.
Rettelbed, der jugendliche Greis, welcher bie
ganzen Xölcharbeiten leitete, der die Vertretung ber
waderen Bürgerihaft in fih jelber perfonifizierte
und zugleih immer und überall des Kommandanten
rechte Hand war, tritt vor das Stadtthor hinaus,
feine lieben Schilliden zu begrüßen.
„Nettelbed, wir find geihlagen!” jchrie Hafio
ihm entgegen. „Aber nur vorläufig, wir müfjen die
Maituhle wieder haben! Mit etwas Hilfe nur
hätte ih mich halten Fünnen — aber fiher, wir
müflen fie wiedergewinnen!”
„Ratürlich, das meine ih auch!” rief Neitelbed,
ibm von feinem Roffe herüber die blutende Hand
brüdend. „Bon der Saline ber, am linten Ber-
janteufer entlang — Wajor Gneijenau wird jhon
Rat wiffen, no brauden wir nit zu verzagen!”
„Aber wie lange, lieber Nettelbed, werden wir
uns noch halten können?” fragte Hajlo.
„Wie lange no? MWenigftens jehs Wochen!
Wir haben ja noch Munition und Proviant im
Überfluß! Und eher darf fein braver Solbat oder
Bürger an Kapitulation denken, bis weder Hund
no Kate übrig it, die man eflen fünnte! Wir
müflen den PBlat unferm König erhalten!“*) Nach
diefen Worten ritt er grüßend weiter — die Gafle
entlang. Die Hularen blidten ihm nad und wer
feine Worte gehört, dem Ichlug das Herz aufs neue
bohd in Mut und Freudigfeit zum Ausharren bis
aufs lepte.
Schrediih war die Naht, die diejfen Tage
folgte. Bei bem SKtradden des feindlichen Gejchüges,
dem Geprafjel der einftürzenden Gebäude hörte man
faum ben Donner der eigenen Kanonen auf den
Wällen der Stadt. Überall wüteten die Flammen.
Und mit neuen Schredniffen begann der Tag,
dröhnend als ginge die Welt in Trümmer. Kein
Leben zeigte fih auf den Straßen. Wimmern,
Schreien, Hilferufen drang aus dem Snnern ber
Häufer. Und nirgends, jelbit in den Kellern nicht
mehr, gab es Sicherheit. Die Dächer flürzten ein
— die Flammen |hlugen empor. Der Feind machte
Anftalten, das Münder Fort, die legte Zufludt am
Hafen, zu ftürmen — Das bedeutete einen neuen
entjeglihen Schlag.
Unglüdjelige Stadt — bis aufs äußerfte mußte
fie die Probe beftehen. Wenn das Belagerungsheer
jest den Sturm unternahm? — Nah menichlichem
Srmefjen war dann die Stadt verloren.
*) Nettelbeö eigene Worte.
301
Und doch ſprach feiner, Feiner von Kapitulation!
„Wir alle Stehen dann
Mutig für einen Mann
Kämpfen und bluten gern
Für Thron und Reich!“
Das war Nettelbeds Lofung, und feine Kolberger
ftanden mit ihm — treu bis in ben Tod.
Fürdterlih fteigerte fih die Gefahr. Inter
dem Feuerregen der tobbringenden Gejhofle, dem
Ziihen der Flammen, dem Brüllen der mörberiichen
Kanonen ftieg die Tobesnot bis zur Verzweiflung.
Da plöglid — was bedeutete da8? Nachmittags
um drei Uhr — jchwieg der Kanonendonner.
Ein Leben — ein Aufatmen — ein Sturm der
Hoffnung wogte durdy die geängfiete Stadt. Konnte
das Frieden bedeuten? Crlöfung aus der furdt:
baren Drangjal?
Sa, e8 war jo! — Ein Kurier aus dem fönig:
liben Hauptquartier bei Tilfit brachte die erlöjende
Botihaft. — Es war der Lieutenant von Holleben,
der von Kolberg aus mit Kriegsgefangenen dorthin
gejandt war und jegt zurüdtehrte. Der König hatte
mit dem franzöfiihen Kaifer einen vierwöchentlichen
Waffenftilftand abgejhloffen. Unter Trommelichlag
ward den Bürgern von Kolberg die Nachricht ver:
fündet. Waffenruhe! Der Vorbote bes Friedens!
Die Belagerung hatte ein Ende. Die Tage der
Prüfung für Stolberg „waren vorübergegangen, und
die treue pommerjhe Seite war nicht unterlegen.
Siegreih und fiolz ftand fie da, ein Felfen in
der Meeresbrandung — ein funfelnder Ebelftein
in der Krone ihres Könige. — Sie trug den
einzigen Lorbeerzweig davon, ben dieler ganze
Krieg für Preußen erübrigt.
VI.
Mit dumpfen Schlägen verkündete die Glocke
auf dem Kirchturm zu Tilſit die mitternächtige Stunde.
Vor dem Rathauſe ſtand ein uralter Nachtwächter,
ein Invalide des ſiebenjährigen Krieges, der blies
ſein Horn in klagenden Tönen und ſang mit
prophetiſcher Stimme:
„Hört Ihr Herren und laßt's Euch ſagen,
Euer letztes Stündlein hat geſchlagen!“
Er allein wußte, was die Glocke geſchlagen hatte!
Es war die Nacht vom 9. zum 10. Juli 1807.
Droben hinter den hellen Rathausfenſtern wurde
der Friede unterzeichnet. Der Friede von Tilſit!
Talleyrand, der hinkende Mephiſto, Napoleons rechte
Hand, ſchrieb vor — und die Grafen Goltz und
Kalkreuth, des Königs von Preußen Bevollmächtigte,
unterzeichneten in blinder Unterwürfigkeit.
Was war das Unglück von Saalfeld, Jena und
Auerſtädt, was die Schmach von Magdeburg und
Prenzlau gegen die Erniedrigung dieſes Friedens—
ſchluſſe! Betrogen, verlaſſen, zertreten ſtand
Preußen da.
Faſt die Hälfte ſeines Ländergebietes büßte es
ein. Die Armee durfte nicht über vierzigtauſend
Mann ſtark ſein und ſämtliche größere Feſtungen
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
blieben im Belig der Franzolen. Die | Heerftraße
302
durhd das ganze Preußenland hatte Napoleon fid)
vorbehalten, zum Durchzug feiner Truppen, wie er
fagte. Hiermit hielt er den Schlüffel zu jeder Willkür
in feiner Hand, und alle, auch die Eleinften Freiheits«
gelüfte des armen, gefnechteten Königreichs konnten
jofort im Keime erfticdt werden. An Kriegsfontribution
waren bundertundzwölf Millionen Francs zu ent:
richten, von einer Bevölkerung, welche in der furdht-
baren Kriegsnot Ion den legten Grojchen eingebüßt
hatte. Eine große Dccupationsarmee, im ganzen
Zande verteilt, mußte bis zur Dedung der franzöfiichen
Forderung frei verpflegt werden. So wollte e8 ber
unerbittlide Ujurpator.
Alle diefe Abmahungen aber waren nur für
den König, nit für Napoleon verbindlid und
fonnten je nad) deflen Tyrannenlaune erweitert oder
eingefchräntt werben.
Gottes Geridhte gingen über Preußens Haupt.
Aber der fie beraufführte, der lud den Fluh auf fi
und jollte daran zu Grunde gehen!
„Wenn Preußen anderthalb Millionen Ein-
mwobhner behält, jolte das nicht genug jein für das
Mohlbefinden der königliden Familie?” äußerte der
Eroberer mit dem Lächeln Jeines eifigen Hohnes.
Nah diefem Grundjage beichloß er feine ferneren
Maßnahmen.
Kaifer Alexander von Rußland aber, der Freund
und Bundesgenofje Preußens, ließ das alles gejchehen,
von Napoleons Schmeicheleien geblendet, von jeinem
überlegenen Geifte beberricht. Vergebens war bie
Bufammentunft ber brei Herrider auf der Niemen-
brüde bei Memel, von der Alexander dem verlaflenen
Freunde jo großen Vorteil verhieß: fie brachte ihm
nur neue Demütigungen von jeiten Napoleons ein.
VBergebens war es felbft, daß unlere herrliche Königin
fih für den Entihluß gewinnen ließ, fi dem über:
mütigen Sieger zu nähern und ihm ihre Bitten für
ihr unglüdliches Land ans Herz zu legen. Er be:
gegnete ihr zwar mit ausgefuchter Höflichkeit, er
brachte ihrer holden Schönheit die Huldigung bar,
die ihr feiner zu verfagen vermodte, der in ihren
Strahlenkreis trat. Er ging auf ihre Unterhaltung
ein mit dem feurigften interefje. Und doc) — mas
fie gewann buch diejen jchwerften Schritt ihres
Lebens, die edelfte aller Frauen — das waren ein
paar fchmeichelhafte Verficherungen, leere Redensarten,
Iherzhaft gefärbte Verfprehungen, fi ihrer Bitten
erinnern zu wollen — und nidts — nichts weiter!
Eine unendlide Enttäufchung.
„IH babe große Mühe gehabt, diefer Königin
gegenüber ftand zu halten,” jchrieb Napoleon jelbit
ipäter in feinen Memoiren. „Sie ließ in unjerer
Unterredung ihre ganzen Geiftesfräfte jpielen — und
fie it fehr Hug! Sie führte den ganzen Zauber
ihrer Perlönlichfeit gegen mich ins Feld — und ihre
Schönheit ift von großem Weiz!” Das Höcdhfte aber
und Edelfte an ihr, womit fie ihm entgegentrat —
das erwähnte er nit. Die beldenmütige und doc)
jo weiblihe Selbftaufopferung für ihr Land und
Volk, die Dulderkrone, die fie trug über dem Könige:
ſchmuck, in welchem fie es über fih brachte, an jeiner
— — —
Tafel zu fiten, — die verftand er nicht, und darum |
rühmte fi der Plebejer, daß er fiegreih ftand zu
halten vermodt — gegen dieje Königin! —
E53 war eine jchwere, erwartungsvolle Zeit.
Große Gedanken, gewaltige Entihlüffe reiften unter
dem Drude des ehernen Foces, um einft in ber
Stunde der Beireiung als fühne Thaten ihr Haupt
zu erheben. Gedemütigt in feinem Leid, dod un:
gebrodhenen Mutes ftand der Rönig aufredt. Die
Stunde der Not fand ihn bereit, feine ganze Seele,
fein ganzes Können einzufegen zur Rettung bes ge
Ihlageren Landes, des gefährdeten Thrones. hm
zur Seite die treufte und berrlichfte aller Königinnen,
mit dem fanften Einfluß ihrer Liebe, ihres Geiftes,
ihrer großen und dharaltervollen Tugenden. Um ihn
ber ein Kreis von Helden, die auferftanden ſchienen
aus der Ajche ber vernichteten Ruhmesgröße, um ihm
zu belfen, Heer und Landesregierung zu erneuern
für eine größere, fommende Zeit. Stein und Harben-
berg, Schharnhorft und Gneifenau, Grolmann und
Blücher. Ferner Prinz Wilhelm, des Königs Bruder.
Diefer ging als Geilel nah Paris, um mit dem
Katfer wegen Ermäßigung der unerfhwinglichen
Kriegskontribution zu unterhandeln, fidy felbft in
Haft auf Gnade und Ungnade darbietend. Mit ihm
feine edle Gemahlin Marianne, die fih freudig erbot,
Kerler und vielleiht den Tod mit ihrem Gatten zu
teilen. Und noch eine Frau aus dem Küönigshauje
trat wie ein feines, Lichtes Bild in den Vordergrund,
Hug, geiftvol und tiefempfindend, ihren edlen,
jördernden Einfluß mit dem ihrer königlichen Bale
vereinigend — Brinzeliin Luije Radziwill, Prinz
Kouis Ferdinands würdige Schwelter.
So Stand diejer Fföniglidde Hof in feiner Ber:
bannung und boffnungslojen Verlaffenheit groß und
edel da. Würdig und Hehr in feinem Unglüd,
die Abhtung und Teilnahme der ganzen Welt fidh
erzwingend.
Sn den Provinzen des gelnechteten Staates ſah
es troftlos aus, und Berlin war Haupt-Garnijonftadt
ber franzöfiihen Sieger. Eine Bürgergarde hatte fi)
außerdem gebildet, vornehmlih aus jugendlichen
Handlungsbeflifienen beftehend, die fäbelraflelnd in
prunfhaft bunten Uniformen durh die Straßen
ftolgierten. Leider gefielen fie fi darin, den Fremb-
lingen zu dienen und ihr Vaterland, ihr Vollsbe:
wußtlein berabzumwürdigen, jo daß jelbft die Sieger
Efel davor empfanden. Es war feine rühmlicdhe Zeit,
auh für die gute Stadt Berlin. Der König, die
Königin galten als übermundene Begriffe. Man
jpottete über fie, man flimmte ein in die Schmähungen
der Franzoſen über dieje geheiligten Häupter.
Die Beahtung bes Geburtstages der Königin,
lonjt ein Fefttag für das Volk, war durch ben franzd-
iihen Kommandanten aufs firengite unterfagt worden,
und treulid ward das Verbot erfüllt. Der Schau:
jpieler Yffland nur, als er an jenem Abend die
Bühne des Schaufpielhaufes betrat, wagte es, jeinen
Empfindungen einen ftummen, berebten Ausdrud zu
geben. Er z0g einen Blumenftrauß hervor, blidte fi
um und drüdte ihn feurig an feine Brut. Das
likum jauchzte ihm verftändnisvoll Beifall zu,
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
304
Iffland aber ward ins Gefängnis geworfen und mit
Füſiliertwerden bedroht.
Zwei Jahre ſpäter erſt kehrte das geliebte Königs⸗
paar in ihre Hauptſtadt zurück. Den erſten Abend
ſchon zeigten ſie ſich bei der Vorſtellung im Schau:
ſpielhauſe ihrem beglückten Volke. Da ließ die Königin
Iffland in ihre Loge rufen, und mit warmen Worten
dankte ſie ihm, daß er allein vor Tauſenden Freiheit
und Leben für ſeine Königin aufs Spiel geſetzt!
* *
*
Im Grunde ſeines Herzens fürchtete ſich Na⸗
poleon vor Preußen, denn er war ſich bewußt, die
Sehne allzu ſtraff geſpannt zu haben. Kein unter:
worfenes Land hatte er ſo zertreten, bis an den
Rand der Vernichtung geitoßen, gehöhnt und be-
Ihimpft, wie das unfere, und er ahnte dunfel, daß
aus der Verzweiflung, die er gejäet, eine verderben:
bringende Rache aufgehen könnte.
Darum vor allen Dingen durfte Preußen Teine
nennenswerte Heeresmadht mehr befigen. Wohl aber
folte e8 ein QTummelplag feiner Kriegsicharen
bleiben und die Feftungen in feinen Händen!
Nur an Kolberg reichte jeine Macht nicht heran,
das hatte fih dem Könige erhalten. Seine Be:
fagung bildete den alten, heiß erprobten und be-
währten Kern für ein Heer, das mit neu belebter
Kraft wieder auferftehen follte. Drei Bataillone der:
jelben wurden zum „Leib:Grenadierregiment Nr. 8*
vereinigt, drei zum „Örenadierregiment Kolberg
Nr. 9.” Sie tragen noh heut auf Helm und
Fahnen die Anjchrift „Kolberg 1807” als hödhites
Ruhmeszeichen!
Aus dem Schillſchen Freikorps ward das „Zweite
brandenburgiſche Huſarenregiment“ gebildet, er ſelbſt,
der kühne Führer, als Regimentskommandeur zum
Major befördert. Gneiſenau war Oberſt geworden.
Der verdienftvolle Nettelbed erhielt Benfion und die
Berechtigung, Admiralsuniform zu tragen.
Bald nah dem Friedensihluß begab ih Schill
nah Königsberg, um fich dajelbft bei jeinem Aller:
höcdhften Kriegsheren zu melden. Überaus buldvoll,
mit außerordentliden Gnadenbezeugungen ward er
empfangen, Den hoben Berbienftorden „pour le me-
rite“ bejtete der König an jeine Bruft, zum Lohn
für das, was er dem Baterlande geleiftet.
Doh höher als alles andere lohnte ihm Die
Stunde, da er vor den Augen jeiner angebetelen
Königin ftand. Holdjelige Worte des Danfes und
der Anerkennung jprad) ihr Mund. Sie wollte jelber
von ihm hören, wie er fein Werk der Treue und
Tapferkeit volbradt und gütig lähelnd Ichalt fie ihn,
daß er jo gar nichts darüber zu jagen wußte, nichts
al8 daß er ein preußiicher Soldat fei, und jein
Herzblut nur da, um für feinen König, jeine Königin
vergojlen zu werden.
„Sie müflen aud von mir ein Andenten mit:
nehmen, lieber Herr von Schill!” fagte die Königin.
„Sehen Sie dieje Kleine Perlentrone! Befeftigen Sie
den Drden daran, den Shnen der König verliehen!
Berlen find der einzige Schmud, den ich jelber nod)
305
trage, fie beuten auf bie zahllofen Thränen bin, die
id um unjer Unglüd vergoflen!” Ihre Stimme
verichleierte ih, in ihren blauen Himmelsaugen
ihimmerten Berlen, köftlicher, jchöner als die in ihrer
Hand! „Meine Brillanten, meine Syuwelen habe ich
verkauft!” fuhr die Königin fort. „Die einzigen
Edelfteine, die uns geblieben, das jeid hr, unfere
Helden, unfere Tapferen und Getreuen, der Föftlichfte
Schmud unjerer jhwer beraubten Krone! Diamant
it die Treue Eurer Herzen, Rubinen die Bluts:
tropfen, die hr jo freudig für das Vaterland ver:
giebt! Daraus befteht der preußiihe Kron: Trejor!
Gebenten Sie daran, Herr von Schill, wenn Sie
meine Keine Perlentrone tragen!“
Ferdinand von Schill gedachte daran. Er trug
mit feinem Orden bie Perlentrone auf feiner Bruft
als einen Talisman, bis das feurige Herz feinen
legten Schlag geihan und mit blutigem Tode das
heilige Gelübbe feiner Treue befiegelt hatte.
v1.
Der Major von Schill war in gehobener Stim-
mung, als er von feiner Königsberger Reije zurüd:
fehrte. Die Gnade des Königs, die Huld feiner
Königin hatten ihn unenblih beglüdt, darum kam
ihm der Wunich von Herzen, aud diejenigen glüdlich
zu machen, die ihm bei feiner Ruhmesarbeit treulich
geholfen. Hallo Rolig benußte den günftigen Augen:
blid, Sid einen längeren Urlaub zu erbitten, und
dberjelbe warb ihm gewährt. Es war der erfte, fo
lange er diente Schon längft brannte es ihm auf
ber Seele, das Bermäcdtnis Hilmars an jeinen Bater
zu erfüllen. Von dem Xode feines Sohnes hatte er
diefem jchriftlih Mitteilung gemacht, doch Feine Nach:
riht darauf erhalten. In Fritens Begleitung brach
er auf und ritt tagelang den Weg dur die ro:
mantiſche Einſamkeit hinter dem Gollenberge. Faft
ein Sjahr war es ber, jJeit er bier den franzöfilchen
Kurier aufgefangen, mitten in den tiefen, tiefen
Wäldern. AJmmer weiter ging jein Weg. Immer
befannter ward ihm das Land.
Wie der Fichtenwald jo Träftig raufchte! Wie
der Specht jo luftig hadte in den fhhlanten Stämmen.
„Sunter Haflo — guten Tag — Aunter Haflo —
guten Tag!” jo tidte der Spedht. Und dem Junker
i&hlug das Herz jo laut faft wie bes Spechtes Schnabel
im Fichtenholz.
Der Wald that fi auseinander. Freies Feld
lag vor ihnen, eine weite Strede, und dann das
Dorf, unter winterfahlen Bäumen malerijcy gebettet,
der kurze, dide Kirchturm im See fidh jpiegelnd.
Dahinter mit feinem hohen Dad, binmwegragend über
die Lindenwipfel, das Herrenhaus von NRedentin.
Eine Kubherde weidete auf dem Anger nahe des
Weges. Melodiich läuteten die Gloden, wie fie Schritt
um Schritt fich fortbewegten, die ftattlihen, weiß:
und jchwarzgefledten Milchfühe. Die eine hob bas
breite Haupt empor und firedte es janft brüllend
nad den beiden Reitern bin: „unter Hallo —
guten Abend — Zunler Hafio — guten Abend!” —
Roman-Zeitung 1896.
Schmwertllingen. Roman von Hans Werber.
306
Sunler Hafio parierte fein Pferd und ließ den
Blid umberichweifen in Rührung und Wieberjehens-
freude. „Srite, es ift faum zum Aushalten! —
Mir wird jo wunderlid ums Herz, wie noch nie
zuvor im Leben!“
„Sa, Herr Lieutenant, aber es ift bo aud
wunderſchön, wieber zu Haufe fein,“ Fang es faft
Ihluchzgend von den Lippen feines Burjchen.
Da richtete fi Haflo auf. „Ja — wenn man
ein Zuhaufe hat! — Aber Du haft recht, Yrike,
vorwärts denn!” Sie ritien weiter, bis vor bie
hölzerne G®itterthür bes Pfarrhofes.
„Sp, Frige, nun mad), daB Du nad) Haufe fommit,
nimm mein Pferd mit, beide in den berrichaftlichen
Stall — ſuch' den alten Dietrih auf — weiter ift
nichts nötig.”
Er öffnete die Gitterpforte und ging hinein.
Seine Sporen Elireten auf dem Steinpflafter.
„Ein fefte Burg ift unfer Gott —” tönte ba
ber wohlbefannte Gelang an jein Ohr, leife, faft
gemütlih. Hier galt es ja feine Walbunholde zu
veriheuden — das Singen beim Spazierengehen
war eben nur nachgerade eine liebe Gewohnheit ge-
worden.
Hallo blidte forfhend umber. Da fjah er ben
alten, guten Pfarrer, die Hände auf dem Rüden,
das ſchwarze Käppchen auf bem filberweißen Haar,
gemädlich in feinem winterlihen Gärten auf und
ab wandeln. Ein wenig gebüdter jchien ihm Die
Haltung, ein wenig zitternder die Stimme gemor:
den. Sonft, ach wie unverändert, wie mwohlbefannt
das alles.
Der alte Herr hörte den Schritt des Dffiziers
und fuhr erjhroden auf: Ein Frangole etwa, man
fonnte feinen Tag noch Stunde fiher Jein!
„Buten Abend, Herr Pfarrer, fennen Sie mid)
no?” Die Stimme war geeignet, Schred und Un:
rube zu vertilgen. Sie Hang fo wohlbefannt, jo
ureinheimifch, und dabei jo männlich, foldatiih. So,
ale ob fie Schuß verbieße gegen ein ganzes Dutend
Franzoſen!
„Die Stimme kenn' ich doch! Und die Augen!
Aber, mein Gott, es iſt ja wohl gar nicht möglich!
Meine Augen werden alt. — Nehmen Sie mir's
nicht übel, Junker Haſſo, wenn Sie's wirklich ſind!“
„Ja, ich bin es, Herr Pfarrer! Schönen Dank,
daß Sie mich erkannt haben! Sagen Sie mir einen
Willkommensgruß, es wird der einzige ſein, den ich
zu erwarten habe!“
Er ſtand vor dem Pfarrer, entblößten Hauptes,
die Hände am Säbelgriff. Und jener legte bewegt
die feine runzlige Hand auf das ſtolze, ſich beugende
Jünglingshaupt. „Gott ſegne Dich — mein Sohn!
Gott der Herr ſegne Deine Einkehr in das Erbe
Deiner Väter und mache Dich zu ſeinem treuen
Knecht!“ Dann legte er ihm leicht die Hand unter
das Kinn und richtete ſein Haupt empor. „Sehen
Sie mir einmal in die Augen, Junker Haſſo! Wie
ſchauen Sie denn aus? — — Ein Mann ſind Sie
geworden, das ſehe ich! Und ſitzt das Herz noch auf
dem alten Fleck?“
„Ja, Herr Pfarrer!“
IV. 22
307 Schwertklingen.
„Nun, ich meine, dann ſitzt es auf dem rechten
Fleck! Gott gebe es! Einem in die Augen ſehen,
das können Sie noch! Aber mit einem Blick über—
ſchauen, was darin vorgeht, in der Tiefe — das
kann ich nicht! — iſt ja aber wohl auch nicht
nötig! — Nun kommen Sie herein — und geſegnet
ſei die Stunde, da Sie über meine Schwelle ſchreiten!“
Als Haſſo ein wenig geruht und zu ſeiner
Stärkung genommen, was die Gaſtlichkeit des ehr-
würdigen Pfarrhauſes ihm bot, als die erſten wich—
tigen Fragen mit dem alten Herrn gewechſelt waren,
begab er ſich nach dem „Neuen Hofe“ hinüber. Gar
ſo raſch ging das nicht, wie er ſich's gedacht. Hier
kam Fritzens Vater, der Förſter, ihm freudeſtrahlend
entgegen, hier ſcharte ſich eiin Trupp Dorfbuben um
ihn, die in dem ſtolzen Offizier den ſchmächtigen
Junker wiedererkannten, der in ihrer Kindheit
Träumen eine Hauptrolle geſpielt. Nun der alte
Dietrich unter Freudenthränen. Ein Wiederſehen
ward immer nachdrücklicher gefeiert als das andere.
„Junker Haſſo — Haſſo — Haſſo!“ gackelten
die Hühner und Enten und flogen aufgeregt aus—
einander. Sie allein meinten nichts Gutes von ihm
erwarten zu dürfen. Nein, nicht ſie allein. In ihrer
Mitte ſiand Mamſell Chriſtiane, die Ausgeberin,
und blickte ihnen zürnend nach allen Seiten hin
nach. Die weißgeſtärkten Bänder ihrer Haube zitterten
vor Schreck, als ſie in dem ſchnauzbärtigen Reiters—
mann den wilden Junker von einſt erkannte. Er
rief ihr einen Gruß zu und ein Lächeln huſchte über
ſein Geſicht, ſehr flüchtig nur. Er näherte ſich dem
Herrenhauſe des Neuen Hofes und das Herz ward
ihm ſchwer wie ein Stein in der Bruſt.
Der alte Major hatte bereits von der Ankunft
ſeines Neffen gehört, denn wie ein Lauffeuer war
die Kunde vor ihm hergeeilt.
Er ſaß aufrecht da und ſtarrte nach der Thür.
In nervöſem Zittern umfaßte ſeine welke Hand die
Lehne des Seſſels. Was wollte der Bube hier? Zu
ihm kommen? Ihn höhnen in ſeinem Jammer? Es
ſah ihm ähnlich!
Jetzt öffnete ſich zögernd die Thür. Der alte
Diener ſchaute herein, verlegen, ſcheinbar beſchämt
über die ſtrahlende Freude, die er doch nicht zu unter-
PR vermodte. „Der Herr Lieutenant SYunfer
ano!“
„Der Herr Lieutenant!” Ein leifer Schmer:
zenston fam von ben Lippen bes alten Dffiziers.
So und nicht anders hatte man ja feinen Sohn ge:
nannt, als er noch lebte! Auch, als er nicht mehr
Lieutenant war nah dem Nichteriprud) des Könige!
E3 wurde ihm jchwarz vor den Augen.
Als er wieder auflah, war der Diener ver:
Ihmwunden und vor ihm ftandb ein Hufarenoffizier,
der fich tief verneigte.
„Mit wen habe ich die Ehre?
Sie von mir?“
Haſſo hob das Haupt und die fchweren, dunklen
Wimpern enıpor. E83 lag ein Blid mweidhen Schmerzes
in den großen Augen, der dem alten Reden wun⸗
berlih zum Herzen drang. „Lieber Ontel, Sie
fennen mich do noch?“
Was wünſchen
Roman von Hans Werder.
308
„Ah, Haſſo, ja, ich erkenne Dich! Kommſt Du,
um Dein Erbe in Augenſchein zu nehmen?“
Haſſo ſchwieg. Sein Blick ruhte auf dem ſchnee—⸗
weißen Haar, dem gramverzehrten Antlitz, und Mit—
leid, nichts als grenzenloſes Mitleid erfüllte ſein
Herz. „Ich komme, um Ihnen das letzte Vermächtnis
Ihres Sohnes zu bringen,“ ſagte er.
„Meines Sohnes! — Sein Vermächtnis! Ach
Gott, mein armer, armer Junge! Welch Vermächtnis
hat er mir zu ſenden?“
„Lieber Onkel, Ihr Sohn hat gekämpft wie ein
Held, er war unter den Tapferen des Schillſchen
Freikorps in Kolberg der Tapferſte! Und als ein
Held iſt er geſtorben! Mit ſeinem Leibe die Breſche
in der Mauer ausfüllend — von Wunden bedeckt —
die tödliche Kugel mitten in der Bruſt! Ich war
bei ihm! „Sage meinem Vater, ich hätte mir den
Tod verdient!‘ das waren ſeine letzten Worte!“
„Den Tod verdient — Herr Gott, erbarme Dich
meiner!“ ächzte der unglückliche Vater.
„Sehen Sie, lieber Onkel — hier bringe ich
Ihnen den Rock, den er getragen! — Ich dachte,
es würde Ihnen lieb ſein, dieſes Andenken zu
haben!“
Der Rock war blutgetränkt, am Arm, an den
Schultern zerfetzt von Säbelhieben, ein Kugelloch
mitten auf der Bruſt.
„Wie Helden ſterben.“
Der alte Soldat nahm das blutige Sterbekleid
ſeines Sohnes und laut aufweinend verbarg er ſein
Geſicht darin.
Es währte lange, bis Haſſo den Mut fand,
das eingetretene Schweigen zu unterbrechen. „Darf
ich die Tante nicht begrüßen?“ fragte er faſt zaghaft.
Herr von Rochlitz richtete ſich mühſam auf.
„Ja, komm, meine Frau iſt hier. Sie wird ſich
freuen — ſie wird Dich doch auch ſehen wollen!“
Mit zitternden Händen verwahrte er die traurige
Reliquie in feinem Schranf und ging feinem Neffen
voraus. Diejer folgte vorfichtigen Schrittes, unmwill:
fürlih darauf acdhtend, ob feine Stiefel feine Flede
auf den glänzend fauberen Dielen zurüdließen, ob
feine Sporen nit zu laut Mlirrten, alles Dinge,
dur) die er, ach, jo ungezäblte Male den Zorn feiner
Vflegemutter auf fich gezogen.
Ein tiefer Schred ließ ihn zufammenfahren.
Da jaß fie — war es möglid — fonnte fie fich fo
verändert haben in diejen wenigen Jahren, die fchöne,
edle Frauenerjheinung? Zufammengejunten, welt und
ſchwach. Die blaflen, abgezehrten Hände auf der
Dede gefaltet, bie fie fröftelnd über bie Kniee ge
breitet. Matt und glanzlos blidten die Augen aus
dem feinen, abgezehrten Gefiht. SJett jchauten fie
auf und eigentümlich leuchtete ihr Blid, ein Forſchen,
ein Wiederertennen, ein Auffladern, wie von jchwad:
glimmender Hoffnung und dann ein rafcher Übergang
zu verzweifeltem Schmerz. Sie hob die Hände empor
in troftlofem Sammer. „Hallo, Du? Du lebft und
bift gefund — Du fommft wieder ohne meinen Xieb-
ling, mein einziges Herzblatt!“ |
Für einen Augenblid hemmte Haflo den Schritt
wie unter einem Gefühl der Erftarrung. Dann aber
309 Schwertklingen.
näherte er ſich ihr, beugte ſich über ihre Hand
und küßte ſie. „Ich bringe Ihnen die letzten Grüße
von Ihrem Liebling, liebe Tante! Ich war bei ihm,
als er ſtarb. Es war ein raſcher, leichter, helden⸗
hafter Tod und er lächelte im Entſchlafen, wie einer,
der allen Kummer überwunden und nun glücklich und
zufrieden iſt.“
Frau von Rochlitz ſank in ihren Stuhl zurück
und bedeckte das Geſicht mit den Händen.
„Sag' nichts weiter,“ brummte leiſe der Major,
im Zimmer auf und ab gehend. „Sie kann nichts
mehr ertragen! Armes Weib — es hat ihr das
Herz gebrochen!“
Sie aber ſah wieder auf. „Du biſt es, Haſſo?
Du warſt immer wild und ungehorſam, aber ich
— gegen Hilmar biſt Du niemals ſchlecht ge⸗
weſen!“
„Ich habe Hilmar immer lieb gehabt!“ war
Haſſos einfache Antwort. „Und beſonders dieſe letzte
Zeit — in Kolberg!“
„Und Du warſt bei ihm, als er ſtarb? Erzähle
mir — ach, ſag' alles von ihm, was Du weißt!“
Haſſo zog ſich einen Stuhl an ihre Seite und
erzählte leiſe, ſchönend, alles, was ihrem Schmerz
wohlthuend und lindernd ſein mochte. Lange hatte
ſie zugehört, gefragt und begierig gelauſcht. Endlich,
als er innehielt, blickte ſie auf und ſah ihm forſchend
ins Geſicht.
„Aber wie biſt denn Du da nach Kolberg ge—
kommen, Haſſo? Biſt Du auch vors Kriegsgericht
geſtellt und verabſchiedet worden?“
Eine dunkle Farbe ſtieg zu Haſſos Stirn und
Schläfen auf. „Nein, liebe Tante,“ ſagte er ſanft,
faſt entſchuldigend.
„Nein?! Ah, Du haſt es beſſer gehabt wie
er! Du biſt nicht in Gefahr und Verſuchung ge—
weſen! Haſt keine Schlacht, keinen Kampf zu be—
ſtehen gehabt!“
Ein trauriges Lächeln ging durch Haſſos Augen,
die ruhig den ihren begegneten. Er antwortete nicht.
Das aber litt das Gerechtigkeitsgefühl des Vete⸗
ranen denn doch nicht. Er kannte ſeines Bruders
Sohn! Schroff wandte er ſich herum. „Nein, nein,
Marianne, das laß nur gut ſein, mit den Franzoſen
herumgeſchlagen wird er ſich ſchon haben. Sieh nur,
wie er ausſieht!“ und er ſtrich ihm mit dem Finger
über die Saalfelder Stirnnarbe, über die blutrote
Schmarre, die ſich von der linken Schläfe bis zum
Kinn herunterzog — ein Erinnerungszeichen an die
Tage der Maikuhle. „Haſt ja wohl den Unglücks—
tag von Saalfeld mitgeritten und biſt da zuſammen—
gehauen, wie der Prinz gefallen iſt? Der Pfarrer
Zürn wollte davon gehört haben!“
„Ja!“ ſagte Haſſo.
Herr von Rochlitz ſeufzte ſchwer.
Seine Gattin aber ſchaute kopfſchüttelnd von
einem zum andern. „Alſo doch in einer Schlacht —
und unverſehrt geblieben? O, mein Kind — mein
armer Hilmar! In den Tod habt Ihr ihn ge—
trieben — gewaltſam — ich weiß es!“ —
Der Major atmete mühſam. Ja — in den
Roman von Hans Werder.
310
Tod getrieben! Hätte er den Gedanken nur einmal
noch los werden können bei Tag oder Nacht!
Nach kurzer Pauſe fuhr ſie fort: „Und nun biſt
Du gelommen, Hallo, Dir Dein fünftiges Lehen an-
zufehen? Du bift ja nun der Erbe.”
Da ftand Hallo auf: „Weshalb ich gelommen
bin, bab’ ich Jhnen ja gejagt, liebe Tante! Der
—— bin nicht ich, ſondern Hilmars Sohn
iſt es!“
In höchſter Überraſchung fuhren ſie beide auf.
„Hilmars Sohn — was ſprichſt Du, Haſſo!“
„Ja, ich hoffe zu Gott, es iſt ein Sohn! Wiſſen
Sie nichts davon? Hilmar ſagte es mir, als er nach
Kolberg kam! Er hoffte auf einen Knaben, der
ſeinen Eltern erſetzen würde, was ſie — an ihm
verloren! — Aber wo iſt denn Lotte? Haben Sie
all dieſe Zeit keine Nachricht von ihr gehabt?“
„Lotte iſt in Berlin,“ rief der alte Herr auf—
geregt. „Du weißt, von daher giebt es keine Nach—
richt, keine vernünftige Poſtverbindung; alles hat ja
der Feind in Händen. Herr des Himmels — wenn
ich denke — was da ſchon könnte geſchehen ſein!
Mein Hilmar einen Sohn — und ich weiß es nicht
einmal!“ —
Als Haſſo ſich verabſchiedete, geſchah es mit dem
Verſprechen, nach Berlin reiſen und Lotte aufſuchen
zu wollen. Er wußte, daß dies für ihn eigentlich
unausführbar ſei! Jeder preußiſche Offizier, der die
franzöſiſche Garniſonſtadt Berlin betrat, hatte ſich in
voller Uniform bei dem Kommandanten zu melden.
Kommandant in Berlin und den Marken aber
war zur Zeit Marſchall Victor, ſein Arnswalder
Freund und Gefangener! Haſſo wußte, daß kein
Menſch auf Erden ihn glühender haßte als der! Er
wußte, daß bei Vicetors allbekannter Geſinnungsart
kein Vorwand dieſem zu gering ſein würde, ſich des
Verhaßten zu bemächtigen und ihn ſeine glühende
Rache fühlen zu laſſen. Die Handhabung der fran—
zöſiſchen Juſtiz aber, ſelbſt mitten im Frieden, voll⸗
zog ſich ſehr leicht, ſehr eilig und ohne alle Ge—
wiſſensbedenken.
Auf grüner Heide, auf offener Heerſtraße dem
Marſchall wieder zu begegnen, wäre für Haſſo eine
beſondere Freude geweſen. Aber in ſeinem, von
franzöſiſchen Schildwachen umſtellten, von Franzoſen
beſetzten Hauſe — nein, der Gedanke war ohne jeden
Reiz! „Aber nach Berlin gehe ich doch — erſt recht,
um dem Kunden ein Schnippchen zu ſchlagen! Bin
doch ſchon einmal ſo glatt mit ihm fertig geworden,“
damit ſchloß er ſeine Überlegung.
Herr von Rochlitz geleitete ſeinen Pflegeſohn bis
zur Eingangshalle des Hauſes.
„Wo willſt Du denn eigentlich hin?“ fragte er
ihn plötzlich mit leichte Verwunderung. „Wo haſt
Du Dein Pferd und Deine Sachen?“
„Mein Pferd iſt hier im Stall, Dietrich nahm
es in Empfang. 3 felbft bin im Pfarrhaufe ab:
geftiegen!”
„Aber das geht doch nicht!” wandte der alte
Herr verlegen ein. „Du gehörit ja am Ende hierher!
Was jollen die Leute dazu jagen!” .
„Ih weiß wohl, daß ich hierher gehöre,” er:
all Ohne Gott. Roman von €. Karl. 312
wiberte Hafjo mit einem Anflug feines alten Troßes. | froh dabei werden! Die Erlaubnis, in den Reden:
„Aber Iaffen Sie mid nur dort, Ontel, es ift befler! . tiner Wäldern zu jagen, wie früher, Die jeße ich
MWozu der armen Tante die Dual meines Anblids | danfend voraus für die Tage meines Hierjeins!”
länger zumuten, als nötig? Ich könnte jelber nicht | Damit ging er.
(Fortfegung folgt.)
Ohne Gott!
Roman
von
€. Rarl.
( Fortjegung.)
Egon blieb auf einer Anhöhe ftehen, überjchaute
das frieblihe Bild und murmelte, indem ein tiefer
Atemzug feine Bruft bob:
„Die Welt tft herrlich überall,
Wo ber Menfch nicht Hinkonmt mit feiner Dual.“
No ftand der junge Mann im Anjchauen ver:
funten, als binter ihm der Schnee unter leichten
Fritten nirihte und ihn umfchauen madte. Da
fiand es hinter ihm, das Mädchen, bas er liebte.
Hilde Steiner. Sie trug einen grünen Kranz über
dem Arm und fah mit den firahlenden Augen unter
dem Bleidfamen Pelzbarett jo reizend aus, daß feine
Blide wie gebannt an ihr hingen, während fein hod)-
Hopfendes Herz ihm faft den Atem verjeßte.
Vergeflen war alles Elend, beflen Anblid eben
noch jein Gemüt bedrüdt hatte, vergeflen die Schön-
heit der Natur, die ihn umgab, er jah nur fie, die
er an fein Herz ziehen wollte, als höcdften Schag
für Zeit und Ewigkeit. Sie reichten fidh mit leudy:
tenden Augen ftumm die Hände, fie Ihauten fi an
— und beide wußten, was ihnen die nädhfte Stunde
bringen mußte.
„Wo gehen Sie hin, Fräulein Hilde?” brach
endlihd Egon das Schweigen.
„gum Grabe meiner Mutter, fie ruht bier auf
dem alten Friedhof am Park.“
„Darf ich Sie begleiten?”
Das Mädchen nidte nur'und errötete noch tiefer
als vorher.
Schweigend ſchritten fie dur den ftilen Par,
der ihnen vergebens jeine winterlide Pracht ent-
gegenbreitete. An ihren Herzen ladıte der Früb-
ling und doch ftand die Sorge als drohende Ge:
witterwolfe am Himmel. Sie traten durd) die Pforte
bes Friedhofs zum nahen Grabe der Mutter und
Hilde legte den Kranz darauf nieder, dann fchaute
fie unverwandt auf den Hügel hinab; jie fürchtete
fih, den Augen ihres Geliebten zu begegnen, ihr war
als hätte fie eine heimliche Sünde gegen ihn auf
dem Gewiffen. Egon aber wendete fi herum und
erfaßte ihre Hände.
„Sräulein Hilde, der gütige Gott hat ung an
diefer heiligen Stätte zulammengeführt. Laflen Sie
mich die gute Gelegenheit benugen, um eine Frage
an Sie zu richten, deren Beantwortung entjheibend
für mein Lebensglüd ift. Ych liebe Sie, feit ich Sie
näber fenne, bas willen und fühlen Sie wohl, denn
ih babe mir feine Mühe gegeben, mein Herz vor
Shnen zu verbergen. Nur aus Ihrer Hand kann
mir bie höchfte irbiiche Glüdfeligleit fommen. Sagen
Sie mir ebenso frei, mas ich zu hoffen babe. Sch
ftehe ber geiftigen Richtung, melde in Zhrem Vater:
baufe berricht, ganz fern, regt fih aber troß befien
in Ihrem Herzen vielleicht ein wärmeres Gefühl für
den Diener bes Gottes, an ben hr Bater nicht
glaubt? Der Blid Jhres lieben Auges bat es mid)
zuweilen hoffen lafien.”
Hilde feufzte tief auf und jchlug die Hände, die
fie ihm entzog, vor das Gefidtt.
„Hilde,“ rief der junge Mann angftvoll, „habe
ih mich getäufcht, oder fürdten Sie den Widerjprud)
Shres Vaters?“
Hilde hob die Hände von den Augen, jchob mit
energiiher Bewegung den Eleinen Schleier auf ben
Pelzrand ihres Barettes zurüd, als jolle keine Ber:
büllung ihren Blid trüben, und bing fih an den
Arm des jungen Mannes. „Laflen Sie uns bier
auf und ab gehen, ich habe Shnen ein Bekenntnis zu
machen,“ ſprach ſie jehr ernft und 30g ihn in den
breiten Mittelgang. Egons Herz Ihlug wie ein
Sammer — was follte er hören?
Zuerft Kodend, dann immer Elarer und felter,
berichtete Hilde von ihren religiöjen Kämpfen und
Zweifeln, und jchloß endlih mit den Worten: „Sie
jehen, id) tauge nicht zur Frau eines Geiftlichen.
Troß meines reblihen Willens fehlt mir der Glaube.“
„Ich jehe aber gerade in diefem redlichen Willen
etwas, was mich unendlich beglüdt,“ Iprad) Egon,
indem er ftehen blieb und wieder ihre Hände ergriff:
„Hilde, liebe, einzige Hilde, beantworten Sie mir
nur die eine $rage, Tönnten Sie mid) lieben? Könnten
Sie glüdlih mit mir werden?“
„Ja,“ antwortete das Mädchen Mar und feft,
„6 babe Sie unendlih lieb, aber gerade darum
fann ih Sie nidht betrügen.“
„D Du goldenes Herz,” rief der junge Mann
entbufiaftiih, indem er die jchlante Geftalt feft in
jeine Arme |hloß, „dann ift ja alles gut. Die Tiebe
313
madht das Unmöglie möglid und Gottes Gnabe ift
unendid. Er wird meinem fjchwadhen Wort bie
Kraft geben, Dein Gemüt dem wahren Glauben zu:
zuführen. Hilde, meine jüße Hilde, darf ih morgen
zu Deinem Vater geben, un Deine Hand zu bitten?”
Das Mädchen richtete fi langjam aus feinen
Armen auf, jeder Blutstropfen war aus feinem Ge
ſicht gewichen.
„Und wenn ich troß Deiner Überredung doc
nicht glauben fann? Was dann, Egon? Made es
Dir Har, Lieber, Einziger, damit wir nicht jpäter
unglüdlid werden. ch werde nie, nie auf ben
Standpunkt Tommen, auf dem eine Predigerfrau
fliehen muß. Glaube es mir.”
Sie Ihaute flehend zu ihm auf, aber der Dann
jahb nur die heiße Liebe in ihren jchönen Augen und
fein Herz ließ ber Überlegung feinen Raum. „Gott
wird gnäbig fein, meine Hilde, hoffen wir auf feine
Barmherzigkeit.“
Er jhloß fie von neuem in feine Arme und
füßte fie zärtlih auf Augen und Mund, während
das Mädchen bingegeben an feiner Bruft rubte und
nichts mehr benten, nichts mehr fühlen Tonnte, als
grenzenlojes Glüd.
Dann führte Egon die Braut zum Grabhügel
der Mutter zurüd und fprah, indem er ihre Hand
fefthielt: „Wenn Du auf uns berabihauen bdarfft,
verflärter Geift, jo höre mein Gelübde: Jh will
Dein Kind halten als mein böchftes Gut, ich will es
lieben mit aller Liebe, die der höchfte Bott in mein
Serz gelegt hat. Amen!“
Die Verlobten ftanden no einige Augenblide
neben dem bereiften Hügel, dann fchritten fie Arm
in Arm der Stadt zu.
* *
*
Der Brofefior Steiner faß am nädften Bor:
mittage in jeinem Arbeitszimmer, als ihm der Kan
didat Egon Schmidt gemeldet wurde, der bald darauf
in tabellofem jhwarzem Anguge bereintrat. Erftaunt
blidte der alte Herr auf — eine formelle Bifite?
Was hatte die denn zu bedeuten? Der junge Mann
war ja als naher Verwandter der Familie Nieder:
ftetter jchon öfter im Haufe gewejen. Er erhob fidh
von feinem Schreibtiih und lub den Beludher, mit
einigen jcherzhaften Worten über feinen feierlichen
Aufzug, zum Siten ein.
„3b fomme auch in einer Angelegenheit, die mein
ganzes Herz erfüllt,” jprahd Egon in jeltiam be
dedtem Tone, er wußte, daß er mit dem alten Heiden,
wie der Profeflor fich jelbit jcherzhaft nannte, einen
Ihmweren Stand haben würde.
„Run, dann jchießen Sie los,” rief der alte
Herr, der alle Umjchweife und Ichönen Redensarten
verabſcheute.
„Alſo ganz kurz, da Sie es ſo wünſchen, Herr
Profeſſor, ich liebe Ihr Fräulein Tochter und komme
Sie um deren Hand zu bitten.“
Der Profeſſor gab ſeinem auf Rollen gehenden
Lehnſtuhl einen ſolchen Ruck, daß er wie entſetzt einen
reichlichen Meter mit ihm zurückfuhr. „Mann Gottes,
was wollen Sie?“
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
314
Der junge Mann preßte einen Augenblick die
Lippen zuſammen, die Anrede verdroß ihn, dann
aber faßte er ſich und erwiderte ehrerbietig: „Ich
erlaubte mir um die Hand Ihrer Tochter Hildegard
zu bitten, Herr Profeſſor, wir lieben uns und haben
uns geſtern verlobt, es fehlt uns nur noch der Segen
des Vaters.“
Der Profeſſor griff mit der Hand an die Stirn,
als erwache er aus tiefem Traum und könne Wahr⸗
heit und Trugbild noch nicht klar voneinander trennen.
„Sie haben ſich mit meiner Tochter verlobt?“ ſprach
er dann ſinnend. „Mit meiner Tochter, die ich
frei von allem religiöſen Aberglauben erzogen habe?
Mein Kind, mein, mein Kind wollen Sie zur
Predigerfrau machen und Hilde ſollte damit ein—
verflanden fein? Nein, nein, Sie irren fih, Sie
müflen fi irren.”
Egon war noch bleiher geworben als vorher,
e8 Fam, wie er gefürchtet hatte „Es ift mir tief
Ichmerzlih,” begann er endlih, „daß meine Berjon
und mein Amt Shnen jo wenig Iympathileh find,
Herr Profeffor, und ich gäbe viel darum, käme id)
Ihnen erwünſchter. Seien Sie aber überzeugt, daß
fein Mann der Welt Ahr Kind inniger lieben fann
als ih. Ob Materialifi, ob Idealiſt — wer fragt
danad), wenn nur die Herzen zufammenftimmen. Die
Liebe löft jede Disharmonie.”
„Rein, lieber Mann, fie Löft fie nicht. Gerade
in der Ehe ift innere Übereinfiimmung bie Haupt:
fahe und Sie können mit einem Wejen, das ich
erzog, dem ich meine Anjchauungen einpflangte, nicht
übereinftimmen.”
„Und bob bat mir Hilde nad) ihrem erften
Kichhenbefuch gejagt, ihr fei ein neues LXeben aufge:
gangen,” antwortete der Kandidat faft triumpbhierend.
Eine dunkle Nöte überzog das Geficht des Pro-
feffors. „Alfo jo flieht es. — Mein Lebenswert wollt
hr zeritören, das Licht, das ich entzündete, wolli Ahr
auslöihen, damit bie myftiihe Dunkelheit in ben
Köpfen beftehen bleibt. Meine Tochter, die ich im
reinen Licht der Wiflenichaft erzog, ſoll binfort im
Schatten Yhrer Kanzel fiten, von der Sie verdbammen,
was ich lehre. Meine Enkel jollen Dunfelmänner
werben wie Sie. — Nein, nein,“ fchrie er plößlich
auf, „ich gebe es nicht zu. Sch weiß, daß Sie es
ehrlich meinen, daß Sie noch lange nicht der Schled):
tefte find, aber — nein — id muß Ihren Antrag für
meine Tochter ablehnen, wenn fie jelbft es nicht ge-
than bat.”
Eine Weile berrichte peinlihes Schweigen und
man hörte nur die Atemzüge der erregten Männer,
dann begann der Kandidat: „Bedenten Sie, was
Sie thun, Herr Profefior, Zhre Tochter liebt mich,
wie ih fie, wir haben es ung gellern am Grabe
%hrer Gattin befannt. Sie zerflören ihr Glüd mit
dem meinigen zugleih, wenn Sie bei Jhrem ‚Nein‘
bleiben.”
Die Thür öffnete fich leife und Hildegard trat
leihenblaß ins Zimmer. Sie hatte bochklopfenden
Herzens vor ber Thür geftanden und am Tonfall der
Nedenden wahrgenommen, daß die Angelegenheit
Ihief land.
315 Ohne Gott.
„Hilde, Dein Vater will uns trennen, er ver:
weigert feine Einwilligung, fomm und hilf mir fie
erbitten,” rief der junge Mann, indem er dem Mädchen
die Hände entgegenftredte.
Hilde ftürzte auf ihn zu, langte mit einem Arm
nad jeinem Halje hinauf und firedte den andern
lebend dem Vater entgegen. „Vater, lieber Vater,
lage nicht nein, ich Tiebe ihn ja von ganzem Herzen.”
Mit tiefem Schmerz fah der Profeflor auf fein
einziges Kind, feinen Nbgott, und der flehende Blid
Ihnitt ihm ins Herz. Dann aber leucdhtete es plöß-
lih wie Sanatismus in feinem bunflen Auge, er trat
dazmwilchen und riß die Tochter an fi. „Nein,” rief
er beftig, „ih, Dein Vater, bin verantwortlich für
Dein Glüd und ich weiß, daß Du, die Lichtgemohnte,
es nicht finden fannft in ber Dunfelbeit. Dein
jugendlides Gefühl hat Dich irre geleitet. Vertraue
mir, meine Tochter,” fuhr er weicher fort, als Hilde
ih, Taut aufmweinend, an feine Bruft warf, „Du
wirft vergefien lernen und mir fpäter banten.”
„ie, nie, Vater,” rief das Mädchen, „Du weißt
nicht, was Du mir thuft.”“
Auch Egon wollte noch etwas ermwibern, aber der
Brofellor ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Sehen Sie, Herr Kandidat, die Sade ift er:
ledigt. ZH achte Sie ale Menih, aber mein Kind
fann ich Jhnen nicht geben.”
Wie im Traum verließ Egon das Zimmer und
wie im Traum legte er langlam im Borraum feinen
PBaletot an. Da, als er endlih bie Thür geöffnet
batte und die Treppe binabfteigen wollte, fam es
leije hinter ihm bergehufht. Zwei Arme legten fich
un feinen Hals und eine thränenerftidte Stimme
flüfterte:
„Bleibe mir treu, Egon, no ift nicht alles
verloren. Papa wird nachgeben, wenn er fieht, daß
ih Dich nicht vergeflen fan. Er ift ein alter Mann
und weiß nicht mehr, wie die Jugend fühlt.”
Mit dem Gefühl neu auffteigender Hoffnung
Ihloß Egon die Arme um das tapfere Mädchen und
drüdte einen beißen Kuß auf die frifchen Lippen.
„Auf Wiederfehen denn, mein füßes Lieb, Gott
helfe uns.“
Auf der Treppe über ihnen Tlangen Schritte,
Hilde hHujchte in ihre Wohnung zurüd und Egon ftieg
die Treppe hinab. Tief traurig, aber nicht mehr
garız hoffnungslos.
IX.
Alma Liedle lag in ihrer dunklen, unfreunb:
lihen Hinterftube auf dem Bett und meinte. Sie
fühlte fich jeit einiger Zeit ehr leidend und namentlich
in ihrer Stimmung |chwer bedrüdt, und Hans, an:
ftatt fie aufzuheitern, jchalt fie aus und verlangte
mehr Selbitbeherrihung von ihr. Seit der Be:
gegnung mit dem Kandidaten war es ganz jhlimm,
fie war fi ihrer Zwitterftellung von neuem bewußt
geworden, und die VBorftellung, wie jchwer ihre alte
Großmutter gelitten haben, wie fehr fie ihr zürnen
mußte, brüdte fie faft zu Boden. Diefen Kummer
Roman von ©. Karl.
316
aber mußte fie jchweigend ganz allein tragen, ihr
Hans hatte entweder fein Verftändnis bafür, oder er
wollte feines haben. Wenn er mittags oder abends
aus der Arbeit fam, wollte er ein beiteres Geficht
ſehen, wollte tändeln und jchergen und weder mit
häuslichen Stleinigleiten, noch mit wirklichen Sorgen
beläftigt werden. Sie aber hatte reichlich Zeit, ihnen
nachzuhängen.
Verkehr gab es nicht mehr für ſie. Ihre alten
Freundinnen hatten ihr die Freundſchaft gekündigt
und wendeten den Kopf fort, wenn ſie ihr begegneten.
Die ſonntäglichen Spaziergänge mit Hans waren
daher nur eine Qual für ſie und doch durfte ſie ſich
ihnen nicht entziehen. Hans wollte ihre Geſellſchaft
nicht entbehren und nannte ſie kindiſch und kleinlich,
wenn die Nichtachtung der „Philiſter“, wie er Anders—
denkende nannte, ſie kränkte.
„Der Menſch thue, was ihn gut dünkt und
kümmere ſich nicht um die Meinung anderer,“ war
ſeine ſtehende Redensart.
Schmieder war auch durchaus nicht damit ein⸗
verſtanden, daß ſie allen Verkehr mied. Er hatte ihr
einige „vorurteilsfreie“ Frauen zugeführt, aber ſie
ſah mit ihrem unverdorbenen Sinn, daß dieſe „Vor⸗
urteilslofigfeit”“ nichts anderes als verfappte Sitten:
Iofigleit war und fühlte fih von ihnen angemwibert.
Sie begegnete diefen Frauen abfihtlih unfreundlich,
um fie von weiteren Annäbherungsverjuchen zurüdzu:
Ichreden und mußte mit immer fteigender Eiferfucht
wahrnehmen, daß Diefes Verhalten ihren Hans zu
befonderer Freundlichkeit gegen die Vernachläffigten
anftadhelte. Er gab vor, gutmadjen zu müflen, was
fie verdarb, in Wahrheit veranlaßte ihn fein ange:
borener Widerfpruchsgeift gerade das zu protegieren,
was ein anderer verwarf. Sein ganzes Leben war
Oppofition gegen das augenblidlich Beftehenbe ge:
wejen. Er nannte das originell fein.
Auch heute — €8 war der zweite Weihnachts:
feiertag — batte fie vor Tiih Beluh von der
„blonden Therefe” gehabt, einer jchönen fünfunb:
zwanzigjährigen Perfon, die als Goupletfängerin
an einem untergeordneten Specialitätentheater ange:
geftellt war. Diefe Dame bezeichnete fich felbft als
„anftändiges Frauenzimmer“ und führte bieje Be:
zeichnung mit Vorliebe im Munde, man burfte aber
nit den landläufigen Begriff von Anftand damit
verbinden. Therefe befucdhte zwar niemals fchlechte
Häufer, jpradh aber von ihrem zwei Jahre währenden
Zujfammenleben mit einem jungen Kaufmann mit
größefter Unbefangenheit, wie von etwas burhaus
Erlaubtem, und Schmieder Nimmte ihr bei. Zur
Zeit war ihr Herz frei und fie lebte allein in einer
befcheidenen Wohnung.
Alma, müde und elend, hatte verbroffen auf
dem Sofa neben ihr gejellen und auf ihr Geplauder
faum geantwortet, aud bie Beteiligung an einem
Beluhh ihres Theaters, wo Therefe heute in einer
bejonders pilanten Rolle auftreten follte, mürrifch
abgelehnt. Hans, der zugegen gemwefen, hatte ihr
Winte gegeben und Zeichen gemacht, aber bamit nur
das Gegenteil von dem Gemwünjchten erreiht. Da
war er plöglid, um Alma zu ftrafen, auffällig
317 Ohne Gott.
liebenswürdig gegen Therefe geworden, hatte fie bei
ihrem Aufbruch begleitet und feinen Befuch ihres
Theaters verheißen.
Nun waren vier Stunden jeitdem vergangen
und Hans nit zurüdgefehrt, obgleih er wußte,
daß fie ihm fein Leibgericht zu Mittag gekocht hatte.
Sie ſelbſt hatte natürlich feinen Biffen genoflen und
lag weinend auf ihrem Bett, von qualvollen Ge:
danfen gepeinigt. Wenn ihr Hans jegt plöglich
Therefe begehrenswerter fand als fie, wer hinderte
ihn? Welches Recht hatte fie auf ihn? „Nur das
Herz allein joll uns binden,“ hatte er ihr gejagt.
Wenn das Herzensband aljo riß, war er frei. Und
batte es fih nicht jchon gelodert, jeitbem fie jo elend
und infolge Davon fo verdbrießlich geworden war? Faft
ihien es fo. — „Immer heiter, immer frifh und
tbatkräflig,” war feine Devife. Ach, wie fchledht fam
fie ihr in ben Ießten jehs Moden nad. Sie
fühlte fih jo mübe, jo zerichlagen, nur mit An:
ſtrengung kam fie ihren häuslichen Pflichten nad)
und hätte fie wohl arg vernadläjligt, wenn bie gute
Srau Köhler ihr nicht aus Dankbarkeit für die
Heinen Lederbilien, die fie ihrem kranten Mariechen
binuntertrug, die jchweriten Arbeiten abgenommen
hätte. Das Förperliche Leiden wäre wohl zu über-
winden gewejen, wußte fie do, daß es natürlich
war und enden mußte. Aber diejfer entjeßliche
Nervenzuftand. Sie befand fih fait immer in
Thränen, ohne ihnen wehren zu fünnen, und je un:
gehaltener Hans war, beito Ichlimmer wurde ee.
Energiihe Willensanftrengung hätte wohl gebellert,
und Hans hatte diefen Zwed im Auge, wenn er fie
bart anließ; aber Alma war eben eine weiche, hin:
gebende, aber feine energifhe, wibderftandsfräftige
Natur. Das Schlimmfte aher blieb doch bie ver:
zehrende Eiferfuht, von der Alma geplagt wurde
und der fie rüdfichtslos und in wenig Tluger Weije
nachgab.
Noch war Schmieder ihr mit keinem Gedanken
untreu geworden, er liebte ſie wirklich aufrichtig.
Aber wenn ſie ihm grundlos beſondere Freundlichkeit
gegen die eine oder andere der „vorurteilsloſen“
Frauen vorwarf, ſo ärgerte es ihn und er begann
nun gerade dieſer den Hof zu machen. Er wollte
Alma erziehen, erreichte aber nur das Gegenteil,
ihre Eiferſucht ſchärfte ſich. So wurden die ernſten
Verſtimmungen zwiſchen ihnen immer häufiger.
Und doch war Alma von Hauſe aus keine eifer—
ſüchtige Natur. Hätte ſie bei Hans dieſelbe Achtung
vor der Heiligkeit ihrer Vereinigung vorausſetzen
dürfen, die ſie hegte, ſie hätte ihn kaum ſo gequält.
Aber ſie wußte, daß die beſchworene Treue ihm an—
tipathiſch war, weil ſie die perſönliche Freiheit be—⸗
ſchränkte. So ließ denn die Unſicherheit ſeines Be—⸗
ſitzes ſie vor Angſt fiebern, und die Angſt machte ſie
kopflos. Sie beobachtete jeden Blick, jede ſeiner
Mienen, wenn er mit anderen Frauen ſprach, und
fühlte nicht, daß ſie ihm dadurch läſtig wurde.
Die Nacht ſank herab und immer noch weinte
Alma. Ihre Augen waren ſchon dick geſchwollen.
Sie wußte, daß ſie morgen unſchön und gedunſen
im Geſicht ausſehen, und Hans ſie wegen dieſer
Roman von E. Karl.
318
Vernachläſſigung ihres Äußeren auszanken würde,
aber kam es darauf überhaupt noch an? Sie würde
jetzt ohnehin mit jedem Tage häßlicher werden, und
Hans machte ſich ja nichts aus ihr, er lief der
blonden Thereſe nach. Jetzt mußte die Vorſtellung
in vollem Gange ſein, jetzt ſaß er gewiß dicht an
der Rampe und bewunderte die Sängerin und das
ſchamloſe Koſtüm, das ſie ihr beſchrieben hatte.
Die Uhr ſchlug elf, jetzt mußte Hans bald
heimkehren. Sie erhob ſich von ihrem Lager,
um die Lampe anzuzünden, er war gewohnt, ſie
brennend zu finden. Der Boden wankte unter
ihren Füßen, ſie lehnte ſich gegen den Bettpfoſten
und taſtete nach Kerze und Streichhölzchen. — End⸗
lich hatten ihre ſchmerzenden Augen ſich an das Licht
gewöhnt, ſie ſchritt ins Nebenzimmer und entzündete
die Lampe, aber es dauerte lange, ehe ſie damit zu
ſtande kam, ſie ſtürzte ſie auch beinahe um, als ſie
durch die Stube ging, um ſie auf den Sofatiſch zu
ſtellen. Alles wankte und ſchwankte um ſie her, die
Wände ſchienen auf ſie ſtürzen zu wollen. Eine
grenzenloſe Schwäche überfiel ſie und ſie ſank ſchwer
in die Sofaecke. So lag ſie eine Weile. — Ach,
wenn ſie gleich ſterben könnte, das wäre das beſte,
dann durfte Hans nach keinem Grunde ſuchen, ſie
wieder loszuwerden.
Ein brennender Durſt begann ſie zu quälen —
da fiel ihr ein, daß ſie ſeit mehr als zwölf Stunden,
eigentlich ſeit dem Morgenkaffee, nichts genoſſen
hatte. In der Küche gab es Waſſer. — Sie erhob
ſich ſchwerfällig und ſchritt zur Waſſerleitung. Sie
trank in durſtigen Zügen und ließ den kalten Strahl
über ihr Geſicht rieſeln, das that gut, ihr wurde
beſſer — nun wollte ſie aus dem Küchenſchrank, der
in dem vorderen, als Entree benutzten Teil der
Küche ſtand, etwas Brot holen, ſie mußte ſich doch
auf den Füßen halten können, wenn Hans kam.
An die Wand ſich lehnend, ſchlich ſie zum Schrank,
doch ehe ſie ihn erreichte, kam der Schwindel wieder
und die Sinne ſchwanden ihr. Noch fühlte ſie, daß
ein ſcharfer Gegenſtand ſchmerzend gegen ihre Schläfe
ſchlug, dann wurde es ſchwarze Nacht um ſie her. —
* *
*
Hans Schmieder hatte ſich prächtig unterhalten,
er hatte, um Alma zu zeigen, daß ihre Unliebens—
würdigkeit ihn aus dem Hauſe triebe, mit Thereſe
in einem Reſtaurant zu Mittag geſpeiſt, dann einen
Spaziergang mit ihr gemacht und ſie nach Haufe
geführt.
Nun war ihm die Zeit lang geworden und er
hatte ſich nach ſeiner kleinen Frau gebangt, aber —
er batte fih vorgenommen, ihr heute einmal orbent:
lich zu zeigen, was fie mit ihrer Weinerlichleit und
Abneigung gegen Therele erreichte. So war er denn
in den Straßen umbergejchlendert, bis der Zufall
ihm einen lange nicht gejehenen Jugendfreund zu:
führte. Mit diefem hatte er zufammengejellen und
Ihliegid mit ihm das Specialitätentheater bejucht,
um fein Berjpreden gegen XThereje zu halten.
Nun aber war ed genug. Um elf Uhr erhob
319 Obne Gott.
er fi und verabfchiebete fi von jeinem Freunde,
um beimzugeben.
Aus feiner Vorderftube drang Licht, Alma war
alfo no auf. Wie fie ihn wohl empfangen würde?
Er wollte ihr ordentlich ins Gewillen reden, falls
fie maulen jollte. Er jchloß die Küdenthür auf,
um einzutreten. Was war denn das? Die Thür
ging nur ein Feines Stüd auf, dann ftieß fie an
etwas, das fih auf dem Boden befand. Er jchob
ih durh den Spalt — ba lag — in dem Lidl:
fireifen , der aus ber geöffneten Stubenthür fiel —
Alma.
Mit einem Schredenslaut beugte fich der Diann
nieder und faßte die Ärmfte in feine Arme, um fie
ins Zimmer zu tragen. Sie lebte — e& handelte
fih wohl nur um eine Ohrnmadt. Aber da riefelte
ja Blut von ihrer Scläfe, fie war mit dem Kopf
auf ein Eifen geichlagen, das man neben der Thür
zum Reinigen der Füße angebradht hatte.
Aller Zorn, wenn überhaupt noch vorhanden,
war aus der Bruft des Mannes wie weggeweht.
Mit den zärtlihften Namen rief er die Ohnmädhlige,
trug fie auf ihr Bett und ftürzte in die Keller:
wohnung, um Frau Köhler berbeigurufen. Mit
ihrer Hilfe entkleidete er die Ohnmädhtige, verband
ihre zum Glüd nicht erheblihe Wunde und bradıte
fie endlih zum Bemwußtjein zurüd.
Raum aber war die junge Frau wieder Herrin
ihrer Sinne, jo begann fie zu Magen, daß Hans fie
gewiß nicht mehr liebe, daß er fie nädhjftens aus
dem Haufe mweilen und Therefe zu fih nehmen
werde, und daß fie lieber jterben, ale von ihm
gehen möchte.
Mit erniten, liebevollen Worten verwies Schmieder
der Erregten ihre Thorheit, machte fie darauf auf:
merfiam, daß ihr Gebaren, gerade wenn fie für
feine Liebe fürdhte, das ganz verkehrte fei und daß
fie fih zulammennehmen und böje Scenen ver:
meiden müfle.
Er war unleugbar im Recht, aber Kranken
gegenüber helfen eine Bernunftgründe, fie brauchen
Geduld. Und Alma war franf, vornehmlid an
ihrem Gemüt, doc das jah Hans nit ein, Geduld
aber gehörte zu den Eigenfchaften, die er nicht bejaß.
Doch was feine Vernunftgründe nicht zumege brachten,
gelang den Lieblofungen, mit denen er fie begleitete.
Alma berubigte fih und fcdhlief endblih in feinen
Armen ein.
Am nädften Morgen züblte fie fih noch an⸗
gegriffener als fonft, und Hans holte wieder Frau
Köhler, um das Nötigfte im Haushalt von ihr be:
jorgen zu lafien. Almas Stimmung aber war eine
befiere, fie ließ fih auh im Laufe des Tages zu
einem Spaziergange überreden, und Hans jchöpfte
wieder Hoffnung. Er fühlte, daß er ein Leben wie
jein jebiges nicht lange ertragen würde. Aber die
Zukunft mußte ja Beflerung bringen.
* : *
Auch im Haufe des PBrofeflors Steiner war das
Weihnachtsfeſt kein frohes gewejen. Nachdem bie
erfte Aufregung des Profeſſors über bie eigen:
Roman von ©. Rarl.
320
mädtige Verlobung feiner Tochter verraudt war,
hatte diefe noch einmal mit Ruhe von ihrem ge
lieblen Vater die Einwilligung zu erbitten verjudht,
aber vergeblid. Er behauptete, fie könne unmöglid
mit einem „Dunlelmann” für die Dauer glüdlich
fein, und er als Bater jei verpflichtet, zu verhindern,
daß fie in ihr Unglüd renne.
Er fragte fie aufs Gemwiflen, ob fie das chrift:
lihe Dogma, weldes Egon lehrte, lehren mülle,
glauben könne, und fie war ebrlih genug, mit
„nein“ zu antworten. Damit aber jchien ihr Schid-
ſal völlig befiegelt zu jein.
Sie rief endlid den Beiltand der Frau Pro-
feffor an und dieler gelang es, nachdem fie mit
ihrem Neffen Rüdiprahe genommen hatte, einen
Vergleih zu ande zu bringen. Sie wußte Den
Profeflor zu überzeugen, daß ein weibliches Gemüt im
Kampf mit dem Leben die Religion nötig habe, und
daß eine ftreng Tirdhlihe Richtung, obgleich fie jelbft
fie nicht teile, immer noch befjer jei als abfolute
Ungläubigleit. Er jehe ja an feiner Tochter, mit
welcher Begeifterung fie der Glaube an Gott erfülle.
So jhlug fie denn vor, Egon folle jein Ehren-
wort geben, Hilde gegenüber mit feinem Wort auf
ihre Verlobung anzufpielen und fih nicht die ge
ringfte Vertraulichkeit zu geftatten. Dann folle ihm
das Steinerjhe Haus wieder offen ftehen und er
verjudhen dürfen, Hilde zu feinen Anjchauungen zu
befehren. Dann würde fih das meitere finden,
meinte die Huge Frau. Hilde wille, daß ein Geilt-
liher auf eine firdhliche Einjegnung feiner Ehe nicht
verzichten dürfe; diefe aber fei ohne voraufgegangene
Zaufe mohl nicht zu erlangen. Hilde in ihrer
Wahrhaftigkeit und unbeftehlichen Ehrlichleit werde
fih nie dazu verftehen, feierlich ein Glaubensbetennt-
nis abzulegen, das ihr widerftrebe. Sie wifle, daß
das Hleichbedeutend mit Meineid jei. So kämen die
jungen Xeute mit fich jelbft ins reine und hätten
ipäter fein Neht, den Vater um zerftörter Lebens:
boffnungen willen anzuklagen.
Nah mehrtägiger Überlegung und mit fehr
Ihwerem Herzen ging der Profefjor endlich auf den
Vorſchlag ein, er konnte Hildes bleiches Gefiht und
ihre verweinten Augen nidht länger anjehen.
Der Kandidat erhielt eine Einladung zu einer
Heinen Sylvefterfeier, nachdem der PBrofefior fidh
unter vier Augen mit ihm verftändigt hatte. Später
jollte er dann im Haufe und in Gegenwart der
Frau Profeflor Niederftetter Hilde zweimal mwöchents
lid Religionsftunde geben.
So fahen fih die Liebenden denn früher wieder,
als fie es im Augenblid ihres Abjchiedes vor Weib:
nachten gedacht hatten, aber wie anders war biejes
Wiederjehen.. An Stelle des herzlichen „Du”, das
ihnen jhon ganz geläufig geworden war, trat wieder
bas fteife „Sie*. Sie mwagten fih faum die Hände
zu reihen und faßen unter den Augen der An:
welenden wie auf Kohlen. Und doh maren fie
glüdlih — fie durften ja wieder hoffen.
321
Ohne Gott.
X.
Am traurigften war das Weihnachtsfeft an ber
Familie Köhler vorübergegangen. Mariehen halte
fih auf dem Weihnadtsmarkt, den fie fo brennend
gern bejuhen wollte, von neuem erfältet und lag
wieder Jeit faft drei Wochen zu Bett. Nun Hoffnungs:
los. Der alte freundliche Arzt, der fie immer nod
behandelte, obgleich jeine ganze Kunft fi darauf
beichränfen mußte, ihr gelegentlich eine Fleine Er:
leichterung zu verfchaffen, Iprad) jo diplomatiich über
den Ausgang, daß jelbit ein ganz unbefangenes
Gemüt jeine wahre Meinung ahnen mußte.
Ganz fill und gebuldig Tag das junge Wejen
auf feinem Echmerzenslager, Iprah nicht und ver:
langte nichts, und die fieberglängenden Augen redeten
eine beutlide Sprade. Nur wenn die furdtbaren
Huftenanfälle famen, oder bie entjeliche Atemnot
quälte, griffen die Hände wild um fi und die Augen
quollen aus ihren Höhlen. Dann richtete Minna
das Kind auf und während fie es angftooll zu unter:
ftüßen bemüht war, betete fie inbrünftig, Gott möge
das arme gequälte Geichöpf nicht mehr zu lange
leiden laflen.
Dft war die arme Kleine aber bei den jchredlichen
Anfällen ganz allein, denn ihre Mutter mußte ja
Brot Ichaffen für drei, feit ihr Vater ein Taugenichts
geworden war. D der Vater — wie fie fi nad
ihm fehnte. — Mit der Elafticität des Kindergemüts
hatte fie die legten jchredlichen Auftritte ganz ver:
geflen, ihr ftand nur der liebevolle Mann vor Augen,
beflen Liebling fie gewejen war. Stundenlang lag
fie und dadte an ihn und malte fi aus, mie es
jein würde, wenn er plöglih in die Stube träte.
Minna hatte den Kindern gelagt, der Vater fei
auswärts auf Arbeit, fie wußte es au ihrem Fleinen
ungen auszureden, als er einjt den Bater gejehen
zu haben meinte, fie wollte den Kindern die Wahrheit
jo lange wie möglich vorenthalten. Kein Tag ver:
ging aber, an dem Mariehen nicht fragte: „Wann
fommt der Vater?” und DMinna verjchludte Die
Thränen, die ihr brennend in die Augen fliegen,
und antwortete: „Bald — bald." —
Der Mann aber, nah dem bas fterbende Kind
fich fehnte, führte fein Bagabundbenleben weiter fort.
Er war ganz verlommen. Gelegentlich fegte er Die
Straße, oder half in einem Ausipann bie Pferde
pußen, bis er genügend Geld zufammen hatte, um
feinem Lafter frönen zu lönnen. Zumeilen bettelte
er. Als aber einft ein Reilender in dem Kleinen
Gafthof, der ihn gerade aushilfsweile beichäftigte,
ein Geldtäihchen verlor, gab er ihm das gefundene
zurüd, ohne fi nur einen Pfennig daraus anzueignen.
Die erhaltene Belohnung reichte hin, ihn für drei
Tage finnlos betrunten zu maden, und das war
ihm gerade recht.
Eines Abends trieb er fih beihäftigungslos in
ben Straßen umher. Er hatte fein Geld, um bie
düftere Höhle zu befuhen, in der er dem Schnaps
zu buldigen pflegte, denn Arbeit hatte er heute nicht
gefunden. Auch den Bettelnden hatte man überall
Roman-Feitung 1896,
Roman von €. Karl.
abgewielen, er jah zu jehr nah einem Strolh aus.
Sp Ichlenderte er denn frierend und Hungernb um:
ber und verwünidte jein Schidial. Ein paarmal
fam er über den Fluß, der troß bes bereits begonnenen
Januars noch eisfrei war. Wenn er bineinjpränge,
bätte alles Elend ein Ende. — Er lehnte fi) gegen
das Brücdengeländer und fchaute in das gurgelnde
Waller hinab. —
Es überfam ihn wie leidenichaftlide Tobes:
jehnfudht, das ganze Elend feines verfommenen Dafeins
padte ihn wie mit Geierkrallen. Aber in der matten
Energielofigfeit, die die Begleiterin feiner nüchternen
Stunden war, fand er den Mut nicht, feinen Wunfch
zu erfüllen. Er lehnte am Geländer, f&haute in bie
vom Laternenichein ftreifig beleuchteten Wellen und
verlor fih immer tiefer und tiefer in Träumereien.
Wenn er num tot wäre und den Seinigen als
Reihe ins Haus gebradt würde, ob fie ihn dann
wohl wieder lieb hätten? hm war als fühle er
Mariechens magere Händchen über fein Geficht ftreichen,
wie fie es früher in feiner guten Zeit oft gethan
hatte, wenn er ihr Kuchen oder Bonbon bradtte.
Dann wieder fah er fih mit dem Heinen Karl auf
dem Knie, wie er den Jungen reiten ließ — bopp —
bopp — hopp. — Der Kleine jauchzte und fchrie,
wenn er ihn fcheinbar bintenüberfallen ließ. Der
einfame Mann am Brüdengeländer lächelte — Io
deutlich erlebte er die Ecene in der Phantaſie. Er
ftarıte ins Waller, als fei es ein Spiegel, der feine
Vergangenheit zurüdwürfe.
Nun wieder ein anderes Bild.
Minna hatte ihre Arme um feinen Hals gelegt
und füßte ihn. Sie hatte es früher jo oft gethan,
fie hatten fi ja aus Liebe geheiratet und jo glüdlich
gelebt. Wie hatte fie in feiner jchweren Krankheit
um ihn gelorgt, in welcher Verzweiflung feine rauhen
Hände gelüßt, als fie ihn fterbend wähnte. Ach,
wenn er doch tot vor ihr läge, dann würde fie ihn
gewiß wieder Füflen.
Aber tot fein — das hieß ja vernichtet jein —
mit dem Tode börte alles auf — ber Schmieber
batte e8 gejagt und der wußte es aus Büchern.
Wozu waren die Menjchen eigentlich auf der Welt?
Nur um fi zu quälen? — Uber nein, alle quälten
fih nit, die Reichen hatten es gut, die jaßen in
der Wolle, fie Hungerten nicht, fie froren nit und
ihre Kinder durften nicht fterben, wie jein Mariechen.
Die Reihen — o, wie er fie haßte — wie glühend.
Es wäre ihm eine Wonne gewejen, nur einen von
ihnen unter feine Füße zu treten.
Der Mann riß den Rod auf, batte ihn erft
gefroren, jo lief es ihm jett glühend heiß über ben
Rüden, der Haß wärmte ihn von innen beraus.
Und vor dem Haß, der ihn durdhglühte, flohen aud)
die freundlichen Bilder, die ihn umgaufelt hatten,
und die ganze gräßlide Wirklichkeit lag wieder
vor ihm. Sein Weib hatte ihn, den Truntenbold,
aus dem Haufe gewiejen und fein Kind ftarb unter:
deffen und er jah e8 nie wieder — nie, nie.
Er verijhräntte die Arme auf dem Eifengitter,
legte den Kopf darauf und begann To laut zu jchluchzen,
daß die Vorübergehenden fi) nah ihm umjahen.
IV. 23
323 Ohne Gott.
Sa, ja, er war ja ein erbärmlicher Menidh,
das jagte er fi in folden Stunden der Einkehr
jelbft, er verbiente es nicht befler, aber wenn Minna
in fein Herz fehen fönnte, fie würde e8 gewiß noch
einmal mit ihm verjudhen. Vor mehreren Wochen
batte er, in einer Stimmung wie jeine heutige,
feine legten Pfennige an einen Briefbogen gewendet
und einen Brief an fie begonnen. Beendet batte
er ihn nit, er wußte au nicht, wo er geblieben
war. — Nun war er inzwilhen ganz verlumpt und
verfommen, nun jchämte er fih vor ihr und hielt
fih abfihtlih in einem entfernten Stabiteil auf.
Als er neulich feinen Leinen ungen von fern er:
blidte, hatte er fi jchnell umgedreht, aber die
Sehnfuht, die grenzenlofe Sehnjuht war nach diefer
Begegnung nur noch heftiger geworden. Wie anders
wäre e8 gelommen, wenn der reihe Fabrilherr ihm
einen kleinen Zeil jeines Neichtums abgegeben hätte.
Nun mit einem Mal hatte der verzweifelte Mann
einen greifbaren Gegenftand für feinen Haß. —
Herr Wahrholm und fein Paul — die waren fchuld
an feinem Unglüd und er wollte e8 ihnen eintränfen.
Die Thränen verfiegten, Köhler ballte die Fäufte
und firedte fie drohend von fid.
„Wartet nur, hr Hunde,
noch.“
Eine harte Hand ſchlug ihn auf die Schulter:
„Na, Köhler, was machſt Du denn da für Komödie?“
Der Angeredete fuhr herum, ſein früherer Arbeits:
kamerad Braun ſtand vor ihm und ließ ſeine Blicke
prüfend an ihm niedergleiten.
„Na, juſtement wie 'n Prinz ſiehſt Du nich aus,
Köhler.“
Der Mann errötete und antwortete ſtockend:
„Es geht mir ſchlecht — Arbeit hab' ich nich —
und von zu Haus bin ich auch fort.“
„Ich weiß, ich weiß,“ beſtätigte der andere.
„Du privatiſierſt,“ und er lachte unbändig über
ſeinen eigenen Witz. „Na, willſt mit mir mitkommen
und was eſſen? Du ſcheinſt mir ſo eingeſchnurrt
um den Leib rum.“
Köhler ärgerte ſich eigentlich über die gönner—
hafte Art ſeines Kameraden, aber die Ausſicht auf
etwas Eßbares war doch zu verlockend. Er hatte
ſeit drei Tagen nichts Warmes genoſſen. So er:
klärte er ſich denn zum Mitgehen bereit und folgte
dem Genoſſen in eine Arbeiterkneipe. Seine Todes—
gedanken waren verflogen wie ſeine weiche Stimmung.
Braun ließ zwei Portionen eines einfachen Ge—
richts kommen und ſah mit bedauernder Verwunderung,
wie heißhungrig Köhler die ſeinige hinunterſchlang.
Ein großes Stück Brot ſpülte er zum Schluſſe mit
einigen Schnäpſen hinunter, Braun hatte eine Flaſche
davon auf den Tiſch ſtellen laſſen.
„So, nu bin ich wieder 'n Menſch,“ meinte
er, ſich behaglich zurücklehnend, „ich dank' Dir, Braun,
nun erzähl' mir aber was von Euch.“
„Da wär' viel zu erzählen, aber leider nichts
Gut's. Wegen der Zollgeſchichte hat unſer bisheriger
Herr jetzt weniger ins Ausland zu verkaufen, und
damit ihm doch man ja kein Schaden geſchieht,
ſchränkt er wieder, wie vor zwei Jahren, den Betrieb
Euer Tag kommt
Roman von E. Karl.
324
ein und entläßt ein Viertel der Arbeiter. Die können
nu ſehn, wie ſie ſertig werden. Ich bin auch ent-
laſſen, aber ich hab' gleich Arbeit in einem Speicher
am Hafen bekommen.“
„Dir ſchad't es nichts, Du biſt ledig und kannſt
im Notfall wo anders hingehn,“ meinte Köhler,
„aber die armen Familienväter.“
„Familienväter hatte er keine entlaſſen, bloß
ledige Leute und thut ſich nu recht was drauf zu
gut. So ''n Lump, ſo 'n geiziger. Als wenn ſolche
große Fabrik nich auch in ſchlechten Zeiten ihre Ar:
beiter ernähren muß. Dann laß er doch mal eine
Zeitlang auf neuen Verdienſt verzichten und vom
alten Fett leben. Aber proſt Mahlzeit, das ging
ihm ja an ſein eigenes liebes Leben, da wird er
ſich ſchön hüten.“
„J ja, wenn einer fo gewöhnt is, alles bloß
von Silber zu haben und einen jchönen Teppid)
unter den Füßen und alle Tage Braten, dann dent
er, das muß für ihn fo fein. Das elende Pad,
was wir find, das kann ja hungern.” Und Köhler
pie verächtlich auf die Diele.
„Ru will er ja wohl eine fchöne Reife machen,”
fuhr Braun fort. „Wenn bas Frühjahr bei uns nod)
lang’ nid) anfängt, dann will er mit feiner Sau
nad Sttalien fahren, dahin, wo fein Paul gewelen
18. Der bat ihm jo viel davon erzählt, daß er fi)
die Geihichte nun audh mal anjehn will. Einige
jagen wohl, es is nich wahr, aber warum fol er
nid.“
Köhler war aufgeiprungen und ftarrte Den
Spreder mit Teichenblaffem Geliht an. „Nah
Stalien? — Dahin willer reilen, wo meine Mariechen
gefund geworden wär’, wenn er mir das Geld ge:
geben hätt’? Dahin will er nur zum Vergnügen
reifen? Nu bat er das Geld? — Aber wie ich ihn
auf Knieen gebeten hab’, meiner Mariechen das
Leben zu retten, da hatt’ er es nich?“
Der Mann ballte die Fäufte und fchritt, un:
artitulierte Zaute murmelnd, im Zimmer bin und
ber, jo daß die Kleine Zahl Anmwefender fi erflaunt
nah ihm umjah. Endlih warf er fich wieder in
jeinen Stuhl und preßte die Fäufte in die Augen:
böhlen, während feine Bruft frampfhaft arbeitete.
Braun betradhtete ihn prüfend von der Seite. Die
Sade ging ja prädtig, vielleicht fand fih in diefem
verlumpten, verlommenen Menihen das Werkzeug
der Rache, das er und einige Kameraden judten.
„Ra, Deine Mariehen bat Stalien nich mehr
nötig, die wird nu ganz wo anders hinreijen.”
„Mas meint Du?” fuhr Köhler auf.
„Ste liegt nu Jon wieder über drei Wochen
fe und diejfes Mal wird es Ernftl. Sie is am
Sterben. Deine Frau hat e8 mir heut’ gefagt. —
Sie verlangt auh alle Tage nah Dir, aber die
Minna will nid, daß fie Dih fo — fo — na, Du
weißt Schon. Aber Kerl, nu hab’ Dich doch nich To,
trint lieber eins auf den Schred, ftierben müjlen
wir alle.“
Er verjuchte den Verzmweifelten, der laut auf:
ftöhnend mit dem Kopf auf den Tiich gefunfen war,
in die Höhe zu ziehen und füllte ihm aus der vor
325 Ohne Gott.
ihm ftehenden Flafche das große Schnapsglas. Endlich
glüdte die Bemühung, Köhler richtete fih auf, griff
nad dem Glaje und leerte es auf einen Zug. Ein
zweites folgte — ein drittes — nun mußte er ge:
nug haben — Braun |hob die Flaiche zurüd.
„Amer Kerl, ja, Du haft die meifte Urjadh’,
dem noblen Yabrifherrn gram zu fein,” fprach er
ee „eigentlich iS er allein an Deinem Unglüd
u =“
„Wenn ih ihn erwürgen, wenn ih ihn mit
meinen Füßen zertreten könnte,“ jchäumte der plöglich
Betrunfene mit heiferer Stimme.
„ven Wunihd Tann Dir keiner verdenfen,”
meinte Braun, „aber laß es doch Lieber bleiben —
Du Haft ja au nich die Kurafch’” dazu.”
Köhler fuhr auf ihn los. „Was jagt Du, id)
keine Kuraſch'?“
„Na, ſei man nich gleich ſo ſchlimm, ich mein'
man ſo,“ begütigte er. „Eigentlich geſchäh' den reichen
Kerls recht, wenn ihnen mal einer zeigte, was paſſiert,
wenn fie nich aufhören, unjeren Schweiß zu ver:
praffen, aber — ih will Dir nich zuraten.”
Er nahm das große, blante Brotmeller vom
Th und befühlte die fcharfgefchliffene Schneide.
Dann legte er c8 wieder hin.
Köhler war den Bewegungen bes Genofjen mit
glühenden Augen gefolgt. — Wenn er das Mefler
dem Verhaßten in die Bruft bohren Tönnte, wenn
diefer noch früher fterben müßte als fein Mariechen
— Das wäre was! Er verjant in brütendes Sinnen.
Braun beobadtete ihn und las ihm die Ge:
danfen vom Gefiht. „Ih muß nu gehn,” Iprad
er endlich aufftehend, „freilih nid in Gejelihaft,
wie der reihe Herr Wahrholm, aber ich will nod
zum Schmieder nach einem Bud.”
„Sn Gejelihaft geht er?” murmelte Köhler
immer noch fihtbar nachgrübelnd.
„Sa, zum Profellor Niederftetter, Ta joll Geburts:
tag fein. Die andern bat ber Kuticher Ihon früher
bingefahren, der Herr will aber bis halb adt im
Somptoir bleiben und dann zu Fuß gehen. Die
Sobanne, was meine Braut is, hat es mir erzählt.”
Köhler fehwieg und ftarrte immer das Meller an.
„Ra denn atje, alter Freund,“ jprach Braun,
ihm auf die Schulter fchlagend. Er ftedte den Reit
des Schnapjes zu fi, Köhler durfte jegt nicht mehr
trinken, ging zur Bahlftele, um feine Rechnung zu
begleihen und verließ das Lofal.
Der Zurücbleibende ftarrte noch eine Kleine
Meile auf den Fußboden, dann auf die Uhr an ber
Wand. Es war halb acht, gerade die richtige Zeit. —
Er blidte jcheu zu den Männern am anderen Tiich
hinüber — fie fpielten Karten und achteten nicht auf
ihn. Er ergriff fchnel das Brotmefjer und ließ es
in die Tafche gleiten. Niemand hatte e8 bemerft.
Er taumelte zur Thür und verihwand in der jchledht
beleuchteten Straße.
* *
*
Herr Wahrholm räumte die Bücher zuſammen
und ſchloß ſein Schreibpult. Dann machte er Toilette,
um den Seinigen nachzugehen. Der faſt halbſtündige
Roman von E. Karl.
326
Spaziergang war ihm gerade recht, er hatte den
ganzen Tag am Schreibtiſch geſeſſen. Die letzte
Arbeit war ein Brief an einen alten Freund in
Berlin geweſen, der ihn hatte überreden wollen, mit
ihm gleichzeitig eine Reiſe nach Oberitalien zu machen.
Man hatte die Angelegenheit im Familienkreiſe
mehrfach beſprochen und durch das Stubenmädchen
Johanna, die Braut Brauns, war etwas davon in
die Arbeiterkreiſe gedrungen. Herr Wahrholm hatte
nach reiflicher Uberlegung aber dem alten Freund
heute einen Abſagebrief geſchrieben.
„Die Zeit, in der man hundert Arbeiter ent⸗
laſſen muß, iſt für Vergnügungsreiſen ſchlecht geeignet,“
ſchrieb er, „warten wir auf beſſere Tage.“
Damit war die ſchwebende Angelegenheit erledigt.
In heiterer Stimmung ſchritt Herr Wahrholm
durch die Stadt und näherte ſich der Wohnung des
Profeſſor Niederftetter. Sie lag in einer ftillen, vor:
nehmen Straße, die zum jogenannten Geheimrats-
viertel gehörte. Kurz vor dem Haufe gabelte fich
der Fahrweg und man hatte bier Gartenanlagen in
Geftalt eines fpigen Winkels angelegt, die ber
öffentlihen Benugung anheimgegeben waren und die
Etraße anmutig belebten. Sebt im Januar freilich
war das Gebüfch Fahl und der Kleine Plag leicht zu
überjehen.
Es war ein verhältnismäßig milder Abend und
dem rüftig Vormärtsfchreitenden wurde der Pelz fo
warnı, daß er ihn öffnete. Als er fih dem Kleinen
Gartenfled näherte, trat eine hohe, fchlotterige Geftalt
hinter einem Gebüjch hervor und faßte ihn fcharf
ins Auge, um dann mit bej'hleunigten Schritten auf
ihn zuzueilen. Herr Wahrholm bemerkte no, daß
der Mann jchwankte wie betrunten. Er trat zur
Seite, um feine unliebjane Begegnung zu haben,
aber der Menich, in dem er den von ihm entlaffenen
Arbeiter Köhler erkannte, vertrat ihm den Weg.
„Allo jegt haft Du Geld, um nad Stalien zu
reifen, Du Hund — aber Du wirft nicht hinkommen.”
Wie ein Tiger ftürzte fih der Mann auf fein
Opfer, jo daß es bintenüber jhlug, und fließ ihm
mit voller Wucht fein Mefler in die Bruft. Dann
riß er diejes heraus und rannte in langen Säßen
Davon.
So plöglih war der Überfall gelommen, baf
Wahrholm nur einen einzigen Schrei ausfioßen
fonnte, bevor ihm aus Schreden und Schmerz bie
Sinne vergingen. Sn der um diefe Abendftunde
faft menjchenleeren Straße wurde diejer nur von
einer Perfon vernommen, die dem Überfallenen fchon
feit geraumer Zeit gefolgt war und fih im ent:
Iheidenden Moment hinter das Eifengitter eines Vor:
gärtheng gedrüdt hatte. Sept trat der Arbeiter
Braun hervor und beugte fi über den jcheinbar
Sterbenden.
„Gute Gelegenheit muß genügt werben,“
murmelte er, während er mit flinfen Händen fid
Uhr und Portemonnaie aneignete. „Vor zwanzig
Minuten bin id mit dem Buch vom Schmieder weg:
gegangen, da joll mal einer auf mich raten.” Sm
nädhjften Augenblid war er verichwunden.
Mehrere Minuten vergingen und jchon begannen
323 Dbhne Gott.
Sa, ja, er war ja ein erbärmlicher Menich,
das fagte er fih in jolden Stunden der Eintehr
felbft, er verdiente es nicht befler, aber wenn Minva
in fein Herz fehen fönnte, fie würde es gewiß noch)
einmal mit ihm verjuden. Bor mehreren Wochen
batte er, in einer Stimmung wie jeine heutige,
feine legten Pfennige an einen Briefbogen gewendet
und einen Brief an fie begonnen. Beendet hatte
er ihn nit, er wußte auch nicht, wo er geblieben
war. — Nun war er inzwilhen ganz verlumpt und
verfommen, nun fjchämte er fih vor ihr und hielt
fih abfihtlihd in einem entfernten Stabiteil auf.
Als er neulich feinen Heinen Jungen von fern er:
blidte, batte er fich fchnell umgedreht, aber die
Sehnfuht, die grenzenloje Sehnjuht war nad) biejer
Begegnung nur noch heftiger geworden. Wie anders
wäre e8 gelommen, wenn ber reiche Fabrifherr ihm
einen Tleinen Zeil jeines NReichtums abgegeben hätte.
Nun mit einem Mal hatte der verzweifelte Mann
einen greifbaren Gegenftand für feinen Haß. —
Herr Wahrholm und fein Paul — die waren jhuld
an feinem Unglüd und er wollte e8 ihnen eintränfen.
Die Thränen verfiegten, Köhler ballte die Fäufte
und firedte fie drohend von fid).
„Wartet nur, hr Hunde, Euer Tag kommt
noch.“
Eine harte Hand Ichlug ihn auf die Edhulter:
„Na, Köhler, was mahft Du denn da für Komödie?”
Der Angeredete fuhr herum, fein früherer Arbeits:
famerad Braun ftand vor ihm und ließ jeine Blicke
prüfend an ihm niebergleiten.
„Ra, juftement wie ’n Prinz fiebft Du nich aus,
Köhler.”
Der Mann errötete und antwortete ftodend:
„Es geht mir jchleht — Arbeit hab’ ih nid —
und von zu Haus bin id aud fort.”
„Ich weiß, id weiß,“ beftätigte ber andere.
„Du privatilierf,“ und er lachte unbändig über
feinen eigenen Wit. „Na, willfi mit mir mitlommen
und was ejlen? Du jcheinft mir jo eingejchnurrt
um den Leib rum.“
Köhler ärgerte fih eigentlih über die gönner:
bafte Art jeines Kameraden, aber die Ausfiht auf
etwas Ehbares war bo zu verlodend. Er hatte
jeit drei Tagen nichts Warmes genofien. So er:
Härte er fih denn zum Mitgehen bereit und folgte
dem Genofjen in eine Arbeiterfneipe. Seine Todes:
gedanken waren verflogen wie jeine weiche Stimmung.
Braun ließ zwei Portionen eines einfachen Ge:
rihts fommen und fah mit bedauernder VBermunderung,
wie heißhungrig Köhler die jeinige binunterjchlang.
Ein großes Stüd Brot jpülte er zum Schluffe mit
einigen Schnäpjen hinunter, Braun hatte eine Flajche
davon auf den Tiih ftellen Laflen.
„So, nu bin ih wieder 'n Menih,” meinte
er, jich behaglich zurüdlehnend, „ich dank’ Dir, Braun,
nun erzähl’ mir aber was von Euch.”
„Da wär viel zu erzählen, aber leider nichts
Gut’3. Wegen der Zollgefehichte hat unfer bisheriger
Herr jegt weniger ins Ausland zu verlaufen, und
damit ibm doh man ja fein Schaden geichieht,
Ichräntt er wieber, wie vor zwei Jahren, den Betrieb
Roman von ©. Karl.
324
ein und entläßt ein Ziertel der Arbeiter. Die fönnen
nu jehn, wie fie fertig werden. Ich bin aud ent-
laflen, aber ich hab’ gleich Arbeit in einem Speicher
am Hafen befommen.“
„Dir Ichad’t es nichts, Du bift ledig und fannft
im Notfall wo anders bingehn,“ meinte Kübler,
„aber die armen Familienväter.”
„Samilienväter hatte er feine entlaffen, bloß
[edige Leute und thut fih nu recht was brauf zu
gut. So ’n Zump, fo ’'n geiziger. Als wenn joldhe
große Fabrik nich au in fchlehten Zeiten ihre Ar-
beiter ernähren muß. Dann laß er do mal eine
Zeitlang auf neuen Berdienit verzichten und vom
alten Fett leben. Aber proft Mahlzeit, das ging
ihm ja an jein eigenes liebes Xeben, da wird er
fh Ihön hüten.”
„J ja, wenn einer jo gewöhnt is, alles bloß
von Silber zu haben und einen jchönen Teppid)
unter den Füßen und alle Tage Braten, dann dentt
er, das muß für ihn fo fein. Das elende Pad,
was wir find, das kann ja bungern.” Und Köhler
Ipie verädhtlid auf die Diele.
„Ru will er ja wohl eine jchöne Reife maden,”
fuhr Braun fort. „Wenn das Frühjahr bei uns nod)
lang’ nid anfängt, dann will er mit feiner Frau
nah Stalien fahren, dahin, wo jein Paul gemwejen
ie. Der bat ihm fo viel davon erzählt, daß er fich
die Geihihte nun aud mal anjehn will. Einige
= wohl, es i® nich wahr, aber warum fol er
n m
Köhler war aufgelprungen und ftarrte den
Spreder mit leichenblaſſem Geſicht an. „Nach
Italien? — Dahin will er reiſen, wo meine Mariechen
gefund geworden wär’, wenn er mir das Geld ge:
geben hät? Dahin will er nur zum Vergnügen
reifen? Nu bat er das Geld? — Aber wie ich ihn
auf Snieen gebeten hab’, meiner Mariehen das
Leben zu retten, da hatt’ er es nich?“
Der Mann ballte die Fäufte und jhritt, un:
artilulierte Laute murmelnd, im Zimmer bin und
ber, jo daß die Heine Zahl Anmwejender fih erftaunt
nah ihm umjahb. Endlich warf er fidh wieder in
feinen Stuhl und preßte die Fäufte in die Augen:
bhöhlen, während feine Bruft frampfhaft arbeitete.
Braun betrachtete ihn prüfend von der Seite. Die
Sade ging ja prädtig, vielleicht fand fich in diefem
verlumpten, verlommenen Menihen das Werkzeug
der Rache, das er und einige Kameraden juchten.
„Ra, Deine Mariehen hat Italien nich) mehr
nötig, die wird nu ganz wo anders hinreilen.“
„Was meinft Du?” fuhr Köhler auf.
„Sie liegt nu fon wieder über drei Wochen
feft und diejes Mal wird es Ernft. Sie is am
Sterben. Deine Frau bat es mir heut’ gejagt. —
Sie verlangt auh alle Tage nad Dir, aber die
Minna will nid, daß fie Dih jo — fo — na, Du
weißt jhon. Aber Kerl, nu hab’ Dich doch nich To,
trint lieber eins auf ben Schred, fierben müllen
wir alle.”
Er verfuhte den Verzweifelten, ber laut auf:
ftöhnend mit dem Kopf auf den Tifch gefunfen war,
in die Höhe zu ziehen und füllte ihm aus der vor
325 Ohne Gott.
ihm ftehenden Flajche das große Schnapsglas. Endlich
glüdte die Bemühung, Köhler richtete fih auf, griff
nach dem Glafe und leerte es auf einen Zug. Ein
zweites folgte — ein brittes — nun mußte er ge:
nug haben — Braun job die Flajche zurüd.
„Armer Kerl, ja, Du haft die meifte Urjadh’,
dem noblen Fabrikherrn gram zu fein,“ fprad er
ee „eigentlich iS er allein an Deinem Unglüd
uld.”
„Wenn ih ihn erwürgen, wenn ih ihn mit
meinen Füßen zertreten könnte,“ jchäumte der plöglich
Betruntene mit heijerer Stimme.
„ven Wunid lann Dir feiner verbenfen,”
meinte Braun, „aber laß es doch lieber bleiben —
Du halt ja au nid die Kuralch’ dazu.”
Köhler fuhr auf ihn los. „Was fagft Du, ich
feine Kurafch’?“
„Ra, jei man nich glei fo jchlimm, ich mein’
man }o,” begütigte er. „Eigentlich geihäh’ den reichen
Kerls recht, wenn ihnen mal einer zeigte, mas pajliert,
wenn fie nich aufhören, unferen Schweiß zu ver:
praflen, aber — ih will Dir nich zuraten.“
Er nahm das große, blanfte Brotmefjer vom
Tiih und befühlte die jcharfgeichliffene Schneide.
Dann legte er es wieder Hin.
Köhler war den Bewegungen des Genofjen mit
glühenden Augen gefolgt. — Wenn er das Meier
dem VBerhaßten in die Bruft bohren Tönnte, wenn
diefer noch früher fterben müßte als fein Mariechen
— das wäre was! Er verlant in brütendes Sinnen.
Braun beobadjtete ibn und las ihm die Ge
danfen vom Gefidt. „Jh muß nu gehn,“ Iprad
er endlih aufftehend, „freilih nid in Gefellichaft,
wie der reihe Herr Wahrholm, aber ih will nod
zum Schmieder nad einem Bud.“
„Sn Gelelihaft geht er?” murmelte Köhler
imnier noch fihtbar nachgrübelnd.
„Sa, zum Profellor Niederfteiter, ta fol Geburts:
tag fein. Die andern bat der Kuticher Schon früher
bingefahren, der Herr will aber bis halb adht im
Comptoir bleiben und dann zu Fuß gehen. Die
Sobanne, was meine Braut is, hat es mir erzählt.”
Köhler Ihwieg und ftarrte immer das Mefler an.
„Ra denn atje, alter Freund,” Iprad Braun,
ibm auf die Schulter fchlagend. Er ftedte den Reit
des Schnapjes zu fi, Köhler durfte jet nicht mehr
trinfen, ging zur Zahlftelle, um jeine Rechnung zu
begleichen und verließ das Xofal.
Der Zurüdbleibende ftarrte noch eine Kleine
Meile auf den Fußboden, dann auf die Uhr an der
Wand. Es war halb acht, gerade die richtige Zeit. —
Er blidte jcheu zu den Männern am anderen Tiich
hinüber — fie jpielten Karten und acdhteten nicht auf
ihn. Er ergriff jchnel das Brotmefjer und ließ es
in die Tafche gleiten. Niemand hatte es bemerkt.
Er taumelte zur Thür und verjhwand in der jchledht
beleuchteten Straße.
* *
*
Herr Wahrholm räumte die Bücher zuſammen
und ſchloß ſein Schreibpult. Dann machte er Toilette,
um den Seinigen nachzugehen. Der faſt halbſtündige
Roman von E. Karl.
326
Spaziergang war ihm gerade recht, er hatte den
ganzen Tag am Schreibtiſch geſeſſen. Die letzte
Arbeit war ein Brief an einen alten Freund in
Berlin geweſen, der ihn hatte überreden wollen, mit
ihm gleichzeitig eine Reiſe nach Oberitalien zu machen.
Man hatte die Angelegenheit im Familienkreiſe
mehrfach beſprochen und durch das Stubenmädchen
Johanna, die Braut Brauns, war etwas davon in
die Arbeiterkreiſe gedrungen. Herr Wahrholm hatte
nach reiflicher ÜUberlegung aber dem alten Freund
heute einen Abſagebrief geſchrieben.
„Die Zeit, in der man hundert Arbeiter ent—⸗
laſſen muß, iſt für Vergnügungsreiſen ſchlecht geeignet,“
ſchrieb er, „warten wir auf beſſere Tage.“
Damit war die ſchwebende Angelegenheit erledigt.
In heiterer Stimmung ſchritt Herr Wahrholm
durch die Stadt und näherte ſich der Wohnung des
Profeſſor Niederſtetter. Sie lag in einer ſtillen, vor⸗
nehmen Straße, die zum jogenannten Geheimrats-
viertel gehörte. Kurz vor dem Haufe gabelte fich
der Fahrweg und man hatte hier Gartenanlagen in
Geltalt eines jpigen Winkels angelegt, bie ber
öffentlihen Benußung anheimgegeben waren und die
Etraße anmutig belebten. Jetzt im Sanuar freilich
war das Gebüjh Fahl und der Kleine Plat leicht zu
überjehen.
E3 war ein verhältnismäßig milder Abend und
den rüftig Vormwärtsichreitenden wurde ber Pelz fo
warnt, daß er ihn öffnete. Als er fih dem Eleinen
Gartenfled näherte, trat eine hohe, Ichlotterige Geftalt
hinter einem Gebüjch hervor und faßte ihn jcharf
ing Auge, un dann mit beijchleunigten Schritten auf
ihn zuzueilen. Herr Wahrholm bemerkte no, daß
der Mann jchwanktte wie betrunken. Er trat zur
Seite, um keine unliebjame Begegnung zu haben,
aber der Menidh, in dem er den von ihm entlaflenen
Arbeiter Köhler erkannte, vertrat ihm den Weg.
„Allo jegt haft Du Geld, um nad Stalien zu
reifen, Du Hund — aber Du wirft nicht hintommen.”
Wie ein Tiger flürzte fih der Mann auf fein
Opfer, jo daß es Hintenüber f&hlug, und ftieß ihm
mit voller Wucht fein Meffer in die Brufl. Dann
riß er diejes heraus und rannte in langen Sätßen
Davon.
Sp plöglih war der Überfall gelommen, daß
Wahrholm nur einen einzigen Schrei ausftoßen
fonnte, bevor ihm aus Schreden und Schmerz die
Sinne vergingen. Sn der um Diele Abenbftunde
faft menfchenleeren Straße wurde Ddiejer nur von
einer Perfon vernommen, die dem Überfallenen fchon
jeit geraumer Zeit gefolgt war und fih im ent
Iheidenden Moment hinter das Eijengitter eines Vor:
gärtcheng gedrüdt hatte. Seht trat ber Arbeiter
Braun hervor und beugte fi über den jcheinbar
Sterbenden.
„Bute Gelegenheit muß genügt werben,”
murmelte er, während er mit flinlen Händen fid
Uhr und Portemonnaie aneignete. „Vor zwanzig
Minuten bin ih mit dem Bud vom Schmieder weg:
gegangen, da joll mal einer auf mich raten.” m
nächſten Augenblick war er verſchwunden.
Mehrere Minuten vergingen und ſchon begannen
327 Ohne Gott.
Bewegungen bed bdaliegenden Körpers das wieder:
tehrende Bemußtjein zu verkünden, als endlich zwei
Studenten bes Meges lfamen und mit Entfegen ben
Blutenden entbedten. Schnell entichloflen hoben fie
den ftöhnenden Manır auf und trugen ihn nad) einer
unfern gelegenen Privatklinik, wo fie hoffen durften,
jofort ärztlihe Hilfe zu erhalten.
Der Berlegte fam bereits während des Trans:
ports zur Befinnung, fonnte jeinen Namen nennen
und Anmeifung zur Benachrichtigung der Seinen
treffen. Auh nannte er Namen und Wohnort
bes Thäters, deflen vagabundierendes Leben ihm
fremd war.
Die Wunde erwies fich bei genauer Unterfuhung
als nit fo gefährlih, wie e8 nad ber ftarlen
Blutung der Fall zu fein fchien. Troß der gewaltigen
Wucht, mit der der Stoß geführt war, hatte das zwar
Iharfe, aber nicht jehr fpige Mefler an der jeidenen
Krawatte und dem fteifen Vorhemde einen zu großen
Widerftand gefunden, um tödlich wirken zu können.
immerhin war aber die Qunge etwas verlegt und
ber flarle Blutverluft hatte den Verwundeten ehr
erichöpft, jo war Schonung dringend geboten.
Der Schreden im Haufe Niederftetter Tpottete
jeder Bejchreibung, als einer der hilfreichen Studenten
die Nachricht von Überfall des Fabrikbefigers brachte,
und die Gattin des Verwundeten ſiedelte ſofort in
die Klinik über, um ihm nahe zu ſein. Paul
mußte allein in die elterliche Wohnung zurückkehren,
den Vater zu vertreten.
Der zweite der freundlichen Helfer war ſofort
nach Ablieferung des Kranken zur Polizei geeilt, um
die Verhaftung des Verbrechers zu veranlaſſen. Die
geöffneten Kleider des Verletzten und das Fehlen von
Portemonnaie und Uhr deuteten auf Raub.
XI.
Minna Köhler ſaß am Bette ihres kranken
Kindes. Mariechen lag ganz ſtill, man hätte ſie mit
ihrer gelbweißen Haut und den tief eingeſunkenen
Augen fchon für eine Leiche halten können, wenn
dieſe Augen nicht in faſt unheimlichem Glanze ge—⸗
leuchtet hätten und der Atem nicht mit raſſelndem
Geräuſch gegangen wäre.
Minna wußte, daß die nächſten Tage das Ende
bringen mußten und wich nicht vom Bett, wenn es
nicht die dringendſte Notwendigkeit erforderte. Mußte
ſie aber fortgehen, ſo vertrat Alma, die fich in dieſer
ſchweren Zeit als hilfreicher Engel bewährte, ihre
Stelle. Die beiden ſo verſchiedenen Frauen unter:
ſtützten ſich gegenſeitig.
Der Abend war faſt bis zur neunten Stunde
vorgerückt, der kleine Karl ſchickte ſich an, ſein Lager
aufzuſuchen, und Minna hatte eben die Lampe für
die Nachtwache friſch gefüllt, als auf der Treppe ein
flüchtiger Schritt klang.
Mariechen, die ſich lange nicht gerührt hatte,
machte eine plötzliche Bewegung und verſuchte ſich auf—
——— „Der Vater,“ flüſterten ihre bläulichen
ppen
Roman von E. Karl.
328
Um Minnas Mund zuckte es ſchmerzlich, immer
dieſelbe Hoffnung, die doch unerfüllt bleiben mußte.
Aber im nächſten Augenblick fiel ihr das Strickzeug
aus den Händen und ſie ſelbſt entſetzt an die Stuhl—
lehne zurück. Die Thür wurde haſtig aufgeriſſen
und im Rahmen ſtand Köhler — aber wie ſah er
aus. —
Zerlumpt und barhaupt, abgezehrt und ver:
fommen. Doch das war nicht das Schlimmfte. Das
Haar hing ihm lang in ein wild verzerrtes Geficht,
in dem die Augen wie im Wahnfinn glühten. Er
ftand einen Augenblid, als wage er die Stube nicht
zu betreten, dann flürzte er vorwärts, brad vor
dem Bett in die Knie und wübhlte den Kopf neben
der Bruft des Franken Kindes in die Bettbede. So
blieb er lange liegen, während Mariehen ihre Arme
um das geliebte Vaterhaupt legte und ihre Augen
einen falt überirdiihen Ausdrud annahmen.
Endlih richtete der Mann den Oberförper in
die Höhe und blidte wie geiftesabwejend umber.
„Um Gottes willen, Gottlieb, Du bift ja ganz
vol Blut, was ilt Dir geſchehen? rief Minna ent-
legt, weil fie an eine Verwundung ihres Mannes
glaubte.
Köhler rieb fich mit der Hand die Stirn, als
fude er feine Gedanken zu jammeln, und blidte dann
prüfend auf feine bejudelten Hände. Er hatte das
blutige Meffer mehaniih zmwildhen ihnen abgewilcht,
der aufipringende Blutftrahl ihm aud Bruft und
Geficht beiprikt.
„Blut, Blut,” murmelte er, „es wird noch viel
fließen, wenn fie e8 jo weitertreiben. Segt bat erft
einer feinen Xohn. — Du mußt nu fterben, mein’
Tochter, aber er ift auch geftorben, weil er Dich nich
bat gejund werden lafjen.”
Er murmelte no etwas Ilnverftändbliches und
foht mit ben Händen in der Luft herum, dann
jenfte er den Kopf wieder in das Kiffen, auf dem
feines fterbenden Kindes Haupt rubte, und blieb uns
beweglich liegen, lange, large Zeit. Es war, als ſei
er eingeſchlafen.
Minna blickte ratlos und verzweifelt umher.
War ihr Mann wahnſinnig, oder war er nur be—
trunken? Er hauchte einen penetranten Fuſelgeruch
aus. Oder hatte er etwas Böſes begangen? Wer
war geſtorben? Augenſcheinlich hatte es irgendwo
eine arge Rauferei gegeben.
Endlich, als wohl eine reichliche Viertelſtunde
vergangen war, winkte ſie dem Kleinen, der immer
noch bekleidet auf ihrem Bett ſaß, und hieß ihn zu
Schmieders hinaufgehen, um den Mann, wenn er
daheim ſei, herunterzurufen.
Der Beſcheid lautete aber wenig befriedigend.
Schmieder war nicht zu Hauſe, er ging jetzt, ſeitdem
Alma ſo viel elend war, oft aus. Dieſe erwartete
ihn aber jeden Augenblick und verſprach, ihn ſofort
hinunterzuſenden.
Wieder verging eine kurze Zeit, ohne daß Köhler
ſich gerührt hätte, in Mariechens Zügen aber zeigte
ſich eine Veränderung. Nun ihr heißer Wunſch er—
füllt war, nun des Vaters Haupt neben dem ihrigen
lag, ließ die Spannung nach, die ſie bisher aufrecht
ö — — — — — — — — ——— ——
329 Ohne Gott.
erhalten hatte. Der unnatürlide Glanz der Augen
erlofh und die Lider janten darüber. Das Näschen
wurde jpig und bläulide Schatten begannen fid)
darum auszubreiten.
Minna, die jhon jo viele ihrer Sinder Hatte
fterben jehen, erfannte, baß die Hand des Todes
leife über das flile Gefiht frid. D, wenn er bie
Heine Dulberin jett hinwegnähme, ehe das Schredliche,
defjen Nähe fie fühlte, ohne jagen zu lünnen, woher
fie e8 erwartete, einträte. —
Wieder polterte e8 auf der Treppe, diejes Mal
wie von mehreren Süßen. Köhler fuhr in die Höbe
und in demjelben Augenblid wurde die Thür auf:
gerifien, zwei Poliziften ftanden auf der Schwelle.
„sm Namen des Königs! — Arbeiter Köhler, Sie
find verhaftet.”
Minna ftieß einen gellenden Schrei aus, ber
das Halb entfchlummerte Kind wieder aufrüttelte.
Köhler taumelte vom Boden auf. „Kommt Yhr
mich Ihon holen — SYhr Schufte? Könnt Ihr mir
nich Zeit laflen, bis meine Mariehen geflorben is?
E3 dauert nich mehr lang! — Aufs Schafott komm’
ih noch zeitig genug.”
Minna erftarrte das Blut in den Adern, fie
fonnte feinen Laut mehr hervorbringen. Mit brechenden
Snieen Tchleppte fie fih zu dem nädjlten der Ein:
getretenen und faßte feinen Arın, während ihr Mund
ih wiederholt öffnete, ohne einen Laut hervorzu:
bringen. Aber der Mann verftand fie doc.
„Er hat den Herren Wahrholm geftochen md
beraubt,“ berichtete er.
„3a, ich hab’ ihn totgeftochen, den Hund,” jchrie
Köhler. „Es fällt mir gar nich ein, das abzuleugnen.”
Der Beamte 309 ein Paar Handichellen hervor
und näherte fi dem Arbeiter, als ein gurgelnder
Laut diefen umjchauen made.
Mariechen, die fidh jeit Tagen nicht mehr allein
aufgerichtet hatte, jaß im Bette und ftarrte mit weit
aufgeriflenen Augen und entjegt vorgeftredten Händen
auf den Bater. Nochmals wiederholte fidh der Laut,
der wohl einen Schrei bedeuten jollte, dann fiel ber
Körper rüdwärts in die Kiffen.
Mit einer Kraft, die niemand dem abgezehrten
Manne zugetraut hätte, ließ Köhler die ihn faffenden
Hände der Beamten zurüd und riß das unbeilvolle
Mefler aus der Taihe. „Wer mich jest anrührt,
ift des Todes,” jchrie er, e8 über dem Kopf jchwingend,
dann ließ er die Hand finten und jeßte fi auf den
Rand des Bettes.
Die Schugleute begriffen die Situation, zogen
ih gegen die Thür zurüd und beratichlagten leife
miteinander. Sn diefem Augenblid trat aud)
Schmieder ein. Der große, Eräflige Mann war ein
nicht zu veradhtender Zuwads ihrer Macht dem Ver:
zweifelten gegenüber, fie unterridhteten ihn im lüfter:
ton von dem Porgefallenen und verlangten im Not:
falle jeinen Beiſtand.
Mariehen atmete nur noch leife. Minna war
neben dem Bett auf die Kiniee gejunfen, der Mann jaß
auf dem ande und ftarrte in die groß geöffneten
Augen der Sterbenden. „Sieh mid nid jo an,
Mariehen — ieh mi ni fo an — ih bin Dir
Roman von €. Karl.
330
ja jo gut — mad)’ mir doch ein freundliches Geficht,“
jo jammerte der unglüdlide Mann unaufhörlic.
Da war es, als ob die geipannten Züge fi)
glätteten. Hatte ihn das Mädchen noch verftanben,
oder war es nur die Erihlaffung der Muskeln? Ein
freundlicher Ausdrud breitete fi) über das Geficht
und unter feiner lieblfofenden Hand Ichloflen fich die
blauen Augen für immer. Dariechen hatte ausgelitten.
Einige Minuten blieb alles ftil, die Majeftät
des Todes, der durch den Raum jchritt, hielt jeden
in ihren Bann.
Endlich erhob fih Köhler — langjam und wie
es jchien völlig nüchtern richtete er fih zu feiner
vollen Höhe auf und jchleuderte das Mefier in weiten
Bogen dur das Zimmer, daß es vibrierend in der
Diele fteden blieb. Danıı wendete er fih an die
Diener bes Gejeges. „Seht is es aus — nu Fönnt
hr mich mitnehmen.”
Der eine der Beamten 309 wieder die Hanb-
hellen hervor, aber Köhler mies fie mit ruhiger
Bewegung zurüd.
„38 nich nötig, Herr Schugmann, ich komm’
Ihon von allein.”
„Laſſen Sie den Mann ungefefjelt,” vermittelte
Schmieder, „ih will Sie begleiten, dann find wir
drei gegen einen.” Man willfahrte ihm und fchidte
fih zum Gehen an.
„Atje, Minna,“ wendete ſich der Arbeiter an
ſeine Frau, indem er ihr die blutbefleckte Hand hin—
hielt, „nu ſiehſt Du mich nich mehr im Leben, jetzt
machen ſie mich einen Kopf kürzer.“
Minna ſchluchzte laut auf, aber ſie wendete ſich
ab — ſie konnte die Hand des Mörders nicht ergreifen.
Köhler ſah ſie ſchmerzlich an, wendete ſich zu ſeinem
kleinen Sohn, ergriff deſſen Kopf und drückte einen
Kuß auf das dichte, blonde Haar, dann ſchritt er der
Thür zu, während der junge Schutzmann ſeinen Arm
ergriff. Ruhig erſtieg er die kurze Treppe, als er
aber die Schwelle ſeines Hauſes überſchritt, brach er
zuſammen.
„Na, auf, auf,“ rüttelte ihn der Beamte in
rauhem Ton.
Der Arbeiter erhob ſich, doch ſeine Kraft war
erſchöpft.
„Geſtatten Sie mir, meinem Genoſſen einen
Wagen zu holen,“ miſchte ſich Schmieder hinein,
„was er auch gethan haben mag, er iſt ein Menſch.“
Den Schutzleuten erſchien eine Fahrt ebenfalls
bequemer als der weite Weg zum Gefängnis. Sie
ſetzten ſich, den Delinquenten in die Mitte nehmend,
auf der Thürſchwelle nieder, bis Schmieder von der
nahen Station einen Wagen beſchafft hatte.
„Sie werden den anfänglichen Widerſtand des
Mannes gegen Sie nicht melden, Herr Schutzmann,“
ſprach Schmieder bittend, als ſie in den Wagen ſtiegen.
„Nein, Herr, gewiß nicht,“ antwortete der alte
Mann ernſt, „ich kann Verzweiflung von Renitenz
unterſcheiden.“
Köhler ſprach kein Wort mehr, er hatte mit dem
Leben abgeſchloſſen. Vor ſeinen Augen ſchwebte ein
blankes Richtbeil, aber es erregte ihn nicht. Es
war ja alles gleichgültig. —
331
Am nähften Morgen wurde Köhler vernommen
und befannte fih ruhig, wie am Abend vorher, zu
feiner That. Nur das Motiv dazu blieb rätjelhaft,
denn die Gejhichte von feiner vergebliden Bitte um
vierlaufend Mark und feiner Wut über eine angeblich
von Herrn Wahrholm projeltierte Reife nach Sttalien
Hang doch zu ungereimt.
Cine Beraubung des VBermwundeten leugnete er
aber rund ab und wiederholte immer von neuem:
„Ih bin ein ehrlider Mann, Herr Richter, ich hab’
den Herrn bloß totfleden wollen.” Dabei blieb er.
Aud Braun, der unmittelbar vor der That mit
ihm zufammen gejehben war, wurde vernommen. Es
fanden fi unter den in ber Kneipe anmwejend ge:
wejenen Perjonen zwei, die von Aufreizung Ipraden,
weil fie fi) der Aufregung des vorher ganz jchweig-
famen Mannes entjannen, nahdem Braun eine
Weile auf ihn eingeredet hatte. Braun aber jeßte
eine Unjhuldsmiene auf und verficherte, Köhler von
feinem Vorhaben abgeraten zu haben. Er berief fi
jogar auf deilen Zeugnis, und Köhler beftätigte in
feiner MWahrbeitsliebe die Ausfage.. Er war nicht
Hug genug, um die Reden feines Genofjen nach ihrer
Meinung abzuihägen, er bielt fih an die fchlauen
Worte: „Laß es lieber fein.”
Herr Wahrholm konnte no nicht vernommen
werden, doch machte die Nachricht, daß er lebe und
binnen einigen Wochen geheilt fein werbe, einen jehr
liefen Eindrud auf Köhler, nur blieb es zweifelhaft,
ob ihm die Thatjache lieb oder leid fei. So mußte
der Angeklagte denn nad mehreren Verhören wieder
ins Gefängnis zurüdgeführt werben, es war für den
Augenblid kein Licht in die dunkle Angelegenheit
zu bringen.
* *
%
Minna hatte ihr Töchterhen, zwei Tage nad
dem Tode, eben in den Sarg gelegt, als der Bote
einer Schlafitellenvermieterin ihr einen PBfandichein
über einen Rod bradte, mit der Anfrage, ob fie ihn
einlöjen wolle. Da Köhler, der ihn an Zahlungs:
ftatt gegeben batle, nun im Gefängnis jäße, wolle
die Frau lieber ihr Geld, als den alten Rod, den
fie erft verlaufen müßte.
Minna war felbft ohne Geld, fie wollte aber
das Kleidungsftüd nicht verloren gehen lafjen und
entlieh die Eleine Summe von Alma. Jhr Mann
julte doh anftändig vor Gericht ericheinen. Sie
löfte den Rod nodh an demfelben Tage ein und
madte fi abends daran, ihn auszubellern, um ihn
am nähften Tage ins Gefängnis tragen zu können.
Mährend fie ihn prüfend hin und ber drehte, aud
die Tajhen ummendete, um fie auf ihre Haltbarkeit
zu unterfuchen, fiel ihr ein zufammengeballtes Papier
in die Hände, das in einer TQTajche ftedte. Sie
glättete es mehaniih, ohne etwas dabei zu denten,
aber ihre Augen wurden größer und größer, je länger
fie darauf binftarrte.
Was fie da in der Hand hielt, war ein ange:
fangener Brief ihres Mannes an fie. Er war in
ungeſchickter Handſchrift und ſehr fragwürdiger Ortho—
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
332
graphie abgefaßt, aber bas flörte fie nicht, fie wußte
ja, daß Köhler, auf dem Lande aufgewadjfen, nur
eine jehr mangelhafte Schulbildung erhalten und
feit Jahren nicht mehr gefchrieben halte.
Der Brief lautete:
Einfiges Libftes Minachen
Ich fize bier in grofen Jammer und Nobht
weil mein berz fih fo Bangt nah Dir und die
Kinder denn ih bin wol fjerr ein jdhledhter Kerl
und ih fan nich lajen von den brantweihn aber
wen Du mir von Dir flofen tubeft den mus idy
Zugrunde gehen den ich dente blos an Dir und
den Karbel und die Marichen Bejonders wo mir
das Herz wehtuth zu Zerbreden. Erbarme Dich iber
mir mein einfiges Minaden das ih wider — —
Hier brach das Schreiben ab, aber aus Minnas
Augen, die jeit der furdhtbaren Abendftunde, da man
ihren Mann als Mörder ins Gefängnis führte, troden
geblieben waren wie verborrte Quellen, braden bie
Thränen firommeife hervor. Sie trat zu dem jchlichten
Sarge, der im Hintergrunde des Zimmers auf zwei
Stühlen ftand, und legte ihr Gefiht neben das ihres
toten Kindes auf das harte Kiffen, wie es vorgeftern
ihr unglüdlider Mann gethan hatte.
Nun konnte fie weinen, lange, lange. — Dann
faltete fie die Hände und bat Gott, er möge ihr
Kraft geben, den Berlorenen auf den redten Weg
zurüdzuführen. Wenn er no jo fühlen Eonnte,
wenn er noh jo an ihr und den Kindern Bing,
war er noch zu reiten.
Am Sarge ihres Kindes fand fie die tief ver-
jüttete Liebe zu ihrem Gatten wieder.
Dur Frau Profefjor Nieberitetter, die fie geflern
Ihon befucht und au den Sarg bezahlt hatte, wußte
fie, daß Herr Wahrholm lebte, daß ihrem Manne
aljo nur eine mehr oder weniger lange Zudthaus-
ftrafe bevorftand, und gerade diefer Umftand erjchien
ihr günftig für ihn. Die Ichlechte Gejelihaft würbe
ibm nichts anhaben, er war von Charakter gut und
ehrlih, das Trinken aber würde er fi abgewöhnen
und dafür arbeiten lernen müflen. Sie aber wollte
ihm oft jchreiben und ihn tröften und ermutigen, bis
fie ihn zurüderhielt. Sie halte eine gute Volle:
Thule bejucht und wußte ſich ſchriftlich durchaus ver⸗
ſtändlich auszudrücken.
Nach und nach verſiegten ihre Thränen und
machten einem himmliſchen Gefühl der Erleichterung,
aber gleichzeitig furchtbarer körperlicher Müdigkeit
Platz. Sie warf ſich halb angekleidet neben dem
kleinen Karl auf ihr Bett und fiel ſofort in tiefen,
erquickenden Schlummer. Seit vielen Tagen zum
erſten Mal nahte ihr ſo der holde Bruder des Todes;
in demſelben Zimmer raſteten die Brüder vereint
und jeder von ihnen brachte eine Wohlthat.
Am nächſten Vormittag trug Minna den aus—
gebefjerten Rod ins Gefängnis und bat den Unter:
\udungsrichter, den fie zufällig bort antraf, um eine
Unterredung mit ihrem Manne. Sie wurde ihr
nad einigem Zögern — natürlid nur in Gegen:
wart eines Beamten — gewährt. Gerichtsrat Burger
ermahnte fie aber, ihren Mann in Bezug auf den
Verbleib der Wertfadhen zur Aufrichtigkeit anzubalten.
333 Ohne Gott.
„Senommen bat er ficherli nichts, Herr Ge:
ritsrat, er ift ein ganz ehrlider Mann,” antwortete
ihm die Frau im Tone vollfter Überzeugung.
Alfo aud fie hielt den Mörder für ehrlich, ob
er es wirklich jein jollte?
Es war ein thränenreiches und doch freudiges
Wiederjehen zwilhen dem Ehepaar. Köhler verging
faft vor Ichmerzlihem Glüd, daß jeine Minna, die
ihm jüngft, als er fürs Leben Abjchied nehmen wollte,
ihre Hand verweigert hatte, jebt zu ihm fam und
ihre Arme genau jo um jeinen Hals legte, wie er
es vor drei Tagen auf der Brüde geträumt hatte.
Nach der eritien Begrüßung freilih hielten fie
fih Scheu voneinander fern, die Gegenwart bes
Gefangenenmwärters beengte fie, aber fie hatten fich
do innerli gefunden. Minna ſprach ihre große
Freude darüber aus, daß Herr Wahrholm außer
Lebensgefahr, ihr Gottlieb alfo, troß jeines Ichredlichen
Borfages, nicht zum Mörder geworden war, und diefer
flimmte ihr bei.
„sa, e8 18 gut jo; wenn ich meine Straf’ hinter
mir hab’, will id zu ihm gehen und ihn um 2er:
gebung bitten.”
Dann Sprachen fie vom Tode des Kindes.
„Wenn ich bloß ihre entjetten Augen nich immer
vor mir jehen müßt’,” Elagte der Mann. „Daß fie
bat fortgehen müllen mit dem Grauen vor mir, das
fann ich nich verwinden.“
Minna tröftete ihn jo gut fie konnte, fie meinte,
das Kind habe fih nur vor dem Geidhrei und den
fremden Meniden erjchredt, aber nicht mehr ver-
ftanden, um was es fi handelte. Cie jagte damit
mehr als fie jelbft glaubte, aber fie hielt es für ihre
Pflicht, den ganz Gebrocdhenen aufzurihten, und es
gelang ihr endlich Durch den Hinweis auf das freundlich
lächelnde Gefidht, mit dem die Kleine eingejehlummert
fei. Sie gab ihm aud eine Strähne ihres blonden
Haares und ermahnte ihn, dabei täglich zu denken,
wie Mariehen fih freuen würde, wenn fie wüßte,
daß er wieder ein ordentlicher Menih werde. Er
verjprady alles unter Thränen.
Endlid mußten fie fcheiden.
„ven Rod nimm nur wieder mit, Minna, id
hab’ nu jhon meine Livree,” dabei wies er auf den
fauberen Gefangenenanzug, ben er ftatt feiner Qumpen
trug, „die will ih nu behalten bis ich wieder ein
andrer Men bin. Aber ich dank’ Dir, daß Du
dran gedacht haft.“
Sie reidhten ich die Hände und fchieden. — Beide
in tiefer Befümmernis, aber beide mit der Hoffnung
auf befjere Zeiten im Herzen.
Am näditen Morgen wurde Mariechen begraben.
Der geliebte Vater konnte ihrem Sarge nicht folgen,
aber er lag in feiner Zelle auf den Sinieen und
beiete zum erften Mal wieder zu dem Gott, den er
fo lange verleugnet hatte; es gab für ihn über dem
jammervollen Zeben wieder ein Etwas, zu dem er
hoffnungsvoll aufbliden konnte.
Roman von ©. Karl.
334
XII.
Der Kandidat Schmidt war ein Bruderſohn
der Frau Profeſſor; auf ſeinem väterlichen Gut hatte
Mariechen Köhler im vergangenen Sommer eine ſo
ſchöne Zeit verlebt. Aber als zweiter und begabteſter
der beiden Söhne hatte er die Anwartſchaft auf
dieſes dem älteren überlaſſen und ſich dem Studium
gewidmet. Bei der frommen Richtung, die durch die
Mutter, eine Pfarrertochter, in die Familie eingeführt
war, kam für ihn kein anderes als das theologiſche
in Frage. Von Kindheit auf war ihm der Glaube
ein geheiligtes Etwas, an dem zu deuteln Sünde ſei.
Glaube und Wiſſenſchaft erſchienen ihm als unab—
hängig voneinander, und wenn er auch nicht mehr
an die ſechs Schöpfungstage glaubte und die Erde
nicht für den Angelpunkt des Weltalls hielt, ſo ſtand
er doch in Bezug auf das chriſtliche Dogma auf durch—
aus bibliſchem Boden.
Da er ſich mit den Naturwiſſenſchaften nie über
das im Gymnaſium gebotene Maß hinaus befaßt
halte, waren ſie ihm ein ziemlich fremdes Feld, und
während ſeiner theologiſchen Studienjahre Hatte er
es inſtinktmäßig vermieden, Schriſtſteller zu ſtudieren,
die ſich das chriſtliche Dogma in feindlicher Abſicht
zum Thema gewählt hatten. Ohne daß er es ſich
klar machte, ſcheute er davor zurück, ſeinen Glauben,
ſein höchſtes und heiligſtes Gut, kritiſch zerlegen und
beleuchten zu laſſen. Es ging ihm damit in erhöhtem
Maße, wie es poetiſchen Naturen ergeht, wenn man
ihre Lieblingsgeſtalten aus Geſchichte und Poeſie
kritiſch zerfaſern will. Sie mögen nichts davon
wiſſen.
Egon hätte nie zugegeben, auch vor ſich ſelbſt
nicht, daß eine Zerſtörung ſeines Heiligſten möglich
ſei, und doch hatte er als Student kein verpöntes
Buch leſen mögen. Feſt davon überzeugt, daß der
rechte chriſtliche Glaube ein Fels im Meer ſei, hatte
er es vorgezogen, ihn in klarer Flut ſich ſpiegeln zu
laſſen, als ſeine ohnehin nicht angezweifelte Feſtig—
keit im Wellenſturz zu erproben. Egon war durch
und durch ein ſtrenggläubiger Chriſt, aber er war
kein Fanatiker und die liebeswarme Atmoſphäre ſeines
Vaterhauſes und der darin herrſchende Geiſt echt
chriſtlicher Duldſamkeit hatten ihn vor Engherzigkeit
bewahrt.
Mit dieſer faſt naiven Gläubigkeit im Herzen
war er vor etwas mehr als Jahresfriſt von einer
anderen Univerſität an ſeinen jetzigen Wohnort
übergeſiedelt, um noch das Kolleg eines berühmten
Kirchenlichtes zu beſuchen und ſein letztes Examen
zu beſtehen. Im Hauſe ſeiner Tante aber und in
deren Umgangskreis wehte eine herbe, kritiſche Luft
und der Fels ſeines Glaubens wurde von manchem
Sturm umbrauſt.
Die Religionsſtunden, welche er in Gegenwart
der Frau Profeſſor ſeiner geliebten Hilde erteilte,
waren für ihn gleichzeitig eine Quelle von Glück
und Leid. Seinem gegebenen Verſprechen treu,
machte er nie den Verſuch, das Mädchen außer der
feſtgeſetzten Zeit zu ſprechen und ging auf der Straße
335
mit böflihem Gruß vorüber. So freute er fich denn
die halbe Woche auf das geitattete Stündchen, um
jedesmal tief entläufht von der Unterrichtsftunde
beimzulehren. Seine Schülerin madte feine Fort:
Ihritte in der Erkenntnis.
Wenn er aus tieffter Überzeugung ihr einen
Lehriag vorgetragen und fie durch feine Glaubens:
innigfeit zu überzeugen gemeint halte, machte fie
ihm einen Einwand, der ihn im Augenblic verblüffte.
Mit dem ganzen NRüflzeug der modernen Forfhung
auf religiüjem Gebiet ging fie ihm zu Leibe, er
mußte, wenn er ihr antworten follte, jelbft Iefen
und ftudieren, was fie vor ihm gelejen und ftubiert
hatte, und ſein geſunder Menfchenverftand mußte zu:
geben, daß das beglaubigte geihhichtliche Zeugnis den
Angaben der Evangeliften oft wideriprad).
Mit dem Ausipruh: „Der Chrift jo glauben,
was Gott ihm in ber Bibel offenbart bat, und nicht
grübeln,” durfte er ihr aber gar nicht lommen. Gie
behauptete geradezu, das hriftlide Dogma fei Feine
Offenbarung und von Sefus auch gar nicht als eine
jolhe aufgeftelt, jondern von feinen Nadifolgern,
die ihn nur halb verftanden hätten, nad) und nad
zulammengeftellt worden. Sie fünne au an eine
Erlöjung durh den Glauben nit glauben. Dabei
blieb fie, und mit wahrer Verzweiflung wurde Egon
inne, daß feine glänzende Rednergabe nichts fruchtete.
„Ih möchte mich ja jo gern überzeugen laflen,“
rief Hilde eines Tages weinend, „aber die Grünbe,
die Sie mir anführen, überzeugen mic eben nicht
und ih bin zu ehrlid, um Sie und mid) felbft zu
betrügen!” Sie fiel der Frau Profeffor Ichluchzenb
um den Hals und verließ dann fchnell das Zimmer.
Es entitand eine drüdende Paufe. — Egon,
blaß wie eine Leiche, fchritt raftlos im Simmer bin
und ber, und Frau Niederftetter fchwieg, fie wußte
feinen Nat. Nach langer PBaule begann fie endlich:
„Kannft Du Hilde nicht entgegenlommen, Egon?
Muß die Taufe und dag feierliche Slaubensbefenntnis
denn fein? Kann nicht jeder von Euch feinem Gott
dienen auf feine Art?“
„Nein, Tante, fo kann es nicht jein!” rief Egon,
„wenn ich mein Priefteramt nicht aufgeben will.
Wie jol ich den Glauben predigen, wie ben Unglauben
befämpfen, wenn mein eigenes Weib in feindlichen
Lager jteht? 8 geht nicht, Hilde muß den chriftlichen
Glauben befennen ober —-”
„Dder?” fragte Frau Niederftetter langjam, in:
dem fie den Neffen traurig anjah. Aber Egon ant-
wortete nicht, er Ichlug plöglih, laut aufftöhnend bie
Hände vor das Gefiht und flürzte aus dem Zinmer.
Einen Augenblid jpäter Elappte die Korridorthür —
er war gegangen.
Hilde hatte eine Ichlaflofe Naht. -- Am nädften
Tage erhielt Egon einen Brief von ihr. Mit zitternden
Fingern öffnete er ihn und thränenden Auges legte
er ihn aus der Hand. Hilde gab ihm fein Wort
zurüd.
Sie jhrieb nah einer furzen Einleitung:
„Blauben Sie nit, daß ih Sie weniger
liebe, Egon, nein, o nein, jede Faler meines
Herzens gehört Jhnen, aber gerade darum will
q
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
336
ih fein Stein auf Zhrem Lebenswege Jein. Lügen
fann ich nicht, das willen Sie, ih fann aljo aud)
die Taufe nicht empfangen und kann nit mit
Shnen zum Abendmahl gehen, denn ich jehe in
diefer feierlichen Handlung nur ein Symbol, nur
eine Gedädhtnisfeier für den idealften Menjchen,
der gelebt hat. Sn diefem Sinne könnte id) es
mit Andacht genießen, aber nicht als den wahren
Leib und das Blut Sefu Ehrifti, das für uns
vergoflen wurde zur Vergebung der Sünden.
Ich bilbete mir ein, in den leßten Monaten
eine gute Chriftin geworden zu fein, mehr im
Sinn Sefu, als wie Ihre Kirche es lehrt, aber
ih muß mid mit Trauer überzeugen, daß Ihr
Bucdjftabenglauben verlangt, wo ih mid an den
Sinn halte, wie er für unfere Zeit paßt.
x habe die fefte Überzeugung, daß Sefus,
fönnte er zur Erde zurüdkehren, fich entiegen
würde über das, was nıan aus feiner reinen
Lehre gemacht hat und der erfte wäre, der Wandel
ſchaffte.
Mit dieſer Geſinnung kann ich nicht Prediger⸗
frau werden, das ſehen Sie wohl ein.
So trenne ich mich denn mit blutendem
Herzen von Ihnen, Egon, aber ich danke Ihnen
aus tieffter Seele für das, was Sie mir gaben —
für die Neligion. — ft fie auh anders als fie
Shnen richtig eriheint, mir haben Sie damit
eine neue lebendige Welt erichaffen. Die materia-
ifiihe Weltanfchauung meines Vaters wäre mir
im Unglüd nie ein Troft gewejen, das fühle ich
beutli, nun zum erften Mal ein berbes Leid an
mic) beranttitt.
Leben Sie wohl, Egon, und der Gott, zu
dem Sie mich beten gelehrt haben, nehme Sie
für $hr ferneres Leben in feinen befonderen Schuß.
Hildegard.”
Zange hielt Egon den Brief in der Hand und
ftarıte ihn an wie etwas Fremdes, Entjegliches, und
doh überraichte ihn der Snhalt nit. Hilde hatte
far vor ihn bingeftelt, was bisher nur wie ein
Iheues Nachtgeipentt durch feine Gedanken gehufcht
war — die Notwendigkeit ihrer Trennung.
Bon dem Sieg feiner gerehten Sade über:
zeugt, hatte er leichten Herzens das Hindernis zwilchen
ihnen binwegzuräumen übernommen. — War feine
Sade nit jo gerecht wie fie ihm eridhien? Hilde
hatte nit aus KLeichtfinn oder Troß gehandelt,
da8 wußte er nur zu gut. Gie zerflörte ja mit
fefter Hand ihr eigenes Glüd mit dem feinigen zu:
jammen, weil fie ehrlih war und nicht heudheln
fonnte.
Der Abend fant herab und immer no faß
Egon auf derfelben Stelle. Die graue Dämmerung
um ibn ber erihien ihm plößlich wie ein Bild feines
Eüinftigen Lebens. — Da übermannte ihn der Sammer,
er ftürzte zur Thür, um fie zu verjchließen, und warf
ih, laut aufweinend, vor dem Sofa feines be:
Icheidenen Stübchens auf die Kniee nieder.
* *
*
337 Ohne Gott.
Der Frühling war ins Land gekommen, hatte
der Erde ein neues Felllleid angezogen und mande
Wunde, die der raube Winter geichlagen, Liebevoll
geheilt. Aber die tiefen Herzenswunden ber zwei
Meniden, die fi) einander nur genäbert hatten, um
den Abgrund zu jehen, der zwifchen ihnen lag, fonnte
nit Frühlingsſonne noch Vogeljang heilen.
Eeiil und bleih ging Hilde ihren Weg. Sie
pflegte in Tiebevoffter Weife ihren alten Vater und
laufchte ihm die Wünſche ab, fie las ihm vor und
beforgte gewandt das Hausmwefen, aber ihre jonnige
Heiterleit war dahin. Es lag über ihrem lieblichen
Gefiht wie ein Haub von Schwermut und ihre
Ihönen, fonft fo firahlenden Augen. blidten oft jo
weltvergefjen, als jähen fie in weite, weite, unerreid):
bare Fernen.
Bunädft war Profellor Steiner über die Yöjung
des Berlöbniffes jehr erfreut geweien, denn er nahm
an, jeine Tohter würde das HLleine Herzeleid in
wenigen Wochen überwunden haben. Als aber nad)
zwei Monaten ihr Geficht ftatt beiterer nur immer
bläffer und durchgeiftigter wurde, da ward er inne,
daß die Sadhe body ernfter fei ala er gemeint, und
das tieffte Mitleid mit feinem finde trat an Stelle
der Befriedigung. Er wollte Hilde auf Reifen jchiden,
ja, er wollte jelbft mit ihr an einen anderen Dit
ziehen, wenn es ihr lieb fei. Aber Hilde lehnte diejes
Opfer entijhieden ab und bat ihn aud, von einer
zeitweiligen Entfernung abzufehen, fie fäme in den
altgewohnten Verhältniffen am beften mit fich felbit
ins reine.
Egon hatte fie nicht mehr gelprodden. Er hatte
auf ihren herzlichen Brief ebenjo herzlich geantwortet,
aber fich gegen ihre Enticheidung nicht gefträubt. Er
ah ein, wie recht fie hatte. Nun wicden fie fi aus
und hatten es aud) fertig gebracht, fi nicht zufällig
bei NRiederftetters zu treffen, aber in Gedanken waren
fie beifammen. Immer — immer —
Prediger Borelius war aus dem Süden gefräftigt
beimgefehrt und batte fein Amt noch für einige Zeit
wieder übernommen. Egon konnte fih aljo ganz der
Vorbereitung für fein lettes Eramen widmen, welches
er denn auch glänzend abjolvierte Er hätte nun,
bis es eine Anftelung oder neue Vertretung für ihn
gab, zu feinen Eltern gehen können, aber es waren
der Fäden viele, die ihn in der Stadt feithielten.
Er hatte zu Dftern die Wohnung gewecdjelt und an
den Fenftern feiner jeigen ging Hilde jaft täglich
ahnungslos vorüber. So jah er das Mädchen,
bem fein Herz hing, wenigjtens aus ber Ferne. Er
geftand es fich jelbft faum ein, aber es war immer
no ein Schimmer jener Hoffnung in jeinem Herzen, bie
den Ertrintenden nad) einem Strohhalm greifen madıt.
Er verwendete nun jeine ganz freie Zeit zum
Studium, aber er ftudierte anders als bisher. Er
las, prüfte und fludierte alle Schriften, die fich gegen
das orthodore chriftliche Bekenntnis richteten und ver:
olih fie mit den Duellen, aus benen fie fchöpften.
Er wollte ihren VBerfaffern jeden Trugichluß, jeden
Srrtum nachmeilen, fie mit ihren eigenen Waffen
Ihlagen und das von ihnen angegriffene Dogma
glänzend rechtfertigen. |
Bess,
Roman>Zeitung 1896.
Roman von E. Karl.
338
Vielleiht würde er dann als Schriftfteller Hilde
gegenüber mehr Glüd haben. Er mußte fidh felbft
zugeflehen, daß er nicht genügend vorbereitet gewefen
war. Er hatte fie eine offenbarte Religion lehren
wollen, die gläubig hingenommen werden mußte, und
fie hatte wiflenihaftliche Beftätigung verlangt. Sie
batte das gebeiligte myfliiche Etwas, das er ihr bot,
mit der hell ftrahlenden Fadel moderner Wiffenfchaft
beleuchten wollen. Nun wohl, mochte fie, er zweifelte
nit daran, daß es ihm gelingen würde, auch zu be=
weijen, wo er bisher nur geglaubt hatte Woche
um Woche jaß er über den Büchern und hatte feine
Augen für den Mai und feine Herrlichkeit, er arbeitete
ja für das Teuerfte, was er bejaß, feine Liebe und
feinen Glauben.
Aber wehe ihm — fein frommer Klinderglaube,
den er während feines jahrelangen Stubiums fefl-
gehalten hatte, weil er inflinktiv alles vermied, was
ihn erjhhüttern konnte, trat jet, da er mit den
Iharfen Waffen der Logik für ihn kämpfen wollte,
immer weiter, immer fchemenhafter zurüd. Mit
perlender Stirn Iprang er oft von feinem Schreib:
ih auf und ftredte unwillfürli die Arme aus, als
wolle er etwas Geliebtes faflen, das ihm in nebel-
bafter Ferne entichwand.
Es war eine jchwere, jchwere Zeit, die Egon
durdhlebte und fie reifte ihn innerlid um ein Sahr:
zehnt, aber fie ftreifte erbarmungslos die Blüten von
feiner Seele. Wenn er nicht Herr werben fonnte
über die wiberjprehenden Stimmen in jeinem
Sinnern, jo job er die Bücher zujammen und
ging zum Siehenhaufe. Er wußte, daß ihm dort
ein Herz freudig entgegenjchlug.
Die alte Frau Liedfe war jeßt ganz bettlägerig,
weil fie fein Glied mehr bewegen fonnte und bas
Augenliht bis auf einen Schimmer verloren hatte.
Aber ihr Geift war immer noch friih und ihr Gehör
fein. In der Erwartung ihrer Auflölung, die ihr
Erlöjung bringen jollte und deren Herannaben fie
fühlte, war eine faft erhabene Freudigfeit über fie
gefommen. Sie follte ja bald zu Gott und. zu ihren
Lieben geben.
An einem Haren Spätnadhmittag, zu Anfang
bes Juni, trat Egon nad adttägiger Paufe in das
keine Zimmer, das fie mit einer anderen Brefthaften
teilte. Er fand fie allein, denn die Miteinmohnerin
war in den Garten gegangen.
Schon im Eintreten rief ihm Frau Liedfe einen
Gruß entgegen, fie hatte feinen Schritt erfannt.
Er trat an das Jaubere Bett und firich lieb:
fojend über bie welfen Hände auf der Bettdede, er
fonnte ihr nicht mehr die Hand drüden, ohne ihr
wehe zu thun. „Nun, wie geht es, Frau Lieble?”
fragte er freundlih und fette fich neben das Bett.
„But, gut,” war die freudige Antwort, „mein
Herrgott nimmt mich jegt bald zu fih und alle Dual
bat ein Ende.”
Egon jah an ihrem veränderten Geficht, daß fie
die Wahrheit fprah. Sie hatte wohl nur noch Tage,
vieleiht Stunden zu leben, aber er bemühte fidh
nicht, ihr die Wahrheit zu bemänteln, fie war ja be-
IV, 24
339 Ohne Gott.
glüdend für die arme Dulderin. Er jprad) einige
freundlide Worte und fragte, was er ihr vorlefen jolle.
„Heute nichts, lieber Herr Kandidat, ich möchte
mit Shnen jpreden. — Haben Sie Alma in legter
Beit einmal gejehen?“
„Rur flühtig auf der Treppe, als ih Frau
Köhler bejuchte,” war die Antwort, „ihr — — id
meine Schmieber, hat erfahren, daß ich fie vor einigen
Wochen bejuhen wollte — es geihah auf Zhren
Wunid, Frau Liebe” — Ichaltete er ein, „und bat fich
meine Anwejenheit in jeiner Wohnung verbeten.
‚Sr babe feine Frau zu freier, naturgemäßer An-
Ihauung berangebildet und wolle fie durch feinen
Pfaffen wieder verbummen lafien.‘“ Das find nad
Frau Köhlerse PVerfiherung feine eigenen Worte.
Sie begreifen, daß ih mi da nicht aufdrängen
mag.“
Frau Liedle feufzte tief. „Das arme Kind —
für den Augenblid ift ihr dann freilich nicht zu
belfen. Aber — e3 kommt eine Zeil, da fie einjam
und verlaflen fein wird — ich weiß es beitimmt,
Herr Kandidat. Was jo ohne richtiges Fundament
auf den Sand gebaut ift, jo gewifiermaßen als Sahr:
marktsbude zum augenblidlihen Vergnügen, das bricht
früher oder jpäter zufammen und auch meiner Entelin
eingebildetes Slüd wird zujammenftürzen. Wollen
Sie mir dann verjpredhen, ihr beizuftehen, Herr
Kandidat?”
„Wenn ich es lann, von Herzen gern, Frau
Liedfe, felbft wenn mich meine jpätere Anftellung aus
der Stadt führen follte, will ich Shre Enkelin im
Auge behalten.” Und Egon legte beieuernd jeine
NRehte auf die verfnöcherten Hände ber Krantlen.
„Aber wollen Sie die junge Frau nicht nod jehen?
Sch weiß, wie liebevoll Sie ihr alles Leid, das fie
Ihnen zufügte, vergeben haben.”
„3b möchte es wohl,” antwortete die Sterbende
finnend, während ein warmer Strahl über ihr blaljes
Sefiht glitt, „aber die Aufregung könnte ihr in
biefer Eritiihen Zeit fchaden. — Nein, nein,” fuhr
fie nad einer Pauje fort, „wir wollen auf das
MWiederjehen droben warten, aber bringen Sie ihr
meinen Segen — meinen wärmften Segen. — Sie
war mir immer eine gute Tochter, Gott wird ihr
ihren Fehltritt nicht anrehnen — fie war ja nur
eine Verführte —”
Die Frau Ichwieg erihöpft und jchloß die blinden
Augen. Egon erhob fich leile, da regte fich etwas
neben der Thür, Frau Profefjor Niederfterter war
eingetreten. Sie begrüßte Egon und beugte fich über
bie Kranke, die bei dem geringen Geräujch die Augen
wieder geöffnet hatte, obgleich fie nichts Jah.
„Wer ift da?“ fragte fie faum vernehmlidh.
„Shre alte Freundin,” antwortete die Dame und
ri üder die welle Wange der Sterbenden. „Ih
babe Ihr Vermächtnis an meinen Neffen gehört.
Seien Sie überzeugt, daß aud ih Alma nie verlafien
werde. ch babe fie zur Zeit aus meinem Haufe
verbannt, weil ich fein Ärgernis vor ber Welt geben
will und fie mid aud) nicht gebrau Unglüd:
liden wird mein Haus fiets @ und ic
werde ihr mit Rat und That PR
Roman von E. Karl.
340
Ein feliges Lächeln bHufchte über die Züge der
alten Frau. „Dank, Dank,” haudte fie, „jest kann
ih ruhig fterben.”
Frau Niederftetter entlorfte ein mitgebrachtes
Fläihchen, das Iingarwein enthielt, goß davon in ein
bejonders fonftruiertes Trintglas und führte es an
die Lippen der Kranken, die den Synhalt mit ficht:
lihem Behagen genoß. Dann z0g fie den Arm hinter
dem ftüßenden SKopflifien hervor und blidte teil-
nehmend in das flille Gefidt.
„Run aber jchlafen, liebe Frau, Sie haben fidh
aufgeregt und angefitrengt.”
„Sa, Ihlafen — Ichlafen — ” flüfterten bie
bleichen Lippen.
Die Beſucher verließen das kleine Zimmer. Von
der Thür aus blickten ſie noch einmal auf die blinde
Frau zurück, ſie wußten, daß ihre Augen ſie nicht
mehr ſehen würden.
Egon begleitete die Tante nach ihrer Wohnung,
aber ſie ſchwiegen beide.
„Kommſt Du nicht mit hinauf?“ fragte die
Dame freundlich, ale Egon fih an der Thür ver:
abj&ieden wollte; „Du warft jo lange nidht bei
ung.”
„Nein, Tante, ich kann nit — verzeih mir.”
Mitleidig blidte die alte Dame in das blafle
Gefiht des Neffen, jchwere Seelentämpfe hatten ihre
Spuren darin zurüdgelafen. „Armer Junge,“
ſprach ſie.
„Ja, Tante, arm, bettelarm und Du weißt nicht
einmal wie ſehr,“ brach es aus ſeiner tiefſten Seele.
Er küßte die Hand der alten Dame und ſtürzte die
Straße hinunter, während Frau Niederſtetter ihm tief
bekümmert nachblickte.
* *
*
Sn ihrer Wohnung angelommen, fand Frau
Nieberftetter ihren Gatten bereits auf dem freund:
lihen Balkon ihrer barrend, damit bejchäftigt, einige
junge Ranten wilden Weines am Geländer zu be
feftigen.. Er küßte fie, wie immer, berzlidh auf bie
Wange und fragte, wo fie gemwejen jet.
Sie erzählte von ber alten Xiedle, die wohl in
den ganz nädhlten Tagen einjchlafen würde, und fam
in der Ideenverbindung au auf Alma.
„Ih glaube auch,“ meinte der Profefior, „daß
die Herrlichkeit dort feine Dauer haben wird, aber
ih juhe den Grund nit in ber fehlenden gejeh-
liben Form ihrer Ehe, Tondern im Charalter des
Mannes.”
„Natürlich,” ftimmte die Frau lebhaft bei, „das
eine fchließt das andere nit aus. Im Grunde ift
der Charafter der Menichen ftets die Hauptfache.
Aber wie viele ganz tadellofe giebt es denn? ‚Wir
find allzumal Sünder‘ fteht in der Bibel und fie
bat hierin, wie in vielen anderen Dingen, redht. Wenn
alle Menjhhen ehrlich, aufrichtig und zuverläffig wären,
jo braudten wir auch feine gerichtlihen Verträge
und Abmadhungen, und do — wie würde es in
ber Welt ausjehen, wenn wir dieje aufheben wollten.”
„Du baft ja recht,” antwortete der Profeflor,
indem er die lete Rante befeftigte und ſich zu feiner
341 Ohne Gott.
Sattin in das laujhige Ehen feste, wo ein grünes
Laubgitter fie-den Bliden ber Nachbarn entzog.
„Aber hältft Du eine folde gewaltiam zujammen-
gehaltene Ehe für ein Slüd? Bei einem gerichtlichen
Vertrage handelt es fi doch meift um äußerliche
Dinge.“
„Ein Slüd — nein, aber in den meilten Fällen
für fein direktes Unglüd. Die Gewohnheit Hilft und
die “äußeren Verhältnifie Tönnen wenigftens einiger:
maßen befriedigende fein, wenn beibe Teile mit gutem
Willen das Shrige thun. Die Frau bat ihre ge:
fiherte Lebensftellung, der Mann eine geordnete
Häuslichkeit und die Kinder ein Elternhaus. Das
find Dinge, für die man jchon viel in den Kauf
nehmen fann. lberbaupt die Kinder — ‚ein Rif
zwiichen Eheleuten gebt immer mitten dur) das Herz
der Kinder‘, jagt Friedrich Spielbagen und er hat
recht. In all ben jhhönen Predigten über freie Liebe
und fo weiter wirb viel zu wenig an die Kinder und
ihre Herzensbebürfnifle gedacht.“
Der Profeflor blidte eine Weile finnend vor fi
hin. „Jh babe mir im ganzen über diefe Dinge,
die mir jehr fern liegen, wenig den Kopf zerbrodhen,”
fagte er dann, „daß im modernen Ehbeleben aber
vieles faul ift, fieht jeder, der nicht ganz hinter feinem
eigenen Zaun verichwindet.”
„Ja,“ rief die Frau, „faul, es ift vieles faul
in unjerer modernen Gefellichaft, aber es wird nirht
beffer werden, folange man fich gegen die eigentlichen
Urfacdhen des Leidens blind ftellt. Tinjere Gejellichaft
ift wie ein jchöner Garten, in dem die beiten Bäume
krank find. Aber anjtatt die immer noch lebens:
fräftigen auf vernünftigem Wege auszuheilen, fommen
nun die einen und wollen die Schäden verdeden,
indem fie die fahlen Äfte mit künſtlichen Blättern
umfleiben und Rinde über das faule Holz nageln.
Und die anderen, unjere Radilalen, rufen nad Art
und Säge, um alles dem Erdboden gleich zu machen.
Beides aber ift falih. Unter der Fünftlihen Ber:
dedung wudert der Krebsjhaden immer weiter, und
wollte man einfach alles abbauen — nun, da hätte
man ftatt des Gartens eine Steppe, in der bie
Menihen von der Sonne verjengt würden, ehe eine
nee Kultur ihnen notdürftigen Schatten gäbe.”
Der Profeflor hatte aufmerkfam augehört, während
feine Finger mit dem Garnknäuel feiner ftridenden
Gattin jpielten. Nun warf er dasfelbe in den Becher
zurüd und fragte nachdenllih: „Und hältit Du den
Krebsihaden der modernen Ehe für heilbar?”
„Gewiß,” rief die Frau lebhaft, „aber ich weiß
nicht, ob unfer Gejchleht jchon reif dazu ift, denn
nur wenige jehen die wahren Urjadyen ein. Sieh
Dir einmal eine recht glüdlihe, bis an ihr Ende
glüdlih bleibende Ehe an — es find ftets moralijche,
fittlih bochftehende Menichen, die fie führen. Wie
fieht es aber mit der Sittlichfeit in unjerer Gejell-
haft von body bis niebrig aus? Wie der größere
Teil unjerer männlichen Jugend lebt, darf ih Dir
wohl nit auseinanderjegen, je höher hinauf auf der
geſellſchaftlichen Stufenleiter, je tiefer hinein in bie
Goldregion, deſto ſchlimmer.
„Eine Ehe wird mehr aus äußeren Urſachen
Roman von E. Karl.
342
geſchloſſen und von Achtung vor ihrer Heiligkeit
findet ſich keine Spur. Der Mann hat nach wie
vor ſeine Liebſchaften, ſcheut ſich vielleicht nicht einmal
vor ſeinen erwachſenen Söhnen, die ſich ein Beiſpiel
an ihm nehmen, und die Frau verkümmert neben
ihm oder entſchädigt ſich auf andere Art, vielleicht
durch hohles Geſellſchaftsleben, wenn ſie ſich nicht
auh einen „Hausfreund‘ hält. Der Lurus fleigt
rapide auf allen Gebieten, das natürlie Einlommen
reiht nirgend mehr zur Gründung eines eigenen
Herdes bin, die ‚Zulage‘ ift unerläßlid. Alfo die
Folge? Zühtige, ebrenhafte Männer heiraten ohne
Neigung feichte, oberflähliche, vielleicht Tiederliche
Frauen, wenn fie nur Geld haben, und junge un:
Ihuldige Mädchen werfen fih ganz verlebten Roues
in die Arme, um eine glänzende Stellung in ber
Welt zu haben. Nachher giebt es unglüdliche, ober
wenigftens gleichgültige Ehen und häufig frante Nady:
kommenſchaft.“
„Du zeichneſt ſchwarz, Anna, es ſieht zum Glück
nicht überall ſo aus,“ warf der Profeſſor ein.
„Nein, nicht überall,“ beſtätigte die Frau,
„darum halte ich eine Beſſerung für möglich. Schafft
uns moraliſche Männer, die vor Sittenloſigkeit und
Ehebruch zurückſchrecken wie vor entehrendem Dieb⸗
ſtahl, ſchafft uns anſpruchloſe Frauen, die häusliches
Glück höher ſtellen als einen hohen Titel, und die
Zahl der glücklichen Ehen wird ſich heben. Und
wenn Ihr dann noch die Eheſcheidung erleichtert,
ſtatt ſie zu erſchweren, damit den Unglücklichen, die
fih in der Wahl ihrer Lebensgefährten täuſchten, eine
Bellerung ermöglicht wird — traurig bleibt ihr Nos
ohnehin — jo habt hr den Weg eingeihlagen, ber
nah und nad zum Heil führt. Die freie Liebe, ge:
jeglich eingeführt, macht dagegen die ganze Welt zu
einem großen Freudenhaufe.”
„Sb glaube, Du verlangft zu viel, Anna,”
wenbete der Profeflor ein, „Du fannft einen jungen
Mann und ein Mädchen nit in eine Reihe ftellen.”
„Das thue ih au nicht,“ eiferte die Frau,
„wenn junges heißes Blut einmal über die Schnur
ihlägt, bin ich die legte, e& zu verdammen, ich ziehe
nur gegen die gewohnbheitsmäßige Unfittlichleit zu
Felde, die den Grund zu unlagbarem Elend nad
allen Richtungen hin legt.”
„3 muß Dir im großen und ganzen recht
geben,“ pflichtete der Profefior bei, „doch würbeft Du
immer Ausnahmen zugeben müflen. Auch das aller:
vortrefflichite Moralgejeß bedingt immer einen gewiflen
Zwang, und es wird tet? Naturen geben, die fi
dagegen auflehnen.”
„Sewiß, Fricdrich, e& giebt und hat ftets Menjchen
gegeben, bie zu groß waren für die engen Gefete der
Turdjchnittswelt. Ste zerbraden fie und man ver:
gab es ihnen und wird es ihnen, um ihrer Größe
willen, ferner vergeben. Und es giebt und bat
Menichen gegeben, die diefe Gelege abſichtlich durch—
brachen, damit man fie für groß halten jollte Für
diefe wird man nur ein Wort des verächtlichen Mit:
leibs haben. Aber Gejeße aufheben oder ausnahms:
weife ihre Mbertretung entjchuldigen, ift Doch zweierlei.”
Frau Niederftetter hatte das Stridzeug aus der
343 Ohne Gott.
Gefiht. ZYhr Gatte betrachtete fie liebevoll von der
Seite, dann ftand er auf und [chloß fie liebevoll in
die Arme.
„Wie heiß Du Dich wieder geredet haft, Du
liebe Weltverbeflerin.”
Die alte Dame richtete fih auf, jchlang ihre
Hände zärtlid um das Fahl gewordene Haupt ihres
Mannes, jo zärtlich wie fie fie einft um das braune
Gelod des Bräutigams geichlungen hatte, und jah ihm
innig in das faltige Gefidht.
„Wenn man jo glüdlih ift wie ih, mein
Ftiebri, nun jchon volle fünfunddreißig Jahre, dann
wünfht man nod recht vielen ein jolcdes Glüd und
orämt fih, daß fie es fich jelbit zeritören.”
Der Vrofeffor jeßte fi wieder und z0g die
Gattin auf Sein Knie. „Wir bätten feine Trauung
gebraucht, Änncdhen,” fcherzte er, „unfere Ehe hätte
auch jo gehalten.”
„sa, fie hätte gehalten, mein Friedrih, uns
aber war es au von Anfang an heiliger Ernit mit
unferer Liebe und Ehe. ch denke mir, wer jo gar
arg gegen den Zwang eifert, will fi nur ein Hinter:
thürdhen zum Entwilchen offen lafljen, weil er fi)
jelbft nicht traut.”
Der Profeflor antwortete nicht, er ftreichelte und
füßte das liebe alte Gefiht der Gattin, als wären
die fünfundbreißig Jahre ein Traum gemefen und
er bielte die jugendlide Braut in den Armen. Sie
waren beibe zufammen alt geworden, aber ihre Herzen
waren jung geblieben.
Sm Zimmer tnarıte eine Thür. „Oroßmama,
Großpapa, “ rief eine frifhe Kinderftiimme, „wo jeid
r?“ —
und das alte Liebespaar ſprang in die Höhe,
als ſei es auf einem Unrecht ertappt.
XIII.
Zwei alte, lebensmüde Augen hatten ſich ge—
ſchloſſen — Frau Liedke war ſchlafen gegangen, aber
zwei junge hatten ſich dafür aufgethan und blickten
aus dem Geſichtchen ihrer Urenkelin. Alma hatte
ein Töchterchen.
Der Todesengel war hart an ihrem Lager
vorübergegangen, aber er war doch gegangen, ohne
ſie mitzunehmen, und nun ſaß ſie lächelnden An—
geſichts in der Sofaecke neben Schmieder und hielt
ihr Kindchen im Arm. Es war eine böſe, böſe Zeit
geweſen, die nun hinter ihr lag. Scenen wie die
am zweiten Weihnachtsfeiertage hatten ſich, wenn
auch nicht ganz ſo ſchlimm, noch öfter wiederholt.
Thereſe, die blonde Coupletſängerin, hatte ſich ganz
an ihr Haus attachiert, ſeitdem ſie, aus Furcht vor
Hans, ihr freundlich begegnet war. Alma aber war
vor Eiferſucht faſt vergangen.
Ihr Geſundheitszuſtand hatte ſich ſeit dem Januar
zwar ſehr gebeſſert, ihre äußere Erſcheinung ſich aber
von Woche zu Woche verſchlechtert und ſie hatte es
Roman von E. Karl.
Hand gelegt und ſtrich ſich nun über das erhitzte
344
nicht über ſich gewinnen können, ſo unter Menſchen zu
gehen. Mit faſt krankhafter Scheu verkroch ſie ſich
in ihrer dunklen, unfreundlichen Wohnung und brachte
Schmieder damit in Zorn. Er ſah die Beweggründe,
die ſie trieben, ſich vor den Augen ihrer Mitmenſchen
zu verſtecken, nicht ein und wollte ihre Geſellſchaft
nicht miſſen, wenn er Sonntags oder nach Feier⸗
abend ausging.
Zuweilen ſetzte er ſein Stück durch und ſie be—
gleitete ihn, um ſich in die dunkelſte, ſchlechteſte Ecke
des Saales oder Gartens zu ſetzen und durch eine
unnahbare Miene jede Annäherung ſeiner Genoſſen
abzuwehren. Noch öfter aber ging Schmieder allein
aus, nachdem es eine heftige Scene zwiſchen ihnen
gegeben hatte, ſuchte ſich dann andere Frauen auf,
und Alma, der ſolche Vorkommniſſe ſtets zugetragen
wurden, verzehrte ſich vor Eiferſucht. Sie machte
ihm keine Vorwürfe mehr, aber ſie ſprach oft in
elegiſchen Tönen von der Zeit, da eine andere,
Hübſchere und Geſündere an ihrer Stelle ſein würde
und machte ihn damit geradezu raſend.
Als aber ihre ſchwere Stunde kam, als er ſie
leiden und tagelang zwiſchen Leben und Tod ſchweben
ſah, war alle Unbill vergeſſen. Er rührte ſich nicht
von ihrem Schmerzenslager, küßte ihre Hände und
bat ſie himmelhoch, ihn nicht zu verlaſſen, als ob ſie
Herrin über Leben und Tod ſei.
Und wirklich ſchien das Bewußtſein ſeiner un⸗
verminderten Liebe ihre Lebenskraft anzufriſchen. Die
Gefahr ging vorüber, aber ein langes Siechtum
folgte und ſeine Geduld wurde wieder auf die Probe
geſtellt. Ein paar Wochen hielt er aus, als aber
vier ſeit der Geburt der Kleinen vergangen waren
und Alma immer noch vor Schwäche den größten
Teil des Tages auf dem Sofa lag und ihre Wirt-
Ihaft in Unordnung und Staub verfam, wurde es
ihm unbehaglih in feinem Haufe und er juchte das
Weite. Alma legte ihm nichts in ben Weg, fie quälte
ihn auch nicht mit Eiferfucht, Hatte er ihr doch in
ihrer Ichweren Krankheit feine LXiebe bemiejen, aber fie
bärmte und grämte fich heimlich über ihre Schwäche
und jchadete fi dadurd. Statt nach dem Wochenbett
blühender und jugendlicher zu erjcheinen, wie e8 bei
gejunden Frauen der Yal ift, blieb fie hager und
bleih und jah troß ihrer Jugend verblüht aus.
Nun war die Feine Hanna Ichon zwei Monate
alt, die Auguftionne Schien über leere Stoppelfelder und
die Großftadt begann fi wieder mit den Glüdlichen
zu füllen, denen ihre Verbältnifie eine ausgiebige
Sommerfriihe geftattet hatten. Schmieders gehörten
natürlich nicht zu diefen Bevorzugten, aber die Zeit
batte auch bier günftig gewirft, Alma war genefen
und ihre Wohnung zeigte wieder die gewohnte Ordnung
und Behaglichkeit; fie jelbft fand wenigftens ab und
zu etwas von ber Heiterkeit wieder, die in der erften
Zeit ihrer Verbindung Schmieder entzüdt hatte. Sie
war in ihrem Gemüt ruhiger geworden, ihr Hans
liebte, wie es jchien, die Tleine Hanna, das war ein
Band mehr zwilden ihnen.
(Sortjegung folgt.)
——>2><s>-+.+ —
Beiblatt der Deutihen Romanz-Zeitung.
346
Peiblatt der Dentihen Noman-Zeitung.
Sehnſucht.
So pochend mein Herz und ſo ſchweigend die Nacht; —
Die Sterne funkeln; hab einſam gewacht.
Noch gedacht und geſchrieben bei Lampenſchein,
Bis umflort ſich mein Auge. — Wo magſt Du ſein,
In den Rauch meiner Pfeife verweben ſich
Deine Züge, wie blaß doch! Was quälet Dich?
So jung noch, o Jugend, o Mondenſchein!
Längſt dahin meine Jugend! Wo magſt Du ſein, Du ſein?
Dumpf hallet vom Turme der Glockenſchlag.
In wenig Stunden ſchon wird es Tag. —
Ob wohl ein freundlicher Traum Dich wiegt ein
Und Dir mein Bild zeigt? Wo magſt Du ſein?
C(. Theodor 5chultz.
Du ſein?
Mann über Bord!
Bon Gswald FRergener.
Die Naht lag nody über der Stadt, den weiten Feldern
und der ftilen Mceresbudht, ala der Sonderzug den Bahn»
hof verlieh und fchnaubend und raffelnd dem Norden ent=
gegenrollte.
Zahlreihe Schlahtenbummler faßen, meift dicht gedrängt,
in den trüb erleuchteten Wagenabteilungen. Shr Ziel war
ba8 bevorftehende große Slottenmanöver zmwifchen ben nörb-
lihen Buchten und Inſeln.
In einem Coupe zweiter Klaffe jaß ganz allein ein
einzelner Herr. Er lehnte in den weichen Bolftern, hatte bie
Augen geichloffen und träumte. Von ber Dede fiel matter
Zampenihimmer auf fein fahles, jcharfgeichnittenes Geficht.
Selbft bei diefer vorfündfiutlichen Beleuchtung verrieten feine
Züge, dab er gewohnt jei, jeglicher Leidenichaft fi) gterig,
unerfättlic hinzugeben.
Er Shnardte. Das that er nun freilich nicht aus Leiben-
Ihaft. Aber felbft in dem Schnardhen lag etwas Satanifches.
Es hörte fid überaus rachgierig an, fein offener Mund
gähnte abgrundweit, ala wollte er allen Idealismus ver⸗
fhlingen und dafür fein materialiftifches Gift außfprigen.
Plöglih blieb er mitten im Schnardien jteden, die Me-
Iodie riß ab. Er jchredte empor, blinzelte mit den Augen
und wollte fie eben wieder jchließen, al8 e8 ihm plöglich
fhien, al8 hode vor ihm auf dem leeren Sit irgend ein
wunderliches Weſen, das feine Sorm noch Geftalt Hatte.
Er riß die Augen weit auf und ftierte das Etwas ver:
wundert an. Se länger er e3 multerte, deito mehr gewann
e8 beutlihe Geftalt. Und endlich mar das Ungetüm fir md
fertig, formte fidh nicht weiter um, fondern blieb wie e8 war
und glogte ihn trogig an.
Es hodte auf dem Polfter wie ein fheußlicher Stlumpen
— oben eine wilde Frage mit Bodähörnern und Ziegenbart,
in der Mitte wie ein ungeheurer, tätowierter Frojchleib, unten
mit einem Schwanz wie ein Affe und mit Taken wie ein
audgewachfener Jaguar, dazu trug es in ben Spinnenfingern
des rechten Armes eine mächtige, halbverkohlte Fadel —
furzum ein Wefen, fheublich genug, den mwiütendften Natura:
Tiften in Entzüden zu ftürzen.
Indeſſen überlief den einfamen Neifenden doch etwas
wie eine Gänfehaut. Er faßte nad) feiner Brufttafhe — der
Nevolver war noh ba. Und mit neu auffladerndem Mut
fragte er ben abjcheulichen Neifegefährten:
„He Wer bift Du?“
E3 erhob fih in dem Frofhbaud ein Naffeln wie in
einer eingerofteten Uhr, der man neue Gewichte anhängt, und
nad) diefer Ouvertüre fprad) das Ungetüm:
„Sch bin Dein böfes Gewiſſen.“
E83 Hang wie ber Hahnenkraht bei Beginn des jüngften
Geriht8 — der Unhold ging offenbar darauf aus, den ein-
famen Reijenden zum Graufen zu bringen. Sobald er fchiwieg,
flang e3 au feinem Bauche wie das unterirdifche Hilferufen
eines eingefperrten 11Huß.
„Mein böfes Gemiflen?“
Der Herr — er hieß übrigens Brandwolf — fühlte ein
heftiges Drüden an ber Kehle. Er fchludte ein paarmal,
dann ermannte er fi, lachte und fprad:
„Da id) fein böfes Gewiſſen babe, maßeft Du Dir ent:
weder einen falfhen Nanıen an — oder Du bift überhaupt
nur ein Phantom. Fort mit Dir!“
Er flug mit der Fauft nad) dem Ungetüm. Aber fo:
bald er e8 berührte, prallte er wie von einem Gummilifien
zurüd, e8 überlief ihn ein eisfalter Schauer, und bod) meinte
er fih die Finger verbrannt zu haben. Gr fant wieder a"
feine Polfter hinein.
„Der Name thut nichtE zur Sache,“ näfelte dag Säeufal,
„nenne mich meinethalben Lämmchen —“
„Du wärſt mir ein nettes Lämmchen. Eher ſcheinſt Du
mir ein Wolf, nicht in Schafskleidern, aber in einem aus
allen möglichen Tierbehauſungen zuſammengeſtohlenen
Proletarierhabit —“
„Proletarier! Gut, daß Du das Wort gebrauchſt! Be⸗
trachten wir uns einmal die Landſchaft draußen. Das
Morgengrauen ſickert durch die dicken Septembernebel.
Siehſt Du's?“
„Daran iſt nicht viel zu ſehen — öd und langweilig
genug!“
„Schau näher hin! Es iſt vielleicht doch ganz intereſſant.“
Unheimlich erwachte wieder das unterirdiſche Uhugelächter:
Hilfe! Hilfe! Brandwolf ſchielte mit unangenehmen Empfin⸗
dungen nach dem buntſcheckigen Froſchbanch. Dann ſtarrte
er in die weißgrauen Morgennebel hinaus.
Es regte ſich dort. Es ſchien ſich eine lange, breite, mit
hohen Häuſern beſetzte Straße zu öffnen, es begannen ſich
menſchliche Geſtalten abzuheben, es entwickelte ſich ein groß⸗
ſtädtiſches, aufgeregtes Leben mit Pferdebahnen, Droſchken,
Omnibusgeſpannen, Dienſtleuten, Juden und anderen
Menſchen, auch Litfaßſäulen — und in Windeseile jagten
die Bilder neben dem raſſelnden Zuge her.
Auf einmal fuhren die Nebel wild durcheinander,
Männer und Weiber, teils lumpige Proletarier, teils Arbeiter⸗
geſtalten in anſtändigem Kittel — ſie fuchtelten und ſchrieen
durcheinander wie Beſeſſene, ſchwenkten rote Fahnen und
tranken unmäßig viel Branntwein.
347 Beiblatt der Deutfhen Roman-Zeitung. 3418
Der IInhold wies mit der [hwarzgefohlten Fadel hinaus.
„Dein Werk!” fpradh er mit fröftelnerregendem Hohn.
Man jah die Aufgeregten die wenigen Grofchen, bie fie
in ihren Tafchen fanden, in einen ungeheueren Xopf
ichleudern. Darauf fam ein einzelner Mann, fie Ichrieen
ihn alle in wahnfinnigem Eifer gu wie bie blöden Heiden
ihrem Götenpriefter, und jahen mit Wonnegeheul, wie er
den Inhalt des Topfes in feine unermeßlichen Tafchen füllte.
„Sol ich diefem Bilde eine Iinterjchrift geben?* höhnte
das hodende Scheufal, und nad) einem UhusSintermezzo Frähte
es: „Die Unterfchrift lautete: Hier ftenert der vierte Stand
in die foctaldemofratifhe Ortöfaffe — dort nähert fidh der
gefeierte Agitator und holt fih ein Sümmcdhen zum Wohl«
leben, insbejondere für eine Fahrkarte zweiter Slaffe.
Tableau? Nicht wahr?“
„Was joll der Zauber?“
Brandwolf ſuchte möglichſt barfch zu fein.
„Nur zu Deiner Ergökung, mein Lieber,” war bie
Antwort, „auf der langweiligen Yahrt — in der zweiten
Stlaffe! Du Haft dody au Bein Billet fiher in der Talche,
ehrmwürdiger Socialiftenführer? — Es hängt viel Schweiß
daran, Schweiß und Thränen armer Mütter — biele
Thränen!“
„Schweig, Du Unhold!*
„But, id) Scyweige — aber die Nebel werden reben!“
Stumm wieß er wieder zum Yenfter hinaus. |
Man jah die eleganten Läden der Großftabt, die Schaus
fenfter mit ben unzähligen Modewaren und anderen Dingen,
an denen fo mandes arme Mädchen, jo manches müde
Mütterhen mit heißen Augen gearbeitet und geftichelt, an
denen fo manche gefchicfte Arbeiterfauft ihre Kunft bewwiefen
und Wocenlohn auf Wochenlohn verdient hatte — unzählige
Begenftände, die burd) das eifrige Schaffen unzähliger Hände,
das Prüfen und Überlegen unzähliger Köpfe, das fcdarfe
Sehen und Unterjudhen unzähliger Augen geadelt, geheiligt
waren.
Ein mwüfter Pöbelhaufe brad in die Läden hinein, jchrie,
zeritörte, raubte, plünbderte, vermüftete in Blödwahn das
Selbitgeihaffene, die Yrucht der eigenen Arbeit — rubige
Fabritgejellen fuchten wie in Tobanfällen die eifernen Ofen
zu zerichlagen, deren Eunftboll verzierte Platten fie jelbft mit,
bielleicht unbewußter, Freude an ben fchönen Figuren gegoffen
hatten.
„Ein läcerliches Bild!“ Trächzte ber Unhold; „unter-
Ichreiben wir e8: Das Volk, von feinem Führer zum Streit,
zum Aufruhr geheßt, trifft mit feiner wahnfinnigen Wut
sicht die, die e8 treffen will — — «8 Ichlägt fich Telbit!“
„Wie ergöglich!“ höhnte er weiter, „das raft und wütet
gegen fich jelbft, ald würbe e& dafür bezahlt. Siehft Du —
Dich felbft dort hinten — in dem behagliden Zimmer, im
Fauteuil, hinter verfchloffener Thür? Du Taufceft dem Auf:
ruhr in den Straßen. Vor Tir auf dem Tiih blinkt der
Nevolver. Wenn fie auch in Dein Tuaculum dringen und
von Tir begehren, daß Du mit ihnen thuft, daß Du Dein
Gold unter fie fchleuderft, damit fie ihre Kupferpfennige
wieder herausflauben, fo wirft Du fie nieberfchießen wie tolle
Hunde. Hihi! Ein vortreffliher Gedante!“
„Schweig, entſetzliche Kreatur!“
Wütend riß Brandwolf ſeinen Revolver aus der Taſche.
„Steck ein!“ hohnlächelte das Vis.à-vis; „ich bin feiner
von den Unglücklichen, die Du wie eine Hammelherde haſt
in den Abgrund ſpringen laſſen.“
Eine unheimliche Stille trat ein. Draußen kochte und
gärte es weiter im Nebel. Zahlloſe Arbeiterſtuben öffneten
fich, überall ſchmachteten die Familien der Streikenden im
Elend. Die alte ſterbenskranke Großmutter verlangte nach
der ſchmerzenlindernden Medizin; aber nicht ein Pfennig mehr
da, der Alten zu helfen. Schluchzend lag ihre Tochter, die
Arbeiterfrau, auf den Knieen an dem Bette. Sie ſieht ihr
Mütterchen dahinſterben, ohne Hilfe und Rettung — —
Hungernde Kinder — —!
„Natürlich — hungernde Kinder!“ ſprach das gräßliche
Ungetüm; „was iſt an hungernden Kindern gelegen? Man
lieſt davon in jedem modernen Roman — aber von all den
Romanen werden die Kinder nicht ſatt. Und am Ende iſt
es nicht einmal ſo ſchlimm, wenn die kleinen Bälger ſchon
jetzt langſam verhungern. So werden ſie nicht hochwachſen
in dem wüſten Materialismus, in dem alles Heilige be—⸗
geifernden Irrwahn ſocialer Propheten. Sieh, Du braver,
ehrenwerter Socialiſtenführer, Deine That bringt Segen über
Segen! Sie ſterben alle hin wie die Fliegen — dadurch
entziehſt Du Dir ſelbſt die Rekruten für Deine zukünftigen
Revolutionsheere!
„Haſt Du Deine Fahrkarte zweiter Klaſſe auch feſt?
Dieſer Sonderzug führt leider nicht die Dir mehr zuſagende erſte
Klaſſe!“ höhnte es weiter, und Uhugeſchrei erwachte drohend
in allen Wagenecken — haarſträubend! Schaudernd duckte
ſich Brandwolf in die Polſter.
Der Unhold ſchwenkte wie ein Kapellmeiſter leicht mit
der Fackel! Sogleich wieder Totenſtille! Draußen ein neues
Bild!
Polizeimacht, von Militär unterſtützt, ſuchte die wüſten
Horden von dem Schauplatz ihrer ſocialiſtiſchen Weltver⸗
beſſerungsverſuche, aus den zerſplitterten Ladenfenſtern, aus
den mit Schmutz beſudelten Kirchen hinauszutreiben.
„Die Beſtie wehrt ſich!“ grinſte das hockende Ungetüm,
„ſie ſpringt dem Poliziſten an die Kehle, ſie reißt ihm Augen
und Stirnhaut herunter — der Infanteriſt ſticht der Beſtie
das Bajonett in die Bruſt! Nur zwei Menſchenleben!
Warum? Das kümmert Dich nicht, mein lieber Freund!
Wenn Du nur zweiter Klaſſe durch die Welt reiſen kannſt,
ſo mögen die, denen Du mit Deinen Hetzreden die Groſchen
für Dein Billet entlockt haſt, vierter Klaſſe zur Hölle fahren!
Was kümmert's Dich? Jedem Hänschen ſein Schwänzchen!
Mach Dir das nur klar: von den Verſammlungsabenden her,
wo Du Dich mit dem armen Teufel verbrüderteſt, biſt Du
nur ſcheinbar mit ihm Arm in Arm einem wüſten Ideal
nachgetaumelt. In Wahrheit gingen von dem Tage an, wo
ſie Deinen Ideen verfielen, Eure Wege diametral ausein⸗
ander: der arme Teufel ſtieg in das Unglück des Ausſtandes
hinunter, Du in ein ſelbſtherrliches Wohlleben hinauf!
Hihihi! Juhu! Hilfe! Hilfe! Eine wunderſchöne Fahrt im
Morgennebel, zum Flottenmanöver! Wirklich, ich freue mich,
mit Dir zu reiſen!
„Aber ſieh, es wird heller! Oben auf den Nebelwolken
zeigt ſich ein Roſenſchimmer! Wird Dir nicht unheimlich,
Du lieblicher Sohn der Nacht?“
Das Scheuſal firedte langfam eine Hintertage vor, als
mollte 8 nad) feinem Opfer greifen. Wild fchrie eg auf:
„Feuer! Morbio! Du brennft!“
E3 padte die erlofhene Fadel fefter, und raffelnd fuhren
bie erften Hiebe nieder auf das Haupt des Üüberraſchten.
Schauernd vor Schreden riß er zum zweiten Mal ben Re
bolver heraus, zielte und f[hoß. Aber bie Kugeln prallten
349
ab von dem entjeglichen Froichleib. Schuß auf Schuß folgte,
jeder beantwortet von einem jchauerlihen „Juhu!“ Aber
ale die Kugeln schlugen zurüd und fauften ihm jelbft um
die Ohren.
Nun ftürzte fi) da3 Greuel wütend über ihn her und
bearbeitete ihn mit der Fadel, bi8 Funken umbherjprühten.
Entjegt prang der Gepeinigte in dem Waggon umher, die
Beftie ja ihm im Naden wie ein oder) und frallte ihn,
daß er aufichrie vor Graufen.
Endlih die Station! Er ftürzte auf ben Bahniteig
hinaus, er floh dur die Menge, durd) die Straßen, Hinunter
zum Wafler, zum Lanbungsplag, dort wo die Dampfer lagen,
wo die Menfchenmenge hin und her wogte und drängte und
Ihob, um eine Fahrgelegenheit zu erwijchen hinaus in das
offene Meer zum Flottenmandver, zum Kaifermanöver.
Mit gräßlichem Hihihi heute ihn das böje Gemiffen
borwärtd, al® märe er ein Gaul auf der Nennbahn. Er
erregte Wut und zornige Püffe bei den Menjchen, die er zur
Ceite ftieß, um an ben Billetihalter zu gelangen.
Endlid war er im Befig des Scheines.
„Sabre Du nur erfte Stajüte!* heulte ihm das Sceufal
in die Ohren; „jo wirft Du die entjeglichen, thränentriefenden
Sparpfennige armer Leute fchneller los!“
Er ftürzte auf Ded. Er floh in die ftajüte hinunter —
und raftloß hegend jaß der entjegliche Sodey in feinem Naden.
AL dann der dumpfe Pfiff des Dampfers eriholl, als
die Wogen aufraufhten wie ein gewaltiam geöffnetes Bud),
als da Schiff in die dicken Nebel Hinausftenerte, da fuhr es
um ihn her wie ein rajender Sturmwind. Aus dem uner-
ihöpflidyen Meeresdunft geboren, jtürzten alle die weinenden
Mütter, die Hagenden Kinder, bie fluchenden Väter auf ihn
ein wie die wilde Jagd in den Nactichaucen des Harzes,
und taufend Fäujte ftrecten fih nad ihm aus, ihm Leib und
Seele zu zerfegen.
Graujen und Entjegen trieb ihn von einem Bord zum
andern. Weit drüben im Nebelihoß erwadhte dad Gehen!
der Torpebofignale — ihm war e8 das Gehen! feiner un:
glüdlichen, verhegten Opfer.
Mit rajendem Ingrimm ftürgte ihm von neuem ber Un
hold in den Naden. Er fühlte die entjeglichen Strallen und
Spinnenfinger, die fcheußlihe Kälte des Frofchleibes, er
hörte da8 marferjchütternde: Hilfe! Hilfe! — er fühlte bie
rafjelnden Hiebe der zerfplitterten Yadel, Funken umftoben
ihn, plößlich zucte e8 um ihn auf wie Flammen — „Feuer!
Tener!” fchrie er in feinem Wahnfinn, und: „Feuer! Mordio!“
heulte der lUinhold in zweiter Stimme. Gr erhob ein Ge-
Ichrei, alß fühle er fih jchon zerriffen von den taujend
fnöchernen Armen. Das Feuer lief an feinem Leibe entlang,
Tlamımen fauften um ihn empor, die Verzweiflung ftieß ihn
bin und her, er wollte fi auf das Badbordgeländer
ihwingen — —
Blöglih Fühlte er eine Schwere Fauft in feinem Naden —
der Wahnfinnige jollte dingfeft gemacht werben. Aber ihm
jdien e3, ald Elammere das lIngeliim feine Tagen um feinen
Hals, um ihn zu erdroffeln — — er ſah die knochigen Fäuſte
der Schredgeipenfter nach ihm langen, er fühlte fid) gepadt,
gezerrt an Haaren und Händen — — —
Da mit einem gellenden Aufjchrei ftürzte er über Bord,
in die Ece. Auf fpriste die Flut, zornig, wild fchaudernd
über den unmillfommenen Gaft, und mit gräßlichem „Suhu!“
und Siegesgeheul tauchte ihm der Kobold nad) in den Meeres:
ſchoß
— — —
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗-Zeitung.
350
Weiter ſchoß das Schiff. Der Nebel riß auseinander
wie ein gewaltiger Vorhang. Auf einen Zauberſchlag öffnete
ſich die Weite, rechts und links bäumten ſich die Dünſte
zur Seite, der bewundernde Blick floh über das blaue
plätſchernde Meer weit hinaus zu der ſtolzen Linie der
Kriegsſchiffe, der trotzigen Repräſentanten der Staatsgewalt.
Und oben herein, von dem entzückend blauen Himmel,
lachte die goldene Morgenſonne herab auf die hoffnungs—
freudige Menſchenmenge.
Roſenlieder.
J.
Das war die Zeit der Roſenpracht,
Verwelkt ſind die duftenden Blüten,
Verweht iſt Johannis Zaubernacht,
Erloſchen die Glut, die ſo heiß entfacht,
O Herz, Du thatſt Dich nicht hüten!
Dir blieb jetzt ein heißes Sehnen zurück,
Wie willſt Du die Flamme kühlen,
Entbehrſt Du das wonnige, ſelige Glück:
Den Schlag ihres Herzens, den ſüßen Blick
Und Lippe auf Lippe zu fühlen?
Nun ſpinne Dich wieder in Trauern ein,
Dein Roſentraum nahm ein Ende,
Du thörichtes Herz, o merke Dir fein:
Es blühen die holdeſten Röſelein
Zur Sommerſonnenwende.
2.
Wohl bin ich wieder am trauten Ort,
Dod die Nojen find hin, der Sommer tft fort,
Die Schwalbe breitet jhon ihre Flügel
Zum legten Zug über Thal und Hügel,
Der Sonne jcheidender Abendglanz
Schmüdt goldig verflärend der Höhen Kranz.
Dur meine Seele ein Weinen geht:
D Sommer, o Nofen, wie jeid hr vermeht.
A. M.
Ihr Ideal.
Eine moderne Ehegeſchichte von Georg A. Albert.
I;
Er ftand allein in der Welt und befaß nichts, was er
hätte lieben können. ls eine Waife hatten fie ihn auf
Stoften der Gemeinde erzogen, fireng, nachfiht3lo8, nad) jener
erzieheriichen Methode, die die frühe Jugend unter einem
harten Zwange hält, damit das auffirebende, wuchernde Vöfe
im Stinderherzen von vornherein im Steime erftictt werbe.
63 war eine jchlimme Zeit, die er in jenem Haufe ver-
bradte — eine Zeit der ftummen Thränen und ftillen Sehn:
jucht nad) einem warmblidenden Auge und fühlenden Herzen,
wie e8 jene arme Frau für ihn hatte, der er einft mit
jtammtelndem, jauchzendem Munde das heilige Wort: Mutter!
entgegenrief.
Dann gab man ihn in die Lehre mit der Schuld:
„Der Gemeinde, dem Staate Dadurd zu danken, daß er
ein braver, tüchtiger, nüßlidyer Bürger würde,“ wie der
Waifenvater in feiner Entlafjınigsrede an die in die Welt
eintretenden gefirmelten Zöglinge der Anftalt betonte.
351
So trat er ind Leben — und die Arbeit wurbe ihm
alles: jeine Liebe, fein Ehrgeiz, feine Befriedigung. Er
Ihuf an fid) rafilos, mit verjtedter Energie, ohne Erregung
und Haft, ganz in ber Ieidenjchafslofen Ergebenheit feiner
Ssugend, der der Schorfam und die Pflicht über alles geftellt
wurde. Sa, er fjchuldete die rajtlofe Arbeit fich felbft und
der Menfchheit, die ihn als ein zulünftiges gemeinnügiges
Mitglied erhalten wollte. ind fern — ganz fern blintten
ihm ftille, trauerndbe Stinderaugen entgegen — ftredten fich
Hände nad ihm, die von frühem Schaffen raub und rijfig
geworden, gleih den feinen — drängten fid) vereinjamte,
frierende Herzen nad) einem Sonnenftrahle echter Liebe. DO,
er hatte fie hin'hwinden fehen, Tosgelöft vom warnıquellenden
Born der elterlichen Sorge und Zärtlichkeit, eingepfercht in
bie leblojen, ftarren Lehrfäge einer falten Theorie, wie bie
Blume, ber der erquicende Regen fehlt. Die Heinen Gräber
drängten fi oft nädtlid vor fein innere Auge und ber
Klagegefang aus Kindermunde ftieg auf zum Himmel, zum
wahren Vater aller Waifen, den man fie lieben gelehrt hatte,
und den fie mit jener zitiernden Furt und Scheu begriffen,
wie jemen, der ihnen für diefe Welt als ftrenger Nichter ges
fegt war.
Ein einfacher Arbeiter follte und wollte er nur werden.
Aber die in ihm fchlummernde, unabläffig herporbredhende,
bon ihm jelbft nicht beachtete, nur halb verftandene Begabung
machte ihn zum Künftler. Erft der Zufall fandte ihm An
erfennung und Hilfe für feine Talente. Sie hob ihn aus
der Handlangerfchaft heraus zur Höhe geiltiger Sclöftändig-
feit, fie gab ihm eine neue gefellichaftliche Bedeutung. Dod)
im Grunde feines verichlichterten Wefens wurzelie die Be-
ſcheidenheit.
So kam er zu jenem Mann, deſſen Vertretung in den
Geſchäften er übernommen hatte, und der ſeine wirtſchaftliche
Rettung ihm, als einer bekannten, hervorragenden Kraft,
vertrauensvoll in die Hände legte. Es gelang ihm. Die
gleichmäßige Stetigkeit ſeines Weſens, unbeirrt von Außen⸗
dingen, wurde zu ſtarken Pfeilern für ein erſchüttertes Haus.
Und mit der Achtung und Dankbarkeit für ſein treues, ſelbſt⸗
loſes Schaffen widmete ihm der kränkliche Chef ſeine Freund⸗
ſchaft. Dann ſprach er von ſeinem Kinde, das er an einer
ſolchen ſtarken Bruſt geborgen wiſſe — daß er ihn von Herzen
„Sohn“ nennen möchte.
Der ehemalige arme Waiſenknabe zitterte vor dieſer
Idee. Ihm ſchwebte die hohe, majeſtätiſche Geſtalt jenes
Mädchens vor, das der alte Herr „Tochter“ nannte, und
deſſen Würde und Vornehmheit ihn in reſpektvoller Ferne ge⸗
halten hatten.
„Ihre Teilnahme für mich geht zu weit —“ brachte der
Vertreter mit ſtillem Aufblick zum Chef mühſam hervor.
„Ich kann Ihnen wohl ein Mitarbeiter, aber nicht mehr ſein.“
„Nicht mein Freund?“ fragte der alte Herr aus ſeinem
Lehnſtuhl lächelnd herüber. „Und Sie waren doch mein
Retter, Guſtav — und können mein Freund nicht ſein?“
Der junge Mann blickte zu Boden.
„Sie haben ſich nicht allein meine Dankbarkeit, ſondern
auch meine Liebe erworben,“ fuhr er fort. „Ich trage Ihnen
das Beſte an, was ich beſitze — mein Kind — und es iſt
nicht nur der dankbare, ſondern zugleich auch der beſorgte
Vater, der zu Ihnen fpriht. — Sehen Sie, Guftav, als ich
Sie für mein wanlendes Haus anwarb, follten Sie mir eine
bezahlte Kraft fein — wir hatten feine anderen Beziehungen
im Leben. Mein Nugen und der Ihre waren die Motive.
Beiblatt ber Deutihen Noman-Zeitung.
332
Und aud) jegt, diejen Augenblid bin ich nicht frei von felbit:
füchtiger Berechnung: Id) will Ste mir bauernd erhalten, weil
ih weiß, daß die Laft der Gefchäfte, welche jett auf Ihren
Schultern ruht, weder[von mir noch bon einem anderen mit
gleihem Erfolge aufgenommen werben fann. Und um Sie
mir dauernd zu erhalten, möchte ich in Ihnen meinen einftigen
Eohn und Nachfolger fehen.”
„Sch werde Sie au ohne das nicht verlaffen, Herr
Edard,“ verfegte Guftan feit.
Der leidende Chef neigte ein wenig das Hanpt.
„Und wenn ich nicht mehr bin?“ fragte er leife und blidie
unfier vor fid) hin. „ER geht mit NRiefenfchritten abwärts,
mein Freund — nur kurze Zeit bleibt mir no — id) möchte
ruhig fterben können — und Ihnen diefe Ruhe zu danken
haben.“
„Herr Edard!“ rief der Vertreter mit gebämpfter, bebender
Stimme.
„Kommen Sie hierher," bat der Kranke mit einladender
Handbewegung auf das ihm näher ftehende Sofa weijend.
Der junge Mann gehordhte jchweigend.
„Ih habe in diefer Welt von Selbjtfudyt nur wenige jo
felbftlofe, gute Menfchen Eennen gelernt wie Cie,” fagte er,
„niemals eine jo beicheidene, verläßlide Natur wie Sie. E8
ift der einzige Vorwurf, den id) Ihnen zu maden habe. —
Tiefe Beicheidenheit Hat Sie hre ganze wertvolle Perjon
unterfhägen laffen. Sie wien, wer ich war, al& Sie famen
— und ©ie mwifjen, wer ich jest bin, da Sie feit fünf Jahren
bei mir find. Sch habe Ihnen alles zu danken — ohne Ihnen
den Anteil gegeben zu haben, den Sie gerechter und Eluger:
weife zu fordern hätten. Ich ftehe tief in Shrer Schuld,
Buftan. — E8 ift fo!“ beftätigte er, dem ihn mit einer Ab-
lehnung Unterbrechenden die Hand auf den Arm legend.
„Nun aber ftehe ih vor der Abrechnung — und id
frage Sie nochmald: wollen Sie mein Tochtermann werden?
Ich will Ihr Schidjal und das meines indes beftimmend
feftlegen, weil ich weiß, daß für Sie und mich und Alice
nicht befjer geforgt werden fan. Mit meinem Kinde zugleid)
will ich Ihnen mein ganzes Erbe übergeben. — Wollen Sie,
lieber Guftav?“
Die Bruft des jungen Manıtes hob und fenkte fidy wie
unter ftarfem Drud. Er blickte Fämpfend, bedrüdt und ver-
Ioren vor fi hin. Eine tiefe Nöte verbreitete fi) über feine
Wangen, ald er erwiderte:
„Ste Iprechen In Ihrer Güte fo beftimmt, daß ich glauben
muß, gegen alle eigene Einfidyt und nie gewagte Hoffnung:
Shrem Fräulein Tochter wäre ich einigermaßen ein Gegen
ſtand des Intereſſes?“
Der alte Herr begegnete dem zögernd und verſchleiert
auf ſich gerichteten Blicke ſeines Vertreters mit Lächeln.
„Davon hatten Sie keine Ahnung?“ fragte er wie
neckiſch, doch nicht ganz ſicher.
„In der That — nein,“ ſtammelte der junge Mann
unter neuem, faſſungsloſem Erröten. „Ich meinte — ich
glaubte bemerkt zu haben — —“
„Daß ein anderer ein Anrecht auf ihr Herz hätte?“
vollendete der Chef den beſcheiden und zart gegebenen Ein⸗
wurf. „Das iſt geweſen, lieber Guſtav! Alice träumte
einmal — wie junge Leute wohl thun — dem Ernſte gegen—
über hat dieſe leichte Neigung nicht Stich gehalten. Sie
legen doch darauf kein Gewicht — auf eine harmloſe Epiſode,
deren Ende über ein Jahr zurückdatiert?“
Guſtav ſchüttelte den Kopf.
353
„Sp werde ich Alice rufen laffen, damit Sie eine gegen
feitige nötige Ausfpradje finden,“ meinte der Yabrikherr und
erhob fih mühjam.
Der junge Mann hielt ihn indes zurüd.
„Sch bitte Sie, erlafien Sie mir für diefen Augenblid
die Begegnung,” bat er unruhig. „Diefe unerhoffte Eröffnung
findet mid) nicht genügend vorbereitet — id) bin etwas vers
wirt —“
„Sp gehen Sie nur, lieber Sohn,“ veriegte Herr Edard,
thm liebıvoll beide Hände auf die breiten Schultern legend.
„Sie werden fid) jeßt audy ohne mein Hinzuthun beide zuredht-
finden. — Uber Ste können mir doch die beruhigende Ver:
fiherung geben, daß mein Antrag bei Ihnen nicht auf eine
ausgeiprochene Abneigung ftößt?* feßte er ernft und mit leifer
Beforgniz Hinzu.
„sch bin Shnen und Ihrem Yräulein Tochter von ganzem
Herzen ergeben,“ meinte ber junge Mann bewegt und drüdte
dankbar die ihm dargereichten Hände des alten Herrn. „Ste
ahnen nicht — Ic habe noch nicht gelernt, ein unerwartetes
Glük zu verftehen.“
Damit verlich er in einer Art von Taumel das Zimmer.
Zunädft feines beitinnmten Gedankens fähig, fucdhte er
fein einfaches Heim auf. Hier überließ er fi einer ihm
ganz neuen Empfindung, die dur die Entdedung wach ges
rufen war, daß die ftolze Tochter feines Chefs ihn mit mehr
als einem gewöhnlichen fühlen Sntereffe betrachte, und Die
in ihm nun mächtig zu wacdjien begann. E83 war mehr ein
Schreden ala ein Triumph, ber fein Herz erbeben ließ. Er
ftand vor der Thatfahe, daß ein Weib feine Huldigungen
anzunehmen bereit war — ein Weib, wie dDiefes, deifen äußere
und innere Eigenfhaften ihn jo weit von ihm entfernten, daß
er nur mit einer gewifjen jcheuen Achtung und Verehrung zu
ihr aufzubliden wagte. Denn bei aller Selbftändigfeit und
Abgeichlofienheit feines Wejenz fühlte er in fidy die Unfrei⸗
heit eines in der früheiten Jugend verichüchterten 3chs, bas
fi zu felbftfüchtigen Wünfchen nur mit Überwindung viel-
feitiger VBedenten zu erheben vermochte. Für das Snterefie
des Nächten dagegen hatte er, mit bem Verzicht auf alle
eigenen Vorteile, den Einjag feiner ganzen Kraft. Die Tochter
feines Chef8 gehörte zu jenen Naturen, die er im Willen und
Handeln als ihm überlegen ihägte. Er hatte nie den An-
fprudy erhoben, daß fie in ihm eine jener geiftigen Autoritäten
anerfenne, vor denen fie fi) beugte. Und er meinte in der
That darin richtig zu fühlen, wenn er fi jagte: ihre fühne
Geele erhebt fidy Himmelhoch über die Alltäglichfeit, der ich
mein Nachdenken und meine Kräfte weihe; ihr idealer Flug
überfieht mich auf diejer Erde. Diejes Vorreht war ihr als
Weib wohl gegeben — wie er denn ihrem Geichlechte über»
haupt eine hohe Stellung zuerfannte.
Segt nun — durd jene Eröffnung ihres Vater — deren
jeltfjame Korm ihm Feine Bedenken einflößte, fah er in
näcdfte Nähe gerüdt fie, die er fo weit von fi entfernt
wähnte. Und Schauer und Bangigfeit beihlicdhen ihn neben
dem fühlbar jchnellen Auflfeimen eines ehemals Ichlummernden
Samentornes, da3 die fi zwijchen ihnen beiden außbreitende
Unmöglichkeit einer intimeren Beziehung zu einander ohne bes
frudtenden Regen gelajien Hatte. Das Bewußtlein des
Slüdes jhlug in ihm mädtig Wurzel, In der natürlichen
Betradhtungsmweije feines einfachen Weiens grübelte er nicht
biel dem Urfprung ihrer Neigung zu ihm nad). Vie feine —
das wußte er — war al8bald nad ihrer erften Begegnung
faft unbewußt und ununterfucht als eine Thorheit begraben
RomansZeitung 1896.
Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung.
354
worden. Sie wurde nun wieder eriwedt burch den Zauber
der Liebe und fein Gemüt umfing da8 Weib in ihr mit
Innigkeit und ſtiller Inbrunſt.
Aber als er ihrer Perſon gegenüberſtand, drückte ihn die
Hoheit ihres Weſens in ſeine Nichtigkeit zurück und er fand
nicht den Mut, in der ſtolzen, geiſtreichen Schönheit die Ge⸗
liebte ſeines geraden, warmquellenden Herzens zu ſuchen.
Er empfand das mit leiſem Schmerz — doch mußte er ihrer
Eigenart das Lebensrecht zugeſtehen. Ihr konnte er nicht
zürnen, wohl aber ſeiner inneren Unfreiheit, die ihn hinderte,
im kühnen Anlauf von dem Glücke, das ſie ihm durch das
Geſchenk ihrer Hand verhieß, Beſitz zu nehmen.
Endlich gewann er es doch über ſich, ihr von ſeiner
Neigung zu ſprechen.
„Ich ſage nicht nein,“ erwiderte ſie, ſein Geſtändnis wie
eine erwartete und gewohnte Huldigung entgegennehmend.
„Ich ſage aber auch nicht ja. — Hören Sie mich aufmerkſam
an,” fuhr fie, ihm gleichmätig ins Auge blidend, fort: „Ihre
Gefühle für mid ehren mid — benn Sie find ein durdaus
achtendwerter Mann. Mein Vater Ihägt Ste über alleg —
ih jchulde Ihnen mit meinem Vater zugleich Dankbarkeit.
Eine Verbindung zwiihen uns ift fein Wunidh, da er —
mich nicht allein Tafien will.” Hier hielt fie nur mit Mühe
einen jäh auffteigenden kindlichen Schmerz zurüd. „Ich habe
mid) während der Sahre Zhres Verkehrs in unferem Haufe
an Sie gewöhnt, ich habe nur Gutes von Ahnen denten
gelernt — id adte Sie gewiß als einen jelten treuen
Charafter — — aber —* und fie erhob fi plöglih — „id
liebe Sie nicht.”
Er zudte, wie von einem Schlage getroffen, zufammen
und murde totenbleih. Ste fah die Wirkung und erichraf
heftig.
„Sch liebe Sie noch nicht,“ fette fie fchnell Hinzu, „noch
weiß ich nicht, ob Sie mir nicht mehr werden fünnten. Das
ift eine Referve, die ich meiner Wahrhaftigfeit fchuldig bin.
Ericheine idy Ihren fo noch begehrenöwert — ift Ihnen an
einer Gattin gelegen, die Sie achtet, fo bin id) die Ihre —
verlangen Sie dagegen eine braufende LVeidenichaft, fo muß
id mid Ihrer Werbung entziehen. Sch bin ihrer nicht
mehr fähig. — Nun erllären Sie fih. Ich Ihäge Sie als
einen ruhigen Menfchen, der den Taumel der Leidenichaft
nicht liebt — dem eine verftändige Lebensgefährtin näher
fteht als eine Ehwärmerin. Wollen Sie Bedentzeit, jo will
ih fie Shnen gerne gewähren, und Shren Verzicht auf meine
Hand will ich nicht als eine Beleidigung auffaffen,“ fagte
fie, feine Erwiderung gefpannt erwartend.
Er Hatte fih gefaßt und blidte fie feft an. Dhre
zwingende, imponierende Eriheinung hielt ihn unter einem
Bann von Liebe und Weh gefeffelt. Aus ihrer jcheinbar
ruhigen und doch bewegten Stimme drang ein geheimnisvolles,
lodendes Hoffen — fie jelbft ftand vor ihm wie ein fern
Ihimmernder Stern, auf dem die irdifhe Sehnfudyt die
Seligkeit jucht. Die vielen Zahre zurüdigedrängten Gefühls
rannen wie entfellelte Ströme zu einem Meer zujammen und
die aufgewühlten, jhäumenden Wogen hielten ihn befinnungss
108 zwiichen Himmel und Erde. Da ergriff er die arnıfelige
Blanke, die ihm Rettung verhieß.
„Meines Gefühls für Sie bin ich nun fidher,” verlegte
er leife. „Ich babe einen Blumengarten erwartet und Sie
bieten mir eine Wüfte an. ber id; will den Öden Boden
mit meinem Herzen beadern, daß er mir und Ihren zum
Paradies wird. Und darin werden Sie mid nie ermüden
IV. 25
355
ſehen, Alice. Fürchten Sie nicht, daß ich verzweifeln werde.
Wer, wie ich, einſam durch die Welt pilgerte und von ihren
Freuden nur den ſchwachen Abglanz empfing, der läßt ſich
auch an dem Schatten des Glücks ohne allzugroße Schmerzen
genügen. Ich werde mein Daſein ſchon preiſen lernen, wenn
ich durch meine warme Hingabe Ihren Augen einen freund⸗
lichen Schimmer erwecken, auf Ihre Lippen ein flüchtiges
Lächeln zu zaubern vermag — ich will zufrieden ſein, wenn
ich Sie durch meine Sorge geborgen weiß.“
Und er näherte ſich ihr und zog ihre Hände, bevor ſie
es hindern konnte, an ſeine Lippen. Dann ſchied er.
Aber er ging als ein Hoffender, der in der Macht der
Liebe die ſiegende Gewalt gefunden. Das Elend ſeiner
Jugend ſollte von dieſer Stunde an hinter ihm verſunken ſein.
Mit Staunen, Bewunderung und Schreden halte fie ihn
entlaffen. Sein unvermuteter Entihluß fam ihr wie daß
Beginnen eines linfinnigen vor. Wußte er, was er wagte —
wer fie war? DO, er hatte von bems Doppelfinn bes Weibes
feine Ahnung! Er Lonnte e8 unmöglich faflen, daß eine
Frau diefem angehören wolle, um jenem als Ideal anzu⸗
bangen. Und dod) war e8 jo: fie fonnte den heißgeliebten
Gegenftand ihrer erften Neigung nicht vergeflen; er würde
ihr ewig gegenwärtig fein und gegen ihn ein jeder andere
als Pygmäe ericheinen
Und doc wiederum lag ein geheimnisvoller Reiz in der
mutigen, opferfreudigen Liebe diejes einfachen Mannes, der
fie bezwang und dem Schritte geneigter machte, als fie «8
für möglidy hielt. Ihre fittliden Bedenfen kämpfte fie nieder
im Hinblid auf die unzähligen täglichen Verbindungen
gleichen lofen Snhalts, die man „moderne Ehen“ nennt.
Sa, fie würde eine moderne Ehe eingehen, ohne Rauih —
und ohne Verbindlichkeit, eine Ehe, wie die Gefelichaft fie
verlangte und anerfannte, die für das Alleinjein einer Frau
nur Mibhandlung und ein Hachliches Urteil hat. Ber
Mann, der fi jegt um fie bewarb, erfchien ihr unter al den
übrigen rohen Formen, in welden fid ihr die Männerwelt
im allgemeinen repräjentierte, alß die fjanftelte, uneigen-
nügigfte Natur, und jo durfte fie fi die Sicherheit geben,
baß fie bei dem, deffen Namen fie annahm, bleiben würde,
die fie vorben: war, ohne fidy felbjt verachten zu müffen. —
(Schluß folgt.)
Simmel und Srde.
Gleich filberfarbner Blüte winkt von fern
Aus duftigem Blau ein weißer Riejenftern.
Und Dir zu Füßen innig ftil vertraut
Ein Heines Beilhen auf der Wieje blaut.
2odt Dih mit überirdifher Gewalt
Die Ferne, bleibft Du, ah, dem Nahen Ealt?
Dein Herz Dich fanft zur Erdenblume weift —
Nacfliegt dem Sternenwint Dein Feuergeift.
Osſtar Finke,
Die Kunft, zu vergeflen.
Fin gutes Gedächtnis wird als eine beneidensiwerte Gabe
angejehben; wer e8 nicht hat, wendet viel Zeit und Mühe
daran, e3 fid) zu erringen. In den Schulen galten Ge-
dbädhtnisübungen lange Zeit ald das vorzüglichite Bildungs:
Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung.
356
mittel; denn das gute Gebädhtnis Hilft Kenntniffe fanımeln
und gewährt uns im praftiihen Leben viele Vorteile und
Annehmlichkeiten. Dennoch wird das Vergefien, gegen welches
mit allen möglihen Mitteln angelämpft wird, eine Kunft
genannt, und derjenige glüdlich geihägt, ber fie verfteht.
Schon die alten Völfer haben da8 Vergeflen ala etwas
ebenjo Schweres wie Schöne angejehen und Dieje Idee
in einem berrlihen Mythus verfinnbildliht. Sie glaubten,
daß die Seelen der Verftorbenen nur dann bie reine Seligteit
im Elyfium empfinden konnten, wenn alle Erinnerung an
das irdifche Leben mit feinen wandelbaren Erfcheinungen,
mit feinen Unvolllommenbeiten und DBefledungen von ihnen
genommen war; unb das konnte nur durd) eine übernatürs
liche, göttliche Macht geichehen, nicht durd) ihre eigene Straft.
Darum mußten fie au8 dem Letheitrom, den Strom ber
Vergefienheit, trinken, bevor fie in das neue Leben eingehen
fonnten.
Die Anfihten der Alten find nicht mehr die unjeren.
Weder mit unferer Vernunft noch mit unferer Religion wäre
der Wunih vereinbar, die Seele von allen Erinnerungen
des Erdenlebens einit befreit zu willen. Wenn Schiller in
jeinem Gedichte „Die Speale und das Leben“, in weldhem
er die mythiichen Bilder mit den idealen Empfindungen aller
Menihengeichlechter verbindet, von der Eörperbefreiten Seele
fagt: „roh des neuen, ungewohnten Schwebens, fließt fie
aufwärt3, und des Erdenleben® jchweres Traumbild fintt
und finft und finft,“ — fo hat er damit dem Gefühle der
Sehnfuht nad) einer Vergefienheit alles Leides, aller irbifhen
Schwädhen Ausdrud gegeben. Ein Befreitiein von allen
quälenden Schmerzen unferes irdifchen Dafeins ift zum
Trieden der Seele notwendig, und daher fordert auch unjere
Vorftelung von Seligfeit ein folches Vergeſſen.
Aber au unser Erdenleben geftaltet fich glüdlicher,
wenn wir vieles vergeflen können. Das Bergeffen bewahrt
uns oft vor Berbitierung, vor Täufchungen, vor Leiden aller
Art und fihert unfer Slüd in bemjelben Maße, wie e8 die
Tähigfeit thut, alles in uns feftzuhalten, wa® erhebt und
vervollfommnet. Das Vergeflen it ein Schild gegen viele
Teinde nunferes inneren Glüdes, weldye jo leicht und unbe
merkt unfere Seele gefangen nehmen. Diele Feinde treten
in mancdherlei GSeftalt auf, in Lieblicher und in drobender,
unser Herz zu umfiriden. 8 erjcheint fo ſchuldlos, fo uns
Ihädlich, jih den jchmeichelnden Träumen hinzugeben, durch
welche ung Bilder irdifchen Glüdes umifpielen, weldye die
Wirklichkeit weit überflügeln. Warum jollen nicht Hoffnungen
über ein einförmiges Dafein erheben dürfen? — Gewiß;
aber bie Gefahr lauert gleich einer Schlange unter blumigen
Gefilden; wenn die Hoffnungen melfen, tritt fie in ihrer
Nacdtheit hervor und nagt al8 Mikmut und Trübfinn an
dem unbefriedigten Herzen. Glüdlich, wer die Träume, welche
fih nicht erfüllt Haben, noch erfüllen können, zu rechter Zeit
vergeflen fann; ihm haben fie Freuden verihafft, ohne
Schmerzen zu hinterlaffen.
Erfüllen fi aber unfere Wüniche, und bietet das Leben
reiche Genülfe, wie fie unjeren Erwartungen entiprecden; tit
es ung geltattei, von Freude zu Freude zu cilen, wie der
Schmetterling von Blume zu Blume, dann wird Überbruß
und Sraftlojigfeit fidh unjerer jo fiher bemächtigen, al& der
frühe Tod des Schmetterling, wenn wir unfer Herz von
dem Ichädlihen Einfluß nicht unabhängig machen, wenn wir
die Genüfje nicht vergellen fünnen und von ihnen zurüds
fehren. zum Ffräftigen Handeln. Alles, mwodurd die Seele
367
Scaben leiden könnte, muß fie in Vergeſſenheit verſenken,
um, befreit von dem Banne, fid; dankbar erheben zu
fönnen.
Sa, felbft dur) das Bute, was mir anderen thun,
fönnen wir in Gefahr geraten, wenn wir es unferer &r-
innerung zu feft einprägen. „Lab die redhte Hand nicht
wiflen, was bie Iinfe thut,“ heißt e3 in ber Schrift; ma?
will das meiter jagen ala: „thue es in fo tiefer Ber:
borgenbeit, daß faum Du es weißt, was Du gethan halt.
Gar leicht verliert Deine gute That ihren Wert, wenn Du
fie ala ein Verdienft anderen gegenüber zur Geltung bringen
willft. ‚VBergiß das Gute, was Du gethan haft, vergiß aber
noch viel mehr das Böfe, wa8 Dir widerfahren tft.‘“
Alles Leid wird dadurd fo unendlich vergrößert, daß
e3 al8 Erinnerung in unferem Herzen weiter lebt, uns bie
erlittene Unbil wiederholt empfinden läßt und neue
Ubel heraufbeihwört. Wir Menichen find fo fehr dazıı ges
neigt, da8 Glüd, die Freude und jede Annehmlichkeit als
Tchuldigen Tribut des Schidfal® und nnierer Mitmenfchen
binzımehmen, da8 Gegenteil aber, den Schmerz, ichwer unb
nadhaltig zu empfinden, und boch tft daS gerade der Weg,
uns Ddeffen zu berauben, was mir juchen, nämlich dbe8 wahren
Glückes.
Weil aber das rechte Vergeſſen einen Kampf gegen
unſere Natur erfordert, weil es nur durch ſtete Ubung und
Arbeit an uns ſelbſt errungen werden kann, darum wird es
eine Kunſt genannt. Die Ausübung einer jeden Kunſt er⸗
fordert Aufmerkſamkeit, Mühe und Arbeit, die Kunſt, zu
vergeſſen, verlangt die ſchwerſte Arbeit von uns, die Selbſt—
verleugnung.
Wohl iſt es ſchwer, die Wunde, welche das Schickſal
ſchlug, vernarben zu laſſen; ſie wird durch tauſend Ers
innerungen aufgeriſſen, und gegen jede einzelne muß in den
Kampf gezogen werden; denn welchen Gewinn bringen dieſe
Erinnerungen? Sie machen uns unfähig, die Freuden
dankbar zu erkennen, welche uns geblieben ſind; ſie rauben
uns den Genuß der Gegenwart und den Mut zum Leben
und Streben. Das verlorene Gut wird durch die Ber
zweiflung dem Schidjal nit wieder abgetroßt, und Die
Klage, fie weder den Toten nicht auf!
&3 ift auch nicht leicht, bittere Kränfungen zu vergeffen;
nicht leicht, unjeren Teind zu lieben, benen wohlzuthun, die
uns haflfen, und zu fegnen, wo uns gefluht wird. Aber
noch ichwerer ift e8, die Folgen zu tragen, wenn wir das
und zugefügte Unrecht nicht vergeffen fönnen, fondern in
unferem Herzen wudhern lafjen. Während der verlegte Stolz.
fit} empört und den Sieg über bie befleren Gefühle davon-
trägt, während da8 aufgeregte Gemüt forgiam die Schwere
der zugefügten Beleidigungen erwägt, haben fich die Sturmes»
wellen in dem Herzen bed Gegners vielleicht längft beruhigt;
die verlegenden Worte, weldhe er im Augenblik der Leiden:
Schaft geiprochen Hatte, find ihm faum mehr bewußt, fein
Zorn verihwand fo Ichnell wie er entflammt war. Der Un-
verföhnliche aber läßt die Sonne über feinem Zorn unter:
gehen und neu erwacht er mit dem neuen Morgen; er kann
die unfeligen Worte nicht aus feinen Gedanten verbannen
und herber und bdrohender wird bie Stimme des Grols,
bis die Sränkungen ermwidert find, und das bittere Gefühl
dadurch nur vergrößert ift. Hab und Feindichaft find aus
dem Samen weniger Worte gleidy Unkraut einporgeichoffen
und nagen an jeder Freude. E3 folgt eine Reihe von
bitteren Kränktungen, während nad kurzem Kampf das Xer-
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
358
gefien und Vergeben den füßen Lohn innerer Befriedigung
und ein reines Herz dDavongetragen hätte.
Sn anderen Fällen aber, wenn wir uns durd bie
Handlungen unferes Nächften zum Richter über ihn berufen
fühlen, ihn mit Spott und Beradtung, ja mit Haß ver:
folgen, wa8 werben wir erreihen? Unſere ftrenge Tugend
hebt den Gefallenen nit auf; unfer hartes Urteil wirkt im
Gegenteil nur nocd verderbliher auf ihn und madt und
felbft vielleicht keines Hleineren Vergehen ſchuldig. Wer
bag Uinreht des Nächften vergeffen faın und durch ftete
Liebe feurige Kohlen auf fein Haupt jammelt, wird nit
nur feine eigene Seele erretten, er wirb vielleiht auch ihn
zurüdführen auf die Bahn des Guten.
Sp wenig wir die eigenen Fehler auß dem WUuge ver-
lieren dürfen, jo fehr muß unfer Bemühen darauf gerichtet
fein, die Schwächen des Nädjften zu überjehen, zu vergeflen,
daß jeine Fchler oder Eigentüntlichleiten uns Abneigung
eingeflößt haben, wenn «3 barauf anftommt, durch Wort
ober That zu feinem wahren Wohle beitragen zu können.
- Das Leben bietet fortwährend Gelegenheit, die Ktunft,
zu vergefien, nad der einen oder anderen Ridhtung hin zu
üben. Wer fie erftrebt, wird den Segen an der Wirkung
auf fein eigenes Selbft erkennen und fann verfihert fein,
baß feine guten Beftrebungen einen fegensreihen Einfluß
auch auf weite Kreife ausüben, wie alle8 Große und Edle.
Darum ift diefe Kunft audy des Erfämpfens wert; fie fordert
wie jede andere ein Studium, oder Ausdauer und Arbeit
auh dann no, wenn fie erlernt und verftanden ift. Ein
Künftler aber achtet der Arbeit nicht um be3 Lohnes willen.
Maler und Bildhauer dürfen nicht ruhen, wenn fie etwas
Vollendetes Schaffen wollen; denn: „Nur dem Tleiß, den
feine Mühe bleichet, raufcht der Wahrheit tief verftedter Born;
nur des Meißels fchwerem Schlag erweichet fich de Marmor?
hartes Korn.” Mit feinem Geiftesauge Sieht der Stünitler
das vollendete Bild Iange, ehe die Hand e8 aus dem rohen
Material zu geitalten vermag, fie aber überwindet dur
diefen Hinblid auf die Vollendung die körperliche Schwere
mit Leichtigkeit. edem SKünftler winkt der Lorbeerfrangz;
wer aber bie Kunft des Vergeffens übt, dem grünt er in
undermwelfliher Schönheit.
Wer follte nicht feine Kraft daran jeßen, diefe Krone
zu erringen? De fchwerer die Arbeit, um fo jchöner der
Lohn! Und wie jeder Künftler fein Werkzeug hat, das er
fiher handhabt,, fo fehlt es uns auch nicht an Werkzeugen,
um bie Kunft des Vergeffens zu üben, fie heißen: „Die
moralifhe Kraft und der Wille“. Der ernfte Wille ift Die
Frucht richtiger Erkenntnis eined dem Guten zugemwendeten
Herzens, und mit jedem Erfolge wächft die moralifche Kraft.
Sie wädjlt, indem fie fit) Nahrung Ihöpft aus den erniten
Worten der Schrift, welde in vielfaher Form da8 Vergeben
und VBergefien als Chriftenpfliht Hinftellt, indem fie fid)
ftärft an den Ausjprüchen unferer Dichter und Phtlojophen,
und indem fie aus eigener Thätigfeit den Lohn ermacjen
fühlt. Das rechte DVergeffen ichließt einen großen Teil
unferer Pflichten gegen uns jelbit und gegen unjeren Nächiten
in fi), e8 rettet die Seele auß mandem Zwiejpalt mit fi
und der Welt und ift der Weg zum inneren und äußeren
Frieden.
359
Finem Kinde,
Du traf’ft ind Leben — aus ber Ewigkeit,
Um wieder heimzufehren in die Ewigleit,
Wenn diejes Lebens wirrer Traum vorbei...
Sol ih Dir wünjden: Set der Traum Dir leicht,
Sei jorglos, tändelnd? Möge nie ein Hauch
Dir Deine fpiegelklare Seele trüben,
Ein Heißer Hauch von dem,
Was eine Menfchenjeele kann durchwühlen
An Dual, Verzweiflung, Zorn und Weh?
Möge nie Dein Herz
Mit einer jener dunklen, jchweren Fragen ringen,
Auf die fein Menjd) noch eine Antwort fand,
Wie heiß er auch gerungen und gejudht, —
Die unfre Träume, Nachtgeipenftern 1
Beängft’gen?
Mög’ft Du nie erfahren,
Was Sturm, was Leidenschaft, was ungeftillte Sehnfucht tjt?
Soll ih Dir’d wünjchen?
— — — Aber wie?!
Wirft Du ber Menihen Qualen nicht erfahren,
Wirft Du auch nie der Menfchen Wonnen fühlen!
Eh’ die Seele nicht
Die Tiefen bittren Leid8 und Zorns und Yweifels
Ohnmädt’ger Qualen hat durchmeffen,
Eh’ fie nicht in wildem Troß
Sich gegen Welt und Schidjal aufgebäumt,
Eh’ nit de8 Lebens Stürme über fie gebrauft,
Eh’ fie nicht eine lange bange Nadıt
Mit ihrem Gott gerungen bi zur Morgenröte,
— CH’ Hat fie nicht gelebt!
Auh Schmerz it Wonne!
Auh Qual ift Wonne!
Und in des Lebens Stürmen ftehn,
Und in dem Stampfe feine Kräfte fühlen!
Sit Lächeln — leben?
Aber Kämpfen ift e8!
Ningen um fich jelbft!
Ein ftolzes, tapfres Kämpfen — bis an? Ende...
Bis ausgeträumt de& Lebens wirrer Traum,
Und Deine Seele heimlehrt in die Ewigkeit...
Sol id Dir wünjchen
Ein vollgerüttelt Maß an Dual und Wonne?
Kannft Du e8 tragen?
I. von Maſſow.
Sprüche und Splitter,
Von Eduard Humidt.
Da hat die MWohlthat rechten Sinn
Und nüget jeder Frift,
Wo die Vernunft die Yührerin
Des blinden Herzen? tft!
Wie viele Vorteile könnte mancher für fi gewinnen,
wenn er nit — jo egoiftiid fein mollte!
%*
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
360
Mer eine „gute That“ zu thun bereit,
Schau’ fie fi hübfch auf ihre Folgen an,
Weil leicht die eine gute mit ber Zeit
Zehn böfe Thaten nad; fi) ziehen Tann!
Für manden ift der Pellimismus ein Sport, ohne den
er nicht leben fann.
v
Die Protektion iſt die Zahnradbahn für die Gipfel
der Ehre!
%
Die geiellihaftlihen Formen find für den Ungebildeten
eine Zwangsjade, für den Halbgebildeten oft eine Narren-
jade.
%
Bei manden Frauen genügt eine Schmeichelet über ihre
Toilette, um zehn Beleidigungen in Bezug auf ihren Cha=
rafter vergefjen zu machen.
Die Menjchen find ein eitles und ſchwaches Geſchlecht.
Der ſtolze Bau der Überzeugung, den wir uns mit Hilfe
vieler Thatſachen und einer langen Erfahrung mühſelig auf—
geführt haben, ein wie zerbrechliches und windſchiefes Ding
muß er im Grunde ſein, wenn das winzige Geſchoß eines
einzigen Schmeichelwörtchens, der ferne Glockenton einer un⸗
gewiſſen Hoffnung, der leiſe Hauch eines nahenden Zweifels,
der nebelhafte Schatten einer aufſteigenden Furcht ihn über
den Haufen werfen kann!
Welches kleinliche Benehmen!
Willſt Du grollend Dich beklagen,
Daß Du manchmal Dich bequemen
Und ein Mißgeſchick mußt tragen?
Trag's mit Faſſung und in Frieden;
Und dem Schickſal dank' von Herzen,
Weil's Dir ſo viel Glück beſchieden,
Daß Dich kleine Wunden ſchmerzen!
%*
Es giebt Dinge, deren wir und gern erinnern, ohne
den Wunfch zu hegen, fie noch einmal zu erleben. -Die
wunfchlofe Erinnerung ift die fchönfte!
Inhalt der Wo. 44.
Schwertklingen. Baterländiiher Roman von Hans
Werder. Fort. — Ohne Bott. Roman von E. Karl.
Forti. — Beiblatt: Sehnjudt. Von CE. Theodor Schule.
— Mann über Bord! Bon Oswald Bergener. — Rojen»
lieder. Bon M. M. — Shr Seal. Eine moderne &he-
gefhichte von Georg A. Albert. I. — Himmel und Erde.
Bon OBfar Linke. — Die Kunft, zu vergefjen. — Einem
Rinde. Bon M. von Mafjjow. — Sprüde und Splitter.
Bon Eduard Schmidt.
Berantwortlidder Leiter: Otto von Leirner in Berlin — 8 von Dtto Janke in Berlin — Drud ber Berliner Buchbrudereis Altien » Gefellichaft
(Geperkunenfgule d
beß Bette» Vereins).
Deutſche
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
beziehen.
—1896.
Roman Zeitung.
Erjheint wöchentlich zum Preife von 3% AG vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bot.
Durd) ale Buchhandlungen au in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober.
Schwertklingen.
Baterländifcher Roman
von
Dans Werder.
(Fortfegung.)
VII ders. Doch fiegte bei Lotte gar bald eine warme,
" berzlihe Wiederjehensfreude über die jchmerzlichen
Sn ihrem einfamen Stübchen in der Dorotheen: | Empfindungen. Hafios tiefes Mitgefühl, die Lieb:
ftraße jaß Lotte von Nodlig, Hilmars trauernde | reiche und doch jo frifhe, gefunde Art, mit der er
Witwe. nm ihr junges Gefiht hatte der Schmerz
feine Linien gegraben und ihm viel von feiner rofigen
Sriihe genommen. Auf ihrer jchmalen Stirn lag
ein Ausdrud faft feierlider Würde unb in ben
Beilchdenaugen ein tiefer, finnender Ernfl. Das
Ihwarze Trauerlleid, das fie trug, erhöhte noch den
veränderten Eindrud ihrer Erjcheinung.
Mie einfam fie war — Hilmar tot, der Vater
tot. Das Meine, jhlummernde Wejen in der Wiege
da neben ihr das einzige, was ihr auf der Welt ge-
blieben von Leben, Liebe, Glüd. Sehr arm und
fümmerlih lebte fie bier. Bon franzöfiicher Ein-
quartierung war fie verihont geblieben, auf Ver:
wendung guter Freunde, dafür aber mußte fie Ab-
gaben zahlen, fi von der Verpflichtung zu Töfen,
denn wirklide Schonung kannten die fremden Macht:
baber nicht.
Es war ftil um fie ber. Das Kind fchlummerte.
Bon der Straße herauf tönte gebämpfter Lärm. Ihre
Hände arbeiteten in raftlofem Fleiß und ihre Gebanten
wanderten zurüd zu den kurzen Stunden verlorenen
Blüdes — der Quelle ihres grenzenlojen Herzeleids.
Die Hausthür unten fiel ins Schloß. Faft er:
itterte das Häuschen unter dem fcharfen Drud.
Lotte erihral. Sie war an folde Störungen nicht
gewöhnt. Schnelle, lebhafte Schritte famen die Treppe
herauf — ein furzes Boden und rajches Offnen ber
Thür, und Hallo ftand vor ihr. Wie ein Stich ins
Herz traf Lotten der unerwartete Anblid, eine Flut
qualvoller Erinnerungen fürmte auf fie ein, und mit
leifem Webelaut jchlug fie die Hände vors -Gefidht.
‘a, er lebte, und der andere war tot! NHaflo
war auf den Schmerz, den bieje Thatlache hervor-
rief, völlig vorbereitet, er fannte es jchon nicht an-
RomansZeitung 1896. Lief. 45.
ihr begegnete, waren ihr eine Wohlthat, wie fie lange
feine empfunden. Sie vermodte fi auszuſprechen,
zu weinen, zu tlagen, und fie hörte an, was er ihr
erzählte von ben [ebten Tagen und Stunden bes
Geliebten, von feiner helbenhaften Tapferleit, von
der Liebe, mit ber er ihrer gebacht jeden Tag und
jede Stunde. DO wel ein Himmelstroft waren alle
biefe jüßen Botichaften für fie, als fiele noch einmal
ein Lichtichein aus der Sonnenzeit des Glüdes herüber
in die Nacht ihrer Bereinfamung.
„Aber nun fag’ mir, Lotte,” fragte Hafjo endlich,
„warum haft Du den armen Eltern in Redentin
niemals eine Nachricht zulommen laffen? Sie willen
nichts vom Tode Deines Vaters, noch von der Ge:
burt des Kindes, faum, baß fie Deinen Aufenthalts:
ort fennen — und bo bift Du und das Kind das
einzige auf der Welt, was fie befigen, Das. teure
Vermächtnis des Sohnes, den fie jo tief betrauern!”
„Ich habe ihnen den Tod meines Vaters und
die Geburt des Kindes angezeigt — wenn fie ben
Brief nicht erhielten, jo ift es nicht meine Schuld!”
erwiderte Lotte in gedrüdtem Tone. „Eine zmeite
Annäherung wollte ich nicht verfudhen. Der Vater
hat Hilmar aus feinem Haufe und Herzen verftoßen —
vielleicht mit ihm auch fein Weib und Kind! Wie
fann ich es wiflen!“
„Run, liebe Lotte, etwas befler ſollteſt Du denn
doch den alten Onkel kennen,“ war Haſſos lebhafte
Entgegnung. Und er ſchilderte ihr den Jammer der
beiden vereinſamten Alten, ihre Sehnſucht nach der
Schwiegertochter, ihr Aufleben in dem Gedanken an
den einzigen Enkel — mit ſo warmer Beredſamkeit,
daß Lottes ſchmerzlicher Groll ſich löſte und der
Wunſch in ihr erwachte, die ihr liebend gebotene
IV. 26
363 Schwertllingen.
Zufluht anzunehmen. Sinnend, überlegend jaß fie
da, ben thränenjchweren Blid zur Dede empor:
gerichtet.
hinüber.
„Was bat Dich eigentlih in bdieje feindliche
Stabt hereingeführt,“ fragte fie, „und jeit warn bift
Du bier?“
„Ungefähr jo lange, - ala ich bier bei Dir fiße,
mein liebes Lotthen! Nur die Zeit nahm ich mir,
mid vom Bärenführer, der Dir Furt und Abicheu
eingeflößt hätte, in einen anftändigen Menjchen zu
verwandeln, dann bin ich Ihnurftrads zu Dir geeilt!”
„Bärenführer? Liebſter Junge, was ſprichſt
Du eigentlich?“ fragte ſie beſorgt.
„Ja, Bärenführer — Lotte, Du mußt es ſchon
glauben! Als Dffizier durfte ih in Berlin nicht
auftreten, jo mußte es auf andere Weile geichehen!”
„Aber warum benn nicht als Offizier?”
„Sanz einfach,“ rief Haflo. „Die Offiziere müſſen
fih in preußijher Uniform bei General PBictor
melden, und diefer Wadere ift mir jo wohlgefinnt,
daß er mi fiher um einen Kopf fürzer maden
würde, wenn ich ihm Gelegenheit böte, meiner hab:
haft zu werden!” Er berichtete ihr in kurzen Zügen
fein Arnswalder Abenteuer mit dem General, und
Lotte war entjeßt über die Gefahr, in welcher Hafjo
troß der Verkleidung fidh bier befand.
„Nah Berlin aber wollte und mußte ich!”
fuhr er in feiner Erzählung fort, „und jo verließ
ih Nedentin in der YZuverliht, noch unterwegs
einen guten Gedanten und entiprechende Gelegenheit
für mein Unternehmen zu finden! Und ich fand
beides! Sn Eberswalde, wo ih mir einen Ruhetag
gönnte, jah ic auf dem Marltplag eine Zeltbube,
vor der das Volk jih in Scharen drängte. Da
mußte ich doch dabei fein! Bezahlte meinen Srojchen
und meidete mich an der großartigiten Vorftellung
ber Welt — mit Bären und Affen als Schau:
jpieler. Als ih mid in der Paufe leutjelig mit
dem Herrn Direktor unterbielt und ihm meine Be:
wunderung ausipradh, forderte er mi auf, aud in
Berlin jeine Vorftelungen mit meinem Bejudhe zu
beehren, er ginge morgen dorthin. Durd eine
Galavoritelung jollte die Antunft in der Haupt:
und Refidenzftadt gefeiert werden. Da jdhoB mir
mein Plan wie ein Blit dur den Kopf! Ganz
Berlin ficherte ich dem Direktor ale Bejucher feiner
Bude zu, wenn es ihm gelänge, mid, den Grafen
Wolkenkukuksburg, inlognito in die Großjtadt ein-
zuführen. Ym gemütlihden töte-a-töte bei einer
fühlen Blonden wurden alle jeine Bedenten binmweg-
geihwagt — und jhon am nädjiten Morgen trat
ıh als Mitglied der Spielerbande die Reife nad
Berlin an! Eine jchwarze Perüde, den Schnurr:
bart jchwarz, das Geficht braun gefärbt, im Slo:
walentlittel, eine Kappe mit roter Troddel, den
Bären an der Strippe und einen Knüppel in ber
Hand, um die Beftie in Ordnung zu halten — ad),
Lottchen, ſchade ift es dod, daß ich mid) * in
dem Aufzug nicht präſentieren konnte! Siege) 1.6
bin ih jo in Berlin eingezogen! De 2 Sail *
Wachen traten zwar nicht vor iR
bie unverjhämten Gejellen, aber: FE
Roman von Hans Werber.
Dann endlich ftreifte derfelbe zu Haflo
364
gehindert paffieren und das war bie Hauptiade!
Da bin ih nun — zu Deinen Befehlen! Und jo:
mit ift mein Ziel erreicht!”
Sie hatte ihm mit großem Ergößen zugehört
und ladte, zum erften Male jeit undenklier Zeit.
„Allo no immer berjelbe abenteuerfuchende
Wildfang! Sch gratuliere Dir zu dem glänzenden
Gelingen, mein guter Hafjo! Aber weshalb eigent:
lih diefer waghalfige Streih? Das habe ih aus
Deiner jchönen Geihichte no immer nicht ent:
nehmen tönnen!”
„Aber Lotte!” rief er aufipringend. „Um Dich
aufzuſuchen! Als Bärenführer fam ich in die Stabt,
ald Dein Kuticher werde ich fie wieber verlafen!
Dich zu holen, ift der einzige Zwed meines Kommens
— Did den Eltern zuzuführen und Hilmars Sohn,
den Keinen Erben von Redentin!“
Mit neugierigem Blid fchaute er dabei in die
Wiege, auf das Meine Etwas, das Ichlummernd darin
rubte, die winzigen roten Fäufthen feft vor bie
Augen gebrüdt. Lotte freifte mit einem jeltfjamen
Blid erft die Wiege und dann fein Gefidt. „Sa,
Hallo, wir werden mit Dir fommen,” jagte fie dann.
„Ih und bas Kind — Du jollft es fein, der uns
den Eltern zuführt! Aber — ih muß es Dir jagen
— Hilmar Kind tft ein Mäbdhen! Der Lehns:
erbe bift Du!” —
Haſſos Mienen zeigten Überrafhung und Ent-
täufhung. Nicht einen Augenblid hatte er bie
Möglichkeit erwogen, daß er ber Lehnserbe fein
fönnte, wie die Eltern vor kurzem ihm mit fo viel
Bitterkeit vorgeworfen. Hilmars Kind ein Mädchen!
Entjeglih war diefe Thatjache für die jchwergeprüften
Großeltern!
Lotte jelber hatte die Enttäufhung in ihres
Hilmars Seele tief nahempfunden und zu überwinden
gehabt. Dab aber gerade Hafjo diefe Nachricht fo
Ihmerzerfüllt aufnehmen würde, hatte fie am wenigften
erwartet. Und doh — fie mußte lächeln — fie
fannte ihn ja! Wie fjah diefe Uneigennügigleit
ihm ähnlid! Wie ganz entipradh fie dem ftetd von
ibm gebegten Bilde.
„Shr jolt meinem armen Kindchen nicht zürnen,
weil e8 ein Mädchen ift!” fagte fie, mit feuchten
Blid das Heine, ahnungsloje Wejen betracdhtend.
„Es Tann aud, ohne ein Knabe zu fein, den Eltern
und mir zu Glüd und Segen gedeihen! Ein Lehns:
erbe iſt ja überdies vorhanden! Er fteht vor mir
wie ein junger Eihenftamm! Was verlangt Yhr
denn noch weiter!”
„Ich will das Lehen nicht haben!“ rief Haſſo
verſtimmt. „Ich will Reckentin nicht wiederſehen!
Dich und das Kind bringe ich bis an die Grenze
und gehe dann meiner Wege!“
„Unſinn, mein lieber Haſſo!“ gab Lotte lächelnd
zurück. „Du haſt heilige Kindesrechte im Reckentiner
Hauſe, und daß dieſelben jetzt, im Gegenſatz zu
früher, anerkannt werden, dafür laß mich Sorge
tragen. Aber Pflichten ſind Dir nun auch gegeben!
e mehr Du Dir dieſe ins Bewußtſein rufſt, deſto
en auch die Eltern dazu gelangen, es als
Wtte⸗ anzuſehen, daß ſie Dich noch haben!“
Bi Iwieg. Ihre Worte überzeugten ihn
365 Schwertklingen.
nicht ganz, doch wollte er nicht widerſprechen und
küßte ihre Hand zum Zeichen der Unterwerfung.
Im Begriff, ſich zu verabſchieden, zögerte er
noch einen Augenblick. „Lotte, haſt Du zuweilen
von Veldeggs etwas geſehen oder gehört?“
„O ja! Die kleine ſüße Renate iſt lange Zeit
hindurch mein einziger Verkehr geweſen Ihr tiefes,
warmes Empfinden, ihr Intereſſe für Dich und Hil—⸗
mar hat ſie mir ſehr teuer gemacht!“
„So! — Und wann ſahſt Du ſie zuletzt?“
„Es ſind ſchon einige Wochen her! Sie haben
Berlin ſür längere Zeit verlaſſen!“
„Ach! Wohin find fie gegangen?”
„zu dem fogenannten Ontel Auguft nad
Penzlomw. Du meißt, daß fih Qulie mit dem jungen
Sonreuth in Tiefenfee verlobt bat — dort in ber
Nachbarſchaft. Sobald fie zurüdtehren, joll die Hoch:
zeit gefeiert werden!”
„Das find ja alles jehr interellante Nach:
richten!” bemerkte Hallo. „Ih würde mich fonft
auch wahrjcheinlic darüber freuen! Aber daß ich
jett um das MWiederfehen mit Renate tomme, ift mir
außer allem Spaß!“
Damit entfernte er fih für heut.
Die Reife nad Redentin warb angetreten. Un:
gehindert ließen ihn abermals die franzöfiichen Thor:
wahen pafjteren — diesmal ale den „Diener der
Frau von Rodlig”. Ohne Fährlichleiten geleitete
er diefe auf der weiten Fahrt, in wohlverjchlofienem
Wagen, jo daß felbft das Kleine Fräulein von Noch:
lig in dem warmen Reijebetthen nichts von den
Unbilden der rauhen Witterung verjpürte.
Kurz vor NRedentin nahm Hallo Abjchied von
Lotte. Mit Thränen und warmen Dantlesworten
entließ fie den treuen Gefährten. — Bald darauf
erreichte Lotte wohlbebalten die alte Heimat und
warb von Hilmars Eltern mit Freuden empfangen.
Ein neues Leben ging ihnen auf in der Sorge für
das Kind und feine Mutter, die ihnen nie eine
sremde geweien und nun eine gute und geliebte
Tohter ward. Xotte fand Frieden und neues Bes
bagen unter dem jchügenden Dach der Verwandten,
wo im Zujammenleben fi allmählich eine Freuden:
blume nach der anderen ihr erichloß.
Haflo 309 wieder in die weite Welt hinaus.
Sechfter Abſchnitt.
Der Held des Volkes.
.Das blanke Eiſen, das junge Blut,
Man muß es brauchen in Jahren!
Die Jugend locket mit friſchem Mut,
Wird friſch von hinnen auch fahren!
Drum bringet herbei mir daß Mägdlein hold,
Den Stahl der blitzenden Klinge!
Die Maännerſchlacht und der Minneſold
Sind tapfere, freudige Dinge.“
J.
Zwei Jahre und zwei Monate hatten die fran⸗
zöſiſchen Truppen in Berlin gehauſt als Sieger und Ge⸗
bieter. Endlich, endlich — am 3. Dezember 1808 zogen
ſie davon mit Trommelwirbel und klingendem Spiel,
ſiegesfreudig, wie ſie einſtmals einmarſchiert. Unter
Roman von Hans Werder.
366
ſchmeichelhaften Verſicherungen über die vortreffliche
Haltung und Geſinnung der Bürgerſchaft während
ber Beſatzungszeit verabſchiedete ſich der franzöſiſche
Kommandant und übergab dem alten Prinzen Fer⸗
dinand die Schlüffel der Stadt an dem feiner Sieges:
göttin beraubten Brandenburger Thor.
Fort waren die Franzofen, Gott jei Dank!
Und wenige Tage darauf, am 10. Dezember,
hielten die erften preußiichen Truppen ihren Einzug
in Berlin. Doch keines von den alten Berliner
Regimentern war bierzu erwählt, nicht die ftolgen
Garden, auch nit die Gendarmes, deren einftiger
Ruhm und Glanz vernichtet, wie unter Rofieshufen
zertreten war.
Ferdinand von Schill mit feinem Hufarenregi-
ment und ben reitenden Sägern war biefer hoben
Auszeihnung würdig befunden worden.
Ein unermeßlicher Jubel durchwogte die: jo
lange in Furcht und Grauen geknechtete Stadt, als
die Nachricht von Schills unmittelbar bevorſtehendem
Einzuge ſich wie eine rollende Lawine verbreitete,
ein Jubel, wie man ihn ſeit den Siegestagen
Friedrichs des Großen nicht gekannt. In all der
Schmach, in all dem Elend des Unterliegens der
einzige unbeſiegte Held, der Stern, auf den alle
Blicke ſich hoffnungsvoll richteten als den zukünftigen
Befreier des Vaterlandes — ritt er herein durch die
Thore Berlins und führte der lange verwaiſten
Königsſtadt die erſten preußiſchen Truppen wieder zu!
Von vielen Tauſend Stimmen ſcholl ihm
jauchzendes Hurra — Hoch — Willkommen entgegen.
In Scharen ſtrömten die beglückten Einwohner her⸗
bei, jung und alt, hoch und gering. Sie drückten
ihm die Hände, ſie ſtreichelten die Mähne ſeines
Pferdes. Alte Krieger aus des großen Königs
Zeiten, deren gramgebeugtes Herz aufs neue höher
zu ſchlagen begann bei dem Namen Schill, drängten
ſich herzu, ihm zu huldigen, ſeinen Steigbügel zu küſſen.
Nah allen Seiten bin, von Rührung übermwäl-
tigt, dankte und grüßte ber gefeierte Held, und mit
ihm die Seinen, welde ihr reichlich Teil des Yubels
erhielten. Aus allen Fenftern regnete es Blumen
und Kränze auf ie herab; wie über einen Wiefen-
teppih von Blüten und Blättergrün bin tänzelten
die Hufe der Hufarenpferde. In einen Frühlings:
morgen jchien ber rauhe Dezembertag verwanbelt.
Ein Kranz von roten Rojen flog auf ben Hals
von Hafios Pferd. Er fing ihn mit ber Spike
feines Säbels auf, bob fi im Bügel und blidte
zurüdgewandt nad den Fenftern binauf, von wo
der bolde Gruß ihm gelommen. Zwei Mäbchenköpfe
Ihauten da heraus, ber eine blond, ber andere braun.
Tief grüßte der Hufar mit gezogenem Säbel. Er
hatte ein Lächeln aufgefangen und einen Blid, den
er erfannte.
Die gute Stadt Berlin konnte fih nicht genug
tun, ihre neuen Selden zu feiern. Mit einem
großartigen Feltmahl im Rathaufe follten fie bewill-
fommnet werden und der Magiftrat empfing bafelbft
die Offiziere mit ausgefuchten Ehrenbezeugungen. Es
war ein gar zu erhebendes Gefühl, daß man wieder
gut preußifch fein durfte, ohne für Leben und Frei:
beit fürchten zu müflen!
367 Schwertklingen.
Major von Schill an der Seite des Ober—
Bürgermeiſters Geheimrat Müller nahm ſich gar
ſeltſam aus mit ſeinem jungen, wetterbraunen
Huſarengeſicht unter den ernſt ehrwürdigen Häuptern
der Stadt. Vielleicht hätte er lieber wie ſonſt in⸗
mitten ſeiner Lieutenants geſeſſen und mit ihnen ge⸗
zecht und gelacht in der zwangloſen Kameradſchaft
des Kriegerlebens. Doch hier ſchon trat ihm über:
raſchend deutlich die Thatſache entgegen, daß man
ihn als eine offizielle Perſönlichkeit auffaßte.
Es wurden Neben gehalten und Toafte ausge-
bradt. Manch edler Tropfen güldnen Weines floß
bie durftigen Kehlen der kriegeriihen Herren hinab.
„Rohlig, was ift Dir denn heute?” fragte der
Lieutenant Hagen, der Hafio gegenüber jaß. „Dein
Glas ift noch immer gefüllt! Menich, haft Du denn
feinen Durft befommen nad all dem Speftalel und
Hurrageſchrei?“
„Ich habe nicht mitgeſchrieen,“ erwiderte Haſſo
trocken. „Wie ſoll es mich durſtig machen, wenn
andere Menſchen ſich die Kehle anſtrengen!“
Die Kameraden kannten es an ihm, daß ſein
ſtets auf der Oberfläche liegender Humor bei ge—
ſelliger Anregung bald überquellend zum Vorſchein
kam und ſich bis zu ausgelaſſener Tollheit ſteigerte.
Heute aber gewahrten fie nidhts davon. Haſſo war
nicht bei der. Sadıe.
Nah aufgehobener Tafel trat Schill an ihn
heran. „Rodlit, Sie haben ja zu Ehren ber
Magiftratsontels gar feinen Lärm vollführt, was ift
Shnen denn eigentlih? Y& Jah mich mehrmals
nah Sihnen um, glaubte jhon, Sie hätten fi
heimlich aus dem Staube gemadt!”
„Ih wünjchte mir heute ausnahmsmeije hr
Lob zu verdienen, Herr Major!” war Haflos rajche
Antwort, „nun fcheint es mir doch wieder nicht ge-
glüdt zu fein! Aus dem Staube maden aber
fönnten wir uns bald! Das dürften die ehriamen Väter
der Stadt uns nicht verargen! Sie werden es nur
natürlih finden, wenn wir uns heute abend nod)
um unfere Schwadronen befümmern!”
Schill jahb ihn lahend an. „Sie jehen mir
au gerade jo aus, als zöge Yhr Herz Sie jekt
noh zu Schwadbron und Kommißdienft! Doch dente
ih, wir machen hier bald gemeinfam ein Ende und
beichließen den angebrochenen Abend gemütlich unter
uns! Hagen hat fi) erboten, den Führer abzugeben.
Kh darf doch wohl annehmen, daß Sie fich unjerer
vortreffliden Gefelichaft nicht entziehen werben!“
„Sewiß nit, Herr Major! Wenn Sie er:
lauben, jchließe ih mid Ihnen etwas jpäter an!
Hagens Schlupfwinkel find mir nicht unbelannt! Ich
werde Sie wohl auffinden!”
„Stwas jpäter aljo!” wiederholte der Major.
„Run, jo amüfteren Sie fih gut bis dahin!”
Herr von Schill befaß PVeritändnis für die Art
von Ungeduld, weldhe den anderen heut feine eigenen
Wege juchen ließ. Auch in feiner Bruft fehlug ein
beißes, glüdverlangendes Herz, das nach Rofen, nicht
einzig nur nach dem Lorbeer verlangte. — — —
Hafjo ging eiligen Schrittes die Straße entlang,
dem Haufe in der Wilhelmftraße zu, das Leldeggs
bemohnten. Db fie zu Haufe waren? Gewiß! Sie
Roman von Hans Werber.
368
mußten doch annehmen, daß er heute jchon fäme —
ihn erwarten!
Renate! Db fie ihn wiedererlennen würde?
Ob fie fi verändert? Sechjehn Jahre war fie ge
weien, als er fortzog, ein halbes Kind noch! Sept
aljo achtzehn! \
D, wie batte er fi auf dies MWiederjehen ge-
freut! Wenn es ihm doc nur feine Enttäufchung
bereitete!
Nein, nein, da glänzte die erhellte Fenfterreibe,
jo trauli befannt, jo gaftfreundiih! Er flog bie
Treppe binan und: z0g ftürmilch die Glode, die Thür
warb geöffnet. Der alte Klaus mit ber gepuberten
PBerüde ftand vor ihm und erlannte ihn mit einem
FSreudbenruf. „Ach, unjer Herr Lieutenant! Mein
Gott — und ein preußiicher Offizier — nad) ber
ſchrecklich langen Franzoſenzeit! Welch eine Freude!
— Ob die Herrſchaft den Herrn Lieutenant empfangen
würde? Aber natürlich doch! Solch eine charmante
Überraſchung!“ Er trippelte aufgeregt voran, öffnete
die Thür zum Wohnzimmer und nannte den Namen
des Gaſtes.
Ein freudiger Laut von drinnen her antwortete.
Haſſo trat über die Schwelle. Es war jo hell im
Gemad nad der Duntelbeit draußen, daß er einen
Augenblid wie geblendet fand. Yugleih aber be-
grüßte ihn herzliches Willlommen. „Rochlitz, lieber
unge, das ift ja prädtig, daß Sie wieder ba find!
Heil und unverjehrt! Gott fjei Dant!” Es war
jein väterliher Freund, Oberſtlieutenant Veldegg,
der ihn bei diefen Worten in die Arme jhloß.
Jetzt durchſtreifte Haſſos Blick das Zimmer,
ſpähend, ungeduldig. Julie trat auf ihn zu, ſeit
kurzer Zeit Frau von Conreuth. Sie war unver⸗
ändert hübſch, roſig und ſtrahlend, ein wenig ſtärker
geworden vielleicht. Mit Herzlichkeit ſtreckte ſie ihm
die Hand entgegen. „Sieh da, Junker Haſſo! Das
nenne ich wirklich eine Freude! — Was für ein
ftattliher Mann Sie geworden find! Haben ordentlich
ein Geficht befommen! Das hatten Sie früher faum,
nur ein Baar Augen und einen Mund! ch barf
Sie wohl mit meinem Manne befannt machen!”
Hallo 309g lachend ihre Hand an die Kippen.
„Run, gnädigfte Frau, Mund und Augen find nod
vorhanden, und beide auf dem alten Fled! Es madt
mid glüdlich, Thon auf den erften Blid von Shnen
eine Verbeflerung anerlannt zu hören! — — hr
Herr Gemahl übrigens ift ja mein alter Belannter!
Conreuth — ih jah Sie zulegt hHangend und bangend
in jhmwebender Pein, und jegt —“
„sinden Sie mid) wieder als ben Glüdlichiten ber
Sterbliden und können mir gratulieren!” ergänzte
Herr von Gonreuth, ihm die Hand fchüttelnd.
Wieder ging Haflos Auge juhend umher. Da
wurde die Thür geöffnet, und — fie flog herein.
„Daflo — lieber Halo!” Der AYubelruf der füßen
Stimme, die in jeinem Herzen einft jo zärtlichen
Wiederhall gefunden, Hang an fein Dhr. Renate —
wirklih. Mit ausgeftredten Händen eilte fie auf ihn
zu. Plöglih aber verhielt fie den Schritt und ihre
Arme janten herab. Eine tiefe Rojenfarbe ging über
ihr Geiiht. E& war, als hätte fich vor ihren Biden
irgend etwas wie durch einen Zauberichlag verwanbelt.
ne,
369. Schwertllingen.
„Renate, Sie find es wirtlid —!” Hallo ftand
vor ihr. Er fah die großen, rehfarbenen Augen zu
fih aufgeichlagen in feuchten Schimmer, mit fragendem
Blid, er jah die roten Lippen zittern wie in unter:
brüdter Erregung. Wäre er allein mit ihr gemejen,
er wäre vor ihr niedergelunten.
„Renate!“ rief er noch einmal. Sie ftredte ihm
die Hand Hin, und er beugte fich tief darauf nieder
und füßte fie mit innigem Ausdrud.
„Run, mein Töchterhen, Du bift wohl recht
froh, Deinen Sugendfreund wieder zu haben, friih
und lebendig, als einen hübjchen, flotten Reiters:
mann?” Herr von Veldegg war mit biefen Worten
zu ihnen getreten und legte zärtlich den Arm um
feine Tochter.
„Ja, Papa, ib bin froh und alüdlihd. Ych
fann es noch kaum fallen nad) ber langen Zeit der
Angft und Sorge!”
„Haben Sie gejorgt um mid, Renate?” fragte
Haſſo. Er hielt ihre Hand noch in ber feinen, und
fie erwiberte die Frage dur einen warmen Drud.
„Bott jei Dant, daß es vorüber ift!” jagte
fie leije.
„Aber nun jeßt Euch, Kinder,” mahnte Herr
von Beldegg. „Kommen Sie, Haflo, Sie müllen
uns viel, viel erzählen, wir willen ja jo gut wie
nichts von Shren Erlebnifjen!”
„Mit Vergnügen, Herr Oberftlieutenant, alles,
was Sie befehlen! — Aber — jagen Sie mir nur
noch eins, Renate,“ er bielt fie gleihlam mit den
Bliden fell. „Sie waren es, die heute bei unjerm
Einzuge in der Friedrichftraße am Feniter ftand
un _M
„Und Shnen den Rojentranz zuwarf, den Sie
jo geihidt auffingen! Das fragen Sie, Hallo? Ich
ftand mit meiner Freundin Elife Rüchel zufammen!
Haben Sie uns denn nit erfannt?”
„Sräulein von Rücdhel habe ich nicht gejehen!“
ermwiderte Hallo. „Ich Jah nur Sie, Renate, und —
gewiß babe ih Sie erkannt, obgleih Sie fich jehr
verändert haben!“
Sein Blid umfaßte fie mit einem Ausdrud bes
Entzüdens. „Lilientnojpe” hatte fie Rahel einft ge:
nannt. Und jebt war die Lilie erblüht, fo jchlant,
jo zart und königlich, wie nur je eine in prangenden
Königsgärten gewahjen. Und auh das Hatte fie
mit ihrem bolden Ebenbilde gemeinfam, daB ihre
reinen, jchneeweißen Blätter einen Kelch umjchlofien,
der wie Feuer glühte. Haflo folgte diefem Gedanken
und um ihn ber begann die übrige Welt in ein
wejenlofes Nichts zu verlinken.
GConreuth trat zu ihm und erfaßte lachend feinen.
Arm... „Nun kommen Sie zunähft mit den Füßen
mal wieder auf den Erdboden, mein lieber Rodhlig!
Wir warten darauf! Hier wohnen auch noch Leute!”
Hafjo verjuchte fIchlagfertig den nedenden An-
griff zu parieren. „Reden Sie fih nihts an ben
Hals, mein verehrter Herr! Entweder im Sattel, ober
jehr feft auf den Füßen! Und wie Sie wilfen, foger
auf Feitungsverteidigung verftehen fidh die Schillichen
Reiter!”
„Um fo befler für Sie! Vielleicht werden Sie’s
brauchen können, wer mag das willen!” raunte Herr
Roman von Hans Werber.
370
von Conreuth ihm nedend zu. Und Hallo verjuchte
ernitlih, den Zauber abzufchütteln, der ihn dem Erb-
boden entrüdt hatte,
Es war jpät geworden, ala er endlich ging,
jeinem Berjprehen gemäß die Kameraden in ihrem
gemütlichen „Schlupfwintel” aufzufuchen.
1.
Der alte Prinz Ferdinand und feine Gemahlin
waren die einzigen Glieder der Töniglihen Familie,
welche getreulich in Berlin ausgeharrt und die ganze
Zeit der feindliden Bejagung darin durchgemacht
hatten. Da fie fih jehr zurüdgehalten, ängitlich und
trauernd auf das engfte Familienleben beichräntt, jo
waren ihnen auh weder von Napoleon no von
einen Scergen erbeblihe SKräntungen zugefügt
worden und fie blidten ohne perjönlicde Anklagen
auf dieje Zeit der Fremdherrihaft zurüd. Dennoch
war den alten Herrichaften, zumal der Frau Prinzeffin,
einer ftolzen Hobenzollerntochter aus dem Schwebter
Haufe, ein Stein vom Herzen, als die Franzojen von
bannen zogen, und preußiiches Militär in ber Königs:
ftadt erihien. Preußiiher Trompetenihal, Trommel:
wirbel, — durftig tranf ihröbr den jo lange entbehrten
Klang! Thränen der Rührung füllten ihre Augen
und zum eriten Mal war es ihr wieder, als vermödhte
ihr Herz Hoffnung zu fallen für ein Wieberaufleben
von Preußens Größe. Es gab doch noch preußifche
Soldaten — preußifche Helden! Schill war ja in
Berlin. en
„Liebe Neal, ich wünfcdhe meine Salons wieder
zu öffnen!“ redete fie die freudig überrajchte Ober:
hofmeifterin an. „Arrangieren Sie eine Empfangs-
Soiree für morgen abend. Yh will den braven
Herrn von Schill und fein ganzes Dffizierforps bei
mir jeben, und alles von ber Hofgejellichaft, was
fih irgend in Berlin aufhält! — Die Zeit ber
Trauer war lang und hoffnungslos!” fügte fie mit
einem Seufzer hinzu. „Set wollen wir wieder an:
fangen zu hoffen! Und vor allen Dingen, um unfere
Offiziere ift es mir zu thun! Gie follen jehen, wie
durch alle Zeiten fi ihr Königshaus mit ihnen eng
litert fühlt!”
Gräfin Neal traf die Vorbereitungen zu der be
fohlenen Soiree mit großer Genugthuung, und die
Hofgejelihaft ging erfreut darauf ein. Ein Felt bei
ber Prinzeifin Ferdinand! Es war doch wieder wie
ein Ahnen kommender beilerer Zeit!
Mit ftolzer Würde durchichritt die hohe Frau
die Ihon gefüllten Säle, ihre Gäfte zu begrüßen.
Sie trug ein langjchleppendes Gewand von jchwarzem
Sammet und einen jchwarzen Spißenjchleier ilber
dem filbergrauen Haar, um den Hals einige Föftliche
PBerlenreihen als einzigen Schmud. Denn noch hatte
fie die Trauer nicht abgelegt um Prinz Louis, ihren
berrlichen, älteften Sohn, in welchem fie zugleich den
Genius von Preußens Macht und Größe beweinte.
Mit Huldvollem Neigen des Hauptes, bie und
da gnädig die Hand zum Gruß Hinftredend, fchritt
fie durch die Reihen der Gäfte. Doch noch juchte ihr
Blid voll unbefriedigter Erwartung. Da — jebt hatte
fie gefunden: Major von Schill mit Jeinen Offizieren.
367
Major von Schill an der Seite bes Uber:
Bürgermeiftere Gebeimrat Müller nahm fi gar
jeltjam aus mit jeinem jungen, wetterbraunen
Hufarengefiht unter den ernit ehrwürdigen Häuptern
der Stadt. Vielleicht bätte er lieber wie jonft in-
mitten feiner Lieutenants gejeflen und mit ihnen ge:
jeht und gelaht in der zwanglojen Kameradfchaft
bes Kriegerlebens. Doch bier jchon trat ihm über-
rafchend deutlih die Thatjache entgegen, dab man
ihn als eine offizielle Perſönlichkeit auffaßte.
Es wurden Reden gehalten und Toafte ausge:
bradt. Mand) edler Tropfen güldnen Weines floß
die durftigen Kehlen der kriegerifhen Herren hinab.
„Rohlig, was ift Dir denn heute?“ fragte der
Lieutenant Hagen, der Hafjo gegenüber ja. „Dein
Glas ift noch immer gefüllt! Menich, haft Du denn
feinen Durft befommen nad all dem Speftalel und
Hurrageſchrei?“
„Ich habe nicht mitgeſchrieen,“ erwiderte Haſſo
trocken. „Wie ſoll es mich durſtig machen, wenn
andere Menſchen ſich die Kehle anſtrengen!“
Die Kameraden kannten es an ihm, daß ſein
ſtets auf der Oberfläche liegender Humor bei ge-
jelliger Anregung bald überquellend zum Vorſchein
kam und ſich bis zu ausgelaſſener Tollheit ſteigerte.
Heute aber gewahrten ſie nichts davon. Haſſo war
nicht bei der Sache.
Nach aufgehobener Tafel trat Schill an ihn
heran. „Rochlitz, Sie haben ja zu Ehren der
Magiſtratsonkels gar keinen Lärm vollführt, was iſt
Ihnen denn eigentlich? Ich fah mich mehrmals
nach Ihnen um, glaubte fſchon, Sie hätten ſich
heimlich aus dem Staube gemacht!“
„Ich wünſchte mir heute ausnahmsweiſe Ihr
Lob zu verdienen, Herr Major!“ war Haſſos raſche
Antwort, „nun jcheint es mir Doch wieder nicht ge:
glüdt zu fein! Aus dem Staube machen aber
tönnten wir uns bald! Das dürften die ehrijamen Väter
der Stadt uns nicht verargen! Sie werden es nur
natürlih finden, wenn wir uns heute abend nod)
um unjere Schwadronen befümmern!“
SHil jah ihn lahend an. „Sie jehen mir
auch gerade jo aus, als zöge hr Herz Sie jekt
no zu Schwabron und Kommißdienft! Doch bente
ih, wir machen bier bald gemeinjam ein Ende und
beichließen den angebroddenen Abend gemütlich unter
uns! Hagen hat fich erboten, den Führer abzugeben.
Ich darf doch wohl annehmen, daß Sie fich unferer
vortrefflichen Gejelihaft nicht entziehen werden!“
„Sewiß nit, Herr Major! Wenn Sie er:
lauben, j&liefe ih mich Shnen etwas jpäter an!
Hagens Schlupfwinfel find mir nicht unbelannt! Ich
werde Sie wohl auffinden!”
„Stwas jpäter aljo!” wiederholte der Major.
„Run, fo amüfieren Sie fih gut bis dahin!”
Herr von Schill beiak PVerftändnis für die Art
von Ungeduld, welche den anderen heut feine eigenen
Wege fuchen ließ. Auch in feiner Bruft flug ein
heißes, glücverlangendes Herz, das nad) Rofen, nicht
einzig nur nad) dem Lorbeer verlangte. — — —
Hafjo ging eiligen Schrittes die Straße entlang,
dem Haufe in der Wilhelmftraße zu, das Veldeggs
bewohnten. Db fie zu Haufe waren? Gewiß! Sie
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
368
mußten doch annehmen, daß er heute ſchon käme —
ihn erwarten!
Renate! Db fie ihn wiebererfennen würde?
Ob fie fi verändert? Sechzehn Jahre war fie ge
weien, als er fortzog, ein halbes Kind no! Set
alſo achtzehn! i
DO, wie hatte er filh auf dies Wiederjehen ge-
freut! Wenn es ihm doch nur feine Enttäufchung
bereitete!
Nein, nein, da glänzte die erhellte Yenfterreibe,
fo trauli befannt, jo gaftfreundlih! Er flog die
Treppe binan und z30g ftürmiich die Glode, die Thür
ward geöffnet. Der alte Klaus mit ber gepuderten
Verüde ftand vor ihm und erkannte ihn mit einem
Freudenruf. „Ah, unjer Herr Lieutenant! Mein
Gott — und ein preußiicher Offizier — nad ber
ichredlih langen Franzojenzeit! Weldh.eine Freude!
— db die Herrjhaft den Herrn Lieutenant empfangen
würde? Aber natürlih doh! Sol eine charmante
Überrafhung!“ Er trippelte aufgeregt voran, öffnete
bie Thür zum Wohnzimmer und nannte den Namen
des Gaſtes.
Ein freudiger Laut von drinnen her antwortete.
Haſſo trat über die Schwelle. Es war ſo hell im
Gemach nach der Dunkelheit draußen, daß er einen
Augenblick wie geblendet ſtand. Zugleich aber be—⸗
grüßte ihn herzliches Willkommen. „Rochlitz, lieber
Junge, das iſt ja prächtig, daß Sie wieder da ſind!
Heil und unverſehrt! Gott ſei Dank!“ Es war
ſein väterlicher Freund, Oberſtlieutenant Veldegg,
der ihn bei dieſen Worten in die Arme ſchloß.
Jetzt durchſtreifte Haſſos Blick das Zimmer,
ſpähend, ungeduldig. Julie trat auf ihn zu, ſeit
kurzer Zeit Frau von Conreuth. Sie war unver⸗
ändert hübſch, roſig und ſtrahlend, ein wenig ſtärker
geworden vielleicht. Mit Herzlichkeit ſtreckte ſie ihm
die Hand entgegen. „Sieh da, Junker Haſſo! Das
nenne ich wirklich eine Freude! — Was für ein
ſtattlicher Mann Sie geworden ſind! Haben ordentlich
ein Geſicht bekommen! Das hatten Sie früher kaum,
nur ein Paar Augen und einen Mund! Ich darf
Sie wohl mit meinem Manne bekannt machen!“
Haſſo zog lachend ihre Hand an die Lippen.
„Nun, gnädigſte Frau, Mund und Augen ſind noch
vorhanden, und beide auf dem alten Fleck! Es macht
mich glücklich, ſchon auf den erſten Blick von Ihnen
eine Verbeſſerung anerkannt zu hören! — — Ihr
Herr Gemahl übrigens iſt ja mein alter Bekannter!
Conreuth — ich ſah Sie zuletzt hangend und bangend
in ſchwebender Pein, und jetzt —“
„Finden Sie mich wieder als den Glücklichſten der
Sterblichen und können mir gratulieren!“ ergänzte
Herr von Conreuth, ihm die Hand ſchüttelnd.
Wieder ging Haſſos Auge ſuchend umher. Da
wurde die Thür geöffnet, und — ſie flog herein.
„Haſſo — lieber Haſſo!“ Der Jubelruf der ſüßen
Stimme, die in ſeinem Herzen einſt ſo zärtlichen
Wiederhall gefunden, klang an ſein Ohr. Renate —
wirklich. Mit ausgeſtreckten Händen eilte ſie auf ihn
zu. Plötzlich aber verhielt ſie den Schritt und ihre
Arme ſanken herab. Eine tiefe Roſenfarbe ging über
ihr Geſicht. Es war, als hätte ſich vor ihren Blicken
irgend etwas wie durch einen Zauberſchlag verwandelt.
ö —— —— ——r e — — — — — — — — —— — — — — —
369 Schwertllingen.
„Renate, Sie find es wirflid —!” Hallo ftand
vor ihr. Er jah die großen, rehfarbenen Augen zu
fih aufgejhlagen in feuchtem Schimmer, mit fragendem
Blid, er jah die roten Lippen zittern wie in unter:
drüdter Erregung. Wäre er allein mit ihr gewefen,
er wäre vor ihr niebergelunten.
„nenate!” rief er noch einmal. Sie ftredte ihm
die Hand bin, und er beugte fich tief Darauf nieder
und füßte fie mit innigem Ausdrud.
„Run, mein Töchterden, Du bilt wohl recht
froh, Deinen Yugendfreund wieder zu haben, friih
und lebendig, als einen hbübichen, flotten Reiters:
mann?” Herr von Veldegg war mit diefen Worten
zu ihnen getreten und legte zärtlich den Arm um
jeine Tochter. Ä
„Sa, Papa, ih bin froh und glüdlid. Ych
fann es noch faum fallen nach der langen Zeit der
Angft und Sorge!”
„Haben Sie gejorgt um mid, Renate?” fragte
Hallo. Er hielt ihre Hand nody in der feinen, und
fie erwiderte die Krage durch einen warmen Drud.
„Bott jei Dank, daß es vorüber ift!” fagte
fie leife.
„Aber nun feßt Euh, Kinder,” mahnte Herr
von VBeldegg. „Kommen Sie, Hafjo, Sie müflen
uns viel, viel erzählen, wir willen ja jo gut wie
nichts von Shren Erlebniffen!”
„Mit Vergnügen, Herr Oberftlieutenant, alles,
was Sie befehlen! — Aber — jagen Sie mir nur
no eins, Renate,” er hielt fie gleichlam mit den
Bliden fell. „Sie waren es, die heute bei unjerm
Einzuge in der Friedriditraße am Fenfter ftand
und —”
„Und Shnen den Rojentranz zuwarf, den Sie
jo geichidt auffingen! Das fragen Sie, Haflo? Ich
ftarnd mit meiner Freundin Elife Rüchel zujammen!
Haben Sie uns denn nicht erkannt?”
| „Sräulein von Rüchel habe ich nicht gejehen!“
erwiderte Hallo. „Ih Jah nur Sie, Renate, und —
gewiß babe ih Sie erfannt, obgleih Sie fich ehr
verändert haben!“
Sein Blid umfaßte fie mit einem Ausdrud des
Entzüdens. „Lilientnojpe” batte fie Rahel einft ge:
nannt. Und jet war die Xilie erblüht, jo jchlant,
jo zart und königlich, wie nur je eine in prangenden
Königsgärten gewadhien. Und aud das hatte fie
mit ihrem holden Ebenbilde gemeinfam, daß ihre
reinen, jchneeweißen Blätter einen Kelch umichloflen,
der wie Feuer glühte. Hafjo folgte diefem Gedanken
und um ihn ber begann die übrige Welt in ein
wejenlojes Nichts zu verlinken.
Conreuth trat zu ihm und erfaßte lachend feinen.
Arm.. „Nun tommen Sie zunädhit mit den Füßen
mal wieder auf den Erdboden, mein lieber NRochlit!
Wir warten darauf! Hier wohnen audy noch Xeute!”
Haffo verfuchte jchlagfertig den nedenden An-
griff zu parieren. „Reden Sie fih nihts an ben
Hals, mein verehrter Herr! Entweder im Sattel, oder
jehr feft auf den Füßen! Und wie Sie willen, fogar
auf Feltungsverteidigung verjtehen fidh die Schillihen
Reiter!”
„Um fo befjer für Sie! Vielleiht werben Sie’s
brauchen können, wer mag das willen!” raunte Herr
Roman von Hans Werder.
370
von Conreuth ihm nedend zu. Und Haflo verjudte
ernitlih, den Zauber abzufchütteln, der ihn dem Erb-
boden entrüdt hatte.
Es war Ipät geworden, als er endlich ging,
jeinem Berjpreden gemäß die Kameraden in ihrem
gemütliden „Schlupfwintel” aufzufuchen.
I.
Der alte Prinz Ferdinand und feine Gemahlin
waren die einzigen Glieder der königlichen Familie,
welche getreulih in Berlin ausgeharrt und die ganze
Zeit der feindliden Belakung darin durchgemacht
hatten. Da fie fih jehr zurüdgehalten, ängftlich und
trauernd auf das engite Familienleben beichräntt, jo
waren ihnen au weder von Napoleon noch von
einen Scergen erheblihe SKräntungen zugefügt
worden und fie blidten ohne perlönlide Anklagen
auf diefe Zeit der Fremdherrfchaft zurüd. Dennoch
war den alten Herrihaften, zumal der Frau Prinzelfin,
einer jtolzen Öobenzollerntodhter aus bem Schwebter
Haufe, ein Stein vom Herzen, als die Franzojen von
dannen zogen, und preußilches Militär in der Königs-
ftadt erihien. Preußilcher Trompetenihal, Trommel:
wirbel, — duritig trant ihröbr den fo lange entbehrten
Klang! Thränen der Rührung füllten ihre Augen
und zum eriten Mal war es ihr wieder, als vermödhte
ihr Herz Hoffnung zu faflen für ein Wiederaufleben
von Preußens Größe. Es gab do noch preußilche
Soldaten — preußifhe Helden! Schill war ja in
Berlin. —
„Liebe Néal, ich wünſche meine Salons wieder
zu öffnen!“ redete ſie die freudig überraſchte Ober⸗
hofmeiſterin an. „Arrangieren Sie eine Empfangs⸗
Soiree für morgen abend. Ich will den braven
Herrn von Schill und ſein ganzes Offizierkorps bei
mir ſehen, und alles von der Hofgeſellſchaft, was
fih irgend in Berlin aufhält! — Die Zeit ber
Trauer war lang und hoffnungslos!” fügte fie mit
einem Seufzer hinzu. „Sebt wollen wir wieder an-
fangen zu hoffen! Und vor allen Dingen, um unfere
Offiziere ift es mir zu thun! Sie jollen jehen, wie
durch alle Zeiten fi ihr Königshaus mit ihnen eng
liiert fühlt!”
Gräfin Neal traf die Vorbereitungen zu der be
fohlenen Soiree mit großer Genugthuung, unb Die
Hofgefelichaft ging erfreut darauf ein. Ein Seit bei
der Prinzejfin Ferdinand! Es war doch wieder wie
ein Ahnen kommender beflerer Zeit!
Mit ftolzer Würde durchichritt die hohe Frau
die Ihon gefüllten Säle, ihre Gäfte zu begrüßen.
Sie trug ein langichleppendes Gewand von jchwarzem
Sammet und einen jchwarzen Spitenjchleier über
dem filbergrauen Haar, um den Hals einige köftliche
Perlenreihen als einzigen Schmud. Denn noch hatte
fie die Trauer nicht abgelegt um Prinz Louis, ihren
berrlidden, älteiten Sohn, in mweldem fie zugleich den
Genius von Preußens Macht und Größe bemeinte.
Mit Huldvollem Neigen des Hauptes, bie und
da gnädig die Hand zum Gruß binftredend, jchritt
fie durch die Reihen der Gälte. Doch noch Juchte ihr
Blid vol unbefriedigter Erwartung. Da — jet hatte
fie gefunden: Major von Schill mit jeinen Offizieren.
371 Schwertllingen.
Ein Leuchten ging über das jchöne alte Gefidht.
Sie blieb ftehen und firedte beide Hände dem ge:
feierten Helden entgegen. „Herr von Scdill, ber
Held, der Retter unferes Baterlandes! Seien Sie
mir taufendmal willlommen!”
Betroffen, fat erjchredt prallte Schill zurüd.
„Eure Königliche Hoheit halten zu Gnaden — nein,
folhe Worte verdiene ich nicht! Meine armieligen
Dienste —” abbredend, wie in Beihämung, beugte
er fich tief über die Hände ber fürftlichen Frau.
„Eh bien — wir wiflen, was wir Shnen zu
danken haben, mein lieber Herr von Schill! Seine
Majeftät der König und unfere geliebte Königin jo
gut wie wir alle!”
Sdill verneigte fihd — ftumm wie immer, wenn
zu ihm von der Königin gejprohen ward. Denn
der Enthufiasmus, der für die angebetete Herrin in
jeinem Herzen glühte, entzog fich menjchlicher Sprade.
„Und dies find Ihre tapferen Mitlämpfer aus
der Kolberger Ruhmeszeit?” fuhr die Prinzelfin
gütig fort. „Nennen Sie fie mir alle, Herr von Schill!
Ich will jeden einzelnen wiflen und Tennen!”
Nacdeinander ftelte der Major feine Offiziere
vor, oft einige erläuternde Worte der Namensnennung
zufügend. Für jeden hatte die Prinzeifin bulbvolle
Worte und einen Hänbdedrud.
Als der Name Rodhlig ihr Ohr berührte, ſchrak
die Prinzeffin zufammen. „Ein Rodlig war während
des Feldzuges in der Suite meines Sohnes —”
„Bu Befehl, Königliche Hoheit! Ich hatte Die
. Ehre und das große Glüd!” Ein Blid begegnete
dem ihren, jo vol tiefen Schmerzes, daß es ihr
wunderbar durchs Herz ging.
„Oh! — Und find Sie denn in der Schladt
meinem Sohne zur Seite gewelen?”
„Zu Befehl!” Hang feine kurze Antwort. Er
jentte Kopf und Blid. Es war ihm qualvoll, mitten
in diejem Feftesgewühl von jener Nachiftunde jeines
Lebens reden zu follen.
Der Blid der trauernden Mutter aber baftete
auf der fingerbreiten Narbe, die wie eine Pflüger:
furde unter dem dichten Haar zu verfolgen war.
„Herr von Rodhlig, find Sie etwa jener Hujaren-
offizier, der auf dem Schladhtfelde —” auch fie hielt jett
inne, denn ihre Stimme ward unfider. Haflo Ichwieg.
„Jamwohl, Königliche Hoheit, er war es, Der
bier gemeint ift!” bejtätigte Schill für ihn.
„D mein Gott!” feufzte die Prinzeifin. Und
dann nad) Turzer Pauje. „Herr von Rodlig, bier
fönnen wir nicht darüber fprehen! Kommen Sie
morgen zu mir, gegen zwölf Uhr mittags! Geben
Sie Befehl, liebe Neal, daß er mir fogleich gemeldet
wird!" Mit Wärme reichte fie ihm die Hand zum
Kufle, und Haflo trat zurüd.
„Sraf Püdler, von Bismard, Graf Moltte, von
Brünnow, von Bornftedbt” — alles Namen von gut
befanntem Klange.
„Herr Albert von Wedel!” ftellte der Major
weiter vor.
„Sin Wedel war doch fon bier? Brüder
vielleicht?” fragte die Prinzejfin.
„zu Befehl, Königliche Hoheit! Webell I ift
mein Bruder, wir find beide aus Braunsforth!“
Roman von Hans Werber.
372
„Sreut mi, freut mi — aber Herr von
SHhil, haben Sie denn aud) Knaben unter Yhrer
tapferen Schar! Wie alt find Sie wohl, mein lieber
Wedell?“
Das jugendliche Antlitz, allerdings noch bartlos,
weich und faſt zart gefärbt, erglühte in Unwillen
und Beſchämung.
„Eure Königliche Hoheit halten zu Gnaden, ich
bin neunzehn Jahre alt! Wir Wedells ſehen oft
jünger aus als wir ſind!“
„So — nun, laſſen Sie ſich meine Frage nicht
kränken!“ lächelte ſie gütig. „Um ſo größer der
Ruhm, in ſo jungen Jahren ſchon zu den Kriegern
des Schillſchen Korps zu zählen!“
Als die Vorſtellung der Herren beendet, überflog
das Auge der hohen Frau noch einmal die ſtattliche
Reihe mit Wohlgefallen.
„Unſere liebe Jugend hat lange, lange Frohſinn
und Tanz entbehrt! Ich hoffe, mit unſeren flotten
Offizieren wird beides zurückgekehrt ſein. — Das
Schillſche Korps wird ſich im Ballſaal zu behaupten
wiſſen wie im Sattel und vor dem Feinde!“ Sie
lächelte, grüßte und ſchritt hoheitsvoll weiter.
Wie eine ſchillernde, glänzende Woge aber um—⸗
rauſchte es jetzt von allen Seiten die Helden des
Tages. Seber wollte” fie tennen lernen, fprecden,
ihnen die Hände drüden. Den fürlorglic bedacdhten
Müttern gingen die Augen über beim Anblid all diefer
jungen Kavaliere, unter denen noch fein einziger —
bis zum Kommandeur hinauf — in ehelichen Banben
gefellelt war. Den Mädchen aber jchlug das Herz
höher bei dem Gedanken, von einem der Schillihen
Reiter auch nur zum Tanze geführt zu werben.
Mit Enntſchloſſenheit bahnte ſich Haſſo durch
dieſen Wall der Huldigungen einen Weg in freies
Fahrwaſſer. Er hatte ſeine weiße Lilie mit dem
güldenen Herzen von weitem erblickt und alles, was
es ſonſt noch im Saale gab, erſchien ihm wie
Hinderniſſe und überflüſſige Staffage.
Da ſtand ſie in weißem Seidenkleide, das ein
goldener Gürtel um die feine Taille zuſammenhielt.
Das dunkle Haar wellte ſich leicht um die weiße
Stirn, am Hinterkopf hoch in einen antiken Locken⸗
knoten zuſammengefaßt.
„Sieh nur, Eliſe, das iſt er, der da eben auf
uns zukommt!“ flüſterte ſie erregt, leiſe den Arm
der Freundin berührend. „Hat er ſich nicht unge⸗
heuer verändert? So breit iſt er geworden, der
Schnurrbart ſo lang — und das Geficht ſo voller
Narben!“
„Gewiß, mein Herz! Du haſt allen Grund,
ſtolz auf ihn zu ſein!“ erwiderte Eliſe mit einem
warmen Blick auf das ſtrahlende Geſicht der Freundin.
Dieſe lächelte jetzt dem Ankommenden den ſonnigſten
Gruß entgegen.
„Guten Abend, Renate! Haben Sie den erſten
Tanz noch für mich frei?“ war Haſſos atemloſe Frage.
„O gewiß, ſeien Sie unbeſorgt! Sieh, Eliſe,
hier iſt er!“
Eliſe von Rüchel war ein wenig älter als
Renate, ein ſchönes Mädchen von kräftig ſchlanker
Geſtalt, mit aſchblondem Haar und einem feſten,
klaren Blick in den hellblauen Augen.
|,
373 Schwertklingen.
„Darf ich hoffen, daß Sie fih meiner nod er:
innern, gnädiges Fräulein?” wandte Hafjo fich ihr
lebhaft zu.
„Ganz gewiß! Auf den erften Blid, jchon neulich
beim Einzuge erfannte ih Sie!” verfiherte fie
freundlich.
„Rein, nein, auf den allererften Blid babe nur
ih ihn erlannt!” behauptete Renate. „Du fahft ihn
erit, als ich ihn Dir zeigte! Geftehe es ein, Elije!“
Haflo Heftete einen kurzen, brennenden Blid
auf fie. Zhr Anblid, das Sintereffe, welches fie ihm
entgegenbradhte, erfüllten ihn mit einem Entzüden,
das im Ungeftüm der Steigerung ihn faft über:
wältigte. Wie konnte nur ein Menichenkind auf
Erden jo über alle Beichreibung Holdjelig jein! Und
gegen ihn jo engelbaft liebreih und füß, ihn, den
fein Menich jonft Tieb gehabt! Sein Herz jhwoll
über in dem Gefühl, als follte es ihm die Bruft
Iprengen! Wie heißer Sübmwind ging es über einen
eisgefeflelten Strom. Wohin mit all ber über:
Ihäumenden Flut?!
Sept ftimmten die Geigen den erften Walzer
an. So viel Befinnung hatte er noch gerade, Fräulein
von NRücdhel um den nädfifolgenden Tanz zu bitten,
dann 309 er Renate in feinen Arm und flog mit
ihr in den Wirbel des Tanzes hinein. Ein wenig
außer Atem Tehrte fie zurüd. Eine kurze, knappe
Berbeugung, damit ließ er fie auf ihren Plaß gleiten
und trat an ihre Seite.
„Stürmen jo die Schillihen Reiter auf den
Feind wie zum Tanze, dann wundert es mich nicht,
wenn ber Sieg ben Hufen ihrer NRoffe folgt!” Renate
Iprah es lächelnd und mit bem eigentümlich me:
lobifhden Klang ihrer Stimme, der fich durch lauteftes
Getöje hindurch geltend machte.
Ein Offizier, der in ihrer Nähe ftand, drehte
fih jchnell herum, er hatte die Worte gehört. „Wer
find bie beiden Damen?” flüfterte er Hallo zu.
„Die beiden Ichönften Mädchen von Berlin,
Fräulein von Veldegg und Fräulein von NRüchel!“
„zochter des Generals?”
„Jawohl!“
„Bitte, ſtellen Sie mich vor!“
„Herr Major von Schill!“
Renate ſprang auf, ihr Geſicht erglühte. „Darf
ich um einen Tanz bitten, mein gnädiges Fräulein?“
fragte der Gefeierte einfach.
„Einen Tanz — Major Schill, — iſt das
nicht zu viel für ein ſterbliches Menſchenkind?“ und
ſie blickte zu ihm auf wie zu einem aus Walhall
herniedergeſtiegenen Helden, deſſen Stirn der Lor—
beer der Unſterblichkeit krönt.
Er ſah ſie an mit dem aufſprühenden Blick
ſeiner ſchwarzen Augen. „Ich wünſchte, die jungen
Damen, welche die Gnade haben wollen, mit mir
zu tanzen, ſprächen nicht in ſolchem Ton zu mir!
Seien Sie doch barmherzig — was ſoll ich denn
darauf antworten?“
Roman von Hans Werder.
374
„Sie haben gar nichts darauf zu antworten,”
erwiderte Renate mit unverminderter Wärme, doc)
in leihterem Ton. „Der Ruf Ihres Namens er:
lingt wie Trompetenihal dur die Welt! Die
Shnen bier entgegengebradhten Huldigungen find nur
die Antwort darauf!“
„Aber es ift die rechte Antwort nicht!” rief
SHhil. „Man madht zu viel aus mir!” *)
Wie ehrlih das Hang! Die überzeugungsvolle
Wahrhaftigkeit eines ganzen Mannes.
Ssebt beftete Elife Rüchel ihren Maren, forjchen-
den Blid auf ihn. Sie war fo enthufiaftiicher Be:
geifterung nicht fähig wie ihre jüngere Freundin.
Aber diefe Äußerung des vielbewunderten Mannes
berübrte fie mit tieffter Sympathie.
„Man wird hnen diejes Wort nicht glauben,
Her von Schill,” jagte fie janfl. „Wir find
ja jo glüdlih, wir armen Preußen, endlich) wieder
einen Helden zu haben, für den wir ung begeiftern
können!“
„Es iſt aber ſehr ungünſtig für mich,” er:
widerte der Major, „wenn man mir jetzt nicht glaubt
und ſpäter vielleicht ſelber dahinterkommt! — Aber
Sie, Fräulein von Rüchel, nicht wahr, Sie glauben
mir? Zu Ihnen paßt die Begeiſterung nicht!“
Freundlich erwiderte Eliſe ſeinen ernſten Blick
und lachte ein wenig. „Ich würde als eine ſchlechte
Patriotin erſcheinen, wenn ich Ihnen — ſchon heute
— ſolchen beſcheidenen Wunſch verſagte! Alſo, ich
will Ihnen glauben und alle Begeiſterung beiſeite
laſſen!“
„So, Herr Major, jetzt ſteht Fräulein von Vel—
degg als ſchlechte Patriotin da, weil ſie ſich für
meinen Regimentskommandeur begeiſtert!“ warf Haſſo
dazwiſchen. „Das kann ich mir als guter Schill⸗
Huſar nicht gefallen laſſen!“
„Ach, Haſſo, jetzt fangen Sie auch noch an!“
wehrte ſich Schill.
„Ja, Herr von Schill, er hat aber recht, mir
beizuſtehen!“ erklärte Renate. „Sie haben mich mit
meiner Begeiſterung jämmerlich abblitzen laſſen. Wie
verſchaffe ich mir dafür Genugthuung?“
„Es wird Ihnen daran nicht fehlen!“ ent—⸗
gegnete Schill mit einem Schatten von Befangenheit.
„Vorläufig bitte ich um mein gutes Recht, gnädiges
Fräulein! Der Tanz, den Sie mir gütigft ge-
währten, bat begonnen!” Und fo wiberfuhr dem
begeilterten Mädchen wirklih das Unfaßliche, mit
dem Helden von Kolberg eine Mazurla tanzen zu
dürfen.
War es das Bemwußtjein diejes Vorzugs, oder
ward ihr ein anderes, tieferes Glüd gegenwärtig
— Renate date an diefen Abend zurüd wie an
den Aufgang eines neuen großen Glanzes, der fid
fortan über ihr Leben breiten jollte.
H) Schills oft wiederholtes Wort,
(Fortſetzung folgt.)
—,— — — -
875 Ohne Gott.
Obne
Roman von €. Karl.
376
Gott!
Roman
bon
€. Karl.
(Fortfegung und Schluß.)
So jagen fie eines Sonntags beim Nachmittags:
taffee und Schmicber fuchte fie zu einem Spasier:
gange zu überreden. Sie wäre jebt gern mit ihm
gegangen, aber fie konnte fich jo jchwer entichließen,
das Kind allein in der Wohnung zu laflen, und ben
Kinderwagen binter fich berzuziehen, wollte ihr Hans
nicht geftatten. Er that fich gelegentlich etwas darauf
zu gut, ein Arbeiter zu fein, liebte es aber, berren-
mäßig aufzutreten.
Während fie noch miteinander bebattierten und
der Ton auf beiden Seiten jchon gereizt zu werben
begann, Hopfte es und Frau Köhler trat ein. Alma
begrüßte die einfache Frau herzlich, fie war ihr ftets
ein bilfreiher Engel geweien und hatte auch während
ihrer langen Krankheit das Hauswejen wenigftene
etwas in Ordnung gehalten, jomeit e& ihre ftarf be-
jegte Zeit geitattele. Man jah es der Frau jchon
am Gefiht an, daß etwas Außerorbentliches fie be-
ihäftigte und es bedurfte faum einer Frage Schmiebers,
um ihr da® Herz auf die Zunge zu bringen.
„Sie haben fie gefunden, fie haben Du ge:
ftohlenen Saden gefunden,” rief fie.
„Welche geitohlenen Sachen?“ fragten Hans
und Alma wie aus einem Munde.
„Uhr und Portemonnaie vom Herrn Wahrholm,”
rief die Frau, „nun willen die Herren, daß mein
Mann ehrlich ift, ich hab’ nie daran gezweifelt.”
„Wo find die Sadhen gefunden?” fragte ber
Dann.
„Bor der Stadt, ganz auf ber andern Seite
wo wir wohnen,” rief Minna. „Der Dieb hat bas
Geld aus dem Portemonnaie genommen, es find gegen
hundert Mark drin gewejen, hat die doppelten goldenen
Dedel von der Uhr abgebrochen und das leere Porte-
monnaie und das Uhrwerk in eine Zeitung gemwidelt
und in einen Haufen mit Baufchutt geftedt. Da ift
es geitern beim Abfahren des Schuttes gefunden und
im Portemonnaie hat no eine Vifitenkarte geitedt
und die Zeitung ift von dem Tage gemweien, wo mein
Mann den Herrn geftohen bat. Der Herr bat fie
in der Taiche gehabt und fih was rot angeltrichen
zum Borlejen.“
„Welches Glüd,” rief Alma, „baß die Wahrheit
noch vor Thoresichluß zu Tage kommt, das Schwur:
gericht tritt ja in einigen Wochen zulammen und noch
einmal wäre die Sade kaum vertagt.”
„Rein, fie wäre jekt zum Sprud gelommen
und Köhler wegen verfuhten Raubmorbes angellagt
worden, der Herr Unteriuhungsrichter hat es mir
gelagt. Er ließ mic) heute früh rufen, um mich noch
einiges zu fragen. Köhler ift gleich nach feiner That
zu uns gelaufen, das ftand ja fef, er fam fchon vor
neun Uhr. Wäre er erft an der Ablabeftelle ge:
weien, fo hätte er eine Stunde mehr gebraucht. Ad,
Alma, ih fann ja dem lieben Gott nicht genug
banken, daß er die Wahrheit an ben Tag gebracht
hat. Mein Mann bat ja fchlecht, fehr fjchlecht ge:
banbelt, aber wenigftens nicht gemein. Wenn er nun
aus dem Zuchthaufe wieberlommt, brauch’ ich mid)
doch nicht fo für ihn zu fchämen, als wenn die Leute
bäcdhten, daß er geraubt und geftohlen hätt! — nun
bat er doch wieder feinen ehrlihen Namen.“
„Und bat man feine Ahnung, wer ber Ruchlofe
war, der einen fcheinbar Sterbenden berauben konnte,
ftatt Hilfe herbeizurufen?” fragte Schmiebder.
„Keine Ahnung hat man,” jagte die Frau, „aber
das ift mir auch ganz egal, der liebe Gott wird ihn
ihon finden und trafen.”
Schmieber lächelte fpöttifih, und Alma nötigte
die Nachbarin, eine Taffe Kaffee zu trinken.
Nah und nah kam die Rebe in ein rubigeres
Fabrwaller und Stlein- Hanna mußte den Geipräd:
ftoff hergeben. Frau Köhler hielt ihr die Finger in
lebhafter Bewegung vor das Gefiht und fchüttelte
ben Kopf, als die Kleine e8 gar nicht zu bemerken jchien.
„Richt wahr,” nahm Schmieder das Wort, „Sie
wundern fih aud, daß bie Kleine noch nichts wahr:
nimmt. Mein Tleiner Paul wurde nur jehe Wochen
alt, aber er war entichieden weiter.”
„Du möchtet wohl, die Kleine jolle fi allein
aufrihten und ‚Papa‘ jagen,” jcherzte Alma, aber
der Scherz fam nicht redht von Herzen, eigentlich
ärgerte fie fih, daß man ihr jüßes Kindchen nicht
außergewöhnlich vorgejchritten fand.”
„Das Kleinen wird doch nicht blind jein?“
meinte Frau Köhler bejorgt.
„Nein,“ antwortete Schmieder, „blind ift
Sannden glüdlicherweije nicht, als ihr neulich ein
greller Lichtftrahl plöglich ins Auge fiel, zudten die
Kider, aber fie ift merfwürdig teilnahmlos.“
„Das Kind ift außerordentlich ruhig,“ entichied
Alma, „und das ift ein Glüd für mid, da ich feine
Bedienung halten kann.”
„Run, fo mad’ Dir feine Ruhe wenigftens zu
nuge und entichließe Dih zu einem Spaziergange,
die Kleine liegt ja ftundenlang ohne fi} zu rühren,“
bat Schmieder.
Alma zögerte noch, aber Frau Köhler Ichaffte
Nat. „Geben Sie mir das Kindchen mit hinunter, ich
gehe heute nicht mehr aus, da kann es ruhig auf meinem
Bett liegen und ich fie mit der Handarbeit daneben.”
Das war ein annehmbarer Borihlag. Alma
fuhte jchnell alles Erforderlihe für die Pflege des
MWürmdens zufammen, und Frau Köhler verließ mit
ihrer leichten Bürde die Wohnung.
Sn der ihrigen angelommen, blidte fie lange
377 Ohne Gott.
und traurig in bie ftarren, ausdrudslofen Augen ber
Kleinen und fuhr prüfend mit der Hanb über ben
ungewöhnlich großen Kopf. „Armer Wurm,” jprad)
fie dann befrübt vor fi bin, „Du wärft auch befier
nicht zur Welt geflommen. Ych fürdhte, Deine Eltern
werden wenig Freude an Dir erleben.”
Sie bettete das Kind warm und weich und jete
fih mit dem Stridzeug an das Fenfter, um bald in
tiefe Gedanten zu verfinten. — — —
Alma räumte das Kaffeegerät zujammen und
madte fih zum Ausgehen fertig. Sie juchte einen
recht eleganten Hut hervor, den Schmieder ihr im
vorigen Sommer gleih nad ihrer Vereinigung ge:
Ichenft und der fie damals ganz außerordentlich gut
gelleidet hatte. Sie nahm auch basjelbe anjchließende
Sädchen zur Hand, aber jest, nun fie bas befannte
Bild wieder aus dem Spiegel anjah, wurde ihr recht
Har, welhe Veränderung diefes eine Sahr in ihrem
Äußeren bervorgebradht hatte und ihre gute Laune
war fort. Statt des janften Dvals zeigte ihr Ge:
fiht langgezogene Linien und das zarte Rot ber
Wangen war verblichen. Die Veränderung war nad)
der jchweren Krankheit ganz natürlich und bei ihrer
Yugend hätten wenige Wochen der Pflege und Ge-
mütsruhe bingereicht, alles Verlorene wieder einzu:
bringen. Zubem war fie nit einmal unkleidjam,
das Gefiht jah reifer und durchgeiftigter aus. Aber
Alma jahb nur die Veränderung und dachte nichts
anderes als: Wie lange wird e8 noch dauern, bis
ih ganz häklih bin und Hans mich verläßt. Und
mit diefem Gedanten kam wieder die alte wahn:
finnige Angjt über fie und fie zitterte innerlich, während
fie äußerlich den Mund zu einem Lächeln zwang.
Die Thürglode wurde gezogen und Hans, ber
bereits fertig war, öffnete. SChereje ftand im Thür:
rahmen und blidte lächelnd um fih. Sie war immer
noh am Drt, niemand wußte weshalb, denn ihr
Engagement an der Specialitätenbühne hatte bereits
vor drei Monaten jein Ende erreicht.
„Ih will mid ausruhen und meine Eriparnifle
verzehren,” äußerte fie auf Befragen, es war aber
fonderbar, daß fie zu diefem Zmwed den Sommer in
ber beißen Großftabt blieb.
- „Ste bleibt um meines Hans willen, fie legt
es darauf an, meine Nachfolgerin zu werben,” fagte fich
Alma heimlich und brennende Eiferjudt flieg wie ein
Feuer in ihr auf, das alle beileren Regungen verzehrte.
„Nun, das nenne ich eine Überrafhung,“ rief
Hans freudig, indem er der Eintretenden die Hände
Ihüttelte. „Seien Sie herzlich willfommen.”
Auch Alma trat hinzu und reichte dem Gaft die
Finger, aber die Begrüßungsmworte blieben ihr in
der Kehle fteden.
„Ih Tomme nicht, um bier zu bleiben,” begann
Therefe, „das Wetter ift herrlich, nicht zu heiß, nicht
zu falt, da wäre ein Beluch des Gartenkonzerts auf
Steffenshöhe anzuraten.”
„samos,” rief Schmieder, „meine Frau war in
diejem Sommer noch) in feinem Gartenlonzert, wir
tommen mit.” |
Auf Almas Herz jentte fih eine jchwere Lat.
Sie hatte gehofft, mit Hans einen jchönen Spagier:
RomanzZeltung 1896.
Roman von €. Rarl.
313
gang, vielleicht mit einer Heinen Rafl in einem Bier:
garten maden zu dürfen und frühzeitig wieber heim
zu fein. Nun würde fie bis elf Uhr auf Steffens:
höhe figen und zujfehen müflen, wie Hans Therefen
die Cour fchnitt. Sie legte es jedesmal darauf an
und er that ihr ben Gefallen. „Nur zum Scherz,”
pflegte er zu jagen, aber wie leicht konnte aus dem
Scherz Ernft werben. oo
Dazu ihre äußere Ericheinung. Almas Garbe-
robe war gut und geihmadvoll gewählt, fie hatte als
Schhneiderin Erfahrung darin, aber die Kleider waren
ausnahmslos vom vorigen Sahr. Therefe dagegen
firahlte auch heute wieder in bochmoderner Toilette,
die in geradezu ftudierter Weile ihrer Eigenart an:
gepakt war. Sie jah blendend aus und ein gemwiller
Stih ins Naffiniert:Pilante, der nah Halbwelt
Ichmedte, war für Schmieder, als Gegenjag zu feiner
bürgerlich ehrbaren „Frau“ nur ein Reiz mehr.
Am Garten von Steffenshöhe waren bei ihrer
Ankunft die beiten Pläte bereits bejeßt und Alma
fteuerfe in einem Gefühl der Erleichterung dem abge
legeneren Gartenteil zu, aber Thereje rief entjchieben:
„Nein, im Wintel fige ich nicht,“ beauftragte einen
Kellner, recht im Mittelpunkt des Gartens einen Extra:
th für fie zu ftelen und unterftügte den Munich
mit einem beimlihen Xrintgeld.
Da jagen fie nun, recht wie auf dem Präjen-
tierteller, und es dauerte nicht lange, jo fanden fi
aud ein paar junge Yebemänner dazu, bie den Stern
der Specialitätenbühne erfannt hatten.
Schmieder mit feinem Anftand, feiner gebildeten
Sprahe und guten Kleidung ‚behauptete fi voll-
fommen in dem Kreife, der hinter dem vorgeftellten
„Heren Schmieder” wohl alles andere eher als einen
Arbeiter vermutete. Alma juchte ihre Befangenheit
zu bemeiftern, um nicht nachträglich von Hans wegen
albernen Benehmens ausgefcholten zu werben, fie be:
mübte fih, an der Unterhaltung teilzunehmen, ob:
wohl der leichtfertige Ton derjelben fie abftieß.
Der erponierte PBlah freilih war ihr gräßlich,
aber die Duntelheit begann fich einzuftellen und die
bunten Ölasgloden der Zampen verhießen eine minder
blendende Beleudtung, als fie Frau Sonne ihnen
bisher hatte angebeihen lafien.
Da trat wieder ein Herr zu ihrem Tiih und
bat um die Erlaubnis, fih einen Stuhl bazujegen
zu dürfen. Der Zufall führte ihn neben Alma, die
mit Entiegen den Sohn einer wohlhabenden Familie
erfannte, bei der fie früher gearbeitet hatte. Eine
Weile hatte er nur Augen für Therefe; dann aber
wenbete er fih an Alma, die er fofort erfannte. Sie
hatte in dem jchlicht bürgerlichen Haushalt jeiner
Eltern oft im Familienzimmer gearbeitet, und der
junge Mann, dem das hHübfhe Mädchen geftel,
wiederholt den vergeblihen Verfuh gemadht, fie nad)
Haufe zu geleiten, oder in ein Neflaurant zu führen.
„Ab — Fräulein Liedle — fieht man Sie aud)
einmal?” begrüßte er fie. „Das iftja darmant — find
diefen Winter nirgend zu jehen gewejen, mein |chönes
Fräulein — babe immer vergeblich darauf gehofft.“
Alma erglühte bis unter die Saarwurzeln und
preßte die Lippen zujammen, es lag bei aller Ga:
IV. 27
379 Ohne Gott.
lanterie eine gewifle Nichtachtung in feinem Tone.
Scämieder glaubte ihr zu Hilfe fommen zu müflen.
„Meine Frau,” jagte er an ihrer Stelle mit Be:
tenung, „ilt lange Zeit frank geweien, jegt aber zu
meiner Freude wieder ganz mwohlauf.”
„ah“ — madte der andere — „die Herriaften
find verheiratet — bitte um Entichuldigung, ‚gnädige
Frau‘,“ und dabei verzog er das Gelicht jo jpöttiich,
legte auf die Worte ‚gnädige Frau‘ eine jo bejondere
Betonung, daß Alma fie ald Beleidigung empfand.
Er war augenicheinlich in die Verhältniffe volllommen
eingeweiht.
Auh Schmieder fühlte den Hohn Heraus und
fein Gefiht rötete fi vor Zorn. Aber er mußte
Ihweigen. Die Morte enthielten Teine Beleidigung
und den Ton durfte er nicht kritifieren, er hatte ihn
ja berausgefordert. Auch ignorierte ihn der junge
Mann — ein Gerichtsreferendar Langenbah — als ob
er Luft ſei.
Langenbach wünſchte augenſcheinlich von Thereſe
ganz beſonders beachtet zu werden und in ſeinem
Zorn beſchloß Schmieder, den ziemlich unanſehnlichen
Mann bei ihr aus dem Sattel zu heben. Er rückte
plötzlich noch näher an ſie heran und begann, un—⸗
bekümmert um die übrigen, ihr wie toll den Hof zu
machen. Thereſe aber, die einen beſtimmten Zweck
verfolgte, ging mit Wonne darauf ein.
Den übrigen Anbetern wurde die Sache bald
langweilig, ſie entfernten ſich einer nach dem andern
und nur der junge Referendar blieb übrig. Um ſich
an Schmieder zu rächen und Therejen jeine Nicht:
ahtung zu beweilen, begann er jett Alma in zu:
dringlier Weile auszuzeichnen.
Eine Weile that fie fpröde und juchte ihn zu-
rüdzufheuden, als ihr Hans es aber immer toller
trieb und Thereje fchlieglich faft im Arm hielt, padte
fie der Zorn und fie ging auf die Courmacherei des
jungen Mannes ein. Sie late laut zu feinen nicht
immer jehr zarten Scherzen und fteigerte fich felbft
in eine Lebhaftigkeit hinein, die ihr jonft völlig fremd
war. Schmieder durdfchaute ihre Abficht, ihn eifer:
jüchtig zu machen, und amüfierle fich darüber. Sa,
fie freute ihn jogar, denn er lernte feine Eleine, zu:
rüdhaltende Frau von einer neuen Eeite fennen.
Bon Eiferfuht war bei ihm feine Rede, er Fannte
ja jeine unumjchräntte Macht über ihr Herz.
Der Garten war faft leer geworden, und man
mußte an den Heimmeg benfen. Therefe hing fich,
ohne nah Almas Rechten zu fragen, an Echmiebers
Arm — da nahm Alma im Troß den böflid ge:
botenen des Referendars und die zwei Paare machten
ih, in ziemlihem Abftand von einander, auf den Weg.
„Willen Sie, Hans,” begann Therefe — fie er:
laubte es fich häufig, ihn beim Vornamen zu nennen —
„willen Sie, daß Sie alle biefe vornehmen Herren
ausftechen?”
„Und bin do nur ein Arbeiter und ber bodh:
wohlgeborene Herr da hinter uns fieht mich über
die Achſel an.“
„Ja, warum ſteifen Sie ſich denn darauf, durch—
aus gewöhnlicher Arbeiter zu ſein? Das verlangt
doch Ihre Socialdemokratie nicht. Als Techniker
ſind Sie auch Arbeiter‘ wie jeder, der ſeinen feſten
Roman von E. Karl.
380
Beruf hat. Wenn ich, halb in Tricot, auf der Bühne
ſinge und tanze, ſo arbeite ich auch.“
„Gewiß,“ pflichtete der Mann bei, „aber zum
Techniker fehlt mir das letzte Examen. Ich hielt das
trockene Studium nicht aus und lief ein halbes Jahr
vor dem Examen davon. Es kam mir vor, als ſolle
ich an dem Zopf, der unſerm ganzen Schul⸗ und
Studentenweſen noch anbaumelt, aufgehängt werden.“
„And ließen Ihre Zukunft im Stich, Sie leicht⸗
ſinniger Menſch Sie.“
„Ach was Zukunft — ich habe es ſiets mit der
Gegenwart gehalten.“
„Ich auch, aber das hindert doch nicht, nebenbei
auch an die Zukunft zu denken, die ſpäter Gegen:
wart wird. $ch will Shnen was jagen, Hans, geben
Sie zum Herbit Yhre Stelle auf, fommen Sie nad)
Dresden und fludieren Sie fertig, was Sie vor
Sahren begonnen haben, Sie werden das Bergeflene
wieder einbringen.”
„Sie gehen von bier nad Dresden?” fragte
Hans intereifiert.
„zunähft nicht, aber ich Hoffe im Yrübjahr im
‚Viltoriafalon‘ anzulommen. Mein Ehrgeiz firebt
aus biejen Heinen Tingeltangeln hinaus. ch möchte
auch Shnen Ehrgeiz einflößen. Sie flehen bier auf
einem Plaß, für den Sie zu jchade find.“
„Und Alma? Und die Mittel, um einen Aufent-
halt von mindeftens eineinhalb Jahren zu beftreiten?”
„Alma ift eine geichidte Schneiderin , fie findet
Arbeit, jobald fie fie Haben will, wenn nidht hier, jo
an einem andern Drt. Und die Koften für Shren
Aufenthalt während des Studiums? — Nun, Sie
baben doch Vermögen geerbt, wenn es auch nur klein
ift, und einige Hundert Thaler will ih nen gern
leihen, Sie willen, ich denke an die Zufunft und
lege bei. %ch bin jonft in Geldfadhen jehr engherzig,
aber für Sie —” und dabei jah fie ihm zärtlich in
die Augen.
Schmieder beugte fi nieder und füßte ben
runden, rofigen Unterarm, von dem fie den langen
Handihuh abdgeitreift hatte. „Alma würde es nicht
zugeben, fie würde denken, ich fäme nicht wieder,“
jagte er zögernd.
„Ja, wenn Sie jo unter dem Pantoffel ftehen?
— Alma müßte fih doch freuen, alde Maſchinen⸗
techniker fteht nen die ganze Welt offen.”
„Ste haben redt, aber — nun, ih will es mir
überlegen.”
Das andere Paar hatte fi zunädhit mit weniger
erniten Dingen befaßt. Der Referendar fuhr fort,
Alma von der Verehrung vorzuihwärmen, die er
Ihon für fie empfunden hätte, als fie noch in das
Haus feiner Eltern fam. Er fragte, wann er fie
beſuchen dürfe.
„Ich weiß nicht, ob ich Sie dazu auffordern
darf, Herr Langenbach, mein — mein Mann — iſt
ein einſacher Arbeiter und hat keinen Verkehr mit
vornehmen Herren.“
„Nun, ich habe auch nicht die Abſicht, Herrn
Schmieder zu beſuchen, ſondern Sie, mein ſchönes
Kind. Laſſen wir die Komödie, nun wir unter uns
ſind, beiſeite Ihr ‚Mann‘ — wie Sie zu ſagen be:
lieben — vernachläſſigt Sie, und Ihre ſchönen Augen
381 Dbhne Gott.
Iprehen von Thränen. Nein, leugnen Sie nicht, ich
lebe e8 deutlich, und ich jah auch, welche Dual diefer
heutige Abend für Sie war. Wollen Sie mir, Jhrem
alten Freunde und PVerehrer, nicht geltatten, Sie zu
tröften? Sie find gewiß viel allein.”
„IH bin viel allein,” gab Alma zu, „aber nur,
weil Schmieder den größten Teil des Tages in ber
Fabrik fein muß. ch habe Feine Urfache, mich über
ihn zu beflagen und liebe ihn von ganzem Herzen,
würde aud niemals ohne fein Willen Herrenbefuche
empfangen.”
Dabei z0g fie ihren Arm aus dem feinigen und
trat einen Schritt von ihm fort.
„IH wollte Sie nit Tränlen, Alma,” rief
Zangenbadh, der einfah, daß er zu Ichnell vorgegangen
war. „Sie müflen aber doch zugeben, daß fein
Benehmen gegen die blonde Thereje in Ihrer Gegen⸗
wart tadelnswert war.”
„Thereſe ilt eine gute Freundin von uns beiden,“
log Alma, „gerade meine Gegenwart bewies wohl
am beften die Harmlofigfeit der Sache. Übrigens
geht fie zum erften Oftober aus der Stadt fort.“
Alma jpielte die Ruhige und Sichere aus Stolz;
in ihrem Herzen jah es dafür defto jchredlicher aus.
Fremde Menichen jahen jhon ihr Elend, und ihre
Stellung zu Hans bot ihr nicht einmal Schuß gegen
Ihamloje Anträge. Sie galt für vogelfrei und jeder
durfte Jagd auf fie maden. Macdte nicht auch
Thereje Jagd auf Hans? — Waren das bie Zu:
ftände, die diefer als die allein richtigen und fittlichen
in der ganzen Welt eingeführt zu jehen wünjcdhte?! —
‘hr jchauderte.
Der Neferendar jah ein, daß zur Zeit ebenfo-
wenig zu maden jei wie vor einem Jahr und lenkte
ein. „Ih hoffe, Sie nehmen meine Worte nicht
anders auf, als fie gemeint find,” Tpracdh er nad:
drüdlih, indem er ihren wibderftrebenden Arm unter
den feinen 309. „Ich Iprah als Freund, auf den
Sie unter allen Umfländen zählen dürfen.“
Er Ientte das Gelpräh, an dem fih Alma
wenig beteiligte, auf gleichgültige Dinge und man
fam au bald vor Therejes Wohnung an, wo er
fih ebenfalls empfahl. Ein weiterer Spaziergang
zu dreien hätte feinen Reiz für ihn gehabt.
Das Schmiederihe Paar fette aljo feinen Weg
allein fort. Alma jchwieg hartnädig, und Hans ver:
judte es, fie mit ihrem neuen Verebrer zu neden,
batte aber wenig Slüd. So jhwieg au er und
das junge Paar fam veritimmt in jeiner Wohnung an.
Frau Köhler jchlief Schon, als Alma um Mitter:
nacht Elopfte. Sie hatte das anvertraute Kindchen
aber treu bebütet.
Hans Schmieder Ichlief nach Furzer Zeit ben
Schlaf der Geredten, er hatte fich vorzüglich amüfiert.
Alma lag no lange wa an jeiner Seite und
malte fih in jelbitquäleriihen Gedanken die Zeit
aus, wenn er fie verlaflen haben würde.
XIV.
Der Herbft war gelommen, oder wenigitens ber
früchtereifende Worbote bdesfelben, in ben Gärten
jammelte man jeinen Segen und bradte ihn zu:
Roman von €. Karl.
382
jammen mit ben legten Blumen des Sommers zu
Marti. Eo auf der Scheide ber Jahreszeiten ift bie
Natur am vieljeitigiten. Der Sommer jpendet noch,
der Herbit Schon. Noch erntet ber Landmann und
ıhon lodt die leere Stoppel zu den Freuden ber
Zagd. Noch brennt die Sonne und |chon mahnt
die berbllare Luft an Tünftigen Froft.
So dadıte auch der einjame Spaziergänger, ber
dur die Alleen des Stabtpartes Schritt, als das
fallende Sommerlaub vor feinen Füßen tanzte und
ihn troß beflen die bunte Pradt der Aftern und
Herbfilevfojen von den Nabatten ber Rajenpläße
grüßte. Mit Behagen jog Egon die frifche kühle
Luft ein und doc wollte die Wehmut, die fein Herz
erfüllte, nicht weichen.
Es war beute der adhtzehnte Sonntag nad
Trinitatis — es jährte fi) der Tag, an dem jeine
Liebe den eriten feften Faden von feinem begeifterten
Herzen zu Hilde binübergefponnen Halte Vor
einem Jahr ſtand er auf der Kanzel, feft bavon über:
zeugt, die Geliebte dur die Macht feiner Rede zum
Chriftentum, wie er es verftand, binüberziehen zu
fönnen, und heute wußte er, daß feine Zuverficht ihn
betrogen hatte. Und fein eigener Kinderglaube? —
Wo war er bingelommen? —
Erft leife und fchüchtern, dann immer deutlicher
batte der Zweifel an fein Herz gepodht, und wie fich
diejes auch wehrte und fein teuerftes Gut, den Glauben,
verteidigte, der Verftand, diefer alte Widerjacher bes
Herzens, hatte Tchließlih die Felt verichloffene Thür
geöffnet. Und nun machte fi der Zweifel in der
eingenommenen Feftung breit und nahm jchrittweije
Befiß von allem, was barin war.
Egon hatte einen Teil des Hodhlommers auf
jeinem väterlihen Gut zugebraht und fih dann
wieder um eine proviforiihe Stellung in ber
Univerfitätsftadt beworben. Sie war ihm geworben,
er war bei der geifllichen Behörde gut angefchrieben
und man hatte ihn als Hilfsarbeiter einem alters:
Ihwadhen Superintendenten zugeteilt. Vielleicht wäre
für fein Gemüt ein anderer Ort befier gemwefen, aber
er wollte flubieren, ftudieren -—- —
Am heutigen Sonntage war er frei. Der alte
Herr predigte, und er hatte, ftatt ihm zuzubören, es
vorgezogen, feinen eigenen Gedanken auf einem ein
jamen Spaziergange Audienz zu geben.
Eine Frau mit einem Knaben Tam ihm ent:
gegen, in ber er Frau Köhler erlannte. Sie grüßte
ihn und erklärte auf Befragen, daß fie eine freie
Nachmittagsftunde benugen wolle, um mit ihrem
Karl die Gräber ihrer Kinder zu beſuchen, am Nach⸗
mittage babe fie verfproden, das Schmieberiche
Kindbhen zu warten, damit die Frau ausgehen könne.
Egon ſchloß fi ihr an und fragte nach ihrem Ergehen.
„D, Herr Kandidat, e8 geht mir ja jo gut wie
es mir gehen lann. Mein Karl ift gejund und
munter und mein Mann, der vorige Woche abge:
urteilt ift, hat jo gelinde Strafe befommen, wie es
das Gejeß zuläßt. Drei und ein halbes Jahr Zudt-
haus. Ach hab’ ihn aud no mit dem Karl be:
judhen dürfen und er hat mir veriprodhen, ein anderer
Menſch zu werden.“
Während Frau Köhler, an den Gräbern ihrer
383
Kinder angelommen, fi daran zu Ihaffen machte
und Karl fortiprang, um bie mitgebradhte Gießlanne
zu füllen, fragte Egon nah Alma und ob fie nod
immer glüdlich fei.
„Run, fo recht glüdlich ift fie wohl nie gewefen,“
lautete die Antwort, „und wie fann fie aud. Sie
liebt ja den Mann, daß fie ihm die Hände unter:
legen möchte, dba ift ihr der Gedanke natürlich
fürdhterlih, daß er in jedem Augenblid wieder von
ihr fort kann, und in ihrer Angft quält fie ihn mit
Eiferfudt. Er giebt ihr auch Urjach’ genug, wenn ich
auch glaube, daß es bis jegt nicht Ichlimm gemeint ift.“
„Aber wie thöriht von Alma, unter jolchen
Berbältniffen ihren Geliebten zu plagen,” meinte
Egon, „treu ift er ja feiner eriten Frau aud) nicht
gemeien, ihn bat das Band ber rechtmäßigen Ehe
ebenjowenig gehalten.”
„Das ift ja wahr,” Iprad) Frau Köhler, „aber
wenn einer fchon fo ift und es ihm dann nod jo
bequem gemadt wird? — —”
„Glauben Sie denn, daß er es jemals mit
Alma ernit gemeint hat?” |
„Ganz ernft,” verficherte Frau Köhler. „Das
meinen fie wohl alle, bie die ‚freie Liebe‘, wie fie es
nennen, einführen möchten, aber wenn es ihnen nad):
ber über wird, dann find fie eben ‚frei‘ und geben
ihrer Wege, benten auch, das tft das Richtige, weil
die Liebe do nu mal vergangen ilt. Schmieder
fängt au jhon an wadelig zu werden, wenn er
auch vorläufig jelbit noch nicht daran glaubt.“
„Wie?“ rief Egon.
„Sa, da ift die Perfon, die ‚blonde Thereje‘,
wie fie fie nennen, bie fommt immer gelaufen und
rebet ihn zu fortzugehen und zu ftudieren, damit er
was Befleres werden fann, na, und ilt er erft fort,
dann adieu Partie.”
„Aber folte ihn nicht das Kindchen an der
Mutter fefthalten?” |
„Ah du lieber Gott, das Kindchen, das wird
ihn erft recht vertreiben. So wie id) mich auf Kinder
verfteh’, hat es einen Wallerfopf und wird blöb-
finnig bleiben. ch hab’ den Eltern nichts gejagt,
aber der Vater fängt jhon an zu merfen. Es ift
jegt ein Vierteljahr alt und liegt da wie ein Kloß.“
„D mein Gott, die arme Frau,” rief Egon mit:
leidig, „da müßte do Jon das Erbarmen den
Menſchen feſthalten.“
„Ja, das ſollte es wohl, aber Schmieder kann,
wie viele Männer, keinen Kranken um ſich leiden.
Wie hat er ſich gehabt, als Alma am Sterben war,
gleich als wollt' er ſich mit ihr in die Erd' legen.
Aber als die Gefahr vorüber war und ſie dann ſechs
Wochen auf dem Sofa lag, oder elend herumfſchlich
und keinen lauten Ton hören konnte, da hielt er es
nicht aus. Da nahm er die Thür in die Hand
und kam halbe Tage lang nicht ins Haus. Soll
er das Unglückswürmchen immer um ſich ſehen und
dann noch Almas Jammergeſicht dazu, dann iſt es
aus. Er wird ſich ſelbſt vorreden, daß er nur für
einige Zeit fortgeht, um ſich zu verbeſſern, aber nach
und nad) wird er fih fagen, daß er das Wieber:
fommen ja nicht nötig bat, und dann wirb er fi
— l J
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
384
wieder ſelbſt vorreden, daß es unſittlich iſt, eine Ehe
weiter zu führen, der das innere Band fehlt — ich
denke, ſo ſagte er neulich — und dann iſt es aus
zwiſchen ihnen. So wird es kommen,“ ſchloß die
Frau prophetiſch.
„Arme Alma,“ ſprach Egon traurig, „wenn Sie
meinen, daß ich ihr einmal beiftehen Tann, fo lafien
Sie mid es willen.”
„Recht gern,” veripradh die Frau, „aber fie ift
jo ganz in die Lehre Schmieders übergegangen, daß
es feinen Gott und fein ewiges Leben giebt — id
glaube nicht, daß fie von Ihnen etwas wifjen will.”
Frau Köhler nahm ihren Knaben an die Hand
und verließ den Friedhof.
Egon trat noh an den Grabhügel der Frau
Profefior Steiner, neben dem ihm die jeligften
Minuten jeines Lebens verfloflen waren, und folgte
ihr dann langfam und in tiefen Gedanlen. — —
Am Nachmittage jaß Egon : mit feinem alten
Herrn und beilen faft tauber Frau zujammen am
Kaffeetiih. Er Ihäste die beiden alten Leute hoch
und durfte nad) ihrem Benehmen auch vorausfegen,
daß fie ihm herzlich gewogen feien. So wurden
auch intimere VBerhältnifle im Geipräch berührt, an
dem fich die alte Dame aber nicht zu beteiligen pflegte.
„DBenn ih nun zu Neujahr mein Amt nieder:
lege, lieber junger Freund, werden Sie doch eine
Stelle annehmen?” begann ber alte Herr, jeine ge
leerte Tafle zurüdichiebend. „Ich denke, es Tann
Shnen nicht fehlen. Bei Ihrem ausgeiprochenen
Rebnertalent werden Sie hre Mitbewerber leicht
aus dem Felde jchlagen. Warum eigentlich haben
Sie jo lange gezögert? Es waren doc jchon zwei
gute Landpfarren frei und in der Altftadt-Gemeinde,
wo Sie im vorigen Jahr den Prediger Boretius
vertraten, bat man eigentlich jet, als der alte Herr
abging, auf Shre Bewerbung gerechnet.”
Egon Ihwieg und hohe Nöte flammte plöglich
über jeine Stirn. Da war ja, was er jo lange ge:
fürdtet hatte, eine Frage nad) feinen Lebensplänen,
und er lag mit fich jelbft im Kampf und wußte ben
Ausgang nidt. Er Iprang vom Stuhl auf und
ging duch das Fleine Zimmer, während ihm bie
Augen des Ehepaares erjtaunt folgten. .
„Was haben Sie, Herr Kandidat, drüdt Sie
etwas und darf ich es willen? Gie dürfen meiner
Diskretion ficher jein.”
Egon trat wieder an den Tiih und ergriff bie
Hand des alten Herrn. „Sch möchte eine Frage an
Sie richten, Herr Superintendent, geitatten Sie mir
ein Geiprädh unter vier Augen.”
Der alte Herr erhob fih und fchritt in fein
Studierzimmer hinüber, dort begann Egon, als fie
Pla genommen hatten:
„Halten Sie es für möglid, daß ein Menih
Geiftlicher werden und von der Kanzel das Evangelium
predigen darf, der in feinem Herzen ein Abtrünniger
ift, der die Dffenbarungen ber Bibel anzweifelt?”
„Alfo jo flieht e8 mit Shnen, lieber junger
Freund,“ Iprad) der Beiltlihe nach einigem Zögern,
„Sie haben Gemwifjensftrupel — die haben vor Khnen
ihon viele gehabt und werden noch viele haben, aber
385 Ohne Gott.
beten Sie fleißig zu Gott um ein demütiges, einfältiges
Herz und Sie werben überwinden, was Sie ängitigt.”
„Rein, ip überwinde es nicht,” klagte Egon
verzweifelt, „mir geht e& wie dem Kinde, das einmal,
duch die Thürfpalte gudend, die Mutter den Weih-
nadtsbaum Ichmüden fah, es Tann nicht mehr an
das Chriftlind glauben, wie gern es auch möchte.“
„Run, jo lafen Sie wenigflens andern ben
Blauben daran,” jpracdh der alte Geiftliche gleichmütig
Egon jah ihn entjegt an. „Ah Tann doch nicht
lehren, mas ich jelbft nicht glaube,“ rief er mit blaflen
Lippen.
„Und warum denn nicht? Nehmen Sie an, die
andern jeien Kinder und für die Wahrheit noch nicht
reif. — Wer weiß denn überhaupt, was Wahrheit
ift? Seder Diener der Kirche hat die Pflicht, zu ihr
zu fteben mit Leib und Seele, denn wir haben nicht
nur eine Religion, wir haben vor allen Dingen eine
Kirche, deren Anjehen aufrecht erhalten werben muß.”
Der alte Herr jchlug ein Bein über das andere
und die Flügel feines langen Hausrodes über den
Knieen zulammen, als ob ihn fröre, dann fuhr er fort:
„Das Gebäude der Kirche ift im Laufe vieler
Sabrhunderte von berufenen Händen aufgebaut, aus:
gebaut und renoviert worden, heute aber fommt
jeder und will daran fliden oder gar rütteln. Das
bürfen wir nicht zulaflen. Wie ein Mann müflen
wir fett auf dem Dogma ftehen und jeden Sturm
abwehren, denn jedes Gebäude kann durch den An-
fturm vieler erfchüttert werden.”
„Wenn das Gebäude aber alt und moridh ift,
Herr Superintendent?” rief Egon.
„So muß man es um jo felter flügen. Laßt
man erft zu, daß nur ein Clein gerührt wird, fo
fallen andere von felbit nach.”
„Herr Superintendent,” rief Egon, „Sie geben
durh SHhren Vergleih zu, daß auch Sie unfere
KHriftlide Kirhe für ein Wert von Menfhenhand
halten. Was der ewige Gott aus lebendigem Fels
baut, das bat Beltand für die Emwigfeit, das braucht
man nicht zu fügen.”
„Doh, mein junger Freund,“ jpracdh der alte
Geiftlide, „auch der härtefle Granit wird vom Wafler
zernagt, vom Gletiher zerrieben. An dem Fellen
unferer Kirhe nagt das Wafler der Steptil, reibt
das Eis des lUnglaubens und der Gleichgültigkeit.
Die Wolltengebilde aber, aus denen fich diefe zer:
jgenden Elemente niederichlagen, find die Wiflenichaft
und die fogenannte Vollsaufllärung. Darum haben
wir Männer der Kirhe die Aufgabe, die taujenb
Ninnjale, in denen das Wafjler fih jammelt, vom
Fuß unferer ehrwürdigen Kirche abzulenten, damit
der Fels, wie Sie fagen, oder das Gebäude, wie ich
lagte, nit untergraben werden.”
Egon prekte die Hände gegen die Stirn und
brütete vor fich Hin. „Und wenn, was wir ftüßen follen,
uns nicht mehr ehrwürdig erjcheint?” fragte er leife.
„Das darf nicht fein, mein junger Freund, das
dürfen wir uns felbit nicht eingeftehen,”“ eiferte ber
alte Herr. „Die Imftitution der Kirche ift ehr:
würdig, felbft wenn wir ihren Lehren nicht in allen
Punkten unbedingt zuftimmen können. Die Kirche
Roman von E. Rarl.
386
fol das Gemwiflen, die geiltliche Zuflucht der fün-
digen Menfchheit jein, fie kann diefe Milfion nicht
erfüllen, wenn fie an Macht einbüßt, muß aber un:
fehlbar davon einbüßen, jobald wir zugeben, daß
unjer Dogma Srrtümer enihält. Es wird beutzu-
tage zu viel ftudiert und gegrübelt, jehr zum Schaden
unferer Sade, denn wie jollen wir Madt behalten
über die Gemwiffen anderer, wenn wir uns mit
unferem eigenen nicht abfinden Tönnen. Mädhtig
aber muß die Kirche fein — mädhtig.”
„Sie Iprehen von ber Kirche, Herr Superinten-
dent, und id von ber Religion, von dem teuren
Glaubensichag, ber das Glüd meiner Shwärmeriichen
Sugend ausmadte und nun an der Sonne der Er:
fenntnis zu verdorren droht. Ich ſchätze die Kirche
hoch, als das koſtbare Gefäß, welches unjere Reli«
gion bewahrt, wir Diener berfelben jollen aber den
erquidenden Tranf rein und lauter an die duritigen
Seelen ausjchenten, die danach verlangen. Können
wir ihnen, wie ein betrüglicher Wirt, anpreifen, was
uns felbft jchal erſcheint?“
„Sa, wir bürfen es und wir follen es. Weilere
und Bellere wie wir haben unjer Dogma_ feftge:
ftelt und uns fommt es nicht zu, daran zu mäleln.
Gehorjam fordert nicht die katholiihe Kirche allein
von ihren Dienern, auch wir haben uns zum Seile
des Ganzen zu fügen. Wir lehren, was unjere
Kirche verlangt, und weichen nicht, wie aud bie
Neuzeit uns bebrängen mag. Cinigleit madt flarf.
Solange das Schiff der Kirche über die Wellen der
Zeit ftreicht, bat es alle Schwankungen milgemadht,
ift bald auf bie hödhfte Spike der Woge erhoben,
bald tief hinabgefchleudert worden, als jolle es im
Abgrunde verfinfen. Simmer aber hat es fidh fieg:
reich wieder erhoben, denn e8 trug die Religion, die
das Menichengeichleht auf die Dauer ebenjomwenig
entbehren fan wie die Luft zum Atmen.
„Materialiftiihe Strömungen, wie die jeßigen,
die alles leugneten, was fih nicht finnlich wahr:
nehmen ließ, hat es zu allen Zeiten gegeben. Schon
die alten Inder vor Buddha Hatten philojophiiche
Schulen, die den kralleften Materialismus lehrten.
Shre Anihauung gipfelte in dem Lehrjag: ‚Die
Seele gehört der Materie an, fie ift aus den vier
Clementen gebildet und wird von ben Eltern er:
zeugt, bei der Auflöfung des Körpers gebt fie zu
Grunde‘ Diefe Anjhauungen haben in Zeiten
moraliihen Niederganges immer die Oberhand ge:
wonnen und fih mit ihrem Gefolge von rober
Genußjudt und Sinnenluft breit .gemadt. Aber
der Selbfterhaltungstrieb der Menfchheit, die an
Eonfequent durchgeführten Materialismus zu Grunde
gehen müßte, bat fich immer wicder der Religion
zugemwenbdet, ja, jogar mit immer größerer nbrunft,
je breiteren Boden der Unglauben gewonnen hatte.
— Darum müffen wir feftftehen, auch unjere Zeit
fommt wieder.” Ä
„SH muß Shnen in der Hauptjadhe vollftändig
recht geben, Herr Superintendent,“ antworlete Egon
finnend, „nur mit Shrer Anichauung, daß wir feft-
balten müflen, was uns einmal als Glaubensjag
vorgefchrieben ift, Tann ich mich nicht einverftanden
387 Obne Gott.
erflären. Mein Gewiflen fträubt fih dagegen. Auch
glaube ih, daß unjerem Wort die Kraft zu über-
zeugen mangelt, wenn wir jelbit nicht überzeugt find.”
„Das glauben Sie do ja nicht, mein lieber
Freund. Es ift nur erforderlih, daß wir uns von
ber Notwendigleit überzeugen, eine in fich gefchlofjene
Kirhengemeinichaft feitzuhalten, die mächtig genug
it, allen Stürmen zu troßen. Wollen wir über:
haupt modeln, jo mobdelt der eine bier und ber
andere da und wir haben ftatt einer gemwaltigen
Kirhe nur eine Anzahl Meiner, Ichwadher Selten,
die fih untereinander befehden. Darum müllen wir
lehren, was das Dogma fordert und e8 uns nad
außen nicht merfen laflen, wenn uns ein Lehrjat
nicht ftimmt. Machen aud Eie das zu Shrer Richt:
Ihnur, mein junger Freund.”
Der alte Herr erhob fih, Egon wußte, daß er
um Diefe Zeit mit feiner tauben Frau fpazieren zu
gehen pflegte, er empfahl fi daher und ging in
fein Zimmer hinauf. Aber die Laft auf feinem
Herzen war nicht leichter geworden.
„Maht, Macht,” murmelte er, „eine mächtige,
berrichende Kirche, deren Diener felbft nicht glauben,
was fie lehren. — D Traum meiner Jugend, wo
bit Du bingelommen?” —
* *
%
Vier Wochen fpäter ſaß Frau Profeflor Nieder:
ftetter an ihrem Nähtifh über der Arbeit. Da
Elopfte es an die Thür und auf ihr energilches
„Herein” trat Egon ins Zimmer.
„Endlid kommit Du einmal, lieber Junge,“
Iprah fie aufftehend und ihm Herzlih die Hand
Ihüttelnd, „wie lange ift es ber, daß Du uns nicht
bejuchteft.” Sie blidte dabei prüfend in fein Geficht
und erfannte mit Befriedigung, daß es einen ruhigen,
faft heiteren Ausdrud trug.
„Ih komme mit einer Bitte, liebe Tante,”
Iprad Egon, fi neben die alte Dame feßend, „ih
wil Dih um Deine Fürfpradde bei meinen Eltern er:
juden, die mit einem Entihluß, der nad) langem
Ringen bei mir zur Reife gelommen ift, nicht ein:
verftanden jein werden. Ach fannn nicht Geiftlicher
werden und will meinen Vater um die Mittel zu
weiterem Studium bitten.”
Spradlos vor Ülberrafhung ließ Frau Nieder:
ftetter die fleißigen Hände in den Schoß finten.
„Egon, Du —? Du wilft einen Beruf aufgeben,
ber feit der Kindheit Dein Sydeal war?”
„Manches deal verblaßt, wenn man ihm nabe
ins Geficht fieht,” antwortete der junge Dann.
Die Tante blidte ihn lange prüfend an.
„Egon, Du thuft es um Hildes willen — fieh Dich
vor, daß Du jpäter nicht mit Deinem Gewiflen in
Konflikt kommſt.“
„Nein, Tante, um keiner irdiſchen Liebe willen,
ſondern aus eigenem innerem Drang. Glaube mir,
ich habe unter der Trennung von meiner erſten
Liebe ſchwer, ſehr ſchwer gelitten, aber ich hätte ſie
meinem Glauben zum Opfer gebracht. Mein Glaube
ſelbſt hat ſich gewandelt und die Zeitverhältniſſe ge—
ſtatten mir nicht, ihn als Prediger ſo zu bekennen.
Lügen aber kann ich nicht.
Roman von E. Karl.
388
„Sieh,“ fuhr er fort, als die Tante ſchweigend
verharrte, „ich bin aufgewachſen im ſtrengen Kirchen⸗
glauben, man hat mich gelehrt, unſer Dogma als
heilige Offenbarung hinzunehmen, an der jeder
Zweifel ſündlich ſei, und mein Studium hat daran
nichts geändert. Du haſt mich vor langer Zeit auf—
gefordert, eine Brücke zu bauen zwiſchen Religion
und Wiſſenſchaft und ich habe es damals aus
innerfter Überzeugung abgelehnt. Heute jehe ich ein,
daß wir der Wiffenihaft Konzellionen maden
müſſen — daß fie berechtigt ift, gegen viele unjerer
Kirchenlehren zu Felde zu ziehen und daß wir das
Gebäude unferer Kirche nicht ftüben müflen — wie
vor einigen Wochen ein alter Weiftlicher mir fagte,
fondern daß wir e8 neu ausbauen follten, bis es
feiner Stüße mehr bedarf. Ich babe mich auch zu
meinem tiefften Schmerz überzeugen müflen, daß ein
Teil unferer Geiftlihen nicht mehr glaubt, was er
lehrt und das bat mir den einft jo hoch gehaltenen
Beruf verleibet.“
„Und was wilft Du nun thun, mein alter
unge?” fragte Frau Niederitetter.
„Ich will einftweilen die Nebenfächer meines
bisherigen Studiums, alte Spraden und Gejchichte,
weiter ausbilden, bis ich fie als Philologe verwerten
fann. Bielleiht wende ih mid dann jpäter ber
Philojophie zu, um barin als Univerfitätslehrer zu
wirlen und Baufteine zu ber Brüde zufammenzu:
tragen, die vom Sidtbaren zum Unjichtbaren Hin-
überführt. %h glaube an Gott und an Chriftus
und will diefen Glauben befennen bis an mein
Lebensende, aber ih will Dir folgen und verfucdhen,
ihn den Anforderungen unferer aufgellärten Zeit an-
zupaflen. Hilf mir, liebe Tante, den Meinigen
gegenüber, ich fürchte, fie verftehen mich nicht.“
Frau Niederftetter erhob fih und ſchloß ben
Neffen in die Arme. „Ih will Dir helfen, ſoweit
meine Kraft irgend reiht, Egon, babe Geduld und
fei ftandhaft, Du wirft mit Ehren aus dem Kampfe
hervorgehen.”
Der junge Mann Füßte zärtlich die Hand der
Srau, die er wie feine zweite Mutter verehrte, und
ging dann, von ihr geleitet, in das Zimmer bes
Ontels hinüber, um auch dielem feine veränderten
Lebenspläne mitzuteilen.
XV,
Kalter Novemberregen fchlug Hatihend an bie
Fenfter der Schniederfhen Wohnung und wehrte
dem fpärlichen Tagesliht den Eintritt. Xrübe und
troftlos jah es in der Natur, trübe und troftlos im
Sinnern des Haules aus.
Alma jaß vor dem altmodilchen Nähtiih am
Feniter, hatte den Kopf darauf gelegt und weinte
berzbredend. Schmieder ging verdrießlich im Zimmer
auf und ab, jhhaute auch gelegentlich zum Fenfter
hinaus; wenn es nicht jo gar arg geregnet hätte,
wäre er gern ausgegangen, um Almas Weinen nicht
bören zu müflen. Plöglih Iprang fie auf, warf fi
in ihrer eraltierten Weile zu feinen Füßen nieder
und umllammerte feine Kniee mit ihren Armen.
389
„Seh nicht von mir, verlag mi nicht,” jchrie
fie, „ich fterbe, wenn Du mir untreu wirft.”
Salb gerührt, halb geärgert, beugte der Mann fich
nieder, hob die Weinende auf und z30g fie an jein Herz.
„Wenn Du bo nur vernünftig fein mwollteft,”
Ipradh er, indem er fie auf bie Stirne füßte, „wenn
ih gebe, fo geihieht es doch nur zu unferem Beften.
Du mußt doch zugeben, daß es Thorheit von mir
it, mein nicht geringes Willen fo in mir bradjliegen
zu laflen, während ein verhältnismäßig kurzes, regel:
mäßiges Studium mir die Anwartihaft auf eine
beflere und freiere Stellung giebt. Eine Verbeflerung
meiner Lebenslage Täme do Dir ebenjogut zu
ftatten wie mir.”
„Aber Du kommft nicht wieder, wenn Du fort-
gehſt, das weiß id,“ ſchluchzte Alma.
„Wenn Du mir unjer gemeinfames Haus zur
Hölle” madjft, jo muß ich wohl mit der Zeit auf den
Gedanken einer Trennung verfallen. — Vergiß dann
nicht, daß Du der jchuldige Teil bift.”
Er langte ein Buh vom Bücherbrett und 309
fih damit ins Schlafzimmer zuüd, während Alma
fi wieder auf ihren alten Plat fette und trübe in
den Regen binausftarrte. Sie date nad. —
Sa, fie madte ihm mit ihren ewigen Thränen
und Vorwürfen das Leben zur Hölle, aber Tonnte
fie denn laden und jcherzen, wo ihr vor Angit das
Herz brad? Sie jah ja, daß feine Leidenichaft für
fie immer mehr verraudite. Hatte fie das wirklich
jelbft verfhuldet? Sie fonnte ihm nicht ganz un:
recht geben, aber das unklare, unfidhere Verhältnis
nahm ihr die innere Ruhe und Bejonnenheit.
Schmieder verjuchte es, ganz in jeinem Buche
aufzugeben, um den vorangegangenen Vorgang, der
freilid nur einer aus einer langen Reihe ähnlicher
war, zu vergeilen, und es gelang feiner elaftiichen Natur.
Eine halbe Stunde verging in völliger Ruhe.
Da ließen fich plöglih aus ber Zimmerede, wo die
Miege fand, quäfende, unartitulierte Töne hören,
und ber lejende Mann fuhr herum. Da war wieber
bie Wirklichkeit, die zu vergefien er fih mühte. Mit
einem tiefen Seufzer ftand er auf und trat zu feinem
unglüdlichen Finde.
Er, der Mann, wußte, daß in bem franten
Gehirn der Kleinen da vor ihm fein Geiftesfunfe
zu finden war, die Mutter hoffte immer noch, es
tönnte ihrer grenzenlofen Liebe und Hingebung ge:
lingen, ihn zu entzünden. Auch jekt ftand fie im
Augenblid neben ber Wiege, jorgte für die körper:
lihen Bebürfnifie der Kleinen und fuchte dabei dur
zärtlihes Rojen ihre Aufmerkjamkeit zu erregen, aber
die großen, ftarren Augen bes Kindes blidten ins
Leere und ihre Bemühungen waren umfonft.
Schmieder hatte jhweigend dabei geftanden, nun
wendete er fi jeufzend ab. Er Tonnte es nidt
über das Herz bringen, der arnıen Mutter feine fefte
Überzeugung mitzuteilen und — er feheute auch die
erneute Aufregung. Mocdte fie nah und nad —
wenn er fort war — dabinterlommen. „Sch made
es ihr jo leichter,” jprady er zu fich felbit und be-
mübte fi, an feine Worte zu glauben.
Einftweilen nahm er Hut und PBaletot und ver:
abjchiedete fih von Alma: „Der Regen bat nad):
Ohne Gott. Roman von €. Karl.
390
gelafien, Schag, ich gehe noch ein Weilchen irgend:
wohin. Man kann do nicht den ganzen Sonntag
zu Haufe figen.” Er füßte fie und verließ die Wohnung.
Schon nah den erften hundert Schritten in der
friihen Luft fiel die Verftiimmung von ihm ab und
faft unbewußt begann er leife einen belannten Tanz
zu pfeifen. Er machte zunädjit einen kleinen Spazier⸗
gang dur den nahen Stabtpart und betrat dann,
ale Duntelbeit und Regen gleichzeitig einfielen, ein
nabe gelegenes Reftaurant, das er zu diefer Tages:
zeit leer zu finden hoffte. Sein Entihluß, fortzu-
geben, hatte fi nad der heutigen Scene befeftigt
— er ertrug diejes Leben nit — vielleicht würbe
e8 befjer gehen, wenn er nad) längerer Abwefenheit
wiederfäme. Zunächſt wollte er in Ruhe alles über:
legen und das konnte er zu Haufe nit. Er jete
ih in eine Ede bes leeren Zimmers und zog jein
Notizbuch heraus.
Aus dem Nachlaß der Mutter batte er vor
etwa zwei Sahren jehstaufend Mark geerbt, die in
der beimatlidhen Kleinftadt auf einem Grundftüd ein:
getragen waren.
Er wollte die Hälfte davon zum näcdhiten April
fündigen und fi auf das gute Dokument bin bie
Summe von einer Bank leihen. Damit wollte er
zunädlt nad Dresden, um fi privatim vorzubilden
und fpäter in eine Fakhichule einzutreten. Er hatte
eine Solche früher bejudht, aber vor dem Examen
verlaflen, als ihn etwas anderes reizte. Warum er
gerade Dresden wählte? Nun, es war doch eine jehr
Ihöne Stadt, und fpäter fam ja Therefe dorthin —
warum jollte er den angenehmen Umgang aufgeben.
Die Zinfen der anderen Hälite feines Der:
mögens follte Alma behalten, was fehlte, mochte fie
dann jelbit verdienen. Sie konnte ja das Kind für
den Tag in Koft geben und in einem Ktleidergejchäft
arbeiten. Eine fo geichidte Arbeiterin fand ihr Brot.
Auch konnte fie ja die Wohnung mit einer anderen
weiblichen Perjon teilen. So überlegte der Mann.
Er, der gegen perjönliches Eigentum flritt, der
das Erbredt verdammte, empjand doch den Befit in
dieſem Augenblid als etwas jehr Angenehmes und
er batte nichts dagegen, ber Erbe der Spargroichen
feiner Eltern zu fein, fie machten ihn frei.
Als er mit feinen Zulunftsplänen im reinen
war, flappte er jein Buch zu, trank noch mit Be:
bagen ein zweites Glas Grog und trat den Heim:
weg in gehobener Stimmung an. Das Leben lag
wieder jhön und abmwedjjelungsreih vor ihm und an
den Abjchied dachte er nicht, er fonnte ja wiederlommen,
jobald er wollte, Alma wurde ihm nicht untreu.
Zunädft jhwieg er aber über jeine Pläne, der
„Sturm im Waflerglajfe”, wie er häusliche Scenen
nannte, fam immer noch früh genug.
Er fand Alma beruhigt und freundlich, fie hatte
fih wieder einmal — wie jchon fo oft — vorge:
nonımen, jet ganz vernünftig zu jein und ihrem
Manne das Haus unentbehrlid zu machen. Sie
hatte ihm zum Abendeflen einen Kleinen Lederbifien
beforgt, ein Kleid angelegt, welches er liebte und
empfing ihn bei feiner Heimkehr mit lächelndem Ge-
ficht und zärtlider Umarmung.
Schmieder lobte fie, jchälerte mit ihr wie in
391 Dbhne Gott.
Roman von ©. Karl.
392
—— —e — — nu
der Brautzeit, und niemand hätte dem jungen, hübſchen
Paar die vorhergegangene Verſtimmung angeſehen.
Schmieder war wirklich vergnügt, und Alma that
als ob ſie es ſei. Nach Tiſch ſaßen ſie auf dem
Sofa beiſammen und Schmieder las ein Kapitel aus
Nordaus „Konventionelle Lügen“ vor. Das war
ſein Lieblingebuch — — —
Zu Neujahr hatte Schmieder ſeine Stellung
bei Wahrholm gekündigt, nun ſtand man dicht vor
dem Weihnachtsfeſt und er mußte Alma benach—
richtigen, daß er in den erſten Januartagen abzu—
reiſen gedächte. Seine Wäſche und Garderobe mußte
doch pünktlich in ſtand geſetzt werden.
Es gab eine furchtbare Scene, die damit endigte,
daß Alma in Krämpfe fiel und ein Arzt geholt
werden mußte. Sie lag einen Tag zu Bett, von
Hans freundlich gepflegt, und erholte fi dann ziemlich
ſchnell, doch lag eine eigentümlihe Starrheit über
ihr, die fie auch nicht mehr verließ. Es war, als
jei etwas in ihr geiprungen.
Sie jhmüdte, wie im vorigen Jahr, am Weih-
nadtsabend ein Bäumden, bemühte fich vergeblich,
ihr jet halbjähriges Kindchen auf die Lichthen auf:
merljam zu maden und flarrte dann jelbft wie ein
Steinbild ins Leere.
Wie im Traum, aber fehr ordentlich und um:
fihtig, traf fie alle Vorbereitungen zu Schmieders
Abreife und machte ihm au feine Scene, als er
am zweiten Januar abfuhr. Seinem Wunjh gemäß
begleitete fie ihn nicht zum Bahnhof, fie hätte es
auch kaum fönnen, denn ihre Glieder waren wie
mit Blei gefüllt.
Er überſchüttete fie beim Abjchiede mit Zärtlich-
feit und Eonnte fih an Liebesworten nicht genug
thbun. Sie aber lag jchweigend an feiner Bruft. —
Als er ihr Haupt endlich janft aufrichtete, fiel es
matt zurüd und ihr Körper fanf zufammen. Sie war
ohnmädtig. Vorfichtig trug er fie zum Sofa, drüdte
no einen zärtlihen Kuß auf ihre Stirn und ver:
ließ das Zimmer.
Als Alma erwadhte, war fie allein. — — —
Ein paar Wochen vergingen in bumpfer Gleich:
gültigkeit für die arme Verlaffene. Sie dachte über
ihre Zulunft nad und fah die Notwendigkeit ein,
einen Erwerb zu ergreifen. Aber fie war jo müde,
fo energieloge — fie begriff fich felbft nicht. Sie
beichidte das Nötigfte in ihrer Leinen Wirtichaft, fie
mußte doch leben und das Stindehen mußte verjorgt
werden. Dann aber lag fie teilnahmlos auf dem
Sofa in einem Zuftande, der nicht Schlaf, nidt
Wachen war. Dabei Shmanden ihre Kräfte immer mehr,
bis fie fich eines Tages nicht vom Bette erheben konnte.
Frau Köhler, die fie fiebernd fand, rief Frau
Profeffor Niederftetter und diefe den Arzt herbei.
Alma hatte ein nervöjes Fieber und war mehrere Wochen
Ihwer frant, dann erholte fie fih wieder, die Jugend
fiegte, aber die Rofen auf ihren Wangen waren jeßt
gänzlich verblüht, fie glich einer wandelnden Leiche.
Einige mitleidige Damen aus ihrem früheren Kunden:
freije batten bisher für ihre Pflege geforgt und bie
Koften beftritten, das mußte nun aufhören.
As Alma etwa eine Woche nad ihrer Er:
frankung wieder bei Elarer Befinnung war, hatte fie
einen jehr vergnügten Brief jchrieb, von ihrer
Krankheit zu benadjrichtigen. Die Antwort war ein
berzlicher Brief an Alma mit dem Wunjcd baldiger
Genefung und der Anweilung, auf das in ihren
Händen verbliebene Dokument Geld zu leihen, damit
es ihr an nichts fehle. Kein Wort von Rüdlehr
oder fonftigen Hinmeis auf die Zukunft.
Alma widerjegte fih dem Anfinnen, Geld auf
Schmieders Hypothek aufzunehmen, auf das ent:
Ichiedenfte, fie Schien fi) gar nicht darum zu kümmern,
wo die Mittel zu äbrer Pflege herfämen. ALS fie
etwa vier Wochen Ipäter wieder ungehindert aus:
gehen durfte, verkaufte fie ein Stüd ihres perjönlichen
Belites nad dem andern und verharrte in ihrem
thatlojen Hindämmern.
So war der März berangelommen und ein
vorzeitige Frühjahr goß feinen Sonnenjdein über
die Erde, da Elopfte es eines Tages an ihrer Thür
und Frau Niederfteiter trat ein. Alma fuhr vom
Sofa in die Höhe und ftridh das verwirrte Haar
aus der Stirn, fie hatte fi heute noch nicht frifiert.
Frau Niederftetter jegte fich neben fie und nahm
die hagere Talte Hand des jungen Gefchöpfs in ihre
volle, lebenswarme. „Sch bin heute zu S$hnen ge:
fommen, Alma, um einmal über S$hre Zulunft mit
Shnen zu Ipreden, jo geht es nicht weiter, Sie
gehen zu Grunde.” Ä
„Bas liegt daran, Frau Profeffor,“ war bie
müde Antwort, „mir wäre in der Erde am wohlſten.““
„Nein, jo dürfen Sie nicht |predden, Alma,
das ift Sünde. Seder Menjch bat im Leben einen
Plag auszufüllen und darf nicht vorzeitig vom Bolten
laufen. — Sagen Sie mir, hat Schmieder Sie enb-
gültig aufgegeben?”
„Er jchreibt mir freundlid und ich glaube er
dentt vorläufig noh an Wiederlommen, aber er
hat ein empfänglidhes Herz; — wenn er fi wieder
verliebt, was nicht ausbleiben wird, dann — dann
macht er einen Strid dur die Vergangenheit.”
„Wenn Sie davon überzeugt find, Alma, jo
dürfen Sie biejen Zeitpunkt nicht abmarten. Eine
verlaflene Frau, die dem Gatten nacdmeint, wirft
mitleiderregend, eine verlaffene Geliebte, die fih in
ihr Schidjal nicht finden kann, verädtlid. Sie
gelten in Shrem früheren Belanntenfreile für das
überredete Opfer eines Srrmahne und man bat
Shnen Ssnterefle bewahrt. Erhalten Sie fich diejes
und es fann noch alles gut werden.
„Rafen Sie fih auf, Kind,” fuhr die Dame fort,
als Alma jchwieg, „diefes müde Sichgehenlaffen muß
aufhören. Zch will Shnen helfen mit Rat und That.”
„zaflen Sie mid) fterben, Frau BProfeffor,”
Iprah Alma tonlos, „ih Ffann nicht leben.“
Das Herz der alten Dame jhwoll vor Er:
barmen und fie legte den Arm um die gebrochene
Geſtalt. „Und Ihr Kindchen, Alma?”
„Mein Kind iſt blödſinnig!“ ſchrie die Mutter auf,
„jetzt weiß ich es und er hat es ſchon lange gewußt.“
„Dann gerade haben Sie eine doppelte Pflicht
dem armen Würmchen gegenüber, denken Sie, welches
Schickſal es hätte ohne das liebende Mutterherz.“
Alma ſchwieg wieder.
—
393 Ohne Gott.
Kind,” Iprah die PBrofeflorin nad einigen Augen:
bliden, wie von einem plößlicden Gedanken erfaßt.
„Kommen Sie für eine Seillang zu mir. Mein
Fremdenftübdhen jteht leer, da erholen Sie fi und
tommen nad) und nach zu fich felbit. Ich will jehen,
Ihnen inzwiſchen einen fjelbfländigen Wirkungstreis
zu verfhaffen. Hier müflen Sie heraus, Sie dürfen
nicht zu Grunde gehen. Hält Schmieder an Ihnen
feft, jo können Sie fpäter immer no thun, was
Sie wollen.”
Alma beugte fich nieder und küßte die Hände
der gütigen Frau. „Wenn ich no an einen Gott
glaubte, würde ich jagen: Gott jegne Sie und ver:
gelte hnen taujendfad, was Sie an mir und meiner
verftorbenen Großmutter gethan haben. Seht jehe
ih ein, wie jehr recht fie hatte, mich zu warnen.
Sch bereue tief den Kummer, ben ich ihr machte.”
„Ihre Großmutter ift mit einem Segenswunjd)
für Sie geftorben,” tröftete Frau Niederftetter, „aber.
nun jagen Sie, daß Sie fommen und ein neues
Leben beginnen wollen.”
„SH will es mir überlegen,”
Unglüdliche.
Frau Nieberftetter erhob fih. „Sa, überlegen
Sie, aber mit rehtem Ernft und gutem Willen.”
Sie trat no zur Wiege des Kindes, das
förperlich gebieh, das heißt, wuchs und ftärker wurde,
aber fi nicht aufredht halten konnte und in geiftiger
Beziehung einem Neugeborenen glih. Mit tiefem
Seufzer wendete fie fih ab und verließ unter freund:
lihem Gruß das Zimmer.
Als die warmberzige Frau fih ihrem Hauſe
näberte, fiel ihr doch die Eigenmädhtigkeit, mit der
fie Alma ein Afyl in ihrem Haufe geboten batte,
ihwer aufs Herz. Wie, wenn ihr Gatte nicht ein:
veritanden wäre? Bei dem innigen Einvernehmen,
das zwilchen ihnen berrichte, war es jonft nicht
üblih, daß ein oder der andere Teil fo tiefein-
jchneidende Entichlüffe faßte, ohne die Meinung bes
andern zu bören. Ste begab fi aljo jofort in
fein Zimmer und fragte beinahe jhücdhtern, ob er
Zeit für fie hätte.
Der Profeffor murmelte no‘ ein paar Worte,
während er fie flüchtig mit Bleiftift auf ein Papier:
blatt warf, er wollte den Faden feiner geiltreichen
Abhandlung nicht verlieren, dann jchob er das
Papier zurüd und wendete fih freundlid um. Für
die Gattin hatte er immer Zeit.
„3 habe heute Furcht vor Dir,“ begann biefe,
„id babe etwas ohne Dein Wiflen gethan, was auch
auf Dich zurüdwirkt.”
Er führte die Frau zum Sofa und nahm neben
ihr Plag. „Dann ift gewiß das gute Herz mit meiner
Anna durdgegangen,”“ fcherzte der Dann.
Frau Anna late und berichtete eingehend den
Sergang.
„Ich glaube, es handelt jid um ein Menſchen⸗
leben, Friedrich,” Tchloß die Dame, „da konnte ich
nicht anders.“
Der Profeflor firich liebevoll über den grauen
Scheitel jeiner Gattin. „Nun, wenn Du nicht anders
flüfterte Die
Roman-Feitung 1896.
Koman von ©, Karl.
„3 will Shnen einen Vorſchlag machen, liebes
394
konnteſt, fo war es ja ſelbſtverſtändlich, übrigens
habe ich auch gar nichts dagegen. Du haſt Dich
ja nur für kurze Zeit gebunden und vielleicht glückt
es Dir, das Dläbchen für immer zu einem hilfreichen
Geift für Dih heranzuziehen. Du haft eine Hilfe
nötig, mein liebes Herz, vergiß nit, daß Du eine
alte Frau bift, wenn audh Dein Herz jung blieb.”
Er ſchaute beforgt in das Gefiht ber Frau,
das jett, nun die Spannung wid, deutlihe Spuren
der Erihöpfung zeigte. Er trat an ein Wands
Ihräntdhen, bolte Flafhde und Glas heraus und
nötigte die Vebensgefährtin, ein Glas Wein zu trinten.
„Du bift zu gut, Friedrich,“ wehrte fie ab, ale
fie die Stärlung aus feiner Hand nahm, „und zu
bejorgt um mich, ich habe ja unfere Klara und Hilde.”
„Eine Todter, die Mann und Kinder bat,
zählt nur halb, und Hilde wird uns auch nicht mehr
lange gehören, Egon hat den Doktor gemadt und
fommt zurüd.”
Mit einem Ruf freudigen Erflaunens jprang Frau
Niederftetter auf. „Egon ift Doktor ber Philofophie?”
„Run, das Vergnügen bätte er jchon früher
haben fünnen,“ war die Antwort, „die Sade bat
feinen weiteren Zwed, als ihm einen Titel zu geben,
aber fie ift die Vorftufe zum Privatbocenten, auf
den er fpäter losgehen will.“
„Ih glaube, es war jehr klug von Egon, nad
dem fchweren Konflitt mit feinen Eltern, für ein
Semefter ganz fortzugehen,” meinte Frau Nieder:
ftetter. „Ich hoffe, wenn er jett heimkehrt, findet
er glatte Bahn. Mein Bruder ift chon gewonnen
und bet meiner Schwägerin hat die Sehnjudht nad)
dem. Sohn aud gute Früchte getragen.”
„Ob Hilde no auf ihn Hoff?” fragte der
Profeſſor, „es ift jest gerade ein Sahr Seit ihrer
Trennung vergangen.“
„Die Hoffnung Tonnte wohl erft mit der Auf:
gabe von Egons theologifhem Beruf wiederlommen,
aber .giebt es denn überhaupt ein Xiebe, die nicht
hofft? Ih glaube nur, fie „geitebt es fich jelbit nicht
ein. Wann kommt Egon?”
„Ih dente in einigen Tagen ſchon, nach der
Promotion hält ihn dort nichts mehr.“
Das Ehepaar beſprach noch Näheres über die
Unterbringung der jungen Frau und ihres unglüd:
lien Kindes, dem der Hausarzt, der es gejehen
hatte, nur eine furze Lebensdauer prophezeite; dann
verließ Frau Anna das Studierzimmer des Gatten,
um ihren häuslichen Pflichten nachzugehen.
* a *
Alma war nach Frau Niederſtetters Fortgang
wieder auf das Sofa zurückgeſunken und ſtarrte nun
vor ſich hin. — Sollte ſie den liebevollen Vorſchlag
der Dame annehmen? Mußte ſie es um ihres
Kindes willen? Sie wollte ſo gern ſterben, ſie
fühlte, nun die Pflege der fremden Damen aufhörte,
wie fie wieder täglich fhmächer wurde, denn fie lebte
nur von dünnem Kaffee und Brot. Wenn das
no‘ eine Weile fo fortging, farb fie gewiß. — Aber
ihr Kind? — Sie hatte es fi noch nie Har gemadit,
was beilen Schidjal fein würde. Db man es ins
IV. 28
395 Ohne Gott.
Waiſenhaus brachte? Ob man Schmiever zwang,
ih feiner anzunehmen? Sie wußte es nicht, weil
die gejegliden Beltimmungen ihr fremd waren.
Sgedenfalls ftieß es fich, wenn es am Leben blieb, unter
fremden Menſchen herum, die kein Herz dafür hatten.
Shre Phantafie führte ihr widerlide Scenen
vor. Gie jah die Heine Ydiotin geichlagen werden,
bungern und frieren, weil die Habjucht der Pflege:
eltern fi an ihrem SKoftgelde bereihern wollte —
Sie jah fie krank, verfämahten — nein, das durfte
nicht fein, fie mußte leben für ihr unglüdliches Kind.
. Die Kleine Hanna begann zu weinen und diejer
Ton gab ben legten Anftoß. Sie erhob fich energilch
vom Sofa, verjorgte das Kind und begann fidh an-
zulleiden. Dazwiichen überjchüttete fie ihren Beinen
Abgott mit Liebkojungen.
Während fie ihr Haar ordnete, famen auch wieder
andere boffnungsvollere Gedanken. Sie hatte ja
feinen Bemeis, daß Hans fie verlaflen wollte. Nur
daß er auf ihre flehentlihe Bitte, fie mitzunehmen,
ftets mit „nein“ geantwortet hatte. „Er Tönne dann
nicht ftudieren.” Daß er aber weiterlommen, jeine
geiftigen Fähigkeiten ausnügen wollte, war ja nur
zu billigen.
Auch jetzt ſchrieb er ſtets herzlich — vielleicht
fie zu jchwarz gelehen. —
Sie beihloß, an Hans freundlich zu fchreiben,
ihm ihre zeitweilige Überfiedelung in das Nieber:
ftetteriche Haus — nur bis zu ihrer völligen Genefung
— mitzuteilen und anzufragen, wo jeine Hausein-
rihtung inzwilhen bleiben jole. Die Wohnungs:
miete war nur bis zum erflen April bezahlt und fie
ganz ohne Mittel. Dann mußte er ja etwas über
. jeine Zufunftspläne äußern.
Eben hatte fie ihren Anzug vollendet und auf
dem Herde Feuer entzündet, um fi eine Suppe zu
fochen, als e8 wieder Elopfte und eine Dame eintrat.
Es war Emma Hinz, eine ber „vorurteilslojen”
Srauen, die Schmieder ins Haus gebradt hatte. Syn
einem Bußgeichäft bedienftet, war fie eine fleißige
und gefchidte Arbeiterin, doch ließ ihr Lebenswandel
mancherlei zu wünjchen übrig. Sie verftand es aber,
diefen Umftand, wo e8 ihr vorteilhaft fchien, zu ver:
bergen und galt für fehr folibe.
„Warum ben Philiftern vor ben Kopf floßen,”
fagte fie, „das wäre wenig Hug.“ Übrigens war
fie eine Bufenfreundin der „blonden Thereje” ge
worden und forreipondierte noch mit ihr.
„Run, guten Tag, meine liebe Alma,” begann
fie lebhaft, „ich hörte von Khrer jchweren Krankheit
erit jegt auf weitem Ummege und jege meine freie
Mittagsftunde daran, mid nad) Jhnen umzufchauen.
Wie geht es denn jeßt?“
Alma berichtete mit gleichgültiger Miene, das
Mädchen war ihr jehr urjympathiiy, bemühte fich
auch, die Unterhaltung bald auf ein anderes Gebiet
zu führen, fie wollte nicht nad) ihren Zulunftsplänen
gefragt fein. Aber der Gaft jhien es gerade darauf
abgejehen zu haben.
„Werden Sie no von Herrn Schmieber unter:
balten, oder wollen fie fi) wieder auf eigene Füße
itellen?” fragte Emma ganz breift.
Roman von E. Rarl.
396
Alma ftieg die Röte ins Gefiht und fie wußte
nit, was fie jagen follte. „Hans hat mi nod
nicht Mangel leiden lafjen,” ftotterte fie endlich, „aber
ih weiß nicht, ob ich feine Unterftügung annehmen fol,
jolange er abmejend ift, er braucht fein Geld jegt jelbft.“
„Allo Sie rechnen beflimmt auf feine Rüdkehr?”
fragte Emma lauernd.
„Gewiß,“ log Alma, „er fchreibt ja immer, daß
er in einem Sahr fertig zu fein hofft, dann nimmt
er eine Stelle an, wo er fie findet, und wir ver:
einigen ung wieder. —
Die Ärmſte ſprach mit einer Zuverſicht, als
gäbe es keinen Zweifel für ſie. Das neugierige
Mädchen ſollte ihr nicht ins Herz ſehen.
„So —?“ ſprach Emma gedehnt, „das klingt
freilich anders als Thereſe mir ſchrieb.“
„Wer Ichrieb?” fragte Alma, während ihr Herz
ihlag zu floden jchien.
„Meine Freundin Therefe Bloch, die bier bie
‚blonde Thereje‘ genannt wurde. Sie ift feit hem
erften Februar im Biltoriafalon in Dresden engagiert
und Ipricht Herrn Schmieder faft täglih. Durd fie
erfuhr ih au von Shrer Krankheit.”
Vor Almas Augen wurde e8 Naht und jett
erft wurde es ihr Har, baß die Hoffnung bisher noch
nie ganz in ihr erlojchen geweien war. Troß Ber:
. zweiflung und Todesjehnfucht hatte immer noch ein
Fünthen davon in ihrem Herzen gelebt. Sekt exit
war e$ ganz aus damit.
„Das ift nicht möglid, das Tann nicht fein,”
feuchte fie, erhob fi und wollte — ja, was wollte
fie? — €s kam nicht zur Ausführung, ohnmmädhtig
jant fie zu Emmas Füßen nieder.
Das Mädchen, auf einen Sturm gefaßt, erichrat
bob — das fam unerwartet. Mit geichidten Händen
bob Emma die Ohnmäcdhtige auf, löfte ihr die Kleider
und bHolte Wafler herbei. Aber Alma lobnte ihr
ihledht. Sobald fie wieder bei Befinnung war, fließ
fie die helfenden Hände zurüd und rief unaufhörlid:
„ort, fort, ich will allein ſein.“
Da begnügte fie fi, ein in der Nähe befind-
liches Tuch über die Tiegende zu breiten und verließ
eilig das Zimmer.
Während fie flüchtigen Fußes die Treppe hinab:
bujchte, flüfterte fie vor fih bin: „Du kanuft zu:
frieden fein, Thereje, ich habe Dir hier vorgearbeitet.
Den nädften Brief Almas wird Schmieder fidh nicht
an den Spiegel fteden.“
Alma lag unbeweglihd — das Feuer auf dem
Herde erlojh, das Kindchen begann zu fchreien und
Ichlief endblid vor Erjhöpfung wieder ein.
Schon fant die Sonne und immer nod) lag
Alma ohne fich zu regen. Nur einmal war fie heftig
aufgeiprungen und hatte den Riegel vor die Ein-
gangsthür geitoßen, weil fie Schritte zu hören ge:
meint hatte und feinen Menfchen jehen wollte. Dann
batte fie fich wieder in ihrer Ede sulammengefauert
und vor fich bingeftarrt.
Es waren jchauderhafte Bilder, die dur ihr
Hirn zogen. Sie jah ihren Hans von Therejens
Arm umfhlungen, fie hörte ihn alle die Worte der
Leidenichaft in das Ohr der Blonden flüftern, bie
397
einft ihre Seligleit gewejen waren. ebe unver:
geklihde Stunde ihres BZujammenlebense mit Hans
tauchte wieder aus dem Nebel der Vergangenheit
auf, aber greifbar deutlich jah fie Therefe an ihrer
Stelle. Zhr galten jeine Küffe, feine Liebesworte — —
Mit einem Schrei fuhr fie endlich in die Höhe und
ftarrte um fid.
Es war im Zimmer ganz dunkel geworben,
nur von draußen leuchtete der mondbelle Frühlings:
bimmel binein.
„Sterben, fterben,“ flüfterte fie wie im Traum,
„wenn auch ber Tod die Vernichtung ift — — lieber
das Nichts als diefe Dual.”
Sie ordnete ihre Kleider nah dem Gefühl,
büllte fi in das große Tuch, mit dem Emma fie
zugededt hatte, nahm ihr leile wimmerndes Kindehen
in den Arm und jchritt der Thür zu. Noch einmal
horchte fie, ehe fie auf die Treppe hinaustrat, ob kein
Menih in der Nähe fei, dann floh fie hinab unb
mwenbete fi faft laufend dem Stadtpark zu.
Starr und winterlih flanden in biejer frühen
Ssahreszeit die Bäume, aber von den Wiejen duftete
es nah friihem Erdreih und das jonft jo träge
Bädhlein pläticherte in ungewohnter Waflerfülle dem
erlenumftandenen Weiher zu. Auch diejer hatte feine
Fläche weit ausgebehnt und eine zierliche Brüde, die
fonft an feinem Ausfluß in weitem Bogen über
fumpfiges Moorland führte, lag jeßt falt auf ber
Ipiegelnden Fläche. — Bor der fanften Anhöhe da-
neben ftand die Banf, auf der Alma fo oft mit
Hans gejefien hatte. Sie jeßte fih auch jetzt darauf
nieder und flarrte auf das Abbild des Mondes im
Waſſer.
„Du winkſt mir, alter Freund,“ ſprach ſie das
Bild an. „Ich komme, ich komme — ich gehe ins
Nichts — das weiß ich — Hans hat mich ja gelehrt,
daß ‚Gott‘ und ‚Ewigkeit‘ nur menſchliche Begriffe
ſind. — Wenn ich Deinen Glauben hätte, Groß—
mutter, den ſchönen Irrtum, der Dich das Leben
ertragen ließ — ja, dann ertrüge auch ich es vielleicht,
aber ſo — leben, um zu arbeiten — ohne Freude,
ohne Hoffnung, mit dem Bewußtſein, daß ich mein
Teil am irdiſchen Glück genoſſen habe und nun ab—
gefunden bin — daß, was ich einſt liebte, nun einer
anderen gehört — nein — lieber vergehen in ewiger
Nacht. — Ich komme, Mond — ich komme ſchon —“
Sie drückte ihr immer noch wimmerndes Kind
feſt an die Bruſt und ſchritt auf die Brücke zu, an
der ein Stück Geländer fehlte, man beſſerte gerade
aus, was der Winter beſchädigt hatte.
Das Mondbild im Waſſer ſchien zurüchzufliehen,
als ſie ſich näherte. Dunkel lag es unter ihr, als
ſie an die Breſche trat. Sie erhob den Blick zu dem
Geſtirn, dem ſich gerade eine große, ſchwarze Wolke
näherte, um darüber hinzuziehen.
„Du willſt mir nicht leuchten, Mond? Mein
Weg ſoll dunkel ſein?“ flüſterte die Unglüdliche,
„duntel — ganz dunlel — mie die ewige Nacht. —
Hans — 0 mein geliebter Sans — — —
Die Ihwarze Wolfe 309 über den Mond — —
als jein Silberlicht fich wieder frei über den weiten,
ftillen Park ergoß, war die Brüde leer.
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
398
XVI.
Das Ehepaar Niederſtetter ſaß am nächſten Vor—⸗
mittag beim Frühſtück, als Frau Köhler hereinſtürzte
und, ganz gegen ihre ſonſtige höfliche Gewohnheit,
auf den nächſten Stuhl ſank.
„Ach Gott, Frau Profeſſor, unſere Alma iſt tot.“
Mit einem Schreckensſchrei fuhr die Dame von
ihrem Stuhl in die Höhe. „Sie hat ſich das Leben
genommen!“
„Ja, heute früh haben ſie die Arbeiter, die im
Stadtpark das Brückengeländer ausbeſſern, im Waſſer
gefunden. Ihr Kind hat ſie im Arm gehabt.“
„Und hat ſie ganz unbemerkt das Haus verlaſſen?“
„Ja, es hat ſie keiner mehr geſehen. Ich war
ſo gegen vier Uhr an ihrer Thür, fand ſie aber
verſchloſſen und es rührte ſich innen nichts. Da
dachte ich, ſie ſei bei dem ſchönen Wetter mit dem
Kinde ausgegangen.“
Frau Niederſtetter hatte tief erſchüttert die Hand
über die Augen gedrüdt. Sie hatte es jo gut mit
der Unglüdlihen gemeint, fie hatte fon im Geift
fie unter ihrer Führung fi) zu einem neuen Menjchen
entwideln jehen. Nun war alles umfonft gemejen,
ein blühendes Leben hatte fich jelbft vernichtet.
„Db man wohl Schmieder fofort benachrichtigen
fol — er hat doc bisher jeine Verbindung mit
Alma nicht gelöft?” fragte fie ihren Gatten.
„bhne Zweifel, er muß Doch aud Anweiſung
in betreff ſeines Hab und Guts geben. Doch i
mag nichts mit ihm zu thun haben, vielleicht —*
ihm Frau Köhler, aber heute noch.“
Man beſprach noch allerlei Geſchäftliches, das
unglückliche Mädchen mußte doch beerdigt werden,
dann ging Frau Köhler, und das Ehepaar blieb tief
erſchüttert zurück.
Vier Tage ſpäter wurde Alma mit ihrem Kinde
auf dem Friedhof neben dem Stadtpark zur Ruhe
gebettet. Ihr Schickſal hatte in ihrem früheren Kreiſe
viel Teilnahme erregt und ſo fand ſich ein beſcheidener
Trauerkreis um das offene Grab verſammelt. Von
der Begleitung eines Geiſtlichen hatte man mit
Rückſicht auf Almas Anſchauung Abſtand genommen.
So wurde denn der einfache Sarg ſchweigend in die
Gruft geſenkt und nur einige Hände voll Erde
deuteten ſymboliſch darauf hin, daß teilnehmende
Herzen die Beſtattung vollzogen.
Aber nicht dieſe kleine Zahl ihrer alten Freunde
allein hatte ſich zu Almas Begräbnis in aller Sonn:
tagsfrühe verſammelt. In weitem Bogen ſtanden
Scharen von Arbeitern mit ihren Angehörigen um
den intimeren Kreis und es war nicht nur Wohl—
wollen, was aus den Geſichtern ſprach. Schauluſt,
Neid und Klatſchſucht hatten ein breites Kontingent
geſtellt und auch eine Schar mitleidloſer Tugend:
prieſterinnen ſtand in der Nähe und gab ihrer inneren
Befriedigung über den tragiſchen Ausgang dieſes
intereſſanten Romans im Flüſterton Ausdruck.
Egon Schmidt, der geſtern heimgekehrte junge
Doktor, ſtand neben ſeiner Tante und beobachtete
ſchweigend den Ausdruck in den Geſichtern der Um—
399
fiehenden, er jprach deutlih genug. Set trat er
ale (e$ter an die offene Gruft und nahm eine Hanb-
vol Erde auf, aber wie von einem plößlichen Sim:
puls erfaßt ließ er fie mieber finfen, richtete ſich
hoch auf und gab dem Totengräber einen Winf, fich
zurüdzuziehen. Dann erhob er die Stimme und ſprach
„Wenn ich in dieſem feierlichen Augenblick das
Wort ergreife, ſo geſchieht es nicht als Diener der
Kirche, ſondern als Menſch, der ſeinem Mitmenſchen
ein letztes Lebewohl in die Gruft nachruft. Wie ich
hoffe im Namen vieler. Wo immer zwei Augen für
ewig ſich ſchließen, da wird in den Reihen der Über—
lebenden das Urteil laut und zieht aus dem Leben
des Verblichenen die Summe. Gutes und Böſes,
Großes und Kleinſtes wird in den Bereich der Schätzung
gezogen und je nach dem Grade perſönlicher Zu⸗ oder
Abneigung vermehrt und vermindert. Zur Ehre des
Menfchenherzens fei es ‘aber gejagt, daß der Tob ver:
jöhnend wirkt und auch das herbfte Urteil vor feinem
ernften Angeſicht ſich mildert.
„Die rau, die wir bier beitatten, bat gefehlt
gegen bie herfömmliche Sitte, aber fie that e& in dem
Mahn, damit an ihrem Teil einer neuen, heilbringenden
dee zum Siege zu verhelfen. Wer aber aus Über:
zeugung den Mut zu folder Aufgabe feines Selbft an
eine bee hat, den fol man adten, felbft wenn er
irre geht. Wenn ein Bolleftamm in Wüfte und
Einöde fhmachtet, fo dringen wohl die Kühnften feiner
Angehörigen vor in die umgebende Wildnis, einen
Pfad zu Juden, ber zu befieren Gefilden führt, und
bie ihnen zugethban find, folgen 'vertrauengvoll ihrer
Führung, um mit ihnen zu fliegen oder unterzugehen.
Wird ihr Suden von Erfolg gekrönt, fo preift man
fie als Pfadfinder, gehen fie in bie Srre, jo ift Hohn,
Shmadh und Tod ihr 208.
„Schmad und Tod ift auch das Xo8 diefes jungen,
blühenden Wefens gemwejen, das vertrauensvoll einem
Borangebenden folgte — in die Sjrre. — Denn in
bie $rre geht jeder, ber den ficheren Boden des fittlichen
Geleges verläßt. Es ift nit vom Menjchenverftand
willkürlich gebildet, es ift ein Naturgejeß wie jebes
andere, und wo immer in Zeiten ber Zügellofigfeit
feine Grenzen fi verwildhten, da war Linheil und
Untergang die Folge. Die Verftorbene hat es über:
treten aus zu großem Vertrauen, aus zu großer Liebe,
darum fordere ih Achtung für fie und Mitleid mit
ihrem tragiihen Geſchick. Wir find nicht berufen,
fie zu richten, wir haben auh uns das Wort des
reinften Menjhen, der gelebt, — Yejus — ins Ge:
bächtnis zu rufen: ‚Wer ohne Sünde ift, ber werfe
den erften Stein auf fie‘.“
Er firedte die Hand über die Gruft und fchloß:
„So jhlafe denn fanft, Du Verführte, und nimm
den Segen Deiner verewigten Großmutter, den ich
Dir im Leben nicht mehr bringen durfte, mit ins
Grab. Sei Dir die Erde leicht.“
Er trat zurüd und die Totengräber walteten
ihres Amtes.
Mäbhrend der Hügel fi mehr und mehr wölbte,
zeritreuten fi die Zufchauer und nur Frau Nieder:
ftetter und Egon blieben noch in der Nähe, um ein
paar Kränze auf das fertige Grab zu legen. Sie
Ohne Gott. Roman von €. Karl.
400
Iritten in einer feitwärts gelegenen Allee auf und ab
und vertieften fi jo in ihr Geipräcdh, daß fie bie Zeit
darüber vergaßen. Der Friedhof war ganz leer, als
fie endlih zur Ausführung ihrer Abficht jchritten.
Über den einfanten, dunflen Erbhügel hingemworfen
lag eine große Männergeftalt, die auch nicht aufichaute,
als die Dame mit dem jungen Mann berantrat.
FStagend blidte Frau Niederftetter den Neffen an,
ber ebenfalls jchweigend die Achleln zudte. Da hob
der Mann fein bärtiges Haupt unb- zeigte Jchmerz-
zerrifiene Züge. — Es war Schmieber.
Zangfam erhob er fi vom Boden und blidte
bie in fpradlofer Überrafhung vor ihm Stehenden
wie geiftesabwejend an. „Das habe ih nicht ge:
wollt — das nicht — ich habe es ehrlich gemeint —“
ftammelte er mehr als er jprad. „Ach wollte Alma
nicht verlaffen — ich fonnte nur das elende Kind
nicht anfehen — und fie weinte jo viel —“ Er ftarrte
auf das Grab nieder.
„Ss ift jeßt nit an der Zeit, mit Ihnen zu
rechten, Herr Schmieder,“ ſprach Frau Niederſtetter
ſanft, „Ihre Verbindung mit Alma iſt an der inneren
Unſicherheit zu Grunde gegangen, die erſt ihr Glück
und dann ihr Leben koſtete. Nur ſehr leichtſinnige
Menſchen können genießen, was ihnen in jedem Augen⸗
blick genommen werden kann. Alma aber war nicht
leihtfinnig und hat Sie über alle Maßen geliebt.“
Mit einem Webelaut Shlug der Mann die Hände
vor das Gefiht und fanf wieder auf das Grab nieder.
Frau Nieberftetter blidte zögernd auf die un:
geordneten Kranzipenden, aber fie wollte ben ver-
zweifelten Mann nicht jtören. —- Leile verlieh fie
mit Egon den Friedhof.
Am Nachmittag meldete ihr Frau Köhler, die
fie hinausgefendet hatte, daß Schmieder vor kurzem
in feiner Wohnung gemejen fei und dort Bapiere an
fih genommen habe. Dann fei er fortgegangen, habe
ihr wieder den Schlüffel gegeben und auf ihre Frage,
was mit feinen Sadhen werden jolle, geantwortet:
das fei ihm ganz gleichgültig.
* : *
Am Abend des Tages trat Egon wieder bei ſeinen
Verwandten ein und traf dort zufällig mit Profeſſor
Steiner zuſammen. Egons Herz ſchlug hoch, als er
ſo plötzlich dem Vater ſeiner immer noch Geliebten
gegenüberftand. Der Profeflor aber blieb völlig gleich:
mütig und half ihm damit über das Peinliche des
Miederjehens hinweg. Eingehend erkundigte er ſich
nach Egons Lebensplänen und erklärte ſich damit ein⸗
verſtanden, beſonders, daß er ſich zunächſt als Philologe
eine ſichere Stellung zu erringen verſuchen wollte.
„Mein letztes Ziel iſt aber eine Profeſſur,“
ſchloß Egon.
„Sie thun bei Ihrer rhetoriſchen Begabung auch
gut, daran zu denken. Auf welches Specialfach gehen
Sie aus?“
„Philoſophie, Herr Profeſſor, ſie reizt mich am
meiſten, doch werde ich ſtets von realem Boden aus:
gehen und mich nie in ſpitzfindigen Spekulationen
verlieren.“
„Hm, hm,“ machte der alte Herr nachdenklich.
401 Ohne Gott.
„Run, das hat no Zeit, erit jorgen Sie, daß Sie
zu Brot kommen.”
Er wendete fih abjichiednehmend zu feinen
Freunden und dann mit den Worten an Egon: „I
hoffe, Sie lallen fi bald jehen.“
Sn Egon wallte es heiß auf, er ergriff die Hand
des alten Mannes und blidte ihm feit ins Gefidt.
„Darf ih denn kommen, Herr Profefjor?”
Auge traf auf Auge und der Angeredete wußte,
daß es eine inhalifcehwere Frage war, bie ber Junge
an den Alten richtete. Faft gerührt bafteten feine
Blide auf dem jugendliden, erregten Geliht, dann
Iprad) er in fcherzendem Ton: „Muß ich alter Heide
Shnen die Bibel citieren? ,‚Bittet, jo wird Euch
gegeben, Elopfet an, jo wird Eu aufgethan‘.”
Er drüdte no einmal Träftig die Hand des
jungen Mannes und war zur Thür hinaus, ehe diejer
zu Wort fam.
Egon aber trat jchnell in das Kleine Neben:
zimmer — der Profeflorin Allerheiligftes — und 309
die Thür hinter fi zu. Nicht nur der Schmerz,
au das Slüd will allein fein, wenn e8 das Menfchen:
herz in jeinen tiefiten Tiefen erjchüttert.
Am nächſten VBormittage Ichritt Egon auf das
Haus feiner Geliebten zu. Schon von fern erfpähte
er den blonden Kopf zwilhen den Gardinen ihres
Senfters, aber er verfchwand bei feinem Näherkommen.
Wie durh Zauber thaten fi die Thüren vor ihm
auf, das „Anklopfen” blieb ihm eripart.
Und dann fand er das Mädchen auf ber Schwelle
des reizenden Kleinen Boudoirs und es flog ihm
lahend und mweinend an die Bruft.
„Die Schranke ift gefallen, Egon, jeßt darf ich
Dir gehören.”
Und „mein, mein,“ jubelte der Mann, während
er die endlich Gemwonnene feit an fein Herz Tchloß.
* *
*vᷣ
Vierzehn Tage ſpäter wollte das gaſtliche Haus
Niederſtetter ſeine Pforten öffnen, um im engſten
Familien- und Freundeskreiſe das Brautpaar bei ſich
aufzunehmen. Es war bei ſolchen Anläſſen Gepflogen—
heit, Frau Minna Köhler zur Stütze bes Dienft:
perſonals zu engagieren, und Frau Niederftetter be:
nutzte einen Geſchäftsgang, um perſönlich bei ihr
vorzuſprechen. Sie fand die Thür verſchloſſen, der
Knabe war in der Schule und auch Minna aus—
gegangen, der Armenverein hatte ſie gegen gutes Ge—
halt als Botenfrau engagiert.
Verdrießlich über das Hindernis ſtand die Dame
vor der Hausthür und überlegte, an wen ſie wohl
ihre Botſchaft ausrichten ſolle, da fuhr ein Handwagen,
von zwei Männern geführt, vor die Thür, und zu
gleicher Zeit kam eine Frau, die ihn erwartet zu haben
ſchien, die Treppe herunter. Es war Frau Schmieder.
Ihr blaſſes, dunkelumrahmtes Geſicht zeigte denſelben
ruhigen und feſten Geſichtsausdruck wie damals,
als Frau Niederſtetter ſie in ihrem Vaterhauſe auf—
geſucht hatte.
Die Frauen begrüßten ſich und Frau Schmieder
wendete ſich erklärend an die alte Dame: „Ich ſehe,
Roman von E. Karl.
402
Sie ſind erſtaunt über meine Anweſenheit, aber ich
kann doch nicht das Hab und Gut meines Mannes
preisgeben. Schmieder iſt nicht aufzufinden und ſeine
Wohnung muß übermorgen geräumt ſein, da bin ich
doch die Nächſte dazu, um Rat zu ſchaffen. — Ich
babe mich als legitime Frau ausgewiejen und die Er:
laubnis erhalten, die Sahen an mid zu nehmen.
Eben bin ich dabei, ein Verzeichnis aufzunehmen.
Wollen Sie fih nicht hinaufbemühen? Frau Köhler
muß bald kommen, fie wollte mir helfen.”
Sie ging ber Dame voraus die Treppe binauf
und öffnete ihr oben die Thür. Es berührte Frau
Niederitetter ganz cigen, in den Räumen, die Alma
bewohnt hatte, eine Sremde, als die eigentlich Be:
techtigte, walten zu eben.
Frau Schmieder hatte bereits allen perjönlichen
Belig Almas, der fehr zujammengefhmolzen war,
ausgefondert, er fiel an eine entfernte Verwandte.
Sept gerade war fie dabei, das Silberzeug nebft
anderen fleinen Lurusgegenftänden aus dem Haus:
halt der Frau Rendant in eine fefte Kifte zu verpaden.
„Diele Gegenftände werde ich, als nicht mir ge-
börig, ‚nie gebrauden,” fagte fie, darauf beutend.
„Die Möbel in derfelben Weile ruhig ftehen zu lafen,
fehlt mir der Raum, fie müflen daher den Plaß, den
fie einnehmen, gemwifjermaßen verdienen. Sch babe
eine Wohnung in ber Wafleritraße gemietet, um
einzelne Zimmer an Penfionäre zu vergeben, da hat
jedes Räumen feinen Wert. Aber ich werde fie
halten wie meinen Augapfel. Wenn Schmieder |päter
nichts anderes mehr hat — und bei feiner Ruhe:
lofigfeit wird er nie auf den grünen Zweig kommen
— fo fol er wenigftens fein altes Net finden. ch
bin doch einmal feine Frau, wenn e3 auch für mid)
bejfer gemwefen wäre, ich hätte ihn nie fennen gelernt,
fo will ih wenigitens meine Pfliht thun.” Sie
wintte den Arbeitern und gab ihnen Anweijungen.
Frau Niederftetter trat an die leere Wiege des
Kindes und blidte jchweigend darauf nieder. „Das
Kartenhaus ift zufammengefallen, ohne eine Spur zu
binterlafen; arme Alına, deren junges Leben darum
zerftört werden mußte.”
E8 duldete die Frau nicht länger in dem traurigen
Naum, fie hinterließ eine Beftelung an Minna und
fagte Frau Schmieber herzlich Lebewohl. Sie mußte
die Frau bewundern, die jo ruhig und mie felbftver-
Nändlich die Antereflen ihres treulojen Mannes vertrat.
Frau Nieberftetter war erit ein Kleines Stüd
die Straße hinaufgegangen, als fie Frau Köhler traf.
Sie richtete ihre Beltellung aus und fragte dann,
Ihon im Begriff weiter zu fhreiten: „Und wie geht
es Deinem Mann? Bilt Du mwirklih dort gemwelen?”
„Sa, Frau Profefjor, vorgeftern hab’ ich nid)
freigemadht und bin binübergefahren. Es geht ihm
gut, und er bat fi bei dem regelmäßigen Leben
und guten Efien jehr erholt. Auch in feinem Gemüt
ift er ein ganz anderer geworden. Er glaubt wieder
an den lieben Gott, der ihn jo gnädig Davor be:
wahrt bat, ein Mörder zu werden, nun wird er
auch wieder ein ordentlider Menih. Der Aufjeher
lobt ihn fjehr und der Pfarrer auch.“
„Nun, das freut mich redht, Minna,; was wird
403
er aber unternehmen, wenn er zurüdlommt? Ein
Zuchthäusler findet jchwer Arbeit.
„Der Herr Pfarrer dort nimmt fich der Leute,
die fih gut Halten, naher an und bejorgt ihnen
Arbeit. Er bat jhon fo feine Kundichaft. Köhler,
als verbeirateter Mann, joll über drei Jahr in
eine große Ziegelei kommen. Da wird er, wenn er
ich gut führt, nad) einem Jahr feit angeftelt. Dann
fommt er gar nicht mehr hierher und ich ziehe zu
ihm. Wir wohnen auf dem Dorf, und ich werde
für die Bauernfrauen fchneidern und weben. Ich
Ipare jegt Schon von meinem guten Verdienft foviel
ih kann für die erfte Zeit.“
„Dann fängt aljo für Euch beide ein neues
Leben an, Minna.”
„sa, gnädige Frau, und der liebe Gott mög’
belfen, daß es ein befjeres wird.”
Die Dame blidte teilnehmend in das verblübhte,
vergrämte Geliht, auf dem fich wieder ein Strahl
frober Zuverficht hervorzumagen begann, und jprad
leife im Weiterfchreiten, nachdem fie fih freundlich
verabſchiedet hatte:
„Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden.” — —
Als es am nähften Tage bunfelte und Frau
Brofefjor Niederftetter no einmal dur ihr feitlich
geihmüdtes Heim jchritt, Das, wie immer, jchon eine
Stunde vor der Zeit zum Empfang ber Gälte bereit
war, wurde die Glode gezogen und das Dienft-
mädchen überbracdhte ihr einen Brief. Erftaunt be:
trachtete fie das große Couvert mit dem fremd:
ländifhen Stempel, ben fie als englüchen erkannte.
Southampton entzifferte fie endlich.
Sie ließ fih an ihrem Schreibtifch nieder und
las beim Schein der Kerzen ben Brief, der „Hans
Schmieder” unterzeichnet war.
„Snädige Frau! Ich babe den Staub des
Landes, in dem meine Wiege ftand und das die
Sppealiften ‚Heimat‘ nennen, von meinen Füßen ge-
jhüttelt und lege das Meer zwijchen meine Ber:
gangenheit und Zukunft. Der erwähnte Staub
fing an mir zu Kopf zu fteigen und vereint mit
dem Dunjt eines gemwillen Wallers mein klares
Gehirn zu umnebeln.
Da war es an der Zeit, einen Stridh durch
alle Sentimentalitäten zu maden und einen anderen
Boden unter die Füße zu nehmen. m Augen:
blid ift diefer Boden noch etwas jchmwanfend, denn
er bejtehbt aus den Planten des guten Schiffes
‚Hoffnung‘, auf dem ich nach dem freien Amerika
binüberdampfe, aber er wird fich feitigen wie meine
Zukunftspläne.
Mein Weg geht nach dem fernen Weſten,
vielleicht auch Süden des kolumbiſchen Erdteils,
wo es noch Raum giebt für Manneskraft und
Mannesmut, wo eine von feiner veralteten Über:
fultur entnervte Bevölferung wohl mehr Ber:
tändnis für die Lehre von Freiheit und Sleichheit
haben wird, als die unferes zopfigen, jentimentalen
und in Vorurteilen erjtarrten Deutichlands. Dort
wil ih fjehen, den Samen zu ftreuen für eine
neue Zeit. —
Warum ich Yhnen, gnädige Frau, die feine
Sympathie für meine Beitrebungen bat, Diejes
Ohne Gott. Roman von ©. Karl.
404
fchreibe? — Se nun, der Menih ift ein Ge:
jelichaftstier und kann der Mitteilung an andere
nicht entraten, und zudem — Sie haben einem Wejen,
das mir unendlich teuer war, Gutes gethban, —
ih möchte Ihnen ein Zeichen geben, daß ich Shrer
in Dankbarteit gedente. "
Sie werben vielleicht fragen, ob ich bereue,
Alma an mein Herz genommen zu haben, und
ih muß Ahnen, troß allem, mit ‚nein‘ antworten.
Einige Tage freilih babe ich bedenklih mit dem
Revolver liebäugelt, aber die Vernunft bat endlich
den Sieg bavongetragen.
Nur eines bedauere ich tief, das Weib, das
ih liebte, nicht vorweg in bie reinere Zuft der
amerilanifhen Wildnis entführt zu haben. Nicht
ih bin ihr Mörder, bie Vorurteile der anderen
und ihre eigene Sentimentalität waren es. Warum
nahm fie mich nicht wie ih bin, fie kannte doc
meine Anihauungen; warum wollte fie mich zum
' Schmacdhtenden Ritter umftempeln, für den feine
andere Frau mehr eriftieren follte.
‚Die Rofen brechen, jolange fie blühen, den
Mein trinfen, wenn er in Slaje perlt, und fi
über Vergangenes nicht grämen, denn ewig ift
nur der Wedel.‘ Warum machte fie dieje, meine
Lebensmweisheit nicht zu der ihrigen. Wir hätten
Freunde bleiben fönnen bis an unjer Ende —
warum fonnte fie fi in diefen natürlichen Um-
\hmwung nicht hineinfinden.
Armes junges Weib, das nicht flark genug
war für die Wahrheiten einer neuen Weltorbnung.
Möge Dein Staub in Frieden ruhen, die Er:
innerung an Di, wie an ein Holdes, Schönes,
wird mich durch mein ganzes Leben begleiten!
Und nun — vogue la galere! — Die Reue
ift nur für Schwädhlinge.” — —
Frau Niederftetter faß no nadhbdentlih auf
ihrem Plat, als ihr Gatte zu ihr trat. Eie blidte
zu ihm auf und reichte ihm wortlos den Brief.
Der Profellor las bas Schreiben aufmerkjam
dureh und faltete es zufammen.
„Du ftehit mich völlig Ipradhlos,” begann Frau
Niederftetter endlid. „Ih glaubte Schmieder von
Neue verzehrt und ftatt berjelben diefer frivole,
phrajenreihe Brief.“
„Menjhen feiner Art bereuen nicht und fehren
auh von ihrem Wege nidt um,” meinte der
Brofefior, „da ihre Eitelleit ihnen verbietet, den
Grund irgend welden Mißgeihids oder Mißerfolgs
im eigenen Innern zu fuhen. So müflen denn
Verhältniffe und Menfchen herhalten.”
„Arme Alma,” fprad Frau Niederftetter leife, „To
nul[o8 geopfert und nicht einmal gewürdigt zu werden.”
„Nicht nußglos, Anna,” Iprad der Profellor,
„jede DOppofition gegen das Herklömmliche jchafft
Nugen, denn fie trägt zur Klärung bei und ver:
hindert ein Erftarren und Stagnieren im Altherge-
braditen. Ohne LDppofition fein Fortichritt. Die
Hefe in richtiger Menge wirkt mwohlihätig, nur ein
Zuviel treibt Die Mafje zur Sormlofigkeit auseinander.
— Was ein Teil unferer Neuen fordert, gehört aller:
dings zu diefem Zuviel. Almas Schidjal zeigt die
Kehrjeite der Theorien, die die Apoftel der freien
405
Liebe prebigen. Alle Boeten und Schriftfteller fchließen
ihre Romane und Abhandlungen mit der leiden:
Ihaftlihen Hingabe des Weibes an den Mann, was
Ipäter lommt, danad) fragt niemand. Alma bat ge
zeigt wie es fommen Tann, ihr Schidfal ift eine
Überfegung der Theorie in die Praxis. So kann es
zur Klärung der Anihauungen beitragen und der
Menichheit mehr nüßen, ald mandes im Genuß ver:
brachte Dafein. Auch ich fage: ‚SFsriede ihrer Ajche.‘” —
Eine halbe Stunde jpäter füllten fidh die gaft-
lichen Räume mit froben Menfchen.
Da erichien, im Kreije der Seinen, Herr Wahr:
bolm, der in völliger Gejundheit heute zufällig den
Sabrestag jeiner Entlaffung aus der Klinik feierte.
Da war der Oberlehrer Baumgart, der Schwieger:
john der Gaftgeber, mit feiner liebenswürdigen Gattin.
Da war Profefjor Steiner, jegt ausgejöhnt mit ber
Wahl feiner Tochter. Wäre ihm audh ein Mann
feiner Dentart ale Schwiegerjohn lieber gemweien, jo
ging ihm das Glüd feines einzigen Kindes doch über
das eigene Wünfchen. Und Hilde war glüdlich.
Wer fie in ihrem weißen Kleide daftehen jah —
die Hände um ein Meines Sträußchen roter Rofen
geichloffen, die Egon ihr gebracht hatte, und bie ver:
Härten Augen über alles Gegenwärtige hinweg wie
in eine himmlische Zukunft gerichtet — dem erjdien
fie wie eine Berjonifilation des Glüds, jenes hoben,
reinen Glüdes, dem bie Erde unter den Füßen zu
verIhwinden jcheint, um himmlischen Wolfengebilden
Pla zu maden.
Auch Egons Eltern waren gelommen, fih am
Glüd des Sohnes zu freuen. Es hatte harle Kämpfe
zwilchen ihnen gegeben, und namentlih die Mutter
fih Tchwer von der Hoffnung, ben Sohn auf der
Kanzel zu fehen, die ihre Väter durch Generationen
eingenommen batten, getrennt.
Aber nun war das Schwere überwunden, nichts
Nörte mehr die Harmonie der Familie, und Hilde
hatte im luge das Herz der Schwiegereltern erworben.
So verlief das Felt in ungetrübter Heiterkeit und
bildete den fröhlicden Abjipluß einer Epoche voller
Seelentämpfe, Angft und Thränen.
XVL.
Über dem Territorium Jdaho im Welten ber
Vereinigten Staaten Norbamerilas neigte fih an
einem tlaren Septembertage die Sonne dem Horizont
zu. Noh eine Stunde modten ihre jchrägen
Strahlen die pittoreste Landichaft vergolden, ehe fie
binter den fernen Spigen des Gebirges verjhwanden.,
Aber gerade in diefer Beleuchtung machten die eigen:
artigen Felsformationen, aus berbfilich fich färbendem
Walde hervorragend, den herrlichften Eindrud. Der
amerilanijche Herbfimald giebt das denkbar farben-
prädtigite Bild. Ale Tinten des Regenbogens
Ihmelzen ineinander, vom leuchtenden Rot des
wilden Weines, der an den Stämmen ranlt, bis
zum gelb- und orangefarbenen Laub von Eiche,
Ahorn und Ulme Nur die Eiche bewahrt ihr Grün
und tönt es mit fanfter Bronzefarbe. Seht freilich
behielt diefes Grün noch die Oberhand, und bie
bunten Farben waren in den weiten grünen Mantel,
Ohne Gott. Roman von €. Karl.
406
der fi über Gebirgsabhänge und Thäler breitete,
nur wie Borten und Mufler hineingeftidt. —
Auf dem primitiven Wege, der eigentlih nur
ein Bfad mit hin und wieder fichtbaren Wagenfpuren
war, ritten zwei Männer. Der eine, body, blond,
mit ftarlem VBoßbart, trug augenjheinlich norb-
deutiche® Gepräge, der andere, feiner Sprache nad
ein Oflerreiher, war Hein und beweglih, es lag
aber in feiner Art etwas, das auf Energie und
Ausdauer Ichließen ließ. Die Männer kamen aus
einer, ein paar Tagereifen entfernten rapide auf-
wadjenden Stadt, wo fie fi in einem Boarding:
boufe zulammengefunden hatten, und waren auf bem
Wege zu einer im Bau befindlichen Zmeiglinie ber
großen Norbpacific-Cijenbahn, die neue Gebiete bes
noch weniger bevölferten Weftens aufichließen jollte.
Sie hätten au) einen anderen, bequemeren Weg
längs der Bahn nehmen können, aber ihrem Ge:
ihmade jagte eine Reife auf Roflesrüden burd)
teilweije noch jungfräuliches Land befler zu.
Der amerifaniihe Welten ift heute nicht mehr,
was er noch vor zwanzig Jahren war, und Gebiete,
bie ein europäilcer Fuß noch nicht betrat, faum zu
finden. Aber ganz find die unendlichen Wälder, Die
ih einft mweftlih vom Feljengebirge behnten, noch
nicht verſchwunden, wie fehr auch rüdlichtslofer
Erwerbafinn und fträfliche Gleihgültigkeit fie mit der
Art und dem fchlimmeren Feuer verwüftet haben.
Auh unfere NReilenden hatten eben eine vom
Teuer vernichtete Strede pajfiert. Noch gewährte fie
einen troftlojen Anblid, aber ſchon waren fleißige
Hände bei der Arbeit, den fruchtbaren Boden zu
Ader: und Weideland umzujhaffen und ein Stüd
des Vernichteten wieder anzuforiten, denn aud in
Amerila beginnt man ben Segen bes Waldes zu er:
fennen, und die Regierung der Vereinigten Staaten
bat eine Prämie auf die Erneuerung vermwülteter
Streden gejeßt. Die Mahnungen unferes Lands-
mannes Karl Schurz, dem man drüben den Spip-
namen „der Forjtmeilter“ angehängt hatte, find nicht
ganz fruchtlos geblieben.
Die Männer waren im Anblid der finfenden
Sonne eine Weile in fharfem Trabe geritten, denn
das Ziel, die neue Anfiedelung Bladftone — be:
ftimmt, Station der Zufunftsbahn zu werden — lag
noh eine Anzahl engliicher Meilen entfernt, jeßt
aber Ientten fie wieder in jchattigen Wald ein und
der mwurzeldurdhgogene Pfad legte ihnen Vorfiht auf.
So ritten fie im Schritt und nahmen das unter:
brochene Geiprädh wieder auf.
„Wie lange find Sie eigentlich jehon bier und
was haben Sie bisher getrieben, Schmieber?” fragte
der Oſterreicher.
„Es find im Frühling zwei Jahre geweſen,“
antwortete der blonde Mann, „und was ich getrieben
habe? Nun, was man eben in Amerika treibt,
wenn das Geld alle wird. Ich war Straßenfeger,
Kellner — ſpäter, als ich wieder einen anſtändigen
Rock auf dem Leibe hatte, Reporter einer deutſchen
Zeitung in Chicago, dann Sprachlehrer an einem
Mädchenpenſionat in Mineapolis, wo gerade mein
Vorgänger ſich als Durchgänger erwieſen hatte. Aber
die Lebensanſchauungen, die ich den jungen Ladies
407 Ohne Ghott.
beizubringen verjuchte, fagten der ehriamen Ynftitute-
vorfteherin nicht zu und fie jegte mich mit erjchreden-
der Plöglichkeit an die Luft.”
Der andere lachte und Jah jeinen Begleiter von
der Seite an. „Scheint mir aud, als wär’ da ber
Bod zum Gärtner gefeßt,“ fchmungzelte er.
„So bin ih denn nun auf dem Wege zur Wilb-
nis, joweit diefelbe hier noch zu haben ift. PVielleicht
findet fi bei der neuen Bahn eine Stelle als Ted:
nifer oder ingenieur. ch habe zwar feine Zeug:
nifje aufzumweilen, verftehe aber mehr von dem
Rummel ald mander andere. Es fol mir aud
nicht darauf anftommen, zunädft als gemeiner Ar-
beiter zu beginnen, Vorurteile fenne ih nit. Da
in dem Felleifen hinter mir jtedt eine folide Arbeiter:
blufe, die den Rod des Gentleman wieder einmal
ablöjen fann. Hoffentli nur für ein Weilden.”
Schmieders Begleiter jah bemwundernd zu dem
ftattlihen Manne auf.
„Ihnen Tann es nicht fehlen,” meinte er, „aber
auh ich Hoffe dort auf beflere Zeiten, ich gebefe
einen ‚saloon‘ aufzuthun, wenn möglich ein ‚opera-
house‘. Man ift bier zu Lande halt noch nicht jo
aniprudhevoll. Eine große Bretterbude genügt, und
die Sparpfennige, die ich als Steward auf einem
Mijfijfippi-Dampfer beilegte, werden zu ihrer Her:
ftelung ausreichen.”
„Ich glaubte eigentlih, zu einer Oper ge:
braudte man auch Cänger,” lachte Schinieder,
„wollen Sie alle Partien allein fingen?”
„Bar nicht fingen will ich, ich bin der Direktor und
zugleich mein eigener Barleeper. Meine Künftler warten
Ichon,” fügte der gemütliche Mann hinzu, „ein Stuben:
mädchen und ein Kellner aus Saint:Xouis, die ganz
hervorragendes Talent für humoriſtiſche Geſangsvor⸗
träge befiten, wollen berüberfommen, jobald mein
‚saloon‘ fertig ift. — Sehen’s, das ift halt der An:
fang, das übrige findet fi.” |
Die Sonne fant immer tiefer und ihre rötlichen
Strahlen tauchten den Wald in immer wunderbarere
Farben. Der Weg, der fi eine Weile bergan, zur
Seite einer bewaldeten Berglehne, neben einem tiefen
Abhbang Hingezogen und fehr fteinig gewejen war,
beilerte fich jett und ſenkte ſich thalwärts. Die
Schluchten zur Seite füllten fih mit immer tieferen
Schatten, abendlide Nube begann fi auszubreiten
und nur der Schrei eines Raubvogels ertönte ab und
zu aus der ‘Ferne.
In ſchlankem Trabe auf weihenm Rajen legten
die Männer etwa zwei Meilen zurüd, dann traten
die Waldbäume auseinander und der Ausblid in ein
ziemlich weites Thal öffnete fih. Am legten Abend:
Ihein jahen die Reiter die neue Anfiedelung vor fich
liegen und erreichten fie, als gerade die erften Zaternen
in den primitiven Straßen aufflammten.
Der Ort beftand erft feit etwa einem fahre und
zählte nur wenige, Hundert Einwohner, die fi vor:
zugsweife aus Bahnarbeitern und Baubeamten zu:
ſammenſetzten. Aber es fehlte auch nicht an Abenteurern
jeder Art, die die noch wenig geordneten Verhält-
nifje zu ihren Gunften auszubeuten fuchten. Kneipen,
Spielhöllen und Vergnügungslolale niedrigfter Sorte
Roman von €. Rarl.
408
jorgten dafür, den Einwohnern Unterhaltung und
gleichzeitig Gelegenheit zu geben, ihr jauer erworbenes
Geld wieder [os zu werden.
Die Straßen, von rohen Holzgebäuden begrenzt,
waren pflafterlos und nur an den Seiten marfierten
einige Planten das Zukunftstrottoir, dafür aber ragte
hin und ber nodh ein Baumftumpf aus der Erde,
den auszugraben man fi} keine Zeit genommen hatte.
Sn der VBorausfegung eines rapiden Wachstums ber
neuen Stadt hatte man ein beträchtliches Stüd ber
Thaljohle gerodet und nur wenige der Anfiedler
hatten daran gedacht, einige Bäume ftehen zu laflen,
um ihren Wohnungen den Schmud eines Gartens
zu verjchaffen.
Nur einer hatte hinter feinem ziemlich großen
Anwejen ein größeres Stüd Grasland mit prächtigen
Bäumen, das er ftolz „Bladftonepark” benannte. Cs
war ber Befiter des einzigen „Hotels”, eines großen
Holsgebäudes, das im Oberftod eine Reihe an die
Zellen einer Babdeanftalt erinnernder Holzverjchläge,
Fremdenzimmer genannt, bejaß.
Hier fanden auch die Reifenden erfte Unterkunft
und im bar room, einem großen, fahlen und un:
fauberen Raum zu ebener Erbe, die Gelegenheit, fich
an Speife und Tranf zu erquiden.
Der Wirt entpuppte fich ebenfalls als Deutjcher,
der aber fchon als halbwüchliger Junge mit feinen
Eltern nad Amerika gefommen war und feine Mutter:
Iprahe mit der Landesſprache in Turiojeiter Weile
„gemixt“ hatte. Naubeit und Gutmütigleit mifchten
ih in ebenjolder Weile in feinem Gebaren und
gaben ihm, gegenüber einer Gruppe jehr unheimlich
ausfehender Gejellen, die fih an einem Seitentijch mit
Kartenjpiel unterhielten, etwas Vertrauenerwedendes.
Die Kühe bejorgte feine Frau, eine noch jehr
junge, |hwarzhaarige, auf den Namen Kathleen hörende
Srländerin. Sie verftand fein Deutich, es waren über:
haupt außer dem Wirt, wie die Neijenden bald er:
fuhren, nur wenige Deutihe am Ort.
Kathleen kam, nachdem die Mahlzeit bereitet
war, ebenfalls ins Zimmer, und Schmieder, der fertig
Engliih Ipradh, tnüpfte jofort eine Unterhaltung mit
der hübſchen Kleinen Perfon an, auf die fie munter
einging. J |
Der etwas phlegmatiihe Wirt war augenjcein-
ih in fein Tleines Frauchen verliebt, ob fie feine
Gefühle teilte, mochte bahingeitellt bleiben. Kinder
bejaß das Ehepaar noch nicht, obgleich es bereits
zwei jahre verheiratet war. Der Wirt, „Didhäufer“
mit Namen, aber nah jeinem Vornamen meiftens
„Did: Bil“ genannt, hatte feine Frau aus dem Often
mitgebradt. |
Eine Weile blieb die Unterhaltung ganz friedlich,
Did: Bil erzählte von feiner Anfiedelung und wie er
boffe, daß nad Eröffnung der Bahn Bladitone der
Hauptitadt des Territoriums an Glanz und Komfort
nichts nachgeben werde.
„Sie Tönnen believe, Mifter Schmieder,“ meinte
er, „wir haben in unjeren mountains noch Stein-
tohlen genug, um die ganzen States zu verjorgen,
und bier müflen fie vorüber. Haben wir erft bie
rail road, fo zieht fih der ganze Handel in unfere
409
city und dann jollen Sie einmal jehben. Sn zehn
years, garantier ich, haben wir zmeihunderttaujend Ein-
wohner, tramway, Theater, elektriiches Licht und —“
Ein wüfter Lärm unterbrach den Redner, die
Spieler waren in Streit geraten, einer Ichien den
anderen zu befchuldigen, fein Glüd auf eigene Hand
verbejjern zu wollen. Ein Eleiner, verlebt ausſehen—
der Menfch mit jchmarzgelber Sefichtsfarbe war auf:
geiprungen und fchalt in einem Gemiſch von Engliſch
und Spaniih, das den Merilaner verriet, auf jein
Gegenüber, einen VBolblutengländer, ein, der mit
ruhigen, aber nahprüdliden Worten feine Bejchuldi-
gung wiederholte. Leidenfchaftlich focht der Ange:
Hagte mit den Händen in ber Luft herum, jentte
plöglich die Rechte und griff in die Hofentafche. Aber
ehe er das runbliche Ding, das fich darin abzeichnete,
bervorgezogen hatte, legte jih Did:Bills breite Tate
wie eine Eifenllammer um feinen Arm.
„Hier wird nicht geihoflen, Milter Diablo,”
tief er in engliiher Sprade und 309 zugleich die
Hand, weldhe den Revolver gepadt hatte, energilch
aus der Taihe heraus. Dabei fiel ein Pädden
Karten zur Erde und wurde jo zur ftummen Be:
ftätigung der ehrenrührigen Beichuldigung.
Ein unglaubliches Gefchrei erhob fi, und Mifter
Diablo — e8 blieb unentjhieden, ob es fich bei
diefer Bezeihnung um feinen wirlliden Namen
handelte — flog wie ein Gummiball zur Thür hin-
aus. Den Revolver hatte der vorfichtige Wirt zu:
rüdbehalten, die blauen Bohnen wären ihm fonft in
die Seniter geflogen.
GSleihmütig ftrih der Engländer das Tiegenge:
bliebene Geld ein, trank jein Glas aus und verließ
mit feinen Begleitern, eingeborenen Amerilanern, die
an der Bahn beichäftigt waren, den unmwirtliden Raum.
Sin den nähften Wochen waren bie neuen An:
fiedler no oft Zeugen ähnliher Scenen, obgleich
der ehrenwerte „Diablo“, nun jein Falichipielertum
im Ort befannt geworden war, e8 vorgezogen hatte,
fih ein anderes Arbeitsfeld zu juhhen. Er war ftill
und |purlos verduftet.
Sie konnten aber mit ihrem Fortlommen zu:
frieden fein. Steinbadhere „opera-house“ war fertig
und bereits hatte der unternehmende Ofterreicher eine
Tagereife nad ber nädhften Xelegraphenitation ge-
macht, um feine Künftler berbeizurufen. Die Holz:
bude zeigte Barterre und Logen. Der Boden war,
ben Gemwohnbeiten der fautaballiebenden Gälte ent:
Iprehend, mit einer biden Lage Sägeipäne bebedt
und die Bühne prangte im Schmud gemalter Bäume,
einer Kunftleiftung von Steinbadders eigener Hand.
Der vielgewandte Mann war in jeiner Jugend unter
vielem andern auch eine Weile Zimmermaler gewefen.
Schmieder hatte fi vom gewöhnlichen Arbeiter
bereits zu einer Aufleherftele aufgeihwungen und
zeichnete daneben in einem Bureau. Cs war lein
Zweifel, daß er bei nädhiter Balanz eine leitende
Stelle erhielt. Und diefe Balanz fonnte jeden
Augenblid eintreten. Der jüngfte der Bauleiter war
eine heftige, gewaltthätige Natur, die Gefahr lag
nabe, daß er bei nächfler Gelegenheit von feinen un:
disciplinierten Arbeitern erijchoffen wurde, oder das
Feld räumen mußte.
Roman-Zellung 1896. °
Ohne Gott. Roman von €. Karl.
410
Schmieder hatte es auch in diejfer Weltabge-
Ihiedenheit verftanden, einen Kreis um fich zu bilden,
dem er Vorträge bielt. Es lag ihm vielleicht weniger
an der Berbreitung feiner S$peen, bie in diefem
loderen Gemeinwejen faum einen praftiihen Zwed
hatten, als daran, der gefeierte Mittelpunft einer
Genofjenfchaft zu fein. Eitelkeit gehörte eben zu ben
Grundzügen jeines Charalters. Die Zufammenlünfte
fanden in Didhäufers „Part“ ftatt; der, trot des
begonnenen Dftobers, immer noch freundliche Herbit
erlaubte einen Aufenthalt im Freien, und Did:Bill
jah die Perfonenanfammlung, die jein Bier trant, gern.
Eines Sonntags nad dem Gottesdienft, der in
einer Kleinen Holzlapelle abgehalten und von Ameri:
fanern und Engländern eifrig bejuht wurde, follte
wieder ein Vortrag gehalten werden. Schmieder
madte, um dus Thema noch einmal im Kopf durch
zuarbeiten, einen Spaziergang nad) dem „Bladitone”,
einer Schieferklippe, die ziemlich” unvermittelt aus
dem Walde aufragte und der Anfiedelung ihren
Namen verliehen hatte. Aber die Gedanten jchweiften
ihm immer ab, er verließ fih fchließlih mit
feinem Bortrage auf fein gutes Glüd und folgte
der Erinnerung, die ihn rüdwärts führte, in Die
verlaflene Heimat.
Es war heute Almas Geburtstag. Heute vor
vier Jahren hatte er ihr, als feiner geliebten kleinen
Frau, zum eriten Mal den Geburtstagstifch gerichtet
und über jeine Berhältnifle hinaus mit Gejchenten
belaftet.. Wo war alles Glüd hin, das an biefem
Tage ihre Herzen erfüllt hatte? Alma rubte im
Grabe, und er lebte an der Grenze der Givilijation unter
Bedingungen, die andern unerträglich dünlen mußten.
Zum erflen Mal jeit langer Zeit fam es wie
eine weihe Stimmung über ihn. Seine Umgebung
trug wohl auch das Shrige dazu bei. Über ihm
raufchte der herbitlih bunte Wald gerade wie in
Deutihland, Tonntägige Ruhe breitete ih um ihn
und er war allein — ganz allein. Wer oder was
trug die Shuld? Er? — Alma? — dDder die
Unficherheit des Verhältniffes zwilchen ihnen, wie
jene jonderbare alte Profefiorin gelagt hatte? Oder
war es Thereje, die verführeriiche Chanfonnetten-
längerin? Sie hatte e8 auf ihn abgejehen, fie wollte
die flüchtige Liebelei, die er in Dresden mit ihr an-
geiponnen hatte, zu einer feiten Verbindung aus:
wachſen laſſen. Er hatte es wohl gemerkt und es
hatte feiner Eitelkeit gejchmeichelt.
Und dann war der Brief der Frau Köhler ge
fommen, der in lakonifcher Kürze meldete, Alma babe
fih mit ihrem Kinde erträntt. Sn jeinem eriten
Schreden und Schmerz; — denn Alma war ihm
immer noch teuer wie eine Schweiter, wenn er fid
die Frage, ob er fpäter wieder mit ihr leben wolle,
au noch nicht ernithaft vorgelegt hatte — war er
zu Therefe geftürzt, um das Entjeßliche einem fühlenden
Menien zu melden.
Er batte auf gleihgültig bedauernde Worte ge-
rechnet, aber was geihah? Geilterbleich hatte das
leichtlebige Mädchen ihn angeltarrt, um dann mit
dem Schrei: „Das hab’ ich nicht gewollt,“ in Die
Kniee zu flürzen.
Später freilich hatte fie alles abgeleugnet, wie
IV. 29
411 Dbne Gott.
jehr er au bat und flehte, ihm zu jagen, was fie
gemeint, ja, fie hatte jogar geichwiegen, als er fie in
rajendem Zorn bedrohte. Noch dadte er mit Scham
an die blauen Flede auf ihren weißen Armen, die
unter feinen jchüttelnden Fäuften entitanden waren.
Und doch hatte er die Überzeugung, daß etwas
geichehen jei. Welche Intriguen hatten hinter feinem
Rüden geipielt? Nein, er trug die Schuld nicht, jo
beihwictigte er jein Gewiflen immer von neuem,
das im Anfange laut gefchrieen und ihn auf das
Grab der Unglüdlichen getrieben hatte. —
Eine lange Zeit hatte er am Fuß des Feljens
gelegen, endlih erhob er fih, er mußte heim, die
Beit des Vortrags rüdte heran.
Als er den Fußpfab verfolgte, der zur Anfiedelung
zurüdführte, kam ihm von feitwärts Freund Stein:
badyer entgegen, aud er hatte einen Sonntagsipazier:
gang gemadit.
So ernft, Schmieder?” redete ber bewegliche
Ofterreiher den Blonden an.
„Weiß der Teufel,“ Iautete die Antwort, „diejes
Wetter, das wir daheim ‚Altweiberfommer‘ nennen,
brütet allerlei wunderlideg Gemwürm in meinem
Hirn aus. Es jummt mir um Ohren und Verftand,
als wäre ich ein jentimentales Mägblein.”
„Ste haben Heimweh, Mann,” meinte ber
Operndireftor in spe.
„Pah — Heimweh,” machte Schmieder ver:
ächtlih, „meine Heimat ift Die ganze Welt, fomeit
fie vernünftigen Anfchauungen zugänglih if. Sch
glaube, mir fehlt ein Liebehen, das mir die Grillen
fortfängt.”
„Und ich glaube, Sie haben jhon angefangen,
id danadh umzuthun,“ fagte Steinbadher in balb
Iherzhaften Ton, dem man aber ben Ernft anhörte.
„Laſſen Sie fih warnen, Mann, die Meine Kathleen
ift eine verheiratete Frau, wenn aud möglichermeife
von wenig ftrengen Grundjägen. Die ihres Mannes
dürften wohl defto: ftrenger fein. Und wenn er aud)
in feinem Haufe das Schießen verbietet, einen Ne:
volver befigt er jedenfalls.”
Schmieder late. „Wie mag der phlegmatifche
Bär zu der Heinen Bachitelze gelommen fein? Aus
Liebe hat fie ihn kaum genommen.”
„Aber aus Not und fie befindet fih vet gut
dabei. Er trägt fie in feiner Art auf Händen und
wird fie gewiß, wenn er erft die Mittel dazu hat,
die große Dame Ipielen lafjen, und das ift wohl das
Biel ihrer Wünjche.”“
„Sie jeheinen über die Verhältniffe orientiert zu
fein,” meinte Schmieber, „erzählen Sie doch.“
„Mein Hausmwirt ift mit Dichäufer zufammen
bergelommen, er fprad) davon. Alfo, Kathleen ift
die Tochter einer irischen, vor etwa zehn oder zwölf
Fahren nad) New York ausgemanderten Familie. Sie
haben fich jchlecht und recht ein paar Jahre durch:
geihlagen, dann find die Eltern geftorben, und bie
balbwüchfige Kathleen ift wie ein unnüßer Gegen:
ftand bin und ber geitoßen, bis ein Mädchenfänger
ihre Schönheit entdedte und für feine Zwede auszu:
beuten bejhloß. Er ließ fie tanzen lernen, aber
Ihon bei ihrem erften Auftreten in dem anrüdigen
Lokal jah fie der brave Did:Bill und heiratete fie
Roman von ©. Karl.
412
vom Fled. Ich glaube, er hat ihrem jogenannten
Beihüger einen hübfhen Baten zahlen müflen. Der.
Tanzunterricht und die goldenen Zulunftsberge jollten
wett gemacht werben.”
„Arme Kathleen,” jprah Schmieder nachdenklich,
„ein beneidenswertes Los bat fie nicht gezogen.”
„Was wollen Sie,” mwibderjprah der andere,
„der phlegmatiihde Did ift ein braver und tüchtiger
Mann, der einft reich jein wird, und was bie Haupt:
fadhe ift, er bat fie jehr lieb und ift zuverläffig. —
Zuverläffigfeit it die Hauptlache,“ wiederholte er.
„Hm,“ madte Schmieder und jchwieg dann
nachdenklich. Ä
Sie waren in der Niederlaffung angelommen
und begaben fi in den „Park“, der fchon von einer
Ihmwagenden Menge erfüllt war. Man nahm es an
diefem weltfernen Drt mit der Sonntagsheiligung
nicht jo fireng. Der größefte Teil der Gäfte beitand
aus Männern, die überhaupt in Bladftone weitaus
in der Mehrzahl vorhanden waren, aber auch einige
Frauen hatten fich eingefunden.
Schmieders weihe Stimmung war verflogen,
das Geipräch mit Steinbadher hatte ihn erfriicht und
aufgeheitert, die große Zuhörerihar Ichmeichelte ihm
und trug ebenfalls zur Verbeflerung feiner Stimmung
bei. Und bo war es weniger Änterefle an- der
Sade, welches die bunt zufammengewürfelte Menge
bergeführt hatte, jondern das Verlangen nad) Unter:
haltung und Abmwechlelung. Hätte Schmieder getanzt
oder gefungen, man wäre noch lieber gelommen.
Schmieber |prach über „die freie Liebe im Gegen:
fat zur Ehe”, fein Lieblingsthema, und fand für
feinen lebhaften Vortrag auch ungeteiltes Sinterefle,
aber nicht ungeteilte Zuftimmung.
Die jungen Burjchen freilich jubelten ihm zu,
aber die Ehemänner jchüttelten den Kopf oder unter:
braden ihn mit Zurufen, er folle ihren Weibern
nit den Kopf verdrehen. Die Frauen jeien in
Amerifa fon frei genug, noch mehr Freiheit jei
vom Übel und dergleichen mehr.
Schmieder konnte aber mit fich jelbit zufrieden
jein, er hatte den langen Vortrag in einer Sprache,
die nicht feine Mutterfpradhe war, wenn er fich ihrer
jeit zweieinhalb Jahren auch ausschließlich bediente,
glänzend bemälligt.
Zu feinen intereffierteften Zuhörern hatte Kathleen
gehört, die mit glühenden Wangen fein Auge von
ibm wendete. &s jollte alfjo nicht Sünde fein, fid
dem Geliebten zu ergeben, au wenn man leinen
Pakt auf Lebensdauer vor dem Friedensrichter ges
macht hatte. Das war ja eine herrlide Lehre und
herrlich erfhien ihr auch der ftattlide Dann, der fie
lehrte. Sie hatte aber nicht Zeit, ihren Gebanlen
lange nadhguhängen, man rief nad) Bier und andern
Getränken und fie mußte an die Arbeit.
Schmieder blieb nah Schluß feiner Rebe eine
Weile an einen Baum gelehnt ftehen und beobachtete
ihre verjchiedenartige Wirkung. Da trat Did:Bil an
ihn heran, jchlug ihn derb auf die Schulter und fpradh:
„Old fellow, für folde Neben ift bier nicht
der richtige place. Drüben in Eurem alten Europa
mag wohl mandes faul geworden fein, und ich kann
e8 begreifen, menn some people lieber gleich alles
Ohne Gott.
turz und Klein fchlagen möchte. Wir aber find bier
noch in the beginning, wir brauden Ordnung —
Freiheit haben wir plenty. Und nod eins, dear
friend, wenn Sie mit Ihrem Gejchwäß von ber
freien Liebe meiner Fleinen Kathleen den Kopf ver:
dreben, fo — safe your head — X babe das
junge Weib nidt aus dem Sumpf berausgeholt,
damit der erite beite es wieder bineinftößt. Aljo
— hands ofl.“ —
Er ging weiter, und Schmieder blieb mit ge:
mijhten Gefühlen zurüd. Sein Mohlgefallen an
der hübjchen Tleinen Perjon, die höchftens achtzehn
Jahre zählen fonnte, war aljo merkbar, er erhielt
heute die zweite Warnung. Für einen Charalter
wie den jeinigen Grund genug, nun gerade auf
ein Ziel loszugehen, das er bisher nur flüchtig ins
Auge gefaßt Hatte. Als er den „Park“ verlieh,
Iprach er leife zu fich felbft: „Sie muß mein werben
und follte es ein Leben foften.”“
Almas Schatten war verjunfen.
Der Abend war bhereingebroden und Die
Mehrzahl der Säfte heimgegangen. Nur ein Meiner
Kreis faß im bar room jpielend um einen Tiich und
andere ftanden zujhauend hinter ihnen. Aud
Schmieder gehörte zu Ddiefen. Er trank mehr Bier
als gewöhnlich, ſuchte der einſchenkenden Kathleen
ſoviel heimliche Feuerblicke zuzuwerfen, wie irgend
möglich, und hatte die Genugthuung, ſie jedesmal
erröten zu ſehen.
Dick-Bill, der lebhaft in Anſpruch genommen
war, verließ endlich den Raum, um im Keller
eine neue Biertonne anzuſtechen; Kathleen ſtand im
Hintergrunde, mit dem Spülen der Gläſer beſchäftigt.
Das war der richtige Augenblick.
Schmieder näherte ſich der jungen Frau und
ſetzte ſich neben ſie auf einen niedrigen Schemel.
Der Platz geſtattete ihm, von unten in ihre ſchönen
Augen zu blicken. Sie wurde fehr verlegen, ſchien
aber ſeine Nähe nicht ungern zu ſehen.
„Süße Kathleen,“ begann er engliſch, „ich habe
die heutige Rede allein für Sie gehalten, nur bei
Ihnen waren meine Gedanken. Mir ſcheint, auch
Sie gehören zu den beflagenswerten Opfern der alt:
fräntifhen Ehe. Dder follten Sie wirklih glüd:
lich fein?”
Kathleen war fih no nie wie ein Opfer vor:
gelommen, ihr jetiges Leben erjdhien beneidenswert
gegen die legten Sabre in Nem Vorl, wo fie oft
vor Hunger geweint hatte. Aber wenn Schmieder
es fagte, mußte es wohl jo jein. Sie jeufzte tief auf.
„Bi ift jehr gut zu mir, er hat mid) jehr lich,”
ſprach fie zögernd.
„Aber er tft doppelt fo alt und gar kein feuriger
Liebhaber für ein jo reizendes Frauchen. {ch weiß einen,
der jein Glüd ganz anders zu jchäten willen würde.”
Ein verliebter Bi in ihre Augen nannte den
einen beutliher als Worte. Kathleen errötete nad)
tiefer und jchwieg.
„3 habe Ahnen viel zu jagen, teure Kathleen,
tönnten Sie fi entichließen, morgen abend, wenn
Milter Didhäufer beichäftigt it, an die Hede bes
PBarles zu fommen? PDorthin, wo bie Heine Bank
fteht? Wir können bier nicht unbelaufcht plaudern,
413
Roman von E. Karl.
414
und ih vergehe vor Sehnfuht nah Shnen. —
Kathleen — Sie wifjen nicht wie ih Sie liebe.”
Der Mann erwärmte fi in der Nähe des in
feiner Verwirrung reizenden MWeibes an feinem
eigenen euer, er glaubte jegt jelbit, was er jprad).
Kathleen aber jchüttelte leife den Kopf. „Ich
fann nicht, Bill würde böje werben, wenn er e8 merlte.”
„Sehen Sie! — Si es nidt eine Schmad),
die Sklavin eines ungeliebten Mannes zu fein?“
„Ih babe Bill lieb — aber —“
„Aber es ijt mehr Freundfchaft als Liebe, wollen
Sie jagen. D Kathleen, und ich vergehe vor Leiden-
Ihaft neben Ihnen und muß darben, während er
faum zu willen fcheint, was er an ihnen befigt.
— Gie fommen?“
„Ih weiß nicht — “ Ipradh die junge Frau zögernd.
„Kathleen, ich bitte Sie — ich flehe Sie an —”
Dem jungen Weibe rannen die Thränen über
die Wangen, aber es jchwieg.
„So muß ich wieder in die weite Welt gehen,
oder mir eine Kugel dur den Kopf fihießen. Ich
tann nicht jo gleichgültig neben SJhnen hergeben. —
Sie willen nicht, was Liebe heißt. — Leben Sie
wohl, Kathleen,” jagte Schmieder jehr beftimmt und
ftand auf.
„AmGottes willen,” rief Kathleen tödlich erjchredt.
Die Füße des zurüdkehrenden Bill tappten ver:
nehmlih auf der Kellertreppe; es war feine Zeit zu
verlieren.
„Sie fommen morgen abend acht Uhr zur Bank?“
„Ja,“ tönte es leiſe zurück.
Der eintretende Bill fand Schmieder hinter
einem der Spieler ſtehend und ſeine Frau eifrig
über ihre Arbeit gebeugt, aber ihre glühenden Wangen
fielen ihm auf, und er warf einen mißtrauiſchen
Blick auf den ſtattlichen Apoſtel der freien Liebe.
Am nächſten Abend befand ſich Hans Schmieder
zu verabredeter Zeit auf dem Rendezvousplatz. Es
war ein rauher Abend und niemand hatte Luſt, ſich
zu ſo ſpäter Stunde im Freien zu ergehen.
Das geſtern noch ſo freundliche Wetter war
plötzlich umgeſchlagen; der Herbſt, müde des milden
Regimentes, ſchien ſein wahres Geſicht zeigen zu
wollen, ein trübes, regennaſſes Geſicht. Zur Zeit
freilich hatte der Wind die Wolken zerſtreut, und
der Vollmond ſtand unverhüllt am Himmel, aber
die kalte Luft war deſto empfindlicher.
Im Hauſe ſchien es voll zu ſein, der Harrende
fürchtete ſchon, die Frau würde nicht kommen können.
Eine Viertelſtunde verging — ihn fröſtelte, und ſeine
Stimmung wurde immer unbehaglicher. Wenn fie
wirklich nicht käme? Sie war vielleicht nicht geſchickt
genug, einen Vorwand für ihr Verſchwinden zu ſuchen.
Dem Mann lief es trotz der Kälte heiß über
den Leib, jetzt verlangte es ihn mit allen Sinnen
nach dem Weibe und kein Gedanke mahnte ihn an
den Mann, deſſen Rechte er kränkte.
Da huſchte es plötzlich über den feuchten Raſen
und Kathleen ſtand vor ihm. „Man denkt, ich bin
zur kranken Miſtreß Webſter gegangen,“ lachte ſie, „und
mein armer Bill quält ſich allein mit den Gäſten.“
Schmieder ſchloß mit einem unterdrückten Jubel⸗
laut das leiſe widerſtrebende Weib in die Arme und
415
füßte ihm leidenihaftlih Gefiht und Haar.
Kathleen, Heißgeliebte, wie joll id Dir danken.“
Kathleen war jung und ihre Sinne hatten
bisher neben Bill, in dem fie eine Art guten Onkels
jah, geilafen. Nun erwadhte unter den Lieblojungen
bes ftattlihen Mannes etwas bisher Unbelanntes in
ihr, der Kopf begann ihr zu glühen, und fie jchmiegte
fih zitternd in die umfchließenden Arme. hr Ge:
willen fträubte fi not — aber es war wie ein
füßer Traum, wie ein Rau — fie konnte nicht
wiberftehen.
Schmieber 309 das junge Weib noch tiefer in
den Schatten der Hede, denn das helle Mondlicht
lag auf dem Kieswege vor ihnen. Er feßte fich auf
das geftern erwähnte Bänfchen und zog die leichte
Geftalt auf fein Knie.
„Haft Du mi lieb, mein Leben?” fragte er
zärtlich.
„Ja,“ kam es leiſe von ihren Lippen, „aber es
ift Sünde.”
„Lob Dir nichts weiß madhen, Närrhhen, es tit
niht Sünde, dem Zuge bes Herzens zu folgen, e
ift Menfhenreht, das fie Dir mit Satungen nicht
verfümmern Jollen.“” Und er tüßte wieber die zitternden
Lippen, bie feine Küffe faum zu ermwidern wagten.
„Mein armer Bil,” rief die Frau plöglich,
„O
„wie unglücklich würde er ſein, wenn er es wüßte.“
„Denke nicht an ihn, Liebchen, er verdient Dich
nicht,“ antwortete Schmieder, unmutig darüber, daß
die Kleine in ſeinen Armen an den Mann denken
konnte, den ſie verriet.
„Was ſoll nun aus uns werden,“ fragte
Kathleen wieder, „ich kann doch nicht bei Bill bleiben,
wenn ich Dich lieb habe?“
Schmieder kam die Frage ungelegen, er hatte
an die Zukunft noch gar nicht gedacht. „Für den
Augenblick wirſt Du es doch müſſen,“ ſprach er
endlich, „bis ich genug Geld verdient habe, um mit
Dir an einen anderen Ort zu ziehen. Aber wir
ſehen uns heimlich ſo oft es irgend geht.“
„Aber dann betrüge ich ja Bill, das wird er
mir nie vergeben,“ ſprach Kathleen weinerlich.
„So laß doch den albernen Bill aus dem Spiel,“
rief der Mann ärgerlich, „und verdirb mir nicht die
ſchöne Stunde durch den verhaßten Namen. Küſſe mich
und denke nicht an die Zukunft. Das Heute iſt unſer.“
Er blidte fih um, ihm war als hätte fi im
Gebüfch etwas bewegt. Es war wohl nur der Wind,
der eben einen jeufzenden Atemzug that.
Schmieder nahm die Arme der willenlofen jungen
Frau und legte fie um feinen Hals, ihm Tam plößlich
das Berlangen, von ihren Lippen feine Mutter:
iprahe zu vernehmen.
„Späh mir nad, mein füßes Lieb: ‚Mein
Hans“ —
„Mein Hans,“ ſagte Kathleen gehorſam in
deutſcher Sprache.
„Mein Hans, ich liebe Dich,“ lehrte Schmieder
weiter.
„Mein Hans, ich — —“
Ein Schuß krachte und unterbrach die intereſſante
Lektion. Der Mann machte einen hohen Satz, die
Ohne Gott. Roman von E. Karl.
416
junge Frau willenlos von ſich ſtoßend, und ſchlug
dann vornüber auf den Sand. Er war durch den
Kopf geſchoſſen.
Aus dem Gebüſch trat Dickhäuſer, ein langes
Jagdgewehr in der Hand. Aus dem Hauſe ſtürzten
die aufgeſcheuchten Gäſte.
„Ich habe mein Hausrecht gebraucht,“ ſprach der
Wirt ruhig.
Kathleen lag wie ein geſchlagener Hund am
Boden und ſchaute mit entſetzten Augen zu dem
Gatten auf, deſſen Ehre zu kränken ſie im Begriff
geweſen war. Jetzt plötzlich kam ihr das Verſtändnis
für ihre grenzenloſe Undankbarkeit gegen den braven
Mann, der ſie aus dem Elend gezogen hatte und mit
Liebe überſchüttete; wenn es ihm auch nicht gegeben
war, dieſelbe in tönenden Redensarten auszuſprechen.
Bill ſah ſie zuerſt zornig an, als wolle er ſie
ſtrafen; dann aber, im Anblick ihres Entſetzens und
ihrer Angſt, ſänftigten ſich ſeine rauhen, wetterharten
Züge, Liebe und Mitleid überzogen ſie mit warmem
Abglanz.
„Komm her, Kathleen, Du biſt ja noch ein
dummes Baby und weißt nicht, was Du thuſt. Ich
will Dir die madness nicht hoch anrechnen.“
Er bob das zitternde Weib vom Boden auf, und
Kathleen Ihlang mit einem Aufichrei ihre Arme wie
Schuß juhend um feinen Hals. Dann ftieß er ben
Kolben feines abgeichoflenen Gewehrs auf den Boben,
während die Rechte den Zauf umipannte, und wendete
ih gegen die Umijtehenden, unter denen er mehrere
junge Burjchen bemerkte, die Schmieders Rede geftern
ftarf applaudiert Hatten.
„Und Euch rascals will ich etwas jagen. Wenn
einmal irgendwo in der Welt der nonsense, den der
Mann da geprebigt hat, eingeführt werben follte, To
wird Mord und Totihlag die Folge fein. Kein
braver Mann läßt fich nehmen, was er befitt, weil
e3 gegen bie menjchlidhe Natur geht, und da ift es
glei, ob es fih um ein Haus, ein Pferd oder ein
Weib handelt. — That’s my opinion,“
Der Scherif des Drtes war bazu gelommen und
beugte fih über den Toten, defjen rinnendes Blut
den mondbeglänzten Sand färbte.
„zabt den Mann anjtändig begraben,” Ipradh
Didhäufer, nahdem er jchweigend darauf Hingeflarrt
hatte, „und wenn er papers befigt, jo jchidt fie in
jeine Heimat, e8 muß alles feine order haben.”
Er jritt, fein halb ohnmächtiges Weib im Arm,
dem Haufe zu.
Am nächſten Morgen wurde Schmieder begraben
— in fremder Erde. — Kein Kläger fand fih, Did-
bäufers That dem fernen Gericht zu melden, man
hatte fie ganz in der Ordnung gefunden.
Schluß: Kapitel.
Während ein fchneller Dampfer die Nachricht
von Schmieders Tode über den berbftlih flürmiichen
Ocean trug, rüftete man im alten Deutfchland, im
Haufe des Profeljor Steiner, ein Ihönes Felt. Die
Hochzeit der einzigen Toter mit dem ONmNaN,
lehrer und Privatdocenten Egon Schmidt.
417 Ohne Gott.
Die Wartezeit war vorüber, das Kleine Neft
hergerichtet, in das ber jeht jelbitändige Mann fein
junges Weib führen wollte Nur ein beicheidenes
208 fonnte Egon jeiner Heißgeliebten zur Zeit bieten,
aber fie war e8 zufrieden, und Vater Steiner nahm
fih vor, fein eigenes erhebliches Einfommen mit
feinen Kindern zu teilen.
So war es denn ein Fleiner, aber von Herzen
frober Kreis, der fih um das ftattlihe Brautpaar
vereinigte. 9
Mit Nüdiiht auf die bejonderen Berhältnifje
hätte das Brautpaar gern auf eine firdlidhe Ein-
fegnung feiner Ehe verzichtet. Egon madhte aus
feiner Gefinnung fein Hehl und galt infolge einer
füirzlich veröffentlichten Schrift feinen früheren Kollegen
als Abtrünniger, wenn er jelbit fih auch heftig gegen
diefe Bezeichnung wehrte. Profefior Steiner aber
war in firhliden Kreifen geradezu verrufen.
Doh ber gute Sohn wünfchte den Gefühlen
feiner Eltern Rebnung zu tragen. So hatte man
denn ben Ausweg einer Haustrauung gewählt und
ein taftooller Geiftlicher vollzog bie Feier in erheben:
der Weile.
Sn Hildes freundlichem Mädchenſtübchen, das
vor zweieinhalb Jahren ihr junges bräutliches Glück
geſehen hatte, war unter den geſchickten Händen der
Frau Profeſſor ein blumengeſchmückter Altar ent—
ſtanden, über dem ſogar ein großes ſchönes Chriſtus⸗
bild prangte. Aber es war nicht der ſterbende Jeſus
am Kreuz, es war der lehrende, wie er heute noch
in jedem Chriſtenherzen leben follte. Das wertvolle
Bild war das Hochzeitsgeſchenk von Egons Eltern.
Der Geiſtliche hatte einen Text aus der erſten
Epiſtel Sankt Johannis gewählt: „Laſſet uns unter—
einander lieb haben, denn die Liebe iſt von
Gott,“ und führte das ſchöne Thema in würdiger Weiſe
durch. Vom Nächſtliegenden ging er auf das Allgemeine.
Nicht nur die Glieder einer Familie ſollten ſich lieben,
ſich treu bleiben bis in den Tod, ein einziges großes
Liebesband, gefeſtigt durch den Glauben an einen Gott,
ſolle einſt die Menſchheit umſchlingen und zu immer
höherer Geſittung führen. Wer aber an ſeinem Teil
durch Wort und Beiſpiel auf dieſes Ziel hinarbeite,
der ſei Gott lieb, denn „Gott iſt die Liebe und
wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott
und Gott in ihm.“
Tief bewegt legte Egon in feinem Herzen das Ge:
lübde ab, jein Zeben der Menjchheit zu widmen, indem
er törende Gegenfäte zu vermitteln beftrebt fein wollte.
Ein frohes Mahl folgte auf die Trauung und
bald Töfte der Wein alle jo natürlide Rührung in
ungemiſchten Frohſinn auf.
Aber auch die Zungen pflegt der herzerfreuende
Rebenſaft zu löſen. Schon waren alle offiziellen
Toaſte erledigt, Profeſſor Niederſtetter hatte das Wohl
des Brautpaars ausgebracht, Egon geantwortet. Die
Eltern, die Gäſte hatten ihr Teil erhalten. Da klang
wieder der ſcharfe Ton eines angeſchlagenen Glaſes
durch das Speiſezimmer und zu aller Erſtaunen er—⸗
hob ſich Frau Profeſſor Niederſtetter.
Überraſcht blickte ihr Gatte auf. „Aber liebe
Alte, was muß ich erleben!“
Roman von E. Karl.
418
Doch die Dame nickte ihm nur freundlich zu
und begann mit anfangs etwas zitternder Stimme:
„Meine lieben Freunde! Es iſt zwar unge—⸗
wöhnlich, daß eine Frau das Wort ergreift, obgleich
man unſer Geſchlecht — ich fürchte, nicht immer im
beſten Sinne — das zungenfertige nennt. Ich gehöre
aber zu den Menſchen, die gern mitteilen, was ſie
auf dem Herzen haben, und ſo kann ich auch heute nicht
unterdrücken, was mich angeſichts unſeres lieben
Brautpaars bewegt. Wir ſtehen in einer merk—
würdigen Zeit, in der die Extreme ſich bekämpfen und
von ber niemand weiß, was aus dem Chaos ſich einſt
abklären wird. Meine Lieben, wo eine Sturmflut
über das Land hereinbricht, da ſucht der geängſtigte
Menſch aus den Trümmern ſeiner Habe wenigſtens
das Teuerſte, Wertvollſte ſich für ein ſpäteres Leben
zu retten. Auch über uns iſt eine Sturmflut herein⸗
gebrochen, zur Zeit mehr auf geiſtigem Gebiete, aber
wer weiß, wie weit ihre Wogen ins bebaute Land
hineinſpülen. Da ziemt auch uns nach dem Teuerſten
zu greifen, was wir beſitzen, damit es nicht untergehe
im Schwall der wirbelnden Gewäſſer. Diejes Wert:
vollſte aber, das uns die Mittel geben ſoll, das alte
Zerſtörte in neuer Form wieder aufzubauen, ſind
unſere Ideale.
„Wir leben jetzt in einer Zeit, die den Realis—
mus begünſtigt und ſie thut in gewiſſem Sinne recht
daran, denn allein das Reale giebt ein ſicheres Fun⸗
dament. Aber wie ein herrliches Bauwerk nicht allein
aus Fundament beſteht, ſondern ſich in hehrer Schöne
hoch und höher erhebt, dem Himmel zu, auch wenn es
ihn nicht erreichen kann, ſo auch ſollen wir Menſchen
nicht am Boden kleben, ſondern, uns hoch und höher
erhebend, den Idealen nachſtreben, die — ſelbſt un—⸗
erreichbar — uns den Weg weiſen. Die vornehmſten
unſerer Ideale aber ſind Kunſt und Religion.
„Möge uns aus dem Ringen auf allen Gebieten
wieder eine Kunſt geboren werden, die uns wahrhaft
erhebt, ftatt ihr Genügen in der platteften Alltäglich-
feit zu finden, und möge aus dem Klaffenden Spalt
zwilhen Bibelglauben und materialiftiider Natur:
anfhauung eine geläuterte Religion uns auffteigen,
die Herz und Verftand gleichzeitig befriedigt.
„Theologie und Naturwiflenjchaft ftehen fich heute
gegenüber wie zwei ftarre Fellen, zwilchen denen ein
wildes Meer brandet. — Baumeifter, wo bift Du, auf
daß Du die Brüde Ihlägft? Vom ficheren Boden
des Wirklichen ausgehend, von den Pfeilern logifcher
Schlußfolgerung getragen, mag fie uns hinüberleiten
in jenes Reich, das wir nicht leugnen bürfen, ob:
wohl wir es mit unjeren irdifhen Sinnen nicht
wahrnehmen können. Die Philojophie trete in ihr
Recht, wo bie exakte Forihung ihre Grenze fieht.
Unb ob wir unter ihrer Führung einmal irre geben
— was thut es — jede Religion, ich fagte es jchon
einmal, ift nur Gleichnis für die Wahrheit, die zu
Ihauen uns verjagt ift.
„In dem teuren jungen Paar jcheinen fich die
beiden feinblihden Parteien zu verjchmelzen. Möge
ihre Verbindung ein Symbol fein, daß mein heißelter
Wunſch feiner Vermwirklihung fi nähert. So laßt
uns denn, meine Lieben, diejes leßte Glas unjerer
419
fröhlihden Tafelrunde leeren: auf 4ine glüdlihe Zu:
funft, in der Sdeales und Reales Zu jener Milchung
fih vereinigt, die ben fühlenden und denfenden
Menihen allein beglüdt. — Hoch unfere Zdeale.” —
Die Gefellihaft erhob ficd und bie Släfer Hangen
zufammen.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
420
Hilde blickte ihrem Bräutigam innig in Die
treuen, braunen Augen. „Wir wollen fie hochhalten,
mein Egon.” |
„Sa, mein Lieb,” antwortete er, „mit Gott!”
EnD oe.
Beiblatt der Dentihen NRoman-Zeitung.
Halte, Hatte, laß den Hfreit.
Von Robert Aurus, deutſch von W. Priuzhorn.
Gatte, Gatte, laß den Streit
Und die Herrſchermienen!
Du haſt mich als Weib gefreit,
Doch nicht, Dir zu dienen.
Eins von zwein nur herrſchen kann,
Nanch, Nancy!
Iſt's die Frau nun, iſt's der Mann,
Mein Weib Nancy?
Willſt dies ſtolze Wort Du noch
Stets im Munde führen,
Dann ade jetzt, Ehejoch —
Will mein Bündel ſchnüren.
Wohl betrübte ich mich des,
Nancy, Nancy!
Doch die Zeit bringt Leidvergeß,
Mein Weib Nancy.
Nun, mein armes Herz, ſo brich,
Höre auf zu ſchlagen!
Ruh ich unterm Raſen — ſprich,
Wie willſt Du dies tragen?
Hat der Tod Dich hingerafft,
Nancy, Nancy!
Giebt der Herr mir Troft und Kraft,
Mein Weib Nancy.
Gut! So nmijdhe ich mich dreift
Unter die Gefpeniter,
Komme Nacht für Nacht als Geift,
Durd Dein Kammerfenfter.
Nehm’ ein Weib dann, das Dir gleicht,
Nancy, Nancy!
Und die ganze Hölle weicht,
Mein Weib Nancy.
„Mopi.
„Sreuzfakra, meine Herren, mögen Ste e3 glauben ober
nit, fo war mein ‚Bergmann‘,“ jhloß der Forftmeifter
a. D. Häfelein, pafite einige fürcdhterliche Züge aus feiner
treuen Pfeife, nahm einen tiefen Schlud von dem „Extras
fteifen“ und jahb fih dann im Streife feiner Zuhörer nad
der Wirkung feiner joeben vorgetragenen „wirflih und thats
ſächlich paſſierten Geſchichte“ um.
Der Kreis ſetzte ſich aus den Stammgäſten des „feuchten
Zapfens“ in Xſtein zuſammen und der Forſtmeiſter hatte
wieder einmal eine ſeiner haarſträubenden Jagdgeſchichten
zum Beſten gegeben, auf die denn auch die üblichen „Au“
und „Na, na“ folgten.
Doch, merkwürdig, der Doktor, ſonſt der eifrigſte Wider⸗
facher biefer „Leberftrümpfe”, wie er bie Augsgeburten des
forftmeifterlihen Sägerlateins zu nennen pflegte, war heute
ruhig und, während er fonft Ihonungslos, in jarkaftiicher
Weife gegen fie zu Selb zog, fIchien die Glaubwürdigkeit
diefes neuelten Triebes Häfeleiniher Erfindung für ihn
über jeden Zweifel erhaben; mit einem geradezu feierlichen
Ernfte nidlopfte er dem Erzähler feine Überzeugungstreue zu.
Das war derartig überrafchend, daß felbft der bide
Nentier Shwädlig, ber fonft, ein Glas nad) dem andern
Icerend, dafab und buch nihts aus feiner beichaulichen
Nuhe zu bringen war, verwundert nad jenem binftarrte,
während ber lange Apotheler meinte: „Doktorchen, fehlt
Shnen etwas ober find Sie von jegt ab immer jo duldjam?*
„Nun, weshalb denn, meine Herren,” erwiberte der Ans
gerebete troden, „id; meine eben, derartige Sachen ſind durch⸗
aus nicht unmwahriheinlih, wie ih aus eigener Erfahrung
beweiien kann.“
„Vormachen,“ grunzte der Mathematikus Kreiſel, den
Redner erwartungsvoll anſehend, als ob er deſſen rundes
Pausbackengeſicht mitſamt der anſehnlichen Naſe in Quadrate
einzuteilen gedächte.
„Ja, vormachen,“ echote nun auch der Wirt, der ſich,
ſobald ſeine Zeit es erlaubte, gern ein Weilchen bei ſeinen
Stammgäſten aufhielt.
„Vormachen, vormachen! Unſinn!“ brummte der Doltor
ärgerlich und fuhr dann fort: „Ich will Ihnen etwas ſagen,
meine Herren, Sie wiſſen, daß ich keineswegs immer mit
den ‚thatſächlich und wirklich paſſierten Geſchichten‘ unſeres
Freundes einverſtanden bin, allein zu der eben gehörten
könnte ich Ihnen aus meinem eigenen Leben ein Pendant
erzählen — —“
„Oho, erzählen!“
„Los!“
„Immer munter!“ rief es durcheinander und alle waren
geſpannt „wie ein Flitzbogen“, wie der Mathematikus be—⸗
merkte.
Der ſo Beſtürmte kam, ohne auch nur einen Augenblick
ſeinen Ernſt zu verlieren, mit tiefem Zuge ſeinem Nachbar
den Reſt und, nachdem er mit der Umſtändlichkeit eines
Kenners ſich eine neue Cigarre angebrannt hatte, begann er:
„Es iſt ſchon manches Jahr verfloſſen, ſeitdem die Ge:
ſchichte ſich ereignete, die ich Ihnen jetzt mitteilen will, aber
trotzdem erinnere ich mich ihrer noch in allen Einzelheiten.
„Ich war noch Student. Die ſchönen Sommerferien
waren vorüber und in nicht allzu freudiger Stimmung ſtieg
ich in das Coupé ‚dritter‘, das mich wieder nach dem Muſen⸗
421
fie Göttingen zurüdführen follte, wo ein ganzer Hügel Ars
beit für das nahe Phyfitum anf mich wartete.
„Sn die Ecke gebrüdt — id war allein — qualmte ich
meine Cigarre.
„Wie ich alfo fo dafige und gerade im Begriff bin, mir
e3 bequem zu machen, ba8 heißt meine unteren &rtremitäten
in wagerechte Lage zu bringen, fteigt, als ber Zug falt Ihon
in Bewegung ift, eine mittelalterliche Dame mit den üblichen
zwei Dugend Schadteln und Staften ein.
„Ih war von biefer Begleitung nicht fehr erbaut mad
wurde e8 auch nicht, nachdem ich einen Bli anf das mit
einer fpigen Nafe und Sneifer bewaffnete Gefiht der Holden
geworfen hatte. Nachdem fich mein Vis-ä-vis unter ihrem
Serempel jeßhaft gemacht Hatte, mufterte fie mid) fo vogel-
perſpektivenartig und verlangte ſchließlich höchſt brüsk, ich
ſolle die Cigarre wegthun — —“
„Alle Hagel, das war zu viel verlangt von Ihnen.“
„Sa, das fand ih auch, zumal wir im Rauchcoupé
ſaßen, und antwortete daher auch ganz kühl, daß mir das
gar nicht einfiele, da ſie ja hätte im Nichtraucher‘ fahren
können. Ein Wort gab das andere, bis endlich mein Engel
kurz entſchloſſen mir meine Cigarre aus der ahnungsloſen
Hand riß und brevi manu zum Fenſter hinauswarf. —
„Nun, meine Herren, Sie werden zugeben, daß ein der⸗
artiges Vorgehen die Geduld eines Schafes zum Reißen
bringen könnte. Ich, an jenem Tage nichts weniger als
friedfertig aufgelegt, geriet in eine gelinde Berſerkerwut, wie
ich meine ſchöne Nikotina ſo mir nichts dir nichts heidi gehen
oder vielmehr fliegen ſah.
„Am liebſten hätte ich trotz Europas übertünchter Höflich⸗
keit das Frauenzimmer — Pardon, die Dame, wollte ich
ſagen — links und — — aber da lag gerade der Haſe im
Pfeffer. Es war eben eine Vertreterin des ſchwachen Ge⸗
ſchlechtes, gegen die man auch wütend und ohne Cigarre
Rückſicht zu nehmen gezwungen iſt. Ich begnügte mich alſo
mit einigen zarten Grobheiten und würgte meinen Grimm
hinunter, indem ich ziemlich erfolgloſe Verſuche machte, die
Enden meiner eben hervorſproſſenden Schnurrbarthaare
zwiſchen die Zähne zu bekommen, um in vier Vierteltakt
darauf herumzukauen.
„Da unterbrach plötzlich ein merkwürdiger Ton die
mühſam hergeſtellte NRuhe unſeres Idylls. Halb Quieken,
halb Heulen, kurz, ganz eigenartig.
„Wie ein Blitz ſchoß mir ein Gedanke durch den Kopf.
Mit ſchnellem Griff klappte ich den Mantel meiner Wider⸗
ſacherin zurück und richtig kam der Kopf des eingeſchmuggelten
Mopi‘ zum VBorfchein, der mit höchft fatalem Selnurre nad)
meinen Finger fchnappte, fo baß ich biefelben nur mit Mühe
vor der näheren Bekanntfchaft mit den Zähnen bes Tiebenz>
würdigen Tierhens reitete.
„Gin allerliebfter, biffiger Köter,‘ bemerkte ich und
fnüpfte die Köfliche Trage daran, ob gnäbiges Fränlein
and) nicht vergeffen habe, bie vorgeichriebene Platkarte zu
löſen.
„Das ſind Ihre Sachen nicht, war die pikierte Ant-
wort, ‚überhaupt geht mein ‚Mopi‘ Sie nichts an.“ Und
dabei brüdte fie das Hiebe Viehzcug fo innig an fi, daß
ih feine Rippen fnaden zu hören glaubte. Sch beneidete
ihn durchaus nicht, und er felbft fhien von diefer Zärtlich-
teit Teineswegs erbaut zu fein; wenigftens Inurrte er in be-
benfliher Weife fort. Ob biefes mir oder feiner Herrin:
gelten follte, weiß ich nicht, nehme jedoch Iettere an.
Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung.
422
„Wir beiden menfchlihden Wejen folgten biefem er-
munterndben Beilpiele und das fhönfte Wortgefeht war
wieder im Gange.
„Ich behauptete, der Köter müfje analog meiner Cigarre
hinaus, fie jprad) von ‚Unmaßung‘, ‚unerhörter Unverfroren⸗
heit‘ u. f. w. Scjließlid) wurde fie derartig anzüglid), daß
mein mühlam zurüdgehaltener Grimm fid Luft madıte.
„Mit einem fchnellen Griffe Eriegte ich den jühen ‚Mopi‘
zu paden und, mwupp, faufte er in elegantem Bogen zum
Tenfter hinaus.” —
„Na aber, glaubhaft, Doktor?!“
„Heiliger Nepomul, Sie Ungeheuer!”
„Das ift zu did gelogen!”
„Sie verbienen, beim erften beiten Tierſchutzverein zur
Anzeige gebradjt zu werben!“
So jhwirrte e8 im Scherz unb Ermft Durcheinander.
Der Erzähler allein behielt feine Leichenbitiermiene un=
erfhätterlich bei und fuhr fort:
„Da reden Sie nun alle burcdheinander und thun, als
ob fih nod niemand außer mir hat Hinreißen laſſen von
ber Aufregung. Gewik ift die That nicht zu loben, allein,
denten Sie fih einmal in meine Lage hinein, fo wird fie
Ihnen auch erklärlich ſein.
„Wie geſagt, ich ſelbſt bereute mein Thun im nächſten
Augenblick, wie ich das zappelnde Hundevieh ſo durch die
Luft fahren ſah, doch es war nicht rückgängig zu machen.
„Was ich nun zu hören bekam, darüber ſchweigt des
Sängers Höflichkeit, aber, im Vertrauen, es geht auf keine
Kuhhaut. Ich ließ alles über mich ergehen, jeden Augen⸗
blick darauf gefaßt, daß die beleidigte, mopiloſe Dame mir
nach bekanntem Muſter mit allen zehn Fingern ins Geſicht
fahren würde. Doch das geſchah nicht. Ihr Zorn löſte ſich
bald in einen unendlichen Thränenſtrom auf.
„Nun, ich bin kein Unmenſch.
„Als ich ſie ſo gottesjämmerlich klagen hörte über ihren
bielgeltebten ‚Mopi‘, der nun wohl fon lange gegen einen
Telegraphenpfahl oder gar den Schädel eines unjhuldigen
Bahnarbeiter8 geflogen war, überfam mid) ein menjchliches
Rühren. '
„Mid, entfchuldigend, verfuchte ich die Verwailte zu
tröften, indem ih ihr al8 Erfak einen von Onlels Tedeln
verfprad. Sa, Hoppla, da kam ih [hön an. Sch möchte
mich mit meinen Tedeln bahinfcheren, mo der Pfeffer wählt —
und was ded Angenehmen mehr war. Anzeigen miürbe fie
mich und zwar auf ber nädjiten Station. —
„Na, dann nicht, dachte ih und fing an, mir die Folgen
meines Verbrechens auszumalen. —
„Da, Binü—-ü—h! Der Zug hielt. ‚Kreienfen,‘ brüllte
ber Schaffner, die Wagenthür aufreißend, ‚fünf Minuten
Aufenthalt!‘
„Wie der Wind war meine TZeindin an mir borüber-
zur Thür hinausgepfuticht, um ihre gräßliche Drohung wahr
zu maden, und id fäumte nicht, in aller Eilfertigkeit hinter
ihr her zu Klettern, um einen legten Sühnverfudh zu machen.
„Doch was ift das! Da flieht, zwar etwas atemloS vom
Lauf, aber fonft ganz fidel der ‚Mopi‘ und hat die Cigarre
in der Schnauze und, meine Herren, mögen Sie e8 glauben
oder nicht, fie brannte nodj!“
Wax Heuer.
*
————— a —
419
fröhlichen Tafelrunde leeren: auf «ine glüdlidhe Zu:
funft, in der Fdeales und Reales zu jener Milchung
fih vereinigt, die den fühlenden und dentenben
Menihen allein beglüdt. — Ho unfere Ideale.” —
Die Gefellihaft erhob fi und bie Gläfer Hangen
zulammen.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
420
Hilde blidte ihrem Bräutigam innig in bie
treuen, braunen Augen. „Wir wollen fie hochhalten,
mein Egon.”
„DIa, mein Lieb,” antwortete er, „mit Gott!”
EnD ee.
Beiblatt der Dentihen Roman-Zeitung.
Halte, Hatte, Faß den Streit.
Von Mobert Burns, beutih von IE. Wriusdorn.
Gatte, Gatte, laß ben Streit
Und die Herrſchermienen!
Du haſt mich als Weib gefreit,
Doch nicht, Dir zu dienen.
Eins von zwein nur herrſchen kann,
Nancy, Nancy!
Sft’3 die Zrau num, ift’3 der Dann,
Mein Weib Nancy?
Wiltft dies jtolzge Wort Du nod)
Stets im Munde führen,
Dann ade jegt, Eheiod —
Wil mein Bündel jchnüren.
Wohl betrübte ich mich des,
Nancy, Nancy!
Doc) die Zeit bringt Leidvergeß,
Mein Weib Nancy.
Nun, mein armes Herz, fo brid,
Höre auf zu fchlagen!
Ruh ih unterm Nafen — jprid),
Wie willft Du dies tragen?
Hat der Tod Dich hingerafft,
Nancy, Nancy!
Giebt der Herr mir Troft und Kraft,
Mein Weib Nancy.
Gut! So mifche ih mid) dreift
Unter die Gefpeniter,
Komme Nacht für Nacht ala Beift,
Durh Dein Kammerfenfter.
Nehm’ ein Weib dann, dag Dir gleicht,
Nancy, Nancy!
Und die ganze Hölle weicht,
Mein Weib Nancy.
„Mopi.
„Sreuziatra, meine Herren, mögen Sie e3 glauben ober
nidt, jo war mein ‚Bergmann‘,“ fchloß der Yorftmeifter
a. D. Häfelein, pafite einige fürdhterliche Züge aus feiner
treuen Pfeife, nahm einen tiefen Schlud von dem „Extras
ſteifen“ und ſah fih dann im Streife feiner Zuhörer nad
der Wirkung feiner foeben vorgetragenen „wirklich und thats
fählih pajfierten Geihichte* um.
Der Streis fette fi) aus den Stammgäjten bes „feuchten
Zapfens“ in Xftein zufammen und der orftmeifter hatte
wieder einmal eine feiner haarftiräubenden Sagdgeichichten
zum Beiten gegeben, auf bie benn aud) die üblichen „Au“
und „Na, na“ folgten.
Dod, merkwürdig, ber Toltor, fonjt ber eifrigfte Wider:
facher biefer „Leberftrünpfe”, wie er die Augsgeburten bes
forftmeifterlihen Sägerlateins zu nennen pflegte, war heute
ruhig und, während er fonft [honungslos, in farkaftiicher
Weile gegen fie zu Selb zog, jhien die Glaubwürdigkeit
diefeg neueften Triebes Häfeleinfcher Erfindung für ihn
über jeden Zweifel erhaben; mit einem geradezu feierlichen
Ernfte nidkopfte er dem Erzähler feine Überzeugungstreue zu.
Das war derartig überrafhend, daß felbit der bide
Nentier Schwädlig, der fonft, ein Glas nad) dem andern
Icerend, dafab und buch nihts aus jeiner beichaulichen
Nuhe zu bringen war, verwundert nad jenem binftarrte,
während der lange Apotheker meinte: „Doltorhen, fehlt
Ihnen etwas oder find Sie von jegt ab immer jo duldjam?“
„Nun, weshalb denn, meine Herren,” erwiberte der Ans
gerebete troden, „ich meine eben, derartige Sachen find durd)=
aus nicht unmwahriheinlih, mie id aus eigener Erfahrung
beweiien fann.“
„Vormachen,“ grunzte der Mathematikus Streifel, den
Redner erwartungsvoll anſehend, als ob er deſſen rundes
Pausbackengeſicht mitſamt der anſehnlichen Naſe in Quadrate
einzuteilen gedächte.
„Ja, vormachen,“ echote nun auch der Wirt, der ſich,
ſobald ſeine Zeit es erlaubte, gern ein Weilchen bei ſeinen
Stammgäſten aufhielt.
„Vormachen, vormachen! Unſinn!“ brummte der Dolktor
ärgerlich und fuhr dann fort: „Ich will Ihnen etwas ſagen,
meine Herren, Sie wiſſen, daß ich keineswegs immer mit
den ‚thatſächlich und wirklich paſſierten Geſchichten‘ unſeres
Freundes einverſtanden bin, allein zu der eben gehörten
könnte ich Ihnen aus meinem eigenen Leben ein Pendant
erzählen — —“
„Dho, erzählen!*
„208 !*
„mmer munter!” rief e8 Durcheinander und alle waren
geipannt „wie ein Fligbogen*, wie der Mathematilus be=
merkte.
Der ſo Beſtürmte kam, ohne auch nur einen Augenblick
ſeinen Ernſt zu verlieren, mit tiefem Zuge ſeinem Nachbar
den Reſt und, nachdem er mit der Umſtändlichkeit eines
Kenners ſich eine neue Cigarre angebrannt hatte, begann er:
„Es iſt ſchon manches Jahr verfloſſen, ſeitdem die Ge⸗
ſchichte ſich ereignete, die ich Ihnen jetzt mitteilen will, aber
trotzdem erinnere ich mich ihrer noch in allen Einzelheiten.
„Ich war noch Student. Die ſchönen Sommerferien
waren vorüber und in nicht allzu freudiger Stimmung ſtieg
ich in das Coupé ‚dritter‘, das mich wieder nach dem Muſen⸗
421
beit für da3 nahe Phyfifum anf mid, wartete.
„sn die Ecke gedrüdt — id) war allein — qualmte ich
meine Gigarre.
„Wie ich alfo fo dafite und gerade im Begriff bin, mir
e3 bequem zu machen, das heißt meine unteren Ertremitäten
in wagerehte Lage zu bringen, fteigt, als ber Zug falt Schon
in Bewegung ift, eine mittelalterliche Dame mit den üblichen
zwei Dutend Schadteln und Staften ein.
„Ih war von diefer Begleitung nicht fehr erbaut mad
wurde e8 auch nicht, nadhbem ich einen BIid auf das mit
einer fpigen Nafe und Kneifer bewaffnete Geficht der Holden
getworfen hatte. Nachdem fid mein Vis-&-vis unter ihrem
Krempel ſeßhaft gemacht Hatte, mufterte fie mi) fo vogel-
perjpeftivenartig und verlangte Ichließlig hödhft brüst, ich
fole die Gigarre wegtiun — —“
„Alle Hagel, das war zu viel verlangt von Shnen.“
„Sa, das fand id auh, zumal wir im Naucdconpe
faßen, und antwortete baber aud) ganz kühl, daß mir das
gar nicht einfiele, da fie ja hätte im ‚Nichtraucher‘ fahren
fönnen. Ein Wort gab ba andere, bis enblih mein Engel
furz entichloffen mir meine Gigarre and ber ahnungslofen
Sand riß und brevi manu zum enfter Hinauswarf. —
„Nun, meine Herren, Sie werben zugeben, daß ein der-
artige® Borgehen die Geduld eines Schafe zum Reiben
bringen Lönnte. Sch, an jenem Tage nicht? weniger als
friedfertig aufgelegt, geriet in eine gelinde Berferlerwut, wie
ich meine chöne Nifotina fo mir nichts bir nicht® Heidi gehen
oder vielmehr fliegen fah.
„Am liebſten hätte ich troß Europas übertündhter Höflid-
feit das Frauenzimmer — Pardon, bie Dame, wollte id)
fagen — Iints und — — aber ba lag gerade ber Hafe im
Pfeffer. E8 war eben cine Vertreterin des fchwaden Ge:
Schlechtes, gegen die man aud; wütend und ohne Gigarre
Nüdficht zu nehmen gezwungen tft. Ih begnügte mich aljo
mit einigen zarten Grobheiten und würgte meinen Grimm
hinunter, indem ich ziemlich erfolglofe Verfuche machte, Die
Enden meiner eben hervorjproffenden Scnurrbarthaare
zwifchen bie Zähne zu belommen, um in vier Bierteltaft
darauf herumzufauen.
„Da unterbrad plöglidd ein merkwürbiger Ton die
mühſam hergeſtellte Ruhe unſeres Idylls. Halb Quieken,
halb Heulen, kurz, ganz eigenartig.
„Wie ein Blitz ſchoß mir ein Gedanke durch den Kopf.
Mit ſchnellem Griff klappte ich den Mantel meiner Wider⸗
ſacherin zurück und richtig kam der Kopf des eingeſchmuggelten
„Mopi‘ zum Vorſchein, der mit höchſt fatalem Geknurre nach
meinen Finger [chnappte, fo daß ich diefelben nur mit Mühe
vor der näheren Bekanntichaft mit den Zähnen des Ticbeng»
würbigen Tierchens rettete.
„Ein allerliebfter, biffiger Söter,“ bemerkte ich nnd
müpfte bie Köfliche Trage daran, ob gnädiges Fränlein
and) nicht vergefien habe, die vorgefchriebene Platfarte zu
löfen.
„Das find Ihre Sachen nicht,‘ war die pifierte Ant-
wort, ‚überhaupt geht mein ‚Mopi‘ Sie nit an. Und
Dabei brüdte fie das Hiche Viehzeug fo innig an fi, daß
ich feine Rippen Enaden zu hören glaubte. Sch beneidete
ihn burhaus nicht, und er jelbft Ichten von biefer Zärtlich-
feit feineswegß erbaut zu fein; wenigftens Inurrte er in be-
denkliher Weife fort. Ob bdiejeg mir oder feiner Herrin:
gelten follte, weiß ich nicht, nehme jedoch letteres an.
Beiblatt der Deutihen RomanZeitung.
_ fite Göttingen zurüdführen ſollie, wo ein ganzer Hügel Ar-
422
„Wir beiden menihlihden Weien folgten biefem er:
munternden Beifpiele und das fchönfte Wortgefedyt war
wieder im Gange.
„Sc behauptete, der Köter müfje analog meiner Cigarre
hinaus, fie fprad) von ‚Unmaßung‘, ‚unerhörter Unverfroren-
heit‘ u. f. wm. Schließlid; wurde fie derartig anzüglid, daß
mein mühfam zurüdgehaltener Grimm fid) Luft machte.
„Mit einem fchnellen Griffe friegte ich den führen ‚Mopi‘
zu paden und, wupp, faufte er in elegantem Bogen zum
Zenfter hinaus.” —
„Na aber, glaubhaft, Doktor?!“
„Heiliger Nepomul, Sie Ungeheuer!“
„Das tft zu bi gelogen!“
„Sie verdienen, beim erften beſten Tierſchutzverein zur
Anzeige gebradt zu werben!“
So jchwirrte e8 im Scherz und Ernft durcheinander.
Der Erzähler allein behielt feine Leichenbittermiene un:
erichütterlih bei und fuhr fort:
„Da reden Sie nun alle burdjeinander und thun, als
ob fih noch niemand anker mir hat binreißen laſſen von
der Aufregung. Gemwiß ift die That nicht zu Yoben, alletı,
denten Sie fi einmal in meine Lage hinein, jo wird fie
Ihnen auch erklärlich fein.
„Wie geſagt, ich ſelbſt bereute mein Thun im nächſten
Augenblick, wie ich das zappelnde Hundevieh ſo durch die
Luft fahren ſah, doch es war nicht rückgängig zu machen.
„Was ich nun zu hören bekam, darüber ſchweigt des
Sängers Höflichkeit, aber, im Vertrauen, es geht auf keine
Kuhhaut. Ich ließ alles über mich ergehen, jeden Augen⸗
blick darauf gefaßt, daß die beleidigte, mopiloſe Dame mir
nach bekanntem Muſter mit allen zehn Fingern ins Geſicht
fahren würde. Doch das geſchah nicht. Ihr Zorn löſte ſich
bald in einen unendlichen Thränenſtrom auf.
„Nun, ich bin kein Unmenſch.
„Als ich ſie ſo gottesjämmerlich klagen hörte über ihren
vielgeliebten ‚Mopi‘, der nım wohl ſchon lange gegen einen
Zelegraphenpfahl oder gar ben Schäbel eines unfchuldigen
Babhnarbeiter8 geflogen war, überlam mid) ein menfchliches
Rühren.
„Mich entſchuldigend, verſuchte ich die Verwaiſte zu
tröſten, indem ich ihr als Erſatz einen von Onkels Teckeln
verſprach. Ja, hoppla, da kam ich ſchön an. Ich möchte
mich mit meinen Teckeln dahinſcheren, wo der Pfeffer wächſt —
und was des Angenehmen mehr war. Anzeigen würde ſie
mich und zwar auf der nächften Station. —
„Na, dann nicht, dachte ich und fing an, mir die Folgen
meines Verbrechens auszumalen. —
„Da, Püuü — ü —h! Der Zug hielt. Kreienſen,‘ brüllte
der Schaffner, die Wagenthür aufreißend, ‚fünf Minuten
Aufenthalt!“ |
„Wie der Wind war meine Yeindin an mir porüber-
zur Thür hinansgepfuticht, um ihre gräßliche Drohung wahr
zu machen, und ich fäumte nicht, in aller Eilfertigkeit hinter
ihr her zu Klettern, um einen legten Sühnverfuh zu machen.
„Tod, was ift das! Da flieht, zwar etwas alemlo8 vom
Lauf, aber fonft ganz fidel der ‚Mopi‘ und hat die Gigarre
in ber Schnauze und, meine Herren, mögen Sie e8 glauben
oder nicht, fie brannte nad!“
Hax Heuer.
423
Deutfh-pyolnifd.
Bon 8. KHermann.
„Brennt die Laterne immer fhledhter?
Scaffen’8 die alten Augen nit mehr?
Halt ftile, Scheder — wenn unfereiner
-©o gut wie Du fchon gefuttert wär’!
Slobiczed hat nir Morgentränfe,
Ehe er mit der Striegel hantiert —
Und Odfe hat Pelz im falten Winter,
Globiczel in feinen Lumpen friert... .
Anno jiebzig tft auch ein Winter gewveien!
Wie lange ift’3 her jegt — laffen wir’ fein —
Da hat man auch gehungert, gefroren,
Aber wenn ich dran dente — ’3 war doc) fein!
Sch kann noch ganz gut franzöfifch parlieren,
Fusiler tout de suite — allons, allons —
War aud) ein Sammer, die [hwarzen Nader!
Lagen im Schnee und fchrieen Parbon.
Unfer Herr Hauptmann, das war der beite,
Da hätt’ ih nie nach dem Teufel gefragt:
Hab’ ihn 'raußgehanen mitfamt ber Fahne,
‚Globiczed, braves,‘ hat er gejagt! —
Bin in Berlin aud mit eingezogen,
Und den Kaifer, den alten, hab’ ih geich’n —
Daz ging über lauter Blumen im Tritte...
’3 wird Tag Shon — Bläffer, wilft Du wohl fteh'n!
Nun möcht’ einen fhwarzen Rod id haben,
Dab ich, mein Eifernes Kreuz auf der Bruft,
"No einmal könnt’ in die Kirche gehen —
Bei meiner Seele, das wär’ eine Luft! —
Aber Slobiczed Wochen: wie Felttags
Sid, um das Rindpieh In Lumpen plagt —
Hat fein Weib fi die Grojhen md Dreier
All durch die brandige Kehle gelagt.”
hr Deal.
(Eine moderne Chegeicdhidyte von Georg A. Albert.
(Schluß.)
Bald darauf knüpften ſie jenes wichtige, folgenſchwere
Band, das für dieſes Sein für unanflöslich gelten ſollte,
weil doch der eine oder der andere nur mit dem Verluſt des
Beſten ſeiner Seele es bricht. Sie erklärte, daß ihr der
ſtaatliche Akt vollkommen genüge und daß eine geräuſchvolle
Hochzeit nicht in ihren Wünſchen liege. In ſein Leben
ſpielte hauptſächlich der Bureaukratismus und die ſtaatliche
Autorität hinein; in dem, was verboten und erlaubt war,
hörte er auch als Mann noch immer die Stimme des Lehrers und
Waiſenvaters in ihrem unbeſchränkten Abſolutismus. Über dem
irdiſchen Geſetz und dem Richter ſtand ihm in der Welt
nichts; es hatte für ihn die höchſte bindende Kraft, und ſeine
eigene Achtung und Ehrfurcht davor ſuchte er auch bei andern.
So erfaßte er Gott als etwas Beſonderes, das zwar über⸗
mächtig in das Erdenſchickſal hineinwob, aber doch der ſtrengen
irdiſchen Gewalt an ſeiner Stelle das Schwert in die Hand
gegeben hatte, je nach ſeiner Weisheit, in dieſer und jener
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
424
Form und Geſtalt. Er war es alſo zufrieden, ihre Ehe mit
dieſem geſetzlichen Bande geknüpft zu ſehen, und er fand
auch darin nichts Unvollkommenes, ſofern eben dieſes Zu⸗
ſammenleben ſeine innerliche Weihe erhielt durch eine echte,
warme Neigung. Die vorläufige Zurückhaltung ſeiner Ver⸗
lobten ſchien ihm dafür nicht bedenklich; es mußte ſich ja
naturgemäß ein Verhältnis ergeben, das dieſer ethiſchen
Bedingung im Laufe der Zeit nahe kam und ſich ſchließlich
zu einem ſchönen, harmoniſchen Ganzen vereinigte. Denn
einem immer ſich gleich bleibenden liebenden Herzen, dem
ſelbſtloſe Opfer und Sorge ein beneidenswertes Glück
dünkten, konnte ſie auf die Dauer nicht widerſtehen. Und
er zitterte mit Wonne dem — wenn auch noch ſo fernen —
Momente entgegen, wo er ihr Herz gewonnen haben und
befiegt, rüdhaltlos, an dem ſeinen ſchlagen fühlen werde.
Darin wollte er ſich gewiß nicht getäuſcht haben, wo er
wußte, daß ſie ehrlich und gut, wenn auch von herbem
Stolze und ein wenig zu großer, treuer Anhänglichkeit
an Geweſenes ſei. Darum eben mußte er ſie doppelt lieben
und hegen, weil ſie nicht war wie die kriechende Winde,
die ſich um den zufällig auf ihrem Wege ragenden Stamm
wand.
In dieſer Schätzung anerkannte er ihre Selbſtändigkeit
gern und genehmigte, daß fie Gatten blieben, ohne Hingabe
und Opfer, die der jeclifchen zreiheit zumiberliefen. Die
Achtung davor und vor bem Weibe im allgemeinen und diejer
feiner rau im befonberen entiprang fo tief feinem innerften
Gein, daß fie feinem Nadydenten und Urteile eine ehrfurcdhtös
volle Grenze 309. Er fagte fi) mit befcheibener lÜberzeugung,
daß diefe Frau „verdient“ fein wolle, und betradtete fih —
wenn auch ohne Grund, nur alein feinen adhtungspollen
Gefühlen entiprungen — fo tief unter ihrem geiftigen und
gefelihaftlichen Niveau, daß er in der gleichwertigen Vers
bindung nit ihm bei ihr ein freiwilliges Herabfteigen zu
ihm oder feine Erhebung durch fie jah. Und dabei fühlte
er, daß ber männliche Stolz Diefer Art von Frauen gegen
über nicht auf ein angeborenes Vorredyt pochen bürfe, wenn
er nicht zu niedrigfter Unbildung und Brutalität ausarten
wolle. Dem Manne in fi Hatte er durch diefen fpeciellen
Standpunkt nichts vergeben.
Shr Verkehr hielt fi anfangs auf der Stufe adjtung3-
voller, rüdfihtnehmender Freundichaft, aber er bejtrebte fid,
feinem gütigen Herzen nad, mählidy mit Feinheit mehr Liebe
hineinzulegen. Sie ftieß oft auf Dinge im Haufe, auf
Negungen und Gebanten bei ihm, bie feinem gleihmäßigen
zarten Benehmen eine ftille, jchmeichelnde, rührende VBebentung
gaben, die fie denken unb fühlen und forfchen ließen und
feine, unfihtbare Fäden hinüberleiten zu einem Selbft, das
fie in diefer Eigenart noch nicht fennen gelernt hatte. Zhr
war da8 treue, geheimnispolle Walten eines männlichen, nicht
äußerlich Tärmenden, in ſtarke Leidenſchaftlichkeit ausbrechenden,
weltverborgenen Gemüts nicht geläufig. Sie hatte das Gegen:
teil an fi — und wie fie meinte — mit Wonne erfahren. Hier
aber fah fie es fih entfalten und QWlüten treiben, wie fie
nidt für die laute Bewunderung der großen, nad) ftarfem
Neiz verlangenden Dienge, fondern für bie heilige Einfantkeit
eines verſchwiegenen, ſeligen Glüdes geichaffen find. Sie
vertiefte fich zeitweije gern in den Zauber biefes männlichen
Gemüts — aber dauernd darin zu weilen, verfagte ihr ihre
unrubige, leidenjchaftlihe, nah Raufh und Schmerz ver:
langende Seele. Sie fand fid) abgezogen von ihrer Vor:
ftellung entipredhenden Ssdealen, die, ihrem Gefühle nad), ein
425
bimmelftiirmendes Liebesglüd, wenn audy mit nachfolgender
Vernichtung, verhießen. Und ihre heiße Eehnjuht malte
phantaftifche, jchillernde Wilder um eine einzige Perfon, der
zu entjagen fie fich gezwungen fah, bereit3 zu einer Zeit, von
ber ihr Vater fagte und wifjen wollte, daß fie fie nad) uns
berftändiger, fich felbft und die Wirklichkeit nicht verftehender
Mädchenart durhträumt habe. Sie glaubte ihm zum Teil.
Dod ihrer innerfien Natur nah, im Grundmeien der
Ihwärmereidburftigen, einer Welt unflarer Triebe überlafjenen
Weiblichkeit hingegeben, fam fie inmer wieder vor jener
täufchenden Vergangenheit an und überredete fih, daß fie
einem gütigeren Schidjal ein unfaßbares, maßloje Glüd
zu danken gehabt hätte.
An ihn, den fie vor der Welt „Satte* nannte, dadte
fie in jolhen Momenten wenig.
Sp verging ein Jahr.
Der Mann, in feiner treuen Werbung um das Herz
feiner rau, erkannte fchließlid) das Hoffnungslofe feiner
Bemühungen. Er fah, daß es ihm nicht gegeben war, fie
zu erringen, fei e8 nun au8 Mangel an äußerer Gabe oder
innerer Kräfte, die eine zwingende Macht über fie hatten.
Er wußte jehr wohl, daß ihr Geichledht der Ihönen äußeren
Erihheinung eine fiegende Gewalt zuerlannte, und daß er in
diefer Beziehung vernadläjfigt fei. Sein einfaches Äußere
verfhwand gegen ihre ftolze, vornchme Formenihönhelt.
Sie war fi) des Gegenfages bewußt und fand feine Ber:
föhnung für fie beide. Demnad; mußten bie echten, redlichen
Gefühle feines Herzens Feinen Wiederhall bei ihr gefunden
haben. So war er aud in diejer Hinfiht zurüdigeblieben
gegen andere, denen die Eeinfte Mühe die herrlichiten Früchte
in den Schoß warf. Er gab ben ftrengen Eindrüden feiner
liebearmen Jugend jchuld, die den faum zum Leben erwachten
Keim achtlos verdorren ließen, daß jein innerftes Weien
nicht lebendiger, überzeugender, verlodender und fieghafter
hervortrat — und verdadte ihr nicht die Kälte und Nichte
adhjtung, weldye fie für das Neizlofe hegte.
Shr Vater war einige Monate nad) ihrer Hochzeit
geftorben. Seine legten vertrauliden Worte an den
Tohtermann waren:
„Harren Sie aus in der gebuldigen Güte Shres Herzens,
mein Sohn! Zulegt ift da8 doch ber echte, wahre Charalter,
der fih in allen Lagen und Kämpfen treu bleibt. Sch habe
e3 gut mit Ihnen gemeint — und fie gab Ihnen ihre Hand,
nicht mir allein zum Gehorjam und Gefallen, fonbern weil
fie inftinktiv fand, daß Sie ihrer wert find. S;hnen bleibt e3
überlafjen, falihe Sbealbegriffe und ungeklärte Leidenichaften
bei jonftiger ftrenger, berber Sittlichfeit zu entmwurzeln.
Bleiben Sie fi nur treu, lieber Sohn.“
Und diefe Mahnung eines Sterbenden war nidjt ver:
gebens geweien, da ein wadiender Schmerz felbft eine ftarke
Überlegung zurüdzudrängen und die größte Geduld zur
Verzweiflung umzuwandeln vermag.
Der Mann diejer rau war aus feinem Gleihmut und
Trieben geriffen gegen jeine Natur, und dies um fo ftärker, je
größer feine Liebe für diefe rau wurde. Sie benterkte diefe
Veränderung und legte e8 ihrer Gefühlslofigfeit zur Laft,
die jeine Geduld erihöpft und jeinen Unmut machgerufen
haben mußte. Davor fih zu fügen, fand fie keine andere
Waffe, alZ fein ihr gegebenes Einverftänbnis in die von ihr
geitellten Bedingungen zu einer Verbindung mit ihm. Doch
würde ihr diefe Stellung auf die Dauer unbequem, ja un⸗
haltbar werden. Und fid) durch gemaltfame Umftände um
RomansZeitung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman-gBeitung.
426
ihre Freiheit bringen zu laflen, bazu war fie der fchwade
oder verborbene Charakter nit. Sn der Erregtheit ihres
Dentens fuchte fie ohne Urfache bei ihm eine brutale Gewalt,
die ihn das Recht gab — während er in fchmerzlidher Er:
gebenheit ein zum Unglüd verwanbeltes Glüd trug.
Er bemerfte ihre Unruhe wohl und verfuchte, fie über
ihn ficherer zu ftimmen. Die beabfichtigte Wirkung gelang
ihm aber nur teilmweile. Sie mißtraute feiner Stetigfeit unb
argmwohnte den Ausbruc, einer elementaren Leidenichaft, Die
fie jelbit an feiner Stelle hinreißen würde. Und da fprad
fie von Trennung — von Scheidung.
Er jah fie ruhig an — nur jein Antlig bededte fi)
mit Leichenbläfie.
„Ich werde gehen,“ fagte fie, „um damit eine Verbindung
aufzuheben, die wir uns erträglider daten. Die Achtung
allein — das fehe id; nun — reicht für eine Ehe nit au —
und ih babe audy heute faum mehr — ald meine Freunb-
haft — zu geben.“
„Sie werden — geben?“ wiederholte er monoton.
„5a, ich halte es für beffer, aufrichtiger, Shrer und
meiner mwäürbdiger, wenn wir uns burd diefen gemeinjamen
Schritt der Freiheit wiedergeben,“ verjegte fie etwas unficher.
„Ich vermute bei Ihnen wohl nicht ganz mit Unrecht einen
gewilfen Uberdruß — den ich begreiflich finde. Mein Damaliges
unüberlegtes Samwort bereue ic; Ihretwegen, denn Sie haben
im Laufe der Zeit viel Teilnahme in nıir für Sie erwedt.
Mit Ihren Eigenichaften Haben Sie eine berechtigte Anmwart-
Ihaft auf da3 Glück durch die Liebe einer Frau, bie Sie
beijer zu jhägen weiß. Und ich darf Sie diefem GIüd nicht
länger entziehen.“
Er madte eine ablehnende Bewegung.
„Da8 folte Sie nicht beirren,“ meinte er.
„Doch,“ erwiderte fie hartnädig. „Mir ift bad Bewußt-
fein uneriräglid, daß ich eventuell für Sie ein Hindernis
fein Eönnte. — Laflen Sie uns vernünftig fein,“ fuhr fie
mit Shwad verhehlter Erregung fort, „laffen Sie e8 ung
gut und ehrlihd mit ung meinen. Visher haben wir eine
große Thorheit begangen. Wir haben nicht wie reife, vers
ftändige Menfchen, jondern wie unüberlegte Kinder gehandelt.
Sagen Sie jelbit: was ift das, was wir miteinander vors
ftellen? Yühlen und finden Sie nidt das Erniedrigende,
Gehaltlofe unferer gegenfeitigen Stellung heraus? Unb
bejonders für Sie ald Mann liegt darin etwas Beichämendes, -
das Ihr Stolz nicht billigen folltee Mir ift eg unmöglich,
Ihnen auf die Dauer die einwandsfreie Achtung entgegen
zubringen, die ich vordem für Sie hatte. Sch will von dem
Manne Energie, felbft auf die Gefahr eines herben Vers
zichtes. Und die müßten Sie mir gegenüber finden, da ich
Shnen als Frau nidhts fein kann.“
„Sie wollen alfo unter allen Umftänden — frei fein?“
fragte er, jcheinbar ruhig, doch mit merklich zudenden Lippen.
„sa!“ rief fie leidenfchaftlich und begegnete feinem feft
auf fie gerichteten Wlidde mit gleicher Entichloffenheit.
Er neigte ein wenig da8 Haupt.
„But,“ fagte er, wie überlegend, und verließ ohne ein
weitere® Wort das Zimmer.
ALS fie allein war, machte fie fi dody Vorwürfe und
halt ihr ichfüchtiges, undanfbares Herz. Aber fie feste fi)
über alle Bedenken hinweg im Hinblid auf ein wirkliches Glüd,
da8 fi unter gewiffen Bedingungen in veränderter Geftalt
ihr zu eigen geben wollte. Der Mann ihrer erften Liebe, in
den fie ihr Ideal fah und harinädig fefthielt, hatte wieber
(Er nu
IV. 30
427
ben Weg zu ihr gefunden, und neue, noch leidenfchaftlichere
Hoffnungen, als ehedem, gewedt. Aud er lag in den Felleln
einer übereilten Ehe und war beftrebt, fie zu brechen, um
in der Vereinigung mit ihr das föftlihe Glüd zu finden.
Das Fieber riß fie fort, und fie fpradı fi) jelbft das
Recht zu, ein Wort zu breden, das fie nicht dor Gott,
fondern allein vor dem Gefege geiprochen hatte. Shre That
fei fomit kein Verbrechen. Und fie entichulbigte fich mit der
edlen Negung: daß fie dem, ben fie vor der Welt „Satte“
nannte, mit der Sreiheit aud) dem Glücde wiedergab. Bei
feiner pedantifhen Auffafiung von Pfliht und Gewiffen-
baftigfeit, mit welcher er ihr Verhältnis au ferner aufrecht
erhalten wiflen wollte, bei feiner Naivität bes Gefühls mußte
fie für ihn und fi) handeln. O, er hatte ja gar kein Ver⸗
ftändniis für die Beziehungen ber Geichledhter zu einander —
er kannte die Gewalt nicht, die Mann und Weib übermädtig
zu einander reißt. Vielleicht, daß ihm dieſe Erkenntnis noch
einmal bejchieben war und daß er fie Dann begreifen würde. —
Er verließ auf einige Tage in dringenden Geichäften die
Stadt. Bon feinen fhwierigen Plänen eingenommen, fand
er nur wenig Zeit, dem fich vorbereitenden Geichid feine
Gedanfen zu widmen. Auf feiner Seele jedoch lag eine
Schmerzliche Laft. Sein Unglüd war ihm aud vor ihrer
Eröffnung offenbar geworden, aber er zehrte dDody noch art
den Neften der Seligteit, die von ber Liebe zu diefem Weibe
in ihm geblieben. Gegt follte e8 leer — ganz leer in ihm
werden. Seine Hoffnung, feine Gebuld, feine Mühe, fein
Schafen — alles ftürzte auf einmal zufammen. Und
in bdiefer verzweifelten Ode fah er feinen Lebenszmwed fich
verlieren.
So traf er in feinem Hauie ein. Der Ipäte Abend
überhob thn, fie von feiner Anweſenheit zu unterrichten.
MWozu auch, da fie mit ihrer Seele body nicht bei ihm war?
Er fühlte fid) franf, hinfällig — fterbensmatt. Und ſo ſchlich
er leife nad) feinem Schlafgemadh. Er ftredte fid) auf Die
Kiffen, ohne fich zu entlleiden, wie einer, dem die irbijche
Hülle eine Laft geworden. Da brangen verworrene Stimmen
an fein Chr. Er laufchte. Seine Augen erweiterten fih —
und wie ein Nadtwandelnder ftand er auf, um dem lange
zu folgen, ber burd die Thüren mehrerer Zimmer zu ihm
herüberdrang. Faft unbewußt fand er fich vor dem Eingange
zu ihrem Wohnzimmer. Er börte Leidenjchaftlihe Rede
und Widerrede — ihre Stimme und eine andere, die eines
Mannes. Die männlide Stimme tief, doll, aber wie bie
eine® Schauipielerd, der die tragiichen Helden giebt. Shre
aber hatte die zu Herzen dringende, überzeugende Aufrichtige
feit, gehoben von einem Zauber, der ihm in der Seele nad):
zitterte, und den er nie fi) gegenüber lebendig gefühlt, aber
jehnfüchtig vorempfunden und geahnt hatte. Hier vernahm
er fein Wehen und e8 hauchte ihn wie ein Raul) an, der
ihm Überlegung und Willen lahm legte.
Was fie mit jenem Fremden jprady und der Fremde
mit ihr — er begriff es. liber alles, was fie jagten, lag
der Taumel der Leidenjichaften. Und die Siniec des Mannes
hinter der Thür bebten. Er taftete nad einem ihm zunädhit-
ftehenden Stuhl und fegte fih, das Haupt fchwer gegen den
Nioften gelehnt. So blieb er eine Weile regungslos, Die
ftarren Blie in das Dunkel gerichtet. Dann erhob er ich.
Seine Echritte trugen ihn in da8 zunädjitliegende Zimmer
zurüd. Leiſe rafjelte ein Sclüffelbund in feiner Hand.
Leicht rollte ein geöltes Schloß. Mit fiherer Hand jchlug
er die Thüren des großen Trejord zurüd, den ihr Vater
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
428
bier aufgeitellt hatte, fein Vermögen zn bergen. Durd; die
offen gebliebene Thür feines Schlafzimmers fiel der Schein
bes jchwachen Lichtes über die Schwelle, auf die glänzenden
Dielen herein und warf einen unbeftimmten Abglanz in den
Hintergrund des Behälters. Dort bligte und flinumerte es.
Er griff hinein und z30g eine vernidelte Schußwaffe hervor.
Einen Augenblid ftand er, wie ſchwankend, beſinnungslos,
mit jchmerzdurdhwühlten Zügen. Snjtinktiv prüfte er bie
Ladung: die Geichoffe ftedten darin. Ein Ieiie® Zittern
durchlief feinen Körper, die Finger fchloffen fi) feft um den
Schaft ded Revolver — dann aber hob ein tiefer, pfeifender
Atemzug feine Bruft — — und er legte die tödliche Waffe
ruhig an ihren alten Plag.
So ging er, ben offenen Geldichranf Hinter fi, Iangfam
in fein Schlafzimmer zurüd und verriegelte die Thür. Er
löſchte das Licht und ftredte fi) wiederum auf da8 Lager.
„Und führe uns nit in Verfudhung,” murmelte er,
und legte die Hände über der Stirn zufammen. Die Situation
Ihwand vor feinem geiftigen Blid und madıte einem jeltfamen
Bilde Plag: er fah einen Streuzträger geben, der feuchte
unter feiner Lajt mit tropfender Stirn, dod auf feinen
Lippen lag ein milbes Lächeln der Ergebenheit und Vers
gebung. —
Dann hörte er eine Thür gehen — fchwere Schritte
wurden laut, die plöglich ftodten. Er wußte, an welder
Stelle. Gleih darauf vernahm er einen leifen Schrei bes
Schredens aus weiblihem Munde, dem eine Totenitille folgte.
„Vorwärts!“ drängte die männliche Stimme gedämpft
und gebieterifch.
„Nein — nein — ftehlen! das fann ich nicht!” hörte er
fein Weib fprechen.
Sn furdtbarer Spannung erhob fih der laufende
Mann auf feinem Bett.
„Und führe uns nit in Verfuhung —* murmelte er
nochmals.
Wiederum eine lautloſe Pauſe. —
Darauf das Rauſchen von Frauenkeidern und leichte,
flüchtige Tritte — das feine Geklirr von kompakten Geld⸗
maſſen — und der eilige Männerſchritt dumpf hinterdrein.
Der Mann auf dem Bette ſchlug die Hände vor das
erſtarrte Antlitz und ſtöhnte.
„Was ſoll aus mir werden?“ hauchte er.
So fand ihn der grauende Morgen. Als er endlich, wie
aus tiefem Schlaf erwachend, aufſchaute, ließen ſeine Züge
die Spuren eines ſeelenverzehrenden Grames erkennen.
Die Stunden verrannen und noch befand er ſich auf
demſelben Flecke, aber nicht wie ein hoffnungslos Ver—⸗
zweifelter, ſondern wie ein Harrender. „Stehlen — das
kann ich nicht.“ Immer lauter klang es in ihm nach. Nein,
ſein Weib konnte dieſem Manne nicht gefolgt ſein, der die
Mittel zur Flucht durch ein Verbrechen gewinnen wollte,
das der Zufall ermöglichte. Mit faſt freudigem Ausdruck
hafleten ſeine Blicke am Eingang zum Zimmer. Er erhob
ſich, entriegelte die Thür und wartete weiter. Schließlich
blitzte es in ſeinen Augen hell auf — ſie trat zu ihm herein
und ließ ſich gebrochen, matt in einen Stuhl gleiten.
Sie blickten ſich beide lange an.
„Sie haben mich erwartet?“
Stimme.
Er nickte. Durch ſeine veränderten Züge glitt ein
zitterndes Leuchten der aufgehenden Sonne. Da ſah ſie auch,
was dieſe wenigen Stunden der Nacht dieſem Mann gekoſtet.
fragte ſie mit hohler
429
„Sie haben mich noch erwartet?“ fragte fie wieder, und
e3 Hang fajt wie ein halbunterbrüctes Schreien.
„Ih hatte Sie ja nur eine kurze Zeit verloren, Alice,“
fagte er einfach, mit halber, weicher Stimme, die wie Lanten-
Hang in ihre wunde Geele fiel.
„Und warum hielten Sie mid) nicht?“ fragte fie mit
ausbrehendem Weh und rang die Hände.
„Weil Sie dag von |hnen errichtete Sdeal felbft ftürzen
mußten, um e3 für immer vernichtet zu jehen,“ ermiderte er.
„Das furhtbare Spiel diefer nächtlichen Stunden Hätte uns
zu Helden einer bIutigen Tragödie machen und die Chronik
der ‚modernen Chen‘ um eine Standalgeihicdhte bereichern
fünnen. Gott fei Dank, daß wir einen befonneneren, fitt-
liheren Ausgang fanden! Mir fiel e8 noch zu rechter Zeit
bei, daß Sie von Anfang an immer bei mir gewejen und
in meinem Herzen gelebt haben, ohne dab Sie e8 mußten
oder willen wollten. — Sit e8 jo, meine Alice?” fragte er
und ftredte der Erjchütterten beide Hände entgegen.
Sie drüdte ein thränennafjes Tafchentucd; gegen ben
Ihluchzenden Mund. Aus ihren Augen bradı Zärtlichkeit,
Ergebung und unendliche LViebe.
Sie barg da3 Haupt an feiner u
Deinem Gefallen mit mir — — —*
„Ihue jett nad
— — ——— =
Beſäaänfligung.
Hat die Welt Dir Leids gethan,
Furcht der Groll Dir düſtre Falten,
Sperren Dir die freie Bahn
Drohend feindliche Gewalten;
Türmt der Leidenſchaft Gebraus
In der Seele wilde Wogen,
Kommt des Unheils finſtrer Graus
Durch Dein trautes Heim gezogen:
Eines labt Dich wunderſam,
Sänftigt all den Streit und Jammer:
Tritt, wann ſchon der Traumgott kam,
Sacht in Deiner Kleinen Kammer.
Sieh ihr unſchuldvoll Geſicht
Traumbeglückt im Schlummer lächeln —
Fühlſt Du hier den Frieden nicht
Weich Dein ruhlos Herz umfächeln? —
Otto Doepſtemeyer.
Aus dem Leben für das Leben.
on ®. v. £.
Arbeite treu! Und die Hälfte der Dir beftimmten
Reiben geht wie blind an Tir vorüber.
Überwunden ift ein Leib erft dann, wenn wir in beffen
Kern den verhülten Segen erfannt haben. Über der
Schwade findet ihn nit. Darum: mad Dich ftark! Treue,
zu ber Du Did mit redlihem Willen erziehen fannft, tft
Stärfe.
*
Jedes verſunkene Glück iſt ein Vineta. Wenn bie
Wogen des Lebensmeers Dich wild umbrauſen, der Sturm
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
430
des Leids Dich umheult, dann lauſch in das Getoſe: au
den Tiefen tönt tröſtender Glockenklang und giebt Dir neue
Hoffnung.
*
MWenn man auf der Höhe des Leben? in die Jugend
zurüdichaut, jo erfennt man, daß in der tiefiten Sehnjudt
jener Tage unjer Mannesichidjal fi) voraußverkündigt hat.
*
Morgen: und Abenddämmerung find glei und wirken
dody anberd. Sn der erften ahnt Dein Herz den jungen
Tag und darım ift fie Dir durchleuchtet; in die zweite hinein
haut e8 die fommende Nacht, und fühlt jo in fie das
Dunkel. Bift Du aber weise, fo wird Dir auch die Nadıt
nicht Wehmut weden: denn fie ift ja nur die bunfle Wiege,
in der der Morgen jchläft und Sterne träumt.
%*
Tür jeden echten Freund ift in unferem Herzen eine
Saite aufgeipannt, die nur er zum Qönen bringt.
*
Weſſen Herbſt Früchte trägt, der ſcheut den Winter nicht.
Troſtlos iſt er nur dem, der die Zeit der Ausſaat ver⸗
ſäumt hat.
Die Gefühle der Jugend ſind unbändige Füllen: ſie
haben Feuer und begehren Freiheit. Aber ihr Rückgrat iſt
noch zu ſchwach, um den Reiter, den Vernunftwillen, tragen
zu können. Darum ſoll man von ihr nicht allzuviel ver⸗
langen. Es genügt, ſie im Pferch einer vernünftigen Er⸗
ziehung zu halten.
*
Willſt Du Wärme behalten, gieb Wärme aus. Wer
ſie für ſich behält, wird vereiſen.
*
wenn Du geordnete Gedanten
Ein wirrer Kopf deutet auf ein wirres Herz.
Heute wird mancher durd; vieles Wiffen gehindert,
eigene Gedanken zu haben. Aber da ber Kopf voll ift, be=
merft er deren Mangel nidt.
%*
E83 gehört viel tiefere Einfiht und weiter Blick dazu,
die Ungleichheit, die thatjädhlich überall herricht, zu erkennen,
ala dem Begriff der Gleichheit in fich einen Altar zu bauen.
Enge Gehirne fült er heute ganz aus — deren Überzahl
erklärt Die Erfolge ber Socialdemofraten. Stark und Ihwadı,
begabt und unbegabt, Mann und Weib: alles ift gleich.
Sp fanı da3 allgemeine Stimmredt zulegt zur Pforte
werden, durd die man in? Land der Uinvernunft einzieht.
Die erfte Regierungshandlung wäre aber die gejeßliche Auf:
hebung der Gleichheit. Und darin liegt lein großer .Troft
für ’allejDentenden. ;
DOrbne Deine Gefühle,
haben millft.
cr.
ZIWo viel Ärzte, dort giebt e3 viele Krankheiten. Das
gilt auch für da8 Leben der?Bölfer. Und viele Krankheiten
erzeugen 1 ſchwindleriſche Quackſalber, die ſich den Beutel
füllen wol wollen. Das gilt für das Völferleben leider auch.
431
Vermiſchtes.
Schopenhauer hat bekanntlich dem Traumleben einen
Abſchnitt in ſeinen Schriften gewidmet; er ſpricht dort von
Träumen, in denen man durch mehrere Mauern ſehen kann
und rechnet auch die Schädeldecke als eine ſolche, da ja im
Schlaf nicht das Auge, ſondern nur das Gehirn die Seh—⸗
thätigkeit übt. Er ſagt, daß dieſe Art Träume ſehr ſelten
ſeien. Beim Leſen fiel mir ein, daß ich — worauf ich damals
gar nicht geachtet — auch einſt derartig geträumt hatte. Ich
war als Erzieherin in einer adligen Familie in der Nähe
von Magdeburg, welche ein ſchönes, uraltes Schloß bewohnte,
es war eine Waſſerburg und ein großer, viereckiger Turm
ſtammte aus der Zeit der Ungarnkriege unter Kaiſer Otto —
in dem es ſogar, wie der Volksmund ſagte, nicht ganz ges
heuer war. Beſonders ein Korridor war berüchtigt, keine
Arbeitsfrau aus dem Dorfe hätte nach Anbruch der Dunkel—
heit dort geſcheuert. Ich muß ihn übrigens dieſes Nimbus
berauben, denn obgleich ich ihn ziemlich ſpät jeden Abend
kreuzte, wenn ich aus den Familienzimmern in mein Zimmer
ging, und er ſich lang und finſter, ſo daß ich das Ende nicht
abſehen konnte, vor mir hinzog, habe ich nie etwas Ver-
dächtiges bemerkt. Ich ſage das, um mich von vornherein
von jedem Verdacht der Geſpenſterfurcht zu reinigen.
Mein Zimmer, nebſt einem kleinen Vorzimmer und die—
jenigen der Kinder, wo ſie mit einer Bonne ſchliefen, befand
ſich in einem, im rechten Winkel an das Hauptgebäude an⸗
gebauten Flügel. Das Hauptgebäude war in Form eines
Dreiecks erbaut — man ſagte mir auf mein Befragen, es
ſei die Form der Templerburgen, als ich einſt über die
Seltſamkeit derſelben meine Verwunderung ausſprach — und
umſchloſſen die drei Seiten einen dreieckigen Hof, in deſſen
Mitte ein Brunnen ſtand. Die Fenſter der Zimmer gingen
ſämtlich nach der Außenſeite, nach dem inneren Hofe zu gingen
Korridore, jetzt vermauert und mit ſchönen, großen, alter⸗
tümlich geformten Fenſtern mit bleigefaßten Scheiben; in
alten Zeiten waren wohl offene Galerien geweſen. Aus dem
inneren Hofe war nur ein Ausgang in den Schloßhof, durch
die ganze Tiefe des Gebäudes führte ein nicht ſehr breiter
Gang, ein wenig gekrümmt, ſo daß eine abgeſchoſſene Kugel
die Mauer getroffen hätte. Aus dem großen Schloßhofe
führte eine Durchfahrt unter dem angebauten Flügel ins
Freie. Aus dieſer Durchfahrt war durch die ungeheuer dicke
Mauer ein Pförtchen gebrochen, welches aber nur ſelten be⸗
nutzt wurde; aus dieſem Erdgeſchoß, wo eingemauerte, ge⸗
waltige Eiſenringe es nicht unmöglich erſcheinen ließen, daß
dort einſt Gefängniſſe geweſen, oder, wie es hieß, Folter⸗
kammern, führte eine hohe, ſteile Treppe auf den Platz vor
meinem kleinen Vorzimmer.
Ich mußte dieſe weitläufige Beſchreibung geben, um
den Traum anſchaulich zu machen; dieſer ſelbſt war, wie
folgt: Ich wußte genau, daß ich in meinem Bett lag und
fhlief; trogdem fah ich aber durd fünf Mauern, meine
Schädeldede mit eingerechnet — alles, was fi) in bem inneren
Schloßhofe zutrug. Derjelbe war jo, wie er wohl in früheren
Sahrhunderten ausgefehen haben modie; an Gtelle des
Pumpbrunnens war ein Ztehbrunnen, an Stelle der Seorridore
hölzerne, offene Galerien. Am Brunnen war ein großes
Teuer angezündet und um dasfelbe jagen und ftanden Lands—
Inehte in der Tracht de& breißigjährigen Strieges mit ge:
baufcten, buntverzierten Wämfern und Bluderhofen, die wilden
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
432
Gefichter unter mächtigen, breiten Hüten herborblidend; andere
lehnten fi über die Galerien der oberen Stodwerfe und
blidten in den Hof hinunter. E83 war eine Scene, wie man
fie wohl auf den Bildern von Woumerman gemalt fieht, ich
fannte übrigens Woumwerman damald nur dem Namen nad),
in einer Propvinzialftadt und in fehr beicheidenen Berhältniffen
erzogen, war id noch in feine Bildergalerie gefommen. Die
Soldaten am Feuer tranfen und jpielten Karten und Würfel
und e3 ift wohl nicht unmöglich, daß fich eine folde Scene
dort abgeipielt hat, da das Schloß, wie ich fchon fagte, nahe
bei Magdeburg, auf dem Wege nad Braunfchweig liegt.
Einer der Soldaten im Hofe ftand auf und ging von ben
anderen weg, und in demjelben Augenblid wußte ich, daB
er in mein Zimmer fommen würde, mußte aber aud, daß
er mir fein Leid zufügen würde; trogdem erfüllte mich die
Erwartung des geipenftiichen VBejuchers mit Entfegen. Nun
war e8 feltiam, baß id) feinen Weg Schritt für Schritt vers
folgen Eonnte, ich fah ihn durd) den Gang gehen, den Hof
durchichreiten, in die Durdyfahrt eintreten und daß FZleine
Pförtchen öffnen, alles trogdem e3 draußen dunfel war, und
endlich jah ich ihn Stufe für Stufe Die Treppe herauflommen,
erit die Thür des Vorzimmerd aufmachen, und nun öffnete
er die Thür meines Zimmers und trat ein. Ich kann fein
Ausfehen nody genau befchreiben; er war rot gekleidet, mit
weißen, aus den Schligen vorquellenden Puffen und trug
einen großen fhwarzen Hut mit roten, wallenden Strauß»
federn; das Gefiht war ein alltägliches, die Augen duntel,
der Bart pehichwarz. Mein Bett ftand ber Thür entfernt,
aber fo, daß ich biefelbe im Auge Hatte, und Eonnte ich den
Bl nicht von dem unheimlichen Beiucdye abwenden. Ders
jelbe näherte fich dem Bett und blieb dann vorgebeugt ftehen,
ala wolle er jehen, wer im Bett läge, ich aber war wie in
Angftihweiß gebadet und mein Herz Ihlug zum Zerfpringen.
Da lam mir der Gedanke, daß, wenn ich Licht anzünbete,
der Sput verfchwinden würde, denn da8 Bewußtfein, daß
e3 nur eine Spufgeftalt jei, hatte mich feinen Augenblid
verlaffen, ich ermannte mich, zündete mein Licht an, und nun
Töfte fidy die Geftalt nad) und nad) auf mie eine Nebelmolfe.
Um jemand um mid) zu haben, mit dem ich fpredyen Eonnte,
rief ih unter einem VBorwanbe bie Bonne, ich glaube, ich
gab vor, eine der Stinder hätte fich geregt und bie Dede
abgeworfen. Dann nahm ich, um mich auf andere Gedanken
zu bringen und mich ganz zu beruhigen, mein Neues Teftas
ment, was auf meinem Nadıttifd) lag, und las darin, was
mid) völlig beruhigte, jo daß ich bald wieder einfchlief.
gar und Frau von... waren in ber Zelt verreift,
fonft hätte ich den jeltiamen Traum mohl erzählt; als fie
nad) längerer Zeit wieber famen, vergaß ich ihn; erft Durch)
Schopenhauer ift er mir wieder in Erinnerung gelommen
und ift Diefelbe jehr lebhaft, fo daß id), wenn ich mir abends
allein denfelben vergegenwärtige, mic dasfelbe Gefühl bes
Grauens befchleicht, welches ich Damals empfunden. E. K.
Dnhalt der Wo. 45.
Schwertflingen. Baterländifher Roman von Hans
Werder. Fortf. — Ohne Gott. Roman von E. Karl. Fortf.
u. Schluß. — Beiblatt: Gatte, Gatte, lab den Streit. Von
Robert Burns, deutih von W. Prinzhorn. — „Mopi”.
Bon Mar Heuer. — Deutihepolnifh. Bon 9. Hermann.
— Ihr Ideal. Eine moderne Ehegeihichte von Georg N.
Schluß. — Befänftigung. Bon Otto Doepke—
meyer. — Au8 dem Leben für das Leben. Bon ©. v. 8.
— Vermiſchtes.
* der Lelter: Dito von Leirxner in Verlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druc der Berliner © druckerei⸗ Akti
(Setzerinnen⸗ Schule deñ Lette⸗Vereins). uch en⸗ Geſellſchaft
Deutſche
Roman-Zeitung.
—1896.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
— — —
Erfheint mwöcentlid zum Preife von 35 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 46,
Art zu Art.
Roman
bon
3. Schobert.
Erftes Kapitel.
Weit draußen, wo die letten Gebäude ftehen,
wo fih die große Stadt in endloje Felder und
Wiefen verliert, wo man die Sonne aufgehen fieht
und friiher Erdgeruh in die Häufer dringt, wo nad)
jedem Regen das Wafler in tiefen Pfüen auf dem
nur feftgetretenen Boden der Straßen fteht, und
allerlei nütlicdes Hausgetier fein MWejen treibt —
dort fteht auf einem winkligen, vernadjläffigten Hofe
ein einfaher Schuppen — mwindidief, und bäßlich
anzufehen. — Des Winters pfeift eifiger Wind durd)
die leichten Bretterwände, im Sommer brütet bie
Sonne darauf, und alle unangenehmen Gerüche der
Nachbarſchaft finden ungehindert Eingang.
Trogdem ift er bewohnt. —
Notdürftig ausgeflidt durch einige neue Bretter,
mehr Sinn für das Praftiihe als das Schöne ver:
ratend, weilt er nah Norden ein gemwaltiges Feniter
auf, das, faft die ganze Front einnehmend, Licht in
vollen Strömen einläßt und fo den Raum zu einem
Atelier umfhafft. Freilihd ein primitives, außer:
ordentlich anfpruchslofes Atelier, beflen Befiger in
einem Abſchlag rechter Hand fein Duartier aufge:
Ihlagen bat, gerade nur ausreichend für die aller:
befcheibenften Bedürfniſſe.
Martin Heelen war auch nicht gewöhnt, irgend
weldhe Aniprüdhe an das Leben zu fielen. Er war
zufrieden, ja wunjchlos glüdlich in diefen feinen vier
Wänden, deren Miete zu erihmwingen ihm jchon jchwer
genug wurde. Er wollte nichts von der Welt und
vom Leben ald Arbeit — Arbeit, immer nur raft:
loſe Arbeit.
Die Sonne war jhon untergegangen, ihr leßter
rötliher Widerfchein fpiegelte fih in den großen
Scheiben und fiel auf den Bewohner des Ateliers,
der, in feinem Winkel auf einem Strobfad liegend,
Romansgeltung 1896, Tief. 48, —
feſt und traumlos ſchlief — den Schlaf des körper⸗
lih und geiftig zu Tode Ermüdeten. Ganz regung®:
[08 lag er da auf dem Rüden, die Hände fchlaff an
den Seiten berabhängend, den Mund ein wenig ge-
öffnet, um dem fchweren, ftoßmweifen Atem Raum zu
geben. Das alte Wolhemd war auf der Bruft zer:
riffen, Gefiht und Hände befhmutt. Der Schlaf
hatte ihn überfallen, jäh, unermartet, wie ein Raub:
tier fein Opfer.
Neben jeinem Lager lag eine feine Holzichnigerei
und die dazu nötigen Werkzeuge wirr durcheinander.
Sie waren die lebten Maffen des Willens gegen
den unterlegenen Körper gewejen, endlich aber hatten
auch fie verfagt. Aus jedem berumliegenden Span,
aus den Winkeln, von den Wänden grinfte bie
Armut in Traffelter, erbarmungsmwertefter Radtheit.
Auf dem fhmal voripringenden Feniterfims ein
balbgeleerter Waflerfrug und neben ihm der Reit
eines ftarlen Stüds Schwarzbrotes, um das jebt
Fliegen fummten. Zn der Mitte des Ateliers land,
von feuchten Tüchern verhüllt, ein gewaltiges, koloflales
Etwas, faft den ganzen Raum einnehmend und unter
dem Tuh in grotesfen Formen und Eden hervor:
wadhlend. Auf dem Boden und an ben Wänden
in Haufen Gipsabgüffe, Torfen von Tierleibern,
Zeichnungen, alles auf: und nebeneinander geidhichtet,
ohne den geringften Verjuh, einen dem Auge ge:
fälligen Eindrud zu erzielen. Und in einem andern
Winkel künftlerifhe Holzichnigereien, wie verihämt,
baß fie fih hierher verirrt hatten, Thürfüllungen
eines Schranfes, eines Büffetts, Stuhlauffäge, alles
mit einer Verve, einer Kraft gearbeitet, daß man
das Auge faum abwenden mochte. Und deutlicher
als wohl jemals bie Lippen des Schläfers ſprach
die Teilung der Arbeit von dem gewaltigen Kampf,
den biefer Menich ausfocht, den Kleinlichen, ermübenden
Kampf für das tägliche Brot, um fein ganzes Sein
und Leben jenem ungleich größeren Kampf weihen
IV. 31
435
zu können, ben ber Stünftler mit jeiner Stunft zu be:
ftehen bat, ehe fie fih ihm zu eigen giebt. Und auch
dann immer nur für kurze Zeit, wie eine unerreichbar
hohe Geliebte, um deren Befig er jedesmal aufs neue
ringen muß, mit Einjegung jeiner ganzen Kraft,
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm der
Sieg bleibt, immer nur gehegt von Furcht und
Hoffnung, von Verzweiflung und jaudhzender Selig:
feit, bis er enblih mit TLeuchender Bıuft und er:
matteten Gliebern an das Ende gelangt, um dann
mit peinigender Deutlichkeit einzufehen, daß alles,
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge:
blieben ift, was er jchaffen wollte.
Einftweilen bielt der Schlaf nun die Hand ge-
bannt, und ber ftarle Körper juchte Kraft zu neuer
Arbeit.
Er jelbft, der Künftler, als er fo dalag mit
zerwühlten Haar und geöffnetem Munde, war fein
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn,
das maffive, wenn auch nicht unjchöne Gelicht, um:
wucert von fhwarzgem Vollbart, die unterjegte, falt
plump wirlende Geftalt verriet feine Abkunft aus
den unterften Schichten bes Volkes deutlicher als
Worte, und die große behaarte Hand, von früher,
ihwerer Arbeit yeugend, paßte vortrefflih zu dem
Dunft der Armut, der ihn umgab. —
Meder das Gejchrei der fpielenden Kinder, nod
Peitichentnall und Hundegebell hatten den zu Tode
Erihöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge:
gangen. Sebt lichtete fih auch die furze, kühle
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Dften auf,
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben,
ale fürchte fie fih vor der Laft von Dual, Gram
und Verzweiflung, die der heraufziehende junge Tag
auf Jeinen Fittihen fir die duldende Menſchheit
berbeitragen würde.
Einen Augenblict war es, als wenn dies Erbeben
und Schauern fih auch auf Martin Heelen erftreckte,
feine Glieder zudten, er ftieß einen jchweren Seufzer
aus und fchlug dann die Augen auf, graue, kühle,
Iharfe Augen, die dem ganzen Gefidht einen eigen:
tümlih konzentrierten Ausdruck verliehen. Er ftarrte,
wie no nicht völlig wa, einen Augenblid in den
aufdänmernden Tag, dann jprang er auf bie Füße,
Ihüttelte fih, redte und debnte fih, fuhr mit den
Händen durch fein wirres Haar und riß endlich die
ins Freie filhrende Thür auf.
Kalte, Scharfe Märzluft drang in den jchlaf:
dunfligen Naum, in dem es nach Holy und feuchten
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und
ließ das eisfalte Waller über Kopf und Hände rinnen,
obgleich) er fich dabei fein zerrilienes Wolhemd naf;
machte; dann, mit diejer primitiven Toilette zufrieden,
trant er einen tüchtigen Schlud Wafler, brach ein
Stid von dem Schwarzbrot, und nun zog er mit
behutfamer Hand den feuchten lan von dem ge
waltigen Koloß und jab beim erften hellen Tages:
dein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis
von taufenden von einfamen Stunden, in hartem
Ringen um die Geflaltung des Sedankfens, ber ihn
bejeelt hatte, der fichtbar nemwordenen Kämpfe und
Art zu Art. Roman von H. Ecjobert.
436
Entbehrungen, bie er ruhig und Elaglos, Taum be-
wußt ertragen, um fich das Material für feine Arbeit
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm
mehr als nur fein Schöpfungsmwerf, fie verkörperte
ihm zugleih den Hunger, den er ihretwegen erlitten,
die zähe Energie, die ihn durdhglühte, und die Kraft,
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr
als in diefem Augenblid.
Ein tiefer Seufzer hob feine Bruft. Ein Seufzer
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes
über das Gejchaffene.
Sa, e8 war gut.
Weit über menfchliche Dimenfionen hinaus ein
Gentaur mit wild webendem Haar und bie Luft
peitihenden Borberhufen; um jeinen Leib geringelt
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Dpfer.
Syn diejer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei
do der Ausdrud der Augen graujam, graufan aus
Naturnotwendigkeit. Der Gentaur hatte den Kopf
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz,
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejfer Um:
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas
Fürchterlichem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte,
das ftärler war als er. Grauen fprad aus ben
bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden
Unfaßbaren aus der Haltung bes Kopfes. Er fühlte
fein Schidjal. Einen unblutigen, unrühmlichen Tod
durch einen heimtüdifchen Feind, ben er weber jehen
noch beſiegen konnte.
Martin Heeken trat ein paar Schritte vorwärts,
ein paar Schritte zurück und prüfte ſein Werk. In
dem hellen, klar darüber hinflutenden Frühlicht
wirkte es gewaltig. Langſam nickte er vor ſich hin.
Dann holte er die Leiter, nahm den Spachtel zur
Hand und grub noch hier und da ein weniges an
den Augen des Centauren. Er arbeitete langſam,
aber mit unfehlbarer Sicherheit, ſeine Stirn wurde
feucht, ſeine hellen Augen leuchteten mit einer In⸗
tenſität, als ſtrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail
deutlich heraus.
Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte auch
keinen andern Meſſer für ſie als die Sonne und
ſeinen knurrenden Magen.
Da wurde die Thür des fragwürdigen Ateliers
mit einem Ruck hinter dem Arbeitenden aufgeriſſen
und eine helle, friſche Stimme ſagte: „Gott zum Gruß,
Martin! Du biſt ſchon fleißig?“
Heeken ſah ſich um mit finſter gefalteter Stirn,
der Störenfried kam ihm ungelegen; aber als er
die ſchlanke, elegante Geſtalt erkannte, die dort, um—
woben von Licht und Sonnenſchein, ſtand, hellten
fih feine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig
ftieg er die Leiter herab.
„gortunat — Du!”
Er fab auf feine lehmbeihmugten Hände und
die fledenlojen Handichuhe feines Befuches, etwas
wie Verlegenheit überfiel ihn.
„IH fann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte
er entichuldigend.
Der andere hörte ihn nicht, er ftarrte nur auf
die hiüllenlofe, in Licht gebabete Gruppe. Den Kopf
— — — — — — —
— — — — -
* —— 2
— —
437 Art zu Art.
ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die
ſchmalen Naſenflügel vibrierend, war er in dieſem
Augenblick nur der Sehende, alle andern Sinne an
ihm waren empfindungslos.
Martin Heeken betrachtete ihn von der Seite,
und je länger er das that, je freudiger zuckte es in
ſeinem Geſicht.
„Du meinſt alſo, es iſt gut?“ ſagte er nach
längerer Pauſe, ohne daß der andere ein Wort
geſprochen.
Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken,
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend
heiteres Geſicht zuckte.
„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich,
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen,
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie,
Martin Heeken.“
Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf
den Fußboden, auf dem die Holzſchnitzereien lagen.
Die ehrliche Bewunderung des feinen, zierlichen
Kunſtgenoſſen hatte ihn entzückt, bis ins tiefſte Herz
hinein beglückt, aber ſo tief er das auch empfand,
in Worte zu kleiden verſtand er es nicht. Die
Zunge des Proletariers war langſam und ſchwer—⸗
fällig, nur daß ſich ſein Geſicht rötete, gab Zeugnis
von dem, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich
kam eine ohnmachtähnliche Erſchlaffung über ihn,
als gäben die phyſiſchen Kräfte wie gelähmt dem
Anſturm der Erſchöpfung nach, er taumelte auf einen
Holzklotz, der an der Wand ſtand, und, den Kopf
in die Hand ſtützend, ſagte er bitter: „Ein Genie,
das hungert.“
Fortunat bemerkte den Zuſtand des andern
nicht, er ſtand wieder vor der Gruppe. „Wie Du
das gemacht haſt, Menſch! Dieſer Ausdruck von
grauender Furcht in dem Geſicht des Centauren, der
das kommende Unheimliche, Unbekannte, Erſtickende
fühlt, ohne es faſſen, ohne dagegen kämpfen zu
können, und das doch nichts weiter iſt als ein
glattes, knochenloſes Etwas, zierlich und behende, gewiß
nicht dazu angethan, um einen Centauren fürchten
zu machen, und doch wird er daran untergehen. —
Wie biſt Du nur auf dieſe Allegorie gekommen,
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die
Macht des Weibes anzuerkennen.“
Heeken hob verwundert den Kopf, der Schwindel,
der ihn befallen, war vorüber. „Ich verſtehe Dich
nicht,“ ſagte er, von der Gruppe auf den Sprechenden
blickend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun?
Es ſoll auch keine Allegorie ſein, nur das, was es
darſtellt: Kampf zwiſchen zwei nicht gleichartigen
Geſchöpfen, von denen das höher organiſierte eben
untergeht, weil ihm das Verſtändnis für die Waffen,
7
— a — - —— — — — —
Roman von H. Schobert.
— — — —
⁊ — —
438
mit denen das andere Fämpft, nicht gegeben ift.
Das, was fiherlid am ftärkiten unjer Leben burd;
zieht, it eben immer Kampf und wieber Kampf.
Bei den Menichen nicht weniger wie bei den Tieren,
und bei denen habe ich es beobachtet, wenn ich die
langen Sommertage auf dem Baudh lag und auf
meine Schafe paßte. Ya, Du fannft mir’s glauben,
dba babe ih e8 gejehen, dur alle Arten burd.
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als
wäre das der Zwed des ganzen Lebens. Und barum
fanın ic) auch nur den Kampf darftellen, immer wieder,
und immer wieder, weil ich nichts anderes Tenne.”
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf ift
aud die Grundbbedingung der Beziehungen zmwilchen
Dann und Weib, mir fannit Du es glauben,“ fagte
Fortunat nahdenklih und ftrih an feinen Hanb-
Ihubfingern. „Und ob nun mit ober ohne Deinen
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie
finden — fie ift es aud. Darum rate ih Dir:
widerjprich nicht.”
Heelen jchüttelte den Kopf. „Wilft Du fie
Sie
mir erklären?”
„3a. Denn fie ift groß — gewaltig!
Ihnürt einem die Bruft zujammen und würgt in
ber Kehle — fie vernichtet und jühnt doch wieder
aus: Einem unerbittlihen Fatum kann eben niemand
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ih Dir
jet fage. Du wirft ein großer, ein berühmter Dann
werden — Ehren und Gold werden Dir zuftrömen
— und id) werde dabeiltehen — neiblosg — und mid
an Dir freuen, denn ich habe das längft gewußt
— don damals, ald wir noch in der Alademie
unter Profeflor Duenfel zufammen arbeiteten. — Du
bift ein Genie, und ih beuge mid vor Dir.”
Thatfähli neigte Fortunat den lodigen Kopf
tief vor dem anderen im zerriffenen Molheımd, ber
rot und verlegen ausjah als er fi abmwanbte und
gedankenlos nad) feiner Holzichnigerei griff.
Fortunat jeßte fih auf den einzigen vor:
bandenen Stuhl und Jah dem Arbeitenden ein
Weilden ftumm zu, dazwilden manberten feine
Blide immer wieder zurüd zu der Gruppe, bie fid
jo lebendig, FTraftuoll und übermächtig gemaltig in
den bürftigen Raum ausnahm.
„Melde das zur Kunftausftellung an,” jagte er
endlih nach einen Weildhen. „Sie werben es nicht
allein nehmen, ſondern eine Medaille ift Dir auch
wohl ficher.”
- Seelen warf heftig fein Arbeitszeug zur Seite,
dunkles Not flammte in feinem Gefiht auf. „Meinft
Du, daß ih nicht auch daran gedadt habe? Denkſt
Du, ih weiß nicht, daß e3 gut ift, was ich da ge:
madht habe? Das fühle ich hier am beutlichiten.”“
Er ſchlug fih mit der Sand auf die Bruft, ein
intenfives Feuer loderte in den hellen Augen auf.
„Aber was nüßt das alles; ich habe Fein Gelb, den
Transport zu bezahlen, fein Geld, um irgend etwas
aus mir zu maden. — So muß ich denn warten,
bis ich mir das Nötige verdient und erjpart habe;
ift es nicht in diefem Jahr, ift es im nächften. ch
habe Zeit und Geduld.” Er Hatte feine Arbeit
wieder aufgenommen und fchnißelte weiter, ala ob
zu fönnen, den der ünftler mit feiner Kunft zu be-
435
itehen bat, ehe fie fih ihm zu eigen giebt. Und aud
dann immer nur für furze Zeit, wie eine unerreichbar
hohe Geliebte, um deren Befig er jedesmal aufs neue
ringen muß, mit Einjegung feiner ganzen Kraft,
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm ber
Sieg bleibt, immer nur gehett von Furdt und
Hoffnung, von Verzweiflung und jaudjgender Selig:
teit, bis er endlid mit keuchender Bıuft und er:
matteten Gliedern an das Ende gelangt, um dann
mit peinigender Deutlichleit einzujehen, daß alles,
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge:
blieben if, was er jhaffen wollte.
Einftweilen hielt der Schlaf nun die Hand ge:
bannt, und der ftarfe Körper juchte Kraft zu neuer
Arbeit.
Er felbft, der Künftler, als er fo dalag mit
zerwühltem Haar und geöffnetem Munde, war fein
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn,
das majfive, wenn auch nit unfchöne Gelicht, um:
wudert von Shwarzem Vollbart, die unterjegte, fait
plump wirkende Geftalt verriet feine Abkunft aus
den unterftien Schichten bes Volles deutlicher als
Worte, und bie große behaarte Hand, von früher,
fchwerer Arbeit zeugend, paßte vortrefflih zu dem
Dunft der Armut, der ihn umgab. —
Meder das Gefchrei der jpielenden Kinder, noch
Beitfhentnal und Hundegebell hatten den zu Tode
Erjchöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge:
gangen. Sett lichtete fih auch die kurze, fühle
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Often auf,
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben,
als fürdte fie fih vor der Laft von Dual, Gram
und Verzweiflung, die der beraufziehende junge Tag
auf feinen Fittihen für Die duldende Menjchheit
berbeitragen würde.
Einen Augenblid war es, al& wenn dies Erbeben
und Schauern fih auch auf Martin Heelen erjtredte,
feine Glieder zudten, er ftieß einen fchweren Seufzer
aus und fchlug dann die Augen auf, graue, fühle,
Iharfe Augen, die dem ganzen Geficdht einen eigen-
tümlich konzentrierten Ausdrud verliehen. Er ftarrte,
wie no nicht völlig wa, einen Augenblid in den
aufdämmernden Tag, dann jprang er auf die Füße,
jhüttelte fih, redte und dehnte fih, fuhr mit den
Händen durdy jein wirres Haar und riß endlich die
ins Freie führende Thür auf.
Kalte, jcharfe Märzluft drang in den jchlaf:
dunftigen Raum, in dem es nad Holz und feuchten
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und
ließ das eisfalte MWafler über Kopf und Hände rinnen,
obgleih er fi dabei fein zerrijienes Wollhemd na
madte; dann, mit diefer primitiven Toilette zufrieden,
trant er einen tüdhtigen Schlud Wafler, brad ein
Stüd von dem Schwarzbrot, und nun 309g er mit
behutfjamer Hand den feudten Plan von dem ge:
waltigen Koloß und jah beim erften hellen Tages:
Ihein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis
von taufenden von einlamen Stunden, in bartem
fingen um bie Geftaltung des Gebanfens, ber ihn
bejeelt batte, der fichtbar gewordenen Kämpfe und
436
Entbehrungen, die er ruhig und Elaglos, Taum be:
mußt ertragen, um fich das Material für jeine Arbeit
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm
mehr als nur fein Schöpfungsmwerf, fie verkörperte
ihm zugleich den Hunger, den er ihretwegen erlitten,
die zähe Energie, die ihn durchglühte, und die Kraft,
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr
als in diefem Augenblid.
Ein tiefer Seufzer hob Jeine Bruft. Ein Seufzer
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes
über das Gelchaffene.
Sa, e8 war gut.
Weit über menjchlihe Dimenfionen hinaus ein
Gentaur mit wild mwehendem Haar und bie Luft
peitihenben Borberhufen; um feinen Leib geringelt
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Opfer.
In dieſer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei
boch der Ausdrud der Augen graufam, graufam aus
Naturnotwendigfeit. Der Centaur batte den Kopf
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz,
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejer Um-
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas
Fürchterlidem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte,
das ftärler war als er. Grauen fpradh aus den
bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden
Unfaßbaren aus der Haltung des Kopfes. Er fühlte
fein Schidjal. Einen unblutigen, unrühmliden Tod
durch einen heimtüdifchen Feind, den er weder jehen
noch beſiegen konnte.
Martin Heeken trat ein paar Schritte vorwärts,
ein paar Schritte zurück und prüfte ſein Werk. In
dem hellen, klar darüber hinflutenden Frühlicht
wirkte es gewaltig. Langſam nickte er vor ſich hin.
Dann holte er die Leiter, nahm den Spachtel zur
Hand und grub noch hier und da ein weniges an
den Augen des Centauren. Er arbeitete langſam,
aber mit unfehlbarer Sicherheit, ſeine Stirn wurde
feucht, ſeine hellen Augen leuchteten mit einer In—
tenſität, als ſtrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail
deutlich heraus.
Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte auch
keinen andern Meſſer für ſie als die Sonne und
ſeinen knurrenden Magen.
Da wurde die Thür des fragwürdigen Ateliers
mit einem Ruck hinter dem Arbeitenden aufgeriſſen
und eine helle, friſche Stimme ſagte: „Gott zum Gruß,
Martin! Du biſt ſchon fleißig?“
Heeken ſah ſich um mit finſter gefalteter Stirn,
der Störenfried kam ihm ungelegen; aber als er
die ſchlanke, elegante Geſtalt erkannte, die dort, um—
woben von Licht und Sonnenſchein, ſtand, hellten
ſich ſeine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig
ſtieg er die Leiter herab.
„Fortunat — Du!“
Er ſah auf ſeine lehmbeſchmutzten Hände und
die fleckenloſen Handſchuhe ſeines Beſuches, etwas
wie Verlegenheit überfiel ihn.
„Ich kann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte
er entſchuldigend.
Der andere hörte ihn nicht, er ſtarrte nur auf
die hüllenloſe, in Licht gebadete Gruppe. Den Kopf
IT
437 Art zu Art.
ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die
Ihmalen Najenflügel vibrierend, war er in biefem
Augenblid nur der Sehende, alle andern Sinne an
ihm waren empfindungslos.
Martin Heelen betrachtete ihn von der Seite,
und je länger er das Ihat, je freudiger zudte es in
jeinem Gefidt.
„Du meinft alfo, es ift gut?” fjagte er nad
längerer PBauje, ohne daß der andere ein Wort
geſprochen.
Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken,
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend
heiteres Geſicht zuckte.
„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich,
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen,
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie,
Martin Heeken.“
Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf
den Fußboden, auf dem die Holzſchnitzereien lagen.
Die ehrliche Bewunderung des feinen, zierlichen
Kunſtgenoſſen hatte ihn entzückt, bis ins tiefſte Herz
hinein beglückt, aber ſo tief er das auch empfand,
in Worte zu kleiden verſtand er es nicht. Die
Zunge bes Proletariers war langlam und jchwer:
fällig, nur daß fi) fein Geficht rötete, gab Zeugnis
von dem, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich
fan eine ohnmadtähnlidde Erihlaffung über ihn,
ale gäben die phyfiidhen Kräfte wie gelähmt dem
Anfturm der Erihöpfung nad, er taumelte auf einen
Holzklog, der an der Wand ftand, und, den Kopf
in die Hand ftügend, jagte er bitter: „Ein Genie,
das hungert.“
Fortunat bemerkte den Zuſtand des andern
nicht, er ſtand wieder vor der Gruppe. „Wie Du
das gemacht haſt, Menſch! Dieſer Ausdruck von
grauender Furcht in dem Geſicht des Centauren, der
das kommende Unheimliche, Unbekannte, Erſtickende
fühlt, ohne es faſſen, ohne dagegen kämpfen zu
können, und das doch nichts weiter iſt als ein
glattes, knochenloſes Etwas, zierlich und behende, gewiß
nicht dazu angethan, um einen Centauren fürchten
zu machen, und doch wird er daran untergehen. —
Wie biſt Du nur auf dieſe Allegorie gekommen,
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die
Macht des Weibes anzuerkennen.“
Heeken hob verwundert den Kopf, der Schwindel,
der ihn befallen, war vorüber. „Ich verſtehe Dich
nicht,“ ſagte er, von der Gruppe auf den Sprechenden
blickend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun?
Es ſoll auch keine Allegorie ſein, nur das, was es
darſtellt: Kampf zwiſchen zwei nicht gleichartigen
Geſchöpfen, von denen das höher organiſierte eben
untergeht, weil ihm das Verſtändnis für die Waffen,
Roman von H. Schobert.
438
mit denen das andere kämpft, nicht gegeben iſt.
Das, was ſicherlich am ſtärkſten unſer Leben durch—
zieht, iſt eben immer Kampf und wieder Kampf.
Bei den Menſchen nicht weniger wie bei den Tieren,
und bei denen habe ich es beobachtet, wenn ich die
langen Sommertage auf dem Bauch lag und auf
meine Schafe paßte. Ja, Du kannſt mir's glauben,
da habe ich es geſehen, durch alle Arten durch.
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als
wäre das der Zweck des ganzen Lebens. Und darum
kann ich auch nur den Kampf darſtellen, immer wieder,
und immer wieder, weil ich nichts anderes kenne.“
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf iſt
auch die Grundbedingung der Beziehungen zwiſchen
Mann und Weib, mir kannſt Du es glauben,“ ſagte
Fortunat nachdenklich und ſtrich an ſeinen Hand—
ſchuhfingern. „Und ob nun mit oder ohne Deinen
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie
finden — ſie iſt es auch. Darum rate ich Dir:
widerſprich nicht.“
Heelen ſchüttelte den Kopf. „Willſt Du ſie
Sie
mir erklären?“
„Ja. Denn ſie iſt groß — gewaltig!
ſchnürt einem die Bruſt zuſammen und würgt in
der Kehle — ſie vernichtet und ſöhnt doch wieder
aus: Einem unerbittlichen Fatum kann eben niemand
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ich Dir
jetzt ſage. Du wirſt ein großer, ein berühmter Mann
werden — Ehren und Gold werden Dir zuſtrömen
— und ich werde dabeiſtehen — neidlos — und mich
an Dir freuen, denn ich habe das längſt gewußt
— ſchon damals, als wir noch in der Akademie
unter Profeſſor Quenſel zuſammen arbeiteten. — Du
biſt ein Genie, und ich beuge mich vor Dir.“
Thatſächlich neigte Fortunat den lockigen Kopf
tief vor dem anderen im zerriſſenen Wollhemd, der
rot und verlegen ausſah als er ſich abwandte und
gedankenlos nach ſeiner Holzſchnitzerei griff.
Fortunat ſetzte ſich auf den einzigen vor—
handenen Stuhl und ſah dem Arbeitenden ein
Weilchen ſtumm zu, dazwiſchen wanderten ſeine
Blicke immer wieder zurück zu der Gruppe, die ſich
ſo lebendig, kraftvoll und übermächtig gewaltig in
dem dürftigen Raum ausnahm.
„Melde das zur Kunſtausſtellung an,“ ſagte er
endlich nach einem Weilchen. „Sie werden es nicht
allein nehmen, ſondern eine Medaille iſt Dir auch
wohl ſicher.“
»Heeken warf heftig ſein Arbeitszeug zur Seite,
dunkles Rot flammte in ſeinem Geſicht auf. „Meinſt
Du, daß ich nicht auch daran gedacht habe? Denkſt
Du, ich weiß nicht, daß es gut iſt, was ich da ge—
macht habe? Das ſühle ich hier am deutlichſten.“
Er ſchlug ſich mit der Hand auf die Bruft, ein
intenſives Feuer loderte in den hellen Augen auf.
„Aber was nützt das alles; ich habe kein Geld, den
Transport zu bezahlen, kein Geld, um irgend etwas
aus mir zu machen. — So muß ich denn warten,
bis ich mir das Nötige verdient und erſpart habe;
iſt es nicht in dieſem Jahr, iſt es im nächſten. Ich
habe Zeit und Geduld.“ Er hatte ſeine Arbeit
wieder aufgenommen und ſchnitzelte weiter, als ob
435 Art zu Art.
zu fönnen, den ber Künftler m mit — Kunſt zu be:
ftehen hat, ehe fie fi) ihm zu eigen giebt. Und aud)
dann immer nur für furze Zeit, wie eine unerreichbar
hohe Geliebte, um deren Beſitz er jedesmal aufs neue
ringen muß, mit Einjfeßgung feiner ganzen Kraft,
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm ber
Sieg bleibt, immer nur gebegt von Furdt und
Hoffnung, von Verzweiflung und jauchyender Selig:
teit, bis er enblihd mit feuchender Bıult und er:
matteten Sliedern an das Ende gelangt, um dann
mit peinigender Deutlichfeit einzufehen, daß alles,
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge:
blieben ift, was er jchaffen wollte.
Einftweilen hielt der Schlaf nun die Hand ge:
bannt, und der ftarle Körper juchte Kraft zu neuer
Arbeit.
Er felbft, der Künftler, als er fo dalag mit
zerwühltem Haar und geöffnetem Munde, war fein
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn,
das maffive, wenn auch nicht unfchöne Gefiht, um-
wudert von Ihwarzem Bollbart, die unterjegte, falt
plump wirltende Geftalt verriet feine Abkunft aus
den unterften Schichten des Bolfes deutlicher als
Worte, und die große behaarte Hand, von früher,
ihwerer Arbeit zeugend, paßte vortrefflich zu dem
Dunft der Armut, der ihn umgab. —
Meder das Gejchrei der Ipielenden Kinder, noch
Beitihenfnall und Hundegebel hatten den zu Tode
Erihöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge:
gangen. Sebt lichtete fih auch die furze, fühle
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Dften auf,
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben,
ala fürchte fie fih vor der Xaft von Qual, Gram
und Verzweiflung, die der beraufziehende junge Tag
auf jeinen Fittihen für die duldende Menjchheit
berbeitragen würde.
Einen Augenblic war es, als wenn dies Erbeben
und Schauern fih aud auf Martin Heelen erjtredte,
feine Glieder zudten, er fließ einen jchweren Seufzer
aus und Ihlug dann die Augen auf, graue, kühle,
Iharfe Augen, die dem ganzen Gefidht einen eigen:
tümlich konzentrierten Ausdruc verliehen. Er ftarrte,
wie noch nicht völlig wa, einen Augenblid in den
aufdämmernden Tag, dann |prang er auf die Füße,
Ichüttelte fih, redte und dehnte fih, fuhr mit den
Händen durch jein wirres Haar und riß endlich die
ins Freie führende Thür auf.
Kalte, Icharfe Märzluft drang in den fcdhlaf-
dunftigen Naum, in dem es nad Holz und feuchten
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und
ließ das eisfalte Wafler über Kopf und Hände rinnen,
obgleich er fih dabei fein zerrilienes Wollhemd naß
madte; dann, mit diefer primitiven Toilette zufrieden,
trant er einen tücdhtigen Schlud Wafler, brach ein
Stüd von dem Schwarzbrot, und nun 309g er mit
bebutfamer Hand den feudhten Plan von dem ge:
waltigen Koloß und fah beim erften hellen Tages:
Ihein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis
von taufenden von einfamen Stunden, in hartem
Ringen um die Geftaltung des Gedantens, der ihn
bejeelt hatte, der fichtbar gewordenen Kämpfe und
Noman von 2 zen
436
Entbehrungen, bie er ruhig und Haglos, faum be-
mwußt ertragen, um fich das Material für jeine Arbeit
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm
mehr als nur fein Schöpfungswerk, fie verkörperte
ihm zugleih den Hunger, den er ihretwegen erlitten,
die zähe Energie, die ihn durchglühte, und die Kraft,
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr
als in diefem Augenblid.
Ein tiefer Seufzer hob feine Bruft. Ein Seufzer
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes
über das Gelchaffene.
‘a, e8 war gut.
Weit über menjchliche Dimenfionen hinaus ein
Gentaur mit wild wehendem Haar und die Luft
peitihenden Borderhufen; um feinen Leib geringelt
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Opfer.
Sn biefer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei
doch der Ausdrud der Augen graufam, graufam aus
Naturnotwendigfeit. Der Centaur hatte den Kopf
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz,
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejer Um:
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas
Fürdterlidem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte,
das ftärler war als er. Grauen jprah aus den
| bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden
Unfaßbaren aus der Haltung des Kopfes. Er fühlte
lein Schidjal. Einen unblutigen, unrühnlidhen Tod
durch einen heimtüdiichen Syeind, den er weder jehen
noch) befiegen Tonnte.
Martin Heelen trat ein paar Schritte vorwärts,
ein paar Schritte zurüd und prüfte fein Werk. Ar
dem hellen, klar darüber binflutenden Frühlicht
wirkte e8 gewaltig. Langjam nidte er vor fi hin.
Danıı holte er die Leiter, nahm den Epadtel zur
Hand und grub noch bier und da ein mweniges an
den Augen des Gentauren. Cr arbeitete langjam,
aber mit unfehlbarer Sicherheit, feine Stirn wurde
feudt, feine hellen Augen leuchteten mit einer Sn:
tenfität, als ftrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail
deutlich heraus.
Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte aud)
feinen andern Mefler für fie als die Sonne und
feinen Inurrenden Magen.
Da wurde die Thür des jragwürdigen Ateliers
mit einem Rud hinter dem Arbeitenden aufgerillen
und eine belle, friihe Stimme fagte: „Gott zum Gruß,
Martin! Du bift fchon fleißig?“
Heelen fah fih um mit finfter gefalteter Stirn,
der Störenfried fam ihm ungelegen, aber als er
die jchlanke, elegante Geftalt erkannte, die dort, um:
woben von Licht und Sonnenschein, ftand, bellten
fih feine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig
ftieg er die Leiter herab.
„sortunat — Du!”
Er ſah auf jeine lehmbeihmugten Hände und
die fledenlojen Handichuhbe jeines Bejuches, etwas
wie Berlegenheit überfiel ihn.
„Ih kann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte
er entjchuldigend.
Der andere hörte ihn nicht,
die hüllenlofe, in Licht gebabete Gruppe.
er ftarrte nur auf
Den Kopf
437 Art zu Art.
ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die
Ihmalen Najenflügel vibrierend, war er in diefem
Augenblid nur der Sehende, alle andern Sinne an
ihm waren empfindungslos.
Martin Heelen betrachtete ihn von der Seite,
und je länger er das that, je freudiger zudte es in
feinem Gefidht.
„Du meinft aljo, es ift gut?” fagte er nad
längerer Paufe, ohne daß der andere ein Wort
geſprochen.
Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken,
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend
heiteres Geſicht zuckte.
„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich,
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen,
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie,
Martin Heeken.“
Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf
den Fußboden, auf dem die Holzichnigereien lagen.
Die ehrlihe Bewunderung des feinen, zierlichen
Kunftgenofien hatte ihn entzüdt, bis ins tieffte Herz
hinein beglüdt, aber jo tief er das auch empfand,
in Worte zu leiden verftand er es nidt. Die
Zunge des Proletariere war langjam und jchmwer:
fällig, nur daß fich fein Geficht rötete, gab Zeugnis
von dein, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich
fam eine ohnmadtähnlihe Erihlaffung über ihn,
ale gäben die phyfiihen Kräfte wie gelähmt dem
Anfturm der Erfchöpfung nad, er taumelte auf einen
Holztlog, der an der Wand fland, und, den Kopf
in die Hand ftügend, jagte er bitter: „Ein Genie,
das bungert.”
Fortunat bemerkte den Zufland des andern
nicht, er fland wieder vor der Gruppe. „Wie Du
das gemadht haft, Menih! Diejer Ausdrud von
grauender Furcht in dem Geliht des Gentauren, der
das kommende Unheimliche, Unbelannte, Erjtidende
fühlt, ohne es faflen, ohne dagegen kämpfen zu
fönnen, und ba8 doch nichts weiter it als ein
glattes, Inochenlojes Etwas, zierlih und behende, gemiß
nicht dazu angethan, um einen Gentauren fürchten
zu maden, und dod wird er daran untergehen. —
Wie bit Du nur auf diefe Allegorie gefommen,
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die
Macht des Weibes anzuerlennen.”
Heelen hob verwundert den Kopf, der Schwindel,
der ihn befallen, war vorüber. „Ich veritehe Dich
nicht,“ jagte er, von der Gruppe auf den Spreddenden
blidend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun?
Es fol au Feine Allegorie fein, nur das, mas es
darftelt: Kampf zwilchen zwei nicht gleichartigen
Geihöpfen, von denen das höher organifierte eben
untergeht, weil ihm das Verftändnis für die Waffen,
Roman von H. Schobert.
438
mit denen das andere Tämpft, nicht gegeben ift.
Das, was fiherlihd am ftärkften unfer Leben durch:
zieht, ift eben immer Kampf und wieder Kampf.
Bei den Menjhen nicht weniger wie bei den Tieren,
und bei denen babe ich e8 beobachtet, wenn ich die
langen Sommertage auf den Bauch lag und auf
meine Schafe paßte. Ja, Du fannft mir’s glauben,
da babe ich es gejehen, durch alle Arten durd.
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als
wäre das der Zwed des ganzen Xebens. Und darum
fann ich auch nur den Kampf darftellen, immer wieber,
und immer wieder, weil ich nichts anderes Fenne.“
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf ift
aud die Grundbedingung der Beziehungen zwilchen
Mann und Weib, mir fannft Du es glauben,“ fagte
Fortunat nahdenklih und firid an feinen Hand—
Ihubfingern. „Und ob nun mit oder ohne Deinen
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie
finden — fie it es aud. Darum rate ih Dir:
widerjprich nicht.”
Heelen jchüttelte den Kopf. „Will Du fie
Sie
mir erklären?”
„3a. Denn fie ift groß — gewaltig!
\hnürt einem die Bruft zufammen und mwürgt in
der Kehle — fie vernichtet und fühnt doch wieder
aus: Einem unerbittliden Fatum fanır eben niemand
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ich Dir
jegt fage. Du wirft ein großer, ein berühmter Mann
werden — Ehren und Gold werden Dir zuftrömen
— und ich werde dabeiltehen — neidlosg — unb mid)
an Dir freuen, denn ich babe das längft gewußt
— don damals, ale wir noch in der Afademie
unter Brofejlor Quenjel zufammen arbeiteten. — Du
bift ein Genie, und ich beuge mid vor Dir.“
Thatfählich neigte Fortunat den lodigen Kopf
tief vor dem anderen im zerriffenen Wollhemd, ber
rot und verlegen ausjah als er ji abwandte und
gedankenlos nach jeiner Holzichnigerei griff.
Fortunat jeßte fih auf den einzigen vor:
bandenen Stuhl und Jah dem rbeitenden ein
Weilchen ſtumm zu, dazwilhen wanderten feine
Blide immer wieder zurüd zu der Gruppe, die fi)
jo lebendig, fraftvoll und übermädtig gewaltig in
dem dürftigen Raum ausnahm.
„Melde das zur Kunftausftellung an,” fagte er
endlih nad einem Weilden. „Sie werden es nicht
allein nehmen, jondern eine Medaille ift Dir aud
wohl ficher.”
° Heelen warf heftig fein Arbeitszeug zur Seite,
dunkles Not flammte in jeinem Gefiht auf. „Meinft
Du, daß ih nicht auch daran gedacht habe? Dentft
Du, ih weiß nicht, daß es gut ift, was ich da ge:
madht habe? Das Jühle ich bier am deutlichften.”
Er flug fih mit der Sand auf die Bruft, ein
intenfives Feuer loderte in ben hellen Augen auf.
„Aber was nügt das alles; ich habe fein Geld, den
Transport zu bezahlen, fein Geld, um irgend etwas
aus mir zu madhen. — So muß id denn warten,
bis ih mir das Nötige verdient und eripart habe;
ift e8 nicht in diefem Sahr, ift e8 im nädjiten. Ich
babe Zeit und Geduld.” Er Hatte jeine Arbeit
wieder aufgenommen und fchnigelte weiter, als ob
439 Art zu Art.
er fie gar nicht unterbrochen Hätte.
mir ja allmählich!”
Er dHielt die Stuhlbefrönung, an der er
arbeitete, prüfend vor fih ber, jo jah er nicht den
fonderbaren Blid, den Fortunatus auf ihn beftete.
Halb Zweifel, halb Staunen, halb Verftändnislofigkeit.
„Wenn ich's recht bedenke,” begann Heelen nad
einer kleinen Pauſe, „it es ja auch gleichgültig,
ob in diefem oder im nädjften Jahr. Sie ißt ja
fein Brot — biefe da,” und er madte eine Kopfs
bewegung nad) feiner Arbeit.
„Und Du könnteft dies Hangen und Bangen,
dies Hoffen und Zweifeln jo bis in die Unendlichkeit
bin ertragen?” fragte der andere und |prang auf.
„Bei dem Gedanken wird mir heiß.”
Martin zudte die Achjeln. „Das Warten lehrt
einen die Armut. Und dann — ich weiß, daß es
gut ift.“
„Sa, e8 ift gut!” bekräftigte Sortunatus. „Und
ih werde dem Profejjor davon erzählen und werde
ihn Dir berihiden, damit er jelber fieht. Der weiß
Nat.” eine Augen hingen an dem verzerrten Ge-
fiht des Centauren, das ihn immer wieder über:
wältigte, und leiler jegte er hinzu: „Wenn ich ein
Neidhammel wäre . . . aber nit wahr, Martin,
das trauft Du mir nicht zu.”
„Rein!“ antwortete der andere raid.
„sh muß mid) eben damit begnügen, ein
Talenten zu jein und andern das Genie überlafjen.
Wie bitter jolche Erkenntnis ift, weißt Du zwar
nicht, Du Begnabdeter, aber doch immer nod bejler
als GSelbftüberfhägung und Eitelfeit ohne Be:
rechtigung.“
Er ſah Heeken an als erwarte er von ihm ein
Wort des Widerſpruches, der aber ſchwieg. Fortu—
nat räuſperte ſich und ging mit erregten Schritten
ein paarmal auf und ab.
„Sag mir einmal ehrlich: was hältſt Du von
meinen Sachen. — Du kennſt ſie ja aus dem
Atelier her, als wir zuſammen arbeiteten. Seitdem
— in meinen eigenen Räumen habe ich Dich noch
nicht geſehen.“
„Ich paſſe nicht unter Euch,“ ſagte Heeken faſt
ſchroff. „Ihr ſeid viel gebildeter als ich, Ihr könnt
über alles ſprechen — über Eure Gedanken — Eure
Gefühle — über Kunſt und Kunſtſachen. Ich nicht,
— ich kann nur arbeiten, und ich bin froh, wenn
mich niemand dabei ſtört.“
„Ja, ich weiß, daß Du auch mich manchmal
zu allen Teufeln wünſcheſt.“
Martin ſchüttelte den Kopf. Uber fein hartes
Geſicht zog etwas wie ein weicher Schimmer. „Dich
nicht,“ fagte er baftid. „Ach freue mich immer,
wenn Du fommfl. — Du bift freilich der einzige.
Die andern kann ich nicht leiden. Sie find boshaft
und neidiid und aufdringlid, das bift Du alles
nicht. Aber jage mir nur, was Du an mir haft?
%h bin nicht fein erzogen, veritehe nichts von der
Welt, in der Du lebt . ... Was haft Du an mir?”
Hortunat blieb ftehen und fahb dem anderen
offen in das Gefiht. „Ich achte in Dir den Künftler,
den madhtvollen Seift, der alle Schwierigkeiten jpielend
„Das bringt’s
Roman von H. Schobert.
440
bezwingt, an denen andere zu Grunde gehen. Dann
aber au den bilfreihen Menden. Haft Du es
vergeflen, daß ih Dir mein Leben dante? Es mag
ja im Grunde nit viel wert fein, Diejes Leben,
aber lieb ift es mir do, daß ich’s noch ein Weilchen
behalten babe.“
„Das hätte jeder an meiner Stelle gethan.”
„Jeder? Yh weiß do nit! Du riskierteft
Deine gefunden Knochen dabei, Deine Arme! Dente,
was wäre aus Dir geworden ohne Arme,”
„Verhungert wär’ ich,” entgegnete Heelen ge:
lallen, „ia, — das glaube ich jchon jelber. Aber
— ift es jeßt nicht auch beinahe jo weit?!” — Er
fügte wieder den Kopf in die Hand, das ohnmadt-
ähnliche Gefühl von vorhin fam zurüd, nur flärker,
er wurde leihenblaß im Geſicht.
„Martin! Was ift Dir, Martin!” Fortus
nat faßte ihn bei den Schultern, er war wirklich
erichroden.
„Hunger hab’ ich,” jagte der andere und wijchte
mit ber flachen Hand die Schweißperlen ab, die ihm
die Erfhöpfung auspreßte. „Seit drei Tagen nichts
genofjen als Brot und Wafler, dazu gearbeitet Tag
und Nadt, das hält der Teufel aus.”
„Und warum bift Du zu feinem von uns ge-
| fommen? Zum Brofeflor, zu mir, Du bätteft Doc)
genug haben können.”
„sh mag nicht betteln.” Er 309 bie Stirn in
ablehnende Falten, obgleich jeine LZippen zitterten.
„Richt einmal in der Möbelfabrit wollte ich etwas
lagen; wenn diefe Befrönung fertig ift, giebt es ja
Geld genug, und Hunger Tenne ih Ihon lange —
mir find gut Freund zufammen — nur heut ift mir
jo mijerabel zu Mut — das madt das angeftrengte
Arbeiten.”
„Zieh Dih gleih an und fomm mit mir,“ jagte
Fortunat berriich, jehr gegen feine jonftige Manier,
aber er wollte nicht zeigen, wie nahe ihm die paar
Worte desjenigen gingen, in dem er einen großen
Künftler fah. „Wir gehen in das nädjlte Reftaurant,
gleichviel wohin.“
Heelen ftreifte mit feinem Blid das fonnige,
liebe Geficht des Jüngeren, das jebt auch etwas er:
blaßt war vor Mitgefühl, dann erhob er fih ohne
ein Wort der Ermwiderung.
Und nun gingen fie nebeneinander bie Straße
hinab, ein etwas verwunderliches Paar, dem jeder
nadhfah. Martin Seelens unterjegte, Dreitichulterige
Geftalt, eingepreßt in einen langen, jchwarzen Tuch:
rod, der offenbar nicht für ihn gemadt war, ohne
Hemdfragen, ein rotes Tuh um den Hals ge:
Ihlungen, den verbeulten, fledigen Hut auf dem
Kopf über ungeordnetem Bart: und Hauptbhaar,
robufte, unfultivierte Kraft in jeder Muskel feines
Körpers, den breiten Füßen und gewaltigen Händen.
Neben ihm, fait ihwädhlid) ausjehend, Alexander
Fortunat, von Kopf biß zu Fuß elegant gekleidet,
in jeder Bewegung verfeinerte Vebensgewohnbeiten
verratend, und doch zwilchen beiden das Band ber
gemeinfamen Künftlerichaft, des gemeinfamen Ringens
und Strebens, das zum Ausdrud zu bringen, was
in ihnen nad fünftleriiher Geftaltung verlangte.
441 Art zu Akt.
Zweites Kapitel.
„®ott bewahre,” jagte Zuzie Duenfel, indent fie
ihre Arbeit von bunten Seidenfäden auf Sammet
faft heftig in den Korb warf. „Sie werden bod
fträflid langweilig, Fortunat. Seit ungefähr einer
halben Stunde unterhalten Sie mid von nichts
anderem als diefem unmögliden Meniden, diejem
Heelen. Sagen Sie das Emil oder Papa, aber
mich verihonen Sie damit, wenn ich bitten darf.“
Fortunat nahm einen bunten Seidenfaden
und wand ihn gelaflen um feine Finger. „Sie find
übler Laune, Fräulein Luzie. Oder muß ich wirklich
deshalb um Entihuldigung bitten, daß ich der Tochter
eines Künftlere au Berftändnis und Snterefle für
tünftleriide Dinge zutraue? Ach jage Shnen, dieler
von Shnen fo veradhtete Heelen wird einft die Welt
von fih reden maden.“
Sie jagen im Gartenzimmer bei geöffneten
Feniter, denn es war draußen jchon ganz frühlings-
warm, troß der immerhin frühen Jahreszeit, beide
ganz allein, ohne etwas darin zu finden, denn Quzie
hatte feit dem Tode der Mutter eine abjolut jelb-
ftändige Stellung im Haufe ihres Vaters, des
Alabemieprofefjors Duenjel, und Fortunatus gehörte
feit Jahren zu den Freunden ihres Bruders Emil.
Seht wandte fie ihm das Geficht langjam zu. Ein
Gefiht, wie e8 taufende von jungen Mädchen in dem
Alter zwilhen achtzehn und vierundzwanzig Sahren
haben, was die Züge anbelangt, nicht häßlih und
nicht fonderlih hübich, aber was an ihr auffiel, war
ber Zug frivolen Wiffens, der aus ihren Augen, eitler
Gelbftüberfhätung, der aus ihrem ganzen Gebaren
ſprach.
„Ich gönne ihm die Unſterblichkeit,“ ſagte fie
mit einer gewiſſen abſichtlichen Läſſigkeit. „Nur ſoll
Papa nicht etwa auf den gräßlichen Gedanken kommen,
ihn mir hierherzuſchleppen — Ihren Heeken! Ich
habe an dem einen Mal genug, als er noch ſein
Schüler war. Dafür mache ich Sie verantwortlich,
Fortunat.“
Er lachte. „Heeken hat dazu am wenigſten Luſt,
ich verſichere Sie das, Fräulein Luzie.“
„Gott ſei Dank!“ Sie atmete auf und verſchränkte
die Arme unter dem Kopf; während ſie das that,
warf ſie einen koketten Blick auſ ihr Gegenüber.
„Sie find eigentlich doch ein komiſcher Kauz,
Fortunatus! Was für ein Geſchrei machen Sie über
dieſen Ihren Freund und Konkurrenten, gerade als
gäbe es gar nichts anderes mehr auf der Welt,
während Sie ſich immer herabſetzen — immer herab!
Gar kein bißchen eitel ſind Sie auf Ihre Leiſtungen,
und doch finde ich ſie einfach ſüß.“
Er machte ein Geſicht, als habe er unverſehens
auf Sand gebiſſen. „Nun, Fräulein Luzie, Ihre
Kritik konnte nicht grauſamer ſein.“
Sie ſah ihn lachend an. „Ein Drachentöter ſind
Sie freilich nicht, kleiner Alexander, aber iſt denn
das nötig? Wir wollen doch ſehen, was uns gefällt,
nicht? All das Erhabene iſt manchmal ſchauderhaft
langweilig.“
Roman von H. Schobert.
442
Er ſeufzte vor ſich hin, ohne das Spiel mit dem
Faden einzuſtellen. So intim er ſeit Jahren im
Hauſe des Profeſſors verkehrte, es fiel ihm doch nicht
ein, auch nur ein geringes Bruchteil ſeines Empfindens
dieſen ſeinen ſogenannten Freunden preiszugeben.
Ebenſowenig wie es ihm je eingefallen war, Luzie
Quenſel den Hof zu machen, ſo ſehr dieſe junge
Dame es manchmal darauf anlegte.
„Ach!“ ſagte ſie endlich, mit einem kleinen
Gähnen ihre ſchlanke, elegante Geſtalt ſtreckend.
„Ich wünſchte, Sie erzählten mir etwas Amüſantes,
Fortunat. Kleine Ateliergeheimniſſe, Modellge—
ſchichten — ich weiß nicht, das Leben iſt doch zu
langweilig. Aber Sie gehören auch nicht zu denen,
die es — zum Beiſpiel mir — etwas zu verkürzen
verſtehen, oder wenigſtens wollen Sie nicht! Ach!
Gott ſei Dank, da kommt Emil.“
In der That erſchien in der geöffneten Thür
der Sohn des Hauſes. Etwas korpulent für ſein
Alter, mit dem Anflug eines kleinen Bärtchens im
rötlichen, augenblicklich ſehr verſtimmt ausſehenden
Geſicht. Er hatte den Hut noch in der Hand und
warf ihn ärgerlich auf den Seitentiſch, ohne die An—
weſenden beſonders zu begrüßen.
„Es iſt ein Elend, der Sohn eines berühmten
Mannes zu ſein,“ ſagte er, ſich in einen Schaukel-
ſtuhl werfend, und die Beine lang von ſich ſtreckend.
„Jede Leiſtung wird von den Böotiern nur nach dem
Maß gemeſſen! War meine ſchlafende Nymphe nicht
hübſch in der Form? Nicht allerliebſt prickelnd in
der Stellung? Ich frage Euch beide! Nun, der
Kunſthändler, bei dem ich ſie ausſtellte, machte ein
Geſicht dazu, als wäre ſie etwa ein flügelloſer Mai—
käfer oder dergleichen. Wäre ich Hinz oder Kunz,
würde man mir meine Sachen ohne Voreingenommen:
heit beurteilen und loben, jo aber, weil der berühmte
Name ‚Duenfel junior‘ daran fteht, foll es gleich
etwas Weltbewegendes jein, oder man wird als
Stümper angejehen.”
„Sa, Du haft es jchwer, armer unge,” fagte
Zugie Ipöttiih. „Zünde Dir nur eine Eigarre an, das
vertreibt die Grillen. Übrigens war Deine Nympbe
ehr Hübid. Du mußt ein nettes Modell dazıı ge:
habt haben.”
Emil zudte ärgerlich die Achleln. Jm übrigen
befolgte er den Rat feiner Schweiter und raudhte.
Fortunat Tchwieg.
„Ss ift wirklich ein Leiden,” begann Emil wieder.
„Was überwältigt denn heutzutage noh? Was macht
Auflehen? Nicht einmal Thorwaldjen würde heut
das werden, was er damals war. Genies fallen
dob nicht vom Himmel!“
Zuzie lachte aus vollem Halfe. „Aa, fomme Du
nur! Fortunat ift einem auf der Spur — einem
gewaltigen! Heeken!!“
Emil ließ die Cigarre finten und jah dem
Ichweigenden Freund in das Geficht mit einem Aus:
drud ungläubigen Erftaunens.
„Ih war heut vormittag bei ihm und jah fein
eben vollendetes Werl. Er will es zur Kunftaus:
ftellung anmelden. Allerdings genial.“
Emil war bunfelrot geworden. Er Tonnte es
443 Art zu Art.
einmal nicht ertragen, daß man andere in feiner
Gegenwart hochftelte. Der Eleinliche, neidiiche Cha-
rafter, der ihm innemwohnte, geftattete ihm fein groß-
berziges Lob und ließ ihn feinen Tadel ertragen,
das wußte jein Freund und richtete fi im allge
meinen danadh, zumal diefe Eigenihaften meift nur
auf Fünftleriidem Gebiet zu Tage traten, und viel:
leiht um jo heftiger, weil Emil Quenjel in Wirklich:
feit, troß des Namens feines Vaters, ein blutiger
Stümper war und blieb.
„Heelen!!” jagte er jet mwegwerfend und ftieß
eine gewaltige Naudhmolle aus. „Dieler Prole-
tarier! — Was fann er Großes jchaffen, da ihm
der Sdeengang des Kulturmenjchen, die Verfeinerung
jeden Gefühle volftändig abgeht! — An Heelfens
Genie glaube ih nicht — abfolut nicht!”
FSortunat jchüttelte heftig den Kopf. „Ein
Menih, der fih jo durdringen muß, Emil —
fo!! wie wir es uns gar nicht vorzuftellen ver-
mögen, in dem muß etwas leben, was mädjliger ift
al®e alles. Es kommt mir vor, als ift das Genie
diejes Mannes wie ein tiefer, breiter Strom, der
den ganzen Menihen bdurcflutet und für nichts
mehr Raum läßt. Es verzehrt ihn, aber es hebt
ihn enpor, hoch bHinaus über uns und hat gar
nichts mit der Bildung zu thun, ebenfomwenig wie
mit dem Charalter. Er ift Künftler — lediglich
Künftler — und will auch nichts anderes fein.”
„Das it Deine Anfiht! Die meine dagegen,
daß fih ein Talent, jage jelbft Genie, ohne vor:
bereitenden Bildungsgang nicht auf der Höhe halten
kann; es erſchöpft fich zu jchnell, weil es Feine
Quellen in fi trägt, aus denen es weiter jchöpfen
farın. Sch Halte von Deinem SHeefen nicht viel.
Du aber, Ler, bift ein Phantaft und immer geneigt,
andere aufs Schild zu heben. Nur von meiner
Nymphe haft Du mir noch Fein Wort gejagt.”
„Sie ift nit Deine bejte Arbeit,” geitand
Fortunat nad) kurzem Zögern.
„Aber erlaube Du mir. . . ich verftehe nicht,
daß br alle fo voreingenommen fein fünnt . . .”
Emil jprang jehr zornig auf. „Da ift alles, wie
ih es gejehen habe — genau — genau, fage id)
Dir! ede Linie, jede Senkung . . .”
„Lieben Kinder,” ſagte Luzie mit Nachdrud,
„e8 wäre wirklich beiler, Ihr vertagtet foldhe Ge:
Ipräde für Eure Ateliers. Wozu find denn die da,
wenn Khr Eu nicht darin zanlen folltet. Aber
bier bei mir, da bitte ich mir etwas mehr Gemüt-
lichfeit aus, verftanden? Papa muß glei kommen,
und bis dahin will ih Euch noch eine funkelnagel:
neue Neuigleit erzählen, die fih auf uns alle drei
ausdehnt. — Nun? Ganz Ohr?”
„Sanz Ohr!” verfiderte Fortunat, während
Emil im Zimmer umberlief, mit Gott und der
ganzen Welt grollend, daß ihn niemand zu mür-
digen Ichien. Dennoh war er Eug genug — troß
feines nit allzu Icharf entwidelten Verftandes —
um genau zu wiflen, mie viel von feinen ohnehin
Ihon Shwahen Erfolgen auf Rechnung feines Namens
fam. And bei aller Sndolenz und Trägheit jeines
Roman von H. Schobert.
441
Charakters hatte er einen ftarken Ehrgeiz, der freilich
lieber ernten als fäen wollte —
„Allo: Papa bat heute morgen einen Brief
aus Chicago von feinem alten Freunde Brunnhübler
befommen, Du weißt, Emil, der SKonfervatorift.
Der bat ihm fein Mündel empfohlen, eine deutfche
Amerifanerin, deren Eltern nad) Amerifa ausge:
wandert find, die aber nun, ganz verwaift, fich wieder
bier bei uns in der Malerei ausbilden will. Brunn:
hübler fchreibt, er traut ihrem Talent nicht allzuviel
zu, aber Papa würde das ja wohl befjer verftehen,
darum jchidt er fie ihm. Sie ift jung und reich
und heißt Fräulein — oder vielmehr Miß Maud
Winter. Nun, meine Herren, das ift SJagdbeute
für Sie beide. Papa hat fi) ausgedadt, fie fol
bei uns wohnen, damit ih Gejelichaft habe. —
Was ih mir aus Mädchengejellihaft made! Mit
Männern ift ein viel netterer Verkehr möglich).
Aber ich denke, Tchließlicd braucht man fi ja nicht
gegenfeitig zu genieren, ich wenigitens, ich werde mir
Ihon meine Stellung madjen.”
„Hoffentlih ift fie Hübich,“ fjagte Emil und
blies den Rauch durch die Nafe.
„Amerilanerinnen pflegen umgänglih zu fein;
fönnen wir denn aber genug Engliih, um uns mit
der jungen Dame zu verftändigen?” warf Fortunat hin.
„Sie Tpriht Deutih wie Wafler, ift ja dod
eine Deutiche,” erklärte Luzie. „Uber ich benfe
fie mir Iheußlih. Wozu geht fie jonft von Amerika
fort. Konnte fie da nit heiraten und vergnügt
fein, anftatt fi) auf die Malerei zu werfen? Malende
Frauenzimmer find meiftens Greuel.”
„Wann kommt fie denn?”
„Mit dem nädjften Dampfer. | suppose, meine
Herren. Wir Eönnen fie von übermorgen ab jeden
Tag erwarten. Eigentlih do eine Kateridee von
Papa, ihr unfer Haus zu öffnen,, ohne daß mir fie
gejehen haben, nicht wahr?” meinte Luzie.
„Mich Jo fie nicht flören,; wenn fie mir nicht
gefällt, fomme ich nicht zum Vorjhein, na, und Xer
bleibt auch) weg,“ meinte Emil, ftärler rauchend.
„Ihr feid fehr gütig, und ih?“
„Du wirft Ihon mit ihr fertig. Wenn fie Dir
nicht gefällt, wette ich, daß fie bald das Weite jucht.“
Luzie late. Sie hörte es nicht ungern, wenn
man ihr eine gemwille Selbftherrlichleit zuſchrieb.
„Seder muß fih jeiner Haut wehren,” . jagte fie,
und führte in der Luft einen Nafenftüber gegen
Fortunats Nafe aus,
Draußen Klang bas Gartenpförtchen.
„Der Papa,” jagte fie aufipringend.
laß ich den Kaffee bringen.” —
Dem eintretenden Profeffor bot fich auf biele
Art ein freundliches Familienbild. Er jelbft, mit
jeinem langen, filberweißen Bart und dem Mofes-
fopf, in dem ein Paar merkwürdig Tlare Augen
ftrahlten, war feinen beiden Kindern jo unähnlid
wie möglih. Nicht allein im Außeren, in feiner
ganzen Lebensauffaffung mwurzelte er noch in ber
romantifhen Periode, der er entitammte, und wenn
Ruzie ihn lachend „unmodern” nannte, To hatte fie
damit das Richtige getroffen. Vielleicht lag darin
„Nun
445 Art zu Art.
der Grund, daß er fi geiltig jo außerordentlich
jugendlih erhalten hatte.
Shn für irgend etwas zu begeiftern, hielt nicht
Ihwer. Als Fortunat nah einem Meilen fragte,
ob er fih noch jeines Schülers Heelen erinnere,
horchte er ſogleich hoch auf.
„Heeken — Martin Heeken — natürlich! Er
war ebenſo arm wie talentiert. Auf welche Art er
es damals möglich gemacht hat, nach Italien zu
gehen und dort zu leben, iſt mir immer ein Rätſel
geblieben.“
„Darüber hat er auch zu mir geſchwiegen.
Seine Energie iſt ebenſo groß wie fein Körper
leiſtungsfähig. Seitdem er hier iſt, erhält er ſich
mit Kunſttiſchlerei und daneben hat er etwas ge—
ſchaffen — etwas Großartiges, Herr Profeſſor.“
„Du kennſt doch Fortunats Begeiſterungsfähig—
keit, Papa,“ warf Emil mit etwas nervöſem Lachen ein.
„Nein, nein, Herr Profeſſor,“ wehrte der heftig.
„Sehen Sie ſelbſt, und Sie werden mir recht geben.
Unter Hunger und Entbehrungen iſt das Werk ent—
ſtanden, als es fertig war, fiel er vor Mangel an
Nahrung zuſammen. Er möchte es auf die Kunſt—
ausſtellung haben, aber die Mittel zum Transport
vor die Jury fehlen ihm. — Da dachte ich an Sie,
Herr Profeſſor.“
„Heraus mit der Sprache, junger Freund,“
ſagte der Profeſſor aufmunternd. „Was ſoll ich
nach Ihrem Ermeſſen dazu thun?“
Fortunat ſah ihm offen in das Geſicht. „Wenn
Sie dem armen Kerl die Koſten des Transports
bei einem zweifelhaften Erfolg erſpatten, wenn Sie
— als Präſident der Jury — ſich die Gruppe erſt
einmal vorher anſehen würden. — Mich hat ſie ge—
padt — ergriffen — aber ich bin ſchließlich kein
Kritiker.“
„Wahrhaftig, nein!“ ſagte Emil und wechſelte
das Bein, das er über das andere legte. Er dachte
an ſeine Nymphe.
Der Profeſſor beſann ſich ein wenig. „Ja —
ja, Sie haben recht, Fortunat. Das wäre am Ende
unter dieſen Verhältniſſen Menſchenpflicht. Warten
Sie — morgen — nein, morgen kann ich nicht,
aber übermorgen. Ich werde noch Profeſſor Hubry
mitbringen, und Sie können mich führen.“
„Ich danke Ihnen herzlich im Namen meines
Freundes.“
Fortunat ſah ſo glücklich aus, als habe er für
ſich ſelbſt etwas errungen, ſagte aber nichts mehr,
da er Emils ſpöttiſche Augen auf ſich gerichtet fühlte.
Er war nun einmal ſo, er konnte es nicht laſſen,
ſich für andere, die er höher ſtellte als ſich, zu be—
geiſtern und dadurch den Spott der Genoſſen heraus⸗
zufordern.
„Alſo teilen Sie es Heeken mit, übermorgen
vormittag um zwölf Uhr, da bin ich frei,“ ſagte der
Profeſſor aufſtehend, denn ſein Kaffee war getrunken
und er ſehnte ſich nun, nach dem anſtrengenden
Unterrichten, nach einem Ruheſtündchen. „Ich will
hoffen, daß ich meine Erwartungen voll beſtätigt
finde. Und nun laßt Euch nicht ſtören, Kinder.“
Er ging, aber auch Fortunat litt es nicht
Roman von H. Schobert.
446
länger. Als er in ſeinem reizend eingerichteten
Atelier ſtand, denn er war mündig und wohlhaben⸗
der Leute Kind, ſah er ſich wie prüfend ringsum.
Da ſtanden um ihn herum ſeine Schöpfungen in
lebensvoller, graziſſer Anmut, alle — alle. Es
war, als konnten ſeine Hände gar nichts anderes
formen, und doch, wie Klein, wie erbärmlich fam
ihn heute gerade alles vor. Daß er aud fo offene
Augen für alles Große, Gewaltige haben mußte!
Solche faſt ehrfurdtsvolle Bewunderung! Nur was
er felbjt leiftete, erfchien ihm fo unbedeutend, jo
unmert.
Er riß das feuchte Tuch von ber Figur fort,
an der er gerade arbeitete, fie war bis auf weniges
vollendet, denn auch er hatte die Abficht, die Aus-
ftelung zu beididen. Bitter jchloffen fich jeine
Lippen, während er darauf binjah und an Martin
Heelens Werk dadhte. Das Ichaffen können! Sa,
das! — Wie Plunder erjchien ihm jeine Arbeit —
und do hatte er damit unredht.
Liebreizend jchelmiich lächelte das Gefiht des
faum halb Meter hohen Figürchens unter dem Drei:
Ipig zu ihm berüber, der rechte Arm, in foletter
Grazie gebogen, hielt die lange, von den Schultern
fallende Schleppe empor, während jonft nur ein eng-
anliegendes, kurzes Wams die feinen Glieder be:
dedte. Syn der Haltung des Körpers, in dem Aus:
drud des Gefihts lag. etwas jo Beitridendes,
tünftleriich Vollendetes, daß der Schöpfer diefes Heinen
Meifterwerfs wohl hätte zufrieden fein dürfen. Kein
Wunder, daß er bem Publitum gefiel. — E8 famen
viele Aufträge in fein fat frauenhaft üppiges Atelier;
ein Rokotopärden in Marmor, fertig zum Fort:
ihiden, ftand jchon auf prächtigen metallnen Säulen,
und doch war er nicht zufrieden mit feinen Leiftungen,
marterte und quälte fi mit dem Wunfch nach Höherem,
Größerem. —
Mit einem Seufzer verhängte er wieder das
Gipsmodell, mit einem Seufzer blidte er nod) ein-
mal ringsum, dann trat er an das große eniter
und riß mit einem NRud den Vorhang zu.
Es wurde dunkel. Er bedte noch die Hand
über die Augen, und fo, im Finftern, taftete er fi
bis zur Chaifelongue und warf fich darauf nieder.
Drittes Kapitel.
Martin Heelen faß in feinem Atelier und
wartete. Zu Ehren der Kommenden hatte er die
Schhniterei beifeite geräumt; auch das Bett war
glattgeftrihen und der Waflerkrug beifeite geitellt,
feftlidere Vorbereitungen aber ließen fich beim beiten
Willen nicht treffen, und daß er felbft jeßt fchon in
dem engbrüftigen Rod ftat, erichien ihm vollflommene
Feierlichleit.. Merfwürdig nur, daß er gar nicht
aufgeregt war. Sein Herz Ichlug jo ruhig wie zu
jeder anderen Stunde. Was er eritrebt hatte, dort
ftand es vor ihm, fein VBeltes hatte er gegeben, wie
andere e3 beurteilen würben, was fam darauf an!
Er war auch nicht gewöhnt, fein eigenes Empfinden
447 Art zu Art.
zu beobadten, es gemwillermaßen unter die Zupe zu
rüden, er fragte fih nit, ob diefe Ruhe etwa
Gelbftbewußtjein fein fönne, oder nur von feinen
robuften Nerven herrühre, er bejaß jo gar nicht das
Verſtändnis für den fomplizierten inneren Menichen ;
das, was er fühlte und fah, genügte jeinen einfachen
Begriffen.
Es war hell und warm draußen, man hörte
Vögel fingen und das luftige Laden und Schreien
Heiner Barfüße, die fih auf einem Sandhaufen ver:
gnügten. Sn helles Licht getaucht, ftand die Gruppe
mitten in dem bürftigen Atelier, und jo, faft auf:
dringlich gewaltig, Iprang fie auch wieder den Ein:
tretenden entgegen.
Profefior Quenfel vergaß bei dem Anblid feinen
früheren Schüler zu begrüßen, der fih jchweigend
zur Seite hielt. Es war wirklich etwas nieder:
drüdend Gewaltiges, was fih ihm darbot. Eine
foldhe Kraft, eine jolhe Individualität hatte er doch
nicht erwartet.
Erft nach einer langen, langen Bauje, nachdem
fih die beiden älteren Herren zugenidt hatten,
fuchten feine Augen den jungen Künitler. Der lehnte
immer noch ganz ruhig und unbewegt an der Längs-
wand feines Ateliers, jo, als ginge ihn die Sade
nidit im geringiten etwas an.
Der Brofefjor trat rafh auf ihn zu und ftredie
ibm die Hand entgegen. „Sch gratuliere Ihnen,
Helen. Das war ein großer Wurf; und er ift
Shnen gelungen — verblüffend gelungen. Treffen
Sie alle Anftalten für den Guß, ein Abweifen dur
die Jury ift völlig ausgeichloffen. Jhre Arbeit wird
Shnen einen Namen von gutem Klang jchaffen.”
Er wollte noch mehr jagen, verfchludte es aber.
Seelen hatte ftumm die Hand, die ihm dargereicht
wurde, erfaßt und geichüttelt, mit der Formlofigfeit
bes ungebildeten Mannes. Er hatte audh das un:
beflimmte Gefühl, daß er jeht etwas jagen, fi
mindeftens bedanken müfle, aber die Worte fehlten
ihn. Er 309 die Stirn in Falten und ftieß einen
tiefen Seufzer aus.
„sh bin wirklich ftolz darauf, daß Sie mein
- Schüler gewejen find,” fegte der Profefjor noch hinzu,
und dazu leuchtete e8 jugendlih in feinen hellen
Augen auf. „Wir können uns no auf viel
Schönes von Ihnen freuen.”
Erft da gelang es Martin, ein paar zufanımen-
banglofe Worte zu ftammeln, während Emils Augen,
der fih den Befichtigenden angeichloflen, ihn Tpöttifch
mufterten.
Er hatte die Gruppe umgangen und fand ihr
im Rüden, genau jedes Haar am Pferdejchweif
Nudierend, wie jein Vater die Fraftvolle Muskulatur
des Gentaurenleibes; jo gern er getadelt hätte, er
durfte es nicht wagen der Vollendung gegenüber,
bie jelbit das Unbedeutendfte auszeichnete. Aber ein
haßerfüllter Blid flog über die Gruppe und die Hand
in der Tafche zufammenkrampfend, dachte er inbrünftig:
„Hol der Teufel das Ganze!”
Fortunat blieb zurüd als die andern gingen.
Auge in Auge wurzelten die Blide der beiden jungen
Männer, und plöglich Drad es bei Martin Heelen
Roman von H. Schobert.
448
durch mit elementarer Kraft, was ihm diejfe Stunde
gebradtt. Er fließ einen Schrei aus, fait wie ein
Tier, Ichlang beide Arme um die elegante Geftalt
feines Sreundes, der ihm foeben biefen großen Dienft
geleiftet, und drückte ihn an fih, als wollte er ihn
zerbrechen.
Noh nie in jeinem Leben hatte er das Be-
bürfnis nad) dem Austausch irgend welder Zärtlid-
feiten gehabt, aber in diejem Augenblid, wo er fühlte,
daß fich fein Leben wandte, da mußte er irgend
jemand in die Arme nehmen und an fih drüden,
als Ichlöfle er fih dadurh jymboliih an die Menjch:
heit an, gleihfam als Zohn für fein einfames Ringen
und Streben, für den Wrondienft, den er bisher
auf fi genommen, nur um der Kunft zu Dienen.
Fortunat machte fi haftig, fat brüst aus den
ihn umichließenden Armen frei. Es war ihm etwas
in die Naje gezogen, das ein Gefühl des Efels in
ihm mwachgerufen hatte. Nun bemerkte er die Urjacdhe
wohl. Der Geruh ging von dem alten Wollhemde
aus, das feinem Befiger lange und treu gedient hatte,
die Ausbünftung des Proletariats, das feine Zeit
hatte, ven Körper zu pflegen, und auch nicht einmal
Verftändnis dafür befaß. Er trat einen Schritt zu:
rüd und jog die friiche Luft ein. Faſt jchämte er
ih der NRegung, und doh — und do
Martin Heelen hatte nichts davon gemerkt. Er
ging jeßt aufgeregt, leife vor fih binmurmelnd, im
Atelier auf und ab, die plöglihe Erfüllung feines
beißeften Wunjches jchien ihm zu Stopfe geftiegen
zu fein wie ein Rauſch. Endlid blieb er mit
bligenden Augen vor Fortunat ftehen.
„Sieh, daß es gut ift,” jagte er faft Teuchend,
„das wußte ih ja, und daß fie’s nehmen würden
auch, aber baß der PBrofeflor den Transport bezahlen
will, weil er es jo gut findet, das bringt nıich vor
Freuden beinahe um den Berjtand.”
Fortunat Jah ihn ftumm an. Die elementare
Kraft, die diefem Manne entfirömte, verblüffte ihn
faft, und er jhämte fich feiner kleinlichen Regung
von vorhin. War aud er wirklich unfähig, Geift
und Körper zu trennen? WMadte er e8 mie Luzie
Quenfel, bei der der Rod den Ausichlag gab? Ale
ihn damals Heelen ınit Gefahr feines Lebens vor
den wild gewordenen Pferden wegriß, war ihm eine
perjönlihe Berührung nicht unangenehm gewelen, er
hatte gar nicht daran gedadt, und jet, wo er vor
allen Dingen den Künftler im Menichen zu achten
hatte, da überwog bei ihm doch das Außerliche, troß
aller Bewunderung, die er für ihn begte. Er ärgerte
fih über fich felber, und Doppelt freundlich war bie
Bewegung, mit der er ihm wieder näber irat.
„Deine Familie wird ftolz auf Dich jein, Martin,“
lagte er baftig. „Bon melden Erfolgen fannit Du
ihnen jegt berichten! So jung wie Du nod bift.”
Heelen mwifhhte fih mit der Hand über das
Gefiht. „Meine Familie! Die verfteht davon nichts.
Als ich früher aus Mutters Brot Figuren Tnetete,
befam ich Prügel wegen der unnötigen VBerfchwendung,
und wenn ich ihnen jeßt nicht eine Handvoll Gold:
fiüde unter die Naje halten kann, begreifen fie nicht,
wo die Urjadhe liegt, daß ich Grund zum Stolz und
449 Art zu Art.
zur Freude babe. Wäre ich Kunittiihler geworden
— das nährt feinen Mann, davor hätten fie Hod-
ahtung gehabt.” Er fpradh ohne alle Bitterkeit,
fonftatierte eben nur Thatjahhen, gegen die fih nicht
ftreiten ließ.
„Dieſe Böotier!“ ſagte Fortunat verächtlich.
Heeken ſchüttelte den Kopf. „Von ihrem Stand—⸗
punkt haben ſie recht. Du weißt eben nicht, wie
Hunger und Not und Kälte thut, Dir iſt es immer
gut gegangen.“
„Hör', Martin,“ begann Alexander, mit einer
gewiſſen Neugier ihm nähertretend. „Hat nie in
Deinem Leben ein Weib einmal eine Rolle geſpielt?
Du biſt ſo anders wie wir — die wir alleſamt keine
Heiligen ſein mögen — immer nur Arbeit und
Arbeit. — Steckt hinter Deiner Solidität eine ſtille
Liebe, die Du Dir damit zu erringen ſuchſt? Mir
könnteſt Du es doch ſagen, weil ich wirkliches Snter:
eſſe für Dich fühle.“
Heeken lachte laut auf. „Die Weiber! Nein,
geh mir damit! Es iſt ja recht ſchön, daß ſie einem
ſeine Sach' zuſammenhalten, einen beflicken und
kochen, aber ſoviel Weſens wie Ihr aus ihnen macht,
das ſind wir nicht gewohnt. Nein, mit den Weibern
habe ich nichts zu ſchaffen.“
Fortunat ſeufzte. Meiſtens pflegte ein Zipfel
ſeines Herzens für ſein jeweiliges Modell in Flammen
zu ſtehen, aber das war Strohfeuer, das in ſich
ſelber wieder zuſammenſank, ohne je gefährlich zu
werden. Trotzdem hielt er ſich für außerordentlich
verworfen und blaſiert. „So kennſt Du alſo das
ſüße Gift noch nicht,“ ſagte er, ſeinen Schnurrbart
drehend. „Und ich weiß nicht recht, ſoll ich ſagen:
Gott ſei Dank! oder: Schade! — Erſpart wird es
Dir ja nicht bleiben. Und wenn ich Deine Gruppe
ſo anſehe, möchte ich darauf ſchwören, Du hätteſt den
weichen, ſchlangenhaften Einfluß des Weibes illu—
ſtrieren wollen, der den ſtarken Mann ganz unmerklich,
allmählich umſtrickt, bis er endlich merkt, er kann
nicht mehr heraus, Muskeln und Knochen werden
ihm zuſammengeſchnürt, zerpreßt, er iſt ihm verfallen
mit Leib und Seele bis zu einem unrühmlichen
Tode. Ja, das Weib iſt die Verderberin des Mannes!“
Heeken hatte die Hände auf den Rücken gelegt
und ſtumm zugehört. Er begriff nicht alles, was
Fortunat ſagte, doch genug, um zu verſtehen, welche
Rolle er den Männern zuerteilte, und mit der ganzen
Kraft des Selbſtbewußtſeins ſagte er verächtlich:
„Das muß ein ſchöner Mann ſein, den ein Weib
ſo umſtricken kann. Um den iſt es nicht ſchade. Der
echte Mann wehrt ſich und kriegt ſie unter, und
wenn es mit den Fäuſten iſt.“
„Sehr radikal, aber nicht immer anwendbar!“
Fortunat lachte. „Und ſieh, Dein Centaur hat ja
auch Hände, ohne ſie brauchen zu können. Uns geht
es ebenſo, wir haben oft auch gefeſſelte Hände dem
Weibe gegenüber ... . Aber da kommt jemand.”
Die Aelierthür öffnete fi, eine Frau aus dem
Vorderhaus reichte Heelen einen Brief herein. „Das
ift für Sie abgegeben, Herr Heelen.”
Er nahm das Goupert entgegen, grobes, graues
RomansZeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
450
Papier und eine jehr gejchnörfelte, unausgefichriebene
Handſchrift.
„Von zu Haus,“ ſagte er nach dem erſten Blick.
„Der Herr Lehrer hat geſchrieben.“
„Ich bitte Dich, lies, laß Dich nicht ſtören.“
Das hätte er allerdings auch wohl ohne Auf—
forderung gethan; woher ſollten ihm die Formen der
guten Geſellſchaft kommen? Nach einer Weile ſagte
er ganz ruhig: „Mein Bater ift tot. Morgen be:
graben jie ihn.”
Keine Muskel in feinem Geficht zudte. Er war
den Seinen fremd geworden wie fie ihm. Daß alte
Leute fterben, war der Welt Lauf, und daß e8 ge:
\hehen, ohne daß fie einander wiedergejeyen, nun,
das hatte fich eigentlich von felbft verftanden.
Fortunat murmelte ein paar Worte der Rondolenz,
in feinen Kreilen gehörte fi das jo.
Heelen jah ihn jehr erftaunt an. „Du haft ihn
ja gar nicht gelannt,” fagte er, „und fterben muß jeder.“
„Neilelt Du zum Begräbnis,” fragte der andere,
aus dem Konzept geraten. Eigentli hatte Martin
ja recht mit feinem Einwurf. Der natürliche Menſch
würde nicht nad) Phrafen gejudht haben bei einer
Angelegenheit, die ihn gar nichts anging, der Kultur:
menſch hingegen juchte nad dem Ausdrud einer
Teilnahme, die nur erkünftelt fein Tonnte.
Heelen faßte in die Hofentafhe und 309g eine
Handvoll Silbermünzen hervor. „Ih Tolli’s wohl.
Weißt Du, ich bin der einzig Übriggebliebene, da
gehört es fih am Ende. — Die alte Frau wird
wohl aud deulen, daß der Sohn hinter den Sarg
feines Vaters gehört. Und Geld habe ich ja.”
„Wenn Du was braudjft, ich helfe Dir gerne aus.”
„Nein, dante. Borgen und nicht wiedergeben
thun nur Zune, und ich könnte es Dir gar nicht
wiedergeben, e8 langt nur fnapp für mid, was ih
verdiene, Du weißt — wegen denen da —” und er
wies auf die Gruppe und die Torjen, die im Mintel
lagen.
„Aber Martin... .”
„Ih thu’s nicht!” unterbrah ihn der andere
heftig. Dann fuhr er nach einer Paufe fort: „Du
bift Schon jo gut zu mir, fümmerit Did um mid),
\hidit den Profefior — das kann ih Dir jo nicht
vergelten, aber — ich dank Dir’s!” Und babei
Ihlug er die Augen zu Boden und jah verlegen aus
wie ein Mädchen.
„Du bift ein fonderbarer Menſch,“ agte Fortunat
fopfihüttelnd. „Ein fonderbarer! Aus Dir wird
man nicht Klug.“
„Wenn ich heut abend abreile, bin ich gerade
morgen zur Leiche da,” begann Heelen, „und allzu:
viel often wird es auch nicht, wenigftens nicht
für mich ...“
„Heut abend wollten wir Dich doch anfeiern,
Du ſollteſt mit in die Künſtlerkneipe kommen, ich
habe es in Deinem Namen verſprochen.“
„Dann reiſe ich ſchon gewiß. Unter Euch ſein
mag ich nicht.“
„Und wenn Du ein großer, berühmter Mann
wirſt, worauf Du doch hinſteuerſt, Martin, willſt Du
Dich dann auch von allem fern halten? Das geht
IV, 32
451 Art zu Art.
doh nit. Darum, je eher Du den Anfang madjlt,
je befler ift es.“
„Sb geb nidt unter Euch,“ wiederholte
Martin verftodt. „Laßt mich nur arbeiten, weiter
verlange ich nichts vom Leben.” —
Sie gingen auseinander, aber es war merl:
würdig, wie Fortunat von dem Sinnen über den
Charakter jenes Mannes feftgehalten wurde, den er
„Freund“ nannte, und den er jo wenig Eannte, jo
gar nit zu beurteilen vermochte. Bei aller Un:
bildung blieb er ihm ein Buch mit fieben Siegeln,
und er ahnte nur, daß Riffe, Tiefen und Untiefen
dahinter verborgen fein könnten, die dem fühnen
Entdeder mande Überrafhung bereiten würden.
Sollte er es werden? ine Neugier begann fidy in
ihm zu regen, der er gar nicht Herr zu werden ver:
mochte, die ihn in tiefes Grübeln verftridte. Wer
würde biefen Charalter ergründen, barmonijcher
geftalten? Ein Freund oder ein Weib! Er wußte
es nicht. —
Viertes Kapitel.
Ein feiner Regen hing wie ein Schleier in der
Luft und hüllte in einen zitternden Nebel die Gegend,
durch die Martin Heelen feinem SHeimatsdorf zu:
Schritt. Aber fein Falfenblid drang über die be:
waldeten Höhen hinaus, zu den Kuppen der Berge
hinauf, und was er nicht mit feinen leiblichen Augen
eben konnte, das jah er ebenjo jcharf und deutlich
mit feinen geiftigen.
Wie lange war es jchon her, daß er dies alles
verlaffen und in die Fremde gegangen war, dem
halb unbewußten Drange in jeiner Bruft folgend,
der mädjtiger war als alles andere.
Neun Zahre! — Eine lange Zeit der nimmer
taftenden Arbeit, des erbittertften Kampfes um des
Lebens Nahrung und Notdurft, des zäheiten Be:
Darrens auf dem, was nun einmal jein Leben aus:
madte. Neun Jahre — in denen er eine andere
Armut Tennen gelernt hatte als bier in diefem Dorf,
und von benen er boch feine Stunde hätte mifjen
mögen.
Wie fremd ihn alles anmutete, und doch wieder
wie vertraut, je mehr er heimmwärts fam! Die
dunklen Tannenmwalbungen, die jegt unter dem feinen
Stegenflor einen filbernen Schimmer annahmen, die
Matten mit dem eriten faftgrünen Frühlingsichimmer,
die einzelnen Gehöfte und ab und zu ein Kirchturm
oder ein Kapellden, die da und bort aufragten.
Martin Heelen blieb ftehen und jahb fih um; er
jog die reine frilche Lenzluft in Träftigen Zügen ein,
während er fi die Näfle aus dem Geficht wilchte,
aber das alles war ihm dody nur wie ein Wandel:
bild, das nichts mehr mit feiner Seele verknüpfte.
An diefem Abhang da hatte er feine Schafe
und Ziegen gehütet, die der Reichtum des gejamten
Dorfes waren; Stöde in die Ameijenhaufen geftedt und
dem wilden Treiben der aufgeicheudhten leinen Be:
wohner zugejehen. Wie deutlich er fich daran erinnerte!
Roman von H. Schobert.
452
Dbhne die Augen zu jchließen, jah er heute noch jedes
einzelne Tieren vor fih — mie fie durcheinander:
liefen; er hätte es Sofort zeichnen Fünnen. Und
dann fiel ihm ein, wie FMläglich fein erfter dar:
ftelender VBerfuch, der Kampf zwilhen zwei Schäfer:
bunden, gefcheitert war, und mie er fich den Kopf
zergrübelt hatte, was anders jein müßte. Denn
ohne zu verftehen, hatte er doch Fritiiche Augen.
Er war ruhig weitergegangen in feinen Ge-
danlen. Immer mit denfelben gleihmäßigen, lang
ausholenden Schritten. Der enge Rod, der bis an
die Knie ging, fchlug, feucht wie er war, in Hatjchenden
Falten um feine Beine, von bem alten Hut troff
es feucht, und in hellen Berlen hing der Negen ihm
in Haar und Bart. So trat er bei jeiner Mutter ein.
„Srüß Gott, Mutter,” fagte er in dem gleid)-
mäßigen Tonfal, ale läme er eben von einem
Spaziergang heim.
Die Frau am Herde drehte ih um, aud ohne
fonderlihe UÜberrafhung zu verraten, warf einen
etwas jcheuen Blid auf den Sohn, wilchte ihre Hände
an der Schürze ab und reichte fie ihm dann.
„Der Martin! Grüß Gott, das ift jhön, daß
Du kommſt.“
Er ſah ſich ſuchend um. „Wo iſt denn Vater?
A zwei Stunden, dent’ ich), dauert es bis zur
eich'.“
Sie ſtieß ſchweigend die Thür zum Nebenraum
auf, in dem der fichtene Sarg ſtand, mit ein paar
Tannenzweigen bedeckt und zwei dünnen Lichten am
Kopfende, die ängſtlich hin und her flackerten. Das
kleine, zuſammengeſchrumpfte Geſicht des alten
Häuslers bekam in dieſer Beleuchtung etwas Höhniſches,
als mache er ſich luſtig über die eben verlaſſene Welt.
Die alte Frau nahm den kleinen Finger und
wiſchte ſich ein weniges in den Augenwinkeln herum,
ihre groblnocdige, derbe Geftalt, das harte Geſicht
mit dem jcharfen Zug um den Mund ftempelte fie
lonft nicht zu einer Xeidtragenden. Und der Sohn ftand
neben ihr und jah vom Vater auf die Mutter und
wieder zurüd zum Vater. Er wunderte fi, wie wenig
berührt er fid von dem Scidjal derer fühlte, die ihm
doch die nächften auf der Welt waren. Woher fam das?
Hatte die Fremde alles in ihm aufgelogen, was vun
Heimatsgefühl je in ihm gewejen? Xitt feine Kunft
feine Nebenbubler und wären es glei Vater und
Mutter? Fremd fühlte er fih auf einmal, und
ein Froftgefühl lief ihm auch äußerlih den Rüden
herab.
„Sa, ja,” fagte die Alte endlich, „der hat nun
ausgearbeitet! Die Ruh’ tft ihm zu gönnen. Aber
freuen thät’ es ihn do, daß Du gekommen bift,
Martin, wenn er es willen könnte, daß Du ihm die
legte Ehr’ geben will.”
„Warum fchriebt hr mir nidt, Mutter, daß
Bater frank war?”
„Sedaht hatten wir ed wohl mal, aber Du
Eonnteft ihm ja do nicht helfen. Sterben müflen
wir ja alle.”
Der Sohn antwortete nit. Jmmer intenfiver
fah er dem Toten in das Gefiht. Es mußte doch endlich
etwas wie NRührung über ihn kommen, e8 war ju
453
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
454
doch fein Vater, der da lag. Ihn durchzuckte plötzlich,
ohne jeinen Willen, die Erinnerung an Fortunat.
Db der wohl geweint hatte ala man jeinen Vater
begrub? Siderlid. Er war Jo ein feines Bürfchchen,
hatte Gefühle und Empfindungen, die Martin gar
nicht begriff. —
„Martin,“ fagte die Mutter, ihm näbertretend,
in vertraufihem Flüftern. „Halt Du Geld mit:
gebraht? Bei einer ordentliden Leich' giebt es
Kaffee und Kuchen, aber das Geld ift al, und der
Kaffee auch. ch thät’ Deinem Bater doch gern bie
legte Ehre an.”
Er nidte flumm und bolte fein fchmales
Beutelden hervor. Den Gebrauh FTannte er ja,
und den Ehrgeiz der Mutter verfland er auch. Viel
war e8 nicht, was darin war, und er hatte davon
leben wollen bis zur Ablieferung feiner nädhiten
Schnikerei, aber in den Augen der Alten, die immer
nur gewohnt war mit Pfennigen zu rechnen, be:
deutete e8 eine Summe; ihre Augen glänzten.
„Das langt au zu Kuchen,“ fagte fie ftolz, „und
es bleibt noch etwas über.”
„Behaltet das, Mutter.”
Sie nidte und jchüttete die Münzen in Die
bohle Hand. Als fie fie betrachtete, lag etwas
Bieriges in den eingelunfenen Augen, dann ging
fie ihren Borbereitungen nad, mit Stolz im Herzen,
nun niemand nadhftehen zu brauchen.
Martin fam aus der Kammer zurüd, feste fich
an den Tiih in dem Raum, der zugleich Zimmer
und Küche war, und flüste den Kopf in die Hand.
Es war eine bide, jhwere, mit allerlei Gerüchen
durchtränfte Quft in dem Zimmer, die von ftets ge:
Ihloffenen Fenjtern Iprah. Die Zuft feiner Kind:
beit, jeiner Jugend. Er fog fie ohne Widerwillen
ein, fie berührte ihn jogar heimatlich.
Seine Mutter fam hinein und FHleidete fih für
das Begräbnis an. Mit ihrer weiten chwarzen
Schürze, dem weißen, jpigengefäumten ZTajchentud
fam fie fich jehr ftattlid vor. Und dann famen die
Nachbarn und Bekannten, die allmählich die niedere
Stube füllten! Martin jah fie, einen nad) dem andern,
bie er no aus feiner Kindheit fannte, und fie
reichten ihm mit ihren ftunpfen, gleichgültigen Ge:
fihtern, die der Feier angemefjen waren, die [chwieligen
Hände, ohne ein Wort zu jpreden. Auch Frauen
waren da und Mädchen, die er als Kinder gelannt,
die fich jet beimlih in die Seite fließen und ihn
anjahen wie ein Wundertier. —
An langem Zuge Ichritten fie nun dahin, über
die aufgeweichte Dorfitraße nad dem Eleinen, fall
eine Viertelftunde entfernten Friedhof hinaus. Sr
gleihmäßig grauen Echleiern riejelte der Regen nod)
immer berab, nur manchmal trommelten ein paar
Ihmwere Tropfen vernehmlich, mit hohlem Klang auf den
tannenen Sarg, der zwijchen feinen Trägern Ihmwantte.
Keiner |prad) ein Wort, Tein Flüftern oder Schluchzen
war hörbar, nur das taltmäßige Patjhen der großen
Füße auf dem naflen, grundlojen Boden der Straße.
Dann ftanden fie um das offene Grab, in dem
langfam der Sarg verfjhwand, und nun begann
Frau Heelen zu fchlucdhzen, im Verein mit den
andern Weibern. Db fie viel mehr fühlte als jene,
oder ob bie Rinde, die lägliche Sorge und Kümmer:
nis um ihr Herz gelegt hatte, jo hart war, daß fich
fein warmes Gefühl jo recht durchdringen konnte?
Sedenfalls brachte die Sitte dieje Thränen mit fidh,
aber vielleicht lebte doch in ihr noch etwas Wärmeres,
das gebieteriich fein Recht verlangte; fie vergaß das
weiße Talchentuh und fuhr fi mit dem Zipfel ber
ſchwarzen KRamelottihürze über Auge und Naje, als
bätte fie ihr gemwöhnliches Werktagszeug an.
Dann faßen fie wieder allefamt in der Stube,
in der eine Verwandte inzwilchen hantiert und alles
feierlid angerichtet hatte. Den Kaffee und Kuchen
für die Frauen, Bier und Schnaps für die Männer.
Es ging heut eben hoch her bei der Witwe Heelen.
Sie jaß auf dem Ehrenplat und überfah mit ftolzem
Bid ihre Säle. Daß fie einen fo opulenten
Leihenihmaus geben Tonnte, erfüllte fie mit ge-
rehtem Stolz. Ihren Mann im Grabe mußte das
nod) mitfreuen. Sie jahb von einem zum andern
und bemerkte, daß fih alle Augen auf ihren Martin
richteten, zu dem eben der Schneiber jprad:
„Das ift reht, daß Du herfommen bift — ehre
Dater und Mutter heißt es jchon in der Bibel —
Dein Alter war ein braver Mann, der es wohl um
Dich verdient hat — wenn ihm auch die Zeit zu
lang geworden ift, bis daß Du was Drbdentliches ge:
worden bift und er drüber weggeflorben ift. Gelt,
Martin — die Kunft, an die Du Dich gehängt haft,
ift Doch eine magere Kuh, Icheint mir,“ und er iniff ein
Auge dabei zu und Jchmunzelte pfilfig, denn er war
der Spaßmader des Dorfes.
Heelen zudie die Achleln. „Davon veriteht Yhr
nichts, Meifter Leitner.”
„Sol da was dran zu verftehen jein? Stramm
von Natur bift Du ja, aber der Rod fommt mir jo
befannt vor, und das Halstuh aud. — Sa, lieben
Leut, die befte Sad’ auf Erden jcheint mir doch das
liebe Geld, und das bat unjer Martin noch nicht
erwiſcht.“
Er goß einen Schnaps hinunter und wiſchte ſich
den Mund mit dem Handrücken ab, ehe er fortfuhr:
„Obgleich ich zugeben muß, daß er ſeinen Vater
wenigſtens ordentlich unter die Erde bringen läßt —
ja, was recht iſt, muß recht bleiben.“
Ein anderer packte ihn freundſchaftlich bei der
Schulter. „Sag, Martin, iſt es nun drinnen in der
Stadt ſo viel ſchöner als bei uns? Ochſenknecht ſein
iſt auch ein Pläſir, wenn man's nur dafür 'anſieht.“
Martin Heeken fuhr ſich mit den Händen durchs
Haar und warf den Kopf in den Nacken. Es war
eine eigentümlich ruckende Bewegung, über die man
ihn auf der Akademie viel verſpottet hatte. „Ich
ſchänd' keinem ſeinen Beruf, aber ich laß mir meinen
auch nicht ſchänden, von niemand, hört Ihr? Meine
Kunſt, die könnt Ihr freilich nicht begreifen, und
Wohlleben hat ſie mir auch noch nicht gebracht, aber
danach frag' ich ja nicht. Arbeiten will ich, ſchaffen,
was ich ſehe und empfinde, das iſt Glück genug für
mich. Und was ich mache, gefällt auch den andern,
mein Profeſſor läßt meine letzte Arbeit ſelbſt auf die
Kunſtausſtellung holen, das heißt alſo: daß er ſie
⏑ — —
455 Art zu Art.
jedem zeigen und jagen will: Seht, das ift gut, das
bat der Martin Heelen gemadt.”
Sie fahen alle auf ihn mit gemilchtem Gelichte-
ausdrud. Wie Hatten fie das, was er ihnen er:
zählte, aufzufaflen? Dazu hatte der Schnaps die Ge:
müter etwas aufgerüttelt. Die feuchten, am Xeibe
trodnenden Kleider hatten die Luft mit atemraubenden
Gerühen durchlegt, fie jchwer und feucht gemadit.
„Ale Achtung!” jagte der Schneider kopfnidend
und jah fih dann in der Runde um, als wollte er
fagen: PBaßt auf, mas jest fommt! — „Aber giebt
Dir denn nun diefer Ruhm und dieje Ehre etwas zu
efen? Du Haft eine alte Mutter, der’s Ausruhn
wohlthut, und müßteft eigentlid) darauf jeßt finnen,
mein Buberl.”
Trau Heelen nidte fill mit dem Kopf, und
wieder jprang Martin dasjelbe entgegen wie damals
Ihon, in feinen Sugendjahren — nicht allein Fein
Verfländnis, nein, inftinttiver Haß gegen das, was
ihm der Güter höchftes Ichien, gegen feine Kunft.
„Daran Tann ich noch nicht denten — jebt noch
nicht — Später wird’s einmal anders werden,” gab
Martin kurz zurüd und fland auf.
„Sa, ftehft Du — Ipäter — Ipäter — jo heißt’s
immer, wenn die Sady’ niit viel nuß ift,” oralelte
der Flügfte Dann des Dorfes. „Da wäre es doc
nun viel befler, wenn Du jet berlommen thäteft,
bliebft in den Häufel bier, hilfft Deiner Mutter die
Arbeit thbun, und wenn Du fonft noch was magit,
da in Sirchenlaibad) möchten fie nern eine neue
Mutter Gottes, und drüben in ZTirichenreuth einen
gefreuzigten Heiland, das Fönnteft Du jchniteln in
Deinen Feierflunden, und es gäbe einen hübjchen
Haufen Geld dafür, damit Du doch auch zeigen Fanntt,
was Du in der Stadt gelernt haft, und dann nähmeft
Du Dir ein Weib . . .”
Die Mädchen in ihrer Ede Ficherten leije auf
bei den Worten, aber Heelen warf ihnen keinen Blid
zu, er hatte die Unterlippe zwijchen die Zähne gepreßt
und fah zornig aus.
„Laßt nur jeden auf jeine Art felig werden, Herr
Leitner,” jagte er kurz und drehte fih um, indem er
ans Feniter trat und fo ber ganzen Stube den Rüden
tehrte. Es lag etwas fchroff Abweilendes in biejer
Bewegung, ein Sicdijolieren, daß jelbfi die bid-
Ihädeligen Naturmeniden das empfanden und
empfindlich wurden.
„So je, fiehft Du aus dem Loch?” meinte der
Schneider mit einem langen Pfiff. „Na, nichts für
ungut, gnädiger Herr! Die Stadtluft fcheint Euch)
ja mädtig Courage gemacht zu haben. — Wenn id
was geblafen habe, was mich nicht brennt, fo that
ich es für die Frau Nachbarin. So ein altes, ein:
ſchichtiges Weibsbild kann einen ja dauern, zumal
fie einen Sohn draußen rumlaufen hat in der Welt.
Aber es fol das lekte Wort gewejen fein, das ich
geredet habe. Wir dummes Bauernvolf verftehen ja
nichts davon.” Der alte Mann war empfindlich, man
ah e8 an der Art, wie er fein Tafchentud) heraus:
holte und es brauchte.
Frau Heelen milchte wieder ein weniges mit ben
Roman von H. Schobert.
456
en in den Augenminleln herum, aber fie jagte
nichts.
Martin trat an den Tiſch zurück und ſetzte ſich
auf ſeinen verlaſſenen Platz. „Daß mich keines von
Euch verſteht, das weiß ich gut genug,“ ſagte er ruhig.
„Was ich thue, muß ich eben thun, es iſt mir ſo
notwendig zum Leben wie die Luft und das Licht,
ich kann einfach nicht anders. Warum ich ſo geworden
bin, danach müßt Ihr einen anderen fragen als mich.
Aber wenn ich hier einen vollen Tiſch fände, alles,
was mein Herz begehrt, und ich müßte thun wie Ihr
wollt, bei meiner Kunſt aber hungern und frieren,
und alles drangeben, was das Leben ſchön macht,
glaubt Ihr, ich würde mich beſinnen? — Auch nur
einen Augenblick? — Ihr könnt mich ja für närriſch
halten, aber ändern werdet Ihr mich nicht.“
Sie ſchüttelten die Köpfe, aber es lag ſo etwas
Zwingendes in den ruhigen Worten des jungen
Mannes, aus ſeinen Augen leuchtete ihnen ſo etwas
Unbekanntes entgegen, daß ſie ſchwiegen. Imponierte
er Fortunat durch die Kraft ſeines Genies und ſeines
Willens, hier unter dieſen Leuten war es der Geiſt,
der aus der Materie ſtrahlte und ſie ſich dienſtbar
gemacht hatte.
„Ja, die Stadt,“ ſagte der alte Leitner nach einer
Pauſe, die er damit ausgefüllt hatte, ein paar Gläſer
Branntwein bedächtig hinunterzutrinken. „Meine Ev'
darf ſie mir nicht verändern, da halt ich ſchönſtens
Wache. Und ſie iſt auch noch dieſelbige geblieben,
ganz dieſelbige.“
Er ſah auffordernd im Kreiſe herum, ſie nickten
ihm alle beſtätigend zu.
„Die Ev'?“ fragte Martin, und zum erſten Mal
glitt ſein Auge prüfend über den Winkel, in dem die
Weiber und Mädchen zuſammenhockten. „Was thut
die in der Stadt, Meiſter Leitner?“
„Sie iſt in Dienſt bei einer nobligen Herrſchaft,
und im Sommer hat ſie uns beſucht. Ein ſtrammes
Mädel iſt's geworden, mit roten Backen und runden
Armen, daß es nur ſo ein Freud' iſt.“
„Die Ev’ ift meine befte Gelpielin gemwejen,”
lagte Martin und etwas wie verkflärende Erinnerung
huſchte über fein Geliht. „Solltet fie von mir
grüßen, Bater Leitner.”
Der Schneider griff über den Tifh und langte
nah dem Rodfragen Martins, den er jchüttelte, fein
Geſicht ſtrahlte.
„He, Du, geprügelt haſt Du ſie meiſt braun und
blau und an den Haaren gerauft, das iſt mir eine
ſaubre Freundſchaft geweſen. Aber ausrichten will
ich's doch. Ja, die Ev' iſt jetzt eine Feine, Statt—
liche, da wirſt Du ſchauen, wenn Du ſie einmal ſiehſt.“
„Gebt mir ihre Adreſſe in der Stadt, Vater
Leitner, ich kann ſie aufſuchen und ihr Grüße von
Euch bringen.“
„Nichts da, mein Lieber.“ Der alte Mann machte
eine wagerechte Handbewegung, als ſchöbe er damit
eine Sache beiſeite. „Jung und jung taugt nicht zu—
ſammen, weil es eben gerade füreinander geſchaffen
iſt. Und Du haſt ja auch Deine Kunſt, Deine einzige
Geliebte, was ſoll da die Ev' zwiſchen . .. Und dann
kommt ſie wohl noch gar in liederliche Geſellſchaft ...“
457
Martin ladte laut auf. „Mich um Weibsbilder
zu fümmern, babe ich immer noch nicht gelernt, Vater
Reitner. Vielleicht, daß ich mal mit herangegangen
wäre, wenn ich in die Nähe fam, vielleicht auch nicht,
meine Zeit iſt fnapp, und die Kunft wirklich meine
einzig Geliebte. Wenn hr mir die Evo’ grüßt, wenn
hr fie wiederjeht, To ift das auch gerad’ genug, damit
fie fieht, ihr alter Spiellamrad denkt noch an fie.”
Der Leitner fchmunzelte und jchüttelte den Kopf,
was ungefähr fo viel heißen follte als: er hat fie eben
nicht gefehen, das Teufelsmädel. —
Die Bäfte des Leichenfchmaufes hatten fich entfernt,
Frau Heelen hantierte unter dem unaufgewajchenen
Gelhirr mit geihürzten Rod umher, Martin ward
es almähli, ale müfle er erftiden. Auch das Zu:
faımnmenfein mit der Mutter drüdte ihn. Sie fragte nad)
nichts und wollte von nichts wijen. Wenn er fi
auch fagte, daß es zumeift Unkenntnis ihrerjeits
war, was fie jchweigen ließ, fo fühlte er doch aud)
einen gewillen verftedten Groll heraus. Das Projekt,
das der Schneider berührt hatte, war vielleicht nicht
nur fo von ungefähr erwähnt, fie hatte fich damit
Mil boffend getragen, e8 nur der Zunge eines dritten
überlaflen, daß er e8 berühre.
fur; und bündig gemweien, jeden Gedanken im Keim
erftidend. Aber fonnte er denn anders? Und wenn
man ihm goldene Berge geboten hätte, nichts würde
ihn gehalten haben. Witende Sehnjuht nach jeinem
fahlen, einfamen Atelier befiel ihn auf einmal, nad)
der Gruppe, die dort ftand, ein Teil feines Selbft
verlörpernd.
Troß des Vegens ging er hinaus ins yreie,
wanderte die Dorfitraße hinab, die Hände in den
Talhen, das Haupt unbededt. Nein! Hierher ge:
hörte er nicht mehr. — Wie ihm alles jo Elein vor:
fam und jo fremd, jo fremd, daß er fih immer
heftiger in fein Atelier zurüdjehnte. Dort war jeine
Heimat, dort allein.
Als er zurüdtem, dunfelte e8 bereits, und Die
alte Frau jaß einfam an Tiih, die zujammengelegten
Hände im Schoß. Etwas wie Rührung beſchlich
ihn doch, als er fie jo fa.
„Mutter,“ fagte er, fih auf den Til räfelnd
wie in feinen Kindertagen, „tragt e8 mir nicht nad),
daß ih Euch allein lajlen muß. Shr habt hier
Freunde und Befannte genug, die Euch nicht ver:
lafjen werben, bis...“ Er hielt zögernd inne. „a,
einmal muß es doch fommen,”“ unterbrad er fi
zuverfihtlih. „Einmal fommt e8 gewiß, und dann
jolt hr keine Not mehr leiden, habt nur Geduld.”
Sie jah trübfelig zu ihm auf. „Wenn’s gewiß
wäre, Martin!”
„Es tft gewiß, es ift ganz gewiß, Mutter!” Er
wußte nicht, woher ihm plößlich die Überzeugung fam,
hatte Fortunat ihm diefe Siegeshoffnung eingeflößt?
Aber mit abjoluter Beftinimtheit wußte er, e8 würde
jo werden.
„Wenn Du mir nur etwas geben Fönnteft,”“ be-
gann die Alte wieder, „nur ein paar Mark, damit
ih den Kaufmann zahlen könnt’, weißt, Dein Bater
hat viel gebraudt in der Ietten Zeit, und ich bin
auch ein altes Weib, der’s Arbeiten nicht mehr jo flint
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
Seine Antwort war
458
geht.” Sie blickte ihn ungewiß an, der Sohn ftand
ihr eben}o fern wie fie ihm.
„Was ich Tann, werde ich tun, Mutter, die
nächlte Zeit wird es gut gehen, ich habe feine Arbeit
vor und kann fleißig jhnigen, dann freilih ... na,
das liegt noch weit.”
Er feufzte beimlid. Sn Diejer Zeit Hatte er
fleißig ftudieren und modellieren wollen, fich weiter:
bilden, aber er jah ein, daß jeine Pflicht auf jeiten
der Mutter lag und gab es ohne Groll auf. Wenn
er fleißig war, fonnte er ein gutes Stüd Geld ver:
dienen.
„St es ganz fiher, Martin — das mit dem
Geld?” Shre Kleinen, eingefuntenen Augen [dimmerten
ordentlih troß der Dunfelheit, die Verheißung bes
Sohnes hatte all ihren Schmerz weggewildht. Geld!
Das war, Solange fie denken konnte, der Seufzer
ihrer Tage und Nächte geweien, um Gelb war fie
imftande, vieles zu erdulden.
„Sanz fiher, Mutter.”
Mit derjelben Beftimmtheit hatte er eben auch
von jeinem kommenden Glüd geiproden, ohne in
diefem Augenblid daran zu denfen. Aud fie dachte
nit mehr daran. Was er ihr damit veriprad), war
etwas Unbelanntes, nicht zu Meflendes, aber das
Geld, das er ihr Ihhiden wollte, das gehörte zu dent
Greifbaren, Verftänblichen.
Auf der fchmalen Dfenbant, mit ein paar Betl-
ftüden aus der Zade des Vaters, bradte er dann die
Naht zu, im tiefen, traumlofen Schlaf der Jugend,
und doch atmete er auf, als er das Dorf im Rüden
hatte und in den fühlen, morgenblihen Frühnebel
binausging, feinem Streben und Schaffen entgegen,
feiner Welt, die er fi geihhaffen mit der ganzen
Kraft, der ein Menjch fähig ift.
Fünftes Kapitel.
Miß Maud Winter war feit adht Tagen im
Haufe des Profeffor Duenjel. Daß fie inzwifchen mit
den Bewohnern desjelben auf einen fehr vertraulichen
Fuß gelommen mar, konnte niemand behaupten. Es
lag Ihon nicht in ihrer ganzen Art und Weile, fich die
Leute allzu nahe fommen zu laffen, und auch Quzie
hatte eine gemwiffe Unliebenswürdigfeit von Anfang
an gegen fie herausgelehrt, jeitbem fie gejehen, daß
die junge Amerilanerin fie in al und jedem um ein
Bebeutendes überragte. Maud war groß und fchlant,
faft etwas zu jchlank, aber gerade das gab ihr eine
unvergleichlich vornehme Eleganz. Auch Luzie hatte
eine elegante Figur und war bisher fehr ftolz darauf
neweien, wie fam es nun, daß fie neben Maud troß:
dem nicht recht auffam?
„Ihre Toiletten machen eg — einzig und allein
ihre Toiletten! Das Ausländiihe, das ihr anbaftet
und in das hr natürlich alle vergafft jeid,” behauptete
fie zornwütig gegen ihren Bruder. „Sch natürlich,
ich lafle mir davon nicht imponieren.”
„Weiß nicht, ob es nur das ift, Zuzie.” Emil,
den man nur raudend jah, paffte feiner Schwelter
459
eine ganze Wolfe in das Gelicht, ohne fich deshalb
zu entihuldigen. „Sie hat eine forfchere Haltung als
Du, glaube ih, überhaupt etwas in ihrem Wefen,
das diftinguierter wirkt als Dein ewiges PBlappermaul.
Ale Deine Anbeter werden mit fliegenden Fahnen
zu ihr übergehen, dente ich.”
„Wenn fie Deinen Ichledten Geihmad haben.”
Zuzie drehte ihrem Bruder zornig den Rüden, aber
jelbft wenn er fie mit folhen Äußerungen nur foppen
wollte, ihre Rüdwirkung auf das Zujammenleben der
beiden Mädchen ließ fich nicht Teugnen.
Maud Ichien von den gelegentlichen Lleinen
Simpertinenzen ihrer Altersgenojfin wenig zu merfen.
Sie hatte einen großen Kummer in fih zu ver:
winden, der fie mehr mitnahm, als fie es zeigen
mochte, Alleinftehbend in der Welt, mit einem regen
Sinn für alles Schöne und Künftlerifche, batte fie
ihr ganzes Herz an den Gedanken gehängt, dereinft
jelbft eine große Künftlerin zu werden, damit ihrem
Leben Anhalt zu geben.
Gefällige Lehrer hatten fie in diefer Hoffnung
unterftüßt, und da fie ein großes Vermögen bejaß,
völlig unabhängig war, jo war fie in bieje Kunft:
ftadt gefommen mit der feiten Abficht, alles an bie
Erreihung diejer großen Aufgabe zu jegen.
Als Profeſſor Duenjel ihre Malereien, die fie
ihm zur Begutaddtung vorlegte, zum eriten Mal jah,
batte fich feiner eine große Verlegenheit bemädhtigt.
Er bemerkte jehr wohl die minutiöfe Sauberkeit der
Arbeit, die überall peinlich gewahrte Technik, aber
von einer noch jo Kleinen individuellen Begabung
jah er nichts. Das war alles ein wohleinftudiertes
Können, aber auch nichts mehr.
Und Maud faß neben ihm und wartete auf
feinen Urteilsiprud. AZuerft mit Sicherheit, dann
almählid aufmerffam werdend, unruhig, zuleßt
mit einem peinigenden Gefühl der Scham.
Die Viertelftunde, die fie neben diefen prüfen:
den Haren Augen zubradte, war mit unter die
Ihwerften zu rechnen, die ihr das Leben bisher be-
Ihieden. Sie nahm ihr die Hoffnung, jemals etwas
zu werden, zu bedeuten, den Sinhalt, den fie ihrem
Dafein geben wollte — zerbradh ihre Zuverficht, ihren
Glauben an fich jelbit, und wijchte aus ihrer Zukunft
alles Licht und alle Helle, indem fie fie herabdrücdte
in die gemeine Alltäglichkeit.
PBrofeflor Duenfel hatte fehr ſchonend geſprochen,
doh mit al der Deutlichkeit, die er dem jungen
Mädchen Ihuldig zu fein glaubte. Er fahb wohl
ihr Bittern und Erblaffen, aber was er ihr mit
feinen Worten angetban, davon hatte er doch Feine
Ahnung. Freilid würde ihn das nicht verhindert
BR wahr zu jein, fobald man die Wahrheit hören
wollte.
Und dann halte er fie getröftet, daß es doch
immer jehr etwas Hübjches jei, das eigene Heim
mit derartiger Handfertigkeit zu Ihmüden, und daß
fie ja nicht aufhören fjolle mit dem Malen, wenn
e8 ihr nur Vergnügen made, und fie den Ge:
danken aufgebe, eine große Künftlerin zu werden.
Das hatte ihr den Neft gegeben.
der Stimme, indem fie ihm eine lleine, Talte Hand
Art zu Art.
Mit zittern:
Sa et ah ee ar ze en ee ee ——— ———
Roman von H. Schobert.
460
reichte, dankte ſie für ſeine ehrliche Offenheit. „Aber
malen werde ich niemals mehr — nie,“ ſetzte ſie
energiſch hinzu.
„Ach, mein liebes, gutes Fräulein, nur nicht
immer das Kind mit dem Bade ausſchütten, nur
Kompromiſſe machen, Kompromiſſe.“
Sie ſchüttelte haſtig den Kopf. „Nein, Herr
Profeſſor. Entweder — Oder! — Alles Halbe hat
für mich keinen Reiz.“
Sie ging hinaus, und er war im ſtillen un—
ruhig, ob er nicht doch zu hart geweſen wäre. Mein
Himmel, ſie braucht es ja ſchließlich nicht ums Geld
zu thun, wie viele Dilettanten giebt es, die ſelig
und vergnügt ihr ganzes Leben lang bei ihren
Stümpereien bleiben, ja ſogar davon verkaufen. —
Warum war er gegen dieſes hübſche Mädchen denn
ſo ſtrenge geweſen? Nun, ſie hatte einen Ernſt an
den Tag gelegt, einen ſo zielbewußten Willen, auch
das Unangenehme zu erfahren, daß er ſich dem un—
willkürlich gebeugt hatte. Nicht als Dame wollte
ſie von ihm beurteilt ſein, ſondern als ſtrebender
Künſtler, und da war er ihr Wahrheit ſchuldig
geworden.
O, wenn doch Emil eine Ader von dem Ernſt
dieſes Mädchens hätte! Bei dem war alles halb
und haltlos; kein Fleiß, keine Thatkraft, immer nur
ein fortgeſetztes Lotterleben bei großen Anſprüchen.
Wie ſollte das enden! Und doch waren bei aller
Klarheit die Augen des Vaters noch blind, wenn
er ſeinen Sohn beurteilte. —
Aber Mauds ftile Verzweiflung ging ihm doch
nah, obgleich er fie nicht zu tröften wagte, fie jchien
fein Verlangen danadh zu tragen. Wenn er gejehen
hätte, wie fie noch in derjelben Stunde Pinfel, Palette
und Farben in ein großes Paket jchnürte und es
auf den Grund ihres Koffers verbarg, wie weiß und
Ihmal dabei ihr zartes Geficht wurde und die gold:
braunen Augen fi trübten, hätte er wohl noch viel
mehr Neue empfunden.
Aber nun war es einmal gejchehen,; und helben-
mütig verbiß Maud den Schmerz über die zerftörte
lufion, an die ihr Herz fih mit jeder Faler ge:
bängt hatte. — —
Ein mwundervoller Frühlingstag war es. Fall
zu heiß Schon für die Frühe der Zeit. Man glaubte
ordentlich unter der fchwülen, dunftigen Atmofphäre
die Blätter wadhjen, die Blüten fid) runden zu jehen.
Über der Veranda des Profeflor Duenjel hing
noch die rot und weiß geftreifte Markife herab, ob:
gleih die Sonne längit hinter der gegenüberjtehenden
Häuferreihe verijhmunden war, und die Thüren und
Senfter in dem Gartenzimmer ftanden offen, jo daß
beides faft nur einen Raum bildete.
Es war die Zeit des Nachmittagskaffees, aber
der PBrofeflor hatte fi eines leichten Kopfwehs
balber jchon zurüdgezogen, Zuzie empfing in ihrem
Zimmer ihre Schneiderin zu lauger Beratung, an
der fie grundjäglicd niemand teilnehmen ließ, jo lag
nur nod Emil am Kaffeetiich, faul und phlegmatijch
wie er war, im Schaufelftuhl, raudhend, aber die
Zeitung, die er fich herübergelangt, zufammengefaltet
im Schoß, zu bequem, fie zu öffnen.
461 Art zu Art.
FSortunat hatte ein Feines Figürchen vor, dus
er mit gejhhidten Fingern aus Krume formte, und
in dejjen Gelingen er jo vollftändig feine Aufmerkjam:
teit jeßte, Daß es ihm ganz entging, wie Maub auf:
ftand, auf die Veranda trat und fi in einen ber
durcheinander gehobenen Korbfefjel jegte. In läſſiger
Haltung, die Hände im Schoß, blidte fie träumerisch
ind Blaue; mit ihrer lichten Eriheinung im hellen
FSrübjahrskleid, dem feinen Kopfe mit dem dunflen,
nad neufter Mode frifierten Haar, und dem Aus:
drud der dunklen Augen, war fie felbft wie ein
bübjches Genrebild anzufehen.
Fortunat war fertig. Das Figürchen zwijchen
zwei Fingern, ging er um den Tiih herum, eben:
falls auf die Veranda, nicht ohne den hübjchen Ein:
drud, den die Erjhheinung der Ameritanerin in biefem
Augenblid bot, mit einer gewillen Genugthuung in
fih aufzunehmen. Freilih nur mit dem regen Sinn,
ben er für alles Schöne und Anmutige befaß; fein
Herz ftand in bellen Flamnıen für fein neueftes
Modell, und ließ keine andern Gefühle für irgend
ein anderes Menfchenfind neben fih auffommen.
So war er ein fehr ungefährlicher Bewunberer.
„So in Gedanken, Miß Winter?” fragte er
Iherzend, als er fih ungefragt neben ihr niederließ.
Sie wandte ihm nur die dunklen Augen zu,
ohne fih jonft zu regen. „Sch überlege eben, was
ih thun fol,” antwortete fie. „Mit dem nächiten
Dampfer wieder abreilen, oder den Sommer bier
bleiben und Land und Leute etwas ftubieren.”
Er war jo überrafht, daß er ganz vergaß, ihr
jein Heines Machmert zu überreichen, wie er zuerft
beabfichtigt hatte.
„Abreilen? Aber ich bitte Sie — Sie wollten
doch bier lernen, ftudieren ... Sind Frauen jo
wandelbar in ihren Neigungen?”
„Nein.“ Sie richtete fih etwas auf, ihre blafjen
Wangen röteten fich ein wenig und ihre Bruft hob
ih. „Nein, Tönnte ich das, würde ich nicht von
abreifen jprehen. Aber der Profeflor hat mir den
Mut genommen. Was ich Talent nannte, nannte
er Fleiß, und mit Fleiß allein fann man nicht das
erreihen, was ich wollte.”
„Sind Sie fiher, daß Sie ihn nicht falfch ver:
ftanden haben? Daß Sie feinem Urteil gegenüber
nit unberedhtigt empfindlich gemwelen find? Sehen
Sie, wir Schüler dürfen das nicht.”
Sie lächelte melandoliih, legte die gefalteten
Hände auf die Brüftung der Veranda und flüßte
das Kinn darauf. So fah fie ihn nidt an als fie
ihm antwortete.
„Davon bin ich weit entfernt. Jh wollte ja
arbeiten, fleißig jein mit allen meinen Kräften.
Sch dürftete danad, mein LXeben zu beleben, indem
ich es der Kunſt weihte. Ich bete die Kunft an.
Sie erſcheint mir das einzige Große, Verſöhnende
in unſerm kleinlichen, armſeligen Daſein, ihr wollte
ich mich ganz weihen. Aber ſie iſt ſo ſpröde, ihr
läßt ſich nichts abringen. Wahllos erteilt ſie ihren
Gottesfunken, manchem, der gar nichts damit an—
zufangen weiß, giebt ſie ihn, während ſie an anderen,
die ſich danach ſehnen, achtlos vorübergeht. Von mir
Roman von H. Schobert.
462
hat ſie nichts wiſſen wollen. Es hilft nun nichts,
ich muß mich darin fügen.“
Fortunats warmes Herz war ſofort wieder wach
und auf ſeiten der Klagenden.
„Wollen Sie dem Profeſſor ganz allein ver—
trauen? Vielleicht fragen Sie doch noch einen andern,
eine Koryphäe im Malen.“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein. Wenn ich ehr—⸗
lich ſein ſoll, ich habe es geahnt all die Zeit hin—
durch, wenn ich mich abmühte und plagte. Da war
immer etwas in mir, das ſagte: Du biſt keine Aus—
erwählte, laß ab! Aber wer hört denn bereitwillig
auf ſolche Stimme, wenn es ſich um ſein ganzes —
ganzes Glück handelt.“
„Wenn es Ihr Glück war,“ ſagte er, ganz ge—
fangen genommen von ihrer weichen, ſanften Stimme,
„dann thäten Sie unrecht, es aufzugeben. Freude
und Befriedigung können Sie auch haben, ohne
gerade eine große Künſtlerin zu ſein.“
Sie ſah ihm gerade in die Augen, es lag etwas
ſehr Bewußtes und Freies in dem Blick. „Ich haſſe
alles Halbe. Kein Nachtreten würde mir Befriedigung
geben, nur freies Schaffen. Aber ich bin jo talent:
lo8, in nidts babe ip es bis über die Anfangs:
gründe gebradt, und dabei immer dielen heißen
Wunih nah etwas Ganzem, Vollendetem in mir.
Das ift hart.“
Sortunat hatte längit fein findiihes Püppchen
beijeite geitellt und jah intereffiert in das feine, jeßt
jo bewegte Gefidht. „Aljo auch wieder eine Darbende,”
dachte er, „logar eine Frau,” und laut jagte er: „ch
tenne jolde Stimmungen und Gefühle.”
„Sie? Aber nein — Sie find ja ein Künftler.
Der Profeffor jprach mit fo viel Anerkennung von
Ihnen.“
„Bah,“ bemerkte er bitter. „Leichtes Genre!
Vom Augenblick für den Augenblick geboren. Ein
Künſtler von Gottes Gnaden, wie ich ihn auffaſſe,
bin ich nicht. — Aber,“ fuhr er eilig fort, um keine
Höflichkeit herauszuſordern, „wenn Sie auch den Plan
des Studiums aufgeben, deshalb brauchen Sie doch
nicht abzureiſen. Sie ſind ja kaum hier; und unſere
Stadt iſt ſchön, die Umgegend noch viel ſchöner, und
das rege Kunſtſtreben, das hier herrſcht, iſt ſchließ⸗
lich, da Sie Sinn dafür haben, Miß Winter, auch
etwas wert. Noch kennen Sie ja nichts davon. Ich
will Ihnen als Cicerone dienen und denke, Sie
ſollen es nicht bereuen.“
Ihr Geſicht hatte ſich etwas erhellt. „Wenn
Sie mir das verſprechen, Herr Fortunat, das nehme
ich mit Dank an. Noch habe ich allerdings wenig
hier geſehen — aber — es ſcheint mir, als wenn
Fräulein Quenſel keine allzu große Zuneigung für
mich hätte.“
Er lachte hell auf. „Ich will Ihnen keine
Komplimente machen, Miß Winter, aber ſchließlich
wäre es am Ende entſchuldbar. Und Fräulein Luzie
iſt gewöhnt, jeder Laune nachzugeben. Kein Wunder,
da ſie eigentlich nur unter Männern aufgewachſen
iſt, die wenig Einfluß auf einen Mädchencharakter
gehabt haben mögen. Sie iſt ſehr verzogen, ſehr
eitel, etwas boshaft, aber ſonſt aufgeweckten Geiſtes
463 Art zu Art
464
.. Roman von 9. Schobert.
und immerhin ein gutes Mädchen, ich bin überzeugt,
Sie werden jhließlich noch Jehr gut mit ihr fertig.“
„Wenn ich bierbleibe,” fagte Maud und lehnte
fih jegt wieder in den Stuhl zurüd, „dann Hatte
ih mir vorgenommen, da ich jelbft doch nun einmal
hinter dem Zaun ftehen bleiben muß, mich wenigitens
mittelbar doch zur Dienerin der Kunft zu machen.
Ich weiß nicht, ob Shnen befannt ift, daß ich über
genügende Mittel verfüge” — wie einfah und felbft:
verjtändlich fie davon jprahd — „ih möchte nun mit
einen: Teil derjelben jemand die Wege ebenen können,
der alles das beligt, was mir abgeht, und dem das
Schidjal wieder in unbegreiflicher Laune das verlagt
bat, was ih befite. Sold einem hochbegabten
Menfchen helfen, jein Talent fördern zu fönnen, das
würde mich wieder etwas mit meinem Fiasfo ver:
ſöhnen.“
„Vielleicht kenne ich einen ſolchen,“ ſagte er
nachdenklich. Ganz unbewußt hatte er ſein Püppchen
wieder aufgenommen und ſpielte damit, indem er
überlegte, ob es einen Zweck habe, Heeken hier vor
dieſer Dame zu nennen.
„Nun?“ drängte ſie, da ſie ihm das Zögern
anſah.
„Ja, er nimmt nichts,“ ſagte er kläglich. „Nichts
von mir, ſeinem Freunde, noch vom Profeſſor, er iſt
ein komiſcher Kauz.“
„Alſo ein Mann!“ Sie war intereſſiert für
ben Unbekannten durch die paar Worte.
„Wenn Sie mich ehrlich fragen, muß ich ſagen,
er iſt Proletarier durch und durch. Sein Rock hat
Fräulein Luzie Lachkrämpfe verurſacht. Das war
vor drei Jahren, und er trägt ihn immer noch.“
„Wir ſind nicht gewohnt, auf den Rock zu
ſehen,“ unterbrach ſie ihn kurz. „Ich kenne Gentle—
men ganz ohne Rock. Er iſt alſo ein Künſtler?“
„Von Gottes Gnaden.“
„Beritehen wir uns reht,” fagte Maud plöglich.
„SH babe nicht die Abficht, irgend etwas anzulaufen,
das ich vielleicht über den Wert bezahle, wodurch
der junge Mann befonders gefördert wird, aber was
nichts Wejentliches einträgt, denn jold Geld ift bald
verjubelt, verichleudert und madt ihn nur für eine
Meile untauglid und unluftig zur Arbeit. Nein,
das will ich nicht. — ch will einen reich beanlagten
Menidhen von der Sorge ums tägliche Brot auf
Sahre hinaus befreien, ihm Zeit und Muße geben,
fih nad) feiner Neigung auszubilden, und mich dann
an jeinen Erfolgen mitfreuen Tönnen, die doch aud)
zum Teil mein Werk find.”
Sie blidte ihn aufmerfjam an — jein Gelicht
jah etwas betreten aus.
„Mein Freund, dem ih Hilfe wünjchte, it —
wunderlid. Ich glaube, noch hat fein Weib feinen
Lebensweg gefreuzt.”
„Deito befler,” jagte fie ruhig. „Weshalb aber
nennen Sie ihn hren Freund?”
„Sr rettete mir das Leben, ohne mich zu fennen,
aber ohne fih zu befinnen. Wir dürfen ihn über:
baupt nit nad) unjerem Maß nieffen, Mi Winter,
er ilt jo anders... .“
„Kann ih ihn nicht einmal fennen lernen?
Führen Sie mid in jein Atelier. Als Shre Ver:
wandte vielleicht, damit ich einer beileren Aufnahme
fiher bin.”
„Er duldet niemand um fih. Sch Habe mir
den Eintritt bei ihm durch unfäglihe Ausdauer erft
erzwingen müflfen, und — darf ihn mir nicht ver:
herzen.“
Sie lächelte fein. „hr Freund beginnt mich
zu interejfieren. Wie beikt er?”
„Martin Heelen.”
„Der Name ift mir ganz fremd.”
„Das glaube ih wohl. Er wird erft befannt
werben nad) bdiejer Ausftellung, in ber er zum eriten
Mal mit einem größeren Werk vor die Offentlichkeit
tritt. So großartig — jo gewaltig . . . Sch werde
Sie hinführen, dann follen Sie mir fagen, ob ic
Khnen zu viel veriprocdhen habe.”
Sie blidte ihn jet nacdhdenklih an. Wie immer,
wenn er Heelens LXoblied fang, war er heiß und
erregt dabei geworden.
„Entweder ift er oder — Sie ein jelten guter
Menſch,“ Tagte fie endlich mit der fühlen Sadlidh:
feit, die fie leicht annahm, wenn fie über irgend
etwas urteilte.
Fortunat machte ein betroffenes Gefiht. „D,
das glaube ih weniger. Er — er hat mir nur
den Eindrud gemacht, als zeichnete er ſich beſonders
durch Gutherzigleit aus, und ih — ich bin wohl
das, was man bier zu Lande eine ‚leichtfinnige
Haut! nennt. Wie gefällt Ihnen das, Miß Winter?“
Er fah jo hübjch und fchalkhaft in dDiefem Augen-
blid aus, daß fie ihn freundlich anlädhelte. „Recht
gut. — Nach diefer Probe hier. Und ih wünjchte,
Sie würden mein Freund, zu dem ich offen Iprechen
dürfte wie zu einem Bruder. Sch habe nie einen
Bruder gehabt und überjhäße das Glück deshalb
vielleicht etwas. Aber das will nichts heißen, wollen
Sie mein Freund Jein?”
Sie reichte ihm die Ihmalen, jehr zarten Finger,
und er drüdte fie herzhaft, dann plößlich beugte er
ih darauf nieder und füßte fie warm.
Sn Enils dämmernden Halbichlaf fiel Ddiejer
Handfuß wie eine Bombe. Nicht etwa, daß er ihn
gehört hätte, aber er Jah zwildhen dem jchmalen
offenen Lidfpalt hindurch die etwas enthufiaftiiche Be-
wegung, mit der Fortunat dieje ritterliche Huldigung
anbradıte, und nun ftand er fofort auf den Füßen.
Co tadellos er feine Arbeiten fand, fo jehr entzücdt
war er auch von feinem äußern Menjchen, aber er
betrachtete Maud als Mitglied des Haufes, jo quali
ihm zugefallen, und fand joldhe Aufmerkjamfeit For:
tunats einfach anmaßend.
„Nun,” fagte er in feinem gewöhnlichen |pöttifchen
Tonfall, als er, die Hände in den Talchen, zu den
beiden auf die Veranda trat, „Du rafpelfi aber ge—
börig Süßhol; bier. Wird das Miß Winter nicht
langweilig?”
„Wir haben uns nicht gelangweilt,” meinte
Maud leichthin; aber auf ihrem Geliht ftand eine
Wolfe. Sie fonnte Emil nicht leiden und brannte
im ftilen darauf, etwas mehr von Heelen zu hören,
den fie Schon als ihren Schügling betradhtete.
465 Art zu Art.
Aber wieder darauf das Geipräd zurüdzubringen,
daran war fein Gedanke, denn nun fam auch Luzie
und wurde mit ihrem Geihwäß, wenn fie einmal
begann, überhaupt nicht fertig.
„yortunat, Sie müßten mein neues Kleid fehen!
Es iſt entzückend — himmliſch. Ych werde großartig
darin ausſehen, denn es hebt alle meine Vorzüge
ins hellſte Licht. Und, lieber, guter Fortunat, Sie
helfen mir einen Hut ausſuchen, nicht wahr? Sie
haben einen famoſen Geſchmack ...“
„Laß Lex in Frieden,“ brummte ihr Bruder,
„der hat ganz etwas anderes im Kopf als Deine
Toiletten.“
Sie ſah mit einem ſchnellen, ſcharfen Blick zu
Maud hinüber. Welterfahren wie ſie trotz ihrer
Jugend war, beſaß ſie auch ein ſtets reges Miß—
trauen, aber das ruhige Geſicht der jungen Amerikanerin
gab ihr keinen Anhalt, auch Emil nicht, der ebenſo
phlegmatiſch dreinſchaute wie ſonſt. Nur Fortunat
ſchien etwas erregt, trotzdem er ſich ſofort mit der
Verſicherung beeilte, ſtets zu ihren Dienſten zu ſein. —
An demjelben Abend no, als alles zur Nude
gegangen war, Flopfte Zuzie an die Thüre ihres
Bruders. Da er gerade nichts Befleres vor hatte,
jondern, mit den Beinen auf dem Tiih, ganz in
eine Sofaede gebubdelt lag, die unvermeidliche
Cigarette im Munde, rief er fie gnädig heran.
Luzie war jhon im Neglige und zwar, im
Vergleich zu ihrer jonftigen Toilette, in einem ziemlich
reduzierten, was fie indes ihrem Bruder gegenüber
nicht weiter anfocht.
„Welh ein Glüd, daß ih Dich zu Haufe treffe,
Emil,” jagte fie, fi) ohne weiteres auf die Tilchede
neben ihn jegend. „Yh muß einmal jehr ernitlich
mit Dir reden.”
„Du®?” fragte er gedehnt.
Sie ignorierte den Ton; fih mit ihm zu zanten,
danad) ftand ihr Sinn nit. „Haft Du jemals an
unfere Zufunft gedacht?” fragte fie, gleich auf die
Hauptjahe Iozgehend. „Ich muß gejtehen, mich be:
unrubigt das manchmal, wenn ich mir Elar mache,
was kommen muß — fommen wird.”
Emil war jo überraiht, daß jeine Gigarette in
Gefahr geriet, auszugehen. Mit aufgerilienen Augen,
jo weit ihm das möglid) war, ftarrte er feine
Schmelter an.
„Papa ift alt, und wenn er wirklich noch lange
Sabre vor fi hätte, ewig Tann er ja doch nicht
leben,” fuhr Zuzie fort und trommelte mit den
Fingeripigen den Taft auf der Tiihdede. „Dann
fällt fein Gehalt an der Afademie fort, wir beide
erben das Haus hier und ein Jehr geringes Bar:
vermögen, das weißt Du aud. Wir find nun aber
beide verwöhnt, Brüderlein, das Einjchränten würde
uns jehr hart ankommen.“
„Bit Du des Teufels, Luzie, uns zu nacht:
Ihlafender Zeit mit jolchen Sydeen aufzuregen? Wer
fan denn da nachher fchlafen! Mad, daß Du zu
Bette fommit.“
Sie beadhtete feinen Ärger gar nicht, änderte
auch ihre Stellung nit, in derjelben Art fuhr fie
fort: „Daß Du ein großer Künftler bift oder jemals
Roman-Zeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
466
werben wirft, das, lieber Emil, bildet Du Dir wohl
jelbft nit ein! Einzig und allein Papa wartet
immer noch auf ein befreiendes, großes Werk von
Dir, weil Du ja fein Sohn bift, und nennt Faul:
beit, was Unvermögen if. Wir willen das alle
genau. -— Du bift aber faul, weil Du fühlt, Du
kannſt nichts leiſten.“
„Unverſchämtes Balg,“ fuhr er aus ſeiner Ecke
ne „Mac jegt gleich, daß Du binaus kommſt,
oder . . .“
„IH will Dir ja ein Mittel geben, um aus
al Deiner Mifere herauszulommen,“ jfagte fie lachend,
fih gegen feine Hand wehrend. „Das unverfchämte
Balg ift in ihrem Heinen Finger Elüger ale Du in
Deiner ganzen breiten Geftalt. Du jolft Maud
heiraten. Sie ift reih, Du Fannft dann mit ihr
teilen, Dich niederlafien wo Du willit, und fein
Menih wird mehr irgend eine Kunftleiftung von Dir
verlangen.”
Er brummte vor fi hin, jog an jeiner Cigarette
— fo unrecht hatte Quzie eigentli nicht.
„Siehft Du, fie ift Dir ja faktiih aufs Prä-
jentierbrett gelegt,” Emil. Ein bübjches, reiches
Mädchen ohne Familie, was fannit Du Dir mehr
wünjhen. Und ih will Dich bei ihr herausftreichen
fo viel ih Tann, in allen Tonarten Dein Lob fingen.
Ein hübſcher Menſch biſt Du doch aud, warum jollte
ſie wohl nicht ja ſagen?“
Emil hatte ſich doch aufgerichtet und die Beine
vom Tiſch gezogen. Ihm leuchtete die Sache ein.
Merkwürdig, daß er ſelbſt noch gar nicht daran ge—
dacht hatte! Freilich, die Weiber ſind ja immer ver—
ſchlagener als die Männer. — Er dachte an den
Handkuß von heut nachmittag, und jetzt erregte er
ihn thatſächlich Unbehagen. Aber mit Lex nahm er
es ſchließlich doch noch auf. Was war denn Lerx!
Dieſes kleine, zierliche Kerlchen, ewig verliebt, ewig
begeiſtert. Die Frauen lieben etwas mehr Körper—
lichkeit und ein ruhigeres Gemüt.
„Nun, Emil?“ fragte ſeine Schweſter, die neu—
gierig in das rötliche, ſtarke Geſicht ihres Bruders
geblickt hatte. „Wie gefällt Dir mein Plan?“
„Du biſt eine ſchlaue Lieſe,“ ſagte er ſchmunzelnd,
griff ſie bein Kopf und gab ihr einen Kuß. „Lobe
mich nur tüchtig. Schließlich verdiene ich es ja. Ich
bin ein ſolider Menſch.“
„Und ein koloſſaler Weiberverächter,“ ſpottete ſie.
„Ach Du! Na ja, ſchließlich wird man's eben.“
„Höre, Milchen, eine Liebe iſt aber der andern
wert, nicht wahr?“ Sie zupfte jetzt an den Spitzen
ihrer Jacke und ſah nicht auf.
„Wenn's nicht zu viel iſt,“ meinte er reſigniert
und ſetzte ſich wieder.
„Ich habe die Abſicht, mir Fortunat feſtzuhalten,“
ſie wurde etwas rot, und ihr Bruder ſtieß einen
leiſen, verſtändnisinnigen Pfiff aus. „Da iſt gar
nichts zu pfeifen,“ fuhr ſie auf und warf den Kopf
in den Nacken. „Wir Mädchen ſind noch ſchlechter
dran als Ihr, wenn wir nicht verſorgt ſind, und
ewig jung bleibt keine. — Fortunat iſt reich, wir
kennen ihn ſeit Jahren, ich ſehe nicht ein, warum
dies Projekt weniger gut ſein ſoll als Deins.“
IV. 33
467 Schwertklingen.
„Fortunat iſt ein liederlicher Kerl, der ſich an
jedes Modell hängt.“
„Deſto beſſer.“
„Deſto beſſer?“ fragte er erſtaunt.
„Deſto lieber wird er ein vernünftiges Mädchen
heiraten, das ihn kennt und tolerant iſt. Wer auf
die Bequemlichkeiten und ſchlechten Inſtinkte von
Euch Männern ſpekuliert, findet immer ſeine Rech—
nung.“
Er ſah fie mit offenem Munde an. „Luzie!“
„Ja, glaubſt Du, ich bin dumm? Ein Gänschen,
das nicht Augen und Ohren aufgemacht hat? Niemand
kann mir das Geringſte nachſagen, und doch kenne
ich das Leben ſo genau, als wäre ich ſchon am Ende
meiner Tage. Fortunat überlaſſe nur ruhig mir.
Nur mußt Du mich nicht vor ihm ſchlecht machen,
wie Du es ſo gern beliebſt, und mußt mich über
Roman von Hans Werder.
168
ſeine kleinen Sünden auf dem Laufenden erhalten,
das iſt alles, was ich von Dir will.“
„Wenn's weiter nichts iſt,“ ſagte er, noch ganz
konſterniert von dem Eindruck, den ihm ſoeben ſeine
junge Schweſter gemacht. „Das verſpreche ich Dir.“
Sie fi:l ihm um den Hals. „Alſo abgemacht.
Bon morgen an bin ih mit Maud Freundin auf
Leben und Tod. Und Tu fei froh, dab ih Dir
feinen andern Schwager zu bringen gedenfe, etwa
jo einen wie Martin Heelen.* Sie late übermütig.
„Sute Radt, Emil, es ift fchon fpät geworden.”
Eie jchlüpfte hinaus. Er murmelte etwas Un:
verftändlihes hinter ihr ber. Sie hatte ihm doc
imponiert mit ihren feden Worten und Plänen, das
hätte er nit in ihr vermutet. Wenn fie hob,
Und die Sade gefiel ihm nicht übel.
| würde die Eadye jhon gehen.
(Kortfegung folgt.)
Schwertiklingen.
Baterländiicher Roman
bon
Dans Werder.
(Hortfegung.)
Ill.
„Rohlig, wollen Sie mir einen Gefallen thun?“
Mit diefer Frage redete Major Schill feinen Lieute-
nant an, als die beiden, von einem Spazierritt zu:
rüdtehrend, fih den Thoren Berlins wieder näherten.
„Herr Major, die Frage Klingt fehr aufregend
Ihrem gehorfamften Untergebenen gegenüber!” war
Haljos Entgegnung. „Womit fan ich dienen?”
„Ih möchte gern den Nücels und Beldeggs
meinen Befuh mahen! Sie fchienen auf jehr ver:
trautem Fuße mit den Damen zu ftehen — und
mir find fie fremd. Darum möchte ih, daß Sie
mid) dort einführten!”
„Sb jol aljo meinen geftrengen Regiments:
fommandeur unter meine j[hütenden Fittiche nehmen !
Brauche mohl nit zu betonen, daß id mich mit
—— dieſer ehrenvollen Aufgabe unterziehen
werde!“
„Spotten Sie nur!“ ſagte Schill lachend. „Sie
bewegen ſich im Salon mit beneidenswerter Dreiſtig⸗
keit! — Das iſt mehr, als ich von mir behaupten
könnte! Wenn Sie die Damen der Paſewalker Ge—
ſellſchaft fragten, ſo würden biejelben Shnen ein:
ſtimmig erzählen, daß ich ſtets nur eine mangelhafte
Rolle bei ihnen geſpielt habe!“
„Herr Major, die Paſewalker Zeiten ſind
vorüber, für Ihre geſellſchaftliche Stellung ſowohl
— —
als für die militäriſche! Daran brauche ich Sie
wohl nicht erſt zu erinnern!“
„Wiſſen Sie denn etwas über die Vorzeiten
meiner militäriſchen Stellung?“ fragte Schill. „Ich
kann nicht ſagen, daß allzu große Orientiertheit
ſeitens meiner Lieutenants hierüber zu meinen be—
ſonderen Wünſchen gehörte!“
„Sie werden ſie aber nicht hindern können,
Herr Major!“ erwiderte Haſſo. „In anſpruchsloſe
Verborgenheit können Sie ſich nicht mehr zurück—
ziehen! Sehen Sie ſelbſt —“ er deutete mit der
Reitpeitſche auf ein paar Schaufenſter zur Rechten
und zur Linken, an denen ſie gerade vorüberritten.
Da prangte das Bildnis des Huſarenmajors ihnen
in jeder nur denkbaren Umrahmung entgegen, ſelbſt
auf Pfeifenköpfen und Porzellantaſſen zierlich ge—
malt, auf Brieftaſchen geſtickt, von Lorbeerkränzen
umgeben. „Sehen Sie ſelbſt — Ihr Bild in allen
Schaufenſtern, und Ihr Name —“
„Hurra, Schill — vivat hoch!“ rief in dieſem
Augenblick jauchzend ein Trupp Studenten, der, die
Mützend ſchwenkend, an ihnen vorüberzog. Eine
Schulkinderſchar fiel freudig ein und trug den Ruf
weiter: „Hurra, Schill!“
„Da hören Sie!“ fuhr Haſſo lächelnd fort.
„Und über populäre Perſönlichkeiten wollen die
Menſchen alles ergründen — Herkunft, Schichſale,
ihren ganzen inneren und äußeren Zuſammenhang
mit der Welt, in der ſie ihre Rolle ſpielen!“
469 Schwertklingen.
„Und dazu gehört aud meine Lieutenants-
Criftenz in Bafewalf?” fragte Schill unmutig.
„Gewiß, Herr Major! Meinen Sie nit, daß
es fiir hr Offizierlorps ganz intereffant fein dürfte,
dDiefe zu Fennen?” Es lag eine gewille heraus:
fordernde Nederei in Hallos Ton, die dem Major
unbehaglich war.
„Was haben Sie denn davon gehört, zum
Donnermetter! Erzählen Sie mir’s doch wenigftens!”
„Nun — daß Sie fi flets im Widerſpruch zu
Shren Vorgejegten befunden haben, auch daß Shnen
der kleine Gamaſchendienſt höchft widermärtig mar
und wie viel Unannehmlichkeiten diefe Abneigung für
Sie im Gefolge hatte!”
„Sie meinen die Arreftftrafen zum Beijpiel?”
unterbrah ihn der Major. „Diele Eure SKenntniffe
find mir allerdings jehr intereffant. Was joll id
denn jagen, wenn hr anfangen wollt, Euch darin
nah meinem Vorbilde zu richten?”
„Das haben Sie, glaube ich, nicht zu befürchten,
Herr Major,” jagte Hallo. „So ganz im unflaren
find wir denn doch nicht über den berechtigten Unter:
ihied, ber da befiebt! Auch Haben wir durd)
Kommißdienft noch nicht viel zu leiden gehabt. Es
wäre undankfbar, wenn wir das nicht anerfennten!“
| „Sreut mid! Sie ftellen mir wenigitens ein
gutes Zeugnis aus!” entgegnete Schill gutmütig.
„Sie willen, daß es von Anbeginn mein Streben
war, ehrgeizigen Eifer, einen wirklichen Soldatengeift
in meinem Regiment beranzubilden — im Gegenjaß
zu der elenden Furcht vor Prügelftrafe, wie fie jonft
in der Armee berrihtee Ob mir das bereits ge
lungen — Sie müflen e8 ja alg Schwadrondef be:
urteilen können!”
„Ih denke wohl, Herr Major,” erwiderte Haflo
zuverfihtlih. „Wir alle find der Anfiht: Wenn
die preußiiche Kavallerie reorganifiert werden fol,
fo wird es nad dem Mufter der Schillihen Truppe
geſchehen!“
„Das iſt ein ſtolzes Wort,“ erwiderte der
Major und es blitzte in ſeinem ſchwarzen Auge auf.
„Wenn Sie als der einzige das ſagten, ſo würde
es mir vielleicht wee Anmaßung klingen! Aber
da auch Oberſt Scharnhorſt eine derartige Anſicht
mir gegenüber entwickelt hat, ſo nehme ich ſie mir
als Ermutigung und als Wegweiſer zu weiterem
Handeln!“
Sie waren bei Schills Hauſe angelangt und
trennten ſich, um dann gemeinſam die beſprochenen
Beſuche auszuführen.
Zu ihrem Bedauern fanden ſie Veldeggs nicht
zu Hauſe. Frau von Rüchel empfing zwar die Be—
ſucher mit allen Zeichen des Wohlgefallens, doch
blieb auch Fräulein Eliſe unſichtbar, und ſie mußten
ſich endlich unbefriedigt entfernen.
„Meine ſchützenden Flügel haben Ihnen kein
Glück gebracht, Herr Major,“ bemerkte Haſſo.
„Schade, nun werden Sie kein Verlangen wieder
danach tragen!“
„Wer weiß!“ antwortete Schill. „So leicht
kann mich ein mangelhafter Start denn doch nicht
aus dem Sattel bringen!“
Roman von Hans Werder.
IV.
Major Schill war im Recht mit ſeiner Zuver:
ſicht. Wenige Tage nach dem erfolgloſen Beſuch
lud Herr von Veldegg ihn und verſchiedene ſeiner
Offiziere, die gleich ihm Beſuch gemacht, zur Tafel
ein. Frau Julie, ſeine älteſte Tochter, wollte in
den nächſten Tagen abreiſen, um mit ihrem Gatten
auf deſſen Landgut Tiefenſee zurückzukehren. Heute
aber empfing ſie ihres Vaters Gäſte als Hausfrau,
wie in früheren Zeiten. Renate ſtand ihr zur
Seite. Von jetzt ab ſollte dieſes wichtige Amt ihr
zufallen.
Unter den geladenen Gäſten befand ſich auch
Frau von Rüchel mit ihrer Tochter Eliſe, und Ludwig
Zürn, der noch immer ſo blond und dürſtig ausſah
wie in früheren Zeiten.
Renate empfing ihn freundlich wie immer, doch
war ſie zerſtreut, beinahe aufgeregt. Heute zum
erſten Mal ſollte der Held von Kolberg ihres Vaters
— betreten und das war ein Ereignis in ihrem
eben.
Jetzt raſſelte es im Hausflur von Säbeln und
Sporen, und die Huſaren traten herein, fünf an
der Zahl. Die Begrüßung war ſehr lebhaft, denn
hier wie überall empfing man die berühmten
Streiter wie bewährte Freunde mit Ehren und Aus—
zeichnung.
Bald ging man zur Tafel. Herr von Schill
führte Julie und hatte Excellenz Rüchel an ſeiner
Linken; ſehr gegen Renates Wunſch, denn ſie
wähnte mit ahnungsvoller Seele, daß ihm dieſe
Anordnung nicht behagen würde. „So wird es
ſpäter nicht wieder gemacht, wenn ich zu ſagen
habe,“ dachte ſie im ſtillen. Sie ſelbſt hatte ihren
Platz zwiſchen Blomberg und dem jüngeren Wedell,
und war es wohl zufrieden. Albert Wedell zumal
hatte ſie unter ihren Schutz genommen. „Der
Knabe“ nannten ihn neckenderweiſe die Kameraden
ſeit jener Anrede der Prinzeſſin Ferdinand, und das
fand ſie ärgerlich. Auch ſie wurde oft als ſo jung
und kindiſch hingeſtellt; die guten Leute täuſchten
ſich, ſo ſchloß Renate ihre ernſten Betrachtungen.
Namentlich beſaß der Schwager eine ganz unan—
genehme Fertigkeit in dieſer Art von Neckerei. Sie
wußte daher, wie unangenehm dieſelbe ſein konnte
und beſchloß, ſich treulich des jungen Wedell anzu—⸗
nehmen. Auch erſchien er ihr keineswegs mehr ſo
knabenhaft. Schlank und kräftig war er gewachſen,
wie eine Fichte aus den pommerſchen Wäldern.
Die hellblauen Augen blickten entſchloſſen und klug
aus dem jugendlichen Antlitz und in ſeinen Reden
äußerte ſich Feuer und Willenskraft. Verwunderlich
erſchien ihr das nicht: er zählte ja auch zu den
Helden von Kolberg.
Haſſo Rochlitz, mit einer ihm fremden und un⸗
intereſſanten jungen Dame als Nachbarin begünſtigt,
ſah an ſeiner anderen Seite Ludwig Zürn und das
ergötzte ihn. Er hatte mit dieſem eine Fehde an—⸗
gebahnt, denn der Muſiker weigerte ſich beharrlich,
ihm zu geſtehen, welcher neue Stern an ſeinem
471 Schwertklingen.
Himmel ihn darüber getröſtet, daß ſeine frühere
Sonne, die ſchöne Julie, ſich anderen Sphären zu—
gewandt. Daß er nicht einmal den Verſuch gemacht,
ſich das Leben zu nehmen, legte ihm Haſſo als die
unerhörteſte Philiſterei aus, ja als kränkend für die
„Sonne“. Vergebens ſuchte der zartfühlende Künſtler
ſich gegen die ungerechtfertigten Angriffe zu wehren,
das Geſpräch vor allen Dingen auf einen geheimnis—
volleren Ton zurückzuſühren. Haſſos Laune ſchlug,
wie ſo oft, in fröhliche Ansgelaſſenheit über und
kannte weder Schonung noch Grenzen. Seine junge
Nachbarin, obwohl ſie nicht immer begriff, worauf
ſich dieſe Flut von Neckerei bezog, kam doch aus
dem Lachen nicht heraus, und bald war die ganze
Tiſchecke in die lebhafteſte Heiterkeit hineingezogen.
Mit einem ſcharf aufmerkenden Ausdruck, wohl:
wollend und zugleich ein wenig tadelnd, beobachtete
ihn der Blick ſeines Regimentskommandeurs. Haſſo
achtete nicht darauf, aber Julie bemerkte es, ebenſo
ihr rechter Nachbar, Lieutenant Bärſch, der Adjutant
und „Quartiermeiſter“ des Regiments.
„Mein lieber Kamerad Rochlitz übertrifft heute
wieder ſich ſelber,“ bemerkte dieſer halblaut zu ſeiner
Nachbarin. „Sie ſollten Ihren Einfluß geltend
machen, gnädigſte Frau, ihm dieſe übertriebene Aus—
gelaſſenheit abzugewöhnen! Sie iſt keine angenehme
Zugabe!“ und ſeine klugen, ſcharfen Augen ſtreiften
mit einem kalten Blick nach jener Richtung hin, wo
Haſſo den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete.
„Seien Sie vorſichtig,“ mahnte Julie lächelnd.
„Rochlitz iſt enfant gäté in dieſem Hauſe. Man
darf nichts gegen ihn ſagen!“
„D — das ift er auch bei uns!” entgegnete
Bärkd. „Ih habe gewiß nichts gegen ihn. Aber
es ift nicht jedermanns Geihmad, diefe ungewöhnlich
lebbafte Art feines Auftretens. Bald ein über:
Iprudelnder Humor, wie zum Beilpiel jet eben.
Dann wieder gelegentlicd) eine unerhörte Schroffheit,
mit der er fich felbft zur Geltung bringt und feinen
Einfluß im Offizierforps ausübt.”
Schill hatte dieje legten Worte gehört, er beugte
ih ein wenig berüber. „Durch diefen Yufaß ent:
räften Sie Shren ganzen Vorwurf, Bär,” Tagte
er leife, doch mit Nadhprud. „Diejes Selbjt, was
er zur Geltung zu bringen pflegt, ift das eines
ganzen Mannes, daraus eben entipringt fein auf:
fallender Einfluß unter den Kameraden. Dafür
jollten eigentlih) gerade Sie Verftändnis haben!“
Jette er freumdlich Hinzu.
„Herr Major, ih gebe mich fchon!” Tächelte
Bärſch. Und fie verftändigten fich über dieje jchon
oft berühtte Streitfrage mit einem Blid über das
erhobene Champagneralas hinweg, welches fie beide
leerten.
Die Tafel ward aufgehoben. Yn dem ftrahlend
erhellten Wohnzimmer blieb die Gejellihaft noch bei:
jammen. Herr von Schill judhte jet einen Plat
an Renates Seite. hre Augen leuchteten auf, als
er fih ihr näherte. „Nun, Herr von Schill, bringen
Sie mir jegt Genugthuung dafür, daß Sie mid)
neulich fo gar arg haben abbligen lafjen?”
Seine Ihmwärmerifhen Jchwarzen Augen blidten
Roman von Hans Werber.
472
fie faft erjchroden an. „Uber gnädiges Fräulein,
welch ein Wort — Sie zürnen mir doch nicht etwa?”
„Rein, nein, leineswegs!” rief fie mit Wärme.
„IH fürdte nur, Sie haben mich neulich allzu über-
Ihmwenglich gefunden und von dem Borwurf möchte
ip mich reinigen! Sie willen nit, wie die Welt
um mich ber ausgefehen hat, ehe Sie lamen, was
in mir vorging — was wir erlebt haben in diejen
zwei Jahren ber Sranzojenplage in Berlin!”
„IH Tann e8 mir lebhaft denlen, gnädiges
Fräulein,” entgegnete er. „Um fo mehr wird es mid)
interejlieren, Näheres gerade von Shnen darüber zu
hören.”
Sie atmete tief auf. Yhre Augen fchauten mit
Ihmerzlih finnendem Ausdrud wie in weite Ferne!
„Sa, Sie würden es mir nahfühlen lünnen, dieje
zwei Jahre in der SKnechtichaft des Feindes! Be:
denfen Sie, wir waren wie abgejchnitten von der
Außenwelt, fein Wort, gejchrieben oder geiprocden,
drang an unjer Obr, als nur das vom Feinde bil:
tierte, oder, jhlimmer nod, dem Feinde huldigend!
Alles, was uns lieb, ehrwürdig, heilig gewelen, warb
beruntergeriffen, verhöhnt, verjpottet. Alles Edle und
Große in der Welt in den Staub getreten, und bafür
Napoleons Glüd und Siegesübermut als Gottheit
vor uns bingeflelt! Das hat man ertragen müffen,
jahrelang! Und fein eigenes Land und Bol ver:
achten gelernt, in der Willfährigfeit, mit der es
Shmadh und Ketten trug!” Sie brad) ab und be
dedte die Augen mit der Hand, von ihrer Empfin:
dung überwältigt. „Und dann famen Sie, Herr von
Schill!” jegte fie nach Eurzer Paufe hinzu.
Schill lehnte fih in den Seffel zurüd.
dann fam ih! Sagen Sie das nit mit biefer
Betonung, Fräulein von Veldegg! Sie bürden mir
damit eine zu fchwere Aufgabe und eine Verant:
wortung auf —“ er ftodte. Es war ihm, als höbe
ih das Schidjal mädtig, fordernd vor ihm empor,
wie eine DBergeslaft, die er auf feine Schultern
heben follte!
„Sa, das weiß ich!” rief Renate triumphierend
auf jeinen unvollendeten Sag. „Eine Aufgabe viel-
leicht, wie felten einem Manne eine größere warb!“
Wie fie jett aufblidte, jah fie Hafjo neben fich
ftehen, an den Fenfterpfeiler gelehnt, den Blid auf
fie geheftet mit jenem Ausdrud, als fei die ganze
übrige Welt für ihn verfunfen und diejer eine Licht:
ftrahl nur feinem Auge nod vorhanden. Als er
dem ihren begegnete, wandte er fih ab und ging fort.
„Ben lerne ich jet auch von einer neuen Seite
tennen!“ bemerkte Schill und fein vielfagender Blid
folgte ihm.
„Sie Ipradhen bei Tiih von ihm?“ fragte Re:
rate ablentend.
„Konnten Sie denn das hören, gnädiges Fräu:
lein? Wir jpradhen do fo vorfichtig leiſe!“
„Ich babe jcharfe Ohren und es interelfierte
mid! Ih jah den unangenehmen Blid, den ber
Lieutenant Bärih ihm zumarf. Er griff ihn an,
nicht wahr?”
„Run — ein Ihlimmer Angriff war es nicht!”
„Und
473
berubigte fie der Major. „Er madte ja reichlich
viel Lärm und das fanı Bärfh nicht leiden!”
„Aber Sie verteidigten ihn?” fragte Renate
dringend.
„Sewißg — darüber fünnen Sie unbejorgt Jein,
auf meinen Rodhlig lafje ih nichts fommen!” Und
er begann ihr zu erzählen, was Rodlit ihm ge:
wejen während der heißen Kolberger Tage, wie er
einst zu ihm gefommen mit dem gefangenen General,
und gar manches feiner tollfühnen Stüdlein, das
fie von Haflo jelber niemals hätte erfahren fünnen.
Atemlos laufchte Nenate und ihre Augen leuchteten
dabei. ES war jedoh ein anderes Leuchten, als
jenes unperjönliche Feuer heiliger Heldenverehrung,
mit dem fie zu Schill aufgeblidt. Diefer empfand
den Unterjhied aufs deutlichite und mit einem ge:
junden Gefühl des Mißbehagens. Für diefe menjc):
lihere Herzenswärme wäre auch er empfänglich ge:
wejen.
Ludwig Zürn näherte fich ihnen jeßt beicheiden
und zögernd. „Gnädiges Fräulein, der Herr Oberit:
lieutenant wünjcht, daß ic Mufit machen joll, wäre
es Shnen ebenfalls —“
Renate erhob fich Schnell und mit freundlichem
Abjichiedsgruß für den Major trat fie an ihres Muſik—
lehrers Seite. „Gewiß wäre es mir ebenfalls!”
wiederholte fie nedend. „Wollen Sie fih freundlich
um die Unterhaltung unjerer Gäfte verdient machen,
jo werde ich Ihnen ſehr dankbar fein, Herr Zürn!“
„Welh ein Glüd für dieje anderen Bälte, daß
Eie fich ihrer endlich” auch erinnern wollen!” be:
merkte jet Hallo, der fih zu ihnen gejellte.
„WBiejo?” fragte fie ralh. „Finden Sie, daß
ih eine jo unaufmerkfjame Wirtin bin?“
„SH Fann es nicht beurteilen!” jeufzte er. „Es
it ja gewiß jehr ehrenvoll, mit unjerem großen Chef
und Kommandeur in Gejellihaften zu gehen, aber
man muß fih dazu mit einem guten Stüd Selbft:
verleugnung ausrüften!”
„Kun hören Sie nur, Herr Zürn, wie er wieder
Ipriht!” jagte Renate mit verhaltenem Lachen.
„Beben Sie ihm ein gutes Beilpiel, wie man fi
als Hausfreund zuvorflommend und Tiebenswürdig
benimmt!”
„Sie meinen, gnädiges Fräulein, daß ich mich
hierzu binlänglich in der Selbjtverleugnung gejdhult
haben müßte?” fragte Ludwig Zürn, und jeine blauen
Augen hingen an ihr mit einem Blid, der flehend
und entjagungsvoll zugleich genannt werden Tonnte.
„Ih meine, daß Sie uns jett alle erfreuen
jollen dur das jchönfte, was Sie uns von Shrem
mufifaliihen Repertoire geben fünnen!” erwiderte fie,
nidte ihm freundlich zu und entfernte fich mit leichten,
elaftiihen Schritten.
Beide jahen ihr nad. Haflo Hatte den Blid
aufgefangen, mit dem Ludwig Zürn feines Herzens
Sehnen jo unabfichtlich offenbart, und die Erkenntnis,
die ihm damit geworden, berührte ihn jeltiam, weh
mütig. „Ludwig — warum haft Du mir das nicht
gejagt! — Wenn ich gewußt hätte, daß Jie es it —
nie würde ich jo barbariich gewejen fein, Di zu
necken.“
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
474
„Warum ſollte ich Dir das ſagen!“ murmelte
Ludwig träumeriſch. „Du haſt ſie ja geſehen, was
fragſt Du dann noch! Wenn Du ſiehſt, daß die
Sonne am Himmel ſteht, fragſt Du auch nicht, wo—
von der Tag ſo hell iſt!“ Damit wandte er ſich
fort, nahm vor dem Flügel Platz und ſpielte, von
Leidenſchaft durchglüht, Melodien aus dem letzten
großen Quintett des Prinzen Louis. Er wußte,
damit rührte er am ſicherſten Renates Herz. Sie
ſaß und lauſchte mit geſchloſſenen Augen. Hinter
ihrem Seſſel ſtand Haſſo. Auch er kannte dieſe
Muſik gar wohl. Und das Liebesleid, das darin
klagte, das todverachtende Heldentum, das darin
pulſierte, durchwogten ihn wie Fieberſchauer. Ob ſie
ähnlich ſo empfinden mochte — ſie, die hier ge—
ſenkten, abgewandten Hauptes vor ihm ſaß, in Sinnen
verloren. Wohin wanderten wohl ihre Gedanken?
Ach, wer in ihrem Herzen hätte leſen können! —
Nachdem Renate ihn verlaſſen, hatte Major
Schill Eliſe Rüchel aufgeſucht. Seine Lieutenants,
die ihr Geſellſchaft geleiſtet, zogen ſich zurück. Ein
warmer Schein von Farbe ging über ihr hübſches
Geſicht, als ſie ihn kommen ſah. Der rührte auch
von menſchlich warmer Herzensſtimmung her. Ferdi—
nand von Schill wich für den Reſt des Abends nicht
mehr von ihrer Seite.
Als die Offiziere ſich empfahlen, ging auch Haſſo
und begleitete wie gewöhnlich die Kameraden zum
letzten, fröhlichen Abendtrunk ins Wirtshaus. So—
bald als möglich aber verließ er ſie und ſuchte ſein
einſames Wohngemach auf, nur um allein zu ſein,
ſeinen ſtürmenden Gedanken Muße und Spielraum
zu gönnen.
Er hatte ſich brennend, ſehnſüchtig auf das
heutige Zuſammenſein mit Renate gefreut, ſo viel
auf dem Herzen gehabt, was er ihr ſagen, ſie fragen
wollte. Und nun war ihm zu Mut wie nach einer
großen Enttäuſchung. Sie war eine liebenswürdige
Wirtin geweſen, für alle gleich. Schill huldigte ihr,
Ludwig Zürn umgab ſie mit anbetender Schwärmerei,
jeder der Kameraden bewunderte ſie, und allen An—
forderungen war ſie gerecht geworden mit Grazie
und Sicherheit. Warum konnte denn nicht auch er
zufrieden ſein? Was bedeutete dieſe glühende Sehn—
ſucht, ſie allein, ganz allein auf der Welt nur für
ſich haben zu wollen? Das Gefühl war ihm ſelber
rätſelhaft, beunruhigend, über jeden Ausdruck quälend.
Und doch war es beglückend, wie er nie bisher im
Leben etwas geahnt noch gewußt.
Es war ſehr ſpät, als er ſich auf ſein Lager
hinſtreckte, doch ohne Ruhe darauf zu finden. Der
ganze Menſch war in ſeinen Lebenstiefen erſchüttert,
ohne eigentlich noch zu wiſſen, was ihm widerfahren.
Die tiefe Liebesfähigkeit ſeines Herzens, die niemals
ſeit frühſten Kindheitstagen rechte Nahrung noch Er—
widerung gefunden und jetzt zu lebendigem Erwachen
gelangte, und die heiße Leidenſchaftlichkeit ſeines
Temperaments vereinigten ſich zu einer Flamme,
die lebenzerſtörend wirken mußte, wenn ſie ihm nicht
zu Heil und Glück gereichen konnte.
Er wußte das alles noch nicht und träumte ſich
endlich in einen leichten Schlaf hinein. Da aber
475 Schwertklingen.
erichien bereits Frige, zu nadhtihwarzer Morgenftunbe,
die Laterne in der Hand, jeinen Lieutenant zum Dienft
zu weden. „SFrige, was läßt Du mid do nidt
Ihlafen!” gähnte diejer, doch fiel ihm noch rechtzeitig
ein, daß der Tönigliche Dienft nicht warten durfte.
D, fol ein grauer, eisfalter MWintermorgen in
froftiger Neitbahn, inmitten ber eintönigen Sreis-
bewegung feiner dienftlichen Thätigfeit, noch dazu in
überwachter, zerftreuter Stimmung — das war fein
Vergnügen, weder für ihn noch für bie feiner
Schwadron zugehörigen Offiziere. Glüdlicherweife
dauerte die Sade nicht lange.
„Was ilt Dir eigentlih, Nohlig?” fragte ihn
Herr von Blandenburg. „Du bift fo verfatert, als
hättet hr die Nacht durchgezgeht! War der Cham:
pagner fo Ichledht, den Euch der alte Veldegg vor-
gejegt hat?”
„Keine Spur! Da kennft Du den alten Veldegg
Ihlecht!” ermwiderte Haffo. „Sehe au nicht ein,
warum Du diefen braven Herrn dafür verantmwortlid
nahen wilft, wenn mi Deine hochintereflanten
Reitinftrultionen nicht mit Begeifterung erfüllen
fönnen !”
„Thue do nit, ale ob Du von mir und
meinen Neitinftruftionen überhaupt etwas bemerft
hättet!” fpottete Frig Blandenburg. „Deine Ge:
danken waren weit bavon entfernt! Wo, mögen bie
Götter willen!”
„Ih zum Beilpiel bin ein folcher Gott!” er:
Härte Blomberg mit Stolz. „In der Wilhelmftraße
waren fie! Das heißt: Sn ber Wilhelmftraße wohnt
nur Fräulein von VBeldegg! Die Adrefle der beiden
andern Holden ift mir unbefannt! Die Schöne Renate
aber wird es hoffentlich nicht fein, die Deine Ge:
danfen zum Wandern gebradt hat? Ilm Himmels
willen, Rohlig, da fämft Du ja unferm Major
ins Gehege!?”
Rohlit Hopfte iym wohlwollend auf die Schulter.
„Ich danke Dir, lieber, befter Junge, Du bift ein
Engel, wenn audh zwar Dein Name mit einem 3
anfängt! Ohne Deine treu gemeinten Warnungen
täme ich über die Hinderniffe auf der Rennbahn bes
Lebens nicht hinüber!” Er ging mit elaftifcher Le:
bendigfeit auf ein anderes Thema über und bald
gelang es feinen launigen Einfällen, die Kameraden
von dem beunruhigenden Gedankenfahrwafler ab:
zulenken.
Wie ein Blitz ging es ihm durch alle Lebens—
geiſter, als er mittags in ſeiner Wohnung einen
Zettel des Herrn von Veldegg vorfand. Er wünſchte
ſein Töchterchen nach der Abreiſe der Schweſter zu
zerſtreuen und deshalb mit ihr die heutige Aufführung
von Schillers Räubern im Schauſpielhauſe zu be—
ſuchen. Haſſo möchte ihnen die Freude machen, ſie
zu begleiten. Sein Eintrittsbillet lag ſchon mit im
Briefe.
Heute abend! In wenigen Stunden alſo ſollte
er ſie wiederſehen! Haſſo ſchwindelte es. Er löſte
haſtig die bereits eingegangene Verabredung für den
Abend, konnte aber doch erſt im Schauſpielhauſe ein—
treffen, als die Vorſtellung bereits begonnen.
Herr von Veldegg und Renate ſaßen allein zu—
Roman von Hans Werder.
476
ſammen in einer kleinen vierſitzigen Loge. „Ich
glaubte ſchon, Sie wollten uns im Stich laſſen!“
flüſterte Renate mit leiſem Vorwurf im Tone, während
der Oberſtlieutenant ihm die Hand ſchüttelte. Einen
anderen Gruß hatte ſie nicht für ihn, nachdem er
ſich ſo faſſungslos auf dieſen ihren Gruß gefreut?
Stumm nahm er den Platz hinter ihr ein. Von
den Vorgängen auf der Bühne ſah und hörte er
nichts. Nur die edlen Linien der zarten Mädchen—
geſtalt vor ihm verſchlang ſein durſtendes Auge, die
weiche Biegung ihres Halſes, die Zeichnung ihres
abgewandten Profils.
„Renate!“ flüſterte er, ſo leiſe, daß ihr Ohr es
kaum vernahm, nur den Hauch fühlte ſie und ver—
ſtand es doch. Kaum merklich bog ſie den Kopf
zurück, ſo daß die zierliche Ohrmuſchel ſich ſeinem
Munde näherte. „Nun?“
„Renate, haben Sie keinen anderen Gruß für
mich, als eine vorwurfsvolle Bemerkung?“
Langſam wandte ſie den Kopf herum, über die
Schulter fort, bis ihr Auge in dem ſeinen ruhte.
„Aber Haſſo!“
Sekundenlang hielt er ihren Blick mit dem ſeinen
gefeſſelt. Wie es darin flimmerte und glühte! Mit
Staunen, wie in eine neue Welt, ſah Renate in die
heiße Tieſe hinein. Ein Schauer überlief ſie.
Als ſie die Augen endlich von ihm losgelöſt
und der aufregenden Scene zwiſchen Karl Moor und
ſeinen Räubern wieder zugewandt, war es ihr, als
müßte ſie ſich erſt mühſam zurechtfinden in der Außen⸗
welt, welcher ſie ſoeben wie durch einen Traum ent:
rückt geweſen.
Haſſo aber ſaß hinter ihr geſenkten Kopfes und
machte ſich's klar, daß er fih beberrihen, zufammen-
nehmen, daß er fehr vernünftig ſein müßte, wenn
er nicht ſeines Lebens Glück in der Wurzel ſchon
gefährden wollte. Denn ſeit er Renate jetzt wieder—
geſehen, war es ihm klar bewußt, welche Macht es
ſei, die über ihn gekommen.
Beſcheiden und verſtändig unterhielt er ſich nach
Schluß des erſten Aktes mit Vater und Tochter und
verbarg geſchickt ſeine Ahnungsloſigkeit deſſen, was
ſich auf der Bühne zugetragen. Im zweiten Zwiſchen—
akte erhob ſich Herr von Veldegg und ging, um in
einer der benachbarten Logen Bekannte zu begrüßen.
Sogleich lockerte ſich ein klein wenig der Zwang, mit
dem ſich Haſſo im Zaum gehalten.
„Renate, wiſſen Sie, daß Sie geſtern kein Wort
mit mir geſprochen haben?“ fragte er in vorwurfs—
vollem Tone.
Wieder wandte ſie den Kopf nach ihm hin, doch
diesmal raſch und mit ſchelmiſchem Lachen. „Aber
Haſſo!“ ſagte ſie.
„Ihr gütiges ‚Aber Haſſo‘ kann mir gar nichts
helfen! Bitte, haben Sie die Gnade, meine unter—
thänige Frage zu beantworten.“
Die glatte weiße Stirn krauſte ſich gänzlich un—
gnädig. „Weshalb denn? Ich liebe nicht examiniert
zu werden!“ und fort wandte ſich das Köpfchen, dem
übrigen Zuſchauerraume zu.
„Renate,“ bat Haſſo leiſe, „aber nicht wahr,
wenn ich Sie ſehr bitte, dann antworten Sie mir?“
417 Schwertklingen.
Ein Etwas von mutwilligem Stolz kämpfte in
ihr mit dem Wunſch, ſeine Bitte zu erfüllen. „Haſſo,
wiſſen Sie, daß Sie ein recht anſpruchsvoller Menſch
geworden ſind?“ fragte ſie ausweichend.
„Nein, Renate,“ erwiderte er lebhaft. „Ge—
worden — nicht; ich war es immer! Ich war immer
ein anſpruchsvoller Menſch! Und daß mir das Leben
mein großes, dringendes Begehren niemals erfüllte,
das hat mich immer unbefriedigt und unglücklich
gemacht!“
Renate wurde nachdenklich bei ſeinen Worten.
Es war richtig, was er ſagte. Schon als ſie ihn
kennen gelernt, den trotzig und einſam ſeinen Weg
durchs Leben ſich bahnenden Jüngling, da war er
weder ſchüchtern noch anſpruchslos geweſen, ſondern
voller Stürmen und Sehnen, voll bewußter An—
ſprüche, die damals zu ſeiner Stellung und Perſön—
lichkeit im Widerſpruch geſtanden. Jetzt nicht mehr!
Damals ſtanden auch die tiefen, ſchwermütigen Augen
im Widerſpruch zu ſeiner Perſönlichkeit und dem
kleinen, mageren, unternehmenden Geſicht. Jetzt —
ſie wandte plötzlich raſch und ſorſchend den Blick ihm
zu. Nein, jetzt nicht mehr! Jetzt war dieſer Mann
ein fertiges Ganze.
„Haſſo, welches iſt der große Anſpruch, den Sie
an das Leben ſtellen und der Ihnen bisher uner—
füllt geblieben?“ klang ihre Frage ernſthaft und
dringend.
Er ſah ihr ſekundenlang in die Augen und ſenkte
dann die langen, dichten Wimpern. „Ein einziger
Menſch — dem ich alles in der Welt ſein kann!“
Er ſagte es ruhig, doch bebte in der Tiefe die
verhaltene Leidenſchaft. Wieder fühlte Renate den
geheimnisvollen Schauer, als pochte eine fremde, un—
bekannte Hand an ihres Herzens Thür. Heiß wallte
der Wunſch in ihr auf, die Thür zu öffnen, weit
— weit! —
Wie verſtummt waren ſie beide. Und dann
kehrte Herr von Veldegg zu ihnen zurück. Die Zwie—
geſpräche hatten ein Ende.
Spät abends, nah Schluß des Schaujpiels, be:
gleitete Haffo den Oberfilieutenant und jeine Tochter
bis zu ihrem Haufe. Dann fehrte er in fein Eleines,
einjames Quartier zurüd. Still war es in den
Straßen und dunkel. Droben am jchwarzblauen
Himmel aber funfelten die Sterne in unermeßlicher
Herrlichkeit. Und nicht groß und nit weit genug
erihien ihm das Firmament mit jeinen Sternen,
alle die Sehnfudt, alle die Seligfeit zu umfallen,
die mit ihrem erften heiligen, allgewaltigen Empfin-
den jeine Bruft erfüllte.
V.
Haſſos fernerer Verkehr in dem Veldeggſchen
Hauſe erfuhr eine Einſchränkung, auf welche er nicht
gerechnet hatte. Da nämlich Renate keine mütterliche
Beſchützerin beſaß außer Mademoiſelle, welche als
den Anforderungen nicht genügend betrachtet wurde,
ſo hatte der alte Klaus den Befehl erhalten, jed—
Roman von Hans Werder.
478
weden Herrenbeſuch abzuweiſen, ſobald der Oberſt—
lieutenant nicht zu Hauſe. Für Haſſo war nicht
nur keine Ausnahme geltend gemacht, ſondern ſein
Name ſogar unter den Abzuweiſenden beſonders be—
tont. Er erfuhr dies von Klaus und war wütend,
ſah jedoch ein, daß er am beſten that, ſeinen Grimm
ſtill in ſich zu verſchließen und gute Miene zum
böſen Spiel zu machen. War dann der Oberſtlieutenant
zu Hauſe und ſein Beſuch angenommen, oder auch
erbeten worden, ſo faß Mademoiſelle als Wächter
in Renates Nähe mit einer Gewiſſenhaftigkeit, die
nad Hafjos Meinung einer befieren Sade würdig ge:
wefen. Außerhalb ihres ftreng gehüteten KHeims
aber traf er Renate oft genug, um fi für die Ent:
behrung entihädigt fühlen zu fönnen. Im Rüchelſchen
Haufe, wo er viel verkehrte, begegnete er ihr, im
Theater und auf den zahllojen Felten, die biejer
Winter mit fih brachte.
Major Schill und fein Difizierlorps waren auf
denjelben nad wie vor der Gegenitand allgemeiner
Huldigung. Mit fagenhaften Ruhme ward Scills
Name ummoben. Alles jauchzte ihm zu, wo er fi
zeigte, jeder pries fich glüdlich, den Helden erbliden
zu dürfen, der von ber Gottheit beftimmt jchien,
der Netter des Baterlandes zu werden. Die Damen
riffen fi darum, feinen Eäbel berühren zu dürfen,
die unglüdlie geflüchtete Erbprinzelfin von Heflen
ließ ihren tleinen Sohn malen, mit diefem „Schille
Schwert” in der Hand, das ihm jein Erbe wieder
erobern lollte.
Und er ging Jhliht und fill Hindurdh unter
al dem beraufhenden Weihraud. „Man madt zu
viel aus mir!” Symmer wieder Iprah er e8 aus,
und feft wie Eifen ftand in feinem Sinn die treu:
berzige, mannbhafte Bejcheidenheit, in der er fich jelber
befler beurteilte, al$ die Menge es that.
Und dod), wenn er es immer wieder hören mußte,
daß er, und er allein der Befreier Preußens, der
verheißene, erjehnte Retter jei, dann wälzte jih auf
feine Seele wie Gentnerlaft die Frage: „Sit es
Teigbeit, daß ich mich zu Ihwah dünte, dem Vater:
lande zu helfen? Willen die anderen es befler als
ih, wozu ich berufen und befähigt bin? Sit es
meine Pflicht, hervorzutreten und die Ketten zu zer:
breden, in denen wir alle ſchmachten?“ Ach, wer
ibm eine Antwort auf bdiejfe Fragen hätte geben
fönnen!
Die einzige unter all diejen vaterländijch gefinnten
Frauen, welche nidt zu viel aus ihm machte, welche
nicht feinen Heldenruhm vergötterte, fondern den
braven, liebenswürdigen Mann in ihm jah, mit dem
treuen, warmen Herzen und den jchwärmeriichen
Augen, das war Elife Nücdel. Und zu ihr floh
er von den beängftigenden Weihraucdhwolfen hinweg,
wie aus heißer, bevrüdender Lampenluft zu herz:
erquidender Waldesfriihe. Sie würde ihn lieben
um feiner felbft willen, auch im Arbeitstittel, ohne
den berühmten Eäbel, ohne den Majorsrang und
den Verbienftorden mit der Perlenfrone, das fühlte er
mit beglüdender Gemwißheit. Und jeine Dantbarteit
ging über in tiefe, bingebende Neigung. Schon
ging der geräufchvolle Berliner Winter dem Ende
479 Schmwertklingen.
zu — da fragte Schill die Auserwählte feines Herzens,
ob Jie fein ungemiljes Soldatenlos mit ihm teilen,
ob fie für Leben und Sterben, für Glüd oder Unter:
gang die Seine werden wollte —- und ftols und
freudig legte fie ihr Lebensfchidjal in jeine Hände.
Schill hatte fih verlobt! Und es gab ein
fterbliches Mädchen auf Erden, das ein foldh über:
irdiiches Glüd ertragen konnte? Das nicht zufammen:
brady unter der Zaft jo übermwältigender Bevorzugung?
%a, Elife Rüchel trug ihr Glüd erhobenen Hauptes,
in bejeligender Gemißheit, dem Verlobten ebenbürtig
zu jein an Herz und Geele und darum befähigt,
auch ihn zu beglüden!
Am meiften wunderten fich feine Offiziere dar:
über. „Wer hätte das gedacht!” meinten fie. „Eigentlich
machte er doch Fräulein von Beldegg den Hof!
Dies mwunderhüblde Mädchen — wenn man das
nur ahnte — dann hätte man da doch felber jein
Heil verfudhen können!”
„Thut es doch noch!“ mahnte Hafio. „Es
fteht Euch ja nichts im Wege!”
Sein guter Freund Blomberg aber Jah ihn
mit Iuftigem Augenzwinfern von der Ceite an.
„Rein, böre Du! dazu ift mir Deine Freundichaft
zu niel wert, und meine Knochen vor allen Dingen!“
Hafjo büßte e8 nachher, wenn er jelber mit
jolh einem Scerzwort an feines Herzens Heilig:
tum geftreift, dur Stunden qualvoller Unruhe und
Sorge. Wer gab ihm das Recht, mit folder Sicher:
heit die Rivalen herauszufordern? Wußte er denn jo
gewiß, ob ihm auch wirklich beichieden war, wonad)
jeine Seele verlangte?
Bei der inneren Sicherheit und Freiheit, Die
fie bejeelte, offenbarte Renate zmanglos einem jeden,
der e8 begehrte, ihr wahrhaftiges Gefühl, Abneigung
oder Wohlgefalen. Daß niemand für fih eine un:
berechtigte Freiheit daraus entnahm, dafür forgte jhon
der unbemußte Stolz ihrer Haltung. Leider Jah aud
Hallo Hierdurh die Gewißheit Jeiner Hoffnungen nur
wenig gefördert.
Einmal — es war eines Abends in dem galt
freien Rücheljchen Haufe, wo faft fein ganzes Offizier:
forps ich zufammengefunden, richtete Schill die Frage
an Itenate, welcher von dem „Schillihen Korps” denn
nun am meiften Gnade vor ihren Augen fände.
Mit einem ruhigen Blid wanderten dieſe Augen die
ftattlihe Nunde entlang, bis zu den feinen zurüd,
die voll nedender Erwartung auf ihr rubten.
„Den großen Führer natürlich ausgenommen:
Herr Albert Wedel!” antwortete fie mit Sicherheit.
Ein kurzer Lärm von Beifall, Enttäufchung,
Buftimmung folgte dem Belenninis. Albert Wedel,
„der Knabe”, elegant und gejchmeidig wie eine Gerte,
jprang auf und beugte ein nie vor ihr, welche
Danteshuldigung fie niit königlicher Selbftverftändlidy:
feit entgegennahın.
Huflo war es gemejen, als hätte bei dem Rund:
gang ihr Auge einen Furzen, zudenden Moment auf
ihm gehaftet. Länger als auf den anderen? Natürlid)
— er war ja ihr Jugendfreund! D über dieje qual-
vole Ungemißheit! -- Tapfer bemühte er fi, Die
Erregung niederzufämpfen, die jolche Zweifel immer
Nonan von Hans Werder.
den Kopf hin und ber.
480
wieder in ihm heraufbeihmworen, oder fie wenigitens
vor den Icharfen Bliden der Kameraden zu verbergen.
Ganz erfolgreich konnte dies Beftreben freilich nicht fein.
Renate war heute allein bier erjchienen. Ein
unerhörter Fall, da fie niemals jonft ohne Begleitung
ausging. Mademoifelle aber war Trant, und un:
gewöynlih früh jandte der Vater den alten Klaus,
um die junge Herrin abzuholen. Dieje Gelegenheit
tonnte fih Haflo nicht entgehen laflen. Er empfahl
fih Schnell und erwartete Renate auf der Treppe.
„SH babe denjelben Weg wie Sie, Renate,”
redete er fie an. „Wollen Sie mir gütigit erlauben,
Sie zu begleiten?”
Sie fiußte leiht. „Papa wünscht eigentlich nicht,
daß ich Herrenbegleitung annehme! — Aber —”
„Aber —” unterbrad er fie jchnel — „Sie
können mir unmöglich verbieten, zur jelben Zeit wie
Sie über die Linden nad der Wilhelmfiraße zu gehen!
Niht wahr, Renate?“ |
„Rein, das fan ih unmöglich!” betätigte fie
aus tieffter Überzeugung. Und dann gingen fie neben-
einander. Klaus, der eine file Schwärmerei für
den liebensmwürdigen jungen Herrn empfand, dem es
immer einen Stich ins Herz gab, wenn er ihn an
der Thür abmweilen mußte, blieb viel weiter zurüd, als
er eigentlich mit feiner Amtspflicht vereinbaren fonnte,
Hallo bemerkte es wohl. „Das jol Dir unvergefjen
fein, alte, brave Haut!” dachte er bei fidh.
„Wenn Albert Wedel an meiner Stelle wäre,
würden Sie au bier ihm den Vorzug geben vor
mir — und allen anderen?” fragte er.
Sie befann fih ein wenig und wiegte unruhig
„Barum fragen Sie fo,
Hafio! Zh Habe das gar nicht gern!”
Eine heiße Erregung überfam ihn. „Ich möchte
aber fo fein wie Sie’s gern haben, Renate! Ich
weiß es ja, zumeilen bin ich nicht jo, und dann
wenden Sie die Augen von mir fort und find zu
Albert Wedel und zu Schill und allen anderen
freundlicher als zu mir! — Und das ijt fürchterlich!”
„Das bin ich niemals!” erklärte fie mit Be:
ftunmtheit. „Und nur das mag ich nicht gern, Hallo,
wenn Sie jo eimas jagen und wenn Sie nach der
größten Zuftigfeit plöglid fill und finfler werden,
und Zhre Augen foldhen vorwurfspollen Blid be—
fommen, und ich bin mir dod nicht bewußt, Shren
Borwurf verdient zu haben!“
„Und ift Yhnen noch nie der Gedanke gelommen,
woran das liegen Fönnte?” fragte er.
„Bedanken gewiß, aber vielleicht nie der richtige!”
erwiderte fie zaghait.
„Wirtlih, Renate? Wiffen Sie nit, daß es
für al mein Glüd und all meinen Kummer nur
einen Namen giebt, nur einen bis in den Tod?”
Eeine Stimme bebte unter dem Drud mädtig empor:
wachſender Leidenſchaſt.
Renate erzitterte bei dem Ungeſtüm ſeiner Worte.
„Seien Sie ſtill — ich will ihn nicht wiſſen!“
„Nein, nein, Sie ſollen auch nicht! Nur ein
einziges Mal mußt' ich es ſagen! Verzeihen Sie
mir!“
Weiter ſprachen ſie nicht, bis er an der Treppe
481 Schwertklingen.
fih verabfchiebete. Hier erfaßte er ihre Hand und
hielt fie in der feinen fett. „Sie zürnen mir nicht,
Renate?“
„Nein, Haflo, wie follte ih? Bejonders jegt,
wenn Sie fo lieb zu mir find!" Mie weich, wie
innig das Hang! Cr blidte fie fragend, forſchend
an, voll banger Zärtlichkeit. Das matte LTicht der
Slurlampe fiel auf iyr Gefiht und zeigte ihm ihre
Augen, die Karen Tiefen mit dem leuchtenden Stern
darin. Wohl fchimmerte es in ihnen von jehnjüchtiger
Unruhe, und body lag ein Hingebendes Vertrauen in
dem Blid.
„No nicht!” fagte fih Hafio. Er preßte jeine
beißen Lippen auf ihre Hand, flumm, lange. Dann
gab er fie frei, und fie eilte fort, während er ihr
nachſah wie dem Schickſal, deſſen Gewalt fein Leben
verfallen war.
Dritter Teil.
Siebenter Abſchnitt.
Dem Abgrunde zu.
Wabs klirrſt du in der Scheide,
Du belle Elfenfreubet
So wild und ſchlachtenfroh,
Mein Schwert, was klirrſt du ſo?7
Hurra!
„Wohl klirr' ich in der Scheide,
* ſehne mich zum Streite,
echt wild und ſchlachtenfroh,
Drum, Reiter, Mir’ i& jol”
Hurral
L.
Der Winter des Jahres 1809 ging zu Ende,
und ein merkwürdiges Frühlingsjehnen z30g durch die
Melt, ein Allgewaltiges, Aufbäumendes, der Drang
nah ?reiheit, nah Befreiung von dem Weltbe-
zwinger, unter deilen Snechtichaft die Völker jeufzten.
Ofterreih hatte abermals zu ben Waffen gegriffen
und fandte unter Erzherzog Karl ein Heer gegen bie
Scharen des Unterdiüders ins Feld. Doc leider
allein, ohne Beiftand Preußens, welches fih nad)
jeinem tiefen Sal noh nit zu erheben ver:
modte. Das war ein unerträglider Schmerz für
jedes vaterländiih jchlagende Herz in preußiichen
Landen.
Sn Spanien und in Tirol ftand das Voll
auf, für feine Freiheit zu lämpfen. Sollte denn in
Norddeutſchland ſolch ein Auferftehen unmöglich fein?
Sn dem großen, treuen, Traftvollen Norbdeutichland,
das doch jchwerer als alle anderen baniederlag unter
dem Fußtritt des Eroberer. Wenn es wirklich ber
König nicht vermochte — Tollte nicht das Volk aus
eigenem Ermellen fih aufraffen können und bas
Beiden zum Sturm geben?
Männer wie Gneijenau, Scharnhorft, Srolmann
waren e8, die den Mut zu diefem Gebanten in aller
Herzen entfadhten. In Weftfalen, dem Reiche des
„Komödiantentönigs” Seröme Bonaparte, follte der
Aufftand beginnen, Preußen ihn weitertragen, Na:
Roman von Hans Werder.
482
poleon, mit feinem ganzen Heere in Ofterreich be=
Ihäftigt, follte von Frankreich abgejchnitten werden,
und der König von Preußen würde dann — bar:
auf Hofften fie mit Zuverfiht — ihm den Krieg er:
klären.
Für die Ausſührung dieſes Planes, ſoweit er
Preußen betraf, ſah man in Schill den geeigneten
Mann. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, alle
Stimmen nannten ſeinen Namen. Leiſe zuerſt er⸗
tönte der Ruf: „Brutus, Du ſchläfſt?“ Dieſe
Mahnung fand er — von unbekannter Hand auf
Zettel hingeworfen — in ſeinem Zimmer vor. Dann
kamen Sendboten aus Königsberg, aus Kaſſel —
von Oſten und von Weſten, mit klar ausgeſprochenen
Aufträgen und Forderungen. Endlich zweifelte er
ſelber nicht mehr daran: Er war es, der berufen,
* geliebte Vaterland aus der Knechtſchaft zu be:
eien.
Einer der Thätigſten bei den Vorbereitungen
zu dem großen Unternehmen war in Berlin der
Oberſtlieutenant Veldegg. Er ſtand mit Grolmann
und Scharnhorſt in regem Verkehr, und Schill ging
jetzt faſt täglich bei ihm aus und ein.
„Wenn ich nur erſt wüßte, daß es wirklich des
Königs Wille ſei!“ war anfangs des jungen Helden
oft wiederholter Einwand. Doch allmählich ward
auch dieſer zur Ruhe gebracht. „Der König kann
ſeinen Willen nicht kund thun, ohne ſich aufs
ſchwerſte zu kompromittieren! Ihrem erſten Siege
wird die Kriegserklärung als Beſtätigung Ihres
Thuns auf dem Fuße folgen. Keinesfalls aber läßt
der König Sie im Stiche — des ſeien Sie gewiß!“
Durch ſolche Reden und Erörterungen von allen
Seiten grub ſich die Gewißheit feſt in Schills Seele
— und trieb ihn dem Verhängnis entgegen. Nicht
durch ſreien Entſchluß, der aus eigenem Kraftbe⸗
wußtſein zur That treibt und zum Gelingen be—
fähigt, nein — aus der Überzeugung anderer heraus
reifte der Gedanke und die That. Deshalb trug ſie
unrettbar den Keim des Unterganges in ſich. Schill
ging hinein als ein Opfer, unbewußt vielleicht!
Doch nie ward aus ſelbſtloſerem Herzen Leben,
Überzeugung, Glüd und Ehre bingeworfen — frag:
[08 und ohne Zaubern — um dem einen heiligen
Zwede zu gehorchen.
Sept drang die Nachricht zu ihm, daß in Kafiel
der Oberfi von Dörnberg den Aufftand vorbereitete,
welcher zu jeinem Unternehmen Anhalt und Grund:
lage bieten follte. Ein vaterländich gefinnter ZYand-
mann, Namens Romberg, ein zuverläffiger, wage:
mutiger Kundichafter, erichien bei ihm, um Aufträge
und Zufierungen aus Kafjel zu überbringen. Ganz
erfüllt von dieſem erſten Scıitte, der die Aus:
führung ihrer dee förderte, trat Major Schill zu
Herrn von Beldegg herein, um das Nähere zu be:
rihten. Sie hatten eine lange, eingehende Beratung
miteinander und dem einftigen Zieten:Qufaren ging
das Herz auf bei der jo glühend ihm entgegen-
flammenben Kampfesluft diejes ritterliden jungen
Hufarenfübrers.
Yn ihrem Pleinen Erkerftübdden neben dem
Zimmer bes Vaters jaß Renate und hörte jedes
RomansZeitung 1896.
IV. 34
479 Schwertklingen.
zu — da fragte Schill die Auserwählte ſeines Herzens,
ob ſie ſein ungewiſſes Soldatenlos mit ihm teilen,
ob ſie für Leben und Sterben, für Glüd oder Unter:
gang die Seine werden wollte — und ſtolz und
freudig legte ſie ihr Lebensſchickſal in ſeine Hände.
Schill hatte ſich verlobt! Und es gab ein
ſterbliches Mädchen auf Erden, das ein ſolch über—
irdiſches Glück ertragen konnte? Das nicht zuſammen—
brach unter der Laſt ſo überwältigender Bevorzugung?
Ja, Eliſe Rüchel trug ihr Glück erhobenen Hauptes,
in beſeligender Gewißheit, dem Verlobten ebenbürtig
zu ſein an Herz und Seele und darum befähigt,
auch ihn zu beglücken!
Am meiſten wunderten ſich ſeine Offiziere dar—
über. „Wer hätte das gedacht!“ meinten ſie. „Eigentlich
machte er doch Fräulein von Veldegg den Hof!
Dies wunderhübſche Mädchen — wenn man das
nur ahnte — dann hätte man da doch ſelber ſein
Heil verſuchen können!“
„Thut es doch noch!“ mahnte Haſſo. „Es
ſteht Euch ja nichts im Wege!“
Sein guter Freund Blomberg aber ſah ihn
mit luſtigem Augenzwinkern von der Seite an.
„Nein, höre Du! dazu iſt mir Deine Freundſchaft
zu viel wert, und meine Knochen vor allen Dingen!“
Haſſo büßte es nachher, wenn er ſelber mit
ſolch einem Scherzwort an ſeines Herzens Heilig—
tum geſtreift, durch Stunden qualvoller Unruhe und
Sorge. Wer gab ihm das Recht, mit ſolcher Sicher—⸗
heit die Rivalen herauszufordern? Wußte er denn ſo
gewiß, ob ihm auch wirklich beſchieden war, wonach
ſeine Seele verlangte?
Bei der inneren Sicherheit und Freiheit, die
ſie beſeelte, offenbarte Renate zwanglos einem jeden,
der es begehrte, ihr wahrhaftiges Gefühl, Abneigung
oder Wohlgefallen. Daß niemand für ſich eine un—
berechtigte Freiheit Daraus eninahm, dafür forgte jchon
der unbemwußte Stolz ihrer Haltung. Leider ja aud)
Hallo hierdurch die Gemwißheit jeiner Hoffnungen nur
wenig gefördert.
Einmal — e8 war eines Abends in dem galt:
freien Rüchelihden Haufe, wo faft jein ganzes Difizier:
torps jich zufammengefunden, richtete Schill die Frage
an Kenate, welcher von dem „Schillihen Korps” denn
nun am meilten Gnade vor ihren Augen fände.
Mit einem ruhigen Blid wanderten dieje Augen bie
ftattlide Runde entlang, Dis zu den feinen zurüd,
die voll nedender Erwartung auf ihr rubten.
„Ben großen Führer natürlid ausgenommen:
Herr Albert Wedel!” antwortete fie mit Sicherheit.
Ein Turzer Lärm von Beifall, Enttäufchung,
Zuftimmung folgte dem Belenntnis. Albert Wedel,
„der Knabe”, elegant und gejchmeidig wie eine Gerte,
jprang auf und beugte ein finie vor ihr, welde
Danteshuldigung fie mit föniglider Selbfiverftändlich:
feit entgegennahm.
Hullo war e8 gewejen, als hätte bei dem Rund:
gang ihr Auge einen Turzen, zudenden Moment auf
ihm gehaftet. Xänger als auf den anderen? Natürlich
— er war ja ihr Jugendfreund! D über diefe qual-
volle Ungewißheit! — Tapfer bemühte er fi), Die
Erregung niederzulämpfen, die joldhe Zweifel imnier
Roman von Hans Werder.
den Kopf hin und ber.
480
wieder in ihm heraufbeichworen, oder fie wenigitens
vor den Icharfen Bliden der Kameraden zu verbergen.
Ganz erfolgreich fonnte dies Beftreben freilich nicht fein.
Renate war heute allein bier erichienen. Ein
unerhörter Fall, da fie niemals jonft ohne Begleitung
ausging. Mademoifelle aber war Tranf, und un-
gewöynlich früh jandte der Vater den alten Klaus,
um die junge Herrin abzuholen. Dieje Gelegenheit
fonnte fih Haflo nicht entgehen lafien. Er empfahl
fih Ichnell und erwartete Renate auf der Treppe.
„SH babe denfelben Weg wie Sie, Renate,”
redete er fie an. „Wollen Sie mir gütigft erlauben,
Sie zu begleiten?“
Sie flugte leicht. „Papa wünfcht eigentlich nicht,
daß ich Herrenbegleitung annehme! — Aber —”
„Aber —” unterbrah er fie Ichnel — „Sie
fönnen mir unmöglich verbieten, zur felben Zeit wie
Sie über die Linden nad der Wilhelmfiraße zu gehen!
Nicht wahr, Renate?” |
„Rein, das kann ich unmöglich!” beftätigte fie
aus tieffter Überzeugung. Und dann gingen fie neben:
einander. Klaus, der eine file Schwärmerei für
den liebenswürdigen jungen Herrn empfand, dem es
inmer einen Stich ins Herz gab, wenn er ihn an
der Thür abmweifen mußte, blieb viel weiter zurüd, als
er eigentlich mit feiner Amtspflicht vereinbaren konnte,
Haflo bemerkte es wohl. „Das jol Dir unvergellen
fein, alte, brave Haut!” dachte er bei id.
„Wenn Albert Wedel an meiner Stelle wäre,
würden Sie aud) hier ihm den Vorzug geben vor
mir — und allen anderen?” fragte er.
Sie befann fich ein wenig und wiegte unruhig
„Warum fragen Sie fo,
Hallo! Ach Habe das gar nicht gern!”
Eine heiße Erregung überfam ihn. „Sch möchte
aber jo jein mie Sie’s gern haben, Renate! Ich
weiß es ja, zumeilen bin ich nicht jo, und dann
wenden Sie die Augen von mir fort und find zu
Albert Wedel und zu Schill und allen anderen
freundlicher als zu mir! — Und das ijt fürchterlich!”
„Das bin ich niemals!” erklärte fie mit Be-
ftunmtbeit. „Und nur das mag ich nicht gern, Haflo,
wenn Sie jo etwas jagen und wenn Sie nach der
größten Luftigkeit plöglih fill und finfler werden,
und Ihre Augen joldhen vorwurfspollen Blid be:
fommen, und ich bin mir doch nicht bewußt, hren
Vorwurf verdient zu haben!”
„And ift Shen noch nie der Gedante gefommen,
woran das liegen könnte?” fragte er.
„Sedanten gewiß, aber vielleicht nie der richtige!”
erwiderte fie zaghait.
„Wirklih, Nenate? Willen Eie nit, daß es
für al mein Glüd und al meinen Kummer nur
einen Namen giebt, nur einen bie in den Tod?”
Ceine Stimme bebte unter dem Drud mächtig empor:
wachlender Leidenschaft.
Kenate erzitterte bei dem Ungeftüm feiner Worte.
„Seien Sie fill — ih will ihn nicht willen!”
„Rein, nein, Sie folen au nit! Nur ein
einziges Mal mußt’ ih es Jagen! Berzeihen Sie
mir!”
Weiter jpradhen fie nicht, bis er an der Treppe
481 Schwertklingen.
ſich verabſchiedete. Hier erfaßte er ihre Hand und
hielt ſie in der ſeinen feſt. „Sie zürnen mir nicht,
Renate?“
„Nein, Haſſo, wie ſollte ich? Beſonders jetzt,
wenn Sie ſo lieb zu mir ſind!“ Wie weich, wie
innig das klang! Er blickte ſie fragend, forſchend
an, voll banger Zärtlichkeit. Das matte Licht der
Flurlampe fiel auf ihr Geſicht und zeigte ihm ihre
Augen, die klaren Tiefen mit dem leuchtenden Stern
darin. Wohl ſchimmerte es in ihnen von ſehnſüchtiger
Unruhe, und doch lag ein hingebendes Vertrauen in
dem Blick.
„Noch nicht!“ ſagte ſich Haſſo. Er preßte ſeine
heißen Lippen auf ihre Hand, ſtumm, lange. Dann
gab er ſie frei, und ſie eilte fort, während er ihr
nachſah wie dem Schichſal, deſſen Gewalt ſein Leben
verfallen war.
Dritter Teil.
Siebenter Abſchnitt.
Dem Abgrunde zu.
Was klirrſt du in der Scheide,
Du helle Eifenfreube?
So wild und ſchlachtenfroh,
Mein Schwert, was klirrſt du ſo?
Hurra!
„Wohl klirr' ich in der Scheibe,
ao fehne mid zum Streite,
echt wilb und ſchlachtenfroh,
Drum, Reiter, Hirt’ id fol”
Qurral
I.
Der Winter des Jahres 1809 ging zu Ende,
und ein merlwürdiges Frühlingsjehnen 309 durch die
Welt, ein Allgewaltiges, Aufbäumendes, der Drang
nah Sreiheit, nach Befreiung von dem MWeltbe-
zwinger, unter defien Knechtichaft die Völker feufzten.
Ofterreih hatte abermals zu den Waffen gegriffen
und fandte unter Erzherzog Karl ein Heer gegen bie
Scharen des Unterbrüders ins Feld. Doch leider
allein, ohne Beiltand Preußens, wmweldes fidh nad)
feinem tiefen Fall no nit zu erheben ver:
modte. Das war ein unerträglicher Schmerz für
jedes vaterländiih Tchlagende Herz in preußilchen
Landen.
Sn Spanien und in Tirol ftand das Volt
auf, für feine Freiheit zu fämpfen. Sollte denn in
Nordbdeutichland fol ein Auferftehen unmöglich jein?
Sn dem großen, treuen, Traftvollen Norddeutichland,
das doch jchwerer als alle anderen daniederlag unter
dem Fußtritt des Eroberers. Wenn es wirklich der
König nicht vermochte — Tollte nit das Volk aus
eigenem Ermejien fih aufraffen können und das
Zeihen zum Sturm geben?
Männer wie Gneilenau, Scharnhorft, Srolmann
waren es, die den Mut zu diefem Gedanken in aller
Herzen entfadhten. In Weflfalen, dem Reiche bes
„Komödiantentönigs” Zeröme Bonaparte, Tollte der
Aufitand beginnen, Preußen ihn weitertragen, Na-
RomansZcitung 1896.
Roman von Hans Werder.
482
poleon, mit feinem ganzen Heere in Öfterreich bes
ihäftigt, follte von Frankreich abgefchnitten werden,
und der König von Preußen würde dann — bat:
auf Hofften fie mit Zuverfihdt — ihm ben Krieg er:
klären.
Für die Ausführung diefes Planes, joweit er
Preußen betraf, Jah man in Schill den geeigneten
Mann. Aller Augen waren auf ihn geridtet, alle
Stimmen nannten feinen Namen. Xeije zuerit er:
tönte der Ruf: „Brutus, Du Schläafit?” Diele
Mahnung fand er — von unbelannter Hand auf
Zettel hingeworfen — in feinem Zimmer vor. Dann
famen Senbboten aus Königsberg, aus Kafjel —
von Dften und von Weften, mit Elar ausgeiprodhenen
Aufträgen und Forderungen. Endlich zweifelte er
felber nicht mehr daran: Er war es, der berufen,
= geliebte Vaterland aus der Knechtichaft zu be:
eien.
Einer der Thätigiten bei den Vorbereitungen
zu bem großen Unternehmen war in Berlin der
Oberftlieutenant Veldegg. Er ftand mit Grolmann
und Scharnhorft in regem Verfehr, und Schill ging
jeßt faft täglich bei ihm aus und ein.
„Wenn ih nur erft wüßte, daß es wirklich des
Königs Wille jei!" war anfangs des jungen Helden
oft wiederholter Einwand. Doh almählih ward
auch diefer zur Ruhe gebradt. „Der König fann
feinen Willen nit fund tbun, ohne fih aufs
fhwerfte zu Tompromittieren! SJhrem erften Siege
wird die Kriegserllärung als Beltätigung Ihres
Thuns auf dem Fuße folgen. Keinesfalls aber läßt
der König Sie im Stihe — des feien Sie gewiß!”
Dur folde Reden und Erörterungen von allen
Seiten grub fih die Gewißheit fett in Schille Seele
— und trieb ihn dem Verhängnis entgegen. Nicht
duch freien Entichluß, der aus eigenem Kraftbe-
wußtjein zur That treibt und zum Gelingen be-
fähigt, nein — aus der Überzeugung anderer heraus
reifte der Gedanke und die That. Deshalb trug fie
unrettbar ben Kein des Unterganges in fih. Schill
ging hinein als ein Opfer, unbewußt vielleicht!
Doh nie ward aus jelbitlojerem Herzen Leben,
Überzeugung, Glüd und Ehre hingeworfen — frag:
[08 und ohne Zaudern — um dem einen heiligen
Bwede zu geboren.
Seßt drang bie Nahriht zu ihm, daß in Kaflel
ber Oberft von Dörnberg den Auffitand vorbereitete,
welcher zu jeinem Unternehmen Anhalt und Grund:
lage bieten follte. Ein vaterländiich gefinnter Land:
mann, Namens Romberg, ein zuverläjliger, wage:
mutiger Rundichafter, erihien bei ihm, um Aufträge
und Zufiherungen aus Kafjel zu überbringen. Ganz
erfüllt von diefem erften Schritte, der die Aus-
führung ihrer dee förderte, trat Major Shi zu
Herrn von Beldegg herein, um das Nähere zu be-
rihten. Sie hatten eine lange, eingehende Beratung
miteinander und dem einftigen Bieten-Qufaren ging
das Herz auf bei der jo glühend ihm entgegen-
flammenden SKampfesluft diejes ritterlihden jungen
Huſarenführers.
In ihrem kleinen Erkerſtübchen neben dem
Zimmer des Vaters ſaß Renate und hörte jedes
IV 3
483 Schwertklingen.
MWort der Unterredung mit an, ungejehen, denn ein
Borhbang verhüllte die offene Thür. Ahr Zuhören
aber geihah mit des Waters ausdrüdlicher Bes
willigung. Der UOberft Beldegg beiaß auf Erden
feinen vertrauteren Freund als jeine Tochter Re:
nate, und er wußte, wie heilig ihr Herz erglühte
für des Vaterlandes Befreiung, wie verichwiegen und
gewillenhaft fie das bedeutungsfchwere Geheimnis be-
wahren würde.
Mit geipannten Sinnen laujdhte fie den Worten,
die Schill dort prah, und ihre Hände falteten fich
in bebender Erregung. Endlich — jetzt endlich —
nahte die große Stunde, da die Helden aufſtehen
würden, Deutſchland zu erlöſen von Knechtſchaſt und
Schmach
O, daß ſie ein Weib war und nicht mitziehen
durfte in den Kampf — das war ihr einziges Leid!
Doch dafür ſah ſie ja die beiden Männer hinaus:
ziehen, die ihr jegt in gewiflem Sinne wie ein Teil
ihres geiftigen Selbft erjhienen: Schill, den Gegen:
ftand und die Verlörperung ihrer patriotifchen Be:
geifterung, und Hafjo, den Freund und Vertrauten
ihres Herzens. Um dieje beiden wob ihre Phantafie
einen Strahlentrang zutünftigen Ruhmes und feierte
fie als die Helden ihrer großen Zeit.
Berauſchend verſchmolzen ſich dieſe Gedanten
mit denen, welche Schill da drinnen bei dem Vater
in Worte kleidete und erfüllten ihr Herz mit Be—
geiſterung und Stolz.
Da ging nebenan die Thür. „Der Herr Lieu—
tenant von Rochlitz wünſchen ſeine Aufwartung zu
machen!“ meldete die Stimme des alten Klaus.
„O — das geht jetzt leider nicht —“ begann
Herr von Veldegg.
Doch der Major fiel ein. „Meinetwegen weiſen
Sie ihn nicht ab, Herr Oberſtlieutenant. Meine Zeit
iſt bald abgelaufen — und überdies —“
„Alſo, ich laſſe bitten!“ ſagte der Oberſtlieu—
tenant, und Klaus verſchwand.
„UÜberdies,“ fuhr Schill fort, „gehört Rochlitz
zu den dreien, die ich in meine Pläne einweihen
muß! Er ſteht mir ſehr nahe und ſein Einfluß im
Offizierkorps iſt ſo groß, daß er mir die Stimmung
desſelben gewiſſermaßen verkörpert!“
Renate jubelte innerlich bei dieſen Worten, die
ihrem Freunde ſo große Bedeutung zuſprachen.
Jetzt trat Haſſo herein, ſie hörte die herzliche
Begrüßung, die ihm zu teil ward.
„Es iſt mir lieb, daß Sie kommen, Rochlitz!“
ſagte Schill. „Ich muß doch einmal eingehender
mit Ihnen über die Dinge ſprechen, welche ich
Ihnen ſchon mehrfach angedeutet! Die Erfüllung
unſerer Pläne rückt immer näher — es kann ſein,
daß wir bereits in einigen Tagen gegen den Feind
marſchieren werden!“
„Herr Major haben den Befehl des Königs?!“
Es klang wie ein Jubelſchrei, ungeſtüm freudig.
Und merkwürdig wirkte die ſekundenlange Stille, die
darauf erfolgte.
„Ich habe den Befehl Seiner Majeſtät nicht,“
nahm darauf Schill das Wort. „Ich kann ihn nicht
haben! Der König kann mir, ohne ſich Napoleon
Roman von Hans Werder.
484
gegenüber zu fompromittieren, folhen Befehl nicht
geben. &8 muß uns genügen, zu wiflen, daß ich
dennoch feinen Willen erfülle!”
Wieder eine kurze, inhaltvolle Pauſe.
„Herr Major — preußiihe Soldaten —”
Er bildete aus dieſem Anfang feinen fertigen
Sat. Was jollte er weiter jagen? Weder Rat nod)
Warnung ftand ihm zu. War aber beides nicht ge:
nügend ausgelprodhen in dem einen Wort: preußifche
Soldaten?
„Ja, preußiide Soldaten!” nahm jegt Herr
von Beldegg mit Lebhaftigfeit den Gedanken auf.
„Mein lieber Rodhlig, Sie willen, au id war
preußilcher Soldat und bin es noch mit jedem Blute-
tropfen, obihon ich leider des Königs Rod nicht
mehr trage. Ich kann Ihnen ſagen, daß es nicht
allein des Soldaten Pflicht iſt, blind die Beſehle zu
erwarten, er ſoll auch auf eigene Verantwortung
handeln können und in großen, beſonderen Mo—
menten Leben und Ehre einſetzen — nicht nur
dem Schwert des Feindes, auch dem Richterſpruch
des Königs gegenüber, um in deſſen Intereſſen zu
handeln!“
„Herr Oberſtlieutenant, ſolche Anſchauungen
ſind mir nicht geläufig!“ erwiderte Haſſo gemeſſen.
„Es Steht mir jedoch nicht zu, meinem Regiments:
fommandeur zu wiberiprechen !“
Shill fprang auf und faßte ihn am Arm.
„Sa, NRohlig, Sie jollen mir widerfpreden! Ydh
babe bier nicht die Abficht zu befehlen, fondern Ybhre
Anficht für mich zu gewinnen. Wie jol ich meinen
Plan zur Ausführung bringen, wenn hr nicht alle
— jeder einzige von Eu — mit dem Herzen zu
mir Steht! — Kinder, ih bin Eu doch mehr als
nur ber NRegimentsfommandeur, ich bin nidt viel
älter als Yhr, meine Offiziere, Jr jeid mir Brüder
und Freunde! Mit dem Tage, wo Ahr anfangen
wolltet, nur als Untergebene meinen Befehlen zu
folgen, hätte das Schillihe Regiment aufgehört das
zu fein, was es ift und bleiben joll!“
Mit faft zärtlihem Drud umfaßte Hallo die
ritterlide Hand, die jo warm nad der jeinen grifl.
„Herr Major, Sie willen, daß jeder einzige von
uns fih mit Ihnen — für Sie — in Hleine
Stüde zerhaden ließe; daß wir alle nur darauf
brennen, von hnen gegen die Franzofen geführt zu
werden! Aber — warten Sie den Befehl des Königs
dazu ab!“
Schill ließ Jeine Hand fahren und begann er:
regten Schrittes im Zimmer auf und ab zu geben.
„3b werde den Befehl befommen! So hören
Sie dobh, was ich Shnen fage! Nur auf ihn
warten — Tann ih nit! Sch muß etwas unter:
nehmen! Ih muß!” Unjer Erfolg wird es dem
Könige ermögliden, mit der Kriegserklärung ber:
vorzutreten! Diejer Erfolg ift aber nur denkbar,
wenn ich ini auf meine Offiziere verlaflen kann,
wie ich e8 in der Kolberger Zeit gefonnt!” Und er
warf aus jeinen Ihwarzen Augen einen zündenden
Blid auf den jchmweigend vor ihn ftehenden Offizier.
*) Schills Wort.
485 Schwertklingen.
Ach, es bedurfte dieſer Mahnung an die Kol⸗
berger Ruhmestage nicht. Haſſos ganze Seele ſtand
in Flammen bei der Ausſicht eines nahenden Zu:
ſammenſtoßes mit dem tödlich gehaßten Unterdrücker.
Aber vor dieſer beſeligenden Hoffnung ſah er einen
unüberſteiglichen Wall: die leider Gottes noch fehlende
Marſchordre des Königs. „Wir ſind dazu da, Ihnen
zu folgen, Herr Major —“ ſagte Haſſo. Den
Nachſatz — wenn es der König befohlen — ver—⸗
ſchwieg er, doch zitterte er gleichſam im Tone ſeiner
Stimme nach.
„Rochlitz, Sie ſind mir unbegreiflich!“ rief
Oberſtlieutenant Veldegg jetzt aufgeregt. „Von Ihnen
gerade hätte ich alles andere eher erwartet als ſolche
vorſichtigen Schulmeiſteranſichten!“
Haſſos Haltung wurde geſchloſſener. „Meine
Anſichten ſtammen aus der Schule des Prinzen
Louis Ferdinand!“ ſagte er mit nur leicht markierter
Betonung.
„Nun hören Sie, lieber Freund, dieſe Schule
werden Sie mir ſchwerlich als eine ſonderlich ernſte
bezeichnen wollen!“ rief der Oberſtlieutenant gereizt
auflachend.
Jetzt flammten Haſſos Augen. „Wenn Sie
daran zweifeln, ſo haben Sie ihn nicht gekannt,
Herr Oberſtlieutenant! Er wünſchte den Ausbruch
des Krieges ſo glühend, daß er die Höllenſcharen
entboten hätte, um ſie gegen Frankreich zu führen!
Und es hätte ihn ein Wort gekoſtet, ſo ſtand er an
der Spitze des Heeres! Ja, wir riefen ihn — und
wir wären alle, alle mit ihm gegangen! Aber er
hatte nur eine Antwort für uns: „Ich bin Soldat
meines Königs!“
Schill warf ſich in den Seſſel und ließ den
Kopf in die Hand ſinken. Herr von Veldegg ſah
den Eindruck, den Haſſos Worte auf ſeinen Aus—
erwählten machten — und er hätte ihn erwürgen
können vor Zorn.
„Glauben Sie etwa, Prinz Louis ſelber hätte
den großen Fehler mangelnden Entſchluſſes und
Zögerns in jenen Oktobertagen nicht bitter bereut?“
„Wie fol er ihn bereut haben,” gab Haflo er:
regt zurüd. „Sein Fehler war das nidt. Er ilt
mit der ganzen Kraft feines Einflujles den Urhebern
diefes Zauderns entgegengetreten, und als zu |pät
ber Befehl zum Vorgehen erfolgte, da opferte er fein
Leben, um das Verlorene wieder einzubringen! Aud)
dafür war er ja Soldat!”
Schill erhob fich während diefer Worte. „Es
kann wohl feinem YZmeifel unterliegen,“ jagte er
Roman von Hans Werber.
baflig, „daß wir alle drei Hier auf einem Grunde |
Sch hoffe, mid auch nod .
ber Gefinnung ftehen!
486
| abfehiebete ih kurz und ging. Der Oberftlieutenant
begleitete Schill ins Borzimmer, um ihm dort
nochmals dringend ans Herz zu legen, fih ums
Himmels willen nit von Hafios Einwendungen be-
einfluffen zu laflen, und Fehrte dann verftimmt zu
dieſem zurüd.
Sn dem Augenblid teilte fich der Vorhang von
dem Erferflübhen — und Renate trat berein.
Sie erihien größer als jonit, ihr Gefiht blaß
und die Augen jeltiam erweitert. „So haben mid
meine Ohren mwirtlih nicht getäufht, das waren
Sie — Hallo — der bier geiproden und Schill
zu —— verſucht hat im Kampfe für die Frei—
heit —
Safe ftand vor ihr, flraff und feft, bie Linke
Hand am Säbel. Sein Blid begegnete dem ihren
klar und entſchloſſen, doch ein töbliches Web fchnitt
ihm ins Herz. als er Renate jo fich gegenüberftehen
fah. „Wenn Sie meine Worte gehört haben, Renate,
und verftanden, dann werben fie Yhnen jchwerlid
überrafchend gellungen haben!“
„Überraihend — Hafjo — vernidhtend! Aus
allen Himmeln haben fie mih geſtürzt! Von
allen Menichen auf Erden waren Sie der lehte, von
dem ih das — das erwartet hätte!”
„Was denn?“ fragte er nit ohne Schärfe.
„Mid Iprehen zu hören, wie es fi für einen
preußiihden Soldaten geziemt?!”
Renate wollte heftig erwibern, doc der Dberft:
lieutenant trat dagmwifhen. „Laß nur, mein Kind!
— Lieber Haffo, ich beſchwöre Sie, verfteifen Sie
ih nicht auf diefe Keen! Prinz Louis war ge-
wiß ein Held, den man nicht body genug bewundern
fann, doch wahrfcheinlich nicht der eiferne Charafter,
deflen wir damals wie jeßt beburften, fonft wäre
er eingejchritten!”
„sh muß Ahnen das beitreiten, Herr Oberft:
lieutenant. Wie von hartem Eifen ift er mir freilich
nie erfhienen, aber immer wie vom feinften Stahl!
Hätten Sie ihn gefehen in der Schladt, die er fo
heiß erjehnt, von deren Ausgang Himmel oder Hölle
für ihn abhing, Sie würden ficher nicht fo über ihn
urteilen! — Er überfab mit dem Blid des Feld:
berrn, daß der Tag verloren war, eher als wir alle!
Größere Verzweiflung bat wohl niemals eines
Menihen Bruft durdtobt! Sie kannten fein un:
geitümes XTemperament, weldes jede NRegung in
jeinen Mienen wiederfpiegelte. Und do, — in diejem
Ihredliden Augenblid gab die heitere Ruhe feines
Gelihts noch einmal den fliehenden Regimentern bie
Zuverficht zurüd und brachte fie zum Stehen! — Seit
ich das gejehen habe, weiß ich, was Selbftbeherrichung
weiter mit Jhnen zu verftändigen, Haflo!” Er ver: | — und was Soldatenpflicht if!”
(Fortfegung folgt.)
487
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
488
Heiblatt der Dentihen Noman-Beilnng.
Un der Gruft des Reihsfreiheren vom Stein
zu Frücht bei Ems.
Mann von deutſchem Weſen,
Mann von deutſcher Art,
Der in Not erleſen
Unſern Vätern ward, —
Liebte ſchon als Knabe
Deine Trutzgeſtalt,
Bin zu Deinem Grabe
Freudig hergewallt.
Deutſchen Sinn zu feſten
Hab' ich wohl begehrt.
Zählteſt zu den Beſten,
Die der Deutſche ehrt;
Herrlich anzuſchauen,
Urbild deutſcher Kraft,
Lehrſt Du Gott vertrauen,
Der Erlöjung Ichafft.
Zogelt Deinem Wollte
Starf und Lühn voran,
Eine Feuermwolte
Shm auf dunkler Bahn.
Grimme Wetterfhauer
Führteſt Du's hindurch,
Warſt des Rechtes Mauer
Und der Freiheit Burg.
Deines Geiſtes Stärke
War der Schwachen Hort,
Deine hehren Werke
Wirkten mächtig fort.
Durfteſt ſelber ſchauen,
Wie der Korſe fiel;
Deutſches Reich zu bauen,
War Dein höchſtes Ziel.
Nicht war Dir beſchieden,
Es erreicht zu ſehn;
Schlummerſt nun in Frieden
Hier auf freien Höhn.
Aber aus den Gründen
Her zum Heiligtum
Muß der Schall Dir künden
Deines Volkes Ruhm.
Deine Gruft umſtrahlen
Soll der Flammenſchein,
Der von Höhn uud Thalen
Dringt verflärend ein.
Und herniedberfchweben
Mög’ Dein feliger Geift,
Daß er deutfchen Leben
Rechte Pfade meilt.
Glanzverklärt die Züge
Spridft Du fühn und frei:
„Kampf der mweljichen Lüge,
Tod der Tyrannei!
2
— * * > 2 *
ö— — — — — — ——— — —— — — — — — DE — — ——— — ——
Sei in Eurer Mitte
Heilig immerdar
Deutſche Zucht und Sitte.
Krone und Altar!“ —
Mann von deutſchem Weſen,
Mann von deutſcher Art,
Der uns auserleſen
Einſt in Nöten ward,
Laß uns allerwegen
Treu gedenken Dein,
Dann wird Kraft und Segen
Unſer Erbe ſein!
Im Auguſt des Jubeliahres 1895. AX
Aus meinen Frinnerungen.
Ton Qlte von Lelxzner.
Wieder einmal ziehen die Nationalitätsftreitigfeiten im
Kaiferreih die Aufmerkfamtfeit Dentichlands auf fich und in
weiten Streifen regt fih die Teilnahme an dem Xofe ber
Stammedgenofien. Man bemerkt Flammen aus der Ferne
erſt, wenn ſie zum Dach oder zu den Fenſtern hinausſchlagen,
der glimmende Funke und der gloſtende Balken bleibt un⸗
bemerkt. So iſt es auch in dieſer Angelegenheit. Seit die
Ungarn hauptſächlich durch Joſefs Il. gewaltſamen Reform-
drang, ſeitdem die Slawen im Norden und Süden in den
erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts zum Bewußtſein
ihres Volkstums gekommen ſind, hat der kleine Krieg zwiſchen
den Stämmen, aus denen ſich der Kaiſerſtaat zuſammenſetzt,
niemals ganz geraſtet; niemals hat ſich ſeitdem ein wahrhaft
inniger Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Volksſtämmen
herſtellen laſſen und jede Verwickelung, die das Reich zum
Kampf nötigte, fand Öſtereich geſpalten.
Wohin jedoch auch die Sympathien der Völkerſchaften
ſich neigen mochten, wie ſehr z. B. die einzelnen ſlawiſchen
Stämme des Südens unter ſich uneinig waren, in einem
Punkte trafen ſie zuſammen: in der Abneigung gegen die
Deutſchen. „Svab nem ember“ „der Deutſche iſt kein Menſch“,
ſagt eine ungariſche Redensart, „Nemec, tepec“ „der Deutſche
iſt ein Dummkopf“ behauptet ein Volksreim der Slovenen.
In der Zeit von ungefähr 1830 war die panſlaviſtiſche
Idee noch platoniſch; da mochte Jan Kolar (1793 - 1854) in
ſeiner Schrift „Uber die litterariſche Wechſelſeitigkeit zwiſchen
den verſchiedenen Stämmen und Mundarten der ſlawiſchen
Nation“ noch ſagen, daß die Einheit ,„nicht in einer politiſchen
Vereinigung aller Slawen, nicht in demagogiſchen Umtrieben
und revolutionärem Aufruhr“ beftehe. 1831 Hatte er einen
litterarifchen Verein gegründet, dem fünfzehn Mitglieder an-
gehörten; je mehr fich aber politiiche Ziele mit den litterarifchen
verbanden, defto größer wurde der Bund und fchon 1846
umſchloß er fiebzehnhundert Meitglieder. Wie fehr felbft
Deutfhböhmen von diejer flawifhen Strömung ergriffen
waren, beweifen verihiedene deutiche Didytungen, wie Harts
manns „Kelh und Schwert” (1545) und Alfred Meifners
„Ziska“ (1846).
489
Die Abrreigung gegen ba8 beutiche Element war in den
tſchechiſchen Volksmaſſen lebendig, bas beweilen Die Ecenen
im April und Mat 1848 in Prag. Man kennt die Antwort,
die Palacky dem Frankfurter Borparlament auf die Ein-
labung, feinen Plat in der Verfammlung einzunehmen, ge-
geben hat. Er veriwahrt fich darin zuerft gegen den Vorwurf,
als hege er feindliche Gefühle gegen Teutihland, betont
jebod, daß er Slamwe jei und das czehifche Volk unbedingt
nichts Gemeinſames mit dem beutfchen haben Fünne. Dann
aber kommt eine Stelle, die kurz darauf eine merkfwürbige
Beleuchtung finden follte. Dan wiife, heißt e8 dort, welches
Niefenreih den Often Europas inne babe; faft unangreifbar
auf eigenem Boden, bebrohe e8 die Treiheit der Welt, und
ftrebe die allgemeine Herrihaft an. Obwohl ein Slame,
würde er bieß alö ein ungeheures Unglüd betradten.
Einige Zeit darauf tagte in Prag jener vielberufene Slawen
fongreß, wo bie Vertreter der verichiedenen Stämme, um fich
zu berftänbigen, bdeutjch verhandeln mußten und in der
Sprache des gehaßten Feindes ihren Gefühlen freien Lauf
ließen. — Bie ftarren Vertreter des nationalen Gedantens
richteten Seitdem unter dem Trud des Schwarzenbergicdhen
Gentralismug ihre Augen andädtig nad dem norbifchen
DOger und zum Väterhen an der Netwa.
Sangfamer und zerfahrener entwidelte fich die ſlawiſche
Bewegung im Volfsbemußtfein der flawiihen Stämme tim
Süben, bei Slovenen und Kroaten. Auch bei ben erfteren
ging der Anftoß von der Litteratur aus und zwar in Srain,
wo ein Dlatt „Srainifche Biene“ (Krajnska Cbelica). ba
feinen Titel wohl einer Nachahmung der Zeitfchrift Bulgariens
verdanft, die verjchiedenen Kräfte vereinte, unter denen nur
BreSer und Bobnit eine felbftändige Begabung befaßen.
Auf die niedrigen Volksidichten, die Bauern in Krain,
Kärnten, Unterfteicrmart und Eüdweft-lingarn, wirkten diefe
Beitrebungen gar nicht ein — denn diefe konnten faum lejen
und verftanden bag Schriftjloveniich, wie e8 fih zu entwideln
begann, nur zum Teile. Die VBollsiprahe war bejonders
dort, wo die Spradhgrenzen in einander flofjen, unglaublich
berwildert und mit ungariichen wie dentihen Worten durchs
jet. Bezeichnend ift e3, daß die grammatifalifchen Lehrbücher
faft durhgängig deutich geichrieben werden mußten und
mander Dichter, wie PBreser, zur bdeutihen Sprade griff,
um ben nationalen Gedanken vor einem größeren Hörerfreis
zu verteidigen. Die Verhältniffe, die in den genannten
Provinzen herrichen, brachten e8 mit fi), daB jede Bauern
familie banad ftrebt, mindefteng ein Mitglied zum „geiftlichen
Herrn“ zu maden. So waren e3 denn aud zum großen
Teile Bauernföhne, die auf den Ghummafien und in den
fatholtfchen Priefterhäufern das Volfsbewußtjein durch Bes
ihäftigung mit der jlovenifhen Literatur in fich kräftigten
und dann al3 Sapläne oder Pfarrer auf die Landbemohner
in berjelben Richtung einwirkten. Aber aud Angehörige an-
derer Stände rafteten nicht, und bejonderg jeit 1843 nahmen
die Beitrebungen Aufihwuug. Der bei weiten größere Teil
der Litteratur beftand aus Üiberfegungen vornehmlich beutfcher
Werke. Auch Schillers Tramen find jpäter übertragen worden,
wenn and nicht mit allzugroßer Sorgfalt. So entfinne id)
mid, daß in „Maria Stuart“ die Stelle: „Konzepte von
Briefen an bie Königin von England“ mit „Verjuche neu:
befchnittener Federn“ wiedergegeben war.
Sn den jechziger Jahren nahın die Haltung dem Deutich-
tum gegenüber immer feindlichere Formen an und verbreitete
ih allmählih aud in der Sugend. Sch befand nich jeit
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
490
bem Jahre 1859 am Gymnafium in Marburg, einem Städtchen
in Unterfteiermarf, das, hauptfählich von Deutichen betvohnt,
ringaumber von floveniicher Bevölkerung umgeben war. Die
Lehranftalt war deutich, aber ber größere Teil der Schüler
wie der Lehrer gehörte dem flawifchen Stamme an. Das
Völtchen jelbft ift geiftig begabt und von jener eigentümlichen
Reibenshaftlichkeit, Die nur felten, aber dann heftig und uns
vermittelt Tosbriht. Um das Jahr 1863 Hatten wir Schüler
ber höheren Klafjjen ein Gefangsfrängdhen gebildet, in dem
beutiche und jlamifche Lieder gefungen wurden. Bald jchlichen
fih nationale Lieder der Slovenen ein, die ftart haupiniftilc
gefärbt waren, wie eine Art von Stampflied „Naprey sastawe
Slave“ (Vorwärts ihr ahnen Slavas). Wir Deutichen
fchrieen wader und harmlos mit, ohne Ahnung, daß unfere
Hovenifhen Mitichüler dabei noh an etwas anderes, als
nur an die Ausbildung ihrer Stimmen dbadhten. Allmählich
aber ging uns body da8 Verftändnis auf, denn bald befanden
fid) alle Xieder diefer Art auf dem Repertoire bes „Sstränzchens“,
während jonft in unferer Sprache nur gefragt wurde, wer den
lieben Wald fo jhön Hingeftellt Habe, ober dem Hirtenfnaben
die Nuhe veriprohen murde. Das wurde uns zulekt bo
zu bunt, und wir verlangten, doc) wenigftens fragen zu bürfen,
wa8 bes Deutfhen Baterland fe. E8 Fam zu Kleinen
Neibungen in der Schule, und in mander Zwilchenpauje
mwurbe nicht nur mit Worten geftritten.
1864 und 1865 hatte indeffen die Beivegung immer mehr
an Umfang gewonnen und bejonders auf dem Lande begann
das jlovenifcdye Element ziemlich felbftbewußt zu werden. Der
Einfluß der nationalen Hetfapläne machte fich immer ftärfer
bemerkbar; Lefevereine und Gefangöfefte wurden zu einer
lebendigen Aufwiegelung benugt. Befonbers zwei Vorfälle
erregten Auffchen. Sm März 1866 hatte ein Kaplan im
Bad Tüffer, wenn ich nicht irre, den Schülern in der Religions:
jtunde den Gchrauch ber deutichen Sprache unterfagt und Hin
zugefügt, das Land gehöre den Slovenen und man werbe
bie Deutfchen nächftens Iinausjagen. Der zweite Tal fpielte
fih in der theologiichen LZehranftalt in Marburg ab. Zwei
der Alumnen, obwohl Slovenen von Geburt, der deutichen
Voefie und Wiffenfchaft zugethan, hatten fih Schillers Werte
angeichafft und ber eine bon ihnen war fo weit gegangen,
des Dichters Bildnis über jeinem Tiih im Studierfaal aufs
zuhängen. Die Leitung der Anftalt lag damals in der Hand
eine® Mannes, ber als Katholit wie als Slovene gleich
fanatifd) gefinnt war. Der Trevel wurde entbedt, die Sünber
zur Verantwortung gezogen: al& größtes Verbrechen hielt
man ihnen vor, daß fie die Werle eines Broteftanten unb
noch dazu eines Deutichen gelejen hätten.
Derartige Vorfälle erwecten natürlich bei uns bartlojen
Bolitikern Die Leidenjchaften und wir Deutichen gaben all:
mählig die angeftammte Geduld‘ — in ber die Deutlich
Ofterreicher fo Großes leiften — auf. Es kam im Kränzchen
zum rad. Am 1. Mai 1366 follte ein Maiausflug ftatts
finden. Einer von uns hatte eine Jahre machen lajjen, auf
die eine Lyra gemalt war; eine junge Dame ftidte einen
Eichenkranz darum. AlS das Werk beendet war, zeigten wir
e3 im „Stränzchen“, ohne zu ahnen, welher Sturm darüber
losbrechen jollte. Die Slovenen machten ungufriedene Ges
fihter, und endlih fan die Wahrheit an den Tag: biejer
Fahne würden fie niemals folgen, denn die Eiche fei der
deutfhe Baum, man folle einen Lorberfranz an die Stelle
fegen. Unfonft boten wir an, daß ein frifcher Lindenkranz —
die Linde hat der liebe Gott nämlich eigens für bie Slawen
wachen Iafien — auf die Fahnenjpige kommen fönnte. Da
491
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
492
wurde denn die Stimmung immer jchwüler und zulest er:
Härten wir ihtten, daß fie gar feine Urfache hätten, dem
deutichen Eichenkranz nicht zu folgen; was fie an Willen be-
füßen, vermittle ihnen Beutjchland; noch habe fein SIovene
etwa8 Großes auf irgend einem Gebiete der Kunjt und Wifjen-
ichaft geleiftet — furz, wir legten uns mit jugendlicher Be-
geifterung in das Zeug So fand das Stränzdyen jamt dem
Ausflug ein jähes Ende. Bald verbreitete fi das Gerücht
bon dem Sturme im Glaje Waffer durd) die Stadt, aud) der
Ghymnafialdireftor erfuhr ed. E83 fam zu einer Stonferenz
der Lehrer und die „Führer“ beider Parteien wurden vor—
geladen. Man hielt uns eine jchöne Nede von Eintradt,
vom wahren öjterreihiichen Geift und dann wurden wir ent-
lafjen. Aber der wirkliche Friede ließ fich nicht herftellen.
Viele Wochen lang wurde zwijchen SIovenen und Deutichen
fein Wort gewechjelt und bei geringen Anläffen fam e3 zu
Streitigkeiten, alS deren legte Beweismittel die Fauft zur
Verwendung Fan.
Was hier im Stleinen geihah, wiederholte fid) an ver:
ichiedenen Orten im größeren Stil. An Aufreizungen der
Maffen fehlte e3 natürlicd) nicht. So fand einmal Sonntag,
den 22. September 1867 ein national=jloveniiches Felt in
Stleinfonntag bei Pettau ftatt, zur Erinnerung an einen
(Shronikenichreiber aus dem 17. Sahrhundert. Man wollte
zur Feier de Tages ein Drama „Samo“ geben, Der Titel
offenbarte die Tendenz: Samo, ein Frante, hatte um 625
nad) Chrifti Geburt ein füdjlamwijches Reich gegründet. Das
Etii behandelte diefe Gründung zum Zmede der Agitation,
feierte die Verbrüderung der Slovenen, Serben und Kroaten
und wies in der bewährten Form einer Prophezeiung auf
eine zweite derartige Gründung hin. Die hohe Obrigfeit
fand aber die Tendenz doch ein wenig jeltjam und verbot
die Aufführung. Aber e3 fand fich jchnell ein Erjag. Ein—
geleitet wurde das Felt, zu dem alle Deutjchenfrejier aus
Unterfteiermarf und Kroatien nebft vielleicht Hundert Geift-
lien und ihrer Bauerngefolgihaft hingeftrömt waren, durd)
die Nede eines Landtagsabgeordnneten, eines gewifjen Her:
mann, deffen Name mit feinem fanatifhen Deutjchenhaß
wenig übereinftimmte. Gr pried zuerjt den unbekannten
Shroniften und jagte darauf mit redneriihem Phatos das,
was man dramatijch zu jagen verboten hatte. 8 folgten
Gejangsvorträge — alle Terte für den Zmwed beftimmt, und
num zwei Ginafter. Der erfte hieß „Supan“ („Ort
vorfteher*). Ein Supan hat große Morliebe für alles
Deutfche und fpricht die deutjche Sprache jehr gerne, obwohl
er ihrer nicht recht mächtig ift. Dieje feine Neigung ärgert
die Familienangehörigen; mit Hohn und Spott machen jie
fid) über des Vater8 Shmwäde her und jchmähen jo lange
auf die „verfluchten Deutihen“ (memskutari), bis des
Supans nationaler Stolz erwaht und er der Verirrung
entjagt.
War der Jubel der Anmwejenden jchon bei diefenm Meifter:
werfe groß gemejen, jo erreichte er bei dem zweiten Stüdchen
feinen Siedepunkt. Die Farce nannte jih „EHlindre in
Klobonzet* („Sylinder und Nundhüthen“). E3 fpielten nur
zwei Perjonen mit, deren eine dad Slawentum, die andere
das Deutihtum repräfentieren jollten. Der Slawe trat im
eleganten, verichnürten Nod auf, mit anliegenden Beinkleidern
und halbhohen Laditiefeln, auf dem Kopfe das runde Hütchen;
der Deutfche dagegen, ein magerer, langmähniger Menidh, in
einem alten Frad mit furzen Arıneln, in abgeichofjenen
Deinkleidern und zerriffenen Niederfchuhen, die Hände in zu
großen weißmwollenen Handidyuhen und auf dem Kopf einen
abgeichabten Sylinder. ALS er auftrat, ging ein unbefchreib-
liches Lärmen 103; die Eitelkeit war augenjcheinlich befriedigt.
Der eigentliche Stoff des Dialogs beitand darin, daß jeder
ber beiden jeine Kopfbedefung als die jchönere prieß; aber
in diefe Streitfrage waren lauter Hiebe gegen die Deutichen
bermijcht, einer immer diimmer und gröber alß der vorher:
gehende. Zulegt hob der Vertreter der Deutjchen hervor,
jein Hut rage zum Himmel, der „Rlobouzel“ aber jei niedrig.
Der Slawe findet ein Mittel, dieje Ungleichheit zu bejeitigen:
er treibt dem Gegner den Gylinder mit einem Eunjtgerechten
Fauftichlag ein. Unter allgemeinem Jubel fiel der Vorhang.
Wir waren etwa jech8 Studenten anwejend; e3 Fam mit
einigen Slovenen zum Streit, und wir mußten froh fein,
daß wir entfamen. In folder Art wurden dem ungebildeten
Volk das nationale Selbftbewußtjein und der Deutichenhaß
zugleich eingeflößt.
Da e3 auf den Hodichulen, bejonder® in Graz, wo
noch 1867 viele Slawen und noc; mehr Italiener ftudierten,
ebenfalls zu Neibungen kam, ift begreiflih. Aber der liber-
mut der nichtdeutichen Nationen und Natiönchen hatte dod)
auch fein Gutes, denn er ftärkte in der deutjchen Jugend
Dfterreich® die Liebe zum geiftigen Mutterlande. E8 herricte
in ihr felbft 1866 und fpäter eine Strömung, die vielleicht,
vom Standpunkte des Staates au8 betrachtet, allzu deutich
war; e3 gab Ktreife, die jchon damals mit flopfenden Herzen
der Entwidelung der deutſchen Berhältniffe folgten. Sie
waren e8 auch, in denen die Siege, die zu unjerer Einigung
geführt haben, eine Begeifterung erwedten, die nicht geringer
war als im eigentlihen Deutſchland.
Aber ebenjo groß war aud) der Groll bei allen jenen
Völkern, die im Geheimen auf „Nevande für Königgräß“
gehofft hatten. Wie die Verhältnifje liegen, iſt es unzweifel—
haft, daß Ungarn und Slawen, obwohl unter jich vielfach)
gejpalten, eins find im Haffe gegen die Deutjchen Oſterreichs,
deren geiſtiges Übergewicht ſie nur widerwillig ertragen, es
iſt unzweifelhaft, daß im Süden das Slawentum, in Ungarn
und Siebenbürgen der Magyar und der Rumäne ſtetig vor—
dringen. Ein geiſtiger Kampf iſt entbrannt, daran ändern
Vertuſchungen nichts. Immer mehr wird es zur Pflicht
des Reichsdeutſchen, den Blutgenoſſen in der Fremde lebendige
und thatkräftige Teilnahme zuzuwenden. Er arbeitet damit
für eine Zeit, in der die Gewißheit des inneren Zuſammen—
hanges als entſcheidende Macht in die Politik der Zukunft
eingreifen wird.
Maikönigs Tod.
Durchbebt von wehmutreichen Schauern
Liegt die Natur in tiefem Trauern ...
Durch ſchlummermüden Abend leiſe
Weht eines Grablieds ernſte Weiſe. —
Maikönig wird zur Ruh getragen;
Ein graulich-dumpfes Totenklagen
Raunt wie geſpenſterhaftes Flüſtern
Durch Wieſengrund und Waldesdüſtern ..
Maiglöcklein klingt ſo traurig heute,
Singt feines Königs Sterbgeläute ...
Drein hallt vom Grabesrande leiſe
493
Des Leihendhores heil’ge Weile.
Defränzt den Sarg mit Mat’n und lieber,
Maikönig finkt zur Gruft bernieder ... .
Sm SZunihaud hört man verhallen
Den Grabgejang ber Nadtigallen....
Belldelm Sioof.
Der Bimmerferr.
Von Yiklor von Koßleneng-
Gelbft der infame Berliner Oftwind, der fonft beim
tüdifh an den Straßeneden lauert, um dem ahnungalofen
Wanderer mit hHöhnifchem Schnauben an den Leib zu Springen,
hatte dem einziehenden Frühling zu Ehren eine Art heiteren
Weiend angenommen und tollte als jauchzender Frühlings»
fturm durch den Abend. m Grunde freilih war er der alte
heimtückiſche Burſche.
„Was für'n Sturm ...“ meinte Herr Erich Nödlich und
ſchüttelte ſein borſtiges Haupt. Er ſah auf die ſpärlich er⸗
leuchtete Straße hinab und ging dann mit wichtig nach
auswärts gedrehten Füßen und hochgezerrten Brauen im
Zimmer auf und ab. „Nein wirklich, Frau, mir geht das
widers Gefühl. Ich bin einmal ſo,“ ſagte er nach einer
Weile wichtig verſonnen.
„Ach was ... Als wenn wir's ſo dick hätten. Heut:
zutage muß man's nehmen, wo man's kriegt.“
Der kleine, etwas geckenhaft gekleidete Herr ſtrich ſich
nervös das ſtruppig hochſtehende Haar. „Erlaube — es
giebt Geſinnungen! Verſtehſt Du? Geſinnungen! Aber
darum kümmert Ihr Frauen Euch nicht. Alte Sache! ...“
Er kaute ſuchend an ſeiner erloſchenen Cigarre. „Da laß
ich mir nicht 'zwiſchenreden. In dem Punkt nicht! Das —
das iſt Geſinnungsſache. Verſtehſt Du?“ Er war ordentlich
kühn in Blick und Ton, denn das Schweigen ſeiner Gattin
beſtärkte ihn in dem Glauben, daß er jetzt Oberwaſſer habe.
„Ich will ein Heim für mich haben. Unabhängig, ohne
Scherereien mit Fremden — überhaupt ohne einen fremden
Eindringling. Ich bin eben feinfühlig. So 'was ſtört mich —
bringt mich ganz aus'm Geleiſe. Ihr Frauen denkt zu
fleinlih! nur immer das Nächſte! Euch fehlt die — die — —
Ihr denkt nicht vornehm genug! Das iſt's! Immer nur
Geld — Geld. Geſinnung iſt auch 'was! Was ſehr Wichtiges
ſogar — verſtehſt Du? Geſinnung und Feinfühligkeit ...“
Die Frau, eine etwas ſtarkknochige, entſchloſſen drein⸗
blickende Dame, hielt gleichmütig das durchlöcherte Hinterteil
einer Nödlichſchen Hoſe gegen das Licht und fuhr dann
rückſichtslos mit der Schere darein. Um den hübſchen, vollen
Mund ſpielte ein verächtliches Lächeln. „Na, dann leb' Du
von Deiner Geſinnung. Ich vermiet' das Zimmer. Baſta!“
Sie ſagte es hart, ſpöttiſch und gab dem „Baſta“ mit der
ſchweren Schere einen kräftig klirrenden Nachdruck.
Herr Nödlich warf einen ſonderbaren Seitenblick auf
ſeine Gattin, bewegte nervös die ſtachlige Kopfhaut zur
ſtaunenden Bewunderung ſeines Sohnes, der unter philo⸗
ſophiſchen Selbſtgeſprächen im Zimmer herumrutſchte, reckte
den dürren, ſehnigen Hals und lachte dann mit rotem Kopfe.
„Na ja, natürlich! ... Euch Weibern ſoll einer Vernunft
beibringen! Blödſinn! ...“
Die Gattin machte eine ungeduldige Bewegung.
„Na, iſt gut — iſt gut! Werd' mich ärgern! Iſt gut!
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
bereitete
494
Hahal ... Da könnt' ich ja ebenſogut von Fritzen Ges
ſinnung verlangen! Was, Fritze?“ fragte Herr Nödlich mit
ungemein ſpaßigem Geſicht.
Fritze, der tiefſinnig an ſeinen Strumpfzipfeln herum⸗
zerrte, unterbrach ſich in dieſer inſtruktiven Beſchäftigung und
ſtimmte ein verſtändnisvolles Krähen an.
„Hahaha ... So iſt es! Was, Fritze? Wir verſtehen
uns. Haha!“ Herr Nödlich war plötzlich voll ſprudelnder
Laune, ſteckte ſeinen Cigarrenſtummel in eine rieſige Rohr⸗
ſpitze und blies dann mächtige Rauchwolken in die Luft.
„Aber das ſag' ich Dir — mit meinem Willen geſchieht's
nicht! Verſtehſt Du? Mit meinem Willen nicht!“
Die Gattin lächelte nur wieder. Dann geſchah's eben
ohne ſeinen Willen ...
Herr Nödlich verbrachte ſchlimme Tage, denn er kannte
ſeine beſſere Hälfte. Er haßte bereits ſeinen Mieter, der
noch mit Haut und Haaren im Schoße der Zukunft weilte.
Warum? Der kleine Herr Nödlich war eiferſüchtig. Seit er
verheiratet war, traute er den Frauen nicht mehr, denn er
fühlte dunkel, daß er kein rechter Mann ſei, daß er bei einem
Vergleiche leicht zu kurz käme ... Er ſuchte ſich zwar durch
geckenhafte Kleidung und durch ein protzig⸗wichtiges Auftreten
Nimbus zu geben, aber jene eiferſüchtige Unſicherheit verdarb
ihm dennoch oft die Stimmung. Sie trieb ihn ſogar zu—
weilen in eine arge Selbſtquälerei hinein, in der er für die
Treue ſeiner Gattin fürchtete. Im allgemeinen aber lag
ſeinem Kummer nur kindiſche Selbſtgefälligkeit zu Grunde.
Seine Frau und die Verwandten ſollten ihn bewundern —
nur ihn! „Ja, der Erich — das iſt einer!“ Und wehe, wenn
ſie in ſeiner Gegenwart einen anderen lobten; dann ſtand er
Qualen aus vor Neid und ſetzte die Verdienſte des Ge⸗
prieſenen rückſichtslos herab ...
Und das Zimmer wurde vermietet, und eines Tages zog
Herr von Matſchinskow ein.
Die Sonne lachte, daß ihr die Strahlen zitterten, Frau
Nödlich lächelte, Fritze machte ſein verblüffteſtes Geſicht und
drückte ſo ſein allertiefſtes Intereſſe aus, und Herr Nödlich
ſenior glänzte durch ſeine Abweſenheit. Doch Herr von
Matſchinskow lachte, lächelte, ſtaunte und glänzte nicht. Er
glitt ſtumm und lautlos wie ein Geſpenſt an ſeiner Wirtin
und dem philoſophiſchen Fritze vorüber, daß ihnen eine
unheimliche Luftwelle ins Geſicht ſchlug... Es war
ein warmer Tag; aber das Geſpenſt fror. Es hatte eine
rieſige Pelzmütze bis über die Augenbrauen gezogen und
einen gewaltigen Pelzkragen bis über die Naſenſpitze geklappt,
und ſeine zweifellos klapperdürren Beine trugen ſich an einem
Paar mächtiger Pelz⸗Filzſchuhe zu Schanden.
„Thür auf! Schnell! Schnell!“ krächzte das Geſpenſt
und machte eine zornige Bewegung mit den Händen, die es
krampfhaft in einem ungeheueren Jagdmuff hielt.
Fritze ſperrte zum beſſeren Verſtändnis der Situation
den Mund auf, und ſeine Mutter war auf dieſen ſonderbaren
Willkommensgruß ſo wenig vorbereitet, daß ſie ein unſicheres
„Wie meinen Sie?“ verlauten ließ.
„Thür auf! Thür auf! Thür auf! Herrgott, Herr⸗
gott —!!“ wimmerte das Geſpenſt in verzweifelter Wut, als
ihm eine verſchloſſene Thür die unerhörteſten
Qualen. „Aber liebe, gute, beſte Frau! Wollen Sie mich
denn umbringen?!“ Das Geſpenſt begann einen wahren
Veitstanz auf ſeinen Filzſocken zu hüpfen, ſo daß Fritze ſich
vor Vergnügen über den luſtigen Onkel krähend den Bauch
ſtrich. Bringen Sie den Bengel zur Ruh! Meine Nerven — —“
—————————————— EEE
495
Frau Nöblih machte nun rejolut die Thür auf und
wollte eben ein etwas ungehaltenes „Bitte!“ Tagen, dod) dag
Gelpenft fuhr bereits wie eine Io@gelafiene Lokomotive ing
Zimmer, bremfte, fuhr zurüd und warf mit dem dicigefütterten
Nüden bie Thür wieder zu. Bumß!
„Dah!* bemerkte Srige und fah verftändniglos auf feine
berblüffte Mutter.
Und dann fanıen Kiften und Saften und Koffer in uns
beimlicher Menge, und obwohl fie hHandgreiflich körperlich und
ihre Träger nicht8 weniger alß geifterhaft waren, fo fchten
das Geſpenſt doch zu glauben, baß fie durd) die geichlofiene
Thür ins Zimmer gelangen könnten. 8 krächzte fih faft
die heifere Stimme aus dem Leibe und lief angftgehegt von
einer Stubenede in die andere, biß e8 am Ende erichöpft
und ftöhnend aufs Sofa fiel und feiner Auflöfung entgegenfah.
Dann mußte Frau Nödlih durch einen hanbbreiten
Thürfpalt hereinihlüpfen und ein Seuer anjcüren, ala wollte
fih das Geipenft in der Stubenluft braten.
„Und nun keine Störung mehr. Sch brauche nichts mehr.
Gar nichts. Sie brauchen nicht mehr zu fommen. Und halten
Sie vor allem den Bengel ruhig. Das wiffen Sie. inter
der Bedingung hab’ ic; gemietet. Völlig ungeftört; ruhig
Hören Ste? Sonft zieh’ ich fofort wieder. Sc) lebe ganz
für mid. Sie haben ftilfchweigend zu fommen und zu
gehen. Und nur, wenn ih Elingle. Das find meine Bes
dingungen. Das wiffen Sie. Dafür zahle ih. Gute
Naht — gute Nadıt!* rief da3 Gefpenft grämlidh-ungeduldig
und macte plöglih ein Gefiht, al8 brädte ihm das nädhfie
Wort den Tod. 3 ftredte daher wie beichwörend die
Inochigen Hände vor und fcheuchte die fpradjlofe Dame aus
dem Zimmer...
AZ Ti die Sonne ängftlich zurückgezogen hatte, trug
der Feine Herr Nödlih fein grimmiges Gefiht durd) bie
Straßen. Und die Neugier fchritt hinter ihm her und jagte
ihn vorwärts, biß fie beide atemlos in der Hallefhen Qor:
jtadt anlangten. ind auf jeder Stufe, die Herr Nödlid) mit
feinen jonderbar furzen Beinen nahm, trat ihm ein Herr von
Matichinskomw entgegen; einmal mit gewaltiger Hafennafe und
fühn aufgefegtem Echnurrbarte, dann wieder nıit einem feinen,
verlebten Weibergefiht ... . Er mußte durd feine Gattin,
daß der Herr ein alter Sonderling war; aber der Herr war
aud) vermögend und adlig, und das war Herr Nöblich nicht.
Und dann fonımanbdierte er, ein wildfremder Mann,
feiner Gattin. Das war eine Schmälerung feiner Nechte!
D, Herr Nödlich entwicelte diefer Mietöfrage gegenüber bie
fubtiljten PBafchagefühle. Seine Frau war feine Frau; nur
er ihr hatte zu befehlen ! philofophierte er in fühner Verkennung
der Thatfadhen. „Mit meinem Willen ift er nicht dal Mit
meinem Willen nicht!“ ... Dod) trogdem konnte er fidh
einer füß pridelnden Erregung nicht erwehren. Er wollte fid
Herrn von Matihinskom vorftellen, ihn Herr Baron betiteln,
mit ihm über ftodfonfervative Dinge plaudern — kurz, fi
gebildet, fein benehmen. Denn unferem Kleinen Palcha war,
wie mandhem Wichte, der Adelige oder Neiche mit dem uns
Haren” Nimbus” einer unbedingten äußeren und inneren
Bornehmheit umgeben ... . Freilich, wenn der Herr ihn von
oben herab behandeln würde — — Herr Nödlich fegte feine
Kopfhaut in Bewegung und pfiff in grimmigem SHohne.
Dann bürftete er fid) rafch das Haar und betrat forfch feine
Wohnung.
„Biifft 11° tönte e8 geifterhaft, wütend aus dem möblierten
Zimmer.
Beiblatt der Deutihen Romanzgeitung.
496
„Nanı? Was - *
„Nude! . . . Das ift ja ’n ewiger Heidenlärn!“
wimmerte das Gejpenft.
Herr Nödlich fah fi fheu um und tappte auf den Fuß:
Ipigen welter.
„Was ift denn das fürn Kerl?“ fragte er in der Stube
nachdem er fich wichtig aufgeredt Hatte.
„Mindeſtens verrückt!“
„Siehſt Du! Siehſt Du!“ triumphierte Nödlich. „Aber
Ihr wißt fa natürlih alles beffer! Da haſt Du's. Nun
laß Dich nur chikanieren — Du wollteſt's ja haben! Du
wollteſt's ja haben!“ wiederholte er im höchſten Fiſteltone
und legte Hut und Mantel ab. „Ich kenn' doch die Sache!“
„Er zahlt gut. Das iſt die Hauptſache,“ erwiderte die
Gattin in erzwungenem Gleichmute
„Soll ich ihm kündigen? hä?! ſoll ich ihm kündigen?“
Die Gattin lächelte ſpöttiſch. „Geh' mal 'rüber zu
ihm! ...“
Der Ton beunruhigte Herrn Nödlich ein klein wenig.
„Haha, Fritze! Ich ſoll mich natürlich fürchten! Als wenn
ich — — na, glaub', was Du willſt! Haha — meinetwegen!
Was Fritze, mein Sohn Habakuk?“
Der Sohn Habakuk würdigte ſeinen Erzeuger keines
Blickes; er war eifrig damit beſchäftigt, einem jungen
Dachſel den Bauch zu kitzeln, ſo daß ſich der ſenſitive Köter
kaum das Lachen verbeißen konnte.
Frau Nödlich ſah ein wenig unruhig in die Lampe.
„'s iſt doch ein unheimlicher Menſch,“ meinte ſie dann,
einem unklaren Mitteilungsdrange folgend.
„Der Herr von — wieſo denn?“ fragte Papa Nödlich
plötzlich verſöhnt.
„Weißt Du — er iſt ſo ... ſo geheimnisvoll. Er hat
ordentliche Angſt, daß man ſich um ihn kümmern könnte.
Und dann die Menge Kiſten und Kaſten und Gläſer und
Apparate, und das riecht alles ſo nach Säure und Apotheke ...“
„Er wird krank ſein. Wird ‚gelebt‘ haben ...“ be⸗
merkte Herr Nödlich mit der Miene eines Kenners.
„Nervös iſt er. Das ſtimmt. Gott — über die geringſte
Kleinigkeit kriegt er'n Koller. Und immer hat er'n Pelz an,
als wenn er mitten auf'm Nordpol ſäße. Ich weiß nicht...“
„Wie ſieht er'n aus?“
„Unheimlich, ſag' ich Dir. Ganz unheimlid!
Mit ſolchen ſchwarzen Augen und dabei bleich wie'n Bett—
laken. Ordentliche Angſt kann man haben.“ Sie ſchwieg,
und Herr Nödlich ſah ſie überaus ernſt an.
„Wie — wieſo denn?“ fragte er leiſe.
„Ich weiß nicht ... Ich trau' ihm nicht ... Ich trau
ihm nicht. Ich kann mir nicht helfen ...“ Sie zuckte die
Achſeln.
„Wieſo denn?“
„Wenn er nur kein — kein Anarchiſt oder Nihiliſt iſt,“
ſagte ſie plötzlich mit etwas gedämpfter Stimme. „Sie ſpuken
ja jetzt überall herum ...“
„Wie — wieſo denn?“
„Die ſoll'n alle 'n bißchen verrückt ſein, krank, nervös.
Und dann ſo'n ruſſiſcher Name. Weißt Du, ich hab' ſo das
Gefühl ... Und die Thüren hat er mit Friesdecken und die
Fenſter mit gelben Tüchern verhängt, und die Schlüſſellöcher
hat er verftopft ... Er zahlt ja gut. Aber eh'r wir die
PBolizei auf den Hals kriegen... Wer weiß... .*
Herr Nödlich Faute fehr ernfthaft an feiner Abendftulle.
„Ad, das bildeft Du Dir nur ein,“ meinte er leife.
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„3 tann ja fein; aber id bin boch jonft nit fo... .
Na, abwarten müffen wir’s auf jeden Tal... .“
„Das mein’ id aud).“
„Und Du kannit Dir’n ja auch erft einmal anjehen.“
„sa gewiß,” meinte Herr Nödlidy in einem Anfluge von
Wichtigkeit. „Das fan ih... Aber heute Ichidt fih’8 wohl
nit mehr.“ Er pfiff Ieife eine fehr phantaftiiche Melodie
und fah äußert gleihgültig in die Lampe.
Und in ber Nadıt träumte der grimme Herr von einem
langen, hageren, bleihen Manne mit fhwarzen, funfelnden
Augen und jchwarzem Barte. Und er fam näher, näher,
lautlos, langfam, mit weiten, ftierem Blicke, daß dem Träumer
ber Atenı ftocte, das Haar fidh fträubte und der Schweiß aus
dem Leibe brad. Er wollte fliehen, er fpannte alle Willen®-
fraft an, doc) jeine Glieder waren centnerjchwer. Und das
Geipenit fam näher, näher, lautlos und hob den dDürren Arm,
baß der fnocdhige Zeigefinger faft an die angftvoll fraußges
z0gene Nödlihjche Nafenipite ftieß. Der Träumer wollte
cjreien, doch fein Laut fam über die bleichen, bebenden
Lippen. Die höchfte Not gab ihm endlih Kraft, er Ichlug
um fid) und traf dabei feine ahnungsalos jchlafende Gattin,
deren Gefchrei ihn wedte.
Am andern Morgen madte Herr Nödlich mit bleichem
Gefidhte und Elopfendem Herzen dem geheimnisvollen Zimmer:
herrn feinen Belud).
„Wie? Was? Mollen Sie was?“
„Mein Name ift Nödlih,“ wiederholte der grimmige
Herr jehr leife und unficher und betrachtete ängitlih das
eingemummte, zappelnde und mißtrauifch fpähende Gejpenft.
„St gut! Sf gut! Wenn ih ’'was will, werd’ id)
Hingeln. Hören Sie? Ihre Frau weiß alles. Ich braud)’
jeßt nichts! — Hören Sie?“
„Samwohl, jawohl,* ſagte Herr Nödlich ein übers andere
Mal dienftbefliffen und getraute fich nicht, vom lee zu gehen.
„sh werde klingeln!” Zräczte daB Geipenit und
zappelte verzweifelt.
„Samohl,“ bemerkte Herr Nöpdlid.
„Herrgott — — Wollen Sie denn noch was?!“
„Nein.“
„Na, da geh'n Sie doch!“
„Jawohl.“ Und der grimme Herr ſchlich halb bewußtlos
aus dem Zimmer. „Mit dem iſt's nicht richtig,“ ſagte er,
als er wieder zu ſeiner Frau in die Stube trat, und ging
mit männlichen Schritten auf und ab. „Den werd' ich beob⸗
achten. — Und dann wird die Polizei benachrichtigt — beim
geringſten Verdacht! Ohne Umſtände! Ohne Umſtände!...
Das iſt ja ein Skandal, einen gebildeten Menſchen ſo zu
behandeln! 's hätt' bald was geſetzt! Deibel noch 'mal!
Aber wir ſprechen uns noch — haha! Wir ſprechen uns
noch! Verlaſſen Sie ſich darauf, verehrteſter Herr und
Freund! ...“
Und in ſeiner ſchmalen Bruſt vermählte ſich der Groll
gegen den „Nebenbuhler“ mit dem Groll gegen den Be—⸗
leidiger, und die alſo verehelichten Grolle ſchürten das einmal
geweckte ſpannungs volle Mißtrauen des kleinen Mannes höher
und höher. „Dem Kerl trau’ ich alles zul Alles!“
Neben dem „möblierten Zimmer“ Yag die Nödlichiche
gute Stube. Dort Ihlih nun der grimme Herr während
jeiner freien Zeit auf großen silgpantoffeln herum und
laufchte mit grujeligen Herzen und immer länger werdenden
Ohren auf die Geräufche nebenan .. . Unheimlic raufchte
die Etille der Vorftadt und dann fam ein Gläferflingen aus
Romansgeitung 1896,
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
i
498
dem Nebenzimmer. Und dann ein undeutliches Geklapper,
als würde ein Klöffel in einem Porzellanmörſer gerührt.
Dann war es wieder ſtill; nur ein trockenes Hüſteln und
Räuſpern ertönte zuweilen. Herr Nödlich legte ſeine rechte
Ohrmuſchel an die Thür. Da — ein Plätſchern und Sludien;
Bücherblätter rauſchten geheimnisvoll ... Und nun hub ein
leiſes Kloppern und Klirren und Ziſchen an, als triebe eine
myſteriſche Maſchine ihren Spuk. Herr Nödlich ſchnupperte an
der Thürritze herum und nahm allmählich einen feinen Säure⸗
geruch wahr. Und ringsſsum war tiefes Schweigen — nur
das leiſe Klappern, Klirren und Ziſchen, und das immer
wiederkehrende trockene Hüſteln des Geſpenſtes; Herrn Nödlich
lief eine Gänſehaut über den Rücken.
Von da an wurde er nervös. Immer dachte er an das
Geſpenſt und ſuchte hinter das geheimnisvolle Treiben zu
kommen. Er ſprach mit ſeinen Bekannten über den Fall, und
die beſtärkten das ängſtliche Männchen halb im Scherz, halb
im Ernſt in ſeinem Mißtrauen. Auf der Straße war er voll
Unruhe; er hatte das dunkle Gefühl, als würde er beobaächtet,
als folgte ihm ein Kriminalſchutzmann auf Schritt und Tritt.
Auf ihn konnte ja ſo leicht ein Verdacht fallen ..
Er mußte ſich Gewißheit verſchaffen. Unbedingt! So
ging's nicht weiter! Seine Frau erzählte allerlei Unheimliches
bon ihren Erlebniſſen beim Reinemachen; dann umkreiſte ſie
das Geſpenſt ſtets mit lauernden Blicken, als wollte es ſich aus
irgend einer kommenden Urſache auf ſie ſtürzen. Und an
ſeine Gläſer, Flaſchen, Retorten, Kiſten und Kaſten durfte
ſie nicht rühren. Sollte er kündigen? Das konnte er erſt
am 15., und dann blieb das Geſpenſt doch noch bis zum
Letzten. Was konnte inzwiſchen nicht alles paſſieren! ...
So ſchlich er eines Abends mit einem großen Bohrer bewaffnet
auf ſeinen Filzpantoffeln in die gute Stube, „um ſich Ge⸗
wißheit zu verſchaffen“. —
Das Geſpenſt rumorte in der Stickluft ſeiner unheim⸗
lichen Behauſung und krümmte ſich, bis zu den Hüften ent⸗
kleidet, vor dem hohen Stehſpiegel. Es atmete tief und lang,
beklopfte ſeinen flachen Bruſtkaſten, befühlte ſeine vorſtehenden
Rippen, betrachtete durch die Lupe die Poren ſeiner Haut
und machte mit den dürren, ſchlaffen Armen grauſige Stoß⸗
beweg ungen. Dann ſtarrte es regungslos in die unſtet
flackernden Kohlenaugen ſeines Spiegelbildes und ſtudierte
ihren Ausdruck ... Die Lampe umhüllte ein rieſiger grüner
Schleier, und das fahle Licht lag geiſterhaft auf dem Antlitz
des Kranken. Unheimlich leuchteten die Flaſchen und Gläſer
in den dämmrigen Winkeln, und die an den Fenſtern und
Thüren herabwallenden Tücher und Decken ſchienen wie
ſchattenhafte Wächter ſchwüle Spukgeheimniſſe zu behüten.
Plötzlich ſchrak das Geſpenſt zuſammen, daß ſeine ſpitz⸗
knochigen Schultern in die Höhe ſchnellten. Es lauſchte
atemlos nach der Thür hin ... Dort knackte es leiſe, als
wühlten Bohrwürmer in dem Holze. Dann war es eine
Weile lang ſtill. Das Geſpenſt ſchlich zitternd näher ...
Jetzt begann das geheimnisvolle Knirſchen wieder. Es wurde
deutlicher, lauter. Dem Geſpenſt ſträubten ſich die ſpärlichen
dünnen Haare, es verſchränkte die Arme über der nackten Bruſt
und lauſchte, das Ohr krampfhaft gegen die verhüllte Thür
preſſend. Kein Zweifel! Da bohrte jemand! Das Geſpenſt
fuhr zurück und ſah wie irr im Zimmer umher. Was ſollte
es thun? ... Wer war das? ... Wollte man einbrechen?
Wollte man ihn beobachten? Stellte man ihm nach? ...
Ein dämoniſches Mißtrauen ſtieg in ihm auf. Er traute
niemand — niemand! Die Menſchheit war ein einziges
IV. 35
499
Gefindel; vol Nüdfihtslofigkeit, Schadenfreube und Nieder-
trat! Er Hatte ihr nie getraut — nie! So weit er
benfen £onnte, war er mit ihr in Konflikt geraten; fie hatte
ihn verhöhnt, gemartert, betrogen, mit Füßen getreten —
Das Gefpenft fuchtelte mit zitternden Händen tin der Quft
herum. DO, bie Menihen! Die Bande! Nirgends Ruhe
bor ihnen: Was Sollte e8 thun?! Was wollte man bon
ihm?!... Sollte e&8 um Hilfe fchreien? Nein, nein!...
Seine Gedanken verwirrten fih — e8 dadte an Diebitahl,
Mord — — und der grimme Herr Nödlih bohrte und bohrte,
daß ihm die Pulfe flogen.
Das Geipenft fpreigte die Iangen Finger, ala wollte es
ettvas faffen. E83 mußte wiflen, was hinter der Thür bor-
ging. Das Kniftern und SKnaden bauerte fort, bon uns
heimlichen Bauien unterbrochen. Plößlih Ihoß das Geipenft
wie finnlo8 in einen Winkel, framte eine Weile Ieije, fchlich
dann Baftig wieder zur Thür und fchob mit zitternden
Händen die Portiere zur Seite.
Der grimme Herr Nödlich machte gerade, zufolge eines
allzu verräteriichen Knacdes, eine Baufe und laufchte. Und ein
heimliches Sniftern drang an fein Ohr, als wühlten Holz
würmer in der Nähe feine® Bohrer. Was war dbas?!...
Die Brauen rutfchten ihm in die Höhe, und feine Kopfhaut
wadelte vor Braufen. E83 war’wieder ftil ... Herr Nödlid
drehte herausfordernd an feinem Bohrer; fofort Enifterte e8
Haftig in nächfter Nähe. Dann wieder tiefe Stille... Er
brehte wieder, wie beziwungen, und fofort feßte das geiſter⸗
bafte Echo ein... Immer kürzer wurden die Banfen, immer
andauernder wurde das leife Snaden — fieberhaft drehten
bie beiden ihre Bohrer, rücdjichtslos, wie befeflen; durd!
durch! Unheimlich Mnifterte das Holz, von ben vorwärts
baftenden Eijen durdwühlt - mad, mad, mad... und
die Bohrerfpigen jchoffen hüben und brüben übereinander
and Licht, glänzten einen Augenblid lang unbeildrohend und
traten dann in wilder Eile den Rüdzug an...
Mit Bligesichnelle brachte jeder fein Auge an das Gudlodh;
atemlo8 ftarrten fie, doc) feiner fah etwas; jeder verdedte bem
andern die Ausficht, und jeder fühlte den heißen, unrubigen
Atem de andern durch die Öffnung zu fich herüberwehen, daß
ihnen fhwüle Schauer über die Rüden liefen. Und fie ftarrten
und ftarrten, al8 hielte jeder den andern durd magnetijche
Kraft feft. Keiner verließ feinen Poften, wie angemurzelt
ftanden fie, mit bebendem, heißem Haucdhe, mit zitternden
Knieen, ſtarrend, ſtarrend ...
Frau Nödlich kam. „Was iſt denn?“ fragte ſie flüſternd.
Ihr Gatte winkte heftig mit dem linken Arme ab.
„Herrjeh — was iſt denn?“
Herr Nödlich winkte krampfhaft mit dem rechten Arme,
dann mit beiden und nahm ſchließlich noch ſeine kurzen Beine
zu Hilfe, indem er abwechſelnd mit ihnen in grimmigen
Stoßbewegungen zur Thür wies. Die etwas ſchlaftrunkene
Gattin floh vor dieſer verzweifelten Zappelei verwirrt aus
dem Zimmer.
In unſeren Helden aber regte ſich mehr und mehr der
Dämon, der den ſchaudernden Menſchen unaufhaltſam dem
Schrecklichen, Furchtbaren entgegentreibt ... Sie ſtemmten
ſich immer nachdrücklicher gegen die Thür, ſie faßten krampf⸗
haft die Klinken und drückten ſie leiſe nieder . .. Auf der
Seite des Geſpenſtes war der Riegel, auf der Nödlichs ſteckte
der Schlüſſel der Thür ... Und auf beiden Seiten begann
ein minutenlanges heimliches Taſten, Drücken, Drehen und
dann ein leiſes zögerndes Aufſchließen; ſchnapp! und der
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
500
Flügel wich langſam, knarrend zurück, und der zitternde Herr
Nödlich ſtand dem zitternden Geſpenſte gegenüber. Und ſie
ſtarrten einander ſprachlos an ...
„Was — was wollen Sie ...?“ krächzte der Ruſſe mit
bebenden Lippen.
„Was — was machen Sie ...?“ ſtammelte der kreide⸗
bleiche Herr Noͤdlich halb betäubt. Und ſie ſtarrten ſich
wieder an.
„Thür zu! ...“ wimmerte plötzlich das Geſpenſt und
fuhr zuſammenſchauernd zurück, denn Frau Nödlich trat in
lichtem Nachtgewande und mit aufgewickeltem Stirnhaar zu
ihrem Gatten ins Zimmer.
Das Geſpenſt flüchtete haſtig hinter die ſich ſchließende
Portiere und fuchtelte, tieferregt nach Worten ſuchend, mit
den Händen in der Luft herum. Dann brach es los. Es
überhäufte ſeine hinter dem Vorhange ſtehenden Wirtslente
mit Schmähungen. Kreiſchend tönte feine heiſere Stimme
durch die ſtille Nacht; es wurde immer zügelloſer, ſinnloſer
in ſeinen wütenden Vorwürfen; es nannte die wie verſteinert
hinter der Portiere lauſchenden Gatten Spione, Einbrecher,
Mörder, verfluchte die Welt, wimmerte um ſeine Geſundheit,
um ſein Leben, bis ihm nach einem kurzen Röcheln bie
Stimme ſchauerlich überſchnappte.
Herrn Nödlich gaben auch die erſterbenden Fiſteltöne
keinen Mut. Erſchöpft, regungslos ſtarrte er auf den
zappelnden und ſich beulenden Vorhang, hinter dem das
Geſpenſt geſtikulierte.
Doch ſeine Gattin war in ihrer leichten Kleidung doppelt
empfindlich für die Gewaltſtreiche des unſichtbaren Zimmer⸗
herrn. In der gereizten Stimmung eines Menſchen, der
wenig Sinn für Schlummerſtörungen hat, ließ ſie ſich in ein
tiefgehendes Geſpräch mit dem Geſpenſte ein, ſagte ihm ein
paar ſonderbare Schmeicheleien und nahm höhniſch lächelnd
ſeine Kündigung entgegen. Dann verſetzte ſie ihrem geiſtes⸗
abweſenden Gatten einen ermunternden Seitenſtoß und zerrte
ihn erhobenen Hauptes mit ſich aus dem Zimmer.
„Was — was iſt denn nun?“ fragte der grimme Herr leiſe.
„Krank iſt er, verrückt!“ keifte die Gattin, als wollte fie
ihn dafür verantwortlich machen. „Und nun will ich Ruhe
haben! Wirtſchaft!“
Herr Nödlich ſchüttelte verſtändnislos ſein borſtiges
Haupt, zog ſich aus und ſtieg fröſtelnd in ſein Bett.
Ja, das Geſpenſt war ein Hypochonder ſchlimmſter
Sorte. Noch lange rumorte es hüſtelnd, ſtöhnend und ab⸗
geriſſen wimmernd in ſeinem Zimmer herum zur tiefen Ent⸗
rüſtung der Nödlichſchen beſſeren Hälfte; die ſchlechtere Hälfte
aber ſchlief, als wollte ſie die verſäumte Nachtruhe nachholen.
Und am nächſten Morgen zog das Geſpenſt mit Kiſten
und Kaſten ab. Nirgends fand es Ruhe! Nirgends! O,
dieſe Menſchen!
Der grimme Herr Nödlich aber erholte ſich allmählich
von den Schrecken jener Nacht und erzählte bald ſeinen
Freunden und Bekannten mit unheimlichem Augenrollen und
kühnen Armbewegungen von ſeinen Heldenthaten. „Die
Sache hätte ſchlimm werden können, wenn ich nicht beizeiten
vorſichtig und beherzt eingegriffen hätte. Der Kerl war ja
halb verrückt — verſteht Ihr? ...“ Und er ſah ſeine Zuhörer
der Reihe nach pfeifend an, als wollte er ſagen: „Kinder,
Ihr habt ja feine Ahnung von ſo 'was!“
Frau Nödlich will übrigens doch wieder vermieten. Viel⸗
leicht verſucht es einer der Leſer mit dem Zimmer ...
—
601
Mein Jeid.
Und al8 e3 mich wieder mürbe geglaubt,
Da ftieg e8 hernieder aus dunklen Lüften
Zum Kampfe gerüftet, und ftieß in da8 Horn
Und wedte die Sehnfuht in Schluchten und SKlüften,
Und fandte den donnernden Schlacdhtenruf
Hinab in der Seele verborgenfte Schächte,
Und wedte vom Schlummer zum Stampfe empor
Die brennenden Wünfche, die feilen Knechte ...
Und wieder geihah es, wie’ immer gefhah:
Ih wand mid) im Staube, bedbedt mit Wunden,
Die Hoffnung durdhfuchte das blutige Feld
Uub hat mid vor Thränen und Angit nicht gefunden;
Doch kihernb und höhnend in dunkler Nacht
Die Schlachtfeld⸗Hyänen, die böfen Gedanten,
Mit teufliichem Grinfen, mit graufigem Spott,
Mit Beute beladen vom Schladhtfeld ſchwanken.
Hans Biermann.
Dilettantismus.
Ein Märchen.
Es war einmal eine Seele, der hatte die Natur, als fie
ſie ſchuf, alles mitgegeben, was zum Fliegen nötig iſt: den
Mut zu wagen, die unſtillbare Sehnſucht emporzuſtreben in
die Höhe, die Kraft durchzudringen, die Nichtachtung des
Erdenſtaubes, den man unter ſich zurücklaſſen muß — nur
die Flügel hatte ſie zu guter Letzt vergeſſen. — Nun ſtand
die arme Seele im Leben und wußte nicht, wohin ſich wenden.
Sie ſah ihre Gefährten, die Sonntagsſeelen, denen ſie
ſich verwandt fühlte im Streben, Thun und Denken, ſich
mit kräftigen Flügelſchlägen emporheben in die ätherklare
Luft, immer höher und höher, bis ſie ihrem Blicke ent⸗
ſchwanden, droben in jenen Höhen, die auch ihre Heimat
waren, nach denen ſie ſich verzehrte in tödlicher Sehnſucht —
und ſie konnte ihnen nicht folgen, denn die Flügel
fehlten ih. — — — — — — — — —
Und wandte ſie ſich zu den anderen, den Alltagsſeelen,
die ſo ſicher und ruhig ihre Straße zogen und kaum einen
ſpöttiſchen Blick für die Himmelsſtürmer übrig hatten, dann
fühlte ſie ſich unverſtanden und verlaſſen. Wenn ſie von
ihrer Sehnſucht, ihrem heißen Wunſche, auch Flügel zu haben
wie jene Sonntagsſeelen, von ihrem Heimweh nach dem
Reiche hoch in den Lüften ſprach, dann lachten ſie der
phantaſtiſchen Träumerin.
Sie fand ſich auf der Straße, die die anderen fo ficher
fürbaß fchritten, nicht zurecht; fie blicte zupiel nach oben,
darum ftolperte fie über die Steine und Wurzeln des Weges,
fie verfolgte den Tlug der Sonntagzjeelen, und wußte auf
bem eigenen Pfade nicht ein nody aus. —
So Stand fie verlaffen im Leben, von dem einen bes
mitleidet, von den anderen verladıt.
Aber nicht umfonft hatte thr die Natur das Teuer des
Mutes und der Kraft verliehen — fie wollte fliegen lernen,
koſte es, was es wolle.
Sie trat zu einer der Seelen heran, die ſich gerade nach
hohem Fluge auf die Erde geſenkt hatte, um auszuruhen zu
neuen Thaten, und bat ſie, ihr zu ſagen, wie ſie das Fliegen
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
gelernt habe. Die aber lachte und ſprach: „Mir ſind die
502
Flügel gewachſen, ich weiß ſelbſt nicht, wvann und wie. Eines
Tages fühlte ich ein ungeſtümes Verlangen, ein Drängen
und Treiben, emporzufliegen in die lichte Luft, ich ſchwang
mid) auf, ſieh, ſo —“ und iauchzend ſchwebte ſie empor in
den Äther. — — — Unſere Seele aber ſah ihr nach mit
heißen, ſehnſüchtigen Augen, beobachtete die glänzenden,
ſtarken Flügel, die ſie ſo ſchnell und leicht dahintrugen, und
rief aus: „Ich will mir ſelbſt Flügel machen, dann kann
ich fliegen wie Ihr!“
Und die Seelen lächelten, ein ſtilles, eigenes Lächeln.
So ſaß nun unſere Seele Tag für Tag und Nacht für
Naht und ſchaffte und wirkte an einem Paar goldig⸗
glänzender Flügel. Die anderen aber, die Alltagsſeelen,
ſahen zu und ſchüttelten den Kopf zu ſolch unpraftifchem,
zweckloſem Thun. Unſer Seelchen aber ſah mit leuchtenden
Augen in eine herrliche Zukunft. — —
Es war ein hartes Stück Arbeit geweſen, doch endlich
waren die Flügel fertig. Sie waren glänzend und ſchön,
wie nur je die Natur welche geſchaffen. Kunſtgerecht be⸗
feſtigte unſer Seelchen ſie an den Schultern und kam nun,
zitternd vor Glück und Erregung, zu den Gefährten ge⸗
ſprungen. „Nun nehmt mich mit, jetzt will ich fliegen, fliegen,
fliegen!“ Und die Seelen lächelten, ihr ſtilles, eigenes
Lächeln.
Zwei von ihnen nahmen das Seelchen in ihre Mitte
und wollten ſich mit ihr emporſchwingen in die klare, leuchtende
Luft — aber die Erde hielt unſere arme Seele feſt, die
Schwingen verſagten den Dienſt — denn die Natur muß
die Flügel verleihen, und ſelbſtgemachte Schwingen können
nichts helfen. — —
Sie ſtand da mit ihren ſchönen, neuen Flügeln, ſah die
anderen ſich emporſchwingen und konnte ihnen nicht folgen.
Und die Seelen ſchwebten über ihr und lächelten auf
ſie herab, ihr ſtilles, mitleidiges Lächeln.
Die anderen aber, die Alltagsſeelen, kamen herbei und
ſpotteten der armen Seele und ihrer ſchönen, goldenen
Schwingen, mit denen ſie doch nicht fliegen konnte — — und
unſer armes Seelchen ließ die Flügel hängen und weinte.
Arme kleine Dilettantin! BR. RR.
Vrugbild.
E3 brauft da8 Meer; ich fuhr in Eleinem Sahne
— Wild bradh fi Well’ um Wei’ an feinem Nand —
Borbei an fteiler Klippen Felsgeſtade,
Und ad fo fern, fo fern war id dem Band.
Die Woge Ihäumt und ri in wilden Drange
Das Nuder faft mir aus der müden Hand,
Sturmpögel flogen freifhend auf und nieder,
Und ad fo fern, fo fern war ih dem Land.
Da fah ich, wie in nebelhafter Ferne
Ein ftilles Eiland aus dem Meer entitand:
„DO nimm mid auf, der Yahrt bin ich fo müde,
O nimm mid) auf, Du heiß erfehntes Land!“
Schon wollt’ an ihm den Anter ich verfenfen,
ALS Land und Anker meinem Blick entichwand;
Ein Trugipiel ware, ein leeres Nichts gemweien,
Und ich war fern, fo ferne noch dem Land.
Vaul Koͤhler.
— -
503
Dermildtes.
Der Beilige Niemand. Sankt Nemo fpielte jchon im
frühen Mittelalter eine bedeutungspolle Role. Das geht aus
einem Manuifript der palatiniihen Bibliothek zu Heidelberg
hervor, das die lateintich gefchriebene Legende des „Heiligiten
und glorreichften Sankt Nemo“ (Niemand) enthält.
Einige Einzelheiten aus derjelben werden nidjt ohne
Interefie jein. Niemand ift der Zeitgenoife des ewigen
Bater3, defjen Himmel ihm ftet8 offen fteht, denn es heißt
in der heiligen Schrift „Niemand kommt zu mir 2c.“ und
„Niemand fiehet den Herrn“. Seine Macht kommt der bes
Erlöfers glei), denn e8 fteht gejchrieben: „Niemand thut
joldhe Zeichen wie Du”. Dabei fann er vielfady thätig fein,
denn „Niemand fann ziween Herren dienen”; er darf jogar
in Doppelehe leben, denn „Niemand darf zwei Weiber haben“.
In feinem Lande ift Niemand ein großer Prophet. Daß
er ein großer Seiliger ift, erhellt aus den Worten „Niemand
tft ohne Sünde”; er bedarf feiner Mbfolution, denn „Niemand
wird ohne Buße jelig“.
Daß wir in diefer aus dem fünfzehnten Sahrhunbert
ftammenden Legende des heiligen Nemo c8 mit einer mwitigen
Satire auf die unzähligen Legenden der Heiligen zu thun
haben, ericheint Har.
außerdem: „Der liebe Niemand tft an allem fchuld.”
Der Berüßute „oe Iriede* Zuutimann erichien
immer in hellgrauer Kleidung, wie e8 aud in Pforta einen
Lehrer gab, der Stets in diejer Yyarbe erichien, wohl wegen
ber Streide, die er viel benußte. Früher erfchienen ja aud) die
Srifeure wegen des Puders jtet3 in Hellgrau und hatten
diefe Uniform mohl nody zur Zeit Buttmanns. So ging
Buttmann einft im bellgrauen Habit vor jeinem Haufe auf
und ab, al ein sremder auf thn zutrat und ihn fragte, ob
er ihm nicht die Haare abjchneiden wolle. Yuttmann erklärte
fidh fofort bereit, ging mit ihm auf jein Zimmer, ergriff die
PBapierfchere und fchnitt dem Manne die Haare ab. ALS er
fertig war, ftellte fid) der Gefchorene vor den Spiegel und
fpradh zu dem vermeintlihen Haarfünftler: „Wie jehe ich
aus! GSie wollen Frifeur fein?“ Buttmann jagte jehr
freundlih: „alt mir gar nicht ein, id) bin der Profeflor
Buttmann.“
Eine BeRaunte Borkämpferin für Die Hebung des Lofes
der Srauen hielt auf einer ihrer Agitationzreifen eingehende
Umichau in einer namhaften Bejlerungsanftalt für weibliche
Sträflinge. Der Direktor erwies ihr die Ehre, fie perlönlic)
umberzuführen und ihr alle Räume und SInjallinnen zu
zeigen. Zulegt famen fie in ein einfaches Zimmer, wo brei
Frauen, eine alte und zwei junge, emfig mit Nähen bes
ihäftigt waren. „Mein Gott, weldhe lafterhaften Gefichter,“
fagte leile die Berühmte zu ihrem Begleiter. „bei diefen
Frauen ift wohl wenig auf Beilerung zu hoffen?“ Der
Direktor verbeugte fich höflich und näherte fidy den arbeiten-
den Frauen: „Verzeihen Sie die Einfachheit unjeres Wohn:
zimmer — mir wollen burd; Gegenfäge nidjt beleidigen —
und geftatten Sie mir, gnädige Yrau, Jhnen meine Yamilie
vorzuftellen. Meine rau, meine beiden Töchter.“ — —
In einem Dorfe bei Schwedt a. DO. war ein Raftor
Grenlih, der in feinen meift plattdeutichen Predigten fein
Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. Als Markgraf
Hang don Echwedt hörte, Raftor Greulid habe von der
(Sch
Das alte deutihe Sprihwort jagt .
ae ———— ———
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
504
Kanzel auch auf ihn geſchimpft, fuhr er eines Abends zu
demſelben, hielt vor ſeinem Hauſe ſtill und befahl ſeinen
Leuten, bei dem Wagen zu bleiben und ſich nicht von der
Stelle zu bewegen, wenn ſie etwa im Hauſe würden ſchreien
hören. Dann ging er zum Prediger, wurde freundlich be—
willkommnet, erwiderte aber den Gruß nicht, ſondern zog
eine Peitſche hervor und begann auf den Geiſtlichen mit den
Worten: „Er verfluchter Pfaff, wie kann er ſich unterſtehen
und in der Kirche auf mich ſchimpfen!“ loszuſchlagen. Allein
das Blättlein wandte ſich. Der Paſtor war ein ſtarker
Mann und entgegnete: „O, wenn das ſo iſt, dann muß ich
Euer markgräflichen Gnaden zeigen, daß ich Herr im Hauſe
bin!“ Er entwandte dem Markgrafen die Peitſche und ſchlug
tüchtig auf ihn los. Der Markgraf ſchrie, ſeine Leute aber
kamen nicht, er hatte ihnen ja ſelbſt geſagt, ſie ſollten beim
Wagen bleiben, wenn auch ein noch ſo ſtarkes Geräuſch ent-
ſtände. Schließlich warf Paſtor Greulich den Markgrafen
aus dem Hauſe, ließ ſich aber klugerweiſe ſo bald als
möglich nach Reinickendorf bei Berlin verſetzen, um der Rache
des Geprügelten zu entgehen.
Sommernacht.
Schwül und ſtill die Sommernacht,
Rote Roſen neigen
Sich in märchenhafter Pracht
Schwer auf ſchwanken Zweigen.
Und den müden Sinn verwirrt
Eine Flut von Düften,
Ein verträumter Falter ſchwirrt
Auf verträumten Lüften.
Aus der Ferne tönen leis
Sehnſuchtsbange Lieder
Und im Herzen, jung und heiß,
Hallt das Klingen wieder.
Und im Herzen, heiß und jung,
Fängt es an zu wogen,
Hoffnung und Erinnerung
Sind hineingezogen.
Schwül und ſtill die Sommernacht,
Rings die Welt in Frieden, —
Nur der Seele, glutentfacht,
Ward es nie beſchieden.
Auna Vehniſch.
Inhalt der No. 46.
Art zu Art. Roman von H. Schobert. — Schwert—⸗
klingen. Vaterländiſche Roman von Hans Werder. Fortſ.
— Beiblatt: An der Gruft des Reichsfreiherrn vom Stein
zu Frücht bei Ens. Von Wilhelm Idel. — Aus meinen
Erinnerungen. Von Otto von Leixner. — Maikönigs
Tod. Von Wilhelm Schoof. — Der Zimmerherr. Von
Viktor von Kohlenegg. — Mein Leid. Von Hans
Biermann. — Dilettantismus. Von M. v. M. — Trug⸗
bild. Von Paul Köhler. — Vermiſchtes. — Sommer:
nacht. Von Anna Behniſch.
Verantworiicher Leuer: Ottto von Leirner in Verim. — —— von Otto Janke in Berlin _ Drug der Berliner Bugpruderei- Nitten« Gefelfgoft
enjhule beB Lette=Wereinß).
Deutſche
Roman-Zeitung.
—1896.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
beziehen.
Erſcheint wöchentlich zum Breife von 3% A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Bofte
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 47.
Art zu Art.
Noman
bon
H. Schobert.
Fortſetzung.)
Sechſtes Kapitel.
Martin Heekens primitives Atelier war über:
flammt vom hellſten Sonnengold. Mehr in Licht
gebadet konnte kein Königsſchloß ſein. Und etwas
von dieſem Licht flutete mit hinein durch die wind—
ſchiefe Thür, die er jetzt haſtig aufſtieß, um aus der
grellen Helle und Hitze in den kühleren, dunkleren
Raum einzutreten.
Er war ſeit Stunden unterwegs geweſen, um
alles Rötige zum Guß vorzubereiten, der morgen
beginnen ſollte, — das letzte, was ihm nun noch zu
thun übrig blieb, das letzte, was noch zwiſchen ihm und
dem Ruhme ſtand! Profeſſor Quenſel hatte es
ihm verſichert, aber noch viel feſter als dieſem glaubte
er der eigenen Überzeugung, die immerfort in ihm
wach geweſen war.
Er hatte gar feinen Zweifel, weder an feiner
Schöpfung no an fich Jelbft; e8 mußte alles jo
tommen, wie e8 eben bis jeßt gefommen, e& fonnte gar
nit anders fein! Und doch war er abjolut frei
von dhörichter Selbftüberhebung, bhochgeichraubter
Eitelkeit! Das Bewußtiein feines Könnens war }o
eins mit ihm, daß jeder Zweifel unmöglich war,
ebenjo aber auch jedes rauichartige, freudejauchzende
Empfinden.
Martin irat no einmal vor feine Gruppe.
Sa, To hatte fie werden follen! Zug um Zug, Linie
um Linie! Nichts durfte anders fein. — Wie
Schattenbilder zogen noch einmal die Tage des
beißen Ringens, der bitteren Entbehrungen an ihm
vorüber — und wie Schattenbilder zeigten fich die
Tage der Zufunft. Diefe Gruppe bier trennte beide.
Er atmete boh auf und ftrich die Haare mit
einer fajt harten Bewegung zurüd.
Da plögßlih ... . er jprang einen Schritt rüd-
wärts, feine Augen öffneten fih weit. — Yhm war
RomansZeitung 1896. Lief. 47.
e8 — den Bruchteil einer Sefunde hindurch! — als
ginge ein Zittern durch den gefehmeidigen Schlangen:
leib — als bewege fich der Kopf gierig vorwärts.
— Er wollte über die Augen ftreihen, um Dies
wunbderlie Bilb zu veriheudhen — aber ehe er nod)
die Hand bob — ehe er einen Haren Gedanten
fafien fonnte, ertönte ein bumpfer, Enifternder Laut
— unbeimliches Leben durdaudte den Gentaur! —
Dann ein fnirfchenbes, beritendes Poltern — eine
Wolfe Staub, die Augen und Lungen füllte — ein
Berg zerbrochenen, zermürbten Thones, der ausein-
anberflog — ftob — rollte — und auf der Dreh:
icheibe, die die Gruppe bisher getragen, ein weißes,
formlofes Chaos. Zu den Füßen jeines Schöpfers
lag das Kunitwerf.
Martin Heefen jhrie auf. — Er taumelte. —
Mit einem Griff padte er feine Bruft, al& müfle er
darin etwas fefthalten, das zu zeripringen drohte,
während er mit weit vorgequollenen Augen auf fein
totes Wert herabitierte.
Die Eifenftangen, die dem Thon Halt gegeben,
waren zu jchwach geweien, die gewaltige Laft hatte
fie gebrochen, jhwärzlich ragten fie bier und da aus
dent Chaos.
Und Martin Heelen fehrie noch einmal auf und
ftürzte vorwärts und warf fi vor dem Thonhaufen
auf die Knie und flug mit feinem Kopf in den
grauen Staub. Aus war alles! — Aus! —
Noch vor dem Guß war fein Werk zerflört, er
hatte es verloren! —
hm war zu Mut, als müfle er nun aud) gegen
fich felbft vafen, und er rödelte, als fämpfe id
mühfam ein trodenes, thränenlojes Schludgen aus
feiner Bruft.
Und dann fuhr er auf. Seine blutunterlaufenen
Augen flammten, feine fehnigen Hände jchlofjen fich
mit folder Gewalt zu Fäuften, daß Muskeln und
Sehnen wie Stränge anjdhwollen, der Atem leuchte,
IV. 36
507 Art zu At.
und jo rang er in wilder Verzweiflung mit dem
Schidial — — oder war es nicht eigentlich mit der
Armut? der würgenden, zerflörenden Armut?
Weil er kein Geld bejaß, hatte er die Träger
von der billigften Sorte nehmen müflen, überall
jparen, wo es nur möglid war. Er hatte es gethan
aus zwingendfter Notwendigkeit, ohne bejondere Furcht.
An einen Unglüdsfall dachte er faum, das fam doc
nur jelten vor, und an den Koften des Materials
Icheitern wollte er auch nicht, denn jeine dee trieb
und drängte rafilos zur Ausführung.
So hatte er e8 begonnen — und nun war e8 ge:
Iheitert — zerftört! — Die Thüre zum Ruhm, die
er Ihon offen gewähnt, hatte fi ihm vor ber Nale
geſchloſſen. —
Und ein Fluch rang ſich aus ſeiner arbeitenden
Bruſt gegen dieſe knechtende Armut! Er hatte das
dumpfe Gefühl, als könne er nicht los von dieſem
Fleck, als ſei die Stelle hier ein Grab, das ihn ge—
bannt hielt.
Leidenſchaftliche, ohnmächtige Verzweiflung durd)-
tobte ihn und erſt lange, lange nachher drangen
Thränen aus ſeinen Augen, ſalzige, bittere Tropfen.
Und doch brachten ſie ihm Erleichterung. —
Er kauerte zwar noch immer am Boden, mitten
unter den Überreſten ſeiner Schöpfung, aber die
wilde Verzweiflung machte einer gewiſſen Ruhe Platz.
So deutlich ſah er jetzt jede Einzelheit ſeiner Gruppe,
als wäre fie nicht zerſtört, ſondern ſtände leibhaftig
vor ihm.
Sie war gut — ſie war ſehr gut geweſen, das
hatte man ihm geſagt. Fort war ſie — zerſtört —
von der Erde verſchwunden. Aber da ſie noch in
ihm lebte, ſo war bei ruhiger Überlegung vielleicht
das Unglück nicht gar ſo groß. Seine Hände, ſein
Kopf waren ihm ja geblieben. Er konnte wieder⸗
ſchaffen, was geweſen, bald — gleich — konnte er
daran gehen und dann das Schickſal auslachen, das
in ihm ſeinen Meiſter gefunden.
Er richtete ſich auf und ſah um ſich. Die
Verwüſtung war groß. Mühſam erhob er ſich, ſeine
Glieder waren wie zerſchlagen, öffnete ein wenig die
Thür und ſah auf den Hof hinaus, ob auch niemand
da war.
Er ſchien ihm leer, und ſo ging er denn unter
den Brunnen und ließ ſich das kalte Waſſer über
Kopf und Genick laufen. Wie das wohlthat — er—
friſchte! — Wie ein ganz anderer Menſch konnte er
jetzt denken und empfinden.
Mit Staunen ſah er, daß die Sonne ſchon
tief ſtand; alſo hatte er den ganzen Tag faſt ohne
Nahrung in ſeiner Verzweiflung zugebracht. Un—
fruchtbare Zeit, wahrhaftig, für einen Menſchen, der
ums tägliche Brot zu arbeiten hat. Er ſchämte ſich
faſt ſeiner Faulheit.
Drinnen im Atelier ſah es wüſt aus. Das
klügſte wäre wohl, dort erſt Ordnung zu ſchaffen.
Er ging zu der Frau hinüber, die ihm ſonſt zuweilen
kleine Dienſte leiſtete, um ſich einen Beſen zu borgen,
aber ſie war nicht zu Hauſe. So hieß es alſo
doch wieder warten.
Er trug ſich, ſchnell entſchloſſen, ſeinen Schemel
Roman von H. Schobert.
508
und ſeine Schnitzereien ins Freie; jetzt mußte er doppelt
arbeiten, wollte er den gehabten Schaden erſetzen.
Während er das Meſſer führte, rechnete und rechnete
er. Wie lange würde es noch dauern, bis er ſich
aufs neue die Eiſenkonſtruktion ſchaffen konnte,
natürlich beſſere Qualität. — Und dann ſeine
Mutter! —
Ihm wurde heiß, als er zu einem endlichen
Reſultat gekommen war. Nein! So lange konnte
er nicht warten, das Bild entſchwand ihm ſonſt, das
er jetzt noch ſo treu und deutlich in ſeinem
Inneren trug. Mit kurzem Entſchluß, mit dem
Egoismus des Künſtlers, ſtrich er die Mutter von
ſeinem Ausgabeprogramm. Sie hatte ja bisher ge-
lebt, fie würde auch weiter leben, bis — nun ja,
bis er helfen tonnte ohne jelbft darunter zu leiden.
Seine Gruppe mußte ihm midhtiger fein.
So ließ fih’s mwenigftens abjehen! — Und doch
— für feine plöglich elementar erwadte Arbeitskraft
dauerte ibm auch der Termin noch zu lange.
Morgen — am liebften noch heute — hätte er wieder
anfangen mögen! Das erzwungene Zögern brannte
ihm jegt wie Feuer in den Adern. Da trat zum
erften Mal in feinem notreiden Leben der Berfudher
an ihn heran und raunte ihm zu, baß Fortunats
Börje ihm immer offen fei, er möge doch zugreifen
— und dann gleich beginnen — gleih! — Außer:
se Umftände redtfertigten außerordentliche
ittel.
Er nahm es ja auch nicht für fi, er nahm es
ja nur für fein Werk, jein armes geftorbenes Werft,
dem er zu neuem Leben verhelfen wollte — mußte!
Es war ihm, als mürdigte er es jegt exit richtig,
nun es ihm verloren war.
Und wenn ihm Fortunat das Geld gab, wie
fleißig wollte er dann fein! Er fühlte es ordentlich
in den Händen zuden vor Schaffensluft. Sie jollten
fih wundern, wie flint das ging!
Und während er das alles jo bedadte, hatte der
Schlag, der ihn betroffen, alle jeine Schreden für ihn
verloren, ja, während er das Mefler führte, fpißte
er die Lippen und pfiff leile vor fich Hin.
Derjenige, an den er eben dadjte, trat in diefem
Augenblid, unbemerkt von dem Arbeitenden, auf den
Hof! Er jah von dem weiten Weg jehr erhigt aus
und war innerlich nod mehr erregt dur) die Nad-
richt, die ihm Heelen geichidt:
„Komm. Meine Gruppe ift verunglüdt.” —
Mehr hatte der lakonifche Wilch nicht vermelbet,
dejlen fteile, ungelenfe Schrift merfbar verzerrt jchien.
Und jo war er denn binausgeftürzt, in wilder
Eile zu dem Uinglüdlihen, Verzweifelten. Er ahnte
genug und wollte nun tröflen — raten — helfen!
Gott, was wollte er nicht alles in dem über:
Iprudelnden Mitleid jeines warmen jungen Herzens!
Und nun fah er ihn da vor fih fißen, emiig
arbeitend, pfeifend, überftrahlt von der untergehenden
Sonne, die fein noch etwas weihlich Ichimmerndes
Haupt: und Barthaar mit purpurnem Schein übergoß.
Fortunat ftand wie angewadlen. Das Bild
war jo ruhig und friedlih, daß es ihn vermirrte.
Nur langjam kam er näher.
509 Art zu Art.
„Du — Du pfeifft, Martin?” jagte er endlich
ganz Eoniterniert.
„Ja —” erwiderte er — „was joll man ba-
gegen thun? Klagen hilft doch nichts mehr. Noch
einmal machen tft das einzigite.”
„And Du haft den Mut — die Kraft dazu?“
„Na freilid. — Deutlich fteht fie ja vor mir,
meine Gruppe, und ich wette, daß fein Haar anders
— fchlechter wird.”
Fortunat lehnte fi mit dem Rüden gegen bie
geichloffene Thür. „Menih!” fagte er, als zweifle
er an feinen eigenen Sinnen. „Und das ift alles,
was Du da fagft? Keine Verzweiflung, nit einmal
eine Klage? Sa, was bit Du denn? Ein Titan
oder au nur ein Erdenwurm?“
Heelen fahb zu ihm auf und lädelte. „Ber:
zweifelt war ich wohl zuerft. Sei frod, daß Du
mih nicht jo geliehen. Aber dadurd wird dod)
nichts geändert, es lähmt einen nur an Leib und
Seele. Da fagte ih mir: Miedermaden ift ge:
icheiter. Und fo bin ich ruhig und froh geworden.“
„Weißt Du, Heelen, ordentlih tragiich ift’s,
wenn man darüber nadhdentt; fo kurz vor dem Ziel,“
fagte Sortunat vertraulid. „Der Profeflor ift ganz
blaß geworben, als er es hörte. Und ih! Auf und
davon fag ih Dir, weil ich fürdtete, Du könntet
Dummpbeiten maden.”
„Dummheiten? Ja, welche denn?“
Er ſah ſo naiv bei der Frage aus, daß ſich
Fortunat beeilte, davon abzulenken. „Gott, was
einem dann ſo alles einfällt! — Aber — Martin
— mir ſitzt es noch in den Knochen.“
„Du biſt eben empfindlicher als ich,“ entgegnete
der andere mit einem ſo guten, ruhigen Ausdruck
im Geſicht, daß Fortunat Luſt ſpürte, ihn, trotz
ſeines Wollhemdes, an die Bruſt zu drücken. „Dir
iſt das Leben immer leicht geworden, mir nicht; da
wird man an Fußtritte gewöhnt. Aber höre Du
— ich möchte was mit Dir beſprechen — es wird
mir ſchwer — aber es geht nicht anders — ich ver—
liere ſonſt meine Gruppe aus dem Gedächtnis und
das wäre dann erſt ein Unglück. Arbeit — die bin
ich ja gewöhnt und die ſcheue ich nicht — aber
— mit der Schnitzerei hier, das dauert ſo lange,
bis ich alles beiſammen habe — und dann noch ...“
Ungeſtüm fiel ihm Fortunat in die Rede. „Du
brauchſt Geld, Martin, ſag es nur ſchnell.“
„Natürlich brauche ich Geld. Sieh — nur weil
‚ih fo fparfam war, ift das hier —“ er wies mit
dem Meffer über die Schulter — „geliehen. Die
Träger waren zu Ihwad.“
Er jaß mit gelenttem Kopf und jah aud nicht
zu feinem Studiengenofjen auf, als er jprad. Diele
erfte Bitte in feinem Leben fam ihn hart an, fait
wie Scham bebrüdte es ihn dabei, und bod —
und dohd — er konnte nicht anders. Gebieteriſch
forderte die Kraft, die in ihm lebte und die ftärfer
war als alles andere, biejes Opfer.
Fortunat jchwieg einen Augenblid. Merkmwirdig,
wie er auf einmal fharf und ar in die Seele
feines kaum gefannten Freundes hinein zu fühlen
vermochte. Er verftand die Triebfeber zu dieſem
Roman von H. Schobert.
510
Preisgeben jeiner fonftigen Grundläge, und fie be:
geifterte ihn ordentlih, wie es ihm ja jo leicht ge:
hab, jobald Eigenihaften auf die Oberfläche einer
Menichenfeele traten, die er nicht bejaß, und die er
doch anerkennen mußte.
Cr legte feine Hand auf Heelens Schulter.
„Mach Dir über diefen Punkt feine weiteren Ge:
danten, Martin,” fagte er fait feierlih. „Morgen
um bieje Zeit bift Du im Beli jo ausreichender
Geldmittel, daß Du Deine Gruppe neu beginnen
kannſt. Verlaß Dih auf mich.”
Heelen ftieß einen Jubelruf aus, am Abend
bes Tages, an ben: ihn der jchwerite Schlag feines
Lebens getroffen, einen rechten, von Herzen fommen:
den Subellaut. Er dadte nicht an die Arbeit, Die
feiner wartete, alles brannte, fieberte in ihm nad
dem Beginnen.
Fortunat Ichüttelte den Kopf. „Wie elafliich er
it,” dachte er beim Nachhaufegehen. „Wäre ich es
wohl auch?”
Und feufzend befannte er es fich ehrlih, daß
bei ihm eine Deprejfion länger anzubalten pflegte,
Ihwieriger zu überwinden war.
„Db er nicht glüdlih tft — troß alledem?” —
Diefes „trog alledem” galt feiner Armut, feinem
ungepflegten Außeren, Dinge, die Ler ein Greuel
waren, und doc fragte er fih noch einmal fait
Kulen: „Sb er nidt glüdlih it? Glüdlicher
als wir?“
Siebentes Kapitel.
Fortunat kehrte direkt in das Haus des Pro:
feffors zurüd, wo man ihn mit großer Spannung
erwartete. Das tragiihe Geihid, das ein bereits
von der Sury jo gut wie anerlanntes Kunftwert jo
kurz vor der Ausführung betroffen, konnte nicht
anders ale audh für den Künftler Teilnahme er:
weden.
„Wie Haben Sie ihn denn gefunden, den
Armen?” fragte der Profefior den Eintretenden, in:
dem er fih erhob und ihm ein paar Schritte ent:
gegenging.
„Wie? BPfeifend,” antwortete Fortunat laloniich.
Dann fuhr er erregter fort: „Sa, Herr Pro:
feffor, es ift, wie ich jage — er arbeitete und pfiff
fih dazu ein Lied, als ginge ihn die ganze Sache
nichts an.”
„Wie Ecipio oder fo ein großes Tier auf den
Trümmern Karthagos,” fiel Zuzie jpottend ein.
Der BProfeffor war vor Eritaunen ftehenge-
blieben. „Nicht möglich!”
„Sa, das dachte ich zuerft au, aber — id)
kann e8 bejchwören.”
„Der reine Milde im Empfindungsleben,”
jagte Emil jpöttiid. „So babe ih ihn, troß feines
Talentes, immer tariert. Was jagen Sie, Miß
Maud?“
„Ein übermenſchlich großer Charakter, ſcheint
mir.“
511
Die Amerikanerin hatte ſich erhoben. Mit
beiden Händen auf den Tiſch geſtützt, etwas vorge—
beugt, ſtand ſie blaß, aber mit einem eigentümlichen
tiefen Leuchten in den dunklen Augen da und ſah
den Sprechenden an.
Emil trat auf ſie zu. „Uberſchätzen Sie ihn
nicht. Was meinem guten Lex und auch Ihnen
ſolchen Eindruck zu machen ſcheint, iſt nichts anderes
als das dicke Fell, das dieſe unteren Volksklaſſen
vor uns voraus haben.“
Sie ſtreifte ihn flüchtig, ſogar etwas ungeduldig
mit den Augen. „Mag ſein.“
„Sie haben noch ſo viel Illuſionen über die
Menſchen, Miß Winter, Hände voll, ſcheint mir.“
Sein überlegenes, faſt impertinentes Lächeln
ärgerte ſie — ſie würdigte ihn keiner Antwort.
Dagegen lauſchte ſie mit geſpannter Aufmerkſamkeit
hinüber, auf das, was Fortunat erzählte. Wie ſie
das alles intereſſierte! Wie ſich Phantaſie und Ge—
danken daran beteiligten, und dazwiſchen dachte ſie
doch: „Wie leer und arm muß mein Herz ſein,
daß ich nichts anderes habe als dieſen Fremden,
den ich nicht kenne, und deſſen Kunſt mich noch
nicht einmal hat begeiſtern können.“
Da ſagte der Profeſſor: „Dem Menſchen muß
geholfen werden, das ſteht einmal feſt. Eine Schande
wär's, wäre es anders. Nicht mit einem Darlehn
aus Ihrer Taſche, lieber Fortunat, ſo hübſch die
Abſicht Ihrerſeits auch iſt, ſondern von uns muß
es ausgehen, von uns Vertretern der Kunſt. Ich
werde dafür ſorgen, daß er ein Stipendium be—
kommt, damit er wenigſtens ſorgenlos leben kann,
und jetzt werden wir eine Sammlung veranſtalten,
die ihn in ſtand ſetzen ſoll, neues Material anzu—
ſchaffen; das ſind wir ihm ſchuldig als Glieder
einer großen Korporation. Geben Sie einen Bogen
her, Fortunat, damit wir gleich eine Subſkription
beginnen.“
Und der Profeſſor ſetzte an den Kopf ſeinen
Namen mit einer Summe von zweihundert Mark.
„Aber Papa — welche Verſchwendung,“ rief
Luzie, die hinter ihm ſtand. „Und für mich haſt
Du kein Geld zu einem zweiten Sommerkleid übrig.
Da fieht man, was für ein Nabenvater Du eigent:
lich biſt.“
Sie ſprach im Scherz, und doch war es ihr
bitterer Ernſt. Solche Ausgaben, die ſie für über—
trieben und überflüſſig hielt, nahmen ihr die Laune,
denn im Grunde ihres Herzens war ſie eine klein—
liche, geizige Natur, ſowie es ſich um das Wohl
anderer handelte.
Der Profeſſor ſtrich ſeiner Tochter begütigend
über den Kopf; er nahm ſolche Ausbrüche niemals
ernſt und kam deshalb gar nicht dazu, ſich über den
wahren Charakter ſeiner Kinder klar zu werden.
„Darf ich auch?“ fragte Maud, an den Tiſch
tretend und nach der Feder greifend. Ihre Augen
glänzten, ſie empfand es einmal wieder mit Genug—
thuung, wie angenehm es iſt, reich zu ſein.
Der Profeſſor nickte vergnügt, und dann folgten
alle der ſchmalen, weißen Hand, die in langſamer
Sicherheit: „zweitauſend Mark“ hinſetzte.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
512
„Herr Fortunat muß nur ſo freundlich ſein,
ſich der Wechſelung zu unterziehen,“ ſagte ſie und
ging gleich eilig fort, um einen Check zu holen.
Die Zurückbleibenden ſahen ſich erſtaunt an.
„Welche Protzerei!“ warf Luzie mit einem ge—
wiſſen Hohn hin. Maud war ja in dieſem Augen⸗
blick abweſend, da konnte ſie ehrlich ſein.
„Wenn ſie ſich nicht bald einen vernünftigen
Mann anſchafft, wird das ſchöne Vermögen wohl
ſchnell zu Ende ſein,“ meinte Emil ärgerlich. Da
er ſich bereits als Mauds Zukünftigen betrachtete,
kam es ihm wie ein ungehöriger Raub an ſeinem
Eigentum vor.
„Iſt denn das Mädchen in ſo guten Verhält—
niſſen?“ fragte der Profeſſor, ganz erſtaunt um ſich
ſehend, und vielleicht kam ihm in dieſem Augenblick
derſelbe Gedanke wie ſeinen Kindern. „Sie kleidet
ſich doch ſo einfach und benimmt ſich ſo einfach, daß
Du, Luzie, Dir nur ein Beiſpiel daran nehmen
könnteſt.“
Seine Tochter erwiderte nichts, denn Maud
kam zurück und reichte Fortunat das Papier herüber.
Er ſah rot und verlegen aus, ein faſt herber Zug
lag um ſeinen hübſchen Mund, als er nur zögernd
danach griff, indem er den Profeſſor anſah.
Der munterte ihn auf. „Genieren Sie ſich
nicht. Wenn dies junge Fräulein wirklich über ſolche
Summen verfügen fann, ohne fih deshalb Ein:
Ihränfungen aufzuerlegen, dann find wir es unjerem
Freunde — oder vielmehr feinem Genie jchulbig,
das nicht abzumeilen.”
„Don einer Dame . . .” jagte Fortunat halb:
„Es könnte ihn beleidigen!”
Nun late Emil laut auf. „Guter Ler, trage
nicht Dein Feingefühl in die Bruft eines anderen.
Übrigens Tanıı e3 Heelen ganz gleich fein, von
wem das Geld foınmt, wenn es nur überhaupt da
it, und ich glaube, in den FKreifen, aus denen er
berftammt, ift man auch nicht gewohnt, danach zu
fragen.” Ä
„Du thuſt ihm unrecht,“ jagte Fortunat nad:
drücklich. „Und überhaupt bei den reichen Gaben,
was ſoll da noch mein Scherflein; er wird es kaum
merken.“ Dabei ſah er kindlich unglücklich aus.
„Vielleicht hat er arme Familienmitglieder, die
zu unterſtützen ihm viel wert iſt,“ meinte der Pro—
feffor gutmütig. „Und wenn Sie dann damit bie
Subjfription Ichließen, jo haben Sie mwenigftens Zeit
und Atem geipart, Fortunat.” |
„Wie unfreundlid Sie gegen mich gewejen
find,” fagte Maud im Verlauf des Abends, als fie
ihn zufällig einen Augenblid allein jpredyen Eonnte.
„Sehr unfreundlid! Und ich Tonnte mir einbilden,
Sie würden mein Freund fein.”
So melandoliih jah fie dabei aus, daß er jo:
fort fein Herz gerührt fühlte. Auch war er ja etwas
Ihuldbemwußt, denn er wußte jofort, was fie meinte.
Schnell Jah er ih um, ob fie auch niemand hörte.
„Sehen Sie, Miß Winter,” fagte er eilig, „es
it jo ein verteufelt anderes Ding um die Theorie,
ala um die Praris. Als ich das Geld von Ahnen
nahn, da — da war es mir, als wäre das nicht
laut.
ee ——
513 Art zu Art.
anftändig — als dürfe ih das nit. Bei uns
nimmt eben fein anftändiger Menih Geld von
einer Dame.”
„Ih weiß,” entgegnete fie immer nod mit
demjelben Ernit. „Es hätte Sie aber nicht geniert,
wenn ih Xhnen unbelannt gewelen wäre.”
„Dielleiht nicht. Aber fo mußte ich an uniere
neulihe Linterredung denten ... Sie wollen teil:
haben an dem Schaffen des Mannes, dem Sie helfen.
Bei Martin Heelen wird Ihnen das faum gelingen.
Das drüdte mid. ch mußte es Ahnen jagen.”
„Damit ih meine Gabe nicht bereue?” Sie
war jehr- rot geworden und preßte die feinen Lippen
zufammen. „OD, feine Sorge! Dies hat mit meiner
Abfiht gar nichts zu thun. Dies biete ich einem
Menihen, der mir größer zu fein Icheint als bie
meijten, unter denen er fteht.”
„Und wenn er e3 zurüdmweilt?”
„Das darf er nicht.” hr Kleiner Fuß trat
heftig den Boden, fie war zomig. „Sorgen Sie
dafür, daß er es micht thut; nennen Sie meinen
Namen nidt. Hören Sie — jagen Sie, es füme
alles vom Profeffor. Alles!”
„Sie find jehr großberzig. Unter diefer Flagge
fann ich es thun.”
Ohne ein Wort drehte fie fih ab. Sie war
zornig auf ihn, auf fi, auf alle Welt. Welch einen
Lärm machten fie um dies elende bißchen Geld, nur
weil fie, die e8 gab, ein Weib war! Von einem
Mann bätten fie es ohne Bedenfen genommen, ihn
no dafür gepriefen. E8 aus ihrer Hand zu nehmen,
Ihien beinahe eine Shmadh. — Dadıten fie wirklich
alle jo, oder nur diejer Fortunat, der nad feinem
Empfinden alle beurteilte, die ihm naheflanden.
Und doch, obgleich fie vorher beleidigt gemwejen, gefiel
er ihr recht gut in feinem vffenen Freimut.
xhre Blide juchten ihn verjtohlen. Da faß er
zwilden Emil und Luzie, plaudernd, lahend, jung,
bübjh, begabt. Etwas wie Neid überfiel fie, daß
fie nit au ein Mann war.
Warum durfte fie nicht dabei fein, wenn
Heelen morgen das Geld befam! Cinmal eine
Freude jehen, jo eine rechte wilde, maßloje Menjchen:
freude, danach lechzte fie ordentlid. — —
Es war faum Mittag, ala Fortunat am nädjften
Tag bei feinem Freunde eintraf. Er begegnete ihm
auf dem Hof, auf und ab gehend, unruhig, unfähig
zu arbeiten, voll bangendem, jehnendem Hoffen. Die
ganze Nacht hatte er nicht fchlafen fünnen, fi nur
auf feinen Lager. gewälzt in Gedanfen an feine
Gruppe. Würde ihn Fortunat von diefer Schaffens:
qual erlöjen? Er jahb in des Kommenben Gefidt,
und ein Seufzer der Erleichterung hob jeine Bruft.
Er Hatte aljo Wort gehalten. —
„Komm hinein,” mwintte Fortunat, an der
Atelierthür fteher bleibend. Es Ichien ihm nicht rät:
lid, den Reichtum, den er mit fich brachte, vor all:
zuviel gierigen Augen zu zeigen.
Und drinnen im Atelier jeßte er fih Hin und
legte das ganze Geld in Hundertimarfidheinen auf
Heetens Bett. Sein hübjches Geficht leuchtete ordentlich
vor Freude,
Roman von H. Schobert.
514
Der andere jaß daneben, ftil, tumm und blaß;
die Hände auf die Knie geitemmt, jah er mit faft
ftumpfem Ausdrud auf die blauen Scheine herab.
„Alles Dein,” jagte FYortunat, als er zu Ende
„Alles — alles Dein!”
Martin atmete tief auf, wie unter einem Drud.
„Aber das brauche ich ja nit — was joll ih
denn damit? . . .” fiieß er bervor.
„Es gehört Dir!”
„Mir? Der ih Dih nur um ein paar Marf
für das Gerüft bat? Wie follt ih Dir das jemals
zurüdgeben?”
„Gar nicht, Martin, gar nicht! Es tft alles Dein,
ohne daß Du jemals an Zurüdgeben benten braudit.
Alles! — Der Profefior Ihidt es Dir, bamit Du ohne
Sorge arbeiten und leben fannft. Nun ift feine Not
mehr! — Freue Dich do, Menich, freue Di doch!”
Es war nötig, daß er ihn anftieß, denn Heelen
rührte fih nit. Stumm und flarr jahb er auf
das Geld, das er no niemals in folder Menge
beilammen gejehen, und dennoch erregte es ihm
feine Freude, eher einen erjtidenden Alpdrud, den er
im ganzen Körper zu fühlen meinte.
„Ih will Euer Geld nidt — ich bin Fein
Bettler!” ftieß er endlich heraus, als müfle er fi
mit diefen Worten gegen das wehren, was jo über:
mächtig plößlich über ihn hereinbradh und ftarf war,
ftarf und dabei doch fo gejchmeibig wie die Schlange,
bie feinen Gentauren tötete. Er fühlte, wie Das
Geld vor jeinen Augen lebendig wurde, wuchs, nad)
ihm griff und um ihn rang, um feine freie, jelb:
ftändige Seele, die bisher fih noch feiner Macht
gebeugt hatte.
„Timm es fort!“ ftöhnte er und bedte bie
Augen mit der Hand. „Nimm es fort! Ach will
nit!” — Es war nur inftinftive Abwehr, die ihn
trieb, jo zu handeln wie er that. Er fühlte die
Schlinge, bie ihm um den Naden geworfen wurde
und bäumte fi dagegen auf mit der ganzen Kraft,
die ihm eigen. Heiß und beflemmenbd ftieg es in ihm
auf vor diefen harmlojen blauen Scheinen, die jo
friedlich dalagen, als hätten fie gar nicht die Macht
über die Meniden, der doch ein jeder verfällt.
Ein jeder!
Fortunat late. Er war jo herzensfrob über
die Freude, die er einem Menfchen, den er bodhitellte,
maden fonnte, daB e8 ihm gar nicht einfiel, in
Heelens Abwehr mehr zu jehen als nur die plößliche,
berauſchende Überraihung.
„Wie werde ih Dir denn fortnehmen, mas
Dein rechtmäßiges Eigentum ift,” fagte er, im
Melier auf und ab Schreitend. „Die erfte An:
erfennung, die man Deinem Genie zollt. Sei doc
olz darauf, Menfh! Wenn der Profeflor nicht
ganz genau müßte, was in Dir ftedt, glaubft
Du, er mürde fih dann Deine Angelegenheit jo
zu Herzen genommen haben? Nein, mein Lieber,
in der ganzen Welt wälcht immer nur eine Hand
die andere. Du bilt fein Schüler, Dein Ruhm ift
alfo jein Ruhm. ei nur ruhig, zu viel jchenten
thut er Dir nit. Aber deshalb ift er doch ein
jeltener Menjch, fobald es fih um das Helfen
war.
515 Art zu Art.
handelt. Denke nur, ein Stipendium will er Dir
auswirken.”
Und Fortunat 309 fi den Schemel herbei und
erzählte dem Aufhorchenden, was bei Quenjels ver:
handelt worden war. Nur von Mauds Beteiligung
an der Sammlung jhhwieg er. So ganz fiher war
er fih nit, wie Heelen das aufnahm. Und er
mochte Maud nicht Tränfen, um feinen Preis. Zu:
dem batte fie ihm ja volllommene Freiheit gegeben,
zu bandeln, wie ihm gut dünfte, er fündigte alfo
nicht gegen fie. Erft jollten fie fich fennen lernen.
Entweder verlor fie dann die Luft, fich gerade Heefen
für ihre philanthropiichen Abfichten auszuludhen, oder
die Sache glich ji aus, denn fchließlih war gerade
diefe deutiche Amerikanerin ein Mädchen, das mit
anderm Maß gemeflen werden mußte.
Fortunat Iprach und jprady, er beachtete es nicht,
daß Heelen ftumm neben ihm jaß, daß auf feiner
Stirne Schweiß ftand und daß er die Augen nidt
von bem Gelde wandte, das ihn völlig zu fascinieren
dien. Endlih unterbrach er ihn.
„Du fagft, das da ift mein — ih Tann damit
maden, was ih will.”
„Aber natürlich.”
„Auh meiner Mutter davon geben? Der
alten Stau geht es nur elend,” feste er balblaut,
wie entichulbigend Hinzu.
„Wer wollte Did wohl daran hindern? Nimm
Deine Mutter zu Dir, Martin, jeder wird das nur
anerkennen, und Du bift dann ficher befler verpflegt.“
Cr fjahb fih Ichaudernd in dem verwahrloften
Raum um, und auch) des Freundes Kleidung ftreifte
er dabei mit den Augen. Natürlich, ihm that eine
FSrauenhband nötig, die um ihn forgte; wer fonnte
das wohl befjer als die Mutter? Fortunat, der
jeine Eltern nit gelannt, fühlte fait etwas wie
Neid bei dem Gedanten, daß fein Freund von
nimmermüder WMutterliebe umjorgt fein würde,
während er niemand hatte, der jo feit und natürlich
zu ihm gehörte.
„Und mie die alte Frau Stolz auf Dich Jein
wird,” fagte er weih. „Wie fie Did bewundern
muß, ihren eigenen Sohn.”
Heelen blidte jharf auf. „Meine Mutter ver:
fteht nichts von meiner Kunft. Freilih” — aud
er jah fich rings um — „jauberer wird es dann wohl
werden, aber das geniert mich nicht, ih kann auch
jo arbeiten.” Und als hätte er mit diefem Wort
den Kulminationspunft jeines ganzen MWejens er:
reicht, begannen feine Augen zu funteln, die Bruft
hob fih und er ftrich die Haare aus der Stirn.
„And arbeiten will ich jegt — arbeiten! hr
jolt nur fo ftaunen! Sch habe ja feine Ruhe eher,
bis ich meine Gruppe wieder habe.”
Vergeflen war das Geld, die Mutter, er dachte
nur an feine Schöpfung, und biejer Gedante jtraffte
ihm Musteln und Sehnen.
„Ra, na,“ meinte Fortunat zweifelnd, „jo eilig
wird das wohl nicht gehen. Wenn Du in folcher Eile
dann daneben greifft, kannt Du Dich nicht wundern.”
Da warf Heelen den Kopf in den Naden und
late auf. „Ich daneben greifen? ch?! Meine
Roman von H. Schobert.
516
Hand jehe ich nicht deutlicher als meine Gruppe.
Glaube mir, der Martin Heelen greift nicht da-
neben.” Das Klang königlich ftolz aus dem Munde
des Proletariers, der breitbeinig, feiner Kraft fi
bewußt, daftand und auf den zierliden Freund
berabfah, in beflen Bruft neben der Schöpferfraft
immer zugleich ber Zweifel und das Fritiide Empfin-
den lebendig war und ihm den Genuß an jeinen
Schöpfungen beinträchtigte. Fortunat feufzte neidvoll.
„Du Glüdliher! Sol Selbftbewußtjein ift
bob eine Gottesgabe, bejonders wenn es be-
rechtigt if. — Zh muß aber jet fort, hoffentlich
zieht Du als Kröfus, der Du jet bift, in etwas
erreihbarere Nähe, ih will Dir gern ein Atelier
fuchen helfen. Und wann joll ih Dich beim Profejlor
anmelden, daß Du ihm dantit?”
„Banken?“ Heelen jchüttelte fihb. „Das ver:
ftehe ich jIchlecht, Fortunat. Mit der Feder und mit
den Morten, da bin ich nicht jo gewandt wie hr.
Aber —“ und er padte ihn bei beiden Schultern
und jchüttelte ihn Hin und ber — „lage ihm, daß
ich arbeiten wil — arbeiten wie noch nie! Seine
Ruh’ will ih mir gönnen Tag und Nacht, bis ich
die Gruppe fertig babe — das fol mein befter
Dank fein.”
Fortunat jah ihn ein Weilden ftumm an. Er
baßte eigentlich bieje elementaren Ausbrüche, die von
einer gemwifjen Körperkraft unterftügßt wurden, Die
ihm unbequem war; Martin Heelens Hände waren
jo fehr feft, dennoch war er Künitler genug, die Be
geifterung mitzuempfinden, die den andern durchglühte.
„Das wird ihn jehr freuen, genügt aber doch
nit ganz. Man quittiert nicht dreitaufend Mark
mit einer mündlichen Beitellung. Du mußt jelbft
gehen, Martin.”
Er zudte bin und ber mit jeinen breiten
Schultern wie unter Törperlidem Unbehagen, dann
faltete er die Stirn. „Ah thu’s nidt. Ih will
arbeiten,“ troßte er. „Geht es nicht ohne jolchen
Dant, dann nimm das Geld nur wieder mit.”
„Du bift verrüdt, Menjch, ganz verrüdt,” fuhr
Fortunat auf. „Gut! Für diesmal werde ich Dich
mit Deiner Arbeitswut, Deinem furor teutonicus
entfhuldigen, wenn aber Deine Gruppe fertig ift,
dann bolft Du das Berläumte nad, Tommit mit
mir zu Quenfjels.“
„Dann in Gottesnamen.”
„Hand darauf?”
Heelen reichte ihm feine große, bäßlihe Hand.
Er late dabei heimlich vor fi hin. „Oft werden
fie fein Berlangen haben, mid zu jehen. Aber
geh jeht, Fortunat, ich bitte Dich, gleih will id)
mir alles beforgen, was ih braude, meine Holz:
Ichnißereien abliefern und dann — dann arbeiten!“
Er redte die Arme in die Luft und dehnte die
breite Brufl. Ganz verwandelt jah er in biejem
Augenblid aus. „So jJolte ihn Miß Winter
\eben,” dachte Fortunat im ftillen; und wieder
regte fih in ihm der Stolz auf denjenigen, den er
fih) nun einmal gewöhnt hatte Freund zu nennen,
der Stolz, und das Gefühl des Nichtverftehense —
trotz alledem.
517 Art zu Art.
Achtes Kapitel.
Es war merkwürdig, mit welcher Beharrlichkeit
ih Mauds Antereffe immer wieder den Thema zu:
wandte, das fie in ben wenigen ungeftörten Augen:
bliden, die ihr mit Fortunat blieben, zu variieren
liebte: Martin Heelen! Sie wurde nicht müde, nad)
allem, aud dem Geringften zu fragen. Die kraft:
volle, zielbewußte Energie, die ihr aus dem, was fie
hörte, entgegenatmete, diejes vollfländige Beharren
auf fich jelbft imponierte ihr um fo mehr, je weniger
fie jonft gewohnt war, es zu finden.
Und Fortunat mußte jo viele Tleine Züge zu
erzählen, die fich ihr zu einem immer beutlicheren
Gejamtbild verjhmolzen, daß e8 ihr vorkam, als kenne
fie ihn bereit8 ganz genau.
„Machen Sie fih nur um Gottes willen feine
Slufionen, Mig Winter,” fagte er einmal, feine Er-
zählung |chroff unterbredend. „Das follte mir leid
thun um meinen $reund. Man ift nämlich niemals
ungerechter als gegen die Menfchen, von denen man
vorher jo viel gehört Hat, daß fie zu Ausnahmen
berausgewadhjlen find, und bie fich bei näherem Zu:
jehen dann do als ganz einfadhe Menjhen ent:
puppen.”
Maud jah ihn groß an. „Berkleinern Sie fi)
doch nicht felbft,” entgegnete fie faft piliert. „Wäre
hr Heelen ein Dubendmenih, es gelänge ihm gar
nicht, hr Interefle fo lange zu erregen und felt:
zubalten. Seien wir Do froh, daß wir einmal
jemand haben, der größer ift als die andern, und
bejchneiden wir ihm feine Größe nicht.”
„So ein Dußendmenih wie ih bin,“ meinte
Fortunat Häglih, „hat vielleicht nicht einmal den
rihtigen Maßftab für die Größe anderer. Nur ein
Ausnahmemenſch Fünnte das richtige Urteil über
einen ebenjolden abgeben.”
„Darüber ließe fich fNreiten.” Mik Winter
hatte eine niederträdhtige Manier, ihrer Meinung
Nahdrud zu geben durdy die Art und Weile, wie fie
eine Konverjation abbrad, das geitand fi Fortunat
mandmal wütend. Ind dann war es doch auch feine
Art, ihn fo ohne Widerfpruch unter die Dubendnienfchen
einregiftriert zu lallen, eine Kleine böflihe Abwehr
hätte doch nichts geichabet. Er biß fih auf bie
Lippen und jah in Mauds Mares, ruhiges Gefidht.
Er freute fih falt im fiilen, wenn er an bie
Enttäufhung dachte, die ihr mwenigftens Martins
äußerer Menjch bereiten würbe.
Luzie fam in diefem NAugenblid dazu. Gie
ärgerte fi jedesmal, wenn fie die beiden bei
einander fand und machte Emil die beftigften Bor:
würfe, aber der Bruder grinfte nur vergnüglid. Er
tannte Fortunats momentane Zeidenichaft und mußte,
daß er ganz ruhig fein Eonnte.
Zuzie jchob ihren Arm unter denjenigen Mauds.
„Liebite,” Tchmeichelte fie, denn feitvem Träulein
Quenſel fih mit ihrem Bruder ausgeiproden, er:
drüdte fie die Amerilanerin fürmlih mit Freund:
Ihafts- und Zärtlichleitsbeweifen. „Wir fiten bier
eigentlich recht wie die verwunjchenen Prinzelfinnen,
Roman von 9. Schobert.
518
wollen wir nicht etwas |pazieren gehen, irgend elıvas
vornehmen? Mir jcheint, man wird faul von diejer
beihauliden Ruhe.”
„Gern. Wohin wollen Sie gehen, Zuzie?”
Maud war nie Spielverderberin und daher eine jehr
bequeme Hausgenoffin. :
„Bei der Hite!” flöhnte Emil aus ber Tiefe
leines Seflele. „Du bift übergeihnappt. Miß
Winter wird fich ihren Schönen Teint verderben.”
„Herrgott, Emil, wie galant! Darauf können
Sie fih wirflih etwas einbilden, Maud. — Aber
Fortunat, warum ftehen Sie denn mit jo einem
Sammergefiht abfeits? SIR es Shnen etwa aud)
zu heiß?“
„SH warte nur, wie und ob die Damen mid
überhaupt befehlen,“ jagte er immer nod etwas
grollend.
„Aber natürlich, Lerchen, Sie find ja jozujagen
die Hauptperfon in meinem Plan.” Xuzie war vor
ihn hingetreten und jah ihm mit großen Augen in
das Gefiht. „Wird es uns nämlih zu Heiß, jo
machen wir Station in Shrem Atelier, nit wahr?
Maud hat nämlidy noch gar nichts von Ihnen geſehen
und muß Sie doh auch bewundern lernen. Sit das
nicht ein famoler Gedante?”
Fortunat lächelte. Wahrlich etwas Angenehmeres
hätte ihm gar nicht paffieren können als dies Projelt,
dann mürde fih dod „Te“ aud am Ende zu ber
Überzeugung burdhringen, daß er nicht nur fo ein
allgemeiner Dußendmenid ei, daß man ihn ein
bißchen ernft nehmen könne, ohne den hödjiten An-
forderungen an die Kunft gar zu viel zu vergeben.
Er verbeugte fi tadellos, mit dem Wiederichein
des Vergnügens auf jeinem hübjchen Gefiht. „Nichte
fönnte mir willlommener fein.“
„Halt Du no von Deinem Rufter Ausbrud?“
fragte Emil fürforglih, ehe er fih zum Mitgehen
entichloß.
Es war nicht drüdend heiß, aber doch Ichon
ehr fommerwarm, als man auf bie Straße trat,
die frifhe erquidende Herrihaft des Frühlings
bereits zu Ende, Emil jchnaufte ein wenig, ging
aber doch in einen an ber Straße belegenen Blumen-
fiost und fam mit einem prachtvollen Strauß zart:
gefärbter, blütenfhwerer Rofen wieder heraus. Daß
fie nicht auf Draht, fondern an den eigenen langen,
Ihmwantenden Stielen waren, madte fie doppelt reizend.
„Miß Winter,“ fagte er, „darf ih mir ers
lauben . . . Eine banale Redensart dazu zu finden,
wäre ja nicht jchwer, aber abgeijhmadt Zhnen
gegenüber.”
Sie nahm die Rofen mit ungelünftelter Freude
entgegen. So viel Gefjhmad und Takt im Über:
reichen hätte fie ihm gar nicht zugetraut.
„Und wo bleib’ ih?” rief Zuzie nedend ihrem
Bruder zu.
Er reichte ihr einen Eleinen Beildhenftrauß. „Zu
mehr Fonnte ficd meine brüberliche Liebe wirklich)
nicht aufſchwingen.“
Sie lachte, nahm den Strauß und hielt Fortunat
zurück, der nun ſeinerſeits den Galanten ſpielen wollte.
„Laſſen Sie nur. Und wenn es Ihnen recht
519 Art zu Art.
it, bleiben wir etwas zurüd. Sie glauben gar
nicht wie froh ih bin, daß Emil einmal eine ernft:
lihe Neigung gefaßt hat, die Dauer veripricht und
eine Zulunft hat. Maud wäre mir als Schwägerin
herzlich willkommen.“
Er ſtarrte „fie faffungslos an. Was er hörte,
war ihm wie ein Schlag auf den Kopf.
„3a, haben Sie es denn noch nicht gemerkt?”
fuhr Luzie feelenruhig fort. „Sch brauchte feine
Beichte gar nicht erft.”
„Aber das fann ja nicht fein,” flotterte er
verwirrt.
Sie Jah ihm jharf in das Gefidht. „Sie fteden
fih doch nicht etwa dazwildhen, Yortunat?”
„Wie können Sie benfen,” rief er ärgerlich.
„Sm Gegenteil. Aber paßt denn Miß Winter
gerade für Emil?“
„Ih glaube jhon. Da fie feine jehr bequeme
Frau if, jo muß fie einen bequemen Mann nehmen,
na, und das ift Emil doc.”
Er jchüttelte immer noch außer fih vor Staunen
den Kopf. Wie blind mußte er fein, daß er jo gar
nicht jah, was um ihn vorging!
Sie waren jebt ein gutes Stüd hinter den
anderen zurüdgeblieben. Maud, die fih umgefeben,
blieb ftehen, fie zu erwarten. Emil benahm fich jo
fonderbar, daß ihr das töte-a-töte lältig wurde.
Nicht allein, daß er ihr immer in die Augen zu
jehen verjuchte, er berührte auch beim Gehen zuweilen
ihren Arm und |prad) jo anders als fonft.
„Ab,“ Tagte er jegt mit bitterem Lächeln, als
fie ftehen blieb. „Sch verfiehe! Sie weilen mid auf
bieje feine Art in die Grenzen zurüd, die Sie mir
zu fteden beliebt haben. Aber giebt es nicht
Augenblide, wo man entihulbigt ift, wenn man
diefe Grenzen nicht rejpeftiert?”
„zum Beilpiel, wenn man jo warm ift wie Sie
in diefem Augenblid,“ entgegnete fie mit feinem
Lächeln. „Armer Mifter Duenfel! Hoffentlid mwintt
Shen bald Erholung.”
„sh habe Teine Dufche mehr nötig,” jagte er
ingrimmig, trogdem aber doch Tlug genug, Tofort
jeine Dffenfive einzuftellen. „Es bat fie überrafcht,”
dachte er jehr vernünftig. „Ich darf nicht zu Icharf
ind Zeug geben.” —
Sm Atelier war es fühl und erfriichend. Fortu-
nat liebte es, fih mit Blattpflanzen in gewaltigen
Kübeln zu umgeben, die die Quft frifch erhielten.
Er fonnte das, denn der Raum, in dem er empfing,
und der mit allem Lurus ausgeltattet war, bildete
nur ein Vorzimmer zu jeinem Atelier; der Arbeits-
raum lag dahinter, Hein, Tabl und nadt, aber
genügend, um feine Gedanken zu grazidien Werken
zu formen. Er war abgeichloffen und niemand
zugänglich.
Maud biidte fih mit Befremden in diejem
weichlihen, üppigen Raum um. Nichts gab ein
treueres Bild von Fortunats ganzem Menjchen.
Alles Hübih, graziös, zierlih, Fünftleriich feinjühlig
und dennoch nicht voll befriedigend, weil der tief:
innerfte Kern, das Arbeitsfeld des Mannes, ver:
Ihlojlen war wie ein Etwas, deflen er fich zu
Roman von H. Schobert.
520
Ihämen hätte. Nur die fertigen Statuen ftanden in
Thon und Gips und Marmor überall umber auf
Säulen und Poftamenten, aber wie etwas Neben-
\ächliches, nicht Tonderlich zu Achtendes.
Emil janf gleih in ben tiefiten Sellel des
Ateliers. „Uf!” ftöhnte er. „Gieb mir zu trinken
oder ich fterbe.”
Fortunat war jchon eilig dabei, feine Gäfte zu
bedienen, er liebte e& jehr, fich als Hausberr zu zeigen.
„Run, Maud, wie gefällt es Ahnen bier?”
fragte Luzie, die fih halb auf ein Chaifelongue ge:
worfen. „Nicht wahr, Fortunat verfteht zu leben.”
„Sa, das verfteht er,” gab Emil zu; Efniff ein
Auge zu und blinzelte über den funfelnden Wein
auf die Statuetten. „Alles nah dem Leben, Miß
Winter; nad dem warmen, atmenden Leben. Sein
Wunder, daß dabei fein Herz nicht ruhig bleiben fann.”
Maud war aufgeftanden und hatte fich Dielen
teizenden, verführeriihen Sachen genäbert, um fie
näber in Augenjchein zu nehmen. Es ging ihr wie
allen, fie fühlte fich entzüdt, bezaubert. Dieſe friſche
Natürlichleit neben ausgejuchter Grazie verfehlte nie
und nirgends ihren Eindrud und rüdte ihr den
Künftler ale Menfhen auh in ein anderes Licht.
Sgebt begriff fie, daß das, was fie oft für Leichtfinn
gehalten hatte, nur ein Ausfluß jeiner fjonnigen
Liebenswürdigteit, feiner heiteren Genußfreudigkeit
war, und die Sympathie, bie fie flets für ihn gefühlt,
verſtärkte ſich.
Auf einer beſonders zierlichen Säule ſtand
dasſelbe Figürchen im Dreiſpitz — nur bedeutend
verkleinert — das er in der Ausftellung hatte, es
wandte Zuzie jein lachenbes Geficht zu, und nadhdem
fie es ein Meilen angeblidt, fagte fie ungeniert:
„Sagen Sie doh, Fortunat, fieht jo Yhre neuefle
Liebe aus?”
Er wurde rot, augenfcheinlich etwas verlegen,
aber Emil nahm ihm das Wort vom Munde.
„Ratürlid. Wie tannft Du nur jo dumm
fragen! Ler widmet feine Liebe immer derjenigen,
die er gerade verewigt. Das giebt ihm erfjt bie
richtige Begeilterung.”
„Dann gratuliere ih Zhnen zu Shrem Gejhmad.
Das Mädchen muß allerdings reizend fein, nur ein
wenig zu ftark, nicht wahr? Hüften und Schenkel
haben beinahe etwas rauenhaftes. Sind Sie ein
Berehrer von Fleiih, Fortunat?” Luzie wandte ihm
ihre Eugen, lebhaften Augen zu und fuhr fort:
„Ih babe allerdings gefunden, daß gerade bie
Skulptur fih jegt meilt auf überjchlante Geftalten
geworfen hat. Stedt diefe modernen Statuen in
Kleider und fie würden jo mager jein, daß der
Schneiderin noh mandes zu thun bliebe. — Mir
gefällt es nicht.”
„Liebes Kind,” fragte Emil, „willit Du uns bier
noch länger mit naturaliftiichen Studien unterhalten?”
„Rein,” fagte fie, „aber warum fol id mich
genieren, von etwas zu prechen, was ich doch jebe,
was mir auffällt. Stehen meine Augen etwa auf
einem anderen Standpunft ala mein Mund?” Sie
lachte und richtete fich aus ihrer bequemen Stellung
etwas auf. „Überhaupt bin ich mir bewußt, ein
521
jehr vernünftiges Mädchen zu jein, bdereinit noch
eine viel vernünftigere Frau zu werden, und da id
doch jedenfalls einmal einen Künftler heirate, jo fann
id der nur dazu gratulieren. ch würde nicht
eiferfüchtig auf ein Modell jein und meinem Mann
feine Kontrolle auferlegen. Mag er fich die Eleinen
Freiheiten immerhin nehmen, die feine Künftler:
laufbahn entjchuldigt. Sch würde mich damit be:
gnügen, ihm ein gemütliches Heim zu Ichaffen und
mich mit ihm an allem Schönen zu erfreuen. Tolerant
wäre ich bis in die Fingerjpigen hinein — vielleicht
zu fehr. — Was meinen Sie, Fortunat, ließe fich
unter folhen Umftänden nicht auch die Ehe ertragen?”
Ste warf fi) wieder zurüd und jah ihm fofett
ladhend in das Gefiht. Emil begriff ihre Abficht
und flörte fie diesmal nicht mit einer Bemerkung;
der junge Künftler aber fam ihr näher und jah mit
einem gewillen Snterefie in ihr Gefidt.
„Das ift ebenjo großherzig wie Hug, Fräulein
Zuzie,“ fagte er herzlich. „Wenn nur alle Mädchen
jo bächten, gäbe es ficherlih mehr glüdlihe Ehen in
der Welt.”
„Alſo — ih Halte mid vorkommenden Falls
beftens empfohlen,“ rief fie lachend aufipringend.
Aber der fchräge Blid, mit dem fie ihn ftreifte, hätte
Fortunat zu denken geben fünnen, wenn er nicht ihr
gegenüber fo jehr unbefangen gemwelen wäre. —
Auf dem Heimweg nahm Maud Luzies Arm.
„Laflen Sie uns vorangehen,” bat fie, um jede weitere
Begegnung mit Emil zu vermeiden.
Zuzie war von biefem Vorfchlag nicht fonderlich
erbaut, doch fügte fie fich.
Als fie ein Stüddhen gegangen waren, jagte
fie mit gedämpfter Stimme: „Was ih vorhin in
Fortunats Atelier fagte, ift meine innerfte Überzeugung.
Neben einem Jolhen Künftler wie er, ift es für eine
Frau nur möglid, mit der größten Toleranz zu
eriftieren ober fie wird jehr unglüdlich.“
Maud jah fie betroffen an, und Zuzie deutete
diefen Bid richtig.
„Rein, natürlich dente ich nicht an ihn in Bezug
auf mid — wir find ja jo gut befannt — da —
da ift doch wohl alles andere ausgeichlofien. — Ad,
Maud, Sie haben Shre Ihönen Rofen liegen laflen,
wie Schade!”
Wirflih ging Maud mit leeren Händen. Ob
es Zufall oder Abficht war, darüber ließ fih nichts
erraten, jedenfalls aber flürmte Fortunat zurüd, um
das Vergeflene zu holen. Sie bingen jchon bie
Köpfe als er fie ihr überreihte, und fie bob bie
jchweren Kelche mit einer faft mitleidigen Bewegung
empor.
„Sie find Halbiot,” agte fie bedauernd. „Zu
Haufe jollen fie Waller haben.”
„Allo jo fteht es, Luzie
Mir fcheint, er ahnt es
Am ftillen dadte fie:
bat ihr Herz verichentt!
noh nit, ober — er hat Fein Snterefle dafür.
Db fie wirklich zu einander pafjen?”
„Mein Bruder ift ein ganz anderer Menjch,“
begann Ruzie wieder. „So Jolid! Mit dem wird
eine jede Frau leicht glüdlih. Und jehen Sie, Maud,
man verfennt ihn leihyt — er geht gar nicht jo
Roman-Keitung 1896.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
522
recht aus fich heraus, eben weil er ein Charalter ift.
Nun, ich, als feine Schwefter, darf ihn ja wohl loben,
ih babe ein Recht dazu.”
„Dil Du witlih in Miß Winter verliebt?”
fragte etwa in demfelben Augenblid Fortunat jeinen
Freund, während fein Auge an den beiden jchlanfen
Geftalten vor ihnen Bing.
„ht fie nicht nett?”
„Sa — aber zwilhen nett finden und lieben
ift doch ein gewaltiger Unterjchied.”
„Richt jo jehr wie Du bentft, mein guter Xer.
Findet man eine Frau nett, jo genügt das einem
ruhigen, foliden Menfchen, fein ganzes Leben mit ihr
zu verbringen, ohne jonderlich unzufrieden zu fein.”
„Dit Du fiher, daß Du ihr gefällt?“
Emil lachte felbftgefälig. „Einftweilen ift fie
nah Mädchenart Eühl und zurüdhaltend gegen mid).
Das gerade gefällt mir an ihr. Späterhin wird fie
Ihon zahmer werden, bafür laß mich nur forgen.
Wenn ich auch nicht immer zum Dache gleich heraus-
brenne wie hr, deshalb erreiche ich doch mein Ziel
um fo fiderer. Du bift doch nicht etwa verliebt
in fie?”
„Wahrhaftig nicht. Du weißt ja . . . aber
deshalb gefällt fie mir doch fehr gut, und ich wünjche
ihr alles Gute.”
„Nun — dann wünjdhe ihr Deinen Freund
Emil alg Mann.” —
Am Abend desfelben Tages, als fih Yortunat
eben von Duenfels verabjdiebete, jagte er balblaut,
vorwurfsvoll zu Maub: „Sie haben mir kein Wort
über meine Arbeiten gejagt, das ift hart.“
- Da bdrüdte fie ihm jo warm wie nod nie bie
Hand, ihre dunklen Augen fahen ihn aufridtig an.
„Ib war fo entzüdt, daß ich es vor den anderen
nit wollte. Sie jollten nicht für leere Redensart
halten, was von Herzen fam. Seht kann ih es
aber jagen. Sie find in meinen Augen ein großer
Künftler.”
Er fcohüttelte ihr fräftig die Hand. „Das war
ein gutes Wort, MiE Winter.” Und vergnügt wie
nur je ging er an biefem Abend nach Haufe. „Schade
nur das mit Emil,“ dadte er. „Sie kann nidt
Geihmad an ihm finden, fie paßt jo gar nicht zu ihm.“
Neuntes Kapitel.
War das noch Arbeiten zu nennen, was Martin
Heelen jeit Wochen that? — Wie ein Fieber durd:
rafte es ihn, nahm ihm jeden anderen Gebanten
und ließ ihm kaum Zeit, ganz unbewußt die erfte
befte Nahrung zu verichlingen, die man ihm vorfegte.
Nur dem Zwang der Dunkelheit und der Erihöpfung
nadjgebend, jchlief er ein paar Stunden dumpf, —
fonft dachte und fühlte er nichts als feine Gruppe.
AN das Leben, das ihn durchpulfte, fchien fich
durch feine Fingerjpigen in feine Arbeit zu ergießen,
wenn er bie maffigen Thonklumpen um die Träger
ichleuderte, daran ging, mit dem Mobdellierholz Leben
und Bewegung in bie tote Malle zu bringen. €s
IV. 37
523
war als triebe ihn eine Kraft, die ftärler und größer
war als er, mit Gewalt vorwärts. Und jo wuchs
denn fein Wert faft zauberhaft jchnell empor, jo
Ichnell, daß es für den Kenner faft etwas Dämonijches
atte
Während diefer vier Wochen blieb jeine Thür
jedermann verjchlojlen. Haar und Bart wudlen ihm
nod wirrer, jein Gefiht fiel ein und zeigte jcharfe
Schatten und Linien, die Augen mit ihrem fladernden
Glanz jchienen noch intenfiver, vergeiftigter zu fein.
Aber jelbit eine jo kraftvolle Natur wie Martin
Seelen mußte jchließlich fühlen, daß ber Geift nicht
alles ift, daß auch der Körper fein Recht hat. Die
Hände begannen ihm zu beben, vor den Augen
Ihwamm es ihm oft wie zitternder Nebel. Wenn er
dann aber dem Gentauren in das Gefidht blidte, war
es ihm als überfäme ihn damit neue Kraft. Er wollte,
er durfte nicht nachgeben, ehe das Werk vollendet war.
Vier Wochen und fünf Tage hatte er in bdieler
Art gearbeitet, da ftand es wieder in urjprünglicher
Friige und FTraftvoller Schönheit vor ihm — fein
Wert — auferfianden von den Toten, um ihn nun
einzuführen in den Tempel des Ruhmes.
Mit truntenen Augen blidte er zu ihm auf.
Das war eine Leiftung gewejen und gleichzeitig ein
MWagnis, es gleich in Gips auszuführen, anjtatt in
Thon. Wäre er einer Sade nicht jo abjolut ficher
gewejen, vielleicht wäre es nicht jo meifterlich geglüdt,
aber er hatte ja nur die Hände zu rühren gebraucht
— ſchien es ihm jeßt — nur die Hände, das andere
fam von jelbft.
Er riegelte die Thür des Ateliers auf und ließ
zum erften Mal Luft und Sonne ungehindert ein:
dringen. Es war jebt heiß und ftaubig draußen,
den Frühling hatte er nicht bemerlt. Nun lam es
ihm auch wieder zum Bemwußtjein, daß er Tlörperlidh
Ihwadh und elend war; jegen mußte er fi ein
MWeildhen und dann ben Kopf aufftügen, weil es ihm
Ihwindelte. Mechanijch glitt feine Hand in die Tafche,
in der er das Geld all die Zeit mit fich berum-
gelragen. Es war noch da, vollzählig bis auf das,
was ihn das Material zu feiner Gruppe gefoftet
hatte, und nun erft erwacdhte er zum vollen Bewußtjein
des Glüces, inmitten deilen er jegt ftand.
Seine Arbeit war fertig, gut, ja faft noch bejier
als die erite; die Aufnahme in die Ausftelung ihr
fider. Geld hatte er, jo viel wie er noch nie bejeflen,
und frei war er auch, frei, jegt zu geben, wohin er
nur wollte Er ftieß einen lauten Subeljchrei aus,
und da er gerade ein Kleines Kind über den Hof
trollen jah, jprang er auf dasfelbe zu, ſchwang es
boh in die Luft und ftammelte dazu Jubelworte.
Der Heine erfchrodene Kerl nahm beides übel und
begann jämmerlich zu heulen. Martin jebte ihn eilig
an und drüdte ihm ein Marfflüd in die Kleine
and.
Wirklich, jo gut er mit Thon umzugehen verftand,
mit Menden konnte er e8 jedenfalls nicht, dies bier
war ein neuer Beweis dafür. Er geftand es fi
mit heimlihem Lachen.
Wenn er der Ev’ ihre Adrejle gewußt, ob fi
die wohl mit ihm gefreut hätte? — Wahrſcheinlich
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
524
au nicht, es jei denn, daß er ihr ein hübiches
Halstuh dazu gelauft hätte. Das dumme Bauernvolt
verftand jo gar nihts von der Kunft und deren
MWonnen und Schmerzen.
Fortunat war doch allein derjenige, der ihn ver:
fand — und vielleiht au ber Brofeflor. Er riß
ein Blait aus feinem Beihenbudh, darauf Erigelte er
mit fteifer, ungelenter Hanbichrift:
„Ih bin fertig, komm und fieh, wie e& ge:
worden ift,
Heelen.”
Dann fiel er in einen tiefen, traumlojen Schlaf,
der volle vierundzwanzig Stunden dauerte. Fortunat
befam den Brief erit am nädjften Mittag und ging
damit zum Profefjor, bei dem er oft zu Ipeilen pflegte.
„Unmöglich!” jagte er ganz aufgeregt, als er ihm
den groben grauen Wifch zeigte. „Eine phufilche
Unmöglichleit meines Erachtens nad, Herr Profeflor.
Dieje überlebensgroße Gruppe ift nicht jo Tchnell
erneut, felbft unter den bentbar günfligften Bor:
bedingungen.”
Der Profeflor zudte die Achfeln. „Es bat jchon
mander etwas geleiftet, was den anderen wie
Zauberei erijhien. Am beiten, Sie gehen hin, ortu:
nat. St e8 wirklich jo, dann fünnen Sie alles
weitere beiprechen.”
Fortunat war nicht imftande, einen Biflen
herunter zu bringen, jo aufgeregt war er. „Es ill
nicht möglid — nicht menjchenmögli,” Tagte er
immer wieder zu Maub, neben ber er jaß. „IH
zittere davor, daß etwas Minderwertiges beraus:
gefommen fein könnte. Das verzieh ich Heelen nie.“
Almählid teilte fih feine Aufregung dem
Mädchen mit, fie zerbrödelte nervös ihr MWeißbrot.
„So ein großer Künfller — das glaube ich nicht.“
„Aber jeder ift doch audh vor allen Dingen
nur Menich,” flülterte er eifrig. „Ob eine Arbeit
gelingt oder mißlingt, niemand weiß es vorher, und
deshalb hält fie den Schaffenden in Aufregung bis
zum legten Augenblid. Stunden tieffter Dual wechleln
mit Stunden hödjfter Befriedigung — ein mwogendes
Chaos, aus dem dann endlich das Sertige hervorfteigt.”
„Sagen Sie ihm — wenn es Jhnen nit gut
erſcheint — er ſolle nicht ausfiellen, reden Sie ihm
ab, wa8 bedeutet denn ein Kahr.”
Er jah ihr aufmerkjam in das Gefiht. „Eigent:
lich, Miß Winter, mache ich mir Vorwürfe, daß ich
Sie jo mit meinem Änterefje für meinen Freund
quäle. Sie, die Sie ihn gar nicht fennen, nicht
einmal eine feiner Studien. Aber Sie dürfen mir
deshalb nicht böjfe jein, Sie haben ein jo warmes
Herz für die KRunft, und — und Sie find Jo eine
gütige Zuhörerin, daß man unmwilllürli verſucht
wird, weiter zu jprechen.” Ein wenig verlegen lächelte
er fie an.
„Es freut mich jehr, daß Sie mich wenigftens
an etwas teilnehmen laflen,” fagte fie warm.
„Denten Sie nur, wie leer mein Leben eigentlich ift.”
Sleih nad) dem Efien flürzte Fortunat davon;
Luzie jah ihm unmillig nad).
„Als ob die Gruppe davonliefe, wenn er noch
eine Taſſe Kaffee getrunfen hätte. Aber gegen Heelen,
— — —— —— ———
525
gegen dieſen abſcheulichen Menſchen, kommt nichts
anderes auf.“
„Ra, meinte Emil, „wenn er wirtlih bas
Kunftftüd fertig gebradt bat, und tadellos, bann
fann er mehr als wir. Was für GStierfräfte muß
der Menich haben!”
So wurde denn Fortunats NRüdtehr mit all:
gemeiner Spannung entgegengejehen. Und er kam.
Glühend vor Entzüden, ausgelaflen, ala ob er jelber
teil hätte an dem wiebererftandenen Meiftermwerf,
Man trant an dem Abend in Eis gefühlte
Bowle zu Ehren der Gruppe, bei der jchon morgen
der Guß beginnen follte, und war auf der Quenſelſchen
Veranda jehr vergnügt dabei.
„Warum haben Sie Heelen nicht mitgebracht?“
fragte der Profellor, der ein offenes Haus liebte.
„Ja, warum nicht?” fragte Maud au, und
e8 Hang vorwurfsvoll,
Fortunat late. „Er muß fi erft ausichlafen
und dann, meine Damen — er war noch nicht in
der Berfaflung, fih Ihnen würdig zu präjentieren.”
Unwillkürlich ſtieg ihm das Bild in der
Erinnerung auf, wie er ihn gefunden. Verſchlafen,
zerwühlt, noch immer mit dem Dunſt der Armut
um ſich, aber zu Füßen ſeines Kunſtwerkes, das ihn
zu beſchützen ſchien und ihm eine glänzende Zukunft
verhieß.
„Aus Heeken werden Sie nie einen leidlichen
Menſchen machen, auch wenn Sie alle Hilfsmittel
in Bewegung ſetzen,“ meinte Luzie in ihrer oft ſcharf
abſprechenden Art. „Was ihm dazu fehlt, fehlt ihm
ſeit ſeiner Geburt. Maud wird die Augen aufmachen.
Auf die Enttäuſchung freue ich mich nur.“
Fortunat wandte ſich haſtig an die junge
Amerikanerin. „Ach nein, ſeien Sie nicht zu ſehr
enttäuſcht, das würde mich kränken,“ bettelte er im
Ton eines liebenswürdigen Kindes.
Sie lächelte. „Wollen wir allein ganz früh in
die Kunſtausſtellung gehen und uns die Gruppe,
ſobald ſie dort iſt, anſehen?“ flüſterte ſie ihm ver⸗
ſtohlen zu. „Ich möchte ſo gern nur mit Ihnen ſein
und nicht mit den andern zuſammen.“
„Von Herzen gern,“ flüſterte er ebenſo zurück
und legte geheimnisvoll den Finger auf die Lippen
zum Zeichen des Schweigens.
Dann nickten ſie einander zu wie zwei gute
Freunde, die ein harmloſes Geheimnis haben und
ſich darüber freuen,
Nun war bie Gruppe fort, das Atelier leer.
Seitdem hatte Heelen eine gewilje Unraft be:
fallen, die ihn auf die Felder und Wiejen hinaus:
trieb, denn in die Stadt zu gehen, davon hielt ihn
etwas wie Scheu zurüd. Schon hier draußen hatte
er das Gefühl, als müfle er jedem Begegnenden in
das Geficht jehen mit der flummen Frage: „Haft
Du gejehen?” Dber als ftände es ihm jelbit lesbar
an der Stirn gejchrieben: ch bin es, der das Wert
draußen im Ausftelungspalaft gei'haffen hat.
Sett erft kam es ihm recht zum Bemwußtiein,
wel ein Vertrauen in jein Können doch darin lag,
daß, nachdem Profeſſor Duenjel ihn zuerft felbft
aufgeludit, er ihm auch noch Ausftand bis zur Bes
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
526
endigung jeines Werkes gegeben, ihm fomit alle
Hinderniffe aus dem Wege geräumt Hatte. Was
für ein Kerl mußte er doch fein!
Und plöglih wudhs das Bemwußtjein feines
Wertes, jeines Könnens riefengroß in ihm auf, und
er blieb flehen und ftarrte in die Sonne, ohne zu
blinzeln, als fühle er fih ihr verwandt, denn nach
— einer Bethätigung rang der erwachte Stolz
n ihm. — —
An einem Montag Morgen um neun Uhr trafen
ſich Maud und Fortunat vor dem Eingang zur
Kunſtausſtellung. Die Amerikanerin hatte Luzies
neugierige Fragen nach dieſem frühen Ausgang mit
der ihr eigenen ruhigen Sicherheit ſo oberflächlich
behandelt, daß dieſe wohl fühlte, ihre Begleitung ſei
nicht erwünſcht. Dadurch geärgert und neugierig
gemacht, ſtürzte ſie zu ihrem Bruder, um den auf
Mauds Fährte zu hetzen, fand aber wenig Gegen—
liebe bei ihm; er wollte ſich nicht gern in ſeinem
beſchaulichen Morgenſchlummer ſtören laſſen — und
Emils Faulheit verdankten die beiden ſomit einen
ungeſtörten Vormittag.
Fortunat hatte ſchon gewartet. Diesmal hielt
er die Hand voller Roſen, und als er die ſchlanke,
hellgekleidete Geſtalt auf ſich zukommen ſah, dachte
er wieder: „Sie iſt doch eine ganz reizende Perſon.
Viel, viel zu ſchade für Emil, und auch wohl zu
klug, um ihn nicht zu durchſchauen. Wenn ich nicht
ſo bodenlos in Nelly verliebt wäre ...“
Da war ſie ſchon neben ihm und reichte ihm
die Hand zum Gruß. Er ſah, daß ihr hübſches Ge-
ſicht gerötet war, ihre Augen lebhafter glänzten.
Wirklich ſchade, daß er ein ſo komiſcher Kerl war
und ſeiner jeweiligen Liebe ſtets abſolute Treue be—
wahrte, wie pikant hätte ſonſt dieſer gemeinſame
Kunſtgenuß werden können.
Die Gruppe, die ſie aufſuchen wollten, ſtand im
Veſtibule, groß und gewaltig blickte ſie dem Ein—
tretenden entgegen. Ein breiter Sonnenſtreifen brach
durch das Glasdach des Gebäudes und tauchte ſie
wie in einen goldenen Schein.
Maud ſtand ganz ſtill und ſah auf das Kunſt⸗
wert, das, im Verein mit dem Künftler, die lette Zeit
unabläjfig ihre Phantafie beichäftigt hatte. Den Mund
ein wenig geöffnet, atmete fie langfam und tief, als
Jöge fie die fraftvolle Sndividualität, die das Wert
ausftrömte, ganz in fich ein.
Erft nah einer ganzen Weile wandte fie fidh
an ihren Begleiter. „D!” Tagte fie, „das ift etwas
Gewaltigeg — etwas Belonderes. Das padt Sinn
und Nerven. Welde Kühnheit der Kompofition!
Welch Eraftvoller Ausdrud in der Schöpfung dieler
Leiber! — Sie haben noch viel zu wenig von dem
Können Yhres Freundes gejagt.“
„Berftehen Sie es jet, daß ich mir neben ihm
wie ein Pygmäe vorlomme?” fragte er mit tiefem
Seufzen und einem Schatten in feinem bübichen
Geſicht.
„Ja, aber was thut das! Nicht jeder kann
ein Gigant ſein,“ ſagte ſie kurz.
Dann ſetzte ſie ſich auf einen Stuhl, der Gruppe
gerade gegenüber; daß er dasſelbe that, beachtete ſie
527 Art zu Art.
nit. Shre Augen bingen an dem Geliht des
Gentauren, als leje fie aus diefem wie aus einem
aufgeihlagenen Bud. Sie hatte ihre Umgebung
vergeflen.
Und Hinter den Gebüjhen jchlich ein blafler,
Ichlecht gekleideter Mann umber, deflen Augen von
dem begeifterten Mädchengefiht zu feiner Schöpfung
wanderten. Wenn er doch verftehen fönnte, was
fie jagen würde! Chrgeizige Neugierde befiel ihn,
und jo nahe er Tonnte, fchob er fich hinter die beiden
heran. Aber noch Iprach feiner von ihnen. —
Endlih fagte Maud: „Sie müjjen ihn mir
bringen, Yhren Freund, veriprehen Sie e3 bier vor
diefer jeiner gigantiihen Schöpfung, und zwar bald
— oder ich judhe ihn mir felber auf.”
In dieſem Augenblid hatte Fortunat Martin
gejehen, er zudte auf, die Gelegenheit war jo günftig
wie möglid. Wenn er ihn bier gleich feithielt,
fonnte er ihm nicht entwilhen, und Maud hatte
ihren Willen. Aber mit derjelben Schnelligkeit, mit
der ihm diefer Gedante fam, ſah er auh — jah
das verworrene Haar und den vermwilderten Bart,
den engen Rod, an dem die Knöpfe an einzelnen
Fäden baumelten, die ganze verwahrlofte Geftalt
desjenigen, den er „Freund“ nannte, und er begriff
die Unmöglichkeit, ihn fo einer Dame zu präjentieren,
die in fultivierterer Atmofphäre zu leben gewöhnt
war. Durh all den Duft der blühenden Pflanzen
und grünen Sträuder hindurch meinte er den Arme:
leutegeruch zu |püren, der von diejer ungepflegten
Geitalt auszugehen jhien, und — er drebte den
Kopf wieder Maud zu, als habe er ihn nicht gejehen,
als babe er feine Ahnung von Heelens Anwejenheit.
Aber es war ihm nicht bebaglih dabei, und
aufitehend fagte er: „Kommen Sie, Mik Winter,
es ift no mandes Gute hier zu jehen, lafien Sie
uns weitergehen.”
Sie hob die Rojen bis an ihr Gefiht und
jchüttelte den Kopf. „Für heute will ich nichts
anderes. Gehen Sie ruhig, wenn es ihnen beliebt,
und holen Sie mich nachher hier ab.”
Er blieb natürlih daraufhin auh. Als er fi
dann ein Weilchen fpäter verftohlen umjah, bemerkte
er mit Genugthuung, daß Martin verfhwunden war.
Nahdem er Maud nah Haufe gebradht hatte
und nun umlehrte, um die beißen Stunden in feinem
fühlen Atelier zu verbringen, trat ihm an ber nächlten
Straßenede Martin entgegen. Sept, allein und ohne
Damenbegleitung, empfand es Fortunat nicht jo un:
möglich, mit ihm langjam weiter zu johlendern, dennoch
beftete er feitwärts fritiide Blide auf ihn.
„So fannft Du Dich aber unmöglich mehr jehen
laflen, Martin,” fagte er enblidh, mit dem Stödchen
eine Terz in der Luft jchlagend. „Du bift jegt ein
Menih, der viel genannt und viel gefannt fein wird,
jobald nur die Kritik erft an Deine Gruppe kommt,
deren Borgejhichte man Ffennt. Dein erftes muß
jein, daß Du für Deinen äußeren Menjchen etwas
mehr Sorge trägft. An Geld dazu fehlt es Dir ja
auch nicht.”
Martin hatte die ganze Zeit hindburh auf bie
falligen Steine zu jeinen Füßen geftarrt, auch jebt
Roman von H. Schobert.
528
jah er nit auf. „Wer war die Dame, mit der Du
in der Ausftelung warjt?” fragte er endlid und
zerrte an jeinem Bart.
Fortunat lächelte. „Eine Deiner größten Be:
mwunderinnen, bas fannit Du mir glauben. Haft es
auh wohl felbjt gejehen. Und auf diefen Erfolg
fannft Du bdreift ftolz fein, denn Miß Winter läßt
ih wahrhaftig feinen blauen Dunft vormaden.” Als
Heeten nicht antwortete, fuhr er fort: „Sie will Dich
perfönlich fennen lernen. Seit dem Unglüd, das Du
mit Deiner Gruppe hatteft und Deiner phänomenalen
Arbeitsleiftung jegt, glaubt fie einen Helden in Dir
zu finden, und — Du begreifft — in diefem Zuftand,
in dem Du Dich befindet, konnte ih Dich ihr nicht
präfentieren.”
Martin fhaute an fich herunter, jah den baumeln:
den Knopf und riß ihn feelenruhig ab; er fand
offenbar nicht8 anderes an fi, was irgendwie gegen
fein Sußeres iprad. Offenbar war er fi in diefem
Augenblid nicht recht Elar darüber, was ihn eigentlich
mehr bewegte, der Wunjch, von ben Lippen der vor-
nehmen Dame Lobesworte über fi und jein Wert
zu hören, oder die Menjhenjcheu, die ihn hieß, allen
aus dem Wege zu geben.
„Komm,“ jagte Sortunat, ftehen bleibend und
ben Hut von der feuchten Stirn nehmend. „Es ift
Ihon Ihmadhvoll heiß, droben in meinem Atelier
haben wir wenigftens Kühle und irgend etwas zur
Erfriihung. Audh babe ih Dir no mandes zu
lagen. Es ift zwar das erite Mal, daß Du zu mir
fommit, aber ich enihebe Did) von vornherein jeder
Kritit über meine Arbeiten, hörft Du?”
Heelen nidte. Es war ihm jelbit ganz wunder:
bar, daß er fih jo ruhig in Fortunats Vorjchlag
fügte, geftern noch hätte er e8 faum gethan, aber
heute — feit heute fühlte er fich jo verändert. Er
lechzte ordentlih nach Zob, nad) Anerlennung, nad
Menihen! Ya, auh nah Meniden! Denn um
deren unit rang er doh jet. Wo waren bie
Empfindungen feiner Arbeitsftunden geblieben, in
denen er fih ein Titan wähnte, der nichts mit
dem Gewürm der Welt zu thun haben wollte, weil
es ihm nichts galt. Er fühlte und dachte damals
nur fih allein, und jet hatte fich ihm alles fo jelt:
Jam verändert! Das madte ihn ganz benommen.
Sn Fortunats Atelier war es Dämmerig und
fühl, der Arbeitsraum gejchloffen, nur die Portiere
des Nebenzimmers halb zurüdgeichlagen, jo daß man
den Einblid in ein elegantes Xoilettenzimmer hatte.
„Entihuldige mich einen Augenblid und made
es Dir inzwilhen bequem,” jagte der Hausherr, eine
FSlajche Wein auf den Tiich Itellend. „Ich werde uns
au) gleich etwas Subftanzielleres bejtellen. Aber einft-
weilen ift es mir jo fchauderhaft heiß, daß ich erft
den Anzug wecleln muß. Gedulde Dich jo lange,
bitte.”
Er war fchon fort, die Portiere jant zu, und
bald darauf drang das BPlätihern von Waller aus
dem Nebenzimmer. Martin Heelen blieb allein und
jah fih um.
Die köftliche, Dämmerige Kühle, die Jaftftrogenden
großen Blattpflanzen, die Selle, Teppiche, Deden,
529 Art zu Art.
ihwellende Möbel, Bücher, Bilder, al das, was zur
Ausihmüdung eines eleganten Raumes gehört, mutete
ihn jfonderbar, atembellemmend an. Er jah das alles
zum eriten Mal, und er wagte weder fich zu jeben
noch vorwärts zu gehen.
„Hier arbeiten?” jchoß es ihm durch den Sinn.
„Unmöglih!” — Sa, es fam ihm vor als lege fidh
das alles, was er jah, jchwer auf feine Bruft, als
nehme e8 ihm die Luft. Mit jchnellem Entichluß
wandte er fich zur Flucht. Die Hite draußen genierte
ihn nicht.
„Halt,“ jagte Fortunat, der in bemfelben Augen-
blid eintrat und ihn am Arm padte. „Hier giebt
es fein Entrinnen mehr. Aber um Gottes willen,
Martin, haft Du die ganze Zeit geitanden? Warum
denn, Du fiehlt ja auch ganz verftört aus. Sit Dir
nicht wohl? Da kommt ja au fon meine Haus:
bälterin mit einem verftändigen Frühftüd. Komm,
jege Dich hierher und iß.”
Er 309g ihn in einen bequemen Fauteuil, und
beim Anblid der Speilen empfand Heelen plößlich,
daß er jeit dem Morgen noch nichts genofien, haftig
langte er zu.
„36 babe eine Einladung zu morgen abend
beim Profefjor Quenfel für Dih in der XTalche,”
lagte Fortunat nad) einer Kleinen Paufe. „Du finbeft
da auch Miß Winter, die Dame von vorhin. Sie
ift eine vorurteilslofe Amerilanerin, aber in diejem
Aufzug, lieber Freund, hätte ich denn doch nicht den
Mut, Di ihr vor Augen zu bringen.”
Martin jhüttelte den Kopf. „Ich gehe nicht hin.”
„Ratürlid mußt Du, Du bift dem Profellor
vielen Dank jhuldig, das quittiert man durch böf:
lihen Verlehr. Überhaupt, Heelen, Deine Maulmwurfs-
eriftenz bat jet ein Ende, Du mußt heraus, der
Vorfall mit Deiner Gruppe war ja eine mächtige
Reklame für Did, Du wirft befannt, in den Zeitungen
genannt fein, che Du es no ahnit. Und dann —
Du bijt eben ein großer Künftler, warum willit Du
Dich nicht als ſolchen betrachten laſſen.“
Heekens Geſicht hatte ſich gerötet, mit einem
ſcheuen Blick ſtreifte er den Freund. „Ich weiß
nicht —“ ſagte er ſtockend, „das iſt alles anders —
ſo neu ...“
„Ja — gut! Aber jeder Erfolg legt Verpflich—
tungen auf. — Mit dieſem Haar und Bart kannſt
Du den wilden Mann fpielen, und über Deinen
Rod freut fih bald ein Bettler mehr. Du mußt
zum Schneider, zum Schufter, zum Wäfchelieferanten,
und vor allen Dingen zum Frifeur. Wenn wir uns
etwas erfrijcht haben, fönnen wir das lettere gleich
beforgen. Siehft Du das ein?”
Heelen hatte fih ein Stüd Wurft auf die Spibe
des Mefjers geipießt und job es nachdenklich in
den Mund. Fortunat beobachtete ihn. Zum erften
Mal kritiih. Wie gewöhnlich das alles war! Seine
Haltung, fein Efjen, das ganze Gebaren. rüber
hatte er ihn doch oft ejlen jehen, genau fo wie heute,
unb er hatte e8 kaum beadhtet. Heute inbefjen ärgerte
es ihn. Er war fih wohl bemußt, daß er mit Maubs
Augen jah, mit Mauds Ohren hörte, deshalb hätte
er am liebften feinen Freund in diejer Stunde völlig
Roman von H. Schobert.
530
umgekrempelt. Allein daran war ja fein Gedante.
Nicht einmal zu viel durfte er tadeln, Heefen war
empfindlich und alfo leicht zu verjagen.
Sebt antwortete er fauend mit einer Gegenfrage.
„Warum muß ich denn bin?”
Fortunat runzelte die Stirn. „Ich jagte Dir
Ihon vorhin, Du bift ihm Dank Ihuldig. Abgelehen
von dem, was er bereits für Dich gethban, will er
Dir au für die Zukunft ein Stipendium beforgen.
Treibt es Dich da nicht felber, ihm ein paar Dantes-
worte zu jagen?“
Heelen fchüttelte den Kopf. „Ihm allein fchon.
Aber da ijt der Emil, die Tochter, und Du jaglt,
aud das fremde Fräulein.”
„Jawohl, und ih aud. Trogdem wirit Du es
thbun, Martin. S$eder anfländige Menich fühlt Doch
einen gewiflen Dankbarkeitstrieb in fih, dente ich,
und der erheilcht bier eine Annahme der Dir ge:
wordenen Einladung. Verftehft Du das?”
„Sa!” fagte der andere mit einem mürrifchen
Seufzer.
„Alſo gut. Du thuſt auch ſonſt alles, wozu ich
Dir raten werde, nicht? In der Kunſt biſt Du mir
über, im Leben ich Dir.“
Heekens Blicke ſchweiften über die Statuen und
Statuetten, er öffnete den Mund.
Aber Fortunat ſprang vor und breitete die Arme
aus. „Nein, von Dir will ich kein Urteil hören!
Von Dir nicht, und hier nicht. Augenblicklich haben
wir es mit dem Leben zu thun. Wie hat Dir eigent-
lid MiE Maud gefallen?”
„Die Dame aus der Ausftellung?”
„Dieſelbe.“
„Das weiß ich nicht. Was Vornehmes war ſie
wohl, nicht?“
„Ein Mädchen, um das ſich hier alles reißt.
Sehr hübſch, ſehr reich und ſehr klug. Weißt Du,
von jener offenen amerikaniſchen Klugheit, von der
die deutſchen Frauen keine Ahnung haben; der dicke
Emil iſt verliebt in ſie, und vielleicht — heiratet ſie
ihn, wer weiß es.“
„Und Du?“
„Ich nicht! Leider keine Spur. Wir ſind
Freunde, nichts weiter.“
Heeken ſchüttelte den Kopf. „Das iſt — komiſch,“
ſagte er nach einer Weile.
„Was? Ach, lieber Martin, davon verſtehſt Du
nun wohl nichts. Und dann — ich liebe ja eine
andere.“
Heeken wiſchte ſich mit der Hand über Mund
und Bart, während Fortunat auf und ab lief.
„Wenn Du klug biſt, ſuchſt Du auch gut Freund
mit ihr zu werden,“ ſagte er plötzlich, vor ihm ſtehen
bleibend. „Sie kann Dir nützen! — viel! Frauen ſind
heutzutage eine Macht! Und die Vorbedingungen
ſind gegeben, ſie intereſſiert ſich glühend für Dich als
Künſtler, halte das Intereſſe wach. Ich als Dein
Freund rate es Dir.“
„Frauen ſind eine Macht?“ fragte Martin in
grenzenloſem Erſtaunen. „Wo denn? Warum denn?
Was kann eine Frau einem Manne nützen?“
„Um das zu verſtehen, dazu gehört Welt- und
Dal Art zu Art.
Menjcentenntnis, mein Sohn,“ jagte Fortunat
fröhlih, nad einer Cigarette greifend. „Die babe
ih für uns beide, folge mir nur etwas, zu Deinem
Schaden ift es nidt. Und nun ‚auf nad Kreta‘!
heißt bier in den nädften Frifeurladen. WIR Du
Dir no die Hände wachen?”
Heelen blidte auf feine Cyllopenfäufte herunter.
„Schön find fie nicht,” fagte er kopfichüttelnd. „Aber
ich taufchte nicht mit anderen.” —
Sortunat war ein guter Kunde, man merlte es
jofort an der Art, wie man ihm entgegenfam.
„Richten Sie mir einmal diefen Herrn bier Jo
zu, wie e8 für ihn am vorteilhafteiten ift,” fagte er,
auf Martin deutend und fidh felber in den gewohnten
Stuhl ausftredend.
Hier im Spiegel fonnte er mit Muße betradten,
wie der Frileur fein Opfer mufterte. Von rechts und
links, von vorwärts und rüdwärts; endlich entichloß
er fih zu einem Spisbart und nötigte Heelen auf
einen Stuhl.
Der ftarrte, ganz erichroden im erften Augen:
blid, in den Spiegel, ber fein Bild jharf und Elar
zurüdwarf. Erfreulih war es nit, das fand er
jelbft, bejonders nicht im Gegenjaß zu Fortunat, ben
er auch jehen konnte. Das lange Haar, der wudhernde
Bart, der abgeihabte Rod. Mit geipannter Auf:
merkjamfeit folgte er der Thätigkeit des Frifeurs und
Jah mit Staunen und geheimer Genugthuung, was
ih allmählich da berausichälte.
Die Dimenfion des Kopfes verringerte fich, nach:
dem das Haar gefallen, üppig, in Furzen Wellen
umrabmte es jeßt nur Stirn und Schläfe und aus
dem Bart jchälte fich ein blafjes, faft mageres Gefidht,
dem man überftandene Anftrengungen wohl anjah,
das aber, wenn auch weder hübich noch fchön, jo doch
geiftig bedeutend und interefiant wirkte.
FSortunat ftieß einen Laut des Erfiaunens aus,
als er, von den Fliegenden Blättern aufjehend, Heeken
betrachtete, und audh Martin lächelte.
„Sieht Du,” fagte der Jüngere vergnügt, als
fie wieder auf die Straße traten, „das laß ich mir
gefallen. ett fiehft Du doch aus wie ein Menich,
und nod) dazu wie ein netter. Du wirft morgen fchon
Figur maden. Wie war Dir denn bei der Brose:
dur zu Mute!”
„guerft hatte ich nicht übel Zuft, den Kerl nieber-
zuichlagen,“ geftand Heelen freimütig. „Als er da fo
um mid berumhüpfte und mir ins Gefidt ftarrte.
Dann war es jheußlid und jekt bin id ja ganz
zufrieden.”
Fortunat late. „Die Zunge der Kultur hat Dich
zum eriten Mal beledt. Paß auf, mit der Zeit madjt
Du ihr Schon felbft die Arbeit leichter.”
Zehntes Kapitel.
Maud verftand es meifterhaft, Toilette zu machen;
für den heutigen Tag Hatte fie aber.noch ein Be:
fonderes gethan. Sie wollte Martin Heelen ge:
fallen, aud als Weib, denn fie wußte recht gut,
Roman von H. Schobert.
532
daß jedes perjönlide Wohlgefallen niemals umjonft
in die Wagfchale geworfen wird.
Zuzie, die das bemerkte, lahte. „Um Gott,
Maud, geben Sie ih Feine Mühe! Heeken kennt
nur das Geichleht ber Scheuerfrauen, Köchinnen
und Stubenmädden, wir zählen bei ihm nicht.”
Und doh Fonnte Miß Winter nicht hindern,
daß fie etwas wie Herzklopfen verfpürte, als endlich
die beiden jungen Künftler eintraten.
Seelen, gut frifiert, in tabellojer Wälche und
dunklem Anzug, jab fo außerordentlich intereffant
und gut aus, daß die beiden Mädchen faft einen
Auf der Überrafhung ausgefloßen hätten, und jelbft
Emil madhte ganz runde Augen. Freilich Ihwächte
fih der erfte gute Eindrud ein wenig ab durdh bie
Unbeholfenbeit feiner Bewegungen und die unbehag-
lihe Hilflofigkeit, die fich jeiner beim Sprechen be:
mächtigte, aber felbit Zuzie machte doch zuerft feine
Ipöttiide Bemerkung.
Und nun, nachdem er dem Profefior gedankt
und den Damen vorgeftelt war, trat Maudb mit
warmer SHerzlichkeit auf ihn zu und gab ihm die
Hand. „Ste willen gar nit wie gute Belannte wir
Ihon find,” jagie fie, ihm diefelbe wie einem guten
Kameraden jchüttelnd. „Herr Fortunat bat mir fo
viel von Yhnen erzählt. ch habe mit Jhnen ge:
trauert um die Zerftörung Ihres erften Werks, und
mich geftern an dem zweiten entzüdt, bitte, betrachten
Sie mid nicht als ganz Fremde.”
Er fland vor ihr und fühlte fih fchredlih un-
bebaglid. Die Zutraulichleit der eleganten Dame
verfiand er nicht zu erwidern. Was ließ fich darauf
lagen? Etwas follte e8 wohl fein, das fühlte er
genau. Aber was? Er ftarrte Maud ins Geficht,
und dann juchten feine Blide Yortunat, aber der
ftand zwilchen den Gejchwiftern, lachte und kümmerte
fih nit um ihn.
Sie las in feinen Zügen bdeutlih; und nun
lächelte fie auch, und ihm nochmals die Hand drüdenb,
jegte fie Hinzu: „Sie find ein großer Künftler, Herr
Heelen, ein jeder wird ftol; auf Shre perjönliche
Belanntichaft fein müflen.”
Das erfte Zob aus Frauenmund, und doch wäre
Martin in diefem Augenblid lieber Gott weiß wo
geweſen, als jo dicht vor diefen großen, dunklen
Augen, die doch nichts weiter ausftrahlten als wirk-
lihe Bewunderung.
Und dann fam Emil und |pradh ein paar Worte
mit ihm und endlih Luzie und Fortunat. Ihm
wurde fiedendheiß. Der Echweiß perlte in großen
Tropfen auf feiner Stirn. D nur Worte — Worte!
Und ein wenig Freiheit und XLeichtigleit der Bes
wegungen. — Herumzugeben in diefem vollen Zimmer
wie die andern, jhhien ihm ein Ding der Unmöglichkeit.
Erlöjend jchien ihm der Ruf zu Tih. Da
braudte man doc nicht Iprehen, jondern Tonnte
Ihmweigen und efjen, und nachher, nachher wollte er
gleich fort, gleich auf der Stelle. Der fleife Hals:
fragen drüdte ihn abjheulih, die ganze Kleidung
Ihien ihn einzuengen wie ein Banzerhbemd. Um den
Preis jolcher Unbequemlichleiten wollte er wirklich
533 Art zu Art.
nicht mit Menfchen zufammenfein, und follte daran
jelbt fein junger Ruhm jcheitern.
Als Luzie zu Tifche rief, bot Emil Maub Jeinen
Arm, er that das mit Vorliebe, und obgleich fie ihn
nicht mochte, hatte fie doch ftets der einfahen Form
genügt und ihn acceptiert; beute that fie es nicht,
fie wandte fih vielmehr an Martin. „Herr Heelen
wird mid zu Tiiche führen,” Jagte fie mit göttlicher
Ungeniertheit. „Ich babe viel zu lange auf dieje
Belanntihaft warten müflen, um fie nicht ganz aus:
zufoften.”
Sie nidte Emil freundlid zu und job ihre
Hand unter Heelens Arm. SYhn ummehte es plößlich
wie Blumenduft, und bei jedem Schritt raufchte es
neben ihm wie fturre Seide. Er jah jet auch, daß
fie Juwelen an den jchlanfen Fingern trug, und
neben al dem Unbehagen beihlih ihn doch auch
ein eigentümliches Gefühl von Genugthuung, daß
ihn diefe reihe, vornehme Dame jo augenjcheinlich
auszeichnete.
Emil verzog den Mund und jah geärgert aus.
Wenn aber Maud geglaubt hatte, mit dem bloßen
Sunorieren aller Schattenfeiten desjenigen, den fie
als Künftler jo hoch ftellte, jei es abgethban, mußte
fie Doch die Erfahrung machen, daß fie fi darin
getäufäht hatte. Er aß den Fiih mit dem Mefler,
hob ungefügige Billen in den Mund und Ichmagte
laut beim Kauen. — Maubd Ichauderte. „jedem andern
würde fie derartige grobe Manieren nie verziehen
haben, bier aber gab fie fih Mühe, diejelben als
nur belanglofe Außerlichkeiten zu betrachten.
„Was jchadet es,” dachte fie. „Derartige Dinge
ſchleiſt ſchon das Leben, die allmahliche Gewohnheit,
ſich in guter Geſellſchaft zu bewegen, ab; wo aber
gäbe es einen Menſchen, dem ſich Talent, oder gar
Genie anerziehen ließe.”
Und fie blieb liebenswürdig und freundlich
gegen ihn wie zu Anfang, obgleih er es ihr recht
fhwer madte, da er nur jelten ein paar Worte der
Entgegnung fand.
BZulegt, als das Diner bereits beendet war, biß
er noch herzhaft von jeinem Weißbrot ein tüchtiges
Stüd herunter und jchob den großen Bifjen Käje
auf der Spite des Mefiers hinterher, wie in Fortunats
Ütelier, dazu mit beiden Baden kauend.
Über die Serviette hinüber, die fie fih vor ben
Mund bielt, funtelten Quzies Augen zu Maud hinüber,
jo boshaft und fchadenfroh, daß diefe vor Srger er:
tötete. Man jah deutlih, daß Luzie nur mit Mühe
das Lachen verbiß, und Emile, elbft Fortunats Ge:
fit erhellte auch ein Kleines, Tpöttifches Lächeln —
eine jo tomiiche Figur machte in diefem Augenblid
der große Künftler, auf den Maub bisher fo viele
von ihren Gedanten konzentriert hatte.
Unter dem Drud einer jeeliiden Depreflion
lagte fie, fi ihm voll zumwendend, in faft gereiztem
Ton: „Es hat Shnen wohl jehr gut gejchmedt, Herr
Heeken. Darf ih Ihnen noch etwas reichen laffen?“
„ein, dante!” Er merkte natürlich nichts von
dem, was um ihn ber vorging. „Seht bin ich reich
lich fatt. Aber rvechtichaffenen Hunger babe ich ge-
habt, ich Hatte heut faft noch gar nichts gegellen.“
Roman von H. Schobert.
534
Er ftrih mit den Fingern über Bart und
an dann lehnte er fich behaglich in den Stuhl
zurüd.
„Ih rate Yhnen, das nicht wieder zu thun,“
entgegnete Maud, immer noch gereizt. „So eine
einzige, gewaltige Mahlzeit befommt jchlecht.”
„Ab, mir belommt alles.” Er jah fie treu-
berzig an. „Wer das Hungern jo gewöhnt ift wie
ih, der fann au das Eflen vertragen.”
Und da fand es wieder vor ihr, was Fortunat
ihr alles erzählt hatte von der grenzenlojen Ent:
jagung und der grenzenlofen Energie diejes Mannes,
und mit einem Mal war al ihr Zorn verflogen,
ganz weggewilcht.
Da man fi inzwilchen erhoben hatte, reichte
fie ihm die Hand. „Sie haben recht, Herr Heelen,”
lagte fie ganz reuig, „und, bitte, verzeihen Sie mir
meine Bemerkung. Ja?”
Er nidte.e Was fie eigentlid damit jagen
wollte, blieb ihm unklar. —
Zuzie ging an ihr vorüber, ftreifte fie und lachte
ihr ins Gefiht, fie nahm Feine Notiz davon. Emil
fragte, ob fie fih gut unterhalten habe, was fie gleich:
mütig bejahte, und nur Fortunat hielt fich ihr fern.
Der Kaffee wurde auf der Terrafie getrunfen;
e3 bämmerte bereit3 und die Hibe des Tages ging
in erfriihende Kühle über, Heelen jaß neben dem
Profeflor und fpra mit ihm, in feiner flodenden
Art und Weije zwar, aber unbefangener als vorhin,
Maud beobachtete die beiden unausgefett.
Noch nie war ihr die geiftige Friiche, die dem
alten Herrn aus den Augen leuditete, mehr auf:
gefallen als in diefem Augenblid, und auch Heelens
Geficht belebte fih almählih. Das, mwonad fie
bisher vergeblich ausgelpäht, trat jet beutlih an
ihm bervor, das Zeichen, das Genie in jelbftver:
gefjenen Sekunden feinen Trägern aufzudrüden pflegt.
Set war er ein völlig anderer. Sie Ipradhen aljo
von Kunfl. Maub feufzte ungebuldig, während fie
faum auf Emils fabes Geihwäß börte. Viel lieber
hätte fie bei ben beiben dort geleflen, wenn auch nur
als ftille Zubörerin, und wirklih, es war geradezu
albern, fich bei einem ſolchen Menfchen wie diejen
daran zu lehren, ob er ben Filh mit bem Mefler
aß, oder das Brot mit den Zähnen abbiß. Wie
gern hätte fie ihn belehrt, aber bas ging doch wohl
noch nicht an, vielleicht jpäter, damit folche un:
bedeutenden Menichen wie Luzic und Emil nichts zu
laden hatten.
Endlih fand der Profelfor auf und brachte
Heelen zu den übrigen zurüd. „So, fagte er
lächelnd. „Augend gebt zu Jugend, das Alter ruht
ein Stünddhen aus. Weine liebe Miß, Sie werden
auch jet wieder freundlich zu dem einzigen Fremden
in diefem Kreile jein.”
Maud nidte lähelnd, dann Jagte fie: „Bitte,
Herr Quenfel, treten Eie Herrn Heeken Ihren Platz
ab, da er mir fpeciel empfohlen ift, belege ich ihn
mit Beichlag.”
Emil jprang auf.
Gnäbdigfte.”
Aber Martin batte nichts um fi beadtet. Er
„Sanz wie Sie befehlen,
—,— —
535 Art zu Art.
trat an die Brüftung der Veranda, ohne fih um
Maud zu Tüimmern, und fah in die Baummipfel
hinauf. Er dachte augenfcheinlich jehr intenfiv über
etwas nad, und dabei war ein Leuchten in feinen
Augen, ein jo abfolutes Bergeflen feiner jelbft, daß
ihn Maud interelfiert betrachtete.
„Herr Heelen!”
Sie mußte zweimal rufen bis er endlich hörte,
dann jah er fich nad) ihr um.
Sie wies auf den leeren Stuhl. „Seen Gie
fih hierher, und erzählen Sie mir, was Sie dachten.”
fam langiam, nicht jehr erfreut der Auf:
forderung nad), ftüßte beide Hände auf die Knie und
Ichwieg weiter.
„Es muß eiwas Schönes, Großes gemwejen fein,”
fuhr Maud Ihmeichhelnd fort, „man jah es an Ihrem
Geſicht.“
Er ſah ſie unbehaglich an. „Was wollen Sie
eigentlich von mir, Fräulein?“
Es lag etwas Mißtrauiſches in Stimme und Blick.
Sie errötete heftig. Dann ſagte ſie ganz leiſe:
„Ich möchte teilnehmen an Ihrem Schaffen, wenn
auch nur in Gedanken. Ich möchte, daß Sie mir
von Ihren Plänen — Entwürfen ſprächen ...“
Er vergaß ſeinen Scheitel und fuhr ſich mit
der Hand ins Haar. „Das kann ich nicht — das
kann ich überhaupt nicht. — Worte ſind nicht viel
bei mir zu holen, das willen ale... Und nun
Sie — ein Mädchen — was verfteht denn die erft
von unjerer Kunft?”
Er hatte mit einer gemillen jouveränen Ber:
ahtung geiproden, Maud lächelte dazu. „Mehr
vieleiht als Sie denten, probieren Sie e3 nur
mit mir.”
Dabei hatte fie fich ihm zugeneigt. Die Wendung
des jchlanken Halfes, die Senkung des feinen Kopfes
bob fih Scharf gegen den dunklen Hintergrund ab.
Er folgte den Linien faft gedanfenlos mit den Augen,
dann plöglih fuhr er zufammen und ohne Maud
aus dem geipannten Blid zu laflen, z0g er jeinen
Stuhl um ein Stüd rüdmwärts, fort von dem ihrigen.
Si diefem Augenblid trat Fortunat herzu, und
fih auf die Schulter feines Freundes ftügend, begann
er mit Maud eine lebhafte Konverfation. Heelen
ſchwieg. Dennod) beobadıteten beide, daß er zu:
weilen verftohlen die Amerikanerin mit gejpanntem
Ausdrud beobachtete.
„Was hattet Du nur,” fragte Ler beim Nach—
baufegehen den Freund, „Du ließeft ja zulegt Miß
Winter gar nicht aus den Augen.”
Er warf dabei no einen Blid auf die er:
leuchtete Fenjterreihe bei Profeflors und wußte ganz
genau, dab es jebt da oben über jeinen Freund
arg berging. Luzies Laden Ichien ihn bis hierher
zu verfolgen. Nun ja, wie ein Dandy hatte fich
Heelen gerade nicht benommen, das war jhon richtig.
Eigentlich hatte er Momente gehabt, wo e8 ihn ge
ärgert hatte, aber Ichließlih war er doch ein Aus:
nahmemenjh. Wer nur nad äußerer Form urteilte,
der konnte fi ja derartig geledte tadellofe Herren
holen, aber dann nicht Anfprudh) machen auf einen
befonderen Kern. — Wie jeßt Luzie über ihn ber:
Roman von 9. Schobert.
536
fallen würde! Und Maud? Er war fih nicht recht
fiher, jedenfalls hatte fie Heelens Anftarren zulegt
unruhig gemad)t.
„Run?“ fragte Fortunat, ungeduldig über das
lange Schweigen des andern.
Heelen fah ieh um. „Hal Du es nicht be-
merkt,“ fragte er halblaut. „Sie bewegte den Kopf
ja wie meine Schlange, als fie zufammenftürzte. Über:
haupt, fie hat Ahnlichkeit mit meiner Schlange, findeft
Du nicht?“
Hortunat lachte aus vollem Halfe. „Du balt
fider ein Glas zu viel getrunfen, Menidh. Rede
nur um Gottes willen Jolden Unfinn nicht zu ihr,
fie könnte e8 Dir übelnehmen.”
„Rein, das fag’ ich nicht.”
„Ra, man Tann bei Dir nicht willen. Wie bat
fie Dir denn gefallen?”
„Sie war fehr freundlich zu mir.”
„Sa, ja; aber ich meine jegt, ob Du fie hübich
findeft?”
„Rein, ich denke nicht, fie ift jo dünn,” fagte
Heelen nad einem Fleinen Naddenten. „Die zer:
bricht ja, wenn man derb zufaßt.”
Fortunat räufperte fi. „Ich liebe diefe jchlanken,
grazilen Geftalten,” jagte er dann nadhdenklid. „Es
liegt etwas darin. Gejundes %ett ift jo plebejiich.
Die Seele fann gar nicht zum Vorihein kommen,
fie ift zu tief eingepolftert. Sch könnte mich nur
in ein fchlantes, elegantes Weib verlieben, Aber
Gott fei Danf, der Gelhmad ift ja verfchieden. Mich
gelüftet es immer mehr nach der Seele ald nach dem
Körper. Und außerdem muß eine Frau duften,
jumelenfunfeln, feidenraufchen, auf dergleichen re-
agieren meine Nerven, und fehließlih machen im
Gefühlsleben die Nerven alles.”
Heelen blieb ftehen und Jah dem Sprechenden
in das Gefiht, dann fenkte er den Kopf und ging
Ihweigend weiter. — —
Fortunat hatte recht gehabt. Als er fich mit
feinem Freunde entfernt hatte, warf fi Zuzie in
einen Gefjel, und die Arme über den Kopf ver:
Ihräntend, fagte fie: „So, Kinder, nun feßt Euch
no ein BViertelftündchen, nun wollen wir einen ge:
mütlichen Kleinen Klatich halten. Wie findet Yhr
diefen Heelen?”
„Beinahe unmöglih.” Emil, der das Jagte,
warf einen Blid in den Spiegel und betaitete jeinen
tadellojen Bart. „Die Krawatte jaß ihm nachher
ganz Ichief, der Halsfragen genierte ihn tödlich, er
hatte immer den Finger dazwiihen, wie ein Ge:
benkter, der den Strid abmehrt. Mit einem Wort,
eine fomilhe Figur.”
„Und die groben Manieren beim Een! cd
babe mid in bie Zunge gebillen vor Entjeßen,”
lagte Luzie lahend. „Maud, Sie Ärmfte, Sie haben
gehandelt wie eine Heilige. War’s Shnen nicht ent:
jeglich ?”
„Ich dachte an feine Kunft und beadhtete das
andere nit. Wie bald lernt fich äußere Forın.”
„Da find Sie im Irrtum, Miß Winter. Frei-
lich, eflen und fi) Eleiden, ja, das lernt er vielleicht.
Aber diefer Menidh wird nie fo fühlen und handeln
537 Art zu Art.
wie wir, deijen feien Sie verfihert. Ein Reft rohen
Empfindens bleibt ftet3 zurüd, davon laß ich nidt.
Das Erbteil des Blutes ift Feine bloße Mär.”
„Sie vergeflen jein Künftlertum von Gottes
Gnaben.”
„Das ändert den Menfchen nicht vom Grund
Art bleibt bei Art.”
Maud wideripradh ihm.
„Aber er fieht gar nicht übel aus,” jagte Luzie
dazwiſchen, „ein interefjanter Kopf. Wenn er erft
berühmt ift, wird fih mande in ihn verlieten, bis
dahin muß er natürlich abgeidhliffen fein!“
„Ih fand ihn angegriffen und elend,” be:
merkte Maubd.
„Bah! Die Rafie!” Emil warf fih an bie
Rüdlehne jeines Sefjele. „Die ift das Arbeiten ge-
wohnt, fann’s vertragen! Woran unfereiner zu
Grunde geht, den rührt es nicht. Daher aud) die
Erfolge folder Leute. — Wir, die wir jubtiler find,
müflen naturgemäß in den Ruf ber Trägheit und
Saulheit fommen, aber es ift ungeredt, jage id
Shnen. Die Verfeinerung ber Raffe bringt das
mit fi.“
Maud ftand am Tiich, die Hände auf die Platte
geftügt, und Jah Emil an. „Sch glaube es nicht,
was Sie da jagen,” meinte fie endlich nachdenklich.
„Sin Künftlertum von Botted Gnaden lölcht Geburt
und Erziehung, kurz, alle roheren Elemente vollfommen
aus. Sie fünnten ja gar nicht nebeneinander eriftieren.
Wie wollten fie fi denn vertragen.”
Emil warf jeine Cigarre in ben Alchbecher, fie
Ihmedte ihm heut abend nit. „Täujchen Sie fi
nit in alzugroßem Sdealismus, Mi Winter,”
fagte er ärgerli lahend. „Die Phantafie fpielt
jedem gern jeinen Streih, aber Wirklichkeit bleibt
trogßdem Wirklichkeit.“
Sie lachte jet aud. „Mich halten Sie für
ideal angelegt? Sch fürdte, ih bin es nicht —
feine Spur.”
Als fie aber allein in ihrem Zimmer war, ba
dachte fie eifrig darüber nah, ob es ihr nicht zum
Beilpiel gelingen würde, Heefen zu bilden, zu er:
ziehen, wo jeine Erziehung Züden aufwies, und ob
er ihr das nicht, jobald ihm erft die Etkenntnis da⸗
für kam, tauſendfach danken würde. Und ſie träumte
davon, was ſie noch aus ihm, dem großen Künſtler,
machen wollte, einen tadelloſen, liebenswürdigen
Menſchen, dem alle Kreiſe offen ſtanden und der ſie
ſelber über die Alltäglichkeit herausheben würde.
aus.
Elftes Kapitel.
Juni war es erſt, aber beinahe ſchon tropiſch
heiß. Zu Pfingſten, wo ſonſt die Stadt noch voll
Menſchen war, trachtete dies Jahr ſchon jeder nach
einem kühlen Plätzchen an der See oder in den Bergen.
Auch der Profeſſor hatte ſich entſchloſſen, früher als
ſonſt mit ſeinen Kindern der Stadt den Rücken zu
kehren. Sie hatten alljährlich eine hübſche Villa
nicht weit vom Seeufer inne, und ob dem alten
Roman⸗ZJeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
538
Herrn auch durch das tägliche Hin- und Herfahren
am Morgen und Abend manche Unbequemlichkeit
erwuchs, ob ſelbſt ſeine Geſundheit darunter litt,
Luzie hielt ſtreng auf dieſe ſtandesgemäße Villegiatur
Emil pflegte alsdann ſein Atelier zu ſchließen und
ſich den Sommer als wohlverdiente Ferien zu rechnen,
unter dem Vorwande, daß die Schweſter nicht allein
bleiben könne. Diesmal war ihm beſonders das
noch ungezwungenere Zuſammenſein mit Maud da
draußen willkommen.
Fortunat hatte ſich während der letzten Tage
weniger als gewöhnlich beim Profeſſor ſehen laſſen,
er ſuchte mit Heeken ein neues Atelier für dieſen,
auch die notwendigen Möbel dazu, und da ſie dieſe
Thätigkeit in die frühe Morgenſtunde verlegten, die
kühlen Abende und halben Nächte aber dem Ver—
kehr mit einigen noch anweſenden Kollegen widmeten,
jo blieb ihm nur die heiße Zeit, die er jedoch vor-
309 zu verichlafen.
Er war zu unbefangen, um an jeinem Freunde
inzwilchen ein eingehendes Studium auszuüben; aus
Gemwohnheit nahm er ihn wie er war, und do gab
es vielleicht nichts Sntereflanteres als die Metamor-
phoje, die fich inzwildhen halb unbewußt an Martin
Heelen vollaog. Er wurde nicht etwa rebfeliger, im
Gegenteil jchweigiam, verjhloflen und unbehaglich
jaß er im Kreije der jungen Xeute, die falt jeder ein
interellantes Erlebnille hatten, über das fie jprachen.
Shn interejiierte dos nicht, denn er fonnte weder
über beitere noch tragijche Liebeständeleien mitiprechen,
aber ein gewaltiger Hohmut wuchs dabei ganz
beimlih und unbemerkt in ihm auf, wenn er fi
mit jenen verglid.
Man hatte in der Kritik einftimmig feine Gruppe
bewundert, ihm eine große Zukunft prophezeit. Wie
eine Gloriole wand fih das erlittene Martyrium
um fein Haupt und gab dem allen nod einen be:
jonderen Zauber. Die Zeitungsblätter begleiteten
ihn jest täglich; er hatte einen wahren Heißhunger,
fie wieder und wieder zu lejen. Auf der Straße
blieben Kollegen, die ihn früher gar nicht beachtet
hatten, jebt vor ihm ftehen, fchüttelten ihm die Hand
und gratulierten ihm. Er hörte feinen Namen im
Vorübergehen nennen, und blonde und braune
Mädchenköpfe wandten fih nah ihm um.
Das erite Mal, als das geichehen, war er tief
erihroden, mit heißem Geficht in die nächte Straße
eingebogen; allmählich hatte er fich daran gewöhnt,
ja, er wartete heimlih darauf. Bis dahin war bie
geöffnete Scheibe des Atelierfenfters fein Spiegel ge-
wejen, jegt war jeine erftie Ausgabe, fich einen
ordentlichen zu erftehen.
Trogdem fühlte er fich noch immer todunbehag-
lid in jeinen neuen Anzügen, und bejonders bie
MWäfche, diele fteife, ungefüge Mafje, blieb ihm ein
Stein des Anftoßes. Sobald er nur ungefehen
fonnte, jchlüpfte er in fein altes Wollhemd, dann
redte und dehnte er die Arme und feufzte tief auf,
dann fam auch etwas wie Schaffensluft wieder über
ihn, die in der fremden Kleidung ganz verſchwunden
zu fein jchien. Freilich war nicht diefe daran Ihuld,
IV. 38
539 Art zu Art.
— — — — — —
ſondern die übergroße Erſchöpfung, die er immer
noch nicht überwunden hatte.
„Heut müſſen wir aber zu Quenſels,“ ſagte
Fortunat eines Morgens, „Adieu ſagen. Morgen
ziehen ſie aufs Land. Ohnehin waren wir nicht
ſehr artig gegen ſie.“
Martin ſträubte ſich nicht, obgleich es ihm kein
beſonderes Vergnügen machte, Maud wieder unter
die Augen zu treten. Sie war ſehr freundlich zu
ihm geweſen, gewiß. Aber er wurde die Vorſtellung
nicht los, daß ſie ſeiner Schlange ähnlich ſei, und
dann übte ihr ganzes Weſen, ſo lieb und ſanft es
auch war, eine gewiſſe Autorität über ihn aus, die
ihn unheimlich berührte, faſt etwas in Furcht hielt.
Als ſie wieder wie gewöhnlich gemütlich auf
der Veranda ihren Kaffee tranken, ſagte Luzie mit
einem kleinen Seufzer: „Eigentlich iſt es ja ſchauder⸗
haft langweilig auf dem Lande! Warum kommen
Sie nicht mit heraus, Fortunat, wie alljährlich, da
Sie doch nichts Wichtigeres zu thun haben, als
Ihren Freund zu — bevatern.“
Sie lachte, als ſie das ſagte, und der Profeſſor
griff ſofort die Worte ſeiner Tochter auf, liebens—
würdig, wie er war, ſobald es galt, jemand eine
Freude zu machen. „Meine Tochter hat recht, kommen
Sie mit, Fortunat, wenigſtens das Feſt über. Und
Sie, Heeken, auch, Platz iſt da, und etwas Erholung
ſcheint mir gerade für Sie ein Bedürfnis. Unſere
liebe Miß wird Ihre Anweſenheit beſonders erfreuen,
nicht wahr?“
Luzie warf klirrend den Kaffeelöffel zu Boden.
Herrgott, war ihr Vater dumm! Dachte er denn
wirklich gar nicht an ſeine Kinder? Ihr kamen in
dieſem Augenblick ſehr ſkeptiſche Gedanken über die
Weisheit der Eltern ihren Kindern gegenüber. Eigent⸗
lich lag es doch allzu nahe, Emil dieſe glänzende
Partie zu ſichern. Aber wenn je ſolche Gedanken
hinter des Profeſſors Stirn aufgetaucht waren, ſein
kindliches Gemüt hatte dieſelben längſt vergeſſen.
„Das iſt einmal ein geſcheiter Gedanke! Ver—⸗
ehrter Herr Profeſſor, ich lege mich Ihnen zu Füßen.
Nun, Martin — was ſagſt Du dazu?“
„Stehen Sie ſchnell wieder auf, Lex,“ flüſterte
Luzie ihm zu. „Ihr großes Kind zerbricht ſich ſonſt
die Zunge.“
Und Martin ſaß wirklich da, verlegen, un—
beholfen, nicht wiſſend, was er ſagen ſollte. Der
Profeſſor nickte ihm freundlich zu.
„Alſo abgemacht. Der Zug geht morgen um
dreiviertel neun Uhr, bis dahin können die Herren
noch das Nötigſte einpacken. Wir gehen ja aufs Land.“
„Papa iſt wirklich einzig,“ ſagte Luzie. „Ladet
mir das ganze Haus voller Gäſte, ohne zu wiſſen,
ob ich ſie unterbringen kann.“
„Dann laden Sie uns wieder aus, wenn Sie
das Herz dazu haben,“ lachte Fortunat fröhlich.
„Übrigens iſt da bald Rat geſchafft. Ich beziehe
mein altes Zimmer, und Heeken wohnt mit darin.“
Sie warf ihm ein Blumenknöſpchen an die
Stirn, halb ſchmollend, halb lachend. Im Grunde
war ihr ja Fortunats Anweſenheit ſo erwünſcht, daß
Roman von © Shobett.
540
fie ſogar Heeken mit in den gauf nahm. Mochte
Emil ſich doch ſelber ſeiner Haut wehren. —
Als ſie nachher mit ihm darauf zu ſprechen
kam, fand ſie ihn ſiegesſicherer denn je.
„Sie haben heut kaum ein Wort miteinander
gewechſelt,“ ſagte er triumphierend. „Es ſieht aus,
als ob ſich Heeken vor ihr fürchtet. Deſto beſſer.
Das wird ſie beleidigen und ſie mir deſto ſicherer
in die Arme führen.“
„Eitler Kerl,“ ſagte Luzie geärgert. „Aber
wahrhaftig, ich wünſchte, ich hätte Dich erſt glücklich
verſorgt, mit mir werde ich dann ſchon fertig.“ —
Die Villa, die Profeſſors bezogen, hatte nur
einen kleinen Garten, an den ſich gleich ein aus—⸗
gedehnter Kiefernwald ſchloß. Bei der herrſchenden
Hitze kam der ſtarke Duft in ſchweren, betäubenden
Wellen bis unter die Veranda, auf der Maud ſaß
und ſchrieb.
Sie atmete ihn ein wenig ein, dann ſchlug ſie
die Mappe zu und beobachtete ihren Geſellſchafter,
der unweit von ihr ſchweigſam in einem Korbſtuhl
ſaß und die flimmernde Hitze betrachtete, die die
Luft zittern ließ. — Es war Heeken. — Solch ein
träumeriſches Nichtsthun war ihm ſo ungewohnt, er
empfand es faſt wie eine Laſt, aber wie eine, die
doch recht leicht zu tragen war, beſonders wenn man
ihn nicht zwang zu ſprechen — das war für ihn der
größte Schrecken.
Der leichte Sommeranzug kleidete ihn vortrefflich,
Maud dachte das, indem ſie ihn anrief. Er drehte
den Kopf herum ohne Antwort.
„Ich ſehe, Sie leiden wenig durch die Hitze, ich
gar nicht,“ ſagte ſie, ihr leichtes Morgenkleid etwas
ſchüttelnd. „Und es duftet ſo ſchön herüber; wäre
es nicht nett, einen kleinen Spaziergang in den
Wald hinein zu machen und ſich auf die erwärmten
Tannennadeln zu legen? Ich habe Luſt, kommen
Sie mit?“
Er erhob ſich. Dagegen einzuwenden hatte er
nichts.
Im Hauſe klangen Schritte.
O flink! Flink!“ rief Maud, ihr Kleid zu:
ſammenraffend und eilig die Treppe herunter—⸗
ſpringend. „Das iſt Herr Quenſel. Laufen wir
davon, ehe er uns ſieht.“
Sie ſprang hurtig vorwärts, er ſah, indem er
ihr langſamer folgte, ein Wogen von Spitzen, die
ſich durch das Raffen des Kleides zeigten, einen ſchmalen,
ſchwarzen Lackſchuh. Dinge, die er noch nie bemerkt,
noch nie geſehen hatte, die ihn aber trotzdem eigen:
tümlid anzogen.
„So!” fagte Maud endlich ftehenbleibend. „Hier
find wir fiher; bier fieht uns niemand mehr. Das
war nett, daß wir ihm entlamen.”
Er jah fie an. hr Gefiht war erhigt, ihr
Atem ging Ihnel. Zum erfien Mal bämmerte ihm
das Bemwußtlein, daß fie ein Weib fei wie andere
auh, daß ein Mann das Recht hatte, fie zu be-
gehren, wie andere aud).
„Sie können ihn alfo nicht leiden,” fragte er,
und es freute ihn faft.
„PR. Das jagt man in unfern Kreifen nicht
541
jo unverblümt,” belehrte fie ihn Tächelnd. „Da beißt
e8: ich babe Feine fonderliche Sympathie für ihn —
er ift mir gleihgültig. — Ein bißchen Heuchelei ge
bört zum guten Ton.”
„Das gefällt mir nicht, das lerne ih aud)
niemals.”
„Do, vielleicht Do. Es lernt fich manches jchnell,
Herr Heelen.”
Sie gingen jchweigend dur den fommerheißen
Wald. ZYhre Füße glitten zumeilen auf ben glatten
Nadeln aus, und der jchwere Tannengeruch flieg zu
Kopf und machte benommen. BZwilchen den gerade
auffirebenden Stämmen zeichnete fih der Himmel
ab in leuchtendem Blau wie eine unbewegliche Platte,
und Hummeln und Käfer umjchwirrten fie.
Plöglich blieb Maud ftehen. „Was babe ich
Shnen gethban, Herr Heelen?” fragte fie und blidte
zu ihm auf.
Er war erihroden. „Mir? Aber nichts!”
ftotterte er.
„Sie find unfreundlic gegen mi und id —
ic habe es doch fo gut mit Jhnen gemeint.“
„Sräulein,” jagte er mit einem gewaltigen
Entihluß. „Ih verfiehe es nit, mit Zhnen zu
fpreden — weiter nichts! Der Duenfel und der
Fortunat Tönnen es, ich nit. Sch bin es eben
nicht gewohnt.“
„St das alles? — Wirklich die Wahrheit?”
Er verihlang die Finger. „Lügen babe id)
auch nicht gelernt, und weil ich’s nicht gelernt habe,
deshalb tauge ich jo Ichledht unter die Menichen. Sie
fasten es vorhin ja jelbf.”
Betroffen blidte fie ihn an; dann nidte fie.
„Sa, etwas gehört wohl dazu. Aber zu Shnen bin
ich ehrlih, wenn ich jage: ich meine e8 gut mit
Ahnen.”
Er fah fie von der Seite wie abjhätend an.
„Was könnten Sie mir helfen, Fräulein. Ih wüßte
es nicht, und,” er redte fi hoch auf, „ich möchte
es auch nicht! Bon einem Weib! Bon einem
Mädchen! Lieber wollte ich jchon untergehen. Dann
wäre e8 doch aus mit der Freude am Leben.”
Sie jah zu ihm auf während er jpradh, Jo
jelbftbewußt, jo kraftvoll, und fie jeufzte vor fi
hin. Wenn fie ihn auch vielleicht Doppelt hochadhten
mußte nach biefem Belenntnis, traurig madte es
fie do. Fortunat wird jchon recht haben, daß er
nichts von ihrem Gelbe nimmt, daß fie feinen Teil
an ihm gewinnt.
„Es ift jo heiß,“ Tagte fie leile und berührte
leiht mit der Hand ihre Wangen. „Wir wollen ein
wenig niederfigen.“
Art zu Art.
Roman von H. Schobert.
542
Sie fegte fih auf die warmen, duftenden Nadeln,
308 das eine Knie etwas herauf, um den Ellenbogen
zu ftüßen, und lehnte den Kopf in die Hand. So
aß fie und flarrte ins Weite. Es war ordentlich
eine Sudt in ihr, diefen DMenjhen da, von dem
fie wußte, er war fo arm, daß ihn nur die Wohl-
thaten feiner Freunde in ftand gelegt hatten, fein
Werk zu vollenden, zu zwingen, etwas von ihr zu
nehmen, mit ihr zu rechnen wie mit einem gleich-
ftehbenden Wejen. Denn das empfand fie deutlich,
fie und Luzie, die Frauen im allgemeinen, waren
ihm nichts wert, galten ihm berzli gering. Das
ärgerte fie.
Er hatte fich nicht weit von ihr ebenfalls auf
den Boden bingeftredt, ganz lang, die Hände unter
den Kopf, und jah zum Himmel auf. Eins ftand
feft, Fortunat würde biefe Pofe nicht in Gegenwart
einer Dame eingenommen haben.
Es war jo Hl um fi. Traumhaft fill. —
Von weit ber fam verworrenes Geräufh, Menichen:
fiimmen, Hundegebel, Rollen von Rädern, aber es
Ihien fih alles zu brechen, in der Luft zu zerflattern
an der Grenze diefes Waldes. Kein Vogel fang,
fein Windhauh bewegte die Nadeln der Bäume.
Maud fühlte allmählich ihr Blut Elopfen, fo deutlich,
daß fie faft glaubte, er fönne e8 auch hören, ein Ge-
fühl beichlih fie, ale fehle ihr der Atem.
„Herr Heelen!”
Sie rief es laut, faft jcharf, mit einem zornigen
Anklang. Er drehte fih etwas auf die Seite.
„Was, Fräulein?”
„Möchten Sie fih nicht etwas aufrihten? Es
geniert mi, daß Sie jo daliegen.”
Er fette fih jofort; jo unbewandert er mit
Frauen war, den fatalen Ton in Mauds Anruf
fühlte er doh. An feinem diden, gemwellten Haar
waren ein paar Nadeln fiben geblieben, fie taumelten
hin und ber, Maud fjah fie zornig an.
„Ich babe nichts Böjes thun wollen,” jagte er
in dem dunklen Drang, jemand, der freundlich zu
ihm gewejen, nicht zu verlegen, nahm einen bürren
Zweig auf und Inadte ihn in Stüde „Ih bin
das Feine eben nicht gewöhnt.”
Er wunderte fih, daß er das alles über die
Lippen bradte, vor Fortunat wäre ihm doch nie und
nimmer der Gedanke einer Entichuldigung geflommen.
Aber dies feine, junge Fräulein hatte eine Art an
ih, daß fie ihn ganz bezwang, und gerade deshalb
war fie ihm jo unbequem.
(Fortfegung folgt.)
543 Schwertflingen.
Schwertiklingen
Roman von Hans Werber. 544
Baterländifcher Roman
von
Dans Werder.
(Fortfegung.)
„Lieber Hallo — gewiß — wir maren alle
Die lebhafte Erinnerung an den Prinzen, den
au fie jo glühend bewundert, belänftigte Renate
ein wenig. „Haflo, ih weiß es ja, wie er war
und was wir an ihm gehabt! Uber da wir ihn
leider, leider verloren haben, wollen wir doppelt
froh fein, daß fein Heldengeift unter ung fortlebt in
einem Mann wie Shi! Wir dürfen ihn nicht
fähmen in feinem Fluge, wenn der Genius die
Schwingen aufhebt, um zu vollenden, was damals
durh Prinz Louis Tod gehindert wurde!”
Hallo Hob mit lebhafter Bewegung den Kopf.
„Sıil ift fein Genius!” Tam es unwillfürlich aus
innerfter Überzeugung von feinen Lippen.
Da aber fuhr Renate auf. „Was — das fagen
Sie? Das wagen Sie zu jagen von unjerm Helden,
unferm Baterlandsbefreier — Sie, ben er feinen
Freund nennt —” Sie hielt inne. inter ben
dunklen Wimpern hervor heftete Haflo einen Blid auf
fie, beilen Bann fie fi nicht zu entziehen vermochte.
„Sräulein Renate —“ er nannte fie zum erften
Male jo — „id babe Schill geliebt und verehrt,
bin mit ihm und für ihn dur Feuer und Wafler
gegangen, ehe Sie jeinen Namen kannten! ch weiß,
was ich von ihm zu halten babe! Um fo mehr
muß ich es für einen Fehler anjehen, wenn er jo
handelt, wie ein preußilcher Soldat nicht handeln
darf! — ch glaube nit, daß er die politifche
Weltlage richtig überihaut, was do vor allen
Dingen nötig wäre, um einen jolden Schritt zu
rechtfertigen!”
„Lieber Hallo,” unterbradh ihn Herr von Bel:
degg jest ungeduldig, „es ift wirklich nicht Shre
Sadje, über dergleihen Fragen abzuurteilen! Wenn
Sie aljo Khrem Regimentslommandeur — und mir
— in der Beziehung nicht viel zutrauen, jo räumen
Sie doch vielleiht ein, daß Männer wie Scharnhorft
und Gneilenau lÜberblict über die politifche Weltlage
haben dürften!”
„Bor allen Dingen,” jagte Renate jebt faft
Ihluchzend vor Aufregung, „it Schill das deal
eines ritterliden Streiters, jeden Augenblid bereit,
ich für die heilige Sadje zu opfern! — Sind Sie
dies nicht, nun, fo können Sie ja hier bleiben und
fortfahren, Politit zu treiben!“
„Aber Renate!” warnte der Vater.
Hallo Schwieg, doch es lag eine unenbliche
Beredfamfeit in dem ftummen Blid, der noch ein:
mal ihre Augen traf. „Herr LDberfllieutenant,”
wandte er fi an diefen, „ich bitte um Entſchuldigung,
wenn meine Morte bier nit am Plage waren! —
Ich darf mich wohl jegt empfehlen!”
drei erregt und haben manches geiprochen, was befjer
unterblieben wäre! Kommen Sie nur bald einmal
wieder! Sich hoffe, e8 gelingt uns ein andermal befler,
unjere Anfichten in Einklang zu bringen!”
Eine höfliche Verbeugung war alles, was Hallo
zu erwidern hatte. Dann eine zweite noch tiefere
vor der Tochter des Haufes — damit ging er.
II
Mit feiten Schritten eilte Hafo dahin, ein Ge:
fühl in der Bruft, als fei ihm ein Unglüd zu:
geitoßen, als jei ein Verluft über ihn hereingebrochen,
der ihn arm gemadt, wie er nie zuvor ge:
wejen. Bon feinem geliebten Kommandeur war er
in Mißverftändnis und Verftimmung gejchieden, von
Renate mit lieblojer Heftigfeit und Härte behanbelt,
ja verhöhnt. Mas wollte, was dachte fie von ihm,
fie, deren holde, herzliche Freundlichkeit fich wie
Sonnenjhein über fein Dafein gebreitet, der einzige
Sonnenidein feines einfamen Lebens. Wie graufam
weh hatte fie ihm gethban! Und warum? Sie fonnte
doh nicht zweifeln an feinen Auffaffungen von
Offiziergehre und Soldatenpfliht, oder gar ihm zu:
muten, daß er Diejelbe ihrer Meinung unter:
ordnen jollte. Sie, die fonft fein Bilb mit Glorien:
Ihein ummoben und geneigt gewelen war, ihn in
al feinem Thun als Helden anzujehen, wie fonnte
fie plöglih, bei der erften Abweichung ihrer Anficht
von der feinen, ihm mit diejer beleidigenden Nicht:
ahtung begegnen?
Solde Fragen waren es, die dem heißen Zorn:
gefühl eine marternde Beimifhung von Zweifel und
Unruhe gaben. Es fam ihm gar nicht der Gedante,
daß die Meinung bei ihr feftftand, er wolle überhaupt
nicht mit ins Feld ziehen, jondern til hinter dem
Dfen figen bleiben, Er grübelte fi über diejfen
Zweifeln in einen menjchenfeindliden Grimm hinein.
Die Aufforderung des Oberftlieutenants, bald wieber:
zufommen, ließ er unberüdfichtigt. Sa, er mieb
geflifientlich bie Gefelfchaften, in denen er Renate zu
finden mußte. Er wollte fie jet nicht wieberjehen.
Und doch verzehrte ihn die Sehnjudht nad ihr
mit nimmer raftender Dual. In den dunklen, fpäten
Abendftunden Ihlih er wie ein Dieb durch bie
Straßen und blidte im Schatten der Häufer hinauf
nah ihrem mwohlbelannten Erferftübhen, in ber
Hoffnung, nur einmal die fchlante Seftalt an dem
545 Schwertklingen.
erleuchteten enter vorübergleiten zu jehen, vol
zagenden Berlangens, wenn er fie erblidte, in
grollender Verzweiflung mit feinem Schidjal hadernd,
wenn fein Hoffen unerfüllt blieb.
Und mwährenddeilen fchaute Renate nah ihm
aus, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, ob
er nicht wiederfommen würde, ihr Verföhnung und
Verfländigung zu bringen. Sie litt unausfprechlich
in dem Bemwußtfein, ihn fo tief und jchmerzlich ge-
fränkt zu baben. Der Blid aus feinen bunflen,
verichleierten Augen, mit dem er ihre lebten be-
leidigenden Worte entgegengenommen, verfolgte fie
anklagend bei Tag und Nadıt. Sie fehnte fi nad)
einem Wort, einem Händedrud von ihm! Ach ver:
gebeng! Er mied fie — er juchte die Verftändigung
nicht, die ihr fo heiß am Herzen lag! Wie tief
mußte jein Bürnen fein!
Bon ihrem Vater befam fie ernfte Vorwürfe zu
hören mwegen ihrer unmeiblichen SHeftigleit und der
bitteren Kränfungen, die fie dem Gaft unter ihres
Baters Dach angethan. Auch das war ihr ein Kummer.
Ein größerer aber nodh, daß audh der Vater ihm
zürnte und, wenn er auch ihre SHeftigleit tabelte,
doh den Grund bderjelben anerlannte. Der Gedante
eben chmerzte fie tiefer als alles andere, daß fie
ih in Hafjo getäufcht, daß er kein Held fei, fondern
ein gewöhnlicher Sterblider, der nur in den Krieg
309, wenn er mußte. War er das mwirfid —
nein, dann mollte fie ihn nit lieben. Einem
Helden mwollte fie einft angehören, feinem zagenden
Schwädling.
Sn ihrem achtzehnjährigen Köpfchen hatten bie
Feuerideen ihres Vaters und jeiner Freunde eine
Flamme entfadt, der jede andere Anjchauung zum
Opfer fallen mußte. Aufftehen für die Freiheit, jebt
mitten im Frieden, um die Völker zur Erhebung zu
erweden, das bedeutete für fie Heldentum, Mann:
baftigkeit. Abmwägen, feithalten an Gele und Ge:
borfam dagegen — Teigheit, unwürdige Schwäde.
Und in diefe bochgeipannte Stimmung binein traf
fie die vernichtende Enttäufhung: Haflo, ihr be-
wunderter Freund, ftellte fih auf die Seite der
Zaudernden — der Feiglinge! E& war ihr, ale
hätte fie ihn zwiefach verloren, unmiederbringlicher,
als wenn der Schladhtentod ihn ihr entrifien! Doc
nein, nein, fie durfte die Hoffnung nicht aufgeben!
Mit aller Kraft ihres Herzens wollte fie um ihn
fämpfen, ihn zurüderobern, fich jelbft, ihrer Freund:
haft und Liebe — vor allen Dingen aber der
heiligen Sade des Baterlandes!
Wieder war Schill zu ihrem Vater gelommen.
Heut begleitete ihn fein Freund und Waffenbruder
aus der Kolberger Zeit — Abolf von Lützow, der,
damals bei Naugard verwundet und ald Major ver:
abjehiedet worden, jeßt zu ihm zurüdgelfehrt war,
um in heller Begeifterung für das geplante Unter:
nehmen fih als freiwilliger Gefährte diefem anzu:
fhließen. 8 war berjelbe, der jpäter mit feinem
Sreiforps, der „Ihmwarzen Schar”, feinen Namen
rubmvoll befannt gemadt. D — dielen Mann
Iprehen zu hören! Renate ja in ihrem Stübchen
und laute. Warum fonnte es nicht Hallo fein,
Roman von Hans Werber.
546
ber jolhen Feuergedanten fo ftolzen Ausdrud ver:
lieh! Wie unjagbar glüdlih Hätte es fie gemadt!
„Haben Sie denn Rohlit jet zu unferer An:
ficht befehrt?” hörte fie da ihren Vater fragen.
„Ih habe ihn nicht wiedergejehen, Herr Oberft-
lieutenant,” war Schild Entgegnung. „Wenigitens
nicht geiproden! Er meidet mich fihtlid, und dar:
aus jchließe ich nicht gerade auf einen Wechjel jeiner
Gefinnung! Wenn es zum Ausmarjch Tommt, werde
ih ihn beurlauben. Gegen fein Gewifien ihn zwingen,
das möchte ich nicht!”
„Aber Shi — Du fannft do in Hallo
NRohlig nicht folche Zweifel jegen!” rief Herr von
Lüpom lebhaft. „Alle Wetter — da fennt Yhr ihn
Ihleht! Ach werde mit ihm Ipredden und Du wirft
jehen, er flebt zu uns genau wie danıald, als er
mit feinem General Victor aus Arnswalde ange:
zogen kam!”
„Ih bitte Dich, dies zu unterlaffen!” erklärte
Herr von Shill mit Beltimmtheit. „Cinen Menjchen
wie Rohlig will ih freiwillig haben, unbeeinflußt
und ganz, oder gar nicht!”
„Könnte ich nur mit ihm ſprechen — nod
einmal!” dachte Renate. „Shn verföhnen und um:
ftimmen! Wie wollte ih ihn bitten und beftürmen,
bis es mir endlich gelänge! Aber er meidet aud)
mich, er will mich nicht mehr kennen! Sein Born
gegen mich ift tief! Aber follte meine Liebe nicht
noch tiefer fein — und meine Macht über ihn ftärker
— und am ftärkiten unfere gemeinjame Liebe jür
das bedrängte Vaterland?”
111.
Hocdherregt ging Major Schill in feinem Zimmer
auf und nieder. Das Verhängnis 309 fih um fein
Haupt zufammen und trieb ihn vorwärts auf der
gefahrvollen Bahn.
Er hatte die Nachricht erhalten, daß fein Kund:
Ihafter Romberg feftgenommen, in Kafjel vors Kriegs:
gericht geftellt und erfchoffen worden war. Alle dorthin
beflimmten Briefe und Aufrufe, von ihm felbft und
feinen Gefinnungsgenoflen verfaßt, waren jomit in
die Hände der Feinde gefallen und Herr von Küfter,
der preußiihde Gefandte in Kaflel, aufs drohendfle
deswegen zur NRechenihaft gezogen worden. Ein
vaterländifh gelinnter SKavalier, Herr Alerander
von Bothmar, Neferendar im dortigen Minifterium,
war auf Kurierpferden zu Schill geeilt, dieje wichtige
Kunde zu überbringen, zugleih mit dem Auftrag,
ihn zu Ichleunigem Handeln und Aufbrud zu ver:
anlaflen. Gleichzeitig war ein Billet aus der nächlten
Umgebung des Königs in feine Hände gelangt mit
den Worten: „Der König Ihwantlt, Schill, ziehen
Sie mit Gott!”
Don Ofterreih ber drang die trügerifhe Kunde,
daß Erzherzog Karl die FSranzojen bei Hof geichlagen.
„Karl und Hof” Tautete die Parole, die der Komman-
dant von Berlin daraufhin ausgab.
547 Schwertklingen.
Gewiß, dies war ein günftiger Augenblid zum
Losſchlagen.
Schill nahm die verſchiedenen Blätter, welche
alle ſo feurige Mahnrufe für ihn enthielten, und
ſchob ſie in eine Brieftaſche von rotem Marqquin,
auf welcher in farbiger Seide der preußiſche Adler
geſtickt war. Auf der erſten Seite ſtanden hinein—
geſchrieben die Worte:
„Für den braven Herrn von Schill.
Luiſe.“
Die Königin hatte das für ihn geſchrieben, ihre
Hand den Adler geſtickt. Stumm blickte Ferdinand
von Schill nieder auf dieſe heiligen Erinnerungs—
zeichen, es zuckte weich um ſeine Lippen und er
drückte das teure Angebinde an ſeine Augen. „Meine
angebetete Königin, für Dich gehe ich in den Kampf,
für die Krone auf Deinem Haupte. Ob ich recht
oder unrecht that — Du wirſt darüber urteilen und
wirſt es wiſſen, für Dich warf ich freudig Leben
und Ehre hin!“
Immer klarer ward vor ſeinen Augen der
Weg. Er richtete ſich auf.
Sein Bediente trat herein und meldete die
Herren Major von Lützow und Lieutenant Bärſch.
„Freunde, was bringt Ihr mir?“ redete er die
Eintretenden lebhaft an. „Bärſch, Ihre Mienen
erzählen Außerordentliches!“
„Jawohl, Herr Major! Soeben eine Stafette
aus Königsberg! Mein Freund Ribbentrop ſendet
ſie mir! — Herr von Küſter, unſer Geſandter in
Kaſſel, hat über Rombergs Feſtnehmung und unſere
bei ihm gefundenen Papiere nad) Königsberg be
richtet. Strengite Unterfuhung und Ahndung wird
natürlich vom Könige gefordert, und — —” er flodte.
„Run?“ fragte Schill und feine tiefichwarzen
Augen erweiterten ih. Er wußte, was kommen
würde.
Major Lützow nahm das Wort. „Und in den
nächſten Tagen erhältſt Du Befehl, Dich dem Kriegs⸗
gericht zu ſtellen!“
Einige Sekunden lang wurde es ſtill im Zimmer
nach dieſen inhaltſchweren Worten. „Dem Kriegs—
gericht!“ Schill atmete ſchwer. Der ganze Kampf,
den ſein Soldatenherz in Wochen und Monaten
durchgerungen, bis zur fiegenden Entſcheidung, loderte
noch einmal darin auf. Sollte er ſich unterwerfen,
die Sache des Vaterlandes im Stich laſſen? Sollte
er ſich auflehnen gegen die geheiligten Geſetze der
Subordination?
Nein, nein, das war keine Auflehnung! Noch
hatte ihn der Befehl des Kriegsherrn nicht erreicht,
noch war er frei! Morgen, übermorgen vielleicht
nicht mehr. Dann war ſeine Sache verloren und
keiner, das wußte er, würde ſie nach ihm wieder
aufnehmen. Er aber hatte ſich gebunden, verpflichtet,
er konnte nicht mehr zurück. Vorwärts denn, der
Augenblick der Entſcheidung war da! Auf ſeiner
raſchen Entſchließung, auf ſeines Säbels Schneide
ſtand jetzt des Vaterlandes Schickſal!
Schweigend hatten die beiden Freunde gewartet,
daß er ſprechen würde, ſchweigend den Kampf auf
Roman von Hans Werder.
548
—— ausdrucksvollen Antlitz beobachtet. Jetzt blickte
er auf.
„Ich habe mich entſchieden,“ ſagte er langſam,
„denn es giebt nur eine Entſcheidung. Morgen, ſo
früh als möglich, rücken wir aus!“
„Morgen!“ wiederholte Bärſch faſt erſchrocken.
Mit kurzen Worten legte Schill ihnen ſeinen
Gedankengang vor. „Und nun noch Eure Meinung!
Seid Ihr der Anſicht, daß ich das Rechte thue, und
daß ich mich auf mein Offizierkorps, auf mein Re—
giment verlaſſen kann?“
„Ohne Zweifel thuſt Du das Rechte!“ rief Adolf
Lützow mit Nachdruck. „Dein Entſchluß iſt der einzig
richtige. Gott ſei Dank, daß Du ihn gefunden, aus
eigener freier Wahl!“
„Und die zweite Frage darf wohl ich beantworten,
Herr Major!“ nahm Bärſch das Wort. „Ob Sie
ſich auf uns verlaſſen können? Wie auf den Säbel
in Ihrer Hand!“
Schills Augen leuchteten. „Gut — vorwärts
denn! in Sieg oder Tod! Beſſer ein Ende mit
Schreden, ala Schreden ohne Ende!*) — — Und
nun, lieber Bari,” fuhr er nach kurzer Paufe fort,
„Ihreiben Sie den NRegimentsbefehl für morgen!
Um melde Stunde meinen Sie, daß wir zum Aus»
marich fertig fein werden?”
„Allerfrüheftens um vier Uhr nachmittags, Herr
Major!”
„But! Alfo morgen nachmittag vier Uhr fteht
dag Regiment mit vollem Gepäd zum Ausrüden am
Hallefhen Thore bereit: Difiziere und Mannicaften
ericheinen Fomplett! — Und nun bante ih Ihnen,
meine Herren! — Übrigens — heute abend ift ein
Bal bei der Gräfin Hapfeld. Sch hoffe, es werden
viele von uns bort fein, damit von feiner Seite ber
Verdacht geſchöpft wird!“
„Ich bitte gehorſamſt, mich zu dispenfieren, Herr
Major! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren!“
„Gewiß, lieber Bärſch, Sie bilden für mich
eine ſtete Ausnahme!“ ſagte Schill lächelnd. „Aber
Du kommſt, Adolf, nicht wahr? Ich will Dich meiner
Braut vorſtellen! Wir werden hierzu keine Gelegen⸗
heit weiter haben! Bärſch, ſenden Sie ſogleich eine
Ordonnanz an Rochlitz, er ſoll zu mir kommen!“
Die Herren entfernten ſich. Nach kürzeſter Friſt
trat Rochlitz ein.
„Herr Major haben befohlen!“
Sie ſtanden ſich ſekundenlang Auge in Auge
gegenüber. „Rochlitz, wollen Sie auf Urlaub gehen,
ſo ſei er Ihnen bewilligt, ſo lange Sie wollen! Aber
unter einer Bedingung, Sie müſſen ihn ſofort an—
treten, ſpäteſtens morgen früh Berlin verlaſſen!“
Haſſos Augen wurden ſchwarz wie die Nacht.
„Darf ich fragen, aus welchem Grunde mir Herr
Major dies Anerbieten machen?“
„Haſſo,“ ſagte Schill mit dem warmen Herzens⸗
ton, der ſo oft ſeinen Worten eigen. „Außer Lutzow
und Bärſch, die ſoeben bei mir waren, weiß noch
niemand von meinem Entſchluß, doch Sie müſſen
ihn erfahren!“ Er teilte ihm in kurzen Worten die
Schills Worte.
549 Schwertklingen.
Sadjlage mit. „Bärih jagt mir foeben,“ fuhr er
fort, „ich lünnte mich auf mein Regiment verlaflen
wie auf den Säbel in meiner Hand! Schon neulich
betonte ih, daß dies die Hauptbedingung für mein
Unternehmen fei und die einzige Gewähr für feinen
Erfolg! Nun weiß ich aber, daß Sie mir Yhre Zu:
fimmung verfagen, Rohlig — fonft wären Sie
wohl fon einmal bei mir gemwejen Jeit unjerer
legten Unterredung! ch tenne Sie! Entweder man
bat fie ganz oder gar nicht! Darum frage ich noch:
mals rund heraus: Wollen Sie mit mir kommen,
überzeugt und gern — dann, das willen Sie wohl —
find Sie mir mehr wert als eine ganze Schwadron!
Glauben Sie aber, daß ich unredht handle — nun —
\o tbun Sie, was Sie wollen!“
„Herr Major,” erwiderte Hallo mit tiefem Ernit,
„& tft mir nicht möglih, eine Handlungsweije für
rihtig anzufehen, die möglicherweile dem Willen unjeres
Allerhöchſten Kriegsherrn zumiberläuft! Aber bie
Stage berührt mich, den Dffizier, nicht, jobald Herr
Major Yhre Enticheibung getroffen haben! Sch ftehe
als Soldat Zhres Regiments unter SYbhrem Befehl,
fomit auch unter der Verantwortung Shres Befehls!”
„Meines Befehls gewiß!” rief Schill ungeduldig.
„Aber SZhre Sefinnung bei der Sade! Ach ſagte
ihnen, daß ich auf diefe den Wert lege!“
„Deine Gefinnung, Herr Major, die fennen
Sie!” rief Hafjo jett fait heftig. „Dennoch jehne
auh ih den Augenblid herbei, meinen Säbel in
des verhaßten Feindes Blut tauchen zu lönnen, nicht
minder als Sie! — Und wollen Sie wirllih das
Unerbörte wagen, — ich habe zu gehordden, — und
geborhe mit Freuden, wie nur einer! Sie kennen
Shre Hujaren, Herr Major! Die Hölle ftürmen wir,
wenn Sie uns führen!”
Ein Lädeln ging über Schille Gefiht. „Nun
denn — ih weiß ja, Hallo, Yhr Wort ift unver:
brüdhlih! So ftehen wir aljo zufammen auf Tod und
Leben?”
„Auf Tod und Leben!” |
Ein warmer Händedrud befiegelte den erneuten
Bertrauensbund.
SHil war allein und wieder verfant er in Ge:
danfen. „Nun no eins — und das Schwerfte!
Der Abihied von Dir, Elife! Aber morgen erft!
Heute darf noch niemand Dich weinen jehen! — Db
ih Dich jemals wiederfehe? — Schwerlich! — Lacht
und das Leben, jo ruft uns das Grab!”
IV.
„Allo morgen rüden wir aus,” fagte fih Haflo.
„Dann muß ich heute noch Renate wiederjehen! —
Mein Gott, vielleicht ift es das lette Mal im Leben!”
Er zweifelte nicht, fich unter dem Einfluß diejes Be-
wußtleins leichter mit ihr verfländigen zu fönnen.
Schon vorher hatte er fich zu dem Entjchluß durd):
gefämpft, fich endlich wieder mit Renate auszulpredhen
und darum die Einladung zu dem heutigen Ball bei der
Gräfin Hatfeld angenommen. Daß fie dort fein würde,
Roman von Hans Werder.
550
wußte er und jchnell war fein Plan entworfen. Er
fleidete fich vorzeitig an und ging nach der Wilhelm:
ftraße, wo ber alte Klaus ihn mit einem Ausbrud
der Freude empfing. Db die Herriaften jchon fort
feien, fragte er. D nein! Der Herr Oberftlieutenant
wären erit eben nad Haufe gelommen, müßten fich
noch anziehen. Das gnädige Fräulein würden aber
wohl bald fertig fein.
„Dann jagen Sie ihr, Klaus, ich wäre bier
und bäte um den Borzug, mit der Herrichaft zu:
jammen nah dem Palais Hapfeld fahren zu dürfen.
Aber hören Sie, lieber Klaus, jorgen Sie, daß es
Mademoifele nit hört — fonft Tommt fie und
unterhält mi, und dazu bin ich heute nicht auf:
gelegt! Sie verjtehen mich, alter Freund, ja?“
D, wie gut er ihn verfland! Schlau und treu-
berzig zwinterte er mit den Auglein. „Herr Lieutenant
fönnen auf mich rechnen!”
Zange ftand Hafjo allein im Salon und wartete.
Ein paar Wachsterzen brannten auf dem Tiih und
erhellten die Dämmerung bes Gemaches mit fladern:
dem Schein. In quälender Unruhe jchritt er auf
und nieder. Und jedesmal, wenn er fi herum:
wandte, warf der Pfeilerjpiegel ihm jein Bild ent:
gegen. Der dunfelblaue Dolman mit ben gelben
Schnüren und dem breiten Pelztragen fland ver
kräftigen, elaftiihen Hufarenfigur ausgezeichnet. Sein
ſchmales, männliches Geſicht erſchien wie durchgeiſtigt
von der Erregung, die in ihm ſtürmte. Er ſah
ſehr gut aus und mochte das auch wiſſen, doch hatte
er heute keinen Sinn und keinen Blick dafür.
Schritte nahten ſich der Thür. Unter dem
dunklen Vorhang erſchien eine ſchneeweiße Geſtalt:
Renate. Sie war ſchon im Ballanzuge. Ein weicher,
weißer Mantel lag um ihre Schultern wie eine
Wolke.
„Klaus ſagte mir, Sie wären hier — Haſſo —
Sie wollten mit uns fahren — es iſt ſehr nett —
Sie waren ſo lange nicht bei uns —“ es ging nicht
weiter. |
Hallo verneigte fih tief und jpradh Fein Wort.
Wo gab es Worte, in die er jein Empfinden hätte
Heiden Fönnen — den tiefen Grol und bie ver:
zeihende, unendliche Xiebe, die anbetende Leidenichaft
und den entjagungsvollen Abjchiedsihmerz! Nur in
feinen dunllen Augen, die unter dem jchweren Wimper:
ſchatten zu ihr aufichauten, Ipiegelte fich das alles mit
berzbewegender Beredjamteit.
Doch au in ihren Augen fland Zweifeln und
Sehnen und SHerzeleid genug zu lefen, und dabei
unverfennbare Wiederjebensfreude. „Hajo,“ begann
fie von neuem, „ich hätte Sie gern jchon längft —
um — Berzeihung gebeten — id — id war Jo
heftig gegen Sie!“
„Sie haben mir fehr weh gethan, Renate!” er:
widerte er weich und leile. „Uber es ift Zhnen ja
jo leiht, das wieder gut zu machen! Dies eine
freundlide Wort — ich danke Shnen dafür!”
Sie war dit an den Tiich getreten, auf dem
die Kerzen brannten. Shre jchlanten, weißen Hände
Ipielten nervös mit den Seidenquaflen des Dantels,
ihre Lippen waren blaß und troden vor Erregung.
551 Schwertklingen.
Haſſo ſtand ihr gegenüber und ſein Blick verſchleierte
ſich in trunkenem Anſchauen des geliebten Bildes.
Er ſah, daß auch ſie gelitten und ſein Herz zog ihn
liebeflehend zu ihren Füßen hin, nur ſein feſter
Wille hielt ihn zurück.
„Ich möchte mich ſo gern mit Ihnen ver—
ſtändigen —“ begann ſie abermals mit Anſtrengung.
„Es war ſo ſchrecklich neulich, Haſſo — ich wurde
ganz irre an Ihnen!“
„Ich weiß es nicht, warum Sie irre an mir
werden konnten!“ erwiderte er ernſt. „Mein Herz
und Charakter haben allezeit offen vor Ihnen da—
gelegen! Ich glaubte, Ihr Vertrauen zu beſitzen,
Renate, und dasjelbe rechtfertigen zu können!”
„Aber Ihre Anfichten, Haflo, Ihre Gelinnung,”
rief fie jegt ein wenig freier. „ch glaubte, wo es
fih um die Befreiung des Vaterlandes handelte, um
den Kampf für die beiligften Erdengüter, da würden
Sie der erfte fein, der Vorfämpfer — an Scdills
Seite, der Held, mie ich ihn mir erträumt und er-
jehnt — und nun —“
„Und nun?” fragte er.
„Run wenden Sie der guten Sade den Rüden,
tadeln den Heldenaufihmwung unferes großen Befreiers,
Iprehen von heiligeren Pflichten, von Abwarten der
Befehle, als ob ein Held wie Schill deflen bedürfte —
hätten fein Vorhaben faft ins Schwanlen gebradt,
wenn die Begeifterung für unjere gute Sadje nicht
Ihlieglid doch den Sieg davongetragen. — Das
meine ich,” fuhr fie fort, da er jchmwieg, „machte mich
irre an Shnen! Aber nit wahr, lieber Hallo, Sie
haben Syhre Anficht geändert, Sie ftelen fi auf unfere
Seite und werden ihn fortan unterflüßen, nicht ihm
zumider fein!”
Hallo Ichwieg einige Sekunden, um feine Ge:
danlen, feine rebelliihen Empfindungen in Sammlung
zu bringen.
„Derzeihen Sie, ich habe meine Anfichten eines:
wegs geändert,” jagte er dann mit Icharfer Betonung.
„Da es aber die Anfichten über Mannesehre und
Soldatenpflicht find, um die es fich handelt, fo werben
Sie niht wünjdhen, Nenate, daß ich diefelben dem
Einfluß irgend eines Menfhen unterwerfe, am
wenigften dem Ihrigen!“
„Am wenigften dem meinen — aber Haflo, ftehe
ich denn jo tief in Shrer Achtung,” rief fie faft weinend.
„Wo ih doch jo unbeichreiblidh viel von Shnen —
nr womit hab’ ich das verdient, daß Sie mir jo etwas
agen!”
„Deine füße Renate —” fagte Hafjo und in
jeiner Stimme zitterte e8 wie Wellen eines großen
Stromes, der madhtvoll durd) jein Inneres dahinflutete
und alle Dämme nieberriß. „Warum ich Ihnen das
fage? Weil Sie ein Weib find, ein Mädchen, von
dem ih in joldhen Fragen feine Lehren annehmen
fann, ohne ihre Nihtahtung dafür zu gewinnen!”
„Aber ich bin fein thörichtes Mädchen, das nichts
weiß und verfteht von großen, herrlichen Gefühlen,”
unterbrach fie ihn leidenjchaftlich, „das nur oberflächlich
tändeln und jchwaten kann!“
„Das weiß ih! Darum eben follen Sie aud
mich adhten und willen, daß ich ein Mann bin, defien
Roman von Hans Werder.
552
Überzeugung feft fteht wie ein Felfen! Sie follen
mir vertrauen und zu mir auffehen fönnen, nicht auf
mich herab!” Der ganze Menjd erbebte unter ber
Übermacht ſeiner Empfindung. Die Brandung ging
immer höher und ließ ihn verkennen, daß das ent—
ſcheidende Mißverſtändnis, welches ſie an ihm irre
werden ließ, nicht hinweggeräumt war. „Renate,
Sie wiſſen — ach, Sie wiſſen, wie grenzenlos ich Sie
liebe! Sie ſind das Kleinod, der Abgott meiner
Seele! Sie wiſſen auch, daß ich das Höchſte auf
Erden von Ihnen verlange! — Ich will heute nicht
um Sie werben, ich habe ja nichts Ihnen zu bieten
als meine anbetende Liebe, beſitze nichts als meinen
Säbel! Ich will heute nur wiſſen, daß auch Sie mich
lieben und daß ich hoffen darf, Sie einſt, wenn ich
Ihnen mehr zu geben habe, die Meine nennen zu
können!“
Die Seine werden, — ihn lieben, den ſie nicht
mehr ihrer Liebe für würdig hielt?
„Nein — niemals!“ klang es ſtolz und heftig
von ihren Lippen.
Es war als ſprang eine Saite entzwei, die in
wundervollem Ton geklungen und nun dahin war
für allezeit. Aber er konnte es noch nicht glauben.
Sein Herz ſtand ſtill und faßte nicht, was ihm wider—
fuhr. „Was ſagten Sie?“ fragte er mit heiſer ent—⸗
ſtellter Stimme.
„Haſſo — nein, lieben kann ich Sie nicht!
Nur einem Helden wi ih angehören! Nicht Ihnen!“
Sie hatte e8 wirklich geiprodhen, und er battle
es gehört.
Regungslos, aufreht ftand er da und fühlte,
daß es ihm dur und durch ging wie ein fcharfer,
Ipaltender Säbelhieb. Er hatte genau dasjelbe jchon
einmal empfunden — als Prinz Ludwig vor feinen
Augen erichlagen ward, und er an feiner LXeiche zu:
fammenbrad. Da war ein Blutftrom über fein Ge:
fiht gefloffen. Mit irrer Bewegung griff er fi
plößlich an die Stirn und betrachtete dann die Hand —
fein Blut daran! Was war ihm denn eigentlich ge:
ihehen? Wie damals das Schladhifeld fich vor feinen
dunfel werdenden Augen im Kreife herumgedreht, jo
jegt das Zimmer. Nur daß er nicht niederbrady wie
dort, fondern ruhig ftehen blieb.
Nenate ftarrte ihn an vol Entjegen. Sie hatte
vollftändig das Gefühl, einen Mord begangen zu
haben und irrte fich darin nicht. Sie wollte fprechen,
irgend etwas widerrufen, gutmachen von dem, was
fie gejagt. Aber fie war jelber wie gelähmt und
ftarrte, feines Wortes mädtig, angitvoll nad ihm Hin.
Dann Inartte leije die Thür, Klaus jchob vor:
fihtig den Kopf herein. „Der Herr Oberftlieutenant!”
Dieſer kam aljobald hinterdrein, begrüßte Haflo
erfreut und herzlich, entichuldigte fich bei feinem Töchter:
lein, daß er fo lange habe warten laffen und mahnte
zu jchnellem Aufbrud.
Hallo fa ihr im Wogen gegenüber und jah zu,
wie die Lichter von der Straße ber hin und wieder
ihr blafjes Gefiht mit flüchtigem Glanz übergoffen.
Er dadıte an gleichgültige, fern abliegende Dinge,
die fi in wirrer Folge in jeinem Kopf überhafteten.
553
Schwertflingen. Roman von Hans Werber.
551
den Saal.
Auf etwaige Anreden des DOberftlieutenants antwortete
er mit jcharf vernehmliher Stimme ja oder nein.
Endlich hielten fie vor dem hellerleuchteten Felt:
baufe. Hallo bob Nenate aus dem Wagen, mit einer
Gleicgültigfeit des Ausdruds, als fei fie von Stein,
oder er. E -
Mie entjeglih war dieler helle Lichterglan; und
alle die lärmenden, gejhmüdten Menfchen. Und nun
gar die Tanzmuſik, dieſe lachenden, fchwermütigen
Walzertöne, wie unerträglich gingen fie durch Herz
und Nerven. Glücicherweife war Nenates erfter
Tänzer Albert Wedel, da hatte fie wenigitens keine
Mißdeutungen ihrer Stimmung zu fürdten. Der
junge Kavalier war lebhaft und geipradig Mit
Bewunderung betrachtete er die friichen, duftenden
Veilchenfträuße, deren dunkler Sammet die einzige
Unterbrehung in dem Weiß ihres Anyuges bildete.
„Wo haben Sie die mwunderfhönen Beildden her?”
fragte er, den Wohlgeruh einatmend.
„Sa, nicht wahr, das finde ich auch!” jagte fie
darauf, an ihm vorbei ins Xeere ftarrend.
Albert lächelte über die Zerftreutheit, die er nie
lonft an Nenate gefannt. Er 309 fie in feinen Arm
und flog mit ihr dur) den Saal. Dann führte er
fie aus dem Gebränge fort in das Nebenzinmer, zu
einem bequemen Seflel. „Ruben Sie fih cin wenig
aus!” fagte er freundlich.
„Rein, nein, ich bin ja nicht müde! Das nüßt
zu nichts! — Aber do — einen Moment — ja —
Sie haben reht! Ach weiß nicht — e8 ift alles fo
londerbar!”
„3a, Tagte der junge Offizier in weich ge:
dämpftem Tone, „ich finde e8 auch! Die Mufit macht
mich jo traurig, ich) mag fie gar nicht hören! — Mir
it, als wäre heut der leßte vergnügte Abend meines
Lebens! Und das wäre doch Ichade!”
„Am Gottes willen, Herr von Wedel! Sie mit
Shren neunzehn Sahren!”
„Ih bin nun bald zwanzig!“ fagte er tief
atmend, „aber das thut ja nichts dazu! Als Soldat
— als Hufar — eine einzige Kleine Bleitugel, heut
oder morgen — e8 jchabet gar nichts, wenn man fid)
das zumeilen KHarmadt!”
Renates große Augen hefteten fi auf ihn mit
einem ihm nicht verftändlichen Ausdrud. Wenn jie
nun auszogen, die Schillihen Hufaren — und bieler
Ihöne, lebengfrohe Knabe blieb draußen auf blutiger
Walftatt, jene Bleikugel im Herzen, von der er
Iprad, — und aud Schill fam nicht wieder — ad —
und fie hatte gemahnt, getrieben zu dem Auszug!
Schaudernd jchloß fie die Augen, ein leifes Ächzen
fan von ihren Lippen! Nein, nein — fie hatte ja
nur nebenan gejejlen und gelaufht und zugejauchzt —
fie fonnte feine Schuld treffen. „Wir wollen in den
Saal zurüdgeben,” fagte fie. „Es ift uns beiden
beiler, wenn wir nicht unjern eigenen Gedanken über:
laflen bleiben!“
Das Shillihe Dffizierforps war falt vollzählig
vertreten. Er jelbft, der Kommandeur, hatte fich mit
Lügomw ein wenig verjpätet. Seine Braut fah jchon
ungeduldig nah ihm aus. Als er dann aber er:
Ihien, ging es wie ein freudiges Aufraufchen durch
Romansfeltung 1896.
„Hurra, Schill!” Selbft hier grüßte ihn
der frohe Ruf — von den Xippen ernfthafter Männer,
wie aus den Neihen der Tangenden. Ach, fie alle
mochten fich fein edles, ritterliches Bild wohl ins
Gedähtnis prägen! Sie Jollten ihn nimmer wieder:
jehen in biefem Leben!
Schill war ruhig und heiter, wie man ihn lange
nit gelaunt. Er hatte die Brüde Hinter fih ab:
gebrohden — daran lag e&.
Unter dem bunten Treiben bewegie Renate fi
heute teilnahmlos, wie abwejend. Suchend wanderten
ihre Blide durch den Saal. Sie hatte ja verloren,
was ihrem jungen Dafein Glanz ıumd Licht gegeben
— ohne felber genau zu willen, was e8 war! Nur
den Berluft empfand fie wie eine Taffende Lüde
im Herzen, ein trofilofes Wehgefühl. Ihre Augen
folgten Hafjo immer mit dem fuchend fragenden Blid.
Er tanzte, |pradh) und lachte. Es lag etwas Wildes
in feiner Art und Weile, das fie fröfteln made.
Plöglih fand er vor ihr. „Snädiges Fräulein,
Sie müflen mir jhon die Gnade erzeigen, mit mir
zu fanzen — es würde jonft zu auffallend fein!“
Gie nidte ftumm und folgte ipm. Schredlidh war
ihr die Empfindung, fie hätte laut weinen mögen —
jo laut, um die Mufil zu übertönen.
„Hallo — verzeihen Sie mir!” brachte fie endlich
mübjam hervor. Er zudte zufammen bei dem Wort
— fie fühlte es in jedem Nerv. Doch antwortete
er nidt.
Als er fie auf ihren Pla zurüdgleiten Tieß,
blieb er noch einen Augenblid ftehen. „Was joll
id Ahnen verzeihen? Daß ih Fein Held bin?
Darüber habe ich mit mir felber abzurechnen, nicht
mit Shnen!“
„Aber Hallo —” ftammelte fie, „ich dente noch)
immer, wir haben uns mißverftanden!”
Er bob den dunklen Blid zu ihr auf. Der
fonft jo weiche, feuchte Glanz darin hatte etwas von
dem Geflimmer feiner Eiskörner in jonnentlarer
Winterluft. „Sch habe Sie jedenfalls nicht mißver-
ftanden!” fagte er mit harter Betonung. Eine
böfliche Verbeugung — und ehe fie etwas ermwibdern
fonnte, war er fort.
Seht trat Schill zu ihr. „Nun, meine fleine
Bundesgenoffin? Sie jehen heute fo ernft und ab:
Iprehend dem bunten Treiben zu!”
„a!” jagte fie mit trodener Kehle.
Er 309 fih einen Stuhl an ihre Seite. Seine
Braut tanzte eben mit Adolf Lüßomw, aljo war er
für den Augenblid frei. Es war ein günftiger Plag
— niemand fonnte laufchend Hinter ihnen ftehen,
niemand fih unbemerkt nahen. Renate benugte den
Moment.
„Herr von Schill — wenn es zum Ausmarſch
kommen ſollte — werden Sie Haſſo beurlauben?“
Er lächelte. „Nein, ich bot es ihm an, aber
ich hatte zu thun, nur baldmöglichſt mein Anerbieten
zurückzunehmen, wenn ich nicht noch mit meinem
eigenen Lieutenant Händel bekommen wollte!“
„Warum —? Ich verſtehe das nicht!“ erwiderte
Renate beunruhigt, gereizt. „Er hat ja doch ſeine
Anſicht nicht geändert!“
IV. 39
555 Schwertklingen.
— — —— — — —— z —
Der Major feufzte unwillkürlich bei dieſen Worten.
„Nein, Fräulein Renate! Ein Haſſo Rochlitz ändert
ſeine Anſicht nicht von heute auf morgen, ſonſt würde
ſie mir nicht ſo wertvoll ſein!“
Renate verſtand ihn auch jetzt noch nicht, und
das troſtloſe Gefühl der Leere überkam ſie mit er—
neuter Pein. Wie konnte Haſſos Anſicht ihm ſo
wertvoll erſcheinen, da ſie der feinen ſchroff entgegen⸗
ſtand, eine tiefe Kluft ihre Wege voneinander
trennte?
Das Verſtändnis für Schills Worte war ihr
aufbehalten für jpätere Tage und für größeres Herze:
leid, als fie jegt ahnte!
„Fräulein von VBelbegg,“ Tagte Schill jegt leiſe,
ih zu ihr hinneigend, „wer weiß, ob wir nod) ein:
mal ungeftört zufammen prechen können, ehe — bie
Entſcheidung eintritt! X möchte Jhnen noch danten
für al Ihre Freundlichkeit und Teilnahme! Und
wenn ich fort fein jolte — vielleiht für immer,
wer fann es wiflen — dann bewahren Sie meiner
Elife Zhre Freundfchaft und Liebe — und mir ein
gütiges Gedenten!”
„D, Herr von Schill,” flüfterte fie, Thränen in
der Stimme, „nie werd’ ich aufhören, meinem Stern
dafür zu danten, daß mir die Freundichaft unjeres
Sreiheitshelden zu teil werden durfte! Und Shre
Elife will ich lieben wie eine Schweiter, immer, immer!”
Er drüdte mit treuherziger Wärme ihre Hand
und 308 fie ritterlih an feine Lippen. Dann ent:
fernte er fi, zu feiner Braut zurüdlehrend, und
fie jah ihm nach mit jenem Weh im Herzen, durch
welches zuweilen in geweihten Augenbliden dem
Menihen bag kommende Schidjal fih ahnungevoll
voraus verkündet!
Das Felt war zu Ende. Renate ging an ihres
Vaters Arm die Treppe hinab, nur leicht in ihren
Mantel gehült, den Kopf frei, denn ein laumarmer
Hauch der Frühlingsnadht wehte ihr entgegen.
Auf der Treppe ftanden die Schillichen Offiziere,
tnöpften ihre Mäntel zu und gingen langjam,
plaudernd, jäbelrafjelnd hinunter. Höflih machten
fie den Herablommenben Pla und grüßten, Abjchied
nehmend, ein Teßtes Mal! Albert Webell aber eilte
ihnen nad und trat an den Wagenihlag. „Fräulein
Ktenate, jo kommen Sie nicht fort — habe mid)
Shnen noh gar nicht empfohlen! Darf ih mid
morgen nach Ihrem Befinden ertundigen? Das beit
— nein, morgen haben wir Felbdienftübung! Nun
— Sobald ih kann!”
Sie beugte fih im Wagen vor und drüdte ihm
mit warmer SHerzlichkeit die Hand. „Gute Nadt,
Herr von Wedel, Bott behüte Sie!” Der Segensg-
wunjdh drang ihr aus tiefftem Herzen.
Die Wagenthür ward geichloffen. Noch einmal
dur das Fenfter zurüdichauend, fah fie Haflo ftehen
wie in einem Rahmen, den bdüftern Blid auf fie ge:
beftet mit dem Ausdrud hoffnungslofen Schmerzes,
der nur noh Abjihied nehmen, nichts mehr für
dDiejes Leben erbitten will.
Als der Wagen fortrollte, warf fih Nenate
aufihluchgend an ihres Vaters Bruft. „Vater —
morgen zieht er mit ihnen aus — Sie werden es
Roman von Hans Werber.
556
jehen! Felbdienftübung, jagt Wedel — ich weiß es,
fie gehen fort, und fommen alle nit wieder! Wir
haben fie in den Tod gefandt!” —
Hafjo ging Fi und allein in fein Feines Duartier.
Es war die lebte Naht. Morgen zogen fie hinaus,
vielleicht auf Nimmermwieberlehr. Er öffnete das
Tenfter und fchaute hinaus. Es war fo fill auf
den Straßen, jo ftil an dem fternllaren Himmel.
Ein jhwaher Lichtihein ftieg weißlid im Oſten
empor. Die Welt hlummerte dem Frühlingsmorgen
entgegen. Gab es denn no Frühling auf Erden?
Er ftredte die Arıne aus und ließ fie wieder fintlen.
Die Betäubung, die ihn bisher umfangen gehalten,
wi von ihm. So war er damals nah der Saal-
felder Schlaht in dem Bauernhäuschen zum Be-
wußtjein erwadt, und ba mit ihm zugleich der
Schmerz, der unerträgliche! Konnte denn ein Menjchen-
herz zum zweiten Male fo jein ganzes Hoffen, Xieben,
feines Dajeins Anhalt zufammenbreden fehen, und
weiter Ihlagen? — Er fant auf einen Stuhl, warf
beide Arme auf das Fenfterfims und ließ den Kopf
darauf finten. Wie war er jo glüdjelig gemefen, zum
erften Mal in feinem ganzen Zeben, und fo kurze, kurze
Zeit! — Nun war das Glüd zerbrocden, jeine Jugend
ihm entwertet und das Leben öde wie ein Wüften-
thbal. Dies Bemwußtjein ward jest ar und deutlich
in ihm; der Schmerz preßte ihm das Herz zulammen
mit faft förperlid fühlbarer Dual. Er flieg ihm
brennend heiß in die Augen hinauf, als mollte er
ihnen Thränen erprefien. Aber fie famen nicht. Er
batte ja jeit vielen jahren das Weinen verlernt!
Zange faß er fo, und fein heißes, junges Herz rechnete
ab mit dem Jugendglüd, das ihm nur einmal ge
lächelt und ihn betrogen. Ein leifes Ächzen nur
verriet, was in ihm vorging.
Endlich erhob fih Hallo wieder. Dabei Ichlug
Hirrend fein Säbel auf den Boden. Er z0g ihn
aus der Scheibe, ließ die blante Klinge im Sternen:
Ichein funfeln und betrachtete fie, ftumm, gedanfen-
vol. Dann drüdte er feine warmen Lippen auf
den falten Stahl. „Hurra, du Eifenbraut!”
V.
Am 28. April 1809 nachmittags um vier Uhr
ritt das Zweite Brandenburgiihe Hujarenregiment
mit felddienjtmäßigem Gepäd und unter Elingendem
Spiel, geführt von jeinem Chef und Kommandeur,
dem Major von Schill, zum Hallefhen Thor hinaus.
Eine fröhlide Schar Zufhauer, alt und jung, be
gleitete wie gewöhnlich die Helden von Kolberg —
alle Häupter entblößten fihd — „Hurra, Schill!” Der
freudige Zuruf Ichallte ihm von allen Seiten entgegen.
Er grüßte und dankte nach rechts und links, freundlich,
bejcheiden, wie immer.
„Nie wieder werd’ ich das hören!“ Er mußte
es ganz genau. Nie wieder jah das ihm zujauchzende
Berliner Bolt ihn und feine tapferen Hufaren!
Auf der Stegliger Feldmark ließ Major Schill
fein Regiment balten und ein Biered bilden. Mit
flarer, volltönender Stimme redete er dasjelbe an.
557
„Kameraden! Der Augenblid ift gelommen, um
die Unterdrüdung und Schmadh bes Baterlandes an
dem verhaßten Feinde zu rädhen. Unfer Land hat
ber franzöfifche Thronräuber in Unglüd und Jammer
geftürzt, alle Nechte der Menjchheit unler feinen
ehernen Füßen zertreten. Wie Yhr alle wißt, bat
er den fpanifchen Thron umgeftoßen, basjelbe Schid:
fal bat er au unferem preußiihen Königsthron
und KRönigshaufe zugedadt. Aber nie” — feine
Stimme hob fi in tief aus ber Bruft quellenber
Bewegung — „nie Joll dem verräteriihen Tyrannen
jein fhändliher Plan gelingen! Ofterreih, Spanien
— Deutihland — Tirol — jedes brave Herz fteht
gegen ihn in Aufruhr! Wir Preußen dürfen nicht
zurüchleiben! Es gilt für das Vaterland, für den
geliebten König, für unfere angebetete Königin! Ich
weiß — ihr Segen geleitet uns! Diejes Pfand ihrer
Gnade für mid — jebt ber, Kameraden — ift mir
Bürgihaft dafür!” — Er zeigte ihnen die Fleine,
rote Brieftafhe, die Worte, die der Königin Hand
darin gejchrieben. „Sind einige unter Euch,“ fuhr
er fort, „die nicht gelonnen, mein freigewähltes
Schidjal zu teilen, die mögen nad Berlin zurüd:
fehren ohne Feindfhaft no Vorwurf! Dder —”
jein Schwarzes Auge glühte auf in zündendem Feuer
— „geht Ihr alle, alle mit mir, freudig und frei-
willig, mit Gott, für König und Vaterland — zum
Siegen oder Sterben?!”
„Sa, alle, alle!” Und ein braufendes Hurra
antwortete ihm. Offiziere und Hufaren zogen Elirrend
ihre Säbel und jhmwuren dem geliebten Führer, zu
ihm zu ftehen in Not und Tod — zum Siegen oder
Sterben. Mit lautem Tujch gaben jchmetternd bie
Trompeten ihren jubelnden Beifall zum heiligen
Gelübde! — —
Bei Baumgartenbrüd bezog das Kleine Korps
fein erftes Bimal. Hell fladerten die MWachtfeuer
durh das Dunkel, fröhlich klangen die Lieber ber
Huſaren durch die Stille der Naht. Schill hordte
darauf, den Kopf in die Hand geftügt, während das
Feuer mit rotzüngelnder Glut fein ernftes Antlig,
\eine rubende Geftalt beleuchtete. Seht, da das Un:
widerruflihe gejhehen — wuchs die Verantwortlich
feit riefengroß vor feinen Augen empor.
Sn feiner Nähe jaßen die Schwadronsführer
und ber Regimentsadjutant zujammen, tranten,
ladhten und unterhielten fid. Er war jo gern Jonft
als einer der Shren harmlos in ihrer Mitte. Heute
aber konnte er nicht — das Herz war ihm jchwer.
Eine plöglide Bewegung, Geräufh und fi
näbernde Stimmen ließen ihn aufjehen. Einer ber
Offiziere fam raid auf ihn zu. „Herr Major von
Zepelin vom Leib-Sinfanterieregiment!” lautete Die
Meldung.
Schill erhob fih und ging dem Anfömmling
entgegen. „Ah, Herr von Zepelin — melde ange:
nehme Überrafhung!” jagte er lahend. Er wußte
genau, was jener ihm bradte, und jede Spur nad):
denllider Weichheit war von ihm gemwichen, jeder
Zug feines Gefichte verriet feurige Entichloffenbeit.
„Ih muß um Entiehuldigung bitten wegen ber
Ipäten Störung!” fagte Bepelin. „Käme ich aus
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
558
eigenem Antriebe, fo gäbe e& nur ben einen Grund,
um mid Shrem courageufen Korps als Freiwilliger
anzufchließen! Leider aber fomme id auf Befehl
Seiner Ercellenzs bes Gouverneurs von Berlin,
Generals von Leftocg! — Darf ich Sie einen Moment
allein fprechen, Tieber Schill?”
„Wenn es jein muß, gewiß! Lieber wäre es
mir, meine Offiziere hörten alle mit an, was wir
zu verhandeln haben!“
Die Dffiziere zogen fich zurüd‘, die beiden Herren
blieben anfangs bei dem Feuer ftehen, gingen dann,
eifrig Iprechend, auf und nieder. ZBepelin legte dem
Hularenlommandeur den Befehl des Gouverneurs
vor, Sofort mit dem ganzen Regiment nad Berlin
zurüdzufehren. S$eder perjönlihen Stellungnahme
enthielt er fih, denn feine Überzeugung ftand auf
jeiten der patriotiihen Befreiungspartei. Schill
lehnte das Anfinnen rund und entjchieben ab. „Die
Stimme des Volkes hat mich erwählt und die Auf:
gabe, welche ih übernommen, ift mir heilig! Nichts
tann mich jegt noch zu Ihwächlicher Umfehr bewegen!”
„Run, jo jei Gott mit Shnen!” erwiderte Zepelin.
„Brehen Sie uns Bahn, wir alle warten nur auf
den Moment, wo wir Ahnen nachfolgen können!”
Er verabichiedete fih und ging. Schill teilte
feinen Offizieren bas Gefchehene mit, und fie alle waren
mit feiner Enticheibung einverftanden. Ein Rüdwärts
fonnte es nicht geben.
As Schill zu Jeinem Feuerplag zurüdkehrte,
ah er Hallo dort ftehen, in tiefe Gedanken verfunten.
Bei der Annäherung des Kommandeurs fchrat er
auf und wollte fich entfernen, doch biejer legte ihm
die Hand auf die Schulter.
„Rohlig,” Tagte er halblaut, „keiner hat mir
beute freudiger zugeftimmt als Sie! Jh hörte hr
Hurra und Hhren Zuruf vor allen andern. Unb
doch jehe ih, Sie find nit, der Sie jonft waren!
Alles Leben ift von Yhnen gewihen! Wie fol ich
mir das deuten?”
Hallo Ichaute auf und jah ihm gerade in die
Augen. „Gewiß, Herr Major, ich bin nicht, der ich
jonft war. Aber daran find nit Sie jhuld! Auch
mit der Marfchordre des Königs in der Tajche würde
ih nicht anders fein! m Gegenteil, Sie fünnen fi
für unfjer Unternehmen feinen befjer geitimmten
Gefährten denken als mich, der auf der Welt nichts
mehr zu gewinnen und zu verlieren hat!“
„Kun, Hallo,” rief der Major, fait erjchredt
dur Diele Worte und den harten Ton, in bem
fie geiprocdhen worden, „ein Menſch in Ihren Jahren,
dem das ganze Leben ladht — Glück und Liebe und
Abenteuer —” er brady plöglich ab in dem Gefühl,
das Rechte nicht getroffen zu haben. Hallo jchwieg.
Er konnte fih nicht ausfpredhen. Wer feine feltiam
freublofe Kindheit und Jugend, die Einjamleit feines
Herzens nicht Tannte, war nicht imftande, ihm nad
zufühlen, was ihm widerfahren.
„Sawohl, Herr Major, das Abenteuer!” fagte er
endlich mit furzem Lachen, „aber ein anderes, als Sie
mir eben verheißen! Zu dem jollen Sie mid) führen!”
„Unfinn — es giebt noch Luftigere für Sie!“
rief Schill, „wenn Yhnen au jet eine Hoffnung
559 Beiblatt der
fehlgeichlagen ift — mas ich übrigens noch nicht recht
begreifen fann — ein Kerl wie Sie braudt deshalb
nicht den Kopf hängen zu laflen!”
„Ih laß ihn aud nicht Hängen! Drei Dinge
bab ih auf der Welt, die mir Freude machen:
Mein Pferd, meinen Säbel und meine Soldatenebhre
— als Schilliher Hufar! Das ift genug, meinen
Sie nit au?”
„Run ja, für den Augenblid ift es genug —
ih bin einverftanden! Will nur, daß Sie wieder
vorwärts bliden!
zu wünfhen für Sie, wohin Sie jhhauen!”
Deutihen Roman⸗Zeitung.
560
nah Deffau und Bernburg. Bon hier aus entjandte
Schill verihiedene Kommandos nah allen Richtungen
hin. Der Lieutenant von Hagen unternahm mit
feiner Schwabron einen Streifzug bis nad Goslar,
von wo er Pulver, Kugeln und einige ausgeräumte
weitfäliihde Kaflen mitbrachte. Wejentlide Erfolge
jedoch hatte der Schillihe Zug bisher nicht zu ver-
zeihnen. Wohl fchlugen ihm freudig die Herzen
entgegen und marme Sympathien in den unter:
drüdten Landen begrüßte ihn überall. Hie und da
Cs giebt noch zu gewinnen und | au gefellten ſich Wreimillige zu ſeinem Korps,
Nefruten wie Offisieree Doh ein Aufruhr aller
„Ih weiß nur eins: Einen fröhlichen Reitertod _ Herzen und Gemüter, ein freudiges zu den Waffen
auf grüner Heide — als Scilliher Hufar!“
Schill hatte Ichon oft jolde Rede gehört —
aber diefe hier Hang verzweifelt ernfthaft in ihrer
refignierten Bitterfeit.
Stimmung!” jagte er bejorgten Tones.
„Tücht gut zum Leben, Herr Major, aber jehr
„Hallo — das ift feine gute
greifen und mit ihm Losflürmen auf den Feind —
| fo wie es Schill von allen fundigen Seiten prophezeit
war, davon fand er nirgend eine Spur.
Schwer nieberichlagend wirkte dieje Erkenntnis
auf ihn. Sollte e8 dennoch zu früh gemwejen fein für
| den Nuf zur Erhebung — die Saat im Volle nodh
gut zum Sterben! — Sie follen fchon zufrieden |, nit reif für die große Stunde der Befreiung?
mit mir fein!” — — —
Die Hularen zogen weiter, ins Land hinein —
über die fächfifche Grenze, an Wittenberg vorüber,
Düftere Ahnungen beichlichen fein Herz. E8 war ihm,
als zögen bie Schlingen eines jchweren Berhängnifies
fih dichter und fefter um ihn zulammen.
(Fortjegung folgt.)
Beiblatt der Dentſchen Roman-Zeitung.
‚srinnerung.
Die Märchen hörte einft id gar zu gern,
Und Hab’ fie faft vergeflen!
Dod) manchmal funkelt’3 wie ein Stern
Durd Finfterniffe, unermefien! —
Ein Laut, wie ihn die Mutter fprad),
Wird leis in meiner Seele wad, —
Und langfamı tajtet die Erinnerung
Dem Nufe in die Traummelt nad. —
Erich Sqhwartz.
Lin pädagogiſcher Brief:
Von Adolf Wilhelm Ernfl.
„Viel zu wenig geſchrieben und geſprochen wird von
Kindern und über Kinder. Gegen ein Buch über Kinder—
erziehung erſcheinen zwölf über Pferdedreſſur! Und die
Kinder ſind doch das Heiligſte im Leben. Ein jedes Kind
iſt ein Pfandſchein für den Anteil, den der Menſch im
Himmel empfängt,“ behauptete einmal der Ihnen bekannte
humoriſtiſch⸗ſatiriſche Dichter M. G. Saphir, der auch ſeine
ernſten Augenblicke hatte. Wenn nun auch ſeine Klage über
den Mangel an Büchern, die ſich mit der Erziehung befaſſen,
in unſeren Tagen nicht mehr in ihrem vollen Umfange be—
rechtigt iſt, da kein Gebiet der menſchlichen Geiſtesbethätigung,
wie die Statiſtik beweiſt, eine derartig hohe Anzahl Bücher
auf den Marft bringt, wie gerade die Pädagogik (die Wiffen-
idyaft von der Erzichung), fo läßt fid) audererjeits cin fühl:
— ——
barer Mangel an guten volkstümlich gehaltenen Schriften
erzieheriſchen Inhalts nicht leugnen. Haben Sie ſelbſt doch,
die Sie ein ſo warmes Intereſſe für das Wohl unſerer her⸗
anreifenden Jugend beſitzen, über einen derartigen Mangel
geklagt, und giebt es wie Sie doch Tauſende von Müttern,
die ſich gern an der Hand volkstümlicher Aufſätze über ihre
wichtigſte Lebensaufgabe, die Kindererziehung, unterrichten
möchten, und die ſich vergebens in der Hochflut der alljährlich
erſcheinenden Bücher nach derartigen Hilfsmitteln umſehen.
Ich weiß deshalb die Ehre wohl zu ſchätzen, daß Sie mich
zu Ihrem pädagogiſchen Ratgeber ernannten, und nach
beſtem Wiſſen und Gewiſſen werde ich Ihnen über die
Jugenderziehung, der mein Leben geweiht iſt, meine Ge⸗
danken und Erfahrungen mitteilen.
„Über Erziehung ſchreiben, heißt beinahe über alles auf
einmal ſchreiben,“ ſagt Jean Paul. Dieſes bedeutſame Wort
kommt mir in den Sinn, wenn ich Ihre Aufmerkſamkeit für
heute auf den Zuſammenhang lenke, der zwiſchen Schule
und Haus waltet. In der That: Schule und Haus ſtehen
miteinander in ſo inniger und lebhafter Wechſelwirkung,
ſenden ihre geiſtigen Fühlfäden eins zum andern ſo zahlreich
und ſo häufig aus, kurzum: beeinfluſſen ſich in ihren päda—
gogiſchen Beſtrebungen ſo ſehr, daß die junge Menſchenpflanze
nur in dem Boden eines guten Einvernehmens zwiſchen
Eltern und Lehrer die eigentlichen Nähr- und Kraftwurzeln
für ihre gedeihliche Entwicklung finden kann. Es iſt dieſe
Wahrheit ſo einleuchtend und allbekannt, daß es hieße,
Waſſer ins Meer ſchütten, wollte man mit Hilfe eines ge⸗
lehrten Rüſtzeuges die Unwiderlegbarkeit dieſer Behauptung
nachweiſen. Andererſeits zeigt dieſe Wechſelwirkung aber
auch eine Vielſeitigkeit ihrer zu Tage tretenden Erſcheinungen,
daß ich mich — eingedenk des oben erwähnten Wortes Jean
561
Pauls — für heute beſcheiden muß, aus der Fülle der hier
auftauchenden Fragen eine herauszugreifen, deren Wichtigkeit
wohl unſer Nachdenken anregen kann.
Sie, geehrte Frau, der ſich überreiche Gelegenheit
geboten hat, einen vollen und tiefen Blick in ſo manches
Familienleben zu thun, werden mehr als einmal die Er—
fahrung gemacht haben, daß Mütter ihren Kindern die
Schule, welche die Kleinen in Kürze beſuchen ſollen, als eine
Zwangs- und Beſſerungsanſtalt hinſtellen, als eine Art
Schreckgeſpenſt an die Wand malen, um das Kind zu augen⸗
blicklicher Sittſamkeit zu bringen, nachdem alle übrigen
mütterlichen Erziehungsmittel fehlgeſchlagen ſind. Somit
bildet dieſer drohende Hinweis bei manchen Müttern — und
nicht allein bei ſolchen aus den unteren Volksſchichten, wie
ein Uneingeweihter glauben ſollte — den letzten Schluß ihrer
pädagogiſchen Weisheit. Sie glauben damit wunder was
für einen Trumpf ihrer Erziehungstüchtigkeit auszuſpielen,
um den Kleinen das ſittliche Gewiſſen zu ſchärfen, und be⸗
denken in ihrer geiſtigen Kurzſichtigkeit nicht die in das
Innenleben des Kindes tief und gewaltſam eingreifenden
Schäden, welche mit Naturnotwendigkeit einer derartigen be⸗
dauernsſswerten Handlung entkeimen; ſie klammern ſich in
ihrer pädagogiſchen Hilfloſigkeit an den Augenblickserfolg,
der ſich ja auch meiſtens einzuſtellen pflegt, allein ſchon des—
halb, weil die vor dem kindlichen Geiſte heraufbeſchworene
Vorſtellung von der Schule durch den Reiz der Neuheit wirkt
und die kindliche Einbildungskraft in Thätigkeit verſetzt.
Es berührt ſich die Erziehungsart in ihrem Weſen und ihren
ſchädlichen Folgen in mancher Hinſicht mit der vielleicht noch
häufiger geübten, den Willen fehlerhafter Kinder dadurch zu
brechen und in die richtigen Bahnen zu lenken, daß man
ihnen auf künſtliche Weiſe Furcht und Angſt vor unſinnigen
Phantaſiegebilden („ſchwarzer Mann“ u. dergl. m) einflößt.
Eine ſolche widernatürliche Beeinfluſſung des Kindes rächt
ſich grauſam. Vergiftet man mit derartigen aus der Rumpel⸗
kammer des düſterſten Mittelalters geholten Wahnvor—⸗
ſtellungen die für Eindrücke äußerſt empfindſame zarte
Kindesſeele, ſo würde, wenn nicht zum Glück früher oder
ſpäter einflußreiche geſunde Gegenſtrömungen das kindliche
Gemut durchflöſſen und jenen mittelalterlichen Staub daraus
hinwegſpülten, friſcher, fröhlicher Jugendmut und zugreifende
Tapferkeit bei unſerer Kinderwelt ſelten zu finden ſein. Wo
bliebe da die Wahrheit des demutſtolzen Wortes unſeres
edlen Kämpen Ernſt Moritz Arndt:
„Vor Menſchen ein Adler, vor Gott ein Wurm!
So ſtehſt Du feſt im Lebensſturm!“
Etwas von dieſem beklemmenden Furchtgefühl bleibt in
der jugendlichen Seele meiſtens haften, und — das ſei be—
ſonders betont — dieſes Unluſtgefühl, welches zunächſt die
wirkliche Sinnenwelt des Kindes beherrſcht, dehnt, — man
möchte faſt ſagen — polypartig ſeine Herrſchaft auch auf
die geiſtige Welt des Kindes aus, d. h. überträgt ſich auf
ſeinen Charakter, ſoweit man bei unſerer Jugend von einem
ſolchen reden darf, und hemmt in bedenklicher Weiſe ſeine
Entwickelung zur Wahrheit und Furchtloſigkeit im Bekennen
von Schuld. Wahrlich, angeſichts des Geiſtes der Verneinung
und der Lüge, der ſich in ſo tauſenderlei glänzend aufge—⸗
putzten Geſtalten in unſerer Zeit breit macht, angeſichts des
erbitterten Kampfes zwiſchen Sein und Schein, zwiſchen Tag
und Nacht, hat die Menſchheit im allgemeinen und unſer
Vaterland im beſonderen wohl Grund zu der Hoffnung, in
dem heranwachſenden Geſchlecht einen Stamm wahrheit—
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
562
mutiger, furchtloſer Streiter zu gewinnen, wobei man durch⸗
aus nicht ſofort an waffenfähige Jünglinge und nicht zuletzt
an hochſinniges weibliches Heldentum zu denken braucht.
Perſönliche Tapferkeit und Treue in Wort und That waren
zwei der Hauptzierden unſerer Altvordern, deſſen möge ſich
das germaniſche Weib erinnern, welches die Natur unmittel—⸗
bar zur Mutter, d. h. zur Erzieherin beſtimmt hat; dieſe
Tugenden möge ſie in den Herzen ihrer Kinder zur Blüte
zu bringen ſich beſtreben, damit das Kernwort des urdeutſchen
Recken lebendig ſei und bleibe:
„Wir Deutſche fürchten Gott und ſonſt nichts in der Welt!“
Manche Eltern denken in dem Augenblick, wo ſie die
Schule als ein Schreck- und Gewaltmittel für ihre Kinder
anwenden, wohl kaum an die ſchweren, verhängnisvollen
Wirkungen, die ſie dadurch auf ſich ſelbſt, auf ihre Kleinen
und auf die Schule ausüben. Wie viele Eltern giebt es,
die in dem Augenblick eines ſolchen Handelns überlegen, daß
ſie dadurch die Ohnmacht ihrer Erziehungskunſt beweiſen?
Und man glaube ja nicht, daß dem Kinde dieſe Hilfloſigkeit
ſeiner geiſtigen und leiblichen Vormünder entgehe! Wenn
es das pädagogiſche Nichtkönnen ſeiner Eltern auch nicht
klar erkennt, ſo ahnt der erwachende junge Geiſt es doch mit
gewiſſermaßen inſtinktiver Feinheit. Denn die Strafe hat
nur dann erziehlichen Wert, wenn ſie unmittelbar, d. h. ohne
Aufſchub der Vergehung folgt. Hier aber, in unſerem Falle,
folgt überhaupt keine Strafe, ſondern nur eine Drohung,
die noch dazu völlig unfruchtbar bleibt, weil es ja gar nicht im
Machtbereich der Eltern liegt, die Schule und zwar in der
beabſichtigten Richtung auf das unwillige Kind ſofort wirken
zu laſſen, und es wird Ihnen das Wort Jean Pauls in der
Erinnerung ſein, daß auf Kinder nichts ſo ſchwach wirke,
als eine Drohung, die nicht noch vor Abend in Erfüllung
gehe! Eine andere, nicht minder bedenkliche Folge ſolcher
reinen Wortdrohungen kann ich Ihnen hier nur andeuten,
weil ihre allſeitige Ergründung mich zu weit von meinem
Hauptgedanken ablenken würde. Sie iſt in dem Worte aus⸗
gedrückt, das ich in einem jetzt ſo ziemlich vergeſſenen Buche
„Bilder ohne Rahmen“ geleſen habe: „Wenn man auf einen
Blütenbaum ewig regnen ließe, damit alles Ungeziefer aus⸗
gewaſchen würde, ſo müßten endlich mit dem Entbehrlichen
auch die Blüten herunterfallen. So iſt's in der Erziehung,
wenn man allzuviele Worte und Ermahnungen macht.“ Daß
das Kind auf dieſe Weiſe nicht willfährig gemacht wird, iſt
unſchwer zubegreifen; im Gegenteil: da es die erzieheriſche
Ohnmacht ſeiner Eltern inſtinktiv fühlt, wenn nicht ſchon gar
durchſchaut, ſo wird es immer wieder und je länger, deſto
heftiger und eigenſinniger an ſeinem Willen feſthalten und
ſich gegen den ſeiner Erzieher auflehnen.
Weit ſchwerer aber wird das Verhältnis des Kindes zur
Schule in Mitleidenſchaft gezogen. Hier treten die allerbe⸗
denklichſten Folgen zu Tage. Das Kind wird von vorn—⸗
herein gegen die Schule eingenommen; mit dem erſten Tage,
wo es den Ranzen auf dem Rücken trägt, bringt es eine
durch die Unvernunft ſeiner Eltern erzeugte Befangenheit,
wenn es von Natur gut geartet iſt, im entgegengeſetzten
Falle eine mehr oder weniger verſteckte Unluſt an der Schule,
ja, nicht ſelten einen heimlichen Trotz gegen ſeinen Lehrer
mit, der ihm ja von den Eltern in den ſchwärzeſten Farben
geſchildert iſt Und doch haben die Eltern alle Urſache, daß
die Kinder die Schule als einen Ort betrachten, wo Ernſt
und unbefangene Heiterkeit, wo Liebe und Vertrauen ihre
gaſtlichen Zelte aufgeſchlagen haben. Ja, auch die Freude!
559
fehlgeihlagen ift — was ich übrigens noch nicht recht
begreifen fann — ein Kerl wie Sie braudht deshalb
nicht ben Kopf hängen zu lafjen!”
„Ich laß ihn auch nicht hängen! Drei Dinge
bab ih auf der Welt, die mir Freude machen:
Mein Pferd, meinen Säbel und meine Soldatenehre
— als Shilliher Hufar! Das ift genug, meinen
Sie nit au?”
„Run ja, für den Augenblid ift es genug —
ih bin einverftanden! Will nur, daß Sie wieder
vorwärts bliden! Es giebt noch zu gewinnen und
zu wünjhen für Sie, wohin Sie Ihauen!”
„IH weiß nur eins: Einen fröhlichen Reitertod
auf grüner Heide — als Schiliher Hular!”
Schill hatte Shon oft Foldde Rede gehört —
aber diefe bier Elang verzweifelt ernfthaft in ihrer
reſignierten Bitterkeit. „Haſſo — das ift feine gute
Stimmung!” fagte er bejorgten Tones.
„Sücht gut zum Leben, Herr Major, aber fehr
gut zum Sterben! — Sie follen jhon zufrieden
mit mir jein!” — — —
Die Hufaren zogen weiter, ins Land hinein —
über die Jächfiihe Grenze, an Wittenberg vorüber,
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
560
nah Deflau und Bernburg. Bon hier aus entjandte
Schill verjhhiedene Kommandos nad) allen Richtungen
hin. Der Lieutenant von Hagen unternahm mit
feiner Schwadron einen Streifzug bis nach Goslar,
von wo er Pulver, Kugeln und einige ausgeräumte
weſtfäliſche Kaſſen mitbrachte. Weſentliche Erfolge
jedoch hatte der Schillſche Zug bisher nicht zu ver-
zeichnen. Wohl ſchlugen ihm freudig die Herzen
entgegen und warme Sympatbien in den unter:
drüdten Landen begrüßte ihn überall. Hie und da
auch gejellten fih Freimillige zu feinem Korps,
Rekruten wie Dffijieree Doh ein Aufruhr aller
Herzen und Gemüter, ein freudiges zu den Waffen
greifen und mit ihm Losflürmen auf den Feind —
jo wie eg Schill von allen kundigen Seiten prophezeit
war, davon fand er nirgend eine Spur.
Schwer niederfchlagend wirkte dieje Erkenntnis
auf ihn. Sollte es dennoch zu früh gemefen fein für
den Ruf zur Erhebung — die Saat im Volle nod
nicht reif für die große Stunde der Befreiung?
Düftere Ahnungen beichlichen fein Herz. Es war ihm,
als zögen die Schlingen eines jchweren Verhängnifles
fih dichter und feiter um ihn zufammen.
(Sortjegung folgt.)
Heiblatt der Dentihen Noman: Zeitung.
‚srinnerung.
Die Märchen hörte einft ih gar zu gern,
Und Hab’ fie faft vergefjen!
Dody manchmal funkelt’8 wie ein Stern
Durch Finſterniſſe, unermeſſen! —
Ein Laut, wie ihn die Mutter ſprach,
Wird leis in meiner Seele wach, —
Und langſam taſtet die Erinnerung
Dem Nufe in die Traumwelt nach. —
Erich 5qwartz.
Fin pädagogifher Brief:
Bon Adolf Wilhelm Ernfl.
„Biel zu wenig geichrieben und geiprodyen wird von
Kindern und über Kinder. Gegen ein Buch über Kinder:
erziehung ericheinen zwölf über Pferdbedreffur! Und Dice
Kinder find doch das Heiligfte in: Leben. Ein jedes Kind
ift ein Pfandfchein für den Anteil, den der Menfid im
Himmel empfängt,” behauptete einmal der Ihnen befannte
humoriftifch-fatirifche Lichter M. &. Saphir, der aud) feine
ernften Augenblide hatte Wenn nun aud) jeine lage über
den Mangel an Büchern, die fih mit der Erziehung befaffen,
in unferen Tagen nit mehr in ihrem vollen Umfange be=
rechtigt ift, da Fein Gebiet der menichlichen Geiftesbethätigung,
wie die Statiftif beweiit, eine derartig hohe Anzahl Bücher
auf den Markt bringt, wie gerade die Pädagogik (die Wiffen-
idjaft von der Erzichung), fo läßt fid) audererfeits ein fühl»
—
barer Diangel an guten volfstümlich gehaltenen Schriften
erzieherifchen Inhalts nicht leugnen. Haben Sie felbft doch,
die Sie ein jo warmes Sntereffe für das Wohl unferer her=
anreifenden Sugend befigen, über einen derartigen Mangel
geklagt, und giebt e8 wie Sie dod) Taufende von Müttern,
die fih gern an der Hand volfstünicher Auffäge über ihre
wichtigfte Lebensaufgabe, die Stindererziehung, unterrichten
möchten, und die fid) vergebens in der Hochflut der alljährlich
erfcheinenden Bücher nach derartigen Hilfsmitteln umifehen.
Sch weiß deshalb die Ehre wohl zu Shäßen, daß Sie nid)
zu Ihrem pädagogiichen Ratgeber ernannten, und nad)
beitem Wiffen und Gewiflen werde ih hnen über die
Sugenderziehung, der mein Leben geweiht ift, meine Ge»
danfen und Erfahrungen mitteilen.
„Über Erziehung fchreiben, heißt beinahe über alles auf
einmal jchreiben,* Sagt Sean Baul,. Diejes bedeutjame Wort
fonımt mir in den Sinn, wenn ich Shre Aufmerkfandeit für
heute auf den Zufammenhang Ienfe, der zwiichen Schule
und Haus waltet. In der That: Schule und Haus ftehen
miteinander in jo inniger und lebhafter Wechfelmwirkfung,
jenden ihre geiftigen Yühlfäden eins zum andern fo zahlreid)
und fo häufig aus, furzum: beeinfluffen fid) in ihren pädas
gogiichen Beitrebungen fo Sehr, daß bie junge Mienfchenpflanze
nur in den Boden eined guten Ginvernehmeng zwijcdhen
Eltern md Lehrer die eigentliden Nähr- und Sraftwurzeln
für ihre gedeihlihe Entwiclung finden fan. &3 ift diefe
Wahrheit jo einleuchtend und allbefannt, daß es hieke,
Waſſer ins Meer jchütten, wollte man mit Hilfe eines ge=
lehrten NRüftzeuges die Inwiderlegbarfeit diefer Behauptung
nadweijen. Andererjeit3 zeigt dieſe Wechſelwirkung aber
aud eine Vielfeitigfeit ihrer zu Tage tretenden Erfcheinungen,
daß id) mid) — eingedenf des oben erwähnten Wortes Jean
561
Paul® — für heute beicheiden muß, auß der Fülle der hier
auftauchenden Fragen eine herauszugreifen, deren Wichtigkeit
wohl unfer Nachdenken anregen kann.
Sie, geehrte Frau, der fi überreiche Gelegenheit
geboten Bat, einen vollen und tiefen Bli in fo mandjes
Tamilienleben zu thun, werden mehr als einmal die Er-
fahrung gemadht haben, daß Mütter ihren Sindern die
Schule, welde die Kleinen in Kürze bejuchen jollen, als eine
Zwang? und Befferungsanftalt Hinftellen, als eine Art
Schredgeipenit an die Wand malen, um das Kind zu augen
blidlihder Sittjamfeit zu bringen, nachdem alle übrigen
möütterlihen Grziehungsmittel fehlgeichhlagen find. Somit
bildet biefer drohende Hinweis bei manchen Müttern — unb
nicht allein bei foldhen au8 den unteren Volksſchichten, wie
ein Uneingeweihter glauben follte — den legten Schluß ihrer
päbagogifchen Weißheit. Sie glauben damit wunder was
für einen Trumpf ihrer Erziehungstüchtigfeit auszufpielen,
um den Stleinen bag fittlidde Gewifien zu fchärfen, und bes
denfen in ihrer geiftigen Kurzfichtigfeit nicht die in ba3
nnenleben de3 Kindes tief ımd gewaltiam eingreifenden
Scäben, welche nit Naturmotwendigfeit einer derartigen be-
dauernöwerten Handlung entkeimen; fie Eammern fid in
ihrer päbdagogiichen Hilflofigfeit an den Nugenblidserfolg,
ber fi ja aud) meiftens einzuftellen pflegt, allein fchon des-
halb, weil die vor dem findlichen Geifte heraufbeſchworene
Vorftelung von der Schule durd) ben Reiz der Neuheit wirkt
und die LEindlihe Einbildungsfraft in Tchätigkeit verlegt.
(3 berührt fih die Erziehungsart in ihren Weien und ihren
ihäblichen Folgen in mander Hinfiht mit der vieleiht nod
häufiger geübten, den Willen fehlerhafter Kinder dadurch zu
brechen und in die richligen Bahnen zu lenten, daß man
ihnen auf künstliche Weile Furcht und Angft vor unfinnigen
Bhantafiegebilden („Ihwarzer Mann” u. bergl. m) einflößt.
Eine folde widernatürlihe Beeinfluffung des Kindes rächt
fih graufam. Bergiftet man mit derartigen aus der Numpel:
fammer des düſterſten Mittelalter geholten Wahnvor:
ftellungen die für Eindrüde äußerft empfindfame zarte
Sinbesfeele, jo würde, wenn nit zum Glüd früher oder
fpäter einflußreiche gefunde Gegenftrömungen das Eindliche
Gemüt durdflöffen und jenen mittelalterlihen Staub daraus
hinwegipülten, friiher, fröhlicher Sugendnuut und zugreifende
Tapferfeit bei unferer Kinderwelt felten zu finden jein. Wo
bliebe da die Wahrheit deS demutftolgen Wortes unjeres
edlen Kämpen Emft Morig Arndt:
„Bor Menjcdyen ein Adler, vor Gott ein Wurm!
So ftehft Tu feit im Lebensiturm!”
Etwas von diefem beflemmenden Furdhtgefühl bleibt in
der jugendlichen Seele meiftens haften, und — das fei bes
fonder8 betont — diejed Unluftgefühl, welches zunächt die
wirklihe Sinnenwelt des Stindes behenriht, dehnt, — man
möchte faft fagen — polypartig feine Herrihaft aud) auf
die geifiige Welt des Kindes aus, d. h. überträgt fich auf
feinen Charakter, jfoweit man bei unferer Jugend von einem
folhen reden darf, und hemmt in bedenklicdher Weife feine
Entwidelung zur Wahrheit und FZurctlofigkeit im DBelennen
bon Schuld. MWahrlich, angefichts des Geiftes der Verneinung
und der Lüge, der fi in fo taufenderlei glänzend aufge=
pugten Geftalten in ınjerer Zeit breit macht, angefihts des
erbitterten Stanıpfe8 zwifchen Sein und Schein, zwifchen Tag
und Nadıt, hat die Menichheit im allgemeinen und unser
Vaterland im befonderen wohl Grund zu der Hoffnung, in
dem heranwachjenden Gejchleht einen Stamm wahrheit:
Beiblatt der Deutihen Roman-geitung.
562
mutiger, furchtlofer Streiter zu gewinnen, wobei man durch:
aus nicht fofort an waffenfähige Sünglinge und nicht zulett
an hochfinniges weibliche Heldentum zu denken braudt.
Berfönliche Tapferkeit und Treue in Wort und That waren
zwei der Hauptzierden unjerer Altvordern, deffen möge fi
das germaniſche Weib erinnern, welches die Natur unmittel-
bar zur Mutter, db. h. zur Erzieherin beftimmt hat; Dieje
Tugenden möge fie in den Herzen ihrer Kinder zur WVlüte
zu bringen fich beitreben, damit das Kernwort bed urdeutjchen
Neden lebendig fei und bleibe:
„Wir Deutfhe fürditen Gott und jonft nidhts in der Welt!‘
Mande Eltern denken in bem Augenblid, wo fie die
Schule ald ein Schred: und Gemwaltnittel für ihre Kinder
anwenden, wohl kaum an die fchweren, verhängnispollen
Wirkungen, die fie badurd) auf fi) felbft, auf ihre Kleinen
und auf die Schule ausüben. Wie viele Eltern giebt «2,
die in bem Augenblid eines foldhen Handelns überlegen, daß
fie dadburh die Ohnmadt ihrer Erziehungsfunft bemweijen?
Und man glaube ja nicht, daß dem Finde dieje Hilflofigfeit
feiner geiftigen und leiblihen VBormünder entgehe! Wenn
e8 das pädagogifhe Nichtlönnen jeiner Eltern auch nicht
Elar erkennt, fo ahnt der erwachende junge Geift e3 doc mit
gewiffermaßen inftinftiver Feinheit. Denn die Strafe hat
nur dann erziehlichen Wert, wenn fie unmittelbar, d. 5. ohne
Auffchub der Vergehung folgt. Hier aber, in unjerem alle,
folgt überhaupt feine Strafe, fonbdern nur eine Drohung,
die nody dazu völlig unfrudhtbar bleibt, weil e8 ja gar nicht im
Machtbereich der Eltern liegt, die Schule und awar in der
beabfichtigten Richtung auf das unmillige Kind jofort wirken
zu lafjen, und e3 wird Ihnen das Wort Sean Pauls in der
Erinnerung fein, daß auf Kinder nichts fo fchtwach wirke,
als eine Drohung, die nidyt nod) vor Abend in Erfüllung
gehe! Eine andere, nicht minder bedenkliche Yolge foldher
reinen Wortdrohungen kann ich Ihnen hier nur andenten,
weil ihre alljeitige Ergründung mid) zu weit bon meinem
Hauptgebanken ablenten würde. Sie ift in den: Worte auß=
gebrücdt, das ich in einem jett jo ziemlich vergeffenen Yuche
„Bilder ohne Rahmen“ gelefen habe: „Wenn man auf einen
Blütenbaun ewig regnen ließe, damit alles Ungeziefer au3=
gewaihen würde, jo müßten endlich mit dem Entbehrlidhen
auch die Blüten herunterfallen. So ift’8 in der Erziehung,
wenn man alzupiele Worte und Ermahnungen macht.” Taß
das Kind auf diefe Weife nicht willfährtg gemacht wird, ift
unfchiwer zubegreifen; im Gegenteil: da c& die erzieherijche
Ohnmadt feiner Eltern inftinktiv fühlt, wern nicht Schon gar
durdhichaut, jo wird e8 immer wieder und je länger, deito
heftiger und eigenfinniger an feinem Willen feithalten und
fi gegen den jeiner Erzieher auflchnen.
Weit fchwerer aber wird ba Verhältnis de3 Kmdes zur
Schule in Mitleidenfchaft gezogen. Hier treten die allerbe=
denklichiten Folgen zu Tage. Das Kind wird bon born
herein gegen bie Schule eingenommen; mit dem erften Tage,
wo e3 den Ranzen auf dem Nüden trägt, bringt «3 eine
durcd) die Unvernunft feiner Eltern erzeugte Befangenheit,
wenn e8 von Natur gut geartet ift, im entgegengejekten
Falle eine mehr oder weniger verftedte Unluft an der Schule,
ja, nidjt felten einen heimlichen Trog gegen feinen Lehrer
mit, ber ihm ja von den Eltern in den jchwärzeften Farben
geſchildert iſt Und doch haben die Eltern alle Urlache, daß
die Kinder die Schule ala einen Ort betraditen, wo Ernft
und unbefangene Heiterkeit, wo Liebe und Vertrauen ihre
gaftlichen Zelte aufgeichlagen haben. Sa, auch die Freude!
563
Ein berufstreuer Lehrer, ber eben nicht nur ein befoldeter
Mietling ober Handlanger der Schule tft, ein einfichtsnoller
Volkserzieher, weldher die Negungen und göttlichen Seine
heiten der Kindesjeele zu beuten und feinen guten Mbfichten
dienftbar zu machen verfteht, wird darauf halten, baß bie
feiner Pficge Anvertrauten fi menigftens tägli einmal
herzlich freuen Tönnen. Nicht umjonft jagt ein Dichterwort:
„Heiterkeit ift der Himmel, unter dem alles gedeiht, Gift
ausgenommen!” Deshalb braudht der Sugenbbilbner im
Unterriht feine Zuflucht nicht zu allerlei nichtsfagenden
Mätzchen und Späßchen zu nehmen; denn die Schule ift
feine vorſtädtiſche PVoflenbühne Das find wahrlid feine
leuchtenden Vorbilder alfeitiger Menfchenbildung, die ihre
Zöglinge dur eiferne Zucht zu feelenlofen Drahtipuppen,
welche man beliebig, ganz nad) jeweiliger Laune bin und
her jchieben fann, entwürbdigen, bie ber Stinbesfeele jebe be-
rechtigte Eigenart (Sndividualität) nehmen und fie mit haar-
fharfer Genauigkeit und ftrammer Unbemweglichfeit auf bie
Sculbänfe pflanzen, wie ber Bauer feine Kohlköpfe oder
Nüben reihiveife auf das Feld! ch gebe zur, baß e8 unter ben
mehr al& Humbderttaufend Lehrern, in deren Händen das
nationale Erziehungswerf Tiegt, immer noch eine viel zu
hohe Zahl von geiftlofen Schablonenmenfjchen giebt, welche
ihre bedeutungfchtwere Arbeit rein majdhinenmäßig vornehmen
und ihr „Handwerf” tüchtig Eappern laffen, daß «8 leider
noh immer eine Schar innerlich Unberufener giebt, die in
völliger Verfennung bes erften und oberften Grunbjabes
einer gelunden Pädagogik, daß nämlich dag Kind ein Necht
auf feine Individualität habe, ihre Zöglinge in bie geift-
und herzeinfchnürenden Hürden einer längjt veralteten, rein
mechantfierenden Erztehungsmweije einpferchen! Jedoch find
das nur Ausnahmen.
Aber weiter! Ssft die Schule in der That ein foldher
Sammerort, al8 welchen verblendete Eltern fie ihren Sindern
vor bie Phantafie zu rüden juhen? ES jcheint mir fait,
ala ob auf folde Eltern der Spruch Goethes paßt:
„Man könnt’ erzogene Kinder gebären,
Menn die Eltern erzogener wären.“
Die Zeiten find gottlob im Strom der Vergangenheit
berraufcht, wo ein harter, finfterer Geift unabläffig den Stod
ober bie Rute auf unſere Kleinen ſchwang, wo man ein
Folter- und Marterſyſtem in die Schule verpflanzte und dort
mit ausgeſuchter beiſpielloſer Raffiniertheit und Roheit die
Kindesſeele mißhandelte. Ich nenne Ihnen — um nur
einige ſchlagkräftige Beiſpiele anzuführen — eine Verfügung
des Freiburger Stadtrates von 1668, der das ſogenannte
„Eſelreiten“ als Zuchtmittel im Unterricht empfahl. Ein
hölzerner Eſel, „uff einem prett geſchnitten oder gemalt“,
wurde aufgeſtellt und als Strafe denen zu reiten gegeben,
die ihre Hausaufgaben ungenügend oder überhaupt nicht
gelöft hatten. Die Anwendung eines ſolchen Zuchtmittels
ift geradezu ein Hohn auf die Entwidelung jedes Chr: und
Scuangefühls! Eine nody ärgere Graufamteit in der Hands
habung der Schulzudt zeigt eine um 1700 ohne Angabe bc8
Berfaffers erfchienene Schrift mit dem Titel: „Sieben böje
Geifter, welche heutigen Tages guten Theils die SKüfter oder
fo genanndte Dorfj-Schulmeifter regieren; al& da find: 1. der
ftolge, 2. der faule, 3. ber grobe, 4. der falfche, 5. der böje,
6. der naffe, 7. der dumme Teuffel. Welchen fümmt hinten
nad gehunfen ber arme Teuffel. Mit angefügten Sieben
Käfter- Tugenden.” Hier heißt e3 in dem Abfchnitt vom
„böſen Teuffel*; „ES möchte fid) jemand wundern, warn
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
564
man benn eben ben Schulmeiftern vor andern Leuten foldhe
Boßheit und Graufamkeit zufchreibe. Antwort wegen des
Hanbdwert, benn fie find des grimmigen Weiens bei ber Ins
formation (Unterricht) gewohnet, und meinen, fie können die
Kinder nichts lehren, wenn fie fie nicht, wie fie zu reden
pflegen, fharf halten und ftet? poltern, jchelten, außefeln,
Ichlagen, peitfchen, martern, peinigen und tyrannifieren, alfo
daß man ihnen fein Unrecht thäte, wenn man fie Scharf:
lehrer nennte, gleihwie man bie Diebhenter Scharfrichter
nennt, weil fie ein fo großes Wefen von der Schärfe machen. —
Wenn der Herr Schulmeifter bes Henker Amt verwaltet und
einem Knaben einen Schilling (Schläge) giebt, da muß ber
arme Sünder Kat aus halten, er muß fich felbit entblößen,
überbüden und fi parat halten, da ihm ber Schulmeifter
das Urtheil vordecliniret:
Nominativo: Leg Dich. Accusativo: Machs nicht lang.
Genitivo: Streck Dich. Vocativo: Es thut mir weh.
Dativo: Über die Bank. Ablativo: Thu es nicht meh! 2
Weil aber bie Sungens, man mag fie fo feft halten als
man will, dennoch firampeln, hinten außfchlagen, wie ein
unbändig Pferd, und den Schulmeifter oft mit dem Fuß ins
Geficht ftoßen, dab das Blut heraus fprüßet, oder bie Zähne
ihm im Maule EHappern, haben einige Echulmeifter eine Leiter
im Vorrat, welche oben angenagelt und unten eingegraben,
da müffen ihnen die Jungens oben den Topf und bie Arme,
unten aber die Beine durchiteden, aljo daß fie ganz geipannt
fein und fid) nicht regen können. Da Triegt nun der Schul-
meifter feine Henfers:Nuihe aus einen Eymer vol Waffer,
darein er fie eingeweicht, daß fie beffer anziehen jo, hervor,
peiticht und trummelt den armen Schelm auf dem Hinterges
jtelle herumb,, daß er fhreyt, dag mans übers dritte Haus
hören möchte. Da haben die Schulmeifter einen rechten
Glauben3-Artikel drauß gemadt, daß die Nuthe fronme
Stinder made, wegwegen aud bie Sinder die Nuthe mit
großer Andacht bergen und füffen müßten, wobei fie ihnen
das ſchöne Sprüchlein vorbeten:
„Ach, du liebe Ruthe,
Du thuſt mir viel zu gute!“
Gegen dieſe Rohheit, die nicht zum wenigſten eine Folge
der durch den blutigen dreißigjährigen Krieg herbeigeführten
Sittenverderbnis und Gefühlswildnis war, ſticht ſchon das
vorige Jahrhundert heller und freundlicher ab, deſſen menſchen⸗
erzieheriſches Thun und Wollen in Männern wie Baſedow,
Campe, Salzmann, Freiherr Eberhard von Rochow und vor
allem in dem edlen Heinrich Peſtalozzi die kräftigſten Stütz—
und Strebepfeiler beſaß. Allerdings war von einem Lehrer⸗
ſtand noch keine Rede; es herrſchte in faſt allen Gegenden
unſeres Vaterlandes ein fühlbarer Mangel an Erziehern,
und dies iſt mit eine Urſache zu dem Mißgriffe geweſen, daß
man ausgediente Unteroffiziere, Invaliden und Krüppel zu
ſtaatlich wohlbeſtallten Lehrern machte, die von der ſchweren
Kunſt der Erziehung gerade ſoviel verſtanden, wie ein ge⸗
wiſſer nützlicher Wiederkäuer vom Klavierſpiel, gerade ſo wie
die Schneider, Schreiner, Bäcker und Seiler, die im 16. Jahr⸗
hundert zur Erziehung der Jugend berufen, aber nicht aus⸗
erwählt waren. Daß damals der Bakel die Schule beherrſchte
(ich ſpreche natürlich nicht vom höheren Schulweſen), kann
Sie unter ſolchen Umſtänden nicht wunder nehmen. Aber
Jammergeſtalten, wie ſie noch im vorigen Jahrhundert in
der Lehrerwelt zu finden waren, ſind in unſeren Tagen
bereits geſchichtlich geworden; höchſtens wird ihr Geiſt in
den Spalten von Witzblättern, die in Zerrbildern alles
565
Mögliche und Unmögliche Ieiften, dann und warn aus ihrer
wohlverdienten Vergefjenheit von neuem heraufbeichtvoren.
Die Erziehungskunft unferer Zeit fteht in dem Zeichen wahren
Menihentums; der Geift der heutigen Schulzudt iſt
Menichlichkeit, Gerechtigkeit und ernfte Milde troß aller Miß-
griffe, die fih hier oder dort ereignen, und von denen jo
mande in dag Schuldbuch wenig einfihtspoller Eltern ges
hören. Das berühmie Wort Salzmanns, bes verbienftpollen
Begründer ber noch jekt beftehenden Erzichungsanitalt
Schnepfenthal bei Gotha, Hat, fo fehr e8 auch mit Vorficht
aufgenommen werden muß, feine Zöftlihen Früchte in der
Lehrerwelt gezeitigt: „Von allen Fehlern und Untugenden
jeiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in fidh jelbft
fuhen.* Sn unferen Tagen ift ben Lehrern die Wahrheit
des gemütpollen und finberlieben Dichters und Seelenents
rätfelers Leopold Schefer tief In® Herz gebrungen:
„Ein Kind ift göttliher Natur. Dem Urjein
Entitiegen, bringt e8 in der Seele Kenntnis
Des Göttlihen und Wiedererfennen mit.
Das Höcdjite, das Herrlichite begreift’S am leichteften;
Srühzeitig ehr’ es. Halt es wie einen Engel."
Sa, unferer gegenwärtigen Erziehungsfunft, die fid) bes
fleißigt, zunädft die Eigenart bes jungen Weltbürgers zu
erkennen und ihn bemgemäß zu feinem Ziele, zu einem ber:
ftändigen brauchbaren Mitglied der menfchlihen Gejellihaft
emporzubilden, wird fogar zuweilen der Vorwurf gemacht,
fie taumele in einem „Humanitätsbufel* planlos einher. Das
ift gerade jo übertrieben und falih, wie die Behauptung,
unfere SZugend fteuere einer fittlihen Werrohung zu, bie
Schule müffe jchärfere Zuchtmittel anwenden u. dergl. m.
Ein jolches Urteil zeigt eine Einfeitigleit und Engherzigfeit,
wie man fie nur bei Leuten findet, denen ein gefchichtlicher
Sinn, der Blid aufs Ganze und Weite und perjönlide Er:
fahrung abzugehen pflegen. Dan leje nur die einichlägigen
Ouelleniriften, in denen fih die Eulturgefhhichtliche Ver:
gangenheit treu und unverfälfcht abfpiegelt, ımdb man wird
einfehen, wie fehr man unferer Jugend Unredi thut. Denn
bebauerlihe Einzelfälle Iaffen durchaus Leinen Schluß auf
die Allgemeinheit zu.
Sch führe Ihnen alle diefe Thatfachen nur an, um Shnen
ben Nachweis zu liefern, wie verfehrt Eltern handeln, wenn
fie ihren Kindern die Schule als eine Art Strafanftalt Hin
ftellen. Sn dem findblichen Herzen bat fid) aladann ein Vor:
urteil gegen den Lehrer eingeniftet, wodurd) das Erziehung?-
werk in der erften Zeit ungeheuer erjchwert wird. Und be-
fanntlich fett die Arbeit auf ber linterftufe einen Grad von
Selbftverleugnung, Mühewaltung und Berufsfreudigfeit vor-
aus, daß man mit vollem Nedht gefagt hat, in bie Unterklafje
gehöre der tüchtigite Pädagoge. Der Lehrer wird fid) auf
jeden Fall, fofern er feine Unterweljung und Menichenbildung
nicht nad) einem toten Regelfram betreibt, die Liebe und das
Vertrauen feiner Zöglinge zu erringen fuchen, und Dice
findliche Qiebe und diejeg findliche Vertrauen, das die Kleinen
zu „ihrem“ Lehrer haben, tft der jchönjte und füßefte Lohn
für fein mühejchweres Walten und Wirken. Natürlich giebt
e3 immer einige räubige Schafe in der Herde, aber die Mehr:
zahl diefer Keinen Griffelhelden blickt leuchtenden Auges auf
ihn, und e8 ift durchaus feine feltene Ericheinung, daß gerade
die Kinder, weldhe durch eine ziellos hin und her pendelnde
häusliche Erziehung zum Ungehorfam gegen die Eltern und
zu einem Vorurteil gegen die Schule gefommen find, in ber
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
566
Stlaffe der Stolz des Lehrers und das Vorbild ihrer Genofien
find. Ich Eönnte Ihnen Beifpiele anführen, wo .bie Eltern
ale Urfahe Haben, ben oben erwähnten Ausipruh Salz-
manns auf fih anzuwenden. Gerade daburd, daß bie
Stleinen aus den Worten und Thaten ihres Lehrers feine
Liebe zu ihnen herausfühlen und an ihrer eigenen fleinen
VBerfon erfahren, daß die Schule burdhaus nicht ein fo
ichredficher Aufenthalt ift, wie die Eltern behaupteten, gerade
dadurd kommen fie bazu, den Worten ihrer Vormünder noch
weit weniger Wert beizulegen, als fie eS vielleicht in nod)
nicht fchulpflichtigem Alter thaten. Sie fehen alfo, der Riß
zwiihen Kind und Eltern verbreitert fi burd) die Schuld
der legteren, und wie häufig zeigt e8 ji, baß derartig bes
hanbelte Skinder einerfeit3 ihrem Lehrer aufs Wort gehorcdhen,
auf jeine Worte gewifjermaßen Ihwören und andererjeitö fich
mit der größten Gleihgültigfeit über die Anorbnungen und
Ermahnungen ber Eltern binwegfegen. Dann wird über
die Undankbarkeit und Verborbenheit bes Kindes gejammert,
bie Eltern ringen verzweifelt bie Hände, flatt fich jelbft an»
zuffagen und von fi) felber Rechenichaft zu fordern. Sehr
treffend heißt e8 bei Hamilton: „Die frühefte Erziehung ift
weit wichtiger, ala wir e8 je berechnen fünnen. Gewiſſe
Vorurteile hindern uns nur nod zu oft, daß man bie
Nichtigkeit diefer Behauptung bedenkt; fonft müßte jeder,
ben Neligton und Vaterland am Herzen liegen, e8 fich zur
bejonderen Sorge machen, die Frauen im allgemeinen zu
einem höheren Bewußtjein ihres Berufes ala Mutter zu er:
heben, denn e8 hängt daran nicht bloß das Glüäd und Une
glüc des einzelnen, fondern der Charalter des ganzen Volfes,
ja die Verfaffung des Menſchengeſchlechts!“
Ich habe Sie im Vorftehenden auf einen wunben Punkt
aufmerkjam gemacht, wo Schule und Haus leicht in Gegen:
fag zu einander geraten können, wo bie Segnungen einer
wahren Erziehung dur Elternhand — teils bewußt, teils
unbewmußt — leicht gefährbet werben. Gern gebe ich zu, daß
das Schredgeipenft der Schule mehr und mehr auß ber
Vorratsfammer elterlicher Strafen und Drohungen Ihwindet.
Eins aber tft nicht zu bezweifeln: nur wenn Schule und
Haus in Einmut an ber geiftigen und körperlichen Bildung
des jungen Geflecht? arbeiten, können dem Menfchen in
Wirklichkeit Die Tugenden erblühen, bie da heißen: in der
Wahrheit zu denken, in ber Liebe zu fühlen und in der
Freiheit zu wollen.
Morgenlied.
Wie trägft Du, 0 goldene Sonne,
Fern hinter den buftigen Hügeln
Auf rofigen Flügeln
Den lahenden Morgen herauf!
Veblenbet die Tiere des Waldes
In Wipfeln’und Höhlen _erwaden,
Ob balb in den Rachen
Des Todes aud manches verfinft.
Die Blumen, die prangten im Schniude
Des perlenden Tauesnod) eben,
Als Opfer Dir geben,
Was täufhend die Stirnen umfhmintt.
— ——— —— —— ——— — — — — — — — — — — — —
567
Und während die fchtwebende Lerche
Unfidhtbar über der Aue
Am heiteren Blaue
Laut trillernd ihr Lied anfhlug:
Da wandelt fo ruhig der Landmann
Traumjelig und ohne zu wanfen
Und ohne Gedanten
Wohl hinter dem eifernen Pflug. —
Wann trodneft Du, goldene Sonne,
Doc mir in den Augen bie Thränen?
Bereiteltes Wähnen!
3 fühle nur tiefer den Schmerz!
Wenn oft aud die Bilder der Schönheit
Die fehnende Seele vertröften:
Ad nimmer erlöften
Die Schmeichelnden Bilder das Herz!
D trüge mich, goldene Sonne,
Bald über die buftigen Hügel
Dein rofiger Flügel
Zum ewigen Morgen hinauf!
®scar Kine.
Achtet die Sehrerin.
Von M. Müller.
In einem vor längerer Zeit erſchienenen Aufſatze der
‚„Deutſchen Roman⸗Zeitung‘ wurde „Zur Erörterung über Frau
u. ſ. w.“ die ſeit einiger Zeit brennende Schulfrage angeregt.
Gewiß muß jeder der Verfaſſerin beiſtimmen, wenn ſie auẽführt,
wie viel unnötiges Wiſſen den Kindern, beſonders den heran⸗
wachſenden Mädchen, eingepfropft wird und wie wenig die
Schule auf die Erziehung und Bildung der Herzen ihrer Zöglinge
einwirkt. In erſterem Falle kann ein geſchickt ausgearbeiteter
Lehrplan manche Abhilfe bringen, doch überſehe man auch
nicht, daß viele Eltern ſtark übertreiben, wenn ſie die Über⸗
bürdung ihrer Lieblinge beklagen. Wollten ſie ſich der Mühe
unterziehen und ſelbſt ihre Kleinen ſtreng zur gewiſſenhaften
Ausführung häuslicher Arbeiten anhalten, es bliebe noch
genug Zeit zu Spiel und Erholung. Gewiß iſt es nicht
ungerechtfertigt, gerade in dieſer Zeit, wo alles für die Er—
leichterung des Lernens gethan wird, wo die armen Kinder,
die zum Glück am wenigſten von der Überbürdung leiden,
überall beklagt werden, eine Lanze zu brechen für die Ge-
plagteſte der Geplagten, für „die Lehrerin“. Hiermit kommen
wir zugleich auf die Erziehung in der Schule, denn dieſe
Aufgabe liegt hauptſächlich in der Hand der Lehrerin.
Zuerſt: kann die Lehrerin überhaupt erziehlich einwirken?
Leider iſt nur ein ſehr bedingungsweiſes „Ja“ die Antwort.
Sie könnte es, wenn ihr nicht überall die Hände gebunden
wären. Was ſie allenfalls während der Schulzeit erzielt,
zu Hauſe, durch die Eltern der Kinder, wird es zum größten
Teil wieder zerſtört. Ich habe hauptſächlich höhere Mädchen—
ſchulen vor Augen und weiß aus eigener Beobachtung, daß
die Eltern in der Lehrerin meiſtens die geborene Feindin
ihrer Kinder ſehen, die, eine Art Rachegöttin, in das Paradies
der Kindheit tritt. Statt die Kinder zur Ehrerbietung an⸗
zuhalten, hören Vater und Mutter ruhig zu, wenn Töchter—
lein daheim erzählt, wie die Becker heut wieder ganz
—— —— — —— —— — — — — — — — — — — ————— —
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
Der ha
568
ſchauerlich im grünkarrierten Kleide ausſah, und die Müller
hätten ſie wieder mit allgemeinem Huſten ſo recht gründlich
geärgert. Höchſtens ſagt die Mutter lächelnd: „Aber Grete,
ſo was darf man doch nicht thun,“ jedoch Grete weiß ganz
gut, daß keine ſtrenge Strafe folgt und plappert ruhig weiter;
ja, wenn ſie in demſelben Tone von Frau Müller geſprochen
hätte, oder von Fräulein Becker, der Tochter des Vor⸗
geſetzten ihres Vaters! Können aber Ermahnungen, die das
Kind in der Schule erhalten hat, Früchte tragen, wenn es
daheim in ſolchem reſpektloſen Tone über die Perſon der
Lehrerin reden darf? — Kommt Grete gar nach Hauſe und
hat eine Strafe erhalten, natürlich ungerecht — wann hätte
je eine Lehrerin gerecht geſtraft! — wie wird dann das arme,
verkannte Kind bedauert! Manchmal heißt es wohl: „Dir
iſt recht geſchehen,“ aber Grete hört leider, wie die Mutter
zu Frau Müller ſagt, die Becker verſtehe auch gar nicht ihre
Grete zu behandeln, und ein kleines Verſehen müßte doch
auch mal ſo einem iungen Dinge zugute gehalten werden.
Grete erzählt dabei dem kleinen Annchen, daß ſie nächſtes
Jahr auch zu der eklichen, frechen Becker in die Schule
müßte, und von vornherein iſt das Kinderherz mit Miß⸗
achtung und Mißtrauen erfüllt, das die Lehrerin ſelten aus—
rotten kann und das allen ihren Beſtrebungen einen Damm
entgegenſetzt. Unter allen Umſtänden ſollten die Eltern auf
ſeiten der Lehrerin ſtehen, ſelbſt wenn einmal eine ln-
gerechtigkeit wirklich vorkäme. Denn, ſo müſſen ſie ſich
fragen, werden ſie immer ihren Kindern gerecht? — Iſt die
Mutter nicht in der Stimmung, ſich mit ihrem Töchterchen
abzugeben, ſo ſchickt ſie es in den Garten mit Fräulein
oder Mädchen ſpazieren oder befiehlt ihm einfach, ſich ſtill
zu halten. Eine Lehrerin jedoch, mag ſie in der Stimmung
ſein oder nicht, mag das Herz voll Kummer und Sorgen
ſein, ſie muß ſich in den Stunden mit den Kindern abgeben,
ſie muß Jahr für Jahr dasſelbe lehren, dieſelben Fragen
ſtellen. Wie oft nach unſäglicher Mühe erfolgt auf die ein—
fachſte Frage eine Antwort, die nur zu deutlich zeigt, daß
das Kind nichts verſtanden hat und die Siſyphusarbeit von
neuem begonnen werden muß; daß dann einmal der Ge—
duldsfaden reißt und der gerechte Zorn nicht immer das
ſchuldigſte Haupt trifft, iſt es verwunderlich? In ſolchem
Falle ſollten die Eltern ihr Kind ermahnen, durch doppelten
Fleiß, durch doppelte Aufmerkſamkeit der Lehrerin zu be=
weiſen, daß ſie ihm unrecht gethan hat. — Iſt das Schul⸗
jahr zu Ende und Grete erhält ein ſchlechtes Zeugnis und
wird nicht verſetzt, ſo ſtürzt ſicher die Mutter zur Lehrerin
und ſagt ihr mit ſüßen Worten gar bittere Dinge. Da hat
Fräulein Müller ihre Grete nicht zu behandeln verſtanden,
das Kind iſt ſo eigentümlich, iſt doch immer ſo fleißig und
artig, wäre doch ſonſt ſo gut erzogen. Sie könnte gar nicht
begreifen, daß Grete nach dem Schulſchluß der Lehrerin ihren
etwas hinkenden Gang nachgeahmt haben ſollte, die Lehrerin
hätte ſich ſicher getäuſcht u. ſ. f. Daß aber die Eltern in
ſich gehen und ſich ſagen: wir ſind ſchuld an der Faulheit,
an den Ungezogenheiten unſeres Kindes, o nein, die Schule
iſt ſchuld, die Schule verdirbt die Kinder. Da wird denn
alles in Bewegung geſetzt, Grete in die höhere Klaſſe zu
bringen, und iſt der Widerſtand unüberwindbar, ſo wird
Grete in eine andere Schule gethan. Iſt denn aber das
Sitzenbleiben ſo gar fürchterlich? Wird ein begabtes Kind
nicht verſetzt, ſo geſchieht ihm ganz recht, denn es iſt faul
geweſen, für ein unbegabtes Kind jedoch, das langſam lernt
und ſchwer begreift, iſt ein ſolches zweites Jahr oft eine
569
wahre MWohlthat, und jedenfalls beffer, ala wenn es durch
fortbauernde Privatfiunden zum Vorwärtsfommen gepreßt
und dadurch bleid und frank gemadt wird. — Doch zurüd
zu unferer Grete, die e8 in der neuen Schule natürlich nicht
befier treibt, al8 in der alten. Sa, e8 wird immer fchlimmer,
je weiter fie Eommt, denn in den höheren Klaffen gebt fie
allmählich /au8 der Hand ider Lehrerin in die de Lehrers
über, der ihr num fon ganz und gar fleinen NReipelt ein-
flößt und ihrer Spottluft vollftändig zur Beute fallt. Der
Lehrer foll den Kindsfopf wie eine erwacjene junge Dame
behandeln und fteht deshalb wehrlos dem voll taufend Toll:
heiten ftedenden Badfifch gegenüber. Armer Mann! NRedt
aus tiefem Herzensgrunde fommt fein Seufzer: „Lieber eine
boppelte Schar milder Buben unterrichten, al® Euch paar
Mädchen Stunden geben!“ Gndlid kommt da8 Mädchen
aus der Schule, glüdielig, ber Haft entronnen zu fein und
thun unb laffen zu können, was ihm beliebt. Balb ift alles
(Srlernte vergeffen, nur bie Kunft. fchnippiiche Antworten zu
neben und abiprechende Urteile zu fällen, hat e8 behalten.
Den Lehrerinnen, denen fie fo lange Sahre das Leben ver:
bittert Hat, wird fein Gruß mehr gegönnt, höchftens heift
e8: „Ach, die alte Beder, die hat mich auch mal figen Iaffen.”“
Strenge Pflihterfülung, Dankbarkeit und Chrerbietung,
Tugenden, die die Schule befonders zu entwideln fähig tft,
find für das junge Mädchen unbefannte Dinge, bie gar
bald die Eltern trauernd an threm Kinde vermiffen werben.
An den Eltern liegt e8, ber Schule die Aufgabe zu ermög:
lichen, die Herzen der ihr anvdertrauten Finder au bilden, fte
wird Erfolge erzielen, wenn bie Eltern die Lehrerin auf bie
nleihe Stufe mit fich jelber ftellen und von ben Sindern
biefelbe Achtung und Ehrerbietung für fte verlangen, wie
für fi felbft.
In Ruhe fingen.
(Bei den Schwefterfinbern.)
Dort liegen fte im Bettchen
Und fchauen groß mir zu,
Sch halte ihre Händchen
Und finge fie in Ruh’.
Und jest find fie entichlafen,
Sch bin fo ganz allein,
Sch trete an die Scheiben
Und fteh’ im Mondesichein.
Sm bleihen Mondesicheine
Da taudt vor meinem Blid
Empor ein lod’ges Antlig,
Empor ein kurzes Glüd.
Sn bleihen Mondedicheine
Schließ’ ich bie Augen zu
Und finne Melodien
Und fing’ mein Herz in Ruh’.
Roman Zeitung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
570
Uphorismen.
Don Gonrad Timm.
Man fegt andere herab, um fich felbft zu erheben. Wäre
man nur einigermaßen veritändig, jo finge man damit an,
die anderen ein wenig zu — erheben, um dann zı zeigen,
wie hody man felbft noch über ihnen erhaben fei.
*
Wenn wir gar feinen anderen Ausweg mehr entdeden
fönnen, und einer moraliihen Verpflichtung auf ehrenvolle
Weile zu entziehen, fo fommen wir gewöhnlich zu der liber«
zeugung, daß unfere Bemühungen doch frucdhtlos bleiben
würden.
Mißtrauen gegen den Tsreundb ift ftetß® Eurer Freund—⸗
fhaft Tod: ift er der Deinen noch wert, biit Du ed doch
der feinen nicht mehr.
%
Die Liebe einer Mutter zu threm gefallenen Sinde
fängt immer erft da in ihrem ganzen Umfange an, mwo die
des Vaterd bereit3 am Ende ift — in jenem troftlo8 fürdhter-
lichen Augenblid. der offenbart, daß feine Nettung mehr zu
hoffen ift.
_j
Das wahre und tiefe Bemwußtiein feiner Schuld tft das
einzige, was cinen halbwegs Berlorenen dem Guten wieder
zuführen kann — und zugleih dasjenige, mas feiner
Beflerung die größten Schwierigfeiten in ben Weg legt.
x
Leidenschaften, die uns beherrichen, find Torannen, Die,
je mehr wir ihnen opfern, nur um fo mehr verlangen und
um fo meniger gewähren — zırlett nicht einmal mehr Bes
friebigung ihrer felbft. — Leidenſchaften, Die wir beherrichen,
machen oft einen — feineöwegs unmelentliden — Teil
unſeres Glückes aus.
Die Sittlichkeit ift Iniht das Neih, wohin die, Kunſt
ftrebt, aber doch der Boden, darein fie ihre Wurzel
ſchlagen muß..
xe
Es giebt noch immer Menſchen, die glauben, daß es
die ausſchließliche Eigentümlichkeit gewiſſer Tiere —3 der
Strauke — ſei, im Angeſicht einer heranrückenden Gefahr
zu ihrer perſönlichen Sicherheit den Kopf in den Sand zu
ſtecken.
Schuld und Unſchuld, Keuſchheit und Sünde können in
einem und demſelben Körper wohnen. Wem dieſer erlöſende
Schlußaccord im wildzerriſſenen Fluten und Wogen des
Menſchenlebens nie erklang, der kennt die Höhen und
Tiefen des menſchlichen Herzens nicht.
*
Edelmut des Geiftes maht Dich fähig zur Größe: der
des Herzens zum Glück.
*
Bei mandhen Menfchen drängt fi einem unwillfürlich
die Einfiht auf, ihnen gebe zum Schriftiteller, den man
bewundern mwürbe, nichts als bie Fähigkeit ab, zu erkennen,
was fie dor anderen boraußhaben. — Dennodh irrt man
IV. 40
571
fehr, dies auf Beicheidenheit zurüdzuführen: es ift ein feines-
wegs unmejentliher Mangel — der Mangel einer gemwiffen
Objektivität des geiftigen Vlies — ber hier enticheidend
wirft.
*
E3 giebt Menjcdhen, die in ihrer ganzen bodenlofen
Unbedeutendheit dennoch ein tiefes Geheimnis bewahren, das
bedeutende Geifter längft verzweifelten, je fidh dienftbar zu
machen: dag ift die Kunft, den unabläffig fortarbeitenden
Mechanismus de8 Gedankenapparates nad) Bedarf abzu=
ftellen und nad) freiem Ermeffen minuten=, ſtunden⸗, ja tage:
lang — gar nichts zu denken.
Die „unehrlichen Br des Wittelalters.
Freies Net für alle, = für folche, welche burd) ver»
brecheriiche Handlungen fih außerhalb ber Gefete geftellt,
ift wohl die bedeutendfte neuzeitliche Errungenschaft, von der
jene oft gerühmte „gute alte* Zeit nichts wußte ober nichts
wifjen wollte. Dagegen Eannte fie aber Berfönlichkeiten,
jogar ganze Stände und Berufsklafien, welde dburh ihre
bloße Eriftenz refp. infolge ihrer Beichäftigung aller Nedht2-
und Gefegeswohlthaten entbehren mußten, wweldye nicht für
voll geachtet wurden und zun Teil vogelfrei waren. Der:
gleichen Zeute bezeichnete man mit einem allgemeinen Begriff
als „unehrlich“, was hier alſo ebenſoviel wie ohne Ehre,
ehrlos, geächtet bedeuten würde.
Die Geſellſchaft von damals huldigte nämlich der An⸗
ſicht, daß der Einzelmenſch erſt innerhalb einer Korporation,
einer Zunft, eines Standes oder Gewerbes, je nachdem, zur
Geltung gelangen, Ehre und Rechtsſchutz beanſpruchen könne
— wer ſich dieſem ſtreng formulierten und genau geregelten
bürgerlichen Ehrenkoder nicht fügte oder anpaßte, der war
für die Allgemeinheit einfach nicht mehr vorhanden. Be—
denklich bleibt hierbei nur, daß die Wahl eines Berufes, die
Entſcheidung für dieſe oder jene Körperſchaft durchaus nicht
ins Belieben eines einzelnen geſtellt geweſen iſt, vielmehr
wieder von ganz beſtimmten Vorausſetzungen abhing. Anderen⸗
falls wäre ja gar nicht einzuſehen, warum nicht jeder ſich
beeilt haben ſollte, „ehrlich“ zu werden, d. h. ſeine Aufnahme
in einen der vielen geachteten Verbände nachzuſuchen und
damit an Recht und Geſetz zu partizipieren. Das Kapitel
von den unehrlichen Leuten des Mittelalters bliebe dann
ſicher ungeſchrieben!
Zwei Arten dieſer „Unehrlichen“ ſind beſonders zu unter⸗
ſcheiden: einmal jene, denen ſchon durch ihre Geburt ein
Makel anhaftete, oder die durch ihren gewöhnlich auch er—⸗
erbten reſp. aufgezwungenen Beruf rechtlos wurden, und
dann ſolche, welche durch eigene Schuld infolge rechtswidriger
Handlungen des Schutzes ihrer Korporation oder ihrer Zunft
verluſtig gingen, die eigentlichen Verbrecher alſo. Mit Be⸗
ziehung auf letztere ſei als Beiſpiel für die naive Rechtsan⸗
ſchauung des Mittelalters hier gleich erwähnt, daß ſogar
die ſtrafrechtliche Verfolgung wie die Vollſtreckung der er⸗
kannten Sühne in Händen der beleidigten und geſchädigten
Körperſchaft, alſo der Familie im weiteſten Sinne, lag.
War da wohl ein unparteiiſches Urteil möglich? Indes
ſollen uns hier nicht die Verbrecher, ſondern die „Unehrlichen“
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
572
ber erften Kategorie beichäftigen, weil nur biejen nach unierem
Gefühl offenbares Unredt geihah.
Zunädft madıten alle Hantierungen unehrlih, welde
ih mit der Vollftredung von ZTodedurteilen und anderen
Leibesftrafen befaßten. Bis ins 13. Zahrhundert etwa war
man entgegengejegter Anficht gewejen. Bei den heibnijchen
Deutihen gehörten Hinrihtungen zu den Funktionen der
Briefter, und als mit Einführung bes Chriftentums barin
eine Änderung nötig wurde, übernahmen die Gemeinden
gewiffermaßen als Gerchtiame die Verpflichtung zu folchen
Erkutionen. Bald hatte der jüngfte Nichter (hiervon die
Vezeihnung „Nadrichter*), bald der jüngite Bürger oder
Familienvater das peinlihe Gefchäft zu beforgen, meift aber
fiel e&8 dem „ronboten” zu, dem ehrbaren Diener des Ges
riht8, der da8 „Türgebot“ (die Ladung) austrug und ben
Richtern aud) jonjten noch „zur Hand ging“. Ctellvertreter
waren fhon früher zuläjfig. Erft mit Einführung des jehr
fomplizierten römiihen Rechts fam das Snftitut der Henker
oder Scharfrichter in Aufnahme, und zwar zunädjft in den
größeren Städten, während auf dem Lande (3. 3. in
Dithmarfchen, Friesland, im Weimarihen u. a. DO.) nod
lange die alte PBraris beibehalten wurde. Da nun Unfreie,
meift entlaufene Leibeigene oder begnabigte Verbrecher, fich
al8 Untvärter für das Henferant meldeten, bie e8 gegen
Bezahlung und gewerbsmäßig ausübten, auch fehr bald die
Abdederei 2c. mit übernehmen mußten, fo erklärt fi Daraus
freilich ihre Unehrlichkeit von felbft. Der Freigeborene hätte
fih nie und nimmer zu bdergleihen Geichäften hergegeben,
obihon Veifpiele vorhanden find, daß felbft regierende Herren
ertappte Wegelagerer eigenhändig auffnüpften, jo ber Herzog
Otto von Braunfchweig- Lüneburg, vom Volfe Herr „Ott’ von
der Haide*, von den Shroniften aber „Scheepbeen“ (Srumme
bein) genannt, und die Herzöge Magnus und Heinrid) von
Medlenburg.
Ter Scharfrichter Fonnte nie und nirgends Bürgerrecht
erlangen, und e8 war ihn aufs ftrengfte unterfagt, am ges
jeligen Leben der ehrlihen Leute teilzunehmen. Schon
äußerlidd machten ihn farbige Lappen am NRodärmel oder
am Slrmelloch des Mantels kenntlich, denn ängftlich mieb
jeder feine Nähe, wie er denn jelbit auch im Gotteshaufe
feinen abgefonderten Plat hatte und ftetö als Legter allein
dag Abendmahl empfing. Tiel er auf offener Straße Erant
hin, jo regte fich feine Hand ihn aufzuheben, und wenn er
ftarb, mußten ihn jeine Angehörigen oder Sinechte in aller
Stille irgendwo vericharren. Der ältefte Sohn erbte bes
Vater? Gefhäft. Diele Strenge trug natürlich viel zur
Verrohung des geädhteten Standes bei, und öfter wurden
fatferliche Freibriefe nötig, um den Henker gegen Ausbrüdje
der Volföwut zu fhügen. Das Einkommen der Echarfrichter
freilich‘ war nad) damaligen Begriffen ein bedeutendes,
namentlih durch die Nebeneinnahmen, wie Reinigen bes
Hodhgerihtd, Abnehmen und Begraben des Gericteten,
Stäupen der Landesverwiejenen, Abdederei, Einfangen
herrenlojer Hunde, Reinigen der Sloafen n. f. f. Der Scharf:
rihter von Neval bezog 1670 folgende Einkünfte: 50 Thlr.
Salarium nebft freier Amtsmohnung und Feuerung, 8 Tonnen
Malz, 3 Tonnen Roggen, 4 Tonnen Hafer, 5 Thlr. Heus
geld und alle vier Jahre eine komplette Bekleidung nebft
Scharlahmantel; fenerr 1 Thlr. für jede Hinrichtung,
Tortur oder Ausftreihen am Pranger; in betreff der Ab:
dederei: für Wegichaffen eines großen Aafes '/s Thlr,, eines
fleinen / Thlr.; bes weiteren für Nadtarbeit (Räumen
573
ber Stloafen) mit Karren und zwei Pferden jedesmal 4 Thlr.,
ein „Stübchen“ fpanifhen Wein und „genugiam“ Hafer.
Noch einträglider war der Poften in Hamburg — man
höre: Freie Wohnung, winters in der Fronveite, jonft in
der Abdederet auf dem Galgenfeld, jobann ein Salarium
bon 600 ME. aus der Gerichtsfaffe, ein reichliches Koftgeld
für bie ihm zugemwiejenen Verurteilten, weitere 600 ME. aus
der Stämmereilafle für Wegichaffen aller Stadaper von den
Straßen und aus den Kanälen; für biejelbe Arbeit bei
Privaten pro Stüd 1 Thlr., für Nacdtarbeit nad Atkord;
ferner den Ertrag der „Srondpflidt” (einer Art Kollekte,
welde 1732 der Nat mit 500 ME. ablöfte), endlich für das
Verfcharren eines GSelbitmörder8 10 Thlre. Nebenbei war
er vom Kopfgeld und allen bürgerlihen Laften befreit. An
manden Orten bejaß er Struggeredtigfeit, d. h., er durfte
eine Schänfe aufthun für alles unehrlihe Wolf, was natür=
fi der Polizei die Überwachung des vagierenden Befindels
fehr erleihterte. Mit dem Scharfrichter felbft galten aud
feine Angehörigen, Weib und Kinder, joiwie feine Gehilfen,
die Stodfnehte oder Schinder, für unehrlid. Ihre Woh-
nungen befanden fi außerhalb der Städte, und durften fie
legtere nur zu gewiflen Zeiten beireten, fi aud) nur in bes
ftimmten Straßen oder Bierteln aufhalten. Und doch Holte
fih da8 abergläubiiche Volf gerade bei dieſem verachteten
Manne Rat in allerlei Nöten und Strankheiten, weil ihm
geheime Wiffenichaft zugetraut wurde. So hat fih ein
Scharfridter von PBaffau durd den Zerfauf von Amuletten
gegen Schuß, Hieb und Stich berühmt gemadt: mit frembd-
artigen Schriftzeichen bedrudte Zettel, die auf dem bloßen
Zeibe getragen werden mußten, da, „wo ba8 Herz an die
Rippen podht!" Tieie „Paflauer Kunft“ war unter dem
Soldatenvolf beionderß einträglid. Der Henker von Bilfen
wiederum verftand Freilugeln zu gießen, die nie ihr Ziel
berfehlten, während noch andere gegen Feuers: und Waffer?-
gefahr „feit“ machen Eonnten. Auch mit dem Ausgraben der
wunderbaren Epringmwurzel jollte fi) der Scharfrichter be⸗
faffen, die man Alraun oder Galgenmännlein nannte, weil
fie nur unter dem Galgen vom Todesichweiße der Gerichteten
wuhs und ihrem glüdlichen Befiger alle verborgenen Schäße
über und unter der Erbe anzeigte. Wer dad warme Blut
Enthaupteter trank, Eonnte fid daburd von ber „fallenden
Sudt“ (Epilepfie) heilen, und nur der Henfer Eonnte diejes
graufige Mittel beihaffen — der legte Tall diejer Art datiert
vom Sabre 1812 (in Hejlisch-Neuftadt) — wohl bekomms!
Bon den übrigen unehrlihen Leuten in einem anderen
Artikel...
A. Stanislas.
Mädchens Klagelied.
Das hätte ich nimmer gedacht,
Daß Fluten des Sees, haſtig und heiß,
Über Nacht
Erſtarren könnten zu Eis.
Das hätte ich nimmer gedacht,
Daß Blätter des Baumes, ſaftig und grün,
Uber Nacht
Verdorren, welken, verblühn.
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗-Zeitung.
574
Das hätte ich nimmer gedacht,
Daß Freuden der Jugend, heiter und hell,
Über Nacht
Erfterben könnten jo fchnell.
Tas hätte ich nimmer gedadt,
Daß Treue der Liebe, lieblidy und Lind,
Über Nacht
Verichwinden kann wie ein Winb.
Das hätte ich nimmer gebadht,
Daß Augen verftrömen Thränen fo viel
Über Nadıt,
En viel wie Frühtau fiel.
Dermildtes.
Eigenmädtige Iufli,. Im Jahre 1576 lebte zu Star
gard an der Shna der Bürgermeilter Joahim Appelmann,
al8 ftrenger, aber gerehter Mann geadhtet und verehrt.
Reichtümer und Würden befaß er genügend, aber fein einziger
Sohn madhte ihm von Kindesjahren an Kummer. Die Er⸗
ziehung des Stnaben war eine etwas lare geweien, das Kind
war gewöhnt zu erhalten, wa8 e& forderte, und eventuell
feinen Willen durd; Drohungen und ungebärdiges Betragen
durchzuſetzen.
Als der Sohn älter und ſein Lebenswandel ein immer
ausſchweifenderer und wüſterer geworden war, ſagte ſich ſein
Vater ganz von ihm los, und der Verſtoßene that einen für
ſeine Verhältniſſe verzweifelten Schritt, indem er ſich als
Soldat anwerben ließ. Bei ſeinem Hang zum Leichtſinn
und zu übermäßigen Ausgaben war es kein Wunder, daß
er wegen Diebſtahl, Schulden und anderer geſetzwidriger
Handlungen verſchiedene militäriſche Haftſtrafen zu beſtehen
hatte. Da erſchien er plötzlich in jenem Jahre 1576 zu
Stargard bei ſeinem Vater und verlangte zum ſo und ſo
vielten Male Geld. Der Vater weigerte ſich, dem Leichtſinn
des Sohnes neue Summen zu opfern, und dieſer nahm ſeinen
Aufenthalt in dem benachbarten Dorfe Brokhauſen. Von
hier aus richtete er an ſeinen Vater einen Brief, in dem er die
— für damalige Verhältniffe große — Summe von hundert
Thalern forderte. Sollte der Vater nicht geneigt fein, ihm
die Summe zu fenden, jo würde er die vor dem “Thore ges
legenen väterlihen Scheunen und Schäfereien niederbrennen.
Der ungeratene Sohn mag Sich wohl des weiteren feiner
Drohung gerühmt haben; denn die Nachbarn jener bedrohten
Schäfereien erfuhren davon, gerieten in unendliche Angft und
wendeten fih fchließlid an den Magiftrat um Hilfe. Der
Magiftrat wurde eiligft zu einer Sigung zufammenberufen,
erkannte an, daß die Sicherheit jener Gehöfte gefährbet fei
— und forderte den Bürgermeifter auf, für feinen Sohn
und für den etwa dur ihn entftehenben Schaden die Bürgs
Ichaft zu übernehmen. Der tief gefränkte Vater erklärte allen
München gerecht werden und die Gefahr fofort befeitigen zu
wollen. Saum war er vom Rathaufe zurüdgelehrt, jo endete
er den Scarfridhter und den Stadtbüttel hinaus nad) Brot»
haufen, wo der ungeratene Sohn nod immer der mit
Drohungen erpreßten Gelbfumme harrte. Büttel und Scharf»
richter bemädhtigten fich feiner, und bald erjchien fein Vater,
der ihm mitteilte, daß er fterben müffe, und daß ihn ber
mitgefommene Prediger auf den Tod vorbereiten würde, den
575
ber Scharfrichter fofort zu vollftreden habe. Der Sohn nahın
natürlich diefes plögliche Todesurteil nicht ruhig Hin, er tobte,
rafte, verlegte fih dann aufs Bitten, verijprahı Frieden zu
halten und volftändige Befferung, aber der Vater ließ fid
durch nicht8 erweihen, und der Sohn wurde noh an dem-
felden Tage hingerichtet und fein enthaupteter Leihnam im
Kirhturme bed Dorfes begraben.
Bürgermeifter Appelmann wurde von feiner Seite wegen
dieſes raſchen und eizenmächtigen Suftizaktes zur Berant-
wortung gezogen, man bemwunderte fozar feine Hındlung®-
weile und fand fie der des Brutus würdig. der feinen eigenen
Sohn, der genen den Befehl fih mit dem Feinde in einen
Kampf eingelafien, dem Liftor übergab, um ihn vor feinen
Augen zu enthaupten.
Und doh war die That des Bürgermeifterd eine durd-
aus ungefeßliche, wenn fie auch heroifch außfehen mag. Die
Stadt Stargard hatte zwar Ihon im Jahre 1409 vom Herzog
Bogislam VII. da „freie Geriht an Hals und Hand“ er-
halten, aber der Bürgermeifter allein Eonnte fein Todes
urteil fällen, dazu war ein Gerichtöhof und eine Gerichts
verhandlung notwendig. Aber felbft in einer folhen wäre
ber ungeratene Sohn nie zum Tode, fondern nur zu einer
TFreiheitäftrafe verurteilt worden, denn er hatte ja feine
Drohung eben nody nicht ausgeführt, und vielleiht war e8
ihn gar nicht fo ernft mit derjelben.
Der nädjite, Hiftoriich feititehende ‘all ift noch viel
trauriger und ungeredhter. Er fptelte in den erften Sahren
bes fürdhterlichen breißigjährigen Krieges, nämlich 1623, alfo
zu einer Zeit, wo NReht und Belek in Deutichland fchon
ftellenweife ihre Wirkung verloren hatten. In Oftfriesland
hauften Damals die Scharen ber beiden Abenteurer, des Grafen
von Manzfeld und des Herzogs Chriftian von Braunſchweig.
Erfterer Hatte fein Standquartier zu Leer und hatte dahin
eine Anzahl feiner Offiziere mit deren Frauen zu einer Bes
wirtung geladen.
Die Frauen vergnügten fih untereinander in einem Ge-
mache, neben dem ‘yeitiaal, in welchem nach der Tafel ein
wüftes Zecdhgelage entitand und der Wein den Gäften gar
zu fehr zu Kopfe ftieg. Im Raufche begann man mit Liebes-
abenteuern zu prahlen, und einer ber betrunfenen Offiziere
rühmte fich laut der Liebesgunft der Frau des anweſenden
Dberften Joahim von Garpigo. Diefer geriet darüber außer
fih, anftatt aber der Sache auf den Grund zu gehen, fchentte
er ohne weiteres den Worten des Betrunfenen Glauben, rief
feine rau aud dem Nebenzimmer ab unb erflärte ihr, fie
müffe fofort mit ihm nach feinem Standquartier Jemgum
aufbrechen. Die nihtsahnende Frau war über den plößlichen
Aufbruch wohl erftaunt, befolgte aber den Befehl ihres Gatten
und fuhr mit diefem ab Cr benahım fich auf der Fahrt ganz
ruhig, nur blieb er ziemlich einfilbig.
Zu Haufe angelommen, erklärte jeboh don Garpibo
feiner Frau, daß fie ihn verraten und feine Ehre geichändet
habe, und daß fie daher fterben müffe. Die Frau wollte
ihren Ohren nicht trauen und glaubte wohl nicht redht an
ben Ernft diefer Worte, zumal fie fih aud feiner Schuld be=
wußt geweſen fein mag. Ihr Mann hatte fie eingeiperrt
unb ihr erklärt, daß das Urteil am folgenden Tage vollftredt
werden follte. In der That erichten aud) bald ein Prediger,
ber die Verurteilte zum Tode vorbereiten follte An ihn
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
576
wendete fie fih nun um Hilfe, und derfelbe Tieß fich herbei,
den ZBermittler und dem rafenden Oberften Far zu machen,
da& die vorhandenen Beweile, beftehend in der Auslage eines
Betrunfenen, nicht genügten, um bie jofortige Hinrichtung
der Frau zu rechtfertigen, daß diele? fid) unichuldig fühle
und auf einer orbentlihen Geridhtsverhandlung beitände,
bei welcher fie fidh verteidigen fönne, und bei welcher ihr
derjenige, ber fie des Treubruch® befhuldige, gegenüber ge-
ftellt werben möge.
Indes der raſende Gatte war feinen Vernunftgründen
mehr zugänglid. Er wies alleö zurüd, beharrte darauf, daß
feine Frau fterben müffe, ließ einen Scharfrichter fonımen,
der gar nicht mußte, um mas e8 fich handle, und richtete
ein Zimmer für die Hinrihtung ein. Am anderen Tage,
e3 war am 28. Suli 1623, wurde die „Verurteilte” herein-
geführt und dem Henfer zur Urteilsvollitredung übergeben.
Diefer erfuhr bald, daß er die Frau des Oberſten vor ſich
habe und wollte nun das Schriftliche Urteil des Gerichtshofes
fehen, durch welches die Frau zum Tode verurteilt fei. Alg
der Oberft dies natürlich nicht vorzeigen fonnte, erflärte der
Scharfridter dann auf feinen Tall feines Amtes walten zu
fünnen.
Hierüber geriet der Oberft in furchtbarite Wut, erklärte
feine Frau für eine Schwere Verbrecyerin und Sünberin und
Ichleppte fie felbit zum NRichtblof, um fie dort feitzubinden.
Dann ergriff er das Hentkerbeil, um ihr den Todesftreich zu
berjegen, und al8 ihm der Scharfrichter dasjelbe entriß, be=
brohte er ihn mit dem fofortigen Tode, wenn er da3 Urtell
nit vollftrede. Der Scharfrichter fügte fich darauf, und ber
Kopf der Tsrau fiel.
Auch Oberft von Sarpigo blieb wegen diejer eigenmächtigen
Handlung unbehelligt, nur einige Zeit Ipäter verjuchte eine
Anzahl von Matronen ihn in Holland für feinen Mord an
der Gattin zu fteinigen.
Kardinal Nikolaus von Gufa fchrieb 1452 ein Wert
unter dem Titel: „Konjekturen* und verfünbigte darin, 1734
würde die Erde dur eine zweite Sündflut untergeben.
ALS Dies nicht eintraf, erichten bald darauf eine Brofchüre,
in welcher zur Ehrenrettung des Kardinals bemwieien wurde,
daß dieje zweite Sündflut niht aus Mangel an Sünden,
jondern au Mangel an Waffer unterblieben fei.
Inhalt der No. 47.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Forti. —
Schwertflingen. Baterländiiher Roman von Hans
Werder. Fort. — Beiblatt: Erinnerung. Von Erid
Shwart. — Ein pädagogiiher Brief. Bon Adolf
Wilhelm Ernft. — Morgenlied. Von Oscar Linke. —
Achter die Lehrerin. Von M. Müller. — In Ruhe fingen.
Bon Ropa. — Aphorismen. Bon Conrad Timm. —
Die „unehrlihen” Leute des Mittelalters. Bon A. Sta-
nislas. I. — Mädchens Klagelied. — Bermifchtes.
Berantwortliher Leiter: Dito von 2eirner in Berlin, — Verlag von Dtte Jante in Berlin. — Drud ber Berliner Buchbruderels Aktien Befellichaft
(Gegerinnen » Schule deß Leite» Vereins).
4
— — — ch PERS —
Deutſche
Roman-Zeitung.
—1896.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
beziehen.
Erfheint mwöchentlid zum Preife von 3% A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
Ne 48,
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober.
m
Art zu Art.
Roman
von
HJ. Schobert.
(Fortſetzung.)
Maud war längſt verſöhnt, ſeine letzten Worte
entwaffneten ſie vollſtändig, mit leiſem Lächeln ſtreckte
ſie ihm die Hand entgegen. „Sie dürfen mir nie—
mals böſe ſein, wenn ich Ihnen ſo etwas ſage,“
verſicherte ſie ihm mit beſtrickender Liebenswürdigkeit.
„In nicht zu langer Zeit werden Sie ein großer
Künſtler ſein, das heißt, Sie ſind es ſchon jetzt, ich
meine alſo nach außen hin berühmt, da müſſen Sie
auch in den geſellſchaftlichen Anforderungen erfahren
= befannt genug fein, um feine Berftöße zu be:
gehen.”
Er faßte in die Brufttafhe und holte einen
ganzen Pad Zeitungen, in denen die Kritilen über
feine Gruppe ftanden, hervor und hielt fie ihr hin.
Naive Freude, Stolz und Eitelkeit leuchteten aus
Een Geliht. „Wollen Sie lefen? Hier fteh ich
rin.“
Sie nahm die Zeitungen und legte fie in ihren
Schoß. „Ih kenne das alles, jebes Wort. Mir ift
es noch nicht genug. Eben darum möchte ich, daß
Sie mir aud ein Heines Teil an fi gönnen, jei es
nun erziehend oder belfend.”
Er Iprang vollends auf und ftampfte ungeduldig
mit dem Fuß. „Aber Sie find ja eine Frau.“
„Eben deshalb.” Wie fein fie Iächelte „Der
Standpunkt, auf den Sie die Frau ftellen, ift mir
längit Ear,“ immer noch jaß fie unbeweglih und
fahb zu ihm auf; die Sonne fchimmerte in ihren
goldbraunen Augen. „Aber er ift nicht der richtige.
Bei der Frau aus dem Boll, aus dem Sie hervor:
gegangen find, mögen Sie recht haben, fie fennt nur
ihre Keine Aufgabe, bei uns ift das aber anders.
Wir werden nicht zur Dienerin jonbern zur Gefährtin
des Mannes erzogen, und es ift Unverftand, uns
diefe Stellung jtreitig maden zu wollen.“
Er jah über fie hinweg auf die rotbraunen
Kiefernjtämme, blies die Baden auf und jchwieg.
Roman sZeltung 1896. Lief. 48.
„Haben Sie eine Braut?” fragte Maud plöglid.
„Rein!“
Das war Wahrheit. Sie feufzte erleichtert auf.
„der ein Mädchen aus Shrem früheren Leben, das
Sie zu heiraten gebenten ?”
„Rein.“
„Seien Sie froh! Nichts ift für einen Künftler
eine fchwerere Zaft, nichts zieht ihn To herab als eine
unebenbürtige Gefährtin, Heinliche Allüren und An-
Ihauungen im eigenen Haus. Ind nun helfen Sie
mir auf, wir wollen nah Haufe gehen.”
Sie jtredte ihm beide Hände entgegen, und
er 30g fie mit einem Nud in die Höhe. Sie jhüttelte
ihr Kleid, dennoch blieben einige Nadeln hängen.
„Helfen Sie mir do,” fagte Maud, und er
begann fie gewiflenhaft abzullopfen, etwa mit dem
Ernft und dem Gewicht, wie er es vor zwanzig Jahren
mit ber Kleinen Eva Leitner gemacht hatte, wenn fie
fih im Heu gewälzt hatten. Maudb jpürte die Ey:
klopenfauſt wohl, jagte aber nichts, fie blidte herunter
auf ben geneigten dunklen Kopf, und dann löfte fie
mit jpigen Fingern wortlos die Nadeln, die noch in
dem welligen Haar gefangen jagen. Yhm Ihoß das
Blut in das Gefiht — und völlig Ichweigend legten
fie den Heimmweg zurüd.
„Mein Gott, wie hr ausfjeht,” jagte Luzie, die
ihnen auf dem SKorridor begegnete. „Kein Wunder
bei der Bärenhite! Wer geht an jolhem Tag um
die Mittagszeit Ipazieren!” |
„Das gnädige Fräulein gerubten mich zu ver:
geilen,” jagte Emil, der mit einer läjligen Verbeugung
näber trat. „Ich Eonftatiere, daß, genau nach der
Uhr, der Spaziergang ein und eine halbe Stunde
gedauert hat.”
Maud warf ein wenig den Kopf zurüd. „Hätte
ih gewußt, daß Sie mit der Uhr vor fi Täßen,
würde id noch eine Stunde zugegeben haben.”
IV. 4
579 Art zu Art.
Heelen hatte fih gleich davongeichlihen, ohne
ein Wort zu jagen. Er traf oben Fortunat mit
Briefihreiben beichäftigt und warf ſich daher Jofort
auf das Sofa, ohne ihn zu begrüßen. Ein jeltiames
Gefühl quälte ihn, beunruhigend und unbehaglidh
gleichzeitig, dennoch war auch etwas barin, das feine
Sinne fitelte. Mauds Finger, als fie jein Haar be:
rührten, hatten diefe Wirkung zuerft hervorgerufen,
und nun wurbe er fie nicht los. Gleichzeitig fragte er
fih, ob er ihr benn gefiele, daß fie fi jo mit ihm
bejchäftigte, und das jchmeichelte feiner neuerwachten
Eitelkeit. Bisher hatte er niemals fich neben Xer
und Emil in Betracht gezogen.
Endlih war Fortunat fertig; während er das
Souvert jhloß, jagte er: „Du warft mit Mi Winter
Ipazieren. Nun? Am Ende gefällt fie Dir jegt befjer.“
„Sie ift ein verrüdtes Frauenzimmer,” entgegnete
er mürriſch.
FSortunat late. „Weil fie Dich umjchmeichelt,
liebenswürdig zu Dir ift? Ah, mein guter Martin,
das wirft Du mit der Zeit jchon gewohnter werben,
je berühmter Du wirft; darin find alle Frauen
gleih. Sie jeten uns zuerft auf einen Altar und be:
mweihräuchern uns, wenn es ihnen der Mühe wert
ericheint, in der ftillen Hoffnung, daß wir hernach ber:
abfteigen und uns ihnen gehorfam zu Füßen legen.
Darauf find fie dann erft ftolz. Was aber Miß Winter
anbelangt, jo it e8 bei ihr doch etwas anderes. Sie
liebt die KRunft und fieht in Dir ihren berufenen
Vertreter, deshalb braucht fich Deine PBerjon nicht
allzuviel einzubilden.”
Mit einer gewillen Scheu hielt fich Heelen troß:
dem die nädhfte Zeit ferner von Maud, und es wurde
ihm nicht jchwer gemadt, denn Emil drängte fidh
auffallend an die Amerikanerin heran, entichloffen,
niemand Gelegenheit zu geben, fich feiner erwählten
Beute zu bemächtigen. Im flilen baßte er Heelen,
jowohl um des Erfolges willen, den er mit feiner
Schöpfung davongetragen, während man ihn von der
Austellung zurüdgewieien, ald au um Mauds
willen, die ihn jo offenbar bevorzugte; Furz, feine
ganze Fleinliche, neidiihe Natur hatte fih auf biejen
einen Menſchen verbiſſen.
Dennoch konnte er ihm weder ſchaden noch aus
dem Hauſe ſeines Vaters ausweiſen. Nur herabzu—
ziehen vermochte er ihn, und das that er, wo ſich
ihm Gelegenheit bot, ohne daß ſich Heeken der per—
fiden Spitzfindigkeiten ſo recht bewußt wurde.
Es hatte gewittert. Endlich, nach ewig langer
Zeit war der Erde dieſe Erquickung geworden. Der
Profeſſor ſaß in ſeinem Zimmer, die Jugend auf der
überdachten Veranda, während der Regen, in leiſen
Schleiern niederwallend, mehr und mehr ſich in Nebel
auflöſte, um endlich ganz aufzuhören.
Emil hatte vorgeleſen. Ein ſchönes, tief empfun—
denes Gedicht aus einem der auf dem Tiſch liegenden
Journale. Jetzt ſog er an ſeiner Cigarre weiter und
ſagte: „Wenn nur nicht alles, an dem wir uns zu
erbauen verſuchen, ſo unwahr wäre, dieſe ſchönen
Gefühle hegt keiner von uns, es möchte ihm auf die
Dauer auch wohl übel bekommen. Welch ein poe—
tiſcher Vorwurf zum Beiſpiel, daß Heeken ſeine Mutter
Roman von H. Schobert.
580
zu ſich berufen hat, nun es ihm gut geht; und in
Wahrheit — wie proſaiſch; er will nur, daß ſie für
ihn ſorgt, ſtatt bezahlter Hilfe.“
„Ich will auch, daß die alte Frau das Leben
etwas leichter hat,“ ſagte Heeken gleichmütig, „Land—
arbeit iſt ſchwer für alte Knochen.“
„Mein Lieber,“ fragte Emil, „trägt Ihre Mutter
noch die Tracht der Bewohner Ihres Dorfes? —
Kurze Röcke und Hauben mit Bändern, nicht wahr?“
„Ja, ſo ſehen ſie aus. Und meine Mutter na⸗
türlich auch.“
„Da werden die Städter aber Augen machen,
wenn Sie mit Ihrer Mutter ſpazieren gehen!“ ſpottete
Emil. „Der berühmte Künſtler, Martin Heeken —
am Arm ein Dorfweiblein.“
„Erſtens bin ich gar kein ſo berühmter Künſtler,
wie Sie ſpottweiſe ſagen, Quenſel, und dann mögen
meinetwegen die Leute gucken, das geniert mich doch
nicht,“ meinte Martin ruhig.
„Uberhaupt, Emil,“ fuhr Fortunat auf, deſſen
idealer Vorſtellung von Eltern- und Kindesliebe die
Idee entſprungen war, und der ſich nun tief getroffen
fühlte, „lege nicht an alles, was Gefühl heißt, Deine
zeriegende Kritif, Du kennft dergleichen überhaupt
nicht.”
„D, doch,” antwortete der, mit einem ausdrude-
vollen Blid auf Maud. —
Und an biele wandte fidh jeßt au Fortunat.
„Sagen Sie jelbit, Miß Winter, giebt es wohl
etwas Erfreulicheres, als einen Sohn, der durdh jeine
Kunft oder dur feiner Hände Arbeit eine alte
Mutter ernährt, jo einen Teil von dem abzahlend,
was er ihr feit feiner Geburt jhuldig geworben ift.
Giebt es überhaupt etwas Erhabeneres als Eltern:
liebe und Kindesdant? Kann Martin nicht glüdlich
fein, daß er überhaupt no eine Mutter befigt?
Würden Sie nicht genau ebenjo handeln?“
„Nein,“ jagte Maud kühl, und ihre Blide glitten
von Heelen zu dem aufgeregt Spreddenden. —
Emil lachte.
„Rein? Wie fol ich das verftehen?” fragte
Ler piliert. „Sie als Frau müßten do noch viel
weicher fühlen wie ih als Mann.”
„Das Verhältnis der Kinder zu den Eltern be-
ruht zum größten Teil auf einem Zwang, dem fie
lich fügen, weil bie Sitte es von ihnen verlangt,“
lagte Maud kühl. „Hätte mich Herr Heelen gefragt,
ih würde ihm abgeredet haben.”
„Spreden wir zuerft einmal im allgemeinen, Miß
Winter. Was haben Sie gegen meine Anjidhauung,
daß Eltern: und Kindesliebe das Sdealfte im Leben
jei und erfi mit dem Tode aufhört.” Fortunat war
jehr in Erregung, es that ihm ftets perfönlich weh,
wenn jemand mit frivolem Finger an das Stüdchen
Eden taflete, das er fich unverdroffen immer wieder
in die Wirklichkeit bineintrug.
„sn der Entwidelung des einzelnen Menichen,“
lagte Maud mit der ihr oft eigenen Schärfe und
Kühle der Überlegenheit, „tritt der Moment ein, wo
er ftillfieht. Er kann fi nicht mehr fortentwideln,
nicht weiterbilden, er mwädhlt feft! Und von biefem
feftgewadhjenen Standpuntt aus betrachtet er nun
— — — —
581
alles. Die Fortentwidelung der Kinder, die er nicht
mehr verftehen und mitempfinden kann, ift ihm zuerft
unbegreiflih, dann erzürnt fie ihn, er ruft feine
Autorität dem Jüngeren gegenüber zu Hilfe, unb
erdrüdt ihn nun entweder, oder treibt ihn von fid.
Das ift im allgemeinen meine Anficht der Sadje. Bei
Herren Heelen aber noch im bejonderen hätte ich abge:
raten. Er ift der ganzen Sphäre entwacdjlen, in der
feine Mutter lebt, und er fann niemals wieder in
biejelbe zurüd. Sie haben aljo Fein Berflänbnis
mehr füreinander, find fih bemnadh beide ein
Hindernis,”
Shre Augen bligten, ein harter Zug lag um den
bübjchen Mund.
„D, mein Gott,” meinte Fortunat Kleinlaut.
„rau Heelen macht gewiß nicht den Aniprud, Ein:
Muß auf ihren Sohn zu gewinnen, nicht wahr,
Martin?”
„Die Mutter? Nein!” Er drehte nachdenklich
an feinem Bart. „Sie wird Tochen, mwaichen, fliden
— wie zu Haufe.”
Maud zudte die Adhjeln.
„Wäre ih Mann — hätte es Feine Art; ih
wollte hinauf — hinauf.” Sie runzelte die Stirn.
„Aber was reden wir denn; es ift geichehen, nicht
wahr?” Sie lehnte fih über den Tiih und Jah
Heelen an.
„Montag kommt fie,” war feine Antwort. Es
fam ibm nun vor, als dente audy er nicht mit allzu
großem Behagen an diefe Ankunft.
„Dann ift alles weitere Reden überflüffig.”
Sie lehnte fich wieder in den Sefjel zurüd und
Iprad mit Emil, während Luzie triumphierend zu
Fortunat flüfterte:
„Diesmal haben Sie aber einen Kapitalbod
Maud gegenüber geichofien, Ler. Sa, die freien Ameri:
fanerinnen räumen auch mit Traditionen auf.“
„Ste ift eine ganz herzloje Perjon,” fagte er
wütend. „Wenn fie nur wüßte, wie häßlich jo etwas
von Mäbdchenlippen Elingt.” —
Ein paar Stunden jpäter fiel Yuzie ihrem Bruder
um den Hals.
„Emil, Du warit einig! Daß Du Heelens
Mutter ins Treffen führteft, ift ein großartiger Er:
folg gewejen. Jhm verzeiht fie feine Herkunft jeines
Nuhmes wegen, aber fo ein altes Dorfweib — das
geht doch über ihre Kraft. Hat fie jemals ernftlich
an ihn gedadt, nun ift er abgethan.”
„Was für eine dee, Luzie,” jagte er lachend.
Sie wiegte den Kopf hin und ber.
„Man jol jagen, was 'ne Sade ift,“ meinte fie
dann, „aber nun ift es vorbei.”
Zwölftes Rapitel.
„Sol ih Sie auf den See fahren, Fräulein?”
Martin Heelen war jchon von dem jchmalen Steg
herab in ein Boot geiprungen, und auf das Ruder
geftügt, das er ergriffen, ftand er nun da und jah
zu ihr auf.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
582
„Sa, wenn ein Schiffer zur Hand wäre, aber
ich jehe niemand.”
Sie jah Ipähend unter dem großen weißen eber:
Hut herum, ob fich nicht jemand fände.
„Das Tann ich felbfi, vertrauen Sie ih nur
mir an, oder — haben Sie Furcht?”
„Rein!“
Er ftredte ihr die Hand entgegen, und fie trat
in das Boot. Dabei jah er wieder viel weiße Spißen,
die Ihmalen Ladihuhe und atmete den Blumenbuft,
der ihre Perfon umgab. Daß er das alles mit einer
gewillen erregten Neugierde betrachtete, Tonftatierte
er eritaunt bei fich jelbft.
Maud fegte fih zuredt. Es war heiß, aber
fein heller Sonnenidein, fo daß fie ihren Schirm
nit aufzufpannen brauchte; dafür jah fie ihm zu,
wie er die Kette löfte und das Boot abtreiben ließ.
Nah den eriten paar Schlägen 309 er indes bie
Nuder wieder ein, 308 die Manichetten aus, und mit
einem Rud warf er dann aud Rod und Kragen ab.
„S9,” lagte er, fi mwohlig dehnend, „da hat
man L2uft und fanın auch die Arme regen.” PBlötlich
fiel es ihm beflemmend ein, ob er das auch dürfe.
„Es geniert Sie doch nicht, Fräulein?”
Maud jhüttelte den Kopf. „Nein!” fagte fie
wieder in ihrer furzen Manier, ohne zu lächeln.
Nun flog das Boot dahin, er regierte es mit
nervigem Arm; vom Ufer aus waren fie wohl nicht
mehr zu erlennen.
Maud jah anfcheinend ins Weite, in Wahrheit
beobadhtete fie ihr Gegenüber. So vorteilhaft wie
in diefem Augenblid hatte er fich ihr noch nie ge:
zeigt. Die breite Bruft bob fih in tiefen, regel:
mäßigen Atemzügen, auf der Stirn perlten Schweiß:
tropfen; in dem janften Grau von Himmel und
MWafler nahm fih fein eigenartiger Kopf ganz be-
jonders gut aus. Und dabei entftrömte der ganzen
Geftalt des Mannes eine Kraft, ein ruhiges Sich:
bewußtjein biejer Kraft, das Maud imponierte.
Sie hatte es jet gar fein Hehl mehr, dak ihre
Augen an ihm bafteten, und er fühlte es endlich,
obgleih er zu Anfang wenig an ihre PBerjon gedacht
hatte. Nun fiel es ihm ein, daß fie zum eriten Mal
wieder allein waren feit jenem Waldipaziergang, und
mit der Erinnerung Tam ihm auch jenes jchmwüle
Empfinden wieder, was ihn damals beherricht hatte,
Sie 308 den Handihuh ab und taudte die
Hand in das laue Wafler. Es lief ihr durch die
Finger und ließ die jchmalen, zarten Glieder no
viel jchlanker und jchmaler erjcheinen. Unmwillfürlich
ah er ihrem Spiel zu.
„Das kann ih au,” fagte er plöglich laut,
„)o eine Hand formen.”
Sie jahb auf. „Meine Hand? D, das wird
Shnen gewiß nicht jchwer.”
„Ich babe es nicht wieder gethan, jeit ich von
der Afademie fort bin. Zu jo was Seinem, Zartem
babe ich Feine Luft. Aber Jhre Hand, die ift Ichön,
die möchte ich wohl modellieren.”
Sie wurde rot vor Vergnügen. In ihrem
ganzen Xeben hatte feine Schmeichelei einen ähnlichen
583
Eindrud auf fie gemadt. „Wenn Sie mich dazu
nötig haben, ich bin jeden Augenblid bereit.”
„Aber natürlih brauche ich Sie dazu — wenn
e8 Shnen nicht leid wird, Fräulein.”
Er hatte. die Ruder eingezogen, der Kahn jchien
ftillzuliegen auf dem Klaren, ruhigen Wajler.
Sie 309 die Hand in die Höhe, gligernde Tropfen
hingen noch zwilchen den Fingern, und hielt fie ihm
hin: „Sch gebe fie Zhnen darauf jchon jegt, in
aller Form.“
Er ergriff fie beinahe jcheu. Syn feiner heißen,
Cyflopenhand verihwand fie völlig. Und dabei
war fie jo weich, jo fühl, jo ganz anders als
die Hände, die er jonjt gewohnt war zu drüden.
Es riejelte ihm jelbit ordentlih fühl den Naden
herab, und dies Gefühl war ihm neu und angenehm.
Anftatt loszulafien, hielt er nur immer fefter.
Maud duldete es jchweigend eine ganze Weile.
„Herr Heelen!” jagte fie endlih und machte eine
befreiende Bewegung mit den Fingern, „ich babe
eine große Bitte an Sie.”
Er jah erftaunt auf. Was konnte er für fie tun?
„sh möchte Shre Gruppe in Marmor ausge:
führt haben, aber recht bald, denn wer weiß, wie
lange ih no in Deutichland bleibe. Natürlich in
feinen Dimenfionen, etwa einen halben Meter hoch.
Das geht doch?”
Er Jah fie jo fafjunglos an, daß er das Ant-
worten vergaß.
„Ss geht doch?” wiederholte fie noch einmal.
„Ja — e8 geht — aber — aber, Fräulein,
das wird ein teuerer Spaß für Sie.“
Sie jchüttelte den Kopf. „Das ift gleichgültig.
Sch will es natürlihd nicht geichentt haben; Sie
wijlen vielleicht nicht, daß ich reich genug bin, jolchen
Liebhabereien nachzuhängen. — Hier fragt es id
nur, ob Shnen die Arbeit paßt.”
„sn Marmor!” jante er ganz verklärt. „Und
ob mir das paßt? — D, Fräulein, ich freue mich
darauf — ich danke Jhnen herzlih... in Marmor
mein Model! Das war mein größter Wunjch.“
„Allo, abgemadt?“
„sa! Abgemadht!”
Er hatte das Mädchen vergejlen, er dachte nur
no an jeine Aufgabe. Am liebiten hätte er gleich
heute angefangen, der Boden brannte ihm unter
den Füßen.
„Sie jollen nur jehen,” jagte er ganz aus fich
jelbit heraus. „Wie anders das mirkt! Es giebt
nichts Edleres ald Marmor.”
„Weshalb arbeiten Sie dann nicht immer darin?”
Er ladte.. „Weil es teuer ift, jehr teuer!
Ein armer Teufel wie ih Tann fich foldden Lurus
nicht leiſten.“
„Sie müßten eben ſehen, es möglich zu machen.
Wenn Ihr Herz doch daran zu hängen ſcheint, giebt
es auch Mittel und Wege dazu.“
„Nein, die giebt's nicht,“ ſagte er energiſch,
„für einen anſtändigen Kerl nicht. Oder glauben
Sie, ich kann mit einem Stipendium eine Arbeit in
Marmor ausführen? Dazu reicht es nicht.“
Be \
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
584
— — — — — — — —
|
Sie jah ihn ernithaft an. „Das dachte ich aud)
nicht — es giebt andere Wege, jollte ich meinen.”
D, wenn fie ihm jet ihre Kafje hätte zur
Verfügung ftellen fönnen! Aber fie wagte es nicht,
vielleicht verdarb fie mit einem Schlage alles. Da
war jhon Fortunats Bermittlung das beite. —
Inzwilhen warf er den Kopf rüdmwärts und
ihüttelte das Haar. „Wenn etwas ganz unmöglich
it, jol man feine Gedanken nicht daran hängen,”
lagte er ruhig. „Es wird auch jo gehen, der erite
Schritt ift wenigftens gethan.”
Da neigte fie fi vornüber und jagte ihm mit
gedämpfter Stimme wieder alles Begeifterte, was fie
für jeine Schöpfung empfand, und er hörte zu, halb
abgewandt, mit gierigem Ohr. Wie Feuer loderte
e3 in ihm auf und jegte ihn ganz in Flammen. —
Als fie hHeimfamen, begegnete ihnen der
PBrofeflor in dem Gärten vor dem Hauje, es jah
faft aus, als babe er auf fie gewartet. „Nun, Miß
Winter,” jagte er und z0g väterlih ihre Hand dur
jeinen Arm, „war es Ihön auf dem Waller? Hat
Heelen gut gerubdert?”
Während Maud bejahte, nidte er dem jungen
Mann freundlih zu und wandte fih von ihm ab,
ihm den Weg ins Haus freigebend. So ungelenf
Martin au war, jo begriff er doch, daß er bier
überflüjlig jei.
„Meine liebe Miß,” jagte der Profefjor ein-
dringli und drüdte ihre Hand, „ih muß einmal
ein offenes Mort mit Ihnen reden. Syn Amerika
mag das ja anders jein als bei uns, das Verkehrs:
leben freier, ich weiß das nit, und Sie dürfen
mich auch nicht mißverftehen, aber jedenfalls find
Sie gegen Heelen entgegenfommender und liebens:
mwürdiger, als es ein deutjches Mädchen für paljend
halten würde. Jh weiß, es entipringt Ihrem guten
| Herzen. Aber — er it jung, urwüdhlig im Empfinden,
wie nun, wenn er fih da etwas in den Kopf jegt,
etwas, das doh nie werden fann. Sie find
reih, verwöhnt, er ift ein armer Teufel, dem
Proletariat entjtammend. Machen Sie fi einmal
flar, ob Shnen das genügen würde.”
Maud Hatte fih ein wenig höher aufgerichtet
und jah dem Profefjor jtarr in das Gefiht. „Ach
verjtehe Sie doch nicht ganz,” fagte fie mit Fühler
Herbheit. „Was ich je gethan, habe ich immer nod)
jelbft verantworten können.“
Der Profellor jchüttelte den Kopf. „So meine
ich es doch nit. ES liegt mir ja fern, Shnen Vor:
baltungen zu maden, aber für den Heelen jcheint
mir die Sade nit ganz jchwindellos, und ihm
at etwas zu gewähren, daran denkt Doch Jhre Seele
nicht.”
„Was könnte das jein, zum Beilpiel,“ fragte
fie tonlos, indem fie ihm feit in die Augen fah.
„Run —, zum Beijpiel Yhre PBerfon — Shre
Hand.”
Maud neigte den Kopf. „Ach Habe daran aller:
dings noch nicht gedacht; aber jagen Sie, Herr
Profejlor, wäre e8 etwas Unmögliches?”
„Unmöglihes? Aber, beftes Fräulein, ich bin
boch der legte, der jo etwas behaupten wollte. Heeten
585 Art zu Art.
ift ein großer Künftler, er bat eine Zulunft. Was
ihm an äußerer Bildung und Schliff fehlt, das
würde ihm eine Kluge Frau bald anerziehen. Nichts
wirkt fo veredelnd auf einen Mann, bejonders auf
einen Künftler, als weiblicher Einfluß. Sa, wenn
Sie jo etwas in Betracht gezogen hätten, dann bitte
ih taujendmal um Entihuldigung, dann hätte ich
mid nit bineingemifcht.”
Er lächelte, ein gutmütiges, etwas Tpigbübijches
Lächeln und fah fie von der Seite an. Aber Maud
errötete nit und kam auch nicht in Verlegenbeit,
ernft und nacddenklih fah fie geradeaus. Dann
reichte fie, einem plößlichen Smpulje folgend, dem
alten Herrn die Hand. „Ych dankte Ahnen, Herr
Profeflor. ch danke Shnen jehr!” Und ging davon.
Das war ihm nun eigentlich gar nicht redht. Er
hätte fi dem hübjchen Mädchen gegenüber gern ein
feines Bertrauenspöftchen erworben, ba er auf etwas
anderes doch nicht mehr rechnen konnte, hätte fie gern
errötend und verijchämt gejehen; ftatt beflen lief fie
ihm davon.
„Auch recht,“ dachte er in feiner kindlichen Seele.
„Wenn das Samentorn Wurzeln fchlagen follte, habe
ih nicht umfonft geiprochen.“
Er war jo zufrieden mit fih und dem, was er
gethban, daß, als er feinen Sohn auf der Veranda
fand, er fi zu ihm jeßte und jagte: „Baß nur auf,
aus unjerer Amerikanerin und Heelen wirb am Enbe
noch ein Paar.”
Emil zudte gleihgültig die Achfeln. „Welche
See, Papa.”
„Run, etwas davon käme fchließlih auf meine
Kappe,” jchmunzelte er zufrieden. „Ich bin zwar
dazu gefommen, wie eine blinde Henne zum Korn,
aber abwehrend hat fie fih nicht verhalten, als ich
dann die Gelegenheit ergriff, Heelen herauszuftreichen.
Das babe ich fein gemacht!”
Emil war ganz blaß geworden, er warf feinem
Bater mwütende Qlide zu. „Du?“ rief er mit
bäßlihdem Aufladen. „Du?! Das haft Du wirklich
gut gemadht, Papa! — Zh will ja Maud haben!
Begreifit Du nun, was Du mir angethban haft?“
Und er ballte die Fauft und nagte an feinem
Schnurrbart.
„Um Gottes willen!” Der alte Mann war ganz
zerfniriht. „Das wußte ich nit, davon ahnte id
doch nichts! Luzie quälte mich, ihr über das Un-
pafjende ihrer täglichen Promenaden mit Heelen ein
paar Worte zu jagen. ch babe es getban, konnte
ih dafür, daß es jo kam?“
„Wäreft Du wie alle anderen Menjhhen, Papa,”
fagte Emil bitter, „dann hätte Dir das nterefle
für die Zulunft Deiner Kinder längit joldhen ®e-
danten nabegelegt. Du bift aber immer nur für
andere bejorgt, dentit nie an Dich oder an uns.”
Der Profellor jah jehr unglüdlid aus. „Ach
weiß nit, ob Du recht haft, Emil, Selbfifüchtig
und berechnend war ich wohl nie, dennoch find Deine
Worte ein harter Vorwurf für mid. Ich kann Dir
nur jagen, e8 thut mir leid, mein Sohn, daß id)
Deine Pläne burdhlreuzt habe, aber wenn fie Di
liebt . . .”
Roman von H. Schobert.
586
„Mädchen wie Maudb lieben nicht,” unterbrach
er ihn jchroff, „die fragen den Verſtand.“
Der Profellor feufzte, er fühlte fich jo über:
flügelt, jo gebemütigt feinen Eugen Kindern gegen:
über; und doch, faft fühlte er verjucht, fich zu freuen,
daß feine Jugend in eine Zeit gefallen fei, in der
man nit nur den WVerftand befragt hatte, in
der e8 noch Liebe, Schwärmerei. und Seligfeit ge-
geben. — Sie that ihm plößlich leid, Ddiefe ver:
nünftige Generation. — —
Maud hatte fih für den Reſt des Tages mit
Kopfweh entichuldigen lafen und blieb auf ihrem
Zimmer. Körperlich fehlte ihr freilich nichts, aber
eine Ihredliche Unruhe beberrichte fie, und das immer
mehr, je weniger fie zur Klarheit mit fich felber
gelangen konnte. Sonft bedurfte es immer nur eines
furzen ÜÜberlegens, und fie war im reinen darüber, wie
fie zu banbeln hatte, diesmal ließ fie ihre gewohnte
Selbftzudt völlig im Stid. Die Worte des
Profellors hatten fie fteuerlos gemadt.
Was wollte fie eigentlihd mit Heelen? Jhn
heiraten? Wirklich heiraten, um dadurch fih das
Neht zu erwerben, feinen Ruhm zu dem ihrigen zu
machen, teilzuhaben an feinem Schaffen, an feinem
GSeftalten? Es war bei feinem Charakter die einzige
Möglichkeit, das fah fie Mar, und doch, obgleich er
ihr gefiel, mochte fie den Gedanken nicht weiter aus:
denfen. Warum nicht?
War es, weil fie immer nur bie Gebende fein
würde? Eigentlih Hatte ihr ja das als das
MWünfchensmertefte vorgeichwebt, eine Ehe, die man
vorher ganz genau abihäten fonnte, die deshalb
feine Enttäufhungen bot. Bon der Liebe wollte fie
nichts willen, die madte den Menihen zu einem
richtigen Urteil unfähig, jolange fie dauert, und nad)
ber mußte man die Folgen tragen. SHeelen bot ihr
für die Zukunft einen glänzenden Namen, fie gab
ibm dafür die Mittel zu einer jorgenlojen, ja
glänzenden Eriftenz. Ein Taujh war’s, bei dem
beide Teile ihre Rechnung fanden.
Er gab ihrem Leben einen inhalt durch feine
Kunft, fie erzog ihn mit geichidter Hand für Die
Kreife, in denen er jpäter leben würde. Auch bier
ein Taufch, gegen den fich nichts einwenden ließ.
Er begehrte fie nit — nod nit! Das würde
fommen, wenn er nur erft die Möglichkeit ihres
Belites ſah.
Sie trat vor den Spiegel und prüfte fich genau.
Selbft ein Künftler durfte mit ihrer Srauenjchönbeit
zufrieden jein.
Und do — und do — jo genau die Rechnung
ftimmte, ein Faktor war darin, den fie nicht auf:
fand und der do wie eine Disharmonie durch das
Zulunftsbild Hang, das ihr vorjchwebte. Raſtlos
wanderte fie im Zimmer auf und ab, ftundenlang. —
Wenn es Freundihaft, angriffslofe, ftarle Freund:
Ihaft geben könnte zwiihden Mann und Weib, dann
hätte fie das wohl vorgezogen, aber fie wußte, das
war unmöglid, nur die Ehe bot Schuß und Schirm.
Sie hatte niemand, mit dem fie fprechen konnte,
ſelbſt Fortunat jchien ihr in dieſer Angelegenheit
587
fein kompetenter Richter, und je länger fie grübelte,
je unrubiger wurde fie.
Sie empfand es bitter, dies Unflarfein mit fich
jelber, fie, die fich ftet8 auf die Harmonie ihrer
Empfindungen etwas zu gute gethan hatte. —
Am nädften Morgen in aller Frühe, als fie
no niemand wach glaubte, ging fie in den Garten
hinab, ihre übernädhtigen Augen etwas zu erfriichen.
Mocte das Chaos in ihr au noch nicht gelichtet
fein, die Menjhen, die fie umgaben, die ihr doc
fremd waren, trogdem fie in ihrer Mitte lebte,
brauchten nihts davon zu willen. Am Ende bes
Gartens ftand eine zierliche Geißblattlaube, von der
Morgenjonne überflutet, bahinein jeßte fie fih. —
Dit daneben fand dichtes Gebüfh, von Sträuchern
mit dunfelgrünen, lederartigen Blättern — und
hinter diefer Schugwand jaß Martin Heelen jchon
jeit einer Stunde und zeichnete. Er that das jeden
Morgen, folange er bier draußen war, ohne daß
jemand eine Ahnung davon Hatte, oder daß er je
geftört worden wäre.
Heute hörte er wohl die leichten Schritte auf
dem Kies, war aber nicht neugierig genug fi um:
zujeben; daß man ihn bier weder jah noch fand,
wußte er, ebenjowenig wie er die Leute jehen konnte.
Ein MWeilhen verging jo in tiefem, tiefem
Schweigen, dann hörte er wieder Schritte, diesmal
mußten fie von einem Manne herrühren.
„st es denn jhon Spät?” dadte Heelen und
jah nad dem Stand der Sonne, die feine einzige
Uhr ausmacdte. Aber die ftand noch ziemlich niedrig
und er jchüttelte verwundert den Kopf, benn bei
Profeffors galt die Parole: Lange jchlafen.
Die Luft war Mar und fiill, die Entfernung
von der Yaube nicht groß, er hörte jett auch, hörte
ganz deutlih, was man dort jprad. — Es mar
Emils Stimme.
„sb babe Sie dur den Garten gehen jehen,
Miß Maud, darf ich Ihnen Geſellſchaft leiſten?“
„Bitte,“ ſagte ſie kühl. „Es wundert mich
freilich, daß Sie ſo früh auf ſind, ſonſt pflegten
Sie länger zu ſchlafen.“
„Ich habe dieſe Nacht überhaupt nicht geſchlafen,“
entgegnete er ſehr erregt. „Ich habe gebangt und
gezagt und — gehofft. Ich kann nicht länger
ſchweigen, Miß Maud, die jetzige Stunde ſoll denn
in Gottes Namen über mein Schidjal enticheiden.”
Heelen horchte hoch auf. Was Halte denn
Emil? So kannte er den ruhigen, phlegmatijchen,
immer etwas jpöttiihen Menihen ja gar nidt.
Seine Neugierde regte fi und fein Feingefühl litt
nicht darunter, bier den Laufcher zu fpielen.
„Herr Quenfel . . .” fagte Maud raid.
„Rein, ich lafle mir nit den Mund jchließen,
id muß — ich will reden, und Sie follen mid an:
hören, Maud. Zch liebe Sie! — Vielleiht habe ich
es Shnen nicht gezeigt, vielleicht überrafcht Sie ba-
ber mein Geltändnis; ih bin eben nicht jo fchnell
mit Worten bei der Hand wie die andern, aber
— ih liebe Sie wirtid — ehrlid — und id
frage Sie, mollen Sie mein geliebtes, angebetetes
Weib werden?“
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
588
Heelen war aufgeftanden und leife Hinter Die
Laube geichlichen, eine Kleine Züde im Gerant machte
es ihm vielleiht möglih, den Raum zu überjeben.
Sein Gefiht war heiß geworden, jein Atem ging
unruhig, unwilltürlih 309 ihn die Ecene in Mit:
leidenihaft. So alfo warb man in ben reifen,
die ihm fernflanden, um ein Weib, jo zeigte man
ihr, daß man fie begehrte. Es war fchwierig —
jehr jchwierig! — Seine Augen bingen geipannt an
Mauds dunklem Kopf; Emil jah er nur im Profil.
„Konnten Sie uns beiden nicht dieje Frage er:
iparen?” fragte fie nach einer PBaufe traurig. „An
mir liegt es nicht, daß Sie fie doch gethan.”
„Maud,“ jagte er flehend, „laflen Sie das nicht
Hhre ganze Antwort fein. ch liebe Sie, ich Iiebe
Sie wirllid. Es wäre zu bitter für mid. AU:
mäblich hoffte ich, würden au Sie mich etwas lieb
gewinnen, deshalb wartete ich auf die Zeit.“
„Emil ift es wahrhaftig Exrnit,“ dachte Heelen
überrafdt. „Man fieht es ihm an, er fieht jo un-
glüdlih aus.”
„Mein lieber Herr Quenjel.“” Ihre Stimme
zitterte mertlihd. „Es thut mir leid, aber ich kann
Ihnen feine Hoffnung geben. Befler wäre es ge:
weſen, diefe Sadhe wäre nicht zur Sprache gelommen,
ih gab Zhnen feine Beranlafjung dazu.”
Er erblaßte und errötete heftig in einem Atem.
„Shr letles Wort, MiE Maud?”
„zeider muß e8 mein leßtes jein. Lallen Sie
uns auch nie — nie wieder auf diefen Punkt zurüd-
fommen. €s ift für jedes Mädchen ein peinlicher
Augenblid, einem Manne ‚Nein‘ jagen zu müfjen.” —
Der Zorn und die Erregung nahmen ihm bie
Überlegung.
„Sie hätten es nicht gethan, wenn nicht Heelen
— biefer Bauer — diejer PBroletarier — fi zwilchen
uns gebrängt hätte, jagen Sie es mir offen, Miß
Winter.”
Sie hatte fih aufgerihtet und jahb auf ben
Sigenden herab, aud ihre Stimme Elang nicht mehr
ruhig, jondern zornig erregt.
„SH gab Shnen kein Recht zu Dielen Be:
hauptungen, die mindeſtens — kühn find und Ihnen
meine Sympathie vollends nehmen, Herr Quenſel.
Ob Heeken oder ein anderer, ich bin Ihnen keine
Rechenſchaft über meine Perſon ſchuldig. Und nun
laſſen Sie mich vorüber.“
Er ergriff ihre Hand und küßte ſie leidenſchaftlich.
„Rein, Maud, nein! Im Zorn dürfen Sie
nicht von mir gehen. Ich bin ja ſo troſtlos und
ſo — eiferſüchtig. Haben Sie doch wenigſtens
etwas Mitleid mit mir.“
„Suchen wir beide dieſen Augenblick zu ver:
geſſen, das iſt alles, was ich wünſchen kann,“ ſagte
ſie wieder in ihrem vorigen Ton. „Sie werden ſich
hoffentlich bald tröſten, wenn Sie nur erſt einſehen
wollen, daß wir nicht einmal für einander gepaßt
hätten.“
Mit bitterem Auflachen entgegnete er: „Das
iſt meiſt das letzte lindernde Wort der Frau, die
einen Mann tödlich verwundet. Warum hätten wir
nicht für einander gepaßt? Ich wäre Ihnen ein
589 Art zu Art.
guter, bequemer Gatte geworden, weil ich Sie lieb
babe, aber Sie verjhmähen mich, irgend einer Idee,
eines Phantoms wegen, von dem Sie nicht willen,
ob es Ahnen das hält, was Sie fih davon ver-
Ipreden. Darum nehmen Sie mir allen Lebensmut,
alle Lebenshoffnung.”
„Sagen Sie das nicht,” murmelte fie wider
Willen doch etwas ergriffen. „Es ift Fein Phantom,
dem ich nachhänge.”
Emil hatte ihre Hand ergriffen, jo zwang er
fie, vor ihm ftehen zu bleiben. „Alfo er! Doch er!“
Inirichte er zwilchen den Zähnen hervor. „Ach Tönnte
ihn erwürgen.” Dann ließ er fie plöglich los, waıf
beide Arme auf den Tifch und legte den Kopf darauf.
€3 ging ihm wirklich nahe, das jah man.
Maud blidte auf ihn nieder, zögerte — dann
ging fie jchweigend aus der Laube hinaus. —
Heelen verbarrte noch immer auf feinem Laujcher:
poften, er war wie gebannt. Zum erften Mal in
feinem Leben jchlug ihm eine Woge heißer Leiben-
Ihaft entgegen. Er fah Emil leiden um ein Weib,
und er begriff, daß, wenn er ftatt feiner dagemelen,
die Antwort vielleicht anders gelautet haben würbe.
Das Blut ShoB ihm zu Kopf und madte ihn
beflommen, auch wagte er fich jet nicht fort, denn
Emil hatte fich aufgerichtet, mit den Fingern glättend
über feinen Scheitel geftrihen, und nahm nun Cigarre
und Zündhölzer aus der Brufttafche, um zu rauchen,
wie e83 jeine Gewohnheit war. Seine Bewegungen
waren langjam und matt, das rötliche Geficht blaß. —
Endlih ging auh er ins Haus, ıumnb Heelen
ging nun in die Zaube, fegte fih auf Emils Plat
und begann nadzudenten.
Es fchien ihm aber jchwül bier, als ob die
Liebesworte in dem grünen Gezweig hängen geblieben
wären und ihn nun umjummten, ihm den Atem
nahmen und die gejunde Vernunft. Hatte Emil
nicht immer wieder von ihm gefprodhen? Bon ihm,
Martin Heelen, der jebt bier jaß, und ber in einer
Stunde der Bräutigam derjenigen fein fonnte, die
den eingebildeten Emil verjhmäht hatte. Und fie
war rei, fie war begehrt. — Wie ihn das Figelte.
— 6&o mußte es erit fommen, damit ihm die Augen
über das aufgingen, was er eigentlich bedeutete.
Aber mit diefem regen Gefühl der Eitelkeit ging
ein anderes Hand in Hand, das des Unbehagen®.
immer bieje feine Dame zur Seite haben, ftets auf:
merlen müſſen, was fie verlangte, wie jchredlich!
Dennod chloß er die Augen und fonnte fid
in dem Bemwußtjein, was er Ffönne, wenn er nur
wolle. —
Er trat bei Fortunat ein, als dieſer gerade
aufftand.
„Schon jo früh auggewejen?” fragte er gähnend.
Dann fah er in Martins Geliht und fette fofort
hinzu: „St Dir etwas begegnet?”
„Mir nicht, aber Duenfel hat einen Korb von
der Amerilanerin befommen.”
„Woher weißt Du das?”
Martin, der jein Zeichengerät inzwilchen weg:
gelegt hatte, jeßte fi auf den Stuhl am Fenfter; er
laß nadhläfjfig, vornüber gebeugt, die Füße verjchräntt.
Roman von 9. Schobert.
590
„SH babe zugehört,” fagte er nach einer Kleinen
Bauje. „Sedes Wort fann ih Dir jagen. Er war
jehr unglüdlich.”
„zuerft möchte ich willen, woher Du das weißt,“
fragte Fortunat etwas gereizt. Der Gedanle em-
pörte ihn, daß dasjenige, was man doc in der Regel
nur zu Zweien abmadt, einer Zeugen gehabt hatte.
Er dachte ih an Emils Stelle.
„Sie jaßen in ber Heinen Zaube, und ich jtand
draußen und hörte zu.”
„Das hat Dein Taltgefühl gelitten? Du bift
nicht leife davongelchlihen, als Du merkteit, um was
es fich handelte?“
„IH dachte nicht daran. Aufmerkiam zugehört
babe ih. — Schwierig ift eg, Ler, jehr jchwierig.”
Er fchüttelte den Kopf. Fortunat faßte ihn an die
Schulter.
„Das iſt unanſtändig, Martin! Das durfteſt
Du nicht! Niemand hat die Berechtigung, in die
Geheimniſſe anderer zu dringen. Wie würde es Dir
ſein, wenn man Dich in einem Augenblick belauſchte,
wo Du allein zu ſein glaubteſt, und ein Stück
Deiner Seele, Deines Herzens offenbarteſt.“
Heeken runzelte die Stirn und befreite ſich mit
einem heftigen Ruck. „Ich weiß ſchon ſelber, was ich
thue,“ grollte er.
In Fortunats Hirn blitzte ein Gedanke auf.
„Du thateſt es Miß Mauds wegen — Du haſt
ſie gern!“
Der andere drehte ſich um in trotzigem Schweigen
und ſah zum Fenſter hinaus.
„Martin!“
Keine Antwort.
„Verſprich mir wenigſtens, daß Du zu keinem
anderen etwas über den Vorfall ſprichſt.“
Wieder Schweigen.
„Wir könnten ja ſonſt nicht mehr hierbleiben,
das ſiehſt Du doch ein.“
Je dringlicher Fortunat wurde, je ſtarrer wurde
Martin. Es kitzelte ihn innerlich, daß der Freund
noch lange nicht alles wußte, daß er dann wahr:
Iheinlid etwas anderes gejagt haben würde als
jest. Nun aber gerade nidt — nun Jollte er
nichts erfahren.
Seine Sade war es ja fchließlih, zu thun
was er wollte und ben Leuten bier, die ihn für jo
dumm bielten, zu zeigen, daß er eigentlich ganz das
Gegenteil war. —
Ein paarmal in Lauf des Tages, dem legten,
den die beiden Freunde einftweilen in dem gajtlichen
Hauſe des Profefjors verbrachten, fiel es Fortunat
auf, daß Martin die Geftalt ber Amerikanerin mit
abichägenden Bliden von oben bis unten maß,
und daß in feinen Augen etwas Gligerndes, Glimmen:
des aufitieg, das ihm höchlihit mißfiel, es jchien ihm
Mauds unwürdig.
Sn folden Momenten flieg Martin jedesmal
der Gedanke auf, daß, fobalb er nur wolle, er dies
Weib haben könne, mit all ihrem Reichtum, al ihren
Sumwelen. Und er jhätte fie ab wie ein Stüd Ware,
das man ihm zum Kauf angeboten. —
Emil hatte allein einen weiten Spaziergang
591
unternommen — bieß eg, — in ber That jaß er
in feinem Zimmer und fucdhte fih mit feinem Korbe
abzufinden. Es ging ihm nahe, näher als er ge-
dbadt, und er Ffonftatierte mit einer gemwillen Be-
friedigung, daß er aljo doch ein beflerer Menich fein
müfle, als er jelbft von fidh geglaubt.
Luzie war empört über Maud. Was machte
fie denn für Anjprüde, wenn ihr Bruder ihr nicht
einmal gut genug war. Erjhien ihr Heelen wirklich
beachtenswerter? Das war einfach zum Lachen.
Trogdem war fie flug genug, weder zu Maud,
noh zu Forlunat ein Wort zu jagen, aber ihre
üble Laune vermochte fie do nicht völlig zu be:
zwingen, und da Maud blaß und fill war, Fortunat
ein Gefühl von Schuld über jeine unbeabfichtigte
Mitwifferfhaft nicht unterdrüden fonnte, jo war bie
kleine Geſellſchaft ſchweigſam und gedrückt.
„Wir wollen ein wenig ſpazierengehen,“ meinte
Fortunat in gelinder Verzweiflung, nachdem der zehnte
Verſuch ſeinerſeits, ein harmloſes Geſpräch zu be-
ginnen, kläglich geſcheitert war. „Wenn das Dampf—⸗
ſchiff kommt, können wir die Leute beim Ausſteigen
beobachten.“
„Vielleicht fahren wir ſelbſt bis an das andere
Ufer,“ ſchlug Luzie vor. „Ehe Papa kommt, find
wir zurück.“
Das geſchah, und nachdem man auf dem jen—
ſeitigen Ufer einen kleinen Wald paſſiert hatte, ging
es endlos weit über eine grüne Wieſe, auf der Rinder
weideten.
„Die wollen wir uns in der Nähe anſehen,“
kommandierte Luzie. „Gott, Lex, was ſind Sie
heute langweilig, der junge Stier dort, kann dreiſt
mit Ihnen in Konkurrenz treten.“
„Und Sie übellaunig.“
„Ich habe auch Grund,“ ſagte fſie ſeufzend
und köpfte mit ihrem Schirme ein paar Diſteln am
Wege. „Ein anderes Mal ſage ich es Ihnen.“
Sie gingen zu Zweien, die jungen Damen in
weißen Kleidern und mit roten Schirmen, in nicht
zu großen Abſtänden hintereinander auf dem ſchmalen
Wieſenpfad. Die Sonne brannte glühend vom Himmel,
kein Lüftchen rührte ſich.
„Welch ein Wahnſinn, ſolch Herumlaufen,“ ſagte
Luzie endlich, ſtehenbleibend und ſich zu den Nach—
kommenden wendend, „ich denke, wir tragen unſere
allſeitige üble Laune lieber nach Hauſe.“ Sie war
erhitzt und durſtig, die Landſchaft hatte keinen großen
Reiz für ſie.
„Ich bin bereit.“ Auch Maud fühlte nicht viel
für grüne Wieſen und weidende Herden. Ihr Be—
gleiter war ftumm wie fie jelbft, nur manchmal be:
gegnete fie feinen Augen, und dann trat ihr flets
eine Blutwelle in das Gefiht, jo verwirrte, ja be:
leidigte fie faft diefer Blid.
Aber auch fie ah ihn jet mit anderen Augen
an, und das raubte ihr den ruhigen, freunbichaftlichen
Ton, in dem fie bisher mit ihm verehrt hatte.
Während fie fih fo zum Umtehren fchlüffig
wurden, hatte niemand beachtet, daß der Stier fi
von der Herde getrennt, und zuerft langlam, banı
immer eiliger auf die Gruppe zufam. Neizte fie
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
592
nur jeine Neugierde, war es aljo eine Kleine harmlofe
Eslapade, die er fich geflatte, oder reisten ihn bie
roten Sonnenfdhirme im Ernft, genug als er ein
dumpfes Brüllen ausftieß, war er jchon bedrohlich
nabe.
Mit einem Aufkfreifhen des Entjegens padte
Zuzie Fortunats Arm und riß ihn mit fi in be:
finnungslofer Flut, dem Walde zu. Sie dadle
nit an Die anderen, jort ging es nur immerzu,
über Stod und Stein, fih an Fortunat Hammernd
und unauggejett Heine belle Verzweiflungsichreie aus-
ftoßend.
Auch Maud erſchrak tödlich, aber im Gegenſatz
zu Luzie wäre es ihr unmöglich geweſen, davonzu—
laufen. Wie Blei wurzelten ihre Füße am Boden.
Mit weit aufgeriſſenen Augen ſtarrte ſie dem Tier
entgegen, das direkt auf ſie zukam. Wenn es ſelbſt
ihr Leben galt, ſie konnte ſich nicht rühren.
Martin Heeken war ruhig neben ihr ſtehenge—⸗
blieben, jetzt ſchob er ſie etwas von ſich ab, und
dann ging er dem Stier, der mit geſenkten Hörnern
auf ihn zukam, ein paar Schritte entgegen, ballte
die Hand zur Fauſt, und als das Tier, ſtutzend über
das plötzliche Hindernis, den Kopf hob, ſchmetterte
ihm ein ſo furchtbarer Schlag mitten auf die Stirn,
daß es einen Krach gab wie von berftendem Mauer:
werk. Der Stier blieb ftehen, betäubt und erjchroden,
fiieß einen dumpfen Brüllton aus, fchüttelte ben
Kopf, ale müffe er erit wieder zu fich fommen, wandte
fih um und trottete langfam zu jeiner Herde zurüd,.
„So!” jagte Heelen, die Yauft öffnend und die
fünf Finger fpreizend. „Der kommt nicht wieder.
Sie fünnen ganz ohne Sorge fein, Fräulein.”
Aber Maud fand wie aus Stein, totenblaß mit
weitgeöffneten Augen, volllommen entgeiftert.
Er jah wohl, daß mit ihr nicht alles jo war,
wie es jein jollte, aber was er nun zu thun hatte,
das wußte er nit. SYhn Hatte die Gefahr, wenn
es wirklih eine gemwejen, nicht eine Sefunde aus
jeiner Gemütsruhe gebradt.
„sräulein!” jagte er endlih und faßte fie am
Arm.
Ein fortgejegtes konvulſiviſches Zittern jchüttelte
ihren Körper; ratlos jah er fih nach den anderen
um, aber niemand war zu jehen.
„sräulein!” fagte er noch einmal beflommen.
Das Zittern verftärkte fi, das einzige Lebenszeichen,
das fie von fih gab. Da legte er den einen Arm
um fie, und dann, als es ihm jchien, ala müffe fie
zujammenfinfen, in diefem Zuftand, auch den anderen,
und dann bdrüdte er das zarte, jchlante Mädchen
plöglih feft an fih, als wollte er fie zerprüden.
Es war zueift rein inflinktiv geweien, gemwillermaßen
als wolle er fie nur noch deutlicher jeines Schupes
verfihern, dann aber, als der Duft aus Haar und
Kleidern zu ihm aufftieg, als er ihr Herz fchlagen
fühlte, die Wärme der Glieder, die durch den bünnen
Stoff drang, da erfaßte ihn ein Taumel.
Sie war ja das erfle Mädchen, das er jo im
Arm hielt, und entitammte Kreifen, die er immer
weit, weit über fich geftellt Hatte. Und die Erinnerung
an Emils Werbung fam dazu, er verlor volllommen
593 Art zu Art.
ben Berftand. Er preßte fie immer heftiger an fih, ihr
Hut fan in den Naden, und er füßte das duftende ge:
träufelte Haar, ohne ein Wort, aber mit einer Gier, die
Maud erichredt haben würde. Aber fie jah nicht in
fein Geficht, das, duntel gerötet, einen häßlichen Aus:
drud trug, die Spannung, in ber fie fich befand, Löfte
ih in Thränen, jchluchzend und wehrlos lag fie an
feiner Bruft. |
Der Himmel hatte e8 gewollt, daß es jo kam,
nun war fie zufrieden.
Nah einem Weilden hob fie ben Kopf, die
Thränen hingen no an ihren Wimpern.
„So find wir alfo verlobt!” jagte fie mit tiefem
Atemzug, um ihren Mund lag ein Lächeln, in den
Augen do etwas wie geheime Furdt.
Er ließ fie ganz plöglid los und trat einen
Schritt zurüd. Hatte er es jo gemeint? Nein,
eigentlich nit. Das Blut hatte ihm nur den Verftand
genommen, das war alles. Faflungslos ftarrte er
fie an, fie hielt es für unverhoffte Seligfeit.
„Geben Sie mir Ihren Arm,” fagte fie endlich,
da er gar nicht jprad. „Mir zittern von dem Echred
noch die Knie. Dort fteht eine kleine Bank, einen
Augenblid nur, daß wir raften, wir haben uns ja
noch jo viel zu jagen.” Ihre Stimme zitterte ein wenig,
ganz leife drüdte fie den Arm, ben fie genommen. —
Zwilden den Stämmen des Waldes jahen fie jett
Luzie und Ler auftaudhen, wintend, rufend. Die
Entfernung zwilchen ihnen war nicht groß, immerhin
blieben ein paar Minuten der Ausiprache.
„Sie haben mir mein Leben gerettet,” jagte
Maud eilig. „Auf den Hörnern des GStieres —
o Gott — jchredliher Gedanke... . *
„Sr meinte es wohl nidt einmal bös, und
wenn auch, ich habe Kraft, bei mir braucht fich feiner
zu fürdten.” Er redte den Arm aus und jah dar:
auf Hin. Berzmweiflungsvoll blidte fie ihm in das
Gefiht. Warum Tam er ihr nicht zu Hilfe? Mußte
fie das Folgende ganz allein jagen?
Ganz leije, ihn unverwandt anjehend, begann
fie: „Herr Heelen — Martin — Sie haben mein
Leben für fi erobert.”
Er jah auf den Boden und ftieß mit der Stiefel:
jpige in den Wiejengrund.
„D Fräulein!” ftotterte er, ihm fiel fein Sterbens:
wörthen mehr ein.
Und die anderen famen immer näher! —
„SG bin bereit es Shnen zu geben. — Shre
Braut, Ihre Frau zu fein, mit Shnen zu ringen in
Hhrer Kunft, — mit Ihnen zu leiden und mich zu
freuen. ch weiß, ich werde ftolza auf Sie fein können,
und dafür will ich Zhnen jeden Stein aus dem Weg
räumen, der Sie hindern fünnte. Sch liebe Shre
Kunft, ih will mich mit ihr verbinden, indem id)
Shnen die Hand reiche.”
Sie jpradh haftig, überhett. Gut lag auf ihren
Wangen, unruhig jhlug das Herz. Ohne bie vorher:
gegangene Erregung hätte fie Doch vielleicht nicht den
Mut gehabt, oder eine andere Form gewählt.
„Wir wollen einander tragen — und ertragen,”
\hloß fie halb ohnmädtig, „und wenn Sie bereit
RomansZeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
594
ſind, ſo ſagen Sie kein Wort, reichen Sie mir nur
Ihre Hand.“
Und unter dem Bann ſeiner Sinne, die nicht
ſo bald zur Ruhe kommen wollten, ſtreckte er ihr
zögernd ſeine breite, große Hand entgegen. Er
wußte ſelbſt nicht, was ihn dazu trieb, aber er
wäre nicht imſtande geweſen, ſie zurückzuhalten.
Sie ergriff ſie mit ihren beiden weißen, ſchmalen
Händen, die fieberten und zuckten unter dem Druck
dieſer Stunde. Nur dazu blieb ihr noch Zeit, denn
ſchon kam Luzie auf ſie zugeſtürzt.
„Warum ſeid Ihr uns nicht nachgekommen?
Warum ſitzen Sie hier in der Sonne? Und Maud,
wie ſehen Sie aus? War das ein Schrecken! Hat
Herr Heeken den Stier verjagt?“
„Ja!“ ſagte Maud lächelnd und blickte von
unten auf in Martins Geſicht.
„Und —? Sie ſehen ja ſo feierlich aus, Maud!“
„Wir haben uns ſoeben verlobt, wünſchen Sie
uns Glück,“ ſagte das junge Mädchen ſchnell und
ſtreckte Fortunat mit einem bittenden Blick die Hand
entgegen.
Luzie ſchrie auf und warf die Arme in die
Luft. „Welch ein Unſinn!“ ſagte ſie dann mit
einer gewiſſen Geringſchätzung.
Fortunat küßte die bebende Mädchenhand, er
ſah blaß und niedergeſchlagen aus.
„Ich wünſche Ihnen alles — alles Glück der
Erde,“ ſagte er bewegt, „Ihnen und meinem Freund.
Um dieſes Endes wegen vermag ich mir vielleicht
etwas meine feige Flucht zu verzeihen.“
„Mein Himmel, in der Gefahr iſt ſich ſchließlich
jeder ſelbſt der Nächſte.“ Luzie umging durch dieſe
Bemerkung geſchickt jede Gratulation. Maud heftete
ihre leuchtenden Augen auf ihren Bräutigam.
„Martin hat anders gedacht, er ſchützte mich
vor dem Stier.“
„Bei ſolcher Körperkraft iſt das kein Kunſt—
ſtück,“ behauptete Luzie achſelzuckend. „Aber Lex,
den hätte er ja gleich zu Brei getrampelt. Kommen
Sie, Lexchen, legen wir einen gewiſſen Abſtand
zwiſchen das girrende Brautpaar und uns.“
Sie wandte ſich um und nahm ſeinen Arm.
„Bauernſchlauheit!“ murmelte ſie giftig zu ihm
empor. „Nun kann ich es Ihnen ja ſagen, daß ſie
Emil einen Korb gegeben hat. Unſerm Emil! Aber
ihr werden noch die Augen aufgehen. Euer Heeken,
das iſt kein Feiner. Verdient hat fie es freilich nicht
anders für ihre Verrücktheit.“
Fortunat antwortete keine Silbe. Er fühlte ſich
wie vor den Kopf geſchlagen, und ſo gedrückt. Nicht
allein, daß er davongelaufen, quälte ihn, ſondern
auch Mauds Verlobung. Würde ſie Heeken wirklich
auf die Dauer ertragen können? Er kannte ihn, ſie
aber nicht. — Ohne ein Wort ging er neben Luzie
her, und nicht viel redſeliger war der Bräutigam
hinter ihnen.
Maud ſah ihm verſtohlen ein paarmal in das
Geſicht. Sie hatte das Gefühl, als müſſe noch ſo
viel, ſo unendlich viel geſagt werden, und Heeken
that nicht einmal den Mund auf, ja, er ſah ſie gar
IV. 42
595
niht an. War das Schüdhternheit? Blieb ihr denn
diefem Manne gegenüber alles zu thun übrig?
Aber die BVerftiimmung bei diefem Gedanken
verflog ehr jchnel. Sie hatte es ja gewußt, daß
fie ihn bilden, erziehen, modeln müfje, und es war
eine Arbeit, nach der fie fich gejehnt, für die fie
fih begeiftert hatte. Sie jollte der Anhalt ihres
Lebens werden. Da galt es natürlich Heine Schwierig-
feiten überwinden, aber dafür war der Lohn aud
ein reicher, idealer.
„Zino!” Tagte fie leile und drüdte jeinen Arm.
Er fuhr zufammen. Galt ihm diejer Anruf?
So hatte ihn doch noch niemand genannt.
„Sie müflen mir jhon geftatten, daß ih Sie
jo nenne,” jagte Maud mit lieblidem Erröten.
„Martin Klingt häplih, jo vulgär. Nicht wahr,
Tino zu heißen ijt Ihnen recht?“
„Barum nit, wenn Sie es wünjden. Ein
Name ift wie der andere. Aber ich denke, wir find
jet Braut und Bräutigam. Müflen wir denn da
noh ‚Sie‘ zu einander jagen?”
„Rein — natürlich nicht.” — Sie wurde wieder
rot, „aber e& ift mir lieb, daß Sie — — daß Du
davon angefangen haft. Wäre ich bie erjte gemelen,
bätte es unmeiblih geklungen.”
„Ih weiß doch nicht, wie es bei Euch Sitte ift.”
Sie jah ihn nahdrüdlih an.
„Ban; genau wie bei Eu; wir find alle
Menichen.”
Er atmete erleichtert auf. Das jchien ihm das
erjte vernünftige Wort.
„Der Quenjel wird wütend fein,” jagte er nad
einer PBauije.
„Wieſo. — Was weißt Du — ?”
„Ich hörte, daß er Dich heute morgen fragte,
ob Du jeine Frau werden wollteit.“
„D,“ Jagte fie und ein Schatten glitt über ihr
Gefiht, „das hätte nicht fein dürfen! WBerjprich mir
wenigitens, daß Du es niemand Jagjt.”
„Hortunat weiß e8 auch.”
Sie jeufzte. Es war ihr peinlich, ließ Jih nun
aber nicht mehr ändern.
„Wir werden bald heiraten, nicht wahr?” fragte
fie. „Sch weiß nicht recht, wohin ald Braut. Bei
Duenjels zu bleiben ift mir faft peinlid, und id
bin heimat- und elternlos.”
Er jah erihroden aus, jo jehr, daß fie es be-
merfte und lachte.
„IH werde Dir eine gute Jrau werden, fürchte
nichts,” jagte fie ganz ernft. „Deine Kunft befommt
in mir feine Rivalin, jondern eine Freundin und
glühende Verehrerin, und auch Du jolft mir nur zu
danken, nichts zu beklagen haben. Habe Du ebenfalls
den beiten Willen für die Zukunft.“
Sie fragte mit feinem Wort: liebft Du mid —
und jagte es ihm auch nit — Jo hatte fie es fi
ja gerade ausgemalt, und deshalb hatte fie fein leiden:
Ihaftliher Ausbruch vorher eigentlich ehr erichredt.
Daß er nur ihr Gefchlecht in ihr gefehen und gefühlt,
ahnte fie nicht. —
„Wir haben uns noch fo viel zu jagen, Tino,”
jagte fie mit einem Händedrud kurz vor der Ville,
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
596
„und morgen abend geht Yhr fort! Das thut mir
jo leid. Kommft Du nit bald wieder?”
„Hoftentlih! — Wenn wir fönnen.”
Das Eang Falt genug, aber er fühlte au) gar
nicht das Bedürfnis, fi mit ihr auszujprecdhen, er
hätte gar nicht gewußt, über was. —
Als der Profeffjor von der Verlobung hörte,
fühlte er fich peinlich berührt. Weldhen Ton jollte
er dem jungen Baar gegenüber anjchlagen, das er
jelbft vielleicht dur jein Eingreifen zujammen-
gebracht hatte, um damit feinem Sohn einen Herzens:
wunsch zu zerftören? Scheu jah er fih nah Emil
um, und jein Glüdwunih Hang gebrüdt genug.
Diejer jelbit hielt fi noch am beten; er ver:
mied es zwar, Heelen nahe zu fommen, aber zu
Maud jagte er:
„Sie werden nicht glauben, Miß Winter, daß
ih jo abgeijhmadt bin, Shnen die Rolle des ver:
Ihmäphten, verzweifelten Freiers vorzufpielen. ch
bitte Sie nur gütigft, nichts von meinem Fiasko zu
erwähnen, auch nicht zu Zhrem Herrn Bräutigam. —
Laflen Sie das ein Geheimnis zwilchen uns bleiben.”
„Was an mir liegt... .” verficherte fie ihm,
während es ihr jchwer auf der Seele lag, daß wohl
niemand mehr im Haujle war, der nicht darum
wußte. Sie fühlte die Beihämung für ihn mit,
und es that ihr leid.
Emil war denn auch derjenige, der aus dem
nahen Rejtaurant den Wein holte, mit dem man
die Verlobung feierte. Aber es bherrichte eine ge-
drüdte Stimmung, die fih am unerquidlichften Maud
fühlbar made.
Seder war froh, als das Abenbefjen beendet
und man fih unauffällig zerjtreuen Tonnte.
Maud und Martin befanden fich jchließlich ganz
allein auf der Veranda. Sie trat dicht an ihn heran
und jagte mit bitterem Lächeln:
„Unjere Verlobung bat, wie es jcheint, nirgends
viel Freude erregt. Bei Duenjels ift es zu ent:
Ihuldigen, daß aber auch Fortunat jo zurüdhaltend
ift, Schmerzt mich.”
Er zwirbelte an jeinem Bart. Dies Tete-a-tete
bedrüdte ihn augenſcheinlich.
„a, ih weiß nicht . . .” flotterte er.
„Was liegt uns aber an den Menichen,” fuhr
fie, noch immer etwas gereizt, fort, „wir braucden
niemand! Wir haben jo viel miteinander zu teilen,
Tino — jo viel! Nicht wahr? Du läßt mich einen
Einblit in all Deine Gedanken, in Dein ganzes
Schaffen haben, damit ich ein doppeltes Recht ge:
winne, auf Dich ftolz zu fein. OD, wie ih mi auf
diefe Stunden der Arbeit freue!”
Gie hatte leije ihren Kopf an jeine Schulter
gelehnt, faum fühlbar in der Berührung, aber un:
endlich mweiblih und bHingebend. Niemals hatte fie
jo wie in biefem Augenblid das Bedürfnis nad
einer Bujammengehörigfeit gefühlt. Die andern
waren und blieben ihr doh nur fremde Menjchen.
Wenn er jegt den Arm um fie gelegt, fie ein wenig
zärtlid an fich gezogen hätte, — wie fie wäre ihm
dankbar gewejen! Aber er that das nicht; fleif und
597
regungslos fland er da und fah in den Garten hinab.
Shre Nähe war ihm offenbar unbehaglid.
Sie fah zu ihm auf.
„Was dachteſt Du eben?” fragte fie.
Sie hatte das Verlangen, ihn kennen zu lernen,
ihn aus fich heraustreten zu jehen, jpredhen zu hören.
Noch wußte fie ja gar nichts weiter von ihm als
was fie jah, von Fortunat gehört hatte, und in ihn
felbft Hineintrug. hre Augen jahen ihn in durftiger
Neugier an.
„Nichts!“ antwortete er lakoniſch.
Dieſes Weib mit ihrem ewigen Spuüren und
Fragen wurde ihm manchmal geradezu unheimlich.
Und am meiſten berührte es ihn unangenehm, daß
ſfie fich immer zwiſchen ihn und ſein Schaffen ſchob. —
Sein Heiligſtes! —
„Nichts?“ wiederholte ſie mit ungeduldigem
Vorwurf. „Iſt das eine Antwort? Welch gebildeter
Menſch denkt nichts? Ich erinnere mich nicht, das
jemals gethan zu haben.“
Er runzelte ein wenig die Stirn. Seht jah fie,
daß feine Krawatte chief Jaß und machte ihn darauf
aufmerkſam.
„Überhaupt,“ fuhr ſie fort, „wie kann man fo
geſchmackloſe Krawatten tragen? Zu Deinem Teint
mußt Du ganz helle wählen. Wenn ich in die
Stadt komme, werde ich Dir ein Dutzend aus—⸗
wählen; wir Frauen haben beſſeren Geſchmack als
die Männer.“
„Das glaube ich auch,“ gab er ihr bereitwillig
zu und trat einen halben Schritt zurück, denn ihre
Nähe bedrückte ihn.
Sie hatte es wohl bemerkt.
„Tino, fürchteſt Du Dich vor mir?“ fragte ſie
mit leiſem Auflachen.
Warum nahm er ſie jetzt nicht in den Arm
und gab ihr die Antwort Auge in Auge? Sie ge
fand es fich felbft nicht zu, daß fie etwas Ähnliches
erwartete, aber es war ihr immer, als babe ihre
Verlobung noch feine Weibe.
„Manchmal — ja!” geftand er ehrlich.
Sie legte ihre Hand auf die feine.
„Das wird fih ändern. Du baft feine befjere
Freundin, feinen ehrliheren Bewunderer, als mid,
Tino. Das halte Dir nur immer vor Augen.”
„Ich will es verfuchen,” murmelte er Heinlaut.
Und dann fanden fie räumlich nahe, ihre
Seelen fo weit getrennt, nebeneinander und fahen
in die monbhelle Naht hinaus. Kein Flüftern, kein
Küffen und Kojen — es war eben jo ganz anders!
„Ich vermähle mich dem Genius,” dachte Maubd,
und damit bradte fie all ihre Gedanken zur Rube,
bie fie zumeilen mit ganz eigenen Augen anfahen.
„Und ich werbe jhon meine Stelle ausfüllen.” —
Dreizehntes Kapitel.
„Sest wird es mir aber doch zu dumm,” fagte
Seelen wütend, als Fortunat eben aus dem Bett
berauslangte, um das Licht zu löfchen. „Kein Wort
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
598
baft Du mit mir gejprochen feit meiner Verlobungs-
geihichte. Bit Du etwa nicht zufrieden damit?“
Fortunat Teufzte.
„Ab, Martin, das verfteht Du nit. Ich
fomme mir beute vor wie ein armer, zerichlagener
Sünder! Erftens war es nit jhön, daß ich vor
dem Ochlen davonlief, und wenn ich fage, Lusie
war fchuld daran, fo verfhlimmert es nur die
Sade. Dann aber ift mir Eure Verlobung in bie
lieder gefahren. Papt Zhr denn zufammen?
Wird das gut enden? ch weiß ganz genau, baß
ich die Veranlaffung bin, was mußte ih aud immer
jo viel von Dir Thwaten.”
„Hätteft fie wohl jelbft gern gehabt? Was?“
„Rein,“ beteuerte Fortunat elegiih. „ch
wüßte zwar niemand, den ich ihr zur Seite ftellen
fönnte, nicht einmal Nelly, aber zum Heiraten fühle
ih mid doh noch zu jung Wirft Du fie denn
auch recht glüdlih machen, Martin?”
Keine Antwort.
„3b babe doch gleich gedadt, der Schlag joll
a treffen, als ih es hörte, und, Martin —
u— —
Er zögerte wieder — aus dem anderen Bett
drangen Schnarchtöne, der Gegenſtand ſeiner be—
kümmerten Zweifel war inzwiſchen in den Schlaf
der Gerechten gefallen.
„An ſeinem Verlobungsabend,“ dachte Fortunat
indigniert. „Und kein Wort hat er mir von Glück
und Liebe geſagt.“ — —
Von Glück und Liebe ſagte er auch am nächſten
Morgen nichts, aber es war doch, als wäre die
Wolke, die geſtern über der Villa gelagert hatte,
weitergezogen und hätte etwas mehr Befreiung zu:
rüdgelaflen.
„Heute abend geht es nad) Haufe,” jagte Martin
beim Anlleiden ganz freudig.
„Menſch, und Deine Braut bleibt hier! Du bift
doch jeit geftern Bräutigam? ch dächte, Du mühteft
unglüdlich jein.“
„SH habe das ewige Herumbummeln fatt!
Arbeiten will ich, arbeiten muß ih.“ —
„Sine Neuigkeit!” rief man ihnen auf ber
Veranda entgegen, als fie herunterfamen. „Eine
große Neuigkeit!”
Der Profeflor hielt ein großes Schreiben in
der Hand und trat damit auf Martin zu.
„Mein lieber Heelen,” jagte er ganz ftrahlend
vor Freude, „ich habe Ihnen mitzuteilen, daß das
Mufeum mit uns wegen Shrer Gruppe in Ber:
handlung getreten ift, fie joll in Bronze ausgeführt
werden. Was verlangen Sie als Honorar dafür?”
Martin Ihoß das Blut ins Gefiht, feine
Augen flammten. Er Jah nicht, daß Maub neben
ihn getreten war, Jah niemand, nur bas Papier und
den alten Herrn.
„D, Herr PBrofeflor!” ftammelte er.
„3b babe nichts dazu gethan, das ijt hr
Verbienft allein. Aber wenn ih hnen raten barf,
ftelen Sie feine zu hohe Forderung. Adhttaufend
2. etwa, die Direktion handelt doch no etwas
herab.”
599
Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 600
„Sa, ja! Ich bin mit allem einverftanden!
wirflih, dann sage Dir zugleih, daB Du Deiner
ns Mujeum meine Gruppe! Die Freude! Aber
die Freude!!!” Er griff fih an den Kopf.
„sh gratuliere Dir,” jagte Maud und reichte
ihm beide Hände. Er jah fie an, als fenne er fie
faum, müfle fih erft auf fie befinnen. Dann
Ichüttelte er ihre Hände, wie alle die, die ji ihm
entgegenftredten, halb befinnungslos. Was galten
ihm die Menjchen neben jeiner Arbeit, o, und wie
er fih nad) der jehnte!
„Jetzt kann ich Shnen auch hr Geld wieder:
geben, Herr Profeflor,“ fjagte er endlid. „Gleich
alles jollen Sie haben.”
„Aber, lieber Heefen, das ift doch nicht der
Rede wert.“
„Nicht der Nebe wert? Dreitaufend Markt?
Srlauben Sie, Herr Profeffor! Aber es bat mich
gebrüdt, es hat mich jehr gedrüdt.“
„Dreitaufend Mark?” fragte der Profeflor
fafjungslos.
Er bemerkte nicht die Zeichen, die ihm or:
tunat und Maud madten, fondern bewies Heelen
Mar und beutlid, daß er nicht der Geber ge:
weſen ſei.
Alſo Fortunat! — Heekens Augen ſuchten ihn,
der kleine Künſtler biß ſich auf die Lippen und
ſchwieg.
„Nein — ich!“ ſagte da Maud, auf ihren Ver—
lobten zutretend. „Ich! — Siehſt Du nicht, daß
ich recht that?“
Sie lächelte ihm zu, aber er ſtrich ſich über die
Stirn und gab das Lächeln nicht zurück.
„Du?“ — ſagte er nur.
Sie ſchob ihren Arm unter den ſeinen und
zog ihn mit ſich, etwas abſeits von den anderen.
„Es beleidigt Dein Ehrgefühl,“ ſagte ſie halb
fragend.
Er blieb ſtill und biß ſich die Lippen; ihm war
es plötzlich, als habe er einen Strick um den Hals,
an dem ihn dieſe ſchmalen Frauenhände von ſeinem
Weg abzogen.
„Was mein iſt, iſt jetzt Dein,“ fuhr ſie ein—
dringlich fort. „Es giebt zwiſchen Mann und Weib
keine Teilung, es giebt nur ein Ineinanderaufgehen.
Als Du mich nicht kannteſt, hätteſt Du — vielleicht
— meine helfende Hand abweiſen dürfen, jetzt nicht
mehr. — Und auch damals nicht! Denn Deine Kunſt
mußte Dir in erſter Linie ſtehen; ihr hatteſt Du
jedes Opfer zu bringen, ſelbſt das Deines Ehr—
gefühls. Nur nach ihr darfſt Du fragen, nach
nichts ſonſt, und Du ſiehſt, daß ſie es Dir lohnt.“
Er ſchlang die Hände ineinander und drückte
ſie zuſammen, ſein Geſicht trug den Stempel heftigen
Empfindens.
Sie wollte ihn nicht erſt zu Worte kommen
laſſen, es war beſſer, wenn jede Abwehr unge—
ſprochen blieb.
„Du wirſt Deine Werke von jetzt ab in Mar:
mor ausführen,“ ſagte ſie mit beſtrickender Sanft⸗
mut, „und nicht fragen, woher das kommt, denn
Du — der Künſtler, biſt größer, als die kleinliche
Miſere der Alltäglichkeit. Fragſt Du aber einmal
Frau mit Deinem Namen, Deinen Werken das alles
reichlich aufwiegſt.“
Er ſah ſie prüfend an. —
Drang denn dies alles wirklich nicht an ſein
Herz? Fand er für nichts ein herzliches Wort des
Entgegenkommens? Sie wünſchte es ſo ſehr, aber
er ſagte nur:
„Die Gruppe kann ich Dir nun noch nicht
machen, erſt muß ich für das Muſeum arbeiten.“
„Gewiß,“ antwortete ſie lachend. „Es hat
gar keine Eile, Tino, da ich Dich ſelber behalte.
Wer weiß, ob mir nicht das Nächſte, was Du
ſchaffſt, noch beſſer gefällt? Haſt Du ſchon eine
neue Idee?“
Er ſchüttelte haſtig den Kopf, ſein Geſicht hatte
ſich verfinſtert.
Selbſt wenn es der Fall war, ſollte er ſich
dann hierherſtellen und mit jemand darüber ſprechen,
der gar nichts davon verſtand? Er wollte ſich
nichts von ſeinem Schaffen profanieren laſſen; das
wenigſtens mußte ſtets ſein eigenſtes Eigentum
bleiben, daran durfte auch ſie niemals rütteln.
Wie gern hätte er ihr das alles in Worten ge-
jagt, klar und beutlih, aber er fand fie nidt,
es peinigte ihn nur, ohne daß er fich davon er:
löjen fonnte.. Er warf einen verfiohlenen Blid
auf die Uhr, noch ein paar Stunden, und er fonnte
in die Stadt zurüdlehren, frei, allein fein. Mit
brennender Sehnfudht wünſchte er den Zeitpunkt
heran. Wenn er wieder arbeitete, fand er auch
ſein Gleichgewicht, ſeine Zufriedenheit wieder, nur
hier draußen, im Banne dieſes Mädchens, das jetzt
ſeine Braut hieß, bedrückte ihn alles. —
Als Heeken am Abend im Schnellzug ſaß, der zur
Stadt fuhr, ſah ſein Geſicht zufriedener aus, als
während der ganzen letzten Zeit. Er winkte noch einmal
den Zurückbleibenden Grüße aus dem Fenſter zu, dann
überließ er Fortunat den Platz und fank aufſeufzend
in die Wagenpolſter. Zum erſten Mal in ſeinem
Leben fuhr er zweiter Klaſſe. Wie weich das war!
Er drückte den Kopf feſt an die Lehne, um es recht
deutlich zu fühlen. — So würde es ja nun immer
ein. —
Als ſich Fortunat endlich umdrehte, ſah er mit
Erſtaunen, daß Martin die Stirn gerunzelt hatte
und vor ſich hinbrütete. Er ſetzte ſich ihm gegen—
über, und eine Cigarette anzündend, ſagte er:
„Jetzt ſollſt Du mir nicht entkommen, Freundchen,
jetzt heißt es beichten. Was iſt Dir? Wie ein Glück—
licher ſiehſt Du in dieſem Augenblick nicht aus, oder
quält Dich Trennungsſchmerz?“
Da fuhr Heeken auf.
„Zum Teufel, nein, ich bin nicht glücklich!
Wie kann ich denn glücklich ſein, wenn ſie mich
nicht in Frieden läßt, und ich nicht weiß, was ich
ſagen ſoll. Es kommt mir immer vor, als hätte
ich neben ihr auch gar nichts zu ſagen, nur hübſch
ſtillzuſchweigen und zu thun, was ſie mir ſagt, wie
ein Pudel oder ſonſt ein gelehriges Tier.“
„Du biſt eine undankbare Kreatur,“ ſagte
Fortunat zornig und warf die Cigarette zum Fenſter
601 Art zu At.
hinaus, „das muß ih Dir jagen! Das Tiebfte,
Ihönfte, reiäfte Mädchen Hat Dich erwählt, wahr:
lich, ohne Dein Verdienft, denn was bift — was
fannft Du Ichon, Martin Heelen? Ein Werk, ein
Erfllingswer!! Nun ja! — aber weißt Du, wie bas
zweite jein wird, das ihm folgt? Und wenn aud)
— Du hättet ringen und kämpfen müflen, jeßt
ebnet fie Dir den Weg, und Du bift noch nicht zus
frieden.”
„Ih will lieber ringen und kämpfen,” gab er
eigenfinnig zurüd. „Aber dies Mädchen erdrüdt
mid, macht mid jo Hein vor mir Selber. Ich
Ihäme mid.“
Fortunat jah dem anderen geipannt in das
t
„Und warum haſt Du ſie denn genommen?“
„Habe ich es denn? Ich weiß es nicht! Ich
denke, ſie nahm mich.“
„Du biſt ein Narr, Martin. Dein Brautſtand
iſt Dir neu — unbequem — das giebt ſich. Wenn
Du erſt den Charakter Deiner Braut kennen lernen
wirſt — merke wohl auf, ich ſpreche gar nicht von
ihrem Reichtum — wirſt Du ſehr — ſehr glücklich
werden.“
„Ich bin nicht fein genug für ſie,“ beharrte
er. Aufſpringend ging er jetzt im Coupee auf und
ab, wie ein Löwe im Käfig. „Sie wird es bald
genug einſehen, Lex. Und ſie will eine Puppe haben,
ich bin aber keine Puppe.“
„Wie Du ihr unrecht thuſt.“ Fortunat war
erzürnt. „Wenn je ein Menſch von edlen Motiven
geleitet worden iſt, ſo iſt es Miß Maud Winter.“
„Dann iſt ſie eben zu gut für mich! Ich
fühle das ja, ich fühle das alles, und das macht
mich unglücklich.“
„Guter Tino,“ ſagte Fortunat und ergriff ihn
am Rockſchoß, „ſetze Dir keine ſolchen Flauſen in
den Kopf, ſondern Dich ſelbſt lieber in die Polſter.
Miß Maud iſt eine ſo ſelbſtſichere Natur, daß Du
der dreiſt vertrauen kannſt. Daß ſie Dich wählte,
iſt mir die beſte Bürgſchaft für Eure Zukunft. Und,
ſei einmal ehrlich — Du biſt doch verliebt in ſie,
ſo recht von Herzen.“
Martin ſtrich ſich den Bart, er ſeufzte.
„Das weiß ich nicht — ich kenne das nicht.“
„Nun, Du kommſt ſchon noch dahinter. Himmel,
Tino, was wäre das Leben ohne die Weiber! Wir
können ſie eigentlich gar nicht genug dafür lieben,
daß ſie überhaupt auf der Welt ſind.“ —
Und etwa zu derſelben Stunde ſagte Luzie bei—
läufig zu Maud:
„Sie haben ſich da eine große Aufgabe geſtellt,
und Ihre Ehe mit Heeken ſcheint mir ein großes
Wagnis zu werden. Ich hätte nicht den Mut dazu.
Es giebt doch Dinge, die im täglichen Leben recht
häßlich kratzen, während man zuerſt ganz leicht über
ſie hinwegſieht.“
Maud lächelte ſiegesſicher.
„Seien Sie um mich unbeſorgt, Luzie, ich werde
meine Aufgabe ſchon zu löſen wiſſen.“
Aber ſo ganz im Gleichgewicht war ſie doch
nicht, wie ſie ſich nach außen den Anſchein gab.
Roman von H. Schobert.
602
Wenn ſie an den Augenblick zurückdachte, wo ſie
ſich ihm für das Leben geſchenkt, und an die darauf
folgenden Stunden, ſo überkam ſie doch ein die
Bruſt zuſammenpreſſendes Gefühl. Er war mehr
als abwehrend, faſt unfreundlich zu ihr geweſen.
War das nur ein Ausdruck ſeiner Schüchternheit?
Daß ſie ihm imponierte, fühlte ſie und freute
ſich daran. Sobald er in allen anderen Dingen,
außer in der Kunſt, ihr Übergewicht anerkannte,
würde es ihr leichter werden, ihn zu beeinfluſſen.
Daß es ihm ſchwer wurde, ſich ſo plötzlich in die
nächſten Beziehungen zu ihr geſetzt zu ſehen, die
gleichſam aus einer anderen Sphäre in ſein Leben
hineingekommen war, das ſprach für ihn, weil es
natürlich war. Mußte doch auch ſie ſich erſt daran
gewöhnen, nun einem Manne anzugehören. — Er
hatte beim Abſchied keinen Kuß von ihr verlangt,
nur ein Händedruck war zwiſchen ihnen ausgetauſcht
worden. Es gefiel ihr, aber ſtimmte ſo gar nicht
zu dem Moment auf der Wieſe, wo er ſie wild und
leidenſchaftlich geküßt hatte. Wo lag der wahre
Ausfluß ſeiner Natur?
Sie ſann und grübelte lange über alles, nur
eines fiel ihr dabei nicht ein, das nämlich, daß er
unglücklich ſein konnte über den geſchloſſenen Bund.
Bot ſie ihm doch ſo viel. Die Zeit — die Zeit
war notwendig, um ſie erſt vertrauter miteinander
zu machen, dann würde es ihr ſchon gelingen, ſeinen
Charakter richtig zu beurteilen.
Und jetzt, wo er fort war, ſchien es ihr ſchon,
als ſei er ihr wieder näher gerückt, und die Auf—
gabe, die ſie ſich geſtellt, wuchs vor ihren eigenen
Augen immer höher. —
Vierzehntes Kapitel.
Frau Heeken war nach der Stadt gekommen
mit großem zur Schau getragenen Stolz und innerem
Unbehagen. Am liebſten wäre ſie in ihrem Dorf
unter den Verwandten und Freunden, in bekannten
Lebensverhältniſſen geblieben, mit einem baren Zu⸗
ſchuß von ihrem Sohn, der ſie inſtand ſetzte, ohne
Sorge zu leben. Aber der Zug ſtklaviſcher Unter—
würfigkeit, der den Frauen aus dem Volk oft zu
eigen iſt, hatte ſie verhindert, eine eigene Meinung
auszuſprechen. Und dann ſchmeichelte ihr das Auf—
ſehen, das ihre Überſiedlung nach der Stadt im
Dorfe machte. —
Als ihr Sohn ihr auf dem Bahnhof enigegen-
trat, gut gekleidet, frifiert, jah fie ihn nur jcheu
von ber Seite an, er fam ihr ganz fremd vor und
fie fühlte inftinttiv, daß zmwifchen ihm und ihr ein
Abgrund war, der fi nicht mehr überbrüden ließ.
Da bereute fie ihr Kommen zum erften Mal.
Sie wagte au gar nicht mit ihm zu reden,
während fie im Omnibus ihrem Endziel zufuhren,
denn er verhielt fi) fchweigend, und die Mitreifen-
den flarrten ihr alle jo breift ins Gefiht, daß ihr
unbeimlich wurde und fie Gott dankte, endlich hinaus⸗
zulommen. —
603
Das neue XÜtelier, auf das Stipendium bin
gemietet, war immer noch ziemlich primitiv. Den
Arbeitsraum hatte fich Heelen zu feiner Tpeciellen
Benutzung vorbehalten, und man fahb, daß er fi
bereits in berjelben Art darin eingerichtet, wie er
es gewohnt war. Die große daranjtoßende Küche
gehörte feiner Mutter. Sie war bel und Tabl und
roh nad friihem Kalf.
Die alte Frau jah fih mit jcheuem Blid um.
Alles Gewohnte fehlte, und was fie bier fah, damit
mußte fie nichts anzufangen.
„Ra, Mutter,” fagte Heelen triumpbierend.
„Habe ih nicht Wort gehalten? Einmal mußte es
tommen, das wußte ich, und nun ift es da.”
Sie nidte ftil vor fih Hin und fette fh an
den weißgeicheuerten Tiih, ohne ihr Tuch abzulegen,
als wäre fie bier Gaft.
„Ihr leid bier nun zu Haufe, Mutter, könnt
maden, was Shr wollt und braucht nicht mehr zu
arbeiten.”
„Sa! Ya!” fagte fie nur.
„Seid Hr nicht froh, Mutter?”
„Ja! Sal“
Er holte die Zeitungen mit den Kritifen über
jein Wert und las ihr daraus vor. Sie hörte ihm
bewegungslos zu.
„Sit bier nicht wer, der audh vom Lande ift,
mit dem man reden Tann?” fragte fie ganz ver:
Ihüchtert, als er aufgehört.
Er jhob ungeduldig die Blätter zufammen.
„Das weiß ich nicht, Mutter, das wird fich
Ihon alles finden. Ych bin ja bier.“
Sie ſah ihn wieder |heu an. „Ah Du — Du
bift jo fein geworden.”
Er redte fih in den Schultern. Dieler alten,
gewöhnlien Frau gegenüber fühlte er feine Über:
legenheit.
„Das iſt nicht anders, Mutter. Und eine
Schwiegertochter kriegt Ihr auch. So fein und ſo
reich, daß Ihr Euer Staunen haben werdet.“
„Wer hätte das gedacht, Martin,“ ſie ſchüttelte
den Kopf. „Aber wenn ſie Geld hat, dann nimm
ſie Dir, das iſt das Beſte im Leben.“
Er ſah auf ſeine Mutter und dachte an Maud.
Selbſt er begriff, daß es zwiſchen dieſen Frauen
nichts Gemeinſames gab, daß auch er nicht aus—
reichte, ein Bindeglied zu werden. —
„Du mußt mich dabei ſein laſſen, wenn Du
Deine Mutter in die Ausſtellung vor Dein Werk
führſt, ich will einmal Zeuge eines naiven En—⸗
thuſiasmus ſein,“ hatte Fortunat gebeten.
„Meine Mutter verſteht nichts von ſo etwas.“
„Sie ſoll gar nichts verſtehen, ſie ſoll nur ſehen
und fühlen.“
Es war zum zweiten Mal, daß dies Geſpräch
mit denſelben Worten zwiſchen den Freunden geführt
wurde, und Heeken wurde ungeduldig.
„In Gottes Namen; aber Du wirſt Dich täuſchen,
mein Lieber. Du erwarteſt immer mehr von den
Menſchen, als ſie leiſten können.“
„Habe ich das bei Dir bewieſen, und bei Deiner
Braut?”
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
604
„Bei mir vielleicht. — Bei MiE Winter — das
fann ich nicht willen.”
„Apropos, warn fährft Du hinaus zu Duenjels,
Du mußt fie doch wiederjehen.” |
Heelen wurde rot. „Ach kann do jest nicht,
davon ift feine Rede. Sch muß bie Arbeit ein-
leiten für das Mujeum, da kann ich nicht fort.”
„And Du willft die erften Tage Deine Mutter
nicht allein laffen, das begreife ich.”
Seelen jah ihn ärgerlih von der Seite an.
Manchmal dadte er, Fortunat triebe Spott mit ihm.
Sn Wahrheit hatte er fi wenig um die alte Frau
gekümmert, zu jpreden hatten fie nihts, und mit
den Bebürfnillen des täglichen Lebens mußte fie fich
allein abfinden; der Gedanke, ihr behilflich zu fein,
fam ihm gar nidt.
„Fährſt Du hinaus?”
„Ja, Sonnabeund.“
„Dann grüße ...“ er zögerte etwas — „Maub
von mir und entſchuldige mich mit meiner Arbeit. —
Maud! — Was für ein abſcheulicher Name das iſt!
Warum heißt ſie nicht Anna oder Marie.“
„Na wahrhaftig! Ich habe ſelten einen ſchöneren
gehört. So weich — ſo eigenartig. Ganz zu ihr
paſſend. Kommſt Du wirklich nicht mit? Sie wird
es übelnehmen.“
„Nein!“ Er runzelte die Stirn, ſah aus, als
ob er noch etwas ſagen wolle, ſchwieg dann aber. —
Fortunat ging den Ankommenden entgegen. Es
war noch ſtill auf den Straßen, und die Ausſtellung
eben erſt im Begriff, ſich für den Tag zu rüſten,
aber Heeken hatte dieſe Stunde gewählt, weil er
behauptete, nicht anders Zeit zu haben.
Daß die Alte in ihrer ländlichen Tracht war,
fiel Fortunat nicht ſonderlich auf, die kannte er ja.
Aber — beim Näherkommen — dieſe Mutter und
dieſer Sohn!
Wie war es nur möglich, daß die Natur in
einen Sprößling dieſer Frau, der man Beſchränkt⸗
heit und Kleinlichkeit, Härte und Dummheit vom
Geſicht las, ſo eine große Seele, ſolch gewaltiges
Können gelegt hatte? Seine Blicke wanderten un—
abläſſig von einem zum andern, während die Alte
vor dem vornehmen Freund ihres Sohnes knickſte
und das Taſchentuch zwiſchen die Handflächen drückte.
Sie hatte ſich zurecht gemacht wie zum Kirchgang.
Fortunat war ein phantaſiereicher Kopf und
beſaß ein warmes Herz, daher paſſierte es ihm oft,
daß er die Dinge anders ſah, als ſie in Wirklichkeit
waren — ſein konnten, und die Entdeckung dieſer
Täuſchung verſtimmte ihn dann gleich tiefer als
nötig war.
So ging es ihm jetzt. Als er der Alten an-
ſichtig wurde, mußte er an Maud denken. Hatte
ſie mit ihrer Weltanſchauung, die er für herzlos
hielt, nicht öfter das Richtigere getroffen, als er?
Wie würde ſie dieſe alte Frau auffaſſen? —
Sie waren eingetreten und ſtanden vor Heekens
Gruppe. Noch war die Sonne nicht da, ſie zu ver:
golden, aber ſie hatte auch keinen äußeren Glanz
nötig.
Als die Alte die gewaltige weiße Maſſe ſo
605 Art zu Art.
bit vor fih jah, drängte fie fih erichroden an
ihren Sohn.
„Hier, Mutter, das babe ich gemacht.
bat man mich belobt und gut bezahlt.”
Sie drehte den Hals Hin und her, ohne etwas
zu jagen.
„Dadur hat er der Welt gezeigt, daß er ein
großer Künftler ift,“ vollendete Fortunat.
— ſchon ſein,“ ſagte die Alte nach einer
auſe.
„Gefällt es Ihnen?“
Sie ſah hilfeſuchend um ſich, all die weißen
Gruppen ängſtigten ſie. Beklommen ſchüttelte ſie
en Kopf.
„Nicht?“ rief Fortunat entrüſtet.
„Es iſt ſo groß und ſo weiß,“ ſtotterte ſie.
Heeken lachte auf.
„Gelt, Mutter, die Heiligen bei Euch draußen
mit ihren hũbſchen Gewändern und roten Wangen
ſind ſchöner.“
„Ja! Ja!“ ſagte ſie aufatmend. Und ſich an
Fortunat wendend, ſetzte ſie aufgeregt hinzu: „Ach,
Herr, der Martin ſagt's ſelber — wie kann denn
das hier ſchön ſein! Wo giebt es denn einen Menſchen,
der halb Tier iſt. Das iſt ja graulich.“
„Möchteſt Du nach Hauſe, Mutter?“
Sie nickte eifrig, und die beiden Freunde brachten
fie zurüd in ihre Wohnung. Unterwegs fagte fie be-
fümmert:
„ner Verwalter will es nicht leiden, daß ich
mein weißes Huhn in ber Küche behalte. Sage Du
es ihm doch, Martin.”
„Das geht natürlich nicht,
do&h in der Stadt.”
„Ss muß aber gehen, Martin.“
Er antwortete nicht mehr, jondern warf eine
Frage an Fortunat bin über feine Arbeit, und bie
Alte ging zwilhen ihnen, eifrig murmelnd und
rälonnierend über ihr weißes Huhn, in dem fie fi
perjönlich gefräntt glaubte. —
Als fie wieder allein waren, atmete Fortunat
auf. Er glaubte immer noch ben flidigen, modrigen
Gerud, der den Kleidern ber alten Frau entftrömte,
in der Nafe zu haben.
Seelen jah ihn an und ladıte.
„Da haft Du es. Das ift bei uns zu Haufe
Kunitverftändnis.“
„Deſto mehr bift Du zu bewundern.”
Er jagte das in allem Ernfl. Aus folder
Umgebung beraus feinen Weg zu maden, bdeuchte
ihm etwas Gemwaltiges.
denfe, was in jedem ftedt, fommt heraus,
ob im Schloß ober in der Hütte,“ meinte Heelen
nachdenklich. „Darum werde ich wohl jo geworden
jein wie ih bin.“
„Dante Gott, daß Du eine Frau bekommt,
die Dich verftebt, Dich würdigt. Nun bin ich voll-
ftändig um Eure Zukunft unbejorgt.
Du die Gemeinjamkeit in der Ehe fchäßen lernen,
nah der Trafien Verftänbnislofigkeit, die Du in
Deiner Umgebung früher gefunden haft.“
Heelen jah aus, als ob er zweifle, aber da er
Dafür
Mutter, wir find
Roman von 9. Schobert.
Doppelt wirft
606
ih Ichleht auszudrüden wußte, wenn oe ih um
feine Gedanten banbelte, jchwieg er. —
Ale Fortunat am Sonnabend zu QDuenjels
binausfuhr, war er noch ganz voll von diefen Ein:
drüden und fuchte Maud allein zu finden. Vielleicht
hatte fie dasjelbe Bebürfnis, denn trogdem Luzie den
Saft jehr in Aniprud nahm, fanden fie fich doch zu
einem gemeinjamen Spaziergang zufammen, den ihnen
niemand jtörte.
„Wie froh bin ich, Sie endlich allein zu Iprechen,”
lagte Maud, ihren roten Sonnenfhirm aufipannenb
und neben ihm hergehend.
„Ich auch.“
"Sie haben jid) jeit meiner Verlobung jo ab»
ſichtlich fern von mir gehalten, daß ich glaubte, Sie
zürnten mir.“
„O nein, das nicht. Ich machte mir eher Vor⸗
würfe.“
„Weshalb?“
„O Miß Maud!“ ſagte er plötlich ſtehen⸗
bleibend und hoch aufatmend, „ich bin ſo froh, daß
der Alp, der mich ein paar Tage bedrückt hat, nun
von mir genommen iſt.“
Sie ſah ihn an und lächelte.
„Sie ſind ein Kind, Fortunat.“
„Mag ſein! Aber ſehen Sie, als ich Sie ſo
neben Heeken ſah, ſo — zuſammengehörig — da kam
es mir vor, als paßten Sie doch gar nicht zu ihm,
als könne ſolch eine Verbindung nicht zum Glück
ausſchlagen, und als würden Sie mehr darunter
leiden als er. Ich aber fühlte die Verantwortung
auf mir, weil ich derjenige geweſen bin, der Ihnen
ſtets von ihm ſprach, der Ihre Phantaſie angeregt
und Sie vielleicht dadurch zu dem edlen Entſchluſſe
gebracht hat, ſein guter Engel ſein zu wollen. O
wie mich das gedrückt hat!“
Er nahm den Hut vom lockigen Haar und
ſeufzte tief.
„Wiſſen Sie, für den äußeren Menſchen da kann
man ja vieles thun, und den kann man ja auch be—
urteilen, aber den inneren — den inneren! Der
iſt uns eben verborgen. Iſt der ſo, wie wir ihn
uns denken?“
„Quälen Sie ſich nicht mit ſolchen Dingen,
Fortunat,“ ſagte Maud lächelnd. „Ich bin kein
Kind mehr und weiß, was ich will. Hätten Sie
wirklich etwas dazu gethan, könnte ich Ihnen nur
dankbar ſein. Wir werden eine Muſterehe führen.“
Fortunat blickte zu Boden und ſtieß mit dem
Stock in den mooſigen Sandboden.
Sein Schweigen irritierte ſie.
„Glauben Sie nicht?“ fragte fie etwas heftig.
„Gewiß,“ murmelte er verlegen. „Nur etwas
mehr Wärme — etwas mehr Wärme, das wäre es,
wonach ich Verlangen trüge.“
Sie runzelte die Stirn und ſchüttelte den Kopf.
„Das iſt mir gerade recht ſo. Mehr Wärme trübt
meiſt im Anfang den klaren Blick, und den braucht
man nie mehr, als bei dem Entſchluß zur Ehe.
Außerdem nehmen wir beide jetzt eine Zwitterſtellung
ein, die ſehr unbehaglich iſt. Ich wünſchte, wir wären
erſt Mann und Frau, dann weiß jeder, wohin er
607
gehört, und Tino wird fih um jo eher in die An:
forderungen des neuen Xebens finden. Haben Sie
feine Mutter gejehen?”
„Sa. Und nahdem ich gejehen habe, wie er all
dem Unglaublichen, Unkünſtleriſchen hat entwachſen
können, um das zu werden, was er iſt, bin ich auch
überzeugt, er wird ſchnell neben Ihnen emporwachſen,
um das zu werden, was Sie aus ihm machen
wollen.“
Eine ſchmale, niedrige Bank ſtand am Wald—⸗
rand. Sie lag im Schatten und Maud ſchloß den
Schirm, um ſich zu ſetzen, dann machte ſie Platz
neben ſich für ihren Begleiter.
„Ich werde am Montag Morgen mit Ihnen
in die Stadt fahren, um meine Schwiegermutter zu
begrüßen,“ ſagte Maud. „Das bin ich ihr ſchuldig
und werde es nicht verſäumen.“
„Spannen Sie Ihre Erwartungen nur ja nicht
hoch.“
Sie ſah ihn an und lächelte wieder. So über:
legen, jo jelbitbemußt.
„Ih bin fein Mädchen mit irgend welden
SHufionen. Einen Weg vor mir, den ich überjehen
tann, und Klarheit aller Berhältniffe, mehr verlange
ih nit, das übrige joll dann meine Sade jein.
Hier babe ih das alles, warum fol es mir da
fehlen.” |
„Sie find jo jung und predhen wie eine ge-
reifte Frau,” fagte er ganz entrüftet. „Klarheit, nun
ja, Klarheit ift ja jehr Ichön, aber unter Imftänden
auch vet nüchtern. Sie jollten lieben wollen und
geliebt werden, das wäre natürlicher.”
Sie ftieß mit der Spite ihres Sonnenidirms
Heine Löcher in den Weg.
„Das, was Sie Liebe nennen,” fagte fie nad)
einem lleinen Zögern, „iit mir nicht ganz fremd.
Es ift ein ungejundes Gefühl und jedenfalls ohne
Dauer. Die nüchterne Vernunft bietet viel mehr
die Chance zu einer dauernden YZufriedenheit, —
mehr will man dodh nit. Sagen Sie jelbit, bat
Shnen jemals eine Perfon, an der Sie Jhre Gefühle
verjhwendeten, das gehalten, was Sie fich zuerit von
ihr veriprahen? ZN auf den erften Taumel nicht
meilt eine recht unerfreulihe Ernücdhterung gefolgt?
Er jah fie erft an, dann auf den See hinaus,
der vor ihnen lag.
„Dielleicht war e8 jo. Aber der Anfang, der war
dann meift jo Ihön geweien, daß er felbit das Ende
noch mitverklärte. Ich bin ein jchredlich Tiebebe-
dürftiges Menjhentind, ih fan einmal nicht leben
ohne irgend ein Gefühl, das mir die Alltäglichkeit
verllärt. Laden Sie mich nur dreift aus, es muß
auh jolhe Käuze geben. Eine Ehe, wie Sie fie
Ihildern und erjtreben, wäre mir jchredlih, ganz
undenkbar. Sch jehne mich nad) Liebe.”
Sie wandte ihm langjam ihr Gefiht zu und
Jah ihn an, ihre Augen murzelten ineinander.
„Sie find ein Kind,” fagte fie und blidte dann
auch auf den See hinaus.
E3 zudte etwas in ihr auf, al ob er redt
haben Fönne, als ob das doch vielleicht das Bellere
jei, aber dann fiel ihr ein, daß fie einmal eine
ee ee Eee
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
608
Enttäufdung erlebt und mit Dieler einen Cr:
fahrung gerade genug babe. Leute, die noch nichts
erlebt hatten, die mochten fi) an Gefühlen erfreuen,
fie wollte nicht mehr als notwendig damit zu fchaffen
haben; die Kunft ihres Mannes jollte der Anhalt
ihres Lebens werden, und an diefen Gedanten an:
Inüpfend fuhr fie fort:
„IH glaube, ich fanın ehrgeizig fein, und ih
werde es fein für Tino. Die Gelellihaft muß ihm
erihloffen werden, der Hof; ich habe jhon allerlei
Pläne. Aber vor allen Dingen, mich drüdt bier der
Aufenthalt bei Duenfels, er wird mir von Tag zu
Tag unerträglicher, obgleich mir direft niemand etwas
zuleide thut. Wenn ih am Montag mit Ahnen in
die Stadt fahre, logiere ich mich im Hotel ein, die
Anihaffung meiner Ausfteuer, das Mieten einer
Mohnung giebt mir genügenden Vorwand. Wenn
Tino einverftanden ift, Tünnen wir am 3. Oktober
beiraten. ch will Frau fein, damit ich mich freier
bewegen Tann.”
Sie nahm den Hut vom Kopf, legte ihn in
ihren Schoß und fchüttelte das dunkle Haar. Es
lag etwas Freigewordenes in dDiejfer Bewegung.
„Der glüdlide Martin,“ dachte Fortunat, als
er fie anfab.
„Wenn Sie mid irgendwie brauchen fünnen,
verfügen Sie ganz über mid, Miß Winter.”
Sie reihte ihm die Hand.
„Ih weiß es. Sie find mein Freund, obgleid
Sie mid mandhmal im ftillen tadeln.”
„Sie find jo anders, als ich,” entichuldigte er
„Wenn ich diefe einfamen Bromenaden zu zweien
riskieren würde, mein lieber Emil,” jagte Zuzie, Die
joeben mit ihrem Bruder am Seeufer entlang kam
und das Baar fofort mit ihren unruhigen Augen be-
merkte, „dann würde mir aus allen Tonarten mein
unpaljendes Benehmen vorgehalten werden. Nun,
MiE Winter ift e8 ohne alle Bemerkungen geitattet.
Das eine Mal Tapert fie fih dabei einen Bräutigam
— gut — mas will fie nun aber noch mit Fortunat,
den kann fie dod in Frieden lafjen.”
„Mberwirf Dih nicht mit ihr,” warnte Emil,
der die Gereiztheit feiner Schweiter falt veritand.
„Diele junge Lady hat einen flarten Willen und
wird, faute de mieux, ihre Rolle jpielen. — Stelle
Did gut mit ihr.”
Luzie ballte die Fauft und biß die Zähne feit
aufeinander, dennoch beberriähte fie fich mufterhaft,
als fie zu dem Paar trat.
Sie war aud) diejenige, die am meijten Wider:
ipruch gegen Mauds Überfiedelung erhob. Im Herzen
war fie eiferjüchtig auf Fortunat, und ber Gedante,
ihn täglih und ungeniert in Maubs Gejellichaft zu
willen, bradte fie außer fich.
„Sie hatten mir doch veriprochen, mich zu allem
mitzunehmen,” fagte fie jchmollend. „Und nun
Juden Sie mid auf bdieje Art Ioszumerden, Maud?”
Maud blidte zum See hinaus.
„gu den Dingen, bie Sie interejlieren, Xusie,
werde ih um ihre Begleitung bitten, aber e& handelt
fih vorläufig nur um eine Wohnung.“
609 Art zu Art.
„Wird Fortunat Sie führen?“
„Ih Hoffe, Daß er fih uns anjchließt, wenn er
Zeit hat.”
Luzie lachte höhniſch auf.
„Da er mehr Zeit hat, als Ihr Bräutigam, ſo
wird er wohl mit aller Kraft denſelben zu vertreten
bemüht ſein.“
Und zu Fortunat ſagte ſie nachher vertraulich:
„Dieſe Maud iſt das koketteſte Frauenzimmer,
das mir jemals vorgekommen iſt. Nun ſind Sie ihr
gerade gut genug, um ihr die Langeweile zu ver—
treiben. Hüten Sie ſich, Lexchen, ach hüten Sie ſich!
Ihr Herz fängt ohnehin ſtets ſo ſchnell Feuer.“
Er wehrte ihr, harmlos lachend. Die Braut
ſeines Freundes auch nur mit einem begehrlichen
Gedanken ſtreifen, das lag für ihn außerhalb jeder
Möglichkeit. Ihr zu Dienſten ſein — in jedem
Augenblick; aber ſie mit verliebten Augen etwa au—
ſehen, dazu hielt er ſich denn doch für einen zu an—
ſtändigen und ehrenhaften Menſchen.
Fünfzehntes Kapitel.
Beim ſchönſten Sonnenſchein waren ſie am
frühen Morgen in die Sadt hineingefahren, der
Proſeſſor, Maud und Fortunat.
Jetzt hatten ſich ihre Wege getrennt.
Der Profeſſor war in die Akademie, Maud ins
Hotel, Fortunat zu Heeken gegangen, um ihm die
Ankunft ſeiner Braut mitzuteilen. Mit einem kaum
unterdrückten Fluch nahm Heeken dieſe Botſchaft auf.
Er hatte ſich ſo ſicher geglaubt, verſchanzt hinter
ſeiner Arbeit, daß er ein Wiederſehen gar nicht in
Betracht gezogen hatte, der ganze Sommer konnte
darüber hingehen, und nun war ſie ihm nachgekommen
und er ſaß wieder in der Zwickmühle drin. Einen
Augenblick durchblitzte ihn der Entſchluß, um keinen
Preis zu ihr zu gehen, ja die Verlobung mit einem
Ruck zu zerreißen, aber dann ſtieg eine Viſion vor
ihm auf, ein Atelier mit Marmorblöcken darin, deren
Preis ihn nichts anging, und aus denen allmählich
die Gebilde ſeiner Phantafie zauberhaft emporwuchſen.
Um dieſes Marmors willen mußte er verſuchen, die
Frau zu ertragen.
Er kleidete ſich an und ging mit Fortunat in
das Hotel. Friſch und lebhaft, hübſcher denn je
kam ihnen Maud entgegen.
„Wie geht Dir's, Tino?“
Als er ſie anſah, ſchmolz ſein Widerwille etwas.
Sie war doch ſehr vornehm, und mancher würde
ihn um ihren Beſitz beneiden.
„Laß uns zuerſt zu Deiner Mutter fahren,
drunten ſtehen Wagen,“ ſagte ſie, nach der Uhr
ſehend. „Dann habe ich hier ein paar Wohnungen
aufgeſchrieben, die ich mir anſehen will, ſchließlich
dinieren wir, trinken Kaffee im Freien und gehen
am Abend in irgend ein Konzert. Sie kommen doch
mit, Fortunat?“
Roman⸗Zeltung 1898.
Roman von H. Schobert.
610
Er bejahte, und ſie fuhren davon. Heeken
ſchloß ein paarmal die Augen. Die wohlige Luft
des Reichtums begann ihn zu umfangen, er wehrte
ſich nicht mehr dagegen. —
Frau Heeken war aufs furchtbarſte erſchrocken,
als ihr Sohn die Thüre öffnete, den kommenden
Beſuch zu melden.
Sie ſaß gerade vor einem großen Bunzlauer
Kaffeetopf, das weiße Huhn, die Contrebande aus
ihrer Vergangenheit, im Schoß und ſtarrte im
Sonnenſchein vor ſich hin. Sie ſprang auf, das
Huhn flog ſchreiend und gackernd unter das Bett,
und Martin ſchoß das Blut in das Geficht, als er
dem Tier nachſah. Er vergaß, daß ſeine Braut
und Fortunut dicht hinter ihm ſtanden.
„Ihr habt das Vieh doch noch, Mutter? Haben
wir es Euch nicht verboten?“
Er ſah rot und wütend aus, ſie blickte ihn
ſcheu an.
„Es thut doch niemand
murmelte ſie eigenſinnig.
Freude.“
Er war heftig eingetreten, nun erfaßte er das
unglückliche Geſchöpf, das ſich wieder vorgewagt
hatte, bei den Beinen und ſchlug es mit ſolcher
Vehemenz gegen den Herd, daß dem Tier das
gellende Geſchrei, das es zuerſt ausgeſtoßen, in der
Kehle ſtecken blieb. Beim dritten Schlage zuckte es
nicht mehr. Aus dem Schnabel quoll Blut, es
war tot. —
Maud lehnte blaß am Thürpfoſten. Ein
Schauer überrann ſie. War dieſer Mann nicht
doch ein anderer als der, für den ſie ihn anſah?
Freilich hatte er in gewiſſer Beziehung recht, wenn
er ſeinen Anordnungen Geltung verſchaffte. Welche
Idee von dieſem alten Weibe, in ihrer Küche Getier
halten zu wollen. Es roch abſcheulich danach. In—⸗
deſſen die Art und Weiſe war brutal geweſen. Sie
konnte nicht darüber hinweg, ſo ſehr ſie ſich auch
das alles ſagte. Es ſchüttelte ſie vor Ekel und
Grauen.
Ein Mann, der das vermochte, konnte auch noch
mehr! Und ſie, ein ſchwaches, fein empfindendes
Weib, wollte ſich dieſer Roheit verbinden? Einen
Augenblick ſchien es ihr unmöglich. Sie ſah weder
Heeken noch Fortunat an, ihre bebenden Finger
griffen in das zarte, luxuriöſe Kleid, das ſie heute
angelegt, und hoben es hoch, als fürchtete ſie mit
irgend etwas in ihrer Umgebung in Berührung zu
fonımen, als müfle fie fliehen, eilig fliehen, um nicht
einem ähnlihen Schidjal zu verfallen. Ihr Gefiht
war ganz weiß gemorden vor innerer Erregung,
und die alte Frau vor ihr verihwand faft unter
einem lichten Nebel, der fich vor ihre Augen ge:
legt hatte.
Todesichweigen herriähte für ein paar Minuten
in der dürftigen Küche.
Heelens Zorn war verflogen, er fühlte in-
ftinftiv, daß etwas geidhehen fei, was in den Augen
feiner Braut fchwer wog, ihm nur natürlid er-
Schienen war; gern hätte er ihr ein Wort der Ent:
Ichuldigung gejagt, aber er wagte es nicht, er ftanb
etwas zuleibe,“
„&s ift meine einzige
e ———————— — — —⏑⏑ — —
IV, 43
611 Art zu Art.
nur da, die Hände verichräntt, demütig, reumütig
wie ein Schuljunge, der feiner Strafe entgegenfteht,
den Kopf gelentt.
Mit Anftrengung wandte fie ihre Augen end:
ih auf ihn. Etwas in feiner Haltung verjöhnte
fie allmähli, die Schauer bes Efels und Schredens
ließen nad).
Sie ging auf die alte Frau zu und reichte ihr
die behandihuhte Hand.
„Sie willen, wer ih bin — die Braut Shres
Sohnes — da war es do an mir, Shnen zuerft
einen guten Tag zu jagen. Hier bin ih allo —
geben Sie mir Yhre Hand.”
Anfangs zitterte ihre Stimme, dann wurbe
fie fefter.
Die Alte hatte geftanden und mit dem Schürzen:
zipfel in ihren Augenmwinleln berumgewildt. Der
Tod des Tieres bedeutete ihr nicht viel weniger als
der Tod des Mannes, war e8 doch das einzige, an
dem augenblidlih ihr Herz hing. Erbitterung war
in ihr aufgeftiegen, aber fie wagte ihr nicht Aus:
drud zu geben, weder vor ihrem Sohne, noch vor
der feinen Dame.
Zum Tode erihroden ließ fie den Schürzen:
zipfel fallen, ftarrte die Spredhende an, fnidite,
murmelte etwas, wilchte die Hand an der Schürze
ab und berührte damit faum die Fingeripigen ber
jungen Dame. Cs lag etwas Scheues, Gebrüdtes
in ihrem Benehmen.
„Wir werden Jhnen einen Hund, eine Kaße,
einen Bogel kaufen,” fagte Maud überredend, „Tagen
Sie nur, was Sie wünihen, und — es thut mir
leid — wirklich leid um das Huhn.”
Mit einem gewiflen Schauer blidte fie wieder
auf das tote Tier, das mit geipreizten Beinen und
gefträubten Federn dalag.
Die Alte murmelte etwas und fchüttelte heftig
den Kopf. „Nichts will ih — nidhts!”“ verftand
Maud, und dabei bemerkte fie wohl den gehälfigen
Blid, der über fie alle drei hinfchweifte.
‚Sie drehte fih ab und fah zu Martin Hin-
über. Deflen Augen begegneten den ihrigen, und
zum eriten Mal wandte er nicht den Blid ab.
„Wilft Du nun mein Atelier jehen?” fragte er
bereitwillig.
Sie nidte und trat neben ihn. Er öffnete die
Thüre in den großen, fahlen Raum, der nur bie
verflaubten Torjen und Zeichnungen aufwies, denn
gearbeitet hatte er noch nicht darin, nicht einmal
etwas Thon lag da und zeigte feine Beftimmung an.
Es enttäujchte fie ehr, aber fie gab dem nicht Aus-
drud. Sie hatte Sehnjudht hinaus, nad Luft und
Licht, ihr war es, als müfle fie hier erftiden.
„Sieh,” Tagte er, auf fein Bett, ben Schemel
und Krug bdeutend, dem fich jeßt noch eine Wald):
IHüflel und der Spiegel zugefelt hatten, „für mich
braudit Du nicht zu forgen, ich habe alles, was mir
nötig ift.”
Sie Jah mit unverftelltem Schreden auf das
Mobiliar.
„Um Gottes willen, Tino, das wilft Du mit
Roman von H. Schobert.
612
nehmen? Sn unfer neues Heim? Aber das ift un-
möglich.”
Ganz traurig jah er jie an.
„Du fol Dir keine Koften für mich machen,
ib braude das alles nit. Was ich Hatte, ift jhon
genug für mid, und es gehört mir.”
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Wie anjpruchelos er doch troß allem, was er leiftete,
war, wie hart hatte er fich burdhringen müllen.
Mas ihr vorhin NRoheit gedünft, war es nidt am
Ende nur das unbeberrichte Aufwallen eines ver:
zeihlichen Ärgers? Durfte fie das fo fehwer nehmen?
Erziehung fehlte ihm doch ganz, das hatte fie ja ge:
wußt. Und unter diefem verjöhnenben Empfinden
lagte fie gütig:
„Aber, lieber Tino, das geht wirklich nidt.
Du bift ber Herr im Haufe, und für Dich ift nur
das Belle gut genug.”
„3% dachte nur,“ wandte er ein, „weil ich dann
doh au etwas hätte, was mein wäre.“
„Alles ift Dein,” verficherte fie ihn Tebhaft.
—— Dich doch nur von dieſer Vorſtellung
„Du biſt mir alſo nicht mehr böſe?“ fragte er,
plötzlich den Kopf hebend.
„War ich es Dir denn?“ Sie errötete bei der
Frage, Fortunats Gegenwart war ihr peinlich, und
doch durfte ſie eine Ausſprache nicht umgehen, wenn
Tino einmal dazu den Mund öffnete.
„Ich weiß es wohl — wegen dem Huhn!
Aber Du glaubſt nicht, was mich das ſchon ge—
ärgert hat! Der Verwalter, das ganze Haus iſt
aufſäſſig, und immer wenden fie ih an mid. IH
mußte es umbringen, wollte ih Ruhe haben. Die
Alte hatte es fonft immer unter ihrem Rod.”
„Es war abjdheulih!” fagte fie, fi Tchüttelnd.
Er jah fie verfländnislos an.
— unvernünftiges Stück Vieh!“ entſchuldigte
er ſich.
„Ich mußte denken, als ich Dich ſo wütend
63 ob Du auch einmal ſo gegen mich ſein könnteſt.
So — — befinnungslos zornig.“
„Aber ich bin doch kein Mörder,“ ſagte er,
ſtarr vor Staunen. „Ich würde Dich doch nicht
umbringen wollen! $ortunat, fannit Du das denken?”
Er war ganz außer fid.
„MiE Maud bat das do nur bildlich ge:
meint. a
„IH Trage Dih, ob Du wirklih glaubft, daß
ih einem Menihen etwas zuleide thun fönnte.”
„Das — weiß ih nicht, Martin. Aber ich will
es nicht hoffen.”
Kopfihüttelnd flieg Heelen die Treppe binab.
Daß man folde Schlüffe aus feiner einfachen
Handlungsmweife zog, fränkte und beunrubigte ihn
ſehr. Er hätte fich gern noch weiter verteidigt, aber
Fortunat raunte ihm auf der Treppe zu:
„Schweig jetzt davon.“
Sie gingen an der nun geſchloſſenen Küche
vorüber, ohne daß jemand noch einmal die Thür
geöffnet hätte. Die Alte hörte die ſich entfernenden
Schritte und kroch aus dem Winkel hervor, in den
613
fie fi gehodt. Sebt erit ergriff fie das Huhn und
fah es ein Weilden an. Es war tot, nichts Eonnte
e8 wieber lebendig machen, da fiegte der praftifche
Snftinkt in ihr. Sie fhnitt ihm den Hals ab und
jeßte fi hin, es zu rupfen. Lebte e& doch nicht
mehr, wollte fie fi menigftens den Genuß des
Eſſens nicht entgehen laffen. Sie murmelte dabei
leife vor fih Hin, auf den Sohn, die Schwieger:
tochter, das Haus, die ganze Stadt jchimpfend, es
erleichterte ihr das Herz und war ihre einzige Möglid-
feit, fih zu rächen. —
Der Tag verging ben breien im übrigen ans
genehmer, als der Anfang ahnen ließ. Freilich
trugen Maud und Fortunat allein die Koflen der
Unterhaltung, aber es fiel ihnen nicht eigentlich auf,
weil jede Stunde ihre Abwechſelung brachte, nur
einmal, in ein paar Augenbliden des Alleinfeing,
jagte Maud zu Fortunat, indem fie die Speifelarte
beijeite ſchob:
„Ih glaube, Hühner kann ich nie wieder eflen,
ih fchaudere, wenn ih nur daran benfe.“
Er jah fie eindringlih an.
„Und was jagen Sie zu der Mutter, Miß
Winter?”
Maud jhlug die Augen nieder und drehte an
ihrem Weinglafe,
„Nichts, vorläufig. Jh denke, ich will nichts
überftürzen. Aber wenn man fidh einmal von irgend
etwas nicht befreien fann, muß man es mit mög:
lihfter Faflung ertragen, es geht dann leichter.”
„Sie jeufzt nicht einmal,” dachte er. „Zu diefer
Frau fann fie doch nicht berabfteigen wollen? Das
wäre unmöglih! Aber vielleicht jchict Tino fie noch
heim, vor der Hochzeit. ZH Eiel, daß ich mich da:
mals überhaupt da bineinmilhte! Freilich, wer
fonnte das ahnen.”
Und da Maud es nicht gethan, jeufzte er nun jo
eindringlich auf, daß fie ihn lächelnd anjah.
„I freue mi nur, daß Sie bier find,” be:
eilte er fich zu verfichern.
Sie drohte ihm mit dem Finger.
„Wenn Luzie das gehört hätte!“
„Luzie!” Er lachte in feiner kindlichfrohen Laune
laut auf. „Die würde ergebenft für mich danken.”
„Dielleicht Doch nicht.”
„Beltimmt!” verficherte er und lachte wieder.
Snbdem Tam Heelen zurüd. „Wie vergnügt fie
find,“ dachte er voll Neid. „Warum fann ich nicht
auch fo fein,”
Sehzehntes Kapitel.
Sie hatten zufammen Wohnungen angejehen,
eine ganze Menge; aber feine genügte Mauds An-
iprühen, und je länger die Suche dauerte, je mehr
grolte Martin innerlich über die verjchwendete Zeit.
hm wäre die erfte fhon die rechte gewejen, Tobald
fie nur einen Raum befaß, der ihm zum Atelier paßte.
Verdrießlich Iehnte er am Thürpfoften des erften
leeren Zimmers, ftarrte fehweigend vor fih hin und
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
614
ließ die andern durch die unzähligen Räume wandern,
prüfen, vergleihen, verwerfen. Er zeigte gar fein
Sintereffe daran, und feine Meinung fchien au
wenig in Betracht zu fommen. Maud wählte, Maud
batte Bedenken, fie allein war diejenige, um deren
MWünjhe es fih handelte. Das verleßte fein Selbft-
gefühl, jeinen Künftlerfiog. Er nahm fi vor,
fortgeſetzt zu ſchweigen.
Endlich war aber doch etwas gefunden, was ge—⸗
nügte, und er nahm es hin wie etwas, das ihn gar
nicht weiter berührte, ohne Lob, ohne Tadel, anders
wie Fortunat, der ſich mit Leib und Seele in den
Dienſt der jungen Braut geſtellt hatte und einen
Eifer entwickelte, ihr in allem behilflich zu ſein, daß
dieſe behauptete, gar nicht ohne ihn fertig werden
zu können.
„Sieh nur dieſe Enfilade von Zimmern,“ rief
Maud enthuſiaſtiſch ihrem Verlobten zu. „Sechs in
einer Reihe, das habe ich noch nirgends gefunden.“
„Sieh nur die Ausſicht!“ fiel Fortunat ein und
wies auf die breiten, hohen Fenſter. „Kein vis-à-vis,
nur die Bäume des Stadtparkes, die Dir in die
Fenſter ſehen.“
„Und wie geſchickt die großen und kleinen
Räume verteilt.“
„Und wie entzückend das hohe, helle Studio,
im Garten, mit dem Hauſe verbunden und dennoch
für ſich abgeſchloſſen.“
„Die Wohnung nehmen wir.“
„Natürlich, gleich!“ rief Fortunat in hellem Eifer.
Jetzt erſt bemerkten ſie, daß Heeken bisher fein
Wort geſprochen, er ſchien kaum hinzuhören. Sie
ſahen ſich verwundert an.
„Biſt Du nicht einverſtanden, Tino? Komm,
ſieh Dich doch auch einmal um.“ Sie ſchob ihren
Arm unter den ſeinen, er entzog ſich ihr.
„Ich glaube es Euch — natürlich! Jede
Wohnung iſt mir recht, wenn nur dieſe ſchreckliche
Suche endlich zu Ende geht.“
„Warum haſt Du ſo wenig Intereſſe für unſer
Heim?“ fragte ſie vorwurfsvoll. „Hätte ich nicht
Fortunat, könnte ich mit niemand prüfen und ſprechen.“
„Ich verſtehe nichts davon. Mir iſt jeder Ort
gleich, ihm aber macht es Vergnügen, wie mir ſcheint.“
„Ja, wirklich, gab Fortunat aufrichtig zu. „So
ein Neſt ſich zu bauen iſt das Reizvollſte, was ich
bisher erlebt habe, obgleich es nicht einmal mein
eigenes iſt.“
„Aber das Ihrer beſten Freunde,“ ſagte Maud
und reichte ihm die Hand. „Sie müſſen oft kommen,
Fortunat.“
„Ja, Du mußt oft kommen,“ wiederholte Heeken
ſchnell, „ſchon meiner Frau wegen. Du verſtehſt
von all dieſem Firlefanz mehr wie ich.“
Fortunat küßte Mauds Hand. „Mehr als
gern,“ ſagte er mit Herzenswärme. —
Auch in den Möbelmagazinen erſchienen ſie zu
dreien. Maud hatte einen feinen, ganz außerordent—
lichen wähleriſchen Geſchmack, der Fortunat entzückte
und den er meiſt teilte. Geſchah das nicht, konnten
ſie in einen ganz ernſtlichen Streit geraten. Heeken
ſaß bei alledem wie ein Tauber und Blinder.
615 Schwertklingen. Roman von Hans Werber. 616
Zuerft hatte fie ihn um feine Meinung gefragt, „Aber lieber Tino, es geht Dich doch auch mit an.”
ihre Wahl von ber feinen abhängig machen wollen, „Ih \ehe wirklich nicht ein, warum drei Menjchen
aber er jhien wirklich nur gezwungen mit dabei zu | herumlaufen müfjen, um etwas zu faufen, was einer
fein, wenig at zu geben, war mürriſch und ſchweigſam. ebenſogut kann. Glaubſt Du etwa, mir macht das
So ließen fie ihn enblih in Ruhe, ohne nah den | Vergnügen?” fragte er achjelzudend. „Es ift ja dod)
Gründen zu forichen. Dein — alles Dein!” —
„Ich begreife es nicht,“ jagte Maud mandhmal Sie ließen ihn endlih ganz fort, und er jaß
balblaut zu Fortunat. nun wieder in feinem Atelier — teils müßig, teils
„Sum fehlt die Vorftelung der Wirtung im | zeichnend und formend — wie es ihm gerade in den
eigenen Heim,” meinte biejfer, der fi) auch darüber | Kopf Fam, aber einen neuen Entwurf hatle er nod
mwunderte. nicht, oder mwenigftens jchob er ein Beginnen hinaus
Heelen trat zu ihnen. „Wozu fchleppt Yhr | bis nad der Hochzeit. |
mich eigentlich mit,” fragte er. (Sortfegung folgt.)
Schwertiklingen.
Baterländifcher Roman
bon
Dans Werder.
(Bortjegung.)
ber Vertrauten möglihft vermieden, um fie nicht zu klar
VI die Schweren Bekümmernille aus ihren Augen lejen zu
lafien. Sebt fragte fie beflommen, ob Elije etwas von
Wie ein Sturm ging es dur Berlin — auf: | Hallo wüßte, ob Schill von feinem Mitgehen ge-
rüttelnd, erihütternd. Schill war fort mit feinem | fproden. „Sa natürlich!” ermiderte Elife ihr un:
Regiment, mar ausgezogen gegen den Feind, den | befangen. „Und vor allen Dingen, Hallo war felber
Krieg anzufhüren, das Land zur Befreiung auf: | bei mir, um mir Xebemohl zu jagen, am Vormittag
zuweden. Was jollte nun werden? Würde der | ihres Ausmarjhes! Er war ja einer von ben dreien,
König den Krieg erklären? Würde auch das | die um Ferbinande Plan mußten!” fuhr fie mit
übrige Heer feinem zündenden Beilpiel folgen? Noch | einem Seufzer fort. „Ad, und er war jo voll
war die Berliner Garnifon ruhig, do von Stunde | grimmiger Kampfesfreudigkeit! Auf meines Ferdinands
zu Stunde erwartete man zu bören, daß auch die | Stimmung lag die Sorge ber Verantwortung wie
zurüdgebliebenen Regimenter dem fühnen Partei: | ein trübender Schleier! Haffo aber war wie eine
gänger gefolgt wären. Die Spannung und Unruhe | funfenihhlagende Stahlklinge!” Sie lächelte bei biejen
war unbejchreiblid. Die Bejorgnis der Behörden, | Worten, obgleidy ihre Augen in Thränen fanden.
weldhe fih für die Vorgänge verantwortlich fühlten, „Aber er wollte ja doh nit mit. Er be-
ftieg aufs hödhftee Man jah den Vulkan und er: | kärnpfte Schills Speen bis zum letten Augenblid!”
wartete jeden Augenblid jeinen Ausbrud. rief Renate ganz verzweifelt vor diefem Chaos von
Seit Renate von Schille Auszug als einer be: | Wiberfprüchen.
glaubigten Thatjadhe erfahren, wandelte fie umher „Sewiß befämpfte er fie,” entgegnete Elije mit
wie im Fiebertraum. Und Hafjo jollte mitgegangen | leichter Verwunderung. „Ferdinand hatte ihn um
fein! Belannte hatten ihn beim Ausmarjch an der | feine Anficht befragt und die wich leider von ber
Spite feiner Schwabron gejehen und erzählten es | feinigen ab, das aber konnte do für Haflo Rodlig
ihr völlig glaubhaft. Doc fie konnte es noch nicht | fein Grund fein, zurüdzubleiben, wenn fein Re:
faflen, Furdt und Hoffnung lehnten fich dagegen | giment ins Feld zog!”
auf: die Hoffnung, die beglüdende, daß fie fi „Aber warum bat er mir das nicht gejagt!”
dennoch nit in ihm getäufht — und die Furcht | rief Renate jest, in Thränen ausbredhend, denn fie
zugleich, ihm jo bitter unrecht gethan zu haben! Sie | jahb fi wie verraten und verfauft biefem Miß-
bat den alten Klaus, fich zu erkundigen, ob es wirklich | verfländnig gegenüber.
wahr fei. Doh der mußte ed ohnehin genau und Elifens Erftaunen wuchs. „Aber liebite Renate,
bedurfte Feiner Erfundigung. Von tiefer Unruhe | was follte er Dir fagen? So wie Du Haflo Eennft,
erfüllt, juchte fie ihre Freundin Elife auf. Noch | wie Du mit ihm ftehft, kannſt Du doch unmöglich
hatte fie zu Diejer Fein Wort von ihrem Zerwürfnis | hieran gezweifelt haben!”
mit Hallo erwähnt, es war ihr zu jchmerzlich und Da warf Renate fi vor ihr nieder, den Kopf
beihämend und fie hatte deshalb ein Alleinfein mit | in ihren Schoß geichmiegt und rang in krampfhaftem
617 Schweriklingen.
Schluchzen die Hände über dem Scheitel. „Ach,
Eliſe — ich habe nicht nur an ihm gezweifelt —
ich habe ihn verachtet, beleidigt, bis in den Tod ge⸗
kränkt! Und ſo iſt er von mir gegangen — un—
verſöhnt! Ach, ich war ſeiner Liebe nicht wert —
und nun habe ich ihn verloren!“
Sanft ließ die Freundin dieſen Ausbruch des
Jammers über ſich ergehen. „Du armes Kind!“
lagte fie endlich und ftreichelte lieblojend das braun:
lodige Haar der vor ihr Knieenden. „Gott gebe, daß
fie bald gejund und fiegreih zurüdlehren, damit Du
Das Herzeleid wieder gut maden fannit, das Du
ihm — und Dir jelber angethan!”
* *
*
Die Hofgefelichaft fand fih auf einem Feft bei
der alten Brinzejfin von Dranien zujammen. Alles
eilte hin, — in der wideriprechendften Stimmung.
Ein jeder wollte hören, was die andern etwa wußten,
Meinungen austaufhen und über die aufregende
Sachlage beraten. Auch Herr von Veldegg war dort
mit feiner Tochter Renate. Er wollte anfänglich
zurüdbleiben, aber das konnte er ihr nicht anthun.
Hier endblih mußte ihr nähere Kunde über den Ver:
bleib ihrer Freunde zu teil werden. Major von
Bepelin, Rittmeifter von Blüder und andere Herren
waren dem Regiment nachgejandt und wieder zurüd-
gelehrt. Sie berichteten die interefjantejten Einzel:
heiten. Schille Rede an fein Regiment war im
Wortlaut befannt. Man erjah aus derjelben genau
feine Stellung zur Sade und jeine Abfichten.
Zweifel fonnten nicht mehr beftehen. Durftig tranf
Renates Ohr al diefe Kunde, die fie mit glühenditem
Sinterefle erfüllte. „Mein Gott, mein Gott, ich bin
mit Schuld daran!” Höhnte es angiivoll in ihrer
Seele. „Sder ift mit [huldig, der e8 aud nur
gewünjht! D, und wie wird nun das Ende jein!?”
Dem Nittmeilter von Blüdher verjuchte fie fi
zu nähern. „Sagen Sie mir, Herr von Blücher,”
redete fie ihn baftig an, „war Rodlig mit beim
Negiment, haben Sie ihn gejehen?“
„Rohlig?” Er lachte. „Ya, NRodli ah ich!
Er ift Feuer und Flamme, ber Tolliten einer! Das
fönnen Sie wohl denfen, gnädiges Fräulein! Für
den ift das fo recht etwas!“
Renate Ihwieg. Ja — fie Fonnte es fich denken!
Ale andern fanden es jelbfiverftändlih und nur fie,
die feinem Herzen nahe geitanden, die einzige auf
der Welt — fie batte ihn verlannt und ihm fo
Ihmäbhliches Unrecht angethban! — —
Die Aufregung in der Gejellihaft wollte auch
bier fein Ende nehmen. Schils That wurde in den
Himmel erhoben und die Anhängerinnen des jo:
genannten Tugendbundes, die Vertreterinnen der
großen Freiheitsidee verjhmähten es nicht, über bie:
jenigen wegwerfend die Achleln zu zuden und fie zu
verurteilen, welche gehorfam es vorgezogen hatten,
vorläufig bier zu bleiben, um erft den Befehl ihres
Königs zum Ausmarjch abzuwarten. Was berechtigte
diefe rauen zu ſolchem Gebaren, dachte Renate,
welche mit Sorge und Angſt um das Schickſal der
Roman von Hans Werder.
618
in den Kampf Gezogenen erfüllt war. Ihre Augen
ſtreiften Herrn von Quiſtorp, den Führer des Schillſchen
leichten Jägerbataillons, der in der Nähe ſtand, ein
ſchöner, eleganter Menſch. Wie Pfeile ſchoſſen die
höhniſchen Worte über ſein Haupt hin. Er wurde
blaß bis in die Lippen und dann wieder ſtieg die
Glut des Zornes und der Beſchämung ihm bis zur
Stirn hinauf. In heißem innerem Kampf wandte
er ſich ab, da trat Renate raſch auf ihn zu.
„Herr von Quiſtorp, das Benehmen dieſer
Damen finde ich empörend, unerhört.“
Er blickte Renate finſter entſchloſſen an. „Viel—
leicht — gnädiges Fräulein, und der Erfolg wird
es ja lehren, ſind die Anſichten dieſer Damen nicht
ganz ungerechtfertigt. Ich bin Schillſcher Offizier,
der Führer ſeiner berühmten Jäger, ich dürfte wohl
nicht fehlen, wenn er zu Sieg und Ehre auszieht!“
„Das mag ja ſein,“ gab Renate lebhaft zurück.
„Sie aber ſind niemand, am allerwenigſten dieſen
unweiblichen Wortführerinnen, Rechenſchaft über Ihr
Thun ſchuldig!“ Während ſie ſo ſprach, leuchtete
es plötzlich in ihr auf wie ein Blitz. Es wurde
ihr klar, warum Haſſo nur nach eigener Anſicht
handeln konnte und jeden Einfluß zurückweiſen
mußte, der an ſeine Auffaſſungen von Pflicht und
Ehre zu rühren wagte! „Ganz beſonders den
Ihrigen!“ Jetzt verſtand ſie ihn völlig! Auch in
dieſem Worte, das ihr ſo beſonders kränkend er—
ſchienen. Ach, warum war ihr nicht früher dieſe
Klarheit gekommen?
„Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte,
gnädiges Fräulein,“ hatte Quiſtorp darauf erwidert.
„Soll ich die Schillſchen von Ihnen grüßen, wenn
ich ſie ſehe?“
„Ja, grüßen Sie den Major von mir, und
Albert Wedel und — Rodhlig —*
Damit war ihre Unterhaltung beendet.
Am nächften Morgen hatte Duiftorp mit jeinem
Bataillon und drei Difizieren Berlin verlafien, um
Shil aufzufuhen und fein Schidjal mit dem jeinen
ju vereinigen.
Es war die lette frohe Stunde in dem Leben
des tapferen Hufarenlommanbdeurs, als das Häuflein
bei ihm eintraf. In flürmilcher Freude jchloß er
Quiflorp in die Arme. Strahlenden Blides multerte
er die Reihen der Tapfern, die gelommen waren,
um fortan zu den Seinen zu zählen. Er ließ fie
einen Kreis um fich ber jchließen und Iprach zu ihnen
Worte des Willlommens in feurig zündender Rede.
„Richt Ehrjudt, nicht Eigennuß, nicht Findifches Ge-
lüften nach Abenteuern“ — fo Ihloß er — „hat mich
zu biefem Schritt getrieben. Nur für die hödhiten
und beiligften Güter erhob ich meinen Arm. Und
das Ihmwöre ih Eu, mein Säbel fol nicht eher
wieder in der Scheide rajten, als bis ich meinem
Könige auch das legte Dorf der verlorenen Provinzen
zurüderobert, oder ruhmvoll mein Grab gefunden
habe. — Hat aber ber Himmel es anders beichloffen,
jolen wir untergehen, ohne daß Deutichland frei
wird — nun mohlan denn: Beller ein Ende mit
Schreden ale Schreden ohne Ende!“
%a, dies war der lette frohe Tag.
615 Schwertklingen.
Zuerſt hatte ſie ihn um ſeine Meinung gefragt,
ihre Wahl von der ſeinen abhängig machen wollen,
aber er ſchien wirklich nur gezwungen mit dabei zu
ſein, wenig acht zu geben, war mürriſch und ſchweigſam.
So ließen ſie ihn endlich in Ruhe, ohne nach den
Gründen zu forſchen.
„Ich begreife es nicht,“ ſagte Maud manchmal
halblaut zu Fortunat.
„Ihm fehlt die Vorſtellung der Wirkung im
eigenen Heim,“ meinte dieſer, der ſich auch darüber
wunderte.
Heeken trat zu ihnen. „Wozu ſchleppt Ihr
mich eigentlich mit,“ fragte er.
Roman von Hans Werder.
616
„Aber lieber Tino, es geht Dich doch auch mit an.“
„Ich ſehe wirklich nicht ein, warum drei Menſchen
herumlaufen müſſen, um etwas zu kaufen, was einer
ebenſogut kann. Glaubſt Du etwa, mir macht das
Vergnügen?“ fragte er achſelzuckend. „Es iſt ja doch
Dein — alles Dein!“ —
Sie ließen ihn endlich ganz fort, und er ſaß
nun wieder in ſeinem Atelier — teils müßig, teils
zeichnend und formend — wie es ihm gerade in den
Kopf kam, aber einen neuen Entwurf hatte er noch
nicht, oder wenigſtens ſchob er ein Beginnen hinaus
bis nach der Hochzeit.
(Fortſetzung folgt.)
Schwert
Rlingen.
Baterländifcher Roman
bon
Dans Werder.
(Bortfegung.)
VL
Wie ein Sturm ging es duch Berlin — auf:
rüttelnd, erfchütternd. Schill war fort mit feinem
Regiment, mar ausgezogen gegen den Feind, ben
Krieg anzufhüren, das Land zur Befreiung auf:
zuweden. Was follte nun werden? Würde ber
König den Krieg erllären? Würde aud Das
übrige Heer jeinem zündenden Beilpiel folgen? Noch
war bie Berliner Garnifon ruhig, do von Stunde
zu Stunde erwartete man zu hören, daß auch die
zurüdgebliebenen Negimenter dem tühnen ‘Partei:
gänger gefolgt wären. Die Spannung und Unrube
war unbefchreiblid. Die Bejorgnis der Behörden,
welche fi für die Vorgänge verantwortlich Tühlten,
flieg aufs bödfte. Man jah den Qullan und er-
wartete jeden Augenblid feinen Ausbrud.
Seit Renate von Shils Auszug als einer be:
glaubigten Thatjache erfahren, wandelte fie umber
wie im Fiebertraum. Und Haflo jollte mitgegangen
fein! Belannte hatten ihn beim Ausmarjh an der
Spite feiner Schwadron gejehen und erzählten es
ihr völlig glaubhaft. Doc fie konnte es noch nicht
faflen, Furt und Hoffnung lehnten fi) dagegen
auf: die Hoffnung, die beglüdende, daß fie fich
dennoh nicht in ihm getäufht — und die Furt
zugleich, ihm jo bitter unrecht gethban zu haben! Sie
bat den alten Klaus, fich zu erkundigen, ob es wirklich
wahr fei. Dod der mußte es ohnehin genau und
bedurfte feiner Erfundigung. Von tiefer Unruhe
erfült, fuchte fie ihre Freundin Elife auf. Noch
hatte fie zu diejer fein Wort von ihrem Zerwürfnis
mit Haflo erwähnt, es war ihr zu jchmerzlih und
beihämend und fie Hatte deshalb ein Alleinjein mit
ber Vertrauten möglihft vermieden, um fie nicht zu Klar
bie fchweren Bekümmerniffe aus ihren Augen lejen zu
laflen. Seht fragte fie beflommen, ob Elife etwas von
Hallo müßte, ob Schill von feinem Mitgehen ge:
iproden. „Sa natürlih!” ermwiberte Elife ihr un-
befangen. „Und vor allen Dingen, Haflo war jelber
bei mir, um mir Lebewohl zu jagen, am Vormittag
ihres Ausmarjhhes! Er war ja einer von den Dreien,
die um Ferdinandse Plan mußten!” fuhr fie mit
einem Seufzer fort. „Ad, und er war jo voll
grimmiger Rampfesfreudigleit! Auf meines Serdinands
Stimmung lag die Sorge der Verantwortung wie
ein trübender Schleier! Hajo aber war mie eine
juntenj&hlagende Stahlklinge!” Sie lächelte bei diejen
Worten, obgleih ihre Augen in Thränen ftanden.
„Aber er wollte ja doh nit mit. Er be:
föınpfte Schills Speen bis zum legten Augenblid!”
rief Renate ganz verzweifelt vor diefem Chaos von
Widerſprüchen.
„Gewiß bekämpfte er ſie,“ entgegnete Eliſe mit
leichter Verwunderung. „Ferdinand hatte ihn um
ſeine Anſicht befragt und die wich leider von der
ſeinigen ab, das aber konnte doch für Haſſo Rochlitz
fein Grund fein, zurückzubleiben, wenn ſein Re—
giment ins Feld zog!“
„Aber warum hat er mir das nicht geſagt!“
rief Renate jetzt, in Thränen ausbrechend, denn ſie
ſah ſich wie verraten und verkauft dieſem Miß—
verſtändnis gegenüber.
Eliſens Erſtaunen wuchs. „Aber liebſte Renate,
was ſollte er Dir ſagen? So wie Du Haſſo kennſt,
wie Du mit ihm ſtehſt, kannſt Du doch unmöglich
hieran gezweifelt haben!“
Da warf Renate ſich vor ihr nieder, den Kopf
| in ihren Schoß geichmiegt und rang in frampfhaften
617 Schwertklingen.
Schludzen die Hände über dem Scheitel. „AK,
Eliie — ich babe nit nur an ihm gezweifelt —
ich habe ihn veracdhtet, beleidigt, bis in den Tod ges
fräntt! Und fo ift er von mir gegangen — un:
verföhnt! Ach, ich war feiner Liebe nicht wert —
und nun babe ich ihn verloren!”
Sanft ließ die Freundin diefen Ausbruch des
Sammers über fi ergeben. „Du armes Kind!”
fagte fie endlich und ftreichelte lieblojend das braun:
lodige Haar der vor ihr Knieenden. „Sott gebe, daß
fie bald gefund und fiegreidh zurüdkehren, damit Du
Das Herzeleid wieder gut maden fannft, das Du
ihm — und Dir felber angethan!”
* *
ꝛe
Die Hofgeſellſchaft fand ſich auf einem Feſt bei
der alten Prinzeſſin von Oranien zuſammen. Alles
eilte hin, — in der widerſprechendſten Stimmung.
Ein jeder wollte hören, was die andern etwa wußten,
Meinungen austauſchen und über die aufregende
Sachlage beraten. Auch Herr von Veldegg war dort
mit ſeiner Tochter Renate. Er wollte anfänglich
zurückbleiben, aber das konnte er ihr nicht anthun.
Hier endlich mußte ihr nähere Kunde über den Ver—⸗
bleib ihrer Freunde zu teil werden. Major von
Zepelin, Rittmeiſter von Blücher und andere Herren
waren dem Regiment nachgeſandt und wieder zurück
gekehrt. Sie berichteten die intereſſanteſten Einzel—
heiten. Schills Rede an ſein Regiment war im
Wortlaut bekannt. Man erſah aus derſelben genau
ſeine Stellung zur Sache und ſeine Abſichten.
Zweifel konnten nicht mehr beſtehen. Durſtig trank
Renates Ohr all dieſe Kunde, die ſie mit glühendſtem
Intereſſe erfüllte. „Mein Gott, mein Gott, ich bin
mit ſchuld daran!“ ſtöhnte es angſtvoll in ihrer
Seele. „der ift mit ſchuldig, der es auch nur
gewünſcht! O, und wie wird nun das Ende ſein!?“
Dem Rittmeiſter von Blücher verſuchte ſie ſich
zu nähern. „Sagen Sie mir, Herr von Blücher,“
redete ſie ihn haſtig an, „war Rochlitz mit beim
Regiment, haben Sie ihn geſehen?“
„Rochlitz?“ Er lachte. „Ja, Rochlitz ſah ich!
Er iſt Feuer und Flamme, der Tollſten einer! Das
können Sie wohl denken, gnädiges Fräulein! Für
den iſt das ſo recht etwas!“
Renate ſchwieg. Ja — ſie konnte es ſich denken!
Alle andern fanden es ſelbſtverſtändlich und nur ſie,
die ſeinem Herzen nahe geſtanden, die einzige auf
der Welt — ſie hatte ihn verkannt und ihm ſo
ſchmähliches Unrecht angethan! — —
Die Aufregung in der Geſellſchaft wollte auch
hier kein Ende nehmen. Schills That wurde in den
Himmel erhoben und die Anhängerinnen des ſo—
genannten Tugendbundes, die Vertreterinnen der
großen Freiheitsidee verſchmähten es nicht, über die—
jenigen wegwerfend die Achſeln zu zucken und ſie zu
verurteilen, welche gehorſam es vorgezogen hatten,
vorläufig hier zu bleiben, um erſt den Befehl ihres
Königs zum Ausmarſch abzuwarten. Was berechtigte
dieſe Frauen zu ſolchem Gebaren, dachte Renate,
welche mit Sorge und Angſt um das Schichſal der
Roman von Hans Werder.
618
in den Kampf Gezogenen erfüllt war. Ihre Augen
ſtreiften Herrn von Quiſtorp, den Führer des Schillſchen
leichten Jägerbataillons, der in der Nähe ſtand, ein
ſchöner, eleganter Menſch. Wie Pfeile ſchoſſen die
höhniſchen Worte über ſein Haupt hin. Er wurde
blaß bis in die Lippen und dann wieder ſtieg die
Glut des Zornes und der Beſchämung ihm bis zur
Stirn hinauf. In heißem innerem Kampf wandte
er ſich ab, da trat Renate raſch auf ihn zu.
„Herr von Quiſtorp, das Benehmen dieſer
Damen finde ich empörend, unerhört.“
Er blickte Renate finſter entſchloſſen an. „Viel—
leicht — gnädiges Fräulein, und der Erfolg wird
es ja lehren, ſind die Anſichten dieſer Damen nicht
ganz ungerechtfertigt. Ich bin Schillſcher Offizier,
der Führer ſeiner berühmten Jäger, ich dürfte wohl
nicht fehlen, wenn er zu Sieg und Ehre auszieht!“
„Das mag ja ſein,“ gab Renate lebhaft zurück.
„Sie aber ſind niemand, am allerwenigſten dieſen
unweiblichen Wortführerinnen, Rechenſchaft über Ihr
Thun ſchuldig!“ Während ſie ſo ſprach, leuchtete
es plötzlich in ihr auf wie ein Blitz. Es wurde
ihr klar, warum Haſſo nur nach eigener Anſicht
handeln konnte und jeden Einfluß zurückweiſen
mußte, der an ſeine Auffaſſungen von Pflicht und
Ehre zu rühren wagte! „Ganz beſonders den
Ihrigen!“ Jetzt verſtand ſie ihn völlig! Auch in
dieſem Worte, das ihr ſo beſonders kränkend er—
ſchienen. Ach, warum war ihr nicht früher dieſe
Klarheit gekommen?
„Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte,
gnädiges Fräulein,“ hatte Quiſtorp darauf erwidert.
„Soll ich die Schillſchen von Ihnen grüßen, wenn
ich ſie ſehe?“
„Ja, grüßen Sie den Major von mir, und
Albert Wedell und — Rochlitz —“
Damit war ihre Unterhaltung beendet.
Am nächſten Morgen hatte Quiſtorp mit ſeinem
Bataillon und drei Offizieren Berlin verlaſſen, um
Schill aufzuſuchen und ſein Schickſal mit dem ſeinen
zu vereinigen.
Es war die letzte frohe Stunde in dem Leben
des tapferen Huſarenkommandeurs, als das Häuflein
bei ihm eintraf. In ſtürmiſcher Freude ſchloß er
Quiſtorp in die Arme. Strahlenden Blickes muſterte
er die Reihen der Tapfern, die gekommen waren,
um fortan zu den Seinen zu zählen. Er ließ ſie
einen Kreis um ſich her ſchließen und ſprach zu ihnen
Worte des Willkommens in feurig zündender Rede.
„Nicht Ehrſucht, nicht Eigennutz, nicht kindiſches Ge⸗
lüſten nach Abenteuern“ — ſo ſchloß er — „hat mich
zu dieſem Schritt getrieben. Nur für die höchſten
und heiligſten Güter erhob ich meinen Arm. Und
das ſchwöre ich Euch, mein Säbel ſoll nicht eher
wieder in der Scheide raſten, als bis ich meinem
Könige auch das letzte Dorf der verlorenen Provinzen
zurückerobert, oder ruhmvoll mein Grab gefunden
habe. — Hat aber der Himmel es anders beſchloſſen,
ſollen wir untergehen, ohne daß Deutſchland frei
wird — nun wohlan denn: Beſſer ein Ende mit
Schrecken als Schrecken ohne Ende!“
Ja, dies war der letzte frohe Tag.
619 Schwertklingen.
Am folgenden Morgen, im Quartier zu Bern⸗
burg, traf eine Schreckensnachricht ein, die allem
Hoffen auf Gelingen ein Ziel ſetzte. Der Aufſtand
des Oberſten Dörnberg, mit dem ſich Schill ver—
einigen wollte, war völlig und endgültig nieder:
geichlagen, der edle Dörnberg jelber, nur um Leben
und Freiheit zu retten, nach England entflohen. Und
noch jchlimmer die zweite Botichaft, die balb darauf
folgte. Die Nahriht von dem Siege des Erzherzogs
Karl bei Hof erwies fih als falihd — Napoleon hatte
ihn in einer Reihe von Gefechten völlig geichlagen
und 309 aufs neue als Sieger gegen bie Mauern
von Wien.
Ein Unglück kommt ſelten allein, gewiß! Aber
waren denn dies nicht fchon ihrer zwei, die auf des
tühnen Parteigängerse Haupt bereingebroden, um
ibm den Ilntergang zu verlünden? War es nicht
genug damit? Nein — drei Naben waren es, bie
über feinem Haupte freiften, und ber britte, ber
dritte — ber brachte das Verderben, den Todesftoß
al feiner Hoffnung, al feinem Ruhm — feiner
Soldatenehre, dem Zwed und Snhalt feines Lebens!
Ein Kurier aus Berlin erjhien und ließ fich
bei dem Major melden. Diejer empfing ihn in
feinem Onartier allein und nahm bie Schriftftüde
entgegen, welche er ihm überbradte. Es war ein
Kabinettsbefehl des Königs, in weldem Schill auf:
gefordert wurde, ungeläumt zurüdzufehren und fie
dem Kriegsgericht zu ftellen. Sein Vorgehen wurde
als PVerleitung zur Defertion des ihm anvertrauten
Regiments aufgefaßt — als Landfriedensbrug. Er
jelbft follte wegen Defertion und Landesverrat an-
gellagt werden, da er gegen den Willen bes Königs
gehandelt und diefen, dem Kaifer von Frankreich
gegenüber, in die peinlichfte Verlegenbeit gelett hätte.
Die ganze Schale des Töniglichen Zornes war
ausgejchüttet über fein Haupt. Und er hatte ge-
glaubt -- — —
SHill ftand in feinem Zimmer, auf den Tiih
gelehnt, das verhängnisvolle Schreiben in der Hand.
Die Hand Jant langfam immer tiefer herab. Er
regte fih nit. Kaum daß die Bruft fih bob unter
mühſamen Atemzügen. Auf feiner Stirn traten
Schmweißtropfen hervor.
Der wartende Kurier machte eine Bewegung.
Da fchraf der Major auf. Er entließ ihn.
Die Offiziere fanden draußen umher, gingen
wartend auf und nieder. Sie mußten, daß der
Kurier aus Berlin gelommen, do nicht, mas er
gebradt. Nur daß es nichts Gutes jein fonnte,
das wußten fie. Die beiden vorherigen Unglüde:
botichaften hatten auch fie mit tiefer Niedergejchlagen-
beit erfüllt. Nun fpürten fie den Ylügeljchlag des
dritten der Raben verhängnisvoll über ihren Häuptern.
Stunden vergingen. Sdill ließ fich nicht ſehen,
nicht hören. Es war Nacht in feiner Seele und diefe
Naht mußte er durdlämpfen, bis er feine Stirn
dem Tageslicht und den Augen der Seinen wieder
zeigen Fonnte.
Er hatte geglaubt, in des Königs Namen, mit
des Königs ftiljchweigender Bewilligung zu handeln.
„sür meinen geliebten König, für meine angebetete
Roman von Hans Werber.
620
Königin” — das war das Motto, mit dem er aus:
gezogen war, Das legte Dorf der geraubten Provinzen
feinem König wiedererobern — Sieg und Ehre dem
Kriegsherrn zu Füßen zu legen, und fein Herzblut
dazu — tropfenweife, glühbend, bingebend — unb
jelig, wenn es nur rinnen durfte für diefen dreimal
heiligen Zmed.
Und nun — Defertion,
Zandesverrat!
Warum eigentlih nicht Hochverrat?
Ferdinand von Schill brad in ein Laden aus.
Er preßte die geballte Fauft vor feine Stirn und
late wieder. Das erihien ihm wie eine Er:
leihterung.. Es war als jei das Herz ihm aus der
Bruft geriflen und diefen fürchterlichen, wahnſinnigen
Schmerz übertäubte das Lachen.
Und alle diefe Männer, die er mit fih geführt —
zur Dejertion verlodt, in Schande oder Untergang —
die treuen, ritterlihen Kameraden. Auf fein Haupt
das alles! Auf jein Haupt die Laft fo furchtbarer
DBerantwortung!
„Do mein Gott, was hab’ ich gethan! Landes:
verräter!”
Mieder diejes Lachen!
Sept hörte e8 draußen Major Kükow. Es war
nicht länger zu ertragen. Lützow ftand ihm nah
als Freund und Altersgenofle, im Range felbft ihm
gleih, er konnte jchon einmal die Schranfe über:
Ichreiten.. Nafch entihloffen Tlopfte er an die Thür
und trat hinein. „Bitte um Verzeibung, wenn ic
flöre, Herr Major!”
Mühlem richtete Schill fih auf. „Du bilt es,
Adolf — komm — ih habe mit Dir zu fpredhen!“
Er Iprad aber nit. Worte ftanden ihm nicht zu
Gebote. Stumm reichte er dem Freunde die Fönig-
lie Kabinettsordre hin. Lütomw war überwältigt von
Entjeßen.
„m Gottes willen, Schill, was wirft Du thun?”
Mit matter Bewegung firih fih Schill das
Ihmwarze, feucht gewordene Haar aus der Stirn.
„Ich habe nicht zu entjcheiden, was wir thun wollen!”
jagte er. „Ih babe Euer aller Schidjal mit dem
meinen zugleich verwirft, und nicht ohne Eure Ent:
Ichließungen zu befragen, kann ich weiter handeln!“
Sn Schwerer Aufregung begann er im Zimmer hin
und ber zu gehen. „Es ift eine harte Wahl, vor
die ich geftellt bin — entweder bei Napoleon oder
bei unjferm Könige um einen Kerfer für mid) und
Euch zu bitten! — Aber — e8 giebt noch ein Drittes!”
Er blieb ftehen und hob wie in plößlicher Aufwallung
beide Arme gen Himmel. „Gott jei Dant — e8
giebt noch ein Drittes!”
„a, Schill, es giebt no ein Drittes,” ſagte
Lügßom mit vor Schmerz unfiherer Stimme. „Dahin
wirft Du uns führen, und in unjerm Blute werden
wir uns des Königs Vergebung und Gnade zurüd-
erfaufen. Ych babe Dich noch nie verzagt gejehen —
bedenke, Du darfft au ben jüngeren Kameraden
feine Mutlofigleit zeigen! Auf Deiner perlönlichen
Haltung ift jegt ihr aller Schidjal gegründet!“
„Die armen Sungens!” jagte Schill, und ein
Lächeln, trauriger als Thränen der Verzweiflung, irrte
Landfriedensbrud,
621
über fein Gefidt. „Ruf fie mir ber, Abolf,” er
zog feinen nervigen Körper in feitere Haltung. „Ih
will das Offizierkorps ſprechen!“
Das Dffizierforps verfammelte ih. Ruhig trat
Major von Schill ihnen entgegen. Sein Gefidht
erihien ihnen um Sabre gealtert. Sein Blid war
matt, jein Ausdrud der eines gebrochenen Mannes.
Felt und Mar aber redete er fie an. Er teilte ihnen
den Snhalt der Kabinettsordre mit und ftellte ihnen
feine verzweifelte Lage jo dar, wie fie in Wirklid:
feit war. Seine mildernden Umftände fpiegelte er
ihnen vor, keine lockenden Hoffnungen zeigte er
ihnen als Ausweg. Mit feiner Silbe erinnerte er
fie an ihre Verjprehungen, mit ihm fiegen oder
untergeben zu wollen. Er gab ihnen das Wort
wieder, das ihr Schidjal an das feine band, und
bot ihnen an, fie zurüdzuführen. Zurüd nad Berlin,
zur Armee, wo ihrer vielleicht die VBerzeihung und
Gnade des Mlerhöhften Kriegsherrn warten würde.
Ihrer vielleiht — doc ohne ihn — das fagte
er nicht dabei. Seiner wartete dort Kerler, Kriegs:
geriht und die fchwere Strafe für Defertion. Er
bot ihnen jomit das fchwerfte Dpfer an, das Gott
und Menjhen erfinnen mochten, ihm aufzuerlegen!
Das fchwerite Opfer, mit dem ein Menjch feines
Herzens Heiligtümer, feines Lebens Ziele hinmirft,
um einen Schatten von dem zu retten, was dur
feine Schuld zu Grunde gegangen ift.
Sein ritterlides Difizierlorps aber verftand,
was er ihnen anbot und was er ihnen opfern wollte.
Sie veritanden ihn alle.
„Überlegt e8 Euch, Kameraden — beratichlagt —
und teilt mir Euren Entihluß mit!” fjagte er nody
und trat fort an das Fenfter, auf deilen Sims er
ſich ſtützte.
„Da iſt nichts zu überlegen, nichts zu berat-
ſchlagen!“ brauſte Rochlitz feurig auf. „Herr Major,
wir wiſſen alle auch ohnedem, was wir Ihnen zu
antworten haben!“
„Das iſt Ihre Anſicht, Rochlitz,“ ſagte Bärſch
gemeſſen, „doch vielleicht nicht die aller Herren. Jeder
von uns bat feine Meinung zu äußern, die Ent:
Iheidung werden wir Danach gemeinjam treffen. Daß
der Borihlag des Herrn Major ein hödit ver:
nünftiger ift, wird wohl jedem von uns einleuchten
müſſen!“
„Jawohl,“ murmelte Haſſo zwiſchen den Zähnen,
„aber die Vernunft hat hier bisher eine ſehr geringe
Rolle geſpielt — jetzt iſt am wenigſten der Moment,
unſere Entſchließungen von ihr beherrſchen zu laſſen!“
Beſchwichtigend legte Lützow die Hand auf ſeinen
Arm. „Rochlitz, wir ſind ja alle einer Anſicht, Bärſch
nicht anders als Sie und ich! Was meinen Sie,
meine Herren?“ Er wandte ſich bei dieſen Worten
an Hagen, François, Brünnow und die übrigen.
Ein Murmeln durchlief die Reihen. Die Beſtürzung
der Offiziere war freilich groß, denn die meiſten
waren mehr oder minder überzeugt geweſen, daß
Schill wirklich den geheimen Wunſch oder Willen
des Königs ausgeführt. Ganz klar über die Sad)
lage ſahen nur Lützow, Rochlitz und Bärſch. Doch
das beirrte ihre Entſchließung nicht. In unbedingter
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
622
Zuſtimmung fand dieſelbe ihren Ausdruck und richtete
ſich alsbald in offenem Zuruf an ihren Führer.
„Wir gehen alle mit Ihnen, Herr Major, wohin
Sie uns führen! Sie haben unſer Wort! Ihre Sache
iſt die unſerige! Nein, nein, nicht zurück — das
bedeutet ſchmähliche Strafe und vorwärts einen Unter⸗
gang mit Ehren! — Wir ſtehen unverbrüchlich zu
Ihnen, Herr Major!“ So ſchallte es ihm von allen
Seiten entgegen. Sie umringten ihn und drückten
ſeine Hände. Sie gelobten ihm aufs neue Waffen—
brüderſchaft und Treue bis in den Tod.
„Liebe Kameraden, ich dan Euch! Wollte
Gott, ich könnt' es zum guten Ende führen!“ Seine
heißen Augen ſchimmerten feucht im Übermaß tiefſter
Empfindung. „Aber was wollen wir nun thun?“
fuhr er ſort. „Ich will unter dieſen Verhältniſſen
nicht ohne Ihre Zuſtimmung weitere Pläne ent—
werfen. Wir wollen jetzt Kriegsrat halten! Ich
bitte um Ihre Meinungen, meine Herren!“
Es wurde lebhaft beraten, verſchiedene Pläne
vorgetragen. Schill hörte fie alle mit an. Ge
jenften Hauptes ftand er da, iır und unitet ging
jein Blid hin und ber und haftete dann wieder am
Boden. Wie über die zerriffenen Saiten einer Harfe
ein gellender Mißklang — jo irrten über feine Seele
nur immer zwei Worte bin, die all jein Denken und
Fühlen vernichteten: Dejertion — Landesverrat!
Set trug Major von Lütom Mar und in
feuriger Rede feine Sdeen vor. Sie mußten wohl
gut jein, denn fie fanden einftimmigen Beifall. Quer
dur die Altmark und das Hannöverjhe über bie
Wefer nah Dftfriesland. Dort fönnte und müßte
man fi) halten, eine fichere Stüße finden in dem
treu preußiich gefinnten, tapferen Friejenvolle, unter
den denkbar günftigften Landesverhältnifen. Wenn
fie dennodh dann das Unglüd verfolgen follte, fände
man jchlimmftenfalls auf britiihden Schiffen oder in
Helgoland fihere Zuflucht.
Ale johienen die Zuftimmung des Kommanbeurs
zu erwarten, doch diefer zögerte unentihloflen. „Sc
behalte mir die Enticheidung no vor — die Sad:
lage ift nicht jo Elar, als Sie denlen, meine Herren!
Der Borihlag des Major von Lütow bat ja gewiß
vieles für fih, do Fann ih ihm nicht fofort un:
bedingt beitreten. Sch werde meine Enticheidung
rechtzeitig Fundthun! Für jekt danle ih Ihnen,
meine Herren!”
Sie waren entlaffen und gingen — jeder einzige
mit fcehwer befümmerter Seele. Das hatten fie nicht
erwartet! Nein, von allem, was geihhehen fonnte,
das nicht! Diefen jchweren Zorn des Königs — für
eine That jo freudiger, patriotiiher Hingabe. Dod
jhlimmer no als dies alles erjhien ihnen Der
jeelifihe Zuftand ihres Kommandeurs. Nicht einer
vermochte fi darüber zu täujhen, Daß es Ber:
zweiflung war, bie in feinem irren, troftlojen Blid
geglüht, ratlofe Unentjchloffenheit, weldhe aus jeinen
zerftreuten Worten zu ihnen geredet. „Er wird fi)
wieder finden! Er wird fich fallen!” tröfteten einige
ber älteren, die ihn lange fannten. „Man bat ihn
no nie verzagen jeben, er wird auch jeßt feinen
623
Mut zurüdgewinnen!” Damit trennten fie ih —
bejchwert im Herzen wie mit Feljenlaft.
Nein, noch halte ihn niemand verzagen jehen,
aber wer ſah ihn denn aud je zuvor in fo furdt:
barem BZmielpalt, fein Schiff geicheitert, zerichellt,
auf morſcher Planfe in den Sturm hinausgetrieben?
Wer jah ihn je zuvor — ein verlorener Mann, be:
laftet mit einer Verantwortung, die lähmend jeden
Reltungsgedanten in ihm niederihlug? Erbrüdt
von des Königs Zorn, zum Verbrecher geftempelt,
und damit feines ganzen inneren Haltes beraubt!
So Stand Ferdinand von Schill an der Spite
des bofinungslojen Unternehmens als Führer feiner
todesmutigen Schar. Und fo führte er fie ins fichere
Verderben.
Achter Abſchnitt.
StralfunDd.
©o ziehet der tapfere, der mutige Shi,
Der mit den ranzofen fih Ichlagen will,
Ihn fendet Fein Kaifer, Fein König hinaus,
Ihn ſendet die Freiheit, daß Waterland auß|
D Schill, o Schill, Du tapferer Held,
Maß fprengft Du nicht mit den Reitern ins feld?
Was jhließeft in Mauern bie Tapferkeit ein ?
In Stralfund, ba fol Du begraben fein!
I,
Bei Dodendorf ftand Schill dem Feinde zum erften
Male in offenem Gefecht gegenüber. Die Garnifon
von Magdeburg war ihm entgegengerüdt, teils fran:
zöjiiche, teils weftfäliihe Truppen des Königs Jeröme.
Die mweitfäliihen wollte Schill zunädhft verjuchen,
an fi zu ziehen. Deutihe Krieger — es erichien
ihm unglaublih, daß vdiefelben nicht freudig bereit
jein follten, ihm zu folgen. Der Lieutenant Stod,
ein weißes Taſchentuch ſchwenkend, ritt an da3
nächſte Karree heran. „Kameraden,“ rief er mit
kräftiger Stimme, „wir kommen nicht als Feinde,
ſondern in der Abſicht, unſere deutſchen Brüder vom
Joch der Fremdherrſchaft zu befreien. Ihr werdet
der guten Sache Euren Beiſtand nicht verſagen!
Kommt zu uns herüber und vereinigt Euch mit uns,
dieſes Ziel zu erreichen!“
Der Kommandeur des Bataillons ritt ihm ent—
gegen, mit dem Beſcheide, ſich zurückzuziehen, da ſeine
Worte nicht die eines Parlamentärs, ſondern eines
Verräters wären. Lieutenant Stock wandte ſein Pferd.
Da krachte ein Schuß aus den feindlichen Reihen —
er wankte im Sattel und ſtürzte entſeelt zu Boden.
Ein Schrei der Wut erſcholl von preußiſcher
Seite her. Doch das konnte ja nicht möglich —
konnte keine Abſicht geweſen ſein. Lieutenant Bärſch
unternahm einen zweiten Verſuch — ein Kugelregen
empfing ihn ſchon von weitem. Wie durch ein Wunder
entging er der Todesgefahr. Jetzt ließ Schill zum
Angriff blaſen, und ſtürzte ſeiner racheſchnaubenden
Schar voran auf den Feind. Ein kurzes, heißes
Ringen entſtand. Von allen Seiten griffen die
Schillſchen Schwadronen an. Es gelang ihnen, die
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
624
Karrees zu ſprengen, den Feind zum Rückzug zu
bewegen.
Schill war jelber mit feinem Zuruf und Bei-
jpiel überall zugleich. Stolz und behr, das ritterliche
Bild eines fiegreihen Reiterführers, hielt er auf dem
Schladtfelde — und nahm die Meldung entgegen,
daß der Feind fih im vollen Rüdzuge nah Magbe-
burg zu befände. Da gab er den Befehl zum Ab:
mark. Mit Schmerz jah er, welche jchweren Ber:
Iufte unter den Seinen diefer Sieg ihm gefoflet.
Ein Viertel der Mannichaft fat war gefallen und
verwundet, mehrere Offiziere darunter, au Major
von Züßom, fein Freund, jchwer getroffen. Das war
ein harter Schlag.
Und wie fhmerzlih die Erfahrung, die er heut
gemadt. Um bie deutihen Brüder zu befreien vom
Yoche des fremden Komödiantenfönigs war er ein:
gedrungen in diefes Land, ficher, als Erretter und
Befreier von ihnen begrüßt zu werden. Mit einem
Kugelregen hatten fie ihn empfangen, fein Befreiungs-
angebot als Feindichaft und Verrat zurüdgemiejen!
Bergebens — vergebens alfo auch dies! Er ver:
mochte in feinem glänzenden Siege nicht viel anderes
denn eine Niederlage zu jehen.
In Wansleben bezog Schill für diefe Nacht
Quartier. Der Amtsrat Küjon nahm ihn und ben
größten Teil der Offiziere gaftfreundli auf. Seine
Leute lagen im Dorfe.
Müde von der jchweren Arbeit des Tages, er:
mattet vom Kummer, der ihn quälte, flieg der Hu:
larenfommandeur vom Pferde. Eine größere Anzahl
der Offiziere war bereits bier verjammelt, als er:
warteten fie ihn. Straff grüßend ftanden fie zur
Seite. Als er an ihnen vorüberging, ftreifte fein
Blid über fie hin und ein Lächeln ging über fein
Gefiht. Wie müde gearbeitet, ftaubig und heiß fie
alle ausjahen, viele verwundet und verbunden. Er
bemmte feinen Schritt. „Sameraden, ich glaube,
wir haben uns heute gut geichlagen!” fagte er.
„Bu Beiehl, Herr Major!” Es war Rodlig,
der geantwortet hatte, freudig, im Ton der Über:
zeuaung. Der Major late, angenehm berührt.
„Können die Herren mir jagen, wie es dem
Major Lükomw geht?” fragte er dann.
„sh war eben bei ihm,” berichtete Hagen, „jein
Bruder ift noch dort und Doktor Werdermann. Keflel
und Hellwig liegen im jelben Zimmer. Major Lüßoms
Berwundung ift wohl am Ichwerften, doch hoffentlich
nicht lebensgefährlich. Bis jegt aber ift er bemußtlos!“
Schill jeufzte. „Führen Sie mid zu ihm, lieber
Hagen!”
. Un der Abendtafel, die der Amtsrat mit Sorg:
falt für feine tapferen Gäfte hergerichtet, fab ber
Major feine Dffiziere wieder. „Wo ift Rodlig?“
fragte er, um fih blidend. Er Hatte auf Haflos
unverwüftlihen Humor und belebende Unterhaltung
gerechnet, darum vermißte er ihn jogleich.
„Rohlig fteht draußen und unterhält fih mit
irgend jemand, Herr Major!” berichtete Blomberg.
„Es it ein Menih in Civil, ich Tenne ihn nicht,
aber Rodlig trifft ja überall gute Freunde!“
625
Schwertklingen.
„Aud bier in Feindes Land?” fragte Schill mit
Ihmerzlider Betonung.
„Herr, e8 find nicht lauter Feinde bier!“
„Nein, wahrhajitig! Das empfinden wir mit
Dant!” rief Schill, fein Glas gegen den freundlichen
Wirt erhebend.
Diefer dankte verbindlid. „Cs war übrigens
einer meiner Beamten, mit dem ber Herr von Rodhlik
Ipradh,” jagte er dann erläuternd. „Er ift heute von
Kafjel angelommen; wahrjcheinlih brachte er Nach:
richten, die den Herrn interelfierten !”
Seht trat Haflo herein und fofort auf den
Kommandeur zu. „Bitte um Berzeibung, Herr
Major, ich bringe bier etwas, das für Sie und uns
alle von Sinterefle fein dürfte!” Er legte ein Zeitungs:
blatt vor ihn Hin, den „Weltfäliihen Moniteur”.
E3 ftanden zwei Proflamationen darin, die waren
freilich fehr intereffant. Schill flog mit den Augen
darüber hin und ladte. Dann las er bie erfte den
Herren vor. König SJeröme, entrüftet über den „Aus:
reißer und Piraten“, der fi unterftanden, in fein
Reich einzufallen, befahl all feinen Getreuen, Jagd
auf denfelben zu maden und ihn tot oder lebendig
abzuliefern. Ein Preis von zehntaufend Francs war
auf feinen Kopf gefet.
„Das ift eigentlich nicht viel,” bemerkte ber
Major leihihin. „Solde Summen verjubelt der
Herr ZJeröme mit feinen Maitreffen und Spießgefellen
wohl Tag für Tag. Wenn mein Kopf ihm nit
mehr wert ift, jo haben wir ihm noch nicht den ge-
nügenden Eindrud gemadt!”
„Will’s Gott, werden wir’s ihm bald noch deut:
licher markieren!“ erwiderte Haflo, ber dann jeinen
Plat an der andern Seite der Tafel einnahm.
„Ih werde ihm antworten,” jagte Schill lächelnd,
„und auf feinen Kopf einen Preis von fünf preußilchen
Thalern fjegen, mehr ift er mir auch nicht wert!”
Seine Augen blieben gejenkt auf das zweite Schrift-
ftüd — ein Armee:-Bulletin von Napoleon: ‚Ein
gewifler Schill, eine Art von Brigand, der in ber
legten preußiihen Campagne Verbreden auf Ber:
breden gehäuft und dafür den Grad eines Colonel
erhalten, jei mit jeinem Regiment von Berlin befer:
tiert‘, hieß es darin. Der König von Preußen habe
ihn dur den Gouverneur von Berlin als Dejerteur
erflären laflen. Seine Majeflät der SKaijer babe
ein Objervationslorps von fechzigtaufend Mann gegen
ihn entjendet — und fo fort. Das Bulletin enthielt
faft jo viele Lügen ald Worte, und würde dem ftolzen
Hufarenführer wohl dasjelbe Vergnügen bereitet haben,
als das erfte Schriftftüd, wenn nit der eine Sat
darin geitanden, daß ihn ber König als Dejerteur
erklärt babe. Bonaparte, der Erzfeind, mußte es der
Welt verfünden, daß jein König ihn von fi) ge-
ftoßen in Ungnade und Zorn! E8 war wie ein
glühendes Eiſen, das in die unaufhörlid blutende
Wunde feines Herzens Hineingeftoßen ward. Dod
wurbe fein Vergehen von dem großen Böllertyrannen
wenigftens nicht dazu benußt, um gegen den geliebten
König einen Kriegsvorwand zu jhmieden. Aud) das
hatte Schill gefürchtet und diefe Belorgnis war nun
von ihm genommen. Er bezahlte fie gern mit dem
Reman⸗Zeitung 1896.
Roman von Hans Werber.
626
bitteren Schmerz, jein Herzeleid dur Napoleon ver:
fündet zu fehen. Auch biejes für ben König. Damit
war ja erfüllt, was er als feines Lebens YZwed an-
lab. Er batte aljo nicht darüber zu Klagen.
Er hob das Zeitungsblatt in die Tafche feines
Dolmans, erhob fi und ging hinaus, von Bärfch,
jeinem Abjutanten, begleitet. Er ging, um zu fehen,
wie feine Hujaren untergebradt waren, ob man gut
für fie gejorgt, ob ihnen nichts mangelte nach des
Tages heißer Arbeit. Die friihen, trogigen Lieber,
die fie fangen, ber frohe Zuruf, mit dem fie den
geliebten Kommandeur begrüßten — aus ber Ferne
Ihon, das war ja die einzige, flüchtige Freube, bie
ihm geblieben aus dem großen Schiffbrud, in dem
fein Leben verjant.
II.
Die Kriegsgeichichte bezeichnet es als einen großen
Fehler, daß Schill feinen Zug jet norböfllich richtete,
ih mit Eroberung der bebeutungslojen Feſtung
Dömig aufbielt und endlih, daß er Stralfund zu
feinem Biele auserfah. Das ganze Medlenburger
Land mußte er durchziehen, während von allen Seiten
feindlihe Truppen gegen ihn beranrüdten. Außer
den Franzofen noch Dänen und Holländer unter
General Gratien. Lebtere beiden ftanden unter dem
Drud Napoleons und befolgten deilen Befehle. Auf
der vierten Seite aber hatte er die preußifche Grenze,
und die vor allen andern durfte er nicht überfchreiten,
auh dort ftanden Truppen gegen ihn zur Wehr.
Dieje traurige Thatjahe war ein immer erneuter
Schmerz für den mutigen Freiheitsfämpfer und eine
unüberwindlide Demütigung.. In Stralfund jedoch,
wo er in früherer Zeit rubmoolle Siegestage, An:
jehben und Beliebtheit genofjen — hoffte er auf beiten
Empfang! Die ftolzge „Perle der Dfifee” jollte fi
an feiner Hand verteidigen, wie fie es einft gegen
Wallenftein gethban, jo wie fih jett Saragolia gegen
Napoleon gewehrt, zur Bewunderung von ganz Eu:
ropa. Dur dergleichen phantaftiihe Vorftelungen
und romantiſche Ideen wurde er abgezogen von dem
Wege larer und Bluger Berehnung. Den Ein:
wendungen und Vorjchlägen feiner Offiziere war er
nicht mehr zugänglich. Der einzige, auf den er noch
gehört hätte, Adolf Lükom, lag jchwer verwundet in
Fieberphantafien danieder. Dur feine fchwierige
Lage niedergedrüdt und mißtrauifch gemadıt, in frank:
baft gereizter Stimmung, begann er in jedem Rat-
Ihlag, jeder anders lautenden Meinung eine Auf:
lehnung zu jehen, die er jchroff und unduldjam
zurüdwies, völlig unähnlich feinem jonft jo gütig
liebenswürdigen Wefen.
Mit fieberhafter Raftlofigkeit ftrebte er nun feinem
vorgeftedten Ziele zu. Herrn von Bothmer und den
Nittmeifter von Bornftedt jandte er nah England,
um fih von dort die Hilfe der englifhen Flotte zu
fidern. Sie vermodhten e8 nicht mehr, den Auftrag
auszuführen, jo lange er Rettung bringen Tonnte.
Sn Dömig blieb der Lieutenant von Francois mit
einer Tleinen Belagung zurüd. Später folgte er bem
IV. 4
627 Schwertklingen.
Korps, wobei er fih Schritt für Schritt mit unver:
gleichliher Tapferkeit den Weg erkämpft. Zu
Kommandos aller Art, zu jeglidem Unternehmen,
zu tobesmutiger Aufopferung fand Schill, wie die
Gefhihhte berichtet, in jeinem Korps ftets fo viel
Männer bereit, als es deren überhaupt zählte. Faft
jeder einzige der jungen Offiziere, die ihm gefolgt
waren, haben fi in diefer Heinen SKriegsgejchichte
perlönlicy hervorgethban und ihre Namen für alle
Zeiten mit dem Lorbeer des Heldenruhmes geziert.
Bon Stralfund aus 309 der franzöfiihe General
Gandras dem beranrüdenden Schillichen Korps ent:
gegen. Bei Damgarten trafen am 24. Mai die
Truppen aufeinander. Ein heißes Gefecht entwidelte
ih, in weldem die Schillihen einen glänzenden
und vollitändigen Sieg errangen. Am 25. früh 308
Schill mit feiner tapferen Schar in Stralfund ein.
Eine Eleine franzöfiihe Artillerie-Befagung trat ihm
bier feindlih entgegen, wurde jedoch nach Furzer
Gegenwehr aufgerieben, und Stralfund war in
feiner Hand.
Nun hatte er das Ziel erreiht, do bald
mußte er jehen, daß aud bier die Zeiten fich jehr
zu feinen Ungunjten geändert hatten. Die Ein:
wohnerijhaft war feineswegs gewillt, die Unbilde
einer Belagerung zu ertragen, wie die von „Sara:
gofla”, oder gar fih mit dem ungebetenen Eroberer
unter den Trümmern ihrer Häujer begraben zu
loflen. Weshalb? Warum Tieß er fie nicht in
Frieden? Diefe Frage trat ihm mehr oder minder
beutlih von allen Seiten entgegen. Mit fieber:
baftem Eifer warf er fi auf die Befeftigung der
Wäle und Mauern, jo wie er’s von Kolberg ber
fannte, und jeine Vorbereitungen zeugten von großen
militäriihen Talenten. Doch auch hierbei traf er
auf ungeahnte Schwierigkeiten. Die Einwohner
weigerten fih, ihm behilflich zu fein — oft mußte
er Gewaltmaßregeln anwenden. Und dabei hatte
er feine Zeit zu verlieren, die feindlichen Heere
rücdten mit beunrubigender Schnelligkeit gegen die
Stadt heran. Seine Stimmung, die durd den
raihen, ftolzen Sieg bei Damgarten und bie
glänzende Einnahme von Straljund fi ein wenig
gelichtet, jant bald wieder in umbüfterte Schwer:
mut, unberehenbare Gereiztheit zurüd. Seinen
Adjutanten Bärih hatte er fortgejandt mit dem
Ichwierigen Auftrage, die Kranken, das Gepäd und
die Kriegsfalle in NRoftod einzufchiffen und nad
Rügen in Sicherheit zu bringen. Der war nun
jort und jo die Verbindung zwilhen dem Komman-
deur und feinen Offizieren noch bejonders erjchwert,
denn im feiner jegigen Stimmung eridhien er ihnen
allen unnahbar und unzugänglich, wie nie zuvor.
Das außerordentlich Bedenklidhe ihrer Lage bier
in der fchlecht befeftigten Stadt, unter bem Drude
des Ausgeftoßenjeins vom PBaterlande und Heere,
ward aud den Offizieren mit niederdbrüdender Deut:
lichfeit bewußt. Daß der geliebte Führer, jonft ihr
aller Freund und Berater, ihnen jo verändert gegen
übertrat, entjrembete ihn der jungen Sriegerjhar
mehr und mehr und verurjfadte auch unter derjelben
eine unbehagliche und gereizte Stimmung, die bem
Roman von Hans Werber.
628
lonft unvergleihliden Korpsgeift diefer Truppe nicht
zuträglich war.
Am 30. Mai traf die Nachricht ein, daß ein
Heer von Holländern und Dänen gegen Straljund
anrüdte und in Franzburg Kantonnements bezogen
hätte. Es erihien den Offizieren durchaus geboten,
ihnen dorthin entgegenzugehen und fie in offener
Schlacht anzugreifen, nur die Infanterie, welde all-
mählih auch zu einer ftattlichen Truppe herange-
wachſen war, in der Stadt zurüdzulafien. Die Ab:
fiht des Kommandeurs, den Feind hinter den
Mauern zu erwarten, deuchte ihnen verwerflich und
gefährlih von jedem Gefihtspunlte aus, und gar
viele Gründe fpradhen unzweifelhaft für ihre Anfiht.
Einige der Schwadrons- und KRompagnieführer
nahmen fih Gelegenheit, dem Kommandeur ihre
Vorſchläge zu unterbreiten, dringender und lebhafter
jedenfalls, ala es unter preußilchen Offizieren ibrem
Vorgefegten gegenüber üblich jein mag. Das traf
die wundefte Stelle in dem an Mißtrauen und Ge-
reiztheit ohnehin Ihon franktenden Herzen. Schroff
und beftig wies der Major die Vorjchläge von ber
Hand und verbat fi jede Einmilchung in feine Be:
fimmungen. Die Offiziere aber Eonnten in biejem
jo ganz befonderen Falle die Notwendigkeit diejer
Zurüdhaltung nicht einjehen, freilih unerhört in
einem preußiichen Regiment. Schill braufte auf in
loderndem Zorne. Er kannte fi nicht mehr. Leo
von Zütom,*) der am Fühnften bier geiprodhen und
am empfindlichften zurüdgemwiejen worden, forderte
tief verlegt feinen Abjchied und erhielt ihn fofort.
Am felben Tage noch verließ er Straljund.
Sn gedrüdter Stimmung, von widerjprechenden
Empfindungen beherricht, entfernten fich die Difiziere.
Der Zorn des Kommandeurs war aber nicht jobald
verraudht, jondern forderte ein zweites Opfer in dem
Lieutenant Bluhm, der fi in ungeziemenditer Weile
laut tadelnd über die Mabnahmen des Majors ge:
äußert. Diejer wies ihn vor verfammeltem Kriegs:
Kan von der Front hinweg, als des Dienfles ents
lafjen.
Rochlitz Hatte diefen Auftritten nicht beigewohnt,
da ber Dienft ihn zu biefer Stunde außerhalb be:
Ihäftigt. Er hatte einen Teil von Bärjchs Quartier:
meifterpflichten übernommen, und feine Zeit war
reihlih damit ausgefüllt. Als er jebt zurüdtehrte
und das Zimmer des Wirtshaufes am Marlt betrat,
wo die Offiziere einzufehren pflegten, fand er einige
berjelben hier vor, in lebhafter Unterhaltung über
das Borgefallene begriffen. Sie ftürmten auf Haflo
ein und erzählten ihm alle zugleich mit erhobener
Stimme, was fich ereignet, ihren Empfindungen da:
bei unverhohlenen Ausdrud verleihend.
Haſſo war durch diefe Mitteilungen aufs pein-
lihfte berührt. Er konnte fich Iebhaft denten, wie
e8 zugegangen war — ab, nur zu genau! War .
auch überzeugt, daß feine Kameraden in der Sade
recht hatten. Er fannte Schill. Er fjah in ihm
einen Helden an Charakter: und Seelengröße, den
*) Ein Bruder des bei Dobdendorf verwunbeten fpäteren
Sreifharenführers, Major Adolf von Lütom.
629
— — — — — —r — — — — — — — — — — —
er hochſtellte und verehrte wie wenige Sterbliche.
Aber er wußte zugleich: Dieſer Aufgabe war der—
ſelbe nicht gewachſen, und noch weniger dem Un—
glück, das ihn umbrandete, wie ein tobendes Meer
den ſteuerloſen Nachen. Dennoch oder vielleicht
gerade deshalb nahm er Partei für den Helden, den
er unter dem Gewicht ſeiner tragiſchen Schuld zu—
ſammenbrechen ſah.
„Ich begreife nicht, wie es dahin hat kommen
können,“ nahm er endlich zürnend das Wort.
„Wie könnt Ihr ihn denn ſo ärgern und kränken,
ſelbſt wenn Ihr im Recht ſeid! Nehmt es mir
nicht übel, aber ich finde, Ihr habt Euch haar—
ſträubend benommen!“
„Du haft gut reden!” brummte Hagen. „Hätteft
nur hören follen, wie er mit uns abfuhr! Und daß
wir im Recht find, beftreiteft Du jelber nicht!“
„Gewiß, Hagen, ih kann mir alles jo denfen,
als hätt’ ich es mit angehört! Die Thatjadhe, daß
Lützow wirklich gegangen ift, ſpricht Hinlänglich für
fich felber! Über Bluhms Benehmen aber haben wir
ale uns jchon genügend geärgert, um ficher zu fein,
daß Schill ihm gegenüber im Nedht war! Lieben
Kerls, nehmt doch Vernunft an,“ fuhr er mit warmer
Beredfamteit fort, „er hat es uns frei geftellt, ihn
zu verlafien, damals in Bernburg, und wir haben
ihm verjprocden, bei ihm zu bleiben und ihm zu
folgen bis in den Tod! Das hieß aber nicht nur,
mit ihm weiter zu ziehen, jondern au ihm zu ge
borchen, als preußiiche Soldaten ihrem Kommandeur!
Menn wir das jekt nicht mehr thun, wo er im
Unglüd ift, jo heißt das, ihn Ihmählih im Stich
laſſen!“
„Haſſo, das iſt famos, daß Du ihnen das
ſagſt!“ rief der warmherzige Blomberg aufſpringend.
„Ich war nicht dabei, aber ich habe das alles ebenſo
empfunden!“
„Sie waren nicht dabei und können es deshalb
auch nicht beurteilen!“ ſagte Brünnow ärgerlich. „Wir
Schwadronchefs ſtehen anders zur Sache, denn wir
tragen immerhin auch eine Verantwortung, die nicht
gering iſt. Jetzt rückt der Feind gegen die Stadt
heran, und ich habe für mein Verhalten zwei ſich
völlig widerſprechende Befehle des Majors in der
Hand!“
„Ich auch!“ ſagte Fritz Blanckenburg und ſeine
ſtahlfarbenen Augen blitzten in Unmut und Gereizt—
heit! „Daher ſind wir eben gezwungen, nach eigenem
Ermeſſen zu handeln, mag er's nachher auffaſſen wie
er will!“
„Ich habe noch gar keinen,“ geſtand Haſſo zu.
„Ich werde jetzt zu ihm gehen und ihn drum be—
fragen, für mich und für Euch!“
„Gehen Sie nicht! Folgen Sie meinem Rat,“
bemerkte der Lieutenant von Blottnitz, der, beide
Arme auf den Tiſch geſtützt, gemütlich bei ſeiner
Mahlzeit ſaß. „Er wird Ihnen grob und wirft
Sie zum Tempel hinaus, ehe Sie ſich's verſehen!
Er iſt wie ein Raſender heute!“
Auch Haſſo hatte ſich durch einen Imbiß ſtärken
wollen, doch der Appetit war ihm vergangen. Nur
ein Glas Wein ſchenkte er ſich ein und während er
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
es austrank, heftete er einen kühlen, zugleich lächeln—
den Blick auf den freundlichen Ratgeber. „Beun—
ruhigen Sie ſich nicht!“ ſagte er leichthin. „So
grob kann er gar nicht werden, wie ich's ver—
tragen kann!“ Damit nahm er ſeine Mütze und
ging hinaus.
Bei dem Major ließ er ſich melden und wurde
ſogleich angenommen. „Was wünſchen Sie?“ fragte
dieſer ſchroff und unfreundlich.
Haſſo ſah ihn an. Was für ein todesmüder
Ausdruck lag auf dem kraftvollen Männerantlitz!
Wie ſchmal und ſcharf war es geworden! Durch
das rabenſchwarze Haar zogen ſich breite Silber—
ſtreifen! Und in Zeit von drei Wochen all dieſe
Veränderung, bei einem Manne von dreiunddreißig
Jahren! Ja, was mußte er durchgemacht haben! —
Straff und in vorſchriftsmäßigſter Form ſtattete
Haſſo einige Meldungen ab und erbat dann die
nötigen Befehle für ſich, Brünnow und Blancken—
burg. Schill überlegte einige Sekunden, geſenkten
Blickes, einen ſeltſam unentſchloſſenen Ausdruck im
Geſicht. Dann aber raffte er ſich auf und erteilte
kurz die geforderten Befehle. „Haben Sie ſonſt noch
Wünſche?“
„Nein, Herr Major!“
„Dann dank' ich Ihnen!“ Es klang zögernd
— und zögernd nur wandte ſich Haſſo zum
Gehen. Der Major ſchien ſich beſonnen zu haben.
— „Rochlitz!“
„Herr Major!“
Schill zögerte wieder. „Es iſt ſehr unangenehm
für mich, daß Bärſch fort iſt,“ begann er ſchließ—
lich. „Ich vermiſſe meinen Adjutanten auf Schritt
und Tritt!“
„Ich glaubte, Herr Major hätten den Lieutenant
Blottnitz zur Vertretung befohlen —“
„Jawohl!“ Eine dunkle Wolke ging über Schills
Antlitz. „Und er hat dieſe Auszeichnung umgehend
dazu benutzt, unverſchämt zu werden! Ich habe ihn
ſofort ablöſen laſſen!“
Ah — daher alſo die verſtändnisinnige Warnung!
„Geſtatten Herr Major, daß ich Ihnen Blomberg
vorſchlage! Ich glaube, für ihn garantieren zu
können!“
„Gut — ja! — Haſſo!“ Jetzt zum erſten Mal
während ihrer Unterredung ſah Schill ihn an mit
ſeinen treuherzigen Augen. Wie war die Feuersglut
erloſchen, die ſonſt ſo hell darin geflammt! „Haſſo,
haben Sie gehört, daß Leo Lützow fortgegangen iſt
— und daß ich den Bluhm — —“
„Ja, Herr Major!“
„Ich weiß nicht, was man Ihnen darüber ge—
ſagt haben mag,“ fuhr Schill fort. „Aber ich bin
an Ihnen niemals irre geworden, ſo ſollen Sie
meine Meinung wenigſtens auch erfahren! — Sehen
Sie her — dieſen Parolebefehl gebe ich heute aus!
Leſen Sie ihn!“
Haſſo trat an den Tiſch, auf welchem das be—
zeichnete Schriftſtück lag, und mit einer Hand ſich
aufſtützend, beugte er ſich darüber und las:
„Es iſt der ſehr unglückliche Ton im Korps
eingeriſſen, daß meine Befehle nach Willkür ab—
631 Schwertklingen.
geändert und oft gar nicht befolgt werden. Es
muß eine größere Ordnung wieder zur Gewohnheit
werden, wenn uns, nach ſo ſchönen Stunden,
nicht dennoch ein Unglücksfall nach dem anderen
treffen ſoll ... Es ſchmerzt mich nicht wenig,
hier und da einen Mangel an dem Zutrauen zu
bemerken, welches mir ſonſt, wo ich noch von
lauter Freunden und keiner Oppoſition umgeben
war, in der Campagne bei Kolberg, nicht fehlte.
Allein ich genoß auch damals das Glück, daß ſich
ein jeder blindlings überzeugt hielt, wie unaus—⸗
ſprechlich gut ich es mit allen meinte ... Es iſt
kein Fall vorhanden, wo mich mit Recht ein Vor⸗
wurf träfe, und mit Fug und Recht kann ich
daher, ſo wie bei Kolberg, auch jetzt, vorzüglich
jetzt um ein ähnliches Zutrauen bitten. Strenge
werde ich auf die Ordnung unter meine Befehle
halten und es nie dulden, daß man mir öffentlich
und in Gegenwart anderer widerſpricht... Der
nächſte Vorfall dieſer Art würde mich ſogar be⸗
ſtimmen, ein Beiſpiel einziger Art aufzuſtellen ...
Dringend bitte ich das Korps der Herren Offiziere,
nur den Geiſt der Einigkeit unter ſich zu dulden,
der, die Seele des Krieges, die Bahn zum Ruhme
öffnet. Ebenſo bitte ich die Herren, mir ihr Zu—
trauen und ihre Freundſchaft zu ſchenken, damit
ich mit ihnen die Tage unſeres Seins gleichwie in
einem Familienkreiſe verleben möge!“*)
Als Haſſo zu Ende geleſen, blickte er auf.
„Aber Herr Major! Haben wir uns denn ſo ſchwer
vergangen, daß Sie uns ſo etwas ſagen müſſen?“
„Sie nicht, Rochlitz! Seit Sie mich gewarnt
haben und dann doch mit mir gegangen ſind, habe
ich noch keinen Moment über Sie zu klagen gehabt!“
Haſſo ſenkte wieder den Blick auf das ſeltſame
Schriftſtück nieder. „Aber auch die anderen, Herr
Major! Dies geht mir gegen Gefühl und Ehre! —
Geben Sie uns noch härtere Worte als dieſe hier
— beſtrafen Sie uns alle — das ſteht in Ihrer
Hand! Nur thun Sie uns das nicht an, um unſer
Zutrauen, unſere Freundſchaft zu bitten! Als ob
Sie nicht wüßten, wie wir Sie lieben und verehren,
alle, ohne Ausnahme! Dieſer ſchwere Zweifel an
unſerer Geſinnung iſt nicht zu ertragen — und,
trotz allem, Herr Major, den verdienen wir nicht!“
Die Stirn des Freikorpsführers faltete ſich ein
wenig. Er ergriff das Schriftſtück und entzog es
Haſſos Blick. Eine abweiſende Enſiſchloſſenheit lag
in der Bewegung. „Es iſt ja vielleicht den Herren
nicht ſo ſehr zu verargen,“ ſagte er mit Bitter⸗
keit. „Als ſie mit mir auszogen, war ich Chef und
Kommandeur eines preußiſchen Regiments. Und
jetzt — ein geächtete Mann! Von meinem Könige
verſtoßen, angeklagt auf Deſertion und Landes—
verrat!“ Er ſank nieder auf den Stuhl vor ſeinem
ah und preßte die Stirn gegen die geballte
Fauſt.
y Worllich hiſtoriſch.
Roman von Hans Werder.
632
Haſſo blickte auf ihn nieder von tiefem Mitleid
erfüllt. „Herr Major —“ ſagte er halblaut, „das
alles waren Sie ſchon, als wir zum zweiten Mal
freiwillig Ihnen zu folgen gelobten! Mit unſerer
Ehre und mit unſerem Herzen find wir Ihnen zu
Treue und Gehorjam verpflichtet, genau jo wie vor:
dem in Kolberg und in Berlin!” — Schill ant-
wortete nit. Eine leihte Bewegung mit ben
Schultern Ihien Hafjos Worte entlräften zu wollen.
Nah FTurzer Baufe fuhr bdiefer fort: „Wenn wir
Ahnen dbennoh Grund zur Unzufriedenheit gaben,
fo ift das jehr bedauerlid! Sie haben uns ver:
wöhnt durch Shre Güte und Liebenswürdigfeit!
Steht find Sie — bitte um PVerzeihung, Herr Major,
fehr viel unduldjamer geworden! Aber wir werben
uns au darin zu fügen willen! Herr Major jollen
feine Klagen mehr über uns zu führen haben!”
Schill bob langfam den Blid und Tieß ihn
gedantenvol auf dem Spreder ruhen. „Hallo,“
fagte er endlih, „Sie haben mich jo dringend ge
warnt, ale e8 noch Zeit war! WVielleiht kannten
Sie mid befler ale die anderen alle, bie den Be-
freier des Baterlandes in mir fahen! Sie fennen
mid jebt noch ebenjo, darum halten Sie zu mir!
Zu Shnen Tann ich jpreden! Ad mein Gott —
hätt’ ih mi warnen laflen! Hätt’ ih Euch alle
nit ins PVerderben geführt, Yhr armen SYungens!
Und mein jchönes, Ichönes Regiment!” Er jentte
die Stirn in beide Hände. Glühende Tropfen, wie
flüffiges Feuer, brannten ihm in den Augen. Doc
föften fie fih nicht von der Wimper als linbernde
Thränen: das brennende Meh im Herzen tranf fie
auf. Nur ein Seufzer ging faum hörbar über feine
Lippen: „Ab, wär’ ih erft tot!” — — —
Endlih erhob fih Schill und firih mit fefter
Hand über Stirn und Augen. „Nun dan’ id
Shnen, mein lieber NRodhlig! Schiden Sie mir
Blomberg ogleih ber, und nehmen Sie Felgentreu
an feiner Stelle in Jhre Schwadron!”
„Bu Befehl, Herr Major! Darf ich noch eine
Bitte ausipredhen?”
„Sewiß!”
„Herr Major, kommen Sie heut abend in
unjere Kneipe! Wir müflen Sie endlih einmal
wieder unter uns haben! Dann findet fich alles von
jelhft, was der heutige PBarolebefehl uns jagen fol!“
Sdill überlegte mit gelraufter Stirn. „Meinen
Varolebefehl werdet hr dann fchon Haben! —
Aber — weil Sie's find, Haflo! Ih will Shre
Bitte nit abichlagen! Ins Wirtshaus Tann ich
zwar nicht fommen, denn mein Freund Voß ift jo:
eben bei mir eingetroffen, vom Kurfüriten von
Heflen zu mir gefandt! Doch möchte ih Euch gern
um mich sehen! Wollen Sie bei mir efien? Jh
werde ed Brünnow und den anderen aud jagen!
Wir wollen ung nad der jehweren Zeit einmal etwas
zu gute thun!”
(Hortjegung folgt.)
633
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
634
Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung.
Krank.
Was pocdht denn da?
Du Holzwurm bift’z,
Du nagit an meiner Truhe,
Am Brautihag podft und bohrft und nagft
Und läßt mir feine Nuhe.
Was wedit Du mid?
Ich träumte doch
Von Glück und Licht und Lieben.
Was weckſt Du mich, verjagſt den Traum,
Wo iſt er nur geblieben? —
Wer ruft mich da?
Das iſt der Tod,
Der will mein junges Leben.
Ich kämpf mit ihm, ich ring mit ihm,
Ich will es ihm nicht geben —
Mein rotes Blut,
Noch iſt es mein,
Ich zwing ihn, ich will ſiegen —
— O Gott, mein Gott, ich kann nicht mehr,
Ich muß doch unterliegen.
BR. Sommerfeld.
Das goldene Hprüdlein.
Bon Gertrud Vriepel.
Ein ärmlihes Stübchen, vier Treppen hoc!
Durd die ſchmalen Fenſterſcheiben fallen die blafien
Strahlen der. Nahmittagsjonne, aber fie wärmen nicht und
vermögen auch nicht, die Dürftigfeit der Möbel und des
ganzen alten Haußrates zu vergolden.
„Alfo Feine Hoffnung, Herr Rat?“ fragt eine fchluchzenbe,
dünne Stimme, und zwei rotgemweinte Augen Tehen hilfe:
heifchend in das Geficht des mweißbärtigen Herrn.
„Keine, gute Frau; nah menihlihem Ermefjen keine!
E3 fann vorausfidtlid nur no Tage dauern, bis der
morfche Körper zufammenbricht.“
Da3 Schluhzen veritärkt fih und geht über in ein herz«
zerreißendes, Trampfartiges Weinen, nachdem der Arzt bie
Inarrende Thüre Hinter fi geichlofien Hat.
Mit beiden Armen umfchlingt die Frau den Pfoften
ber bürftigen Bettjtatt, die in einem Winkel des Kämmerdeng
fteht, und preßt den jchmerzenden Sopf gegen die harte Sante.
Nad) einer Weile aber richtet fie fi) empor, zieht einen
Schemel herbei und finft wie gebrochen darauf nieder. Zange
und mit gramvollen DBlide betrachtet fie daS eingefallene
Antlig in den Kiffen, von dem fie fi fo bald fchon trennen
fol. Und wie fie jo jchaut und grübelt, verwirren fich ihre
Gedanken und bleierne Müdigkeit fchleiht ihr durch alle
Glieder.
Sn den endlojen, traurigen Nahtwadhen, da die Hoffnung
fie nod) belebte, ift fie ftandhaft geblieben, nun aber au
das legte Fünfchen verglommen ift, bricht fie zufammen.
Auf harten Stuhle, die Hände feft ineinandergeichlungen,
den Kopf auf die jchmweratmende Bruft gefenkt, fo überkommt
die arme Mutter ber langentbehrte Schlaf.
Aus den groben Kiffen aber hebt fich bei den tiefen
Ntemzügen leife ein fpiges, fieberhaft gerötetes Mädchen:
geliht, und große, fladernde Augen richten fi) forfchend auf
bie Geftalt ber fchlummernden Mutter.
Ein unmerkliher Seufzer der Erleichterung entftrömt
den jchmalen, beißen Lippen der Franken. Gottlob, nun
braucht fie fi nicht mehr fchlafend zu flellen, nım kann fie
den mühjam zurüdgebrängten Thränen freien Lauf Iaffen.
Und in fhweren, biden Tropfen quellen fie unter den
bläulihen Lidern hervor und rollen Iangfam die eingefallenen
Wangen herab.
Alfo Feine Hoffnung mehr!
Der Kranten Ohr hat bie Worte bes Arztes wohl ver»
nommen, und unabläffig tönen fie nım in ihr wieder.
Ud, und wie liebt fie die Welt, die fie verlaflen fol;
die jchöne, fonnige Welt, wenngleich fie ihr nur ben herben
Trank der Entjfagung geboten hat. Auf der Schattenfeite
hat fie wandern müfjen ihr lebelang, aber fie hat gehofft
auf die Zukunft!
Und das ift bag Ende, ba8 Ziel, um bdefjentwillen fie
gedarbt hat von Jugend auf.
Hat e8 fih gelohnt — — ?
Das Mäbchen fchließt die Augen wieder und überdentt
ihr Veben:
Da fieht fie eine feuchte Kellerfiube vor fih; an ben
Tenftern ftehen bide Eisblumen unb ein wiberliher Dunft
bon Seife und Lauge durchzieht den engen Raum. Neben
dem Fleinen, rauchenden (GSifenöfchen jteht eine hagere Frau,
Schweißtropfen auf ber Stirn und weißen Schaum an
Armen und Händen.
Und vor ihr türmen fi in großen Körben naſſe Wäſche⸗
ftüde, von denen e8 wie Wolken in die falte Stellerluft aufs
fteigt. An den gefrorenen Scheiben aber fauert ein feines
Mädchen, bie blauen Hände in die Schürze gewidelt, und
berfucht mit unendlicher Geduld ein Zoch in die ftarre Eis—
rinde zu hauchen.
„Mutter,“ fragt es endlich, als es das Vergebliche
ſeines Bemühens einſieht, mit dünnem, froſtbebendem
Stimmchen, „darf ich nicht auch auf die Gaſſe gehen? Sieh
doch, die Sonne ſcheint noch hell, und hör nur, wie luſtig
ſie draußen ſpielen; hier friert mich fo fehr!“
Die Mutter ſieht nicht auf von ihrer Arbeit; „bleib nur
unten, Hannchen,“ ſagt ſie müde; „oben würdeſt Du noch
kälter, denn Du haſt nur ein dünnes Kleidchen an.“
Das Kind ſenkt traurig den Kopf.
„Warum hab' ich denn keinen Mantel, wie Müllers
Lieſe, oder ein dickes Tuch, wie Führigs Bertha? Dann
könnt' ich auch hinaus, Mutter! Magſt mir keins kaufen?“
„Ich kann nicht, Kind; Du weißt's ja, wir ſind arm,
bettelarm; und da muß ich den Pfennig ſparen, um nicht
mit Dir zu verhungern. Siehſt's nicht ein, Hannchen?“
Das Kind muß wohl; aber ein Fünkchen Bitterkeit
ſchleicht ſich doch in die kleine Seele, als es nun wieder
trübfelig Hinter den Eiählumen hodt und haudt und haucht,
635
um endlid durch ein minzigeß oc die Eifenftäbe vor dem
Senfter zu fehen unb burch bieje hindurch bie Kleinen,
trippelnden Füße ihrer Kameraben, in beren blanfen fchiwarzen
Schuhen fih die Winterfonne fpiegelt. — —
Und wieder ift’3 diefelbe Kellerftube, die vor dem franfen
Mädchen auftaudt; aber die warme Gottesluft zieht unge-
hindert zu ben niederen Senftern herein, und bie liebe Sonne
bemüht fit nach Kräften, die feuchten Wände zu trodnen
und das bumpfe Gelaß wohlig und freundlich zu machen.
Die Wäldherin figt hinterm Ofen auf einem Schemel
und jhält die Kartoffeln zur Mittagsfuppe. Da wird Die
Thüre aufgeriffen, und atemlos, mit glühenden Bäckhen
ftürmt da8 Hannden herein.
„Mutter, Mutter, rat mal, was morgen ift! Spaziers
gang, dent’ nur, durch den Wald nad der Bufchmühle, und
wir alle folen mit und braudyen nur ein faıuberes Kleid
anziehen und drei Grofchen mitbringen zu Milch und Semmel.
Gelt, Mutterle, die giebft Du mir?”
Die Mutter fchweigt, mie e3 dem Stinbe fcheint, bes
ängftigend lange, und mit erwartungspollen, großen Augen
drängt e8 daher noch einmal: „Mutterle, Du läßt mich doch ?*
„Das Ihon, dag Ihon!” fagt bie Frau mit Schwerer
Zunge; „aber die drei Grofhen — -- morgen ift Miete zu
zahlen und die Steuer ift fällig, und — ja, Du Lieber Gott,
wo fol’8 da eine arme Witwe zum Überflüffigen hernehmen ?*
Sie trodnet fi mit dem Schürzenzipfel die naffen
Augen und ftreihelt zärtli mit ber Hand über das gefenkte,
blonde Sinderköpfchen.
Hannchens Geſicht aber bat fich jählings verwandelt;
alle Freude ift daraus gewicen, fie weiß nun fchon, worauf
e8 wieder hinausgeht. Unzählige Male hat ihr ja die
Mutter das goldene Sprücel vorgefagt: „Spare in ber
Zeit, fo Haft Du in der Not!" Gie wird auch diesmal
wieder jparen müffen, und das geplante Vergnügen wird,
wie jo manches andere, zu Waller werben.
Stumm fchleiht fie mit ihren Büchern zum Tifche, um
zu arbeiten; aber plöglich fintt der Lleine Kopf auf bie
magern Ärmchen und ein bitterliches Schluchzen durchzittert
den engen Kellerraum.
Am anderen Morgen ſteht ſie harrend oben an der
ſchmalen Treppe. Mit luſtigen Klängen, mit flatternden Fahnen
ziehen die Gefährtinnen vorbei. Die runden Kindergeſichter
glänzen vor Luſt; die hellen, ſteifgeſtärkten Schürzen raſcheln
und knattern bei jedem Schritte, und in den blank gebürſteten,
ſtraffen Haaren liegt hier und da ein dünnes Kränzlein.
Rote und grüne Laternen ſchaukeln über den blonden
und braunen Köpfen im friſchen Morgenwinde hin und her,
der ganze Zug ſieht ſo frohgemut, jo bunt und feiertags⸗
mäßig aus, daß Hannchens kleines Herz ſich von neuem
vor Schmerz und Groll zuſammenkrampft.
Bleich und finſter drückt ſie ſich an die Mauerwand
und ſieht den Kindern nach, ſo lange ſie nur noch ein
Zipfelchen der Fahnen und Kleidchen erſpähen kann, dann
ſteigt ſie ſchweratmend und mit geballten Händen die Treppe
hinab.
Aber wie angewurzelt bleibt ſie ſtehen; denn dort am
Ofen lehnt ja die Mutter, bis zu der das Trappeln der
Kinderfüße in der ſtillen Straße und die luſtige Muſik auch
herabgedrungen ſind, und die nun die Schürze vor die
Augen hält und leiſe vor ſich hinweint. Wie der Wind iſt
das Kind an ihrer Seite; aller Groll iſt ihm aus der
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
636
Seele gewichen und zärtlich umſchlingt es die Kniee der
blaſſen Frau.
„Mußt nicht, mußt nicht, Mutterle; ich bleib ja gern
daheim bei Dir; und gelt, wenn wir nur recht ſparen, da
giebt's dann ein Herrgottisleben für uns beide?“ — —
Das Herrgottsleben ſieht aber hier unten gar ſonder⸗
bar aus!
Das Hannchen iſt nach und nach herangewachſen; ein
kümmerliches, blaſſes Ding, das mit begehrlichen Blicken
die Schinken und Wurſtwaren in den Auslagefenſtern ſtreift;
das — wenn zur lieben Weihnachtszeit die Pfefferkuchen⸗
herzen und Chofoladenringel zum Staufe loden — die Augen
mit einem Seufzer abwenbet. reilich, in ber Hand Elimpern
verführerifih ein paar Grofchen, felbftverdientes Geld für
Botengänge und Heine Dienftleiftungen; aber feft, ganz feft
umklammern die dünnen Singerhen den blanfen Schag, und
ehrlich trägt das Kind der Armut ben fchwer errungenen
Lohn in die Sparbüdjfe, die daheim auf dem alten Schranfe
fteht und den Notgrofchen der Witwe enthält. Das goldene
Sprüdlein fteht warnend vor des Mädchens Seele, und
läßt e8, heute mutig, morgen Mmirfhend vor Grimm und
dann wieder mit auffteigenden Thränen, aber doch unent—⸗
wegt den harten, bornigen Pfad der Entjagung gehen.
„Spare in der Zeit!” fagt die Mutter mahnend, wenn
Hanndens jugendliher Sinn nad) einem bunten DBanbe,
nad) einem neuen Kleide fteht; und da8 Band bleibt unges
tauft, das Nödhen aber wird nocd einmal gewendet und
ausgeflidt.
Sa, Hannchen lernt da3 Sparen aus bem Grunde!
Aus der Kinderlehre ift fie entlaffen; nun figt fie Tag
für Tag in der Hinterftube Fräulein Dörings und lernt
zufchneiden und heften, nad und nad aud) einrichten und
anpafjen, garnieren und umändern; dabei auch ba8 bittere
Gefühl bes Neides Tennen.
Was haben die anderen Mädchen vor ihr voraus, daß
fie forglos ladhend und tändelnd in den Tag hineinleben
dürfen, obgleich fie arm find wie fie felbft?
„Kommen Sie mit, Hanndyen; wir gehen ing Theater,“
fagen fie aufmımnternd zu der einen, blafjen Gefährtin.
Die Shüttelt Ichweigend den Kopf.
„Aber warum denn nicht?“ fragen bie jungen Stimmen
berwundert durdeinander.
„Sch muß fparen!* Tommt eg Leife über Hanncdhens Lippen.
Ein vielftimmiges, übermütige& Lachen antwortet ihr.
„Sie find nicht geicheut, Mädel,“ ruft eine aus bem
Chor; „wozu wollen Sie denn jett Ihon fparen und alles
auf die hohe Kante legen? Das fonımt in ein paar Jahren
auch noch zureht; erit dag Leben genießen, wiffen, mozu
man überhaupt auf der Erde tft — und dann ft’ meinet-
wegen Zeit, vernünftig zu werden!“
„Spare in der Zeit, jo Haft Du in der Not,” fagt
Hannden, und «3 Elingt faft feierlih; aber die anderen
wollen nicht? davon wiffen! Sie wollen glüdlicdh fein um
jeden Preis, und jo gehen fie allein ins Theater, allein in bie
Tanzänzdien; ziehen bed Sonntags in fröhlicher Gefellichaft
hinaus in den Wald, und Hannden bleibt allein, anfcheinend
ruhig und gefaßt. Schweigend Taujcht fie den begeifterten
Schilderungen, den harmlojen Nedereien, bem Gelicyer unb
Wichtigthun der anderen, aber innen, da gärt'8! immer
finfterer wird der Blid, immer herber fchlteßt fih der junge
Mund, immer tiefer frißt fich der Neid in ihr einft jo
reiches, mwarnıes Herz hinein.
637
Endlih bat fie ausgelernt. Mit Eifer und Geidhid
beginnt fie nun felbftändig zu Schaffen; erft einen Nod für
die Wutter, dann gar ein Kleid für die Nachbarin. Und fie
hat Glück! Nicht Iange, To darf ihre flinke Hand einen
bübfchen, Heinen Sunbdenfreis verforgen! Die Nadel fliegt,
die Ihmalen Mangen vöten fih vor Eifer, und mander
Grofhen wandert am Wochenfhluß in die thönerne Büdhie
auf dem alten Schrantfe.
Und je mehr fich diefelbe füllt, defto Heller blickt da®
HSannden wieder hinaus in die Welt; denn jebt Ichafft das
Sparen ihr feine Bitterfeit mehr, jett ift e8 ihr eine Duelle
unendlicher Yreuden, und die Zukunft, die das Genieken
bringen foll, hebt fich immer rofiger ab von bem einförmigen
Grau der Gegenwart.
Und dann fommt ein Tag, ber eine große Wandlung
in ihrem Beben bervorbringt. Oben, vier Treppen hody, tft
ein Stübchen und eine Küche zu vermieten geweien; Hannden
hat beides erftanden, und an einem fchönen Sommermorgen
ziehen fie mit dem alten Hausrat hinauf au8 dem dumpfen
Keller in das Helle, Iuftige Neid.
„Het, wie gut fih’8 bier arbeiten läßt, dem Himmel fo
nahe, hinter ben grünen Baummipfeln, baß ein Spaziergang
juft zum Überfluffe wird.“ So denkt da8 Hannden und
ftihelt unverbrofien Tag um Tag bis in den finkenden
Abenb hinein.
Der Kundentreis wäcft ftetig. Statt der Büdjfe liegt
jegt ein Sparkafjenbuch im Schranfe drüben, benn die beiden
anipruchalofen Menfchenkinder legen jeden Grofchen, den fie
entbehren fönnen, gemwifjenhaft beifeite.
„Nur fo ein zehn, fünfzehn Sahrenod, gelt, Mutterle?*
jagt Hannden tröftend zu ber alternden Frau, „dann wollen
wir uns aber pflegen und nichts mehr abgehen Tafjen!*
Und die Mutter nit und darbt nach wie vor mit ihrem
Hannden der lodenden Zukunft entgegen.
Ste mwiffen’8 beide wohl, fie hätten’3 jett nicht mehr fo
nötig; fie könnten fi fchon das und jenes gönnen! Sa,
wenn nur da8 goldene Sprüdjlein nicht wäre! Das Läbt
die Hand zurüdzuden, die fchon nad) dem Kucenftüde Iangte,
und läßt fie dag altgewohnte, liebe, fchwarze Noggenbrot
ergreifen; das erftidt alle Begicerden im Keim und alle
Wünfche, ehe fie noch ben Weg bis zur Lippe gefunden haben.
„Dann haft Du In der Not!” Welche köftliche Vers
heißung — —
Sa, unb die Not kommt wirklich!
nah Sahr und Tag!
Sie läßt fih nicht abjchreden burd) die hohen, fteilen
Treppen; fie Elimmt fie langjam, aber fiher empor und Elopft
mit hartem Finger an die niedere Kammerthir. Nicht die
erfhrodenen Augen bes bleihen Mädchens, nicht die angit«
vol zitternden Hände der alten Mutter können fie aufhalten.
Schritt vor Schritt dringt fie vor in den hellen Sonnenfcein;
fie nimmt die Nadel aus ben fleißigen Fingern, rührt bie
pornübergebeugte Bruft an, baß ein pfeifender, hohler Huften
daraus herborbringt, und fauert fi dann hinter den Ofen,
um abzuwarten, was nun fommen wird.
Ste braudıt nicht Tange zu harren.
Ein paar Wochen nodh, dann Tiegt in den bunt ge=
würfelten Kiffen eine elenbe, Kleine Geftalt mit fieberhaft
glänzenden Augen und heißen, frampfhaft ineinanderges
Ichlungenen Händen.
„Schlehte Ernährung feit frühefter Jugend ber und
Überarbeitung,“ fagt der alte Arzt kopffchüttelnd.
Nicht gleid, aber
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
638
Die Kranfe Hat e8 oft gehört, aber fie hoffte doc; inımer
mit ganzer Seele auf Genefung; fie muß ja nod) genießen
und bie jüßen, fhönen Früchte ernten von einem Leben voll
Enibehrung und Kampf.
Seit heute aber weiß fie, daß es für fie nicht3 mehr zu
hoffen giebt!
Alle die ungenugten Sabre fteigen vor ihren Bliden
auf; alle die ungenofjenen Freuden gaufeln um ihr Lager
her, unb das bittere Gefühl fteigt in ihrer Seele auf: Du
mußt fterben, ehe Du noch recht gelebt haft!
Mit verzehrender Sehnfuht hängt der Blid draußen
an dem blauen Firmament, an dem lichte, weiße Herbit:
wölfchen bahinziehen; dann faugt er fi feit an ben grünen
Wipfeln der alten Linde, die mit ihren Aften Ieife an die
hellen Scheiben KElopft und gleitet weiter mit einem ver:
fpäteten Schmetterling , der braußen im Sonnenidein bin
und ber taumelt.
„Leben, o Gott, leben!“ ftammelt fie; „nur ein Sahr,
nur ein paar Monde no, damit ih nachholen fann, was
ih verfäumte!“
Die Kranke richtet fi mühlam auf; eine jähe Angft
frampft ihr das Herz zufanımen und wieder tönt es in ihrem
Innern: |
„Keine Hoffnung — — feine — —"
„D, hätte ih nur gewußt,“ murmelt fie mit trodenen
Lippen, „wie bie Verhbeißung bes golbenen Sprücdjleins aus
ftieht, ih hätte e8 nicht fo Hoch und heilig gehalten. Ich
hätte gelebt gleich den anderen und wenigftens manchmal
aus ben Becher der Freude getrunken in langen, durftigen
Zügen. Waz nügt mir’s nun, daß ich gedarbt habe, fo
lange idy denten fann ich habe gefpart, aber für wen — — ?“
Wieder gräbt fih der harte Zug von früher um bie
ichmalen Lippen, und wieder hadert das Herz, bas alt ge=
worden ift, bevor e8 no jung war, mit jenem graufamen
Geihik, das die einen auf fonnige Höhe führt und die
anderen zu Not und Entjagung verdammit.
Langſam fchweiten die Augen dabei ab von dem lichten,
flaren Himmelsblau, über die mageren Hände hin mit den
armen, zerftohenen Fingeripigen und haften plöglih er-
Shrocden an der zufammengefunfenen Frauengeftalt mit dem
weißen Haar und den gramvollen, verwachten Zügen, die
noch immer auf dem barlen Holzituhle fchläft.
Wie ein Schauer burchriejelt e8 bes Mädchens Glieder — —
Die Mutter! Sie hat mit gehungert und mit entbehrt
auch fie hat Elaglos Opfer gebradht Jahr um Jahr und
nit gefragt: für wen?
Und je länger der Sranfen Bli auf dem alten, runzes
ligen Gefiht, auf ben verarbeiteten Händen ihr gegenüber
ruht, defto heller wird e8 auf ihren Untlig, bis es ſchließlich
iwie ein großer, Heiliger Friebe darüber hinzieht.
Für Did, Mutter,“ flüftert der heiße Mund, „für
Dich habe ich fparen dürfen, damit Dein Bebensabend, aud)
wenn ih nicht mehr bei Dir bin, forgenlos bdahinfliekt.
Was ich mit Thränen fäete, Du, Gute, follft e8 ernten — —“
Und leife drüdt fih der fchmale Kopf in die Kiffen
zurüd; die Hände falten fi Imbrünftig; die großen, glänzen»
den Mädchenaugen umfafien zärtlich die Leidenzgeftalt der
Mutter und fchauen dann wieder mit ftillem,, reinem Aus⸗
drud in den lieben blauen Himmel hinein, an dem bie
weißen Herbftwölfhen mie filberne Stähne lautlos und
fhimmernd dahinziehen!
Te —————————————.— — — — — — — — —— — —— —
639
Die Dde.
Kennft Du die Ode?
Die Stille nah bem großen Schmerz,
Schwer legt fie fih auf Bruſt und Herz,
So bleiern fchwer, die Obe .
Und alles, was Du heiß erjehnt,
Und was das Leben Dir verfchönt,
Und was Du je Dein Glüd genannt,
Da3 ift wie Zunder ausgebrannt.
Kein Hoffen mehr, fein Wünjchen mehr,
Tot alles, tot und falt und leer
Und öde...
Und fein Entrinnen ift vor ihr,
Wohin Du gehft, jie geht mit Dir...
Und ob Du fchwelgft in Luft und Glanz,
Und ob Du fliehft zu Spiel und Tanz,
Und ob Du wanderft meilenweit,
Sie giebt Dir immer das Geleit,
Die Ode...
Doroihee Goebeler.
sine Tragödie aus der Großſtadt.
Lebens- und Stimmungsbilder von He Gebhardt.
T.
heimkinder.
Inmitten des lauten Getriebes der Weltſtadt, wo der
Strom des Verkehrs am ſtärkſten und lebendigſten dahin—
flutet, iſt es gelegen, das „Heim für unbeſcholtene junge
Mädchen jeden Standes“, eine der Heimſtätten, hervor⸗
gerufen und begründet durch edelſinnige, warmherzige
Menſchenliebe, um der alleinſtehenden weiblichen Jugend
auf dem ſchlüpfrigen Boden des Großſtadtlebens einen Halt,
einen feſten Grund zu verſchaffen. Dieſe Schöpfung entſprang
offenbar einem idealen Grundgedanken, um ſo mehr, als
weder auf einen Unterſchied des Standes, noch auf einen
Unterſchied der Bildung und der Religion Rückſicht ge⸗
nommen wurde. Aus dem Nichts war es entſtanden, er⸗
richtet und ausgeſtattet, einzig durch Spenden, die von allen
Seiten zu ſammeln ſeine Begründer nicht müde wurden.
Und ſo dürftig und zuſammengeſtückelt infolgedeſſen ſeine
Ausſtattung auch ausfiel, ſo wenig anmutend die ehemals
Fabrikzwecken dienenden, jetzt durch Pappwände, verſchoſſene
Vorhänge und aneinandergeſetzte Schränke in kleine, ab⸗
geſchloſſene Zimmerchen geteilten Räume für den erſten
Augenblick auch erſcheinen mochten, es gab doch Zeiten,
während welcher man dem Leben darin nicht eine gewiſſe
Behaglichkeit und Gemütlichkeit abſprechen konnte. Und
dann die Stadtgegend in der es lag! Die Leipziger⸗, die
Friedrichſtraße in nächſter Nähe, die „Linden“ und das
„Brandenburger Thor“ nicht allzu fern — was blieb da
noch zu wünſchen übrig! Freilich, das Gebäude ſelbſt war
nichts weniger als vornehm; im Kellergeſchoß des Vorder⸗
hauſes eine Bierſtube niederen Ranges; im Parterre gar ein
Reſtaurant mit weiblicher Bedienung — dem Anſchein nach
keine, die Sicherheit ſchutzloſer Frauen beſonders fördernde
Zugabe, aber in Wirklichkeit durchaus unſchädlich und un⸗
gefährlich dem, der nicht gefährdet ſein wollte. Dazu in
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
640
den Hintergebäuden Yabriken aller Art, und in einem Seitens
flügel in den Hälften dreier, üibereinanderliegenden Stod-
werke, zu beren unterftem man fhon zwei fteile Treppen
fteigen mußte, da8 Heim felber. Aber bag Treppenfteigen
gehört ja mit zu ben erften Fertigkeiten, die der fih in
Berlin anfiedelnde Fremdling erlernen und an die er fi
gewöhnen muß. Der gute Wille dazu fehlte ja den ns
wohnerinnen des Heims felten, denn billiger mochte ſchwer
ein Unterfommen zu finden fein, unb bie Billigfeit war
allen wohl die Hauptfadhe. Die fi hier zufammenfanden,
fämpften alle mit mehr ober weniger unzulänglichen Waffen
den Kampf ums Dafein, oft in feiner härteften Yorm. Von
der erwerbfuchenden Lehrerin herab bi8 zur Dienftmagd und
Wäfcherin waren alle Stände vertreten. Darin ftimmte bie
Wirklichleit mit dem Grundgedanken überein. Weiblichen
Geihlehts waren die Bewohner natürlid jämtlich, aber jung
durhaus nicht alle, und mie viele darunter wirklih „uns
beicholten“ genannt zu werben verdienten, das mußte man
babingeftellt bleiben lafjen. Eine Helms aber bedurften
fie alle und gar mande unter ihnen nannte fein anderes
Sonft auf Erben ihr eigen.
So war e3 gewöhnlich eine jeltfam gemiichte Gefellichaft,
die den neuen Antömmling empfing. Neben der elegant ges
Heideten Verkäuferin, der Handelsfchülerin, ber ftellenfuchen=
den „Stüße“ und Erzieherin und dem „Sinderfräulein“ jene
fragwürdigen Erfcheinungen in ärnlidhen, ja oft unfauberen
und zerfegten Kleidern, mit fchledt frifiertem Saar und
heruntergetretenen Schuhen, ben Stempel leiblihen und
geiftigen Elends auf den Zügen; die beflagenswerten Opfer
des Lebenskampfes, wie er fid) nirgend gewaltiger und mehr
unbarınherzig, ald auf dem Boden der Weltftadt abipielt.
Arme Schiffbrühige des Dafeind, die, den Untergang bor
Augen, mit verzweifelten Anjtrengungen ihrem Geihid nod)
zu entrinnen ftreben! Wahrlih, wer noch daran zweifeln
möchte, daß fidy unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens
mehr der Tragit und Romantik verbirgt, als die glühendfte
Dichterphantajie zu erfinnen vermag, bem hätte e3 hier nidjt
an Gelegenheit gefehlt, einen Blid in jo manden Bebends
roman zu thun. Schade freilih, daß die meiften davon nur
Bruchjftüde geblieben wären und bleiben, daß meift der We=
ginn bes Nomans und mehr noch fein Ende in Dunkel jich
hüllt! —
Arme Thereſe! Viel Teilnahme genoß ſie ſelbſt unter
den Mitbewohnerinnen des Heims nicht. Freilich, ſie war
nichts weniger als hübſch zu nennen, beſonders wenn ſie
in ihrer Lieblingsſtellung, die Ellenbogen auf den Tiſch
oder die Kniee geſtemmt und mit beiden Händen krampfhaft
jedes Geräuſch der Außenwelt von ihrem Ohre abſperrend,
über irgend etwas Lesbares gebeugt, daſaß, nur bei gar zu
arg werdenden Neckereien der Heimgenoſſinnen emporfahrend
und mit ihren großen, ſchwarzen Augen, die durch das
gänzlich nach innen gerichtete Leben ihres Gemüts ſtets einen
völlig verträumten Ausdruck zeigten, vorwurfsvoll nach den
Störenden blickend, um dann mit einem mürriſchen, kurzen:
„Ach, laßt mich doch in Ruhe!“ wieder in ihre Abgeſtorben⸗
heit gegen das Draußen zu verſinken. Ihr ſchwarzes Haar
hing ihr dann gewöhnlich unordentlich um das gelblich-blaſſe
Geſicht und verſtärkte noch den ſemitiſchen Charakter des⸗
ſelben. Denn ſie war die Tochter eines jüdiſchen Mannes,
und das iſt, ſeltſam genug, ſozuſagen der Fluch ihres Daſeins
geworden.
Ihre Mutter, von Geburt Chriſtin, hatte in zweiter
641
Ehe einem ebenfall3 chriftlihen Arzt, ber in der Hauptitadt
eine ziemlid) außgebreitete Proris fein eigen nannte, bie
Hand gereiht. Ob fie fi nun der Tochter des Guden
ihämte? Zum Unglüd Hatte diefe Tochter äußerlich nichts
bon ihrer Shönen Mutter, defto mehr aber vom DBater ges
erbt. Mutterliebe hatte Therefe jedenfalls nicht allzupviel
genofjen, im Gegenſatz zu ihren jüngeren Stiefgeihwiltern.
Die Thür des mütterlichen Helms war ihr früh verfchloffen
worden. Die eriten Sinbheitsjahre abgeredynet, hatte fie
ihr Leben meift in Penftonaten bed Auslands zugebradit,
in Brüffel, in Baris — ja, noch nicht 16 Jahre alt, war
fie nad) Nem York geihidt worden. Jahrelang hatte fie
Berlin und da8 Elternhaus nicht wiebergefehen. Als es
dann nicht gut mehr anders ging, mußte man fie heimfehren
lafjer. Aber die unbrqueme ltefle, deren angeborener Hang
zur Schwärmerei durd all die Verfehrtheiten der Penftonats-
erziehung nur noch mehr genäht worden, und bie daher
vielleicht zumeilen wirklich durd) ihr etwas eraltiertes Wefen
und durd die ihr feit eingemwurzelten Badfiichgrillen pie
Kritik einzelner hervorrufen mochte, war der Mutter fichtlich
im Wege. Ind dody wäre es ein fo Leichtes geweien, das
noch weiche und bei aller Graltation Eindliche Gemüt zu
Ienten und an fi zu feileln. Wozu aber? 8 war ja jo
biel einfacher, da Amt de3 Erzichens Fremden zu über:
Iaffen! Und aud nah der angeblidhen Vollendung biefer
Erziehung fand fid) bald der geiucdhte Ausweg, fi ber Ber:
antwortung über die Handlungen ber mißliebigen Tochter
zu entledigen. Man jorgte für einen Beruf, und Therefenz
Leidenfhaft für da8 Nomanelefen gab den willfommenen
Grund, fie in eine Druderet zu jchiden. Zugleich verfagte
man e8 ihr — angeblib um fie an Ordnung und Selb-
ftändigfeit zu gewöhnen und ihren Sinn mehr auf dag
Praktiiche zu lenken — ferner im Ellernhaufe zu wohnen.
Sie bezog einen Pla im „Heim“ und nur auf Stunden
ward e8 ihr geftattet, die Shrigen zu beiuchen. Ob e8 ein
Ergen für fie war, daß fie fidh gerade einem Berufe wibmen
mußte, der ihre Leidenfchaft nur zu fehr unterftügte? Ihren
Unterhalt erwarb fie fid) ja nun zum Teil allein, aber ihr
Hang zur Romantik verftärkte fih, dank der günftigen Ges
legenheiten, alle8 Gedrudte, Romane oder nicht, mit Gier
und ebenjo mwahllos al& oft auch verftändnislos zu bers
ihlingen, dab fie zulegt nur noch in Romanen Iebte, in al
ihren Lebensauffaffungen und Anfchauungen auf foldhen
fußend; eine verhängnispolle Mitgift für ein Mädchen, bag
ih allein durdh8 Leben fchlagen fol. E83 hatte ja nie
jemand neben thr geftanden, der ihren Wifjfensdrang, ihren
leidenfchaftlihden Trieb nad) geiftiger Nahrung in vernünftige
Bahnen leitete, e8 hatte ihr die mütterliche Hand gefehlt, die
allein bie recht vermag. Und e3 war noch nienand da,
der mit fefter Hand dies unfelbftändige Mädchen in feiner
unbeihügten Lage auf der rechten Bahn zu erhalten ver-
mochte. Wohl lag die elterlihe Wohnung nicht weit ent:
fernt vom Heim, aber nur Sonntags Nachmittag, felten
einmal abends in ber Woche betrat fie diefelbe. Sie fam
iedesmal beglüdt und fhwärmend zurüd, denn fie hing mit
einer leidenfchaftlihen Zärtlichkeit an ihren Gefchwiftern und
der abgöttiih als der „Ihönften Fran Berlins“ verehrten
Mutter — derjelben jo wenig gewifjenhaften Frau, die ihr
Kind lieber allen Gefahren de8 Großftabtlebens und be3
Verlehrs mit einer oft jehr gemifchten Gefelichaft preisgeben
mochte, als fi ein wenig zu mühen, und fei’3 mit Strenge,
die Fehler feines Charakters zu befiern. — So geidhah «8,
Romansfeltung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
642
daß Therefe, dank ihren Nomanideen, bald nahe baran
war, auf Abivege zu geraten. — Eines Abends war Therefe
früh aus der Druderei gelommen und blieb nad) längerer
Paufe wieder einmal daheim. Sie hatte mehrere Male mit
irgend einer Sreunbin, wer weiß welcher Art — denn um
den Umgangsfreis der Heimgenoffinnen fih zu Lümmern,
hatte die Hausmmuiter bei ihren überreichlicden Pflichten nid;t
die Zeit und die Snwohnerinnen genofjen volle Sreiheit des
Au2- und Eingehen? — den Abend auswärts verlebt. Die
„Heimkinder* jaßen beim gemeinfamen Abenbefifen — da3
fih ein jedes je nah Geihmad und augenblidlihem 2er:
mögen aus fünf- oder gehn: Pfennig: Butterfchnitten und einer
TZaffe Thee oder Kakao zufammenftellen konnte — im fo:
genannten Konverſationszimmer. Diefen ftolzen Namen
trug ein fehr mäßig großer Raum, möbliert außer mit den
Scränten, bie eine feiner Wände barftellten, mit zwei an
ben Wänden hinlaufenden Bänfen, den dazu gehörigen
Tiihen und einigen Stühlen. Die den Hintergrund bildende
Wand erfreute fi jogar bes großen Vorzugs, daß ein
wirkliches, nur etwas verfchoffenes Sofa an ihr ftand. Die
Wände bedecdten — benn von Shmüden konnte man wahrlid)
nicht reden — große PBappicilder mit darauf gefchriebenen
Sinnfprühen und einige Olfkizzen ohne Nahmen. Son
berfiert ward genug. Nur Therefe Tag ihrer gewohnten
Thätigfeit ob, fie lad. Der Sammielteller, der die Scherflein
für den Abendimbik in Empfang zu nehmen hatte, machte
eben die Runde, und melandoliid) Elapperndb fielen die Gelb:
flüde aus ben Händen der bisherigen Beligerinnen auf ihn
nieder. Da — borh — e8 Elingelte. Die Nadridt: „Der
Briefträger!“ durhtönte den Raum und die ganze Gejells
fchaft Iprang gleihfam elektrifiert in die Höhe. Denn der
Briefbote, ber ja überall zu ben wenigen Slüdlihen unter
den GSterblicdden zählt, die faft allzeit mit Jubel oder dod
mit Spannung begrüßt werden, ward bier in Wahrheit oft
zum Scidjalsboten für dieſe Stieffinder bes Glüds, bie
aus feiner Hand Leben und Hoffnung oder Verzweiflung
empfangen folten. Der mwadere Beamte war an ftürmilche
Begrüßungsfcenen längft gewöhnt und verlad faltblütig
die Namen der glüdlihden Empfängerinnen.
Auch Thereje gehörte Heute zu diefen — da3 war etwas
Wunderbare, denn um Stellen hatte fie fjich nicht zu be>
mühen und ihre auswärtigen Korrefpondenzen gelangten,
un den Ecein zu wahren, fonft immer direkt in die elter:
liche Wohnung. Baher war’3 fehr natürli, wenn fich eine
gemiffe Neugierde mandjer unter jenen teilnehmenden Seelen
im Heim bemächtigte, die mit großer Vorliebe fih in bie
Angelegenheiten der Genojfinnen zu miichen pflegten. Die
unartifulierten, jeltfam Elingenden Laute, die Therefe beim
Durdlefen de8 mit jeltener Lebendigleit ergriftenen An:
tömmlings hören ließ — unverfennbar Ausdrüde lebhaften
Behagend — da heimliche Kichern und die Nöte eines
fihtlichen Vergnügen, die während des Lefenz mehr und
mehr ihr Geliht überflammte, waren auch nicht geeignet,
bie einmal erwadte Neugier der andern zu dämpfen. Und
als Thereje zuletzt fih nit mehr Halten konnte, ſondern
laut ladyend von ihrem Site aufiprang, war fie im Nu
bon nedenden Fragerinnen umringt. Wergeblich hielt fie
ihren Brief zerfnittert in der geballten Hand in die Höhe,
ichrie und wehrte fih — die zu Boden gefallene Briefdede,
die den Boftftempel Berlin und eine männlide Handfchrift
zeigte, hatte bereitö zu viel verraten. Schließlich machte ein
Wort der anweienden Hausmutter dem Tumult, aber aud)
IV. 45
643
dem heftigen Sträuben Therefens ein Ende. Noch halb
ihmollend, dody aud nicht ohne gefchmeichelte Eitelkeit, übers
ließ fie ihren Schag ber Herricherin des Heims. Aber die
erft gefünftelte Strenge derfelben verwandelte fi bald in
ernftlihen Unwillen, denn nun zeigte e8 fi), daß der Brief
tbatfächlih von der Hand eines fremden Mannes ftanımte
und nur die Antwort auf einen aus Therejens Tseder war.
Therefe geitand denn auch alles bereitwilligft zu, ohne ſich
des Ernftes der mit ihr angeftellten Prüfung ganz bemußt
zu werben, und erzählte vergnügt ben Eleinen Roman, ber
fi) anipinnen wollte. Ein Heiratsgefuh in der „Boffiichen
Zeitung“ hatte den Anftoß gegeben. MWULS Adreffe hatte
darunter der Name eines Steuermanns bon jenen Dampfer,
auf dem fie vormalg ihre Amerikafahrt zurücgelegt, geitanden.
Und fofort war in ihr der Wunfh erwacht, bon einen da=
maligen Maate desfelben Schiffes, den fie mit ganzer eriter
Badfifchglut heimlich angebetet Hatte, burch feinen Berufs
genofien etwas zu erfahren. Da der Wunid und dad Darım
und Daran, das mit dem VBerfudh zur Erfüllung desjelben
zujammenbhing, viel Nomantifches an fih Hatte, fand fie’3
natürlih, an den fremden Menfchen über ihr heimliches
Sinterefle für den Entfhmwundenen zu fchreiben und ihn zu
fragen, ob er jenen fenne und von ihm mifje. Craltiert
genug mochte ihr Brief geweien fein, darauf ließ die heutige
Antwort Schließen. Aber ihre Erwartungen waren vollftändig
erfülit, wie fie meinte. Da, ber Schreiber kannte Herrn M.
fogar perfönlich und verfprad Therefen, die er mit „Mein
liebes Fräulein!“ anrebete, al Ihre Fragen zu beantworten,
wenn fie ihm eine Begegnung am britten Orte geitatten
wollte; er freue fi befonberß baranf, jemandes Belannt«
haft zu machen, der fi) für feinen „Lieben Freund M.“ jo
lebhaft interefltere.
„Ob fie die Abfiht bege, diefem Vorfhlag Folge zu
leiften?* fragte die Hausmutter Thereien, und ganz naiv
antmortete diefe mit einem: „Warum nit?" Sie dadte e8
fih reizend und hielt das Geztfhel und Geliher um fie
her für puren Neid, unbewußt des Unfhidlichen, ja Gefahr:
bringenden ihrer Handlungswelfe. Und empört und tief ge-
fränft verriegelte fie fih in ihrer Sabine, als ihr die
Hausmutter eine fchriftlihe Antwort verbot, ja fogar den
„himmlischen“ Brief vor ihren Augen verbrannt. — Ob
Therefe nicht dennoch ihre SEorreipondenz fortiegte, nur jeßt
heimlicher; ob fie fih in nähere Belanntichaft mit dem See-
mann eingelaffen — wer weiß e8? Wenige Wochen darauf
ward dag Heim nad einer weit entfernten Stabtgegend ver⸗
legt. Da Thereiens Druderei von diejer zu abgelegen war,
309g fie einfah aus und mietete — mit Zuftimmung der
Mutter! — ein Kleines, möbliertes Zimmer, wo fie von nun
an ganz allein und völlig unbeichügt leben wollte.
Nur no einmal, kurz nad dem Umzuge, traf eine
frühere Heimgenoffin fie in Begleitung ihrer Kleinen Schweiter,
und ftrahlend erjtattete Therefe Bericht, daß fie ganz ungeltört
wohne und daß ihrer Wirtin e8 ganz gleich jei, waß fie treibe.
Auf die ernfte Mahnung der andern, dody ihre Mutter fo
lange zu bilten, bis ihr wieder die Wohnftatt unter ihrem
Dad) vergönnt werde, hatte fie nur ein: „Ach, fie thut'3 ja
dod) niht!* — Ob Therefe — dank dem Grundfag, dem ihr
gegenüber alle folgten: „Wozu dem Schlummernden die
MWetterwolfe zeigen?“ — ihrem Geihide jchon verfallen,
davon hat nie wieder eine ihrer ehemaligen „Heimichweitern“
etwa3 erfahren. — (Schluß folgt.)
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
644
Beethovens G-moll-Konzert.
Tönet fort, ihr Himmelsklänge,
Tragt wie heil’ger Eagelchor
Aus dem wirren Weltgebränge
Meinen Geift mit euch empor!
Wie in allgewalt’gen Weifen
Sich erfchließt die Zaubermelt,
Die in ihren Märchenkretien
Staunend mid gefangen hält!
Sind’ de Waldes füße Düfte
Glanzdurchwebt vom Sternenihein,
Oder des Olympos Lüfte,
Grüße aus Apollos Hain?
Wie au8 taufend Quellen flutet
Nun der Töne mädt’ger Schwall,
Neißt mich fort, und unvermutet
Donnert nah der Widerhall
Mir im Herzen; aber baloe
Stirbt er hin wie Abenbdftrahl,
Der von Öder Bergeöhalde
Rautlos fintt ins ftile Thal.
Ach, Gefühle und Gedanten
Treiben, mädtig aufgeregt,
Auf der Töne Meer, dem Ichwanten,
Wie magnetifch fortbemegt.
Wie e8 perlt und mwogt ımb fchänmet,
Sich melodifd jenft und hebt,
Bis des Hörer Seele träumet,
Tab die Flut ihn ganz begräbt.
Nun verfinkt darin der Sorgen
Und der Leidenjchaften Streit,
Mie in Gotte® Schoß geborgen,
Fühl' ich nichts als — Seligkeit.
AM. Haußer
Aus dem Feben für das Leben.
Von O. v. LS.
Was an der deutſchen Frauenbewegung am meiſten ab⸗
ſtößt, iſt die Lüge und Heuchelei, die bei den Führerinnen der
„wilden Weiber“ herrſcht. Sie ſind atheiſtiſch und materia—
liſtiſch, und ſprechen von Religion; ſie machen ſich unterein⸗
ander über Ehe und Mutterſchaft luſtig, und beginnen jetzt auf
einmal die Mütterlichkeit zu betonen; manche bekennen ſich
zum Grundſatz der „freien Liebe“ und behaupten, die Würde
der Ehe zu ſchützen, wenn ſie die volle Gleichheit der Ge—
ſchlechter verlangen; ſie ſprechen von Vaterland und deutſchem
Volk — und ſind innerlich von beiden losgelöſt, Schleppen—
trägerinnen der Socialdemokratie, oder Anarchiſtinnen. Mit
teufliſchem Vergnügen reiben ſich die Bebeliſten, Singerianer
und die Liebknechtſeligen die Hände, mit um ſo mehr Freude,
je toller die Weiber werden. Jedes einzelne „wilde Weib“
gilt ihnen ja als ein Fuchs mit brennendem Schwanz, der
die Schober der Bourgeoſie in Flammen ſetzen ſoll. Jenes
Doppelſpiel aber ſoll die übrigen harmloſen Frauen, die es
nicht durchſchauen, in das Lager des „modernen Gedankens“
645
herüberloden. Wa8 ich vor Jahren vorausfah, entwicdelt
fih: bie meilten Führerinnen werden leibenfhaftlicher, rabie
faler von Tag zu Tag und fchädigen fo das Gute und
Berechtigte, das in einzelnen Forderungen liegt, für lange.
Und fie haben jchon heute in da3 Gemüt von Hunderten
junger Mädchen giftigen Samen geftreut, der aud nur
aiftige Früchte tragen kann, und, wie ih auß eigener Er-
fahrung weiß, jchon getragen hat. Der Teufel läßt ge:
Ichnittenes Korn nicht gern lange liegen.
*
Wo die Ichellenlaute Thorheit fpricht, dort rennt die
Menge hin. Sehe id; heute irgendwo Maffen, dann fchließe
ih auf die Rednerin.
Den größten Lärm madyen foldhe Halbgedanfen, um
die fi) Die überwältigende Mehrheit des Volkes, in dem
do nod ein gejunder Kern ftedt, gar nicht befümmert.
s
Marche Überzeugung gleicht einer Blüte, die fich weigert
Frucht zu werben, weil fie fich treu bleiben will.
*
Die Menihen glauben das Schiff der Gedichte zu
Ienfen, aber fie rudern nur. Am Steuer fitt ein Höbherer,
und er allein fennt das Ziel.
Der jelbftgewiffe Thor wird nur von feinesgleihen
übertrumpft; für Einwürfe eines Wetien hat er ftetß das
hodymütige Lächeln bereit, das ihm meiften? die Zuftimmung
aller Dummköpfe fihert. Wer fich über diefe Thatlache
ärgert, ift auch einer.
*
Mit guten Vorſätzen ſoll der Weg zur Hölle gepflaſtert
ſein. Das bezweifle ich; denn ſie ſind eine Liebhaberei
ſolcher, die zu bequem ſind zum Gehen — und ſtehen bleiben,
wo ſie ſind.
Die Satire iſt ein ſcharfes Schwert ſowohl in der Hand
des Edlen, wie des Gemeinen — es gehorcht beiden. Der
echte Humor dient nur reinen Kämpfern als Waffe; die un⸗
reinen verſuchen umſonſt ſie zu erfaſſen.
*
Wenn fi) ein Geizhals über die Million freut, die er
nit benüßgt und die darum eingebildeter Reichtum ift, To
fann id mir einbilden, ein Geizhals zu fein, der eine Million
befigt. Das Ergebnis ift das gleihe: wir haben beide nichts
davon und freuen uns über eine Vorftellung.
*
Sn jeder Kunft giebt e8 Übergangözeiten, wo man ber
alten Mittel müde tft und fi an ihren Wirkungen fatt ge-
jehen hat. Dann beginnt man, meiften® aus dem Verlangen
nad) Gegenfägen, neue Mittel zu fuhen und anzumenben.
Da entjteht nun der Irrtum, dab diefe neue Mittel fchon
die neue Kunft jeien. Die Heinen Talente fchließen fid) den
Pfadfuhern an, um bemerkt zu werben und übertreiben. Das
führt allmählich zur Erkenntnis, daß auch da Neue nur
ein Mittel tft, wie e8 die alte Art auch war, beide in einem
beftimmten Seretfe verwendbar und beredtigt. Die Kunft
der legten Sahrzehnte, beionders die Malerei, zeigt bieje
Entwidelung fo Har, wie e8 noch nie der Fall gemeien ift.
E3 wird jet Zeit, daß man die Errungenfchaften für bie
echte Kunft an richtiger Stelle verwenden lerne.
Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung.
646
Vermiſchtes.
Soeben hat der allgemeine dentſche Sprachverein nach
langen Vorarbeiten das Verdeutſchungsheft der Schul—
ſprache erſcheinen laſſen. Der erſte Entwurf iſt ſchon im
Jahre 1889 den ſämtlichen Zweigvereinen zur Begutachtung
vorgelegt, und darauf hat der Geſamtvorſtand dem Ober⸗
lehrer Dr. Karl Scheffler in Braunſchweig die weitere
Bearbeitung übertragen. Dieſer hat unter Berückſichtigung
aller gemachten Vorſchläge, zugleich unter Heranziehung aller
ihm zugänglichen Schriften und Aufſätze zunächſt einen zweiten
Entwurf hergeſtellt, der einer Anzahl von Fachmännern, meiſt
Mitgliedern des Geſamtvorſtandes, zur nochmaligen Begut—
achtung vorgelegt iſt. Unter Verwertung auch dieſer Gut⸗
achten iſt dann von dem Bearbeiter die endgültige, jetzt vor⸗
liegende Faſſung hergeſtellt. So iſt dies Heft, wie die bisher
erſchienenen Verdeutſchungshefte des Sprachvereins, als eine
Arbeit anzuſehen, an der der ganze Verein mitgewirkt hat,
die mithin eine gewiſſe Gewähr bietet, daß die naheliegende
Gefahr perfönlichen Beliebens ferngehalten ilt.
Berüdjichtigt find in dem Hefte in erfter Linie die Eın-
rihtungen der Schule, bie Gebiete bes Unterricht? und der
Schulzudt, alles, was die Thätigfeit ber Lehrer und der
Schüler betrifft. Dabei find aus naheliegenden Gründen
die Hodhjchulen ausgefchlofien. Sodann find aber aud) die
Kunftausdrüde der Schulwifienihaften berüdfichtigt, alfo
insbefondere die Yadhwörter der Spracdlehre, fowie die ber
Mathematif, der Naturmwiffenihaften und ber Erdkunde.
Dagegen fonnte das weite Gebiet des gefchichtlichen Unter:
riht3 nicht in feinem ganzen Umfange herangezogen werden,
zumal da ein großer Teil der Bezeihnungen geichichtlicher
Vorgänge nahezu die Geltung unüberfegbarer Eigennamen
erlangt bat: ähnliches gilt aud) von ber Religionslehre.
Anderjetts ift einigen allgemeineren Ausdrüden, wie illu-
strieren, interessant, speciell u. . w., die Aufnahme nicht
berfagt, weil fie im Unterrichte eine große Nolle fpielen und
ihre Erleßung bejonder® wünfchenswert und ausfichtsvoll
ericheint.
Für die Verdeutichungen jelber mußte der Grundjak
des Spracdpvereins: fein Fremdwort für das, wa
denutih gut außdgedbrüdt werden fann, maßgebend
fein. Demgemäß fpricht der Herausgeber in ber Vorrede
die Hoffnung aus, „im ganzen einen Weg eingefchlagen zu
haben, der fih von fremdwortfreundlider Rüdfiht und von
blinder Neinigungsmwut gleidy fernhält.” Titel oder titel-
artige Bezeichnungen, wie Direktor, Gymnasium, find felbft»
verftändlich nicht angetaftet. Auch viele andere völlig ein
gebürgerte Ausdrüde, für die es ein brauchbares Erfagwort
nicht oder noch nicht giebt, wie Elegie, Idylle, Krystall und
Mineral, Figur und Natur, insbejondere die ganz beutich
gewordenen Lehnmwörter find außgelchlofien. So ift kein
Berfuh gemacht, die Wörter Ferien, Stil, Zone zu vers
drängen; aber Ferialtag, Stilistik und stilistisch mit threr
ganz undentihen Endung und Betonung find verbeutidt.
Kap wird vielleiht mandyer für ein Qehnwort halten wollen;
neben dem gut deutichen „Vorgebirge“ ift e8 troß feiner
größeren Kürze als überflüffig erfchienen.
Sogenannte „internationale* oder „Weltaußs
drüde* find von dem Herausgeber nicht anerfannt. Wie
der Deutiche „Breiten= und Längengrad, Wenbefreife* u. |. m.
deutsch benennt, fo fann er auch Äquator bırd) „(Erd-)Gleicher“
und „Linie“ erfegen.
647
Snöbejondere find aud) die FZahmwörter ber Sprad:
lehre, der Mathematik und Phyfif, fomweit e8 möglich
war, verdeuticht; fo 3. 3. Casus —= (Biegung3-)Yall, Nomi-
nativ — erfter Fall, Werfall u. |. w., Tempus -= Zeit(form),
Präsens — Gegenwart u. j. w.; addieren -= zu(lammen)-
zählen u. |. w., konvex —= erhaben, gewölbt, außgebogen;
erhaben, ausfpringend, überftumpf (Winfel), Kohäsion -—
Zufammenhang u. |. w. u. f. w. Bei ben beutfchen grantmatis
Ihen Ausdrüden ift zur bedenken, daß fie vor allem für den
deutichen Unterricht an den lateinlofen Schulen gelten follen.
Der Lehrer der alten Spraden wird die lateinifchen Be—
zeihnungen vieleiht zum Zeil noch nicht entbehren fönnen.
So find aud) Augsdrüde, die nur für Latein oder Griedifch
gelten, wie Ablativ und Aorist, nidjt angetaſtet. Ähnlich
iit e8 bei den mathematischen Bezeichnungen; die Fremdwörter
find für dag Nedinen der Volks: und Bürgerichule ein wert-
loſer Ballaſt. Trogdem ift nidyt mit Gewalt alles verbeuticht;
fo find für Tenuis, Media und Aspirata, für Quotient, für
Abscisse und Ordinate troß vielfaher Vorſchläge feine
brauchbaren Erjagwörter gefunden.
Überall ift nad Möglichkeit das bereits Übliche be—
vorzugt, wenn e8 auch vielleicht nicht einwandfrei tft, wie
„Beichlehtsmwort“ für Artikel, „Zeitwort” für Verbum. Aud)
ift faft durchweg für Die eigentlichen Stunftausdrüde nur eine
deutſche Bezeichnung gewählt, weil bier eine allgemeine ilber-
einftimmung durdaus wünidhenswert ericheint. Wo die Wahl
zwilchen mehreren Ausdrüden war, ift der beutlidhere und
bezeichnendere vorgezogen, auch wo etwa der andere fürzer
fein follte. So ift Präposition mit „Verhältniswort*, nicht
nit „Vorwort“, Adjektiv mit „Eigenihaftswort“, nicht init
„Bei mort* wiedergegeben.
Zum Scluffe feien einige Proben auß dem Hefte hervor:
gehoben, die zugleich zeigen jollen, wie die verichtedenen Be-
deutungen oder Anwendungen eines Wortes zu ihrem Rechte
fommen. absolvieren — (eine Arbeit) vollenden, be=
endigen, abfichließen; (einen Stoff) erledigen’ purcdhnehmen;
(eine Prüfung) ablegen, beitehen; (dad Brobejahr) ablegen,
(ab:)Jleijten, madyen; (eine Schule V) durdhmaden. Apparat
-- Borridtung, Werkzeug (3. B. Sinnes-); Hilfe-, Lehr:
mittel (3. B. für die Erdfunde); Gerät(jchaften) (3.8. Turn>).
Basis — Grund(lage); (Säulen-, Pfeiler) Fuß; Grund»
linte, =jeite, fläche, =ebene (Raumlage); Grundzahl (bei
Botenzen); Bafe (Chem.)
Das neuefte Verdeutichungöheft des allgemeinen beutfchen
Epradpvereins Ichließt fih in würdiger Weile den früheren
Arbeiten an, weldye die Fremdwörter der Kochkunft, bes
Handels, des häuslichen und gejellichaftlichen Lebens, der
Amtsjprache und des Berg: und Hüttenwejens verdeutichen.
(53 wird in den Streifen der Schulmänner, die durd) Ver:
ordnung ihrer Behörden auf die Vermeidung entbehrlicher
Fremdwörter ausdrüdlid, hingemwielen find, mit Freuden be=
grüßt merden.
—
Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung.
648
DBriefkaflen,
Der Leiter der R.-Ztg. ift wieder zu feinem Papierkorbe
zurüdgefehrt. Die Erledigung der zahllofen Briefe, mit
und ohne Lyrik, wird nah und nad erfolgen. Nicht ers
wähnte Sendungen find ala abgelehnt zu betrachten.
‚ SR M. in ®. Alles nod unreif. — Harn WM.
in Sp. Gut, aber body nidyt fo eigenartig wie das von
uns gebradte Gediht. — Herrn 2. E. in A. Soll gelegentlich
fommen. — Herrn Furt ®. in 2. Sie find jedenfall nod
fehr jung. Aber in „Natur“ ftedt ein Stern von echtem Gefühl.
Thun Sie getreu Shre Pflicht, bilden Sie jih, indem Sie
um fih und in fi jchauen. Sn freien Stunden mögen Sie
auch dichten, aber lafien Sie fid) nicht zu früh in die Offent-
lichkeit locken. — Herrn ©. 9. In Form und Ausdrud uns
zureihend. — Frau Th. v. R. in M. Das Buch foll ges
lefen und angezeigt werden. — 33. Herrn E.2. Sc). Leider
nur Runftipielerei. Tiefes Eigenleben mangelt. — Erna.
Seltjame Stage! Sie beweijt mir, daß Ihr Herz fih nicht
entfchieden hat, fonjt wäre eö Ihnen gleidy), ob der Werber
jähzornig if. Im allgemeinen find foldye Männer leichter
zu lenfen, al& viele anders geartete. Lin Iiebevolles und
Huges Mädden fchredt vor der Aufgabe, einen folchen
Mann zu erziehen, nicht zurüd. Ich zweifle aber an Shrer
Liebe. Dder find Sie au ein Braufefopf? Dann wäre
ein Bund allerdings faum anzuraten. — Herm &. I.
„geierabend“ enthält zu viel Iyriiche „liches“; „Mit Gold
malen”, „Gütiger Engel, der fid) niederihwingt“ u. |. w.,
das ift alles zu fjehr abgebraudt. Beiten Gruß. — Fri.
Hedwig NR. Sehr gute Gefinnung, aber tiefere Begabung
fehlt. — Herrn Lehrer W. in Br. Das Verzeihniß der
wegen Tierquälerei beftraften Snaben und Mädchen bietet
ein trübes Bild; daß auch Iettere gerade bei den größten
Graufamteiten fo ftarf vertreten waren, ift in ihm ba3
Traurigfte. Wenn durd Nutenftreiche der Unfug allmählich
ganz bejeitigt worden ift, will ich gegen fie weiter nicht viel
einwenden; aber bet Mäddyen Halte idy dieje Züchtigung
für verwerflid), weil fie das Schamgefügl für immer töten
und zumeilen noch andere libel erzeugen fann. — Herrn
G. FI. in 3. Prüfen Eie dag „Späte Lied“ recht ftreng
und Sie werden jehen, daß die einzelnen Züge fehr ab-
gebraucht find. DBeiten Gruß. — Herrn Verl. GI. in Dr.
Aud ich beflage mit Shnen den frühen Tod von Aug.
Ludorff, deflen edle Dichtung „der Meſſias“ unſeren Leſern
bor einiger Zeit jo warm empfohlen worden ift. Der 2er:
ftorbene war reich beanlagt und hätte fidher nocd ſchöne
Werke geſchaffen. Aber Nacdjrufe bringen wir nit. — Herm
9.©S. Sowohl „Hermanns Tod“ wie „Frühling im Herzen“
fprehen für reine, edle Denkweife und für warmes Fühlen,
aber Sie fönnen den dichteriihen Gedanken noch nicht zu—
fammenfaflen. Alles ergießt fi Ins Weite und Breite.
Dnhalt der No. 48.
Art zu Art. Roman von 9. Scobert. For. —
Schwertklingen. PBaterländiidier Noman von Hans
Werder Fortf. — Beiblatt: Krank. Bon W. Sommer:
feld. — Das goldene Sprüdlein. Von Gertrud Triepel.
— Die Ode. Bon Dorothee Goebeler. — Eine Tragödie
and der Großftadt. Lebeng- und Stinmungsbilder von $.
Gebhardt. I. -- Beethovens G-moll:flonzert. Von M.
Haußer. — Aus dem Leben für da3 Leben. Bon ©.
v. L — Vermiſchtes. — Briefkaſten
Alle unverlangt an die Leitung oder den Verlag des Blattes eingeſendeten Manuſkripte — größere
Romane ausſsgenommen — werden nur zurückgeſendet, wenn ein mit der Adreſſe verſehener, freigemachter
Umſchlag einliegt. Irgendwelche Bürgſchaft für Zurückſendung wird nicht geleiſtet, Gedichte werden überhaupt
nicht zurückgeſendet.
Seitung und Berlag der Roman Zeitung.
Berantworilicher Leiter: Otto von Leirner in Berlin. — Betlag von Otto Janke in Berlin — Drud der Berliner Buchdruckerei⸗VAktien⸗Geſellſchaft
(Geperiunenfänle deB Leite» Bereinß).
Deutſche
Roman-Zeikung.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
—1896.
Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 49,
Art zu Art.
Roman
bon
3. Scyobert.
(Fortfeg ung.)
Die relative NRube, deren er fih nun erfreute,
Ihat ihm wohl, und do war auch fie nicht frei von
bem geheimen, nagenden Ärger, daß Maud ihn fo
taltblütig entfernt hatte, nachdem er ihr läflig ge:
worden war. So immer ftumm dabei ftehen hatte
allerdings feinen Zwed, aber fonnte fie nicht mit
einem Geihmad zufrieden fein? — Nein! Smmer
nur Fortunat und Fortunat, während er doch ein
viel größerer Künftler war als jener. Sie hatte
freilih das Geld ... . aber er war fchon jekt feft
entihloffen, nihts von al den Dingen hübjch zu
finden, die fie auswählen würben.
Wenn er dann allein im Hotelzimmer jaß und
auf die beiden wartete, bis fie lachend, erhitt, voll
Teuereifer von ihren Bejorgungen zurüdfamen,
frampfte fi ihm das Herz zufammen. Nidht aus
Eiferfucht, denn er war auf Maud nicht eiferjüchtig,
aber aus einem Gefühl des Zurüdgefettfeins, des
Nichtmitlönnens, das ihn verbitterte.
Er wurde noch jchmweigfamer als bisher, aber
feiner beachtete es.
Wenn Fortunat aus ehrlihem Herzen gejagt,
daß er nie eine nettere Zeit verlebt haite wie bie
jetige, batte er jo vollauf die. Wahrheit geiprochen,
daß er es faum merkte, wie jehr dadurch alle feine
anderen Beziehungen erfalteten. Nelly war fchon
längft beijeite gehoben; er fühlte eine moralijche
Unmöglichkeit in fih, Maud unter die Maren Augen
zu treten, wenn er fidd eben erit von jener getrennt,
er fhämte fih dann vor fich felber, und gerabe |
diefe halb unbewußte Reinheit feines jungen Herzens
neben der jonnigen Fröhlichleit und Gutherzigteit
feines Charakters machten ihn jo liebensmwürbig.
„Wir müßten doch einmal zu Quenjels hinaus,”
fagte der eine oder der andere faft jeden Abend,
und dann jahen fie fih an, lacdhten, beruhigten fich
aber dabei, die Thatjache konftatiert zu haben, und
Romanseltung 1896. Lief. 49.
Ihoben diefen Bejuh von einem Tage zum andern
wieder auf.
Auh Maud hatte fih jehr verwandelt. Die
tägliche Thätigkeit, die all ihr Sinnen in Anſpruch
nahm, das ungebundene Zufammenjein mit den jungen
Leuten wirkten vorzüglid auf fie ein. Sie war
jehr beiter, rofiger und frifcher geworden.
„Schade, daß es ein Ende nimmt,” Tagte fie
einmal mit leifem Seufzer zu Fortunat, als fie
mitten unter Tapezierern und Delorateuren in ber
neuen Wohnung fanden. „Dieje Zeit war wirklich
vergnüglich.”
„Sa, aber es kommt eine jchönere.”
„Wer weiß! Sebenfalls eine ernftere. Glauben
Sie ja nit, daß ich in bie Ehe gehe ohne den ge:
nügenden fittlihen Ernft, ohne die beiten Vorjäße
und das volltommenfte Bewußtlein meiner Pflichten.”
Er jah fie enthufiaftiich an.
„Daß ich nicht auch foldhe Frau gefunden habe!”
dachte er feufzend. „Eine zweite wird wohl faum
eriftieren.”
An demjelben Abend berief ihn eine Depejche
eines älteren Kollegen und Freundes auf zwei Tage
in das Gebirge. Er konnte nit abjagen, mußte hin.
„Mein Gott, was werde ich ohne Sie machen?”
fragte Maud erichroden. „Bleiben Sie nur nicht
zu lange fort.“ —
Wirklich fühlte fih Maud unbehaglih und ver:
einjamt, feit Fortunat weg war, fie hatte die Luft
am Einkaufen verloren.
„Es ift viel amüfanter zu zweien,” fagte fie
auf eine Frage zu ihrem Bräutigam, „und wenn id
Did auch mitnehmen wollte, Du veritehft das ja Doch
nicht. Zaß uns lieber die Zeit anders einteilen.“
Nein, natürlich, er verftand nichts davon, aber
er bemerkte do, dab Maub der Tag lang wurde,
und ihm ging es nicht befier.
IV. 46
651
nn
Dazu waren ein paar Tage mit ganz unerträg:
liher Hige gelommen. Feuchte fchwüle Luft bei be-
bedtem Himmel und beißen, ermattenden Winden.
Maud hatte Kopfichmerzgen und jchlug eine weite
Spazierfahrt vor, die den ganzen Nachniiltag ein:
nehmen jollte. Ä
Heelen war es zufrieden, obgleich ihn die Tem:
peratur nicht im geringften angriff, aber jein mo:
mentanes Arbeiten befriedigte ihn auch nicht, das
war nichts Halbes und nichts Ganzes. Er wunderte
fih darüber, daß er nicht mehr fo ganz in Jeiner
Kunft aufging, daß er überhaupt noch einen andern
Gedanken daneben auflommen ließ, aber es war doch
jo. Bor einem Jahr noch hätte er zu feinem Schaffen
nichts anderes gebraucht, als einen Haufen Thon und
Gottes freien Himmel; wenn es nicht anders fein
fonnte, das hätte ihn nicht geitört.
Aber das Gebundenjein an die Verabredungen,
die er mit Maud getroffen, das Bewußtfein, in feiner
jegigen Behaufung nur noch vorübergehend zu fein,
fih nicht jeßhaft machen zu können, quälte ihn.
Als fie dur die veritaubten langen Alleen
fuhren, die von der Stadt aus ins Freie führten,
bing er diefen Betrachtungen mit einem gewiflen be:
bagliden Erftaunen nah, während er ab und zu
einen Blid auf feine Begleiterin warf, bie mit ge:
Ihlofjenen Augen jchweigend in ihrer Ede lag. Er
wußte, daß fie fih nicht wohl befand, und dachte
deshalb nicht daran, fie anzureben; was follte er ihr
auch jagen? Nur fich jelbft fragte er, ob fie nicht
daran jchuld jei, daß er fich jo verändert habe.
Sie fuhren dur ein Dorf mit Fleinen, grünen
Gärtchen vor einzelnen Häufern und einem Wafler:
tümpel inmitten, auf dem Gänfe und Enten fhwammen.
Dicht vor ihnen flürzten aus ein paar Gehöften
zwei mächtige Hunde mit wütendem Bellen aufein-
ander los, jprangen fich an, verbiflen fich ineinander,
hoben fich auf die Hinterpfoten body) und kämpften
erbittert, wie e8 Ichien auf Tod und Leben, eine alte
Fehde austragend. Das Blut troff ihnen von ben
Lefzen, aber fie gaben nidht nad; fi windend,
behnend, aufipringend, verbiflen fie fi nur fefter
ineinander.
„ort, Kuticher!” rief Maud, die nervös zitternd
auf die wütenden Beitien im Staube fah, und:
„Halt! Halt!“ fchrie Heefen emporjchnellend, ben
Hut auf den Rüdfig werfend, fein Skizzenbuch her:
vorreißend, und nun, halb Inieend, halb ftehend, um
die ganze Situation zu überjehen, zeichnete er mit
fliegender Hand den Kampf, der fi vor feinen
Augen abipielte.
Ganz verwandelt war fein Gefiht, die Augen
glühend, die Nafenflügel gejpreizt, dide Tropfen auf
ber Stirn, nichts anderes jehend, hörend, fühlend als
das, was ihn gerade intereffierte.
„Spanne den Sonnenjdirm zu,” fagte er nur
in fajt befehlendem Ton zu Maud, und dann ver:
lanf alles um ihn. Fieberhaft glitt fein Stift über
das Papier, eine Aufnahme, zwei, drei, er fonnte
gar nicht genug davon befommen. Es war als ob
etwas von der Wildheit der beiden Beitien auch in
jeinen Adern lebte und zu Tage trat,
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
652
Maud hatte den Schirm geichloflen und ihn aus
umflorten Augen angejehen. Sie fühlte fi jehr
elend, und bier mitten im Staub, in der Hiße, den
häßlichen Gerücdhen ber Dorfftraße, verftärkte fich das
big faft zur Unerträglichkeit.
Dennod fagte fie fein Wort. Sie hatte nad
dem Genie verlangt, bier bot fih ihr ein aufbligender
Funke. Nur kam er anders zu Tage, als fie fih ge-
dat. Nicht im ftillen, Fühlen, hübſch dekorierten
Atelier, fondern auf offener Zandftraße, unter Un:
bequemlichkeiten, die ihr zuviel waren.
Leute aus dem Dorf famen binzu, e8 gab ein
Sohlen, Pfeifen und Schreien; mit Knütteln und
Dreichflegeln jchlugen fie auf die beiden Hunde ein,
bis diefe endlih blutend, mit hängendem Schweif
und UObren abzogen. Aber au da Hatte Heelen
noch nit genug; die beiden lahmgelegten Feinde
mußte er auch no mit nad Haufe nehmen, und
Maudb hörte das Umblättern jeines Skizzenbuches,
und obgleih fih allmählih alles verlaufen hatte,
Kämpfer, Räder und Publiftum, zeichnete er Doc
immer noch weiter, um alles bas feftzuhalten, was
er gejeben.
Ein tiefer Seufzer Mauds ließ ihn endlich
auffehen. Wie eine halbe Leiche lehnte fie im Fond,
mit zudenden Lippen und gejchloflenen Augen. Er
erichrat heftig.
„Was ift Dir?” fragte er ganz verichüchtert,
„Sol ih Dir etwas holen?”
„Rah Haufe!” ftöhnte fie, unfähig mehr zu
agen.
Sie fuhren zurüd. Er wie ein armer Sünder,
mit den Händen auf den Sinieen, etwas gebüdt, als
drüde ihn eine Laft, fie zwilchen ben gejchlofjenen
Kidern mit Mühe die Tropfen zurüdhaltend, die fich
vordrängen wollten und deren fie fih doch Ichänte.
Was halte ihr denn Martin zuleide gethan?
Daß er ihr Übelbefinden vergeffen im Dienfte ber
Kunft, mußte fie ihm doch zuerft verzeihen, fie, die
feiner Runft immer die erfte Stelle eingeräunit hatte
in ihren Gedanken. Freuen hätte fie fich jollen über
die Stärle und Ipontane Kraft feines Talents, das
auch das Geringfte mil Künfileraugen anfieht und
jeglihe Nüdficht auf feine Nebenmenfchen vergißt.
Fortunat würde zweifellos zuerft nach ihr ge-
fragt haben, fämpfende Hunde giebt es ja fchlieklich
öfter, aber Fortunat war auch fein Heelen.
Und je mehr fie fich das alles mit dem Berftand
lagte, je zorniger fie auf fih wurbe, je höher jtiegen
ihr die Thränen in den Hals, bis bie Lippen frampf-
haft zitterten und fie heftig jchluden mußte.
„Bir Du böje auf mich?” fragte Martin endlich
ſtockend.
Sie ſchüttelte heftig den Kopf.
„Die Luft — die Hitze — der Staub,“ murmelte
ſie, „ich muß mich niederlegen.“
Bor dem Hotel trennten fie fich mit einem flüch-
tigen, faum merkbaren Abidied. Maud flieg in ihr
Zimmer binauf, und Heelen ging in fein Xtelier.
Arbeitsluft pridelte ihm in den Händen. Die mäd):
tigen Tiere hatten zu prächtig ausgejehen; gab er
das in Thon wieder, es könnte fich lohnen.
653
Und je weiter er fih von dem Hotel entfernte,
defto mehr verlor fich der Alp, der ihn bebrüdi Hatte,
er atmete freier, Lebensluft durchdrang ihn wieder,
die ihn einjchnürende Unbehaglichkeit, die er meilt
Maud gegenüber empfand, war verfhmwunden, er
fühlte fih wieder der alte, —
Und oben lag Maud in ihrem Zimmer und
Ihluchzte faflungslos. Warum eigentlid, wußte fie
jelbft nicht.
„Ih bin krank,” wiederholte fie fich ganz laut
und ftrih über die fieberhbeiße Stirn. „Wirklich
frank. Freuen follte ih mich), und dabei liege ich
bier und weine — weil ich Trank bin.“
Am nähften Tag war die Luft fühl und er:
friidend; gejund und fröhlich wachte Maud auf. Sie
Ichrieb ein paar herzliche Zeilen an Heelen, denn fie
Ihämte fich des geflrigen Tages, fügte ein paar tau—
friihde Rojen Hinzu und jchidte es ihm durch einen
Dienitimann. Die Stunde des Rendezvous war von
ihr etwas fpäter angelegt als fonft, fie wollte vorher
in ihre Wohnung gehen und Schränfe und Käften
einräumen, denn bie Lieferanten hatten geitern große
Sendungen geihidt, die fie aber ihrer Kopfichmerzen
wegen nicht geöffnet hatte.
hr war jo recht heiter und lebensluftig zu Mut,
wie jonft oft, wenn fie mit Fortunat ihre Einkäufe
gemadt. Daß fie heute allein war, ftörte fie auch
nicht, im Gegenteil, fie freute fih auf ihre Arbeit.
Als fie die breite teppichbelegte Treppe hinauf:
ging, gefiel ihr alles, und während fie durch die
bereits eingerichteten Zimmer fehritt, empfand fie Die
ganze Slüdjeligfeit eines feiten Beliges, eines Heims.
Auch an Heelen dachte fie, und was ihr geitern
Thränen erpreßt, heute erfüllte es fie mit einem ge:
willen Stolz.
Der Portier brachte die großen Kilten, Körbe
und Ballen hinauf, und fie begann auszupaden.
Das zierliche Totlettenzimmer war bald ganz debedt
mit Leinenzeug, Spitzenwäſche, Matinees, Zurz all
den taujenderlei Dingen, die eine elegante Frau für
fih notwendig findet. Und Maud hatte an nichts
geipart. Seidene Röde baufchten fich fofett neben
folden, die wie aus Spinnengewebe jhhienen, deren
reicher Spißenbeja wie ein Hauch berabbing, bereit,
in jedem Luftzug zu zittern.
Einen Augenblid lehnte fih Maud mit dem
Rüden an den Schrank und jah in das licht: und
farbenvolle Chaos vor fih. Sie date an die Zu:
funft, die ihr diefe Berge bier repräfentierten, und
ein Ausprud träumeriihen Nachdentens trat in ihr
Geſicht.
Würde fie alles das finden, was ſie erwartete?
MWitrden Stunden ber Enttäufhung, ja, der Neue
tommen? 3 fchauerte fie ein wenig, wenn fie daran
dachte, daß niemand imftande fei, diejen verborgenen
Vorhang zu lüften, der unmeigerlich jeden Tag vom
andern jchied, und fie machte fich eilig an die Arbeit.
Sn dem entfernteren Teil der Wohnung kamen
und gingen die Handwerfer, die Portiersleute, Maud
ah fih nicht einmal um, als Hinter ihr die Thür
geöffnet wurde. Sie lag auf den Knieen vor dem
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
654
unterſten Schubfach und wandte erſt den Kopf, als
es hinter ihr ſo ſtill blieb.
„Fortunat!“ rief ſie aufſpringend und ihm beide
Hände entgegenſtreckend. „Wie gut, daß Sie wieder
da ſind!“
„Ja, darf ich denn näherkommen?“ fragte er,
etwas verſchüchtert um ſich ſehend.
„Weshalb denn nicht? Ich freue mich fo ſehr,
Sie wiederzuſehen.“
Ganz unbefangen war ſie, das machte auch ihn
ſofort von jedem anderen Gefühl frei, eiligſt trat er
auf ſie zu.
„Ich dachte es mir doch, daß Sie hier wären,
deshalb kam ich auf gut Glück her, ehe ich noch ins
Hotel oder zu Martin ging. Wie reizend es hier
ausſieht, Miß Winter.“
„Reizend? das können Sie wohl nicht behaupten.
Wie in einem Trödlerladen! Aber ich bin ſchon ſehr
fleißig geweſen. Warten Sie einen Augenblick. Ich
zeige Ihnen dann, was in Ihrer Abweſenheit fertig
geworden iſt. Setzen Sie ſich inzwiſchen, wo und
wie Sie können.“
Sie fuhr fort die Wäſche wegzulegen und plau—
derte von den Tagen ſeiner Abweſenheit.
„Wie lange Sie übrigens geblieben ſind,“ fagte
ſie innehaltend und ſich umſehend.
Er hatte ſich zwiſchen die ſeidenen und Spitzen—
röcke geſetzt, gerade als ſie ſich umdrehte ſein Geſicht
tief in das duftige Gekräuſel des einen gedrückt, als
wäre ihm die Berührung des feinen Stoffes ange:
nehm, nur jein lodiges Haar war ihr nod fichtbar.
Halb erihhroden, halb ärgerlich jah fie darauf hin.
Da hob er den Kopf, fah ihre erflaunten Augen,
late und errötete ein wenig.
„Sie dürfen mich nicht auszanten, Miß Winter,
id babe nun einmal eine Schwäche für derartige
Dinge. Schon als Snabe madıte mich nichts glüd:
liher, al über Sammet und Seide ftreihen zu
fönnen und Spiten flattern zu jehben. Und jebt
als Mann entzüdt mich nichts mehr als ähnlicher
Lurus an einer Frau. Wie duftig und zart das
bier alles if. Welde wundervollen Farben! Viel:
leicht ift mein Künftlerauge jchuld an diefem Nerven:
reiz. jedenfalls ift es nichts Böjes und darf Sie
nicht beleidigen.”
„Deleidigen? Natürlich nicht!” jagte fie Ichnell
und nahm ein blau umbundenes Wäfchepafet zur
Hand, büdte fih aber nicht wieder. „Ob Tino
eine Ahnung hätte von dem, was er bier fähe?”
fragte fie nachdenklich. „Ich glaube nicht, darin find
ih die Künftler nicht gleih. Mir aber geht es wie
Shnen, ich liebe den Luxus des Lebens und möchte
mich nicht von ihm trennen. ch finde, er hat etwas
Beredelndes an fich.”
„Tino,“ entgegnete Fortunat baftig, „it ein
größerer Künftler, aber die Feinfinnigfeit, die er als
Menich entbehrt, die jollten Sie ihm anerzieben, Mip
Winter. Wenn er au) anfangs nichts beachtet, die
Zeit wird das bringen. Er Tann do nicht immer
neben hnen binleben mit gefchlofenen Augen, er muß
doch einmal jehen lernen.”
„D, ex fieht, er flieht, wenn es fih um Dinge
655 Art zu Art.
handelt, die ihn interejfieren,” geftand fie ihm eifrig.
„Bielleiht aber interejfiere ich ihn nicht.”
Er lachte beluftigt.
„Welche dee, MiE Winter! Wirklih, Sie thun
ihm unredt. Bei ihm fitt es nur tiefer, innerlicher,
als bei uns anderen. Unjere Sprade ift ihm no
fremd, darum verftummt er jo oft. Das wird fi)
ändern . . .”
Sie hatte dazu genidt. Wie ernft es ihr mit
ihrer Ehe war, das mußte ja Fortunat genügend,
auch ohne, daß fie es noch einmal verficherte. Heftig
erihroden aber fuhren beide herum, als jegt plöglich
die Thür aufflog. Luzie ftand auf der Schwelle.
„Wie reizend! — Sie beide hier zu finden, das
hätten mir meine fühnften Träume nicht vorgefpiegelt,“
jagte fie mit Hohn, während das rebelliihe Blut
ihr in bas Geficht ftieg. „Sie helfen wohl tüdhtig,
Fortunat? Dann begreife ih, daß Sie den Weg zu
uns heraus nicht mehr gefunden haben.”
Die Feindfeligfeit in Blid und Ton war jo
unverkennbar, daß bie beiden einander betroffen an-
fahen, aber rein wie ihre Gedanken und Beziehungen
ftets gewejen, glaubten fie auch an nichts anderes,
als an eine momentane Verfiimmung Luziens.
„Wollen Sie fi nicht ſetzen,“ ſagte Maud,
mit vornehmer Großmut den Eindrud übergehend,
den Luzies Benehmen auf fie gemadt. „Fortunat
muß jeben, daß er Plab Ichafft.”
Mit Ipigen Fingern legte der junge Mann alles
beijeite, was auf der rofafeidenen Gaufeuje noch lag,
aber die Freude an al den hübfchen Dingen, die er
zuerft jo bewundert, war ihm vergangen.
Zuzie blidte von einem zum andern. Sie fahen
jo ruhig aus, aber das beruhigte ihr empörtes
Blut nidt.
„Sollte ih ftören,” fagte fie fpig, „jo bitte ich
bie Herrfhaften nur um ein Wort, ich bin dann
glei wieder draußen.”
Maud jah fie an, ohne zu antworten. Gie er:
riet die Eiferfuht und nahm fi vor, zu jchweigen,
Fortunat aber jagte in grenzenlofem Erftaunen:
„Stören? Weshalb denn? Miß Winter wird
ruhig weiterpaden.”
Luzie warf ihm einen zornigen, zugleich prüfenden
Blid zu, aber feine ehrlide Harmlofigleit entwaffnete
fie do. Etwas freundlicher begann fie fich über ihre
Einſamkeit zu beklagen, zu fragen, umberzuichauen,
furz, ihre liebenswürdigere Seite hberauszufehren.
Sie fand alles entzüdend, war begeiflert, aber bei
jedem neuen Stüd, das fie anjah, hieß es immer
mit einem Seufjer: „Maud, Sie Glüdlihe! — Wer
das doch auch haben könnte! — Wie glauben Sie,
würde mir das ftehen!” —
Zum Schluß ding fie fih an Fortunat.
„zerchen, Sie müflen mich nach Haufe begleiten,
das wenigiteng können Sie für eine alte Freundin
tun. Nachher gebe ich Sie auch frei, Tobald ich
apa babe.”
Er jah erftaunt von einer zur andern.
„Sa, bleiben denn die Damen nicht zufammen?”
„Nachher, nachher! Erft muß ich Papa Ipredhen.
Maud hat ja einftweilen ihren Bräutigam. — Sie
Roman von H. Schobert.
696
abfcheulicher Ler, daß Sie feine Minute mehr für
mich übrig haben wollen.”
„Fahren wir zuerft Miß Winter ins Hotel,
dann Sie nad) Haufe,“ jchlug er vor, denn e8 wider:
ftrebte ihm, fi) plöglich jo ohne weiteres in Luziens
Dienfte zu ftellen.
„Ab, die jelbftändige Maub fürchtet fi Doch
gewiß nicht,“ meinte Quzie mit einem Schmollmund.
Diefe wehrte auch jehr energifh ab, und furze
Zeit darauf verließen beide die Wohnung, in ber
Maud allein zurüdblieb, recht verfiimmt über Luziens
Benehmen.
„So!“ fagte Zuzie jchon auf der Treppe, „nun
habe ih Sie endlih da, wo ih wollte, nämlich zu
einem XTete:a:tete mit mir. Sie haben es gejcheut,
ih weiß es wohl, aber länger ging es nicht mehr,
ih muß Sie jpreden.”
„Warum fo feierlih?” fragte er ahmungslos.
Sie blieb fiehen und ftampfte zornig mit dem Fuß.
„Mein Gott, Zer, in welch einem Lande leben
Sie denn, daß Sie mid au noch mit fo unfchuldigen
Augen dabei anjehen! Ach babe ernit, ganz ernfi
mit S$hnen zu reden.”
Er ſchwieg und drehte fein Stödchen in der Luft
berum, Luzies Ankündigung fand ihn ehr jleptiich.
„Es it doch eigentlih unerhört,” fuhr fie in
regem Eifer fort, daß ich Ihnen bas erit jagen muß,
fo viel Verftand müßten Sie jelbit haben. Sie bringen
ja dies ohnehin jeltiame Brautpaar in den Mund
aller Leute.”
„Ich?“ ſragte er vor Erftaunen ftille ftehend.
„NRatürlih. Diefe Brautichaft zu dreien ift ja
einfach unerhört! Alle Welt lacht, zerbricht fich die
Köpfe und zudt die Achfeln. Wenn es fchon zu
mir gedrungen ift, ba draußen, dann muß e8 dod
toll fein. Danfen Sie Gott, daß die meiften jet
in der Sommerfrifche find, Maub fünnte bas nachher
ale Frau fehr zu entgelten haben.”
„Aber mein Gott,” fragte er ganz perplexr, „was
thun wir denn? An einer jo aufrichtigen Freundfchaft,
wie fie uns drei verbindet, fan doch niemand etwas
finden.”
„Meinen Sie! — ch jage Ahnen das Gegen:
teil. Freundihaft! Was heipt da Freundichaft! Sie
fahren mit ihr herum, als gälte es Ahre eigene
Häuslichkeit zu gründen, Sie holen fie des Morgens
aus dem Hotel ab, Sie find in Cafes und Reftaurants
mit ihr zu feben. Sa, glauben Sie denn, daß alle
Welt blind ift, oder daß die traurige Rolle, die der
Bräutigam dabei fpielt, niemand auffällt? Ich fage
Shnen, Ler, Ihre Freundichaftsdienite haben ein ganz
eigentümliches Ausjehen in den Augen der Welt!”
„Und weil es der Welt beliebt, etwas in den
Staub zu ziehen, was an fih harmlos, ja, mehr als
das, Klug und gut ift, deshalb joll ich nun meiner
FSteundichaft den Laufpaß geben und mid rüdmwärts
fonzentrieren, nit wahr?” fragte er voll tiefiter
Empörung.
„3a, — wenn Sie Maud einen Dienit leiften
wollen. Wir leben bier nicht in dem freien Amerila,
wo die Mädchen, wie mir jcheint, thun und laffen
fönnen, was fie wollen. Man muß fih bei uns nad)
657 Art zu Art.
dem richten, was jich Ichidt, oder vielmehr für fchiclich
gilt. Man wird Frau Heelen fonft entgelten lafien,
was Mif Winter gefündigt, und fagen Sie einmal
jelbft, war e8 denn paflend, daß fie gleich nach ihrer
Verlobung von uns fort in ein Hotel z0g, mit $hnen
beiden fo ungeniert verkehrt, als wäre fie eine Frau
von jechzig und nicht eine Braut von vierundzmanzig
Sahren? Möchten Sie, daß fih Shre Schwelter jo
emanzipieren würde, wenn Gie eine hätten?“
Er jeufzte beflommen auf. Unter Luziens Worten
hatte er das Gefühl, als wäre er wirklich jchulbig.
„Dem Neinen ift alles rein! Keiner von uns
dreien bat ja auch nur einen zweifelnden Gedanken
gehabt, das Ihwöre ich SXhnen!”
Sie jah ihn Ipöttilh an.
„Stehen Sie für fich jelbft ein, guter Xer,
aber nicht für die anderen. Was mwiflen Sie von
Heelen? Was jelbt von Maud? Und dieje rege
Freundichaft glaubt Shnen doch niemand, jeder zieht
den Schluß: Sie find in Maud verliebt.“
Er ladte auf, nahm den Hut ab und firih fi
durh das lodige Haar, dann atmete er tief.
„Daran ift gar kein Gedanke,” fagte er im Tone
vollfter Überzeugung. „Dem Freunde Braut ober
Frau nehmen, ift noch taufendmal gemeiner als
filberne Löffel ftehlen. —- Daß man fo etwas von
mir benten Tann!”
Sie hatte ihn beobachtet, und in ihre geipannten
Züge fam ein freudiges Aufleucdhten. Nein, wirklich,
er war bejlen nicht fähig!
„Lerchen,” Sagte fie zärtlih und legte ihm die
Hand auf den Arm. „Ih weiß e8 ja, Sie find
ein guter Junge und ein anftändiger Men dazu.
Meiden Sie den Schein. — € ilt fo leicht, den
Leuten die Mäuler aufzureißen. — Kommen Sie
wieder öfter zu ung.”
Er jah fie naddentlih an.
„3a, aber Fräulein Luzie, mit SZhnen Tann
mir dann doch dasjelbe pajlieren.”
Sie Irhültelte heftig den Kopf.
„3% babe einen Bater,” jagte fie. „Ein Vater
oder eine Mutter jhügt in jolhen Fällen immer.
Gott fei Tank, wird Maud ja au in drei Wochen
verheiratet jein, dann hat fie wenigftens einen Mann,
obgleih der — na, ich weiß noch nicht, ob fie der
gerade fonderlich Ichügen wird.”
hatte offenbar nicht recht zugehört, ganz in
Gedanken drebte er fein Stödchen immerzu hin und
ber zwilchen den Fingern. Es that ihm jo leid, daß
er Maud vielleiht Schaden zugefügt, er war aud)
immer jo unbejonnen und unbedadht; und noch mehr
that es ihm leid, daß er fein tägliches Zufammen-
leben mit dem Brautpaar nun am Ende aufgeben
jollte. Heiße Erbitterung ftieg in feinem Herzen auf.
„Ih wünfchte, ich hätte alle die einmal zwilchen
den Fingern, die fih damit amüfieren, anderen
Leuten die Ehre abzufchneiden,” jagte er FEnirichend.
„3 dächte, es genügte, fi) als anftändiger Menjch
zu fühlen.”
Zuzie lachte.
„Ein ſo ſanftes Ruhekiſſen das gute Gewillen
auch ſein mag, der Schein iſt doch in allen Dingen
Roman von H. Schobert.
658
die Hauptſache. Und nun, Lexchen, machen Sie
kein ſo wütendes Geſicht,“ ſie beugte ſich vor und
ſah ihm lächelnd in die Augen. „Ich habe es doch
nur gut gemeint mit Ihnen und Maud. Kommen
Sie jetzt dafür mit mir zu Papa und Emil.“
Er nahm den Hut ab und ſtrich über ſeine
feuchte Stirn.
„Ich bitte Sie, entſchuldigen Sie mich für
diesmal. Was Sie mir ſagten, hat mich zu tief ge
troffen, und vor allen Dingen, ich bin Martin eine
Ausſprache ſchuldig.“
Luzie blieb ſtehen und fah ihn ganz entſetzt an.
„Sie werden ſo dumm ſein! Was geht das
Heeken an?“
„Ich denke, ihn am allermeiſten.“
„Aber der Mann verſteht doch nichts davon!
Keine Ahnung hat er von den Geſetzen unſerer Ge—⸗
ſellſchaft! Ihre Sache allein iſt es, Ihre Handlungs—
weiſe danach einzurichten, denn Sie ſind einer der
Unſeren. — Und nun ſeien Sie vernünftig und
kommen Sie mit hinauf.“
„Ich kann nicht,“ ſagte er verſtimmt. — Kurz
— faſt unhöflich verabſchiedete er ſich. —
Sie hatte ja ſo unrecht nicht mit dem, was ſie
ſagte, und gerade, daß er das ſich ſelbſt zugeben
mußte, das ärgerte ihn am meiſten. Mit geſenktem
Kopf und langſamen Schritten ging er trotzdem ben
Weg zu Heekens Atelier.
Wie häßlich eingerichtet in dieſer Welt, daß
jeder das Recht hatte, über den anderen zu Gericht
zu ſitzen, ihn nach ſeinem eigenen, vielleicht ſehr
minderwertigen Maßſtab zu meſſen, und dann ſein
Urteil in die Welt hinauszuſchleudern, ohne für
das verantwortlich zu ſein, was daraus entſtand.
Sie waren ſo glücklich geweſen, harmlos wie
die Kinder, wenigſtens er — Fortunat — nun kam
auf einmal der häßliche Klatſch und warf ſeinen
Rauhreif darauf. Natürlich hatte es nun ein Ende
mit der Harmloſigkeit und der Fröhlichkeit, denn
ſchaden durfte er Maud nicht.
Wie kam es doch, daß er nur an ſie dachte,
nicht an ſeinen Freund?
Er blieb ſtehen und ſtarrte tiefſinnig in ein
Schaufenſter.
Waren ſeine Gefühle für ſie vielleicht doch
nicht ganz ſo, wie er ſie ſich ſelber vorſpiegelte?
Lief da noch etwas anderes mit unter, vor dem er
abſichtlich die Augen ſchloß?
Heftig ſchüttelte er den Kopf. Nein! Sie war
die Braut ſeines Freundes, ihm alſo ein doppeltes
Heiligtum. Aber das ſchloß nicht aus, daß er ſie
lieb hatte wie eine Schweſter, daß er die Krone
aller Frauen in ihr ſah, und Heeken glücklich pries.
Würde ſie ein Opfer von ihm verlangen, ohne zu
fragen oder ſich zu beſinnen, brächte er es; aber
konnten die Menſchen denn wirklich an keine Freund—
ſchaft ohne Nebengedanken glauben? War die Welt
ſo ſchlecht? Traurig dann für ſie! Er — er wollte
es ihr beweiſen, daß auch ehrliche Freundſchaft
zwiſchen Mann und Weib möglich ſei! Dann mußte
fie verftummen.
Sn ziemlich Ichnelem Tempo legte er den Weg
659 Art zu Art.
——
zu Heeken zurück und ſtürmte in ſein Atelier, wie
früher oft.
Martin fand in feiner gewohnten Arbeilstracht,
jeinem MWollhemd, und arbeitete eifrig. Schon in
voller Plaftit boben fich die Fämpfenden Hunde faft
in Lebensgröße aus dem Thon heraus. Es war
der alte Heelen wieder, mit dem konzentrierten Blid,
dem vor Arbeitsluft ftrahlenden Geficht, der abjolut
armfeligen, ihm behagenden Umgebung. Der alte
Seelen, der vor dem neuen, unbeholfenen, gebrüdten
Menihen ihm falt ganz entihwunden war. Mit
dem alten Reiz wirkte in diefem Augenblid bie
PVerjönlichkeit des anderen auf Fortunat, und mit
dem alten Entzüden jahb er auf die entjtehenbe
Gruppe, während er den HZwed jeines Kommens
vergaß.
„Du bift ein großer Künftler, Martin,” jagte
er ganz wie früher und blidte ihn mit leuchtenden
Augen an.
„Nicht wahr, es ift gelungen.” Ruhig wilchte
er fih mit dem Arm ben Schweiß von der Stirn.
„Ddber eigentlih — es wirb gelingen.”
Sie ftanden ein Weilden zufammen und ftu:
dierten das Kunftwerl, alles andere war vergefien,
beide nur Künftler; dann plöglich jeßte fih Yortunat
mit tiefem Auffeufzen auf den alten Schemel, den er
noch genau von früher ber Fannte.
Seelen fah ihn an.
„Was haft Du?” fragte er, fich wieder feiner
Arbeit zumendend. „Ich bin jehr froh, daß Du
zurüd bift, jeher froh! Nun laßt Zhr mich wohl
arbeiten und beforgt wieder alles zujanımen.
Maud bat mehr Spaß an Deiner Begleitung als
an meiner.”
Sortunat hob den Kopf und fah feinen Freund
prüfend an.
„XTino!” Tagte er dann vorwurfsvoll.
„Sei do jo gut und nenne mih Martin,
wenn wir allein find. Gelt, ja! Ich kann den
Namen nit ausftehen.”
Er erhob ih langlam und trat dicht vor
ihn bin.
„Martin, fieh mir ins Gefiht — fag’ mir die
Wahrheit. War es Dir auch zu viel, daß ich mich
als ben Freund Deiner Braut fühlte und zeigte?
Warft Du eiferfühtig! Ja, warum haft Du mir
das nie gejagt?”
Heelen warf jein Mobellierholz fort und ftedte
die Hände in die Hojentajchen.
„Bil Du verrüdt? Eiferfühtig?! Was ift denn
das für ein Unfinn?”
Fortunat atmete heftig.
„Nun, Du folft alles willen. Dich gebt es ja
am Ende auch etwas an. Auzie traf Deine Braut
und mid in Eurer Wohnung; auf dem Heimmeg
bat fie mir dann etwas die Leviten gelejen, uns»
oefähr fo . ..” Und er erzählte ihm alles —
„worauf ih nun beichloffen habe, mich genügend
von Euch zurüdzuziehen, um den Leuten feinen
Grund mehr zum Reden zu geben.”
Mit einem Sab fait war SHeelen an feiner
Seite und umfaßte feine Schulter.
Roman von H. Schobert.
660
„Das wirft Du nicht thun, Lex, das kannft Du
nicht,” ftieß er ganz atemlos heraus und Jah ihm
flehend in das Geliht. „Was jol ih denn allein
mit ihr? Ich bin ja jo glüdlih, daß Du wieder ba
bift und die Laft der Unterhaltung haft. Nun willt
Du mih im Stih laflen? Seht, wo ich arbeiten
müßte?”
Fortunat fah zaudernd in das erregte Geficht
dicht vor fidh.
„Bedenke aber — die Leute!”
„Was gehen uns die Leute an! Du weißt
nicht, wie gräßli lang uns biefe paar Tage ohne
Dih geworden find, ihr auch, ich weiß es, und
nun bift Du endlich da, Gott fei Dank, und mußt
jegt wieder bei uns bleiben wie vorher. Verſprich
mir das.”
„Wenn ich es aljo jchon thue,” gab Fortunat
zögernd zu, „Eure Hochzeit fleht vor der Thüre,
nachher muß es doch ein Ende haben. Mit Deiner
Frau wirt Du jhon allein fein wollen.”
Heelen ftüßte den Kopf in die Hand.
„Möglih, man gewöhnt’s. Das denle ich au
immer. Aber warum wilit Du dann fort bleiben?
Ale Tage jolft Du fommen, wenn — e8 Dir nicht
langweilig ift,“ vollendete er zögernd.
„Davon kann feine Rede fein. Aber jage mir,
warum wiljt Du mid) denn haben, während man
bob jonft mit der Frau, die man gern hat, am
liebjten allein ift?”
Heelen ftrih fich mit der Hand über das Ge:
ficht, dann jagte er ftodend:
„Du bit jo elwas wie ein Bindeglied zwilchen
ihr und mir — wenn Du fehlft, it eine Kluft
zwilhen uns. Wir find fo verjhieden. — Man ge:
wöhnt's vielleicht mit der Zeit — aber jet — jept
braude ih Dih no.” Und er fahb ihn fo
bittend an, daß Fortunat nicht das Herz zu einem
Nein fand.
Warum auh? fragte er fich plöglich troßig.
Einen Künftler wie Heelen, ein Mädchen wie Maub
mußte man wirtlid mit anderem Maße meflen.
Siebzehntes Kapitel.
„Martin! Martin,” rief die alte Frau Heelen
mit gedämpftem Tone in das Atelier hinein. „Komm
bob mal einen Augenblid ber. Die Eva ijt da!
Die Eva Leitner.”
Er jchüttelte unmirich den Kopf.
„Hab’ Teine Zeit!”
„Sie mödte Dir einen Glüdwunid jagen zu
Deiner Verlobung.”
„Hab’ Teine Zeit!”
Die Stirn feit in Falten gezogen, ftichelte und
grub Heelen an jeiner Hundegruppe herum. Er
war unzufrieden mit jeinem Werk, und fein guter
Arbeitstag lag binter ihm. Hätte er nun nod
beilern können, fortfahren in feiner Arbeit, aber bie
Pflicht rief ihn zu feiner Braut und zwang ihm
das Modellierholz aus der Hand.
661
„Die verwünjhten Weiber,” grolte er und
madte jeufzend Anflalt, fi in die notwendige
Toilette bineinzuzwängen, denn er fühlte fi immer
no jchrediih unbehaglih in dem fleifen Kragen,
den Manichetten, dem modernen Anzuge.
Mipmutig und übelgelaunt, wie er war, dachte
er au gar nicht mehr daran, Eva einen guten Tag
zu bieten. Was ging ihn die Eva an!
Als fih fein Schritt entfernte, bordhlen bie
beiden Frauen in ber Küche ihm geipannt nad).
„Er gebt fort, Mutter Heelen,” fagte bie
jüngere, verichräntte die beiden Arme über den
Kopf und lehnte fich jo gegen die Kühenwand. „Ich
hätte ihn doch gar gern mal gejehben, den Martin,
der ein jo berühmter Mann geworben ift.”
„Ah geh,“ meinte die Alte wegwerfend. „Be
rühmt! Das ift au was! Zum Graulen fieht
das Zeug aus, was er madt. Aber bie Hauptjady’,
Ev’, ift die Braut. Die ift ſchwer reih! Das trägt
feiner fort. Weißt Du, Geld, Geld ift das befte im
Leben. Sjmmer nur recht viel Geld, dann läßt es
ih Ihon aushalten.”
Eva jhüttelte den Kopf.
„Ss läßt fih au mit mandem anderen aus:
halten, Mutter Heelen. Mehr als fattefien kann
fih feiner, und mehr als ein Kleid anziehen und
in einem Bett jchlafen auch nit. Da müßte ich
= noh mandes, was mir lieber wäre als vieles
eld!“
of De Alte wilchle ih die Naje mit dem Schürzen-
zipfel.
„Du bift jung, Ev’, und ein hübjches Mädchen
dazu, Du jpridit wie Du es verftehft. Ich ſage
Dir aber, Geld, Geld und wieder Gelb, das ift die
Hauptjadhe im Leben. Und nun wird der Kaffee ja
wohl fertig fein.”
Sie wollte fi erheben. Eva fam ihr zuvor.
Während fie ten Topf und die Taflen auf den
Tiih trug, bejah die Alte fie fich mit jchtefem Kopf.
Freilih war fie Hübih, die Eva. Groß und
jehr üppig gewadjen, mit didem Blondhaar und
blauen Augen, die Farben friih, ländlihe Ab:
fammung verratend. Auch Jonit Hatte fie nichts
Feines oder Pilantes an fih, aber etwas Derbes,
Gejundes und Herzensgutes. Shre Tracht war ein
jehr einfaches, blau und weiß gewürfeltes Kattunfleib.
„Halt Ihon einen Schag?” fragte die Alte
blinzelnd.
„Nein, das leidet meine Herrihaft nicht.”
„Wirft die Herrihaft fragen!” —
„Mir bat auch noch feiner gefallen. Sagt einmal,
Mutter Heelen, wie fieht denn Martins Braut aus?”
Sie blieb am Kaffeeliich ehen, bie Hände auf
dem Rüden verfchränft.
„Schön ift fie nit! Dürr wie ein Bohnen:
fteden, die bunllen Haar’ bis in die Augen hängen,
als hätte fie Feine Zeit, fich zu fämmen. Schlampige
NRöde und all jo was, aber Geld, graufam viel
Gelb!”
„Hat er fie gern?”
Die Alte jah fie verihmigt an.
„Biel Geld bat man immer gern, Ev’!”
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
662
Das Mädchen jchüttelte zweifelnd den Kopf, befto
eifriger nidte die Alte.
„Du bift noh jung, Dirn!
weiß es befler.”
„Was wird denn aus Euh, Mutter Heelen?”
fragte Eva plöglid. „Geht hr wieder aufs Dorf
zurüd?”
„Rein, ich bleibe bei meinem Sohn,” fie redte
fih ordentlich in die Höhe vor Stolz, „zieh mit in
bie neue Wohnung — der Martin hat es gejagt.”
„So, jo! Mit der jungen Frau zufammen?”
Die Alte Ichneuzte fich verlegen in ihren Schürzen:
zipfel, dann wurde fie vertraulich.
„Weißt, Ev’, es ift doch viel ſchöner auf unſerm
Dorfe als in der Stadt, ih ging am liebflen wieder
zurüd, und die Tale dann reht voll Geld, daß
ih nit mehr zu arbeiten braudt. Aber der Martin
wil’s nicht, und auf die Hochzeit geh ich auch nicht,
das ift dem Martin zu genierli unter all die vor:
nehme Bagage.”
Wieder die ftlaviihe Unterwürfigkeit der Frau
aus dem Volk, die die Peitfche fürchtet, aber Eva
merkte das nicht, Dagegen bligten ihre Augen zornig auf.
„Das ift aber nicht bübjh von Martin, das
bätte ich nicht gedaht! Seine Mutter bleibt eben
jeine Mutter.“
Die Alte Ticherte Leife.
„Et bat mir was bafür geichentt,” fagte fie ge:
beimnisvoll und holte aus den Kiffen des Beltes ein
altes Tuch, das fie forgfältig auseinanberihlug. „Da
hau ber, Ev’!”
Ein neuer blauer Hundertmarlichein lag barin,
den die Alte liebevoll betrachtete. „Und das habe
ih Ihon geipart,* fuhr fie fort, einen Zipfel öffnend,
in dem fich eine Menge Tleiner Münzen befanden.
„Seipart? Wozu?” Die Eva fahb aus ihren
großen runden Augen ganz erftaunt auf Die Sprecherin.
„3 denke, die Frau ift reich, der Martin verdient,
wozu fpart hr da, Mutter?”
Die Alte blidte fie verbußt an.
„Es it meine Freud’!” jagte fie dann kurz und
vergrub den Schat wieder im Bett. „Gehit mit in
die Kirch’, Ev’, wenn fie getraut werben?”
„Ich kann ja nicht. Das ift mir aber wirklich
leid! Am Sonnabend geht meine Herrihaft an die
Riviera für den Winter über, die Gräfin ift frant.
Und da muß ih mit, weil die Kinder alle jo an mir
hängen. Und dann hält die Frau Gräfin mas auf
mich, ich bin do nun Ion im dritten Jahre da.”
„Bit eben ein ordentliches Mädel, Ev’!”
„a,“ entgegnete fie wie jelbftverftändlih, dann
jügte fie nachdenklich Binzu: „Aber wiedergejehen
hätte ich den Martin doch gern! Mein Gott, wer
das gedadıt Hätte! Er war immer jo ein eigener
Bub’; daß der zum großen Herrn faugte, hätte ich
niemals geglaubt. Nun müßt ich wohl ‚Sie‘ und
‚gnädiger Herr‘ zu ıhm jagen. Und er bat mir fo
oft meine Schürze zerrifien.”
Sie lachte fröhlich auf bei der Erinnerung, und
dann begann fie weiter von der entichwundenen
Sugendzeit zu jpredhen, während die Alte dazu nidte,
„Jeſus, Gott! Hab’ ich mich verplaudert,” fagte
Wer lange lebt,
663 Art zu Akt.
fie endlih aufipringend. „Ih muß ja heim. Na,
und grüßt mir den Martin jhön, Mutter Heelen,
wenn’s ihn nicht geniert, daß ihn jo eine wie ih
grüßen läßt.”
„Und in der neuen Wohnung fommit und be:
jugft mid, Ev’, gelt ja? Wart noch ein wenig, ich
geb’ Dir gleich den Zettel mit, wo fie drauf fteht.“
Aber troß allen vereinten Sudens fand fich der
Bettel nicht, und Eva, über das ganze Geficht lachend,
daß bie weißen Zähne nur jo leuchteten, nahm Ab:
I&hied von ihrer alten Belannten mit dem Beriprecdhen,
fie troß alledem aufzufinden, wenn fie zurüdtäme.
„Und Glüd und Segen für das junge Paar,”
rief fie no von ber Thüre aus zurüd, während fie
das leichte Tuch feiter um die üppigen Schultern 309.
Die Alte ah ihr nad.
„Cine ftattlide Dirn,” murmelte fie vor fid
hin, „und eine freuzbrave dazu. Schade, baß ber
Martin fie nicht gejehen hat.“ —
Der Martin jaß inbeflen in dem erften Hotel
der Stadt in Mauds Salon und wartete auf feine
Braut, die no immer nicht zurüdgelehrt war.
Er that das mit einer gewillen ftumpfen Gleich:
gültigleit, ohne Unruhe oder Ungeduld. Zuweilen
bob er die Augen auf und ftreifte mit einem flüch:
tigen Blid die fragmürdigen Kunftwerle in DL, die
die Wände jchmüdten, dann wieder ftarrte er ges
dankenlos auf das Mufter des Teppiche, ober ftrich
mit dem Finger über den jammetnen Bezug des
Sefjels, in den er fih notgedrungen feßen mußte.
Er hate diefen Ranm. Die vielen blühenden
Blumen, die ihn ftets erfüllten, die für ihn phäno-
menale Pradt der Einrihtung, alles das wirkte be
täubend und lähmend auf ihn ein, jo baß er fi
immer nur widerftrebend darin aufpielt.
Endlich kam Maud.
„Biſt Du ſchon da, Tino?“ ſagte ſie eilig, in—
dem ſie hinter ihm in das Toilettenzimmer huſchte.
„Einen Augenblick, bitte!“
Und nach dieſem Augenblick, der der Sorge für
ihren äußeren Menſchen gewidmet war, kam ſie zu—⸗
rück und reichte ihm die Hand. Eine andere Be—
grüßung war unter den Verlobten nicht üblich.
„Du fiehſt, es geht mir wieder gut,“ ſagte ſie,
ſich ihm gegenüber ſetzend. „Geſtern war es faſt
unerträglich. Ich hoffe, Du haſt Dir meinetwegen
keine Vorwürfe gemacht.“
„Nein.“
Sie lächelte, ſogar etwas pikiert. „Du biſt ſehr
ehrlich, Tino, faſt etwas zu ſehr.“
Er faßte in die Bruſttaſche und zog ein großes
Couvert aus ſeinem Rock.
„Hier bringe ich Dir etwas, Maud,“ ſagte er,
„Du wirſt es brauchen können. Und ich bin ſo froh,
daß ich nun auch etwas dazu geben kann. Sehr
froh! Es hat mich recht gedrückt, daß Du immer
alles für mich bezahlt haſt. Es ſollte nicht ſo ſein.“
Sie hatte das Couvert inzwiſchen geöffnet und
mit erſtaunten Augen drei Tauſendmarkſcheine her—
ausgezogen, die ſie in den Fingern behielt.
„Eine Anzahlung vom Muſeumsdirektor für
Roman von H. Schobert.
664
meine Gruppe,“ ſagte er ſtolz, und das Selbſtbe⸗
wußtſein hob ihm den Kopf und weitete ſeine Bruſt.
„Und das willſt Du mir geben?“
„Natürlich, für unſere Einrichtung. Meine
Sachen ſind Dir ja zu ſchlecht, und ich wohne nach—⸗
her doch auch bei Dir.“
Sie hatte das Geld in den Schoß ſinken laſſen
und ſah ihn an. Es rührte ſie, daß er keinen Deut
für ſich behalten, alles ihr geben wollte. War er auch
in Geldſachen wie ein Kind, daß er glauben konnte,
dieſe dreitauſend Mark hätten irgendwelche Bedeutung
unter den Summen, die ſie aufgewandt, er gab eben
rückhaltlos, was er hatte. — Der Wille allein gab bei
ihr den Ausſchlag.
Sie trat hinter ihn und legte den Arm um die
Lehne des Seſſels, in dem er ſaß.
„Lieber Tino,“ ſagte fie, fich zärtlich zu ihm
herabbeugend, „Du biſt ſehr gut, daß Du mir das
Geld giebſt, aber ich brauche es nicht, es iſt Dein
Eigentum allein.“
„Dann kann ich auch nichts von Dir nehmen.“
„O doch, das iſt ganz etwas anderes.“
„Warum?“
„Weil ich mehr habe als Du.“
„Das iſt gleichgültig. Du mußt es nehmen.“
„Wenn Du es wünſcheſt, dann ſoll es geſchehen.“
Sie ahnte ſein Streben, ſich dadurch unabhängiger
ihr gegenüber zu ſtellen, und wenn ſie es auch heim—
lich belächelte, ſo gab ſie ihm nach. Aber weil es
ihr gefiel, deshalb ließ ſie den Arm von der Lehne
des Seſſels langſam herab und um ſeinen Hals
gleiten, während ſie mit ihren Lippen ſeine Stirn
berührte.
Er atmete den friſchen Blumengeruch, der aus
jeder Falte ihres Kleides drang, fühlte ihre Nähe,
hörte das Kniſtern der Seide, die ſie umgab; in der
ganzen Brautzeit waren ſie ſich noch nicht ſo nahe
gekommen, und plötzlich bemerkte ſie, daß ein Er:
ſchauern durch ſeinen Körper lief, daß er ſchwer und
dumpf atmete, daß ſeine Hände zuckten.
Da klopfte jemand raſch und energiſch an die
Thür, ſie flog auf und Fortunat kam herein.
Er ſah die zärtliche Stellung der Verlobten,
und mit einem verwirrten: „Pardon, Pardon, daß
ich ſtöre,“ wandte er ſich wieder zurück.
Aber Maud kam ihm zuvor.
„Was fällt Ihnen ein, Fortunat,“ ſagte ſie
lächelnd, im Grunde froh der Unterbrechung. „Sie
bleiben hier und beſehen ſich erſt einmal Tinos ver⸗
dientes Geld. Er hat es mir geſchenkt. Ein könig—
liches Geſchenk, denn es iſt ſein ganzer Beſitz.“
Fortunat warf einen Blick auf ſeinen Freund,
er kam ihm in dieſem Augenblick verändert vor, aber
er gefiel ihm nicht. —
Achtzehntes Kapitel.
„Und ſomit zum Schluß ein Hoch auf das
junge Paar!“
Profeſſor Quenſel war es, der den Toaſt auf
die Neuvermählten ausgebracht und nun jedermann
665 Art zu Art.
Brautvater. rn feinem Haufe hatte die elternlofe
Waile den Entihluß für das Leben gefaßt, und dem
jungen Ehemann war er örderer und Leiter, ja,
faft Entdeder auf dem Wege des NRuhmes gewejen.
Deshalb freute ihn biefer Bund, und er hatte feinen
Zweifel, daß er auch zum Guten ausfchlagen würde.
„Wie naiv do Papa ift,“ flüfterte Luzie jpöt-
tiich ihrem Bruder während des Anftoßens zu, „wahr:
baftig, man Flönnte ihn beneiden.”
‘m ftillen war fie verwundert, daß bieje Ehe
wirktlih doch noch zu Stande gelommen war. Sie
hatte gegründete Zweifel daran gehabt und Emil
oft genug davon unterhalten. Aber nun war es ja
entichieden. Aus MiE Maud Winter war endgültig
Frau Seelen geworben.
Die Hochzeitsgejelihaft war nur Hein, Braut
und Bräutigam bejaßen ja feinen einzigen Familien:
angehörigen dabei, deito heiterer wurde man gegen
Ende des Diners.
Nur Maub jaß fehr blaß und ernft neben dem
Mann, den fie fih für das Leben erwählt hatte und
der ihr doch jo fremd war, fo erichredend jremb.
Ein Gefühl Hilflofer Angft, verzweifelter Berlaflen:
beit hatte fich ihrer bemächtigt und flieg immer höher,
je weiter der Abend vorfichritt. Wie SKtartenhäufer
janten alle ihre Jdeen und Thejen in ben Staub,
und nur eins mußte fie mit troftlofer Sicherheit, daß
fie allein war, daß es feinen Pla gab, wo fie ihren
Kopf hinlegen Tonnte, um ih die Angft von ber
Seele zu weinen und ein Trofteswort dafür einzu:
taufchen.
Unter der weißen Schleierwolfe wanbte fie ihre
Augen auf ihren Gatten. Er jah fehr rot aus von
dem jchweren, felten genofienen Wein, aber aud
außerordentlih unbehaglid. Ym übrigen präjentierte
er fih in feinem rad fo gut, daB man die Wahl
des reichen Mädchens wohl begreifen konnte, wenn
- dazu bielt, was für eine Zulunft ihm bevor:
and.
MWenigitens befam Luzie dies Urteil mehrmals
von ihren Freundinnen zu hören, und fie verfehlte
fein einziges Mal zu antworten:
„sa, wenn er fitt, fieht er ganz gut aus, aber
laßt ihn nur erft aufitehen, um das Beinwerk herum
bängt feine Abftammung.”
Tortunat war außerordentlich heiter, er behaup:
tete, dies jei bis jet der Ichönfle Tag feines Lebens,
jo daß Luzie all ihre böfen Ahnungen fchwinden fühlte
und ihm im ftiilen manches abbat.
Dann ging der Profefjor zu dem jungen Ehe:
mann, Zlopjte ihm freundjchaftlid auf die Schulter,
lagte, daß e8 jeßt Zeit fei, die Tafel aufzuheben, und
dann, nad) einer weiteren Weile, war das Ehepaar
fortgefahren. Nicht auf die Hochzeitsreife, wie Maud
zuerft geplant, jondern ing eigene Heim, da Heelen
jeine Arbeit nit im Stih lafen wollte. Maud
batte fih ihm wilfährig gefügt.
„Wir lönnen ja jede Stunde reifen,” batte fie
gejagt.
Fortunat jah zufällig um fih und bemerfte,
daß fih nur no die Bäfte im Speijejaal befanden,
Roman-Zeitung 1896.
Roman von 9. Schobert.
berzlichit Beicheid that. Er fühlte fih heut faft als
666
und in demjelben Augenblid überfiel ihn eine plöß-
lihe, tiefe Traurigkeit. Er wußte nicht, woher fie
tam, nicht, was fie bedeutete, er wußte nur, daß fie
da war, heiß und jchmerzlih, und ihm das Herz zu:
Jammenpreßte. Er Tonnte nit mehr laden und
Iherzen, er hatte nur den dringenden Wunjc, allem
bier entrinnen zu fünnen, allein in feiner Wohnung
jein, im Duntel und lautlojer Stille.
Er preßte die Zähne in die Unterlippe und trat
an eins der verhängten Feniter.
Draußen rafte Oftoberfturm und die Flämmden
fladerten in den Zaternen, er batte den Wunfch, der
Sturm mödte audy über feine Stirn Fühlend fahren
und ihn von ber Bellommenbeit befreien, die fidh
jeiner bemädtigt hatte.
Plöglih legte fi eine Kleine Hand auf feine
Schulter.
„Lexchen! So traurig! Hat der Kuppelpelz
nicht gehalten, was Sie fih von ihm verjpraden?“
„Plui, Fräulein Luzie,” rief er in tieffter Ent:
rüflung.
Sie ladte unbändig. |
„Nun ja, wahr ifl es doh. Sie haben Diele
beiden zujammengebradt wie ein routinierter Heirats-
vermittler. hr Wohl oder Wehe ift Jhr Werk.”
Er Trampfte die Hand um das Feniterkreuz.
„Sagen Sie das nicht,“ jagte er mit fliegendem
Atem. „Nur das nit! Der Gedanke machte mid
unglücklich.“
„Bah! Naturen wie Mauds kommen nicht ſo
leicht aus dem Geleiſe. Sie wird alles zwingen mit
ihrer Rückſichtsloſigkeit und ihrem Reichtum. Außer:
dem wird ſie als Frau genug Anbeter haben.“
Er ſah ſie zornig an, ſagte aber nichts.
„Und Sie werden natürlich der erſte ſein, Lex,
nicht wahr? Es iſt abſcheulich, daß verheiratete
Frauen nicht eingeſperrt werden und niemand mehr
zu ſehen bekommen als ihren Mann, dann wäre es
noch ein Vergnügen, Mädchen zu ſein. Statt deſſen
machen ſie uns Konkurrenz, ja, ſie ſind uns eigent⸗
lich weit voraus, denn ſie ſind freier in allen Dingen
und ſtellen uns dadurch in den Schatten.“
Sie lehnte ſich faſt herausfordernd feſt an ſeine
Schulter und ſah ihn mit funkelnden Augen an.
Der Druck auf ſeinem Herzen verſtärkte ſich.
„Mir iſt nicht wohl,“ murmelte er plötzlich mit
einer haſtigen Bewegung. „Draußen wird mir beſſer
werden.“
Sie ſah ihm nach, und ihre Mundwinkel krümmten
ſich höhniſch herab. —
Der Oktoberſturm raſte und drang durch die
Fugen der Fenſter und Thüren in den Wagen, in
dem Martin und Maud nun als Mann und Frau
nebeneinander in ihr Heim fuhren.
Sie ſprachen beide kein Wort, es war ihnen
ſchwül trotz der wehenden Luft, und Maud öffnete
ſogar den Mantel und ließ ihn ein wenig von den
Schultern gleiten. Sie ſah auf die vorüberfliehenden
Häuſer und ſuchte nach einem guten, einem herzlichen
Wort für ihren Mann, aber ihr fiel nichts ein, er
war ihr ja ſo fremd — ſo fremd! —
IV. 47
667
Was bedeutete fie ihm, was er ihr! Das jollte
ja erft die Zeit mit fich bringen.
Die weiße Brautichleppe wand fich Enifternd um
ihre Füße, Schleier und Kranz aber hatte fie im
Hotel Thon abgelegt, ein leichtes Spigentuh um:
büllte ihren Kopf, ihr Gefiht war blaß und ihre
Hände zitterten, denn das Gefühl der Bellemmung
wollte nicht von ihr weichen, und mit Diefem fchnüren-
den Drud im Herzen ftieg fie die Treppen zu ihrer
Wohnung hinauf.
Es war ſchon jpät, das Gas gelöjcht, und nur
ihr eigenes Dienftperfonal verfammelt, die Herrichaft
zu empfangen. Das gab ihr etwas Halt zurüd.
„Sriedrih, helfen Sie dem Herrn in feinem
Ankleidezimmer, und Ste, Nina, tommen Sie mit mir.”
Sie jpra das jo ruhig als bewegte fih ihr
Blut um fein Sota jchneller, und am liebften hätte
fie fih doch bingefegt und bitterlich geichluchzt wie
ein Kleines Kind.
Während Nina die Sachen berbeitrug, trat
Maud an das Fenfter und jah hinaus.
Der Dftoberwind bog die Kronen der Bäume,
riß und jchüttelte fie im Emporfchnellen, als gälte es
einen Kampf auf Leben und Tod, und morgen war
doc vielleicht Thon alles ruhig und die Sonne ladıte
darüber hin. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben
und ohne daß fie es felbft wußte, rannen heiße
Thränen über ihr Gefiht. Bitterfchmerzlih, ver:
zweifelt, ala babe fie ein Kleinod verloren, das nicht
wiederzuerlangen war, als wäre das Glüd ihres
Lebens für immer dahin.
Mit einem Gefühl von Schauder wanbte fie fi
von ihrem Brautkleid ab, das Nina auf einen Stuhl
gelegt hatte, ihm verbankte fie diefe wunderliche, be:
flemmende Erregung, und dann ging fie in das
Nebenzimmer. Ahr Mann trat ihr entgegen, aud
er Ihien bedrüdt und in einer jeltiamen Stimmung,
und wieder fudhte fie nad einem Wort und fand
teins und fchämte fi der Thränen, die ihr nod
immer an den Wimpern bingen. Abgewandten Ge:
fichts reichte fie ihm nur ftumm die Hand.
Neunzehntes Kapitel.
Die Kleine Uhr auf dem Kaminfims jhlug zehn.
Hel und Mar wie aus einem filbernen Glödchen
tönten die Schläge durch das noch im tiefften Dämmer
liegende Zimmer.
Maud öffnete die Augen und zählte Zehn
Uhr! So fpät war fie nocdy niemals erwacht, aber
trogdem drehte fie fih nur mit einem tiefen Seufzer
A die Seite und vergrub den Kopf in die Spiten-
iſſen.
Sie fühlte ſich elend, die Glieder wie zerſchlagen,
der Kopf ſchmerzend und dazu ein Widerwille in ihr
gegen jede Bewegung, jeden Gedanken. Wenn ſie
nur hätte fortſchlafen können immer und ewig, nie—
mals erwachen. —
Elf Uhr!
Mit einem Seufzer richtete ſie ſich auf, ſtrich die
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
668
Haare aus der Stirn und drückte auf den elektriſchen
Klingelknopf neben ihrem Bett. Vielleicht wich der
Luft, dem Licht, der Alp, der ſie bedrückte.
Nina kam und zog die Vorhänge zurück. Maud
ſah auf die windgepeitſchten Bäume, den grauen
Himmel, noch war kein Frieden in der Natur
und heute hätte ſie gern Sonnenſchein und Himmels—
blau gehabt, das würde ſie etwas erheitert haben,
dachte ſie.
Als ſie vor dem Spiegel ſaß, um ihre häusliche
Toilette zu machen, erſchrak ſie vor dem blaſſen,
hohläugigen Geſchöpf, das ihr daraus entgegenſah,
aber trotzdem blickte ſie aufmerkſam hinein, es paßte
ſo gut zu ihrer Stimmung. Wie voll und ſchwer
war ihr doch das Herz.
„Der Herr, Nina?“ fragte ſie endlich nach langer
Pauſe und zog das Tablett mit der Chokolade näher
zu ſich. „Wo iſt er? Hat er ſchon gefrühſtückt?“
„Der Herr iſt ſchon ſeit ganz früh in ſeinem
Atelier. Friedrich hat ihn bedient.“
Sie nickte. Gott ſei Dank, ſie war allein, er
würde nicht im nächſten Augenblick zur Thür hinein—
treten mit dem Recht des Gatten, des Hausherrn,
das er jetzt beſaß, und das ſie plötzlich fürchtete.
Ihre Augen glitten über die dekorierten Wände,
den koſtbaren Toilettentiſch, an dem ſie viel Freude
gehabt, den ſie ſo eifrig mit Fortunat bewundert
hatte, jetzt war es ihr, als läge auf all der Pracht
etwas Häßliches, das ſie bis in das tiefſte Herz er:
ſchauern ließ.
Warum hatte ſie auch keine Mutter gehabt,
niemand, niemand, der ein offenes, liebevolles Wort
zu ihr geſprochen, ehe es zu ſpät geweſen. Sie ſenkte
den Kopf tief auf die Bruſt. Entwürdigt kam ſie ſich
auf einmal durch dieſe Ehe vor, die ſie doch mit ſo
viel Überlegung eingegangen war, herabgezogen —
aber das alles mußte ſie lautlos in ſich verſchließen,
ihren Stolz davor poſtieren, daß niemand ahnte, wie
ihr eigentlich zu Mute war.
Und dann hatte ſie ja auch eine Miſſion. —
Sie wollte doch den Menſchen zum Künſtler hinauf—
heben, wenn ihr das gelang, hatte ſie ſich genug ge:
than, aber in dieſer Stunde der Niedergedrücktheit
zweifelte ſie am Erfolg. Sie ſenkte den Kopf tief
auf die Bruſt. Und ganz verſtohlen, als beginge
ſie ein Unrecht, malte ſie ſich eine Ehe aus, die ſie
aus Liebe geſchloſſen hätte — aber ſie kam nicht
über den Verſuch hinaus, weil ſie keinen Partner
dafür fand. —
Endlich ſtand ſie auf und verſuchte den Bann
abzuſchütteln, ſie war doch ein energiſcher Charakter
und gewöhnt, mit dem Leben fertig zu werden, nun,
niemals hatte ſie es nötiger gehabt als gerade jetzt.
Sie ging durch die Zimmer, langfam und
prüfend. O ja, es war alles ſehr ſchön, ſehr ge—
diegen, aber einſam, todeseinſam. All das froͤhliche
Leben, mit dem ſie es ſich geſchaffen, war erſtorben
wie draußen die Sonne, und dieſe Einſamkeit ver—⸗
ſchärfte noch ihre trübſelige Stimmung.
Dann fiel ihr ein, daß ſie der Schwiegermutter
einen „Guten Morgen“ ſchuldig ſei, und ſie ging in
den Seitenflügel, wo die Alte zwei Zimmer bewohnte.
669 Art zu Art.
Küchendunft und derjelbe häßliche, muffige Ge:
ruh, den fie damals lange nicht vergeflen Fonnte,
Ihlug ihr wieder entgegen, jo daß fie fchauderte.
Sn der Ofenröhre jchmorte Kaffee, und zum Tobe
erihroden jprang die Alte auf. Sie hatte fein reines
Gemifjen, denn den geitrigen Tag hatte fie in Gejell-
Ihaft des jämtlichen Hausperjonals gefeiert und fi
zulegt heimlich eine Flache Wein über Seite gebracht,
nun glaubte fie, daß fie über ihre Schandthaten zur
NRehenihaft gezogen werden würde. Sie ftedte ver:
legen den linfen Schürzenzipfel in den rechten Bund
und jah ihre Schwiegertochter mit dem Ausdrud
eines Hundes an, der geprügelt zu werden erwartet.
Maud reichte ihr ftatt deijen die Hand.
„Buten Morgen, Mutter. Ych hoffe, es geht
Sshnen gut. Haben Sie noch irgendwelde Wünjche
für fi?“
Die Alte Inidite und dienerte, ftotterte verlegen
ein paar Worte, aber da fie recht wohl merfte, daß
ihre Schwiegertochter weder die Flajhe Wein noch
den widerrehtlich angeeigneten Kuchen Jah, jeßte fich
in ihr von diefem NAugenblid an die Borftellung feft,
Maud jei dumm. Mit ein paar jcharfen, tabelnden
Morten hätte fie fih für immer bei ihr in Reſpekt
gejeßt.
Außerdem war fie jeit gejtern jehr vergnügt,
da jie mit der Dienerichaft Freundichaft geichlojlen,
das viele Alleinfein hatte aufgehört. Die Köchin
hatte verjprodhen, jeden Nachmittag Kaffee bei ihr zu
trinfen, die Nina, das Hausmäddhen, ja jelbit der
Friedrih ſich zu ähnlichen ſchmeichelhaften Ber:
ſprechungen herbeigelaſſen, die Schwiegertochter war
ein Faktor, mit dem ſie gar nicht rechnete, der feind—
ſelig gegenüberzutreten ihr näher lag, als irgend ein
Zuſammengehörigkeitsgefühl.
Mit ein paar gleichgültigen Worten verabſchiedete
ſich dann Maud. Nein, zwiſchen ihr und dieſer
Frau gab es keine Möglichkeit eines ſich Näher—
tretens, jeder Verſuch wäre eine Lächerlichkeit ge—
weſen. Sie raffte die lang ſchleppenden Spitzen
ihres weißen Morgenkleides zuſammen und ging davon.
„Als ob ſie ſich ſchmutzig machen würde, die
Gnädige,“ grollte die Alte nachher der Köchin vor.
Am Eingang zu dem breiten, hellen Korridor,
der in Martins Studio führte, blieb Maud einen
Augenblick ſtehen und blickte ihn hinunter. Sollte
ſie gehen? Ihren Mann dort aufſuchen, wo ſie zu
ihm emporſehen konnte? Würde das den häßlichen
Eindruck verwiſchen, den ſie jetzt von ihm in der Er—
innerung hatte? Aber etwas in ihr lehnte ſich gegen
dieſe Abſicht auf, ſie ſchauderte und wandte ſich
wieder ihren Zimmern zu. Im Speiſeſaal hörte ſie
den Diener mit Geſchirr klappern, das rief ihr die
Frühſtücksſtunde ins Gedächtnis zurück. Eilig machte
ſie Toilette, ſo elegant und kokett wie ſie es für das
Haus von jeher geliebt hatte. Dann ſchickte ſie den
Diener, um den Hausherrn zu rufen.
Er folgte ihm auf dem Zuß. Über fein Woll-
hend hatte er eine alte Soppe gezogen, Kragen und
Manichetten fehlten gänzlih, das wirre Haar zeigte
die mangelhafte Beachtung, die e8 erfahren, und an
feinen Händen hingen noch die Spuren des feuchten
Roman von H. Schobert.
670
Thons. Maud jah ihn mit einem ungeheuchelten
Entjegen an.
„Du haft die Zimmer verweclelt,“ jagte fie,
während ihr die Röte in das Geficht ftieg. „Friedrich
lol Dih in Dein Ankleidezimmer führen, jo lange
werden wir mit dem Efjen warten.”
Er trat an den Tiih und fegte fi an ihre Seite.
„sh bin hungrig,” jagte er und langte ohne
weiteres nach dem Brotforb.
Maud Iniff die Lippen zujammen und wandte
ih an den Diener.
„Sehen Sie hinaus, Friedrih, wir eilen erft
in einer Biertelftunde.”
hr Ton war Icharf, fie hatte das Lächeln, das
über des Dieners Lippen zudte, wohl gejehen.
„Aber ich fage Dir doch, daß ich hungrig bin,“
börte er noch Heefens Stimme, und bedauerte Jehr,
die Thüre nun doch Ichließen zu müflen.
Maud blidte jet zu ihrem Gatten.
„Ih möchte Dich bitten, zuerft Deinen äußeren
Menjhen in Ordnung zu bringen. Sn diefem Auf:
zug jemand bei Tijch erjcheinen zu jehen, bin ich nicht
gewöhnt, e8 würde mir allen Appetit nehmen.”
Er jah fie erftaunt an, daß ihre Ruhe nur
eine mit aller Macht erfämpfte war, ahnte er nicht.
„sb dadte, wir wären zu Hauje, da braucht
man fi doch, Gott jei Dank, nicht mehr zu ge:
nieren.“ Er ftredte die Beine weit von fih und
gähnte laut. „Da ift doch niemand, der einen fieht.”“
Sie. erhob fi halb vom Stuhl und jah ihn
zornig an.
„Du vergißt, daß ih da bin.”
„Du? Du bift doch meine Frau.”
„San; redt, aber in unjeren Kreilen pflegt
man eben Rüdfiht auf feine Frau zu nehmen.”
„gum Teufel,“ fuhr er auf, „dies ewige Rüd-
fichtnehmen habe ich jatt. Meine Bequemlichkeit will
ih zu Haufe, verftehftt Du?“
Der Ton war ihr neu, aber er verjchüchterte
fte nicht, er empörte fie nur.
„Möglih, daß Du nit gewöhnt bift, auf
srauen Rüdfiht zu nehmen,“ jagte fie höhnend,
denn fie dachte an jJeine Mutter. „Gut! Dann
tue es wenigitens vor der Dienerjchaft. Sch ver:
lange, hörft Du, ich verlange, daß Du Dich anders
bei Tiich zeigft als in diefem Aufzug.”
Er jah fie an und mit einem halblauten Fluch
ftand er auf. Sollte er e8 denn niemals jo haben,
wie es ihm gefiel? Sein ganzes Xeben lang nicht?
Das wäre ja einfah unerträglich.
„sn Deinem Ankleidezimmer findet Du alles,”
lagte Maud möglihft gelaffen. „Das blaufeidene
Hemd und der Sammetrod ift für die Vormittags:
toilette beftimmt.”
Er gab feine Antwort, die Thür jchlug dröhnend
hinter ihm zu.
Krampfbaft drehte hinter ihm die Zurüdbleibende
Kugeln aus der zerbrödelten Semmel, um ihre Rube
zu bewahren.
Sie wartete und wartete, ihr erichien e8 eine
Ewigkeit, endlich trat er wieder ein, gewalcdhen, ge:
fänımt, umgelleidet, aber feine Stirn war gefaltet.
667
Was bedeutete fie ihm, was er ihr! Das follte
ja erit die Zeit mit fih bringen.
Die weiße Brautichleppe wand fidh Enifternd um
ihre Füße, Schleier und Kranz aber Hatte fie im
Hotel Ion abgelegt, ein leichtes Spigentudh) um:
hüllte ihren Kopf, ihr Gefiht war blaß und ihre
Hände zitterten, denn das Gefühl der Bellemmung
wollte nicht vor ihr weichen, und mit diefem jchnüren-
den Drud im Herzen ftieg fie die Treppen zu ihrer
Wohnung hinauf.
Es war Ion jpät, das Gas gelöjcht, und nur
ihr eigenes Dienftperfonal verfammelt, die Herrichaft
zu empfangen. Das gab ihr etwas Halt zurüd.
„sriedrih, helfen Sie dem Herrn in jeinem
Ankleidezimmer, und Sie, Nina, fommen Sie mit mir.”
Sie Iprad) das jo ruhig als bewegte fi ihr
Blut um fein Yota fohneller, und am liebften hätte
fie fih doc hingejegt und bitterlich gejchluchzt wie
ein Kleines Kind.
Während Nina die Saden bHerbeitrug, trat
Maud an das Fenfter und jah hinaus.
Der Oftoberwind bog die Kronen der Bäume,
riß und jhüttelte fie im Emporfchnellen, als gälte es
einen Kampf auf Leben und Tod, und morgen war
doch vielleicht jchon alles ruhig und die Sonne lachte
darüber hin. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben
und ohne daß fie es jelbit wußte, rannen heiße
Thränen über ihr Gefiht. Bitterfchmerzlih, ver:
zweifelt, als babe fie ein Kleinod verloren, das nicht
wiederzuerlangen war, als wäre bas Glüd ihres
Lebens für immer dahin.
Mit einem Gefühl von Schauder mwanbte fie fich
von ihrem Brautkleid ab, das Nina auf einen Stuhl
gelegt hatte, ihm verbantte fie diefe wunderliche, be:
flemmende Erregung, und dann ging fie in das
Nebenzimmer. hr Mann trat ihr entgegen, aud
er Ichien bedrüdt und in einer feltiamen Stimmung,
und wieder fuchte fie nad einem Wort und fand
feins und Ichämte fi der Thränen, die ihr nod
immer an den Wimpern hingen. Abgewandten Ge:
fihts reichte fie ihm nur ftumm die Hand.
Neunzehntes Kapitel.
Die Kleine Uhr auf dem Kaminfims flug zehn.
Hel und Mar wie aus einem filbernen Glödchen
tönten die Schläge dur) das noch im tiefiten Dämmer
liegende Zimmer.
Maud öffnete die Augen und zählte. Zehn
Uhr! So fpät war fie noch niemals erwacht, aber
trogdem drehte fie fih nur mit einem tiefen Seufzer
9 die Seite und vergrub den Kopf in die Spitzen⸗
en.
Sie fühlte ſich elend, die Glieder wie zerſchlagen,
der Kopf ſchmerzend und dazu ein Widerwille in ihr
gegen jede Bewegung, jeden Gedanken. Wenn ſie
nur hätte fortſchlafen können immer und ewig, nie—
mals erwachen. —
Elf Uhr!
Mit einem Seufzer richtete ſie ſich auf, ſtrich die
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
668
Haare aus der Stirn und drückte auf den elektriſchen
Klingelknopf neben ihrem Bett. Vielleicht wich der
Luft, dem Licht, der Alp, der ſie bedrückte.
Nina kam und zog die Vorhänge zurück. Maud
ſah auf die windgepeitſchten Bäume, den grauen
Himmel, noch war kein Frieden in der Natur
und heute hätte fie gern Sonnenjdein und Himmels:
blau gehabt, das würde fie etwas erbeitert haben,
dachte fie.
Als fie vor dem Spiegel jaß, un ihre häusliche
Toilette zu maden, erihraf fie vor dem blaflen,
hohläugigen Geichöpf, das ihr daraus entgegenlab,
aber trogdem blidte fie aufmerlfam hinein, e8 paßte
jo gut zu ihrer Stimmung. Wie voll und jchwer
war ihr doch das Herz. -
„Der Herr, Nina?” fragte fie endlich nach langer
Baufe und 309 das Tablett mit der Chololade näher
zu fih. „Wo ift er? Hat er Ihon gefrühflüdt?”
„Der Herr ift Schon feit ganz früh in feinem
Atelier. Friedrich Hat ihn bedient.”
Sie nidte. Gott fei Dank, fie war allein, er
würde nit im nädjften Augenblid zur Thür hinein:
treten mit dem Recht des Batten, des Hausberrn,
das er jett bejaß, und das fie plöglich Fürchtete.
Shre Augen glitten über die deforierten Wände,
den Eoftbaren Toilettentifh, an dem fie viel Freude
gehabt, den fie fo eifrig mit Fortunat bewundert
hatte, jet war es ihr, als läge auf all der Pradt
etwas Häßliches, das fie bis in das tiefile Herz er:
Ihauern ließ.
Warum hatte fie auch Feine Mutter gehabt,
niemand, niemand, ber ein offenes, liebevolles Wort
zu ihr geiprochen, ehe e8 zu fpät gewejen. Sie jenfte
den Kopf tief auf die Bruft. Entmwürdigt fam fie fi)
auf einmal durch dieje Ehe vor, die fie doch mit jo
viel Überlegung eingegangen war, berabgezogen —
aber das alles mußte fie lautlos in fich verjchließen,
ihren Stolz davor poftieren, daß niemand ahnte, wie
ihr eigentlich zu Mute war.
Und dann batte fie ja au eine Milfion. —
Sie wollte doch den Menjhen zum Künftler hinauf:
beben, wenn ihr das gelang, hatte fie fich genug ge:
tban, aber in diefer Stunde der Niedergebrüdtheit
zweifelte fie am Erfolg. Sie jentte den Kopf tief
auf die Bruft. Und ganz verftohlen, als beginge
fie ein Unrecht, malte fie fih eine Ehe aus, die fie
aus Liebe geichloffen hätte — aber fie kam nidt
über den Verfuh hinaus, weil fie feinen Partner
dafür fand. —
Endlih ftand fie auf und verjuchte den Bann
abzufhütteln, fie mar doch ein energilcher Charakter
und gewöhnt, mit dem Leben fertig zu werden, nun,
niemals hatte fie es nötiger gehabt als gerade jeht.
Sie ging durdh die Zimmer, langjfam und
prüfend. D ja, e8 war alles jehr jchön, fehr ges
biegen, aber einfam, todeseinfam. AU das fröhliche
Leben, mit dem fie es fih geihaffen, war erftorben
wie draußen die Sonne, und diefe Einfamfeit ver:
Ihärfte noch ihre trübjelige Stimmung.
Dann fiel ihr ein, daß fie der Schwiegermutter
einen „Guten Morgen” jchuldig fei, und fie ging in
den Seitenflügel, wo bie Alte zwei Zimmer bewohnte.
669 Art zu Art.
Küchendunſt und derfelbe bäßlicde, muffige Ge:
ruh, den fie bamals lange nicht vergefien konnte,
Ihlug ihr wieder entgegen, jo daß fie jchauderte.
Sn der Ofenröhre jchmorte Kaffee, und zum Tobe
erihroden Iprang die Alte auf. Sie hatte fein reines
Gewiflen, denn den geftrigen Tag Hatte fie in Gejell:
Ihaft des fämtliden Hausperjonals gefeiert und fi
zulegt heimlich eine Flafde Wein über Seite gebradt,
nun glaubte fie, daß fie über ihre Schandthaten zur
Rehenihaft gezogen werden würde. Sie ftedte ver:
legen ben linfen Schürzenzipfel in den rechten Bund
und fah ihre Schwiegertochter mit dem Ausdrud
eines Hundes an, der geprügelt zu werben erwartet.
Maud reichte ihr ftatt deflen die Hand.
„Buten Morgen, Mutter. ch hoffe, es geht
Shnen gut. Haben Sie nod irgendwelde Wünjche
für fi?“
Die Alte Inidite und dienerte, ftotterte verlegen
ein paar Worte, aber da fie recht wohl merkte, daß
ihre Schwiegertodhter weder die Flajde Wein nod
den widerrechtlich angeeigneten Kuchen ah, jebte fich
in ihr von diefem Augenblid an die Vorftellung feit,
Maud fei dumm. Mit ein paar fcharfen, tabelnden
oe hätte fie fi für immer bei ihr in Refpelt
geſetzt.
Außerdem war ſie ſeit geſtern ſehr vergnügt,
da ſie mit der Dienerſchaft Freundſchaft geſchloſſen,
das viele Alleinſein hatte aufgehört. Die Köchin
hatte verſprochen, jeden Nachmittag Kaffee bei ihr zu
trinken, die Nina, das Hausmädchen, ja ſelbſt der
Friedrich ſich zu ähnlichen ſchmeichelhaften Ber:
ſprechungen herbeigelaſſen, die Schwiegertochter war
ein Faktor, mit dem ſie gar nicht rechnete, der feind⸗
ſelig gegenüberzutreten ihr näher lag, als irgend ein
Zuſammengehörigkeitsgefühl.
Mit ein paar gleichgültigen Worten verabſchiedete
ſich dann Maud. Nein, zwifchen ihr und dieſer
Frau gab es keine Möglichkeit eines ſich Näher—
tretens, jeder Verſuch wäre eine Lächerlichkeit ge—
weſen. Sie raffte die lang ſchleppenden Spitzen
ihres weißen Morgenkleides zuſammen und ging davon.
„Als ob ſie ſich ſchmutzig machen würde, die
Gnädige,“ grollte die Alte nachher der Köchin vor.
Am Eingang zu dem breiten, hellen Korridor,
der in Martins Studio führte, blieb Maud einen
Augenblick ſtehen und blickte ihn hinunter. Sollte
ſie gehen? Ihren Mann dort aufſuchen, wo ſie zu
ihm emporſehen konnte? Würde das den häßlichen
Eindruck verwiſchen, den ſie jetzt von ihm in der Er—
innerung hatte? Aber etwas in ihr lehnte ſich gegen
dieſe Abſicht auf, ſie ſchauderte und wandte ſich
wieder ihren Zimmern zu. Im Speiſeſaal hörte ſie
den Diener mit Geſchirr klappern, das rief ihr die
Frühſtücksſtunde ins Gedächtnis zurück. Eilig machte
fie Toilette, jo elegant und kokett wie fie es für das
Haus von jeher geliebt hatte. Dann jchidte fie den
Diener, um den Hausherren zu rufen.
Er folgte ihm auf bem Fuß. Über jein Woll—
hemb batte er eine alte Joppe gezogen, Kragen und
Manichetten fehlten gänzlid, das wirre Haar zeigte
die mangelhafte Beadhtung, die es erfahren, und an
feinen Händen hingen no die Spuren des feuchten
Roman von H. Schobert.
670
Thons. Maud jah ihn mit einem ungeheucdhelten
Entjegen an.
„Du haft die Zimmer verwecdjelt,” fagte fie,
während ihr die Nöte in das Geficht flieg. „Friedrich
jol Dih in Dein Ankleidezimmer führen, jo lange
werden wir mit dem Efjen warten.”
Er trat an den Tifeh und feßte fih an ihre Seite.
„sh bin hungrig,” Tagte er und langte ohne
weiteres nad) dem Brotlorb.
Maud Iniff die Lippen zujammen und wandte
ih an den Diener.
„Gehen Sie hinaus, Friedrih, mir ellen erft
in einer Biertelftunde.”
hr Ton war Icharf, fie hatte das Lächeln, das
über des Dieners Lippen zudte, wohl gejehen.
„Aber ich fage Dir doch, daß ich hungrig bin,“
börte er noch Heelens Stimme, und bedauerte jehr,
die Thüre nun doch Ichließen zu müflen.
Maud blidte jegt zu ihrem Gatten.
„Ih möchte Dich bitten, zuerft Deinen äußeren
Menihen in Ordnung zu bringen. Sn dielem Auf:
zug jemand bei Zifch ericheinen zu jehen, bin ich nicht
gewöhnt, e8 würde mir allen Appetit nehmen.”
Er jah fie erflaunt an, daß ihre Rube nur
eine mit aller Macht erfämpfte war, ahnte er nid.
„SH dadte, wir wären zu Haufe, da braudt
man fih do, Gott ſei Dank, nicht mehr zu ge:
nieren.” Er ftredte die Beine weit von fih und
gähnte laut. „Da ift doch niemand, der einen fieht.”
Sie. erhob fi halb vom Stuhl und jah ihn
zornig an.
„Du vergißt, daß ich da bin.”
„Du? Du bift Do meine Frau.”
„Sanz reht, aber in unferen Kreilen pflegt
man eben Rüdficht auf feine Frau zu nehmen.”
„zum Teufel,” fuhr er auf, „dies ewige Rüd:
lihtnehmen habe ich fatt. Meine Bequemlichkeit will
ih zu Haufe, verftehft Du?”
Der Ton war ihr neu, aber er verjichüchterte
fie nicht, er empörte fie nur.
„Möglih, daß Du nit gewöhnt bift, auf
Frauen Rüdfiht zu nehmen,” jagte fie höhnend,
denn fie dachte an feine Mutter. „Gut! Dann
thue e8 wenigftens vor der Dienerihaft. ch ver:
lange, hörft Du, ich verlange, daß Du Dich anders
bei Tiich zeigft als in diefem Aufzug.”
Er fah fie an und mit einem balblauten Fluch
ftand er auf. Sollte er es denn niemals jo haben,
wie e8 ihm gefiel? Sein ganzes Leben lang nicht?
Das wäre ja einfach unerträglich.
„sn Deinem Ankleidezimmer findeft Du alles,”
lagte Maud möglihft gelaflen. „Das blaujeidene
Hemd und der Sammetrod ift für die Vormittags-
toilette beftimmt.”
Er gab keine Antwort, die Thür jchlug dröhnend
hinter ihm zu.
Krampfhaft drehte Hinter ihm die Zurüdbleibende
Kugeln aus der zerbrödelten Semmel, um ihre Rube
zu bewahren.
Sie wartete und wartete, ihr erichien e8 eine
Ewigkeit, endlich trat er wieder ein, gewajcdhen, ge:
fämmt, umogefleidet, aber jeine Stirn war gefaltet.
671 Art zu Art.
Schweigend feste er fih zu ihr, fchweigend begannen
fie zu efien.
Als ihm Hummer ferviert wurde, ftieß er ärger:
lih den Teller beijeite.
„Das Zeug eile ich nicht.”
Sie gab dem Diener einen Wink, die übrigen
Platten binzujegen und begann ihn jelber zu be:
Dienen, auf ihren Wangen brannten rote lede.
„Was darf ih Dir reihen?”
Er überblidte den Tiih, der in Silber und
Kryftall funtelte, auf dem manderlei Finefjen ftanden,
bie ihn aber nicht reisten.
„Kein ordentliches Stüd Fleiich, feine Kartoffeln,“
jagte er unzufrieden.
„Dies ifi nur unfer Frühftüd, das Mittagefjen
haben wir um halb fieben.”
Er fah fie erftaunt an.
„Das it Unfinn. Weldher vernünftige Menjch
tbut das!”
„Sn meiner Heimat thut man es, und im
eigenen Haufe will ich meinen Gewohnheiten treu
bleiben, Dir wird es mohl auch mit der Zeit recht
werden.”
Er jchob feinen Teller beijeite.
„Du bift ja diejenige, der alles hier gehört.“
„D Tino.” Sie jah ihn an und in ihre Augen
ſchoſſen Thränen.
Er ſah es, aber wenn es ihm leid that, fand
er doch kein verſöhnliches Wort.
„Sieh, wie viel bejler Du jetzt ausſiehſt,“ ſagte
ſie, in dem Beſtreben, nicht gleich am erſten Tag
die Differenz zwiſchen ihnen zu ſcharf werden zu
laſſen.
„Das iſt wohl gleichgültig, wenn ich nur meine
Arbeit vorwärtsbringe.“
Ohne aufzuſehen betrachtete er ſeine Fauſt,
die neben dem Teller lag.
„Gewiß nicht. Wie ſich der Menſch zeigt, ſo
wird er beurteilt, und ich habe es nie begriffen,
daß es Leute gab, die Unſauberkeit und Gleich—
gültigkeit für das Zeichen des Genies halten konnten.
Es iſt ſchlechte Gewohnheit, ſonſt nichts.“
Er lachte ärgerlich auf.
„Wenn Du Zeit dazu haſt, ich ſtöre Dich nicht.“
„Du wirſt Dich doch drin finden müſſen, Tino,“
ſagte ſie ſehr entſchieden. „Ich verlange es als ein
Zeichen Deiner Achtung für mich — und Deiner
Stellung wegen, den Leuten gegenüber.“
Er murmelte etwas vor ſich hin, dann ſtand
er auf.
„Bitte, noch einen Augenblick, ich bin gleich
fertig.“
Er ſetzte ſich wieder. Die Hände auf die Kniee
geſtemmt, ſah er ihr zu. Daß ihr Eſſen nur ein
Vorwand geweſen, ihn ſo lange bei Tiſch zu halten,
bis ſie ſich mit ihm erhob, dämmerte ihm nebelhaft,
denn in der That führte ſie keinen Biſſen mehr zum
Munde. Nach ein paar Augenblicken ſah ſie zu ihm
hinüber.
„Sp, nun lünnen wir gemeinjam das Speile:
zimmer verlaflen, Friedrih Tann abräumen. Gieb
Roman von H. Schobert.
672
mir Deinen Arm, Tino, und dann fomm mit mir
und fiehb Dir alles genau an, Du fennit ja Dein
eigenes Heim noch nicht.”
Sie gingen dur die Zimmer, die mit ebenjo:
viel Luxus wie graziöem Gejhmad möbliert waren,
er fand es jeßt jelber, aber nachdem er jchweigend
drei ober vier paffiert hatte, blieb er in dem reizen-
den Wohnzimmer ftehen und jah feine Frau ver:
wundert an.
„Wozu das nur alles! Mas brauden denn
zwei Menjhhen foldde Unmenge Plag!”
Sie feßte fih auf ein zierliches Edjofa unter
Palmen und blühendem Flieder, zog ihr Kleid an
fih und madte ihm dadurhd Raum an ihrer Seite,
dann Jah fie lächelnd zu ihm auf.
„Seße Dih zu mir, Tino, dann können wir
in Ruhe über die Zukunft Iprechen, die ih Dir zu
Ichaffen gedenke, fie wird nichts Abjchredendes für
Dih haben.”
Er blidte mißtrauish auf das jehr zierlicdhe
Möbel. |
„Hält es auch?“
Sie nidte und ftredte die Hand nad ihm aus,
fo daß er ihrer Aufforderung folgen mußte.
„Sieh,“ jagte fie eifrig, „eine jede Ehe ift ein
KRompromiß, in dem beide Teile geben und nehmen.
Sie ift aber auh ein Zufammenmwirken zu einem
nemeinfamen Ziel. Dies Ziel ift Dein Ruhm! —
Du wirft ihn Dir erringen, benn das L2osgelöftjein
von allen materiellen Sorgen und Unbequemlidhkeiten,
das Leben in einer reihen, angenehmen Umgebung
wird feinen Einfluß auf Dip nicht verfehlen. Du
merlit das vielleiht faum, aber andere werden an
Deinen Werken fehen, wie Du Dich emporjchwingft.
Und die Menjhen werden und jollen Dir buldigen,
Di anerkennen, wie e8 Dir zulommt, und ich werde
ftolz auf Dih fein. Dem Erfolg gehört aber au
die Offentlichleit und deshalb mußt Du in der Ge:
jelichaft Deine Rolle fpielen. Dazu mil ih Dir
verhelfen. Wir werden Bäfte bei uns fehen und
ausgehen, ein reiches Geiltesleben wird fih um uns
entfalten, Du die Seele desfelben werden. Noch bift
Du ungelenf und [hüdhtern, das verliert fi. Nichts
lernt fi Ichneller, als Menfchen zu überjehen, wenn
man fich innerlich größer fühlt als fie. Und das
bit Du, Dein Genie hebt Dih turmhod über alle.”
Sie hatte fih rot und heiß geiprodhen. So
voll war fie von diefem Zufunftsbild, daß fie ihn
erſt jetzt anſah.
Er ſaß zuſammengeſunken, wie niedergeſchmettert
von der Eröffnung, die ſie ihm gemacht. Wie ent:
jeglih ihm das alles Hang! Menidhen, Menichen
und wieder Menjhen! Und dabei die Sicherheit
und Selbftveritändlichkeit, mit der feine Srau Ipradj,
ale gäbe es feine Berufung gegen ihren Willen. —
Als ob ihm jemand die Kehle mit einem Strid zu:
Ichnüre, jo war ihm zu Mut.
„Armer Tino,” Tagte fie mitleidig, „es erjchredt
Dich, aber das ift nur jet, nachher wirft Du über
Deine Menidenfurdt lachen.” Und fie jchob ihre
feine, weiße Hand zwilchen bie feinen, al8 wolle fie
ihn damit tröften.
673
Er jhmwieg. Und dann jah er feine Frau an.
Sie wur zmweifeilos viel Elüger als er, und aud
jehr bübich, wie fie da neben ihm jaß in der leichten
blauen, jpigengefhmüdten Eeide, und Fortunat hatte
fie gern, und Emil hatte fie zur Frau haben wollen...
und fie war reih ...
Er atmete tief auf. Dann firedte er den Arm
aus, legte ihn um ihren Hals und z0g fie an fid.
Der Arm war wie von Eijen, und obgleich fie
ibm nadgab, jchmerzte fie die Berührung dod. Sie
Ihloß die Augen, ein Zug von Bein, ja faft von
MWiderwillen grub fi in ihr Gefiht. Seine derbe
Mustlelkraft erichredte fie und that ihr meh, aber fie
duldete fie ſchweigend.
Zwanzigftes Kapitel.
Den näditen Tag blieb Maud nicht mehr am
Anfang des langen Ganges ftehen, der in Heefens
Atelier führte, jondern fie ging ihn hinab und öffnete
leile die Thür des Vorzimmers.
Dieler Raum, ein, aber hell, war von ihr auf
das prädtigite geihymüct worden. Fortunat hatte gar
nicht genug alte Gobeling, feltfjame, aber fünjtlerifch ge:
formte Möbel, Seidenflidereien, Teppiche und Bronzen
auftreiben fünnen.
Hier, To dadte fie, Tollte Heelen jeine neuen
Entwürfe planen, bier follte er Anregung empfangen
zu feinem Schaffen und dazu war nichts teuer und
gut genug.
Es war ein beraufchendes, faft geheimmisvolles
TZusfulum geworden.
Wenn fie geahnt hätte, mit welder Scheu ihr
Gatte, ohne fih aufzuhalten, durh biefen Raum
ging. Wie jorgfältig er die Thüren zu feinem wirt:
lihen Arbeitsraum verjchloffen hielt, weil ihn Diele
Pracht verwirrte, betäubte, und flatt Quflempfindung
nur Unbehagen in ıym ermwedte! Nie — To dadte
er, würde er fi in diefe Seflel und Diwans jeßen,
nie diefe foftbaren Geräte benugen! Dagegen gefiel
es ihm in feinem Atelier. Hier war es luftig und
leer; bis auf einen Winkel, den fie ih nicht ab:
ringen konnte, hatte Mauds Verjhönerungsluft bier
Halt gemadt. Keine Teppide und Deden erftidten
ihn bier, keine Vorhänge nahmen ihm Luft und Licht.
Sn der Ede lagen jeine Torfen und Zeichnungen,
mitten im Raum, vom Licht übergofjen, ftanden feine
fämpfenden Hunde, und er jelbit im Wollhemd, das
am Hals und auf der Bruft auseinanderllaffte,
arbeitete eifrig.
Aber er war nicht zufrieden mit ih. Das
Leben jchien feiner Gruppe zu fehlen, die Muskeln
ipielten nicht leiht und fiher genug unter dem
glatten Fell, er verwarf und verbejlerte, ohne daß
er etwas Erhebliches leiftete. Dielen Zuftand kannte
er gar nit an fih. Auge und Hand hatten ihm
ftet3 pariert, gelenkt von dem Genie, das Ichuf ohne
fein Zuthun, und dies Heinlide Nörgeln an fi
jelbit verdroß ihn jehr.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
674
Als Maud eintrat, leife, ohne anzuflopfen, fuhr
er erichroden herum.
„Laß Dich nicht ftören,” fagte fie halblaut,
legte fih in die Ede, die mit Tiih, Bänklen und
Stühlen aus ultitalienifher Holziehnigerei ausgefüllt
war, und jah ihm zu. Er faltete die Stirn. Was
er nach feiner Richtung hin vertragen fonnte, waren
fremde Augen, die an jeiner unvollendeten Arbeit
oder an den jchaffenden Händen hafteten; fie lähmten
ihn Sofort.
Und dazu war er beute überhaupt nicht in
Stimmung.
Dennoh hatte er das dumpfe Gefühl, ihr
wenigftens eine Kleine Scheinarbeit jchuldig zu ein,
obgleich er fich innerlich gegen den Zwang auflehnte.
Er Enetete ein wenig mit den Fingern an den
Augen der Hunde, fette hier und da das Mobellier:
holz an, mit dem fiheren Bemwußtjein, nichts dadurd
zu Ihaffen, und endlich warf er es gereizt beijeite,
die Heuchelei drüdte ihn.
„iur Du Icon aufhören?” fragte fie ver:
wundert. Nach Fortunats Erzählungen damals hatte
fie feine Arbeitskraft für titanenhaft gehalten.
„Es will heute nicht gehen.”
Er fäuberte fid die Hände am Handtuch und
ging mit großen Schritten im Atelier auf und ab,
Maud blidte auf feine Arbeit.
„Sehr jhön. Pradtvoll!” fagte fie endlich.
„Mir ift es, als müßten fie Inurren und brüllen,
wie fie e8 damals thaten. Aber Tino, fiehit Du,
dies ift do nur bie Darftellung einer wirklichen,
gejehenen Begebenheit. Das fünftleriide Schaffen,
das Schaffen nach einem Sdealbild dünkt mich viel
höher und größer.”
Er jchwieg, jenkte den Kopf und ging nur ftetig
weiter auf und ab. AYhm mar es, als rifje fie ihm
das Herz aus der Bruft, um es neugierig anzu:
jehen, und märe er ein feingebildeter Menjch ge-
weien, hätte er fie vielleicht auf das Bild von Sait
verwiejen, an beilen Schleier fie mit leder Hand zu
rühren verjuchte, aber da er das nicht verftand, er:
bitterte er fih nur im geheimen und preßte Die
Rippen feft zujammen.
„Erſt dann,“ fagte fie nad einer längeren
Pauje, „wenn ih Dich Jo Schaffen jehe, werde ich
ganz befriedigt fein.”
Er warf einen Blid auf fie, den fie nicht jab,
einen angftvollen, faft furdtiamen Blid, und wan-
derte weiter.
„Walt Du nicht Deine nächte dee mit mir
beiprechen?” fragte fie wieder.
„IH fanıı nicht,” ftieß er kurz heraus.
„Du bit e8 nur nicht gewöhnt. Allein haft
Du bisher alles empfunden, alles tragen müllen,
armer Tino, aber nun bin ih da, und Du wirft es
Ihon merten, wie jeder Gedanklenaustaush fördert
und anregt.”
Er antwortete nicht, jfondern trat mit auf bein
Nüden verihränktten Händen an das Fenfter, das
die ganze Längswand einnahm, und ftarrte in den
berbftliden, mwindzerzauften Garten hinab. Seine
Gedanten waren nicht viel tröftlicher.
671 Art zu Art.
Schweigend fette er fi zu ihr, jchweigend begannen
fie zu eflen.
Als ihm Hummer jerviert wurde, ftieß er ärger:
lih den Teller beifeite.
„Das Zeug efle ich nicht.”
Sie gab dem Diener einen Wink, die übrigen
Platten binzujegen und begann ihn jelber zu be:
dienen, auf ihren Wangen brannten rote lede.
„Was darf ih Dir reihen?“
Er überblidte den Tiih, der in Silber und
Kryftall funkelte, auf dem mancherlei Fineſſen ftanden,
die ihn aber nicht reisten.
„Kein ordentliches Stück Fleiſch, keine Kartoffeln,”
lagte er unzufrieden.
„Dies if nur unfer Frühftüd, das Mittageflen
haben wir um balb fieben.”
Er jah fie erftaunt an.
„Das ift Unfinn. Welcher vernünftige Menfch
thut das!”
„Sn meiner Heimat thut man es, und im
eigenen Haufe will ich meinen Gewohnheiten treu
bleiben, Dir wird es wohl auch mit der Zeit recht
werden.”
Er fchob feinen Teller beifeite.
„Du bift ja diejenige, der alles hier gehört.”
„D Tino.” Gie jah ihn an und in ihre Augen
ſchoſſen Thränen.
Er ſah es, aber wenn es ihm leid that, fand
er doch kein verſöhnliches Wort.
„Sieh, wie viel befier Du jebt ausfiehlt,“ ſagte
fie, in dem Beftreben, nicht gleih am eriten Tag
die Differenz zmwilhen ihnen zu jcharf werden zu
laſſen.
„Das iſt wohl gleichgültig, wenn ich nur meine
Arbeit vorwärtsbringe.“
Ohne aufzuſehen betrachtete er ſeine Fauſt,
die neben dem Teller lag.
„Gewiß nicht. Wie ſich der Menſch zeigt, ſo
wird er beurteilt, und ich habe es nie begriffen,
daß es Leute gab, die Unſauberkeit und Gleich—
gültigkeit für das Zeichen des Genies halten konnten.
Es iſt ſchlechte Gewohnheit, ſonſt nichts.“
Er lachte ärgerlich auf.
„Wenn Du Zeit dazu haſt, ich ſtöre Dich nicht.“
„Du wirſt Dich doch drin finden müſſen, Tino,“
ſagte ſie ſehr entſchieden. „Ich verlange es als ein
Zeichen Deiner Achtung für mich — und Deiner
Stellung wegen, den Leuten gegenüber.“
Er murmelte etwas vor ſich hin, dann ſtand
er auf.
„Bitte, noch einen Augenblick, ich bin gleich
Er ſetzte ſich wieder. Die Hände auf die Kniee
geſtemmt, ſah er ihr zu. Daß ihr Eſſen nur ein
Vorwand geweſen, ihn ſo lange bei Tiſch zu halten,
bis ſie ſich mit ihm erhob, dämmerte ihm nebelhaft,
denn in der That führte ſie keinen Biſſen mehr zum
Munde. Nach ein paar Augenblicken ſah ſie zu ihm
hinüber.
„So, nun können wir gemeinſam das Speiſe—
zimmer verlaſſen, Friedrich kann abräumen. Gieb
ferti
Roman von H. Schobert.
672
mir Deinen Arm, Tino, und dann komm mit mir
und ſieh Dir alles genau an, Du kennſt ja Dein
eigenes Heim noch nicht.“
Sie gingen durch die Zimmer, die mit ebenſo—
viel Luxus wie graziöſem Geſchmack möbliert waren,
er fand es jetzt ſelber, aber nachdem er ſchweigend
drei oder vier paffiert hatte, blieb er in dem reizen—
den Wohnzimmer ſtehen und ſah ſeine Frau ver—⸗
wundert an.
„Wozu das nur alles! Was brauchen denn
zwei Menſchen ſolche Unmenge Platz!“
Sie ſetzte ſich auf ein zierliches Eckſofa unter
Palmen und blühendem Flieder, zog ihr Kleid an
ſich und machte ihm dadurch Raum an ihrer Seite,
dann ſah ſie lächelnd zu ihm auf.
„Setze Dich zu mir, Tino, dann können wir
in Ruhe über die Zukunft ſprechen, die ich Dir zu
ſchaffen gedenke, ſie wird nichts Abſchreckendes für
Dich haben.“
Er blickte mißtrauiſch auf das ſehr zierliche
Möbel.
„Hält es auch?“
Sie nickte und ſtreckte die Hand nach ihm aus,
ſo daß er ihrer Aufforderung folgen mußte.
„Sieh,“ ſagte ſie eifrig, „eine jede Ehe iſt ein
Kompromiß, in dem beide Teile geben und nehmen.
Sie iſt aber auch ein Zuſammenwirken zu einem
gemeinſamen Ziel. Dies Ziel iſt Dein Ruhm! —
Du wirſt ihn Dir erringen, denn das Losgelöſtſein
von allen materiellen Sorgen und Unbequemlichkeiten,
das Leben in einer reichen, angenehmen Umgebung
wird ſeinen Einfluß auf Dich nicht verfehlen. Du
merkſt das vielleicht kaum, aber andere werden an
Deinen Werken ſehen, wie Du Dich emporſchwingſt.
Und die Menſchen werden und ſollen Dir huldigen,
Dich anerkennen, wie es Dir zukommt, und ich werde
ſtolz auf Dich ſein. Dem Erfolg gehört aber auch
die Offentlichfeit und deshalb mußt Du in der Ge:
jelihaft Deine Rolle jpielen. Dazu will ih Dir
verhelfen. Wir werden Gäfte bei ung jehen und
ausgehen, ein reiches Geiltesleben wird fih um uns
entfalten, Du die Seele desjelben werden. Noch bilt
Du ungelen? und [hüchtern, das verliert fi. Nichts
lernt fich fchneller, als Menichen zu überjehen, wenn
man fi innerlich größer fühlt als fie. Und das
bit Du, Dein Genie hebt Dich turmhodh über alle.”
Sie hatte fih rot und heiß geiproden. So
voll war fie von diefem Zulunftsbild, daß fie ihn
erft jebt anjah.
Er faß zufammengejunfen, wie niedergeichmettert
von der Eröffnung, die fie ihm gemadt. Wie ent:
jeglih ihm das alles Hang! Menihen, Menjchen
und wieder Menjhen! Und dabei die Sicherheit
und Selbftverftändlichkeit, mit der feine Frau ſprach,
als gäbe es feine Berufung gegen ihren Willen. —
Als ob ihm jemand die Kehle mit einem Strid zu:
Iipnüre, jo war ihm zu Mut.
„Armer Tino,” Tagte fie mitleidig, „es erichredt
Di, aber das ift nur jet, nachher wirft Du über
Deine Menihenfurdt laden.” Und fie fchob ihre
feine, weiße Hand zwilhen bie jeinen, als wolle fie
ihn damit tröften.
673 Art zu Art
Er Ihwieg. Und dann fjah er feine Frau an.
Sie wur zmweifeilos viel Hlüger als er, und aud
ſehr hübſch, wie fie da neben ihn faß in der leichten
blauen, jpigengelhmüdten Eeide, und Fortunat a
fie gern, und Emil hatte fie zur Srau haben wollen .
und fie war reich .
Er atmete tief auf. Dann firedte er den Arm
aus, legte ihn um ihren Hals und 309 fie an fid.
Der Arm war wie von Eifen, und obgleich fie
ihm nadıgab, fchmerzte fie die Berührung do. Sie
Ihloß die Augen, ein Zug von Bein, ja faft von
Widerwillen grub fi in ihr Gefiht. Seine derbe
Mustelkraft erichredte fie und that ihr weh, aber fie
duldete fie ſchweigend.
Zwanzigftes Kapitel.
Den nädften Tag blieb Maud nicht mehr am
Anfang des langen Ganges ftehen, der in Heelens
Atelier führte, Tondern fie ging ihn hinab und öffnete
leife die Thür des Vorzimmers.
Diejer Raum, Klein, aber hell, war von ihr auf
das prädtigite gef hmüct morden. Fortunat hatte gar
nicht genug alte Gobeling, feltfame, aber fünftlerifch ge-
formte Möbel, Seidenflidereien, Teppiche und Bronzen
auftreiben fönnen.
Hier, jo dachte fie, jollte Heelen feine neuen
Entwürfe planen, bier jolte er Anregung empfangen
zu feinem Schaffen und dazu war nichts teuer und
gut genug.
Es war ein beraufchendes, fat geheimnispolles
Tusfulum geworden.
Wenn fie geahnt hätte, mit welcher Scheu ihr
Gatte, ohne ih aufzuhalten, dur diefen Raum
ging. Wie forgfältig er die Thüren zu feinem wirt:
lichen Arbeitsraum verſchloſſen hielt, weil ihn biefe
Pracht verwirrte, betäubte, und ftatt Luftempfindung
nur Unbehagen in ıym erwedte! Nie — fo dadte
er, würde er fich in dieje Seflel und Diwans feßen,
nie dieje koftbaren Geräte benugen! Dagegen gefiel
es ihm in feinem Atelier. Hier war es [uftig und
leer; bis auf einen Winkel, den fie fih nicht ab:
ringen konnte, hatte Mauds Berihönerungsluft bier
Halt gemadt. Keine Teppiche und Deden erfticten
ihn bier, feine Vorhänge nahmen ihm Luft und Licht.
Sn der Ede lagen jeine Toren und Zeichnungen,
mitten im Raum, vom Licht übergoflen, ftanden jeine
fämpfenden Hunde, und er jelbit im Wollhemd, das
am Hals und auf der Bruft auseinanderklafite,
arbeitete eifrig.
Aber er war nicht zufrieden mit ih. Das
Leben jchien feiner Gruppe zu fehlen, die Musfeln
Ipielten nicht leicht und fiher genug unter dem
glatten Sell, er verwarf und verbeflerte, ohne daß
er etwas Erhebliches leiftete. Dielen Zuftand kannte
er gar nit an fih. Auge und Hand hatten ihm
ftets pariert, gelenkt von dem Genie, das jchuf ohne
fein Zuthun, und dies Lleinlihe Nörgeln an fich
jelbit verdroß ihn jehr.
. Roman von 9. Schobert.
674
Als Maud eintrat, leife, ohne anzullopfen, fuhr
er erihroden herum.
„Laß Dih nicht ftören,” fagte fie halblaut,
jegte fih in die Ede, die mit Tiih, Bänken und
Stühlen aus altitalienifher Holzſchnitzerei ausgefüllt
war, und fah ihm zu. Er faltete die Stirn. Was
er nad) feiner Richtung hin vertragen fonnte, waren
fremde Augen, die an jeiner unvollendeten Arbeit
oder an den Ichaffenden Händen bafteten; fie lähmten
ihn Sofort.
Und dazu war er heute überhaupt nid in
Stimmung.
Dennoh hatte er das dumpfe Gefühl, ihr
wenigftens eine kleine Scheinarbeit jchuldig zu fein,
obgleich er fich innerlich gegen den Zwang auflehnte.
Er Inetete ein wenig mit den Fingern an den
Augen der Hunde, jeßte bier und da das Mobellier:
bols an, mit dem ficheren Bemwußtjein, nichts dadurd)
zu jchaffen, und endlich warf er es gereizt beifeite,
die Heuchelei drüdte ihn.
„Willſt Du ſchon aufhören?“ fragte fie ver:
wundert. Nach Yortunats Erzählungen damals hatte
fie feine Arbeitskraft für titanenhaft gehalten.
„Es will heute nicht gehen.“
Er fäuberte fih die Hände am Handtuh und
ging mit großen Schritten im Atelier auf und ab,
Maud blidte auf jeine Arbeit.
„Sehr Ihön. Prachtvol!” fagte fie endlich.
„Mir ift e&8, als müßten fie Inurren und brüllen,
wie fie es damals thaten. Aber Tino, fiehlit Du,
dies ift do nur die Darftellung einer wirklichen,
gejehenen Begebenheit. Das fünftleriihe Schaffen,
das Schaffen nad einem Sdealbild dünkt mich viel
höher und größer.”
Er jchwieg, jenkte den Kopf und ging nur jtetig
weiter auf und ab. AYhm war es, als rifje fie ihm
das Her; aus der Bruft, um es neugierig anzus
jehen, und wäre er ein feingebildeter Menjch ge:
wejen, hätte er fie vielleicht auf das Bild von Sais
verwiejen, an beflen Schleier fie mit feder Hand zu
rühren verfuchte, aber da er das nicht verjtand, er:
bitterte er fih nur im geheimen und preßte bie
Rippen feit zujammen.
„Erit dann,” fagte fie nach einer längeren
Paufe, „wenn ih Dich jo jchaffen jehe, werde ich
ganz befriedigt ein.”
Er warf einen Blid auf fie, den fie nicht Jah,
einen angftovollen, fait furdtfamen Blid, und wan-
derte weiter.
„Willſt Du nit Deine nädjite dee mit mir
beiprehen?” fragte fie wieber.
„IH Tann nicht,“ ftieß er Furz beraus.
„Du bift es nur nicht gewöhnt. Allein baft
Du bisher alles empfunden, alles tragen müllen,
armer Tino, aber nun bin id da, und Du wirft es
ſchon merken, wie jeder Gedankenaustauſch fördert
und anregt.“
Er antwortete nicht, ſondern trat mit auf dem
Rücken verſchränkten Händen an das Fenſter, das
die ganze Längswand einnahm, und ſtarrte in den
herbſtlichen, windzerzauſten Garten hinab. Seine
Gedanken waren nicht viel tröſtlicher.
675
Maud betrachtete ihn, feine Toilette genierte fie,
aber fie hatte fih vorgenommen, langfam vorzugehen,
und deshalb vorläufig gelchwiegen.
„Tino!“
Er drehte ſich um und ſah ſie an, in ſeinen
Augen lag etwas Finſteres.
„Ich habe Dir genau nach Fortunats Muſter
Arbeitsbluſen beſtellt, ſie hängen im Vorzimmer im
Schrank; gefallen ſie Dir nicht, weil Du ſie nicht
trägſt, oder haſt Du ſie noch gar nicht geſehen?“
Geſehen hatte er ſie wohl, aber nicht für nötig
gehalten, ſie anzuziehen. Warum ſollte er denn auf
einmal von allen ſeinen Gewohnheiten laſſen? So
hatte er früher gearbeitet, ſo wollte er es auch in
Zukunft.
„Sie ſind unbequem,“ ſagte er nach einer
Pauſe.
„Unmöglich!! Fortunat trägt ſie immer, jeder
trägt ſie — verſuche es nur einmal.“
Er ging hin und zog die Bluſe über. Unbequem
war ſie ihm nicht, nur ungewohnt, und danach fragte
ſeine Frau ja nicht.
Als er wiederkam, lächelte ſie ihm freund—
lich zu.
„Sp fieht Du aus wie ber Herr bes Ateliers,
vorhin wie fein jalopper Diener.”
Er jeßte fih auf die Ede des Tiiches; dann
die hohe Lehne des Stuhles betrachtend, begann er:
„Die Bildhauerarbeit daran ift gut, ich hätte
fie auch nicht befjer madhen können. — Die Dinger
find wohl fjehr teuer, nicht?”
„a. Aber darauf kommt es weniger an, ale
auf die Ausführung.”
„Es ift jerviert,“ meldete Friedrich und öffnete
die Thür des Ateliers.
„Komm!“ fagte fie aufitehend und feinen Arm
nehmend, denn es lag ihr daran, vor allen Dingen
der Dienerihaft gegenüber die Dehors zu wahren.
„Wenn Du mir nur ein Wort gejagt bätteft,
würde ih Dir die ganze Geihichte felbjt gemacht
haben. Hätteft mal hören jollen, wie mid mein
Kunfttiichlermeifter ftets belobt hat. ‚Der Heelen,
der fann was!" das mar feine Nedensart. Und
Ihleht bat er mich auch nicht bezahlt, freilich nicht
im Verhältnis zu dem, was er von feinen Kunden
forderte. Gh möhte nur willen, was Du be:
zahlt haft.”
Sie gingen den langen SKorridor Hinunter,
hinter fih den Diener, dem fein Wort entging.
Wenn er nur jchweigen wollte! Brauchte Friedrich
irgend etwas von der Vergangenheit feines Herrn
zu willen?
„zieber Tino,” Jagte fie halblaut und drüdte
feinen Arm. Er nahm das für Teilnahme Daß
man fidh einer ehrlichen Arbeit Shämen Tönnte, hatte
er noch nicht gelernt.
„SG babe oft mit Inurrendem Magen und
blauroten Fingern bei meiner Arbeit gejeflen,” fuhr
er, in der Erinnerung warm werdend, fort. „Aber
Wort gehalten habe ich fiets, und tadellos war
immer alles. Ein Handwerfer hat audh feinen
Stolz.“
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
676
„Wie fannft Du Did nur einen Handwerler
nennen,” unterbrad fie ihn empört.
Er ladte. „Damals ging das Handwerk vor,
denn es brachte Brot. Haft Du denn nicht gewußt,
daß ih zuerit Tiihler war?”
„Friedrich,“ ſagte fie Iharf, „ich werbe
fingeln, wenn wir Sie brauden. Der Herr madt
erit Toilette.”
Der Diener verbeugte fih. Ym Hinausgehen
padte ihn Heelfens Fauft an der Schulter.
„So gut wie diefem QTagedieb bier ifl es mir
freilich nicht gegangen. He?! Der hat weder Hunger
noch Kälte Tennen gelernt, wie ich!”
Friedrich lächelte devot, jagte aber kein Wort.
Dem Gefiht der Gnädigen war nicht zu trauen. —
Während Heelen Toilette machte, ging Maub mit
zujammengepreßten Händen im Zimmer auf und
ab. Sie war außer fih. Dies Hineinziehen ber
Dienfiboten in PBrivatgejpräde war ihr unbegreiflich;
es untergrub die Autorität. Sie hatte aljo Urfache
zu zittern, wenn ihr Mann aufgeräumt wurde.
Als fie bei Tiihe jaßen, fie bediente ihn jelbft,
lagte fie:
„zieber Tino, vor den Dienftboten wollen wir
uns jeden intimen Gejprädhes enthalten. Solche
Leute find unberehenbar.”
Er jah fie fehr verwundert an.
„Was habe ich denn gejagt? Daß ih Tiichler
war? Aber das ift fiherli jo, das willen ja alle.“
„Und wenn aud, e8 wird niemand einfallen,
Did daran zu erinnern. Gebt bift Du Künftler,
ein anerfannter Künftler noh dazu. Warum mwillft
Du Dich felbft entwerten?”
„Ehrlide Arbeit jchändet nicht,“ bebarrte er
eigenfinnig. „Das fage ich dem Kaijer, wenn Du
willſt.“
„Gut, ſo ſage es dem Kaiſer,“ fagte ſie in ge—
linder Verzweiflung, „das heißt, wenn er Dich da⸗
nach fragt, aber nicht Deinen Dienſtboten, ſie fühlen
ſich alsbald als Deinesgleichen, und die Konſequenzen
bleiben nicht aus.“
Er ſtarrte ein Weilchen auf ſeinen Teller.
„Es iſt alſo in Deinen Augen eine Schande,
Dienfibote zu fein und chrlider Arbeiter — ja,
warum haft Du mich denn geheiratet?“
„sh babe nicht den Tilchler, ich habe den
Künftler geheiratet,” entgegnete fie nun auch erregt,
„und neben dem SKünftler lebe ih. Diefer bat aber
auh Pflichten gegen fih, gegen die Gejelihaft.
Slaubit Du, ein Menih fragt nach Deiner Ver:
gangenheit, wenn Dir die Zukunft gehört? Die
meiften find nur zu froh, fie vergellen zu können,
und ich rate Dir, laß fie ruhen.”
Er jpielte mit Meffer und Gabel, dann jagte
er einfad:
„Ich paſſe doch nicht unter Euch.”
„Du wirft Did aber anpaflen, das bift Du
mir jhuldig.e Und vor allen Dingen, nie wieber
etwas, das uns beide angeht, vor dem Diener.”
„Wozu halt Du ihn überhaupt genommen,“
grolte er. „Was foll er uns, wir Drauden ihn
nicht! Der Kerl fieht immer jo aus, als müßte
677 Art zu Art.
man ihn um Entihuldigung bitten, daß er nicht mit
am Tiich fißt.”
„Er fan aus einem fehr vornehmen Haufe,
das bewog mid, ihn zu nehmen.“
„sa, Dih, mir ift er unbehaglih, fchon jeit
dem erflen Tage. Warum lann die Mutter uns
nit auftragen, die figt in ihrer Stube und lang:
weilt ſich.“
Maud errötete heftig.
„Tino, es iſt Deine Mutter.“
„Na ja, aber ſie iſt das gewöhnt. Was hat
ſie denn jetzt davon, daß ſie nichts thut und immer
allein ſitzt.“
Die junge Frau biß ſich heftig auf die Lippen,
ihr Mann hatte mit ſeinem Vorwurf recht, was
nützte es der Alten, ſorgenlos und faul bei ihrem
Sohne zu leben — aus ſeiner Familie, von ſeinem
Tiſch war ſie verbannt.
„Hat ſie ſich beklagt?“
lich leiſe.
Er wurde nachdenklich.
ſagte er.
Ganz fiher war er feiner Sade nidt. Alte
Leute, wie feine Mutter, nörgeln immer, aber ob
e8 ihr Ernit damit war? Bor der übergroßen Fein:
beit jeines Haufe war er jeßt manchmal zu ihr
geflüchtet, gerade, ald müfle er fih da Lebensluft
holen. Sn feiner Brautzeit hatte er es nie gethan,
aber nun gewährte es ihm einen Genuß, im Woll-
bemd zu fißen, in die Stube zu jpuden und fein
beimijches Spdiom zu reden. — Ein Gegengemwidt
zu ber erzwungenen Vornehmheit bei feiner Frau.
„sh werde mit Mutter jprehen, daß fie mit
uns ißt,” jagte Maud endlich mit einem Seufzer.
Der Entihluß war ihr furdtbar fchwer gemworben.
Er fah fie ungewiß an.
„ieber nicht.“
„Doch! Doc!
Arbeit, Zino.”
Er redte und ftredte fi und gähnte.
„Roh einmal umziehen? Nein, das kann kein
Menih verlangen. Nun bleibe ich fon wie ich
bin und laß das Arbeiten fein.” —
Drunten in der Küche jaßen inzwilhen die
Dienftboten beim Frühftüd.
„Anfer Herr ift aber mal ein pugiger Herr,”
meinte Friedriid mit feiner gewohnten Würde.
„Rühmt ih, daß er Tiichler gemweien it! Hätte
ih das früher gewußt, wäre ich nicht in dies Haus
gefommen, ich diene nur dem höcdhiten Adel und
denke aud) ans Kündigen.“
„Was fol man denn zu einem Herrn Jagen,
deilen Mutter uns immer zur Kaffeevifite einlädt.
Und der Ködin ftridt fie Strümpfe,” Ficherte das
Hausmädden, „das Baar dreißig Pfennige, billiger
thut fie es nicht, denn der Schäfer im Dorf nimmt
fünfundzmanzig, und fie ift doch die Mutter vom
Herrn.”
„Die arme gnädige Frau,” meinte Nina. „Die
ift nun wirklich eine gnädige Frau au ohne Abel.
— Erjiehung und Bildung madt’s. Wie fie zu
dem Herrn gelommen ift, das ift ihre Sadje, aber
fragte Maud enbd-
„Kann Schon fein,“
Und nun geb wieder an die
Roman von H. Schobert.
678
fie jolte die Alte einmal gehörig aufmilden. Biel:
leicht ftede ih es ihr no, denn die Alte, das ift
eine alte Klatihe, die läßt feinen guten Faden an
der Frau.”
„Ad, Nina, wer wird denn foldde Spaßver:
derberin fein! Das ift ja zum Krankfladhen. Und
wie die Gnädige ihn erziehen will, und er läuft
dod immer wieder jo "rum, morgens! Sch habe
Seitenftehen vor Lachen gehabt.”
„Aber gefallen hut er mir bo, es ift ein
Ihöner Mann,” fagte die Köchin und job den
legten fetten Biffen in den Mund. —
Einundzwanzigites Kapitel.
„Wie lange Sie fih nicht haben jehen lalien,
Fortunat.”
Der Vorwurf lag nicht allein in den Worten,
mehr no in Ton und Blid, während Maub dem
Gaſte die Hand entgegenftredte.
Er mar befangen und unruhig, faum daß er
in ihr Geliht jah, ehe er fi) berabbeugte ihr die
Hand zu füllen.
„Ih wollte nicht flören!” murmelte er.
Sie dadte flühtig nah, ob er wirklich geflört
haben würde, und fam zu der Überzeugung, daß,
wenn er den Maßftab der Flitterwochen an ihre
Ehe gelegt, er jich gründlich geirrt hatte.
„Wirtih, Sie hätten nicht geftört,” Tagte fie
berzlih, „und ich bin froh, daß Sie wieder bier
find.” Dann fah fie ihn erftaunt an, er kam ihr
fremd vor, gezwungen, gar nicht wie fonft, und fofort
lieh fie dem Ausdrud. „St Shnen in der Zwilchen:
zeit irgend etwas palliert? Etwas Unangenehmes?“
„Richt das Geringite. Warum?”
„Sie maden mir den Eindrud, befto befler,
wenn id mich irre.”
Sie hatte ihn zu einem FTleinen Kaminetablifie-
ment geführt, vor ihnen brannte die Glut des
Holzfeuers.
„Wie hübſch, wie heimlich das hier iſt,“ ſagte
er aufatmend. „Und nun, meine gnädige Frau, wie
geht es Ihnen?“
„Danke, gut!“ Es klang ſehr ruhig, ohne irgend⸗
welche Sentimentalität.
„Gott ſei Dank!“ ſeufzte er auf.
„Wie feierlich Sie das ſagen, als ob Sie in
Sorge um mich geweſen wären.“ Dabei ſah ſie
ſeitwärts in die flammende Glut, nicht ihn an.
„Das war ich auch!“
„Warum!“
„Das iſt ſchwer zu ſagen! Ich dachte alles
mögliche. Sie hatten doch den wichtigſten Schritt
im Leben einer Frau gethan ... und Sie ſelbſt
nannten mich ja manchmal einen Phantaſten.“
„Ohne einen Kampf geht keine Veränderung
um uns und in uns vor ſich,“ ſagte ſie ruhig.
„Aber wo gäbe es wohl eine dankbarere Aufgabe,
als einen Menſchen, der gottbegnadet iſt von vielen,
zu ſeinem Heil auch äußerlich emporzuheben, be—
679
londere wenn er von gutem Charalter iſt. Tino
ift nachgiebiger als ich anfangs dachte.”
„Gott fei Dank!” fagte er aus tiefiter Bruft,
und dennod that ihm Mauds Ruhe zu gleicher Zeit
wehe. „Ih habe fo oft an Sie gedadt! Wo ift
Tino?”
„sn feinem Atelier. Unter uns gejagt, er bat
no immer fein feites Vertrauen in die Haltbarkeit
diefer Möbel, und jeder Toilettenmechjel ift ihm be:
ſchwerlich. Ich bin froh, daß er es trotzdem thut.
Wollen Sie hinübergehen und ihn begrüßen? Zum
— alſo in einer Stunde, laſſe ich ihn ſonſt her—
rufen.“
„Sagen Sie mir, was ich thun ſoll!“
Maud lachte. „Ganz ſo ſein wie früher. Ich
denke, da wären Sie hier geblieben.“
Nun lachte er auch. „Sicher! Ach wie ſchön
war doch dieſer Sommer! Nun iſt es Herbſt.“
„Ja, es iſt Herbſt,“ ſagte ſie und ſtrich ſich
über die Augen. „Sie wiſſen nicht, wie man den
Sturm hier pfeifen hört.“
Und nun ſprachen ſie zuſammen, die gleich—
gültigſten Sachen; es war als ſtände eine geheime
Scheidewand zwiſchen ihnen. Ganz verſtohlen ſahen
ſie ſich zuweilen an, ob ſie auch noch die alten
waren, beinahe überraſcht, ein äußeres Zeichen der
Veränderung nicht zu entdecken.
„Ich weiß nicht,“ ſagte Maud endlich, „es
kommt mir vor, als wären Sie ein anderer ge—
worden, und auf den alten Fortunat hatte ich doch
ſo ſehr gerechnet.“
„Können Sie ihn brauchen?“ fragte er lebhaft.
„O ſehr! Die Abende ſind lang, und ich bin
viel allein.“ |
hm ftieg das Blut in das Gelidt.
„Befehlen Sie ganz ungeniert über mic), gnädige
Trau. 3 Tenne fein größeres Glück, als Ihnen
irgendwie nüßlich fein zu können.”
„Und Ihre Arbeit?”
„D, die verträgt fih jchon damit.“
„Sebdesmal, wenn id auf Yhr Hochzeitsgeichent
lab, fragte ih mid, warum Sie uns wohl fo lange
vernadläjfigten.”
Und fie zeigte auf zwei reizende Marmorfigürdhen
in idealer Gewandung, die ihre und Martins Züge
trugen.
Er feufzte. „Wenn ih darf, Tomme ich oft.”
Gerade das Gegenteil hatte er fi) vorgenommen.
Daran, wie jehr ihm Maud jehlte, war ihm Elar ge-
worden, daß der Verkehr mit ihr ein Stüd feines
Herzens berührt haben müfle, und er wollte der
Berfudung ausweichen.
„sh nehme Sie beim Wort.”
Sein Herz jubelte auf. Sie hatte ihn vermißt,
fie wollte ihn wiederhaben, ihr ein paar Stunden
zu verkürzen, war jchon eines ftummen Kampfes
wert, und diefer Frobfinn leuchtete plöglih aus
feinen Augen und madte ihn dem alten Fortunat
ähnlich.
„est Tenne ih Sie erft wieder,” jagte Maud
berzlih und reichte ihm die Hand.
Heelen trat ein. Auch er begrüßte ihn fichtlic)
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
6-0
erfreut, und Fortunat ftaunte über die günftige
Veränderung, die äußerlich mit dem Manne, den
er fih gewöhnt hatte Freund zu nennen, vor:
gegangen war.
Sie blieben zulammen, wie in der Brautzeit,
plaudernd, lahend, anſcheinend ganz bie alten,
dennoch blieb die unfichtbare Scheidewand zwiſchen
ihnen, die Sortunat und Maud wenigftens deutlich
empfanden, ohne fih Har zu maden, woher fie
fam; der einzig Unbefangene war Heelen.
Fortunat blieb zum Efjen da, und je heimijcher
er in diefen Räumen wurde, die er hatte entitehen
jehen, je mehr fjpannen fie einen Zauber um ihn,
dem jeine Phantafie erlag. Nichts Hier war zu
viel, nichts zu wenig. Sein fünftleriiches Empfinden,
jo fein e8 organifiert war, fand nur Grund zu
Ihwelgen. Er beneibete Heelen und Ihämte fich diejes
Neides, entichuldigte ihn aber wieder mit dem Bemwußt-
fein, daß diefer gar nicht Feinfühligleit genug bejaß,
um das zu empfinden, was ihn entzüdıe,
„Und nun,” fjagte der Hausherr gegen zehn
Uhr, indem er fi erhob und herzhaft gähnte,
„wollen wir zu Bett gehen. Weiß der Teufel, daß
id) jegt immer jo müde bin! Die jchlaflofe Zeit
der Arbeit muß nun mohl nachgeholt werden.
Komm, Maud.”
Sie ftand an dem hohen jhweren Bronzefuß
der Zampe, dur deren Schirm grünmeißes Licht
in das Zimmer drang; er trat zu ihr, legte den
Arm um ihre Taille und 308 fie ziemlich gewaltfam
an fid.
Tiefe Nöte jchlug ihr in das Gefidht, fie machte
ih baftig frei. Nichts war ihr verhaßter als das
Zurihauftellen irgend einer Zärtlichkeit; vor Fortunat
empfand fie e& doppelt peinlich.
„Halt Du vergeflen, daß wir einen Gaft haben?”
fragte fie ziemlich jchroff.
„Ad, Fortunat! Das ift mir doch ein guter
Freund! Vor dem werde ich mich genieren! -— Du
liederlicher Kerl, wirft Dich freilich noch nicht zu Bett
legen, das geht wohl noch die halbe Nacht durd).
Was? Aber dafür bift Du auch nicht jung verheiratet.”
Maud preßte die Lippen zufammen und warf
ihrem Mann einen zornig funlelnden Blid zu. —
Er jah ihn nidt.
„Selbftverftändlihd entferne ih mich Jofort.”
Fortunat war aufgeiprungen und näherte fih Maud
abichiednehmend.
„I bitte Sie, bleiben Sie noch etwas.” Shre
Stimme zitterte. Es fam ihm vor, als |präde ver:
ftechtes leben daraus. „Mein Mann fcherzt.“
„Das thue ich nicht, es ift mir Ernft. Halt
Du Furht, Fortunat nimmt es übel? Er denkt
nicht daran! So gut Freund wie wir find! Und
dann wartet ficher irgendwo eine LXiebfte auf ihn.
He! Der Menid ift ja ein toller Kerl! Ach weiß
nette Gefhichten! Laß Dir nur von ihm erzählen!
— As Du nod Mädchen warft, mußten wir ja
vor Dir davon jchmweigen, als Frau ift die Sadıe
nicht mehr jo gefährlich.”
Tiefes Schweigen. —
681 Art zu Art.
„Du verleumdeft mich, Heelen!” fagte Kortunat
endlid mit tonlojer Stimme. „Meine gnäbdige
Frau . . .“ die Worte verfagten ihm. „Auf
Miederfehen alfo,” jchloß er.
Sie reite ihm ftumm die Hand.
„Wiederhole es ihr nur, daß wir viel zu gute
Freunde find, um uns zu genieren,” begann Martin
noch einmal und fchlug ihm auf die Schulter.
„Sa! Biel zu gute Freunde!” Iprah ihm
Fortunat fat mehaniich nad).
Dann ging er, aber nicht, wie Martin gemeint,
zu irgend einem Amujement. Wie ein Wilder rannte
er durch die dunklen, weiten Wege des Stadtgartens
und Inirfchte mit den Zähnen und ballte die Fäufte.
„Es ift Unnatur,” murmelte er immer vor fi
bin. „Annatur! Und ih Elender bin jchuld
daran! D die arme, arme Frau!!”
C3 war ihm, ale habe er in Mauds Ceele
deutlich gelejen, troß ihrer anicheinend heiteren Ruhe.
Als gebe es darin uneingeltandene Verzweiflung,
Neue, tiefes Unglüdlichlein, tiefe Sehnjudt, -aber
darüber noch fieghaft mächtig der Wille, die Hoffnung,
etwas Butes zu fliften, der Stolz, der nicht zugeben
wollte, daß er fehl gegriffen.
Diefe arme, nadte Frauenjeele Tam ihm zer:
rillen und verwundet vor, jo mutvoll fie es aud
niederfämpfte, und er blieb ftehen, jchlug fich mit
der Fauft vor die Stirn und wütete gegen fich felbft.
„Und was wird zulegt? -— Zu allerlegt?”“ fragte
er fih dabei plöglic.
Er fand keine Antwort. — Wie vermeflen ift
e8 doc, einen Menjchen beurteilen zu wollen! Was
weiß man denn von ihm? Bellen Falles haben
wir ein lüdenbaftes Bild, nad dem wir fchließen
und fonftruieren fönnen, aber nur aus der eigenen
Geele heraus, nicht andere. —
„Run komm!” jagte Heelen wieder und näherte
fih nad Fortunats Fortgang feiner Frau.
Sie wandte fih ab. „Ih bin no nidt
müde — geh nur allein.”
Er firedte die Hand nah ihr au8.
madt nichts, es ift viel gemütlicher.”
hm ausmweidhend, warf fie fi in das Kleine
Sofa. „Zah will noch lejen.“
Er gähnte wieder. „Ya, dann bhättelt Du
ebenjogut Fortunat no bier behalten fünnen,”
meinte er.
„Das wäre unpaflend gewejen.”
Er lachte.
„Ad, lei nicht fo närriſch!
meine Frau!”
Sie richtete fih ein wenig au und fah ihn
mit eigentümlidhen Augen an.
„Deinem Freunde haft Du ein fehr Tchlechtes
Zeugnis ausgeitellt.“
Er pfiff vor fih hin. „Er bat immer Geld
gehabt, bat fi nie mit dem Leben berumfchlagen
braudhen, bübih ift er aud, was willft Du da?
en er ift ein ehrlicher Freund, ein anjtändiger
er u
„Du haft recht,“ fagte fie, fich wieder zurück—
lehnend, „und nun gute Nacht.”
„Das
Mein Freund und
RomansZeltung 1806.
Roman von H. Schobert.
Er ging. Sie warf den Kopf rüdmwärtd, \chloß
die Augen und lag ganz fill.
hr war zu Mut, als fehlte e8 ihr an Luft
zum Atmen, als fämpfe fie jeit Tagen mit dem
Erftiiden. Was war daran Shuld? Sollte fid
doh in das Nechenerempel, das fie fih von der
Che gemadt, ein Fehler gejchlichen haben? Gie
hatte ihre Ehe ohne Liebe, die doch nur verraufcht
und Ernüdterung binterläßt, aber auf Achtung
und Freundfchaft, vor allen Dingen auf ein gegen-
feitiges Emportragen gründen wollen. Das Hang
jo hübjch, Hatte eine jo ideale Grundlage. Gemiß;
wenn fie fih nur vorber genau über das Wejen
der Ehe Far gemwejen wäre! Aber fie hatte weder
eine Mutter nodh eine weibliche ältere Verwandte
zur Seite gehıbt, blind war fie zugetappt. — Wie
anders war alles in Wirklichkeit gewejen als fie es
ſich gedacht! Vielleicht hätte gerade bie Liebe fie
über dies entjeßlihe Gefühl des Herabgeftiegenfeins
getröftet. Vielleicht! Wer weiß es! Das Leben
ergründet fich nicht jo jchnell.
Mit Ehaudern geftand fie fih, daß fie vor
der Berjon ihres Mannes ein gemwilles Grauen, ein
Gefühl der Abneigung zu empfinden begann, jo jehr
fie auch dagegen kämpfte.
Uud Fortunat hatte das gemerkt; Jo jehr fie
ih auch beherrihhte, fie fühlte, daß er gerade ihr
gegenüber helljeheriih war.
Sie fragte fih nicht wodurdh, ſie ſchämte ſich
nur vor ihm. Und dann glitt es ihr plöglich durd
den Kopf, ob fie wohl glüdlicher fein würde, wenn
er ftatt Heelen mit ihr in diefen Räumen berrichte.
Eine Antwort darauf gab fie fih nicht. Heftig,
wie vor etwas fliehend, ftand fie auf, lölchte die Zampe
und ging ins Schlafzimmer. Marlin Heelen jchlief,
mit offenem Munde ſchnarchte er laut. Ganz leile,
um ihn ja nicht zu weden, jchlüpfte fie in das
Bett. —
Zweiundzwanzigftes Kapitel.
„Sie jehen aber jhleht aus, Maud; die Ehe
befommt Ihnen nicht.“ Luzie fagte das mit einem
prüfenden Blid in das Gefiht der jungen Frau,
fi vol Wonne geftehend, daß fie jegt ihr gegenüber
im Äußeren entſchieden im Vorteil fei.
„Ih bin auch wirklich abgeipannt.”
„St e8 eine große Arbeit, den Ziger zu
zähmen?” fragte fie nediih. „Zrißt er Ion aus
der Hand? Ih bin wirklich neugierig darauf, ihn
zu fehen. — Fortunat war ja feines Xobes voll.”
„Liebe Luzie,” fagte Maud fehr ernft, „ich muß
Sie dringend bitten, berartige Scherze über meinen
Gatten ein für allemal zu unterlafjen, wenigftens
mir gegenüber, denn Shnen hinter meinem Rüden
Reden und Spotten zu verbieten, dazu bin ich leider
nicht in der Lage.”
Zuzie firih eine Falte an ihrem neuen Kerbft-
toftüm glatt.
48
652
683
„Wozu jo feierlidh, liebe Maub,” fagte fie dann,
ohne daß do der jpöttiihe Zug ganz von ihren
Lippen wid. „Sagen Sie do einfadh: Xiebe
Luzie, balten Sie Zhren böfen Mund und machen
Sie fih nicht jhledhter als Sie find. Ym Ernft bin
ih nämlich gar nicht jo boshaft.”
Maud Ihwieg darauf und badıte fi ihr Teil.
„Sol id aber wirtlih Ihren Mann nidt ein:
mal begrüßen dürfen? Ad, bitte, bitte, ich babe
mid jo darauf gefreut.” Aus ihren dunklen Augen
bligte die Neugier.
„Er it im Atelier.“
„Deſto beſſer! — Uber ift Yhnen der Eintritt
Dazu verboten! Sie wollten doch gerade feinem
Schaffen nahe ftehen.”
„Wenn Sie wirtlihd wollen, ‚Tünnen wir ihn
auffuchen.”
Es war ihr angenehm, ihn in feiner Arbeitsluft
präjentieren zu lönnen, die fleidete ihn gut, und bie
Eitelleit der Frau war doc) rege in ihr. Sie gingen
in das Atelier.
„Hier bringe ih Dir Befudh,” jagte Maub, die
Thür öffnend.
Martin Heelen ftand da im MWollhemd, mit
nadter Bruft und nadtem Hals, ben Holenbund
etwas heruntergeglitten, mit wirrem Haar, im Hußeren
berjelbe, ber die berühmte Gruppe gejhaffen, nicht
ber feine Herr der legten Tage. Die Arbeit ging
ihm flint von den Händen. Bei der Störung fah
er fih um und rungelte bie Stirn.
Seine Frau errötete heftig und trat an ihn
beran. „Aber Tino,“ fagte fie vorwurfevoll.
Mit einem fleinen Aufichrei bebedte LZuzie bie
—— mit der Hand, ließ ſie aber gleich wieder
nken.
„Einem Künſtler darf man nichts übel nehmen,“
fagte fie und bot ihm die Hand.
Er warf heftig jein Modellierholz fort, fo daß
es auf der Erde noch einmal emporhüpfte.
„Wenn ich nur diefe paar Stunden meine Rube
hätte,“ rief er unwirjch.
„D, Sie werden do nicht böfe fein — am
Ende ernftlih böfe — und auf Ihre Frau! Das
tbäte mir zu leid! Wir wollen aud gleich wieder
geben und Sie ungeftört laflen. Ich bin ſchuld!
Ich ganz allein!”
Diejes Hervorheben ihrer Perlon ärgerte Maubd,
gerade wie fie vor Luzie doppelt die Nachläifigkeit
in Martins Außerem empfand. Bei Fortunat hätte
e8 am Ende hingehen können, aber Zuzie Tannte fie
zu genau.
„IH bitte Sie,” fiel fie ihr deshalb ins Wort
und jtredte die Sand mit einer Tleinen gebieteriichen
Bewegung aus, „Tino ift nur gereizt, daß wir ihn
in biefer Noncdhalance antreffen, und allerdings —
daß das geichehen fonnte, ift nicht angenehm, ob:
glei es feine eigene Schuld if. Geb, Meide Dich
um, wir erwarten Dich hier.”
„Aber ih bitte Sie,” rief Zuzie naiv, „das
finde ih ja gerade fo reigend! Dies völlige Ber:
geflen und Ungeniertjein des arbeitenden Künftlers.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
684
Außerdem Kleidet Herren Heelen diefe Toilette ale
wilder Mann befier ala Frad und Glaces.”
„Aber ih jchwärme nit dafür,” entgegnete
Maud, und fie konnte nicht hindern, daß ihre Stimme
Iharf Klang.
Martin verihwand, Zuzie aber jagte inzwilchen:
„Das ift ja rührend, wie Sie ihn fich gezogen haben,
Hhren Gatten. Er pariert Drdre wie ein gelehriges
Pudelchen.“
In Mauds Geſicht flammte es auf.
„Bitte, vergeſſen Sie nicht, daß Sie von meinem
Mann ſprechen,“ ſagte ſie hochfahrend. „Solche Scherz⸗
worte ſcheinen mir nicht paſſend.“
Dann kam Heeken tadellos zurück, wortkarg, ver⸗
ſtimmt, kaum zu einer Antwort zu bringen.
‚Laſſen Sie ſich doch nicht ſtören,“ bettelte
Luzie, „arbeiten Sie weiter. Bei Papa und Emil
darf ich auch oft zuſehen, und bin ebenſo auch an
N gewöhnt, das madt mir feine Schmerzen
weiter.”
Aber Heelen rührte nichts mehr an. Er jaß,
den Kopf in bie Hand geflüßt, und flarıte auf den
Boden; was fragte er nah Luzies Schmeicheleien!
Wütend war er, daß man fi das Redht nahm, ihn
jede beliebige Stunde zu überfallen. Und nun trat
Maud zu ihm, legte ihre Hand auf feine Schulter
und fagte herzlich:
„Das ift nur vorübergehend, daß Dich der Ein:
tritt anderer in Deinem Schaffen unterbridt, mit
der Zeit gewöhnfl Du Di daran. Alle bedeutenden
Männer machen ihr Atelier zum Sammelplag der
Künfller und Kunftfreunde. Du fannfl do nicht
‚nein‘ jagen, wenn Dich irgend jemand — vom Hof
zum Beijpiel — bittet, bei Deiner Arbeit anwejend
jein zu dürfen, und das wird auch noch kommen.”
Er antwortete nicht, finfter ftarrte er weiter zu
Boden; jo unliebenswürdig wie heute hatte er fich
nod nie gezeigt, und gerade vor Zuzie! Aber wenn
jeine $rau nur geahnt hätte, wie jehr er ihren Troft:
„Du gewöhnfl Dich,” haßte, ficherlid würde fie Diefe
Nedensart jorgfältig vermieden haben. Es ftieg heiß
in ihm auf, wenn er fich überlegte, woran er fi
alles gewöhnen jolltee Und während bie beiden
Damen hinausgingen, böıten fie deutlih, wie mit
voller Wudt drinnen im Atelier ein jchwerer Gegen:
ftand zu Boden geichleudert wurde . .
„Da bin ih!” rief Luzie, ganz atemlos von
diefem Bejuch zurüdtehrend und in das Ezimmer
ftürzend, in dem Vater und Bruder fon auf fie
warteten. „Nein, aber zum Totlahhen diefe Ehe! —
Sie mit den Airs einer Königin, die einen dreffierten
Pudel am Bande hat, er eine Inurrende, zähne-
fletidende Beflie, die fih unmillig unter Das Joch beugt,
aber doc immer den vollen Teller vor Augen hat.“
„Möcteit Du Dich nicht etwas anders ausbrüden,
liebes Kind,” fagte der Profeffor mit fanftem Tadel.
„sn jeder Ehe müllen fih die Menfhen erft mit:
einander einleben, ehe fie zur Harmonie kommen,
diefe beiden natürlich noch viel mehr. Aber wenn
man exit Heelens rauhe Schale überwunden hat, fo
glaube ih fchon, daß der Kern die Mühe Lohnt.“
„Ich glaube dod, Maud bleibt mit den Zähnen
685 Art zu Art.
in der Schale fiten und verbittert fih nur das
Leben für ein paar Jahre. Dauer kann das gar
nicht haben.”
„Wollen es nit Hoffen. Aber meine fluge
Tochter fieht auch immer nur die Schattenfeite der
Menfhen und Dinge, anftatt an die Lichtjeiten zu
glauben.”
„Deine Huge Tochter hat meiflenteils recht be:
halten, Papa.”
„Ah werde Dich aber tüchtig ausladhen, wenn aus
Heelens ein abjolut glüdliches Paar geworden ift.”
„Das thu, Bapa! Nun, meine brüderliche Liebe,
Du jehweigit ja hartnädig?“
Emil madte eine abwehrende Kopfbewegung,
als aber der Profefior feine Siefta hielt, die Ge-
ſchwiſter allein waren, ließ er fih von feiner Schwefter
Punkt für Punkt erzählen, was fie im Heelenjchen
Haufe mit angelehen hatte.
„Nun?“ fragte fie ihn am Schluß, „was jagit
Du dazu?”
Er qualmte wie ein Scornftein, dann kam
das Nejultat feines Nachdentens: „Sin den nächften
Tagen werde ich Heelen bejuchen.”
„Shn?” Ruzie Sprang vor Erflaunen auf.
„Was wilft Du bei ihm? Berjucde lieber, Maud
zu tröften.”
„Daß ih ein Narr wäre,” meinte er troden.
Sie jeßte fih dicht zu ihm. „Dein Gedanten-
gang ift mir unklar,” meinte fie nachdenklich.
„Das thut nichts!“
„Walt Du mir nichts Jagen?”
„Mein Gott, Kleine, wie wunderli Du bift!
3h will ja gar nihts, nur einmal Seelen in
diefer ungewohnten Pracht jehen.”
„Du Tonnteft ihn doch nicht leiden.”
„Das hat doch mit einem Beluch bei ihm nichts
zu thun.”
„Nein. Aber — ih dbadte . . . Wenn er nicht
geweien wäre, jäßeft Du doch jegt ficher in dem
goldenen Neft.”
Er zudte die Achjeln. „Ehrlich geſtanden iſt es
doch auch etwas ‚jehr Goldenes‘ um die Freiheit.”
„Fir Did als Mann vielleiht, aber ich wäre
jo frob, wenn Du bei Maud ben Tröfter jpielen
und Fortunat etwas verdrängen wollteft. Du weißt,
Gelegenheit macht Diebe.“
„Das möchte wohl vergebene Liebesmüh fein,”
jagte er nah einer Paufe. „Laß die Dinge doc
laufen, Luzie, Du baft ja gejehen, alles Pläne-
maden ift unnüß.”
Sie feufzte ein wenig und nahm das neueite
Modejournal vor. E83 zudte ihr ordentlih in Kopf
und Händen, etwas zu finden, um fich wieder zur
sn. der Situation zu madhen, aber was? Aber
wie
Ein paar Tage fpäter faß Emil zur Vormittags:
Roman von H. Schobert.
686
ftunde in Heelens Atelier. Er batte der gnädigen
rau nur feine Karte hineingelidt, ohne abzuwarten,
ob er angenommen würde, war dem meldenden Diener
aber auf dem Fuß ins Atelier gefolgt.
Heelen war anmelend, aber auf das elegantefte
gekleidet, im blaufeidenen Hemd und Jchwarzem
Eammetjadett. Die Hand im Haar vergraben, die
Stirn gejentt, jaB er müßig da und ftarrte vor fich hin.
Ale Schaffensluft war ihm dahin, feine fämpfenden
Hunde mibderten ihn an, und boch, troß feiner Faul-
beit fühlte er fih abgelpannt und ermattet.
„Suten Morgen,” fagte Emil, mit einer ge:
willen Nonchalance nähertretend und Heelen zwei
Singer der rechten Hand entgegenftredend, denn in
den übrigen hielt er die Cigarette und in ber Linken
den Hut. Er war ausgefucht elegant gekleidet und
lab jehr vorteilhaft aus. „Ach hörte, daß Sie un:
beihäftigt waren, da wollte ich doch einmal bei
Ihnen einſehen.“
Martin erhob ſich, indem er den Gruß erwiderte.
Früher wäre ihm das nicht eingefallen, beſonders
nicht bei Emil, den er niemals leiden mochte.
„Ich darf doch weiterrauchen?“
„Bitte ſehr! War meine Frau nicht zu Hauſe?“
„Weiß wirklich nicht! Ich ſchickte nur meine
Karte hinein. Die Hauptſache war mir, Sie zu treffen.“
„Mich?“ fragte Heeken ſehr erſtaunt.
„Ja. Ich dachte mir: ſo eine Metamorphoſe,
wie Sie durchgemacht, müſſe auf den Menſchen ein—
wirken, aus Naturnotwendigkeit. Na, und da wollte
ich ſehen, wie es mit Ihnen ſteht.“
Heeken machte ein kurioſes Geſicht. Er wußte
nicht recht, wie er das auffaſſen ſollte.
„Gut,“ ſagte er dann kurz.
Emil lachte.
„Nee, mein Lieber, ſo ſehen Sie gerade nicht
aus! Aber es iſt ja möglich, daß die Flitterwochen
eine faule Sache ſind, wenn man ſo verſchieden iſt
wie Sie und Ihre Frau. — Ihre Arbeit da iſt
übrigens prachtvoll. Sie ſind wirklich ein ganzer
Kerl, Heeken. Was gäbe ich darum, das gemacht
zu haben.“
Bis vor kurzer Zeit hatten Martin Lob und
Tadel kalt gelaſſen; ſich ſelbſt ſeines Wertes bewußt,
galt ihm das Urteil anderer nichts. Heut, in der
| Berfallenheit, in der er fich befand, that es ihm wohl,
ja, richtete feinen gejunfenen Mut etwas auf, denn
gerade Emil war als Nörgler bekannt, der ftets
verjuchte, alles herabzuſetzen.
„st e8 wahr?” fragte er, auch ganz ehrlich
jeine Befriedigung zeigend. „Wenn ich es fo anjebe,
bin ich unzufrieden. Das mad... .” er jah fih um,
„mir ift bier noch alles fo fremd, jo ungewohnt. Ych
denfe immer, ih müßte erft wieber in mein altes
Atelier zurüd am Stadtrand, wenn ich wieder etwas
Butes Ihaffen wollte.” M
(Fortfegung folgt.)
——— De —
687 Schwertllingen.
Roman von Hans Werder.
688
Shwertklingen.
Baterländifcher Roman
von
Hans Werder.
(Sortfegung.)
Il.
Der PBarolebefehl Hatte unter den Offizieren
eine große Aufregung hervorgerufen. Die wider:
Iprehendften Meinungen wurden ausgelaufcht, welche
Hallo zu Mären Juchte, indem er jorgfältig und zurüd:
haltend aus feiner Unterredung mit Schill ben
Kameraden mitteilte, was er für fie zu willen gut
bielt.. Er fprad über defjen Stimmung und feine
Außerungen in einer Beleuchtung, die jener felt:
famen Kundgebung den Stadel nahm, ihren Ein:
drud aber verftärfte.
Die Einladung, bei ihm zu effen, heute gerade,
berührte feine Getreuen fehr eigenartig. Er zeigte
ihnen alfo, daß er wirklich wünfdhte, wie jein Parole:
befehl e8 ausgeiprodhen, „als wie in einem $amilien-
freile” mit ihnen zu leben!
Sehzehn an der Zahl fanden fich zur feitge:
jegten Stunde in feinem fchlihten Quartier am
Neuen Markte ein. Mit Eifer und Sorgfalt war
der Major für die gute Aufnahme feiner Gäjte be:
mübt, genau jo wie einft in den guten, fröhlichen
Tagen.
Sein eingehendes Gelpräh mit dem Grafen
Voß unterbrehend, ging er den Offizieren entgegen.
Hans von Brünnom ftand vor ihm. Zum erften
Mal im Leben waren fie — heute früh — im Zorn
voneinander gegangen — und hatten doch jo oft
Ihon füreinander das Leben eingelegt! Daran
dachten beide jett, als ihre Blide fich trafen, und ein
warmer Händedrud gab dem Gedanken einen ftumm
beredten Ausdrud.
Eine ritterliche Tafelrunde war es, die fich hier
verfammelt, eine Schar vermwegener, todesmutiger
Gejelen. Und für manden unter ihnen war e8
die legte Mahlzeit, das legte Beifammenfein, das fie
im Leben genießen follten. Laut und fröhlich ging
e8 dabei zu. Die Thür ftand offen. Am Hausflur
Ipielte die Mufilfapelle, von einer Zufchauermenge
umgeben.*)
Chill erhob fih und mit ihn der ganze Kreis.
„Das erfte Glas Seiner Majeftät unferm Aller:
gnädigften Könige —” er jprach es mit tiefer, be:
wegter Stimme, do die gewohnte feurige Bered:
lamfeit verjagte ihm, in feinen Augen ftanden
Thränen. Die redeten ihre eigene Sprade bei diejem
legten Trinkipruch, den Ferdinand von Schill jeinem
Herrn und Könige gebradt!
*) Alle diefe Einzelheiten gefchichtlich.
Eine jähe Unterbredung fchnitt die feierliche
Stimmung ab. Der Unteroffizier Sommerfeld trat
herein. Schill hatte Fürzlid ertt — auf dem
Schladtfelde von Dodendorf — den Tapferen zum
Unteroffizier ernannt. Sekt fam er von einer
Patrouile zurüd, bradte die Equipage eines
boländiihen Generals nebft Pferden und Bedienten
als Beute mit fih und ftattete mit Anftand und
Gewandtheit ſeine Meldung ab.
„Sie haben Ihre Sache gut gemadt,” rief Schill
erfreut. „Das weiß ich Schon, mein braver Sommer:
feld fehrt nie unverrichteter Sadhe und mit leeren
Händen zurüd! — Unjer braver Sommerfeld joll
leben!” jeßte er Hinzu, indem er ihm ein volles
Glas hinreihte, um mit ihm anzuflogen. Don
Sreude und Dankbarkeit ftrahlend nahm dann
der NReitersmann den Pla an der Seite feines
Kommandeurs ein, den diejer ihm anmies. Und
bingeriffen von dem Glüd und der Ehre, erhob er
jein abermals gefülltes Glas: „Lnfer Herr Major
jo leben — hodh!“ Die Mufif blies den Tuch
— und an ber Tafelrunde — auf dem Flur — auf
dem Marktplag draußen tönte das Hoch mit lautem
Subel nad.
Gejenkten Hauptes hörte der Held das mit an.
Für einen Moment jhloß er die Augen. E& war
ihm, als fühlte er das Naujchen eines dunklen, un
beilverfündenden Fittichs — im Augenblid, da bie
Seinen ihm das Ießte jubelnde Lebehocdh zuriefen,
ben Fittich des Todesengelde — um das todgemeihte
Haupt!
Eine Drdonnanz trat herein. Feindliche Streif—
parteien zeigten fich nahe der Stadt, es |dien, als
wäre noch heute ein Angriff zu erwarten. Rodlig
und Blandenburg baten den Major, eine Refognos:
cierung unternehmen zu dürfen, doc diejer jchlug
es ab. „hr geht mir drauf [os wie ein Paar
Saupader, hr beiden! %h fenne Eu! Laßt
Euch woröglid in ein ernites Gefecht ein! Das
aber will ih heute no nicht!”
Er hob jedoch die Tafel auf, ließ Generalinarich
Ihlagen und befahl, zur Vorforge die Wälle zu
bejeben.
Bis zum Abend blieben die Truppen bort ftehen.
Dod) alles war ruhig. Schill befahl bei einbrechender
Dunfelheit den Nüdmarih in die Quartiere. Nur
eine Kompagnie Infanterie blieb ale Wache zurüd.
Zu Ipäter Stunde noch verfammelte der Major
feine Offiziere, um ihnen den PBerteidigungsplan
für morgen darzulegen und feine Befehle zu erteilen.
Die Verteidigung des Triebjeerthores war fein vor:
689 Schwertklingen.
züglichftes Augenmerl. „Wenn der Feind uns
morgen angreifen jollte, jo wird er bort feine Haupt:
fraft einjegen!”“ jchloß er. „Übrigens — ich hätte
PVeterjon gern geiproden. Sind jeine Arbeiten am
Knieperthor:Damm weit gediehen?“
„Samwohl, Herr Major, ih war vorhin bei
ihm!“ berichtete Blandenburg. „Er meint, da das
Triebfeer- und Frantenthor fo gut hergerichtet wären,
möchte er gern auch das Knieperthor noch in Ver:
teibigungszuftand jeten, ehe die Feinde fich zeigten!”
„Das ift jehr Ihön,” fagte Schill, „aber ich
hoffe, es wird nicht nötig fein! Bon dorther haben
wir feinen Angriff zu erwarten!”
„Bert Major —* nahm jett Haflo das Wort —
„noch ift es Zeit, wir haben gelehen, die Feinde er-
warten ung niht! — Wie mir hörten, liegen fie
nah anftrengenden Märihen ermübdet in ihren
Duartieren! Herr Major, Sie fennen Ihre Kavallerie
von Dodenborf und Damgarten ber, — fie ift fieben-
hunbertzweiundzwanzig Mann ftart — der Sieg
wäre in unjerer Hand!“
Mit einem finfteren Blid fireifte ihn der
Major. „Au Du, Brutus,” fchien diejer Blid
zu fagen. — „Und unfere Sinfanterie und Ar:
tillerie,” nahm er enblih das Wort, „möchte fie
uns nicht au hier in Stralfund den Sieg gewähr:
leiten? Wenn meine vierhundertadhtzig alten Papas
auf den Wällen zu reden anfangen, wird, meine ich,
den Ankömmlingen da draußen Hören und Sehen
vergehen!”
„Nah den fiheren Nachrichten ift der Feind
dreimal jo ftard als unfere gejamte Belagung!”
bemerkte einer der anderen Offiziere. i
Schill zudte die Acjeln. „Sollte die Uber:
macht wirklich jo bedeutend fein, fo fan das ben
Ruhm unjeres Sieges nur erhöhen!” jagte er im
Tone unbeugfamer Zuverfidt.
„der vielmehr,” fette Brünnow ernit hinzu,
„den unvermeidlihen Tod nur glorreiher machen!” *)
Wieder ſchwoll die Zornader auf der Stirn des
Kommandeurs. Aufbligend überlief fein Auge den
um ihn verjammelten Kreis. „Wer mein Schidjal
nit teilen will, fann Jofort jeine Entlafjung
befommen!“
Schweigend ftanden fie um ihn ber. Felt und
Har begegneten ihm alle die todesmutigen, fampfes-
freudigen Blide. Nein — NRodhlik hatte wahr ge:
Iproden: Solde Worte verdienten fie nicht von
ihm! Und troß feiner Worte — mehr denn je —
fühlte er fih eins mit ihnen auf Tod und Leben!
„Shr Schweigen antwortet mir beutlich genug,
Kameraden!” fagte er warm. „Wir haben uns nod
nie in einander getäufcht! Gute Nacht denn! Auf
ein frohes Wiederjehen morgen!”
Und jo gingen fie, ftumm und ernft. Un:
widerruflihd war das Schickſal entſchieden, deſſen
Beſiegelung er in verhängnisvoller Verblendung
über ſich heraufbeſchworen.
„In Stralſund da ſollſt Du begraben ſein!“
*) Alles wörtlich hiſtoriſch.
Roman von Hans Werder.
690
IV.
Die Naht ging Ichweigend und bdunfel über
Stralfund Hin. Ein einziges Fenfter am Neuen
Markte war noch hell — dort wohnte der „komman-
dDierende Offizier der hiefigen Provinz“, Major Schill.
Er.jaß an jeinem mit Plänen und Schriftitüden
überdedten Tiih und jchrieb. Einen Bericht und
einen Hilferuf zugleid an den Erzherzog Karl
arbeitete er aus, ben Graf Voß in aller Frühe
morgen mit fi nehmen jollte.
Die Stunden verrannen, der Morgen graute,
die Sonne ging auf. Da endlih war jein Schreiben
vollendet. Langgezogene Trompetentöne j&hlugen an
fein Ohr. Schill fprang auf. Seine Hufaren bliefen
die Reveille.
Es war ber Morgen des 31. Mai 1809, Da
rüdte General Gratien mit dem vereinigten Heere
der Holländer und Dänen gegen die Stadt Straljund
vor und leitete den Angriff ein.
Major Schill wollte eben den Fuß in ben
Steigbügel jegen, ala der Schall bes erften Kanonen:
Ichuffes aus der Ferne fein Obr traf. Unwillkürlich
entblößte er fein Haupt. „Gott Vater, in Deine
Hände! Zum Sieg — oder in den Tod!”
Dann jehwang er fih in ben Sattel und jagte
dem Triebfeerthor zu, den Feind zu erwarten.
Stolz trug er fein Haupt, wie einer, der dem ge-
willen Siege entgegenreitet, und jein Auge blißte
wieder in mannhaft fühnem Feuer, wie einft in der
Kolberger Zeit.
Gegen das NKnieperthor, das mangelhaft be:
feftigte, gingen zwei farfe feindliche Kolonnen im
Sturmidritt heran. Lieutenant PBeterfon empfing
fie mit ftarfem Artilleriefeuer, doch drang der Feind
mit großer Entichloffenheit vor. Die Wälle wurden
erfiiegen, die Artilleriften niedergemadt, das Thor
war gejprengt, der Feind drang in die Stadt. Die
Schilihe Infanterie z0g fich fechtend bis auf den
Marktplag zurüd. Hier hielten die Schwadronen
Brünnom und NRodlig als NReferve Ein Gefecht
mit dem herandringenden Feinde begann, das als:
bald in wildes Handgemenge ausartete.
Inzwiſchen waren die Angriffe auf das Trieb:
feer: und Frankenthor glänzend zurüdgeichlagen.
Schill war überall gegenwärtig, mit feinem Zuruf
und Beilpiel feine Getreuen zur höchften Anipannung
aller Kräfte anfeuernd. Seht vernahm er die Kunde
vom Eindringen der Feinde. Sn geftredtem Galopp
jagte er nah dem Marltplag, um perjönlich den
Befehl über die Keferve zu übernehmen, fand fie
jedoch fchon im beftigften Kampfe mit den fiegreidh
vorrüdenben Feindestruppen.
Cine Heine Schar Hujaren und reitender Jäger
fammelte er um fi und Iprengte mit diejen dem
Senteperthore zu, Tod und Schreden verbreitend,
wo er den blutigen Säbel jchwang. In dichten
Kolonnen zogen ihm die feindlichen Truppen ent-
gegen, von Straße zu Straße wandte er fi. Bei
diefem wilden, verzweifelten Reiten in den engen
Gaflen aber warb er wieder von jeiner Schar getrennt.
691 Schwertklingen.
Sn einer Ede der Knieperitraße nahe der
Sohannisfirhe hatte fich bie feindliche Generalität
aufgeftellt, um die Truppen nah dem Marlte Hin
defilieren zu fehen. Da rafte der einzelne Reiter,
nur von wenigen Getreuen gefolgt, in geftredter
Garriere auf fie zu. Mit einem Streich feines
Säbels bieb er den General Carteret vom Sattel
herunter, warf dann fein jhaumbededtes Pferd herum
und fprengte in die Fährftraße ein.
Ein todeswunder Hular, ein Tapferer aus der
Kolberger Zeit, lag bier am Boden. Aus brechendem
Auge jah er zu dem geliebten Führer auf. „Hurra,
Sıill!” Hang es von den fterbenden Lippen. Das
ward ber Todesruf für den Helden von Kolberg. Nun
fannten die verfolgenden Feinde den todbringenden
Reiter, Er wurde von allen Seiten umringt. Schüffe
fradhten um ihn ber, doc fie hielten den jfagenum:
wobenen Qufarenführer für fugelfeft und bieben mit
ihren Säbeln auf ihn ein, bis er vom ferbe
herunterſtürzte.
Tot lag der Held am Boden!
* *
*
Auf dem Alten Markte webrten fih noch bie
beiden Schwadronen und verlauften ihr Leben um
den hödhften Preis der Nahe. Ihre Säbel mähten
die Feinde nieder. Sm der Wut des Kampfes war
Haflo von den Seinen fortgedrängt, Lieutenant
Telgentreu vor feinen Augen verwundet, vom Bferde
geriflen, entwafinet; ob tot oder gefangen fonnte er
nicht erfennen. Nur Albert Wedel fahb er no an
feiner Seite. Plöglich ftürzte beflen Pferd, zu Tode
getroffen und fiel auf jeinen jungen Reiter mit
ganzer Wucht.
„Halte Dich, Albert, ih komme!“ jchrie Haflo.
Da traf ein Hieb feinen rechten Arm. Wie ge:
brocdhen fiel derjelbe nieder. Haflo faßte den Säbel
mit der Linlen. Wie ein Nafender Ichlug er fi
Dur, von Albert trennte ihn ein feindlicher Knäuel
— er mußte es aufgeben, ihm zu helfen. or:
wärts: dort Jah er Blomberg im KHandgemenge.
Schulter an Schulter bahnten fie fih den blut:
triefenden Weg bis an Brünnows Seite, der einige
Hundert Reiter um fich gefammelt. Troß hageldichten
Kartätich: und Gemwehrfeuer ging es im Sturm durdje
srankenthor ins Freie hinaus. Auch hier wurden
fie von feindliher Übermadht umringt. Der Führer
berfelben forderte fie zum Niederlegen der Waffen
auf, Stralfund fei erobert, Schill gefallen, das Korps
aufgelöft. „Das ift nit wahr!” jchrie Rodlig in
Verzweiflung auf.
„Nein!“ flimmte ihm Brünnow bei, „und wir
ergeben uns nit — wir wehren uns bis auf den
legten Mann. Gewißheit müflen wir haben über
Schills Tod!“
Mit Bewilligung des feindlichen Führers wurden
die Offiziere von Rudorff und von der Horſt in die
Stadt geſandt, zwei holländiſche Geifeln blieben ihm
dafür zurück.
Roman von Hans Werder.
692
Reife berieten Brünnow und NRodlig, was danadı
zu tbun fei. Shrer Hußerung entgegen war es
ihnen doch faft zur traurigen Gewißheit, daß ihr
Held dahingegangen im heiligen Opfertobde.
„Rochlitz, auch Du biſt ſchwer mitgenommen,“
raunte Brünnow ihm zu. „Du ſchwankſt ja, armer
Kerl! Halte Dich nur, bis wir hier heraus ſind!“
Haſſo nickte ſtumm. Sein rechter Arm verurſachte
ihm heftige Schmerzen und aus der linken Schulter
fühlte er einen heißen Duell unaufhaltſam hervor:
a Schwarze Wollen umdunlelten ihm den
Blick.
Jetzt kamen die beiden Offiziere zurück — ſchmerz⸗
erfüllt, die traurige Botſchaft beſtätigend.
„Und ſind Sie jetzt gewillt, ſich zu ergeben?“ er—
kundigte ſich höflich der holländiſche Oberſt.
„Unter keinen Umſtänden!“ war Brünnows Ant⸗
wort. „Ich verlange freien Abzug auf der Stelle,
mit Waffen und Pferden, oder Kampf auf Leben
und Tod!“
Unter dem Eindruck dieſer alles niederſchmettern—
den Entſchloſſenheit ging der holländiſche Offizier auf
Unterhandlung ein. Die Kapitulation kam zuſtande.
Den Schillſchen Truppen ward „bewaffnete Rückkehr
zur Gnade des Königs von Preußen“ bewilligt und
Brünnomw führte ungehindert feine dreihundert Reiter
nah Demmin.
Mit einer Schar Jäger und Infanterie, die am
Triebfeer Thor gefochten, hatte fi unterbeflen
Blandenburg durch den Feind geihlagen, Schritt vor
Schritt niederwerfend, was ihn entgegenftand. So
erreichte er glüdlih den Hafen und jchiffte fi mit
jeinem geretteten Häuflein nah Rügen ein.
Auf dem Marktplag zu Straljund aber lag bie
Leiche Ferdinande von Schill, den rohen Händen
leiner Feinde preisgegeben, von Wunden bebedt, in
den Hallen des Rathaujes auf einer Fleiihbanl aus:
geftredt, zerfegt, entitellt bis zur Unfenntlichleit. Ob
er das wirklich war, der fagenhafte Held? Sie zwei:
felten daran. Sein Reitineht ward berbeigerufen.
Ah, der erfannte ihn nur allzu gut. Schluchzend
preßte er die alte Hand des geliebten Herrn an feine
Lippen. Und jene beiden Dffiziere vom Franlenthore
famen, fi von ihres Führers Tode zu überzeugen.
Ja, es konnte fein Zweifel fein. Schon der DOrben
an feinem Halfe, der pour le merite mit der Perlen:
frone, die ihm die Königin geichentt und welche Fein
Sterblier außer ihm trug, die war das Wahrzeichen
für den Helden von Kolberg.
%a — da lag er als Leihe — der berühmte
Hular!
„Die Stadt ift Ihnen fehr zu Dank verpflichtet,
Herr General, daß Sie dielelbe von biefem Räuber
befreit haben!“ verficherte jchmweifwebelnd ein ange—
jehener Straljunder, der bisher Schills eifriger An:
bänger gewejen. Da aber erwadhte in General Gra-
tiensg Seele das Gefühl der Helden: Rameradichaft,
und wie jhüßend ftredte er die Sand über den edlen
Leihnam aus: „Schill war fein Räuber, er war
ein Held!”
Doch aber ftand der Verbrecherpreis auf dem
Haupte diejes Helden. Es ward vom Rumpfe ge:
693
trennt und dem König Jeröme eingejandt. Nadı
langen Sahren erjt fand es Ruhe in ehrlidem Grabe
zu Braunfchweig, an der Seite feiner Getreuen.
„Seinen Leihnam fol man verjharren wie
einen Hund!” fo lautete der Befehl.
Und das geichah.
„Doch hat er aud feinen Chrenftein,
Sein Name wird nimmer vergefjen fein!
Denn zäumet ein Reiter fein jchnelles Pferd,
Und fchwinget ein Reiter jein blanke Schwert,
So ruft er inımer: Herr Schill, Herr Schill,
Ich an den Franzofen Dich rächen will!“
Neunter Abfchhitt.
Borm Sriegsgericht.
„Euch ftiehn die Worte wie die Wunden fhün,
Nah Ehre fehmeden beide“
I.
Die belle AJunifonne drängte fi neugierig
zwifchen dunfelblauen Vorhängen herein und zeid;
nete Kleine, dunkle Glanzflede auf die weißgeicheuerten
Dielen. Hinter diefen Vorhängen jummten tanzende
Müden an den warm bejhhienenen Fenfterjcheiben.
Aus dem Kebenzimmer börte man gedämpft das
Tiden einer Schwarzwälder Uhr. Sonft berrichte
Schweigen in dem Raume und weiche, bläuliche
Dämmerung.
Hallo öffnete die Augen und ließ fie migtrauiich
umberwandern, über die weißgetündten Wände, den
großen braunen Kachelofen, die Truhe an der Wand
und den roßhaarüberzogenen Großvaterftuhl.
Sn diefer Umgebung aljo hatten ihn die Kame-
raben zurüdgelaflen mit dem tröftlidhen Veriprechen,
Nachricht zu geben und ihn nicht zu vergeflen.
Es war ein harter Ritt gewelen von Straljund
bis hierher. Sein getreuer Frige hatte ihn im Arm
gehalten, Schmerz und Blutverluft ihn aber endlich
völlig übermannt und feine Sinne umbuntelt. Aus
diejer Ohnmacht war er erwacht unter ben Händen des
Regiments:Chirurgus Werdermann, ber ihn verbunden
und auf diejes Lager gebettet. Die Kameraden hatten
teilnahmooll um ihn geftanden, in bejagter Weite von
ihm Abjchied genommen und waren nun fort, ber
Arzt mit ihnen. Hallo blieb allein und ein trauriges
Gefühl der Verlaflenheit überfam ihn mit dem Be:
wußtfein tödliher Schwähe und Eridhöpfung. Er
verjuchte, fich zu bewegen, doch fein rechter Arm war
geichient und verbunden, auch die linfe Edulter in
irgend einem AZuftande bes Gefefleltfeins, und der
eine Fuß that ibm web, ehe noch der Bewegungs:
verfuh vom Entihluß zur Ausführung gelangt war.
„Die Teufelsbande fcheint mich ja lieblich zugerichtet
zu haben!” meinte Hallo für fih. „Kein heiles Ge
bein an mir, fo zu jagen!”
Er dachte an feinen lieben Kommandeur und
al die waderen Kameraden, die mit ihrem Herzblut
Schwertllingen. Roman von Hans Werder.
694
die graufige Walflatt getränft, und es überlam ihn
ein grenzenlojes Bedauern, baß er nicht unter ihnen
fein durfte. Warum nur hatte ihn gerade der falte
Tod verihont? Keine Menfchenfeele auf der ganzen
Welt hatte Freude an feinem Wohlergehen oder fragte
nur danach, ob er lebte oder tot wäre. Und wenn
er vielleicht gar als Snvalide, als Krüppel weiter:
leben müßte, mit feinen fünfundzjwanzig Jahren!
MWie viel — ah, wie viel beiler für ihn — wäre er
gefallen als ein Held an der Seite Ferdinands von
Schill!
Als ein Held — ja freilich, dann hätte ihn ſelbſt
Renate ſo genannt, das wußte er wohl! Und mit
dieſem Gedanken ſchlief er ermattet ein. Doch es
war ein unruhig fieberhafter Schlummer, voll wüſter
Träume, in denen Blut und Pulverdampf ihn um:
gaben. Geängſtet erwachte er hin und wieder und
verlangte zu trinken. Dann ſah er den getreuen
Fritze an ſeinem Lager, und das nächſte Mal eine
fremde weibliche Perſönlichkeit, die er energiſch erſuchte,
ihn zu verlaſſen.
Gegen Morgen endlich wurde er ruhiger und
ſchlief tief und feſt bis an den lichten Tag.
Als er erwachte, waren keine Lichtflecke am Boden,
doch bläuliche Tageshelle im Gemach, und dem Ge—
räuſch der Mücken und der Schwarzwälder Uhr hatte
ſich noch ein drittes beigeſellt, noch leiſer, wenn
möglich, das Knittern emſig bewegter Stricknadeln.
Auf einem Stuhl neben ſeinem Bett ſaß ein Frauen—
zimmer, ſchlank und hübſch von Anſehen, mit weißem
Häubchen auf dem zierlichen kleinen Kopf, ein Strick—
zeug in Händen, und ſtrickte und ſtrickte.
Haſſo lag ſtill und ſah ihr zu, lange Zeit.
Endlich ſagte er: „Verehrteſte Dame!“ Da drehte
ſie lebhaft den Kopf herum. Ein paar helle braune
Augen ſchauten aus einem runden, roſigen Antlitz
überraſcht und lachend in die ſeinen.
„Herr Lieutenant — guten Morgen! — O, wie
wach und verſtändig Sie mich anſehen! Kein Fieber
mehr! Ich dachte es mir ſchon nach dem ſchönen
tiefen Schlaf!“ Bei dieſen Worten, in ſtark vor—⸗
pommerſcher Mundart geſprochen, erhob ſie ſich, ſchlug
den Vorhang zurück und öffnete das Fenſter. Würzig
belebend drang die warme Sommerluft herein, mit
dem Duft der Lindenblüte gemiſcht. Er ſah die
grünen Lindenwipfel vom Bett aus. Sie rauſchten
und dufteten ihm zu und ſprachen von Leben, Ge—⸗
neſung und Glück. — Er ſeufzte.
„Darf ich fragen, mit wem ich eigentlich die
Ehre habe — und wo ich mich befinde?“ ſetzte er dann
die begonnene Unterhaltung fort.
Sie kehrte zu ihm zurück, nahm ihren Platz an
ſeinem Lager wieder ein, doch ſo, daß ihr Geſicht
ihm zugekehrt war, und behielt das Strickzeug zwiſchen
den zuſammengelegten Händen.
„Nun, jedenfalls bin ich nicht Renate!“ ſagte
ſie, und ein ſchalkhaftes Lächeln bildete Grübchen in
Kinn und Wangen. „Verzeihen Sie mir, Herr Lieu—
tenant, wer das auch ſein mag, ob Ihr Schweſterchen
oder gar Ihr Fräulein Braut, Sie haben mich dieſe
Nacht zweimal ſo genannt, und ich hörte es gern,
695 Schwertklingen.
obgleih Sie reht unwirsch thaten und mir erklärten,
daß Sie ungeftört zu fein wünjchten!“
„Wie unhöflih — ich bitte um Entichuldigung!”
Ihaltete Haflo ein.
„D, das madht nihts! Es thut mir faft leid,
daß Sie mih nun nicht mehr fo nennen werben,
denn ich heiße Adline Kernholz! Frau Paflorin Kern:
bolz in Mübhlenhof!“
„rau PBaftorin?” wiederholte Haflo lachend.
„Mein Himmel, eine rau Baftorin hab’ ih mir aud
. mein Xebtag anders vorgeftellt! Giebt es denn bier
auch einen Herrn Paftor dazu?”
„Aber gewiß doh! Sie find im Mühlenhofer
Pfarrhaufe, feit geftern mittag jehon, mein lieber Herr
Lieutenant. Wir befinden uns bier gerade zwilchen
Stralfund und Demmin und mid) wundert nur, daß
Sie jo weit gelommen waren, bei dem Blutverluft!
Mein Gott, in weldem Zuftand waren Sie! Die
armen Schillihen Herren machten bier beim Dorf:
fruge Halt, einige famen zu uns, wir konnten ihnen
eine Meine Erfriihung anbieten. Die meiften waren
ja verwundet und alle jo müde, erhigt und nieber-
geihlagen — zum Sterben! — Bis an mein Lebens:
ende vergeß ich den Eindrud nicht, den biefe Männer
auf mich madten — fampfesmüde unb fampfesburftig
zugleich — voller Mut und doch fo tiefer Verzweiflung!
Immerfort ſeh' ich biefe finfter verwogenen Gefichter
im Geift um mi!” Sie hatte ernft, faft begeiftert
geiproden und bielt dann inne. Nach einer Paue
fuhr fie fort. „Und da fah ih Sie, Herr Lieutenant,
totenblaß, halb verblutet! Ahr Bedienter hielt Sie
in den Armen, von einem ber anderen Herren unter:
ftügt! Diefe baten mid, Sie bier zu behalten, fonft
wär’8 am Ende gar um Gie geihehen! Nun, und
das jah ich ein, da hab’ ich mich denn nicht Tange
bitten laſſen!“
* *
*
Haflo fing an, fih unter den forgiamen Händen
der thatkräftigen jungen Frau PBaftorin zu erholen.
Sein Frite war unentwegt getreu im Dienft und
in der Pflege jeines Herrn.
Den Baftor Kernholz Iernte Haffo nun aud
fennen und hatte feinen Grund mehr, an jeinem
Vorhandenlein zu zweifeln. Er war ein ebenfalls
noch jugendlicher Herr, mit Eugen Augen und langer,
Ipiter Nafe, auf welcher eine Brille jaß. Er ſprach
langfam in gewählten Ausbrüden und böcdhft würbe-
voller Haltung. Seltfam ftah feine lebensfrilche,
junge Gattin mit ihrem findliden Frohfinn von ihm
ab. Hallo vermochte nicht, ihn mit der gleihen Sym:
pathie zu umfaflen, melde fie, bie liebliche Kleine
Frau, ihm einflößte. Doch ergößte es ihn jehr, mit
feinen unglaubliden Geſchichten und dramatiſch ge—
färbten Vorträgen den geiſtlichen Herrn erſt in Er—
ſtaunen, dann in wachſende Entrüſtung und zuletzt
außer aller Faſſung zu bringen. Dabei aber ver—
mochte dieſer ihm doch nie ernſtlich zu zürnen, und
konnte kaum Einwendungen erheben, wenn ſeine
Frau ihm wieder und wieder verſicherte: „Unſer
Lieutenant iſt ein ſo ſeelensguter Menſch!“
Roman von Hans Werder.
696
Der roßhaarbezogene Großvaterſtuhl ſtand tags
bei ſchönem Wetter draußen unter ben Linden und
Hallo ruhte darin und atmete Genefung aus Sonnen-
ihein und Blütenduft. Die Fleiihwunde in der
Scdulter, die ihm fo großen Blutverluft bereitet,
war leicht und gut geheilt, der Arm aber noch gänzlich
fteif und fchmerzhaft und ber Fuß ebenfalls. Er
fürdhtete Invalide zu werben, und die Frau Paftorin
hatte Mühe genug, ihm diefen Gedanken auszureben.
Wenn fie nur bei ihm faß mit ihrem Stridzeug
und dem fröhlichen Geplauder, das wie ein heller,
geihmwägiger Yah an feinem laufchenden Ohr Hin
murmelte, dann war ihm ja auch freier und leichter
ums Herz War fie aber fort, in ihrer Kleinen
Häuslichleit thätig, dann famen die dunklen Stunden
über ihn. Er war eben ein zur Gejelligfeit gefchaffener
Menih. Das Alleinjein bevrüdte ihn. Darum war
die gänzliche Einfamkeit feines Lebens ihm ein jo
jchweres Kreuz, deflen Laft fih immer wieder fühlbar
machte und ihm ben freubigen Herzichlag der Jugend
lähmte.
Er faß, den Kopf in die Hand geftügt, unter
dem Lindenbaum und fehaute grübelnd in die Ferne.
Die Blüten waren längft herabgefallen, des Kududs
Ruf verftummt. Drüben auf den Feldern fuhr man
das Korn herein — bocdhbeladene, goldene Fuder,
von ber finfenden Sonne beleudtet. Die Harfen
der Schnitterinnen blinkten wie ftählerne Speere in
dem Wiederichein. Es war ein jo heimifches Bild —
und machte ihm das Herz jchwer. Dazu das Qualen
ber Fröjche in dem Kleinen, grün überwachlenen Weiher
— genau wie im Wallgraben zu Redentin. Nur
daß diefe nicht „Sunler Haffo“ nah ihm riefen.
Es waren eben nicht die heimijchen Redentiner Fröjche!
— Niemand rief ihn von der Heimat ber. Er war
der Lehnserbe und war beimijch dort, unbeitreitbar
vor Gott und Menjhen und dod ein Fremdling,
nach dem feiner fragte.
Er lehnte den Kopf zuüd und ein Seufzer
zitterte über jeine Zippen. So blieb er lange.
„Run, Herr Lieutenant, nun haben Sie wohl
genug Trübjal geblajen!” wedte ihn die frifche
Stimme feiner Pflegerin. „Nun fchauen Sie mal
auf, ich babe bier Belleres für Sie!“
Lebhaft fuhr er empor und Jah mit nicht weg⸗
zuleugnendem Vergnügen, wie fie auf dem Garten:
tiichchen vor ihm das verlodendfte Abendeflen von ber
Welt berrichtete. Dide Mil und Träftiges Yandbrot,
goldgelbe Butter und frifchgelochte Eier. Es ließ ſich
in dem gejegneten Borpommern jelbit in der Sranzojen-
zeit noch erträglich leben.
„DVerehriefte Frau Paftorin, anmutige Seelen:
hirtin, ich jehe bier nur einen Teller!” jagte Haflo.
„Denken Sie, daß Sie hrer Wege gehen und mich
mit diejer Göttermahlzeit allein laffen werben? Dann
werfe ich den Tiih um und die ganze Beicherung
liegt im Graje!”
„Herr Lieutenant, um Himmels willen!” Sie
ergriff die Tiichplatte Ichügend mit beiden Händen,
denn fie traute ihm, mit einem Wort gejagt, alles
zu. „Sch will mir einen Teller holen, will ja bier
bleiben! Mein Dann ift nah Demmin gegangen —”
697
„Ra eben, das weiß ich doch!”
„Run ja, darum fanı ih’s ja auch! Aber
fonft — Sie müſſen doch auch nicht fo ungeftüm
und gewaltthätig jein —” es folgte eine längere
Ermahnung, bie Hallo mit Vergnügen über fich er:
gehen ließ.
„Wenn ich nur wüßte, wie ein Menjch jo ganz
aus zweierlei Wejen beftehen Tann, wie Sie!”
lagte fie dann, als die Stimmung wieder ernit
und vernünftig geworden war. „Eben noch meint
man, die Melandolie und Schwermut drüdt
Shnen das Herz ab, jo daß man jchier mit Syhnen
weinen möchte vor Kummer — und da im Hand:
umdrehen jchlägt ein Übermut heraus, daß man
nur Mühe bat, fich feines Lebens zu ermwehren.
Sagen Sie’s mir doch, welches ift denn nun Shre
wahre Geftalt?”
Hallo Jah ihr nachdentlih, finnend ins Geficht
und dann wieder fort in die jommerlihe Ferne.
„Welches ift denn die wahre Geftalt Shres Gartens
bier?” fragte er zurüd. „Der Eonnenidein und die
Nojen — oder der Herbitfturm mit fliegenden Blättern
und Negengüflen — oder der Schnee auf Bäumen
und Wegen und Eis auf dem Meiher dort? Be:
antworten fih meine Frage und Shre eigene damit
zugleich!”
Sie blidte ihn forfhend an. „Sie haben recht,
meine Frage war thöriht! Man braucht Sie nur
anzujehen — Shre merkwürdigen Augen! Stürme
und Sonnenjdhein — und Sonnenglut — e8 fteht
alles darin verzeichnet. Db au Schnee und Eis —
das kann ih mir kaum vorftellen!“
„Sa, aubh Schnee und Eis!” fagte Haſſo und
dachte an feinen Abjchied von Renate.
„Das möchte ich nicht erleben!” meinte fie
mit leichten Schauder. „Sie müfjen gar nicht wieder
zu erfennen fein! und dob, ja — ja — ih kann
mir’s denen!”
„Ih bin auch nicht wieder zu erfennen! Für
mich felber nicht, und bin dann fo unglüdlih, daß
ih meinen Kopf zerichmettern möchte an den Eis:
Ihollen im eigenen Herzen!” Er fagte e3 mit einer
Art von Ingrimm, der deutlich zeigte, wie er aus
lebendiger Erinnerung pradj!
„Sie haben mir ja jhon oft von Zhrer Kindheit
erzählt, von hrer Soufine Lotte und dem Pflege:
bruder,” nahm fie wieder das Wort. „ch glaube,
das Edhlimme dabei war, daß es Ahnen ftets an
Liebe fehlte! Niemand hat Sie lieb gehabt, wie es
Kinder bedürfen, und niemand war da, den Sie jo
recht innig lieben konnten mit Jhrem ungeftümen
Herzen! — Hat denn hr fpäteres Leben Yhnen
nicht Erjat gebradht?” Aweifelnd überlegend jah fie
ihn an — und etwas wie Neugier taudhte in ihren
freundliden Augen auf. „Könnten Sie mir nidt
einmal jagen, wer Renate ift?” jeßte fie zögernd
fragend hinzu.
Ein Lächeln glitt über fein Gefiht und darunter
verbarg fih ein Seufzer, der leije feine Brujt bob.
„Renate — ift, glaube ih, gar Fein menjchliches
MWejen! Sie ift ein Traum, ein jo fonniger, ladender
srühlingstraum, wie er wahrjcheinlich nie zur Wirklich:
NReman-Leitung 1896.
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
693
feit werden kann! — Ach, die Wirklichkeit ift graufam!“
Er drüdte die Hand vor die Augen.
„Wie fieht Renate aus?” forichte die Kleine
Paſtorin weiter, mit unbezwinglicher Neugier an dies
Thema gefejlelt.
„So — wie jolde Lilie da —“ fagte er und
deutete mit dem Daumen rüdwärts nach bem großen
runden Blumenbeet hin, das vor den Fenftern des
Pfarrhaufes in den Rafenplat hineingezeichnet lag. Es
ftanden weiße, ſchlanke Lilien darauf in vollftem
Blühben, und jedesmal, wenn er, auf jeinen Stod
geftügt, daran vorbeiging, mußte er an Renate denken.
Die Paftorin folgte feiner Weifung mit dem Blid.
„And Augen bat fie wie ein Neb!“ jebte er
nad Eurzer PBaufe hinzu.
Die braunen Augen feiner Zubhörerin ftrahlten
ihn an wie zwei große, runde Fragezeichen. Ihn
noch weiter auszuforihen erihhien ihr gar zu auf:
dringlih, aber Überwindung foftete fie die Zurüd:
haltung.
„Sie meinten vorhin,“ fprah er weiter, „ob
e8 befler mit mir geworben, jeit ich ins Leben hin-
austrat — ja und nein! — Ih will Ihnen erzählen,
Frau Paftorin, ich fand mwenigftens zwei Menjchen,
an die ich mein Herz ganz und gar verausgaben
durfte, wenn ich auch nicht viel Erfreuliches dafür
geerntet Habe.
„Der eine war Prinz Louis. Ich hatte das
Süd, ihm perjönlid näher zu ftehen, ich gehörte zu
feiner Suite während des Krieges. Er war mein
höchſtes deal! Sede Lebensfafer hätt’ ich für ihn
bingegeben! Angebetet hab’ ich ihn! — Er wurde
vor meinen Augen erjhhlagen, in der Saalfelder
Schlacht! Ich hielt ihn in meinen Armen, als ob
ih ihn mit meinem Herzblut noch einmal erwärmen
fönnte! Aber nein — er war tot! — Das andere
war ein Mäddhen. — Renate. — Gie gab mir
harte, höhniiche Worte!”
Er Ipradh nicht weiter. Seiner Zubörerin liefen
die hellen Thränen über die Wangen auf ihren fleißig
geförderten Striditrumpf hinab.
Endlih richtete er fih auf. „Das Scidlal
bleibt mir übrigens treu! Sch babe meinen lieben
Kommandeur verehrt und lieb gehabt und ihm nabe
geftanden, wie nur wenige unter uns! — Sc jah
ihn zu Grunde gehen, Schritt für Schritt! Nun ift
er gefallen und alles zu Ende!” — Seine Gedanlen
zogen weiter zu Albert Wedel, den er ebenfalls lieb
gehabt, den fie gefangen genommen, ohne baß er
ihm zu belfen vermodht, und deilen Schidjal ihn oft
mit jchwerer Sorge erfüllte.
„Sie malen das alles mit jehr Ihwarzen Farben,”
lagte die Kleine Paftorin, nachdem fie jchweigend ein
Weilden feinen Worten nacdgejonnen. „So redt
fann ih no gar nidht daran glauben! Wenn
Renate wie eine Lilie ift und Augen bat wie ein
Reh — wie Tann fie da falih und berzlos jein!
Dder wenn fie’s wirklih war, vielleicht ohne es jo
bös gemeint zu haben, jo bereut fie’s lange! Glauben
Sie mir nur — id verfiehe mih auf Mädchen-
herzen! ch bin überzeugt, Sie thun ihr unredt!“
IV. 49
699
Haſſo lächelte Ihwermütig.‘ „Das freilich er-
jheint mir von allen VBorausjegungen als Die un-
wahrjcheinlihfte, daß ich ihr follte unredht gethan
haben! Denten Sie fi einen befjeren Troft aus,
Frau Paftorin! An diefen fann ich nicht glauben!
So wenig, wie Sie daran glauben, baß Zhre Lilien
wieder aufblüben, wenn Shr Garten unter Schnee
und Eis vergraben liegt!”
I.
„Herr Lieutenant von Rochlitz, es iſt ein Mann
da, welcher Sie zu ſprechen wünſcht!“ ließ ſich die
Stimme des Paſtor Kernholz würdevollen Klanges
vernehmen.
„Mich zu ſprechen?“
„Ja, er wartet Ihrer im Hausflur. Wünſchen
Sie aber, ſo kann er auch hierher in den Garten
beſchieden werden!“
„Gewiß nicht, Herr Paſtor! Danke verbind—
lichſt! Ich gehe ſchon!““
„Es iſt ohnehin Zeit für Sie, daß Sie hinein:
kommen! Es wird neblig und feucht hier draußen!“
Mit dieſen ausſchlaggebenden Worten war die rüſtige
Frau ihrem Pflegling beim Aufſtehen behilflich. Er
dankte ihr mit dem lachenden Blick, der oft viele
Worte zwiſchen ihnen erſetzte, ſtützte ſich feſt auf
ſeinen derben Knotenſtock und hinkte dem Hauſe zu.
Im Hausflur trat der MWartende ihm freude:
ftrablend entgegen. Es war ein Unteroffizier aus
feiner Schwadron, der das lette Ringen der Schill
Ihen am Franfenthore mitgefohten. Seht fland er
da in ländlidem Anzuge, den linten Rodärmel
Ihlaff herabhängend. Der Arm war ihm abge:
nommen.
„Krauſe — hr!“
„Herr Lieutenant!”
Der Lieutenant firedte ihm die gejunde linke
Hand entgegen. Der Unteroffizier ergriff fie mit
ber rechten, einzigen. Bewegt ftanden fie fich gegen:
über, einer den anderen gerührt betrachtend. „Dein
guter Kraufe, wie kfommt hr denn hierher? Wie
freu’ ih mid, Euch zu jehen!” jagte Hallo endlich.
„Ih wollte doch jehen, was aus dem Herrn
Lieutenant geworden ift!“ lautete die treuberzige
Antwort.
„Das ift brav von Euh! — Nun fommt mit
mir herein! Müßt mir viel erzählen!”
Kraufe jaß feinem Lieutenant gegenüber und
erzählte. Er war, nachdem der zerichoflene Arm
ibm abgenommen und die Wunde notdürftig im
Lazarett geheilt, als Anvalide aus der Armee ent:
lafien. Er wollte dann feine Heimat Prenzlau auf-
juden, der Umweg über Mübhlenhof war nicht be:
deutend, und die Herren Lieutenants Brünnom,
Hagen und Blomberg hatten ihm Aufträge für
jeinen Herrn Lieutenant mitgegeben. Diejelben be-
ftanden in einem mwohlverfiegelten Päckchen, mit bem
Vermerk verjehen, daß, falls Hafjo Mühlenhof ver-
lafien, man es ihm nachjenden, wenn er aber tot
Schwertflingen. Roman von Hans Werder.
700
fei, ver Paftor Kernholz dasjelbe öffnen möchte. Als
Abfender fianden bie drei genannten Namen darauf
verzeichnet.
„Die guten Kerls!” fagte Hafjo mit Innigleit.
„Aber vor allen Dingen, KRraufe, wo find bie
Herren? Wo find alle die Unjrigen, die fi) be=
waffnete NRüdkehr zur Gnabe des Königs ausbe:
dungen?”
„Sn Kolberg, Herr Lieutenant! Auf Der
Feſtung!“
„Auf der Feſtung —?“
„Jawohl, in Unterſuchungshaft!“ Er erzählte
nun, wie die Schillſchen auf preußiſchem Gebiet
durch Offiziere in Empfang genommen worden, die
Mannſchaften dem Weftpreußifchen Ulanen-Regiment
in Konig zugeteilt, die Offiziere nach Kolberg ge=
fandt wären. Sin ben näditen Tagen würde Kriegs:
gericht abgehalten werben, das in Stargard zufammen-
treten jollte.
„Sn den nädhften Tagen — großer Gott — !”
Haſſo ſann nad. „Sagt mir nur, Kraufe,” fuhr er
dann Hafiig auf, „it ber Lieutenant Wedel von
unjferer Schwabron darunter? Habt ZYhr irgend
etwas von ihm gehört?”
„Nein, Herr Lieutenant! Von unjerer Schwadron
ift nur Herr von Blomberg da! Die Herren Lieus
tenants Wedel und Felgentreu müflen tot oder in
Gefangenjhaft geraten fein, es weiß niemand etwas
von ihnen!”
Die Hausfrau trat abermals herein, brachte
Licht, als ahnte fie, daß Haſſo Briefe zu lejen
hätte, und forderte den Fremden auf, einen Imbiß
zu nehmen. Auf Hallos Geheiß folgte er ihr. Und
biefer öffnete nun das Pädhen. Zunädjft fiel ein
Furzes Schreiben feines Freundes Hagen heraus nebjt
einer erfreuliden Summe Geldes. Er müfje an:
nehmen, daß fein lieber Rodhlig einiger Barjchaft
jehr benötigt, oder falls er feinen Wunden erlegen
fein follte, der Paftor Kernbolz Untoften von jeiner
Aufnahme gehabt habe. Sie hätten dem Bleflierten
verſprochen, für diefen Fall einzuftehen, als fie ihn
damals in feinem Haufe zurüdgelajjen.
Haflo war gerührt durch des Freundes unver:
brühlihe Treue, fein edles Herz und feine offene
Hand. Er kannte dieje Eigenjhaften Tängit an ihm,
fühlte fi” aber boppelt angenehm davon berührt,
da fie ihm bier perjönlich entgegentraten und ihn
bei dem augenblidlidh niedrigen Stande feiner Bar:
Ihaft aus einer Art von Notlage befreiten.
Weiter enthielt das Pädchhen Briefe von Brünnow
und Blomberg. Mit erfterem hatte fi) Hafjo immer
ferngeftanden. Doch auf dem blutgetränften Marlt-
plage von Stralfund, wo fie Seite an Geite mit
der tobbringenden Übermadht gerungen, war eine
Art von Blutsbrüberihaft zwilhen ihnen auige-
richtet, welche fie mit ganz eigener Sympathie für:
einander erwärmte. Brünnoms Feilen waren kurz
und Inapp, vol orthographifcher Fehler, doc auch
vol guter Bemerkfungen und warmer Teilnahme für
das Schidjal bes Empfängers. Alerander Blom-
berg aber teilte ihm, febergewandt, in fließendem
Stile mit, was er bereits durch ben Unteroffizier
701
erfahren, nur ausführlider und mit einigen Neben:
bemerfungen verjehben, wie fie unter Kameraden
üblih. „Sn drei Tagen verlaflen wir nun bies er:
bauliche Lolal, um uns zum Verhör nah Stargard
zu begeben. Ercellenz Blücher wird Vorfigender bes
Kriegsgerihts fein. Wie es uns ergehen wird,
mögen bie Götter wiffen!” Damit |hloß der Brief.
„Gehgen unſern guden Komanndöhr ift der
Deferfiohns: oder Konfisfafionsprojes Eingeleihdet!”
nn in Brünnows Schreiben no an den Rand ge-
ritzelt.
Haſſo bebte vor Aufregung. Dieſe letzte Be—
merkung beſonders traf ihn wie ein Stich ins Herz.
Mühſam erhob er ſich und erſchien alsbald in
der Thür des Wohnſtübchens, in welchem das Kern⸗
holzſche Ehepaar beiſammen ſaß. Der geiſtliche Herr
hielt einen Vortrag, dem ſeine Gattin ausnahms—
weife nur ein halbes Ohr lieh. Bei Haflos Eintritt
iprang fie erihroden auf. Sie wußte, daß etwas
Außerorbentliches Tommen würde.
„Berzeihen Sie, verehrter Herr Baftor, wenn
ih Ihre Güte nochmals in Anjprudh nehmen muß!
Es giebt bier in Mühlenhof für Geld und gute
Worte wohl ein Fuhrwert zu mieten! Können
Sie mir dazu behilflih fein? Jh muß morgen
ſchon Ihr gaftlides Haus verlafien, um mid in
Stargard dem Kriegsgericht zu Stellen!“
Frau Aline that einen Schrei bes Entjeßens.
Das Wort Kriegsgericht hatte in dunklem Ahnen für
fie eine Bedeutung, die ben Schrednifjen des jüngften
Gerichts gleihlam. Auch der Paftor murmelte etwas
wie eine Beihmwörungsformel.
Haflo gab ihnen eine kurze Erklärung jeines
Vorhabens. Der Paftor konnte nit umhin, feine
Gründe als richtig anzuerlennen, erinnerte aber
daran, daß der Wagen jebt in der Erntezeit jehr
teuer jein würde.
„Das wäre ja gleichgültig,” rief die Paſtorin
erregt, „aber Sie lünnen doch nicht reifen, Herr
Lieutenant; faum hab’ ich Sie jo weit, daß Sie fid)
mühſam am Stod bewegen, und nun joll alles
wieder aufs Spiel gejebt werden!” Cs folgte eine
Flut von Klagen und Bitten — beinah von Thränen.
„Frau Paſtorin,“ ſagte Haſſo lächelnd, als ſie
innehielt, „wenn es gälte, mein Leben durch dieſe
Fahrt zu retten, ſo würden Sie mich nicht zurückzu—
halten ſuchen! Hier aber gilt es nicht mein Leben,
ſondern meine Ehre, und daß mir die ſehr viel mehr
wert iſt, das wiſſen Sie doch auch nachgerade — bei
unſerere langen Bekanntſchaft!“
Ja, ſie wußte es und verſtummte. Ihre Kennt—
niſſe hatten ſich im Verkehr mit ihm bereichert, auch
auf Gebieten, die ihrem weltfremden Anſchauungs-—
freie bis bahin ferngelegen.
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
102
„Herr Lieutenant von Rohlig, ich wage nicht,
Shnen zu widerjpreden!” fagte der Paftor. „Wenn
Sie fühlen, daß die Pfliht Sie ruft, jo müflen alle
anderen Bebenten dagegen verflummen! Gern hätte
ih Sie, unferen verehrten Gaftfreund, noch länger
unter unjerem Dad beherbergt, das willen Gie!
Und ftets werden wir uns freuen, Sie wieder über
unfere Schwelle treten zu jehen!”
Frau Abline verichludte tapfer ihre Abjchiebs-
thränen und war ihrem Pflegling behilflich, fein
Bündel für bie Reife zu fchnüren. Am anderen
Morgen hielt ein Leiterwagen vor der Thür, mit
großen Strohbunden ausgepolitert, ein erntemübes,
hochbetagtes Röflein davor. Das war Haflos Reife:
gefährt.
Vaftor Kernholz gab ihm wohlgemeinte Segens:
wünjfhe mit auf den Weg, die Hallo voll warmen
Dankes erwiderte.
„Ich komme ganz gewiß einmal wieder her,
um Ihnen noch beſonders zu danken für alles,
was Sie an mir gethan haben! Ich weiß ja nicht,
was aus mir wird, wie das Urteil des Kriegsgerichts
ausfällt, aber wenn ich Leben und Freiheit behalte,
—— bin ich plötzlich wieder da, ehe Sie ſich's ver⸗
ehen!“
Die Frau Paſtorin war aus dem Garten ge—
kommen, mit rot geweinten Augen. Sie hielt einen
der ſchlanken Lilienſtengel in ihrer Hand, die Haſſo
mit ſo beſonderen Augen angeſehen, und den gab ſie
ihm. Sprechen konnte ſie nicht, der ungehorſamen
Thränen wegen.
Haſſo nahm die Blume und küßte dabei die
kleine, arbeitsharte Hand. Das war ihr noch nie
geſchehen, aber ſie hinderte es nicht. „Frau Paſtorin,
Sie find wie ein Engel zu mir geweſen! Gott
ſegne es Ihnen! Auf Wiederſehen!“
Fort ging nun die Reiſe. Der getreue Fritze
ſaß an des Fuhrmanns Seite, Haſſo aber lag auf
ſeinem Strohbündel ausgeſtreckt, in trübes Sinnen
verloren. Jeder Stoß ſeines unbarmherzigen Gefährtes
verurſachte ihm Schmerzen, und die Stöße kamen
zahllos, unerbittlich.
In ſeiner Hand hielt er die Lilie, die Frau
Adline ihm geſchenkt. Er blickte darauf nieder.
Der Morgentau lag noch auf den ſchneeweißen
Kelchblättern, wie ſchwere Thränen. — Ob Renate
jemals Thränen vergoß? Konnte ſie überhaupt
weinen? — Ach ja — damals vor Jahren, als er
mit Prinz Louis in den Krieg zog — da hatte ſie
bitterlich geweint! Um ſeinetwillen! Da war ſie
noch ein Kind! Ach, wie lange war das her! Jetzt
hatte ſie keine Thränen mehr für ihn — nur kalte,
verächtliche Worte!
(Fortfegung folgt.)
699 Schwertllingen.
Haffo lächelte ſchwermütig. „Das freilich er:
jeint mir von allen Vorausfeßungen als die un:
wahricheinlichfte, daß ich ihr follte unredht gethan
haben! Denten Sie fi einen befjeren Troft aus,
Frau Paftorin! An diefen kann ich nicht glauben!
So wenig, wie Sie baran glauben, daß Shre Lilien
wieder aufblühen, wenn Yhr Garten unter Schnee
und Eis vergraben liegt!”
I.
„Herr Lieutenant von Rochlitz, es iſt ein Mann
da, welcher Sie zu ſprechen wünſcht!“ ließ ſich Die
Stimme des Paſtor Kernholz würdevollen Klanges
vernehmen.
„Mich zu ſprechen?“
„Ja, er wartet Ihrer im Hausflur. Wünſchen
Sie aber, ſo kann er auch hierher in den Garten
beſchieden werden!“
„Gewiß nicht, Herr Paſtor! Danke verbind—
lichſt! Ich gehe ſchon!“
„Es iſt ohnehin Zeit für Sie, daß Sie hinein:
fommen! Cs wird neblig und feucht bier draußen!“
Mit diefen ausichlaggebenden Worten war die rüftige
Frau ihrem Pflegling beim Aufftehen behilflih. Er
dankte ihr mit dem lachenden Blid, der oft viele
Worte zwilchen ihnen erfeßte, ftüßte fich feft auf
feinen derben Knotenftod und hinkte dem Haufe zu.
Im Hausflur trat der MWartende ihm freude:
ftrablend entgegen. Es war ein Unteroffizier aus
feiner Schwabron, der das lette Ringen der Schill:
Ihen am Franfenthore mitgefochten. Seht fland er
da in ländlidem Anzuge, den linten Rodärmel
Ihlaff herabhängend. Der Arm war ihm abge:
nommen.
„Kraufe — hr!“
„Herr Lieutenant!”
Der Lieutenant ftredte ihn die gejunde linke
Hand entgegen. Der Unteroffizier ergriff fie mit
der rechten, einzigen. Bemwegt ftanden fie fih gegen:
über, einer den anderen gerührt betrachtend. „Mein
guter Krauje, wie fommt hr denn hierher? Wie
freu’ ih mid, Euch zu fehen!” fagte Haflo endlich.
„Ich mollte doch jehen, was aus dem Herrn
Lieutenant geworden if!“ lautete die treuberzige
Antwort.
„Das ift brav von Euh! — Nun kommt mit
mir herein! Müßt mir viel erzählen!”
Kraufe jaß feinem Lieutenant gegenüber und
erzählte. Er war, nahdem der zerichoflene Arm
ibm abgenommen und die Wunde notbürftig im
Lazarett geheilt, als Invalide aus der Armee ent:
laflen. Er wollte dann jeine Heimat Prenzlau auf:
juden, der Ummeg über Mühlenhof war nicht be-
deutend, und die Herren Lieutenants Brünnom,
Hagen und Blomberg hatten ihm Aufträge für
jeinen Herrn Lieutenant mitgegeben. Diefelben be-
ftanden in einem wohlverfiegelten Bädchen, mit dem
Vermerk verjehen, daß, falls Haflo Mühlenhof ver-
lafien, man es ihm nachlenden, wenn er aber tot
Roman von Hans Werder.
700
fei, der Paftor Kernholz dasjelbe öffnen möchte. Als
Adjender fianden bie drei genannten Namen darauf
verzeichnet.
„Die guten Kerls!” fagte Haflo mit Snnigfeit.
„Aber vor allen Dingen, Rraufe, wo find bie
Herren? Wo find alle die Unirigen, die fidh be:
waffnete Rüdkehr zur Gnade des Königs ausbe-
dungen?”
„Sn Kolberg, Herr Lieutenant! Auf der
Feſtung!“
„Auf der Feſtung —?“
„Jawohl, in Unterſuchungshaft!“ Er erzählte
nun, wie die Schillſchen auf preußiſchem Gebiet
durch Offiziere in Empfang genommen worden, die
Mannſchaften dem Weſtpreußiſchen Ulanen-Regiment
in Konitz zugeteilt, die Offiziere nach Kolberg ge⸗
ſandt wären. In den nächſten Tagen würde Kriegs—
gericht abgehalten werden, das in Stargard zuſammen⸗
treten ſollte.
„In den nächſten Tagen — großer Gott —!“
Haſſo ſann nach. „Sagt mir nur, Krauſe,“ fuhr er
dann haſtig auf, „iſt der Lieutenant Wedell von
unſerer Schwadron darunter? Habt Ihr irgend
etwas von ihm gehört?”
„Nein, Herr Kieutenant! Von unjerer Schwadron
ift nur Herr von Blomberg da! Die Herren Lieus
tenants Mebell und Felgentreu müflen tot oder in
Gefangenihaft geraten fein, es weiß niemand etwas
von ihnen!”
Die Hausfrau trat abermals herein, brachte
Licht, als ahnte fie, daß Hallo Briefe zu lejen
hätte, und forderte den Fremden auf, einen Imbiß
zu nehmen. Auf Hallos Geheiß folgte er ihr. Und
biefer öffnete nun das Päddhen. Zunädft fiel ein
kurzes Schreiben feines Freundes Hagen heraus nebit
einer erfreulihen Summe Geldes. Er mülle an-
nehmen, baß Sein lieber Rodhlig einiger Barſchaft
jehr benötigt, ober falls er feinen Wunden erlegen
fein follte, der Paftor Kernbolz Unfoften von feiner
Aufnahme gehabt habe. Sie hätten dem Blellierten
veriprodden, für diefen Fall einzuftehen, als fie ihn
damals in feinem Hauje zurüdgelafien.
Hallo war gerührt Durch des Freundes unver:
brüchlihe Treue, jein edles Herz und jeine offene
Hand. Er kannte diefe Eigenjhaften längft an ihm,
fühlte fih aber doppelt angenehm davon berührt,
dba fie ihm bier perjönlich entgegentraten und ihn
bei dem augenblidlih niedrigen Stande feiner Bar:
Ihaft aus einer Art von Notlage befreiten.
Weiter enthielt das Pädchen Briefe von Brünnow
und Blomberg. Mit eriterem hatte fi Haflo immer
ferngeftanden. Do auf dem blutgetränkten Markt:
plage von Stralfund, wo fie Seite an Seite mit
der todbringenden Übermadht gerungen, war eine
Art von Blutsbrüderfhaft zwiihen ihnen aufge-
richtet, weldhe fie mit ganz eigener Sympathie für:
einander erwärmte. Brünnows Beilen waren kurz
und Inapp, vol orthographiicher Fehler, do auch)
vol guter Bemerfungen und warmer Teilnahme für
das Schidjal des Empfängers. Alerander Blom-
berg aber teilte ihm, febergewandt, in fließendem
Stile mit, was er bereits durch den Unteroffizier
701
erfahren, nur ausführliher und mit einigen Neben-
bemerfungen verjehen, wie fie unter Stameraden
üblih. „Sn drei Tagen verlafien wir nun bies er:
bauliche Lolal, um uns zum Verhör nah Stargard
zu begeben. Ercellenz Blüher wird Borfigendber bes
Kriegsgerichts fein. Wie ed uns ergehen wird,
mögen bie Götter willen!” Damit jchloß der Brief.
„Sehgen unfern guden Komanndöhr ift der
Deferfiohns- oder Konfisfafionsprojes Eingeleihdet!”
nn in Brünnows Schreiben no an den Rand ge:
ißelt.
Haflo bebte vor Aufregung. Diele lebte Be:
merlung bejonders traf ihn wie ein Stich ins Herz.
Mühlam erhob er ih und erihhien alsbald in
der Thür bes Mohnftübchens, in welchem das Kern-
bolzide Ehepaar beifammen faß. Der geiftliche Herr
bielt einen Vortrag, dem jeine Gattin ausnahms-
weife nur ein halbes Ohr lieh. Bei Hallos Eintritt
Iprang fie erfchroden auf. Sie wußte, daß etwas
Außerorbentliches fommen würde.
„Verzeiben Sie, verehrter Herr Paſtor, wenn
ih Shre Güte nochmals in Anjprud nehmen muß!
Es giebt hier in Mühlenhof für Geld und gute
Worte wohl ein Fuhrwerl zu mieten! Können
Sie mir dazu bebilflih jein? Ih muß morgen
ihon Ihr gaftlihes Haus verlajien, um mid in
Stargard dem Kriegsgeriht zu ftellen!“
Frau Adline that einen Schrei des Entjeßens.
Das Wort Kriegsgericht hatte in dunklem Ahnen für
fie eine Bedeutung, die den Schredniflen des jüngften
Gerichts gleihlam. Auch der Paftor murmelte etwas
wie eine Beihwörungsformel.
Haſſo gab ihnen eine Furze Erklärung jeines
Vorhabens. Der Paftor konnte nicht umbin, jeine
Gründe als richtig anzuerkennen, erinnerte aber
daran, daß der Wagen jet in der Erntezeit fehr
teuer fein würde.
„Das wäre ja gleichgültig,“ rief die Paftorin
erregt, „aber Sie können doch nicht reijen, Herr
Lieutenant; faum bab’ ich Sie jo weit, daß Sie fi
mühlem am Stod bewegen, und nun joll alles
wieder aufs Spiel gelebt werden!” Es folgte eine
Flut von Klagen und Bitten — beinah von Thränen.
„Frau Paſtorin,“ ſagte Haſſo lächelnd, als ſie
innehielt, „wenn es gälte, mein Leben durch dieſe
Fahrt zu retten, ſo würden Sie mich nicht zurückzu—
halten ſuchen! Hier aber gilt es nicht mein Leben,
Sondern meine Ehre, und daß mir bie jehr viel mehr
wert ift, das willen Sie doh auch nachgerade — bei
unferere langen Belanntihaft!”
Sa, fie wußte es und verfiummte. Yhre Kennt:
niffe hatten fi im Verfehr mit ihm bereichert, aud)
auf Gebieten, die ihrem weltfremden Anihauungs:
treife bis dahin ferngelegen.
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
102
„Herr Lieutenant von Rodlig, ich wage nicht,
Shnen zu widerjpreden!” jagte der Paltor. „Wenn
Sie fühlen, daß die Pflicht Sie ruft, jo müfjen alle
anderen Bedenken dagegen verftummen! Gern bätte
ih Sie, unjeren verehrten Gaftfreund, noch länger
unter unjerem Dad beherbergt, das willen Sie!
Und ftets werden wir uns freuen, Sie wieder über
unfere Schwelle treten zu jehen!“
Frau Abline verihludte tapfer ihre Abjchieds-
tbränen und war ihrem Pflegling behilflich, fein
Bündel für die Reife zu fchnüren. Am anderen
Morgen bielt ein Leiterwagen vor der Thür, mit
großen Strobbunden ausgepolftert, ein erntemübdes,
bochbetagtes Rößlein davor. Das war Hallos Reife:
gefährt.
Pastor Kernholz gab ihm wohlgemeinte Segens-
wünjdhe mit auf den Weg, die Hallo voll warmen
Dankes erwiderte.
„Ich komme ganz gewiß einmal wieder her,
um Ihnen noch beſonders zu danken für alles,
was Sie an mir gethan haben! Ich weiß ja nicht,
was aus mir wird, wie das Urteil des Kriegsgerichts
ausfällt, aber wenn ich Leben und Freiheit behalte,
— bin ich plötzlich wieder da, ehe Sie ſich's ver⸗
ehen!“
Die Frau Paſtorin war aus dem Garten ge—⸗
kommen, mit rot geweinten Augen. Sie hielt einen
der ſchlanken Lilienſtengel in ihrer Hand, die Haſſo
mit ſo beſonderen Augen angeſehen, und den gab ſie
ihm. Sprechen konnte ſie nicht, der ungehorſamen
Thränen wegen.
Haſſo nahm die Blume und küßte dabei die
kleine, arbeitsharte Hand. Das war ihr noch nie
geſchehen, aber ſie hinderte es nicht. „Frau Paſtorin,
Sie ſind wie ein Engel zu mir geweſen! Gott
ſegne es Ihnen! Auf Wiederſehen!“
Fort ging nun die Reiſe. Der getreue Fritze
ſaß an des Fuhrmanns Seite, Haſſo aber lag auf
ſeinem Strohbündel ausgeſtreckt, in trübes Sinnen
verloren. Jeder Stoß ſeines unbarmherzigen Gefährtes
verurſachte ihm Schmerzen, und die Stöße kamen
zahllos, unerbittlich.
In ſeiner Hand hielt er die Lilie, die Frau
Adline ihm geſchenkt. Er blickte darauf nieder.
Der Morgentau lag noch auf den ſchneeweißen
Kelchblättern, wie ſchwere Thränen. — Ob Renate
jemals Thränen vergoß? Konnte ſie überhaupt
weinen? — Ach ja — damals vor Jahren, als er
mit Prinz Louis in den Krieg zog — da hatte ſie
bitterlid geweint! Um jeinetwillen! Da war fie
noch ein Kind! Ach, wie lange war das her! Sept
batte fie keine Thränen mehr für ihn — nur lalte,
verächtliche Worte!
(Fortfegung folgt.)
Beiblatt der Deutihen Noman-Zeitung.
704
Heiblatt der Dentihen Noman- Zeitung,
Welkes Blatt.
Sn Deiner ftill ruht meine Hand;
O, laß uns fdyweigen — laß mic laufden,
So fühl’ id Deines Lebens Strom,
lInd höre ihn vorüberraufcen.
Zum Ziele führt er fih’ren Laufg
Ler Wogen Drang durd) Schidjald Lande;
Ic flehe Teife: nimm e8 mit
Das welfe Blatt am liferrandel
Hanna Ehlen.
sine Tragödie aus der Großfladt.
Lebens: und Stimmungsbilder von H. Gedhardf.
(Schluß.)
Zu denen, die in der Zeit ihres Dortſeins die all⸗
gemeine Teilnahme der „feſten“ Heimbewohnerinnen er—
regten, gehörte auch eine Beamtenwitwe aus Königsberg
in Preußen mit ihrer jungen Tochter. Man ſah es beiden
an, daß ſie einſt beſſere Zeiten gekannt, wiewohl ſie aller—
dings nicht an übermäßiger geiſtiger Begabung litten.
Haltung und Benehmen verrieten beſſere Herkunft, und wohl
ſchienen ſie ſich im Heim nicht zu fühlen. Die Mutter machte
häufige, aber meiſt mißglückende Verſuche, für ſich einen
paſſenden Erwerbszweig zu finden. Bald ſtrickte ſie, bald
ging ſie für einen Tag in fremde Häuſer zum „Ausbeſſern“,
bald verſchafften die Hausmutter und die rührige Gründerin
des Heims ihr irgend eine andere kleine Handarbeit, um ihr
wenigſtens zum Anfang eines neuen Lebens zu verhelfen.
Aber was die arme Frau, die ſchon über die beſſere Hälfte
ihres Lebens hinaus, ſonſt aber noch ſehr kräftig und rüſtig
war, auch probierte, es ſchlug nicht ein. War ſie wirklich
nur zu ungeübt und zu ungeſchickt, oder fehlte es ihr an
Willensſskraft? Sie blieb immer auf dem gleichen Fleck.
Einige Male hatte ſie ſich um die Stellung einer Hausdame
bemüht, aber ſtets vergebens. Denn es gab ſo viel jüngere,
geſchicktere, mit einem mehr anfprehenden Außern begabte
Frauen, die keine Tochter zu ernähren hatten und mit bloßer
freier Station vorlieb nehmen wollten, ſo daß Frau K. in
einer ſolchen Konkurrenz unmöglich den Sieg davontragen
konnte. Ihr Töchterchen verſtand von Arbeiten nichts —
ſelbſtverſtändlich, da die Mutter ſo unerfahren darin war
und beide ehedem ſich zu gut gedünkt hatten, die Hände
zu rühren. Ehedem — in ihrer Heimat und in ihrem Glücke!
Sie mußten, wie gelegentliche Außerungen der Tochter ver:
muten ließen, da ein großes Haus gemacht haben. Aber all
die Verehrer und Tänzer von damals waren jetzt und hier
nicht vorhanden, und all die Erinnerungen an glänzende
Feſte und rauſchende Vergnügungen, an ſchöne Kleider und
gleißenden Flittertand nützten nichts und konnten ihnen die
Härte ihrer jetzigen Lage nur doppelt fühlbar machen. —
Es ſchien dem jungen Mädchen denn auch außerordentlich
ſchwer zu werden, ſich in die Stellung einer Verkäuferin, die
En
man ihr, für den Anfang nur als Lehrling, in einem Hand-
Ihuhgeihäft verfchaffte, einzulebden. E83 war ja für Mutter
und Tochter, die auf der Welt weiter niemand als einander
hatten, eine fchier unerträglich fcheinende Prüfung, fid für
den ganzen Tag zu trennen. Gin Eeines Schadenfener, da8
wenige Wochen nad der Tochter Eintritt in das Geſchäft
infolge einer Zampenerplofion dort ausbrad, dag Schließen
des Ladens für einige Tage herbeiführend, gab bie vielleicht
fehr willfonımene Gelegenheit, die Stellung wieder aufzugeben.
Noch einmal, ein lektes Mal, boten die unermübdlidhen Be-
ihüßerinnen der beiden ihren Einfluß auf und e8 gelang,
auf lange Zeit für fie gemeinfame Arbeit in einer Wälche-
fabrif zu finden. Mehrere Tage gingen fie diefer nah und
fehrten pünktlich ind Heim zurüd. Danach aber hieß «8,
fie würden in der Sabrif vermißt, und aud in ihrer Wohnung
ließ fid) weder Mutter nod; Tochter bliden. Ste blieben von
Stund’ an fpurloß verfchtwunden, und als einziges Zeugnis
ihres vormaligen Dortjeing dienten die wertlofen Befigftüde,
die fie in ihrem Zinmerchen zurücgelaffen hatten als Zahlung
für die drei Monate, während berer fie, auf die Gutmütig—
feit und das Mitleid der Hausmutter rechnend, den Schuß
des Helms jamt allen, was in diefen Shut eingeichloffen
war, in Anspruch genommen hatten, Wo fie ein Ende ge:
nommen, ob fie Schon längft „verborben, geftorben“, blich
in Dunfel gehült, wie ihr Lebensgang vor der Yeit ihres
Aufenthalts im Heim aud. —
Noch bei weitem rätjelhafter war das Wejen und Treiben
einer jungen Frau, die, eine frühere Heimbewohnerin, dies
Anl aus völligem Mangel an Geldmitteln Hatte aufgeben
müffen und nun nod faft täglich zur Kaffeeftunde fich ein-
fand, teil um den Vewohnerinnen einen Befuch abzuftatten,
teil um nachzufragen, ob irgend ein für fie palfendes
Stellenangebot eingelaufen fei. Die eigentlidhe Ilrjache
ihres Kommen aber war hödftwahricheinlich einerjeitß die
Tafle Kaffee, zu der fie alövann eingeladen ward, anderer:
feitß die Gelegenheit, fi) in geheizten Näumen etwas durch—
wärmen und ausruhen zu Fönnen. Denn e8 war winterlich
zu jener Zeit. Wo fie haufte, verriet fie mit feiner Silbe,
gab nur auf allzu dringendes Forjchen die Gegend an „der
Staftanienallee”, alfo den hohen Norden, alß die ihrer gegen:
wärtigen Wohnung an. Dod traf man fie häufig auf den
Straßen de3 Centrums md in der Umgebung der „Linden“.
Mit ihrer zweifellos diftinguierten Gricheinung, dem feinen,
Fugen, durdgeiftigten Geficht fah fie keineswegs mie eine
Fran aus, die nicht weiß, ob fie Heut etwas merde eflen
fönnen. Der Plüjchmantel, den fie beftändig trug, verriet
trog aller Abgetragenheit doh noch immer eine getwifle
Eleganz, und ein noch gut außjchendes Pelzbarelt, da8 ihr
jehr gut Stand, vollendete dag Damenhafte der Erjcheinung.
Daß die Stiefel faft nirgend mehr zufammtenhalten wollten
und daß der Plüfchmantel höhjtwahricheinlih die une
heilbaren Schäden ihres Sleides verdecden mußte, Eonnte
der flüchtige VBeichauer nicht merfen. Ind fo fam e8 wohl,
daß ihr trog aller Leidendzüge nod; immer jhönes Gelidht
und ihr ganzes von befferer Herkunft und feiner Bildung
zeugendes Auftreten ihr immer und ewig ein Hindernis
wurde, wenn fie fid) um irgend eine Stelle bemühte. Denn
705
bie fi ihr boten, waren meift untergeordnieter Art, oft mit
grober Arbeit verbunden, und zu folder mochte fie, wo fie
fih vorjtellte, nicht gemacht fcheinen. Die Leute urteilen ja
meift nach der Oberfläche und jelten wird bedadht, daß ber
bei dem Gebildeten meift ftärker entwidelte moralifche Wille
oft mehr zu leiften imitande ift, als die bloße rohe förper:
liche Kraft.
Wie die Unglücliche in ihre gegenwärtige Yage geraten,
war nicht Elar zu erjehen. Alles, wad man von ihr wußte,
war, daß jie aus dem Medlenburgifchen ftammte und daß
dort nod) ihre Mutter lebte, mit der fie fih ehemals über-
worfen, weil fie gegen deren Willen einen mittellojen, un-
befannten Mufifus geheiratet. Die nun Veriwitwete und
Berlaffene fonnte fi) troß ihrer Notlage nicht entichließen,
die Verzeihung der Mutter zu erflehen, jo oft und dringend
ihr Dies auch von der Hausmutter geraten murde. Wopon
Frau S., oder, wie fie fpottweife genannt wurbe, „die Tante
mit der Velzmüge“ überhaupt noch ihr Leben friftete, war
eigentlich ein NRätfel. Ob ihr die Karten, die fie faft täglid)
mit leidenfchaftlicher, abergläubifcher Angft um ihre Zukunft
befragte, zum Broterwerb helfen mußten? Oder ob fie,
ihlieblih an den Nand ber Verzweiflung gebradht, einem
noch viel traurigeren Gewerbe nadging?
Auch fie verfchtvand feit Verlegung des Heims. Ob fie
ein Mittel gefunden, ihrem Leben eine Wendung zum Befjern
zu geben, ob fie dod) no in die Arme der Mutter zurüd-
gefehrt tft, oder ob fie dem fie zuweilen überfommenden
Gedanken an ein fchnelles, Eurzes® Ende Folge gegeben?
Niemand weiß ed. —
Eins der beflagenswerteften Geihöpfe im Hein war
ein Mädchen Namens Helene, die, halb taub und halb blind,
ihr Brot fich zeitweije durd) Wafchen verdiente. Doc, waren
die Aufträge, die fie erhielt, ziemlich felten, denn jchließlich
reiht auch das Gefühl des Mitleids auf die Dauer nidjt
aus, jemand eine Arbeit anzudertrauen, der fie in feiner
MWeife zu leiften imftande ift, wie e8 bei Helene jhon wegen
ihrer Lörperlichen Mängel der Tal war. Dazu Fam nod),
daf fie offenbar auch geiftig nicht ihre volle Zuredhnungs»
fähigkeit befaß, obwohl fie eine nicht ganz unbedeutende
poetifche Ader und jogar Kenntnis dichteriiher Kunftformen
ihr eigen nannte. So lich fie feine bejondere Gelegenheit
im Heim unbefungen durd) ihre Afroflichen vorüber. Aber
die Dichterin war fi) ihres Talente durhaus bewußt und
ruhte nicht cher, bis jedes neue Heimkind auch Kunde davon
erlangte; ihr faft an Größenwahn ftreifender Dünfel machte
fie für andere oft im höcdhften Grade abftogend. Dazu fam
nody mandjyes an ihrer äußeren Erjcheinung, der ftarre, un-
heimliche Blic und eine oft Schwerhörigen eigene, vorgeftredte
Haltung des Stopfes, verbunden mit ihrer Gewohnheit, jeden,
mit dem fie Sprad, an der Schulter feitzuhalten und ihr Ge-
ficht dem feinen fo nahe al möglich zu bringen, weshalb
man ihr außwid), two e8 anging. Auch gehörte fie zu den
Strenggläubigen wenig angenehmer Art, ftetS bereit,
Predigten zu halten und Belchrungsverjuhe zu machen.
Diefe Gläubigfeit war übrigens bei der außerordentlicdhen
Härte ihres Schidjal8 wunderbar zu nennen.
ALS einziges Kind mwohlhabender Eltern früh verwaift,
war fie durch einen gewifienlofen Vormund um ihr ganzes
Vermögen gebracht worden, abgejchen davon, daß bdiejer dag
noch ſchwache Kind zu allen möglichen Arbeiten außnıkte.
Hr eigentliches Unglüd rührte von einem Sturz auf der
Straße her, durch den fie unter die Näder cines fehmwer-
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
706
belafteten Omnibus geriet. Dan hatte die anjcheinend Tote
nad) der Charite gebradt. Dort warb fie aber ind Leben
zurüdgerufen und, jo weit e8 ging, geheilt. Aber fie blieb
verwachſen, ſchwerhörig und ſchwach, wahrſcheinlich hatte auch
ihr Gehirn gelitten. Ihr Vormund, bei dem ſie bisher ge⸗
lebt, hatte ſich während Helenens Krankheit mit ihrem Gelde
und mit Zurücklaſſung großer Schulden geflüchtet und war
nicht mehr aufzufinden.
Mitleidige Leute nahmen ſich nun des Mädchens an,
bis es erwachſen und einigermaßen fähig war, ſich ſelbſt zu
ernähren. Seitdem das Heim beſtand, hatte ſie dort Zus
flucht gefunden. Aber die einzige Arbeit, die ihr bei der
Schwächung ihrer edelſten Sinnesorgane noch einigermaßen
gelingen wollte, das Waſchen, hielt auf die Dauer ihr Körper
nicht aus, andererſeits befriedigte ſie die Auftraggeber wohl
auch nicht — genug, es kam ſo weit, daß ſie zuletzt keinen
Auftrag mehr erhielt. Nach langem Überlegen fand die
Hausmutter für die laut Jammernde eine Abhilfe. Im
Heim wurde ein anderes Dienſtmädchen an Stelle des bis—
herigen geſucht, und mit Erlaubnis ſämtlicher Vorgeſetzten
rückte Helene in den leeren Poſten ein. Nun war ſie obenauf
und ihr Selbſtbewußtſein wuchs ins Unendliche, denn nächſt
der Hausmutter und deren Stütze hielt ſie ſich für die erſte
im Heim und verlangte Gehorſam und unbedingte Unter⸗
werfung von allen Bewohnerinnen desſelben. Da ihr dieſe
aber meiſt verſagt ward und Klage auf Klage über ihre
Anmaßung ſich erhob, erwachte in Helenen die oft geiſtig
nicht ganz Zurechnungsfähigen eigene Bodheit und kehrte
ſich ſogar gegen die Hausmutter, weil dieſe ihr Vorwürfe
über ihr Betragen machte. Kurz, Helenens Herrſchaft im
Heim hatte ſchnell ein Ende, aber nun ward durch ſie erſt
recht der Frieden geſtört. Es mußte auf Mittel und Wege
geſonnen werden, ſie zu entfernen. Endlich erklärte ſich der
Vorſtand eines Blindeninſtituts bereit, die Halbblinde auf—
zunehmen.
Der Verein, der das Heim gegründet, trug die Koſten.
Unb ſo wanderte Helene denn nach zweiwöchentlicher Probe—
zeit, während der ſie in der Blindenanſtalt bereits einige
der dort üblichen Arbeiten erlernte, gäazlich aus dem Heim,
wo fie Teilnahme und Heimatsrecht verjcherzt hatte. —
So kamen und gingen die Menjhen im Heim, ver:
Ihieden an Alter, Gefinnung und Bildung Wohl faum
nody eine der VBemwohnerinnen von damals ift heut nod)
dort. Mancden ift e8 nad) langem Harren, Entbehren und
Kämpfen noch ziemlich geglüdt. So der älteren von zwei
Schweftern, die, von einer jungen Stiefmutter aus dem Bater-
haufe getrieben, auf reiche Stenntniffe geftügt, fi Tange ehr:
lih und rechtlidy ernährten, die ältere al3 WBuchhalterin bet
einer großen FZirma, die jüngere ald Pukmaderin. Dod)
geriet die Tettere, unbefhütt und allzaufrüh der Heimat ent-
behrend, trog der Mahnungen und Borwürfe der Schweiter
anf abihäffige Bahn, mußte aus dem Heim vermwiejen werden
und ging wahrjcheinlihh zu Grunde. Die fleißige ältere, die
nod) dazu, gleich einem ebenfal3 in Berlin lebenden wenig
jingeren Bruder, den größten Teil des Verdienten dem
leihtfinnig wirtichaftenden, ehemal2 reichen Vater ſandte,
der fein Gut verjpielt hatte, verlor durd) eine fchwere Stranf:
heit ihre jehr einträgliche Stelle und hatte eine Zeitlang jchwer
zu fämpfen. Zuleßt gelang e3 ihr, nach ihrer Heimatspropinz
in ein vornehmes Haus alß Erzieherin zu fonımen, zu welchem
Beruf fie wegen ihrer großen Spracdfertigfeit fi ja fehr gut
eigniete. Dort wirkt fie noch heute, niit ihrem Schidfal zufrieden.
«03
Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung.
704
Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung.
Welkes Blatt.
An Deiner ftill ruht meine Hand;
O, laß uns fdyweigen — laß mid laufchen,
So fühl’ id Deines Lebens Strom,
Und böre ihn vorüberraufchen.
Zum Ziele führt er fih’ren Lauf
Ter Wogen Drang durd) Schidfald Lande;
Sc flehe leife: nimm e3 mit
Das mwelfe Blatt am Uferrandel
Hanna Ehlen.
Sine Tragödie aus der Großſtadt.
Lebends und Stimmungsbilder von H. Gebhardt.
(Schluß.)
Zu denen, die in der Zeit ihres Dortſeins die all⸗
gemeine Teilnahme der „feſten“ Heimbewohnerinnen er⸗
regten, gehörte auch eine Beamtenwitwe aus Königsberg
in Preußen mit ihrer jungen Tochter. Man ſah es beiden
an, daß ſie einſt beſſere Zeiten gekannt, wiewohl ſie aller—
dings nicht an übermäßiger geiſtiger Begabung litten.
Haltung und Benehmen verrieten beſſere Herkunft, und wohl
ſchienen ſie ſich im Heim nicht zu fühlen. Die Mutter machte
häufige, aber meiſt mißglückende Verſuche, für ſich einen
paſſenden Erwerbszweig zu finden. Bald ſtrickte ſie, bald
ging ſie für einen Tag in fremde Häuſer zum „Ausbeſſern“,
bald verſchafften die Hausmutter und die rührige Gründerin
des Heims ihr irgend eine andere kleine Handarbeit, um ihr
wenigſtens zum Anfang eines neuen Lebens zu verhelfen.
Aber was die arme Frau, die ſchon über die beſſere Hälfte
ihres Lebens hinaus, ſonſt aber noch ſehr kräftig und rüſtig
war, auch probierte, es ſchlug nicht ein. War ſie wirklich
nur zu ungeübt und zu ungeſchickt, oder fehlte es ihr an
Willenskraft? Sie blieb immer auf dem gleichen Fleck.
Einige Male hatte ſie ſich um die Stellung einer Hausdame
bemüht, aber ſtets vergebens. Denn es gab ſo viel jüngere,
geſchicktere, mit einem mehr anſprechenden Äußern begabte
Frauen, die keine Tochter zu ernähren hatten und mit bloßer
freier Station vorlieb nehmen wollten, ſo daß Frau K. in
einer ſolchen Konkurrenz unmöglich den Sieg davontragen
konnte. Ihr Töchterchen verſtand von Arbeiten nichts —
ſelbſtverſtändlich, da die Mutter ſo unerfahren darin war
und beide ehedem ſich zu gut gedünkt hatten, die Hände
zu rühren. Ehedem — in ihrer Heimat und in ihrem Glücke!
Sie mußten, wie gelegentliche Außerungen der Tochter ver⸗
muten ließen, da ein großes Haus gemacht haben. Aber all
die Verehrer und Tänzer von damals waren jetzt und hier
nicht vorhanden, und all die Erinnerungen an glänzende
Feſte und rauſchende Vergnügungen, an ſchöne Kleider und
gleißenden Flittertand nützten nichts und konnten ihnen die
Härte ihrer jetzigen Lage nur doppelt fühlbar machen. —
Es ſchien dem jungen Mädchen denn auch außerordentlich
ſchwer zu werden, ſich in die Stellung einer Verkäuferin, die
—
man ihr, für den Anfang nur als Lehrling, in einem Hand⸗
ſchuhgeſchäft verſchaffte, einzuleben. Es war ja für Mutter
und Tochter, die auf der Welt weiter niemand als einander
hatten, eine ſchier unerträglich ſcheinende Prüfung, ſich für
den ganzen Tag zu trennen. Ein kleines Schadenfeuer, das
wenige Wochen nach der Tochter Eintritt in das Geſchäft
infolge einer Lampenexploſion dort ausbrach, das Schließen
des Ladens für einige Tage herbeiführend, gab die vielleicht
ſehr willkommene Gelegenheit, die Stellung wieder aufzugeben.
Noch einmal, ein letztes Mal, boten die unermüdlichen Be—
ſchützetinnen der beiden ihren Einfluß auf und es gelang,
auf lange Zeit für ſie gemeinſame Arbeit in einer Wäſche—
fabrik zu finden. Mehrere Tage gingen ſie dieſer nach und
kehrten pünktlich ins Heim zurück. Danach aber hieß es,
ſie würden in der Fabrik vermißt, und auch in ihrer Wohnung
ließ ſich weder Mutter noch Tochter blicken. Sie blieben von
Stund' an ſpurlos verſchwunden, und als einziges Zeugnis
ihres vormaligen Dortſeins dienten die wertloſen Beſitzſtücke,
die ſie in ihrem Zimmerchen zurückgelaſſen hatten als Zahlung
für die drei Monate, während derer ſie, auf die Gutmütig—
keit und das Mitleid der Hausmutter rechnend, den Schutz
des Heims ſamt allem, was in dieſen Schutz eingeſchloſſen
war, in Anſpruch genommen hatten. Wo fie ein Ende ge:
nommen, ob ſie ſchon längſt „verdorben, geſtorben“, blieb
in Dunkel gehüllt, wie ihr Lebensgang vor der Zeit ihres
Aufenthalts im Heim auch. —
Noch bei weitem rätſelhafter war das Weſen und Treiben
einer jungen Frau, die, eine frühere Heimbewohnerin, dies
Aſyl aus völligem Mangel an Geldmitteln hatte aufgeben
müſſen und nun noch faſt täglich zur Kaffeeſtunde ſich ein—
fand, teils um den Bewohnerinnen einen Beſuch abzuſtatten,
teils um nachzufragen, ob irgend ein für ſie paſſendes
Stellenangebot eingelaufen ſei. Die eigentliche Urſache
ihres Kommens aber war höchſtwahrſcheinlich einerſeits die
Taſſe Kaffee, zu der ſie alsdann eingeladen ward, anderer⸗
ſeits die Gelegenheit, ſich in geheizten Räumen etwas durch—
wärmen und ausruhen zu können. Denn es war winterlich
zu jener Zeit. Wo ſie hauſte, verriet ſie mit keiner Silbe,
gab nur auf allzu dringendes Forſchen die Gegend an „der
Kaſtanienallee“, alſo den hohen Norden, als die ihrer gegen—
wärtigen Wohnung an. Doch traf man ſie häufig auf den
Straßen des Centrums und in der Umgebung der „Linden“.
Mit ihrer zweifellos diſtinguierten Erſcheinung, dem feinen,
klugen, durchgeiſtigten Geſicht ſah ſie keineswegs wie eine
Frau aus, die nicht weiß, ob ſie heut etwas werde eſſen
können. Der Plüſchmantel, den ſie beſtändig trug, verriet
trotz aller Abgetragenheit doch noch immer eine gewiſſe
Eleganz, und ein noch gut ausſehendes Pelzbarett, das ihr
ſehr gut ſtand, vollendete das Damenhafte der Erſcheinung.
Daß die Stiefel faſt nirgend mehr zuſammenhalten wollten
und daß der Plüſchmantel höchſtwaäahrſcheinlich die un—
heilbaren Schäden ihres Kleides verdecken mußte, konnte
der flüchtige Beſchauer nicht merken. Und ſo kam es wohl,
daß ihr trotz aller Leidenszüge noch immer ſchönes Geſicht
und ihr ganzes von beſſerer Herkunft und feiner Bildung
zeugendes Auftreten ihr immer und ewig ein Hindernis
wurde, wenn ſie ſich um irgend eine Stelle bemühte. Denn
709
bie fih ihr boten, waren meift untergeordneter Art, oft mit
grober Arbeit verbunden, und zu folder mochte fie, mo fie
fih vorftellte, nicht gemacht fcheinen. Die Leute urteilen ja
meift nach der Oberfläche und felten wird bedaht, daß ber
bei dem Gebildeten meift ftärfer entwidelte moraliihe Wille
oft mehr zu leiften imftande ift, als die bloße rohe Förper:
liche Straft.
Wie die Unglücliche in ihre gegenwärtige Lage geraten,
war nicht Far zu eriehen. Alles, was man von ihr wußte,
war, daß fie aus dem Medlenburgiichen ftanımte und daß
dort no) ihre Mutter lebte, mit der fie fih ehemals über:
woırfen, weil fie gegen deren Willen einen mittellofen, un:
bekannten Mufilus geheiratet Die nun Verwitmete und
Verlaffene fonnte fih troß ihrer Notlage nicht entichlieken,
bie Verzeihung der Mutter zu erflehen, fo oft und dringend
ihr dieg auch don der Hausmutter geraten wurde. Wobon
Frau S,, oder, wie fie Ipottmweife genannt wurde, „bie Tame
mit der Velzmüge“ überhaupt noch ihr Leben friftete, war
eigentlich ein Rätfel. Ch ihr die Karten, die fie faft täglich
mit leidenfchaftlicher, abergläubifcher Angft um ihre Zufunft
befragte, zum Broterwerb Helfen mußten? Oder ob fie,
fchließlih an den Nand der Verzweiflung gebradt, einem
noc viel traurigeren Gewerbe nachging ?
Auch fie verihwand feit Verlegung des Heim. Ob fie
ein Mittel gefunden, ihrem Leben eine Wendung zum Beffern
zu geben, ob fie doch noch in die Arme der Diutter zurüd:
gekehrt ift, oder ob fie dem fie zumeilen überlommenden
Gedanken an ein Schnelles, kurzes Ende Folge gegeben?
Niemand weiß ed. —
Eind ber beflagensmerteften Geichöpfe im Heim war
ein Mädchen Namens Helene, die, halb taub und halb blind,
ihr Brot fi zeitweije dur Wachen verdiente. Dod) waren
die Aufträge, die fie erhielt, ziemlich felten, denn jchließlich
reiht aud) das Gefühl des Mitleid auf die Dauer nicht
aus, jemand eine Arbeit anzuvertrauen, der fie in feiner
MWeife zu leiften imftande tft, wie e8 bei Helene jchon wegen
ihrer Lörperlihen Mängel der Zal war. Dazu fam nod,
daß fie offenbar auch geiftig nicht ihre volle Zurechnungßs
fähigfeit befaß, obwohl fie eine nidyt ganz unbedeutende
poetifche der und fogar Kenntnis dichterifcher Stunftformen
ihr eigen nannte. So lich fie feine bejondere Gelegenheit
im Heim unbejungen durd ihre Akroftichen vorüber. Aber
die Dichterin war fid) ihres Talentes durchaus bewußt und
ruhte nicht eher, biß jedes neue Heimkind auch Kunde davon
erlangte; ihr faft an Größenwahn ftreifender Dünkel machte
fie für andere oft im hödjften Grade abftopend. Dazu fam
nody mand)e3 an ihrer äußeren Erjcheinung, ber ftarre, un-
heimliche Blid und eine oft Schwerhörigen eigene, vorgeftredte
Haltung des Kopfes, verbunden mit ihrer Gewohnheit, jeden,
mit dem fie jprad, an der Schulter feitzuhalten und ihr Ge-
fiht dem feinen fo nahe al® möglich zu bringen, weshalb
man ihr augwid), wo e8 anging. Auch gehörte fie zu den
Strenggläubigen wenig angenehmer Urt, ftet3 bereit,
Predigten zu Halten und Bekehrungsverſuche zu machen.
Diefe Gläubigfeit var übrigens bei der außerordentlichen
Härte ihres Shidfald wunderbar zu nennen.
AS einziges Kind mwohlhabender Eltern früh verwaift,
war fie durch einen gewiffenlofen Vormund um ihr ganzes
Vermögen gebracht worden, abgefehen davon, dab diefer das
noch ſchwache Kind zu allen möglichen Arbeiten ausnugte.
SHr eigentliches Unglüd rührte von einem Sturz auf der
Straße ber, durdy den fie unter die Näder eines jchiwer:
Beiblatt der Deutjchen Roman-ZBeitung.
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belajteten Omnibus geriet. Man hatte die anicheinend Tote
nad) der Charite gebradt. Dort warb fie aber ins Leben
zurüdgerufen und, jo weit e8 ging, geheilt. Aber jie blieb
verwachſen, ſchwerhörig und ſchwach, wahrſcheinlich hatte auch
ihr Gehirn gelitten. Ihr Vormund, bei dem ſie bisher ge⸗
lebt, hatte ſich während Helenens Krankheit mit ihrem Gelde
und mit Zurücklaſſung großer Schulden geflüchtet und war
nicht mehr aufzufinden.
Mitleidige Leute nahmen ſich nun des Mädchens an,
bis es erwachſen und einigermaßen fähig war, ſich ſelbſt zu
ernähren. Seitdem das Heim beſtand, hatte ſie dort Zu—
flucht gefunden. Aber die einzige Arbeit, die ihr bei der
Schwächung ihrer edelſten Sinnesorgane noch einigermaßen
gelingen wollte, das Waſchen, hielt auf die Dauer ihr Körper
nicht aus, andererſeits befriedigte ſie die Auftraggeber wohl
auch nicht — genug, es kam ſo weit, daß ſie zuletzt keinen
Auftrag mehr erhielt. Nach langem Überlegen fand die
Hausmutter für die laut Jammernde eine Abhilfe. Im
Heim wurde ein anderes Dienſtmädchen an Stelle des bis—
herigen geſucht, und mit Erlaubnis ſämtlicher Vorgeſetzten
rückte Helene in den leeren Poſten ein. Nun war ſie obenauf
und ihr Selbſtbewußtſein wuchs ins Unendliche, denn nächſt
der Hausmutter und deren Stütze hielt ſie ſich für die erſte
im Heim unb verlangte Gehorfam und unbedingte Unter:
werfung von allen Bewohnerinnen desielben. Da ihr dieje
aber meift verjagt ward und Stlage auf Stlage über ihre
Anmaßung fi) erhob, erwadhte in Helenen bie oft geiftig
nicht ganz Zurehnungsfähigen eigene Bosheit und Fehrte
fih fogar gegen bie Haudmutter, weil bieje ihr Vorwürfe
über ihr Betragen madte. Sturz, Helenens Herrihaft im
Heim Hatte jchnel ein Ende, aber nun ward durd) fie erft
recht der Frieden geftört. E83 mußte auf Mittel und Wege
gefonnen werden, fie zu entfernen. Cndlic erklärte fich der
VBorftand eines Blindeninftituts bereit, die Halbblinde auf-
zunehmen.
Der Verein, der dag Heim gegründet, trug die Kloften.
Ind fo wanderte Helene denn nad) zweiwöchentlicher PBrobe-
zeit, während ber fie in der Blinbenanjtalt bereits einige
der dort üblichen Arbeiten erlernte, gänzlich aus dem Hein,
wo fie Teilnahme und Heimatsrecht vericherzt hatte. —
So famen und gingen die Menfchen im Heim, ber:
fhieden an Alter, Sefinnung und Bildung. Wohl kaum
noch eine der Bewohnerinnen von dantald ift heut nod
dort. Manchen ift e8 nad) langem Barren, Entbehren und
Kämpfen noc) zientid) geglüdt. So der älteren bon zwei
Schweftern, die, von einer jungen Stiefmutter au8 dem Vater:
hauje getrieben, auf reiche Stenntniffe geftügt, fid) lange ehr
lih und rechtlid; ernährten, die ältere ala Buchhalterin bei
einer großen Firma, die jüngere als Putzmacherin. Doch
geriet die letztere, unbeſchützt und allzufrüh der Heimat ent—⸗
behrend, trotz der Mahnungen und Vorwürfe der Schweſter
anf abſchüſſige Bahn, mußte aus dem Heim verwieſen werben
und ging wahrſcheinlich zu Grunde. Die fleißige ältere, die
noch dazu, gleich einem ebenfalls in Berlin lebenden wenig
jüngeren Bruder, den größten Teil des Verdienten dem
leichtſinnig wirtſchaftenden, ehemals reichen Vater ſandte.
der ſein Gut verſpielt hatte, verlor durch eine ſchwere Krank—
heit ihre ſehr einträgliche Stelle und hatte eine Zeitlang ſchwer
zu kämpfen. Zuletzt gelang es ihr, nach ihrer Heimatsprovinz
in ein vornehmes Haus als Erzieherin zu kommen, zu welchem
Beruf ſie wegen ihrer großen Sprachfertigkeit ſich ja ſehr gut
eignete. Dort wirkt ſie noch heute, mit ihrem Schickſal zufrieden.
107
Einer anderen jungen Buchhalterin wollte e8 troß der
borzüglichften Zeugniffe und einer jehr fchönen Handfchrift
durhaus nicht glüden, eine berufsgemäße Beichäftigung zu
finden, weil ihr Außeres wenig anfprechend wirkte und ihr
Auftreten, je öfter fie mit ihren Werfuchen jcheiterte, jener
ruhigen Sicherheit mehr und mehr verluftig ging, die von
den Bewerbern um eine Stellung bei perjünlicher Vorftellung
durchaus verlangt wird. Wenn nur einmal diejenigen, weldje
den Ichüchtern und jcheu auftretenden Bewerber achjelzucdend
als offenbar ungeeignet abweiien, jelbft auch nur einen Teil
al der Demütigungen und Enttäufhungen zu durdjkoften
hätten, die fo ein unglüdliches Stieffind Fortuna zu tragen
verurteilt wird, fie würden einfehen, wie [hwer, oft unmög-
lich e8 ift, immer wieder mutig und mit frohem Geficht dem
täglih fi erneuenden Kampfe enigegenzugehen. Hebmwig
befaß jedenfalls dieje jchwere Kunft in nur geringem Maße,
und [hon wollte fie, an jeden Gelingen verzweifelnd, Berlin,
da3 auch ihr wie vielen Schidjalsgenoifinnen das Dorado
für den Erwerbiuchenden geichienen, den Nüden fehren, als
fie ihre Bemühungen doch nod) unerwarteterweife von Erfolg
gekrönt jah. Freilih anf andere Art, als fie beabfichtigte.
Sn einer Lihtihirmfabrif ward eine Arbeiterin zum Bemalen
der für die Gegenftände zu verwenbenden Stoffteile gefucht,
und da Hedwig ehedem in ihren Mußeftunden ein menig
ben Pinjel geführt, fiel ihr ein, daß ihr dies vielleicht jett
zu gute fommen Eönne. Denn wenig ift inmmerhin mehr als
nichts und jo wanberte fie eine® Morgens nad) der Fabrif.
Die Kleinen Probearbeiten, die fie ausführen mußte, geficlen,
und von nun an faß die HandelSbefliffene mit dem Pinfel in
ber Hand und ließ auf Eleinen Gazes und Atlasftüdchen flut-
durchfegelnde Schwäne, dunkle Walblandichaften, Taufchenbe
Nehe, tändelnde Amoretten oder buntfarbige Blumenftüde
entftehen. Die Arbeit war amüfant, aber wenig lohnend,
denn das BDugend bradjte 20 bis 40 Pfennig. Mit der
Zeit aber ging ihr’8 ehr flott von der Hand, ihre Ein:
nahme vergrößerte fih, und als man ihr jpäter einen Teil
ber Buchführung mit anvertraute, fühlte fie all ihre Er:
wartungen übertroffen und fi), den Verhältniffen angemeffen,
ziemlich glücklich.
Von al den andern Mädchen, die oft auß fernen
Provinzen, vorzüglid) aus dem Norbdoften, nad) der Neich-
hauptftabt gefommen, im Herzen einen goldenen Traum von
dem reichen Glüde, das ihnen in Berlin erblühen müffe, find
bie meiften, arm an Hoffnung, aber reiher um mande Er:
fahrung, aus den Mauern ded Heims geichieden. Manche
nahmen die Erkenntnis in ihre Heimat mit, daß man, um
in der Hauptftadt fortzulommeen, alle Senntniffe und Fähig-
feiten zugleich inne haben müfle; daß e& fih ganz gut ver:
tragen müffe, die Wäfche zu waichen, die Zimmer zu bohnen,
die Kühe zu veriehen und zugleih ben Kindern in Mufit
und franzöfiiher Konverfation linterricht zu erteilen. Denn
mehr alö einmal fam e3 vor, daß bon einer Dame jemand
zur Überwahung und Erziehung der Kinder, zur Gefelichaft
und Unterhaltung der Hausfrau, zugleid; aber für die gröbfte
häusliche Arbeit gefucht wurde, gegen ein möglichſt winziges
Gehalt natürlid. Hielt man ihr bagegen vor, daß von
einem gebildeten Mädchen dody jchwerlih eine Arbeit wie
Stubenbohnen verlangt werden fönne, jo klang es zurüd:
„Nun, ih fuche eben fein ‚Sräulein‘, ich fuche mehr ein
Hausmädchen!“
Von all den Vertreterinnen der verſchiedenen Arten
weiblicher Thätigkeit waren die einzigen, die immer Glück
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
708
hatten, nach denen ſtets Verlangen getragen ward und die
die höchſten Gehälter erhielten — die Köchinnen! Von ſolchen
war keine je länger als wenige Stunden außer Stellung.
Kochen iſt ja leider diejenige Kunſt, von der ein guter Teil
der jungen Berliner Hausfrauen, aller Kochſchulen ungeachtet,
am wenigſten verſteht.
Im Heim ward übrigens ſpäter, nachdem es verlegt
war, auch eine „Kochſchule“ eingerichtet, ob mit Erfolg?
Überhaupt geben viel neue und veränderte Einrichtungen,
die ſich jetzt im Heim eingebürgert haben, dieſem ein früheren
„Heimkindern“ fremdes Ausſehen; teils, nach außen hin, ein
bedeutend verſchönertes, teils aber, nach innen, ein weniger
behagliches, ſeit durch den eingeführten Mittagstiſch allzu—
viel nicht „heimiſche“ Elemente eindringen. Nur in dem
einen bleibt das Geſicht des Heims unverändert: in dem
ſteten Kommen und Gehen friedloſer Daſeinskämpferinnen,
die unter ſeinem Schutz wenigſtens für kurze Friſt das Ge—
fühl der Sicherheit, das „Daheim“ ſuchen, das ihnen ein
hartes Geſchick allzufrüh verſagt. Möchte es noch lange
beſtehen als Aſyl für die verſtoßenen Kinder des Glücks!
— a — —
Derfäumt.
In des Frühlings Dlütentagen
Singen wir im Sonnenlidt,
Gatten vieled uns zu jagen,
Sagten nur das eine nicht.
Viel zu traumhaft war da8 Leben,
Biel zu leuchtend fchien der Tag,
IInd e8 ging mit heißem Beben
Viel zu bang des Herzens Scdjlag.
Hab’ e8 ftil in mir getragen
Dis die Blütenwelt verweht, —
Gerne möchte jegt ih’3 fagen,
Und nun ift c8 viel zu fpät.
Hax Bireuke.
Die „unehrlihen” Seute des Mittelalters,
II.
Das Vorurteil der Dienge in betreff der Unehrlichkeit über⸗
trug fih vom Henker natürlich aud) auf bie anderen Organe
der Strafpollftredung, auf Gerichtö: und Polizeidiener. Der
angeborene Widerwille des freien Mannes gegen alles
Denunzieren und Dingfeftmadhen belegte jene, melde fic)
fraft ihres Berufes damit befaffen mußten, jehr bald mit
ähnlihem Ddium wie den zum Nachrichter herabgefunfenen,
ehedem ehrbar gewejenen Fronboten. Gaffenfehrer und Yelb-
hüter mögen anfänglich ihrer wenig fauberen Hantierung
wegen mißadıtet worden fein, wozu bei den Yelbhütern nod
der Umftand trat, daß fie meift auß verlommenen, ben Ges
meinden zur Laft liegenden Subjelten beftanden. Und neben
einem Zöllner bei Ziiche zu figen galt befanntlich fchon zu
Chrifti Zeiten für Shimpflih, weil da8 Volt von alteröher
den Zöllnern Unredlichleiten und ein weites Gewiffen zum
Vorwurf machte, aud da3 mit diefem Stande nın einmal
109
berfnüpfte Spionieren und Anzeigen nicht dazıı geeignet war,
ihren Leumund zu verbeffern. Ein natürliches Grauen vor
Leihen und allem, was mit Sterben und Toten zufammen
hängt, mag den Grund gegeben haben, auc) bie Totengräber
bon den ehrbaren oder ehrlihen Ständen auszufdließen.
Endlih find hierhergehörig nod) die Türmer, Bettelvögte
und Nahtwächter — eritere vermutlih, weil der Türmer:
bienft häufig zu den Obliegenheiten des Scharfrichters zählte,
der ihn durd) feine Snechte verfehen ließ. Oder es lagen
bie Sterfer in ben feiten Türmen, und die Turmmwädhter
fungierten dann nebenbei auch als Schließer oder Gefangen-
wärter, die, wie oben erwähnt, jämtlih für unehrlidy galten.
Die Bettelvögte disfredierte ebenfalls ihr Verhältnis zur
ftrafenden Juftiz, und die Nahtwächter desgleichen, weil fie
teils mit zum Einfangen von Dieben und Bagabunden bes
nut wurden, teils jonft einen für unehrlich erachteten Ncben-
verdienft ausüben mußten.
Bon diefen bisher aufgeführten Dienftarten unterfchieden
id) dann die unehrlihen Gewerbe, weldye zwar nicht ganz
„rechts und friedlo8* (d. H. vogelfrei) machten, dennoch aber
bom DVolfe nicht geachtet waren und mit einem gewiffen
Makel behaftet erfcheinen. E3 fallen unter diefe ARubrif:
Bader und Bartfcherer, die Schäfer und Hirten, die Müller,
fahrende Spielleute und Gaufler aller Art, endlich die
Broftituierten.
Nadı mittelalterliher Anihanung galt die Pflege und
Berührung eined anderen als bes eigenen Körpers für ent-
ehrend und unziemlich eines freien Mannes, was zur Folge
hatte, daß in den zahlreichen öffentlichen Badeftuben nur
liederlihes Dienftvolt Hantierte, und dieſe Anftalten
überaus fittenlo8 waren. Chrbare Leute mieden des=
halb jeden Umgang mit Badern, Heildienern und den auf
gleicher Stufe ftehenden Bartfcherern, deren Gewerbe ja aud
da Betaften fremder Gefihter 2c. notwendig madjte. Und
da der Tsreigeborene nur Erbgefeflene, d. h. folde, die auf
eigenem Grund und Boden hauften, zu feinesgleichen rechnete,
jegte er aud) den befiglofen armen Hirten gejelichaftlich
hintenan, welcher außerhalb des Dorfes im Gemeinbe- ober
Hirtenhanfe mit den Ortsarmen, Krüppeln u. dgl. wohnen
mußte. Aus ähnlicher Urfache wurde aud; der friebliche,
unfriegeriijhe Schäfer, befonders wenn er kein Freigeborener
war, über die Achjel angejehen. Seine Söhne durften nicht
in ehrbare Zünfte eintreten, und troßdem Schäfer wie Hirten
oft ald Wunderdoltoren und Herenmeifter viel Zulauf bes
famen, fpottete da3 Volk doh: „Schäfer und Schinder —
Geſchwiſterkinder!“ Zur geringen Wertihäßung der Müller
fol die Unfitte des „Molternd* (heut „Megen“ genannt!)
ein gutes Teil haben, und fon unter Saifer Karl d. Gr.
waren Müllersfühne von allen geiftlihen Amtern und Würden
ausgeihlofien. An manden Orten hatten die Müller fogar
die Verpflichtung, die Galgenleitern zu Tiefern.
Daß alles fahrende Bolt — fo genannt, weil fein ganzer
Reichtum und Befig fi) gewöhnlich auf bie „Sahrhabe* bes
Ihräntte, d. h. auf ba, waß fie an und bei fi trugen —
felbft wenn e8 ein fonft geachtetes Handwerk betrieb, ber
mittelalterlichen Seßhaftigfeit und Unduldfamkeit gegenüber
immer zu kurz fam, bürfte nach dem bisher Gefagten nicht
mehr befremden. Die Gefhloffenheit der Zünfte ließ eben
Nihtortsangehörige nirgends emporlommen, und da man
andererfeit3 derartige verhaßte Konkurrenz doch nicht gänz-
lich hindern konnte, fo fuchte man ihnen wenigftend moralifc)
etwad anzuhängen und fie in der öffentlihden Meinung
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
710
herabzufegen. Das Beiwort „fahrend“ hat beshalb bei
mittelalterlichen Bezeichnungen aud) ftetS eine verächtliche
Bedeutung. Konnte fi) eine Stadt oder ein Ort bed fahren
ben Gefindel® nicht mehr erwehren, fo wurde kurzer Prozeß
gemacht und jeneß ungefragt mit Gewalt über bie Grenzen
des Weichbildes (Bannmeile) geihafft. Natürlich griff der
Nachbar, der c8 jeßt aufgehalit befam, zu demfelben Radikals
mittel, bi3 jchließlih die Hinundhergehesten wieder an
Ausgangspunkte anlangten, falls fie nicht inzwifchen bie
Nemefis erreicht hatte. Die öffentliche Sicherheit gegen Ende
des Mittelalter8 ließ bern auch fehr viel zu wünfchen übrig,
und der offen und ohne Scheu getriebenen Unfittlichleit ent-
iprach eine Noheit und Brutalität des Pöbels, welche jeder
Beichreibung ipotten. Bei foldhen Zuftänden mußten die
„Hahrenden”, zumal ihnen ein beitimmter Wohnfig mangelte
und fie infolgedeffen unzünftig waren, jenen Außsgeftoßenen
angehören, die gleih nad) dem Henker rangierten. Eine
alte Neich8polizeiorbnung Schreibt „denen Scallsnarren,
Pfeifern, Landfahrern, Singern und Reimenfprehern“ (zu
ben Landfahrern zählten außer Spielleuten und Bäntel-
fängern, Fehtern und Ringkämpfern auch Tänzerinnen,
Gaufler, Songleurs und Komddianten) eine bejondere, recht
auffällige Kleidung vor, auf daß die „ehrlichen Leute fid)
befto leichter vor Schaden hüten und von ihrer Gemeinihaft
abfondern fönnten . . .*
Zuerft von aflen fahrenden Spielleuten wurden die
Trompeter und Pfeifer zünftig, die fich felbft ſtets für beffer
gebünft hatten als die Paufer und Horniften. Ein Reiche:
gefeß erklärte fie ansdrüdlicd für ehrlih, fie erhielten nun
fefte Beflallungen im Heere, an landesherrlihen Höfen wie
bei den reihsftädtifchen Magiftraten, auch durften fie Lehr:
linge annehmen und ausbilden. Später, mit bem Aufblühen
der Kirchenmufik, ging aus diefer Gilde ber Ratsmufilanten
oder Kunftpfeifer gar mandher tüchtige Kantor und Organift
hervor. Aud) das damals veradtete „Komödiantenvolt“,
der Schaufpielerftand, erfreut fih Tängft volliter Gleichftellung
mit den übrigen Gefelfchaftstlaffen, freilich nicht ohne harte
und Tangwierige Kämpfe!
Hoffentlid wird nad diejen in flüchtigen Stridhen ges
zeichneten Bildern deuticher Vergangenheit der geneigte Lefer
und beipflidhten, daB e8 unter Umftänden jein Mißliches
haben Fönne, immer die „gute, alte Zeit“ im Munde zu
führen und modernen Verhältniffen gegenüber ald Trumpf
audzufpielen. Was damald großes Herzeleid und unfäg-
lihhe8 Elend verfchuldete, das betradten wir heute als
überwundenen Standpunft, wie beifpielsweife da Thema
bon den „unehrlihen Leuten“.
&. $lanislas.
Jap mir...
Laß mir die fühle, fefte Hand
Nur eine Welle noch,
Mir ift, als trüge leichter bann
Mein Naden das [wer Jod);
Laß ftill und feit in meinen Blid
Dein ernfthaft Auge weilen,
Verjuhe no, was Du vermagit
An meiner Seele zu heilen.
107
Einer anderen jungen Buchhalterin wollte e8 troß ber
borzüglichften Zeugniffe und einer jehr Schönen Handichrift
durhaus nicht glüden, eine berufsgemäße Beihäftigung zu
finden, weil ihr Äußeres wenig anfprehend wirkte und ihr
Auftreten, je öfter fie mit ihren Verfuchen jcheiterte, jener
ruhigen Sicherheit mehr und mehr verluftig ging, die bon
ben Bewerbern um eine Stellung bei perfönlicher Vorftellung
durchaus verlangt wird. Wenn nur einmal diejenigen, welche
den Ichüchtern und fcheu auftretenden Bewerber adjjelzucdend
als offenbar ungeeignet abwetjen, jelbft aud) nur einen Teil
al der Demütigungen und Enttäufhungen zu burdjkoften
hätten, die fo ein unglüdliches Stieftind Fortunas zu tragen
verurteilt wird, fie würden einjehen, twie fChwer, oft unmög-
lich e3 ift, immer wieder mutig und mit frohem Geficht dem
täglih fi erneuenden Kampfe entgegenzugehen. Hedwig
bejaß jedenfall diefe fchiwere Kunft in nur geringem Maße,
und Son wollte fie, an jedem Gelingen verzweifelnd, Berlin,
bad aud ihr wie vielen Scidfalsgenoffinnen dag Dorado
für den Erwerbfuchenden geichienen, ven Rüden fehren, als
fie ihre Bemühungen doc) noch unerwarteterweife von Erfolg
gekrönt jah. Freilih auf andere Art, als fie beabfichtigte.
In einer Lihtihirmfabrit warb eine Arbeiterin zum Bemalen
der für die Gegenftände zu verwendenden Stoffteile gefucht,
und da Hedwig ehedem in ihren Mußeftunden ein mertig
ben PBinjel geführt, fiel ihr ein, daß ihr bieß vielleicht jegt
zu gute fommen fönne. Denn wenig ift immerhin mehr als
nichts und fo wanderte fie eines Morgens nad ber Fabrik.
Die Heinen Probearbeiten, die fie ausführen mußte, gefielen,
und von nun an jaß die Hanbelsbefliffene mit dem PBinjel in
ber Hand und ließ auf Eleinen Gaze- und Atlasftüdchen fluts
burchfegelnde Schwäne, dunkle Waldlandfchaften, Taufchende
Nehe, tändelnde Amoreiten oder buntfarbige Blumenftüde
entitehen. Die Arbeit war amüfant, aber wenig lohnend,
denn das Dutend bradte 20 bis 40 Pfennig. Mit der
Zeit aber ging ihr’ fehr flott von der Hand, ihre Ein-
nahme vergrößerte fi, und als man ihr fpäter einen Teil
ber Buchführung mit anvertraute, fühlte fie all ihre Er:
wartungen übertroffen und fi, den Verhältniffen angemeffen,
ziemlich glüdlich.
Von al den andern Mädchen, die oft aus fernen
Provinzen, vorzüglid aus dem Norboften, nad) der Neich-
hauptftadt gefommen, im Herzen einen goldenen Traum von
dem reichen Glüde, das ihnen in Berlin erblühen müffe, find
die meilten, arm an Hoffnung, aber reiher um mande Gr:
fahrung, aus den Mauern des Heims geichiedben. Dance
nahmen die Erfenninis in ihre Heimat mit, baß man, um
in der Hauptitadt fortzulommen, alle Kenntniffe und Fähig-
fetten zugleich inne haben müffe; daß e& fi ganz gut ver:
tragen müffe, die Wälche zu wachen, die Zimmer zu bohnen,
bie Küche zu verjehen und zugleih den Kindern in Mufit
und franzöfiiher Konverfation Unterricht zu erteilen. Denn
mehr als einmal fam e8 vor, daß don einer Dame jemand
zur Überwachung und Erziehung der Stinder, zur Gefellfhaft
und Unterhaltung der Hausfrau, zugleich aber für die gröbfte
häuslidye Arbeit gefucht wurde, gegen ein möglichft winziges
Gehalt natürlih. Hielt man ihr dagegen vor, daß von
einem gebildeten Mädchen doch jchwerlid eine Arbeit wie
Stubenbohnen verlangt werben Eönne, fo Fang «8 zurüd:
„Nun, ih fuche eben Fein ‚Fräulein‘, ich fuche mehr ein
Hausmädchen!“
Von all den Vertreterinnen der verſchiedenen Arten
weiblicher Thätigkeit waren die einzigen, die immer Glück
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
708
hatten, nad) denen ftet3 Verlangen getragen ward und die
bie höchften Gehälter erhielten — die Köchinnen! Bon folchen
war feine je länger als wenige Stunden außer Stellung.
Kochen ift ja leider diejenige Kunft, von der ein guter Teil
ber jungen Berliner Hausfrauen, aller Kochichulen ungeachtet,
am wenigften bverfteht.
Sm Heim ward übrigens jpäter, nachdem e8 verlegt
war, au eine „Kocjchule” eingerichtet, ob mit Erfolg?
Überhaupt geben viel neue und veränderte Einrichtungen,
die fich jett im Heim eingebürgert haben, diefem ein früheren
„Heimlindern*“ fremdes Augfchen; teils, nad) außen Hin, ein
bedeutend verfchönertes, teilß aber, nach innen, ein weniger
behagliches, feit durd den eingeführten Mittagstiich allzu-
viel nicht „heimifche* Elemente eindringen. Nur in dem
einen bleibt das Gefiht des Heims unverändert: in dem
fteten Kommen und Gehen friedlofer Dajeinstämpferinnen,
die unter feinen Schuß wenigftens für kurze Srift das Ge:
fühl der Sicherheit, da8 „Daheim“ fuchen, das ihnen ein
hartes Geihil allzufrüh verjagt. Möchte es noch lange
beftehen als Ajyl für die verftoßenen Stinder des Glüds !
Derfäumt.
Sn des Frühlings Blütentagen
Bingen wir im Sonnenlidt,
Gatten viele8 ung zu jagen,
Sagten nur das eine nicht.
Viel zu traumbaft war das Leben,
Biel zu leuchtend fchien der Tag,
Und e8 ging mit heißem Beben
Biel zu bang des Herzens Schlag.
Hab’ e8 ftil in mir getragen
Bis die Blütenwelt verweht, —
Gerne möchte jegt ich’3 fagen,
Und nun tft e8 viel zu jpät.
Hax Bireuke.
Die „unehrlihen Seute des Mittelalters,
II.
Das Borurteil der Menge in betrefi ber linehrlichkeit über:
trug fi vom DHenfer natürlid) aud) auf die anderen Organe
ber Strafpollitredung, auf Gerichts: und Volizetdiener. Der
angeborene Widerwille des freien Mannes gegen alles
Denunzieren und Dingfeftmahen belegte jene, welche fidh
fraft ihre8 Berufes damit befaffen mußten, fehr bald mit
ähnlihem Odium wie den zum Nachrichter herabgefunkenen,
ehedem ehrbar geweienen Sronboten. Gafjenfehrer und Syelb-
hüter mögen anfänglich ihrer wenig jauberen Hantierung
wegen mißachtet worden fein, wozu bei den Yelbhütern noch
der Umftand trat, daß fie meift aus verfommenen, den Ges
meinden zur Laft liegenden Subjeften beitanden. Ind neben
einem Zöllner bei Tifche zu fiten galt befanntlih fchon zu
Chrifti Zeiten für ſchimpflich, weil das Volk von alteröher
den Zöllnern Unredlichkeiten unb ein weites Gemwiffen zum
Vorwurf machte, auch dag mit diefem Stande nun einmal
709
verknüpfte Spionieren md Anzeigen nicht dazı geeignet war,
Ihren Leumunb zu verbeffern. Ein natürliche Grauen vor
Leihen und allen, was mit Sterben und Toten zufammens
hängt, mag ben Grund gegeben haben, aud) bie Totengräber
bon ben ehrbaren oder ehrlichen Ständen auszufchließen.
Endlib find hierhergehörig nod) die Türmer, Bettelvögte
und Nadhtwächter — erjtere vermutlich, weil ber Türmer:
dienft häufig zu den Obliegenheiten be3 Scharfrichter zählte,
der ihn durch feine Snechte verfehen Tieß. Oder e8 Tagen
die Sterfer in ben feiten QTürmen, und bie Turmmächter
fungierten dann nebenbei aud) als Schließer oder Gefangen:
wärter, bie, wie oben erwähnt, fämtlic für unehrlich galten.
Die Bettelvögte disfrebierte ebenfalls ihr Verhältnis zur
ftrafenden Juftiz, und die Nadjtwächter desgleichen, weil fie
teils mit zum Einfangen von Dieben und Bagabunden bes
nugt wurden, teils jonft einen für unehrlicd) erachteten Neben:
verdienft ausüben mußten.
Bon diefen bisher aufgeführten Dienftarten unterfchieden
id) dann die unehrlihen Gewerbe, melde zwar nicht ganz
„recht: und friedlo8* (d. b. vogelfrei) machten, dennoch aber
bom Volle nicht geachtet waren unb mit einem gemwifjen
Makel behaftet erfcheinen. E8 fallen unter diefe Nubrif:
Bader und Bartidherer, die Schäfer und Hirten, die Müller,
fahrende Spielleute und Gaufler aller Art, endlidy die
PBroftituierten.
Nach mittelalterlicher Anſchanung galt die Pflege und
Berührung eines anderen als bes eigenen Körpers für ent-
ehrend und unziemlich eine® freien Mannes, was zur Folge
halte, daß in den zahlreichen öffentlihen Badeftuben nur
liederliche8 Dienftvolt hHantierte, und dieje Anftalten
überaus fittenlo® waren. Chrbare Leute mieben de8s
halb jeden Umgang mit Badern, Heildienern und den auf
gleiher Stufe ftehenden Barticherern, deren Gewerbe ja aud)
das Betaften fremder Gefihter 2c. notwendig machte. 1nd
ba der Freigeborene nur Erbgejeflene, db. h. ſolche, die auf
eigenem Grund und Boden hauften, zu feinesgleichen rechnete,
jegte er auch den befitlojen armen Hirten gefellichaftlich
hintenan, welcher außerhalb des Dorfes im Gemeinde oder
Hirtenhaufe mit den Ortsarmen, SKrüppeln u. dgl. wohnen
mußte. Aug ähnlicher Urfahe mwurbe auch der friebliche,
unfriegeriiche Schäfer, befonder8 wenn er kein Freigeborener
war, über die Achfel angejehen. Seine Söhne durften nicht
in ebhrbare Zünfte eintreten, und trogbem Schäfer wie Hirten
oft ald Wunderdoftoren und Herenmeifter viel Zulauf bes
famen, jpottete da3 Volk dod: „Schäfer und Scinder —
Geſchwiſterkinder!“ Zur geringen Wertihägung der Müller
fol die Unfitte des „Molterns* (heut „Megen” genannt!)
ein gutes Teil haben, und fhon unter Kaijer Karl d. Gr.
waren Müllersfühne von allen geiftlichen Iimtern und Würden
auzgeihloffen. An manden Orten hatten die Müller fogar
die Verpflihtung, die Galgenleitern zu liefern.
Daß alles fahrende Volt — fo genannt, weil fein ganzer
Reihtum und VBefig fi) gewöhnlich auf bie „Fahrhabe“ bes
fhräntte, d. 5. auf da3, was fie an und bei fi trugen —
jelbft wenn e8 ein fonft geachtetes Handwerk betrieb, ber
mittelalterlihen Seßhafligfeit und Unbuldfamkelt gegenüber
immer zu Zurz fam, dürfte nach) bem bisher Gefagten nidt
mehr befremden. Die Geichloffenheit der Zünfte ließ eben
Nichtortsangehörige nirgends emporlommen, und da man
andererfeit3 derartige verhaßte Konkurrenz doc nicht gäntz-
fi hindern konnte, fo fuchte man ihnen wenigftens moralifch
etwad anzuhängen und fie in der öffentlihen Meinung
Beiblatt der Deutiden Roman: Zeitung.
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berabzufegen. Das Beimort „fahrend” Hat beshalb bei
mittelalterlichen Bezeichnungen aud) ftetS eine verächtlidhe
Bedeutung. Konnte fid) eine Stadt ober ein Ort be8 fahren:
den Gefindels nicht mehr erwehren, fo wurbe kurzer Prozeß
gemacht und jenes ungefragt mit Gewalt über bie Grenzen
des MWeichbildes (Bannmeile) geihafftl. Natürlidy griff der
Nachbar, der e8 jet aufgehalit belam, zu demielben Radilals
mittel, bis fchließlid die Hinundhergehegten wieber anı
Ausgangspunkte anlangten, falls fie nicht inzwilchen bie
Nemefis erreicht hatte. Die öffentliche Sicherheit gegen Ende
bes Mittelalters ließ denn aud) fehr viel zu wünfchen übrig,
und der offen und ohne Scheu getriebenen Unfittlichkeit ent-
iprad) eine Noheit und Brutalität bes Pöbels, welche jeder
Beichreibung jpotten. Bet folden Zuftänden mußten Die
„Fahrenden“, zumal ihnen ein beftimmter Wohnfig mangelte
und fie infolgebeffen unzünftig waren, jenen Ausgeitoßenen
angehören, die gleih nad) dem Henker rangierten. Eine
alte Neichspolizetordnung fchreibt „denen Scallsnarren,
Pfeifern, Landfahrern, Singern und Reimenfprehern“ (zu
ben Landfahrern zählten außer Spiellenten und Bäntel:
ſängern, Fechtern und Ringkämpfern auch Tänzerinnen,
Gaukler, Jongleurs und Komödianten) eine beſondere, recht
auffällige Kleidung vor, auf daß die „ehrlichen Leute ſich
deſto leichter vor Schaden hüten und von ihrer Gemeinſchaft
abſondern könnten ...“
Zuerſt von allen fahrenden Spielleuten wurden die
Trompeter und Pfeifer zünftig, die ſich ſelbſt ſtets für beſſer
gedünkt hatten als die Pauker und Horniſten. Ein Reichs⸗
geſetz erklärte ſie ausdrücklich für ehrlich, ſie erhielten nun
feſte Beſtallungen im Heere, an landesherrlichen Höfen wie
bei den reichsſtädtiſchen Magiſtraten, auch durften ſie Lehr⸗
linge annehmen und ausbilden. Später, mit dem Aufblühen
der Kirchenmuſik, ging aus dieſer Gilde der Ratsmuſikanten
oder Kunſtpfeifer gar mancher tüchtige Kantor und Organiſt
hervor. Auch das damals verachtete „Komödiantenvolk“,
der Schauſpielerſtand, erfreut ſich längſt vollſter Gleichſtellung
mit den übrigen Geſellſchaftsklaſſen, freilich nicht ohne harte
und langwierige Kämpfe!
Hoffentlich wird nach dieſen in flüchtigen Strichen ge⸗
zeichneten Bildern deutſcher Vergangenheit der geneigte Leſer
uns beipflichten, daß es unter Umſtänden ſein Mißliches
haben könne, immer die „gute, alte Zeit“ im Munde zu
führen und modernen Verhältniſſen gegenüber als Trumpf
audzuſpielen. Was damals großes Herzeleid und unſäg—
liches Elend verſchuldete, das betrachten wir heute als
überwundenen Standpunkt, wie beiſpielsweiſe das Thema
von den „unehrlichen Leuten“.
a. $lanislas.
Saß mir...
Laß mir die fühle, fefte Hand
Nur eine Weile noch,
Mir ift, als trüge leichter dann
Mein Naden ba8 fchwer Jod;
Zap ftill und feit in meinen Bid
Dein ernithaft Auge weilen,
Verjuhe no, was Du vermagft
An meiner Seele zu heilen.
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Mit Dir erliſcht mein Stern und Troſt
Du klares, reines Licht;
Wie wird mir fehlen überall
Dein herziges Angeſicht!
Dann ſteh' ich wieder ganz allein
Im rauhen Sturmestoſen; ...
O gieb, was Du noch geben kannſt,
Dem Liebe⸗ und Freudeloſen.
Hans Biermann.
Dermifdte Anzeigen.
Bei Schmidt & Günther in Leipzig fit die Fort:
jegung des mit fo großem Beifall aufgenonmenen Wertes
über Napoleon I. von Armand Dayot erjchienen. Nicht
weniger al 57 Tertilluftrationen und 7 Wolbilder und zivar
„Dberftlieutenant Napoleon Bonaparte — Kailer Napoleon 1.”
— „Marie Lonife und der König von Rom.“ (Verſailler
Galerie.) — „Ein Barabetag zur Zeit Napoleons (1810).” —
„Zotenmadle Napoleons.” — „Der lailer“ nad) David. —
„Die große Krönungsprogeffion.“ — „Übergang über den
Niemen am 12. Juni 1812 und Beginn des Krieges bon
1812, 1813, 1814.” — zieren die 14 bi 17. Lieferung diefed
eınpfehlengiverten Prachtwerfes, durd) das die Litteratur über
den großen Croberer und fein Schidjal thatjädhlid) be:
reihert wird.
Das Waltharilied. Ein Heldenjang aus dem 10. Jahr:
hundert im Verßmaße ber Urfchrift überfegt und erläutert von
Prof. Dr. Hermann Althof. (G. D. Söfchen, Leipzig.)
Auf Grund forgfältiger Durdficdt des Lateinifchen Ur-
texte wird hier eine liberfegung bes altehrwürdigen Walthari-
liedes geboten. Gegenüber den vorhandenen zahlreichen, aber
meift lüdenhaften und vielfach, unrichtigen Übertragungen,
von denen die Sceffelö die verbreitetfte fein dürfte, zeichnet
fi) die gegenwärtige Wiedergabe aus, fowohl burd einen
bedeutjamen Fortichritt im Verftändnis des Tertes als auch
durd, tree Wahrung der äußeren Erfcheinung des Crigi—
naleg. E8 ift nit nur die herametriiche Veröform bei:
behalten, jondern aud) bem Augdrud etwas von der ur:
wüdfigen Nauheit der Eprade des St. Galler Möndes
Effehard geblieben.
Freilid) auc; die treuefte und richtigfte Überfegung kann
für fih ung noch nicht ein lücdkenlofes Verftändnis und damit
den vollen Genuß der herrlichen Dichtung gewährleiften. Sit
fie doch geradezu gefpict mit Beziehungen auf uralte beutjche
Sitten und Verhältniffe. Hierüber wird ber Lefer unter:
richtet dur die fortlaufenden und tiefgreifenden Crläute-
rungen, die, für fich betrachtet, eine furzgefaßte deutfche
Altertumsfunde in einer dem Terte folgenden Anordnung
bilden. Möge dag inhaltgreiche, bei billigem Preis beftens
auögeftattete Büchlein dazu beitragen, die Jugend für Art
und Sitte unferer Vorfahren, für die Neinheit, die Straft und
den hohen Adel altdeutichen Heldenfanges zu begeiftern. Der
Preis, 80 Pf. geb., ermöglicht jedem die Anfchaffung.
Das deutfde Drama in den litterarifden Bewegungen
der Gegenwart. VBorlejungen, gehalten an der Uniperfität
Bonn von Berthold Ligmann. Dritte erweiterte
Auflage. (Hamburg und Leipzig 1896, Leopold Voß.)
Wir freuen uns, daß diejem Buche, deffen erjte Auflage
wir unferen Lejern warın empfehlen konnten, cin fo günftiger
Beiblatt der Deutihen Roman:geitung.
12
Stern leudtet. Der Verf. hat einen „Nüdblid und Auss
blid 1896“ angehängt, fonft aber alles unverändert gelaffen.
Und mit Nedht, denn ein aus Vorlefungen entjtandbene® Buch
wirkt in der urfprünglichen Faffung am beften. Den Leiern,
die das Werk nicht kennen und die Entwidelung der deutichen
Bühnendihiung mit Teilnahme verfolgen, jei e8 nochmals
beitens empfohlen.
Weldh” herborragenden Bla Robert Burns in ber
englifchen nicht nur, jondern in der Weltlitteratur einnimmt,
ift befannt. Mit Freuden darf man e8 begrüßen, daß ber
Verlag von Dtto Hendel in Halle a. ©. die Lieder und
Balladen nebft einer Auswahl der Gedichte ded großen
Dichters in feine Zibliotheß der Grfamiliiteratur als
Nr. 930-934 (geb. 1,25 ME., in Leinen geb. 1,50 ME, in
eleg. Geichentband 3 ME.) aufgenommen hat. Gerade jegt,
wo — anı 21. Juli — die Freier der Hunbertfien Wiederfehr von
Nobert Burns’ Todestag ftattgefunden, hat erjcheint die fchöne
Ausgabe doppelt willfommen. Die Heraußgeberin W. Prinz:
horn, unfere Mitarbeiterin, hat nicht nur das VBefte aug den
bisherigen Burnsüberfegungen hier vereint, fondern aud) eine
ftattliche Neihe neuer Ülberiragungen auß ihrer eigenen Feder,
ſowie von F. Dobbert und C. Cornelius beigefügt. Die
folgenden Nummern bringen in zwei Bänden eine Biographie
Sonja Kowalewskys, dieſer geiſtreichen und doch glück—
loſen Frau, und zwar Band J Kindheitéerinnerungen, von ihr
ſelbſt erzählt (Nr. 935, 936, geh. 50 Pf., geb. 75 Pf.);
Band II „Was ich mit ihr zuſammen erlebt und was ſie
mir von ſich erzählt hat“ von Charlotte Leffler (Nr. 937,
938 geh. 50 Pf. geb. 75 Pf. Beide Teile in einem Bande
1,25 Mk.) In vortrefflichen Übertragungen vorliegend, werden
beide Bände in einer Zeit, die die Frauenfrage ſo lebhaft
disſskutiert, beſondere Teilnahme finden. Der folgende Band
vermittelt dem Leſer die Bekanntſchaft des bedeutendſten
nordamerikaniſchen Schriftſtellers Edgar Allan Poe. Seine
Erzählungen wunderbarer und unheimlicher Begebenheiten
in Auswahl (Nr. 939- 942 geh. 1 Mk., geb. 1,25 Mk.)
dürfen ala geradezu Elajfifhe Erzeugnijje in ihrer Art bes
zeichnet werden. Das lebte Bändchen endlid bringt den
vierten Teil der Argonautengeihichten von Bret Harte,
überfegt von Sohannes Ho00p3 (Nr. 943, geh. 25 Pf., geb.
50 Pf). Bret Hartes glänzendes Erzählertalent zeigt fid) aud)
bier im beften Lichte.
Bon der Allgemeinen Aunfigefdidte, in Verbindung
mit andern herausgegeben von 9. Knadfuß, (Verlag von
Belhagen & Klafing in Bielefeld und Leipzig) iſt ſo—
eben die zweite Abteilung erjchienen, mit welcher der crite
Band: „Kunftgeihichte des Altertums und des Mittelalters“
bon Prof. Dr. Mar Sg. Zimmermann fortgejegt wird.
Der geichägte Verfaffer führt darin die beiden Höhepunfte
der griehifchen Stunft, die Zeitalter des Phidiad und des
PBroriteles vor. Außer den fünftleriichen Elementen werden
auch die fufturgejchichtlichen betont, die nicht nur zu Anfang
jedes Abjchnitts zu fehr beachtensmwerten, formpdollendet ges
Schriebenen stulturbildern zufammengefaßt werden, fondern aud)
den übrigen Tert durdfegen. Die Erläuterung der einzelnen
Kunstwerke beweift nicht nırr große Tuellenkenntnis, fondern
auch das Feingefühl, ohne deffen Beihilfe jede Eunftgeichicht-
liche Arbeit im Kerne nüchtern bleibt. Prof. Zimmermann
trägt in fi ein Gutteil nadfchaffender Einbildungsfraft, Die
heute manchem gelehrten Kunfthiftorifer ganz abgeht. &8 ift
lebhaft zu wiünjchen, daß die Yortleger des Werkes ihm darin
gleihen. Wie aud) der Strom der fünftleriichen Entwicke—
a 75
113
lung im ganzen verfolgt wird, und die Darftellung überall
leicht verftänblich ift, fo entfteht ein feffelndes und lebendiges
Gejamtbild, welches den Leer in beitändiger Spannung
erhält. Der Tert wird erläutert dur eine große Tülle
ihöner Abbildungen, die meifterhaft nach ben Urbildern
wiedergegeben find, darunter ift eine Anzahl folcher, die zum
erften Mal veröffentlicht werben. Das fchöne Werk ift nicht
nur für fih eine bedeutjame Erjcheinung auf dem Gebiete
ber Kunftgeichichte, für welche in immer weiteren Kreifen das
lebhaftefte Intereffe erwacht, jondern e8 wird auch ben Bes
figern der befannten Snadfußihen Künftlermonographien
als Ergänzung willfommen jein.
Bir Gebildeten. Nachdenkſame Geſchichten. Von Hans
Schliepmann. Gerlin 1896, Schuſter und Loeffler.)
Der hübſch ausgeſtattete Band enthält ſechs Geſchichten:
„Nöhlers“; „Warum mein Schuſter trinkt“; „Wie ih mid
als ‚Seele von Menſch entdeckte“; „Frei fein!“; „Marie
Kunze“ und „Wenn man Maler zu Freunden hat“. Rein
erzählend ſind nur die letzten zwei, beide in ihrer Art ge⸗
lungen. Aber der Hauptwert des Buches liegt in den anderen.
Scheinbar harmlos enthalten ſie eindringliche Wahrheiten; die
Ironie tritt nur leiſe hervor, aber iſt dennoch ſcharf und
treffend; das Gefühl gehalten und doch kräftig. Dieſe vier
Geſchichten enthalten mehr Belehrendes, als viele Predigten
und erſchüttern ſtellenweiſe jeden, der Herz und Kopf an der
richtigen Stelle trägt. Ich empfehle das Werk —
Leſern angelegentlich.
Jufcamara. Von Paul Garin.
W. Wunderling.)
„Süßbitteres" wie da8 Leben giebt diefes Bud. Dan
braucht nicht dem Urheber ftetö beizuftimmen, Tann fogar in
manchem entgegengejette Anfichten vertreten. Dennoch wird
jeder tiefere Zejer ihm Achtung zollen müffen. Denn biejes
Buch ift ein erlebtes; der Verf. hat das Treiben um fih mit
Klugheit beobachtet, befitt weiten Blid, aber wa8 mir nod)
mehr gilt, er hat ein warmes Gemüt, in dem allein jchließ-
fih aud) der echte Geift wurzelt. Sin mandhem Abfchnitte —
beionder8 dem 15., der die foctalen Fragen behandelt — Ift
mandes zu allgemein gefaßt, und darum fchief, aber e3 findet
fih eine Fülle von wahren und zum Teil bebeutenden Aus-
fprüchen, die ernfter Überlegung wert find. Möge das Bud)
recht viele Käufer und Nachdenter finden. Vielleicht bringe
ih noch einen Abjchnitt in der Beilage. L.
Dramalifde Sandwerksiehre. Von Avonianus.
(Berlin 1895, W. Sleiftftr. 14, Hermann Walther.)
Der Verf. ift ein gebildeter, Eluger Dann; das Wert
ift au für die Schriftfteller, die für die Bühne arbeiten,
bon Wert und enthält vortreffliche TFingerzeige.e Dennoch
macht e3 einen zwielpältigen Eindrud. Der Urheber bat
piel tiefere Einfihten in die wahre Kunft, al® man aus
manchem Ratichlag entnehmen kann. Aber jo oft er aud
auf biele hinweift, andernorts läßt er wieder für ben Durch:
Ichnitt allzuweitherzige Duldung herrſchen. Indeſſen hat das
ben Vorteil, baß fowohl die Handwerler, die feine Kopf:
werker find, ald au Didter, die im Handiwerfe unficher
find, mandes Gute auß dem Buche Ichöpfen können. Dabei
ift der Vortrag lebendig und anregend. (5 ME.) L.
Von den neuſten Heften der Sammlung gemein—
verſtändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, heraus—
gegeben von R.Virchow und Wilh. Wattenbach (Ham⸗
burg, Verlagsanſtalt vorm. J. F. Richter), heben wir
als empfehlungswert folgende hervor:
(Regensburg —
RomansZeltung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
114
Die fieden Schwaben und ifr Bervorragendfier Siflorie-
erapß Ludwig Auerdader- Bon Mar Radlfofer in
Augsburg.
Der Wandel deutfhen Gefühlstedens. Bon Dr. Georg
Steinhaufen (reih an feinen Bemerkungen).
Bom deutfhen Sandwerk und feiner Voefle.
Theodor Ebner, Karläruhe.
Die Nöyflinisden Büder in Mom. Don Dr. Karl
Schulteß.
Bertda von Marenhols-Bülow. Ihr Leben und Wirken
im Dienfte ber Erziehungdlehre Friedrihd Fröbeld. Bon
Henriette Goldfhmidt.
Die Bildung des Sarzgedirges. Bon Otto Lang.
Mit 2 Tafeln in Farbendrud.
Sofdatenlieder aus dem deutf- franzöflfen KArtege
1870,71. Bon Martin Wagner.
Wiiltons Iugendjadre und IZugendwerke. Bon Prof. Dr.
Smmannel Shmibt (mit vorzüglich überfegten Proben),
Die Sammlung bezieht man am beiten als fefter Be-
fteller, dba dann das Heft nur 50 Pf. Eoftet.
Drei EMaus. Bon Ralph Waldo Emerjon, Deutid
bon Thora Weigand. (Münden 1896, Hermann Lula-
ſchik, G. Franzſche Hofbuchhandlung.)
Das Büchlein, von Wilh. Weigand eingeleitet, enthält
drei der beſten Eſſays: Die Weltſeele; Natur; Ausgleichungen,
überſetzt von der Gattin des bekannten Schriftſtellers. Es
ſei gleich bemerkt, daß die Verdeutſchung ſich ſehr gut lieſt.
Was bei Emerſon ſtets wirkt, iſt die Geſinnung; iſt er auch
im ſtrengen Sinne kein thatſächlich ſelbſtändiger Denker, fo
hat er Übernommenes doch eigenartig durchgefühlt und dann
wieder perſoönlich dargeſtellt. Das, was er von Deutſchland
erhielt, den Idealismus, hat er mit Liebe ergriffen, weil er
einem Grundzuge ſeines Weſens entgegenkam. Er regt an,
er erwärmt und darum kann er auf viele Leſer wirken und
ihnen Anſtöße zum ſittlichen Handeln und Fühlen geben.
Die ausgewählten Stücke kennzeichnen den Mann vortreff⸗
lich. Ich empfehle das Heft auch unſeren Leſerinnen beſtens.
L.
Von
Dom Wege.
Von Anna Behniid.
Hinterlift und Bosheit, an ihnen begangen, können bie
Menden vergeben; eins aber verzeihen fie nie: wenn man
größer denkt als fie felber.
Die Menihen mögen uns alles gönnen, was uns das
Schidjal hentt an Slüd und Gunft, — was wir auß
eigener Straft erringen, neiden fie ung body; denn das aus
eigener Kraft Errungene hebt den Wert der Perjönlichkeit
und den vertragen bie wenigften.
%*
DBetrüge den Menihen um feine Jugend und Du unter:
gräbft ihm feine Lebensfähigkeit. Denn wie joll der Herbft
Früchte bringen, wenn ber Frühling feine Blüten hat?
Der Mani) mag vergeffen lernen, aud feine Leiden.
Nur da Traumbild von Glüd vergißt er nie. Und darım
findet er auf Erden feine Ruh!
IV. 650
711
Mit Dir erliſcht mein Stern und Troſt
Du klares, reines Licht;
Wie wird mir fehlen überall
Dein herziges Angeſicht!
Dann ſteh' ich wieder ganz allein
Im rauhen Sturmestoſen; ...
O gieb, was Du noch geben kannſt,
Dem Liebe: und Freudelofen.
Hans Biermann.
Dermildte Anzeigen.
Bei Schmidt & Günther in Leipzig fit die Forl-
fegung de8 mit fo großem Beifall aufgerrommenen Wertes
über Napoleon I. von Armand Dayot erfchienen. Nicht
weniger al8 57 Tertilluftrationen und 7 Volbilder und zivar
„Dberjtlieutenant Napoleon Bonaparte — Kaifer Napoleon I.“
— „Marie Lonife und ber König von Nom.” (Verjailler
Galerie.) — „Ein Baradetag zur Zeit Napoleons (1810).” —
„Zotenmadle Napoleons.” — „Der Haijer“ nad) Tapid. —
„Die große Kıönungsprogeffion.” — „Übergang über ben
Niemen am 12. Juni 1812 und Beginn bes Krieges bon
1812, 1813, 1814.” — zieren die 14 bi8 17. Lieferung diefeö
empfehlenswerten Prachtwerkes, durch das die Litteratur über
den großen Eroberer und ſein Schickſal thatſächlich be—
reichert wird.
Das Waltharilied. Ein Heldenſang aus dem 10. Jahr—
hundert im Versmaße der Urſchrift überſetzt und erläutert von
Prof. Dr. Hermann Althof. (G. D. Göſchen, Leipzig.)
Auf Grund ſorgfältiger Durchſicht des lateiniſchen Ur—
textes wird hier eine Überſetzung des altehrwürdigen Walthari—
liedes geboten. Gegenüber den vorhandenen zahlreichen, aber
meiſt lückenhaften und vielfach unrichtigen Übertragungen,
von denen die Scheffels die verbreitetſte ſein dürfte, zeichnet
ſich die gegenwärtige Wiedergabe aus, ſowohl durch einen
bedeutſamen Fortſchritt im Verſtändnis des Textes als auch
durch treue Wahrung der äußeren Erſcheinung des COrigi—
nales. Es iſt nicht nur die hexametriſche Versform bei—
behalten, ſondern auch dem Ausdruck etwas von der ur—⸗
wüchſigen Rauheit der Sprache des St. Galler Mönches
Ekkehard geblieben.
Freilich auch die treueſte und richtigſte Überſetzung kann
für ſich uns noch nicht ein lückenloſes Verſtändnis und damit
den vollen Genuß der herrlichen Dichtung gewährleiſten. Iſt
ſie doch geradezu geſpickt mit Beziehungen auf uralte deutſche
Sitten und Verhältniſſe. Hierüber wird der Leſer unter—
richtet durch die fortlaufenden und tiefgreifenden Erläute⸗
rungen, die, für ſich betrachtet, eine kurzgefaßte deutſche
Altertumskunde in einer dem Texte folgenden Anordnung
bilden. Möge das inhaltsreiche, bei billigem Preis beſtens
ausgeſtattete Büchlein dazu beitragen, die Jugend für Art
und Sitte unſerer Vorfahren, für die Reinheit, die Kraft und
den hohen Adel altdeutſchen Heldenſanges zu begeiſtern. Der
Preis, 80 Pf. geb. ermoͤglicht jedem die Anſchaffung.
Das deuntſche Drama in den litterariſchen Rewegungen
der Gegenwart. Vorleſungen, gehalten an der Univerſität
Bonn von Berthold Litzmann. Dritte erweiterte
Auflage. (Hamburg und Leipzig 1896, Leopold Voß.)
Wir freuen uns, daß dieſem Buche, deſſen erſte Auflage
wir unſeren Leſern warm empfehlen konnten, ein ſo günſtiger
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
712
Stern leuchtet. Der Verf. hat einen „Rückblick und Aus—
blick 1896“ angehängt, ſonſt aber alles unverändert gelaſſen.
Und mit Recht, denn ein aus Vorleſungen entſtandenes Buch
wirkt in der urſprünglichen Faſſung am beſten. Den Leſern,
die das Werk nicht kennen und die Entwickelung der deutſchen
Bühnendichtung mit Teilnahme verfolgen, ſei es nochmals
beſtens empfohlen.
Welch' hervorragenden Platz Robert Burns in der
engliſchen nicht nur, ſondern in der Weltlitteratur einnimmt,
iſt bekannt. Mit Freuden darf man es begrüßen, daß der
Verlag von Otto Hendel in Halle a. S. die Lieder und
Balladen nebſt einer Auswahl der Gedichte des großen
Dichters in ſeine Zibliothheß der Gefamilitteraiur als
Nr. 930 - 934 (geh. 1,25 Mk., in Leinen geb. 1,50 ME, in
eleg. Geſchenkband 3 Mk.) aufgenommen hat. Gerade jetzt,
wo — am 21. Juli — die Feier der hundertſten Wiederkehr von
Robert Burnd' Todestag ſtattgefunden, hat erſcheint die ſchöne
Ausgabe doppelt will kommen. Die Herausgeberin W. Prinz—
horn, unſere Mitarbeiterin, hat nicht nur das Beſte aus den
bisherigen Burnsüberſetzungen hier vereint, ſondern auch eine
ſtattliche Reihe neuer übertragungen aus ihrer eigenen Feder,
ſowie von F. Dobbert und C. Cornelius beigefügt. Die
folgenden Nummern bringen in zwei Bänden eine Biographie
Sonja Kowalewskys, dieſer geiſtreichen und doch glück—
loſen Frau, und zwar Band J Kindheitéerinnerungen, von ihr
ſelbſt erzählt (Mnr. 935, 936, geh. 50 Pf., geb. 75 Pf.);
Band 11 „Was ich mit ihr zuſammen erlebt und was ſie
mir von ſich erzählt hat“ von Charlotte Leffler (Nr. 937,
938 geh. 50 Pf., geb. 75 Pf. Beide Teile in einem Bande
1,25 Mk.) In vortrefflichen Übertragungen vorliegend, werden
beide Bände in einer Zeit, die die Frauenfrage ſo lebhaft
disſskutiert, beſondere Teilnahme finden. Der folgende Band
vermittelt dem Leſer die Bekanntſchaft des bedeutendſten
nordamerikaniſchen Schriftſtellers Ebgar Allan Poe. Seine
Erzählungen wunderbarer und unheimlicher Begebenheiten
in Auswahl (Nr. 939 - 942 geh. 1 Mk., geb. 1,25 ME.)
dürfen als geradezu klaſſiſche Erzeugniſſe in ihrer Art be—
zeichnet werden. Das letzte Bändchen endlich bringt den
vierten Teil der Argonautengeſchichten von Bret Harte,
überſetzt on Johannes Hoops (Ar. 943, geh. 25 Pf., geb.
50 Pf.). Bret Hartes glänzendes Erzählertalent zeigt ſich auch
hier im beſten Lichte.
Von der Allgemeinen Kuuſtgeſchichte, in Verbindung
mit andern herausgegeben von H. Knackfuß, (Verlag von
Velhagen & Klafing in Bielefeld und Leipzig) ift fo=
eben die zweite Abteilung erjchienen, mit welcher der crfte
Band: „Kunftgeihichte des Altertuns und des Mittelalters“
bon Prof. Dr. Mar Sg. Zimmermann fortgejegt wird.
Der geihägte Verfaffer führt darin die beiden Höhepunfte
der griediihen Kunft, die Zeitaller des Phidias und des
Proritele3 vor. Außer den fünftlerifchen Elementen werden
auch die fufturgeihichtlihen betont, die nicht nur zu Anfang
jedes Abfchnitts zu fehr beachtenswerten, formvollendet ge=
ihriebenen Nurlturbildern zufammengefaßt werden, fondern aud)
ben übrigen Tert durdfegen. Die Erläuterung der einzelnen
SKunftwerfe beweift nicht nur große Quellenfenntni3, fondern
aud) das Teingefühl, ohne defjen Beihilfe jede Eunftgeicdhicht-
liche Arbeit im Kerne nüchtern bleibt. Brof. Zimmermann
trägt in fi ein Gutteil nadjschaffender Einbildungsfraft, die
heute manchem gelehrten Kunfthiftorifer ganz abgeht. E38 tjt
lebhaft zu wünjchen, daß die Fortfeger bes Werkes ihm darin
gleihen. Wie aud) der Strom der fünftlerifchen Entmwides
113
fung im ganzen verfolgt wird, und bie Darftellung überall
leicht verftändlich ift, fo entiteht ein feffelndes und lebendiges
Gejamtbild, welches den Leer in bejtändiger Spannung
erhält. Der Tert wird erläutert durch eine große Fülle
ihöner Abbildungen, die meifterhaft nad den Urbilbern
wiedergegeben find, darunter ift eine Anzahl folcher, die zum
erften Mal veröffentlicht werben. Das jhöne Werk ift nicht
nur für fih eine bedeutjame Erjheinung auf dem Gebiete
ber Sunftgeichichte, für welche in immer weiteren reifen das
lebhaftefte Sntereffe erwacht, jondern e3 wird auch den Bes
figern der befannten Snadfupihen Künftlermonographien
als Ergänzung willflommen fein.
Wir Gebtldeten. Nachdenkſame Geihichten. Bon Han
Schliepmann. (Berlin 1896, Schufter und Xoeffler.)
Der hübfch ausgeftattete Band enthält jeh8 Geihichten:
„Nöhlers*; „Warum mein Schufter trinkt“; „Wie ih mid
ald ‚Seele von Menih“ entdedte”; „rei jein!“; „Marie
Kunze“ und „Wenn man Maler zu renden hat“. Nein
erzählend find nur die letten zwei, beide in ihrer Art ge=
lungen. Aber der Hauptwert des Buches liegt in ben anderen.
Scheinbar harmlos enthalten fie eindringlihe Wahrheiten; bie
Sronie tritt nur leife hervor, aber ift dennoch fcharf und
treffend; das Gefühl gehalten und doch Fräftig. Diele vier
Geihichten enthalten mehr Velcehrendes, als viele Prebigten
und erjchüttern ftellenweife jeden, der Herz und Kopf an ber
richtigen Stelle trägt. Ich empfehle das Werk unieren
Lefern angelegentlich. 8
Dulcamara. Bon Paul Bartn.
W. Wunderling.)
„Süßbitteres* wie das Leben giebt biejes Bud. Man
braucht nicht dem Urheber fteiß beizuftimmen, fann ſogar in
manchem entgegengejegte Anfichten vertreten. Dennod wird
jeder tiefere Lefer ihm Achtung zollen müffen. Denn diejes
Bud ift ein erlebte8; der Verf. hat das Treiben um fi) mit
Klugheit beobachtet, befigt weiten Blic, aber was mir nod
mebr gilt, er hat ein warmes Gemüt, in dem allein fchließ-
lich auch der echte Geift wurzelt. In mandem Abichnitte —
beionders dem 15., der die joctalen ragen behandelt — ft
mandjes zu allgemein gefaßt, und darum fchief, aber es findet
fih eine Fülle von wahren und zum Teil bedeutenden Aus-
fprüchen, die ermfter Überlegung wert find. Möge das Bud)
recht viele Käufer und Nachdenker finden. Vielleicht bringe
ih nod) einen Abfchnitt in der Beilage. L.
Dramaliſche Handwerſislehre. Von Avonianus.
(Berlin 1895, W. Kleiftftr. 14, Hermann Walther.)
Der Verf. ift ein gebildeter, Eluger Mann; das Wert
ift auch für bie Schriftfteller, die für die Bühne arbeiten,
von Wert und enthält vortreffligde Yingerzeige.e Dennod
macht e3 einen zwielpältigen ECindrud. Der lirheber hat
viel tiefere Einfihten in die wahre Stunft, al man aus
mandem Ratihlag entnehmen kann. Aber fo oft er aud)
auf diefe hinweift, andernorts läht er wieder für den Durdh-
Schnitt allzumeitherzige Duldung herrien. Snbeffen hat das
den Vorteil, daß fowohl die Handwerker, die feine Kopf:
werfer find, al8 au Dichter, die im Handwerke unſicher
find, manches Gute aus dem Buche Ihöpfen können. Dabei
ift der Vortrag lebendig und anregend. (5 ME.) L.
Von den neuſten Heften der Sammlung gemein—
verſtändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, heraus—
gegeben von R. Virchow und Wilh. Wattenbach (Ham⸗
burg, Verlagsanſtalt vorm. J. F. Richter), heben wir
als empfehlungswert folgende hervor:
(Regensburg 1896,
Reomanszeliung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
114
Die ſteben Schwaben und ihr Bervorragendfier Siflorie-
graph Audwig Auerbacher. Von Max Radlkofer in
Augsburg.
Der Wandel deutfhen Gefühlsießens. Bon Dr. Georg
Steinhaufen (rei an feinen Bemerkungen).
Yom deutfhen Sandwerk und feiner Poeſte.
Theodor Ebner, Karlöruhe.
Die fiöyflinishen HBüder in Mom. Bon Dr. Karl
Sdulteß.
Bertda von Narenfolg-ülow. Ihr Leben und Wirken
im Dienſte der Erziehungslehre Friedrich Fröbels. Von
Henriette Goldſchmidt.
Die Bildung des Harzgebirges. Von Otto Lang.
Mit 2 Tafeln in Farbendruck.
Soſdatenſfieder aus dem deuntſch⸗ frauzoͤſtſchen Kriege
1870,71. Bon Martin Wagner.
Miltens Ingendjaßre und Iugendwerke. Von Prof. Dr.
Smmanuel Shmibt (mit vorzüglich überjegten Proben),
Die Sammlung bezieht man am beften als feiter Be⸗
fteler, da dann das Heft nur 50 Pf. Eoitet.
Drei EMayus. Bon Ralph Waldo Emerjon, Deutih
von Thora Weigand. (München 1896, Hermann Luflas
ſchik, G. Franzſche Hofbuchhandlung.)
Das Büchlein, von Wilh. Weigand eingeleitet, enthält
drei der beſten Eſſays: Die Weltſeele; Natur; Ausgleichungen,
überſetzt von der Gattin des bekannten Schriftſtellers. Es
ſei gleich bemerkt, daß die Verdeutſchung ſich ſehr gut lieſt.
Was bei Emerſon ſtets wirkt, iſt die Geſinnung; iſt er auch
im ſtrengen Sinne kein thatſächlich ſelbſtändiger Denker, ſo
hat er Übernommenes doch eigenartig durchgefühlt und dann
wieder perſönlich dargeſtellt. Das, was er von Deutſchland
erhielt, den Idealismus, hat er mit Liebe ergriffen, weil er
einem Grundzuge ſeines Weſens entgegenkam. Er regt an,
er erwärmt und darum kann er auf viele Leſer wirken und
ihnen Anſtöße zum ſittlichen Handeln und Fühlen geben.
Die ausgewählten Stücke kennzeichnen den Mann vortreff⸗
lich. Ich empfehle das Heft auch unſeren Leſerinnen beſtens.
L.
Von
Dom Wege.
Bon Anna Mehniid.
Hinterlift und Bosheit, an ihnen begangen, können bie
Menichen vergeben; eins aber verzeihen fie nie: wenn man
größer dentt als fie jelber.
Die Menihen mögen uns alles gönnen, was uns dag
Schidjal jhentt an Glüd und Gunft, — was wir aus
eigener Kraft erringen, neiden fie und doch; denn das aus
eigener Kraft Errungene hebt den Wert der Perfönlichkeit
und den vertragen die wenigjten.
*
Betrüge den Menihen um feine Jugend und Du unter:
gräbft ihm feine Lebensfähigkeit. Denn wie joll der Herbft
srüdte bringen, wenn der Frühling feine Blüten hat?
Der Menih mag vergeffen Iernen, auch feine Leiden.
Nur dag Traumbild von Glüd vergißt er nie. Und darım
findet er auf Erden feine Ruh!
IV. 50
115
Könnt Ihr einen Menjchen zum Glüdlichfein zwingen?
Seht doc mit Euren Bemweifen und Yolgerungen, daß er
eigentlich glüdlic fein müßte, wenn — ja, wenn er ebenio
dädhte und fühlte wie Ihr. — Und ob er recht Hat oder nicht
mit feinen Gründen zum Unglüdlichfein, genügt Euch nicht
die Thatfache „er ift unglüdlih” zum Mitleid?
Vermiſchtes.
Vrofeſſor Auger von der Wiener Univerſität war wegen
ſeines Witzes berühmt. Eines der Hauptobjekte von Ungers
Witz war ein Abgeordneter, der durch ſeine Eitelkeit be—
rühmter geworden, als durch ſeine ſonſtigen Leiſtungen.
Als man in einer Geſellſchaft eine kleine Schwäche des
Dr. *** beſprach, meinte Unger: „Das iſt eine von ſeinen
vier Achillesferſen.“ Und ein andermal: „Diefer Dr. *** ift
doch bewundernswert. Wenn heute ein neues inridifches
Werk erfcheint, hat er ed morgen mißverjtanden und fchreibt
übermorgen einen Artikel darüber.” ... Bon einem Staat3-
manne, ber in jeiner geiftigen Entwidelung ein wenig zurüd:
geblieben war, meinte Unger: „Welcher Unterjchied ift zwiichen
Gincinnatus und Graf 9?" — Antwort: „ALS Cincinnaius
fi) von den Staatsgeichäften zurüdzog, ging er hinter dem
Pfluge; wenn Graf 2) dasjelbe thut, muß er vor dem Pfluge
gehen.“ ..... Einen öfterreihifchen Yinanzminifter, der von
matellofer Chrlidfeit, aber fonjt eben fein Genie war,
Harakterifierte er mit den Worten: „Tiefer Dienih ift zu
allem fähig, wenn e8 ihm nur nichts trägt.“ Und von ihm
fol auch die Bemerkung über ein Minifterium ftammen:
„Die eine Hälfte ift zu nichts fähig, die andere zu allem.“
Eines Tages wurde das Erydenkmat des großen Philo-
fophen Kant in Königsberg durd ein Breiterhäuschen ums
fleidet, um dasjelbe biß zur Vollendung eines benadbarten
Baue3 vor Staub und anderweitiger Beihädigung zu jchügen.
Gerade in den Tagen, da bieß geichehen war, langte
ein Engländer aus Peteröburg an und mwünfchte dringend
dad Denkmal des großen Weltweijen fennen zu lernen.
Da diefeg nun eben nicht fidtbar war, fo flug der
Hotelwirt dem Mylord vor, alle möglichen Herrlichkeiten, Die
die Stadt fonft biete, erft in Augenfchein zu nehmen.
Mylord verweigerte alles, ihm war nur an der Stant-
ftatue gelegen.
Um num nicht einzugeftehen, daß diefe, von dem renden
als einzige betrachtete Sehenömwäürbigfeit gerade augenblidlic
nicht in der Lage fei, Befuche zu empfangen, und dem Eng:
länder jeinen Wunfd wenigftens jcheinbar zu erfüllen, erfand
der Hotelwirt folgenden Ausweg. Er erbot fid), den Sremben
felbft zu der Kantftatue zu begleiten, und führte ihn auf den
Plat vor der Univerfität vor das Neiterftandbild Friedrich
Wilhelm III von ip.
Mit großem Syntereffe betrachtete der Engländer ben
Pfeudo:Stant, äußerte jedoch jein Befremden, daß der große
Weltweiſe in Uniform verewigt ei.
„Sa, jehen Sie,” ertgegnete der gewandte Gicerone,
ohne fich verblüffen zu laffen, „bei uns in Deutichland ift
eben jeder Soldat. Zies Erzbild wurde gerade zu der Zeit
angefertigt, al8 Sant fein Jahr abdiente.”
Und befriedigt 30g der Sohn Albions von dannen.
Beiblatt der Deutihen Roman-gBeitung.
Der Adnig Friedrih ZWBlihelm I. jah ed nicht ungern,
wenn ihm von feinen Untertanen Gejchenfe in die Hoffücdhe :
716
gemacht wurden. Er äußerte fich darüber mit treuherziger
Gutmütigfeit, daB er folche Beweife der Zuneigung gar nicht
übelnähme, da ohne Zweifel auf feine Tafel dadurch beijere
Epeifen fümen, als die fein Küchenmeifter einfaufte Gin
Kandidat der Gottergelahrtheit aus Wefifalen hatte hiervon
gehört, und da eine Predigerftelle erledigt war, jo bat er
unmittelbar den König um deren Verleihung und fanbdte
ihm zugleich zwei geräucherte Schinken. Friedrih Wilhelm
war jehr ungehalten darüber, die Schinken aber waren ganz
nah feinem Gefhmad. Auf die Eingabe bes Kandidaten
ließ er, indem er fie ber oberften geiftlihen Behörde zus
fandte, die Verfügung jchreiben, dem Supplifanten die ers
betene Sielle zu erteilen, fallß er in der Prüfung gehörig
befunden wäre und fid) fonft dazu eigne. E8 fiel ihm aber
nod ein, daß in diejer Eingabe be Gefchenfes der Schinten
ansdrüdlih Erwähnung gethan jei, und deshalb fügte er
als Nahichrift eigenhändig Hinzu: „Fressibilia non sunt
Bestechia.“
GEBarles Gravier, Graf von Bergennes, war unter
Ludwig dem Sechhzehnten Minifter des Auswärtigen, als
welder er ben Allianzvertrag mit den um ihre Unab-
hängigfeit von England Tämpfenden Bereinigten Staaten
von Nordamerila abihloß. WDiehr aber als durch jeine
Staatsaktionen hat er fein Gedädtnis in ter diplomatischen
MWelt erhalten durch die von ihm erfundenen und nad ihm
benannten Karten. BDiejelben dienten ala Bälle oder Em=
pfehlungsbriefe, welche von ben diplomatischen Vertretern
Tranfreihs im Auslande nad Franfreid) reifenden Fremden
mitgegeben wurden. Anjcheinend von der größten Harm⸗
Iofigfeit und Liebenswürbigfeit, enthielten fie doch durch ihre
Form, Barbe und äußere Ausftattung das eingehendfte
Signalement bed Trägerd, ohne daß diejer eine Ahnung
davon hatte, welche Mitteilungen über fich jelbit er mit der
Karte übergab, auf welcher er nichts weiter laß alö feinen
Namen und darunter in drei Zeilen, daß er von Herm ©o
und So, Gefandten an dem unb dem Hofe, dem Herrn
Grafen von Bergenned empfohlen werde.
Die Zorın der Karte gab zunädft Aufihluß über das
Alter des Überbringes; pieredig, länglich, fymal, breit, rund,
breiedig u. j. mw. bezeichnete jedes einen Zeitabjchnitt wie
zwifchen 25 und 30, zwiichen 30 und 40 u. |. w. Die Farbe
der Karte nannte die Nationalität des Befiterd; der Eng:
länder erhielt fie gelb, der Spanier rot, der Portugieje weiß,
ber Deutihe grün, der Staliener rot und weiß, der Aufie
grün und weiß u. j. wm. Die Interpunftion biente zur Bes
zeihnung der Religion. Ein Bunkt hinter dem Namen ließ
den Katholiken, ein Semifolon den Zutheraner, ein Komma
den Nalpiniften, ein Gedantenftrid) den Sjuden erfenten;
fehlie da8 Zeichen, To wußte der Diinifter, er habe «3 mit
einem Aiheiften zu thun. Die Gemütsart fymbolifierte eine
am ande der Karte befindliche Blume; eine Nofe erzählte
von einem offenen, zugängliden Wejen, eine Tulpe von
Stolz, ein VBeilhen von Beicyeidenheit, eine Mohnblume von
Verichloffenheit.e. Die Breite eines ring® um die Karte
laufenden Streifen verriet ihn ald unverheiratet, verheiratet
oder Witwer; Arabesfen, die anfcheinend nur zum Schmud
der Karte dienten, fegten den Minifter in Wahrheit davon
in Kenntnis, ob er einen Naufbold oder einen friedliebenden
Mann, einen Spieler und Berfchwender oder einen guten
Haußhalter, einen Mann von Vermögen und Einfluß oder
einen armen Schluder vor fid} habe und belehrten ihn ferner
über den Beruf des Empfohlenen, über den Ywed jeiner
717
Reife nah Yranfreid und endlich darüber, ob er als un
ruhiger Kopf zu überwachen jei, ober ob man ihn unbehelligt
feine Straße ziehen lafjen könne.
Herr von Vergennes hatte daB Üüberwachungsſyſtem
über die Fremden zu einer großen Vollkommenheit gebracht;
er vermochte die Ideen, welde in Tsranfreich felbft geboren
und groß gezogen wurben, nicht zu unterbrüden; zwei Jahre
nad) feinem Tode — er ftarb 1787 — schlugen fie empor
zu einem Ylammenmeer, da man die franzöfiiche Revolution
nennt; e3 gingen darin nod) ganz andere Dinge unter, ala
die Karten bed Herrn von Vergennes.
us dem Seben für das Seben.
Von O. v. J.
Ceſare Lombroſo und einige ſeiner Nachbeter halten alle
Genies für verrückt. Da giebt es nur zwei Möglichkeiten:
entweder iſt Lombroſo ein Genie und daher wahnſinnig.
Da braucht man ſeine Kundgebungen nicht zu beachten.
Oder er iſt „normal“ und daher kein Genie, ſondern ein
Schwätzer. Da braucht man ſich um ſeine Weisheit noch
weniger zu bekümmern. Warum aber hat er bei der Menge
ſo großen Erfolg? Ich glaube, weil es den Leuten ſchmeichelt,
ſich ſelbſt als „normal“ anſehen zu dürfen.
*
Je mehr wahrhaftig Du wirſt, deſto mehr Menſchen
werden von Dir abfallen. Es giebt viele, die von uns
Lügen verlangen, obwohl ſie wiſſen, daß es Lügen ſind.
Aber ſchließlich iſt der Verluſt ſolcher ein Gewinn. Denn
frei kann man nur im Kreiſe Wahrhafter leben. Jeder
andere Umgang entadelt.
*
Wer fein Jcy vergdttert, wird einmal bemerfen, Daß er
fih dem Teufel verjchrieben hat.
*
Glücklich ſind ſolche Menſchen, die jede Grenze ihrer
Begabung erkennen und mit Liebe das Kleine ſchaffen, das
ſie leiſten können. Und ſei ihre Gabe noch ſo beſchränkt, ſie
beſitzen neben ihr ein Großes: unbewußte Lebensweisheit.
x
Die beiten Bücher find Wegiveijer in Dich felbft. Was
Du braudft, fannft Du vollflommen nur in Dir finden.
*%
Die Natur betrügt und nie; wir aber betrügen uns
dur) das, wa3 wir in fie hineinlegen und dann heraußlejen.
Die Naturwiflenfhaft nennt diefen Selbftbeirug „erafte
Methode“.
*
E3 ift unter Umftänden auf jedem Willensgebiete mehr
verdienftreih, Fragen nen zu fallen, als einen Berg bon Ant:
worten aufzulürmen. Wenn die materialiftiiche Naturwifjen-
fhaft fih vor allem die Frage neu ftellte: „Inter weldyen Be:
dingungen erkenne ich die Natur?” — fo würde fie fich jelbft
am meiften nügen. Aber fie vermeidet cd. Denn die einzige
Antwort: „unter geiftigen Bedingungen“ will fie no nidt
hören. Uber einmal wird fie hören müffen. Und dann
wird fie jelbft der materialijtiihen Weltauffaffung den
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
— — — — — —— — — — —
718
Gnadenſtoß geben. Obwohl dieſe ſchon vorher von der
Philoſophie totgeſchlagen war.
Ein weiſer Mann findet ſtets auch dem ſchlichteſten
Menſchen gegenüber innere Anknüpfung. Nur hochmütige
Halbbildung weiß nicht, „was man mit ſolchen Leuten
ſprechen ſoll“.
Die Berühmtheit iſt ein unſicherer Wechſel.
nicht, ob ihn die Zukunft einlöſen werde.
%
Wer in den Honigmonden allen Honig verbraudt, darf
fih nicht wundern, wenn ihm bie Ehe balb bitter jchmedt.
*
Was in der „Welt* eine Dame ift, fann zu Hauje ein
Drade fein. Die edle Frau bleibt fi) Hier und dort gleich.
Ein Sonnenblid fanıı mehr Glück in ih bergen, als
ein Sonnentag.
Dan weiß
Im Entwidelungögange unferes Lebens wadlen wir
aud) über mandes Speal hinaus und fchaffen ung auf höheren
Stufen neue. Aber aud) die überwundenen follen wir nic-
mal3 veripotten, jo thöricht fie der reiferen Einficht erfcheinen
mögen. Wie im Eymbol ift in ihnen eingeichloffen das
Streben und SIrren unjerer Werdezeit. Niemand aber foll
folhe abgethane Speale fünftlich vergolden, er täufcht fich
dann nur über feine eigene Entwidelung.
*
Dir ſelbſt mußt Du die Wahrheit auch dann ſagen,
wenn ſie Tich zum Erröten zwingt. Wohl iſt das demütigend,
aber die aufſteigende Scham belehrt Dich, daß Dein Innerſtes
die Handlung verurteilt und das Leitbild edleren Thuns in
ſich trägt.
Briefkaſten.
Frl. A. Gr. in B. Leider nicht verwendbar. — Hrn. Th. H.
iun M. Angenommen. — Mignonne. „Etwas über die
Liebe“ iſt im Vortrag leider zu geziert. — Frau S. B. in Sch.
Warm empfunden, aber zu formlos. — Herrn Ref. Th. in.
Gewiß kann uns jeder als „Erzieher“ dienen, aus deſſen
Schriften wir für unſer Fühlen, Vorſtellen, Denken Anſtöße
zu ſittlichem Wollen gewinnen können. Die Gefahr liegt
aber darin, daß wir die Einflüffe nur „äiſthetiſch“ faſſen,
d. 5. mit einem Wohlgefallen aufnehmen, in dem fich der
Einfluß erfhöpft. Wir erzeugen dann, uns im Worbilde
ipiegelnd, Scheingefühle, mit denen wir ein uns gefälliges
Spiel treiben; da aber fann beftehen, ohne daß unjer
Handeln fi im geringften ändert. Darum find auch Tichter
als Erzieher am meiften gefährlich. Durch die Form wirken
fie oft fo mädtig, daB fih in der Hingabe an deren Reiz
unfere Seraft erichöpft. Der Dann foll den „Erzieher* in
fih fuchen, in feinem „Selbjt“ den inneren Chriftus, den
„Sottesiplitier“, den er in fih trägt. Nur was aus diejer
Duelle fließt, Iebt in Wahrheit, nur darin wirkt tiefites
Wollen, das zugleid) Freiheit in fi Ichließt. Iede „Maxime“,
die wir von außen aufnehmen, wird al® Frembes gefühlt,
715
Könnt Shr einen Menjchen zum Glüdlichfein zwingen?
Geht doc mit Euren Beweifen und Yolgerungen, daß er
eigentlich glüdlich jein müßte, wenn — ja, wenn er ebenio
dächhte und fühlte wie Shr. — Und ob er redjt Hat oder nicht
mit feinen Gründen zum Unglüdlicjjein, genügt Euch nidjt
die Thatfache „er ift unglüdlih“ zum Mitleid?
Vermiſchtes.
Vrofeſſor Auger von der Wiener Univerſität war wegen
ſeines Witzes berühmt. Eines der Hauptobjekte von Ungers
Witz war ein Abgeordneter, der durch ſeine Eitelkeit be—
rühmter geworden, als durch ſeine ſonſtigen Leiſtungen.
Als man in einer Geſellſchaft eine kleine Schwäche des
Dr. *** heſprach, meinte Unger: „Das iſt eine von ſeinen
vier Achillesferjen.” Und ein andermal: „Dieſer Dr. *** ift
doch bewundernswert. Wenn heute ein neues juridiſches
Werk erſcheint, hat er es morgen mißverſtanden und ſchreibt
übermorgen einen Artifel darüber.” ... Von einem Staat3-
manne, ber in feiner geiftigen Entwidelung ein wenig zurüds
geblieben war, meinte Unger: „Welcher Unterfchied ift zwiichen
Gincinnatus und Graf Y?* — Antwort: „ALS Cincinnatus
fih von den Staatögeihäften zurüdzog, ging er hinter dem
Pfluge; wenn Graf Y dasfelbe thut, muß er bor dem Pfluge
geben.“ .... Einen öfterreihifchen Yinanzminifter, der von
matellofer Ehrlichkeit, aber fonft eben fein Genie war,
harakterifierte er mit den Worten: „Diefer Dienfh ift zu
allem fähig, wenn e8 ihm nur nicht® trägt.“ Und von ihm
fol auch die Bemerkung über ein Minifterium ftammen:
„Lie eine Hälfte ift zu nichts fähig, die andere zu allem.“
Eines Tages wurde das Erzdenkmal bed großen Philo-
fophen Kant in Königsberg dur ein Bretterhäuschen ume
fleidet, um basfelbe bi8 zur Vollendung eines benachbarten
Baues vor Staub und anderweitiger Beihädigung zu Ichügen.
Gerabe in den Tagen, ba bieß gejdhehen war, langte
ein Engländer auß Petersburg an und wünfchte dringend
dag Denkmal bed großen Weltweifen fennen zu lernen.
Da diefes nun eben nicht fihtbar war, fo Ichlug der
Hotelwirt dem Mylorb vor, alle möglichen Herrlichleiten, die
bie Stadt fonft biete, erft in Augenjchein zu nehmen.
Mylord verweigerte alles, ihm war nur an der Kants
ftatue gelegen.
Um nun nit einzugeftehen, daß diefe, von dem Fremden
als einzige betrachtete Sehenswürdigkeit gerade augenblicklich
nicht in ber Lage fei, Beluche zu empfangen, und dem Eng:
länder feinen Wunjch wenigftens Scheinbar zu erfüllen, erfand
der Hotelwirt folgenden Ausweg. Er erbot fi, ben Fremden
felbft zu der Kantftaiue zu begleiten, und führte ihn auf den
PBlat bor der Univerfität vor da8 Neiterftandbild Triedrid)
Wilhelm III von Kiß.
Mit großem ntereffe betrachtete der Engländer den
Pfeubo-Stant, äußerte jedoch fein Befremden, daß der große
Weltweije in Uniform verewigt fei.
„Sa, jehen Sie,“ ertgegnete der gewandte Gicerone,
ohne fi verblüffen zu laffen, „bei uns in Deutichyland ift
eben jeder Soldat. Dies Erzbild wurde gerade zu ber Zeit
angefertigt, als Kant fein Jahr abdiente.*
Und befriedigt 30g der Sohn Albions von dannen.
der König Friedrih Wilhelm I. jah «3 nicht ungern,
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
wenn ihm von feinen Unterthanen Gejchenfe in die Hofküdje :
716
gemacht wurden. Er äußerte fi darüber mit treuherziger
Gutmütigfeit, daß er jolche Beweife der Zuneigung gar nidt
übelnähme, da ohne Zweifel auf feine Tafel Dadurd) befiere
Epeijen fümen, als die fein Küchenmeifter einfaufte. Gin
Kandidat der Gotteggelahriheit aus Wefifalen hatte hiervon
gehört, und da eine Predigerftelle erledigt war, jo bat er
unmittelbar den König um deren Verleihung und janbte
ihm zugleich zwei geräudherte Schinken. Friedridh Wilhelm
war fehr ungehalten darüber, die Schinten aber waren ganz
nah jeinem Geihmad. Auf die Eingabe des Kandidaten
ließ er, indem er fie der oberften geiftlihen Behörde zu⸗
fandte, die Verfügung fchreiben, dem Supplifanten die ers
betene Stelle zu erteilen, fall8 er in der Prüfung gehörig
befunden wäre und fi) font dazu eigne. E3 fiel ihm aber
nody ein, daß in diefer Eingabe des Gefcdenfes der Schinken
ausdrüdlih Erwähnung gethan fei, und deshalb fügte er
als Nadjihrift eigenhändig Hinzu: „Fressibilia non sunt
Bestechia.“
GBarles Gravier, Graf von PVergennes, war unter
Ludwig dem Schhzehnten Diinifter de Auswärtigen, als
welher er den Alliangverirag mit den um ihre linabs
hängigfeit von England Tämpfenden Vereinigten Staaten
bon Nordamerifa abfhloß. Wehr aber als burd feine
Staatsaktionen hat er fein Gedächtnis in ter diplomatischen
MWelt erhalten durd) die von ihm erfundenen und nah ihm
benannten Karten. Diejelben dienten als Bälle oder Ems
pfehlungsbriefe, welche von den diplomatischen Vertretern
Frankreichs im Auslande nach Frankreich reifenden Fremden
mitgegeben wurben. Anfcheinend von der größten Haruie
lofigfeit und Liebenswürbdigfeit, enthielten fie doch durch ihre
Form, Tarbe und äußere Ausflattung das eingehenbdite
Signalement des Trägers, ohne daß diejer eine Ahnung
davon hatte, welhe Mitteilungen über fich felbit er mit ber
Karte übergab, auf welcher er nicht? weiter la® als feinen
Namen und darunter in drei Zeilen, daß er von Herrn Eo
und So, Gefandten un dem und dem Hofe, dem Herrn
Grafen von Vergennes empfohlen werde.
Die Form der Karte gab zunädft Aufichluß über das
Alter des Überbringes; vieredig, länglich, [hmal, breit, rund,
dreiedig u. j. mw. bezeichnete jedes einen Beitabfchnitt wie
zwiichen 25 und 30, zwifchen 30 und 40 u. f. w. Die Farbe
der Karte nannte die Nationalität de3 Befiterd; der Eng:
länder erhielt jie gelb, der Spanier rot, der Portugiefe weiß,
der Deutsche grün, der Staliener rot und weiß, der Auffe
grün und weiß u. f. w. Die Interpunftion diente zur Bes
zeihnung der Religion. Ein Punkt hinter dem Namen lieb
den Katholifen, ein Semifolon ben Zuiheraner, ein Komma
den Salpviniften, ein Gedankenftrih den Juden erkennen;
fehlie da8 Zeichen, jo wußte der Minifter, er babe e3 mit
einem Atheiften zu thun. Die Gemütdart iymbolifierte eine
am Nande der Karte befindliche Blume; eine Nofe erzäplte
bon einem offenen, zugänglihen Wejen, eine Tulpe von
Stolz, ein Beilden von Beicyeidenheit, eine Mohnblume von
Verichloffenheit.e. Die Breite eines ıings um Die Sarte
laufenden Streifen® verriet ihn alö unverheiratet, verheiratet
oder Witwer; Arabeöfen, die anfcheinend nur zum Schmud
der Starte dienten, jeßtern den Minifter in Wahrheit davon
in Kenntnis, ob er einen Raufbold oder einen friedliebenden
Mann, einen Spieler und Verjchwender oder einen guten
Haußhalter, einen Mann von Vermögen und Einfluß oder
einen armen Schluder vor lid habe und belchrten ihn ferner
über ben Beruf des Empfohlenen, über den Zwed jeiner
717
Reife nah Sranfreih und endlich darüber, ob er als un-
rubiger Kopf zu überwachen fei, oder ob man ihn unbehelligt
jeine Straße ziehen laffen könne.
Hear don DVergennes hatte das Überwachungsſyſtem
über bie Tsremden zu einer großen Vollfommenheit gebradit;
er vermochte die Sdeen, welche in Frankreich jelbit geboren
und groß gezogen wurden, nicht zu unterdrüden; zwei Jahre
nah feinem Tode — er ftarb 17387 — ſchlugen fie empor
zu einem Tlammenmeer, das man die franzöfifche Revolution
nennt; e3 gingen darin nod) ganz andere Dinge unter, als
die Karten des Herrn von Vergennes.
us dem ‚Seben für das Sehen.
Von ®@.v. LS
Gejare Lombrofo und einige feiner Nachbeter Halten alle
Genies für verrüdt. Da giebt e8 nur zwei Möglichkeiten:
entweder ift Qombrofo ein Genie und daher wahnfinnig.
Da dbrauht man feine Kundgebungen nicht zu beadıten.
Dber er ift „normal” und daher fein Genie, fondern ein
Schwäter. Da braudt man fi um feine Weisheit noch
weniger zu befümmern. Warum aber hat er bei der Menge
jo großen Erfolg? Ich glaube, weil es den Leuten jchmeichelt,
fich jelbft ala „normal“ anjehen zu dürfen.
x
Se mehr wahrhaftig Du wirft, defto mehr Menfchen
werben von Dir abfallen. E83 giebt viele, die von uns
Lügen verlangen, obwohl fie wiflen, daß e8 Lügen find.
Aber fchließlih ift der Verluft folcher ein Gewinn. Denn
frei kann man nur im Sreife Wahrhafter leben. Seder
andere Umgang entabelt.
*
Wer jein Sch vergöttert, wird einmal bemerken, daß er
fih dem Teufel verjchrieben hat.
*
Glücklich ſind ſolche Menſchen, die jede Grenze ihrer
Begabung erkennen und mit Liebe das Kleine ſchaffen, das
ſie leiſten können. Und ſei ihre Gabe noch ſo beſchränkt, ſie
beſitzen neben ihr ein Großes: unbewußte Lebensweisheit.
x
Die beiten Bücher find Wegweijer in Dich jelbit. Was
Du dbraudit, fannit Du vollfommen nur in Dir finden.
*
Die Natur beirüigt und nie; wir aber betrügen ung
durch bag, wa3 wir in fie hineinlegen und dann heraußlejen.
Die Naturwiflenihaft nennt dieſen GSelbftbeirug „erafte
Methode”.
*
E3 ift unter Umftänden auf jedem Wijlensgebiele mehr
verdienjtreicdh, Fragen neu zu faffen, als einen Berg von Ant:
worten aufzuiürmen. Wenn die materialiftiiche Naturwifjen-
ihaft fih vor allem die Srage neu ftellte: „Unter welchen Be-
dingungen erkenne ich die Natur?“ — fo würbe fie fich Selbft
am meiften nügen. Aber fie vermeidet 3. Denn bie einzige
Antwori: „unter geiftigen Bedingungen“ will fie noch nicht
hören. Uber einmal wird fie hören müffen. Und dann
wird fie felbjt der materialijtiichen Weltauffafiung den
Beiblatt der Deutihen RomanzZeitung.
nn — —
718
Gnadenſtoß geben. Obwohl dieſe ſchon vorher von der
Philoſophie totgeſchlagen war.
Ein weiſer Mann findet ſtets auch dem ſchlichteſten
Menſchen gegenüber innere Anknüpfung. Nur hochmütige
Halbbildung weiß nicht, „was man mit ſolchen Leuten
ſprechen ſoll“.
Die Berühmtheit iſt ein unſicherer Wechſel.
nicht, ob ihn die Zukunft einlöſen werde.
%
Wer in den Honigmonden allen Honig verbraudjt, darf
fih nit wundern, wenn ihm bie Ehe bald bitter jchmedt.
*
Was in der „Welt“ eine Dame ift, fanıı zu Hauje ein
Drache fein. Die edle Frau bleibt fi hier und dort gleich).
«*
Ein Sonnenblid fann mehr Glüd in fih bergen, als
ein Sonnentlag.
Man weiß
Im Entwidelungsgange unjeres Lebens mwadjjen wir
auch über manches Ideal hinaus und fchaffen ung auf Höheren
Stufen neue. Aber audy bie Überwundenen jollen wir nie=
mal8 veripotten, jo 1höricht fie der reiferen Einficht erjcheinnen
mögen. Wie im Eymbol ift in ihnen eingejchloffen das
Streben und Sıren unferer Werdezeit. Niemand aber joll
ſolche abgethane Ideale künſtlich vergolden, er täuſcht ſich
dann nur über ſeine eigene Entwickelung.
*
Dir ſelbſt mußt Du die Wahrheit auch dann jagen,
wenn ſie Tich zum Erröten zwingt. Wohl iſt das demütigend,
aber die aufſteigende Scham belehrt Dich, daß Dein Innerſtes
die Handlung verurteilt und das Leitbild edleren Thuns in
ſich trägt.
Briefkaſten.
Frl. A. Gr. in B. Leider nicht verwendbar. — Hrn. Th. H.
iu M. Angenommen. — Migıonne „Etwas über die
Liebe“ ift im Vortrag leider zu geziert. — Frau S. B. in Sch.
Warm empfunden, aber zu formlos. — Herrn Ref. Th. in.
Gewiß fanın uns jeder als „Erzieher“ dienen, aus befjen
Schriften wir für unjer Fühlen, Vorftellen, Denken Anftöße
zu fittlihem Wollen gewinnen fönnen. Die Gefahr liegt
aber darin, daß wir die Einflüffe nur „äfthetiich“ fallen,
d. 5. mit einem Wohlgefallen aufnehmen, in dem fich ber
Einfluß erfhöpft. Wir erzeugen dann, und im orbilde
ipiegelnd, Scheingefühle, mit denen wir ein ung gefälliges
Spiel treiben; da aber fann beftehen, ohne daß unjer
Handeln fih im geringften ändert. Darum find au Tichter
al8 Erzieher am meiften gefährlid. Durch die Form wirken
fie oft jo mädtig, daß Sich in ber Hingabe an deren Reiz
unfere Straft erichöpft. Der Mann Toll den „Erzieher“ in
fih juchen, in jeinem „Selbft” den inneren Chriftus, den
„Sottesiplitier”, den er in fi trägt. Nur was aus biejer
Duelle fließt, lebt in Wahrheit, nur darin wirkt tiefjtes
Wollen, das zugleid) Freiheit in fich jchließt. Sede „Maxime“,
die wir von außen aufnehmen, wird ald Yrembes gefühlt,
119
fteht unverbunben in unferem geiftigen Schaufreis. Wir
bedürfen dann ftet3 Lünftlicher Arbeit des Berftandes, um
unfer Handeln mit ihr zu verfnüpfen. Wahrhaft ethifches
Handeln aber fol aus dem Lebensgrunde bes Selbit frei
herausfliegen. Alles Ssrembe fann daher nur dann „erziehen“,
wenn wir e8 durd) eigenes Erleben beftätigen können. —
Frl. U. W. in BD. Diefe Kindericherze find Fünftlich ges
madt. — Frl. VB. BP. in 3. SInnig, aber hart im Ausdrud.
Hoffentlich ift die Iekte Zeile bes Gebihts nicht auf Site zu=-
treffend. Beften Gruß. — Frl. 2.9. Nicht verwendbar. —
Frl. v. d. G. in Br. Freut mich! Glück für weitere Ver⸗
ſuche. — Frl. M. J. in Kappeln. Das eine der Gedichte
Ihrer Bauernfrau „Klage der Mutter“ ſoll kommen. —
Herrn Carl Br. in B. Die Liedchen ſind gefällig, das
zweite nicht ohne Anmut. Vielleicht bringe ich es gelegent⸗
lich. — Magda. Ganz formlos. Aber Sie ſelbſt ſind
mir ungemein angenehm, weil Sie das Gedicht ohne den
kleinſten Begleitbrief geſendet haben. Beſten Dank und
herzlichen Gruß. — Herrn A. V.1 (aus Hamburg). Ihr
Wollen iſt ſicher ehrlich, aber noch ſind Sie zu unreif. Die
„glühende Liebe zur Poeſie“ allein genügt nicht. Ob Ihre
Begabung ſich noch vertiefen wird, kann ich jetzt noch nicht
ſagen. — Herrn Hptl. G. M. in G. Sehr innig gefühlt,
der Gedanke anmutend, aber Ausdruck und Form unzuläng⸗
lich. — Herrn H. W. in Elberfeld. Leider ungenügend. —
Kränzchen in H. Ich kann den Streit nicht entſcheiden,
weil ich die zwei Romane nicht geleſen habe. Ich werde
dieſe Lücke meiner Bildung auch nicht ausfüllen. Es iſt mir
geradezu eine Wonne, Romane zu kennen, die ich nicht ge⸗
leſen habe. Gönnen Sie mir dieſes beſcheidene Glück. —
Käthe in N. „Große Mühe habe ich mir nicht gegeben“.
Das kann ich, liebes Käthelein, beſtätigen. Sie ſollen die
Sache aber nicht ſo ſpielend behandeln. Wollen Sie wieder
etwas ſenden, dann geben Sie ſich Mühe. — Frl. Agn. G.
in D. — Man kann die Naturwiſſenſchaft eine fröhliche
Wiſſenſchaft nennen: ſie kann ſtets über die meiſten Anſichten
der Vorgänger ſpottend ſich vergnügen. Nur vergißt ſie,
daß ſie von den Enkeln eine gleiche Behandlung erfahren
wird. Stützen Sie ſich alſo nicht zu ſehr auf ihre Sätze
am wenigſten gegenüber Forderungen des Gemüts; dieſes
läßt ſich mit den ſchönſten Sätzen des Verſtandes nicht ſatt
machen. Und ſchließlich, wenn der Glaube an Gott Ihnen
ſchwer fällt, weil er nur Glaube ſei, glauben Sie denn
nicht auch an bie Sätze, die Ihnen die Naturwiſſenſchaft
bietet, ohne ſie prüfen zu können? Für Ihr Leben iſt es
beſſer und vernünftiger, den „Drang des Herzens“ nicht nur
als „Reſt der Kindheitſserinnerungen“ zu betrachten, ſondern
als unzerſtörbare Macht, die ſich allen Beweiſen gegenüber
behauptet, weil ſie durch keinen entwurzelt werden kann. —
Frl. S. Sch. in K. Sie irren. Das iſt nicht Humor, ſondern
grobe Komik, die feineren Geſchmack abſtoßen muß. — Herrn
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
720
Dr. ®. in 8. Natürlich war e8 ein Drudfehler. Es ſoll
I. Mähly, niht Mählig heißen. (Siehe „Gedanken:
fplitter über Mufil“ Heft 32 d.N..Btg.) — Frl. Luife M.
in Br. „Pfingften in der Lehmbätte* ift fehr innig gefühlt,
die Auffaffung lebendig. Aber die Behandlung be Verſes
verbietet den Abdrud. Sie verwenden zu oft betonte Silben
als kurz, z. B. „Heideland“, „Fachwerk“, und „Lehmwand“,
„Birke weiß“, „Lufthauch“, „Feſttag ſie“. Hier ſind „land“,
„werk“, „wand“, „weiß“, „hauch“, „tag ſie“ als unbetont
und kurz gebraucht, obwohl es Stammſilben ſind. Das
macht den Rhythmus ſchwerfällig. Sie können mir gelegentlich
anderes ſenden. — Frl. Fanny v. Kr. Ich kenne das
Buch nicht und kann alſo leider Ihre Anfrage nicht beant⸗
worten — Frl. Anka S. in K. Das ganz kurze Gedicht
„Wir trafen uns“ iſt nicht übel. Die zwei anderen aber
enthalten zu viel abgebrauchte Wendungen. Der Volkston
beſonders iſt nicht getroffen. — Herrn C. v. A. in O. „Der
Gelehrte“ kommt vielleicht gelegentlich — Frl.W. L. Garten.
Alles zu herkömmlich geſehen und gefühlt. Die 10 Pf. für
die Marke kommen in eine Sammelbüchſe für Kinderheil⸗
ſtätten. — Waldemar K. Noch alles zu jſung. Älter
werden! — Frl. J. Br. in M. Wenn die Niederſchrift Ihrer
Gedichte Ihnen „rieſige Freude“ gemacht, ſo iſt der Haupt⸗
zweck erreicht. Mir machten ſie Schmerz. Ich verzeihe Ihnen,
aber ſchicken Sie keine mehr. — Herrn Verl. R. St. in H.
Vielleicht kann ich „Stricken lernen“ gelegentlich bringen. —
Frl. T. D. in R. Die Gedanken find gut, zuweilen ſchön,
aber Sie mißhandeln das elegiſche Versmaß in einer Art,
die mehr als grauſam iſt. Wer ſolche Formen verwendet,
muß ſie beherrſchen. Sie machen (II.) „Wohlklang reizt“ zu
einem Daktylus; laſſen Füße aus (I 4. III 2, 6 u. a.) und
haben alle PBentameter falfh gebaut. — Herrn Dr. 2. in
U. 3 wird nich freuen, Sie kennen zu lernen. Sc bitte
nur, mir Ihren Befuh anzumelden. — Frau Th. W. in K.
Das Buch wird angezeigt. — Herm B.N. 6. Magdeburg.
Wir können die Preife der Bücher nur dort nennen, wo fie
ung vom Verleger mitgeteilt werden. Das geichieht aber
in fehr vielen Fällen nicht. Wir find aber nicht imftande,
dann erit nachzufragen, weil uns dazu bie Zeit fehlt.
Inhalt der Mo. 49.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Fort. —
Schwertllingen. Baterländiiher Roman von Hans
Werder. Yortf. — Beiblatt: Weltes Blatt. Bon Hanna
Ehlen. — Eine Tragödie aus der Großftadt. Lebens
und Stimmungsbilder von %. Gebhardt. IL. — Ber:
faumt. Von Mar Brente. — Die „unehrlihen” Leute
bes Mittelalters. Von U. Stanislas. Schluß. — Laß
mir... Bon Hans Biermann. — Berniichte Anzeigen.
— Vom Wege. Bon Anna Behntid. — Vermiidtes. —
Aus dem Leben für das Leben. Von DO.0.2. — Brieffaften.
WE Zur Beachtung! “Tu
Alle unverlangt an bie Leitung oder ben Verlag bes Blattes eingejendeten Manujfripte — größere
Romane ausgenommen — werben nur zurüdgejendet, wenn ein mit ber Adrefie verjehener, freigemachter
Umſchlag einliegt. Irgendwelche Burgſchaft für Zurüdiendung wird nicht geleiftet, Gedichte werden überhaupt
nicht zurüdgejendet.
Verantwortlicher Leiter: Otto von Leirmer in Berlin. — Verlag von Dite
(Segerinnen » Schule d
Leitung und Verlag der Koman-Beifung.
ante in Berlin. — Drud der Berliner Buchbrudereis Aktien Befellichaft
Leite » Bereind).
Deutſche
ämter nehmen dafür Beſtellungen an. Durch
—1896.
Roman-Zeitung.
Erfcheint wöchentlih zum Preile von 3% M vierteljährlih. Ale Buchhandlungen und Poſt⸗
ale Buchhandlungen auh in Wonatsheften zu
beziehen. Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober.
Ne 50,
Art zu Art.
Roman
bon
(Fortfegung.)
Wie eine fehnlüchtige Klage klangen die letzten
Worte. Emil klemmte ſein Monocle, die Errungenſchaft
der letzten Zeit, ins Auge und ſah ihn forſchend an.
„Unſinn! Das gewöhnt ſich. Sie müſſen fich
nur Zeit gönnen, um im neuen Fahrwaſſer erſt
heimiſch zu werden. Hilft Ihnen denn Ihr Freund
Fortunat nicht etwas dabei?“
Heeken ſchüttelte den Kopf. Dieſer bisher ſo
verſchwiegene, ſelbſtgenügſame Menſch fühlte auf ein—
mal ein beinahe leidenſchaftliches Bedürfnis nach einer
Menſchenſeele, gleichviel, wer das ſei.
„Er bat doch bisher immer fo fehr für Sie ins
Freundſchaftshorn geftoßen?”
„a, das war vorher.”
„Vorher?“
„Vordem er meine Frau kennen lernte. Jetzt
iſt er in allen Dingen ganz einig mit ihr, ich gelte
ihm nichts mehr. Er verehrt ſie ſehr.“
Emil lachte und ließ das Monocle fallen, dann
bückte er ſich und putzte ein Stäubchen von ſeinem
ſchwarzen Beinkleid.
„Die Sache iſt ungefährlich, Heeken.“
„Natürlich iſt ſie das.“ Er vergrub die fünf
Finger in ſein Haar, das ſofort zerſtört in die Luft
ſtarrte.
„Und wenn ſie es einmal nicht mehr ſein wurde?
Nehmen wir es an, obgleich das bei Miß Winter
a ausgeichloflen erfcheint, fie it eine kalte
atur.”
Der Bildhauer warf einen fheuen Blid auf den
Spredenden. Wenn — wenn — dann batte er ein
Recht fortzugehen, alles im Stich zu laflen, frei zu
werden wie er e3 gewejen; arbeitfam und bebürfnis-
los. Wie Freiheitsatem wehte es ihm entgegen.
„ann .. .” Er fprang auf.
„zaflen Sie die Dummbeiten — reden Sie fein
Wort,” Emil faßte feinen Arm. „Sch bitte ehrlich
Meman-Zeitung 1896. Tief. 50.
um Entfehuldigung, Heelen, daß ich folden Blödfinn
reden fonnte,. Seien Sie vernünftig, Mann, und
feten Sie fih wieder.”
Heelen that es. Auch Emil fette fih und ließ
das Monocle fallen.
„Zamoje Schnitarbeit,” fagte er, auf den alten
hohen Kirhenftuhl deutend. „Ein fehr Ichönes Stüd!”
„Das hätte ich auch gefonnt. Habe oft ähnliches
gemacht.“
„Na ja, das wird Ihnen aber bald vergehen!
Glauben Sie mir, Heeken, an nichts gewöhnt man
ſich ſchneller als an eine luxuriöſe Lebensführung.
Um ganz ehrlich gegen Sie zu ſein, ich trug mich
einmal mit der Hoffnung, an Ihrer Stelle zu ſein.“
„Weiß ich!“ ſagte Martin mit leiſem Lachen.
„Weiß ich genau.“
„Hat Ihnen Ihre Frau davon geſprochen?“
Emils Lackſtiefel klopfte den Boden.
„Nein, aber ich habe zugehört, ich ſtand damals
hinter der Laube.“
„So, ſo! Und deshalb ſtürzten Sie dann ſo
eilig in die Breſche. Nun kann ich es mir erklären,
eine Abart des Futterneides. Na, Heeken, nun kann
ich es ja ſagen, innerlich war ich Ihnen deshalb eine
Weile nicht grun. Aber nun — mit Thatſachen
muß man rechnen — geben Sie mir Ihre Hand und
laſſen Sie uns gut Freund ſein.“
Martin reichte ihm bereitwillig die Hand. Emil
gefiel ihm heute ausgezeichnet.
„Haben Sie fi denn fehon irgend eine Keine
Zerftreuung geichaffen — irgend etwas unternommen?”
fragte Emil wieder. „Vier Wochen verheiratet Elingt
zwar furdhtbar poetifch, aber in Wahrheit befteht jede
Woche aus fieben Tagen, jeder Tag aus vierund:
zwanzig Stunden.”
„Wir haben geftern Vifiten gemacht.“
Emil ſchüttelte ſich.
IV. 51
nn U ⸗s
123
„Bott im Himmel, rechnet der Menih das etwa
zu angenehmen Beidhäftigungen?“
„Slüdlicherweife nahm uns niemand an.”
„Das och fommt noch früh genug, amico mio.
Nein, ih meine, geben Sie nit in der Woche ein
paar Abende aus? Shre Frau kann ja dann äfthetifche
Thees veranftalten zur Abwechlelung. Aber ein Mann
muß bob audh einmal zwanglos unter Männern
fein können. Ein bißchen Derbheit ift wie ein frifches
Bad, jonft erftidt man ja unter all der Feinheit und
Bartheit.”
„Ih Tenne niemand,” geftand Martin nieder:
geihlagen. Bor Monaten Hätte er auf foldden Vor:
Ihlag faum bingehört, jett lodte er ihn mächtig.
„Wollen Sie mit mir kommen?” fragte Emil
nad einer Paufe des Nachdenken. „Sch übernehme
zwar Shrer Frau gegenüber eine gewille Verant-
wortung, aber ich denke, darüber brauche ich mir fein
Gewifien zu madhen. Wir find fat ein Dubßenb
junger Zeute, Künftler, Schriftfieller, ‚Verein der
Zwanglojen‘ heißt er, und Bedingung ilt, ohne Kragen
und Manichetten zu ericheinen.”
Heelens Augen leuchteten auf.
„hne Kragen und Manjhetten? Ohne gefteifte
Wäſche? Das ift eine prächtige bee, Duenlel, da
gehe ich mit! Gott im Himmel, wenn ich nur dies
alles [08 fein könnte!” |
Und er loderte mit der Rechten das jeidene Hemd
und zerrte mit der Linlen an dem Sammetjadett.
„Sol ih Sie heut abend abholen?”
„Rein, heut geht es nicht. Heut muß ich mit
meiner Frau ins Theater.”
„Wohin?“
„sn die Oper!”
„Wagner? Ach, lieber Gott, Sie armer Kerl!
Die Meifterfinger find zum Einichlafen langweilig.
Gott fei Dant, daß ih nit an Shrer Stelle bin.
Alfo übermorgen?“
„Sa, übermorgen.”
„sh warte anf Sie vor ber Thür — ober lieber
an der Straßenede, Yhre Frau braudt mich nicht zu
fehen. Au möchte ih Ihnen Schweigen anempfehlen.”
„Aber wenn mid Maud nun fragt?” Er jah
jo hilflos aus. — Emil lachte.
„So Jagen Sie, daß Sie eine Verabredung
hätten und damit Punktum; nennen Sie meinen
er ber könnte fie mißtrauifh machen.”
gu ut.“
"Allo auf Wiederjehen.” —
„Wie nett Duenjel doch ift,“ dachte Martin ganz
gerührt, „und zu mir gerade, der ich ihm doc die
— genommen habe. Den habe ich wirklich ver⸗
annt.“ — — —
„Es thut mir leid, Tino, Deine Mutter hat ſich
ganz beſtimmt geweigert, mit uns zu eſſen,“ ſagte
Maud bei nächſter Gelegenheit zu ihrem Mann.
Sie war noch voll des Ärgers, den ſie bei dieſer
Gelegenheit gehabt hatte. Sehr gegen ihr eigenes
Empfinden hatte ſie den Wünſchen ihres Mannes
Rechnung tragen wollen und war zu der Alten hin—
eingegangen, um ihr den Vorſchlag zu machen.
Auf der Schwelle begegnete ihr Lina, das Stuben:
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
1724
mädchen, ſehr verlegen und ganz außer Faſſung bei
dem unerwarteten Zuſammenſtoß mit der Herrin.
Maud war ſehr erſtaunt.
„Was thun Sie hier, Lina?“ fragte ſie mit
einem gewiſſen ſcharfen Erſtaunen.
„Frau Heeken wollte etwas warmes Waſſer, das
habe ich gebracht,“ ſtotterte das Mädchen, blutrot
im Geſicht.
Maud blickte ſie an, die Unwahrheit ſtand ihr
an der Stirn, aber wie ſollte fie ſie zwingen, etwas
anderes zu ſagen; vielleicht daß ihr die Schwieger⸗
mutter Auskunft gab.
Sie trat ein. Die Alte ließ im erſten Schreck
den Strickſtrumpf, der zu einem Paar Strümpfe für
die Köchin werden ſollte, fallen, dann verzog ſie ihr
Geſicht.
„Hatten Sie nach dem Hausmädchen gerufen,
Mutter? Was ſollte ſie Ihnen?“ fragte Maud, noch
ganz voll von Mißtrauen.
„Ich — ich — es könnte ſchon ſein,“ ſtotterte die
Alte; dann wiſchte ſie einen Stuhl mit dem Schürzen—
sipfel ab und bot ihn der Schwiegertodhter an.
„Dante!” jagte dieje, fich jegend, obgleich ihr
die Luft auf die Lungen fiel. „Sie jollten einen
Augenblid das Feniter aufmadhen, Mutter.”
„Selus nein! Das fchadet einem, das ift einem
nicht befömmlid. Draußen jchneit e8 ja,” zeterte
die Alte tief erjchroden.
„Ih bin hergelommen, um Sie zu fragen, ob
Sie nit mit an unjerem Tiich eflen wollen,” begann
Maud mit tiefen Aufatmen. „Es ilt wohl der Leute
wegen befier.“
Die Alte machte ein böchft beleidigtes Gefidht.
„3 halt Zhnen die Dienerihaft nit von der Ar:
beit ab, ih mad) mir meine Sadıen jelber, und auf
die paar Kohlen wird es wohl auch nicht anlommen, die
ih mehr braude — und das fällt wohl nody in jo
einem großen Haushalt jür ein einjchichtiges altes
Weib ab.”
„Aber Mutter,“ fjagte Maub ganz verblüfft,
„ih meine es doch gut, Sie follen mit uns efjen,
weil Sie zu uns gehören, und um den Rejpelt vor
na or aufrecht zu erhalten, Tino will es
aud jo .
„Ih braudh feinen Reipelt, ih will feinen
Reipelt,“ Inurrte die Alte, „und der Martin ver-
fteht nicht® davon, was mir gut if. Wie kann
denn mein armer Magen das neumodilde Zeug
alles vertragen, was die feinen Herrichaften efjen!
Umbringen tbäte es mid.” Und fie nahm den
Schürzenzipfel vor das Gefiht und jchludhzte und
ſchneuzte fich Hinein.
„Wenn Sie nit wollen .. .” Maud erhob
ih und zudte die Adhjeln .. . „zwingen werben
wir Sie nit. Ich wiederhole Jhnen noch einmal,
es war gut gemeint.“
Damit ging fie hinaus. Mit dem liftigen Aus-
drud eines Fuchſes Jah ihr die Alte nad), dann holte
fie die Apfel, die ihr Lina gebradt, aus ihrer Rod:
tajhe hervor und verbarg fie im Bett. Diefer plößs
lihe Befuh der Schwiegertochter hatte fie erfchredt
und mißtrauiih gemadt. Sie glaubte au an
125
feine gute Abficht, fie glaubte nur, daß die Haus:
frau einmal hatte nacjehen wollen, ob die Alte
nicht zu viel befüme, und vergnügt Ficherte fie
bei er Gedanken, doch jchlauer gewejen zu jein
als fie. —
Dreiundzmwanzigftes Kapitel.
Heelen war fort und Maud jaß allein in
ihrem Zinmer beim glimmenden Kamin. Troß des
ipäten Efiens lag doch noch ein endlojer, einjamer
Abend vor ihr, und es pajfierte ihr jet oft, daß
fie Furcht vor dem Alleinjein hatte. Die Gedanken
peinigten fie jo raftlos und quälend, je mehr fie fich
ihnen bingab.
Freilih, wenn ihr Mann neben ihr jaß, war
e8 auch nicht viel anders, zuerft ein langjam hin-
gequältes Gelpräh, das von Tag zu Tag mehr er:
mattete, dann endlich ein janftes Schnarden.
Sie hate diefe jeine Fähigkeit, immer, zu
jeder Stunde, in jeder Lage zu jchlafen, fie fand es
jo fIchauderhaft vulgär. Freilich” bedadhte fie nicht,
wie ihn das Leben, die raftloje, aufreibende Arbeit
auch dazu erzogen hatte. Jhr fiel es nur auf die
Nerven.
Auerft Hatte fie verfuht, ihn zu unterhalten,
es mißlang; dann ihm vorgelejen, er jchlief; jelbit
im Theater, während der Meifterfinger hatte fie jein
Schnarden gehört und fich jeiner geihämt. —
Nun ließ fie ihn gehen, ohne Widerftand, aber
auch ohne Hoffnung, daß er angeregter zurüdfonmen
würde. Sein ganzes geiftiges Leben Fonzentrierte
ih ausschließlih in dem Talent, das ihm der
Himmel verliehen, fie begann müde zu werben, es
weiter zu erweden' und zu bejeelen.
Anders hatte fie es fich freilich gedaht — aber
was half es! — Niht ein einziges Mal kam ihr
der Gedanke, daß fie zu Schroff, zu eilig in ihren
Anforderungen jei, daß fie ihm mehr Zeit Lajjen
müſſe. Seder Tag bradte ihr in jeinem Berlauf jo
viel Unerträglichkeiten, daß fie mit wahrem Entjegen
fie abzuftellen juchte, jomweit es anging. Sie fühlte
es felbit, daß fie gereizt und nervös geworden war,
weit entfernt von der janften Duldung, die fie für
fih als felbftverftändlich vorausgejegt; und fie fühlte
auch, daß ihr Mann darunter litt, daß er gedrüdkter
war als im Anfang, aber fie fonnte fich nicht
belfen. Der Zeitpunft war da, wo fie ihn der
Öffentlichkeit vorftellen mußte, fie durfte nicht nad)
fichtig fein.
Es jchellte draußen; fie nahm das Buch auf,
das auf ihren Knieen lag, niemand, wer es au
fei, brauchte zu ahnen, wie fchmerzuoll fie grübelte,
dann aber warf fie es beifeite und jagte mit einem
Seufzer der Erleichterung:
„Wie gut, daß Sie es find — wie gut, daß
Sie fommen, Fortunat!“”
„Ich höre, Martin ift ausgegangen!“
„Sa. Sch bin froh darüber, es wird ihm gut
thun.“
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
726
„Aber wohin?“
„Nun, wahrſcheinlich doch zu Kollegen. Ich
habe nicht gefragt, aber er war die letzten Tage
ſo verſtimmt, da iſt eine Abwechſelung oft ganz
heilſam.“
Fortunat ſtarrte nachdenklich auf den Teppich.
Niemand wußte beſſer als er, daß Heeken außer
ihm keinen Menſchen beſaß, mit dem er auch nur
oberflächlich bekannt war. Seine verſchloſſene Natur
hatte ihn von allen fern gehalten. Mit wem,
zu wem konnte er ſonſt gegangen ſein, wenn nicht
zu ihm?
„Wollte er mich aufſuchen?“ fragte er ſo
nebenher. Er wollte um Gottes willen nicht Mauds
Aufmerkſamkeit erregen, und ſeinem Freunde nicht
unrecht thun.
„Nein, ich denke nicht, er hatte wohl etwas
anderes vor.“
„Geſchäftliches?“
„Möglich. Ich habe nicht gefragt. Meinem
eigenen Selbſtändigkeitsgefühl iſt jedes Kontrollieren
ein Greuel. Mag er hingehen, wohin er will.“
Fortunat wurde rot.
„Sie haben ſehr recht, gnädige Frau. Aber es
gab einmal eine Zeit, da war ich ſo ſtolz darauf,
Martins Freund zu ſein — ſein einziger. Das
letztere gerade war es, was mich glücklich machte. —
Jetzt bin ich es nicht mehr!“
Maud ſchüttelte den Kopf.
„Sie irren, Fortunat, er hält nach wie vor viel
von Ihnen.“
Ein reſigniertes Lächeln huſchte einen Augenblick
über ſein hübſches Geſicht.
„Nein, das iſt nicht mehr wie früher! Und es
iſt auch gut ſo!“
Sie ſah ihn fragend an, er wich ihren Blicken aus.
„Hat er viel gearbeitet?“ fragte er.
„Ich kann das nicht beurteilen. Waren Sie
noch nicht in ſeinem Atelier?“
„Nein. Ich weiß, wie ſehr er das immer ge—
haßt hat. Niemand durfte ihm zuſehen.“
„Mein Gott, früher vielleicht. Aber das kann
doch nicht ſo bleiben. Ein berühmter Mann gehört
ſchließlich der ffentlichkeit. Je eher er ſich daran
gewöhnt, deſto beſſer iſt es. Wollen wir nicht einmal
hinübergehen?“
Sie durchſchritten die ganze Zimmerflucht, den
langen Korridor, immer den Diener vor ſich, der
die elektriſchen Leitungen aufdrehte, ſo daß ſie in
einem Lichtmeer gingen. Beſonders das helle, hohe
Atelier war wie in Licht gebadet.
Maud ſetzte ſich auf den geſchnitzten Kirchen—
ſtuhl, Fortunat ging von allen Seiten um die
kämpfenden Hunde herum. Als er zurückkam, leuch—
teten ſeine Augen.
„Das iſt mein alter Heeken wieder,“ ſagte er
begeiſtert. „Wie das lebt und atmet! — Einfach
prachtvoll! O, wie ich ihn bewundere!“
„Wirklich?“ fragte ſie und ſah ihn durch⸗
bohrend an.
„Ja gewiß. Sind Sie anderer Meinung, gnä-
dige Frau?”
727
„sh verftehe e8 wohl nicht jo genau, aber ein
jo alltägliher Vorgang genügt meinem Cbrgeisz
nicht ganz, jeine erite Schöpfung ftand mir be
deutend höher.“
„Haben Sie ihm das gejagt?”
„Ih glaube, ja.“
Sie jahb jo rein und hell und unnahbar aus
in der Lichtflut ringsum, in dem hellen Kleibe, das
fie trug, inmitten des dunklen Holzgeftelles, wie bie
Göttin des Lichtes felbit; Fortunat jah fie mit ver:
Härten Bliden an, dennod mußte er ihr das jagen,
was er in diefem Augenblid empfand.
„Sie jollten das nidt — es ift nicht Flug.
Die Seele eines Künftlere ift jo zart, jo leicht ver-
legt, wie fein anderer ahnt. Ein Wort oft nur,
und das Gebilde feiner Phantafie zerftiebt, jein Mut
fintt — er ift niedergedrüdt für lange.”
„Aber dies ift feine Phantafie,” jagte fie, „ein
Vorgang, wie ich ihn felbft mit angefehen. Das ift
nicht die Kunft, die mich bezaubert, Und wenn er
dann noch behauptet, eine Störung, ein fhummes
Zufehen bräcdte ihm Schaden, jo begreife ich das
einfah nit. — Hindert Sie die Gegenwart eines
anderen am Schaffen?”
„Nein!“
„Run, da jehen Sie es! Nur feine ein-
fiedlerifchen Gewohnheiten find jchuld daran, er muß
fie ablegen.”
Fortunats Fünftleriiches Empfinden bäumte fid
bob auf gegen dies apodiktiihe, harte Verlangen,
das einer ftellte, der mit den Eigentümlichkeiten der
individualität nicht zu rechnen gelernt hatte, obgleich
diejer eine Maud Heelen war.
„Sie find im Irrtum, gnädige Frau,” fagte er
eindringlid. „Es läßt fih nichts erzwingen. Sie
dürfen mid au nidt mit Martin vergleichen,
er Steht turmhod über mir. Wielleicht gerade aus
feiner herben Abgeſchloſſenheit, aus ſeiner künſtleriſchen
Einſamkeit ſchöpft er die Kraft ſeines Genies. Zwingen
Sie ihn nicht in neue Formen, Sie könnten es bitter
bereuen. Jeder Menſch, beſonders jeder Kunſtler, wächſt
und reift doch aus im ſtillen, was dann zu Tage tritt an
Eigenheiten, iſt untrennbar mit ihm verwachſen, iſt
ſeine Individualität. Täuſchen Sie ſich nicht, die läßt
ſich nicht modeln! Geſchieht es doch, geht er viel⸗
leicht daran zu Grunde. Überlaſſen Sie ihn ſeinem
einſamen Schaffen; ich allein weiß wohl nur, was
Sie ihm mit Ihrem Verlangen anthun, denn ich
kenne ihn.“
Sie hatte unter ſeinen Worten den Kopf ge—
ſenkt, immer tiefer, und die Hände im Schoß ver:
ſchränkt, immer feſter. Als er geendet, hingen zwei
Thränen an ihren Wimpern, nun blickte ſie auf, die
Thränen rannen langſam über ihre Wangen, und
leiſe ſagte ſie:
„Und ih? Was bleibt mir dann? Nicht ein:
mal teilen dürfen joll ih fein Schaffen? Sa, wozu
dann alles? — Wozu?”
hr Ton erjchütterte ihn tief. Dies troftlofe
Refignieren zeigte ihm deutlicher ala Worte, daß ihr
alle Slufionen, die fie fi über ihre Ehe gemadıt,
inzwilchen zerftört worden waren.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
128
„Shnen bleibt der Erfolg, der Name, den Sie
mit ihm teilen.” Es Tam ganz beiler heraus, er
fürchtete fich zu jehr, feine Gefühle zu verraten.
„Geben wir jet nah vorn,” fagte fie auf
ftehend und ihr Kleid zujammenraffend. „Es ift
falt bier, mich friert.” Sie zog die Schultern body,
ale müfle fie etwas abmehren, und fchüttelte fich
leiht. „Der Diener kann das Licht auslöfchen.”
Sie gingen jchweigend, fait lautlos den langen
Korridor hinunter, Fortunat einige Schritte hinter
ihr. Er hatte das Gefühl, als müfle er ihr Zeit
geben, erft mit fich fertig zu werben, als dürfe fein
Auge, auch nicht mit der wärmften Teilnahme, jebt
auf ihrem Gefiht ruhen. —
Als fie ungefähr auf der Mitte des Meges
waren, öffnete fich unbörbar die Thür, die in bie
Zimmer der Alten führte, ein ftruppiger Kopf ftredte
fih vorfichtig heraus und blinzelte ihnen nad).
Sie hatte Ichon im Bett gelegen, aber die Neu:
gier beim Aufflammen des Lichtes fie wieder heraus:
getrieben. hr Sohn, das wußte fie durch Lina,
war fortgegangen, und nun Tlam in nadhtichlafen-
der Zeit fjeine Frau mit einem anderen baber,
gerade, als müßte es fo fein, und fie jaßen allein
eine lange Zeit in dem abgelegenen Atelier. — —
Was Lonnten fie dort treiben? Die Phantafie der
Frau aus dem Volle, bie feine geiftigen Syntereflen
fennt, ging nicht jo weit, fih das erklären zu
fönnen, ihr erregte es Mißtrauen.
„Was die Vornehmfhen für Moden haben,”
lagte fie laut vor fi Hin und jhüttelte mißbilligend
den Kopf, als fie wieder in ihr Bett froh. — Hätte
fie das in ihrem Leben thun wollen, eine tüchtige
Tracht Prügel wäre ihr fiher geweien, obgleich ihr
Seliger eine verträgliche Natur war. Die feinen
Damen aber erlaubten fih das alles ungeftraft.
Etwas wie ein nadhträglider Neid auf diefe Be:
vorzugten erwachte in der Seele der Alten, die ihr
Leben fo ganz anders genießen durften als fie —
die Frau aus dem Dolte.
Und diejfer lächerlihe Neid gebar den Entihluß,
aufzupafien und dann Martin die Augen zu öffnen.
Sie hätte ihrer Schwiegertochter zur Vergeltung al
der Wohlthaten, die fie von ihr empfing, zu gern
die derben Fäufte ihres Sohnes, wenigitens einmal,
zu fühlen gegönnt. —
Tortunat blieb nicht mehr lange, nachdem fie
aus dem Atelier zurüdgelommen. So jehr Maud
es auch zu verbergen fuchte, fie erfhien ihm ver:
ftimmt, zerftreut.
Und dann war er doc vorfichtig geworden jeit
Luzies Warnung damals, er wollte fie auf keinen Fall
fompromittieren, den Xeuten nicht Urfacdhe zu ge:
gründetem Reden geben. So gut fein Vorjaß war,
batte er doch den Faltor vergeflen, daß die Leute
gar feine Gründe brauden, wenn fie etwas be:
mängeln wollen, die Thatladhe allein, daß er fat
täglich in Heelens Haufe aus und ein ging, genügte
der VBerleumdung volllommen. —
Davon hatte er natürlich keine Ahnung, als er
in einem wahren Wirbelfturm der Gefühle nad
Haufe ging.
— — — — —
129 Art zu Art.
Maud war unglüdlih, fein Zweifel, und er
trug die Schuld! — Zhre Thränen brannten ihm
feurige Wunden. — Er fahb no, wie fie, an
den Ichmalen Wangen berabrollend, jchließlih in den
Falten des weißen SKleides verjhwanden. Und er
ftand dabei und konnte nicht helfen, und hätte am
liebften mitgeweint vor Sammer und Reue.
Als er nah Haufe kam, löfchte er Tämtliche
Lichter und warf fih angekleibet, im Dunleln auf
bie Chaijelongue. Er war fo zerfallen mit fih, daß
er fih nicht einmal im Spiegel anjehen mochte.
Sm Halbichlaf kam es ihm dann vor, als ftände
Maud neben ihm und weinte, über ihn gebeugt,
bis fein Gefiht und Haar ganz na war, und
Heelen kam in das Zimmer hinein und fragte ganz
ruhig, was es ihn denn angehe, ob feine Frau
glüdlich oder unglüdlich jei. Und da fchrie er ihm
entgegen mit dem Mut der verzweifelten Leidenichaft:
„Aber ich Liebe fie ja! ch Liebe fie bis zum Wahn:
finn! Und babe fie Dir in die Arme getrieben!” —
Er wadhte auf, mit einem Rud jaß er aufrecht. Das
Herz hämmerte, die Augen brannten ihm, ein furdt:
barer Schred fchüttelte jeine Glieder.
„Sa, ich liebe fie!” fagte er dumpf vor ſich Hin.
„Ich liebe fie bis zum Wahnfinn! Und habe fie
ihm in die Arme getrieben!”
Sedes Wort jpürte er wie einen Hammerſchlag
in feinem Kopf, und dann jeßte er laut, fait wie
einen Schwur hinzu: „Aber fie fol es nie er
fahren!”
Er madte Licht. Die Uhr zeigte auf drei, ihm
war der Schlaf vergangen. Er flügte ben Kopf in
bie Hand und grübelte. Wann hatte es begonnen?
Ah fo unmerflihd — er wußte e8 gar nicht redt.
Vielleicht war es immer gewejen, feit ihrer erjten
Begegnung, und er hatte es nur nicht gemerft.
Und dann war Nelly gewejen! Ahn fchaubderte jeßt,
wenn er an all jeine früheren Beziehungen dadte.
Wie freigebig ifl man doch in der Jugend mit dem
Wort „Liebe“, bis man es endlich fennen lernt
und dann vor all den Blasphemien erjchridt.
Maud liebte er, — fo rein, jo wunichlos, daß
er ordentlich fühlte, wie es ihn befier gemacht hatte.
Er wollte ihr auch nad wie vor fein Leben weiben,
fie jollte aber nie erfahren, was für Gefühle ihn be-
ſeelten.
Und dann fiel ihm ſeine Äußerung an Luzie
ein. „Einem Freunde die Braut oder Gattin rauben,
iſt noch tauſendmal gemeiner als ſilberne Löffel
ſtehlen.“ — Nein, er ſtahl nichts! Nicht einmal ſilberne
Löffel! Bei dem Gedanken mußte er doch lächeln. —
Vielleicht um dieſelbe Zeit, da Fortunat ſo grübelte,
kam Heeken nach Hauſe. Seine Kleider rochen nach
Cigarrenqualm, und der Kopf war ihm wüſt und
ſchwer. Das ſtarke Bier, das viele Sprechen, das
Nachtwachen im überheizten Lokal war ihm ungewohnt,
und daß es ihm beſonders gefiel, konnte er eigentlich
nicht ſagen. Auch die Menſchen waren ihm alle
fremd, und ungeſellig und ungelenk wie er war,
fand er kein ſonderliches Vergnügen an ihrer Unter⸗
haltung, aber — er hatte dafitzen können wie es
ihm bequem war, ohne Kragen und Manſchetten, ja
Roman von H. Schobert.
730
ſelbſt ohne Rock. Niemand kümmerte ſich darum,
wie er ſaß, ob ſein Haar auch tadellos blieb, oder
ob er ſeine Hände darin vergrub, und dann hatten
ſie ihm alle, ausnahmslos, viel Schönes und Rühmen⸗
des über ſeine Gruppe geſagt, hatten ihn als etwas
Hervorragendes gefeiert, weil er gleich mit ſeinem
Erſtlingswerk in das Muſeum gekommen war; kurz
ſein niedergedrücktes Selbſtgefühl hatte ſich mächtig
gehoben und geſtärkt gefühlt. Hier war er nicht der
Mann ſeiner reichen Frau, hier war er der Künſtler
von Gottes Gnaden, den man ehrte. So war er
denn um die Mitgliedſchaft eingekommen, mit dem
feſten Vorſatz, ſo oft wie möglich herzugehen. Alles
Ihien ihm befler als fein Iururiöjes Haus, in bem
er fih fo überflüffig, jo wenig am Plate fühlte.
Maud würde nichts dagegen haben, ihn oft los zu
werden, denn feit er an jenem unglüdlichen Theater:
abend in den Meilterfingern eingefchlafen war, hatte
er das unbeimlihe Gefühl, daß fie ihn gründlich
verachtete.
Wenn er aber hoffte, aus diefem Zujammenleben
mit Kunftgenofien irgendwelche Arbeitsluft zu Ichöpfen,
ſo täuſchte er ſich zunächſt gründlich. Unluſtiger war
er niemals geweſen als an dem Morgen, der jenem
erſten Verſuch folgte. Der Kopf war ihm wüſt, die
Glieder wie zerſchlagen; wie höhnend ſahen ihn ſeine
unvollendeten kämpfenden Hunde an. Ein Ekel vor
ihnen, vor ſich ſelber folterte ihn. Mit Neid gedachte
er der Vergangenheit. Hätte ſeine jetzige Frau nicht
ſeinen Weg gekreuzt, wäre er nicht glücklicher ge⸗
blieben? Sein Weg lag ſo klar vor ihm, und die
Steine, die er darauf fand, hielten ihn nicht auf.
Jetzt aber kam es ihm vor, als ſei alles um ihn,
vor allen Dingen aber er ſelbſt anders geworden,
als wäre ihm der neue, haltloſe Menſch fremd wie
ſeine Umgebung.
Maud fragte ihn auch heut nicht, wo er geweſen.
Sie wollte ihn ja gar nicht beeinfluſſen oder be—⸗
ſchränken und ſagte ſich mit Stolz, daß Fortunat
doch im Unrecht ſei, wenn er ihr das vorwarf. —
Heeken war froh darüber!
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Was Maud ſonſt noch angeſtrebt, war ihr
wenigſtens vollgültig gelungen. Die Geſellſchaft hatte
ſfich dem jungen Paare geöffnet. Man hatte ja ſo
viel gehört, war ſo neugierig geworden und fand
die Umſtände, die dieſer Ehe vorangegangen, ſo
romantiſch. Das zertrümmerte Kunſtwerk hatte dieſem
jungen Bauern faſt zu reichlich Zinſen getragen!
Eine ſteinreiche Frau, noch dazu mit dem Nimbus
einer Ausländerin, einen bekannten Namen und einen
Ankauf des Werkes durch das Muſeum. Mit ſolch
einem „Schwein“ ließ fich allerdings nicht konkurrieren,
barüber waren jämtlide Kollegen einig.
Sm geheimen freute man fih auf das erfte
Auftreten diejes Bauern in der Gejellihaft. Es
fonnte gar nicht ausbleiben, daß es pilante Scenen
gab, und jo jah man allfeitig vergnüglich der Saijon
131
entgegen, nur daß Heelen jelbit leine Ahnung von
dem batte, was ihm bevorftehen jolltee Er glaubte
feinen gejelichaftlihen Pflichten längft Genüge ge-
tban zu haben. Darum eritarrte er beinahe vor
Schred, als ihm Maud eines Tages beim Frühflüd
eine lithbograpbierte Einladungstarte binhielt, aus der
er mit einer gewillen Schwierigkeit herausbucdhftabierte,
daß ih Mr. und Mrs. Bath, Gefandter der Ber:
einigten Staaten Amerilas, die Ehre gaben, Herrn
und Frau Heelen zu ihrem am 25. Sanuar ftatt:
findenden Souper mit darauffolgenbem Ball ergebenft
einzuladen.
Ohne ein Wort zu jagen, legte er die Karte
wieder neben den Teller feiner Srau. Sie jah ihn
an. Nach einer Weile, als er immer noch jchwieg,
Iogte fie wie felbfiverftändlih: „Wir gehen body hin,
ino!”
Er legte Mefler und Gabel beijeite; in dem
Augenblid hatte er das Gefühl, als würgte ihn
etwas.
„Du fannft es ja, — ih — was fol ih da?”
„Was Du da jolft?” wiederholte fie verwundert.
„Run, unter Menjchen gehen, befannt werden, Dich
amüfteren.”
„Ih will mid nit amüfieren! Sch braude
er befannt zu werden — Menihen mag id
nicht.“
„Aber Tino, es geht einmal nicht anders. Wir
wollen doch ſelbſt ein Haus machen. Du mußt Dich
ſchon entſchließen.“
Er ſah hilflos um ſich.
„Wenn Du mit Fortunat gehen könnteſt,“ ſchlug
er vor.
Das Blut ſchoß ihr in das Geſicht.
„Du biſt mein Mann, nicht er,“ erwiderte ſie
ſchroff, „und Du mußt der Geſellſchaft das Opfer
bringen.“
„Ich will aber nicht.“
„Nun alſo, wenn nicht der Geſellſchaft, dann
mir, Du biſt mir auch etwas ſchuldig geworden,
Tino, vergiß das nicht.“ Ihre Stimme zitterte; da
ſie von vornherein auf Kampf vorbereitet geweſen,
nahm ſie ihn gleich auf, ohne erſt eine friedliche
Einigung zu verſuchen.
Er biß ſich auf die Lippen, nur zu gut verſtand
er ſie. Eine gewiſſe unbewußte Ritterlichkeit verhin-
derte ihn trotzdem, das zu ſagen, was ihm auf die
Zunge trat, und ſo ſtopfte er nur große Biſſen Brot
in den Mund und ſchwieg.
„Ich werde dem Geſandten alſo zuſchreiben,“
ſagte ſie nach einer langen Paufe, in der ſie ihn be—
obachtet hatte.
Er ſchwieg weiter und ſtarrte auf ſeinen Teller.
Sie nahm es für eine Bejahung, innerlich doch da—
von überraſcht, wie leicht er zu zwingen war, und
dadurch ſelbſt nachgiebig geſtimmt.
„Du ſollſt ſehen,“ ſagte ſie um vieles freund—
licher, „es wird Dir ſchon gefallen; man ſcheut immer
nur den Anfang, und dann dankſt Du mir noch
meine Feſtigkeit.“
Sie bot ihm die Hand über den Tiſch, aber er
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
732
mußte ſie wohl nicht ſehen, denn er ſtand wortlos
auf, ſchob den Stuhl zurück und ging hinaus.
Wie ſie dies Davonlaufen von Tiſch haßte!
Wie plebejiſch es ihr vorkam! Es war doch alles
weit, weit anders in Wirklichkeit, als wie ſie es ſich
in ihren Träumen ausgemalt. Kein Wunder, daß
ſie ſchwer aufſeufzte. —
Als Heeken in ſein Atelier kam, ſetzte er ſich
nieder und ſtützte den Kopf in die Hand.
Hatte er ſich denn wirklich verkauft mit Leib und
Seele? Gab es nichts, das ihn retten konnte? War
dieſe erdrückende Laſt, unter der er ſeufzte, auch an
ſeiner Künſtlerſeele zum Mörder geworden, weil er
nicht mehr arbeiten konnte? Was hatte er denn ſeither
geleiſtet? Er ſah um ſich, nichts, nichts, was von
ſeiner Schöpferkraft ſprach, ſeitdem er verheiratet war.
— Wie verzerrt ſah ihn plötzlich die unvollendete
Gruppe ſeiner Hunde an, alles an ihr ſchien ihm
unwahr — unnatürlich. Er ſchüttelte die drohend
geballte Fauſt gegen ſie, knirſchte mit den Zähnen
und holte zum Schlage aus, als wollte er ſie zer⸗
trümmern. —
Und wenn er bedachte, wie es geworden wäre
in ſeinem häßlichen, armſeligen Atelier da draußen,
mit dem erſten Erfolge hinter ſich, mit dem Bewußt—⸗
ſein ſeiner Kraft, ſeines Könnens, was hätte er da
geleiſtet! —
Die Fauſt ſank ihm ſchlaff herab, der Kopf
ſchwer auf die Ecke des Tiſches. —
An dieſem Abend, obgleich er noch wortkarger
und ungeſelliger als ſonſt in ſeinem Verein geweſen,
in dem ſie ihn ſchon als wenig traitablen Menſchen
kannten, betrank er ſich zum erſten Mal in ſeinem
Leben bis zur Bewußtloſigkeit. Emil nahm ſich
endlich ſeiner an und brachte ihn nach Hauſe.
Als er die ſchwankende Geſtalt in der eleganten
Hausthür verſchwinden ſah, zuckte ein höhniſches
Lächeln um ſeinen Mund.
„Ich wette, meine werte Miß Winter,“ ſagte
er ganz laut vor ſich hin, „daß Ihnen dieſer An⸗
blick recht unangenehm ſein wird! Vielleicht denken
Sie jetzt bald anders über den Korb, den Sie mir
gegeben, weil ich Ihrem höheren Seelenflug nicht
entſprach.“ —
Maud fuhr wirklich mit einem nervöſen Schreck
aus den Kiſſen auf, als ihr Mann eintrat, aber
gleich darauf ſchloß ſie wieder die Augen und ſtellte
ſich ſchlafend, während ihr Herz vor Abſcheu und
Angſt heftig klopfte.
Im Schein der Nachtlampe ſah ſie ihn hin und
her ſchwanken, hörte gemurmelte Worte, atmete den
Alkoholdunſt ein, der ihm entſtrömte, und nach kurzer
Zeit tönte ſein lautes Schnarchen mißtönend durch
den Raum.
Sie ſetzte ſich endlich behutſam aufrecht und
ſtrich die feuchten Locken aus der Stirn. Ihre Augen
durchirrten das prunkende Zimmer und blieben dann
endlich an dem Schläfer haften. Großer Gott, wie
ordinär er ihr auf einmal erſchien! Ein Hohn auf
ſein Umgebung.
Wie empört ſie über ihn war, ohne daß die
kleinſte Stimme in ihrem Innern zu ſeiner Ent—⸗
133
\huldigung laut wurde. Sie hatte ihm ja niemals
ein warmes, herzliches Gefühl ertgegengebradit !
Reife erhob fie fih, nahm ihre feidene Daunen:
dede und fchlüpfte in das Toilettenzimmer. Auf der
Chaifelongue madte fie es fih für den Reft ber
Naht bequem. Aber fie Ichlief nit. Zur Dede
ftarrend, überrechnete fie fortwährend, daß erft vier
Monate ihrer Ehe verflofien waren, und ein ganzes,
langes — endlos langes Xeben noch vor ihr lag —
an feiner Seite. —
Am nädhften Morgen jah Heelen manchmal feine
Frau von der Seite an, mit dem Ausdrud, den ein
böjes Gewiljen giebt; er war auf einen heftigen Aus-
bruch ihres Zornes gefaßt. Aber fie jagte nichts;
Efel und ein Gefühl von Selbitahtung jhloffen ihr
den Mund. Nur fur; vor dem Schlafengehen fagte
fie nebenber:
„3 babe Dein Bett in Dein Totlettenzimmer
tragen laflen, Tino, Du haft es dort mit Deinem
Nachhaujefommen bequemer und ftörft mid nicht
Er rieb unentichloflen einen Fuß an den andern,
in diefer Pofition machte er eine unglüdliche Figur.
Gern hätte er ein Wort der Entihuldigung gejagt,
aber feine Frau war jo unnahbar, fie jchüchterte
ihn ein.
Er drehte fih ohne eine Wort um und ging
hinaus, nur die Thür warf er beftig ins Schloß,
um feinem gepreßten Herzen Luft zu machen.
Sie blieb fiten, faltete die Hände im Schoß,
und große Thränen rollten über ihre Wangen. —
Bon Tag zu Tag wuchs inzwilchen der Alp, der
ih auf Heelens Bruft gelegt hatte, und bdiejer Alp
war die Gejellichaft beim amerifaniihen Gejandten.
Shre Schreden wudjlen riefengroß in ihm empor.
Was follte er unter jo vielen Leuten, von denen
er niemand Tannte, mit der geheimen Furcht, bei allem,
was er that, Verftöße zu begeben oder wenigitens
linfiich zu erjcheinen und geheimen Spott berauszu:
fordern. Sein Gelbitgefühl Iehnte fi dagegen auf,
und er jann und grübelte vergeblich, wie er fidh im
legten Augenblid biefen drohenden Gefahren entziehen
fünnte. Er, der dem Stier ohne einen fchnelleren
Pulsihhlag zu Leibe gegangen war, fühlte fi ſchwach
und hilflos bei dem Gedanken an biefe Gelellichaft.
Sobald er nur daran dachte, brah ihm der Angit:
Ihweiß aus allen Poren.
Hätte er nur einen Menjchen gehabt, dem er
ih anvertrauen konnte, aber bei Maud war das aus:
geichloflen, von Emils irdiihem Mitleid hielt ihn fein
Snftinkt zurüd, und Fortunat.... ja, mit Fortunat
war das fo ein eigenes Ding geworden! Einſtmals
batte er ihm feine Freundihaft aufgedrängt in faft
tnabenhafter Überfchwenglichleit, damals hatte ber
bart mit dem Leben ringende Dann keinen rechten
Sinn dafür gehabt, fi weder dagegen gemehrt noch
fie feftgehalten, denn damals war er fich jelbit genug,
nun aber, nun verwirrte ihn manchmal das Leben jo,
daß er fih nit recht aus no ein wußte, feine
Kunft hatte das Haupt verhült, und er hätte jegt
mit ganzer Seele eine Freundeshband fallen und
drüden mögen, aber nun war die fchlanfe, weiße
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
134
Männerhand nit mehr da, er fand fie weniltens
nit mehr, dent fie war viel zu jehr beichäftigt im
Dienft jeiner Frau, und er mochte es fih faum felber
zugefteben, daß ihn etwas wie eiferfüchtiger Neid dar:
über erfüllte. Warum galt ihm biefe Frau mehr
ale er? Wo war der Berührungspunft zwijchen
ihnen, der jchwerer wog al& das gemeinfame Ringen
im Dienfte der Kunft?
Er jann und grübelte über alle diefe Fragen,
aber jein Kopf war das Grübeln nicht gewöhnt, es
Härte fih ihm nit, madte ihn nur immer ver:
wirrter, jein Weg durfte nur einfach und gerade
fein, fonft fand er fih zu feinem Ziel.
Während Fortunat dem Freunde auswich, weil
er fih ihm gegenüber nicht ganz frei fühlte, weil er
ihm die Frau beneidete und leidenjchaftlid Partei
in feinem Herzen gegen ihn nahm, jehnte fih Heelfen
im ftilen nach ihm und war body äußerlich faft un-
freundlih, damit er es nur ja nicht merfe. —
Der Gejelihaftsabend war da. An Heefens
äußerem Menfchen war nicht viel zu tabeln, als er
aus Friedrichs Händen in den Salon trat, in dem
Fortunat Ihon wartend jaß. Auf Mauds Wunſch
jollte er das Ehepaar begleiten. Sie mufterten fi
mit einem verftohlenen, flüchtigen Blid wie zwei Ri-
valen, als fie einander anfichtig wurden, und bo
fiel Heelen die zierlihe Grazie auf, das GSelbftver:
ftändlide, mit dem der Jüngere und Kleinere das
vorgejchriebene Koftüm trug, in dem er ih jo un:
behaglich fühlte.
Er fledte die Hände in die Tafchen und marfchierte
unabläffig im Salon auf und ab, ihm war jchauber:
baft zu Mute, aber er mochte e& nicht jagen. Endlich
blieb er vor Fortunat ftehen.
„Slaubft Du, daß die Duälerei lange dauern
wird?”
„SH hoffe bis gegen drei Uhr.”
„Du hoffſt?“
„Gewiß. Wenn es ſich irgend machen läßt,
bin ich der Tiſchnachbar Deiner Frau, ſie hat es mir
verſprochen.“
„So — —“ ſagte Heeken nach einer Pauſe.
„Und ich?“
„Nun, Du bekommſt irgend eine andere Dame.“
Heeken marſchierte wieder weiter. Auf einmal
ſah er ein koſtbares Orchideenbouquet auf einem kleinen
Tiſchchen liegen, er trat heran und beſah es. Fortunat
errötete.
en bringe ich Deiner Frau.”
o!“ —
„Haſt Du etwas dagegen?“ fragte er nach einer
langen, peinlichen Pauſe.
„Wogegen?”
„Segen mein Bouquet, dann... .”
Heelen trat ganz dicht zu ihm. „Gott bewahre,“
fagte er ungedulbig mit gepreßter Stimme. „Aber der
Kragen drüdt mid jo, die Halsbinde — ich eritide
fafl.” Und er griff mit beiden Händen zwifchen
Hemd und Hals und loderte es.
Fortunat ſah mit Befremden, daß ſein Geſicht
rot war, ſeine Stirn feucht glänzte. Aber ehe er
noch etwas ſagen konnte, öffnete ſich die Thüre und
135
Maud trat ein, gefolgt von Nina, die den weichen
pelggefütterten Sammetmantel auf dem Arm trug.
Die junge Frau war in großer Toilette. Das
fchwere weiße Brofatkleid brach fih in tiefen Falten
mit ftumpfen und glänzenden Xichtrefleren, Mohn:
bouquets Ihmüdten Haar, Taille, Rod und bielten
als breites Achfelband die Srmel auf den Schultern
zulammen. Das Rot war jo fatt und voll, daß es
logar neben den Brillanten zur Geltung fam, die
den feinen Hals, Arm und Ohren jhmüdten.
Fortunat verneigte fih ftumm, fo geblendet war
er von Mauds Erſcheinung, e3 war ja das erfte Mal,
daß er fie in großer Toilette Jah. Shre Augen
leuchteten und die Wangen zeigten lebhaftere Sarbe
wie fonft, denn fie freute fi über ben Effelt ihres
Ausfehens. Bon feinen bewundernden Bliden weg,
die fie mit Genugthuung wahrgenommen hatte, wandte
fie fi endlich ihrem Manne zu. Auch er jah fie
an, aber anders, ganz anders.
„Run,“ fragte fie endlich lächelnd, „wollen die
Derren einmal hr Urteil abgeben? Wie ehe ich
aus?“
„Entzüdend!” rief Fortunat.
„Schamlos!“ jagte Heelen und trat dicht an fie
heran. „So wilft Du Dich fremden Leuten zeigen?
So fol ih mit Dir gehen? — Sa, dann zieh Did
nur erft einmal an!”
„Lieber Tino,” jagte fie und griff nad der
Schleppe ihres Kleides, denn fie wußte ja, daß Nina
hinter ihr fand, „ich finde es ganz natürlih, daß
Du Did das erfte Mal entiegeft, wenn Du unlere
Geſellſchaftsmoden kennen lernft, darum aber ändern
fie fih nicht. Beim Gejandten wirft Du feine Dame
anders gefleidet jehen wie mid.”
„Aber ich Shäme mich Deiner,“ beharrte er und
tab fie mit zornigen Augen an, „Du bijt meine
Frau.”
„Eben deswegen!” Sie lachte, obgleich fie fi
ärgerte. „Wäre ich eine Nonne, könntefl Du ein
anderes Gewand verlangen.
von Shnen, Fortunat?”
Sie wandte fih von ihrem Mann, der daftand
und an feinem Bart laute, ließ fi von Nina den
Mantel umgeben und trieb dann zur Abfahrt. Eine
Weile ftand Heelen noch trogig da, dann folgte er
den Vorangebenden.
„Ah!“ jagte Maud und janf in bie Kiffen mit
einem Seufzer der Erleichterung. Martin ahnte nicht,
daß diejer ihm: galt. Nun erfi war Maud feines
Mitgehens fiher. —
Als fie fih dur die firablende, jchimmernde
Menge hindurdwanben, jagte Maudb zu ihrem Mann,
indem fie auf die anmejenden Damen zeigte:
„Du fiehft, Deine Bedenken vorhin waren un:
gerechtfertigt und überflüffig.”
Er antwortete nichts. Der einzige Gebante,
ben er mit Bewußtlein hatte, war nur der: Hinaus!
— Möglihft weit fort von diefem Treiben!
Aber Maud hielt jeinen Arm und z0g ihn un-
barmberzig immer weiter bis zu der Gejandtin, und
dann Ipradden fie englilch miteinander, und die Ge-
landtin winkte ihrer Tochter und machte fie mit
Ah! Sind die Blumen
Art zu Art. Roman von H. Scobert.
736
Maud bekannt ... . das jchwagte und jchwirrte und
wirrte um Heeken herum, daß ihm ganz Ichwindlig
wurde, und dann war Maud weg und au Fortunat,
er fland auf einmal allein. So fhnell er konnte,
zog er fih in einen Winkel des Saales zurüd und
ftand dort, die Füße gekreuzt, den Bart in den
Mund gefhoben, unbeacdhtet, aber auch außerordent:
lih unbehaglich.
„Welh ein Wahnfinn,* dachte er, „hierher zu
gehen! Was joll ih bier?! Warum bin ich bier,
wo ih doc jedem jo gleichgültig bin wie er mir.”
Da Hopfte ihn Fortunat auf die Schulter.
„Nah doch nit jolh ein Gefiht, Martin! Ih
bin jeßt bereits zehnmal nah Dir gefragt worden.”
Heelen hob den Kopf. „Nah mir? Ach Fenne
keinen.“
„Aber die Leute Dein romantiſches Schickſal —
und Deine ſchöne Frau macht Furore. Du biſt
wahrhaftig ein glücklicher Menſch, Tino.“
Er ſah ihn mit großen Augen an und nickte
mit dem Kopfe. Indem ging Maud vorüber am
Arme des Geſandten, ihre Augen glänzten, ihre
Lippen lächelten. Als ſie ſchon einige Schritte
weiter gegangen, drehte ſie ſich um und nickte den
beiden Herren zu. Fortunat ſeufzte verſtohlen, und
Martin ſagte jetzt: „Wie paſſe ich nur zu ihr!
Alle Leute hier werden es Dir ſagen — gar nicht!
Gar nicht! Sie iſt viel zu klug, viel zu ſchade für
mich.“
Es klang gar nicht bitter, nur als Konſtatierung
einer einfachen Thatſache, dennoch erregte es Fortunat.
„Das darfſt Du Dir wohl zugeſtehen, Tino,
aber Du mußt ihr nur nachzukommen ſuchen, dann
wird es auch mit der Zeit anders werden.“
Wieder ſah ihn der andere eigentümlich an,
plötzlich hob er den Kopf.
„Und warum ſoll ich es ſein, der ſich ändert —
warum nicht ſie?“ fragte er und ſah dem Freund
aufmerkſam in die Augen. „Ich bin der Mann,
der Künſtler, der ſeinen Weg bisher gefunden hat
und ihn auch allein weiter finden wird.“
Fortunat wurde etwas nervös, das machte, er
ſah Mauds dunkles Köpfchen nicht mehr in der
Menge und ſuchte es doch ſehnſüchtig. „Dieſe
kleinen Außerlichkeiten haben wenig mit Deinem
berechtigten Künſtlerſtolz zu thun, Tino, trotzdem
ziehen ſie Dich hinauf, in eine andere Sphäre —
Du ſollteſt Deiner Frau dankbar ſein. Hinauf kann
jeder, aber daß ſie zu Dir hinab ſoll, das iſt
unmöglich.“
„So — ſo!“ ſagte Heeken wieder ganz ruhig.
Und dann wies er auf eine Dame, die vor ihnen
ſtand, ſehr ſtark und ſehr tief dekolletiert.
„Viel Speck bekommt man hier zu ſehen,“ ſagte
er laut, „und ſie haben doch gar nicht nötig, das
zur Schau zu ſtellen, denn ſchön iſt es nicht.“
Die Dame drehte ſich um und warf dem
Sprecher einen wutſchnaubenden Blick zu, der un:
beachtet von ihm abglitt; Fortunat wurde blutrot,
ſeine Augen funkelten zornig.
„Spare Dir ſolche Bemerkungen zu anderen
Gelegenheiten auf, Tino, wir ſind hier in der Elite
137 Art zu Art.
der Gejellihaft, nicht Gott weiß wo, da heißt es
Rüdfichten kennen und ausüben.”
„Armer Kerl,” jagte Martin und jah mit einem
gewilfen Balgenhumor blinzelnd zu ihm auf. „Gebe
Ihleunigft an die andere Wand des Saales, damit
ih Dih nicht in jchlehten Ruf bringe; ich nehme
ed Dir nicht übel.”
Und damit drehte er fih um und jchob fi
weiter. Fortunat jahb ihm ganz eritaunt nad. —
Während fih die Paare zum Souper orbneten,
flüfterte Maud Fortunat zu:
„Wiffen Sie, wohin man meinen Mann gejett
hat? ch möchte ihn am liebiten in meiner Nähe
baben, die Sade ilt mir unheimlihd. Achten Sie
auch auf ihn, bitte!“
Der Ichnelle Drud ihrer fchmalen Hand jagte
ihm das Blut heißer durh die Adern. Er wäre
bereit geweien, alles für fie zu thun, aber jein ganzer
Wagemut cheiterte an biejer geringfügigen geleljichaft:
lihden Schranfe. Er konnte nidhts thun, um den
Wünjchen der angebeteten rau nachzulommen, denn
aub er war zum eriten Mal Gaft bei dem Ge:
fandten, aljo nicht imftande, die geringfte Beein-
fluffung auszuüben.
Mit geipannter Aufmerkfamfeit verfolgte er
nur SHeelens Gebaren, aber Gott jei Danl, es ließ
fih ja alles gut an. Er fah ihn mit einer Dame
den Epeijejaal betreten, jab ihn die Pläße finden,
und jegt erit mibmete er fih aufatmend feiner
Nachbarin. Er konnte von jeinem Pla aus Maud
jehen und aud Heelen, aber e8 war zu weit, um
im ſchlimmſten Sal ohne Aufiehen etwas zu ver:
hindern.
Seelen hatte fich inzwilhen jo gut e8 ging in
den Zwang gefunden. Er fühlte fih nicht mehr
niedergedrüdt, ganz im Gegenteil fam es ihm vor,
ale wenn er doch eigentlich über diefer lachenben,
Ihmwagenden Menge Stände Womit füllten fie denn
ihr Leben aus, wenn fie zu Haufe waren? Sicher:
lih nit mit dem angeftrengten Ningen, mit dem
er bisher feine Kunft ummorben. Und mitten unter
al diefen Leuten am eine tiefe, heilige Sehnfucdht
nad jeiner Arbeit über ihn, wie er fie lange nicht
empfunden. D, jett zu Haufe jein — jetzt ſchaffen
tönnen! Diele Stunde, die ihm hier nußlos verrann,
erihien ihm auf einmal jo inhaltreih, daß er ihren
Verluft wie einen Raub empfand.
Er hatte noch feine Ahnung davon, daß die
Einjamteit mitten in der Gejelichaft diefe Sehnjudht
erzeugt, al& Gegengewiht gegen ben Drud der
äußeren Umgebung.
Er hatte jeine Nachbarin noch gar nicht beachtet,
jegt endlich hörte er auf das, was fie fagte.
„Sie eilen feine Auftern, Herr Heelen?“
Er jah wie verachtend auf die filberne Platte
mit den Schaltieren vor fih — eine ihm fremde
Speile, denn Maud aß diejelben nit, und fo
waren fie in jeinem Haufe noch nicht auf den Til
gekommen.
„Ich kenne ſie nicht,“ er blickte mißtrauiſch auf
die Muſcheln. „Schmecken ſie gut, Fräulein?“
Die Dame lächelte. „ÜUber Geſchmachſachen
Roman⸗Zeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
———
135
giebt es Tein generelles Urteil. ch denke ja. Darf
ih Shnen den Berjudh erleichtern?”
Sie nahm eine Mujchel und pußte fie ab; da
fie den jungen Ruhm ihres Nachbarn fannte, machte
e3 ihr Vergnügen, ihm gefällig zu fein.
„Hier. Sie ift ausgezeichnet. Trinfen Sie fie
getroft aus. An die Mythe, daß die Tieren noch
lebendig find, glauben Sie do aud nicht.”
Sie jah ihm ſorgſam zu, bis er fie im Munde
hatte, bei ihren legten Worten aber, die mit dem
eigentümlich jalzigen Geihmad dieler Meerbewohner
zujammenfielen, war es ihm plößlih, als wüchle der
Inhalt feines Mundes zu einem gewaltigen Berg,
der ihn erftidte.
Dbne fich zu befinnen, jpudte er die Aufter auf
jeinen Teller zurüd.
„Pfui Teufel,” fagte er und jchüttelte fich.
Einen Augenblid entitand an dem Teil des Tifches
in Heefens Nähe Todesichweigen; dann begann ein
Laden, Kidhern, Schwagen, ein verftohlenes Hin:
bliden zu ihm, kleine Entrüſtungsſchreie, kurz, eine
Erregung, die fih immer weiter an dem Tiich fort:
pflanzte. Die Dame neben Heelen war blutrot ge:
worden und buftete in ihre Serviette, Maud aber,
die in demfelben Augenblid herübergefehen, erblaßte
bis in die Lippen. Sie fühlte ordentlich wie ihre
Hände Falt wurden, wie das Lächeln, mit dem fie
fih Tekfundenihnell an ihren Nachbar wandte, nur
verzerrt war, mie ihr Herzichlag ftodte. Das war
etwas Ulnerhörtes, etwas, das fie für immer der
Lächerlichleit preisgab, und in diefem Augenblid
hätte fie fih am liebften für immer von ihm los:
gejagt.
Mit einem jcheuen Blid überflog fie die Ge
\elichaft. Seber achte und plauderte mit feinem
Nachbar, aber fie meinte in aller Augen Bosheit,
auf aller Lippen ein fpöttiiches Wort zu jehen. Vor
ihrem Teller hwamm e8 wie in feurigen Streifen,
fie war kaum fähig, einen Billen hHinabzuwürgen und
ihrem Nachbar zu antworten, und Fortunat jaß viel
zu weit, um ihn irgendwelchen Anteil an ihrer Ver:
zweiflung nehmen zu lafjen. Endlich nahte fi aber
auch dies Souper jeinem Ende. Heelen hatte es in
vollftommener Gemütsruhe und mit gutem Appetit
an fih vorübergehen lafjen, abnungslos, welchen
Sturm er im Herzen feiner Frau heraufbeichworen.
Auch die Mißahtung feiner Nachbarin, die ihn durd)
völliges Überjehen ftrafte, bemerkte er nicht; er war
froh, daß fie ihn in Ruhe ließ.
Nah dem Souper trat Maud unauffällig an
Heelens Seite. Zhre Wangen brannten, ihre Augen
glübten.
„Du haft uns in der Gelelihaft unmöglich ge:
macht!” flüfterte fie ihm aufgeregt zu, „war Das
Deine Abfiht?” Sie drüdte heftig feinen Arm. So
erregt kannte er fie gar nidt.
„Bas meinft Du?” fragte er mit einer gewillen
Einfältigfeit in den Mienen, weil er fih gar nicht
auf fein Verbreen bejann.
Sie jah ihn an, preßte den Fächer an die Lippen
und wandte fih ab. Die beleidigenden Worte, Die
fie ihm jagen gewollt, blieben dadurch unausgeiprochen,
IV. 52
139 Art zu Art.
aber der Bliß der Veradhtung aus ihren dunklen
Augen traf ihn doc) und redete eine verftändliche
Spradbe. Ahn überriefelte es plößlih, er biß Die
Zähne in die Unterlippe, jah feiner Frau mit ge:
furdter Stirn nah, und ohne jemand ein Wort zu
jagen, verließ er das Haus des Gejandten und ging
zu Fuß beim. Es war grimmig Talt, aber der
koſtbare Pelz, ein Geſchenk Mauds, ſchützte ihn.
Und indem er an ſich herunterſah, kam es ihm
plötzlich mit ſchneidender Schärfe zum Bewußtſein,
daß alles, was ihn umgab, von ihr kam. — Seine
lumpigen paar tauſend Mark! Die hatten freilich
keine Bedeutung bei dieſem Reichtum. Er war nichts
anderes als der Mann ſeiner Frau, der es ſich ge—
fallen laſſen mußte, heute gehätſchelt, morgen getreten
zu werden; von dem ſie verlangen konnte, daß er
ſeinen Namen zu Ehren brächte, daß er arbeitete in
ihrem Intereſſe wie jeder, den ſie bezahlte.
Es gab ja nichts, was zwiſchen ihnen aus—⸗
gleichend wirken konnte! Keine Liebe auf ſeiner,
keine Liebe auf ihrer Seite, nur ein einfacher
Kompromiß, den ſie zu halten hatten.
Noch hatte er auf ſeinen Teil nichts geleiſtet,
ſie war alſo im Recht, wenn ſie ihn verachtete. Und
ſo gedemütigt, ſo entſetzlich erniedrigt kam er ſich in
dieſem Augenblick vor, daß es ihm eine Wohlthat
geweſen wäre, dieſe Demütigung auch körperlich zu
empfinden.
Er ſtürmte in ſein Atelier und verſuchte zu
arbeiten, aber es ging nicht. Seine hohe, heilige
Kunſt ließ ſich nicht zwingen; auch ſie ſetzte ihm den
Fuß in den Nacken, denn er hatte ſie verraten.
Dumpf ſtöhnend ſchlug er die Hände vor das
Geſicht. —
„Poor child!“ ſagte etwa in demſelben Augen:
blick die Geſandtin zu derjenigen ihrer Bekannten,
die ihr die Soupergeſchichte erzählte. „Das kommt
von ſolchen Ehen! Aber wir werden uns ihrer an-
nehmen — wir werden fie lancieren! Es ift wirklich
Ihade um die reizende Frau. — Der Mann ift ein
Tölpel und wird es ewig bleiben, mag er noch fo
berühmt werden.” —
Maud und Fortunat tanzten Francaije zufammen.
„Mein Mann jcheint fort zu fein,” flüfterte fie
ibm unter den Berfchlingungen des Tanzes zu.
„Dder jehen Sie ihn?“
„Rein, nirgends —“
Und beim nädflen Mal:
„Dieler Abend bringt mich no um. — ch weiß
nicht, was ich ihm eher verziehen hätte als Diele
Lächerlichkeit und feine jetige Rüdfihtslofigkeit!”
Sie Iprah raid, mit fliegendem Atem, ihre
Hand zitterte.
Das Herz that ihm weh.
„Berfügen Sie ganz über mich,” flüfterte er im
Ton zärtlihfter Hingabe zurüd.
Sie jah ihn dankbar an. Welh Glüd, daß fie
Fortunat hatte! Eine Menjchenfeele, zu der fie Iprechen,
vor ber fie fogar meinen konnte. Auf deilen Takt
fie fiy verlaflen durfte wie auf fich felbit.
„Wenn ih Sie nit hätte!” fagte fie auf:
jeufzend, als der Tanz zu Ende war und fie jeinen
Roman von H. Schobert.
740
Arm nahm. „Aber das Gefühl, daß Sie mid nicht
verlafjen werben, ftärkt immer wieder meinen fintenden
Mut.”
Welch ein Egoift wäre er gewefen, wenn er fie
wirflih allein gelaflen hätte, wie er es damals für
jeine Pflicht hielt. Sie hatte reht, einen Freund
mußte fie haben, und jo ziemlich betrachtete er fi
ja ohnehin als die eigentlihe Urjfadhe ihrer unglüd-
jeligen Ehe. Sie litt, aljo war e8 nur gerecht, daß
er mit litt, doppelt allerdings unter feiner ausfichte:
Iojen Liebe und feinen Gemillensbifien. Aber das
war gleichgültig. er fam gar nicht in Betracht, wenn
es ihm nur gelang, fie etwas zu tröften. —
Am nädhften Morgen trat er Ion ganz früh
in Heeleng Atelier. Es trieb ihn etwas dahin, was
Närter war als fein Wille, und ihm jelbft dabei
ziemlich unllar.
„Du2!” jagte der Bildhauer jehr erftaunt und
jahb dem Freund in das etwas verlegene Gefidht.
„Alles andere hätte ich heut eher erwartet als Deinen
Beſuch.“
„Das iſt ein trauriges Zeichen für unſere
Freundfchaft, Martin.”
„sit es das? Nun, dann ilt es ebenjogut ein
Beihen für Deine Freundihaft mit meiner Frau.
— Hat fie Did etwa geihidt?” jehte er mißtrauiich
hinzu.
„Rein.
zu Dir.”
„Du wilft mir aljo etwas Unangenehmes jagen,
geniere Dih nit. Das habe ich alles in der Nacht
Ihon felber beforgt.” Er legte ihm die Hand auf
die Schulter und late jcharf auf. „Es ift zwar
ihmwer in meinen Kopf bhineingegangen — id war
erzpumm — aber nun fit es drin, feit und un:
verrüdbar. Der Martin Heelen ift ein Zump, weil
er fih von einer reihen Frau hat laufen lafjen, ber
er nit nahlommen kann an Bildung und Schliff,
denn er ilt ein einfacher Bauer gewejen und wird
es bleiben Zeit feines Lebens.”
Fortunat öffnete die Augen weit und Jah dem
Freund erihroden in das Gelicht.
„Wie bitter Du bill, Martin,” jagte er ganz
faffungslos.
Der andere fuhr mit der Hand über das Gelidht.
„Es wird fi geben,” fagte er, die Blide For:
tunats vermeidend. „ch werde mid) au) daran ges
wöhnen, wenn nur meine Runft — meine Kunft
mir nidt untreu wird.”
Das Hang fo Elagend, fo herzzerreißend, daß in
dieſem Augenblid jelbft Maud vergeflen war.
„Was ift Dir, Martin?” fragte Fortunat in
dem alten Ton und legte feine beiden Hände um
die krampfhaft geballte Fauſt des Freundes. „Sprich
Dich aus — zu mir ...“
Heeken ſchüttelte heftig den Kopf.
„gu Dir? Nein! — Wir verfiehen uns nicht
mehr. Du gehörft zu meiner Frau und jo fol es
bleiben.”
Fortunat ſchwieg einen Augenblid. Er hatte
das Gefühl, Martin um den Hals zu fallen und ihm
alles zu beichten, was ihn für und gegen ihn be:
Mein eigenes Empfinden zwang mid
141 Art zu Art. Roman von H. Schobert. 142
mwegte. Aber die Mißachtung, die Maud für ihren
Gatten empfand, hatte ſich auch ſchon unmerklich bei
ihm eingeſchlichen, er zweifelte daran, daß ihn Heeken
verſtehen würde, und dann konnte aus jedem Wort
nur Unheil erwachſen.
„Du verkennſt mich, Martin,“ ſagte er endlich
ruhig, „Du verkennſt auch Deine Frau. Wenn es
je einem Menſchen mit dem Glück eines anderen
Ernſt geweſen iſt, ſo war ſie es. Was jetzt noch
zwiſchen Euch ſteht, ſind Außerlichkeiten — die werden
ſich geben. — Du mußt ihr nur etwas nachgiebig
ſein — ſie iſt eine Frau, die es wirklich verdient —
ein Engel an Güte, klug und von den höchſten,
edelſten Abſichten beſeelt. Eine Frau, mit der zu
leben das Paradies auf Erden ... was ſiehſt Du
mich ſo an, Martin?“
Heeken warf ſich in den Stuhl und ſtreckte die
Beine weit von ſich.
„Fahre doch fort,“ ſagte er, ſeinen Bart ſtreichend,
„das klingt mächtig hübſch.“
Aber Fortunat war verwirrt, er ſtützte den
Kopf in die Hand.
„Ich habe kein Recht, Dir von Deiner Frau
zu ſprechen,“ ſagte er ſeufzend. „Verzeihe mir.“
„O, ich verzeihe Dir alles.“
„Du biſt ſonderbar, Martin.
kehr wirkt nicht gut auf Dich.“
„Vielleicht nicht.“
„Nein, gewiß nicht. Aber wie er zu Dir auch
ſein mag, bedenke, daß er der abgewieſene Freier
Deiner Frau iſt. Wie würde er hohngelacht haben
über Deine geſtrige Rückſichtsloſigkeit gegen Deine
Frau. Ich habe ſie nach Hauſe gebracht, weil Du
ſie einfach ohne irgend eine Mitteilung bei Fremden
allein ließeſt. Wenn die Leute darüber reden, darfſt
Du Dich nicht wundern.“
„Sie verachtet mich ja doch,“ ſagte er ruhig
und zog mit dem Finger Kreiſe auf dem Tiſch.
Fortunat ſprang auf und trat einen Schritt
zurück, eine furchtbare Ahnung durchzuckte ihn. Liebte
Heeken etwa ſeine Frau? Fühlte er ſich aus dieſem
Grunde gekränkt, beleidigt, todestraurig durch ihr
Benehmen? Er mußte erſt tief Atem holen, ehe er
leiſe, faſt tonlos ſagte:
„Du liebſt ſie ſehr, Martin?“
Der Bildhauer ſah in die Höhe, ein harter Zug
grub ſich um ſeinen Mund. Aus ſeinen Augen
ſprach alles andere eher als Liebe, aber ſeine Lippen
blieben geſchloſſen. —
„Nun iſt alles aus!“ dachte Fortunat, als er
nach Hauſe ging, „alles!“
Er wußte nicht, ob und was er erwartet hatte
von der Zukunft, er wußte nur, daß er ſich am
liebſten ins Grab gelegt hätte, ſo öde und ſchrecklich
kam ihm das Leben vor. —
Quenſels Ver—
Fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Luzie ſtand in heller Erregung vor ihrem Bruder.
„Da hört ſich doch alles auf, Emil! Jetzt ſind
Heekens zu Hof geladen zum Prinzen Elimar. Haſt
Du dafür Worte?“
Er ſah intereſſiert auf.
„Woher weißt Du das, Kleine?“
Bis an den hellen Morgen war er mit Martin
zuſammen geweſen, ohne daß dieſer auch nur mit
einem Wort der Einladung Erwähnung gethan;
warum nicht? Erſchien ſie ihm ſo geringfügig
oder ſo gleichgültig? Manchmal wußte man bei
dieſem Bauerntölpel wirklich nicht, woran man war.
„Woher? Nun, von wem anders als von
Maud! Die Perſon platzt ja bald vor Hochmut,
ſeitdem ſich die oberen Kreiſe ſo um ſie reißen. Und
begreifſt Du, weshalb? Selbſt zugeſtanden, daß
Heekens Gruppe ein Kunſtwerk geweſen iſt, aber
Papa und Fortunat haben auch Kunſtwerke ge—
ſchaffen, trotzdem iſt es keinem Prinzen eingefallen,
ſich um ſie zu kümmern. Es iſt alſo um Mauds
willen. Nun ja, ſie verſteht es, ſich aufs hohe
Pferd zu ſetzen, wozu wäre ſie ſonſt Ausländerin.
Aber denke Dir, es ärgert mich — es ärgert mich
wütend.“
Emil warf den Cigarettenreſt fort und zündete
eine neue an.
„Gönne es ihr doch, Luzie,“ ſagte er zwiſchen—
durch in ſeinem alten Phlegma.
„Nein, ich gönne es ihr nicht! Ich gönne es
ihr bei Gott nicht!“ ſchrie Luzie zornig. „Und daß
Du ſo intim mit Heeken thuſt, nehme ich Dir auch
übel. Wie kann ſich mein anſtändiger Bruder ſo
mit ſeiner Freundſchaft fortwerfen!“
„Liebes Kind, nimm Deinen Mund nicht
ſo voll!“
„Vergißt Du denn ganz, daß dieſer Menſch
Dir Maud und ihren Reichtum fortgeſchnappt hat?
Wie ein Prinz lebt er jetzt, dieſer Bauernbengel,“
ſagte ſie mit zorniger Verächtlichkeit.
Emil zuckte die Achſeln und ſchwieg.
„Du kennſt doch die famoſe Auſterngeſchichte,“
fuhr Luzie unbarmherzig fort. „Ein anderer wäre
danach geſellſchaftlich unmöglich geweſen, Heekens
— nun, Heekens gehen einige Wochen darauf
zu Hofe.“
„Das kannſt Du wohl gar nicht verwinden,
Luzie?“
„Ich glaube nicht,“ ſagte ſie betrübt und ſetzte
ſich ihm um einen Stuhl näher. „Um ſo weniger,
als doch eigentlich die ganze Stadt in einer ge—
wiſſen Indignation gegen das Paar iſt. Weißt
Du, ſolche Ehe zu dreien iſt ja auf der Bühne in
einem franzöſiſchen Drama ſehr unterhaltend, aber
im Leben — na, da hat man doch ſeine Grund—
ſätze — ſeine Moral. Aber wo Maud iſt, iſt auch
Sortunat! Er! überall er! Am Theater, im Kon:
zert, in den Gefjellichaften. Und Heelen nicht einmal
immer dabei. Ganz allein gehen fie aus, das ift
doch ſkandalös.“
139 Art zu Art.
aber der Bli der Veradhtung aus ihren dunklen
Augen traf ihn do und redete eine verftändliche
Sprade. SYhn überriejelte es plöglih, er biß die
Zähne in die Unterlippe, fah jeiner Frau mit ge:
furdter Stirn nad, und ohne jemand ein Wort zu
jagen, verließ er das Haus des Gejandten und ging
zu Fuß beim. Es mar grimmig kalt, aber der
foftbare Pelz, ein Geſchenk Mauds, ſchützte ihn.
Und indem er an ſich herunterſah, kam es ihm
plötzlich mit ſchneidender Schärfe zum Bewußtſein,
daß alles, was ihn umgab, von ihr kam. — Seine
lumpigen paar tauſend Mark! Die hatten freilich
keine Bedeutung bei dieſem Reichtum. Er war nichts
anderes als der Mann ſeiner Frau, der es ſich ge—
fallen laſſen mußte, heute gehätſchelt, morgen getreten
zu werden; von dem ſie verlangen konnte, daß er
ſeinen Namen zu Ehren brächte, daß er arbeitete in
ihrem Intereſſe wie jeder, den ſie bezahlte.
Es gab ja nichts, was zwiſchen ihnen aus—⸗
gleichend wirken konnte! Keine Liebe auf ſeiner,
keine Liebe auf ihrer Seite, nur ein einfacher
Kompromiß, den ſie zu halten hatten.
Noch hatte er auf ſeinen Teil nichts geleiſtet,
ſie war alſo im Recht, wenn ſie ihn verachtete. Und
ſo gedemütigt, ſo entſetzlich erniedrigt kam er ſich in
dieſem Augenblick vor, daß es ihm eine Wohlthat
geweſen wäre, dieſe Demütigung auch körperlich zu
empfinden.
Er ſtürmte in ſein Atelier und verſuchte zu
arbeiten, aber es ging nicht. Seine hohe, heilige
Kunſt ließ ſich nicht zwingen; auch ſie ſetzte ihm den
Fuß in den Nacken, denn er hatte ſie verraten.
Dumpf ſtöhnend ſchlug er die Hände vor das
Geſicht. —
„Poor child!“ ſagte etwa in demſelben Augen—
blick die Geſandtin zu derjenigen ihrer Bekannten,
die ihr die Soupergeſchichte erzählte. „Das kommt
von ſolchen Ehen! Aber wir werden uns ihrer an-
nehmen — wir werben fie lancieren! Es ift wirklich
Ihade um bie reizende Frau. — Der Mann ift ein
Tölpel und wird es ewig bleiben, mag er nod jo
berühmt werden.” —
Maud und Fortunat tanzten Francaife zufammen.
„Mein Mann fcheint fort zu fein,“ flüfterte fie
ibm unter den Berihlingungen des Tanzes zu.
„der jehen Sie ihn?”
„Rein, nirgends —”
Und beim nädften Mal:
„Diejer Abend bringt mich no um. — Sch weiß
nicht, was ich ihm eher verziehen hätte als diefe
Lächerlichleit und feine jegige Rüdijichtslofigkeit!“
Sie Iprah rad, mit fliegendem Atem, ihre
Hand zitterte.
Das Herz that ihm meh.
„Berfügen Sie ganz über mich,” flüfterte er im
Ton zärtlihfter Hingabe zurüd.
Sie fah ihn dankbar an. Welh Glüd, daß fie
Sortunat hatte! Eine Menjchenjeele, zu der fie ſprechen,
vor der fie fogar weinen fonnte. Auf deilen Talt
fie fiy verlaflen durfte wie auf fich felbit.
„Wenn ih Sie nit hätte!” fagte fie auf:
jeufzend, als der Tanz zu Ende war und fie jeinen
Roman von 9. Schobert.
740
Arm nahm. „Aber das Gefühl, daß Sie mi nicht
N werben, ftärkt immer wieder meinen finfenden
ut,”
Welch ein Egoift wäre er gemwefen, wenn er fie
wirklich allein gelaflen hätte, wie er es damals für
jeine Pflicht hielt. Sie hatte vet, einen Freund
mußte fie haben, und fo ziemlich betrachtete er fi
ja ohnehin als die eigentlihe Urfacdhe ihrer unglüd-
jeligen Ehe. Sie litt, aljo war es nur gerecht, daß
er mit litt, doppelt allerdings unter feiner ausfichts-
lojen Liebe und feinen Gemillensbiffen. Aber das
war gleichgültig, er fam gar nit in Betradht, wenn
e8 ihm nur gelang, fie etwas zu tröften. —
Am nähften Morgen trat er jhon ganz früh
in Heelens Xtelier. Es trieb ihn etwas dahin, was
Närter war als jein Wille, und ihm jelbft dabei
ziemlih unklar.
„Du?!” fagte der Bildhauer jehr erftaunt und
jahb dem Freund in das etwas verlegene Gefidt.
„Alles andere hätte ich Heut eher erwartet als Deinen
Beſuch.“
„Das iſt ein trauriges Zeichen für unſere
Freundſchaft, Martin.“
„Iſt es das? Nun, dann iſt es ebenſogut ein
Zeichen für Deine Freundſchaft mit meiner Frau.
— Hat ſie Dich etwa geſchickt?“ ſetzte er mißtrauiſch
hinzu.
„Nein.
zu Dir.“
„Du willſt mir alſo etwas Unangenehmes ſagen,
geniere Dich nicht. Das habe ich alles in der Nacht
ſchon ſelber beſorgt“ Er legte ihm die Hand auf
die Schulter und ladte fcharf auf. „Es ift zwar
Ihmwer in meinen Kopf bineingegangen — id) war
erzdumm — aber nun fißt es drin, fefl unb un:
verrüdbar. Der Martin Heelen ift ein Zump, weil
er fih von einer reihen Frau hat laufen laflen, der
er nicht nahlommen kann an Bildung und Schliff,
denn er ift ein einfacher Bauer gewejen und wird
e8 bleiben Zeit jeines Lebens.“
Fortunat öffnete die Augen weit und fjah dem
Sreund erjhroden in das Geficht.
„Wie bitter Du bill, Martin,” fagte er ganz
faſſungslos.
Der andere fuhr mit der Hand über das Geſicht.
„Es wird ſich geben,“ ſagte er, die Blide For:
tunats vermeidend. „Ich werde mich auch daran ges
wöhnen, wenn nur meine Kunſt — meine Kunſt
mir nicht untreu wird.“
Das klang ſo klagend, ſo herzzerreißend, daß in
dieſem Augenblick ſelbſt Maud vergeſſen war.
„Was iſt Dir, Martin?“ fragte Fortunat in
dem alten Ton und legte ſeine beiden Hände um
die krampfhaft geballte Fauſt des Freundes. „Sprich
Dich aus — zumir.. .”
Heeken ſchüttelte heftig den Kopf.
„Zu Dir? Nein! — Wir verſtehen uns nicht
mehr. Du gehörſt zu meiner Frau und ſo ſoll es
bleiben.“
Fortunat ſchwieg einen Augenblick. Er hatte
das Gefühl, Martin um den Hals zu fallen und ihm
alles zu beichten, was ihn für und gegen ihn be—
Mein eigenes Empfinden zwang mich
141
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
wegte. Aber die Mißachtung, die Maud für ihren
Gatten empfand, hatte ſich auch ſchon unmerklich bei
ihm eingeſchlichen, er zweifelte daran, daß ihn Heeken
verſtehen würde, und dann konnte aus jedem Wort
nur Unheil erwachſen.
„Du verkennſt mich, Martin,“ ſagte er endlich
ruhig, „Du verkennſt auch Deine Frau. Wenn es
je einem Menſchen mit dem Glück eines anderen
Ernſt geweſen iſt, ſo war ſie es. Was jetzt noch
zwiſchen Euch ſteht, ſind Außerlichkeiten — die werden
ſich geben. — Du mußt ihr nur etwas nachgiebig
ſein — ſie iſt eine Frau, die es wirklich verdient —
ein Engel an Güte, klug und von den höchſten,
edelſten Abſichten beſeelt. Eine Frau, mit der zu
leben das Paradies auf Erden ... was ſiehſt Du
mich ſo an, Martin?“
Heeken warf ſich in den Stuhl und ſtreckte die
Beine weit von ſich.
„Fahre doch fort,“ ſagte er, ſeinen Bart ſtreichend,
„das klingt mächtig hübſch.“
Aber Fortunat war verwirrt, er ſtützte den
Kopf in die Hand.
„Ich habe kein Recht, Dir von Deiner Frau
zu ſprechen,“ ſagte er ſeufzend. „Verzeihe mir.“
„O, ich verzeihe Dir alles.“
„Du biſt ſonderbar, Martin.
kehr wirkt nicht gut auf Dich.“
„Vielleicht nicht.“
„Nein, gewiß nicht. Aber wie er zu Dir auch
ſein mag, bedenke, daß er der abgewieſene Freier
Deiner Frau iſt. Wie würde er hohngelacht haben
über Deine geſtrige Rückſichtsloſigkeit gegen Deine
Frau. Ich habe ſie nach Hauſe gebracht, weil Du
ſie einfach ohne irgend eine Mitteilung bei Fremden
allein ließeſt. Wenn die Leute darüber reden, darfſt
Du Dich nicht wundern.“
„Sie verachtet mich ja doch,“ ſagte er ruhig
und zog mit dem Finger Kreiſe auf dem Tiſch.
Fortunat ſprang auf und trat einen Schritt
zurück, eine furchtbare Ahnung durchzuckte ihn. Liebte
Heeken etwa ſeine Frau? Fühlte er ſich aus dieſem
Grunde gekränkt, beleidigt, todestraurig durch ihr
Benehmen? Er mußte erſt tief Atem holen, ehe er
leiſe, faſt tonlos ſagte:
„Du liebſt ſie ſehr, Martin?“
Der Bildhauer ſah in die Höhe, ein harter Zug
grub ſich um ſeinen Mund. Aus ſeinen Augen
ſprach alles andere eher als Liebe, aber ſeine Lippen
blieben geſchloſſen. —
„Nun iſt alles aus!“ dachte Fortunat, als er
nach Hauſe ging, „alles!“
Er wußte nicht, ob und was er erwartet hatte
von der Zukunft, er wußte nur, daß er ſich am
liebſten ins Grab gelegt hätte, ſo öde und ſchrecklich
kam ihm das Leben vor. —
Quenſels Ver—
Fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Luzie ſtand in heller Erregung vor ihrem Bruder.
„Da hört ſich doch alles auf, Emil! Jetzt ſind
Heekens zu Hof geladen zum Prinzen Elimar. Haſt
Du dafür Worte?“
Er ſah intereſſiert auf.
„Woher weißt Du das, Kleine?“
Bis an den hellen Morgen war er mit Martin
zuſammen geweſen, ohne daß dieſer auch nur mit
einem Wort der Einladung Erwähnung gethan;
warum nicht? Erſchien ſie ihm ſo geringfügig
oder ſo gleichgültig? Manchmal wußte man bei
dieſem Bauerntölpel wirklich nicht, woran man war.
„Woher? Nun, von wem anders als von
Maud! Die Perſon platzt ja bald vor Hochmut,
ſeitdem ſich die oberen Kreiſe ſo um ſie reißen. Und
begreiſſt Du, weshalb? Selbſt zugeſtanden, daß
Heekens Gruppe ein Kunſtwerk geweſen iſt, aber
Papa und Fortunat haben auch Kunſtwerke ge—
ſchaffen, trotzdem iſt es keinem Prinzen eingefallen,
ſich um ſie zu kümmern. Es iſt alſo um Mauds
willen. Nun ja, ſie verſteht es, ſich aufs hohe
Pferd zu ſetzen, wozu wäre ſie ſonſt Ausländerin.
Aber denke Dir, es ärgert mich — es ärgert mich
wütend.“
Emil warf den Cigarettenreſt fort und zündete
eine neue an.
„Gönne es ihr doch, Luzie,“ ſagte er zwiſchen—
durch in ſeinem alten Phlegma.
„Nein, ich gönne es ihr nicht! Ich gönne es
ihr bei Gott nicht!“ ſchrie Luzie zornig. „Und daß
Du ſo intim mit Heeken thuſt, nehme ich Dir auch
übel. Wie kann ſich mein anſtändiger Bruder ſo
mit ſeiner Freundſchaft fortwerfen!“
„Liebes Kind, nimm Deinen Mund nicht
ſo voll!“
„Vergißt Du denn ganz, daß dieſer Menſch
Dir Maud und ihren Reichtum fortgeſchnappt hat?
Wie ein Prinz lebt er jetzt, dieſer Bauernbengel,“
ſagte ſie mit zorniger Verächtlichkeit.
Emil zuckte die Achſeln und ſchwieg.
„Du kennſt doch die famoſe Auſterngeſchichte,“
fuhr Luzie unbarmherzig fort. „Ein anderer wäre
danach geſellſchaftlich unmöglich geweſen, Heekens
— nun, Heekens gehen einige Wochen darauf
zu Hofe.“
„Das kannſt Du wohl gar nicht verwinden,
Luzie?“
„Ich glaube nicht,“ ſagte ſie betrübt und ſetzte
ſich ihm um einen Stuhl näher. „Um ſo weniger,
als doch eigentlich die ganze Stadt in einer ge—
wiſſen Indignation gegen das Paar iſt. Weißt
Du, ſolche Ehe zu dreien iſt ja auf der Bühne in
einem franzöſiſchen Drama ſehr unterhaltend, aber
im Leben — na, da hat man doch ſeine Grund—
ſätze — ſeine Moral. Aber wo Maud iſt, iſt auch
Fortunat! Er! überall er! Im Theater, im Kon:
zert, in den Gejellihaften. Und Heelen nicht einmal
immer dabei. Ganz allein gehen fie aus, das tft
doch ſtandalös.“
743 Art zu Art.
„Woher weißt Du denn das jo genau, Zuzie?“
„Run, man |pricht doch darüber, hört hier und
da... Ad, Emil, thue doh nicht jo! Du weißt
ganz gut, wie die LXeute find.”
„Breilih weiß ich) das, und wahrhaftig, ich
babe nichts dagegen.”
„Wir erleben es no, daß es einen furdt:
baren Skandal giebt,” fagte Zuzie vertraulich und
rüdte ihrem Bruder näher. „Der Eleinfte Anftoß
und Mauds thönerner Thron bridht zujammen.
Das jage ich mir ja genug. Aber fie bei Hofe zu
wiffen, während ihre Echwiegermutter do in
muffigen, furzen Bauernröden berumläuft und ihr
Mann Fäufte wie ein Cyflop hat, das ärgert mid)
zu ſehr.“
„Du biſt ihr alſo neidiſch?“
„Ja —“ ſagte ſie nach kurzem Bedenken, „ich
will es Dir gern zugeben, das bin ich!“
„Um Fortunats willen natürlich. Ihr Frauen
ſeid alle ſo kleinlich.“
Thränen ſchoſſen
„Kleinlich nennſt Du das?“
in ihre Augen. „Er iſt eine ſo gute Partie, und
ich habe ihn doch lieb! Ich finde ihn ſogar hübſch,
Emil; hübſcher als Dich.“
Er lachte.
„Kleine Schweſter, mit unſeren Heiratspro—
jekten haben wir kein Glüd gehabt. Weißt Du
Hände ballend, „Maud wäre in ihrem Amerika ge—
blieben, oder das Schiff wäre mit Mann und Maus
untergegangen, ehe es hier gelandet wäre. Wahr—
haftig, Emil, das wünſchte ich.“
Er ſah ſie lachend an, aber ſie kämpfte in
Wahrheit mit ihren Thränen, und da that ſie ihm
plötzlich leid.
„Na, na, Kleine,“ ſagte er gutmütig, ihre Hand
ſtreichelnd. „Noch iſt ja nicht aller Tage Abend.“
Sie ſchüttelte heftig den Kopf.
„Er liebt ſie, ohne Frage. Wenn Du die
Blicke ſehen würdeſt, mit denen er ſie anſieht. Der
reinſte Toggenburg. UÜbrigens muß er denken, andere
Leute haben keine Augen.“
„Ja, das paſſiert häufig.“
Luzie rang ihre Finger ineinander.
„O, Emil,“ ſagte ſie kläglich, „ich haſſe ſie.“
„Dann verkehre nicht mehr bei ihr. Mir ſcheint
aber, Du biſt recht häufig da.“
„Nun,“ rief ſie plötzlich voll Trotz „Ich weiß,
daß ſie lieber mit Fortunat allein iſt, natürlich, aber
eben deshalb thue ich es. Sie kann mich doch nicht
gut abweiſen laſſen. Und ſchließlich muß ſie doch
auch einmal eine Geſellſchaft geben, zu der ſie mich
einlädt, und dann bin ich wenigſtens einmal mit all
dieſen vornehmen Leuten zuſammen geweſen, Ge—
ſandten und Hofmarſchällen, und kann ſehen, wie ſie
ſich zu Maud benehmen. Nein, aufgeben kann ich
den Verkehr nicht, das wäre dumm.“
Emil nickte, die Anſchauungsweiſe ſeiner Schweſter
ſchien ihm nicht wunderbar.
Roman von H. Schobert.
744
einer Pauſe vertraulich. „Papa iſt ſehr ſtolz auf
Dich, er ſagt, daß jetzt endlich ſeine Prophezeiungen
einträfen und ſich Dein Talent Bahn bräche. Deine
letzten Arbeiten atmeten etwas Herbes, aber Geniales,
etwas, das faſt an Heeken erinnere. Noch eine
kurze Zeit ſo weiter, und Du bekämſt auch einen
Preis. Nun? Biſt Du nicht ſtolz?“
Emil drehte ſich eine neue Cigarette, er ſah
ſeine Schweſler nicht an.
„Da ſiehſt Du, Umgang färbt ab.“ Dazu
lachte er etwas ſpöttiſch. „Vielleicht atme ich etwas
von Heekens Genie in ſeinem Atelier und ſeiner
Geſellſchaft ein, und Du willſt mir beides ver—
denken?“
„Ich wüßte kein Wort mit ihm zu reden, ich
finde ihn einſach gräßlich,“ ſagte ſie nachdenklich.
„Und daß Maud mit dem nicht glücklich ſein kann,
das iſt ſchließlich mein Troſt. Alles läßt ſich nicht
erkaufen.“ —
An demſelben Tage war Fortunat zu Tiſch in
der Heekenſchen Familie. Er ſuchte mit einer ge—
wiſſen Befliſſenheit wieder Martins Gegenwart.
Seitdem er den Gedanken nicht los werden konnte,
dieſer liebe ſeine Frau trotz der äußerlichen Ent—
fremdung, oder vielleicht gerade deshalb, hatte er
ſtets den Wunſch, zu beobachten, jedes Wort, jeden
Blick abzuwägen, um ſich ſelbſt damit zu quälen.
Und ſchließlich fand er Momente, die ſeiner krank—
haften Einbildung genug Nahrung gaben, obgleich
ſie, außer ihm, ſich wohl niemand derart zurecht:
konſtruiert hätte.
Ganz im Gegenſatz zu Fortunat, hatte es
Heeken doppelt eilig, aus der Geſellſchaft ſeiner
Frau fortzukommen, ſobald ſein Freund da war.
Fühlte er ſich dann noch überflüſſiger als gewöhn—
lich, trieben ihn andere Motive, kurzum, er ver—⸗
ſchwand möglichſt ſchnell, und das war bei ſeiner
Unkenntnis jeder Form derartig auffällig, daß For—
tunat ſchon mehrmals Maud gefragt, ob ihr unter
den Verhältniſſen ſeine Gegenwart auch erwünſcht ſei.
Zwar hatte ſie ihn darauf nur angeſehen und
ruhig erwidert: „Dieſe Frage brauche ich Ihnen
wohl nicht zu beantworten.“ Aber der Stachel blieb
doch in ihm ſitzen, und Maud fühlte das.
Als Heeken deshalb auch heut mit dem letzten
Biſſen im Munde aufbrach, trat ſie, freundlich wie
lange nicht, zu ihm und bat ihn zu bleiben.
Sie ſah ſehr hübſch aus in dem Augenblick, in
ihrem weißen Kleide, das ſie gewöhnlich zum Eſſen
trug, einen Strauß Veilchen vor der Bruſt, und
ihr Mann ſah ſie mit einem Ausdruck an, als fände
er heut etwas ganz Neues an ihr, oder als befremde
ihn die Erkenntnis, daß dies Weſen eigentlich ihm
gehöre vor Gott und den Menſchen, während ſie
einander doch ſo fern waren wie Himmel und Erde.
Die Schleppe ihres Kleides berührte ſeine Füße
und die Blumen dufteten zu ihm empor; unwillfür:
lih beugte er fich ihr entgegen.
„Warum wilft Du das?” fragte er und jah fie
jeltjam an, fo wei), jo — fait flehend.
„Weil es unfern Gaft beleidigen Fönnte,” fagte
„Weißt Du no) etwas, Emil?” jagte fie nach ; fie, fi zu diefem ummendend, halblaut.
745 Art zu Art.
Da fchleuderte er die Schleppe beileite und
richtete fich auf, als wäre ihm plößlich der Blumen:
duft läftig.
„hr braudt mid nicht,” antwortete er kurz
und jchroff und ging davon.
Während er feinem Atelier zufchritt, fragte er
ih grübelnd, was ihn eigentlih vorhin bei dem
Anblid jeiner Frau, dem Duft der Blumen über:
fommen hatte. E& war eine weiche, fat jchmerzliche
NRegung gemwejen. Ein Gefühl der Sehnjfudht, der
Berlafienheit, und der heftige Wunjch, irgend etwas
an fein Herz zu Ichließen, das zu ihm gehörte, das
ihn tröften und lieb haben würde. Aber war feine
Frau dazu fähig? Er kannte fie nur Plug, felbftbe-
mußt und kühl; die abwartend am Wege ftand, ob
er denn nun endli das Seine thun und ein neues
Kunftwert Ichaffen würde, wie fie e8 vorausgefeßt.
Die Hunde waren verpfulht. Zu taftvoll, um ihn
mit Worten zu mahnen, aber ein lebendiges Frage:
zeihen auf alles, was ihn umgab. Nein, ihre
Berfon Hatte mit feinem Empfinden nichts zu thun,
es war nur das Gejhleht, dem er fih troftfuchend
zugenetgt, dasjelbe Geichleht, das alle jeine Be-
fannten beglüdte, bejeligte, fie zu taujend Thor:
heiten trieb, glüdlih und unglüdlid machte, von
dem allein Heil für den Mann kommen jollte.
Er kannte bdiefes Geihleht in jeiner Macht
nicht. Seine Frau war ihm fremd geblieben, feiner
Mutter war er bhimmelmweit entwadhlen, zwilchen
biefen beiden Polen batte fein anderes weibliches
MWelen geftanden, und nun — war es zu fpät! —
Er hatte fih auf den Diman geworfen und Die
Augen gejchloflen. Sein kindlihes Gemüt fand
feinen Weg, um die plögli erwadhte Sehnjudht mit
dem Beftehenden zu vereinigen. Dieſer einen Frau
hatte er Treue gejchworen, er mußte fie ihr aljo
auch halten fein Iebelang. Daß es krumme Wege
gab, oder daß er an eine Lölung jeiner unerquid-
lihen Ehe je denten könnte, war für ihn ganz aus:
geihloffen. So würde er aljo das, was die anderen
das einzig Süße im Leben nannten, nie fennen
lernen. ’
Er jeufzte tief. — Wie fam er denn nur auf
diefe wunberlihden Gedanken? Nidtig, der Anblid
feiner Frau, der Duft der Blumen war jhuld daran
gewelen und die Erzählungen geftern abend in jeinem
Verein. Er hatte fiillgejeflen und zugehört, was fie
jo einander vertrauten, mit mehr Offenheit als Dis:
fretion, und eigentlich war es ihm in dem Moment
ziemlich gleichgültig gemwejen; erjt nachher hatte es
in ihm gewirkt, jo daß er gar nit von dem
Grübeln darüber lostommen konnte. Alfo ihm war
das verjagt! Und neben einer Frau, die ihm Liebe
gegeben und genommen, wäre vielleicht auch jeine
Kunft bei ihm geblieben, denn feiner von den
jungen Künftlern geftern hatte über verjagende
Kraft geklagt, im Gegenteil, ihnen war Liebe und
Kunft untrennbar.
Er drehte fich auf die andere Seite und verjuchte,
ih die Frau vorzuftellen, die er lieben könnte, die
ihn wieder liebte. Nicht fo fein und gebildet mußte
fie fein, und fraftfirogend in ihrer Perfönlichkeit,
Roman von H. Schobert.
146
aber weiter fam er nit. Seine Phantafie verjagte,
er Fannte ja die Frauen jo wenig.
Um ihn mar es totenflill, nur der Schnee, der
zu fallen begonnen, tidte an bie Scheiben. In dem
bämmernden Duntel leudhteten die Hunde aus jeinem
Atelier zu ihm berein und wieder empfand er den
dumpfen Drud der Einfamleit, der Troftbedürftigfeit.
Er Stand auf und ging zu feiner Mutter. Sie
wenigftens gehörte doch zu ihm, war Blut von jeinem
Blut, er der Gebende und fie die Empfangenbe.
Als er öffnete, fuhren die drei Dienftmädchen
mit hellen Schreien auf und zur Thür hinaus, fie
hatten im Kreife um die Alte berumgehodt und ge:
fatiht; das war doch fo verführeriih für fie, und
Mutter Heelen jolh danktbares Publikum.
Die Alte jhien über die Störung wenig erfreut.
„Ra,"” jagte fie mit einem gemillen gedehnten Ton.
„Was willft denn Du, Martin?“
„Nichts will ih, Mutter. Nur mal fehen, wie
e8 Euch gebt.“ |
„Wie jol es mir gehen! Schlecht geht cs mir!
Den ganzen Tag bin ih allein. Keiner kümmert
fih um mi! Sterben und verderben Eönnt ih
Euretwegen — wenn die Mädchen nicht noch mand):
mal nach mir fähen.“
Er jchmwieg. Seine Mutter hatte recht, niemand
war da, der fih um fie fümmeerte.
„Martin,“ jagte fie nach einem Weilden, ihm
näher rüdend, in geheimnisvollem Flüfterton, „dent
nur, Euer Friedrih wird die Lina heiraten. Freilich
bat er fhon eine Braut in Berdtesbah, aber die
läßt er figen, denn die Lina hat taufend Markt Ge-
ipartes. Und der Köchin ihr Vater fäuft und bat
fie mal totfchlagen wollen ohne Grund, und die
Nina hat das Bild von einem feinen Herrn, einem
Lieutenant oder Oberft ober Kapellmeilter in einem
echt goldenen Medaillon. Und bei Euch in der Küche
fehlen zwei filberne Löffel, und die Köchin bat geftern
das ganze Filet verbrennen laflen, jhwarz wie Kohle,
und dann fchnell Hin und ein anderes geholt, und
Nina trinkt ale Morgen ein rohes Ei, und Friedrich)
raucht Cigarren, das Stüd zu adt Pfennig. — Ya,
das find jo Sachen, mein Sohn.”
Sie Iprah triumphierend, als erzähle fie ihm
das MWichtigfte der Erde. Er aber hatte gar nicht
zugebört.
„Mutter —” begann er gedrüdt.
„Ia natürlih, Deiner Frau ift das ganz gleich,
die kümmert fih um nichts, derentwegen kann es
noch ganz anders zugehen. Wenn bie nur fiten und
harmieren kann, mit dem feinen Herrchen, das immer
um fie herum if. Aber warum leideft Du es,
Martin? Schlag bo mit der Fauft drein, das ift
Dein Redt. Was fteden fie immer zufammen und
Du bift nicht dabei? Und . . .”“ fie kam ihm
jo nahe, daß fein Ohr von ihren Xippen berührt
wurde, „wenn Du bdahinterlommft, dann Tannft
Du Dih jcheiden lajjen und Triegft die Hälfte von
ihrem Geld, jagt Friedrich.”
Nun hatte er doch zugehört, wider feinen Willen
zuerft, aber allmählich batte das Geſchwätz ſeine
147
feineren Regungen verjagt, er vergaß, weshalb er
gefommen, und daß er Steine ftatt Brot befommen.
„Der Friedrich ift ein Ejel, dem ich bei nächfter
Gelegenheit den Schädel einjchlagen werde,” jagte er
zornig.
„Haſt recht, Martinchen, haſt recht!“ ſie legte
die Hand auf ſeinen Arm. „Warum die Hälfte
nehmen, wenn man das Ganze behalten kann. Haſt
ganz recht! Viel Geld iſt erſt was Schönes.“
Und dann ſaßen ſie eine Weile ſtill zuſammen,
bis Heeken aufſtand.
„Gute Nacht, Mutter.“
„Gute Nacht. Gute Nacht!“ Sie ſtreichelte
ſeinen Ärmel, der feine Sammet gefiel ihr. Ihn
berührte ihre Katzenfreundlichkeit unangenehm, er
hatte ein häßliches Wort auf der Zunge.
In ſeinem Atelier dehnte und reckte er die
Arme, dann zog er ſich um und ging in ſeinen Verein.
Auf der Straße ſah er zu den Fenſtern ſeiner
Wohnung empor. Sie waren alle erleuchtet, Fortunat
alfo noch oben. Er ſchüttelte den Kopf. Groll
empfand er ja nicht, gegen niemand, aber ſie gefielen
einander fſicherlich dort droben, waren gern zuſammen,
und nur er allein, immer allein. —
Als Heeken gegangen, hatte Fortunat Maud
angeſehen. Ein gequälter Ausdruck lag auf ſeinen
hübſchen Zügen.
„Wäre es nicht am beſten, gnädige Frau, ich
käme nicht mehr her?“ fragte er ſtockend. „Ein
Freund bin ich Martin längſt nicht mehr, er duldet
mich nur noch.“
„Sehen Sie keine Geſpenſter,“ antwortete ſie
leihthin. „Zino ift ein Menfch, der keinerlei Sormen
fennt, fih auch feine Mühe giebt, fie lennen zu
lernen. Wollen Sie etwa irgend eine Zaune jo auf:
baufchen, daß Sie eine Staatsaltion daraus maden?
Papt ihm unfere Gejellihaft nicht, mag er gehen.”
Sie ſetzte fih an einen niederen japanifhen Tiich
und füllte aus der filbernen Kanne Mokla in die
Sevrestaffen. „Kommen Sie her, Fortunat, madhen
Sie fi das Leben nicht unnüß jchwer.”
Er jegte fi ihr gegenüber und rührte mit dem
goldenen Löffel den Zuder Hein. „Können Sie fi
nicht denken, daß mich das brüdt?“
„Sa, deshalb wollte ih ihn zurüdhalten. Aber
Sie find im Jrrtum, Fortunat, wenn Sie glauben,
dem befonderen Wert beifegen zu müjlen. Tino iſt
in marden Dingen der reinfle Wilde, was ihm be-
bagt, thut er, was ihm unbequem ift, weit er von
ih. Empfindungen ind nicht jeine Sade. Selbit:
beberrihung wird er nie lernen! Wir thun ihm
den größten Gefallen, wenn mir ihn gehen lafien,
weiter verlangt er nichts. Fordern wir zum Über:
fuß nicht noch Brutalitäten heraus.”
Er legte Elirrend den Xöffel auf die Untertaffe.
z „Das fürchten Sie?” fragte er mit ftodendem
tem.
„IH fürdte es nicht, aber — ih bin barauf
vorbereitet,” fagte fie langjam und lehnte fih in den
Seljel zurüd. „Ich bin ficher, daß er im geeigneten
Moment deflen fähig ift, denn eine unerzogene, un:
gebärdige Natur, wie bie feine, kennt feine Schranken.
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
148
Deshalb vermeide ich jedes Aufeinanderplagen ber
Gemüter.”
„Wie Ichredlich !”
lagte er es.
Sie zudte die Adieln.
„Lieber Sreund, ich habe mir das alles Kar
gemaht, Konfequenzen gezogen und mich mit dem
Reſultat abgefunden — o gut es eben geht. — Sfeber
Irrtum rächt fih an uns felber, und da ih einen
begangen habe, muß ich eben ftillhalten.”
Er nahm medhanijh einen Schlud von bem
beißen Kaffee, ohne e8 zu wiſſen.
„Snädige Frau,” ſagte er tief bewegt, „Sie
reden jo ruhig, das täufcht mid nidt. Taufend
Schmerzen lauern hinter diefen fühlen, überlegten
Worten.”
Ein wehmütiges Lächeln zudte um ihren Mund.
„Warum jol ih es leugnen. Shnen gerade
leugnen! a, ich babe bittere Stunden durchge:
madht bis zu dieler Refignation. Niemand kommt
die Vernunft im Schlaf. Und ich Hatte fo vieles
vor! Und fo gutes! Ych glaubte an meine Milfion.
Nach geiftiger Anregung fehnte ih mich jo. — Seht
will ich nichts mehr, als nur möglidht in Frieden
leben, aber — dazu braude ih Sie!”
Er wurde rot vor jchmerzlicher Freude. . Sie
ahnte nicht, wie e8 um ihn ftand, aber menigitens
war er ihr unentbehrlich.
„Sie werden mid immer finden, gnädige Frau.“
Sie nidte wie felbitverftändlid.
„Wenn ich ihn liebte, müßte es ja unerträglich
für mid) fein — aber jo —” jagte fie leife, ganz in
Gedanken vor fich Hin.
Da beugte fi Fortunat weit zu ihr hinüber,
auch er ſprach leiſe.
„Aber wenn er Sie nun liebt — es nur nicht
zu zeigen weiß .
Sie war — der leichte Stuhl hinter
ihr ſchlug zu Boden, wie im Entſetzen ſtreckte ſie
beide Hände von ſich.
„Nein, nein! Sagen Sie das nicht!“ flehte ſie
keuchend. „Ich kann nicht — das kann ich nicht
mehr! — Mag er thun, was er will — er hat Frei—
heit — er hat Geld! Ich verlange keine Treue —
aber das nicht! Das nicht!“
Sie war immer weiter zurückgewichen unter den
Schauern des Schreckens, die ſie überrieſelten. Mit
Grauen gedachte ſie der erſten Zeit ihrer Ehe.
„Und wenn er Sie doch liebt?“ wiederholte
Fortunat, bleich, mit zuſammengepreßten Lippen.
„Doch!! —“
Sie ſtand jetzt zwiſchen den Marmorfigürchen,
ſeinem Hochzeitsgeſchenk; ob in der Erregung oder
mit Abſicht faßte ſie die Säule, die Martins Eben:
bild trug, es ſah mit zärtlichen Blicken zu ſeiner
Genoſſin hinüber, und dieſer Blick mußte ſie an
etwas erinnern, das ihr grauenhaft war — ein Ruck
— ein Fall — die Marmorfigur lag am Boden
mit losgetrenntem Kopf und zerſplitterter Naſe. —
Maud nahm ihr Taſchentuch und fuhr ſich über das
Dee Seit. Mit einem Schlag fam ihr ihre Ruhe
zurüd,
Mit einem tiefen Seufzer
749 Art zu Akt.
„Die jhade!” fagte fie zu Fortunat.
werden Sie mir böle fein!”
Aber fie erihrat do, als fie in fein Geficht
ſah. So viel Seligkeit, jo viel Glüd lag in diefen
offenen Zügen, denen Verftelung unmöglich war, daß
es ihr plößlich heiß vom Herzen in die Wangen ftieg.
Kein Zweifel, er liebte fi. Auf einmal war
e3 ihr Mar geworden. Er liebte fie mit einer
großen, heiligen, felbitlojen Liebe. — Wie war e8
möglich, daß fie e& nicht längft gemerkt!
Plöglih wurde ihr fo froh, fo leicht ums Herz,
als gäbe es Feine Traurigkeit mehr in der Welt,
denn neben ber Freude, eine joldhe Liebe eingeflößt
zu haben, hatte fie die Sicherheit, daß er nie —
nie ein Wort darüber jprechen, daß feine Woge hod-
gehender Leidenjhaft feine Gefühle je verraten werde.
Und mit dem Egoismus ber Frau freute fie fi
biefer Liebe, ohne ihrer Schmerzen für ihn zu ge
denten. —
Er ging früher als gewöhnlid. Obgleih Maud
ihre volle Unbefangenheit ihm gegenüber längft
wiedergefunden, fühlte er fich body in einem wunber:
lihen Sturm der Gefühle und fürdhtete, fich zu ver:
raten.
Sie würde Martin alfo niemals lieben! Wie
unredt war es, daß ihm dies Bewußtſein ſolch Troſt
war! Tief traurig müßte er darüber fein und zum
Guten reden, aber das vermodhte er nit. Schweigen
fonnte er wohl, bodh nicht beucheln. —
Und als er gegangen, blieb Maub noch lange
in dem Zimmer, die Arme über dem Kopf gefreugt
und dadte an ihn.
Wie lange liebte er fie? Bielleicht Schon immer,
und fie hatten es nur felbft nicht verftanden und
Sreundihaft genannt, was Liebe gewefen? Wenn
es anders geflommen wäre? — Sie wurde flammend
rot, denn plöglih kam es ihr zum Bemußtfein, daß
auch fie mit ihm verwacdlen war, jedes Gefühl, jeder
Gedanke fi halb unbewußt an dem feinen maß. —
Aber das war ja jhredliih! Sie war eine ver:
heiratete, anfländige Frau, und mochten bie Ver:
hältniffe no jo unglüdlih liegen, das blieb fie
bob — und rein dazu...
„Ich bin närriſch!“ fagte fie laut vor fich Hin,
„ich liebe ihn ja gar nicht! Er ift mir notwendig —
ein Freund! Und er wird jchweigen .. .. Jh will
gar nit mehr daran benlen.” Sie dadıte aud
niht mehr daran, nur bas tiefinnere Frohgefühl
blieb ihr, und dagegen kämpfte fie nidtt.
„Run
Sehsundzmwanzigftes Kapitel.
Über Heelen mar eine gemifle troßige Gleich:
gültigkeit gelommen, feitbem er eingefehen, daß er
fih niemals diefer Gejelichaft accommodieren würde.
Er blieb wer er war, mochten fie e8 nun mit ihm
halten wie fie wollten. Zubden fie ihn nicht mehr ein,
ftraften fie ihn mit volllommener Nichtbeachtuug, ihm
war e3 tet. Verlangien fie nah ihm, mußten fie
ihn nehmen wie er war. Er wollte fich feine Kopf:
Koman von H. Schobert.
750
Ihmerzen mehr darüber maden, was jhidlih war und
was nicht, feiner Frau madte er ja doch nichts recht.
Mit diefem Endrefultat feines Nachdentens nahm
er au die Einladung des Prinzen auf die leichte
Adel. Herrgott, ein Prinz war dboh aud nur ein
Menih, und diefer noch dazu einer, der in Thon
Inetete, gerade jo gut wie er und feine Kollegen.
Daß er nicht allzuviel los hatte, wußte Heelen ein:
fimmig aus jeinem Verein, aber bafür war er ja
Prinz, nur durfte er nicht verlangen, daß er als
Künftler allzuviel bedeutete.
Vieleiht war es gerade dies Bemwußtjein bes
Künftlers, was Heefen nicht dazu kommen ließ, die
ungebeure Auszeichnung, die ihm durch den Prinzen
geworden, reht zu würdigen, Maud wenigftens war
fafjungslos über die Ruhe des Gatten, die ihr diesmal
recht reichlich fehlte.
Zu Hof! — Der Traum ihrer Mädchenjahre
jollte fich verwirklichen; einer von denjenigen auf ber
Menichheit Höhen trat ihr menjhlih näher. Sie
wußte redht gut, daß fie diefe Auszeihnung nur dem
Genie ihres Mannes zu danken hatte. Prinz Elimar
war von der Centaurengruppe derart begeiftert, daß
er Heelens Belanntihaft verlangt hatte. Der miß:
achtete, überjehene Gatte war plöglich in ihren Augen
emporgejchnellt, und mit einem gemiflen Gefühl des
Stolzes hielt fie fiy dicht an feiner Seite. Sie hatte
Jogar unterlaflen, ihm Verhaltungsmaßregeln zu geben,
denn ihren erften und einzigen VBerfuh in bieler
Richtung hatte fie aufgegeben, als er ihr mit einem
furzen Laden und Kopfichütteln gelagt:
„Sieb Dir keine Mühe, Maud, id bin wie ich
bin! Am Thon fann man fragen und modeln, am
Menihen nicht.”
Es hatte fie beinahe gefreut, dies Selbitbewußt:-
jein, denn es fiel ja mit der erften Auszeichnung zu:
jammen, die fie ihm dantte.
Der Prinz war ausgeluht gnädig, als er auf
Heelen nach ber Vorftelung zutrat und ihm ehr viel
Schönes und Schmeichelhaftes über feine Arbeit jagte,
Maud mußte fih geftehen, daß fie erft jehr in zweiter
Linie kam, troß ihrer Toilettenpradht.
„Und nun will ih dem Kollegen aud mein
eben vollendetes Werk zeigen,” fagte er und bot der
Brinzeifin den Arm.
Das war das Signal zu einem allgemeinen
Zuge in das Atelier Seiner Hoheit, denn außer dem
Heelenihen Ehepaar Tannte jeder Anmwelende des
Prinzen Shwache Seite, mit feinen Arbeiten gewiljer:
maßen zu pofleren und joviel Weihrauch entgegenzu:
nehmen, al8 man ihm nur barbieten wollte.
Cs war dies Feine landesgefährliche Pallton,
deshalb gönnte man fie dem guten Prinzen auch
ungeihmaälert, und hödftens in Künftlerkreijen machte
man fi laut darüber Luftig.
Bor einer grünen Wand aus Dleander und
Tarus ftand die faft lebensgroße Figur eines ge:
fellelten Sklaven. Matt und müde hingen die mit
Ketien beichwerten Arme herab, matt war das Haupt
auf die Bruft gejunten, Kraftlofigfeit lag befonbers
in der Stellung der Füße zu einander. Die Kom-
pofition war hübjh erdadht, bie Ausführung elend.
— — — nn a ————— —— — —
751 Art zu Art.
Da war nichts, was fih auh nur im entfernteiten
über den blutigften Dilettantismus hinaushob.
Ale Anwejenden drängten herzu und braden in
ein Gemurmel des Beifalld aus. Heeken drehte ſich
um und blidte die nädhjften der Reihe nah an; er
jelbft ſchwieg.
„Nun?” fragte Prinz Elimar läcelnd, „wie
gefällt Ihnen das?”
Der Blid des Bildhauers heftete fih auf das
feine, aber unbedeutende Geficht des Prinzen.
„sragen Hoheit den Kollegen? Den Künftler?”
„Zen denn jonft?” Er wurde etwas nervös
und trat von einem Fuß auf den andern, als wittere
er etwa& Ungeheuerliches, Häßliches.
„Dann fage ich, daß das Ding da ein Schmarren
ift — nicht wert den Marmor und den Meißel, den
man darum angejett bat.”
Der Prinz griff einen Augenblid an feinen Hals,
das Blut jhoß ihm in das Gefidt.
„Ste haben ein jehr hartes Urteil, Herr Heelen.”
„Richt mehr, als ih vor meinem Gewiflen ver:
antworten fann. Sehen Sie, Hoheit, das ijt ja
alles unridhtig, falihe Maße, feine Anatomie bes
Körpers, niht Saft noch Kraft. Wenn das einer
von uns gemadht hätte, es wäre ja eine Schande.”
Er hatte fih ganz erregt geiprocdhen, feine Augen
funfelten, der Künftler in ihm war erwadt.
Defto fahler jah der Prinz aus, mit ihm die
ganze Gelelihhaft, die in Todesjchweigen verharrte.
Maud war halb ohnmädhtig.
„hr Urteil fteht in Schreiendem Widerfpruch zu
dem Shrer gleichwertigen und berühmteren Kollegen,”
lagte Prinz Elimar endlih jharf. „Das ift doc
wunberlich.”
„Hoheit glauben am End’, id beneide Ihnen
dies Machwerf,” meinte Heelen aufladhend. „Aber
nein, davon bin ich weit entfernt. So was, wenn
ih e& zumege gebradt hätte, das hätte nicht lange
das Sonnenlicht gejehen. Fort damit! hätte ich mir
gejagt! — Und warum es Yhnen die andern loben?
a, Hoheit, ih bin eben ein ehrlicher Kerl, ich jage,
was ich denke, die andern haben es vielleicht nicht
gewagt. Aber die dee ift gut — wirklich jehr gut.
Daraus hätte etwas werden Tönnen in anderen
Fingern. Hoheit nehmen mir meine Freiheit dod
nicht übel?” —
Er jah jo treuherzig aus, als er das jagte, daß
es manden entwaffnet hätte, den Prinzen nicht,
dazu war er nicht großherzig und nicht talentvoll
genug. Er hörte nur den Tadel vor der ver:
fammelten Gelellihaft und fühlte die fehr ple:
bejijhde Anwanblung, diefem unberufenen Spreder
den Hals zuzudrüden. Mit dem Eälteflen Hochmut,
beilen er fähig war, fah er auf ihn herab.
„Sie können nicht verlangen, daß ich alle Au:
toritäten Ihnen unterordne, Jhnen, dem eben erft
Gemworbenen; obgleich ih durhaus nicht leugne, daß
Shre Gruppe Vorzüge befitt — hm — mancdherlei
frappierende Einzelheiten — hm — finde ih Gie
A a vorjchnell im Urteil, worauf begründen
ie das?”
„Auf meine Augen, Hoheit, ih Tann jehen,”
Roman von 9. Schobert. 752
antwortete Heelen jchnell. „Und ich fan es auch befler
maden, Hoheit! Sol ih Ahnen Shre Figur ba
vormachen?”
Seine Augen bligten vor Begierde, der Prinz
— — ihn keiner Antwort, ſondern wandte
ch ab.
„Ein ganz unmöglicher Menſch!“ hörte Maud
ihn zu ſeinem Hofmarſchall ſagen, und dann wurde
es plötzlich leer um ſie beide, erſchreckend ſchnell und
erſchreckend gleichmäßig.
„Tino!“ flüſterte Maud totenblaß. „Was haſt
Du gethan! Prinz Elimar kann nur Lob vertragen.“
„Warum hat er mich gefragt,“ ſagte er eigen—
ſinnig, obgleich ihm anfing unheimlich zu werden
inmitten der Leere, die ſie umgab. „Ich habe nur
die Wahrheit geſagt.“
„Aber um die war es ihm nicht zu thun, er
fragt doch nicht deshalb.“
„Dann ſoll er ſich einen andern ausſuchen als
Martin Heeken.“
„Aber ich!“ ſagte ſie ganz troſtlos. „Ich!“
Da blickte er zu ihr nieder und ſah, daß ſie
weinte.
„Armes Weib,“ ſagte er in einer Anwandlung
von Mitleid. „Haſt Dich arg verrechnet mit mir,“
— dann maß er den Abſtand, der ſie von den andern
trennte. „Ich gehe nach Hauſe, ſie ſollen ſich nicht
mehr über mich ärgern, ich will arbeiten, will ihnen
zeigen, daß ich kann, was ich ſage. Kommſt Du mit?“
„Um Gottes willen, mache es nicht noch
ſchlimmer,“ flehte ſie. „Eine Ungezogenheit durch
die zweite gut machen geht nicht. Vielleicht findet
ſich noch nachher ein Augenblick, wo Du Dich beim
Prinzen entſchuldigen kannſt.“
Er richtete ſich hoch auf.
„Ich mich entſchuldigen? Für meine ehrliche
Meinung? Für die Wahrheit? Ja, bin ich denn
ein Lakai? Ich will gewiß nichts von ihm und
ich gehe.“
„Wenn Du durchaus willſt? Die Geſandtin
nimmt mich wohl unter ihren Schutz,“ ſagte Maud,
die Thränen trocknend.
„Soll ich Dir Fortunat ſchicken?“
Sie ſchüttelte heftig den Kopf und jah ihm
nad wie er eiligft davonging.
„Poor child!“ fagte die Gejandtin und 309
Mauds Arm dur den ihrigen. „Sie find ganz
blaß, fein Wunder bei all den Aufregungen. Und
nun ift er fort? Laſſen Sie ihn laufen, den Un—
menſchen! Sie paſſen ja gar nicht zuſammen.“
Aber trotz alles Ärgers und aller Erregung war
Maud nicht ſo empört über ihren Mann, wie ſie es
eigentlich ſelbſt glaubte ſein zu müſſen. Er hatte ihr
imponiert. Und dann nannte man ihn zwar einen
Bauerntölpel, allein auch genial und eigenartig, das
war Balſam auf ihre Wunden. —
Als Maud früher, als ſie ſelbſt erwartet, aus
dieſer Geſellſchaft nach Hauſe kam, zauderte ſie ein
Weilchen auf dem Hausflur, bis ſie das erſtaunte
Geſicht Friedrichs bemerkte, da winkte ſie haſtig mit
der Hand.
„Gehen Sie hinauf, ich komme nach.“
1753 Art zu Art.
Dur die großen Fenfter der Hinterthür hatte
fie Licht auf den Hof fallen jehen, das fonnte nur
aus dem Atelier ihres Mannes Tommen, aljo mußte
er arbeiten. Eine leidenfhaftliche Neugier, ihm un:
gejeben zuzufehen, padte fie plößlich.
Und das ging jo leicht.
Bom Garten aus gelangte man über eine Treppe
ebenfalls in das Atelier. Die Thüre hatte von außen
feinen Drüder, jondern Eonnte nur mittelft eines
kleinen Schlüffels geöffnet werden, den ein jeder des
Ehepaars bejaf.
Maud hatte ihn natürlich nicht bei fih, denn
die Soireetoilette erlaubte dergleihen Befradhtung
nit, aber von der Mitte der Treppe aus fonnte
fie das Atelier überbliden und jehen, ob ihr Mann
arbeitete, vorausgelegt, daß die Vorhänge nicht ge:
Ichlofien waren.
Schnell und geräujchlos ftieg fie in die Höhe.
Eine Scheibe war unbededt, wie fie es bei dem
hellen Lichtihein vorausgejegt, und er ftand vor
einem balbhohen Blod und Inetete eifrig an einem
großen Klumpen Thon, der darauf lag.
Die Manfchetten hatte er zu Boden geworfen,
Halstragen und Schlips ihnen zugejelt, aber den
FSrad auszuziehen vergeflen. Er mußte es alfo nicht
haben erwarten fönnen, bis er begann.
Das elegante, auf Seide gearbeitete Kleidung:
ftüd zeigte wüfte Fleden; es war mit derjelben Nicht:
ahtung behandelt wie früher fein altes zerrifienes
MWolhemd. Das jorgfältig frifierte Haar ftand zu
Berge, das Gefiht war rot und heiß, die Bewe:
gungen aber von ftraffer Eraltität, fiher und ziel:
bewußt.
Noch konnte Maud nichts aus dem Thonklumpen
ertennen, aber fie jah, daß ihren Mann der Geilt
trieb, daß er völlig aufging in dem, was er jchuf,
daß Herz und Seele bis zur Selbitvergeilenheit dabei
beteiligt waren.
Er hob den Arm und wilchte den Schweiß von
der Stirn. An diefem Augenblid ftörte fie die Be:
wegung nicht. Nicht der Menich Stand vor ihr, jondern
der jchaffende Künftler.
Neid regte fih in ihrem Herzen. Es gab alio
doh etwas auf Erden, was den Menjcdhen auszu:
füllen vermodte bis in die tiefiten Tiefen, jo daß
für nichts anderes Raum blieb; es gab etwas, das
ihn hoch hinaus hob über das Srdiihe. Und mochten
es felbit nur Stunden jein, ihr düntten fie jo Löftlich,
daß es wert war, alles andere dafür zu opfern.
Sie ftand auf der Falten, zugigen Treppe und
fah ihm zu. Der Mantel jhüste fie zwar von oben,
aber die Füße in den feidenen Strümpfen und Atlas:
Ihuhen froren. Warum blieb fie denn auch bier
ſtehen? Gehörte fie nicht zu ihm? War dies nicht
die Stunde, um berentwillen fie das ganze Kreuz auf
fih genommen? Hatte fie nicht ein Recht darauf,
für alles, was fie ihm gegeben, neben ihm zu ftehen?
— Gie flieg vollends hinauf und Flopfte mit dem
Fächer gegen die Thür. Er hörte es nidt. Auch
nicht das zweite Klopfen. Erft beim dritten Mal riß
er mit einem Fluch die Thüre auf.
„Du!” jagte er lang gedehnt und faßte ih an
RomansZeltung 1896.
Roman von 9. Schobert.
154
den Kopf, als müfle er fich erft überzeugen, daß er
nicht träumte.
Sie legte den Finger an die Xippen, deutete
auf den Thonkloß und Ichlich fich Leife in den Winkel
zu den Stühlen.
„Laß Dich nicht ftören,” hieß das, aber ihr Er:
Iheinen allein hatte ihn Ihon aus der Stimmung
geriflen, er ftrich mehrmals ungeduldig das Haar zurüd.
Dann begann er doch wieder zu arbeiten. Nicht
mit jo glübender Hingabe wie vorhin, aber er ver:
ſuchte es doch wenigſtens.
Maud ſaß ganz ſtill in ihren Mantel gewickelt
und ſah ihm zu. Mit großen Augen blickte ſie auf
ſeine Hände, ihr war es, als höre ſie die Schwingen
des Genius, der ihrem Mann die Stirn küßte. Es
war kalt im Atelier, aber das focht ſie nicht an, ſie
dachte auch, ob wohl Martin ſchon etwas gegeſſen
haben möchte, aber unterbrochen hätte ſie ihn auf
keinen Fall in ſeinem Schaffen, ja, ſie hielt faſt den
Atem an.
Alſo endlich kam die Erfüllung ihrer Sehnſucht,
endlich!
Aber ſeitdem Martin ſeine Frau hinter ſich
wußte, hatte ſich zu der raſenden Schaffensfreude,
die ihn zuerſt gepackt hatte, ein peinigendes Un—
behagen geſellt, und das wuchs und wuchs, von
Minute zu Minute. Wie gelähmt kam er ſich plötz—
lich vor, und daß ſie ſich ſo ruhig verhielt, verſtärkte
noch den Bann, der langſam auf ihn herabſank.
Die alte Unmöglichkeit, zu arbeiten ſobald jemand
um ihn war, kam wieder und quälte ihn.
Er ſeufzte ungeduldig und ſah ſich nach ihr um.
Ohne ihr Dazwiſchenkommen hätte er die ganze Nacht
gearbeitet, nun dünkte es ihn plötzlich, als wären
ihm die Glieder ſchwer, die Augen müde.
Sie merkte ſeine Abſpannung und Unruhe, ſtand
auf und ſtellte ſich neben ihn.
„Was ſoll das werden?“ fragte ſie, mit einer
gewiſſen Ehrfurcht auf den Thonklumpen ſehend.
„Ich freue mich ja ſo, daß Du wieder arbeiteſt,
Tino.“ Und dabei legte ſie ihre Hand auf ſeinen
Arm und ſah ihn voll warmen Enthuſiasmus an.
Jeder Gedanke an die Scene beim Prinzen war in
dieſem Augenblick vergeſſen.
Hätte er ſie nur verſtanden! Hätte er nur ein—
mal in ihre Seele hineinfühlen können; vielleicht
gab es dann doch irgendwo eine Brücke, die ſie
beide zuſammengeführt hätte, denn wenn ſie auch in
Äußerlichkeiten kleinlich war, im Empfinden kühl, in
ihrem Willen ſchroff, ihre Liebe zur Kunſt war eine
aufrichtige, ehrliche, begeiſterte.
Er reckte die Arme aus.
„Ich bin müde,“ ſagte er ſtatt aller Antwort.
„Was ſoll das werden?“ fragte ſie noch einmal.
Er riß an ſeinem Bart. Schon darüber zu
ſprechen, war ihm unangenehm, dennoch wagte er
nicht, es ihr abzuſchlagen.
„Warum willſt Du das wiſſen?“ fragte er nur.
„Weil ich Deine Schöpfung mit erleben will,
Zug um Zug. Ihr folgen in jeder Linie, jedem
Ausdruck. Lieber Tino, ich will eben teilnehmen an
Deinem Schaffen.“
IV. 53
155 Art zu Art.
Er jeufzte tief auf. Vorbei war es mit feiner
Kraft, feiner in allen Adern pridelnden Freude, als
er vor Stunden bier bereingeflürmt, nur halb noch
Menih und auf Erden, halb jhon in jenem Taumel
der Sinne, die niemand begreift ale eben der
Schaffende. Der jchwere, graue Zwang lag wieder
atemraubend auf ihm. „Werde ich e8 nicht über:
winden?” fragte er ſich beklommen.
Sie jah ihn erwartungsvol an. Neben allem
Zorn, den er empfand, dauerte fie ihn doch, weil er
wohl fühlte, daß fie fih eben in allem, was ihn be
traf, jo jehr verrechnet Hatte.
„Ih mobdelliere die Statue von dem Prinzen.”
„Dachte ich es doch,“ jagte fie traurig.
Er jah fie erftaunt an.
„Warum fagit Du das fo Jonderbar?”
„Weil ich es nicht begreife, daß Du jekt nur
Nahichaffer jein wilft, Du, der imftande war, aus
ih jelbit heraus ein Kunſtwerk zu jchöpfen wie
Deine Gruppe if. Und dann — mas hat es für
einen Zwed? Man wird es Dir verargen und Dich
no mehr beileite zu jchieben juchen als es nad
Deinem heutigen Auftreten ohnehin geichehen wird.
Rehabilitiere Di wieder; Tchaffe etwas Neues,
Großes, das man nicht überfehen Fann, jelbft wenn
man will. Zeige Dih als derjenige, als der Du
uns erſchienen biſt.“
Sie hatte den warmen Mantel abgeworfen und
ſtand vor ihm in dem hellen Seidenkleid, mit funkeln—
den Brillanten und blühenden Blumen überdeckt; ihre
Augen leuchteten, Begeiſterung klang aus jedem Wort.
Unwillkürlich riß ſie ihn mit ſich.
„Du haſt recht!“ ſagte er.
Schwer ſauſte ſeine Fauſt herab und auf den
Thon, der ſofort zu einer unförmlichen Maſſe zu—
ſammenſank; jede Spur einer ſchaffenden Hand an
ihm war vernichtet. Dann fuhr er ſich mit den
Händen durch das Haar.
„Und nun laß mich allein,“ ſagte er ſchwer
atmend, „ganz allein!“
Sie umklammerte ſeinen Arm.
„Nein, das ſoll nicht ſein! Ich bleibe bei Dir,
Tino — ſprich! — ſage mir Deine Pläne, zeige mir
den Weg, den Dein Genie einſchlagen will; laß mich
nicht rechtlos und neidvoll daneben ſtehen . . .“ Ihr
Kopf ſank gegen ſeine Schulter, Thränen ſtiegen in
ihre Augen, ihr war es, als kämpfe ſie um ihr höchſtes
Gut mit ihrer ganzen Kraft, ihrem ganzen Willen.
Wie erwachend ſah er herab auf den geſenkten
Kopf an ſeiner Schulter und alles Feuer erloſch in
ſeinen Augen. Er hätte ihr ja gern jeden Gefallen
gethan, nur dieſen einen — das konnte er nicht, es
war ihm ja ganz unmöglich. Warum begriff ſie das
nicht? Er zuckte ungeduldig mit der Schulter, und ſie
hob den Kopf und ſah ihn an. Da wußte ſie ſchon,
daß ihre Bitte vergeblich geweſen.
„Ich weiß nicht,“ ſagte er unruhig, „wie Du
Dir nur vorſtellen kannſt, daß das, was ich Dir ſage,
zu irgend einer Verſtändigung dienen könnte — es
entweiht mir nur das, was ich in Gedanken habe. —
Nur im Schweigen gewinnt etwas Großes allmählich
Geſtalt, um dann endlich an das Licht zu kommen,
Roman von H. Schobert.
756
warum willſt Du mir durchaus das Schweigen
nehmen, es iſt mir Naturnotwendigkeit.“
Sie ſah ihn an, mit maßloſem Staunen über
das, was er ihr eben geſagt. Woher kamen dem
ungebildeten Menſchen, auf den ſie manchmal ſo ſehr
herabſah, ſolche Gedanken und Empfindungen? Trug
ſie ihm das Genie auf ſeinen Schwingen zu? Hatte
ſie nur die Möglichkeit, ſich demütig zu beugen?
Schweigend ergriff ſie die Schleppe ihres Kleides,
und mit einem leiſen „Gute Nacht“ ging ſie in ihre
Zimmer. Verſtimmt blieb er zurück. Die Luſt am
Arbeiten war ihm wieder einmal gründlich verdorben,
und für lange Zeit, das fühlte er. Vielleicht war
es auch heute abend nur ein Anlauf geweſen, der ſich
bald im Sande verlaufen hätte, denn „Nachtreterei“,
wie er es jetzt ſelbſt nannte, war doch nicht ſeine Sache.
Er führte noch einen wuchtigen Hieb nach dem
Thonklumpen, als wollte er damit ſein Herz er—
leichtern, aber es blieb ſcwer. Auch daß ihm Maud
zürnte, bedrückte ihn, und das mußte ſie ja wohl
nach dem, was er ihr geſagt. Aber er konnte es
nicht ändern, es lag in ſeiner Natur, obgleich ſie
heute gut zu ihm geweſen war, trotzdem ſie ſich doch
wohl ſehr geärgert hatte beim Prinzen. Er ſeufzte tief.
Ach, nur heraus können! Heraus aus all dieſem!
In eine einſame Gegend, in ein kleines Haus mit
Sonnenſchein, viel Sonnenſchein auf dem Dach und
einer einfachen Frau darin, die er lieb hatte und die
ihn nicht quälte mit allem möglichen. —
Ein Traum war es, und ein Traum blieb es —
er mußte eben ſtill halten. — — —
Aber die düſtere Stimmung, die ſich ſeiner be—
mächtigt hatte, hielt ar. Seit Tagen hatte er feinen
Blid mehr in jein Atelier geworfen, in zmwedlojer
Müpigfeit brachte er die Stunden auf der Chaile:
longue in jeinem VBorzimmer zu, und flarrte auf
feine Gruppe, bie, in Heinem Maßltab, in Marmor
ausgeführt, die eine Ede Ihmüdte.
Dabei famen ihm jo allerlei Gedanken. — Hatte
Fortunat nicht Damals, als er fie zuerft gejehen, von
einer Allegorie gejprohen? Von der Macht des Weibes,
die wei und unmerklich, daher unmiderjtehlidh, den
Mann umfhlingt, ihn feiner" Kraft beraubt und zu
Boden, ja in den Tod zwingt? War es ihm nicht
auch To gegangen? — Das Weib mit ihrem Reichtum,
das ihn ermwählt hatte, weil es ihr jo gefiel, batte
auh feine Mannestraft mit immer feiteren und
engeren Banden gelnebelt, hatte ihn zum Schwädling
gemadt, und jo würde e8 nun weitergehen, immer
weiter, fo lange fie wollte. — Und er hatte fich nicht
wehren können, denn jeine trogige Energie war gar
nicht herausgefordert worden. — Aber jein Künitler:
ftolz, fein großes Talent .. . wo war das bin:
gefommen? Einfadh geitorben? — Es fror ihn wie
im Fieber, wenn er daran und an bie öde, entjegliche
Zukunft dachte.
Als er Maud zum erſten Mal geſehen, da hatte
ſie ihn an die Schlange erinnert — warum ließ er
ſich nicht warnen?
Er ſprang auf und ſtellte ſich vor ſeine Gruppe,
ſeine Blicke hingen an dem Schlangenkopf, dem ge:
ſchmeidigen Leib und ſprühten Haß.
157 Art zu Art.
„Rilit Du mich verderben?” zijchte er leife und
ballte die Saul. „Du — mid? — ch bin ja viel
mehr als Du! — %h könnte Did ja erwürgen —
und dann frei fein — frei!” —
Er ftredte die geipreizten Finger nad) dem
Schlangenhalse aus. MBlöglih hatte er Die idee,
wenn er diejen bier zerbräde, dann würde aud
gleichzeitig ein anderer damit getroffen und zeritört
werden, ebenfo fein, ebenjo beweglih ... .
Sn bdemielben Augenblid fiel im Itelier ein
Stod zu Boden, entjegt, ganz veritört fuhr Heeken
von feiner Gruppe zurüd und jah mit bebenden
Gliedern auf die geichloffene Thür, die fih jekt
öffnete — Emil ftand auf der Schwelle.
„Bas monologifierit Du denn bier?“ fragte er
mit einem forjhenden Blid dur den leeren Raum.
„IH dachte Ion, Du mwärft nit allein.”
Tief aufatmend jette id Martin nieder, Talter
Schweiß ftand auf feiner Stirn.
„Wie bift Du hereingelommen?” fragte er beiler.
Emil lachte.
„Du haft ein kurzes Gedächtnis, mein Lieber.
Gabft Du mir nit vor ein paar Abenden jelber
den Schlüffel zu Deinem Utelier, als ih Dich nad
Haufe lotfen mußte? An demjelben Abend, an dem
wir Brüderfchaft tranlten?”
„Richtig.“ Heeken ſtrich fi über die Stirn.
„Mir ift mandmal mein Gedädtnis etwas jhmwach
jebt . . .“
„Du fiehft Ichledht aus,” beftätigte Emil nad
prüfendem Aufblid, „das viele Grübeln bekommt
Dir nit, Martin. Du brüteft wohl über neuen
Entwürfen, denn daß Du noh nichts angefangen
haft, fehe ih, der Thon ift fteinhart.“
Heefen jehüttelte den Kopf.
„Unter uns gelagt,” fuhr Emil fort und blies
eine volle Ladung Raub von fih, „Du haft ganz
vet, ich madte es auch nicht anders. Wozu hat
man denn eine reiche Frau, wenn man. fi nod
weiter fchinden wil. Das ift gut genug für arme
Teufel. Du — wenn Dir gerade mal was Be-
fonderes auffteigt, dann mobdellierft Du, bis dahin
ruht Du aus. — Daß Du was kannt, haft Du ja
gezeigt — ber Teufel hole alle unnötige Schinderei!”
Er fland auf, firedte erft das linke, dann das
rechte Bein, damit die Holen in richtigen Sit Tamen,
und jchlenberte in das Atelier; man hörte ihn darin
rumoren. Endlid fam er mit ein paar Studien:
blättern zurüd; Arme und Beine in verjchiedenen
Stellungen, mit verjhhiedenen Mustelitraffungen.
„Borg’ mir fie ein paar Tage, Martin, id
glaube, ih Tann eine lumpige Kleinigleit davon
brauchen, ich bin immer nod im Kampf mit meiner
vertradten Figur. Vielleiht paßt es aud nid —
jedenfalls fannft Du übermorgen alles wiederhaben.“
Heefen nidte. Er wußte ganz genau, daß ihn
Emil auf diefe Weile auf das erbärmlidhfte aus:
nußte, daß er ganz Shamlos ftahl, wo er nur Tonnte,
und daß feit feiner Freundichaft mit ihm fi Duenjels
Eünftlerifjcher Nuf bedeutend gehoben hatte, aber er
Roman von H. Schobert.
158
war zu gleihgültig, fi) Dagegen aufzulehnen, und
andererjeits hatte er ein unendlich empfindliches Ge:
wiflen. Der Gedante, daß er die Braut genommen,
die jener fich erwählt und vielleicht ohne jein Da:
zwilhenfommen auch befommen hätte, ließ ihn manches
unterdrüden, zu dem er jonft wohl nicht jo leicht Ya
gejagt hätte. Der Heelen von ehemals wenigftens
fiher nicht. —
„Ich bin Deiner Frau vorhin begegnet — mit
Fortunat,” fagte Emil, die Blätter zufammenrollend.
„Sie jah großartig aus. Wo ift fie hin?”
Seelen fah ihn erflaunt an.
„Weiß ih denn das?”
„So, fo, nit! Sch dachte. Fortunat ift Dir
doch jehr bequem, Kerl, auf ben jchiebft Du alle
ehemännlidhen Laften ab.”
„Bott jei Dank!” jagte er aus tieflter Bruft.
Und dann fügte er von felbit Hinzu: „Weißt Du,
Emil, heiraten und heiraten, das ift am Ende zweierlei.”
„Du meinft, der eine hat eine Frau, deren Sklave
er tft, der andere eine, bie jeine Sklavin ift, nicht
wahr?”
„So ähnlih, das ift möglih!” Er ftrid fi
über die Stirn und warf einen jchnellen Bid auf
die Schlange.
„Ja, mein Lieber, das kommt von ben reichen
Heiraten. Aber Ichließlihd — Du haft es no be:
quem, Du haft Fortunat.”
Seelen jeufzte jchwer auf. Wäre er nur allein
— nur frei — die andern mochten bleiben, wofie wollten.
Emil deutete den Seufzer faljch.
„Sa, Heeten,” jagte er vorfidhtig, „allzu beutlich
darift Du es nicht werden lafen — der Welt gegen-
über meine id — das geht dann nadher an die Ehre.“
Der Bildhauer Jah ihn einen Augenblid ver:
ftändnislos an, dann fjchien ihm eine Ahnung zu
dämmern, er ladte auf.
„Du, nein, das ift nichts. Da Tann feine Ver⸗
leumdung beran. Das find andere Menfchen als
Du, darum jchlafe ich ruhig.”
Emil pfiff durd die Zähne.
„Kommit Du heut abend?”
„Rotürlid, was fol ich denn fonft maden —
morgens bin id zwar danach) immer todmübe — kann
gar nichts arbeiten, aber Du haft recht, das eilt ja
audh nit — eilt gar nicht.” Und er warf fidh
wieder auf die Chaifelongue zurüd und fchloß bie
Augen. „Du, jolh eine reihe Frau ift eigentlich
etwas jehr Bequemes — ehr Bequemes. Findeft Du
niht? Man verliert ale Kraft zum Arbeiten und
die Luft dazu. — Sa, die Luft babe ich gründlich
verloren.” —
„Und das jollte ein Genie fein,” dachte Emil
verähtlih, als er nah Haufe ging. „Ein lahmes
Genie — wahrhaftig. Das Geld hat ihm die Flügel
recht bald gebrochen.”
Er wußte nicht wie Heelen jeufzte, wie zerfallen
er mit fih war, wie tief, tief unglüdlid. — Und
hätte er es gewußt, er hätte doch nur Idhadenfroh
gelacht. (Fortfegung folgt.)
———an,—
159 Schwertklingen.
Roman von Hans Werber.
760
Schwertklingen.
Baterländifher Noman
bon
Hans Werder.
(Fortſetzung.)
Ob Renate weinen konnte!
ſehen können! — —
In Berlin waren über die Schickſale des Schill⸗
ſchen Korps unzählige Nachrichten eingetroffen, erſt
entſtellt bis ins Ungeheuerliche, dann immer zu—
verſichtlicher der traurigen Gewißheit entſprechend.
Der Schmerz, welchen Renate empfand um den
ſchauervollen Tod des bewunderten Freiheitshelden,
der ihr perſönlich ſo wert und lieb geworden war,
der verzweiflungsvolle Jammer ſeiner unglücklichen
Braut, den ſie in redlicher Freundſchaft mit ihr
teilte, das war ein Gram, der ſich wie Bergeslaſt
auf ihr bis dahin ſo glückliches Leben ſenkte! Und
nicht genug an dieſer einen Totenklage! Wie viele
der jungen, lebensfrohen Männer, mit denen ſie vor
kurzer Zeit ſo heiter gelacht und getanzt — ſie
waren gefallen an der Seite ihres Führers. Und
ſchlimmer noch — ſie waren verſchollen, in der Ge—
walt des Feindes, in den grauſamen Fängen des
blutdürſtigſten aller Raubtiere! — Albert Wedell,
der Knabe, der ſtolze, feurige Geſelle mit ben hell:
Ja, hätte er ſie
blauen Augen — was war aus ihm geworden?
Verſchollen — gefangen!
Und Haſſo! Als ſie's nur erſt über ſich ver:
mocht, nach ihm zu fragen! Niemand wußte Genaues
von ihm! Unter denen, die „zur Gnade des Königs“
zurückgekehrt, war er nicht! Irgend jemand aber
hatte einen der Herren nach ihm gefragt, und nach
deſſen Ausſage ſollte er die „Affaire am Franken—
thor“ noch mitgekämpft haben, dann aber unterwegs
zurückgeblieben ſein, ob tot, ob verwundet — niemand
konnte es ſagen.
Ach, gewiß war er tot! Und ſie hatte ihn ge—
kränkt — ihm das bitterſte Unrecht angethan! Als
er die Wahrheit geſprochen, das Rechte gewollt, ſeine
Überzeugung verteidigt mit Mannesmut — da hatte
ſie ihn der Feigheit beſchuldigt, an ſeiner Ritterehre
gezweifelt!
Und er hatte recht behalten, zehnfach recht, die
blutige Geſchichte hatte es bewieſen! Und ihrem er—
bärmlichen Mißtrauen zum Trotz war er ſtolz und
freudig mit hinausgezogen, ſein Leben in die Schanze
ſchlagend für eine Sache, die er von Anbeginn für
verloren hielt!
Und nun gewiß war er tot! Die martervolle
Reue und Herzenspein bes verlafienen Mädchens,
das ihn im Zorn, ohne einen Blid der Liebe, der
Verlöhnung hatte hinausziehen laffen in Kampf und
Tod — die ohnmädhtige, verzweifelnde Reue — bie
raunte ihr die Gemwißheit ins Ohr und ins Herz
hinein — bei Tag und Naht. Und nun dies ftete
Anhörenmüflen al der Erörterungen über Schill,
feine That und feinen Untergang! Das Tabdeln
und Richten von allen denen, die ihn einft ermutigt
und ihm zugejaudzt, das war eine Dual, bie über
die Tragfähigkeit ihres warm empfindenden Herzens
binausging. Herr von Veldegg befürchtete ernitlich
ein MNervenfieber oder ähnlihe Gefahr für feine
Tochter und jann darauf, fie den ftets erneuten Auf:
regungen zu entziehen. Er wünjchte fie fortzubringen
von Berlin, in andere Umgebung, zu neuen Ein:
drüden, die fie beruhigen und von ihrem Gram ab:
lenfen könnten. Renate wollte anfangs nichts davon
hören, ihre Freundin Elife nicht verlaffen. Das war
ja das legte, mas fie ihrem toten Freunde, dem
ritterlihen Helden verfproden. Als aber nun aud
Frau von Rüchel fih anjchidte, mit ihrer trauernden
Tochter das heiße, unruhige Berlin zu verlaflen, um
ein Verwandtenhaus in Pommern aufzufuhen —
da folgte Renate gern dem Wunjche ihres Vaters.
Zu ihrer Schweiter brachte er fie, auf das Con⸗
reuthihe Landgut Tiefenfee. Ein ftattliches, herr:
Ihaftliches Wohnhaus, maleriih von Wäldern um:
\hattet, am ftillen, grün umfränzten See gelegen,
ber träumeriih das anmutige Spiegelbild zurüdwarf
— das war Yuliens Herriherfiß, das Sommerbheim,
in bem Renate Aufbeiterung und Erholung finden
jollte. Ein Meines, behaglihes Gemah, mit dem
Blid auf Wald und See hinaus, bewohnte fie für
ih allein. Vater und Schwefter umgaben fie mit
liebevoller Pflege, der ritterlihe Schwager verwöhnte
lie auf jede erdenklihe Weile. Da mußte fie wohl
genefen und wieder lernen, zu lächeln und dankbar
zu jein. Shren Schmerz, ihre Angit und Reue grub
fie tiefer in ihr Herz hinein und vertraute ben
tillen, nagenden Kummer nur den filbernen Wellen
bes Gees, den raufhenden Wipfeln des Waldes an.
Und wie fie dort wandelte, aus der Nähe der Menfchen
fort in die Waldeinfamkeit hinaus, fchlant und blaß,
mit dem flunmen Xeid in den großen Augen — da
glih fie freilih der weißen, betauten Xilie, auf
melde Haljo mit jchmerzliher Frage nieberfchaute
während jeiner einfamen, fummervollen Fahrt.
—e— — — — — — — — — — —— — —
761 Schwertllingen.
DI.
Sn Pommerjh:Stargarb trat unter dem BVorlit
des Generals der Kavallerie, Ercellenz von Blücher,
das Kriegsgericht zufammen, beftehend aus Offizieren
aller Grade, achtzehn an der Zahl, und einem Re:
giments⸗Auditeur.
Hier wurde Gericht gehalten — zunächſt über den
Major von Schill, wegen Verleitung königlicher
Truppen zur Deſertion — und Landfriedensbruch.
Er konnte nicht kommen, ſich zu verteidigen, auch
nicht, um die Strafe auf ſich zu nehmen, die „ſo
ſchwer ſein ſollte, wie ſein Verbrechen beiſpiellos
war —“ denn er war tot! Mit Strömen Blutes,
aus zahlloſen Wunden rinnend, hatte er die Schuld
geſühnt, die er auf ſich geladen. Auch in den Augen
ſeines Königs, denn dieſer milderte den Spruch des
Kriegsgerichts dahin ab, daß der Deſertionsprozeß
gegen ihn nicht ſtattzufinden habe. So blieb der
geheiligte Name des gefallenen Helden davor be-
wahrt, an den Galgen geichlagen zu werben.
Seine Offiziere aber und treuen Kampfgenofjen
hatten fich eingefunden, vollzählig, joweit fie noch
am Leben und Herren ihrer jelbft waren, die meiften
verwundet, manche noch mil verbundenen Köpfen oder
Gliedern. Sie waren froh, der Ungemwißheit ihres
Cdidjals endlich überhoben zu werden.
Auf allen Gefichtern ftand grimmige Freudig»
feit, die Strafe zu leiden, Die fie verwirlt, indem
2 den heiligften Geboten ihres Herzens Folge ge:
eiltet.
Eine jeltlfjame Schar von Angeklagten war das,
eine Schar junger lebensfriicher, todesfreudiger Reden,
mehr denn fünfzig an der Zahl. Kein Wunder, daß
Ferdinand von Schill geglaubt, mit ihnen die Burg
des Höllenfürften jelber ftürmen zu können. Cs
war eine jchwere Aufgabe, über fie Gericht zu
halten. Denn, wie das Erkenntnis wörtlih jagt:
„Ein ausbrüdliches Gejeß, welches ein joldhes De:
jertions:Komplott beftraft, ift nicht befannt, da der
Gejeßgeber fih den Fall, daß gerade Ehrgefühl und
PBatriotismus ihn herbeiführen würden, nicht prä-
mebditieren Tonnte!”
Die Verantwortung für ihr Thun fiel mit
wenigen Ausnahmen — auf das Haupt ihres toten
Führers.
Die Unterfuhung war bereits abgejchlofien, da
lief die Meldung ein, es jei no) einer der Schillichen
Offiziere eingetroffen, und zwar der Premierlieutenant
von Rodhlit. Die Nachricht erichien den unter:
judungsführenden Herren vom SKriegsgericht be:
ſonders wichtig. Es hieß, Rochlitz fei ein verdienter
Offizier ſchon von der Kolberger Campagne her,
habe Schill perſönlich nahegeſtanden, um alle ſeine
Pläne gewußt und ſich bis zuletzt ausgezeichnet.
Haſſo war in Stargard eingetroffen nach mehr:
tägiger, mühſeliger Reiſe. Es war ſpäter Abend, als
ſein Fahrzeug vor dem Gaſthauſe ſtillhielt, das, dem
Rathauſe ſchräg gegenübergelegen, ihm von früher
her bekannt war. Ein Teil der unter Anklage ge—
ſtellten Offiziere war darin einquartiert, und kaum
Roman von Hans Werder.
762
hatte Haſſo den erleuchteten Hausflur betreten, als
er von mehreren Seiten ſchon ſeinen Namen rufen
hörte, in den Tönen lebhafteſter Freude. Wie einen
vom Tode Auferſtandenen begrüßten und umringten
ihn die Kameraden.
„Aber Menſch, wie ſiehſt Du aus,“ rief Hagen,
ihm ins Geſicht leuchtend. „Wie eine Leiche auf
Urlaub!“
„Danach iſt mir auch gerade zu Mut!“ lachte
Haſſo, die ſchmerzenden Glieder dehnend. „Ein
Leichenwagen war es mindeſtens, auf dem ich die
letzten drei Tage zugebracht habe — und ein lang—
weiliger Spaß, das könnt Ihr mir glauben!“
„Na — ein Glück, daß Du da biſt, alter Knabe!“
rief ein anderer, ihm auf die Schulter ſchlagend und
nicht wiſſend, wie weh er ihm damit that.
„Ja, Hagen, Dir verdank ich's, daß ich da bin!
Na, wir ſprechen noch darüber! Biſt ein famoſer
Kerl!“
„Rochlitz!“ rief eine warme, kräftige Stimme
hinter ihm.
Er wandte ſich lebhaft um. „Brünnow!“
„Biſt Du wirklich am Leben geblieben! Ich
dacht's kaum, als wir Deine Knochen da vor der
Pfarrhausthür in Mühlenhof zuſammenſuchten!“
„So ganz ausgeflickt ſind ſie zwar noch nicht,“
ſagte Haſſo, „aber nun ich wieder unter Euch bin,
wird bald alles in Ordnung ſein!“ Er drückte mit
ſeiner Linken herzhaft die Hand des neugewonnenen
Blutsfreundes.
„Famos — meinem Zimmer gegenüber iſt noch
ein anderes frei!“ rief Brünnow. „Wo iſt denn der
Wirt, der Kunde! Er muß es ſogleich für Dich her—
richten! Wirſt hölliſch müde ſein nach der Strapaze!“
Sehr froh war Haſſo, ſich endlich auf bequemem
Lager ausſtrecken zu können und in wohnlichem Ge:
mach ſein eigener Herr zu ſein. Die Freunde ſaßen
bei ihm bis in die ſpäte Nacht, was dem müden
Rekonvalescenten nicht gerade zuträglich ſein mochte,
aber ſie hatten ſich gar zuviel zu erzählen! Es war
ein Stück Weltgeſchichte, das ſie alle in ihren jungen
Händen gehalten und welches nun weiter rollte und
fie mit ſich fortzog, einem bis jetzt ungewiſſen Schick—
ſal entgegen.
Am andern Morgen meldete ſich Rochlitz und
gab ſeinen Säbel ab. Tags darauf wurde er zur
Vernehmung befohlen.
Alle ihm vorgelegten Fragen beantwortete er
klar und beſtimmt. Dann aber wurde er aufge—
fordert, fich über die Art und Weile zu äußern, in
weldher Major von Schill ihn zum Mitgehen veran-
laßt, ferner darüber, ob und inwieweit ihm das
Vorhaben besjelben befannt geweien. Db auch er
unter dem Eindrud geftanden, daß das Scilliche
Korps nur als eine Avantgarde der ausrüdenden
preußiihen Armee anzujeben jei und Major Schill
auf geheimen Befehl des Königs gehandelt hätte.
Diefer Aufforderung entipredend, nahm Hafjo
das Wort. Er berichtete, wie Major von Schill ihm
jeine Pläne mitgeteilt, wie er anfangs nicht einver:
ftanden gemwejen, jeine Bedenken jchließlich aber ber
Autorität und Verantwortlichleit feines Kommandeurs
163 Schwertflingen.
untergeordnet hätte. Mit einer von Sat zu Satz
fih fteigernden Wärme jpradh er von der bingebenden
Opferfreudigleit, mit welder Schill die Milfion der
Baterlandsbefreiung auf fih genommen! Berpfändete
feine Ehre und Überzeugung dafür, daß Schill jelber
den unausgeiprochenen Willen des Königs zu erfüllen
geglaubt, daß er niemand etwas „vorgejpiegelt”, wo:
von er nicht felbft dDurdhdrungen gewejen, daß viel:
mehr die ehrenhafte Zauterkeit feines Charakters ihn
gegen einen derartigen Verdadt von vornherein ficher:
ftelen müßte. Mit leuchtenden Augen berichtete er
weiter, wie bei der erften Nachricht von des Königs
Ungnade, die fie bald nah ihrem Ausmarjdhe in
Bernburg erreiht, der Major ihnen allen ihr Wort
zurüdgegeben und freigeftelt habe, dem Befehl des
Königs folgend, auf Gnade und IUngnade zurüdzu:
fehren, wobei es für ihn unausbleiblih war, die
Strafe und Verantwortung für fie ale allein auf jeine
Schultern zu nehmen.
„Und die Herren lehnten diejes Anerbieten ab?”
Es war der Generalauditeur, welcher fein und jcharf
dieje Frage dazwilchen jchob.
„Über die Handlungsweife der anderen Herren
vermag ich nichts auszulagen!” erwiderte Haflo jchnell.
„Shre Beweggründe find mir gänzlih fremd. Jh
jedenfall war der erfte, der das Anerbieten ablehnte
und meinem NRegimentsflommandeur aufs neue frei:
willig das Veriprehen gab, bis aufs äußerfte bei
ihm auszuharren!”
Mit diefen nicht mißzuverftehenden Worten war
feine Ausfage beendet. Einen eigentümliden Eindrud
machte diejer Angellagte, wie er daltand, ohne Säbel,
ein Gefangener , den Arm in der Binde, die linke
Hand jchwer auf den Knotenftod geftügt, und dennod
ftols und frei. Das blafje, magere Gefiht mit dem
verwegenen Ausdrud färbte fi tiefer und die großen
Augen glühten in Begeifterung, während er mit feu:
riger Berebjamteit Zeugnis ablegte für jeinen toten
Kommandeur.
Das Verhör war geichlofien, der Angeklagte
entlaflen.
Ercellenz Blücher hatte, aus befonderem Snterefje
an der Sade, fonftigem Brauch entgegen, der Ber:
nehmung beigemwohnt. Er erhob fidh jegt, blieb jedod)
ftehen, als Hafjo das Zimmer verließ, und folgte ihm
mit den Augen. Der junge Offizier bewegte fich
langjam, mit fihtlicher Anftrengung, doc eigentüm-
liher Elaflicität. Das lange Verhör hatte ihn an:
gegriffen, jedoch feine Lebenggeifter nicht erichöpft.
„Den Burjhen haben die Naders ordentlich in
die Pfanne gehauen!” brummte der Feldherr, als
die Thür fich hinter jenem gejhhloffen. „Sein Maul:
wer? aber müßte ertra noch totgejählagen werden!
Scheint ein aufgewedter, jchneidiger Junge zu fein!”
* *
*
Es war eine Jchwere Wartezeit für die Schillichen
Offiziere bei der niederbrüdenden Ungewißheit, bie
nodh immer über ihnen lag. Endlid aber wurde
das Urteil des Kriegsgerihts Iprucreif, von Des
Roman von Hans Werder.
164
Königs Majeftät beftätigt und ihnen dasjelbe ver:
fündigt.
Es fiel milder aus, ald man im allgemeinen zu
hoffen gewagt. Ungefähr zwanzig an der Zahl, welche
zur Zeit des Ausmarjches dem „YZmweiten branden-
burgiihden Hufarenregiment” angehört hatten, alfo
nur dem Befehl ihres Regimentstommandeurs ge:
folgt waren, wurden freigejprodhen. Die zwilhen -
Brünnow und dem bollänbiichen General abgefähloflene
Kapitulation vor Stralfund wurde dabei zu ihrem
Vorteil geltend gemacht, indem fie fich durch diejelbe
„Amneftie für ale im Wuslande begangene Ber:
gehungen” erkämpft hätten. Bei wenigen nur, zu
denen Rodhlig, Hagen, Blomberg und andere ge:
börten, traten verjchärfende Umstände Hinzu, weshalb
bei auf bdreimonatlidhe Feltungshaft erkannt
wurde.
Haflo wäre ficher freigeiprochen worden, wenn
die eigenen NAusjagen ihn nicht belaftet hätten.
Die Offiziere ftanden alle in einem Warteraum
bei einander, halblaut die aufregenden Ergebnifle des
Tages erörternd. Brünnom trat jet zu Hallo, der
mit einigen, gleih ihm verurteilten Kameraden zu:
fammenftand. „Ich bin auch freigeiprodhen,” begann
er. „Liebe Kerls, es kommt mir falt wie ein Un:
recht gegen Euch vor!”
„Run, Du haft Dir’s reichlich verdient!” meinten
die Kameraden. „Ohne Deine drahtige Haltung am
Srankenthor — wo wären wir alle miteinander ge:
blieben !”
„Mir ift nicht bange drum!” wehrte er lachend
ab. „Wer da gerade das große Wort führte, hielt
die Sache aufrecht, ob ich oder fonft einer! Übrigens,
Rochlitz, Du haft Dir Deine drei Monate jelber an
ben Hals geredet, font hätten fie Dich freilprechen
müflen, jo gut wie mich!”
„Kann jein,” erwiderte Roclig, aber diefer —
gemeinen Auffallung, ala habe Schill uns durch be:
wußte Vorjpiegelungen bingehalten und betrogen —
der mußte ich entgegentreten und wenn’s mir den
Kopf Eoftete!” Er jpradh dies mit jcharfer Betonung,
denn in feiner Nähe ftand jemand, der in folder
Weile fein Verhalten zu rechtfertigen verjucht batte.
„Dich würden diefe paar Monate Kolberg aud
nicht gerade umbringen,” meinte Frik Blandenburg,
„wenn ich nur nachher wieder zurüd Tönnte — ins
Schilihde Hufarenregiment! Ah, unjer herrliches
Regiment! — Es ift, um fih die Haare auszu:
raufen!”
„3a — mir waren eine folge Brüderichar,
ohnegieichen!“ ſagte Haſſo traurig. „Und von
heute ab ſind wir nichts mehr! Unſere Uniform
ſogar dürfen wir nicht mehr tragen! Das iſt denn
doch das ärgſte, was uns treffen konnte!“
„Schauderhaft, ja!“ ſtimmten die andern bei.
„Und nun geht ein jeder feinen Weg! Wir Kol:
berger Sträflinge freilich gehören noch ein Weilcdhen
zujammen — das ift wenigftens ein Troft!”
„Wo wirft Du jett bleiben, Brünnow, Du Frei:
geiprochener?” fragte Haflo.
„Borläufig gehe ich nach Haufe zu meinen Eltern!
Und jpäter — werden ja, den?’ ich, die Franzmänner
165 Schmertllingen.
wieder für unfere Beihäftigung jorgen! Bis dahin
wirst Du hoffentlich auch wieder flott werden, Rodlig.
Soll ih auf Dich warten, dann gehen wir zufammen !”
„sa, Brünnomw, warte auf mich!”
Ein Abdjutant des kommandierenden Generals
erihien in der Thür. „Sind die Herren NRodlig
und Brünnow nodh hier? Excellenz wünſcht Sie
beide zu ſprechen und läßt bitten!“
Sie folgten ihm. Brünnow hatte ſeinen Säbel
wieder und trug ihn in der Hand, um das Klirren
zu vermeiden, des Freundes wegen, der noch ein
waffenloſer Gefangener.
Nach kurzer Friſt ſtanden ſie vor Vater Blüchers
eiſentrotzigem Angeſicht. Er befragte Brünnow noch
um die ihn intereſſierenden Einzelheiten des Kampfes
in Stralſund und die nachfolgende ehrenhafte Kapi—
tulation, ebenſo auch um Schills Tod und ſeine
letzten Lebenstage. Plötzlich richtete er ſein blitzendes
Auge auf Haſſo. „Lieutenant Rochlitz — wo habe
ich den Namen ſchon gehört? Sind Sie mir 'mal
begegnet während der Campagne?“
„Zu Befehl, Excellenz — ich war Anno 1806
in der Suite des Prinzen Louis, Königliche Hoheit!“
„Davon weiß ich nichts! Deſſen Suite hab' ich
mir nicht beſehen!“ brummte der Feldherr unbe—
friedigt. Seine Gedanken ſuchten ein beſtimmtes
Ziel, und Haſſo kannte dasſelbe.
„Rochlitz — Schockſchwerenot — mit dem war doch
irgend eine beſondere Teufelei oder dergleichen —“
„Wollen mir Euer Excellenz eine Bemerkung
geſtatten,“ nahm jetzt Brünnow das Wort. „vViel—
leicht iſt es die Gefangennehmung des General Victor,
welche Excellenz im Sinne haben —“
Der alte Blücher horchte auf. Durch General
Victors Gefangennehmung hatte er damals, ſelbſt in
Gefangenſchaft geraten, Auswechslung und Freiheit
erlangt.
„Bomben und Granaten, ſind Sie das geweſen,
Rochlitz, der den Spitzbuben in Arnswalde dingfeſt
gemacht hat? Von den Schillſchen war's einer —
und Rochlitz, ja, wahrhaftig, fo hieß er!”
„Zu Befehl, Excellenz!“
„J den Teufel auch, ſo erzählen Sie mich doch
einmal die Geſchichte!“
Haſſo erſtattete einen knappen und trockenen
Bericht, die Erwähnung ſeines eigenen Auftretens
nach Möglichkeit vermeidend. Excellenz Blücher hatte
noch ſehr wohl die ſeurige Beredſamkeit im Ge—
dächtnis, mit der er neulich von ſeinem toten Kom—
mandeur geſprochen und deſſen Thaten gerühmt. Das
hatte merkwürdig anders geklungen.
„Nun, mein lieber Lieutenant,“ ſagte er, als
Haſſo geendigt, „mich haben Sie jedenfalls durch
dieſen luſtigen Streich einen beſonderen Gefallen ge—
than! Sagen Sie mal, iſt Ihnen nie eine Aus—
zeichnung dafür zu teil geworden?“
„O gewiß, Excellenz! Ich wurde Schwadrons—
führer im Schillſchen Korps.“
Der Ton, in dem er das ſagte, und das Auf—
blitzen ſeiner Augen fiel dem Feldherrn auf. „Sie
meinen, das war die größte Auszeichnung, die Ihnen
werden konnte?“
Roman von Hans Werder.
766
„Zu Befehl, Euer Excellenz!“
Der eisgraue Schnurrbart ſträubte ſich empor,
wie unter einem grimmigen Lächeln.
„Lieutenant — und das ſagen Sie mich im
Moment, wo ich mitgeholfen habe, Ihnen um eben
dieſer Auffaſſung willen zu drei Monaten Feſtung
zu verdonnern? Das iſt eine Unverſchämtheit, die
gefällt mich! Ich will Ihnen ſagen, mein Sohn,
Sie ſind — bei dem Verhör hier neulich — für
Ihren Kommandeur ins Zeug gegangen, wie Pech
und Schwefel! Jetzt, wo er tot iſt — und Ihnen nichts
mehr nützen kann — Ihnen vielmehr hereingeritten
hatte in dieſe Kemme — und das hab ich gern vom
preußiſchen Offizier!“
„Bitte gehorſamſt um Verzeihung, Excellenz —
ich habe dem Major von Schill viel zu verdanken,
nur Güte von ihm genoſſen —“ er ſprach es mit
fliegendem Atem, in flammender Erregung.
Über das wetterharte Geſicht des alten Iſe—
grimm ging ein milder Ausdruck. „Glaub's ſchon!
Er war ein kapitaler Kerl, der Schill, hat mir bitter
leid um ihn gethan! Gut hätten wir ihn gebrauchen
können, wenn's wirkich losgeht gegen die Satans:
kerle, die verdammten! Und es wird losgehen!
Wenn einem nur die Zeit nicht ſo teufelmäßig lang
würde bis dahin! Kurieren Sie ſich gut aus, Rochlitz!
Humpeln barbariſch auf dem Fuß, aber mit dem
Reiten wird's denn ja am erſten wieder gehn! Wollen
Sie in Stolp bei meinen Huſaren eintreten? Für
das Rittmeiſterpatent ſorge ich — bin Ihnen doch
eine kleine Erkenntlichkeit ſchuldig für den Victor,
den verfluchten Halunken!“
* %
*
War es Ironie des Schickſals oder war es eine
Auszeichnung, daß die Offiziere des Schillſchen Korps
ihre Strafe gerade in Kolberg abbüßen mußten?
Sie ſelbſt waren geneigt, das letztere anzunehmen.
Die Fenſter von Haſſos ödem Gemache lagen
nach der Seeſeite und dort ſchweiften ſeine Blicke hin
— der Maikuhle zu, wieder und wieder. Dort ſtand
der Name Schill — wie in die Wolken geſchrieben,
die darüber hinzogen — dort rauſchten ihn die Wellen,
ſo oft ſie ihre ſchäumende Brandung an den zer—
ſtörten Feſtungswerken hinaufwarfen. Alles, was da
in Trümmern lag und was die Feſte vor dem Feinde
geſchirmt, ſo lange Zeit hindurch — war ſein Werk,
ſein Gedanke, trug den güldenen Stempel ſeines
treuen, todesmutigen Herzens.
Und doch — wie lautete der Parolebefehl: „Und
ſeine Strafe würde ſo ſchwer ſein, wie ſein Verbrechen
beiſpiellos iſt, wenn nicht der Tod ihn derſelben
entzogen hätte.“
An dem Fenſter mit dem Blick auf die Mai—
kuhle ſtand Haſſo, dieſen inhaltsſchweren Ausſpruch
ſich wieder ins Gedächtnis zurückrufend. Ein töd—
liches Weh durchzog ſein Herz. „Du Treuſter aller
Treuen — dieſe Worte Dir! Du gerade hätteſt ſie
nur gerecht gefunden. Und doch würden ſie Dir das
Herz gebrochen haben!“
167 Schwertklingen.
IV.
Elf Offiziere, fünfhundert Unteroffiziere und
Soldaten des Schillſchen Korps aber hatte ein härteres
Los getroffen, als diejenigen, welche in Stralſund
begraben lagen oder zur „Gnade des Königs“ zu—⸗
rückkehren durften. Sie waren gefangen in die
Hände der Feinde gefallen, von General Gratien dem
König Jérôme ausgeliefert und zu Braunſchweig wie
Straßenräuber in Gefängniſſe geworfen.
Es gelang den Offizieren, aus ihrer Bedrängnis
heraus ein Bittgeſuch an ihren König zu richten,
welches auch wirklich den Weg in die Hände des
Monarchen fand. Ein Hilferuf der Verlorenen an
ihr Vaterland.
Er beginnt wie ein trauriger Accord, mit dem
dieſe Fülle jungen, kraftvollen Lebens ausklingt, ehe
ſie dem grauſamen Tode verfallen.
„Allerdurchlauchtigſter, Großmächtigſter König,
Allergnädigſter König und Herr!
Euer Königlichen Majeſtät erhabenem Throne
nahen wir uns Unglückliche, um Allerhöchſtdie—
ſelben um Gnade in unſerer höchſt traurigen Lage
anzuflehen.
Haben wir gefehlt, ſo unterwerfen wir uns
der Strafe Eurer Königlichen Majeſtät, die, wenn
ſie auch höchſt ſtrenge ausfällt, weniger bitter für
uns ſein wird, da wir ſie von der Hand unſeres
teueren, allverehrten Königs und Landesherrn
empfangen.
Wir Unterzeichnete und fünfhundertfünfzig
Mann des von Schillſchen Korps tragen das trau—
rige Los der Gefangenſchaft.
Wir flehen Eure Königliche Majeſtät demutsvoll,
uns zur Beſtrafung in unſer Vaterland zurück⸗
zufordern.
Unſere gegenwärtige Lage iſt die ſchreclichſte
des Lebens, uns quält der Gedanke, gefehlt zu
haben und uns nun aus unferem teueren Bater:
lande verfloßen zu jehen.
Haben Eure Königlihe Majeftät Erbarmen
mit uns Unglüdlihen und erhören Allerhödftdie-
jelben unfer leben.
Die wir in tieffter Ehrfurcht erfterben
Eurer Königliden Majeität
allerunterthänigfte
Lieutenant Jahn.
5 Gabain.
e Trachenberg.
vi Wedell.
Flemming.
si Schmidt.
— Felgentreu.
> Wedell.
— Keller.
— Keffenbrinck.
Volontär Galle.
Braunſchweig, den 23. Juni 1809.“
Seine Majeſtät der König erhörte das Flehen
ſeiner Unglücklichen. Er that durch ſeinen Geſandten
Roman von Hans Werder.
768
in Kaſſel die nötigen Schritte — er that, was in
ſeinen Kräften ſtand. Doch umſonſt. Die Macht
des Königs von Preußen war zu jener Zeit des Un—
glücks und der Schmach nur gering. Von dem Kaiſer
Napoleon holte ſich König Jerome Verhaltungsbefehle
ein. Und der Gewaltige beſtimmte, die Unteroffiziere
und Gemeinen auf die Galeeren von Breft und Cher:
bourg abzuführen, die Difiziere aber zu Wejel vor
ein Kriegsgericht zu ftellen und dann binnen vier:
undzwanzig Stunden erjhießen zu laflen.
Don Braunfhmweig nah Wefel aljo jchleppte
man die edlen Gefangenen.
Am 16. September trat in der Citadelle zu
Wefel das Blutgericht zufammen, beitehend aus fran:
zöfifchen Offizieren unter dem Borfig des Bataillons:
fommanbdeurs Grand.
Da ftanden die elf jungen Reden vor ihren
Anklägern und Rihtern. Das Urteil ftand feit wie
die Sonne am Simmel, und Dod Hatten fie das
Ihmadvolle, empörende Verhör zu beftehen.
Auf Straßenraub waren fie angellagt, „als zu
der Bande von Schill gehörig, mit bewaffneter Hand
Kaflen im Königreih Weltfalen und andern Ländern
geraubt und die Einwohner gezwungen zu haben, in
der Schillihen Bande zu dienen.”
Was half es, daß der Advolat Perwet uner:
Ihroden für die Angellagten eintrat, in feuriger Be:
redfamkeit darthuend, daß diefe Männer nicht ihren
eigenen Vorteil gejucht, fondern im offenen Kampfe
für ihres VBaterlandes höchfte Güter Blut und Leben
eingejegt!
Die franzöfiihen Schergen hörten feine Aus-
führungen gleihmütig an, ohne ihnen jonberliches
Sinterefie zuzgumenden. Sie mußten, was von ihnen
gefordert wurde, und berubigten damit ihr richterliches
Gewiſſen.
Der Vorſitzende ſtellte die Frage, ob die Ange—
klagten ſchuldig ſeien, zur Bande Schill gehört zu
haben, ob ſie mit den Waffen in der Hand ergriffen
worden — und einſtimmig wurden dieſe Fragen be—
jaht. Darauf verlas der Prokurator den Geſetzartikel,
welcher „Diebſtahl mit offener Gewalt auf öffentlichen
Wegen und Straßen oder Einbruch in bewohnten
Häuſern“ mit dem Tode beſtrafte. Der Urteilsſpruch
lautete demnach, wie's Kaiſer Napoleon im vor:
aus befohlen — auf Todesſtrafe und Vollſtreckung
derſelben binnen vierundzwanzig Stunden.
Das Urteil wurde ihnen verkündet und uner—
ſchrockenen Mutes hörten ſie es an. Preußiſche
Offiziere bis zum letzten Augenblick, treu ihrem
Könige, treu ihrer heiligen Ehrenpflicht — das wollten
ſie ſein und das waren ſie. Der Tod, auch in dieſer
ſchmachvollen Gewaltſamkeit, bot ihnen keine Schrecken.
An ihre Angehörigen in der fernen Heimat zu
ſchreiben, ihre irdiſchen Angelegenheiten noch zu
ordnen, erbaten ſie Gelegenheit und Ermöglichung.
Sie wurde ihnen verweigert. —
Dumpf dröhnten die Trommeln — ſchaurig ge—
dämpft. Das Grablied franzöſiſcher Trommeln —
den preußiſchen Offizieren.
Da führte man ſie hinaus aus den Wällen der
Feſtung, zu einer Wieſe am Ufer der Lippe, zu
769 Schwertllingen.
ir und zwei aneinandergefeflelt nach Verbrecher:
weile.
Über ihren Häuptern fehien golden die Sonne,
unter ihren Füßen grünte das Gras, in ihren Adern
podte das warme, vollfräftige Xeben, und hart vor
ihren Augen ftand der mörderiihe Tod.
Ein Kommando franzöfiiher Grenadiere er:
wartete mit Scharfgeladenen Gewehren die edlen
Opfer. Man nahm ihnen die Feffeln ab und wollte
ihre Augen verbinden, do das wiejen fie zurüd.
Oft Schon hatten fie dem Tod ins Angeficht gefehen
— fie wollten es aud) bier.
Eine legte brüderlide Umarmung, — dann
warfen fie ihre Mügen in die Luft und riefen ihrem
Herrn und König ein jubelndes Lebehodh!
Sin gerader Linie ftellten fie fih auf, in zwölf
Schritt Entfernung den Grenadieren gegenüber und
blidten ar und feit den fchwargen Mündungen
entgegen.
„Feuer!“ erſcholl das lekte ftolze Kommando der
todesmutigen Schar.
Dumpf raten die Schüfle. Pulverdampf um:
hüllte die graufige Scene, wie der Raud den Opfer:
altar. Als ihn der Morgenwind zerteilte, lagen auf
dem grünen Rajen zehn der ritterlichen Helden, im
furzen, harten Todesfampf ringend.
Der elfte ftand aufreht, nur am Arme ver:
wundet.
Es war Albert von Wedel. Er Ichaute nieder
zu jeinem Bruder, der vor ihm am Boden lag.
„Albert —” ächzten die erblaflenden Lippen. Dann
braden ihm die Augen, er war tot. Albert jah es
und Ichaute wieder auf. Die franzöfiihen Grena-
diere ftellten das Gewehr bei Fuß — fie erwarteten
die Gnade des Kommandeurs für den Überlebenden.
Sie jhienen um Parbon zu bitten — die franzöfifchen
Schergen für den preußiichen Difizier.
Hohauf aber richtete fih der mit flammendem
Blid. „Keinen Parbon! Bielt befier, Grenabiere!
Hier — Ichlägt das Herz für meinen König! — —
Teuer!” —
Abermals Inatterten die Schüfle. Auch der elfte
lag tot am Boben.
Zehnter Abfchnitt.
GSiut unter der WUiche.
„Auf zur Rahel Auf zur Rache!
Erwache, edles Volk, erwache!
Erhebe lauteß Kriegdgelchrei I
Yak in Thälern, laß auf Höhen
Der Freiheit ſtolze Fahnen wehen,
Die Schandenketten brich entzwei.
Zu den Waffen, zu den Waffen!
als Männer bat und Gott geidhaffen,
Auf! Männer, aufl und fhlaget brein,
Laßt Hörner und Trompeten klingen,
Laßt Sturm von allen Türmen dringen
Die Freiheit fol die Lofung fein!*
I.
Tiefer Schnee bededte das Zand an der pommer—
Ihen Küfte. In froftigem Hellblau behnte fich der
nordiiche Himmel darüber. Eisklippen umftarrten den
Roman-Feitung 1896.
Roman von Hans Werder.
770
Meeresſtrand. Die Wogen der Oſtſee zerſchellten
daran, ſpuülten lockere Eisſchollen los und riſſen ſie
fort, in das wilde Spiel der Brandung hinein.
Ernſt und ſchaurig iſt der Winterzorn des nordiſchen
Meeres, voll drohender, begehrlicher Unruhe und
grauſamem Ungeſtüm. Ach, daß es dieſen friede—
ſtörenden Zorn auch über das Land gebreitet, das
ſeine Wogen umbranden! Doch das lag ſtarr und
ſtumm, wie unter der kalten weißen Schneehülle, ſo
auch regungslos im furchtgeknechteten Frieden.
Das Jahr 1810 begann mit neuen Kontribu—
tionen des fremden Gewalthabers, mit Durchmärſchen
franzöſiſcher Truppen, willkürlich abſeits von den
vereinbarten Heerſtraßen. Die rückſichtsloſeſten Über⸗
griffe aller Art durfte der Eroberer ſich ungeſtraft
erlauben, unter ſchweigender Duldung des ohn—
mächtigen Preußens.
An dem ſchäumenden, eisſplitternden Meeres:
ſtrande ſtand Haſſo und nahm noch einmal Abſchied
von dem zerſtörten Bilde der Maikuhle mit ihren
herzbewegenden Erinnerungen. Seine Haftzeit war
beendet. Er hatte ſich bei dem Kommandanten ge—
meldet und ſeinen Säbel in Empfang genommen.
Er war frei. Jetzt noch ein Beſuch bei ſeinem alten
Gönner Nettelbeck. Das war ein trauriges Abſchied—
nehmen. Der alte Kolberger Held beweinte Schill,
ſeinen Liebling, als wäre es ſein eigener Sohn ge—
weſen, denn er hatte gar große Hoffnungen für des
Vaterlandes Erlöſung auf ihn geſetzt. Die waren
nun hinweggeſpült wie die Eisſplitter in der Meeres—
brandung. Das Vaterland, ganz Europa aber lag
ſtill und ſtarr unter ſeiner Schneedecke und ungehört
verhallte der zürnende Weckruf des ſturmgepeitſchten
Meeres.
Der Abſchied war vorbei, auch von den treuen
Kameraden. Haſſo ſattelte ſein Roß und ritt in die
Welt hinaus.
Hinter ihm in weiter Ferne verhallte das Brauſen
der See und vor ihm lag die ſchneeige Einöde.
Was jollte er beginnen. Seine Eriftenz war unter:
gegangen mit dem geliebten Schillihen Regiment.
Wo follte er eine neue finden?
Da, wo es Arbeit gab für feinen Säbel, ihn
einzutauden in Franzofenblut, für Rade — für
Freiheit — Vergeltung. Aber wo war ein Bolt,
ein Heer, in defjen Reiben er fich ftellen konnte, zu
diefer Zeit des lähmenden Friedens?
Für jest wählte Hafjo Nedentin als Reifeziel.
Diesmal kehrte er nicht im Pfarrhaufe ein, jondern
ritt auf den neuen Hof, wo er hingehörte, ftieg vom
Pferde und ging unangemeldet ins Haus. Es war
jeine Abficht, fih das gute Net, welches er bier
bejaß, fortan in keiner Weije mehr verkürzen zu lafen.
Sn dem Wohnzimmer, dem altbelannten, traf
er Lotte. Mit einem Freudenruf eilte fie ihm ent:
gegen. Er füßte ihr die Hand und fie bog feinen
Kopf herunter und drüdte einen herzlichen, falt
mütterliden Kuß auf jeine Stirn. „Hallo, weld
freudige Überrafhung! Und aus was für Gefahren
und Drangjalen tommft Du ber! Lieber Junge,
Gott jei Dank, daß Du am Leben geblieben!”
IV. 54
17 Schwertklingen.
Roman von Hans Werder.
772
„Dank für den freundlichen Willkomm, Lottchen!
Ich habe lange nicht dergleichen gehört! Bunt genug
war das Leben, das ich führte, ſeit wir uns nicht
geſehen!“
„Das glaub' ich Dir, Haſſo! Alle Welt war
vol von Euren Erlebniſſen, groß und ſchreckich zu:
gleich! Dich darunter zu wiſſen mit dem unglüd:
lichen Schillſchen Korps, der Gedanke hat uns manche
Sorge bereitet! Du mußt uns viel davon erzählen,
was Du durchgemacht und wie es Dir ergangen!“
„Beſſer als ich verdiene, iſt es mir ergangen;
Du fiehſt mich ja wohlbehalten vor Dir!“ entgegnete
er mit Bitterkeit. „Männer wie Schill, auf die das
Vaterland ſeine Hoffnung ſetzte, ſind zu Grunde ge—
gangen. Andere, die das Glück der Ihrigen aus—
machten, wie Hilmar, wie Albert Wedell, wurden
vor meinen Augen hinweggemäht gleich reifen Halmen.
Mein Leben aber, nach dem kein Hahn kräht, das
niemand zur Freude gereicht, iſt zäh wie das einer
Katze!“
Lotte ſah ihm forſchend nach den Augen. „Er
hat Kummer gehabt,“ dachte ſie. „Er hat noch mehr
durchgemacht als Todesnot, Gefahr und Feſtung.
Haſſo,“ ſagte ſie ablenkend, „Du haſt noch nicht er⸗
fahren, daß unſere gute Tante aus dieſem Jammer—
thal geſchieden iſt!“
Er ſchrak auf. „Was! — Nein, ich hört' es
noch nicht! Wirklich — Lotte!“
„Ja — die arme Mutter! Sie hat eben doch
das Leid nicht ertragen können. Ihr Herz iſt unter
der Laſt gebrochen. Es konnte kaum anders ſein!“
„Arme Tante,“ ſagte Haſſo leiſe und ſenkte
nachdenklich die ſchwere Wimper. Es that ihm weh,
ſie war dahingegangen ohne ein Wort, einen Ge—
danken des Segens für ihn. Vielleicht hätte ſie ihm
jetzt vergeben, die unbegangenen Sünden, wenn ſie
erfahren, daß auch er vor dem Kriegsgericht ge—
ſtanden und verurteilt worden, alſo nichts mehr vor
Hilmar voraus hatte!
„Sie hat in ihren legten Lebenstagen nach Dir
gefragt, Hallo,” nahm Lotte wieder das Wort, „und
trug mir einen berzliden Gruß für Did auf!”
„Wirklich! DO das freut mih! ch danke Dir,
Lotte!”
„3a, fie war jehr weich und milde jene legte
Zeit! — Das Kind, weißt Du, glitt wie ein tröften-
der Sonnenftrahl in die finfende Dämmerung ihres
Lebensabends!“
Haſſo hob lebhaft den Kopf. „Das Kind —
Lotte, wo iſt das Kind? Zeig' es mir!“
Sie öffnete die Thür zu dem Nebenzimmer.
Dies war recht eigentlich ihr Reich und Aufenthalt,
die Kinderſtube, ein warmes, trauliches Gemach.
Hier ſaß das Kind auf einer wollenen Dede am uk:
boden, in ein kurzes, weißes Röckchen gekleidet, den
Kopf voll hellblonder Locken, warf Tannenzapfen in
der Stube umher und trommelte mit den Füßchen
vor Freude, wenn die Wurfgeſchoſſe knallend gegen
irgend ein Möbelſtück anſchlugen. Unverzüglich
richtete ſich jetzt das Bombardement auf die beiden
Eintretenden, wobei das kleine Kehlchen laute Jubel:
söne der Begrüßung ausitieß.
Halto trat raid auf das luftige Geichöpichen zu,
bob es auf den Arıı und füßte es zärtlid. Die
Kleine verzog ein wenig das Mäulden, unmwillig
über die Unterbredung ihres angenehmen Epielee.
Tann aber erfannte fie in Hafjos vollem Schnurr—
bart einen neuen Gegenitand der Unterhaltung und
jaufte daran in jauchzender Fstöhlichkeit.
Er Jette jih, nahm das Nihthen auf fein
Knie und betrachtete es forihend. Das waren
Hilmars Hlare blaue Augen, aud der reine, jaft
zarte Gejichtsjchnitt, der ihm feines Pflegebruders
Züge ins Gedädtnis rief.” Ein weider Ausdrud
ging über jein Gefiht. „Wie beißt fie?” fragte er,
zu Lotte aufblidend.
„Hilma! — 53h glaube gern, daß Ti das
jeltjam und willfürlid anhört! Aber der Klang
dDiejes Namens bat mir den Sonnenicdhein meines
Lebens bedeutet, und jo jol er mid, mwil’s Gott,
begleiten bis an meinen Tod!“
„Hilma —“ wiederholte Hallo. „Lotte, beb’
mir Deine Zocdter gut auf — idy mödhte fie heiraten!
In fünfzehn, jehzehn Jahren etwa! So lange hab’
ih no Zeit!”
„Um alles in der Welt!” rief Lotte. Sie trat
berzu und jtriy ihm ladend über das furzgebaltene,
dunfelbraune Haar. „Bit Du denn nod immer
derjelbe Kindskopf geblieben, Du Wildfang? Aber
nein, etwas vernünftiger bijt Du dody wohl geworden!
Einft durfi? ih es nit wagen, Dich mit meiner
Kage oder Harfe einen Moment im Zimmer allein zu
lafjen, wenn idy nicht Unheils gewärtig fein wollte,
jegt jehe ich forg: und gefahrlos mein Kindchen auf
Deinem Schoß, und jo gut bei Dir aufgehoben!“
Er 309 die lieblojende Hand an jeine Lippen.
„a, Lotte, das Leben ift eine verdammt ernithafte
Schule, ftreift alle die Tollheiten herunter — lehrt
einen jogar mit Heinen Kındern und Katzen ſorg—
fältig umgeben, damit fie einen nidt — — Au —
hör! mal, Du kleiner Wurm, mein Schnurrbart ift
aber niht dazu da, von Pir ausgerauft zu
werden!”
„aber Hilma, ilt es möglih, fol ein ftolzer
Huſarenſchnurrbart flößt Dir nit einmal Achtung
ein?“ wehrte ihr Xotte. „Nun, vıelleiht erwacht
Dir jpater no das Berfländnis dafür!“
Eın Shwerer Schritt im Nebenzimmer unterbrad
das Geplauder. Durch die halbgeöffnete Thür
ihaute ein jchneeweißes Haupt herein. Hallo jprang
auf, ließ die Kleine auf ihren früheren Spielplag
zurüdgleiten und ging jeinem Obeim entgegen.
Ah, wie war er gealtert! Nicht nur das weihe
Haar, das welfe, faltıge Antlit gaben ihm den
Stempel des Greiles -— mehr falt noch die gebrochene
Haltung, der willenloje Ausdrud des Gelidhts.
„IH höre, es ijt ein Bat gefommen?” fragte
er zmweifelnd.
„Nein, VBäterden, fein Saft,“ verbejjerte Lotte,
„jondern einer, der wie Kleinen und ich bier Kindes:
rechte hat!“
„Ad, Hallo — Tu! fei mir willfommen, lieber
Zunge! ich freue mid) jehr, jehr!” Er drüdte ihm
173
berzlich die Hand, und mie jein Auge dem weichen,
ausdrucksſchweren Blick begegnete, mit dem fein Neffe
ihn anfchaute aus dem männlich haraktervollen Antlig
heraus, da überlam ihn eine warme Rührung wie
nie zuvor, und er Ichloß ihn in die Arme. „Lieber
unge, ich bin jo froh, daß Du am Leben geblieben
bit! Shr habt Eu — ja, weiß Gott — hr habt
Eudh verteufelt geihlagen, Zhr Schillihen! Eure
Schuld ift es nicht, daß die Hundsfötter no im
Baterlande haufen. Hat mir Heillofen — Spaß
gemadt, daß — daß ein Rodhlig drunter war!“
Seine Stimme wurde unfider, Thränen liefen über
feine Wangen, gramvolle, troftloje Greijenthränen.
Haffo brach das Thema ab und Iprad) dem Oheim
in berzliden, beredten Morten jeine Teilnahme an
dem Tode feiner Gattin aus.
„Ja, die arme Marianne,” feufzte ber alte
Herr, „fie bat es nicht überleben fönnen! Sch gönne
ihr die Auhe! Nachdem man fein Herz begraben
hat, lebt fih’s Schlecht weiter in diejem irdiichen
Sammerthal! Ach hatte auch gehofft, unfer Herr:
gott würde mir bald die Retraite blajen laflen, aber
noh bat er mir Urlaub gegeben! And einen rechten
Abendjegen in meiner guten Lotte und dem Eleinen
Wit, der da herumfrabbelt!” Er nidte zärtlich
dem Kleinen Abendjegen feines Icheidenden Lebens:
tages zu und kehrte dann mit Hallo in das Mohn:
zimmer zurüd. „So, nun jeß’ Dich zu mir, mein
Sohn, und erzähle, wie man Dich eigentlich hat ver:
donnern fönnen, da Du do nur Deinem Kom:
mandeur, dieſem Prachtkerl, gehorcht haſt!“ — — —
Nach einiger Zeit kam Lotte zurück, die nach
dem Eintritt des alten Rochlitz ſich enftfernt. „Haſſo,
ich habe Eure alten Zimmer oben für Dich heizen
und herrichten laſſin — wenn Du's Dir bequem
machen willſt! Hungern ſollſt Du auch nicht mehr
lange, wir gehen gleich zu Tiſch!“
„Höchſt erfreuliche Ausſicht, liebe Lotte! Vor—
trefflich alles, was Du ſagſt und thuſt!“ — Haſſo
fühlte mit Behagen die Wärme, welche ſie um ſich
verbreitete und die ihm zum erſten Male dieſes
fremde Heimathaus heimiſch geſtalten ſollte.
„Du bleibſt doch nun einige Zeit bei uns?“
fragte der alte Herr, ſichtlich beſorgt, eine abſchlägige
Antwort zu erhalten.
„Ja, lieber Onkel, wenn Sie geſtatten, ſo bleibe
ich gern einige Monate hier und laſſe mir's wohl
ſein unter Lottes Scepter!“
„Einige Monate, das iſt brav,
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
— und was
774
denkſt Du dann zu thun? Haſt wohl noch keinen
Beſchluß gefaßt?“
„So ungefähr doch! Sobald es warm wird,
gehe ich nach Teplitz — das habe ich unſerm guten
Regimentschirurg verſprechen müſſen! Später hoffe
ich noch einige Beſuche zu machen! Erſt in dem
vorpommerſchen Pfarrhauſe, wo ich zwei Monate ge—
legen habe, dann bei meinem Kameraden Brünnow!“
„Brünnow — das iſt der, der die Kapitulation
mit Gratien abgeſchloſſen hat? — Ein prächtiger
Burſche muß das ſein!“
„Iſt er auch!“ erwiderte Haſſo. „Wir ver—
kehrten früher wenig miteinander. Da aber, unter
Blut und Feuer haben wir uns gefunden!“
„Und wo willſt Du ihn beſuchen?“
„Er ſchrieb mir neulich, er ginge im Frühjahr
nach Buggendorf zu ſeiner Schweſter, die dort an
Herrn von Zarchow verheiratet iſt. Es liegt in der
Mark, unweit meiner früheren Garniſon! Ich kenne
Zarchow! Dort wollen wir uns ein Rendezvous
geben!“
„Und dann kommſt Du wieder zu uns, lieber
Junge, nicht wahr? Willſt Du Reckentin übernehmen?
Brauchſt es nur zu ſagen! Ich ziehe dann mit
Lotte auf den alten Hof und ſetze mich zur Ruhe!
Nach Ruhe ſehnen ſich die alten Knochen — weiß
der Kuckuck! Es war harte Arbeit, die das Leben
mir gebracht hat!“
„So bald braucht das doch hoffentlich nicht zu
ſein, lieber Onkel? Noch werde ich nicht kommen
können! Sobald in einem der Länder Europas Krieg
gegen die Franzoſen ausbricht, gehe ich mit! Der
Säbel eines Schillſchen Huſaren darf nicht in der
Scheide roſten, wenn es irgendwo auf der Welt für
ihn Arbeit giebt! Findet er die vorläufig nicht, ſo
hat mir Excellenz Blücher Anſtellung in ſeinem
Huſarenregiment verſprochen!“
„So — der Blücher — das iſt ja brillant! —
Haſſo — mir iſt doch jetzt ganz, wenn ich Dich ſo
anſehe, als hätte ich Deinen Vater vor mir! War
ein nobler, ſchneidiger Kerl, und Gott ſei Dank, das
biſt Du auch! Ich hab' ihn wohl zuweilen einen
Taugenichts genannt, aber das that er ſelber — halb
im Scherz, halb im Ernſt. Ich wußte recht wohl,
was ich an ihm hatte. Und auch an Dir jetzt,
lieber Junge! Ja, Ihr beide — brave, ehrliche
— und Huſaren, daß einem das Herz im Leibe
acht!“
(Fortſetzung folgt.)
m
ſchaft.
©
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
21
—*
©
Peiblatt der Dentihen Noman-Feilung.
Herbſtlieder.
Von Alto Kiefer.
I.
Hörſt Du das Glödlein ftill im Abendmind,
Fühlſt Tu des Herbites Kup gelind
Auf feiner Braut, der jtolgen Erbe, brennen?
Sie kann vor Wonneweh nicht nennen
An Liederflang des Liebiten holden Namen,
Sie füftert leis vergehend nur ein ıilles Amen!
1.
Nadı ew’ger Ruh, nah ewig ftillem Frieden
Sehnt fih Natur; ein jedes Blatt Hinieden,
Zm Serbft zum Boden gleitend, fHüftert „Ruh“!
Der Sce, im Ei3 eritarrend, Ichlieket zu
Sein glangvoll blaue Aug’, die Nebel jinfen,
Gin Tuch anf ftile Bahr, und Geijter winten,
Lab man zu Grabe trägt dic Lenzetblüten,
Daß ſtill sie ruh'n; die diüjtern Berge brüten,
Bald zaubern Teilen Schlaf die weißen ‚sloden
Auf fie, Die jtolgen, und auf dbuft’gen Soden
Herſchleichend, legt ſich ewo'ge Ruh und Frieden
Auf all die Erdenkinder, all die Müden!
III.
Des Herbſtes heiße Blumenfarben
Berauſchen noch mein trunk'nes Aug',
Die einſt im Lenz mich ſanft umwarben,
Erglüh'n im letzten, üpp'gen Hauch.
Als wollte ſie noch einmal mahnen,
Eindringlich wie vor nahem Tod
An all des Lenzes Glückesahnen,
Erbebt die Roſe purpurrot.
„Auf ſteig' noch einmal zu den Höhen,
In deren Äther tiefem Blau
Dich frei umwebte Gottheitswehen!“
Umgaufeln mid die Lüfte lau.
„Auf grüner Seen Lünmerwogen
Alute dahin Tu nodı einmal,
Ch Winterftürme aufgelogen
Zu Eis das flüſſige Kryſtall!“
„Erklingen laß noch einmal Deine Leier,“
Jubelt die Lerche mir zum Abſchiedslied,
„Ein heilig Lied zur heil'gen Abſchiedsfeier
Dem ew'gen Lenz zum Preis, der nie entflieht!“
„Die liebe Bequemlichkeit.
Aus dem Leben von Martha Sommer.
Lieutenant Gebners geben heute abend ihre erjte Geiell:
vür jede unerrahrene junge Hausfrau ijt to eine erite
Geſellſchaft ein wichtiges Ereignis,
aber wenn eine arme,
das Avancement wartet,
ijunge Lieutenantsfrau, die mit ihrem Manne ſehnſüchtig auf
zum erſten Male die Vorgeſetzten
des Herrn Lieutenant am eigenen Tiſche bewirtet, hat ſie das
Gefühl, als hinge die Carriere ihres Mannes von dem Ein-
druck ab, den der Herr Oberſt von dieſer erſten Geſellſchaft
mit nach Hauſe nehmen wird. Und wenn auch wohl nicht
jede Lieutenantsfrau ſo denkt, Lilli Geßner glaubt es und
iſt ängſtlich bemüht, das Feſt ſo vollkommen wie möglich zu
geſtalten.
Schon ſeit dem frühen Morgen herrſcht im ganzen Hauſe
eine fieberhafte Thätigkeit. In der Küche waltet eine behäbige
Kochfrau ihres Amtes, von dem Mädchen des Hauſes in ihrer
verantwortlichen Arbeit unterſtützt. Im Eßzimmer deckt der
Burſche des Herrn Lieutenant unter Anleitung eines um—
ſichtigen Lohndieners die Feſttafel, die Hausfrau ſelbſt lauft
- im ganzen Hauie umber, hier nad) dem Nedyten fehend, dort
etwas anordnend.
„Sch beihmwöre ie, Frau Helbing,” wendet fie fih an
die Kodhfrau, „lafien Sie da3 Tchienfilet nicht zu lange
braten, ‚srtau Cherit ibt e5 gern recht rot. Ad, Sie glauben
gar nit, wie viel oft von einem guten Penü abhängt,“
test fie Seufzend hinzu. Lie Kochkünftlerin lat und vers
ipricht ihr beites zu leiiten.
Tie Hausthürglode ertönt.
„za flingelt es Ihon wieder!“ ruft die junge rau
lebhaft aus, „das ift das zwölfte Mal heute morgen. Nein,
lajien Sie, Toris, id) will wohl jelbit öffnen. Hoffentlich
werden jest die Tiihbouquel3 gebracht.“
Sie eilt auf den ‚slur und öffnet die Hausthür. Ein
sinabe von etwa zehn Jahren fteht vor ihr, ein blajies,
franf auzjehendes Kind in diinner Jade, an der die Wolle
abgetragen tit. Ser Anzug tft ihm viel zu groß und ichlottert
unordentlih um den mageren, fleinen Nörver.
Lie durhlöcherten Stiefel find ebenfalls zu groß, die
Epige hat fih nad) oben umgebogen. Zie Sojen find zer:
riiien, jo daß die bloßen Sniee heraußguden. Aut dem
Kopie trägt er einen ihmusgigen Strobhut, an dem der
Dedel halb abgeirennt iit. Lie vom ‚sroit blau angelaufenen
Hände jteden weit au8 den zerrijjenen irmeln heraus.
Der Junge murmelt eine unverftändlidhe itte und ftarrt
mit weit aufgerifienen Mugen an der Dame vorüber nadı der
nüde hin. Die Thür jteht offen und würzige Tüfte ftrrömen
auf den ;slır Hinaus. Tas Hungrige Sind atmet fie be-
gierig ein.
„Zu biit wohl jehr hungrig”* fragt ihn die Tame teils
nahmsvoll.
„Ich hab' all ſeit vorgeſtern nix Ordentliches mehr ge—
geſſen.“
„Oh!“ Der jungen Frau treten die Thränen in die
Augen, ſie will dem Kinde gern etwas Warmes zu eſſen
geben, aber ſie hat nichts. Dort in der Küche wird für mehr
als zwanzig Perſonen ein opulentes Mittageſſen hergerichtet,
aber noch iſt nichts von den Speiſen fertig, ſie kann dem
halb verhungerten Kinde nicht einmal einen Teller Suppe
geben... Der Junge konnte ja warten, denkt fie, man
fönnte ihm Gfien vom geitrigen Tage aufiwärnıen, aber ei
ift feine Zeit dazu da! Eie jelbit mu Toilette maden und
117
die rauen in der Küche haben alle Hände voll zu thun, um
rechtzeitig fertig zu werden, fie fann ihnen unmöglidy neue
Arbeit aufbürden. Nun, fie wird dem Kinde Geld geben.
Da fällt ihr ein, daß ihr einmal eine jehr wohlthätige alte
Dame gelagt Hat, e3 fei ein umverantwortlier Leichtfinn,
bettelnde Kinder mit Geld abzufinden und fie fonit in Ber:
juhung zu führen. Wer wirflid helfen wolle, möge bie
Inbequemlichfeit nicht fcheuen, die Eltern der Kinder auf:
zufuhen, um Dielen direft die Wohlthaten zukommen zu
laffen. Daran denkt Lilli plöglid, und ihr Entihluß jteht
feft. Sie will den armen Leuten helfen, aber fie will au
das Kind nicht hungrig fortihiden.
„Doris,“ ruft fie, zur Küche hingewendet, „bringen Sie
mal ein paar Semmeln ber, ftreihen Sie auch Butter darauf.”
Und dann, fi) zum Sinaben niederbeugend, in defien Augen
c3 glüdlih aufleudtet: „Wie heit Du, mein Junge?“
„Karl Mießner.”
„Und wo wohnit Du?“
„NRabenftraße Nr. 10, fünfte Etage.”
„Hat Dein Vater feine Arbeit?”
„Der 18 all feit'n Sommer tot.“
„Und Deine Mutter?”
„Die 18 immer franf.*
„Halt Du nod Geihmiiter?“
„Noch fieben, aberft die fünd Tleiner als ich.“
Acht Heine Kinder und eine Witwe ohne Verdienft!
denkt die junge rau fhaudernd. Das Mädchen bringt dag
Brot, weldyes das Kind gierig in Empfang nimmt.
„Adieu, Karlchen, Heute fann id Dir nicht mehr geben,
aber morgen fol mein Mädchen Euch einen großen Storb voll
Efien bringen.“ Tas Kind lauft ohne Dank, aber glüd:
ftrahlend davon.
Frau Lili geht in ihr Schlafzimmer, um fi} für ihre
Gäſte umzukleiden. Sie hat fih fo auf den Abend gefreut,
aber jegt ift ein Schatten auf ihre Freude gefallen. Gie
muß daran denken, daß das Geld, welches dieje eine Gelell-
ihaft foften wird, außsgereicht hätte, um eine arme Yanilie
wochenlang zu ernähren. Sie empfindet e& plöglid als
bittere8 Unrecht den armen Leuten gegenüber, ein bderarlig
üppiges Felt zu veranftalten, während fie nicht einmal fo=
viel haben, um fatt zu werden. „Aber,“ gelobt fie fich, „fie
jollen ihren Anteil daran haben. {sch werde ihnen. von allen
Speifen reichlich Ichicken, ic felbft gehe morgen hin und fuche
die arme Frau auf, elwas von meinem Monatögeld fann
ih für fie erübrigen, und zwifchen meiner Garderobe findet
fi) wohl auch allerlei, das ich ihr geben fann!“ Ihr wird
wieder leicht um8 Gerz, fie ift nicht geizig und hartherzig,
nein, gewiß nicht, fie giebt gern, von Herzen gern! — —
C3 ift am Abend. Das Felt hat feinen Höhepunft er-
reiht. Die Gefelfchaft ift in befter Stimmung, der Wein
hat feine Schuldigfeit gethan. — Die junge Hausfrau ift
überglüdlih), noch eben Hat ihr die Sray Oberft ihre An-
erfennung über ba3 reizend gelungene Felt außgeiprocen.
Das traurige Intermezzo vom Nachmittag hat fie ganz ver-
geifen. E8 ilt jehr heiß im Saal, fie eilt ans Fenſter und
öffnet 8. Ein eifiger Windhauh jchlägt ihr entgegen, e8
muß draußen bitter kalt fein. Plötlich fallt ihr da8 hungernde
Stind ein. Wo e3 jett fein mag? Ob ed überhaupt ein
Bett Hat? Etwa wie Scham überfällt fie, daß fie über die
Genüffe und das Vergnügen der legten Stunden das arme
Sind ganz vergefjen hat. „Friedrich,“ wendet fie fih an den
vorübergehenden Diener, „Tagen Sie Doris, fie folle gleich
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
118
heute abend von den übriggebliebenen Speilen etwas für
eine arme Familie zurüdfegen, Sie können e8 den Leuten
dann morgen hintragen * — —
Der Tag nad einer Gejellichaft pflegt jelten gemütlich
zu bverlanfen, am menigften für die Hausfrau. Man ift
angegriffen vom Tage vorher und findet Doc, feine Zeit, fich
audzuruhen, denn c8 giebt genug zu thun, um die Spuren,
welche das elt zurüdgelaffen bat, zu bejeitigen. Dazu
fonımt der rger über zerfragte Fußböden, zerfchlagenes
Borzellan, verlegtes Silberzeug u. |. w.
AN diefe Eleinen Haußfrauenleiden maht aud) Lilli nach
ihrer erften Gefelichaft durh. Miüde und abgeipannt legt
fie fih in der Dämmerftunde auf ihre Chaifelongue, um
endlich auszuruhen. Sie fühlt fich recht unbehaglid; nad)
dem Glanze de3 geftrigen Abend erjcheint ihr alles nüchtern,
hal und langweilig, fie fühlt einen dumpfen Schmerz im
Kopf und dazu diefe bleierne Müdigkeit! Aber fchlafen
fann fie troßbem nit. Sie rafft fih auf und nimmt eine
Handarbeit zur Hand, vielleicht thut ihr Beichäftigung wohl.
Sie madt ein paar Stihe und legt die Stiderei wieder
fort, fie hat dod) feine Luft zum Arbeiten. Sie fängt an zu
lefen, aber fie Elappt da8 Buch wieder zu, audy dazu fehlt ihr
bie Luft. Ste legt fih wieder nieder und verſucht zu ſchlafen.
Nlöglih fährt fie auf. Ste wollte ja den armen Leuten
Eſſen ſchicken und Hat e8 vergeifen! und für heute ift e8 zu
ipät. Der Burihe Hat für ihren Mann in dienftlicher An=
gelegenheit zu thun, und Doris feuert die Küche, die kann
heute nicht mehr ausgehen. Wenn fie felbft ginge? .... Sie
fieht hinaus. Braußen heult der Wind und wirft große
Schneefloden gegen die Scheiben. E83 ift ein entjetliches
Wetter, aber fie will troßbdem gehen, fie fan doch die armen
Leute nicht hungern laffen! Mit einem leifen Seufzer ver-
läßt fie ihr warmes Lager. Da tritt ihr Mann ein. Gie
erzählt ihm, was fie vorhat. —
„a8, bei dem Hundemetter willit Du ausgehen, Kind?!
Auf keinen Fall, Du würdeft Dich jchön erfälten, Du bit
jo wie fo nit ganz wohl.“
„Aber, Ernit, den Leuten muß doc, geholfen werden,”
wendet fie ein.
„Ah was, in einem Tage gehen die auch nicht zu
Grunde! Deshalb Ffannft Du unmöglid) um diefe Stunde
und bei dem Wetter nad) der Rabenftraße binauspilgern,
denf nur an den weiten Weg. Du fannft ja morgen mittag
gehen, morgen ift da8 Wetter ficher wieder gut. Und mid)
vergißt Du jet wohl ganz?! Heute habe ich endlih mal
einen bienftfreien Nachmittag und da wilft Dur ausgehen!“
„Schon gut, Brummbär, ich bleib’ zu Haufe,” Tagt fie
lähelnd, im Grunde froh, daß ihr die Unbequemlichkeit er:
fpart ift; dann zögert fie doch wieder: muß fie nicht troß
alledem ihre Pflicht erfüllen? ... „Aber,“ Tagt fie fich gleid)
darauf, in echt weiblicher Logik und mweibliher Schwachheit,
„liegen Dir die Pflichten gegen Deinen Mann nicht weit
näher als die gegen fremde Menichen? Ja gewiß, natürlich),
fie thut ebenfowohl ihre Pflicht, wenn fie Heute nicht zu den
Leuten geht, jondern fid) ihrem Manne widmet! Und in dem
angenehmen Bewnßtfein, eine unbequeme Verpflichtung los⸗
geworben zu fein, ohne den Weg ber Pflicht zu verlaffen,
bleibt fie zu Haufe. — —
Der Sturm hat fi in der Nacht auögetobt, die Schnee-
Hoden find zur Erde gefunten und am nädften Morgen ift
die berrlichfte Schlittenbahn. Cine lang geplante, vom
Kommandeur arrangierte Schlittenfahrt foll heute zur Auß«
a nn — — — — —
119
führung gebradjt werden. Die Einladungen find am frühen
Morgen ergangen, um zwei lihr tft die Abfahrt.
Much Lieutenant Gebners find zur Teilnahme an ber
Partie aufgefordert worden. Lili freut fih wie ein Kind.
Sdlittenfahren ift ihr fchönftes Vergnügen; e8 wird reizend
werden, denn alle Bekannten, die borgeftern auf der Gejell-
Schaft waren, fahren audy mit, die Stimmung wird jehr fidel
werden. Ind meld’ pracdıtvolle Gelegenheit, daß neue Tuch:
tleid, das ihr fo entzüdend fteht, anzuziehen! Ach, es ift zu
ihön! Cie führt wirklich ein herrliches Leben! Wenn e8
doc alle Leute fo gut hätten wie fie! Sa, da wünſcht ſie
wirffid) von Herzen... Plößlich geht e8 ihr wie ein Stid)
durd)8 Herz: jene armen Leute! llber ihr Vergnügen hat
fie fie wieder vergeffen! Eie fann auch heute nit hingehen.
Eic [hämt ficd) ihres eigenen Sh’8. „Nun, Toris fol heute
iedenfall8 Hingehen, ich gehe dann morgen,” jagt fie fi)
zu ihrer eigenen Beruhigung.
Sie ift zur Abfahrt bereit. Der Schlitten, ber fie und
ihren Mann abholen fol, muß jeden Augenblid fommen.
Sie eilt fchnell nod einmal in die Kühe: „Lorid, wenn
Sie mit Jhrer Arbeit fertig find, paden Sie die Speiferefte
bon vorgeftern in einen Korb und bringen fie nad) der
Htabenftraße Nr. 10 zu einer Fran Miehner, in fünften
Stod. Beitellen Sie nır einen jhönen Gruß von mir.“
„Ich, gnäd’ge FZrau,” winmert Doris, „ausgehen kann
ih heute würklich bei ’n beiten Willen nid’, ich hab’ bei die
gräßige Kälte wieder meinen Rhe'me’thisnms gefriegt und
wenn ich mir nu’ nich’ warmbhalten thu’, werd’ id) furch’bar
krank!“
Der Hausherr erſcheint im Rahmen der Küchenthür:
„Lilli, wir müſſen uns beeilen, der Schlitten iſt da.“
„Ach, Ernſt, kann Friedrich nicht heute nachmittag etwas
für mich beſorgen?“
„Das thut mir leid, Kind, es geht nicht, der Burſche
muß heute bis zum Abend in der Kaſerne bleiben. Aber
komm, es iſt wirklich die höchſte Zeit.“
Sie folgt ihm zögernd. Sie kann doch die Leute nicht
noch länger warten laſſen! Aber was ſoll ſie thun, da ſie
niemand zum Schicken hat? Soll ſie von der Partie zurück⸗
bleiben und ſelbſt gehen? ... Das iſt unmöglich! Was
wird der Oberſt ſagen, wenn ſie ohne „ſtichhaltigen“ Grund
ſeine Einladung ausſchlägt? Nein, ſie muß gehen, ſie iſt es
ihrem Manne ſchuldig und — morgen iſt ja auch ein Tag!
Cie gebt alfo wirklih. Anfangs fteht fie freilich unter
dem Trucde eines unbehaglichen Gefühls verfäumter Pflicht,
aber in der Iuftigen Gefellfchaft verfliegen ihre Sfrupel in
furzer Zeit und bald hat fie die armen Leute vergeffen.
Auh am nädften Tage findet fi) feine Zeit für die
franfe Witwe, und in dem Trubel von Gefellichaften und
Vergnügungen, in dem die junge Frau lebt, verblaßt die
Erinnerung an jene arme Yamilie bald gänzlid).
Einige Wochen find jeit den Gefellichaftötage vergangen.
Lili figt eined Morgens, die Zeitung Iefend, am SKaffeetifch.
Sie hat geftern wieder bis fpät in die Nacht hinein getanzt.
Geit vierzehn Tagen ift fie mit ihrem Manne Abend für
Abend in Gejelihaft geweien.
„Wenn Sie diejed Leben und Treiben noch lange fort-
führen, gnäbdige Srau, fo werden wir Sie demnädjft in eine
Kaltwafferanftalt bringen müffen,” bat ihr der Haugarzt
geftern gejagt, und fie fühlt, der Mann hat nicht ganz un-
recht, ihre Nerven find in einem troftlofen Yuftand, fie er-
Ihridt über das leifefte Geräufch, bei der geringfiten Er:
Berblatt der Deutihen Noman-Zeitung.
750
regung bridt fie in Thränen aus, fie fchläft des Nadıts fo
gut wie gar nicht mehr. So geht es nicht weiter, fie muß
entichieden ruhiger leben.
Sogar bie Zeitung zu leien ftrengt fie an, obwohl fie
dieſes Blatt nur in ber oberflädlidhen Weijfe Lieft, wie die
meisten Frauen, nur die Familienanzeigen und die Hof:
berichte werden eingehend studiert, zumeilen erhält auch der
lokale Teil einige Beachtung:
„Las Opfer Shädlicher Kohlenausdünftungen,” Tieft fie,
„wurde vor einigen Tagen cine, in der NRabenftraße wohn:
hafte Zamilie Mießner. Tie Frau, eine Witwe, und adt
Kinder find dabei ums Leben gefommen. E3 liegt Selbit-
nord vor. Tas Motiv hierzu Joll fraijefte Armut gewejen
fein. Wir fommen im Nbendblatte auf den Vorfall zurüd.“
2illi Hat gelefen. Gentnerjchwer legt es fi ihr auf die
Bruft. Wenn fie nur weinen fönnte, aber fie fann nicht!
Ein Efel vor fich felbit ergreift fie. Was Hat fie gethan!
Sie lacht ſchrill und häßlich auf:
„Die Bequemlichkeit, die liebe Bequemlichkeit!“
Es wäre ihr ein Leichtes geweſen, den Leuten zu helfen,
ſie hat es verſäumt, weil es ihr unbequem war ... Ein
Schauder durchrinnt ihren Körper: „Du haſt ſie gemordet!“
ruft ihr eine innere Stimme zu. „Du biſt eine Mörderin,“
wiederholt ſie, ohne es zu wollen, laut. Wie entſetzlich das
klingt! Eine furchtbare Angſt überfällt ſie, ſie ſpringt auf,
ſie will zu ihrem Manne eilen: Das Zimmer dreht ſich vor
ihren Augen, es ſauſt und ziſcht ihr in den Ohren, Mörderin!
Mörderin! klingt es wieder und wieder. Die Kreiſe werden
enger, immer enger, ſie taſtet nach einem Halt, wankt und
fällt zu Boden, noch einmal ſchreit ſie gepeinigt auf, dann
verliert ſie das Bewußtſein.
Auf der Heide.
Auf der Heide trieft der Nebel,
Trüb und öde iſt der Tag.
Dort im alten Katenhauſe
Einer driſcht mit müdem Schlag.
Langſam ſchallt der Takt herüber.
's iſt, als hörte ich die Uhr
Traurig gehen im verhangnen
Sterbezimmer der Natur.
Müde ſchallt der Takt herüber. —
Ob ein Greis den Flegel ſchwenkt,
Ob ein Jüngling: in Gedanken
Iſt er offenbar verſenkt.
„Wär's erſt Abend! Wär's erſt Abend!“
Ruft der monotone Schall. —
Müder Alter, Ruhe wird Dir
Bald mohl hinterm Kirchhofswall.
„Wär's erſt Abend! Wär's erſt Abend!“
Schallt des jungen Dreſchers Schlag. —
Jüngling! nach der Liebſten Nähe
Sich Dein Herz wohl ſehnen mag. —
Einſam hier am Wanderſtabe
Stehe ich und höre zu,
Und mein Herz fängt an zu bluten,
Seufzend auch nach Glück und Ruh.
CEhr. Dietr. OQweſen.
181
Die Tilien auf Schloß Söborg.
Von A. 5chilling.
Woldemar Attertag, der König von Dänemark, ſtand
in ernſte Gedanken vertieft an dem Ufer des rauſchenden
Oreſund. Er war von ſeinem Pferde geſtiegen, lehnte, den
Arm auf den Sattelkopf geſtützt, das ſinnende Haupt auf
die flache Rechte und blidte mit den großen, feurigen, blauen
Augen weit über das unruhige Gewäſſer hin, bis nach
Schwedens lichtem Geſtade. Um ihn her ſtanden ſeine Ba:
ſallen, ſuumm ihren König betrachtend. Zum fröhlichen
Jagen waren ſie befohlen, Minute um Minute verſtrich;
die Sonne ſtand ſchon hoch, aber der Fürſt konnte ſich nicht
losreißen von feinem Sinnen, feinen fchmerzlihen Gedanten.
Die Pferde wurden unruhig; fie wieherten und ftampften
den weichen Boden. Woldemar bemerkte e8 nit. Schwere
Zeiten lagen hinter dem tapferen Strieger. Das Glüd hatle
id) von ihm gewandt. Ter Eriegeriiche Fürft, der ftolze,
herridfücdjtige König hatte Schweden und Norwegen verloren
und er Eonnte diefen Verluft nicht überwinden.
Der Wind, der über daB WVaffer fuhr, machte fid) auf
und fing fi in den Kronen der alten Birken, beugte ihre
Wipfel und fpielte mit den langen, gelben Loden des fürft:
lidien Hauptes. Der König ward e8 nicht gewahr und blidie
unverwandt träumerifd; über ben Orefundb und Hatte jein
Gefolge und die vorgenommene Sagdpartie volljtändig ver:
geilen.
Ta wagte e8 Ritter Tief, der junge Günftling Woldemars,
an den Sinnenden heranzutreten.
„Mein König und Herr!“ fragte er leiſe. „Was nimmt
Deinen Einn gefangen, dab Du alfo in die Ferne blidfi?
Wir barren ale hier Teines Befehls. Tie Eonne fteigt
höher. Der Tag wird fi bald neigen!“
Ta warf der Fürft zornig das Haupt herum und ein
bernichtender Blid traf den Lühnen Frager.
„Bube, was wagit Tu!” rief Waldemar ftolz und herriid).
„Zu haft jie verichendt meine Gedankın, mid) von ihnen
gebradt. Fort, au8 meinen Augen! Nie wieder erfcheine
vor mir; es jei denn, Tu wüßteſt mir Wort für Wort zu
lagen, was id) in diefen legten Minuten gedadjt; aber genau,
Wort für Wort. Bis dahin bleibft Tu von meinem An
geliht verbannt, unmiderruflih, ohne Gnade! — Fort!" —
Der König Ihwang fih auf jein Pferd, warf das feurige
Zier herum und fjprengte in jaufendem Galopp in den nahen
Wald, gefolgt von feinem Troß.
Sejenkten Hauptes ftand der junge Olıf und ließ die
bunten Geftalten der Hofgejelihaft an fid) vorüberfliegen.
Er hielt mit fefter Hand die Zügel feines Roſſes, das
mutig den anderen Gefährten zu folgen verfuchte.
„Verbannt!” fagte er tranvig und lich jidy niederfinfen
in den weiden Moosboden.
„Verbannt auf ewig! Denn wie joll id) feine Sedanten
wilien Wort für Wort?" —
Und wie er jo verzweiflungsvoll vor fidh niederftarrte,
da hörte er plöglic ein Leifes Naufchen in deu: Zaube neben
fi), und als er die Augen erhob, jtand vor ihm die hohe
Geftalt einer ernften, uralten Jrau. Ungebeugt tiug fie den
Oberkörper, das runzelige, wettergebräunte Geſicht zeigte
regelmäßige Züge und einen eigenartigen durchgeiſtigten
Ausdruck. Die großen, tiefliegenden Augen blickten forſchend
und ernſt den jungen Ritter an. Erſchreckt ſprang er auf.
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
782
Er war abergläubiſch wie alle Nordländer und wußte ſoſort,
daß die geheimnisvolle Erſcheinung einer jener Sibyllen ſei,
die vereinzelt in den Wäldern und Felſen Nordlands hauſten.
Man begegnete ihnen nicht gern, denn ſie brachten Unheil,
und ihren Nat ſuchte man nur in ganz verzweifelten Fällen.
Aber es ſtand feſt, ſie wußten mehr als andere Menſchen.
Sie ſtrichen beſtändig im Lande umher, ſahen und hörten
viel und galten dafür, alles durch Einflüſterung höherer
Weſen zu wiſſen, oder ſogar durch göttliche Eingebung zu
haben. Sie hielten ſich fern von den gewöhnlichen Sterblichen
und für etwas Höheres, Beſſeres als die Menſchen im all—⸗
gemeinen. Selten gönnten ſie jemand das Wort. Der
junge Ritter war daher höchſt verwundert, als die wunder:
bare Alte näher zu ihm herantrat und, begütigend die Hand
hebend, mit tiefer Stimme ſprach:
„Was bekümmerſt Du Dich, junger Mann, und ſorgſt
Dich? Nichts iſt leichte als Deine Aufgabe. Ehe die
Sonne dort niederſinket in die brauſenden Fluten des Ore—
ſund, wirſt Du dem Könige Wort für Wort ſeine Gedanken
ſagen. Und an dieſe Gedanken knüpft ſich eine Prophezeiung,
die ſein ſtolzes Herz erzittern laſſen wird: Komm folge mir.
Ich will Dir verkünden, was mir bewußt!“
„Wer biſt Tu, kluge Frau?“ rief der junge Ritter,
furchtſam einen Schritt zurücktretend und mit abergläubiſcher
Scheu die gebietende Geſtalt der Greiſin betrachtend. „Wer
biſt Du, daß Du ſolches wiſſen kannſt? Das gehet nicht
mit rechten Dingen zu!“
„Thor!“ lachte die Alte, „fürchteſt Du Dich vor mir?
Ich bin, wie die Leute ſagen, eine Spaargewende und ver⸗
lehre nur mit guten Geiſtern, die von Gott geſandt ſind.
Ich will Dein Glück, und Dich mit dem Fürſten verſöhnen.
Folgſt Du mir nicht, ſo wird ſich doch des Königs Geſchick
erfüllen, Du aber bleibſt verbannt von ſeinem Angeſicht.
Ehre und Ruhm ſteht auf Deiner Stirn, Du wirſt ſie er⸗
langen, wenn Du meinen Rat befolgſt. Komm, zögere nicht.“
Sie wandte ſich ſtolz um und ſchritt in das dichte Ge⸗
büſch hinein, aus dem ſie hervorgekommen.
Einen Augenblick blieb Olef zögernd ſtehen, dann aber
faßte er die Zügel ſeines Pferdes und es ſorgſam führend,
folgte er der Voranſchreitenden in den Wald. —
Der Abend begann hereinzubrechen. Die ſinkende Sonne
warf ihre glühenden Strahlen über das ſchäumende Waſſer
und ſeinen blühenden Uferrand. Da erklangen Hüfthörner,
Rüdengebell, Pferdegetrappel und aus dem Dickicht brach
die heimkehrende Jagdgeſellſchaft hervor.
König Woldemar voran, ſtrahlend vor Luſt und Ver—
gnügen, denn die Jagd war gut geweſen und reiche Beute
wurde nachgeſchleppt, hielt einen Augenblick ſein feuriges
Roß. Da trat plötzlich Ritter Olef entſchloſſen auf den
Fürſten zu, und ſein Knie beugend, rief er bittend:
„Mein König und Herr, nimm den Bann von Deinem
treuſten Vaſallen! Ich will löſen, was Du geboten und
Deine Gedanken ſagen Wort für Wort, die Du gehabt heute
hier auf ſelbiger Stelle.“
„Gut, es ſei!“ ſagte der König und blickte mit Wohl—
gefallen und Verwunderung auf den kühnen Sprecher. „Aber
das ſage ich Dir, berichteſt Du mich falſch, iſt Dein Leben
verwirkt. Nede, was dachte ich?“
Der junge Ritter erhob das Haupt und ſah ruhig in
die flammenden Augen ſeines Gebieters und ſprach:
„Du dachteſt, als Tu heute früh weit über den Oreſund
blickteſt, bis hin nach der fernen Küſte Schwedens: Ob es
Tapferkeit, Echweden und Norwegen wieder zu gewinnen
und fo die drei Stönigreiche zu vereinen!“
„sa!" fagte der König überrafht, „Da8 waren meine
Gedanken Wort für Wort!“
„Bernimm weiter, mein König und Herr, die Antwort
bed Schidjals auf Deine Frage!“
„Wohlan, id) höre!“
„E8 wird niemals gefchehen; jo lange Du am Leben
bift, wird Echweden, Norwegen und Dänemark getrennt von
einander bleiben, aber was Dir und Deiner Tapferkeit nicht
möglid) war, wird der Lift einer Eugen Jrau gelingen und
diefe Grau wird Deine eigene Tochter fein; fie wird die drei
Neiche wieder vereinen.”
„Niemals!“ braufte der König leidenichaftlid) auf. „Das
fol niemals geichehen. — Du aber, Dlef, bift in Gnaden
wieder angenommen. Du follft mein tireuejter Vajalle jein
und der Vollftreder eines ftrengen Befehls. Belteig Dein
Pferd und begleit mid, wir haben Eile, denn heute nod
will ih) mich von Margaret, meiner fürftlihen Gemahlin,
trennen, und Du follft fie binführen in mein altes, feites
Schloß Söborg. Du mubt voraneilen und alles zu ihrem
Empfange bereiten, denn id) will die fhöne rau niemals
wiederjehen!”
Er jprady’3, riß fein Pferd herum und eilte das Ufer
entlang nad) feinem Sonmerihloß, gefolgt von Dlef, den
er zu ſich gerufen.
Die Ritter und Bafallen feines Gefolges ritten langfam
nad. Sie waren tief bewegt von des Königs harten Worte,
denn jie liebten ihre junge, fchöne Königin und Fannten
Woldemars unbeugfamen Willen. — Margaret war verloren. —
Hoh oben auf waldiger Höhe lag einfan und welt:
verlafien ein altergraues, ftattlihe8 Schloß. Die Könige
bon Dänemark liebten Schloß CSöborg auf Selland; e8 war
ein fehr romantisch gelegenes Fledchen Erde: hohe Bäume,
dichte Waldungen, blühende Gefilde. Umfpült vom braufenden
Gewäſſer, Iugte die alte Feite aus ihrem Verfte hervor
wie ein Shüchternes Mädchenauge.
Schloß Söborg war immer einfam gewejen, wenn die
Fürften de Landes nad) kurzem Aufenthalt von ihm gezogen
mit Noß und Troß, aber feitdem die alten grauen Mauern
bor Sahresfrift eine Schöne, jugendliche Gefangene bargen,
war e8 abgeichlofjener als je von jedem Verkehr.
stönig Woldemar hatte fi Wort gehalten; feine Ge-
mahlin Margaret ward verbannt von ihm und nad Schloß
Söborg gebradt. Sie Hatte ihren Kleinen Hofftaat mit-
genommen. Pracht und Reichtum ungab fie, aber für den
König war fie tot. Nie durfte ihr Name genannt werben.
Niemand wußte von ihr. Sie war für alle daheim ver:
ſchollen. |
Als ihr Gott nad wenigen Monaten ihrer Gefangen:
Ihaft ein Zöchterchen fchenkte, weinte fie bei feinem Anblid
bitterlich.
„O!“ rief ſie ſchmerzlich, „es ſieht ſeiner Mutter ſo gleich,
und die Töchter, die der Mutter gleichen, haben kein Glück!“
Königin Margaret ſah nämlich ganz anders aus als
die Frauen Nordlands. Sie war ſchlank und zierlich von
Geſtalt, ihr feines ſchmales Geſicht war von gelblicher Farbe,
weich und durchſichtig wie Wachs, eingerahmt von tief—
ſchwarzen glänzenden Haaren, und die ungewöhnlich großen
dunklen Augen blickten wie durch einen Schleier unter den
langen, ſeidenen Wimpern hervor.
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 784
Die kleine Margaret ward das Ebenbild ihrer Mutter;
ebenſo ernſt und ſtill wanderte ſie neben der trauernden
Königin und ſpielte beſonders gern mit den bunten Blumen,
die am Rande des Schloßhofes blühten. Vornehmlich waren
es die ſchönen, gelben Oſterlilien, die in herrlicher Fülle
duftend das Auge des Kindes erfreuten.
Einſtmals wandelte die Königin mit der kleinen Margaret
auch wieder über den Schloßhof, durch das alte, graue Portal
in den nahen, dichten Wald, als plötzlich eine hohe Greiſen—
geſtalt aus dem Dickicht hervortrat und vor der jungen
Fürſtin ſtehen blieb. Sie ſtreckte den langen, dürren Arm
wie beſchwörend aus und ſagte mit tiefer, ernſter Stimme.
„Grüß Dich Gott, Königin Margaret Fliehe nicht vor
mir und fürchte Dich nicht. Ich bin ein Weib wie Du
und war auch einſtmals jung und ſchön wie Du, aber es
iſt lange her. Dasſelbe Geſchlecht, das Dich gefangen hält
und Dich ungerecht quält, hat auch mir das Herz gebrochen,
aber vor Gram ſtirbt man nicht. Ich bin uralt geworden
und durchſtreife Wald und Feld, Länder und Meere und
kenne die Welt und die Menſchen; die Zukunft liegt vor
meinen ſehenden Augen und viel iſt mir bewußt, was die
Geiſter mir zutragen. Traure nicht, hohe Frau. Dein Leid
hat bald ein Ende. Merk Dir: wenn ſechs Jahre verfloſſen
ſind, ſeit Woldemar ſich von Dir gewandt, wird er Dich
wieder zu ſich erheben; um die Zeit, wenn die Oſterlilien
blühen, wird Dein Geſchick ſich wenden. Und Deine Tochter
wird eine kluge, ſtrenge Regentin ſein und wird es dem
trügeriſchen Geſchlecht heimzahlen mit grauſamer Härte,
was es einſt gegen die Mutter verſchuldet!“
Die Alte ſtand wie ein Bild aus Stein vor der zittern—
den jungen Fürſtin, die, ängſtlich ihr kleines Mädchen an
ſich ziehend, fromm die Hände faltete.
„Wer biſt Du, geheimnisvolle Frau, die mir ſolches
verkündet?“ fragte ſie ſchüchtern.
„Ich heiße Norne, wenn Du meinen Namen wiſſen
willſt, und ſtehe mit guten Geiſtern im Bunde. Kehre heim
in das Schloß und wart ruhig der Dinge. Gedenk der
Oſterlilien; ſie ſind geſegnet und werden Dir Heil bringen!“
Damit neigte die Alte den hochgetragenen Kopf ein
wenig, breitete noch einmal wie ſegnend die Hände über
Mutter und Kind und war im nächſten Augenblick ver—
ſchwunden. Königin Margaret aber ging ſinnend nach der
Burg zurück und betrachtete ehrfurchtsvoll die blüheuden
Lilien, als Vorboten ihres wiederkehrenden prophezeiten
Glückes! —
Jahre vergingen. Da war es wieder einmal ein ſonniger,
herrlicher Frühlingstag und wieder tönten Iuftige Jagd—
börner durch den dichten Wald und mutige Pferde ftamıpften
den weichen, ungleihen Boden. Das gehetzte Wild brach
fid) gewaltfam Bahn und fnifternd fielen dürre Ylfte und
raufchten die Blätter der niederen Gebüice.
Stönig Woldemar hielt große Jagd und verfolgte leiden-
Ihaftlid ein edles Wild. Sn feinem Eifer hatte er fich von
feinem Gefolge entfernt und fah fich plöglich allein in einer
Gegend, die er feit Jahren ftreng gemieben. Dort oben
lag ja in ſchweigender Einſamkeit Edjloß Söborg, befjen
alterögraue feite Mauern auf jein Scheiß fein Schönes, junges
Weib umfhloffen. — Sort, fort von hier! Welche unfidht-
bare Macht hatte ihn bHierhergezogen? Er wandte trogig
fein Pferd, da eilte ein Eleines, reizendes Mädchen ihm nad),
die, die Örmchen um einen vollen Strauß buftender Ofter:
filie geichlungen, mit bittender Stimme rief:
785
„Halt an Dein Pferd, Ritter, und nimm mich mil.
Steh, ich gebe Dir al die fchönen Ofterlilien, aber Dlargaret
will hin zu ihres Vaterd Hof und ihn fragen, warım er
fo Hart zu ihrer Mutter ift umb fie gefangen hält auf
Söborg viele Sahre!*
Und dag Heine, fchöne Kind trat fühn vor das feurige
Pferd und fah mit ihren leuchtenden, bunklen Augen uns
erihroden den König an. — Da ward Wolbemarß Herz er-
weiht. Er erkannte fein eigenes veritoßenes QTöchterchen.
E3 waren die Züge der Mutter, bie ihn entgegenlächelten,
der rau, die mit ftiller, buldender Liebe an ihm gehangen,
an ber er fein Fehl fand. Gerührt nahm er die Lilien
aus der Eleinen Hanb und hob das Stind zu fi auf das
Pferd. Er ritt hinauf in den Schloßhof und erlöfte feine
fronme Gemahlin von ihrer Gefangenihaft und z0g fie
wieder zu fid) an jein Herz und fie lebten miteinander ftill
und friedlich, bis ber Tod fie trennte.
E83 verging aber fein Jahr, wenn der Frühling fam,
daß Königin Dlargaret nicht hinaufwallfahrtete nah Schloß
Söborg, um fid) jelbft die Heiligen Ofterlilien dort zu pflüden,
bie einft ihr Glüd wieder gegründet.
König MWolbemar ftarb, ohne Schweden und Norwegen
wieder mit Dänemark vereint zu haben. Das blieb feiner
Tochter Margaret aufbehalten, wie die Geichichte weiß. —
Sahrhunderte find darüber vergangen. Das alte Schloß
Söborg auf Selland ift längft zerfallen. Selbft die Ruinen
find faum noch zu erfennen. Nur ein Eleineö morjches Gewölbe
der Schloßhofmauer zeigt die Stelle, an der die alte Burg
ber ftolzen Dänenfönige einft über die weiten Lande und
Meere geblidt.
Aljährlid aber blühen in herrlicher duftender Pracht,
in unvergänglider Schönheit die zarten Ofterlilien.
Die jungen Mädchen Dänemarks pflüdten gern bie
heilige Blume im Frühlingsfonnenfchein, denn fie foll eine
geheimnisvolle Kraft in fi) bergen und Frieden bringen.
Morgendild.
Schimmernde See,
Endlos und friedlidy gebreitet —
Über bie fhlunmernde gleitet
Leiſe die Morgenfee.
Zaubert im Glanz
Goldener Sommertagsfrühe
Glitzerndes Funkengeſprühe
Über den Wellentanz,
Himmel und Flut,
Die ſich im Wonnerauſch küſſen
Unter den flammenden Güſſen,
Strahlen in Goldesglut.
Schimmernde See,
Endlos und friedlich gebreitet —
Über die Waſſer hinſchreitet
Leiſe die Morgenfee.
Eliſabeth Kolbe.
m— ———— r r r⸗— — — — — — — — — — — —— — ——
Roman⸗Zeitung 1896.
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
786
Ueue Cyrik.
Beſprochen von Karl Storck.
(aAnm. Bei den großen Büchereingängen an die Roman⸗
Zeitung haben ſich die Neuerſcheinungen, vor allem auf lyriſchem
Gebiete, gehäuft. Es muß deshalb entſchuldigt werden, wenn
auch Werke älteren Datums erſt jetzt ihre Beſprechung finden.)
J.
Es muß Leute geben, die es nicht nur nicht abwarten
können, ſich gedruckt zu ſehen, ſondern die zugleich der Chr:
geiz erfaßt hat, mit mehreren Schriften im Kürſchner zu
prangen. Zu dieſen gehört offenbar
A. Wehrmann, a) Aus meines Scbens Mai. (Ott⸗
mahan i/Schl., Alex. Boden.) b) Gedichte und Erzaͤhlungen.
(Berlin, Wild. SBleib)
Hür adtzehn Gedihtchen und vierzehn Seiten Brofa hat
er zwei Bändchen gebraucht, das ift das einzige, maß Er«
wähnung verdient. Da aber ber „große* Feliv Dahn ihn
ermuntert hat, weiter zu dichten, wird mein entgegengejeßter
Nat wohl wenig nuten.
In hundert Kleinen Lievern, die, nebenbei bemerkt, aud)
auf 40 Duodezjeiten Plat gefunden haben, nicht eine padenbe
Strophe, nit einen tieferen Gedanken gefunden zu haben,
it dad Charalteriftiton für C. Klings BIRIMENBE:
(Leipzig, Robert Slaußner.)
Julius Gersdorff ift fogar gleidy mit drei ale
jammlungen vertreten: a) Natur und DBelt. b) Lauten-
ſpielers SKieder. c) Ellana. Eine Symphonie.
Sie find alle im gleihen Jahre und in demfelben Ver:
lage (Dresden, Morig Näge) eridhienen. Die Sadıe iſt
aber nit fo fhlimm, wie fie fidh anhört, denn die drei
Hefte haben zufammen kaum 150 Seiten Kleinoktav. Warum
brei Hefte, ift nicht einzufehen. Das hätte Doch nur Zwed,
wenn der Preiß dadurd ein fehr geringer würde. Aber der
Verleger jcheint ein feltenes Exemplar von Optimiften zu
ſein, denn die Bändchen koſten zuſammen 6,50 Mk. Wenn
er alſo die Verbreitung der Büchlein hindern wollte, dürfte
es ihm wohl gelungen fein. Ein Schaden iſt es ja nicht.
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich alles ſchon einmal
ſonſtwo geleſen. Aber daß der ſangesfrohe Mann Talent
zum Singen hat, ſei nicht abgeleugnet, und Komponiſten
für Liedertafeln, die ja oberflächliche, aber gut klingende
Texte bevorzugen, finden zahlreiche Ausbeute.
Adolf Holſt feiert als Vorbild ſeiner lyriſchen Ge:
dichte Träumen (Srfurt, Ed. Moos) Cmanuel Geibel.
Die rauichende, voltönende Sprade feines Vorbildes eignet
ihn ja zum Teil, wie aud) deffen Formgewandtheit, aber
es fehlt die ftarf empfindende Seele.
Das ift Überhaupt das Stennwort für fehr viele Ge:
dihtfammlungen. Sprache und Versmaß find meift erträg-
lich, das Iegtere jogar oft mit großer Gewandtheit behanbelt;
aud fehlt e8 den Berfaffern meder an Phantafie, nod) an
Geihmad fie anzuwenden. Was aber fehlt, ift die ftarfe
Seele, die Innerlickeit, die fräftige Perfönlichkeit, die audı
ben abgenusteften Stoff noch eigenartig und ergreifend ge-
ftaltet. WUndererfeitö fehlt allerdings aud) die Phantafie,
bie Neues zeigt, noch nicht Geihauteg fihtbar madjt, originell
ft. SH meine unter Cigenart durdaus nicht Senfation,
jene, ja jet wieder weniger als vor einigen Sahren hervor:
tretende Sudıt, um jeden Preis Neues, Unerhörteß zu bringen.
IV. 55
Tapferkeit, Schweden und Norwegen wieder zu gewinnen
und fo die drei Stönigreiche zu vereinen!“
„Ja!“ ſagte der König überrafht, „das waren. meine
Gedanken Wort für Wort!”
„Vernimm weiter, mein König und Herr, die Antwort
be8 Schidfald auf Deine Trage!“
„Wohlan, ich höre!“
„E83 wird niemals geihehen; fo lange Du am Leben
bift, wird Schweden, Norwegen und Dänemarf getrennt von
einander bleiben, aber wa Dir und Deiner Tapferkeit nicht
möglid; war, wirb der Lift einer Mugen Zrau gelingen und
diefe Frau wird Deine eigene Tochter fein; fie wird bie brei
Neiche wieder vereinen.“
„Niemals!* braufte der König leidenfchaftlid auf. „Das
fol niemals gefchehen. — Du aber, Olef, bift in Gnaden
wieber angenommen. Du foljt mein treuefter Vafalle fein
und der Vollftreder eines ftrengen Befchls. DBefteig Dein
Pferd und begleit mid, wir haben Eile, denn heute nod
will id) mid) von Margaret, meiner fürftlihen Gemahlin,
trennen, und Du follft fie Hinführen in mein altes, feites
Schloß Söborg. Du mußt voraneilen und alles zu ihrem
Empfange bereiten, benn id) will die jhöne rau niemals
wicderjehen!”
Er fprad’3, riß fein Pferd herum und eilte das Ufer
entlang nad) feinem Sommerihloß, gefolgt von Olef, den
er zu fid) gerufen.
Die Ritter und Bajallen jeine® Gefolges ritten langjam
nad. Sie waren tief bewegt von bes Königs hartenı Worte,
denn jie liebten ihre junge, jchöne Königin und kannten
Woldemars unbeugfamen Willen. — Margaret war verloren. —
Hodh oben auf waldiger Höhe lag einfam und welt:
verlafien ein altergraues, ftattlihhe® Schloß. Die tönige
bon Dänemark liebten Schloß Söborg auf Selland; e8 war
ein fehr romantijch gelegenes Fledchen Erde: hohe Bäume,
dichte Waldungen, blühende Gefilde. Umjpült vom braujenden
Gewäſſer, Iugte die alte Fefte aus ihrem Verſteck hervor
wie ein Schüchternes Mädchenauge.
Schloß Söborg war immer einfam gewejen, wenn bie
Türften des Landes nad) kurzem Aufenthalt von ihm gezogen
mit Noß und Troß, aber feitdem die alten grauen Mauern
vor Sahresfrift eine Schöne, jugendliche Gefangene bargen,
war e3 abgejchlofjener als je von jedem Verkehr.
stönig Wolbemar Hatte fi Wort gehalten; feine Ge-
mahlin Margaret ward verbannt von thm und nad) Schloß
Söborg gebradt. Sie hatte ihren Kleinen Hofftaat mit-
genommen. Bradt und Reihtum ungab fie, aber für den
König war fie tot. Nie durfte ihr Name genannt werden.
Niemand wußte von ihr. Sie war für alle daheim ver-
ſchollen.
Als ihr Gott nah wenigen Monaten ihrer Gefangen:
Ichaft ein Zöchterchen fchenkte, weinte fie bet feinem Anblid
bitterlich.
„D!” rief fie fchmerzlich, „es fieht feiner Mutter jo gleich,
und die Töchter, die der Mutter gleichen, haben fein Glüd!“
Königin Margaret jah nämlich ganz ander aus als
die Frauen Nordblands. Sie war fchlanf und zierlid) von
Geftalt, ihr feines fchmales Geliht war von gelblicher Yarbe,
weid, und durdfihtig wie Wach, eingerahmt von tief:
fhwarzen glänzenden Haaren, und die ungewöhnlich großen
dunflen Augen blidten wie durd einen Schleier unter den
langen, feidenen Wimpern hervor.
134
Die Heine Margaret ward dag Ebenbild ihrer Mutter;
ebenso ernft und ftill wanderte fie neben der trauernden
Königin und fpielte befonders gern mit den bunten YVlumen,
bie am Rande des Schloßhofes blühten. Vornehmlich waren
es die fchönen, gelben Ofterlilien, die in herrlicher “ülle
duftend da Auge des Kindes erfreuten.
Einftmals wandelte die Königin mit der Kleinen Margaret
auch wicder über den Edjloßhof, durch das alte, graue Portal
in den nahen, dichten Wald, als plöglich eine hohe Greifen:
geftalt au8 dem Didicht hervortrat und vor der jungen
Fürftin ftehen blieb. Sie ftredte den langen, dürren Arm
wie beihwörend aus und fagte mit tiefer, ernfter Stimme:
„Srüß Did Gott, Königin Margaret liche nicht vor
mir und fürdte Dih nit. Sch bin ein Weib wie Du
und war aud) einftmald jung und fhöon wie Du, aber e8
ift Iange her. Dasjelbe Gefdleht, dag Dich gefangen hält
und Dih ungerecht quält, hat auch mir das Herz gebroden,
aber vor Gram ftirbt man nit. Ach bin uralt geworden
und durchftreife Wald und Feld, Länder und Meere und
fenne die Welt und die Menden; die Zukunft Liegt vor
meinen fehenden Augen und viel ift mir bewußt, was bie
Geifter mir zutragen. Traure nicht, hohe Frau. Dein Leid
hat bald ein Ende. Merk Dir: wenn jeh8 Sahre verfloffen
find, jeit Woldenar fid) von Tir gewandt, wird er Tid)
wieder zu fi) erheben; um die Zeit, wenn die Ofterlilien
blühen, wird Dein Gefchid fi) wenden. Ind Deine Tochter
wird eine Huge, ftrenge Negentin fein und wird e8 dent
trügerifhen Geichleht heimzahlen wit graufamer Härte,
was e3 einft gegen die Mutter verjchuldet!“
Die Alte ftand wie ein Bild aus Stein vor der zittern
den jungen Fürftin, die, ängftlih ihr eines Mädchen an
fi) ziehend, fromm die Hände faltete.
„Wer bift Du, geheimnisvolle Frau, bie mir folches
verkündet?” fragte fie Schüchtern.
„sh Heiße Norne, wenn Tu meinen Namen tiflen
wilft, und ftehe mit guien Geiftern im Bunde, Stehre heim
in dba3 Schloß und wart ruhig der Tinge. Gedent der
Dfterlilien; fie find gefegnet und werden Dir Heil bringen!“
Damit neigte die Alte den Hochgetragenen Kopf ein
wenig, breitete noch einmal wie jegnend die Hände über
Mutter und Kind und war im nädjften Augenblid ver:
ſchwunden. Königin Margaret aber ging finnend nad der
Burg zurüd und betrachtete ehrfurchtspoll die blühenden
Lilien, als Worboten ihres wiederkehrenden prophezeiten
Glückes! —
Jahre vergingen. Da war es wieder einmal ein ſonniger,
herrlicher Frühlinggtag und wieder tönten luſtige Jagd—
hörner durch den dichten Wald und mutige Pferde ſtampften
den weichen, ungleichen Boden. Das gehetzte Wild brach
ſich gewaltſam Bahn und kniſternd fielen dürre Äſte und
rauſchten die Blätter der niederen Gebüſche.
König Woldemar hielt große Jagd und verfolgte leiden⸗
ſchaftlich ein edles Wild. In ſeinem Eifer hatte er ſich von
ſeinem Gefolge entfernt und ſah ſich plötzlich allein in einer
Gegend, die er ſeit Jahren ſtreng gemieden. Dort oben
lag ja in ſchweigender Einſamkeit Schloß Söborg, deſſen
altersgraue feſte Mauern auf ſein Geheiß ſein ſchönes, junges
Weib umſchloſſen. — Fort, fort von hier! Welche unſicht—
bare Macht hatte ihn hierhergezogen? Er wandte trotzig
ſein Pferd, da eilte ein kleines, reizendes Mädchen ihm nach,
die, die Ärmchen um einen vollen Strauß duftender Oſter⸗
lilie geſchlungen, mit bittender Stimme rief:
785
„Halt an Dein Pferd, Nitter, und nimm mid mit.
Sieb, ic) gebe Dir all die fhönen Ofterlilien, aber Margaret
will hin zu ihres Vaters Hof und ihn fragen, warım er
jo Hart zu ihrer Mutter ift und fie gefangen hält auf
Söborg viele Jahre!“
Und daß Lleine, Schöne Kind trat kühn vor das feurige
Pferd und jah mit ihren leuchtenden, dunklen Augen uns
erihroden den König an. — Da warb Woldemarg Herz er-
weiht. Er erkannte jein eigenes verfioßenes Töchterchen.
E3 waren die Züge ber Mutter, die ihn entgegenlächelten,
ber Frau, die mit ftiller, duldender Liebe an ihm gehangen,
an ber er Fein Fehl fand. Gerührt nahm er die Lilien
au8 der Fleinen Hand und hob das Kind zu fih auf das
Pferd. Er ritt hinauf in den Schloßhof und erlöfte feine
fronıme Gemahlin von ihrer Gefangenihaft und zog fie
wieder zu fih an fein Herz und fie lebten miteinander ftill
und friedlich, bis der Tod fie trennte.
3 verging aber fein Zahr, wenn der Frühling kam,
dag Königin Margaret nicht hinaufwallfahrtete nach Schloß
Söborg, um fid) felbft die heiligen Ofterlilien dort zu pflüden,
die einft ihr Glück wieder gegründet.
König Wolbemar ftarb, ohne Schweden und Norwegen
wieder mit Dänemark vereint zu haben. Bas blieb feiner
Tochter Margaret aufbehalten, wie die Geihichte weiß. —
Jahrhunderte find darüber vergangen. Das alte Schloß
Söborg auf Selland ift längft zerfallen. Selbft die Ruinen
find kaum nod) zu erfennen. Nur ein Kleines nıorfches Gewölbe
der Scloßhofmaner zeigt die Stelle, an der die alte Burg
der ftolzen Dänentönige einft über die weiten Lande und
Meere geblidt.
Aliährlid aber blühen in herrlicher duftender Pradt,
in unvergänglider Schönheit die zarten Ofterlilien.
Die jungen Mädchen Dänemarks pflüdten gern die
heilige Blume im Srühlingsfonnenfcein, denn fie foll eine
geheimnispolle Kraft in fich bergen und Frieden bringen.
Worgenbild.
Schimmernde See,
Endlos und friedlich gebreitet —
über die ſchlummernde gleitet
Leiſe die Morgenfee.
Zaubert im Glanz
Goldener Sommertagsfrühe
Glitzerndes Funkengeſprühe
Über den Wellentanz,
Himmel und Flut,
Die ſich im Wonnerauſch küſſen
Unter den flammenden Güſſen,
Strahlen in Goldesglut.
Schimmernde See,
Endlos und friedlich gebreitet —
Über die Waſſer hinſchreitet
Leiſe die Morgenfee.
Eliſabeth Kolbe.
EHER EEIEEIE SIR EBEGERKEHEE EHRE SEN
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
186
Heue Lyrik.
Beiprohen bon Karl Stork.
(Anm. Bei den großen Büdjereingängen an die Romans
Zeitung haben fi) Die Neuerfcheinungen, vor allem auf I yriihem
Gebiete, gehäuft. ES muß deshalb entfchuldigt werden, wenn
aud) Werke älteren Datums erft jegt ihre Belprehung finden.)
I.
Es muß Leute geben, die e3 nicht nur nicht abwarten
können, fid) gebrudt zu fehen, fondern bie zugleid) ber Ehr-
geiz erfaßt hat, mit mehreren Schriften im Kürfchner zu
prangen. Zu diefen gehört offenbar
A. Wehrmann, a) Aus meines Lebens Mai. (Ott⸗
madan i/Schl., Alex. Boden.) b) Gedigte und Erzäßlungen.
(Berlin, Wilh. SBleib)
Für achtzehn Gedichtchen und vierzehn Seiten Brofa hat
er zwei Bändchen gebraucht, das tft da einzige, waß Er—
wähnung verdient. Da aber der „große* Felir Dahn ihn
ermuntert hat, weiter zu dichten, wird mein entgegengejeßter
Nat wohl wenig nugen.
In hundert Heinen Liedern, die, nebenbei bemerkt, auch
auf 40 Duodezſeiten Platz gefunden haben, nicht eine packende
Strophe, nicht einen tieferen Gedanken gefunden zu haben,
iſt das Charakteriſtikon für C. Klings Alebeswonne.
(Leipzig, Robert Claußner.)
Julius Gersdorff ift fogar gleich mit drei Gedicht
fammlungen vertreten: a) Natur und Welt. b) LKauten-
ſpielers SKieder. c) Ellana. Eine Symphonie.
Sie find alle im gleihen Jahre und in demfelben Ver:
lage (Dresden, Morig Näge) erfchienen. Die Sadıe tft
aber nicht fo ihlimm, wie fie fit) anhört, denn die drei
Hefte haben zufammen kaum 150 Seiten Kleinoftav. Warım
brei Hefte, ift nicht einzufehen. Das hätte dody nur Zweck,
wenn der Preis dadurch ein ſehr geringer würde. Aber der
Verleger ſcheint ein ſeltenes Exemplar von Optimiſten zu
ſein, denn die Bändchen koſten zuſammen 6,50 Mk. Wenn
er alſo die Verbreitung der Büchlein hindern wollte, dürfte
es ihm wohl gelungen ſein. Ein Schaden iſt es ja nicht.
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich alles ſchon einmal
ſonſtwo geleſen. Aber daß der ſangesfrohe Mann Talent
zum Singen hat, ſei nicht abgeleugnet, und Komponiſten
für Liedertafeln, die ja oberflächliche, aber gut klingende
Texte bevorzugen, finden zahlreiche Ausbeute.
Adolf Holſt feiert als Vorbild ſeiner lyriſchen Ge⸗
dichte Traͤumen (Erfurt, Ed. Moos) Emanuel Geibel.
Die rauſchende, volltönende Sprache ſeines Vorbildes eignet
ihm ja zum Teil, wie auch deſſen Formgewandtheit, aber
es fehlt die ſtark empfindende Seele.
Das iſt überhaupt das Kennwort für ſehr viele Ge—
dichtſammlungen. Sprache und Versmaß ſind meiſt erträg⸗
lich, das letztere ſogar oft mit großer Gewandtheit behandelt;
auch fehlt es den Verfaſſern weder an Phantaſie, noch an
Geſchmack ſie anzuwenden. Was aber fehlt, iſt die ſtarke
Seele, die Innerlichkeit, die kräftige Perſönlichkeit, die auch
den abgenusteſten Stoff noch eigenartig und ergreifend ge⸗
ſtaltet. Andererſeits fehlt allerdings auch die Phantaſie,
die Neues zeigt, noch nicht Geſchautes ſichtbar macht, originell
iſt. Ich meine unter Eigenart durchaus nicht Senſation,
jene, ja jetzt wieder weniger als vor einigen Jahren hervor⸗
tretende Sucht, um jeden Preis Neues, Unerhörtes zu bringen.
Roman-geitung 1896. IV. 55
187
AYud unter ihr geht das zu Grunde, was im Gediht uns
den Schöpfer besjelben naherüdt — bie Wahrheit.
So ift Karl Stelter, der in feinem Nat fießen Iafr-
zeßnten (Elberfeld, Baedeker) jchon die fiebente Sammlung
feiner Gedichte bietet, gewiß ein jangeöfroher und fanges-
fundiger Dann, dem fich leicht, nur allzuleicht, alles, was
ihm begegnet, zum Liede geitaltet. Uber ed fehlt doc dem
ganzen Starten Bande jene Leibenichaft, jene Gefühlsftärte,
die und fagt, daß die Gedichte nicht um des Dichten willen
entitanden, jondern aus einem unbezwinglichen Drange ges
flojfen find.
Gleihartig find die Gedichte, die Frig Nohrer unter
dem Titel Aus Sadlauds Heim (Dresden, ©. Pierion)
herauögegeben bat. Wie man, um die Heimat Gottfried
Keller und Konrad Ferdinand Meyers zu bezeichnen, den
alten PBhilifter und Weiberfneht Hadlaub auf den Titel
ftellen fann, ift mir unbegreiflih. Auch find Nohrers Ge-
dichte durchaus nicht fo IShwädhlih und ſüßlich, wie die
Lieder des Nachtreterd 1llrih8 bon Liechtenftein. EB ift im
Gegenteil ein biberber Schweizer, der bier jpriht und fingt,
fo fingt, daß man den leinen Schweizer Männerdor fid
unmiltürlidy gleih dazı denkt. Es ift Hausmannsfoft; fie
Ihmedt aanz gut und man verdirbt fi den Magen nidt
daran; für Feinjichmecer aber taugt fie nicht.
Dasjelbe gilt von Franz Dittmars Balladen und
poetifhen Erzäßfungen (Dresden, ©. Pierfon), wenn diefer
auch Ion dadurd, daß er fid auf die erzählende Dichtung
verlegt, zu anderen Tönen gezwungen wird, alß dem Sing:
fang einer Alltagöliebe.e Mande Ballade erhebt fi zu
höherem Schwunge, vor allem jene, wo der Tidhter in des
eigenen Lebens Vergangenheit zu greifen fcheint, mie 3. 8.
in Ulan und Noß bei Mart-la-Tour (S. 39), Der alte
Schmidt (S. 27). Eonft aber ift die Wahl oft auf fehr
Ihwade Stoffe gefallen, und bei manden ift die Schluß:
pointe überbaftet.
Garl Boll ift in den rein Iyrifchen Gedichten ftärfer
als in den Siflorien, monad er fein Bud; genannt hat.
(Wien, Wilhelm Frid.) Unter jenen war mir bejonderd
interefjant, Baraphrajen eines Dichterwortes zu finden, wie
fie die Romantit (Ludwig Tied; am genialften aber Clemens
Brentano in den Variationen bed Goetheichen „Wer nie fein
Brot mit Thränen aß“ im Rheinmärcen) mit VBorltebe pflegte.
Die deutſchen Aichtungen des Aleſſandro Stradelli
(Pſeudonym) zeichnen ſich aus durch kräftige, wohllautende
Sprache und Abgeklärtheit der Empfindung. An Freiligrath
erinnern ſtark die in exotiſchen Ländern ſpielenden Balladen,
wo es nur zu grauſam hergeht, ſo daß man unwpillkürlich
an die Schauermäre von den beiden Löwen, die ſich gegen⸗
ſeitig auffraßen, erinnert wird.
(Das Schauſpiel in ſechs (1) Aufzügen „Das Ver—
lobungsfeſt“, welches den zweiten Teil des Bandes füllt, iſt
zwar ein Zeugnis für die Geſinnungstüchtigkeit des Ver⸗
faſſers, aber durchaus kein Bühnenwerk. Die Handlung iſt
nicht ſtraff genug zuſammengefaßt, die Charaktere dagegen
ſind zu ſchroff gezeichnet, ohne doch ins Heldenhafte, wirklich
Große zu gehen. Die Perſonen eines Ifflandſchen Familien—
ſtückes ſtelzen zum Teil auf dem Kothurn Schillerſcher Tragödie
umher, zum Teil gleiten fie in den Ladjchuhen Sudermanns
iher Salonmeniden.)
Möchte man den Pichter der cben beiprodhenen Sanım=
lung in ariftofratiichen Kreilen fuchen, 10 ift der Verfafler
der JIungdenifhen Lieder (Leipzig, Armed Straud),
Beiblatt der Deutihen Roman-FZeitung.
188
Friedrid Wegener, Landwirt. Das kleine Büchlein ift
deöhalb intereflant, weil fein VBerfafler mit rüdficht3lofer
Offenheit die Schaden der Zeit befämpft. Die Art, wie er
dreinfchlägt, erinnert ja oft genug an den Drefchflegel, und
e3 geht durchaus nicht immer fein zu. Aber ein gefunber
Sinn ftedt in dem Dichter, und ein einfaches, braves Gemüt
offenbart fich in feinen Iyriihen Gedichten.
Mit dem erften Cyflus feiner Seitſonetle, den Immor⸗
telen von zwei Saiferfärgen, bat Th. Maurer (Worms,
Kräuterfhe Buchhandlung) einen guten Griff gethan.
Wir haben jet eine Zeit ftolzer Subilien gefeiert. Aber
e8 tft Doch noch eine Frage, welde Tage für unfere Volfs-
jeele von tieferer Bedeutung waren, jene Zeit triumphierender
Straft, oder das Jahr, das zwei SKaijer fterben jah, deren
einer den dem deutichen Wolfe fo heiligen Begriff „Pflicht“
in die Worte Heidete: „Sch habe feine Zeit, müde zu fein,“
der andere da® vanitatum vanitas irdiiher Herrlichkeit ung
vorlebte; der aber auch zeigte, wie der Sammer diefer Herr:
Iichfeit mit Größe zu tragen ift: „Lerne zu dulden, ohne zu
Hagen.“ — Leider entiprehen die Gedihte durchaus nicht
dem Stoff. Ob die im Deutihen immer etiwa8 gemachte
Form bes Sonettes für bie fchlichte Größe des Gegenftandes
paßte, bleibe dahingeftelt. Sedenfalls Hat Maurer die Form
geradezu mißhandelt; und wo der Stoff al® folder nidt
wirft, vermag der Bearbeiter Leinen tieferen Eindrud zu
erzielen.
Ein Zeitbuh find aud) Wilhelm Weigands Züge
fteder. (Münden, Karl Merhboff) Kampf gegen die
Hohlheit, Oberfläblidhkeit und unter Wohlanftändigfeit ich
berbergende Verderbtheit unferer Zeit ift des Werfafiers
Parole, der jhonungslos zufhlägt. Und Weigands Schwert
ift Scharf von Wis und Geift und heiligem Zorn. Aber e8
zeigt. fih doch auch wieder der Menichenfreund in Dielen
zornmütigen Gedichten. E8 fommt bod) wieder eine beflere
Zeit! Wann? Wer kann das jagen, aber die Anzeichen
einer höher jtrebenden Zukunft fan nur der Blinde ver:
fennen.
Dem Problem bed modernen Lebens, und befonbers den
ichroffen focialen Gegenfägen in demfelben, wendet fih mit
Vorliebe aud Mar Hoffmann zu. Sn dem vorliegenden
Bande WMorgenftimmen und anderes (München, Albert
& &o.) nehmen biefe Weltitadtbilder allerdings nur einen
beicheidenen Naum ein. Nicht zum Schaden ded Ganzen.
Der Dichter zeigt fih hier ald phantalievollen, glänzenden
Lyriker, der mit hinreißendem euer vom Siege der lichten
Mächte über die dunfeln zu fingen weiß. Manch Ichlichtes
Lied von Liebesglüd hat ihm Frau Minne eingegeben, und
in beredten Worten ftrömen die lagen eincs Einfamen au®.
Zu dem Geidtbuhe SHcKmetlerlinge (Göttingen,
Dieterihihe Verlagshandlung), haben zwei fehr vers
ichieden geartete Dichter beigefteuert. Carl von Arns—
waldt und Albredt Mendelsfohn=-Bartholdy. De
erite fit Gefühlslyrifer. Er fagt einmal: „Nur bag, was
eine Seele hat, ift fchön.” Nun, fie eignet feinen innigen
Liedern, die in einen Accord entjagender Wehmut zufanımens
Hingen. liberdie aber eignet dem DVerfaffer große Form
gewanbdtheit, die befonders in dem Abfchnitt „In romanifhen
Formen“ zu Tage tritt, und eine vollflingende Sprade. Sit
fo U. mehr ein Dichter des Herzens, fo herricht bei Mendeld-
fohn=8. der Geift, der Verftand vor, der mit feharfem Auge
dag gejellichaftliche Leben betrachtet. Aud) feine Liebeslieder
haben einen mehr weltmänniſchen Ton, etwas Überlegenes,
a a en a er ee Na nk ar Et En a uf I ram u nee 5——
189
da® aber trogdem nicht unangenehm berührt. Die beiden
Dichter find noch jung — beide wohl Göttinger Studenten —
und ihr ernftes Streben und waderes Können verdienen volle
Anerfennung, fo daß Eleiner Tadel negen einiges (3. 3. M.:B.
Prolog am Telephon. 1.3 etwas cintönige Motive) gern der=
Schwiegen fei.
AUrnswaldt ift auch einer der SHauptmitarbeiter am
Göttinger Mufen-Almanadı für 1896, herausgegeben von
Göttinger Studenten. (Göttingen, Dieterihfche Ver—
lagsbuhhandlung.) Die andern find 9. dv. Engel, €.
Mönteberg, Graf Hardenberg, E. vd Sterferint und B. Wie:
mann. Dem Wunfch, den das Motto audfpridht:
„Rehmt nit den Zolitod glei) zur Hand
Und fpredt von größer oder fleiner,”
jei um jo lieber mwillfahren, al® alle mindeftend die Ans
erfennung ihres Streben® verdienen. Soldhe Ericheinungen
find um jo willlommener, wenn fie von Studenten aus
geben, die fich ja leider zum großen Teil fo leidht von
tdealem Sunftftreben abbringen lafjen; entweder büffelnde
Streber oder „flotte* Burichen werden, bie das Lied: „In
die Kneipen laufen, und fein Geld verjaufen, tft ein hober,
herrlicher Beruf,“ nur zu getreu befolgen.
Das Buch macht durchweg einen guten Eindrud. Hervor⸗
gehoben ſeien B. Wiemanns novelliſtiſche Skizzen und die
fräftigen Balladen Serferints. Graf Hardenberg hätte ſein
unverkennbares Überſetzertalent etwas anderem zuwenden
können, als Byrons Gefangenem von Chillon, den uns der
Überſetzergilde Meiſter Gildemeiſter ſo herrlich geſchenkt hat.
Das ſchönſte Blatt füge ich dem Kranze zum Schluß
ein: Ludwig Jacobowskys neue Gedichte Aus Tag und
Traum. (Berlin, S. Calvpary & Co.) Das iſt ein ſchönes
und reiches Buch; eines jener Bücher, die man auf ſeinem
Tiſche liegen hat, es immer gleich bei der Hand zu haben.
Es liegt über dem Ganzen jener Stimmungsduft, der ſich
ſo ſchwer analyſieren läßt, oder beſſer, dem man nicht nach⸗
forſchen darf noch will, dem man ſich hingeben muß, wie
dem Zauber eines Chopinſchen Nocturnos. — Hoffentlich
thun es ſehr viele. Der Verfaſſer, deſſen Werke ein ſtetes
Vorwärtsſtreben bekunden, verdient es.
Verm iſchtes.
Die zerriſſene Schleppe. (Aus dem Ruſſiſchen) Ein
ſehr elegant gekleidetes Ehepaar paſſierte die Hauptſtraße
einer ſüdruſſiſchen Stadt.
Der Herr galt als einer der reichſten Kaufleute des
Ortes, und ſeine Frau trug den Reichtum ihres Gatten
gebührend zur Schau.
Die Schleppe ihres Prachtkleides fegte den Fußſteig
entlang.
Da kommt ein junger Lieutenant von den Kaſaner⸗
Dragonern eilig aus ſeiner Wohnung und ſchlägt die Richtung
nach der Kaſerne ein.
Aus dem Fenſter des Hauſes gegenüber grüßt ein
hübſcher Mädchenkopf; der Offizier ſalutiert, entzückt nach
oben blickend — und im ſelben Augenblicke, ratſch: zerreißt
einer ſeiner Sporen das Kleid der Kaufmannsfrau.
„Ich bitte tauſendmal um Vergebung, meine Gnä—
dige!“ rief beſtürzt der junge Mann. „Ich bin untröſtlich
über den angerichteten Schaden; hoffentlich läßt er ſich
wieder gut machen.“
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
790
„Nicht doch, mein Herr!“ ſchreit die Kaufmannsfrau.
„Die Schleppe iſt vernichtet, das Kleid iſt ruiniert.“
„Sie müſſen den Schaden erſetzen,“ ruft der Gemahl hinzu.
„Das werde ich,“ verſicherte der Lieutenant, „hier
meine Adreſſe,“ und er zog ſein Kartentäſchchen; indeſſen
das präparierte Blättchen ward von dem Kaufmanne zurück⸗
gewieſen, welcher ſagte:
„Erſt bezahlen Sie, oder wir laſſen Sie nicht fort.“
„Aber ich bitte Sie, der Dienſt ruft mich. Wenn ich zu
ſpät komme, trifft mich ſtrenge Strafe. Wieviel beträgt
denn der Schaden?“
„Das Kleid iſt neu,“ ſprach die Dame ernſt, „ich trage
es zum erſten Mal und muß daher ſeinen vollen Preis, zwei⸗
hundert Rubel, verlangen.“
„Zweihundert Rubel!“ rief entſetzt der Kriegsmann.
„Mein Jahresgehalt beträgt kaum ſo viel.“
Schon hatte ſich ein Kreis von Umſtehenden gebildet,
welche dem Geſpräche zuhörten.
„So muß ich verlangen, daß Sie ſich mit uns zum
Polizeirichter begeben,“ meinte die Dame.
„Es findet gerade jetzt die Sitzung ſtatt,“ fügte der
Ehegatte hinzu.
„Aber Sie bringen mich in die peinlichſte Verlegenheit,“
flehte der unglückliche Dragoner.
Man parlamentierte noch ein weniges, aber das Che:
paar blieb unerbittlich und drohte mit Arrſtation durch
einen bereits hinzugekommenen Poliziſten, der Lieutenant
mußte endlich den Weg zum Gerichtsſaal antreten.
Der Richter war unbeſchäftigt, ſchon nach wenigen
Minuten hatte man ihm ben Fall vorgetragen. Er ent:
fhied furz und bündig:
„Der Herr Lieutenant muß zahlen oder in die Sculb-
haft wandern.“
„Sofort zu zahlen ift mir unmöglich,“ verficherte der
Herr Lieutenant, „und ift der Preis nicht ein jehr hoher?”
„‚seder fann nadı Belieben feinen Preis für jein Eigentum
ftellen,“ iprad) der Nichter; „übrigen® würde ich jelbft den
Klägern raten, menichlicd zu handeln und den Offizier nicht
unglüdlic zu machen.“
Ein Beifallggemurmel ertönte von den Bänken des
zahlreich verfammelten Publikums.
Der Kaufmann flüfterte einige Zeit mit feiner Frau; er
Ihien zur Milde geneigt zu fein, aber fein Zureden warb
mit energiihenm SKopfichütteln zurüdigemwieien.
„Da8 Recht möge feinen Lauf nehmen,“ rief endlich
ärgerlich die Zrau. „Herr Richter, ich bitte, Daß weitere zu
veranlaſſen.“
„Einen Augenblick,“ klang eine tiefe Baßſtimme da—
zwiſchen, und ein alter Herr, mit vielen Ordensbändern ge—
ſchmückt, trat vor den Richtertiſch.
„Ich bin der penſionierte General Miloradowitſch; Herr
Lieutenant, wollen Sie die zweihundert Rubel als Darlehn
von mir annehmen?“
„Wie dürfte ich das, Ercellenz,“ fagte der junge Mann,
„id bin vielleicht in meinem ganzen Leben nicht imftanbe,
das Geld zu beichaften.“
„Sie werden e3 mir bald wiebererjtatten können,“ meinte
der General und jagte dem Dragoner einige Worte ins Ohr.
Das Gefiht des Angeklagten hellte fih jchnell auf.
„sh nehme da8 Darlehn an,“ ipradı er, die ihm
bon dem alten Herrn bargereihten Staffenicheine an die
Dame übergebend.
791
Diejelbe wollte, ihrem Gemahl den Arm gebend, den
Gerichtsſaal verlaſſen.
„Nur eine Kleinigkeit noch,“ rief der Offizier. „Ich
bitte den Herrn Richter, mir zu meinem Eigentum zu verhelfen.“
„Wieſo?“ fragte der Polizeirichter.
„Das Kleid gehört jetzt mir, ich habe es bezahlt“
„Es ſoll heute noch an Ihre Adreſſe abgeſandt werden,“
bemerkte wegwerfend die Frau, „da Ihnen an dem Fetzen
zu liegen ſcheint.“
„Nicht doch, meine Gnädige, auch ich bin zu dem Ver⸗
langen berechtigt, daß die Sache ſofort abgemacht werde.
Wollen Sie mir gefälligſt mein Eigentum übergeben? Ich
habe Eile.“
Nur mit Mühe ward das im Zuhörerraum entſtehende
Kichern unterdrückt.
„Aber ich kann doch hier im Gerichtsſaal mein⸗Kleid
nicht ausziehen!“ rief purpurrot vor Scham die Kaufmannsfrau.
„O, es iſt jetzt mein Kleid,“ entgegnete kaltblütig der
Offizier.
Der Mann verſicherte nochmals verlegen, daß das Kleid
ſofort zugeſandt werden ſolle, denn es könne doch nur ein
kleiner Scherz ſein, daß ſeine Frau zur Entkleidung hier
im Gerichtsſaal aufgefordert werde.
„Ich ſcherze nicht im geringſten.“ verſicherte der Offizier,
„und bitte den Herrn Richter jetzt meinerſeits, nunmehr das
weitere zu veranlaſſen.“
Der Richter winkte dem Gerichtsdiener, einem bärbeißigen
alten Schnauzbart, der mit militäriſchem Paradeſchritt auf
die Dame losmarſchierte. Die Heiterkeit im Zuhörerraum wuchs.
„Das Verlangen iſt berechtigt,“ ſprach der Richter
trocken, „der Offizier kann die ſofortige Entgegennahme ſeines
Eigentums beanſpruchen. Weigern Sie ſich deſſen?“
„Natürlich,“ knirſchte die Frau, „nie und nimmermehr
werde ich hier mein Kleid ablegen.“
„Halt,“ rief der Kaufmann. „Ich kaufe das Kleid zu⸗
rück. Hier ſind zweihundert Rubel.“
„Das genügt nicht,“ antwortete der Dragoner, die ihm
dargebotenen Scheine zurückweiſend. „Jeder kann nach ſeinem
Belieben einen Preis für ſein Eigentum machen. Das Kleid
koſtet mich wahrſcheinlich Arreſt wegen Dienſtverſäumnis,
ſodann die Gerichtskoſten des ſoeben verlorenen Prozeſſes.
Ich verlange tauſend Rubel.“
Die Zuhörer lachten laut, der Richter gebot energiſch
Ruhe und erklärte:
„Die Forderung iſt unverhältnismäßig hoch, indeſſen
die beklagte Partei braucht ſie nicht anzunehmen. Die Dame
kann ja auf den Zurückkauf des Kleides verzichten und das—
ſelbe hier laſſen.“
„Tauſend Rubel — das iſt unverſchämt!“ ſchrie die
Dame wütend.
„Keineswegs,“ erwiderte höflich der Lieutenant, „auch
gedenke ich nicht etwa einen Profit aus dem Geſchäfte zu
machen. Der ganze Uberſchuß, welcher mir bleibt, ſoll den
Militärwaiſen aus dem letzten Kriege zu gute kommen.
Mit Rückſicht hierauf erhöhe ich den Preis für mein Kleid
nunmehr auf zweitauſend Rubel!“
Der Kaufmann zog die Brieftaſche: „Sie werden das
thun, was ich zu thun beabſichtigte, Herr Lieutenant; hier
ſind zweitauſend Rubel. Die Lektion iſt teuer, aber ſie
wird auch ihr Gutes haben.“
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
792
Und würdevoll ſprach der Richter: „Die Verhandlung
iſt, nachdem ſich die Parteien gütlich geeinigt, geſchloſſen.“
Briefkaſten.
Herrn W. On. in Cl Leider unverwendbar, wenn auch
gut gemeint. — Herrn G. Sch in R. Warm gefühlt, aber
die Eigenart fehlt. — Herrn stud. A. B.in St. III ſoll ge
legentlih Eommen. — Herm H—l. in R. „Das Auge heil“
fol Zommen. Aber unter weldem Namen? — Herrn Th.
N. in T. „Wandlung* und „Altes Leid“ angenommen.
Beide würden noch beijer jein, wenn fie etwaß frapper ges
halten wären. — Frau E. Pr. in & Warm gefühlt, aber
künftleriih unzureichend. — Frl. 3. Sp. in. „Wenn Sie
die Gedichte ablehnen, dann bin id) troftlos.” Die Gedichte
find aber in Yorm,und Inhalt mehr als Eindlih: Alfo muß
ich fie ablehnen. Übrigens: ich wünidye Ihnen, daß Sie im
Leben ntemals über fchwerere Enttäufchungen troftlog zu fein
brauchen. Die Ablehnung werden Sie überwinden Nur
rate ich Shnen, nicht weiter zu dichten, damit Sie nicht allzu
oft „teoftlos” fein müflen. Ihre Unbegabtheit ift faft
genial. — Frau San.:R. D. ın Fr. Nein, Berichte über
den Frauen-Kongreß werde ich nicht bringen. Ob einen
„Epilog“, kann ich Heute nody nicht jagen. — Herrn vd. 2.
auf 9.5. D. Gerne ftellte id) öfter die Beilage aus humoriiti-
ihen und fomtihen Beiträgen zufammen. Xeider aber find
folche fhwer aufzutreiben. Tas meifte, was fih „hHumoriftiich“
nennt, ift einfach) unbraudbar. Dennod) hoffe ich den oft Thon
auh von anderen Leſern ausgeſprochenen Wunſch nächſtens
erfüllen zu können. — Frl. M. V. Braunſchweig. Alles
iſt aus beſter Herzensmeinung hervorgegangen. Das Schluß⸗
wort an die Mütter iſt vortrefflich. Aber trotzdem wirkt das
Ganze zu empfindſam, zu zierlich. Auch die Gedichte, obwohl
„nett“, erheben ſich nicht über den Durchſchnitt häuslicher
Kunſtarbeit. Aber vielleicht gelingt Ihnen ein zweiter Ver:
ſuch in Proſa. — Frau M. Th. in H. Das war 1884. Seit⸗
dem iſt die Zahl der Briefe und Sendungen mindeſtens um
das Zehnfache geſtiegen, und darum iſt es mir unmöglich,
ſchriftlich ein eingehendes Urteil abzugeben. — Frl. M. W.
in R. Ich verkenne nicht, daß die Abſchrift von Gedichten
Zeit koſtet, die verloren iſt, wenn der Papierkorb die Blätter
verſchlingt. Aber trotz allem: es iſt unmöglich, dieſe Tauſende
mißlungener Gedichte zurückzuſenden, denn auch das Schreiben
der Adreſſen macht bei ſolchen Mengen Arbeit und die Koſten
ſind im Jahre ſehr erheblich. — Herrn cand. jur. P. W.
in H. Einige der „Mondlieder“ kommen. Beſten Gruß. —
Frl. R. Fr. in Gr. Nur Kunſtſpielerei; tiefere Begabung
fehlt. — Herrn G. Sch. Ich kann das Gedicht nicht bringen.
Obwohl ſehr gut gemeint, ſchöpft es die Tiefe des Stoffs
nicht aus. — Herrn Guſt. Wein M. Der Gedanke iſt doch
etwas ſchief aufgefaßt. Aber Sie ſcheinen begabt und
können mir gelegentlich neue Verſuche ſenden. — Frau A. Kr.
in H. Sehr herzlich gemeint, aber dichteriſch unzulänglich. —
Auf viele Anfragen: Wie die Verlagshandlung uns
mitteilt, wird der Werderfhe Roman „Schwertflingen“
natürlih aud) in Buchform erfcheinen, und fowohl ungebunden
* a durd) jede Buchhandlung zu beziehen fein. Preis
etwa 1
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— ———
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nenſchule des vette⸗Vereinß).
Deutſche
ämter nehmen dafür Beitelungen an.
beziehen,
18%,
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Eridheint möcentlih zum Preife von 3% A vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bolt.
Durd) ale Buchhandlungen auh in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober.
Ne 51.
Art zu Art.
Noman
von
3. Scyobert.
(Fortjegung.)
Siebenundzmwanzigftes Kapitel.
Maud hatte die Abficht gehabt, ein paar längere
Nachmittagsbefuche zu maden und dem Kutjcher ihre
Befehle übermitteln lafjen, aber der pochende Kopf:
ſchmerz, an dem fie oft litt, ftellte fih mit folcher
Heftigkeit ein, während fie fuhr, daß ihr jchon der
Gedanke, jpreen zu follen, im überbeizten Zimmer
fiten zu müflen, phyfiihe Dual verurfadte. Kurz
vor dem Ziel ließ fie umlehren und eine Stunde im
Stadtpark jpazieren fahren. Sie hatte die Fenfter
berabgelafien und die herbe, Talte Zuft, die eindrang,
that ihr wohl, ebenjo das fait Tautloje Sichfortbe-
wegen des Wagens auf den weihen Wegen. Nach
einer Stunde fühlte fie fih jo erquidt, daß fie ihre
Bejuche wieder ernftlih in Erwägung 3209. Es war
allerdings inzwilchen ſpät geworden, vielleicht war es
bejler, fie verfchob das auf den nädjften Tag und
Ihonte ihre angegriffenen Nerven. Vielleicht fam am
Abend au Fortunat — fie jagte fich noch „vielleicht“
und wußte doch ganz genau, daß er täglih Fam,
aber wenn fie fich jelbft vorher Zweifel einrebete,
batte fie mehr fich zu freuen, wenn er dann ba war.
Sonft dadte fie möglihft wenig über ihre
Empfindungen für ihn nad, jo weit wie möglich
hielt fie alles von fi, was ihr ftörend werden konnte.
Er gehörte in ihr Leben, das war Thatjache für fie,
und mandmal zudte es bejorgt in ihr auf, baß fie
e3 vielleicht auch gar nicht ertragen würde, ohne ihn
zu fein, aber vor jedem weiteren Gedanten jchloß
fie Augen und Geele,
Troß allem und allem war fie ihrer jelbft ficher.
Moraliihde Reinheit, Mangel an jeder Kofetterie
waren ihr einmal angeboren, deshalb gab fie fich
auch furdhtlos diefem Verkehr Hin. Und außerdem
Fortunat! — Auf ihn konnte fie fih ebenjo verlaffen
wie auf fich jelbft.
Roman⸗Zeitung 1896. Xief. 51.
Sie war wieder zu Haufe; aber obgleich fie ein:,
auch zweimal Mlingelte, niemand öffnete ihr. Ärgerlich
darüber, nicht gewohnt, zu warten, faßte fie in bie
Taſche, kaum hoffend, den Sclüffel zu finden, aber
er ftedte zufällig darin, jo daß fie öffnen und ein-
treten konnte.
Die ganze Dienerfhaft mußte das Haus ver:
laſſen haben, im Korridor, in den Zimmern, ja jelbit
in der Küche fand fie feine Menicyenfeele. Sehr ge:
ärgert über bdieje Inverläßlichleit ging fie zurüd,
überlegend, ob fie ihren Mann in feinem Atelier
auffuchen follte. Vielleiht war au der nicht zu
Haufe, oder hatte die Leute beurlaubt. Die Toten-
ftile um fie, die fie nicht empfand, wenn fie Menjchen
in ihrer Nähe wußte, jchien ihr unbehaglih, es
fröftelte fie und fie verlangte nah ihrem Thee.
Eigentlich beinahe ohne ihren Willen betrat fie endlich
den langen Korribor, um Martin aufzujudhen. Aber
fie hatte nur wenige Schritte gemadt, da blieb fie
plöglih laufchend ftehen, gedämpftes Lachen und
Reden Ihlug an ihr Ohr. — Kein Zweifel, es kam
aus der Schwiegermutter Zimmer. — Maud pflegte
ihre Gedanten fo wenig mit der Alten zu beichäftigen,
daß erft immer ein äußerer Beweggrund da jein
mußte, fie daran zu erinnern. Nun befann fie fi,
ob ihre Schwiegermutter wohl Befuch haben könnte,
und wen? Zuzie am Ende, die nachher ihren beißenden
Spott daran Ichärfte?
Vielleicht trat fie wirklich etwas leifer auf als
gewöhnlih, als fie auf der Kolosmatte weiterging,
jedenfalls hielt fie die raufchende Schleppe ihres
Kleides in der Hand. Bielleiht war es aud ihr
Mann, den fie dort fand, in Zuzies Gejellichaft.
Ohne anzuflopfen öffnete fie die Thür. Drinnen
hatte es einen feftlichen Anftrih. Dben am Tiih
thronte Frau Heelen, einen Blumenftrauß vor fidh,
Schüſſeln mit Kuchen, halbgeleerte Taflen ringsberum.
IV. 56
195 Art zu rt.
und vor jeder Tale jaß eines der Mädchen, trintend
und fhmaujend, felbft Friedrich fehlte nicht.
Aber alle bannte ein plößliches, jchredhaftes
Schweigen beim Anblid der Gnädigen, an die niemand
gedadht, die man weit weg geglaubt, und die nun
plöglih auf der Schwelle ftand mit zornig funtelnden
Augen und fih rötendem Gefiht. Niemand wagte
aufzufchreien, niemand zu fliehen wie beim Erjcheinen
des Herrn. Der Reipelt bannte fie an den led,
auf dem fie waren, des Strafgerihts gegenwärtig.
Die Alte roch ganz in fi) zufammen wie ein Häufchen
Unglüd, aber fie warf fchräge, haßerfüllte Blide auf
die Schwiegertochter, die jegt langjam, aber mit allen
Zeichen des Zorns in das Zimmer trat.
„Ss it fein Wunder, daß ih vor der Thür
warten muß, wenn meine Dienftboten bier Felte
feiern! Gehen Sie Jofort auf Zhren Poften, Friedrich,
und Gie, Lina und Anna, in die Kühe. Wo ift
Nina?”
„Nina ift ausgegangen, gnäbdige Frau,” ftotterte
Lina endlid, „und wir haben bier nur Frau Heelens
Geburtstag feiern wollen — wir... .“
„3 babe Sie nicht gefragt, wozu Sie bier
find, e8 genügt mir, was ich jehe,” jagte Maudb mit
zornigem Hohmut. „Geben Sie augenblidlich hinaus.”
Obne ein Wort der Widerrede jchlichen die drei
davon.
„Sie wird uns kündigen,” feufzte Lina draußen.
„Die Alte drinnen wird wohl no ihr Fett
friegen,” meinte Friedrih und gab fih das Air
völligen Gleihmuts. „Mein Himmel, fie fol nur
nicht jold Gelchrei machen, wir find doh aud
Menichen.”
Aber troßdem fie anfingen zu Ichimpfen und
zu bramarbafieren — wohl war ihnen augenblidlich
nicht in ihrer Haut.
Maud war, als die Leute das Zimmer ver:
lafien batten, an den Tiich neben bie Mutter ihres
Mannes getreten, die regungslos fiten geblieben war.
„Was jol das beißen, Mutter,“ fragte fie,
ziemlich beberricht zwar, aber doch jehr deutlich zornig.
„Haben Sie fein Verftändnis dafür, daß Sie Martin
und mir jhuldig find, keine Freundichaften mit unjeren
eigenen Dienftboten zu halten?”
Die Alte blidte in den Schoß und fchmieg
ſtörriſch. Maud rückte ungeduldig an einem Stuhl.
„Haben Sie kein Verftändbnis bafür,” fragte fie
Ihärfer, „daß Sie fih und uns dadurch herabziehen?
Es ift ja Ichredlih, daß dergleichen in einem vor:
nehmen Haufe pajlieren fann! Meine Schwieger:
mutter giebt meinen Dienftboten Kaffeegefelichaften!”
Sie ladte Ihrill auf. Dann fagte fie verächtlid:
„Standalös ift eg — aber . . .“ fie Eniff die Lippen
zulammen und jchmwieg.
Die Alte jah fie giftig an.
„Die Frau Schwiegertochter ärgert fich,” meinte
fie mit höhnifhem Groll, „jamohl! Aber wer kümmert
ih denn bier in dem vornehmen Haufe um mid
altes Weib? Die Lina und die Anna und mand):
mal der Friedrid — die Gnäbdige ift doch zu fein
dazu — und mein Sohn aud.“
Maud warf die Xippen auf.
Roman von H. Schobert.
796
„gu fein! Darüber können Sie nicht urteilen.
Wenn es aber fo ift, ift es Shre eigene Schuld.
Ich bin anfangs freundlich genug zu Jhnen gemwejen,
Sie aber thaten, als wenn Sie fi) vor mir fürdteten.
Freilihd — irgend etwas fein hätten wir uns ja Doc
nie fünnen.”
Die Alte jpudte neben ihren Stuhl auf den
Boden. E8 war der Ausdrud hödfter Galle bei ihr.
Ohne daß fie die Schwiegertochter ganz verftand,
fühlte fie doch die Mikächtlichleit Hindurh, die aus
ihren Worten lam.
„Wenn der Martin ein anderer Mann wäre,”
fagte fie mit höhnifhem Grinfen, „dann möcht’
manches bier im Haufe anders fein. Aber die Gnäbdige
bat ja das Geld, da muß fih ber Mann hübich
duden. Hat es nötig — fehr nötig! Und die alte
Mutter dazu Wozu ift die noch in der Welt.
Schiden Sie mih nur wieder weg, gnädige Frau
Scwiegertocdhter, nur wieder weg — it jo am beiten.”
Sie kreiihte zulegt in ihrer Wut laut hinaus,
wie gewöhnliche Leute tun. Maud, die längft ruhig
geworden war, betrachtete fie halb mit Neugier,
halb mit Widermillen.
„sh möchte mir doch einen anderen Ton aus:
bitten,“ fagte fie kalt. „Bor allen Dingen etwas
ruhiger, leiſer.“
Sie begriff gar nicht, daß fie zu diefem Weibe
jemals Mutter hatte jagen künnen, daß der Sohn
ihr Gatte hieß, jo weltenmweit fühlte fie fih von ihnen
getrennt. „Was ift Erziehung do für ein gutes
Ding,“ dachte fie bei ih, „wie ift fie doch das
einzige Band, das die heterogenften Elemente zu einem
möglihen Zujammenleben binden kann. Erziehung
und Selbitbeberrihung, das fehlt diefen beiden; der
Mutter und au dem Sohn.”
Die Alte hatte die beiden Hände auf ihren Schoß
zu Fäuften geballt, ihre eingejunfenen Augen funtelten,
fie Ichnappte nah Luft. An liebften wäre fie der
gehaßten Schwiegertochter in die Haare gefahren,
aber fie traute dem Frieden dod nicht redt. hr
Sohn könnte fommen und man fie dann binaus:
werfen ohne einen Pfennig Geld, daß fie wieder ums
Leben arbeiten mußte wie früher. Das hätte ihr
nicht mehr bebagt.
„Aljo,” jagte Maud, das Kleid noch höher hin-
aufraffend, „damit wir zu Ende fommen! Jh muß
mir ein für allemal dieje Freundjchaft mit meinen
Dienftleuten verbitten, Die haben nichts bei Shnen
zu fuden.” —
Da mahte Martin, ber das laute Gezänt feiner
Mutter gehört hatte, die Thür auf und fah jehr
überraſcht aus, als er feine Frau darinnen ftehen jah.
Er hatte an alles andere eher als an dieje Möglich:
feit gedacht.
„Komm herein,” fagte feine Frau, fih zu ihm
wendend. „Es ift mir fehr lieb, daß Du ge
fommen bift.”
Er fah unruhig von einer zur andern. Am
liebften hätte er eiligft die Flucht ergriffen, aber dazu
war e3 jeßt zu fpät. So kam er denn verdrofien
näber.
„Ih bin foeben überrafhend nach Haufe ge:
197
fommen und fand unfere fämtlihen Dienftboten zu
einem SKaffeellatich bei Deiner Mutter verfammelt.
Es ift jelbftverftändlih, daß ih das nicht dulbde.
Dienftboten find für uns, da wir fie bezahlen,
Maihhinen, aber nicht Leute, die wir mit uns auf
biefelbe Stufe ftellen und freundichaftli bemwirten,
das würde jchöne Unzuträglichleiten geben. Sage
Deiner Mutter doch, daß Du in diefem Puntt ebenfo
bentft wie ich.”
Er fah auf feine Mutter, die wieder zujammen-
gebudt, ganz apathiich dafaß, als ginge fie alles nichts
an. Etwas wie Mitleid für die Alte erfaßte ihn.
„Sie ift wohl jehr viel allein,“ fagte er be-
‚gütigend. „Sehr viel! Nicht wahr, Mutter?“
Sie fah blinzelnd auf, überrafcht, daß der Sohn
anfcheinend auf ihre Seite treten wollte, dann wilchte
fie mit den Fingern etwas Feuchtigkeit aus ben
Augenwinteln.
„Sehr viel!” Sie nidte vor fih Hin. „Immer
allein, Martin, wenn nicht einmal die Lina oder Anna
hineinfähe. Bon Euch weiß ich nichts.”
Es traf ihn wie ein Vorwurf, denn fie hatte
ja recht, jeit Wochen fah er fie heut zum eriten Mal,
troß der wenigen Schritte, die fie trennten.
„Laß ihr doch das bißchen Vergnügen,” er ftric)
fih unfiher durch die Haare. „Dienftboten find doch
auch Menſchen.“
„In ihrer Sphäre gewiß, — nicht in der unſeren.
Ich bitte Dich, Tino, bedenke doch einmal die Kon—
ſequenzen.“
Er merkte, daß ſie ärgerlich war, trotzdem ſprach
er weiter:
„Mutter gehört aber auch nicht in Deine Sphäre.
Denke nur, auf unſerem Dorf da war es eine Her—
ablaſſung, wenn die Pfarrköchin mit unſereinem ſprach.
Weißt Du noch, Mutter?“
Sie lachte ein bißchen vor ſich hin.
„Da haben wir ſie fortgenommen und laſſen
ſie nun hier allein. — Recht iſt es nicht, Maud.“
Sie klopfte mit der Fußſpitze den Boden. „So
ſorge doch für angemeſſene Geſellſchaft, ich kann das
nicht. Aber meine Dienſtboten bleiben aus dem
Spiel. Mein Gott, daß Du nicht den Takt beſitzeſt,
das einzuſehen.“
„Möchtet Ihr irgend einen Menſchen um Euch
haben, Mutter?“ fragte Heeken nachdenklich, ohne
auf die Worte ſeiner Frau zu achten. „Irgend
einen Menſchen aus unſerem Dorf?“
„Ja, ja, ach ja!“ wimmerte ſie kläglich.
„Aber wen? Wißt Ihr jemand?“
„Die Eva Leitner; wenn die ihre Stelle auf—
geben wollt! — einen Menſchen muß man haben!
Einen Menſchen! Man kann ſich doch nicht gleich
umbringen, weil man ſo lange lebt und allen zur
Laſt iſt.“
„Redet nicht ſo, Mutter, wir werden ſchon für
Euch ſorgen, ſoweit es geht, meine Frau auch — und
nun — ich komme nachher noch einmal wieder,“
ſetzte er haſtig hinzzu, denn Maud hatte ſich zum
Gehen gewandt und er folgte ihr. Ein raſcher Blick
überzeugte ihn, daß fie noch immer geärgert und er:
regt war.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
198
„Du haft wohl einen Augenblid für mich Zeit,”
lagte fie, auf dem SKorridor ftehenbleibend, „Es
Iheint, wir haben miteinander zu reden.”
Er öffnete die Thür zu feinem Vorzimmer, fie
warf fih drinnen in ben erften beften Seflel und
tüßte den Kopf in die Hand. Es fam ganz von
jelbft, daß er fie betrachtete. Die Enifternde Seibe
des Kleides, die unter dem Saum bervorquellenben
Spigen, die ihn einftmals jo gelodt, ber feine Duft,
der fie umgab, das kunftvoll frifierte Haar — freilich
lagen Welten zwilchen ihr und feiner Mutter, dem
Weib aus dem Volle, und jede von ihnen mußte
naturgemäß unter der anderen leiden. Er begriff das
plöglich.
„Du haft den Gedanken angeregt, eine Gejellichaft
für Deine Mutier zu haben. Iſt Dir das Ernft?“
lagte fie plöglich aufblidend.
„Gewiß. Es Tönnte ihr boch mal etwas zu:
oßen, und Du — Du mödteft fie dann mohl
Ihmwerlich pflegen. Sie ift alt. Das dachte ich vor-
bin, als ich fie anfah.”
„Roh einen Menihen ins Haus,” Tagte fie un:
mutig. Den Nahjat dachte fie nur. „Der Di und
Deine Verhältnifie am Ende genau fennt — wie
abſcheulich!“
„Ich will die Eva bezahlen, natürlich — aus
meiner Taſche, Du ſollſt nichts damit zu thun haben,“
verſicherte er eilig.
„Es iſt mir doch nicht des Geldes wegen, das
iſt ja da,“ entgegnete ſie ſcharf, „Du weißt es, daß
ich damit nicht ſpare. Es iſt mir nur um des
Klatſches willen. Die ... Eva heißt fie ja wohl, —
wird den ganzen Tag mit den Dienſtboten zuſammen⸗
ſtecken — und ich dulde einmal keine Familiaritäten
in meinem Hauſe, ich müßte mich ja vor meines—
gleichen ſchämen.“
Er hob den Kopf und ſah ſie aufmerkſam an.
— meinſt, Du müßteſt Dich unſerer ſchämen, nicht
wahr?“
„Nein,“ entgegnete fie heftig, denn der wieder:
fehrende Kopfichmerz peinigte fie bis zur Raſerei
und machte fie noch gereizter. „Das meine ich nicht!
Dich Fennt man, und Deine Mutter tennt niemand.
Was ich aber aus tiefiter Seele verabjcheue, ift das
Hintertreppengeihwäß, unddas wird überhand nehmen,
wenn noch jemand aus Eurem Dorf da if. Deine
Mutter mit ihrer Vorliebe für meine Dienftboten
macht mich ja unretibar lächerlich, wenn — e8 jemand
ahnte!“
„Du möchteſt ſie am liebſten fort haben?“
Sie ſchwieg und blickte zu Boden. Wäre ſie
ehrlich geweſen, hätte ſie ja geſagt.
„Es iſt meine Mutter,“ ſagte er nach einer
Pauſe und wiegte einen Bleiſtift auf der Fingerſpitze.
„Ich habe ſie Dir nicht verheimlicht.“
„Aber entſinnſt Du Dich, was ich ſagte? Zu
viel Pietät iſt thöricht und ſtraft ſich.“
Er ſchwieg, und bleiern laſtete die Stille auf
beiden.
„Alſo — wie ſoll es werden?“ fragte er nach
einer ante und bob den Kopf. Er hatte die vage
Vorftelung, daß, mwenn fie feine Mutter fortwies,
199 Art zu Art.
er auch geben mußte, obgleich ihm die alte Frau
nichts war.
Sie fprang plöglih auf.
„Zhue, was Du willit; nur behalte ich mir die
legte Enticheivung vor, wenn die Perjon nit in
meinen Haushalt paßt. Ach werde nicht ungerecht
jein, Zino, aber irgend etwas gefallen laß id) mir
nit. Und nun gute Naht, ih muß mich nieder:
legen, mein Kopf jcehmerzt zu jehr.“
Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern
a und that wirklich, wie fie gejagt, fie legte fi
nieder.
Er nahm Hut und Stod und jchlenderte ins
Freie, es wurde Shon Frühling. Am Abend faß er
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum erften
Mal das Sift und die Galle, die der Alten über die
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die
vornehme Schwiegertochter genährt, bradh fih unauf:
baltiam Bahn. Martin fchüttelte abmehrend ben
Kopf. Er begriff doch alle diefe Frauen jo gar nicht.
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö:
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne,
und er war froh, als er wieder allein war.
Maud ftand am nädften Tage gejund auf,
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang
liegen. That fie es aus Bosheit oder fehlte ihr
wirklih etwas, niemand konnte dahinter kommen.
Sedenfalle gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie endlich
übellaunig wurden und den Dienft fündigten, aber
die Alte ftand nit auf. Da war es Maud, bie
ihren Mann an fein Vorhaben erinnerte, und er
jegte fih hin und fchrieb an Zojeph Leitner, daß die
Eva zu feiner Mutter fommen möchte. Nach langer
Zeit erft befam er Antwort, daß die Eva bereit fei,
ihren neuen Dienft bei ber alten Heelen in vier
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge-
ftorben ei.
„Bott jei Dank,” jagte Maud. „Wenn ich ver:
reift bin, können fie fih dann miteinander einleben
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.“
Ahtundzwanzigites Kapitel.
Der Sommer war |pät, aber mit aller Macht
gefommen. Maud, die fi abgelpannt und nicht wohl
fühlte, machte jehr energisch Reifepläne, fie wollte
fort, fobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo
ziemlich fertiggeitellt waren, fagte fie eines Abends
zu ihrem Mann:
„Du tommft doch mit, Tino?”
Er hatte einen Kunftbericht gelefen und legte
nun Die Zeitung beifeite, auch er jah bleich und hohl:
äugig aus.
„sh dente nicht,” erwiderte er.
„Aber bedenfe, wir haben feine Hochzeitsreife
gemadt; das läßt fi jet nachholen. Du arbeiteft
ohnehin nicht.”
Er Eniff das Blatt zufammen, ganz accurat
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges.
ann ——
Roman von H. Schobert.
800
„Das mit der Hochzeitsreile,” ſagte er dabei,
„das möchte jet doch wohl zu |pät fein.“
„Aber die Xeute werben fich wundern, wenn ich
jo lange allein fortreife. Ych will doch drei Monate
bleiben.”
Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einfamleit, ohne Atelier,
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute
gejchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein,
nein, das ging über fein Können hinaus.
„zaß die LXeute doch reden,” fagte er.
„3a, Dir ift das gleichgültig.“
„Sage, daß ich arbeiten wil. Im Winter bin
ih To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mih —-:
und biefe Menge Menihen! Wenn ich erft allein
bin, wird das Arbeiten auch gehen.”
Ein Fleines molantes Lächeln ftahl fih um
ihren Mund. Sie dachte jeßt wie jeder, daß er nur
bequem gemorden und das Lotterleben auszunußen
jucde, das fie ihm gejchaffen.
„IH will in die Schweiz,” fagte fie nach einer
Pauje. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung
gut, Du fiehft jchleht aus.“
„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, —
zu Fuß. Laufe mid einmal tüdtig aus. Das giebt
Lebensmut und Kraft.”
Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf.
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein,
ohne Zwang, in feinem MWolldemde und dem älteften
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne
Manichetten, einen Knotenftod in der Hand — in
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!!
„Du Fannft ja Fortunat mitnehmen,” jehlug er
vor, denn die Glüdjeligkeit, die ihn durdftrömte,
machte ihn auch nachgiebig gegen feine Frau; aber
Maud runzelte die Stirn.
„Du jollteft das nicht immer jagen, Tino. Wir
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine jo
alte Frau, daß fich der Klatich nicht mehr an mid)
heranwagt.“
Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig
Jahren zukam.
„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig.
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“
Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging
langſam zu ihm hin.
„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird
Dich nicht täuſchen.“
Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr
in das Geſicht zu ſehen.
„Wann willſt Du reiſen?“
„Ende der Woche iſt alles bereit.“
Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen,
im letzten Moment beſann er ſich noch.
„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort,
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen.
öV ç — — — ——t — —— — —————— —— —— —
801 Art zu Art.
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am
nächſten Erſten ein.”
„Ich gehe ja auch fort!“ ſagte er, und ihm
wurde zu Mute wie einem kleinen Jungen, dem die
Schulferien nahen, ſo ausgelaſſen luſtig.
„Du wirſt es etwas ungemütlich haben,“ ſagte
ſie bedauernd. „Aber dafür iſt Sommer.“
Da faßte er ſie mit beiden Armen, trug ſie
hoch durch das ganze Zimmer und ſetzte ſie in ihren
Stuhl, dann küßte er ſie derb und kräftig auf den
Mund, ſeine Freude mußte ſich Luft machen. Darauf
erſchraken ſie alle beide etwas, ſahen ſich unſicher an
und lächelten. —
Am letzten Tag vor ihrer Abreiſe kaufte Maud
einen ganzen Arm voll Blumen und fuhr damit zu
Fortunat. Er war ſeit längerer Zeit krank geweſen
und hatte das Haus hüten müſſen, ſo daß ſie ſich
eine lange Weile nicht geſehen; und daß ſie nun
abreiſen ſollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl
geſagt zu haben, erſchien ihr doch zu wenig freund—
ſchaftlich. Sie meinte, ſie wäre ihm das nach ihrem
faſt täglichen Verkehr ſchuldig. Daß ſie auch ihr
Herz hinzog, hatte ſie ſich gegenüber nicht Wort.
Pflichtfchuldigſt teilte ſie aber vorher ihrem Mann
ihr Vorhaben mit; ſie war nicht die Frau der heimlichen,
inkorrekten Handlungen. Er war fehr damit ein-
veritanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß
er in den näditen Tagen einmal vorjehen wollte. —
Sie Ihidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als
fie bejahenden Bejcheid erhalten, raffte fie alle zu:
lammen und verihwand jeidenraufhend und duftend
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen,
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte.
Fortunat empfing Maud in der geöffneten
Thür.
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt.
„Meine liebe gnädige Frau!“
Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—⸗
wegung.
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir
ſo gefehlt die letzte Zeit.“
Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr
blaß jegt, fjondern rot überflammt, jein Puls ging
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor gejagt haben. —
Sie waren hineingegangen, und Maud begann
die Blumen in eine jehr Schöne venetianifhe Kryftall-
vafe zu ordnen, dabei warf fie ein paar Blide in
dem Raum umber. Es war ba8 erite Mal, daß fie
ihn wieder betrat jeit damals mit Quzie und
Emil, nun faft ein Sahr ber. Sie dadıten beide
daran, beide mit einer gewiflen ftilen Reue.
„Wie fol ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß
Sie zu mir gefommen find,” fagte Fortunat endlich
mit halber Stimme. „Seden Tag fürchtete ich, Sie
Roman von H. Schobert.
802
fönnten abreiien — es könnte Zhr legter bier jein —
und ih würde Sie dann nicht wiederjehen vorher!
Ale Tage peinigte ih den Doktor, und morgen
wäre ih ohne feine Erlaubnis gelommen.“
„Morgen bin ich fort,” fagte fie und Elopfte
die Handichuhe gegeneinander, um Blätter und Feucdhtig:
feit zu entfernen, ehe fie fich nieberließ. „Aber ich
wollte vorher doch einen herzlihden Händedrud mit
Yhnen taujchen, ehe ich gehe. Drei Monate ift eine
lange Zeit.”
„Sa, die Stadt wird leer!” meinte er und ſah
nachdenflih auf den Teppich.
Site ſah ihn ſchalkhaft an.
„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen—
wärtige hat Rechte.“
„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu:
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“
„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich
bin eine geſellige Natur.“
„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“
„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht,
und es wäre auch ſo geworden.“
„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn ich
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?“
Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn
flüchtig an.
„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“
„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwider—
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum
den Mut zu einem Nein hatte.
Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein,
die ſie ſich näher zog.
„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“
ſagte ſie mit hartem Ton.
„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück⸗
ſelig auf. — Sie ſprang empor.
„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ...
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ...
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied
ſie ſeinen Blick.
Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau,
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte
weinen mögen.
Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte
ſich leicht gerötet.
„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken—
7199 Art zu Art.
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau
nichts war.
Sie Iprang plöglih auf.
„Thue, was Du willit; nur behalte ich mir die
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in
meinen Haushalt paßt. Ich werde nicht ungerecht
fein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir
nit. Und nun gute Naht, ich muß mid) nieder:
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.“
Sie ging hinaus, ehe er no ein Wort erwidern
u und that wirklich, wie fie gelagt, fie legte fi
nieder.
Er nahm Hut und Stod und fchlenderte ins
Freie, e8 wurde jhon Frühling. Am Abend faß er
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum eriten
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die
vornehme Schwiegertodhter genährt, brach fih unauf:
haltfam Bahn. Martin jchüttelte abwehrend den
Kopf. Er begriff doch alle diefe Frauen jo gar nicht.
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö:
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne,
und er war frob, als er wieder allein war.
Maud ftand am nädften Tage gejund auf,
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang
liegen. That fie e8 aus Bosheit oder fehlte ihr
wirklich etwas, niemand konnte dahinter fommen.
Sedenfalle gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen
mußten pflegen und fochen und wachen, bis jie endlich
übellaunig wurden und den Dienft fündigten, aber
die Alte ftand nicht auf. Da war e8 Maud, bie
ihren Mann au fein Vorhaben erinnerte, und er
jegte fih Hin und fchrieb an Zofeph Leitner, daß die
Eva zu jeiner Mutter fommen mödte. Nach langer
Zeit erft befam er Antwort, daß die Eva bereit fei,
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier
Moden anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge:
ftorben ſei.
„Bott jei Dant,” jagte Maud. „Wenn ich ver:
reift bin, können fie fih dann miteinander einleben
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.”
Ahtundzwanzigites Kapitel.
Der Sommer war jpät, aber mit aller Macht
gefommen. Maud, die fi abgejpannt und nicht wohl
fühlte, machte jehr energifch Reifepläne, fie wollte
fort, jobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo
ziemlich fertiggeftellt waren, fagte fie eines Abends
zu ihrem Mann:
„Du fommit doch mit, Tino?”
Er Hatte einen Kunftbericht gelejen und legte
nun die Zeitung beijeite, auch er jah bleich und bohl-
äugig aus.
„sh denke nicht,” erwiberte er.
„Aber bedenke, wir haben feine Hochzeitsreife
gemadt; das läßt fi jekt nachholen. Du arbeiteft
ohnehin nicht.”
Er Eniff das Blatt zufammen, ganz accurat
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges.
en runs nu
Roman von H. Schobert.
800
„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei,
„das möchte jet Doch wohl zu fpät fein.“
„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich
ſo lange allein fortreife. Jh will doch drei Monate
bleiben.”
Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einjamfeit, ohne Atelier,
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute
geichleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein,
nein, das ging über fein Können hinaus.
„xaß die Leute doch reden,” jagte er.
„a, Dir ift das gleichgültig.”
„Sage, daß ich arbeiten will. Am Winter bin
ih jo nicht dazu gefommen. Alles fo neu um mid —-
und diefe Menge Menſchen! Wenn ich erft allein
bin, wird das Arbeiten au) gehen.”
Ein fleines molantes Lächeln ftahl ih um
ihren Mund. Sie dachte jeßt wie jeder, daß er nur
bequem geworden und das Lotterleben auszunugen
lude, das fie ihm geichaffen.
„IH will in die Schweiz,” jagte fie nach einer
Paufe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung
gut, Du fiehft Ichleht aus.“
„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, —
zu Fuß. Laufe mid einmal tüchtig aus. Das giebt
Lebensmut und Kraft.“
Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf.
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein,
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem älteften
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne
Manichetten, einen Knotenftod in der Hand — in
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann !!
„Du kannft ja Fortunat mitnehmen,” jchlug er
vor, denn die Slüdjeligkeit, die ihn durchitrömte,
madte ihn auch nachgiebig gegen feine Frau; aber
Maud runzelte die tim.
„Du follteft das nicht immer jagen, Ting. Wir
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine fo
alte Frau, daß fih der Klatich nicht mehr an mich
heranwagt.“
Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig
Jahren zukam.
„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig.
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“
Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging
langſam zu ihm hin.
„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird
Dich nicht täuſchen.“
Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr
in das Geſicht zu ſehen.
„Wann willſt Du reiſen?“
„Ende der Woche iſt alles bereit.“
Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen,
im letzten Moment beſann er ſich noch.
„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort,
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen.
801 Art zu Art.
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am
nädhlten Eriten ein.”
„Sb gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm
wurde zu Mute wie einem kleinen jungen, dem die
Schulferien nahen, jo ausgelaflen luftig.
„Du wirft e8 etwas ungemütlich haben,” Jagte
fie bedauernd. „Aber dafür it Sommer.”
Da faßte er fie mit beiden Armen, trug ie
Hoch dur) das ganze Zimmer und jegte fie in ihren
Stuhl, dann füßte er fie derb und Eräftig auf den
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf
erichrafen fie alle beide etwas, jahen fich unfider an
und läcdelten. —
Um legten Tag vor ihrer Abreife kaufte Maud
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit frank gemwefen
und hatte das Haus hüten müflen, jo daß fie fich
eine lange Weile nicht gejehen; und daß fie nun
abreifen jollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl
gejagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund:
Ihaftlid. Sie meinte, fie wäre ihm das nad ihrem
faft täglichen Verkehr Ichuldig.e Daß fie aud ihr
Herz binzog, hatte fie Sich gegenüber nicht Wort.
Prlihtichuldigft teilte fie aber vorher ihrem Mann
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen,
intorrekten Handlungen. Er war jehr damit ein:
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß
er in den nädhlten Tagen einmal vorjehen wollte —
Sie Ihidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als
fie bejahenden Beicheid erhalten, raffte fie alle zu:
lammen und verjhwand feidenraufchend und duftend
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen,
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte.
Fortunat empfing Maud in der geöffneten
Thür.
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt.
„Meine liebe gnädige Frau!“
Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach
ber anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—
wegung.
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir
ſo gefehlt die letzte Zeit.“
Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. —
Sie waren hineingegangen, und Maud begann
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall—⸗
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue.
„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie
Roman von H. Schobert.
802
könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein —
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher!
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“
„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig—
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine
lange Zeit.“
„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah
nachdenklich auf den Teppich.
Site ſah ihn ſchalkhaft an.
„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen:
wärtige bat Rechte.”
„Das dürfen Sie mir doch nicht jagen, gnädige
Frau!” — Und nad einer Paufe feßte er hinzu:
„Es ift alfo bei der Schweiz geblieben?”
„Sa. — Offen geftanden, ich graufe mich etwas
vor ber erften Zeit, jo unbelannt und allein. Ich
bin eine gejellige Natur.”
„Sie werben bald Gefelichaft finden.”
„D verfteht fih, aber ob fie mir bebagt, das
ift die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht
mitlommen? Sch halte mir das jo nett gedacht,
und es wäre auch jo geworben.”
„Gnädige Frau,” jagte er etwas flotternd, z30g
eine Roje aus dem Glaje und jpielte mit ihr. „Menn
mid nun der Arzt auh auf Reifen jhidt! Wenn
ih zufällig nah der Schweiz fäme.... wenn id)
Sie aufjudte..... würden Sie das unpafjend finden?”
Sie hob ganz langlam den Blid und jah ihn
flüchtig an.
„Ih weiß nit. Es ift wohl befjer nicht!”
„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine
einzige Keine Reifeunterbredung —” bettelte er; und
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwiber:
ftehlih, denn es lag dabei etwas jo Kindliches, ans
Herz Sreifendes in Ton und Blid, daß man kaum
den Mut zu einem Nein batte.
Maudb jah von ihm fort in die Blumen hinein,
die fie fih näher 309.
„Tino hat es mir ja auch jchon vorgeihlagen,”
fagte fie mit hartem Ton.
„Nun alfo!! —” Seine Augen leudteten glüd-
jelig auf. — Sie jprang empor.
„Ia, aber begreifen Sie denn das nidt....
weil er es gethan, darum fann ih do nidt . . .
es ift Doch im Grunde genommen unerhört!” Ihre
Stimme, zuerft zornig, fenkte fi bei den lekten
Worten, fie zitterte jogar etwas, und dabei vermied
fie feinen Blid.
Er hatte den Kopf gejentt. Die Nähe der Frau,
die er liebte, in feiner Behaujung, der Blumenduft
beraujähte ihn, und dabei frampfte do ein furdt-
bares Web jein Herz zujammen, jo daß er hätte
weinen mögen.
Sie riß Haftig einen Handfhuh ab und zerbrüdte
mit den Fingern das Batifttuhd. Ahr Geficht Hatte
ih leicht gerötet.
„Es ift ja eigentlih Unfinn,” jagte fie dann
ruhig wie nad) dem Abjchluß einer langen Sedanlen:
199 Art zu Art.
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau
nichts war.
Sie Iprang plöglih auf.
„zhue, was Du willit; nur behalte ich mir Die
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in
meinen Haushalt paßt. ch werde nicht ungerecht
jein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir
nit. Und nun gute Nacht, ich muß mich nieder:
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.“
Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern
a und that wirklid, wie fie gejagt, fie legte fich
nieder.
Er nahm Hut und Stod und fchlenderte ins
Freie, es wurde jhon Frühling. Am Abend jaß er
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum erften
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die
vornehme Schwiegertocdhter genährt, brah fih unauf:
baltiam Bahn. Martin fchüttelte abwehrend den
Kopf. Er begriff doch alle dieje Frauen jo gar nid.
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö:
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne,
und er war frob, als er wieder allein war.
Maud ftand am nädhften Tage gefund auf,
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang
liegen. That fie es aus Bosheit oder fehlte ihr
wirklich etwas, niemand konnte dahinter kommen.
Sedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie enblid)
übellaunig wurden und den Dienft kündigten, aber
die Alte ftand nit auf. Da war e8 Maud, bie
ihren Mann an fein Vorhaben erinnerte, und er
feßte fi hin und fehrieb an Sofeph Leitner, daß bie
Eva zu jeiner Mutter fommen möchte. Nach langer
Zeit erit befam er Antwort, daß die Eva bereit fei,
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzmwilchen ge:
ftorben jei.
„Bott jei Dank,” jagte Maud. „Wenn ich ver:
reift bin, können fie fih dann miteinander einleber
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.”
Ahtundzmwanzigftes Kapitel.
Der Sommer war fpät, aber mit aller Macht
gelommen. Maud, die fich abgelpannt und nicht wohl
fühlte, machte jehr energifch Neifepläne, fie wollte
fort, Tobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo
ziemlich fertiggeftellt waren, jagte fie eines Abends
zu ihrem Mann:
„Du Tommft doch mit, Tino?“
Er hatte einen Kunftbericht gelefen und legte
nun die Zeitung beileite, auch er ſah bleich und hohl⸗
äugig aus.
„3 dente nicht,“ erwiderte er.
„Aber bedenfe, wir haben Feine Hochzeitsreife
gemacht; das läßt fich jett nachholen. Du arbeiteft
ohnehin nicht.”
Er Mniff das Blatt zufammen, ganz accurat
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges.
Roman von H. Schobert.
300
„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei,
„das möchte jegt doch wohl zu jpät fein.“
„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich
jo lange allein fortreife. Ych will do drei Monate
bleiben.”
Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit
jeiner Stau, irgendwo, ohne Einjamleit, ohne Atelier,
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute
geichleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein,
nein, das ging über fein Können hinaus.
„Laß die Leute doch reden,” fjagte er.
„3a, Dir ift das gleichgültig.”
„Sage, daß ich arbeiten wil. YIm Winter bin
ich To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mid —-
und diefe Menge Menden! Wenn ich erft allein
bin, wird das Arbeiten auch gehen.”
Ein Hleines molantes Lächeln Stahl ih um
ihren Mund. Sie dachte jet wie jeder, daß er nur
bequem geworden und das Lotterleben auszunuben
udhe, das fie ihm geihaffen.
„Ih will in die Schweiz,” jagte fie nach einer
Pauſe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Quftveränderung
gut, Du fiehlt Ichleht aus.”
„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, —
zu Fuß. Laufe mich einmal tüdtig aus. Das giebt
Lebensmut und Kraft.”
Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf.
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein,
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem ältelten
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne
Manicetten, einen Snotenftod in ber Hand — in
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!!
„Du fannft ja Fortunat mitnehmen,” jhlug er
vor, denn die Glüdjeligkeit, die ihn Durchftrömte,
machte ihn auch nachgiebig gegen jeine rau; aber
Maud runzelte die Stirn.
„Du Jollteft das nicht immer jagen, Tino. Wir
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine fo
alte rau, daß fich der Klatjch nicht mehr an mid
heranwagt.“
Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig
Jahren zukam.
„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig.
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“
Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging
langſam zu ihm hin.
„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird
Dich nicht täuſchen.“
Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr
in das Geſicht zu ſehen.
„Wann willſt Du reiſen?“
„Ende der Woche iſt alles bereit.“
Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen,
im letzten Moment beſann er ſich noch.
„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort,
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen.
ö — — ——— — ———— — —— —— — — — — — —————— — — —
801 Art zu Art.
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am
nädhlten Eriten ein.”
„Ih gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm
wurde zu Mute wie einem fleinen Jungen, dem die
Schulferien nahen, To ausgelaflen luftig.
„Du wirft es etwas ungemütlid haben,” jagte
fie bedauernd. „Aber dafür ift Sommer.”
Da faßte er fie mit beiden Armen, trug fie
hoch durch das ganze Zimmer und jeßte fie in ihren
Stuhl, dann füßte er fie derb und fräftig auf den
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf
erichrafen fie alle beide etwas, jahen fich unfider an
und lächelten. —
Am legten Tag vor ihrer Abreile kaufte Maud
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit Trank gemelen
und hatte das Haus hüten müflen, fo daß fie fi
eine lange Weile nicht geliehen; und daß fie nun
abreilen jollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl
gejagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund:
Ihaftlid. Sie meinte, fie wäre ihm das nach ihrem
faft täglichen Verkehr Jchuldig.e Daß fie auch ihr
Herz hinzog, hatte fie fich gegenüber nicht Wort.
Vrlihtichuldigft teilte fie aber vorher ihrem Mann
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen,
inforreften Handlungen. Er war jehr damit ein:
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß
er in den nädjlten Tagen einmal vorjehen wollte. —
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als
fie bejahenden Beicheid erhalten, raffte fie alle zu—
jammen und verjchwand jeidenraufchend und duftend
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und
wer fie vielleicht jah, oder fich noch über den Wagen,
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte.
Sortunat empfing Maudb in der geöffneten
Thür.
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt.
„Meine liebe gnädige Frau!“
Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—
wegung.
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir
ſo gefehlt die letzte Zeit.“
Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. —
Sie waren hineingegangen, und Maud begann
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall⸗
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue.
„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie
Roman von H. Schobert.
802
könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein —
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher!
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“
„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig⸗—
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine
lange Zeit.“
„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah
nachdenklich auf den Teppich.
Sie ſah ihn ſchalkhaft an.
„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen—
wärtige hat Rechte.“
„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu:
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“
„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich
bin eine geſellige Natur.“
„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“
„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht,
und es wäre auch ſo geworden.“
„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn ich
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?“
Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn
flüchtig an.
„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“
„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwiber:
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum
den Mut zu einem Nein hatte.
Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein,
die ſie ſich näher zog.
„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“
ſagte ſie mit hartem Ton.
„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück—
ſelig auf. — Sie ſprang empor.
„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ...
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ...
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied
ſie ſeinen Blick.
Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau,
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte
weinen mögen.
Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte
ſich leicht gerötet.
„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken—
799 Art zu Art.
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau
nichts war.
Sie Iprang plöglih auf.
„xhue, was Du willit; nur behalte ich mir die
legte Enticheibung vor, wenn die Berjon nicht in
meinen Haushalt paßt. ch werde nicht ungerecht
fein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir
nit. Und nun gute Nacht, ih muß mich nieder:
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.”
Sie ging hinaus, ehe er no) ein Wort erwidern
u und that wirklich, wie fie gelagt, fie legte fich
nieder.
Er nahm Hut und Stod und jchlenderte ins
Freie, es wurde jhon Frühling. Am Abend ja er
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum eriten
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen bie
vornehme Schwiegertochter genährt, bradh fih unauf:
baltiam Bahn. Martin jchüttelte abmwehrend den
Kopf. Er begriff doch alle dieje Frauen jo gar nidt.
Meder das Schimpfen jeiner Mutter noch die Empö:
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne,
und er war froh, als er wieder allein war.
Maud ftand am nädften Tage gejund auf,
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang
liegen. That fie e8 aus Bosheit oder fehlte ihr
wirklich etwas, niemand konnte dahinter fommen.
Sedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie endlich
übellaunig wurden und den Dienft kündigten, aber
die Alte ftand nit auf. Da war e8 Maud, die
ihren Mann au fein Borhaben erinnerte, und er
fegte fich Hin und jchrieb an Kofeph Leitner, daß die
Eva zu feiner Mutter fommen möchte. Nach langer
Zeit erit befam er Antwort, daß die Eva bereit jei,
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge:
ftorben ſei.
„Bott fei Dan,” jagte Maud. „Wenn ich ver:
reift bin, Fönnen fie fi dann miteinander einleber
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.”
Ahtundzwanzigites Kapitel.
Der Sommer war jpät, aber mit aller Mad
gefommen. Maud, die fich abgefpannt und nicht wohl
fühlte, machte jehr energifch Neifepläne, fie wollte
fort, jobald wie möglih. Als ihre Toiletten fo
ziemlich fertiggeftellt waren, fjagte fie eines Abends
zu ihrem Dann:
„Du Eoımmft doch mit, Tino?”
Er batte einen Kunftbericht gelejen und legte
nun bie Zeitung beijeite, auch er jah bleih und hohl:
äugig aus.
„Ih denke nicht,” erwiderte er.
„Aber bedenfe, wir haben feine Hochzeitsreife
gemadht; das läßt fich jet nadhholen. Du arbeiteft
ohnehin nicht.”
Er Mniff das Blatt zufammen, ganz accurat
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges.
Roman von H. Schobert.
300
„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei,
„das möchte jegt Doch wohl zu fjpät jein.”
„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich
jo lange allein fortreife. Ych will Doch drei Monate
bleiben.”
Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einjamteit, ohne Atelier,
ohne jeinen Verein — von ihr unter fremde Leute
gejchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein,
nein, das ging über fein Können hinaus.
„zaß die Leute doch reden,” fjagte er.
„3a, Dir ift das gleichgültig.”
„Sage, daß ich arbeiten will. Jm Winter bin
ich To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mih —-
und diefe Menge Menjdhen! Wenn ih erft allein
bin, wird das Arbeiten auch) gehen.”
Ein fleines molantes Lädeln ftahl fih um
ihren Mund. Sie dachte jet wie jeder, daß er nur
bequem geworden und das Lotterleben auszunußen
Jude, das fie ihm geichaffen.
„Ih will in die Schweiz,” fagte fie nad) einer
Baufe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung
gut, Du fehlt Ichleht aus.”
„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, —
zu Fuß. Laufe mich einmal tüchtig aus. Das giebt
Lebensmut und Kraft.”
Eine jonnige Fata Morgana ftieg vor ihm auf.
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein,
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem älteften
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne
Manjcetten, einen Snotenftod in der Hand — in
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!!
„Du Fannft ja Fortunat mitnehmen,” jchlug er
vor, denn die Glüdijeligkeit, die ihn durchitrömte,
machte ihn auch nachgiebig gegen jeine rau; aber
Maud runzelte die Stirm.
„Du follteft das nicht immer jagen, Tino. Wir
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine jo
alte Frau, daß fih der Klatjch nicht mehr an mich
beranmwagt.”
Er fah fie prüfend an, wie fie im Hintergrund
des Zimmers jaß, zwar jehr fein und ätheriich, aber
do jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig
Sahren zulam.
„Das meinte ich auch nicht,” jagte er haftig.
„Aber fieh, Fortunat ift Dir notwendig, ich nicht.“
Sie errötete heftig, dann ftand fie auf und ging
langſam zu ihm hin.
„Ih weiß, daß Du mir vertrauft,” fagte fie
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird
DiH nicht täufchen.”
Er nahm die Hand und Jchüttelte fie, ohne ihr
in das Geficht zu jehen.
„Bann willit Du reilen?“
„Ende der Woche ift alles bereit.”
Er jprang auf, redte die Arme und behnte die
Bruft. Faſt hätte er einen Yubelruf ausgeftoßen,
im legten Moment bejann er fi nod).
„gina und die Köchin gehen,” fuhr fie fort,
„auch Friedrih hat vier Wochen Urlaub, Du mußt
Did dann einrihten, Tino; außer dem Haufe eilen
und Did fonft von irgend wen bedienen lajflen.
En nn
801 Art zu Art.
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am
nächſten Eriten ein.”
„3 gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm
wurde zu Mute wie einem Fleinen Jungen, dem die
Schulferien nahen, jo ausgelaflen Iuftig.
„Du wirft es etwas ungemütlich haben,” jagte
fie bedauernd. „Aber dafür ift Sommer.”
Da faßte er fie mit beiden Armen, trug Tie
hoch durch das ganze Zimmer und jegte fie in ihren
Stuhl, dann Füßte er fie derb und Fräftig auf den
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf
erichrafen fie alle beide etwas, ſahen ſich unficher an
und lächelten. —
Am legten Tag vor ihrer Abreile kaufte Maud
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit Trank gewelen
und hatte das Haus hüten müflen, jo daß fie fi)
eine lange Weile nicht gelehen; und daß fie nun
abreifen follte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl
gelagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund:
Ihaftlih. Sie meinte, fie wäre ihm das nach ihrem
fat täglichen Verkehr jchuldig.e Daß fie auch ihr
Herz binzog, hatte fie fich gegenüber nicht Wort.
Prlihtichuldigkt teilte fie aber vorher ihrem Mann
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen,
intorretten Handlungen. Er war jehr damit ein-
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß
er in den näcdhjlten Tagen einmal vorjehen wollte. —
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als
fie bejahenden Beiheid erhalten, raffte fie alle zu=
jammen und verjchwand jeidenraujchend und duftend
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen,
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte.
Sortunat empfing Maudb in der geöffneten
Thür.
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt.
„Meine liebe gnädige Frau!“
Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—
wegung.
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings: und
Abichiedsgruß ins Haus, Sie Armer,” ſagte Maud
lähelnd und bot ihm ihre duftige Lat. „Sit denn
hr Hals immer noch nicht beifer? Sie haben mir
jo gefehlt die lehte Zeit.”
Er jah fie an. Sein Gefiht war nicht mehr
blaß jet, jondern rot überflammt, fein Puls ging
heftig. „Sieber!“ würde ber Doktor gejagt haben. —
Sie waren bineingegangen, und Maud begann
die Blumen in eine jehr jchöne venetianiihe Kryftall:
vaje zu ordnen, dabei warf fie ein paar Blide in
dem Raum umher. Es war das erite Mal, daß fie
ihn wieder betrat feit damals mit Luzie und
Emil, nun falt ein Jahr her. Sie dadten beide
daran, beide mit einer gemwillen ftillen Reue.
„Wie fol ih Ihnen danken, gnädige Frau, daß
Sie zu mir gefommen find,” jagte Fortunat endlich
mit halber Stimme. „jeden Tag fürchtete ich, Sie
Roman von 9. Schobert.
802
fönnten abreiien — es könnte Ihr leßter bier fein —
und id würde Sie dann nicht wiederjehen vorher!
Ale Tage peinigte ich den Doltor, und morgen
wäre ich ohne jeine Erlaubnis gefommen.”
„Morgen bin ich fort,“ fagte fie und Elopfte
die Handichuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig-
feit zu entfernen, ehe fie fich nieberließ. „Aber ich
wollte vorher doch einen herzlichen Händedrud mit
Shnen taufchen, ehe ich gehe. Drei Monate ilt eine
lange Zeit.”
„sa, die Stadt wird leer!” meinte er und ja)
nachdenklich auf den Teppich.
Sie fah ihn jhalkhaft an.
„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen:
wärtige bat Rechte.”
„Das bürfen Sie mir doch nicht jagen, gnädige
Frau!” — Und nad einer Paufe jeßte er hinzu:
„Es ift alfo bei der Schweiz geblieben?“
„Sa. — Offen geftanden, ich grauje mich etwas
vor ber erften Zeit, jo unbefannt und allein. Ach
bin eine gejellige Natur.”
„Sie werden bald Gefellichaft finden.”
„O verſteht fih, aber ob fie mir behagt, das
ift die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht
mitfommen? ch hatte mir das jo nett gedacht,
und es wäre auch jo geworden.”
„Snädige Frau,” fjagte er etwas flotternd, 30g
eine Rofe aus bem Slaje und fpielte mit ihr. „Wenn
mih nun ber Arzt audh auf Reifen Ihidt! Wenn
ih zufällig nah der Schweiz Täme... . wenn id)
Sie aufludte .. . würden Sie das unpafjend finden?”
Sie hob ganz langlam den Blid und jah ihn
flüchtig an.
„Ih weiß nit. Es ijt wohl befjer nicht!”
„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine
einzige Heine Reifeunterbredung —” bettelte er; und
wenn er das that, war er eigentlich ganz unmider:
ftehlih , denn es lag babei etwas jo Kindliches, ans
Herz Greifendes in Ton und Blid, daß man faum
den Mut zu einem Nein batte.
Maud jah von ihm fort in die Blumen hinein,
die fie fich näher 309.
„Zino hat es mir ja auch jchon vorgeihhlagen,”
fagte fie mit hartem Ton.
„Run alfo!! —” Seine Augen leucdhteten glüd-
jelig auf. — Sie jprang empor.
„Sa, aber begreifen Sie denn das nidt....
weil er es gethan, darum Tann ih do nicht ...
es ift doch im Grunde genommen unerhört!” Shre
Stimme, zuerft zornig, jenkte fich bei den lebten
Worten, fie zitterte jogar etwas, und dabei vermied
fie jeinen Blid.
Er hatte den Kopf gejentt. Die Nähe der Frau,
bie er liebte, in feiner Behaufung, der Blumenduft
beraufchte ihn, und dabei frampfte doch ein furcht-
bares Weh fein Herz zulammen, jo daß er hätte
weinen mögen.
Sie riß haftig einen Handihuh ab und zerdrüdte
mit den Fingern das Batifttuh. hr Geficht hatte
fih leicht gerötet.
„Es ift ja eigentlid Unfinn,” jagte fie dann
ruhig wie nach dem Abjehluß einer langen Gedanken:
799 Art zu Art.
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau
nichts war.
Sie Iprang plöglih auf.
„xhue, was Du willit; nur behalte ich mir die
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in
meinen Haushalt paßt. Sch werde nicht ungerecht
jein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir
nit. Und nun gute Naht, ich muß mich nieder:
legen, mein Kopf fchmerzt zu ehr.“
Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern
— und that wirklich, wie ſie geſagt, ſie legte ſich
nieder.
Er nahm Hut und Stock und ſchlenderte ins
Freie, es wurde ſchon Frühling. Am Abend ſaß er
ein Stündchen bei ſeiner Mutter und hörte zum erſten
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die
Zunge rannen. Der ganze Haß, den ſie gegen die
vornehme Schwiegertochter genährt, brach ſich unauf—
haltſam Bahn. Martin ſchüttelte abwehrend den
Kopf. Er begriff doch alle dieſe Frauen ſo gar nicht.
Weder das Schimpfen ſeiner Mutter noch die Empö—
rung ſeiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne,
und er war froh, als er wieder allein war.
Maud ſtand am nächſten Tage geſund auf,
aber die alte Heeken legte ſich und blieb wochenlang
liegen. That ſie es aus Bosheit oder fehlte ihr
wirklich etwas, niemand konnte dahinter kommen.
Jedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen
mußten pflegen und kochen und wachen, bis ſie endlich
übellaunig wurden und den Dienſt kündigten, aber
die Alte ſtand nicht auf. Da war es Maud, die
ihren Mann an ſein Vorhaben erinnerte, und er
ſetzte ſich hin und ſchrieb an Joſeph Leitner, daß die
Eva zu ſeiner Mutter kommen möchte. Nach langer
Zeit erſt bekam er Antwort, daß die Eva bereit ſei,
ihren neuen Dienſt bei der alten Heeken in vier
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwiſchen ge—
ſtorben ſei.
„Gott ſei Dank,“ ſagte Maud. „Wenn ich ver—
reiſt bin, können ſie ſich dann miteinander einleben
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.“
Achtundzwanzigſtes Kapitel.
Der Sommer war ſpät, aber mit aller Macht
gekommen. Maud, die ſich abgeſpannt und nicht wohl
fühlte, machte ſehr energiſch Reiſepläne, ſie wollte
fort, ſobald wie möglich. Als ihre Toiletten ſo
ziemlich fertiggeſtellt waren, ſagte ſie eines Abends
zu ihrem Mann:
„Du kommſt doch mit, Tino?“
Er hatte einen Kunſtbericht geleſen und legte
nun die Zeitung beiſeite, auch er ſah bleich und hohl:
äugig aus.
„Ich denke nicht,“ erwiderte er.
„Aber bedenke, wir haben keine Hochzeitsreiſe
gemacht; das läßt ſich jetzt nachholen. Du arbeiteſt
ohnehin nicht.“
Er kniff das Blatt zuſammen, ganz accurat
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges.
Roman von H. Schobert.
800
„Das mit der Hochzeitsreiſe,“ ſagte er dabei,
„das möchte jetzt doch wohl zu ſpät ſein.“
„Aber die Leute werden ſich wundern, wenn ich
ſo lange allein fortreiſe. Ich will doch drei Monate
bleiben.“
Entſetzen überfiel ihn. Drei Monate allein mit
ſeiner Frau, irgendwo, ohne Einſamkeit, ohne Atelier,
ohne ſeinen Verein — von ihr unter fremde Leute
geſchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung ſein,
nein, das ging über ſein Können hinaus.
„Laß die Leute doch reden,“ ſagte er.
„Ja, Dir iſt das gleichgültig.“
„Sage, daß ich arbeiten will. Im Winter bin
ich ſo nicht dazu gekommen. Alles ſo neu um mich —
und dieſe Menge Menſchen! Wenn ich erſt allein
bin, wird das Arbeiten auch gehen.“
Ein kleines mokantes Lächeln ſtahl ſich um
ihren Mund. Sie dachte jetzt wie jeder, daß er nur
bequem geworden und das Lotterleben auszunutzen
ſuche, das ſie ihm geſchaffen.
„Ich will in die Schweiz,“ ſagte ſie nach einer
Pauſe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Luftveränderung
gut, Du ſiehſt ſchlecht aus.“
„Wenn Du fort biſt, gehe ich ins Gebirge, —
zu Fuß. Laufe mich einmal tüchtig aus. Das giebt
Lebensmut und Kraft.“
Eine ſonnige Fata Morgana ſtieg vor ihm auf.
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein,
ohne Zwang, in ſeinem Wollhemde und dem älteſten
Anzug, den er beſaß, in alten Stiefeln, ohne
Manſchetten, einen Knotenſtock in der Hand — in
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!!
„Du kannſt ja Fortunat mitnehmen,“ ſchlug er
vor, denn die Glückſeligkeit, die ihn durchſtrömte,
machte ihn auch nachgiebig gegen ſeine Frau; aber
Maud runzelte die Stirn.
„Du ſollteſt das nicht immer ſagen, Tino. Wir
leben hier weder im Paradieſe noch bin ich eine ſo
alte Frau, daß ſich der Klatſch nicht mehr an mich
heranwagt.“
Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig
Jahren zukam.
„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig.
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“
Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging
langſam zu ihm hin.
„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird
Dich nicht täuſchen.“
Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr
in das Geſicht zu ſehen.
„Wann willſt Du reiſen?“
„Ende der Woche iſt alles bereit.“
Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen,
im letzten Moment beſann er ſich noch.
„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort,
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen.
ö ——— —t — — —— ñ ñ ñ ñ rrr— —— — — — — —
801 Art zu Art.
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am
nächſten Erſten ein.“
„Ich gehe ja auch fort!“ ſagte er, und ihm
wurde zu Mute wie einem kleinen Jungen, dem die
Schulferien nahen, ſo ausgelaſſen luſtig.
„Du wirſt es etwas ungemütlich haben,“ ſagte
ſie bedauernd. „Aber dafür iſt Sommer.“
Da faßte er ſie mit beiden Armen, trug ſie
hoch durch das ganze Zimmer und ſetzte ſie in ihren
Stuhl, dann küßte er ſie derb und kräftig auf den
Mund, ſeine Freude mußte ſich Luft machen. Darauf
erſchraken ſie alle beide etwas, ſahen ſich unſicher an
und lächelten. —
Am letzten Tag vor ihrer Abreiſe kaufte Maud
einen ganzen Arm voll Blumen und fuhr damit zu
Fortunat. Er war ſeit längerer Zeit krank geweſen
und hatte das Haus hüten müſſen, ſo daß ſie ſich
eine lange Weile nicht geſehen; und daß ſie nun
abreiſen ſollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl
geſagt zu haben, erſchien ihr doch zu wenig freund—
ſchaftlich. Sie meinte, ſie wäre ihm das nach ihrem
faſt täglichen Verkehr ſchuldig. Daß ſie auch ihr
Herz hinzog, hatte ſie ſich gegenüber nicht Wort.
Pflichtſchuldigſt teilte ſie aber vorher ihrem Mann
ihr Vorhaben mit; ſie war nicht die Frau der heimlichen,
inkorrekten Handlungen. Er war jehr damit ein-
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß
er in den nädften Tagen einmal vorjehen wollte. —
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob
Herr Fortunat fie empfangen könne, fo lange blieb
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als
fie bejahenden Beicheib erhalten, raffte fie alle zu:
Jammen und verihwand jeidenraufchend und duftend
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und
wer fie vielleicht jah, oder filh noch über den Wagen,
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunbderte.
Fortunat empfing Maud in der geöffneten
Thür.
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt.
„Meine liebe gnädige Frau!“
Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—
wegung.
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir
ſo gefehlt die letzte Zeit.“
Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. —
Sie waren hineingegangen, und Maud begann
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall—
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue.
„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie
Roman von H. Schobert.
802
könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein —
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher!
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“
„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig—
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine
lange Zeit.“
„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah
nachdenklich auf den Teppich.
Sie ſah ihn ſchalkhaft an.
„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen—
wärtige hat Rechte.“
„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu:
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“
„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich
bin eine geſellige Natur.“
„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“
„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht,
und es wäre auch ſo geworden.“
„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn id)
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?”
Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn
flüchtig an.
„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“
„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwider⸗
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum
den Mut zu einem Nein hatte.
Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein,
die ſie ſich näher zog.
„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“
ſagte ſie mit hartem Ton.
„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück—
ſelig auf. — Sie ſprang empor.
„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ...
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ...
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied
ſie ſeinen Blick.
Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau,
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte
weinen mögen.
Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte
ſich leicht gerötet.
„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken—
803 Art zu Art.
reihe. „Sind wir in der Schweiz etma andere
Menihen als bier? Doch gewiß nit! Wenn Sie
alfo wollen, fommen Sie mir ruhig nad.”
Er nahm ihre Hand und füßte fie, aber er jagte
fein Wort. Die große Glüdieligleit, die ihn zuerft
durchflutet, war fort.
Sie begann zu plaudern, bald von diefem, bald
von jenem, e& lag ihr daran, eine recht beitere,
barmlofe Stimmung Herzuftellen und feitzubalten,
als er das merkte, half er ihr mit feinem Tall.
„Aber ehe ich gebe,” Tagte fie nad einem Blid
auf die Kleine Gürteluhr, „möchte ich doch noch hr
Atelier jeden. Sie verweigerten uns damals ben
Eintritt. Dder wird es auch entmweiht dadurch wie
bei ung?“
„gür Sie, gnädige Frau, ift es jederzeit offen.”
Sie ftand Ihon auf der Schwelle, jett wandte
fie ihr lachendes Gefiht über die Schulter zurüd
ihm zu.
„Allo au bei Ihnen Beſchränkung? Das iſt
ja ſchrecklich.“
In einer Ecke ſtand, von einem Tuch verhüllt,
etwas, dem man nicht anſehen konnte, was es war,
darauf hefteten ſich Mauds neugierige Augen.
„Darf ich?“ fragte ſie und machte ein paar
Schritte darauf zu.
Er bielt fie zurüd. „Nein! Das iſt in Wahr—
beit mein Heiligtum, mein Altar, an dem ich bete,
die einzige Stelle in der Welt, an der ich Iniee —
laflen Sie mir mein Geheimnis.”
Er hatte jehr erregt geiprodden, man jab, es war
ihm Ernft, denn mit feinen Worten flehten jeine
Augen heiß und leidenihaftlid. Eine Ahnung, was
dahinter verborgen fein konnte, Tam ihr und durch:
Ihauerte fie, fie holte tief Atem.
„So zeigen Sie mir etwas anderes!” Ihre
Stimme Hang gepregt, und ihr Herz jchlug, fie ver:
mied fein Gefiht anzufehen.
„sa. Hier!”
Er zeigte auf eine Heine Gruppe. Benus, die
dem beulenden Amor jeine Pfeile zerbricht. Die
beiden Fäufthen in die Augenhöhlen gedrüdt, ftand
der Kleine Bengel, ein Urbild zorniger Beihämung,
da, und au Venus fchien böfe.
Maud lachte laut auf. Welch föftlicher Humor
in der Eleinen Gruppe, wie urdrollig alle Figürchen,
und daneben welch eminente Kunft im Kleinen.
„3 babe noch nie jo etwas Reizendes gefehen,”
lagte fie und jchlug die Hände wie ein Kind zu:
fammen. „OD, wie entzüdend das it! Fortunat,
weshalb find Sie jo befcheiden?”
Er ladte. „Ih tariere meinen Wert voll:
fommen richtig — und deshalb, gnädige Frau —
deshalb fanı ih auch nah der Schweiz kommen.”
„30,” \agte fie und gab ihm die Hand. „Aber
jagen Sie, würde es Sie auch ftören, wenn eine
Frau — Shre Frau — um Sie wäre, während Sie
arbeiteten?”
Seine Augen nahmen einen jehnenden Aus:
drud an.
„Nein, gewiß nicht. ch denke, das Bewußtfein
———————— — —
Roman von H. Schobert.
804
würde mich beglücken, mich erheben — es käme
freilich auf die Frau an.“
„Nun — Sie müßten ſie lieb haben.“
„Dann — ja dann —“ ſagte er leiſe.
Sie wandte ſich raſch um.
„Kommen Sie jetzt, lieber Freund, es wird
ſpät, ich will nach Hauſe. Eine Blume ſchenken Sie
mir, nicht wahr? Und nun auf Wiederſehen! Auf
frohes Wiederſehen, wo es auch ſei, ob hier oder in
der Schweiz.“
Er küßte ihre Hand, und ſie ging davon, nur
ein kaum merkbarer, undefinierbarer Hauch ihrer
Perſönlichkeit blieb in der Luft zurück.
Fortunat warf ſich auf den Diwan und ver—
barg das Geſicht in den Händen.
Er war ja ſchwer, dieſer tägliche Kampf mit
ſich ſelbſt, dennoch hätte er ihn kaum entbehren mögen,
ſchloß er doch gleichzeitig die Nähe der Geliebten in
ſich. Aber nun ging ſie fort — auf Monate ſogar!
Eiferſucht und das Gefühl tödlicher Verlaſſenheit
nahmen Beſitz von ihm und machten ihn ganz un—
glücklich. — Aber ehe ſie ging, hatte ſie an ihn ge—
dacht. Sie war bei ihm geweſen, ihre Roſen dufteten
zu ihm herüber! — Er ſprang auf, nahm die Vaſe
und fetzte ſie vor die Säule, die den verhüllten Gegen—
ſtand trug, als opferte er mit den reizenden Kindern
Floras. Dann zog er das Tuch herab. Mauds
Büſte ſchaute ihm entgegen, ſprechend ähnlich, ſo wie
er ſie immer vor ſich ſah, im Schlafen und Wachen,
ſo wie er ſie liebte. —
„Ich kann ihr ein Vierteljahr nicht fern bleiben,
ich kann es nicht! Gott helfe mir!“ dachte er mit
einem tiefen Seufzer. —
Neunundzwanzigſtes Kapitel.
Maud war abgereiſt! — In den Prunkzimmern
waren die Möbel in weiße Stoffbezüge geſteckt und
die Kronen verhangen; die Dienerzimmer und Küche
lagen da wie ausgeſtorben, denn Nina hatte ihre
Herrin begleitet und das andere Perſonal war teils
beurlaubt, teils entlaſſen.
Auf den Zehenſpitzen, als fürchte er Geſpenſter
zu wecken, ſchlich Martin Heeken durch die ſtillen
Räume und ſah ſie in ihrer Verzauberung mit einem
Ausdruck ſtolzer Genugthuung an. Wie oft hatte er
ſich in ihnen quälen müſſen, wie oft heimlich mit
den Zähnen geknirſcht, nun lag eine Zeit goldener
Freiheit vor ihm, die er ausnutzen wollte bis zum
—2* ſie mochten hier gebannt zurückbleiben,
und all der Luxus mit ihnen, den er ſo aus Herzens—
grund verabſcheute.
Morgen wollte auch er fort, zu Fuß in das
Gebirge. Nichts mitnehmen als das Unentbehrlichſte
und ſein eigenes Selbſt ſuchen, das ihm unter all
dieſem Tand, dieſem Wuſt von Außerlichkeiten ganz
verloren gegangen war. Er hatte ſo einen tief—
innern Ekel vor allem, was er hier zurückließ, daß
er ſich auch vor Emil verleugnete, als dieſer am
Nachmittag gekommen war, wahrſcheinlich um ihn
805 Art zu Art.
— ⸗ — m — — — — —
— —ñ— —ñ —⸗ — — — — — — ——
wieder zu einer Abendkneiperei anzuregen und ihn
dabei kalt lächelnd um ſeine Entwürfe zu beſtehlen.
Er wollte keins von beiden mehr! Der alte Martin
Heeken regte ſich wieder in ihm, und nur nach dem
ſehnte er ſich.
Seiner Mutter ſagte er nur ein flüchtiges Lebe—
wohl, morgen kam ja die Ev', da war für ſie gut
geſorgt. Außerdem wollte er ia nicht lange bleiben.
Nur erft einmal die Seele rein baden und dann
arbeiten — dann würde er es können, allein und
frei wie er war, das fühlte er.
Es dämmerte Taum, als er fchon fein prächtiges
Haus verließ, dur) das Atelier die Hintertreppe hin-
unter, im MWollhbemd und dem älteften Anzug, ohne
Kragen und Manfcetten, mit derben Schuhen und
Stod, möglichft aller Kulturanforberungen ledig; und
fo glüdlid war er dabei, daß er faft einen lauten
Sauczer getban hätte. — —
Acht Tage wollte er fortbleiben — vier Wochen
waren jchon vergangen. Den Arbeitseifer, der ihn
wieder gepadt hatte nach der langen Zeit der Muße,
zügelte er wie ein raffinierter Sybarit den Appetit,
um ihn immer gemaltiger in fich emporwadlen zu
fühlen, aber nun ging es nicht länger, er mußte nad)
Haufe, um jeden Preis.
Beltaubt, jonnenverbrannt, einem Fechtbruder
im Ausfehen ähnlicher als dem Mann einer reichen
Frau, langte er eines Abends an. Er hatte fi
tüchtig ausgelaufen, fein fräftiger Körper fühlte fich
geftärft, leichter Freifte das Blut in feinen Adern.
Todbmüde warf er fi auf fein Bett und jchlief
traumlos und jriedlih. Als er am nädjiten Morgen
früh aufftand und fi, Talopp gekleidet, wie jeit
feiner Verheiratung niemals, in fein Atelier begeben
wollte, fah er, nachdem er leile die Thür geöffnet,
in dem Vorraum die Geftalt eines weiblichen Wejens
ftehen, iym den Rüden fehrend und eifrig Staub
wiſchend. Sie trug ein kleingewürfeltes Kattunkleid
ohne Beſatz, kurze Ärmel und eine weiße Schürze, die
faſt den ganzen Leib bedeckte. Ihre Bewegungen
waren von auffallender Plaſtik; die runden, weichen
Formen der Hüften und Schultern traten bei jeder
Drehung und Wendung des Oberkörpers prächtig
hervor. Sie hatte blondes, glattgeſcheiteltes Haar
und im Nacken aus dicken Zöpfen ein Neſt geſteckt.
Martin Heelen blieb lautlos ſtehen und be—
trachtete das lebende Bild vor fih. Seine Augen,
bejonders geihärft durh al das fchöne Natürliche,
das er gejehen, erfreuten fi daran. Dabei fragte
er fih gar nicht, wer es fein fünne, der zu jo früher
Stunde jhon auf und fleißig war, aber allmählich
erwadhte ihm eine Erinnerung, zuerit verihmommen,
dann deutliher — immer deutlicher.
„Sva!“ rief er laut aus.
Sie fhrie auf und ließ bas Bronzegefäß, das
fie in den Händen hielt, fallen. Vor Schred zitternd,
ftüßte fie fih auf den näditen Stuhl und wandte
ihm ihr erblaßtes Geficht zu.
„Selus — der Martin!” fagte fie tonlos.
Er kam näber.
„Ev, Ev’, was it benn aus Dir geworden!
So ein Ichönes, friiches Mädel!” Seine Augen
Roman von H. Schobert.
leuchteten ordentlih. „Ich babe Die ja gar nicht
erkannt im erften Augenblid.”
Sie lädhelte etwas unficher.
„Aber Du weißt doch, daß ich bier bin — bei
der Mutter.”
„reilich weiß ich's. Aber in jo einem Getriebe
den ganzen Tag, da vergißt man’s.”
Sie war jegt dunfelrot geworden, man jah es
deutlich auf ihrem Gefiht, daß fie etwas bebrüdte, To
daß fie gar nicht acht gab auf das, was er jagte.
„Aber was haft Du denn, Eva?” fragte er,
faßte fie unter das Kinn und bob ihr Geficht in die
Höhe. „Wie fiehft Du denn auf einmal aus?“
Sie Ihlug Icheu die Augen nieder.
„Der Schhred —” murmelte fie — „ich hab’ e8
vergeflen — — Du mußt nicht böfe fein... .” Sie
— ſich erſchrocken den Mund zu und ſah ihn hilf⸗
os an.
„Was haſt Du, Eva? Jetzt will ich es wiſſen!“
Den kurzen, kommandierenden Ton kannte ſie
noch genau aus ihrer gemeinſamen Jugendzeit, ſie
hatte ſich ihm immer gebeugt; daß er ihn inzwiſchen
völlig verlernt, konnte ſie nicht wiſſen, aber ihr gegen—
über fand er ihn auch jofort wieder.
Shre Augen füllten fih mit Thränen.
„Einem feinen Herrn mit einer Frau und jo
viel Geld kann ich doch nicht mehr ‚Du‘ jagen —
ih bin ja nur ein armes Dienfimädel geblieben,”
fagte fie endlich refolut und wilchte fih die feuchten
Wimpern.
Er lachte auf.
„Närriſch biſt Du, Ev'!“ Er jah an fich ber:
unter. „Sehe ich denn aus wie ein feiner Herr?
Wil ich ein feiner Herr fein? Möcteft wohl gar
‚Snädiger‘ zu mir jagen?”
Sie lahte nun aud.
„Ah, Martin... .“ dabei betrachtete fie ihn
von Kopf bis zu Fuß, „was bift Du doch anders ge:
worden! So fein — und fo — jo — —” fie hatte
hübih jagen wollen, verichludte es aber im legten
Augenblid, „Na, Halt ein Herr,” jhloß fie.
Er lachte wieder.
„Du, Ev’, das ift nicht wahr! Aber nun jag
mal, wie gefällt es Dir denn hier? Macht Dir die
Alte nicht das Leben fauer?”
Sie jah fehr entrüftet aus.
„Seh, Marlin, wie magft Du fo reden? Es
it doch Deine Mutter. Aber wir vertragen uns
ganz gut zufammen. Und ein Glüd war's, daß ich
gleich die Stelle fand, als meine Gräfin geitorben
war. Dent nur, bie Eltern können body nicht jo ein
großes Ding mitfüttern, wie ich bin, und zu allen
Leuten mag ich nicht, und mein Sparkaſſenbuch doch
auch nicht angreifen. — Warum ſollt es mir bei
Euch nicht gefallen? Höchſtens ein bißchen mehr
Arbeit wünſche ich mir.“
Sie wandte ſich wieder ihrer Beſchäftigung zu,
und er warf ſich auf die Chaiſelongue und ſah ihr
zu. Auf einmal lachte ſie laut auf.
„Gelt — Martin, das iſt doch mal ſpaßig!
Wir zwei hier in dieſem feinen Zimmer, und Du
der Herr drin, liegſt auf dem Sofa, brauchſt gar
(EEE re EEG ern re ER —— —— —— REES EHER GEBE —————————— BER,
— —— — — —
—
807 Art zu At.
nichts zu thun, wenn Du nicht willft — und ehemals
batteft Du oft feinen Biffen Brot, und ich teilte
mit Dir.”
Er jah fie an wie fie leifer vor fich Hinlachte,
lo daß fi die Grübdhen nody immer in ihren Wangen
vertieften, über die er früher fo viel geipottet hatte,
und die er jeßt entzüdend fand. Etwas ganz Neues,
Unbelanntes jchwellte ihm das Herz. Er glaubte es
wäre die Sehnjuht nach der Yugend, der zügellofen,
forglojen Freiheit, weil es jo füß war, darum feufzte
er etwas und fagte:
„Es war do Ihön, Eva, nicht?“
Sie ftellte fih neben ihn und ftemmte einen Arm
in die Seite; feine feine Boje, aber fie Eleibete es.
„3 weiß nicht, Martin. Sch meine jeder neue
Tag ift fchöner als der vergangene! Ich bin gar fo
glüdlih! Alle Leute mögen mich gern und find gut
zu mir — ih freue mid, daß bie Sonne fcheint,
daß es regnet, daß ich gelund bin. Es ift ein fo
viel herrliches Leben.“
Er jah fie immerfort an, wie fie fprad, wie
fih in ihrer gefundheitsftrogenden Erjcheinung jo recht
die barmloje Lebensfreube verkörperte, von ber fie
jprrah, und ein Funle davon jprang aud auf ihn
über, der Beltätigung fuchte in ber fo lange vernad)
läffigten Arbeit. Er richtete fih auf.
„Warft Du fon da drinnen, Ev’?” fragte er,
auf die Thür des Ateliers zeigen.
Sie nidte. „Du wirft fein Stäublein finden,
Martin.”
„So meine ih es nit. Wie gefällt es Dir?“
Sie madte ein ganz erjchrodenes Gefidt.
„Was verfteh ich denn bavon! So ein dummes
Ding wie ih bin! Aber wenn ich jo lange brauf
binfhau, dann wird mir eigen zu Mut. Halb fromm,
halb traurig, und einen Reipelt habe ich davor, das
fann ih Dir gar nicht jagen, und barum auch vor
Dir, der Du das alles zu machen verftehft . . .”
Sie Hatte zum Schluß leifer geiprodden und
Ihwieg jegt ganz, denn offenbar hörte er nicht mehr
zu; mit ftarlen Schritten ging er in fein Atelier,
aber er machte die Thür nicht feit zu, noch weniger
verjchloß er fie wie jonfl. Daß Eva nebenan war
ftörte ihn nicht, im Gegenteil, wenn es ihm zum
Bemußtlein fam, empfand er es nur wohlthuend.
Halb fromm, halb traurig hatte fie gejagt.
Das gefiel ihm, und nun wollte er wieder etwas
Ihaffen, was das auch verdiente, ober noch mehr,
und dann wollte er fie fragen, wie ihr bei dem
Anblid zu Mute war.
Merkwürdig, wie ihm auf einmal die Arbeit
von der Hand ging! Freude und Befreiung mar
fie für ihn. —
Um Mittag Hopfte es leije an feinejAtelierthür,
und Eoa rief ihn zum Ejlen.
Wie früher trodnete er nur die Hände an dem
groben Handtuh, und in feinem Wollhemd, unfriftert
und unrafiert ging er bin zu jeiner Mutter,
den Kopf voll von feiner begonnenen Arbeit, mit
eigentümlich leuchtenbem, verinnerlihtem Ausdrud in
den Augen. Schweigend aß er, was man ihm
vorjegte, ohne darauf zu achten, was es war,
Roman von H. Schobert.
808
— ging er, denn niemand wagte ihn zu
ören.
Erſt am Abend kam er wieder, heiß, ſalopp,
überarbeitet, aber er kam mit einem Gefühl von
friedlicher Glückſeligkeit, wie er es noch nie in ſeinem
Leben kennen gelernt hatte.
Es regnete draußen, leiſe und lind, als bereite
der Himmel ſeinen Geſchöpfen liebevoll ein laues
Bad, in Frau Heekens Stube ſtanden die Fenſter
weit auf, das hatte Eva durchgeſetzt, und die beiden
Frauen ſaßen am Tiſch mit der Lampe, grobe
ſchwere Strichzeuge in der Hand. Als Heeken ein—
trat, erhob ſich Eva geſchwind.
„Gelt, Du biſt hungrig, Martin, ich hab' Dir
aufgehoben. Da ſetz Dich her und iß.“
Sie deckte geſchwind den halben Tiſch mit
einem weißen Tuch, dann holte ſie das Eſſen, ein⸗
fache Hausmannskoſt, Gemüſe, Kartoffeln und Fleiſch
in einem Topf gekocht, aber Heeken glaubte, noch
nichts Delikateres gegeſſen zu haben. Er aß wie
ein Wolf. Die Alte ſah ihm zu und ſchmunzelte.
„Ja, die Eva kocht gut,“ ſagte ſie dann, mit
den Lippen ſchmatzend. „Was ſie bei Euch immer
zurecht machten, das konnte ja kein Chriſtenmenſch
eſſen! Die Köchin brachte mir manchmal ein Töpfchen
voll, aber dabei wäre ich verhungert.“
Auch ihrem Sohn ſchien es, als habe er ſeit
langer, langer, undenklich langer Zeit zum erſten
Mal wieder nach ſeinem Geſchmack gegeſſen, und er
nickte der Eva zu.
„Was Du für ſchöne Arme haſt!“ ſagte er auf
einmal unvermittelt und blickte darauf hin, die,
ſchön geformt, weiß und voll ſich aus den kurzen
Armeln heraushoben. „Wirklich, Eva, ſchöne Arme!“
Sie runzelte die Stirn.
„Mußt mich nicht ſagte ſie
ärgerlich.
Er ſtand auf und ſetzte ſich auf die Tiſchecke
neben ſie.
„Ich ſpotte nicht! Ich als Bildhauer muß das
doch wiſſen! Schöne Arme!“ Und er ſtrich mit dem
Finger über das weiche, warme Fleiſch.
Eva ſtand auf und machte ſich am Herd zu
thun, die Alte griente und rief ihr nad: „Bijt ein
dummes Ping, Du! Der Martin ift ja ein ver:
beirateter Mann.”
Sie freute fih im fiilen, daß das Mädchen
dem Sohn gefiel, das würde jeine Frau, Dies
bäplide, magere Geihöpf in ihren Augen, Eränten
müffen, und fie nahm fih vor, die Eva auf Koften
dieſer gehaßten Schwiegertohter herauszuftreichen
wie ed nur ging.
Sie follte fih grün und gelb ärgern diejes
Weib, das nicht einmal geftatten wollte, daß die
Dienjtboten des Haufes für fie jorgten und fih um
fie fümmerten. Grün und gelb! Darin gipfelte ihre
Rachſucht.
Stecken würde ihr das ſchon jemand. — Und
wenn dann die junge Frau zornig und unglücklich
ſein würde, dann wollte ſich die Alte heimlich ins
Fäuſtchen lachen.
Weitere Kombinationen ließ ihr enger Verſtand
verſpotten,“
809 Art zu Art.
nicht zu. Daß fie vielleicht auf diefe Weile den Alit
ablägte, auf dem fie jaß und es fich wohl fein ließ,
fiel ihr gar nicht im Traum ein. Daß Maud fort:
gehen und ihr Geld mitnehmen fönne, daran dachte
fie gar nit, fie hatte nur den einen Wunjch, fie zu
ärgern mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote ftanden.
Draußen hatte es mittlerweile aufgehört zu
regnen. Eine wundervolle weihe, dunkle Sommer:
naht blieb zurüd. An die eine Seite des Ateliers
ftieß der Part, den Maub mitgemietet, aber faum
jemals benugt hatte. Es war auch eigentlich eine
etwas euphemiftiiche Bezeichnung, denn der Raum
war nur flein, mit einer Laube, einem paar
Blumenrabatten und einigen alten Bäumen, aber
e8 war doch wenigitens grün und [uftig da braußen.
„il Du mit hinunter fommen, Eo’?” fragte
Martin auffpringend, indem er fih redte und
dehnte. „Hier ift es heiß.”
„Rein, dankte jchön.”
„Sehft gleich mit?” zeterte die Alte „Was
bit Du für ein elliges Ding! Wenn bo der
Martin noch jo gut fein will und Dir alles zeigen.”
Sie jah ihn zweifelnd an, er lächelte ruhig.
„Kannft breift mitlommen,” fagte er.
Sie gingen nebeneinander durch den Garten,
immer auf und ab, jchweigend. Die Eva hielt ihre
Arme mit den Händen umklammert.
„Brauchlt mir nicht böje fein,” fagte Martin
endlih, „das ift feine Schand, wenn man jemand
fagt, daß er etwas Schönes hat.”
„sb höre e8 aber lieber nicht.”
„Meine Frau, fiehft Du, bat mid wohl nur
genommen, weil ich ihre Hand Ichön fand.”
Eva blidte auf bie ihrigen und verftedte fie
haſtig.
„Deine Frau,“ ſagte ſie kurz, „daß iſt etwas
anderes. Solche feinen Damen können viel anhören,
aber ſo ein armes Dienſtmädel, das brav bleiben
will, nicht.“
„Ich ſage es nicht wieder,“ verſprach er.
Sie ſah ihn freundlich, faſt zärtlich an.
„Erzähle mir nun von Deiner Frau, Martin,
ich fürchte mich beinahe vor ihr.“
Er zog die Stirn in Falten.
„Meine Frau, — ja, das iſt ſo — ich weiß
nicht, was ich Dir von der erzählen ſoll — wirſt
ja ſelber ſehen, Eva.“
Sie ſeufzte. „Ich habe grauſame Furcht —
meine Gräfin war immer ſo gut zu mir. — Haſt
Du ſie denn lieb, Martin?“
Sie ſah mit ſo ehrlichen Augen zu ihm empor,
er wußte auf einmal deutlich, daß er ſeine Frau
nie lieb gehabt hatte, nie lieb haben würde.
„Weiß nicht!“ ſagte er kurz.
Da lachte ſie unbändig.
„Du Narr, Du! Ob man jemand lieb hat,
das weiß man ſchon — ich würde es ſchon wiſſen.“
Es verſchlug ihm ſekundenlang den Atem.
„Haſt Du jemand lieb, Ev'?“
„Nein!“ ſagte ſie geſchwind, und die ehrlichen
Augen ſahen ihn wieder an. „Nein — gewiß
nicht, Martin.“ — — —
Roman⸗Zeitung 1886.
Roman von H. Schobert.
— di - 1
Wen [OA er — — m eg — ZA = Bene — — — ——
F — - —
810
Was für eine munderlide Zeit begann jebt
für Heelen! Er begriff nicht, woran es lag, baß ihm
die Arbeit plößlih fo gewaltig von Händen ging,
daß ihm alles gelang, was er nur anrührte! Und
dabei body nicht ein jo völliges Konzentriertjein auf
feine Gedanten, wie im vorigen Jahre bei jeiner
Gruppe, vielmehr eine ftile, innere Glüdjeligkeit,
ein ausruhendes Behagen troß alledem.
Dft Stand er in Nachdenken und Prüfen ver-
funfen vor feinem neuen Wert, aber jedesmal
jagte er fih, baß es gut war, gut werben würde.
Ein lebensgroßer nadter Mann mit gefellelten
Armen zwar, aber eben im Begriff, dieje Felleln
zu zerijprengen. Man fjahb es an den bis zum
Berreißen geipannten Musteln, den ftraffen Adern,
daß er fein Leben an feine Freiheit jeßte, man
wußte aber auch, daß es ihm gelingen werde. Aus
den weit aufgeriffenen Augen zudte Ichon ein erfter
Strahl des Sieges, aus den geblähten Nüftern
ipradh die troßige, unzerftörbare Kraft des Ringenden.
Schon jest, obgleih noch lange nicht fertig,
jab man, daß es ein Meiflerwerf war, was er da
geftaltete, und machmal bob er den heißen Kopf
und blidte von diefer Arbeit auf die Schlange und
drohte ihr mit ber Fauft, als wäre fie jhuld an
der Dual der ganzen letten Zeit.
Und dann, wenn er müde war, ging er hin-
über zu feiner Mutter, um auszuruben. Nicht etwa,
daß er plöglid Genüge an dem unaufbörlichen Ge:
Eatjche gefunden hätte, mit dem fie ihn neuerdings
empfing, er achtete meift gar nicht auf fie, aber —
da war Eva — — CS gab Tage, an denen er
fein Wort mit ihr jprah, nur allein ihre Nähe
brachte ihm ein Gefühl von Friihe und Frieden.
Und fie war immer gleich freundlih, gleich Beiter
und lebensfrob, ob die Alte auch mandmal, ihrem
Charakter gemäß, mit ihr zanlte, oder Tag um
Tag verging, ohne daß fie herauslam zu irgend
einer Unterbrehung ihres einförmigen Xebens, wie
e8 body ihrer Jugend zulam. Sie jhien gar feine
Sehnfuht danah zu haben. Und umforgt fühlte
fih Martin, ohne daß er jo recht wußte wie oder
wo, wie noch nie in feinem Leben, obgleich er
Gattin und Diener fonft befaß und jetzt das ganze
Haus wie ausgeſtorben dalag, als wäre es Dorn-
röschens Schloß. —
An einem Montag, morgens als er aufſtand
und keine beſondere Schaffensluſt fühlte, denn es
war ſehr heiß, wandelte ihn einmal die Luſt an,
ſich in ſeinen eleganten Sachen zu zeigen. Nicht
etwa, daß er Eva damit imponieren wollte, es war
vielleicht nur das heimliche Behagen dabei, ſich alles
deſſen wieder nach Luſt und Laune entledigen zu
können.
Im blauſeidenen Hemd und Sammetjadett trat
er bei jeiner Mutter ein.
„Ielles der Martin!” jagte Ev’ ganz erihroden,
ftand auf und fjchüttete das junge Gemüje, das fie
pußte, unadtiam auf ben Boden. Er fam ihr fo
fremd vor, auf einmal berausgerüdt aus ihrer
Sphäre, ein anderer geworden, und das that ihr
ordentlid am Herzen weh.
IV. 57
811 Art zu Akt.
„Sa, das gefällt Dir!“ meinte « er x lächelnd d und
ſetzte fiq auf den Stuhl am Fenſter.
„Nein, das gefällt mir nicht!” Shre Stimme
Hang traurig, fie mußte es vielleicht gar nicht.
„Aber warum denn nidt, in Gottesnamen?
Ich denke alle Weiber find für Puß und Staat.”
Sie ſammelte am Boden ihr Grünzeug und
das Meer zufammen, im Gefiht flammenbdrot.
„Kann jchon fein, aber ich nit. Weißt Du,
jo bift Du mir eben nicht der Martin, den ich kenne
und gern gehabt babe jeit meiner Kindheit.“
„Sp? Gern haft Du mich gehabt?” wiederholte
er nachdenklich und trommelte mit den Fingern auf
dem Fenfterbrett.
Sie pußte eifrig. „Sa, warum benn nicht,”
jagte fie jo nebenhin. Eine Weile jchwiegen fie, dann
fing Eva wieder an. „Man meint manchmal, in
jolden Kleidern ftede ein eigenes Leben. Sch hab’
audh eins von meiner Gräfin geichenkt befommen,
das ift mordsfein! So viel Spiten unb Bänder,
und der Stoff jo zart. Ih babe mich aud fehr ge:
freut, aber am liebften fehe ich es doch im Scranf
an; wenn ich es einmal anziehe, dann ift es, als ob
mir die Gräfin mit in die Glieder gefahren ift, ich
bin gar nicht wie font, fan mich faum trauen zu
rühren — aber hierin —” fie hielt einen Zipfel ihres
einfahen Wajchkleibes Hoch, „hierin bin ich die echte
Eva, die arbeiten kann und fich freuen kann beim
Geringften. a
„Haft vecht,” meinte er, blidte an fich herunter
und ſchämte fi beinahe. „Wir find nicht bahinein
geboren; für die mag cs anders fein.” Dann ging
er in fein Zimmer und 309 jeine alten Kleider wieder
an, ganz verächtlich jchleuderte er das jeidene Hemd
beifeite. Eva nidte ihm freundlich zu, ale er zum
Efien kam, jo war er ihr wieder ber alte.
Aber die Hiße draußen madte fi) belonbers
unangenehm in den Zimmern der alten Frau geltend,
fie jelber jaß nidend auf ihrem Stuhl und Eva blies
mit vollen Baden Luft von fi und frih fich träge
über das erhigte Geficht.
„Was figelt Du au bier ben ganzen Tag,“
jagte Martin endlich gähnend, „fomm mit ins Freie,
tennft jo wie jo no nichts von allem, was Ichön ift,
armes Ding Du.”
Sie jah ihn mit aufleuchtenden Augen an. „Ach
Du, das wäre aber einmal Ihön! Wo denn hin?”
„Sanz egal. Wo man einen Atemzug frijcher
Luft hat und womöglich Wafler dazu.”
„Derrgott, wär dad — aber Du wirft nicht
dürfen — Deine Frau... .“
Er late. „Hat meine Frau nicht basjelbe auf
ihre eigene Hand? Darum, Ev’, braudft Du Did
nicht grämen. Willft Du?”
„Sb ih will,“ lächelte fie mit ftrahlenden
Augen.
Die erwadhte Alte Feifte vor fi bin, fie wollte
nicht allein bleiben, aber Martin wehrte fie ab.
„Seid nicht fo närriih, Mutter! Und Du zieh
Dich — — aber fix, fix.“
—V mid fein mahen? Das Gräfinnen:
Heid?“ one ſie ſchelmiſch.
Roman von H. —
812
ich nehm lieber die Ev mit, bie ich
Rein;
fenne.”
Sie lahte. „So geb ich auch lieber mit Dir,
Martin. Wir zwei paflen doch eigentlich jehr gut
zu einander.” Sie erjchrat wohl etwas, und in dem
Sedanten, er fünne eg am Ende übel nehmen, daß
fie jo oft die große Kluft zwilchen ihnen vergaß,
legte fie jchnel hinzu: „Natürlich weiß ich es recht
gut, Du thuft nur mir zu Gefallen jo, Martin, ba:
mit ih mich nicht vor Dir genieren fol, aber gut
ift’8 darum do von Dir, jehr gut.“
Er fah ihr ganz verdugt nach. Bildete fih Eva
wirtlih ein, er könne fih aus dem ganzen Krempel
etwas madyen? Das erihien ihm lächerlih. Abjolut
läherlih! Er wollte es iyr auch jagen. Aber als fie
jo nebeneinander den ganzen Nachmittag und Abend
im Grünen umberjchlenderten, nebeneinander zwar,
aber ohne fidh zu berühren, da war er fo glüdlich,
batte jo abjolut alles vergeflen, was ihn zu Hauje
je bedbrüdte, daß er mit feinem Gebanten baran
dachte.
Es war ein ſehr primitives Vergnügen, das ſie
genoſſen. Jede nur etwas verwöhnte Frau würde
ſich dafür bedankt haben. Martin hatte ſich das
Bewußtſein, daß er Geld, viel Geld beſaß, noch gar
nicht zu eigen gemacht, er hielt an ſeinen Gewohn—
heiten feſt, die ihn immer Knappheit und Sparſam—
keit gelehrt hatten. Daß er einen Wagen nehmen
konnte und fahren, wo die Mittelloſigkeit zu Fuß lief,
daß er teuren Wein trinken und ſich das Leben leicht
machen konnte, daran dachte er nicht. Er lief zu
Fuß und trank billiges Bier wie die andern. Eva
war es zufrieden, ſie kannte es nicht anders, und
zudem kam ſie heute zum erſten Mal ſeit all ihren
Dienſtjahren in das Freie. Sie hatte keine Be—
kannte beſeſſen, die ſie etwa mitgenommen, und allein
wagte fie feinen größeren Ausflug. Ihr Herz quoll
über vor Dankbarkeit gegen Martin.
Und dann war es fo jhön hier am Waller
unter den alten Bäumen, jo friedlich und fill in
ber finlenden Dämmerung, daß Eva ganz veritummt
war, obgleich fie jonft in ihrer munteren Art genug
geplaudert und gelacht hatte, ohne das viele Schweigen
ihres Nachbarn befremdlich oder beleidigend zu finden.
Sp war er ja immer gemwejen, |hon als Kind.
Sie jaßen abjeits von den andern, im Wintel
verftedt, und Eva überlam es plößli mie heiße
Rührung, ganz leije fahl fie ihre Hand in diejenige
Martins.
„IH danke Dir auch viel taufendmal, daß Du
mich mit bergenommen haft, und daß Shr alle jo
freundlich gegen mich jeid, Du und die Mutter.”
Er gab feine Antwort, aber er hielt ihre Hand
feft, und obgleich) fie weder jchmal no weiß und
weih, mie biejenige feiner Frau war, durdftrömte
ihn ein ungelanntes, jeliges Gefühl von Wohl:
behagen.
„Mein Himmel, Heelen! So wahr ich lebe,
Heeken!“ fagte in biefem Augenblid die näfelnde
Stimme Emil Duenfels, und der Engel des Glüde,
der einen Augenblid über den beiden gejchwebt, entfloh
Ihleunigft. „Du bift alto Thon zurüd? — Aber
813
nicht allein, wie ich jehe — Pardon — ftören wollte
ih nicht.”
Er warf einen unverichämten, prüfenden Blid,
deilen Bedeutung Heelen glüdlicherweife nicht verftand,
auf Eva, die ihre Hand fchnell aus derjenigen Martins
gezogen und rot und verlegen dajaß.
„Warum jolteft Du denn ftören?” fragte bieler
zubig, „Wir fiten bier ja frei — offen vor aller
Welt.“
Emil räuſperte ſich, gerade das fand er ja ſo
bodenlos unverſchämt.
„Willſt Du mich dann der Dame vorſtellen?“
ſagte er ſehr ſeriös.
„Ach, vorſtellen! Hat ſich was!“ brummte
Martin. „Das iſt die Eva Leitner aus meinem
Dorf, mit der ich groß geworden bin, und Du, na,
Du biſt halt auch ſo ein Bildhauer.“
„Außerordentlich formvoll und ſchmeichelhaft,“
lachte Emil. „Das muß ich ſagen! Aber Du biſt
nun einmal ein Original. Geſtatten Sie mir, mich
zu ſetzen, Fräulein Eva?“ Er lüftete den kleinen
grauen Filz mit der Grandezza eines alten Nobile.
Sie nickte ſtumm, aber auf ihrem Geſicht war deutlich
zu leſen, daß es ihr nicht angenehm war. Der
Fremde hatte eine ſo zudringliche Art, ſie anzuſehen.
Emil war ganz entzückt von der friſchen, kraft⸗
ſtrotzenden Schönheit Evas. — „Der Heimlichthuer
— der Leiſetreter,“ dachte er unabläſſig. „Kaum
dreht die Frau den Rücken, holt er ſich ſeine Liebſte
her, zeigt ſich mit der öffentlich. So eine Frechheit!
— So eine beiſpielloſe Frechheit! Ja, der Bauern—
bengel hat es in ſich! Viel zu ſchade iſt das Mädel
für ihn, viel zu ſchade, wie auch die Frau!“ Und
er beſchloß, da er bei Maud keine Ausſicht ſah, hier
wenigſtens zu verſuchen, ihn aus dem Sattel zu
heben — „Ich begreife gar nicht, was die Weiber
an dem ungeſchlachten Kerl haben?“ dachte er.
Demzufolge war er ſehr liebenswürdig gegen
Eva, aber ſie ſchien wie auf den Mund geſchlagen,
er hatte nur geringes Glück mit ihr. Trotzdem reizte
ſie ihn auf das äußerſte. Als er einen Augenblick
das Paar verließ, ſah das Mädchen beklommen zu
ihrem Begleiter auf, er verſtand den Blick.
„Gefällt Dir nicht ſehr, mein Freund, nicht
wahr?“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Ach, Martin, wären
wir doch allein geblieben!“ ſeufzte ſie aus innerſtem
Herzen.
„Wäre mir auch lieber geweſen! Aber ſieh,
Ev’, er iſt doch ein hübſcher, feſcher Kerl!“
„Aber kein guter!“ behauptete ſie mit unumſtöß⸗
licher Beſtimmtheit.
Dann kam Emil zurück. Er hatte unterwegs
ein paar Freunde getroffen und ihnen in aller Eile
von Heekens Liebelei und phänomenaler Frechheit er⸗
zählt. Einer nach dem andern ſchlängelte ſich neu—
gierig an dem Paar vorbei, und Emil ſaß als dritter
im Bunde mit am Tiſch, trank viel Bier, rauchte
und ſprach, ohne beſondere Erwiderung zu finden.
„Was macht Deine Frau, Heeken?“ fragte er
endlich, mit einem Seitenblick auf Evas Geſicht. Die
Erwähnung der legitimen Rivalin konnte ſie doch
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
814
unmöglich ganz kalt laſſen. Aber Eva zuckte mit
keiner Miene.
„Verſtellung!“ dachte er, „ſo jung, ſo dumm,
und doch als mütterliches Erbteil halb unbewußt die
Fähigkeit dazu.“
„Ich glaube, es geht ihr gut.“
„Iſt ſie noch immer in der Schweiz?“
„Ja.
„Und Fortunat?“
„Iſt auch da, er hat es mir geſchrieben.“
Emil klopfte ihn auf die Schulter.
„Beneidenswerter Ehemann,“ ſagte er nur.
Da ſah ihn Eva mit funkelnden Augen an.
„Es ſcheint, der Herr hat den Glauben an alle
Anſtändigkeit verloren, ſchlimm genug für ihn,“ ſagte
ſie kampfesluſtig, denn ihr, dem natürlichen Weibe,
wurde recht gut die Niederträchtigkeit bewußt, die die
wenigen Worte ausdrückten, die Martin harmlos
hinnahm, weil er ſie gar nicht verſtanden hatte.
„Na, Ev'!“ ſagte er denn auch ganz verblüfft.
Emil aber lächelte nachſichtig.
„Du haſt ja einen warmen Verteidiger in dem
Fräulein.“
„Als ob er einen brauchte,“ meinte fie gering-
Ihätend, und dann ging fie tumm neben ben beiden
Männern ber, im ftillen traurig, daß der jchöne
Abend jo ein Ende nehmen mußte! Wären fie doc
allein geblieben! Und dem Martin, dem mußte fie
es morgen gewiß fteden, was für ein binterliftiger
Menſch fein fogenannter Freund war. Er hatte ja
nicht einmal etwas gemerft, obgleich fie jofort gewußt
batte, wo er hinaus gewollt mit jeinen Bemerkungen.
Freilih, die Mutter hatte ihr ja von der Schwieger:
tochter genug erzählt, mehr als fie ihr glaubte, denn
fie kannte die Vornehmen befler, von ihrer Gräfin
ber, und mehr als der Martin jedenfalls mußte.
Ein tiefes Mitleiden mit ihm überfam fie, aber fie
wagte nicht, es ihm zu zeigen.
„So!“ Sagte Emil, als fie vor der Thüre des
Haufes ftanden. „Nun ift das Fräulein ficher heim:
geleitet, jett fommft Du mit in den Verein. Lang:
mann geht nad Düfleldorf, dem gilt der heutige
Abſchiedsſchoppen.“
Martin ſah unbehaglich aus. Er hatte jede Luſt
an dieſen Kneipabenden verloren ſeitdem er wieder
arbeitete und es dann zum Feierabend ſo gemütlich
wurde, wenn Eva das Abendeſſen auftrug. Er hatte
ſich auch vorgenommen, nicht wieder in dieſe alten
Sünden zurückzufallen, denn der nächſte Morgen hatte
ihn immer untauglich zur Arbeit, matt und wirr im
Kopf gefunden.
„Ich möchte lieber zu Hauſe bleiben,“ ſagte er,
den Schlüſſel einſteckend, „ich bin müde.“
„Aber das wäre höchſt unkollegialiſch! Fräulein
Eva, machen Sie doch einmal Ihren Einfluß geltend,
Ihnen wird er kaum widerſtehen.“
Martin runzelte die Stirn. „Was geht das
die Ev' an? Laß mir die Ev' aus dem Spiel. Ich
komme mit.“
All ihrer frohen Stimmung bar, ſtieg Eva die
Treppen hinauf, froh, daß die Alte ſchlief und nichts
mehr fragte. Zum erſten Mal, ſeit ſie hier war,
815 Art zu Art.
fühlte fie fih traurig und beflommen, und lange floh
fie der Schlaf.
Die beiden Kollegen gingen ihrem Bereinslofal
zu, es war eine Föftlihe Nacht und fie beeilten jich
nicht. Buerft fchwiegen fie, dann jagte Emil:
„Das war ein reizendes Mädel, Deartin,” er
tauchte heftiger. „Nicht von jener untadelhaften ba:
nalen Schönheit wie unfere Damen, die ihre Reize
vom Frifeur und der Schneiberin erborgen, fondern
von jener ländliden Schönheit, deren Haut durch
die Sonne gebräunt und deren Leib in jeiner na:
türlichen Sormenpradt das Entzüden der Künitler
it... an denen fein Mann vorübergeht, ohne daß
fein Auge flammt und fein Blut rebelliih wird —
Du bift ein glüdlicher Menſch.“
Heelen blieb jäh ftehen; troß bes nächtlichen
Dunkels ſchien Emil jein Gefidht erblaßt.
„Was hat das mit mir zu thun?” fragte er,
und ein jchwerer Atemzug bob jeine Bruft.
„Sie gehört doch Dir, mit allem, was fie beligt.
Und wenn es noch nicht der Fall ift, wird es nur
eine Frage der Zeit fein. Sie liebt Dich!”
„Was Du Mug bift!” Er lachte Ihrill auf.
„Sie weiß ja, daß ich verheiratet bin. Weißt Du,
mein Lieber, in unjerm Stand, da ift die Ehe noch
etwas Heiliges, etwas, um das man fidh nicht herum:
ftiehlt, wenn man gerade das Gelüft dazu bat.”
Emils Hand im perlgrauen Handidhuh legte
fih vertraulih auf Heelens Arm.
„Wenn's alſo jo käme, wärft Du ein beneidens-
werter Sterblicder — und wenn e8 nicht jo fäme — —
läßt Du dann jedem andern freie Bahn?” Es lag
etwas XZauerndes in der legten Frage.
An Martins Gefiht Ihoß plöglih heiße Glut,
er ballte die Fäufte und jchüttelte fie in die Luft
hinaus.
„Wer mir dem Mädel etwas anthät, dem braven
Mädel, der befäme es mit mir zu thbun! Seiliges
Kreuz! Die Kanoden im Leibe thät ich ihm zer:
Ihlagen — noch habe ih Fäuftle — Fäufte.. . .!”
Er atmete heftig.
„Rege Did doh nicht jo unnüß auf,” jagte
Emil und brannte eine neue Cigarette an, „Du bilt
ja in der Borhand.”
Heelen war jehr fill an dielem Abend unter
den jungen Künftlern. Er trant aud nur wenig,
obgleich ihn eine Glut durdhfieberte, wie er fie bisher
no niemals gefannt. Mocdte er nun in fein Glas
oder geradeaus fehen, inımer ftand Evas Bild vor
ihm; nit wie er gewohnt war, fie anzujehen als
jeine Sugendgeipielin, jondern fo wie fie ihm Emils
Worte gemalt hatte, als das begehrenswerte Weib,
deſſen Schönheit ihn reizte, deffen Herz ihm gehörte.
Und er wußte doch, daß das ein Unreht war! —
Schweißtropfen perlten ihm auf der Stirn, als er,
ziemlich unbemerkt, fi erhob, um nah Haufe zu
gehen. Er mußte mit fich allein fein, mit fich ins
reine fommen, ob er Eva wirklich liebe, oder nur
eine augenblidliche Erregtheit ber Sinne ihn narrte.
Sol einen Zuftand fannte er ja gar nicht. — Zange
irtte er durch den Stadtpark, bis der erite Morgen:
jonnenflrahl aufzudte, dann eilte er heim und warf
Roman von 9. Schobert.
816
ih erichöpft auf fein Bett. Snmer noch wußte er
nicht genau, was ihn eigentlih fo quälte. Gefühle
und Empfindungen diefer Art waren ihm jo unbe-
fannte Dinge, aber während er im Halbichlaf dalag,
war es ihm, als beugte fih Eva an jein Ohr und
flüfterte ihm zu:
„Aber Martin, was wehrft Du Did jo! Das
it die Liebe, die Du Dir jo jehr gewünjdht haft —
und die Liebe fann nichts Unrechtes jein, wenn nur
die Menfchen dabei brav bleiben.”
Aljo war es die Liebe! — Aber vor der fürchtete
er ich feit heute nacht gerade. — —
Als Heelen den Verein verlaflen, gab Emil eine
abiheulide Schilderung des heutigen Abends zum
beften, und allen galt ausgemadht, was fi das
feujhe Gefühl des Mannes nicht einmal im Dunfel
der jchmeigenden Sommernadt zu geftehen wagte.
Sie wißelten und fpöttelten und lachten auf
feine Koften, und freuten fid auf den Skandal, ber
bei „joldher Frechheit” ficher nicht ausbleiben würde,
denn „die Frau mit all ihrem Gelde wäre ja närrilch,
wenn fie fich foldhe Liebichaft im eigenen Haufe ge
fallen laflen würde.”
„Macht fie es denn beiler?” fragte Emil. „Bei
einem jolhen Mann! Solhem Ejel von Mann zwar
entiäulbbar.” —
Als fie an diefem Abend, oder vielmehr Morgen,
auseinandergingen, da war fein guter Sehen mehr
an dem Heelenjchen Ehepaar, jo brav hatten fie es
zerpflückt.
Dreißigſtes Kapitel.
Am nächſten Morgen fand Eva die Thüre zu
Heekens Atelier verſchloſſen, auf ihr leiſes Klopfen
kam keine Antwort. Einen Augenblick blieb ſie
lauſchend ſtehen, da ſie ihn aber herumgehen hörte,
wußte ſie, daß er bei der Arbeit war und nicht ge—
ſtört ſein wollte. Vor ſeinem Genie, das ſie nicht
zu beurteilen vermochte, vor den großen, ſtillen,
weißen Geſtalten ſeiner Phantaſie hatte ſie aber einen
ſo tiefen Reſpekt, eine ſo große, faſt heilige Scheu,
daß ſie ihn um keinen Preis der Welt rückſichtslos
unterbrochen haben würde. Brauchte er etwas, würde
er ſchon von ſelbſt kommen; und ohne einen Ruf
entfernte ſie ſich wieder.
Hinter der verſchloſſenen Thür ſtand Heeken und
zitterte; er wagte ſich nicht hervor, er wagte nicht,
Eva in die Augen zu ſehen, aus Furcht, ſie könnte
ihm all ſeine häßlichen Gedanken aus dem Geſicht
leſen, und dann hätte er ſich vor ihr in Grund und
Boden geſchämt.
Die Hände zitterten ihm immer wieder, ſie
wollten dem Arbeitswillen nicht gehorchen, aber er
fühlte recht gut, wenn er ſie nicht zwang, würde er
auch nicht Herr über ſich und ſein Blut, dann ...
er dachte nicht weiter, mit aller Kraft warf er ſich
wieder auf die Arbeit und ſiehe da, es gelang!
Alles, was ihn ſo ſchrecklich gepeinigt, ließ endlich
ab von ihm, ſein Denken wurde ganz klar und ruhig.
817 Art zu Art.
Unter eifrigem Schaffen verging ihm die Zeit, unb
ale er erit abends abgeipannt und bungrig bei
den Frauen eintrat, lag die Naht und ber Tag wie
ein mwülter Traum hinter ihm.
„Du fiehft aber chledt aus, Martin,” fagte
Eva mitleidig und rüdte ihm das Elfen zuredt.
„Hätteſt Dich nicht jo anftrengen jollen! Es ift ein
Gewitter in der Luft, das fühlt man im Körper
lange vorher.”
Er nidte nur, aber feine Schweigjamteit fiel
ihr nicht weiter auf. — —
Emil Hatte fein bejonderes Glüd mehr mit
feinen häufigen Befuhen im Heelenihen Haufe.
Modte er kommen, wann er wollte, Eva jah er
nirgends, jo ſehr er auch juchte und fpähte. Auf
jeine darauf bezüglihen jcherzhaften Bemerkungen
Ihwieg Martin bebarrlid; ja almählih kam es
immer häufiger vor, daß er trog allem Klopfen und
Aufen Schon vor der geichlojlenen Atelierthür um:
fehren mußte. Er ärgerte fih und ahnte nicht, daß
ihn Heelen, wohlverjtedt, erft wieber abziehen ließ,
ehe er ih hervorwagte, denn Emil war ihm wieder
ein Greuel geworden jeit jener leßten Kneipnadit.
Er fürdtete ihn geradezu, und Quenfel jah auch zu
feinem unangenehmen Erftaunen, daß die Stkiszen-
bücher aus ihrer Ede verfhwunden waren, und daß
Heeken feinem Anfinnen um Nachzeichnung jet ftets
Widerftand entgegenjegte. Er empfand das falt als
perjönliche Beleidigung und tröftete fich mit ber Hoff:
nung, Martin dafür auch einmal einen Poflen Ipielen
zu fönnen. -—
Das Gewitter, das Eva prophezeit hatte, war
berabgegangen und hatte das Ihöne Wetter mit:
genommen. 8 wurde kühl und regneriich und blieb
au für die Folge jo; vielleiht war das der Grund,
daß es auf Eva wie Trübfeligfeit lag, einen anderen
hätte fie menigitens nicht anzugeben vermodht. Freilich
war Martin verändert feit jenem Abend, den er nad)
ihrem Ausflug mit feinen Freunden zugebradt,
furzer, tauber in feinem Ton, oft aud) nad) ganz
furzem Aufenthalt wieder bavonlaufend, aber fo viel
fie au jann und grübelte, fie fühlte fih in ihrem
Gewillen vollflommen rein, ihr Verhalten hatte ihm
feinen Grund gegeben.
Fines Tages, als der Regen in jaufenden
Schwaben gegen bie Fenfter praffelte, fam ein Brief
Mauds an ihren Gatten, daß fie es bei dem Ichlechten
Wetter vorziehe, in den nädhlten Tagen zurüdzufehren,
er möge fie erwarten. Martin ftarrte auf das Blatt,
auf die feinen gleihmäßigen Schriftzüge, und wie
Bergeslaft fiel es ihm auf die Bruft.
Seine Frau zurüd!
Das bedeutete wieder all die Unbequemlichkeiten,
die ihm das Leben und die Arbeit vergällt hatten,
das bedeutete wieder ein Aufgeben feiner ganzen
PVerjönlichkeit, ein Gefefleltfein in unerträglichen
Banden, die fich nicht abjchütteln Tießen, das be-
deutete endlich den Tod feiner jungen Liebe.
Martin Heelen ftand auf, firih das Haar von
der feuchten Stirn und atmete jchwer. Yhm war
es, als müfle er fih zur Wehr jegen, als müfje er
Hilfe fuchen, und er ging in fein Atelier. Aber
Roman von H. Schobert.
818
drinnen fand er nichts als den fich befreienden
Sklaven, zu dem er mit bitterem Lächeln auffah.
„Armer Kerl, ift e8 au wahr, daß Du bie
Sreiheit erringft? St es nicht nur ein Wahn? Bit
Du ftarl genug, die jhredliche Kette zu jprengen?
Sinft Du nit wieder mutlos hinab in die Ab-
bängigleit?” murmelte er vor fich hin. — Und dann
jah er auf die Schlange und brobte ihr wieder mit
der Fauftl. „DO, Du! Du! Seht verftehe ich Dich
und Deine mordende Kraft!“
Niedergedrüdt, halb FTranf fam er am Abend,
aber er durfte doch nichts jagen, mochte es ihn
noch fo jehr bebrüden. Die Alte bemerkte aud
nichts, wohl aber Eva, und ihre fragenden Blide
zwangen ihn endlih, die Ankunft jeiner Frau zu
erwähnen.
Das Mädchen Jagte nichts mehr, fie war fill
und jchweigiam den ganzen Abend und hielt Die
Augen auf ihre Arbeit gejentt. Als er binausging,
folgte fie ihm auf den dunklen Korridor.
„Martin,“ jagte fie, die Thüre jo weit auf:
laflend, daß das Licht aus dem Zimmer fie voll be-
Ihien. „Sch babe Dir’s angemerkt die ganze lebte
Zeit, Di drüdt etwas. Nun weiß ich auch wohl
was. Deiner Frau wird’s nicht recht fein, daß ich
bier bin. — So will ich denn lieber gehen und
mir einen anderen Dienft Juchen.”
Er padte raub ihren Arm.
„Dun geben, Eva? — Nein!! — Was fällt Dir
denn ein? ft Dir die Alte eine Laft geworden? —
Möchteſt Du’s befier haben?”
„Red’ nicht jo dumm,” fagte fie, und in al
ihrer Traurigfeit mußte fie doch lächeln. „Du weißt
es ja befler. ch habe nichts auszufegen hier, aber
aufdrängen will ih mich nicht.”
Als Eva vom Fortgehen jprah, war es ihm
gewejen, als drüde ihm etwas die Kehle zu. nd
wenn fie ging, jollte er wohl gar bleiben? Zum Laden
fam ihm das vor. Darum ließ er ihren Arm aud
nicht los, wie in großer Angit, fie könne ihm
plöglich entwilchen.
„Du gehft nicht, Eva — Du darfft nicht gehen!”
fagte er eindringlid, „Du mußt es mir fefl ver:
Ipreden. Ev’ — meine Frau hat Dih ja gerabe
gewollt.“
„Wenn’s wahr ift . . .” meinte fie zögernd.
„Heilig wahr!”
„Dann —” fie atmete heftig, „dann bleib’ ich
ja gern. 3 bin Euch bo jo anhänglih, Deiner
Mutter und — Pir.”
Sie trodnete fih mit dem Schürzenzipfel bie
Augen. XTroß jeiner Worte — e& war do nod
etwas da, was fie nicht begriff, was fie aber drückte
und traurig madte.
„Ev’!" Tagte er und beugte fih ihr ganz
nabe, fie fühlte feinen beißen Atem, jah in dem
Lichtipalt die glühenden Augen, ein Schauer über:
rann fie plöglich.
„Bit Du krant, Martin?” fragte fie ftammelnd.
„Ev’!” rief die Alte da von drinnen, und ebe
er no antworten konnte, war fie mit einem leilen
819
„Sute Naht” hineingejchlüpft und Hatte die Thüre
verſchloſſen.
Wie ein Verdammter ſtand er in dem dunklen
Korridor, ſeine Bruſt keuchte, als wollte ſich ein
Schrei aus ihr heraufringen, aber es kam nichts.
Totenſtill blieb es — und dann ging er in ſein
Atelier.
Dort ſaß er lange, den Kopf in die Hand ge:
tüßt und 309 das Facit feines Lebens. Wie glücklich
hätte er fein können mit einem Weibe wie Eva
an jeiner Seite, in bejcheidenen Verbältniffen, in
Liebe und Frieden, beglüdt durch feine Arbeit, der
er das Nötige für Weib und Kind verbantte, denn
mit Eva dadte er auh an Kinder; und wie elend
war er jeßt!
Was hatten denn feine Frau und er miteinander
mehr gemein als nur den Namen? Weld ein Gefühl
verband fie? So viel er auch fuchte, er fand feins,
fie waren nit von einer Art!
Er Hatte fih verkauft. Weshalb aber? Aus
Eitelfeit? Die befaß er ja nit. Aus Geldgier?
Des Wohllebens etwa wegen? Sn feinem Charafter
fand fi feine einzige Leidenjhaft, ber er irgend
ein Opfer bätte bringen brauden. Er war fo be
Iheiden, jo anfprudslos. Das Einfadhite genügte
ihm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! —
Warum alfo! — Warum?! — Er faß und fann —
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn diefe
Heirat fein Lebensglüd geloftet, daß fie ihn elend
gemacht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen.
Und mit berjelben fchmerzlihen Melancholie, bie
ihn jeit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er
aud einige Tage jpäter feine Frau. Sie hatte rofige,
volle Wangen befommen und fam ihm jehr liebens-
würdig entgegen.
„Ich hoffe, Du Haft Dih nah mir gejehnt!“
jagte fie jcherzend und blidte ihn prüfend an, zu:
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernachläffigt
vor ihr erihien, wie fie gefürchtet. Aber er Hatte
ja ein Ichlechtes Gemwiflen und deshalb an alles ge:
dacht, nichts verjäumt; fih faum bewußt, wie jehr
fih in diefen Handlungen Liebe und fchlechtes Ge:
willen ähnlich jcheinen.
Er ah fie ernfl an, es widerftrebte ihm zu lügen.
„Nein,“ ſagte er, „ich habe gearbeitet.“
Sie ladte.
„Tino, Tino, Du bift erichredend ehrlih! Laß
mich Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.”
Er jchültelte heftig den Kopf.
„Diele gehört mir; meine Thür ift verichloffen.”
„Audh recht!” entgegnete fie gleihmütig und
lehnte fih in den Stuhl zurüd.
Er fürdtete, fie würde nad Eva fragen, gleich
am erjten Abend. Dann hätte er fich ficher verraten.
Sein Herz Mopfte fon, wenn er nur daran badıte,
aber fie vergaß es. Wie gleichgültig waren ihr im
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten unb
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren
Reifeerlebniffen, von Fortunat und madte Pläne für
ven Winter; auf einmal unterbradh fie fih und
wandte fih ihm direkt zu.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
820
„Sindeit Du, daß ich mich erholt habe? Finbeft
Du, daß ich flärfer geworden bin? Befler ausjehe?“
Seine Augen prüften fie. Ihre Wangen waren
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor:
züglih aus. Aber ihm war fie eben fein Schönbeits-
ideal. Der Reiz des Vornehmen, Ungelannten
längft dahin.
„D ja!“ gab er zögernd zu.
Sie zudte die Achleln und jchwieg von da an.
Mel einen jchwerfälligen, Tangmeiligen Gatten fie
Doch hatte! AN fein Genie half nicht über bie öden
Stunden eines Turzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel
leichter ließ es fih mit dem andern doch leben! —
Und was fie im Lauf der nädlten Tage aud
nod) ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier
vor ihr verjchloffen hielt. Sie legte To häufig die
Hand auf das Schloß, freilih ohne fich zu melden,
aber immer vergebens.
Stroh war fie, daß die Anfchaffung ihrer Herbft:
garberobe wenigitens einen Teil ihrer Zeit in An:
iprudh) nahın; ebenjo die Biliten, die fie zum Beginn
der neuen Sailon überall erneuerte, mit Martin
war zu wenig anzufangen. Sie fah ihn kaum mehr,
jelbft zum Diner ließ er fich meiltens entichulbigen
und aß dann heinlich, verftohlen wie ein Verbrecher
bei feiner Mutter, wo es ihm fchmedte, und wo er
fi bingehörig fühlte, nach wie vor.
Aber eines Tages Stand fein Atelier doch offen,
die Statue war fertig. Nun hatte es feine Not
mehr mit dem Berbergen. Was aller Welt gegeben
wurde, mochte feine Frau auch teilen, nur ging er
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie es,
was ihn angeipornt hatte, gerade bdieje Geftalt zu
ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fidy erft nod)
mehr überlegen, was er ihr jagen jollte.
Während er die einfamflen Wege im Stabtparf
aufiuchte, faß Maud in der That vor feinem fich be:
freienden Sklaven. Sie flaunte, fie war ergriffen,
erjhüttert! Sa, ihr Mann war ein gottbegnadeter
Künftler, nur ein folder konnte das fchaffen.
Menn er dagemeien wäre, würde fie ihm ftumm
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeciftertes
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; daß er
nit ba war, trübte ihr etwas diefen ftolzen Augen:
blid, aber eine Ahnung von dem, was die Statue
jagte und klagte, kam ihr nit. Sie Jah ein Kunft:
werf, nichts weiter. Läffig wandte fie den Kopf, als
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fi aud
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. hr
erftaunter Blid traf auf die vornehme junge Dame
im bunflen Seibenkleidb, die, die Füße von fi ge
firedt, in dem geichnigten Stuhl lehnte und fie
prüfend mufterte. Wie ein eleltriiher Schlag durd-
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau!
Sie hatte fie noch nicht gejehen, troßdem jeit
Mauds Rüdkehr falt eine Woche verfloffen war, und
fih au nicht dazu gedrängt, fait hatte fie Furdt
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit
einem jhüchternen Gruß vor der fie mufternden
Gnädigen ftehen.
„Wer find Sie?” fragte Maudb in ihrer etwas
821
bodmütigen Art, obgleih die friihe, hübjche Er:
Iheinung des Mädchens ihr MWohlgefallen erregt hatte.
„Soa Leitner, gnädige Frau.“
„Ad ja — rihtig! Sie pflegen Frau Heelen.”
„samwohl, gnädige Frau.”
„IH hoffe, Eva,” fagte Maud und fpielte mit
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen laflen,
Sie bhergenommen zu haben. Bor allen Dingen
feinen Klatih mit den andern Dienfiboten — Teine
Freundſchaften. Ich liebe das nidt. Mein Mann
hat es Ahnen wohl gejagt.”
„Jawohl, gnädige Frau.“
„Shren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Shnen
zufrieden bin, darauf kommt es mir nit an; finde
ih aber irgendweldhe Unzuträglichleiten, dann bin
ich unnachſichtig. Es ift mir lieb, daß ih SJhnen
das jagen konnte.”
Eva Stand vor ihr, den Kopf gejentt, jchweigend.
„Sie können jeßt geben,“ jagte Maud mit
einigem Beiremden. „Dper vielmehr — Judten
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?”
„a, gnädige Frau.”
„Sr ift nicht hier — jagen Sie dag — meiner
— Schwiegermutter.“
Ungeduld Hang aus ihrem Ton; Eva Ihlich
davon. „Armer Martin,” dachte fie mit Thränen,
„das ilt Deine Frau? Die hat Di nicht lieb! —
Nein — die hat Di nicht lieb!” —
Und in eiliger Haft floffen ihr die hellen
Thränen über die Wangen. Sie mwildte fie er:
Ihroden fort, aber als fie eine Stunde jpäter an
dem breiten Korriborfenfter ftand, das auf den Hof
ging, nur um einmal einen Augenblid den neu:
gierigen Bliden und Fragen der Alten zu entgehen,
da floflen fie von neuem.
Sie verjudte es, fih mit Troß zu wappnen.
„Was geht das mich eigentlich an, ob er glüdlidh
ift, ob fie ihn lieb hat! Dafür ift er ja reich und
vornehm geworden ... .“ ber das Herz wollte
nichts mit diefem Nailonnement des Verftandes zu
thbun haben, es Elopfte jo ſchmerzlich, und endlich
faltete ſie die Hände.
„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitiernden Lippen,
„ich iann nichts dafür — Du weißt es — daß id
ihn jo lieb habe — lieber ale mein Xeben! — Aber
wenn’s jhon ein Unredt ift — eine Sünde joll es
nie werden.”
Sie blidte zu dem grauen Hinmel auf, an
dem fi die Regenwollen jagten; etwas wie Troft
fam über fie. Wenn es Tleine Sünde wurde, hatte
fie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu jcheuen. —
Als Martin nad Haufe fam, empfing ihn jeine
Frau mit einem Widerfchein jener Begeifterung, die
fie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine
Arbeit hatte fie entzücdt. Aber diesmal fand ihr
glühendes Lob fein Echo in jeinem Herzen, er wartete
nur beflommen, ob es nun nicht endlid — endlich
fommen werde; die Fragen, die er erwartete, die Vor:
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als
nichts kam, begriff er die Blindheit feiner Frau nicht.
„Und noch eins, Zino, ih habe die Eva ge:
jehen! Ein neltes Mädchen — jogar hübjch für den,
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
822
der Geihmad an Derbbeit und Kraft findet. Seden:
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie
meinen Erwartungen entipridht, die ich ihr dringend
ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine
Mutter einmal ftirbt, für meine perjönlichen Dienfte
anlernen . . .”
Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, jebte
fih aber gleih darauf in feine alte Pofitur, die ge:
falteten Hände zwilchen die Knie, vornübergebeugt,
mit gelenttem Kopf.
Sie jah ihn erfiaunt an. „Was haft Du denn,
Tino? Weil ich den Tod Deiner Mutter erwähnte?
Aber das ift jentimental. Alles, was lebt, ift doch
unweigerlid dem Tode verfallen. — Ic glaubte, Dir
würde e8 angenehm jein, daß mir die Eva ganz
gut gefiel.“
„Ja! Sal” fagte er. „Aber Du wirft fie nicht
viel ſehen!“
- Sie zudte die Adhleln.
„Daran liegt mir allerdings nidis. Ich muß
ja auch erit jehen, ob fich der gute Eindrud beftätigt.“
Es klopfte.
„Herein!“ rief die Frau des Hauſes und ſah
ſich ziemlich erſtaunt um, denn es war hier nicht
Sitte, daß jemand unaufgefordert bei der Herrſchaft
eintrat.
Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann
fagte fie mit bebender, leifer Stimme: „Es ift Be:
fuhb da... bei der Mutter... ih folt den
gnädigen Herrn rufen.”
Mit einem Sabß Iprang Heelen auf.
„Bit Du närriih, Ev’? Der gnädige Herr?
Was fol das heißen? Der Martin bin ich und
bleib ih für Did. Daß Du mir nicht noch einmal
mit jolden Dummbeiten fommft!”
Er ftürmte hinaus, rot vor Zorn im Gelidt.
Maud wandte fih an das Mädchen, fie jah fie nicht
ohne eine gewille Freundlichkeit an. „Ahr Taltge-
fühl hat Sie ganz richtig geleitet, Eva,” jagte fie
nidend. „Und troß des Herrn Abwehr wünjdhe ich
doch dergleichen Bertraulichleiten nit in meiner
Gegenwart. — Wiflen Sie übrigens, wer diejer
Beſuch iſt?“
„Herr Quenſel!“
„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher,
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt.
Eva errötete heftig. Dieſer feinen Dame konnte
ſie doch nicht ſagen, daß er augenſcheinlich nur ihret—
wegen gekommen, daß es all ihrer Liſt bedurft hatte,
um ihm jedesmal zu entſchlüpfen, daß ſie auch heute
geflohen war.
„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau
ſchon zu Haufe find,” jagte fie endlich mit nieder:
geichlagenen Augen.
Maud trat ihr näher. Etwas in dem Wejen
diefes Mädchens interejlierte fie.
„Wahriheinlid. Aber warum find Sie fo ver:
legen, Eva; fürdten Sie fih vor mir?“
Gie blidte bligfchnell auf, ihre Augen landen
vol Thränen; vor diefer Frau fühlte fie fih ſchuldig
bis in den tiefiten Höllenabgrund, denn fie liebte
ihren Mann.
819 Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 820
„Bute Nacht” hineingefhlüpft und hatte die Thüre „Sindeflt Du, daß ich mich erholt habe? Findeft
verſchloſſen. Du, daß ich ſtärker geworden bin? Beſſer ausſehe?“
Wie ein Verdammter ſtand er in dem dunklen
Korridor, ſeine Bruſt keuchte, als wollte ſich ein
Schrei aus ihr heraufringen, aber es kam nichts.
Totenſtill blieb es — und dann ging er in ſein
Atelier.
Dort ſaß er lange, ben Kopf in die Hand ge—
ſtützt und zog das Facit ſeines Lebens. Wie glücklich
hätte er ſein können mit einem Weibe wie Eva
an ſeiner Seite, in beſcheidenen Verhältniſſen, in
Liebe und Frieden, beglückt durch ſeine Arbeit, der
er das Nötige für Weib und Kind verdankte, denn
mit Eva dachte er auch an Kinder; und wie elend
war er jetzt!
Was hatten denn ſeine Frau und er miteinander
mehr gemein als nur den Namen? Welch ein Gefühl
verband ſie? So viel er auch ſuchte, er fand keins,
ſie waren nicht von einer Art!
Er hatte fi verkauft. Weshalb aber? Aus
Eitelleit? Die befaß er ja nit. Aus Geldgier?
Des Wohllebens etwa wegen? Sn feinem Charafter
fand fi feine einzige Leidenjchaft, der er irgend
ein Opfer bätte bringen brauden. Er war jo be:
Iheiden, jo anjprudslos. Das Einfahhlte genügte
ibm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! —
Warum alfo! — Warum?! — Er faß und fann —
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn dieje
Heirat jein Lebensglüd gekoftet, daß fie ihn elend
gemadht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen.
Und mit derjelben jhmerzlihen Melandyolie, bie
ihn feit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er
auch einige Tage Ipäter jeine Frau. Sie hatte rolige,
volle Wangen befommen und kam ihm fehr liebens:
würdig entgegen.
„IH hoffe, Du haft Di nach mir gejehnt!“
lagte fie jcherzend und blidte ihn prüfend an, zu:
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernadjläffigt
vor ihr eridien, wie fie gefürchtet. Aber er hatte
ja ein fchlechtes Gewillen und deshalb an alles ge:
dacht, nichts verfäumt; fi kaum bewußt, wie fehr
ih in diefen Handlungen Liebe und fchledhtes Ge:
wiflen ähnlich fheinen.
Er fab fie ernft an, es wiberftrebte ihm zu lügen.
„Nein,” fagte er, „ieh habe gearbeitet.”
Sie ladte.
„zino, Tino, Du bift erihredend ehrlih! Laß
mich Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.”
Er jchüttelte heftig den Kopf.
„Diele gehört mir; meine Thür ift verfchloffen.”
„Aud recht!” entgegnete fie gleihmütig und
lehnte fi in den Stuhl zurüd.
Er fürdtete, fie würde nah Eva fragen, gleich
am eriten Abend. Dann hätte er fich fiher verraten.
Sein Herz Elopfte jchon, wenn er nur daran dachte,
aber fie vergaß es. Wie gleichgültig waren ihr im
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten und
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren
Reifeerlebnifjen, von Fortunat und madte Pläne für
ven Winter; auf einmal unterbrah fie fi und
wandte fi ihm direkt zu.
Seine Augen prüften fie. Ihre Wangen waren
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor-
züglih aus. Aber ihm war fie eben fein Schönbheits-
ideal. Der Reiz des Vornehmen, Ungelannten
längft dahin.
„> ja!” gab er zögernd zu.
Sie zudte die Achjeln und ſchwieg von da an.
Welch einen jchwerfälligen, langweiligen Gatten fie
doch hatte! AN fein Genie half nicht über die öden
Stunden eines furzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel
leichter ließ es fih mit dem andern doch leben! —
Und was fie im Lauf der nädhften Tage auch
noch ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier
vor ihr verfchloffen hielt. Sie legte jo häufig die
Hand auf bas Schloß, freilih ohne fi zu melden,
aber immer vergebens.
Srob war fie, daß die Anjhaffung ihrer Herbft:
garderobe wenigftens einen Teil ihrer Zeit in An:
jpru nahm; ebenjo die Vifiten, die fie zum Beginn
der neuen Saijon überall erneuerte, mit Martin
war zu wenig anzufangen. Sie jah ihn kaum mehr,
lelbft zum Diner ließ er fich meiltens entjchuldigen
und aß dann heimlich, verjtohlen wie ein Verbrecher
bei feiner Mutter, wo es ihm jchmedte, und wo er
fi bingehörig fühlte, nady wie vor.
Aber eines Tages Stand fein Atelier doch offen,
die Statue war fertig. Nun hatte es feine Not
mehr mit dem BVerbergen. Was aller Welt gegeben
wurde, mochte feine Frau auch teilen, nur ging er
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie e®,
was ihn angeipornt hatte, gerade diefe Geftalt zu
Ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fich erft nod
mehr überlegen, was er ihr jagen folle.
Während er die einfamilen Wege im Stadtpart
aufjuchte, jaß Maud in der That vor feinem fich be:
freienden Sklaven. Sie ftaunte, fie war ergriffen,
erfchüttert! Sa, ihr Wann war ein gottbegnadeter
Künftler, nur ein folder fonnte das fchaffen.
Wenn er dagewejen wäre, würde fie ihm fltumm
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeiltertes
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; daß er
nit da war, trübte ihr etwas diejen ftolzen Augen
blid, aber eine Ahnung von dem, was die Statue
jagte und Klagte, fam ihr nicht. Sie jah ein Kunft:
werk, nichts weiter. Lälfig wandte fie den Kopf, als
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fih aud
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. hr
erftaunter Blid traf auf die vornehme junge Dame
im dunflen Seidenkleid, die, die Füße von fich ge
ftredt, in dem geichnigten Stuhl lehnte und fie
prüfend mufterte. Wie ein eleftriiher Schlag durdj-
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau!
Gie hatte fie noch nicht gefehen, troßdem jeit
Mauds Rückkehr fait eine Woche verfloffen war, und
ih auch nicht dazu gedrängt, falt hatte fie Furcht
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit
einem fjchüchternen Gruß vor ber fie mufternden
Gnädigen ftehen.
„Ber find Sie?” fragte Maud in ihrer etwas
A e —
821
hochmütigen Art, obgleih die friihe, hübjche Er:
I&einung des Mädchens ihr Wohlgefallen erregt hatte.
„Spa Leitner, gnädige Frau.”
„Ad ja — rihtig! Sie pflegen Frau Heelen.”
„Jamwohl, gnädige Frau.”
„Ih hoffe, Eva,” fagte Maub und fpielte mit
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen lajien,
Sie hergenommen zu haben. Bor allen Dingen
feinen Klatih mit den andern Dienfiboten — feine
Freundſchaften. Ych liebe das nit. Mein Mann
hat es “shnen wohl gejagt.“
„Jawohl, gnädige Frau.“
„Ihren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Ihnen
zufrieden bin, darauf kommt es mir nicht an; finde
ich aber irgendwelche Unzuträglichkeiten, dann bin
ich unnachſichtig. Es iſt mir lieb, daß ich Ihnen
das ſagen konnte.“
Eva ſtand vor ihr, den Kopf geſenkt, ſchweigend.
„Sie können jetzt gehen,“ ſagte Maud mit
einigem Befremden. „Oder vielmehr — ſuchten
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?“
„Ja, gnädige Frau.“
„Er iſt nicht hier — ſagen Sie das — meiner
— Schwiegermutter.“
Ungeduld klang aus ihrem Ton; Evoa ſchlich
davon. „Armer Martin,“ dachte ſie mit Thränen,
„das iſt Deine Frau? Die hat Dich nicht lieb! —
Nein — die hat Dich nicht lieb!“ —
Und in eiliger Haſt floſſen ihr die hellen
Thränen über die Wangen. Sie wiſchte ſie er—⸗
ſchrocken fort, aber als ſie eine Stunde ſpäter an
dem breiten Korridorfenſter ſtand, das auf den Hof
ging, nur um einmal einen Augenblick den neu:
gierigen Blicken und Fragen der Alten zu entgehen,
da floſſen ſie von neuem.
Sie verſuchte es, ſich mit Trotz zu wappnen.
„Was geht das mich eigentlich an, ob er glücklich
iſt, ob ſie ihn lieb hat! Dafür iſt er ja reich und
vornehm geworden ...“ Aber das Herz wollte
nichts mit dieſem Raiſonnement des Verſtandes zu
thun haben, es klopfte ſo ſchmerzlich, und endlich
faltete ſie die Hände.
„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitternden Lippen,
„id Tann nichts dafür — Du weißt e& — daß id
ihn jo lieb habe — lieber ale mein Leben! — Aber
wenn's ſchon ein Unredt ift — eine Sünde joll es
nie werben.”
Gie blidte zu dem grauen Himmel auf, an
dem fi die Regenwolfen jagten; etwas wie Troft
fam über fie. Wenn es feine Sünde wurde, hatte
fie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu fcheuen. —
Als Martin nad Haufe fam, empfing ihn jeine
Frau mit einem Widerjchein jener Begeifterung, Die
fie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine
Arbeit Hatte fie entzüdt. Aber diesmal fand ihr
glühendes Xob kein Echo in feinem Herzen; er wartete
nur beflommen, ob es nun nicht endlid — endlid)
fommen werde; die ragen, die er erwartete, die Bor:
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als
nichts fam, begriff er die Blindheit feiner Frau nicht.
„Und no eins, Zino, ih babe die Eva ge:
jehen! Ein nettes Mädchen — jogar hübjcdh für den,
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
822
der Geihmad an Derbheit und Kraft findet. Jeden—
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie
‚meinen Erwartungen entipricht, die ich ihr dringend
ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine
Mutter einmal ftirbt, für meine perfönlichen Dienfte
anlernen . . .”
Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, jeßte
fih aber gleih darauf in feine alte Pofitur, die ge:
falteten Hände zwilhen die Knie, vornübergebeugt,
mit gelenttem Kopf.
Sie jah ihn erftaunt an. „Was haft Du denn,
Tino? Weil ih den Tod Deiner Mutter erwähnte?
Aber das ift fentimental. Alles, was lebt, ift doch
unmeigerlidh dem Tode verfallen. — Jh glaubte, Dir
würde e8 angenehm fein, daß mir die Eva ganz
gut gefiel.“
„Ja! Ja!“ fagte er. „Aber Du wirft fie nicht
viel jehen!”
- Sie zudte die Adhfeln.
„Daran liegt mir allerdings nidhie. Jh muß
ja aud) erit jehen, ob fidh der gute Eindrud beftätigt.”
Es Hopfte.
„Herein!” rief die Frau des Haufes und Jah
fiy ziemlidy erftaunt um, denn es war bier nicht
Sitte, daB jemand unaufgefordert bei ber Herriähaft
eintrat. |
Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann
fagte fie mit bebender, leijer Stimme: „Es ift Be
lub da... bei der Mutter... ich jollt den
gnädigen Herrn rufen.”
Mit einem Sag fprang Heelen auf.
„Bit Du närriih, Ev’? Der gnädige Herr?
Was fol das heißen? Der Martin bin ich und
bleib ih für Did. Daß Du mir nit nody einmal
mit folden Dummbeiten fommit!”
Er ftürmte hinaus, rot vor Zorn im Gelidt.
Maud wandte fid) an das Mädchen, fie jah fie nicht
ohne eine gewille Freundlichleit an. „hr Taltge-
fühl bat Sie ganz richtig geleitet, Eva,” fagte fie
nidend. „Und troß des Herren Abwehr mwünjche ich
doch dergleihen Dertraulichkeiten nicht in meiner
Gegenwart. — MWiffen Sie übrigens, wer Diejer
Beſuch iſt?“
„Herr Quenſel!“
„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher,
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt.
Eda errötete heftig. Dieſer feinen Dame konnte
ſie doch nicht ſagen, daß er augenſcheinlich nur ihret—
wegen gekommen, daß es all ihrer Liſt bedurft hatte,
um ihm jedesmal zu entſchlüpfen, daß ſie auch heute
geflohen war.
„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau
ſchon zu Hauſe ſind,“ ſagte ſie endlich mit nieder—
geſchlagenen Augen.
Maud trat ihr näher. Etwas in dem Weſen
dieſes Mädchens intereſſierte ſie.
„Wahrſcheinlich. Aber warum ſind Sie ſo ver—⸗
legen, Eva; fürchten Sie ſich vor mir?“
Sie blickte blitzſchnell auf, ihre Augen ſtanden
voll Thränen; vor dieſer Frau fühlte ſie ſich ſchuldig
bis in den tiefſten Höllenabgrund, denn ſie liebte
ihren Mann.
819 Art zu Akt.
„Bute Naht” Hineingefhlüpft und Hatte die Thüre
verichloflen.
MWie ein Verdammter fland er in dem dunflen
Korridor, feine Bruft leuchte, als wollte fi ein
Scärei aus ihr beraufringen, aber e8 fam nichts.
Totenftil blieb e& — und dann ging er in fein
Atelier.
Dort jaß er lange, den Kopf in die Hand ge:
tüßt und 309 das Facit feines Lebens. Wie glücklich
hätte er fein können mit einem Weibe wie Eva
an jeiner Seite, in beicheidenen Verhältniffen, in
Liebe und Frieden, beglüdt durch feine Arbeit, ber
er das Nötige für Weib und Kind verbanfte, denn
mit Eva dadte er auch an Kinder; und wie elend
war er jeßt!
Was hatten denn feine Frau und er miteinander
mehr gemein als nur den Namen? Welch ein Gefühl
verband fie? So viel er auch jucdhte, er fand feing,
fie waren nit von einer Art!
Er Hatte fi verkauft. Weshalb aber? Aus
Eitelleit? Die bejaß er ja nit. Aus Geldgier?
Des MWohllebens etwa wegen? Syn feinem Charafter
fand Sich Feine einzige Leibenfchaft, der er irgend
ein Opfer bätte bringen braudhen. Er war fo be:
Icheiden, jo anjprucdheslos. Das Einfahlte genügte
ibm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! —
Warum aljo! — Warum?! — Er faß und fann —
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn dieje
Heirat fein Lebensglüd gefoftet, daß fie ihn elend
gemadht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen.
Und mit derjelben jhmerzlihen Melandyolie, die
ihn jeit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er
auch einige Tage Ipäter feine Frau. Sie hatte rolige,
vole Wangen befommen und fam ihm jehr lieben:
würdig entgegen.
„Ich hoffe, Du Haft Did nad mir gefehnt!“
ſagte fie jchergend und blidte ihn prüfend an, zu:
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernadläffigt
vor ihr erihien, wie fie gefürdhtet. Aber er hatte
ja ein jchledhtes Gewillen und deshalb an alles ge:
dacht, nichts verfäumt; fich kaum bewußt, wie jehr
ih in diefen Handlungen Liebe und Jdhlechtes Ge:
willen ähnlich jheinen.
Er jah fie ernft an, es widerftrebte ihm zu lügen.
„Nein,“ jagte er, „ich habe gearbeitet.”
Sie ladte.
„zino, Tino, Du bift erichredend ehrlih! Laß
mic) Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.”
Er jchüttelte heftig den Kopf.
„Diele gehört mir; meine Thür ift verjchloflen.”
„Aud recht!” entgegnete fie gleihmütig und
lehnte fi in den Stuhl zurüd.
Er fürdtete, fie würde nah Eva fragen, gleich
am eriten Abend. Dann hätte er fich ficher verraten.
Sein Herz EHopfte fchon, wenn er nur daran dachte,
aber fie vergaß es. Wie gleihgültig waren ihr im
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten und
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren
Reifeerlebnifjen, von Fortunat und madıte Pläne für
ven Winter; auf einmal unterbrah fie fi und
wandte fi ihm direkt zu.
Roman von 9. Schobert.
820
„Sindefit Du, daß ich mich erholt habe? Findet
Du, daß ich färker geworden bin? Beſſer ausſehe?“
Seine Augen prüften fie. Yhre Wangen waren
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor:
zügli aus. Aber ihm war fie eben fein Schönheits-
ideal. Der Reiz des Bornehmen, Ungelannten
längft dahin.
„> ja!” gab er zögernd zu.
Sie zudte die Achleln und jchwieg von da an.
Mel einen jchwerfälligen, Tangweiligen Gatten fie
do Hatte! AN fein Genie half nicht über die öden
Stunden eines furzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel
leichter ließ es fih mit dem andern doc leben! —
Und was fie im Lauf der nädhlten Tage aud)
noch ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier
vor ihr verichlofen hielt. Sie legte jo häufig die
Hand auf das Schloß, freili ohne filh zu melden,
aber immer vergeben®.
Srob war fie, daß die Anihaffung ihrer Herbft:
garderobe wenigftens einen Teil ihrer Zeit in An:
ipru nahm; ebenjo die Viliten, die fie zum Beginn
der neuen Gaifon überall erneuerte, mit Martin
war zu wenig anzufangen. Sie Jah ihn faum mehr,
jelbft zum Diner ließ er fich meiltens entfchuldigen
und aß dann heimlich, verftohlen wie ein Verbrecher
bei feiner Mutter, wo es ihm jchmedte, und wo er
fih hingehörig fühlte, nach wie vor.
Aber eines Tages ftand jein Atelier doch offen,
bie Statue war fertig. Nun hatte es feine Not
mehr mit dem Verbergen. Was aller Welt gegeben
wurde, mochte feine Frau aud teilen, nur ging er
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie es,
was ihn angeipornt hatte, gerade bdiefe Geltalt zu
Ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fi erft nod
mehr überlegen, was er ihr jagen jollte.
Während er die einfamilen Wege im Stabtpart
aufiuchte, jaß Maud in der That vor feinem fidh be:
freienden Sklaven. Sie ftaunte, fie war ergriffen,
erfhüttert! Sa, ihr Mann war ein gottbegnadeter
Künftler, nur ein folder konnte bas fchaffen.
Menn er dagewejen wäre, würde fie ihm flumm
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeiltertes
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; baß er
nit da war, trübte ihr etwas diefen ftolzen Augen:
blid, aber eine Ahnung von dem, was bie Statue
fagte und Hlagte, fam ihr nicht. Sie Jah ein Kunft:
werk, nichts weiter. Läffig wandte fie den Kopf, als
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fi aud
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. Ahr
erftaunter Bli traf auf die vornehme junge Dame
im dunklen Seidenkleid, die, die Füße von fich ge=
firedt, in dem geihnigten Stuhl lehnte und fie
prüfend mufterte. Wie ein eleftriijder Schlag durd-
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau!
Sie hatte fie noch nicht gejehen, troßdem jeit
Mauds NRüdkehr faft eine Woche verfloffen war, und
ih auch nicht dazu gedrängt, faft hatte fie Furcht
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit
einem jchüchternen Gruß vor der fie mufternden
Gnäbdigen ftehen.
„Wer find Sie?” fragte Maud in ihrer etwas
— — — — — ——
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Art zu Art. Roman von H. Schobert.
bodhmütigen Art, obgleih die frifhe, hübjhe Er:
Iheinung des Mädchens ihr Wohlgefallen erregt hatte.
„Eva Leitner, gnädige Frau.”
„Ah ja — richtig! Sie pflegen Frau Heelen.”
„Jamwohl, gnädige Frau.”
„Ih hoffe, Eva,” jagte Maud und fpielte mit
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen lajjen,
Sie hergenommen zu haben. Bor allen Dingen
feinen Klatjch mit den andern Dienfiboten — feine
FSreundichaften. ch liebe das nidt. Mein Mann
hat es Shnen wohl gejagt.”
„Jamwohl, gnädige Frau.”
„Shren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Ihnen
zufrieden bin, darauf kommt es mir nicht an; finde
ich aber irgendwelche Unzuträglichkeiten, dann bin
ich unnachſichtig. Es iſt mir lieb, daß ih Shnen
das ſagen konnte.“
Eva ſtand vor ihr, den Kopf geſenkt, ſchweigend.
„Sie können jetzt gehen,“ ſagte Maud mit
einigem Befremden. „Oder vielmehr — ſuchten
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?“
„Ja, gnädige Frau.“
„Er iſt nicht hier — ſagen Sie dase — meiner
— Schwiegermutter.“
Ungeduld klang aus ihrem Ton; Eva ſchlich
davon. „Armer Martin,“ dachte ſie mit Thränen,
„das iſt Deine Frau? Die hat Dich nicht lieb! —
Nein — die hat Dich nicht lieb!“ —
Und in eiliger Haſt floſſen ihr die hellen
Thränen über die Wangen. Sie wiſchte ſie er—⸗
ſchrocken fort, aber als ſie eine Stunde ſpäter an
dem breiten Korridorfenſter ſtand, das auf den Hof
ging, nur um einmal einen Augenblick den neu:
gierigen Blicken und Fragen der Alten zu entgehen,
da floſſen ſie von neuem.
Sie verſuchte es, ſich mit Trotz zu wappnen.
„Was geht das mich eigentlich an, ob er glücklich
iſt, ob ſie ihn lieb hat! Dafür iſt er ja reich und
vornehm geworden ...“ Aber das Herz wollte
nichts mit dieſem Raiſonnement des Verſtandes zu
thun haben, es klopfte ſo ſchmerzlich, und endlich
faltete ſie die Hände.
„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitternden Lippen,
„ich kann nichts daſir — Du weißt es — daß ich
ihn ſo lieb habe — lieber als mein Leben! — Aber
wenn's ſchon ein Unrecht iſt — eine Sünde ſoll es
nie werden.“
Sie blickte zu dem grauen Himmel auf, an
dem ſich die Regenwolken jagten; etwas wie Troſt
kam über ſie. Wenn es keine Sünde wurde, hatte
ſie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu ſcheuen. —
Als Martin nach Hauſe kam, empfing ihn ſeine
Frau mit einem Widerſchein jener Begeiſterung, die
ſie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine
Arbeit hatte ſie entzückt. Aber diesmal fand ihr
glühendes Xob Fein Echo in feinem Herzen; er wartete
nur beflommen, ob es nun nit endlid — endlich
fommen werde; bie Fragen, die er erwartete, die Vor:
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als
nichts fam, begriff er die Blindheit jeiner Frau nicht.
„And noch eins, XZino, ich habe die Eva ge:
jeben! Ein nettes Mädchen — jogar hübjch für den,
822
der Geijhämad an Derbheit und Kraft findet. Syeden-
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie
meinen Erwartungen entipriht, die ich ihr dringend
ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine
Mutter einmal ftirbt, für meine perjönliden Dienfte
anlernen . . .”
Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, Tebte
fih aber gleich darauf in feine alte Pofitur, die ge:
falteten Hände zwilchen die Knie, vornübergebeugt,
mit gejenttem Kopf.
Sie fah ihn erftaunt an. „Was haft Du denn,
Tino? Weil ih den Tod Deiner Mutter erwähnte?
Aber das ift fentimental. Alles, was lebt, ift dod
unweigerlid) dem Tode verfallen. — Ycd glaubte, Dir
würde e8 angenehm fein, daß mir die Eva ganz
gut gefiel.”
„Ja! Za!” jagte er. „Aber Du wirft fie nit
viel jehen!“
- Sie zudte die Achieln.
„Daran liegt mir allerdings nichts. Ih muß
ja auch erft jehen, ob fich der gute Eindrud beflätigt.“
Es Hopfte.
„Herein!” rief die Frau des Haufes und ah
fiy ziemlich erfiaunt um, denn es mar bier nicht
Sitte, daß jemand unaufgefordert bei ber Herrichaft
eintrat. |
Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann
fagte fie mit bebender, leifer Stimme: „Es ift Be:
juh da... bei der Mutter... ih follt den
gnädigen Herrn rufen.“
Mit einem Sat jprang Heelen auf.
„Bil Du närrifsh, Evo’? Der gnädige Herr?
Was fol das heißen? Der Martin bin ih und
bleib ih für Did. Daß Du mir nicht noch einmal
mit ſolchen Dummheiten kommſt!“
Er ſtürmte hinaus, rot vor Zorn im Geſicht.
Maud wandte ſich an das Mädchen, ſie ſah ſie nicht
ohne eine gewiſſe Freundlichkeit an. „Ihr Taktge⸗
fühl hat Sie ganz richtig geleitet, Eva,“ ſagte ſie
nickend. „Und trotz des Herrn Abwehr wünſche ich
doch dergleichen Vertraulichkeiten nicht in meiner
Gegenwart. — Wiſſen Sie übrigens, wer dieſer
Beſuch iſt?“
„Herr Quenſel!“
„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher,
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt.
Eon errötete heftig. Diejer feinen Dame konnte
fie doch nicht jagen, daß er augenjcheinlih nur ihret:
wegen gelommen, daß es all ihrer Lilt bedurft hatte,
um ihm jedesmal zu entichlüpfen, daß fie aud) heute
geflohen war.
„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau
ihon zu Haufe find,” jagte fie endlich mit nieder:
geichlagenen Augen.
Maud trat ihr näher. Etwas in dem Wejen
diefes Mädchens intereffierte fie.
„Wahricheinlid. Aber warum find Sie fo ver:
legen, Eva; fürdten Sie fid vor mir?“
Sie blidte bligfchnell auf, ihre Augen ftanden
vol Thränen; vor diefer Frau fühlte fie fi) Ichuldig
bis in den tiefften Höllenabgrund, denn fie liebte
ihren Mann.
——
823
„Wenn man mid hnen gegenüber verläftert
bat,” fuhr Maud gütiger als jemals zu einem Dienft-
boten fort, „jo glauben Sie es nit, Eva. Ich bin
zwar fireng, aber auch gerecht; und Sie gefallen mir.”
Schweigend griff das Mädchen nach der Hand
der Frau und Füßte fie Maub jah ihr überrafcht
nad. Diejes Dorjlind hatte fie fich anders gedacht.
Nah FTurzer Überlegung beihloß fie in das
Atelier binüberzugehen. Emil würde die Statue
bewundern. Daran mollte fie teilhaben. Und
dann ließ man fie auch jo viel allein, das wurde
auf die Dauer langweilig.
Als fie eintrat, jprang Emil faft outriert
böflih auf.
„Da der Berg nicht zu Mohammed fommt —”
fagte fie jcherzend und fegte fih .. . „Nun — wie
gefällt Ihnen die vollendete Arbeit meines Gatten?”
„Vollendet! — Aber gnädige Frau jehen vor:
züglih aus.”
„D ja. ch finde nur, baß es inzwilcdhen bier
recht langweilig geworden ijt, und Dabei ift Doc
Ihon alles zurüd; überall die Saloufien aufgezogen.
Warum ift Luzie nicht mit Zhnen gelommen? Ich
war doh don vor ein paar Tagen bei SYhnen?”
„Meine Schweiter wußte nicht, daß ich herging.”
„Dann Ihiden Sie fie mir morgen beftimmt,
nit wahr?”
Emil jhnippte bedädhtig mit dem Heinen Finger
die Alche von feiner Cigarette, er jah Maud nicht an.
„SH kann e3 Shnen nicht verjprecdhen, gnädige
rau. Kuzie ift feit diefem Sommer Mitglied ver:
Ihiedener Wohlthätigkeits:Vereine, das nimmt ihre
Beit jehr in Aniprud.”
Maud late auf.
jehr gedehnt.
„Damen aus den allerhödjiten SKreilen der Ge
jelichaft präfidieren da. Ihres Humors wegen er:
freut jih meine Schweiter bejonderer Beliebtheit!”
Maud wurde immer erjtaunter, etwas Feindfeliges
wehte fie an, ohne daß fie begriff, woher es fam.
„Ih zweifle ja gar nicht daran, Herr Quenſel,
aber gerade Zuzie . . . mein Erftaunen ift am Ende
gerechtfertigt — beucheln that fie doch mir gegenüber
wenigftens nie, und Vergnügen fann ihr das nicht
maden.”
„Meine gnädige Frau, ein mutterlojes Mädchen
bat auch etwas auf feinen Ruf zu achten. Linfere
Reſidenz ift ein gejegnetes Klatjchneft.”
Maud [chüttelte den Kopf, kein Zweifel, daß
Zuzie irgendwelche Berechnung zu diejer Handlungs:
weile trieb, fie fannte fie — und halb lachend er:
widerte fie: „Ich bin wirklich neugierig, Zuzie nach
dem Gebörten zu fprehen. Frauen find unterein-
ander meift offener als den Herren gegenüber; ich
erwarte fie morgen aljo beitimmt.”
„IH fürdte, morgen ift fie verjagt.”“
„Run dann, übermorgen.”
„Donnerstag auf keinen Fall.”
Maud Iprang auf.
„Run, dann werde ich fie ein zweites Mal auf:
Juden, um fie fiher zu treffen.”
Emil verbeugte ih ftumm.
„Aber —” jagte fie nur
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
524
„Sinftweilen viele Grüße. Und leben Sie
wohl!”
Sie reichte ihm nicht die Hand, fondern nidte
ibm nur zu, er batte fie beleidigt, und wenn er
das abfichtslos gethan haben Jollte, fühlen wollte fie
es ihn doc laſſen.
Aber es war eine unerflärlide Unruhe, die fie
in ihren Zimmern auf und ab trieb, ein Unbehagen,
bem fie feine Worte leihen konnte.
Es war heute ihr Empfangsabend, und da
war die gemütlide Plauderftunde, die fie jonft um
diefe Zeit mit Fortunat bielt, verbannt, er durfte
dann erft fpäter kommen, wenn fehon alle Gäfte
verjammelt waren.
Es würde heut noch leer bleiben, darauf war
fie gefaßt. In ihrer Schale lagen erft jehr wenig
Karten als Erwiderung auf all die unzähligen Be-
fuhe, die fie gemadht, und auh nur von Leuten,
die ihr ziemlich gleichgültig waren.
Sie trat an die Onyricdhale und ließ die
weißen Blätthen durch ihre Finger laufen, fein
einziger von den Namen war darunter, die ihr im
vergangenen Winter jo geläufig gewefen, mit defjen
Trägerinnen fie mande beitere Stunde verplaudert
hatte. — Sn vier Wochen würde das anders jein.
Jedes Interregnum bat etwas Froftiges, Ernüchtern:
des, und der Herbit gehört dazu vor allen Dingen;
man bat die Sommerfreuden binter fih und die
Wintercampagne noch nicht begonnen.
Maud blidte auf die Uhr, es war jchon ziem-
li jpät und fein einziger Bejucdh bis jeßt gemeldet.
Sie langmweilte fih. Das Modejournal hatte fie
durchgelehen, ein paar Bücher warf fie wieder bei-
feite, zum Xelen batte fie keine Luft. Endlich 309
fie die feidenen Gardinen zurüd und blidte in das
Duntel hinaus.
Ein ftarker Wind raujhte in den erft ball ent:
laubten Bäumen und jagte die Afte wie fid
wehrende Gefpenfter durdeinanderr. Maud dachte
an das nun bald vollendete Sahr ihrer Ehe und
was es ihr alles gebradjt.
Die Ydeale, die fie zuerft in ihrem Herzen ge:
tragen, waren erftorben, mit denen hatte fie ein für
allemal gebroden und wünjdhte audh nidt, fie
wieder zu erweden. Sie war eine andere geworben in
ihrem Denken und Fühlen. Heute würde fie
mandes mit andern Augen anjehen, in mandem
anders handeln. Aber das war num zu jpät, und
zu frucdtlojen Trauern war Maud zu prafiiih und
zu vernünftig. Es hieß nun, fi) mit dem Bor:
bandenen abfinden jo gut es ging, und fo lange
Fortunat an ihrer Seite blieb, jchien ihr das nicht
einmal jhwer. Audh die Gejellihaft, nach ber fie
ih immer gejehnt, in deren Mitte fie jegt land,
balf ihr genügend über die Leere ihres Daſeins
hinweg.
Alles in allem ftand ihre Rechnung nicht ein-
mal Ihlimm, nur an jolden Abenden wie dem
heutigen, einjan, mindumraufdt, da Tamen ihr
thörichte Gedanken.
Sie ließ den Vorhang fallen und ſetzte ſich in
die Nähe des Kamins, in dem ſchon täglich Feuer
— — — — — — —
—— =
825 Art zu Art.
brannte. Da jchellte ee. Gut, daß nun die
dummen Gedanken entgültig verbannt wurben, eine
Seele um fih zn haben, genügte dazu fchon, und
wenn es jelbit LZuzie war. Sie 309 die Munb-
winkel jpöttiich herab, als fie an Emils Benehmen
date. Wie hatte fi Luzie doch im vorigen Jahr
um fie gedrängt, immer wieder und wieder. Mandy:
mal war es ihr ordentlih auf die Nerven gefallen.
Nun verfudte fie jedenfalls in den SKreifen zu
angeln, was fi angeln ließ.
Fortunat rat ein, fein bübjches Geficht ah
verftört aus; Maud merkte das in dem Halbduntel
der verfchleierten Lampen nidt.
„Sie finden mich ganz allein, e8 muß nod
niemand zurüdgefehrt fein,” fagte fie und ftredte
ihm die Hand entgegen.
Er feßte fi ihr gegenüber.
„Birtid — allein —!“
bebte etwas.
„Sind Sie deshalb jehr traurig?” fragte fie
ſchalkhaft.
Was hätte er ihr ſonſt wohl geantwortet?
Heute ſchwieg er beklommen. Das fiel ihr ſchließ—
lich doch auf.
„Sie machen ein Geſicht, als ob Ihnen irgend
etwas Unangenehmes paſſiert wäre.“
Er legte die Hand über die Augen.
„Etwas Unangenehmes? — O Gott, gnädige
Frau, das iſt nicht der richtige Ausdruck.“
Sie beugte ſich ihm entgegen.
„Was es auch iſt, Fortunat, ſagen Sie mir
alles, was Sie drückt.“ Ihre Stimme klang ſo
weich, ſo zärtlich. Heeken hatte ſie nie ſo gehört.
„Ich weiß nicht, ob ich es darf — das iſt mir
die größte Qual,“ ſagte er bedrückt.
„Gewiß dürfen Sie.“
„Auch — wenn es ſich um — um Sie dabei
handelt, gnädige Frau?“
Sie fuhr zurück. „UUm mich? — Was kann
ich dabei zu ſchaffen haben?“
Er ſeufzte tief auf.
„Haben Sie viel Beſuche gehabt als Erwiderung
der Ihrigen?“ fragte er geſpannt.
„Nein — kaum nenneswert. Aber wie. ge:
hört das hierher?“ fragte ſie ungeduldig.
„Vielleicht doch. Man hat — man hat Sie
hier offenbar verleumdet, gnädige Frau — und ich
bin ſchuld daran.“
Er ſaß ganz gebrochen vor ihr, das lockige
Haupt wie ein Sünder geſenkt.
„Ich verſtehe Sie nicht“, ſagte ſie hart.
Sie deutlicher.“
Er zog einen Brief aus der Taſche und reichte
ihn ihr ſtumm. Es war ein anonymes Schreiben,
angefüllt mit Beſchuldigungen gegen ihn und Frau
Heeken. Man betonte ihren Beſuch bei ihm, ihr
Zuſammentreffen während der Reiſe, und kündigte
ihr an, daß die Geſellſchaft ſie in Bann und Acht
gethan, daß man künftig ihre Schwelle meiden würde.
Maud war ſehr blaß geworden, als ſie ihm den
a zurüdgab; jchweigend jahen fie fih in bie
ugen.
Seine Stimme
„Reden
RomansZeitung 1896.
Roman von H. Schobert.
826
„Allo darum,” jagte fie langfam und jentte
den Kopf, ihre Stimme Hang tonlos. Auf einmal
verftand fie alles. Cmils Benehmen, die Leere um
fie — „Shr anonyner Freund bat alfo recht mit
dem, was er jagt.” — Dann fprang fie heftig auf
und flampfte mit dem Fuß. „Aber es ift bod
nichts Böles! — Es ift nichts Böfes! Elende Ber:
dädtigung der id mich nie — nie beugen werbe!”
„Betehlen Sie über mich, gnädige Frau,” fagte
er. „Was kann ih thun?”
„Mein Gott, aller Welt entgegen mit dem
Bewußtſein unjeres guten Gewifjens.”
„Wird man mir glauben?”
„Unb wenn es jo gewejen wäre, wie ber Brief
behauptet, traut man mir die Niedrigleit zu, dann
wieder zurüdzulehren? Rraut man es meinem
Manne zu, mich wieder aufzunehmen?“
Er jeufzte tief.
Sie umllammerte feinen Arm.
„Reden Sie, Fortunat, — jpreden Sie ein
Wort — jagen Sie, dab es Zhnen gelingen wird,
diefe Lüge zu zeritreuen.”
„But! Sch werde alles thun! Wird man
mir aber glauben? ch bin ja Partei in der Sade,”
ſagte er außer fid.
Sie runzelte die Stirn und biß die Zähne zu-
jammen.
„Diele ſchlechten Menſchen! O dieſe ſchlechten
Menſchen!“ ſagte ſie. „Ich kann mir doch meine
Ehre nicht ſo ohne weiteres nehmen laſſen!“
„Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen etwas
ſagen ſollte,“ geſtand er. „Ich fürchtete die Auf—
regung für Sie, aber ſchließlich ging es Sie doch
auch an — ich fand mich nicht berechtigt, Ihnen
gegenüber zu ſchweigen.“
„Sie thaten recht!“ — Sie lief im Zimmer
auf und ab, in höchſter Erregung, kaum ihrer ſelbſt
mehr mächtig. Endlich begann ſie zu ſchluchzen
und weinte, ſich in einen Seſſel werfend, faſſungs⸗
los. In ratloſer Verzweiflung ſah er auf ſie
nieder. Da blickte ſie auf. Ein heißer, inniger
Strahl zitterte durch ihre Thränen hindurch.
„Und zu wiſſen wie wir gekämpft haben“,
ſagte ſie leiſe.
„Maud!!“ — Er warf ſich vor ihr auf die
Knie und küßte ihre Hände. „Maud — geliebte
Maud — noch einmal, — o, noch einmal will ich
das hören!“
Sie legte beide Hände auf ſein Haar.
„Iſt es nicht ſo?“ fragte ſie leiſe.
„Ja! — Tauſendmal ja! — Aber in dieſem
Augenblick, in dieſem einen nur, will ich Dir
wenigſtens ſagen, daß ich Dich liebe — bis zum
Wahnſinn, — und einmal will ich es hören —
wenn Du es kannſt!“ —
Sie beugte ſich über ihn; leiſe, ganz leiſe, ſo
daß er es kaum verſtehen konnte, flüſterte ſie: „Ich
liebe Dich, Alexander.“ —
Und dann küßten ſie ſich — einmal, nur ein
einziges Mal.
„Die Gemeinheit der Welt hat uns zuſammen⸗
geführt,“ ſagte Maud bitter und ſtrich das Haar
IV. 58
827 Art zu Art.
aus der glühenden Stirn. „Aber nur einen Augen:
blid durften wir uns vergeflen. Der Alltag tritt
wieder in feine Nedte. — Aber vergeilen werden
wir den Augenblid nicht.“
Sie reichte ihm die Hand; ohne ein Wort
drüdte er fie an jein Herz. Und dann faßen fie,
voneinander abgewandt, eine ganze Weile ftumm
da, um das Gleichgewicht ihrer Seelen miederzu:
finden.
„Was können wir nun thun?” fragte Maud
nach einer Weile bedrüdt.
Sn Fortunats Augen ftand ein helles Licht.
„3b weiß es!” jagte er mit voller Stimme.
„Dan wird Sie nicht mehr verbädhtigen von heute an.”
Sie ftand auf und trat auf ihn zu.
„Ia, mein Freund,” fagte fie mit jchwanlender
Stimme „Legen wir etwas zwildhen uns, das
trennender ift als das Meer. Was wir gethan,
durfte nicht fein, aber viclleiht war es heute nod
entihulbbar, morgen ift e& ein erbreden. — Und
wir find do alle Menſchen!“
Er hatte fi auch erhoben und ftand ihr gegen:
über, Auge in Auge; in ben feinen lag etwas von
der elftatiihen Glut eines Märtyrers.
„zeben Sie wohl!” jagte er langjam. „Sch
bitte nur um eins: verhärten Sie niemals ihr Herz
gegen mid, wie e8& auch fommen mag. Bewahren
Sie mir ftet3 ein freundliches Andenken, und glauben
Sie, daß Sie das einzige Weib find, das ich jemals
in meinem Leben geliebt babe und lieben werde.
Wollen Sie das?“
„Ja!“ fagte fie und reichte ihm die Hand.
Er füßte fie — dann ging er fort.
Kaum hatte er die Thür hinter fich geichloffen,
überlam fie eine furdhtbare Angf. Was wollte er
tdun? Hatte er nicht Abjcdhied von ihr genommen,
als wäre er ein Sterbender?
Sie lief gegen die Thür.
„gortunat!” jährie fie laut, dann preßte fie die
Hand an die Lippen. Draußen lungerte der Diener
herum, was jollte er benten, wenn er fie rufen
börte, oder ihre Erregung jah.
Sie flüchtete in die bunfelfte Ede des Zimmers
und preßte das Gefiht in bie feidenen Kiffen, ein
Schluchzen erſchütterte ihre Geftalt.
Roman von H. Schobert.
828
Wie wenig hatte fie bisher Thränen gelannt,
fie oft als Zeichen eines jchwachen Charakters ver-
ächtlich belächelt, nun gab ihr das Leben Grund
genug zum Weinen.
Sie war allein. Kein teilnehmendes Herz, in
das fie das ihrige ausfchütten konnte, kein Troſtes⸗
wort in der furdtbaren Angit, die fie marterte.
„Er wirb fih töten!” Tagte fie zwilchen den
zufammengepreßten Zähnen bindurd. „Er wird fidh
töten — und id bin Ihuld daran!”
Dann ftrih fie das Haar aus der heißen Stirn
und fühlte die brennenden Augen mit den Händen.
Die ruhige Überlegung kam ihr allmählich zurüd.
Nein, das leßte, das Schredliche that er gewiß
niht! Er würde daran denken, daß fie ja nicht
weiterleben fonnte unter diefer Verantwortung —
den Tod eines Menichen wie er war aud die Welt
nicht wert mit ihrem birnlojen, gemeinen Gellatich.
- Aber er würde gehen — reilen — fie nicht wieder:
Das war das beite, das ein-
Damit mußte fie zu:
jehen vor Jahren!
ige, wa8 er thun Ffonnte.
frieden fein.
Vol Schauer dachte fie an die kommende freud—
Ioje, einjante Zeit, und weil ihr die jo jchredlich er:
Ihien, deshalb eilten ihre Gedanken weiter, bis in
die fernfte Zukunft; bis fie fih nah Yahrzehnten
mit ihrem Manne eingelebt, ihr Haar vielleicht
grau, ihre Jugend dahin war. Wenn er dann zu:
rückkam — dann konnten fie ruhig und friedlich mit-
einander leben, ohne der Welt Grund zu böfer Nadı-
rede zu geben, dann fonnten fie lächelnd ihrer heißen,
entjagenden Liebe gedenken, ohne daß es ihnen zur
Sünde gerechnet wurde.
Wenn do diefe Zeit erft da wäre! Maud
haßte in diefem Augenblid ihre Jugend, ihr hübiches
Äußere, denn nur deshalb mußte fie jegt demjenigen
entjagen, von dem fich zu trennen ihr das Herzblut
foftete. Mit al ihrem Reihtum konnte fie fidh doch
nicht das erlaufen, was ihr Herz in diefem Augen:
blick am beftigften begehrte: Fortunats treues
Herz. —
Einftmals hatte fie die Liebe aus ihren An:
forderungen an das Leben geflrichen, nun war bie
| Liebe gelommen, um fi an ihr zu räden.
(Schluß folgt.)
829
Schwertllingen. Roman von Hans Werber.
830
Schweriklingen.
Baterländiiher Roman
von
Dans Werder.
(Bortfegung.)
I.
„Rohlig — Donnermwetter, bit Du’s wahr:
baftig? Zaufendmal willlommen!”
„Sa, ich bin es! Ad, Brünnow, Deine PVifage
erkenn' ich wieder, fonft aber ift von dem Schillichen
Hufaren nichts weiter übrig geblieben als ein
PBhilifter in Frad und Stulpftiefeln!”
„Se, it Dir’s denn nicht ebenfo ergangen, Du
dummer Kerl?” Sie umarmten ih. — „Seit wir
unfere fhöne Uniform nicht mehr tragen dürfen, er:
Icheint uns jedes Habit, das wir an uns jehen, wie
eine Affenjade!”
Es war vor der Thür des Buggenbdorfer Wohn:
baufes, wo bieje Begrüßung ftattfand, zur Früh:
fommerzeit, ein Jahr nach dem Untergange Scille
und feines Korps.
Brünnom nahm den Arm feines Gaftes und
führte ihn ins Haus hinein. „Na, höre, alter Freund,
Deinen linfen Hinterlauf jhonft Du aber immer
nod) ein wenig?“ bemerkte er dabei, Hafjo von ber
Seite betrachtend.
„Ja, das haben mir die Satanskerle, die ver⸗
dammten, um mit Excellenz Blücher zu reden, gründlich
beſorgt! Werdermann wollte mir ſogar eine kleine
Steifheit im Knöchel als ewiges Andenken prophezeien.
Nun, mir ſoll's recht ſein, am Reiten wird es mich
nicht hindern, und das iſt die trautſte Hauptſache!
Aber wohin reiten wir, Hans? Dieſe Frage iſt
ebenfalls wichtig! Die ganze Welt liegt in tödlichem
Frieden!“
„Nun, vor allen Dingen bleiben Sie zunächſt
gemütlich hier und ſprechen nicht bei der Ankunft
ſchon vom Fortreiten,“ miſchte ſich eine weibliche
Stimme ins Geſpräch. Sie ſtanden vor der Buggen:
dorfer Hausfrau. Brünnows Schweſter — unver—
kennbar, dasſelbe kräftig runde und doch weich ge—
ſchnittene Antlitz, mit dem flachsblonden Haar und
den energiſchen, blauen Augen. Sie ſchüttelte Haſſo
herzlich die Hand. „Charmant, daß Sie da ſind,
Herr von Rochlitz! Mein Bruder hat ſchon ſehn—
ſüchtig nach Ihnen ausgeſchaut. Nun ſollen Sie
mir ihn noch ein Weilchen feſthalten in Buggendorf,
nicht wahr? Lockere Vögel ſeid Ihr Schillſchen
allerdings. Hoffentlich beweiſt Ihr Euch nicht als
Zugvögel außerdem! Ich muß rechtzeitig zuſehen,
wie ich das verhindere!“
„Gnädige Frau, das ſollten Sie nicht zu früh
verrufen,“ erwiderte Haſſo. „Sobald die Schillſchen
Huſaren ins Quartier rückten, haben ſie ſich ſtets von
einer höchſt traitablen Seite gezeigt, zuweilen ſogar
ſchwer wieder los zu werden — das heißt, nur wo
es ihnen gefiel! Darin alſo könnten auch Sie jetzt
Erfahrungen ſammeln, ehe Sie ſich's verſehen!“
„Dann bitte, probieren Sie erſt, wie es Ihnen
bei uns gefällt, ehe Sie ſich in Permanenz erklären!“
gab Frau von Zarchow zurück, friſch und lebhaft auf
ſeinen Ton eingehend. „Mir ſoll es erwünſcht ſein,
und mein lieber Bruder Hans wird hoffentlich im
Intereſſe von Buggendorf Ihre Entſcheidung zu be—
einfluſſen wiſſen!“
Haſſo aber war ſeiner Sache bereits gewiß.
Solch ein Umgangston und dieſe warm und natürlich
aus dem Herzen quellende Freundlichkeit ſchufen
allemal um ihn die Lebensluft, in der er gern und
mit Behagen atmete. Ein wenig derb und kräftig
erſchienen ihm zuweilen die Formen, in denen ſich
Frau von Zarchow bewegte und worin ihr Gemahl
ſie reichlich unterſtützte. Ihr Bruder that desgleichen.
In früheren Zeiten hatte ſich Haſſo oft durch dieſe
Art ſeines Kriegskameraden Brünnow abgeſtoßen ge—
fühlt, da er dieſelbe für den Verkehrston innerhalb
bes Offizierkorps als nachteilig erkannte. Jetzt er:
götzte ſie ihn, ohne ſein Mißfallen zu erregen.
Brünnow dagegen ordnete ſich willig ſeinem Einfluß
unter, was er nie gethan zur Zeit, da jener ihm den
Vorrang abgewann in der Freundſchaft des Komman—⸗
deurs und in der führenden Stellung dem Offizier⸗
korps gegenüber.
„Sag' mir nur, Hans,“ meinte Haſſo einmal,
„warum haben wir eigentlich ſo wenig miteinander
verkehrt, die ganze Zeit von der Maikuhle bie zum
Frankenthor? Ich halte immer das Gefühl, als
gingeſt Du mir aus dem Wege?“
„That ich auch, mein guter Haſſo, das kann
ich Dir ganz genau ſagen!“ war Brünnows Ent—
gegnung. „Wer nicht nach Deiner Pfeife tanzen
wollte, war ſchlecht bei Dir angeſchrieben, das wirſt
Du wohl ſelber noch wiſſen! Nun, und dazu ver⸗
ſpürte ich keine Luſt! Du wollteſt immer einen ſo
höfiſchen, feinen Ton um Dich haben und nur ſelber
Skandal machen, wenn es Dir paßte! Und ich ſprach
lieber gerad' heraus, wenn es mir gefiel! Ein kerniges
Deutſch, wie mir der Schnabel gewachſen war. Und
wenn Du dann ſo mißbilligend über mich weg ſahſt,
das ärgerte mich! Komiſch, jetzt ärgerſt Du mich
nie mehr! Gefall' ich Dir nun beſſer, oder Du mir?“
„Du gefällſt mir mächtig, Hans, wenn auch
nur ſelten!“ erwiderte Haſſo lachend. „UUnd Du
magſt recht haben, wir gefallen uns gegenſeitig, ſo⸗
bald wir nur beide allein miteinander zu thun haben
831 Schwertllingen.
und feine Nebenintereflen unjer Einvernehmen flören!
Mir fol’s recht fein, wenn es jo bleibt zwifchen uns!”
Borläufig war bierzu gute Ausfiht. Die
Sommertage vergingen in ungeltörter Behaglichkeit.
„Wir müflen aber do endlih für unjeres
Gaftes Amufement fjorgen!” erklärte eines Tages
Herr von Zardhom, der jelber ftets für alle Arten
von „Amufements” zu haben war, „Wollen Sie
nicht ben alten Penzlower Veldegg bejuhen, Rodlig?
Den fogenannten Onkel Augufll? Er war ja immer
hr bejonderer Gönner?” |
„Jawohl, mein Gönner und Gaftfreund! Un:
vergegih! Wollen Sie mid hHinbringen nad)
Penzlom, ih würde Ihnen jehr dankbar fein!” Hafjo
feufzte leicht bei diefen Worten. Die Penzlower
Atmofphäre war für ihn von Erinnerungen jchwer!
Saft graute ihm vor dem Wiederjehen.
„Inwiefern ber fchrullige Alte zu unferes
Gaftes Erheiterung beitragen joll,* meinte Frau von
Zarchow, „ſehe ich zwar nicht recht ein! Da wär’
e3 doch praktischer, wir brächten ihn zu Gonreuths
nah Tiefenfee! Die jchöne Julie wird ihm mehr
zufagen als ihr griesgrämiger Onfel, der Penzlower!”
„Da madhen Sie fih ein ganz faljches Bild
von mir, Gnäbdigfte!” entgegnete Haflo in leichtem
Tone, do mit einem Drud auf dem Herzen. „IK
fehne mid vorläufig nur nah Onkel Auguft und
möchte mit Tiefenlee verichont bleiben!“
„Unfinn, folde Geihmadsverirrungen bulde ich
nicht!” eiferte die Hausfrau. „Sch jelber habe Sulie
lange nicht gejehen und werde nädhftens hinüber:
fahren! Da kommen Sie mit, ob Sie wollen oder
nicht! — Übrigens — im vorigen Sommer war ihr
Vater, der Oberftlieutenant von Beldegg, bei ihr
zum Beſuch. SZ das ein charmanter Her! Mit
feiner jüngeren Tochter! Kennen Sie die jdhon?”
„Ja!“ ſagte Haſſo.
„Er hat in Berlin bei Veldeggs verkehrt!“
ſetzte Brünnow erläuternd hinzu.
„Und dieſen Sommer iſt der Oberſtlieutenant
nicht in Tiefenſee?“ fragte Haſſo beklommen.
„Nein, ſoviel ich weiß, nicht. Im vorigen
Jahr war ſeine Tochter leidend und ſollte ſich in der
Landluft erholen. Man ſagt, ſie hätte einen der
Schillſchen Offiziere geliebt und fih jo vor Gram
und Sorge um ihn verzehrt. Wielleiht mwißt hr
beide Näheres darüber?”
„Keine Ahnung!” meinte Hans Brünnomw gleich:
gültig. „Wer fol!’ es denn fein? Weißt Du’s,
Hallo? ZN vielleicht nur ein leeres Gerede!”
Haſſo ſchwieg.
Die Fahrt nach Tiefenſee wurde wirklich unter⸗
nommen. Haſſo konnte ſich nicht ausſchließen, da
ſeine Weigerung das größte Befremden verurſacht
haben würde. Er war in ſeltſam erregter Stimmung
und dieſe äußerte ſich wie gewöhnlich in lautem Über—
mut, welcher bis zur größeſten Heiterkeit anſteckend
auf ſeine drei Gefährten wirkte. Dann plötzlich
wurde er ſtill und ernſt. Er kannte den Weg gar
wohl — ſie näherten ſich dem Ziele, und es war
als würde ſein Herzſchlag mühſamer, ſchwerer.
Da lag Tiefenſee, ſtill und träumeriſch in tiefes
Roman von Hans Werder.
832
Grün gebettet, ſich widerſpiegelnd in dem glatten
See, eine Flut von Sonnenglanz darüber ausgegoſſen.
Und dennoch war es ein ſchwermütiges Bild.
„Ich hätte nicht herfahren ſollen,“ ging es Haſſo
durch den Sinn. Schon aber hielten ſie vor der
ſtattlichen Einfahrt und Herr von Conreuth empfing
ſeine Gäſte mit Herzlichkeit. Haſſos unerwartetes Er—⸗
ſcheinen rief lebhafte Freude hervor, beſonders bei
der Herrin des Hauſes. Wie gewöhnlich ſagte ſie
ihm allerlei Artigkeiten über ſein Ausſehen, und daß
er als Schillſcher Held die Welt aus ihren Angeln
heben könnte. „Schade, daß Papa nicht mehr hier
iſt,“ meinte ſie. „Wie hätte er ſich gefreut, Sie
wiederzuſehen! Hoffentlich bleiben Sie noch in der
Gegend, bis er zurückkehrt, dann werde ich Sie es
wiſſen laſſen!“
„Und ich betrachte mich als miteingeladen,“ rief
Frau von Zarchow dazwiſchen. „Es iſt ein uner—⸗
hörtes Pech, daß ich ihn verfehlen mußte! Sie
wiſſen, Julie, ich ſchwärme für Ihren Papa!“
„Sehr ſchmeichelhaft! Papa wird es zu würdigen
wiſſen! Hoffentlich hält Berlin ihn nicht allzulange
feſt! Die Politik und alle die großen Sorgen füllen
jetzt gar zu ſehr ſein ganzes Leben aus!“
„Und Ihr ſchönes, melancholiſches Schweſterlein?“
fragte Herr von Zarchow. „Hat ſie ihren Vater nach
Berlin begleitet?“
„Nein, für ſie hat glücklicherweiſe die Politik
an Reiz verloren und ſo zog ſie es vor, bei uns
zurückzubleiben! — Im Walde iſt ſie, am See,
weiß der Himmel wo —“
„Hier!“ ſagte eine weiche Altſtimme und die
Glasthür klang, die auf eine roſenumrankte Veranda
hinausführte. Einen Schritt hörte man nicht — wie
eine Feengeſtalt glitt es durchs Zimmer.
Haſſo hatte ſich nicht umgewandt — der Herz—
ſchlag ſtockte ihm und jeder Puls und jede Lebens—
thätigkeit. Es war eine Starrheit, die ſekundenlang
währte. Dann löſte ſie ſich mit einem Gefühl körper:
lichen Schmerzes. Er erhob ſich langſam und ſtand
Renate gegenüber.
„Sie war ebenfalls wie verſteinert in ſtaunender
Überraihung. Schneeweiß ihr Geficht und die Augen
unnatürlich vergrößert. Sie wußte ja lange, daß
er am Leben geblieben war, fjchwer verwundet und
wieder genefen. Auch wie er vor dem Kriegsgericht
geftanden und Zeugnis abgelegt für feinen toten
Kommandeur, und drei Monate Feltungshaft dafür
erhalten — das alles wußte fie aus fiherften Quellen.
Und dennod hatte fie die Hoffnung faft aufgegeben,
ihm je wieder zu begegnen, weil das die Erfüllung
ihres beißeiten, qualvollen Sehnens bedeutete. Und
jest plöglih, jo unerwartet, jah fie ihn vor fi
jteben.
Hallo verneigte fih tief und fall. Sie machte
eine zagbafte Bewegung, ihm die Hand zu reichen,
doh er ah fie nidt. Stumm trat er zur Seite,
und Renate, mit der gejelihaftlichen Sicherheit, Die
oft eine zuverläffigere Stüße ift als die großen Ge-
fühle der Willenskraft und Selbftüberwindung, be:
grüßte die Arnmwejenden ruhig und unbefangen. Sie
nahm in dem Kreije Blab, Brünnow an ihrer Seite.
833
Er erkundigte fich lebhaft nach Elife von Rücdhel und
aus diefem Thema folgten andere, bie fie beide gleich
interejfierten im Angedenten an die Ichöne Ber:
liner Zeit.
Haſſo ſaß ſtumm und ſprach Fein Wort. „Herr
von Rochlitz, was iſt Ihnen eigentlich?“ rief Frau
von Zarchow ihm plötzlich über den Tiſch her zu.
„Was bedeutet dieſe finſtere Schweigſamkeit? Ich
erkenne Sie gar nicht wieder!“
Haſſo lehnte ſich in den Stuhl zurück und zog an
ſeinem langen Schnurrbart. „Gnädige Frau, wenn Sie
mich hier angreifen, ſo wehre ich mich meiner Haut!
Während der Fahrt noch drohten Sie, mich aus dem
Wagen hinauszubefördern, wenn ich nicht den Mund
hielte! Jetzt führe ich Ihren Befehl aus — und nun
ſind Sie dennoch nicht zufrieden!“
„So kennen Sie ihn nicht, Selma?“ neckte
Julie. „Dann währt wohl Ihre Bekanntſchaft noch
nicht lange? Für mich iſt er ſo erſt der rechte
Haſſo: luſtig bis zum Übermut oder ernſt und herb
bis zur Schroffheit! Das habe ich ſogar den guten
Major Schill an ihm tadeln hören!“
Jetzt ſchaute Renate auf, ihre Unterhaltung mit
Brünnow unterbrechend, und wendete ſich ihrer
Schweſter zu. „Bärſch war es, der das tadelte —
nicht Schill!“
Dieſe Erklärung, lebhaft und im beſtimmteſten
Tone gegeben, wirkte überraſchend. Für wen hatte
ſie eigentlich das Wort ergriffen? —
„Gehorſamſten Dank für dieſe Richtigſtellung,
mein gnädiges Fräulein, ſie iſt immerhin von Inter⸗
eſſe für mich!“ ſagte Haſſo.
Herr von Conreuth aber lächelte beluſtigt. „Alles
kann meine kleine Schwägerin vertragen, nur daß
der geheiligte Name Schill in einer Verbindung ge—
braucht wird, die ihr nicht zuſagt, das duldet ſie
nimmermehr!“
„Nimmermehr!“ wiederholte Renate und ihre
Stimme nahm einen tieferen Klang an.
Haſſo ließ einen forſchenden Blick auf ihr ruhen.
Sie erſchien ihm verändert, zarter, lieblicher geworden,
nicht mehr die kriegbegeiſterte Walküre, welche die
Helden zur Schlacht rief. Die Helden! Das Wort
enthielt einen Stachel für ihn ſeit jener bitteren
Stunde!
Die Unterhaltung wurde eine allgemeine und
behandelte die erneuten, unberechtigten Durchzüge
franzöſiſcher Truppen, von denen man fürchtete, daß
ſie ſich auf dieſe Gegend werfen würden. Renate
äußerte ihren Abſcheu vor franzöſiſcher Einquartierung,
die 9 von Berlin her in ſchrecklichſter Erinnerung
ſtand.
Haſſo mochte ſich an dem Geſpräch nicht be—
teiligen. Er erhob ſich und trat auf die Veranda
hinaus. Der Garten erſtreckte ſich bis zum Seeufer
hinab. Drüben ſtiegen in ſchwellenden Linien die
Wälder auf, vom Schimmer der ſinkenden Sonne
wie mit Goldſchaum überſtreut. Der Spiegel des
Sees gab das Bild in traumhafter Verklärung wieder.
Haſſo ſtützte ſich auf das grünumrankte Geländer und
ließ den Blick darüber hinſchweifen. Vom Walde
her rief der Kuckuck und er horchte darauf.
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
834
Plötzlich ſchrak er auf, Renate ſtand neben ihm.
Sie war ihm mit den Augen gefolgt, und dann
hatte ſie's ſelber nachgezogen mit unſichtbaren Ketten.
„Haſſo —“ ſtammelte fie in mühjam nieberge-
fämpfter Erregung — „ich habe Ahnen jo viel ab:
zubitten —”
„Ia?” fragte er zurüd und ein Läcdheln ging
über fein Gefiht. Sie jah es und es entmutigte
ſie unbeſchreiblich. Ihre Hand umſchlang krampfhaft
den leichten Holzpfeiler.
„Ja, Haſſo, ich habe Ihnen bitter Unrecht ge—
than! Ich habe Sie fo gänzlich mißverſtanden! —
Wie Sie ihn warnten, glaubte ich nur, Sie wollten
zurückbleiben! — Ach und Sie haltten recht mit
Ihrer Warnung, tauſendmal recht! Wenn wir ihr
gefolgt wären, mein Gott, dann lebte er noch, der
Held — und all ſeine Getreuen, die mit ihm ins
Verderben gingen! Albert Wedell —“ ſie hielt inne,
von ſchmerzlicher Erinnerung bewegt. Dann ſprach
ſie weiter. „Sie — hielten die Sache für ver—
loren von Anfang an und ſetzten dennoch Ihr Leben
und Ihre Ehre für dieſelbe ein! — Und ich — ich
zweifelte an Ihnen!“
Haſſo ſah ſie an. Ein faſt nervöſes Mienen—
ſpiel zuckte auf ſeinem ausdrucksfähigen Geſicht.
„Aber Haſſo,“ fuhr ſie wieder fort, als er noch
immer ſchwieg, „warum ſagten Sie mir nicht, daß
Sie dennoch mitgehen wollten! Wie konnte ich es
wiſſen! Ein einziges Wort von Ihnen hätte das
Mißverſtehen aufgeklärt! War ich Ihnen ſo viel
nicht einmal wert?“
Da richtete ſich Haſſo auf. Ein kaltes Licht
blitzte in ſeinen Augen. „Ja, meinen Sie denn,
Fräulein Renate, daß die tödliche Beleidigung
Ihres Zweifels dadurch gut gemacht wurde, daß
ich denſelben aufklärte? — Sie hielten mich für ein
altes Weib, das hinterm Ofen ſitzen bleibt, während
mein Regiment ins Feld rückte — iſt das keine Be—
leidigung? Schafft es mir Genugthuung, wenn ich
Ihnen erzähle, nein, Sie irren ſich, ich reite mit?“
Er lachte bei dieſen Worten.
Renate ſtarrte ihn an, von Schreck und Schmerz
überwältigt. Er nahm dieſen Blick ſekundenlang mit
Bewußtſein in ſich auf.
„Fräulein Renate,“ begann er halblaut, „er⸗
innern Sie ſich noch, was ich Ihnen geboten an
jenem Tage? Die nie zuvor verausgabte Liebe eines
ganzen Menſchenlebens — vor Ihnen hingeſchüttet
— Sie konnten mit Händen darin wühlen! Wiſſen
Sie es noch? Sie traten mit Füßen darauf! —
Und wenn Sie mich nicht lieben konnten — ſo
viel Vertrauen und Achtung durfte ich doch wohl
verlangen, daß Sie mich für einen anſtändigen
Menſchen hielten. Ein kleines Bruchteil von dem,
was ich Ihnen in anbetender Hingebung entgegen—
brachte — und ein Mißverſtehen zwiſchen uns wäre
unmöglich geweſen! Ich hätte nie an Ihnen zweifeln,
nie an Ihnen irre werden können! — Und nun
ſoll ich Ihnen verzeihen, was Sie mir da angethan
haben? Sie wiſſen nicht, was Sie fordern!“
„Aber Haſſo,“ flehte ſie mit trockener Kehle,
trockenen Lippen. „Wenn ich mein Unrecht einſehe,
835
beflen Tragweite ich jelber nicht begriff, Ihre Ver:
geihung erbitte — was fan id denn noch mehr
thun?“
Haſſo fühlte die Eisſchollen in ſeinem Herzen,
von denen er früher einmal geſprochen — und der
Schmerz der troſtloſen Erſtarrung ward ihm ſelber
zur unerträglichen Qual.
Als er keine Antwort gab, regte ſich der Stolz
in dem tapferen Mädchenherzen. „Haſſo, Sie ſind
grauſam und ungerecht gegen mich!“ ſagte ſie mit
zitternder Stimme.
„Meinen Sie, Fräulein Renate?“ fragte er
weicher. „Ich glaube es kaum! Ich erkenne Ihr
gütiges Entgegenkommen an und bin Ihnen dank—
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden
heut ſo wenig Verſtändnis als vor einem Jahre —
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf
einzugehen vermag!“
Renate ſchwieg. Ihre Hände zerrten in beben-
der Erregung an den Ranken und zerpflückten die
Blätter. Ein Dorn ſtach ſie in den Finger, ſo daß
ſie zuckend losließ. Sie legte die Hand vor die
Augen.
„Ihre Frau Schweſter ſcheint Sie zu ſuchen,“
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonloſer
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“
Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch
und ſchickte ſie fort! —
Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen,
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald—
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen—
ſee geriet faſt in Aufregung darüber.
„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener
Stimme. „Hoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund,
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“
„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt
feindſeligen Blick auf den Neffen.
„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De—
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“
„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher
wiſſen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu?
Aber ich hab' welche!“ Er ſchlug auf ſeine Bruſt,
daß die Papiere in der Taſche ſeines Rockes raſchelten.
„Verdammte, niederträchtige Nachrichten! Hat die
Satansmwirtichaft nicht bald ein Ende, jo holt ung
alle miteinander der Teufel!”
„Durhbohren Sie mich nicht mit Ihren Bliden,
verehrter Dheim! Ah Fanıı nichts dafür und bin
ganz Zhrer Anficht! Kommen Sie nur, werden Sie
erft gemütlih!” Er 309 ihn Hin zu dem Garten:
zimmer, wo die Gejellihaft beifammen jaß, doch der
Einfiedler blieb zornig auf der Schwelle ftehen.
„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da
Schwertllingen.
Roman von Hans Werber.
836
jol ich hinein? Neveu, wie können Sie fidh unter-
ftehen, mir das zuzumuten!”
„Es find ja Shre beiden Nihten, Julie und
Renate — und Frau von Harhom! Weiter kein
MWeibsbild! Und zwei Schillihe Offiziere — Brünnow
und Rodlig! Alte Bekannte von Zhnen!”
Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende
Handbewegung, trat danıı aber zögernd näher, er:
wiberte die Begrüßungen von weiten und nahm
ftumm in einem Wintel Plab.
Herr von Conreuth ließ eine Flafhe Rheinwein
holen und die erwärmte jeltiam das Herz des ver:
trodneten Alten. Zunädhft Eranıte er feine Nachricht
aus, die ihn bergeführt, und die allerdings einige
Aufregung bervorrief! Drei franzöfiihe Divifionen,
auf dem Durhmarich nach Danzig begriffen, jollten
in ben nädften Tagen dieje Gegend palfieren, und
davon einige Regimenter Ruhetag haben. Die ftets
heitere Laune verfhwand von des Hausherren Klarer
Stirn. Was waren Froft und Kagelihaden, Über:
Ihmwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen jolcher
frangöftiden Einquartierung — mit Ruhetag nod
dazu! —
Onkel Auguft, jobald er den Eindrud diefer
Hiobspoft gewahrte, lenkte jein Intereſſe von derfelben
ab, um es den beiden Schillihen Offizieren zuzu:
wenden. Das NRheinmweinglas warb abermals ge:
füllt — ſchon fchüttelte er den beiden jungen Männern
die Hand.
„Heute bat der Satanas, Gottjeibeiuns, ber
Obermeifter aller Henter, jeine Fauft über uns und
läßt feinen gejunden Gedanken auffommen in einer
Menſchenbruſt, Fein vernünftiges Wort in einer
Zeitung. Aber die Geihichte — die wird darüber
urteilen, was Schill gemwejen ift, was Ihr geweſen
jeid, hr Teufelsferls, die Yhr mit ihm geritten feid!
MWenn meine Knochen nicht jo alt und morjch wären
— aber die Gedichte, die wird es enticheiden!” —
Er leerte wieder jein Glas.
„Warum waret SJhr no nicht bei mir, hr
Malefizterle! Penzlow liegt eine halbe Stunde von
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarchom?
Und Sie haben zwei Schillihe Offiziere im Haufe —
den von Rohlig nod) dazu — und noch Feiner ift bei
mir gewejen!”
Zarchow ſchwor beim Barte des Propheten, daß
er morgen mit den beiden hiniüberreiten würde, und
fie nahmen den Schwur befräftigend auf.
Als die Buggendorfer fich zur Heimfahrt rüfteten,
war Renate verihwunden. Frau von Zarhomw zer:
brah Sich über diefen Mangel an guter Form bei
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf
faft während der ganzen Rüdjahrt, tadelte auch ſonſt
ihr eigentümliches Benehmen. Zarhow und Brünnom
verteidigten fie und Shwärmten für das Schöne Mädchen.
Stau Selma geriet in Zorn.
„Sie jollen mir beiftehen, Herr von Rodlig,”
Ichalt fie, „was figen Sie da wie ein Ölgöge!“
„sh Itehe Shnen ja immer bei, feien Sie dod
nicht gleich fo böle!” verteidigte er fih. „Diesmal
aber fann ich nichts jagen! Denn, ob ich Ihnen
beiftimme oder Ahnen widerjpreche, beides wäre un:
837
Schwerttlingen.
galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl:
ſpruch!“
Dabei kam ihm das Gefühl, heute gegen Renate
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern
auch unverſöhnlich, ungerecht, unritterlich! Und
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter
leben zu ſollen.
II.
Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute-
nants und zweihundert Pferde meldete der fran-
zöftiche Fourieroffizier. Mit großer Grünblichkeit
befitigte er die Quartiere in Tiefenjee und gab
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere.
Das Haus war nicht allzu groß und jo blieb für
Herrn von GConreuth und feine Familie nur jehr
wenig Raum übrig.
„In zwei Stunden lünnen fie bier jein, id) er:
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herren von
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie:
mand wunderte fich darüber. Jedermann im ganzen
Lande wußte nun feit bald vier Yahren, was e8
auf fi hatte mit franzöjiiher Einquartierung.
„Solonel Daricot — AYulie, ob das nicht jener
Daricot fein mag, der mit General Bonfanti in
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate ſprach
es finnend vor fih hin, während fie, auf dem Belt:
ranbe figend, ihr lodiges, duntelbraunes Haar fämmte
und zum Haffiihen, griechiichen Knoten aufwand.
Sie teilte mit ihrer Schwefter eine Dadylammer, als
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite
nebenan bewohnte der Hausherr. Hier war man
wenigftens der lärmenden Nähe diefer ungebetenen
nn entrüdt und das konnte als größter Vorzug
gelten.
„Sa, das wäre jhon möglich,” erwiderte Julie.
„Die Herren avancieren jchnell in der großen Armee!
So viel ich mich entfinne, war diejer Adjutant Daricot
ein hübjcher, eleganter Menſch!“
Renate hauderte — wie unter dem Eindrud
einer widerwärtigen Erinnerung. Do Tchwieg fie.
Sa, ein hübjcher, eleganter Menich mochte er gewejen
fein, der Adjutant bes Generals Bonfanti! Einmal
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was
bis dahin niemals gejchehen. Sie jaß allein darin
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche
Worte und wollte fie füllen. Sie chlug ihm ins
Gefiht mit ihrer Kinderhand und ftürzte hinaus.
Es war ber verhaßtefte Augenblid ihres Lebens,
und er flieg mit erjchredender Deutlichkeit vor ihr
or.
Jetzt ertönte Lärm und Waffengetöſe vom Hofe
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung
in Empfang zu nehmen, obſchon ſie ſeiner nicht be—
durften. Sie waren jetzt die Herren des Hauſes.
Julie und Renate verblieben in ihrem Dach—
kämmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit,
Roman von Hans Werder.
838
dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen:
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als:
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit
tabellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an
erihienen alle andern wie in ben Schatten geitellt.
Er war freilihd eine föne Erfcheinung, glänzend
gehoben durch die prächtige Uniform mit Sternen
und Drdensbändern.
Sa, er war ed, Renate erlannte ihn auf den
erften Blid. Und als er fich jeßt, von der Hausfrau
fort, ihr zumandte, blißte es in feinen jchwarzen
Augen auf — erft wie fuchende Erinnerung, dann
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver:
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflichen Wen:
dungen, ob er noch die Ehre habe, von ihr gelannt
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen.
„Ich ſpreche nicht franzöfiih!” war ihre eifige
Antwort.
Er lächelte. „Aber Sie verftehen es, Mabe:
moifele! Und ich verftehe volllommen beutich, da
ich jeit über drei Sahren in diefem rauhen Lande
umberziehe. Wir werden uns bemnad aufs trefi:
lichfte verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus:
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate ja
ihm gegenüber und faft unausgejegt rubten jeine
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre
Haltung verriet nichts als Falte Nichtachtung.
Er jprad eingehend von jener Berliner Zeit,
wo er fi mit feinem General auf dem Durdhmarich
nad Kolberg befunden habe, und weldhe harte Arbeit
die Belagerung diejer trogigen Seite gemwefen ſei. Er
erinnerte daran, mit welcher hohen Bewunderung
General Bonfanti ftet® von Gneifenaus unvergleid:-
lihem Feldherrngenie und Schils tolfühner Tapfer:
feit geiprodhen — biejer feiner fchlimmften Gegner,
melde Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung
jo jhwer gemadt. „Schade,“ jeßte er dann leicht
hinzu, „damals jah man in diefem Schill einen
Helden, und fohließlih bat er fih als Brigand de-
coupriert!”
„Sie verzeihen — er war ein preußilcher Dffi:
zier!” bemerkte Herr von Conreuth mit jcharfer Be:
tonung.
Der Franzofe lachte, und die Seinen ftimmten be-
reitwilligft ein. „Tant pis pour l’armee prussienne!“
damit bob er fein friichgefülltes Weinglas gegen den
Hausberrn. Ein wütender Zorn Tochte in biefem auf.
Doch ehe er noch ein Wort gefunden, bog fi) Renate
vor — totenblaß, mit fhwarzglühenden Augen.
„DMonfieur, Ste willen,“ fagte fie mit zorn-
bebender Stimme, „baß Sie als Gaft am Tiiche
eines preußiichen Dffiziers fiten! Sie willen, daß
jener Mann, defien Namen Sie ausipraden, ein Held
war und kein Räuber! Niemand weiß es befler
als Sie, der die Ehre gehabt, gegen ihn zu kämpfen!“
Spradlos ftarrte der Franzoje fie an. Syhre
Schönheit hatte in diefem Augenblid etwas Dämo-
nilches, das ihn überwältigte. Er verneigte fi vor
ihr. „Mademoijele — ich weiß es jet, denn Sie
835 Schwertllingen.
beflen Tragweite ich jelber nicht begriff, Ihre Ver:
—— erbitte — was kann ich denn noch mehr
thun?“
Haſſo fühlte die Eisſchollen in ſeinem Herzen,
von denen er früher einmal geſprochen — und der
Schmerz der troſtloſen Erſtarrung ward ihm ſelber
zur unerträglichen Qual.
Als er keine Antwort gab, regte ſich der Stolz
in dem tapferen Mädchenherzen. „Haſſo, Sie ſind
grauſam und ungerecht gegen mich!“ ſagte ſie mit
zitternder Stimme.
„Meinen Sie, Fräulein Renate?“ fragte er
weicher. „Ich glaube es kaum! Ich erkenne Ihr
gütiges Entgegenkommen an und bin Ihnen dank—
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden
heut ſo wenig Verſtändnis als vor einem Jahre —
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf
einzugehen vermag!“
Renate ſchwieg. Ihre Hände zerrten in beben—
der Erregung an den Ranken und zerpflückten die
Blätter. Ein Dorn ſtach ſie in den Finger, ſo daß
ſie zuckend losließ. Sie legte die Hand vor die
Augen.
„Ihre Frau Schweſter ſcheint Sie zu ſuchen,“
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonloſer
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“
Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch
und ſchickte ſie fort! —
Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen,
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald—
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen—
ſee geriet faſt in Aufregung darüber.
„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener
Stimme „vHoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund,
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“
„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt
feindſeligen Blick auf den Neffen.
„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De—
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“
„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher
wiſſen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu?
Aber ich hab' welche!“ Er ſchlug auf ſeine Bruſt,
daß die Papiere in der Taſche ſeines Rockes raſchelten.
„Verdammte, niederträchtige Nachrichten! Hat die
Satanswirtſchaft nicht bald ein Ende, ſo holt une
alle miteinander der Teufel!“
„Durchbohren Sie mich nicht mit Ihren Blicken,
verehrter Oheim! Ich kann nichts dafür und bin
ganz Ihrer Anſicht! Kommen Sie nur, werden Sie
erſt gemütlich!“ Er zog ihn hin zu dem Garten—
zimmer, wo die Geſellſchaft beiſammen ſaß, doch der
Einſiedler blieb zornig auf der Schwelle ſtehen.
„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da
Roman von Hans Werder.
836
ſoll ich hinein? Neveu, wie können Sie ſich unter⸗
ſtehen, mir das zuzumuten!“
„Es ſind ja Ihre beiden Nichten, Julie und
Renate — und Frau von Zarchow! Weiter kein
Weibsbild! Und zwei Schillſche Offiziere — Brünnow
und Rochlitz! Alte Bekannte von Ihnen!“
Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende
Handbewegung, trat dann aber zögernd näher, er—
widerte die Begrüßungen von weitem und nahm
ſtumm in einem Winkel Platz.
Herr von Conreuth ließ eine Flaſche Rheinwein
holen und die erwärmte ſeltſam das Herz des ver—⸗
trockneten Alten. Zunächſt kramte er ſeine Nachricht
aus, die ihn hergeführt, und die allerdings einige
Aufregung hervorrief! Drei franzöſiſche Divifionen,
auf dem Durchmarſch nach Danzig begriffen, ſollten
in den nächſten Tagen dieſe Gegend paſſieren, und
davon einige Regimenter Ruhetag haben. Die ſtets
heitere Laune verſchwand von des Hausherrn klarer
Stirn. Was waren Froft und Kagelihaden, Über:
Ihwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen folcher
franzöfifden Einquartierung — mit Ruhetag nod
dazu! —
Dnfel Auguft, jobalb er den Eindrud Dieler
Hiobspoft gewahrte, Tenkte fein Sinterefje von derielben
ab, um es den beiden Schillihen Offizieren zuzu:
wenden. Das Nheinweinglas warb abermals ge:
fült — Ion jhüttelte er den beiden jungen Männern
die Hand.
„Heute bat der Satanas, Gottjeibeiuns, der
Dbermeifter aller Henter, feine Fauft über uns und
läßt feinen gejunden Gedanlen auflommen in einer
Menſchenbruſt, fein vernünftiges Wort in einer
Zeitung. Aber die Geichichte — die wird darüber
urteilen, was Schill gewefen ift, was hr gewejen
jeid, Zhr Teufelsferls, die Zhr mit ihm geritten jeid !
Wenn meine Knochen nicht fo alt und morjch wären
— aber die Gedichte, die wird es entiheiden!” —
Er leerte wieder jein ®las.
„Warum mwaret hr noch nidht bei mir, Ahr
Malefizterle! Penzlow liegt eine halbe Stunde von
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarhom?
Und Sie haben zwei Schilliehe Offiziere im Haufe —
den von Rodhlig no) dazu — und nodh Feiner ift bei
mir gewejen!”
Zarhow jhwor beim Barte des Propheten, daß
er morgen mit den beiden hinüberreiten würde, und
fie nahmen den Schwur befräftigend auf.
Als die Buggendorfer fih zur Heimfahrt rüfteten,
war Renate verhmunden. Frau von Zardom zer:
brabh fi über diefen Mangel an guter Form bei
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf
faft während der ganzen Rüdfahrt, tadelte auch jonft
ihr eigentümliches Benehmen. Zardhomw und Brünnow
verteidigten fie und Ichwärmten für das jchöne Mädchen.
Frau Selma geriet in Zorn.
„Sie jollen mir beiftehen, Herr von Rodlig,”
Ihalt fie, „was fiten Sie da wie ein Dlgöße!”
„Ih ftehe Ihnen ja immer bei, jeien Sie doc
nicht gleich jo böfe!” verteidigte er fih. „Diesmal
aber kann ich nichts jagen! Denn, ob id Ahnen
beiftimme oder Ahnen widerjpredhe, beides wäre un:
837 Schwertilingen.
galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl:
ſpruch!“
Dabei kam ihm das Geſühl, heute gegen Renate
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern
auch unverföhnlih, ungerecht, unritterlich! Und
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter
leben zu ſollen.
II.
Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute—
nants und zweihundert Pferde meldete der fran—
zöſiſche Fourieroffizier. Mit großer Gründlichkeit
befihtigte er die Quartiere in Tiefenlee und gab
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere.
Das Haus war nit allzu groß und fo blieb für
Herrn von Gonreuth und jeine Familie nur jehr
wenig Raum übrig.
„In zwei Stunden fünnen fie bier fein, ich er:
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herrn von
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie:
mand wunderte fich darüber. Sedermann im ganzen
Lande wußte nun feit bald vier SYahren, was es
auf fi hatte mit franzöfiiher Einquartierung.
„Solonel Daricot — Aulie, ob das nicht jener
Daricot jein mag, der mit General Bonfanti in
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate ſprach
es finnend vor fi hin, während fie, auf dem Bett:
rande figend, ihr lodiges, dunfelbraunes Haar fämmte
und zum Klaffiihen, griechiichen Knoten aufwand.
Sie teilte mit ihrer Schwefter eine Dachlammer, als
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite
nebenan bewohnte der Hausbherr. Hier war man
wenigftens der lärmenden Nähe diefer ungebetenen
a entrüdt und das konnte als größter Vorzug
gelten.
„3a, das wäre Schon möglich,” erwiderte Sulie.
„Die Herren avancieren fchnell in der großen Armee!
So viel ih mich entfinne, war diefer Adjutant Daricot
ein bübjcher, eleganter Menich!”
Renate jchauderte — wie unter dem Eindrud
einer widerwärtigen Erinnerung. Doch fchwieg fie.
Ya, ein hübjcher, eleganter Menih mochte er gewejen
jein, der Adjutant des Generals Bonfanti! Einmal
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was
bis dahin niemals geihehen. Sie jaß allein darin
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche
Worte und wollte fie füflen. Sie jhlug ihm ins
Gefiht mit ihrer Kinderhand und flürzte hinaus.
Es war der verhaßteite Augenblid ihres Lebens,
und er flieg mit erjchredender Deutlichkeit vor ihr
empor.
Segt ertönte Lärm und Waffengetöfe vom Hofe
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung
in Empfang zu nehmen, obidhon fie feiner nicht be:
durften. Sie waren jeßt die Herren bes Haujes.
Sulie und Renate verblieben in ihrem Dad}:
fämmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit,
Roman von Hans Werber.
838
dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen:
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als:
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit
tadellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an
erihienen alle andern wie in ben Schatten geitellt.
Er war freilid eine jchöne Eriheinung, glänzend
gehoben dur die prächtige Uniform mit Sternen
und Drdensbändern.
Sa, er war e8, Renate erfannte ihn auf den
erften Blid. Und als er fi jeßt, von der Hausfrau
fort, ihr zumandte, bligte es in feinen ſchwarzen
Augen auf — erft wie juchhende Erinnerung, dann
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver:
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflihen Wen:
dungen, ob er noch) die Ehre habe, von ihr gelannt
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen.
„SH Ipreche nicht franzöfiih!” war ihre eifige
Antwort.
Er lächelte. „Aber Sie verftehen eg, Made:
moifele! Und ich verftehe volllommen deutih, da
ich jeit über drei Sahren in diefem rauhen Lande
umberziehe. Wir werben uns demnadh aufs treff:
lichfte verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus:
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate jaß
ihm gegenüber und faft unausgefegt rubten jeine
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre
Haltung verriet nichts als Falte Nichtachtung.
Er jprad eingehend von jener Berliner Zeit,
wo er fi mit feinem General auf dem Durhmar|ch
nad Kolberg befunden habe, und melde harte Arbeit
die Belagerung biejer troßigen Felte gewefen jei. Er
erinnerte daran, mit welder hoben Bewunderung
General Bonfanti ftet8 von Gneijenaus unvergleidh:
lidem Feldherrngenie und Schills tollfühner Tapfer-
keit geſprochen — dieſer ſeiner jchlimmften Gegner,
welche Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung
ſo ſchwer gemacht. „Schade,“ ſetzte er dann leicht
hinzu, „damals ſah man in dieſem Schill einen
Helden, und ſchließlich hat er ſich als Brigand de—
couvriert!“
„Sie verzeihen — er war ein preußiſcher Offi⸗
zier!“ bemerkte Herr von Conreuth mit ſcharfer Be—
tonung.
Der Franzoſe lachte, und die Seinen ftimmten be-
reitwilligſt ein. „Tant pis pour l'armée prussienne!“
damit hob er ſein friſchgefülltes Weinglas gegen den
Hausherrn. Ein wütender Zorn kochte in dieſem auf.
Doch ehe er noch ein Wort gefunden, bog ſich Renate
vor — totenblaß, mit ſchwarzglühenden Augen.
„Monſieur, Sie wiſſen,“ ſagte ſie mit zorn⸗
bebender Stimme, „daß Sie als Gaſt am Tiſche
eines preußiſchen Offiziers ſitzen! Sie wiſſen, daß
jener Mann, deſſen Namen Sie ausſprachen, ein Held
war und kein Räuber! Niemand weiß es beſſer
als Sie, der die Ehre gehabt, gegen ihn zu kämpfen!“
Sprachlos ſtarrte der Franzoſe ſie an. Ihre
Schönheit hatte in dieſem Augenblid etwas Dämo:
nijches, das ihn überwältigte. Er verneigte fi vor
ihr. „Mademoifele — ich weiß es jett, benn Sie
835
defien Tragweite ich jelber nicht begriff, Yhre Ver:
geibung erbitte — was fann ich denn noch mehr
tun?”
Haflo fühlte die Eisjchollen in feinem Herzen,
von denen er früher einmal gejproden — und ber
Schmerz der troftlofen Erftarrung ward ihm jelber
zur unerträglihen Qual.
Als er keine Antwort gab, regte fih der Stolz
in dem tapferen Mäbchenberzen. „Haflo, Sie find
graufam und ungereht gegen mich!” Tagte fie mit
zitternder Stimme.
„Meinen Sie, Fräulein Renate?” fragte er
weicher. „Ach glaube es kaum! Ih erkenne hr
gütiges Entgegenfommen an und bin Shnen danl:
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden
heut fo wenig Berftändnis als vor einem Jahre —
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf
einzugeben vermag!”
Renate [wiege Ahre Hände zerrten in beben:
der Erregung an den Ranten und zerpflüdten die
Blätter. Ein Dorn flad fie in den Finger, jo daß
fie zudend losließ. Sie legte die Hand vor die
Augen.
„Ihre Frau Schweiter jcheint Sie zu juchen,”
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonlojer
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“
Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch
und ſchickte ſie fort! —
Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen,
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald—
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen—
ſee geriet faſt in Aufregung darüber.
„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener
Stimme „Hoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund,
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“
„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt
feindſeligen Blick auf den Neffen.
„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De—
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“
„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher
willen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu?
Aber ich hab’ welde!” Er flug auf feine Bruft,
daß die Papiere in der Tajche feines Nodes ralchelten.
„Derdammte, niederträhtige Nachrichten! Hat die
Satanswirtichaft nicht bald ein Ende, jo holt ung
alle miteinander der Teufel!”
„Durhbohren Sie mih nicht mit S$hren Bliden,
verehrter Dheim! Ach kann nichts dafür und bin
ganz Shrer Anficht! Kommen Sie nur, werden Sie
erft gemütlih!” Er 309 ihn Hin zu dem Garten:
zimmer, wo die Gejellihaft beifammen jaß, doch der
Einfiedler blieb zornig auf der Schwelle ftehen.
„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da
Schwertklingen.
Roman von Hans Werder.
836
jol ich hinein? Neveu, wie fünnen Sie fi unter:
ftehen, mir das zuzumuten!”
„Es find ja Hhre beiden Nichten, Yulie und
Renate — und Frau von Zarhom! Meiter kein
Meibsbild! Und zwei Schillihe Offiziere — Brünnomw
und Rodlig! Alte Belannte von Ihnen!“
Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende
Handbewegung, trat danır aber zögernd näher, er:
widerte die Begrüßungen von weiten und nahm
flumm in einen Wintel Plab.
Herr von Conreuth ließ eine Flafche Rheinwein
holen und bie erwärmte jeltiam das Herz des ver:
trodneten Alten. Zunähft franıte er jeine Nachricht
aus, die ihn bergeführt, und die allerdings einige
Aufregung bervorrief! Drei franzöfiihe Divifionen,
auf dem Durhmarih nah Danzig begriffen, jollten
in den nädhjften Tagen diefe Gegend palfieren, und
davon einige NRegimenter Ruhetag haben. Die ftets
beitere Laune verfhwand von des Hausherren Tlarer
Stirn. Was waren Froft und Hagelfchaden, Über:
Ihwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen folcher
franzöfiihen Einquartierung — mit Rubetag nod)
dazu! —
Onfel Auguft, jobaldb er den Eindrud Diejer
Hiobspoft gewahrte, Ienkte fein Sinterefje von derſelben
ab, um es ben beiden Schillihen Offizieren zuzu-
wenden. Das Nheinweingla® ward abermals ge:
füllt — ſchon jchüttelte er den beiden jungen Männern
die Hand.
„Heute bat der Satanas, Gottleibeiuns, der
Obermeifter aller Henker, feine Fauft über uns und
läßt keinen gefunden Gedanten auflommen in einer
Menſchenbruſt, fein vernünftiges Wort in einer
Beitung. Aber die Geihihte — die wird darüber
urteilen, was Schill gewejen ilt, was Ihr geweſen
jeid, hr Teufelskerls, die Yhr mit ihm geritten feid !
Menn meine Knoden nicht jo alt und morjch wären
— aber die Geichichte, die wird es enticheiden!" —
Er leerte wieder fein Glas.
„Warum waret Yhr noch nit bei mir, Jhr
Malefizterle! Penzlom liegt eine halbe Stunde von
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarchow?
Und Sie haben zwei Schilljehe Offiziere im Haufe —
den von Rodhlig noch) dazu — und noch Feiner ift bei
mir gewejen!”
Zarhow jchwor beim Barte des Propheten, daß
er morgen mit den beiden hinüberreiten würde, und
fie nahmen den Schwur befräftigend auf.
Als die Buggendorfer fih zur Heimfahrt rüfteten,
war Renate verhwunden. Frau von Zarhom zer:
brah fi über diefen Mangel an guter Yorm bei
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf
faft während der ganzen Rüdfahrt, tadelte auch fonft
ihr eigentümliches Benehmen. Zarhom und Brünnow
verteidigten fie und Schwärmten für das Ichöne Mädchen.
Srau Selma geriet in Horn.
„Sie jolen mir beiftehen, Herr von Rodlig,”
Ichalt fie, „was figen Sie da wie ein Olgöge!“
„Ich ftehbe Shnen ja immer bei, jeien Sie do
nicht gleich jo böfe!” verteidigte er fih. „Diesmal
aber kann ich nichts jagen! Denn, ob ih Ahnen
beiftimme oder Ahnen widerjpreche, beides wäre un:
837 Schwerttlingen.
galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl:
ſpruch!“
Dabei kam ihm das Gefühl, heute gegen Renate
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern
auch unverſöhnlich, ungerecht, unritterlich! Und
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter
leben zu ſollen.
II.
Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute-
nants und zweihundert Pferde meldete der fran:
zöfifche Fourieroffizier. Mit großer Grünblichkeit
befichtigte er die Quartiere in Tiefenjee und gab
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere.
Das Haus war nicht allzu groß und jo blieb für
Herrn von Conreuth und jeine Familie nur jehr
wenig Raum übrig.
„Sn zwei Stunden können fie bier fein, ih er:
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herrn von
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie:
mand mwunderte fi) darüber. jedermann im ganzen
Lande wußte nun feit bald vier Kahren, was es
auf fich Hatte mit franzöjiicher Einquartierung.
„Solonel Daricot — Aulie, ob das nicht jener
Daricot jein mag, der mit General Bonfanti in
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate |prad)
e8 finnend vor fi hin, während fie, auf dem Bett:
rande fitend, ihr lodiges, dunfelbraunes Haar fämmte
und zum Elafliihen, griechifchen Knoten aufwand.
Sie teilte mit ihrer Schweiter eine Dachlammer, als
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite
nebenan bewohnte der Hausherr. Hier war man
wenigftens der lärmenden Nähe diejer ungebetenen
a entrüdt und das konnte als größter Vorzug
gelten.
„3a, das wäre jhon möglich,” erwiderte Julie.
„Die Herren avancieren Ichnell in der großen Armee!
So viel ich mid) entjinne, war diejer Adjutant Daricot
ein bübjcher, eleganter Menſch!“
Renate Schauderte — wie unter dem Eindrud
einer widermärtigen Erinnerung. Doch Ichwieg fie.
Sa, ein hübjcher, eleganter Menih modte er gewejen
jein, der Adjutant des Generals Bonfanti! Einmal
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was
bis dahin niemals gejchehen. Sie jaß allein darin
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche
Worte und wollte fie küflen. Sie Ihlug ihm ins
Gefiht mit ihrer Kinderhband und flürzte hinaus.
Cs war ber verhaßtefte Augenblid ihres Lebens,
und er flieg mit erfchredender Deutlichkeit vor ihr
empor.
est ertönte Lärm und Waffengetöfe vom Hofe
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung
in Empfang zu nehmen, objchon fie feiner nicht be:
durften. Sie waren jeßt die Herren des Hauſes.
Sulie und Renate verblieben in ihrem Dad):
fümmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit,
Roman von Hans Werder.
838
dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen:
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als:
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit
tabellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an
erfchienen alle andern wie in den Schatten geitellt.
Er war freilid eine fehöne Ericheinung, glänzend
gehoben durch die prächtige Uniform mit Sternen
und Ordensbändern.
‘a, er war es, Renate erlannte ihn auf den
erften Blid. Und als er fich jebt, von der Hausfrau
fort, ihr zumandte, blitte es in feinen jchwarzen
Augen auf — erft wie juhende Erinnerung, dann
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver:
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflichen Wen:
dungen, ob er noch die Ehre habe, von ihr gekannt
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen.
„Ih Ipredhe nicht franzöfiih!” war ihre eilige
Antwort.
Er lädelte. „Aber Sie verftehen es, Made:
moifele! Und ich verftehe vollkommen deutſch, da
ich feit über drei Jahren in diefem rauhen Lande
umberziehe. Wir werden uns demnadh aufs treff:
lichite verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus:
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate jaß
ihm gegenüber und falt unausgefegt ruhten jeine
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre
Haltung verriet nichts als Falte Nichtadhtung.
Er fprah eingehend von jener Berliner Zeit,
wo er fi) mit feinem General auf dem Durchmarjch
nach Kolberg befunden habe, und welche harte Arbeit
die Belagerung diefer trogigen Felte gemwejen jei. Er
erinnerte daran, mit welder hohen Bewunderung
General Bonfanti ftets von Gneilenaus unvergleidh:
lihem Feldherrngenie und Schills tollfühner Tapfer:
feit geiprohen — diejer feiner chlimmften Gegner,
welche Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung
jo jhwer gemadt. „Schade,” jeßte er dann leicht
hinzu, „bamals jahb man in diefem Schill einen
Helden, und jchließlih hat er fih als Brigand de-
couvriert!”
„Sie verzeihen — er war ein preußijcher Dffi:
zier!” bemerkte Herr von Conreuth mit jcharfer Be:
fonung.
Der Franzofe lachte, und die Seinen ftimmten be-
reitwilligft ein. „Tant pis pour l’armde prussienne!“
damit bob er fein friichgefülltes MWeinglas gegen den
Hausherren. Ein wütender Zorn fochte in diefem auf.
Do ehe er nod ein Wort gefunden, bog fid) Renate
vor — totenblaß, mit Ihwarzglühenden Augen.
„Monfieur, Sie willen,“ jagte fie mit zorn-
bebender Stimme, „daß Sie als Saft am Tiihe
eines preußiſchen DOffiziers fiten! Sie willen, daß
jener Mann, defien Namen Sie ausipraden, ein Held
war und fein Räuber! Niemand weiß es befler
als Sie, ber die Ehre gehabt, gegen ihn zu fämpfen!”
Sprahlos ftarrte der Franzofe fie an. Ihre
Schönheit hatte in diefem Augenblid etwas Dämo-
nifches, das ihn übermwältigte. Er verneigte fidh vor
ihr. „Mademoijele — ich weiß es jegt, denn Sie
839
jagen e8 mir! Zhr Wort ift mir ein Evangelium!
Nichts wäre mir jchredliher, als Shren Zorn auf
mich zu laden! ergeben Sie mir, ich bitte darum !”
Er wollte mit ihr anftoßen, Dod ihr Glas war leer
und unberührt.
„sh vergebe Ihnen!“ jagte fie im Tone weg:
werfender Geringihägung und mit bochmütigfter
Kopfneigung.
3 ließ fih darauf nichts weiter jagen, und ber
FSranzofe mußte fih geftehen, daß er eine Niederlage
erlitten, er, der Sohn der großen Armee. Ein Race:
gelüft flieg in feinem Herzen auf, das fich mit jeiner
Bewunderung für das flolge, deutihe Mädchen gar
wohl vereinigte.
Sehr bald nad aufgehobener Tafel z0g fich
Renate in ihre Dachlammer zurüd. Sie beichloß
nady reiflicher Überlegung, nicht wieder bie feindlichen
Gäfte dur) ihren Zorn zu reizen, den Colonel be
fonders nicht mehr zu beadhten. Um fich diefe Ab:
ficht zu erleichtern, bat fie ihren Schwager am nädjiten
Tage um einen Pla an der anderen Seite bes
Tiihes, der fie von dem läftigen Gegenüber befreite.
Sonreutb fand diefen Wunih jehr gerechtfertigt.
„Ihre zornigen Blide fallen bei ihm wie Feuerfunken
auf Zunder, meine liebe Schwägerin,” jagte er
ladend. „Es wird entichieden gemütlicher fein, wenn
der Kerl erft wieder über alle Berge ift!”
Colonel Daricot empfand es wie eine Kränkung,
als er feine jchöne Feindin heute auf der anderen
Seite der Tafel Plat nehmen jah. Doch ließ er
fih’s nicht merlen und unterhielt Die Hausfrau aufs
verbindlihite. Das Regiment follte am folgenden
Tage weiterrüden, in PBenzlom Raft madhen, und
Sulie erzählte ihm, daß dies die Befitung ihres
Obeims fei. Mit lebhaften Snterefie griff er die
Nahridt auf. — „Ein Bruder Jhres Herrn Vaters,
der in Berlin meinem General und mir ein jo
liebenswürdiger Gaftfreund war, den ih jo auf:
ridhtig verehren gelernt!" Er Ipradh dies mit er:
bobener Stimme. „Gewiß würde ih für feinen
Bruder dasjelbe empfinden können! Wie jchade, daß
id nur wenige Stunden dort bin! Unjer Maridh
führt mich fogleich viele Meilen weiter! Doch werde
ih wenigitens Grüße der jchönen Nichte an ihren
Obeim mitnehmen bürfen?”
Julie geftattete dies, erklärte aber zugleich, daß
der alte Penzlower Herr ihrem Vater jehr unähnlich
wäre, eber ein Sonberling, mit dem man Mübe
hätte auszulommen, und der Colonel fand dies ehr
‚beluftigend.
Renate entfernte fi beute nicht jogleich nad)
Tiih, jondern blieb im Salon, um ihrer Schweiter
bei der Unterhaltung der Fremden behilflich zu fein.
Ein ganz junger Offizier, Lieutenant Gumont, der
bei Zifch neben Renate gejeflen und ihr in feiner
faft Eindlih harmlojen Weije eine mildere Stimmung
abgewonnen, juchhte auch jebt wieder ihre Nähe auf.
Er bewunderte den Blid, welden man vom Fenfter
aus auf See und Wald genoß, und Renate trat
mit ihm an die offene Glasthür, um ihm einige
bejondere Schönheiten der Ausficht zu zeigen.
Tlöglih rief Colonel Daricot den Lieutenant,
Schwertllingen. Roman von Hans Werder.
8410
Ihicte ihn mit einem Auftrage kurz und bündig aus
dem Zimmer und trat jelber an Renates Seite. In
feinen ſchwarzen Augen fladerte ein jonderbares
Lit. Es jhien, als wenn bie Bevorzugung, die
feinem Untergebenen zu teil geworden, unter all
den auf diefen Bunter gefallenen Feuerfunten der
gefährlichite geweien wäre.
„Mademoijele, Sie find graufam in Shren
Strafen!” jagte er balblaut. „Meine geftrige
Äußerung über Herrn von Schill war unbedadit!
Habe ich nicht gleich deshalb um Berzeihung gebeten?“
„Sewiß,” entgegnete fie jehr fühl, „und id
ging Sofort auf Hhren Wunjh ein! Sch verftehe
nicht, weshalb Sie darüber noch weiter Worte ver:
lieren!” Sie wollte fi forlmenden, do er vertrat
ihr den Weg.
„Weil Sie mich dennod Shre Ungnade fühlen
laflen! — Mabemoijele — oder reicht diefelbe viel-
leiht noch in frühere Zeit zurüd? Weil ich mid
einft dem jchönen Rinde zu ungeflüm zu nahen ge
wagt? Auch damals war ih im Srrtum! Gie
waren nidt mehr jo ganz Kind als ich geglaubt,
und ich empfing meine Strafe jofort! E& war ber
einzige Schlag, glaube ich, den ich in meinem Leben
erhalten! Er that weh und war doc füß zugleich!
Mein Vergehen war aber gejühnt, Sie dürfen mir
nicht mehr darum zürnen!”
Renate jahb ihm mit dem eifig ftolzen Blid
gerade in die Augen. „ch zürne Ihnen ja gar
niht! Was wollen Sie denn eigentlih? Sie find
mir ein völlig Fremder, nichts weiter!”
„Mademoijelle, einem völlig Fremden würden
Sie verbindlider entgegentommen! Shre Haltung
mir gegenüber verrät jeden Augenblid berbe Zurüd-
weilung!”
Renate ließ den Blid gleichgültig an ihm vor:
übergleiten. „Sie find ein Franzoje!” jagte fie dabei
erklärend.
Er fuhr auf. „Ja, das bin ich! Und das iſt
mein höchſter Ruhm, mein größter Stolz!“
„Gewiß, und mit vollem Recht!“ entgegnete ſie.
„Mit demſelben Stolz aber nenne ich mich eine
Preußin, eine Deutſche!“
Ein höhniſches Lächeln ging über des Franzoſen
Geſicht. „Auch dieſer Stolz iſt berechtigt, Mademoiſelle!
Die deutſchen Männer — wir haben ſie kennen ge—
lernt bei Jena und Auerſtädt — und ich kann nicht
ſagen, daß ſie uns eine allzu übertriebene Hochachtung
abgewonnen, ſie hätten kein Recht zu ſolchem Stolz!
Die deutſchen Frauen aber — Madame — ſind ado-
rable!“
Die Purpurwelle des Zornes ſtieg ihr unter der
perlweißen Haut bis zu den Schläfen hinauf. „Mich
bitte ic von diejer Allgemeinheit auszunehmen! Ich
wünjde den Feinden meines Vaterlandes nicht ado:
tabel zu ericheinen!”
Er bog Sich näher zu ihr hin. Seine Augen
flammten. „Und doch willen Sie, daß Sie es jind!
Daß Sie Freunde und Feinde um den Verftand
bringen können durch dieſe hochmütige Sprödigkeit!
Sie wiſſen das! Es iſt die Koketterie einer Königin,
841 Schwertllingen.
welde ihre Sklaven nicht nur in Ketten, jondern auch
in die Fefleln der Leidenſchaft geichmiedet jehen will!”
Renate bog fich jett zurüd und ging entihlofien
an ihm vorbei. „Monfteur, Sie entihuldigen mid)
wohl! Diefe Art der Unterhaltung bat keinerlei Reiz
für mi!“ bemerkte fie leichthin und ging zu ihrer
Schweſter zurüd, ruhigen Schritte, obgleih das
Herz ihr wie mit Hammerichlägen podhte. Der Ab:
ſcheu gegen den Zudringlichen durchſchüttelte fie wie
Fieberfroſt. Schon war ihr Herr von Conreuth
entgegen gekommen, um ſie von dem Zwiegeſpräch
zu befreien. Nun wollte er ſich dem Franzoſen
nähern, doch dieſer ſah ihn nicht. Eine wahre Wut
durchloderte ihn, rachedürſtender Haß und heißhungrige
Leidenſchaft. Es war ihm, als könnte er lachend
ſein Leben von ſich werfen, um nur einmal dieſes
ſchöne, trotzige Geſchöpf an fich reißen und in ſeinen
Armen halten zu dürfen, ſich zu rächen und ſie zu
lieben!
Er ſtürzte hinaus ins Freie, als verſengte die
Luft ihm das Hirn — die Luft, in welcher ſeine
Feindin, die heiß bewunderte, atmete und über ihn
hinwegſah, und ihn zu verachten wagte!
IV.
Sie waren fort! D, welche Erleichterung! —
Zwar hatte man bereits reichlichen Erſatz angemeldet
und es mochte noch lange dauern, bis der ganze
Schwarm vorbeigezogen war, der ſich nach der ruſfi⸗
ſchen Grenze hin zuſammendrängen ſollte, aber man
konnte dazwiſchen doch aufatmen! — Und wenn die
neuen Ankömmlinge erſchienen, Daricot war nicht
darunter! Dies allein galt für Renate als Erlöſung.
Die ganze große Armee wollte ſie lieber an ſich
vorbeiziehen jehen, als ihm nur einmal wieder be-
gegnen!
„Kind, Du gehlt zu weit in Deiner Entrüftung
über ihn!“ meinte Frau Julie, weldhe nichts als
Höflichleiten von dem Colonel erfahren. „Ganz To
arg war er denn doc nicht!”
„Na, laß nur gut fein!” meinte Herr von Con:
reuth. „Ein gefährlider Satan ift er immerhin!
Mit folder brutalen Leidenjchaftlichkeit ift niemals
zu ſpaßen!“
Renate ſah ihn nachdenklich an und ihre Stirn
zog fich in Falten. „Müſſen Sie wirklich morgen
zur Stadt, Schwager Paul, ſo nehmen Sie mich
mit!“ bat ſie. „Ich möchte nicht hierbleiben! Ich
wollte, Papa wäre erſt wieder zurück! So lange
beabſichtigte er ja gar nicht fort zu ſein! Es quält
und beunruhigt mich alles ſo!“
Der liebevolle Schwager ſtreichelte beruhigend
ihre Hand. „Laſſen Sie nicht das Köpfchen hängen,
liebe kleine Schwägerin, das paßt gar nicht zu Ihnen!
Wie tapfer ſind Sie gegen den Franzoſen zu Felde
gezogen und nun wollen Sie die Flucht ergreifen?
Nach der Stadt können Sie mich unmöglich begleiten,
dort ſind mehr franzöſiſche Soldaten als Ziegel auf
den Dächern!“
Ramansfeitung 1896.
Roman von Hans Werder.
8412
„Run, und Papa können wir ja täglid zurüd-
erwarten,” feßte Julie hinzu, „möglicherweije fährft
Du ihm aus dem Wege, wenn Du jett fortgehlt!”
Renate feufzte und ergab fi) ins Unvermeidliche.
Paul Conreuth war fort, die beiden trafen Vor:
bereitungen für die Ankunft ber neuen Einquartierung.
Da fahen fie vom Feniter aus einen Wagen in den
Hof fahren. „Das wird Papa fein!” rief Renate
freudig.
„Nein — wie merkwürdig!” meinte Frau Julie
gedehnt — „das ift ja der alte Rumpellaften aus
Benzlow! Db uns Onkel Auguft bejuden will?
Aber der pflegt doch feinen Meinen Pirfchwagen zu
benugen! Seltiam!“
hr Staunen wuchs, als fich aus der Penzlower
Glastutihe ein franzöfiicher Offizier entwidelte, der
fih alsbald den Damen melden ließ. Ein fremder
Name, ein fremdes Geficdht, aber ein jugendliches und
wenig aufregendes. Der junge Mann verbeugte fich
artig und erzählte, daß er von dem Penzlower Haus:
herrn ein Schreiben an eine der Damen abzugeben
babe! Es fei heute früh ber Bruder des Monfieur
de Veldegg angelommen, er babe aber ein Unglüd
mit dem Wagen gehabt, Arm und Bein gebrochen,
läge im Penzlower Haufe jchwer Frank bdanieber
und eine der Damen möchte fommen, ihn zu pflegen!
Renate that einen Schrei des Entjegens. So
batte fie es alfo ahnend gewußt und gefühlt, daß
ber geliebte Vater fih in Gefahr befunden!
Der junge Offizier 309 einen Brief hervor und
überreichte ihn. Er war von Onkel Augufts Hand
verfaßt und feiner Cigentümlichleit entiprechend
„on des Fräulein Renate von Veldegg Gnaden zu
Tiefenjee“ überjchrieben.
„Liebe Nichte,” hieß es3 im Tert, „bier ift ein
Malheur paffiert! Der gütige Überbringer teilt
Dir das Nähere mit und ridtet Dir den Wunfch
Deines Vaters aus. Wir erwarten Dich mit Un:
geduld. Dein Obeim
garıy gehorjamit
von Veldegg⸗Penzlow.“
Renates Augen ſtanden voller Thränen. „Wie
ſchrecklich iſt dies!“ rief ſie angſtvoll. „Mein armer
Papa! Ich muß ſchnell hin — natürlich!“
Julie betrachtete den ſeltſamen Brief von allen
Seiten. Stil und Handſchrift des Onkels waren
über jeden Zweifel erhaben. „Pardon, Monſieur,“
lagte fie aufblidend, „wie geht es zu, daß Sie ſich
zum Überbringer dieſer Votſchaft hergaben? Es iſt
ſehr gütig von Ihnen, aber aus welcher Veranlaſſung
geſchieht es?“
Der Franzoſe ließ ſeine kühlen, gleichgültigen
Augen von einer zur andern ſchweifen. „Monſieur
Veldegg bat mich darum! Unſere Truppen durch—⸗
ziehen die Gegend überall — man würde ſchwerlich
eine allein reiſende junge Dame unbehelligt paſſieren
laſſen! Sitzt aber ein franzöſiſcher Offizier im Wagen,
ſo iſt ſie vor jeder Unbequemlichkeit geſichert! Ich
habe ſeit einer Reihe von Tagen die Gaſtfreundſchaft
des alten Herrn genoſſen, der Unfall ſeines Bruders
hat uns alle mit Bedauern erfüllt, warum ſollte ich
den beiden Herren nicht die Gefälligkeit erzeigen!“
IV, 59
Sonnen
fagen es mir! Ihr Wort iſt mir ein Evangelium!
Nichts wäre mir ſchrecklicher, als Ihren Zorn auf
mich zu laden! Vergeben Sie mir, ich bitte darum!“
Er wollte mit ihr anſtoßen, doch ihr Glas war leer
und unberührt.
„Ich vergebe Ihnen!“ ſagte ſie im Tone weg—
werfender Geringſchätzung und mit hochmütigſter
Kopfneigung.
Es ließ ſich darauf nichts weiter ſagen, und der
Franzoſe mußte ſich geſtehen, daß er eine Niederlage
erlitten, er, der Sohn der großen Armee. Ein Rache⸗
gelüſt ſtieg in ſeinem Herzen auf, das ſich mit ſeiner
Bewunderung für das ſtolze, deutſche Mädchen gar
wohl vereinigte.
Sehr bald nach aufgehobener Tafel zog ſich
Renate in ihre Dachkammer zurück. Sie beſchloß
nach reiflicher Überlegung, nicht wieder die feindlichen
Gäſte durch ihren Zorn zu reizen, ben Colonel be
fonders nicht mehr zu beachten. Um fidh diefe Ab:
ficht zu erleichtern, bat fie ihren Schwager am nädjiten
Tage um einen Pla an der anderen Seite bes
Tiiches, der fie von dem läftigen Gegenüber befreite.
Sonreuthb fand bdiefen Wunih jehr gerechtfertigt.
„Ihre zornigen Blide fallen bei ihm wie Feuerfunten
auf Zunder, meine liebe Schwägerin,” jagte er
ladend. „Es wird entihieden gemütlicher fein, wenn
der Kerl exit wieder über alle Berge ift!”
Colonel Daricot empfand es wie eine Kränkung,
als er feine jchöne Feindin heute auf der anderen
Seite der Tafel Plat nehmen jah. Doch ließ er
fih’s nicht merken und unterhielt die Hausfrau aufs
verbindlichfte. Das Regiment follte am folgenden
Tage weiterrüden, in Benzlomw Raft maden, und
Ssulie erzählte ihm, daß dies die Belißung ihres
Dbeims fei. Mit Iebhaftem Sinterefie griff er Die
Nahriht auf. — „Ein Bruder Shres Herren Vaters,
der in Berlin meinem General und mir ein jo
liebenswürbdiger Gaftfreund war, den ih jo auf:
richtig verehren gelernt!" Er Ipradh Dies mit er:
bobener Stimme. „Gewiß würde ich für feinen
Bruder dasjelbe empfinden können! Wie jchade, daß
id nur wenige Stunden dort bin! Unjer Mari
führt mich fogleich viele Meilen weiter! Doch werde
ih wenigftens Grüße der jchönen Nichte an ihren
Dbeim mitnehmen dürfen?“
Julie geitattete dies, erklärte aber zugleih, daß
der alte PBenzlower Herr ihrem Vater fehr unähnlich
wäre, eber ein Sonderling, mit dem man Mühe
hätte auszufommen, und der Colonel fand dies jehr
‚beluftigend.
Renate entfernte fih heute nicht jogleih nad
Tiih, fondern blieb im Salon, um ihrer Schweiter
bei der Unterhaltung der Fremden behilflich zu fein.
Ein ganz junger Offizier, Lieutenant Gumont, der
bei Tisch neben Renate geſeſſen und ihr in feiner
faft Findlih harmlojen Weije eine mildere Stimmung
abgewonnen, juchte auch jett wieder ihre Nähe auf.
Er bewunderte den Blid, welhen man vom Fenfter
aus auf See und Wald genoß, und Renate trat
mit ihm an die offene Glasthür, un ihm einige
bejondere Schönheiten der Ausficht zu zeigen.
Plöglih rief Colonel Daricot den Lieutenant,
Roman von Hans Werder.
—— — ö— — — — m rn en ————————
840
ſchickte ihn mit einem Auftrage turz und bündig aus
dem Zimmer und trat ſelber an Renates Seite. In
ſeinen ſchwarzen Augen fladerte ein ſonderbares
Licht. Es ſchien, als wenn die Bevorzugung, die
ſeinem Untergebenen zu teil geworden, unter all
den auf dieſen Zunder gefallenen Feuerfunken der
gefährlichſte geweſen wäre.
„Mademoiſelle, Sie ſind grauſam in Ihren
Strafen!“ lage er Halblaut. „Meine geftrige
Äußerung über Herrn von Schill war unbebadit!
Habe ich nicht gleich deshalb um Verzeihung gebeten?“
„Gewiß,“ entgegnete fie jehr fühl, „und ih
ging fofort auf Zhren Wunfh ein! Sch verftehe
nicht, weshalb Sie darüber noch weiter Worte ver-
lieren!” Sie wollte fi forimenden, doc er vertrat
ihr den Weg.
„Weil Sie mid dennodh Ahre Ungnabe fühlen
laffen! — Mademoijelle — oder reicht diejelbe viel-
leiht nod in frühere Zeit zurüd? Weil ich mid
einft dem jchönen Finde zu ungeftüm zu nahen ge-
wagt? Audh damals war ih im Irrtum! Sie
waren nidt mehr jo ganz Kind als ich geglaubt,
und ich empfing meine Strafe fofort! Es war ber
einzige Schlag, glaube ich, den ich in meinem Leben
erhalten! Er that weh und war dod fü zugleich!
Mein Vergehen war aber gejühnt, Sie dürfen mir
nit mehr darum zürnen!”
Renate jah ihm mit dem eifig ftolzen Blid
gerade in die Augen. „Sch zürne Shnen ja gar
niht! Was wollen Sie denn eigentlih? Sie find
mir ein völlig Fremder, nichts weiter!”
„Mademoijelle, einem völlig Fremden würden
Sie verbindlider entgegenlommen! Ihre Haltung
mir gegenüber verrät jeden Augenblid berbe Zurüd:
weilung!”
Renate ließ den Blid gleihgültig an ihm vor-
übergleiten. „Sie find ein Sranzoje!” fagte fie dabei
erklärend.
Er fuhr auf. „Sa, das bin ih! Und das ift
mein bödfter Ruhm, mein größter Stolz!“
„Sewiß, und mit vollem Recht!” entgegnete fie.
„Mit demjelben Stolz aber nenne ich mich eine
Preußin, eine Deutiche!”
Ein böhnifches Lächeln ging über bes Franzofen
Gefidt. „Auch diefer Stolz ift berechtigt, Mademoifelle!
Die deutihen Männer — wir haben fie kennen ge
lernt bei Jena und Auerfläbt — und id Tann nicht
lagen, daß fie uns eine allzu übertriebene Hodhadhtung
abgewonnen, fie hätten fein Recht zu joldem Stolz!
Die deutihen Frauen aber — Madame — find ado-
rable!“
Die Purpurmelle des Zornes ftieg ihr unter der
perlweißen Haut bis zu den Schläfen hinauf. „Mid
bitte ih von diejer Allgemeinheit auszunehmen! Ich
wünjde den Feinden meines Vaterlandes nicht ado-
rabel zu erſcheinen!“
Er bog ſich näher zu ihr hin. Seine Augen
flammten. „Und doch wiſſen Sie, daß Sie es ſind!
Daß Sie Freunde und Feinde um den Verſtand
bringen können durch dieſe hochmütige Sprödigkeit!
Sie wiſſen das! Es iſt die Koketterie einer Königin,
841 Schwertklingen.
welche ihre Sklaven nicht nur in Ketten, ſondern auch
in die Feſſeln der Leidenſchaft geſchmiedet ſehen will!“
Renate bog ſich jetzt zurück und ging entſchloſſen
an ihm vorbei. „Monſieur, Sie entſchuldigen mich
wohl! Dieſe Art der Unterhaltung hat keinerlei Reiz
für mich!“ bemerkte ſie leichthin und ging zu ihrer
Schweſter zurück, ruhigen Schrittes, obgleich das
Herz ihr wie mit Hammerſchlägen pochte. Der Ab:
ſcheu gegen den Zudringlichen durchſchüttelte ſie wie
Fieberfroſt. Schon war ihr Herr von Conreuth
entgegen gekommen, um ſie von dem Zwiegeſpräch
zu befreien. Nun wollte er ſich dem Franzoſen
nähern, doch dieſer ſah ihn nicht. Eine wahre Wut
durchloderte ihn, rachedürſtender Haß und heißhungrige
Leidenſchaft. Es war ihm, als könnte er lachend
ſein Leben von fich werfen, um nur einmal dieſes
ſchöne, trotzige Geſchöpf an ſich reißen und in ſeinen
Armen halten zu dürfen, fich zu rächen und ſie zu
lieben!
Er ſtürzte hinaus ins Freie, als verſengte die
Luft ihm das Hirn — die Luft, in welcher ſeine
Feindin, die heiß bewunderte, atmete und über ihn
hinwegſah, und ihn zu verachten wagte!
IV.
Sie waren fort! O, welche Erleichterung! —
Zwar hatte man bereits reichlichen Erſatz angemeldet
und es mochte noch lange dauern, bis der ganze
Schwarm vorbeigezogen war, der ſich nach der ruſſi⸗
ſchen Grenze hin zuſammendrängen ſollte, aber man
konnte dazwiſchen doch aufatmen! — Und wenn die
neuen Ankömmlinge erſchienen, Daricot war nicht
darunter! Dies allein galt für Renate als Erlöſung.
Die ganze große Armee wollte ſie lieber an ſich
vorbeiziehen ſehen, als ihm nur einmal wieber be-
gegnen!
„Kind, Du gehſt zu weit in Deiner Entrüſtung
über ihn!“ meinte Frau Julie, welche nichts als
Höflichkeiten von dem Colonel erfahren. „Ganz ſo
arg war er denn doch nicht!“
„Na, laß nur gut ſein!“ meinte Herr von Con⸗
reuth. „Ein gefährlicher Satan iſt er immerhin!
Mit ſolcher brutalen Leidenſchaftlichkeit iſt niemals
zu ſpaßen!“
Renate ſah ihn nachdenklich an und ihre Stirn
zog fich in Falten. „Müſſen Sie wirklich morgen
zur Stadt, Schwager Paul, ſo nehmen Sie mich
mit!” bat ſie. „Ich möchte nicht hierbleiben! Ich
wollte, Papa wäre erſt wieder zurück! So lange
beabſichtigte er ja gar nicht fort zu ſein! Es quält
und beunruhigt mich alles ſo!“
Der liebevolle Schwager ſtreichelte beruhigend
ihre Hand. „Laſſen Sie nicht das Köpfchen hängen,
liebe kleine Schwägerin, das paßt gar nicht zu Ihnen!
Wie tapfer ſind Sie gegen den Franzoſen zu Felde
gezogen und nun wollen Sie die Flucht ergreifen?
Nach der Stadt können Sie mich unmöglich begleiten,
dort ſind mehr franzöſiſche Soldaten als Ziegel auf
den Dächern!“
Reman⸗Zeltung 1806.
Roman von Hans Werder.
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842
„Run, und Papa können wir ja täglich zurüd-
erwarten,” jegte Julie Hinzu, „möglicherweije fährit
Du ihm aus dem Wege, wenn Du jebt fortgehit!”
Renate jeufzte und ergab fich ins Unvermeidliche.
Paul Conreuth war fort, die beiden trafen Vor:
bereitungen für die Ankunft der neuen Einquartierung.
Da jahen fie vom Fenfter aus einen Wagen in den
Hof fahren. „Das wird Papa fein!” rief Renate
freudig.
„Nein — wie merkwürdig!” meinte Frau Julie
aedehnt — „das ift ja der alte Rumpellaften aus
Benzlow! Db uns Dntel Auguft befuden will?
Aber der pflegt doch feinen Meinen Pirfchwagen zu
benugen! Seltjam!“
hr Staunen wudhe, als fi aus der Penzlower
Glaskutſche ein franzöſiſcher Offizier entwidelte, ber
fih alsbald den Damen melden ließ. Ein fremder
Name, ein fremdes Geficht, aber ein jugendliches und
wenig aufregendes. Der junge Mann verbeugte fich
artig und erzählte, daß er von dem Penzlower Haus:
beren ein Schreiben an eine der Damen abzugeben
babe! E38 fei heute früh der Bruder des Monfieur
be Veldegg angelommen, er babe aber ein Unglüd
mit dem Wagen gehabt, Arm und Bein gebrochen,
läge im Penzlower Haufe jchwer krank danieder
und eine der Damen möchte fommen, ihn zu pflegen!
Renate that einen Schrei des Entjegens. So
batte fie es aljo ahnend gewußt und gefühlt, daß
der geliebte Vater fih in Gefahr befunden!
Der junge Offizier 30g einen Brief hervor und
überreidte ihn. Er war von UOntel Augufts Hand
verfaßt und feiner Cigentümlichleit entiprecdhend
„an des Fräulein Renate von Veldegg Gnaden zu
Tiefenſee“ überichrieben.
„Liebe Nichte,“ hieß es im Text, „bier ift ein
Malheur paffiert! Der gütige Überbringer teilt
Dir das Nähere mit und richtet Dir den Wunfch
Deines Vaters aus. Wir erwarten Dich mit Un:
geduld. Dein Obeim
ganz gehorjamft
von BVeldegg-Penzlom.”
Renates Augen ftanden voller Thränen. „Wie
Ichredlich ift dies!” rief fie angfitvol. „Mein armer
Papa! Ich muß ſchnell Hin — natürlich!“
Julie betrachtete den ſeltſamen Brief von allen
Seiten. Stil und Handſchrift des Onkels waren
über jeden Zweifel erhaben. „Pardon, Monſieur,“
ſagte fie aufblickend, „wie geht es zu, daß Sie ſich
zum Überbringer dieſer Botſchaft hergaben? Es iſt
ſehr gütig von Ihnen, aber aus welcher Veranlaſſung
geſchieht es?“
Der Franzoſe ließ ſeine kühlen, gleichgültigen
Augen von einer zur andern ſchweifen. „Monfieur
Veldegg bat mich darum! Unſere Truppen durch—
ziehen die Gegend überall — man würde ſchwerlich
eine allein reiſende junge Dame unbehelligt paſſieren
laſſen! Sitzt aber ein franzöſiſcher Offizier im Wagen,
ſo iſt ſie vor jeder Unbequemlichkeit geſichert! Ich
habe ſeit einer Reihe von Tagen die Gaſtfreundſchaft
des alten Herrn genoſſen, der Unfall ſeines Bruders
hat uns alle mit Bedauern erfüllt, warum ſollte ich
den beiden Herren nicht die Gefälligkeit erzeigen!“
IV. 59
843 Schmwertllingen. Roman von Hans Werber. 844
„Bewiß, es ift jehr liebenswürdig von Shnen! | fangenmwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn
Mollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!” | fie fein ſpähendes Geſicht wieder erblicte, erſchien
Damit verließ Renate das Zimmer. AYulie folgte ihr.
„Kind — Du denfft doch nicht im Ernit daran,
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“
„Gewiß nit! SKannft Du mich nicht begleiten,
liebe Sulie, jo nehme ich Mademoijelle mit mir als
Schuß! Hin muß ich elbftverftändlich!”
„Leider, leider Tann ih nicht mit!” feufzte
Julie. „OD, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“
Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge—
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht,
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel,
— ihn darum bitten!“
„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be—
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo
ſchreibe ich an Hans Bruünnow, der thut es fiber
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede,
Du Heiner Duerlopf!” Damit ging fie, ihre Abficht
auszuführen. Nenate mußte fi fügen, obſchon fie
es unverantwortlid fand, daß man ben Franken
Vater ftundenlang jollte warten laflen.
Der Franzofe nahm die Nachricht diejer Ber:
zögerung gleihmütig entgegen. Er feßte fich vor die
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen
Smbiß, raudhte und wartete geduldig. Der Kuticher
mußte die Pferde losfträngen und füttern — vor ber
Hausthür. Entfernen durfte er fih nit. „Monfleur
Veldegn bat es jo beitimmt,“ erklärte der Franzoſe.
„Endlih fam der Bote aus Buggendorf zurüd.
Herr von Brünnow war nicht zu Haufe. —
„Run, jo fahre ich allein!” erklärte Renate.
„3% Tenne denn doch jchlieglich meine Pflichten als
Tochter, und nichts wird mich länger von bdenjelben
zurüdhalten!”
„sh gebe e8 furchtbar ungern zu!” feufzte
Julie. „Nun, Daricot wenigftens ift nicht mehr
dort, injofern kann ich beruhigt fein!“
„a, völlig! Ah Ichide Dir nod heute Nadı-
richt, wie es Papa geht und was aus mir geworden
it!” verjpradh Renate, indem fie das Gefährt beftieg.
Mademoifelle nahm an ihrer Seite Pla. Der
Sranzoje jette fih auf den Bod, da fein Rauden
die Damen genieren würbe, und fort ging die Fahrt
in größter Geichwindigfeit. Wie der alte Klapper:
taften ftieß und fchüttelte! Mademoijelle ftöhnte
jämmerlih, do Renate bemerkte es faum. Eine
dumpfe Angft laftete auf ihrer Seele. Sie galt dem
Bater und einzig nur ihm!
Ab und zu Ichaute der Franzoje zurüdgebeugt
durch die Glasjcheibe in den Wagen. Weshalb nur?
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder ®e:
dasjelbe ihr widerwärtiger, unbeimlicher.
„Mein Gott — wäre ih doch nicht mitgefahren!”
brah es endlich in Herzensangft von ihren Lippen.
Mademoijelle begann zu fchlucdhgen und wirkte da—
durh um jo beunrubigender.
immer eiliger, ungeftümer ging die $ahrt, immer
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger Ichaute
das Spiongelicht herein. Endlich bog der Wagen in
den Venzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen,
waldunmtaufhten Herrenhaufe. Ein franzöfticher
Dffizier trat heraus, riß den Wagenjhlag auf und
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er.
„a, ja, die bin ih, wie geht es meinem
Bater?”
„Schlecht — denn er verzehrt fih vor Sehn:
Juht nah Ihnen! Mein Name ift Rovaint! Darf
ich die Ehre haben, Mademoifelle hinauf zu begleiten?“
Er 30g fie bei diefen Worten mit fanfter Beſtimmt⸗
beit aus dem Wagen.
Renate zögerte. „Wo ift denn mein Ontel?
3b möchte ihn wenigftens gern erft jehen!“
„Monfieur Veldegg ift oben — fommen Sie
nur, man erwartet Sie jehnlidfi!” Er nahm ihren
Arm feit in den feinen und 309 fie ins Haus. Ale
die Thür binter ihr zufiel, jchraf fie auf mit
leihtem Schrei. Mabdemoifelle blieb ihr zur Seite.
„Sie find nervös, Madame!“ lächelte der
Stanzofe. Er führte fie die Treppe hinauf und be-
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel
abzunehmen.
Seht öffnete er eine Thür. „Entrez, ma-
demoiselle! hr Vater ift bier!” Es war ein halb:
dunflee Gemah, die Feniter fjorgiam verhüllt.
Eiligft überjchritt Renate die Schwelle.
Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat
zurüd und jchlug die Thür zu. Sie hörte, wie
er den Schlüffel herumbdrebte und abzog — hörte,
wie die Franzöfin fi zur Wehr fegte, ihr Lands:
mann auf fie einfprad — Tritte und Stimmen fi
dann rafch entfernten.
Nenate Stand allein.
Mit ftarren Augen blidte fie umber, mit
Augen, welde fich jchnel an das Dämmerlicht ge:
wöhnten und ihre Umgebung zu erlennen ver:
mochten.
hr Vater befand fich nit bier — das jah fie
zunächſt.
Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer.
Uniformftüde, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran:
zöffihe Dragoneruniform, mie fie Daricot getragen.
Ein jüßlihes Parfüm wehte ihr entgegen, das fie
aufdringlich deutlih an jenen verhaßten Moment in
Berlin erinnerte, welches fie wieder gejpürt, als ihr
türzlid an der Ballonthür in Tiefenjee Daricot den
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! —
(Schluß folgt.)
845
Beiblatt ber Deutſchen Roman⸗Zeitung.
846
Beiblatt der Dentſchen Roman-geitung.
Seſam.
Es liegt an heimlich, verſchwieg'nem Ort
Im Wald verborgen ein ſeltner Hort,
Den Zugang wehrt ein eiſernes Thor,
Es wuchert rankend Geſtrüpp davor.
Den Riegel öffnet nicht Zwinggewalt,
Der Arthieb dröhnend daran verhallt,
Die roſt'gen Angeln erbeben nicht,
Kein ſprengend Eiſen den Bann zerbricht.
Doch wer da findet das Zauberwort,
Der ſtehet harrend nicht lange dort,
Dem öffnet lautlos ſich Thür und Schloß,
Er blickt hinein in der Tiefe Schoß.
Ihm dringt entgegen ein Glimmerſchein
Von flammenſprühendem Edelſtein,
Ein leuchtend Glühen von rotem Gold
Als ob's die Augen ihm blenden wollt'.
So geht die Sage, — ich fand das Wort,
Das mir erſchloſſen den Zauberhort:
Was edleren Wertes als ſchimmernd Erz,
Mein eigen ward es — ein Menſchenherz.
A. Hiuckeldeyn.
Das freudige Teſtament.
Bon Karl Pröll.
I.
Graues, zerraufteg Gewölf hing vom Morgenhimmel
herab und verfing fi in den blaudunflen Wäldern und in
den alten Sirchentürmen. Über die ftaubigen Landwege
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nadj=
eilten
Auch die Vögel blieben als Langfiger in ihren Zweigen
und Büjchen fteden, piepften nur mandmal gedanfenlos
einen Ton vor fih hin. Do die Fıöide in dem vers
fumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelsmufif an mit
unbegrenzter Hingabe an den Mißklang.
An diefe Krüppelwelt der Farben und verdrießlicdhen
Raute marfchierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in
denen man ben Streiß feiner Spaziergänge und Zufallds
befanntichaften ausdehnt, während das höhere Menjchenalter
fie immer mehr einengt. Noch jpürte er feine Sorgennerven
und fühlte fi nicht von dem ftarfen Duft der Linden be-
ichwert, der von verfallenen Gräbern weiterzog. Inter der
MWefte trug er die nie fich verjpätende Uhr gefunden Hungers
und Durftes, die das Zifferblatt verichmäht.
zumeift gefochte, gebadene und gefchmalzene Wahrheiten nad) |
angenehmer Ermüdung. Am feine Ohren jummten bie
MWeipen wie lauter Glüdöverheißungen.
—
Hugo Wieperl, der fhulfreie Sekundaner, unternahm
die Entdedungsreife zu dem Meierhofe, der die Apothefers
familie mit Mil zu verforgen pflegte.
Die Pächtersfrau, bie unverwäflerte Mil ablieferte,
hatte Hugo befonders in ihr Gemüt gefchloffen, weil er fo
freundlich zu neden verftand. Sie hatte ihn vor einigen
Zagen zum Befuh ihrer Wirtfhaft eingeladen und ihm
hmadhaftee Schwarzbrot und gute Butter verfprocen.
Solden triftigen Gründen Eonnte der GSefundaner, der
fihtlih an Länge und Appetit zunahm, nicht widerftehen.
Die Seele dem Butterbrotibeal zugewendet, lachte er die
griesgrämige Morgenlandichaft aus und empfand dag Vor:
behagen de3 erwarteten Genuffes.
Die Kornfelder waren bereit abgemäht, zwifdhen den
Stoppeln weideten Gänfe und fchoppten fi mit den Itegen-
gebliebenen hren. Sie vergaßen in ber emfigen Arbeit
faft das Echnattern. Dafür fang die barfüßige Hirtin im
roten Rödlein defto falfcher beliebte Wolfgweifen. Weil
Hugo fi in Disharmonien ihr mindefteng ebenbürtig mußte,
entipann ji) bald ein Wettgefang, der die Stimmen in
tollfter Weife überpurzeln ließ. Der unerhörte Lärm ärgerte
die Sonne hervor, die einen Augenblick zwifchen zwei Wolfen:
fegen durdblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer:
felder neigten fid) ergebenft vor der Herrin und flüfterten
nad) Höflingsweife: „Ein ganz verrüdtes Volk, Durd:
lauchtigfte !*
Zögernd hielt Hugo ftil. Er wollte die gänfehütende
Sangeöfreundin etwas beffer fennen lernen. Anderſeits
wintte unter dem fernen Rauchipiel über Ziegel: und Stroh:
dädhern der Morgenimbiß. Endlich entichieb fih der Se-
fundaner in feiner Griedenart: „Das Butterbrot läuft mir
nit fort. Auch fönnte ih ja den Weg verfehlt haben.
Nachfrage jchabet niemals.”
Alſo lief er querfeld», mitten unter die Gänfe hinein,
die zornig ihre Schnäbel öffneten und fchwerfällig tapften
und zeterten. Auch die hellblonde, jommerjproffige Hirtin
erfchraf und ftredte unmwillfürlidy beide Hände und Die Gerte
vor. Hugo jedody fragte unbefümmert: „Geht Hier der
Weg nah dem Breleuthnner Meierhofe?”
„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie
gelommen,“ antwortete das halbwüchfige Dorfmädchen, die
den ftädtijch gefleideten jungen Mann neugierig mufterte.
„Schön, dag wollte ih nur willen,“ fagte Hugo und
ftieß rüdwärts mit dem Tuße, um eine tapfere Gans weg⸗
zufcheuchen, die fih zum Angriff rüftete. „Sch will mich
ein wenig ausruhen und wir wollen nod) etwas zufammen
fingen. Wie beißt Du, blonde Here?“
„sh bin Sohanna getauft und Hanni genannt, bin
aber feine Hexe,” gab fie halb zürnend zurüd.
„Das meinte ih nicht übel. Auch meine Schwefter
Marie rufe id Here. 8 Klingt ein bißchen Iuftig und man
weiß nody nit, ob die Weiber in den Hinmel oder in bie
Er begehrte | Hölle fahren.“
„SH will in ben Himmel kommen. sreilih muß ich
dann nod) braver werden. Sagt alfo lieber zu mir Hanni.
Und fchlagt mir nicht die Gänje.*
843 Schwertklingen.
— — —
„Gewiß, es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen!
Wollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!“
Damit verließ Renate das Zimmer. Julie folgte ihr.
„Kind — Du denkſt doch nicht im Ernſt daran,
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“
„Gewiß nicht! Kannſt Du mich nicht begleiten,
liebe Julie, ſo nehme ich Mademoiſelle mit mir als
Schutz! Hin muß ich ſelbſtverſtändlich!“
„Leider, leider kann ich nicht mit!“ ſeufzte
Julie. „O, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“
Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge—
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht,
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel,
— ihn darum bitten!“
„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be—
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo
ſchreibe ich an Hans Brünnow, der thut es ſicher
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede,
Du kleiner Querkopf!“ Damit ging ſie, ihre Abficht
auszuführen. Renate mußte ſich fügen, obſchon ſie
es unverantwortlich fand, daß man den kranken
Vater ſtundenlang ſollte warten laſſen. |
Der Franzofe nahm die Nachricht diefer Ber:
zögerung gleichmütig entgegen. Er febte ſich vor die
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen
Smbiß, raudte und wartete geduldig. Der Kutfcher
mußte die Pferde losfträngen und füttern — vor ber
Hausthür. Entfernen durfte er fi nit. „Monfleur |
Veldegg bat es jo beftimmt,” erklärte der Franzofe.
„Endlich kam der Bote aus Buggendorf zurüd.
Herr von Brünnow war nicht zu Haufe. —
„Run, jo fahre ich allein!” erklärte Renate.
„3% Tenne denn doc jchlieglich meine Pflichten als
Tochter, und nichts wird mich länger von bdenfelben
zurüdhalten!”
„Sh gebe es furchtbar ungern zu!” feufzte
Sulie. „Nun, Daricot wenigftens ift nicht mehr
dort, injofern kann ich beruhigt fein!“
„a, völlig! Ach Ichide Dir noch heute Nach:
richt, wie e8 Papa geht und was aus mir geworden
it!” veriprad) Renate, indem fie das Gefährt beftieg.
Mademoifele nahm an ihrer Seite Plat. Der
Sranzoje fette fih auf den Bod, da fein Rauden
die Damen genieren würde, und fort ging die Fahrt
in größter Gejchwindigkeit. Wie der alte Klapper:
faften ftieß und fchüttelte! Mabemoijelle ftöhnte
jämmerlih, doch Renate bemerkte es kaum. Eine
dumpfe Angft laftete auf ihrer Seele. Sie galt dem
Bater und einzig nur ihm!
Ab und zu fchaute der Franzofe zurüdgebeugt
dur die Glasjcheibe in den Wagen. Weshalb nur?
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder Ge:
Roman von Hans Werder.
844
fangenwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn
fie fein Ipäbendes Geficht wieder erblidte, erichien
dasjelbe ihr widerwärtiger, unheimlicher.
„Mein Gott — wäre ich doch nicht mitgefahren!”
brah es endlich in Herzensangft von ihren Lippen.
Mademoifelle begann zu Ihludzen und wirkte ba-
dur um jo beunrubigender.
S$mmer eiliger, ungeftümer ging die Fahrt, immer
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger Ichaute
das Spiongefiht herein. Endlich bog der Wagen in
den Penzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen,
waldumraufhten SHerrenhaufe. Ein franzöftiicher
Dffizier trat heraus, riß den MWagenfchlag auf und
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er.
„Sa, ja, die bin id, wie geht es meinem
Vater?”
„Schlecht — denn er verzehrt fih vor Sehn⸗
judt nah Ihnen! Mein Name ift Rovaint! Darf
ich die Ehre haben, Mademoijelle hinauf zu begleiten?”
Er 308 fie bei diefen Worten mit janfter Beftimmt-
beit aus dem Wagen.
Renate zögerte. „Mo ift denn mein Ontel?
Ich möchte ihn wenigftens gern erft jehen!”
„Monfieur Veldegg it oben — kommen Sie
nur, man erwartet Sie jehnlihft!" Er nahm ihren
Arm feit in den feinen und 308 fie ins Haus. Als
die Thür Hinter ihr zufiel, Schraf fie auf mit
leihtem Schrei. Mademoifelle blieb ihr zur Seite.
„Sie find nervös, Madame!” lächelte der
Sranzofe. Er führte fie die Treppe hinauf und be-
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel
abzunehmen.
Seht öffnete er eine Thür. „Entrez, ma-
demoiselle! Ahr Vater ift bier!” Es war ein halb:
dunkles Gemach, die Fenfter jorgam verhüllt.
Eiligt überjchritt Renate die Schwelle.
Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat
zurüd und Ihlug die Thür zu. Sie hörte, wie
er den Schlüffel herumdrehte und abzog — hörte,
wie die Franzölin fih zur Wehr fegte, ihr Lands:
mann auf fie einiprahd — Tritte und Stimmen fid
dann rajch entfernten.
Renate ftand allein.
Mit flarren Augen blidte fie umber, mit
Augen, welde fich jchnell an das Dämmerlicht ge:
wöhnten und ihre Umgebung zu erfennen ver:
mochten.
Yhr Vater befand fich nicht bier — das fah fie
zunächſt.
Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer.
Uniformſtücke, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran:
zöfiſche Dragoneruniform, wie ſie Daricot getragen.
Ein ſüßliches Parfüm wehte ihr entgegen, das fie
aufdringlich deutlich an jenen verhaßten Moment in
Berlin erinnerte, welches ſie wieder geſpürt, als ihr
kürzlich an der Balkonthür in Tiefenſee Daricot den
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! —
(Schluß folgt.)
— — — —
845
Beiblatt ber Deutichen Roman-Zeitung.
846
Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung,
SHefam.
Es liegt an heimlich, verihwieg’'nem Ort
Sm Wald verborgen ein feltner Hort,
Den Zugang wehrt ein eifernes Thor,
E3 wucdert ranfend Geftrüpp davor.
Den Riegel öffnet nit Zwinggemwalt,
Der Arthieb dröhnend daran verhallt,
Die roft’gen Angeln erbeben nicht,
Kein Sprengend Eifen den Bann zerbridt.
Dodh wer ba findet dad Zauberwort,
Der ftehet harrend nicht lange dort,
Dem öffnet lautlos fit Thür und Schloß,
Er blidt hinein in der Tiefe Schoß.
Shm dringt entgegen ein Glimmerjchein
Bon flammenfprühendem Edelftein,
Ein leuchtend Glühen von rotem Gold
Als 0b’8 die Augen ihm blenden wollt.
Sp gebt die Sage, — id fand das Wort,
Das mir erichloffen den Zauberhort:
Was edleren Wertes als fhimmernd Erz,
Mein eigen ward e8 — ein Menfchenherz.
A: Hinckeldeyn.
Das freudige Vefament.
Bon Karl Pröll.
I.
Graued, zerrauftes Gemwölt hing vom Morgenhimmel
herab und verfing fid in den blaudunflen Wäldern und in
den alten SKirchentürmen. Uber die ftaubigen Qandwege
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nad):
eilten.
Auch die Vögel blieben als Langfiger in ihren Zweigen
und Büjchen fteden, piepften nur manchmal gedanfenlos
einen Ton vor fih hin. Dod die Fıöihe in dem vers
fumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelamufif an mit
unbegrenzter Hingabe an den Mibklang.
An diefe Krüppelwelt der Yarben und verdrießlichen
Laute marfchierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in
denen man ben Sreiß feiner Spaziergänge und Zufallds
befanntihaften ausdehnt, während dag höhere Menfchenalter
fie immer mehr einengt. Nod) jpürte er Leine Sorgennerven
und fühlte fi) nicht von dem ftarfen Duft der Linden be=
ichwert, ber von verfallenen Gräbern weiterzog. Unter der
Wefte trug er die nie fich verfpätende Ihr gefunden Hungers
und Durftes, die dag Zifferblatt verfhmäht. Er begehrte
zumeift gelochte, gebadene und geichmalzene Wahrheiten nad
angenehmer Ermüdung. Um feine Ohren jummten bie
Wefipen wie lauter Glüdsverheißungen.
— — —
Hugo Wieperl, der ſchulfreie Sekundaner, unternahm
die Entdeckungsreiſe zu dem Meierhofe, der die Apotheker⸗
familie mit Milch zu verſorgen pflegte.
Die Pächtersfrau, die unverwäſſerte Milch ablieferte,
hatte Hugo beſonders in ihr Gemüt geſchloſſen, weil er ſo
freundlich zu necken verſtand. Sie hatte ihn vor einigen
Tagen zum Beſuch ihrer Wirtſchaft eingeladen und ihm
ſchmackhaftes Schwarzbrot und gute Butter verſprochen.
Solchen triftigen Gründen konnte der Sekundaner, der
ſichtlich an Länge und Appetit zunahm, nicht widerſtehen.
Die Seele dem Butterbrotideal zugewendet, lachte er die
griesgrämige Morgenlandſchaft aus und empfand das Bor:
behagen des erwarteten Genuſſes.
Die Kornfelder waren bereits abgemäht, zwiſchen den
Stoppeln weideten Gänſe und ſchoppten ſich mit den liegen⸗
gebliebenen Ähren. Sie vergaßen in der emſigen Arbeit
faſt das Schnattern. Dafür ſang die barfüßige Hirtin im
roten Röcklein deſto falſcher beliebte Volksweiſen. Weil
Hugo ſich in Disharmonien ihr mindeſtens ebenbürtig wußte,
entſpann ſich bald ein Wettgeſang, der die Stimmen in
tollſter Weiſe überpurzeln ließ. Der unerhörte Lärm ärgerte
die Sonne hervor, die einen Augenblick zwiſchen zwei Wolken—
fetzen durchblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer—⸗
felder neigten ſich ergebenſt vor der Herrin und flüſterten
nach Höflingsweiſe: „Ein ganz verrücktes Volk, Durd;
lauchtigſte!“
Zögernd hielt Hugo ſtill. Er wollte die gänſehütende
Sangesfreundin etwas beſſer kennen lernen. Anderſeits
winkte unter dem fernen Rauchſpiel über Ziegel- und Stroh⸗
dächern der Morgenimbiß. Endlich entſchied ſich der Se—
kundaner in feiner Griechenart: „Das Butterbrot läuft mir
nicht fort. Auch könnte ich ja den Weg verfehlt haben.
Nachfrage ſchadet niemals.“
Alſo lief er querfelde, mitten unter die Gänſe hinein,
die zornig ihre Schnäbel öffneten und jchwerfälig tapften
und zeterten. Auch die bellblonde, fommerfproffige Hirtin
erihraf und ftredte unwilllürli beide Hände und die Gerte
vor. Hugo jedod fragte unbefümmert: „Geht bier der
Weg nad) dem PBreleuthnner Meierhofe?“
„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie
gelommen,“ antwortete das halbwüchfige Dorfmäddhen, Die
den ftädtijch gefleideten jungen Mann neugierig mufterte.
„Schön, dad wollte ih nur willen,“ jagte Hugo und
ftieß rüdwärts mit dem Yuße, um eine tapfere Gans weg:
zufheuchen, die fih zum Angriff rüftete „Ich will mid
ein wenig ausruhen und wir wollen nod) etwas zujammen
fingen. Wie heißt Du, blonde Here?“
„sh bin Johanna getauft und Hanni genannt, bin
aber teine Hexe,“ gab fie Halb zürmend zurüd.
„Das meinte ih nicht übel. Auch meine Schwefter
Marie rufe ich Here. E8 Elingt ein bißchen luftig und man
weiß noch nicht, ob die Weiber in den Hinmel ober in die
Hölle fahren.”
„SH will in den Himmel kommen. Freilih muß ich
dann nod; braver werden. Sagt aljo lieber zu mir Hanni.
Und fchlagt mir nicht die Gänfe.”
843 Schwertklingen.
— —
„Gewiß, es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen!
Wollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!“
Damit verließ Renate das Zimmer. Julie folgte ihr.
„Kind — Du denkſt doch nicht im Ernſt daran,
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“
„Gewiß nicht! Kannſt Du mich nicht begleiten,
liebe Julie, ſo nehme ich Mademoiſelle mit mir als
Schutz! Hin muß ich ſelbſtverſtändlich!“
„Leider, leider kann ich nicht mit!“ ſeufzte
Julie. „O, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“
Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge—
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht,
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel,
— ihn darum bitten!“
„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be—⸗
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo
ſchreibe ich an Hans Brünnow, der thut es ſicher
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede,
Du kleiner Querkopf!“ Damit ging ſie, ihre Abficht
auszuführen. Renate mußte ſich fügen, obſchon ſie
es unverantwortlich fand, daß man den kranken
Vater ſtundenlang ſollte warten laſſin.
Der Franzoſe nahm die Nachricht dieſer Ver—⸗
zögerung gleichmütig entgegen. Er ſetzte ſich vor die
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen
Imbiß, rauchte und wartete geduldig. Der Kutſcher
mußte die Pferde losſträngen und füttern — vor der
Hausthür. Entfernen durfte er ſich nicht. „Monſieur
Veldegg hat es ſo beſtimmt,“ erklärte der Franzoſe.
„Endlich kam der Bote aus Buggendorf zurück.
Herr von Brünnow war nicht zu Hauſe. —
„Nun, ſo fahre ich allein!“ erklärte Renate.
„Ich kenne denn doch ſchließlich meine Pflichten als
Tochter, und nichts wird mich länger von denſelben
zurückhalten!“
„Ich gebe es furchtbar ungern zu!“ ſeufzte
Julie. „Nun, Daricot wenigſtens iſt nicht mehr
dort, inſofern kann ich beruhigt ſein!“
„Ja, völlig! Ich ſchicke Dir noch heute Nach—
richt, wie es Papa geht und was aus mir geworden
iſt!“ verſprach Renate, indem ſie das Gefährt beſtieg.
Mademoiſelle nahm an ihrer Seite Platz. Der
Franzoſe ſetzte ſich auf den Bock, da ſein Rauchen
die Damen genieren würde, und fort ging die Fahrt
in größter Geſchwindigkeit. Wie der alte Klapper—⸗
kaſten ſtieß und ſchüttelte! Mademoiſelle ſtöhnte
jämmerlich, doch Renate bemerkte es kaum. Eine
dumpfe Angſt laſtete auf ihrer Seele. Sie galt dem
Vater und einzig nur ihm!
Ab und zu ſchaute der Franzoſe zurückgebeugt
durch die Glasſcheibe in den Wagen. Weshalb nur?
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder Ge:
Roman von Hans Werber.
844
fangenwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn
fie fein Ipäbendes Geficht wieder erblidte, erjchien
dasjelbe ihr widerwärtiger, unbeimlicher.
„Mein Gott — wäre ih doch nicht mitgefahren!”
brabh es endlich in Herzensangft von ihren Lippen.
Mademoijelle begann zu Ihludzen und wirkte ba-
durh um jo beunrubigenber.
Immer eiliger, ungeftümer ging die $ahrt, immer
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger fchaute
das Spiongefidht herein. Endlich bog der Wagen in
den Penzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen,
waldumraufhten SHerrenhaufe. Ein franzöfiicher
Dffizier trat heraus, riß den Wagenichlag auf und
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er.
„3a, ja, die bin ich, wie gebt es meinem
Vater?”
„Schledt — denn er verzehrt fih vor Sehn—
juht nah Zhnen! Mein Name ift Rovaint! Darf
ich die Ehre haben, Mademoijelle hinauf zu begleiten?”
Er z30g fie bei diefen Worten mit janfter Beftimmt-
beit aus dem Wagen.
Renate zögerte. „Wo ift denn mein Ontel?
Ich möchte ihn wenigftens gern erft jehen!“
„Monfieur Beldegg ift oben — kommen Sie
nur, man erwartet Sie jehnlihft!” Er nahm ihren
Arm feit in den feinen und z30g fie ins Haus. Als
die Thür hinter ihr zufiel, jchraft fie auf mit
leihtem Schrei. Dademoijelle blieb ihr zur Seite.
„Sie find nervös, Madame!” Tächelte ber
Sranzoje. Er führte fie die Treppe hinauf und be:
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel
abzunehmen.
Sebt öffnete er eine Thür. „Entrez, ma-
demoiselle! hr Vater ift Hier!” Es war ein halb:
dunkles Gemach, die Fenſter ſorgſam verhüllt.
Eiligſt überſchritt Renate die Schwelle.
Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat
zurück und ſchlug die Thür zu. Sie hörte, wie
er den Schlüſſel herumdrehte und abzog — hörte,
wie die Franzöſin fich zur Wehr ſetzte, ihr Lands—
mann auf ſie einſprach — Tritte und Stimmen ſich
dann raſch entfernten.
Renate ſtand allein.
Mit ſtarren Augen blickte ſie umher, mit
Augen, welche ſich ſchnell an das Dämmerlicht ge⸗
wöhnten und ihre Umgebung zu erkennen ver—⸗
mochten.
Ihr Vater befand ſich nicht hier — das ſah ſie
zunächſt.
Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer.
Uniformſtücke, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran⸗
zöfifche Dragoneruniform, wie fie Daricot getragen.
Ein füglihes Parfüm wehte ihr entgegen, das fie
aufdringlich deutlich an jenen verhaßten Moment in
Berlin erinnerte, welches fie wieder geipürt, als ihr
fürzlih an der Baltonthür in Ziefenjee Daricot den
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! —
(Schluß folgt.)
845
Beiblatt ber Deutſchen Roman⸗Zeitung.
846
Beiblatt der Dentſchen Roman-gZeitung.
Seſam.
Es liegt an heimlich, verſchwieg'nem Ort
Im Wald verborgen ein ſeltner Hort,
Den Zugang wehrt ein eiſernes Thor,
Es wuchert rankend Geſtrüpp davor.
Den Riegel öffnet nicht Zwinggewalt,
Der Axthieb dröhnend daran verhallt,
Die roſt'gen Angeln erbeben nicht,
Kein ſprengend Eiſen den Bann zerbricht.
Doch wer da findet das Zauberwort,
Der ſtehet harrend nicht lange dort,
Dem öffnet lautlos ſich Thür und Schloß,
Er blickt hinein in der Tiefe Schoß.
Ihm dringt entgegen ein Glimmerſchein
Von flammenſprühendem Edelſtein,
Ein leuchtend Glühen von rotem Gold
Als ob's die Augen ihm blenden wollt'.
So geht die Sage, — ich fand das Wort,
Das mir erſchloſſen den Zauberhort:
Was edleren Wertes als ſchimmernd Erz,
Mein eigen ward es — ein Menſchenherz.
A. Hinckeldeyn.
Das freudige Teſtament.
Bon Karl Yıöf.
I.
Graues, zerrauftes Gewölt hing vom Morgenhimmel
herab und verfing fich in den blaudunklen Wäldern und in
den alten Sirchentürmen. Über die ftaubigen Landivege
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nad)=
eilten.
Auch die Vögel blieben als Zangfiger in ihren Zweigen
und Büfchen fteden, piepften nur mandmal gedantenlos
einen Ton vor fih Hin. Dod die Fröldhe in dem vers
jumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelamufit an mit
unbegrenzter Hingabe an den Mißklang.
In diefe Krüppelwelt der Yarben und verdrießlichen
Raute marfhierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in
denen man ben SFreis feiner Spaziergänge und Zufalld-
befanntichaften ausdehnt, während das höhere Menjchenalter
fie immer mehr einengt. Nod) jpürte er feine Sorgennerven
und fühlte fih nicht von dem ftarken Duft der Linden be-
ichwert, der von verfallenen Gräbern meiterzog. Unter der
Weite trug er die nie fich verfpätende hr gefunden Hungers
und Durftes, dic das Zifferblatt verihmäht. Er begehrte
zumeift gekochte, gebadene und gefhmalzene Wahrheiten nad) |
Um feine Ohren fummten bie
angenehmer Crmüdung.
Welpen wie lauter Glüdsverheißungen.
Hugo Wieperl, der fhulfreie Sekundaner, unternahm
die Entdedungßreife zu dem Meierhofe, der die Apotheker:
familie mit Mil zu verforgen pflegte.
Die Päclersfrau, die unverwäflerte Milch ablieferte,
hatte Hugo befonders in ihr Gemüt gefchloffen, weil er fo
freundlidy zu neden verftand. Sie hatte ihn vor einigen
Zagen zum Befuh ihrer Wirtfchaft eingeladen und ihm
Ihmadhaftee Schwarzbrot und gute Butter verfprochen.
Solden triftigen Gründen Eonnte der Sefundaner, der
fihtlid an Länge und Appetit zunahm, nicht widerfteben.
Die Seele dem YButterbrotideal zugemwendet, lachte er bie
griesgrämige Morgenlandfchaft aus und empfand das Vor:
behagen des erwarteten Genuffes.
Die Kornfelder waren bereit abgemäht, zwifchen den
Stoppeln weideten Gänje und jchoppten fi mit ben Liegen:
gebliebenen hren. Sie vergaßen in der emfigen Arbeit
faft das Echnattern. Dafür fang die barfüßige Hirtin im
roten NRödlein defto falfcher beliebte Wolfgweilen. Weil
Hugo fi in Disharmonien ihr mindeftens ebenbürtig wußte,
entipann ji bald ein Wettgefang, der die Stimmen in
tollfter Weije überpurzeln Tieß. Der unerhörte Lärm ärgerte
die Sonne hervor, die einen Augenblid zwifchen zwei Wolfen-
fegen durchblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer:
felder neigten fich ergebenft vor ber Herrin und flüfterten
nad Höflingsweife: „Ein ganz verrüdtes Volt, Durd-
lauchtigſte!“
Zögernd hielt Hugo ſtill. Er wollte die gänſehütende
Sangesfreundin etwas beſſer kennen lernen. Anderſeits
winkte unter dem fernen Rauchſpiel über Ziegel- und Stroh⸗
dächern der Morgenimbiß. Endlich entſchied ſich der Se—
kundaner in feiner Griechenart: „Das Butterbrot läuft mir
nicht fort. Auch könnte ich ja den Weg verfehlt haben.
Nachfrage ſchadet niemals.“
Alſo lief er querfelde, mitten unter die Gänſe hinein,
die zornig ihre Schnäbel öffneten und ſchwerfällig tapften
und zeterten. Auch die hellblonde, ſommerſproſſige Hirtin
erſchrak und ſtreckte unwillkürlich beide Hände und die Gerte
vor. Hugo jedoch fragte unbekümmert: „Geht hier der
Weg nach dem Preleuthner Meierhofe?“
„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie
gekommen,“ antwortete das halbwüchſige Dorfmädchen, die
den ſtädtiſch gekleideten jungen Mann neugierig muſterte.
„Schön, das wollte ich nur wiſſen,“ ſagte Hugo und
ſtieß rückwärts mit dem Fuße, um eine tapfere Gans weg—
zuſcheuchen, die ſich zum Angriff rüſtete. „Ich will mich
ein wenig ausruhen und wir wollen noch etwas zuſammen
fingen. Wie heißt Du, blonde Here?“
„SH bin Johanna getauft und Hanni genannt, bin
aber eine Here,“ gab fie halb zürnend zurüd.
„Das meinte ich nicht übel. Auch meine Schweiter
Marie rufe id Here. E8 Elingt ein bißchen Iuftig und man
weiß nod) nicht, ob die Weiber in den Himmel oder in die
Hölle fahren.“
„Ich will in den Himmel fommen. Freilihd muß id)
dann noch braver werden. Sagt aljo lieber zu mir Hanni.
Und jchlagt mir nicht die Gänje.”
847
„E8 geichieht den dummen Viehchern nichts, wenn fie mich
in Frieden laſſen. Doch was fingen wir?“
Hanni warf übermütig die Oberlippe empor, die Kehle,
welche allein nicht verbrannt von der Sonne war, kam in
ſchwingende Bewegung und in den höchſten Tönen drang
das Spottlied heraus:
„Wiedehopf, Wiedehopf!
Haſt einen garſtigen Schopf,
Gehſt zu dem Entenpfuhl
Lieber als in die Schul'.
Haha! Haha!“
Das ſilberne Gelächter verſtummte. Hugo ſah ihr ver⸗
blüfft in die braunen, ſchalkhaften Augen. Ein Sekundaner
darf aber nicht mehr blöde ſein. Und er entgegnete mit dem
raſch improviſierten Trutzvers:
„Hanni, haft feinen Hahn,
Fangſt mit den Gänjen an.
Erft wenn Du lieb und brav,
Kriegft Du ein frommes Schaf.
Haba! Haha!“
Er wollte fie bei der Hand faflen, doch fie entwijchte
ihm und lief im Kreis herum. WBergeben? fuchte er die
biegiame Geftalt zu erhafhen. So nahe er ihr auch manch⸗
mal kam, immer wieder bradte eine rajhe Wendung fie in
Sicherheit. Erichöpft ftellte Hugo die Jagd ein, legte fich in
eine Furdhe des Stoppelfeldes und wijchte mit feinem Tafchen:
tuhe den Schweiß von ber Etirne. Hanni feste fi jetzt
neben ihn, dod) jo, daß er fie nicht ergreifen konnte. „Grs
zählen Sie mir bie Geihihte von dem Fuchfe und den
Trauben. Doch wie heißen Sie eigentlich?“
Er verbiß den Heinen rger. „Hugo Wieperl. Der
Apothefer- Hugo aus Hildesitadt.“
Wieder fang der Kobold, indem er ein treuherziges Bes
dauern in feine Züge zu legen fucdhte:
„Lieber Herr Wieperl!
Schmerzt Sie da3 Yipperl?
In Ihrer Apothet’
Ausfuriert man’s vom Fled.”
So mwunderlih meldet fi der Verfalltag ber eriten
Sugenbliebe an. Hugo fand Fein Truglied mehr und blidte
etwa® jcheu nad der Kleinen QDuälerin bin. Er bemerkte,
daß bdiefe ein verrofteteg Erzitüd, da einem Pfeil glich,
in da8 braune Blufenhemd Hineingeitedt Hatte. Das bot
ihm Gelegenheit, abzulenken. Er deutete auf den Bettel-
Ihmud hin und fragte: „Von wen haft Du diejen Pfeil?*
„Ah, den haben die Maurer ausgegraben, als fie den
Anbaı bei der Zandmühle madten. Da ich gerade vorbei:
ging, Ichenkten fie mir da8 unnüge Ding.“
„Laß e3 mich näher anjchauen.*
Zögernd neftelte Hanni das roftige Gefchmeide [os und
reichte diefes etwas mibtrauiih Hin. Dod Hugo machte
feinen jchlehten Scherz, betrachtete vielmehr aufmertfam bie
feine Arbeit. Dann fagte er:
„Dag ijt eine fibula, Fibel, wie wir bdeutjch fagen
würden. Die hat einft eine Nömerfrau oder ein Römer:
mädchen getragen und fie wurde mit ihm in daß Grab ges
ientt, das nach mehr als taufend Jahren Deine Maurer aufs
ihlofien. Dafür giebt man Dir im ftädtifchen Antiken—
Mufeum ein gutes Stüd Geld. So, nimm e8 zurüd.“
Begierig griff Hanni danad), fprang aber jogleidy auf
und rief: „ottes willen, ba fommt der Herr Naplan.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
848
Wenn und der beifammen findet! Sputen Sie fid) raid)
fort! Das ift ein fo ftrenger Herr, der feinen in den
Himmel hineintommen läßt. Denn einmal bat doch jeder
eine Stirfche geftohlen und dafür giebt e8 bei ihm nicht Ab-
folution. Zeigt er mid) der Mutter an, fo muß mir Diele
die jchönjten Haue geben, ob fie will oder nicht will.“
Erftaunt blidte Hugo das aufgeregte Mädchen an, defien
Übermut plöglich in haltlofe Angft umgefhlagen war. Num
befam er wieder die Oberhand. Gelbftgefällig ftredte fich
Hugo aus und bemerkte faltblütig: „Ih fürdite mich vor
feinem SRaplan. Die fchlechteften Gymnafialfchüler werden
meiften® Theologen. Und ich bin zweimal Primus gemweien.
Raffe den Schwarzrod nur heranfommen, ich will mit ihm
lateiniſch ſprechen.“
Hanni ſtarrte nur nach dem dunklen Fleck hin, der ſich
am Rande der Weizenfelder bewegte. Nun verſchwand der
Fleck auf einem ſich ſenkenden grünen Raine im weißen
Halmenmeer. Hanni klatſchte in die Hände, machte einige
tolle Sprünge und wiederholte mechaniſch die Worte: „Er
hat uns nicht geſehen! Er hatte uns nicht geſehen! Er
wird uns nicht ſehen! Er wird uns nicht geſehen haben!“
Schließlich beendete ſie die Schullitanei, während Hugo den
Mund verzog, was zu einem Schmunzeln im Verhältnis
ſtand, wie ſeine ſechs Härchen an den Mundecken zu einem
ausgewachſenen Barte.
Nun kauerte ſich Hanni ungeſcheut neben dem Zufalls—
genoſſen hin, kreuzte die Hände über die Kniee und ſchüttelte
mit dem Kopfe, ſo daß der kurze Zopf wie ein Peitſchenſtiel
auf und ab ſchwang. Ihre Seelenvergnügtheit ſteckte Hugo
an und er pfiff die Weiſe des „Fürſten von Thoren“.
„Noch ein bißchen ſtill,“ mahnte Hanni. „So ein
Beichtiger hat ein gar feines Gehör. Iſt er weit genug,
dann wollen wir ein frommes Lied wegen glücklicher Er—
rettung aus der Gefahr beginnen.“ Sie lachte in ihren
Schoß hinein und fing an, ſachte einige Ackerkrumen abzu⸗
ſtreifen, die ſich an ihren nackten Füßen feſtgeklebt hatten.
Dann erhob Hanni die Stimme:
„Heilige Maria, Mutter der Gnaden,
Seele und Leib auch behüte vor Schaden.“
Wohlgefällig beobachtete Hugo die liſtige Paradies⸗
werberin, die der himmliſchen Frau huldigte, um dem
irdiſchen Kaplan einen Poſſen zu ſpielen. Mit halbem Tone
begleitete er das ihm fremde Bitt- und Preiſslied. Ein Se—
kundaner iſt zwar bereits ſehr aufgeklärt, allein er bleibt
edel genug, fromme Gefühle anderer zu würdigen. Nur als
eine Lerche in der Luft mittirilierte, ſtrich des werdenden
Mannes Schmunzeln wieder über ſein Geſicht.
Hanni jedoch bekam einen Großmutsanfall. Sie neſtelte
nochmals die Fibel los, bohrte ſie durch den dichten braunen
Buſch über Hugos Stirn und ſagte feierlich wie eine Mutter
am Namenstag: „Weil Sie ſo hübſch abgewartet und be—
ſcheidentlich geſungen haben, ſchenke ich Ihnen dies Erbſtück
des Römermädchens, von dem Sie allein etwas Geſcheites
wußten. Ich habe noch eine Neuſilberbroſche zu Hauſe.“
Hugo war gerührt von Wort und Sinn der Spenderin,
deren braune Augen weich ſchimmerten. Allein ein Gym⸗
naſiaſt in den höheren Klaſſen nimmt ſolche Geſchenke nicht
an, die ihm überdies Schweſter Marie wieder entführt hätte.
Er zog den Pfeil aus ſeinen Haaren, betonte, daß ein ſolches
Amulett nur demjenigen Glück bringe, der es zuerſt beſeſſen,
und ſteckte die Fibel Hanni wieder an die Bruſt. Sie hielt
849
ftil und zitterte nur ein wenig. Ob die unvollzogene Groß»
that, die Glücsverheikung oder nod) andere ihr Blut
beeilte, läßt fih nicht enticheiden. Etwas mußte durch den
Mund heraus, und fo Sang fle, als er im Sigen einen fteifen
Büdling verfuchte, der favaliermäßig fein follte:
„Der Pfeil fliegt hin,
Der Pfeil fliegt her,
Wo bleibt er fchließlid) jteden?
Ein Bogelfinn
Berlangt nicht mehr
Als Echmaufen nad) dem Neden."
Die Schlußworte wedten Hugo ein öbes Gefühl in der
Magengegend, das bei der Morgentändelei eingelchlummert
war. Sich aufrüttelnd, fprad er: „Nun muß ich fort zum
Preleuthnerſchen Meierhofe, ſonſt komme ich zu fpät. Und
Hunger habe ih, Hunger... .*
Mitleidig fah ihn Hanni an. „Meine Taufpatin, das
ift die Preleuthnerin, nimmt e8 nicht übel, wenn Sie aud)
nah dem Yrühftüd kommen. Sie weiß, daß Stabdtleute
nicht zu zeitig aufftehen. Sie haben noch eine halbe Stunde
bis zum Hofe. Wenn Ste jhon jet hungrig find, fo wollen
wir teilen.“
Sie begab fich zu einem Feldftein, unter dem etwas
Helle fchimmerte, hob jenen auf und widelte ein reines,
geblümtes Tuch — da8 vielleicht beim Steigen der Sonne
als Kopftuch diente — außeinander. 8 enthüllte fich eine
tüchtige Butterfchnitte, die fie Hugo bradıte und fagte: „Faßt
an, wir wollen da8 Brot brechen, wie der Herr e3 geheißen.“
(Schluß folgt.)
Das Fnde,
Und alfo war’8 zum legten Mal,
Daß unfre Hände fih umfangen, —
Dann bin ih ftumm, wie Hagar einft,
In Naht und Not hinausgegangen.
An meines Leben? Himmel war
Der lebte lichte Stern gejunten,
Die heil’ge Glut in meiner Bruft
Grlojhen bis zum Afchenfunfen.
Was jett no kommt, ift Schmerz und Schmad),
Sft todesruhiges Entjagen:
Sc) werbe meines Dafeinz Laft
Mit ungebeugtem Haupte tragen.
Und fagt’ ih’3 Euch, Ihr glaubtet’s nicht,
Selbft nicht den früh gebleihten Haaren:
Wie riefenftarl das Dienichenherz,
Muß jeder an fih felbft erfahren.
Glara Müller.
Xlerlei zur Frauenfrage.
Von M. Müller.
Es wird in unferer Stadt während des Winterd immer
eine große Zahl gelehrter und ungelehrter Vorträge ges
halten. Audy in diefem Jahre ift daran kein Mangel, doc
hat e3 den Anfdein, als würden wir ganz bejonders von
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
————— — — — —— — ——— — — —— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —— —— — — —
850
redegewandten Damen heimgeſucht. Gewiß wird es keinem
Menſchen einfallen, zu beſtreiten, daß die Frauen zum Reden
vorzüglich beanlagt ſind. Im Gegenteil! Dieſe Gabe iſt
ihnen zu allen Zeiten bedingungslos zuerkannt worden.
Wenn aber Frauen öffentlich redend auftreten, ſo be⸗
mächtigt ſich der Zuhörer unwillkürlich das Gefühl, als ob
die Betreffenden unter allen Umſtänden eine Predigt an den
Mann im allgemeinen bringen wollten, da das Glück, eine
Gardinenpredigt einem einzelnen, dem eigenen, im beſonderen
zu halten, für ſie ausgeſchloſſen iſt. Ich hoffe, die Damen,
welche ſich hier getroffen fühlen könnten, werden mir dieſe
Bemerkung nicht nachtragen. Was ſo ein ungelehrtes
Menſchenkind, wie ich eins bin, ſagt, wird denſelben Eins
druck machen, wie Hundegebell auf den glänzenden Mond.
Iſt dieſer Vergleich nicht höchſt ſchmeichelhaft?
Ich ſagte alſo, die Reden pflegen an Gardinenpredigten
zu erinnern. Und iſt es in der That nicht ſo?
Hier wie dort werden übelſtände an das Tageslicht —
o nein! an das Lampenlicht, gezogen, und es wird eine
Beſſerung des ausgeſcholtenen Teiles angeſtrebt. Hier wie
dort, ob Mann, ob Publikum, gähnt der Zuhörer, ſchläft
ein und — begeht morgen dasſelbe himmelſchreiende Unrecht.
Du glaubſt mir nicht, liebe Leſerin? Soll ich Dir er:
zählen, was ich nach einem der letzten Vorträge hörte? —
Das verehrte Publikum, überwiegend natürlich dem
weiblichen Geſchlecht angehörend, ſtrömte dem Ausgange zu,
mit Drängen und Stoßen, wie das bei wohlerzogenen
Damen im allgemeinen ſo Sitte zu ſein ſcheint. Ich flüchtete
deshalb in den Schutz einer Säule und ließ die Augen nach—⸗
denklich über die an mir vorüberhaſtende Menge ſchweifen.
Allen dieſen Frauen und Mädchen, vom Backfiſch bis zur
Matrone, war heute klar und deutlich vor die Seele geführt
worden, welch' ein nutzloſes, gedankenleeres Daſein ſie zu⸗
meiſt führten. Dagegen waren ihnen ihre Pflichten gewieſen
worden, d. h. was die Rednerin unter Pflichten verſtand,
wie ſie ſich einen Beruf erwählen müßten, um die geiſtige
Ode ihres Lebens und ihres Herzens auszufüllen, alles in
ſchönen, logiſchen Sätzen, ſehr weiſe, ſehr richtig und doch! —
und doch! —
Da gehen ſie hin, die beiden Damen, bekannt bei alt
und jung als unermüdlich thätig in allerhand Vereinen, wo
ſie Zeit und Geld verſchwenden. Sie finden nicht Worte
genug, den Vortrag in überſchwenglichſter Weiſe zu loben,
und auf ihren Geſichtern ſteht abſchreckend deutlich das:
„Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene,“ zu leſen.
Doch erſt geſtern klagte ihre Waſchfrau, daß eben dieſe
Damen ſich regelmäßig weigerten, die zehn Pfennige für
die Verſicherungsmarke zu zahlen. Auf meine Frage, warum
ſie ſie nicht anzeige, erwiderte die Frau, ſie fürchte alsdann
nicht allein dort ihre Stelle zu verlieren, ſondern anuch
andere, da die Damen viel Einfluß in ihrer ausgedehnten
Belanntichaft hätten. So bezahle fie Tieber die ganze
Marle allein.
Zwei, kaum den Sinderfhuben entwadiene Mädchen
ftehen jegt vor mir. Sie nafchen aus einer Tüte, um fi
bon der ermüdenden Gedankenarbeit des angeftrengten Zus
hörens zu erholen.
„Da hätte man ja nun erfahren, wie abgrundtief
Ichleht unjereing ift,“ jagt die eine etwas nachdenklich.
„Ei, bange maden gilt nit, Elfe,” entgegnet die
andere lachend, „das alles betraf dod) uns nicht. Die Hatte
gut reden, fie fieht mir gerade aus wie eine, die fich zeit»
847
„Es geichieht den dDunmen Vichhern nichts, wenn fie mid)
in Frieden lafien. Doch was fingen wir?“
Hanni warf übermütig die Oberlippe empor, die Stehle,
welche allein nicht verbrannt von der Sonne war, fam in
fhwingende Bewegung und in den höchiten Tönen drang
dag Spottlied heraus:
„Wiedehopf, Wiedehopf!
Haft einen garitigen Schopf,
Gehſt zu dem Entenpfuhl
Lieber als in die Schul’.
Haha! Haha!“
Das filberne Gelächter verftunmte. Hugo fah ihr ver-
plüfft in die braunen, fchalkhaften Augen. Ein Sekundaner
darf aber nicht mehr blöde fein. Und er entgegnete mit dem
raſch improviſierten Trutzvers:
„Hanni, haſt keinen Hahn,
Fangſt mit den Gänſen an.
Erſt wenn Du lieb und brav,
Kriegſt Du ein frommes Schaf.
Haha! Haha!“
Er wollte ſie bei der Hand faſſen, doch ſie entwiſchte
ihm und lief im Kreis herum. Vergebens ſuchte er die
biegſame Geſtalt zu erhaſchen. So nahe er ihr auch manch⸗
mal kam, immer wieder brachte eine raſche Wendung ſie in
Sicherheit. Erſchöpft ſtellte Hugo die Jagd ein, legte ſich in
eine Furche des Stoppelfeldes und wiſchte mit ſeinem Taſchen⸗
tuche den Schweiß von der Stirne. Hanni ſetzte ſich jetzt
neben ihn, doch fo, daß er ſie nicht ergreifen konnte. „Er⸗
zählen Sie mir die Geſchichte von dem Fuchſe und den
Trauben. Doch wie heißen Sie eigentlich?“
Er verbiß den kleinen Arger. Hugo Wieperl. Der
Apotheker⸗Hugo aus Hildesſtadt.“
Wieder ſang der Kobold, indem er ein treuherziges Be⸗
dauern in feine Züge zu legen fuchte:
„Lieber Herr Wieperl!
Echmerzt Sie das Zipperl?
In Ihrer Apothet’
Ausfuriert man’d vom led.”
Sp munderlid”) meldet fih der Verfalltag der eriten
Sugendliebe an. Hugo fand fein Trußlied mehr und blidte
etwas jchen nad der Eleinen Ouälerin bin. Er bemerfte,
daß bieje ein verroftetes Erzitüd, das einem Pfeil glich,
in da8 braune Blufenhemd hHineingeftedt Hatte. Das bot
ihm Gelegenheit, abzulenten. Er deutete auf den Bettel«
Ihmud Hin und fragte: „Von wen haft Du diejen Pfeil?“
„Ah, den haben die Maurer ausgegraben, als fie den
Anbaı bei der Yandmühle madten. Da ich gerade vorbeis
ging, jchentten fie mir das unnüge Ding.“
„Zaß e8 mich näher anjdhauen.*
Zögernd neftelte Hanni das roftige Gefchmeide [log und
reichte diejes eimas mißtrauiid) hin. Dod Hugo machte
feinen jchlechten Scherz, betrachtete vielmehr aufmertfam bie
feine Arbeit. Dann fagte er:
„Das ijt eine fibula, Fibel, wie wir deutich fagen
würden. Die hat einft eine NRömerfrau oder ein Römer:
mädchen getragen und fie wurde mit ihm in daß Grab ges
jentt, das nad mehr als taujend Jahren Deine Maurer aufs
Ihlofjen. Dafür giebt man Dir im ftädtifchen Antiken—
Mufeum ein gutes Stüd Geld. So, nimm e3 zurüd.“
Degterig griff Hanni danad, fprang aber jogleich auf
und rief: „Gottes willen, da fommt der Herr Sapları.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
848
Wenn uns der beifammen findet! Sputen Sie fi raid
fort! Das ift ein jo ftrenger Herr, der feinen in den
Himmel hineintommen läßt. Denn einmal bat Doch jeder
eine Stirfche geftohlen und dafür giebt e8 bei ihm nicht Ab-
folution. Zeigt er mich der Mutter an, fo muß mir biefe
die jchönjten Haue geben, ob fie will oder nicht will.“
Erftaunt blidte Hugo das aufgeregte Mädchen an, deilen
Übermut plögli in haltlofe Angft umgeichlagen war. Nun
befam er wieder die Oberhand. Selbftgefällig ftredte fich
Hugo aus und bemerkte faltblütig: „Ich fürchte mich vor
feinem Saplan. Die jchlechteiten Gymnafialichüler werden
meiftens Theologen. Und ich bin zweimal Primus geweien.
Zaffe den Schwarzrod nur heranfonmen, id will mit ihm
lateiniſch ſprechen.“
Hanni ſtarrte nur nach dem dunklen Fleck hin, der ſich
am Rande der Weizenfelder bewegte. Nun verſchwand der
Fleck auf einem ſich ſenkenden grünen Raine im weißen
Halmenmeer. Hanni klatſchte in die Hände, machte einige
tolle Sprünge und wiederholte mechaniſch die Worte: „Er
hat uns nicht geſehen! Er hatte uns nicht geſehen! Er
wird uns nicht ſehen! Er wird uns nicht geſehen haben!“
Schließlich beendete ſie die Schullitanei, während Hugo den
Mund verzog, was zu einem Schmunzeln im Verhältnis
ſtand, wie ſeine ſechs Härchen an den Mundecken zu einem
ausgewachſenen Barte.
Nun kauerte ſich Hanni ungeſcheut neben dem Zufalls⸗
genoſſen hin, kreuzte die Hände über die Kniee und ſchüttelte
mit dem Kopfe, ſo daß der kurze Zopf wie ein Peitſchenſtiel
auf und ab ſchwang. Ihre Seelenvergnügtheit ſteckte Hugo
an und er pfiff die Weiſe des „Fürſten von Thoren“.
„Noch ein bißchen ſtill,“ mahnte Hanni. „So ein
Beichtiger hat ein gar feines Gehör. Iſt er weit genug,
dann wollen wir ein frommes Lied wegen glücklicher Er—⸗
rettung aus der Gefahr beginnen.“ Sie lachte in ihren
Schoß hinein und fing an, ſachte einige Ackerkrumen abzu⸗
ſtreifen, die ſich an ihren nackten Füßen feſtgeklebt hatten.
Dann erhob Hanni die Stimme:
„Heilige Maria, Mutter der Gnaden,
Seele und Leib auch behüte vor Schaden.“
Wohlgefällig beobadjtete Hugo die liftige Paradies-
werberin, die der bimmliihen Yrau Huldigte, um dem
irdifchen Kaplan einen Boffen zu fpielen. Mit halbem Tone
begleitete er das ihm fremde Bitt: und Preislied. Ein Se:
tundaner tft zwar bereit$ fehr aufgeklärt, allein er bleibt
edel genug, fromme Gefühle anderer zu würdigen. Nur als
eine Lerhe in der Luft mittirilierte, ftrich des werdenden
Mannes Schmunzeln wieder über fein Geftcht.
Hanni jedod befam einen Großmutsanfall. Sie neftelte
nohmals die yibel 108, bohrte fie durch ben dichten braunen
Bufc über Hugos Stirn und fagte feierlid) wie eine Mutter
am Namenstag: „Weil Sie fo hübfch abgemwartet und be=
fheidentlicd) gefungen haben, fchenke ich Shen dies Erbftüd
deö Nömermäddens, von dem Sie allein etwas Gejcheites
wußten. Sch habe noch eine Neufilberbrofche zu Haufe.“
Hugo war gerührt von Wort und Sinn ber Spenberin,
deren braune Augen weich fchimmerten. Allein ein Gym:
nafiaft in den höheren Klaffen nimmt folche Geichenfe nicht
an, die ihm überdies Schweiter Marie wieder entführt hätte.
Er z0g den Pfeil aus feinen Haaren, betonte, daß ein folches
Amulett nur demjenigen Glüd bringe, der e8 auerft befeffen,
und ftedte die TFibel Hanni wieder an die Bruft. Sie hielt
849
ftil und zitterte nur ein wenig. Ob die unvollgogene Groß»
that, die Glüdsverheißung oder nod) anderes ihr Blut
beeilte, läßt fich nicht entjcheiden. Etwas mußte durch ben
Mund heraus, und fo ang fie, als er im Sigen einen fteifen
Büdling verfuchte, der Tavaliermäßig fein follte:
„Der Pfeil fliegt Hin,
Der Pfeil fliegt her,
Wo bleibt er fchlieglid) fteden?
Ein Bogelfinn
Berlangt nicht mehr
Als Echmaufen nad) dem Neden."
Die Schlußworte wedten Hugo ein öbes Gefühl in der
Magengegend, das bei der Morgentänbelei eingeichlummert
war. Sid aufrüttelnd, fprah er: „Nun muß ich fort zum
Preleuthnerſchen Meierhofe, ſonſt komme ich zu fpät. Ind
Ounger babe ih, Hunger... .*
Mitleidig fah ihn Hanni an. „Meine Taufpatin, bas
ift die Preleuthnerin, nimmt e8 nicht übel, wenn Sie aud)
nah dem Yrübftüd Lommen. Sie weiß, bak Stabtleute
nicht zu zeitig aufftehen. Sie haben nody eine halbe Stunde
bi8 zum Hofe. Wenn Ste Ihon jet hungrig find, fo wollen
wir teilen.“
Sie begab fi zu einem Yeldftein, unter dem etwas
Helles Ichimmerte, Hob jenen auf und widelte ein reines,
geblümtes Tuch — das vielleicht beim Steigen der Sonne
als Kopftuch diente — auseinander. E8 enthüllte fich eine
tüchtige Butterfchnitte, die fie Hugo bradıte und fagte: „Faßt
an, wir wollen das Brot brechen, wie der Herr e8 geheißen.*
(Schluß folgt.)
Das Funde,
Und alfo war’3 zum legten Mal,
Daß unjre Hände fidh umfangen, —
Dann bin ih ftumm, wie Hagar einft,
In Naht und Not hinandgegangen.
An meines Lebens Himmel war
Der legte lichte Stern gejunten,
Die heil’ge Gut in meiner Bruft
Erlofhen bis zum Ajchenfunfen.
Was jegt noch kommt, ift Schmerz und Schmad,
ft todesruhiges Entjagen:
Sch werde meines Dafein Laft
Mit ungebeugtem Haupte tragen.
Und fagt’ ih’3 Euch), Ihr glaubtet’3 nicht,
Selbſt nicht den früh gebleichten Haaren:
Wie riefenftark das Menjchenherz,
Muß jeder an fich felbit erfahren.
Glara Müller.
Xlerlei zur Zirauenfrage.
Bon M. Müller.
Es wird in unferer Stabt während des Winters immer
eine große Zahl gelehrter und ungelehrier Vorträge ges
halten. Auch in diefem Sabre ift daran fein Mangel, dod)
hat e3 den Anicdein, als würden wir ganz bejonder8 von
Beiblatt der Deutiden Roman-geitung.
ee, ne, En — — — —
850
redegewandten Damen heimgeſucht. Gewiß wird es keinem
Menſchen einfallen, zu beſtreiten, daß die Frauen zum Reden
vorzüglich beanlagt ſind. Im Gegenteil! Dieſe Gabe iſt
ihnen zu allen Zeiten bedingungslos zuerkannt worden.
Wenn aber Frauen öffentlich redend auftreten, ſo be⸗
mächtigt ſich der Zuhörer unwillkürlich das Gefühl, als ob
die Betreffenden unter allen Umſtänden eine Predigt an den
Mann im allgemeinen bringen wollten, da das Glück, eine
Gardinenpredigt einem einzelnen, dem eigenen, im beſonderen
zu halten, für ſie ausgeſchloſſen iſt. Ich hoffe, die Damen,
welche ſich hier getroffen fühlen könnten, werden mir dieſe
Bemerkung nicht nachtragen. Was ſo ein ungelehrtes
Menſchenkind, wie ich eins bin, ſagt, wird denſelben Ein⸗
druck machen, wie Hundegebell auf den glänzenden Mond.
Iſt dieſer Vergleich nicht höchſt ſchmeichelhaft?
Ich ſagte alſo, die Reden pflegen an Gardinenpredigten
zu erinnern. Und iſt es in der That nicht ſo?
Hier wie dort werden übelſtände an das Tageslicht —
o nein! an das Lampenlicht, gezogen, und es wird eine
Beſſerung des ausgeſcholtenen Teiles angeſtrebt. Hier wie
dort, ob Mann, ob Publikum, gähnt der Zuhörer, ſchläft
ein und — begeht morgen dasſelbe himmelſchreiende Unrecht.
Du glaubſt mir nicht, liebe Leſerin? Soll ich Dir er—
zählen, was ich nach einem der letzten Vorträge hörte? —
Das verehrte Publikum, überwiegend natürlich dem
weiblichen Geſchlecht angehörend, ſtrömte dem Ausgange zu,
mit Drängen und Stoßen, wie das bei wohlerzogenen
Damen im allgemeinen ſo Sitte zu ſein ſcheint. Ich flüchtete
deshalb in den Schutz einer Säule und ließ die Augen nach⸗
denklich über die an mir vorüberhaſtende Menge ſchweifen.
Allen dieſen Frauen und Mädchen, vom Backfiſch bis zur
Matrone, war heute klar und deutlich vor die Seele geführt
worden, welch' ein nutzloſes, gedankenleeres Daſein ſie zu⸗
meiſt führten. Dagegen waren ihnen ihre Pflichten gewieſen
worden, d. h. was die Rednerin unter Pflichten verſtand,
wie ſie ſich einen Beruf erwählen müßten, um die geiſtige
Ode ihres Lebens und ihres Herzens auszufüllen, alles in
ſchönen, logiſchen Sätzen, ſehr weiſe, ſehr richtig und doch! —
und doch! —
Da gehen ſie hin, die beiden Damen, bekannt bei alt
und jung als unermüdlich thätig in allerhand Vereinen, wo
ſie Zeit und Geld verſchwenden. Sie finden nicht Worte
genug, den Vortrag in überſchwenglichſter Weiſe zu loben,
und auf ihren Geſichtern ſteht abſchreckend deutlich das:
„Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene,“ zu leſen.
Doch erſt geſtern klagte ihre Waſchfrau, daß eben dieſe
Damen ſich regelmäßig weigerten, die zehn Pfennige für
die Verſicherungsmarke zu zahlen. Auf meine Frage, warum
ſie ſie nicht anzeige, erwiderte die Frau, ſie fürchte alsdann
nicht allein dort ihre Stelle zu verlieren, ſondern auch
andere, da die Damen viel Einfluß in ihrer ausgedehnten
Bekanntſchaft hätten. So bezahle ſie lieber die ganze
Marke allein.
Zwei, kaum den Kinderſchuhen entwachſene Mädchen
ſtehen jetzt vor mir. Sie naſchen aus einer Tüte, um ſich
von der ermüdenden Gedankenarbeit des angeſtrengten Zu⸗
hörens zu erholen.
„Da hätte man ja nun erfahren, wie abgrunbtief
Ichleht unfereins ift,“ fagt die eine etwas nachdenklich.
„Si, bange machen gilt nit, Elfe,” entgegnet die
andere lahend, „das alles betraf doch uns nicht. Die hatte
gut reden, fie fieht mir gerade aus wie eine, die fich zeit-
851
lebens plagen mußte. Entweder ſie weiß überhaupt nicht,
was es heißt, ſich ſo recht göttlich zu amüſieren oder ſie iſt
bloß neidiſch auf uns. Auf jieden Fall thut ſie mir leid,
ich aber tanze, brenne und ſchnitze ruhig weiter.“
„Ja, wirklich? Iſt das Deine Meinung?“ und Elſe
ſeufzt erleichtert auf, „nun, dann will ich mir auch weiter
keine Sorgen machen. Lieber wollen wir vom nächſten Tanz⸗
kränzchen reden. Was wirſt Du dazu anziehen?“
Ein drittes, wenig älteres Mädchen drängt ſich zu den
beiden: „Die Rednerin hat mir zu gut gefallen,“ ſprudelt
ſie lebhaft hervor, „ſo ganz glatt ſchwarz angezogen! Famos!
Schneidig!“
„Nun, wie eine Konzertſängerin konnte ſie ſich doch
nicht vorſtellen, es hätte auch nicht mehr bei ihr gelohnt,“
brummte ihre Nachbarin.
Arme Rednerin, das iſt Dein Erfolg bei dem jungen
Nachwuchſe!
Eine runde Geſtalt, ein rotes, erhitztes Geſicht taucht
neben mir auf: die Frau eines Schuhmachers. Sie ſcheint
ſehr unzufrieden zu ſein und murrt, laut genug, daß die
Umſtehenden fie hören können: „Na, erzähle ich heute abend
meinem Danne, daß bie ledigen Weibsperſonen auch Schufter
und Schreiner werden jollen, dann geht er ficher noch heute
abend ing Wirtshaus und trinkt fih einen an. Die Kon
furrenz tft fhon fo groß und Arbeit giebt e8 wenig, jagt
er ja immer.”
Eine ältere Dame, von der ich weiß, daß fie Mutter
mehrerer erwachfener Söhne ift, die trog guter Beanlagung
und Fleiß vergeblih in ihren erwählten Berufen ein ge-
nügendes Ausfommen fjudhen, nidt mit forgenvolem Ans
gefiht der fhlichten Handwerferfrau beftätigend zu.
„Wenn nun aber die Mädchen kein Talent zu einem
gelehrten Beruf, keinen Trieb oder feine Anlage zur Sranten>
und Armenpflege haben, wa8 follen fie dann ergreifen?“ fragt
angftvoll eine töchterreihe Mutter, erichredt von dem Ges
banten eines drohenden, wirtfhaftlihen Umfturzes.
„Dann laflen Sie fie brave Dienftmäbchen werben!”
ruft eine junge Frau dazwiſchen, die ſchon manche trübe
Erfahrung in diefer Beziehung gemadt zu haben jcheint.
Ein niederfchmetternder Bi trifft fie, und Worte wie
„empörend“, „unverfhämt*, werden in da8 Obr der Nachbarin
geflüftert. Doc dieje zudt die Achjeln.
„So ganz unredt kann ich der jungen Frau nicht geben;
an guten, anftändigen Dienftmädchen ift zu jeder Zeit großer
Mangel. Mande, die Näherin, Ladenfränlein (Qadenmädcen
darf nicht mehr gefagt werden), fogar Volksfchullehrerin ge-
worden, würde befler gethban haben, einen befcheideneren
Plat zu wählen, aber den aud vollftändig und gut aus
zufüllen. &8 ann ja vorlommen, daß unjere Mädchen eins
mal mittellos daftehen, doch darım forge ich mich nidyt. Die
meinen Lönnen ordentlih fochen; und efjen wollen, und zivar
etwas Gutes efjen, werden die Menfchen immer. Sie können
ftriden, fliden und nähen — und bekleidet wollen die Leute
immer fein. Bor allem aber haben fie gelernt, fi vor
feiner Arbeit zu fcheuen, fi) in andere Menfchen zu fügen.
Da müßte e8 doch gelungen zugehen, wenn fie unter bie
Räder kämen, voransgeiegt, fie bleiben gefund — nun, und
dag müfjen wir einer anderen Madjt überlafien.“
Die energiihe Dame gefiel mir, fie hatte in vielem
recht, dennoch mußte ich den Kopf Ichütteln.
Gewiß, e8 kommt bei Mädchen, wenn feine zwingende
Notwendigkeit oder wirkliches Talent vorhanden ijt, weniger
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
852
darauf an, für einen beftimmten Beruf vorbereitet zu fein,
als überhaupt arbeiten zu wollen und zu können, db. h. eine
einmal vorgenommene ober verlangte Arbeit mit Stetigfeit,
Pflihttreue und TFreudigfeit auszuführen. Sm befonderen
jolten fie jegliche häusliche Arbeit verftehen, e8 wird ihnen,
mögen fie auch einen Beruf ergreifen, welchen fie mollen,
nur bon Nuten fein. Ich Tenne Damen, bie jahrelang
da3 Amt einer Lehrerin ausfüllten, dann burh Stranfheit
oder aus anderen Gründen geziwungen wurben, diejer Thätig»
feit zu entfagen. Gerne hätten fie eine Stelle al3 Bor:
fteherin eines Haushaltes angenommen, welde ihnen aud
angeboten wurde. Die Bedingungen waren für beide Teile
zufriedenftellend, doh alle Hoffnungen mußten jcheitern an
ber einfahen Thatjadye, daß die Betreffenden nicht bie
Führung eines Haußhaltes verftanden. Wie fief bedauerten
fie, in ihrer Jugend verfäumt zu haben, bie erforderlichen
Stenntniffe zu erwerben.
Die vielen, vielen Reden zu Gunften eines öffentlichen
Berufes der Mädchen find nicht ohne Gefahr. Die Sehn-
fuht nah einem folden ift oft nichts anderes, al3 eine
bequeme Audflucht, den beengenden Schranfen des Eltern
haufes zu entrinnen, „frei“ zu fein, d. h. feine Nüdfichten
mehr nehmen zu müffen.
Als ob auf Erden überhaupt ein gebeihliches Zus
fammenmirlen der Menjhen möglich wäre, ohne gegenjeitige
Rüdfihtnahme!
Der Freier ftelt fi eben nicht mehr fo häufig ein,
ber bie erträumte Gelbftändigkeit und ‘yreiheit bringen
fönnte. Da fol nun.al® Erfag ein öffentlicher Beruf her:
halten.
So las ich neulid in einer Zeitung eine Anzeige, bie
mir im Herzen mwebe that:
„Eine Dame, die fid) einen Pflichtenfreis zu fchaffen
wünfdt, fuht Stelle als NRepräfentantin und Erzieherin
mutterlofer Kinder. Gehalt nidit beaniprudht, da e8 der
Betreffenden nur un fegenbringende Arbeit zu thun ift.*
Ich zweifle nicht, daß fich der Wunfh der Dame erfüllt
hat, im Gegenteil, fie hatte gewiß die Wahl unter Hundert
Stellen.
Wie Ihön Klingt e8, nur um der Arbeit willen! Groß
fteht fie da in ihren eigenen Augen und groß in denen einer
verblendeten Menge. Wer aber zählt die Verwünfchungen,
wer fieht die Thränen in den Augen folder, die um des
täglihen Brotes willen eine derartige Stelle anzunehmen
gezwungen find? Sie müfjen zurüctreten gegen jene, bie ja
die Arbeit thun will, nur der Arbeit wegen.
Die fo oft und mit Necht verjpottete und gefchmähte,
für Gefchäfte ftidende Gebeimeratstochter wird bald ihr
würbiges Seitenftüd gefunden haben in der PBrivatftunden
erteilenden Tochter bes verabichiedeten, höheren Offizier2.
Sie beide, eine wie die andere, nehmen ihren ärmeren Mit:
ichweftern da8 Brot vom Munde weg, nur weil fie nicht fo
erzogen find, fih in ihre ausfönmmnlichen, wenn auch be:
jcheidenen Verhältniffe zu finden.
Sie fehnen fih nad einen ausgebehnteren Pflichten-
freife, fie fucchen ihn fid) durch ihrer Hände ober durd; geiftige
Arbeit zu erwerben. Shre Augen find nicht geichärft worden
zur Entdedung des einen, der fi allen gleicherweife bietet,
des PBflihtenfreifes der Liebe.
Liebe zu üben, fich felbft vergefjen, nichts zu verlangen,
furz, nur zu leben für andere und in anderen, da3 ift die
853
erite, die heiligite yrauenpflicht, und um fie zu erfüllen, ift
e8 nicht nötig, in die Weite zu jchweifen.
Uber diefe hberrlidhfte Predigt des Chriftentums wird
unferen Sindern nur zu wenig gelehrt.
Sein „Sch“ immer in den Vordergrund zu ftellen, dag
ift die Qehre, melde Eltern und Erzieher mit Wort und
Betiptel meift ihren Kindern zu geben pflegen: TQönenbe
PBhrafen vom „fi ausleben”, „feine Eigenart bewahren“,
vom „Übermenfchen“ u. f. w., beftärken die jungen Gemüter
nur no mehr in der Schlucht.
Die Welt und das Gefchid aber erlauben den wenigften
Menichen, fich in ihrer Eigenart außzuleben und die Folge
diefes unftilbaren Verlangens ift Überdruß, lnzufrieben-
heit und Langeweile. Dagegen wird nun die Arbeit in
einem öffentlichen Berufe als Allheilmittel angepriefen. Sie
hebt jedoh nur für kurze Zeit die Wirkung auf, nicht die
Urſache. E38 ift, als wollte man eine bösartige Auzichlag?-
franfheit mit äußeren Mitteln vertreiben, die, ohne ba ur:
fähliche Übel zu heben, für kurze Zeit die roten Fleden
berichwinden lafjen, damit fie defto fchneller und fchlimmer
wieder hervortreten.
Sm allgemeinen tft e8 an fich ziemlich glei, ob die
Mädchen fi durch verichiedene Nichtigkeiten oder mit Hilfe
eines angelernten Berufes über die linbefriedigtheit ihres
Daſeins hinmwegzutäufhen verfuchen. Senes wird fie nicht
unglüdlicher, biejeg aber aud) nicht viel glüdlicher machen.
Denn eine Thätigkeit, bie nur den Zwed bat, über bie
Langeweile einfamer Stunden fortzuhelfen, oder nur zur
Stillung ihfühtiger Wünfihe dienen fol, wird fein Frauen-
herz auf die Dauer wahrhaft befriedigen. Das tritt erft
dann ein, wenn da8 Mädchen gelernt hat, ihre Arbeit zum
Segen anderer werben zu lafien.
Betrachten aber die jungen Mädchen von diefem Ge:
fihtspunfte aus bag weite Arbeitäfeld des Lebens, fo werben
fie in ihrer nächften Umgebung Gelegenheit genug zur Thätig-
feit finden, und nicht mehr den Wunfch hegen, einen beftimmten
Berufszweig zu ergreifen.
Diele Mädchen, die inmitten einer reichen Thätigkeit
ftehen, find nicht glüdlih), und wieder andere haben feinen
Beruf und find doch zufrieden, weil fie gelernt haben, ben
großen Scha& ihres Herzens zu heben und in Eleine Münze
umzujegen. Dabei haben fie weder Zeit noch Neigung,
über taufenderlet Unverftanbenes nadhzugrübeln. Und wer,
Hand aufs Herz, mer fteht fo einfam in der Welt, daß er
nicht Gelegenheit fände, Liebe zu üben?
Zuerft aber tft e8 nötig, an fich felbft anzufangen, feine
ihjüchtigen Wünfche zu erftiden, feine Aniprühe aufzugeben.
Dann wird der Blick fich Ihärfen für die Wünfhe und An
fprüdhe der engeren oder weiteren Umgebung unb ba3 Herz
wird deren Beredhtigung anerkennen.
Zur Pfliterfüllung, zur Arbeitfamfeit, vor allem zur
Selbftverleugnung und zur Nächftenliebe follten unfere Kinder
erzogen werden. Das dem lebenden Geichlechte zum Bewußt-
jein zu bringen, wäre ein würdiger Zwed der gefamten os
genannten: Frauenbildungdreform.
Um zu diejer Erfenntnis zu kommen, bebarf e3 wahrlid)
nit erft de8 Studium? der Philojophie, wie und Frauen
in legter Zeit mit fo befonderer Vorliebe dargethan mwirb.
Die Philofophie und die Frau — beiler die beiden
bleiben auseinander. Das Gehirn der Frau mag vielleicht
den hoben Anforderungen entipreden, die gerade bdiejes
Studium ftellt. Ihr Verftand mag imftande fein, in bie
Beiblatt der Deutihen Roman-gZeitung.
854
unergründlichen Tiefen der Weltweisheit zu tauchen, deren
Offenbarungen fogar nicht immer der Mann gewacjen ift:
Dennod Steht die Frau in ihrer Geifteseigenart der Philo-
fophie eher feindlich gegenüber.
Welche Beweife werden nicht hervorgeholt, um das Gegen=
teil nachzumeifen und auf wie Shwaden Füßen ftehen fie!
Was die alten Deutfhen an den Frauen Geheimni?-
volles und Heiliges verehrten, galt wahrlich nicht einer uns
bewußt geabnten, philojophiihen Anlage des Weibes, fondern
der heiligen, geheimnispollen Menjchwerbung, deren Träger
nun einnal die Frau if. Das dürfte aud) die Veranlaffung
gewejen fein, die im Verborgenen webenden Schidjalgmächte
in Trauengeftalten zu verkörpern.
Die Frau fteht weder über noch unter dem Manne,
fondern neben ihm, und jebem Zeile tft eine, feiner
natürlihen Beitimmung entiprehende Geifteßeigenart und
Denkungsweife gegeben.
Wohl verchrten die Griechen eine Göttin ber Weisheit,
3eu8’ blauäugige Tochter Athene. Die Sage erzählt ung,
fie wäre unmittelbar dem Haupte des Vater8 entiprungen.
Gie ftclt alfo vor allem die Verförperung des plöglich ent-
ftandenen Gedantens dar, der weder gewillt, noch imſtande
ift, einen Grund oder eine Urfadhe feiner Entftehung an
zugeben, folglid) mit Philojophie nichts gemein hat.
Aus den bomeriihen Gefängen tritt ung Athene in
ihrer hervorragend weiblichen Geiftesrihtung Har vor Augen.
Shre Weisheit befteht in großer Kenntnis der Dienfchen, be:
fonder8 von deren Schwächen, fobann in einer geichictten Be:
nugung der Zeit, des Ortes und der gegebenen Verbältniffe,
endlih in dem aufrichtigen, herzinnigen Verlangen, unter
allen Umftänden ihrem Schüglinge zu helfen. Um diefes zu
erreichen, nimmt fie gegebenen Falls zur Lift, zur Verftellung,
ja jogar zur offenbaren Lüge ihre Zufludt.
DOdnfiens gehordt den, ihn oft gewaltig in Erftaunen
jegenden NRatidlägen Athenes, ohne nad Gründen zu
forfjhen; er weiß, e8 ift gut, e8 ijt zweddienlich, gerade fo
wie fie befiehlt. Er folgt unbemußten Eingebungen, beren
Urfprung die Griehen, da fie befonders weibliche Geiftes-
äußerungen find, der Einwirkung einer. Göttin, und nidt
eines Gottc3, zufchrieben.
Wo aber die eigenen Entichließungen bes Helden in
Stage kommen, da durhbdenkt und überlegt er mit nadj-
finnendem Berftande bis in das Eleinfte das Für und Wider,
und mwägt die möglicherweife daraus entftehenden Wirkungen
und Folgen.
Aus diejer naiven Gegenüberftellung der ratenden Göttin
und des dentenden Mannes treten uns die Gegenjäße zwiſchen
feiner Geiftesanlage und der der Frau deutlich entgegen.
Die Fran, befonders wenn fie Takt und Herzensgüte in
jid) vereinigt, wird noch einen Nat und Ausweg bort ent:
beden, wo dem Beritande bes Mannes alles verichlofien er:
fheint. Sie wird Lebenswahrheiten ausfprechen fönnen, bie
der Mann trog allen Grübeln®, oder vielleiht gerade be@-
wegen, nicht zu finden vermag. Einen einmal gefaßten
Gedanken wird fie möglihft fchnel in Handlung umfegen.
Kurz gefagt, bei der Frau bildet die Erfennints des Wahren
und des Redten nicht den Echluß einer langen, mühfam ent-
widelten Gebantenreihe, wie e8 bei dem Dianne der Yal zu
fein pflegt — alfo fehlt der Frau jegliche philofophiiche Anlage.
Einem jedem Teile, fei e8 Mann, fei e8 Weib, ift ein
feiner Denkungsart entfprechender Wirfungsfreis im Leben
borgezeichnet.
851
lebens plagen mußte. Entweder ſie weiß überhaupt nicht,
was es heißt, ſich ſo recht göttlich zu amüſieren oder ſie iſt
bloß neidiſch auf uns. Auf jeden Fall thut ſie mir leid,
ich aber tanze, brenne und ſchnitze ruhig weiter.“
„Ja, wirklich? Iſt das Deine Meinung?“ und Elſe
ſeufzt erleichtert auf, „nun, dann will ich mir auch weiter
keine Sorgen machen. Lieber wollen wir vom nächſten Tanz⸗
kränzchen reden. Was wirſt Du dazu anziehen?“
Ein drittes, wenig älteres Mädchen drängt ſich zu den
beiden: „Die Rednerin hat mir zu gut gefallen,“ ſprudelt
ſie lebhaft hervor, „ſo ganz glatt ſchwarz angezogen! Famos!
Schneidig!“
„Nun, wie eine Konzertſängerin konnte ſie ſich doch
nicht vorſtellen, es hätte auch nicht mehr bei ihr gelohnt,“
brummte ihre Nachbarin.
Arme Rednerin, das iſt Dein Erfolg bei dem jungen
Nachwuchſe!
Eine runde Geſtalt, ein rotes, erhitztes Geſicht taucht
neben mir auf: die Frau eines Schuhmachers. Sie ſcheint
ſehr unzufrieden zu ſein und murrt, laut genug, daß die
Umſtehenden ſie hören können: „Na, erzähle ich heute abend
meinem Manne, daß die ledigen Weibsperſonen auch Schuſter
und Schreiner werden ſollen, dann geht er ſicher noch heute
abend ins Wirtshaus und trinkt ſich einen an. Die Kon⸗
kurrenz iſt ſchon ſo groß und Arbeit giebt es wenig, ſagt
er ja immer.“
Eine ältere Dame, von der ich weiß, daß ſie Mutter
mehrerer erwachſener Söhne iſt, die trotz guter Beanlagung
und Fleiß vergeblich in ihren erwählten Berufen ein ge⸗
nügendes Auskommen ſuchen, nickt mit ſorgenvollem An⸗
geſicht der ſchlichten Handwerkerfrau beſtätigend zu.
„Wenn nun aber die Mädchen kein Talent zu einem
gelehrten Beruf, keinen Trieb oder keine Anlage zur Kranken⸗
und Armenpflege haben, was ſollen ſie dann ergreifen?“ fragt
angſtvoll eine töchterreiche Mutter, erſchreckt von dem Ge⸗
danken eines drohenden, wirtſchaftlichen Umſturzes.
„Dann laſſen Sie ſie brave Dienſtmädchen werden!“
ruft eine junge Frau dazwiſchen, die ſchon manche trübe
Erfahrung in dieſer Beziehung gemacht zu haben ſcheint.
Ein niederſchmetternder Blick trifft ſie, und Worte wie
„empörend“, „unverſchämt“, werden in das Ohr der Nachbarin
geflüſtert. Doch dieſe zuckt die Achſeln.
„So ganz unrecht kann ich der jungen Frau nicht geben;
an guten, anſtändigen Dienſtmädchen iſt zu jeder Zeit großer
Mangel. Manche, die Näherin, Ladenfräulein (Ladenmädchen
darf nicht mehr geſagt werden), ſogar Volksſchullehrerin ge⸗
worden, würde beſſer gethan haben, einen beſcheideneren
Platz zu wählen, aber den auch vollſtändig und gut aus⸗
zufüllen. Es kann ja vorkommen, daß unſere Mädchen ein⸗
mal mittellos daſtehen, doch darum ſorge ich mich nicht. Die
meinen können ordentlich kochen; und eſſen wollen, und zwar
etwas Gutes eſſen, werden die Menſchen immer. Sie können
ſtricken, flicken und nähen — und bekleidet wollen die Leute
immer ſein. Vor allem aber haben ſie gelernt, ſich vor
keiner Arbeit zu ſcheuen, ſich in andere Menſchen zu fügen.
Da müßte es doch gelungen zugehen, wenn ſie unter die
Räder kämen, vorausgeſetzt, ſie bleiben geſund — nun, und
das müſſen wir einer anderen Macht überlaſſen.“
Die energiſche Dame gefiel mir, ſie hatte in vielem
recht, dennoch mußte ich den Kopf ſchütteln.
Gewiß, es kommt bei Mädchen, wenn keine zwingende
Notwendigkeit oder wirkliches Talent vorhanden iſt, weniger
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
852
darauf an, für einen beſtimmten Beruf vorbereitet zu ſein,
als überhaupt arbeiten zu wollen und zu können, d. h. eine
einmal vorgenommene oder verlangte Arbeit mit Stetigkeit,
Pflichttreue und Freudigkeit auszuführen. Im beſonderen
ſollten ſie jegliche häusliche Arbeit verſtehen, es wird ihnen,
mögen ſie auch einen Beruf ergreifen, welchen ſie wollen,
nur von Nutzen ſein. Ich kenne Damen, die jahrelang
das Amt einer Lehrerin ausfüllten, dann durch Krankheit
oder aus anderen Gründen gezwungen wurden, dieſer Thätig⸗
keit zu entſagen. Gerne hätten ſie eine Stelle als Vor—
ſteherin eines Haushaltes angenommen, welche ihnen auch
angeboten wurde. Die Bedingungen waren für beide Teile
zufriedenſtellend, doch alle Hoffnungen mußten ſcheitern an
der einfachen Thatſache, daß die Betreffenden nicht die
Führung eines Haushaltes verſtanden. Wie kief bedauerten
ſie, in ihrer Jugend verſäumt zu haben, die erforderlichen
Kenntniſſe zu erwerben.
Die vielen, vielen Reden zu Gunſten eines öffentlichen
Berufes der Mädchen ſind nicht ohne Gefahr. Die Sehn—
ſucht nach einem ſolchen iſt oft nichts anderes, als eine
bequeme Ausflucht, den beengenden Schranken des Eltern⸗
hauſes zu entrinnen, „frei“ zu ſein, d. h. keine Rückſichten
mehr nehmen zu müſſen.
Als ob auf Erden überhaupt ein gedeihliches Zu—
ſammenwirken der Menſchen möglich wäre, ohne gegenſeitige
Rückſichtnahme!
Der Freier ſtellt ſich eben nicht mehr ſo häufig ein,
der die erträumte Selbſtändigkeit und Freiheit bringen
könnte. Da ſoll nun als Erſatz ein öffentlicher Beruf her⸗
halten.
So las ich neulich in einer Zeitung eine Anzeige, die
mir im Herzen wehe that:
„Eine Dame, die ſich einen Pflichtenkreis zu ſchaffen
wünſcht, ſucht Stelle als Repräſentantin und Erzieherin
mutterloſer Kinder. Gehalt nicht beanſprucht, da es der
Betreffenden nur um ſegenbringende Arbeit zu thun iſt.“
Ich zweifle nicht, daß ſich der Wunſch der Dame erfüllt
hat, im Gegenteil, ſie hatte gewiß die Wahl unter hundert
Stellen.
Wie ſchön klingt es, nur um der Arbeit willen! Groß
ſteht ſie da in ihren eigenen Augen und groß in denen einer
verblendeten Menge. Wer aber zählt die Verwünſchungen,
wer ſieht die Thränen in den Augen ſolcher, die um des
täglichen Brotes willen eine derartige Stelle anzunehmen
gezwungen ſind? Sie müſſen zurücktreten gegen jene, die ja
die Arbeit thun will, nur der Arbeit wegen.
Die ſo oft und mit Recht verſpottete und geſchmähte,
für Geſchäfte ſtickende Geheimeratstochter wird bald ihr
würdiges Seitenſtück gefunden haben in der Privatſtunden
erteilenden Tochter des verabſchiedeten, höheren Offiziers.
Ste beide, eine wie die andere, nehmen ihren ärmeren Mit:
Ichweftern dag Brot vom Munde weg, nur mweil fie nicht fo
erzogen find, fi in ihre ausfömmlichen, wenn aud be:
fcheibenen Verhältnifje zu finden.
Sie fehnen fih nad einen auSgedehnteren Pflichten:
freije, fte fuchen ihn fid) durch ihrer Hände oder burdh geiftige
Arbeit zu erwerben. Ihre Augen find nicht geichärft worben
zur Entdedung de3 einen, der fich allen gleichermweife bietet,
bes PBflichtenfreifes der Liebe.
xiebe zu üben, fich felbft vergeffen, nichts zu verlangen,
furz, nur zu leben für andere und in anderen, daß tft bie
853
erfte, die heiligfte rauenpflicht, und um fie zu erfüllen, tft
e3 nicht nötig, in die Weite zu fchweifen.
Über diefe herrlichfte Predigt des Chrifientums wird
unjeren Stindern nur zu wenig gelehrt.
Gein „SH“ immer in den Vordergrund zu ftellen, das
ift die Lehre, mweldhe Eltern und Erzieher mit Wort und
Beifpiel meift ihren Kindern zu geben pflegen: TQönenbe
Phrafen vom „fi ausleben“, „feine Eigenart bewahren“,
vom „Übermenfhen* u. f. w., beftärfen bie jungen Gemüter
nur nody mehr in der Zchfudt.
Die Welt und das Geihid aber erlauben ben wenigiten
Menihen, fi in ihrer Eigenart auszuleben und die Folge
diefes unftilbaren Verlangens ift Überdruß, lUnzufrieben=
heit und Langeweile. Dagegen wird nun die Arbeit in
einem öffentlichen Berufe ala Allheilmittel angepriefen. Sie
hebt jedody nur für kurze Zeit die Wirkung auf, nicht die
Urfade. E8 ift, ala wollte man eine bösartige Ausichlag?-
frankheit mit äußeren Mitteln vertreiben, die, ohne das ur:
fählihe Übel zu heben, für kurze Zeit die roten Fleden
verichwinden laffen, damit fie befto fchneller und fchlimmer
wieder hervortreten.
Im allgemeinen tft e8 an fich ziemlich glei, ob die
Mädchen fih durch verichhiedene Nichtigkeiten oder mit Hilfe
eined angelernten Berufes über die Linbefriedigtheit ihres
Dafeind hinmwegzutänfhen verfuchen. Senes wird fie nicht
unglüdlicher, biefes8 aber auch nicht viel glüdlicdher madıen.
Denn eine Thätigkeit, die nur ben Zwed bat, über bie
Langeweile einfamer Stunden fortzuhelfen, ober nur zur
Stilung ichfüchtiger Wünfche dienen fol, wird fein Frauen
herz auf die Dauer wahrhaft befriedigen. Das tritt erft
dann ein, wenn da8 Mädchen gelernt hat, ihre Arbeit zum
Segen anderer werben zu lafien.
Betrachten aber die jungen Mädchen von biefem Ge:
fihtspunfte aus das weite Arbeit2feld des Lebens, fo werben
fie in ihrer nädhften UImgebung Gelegenheit genug zur Thätig-
feit finden, und nicht mehr den Wunfch hegen, einen beftimmten
Berufsziweig zu ergreifen.
Diele Mädchen, die inmitten einer reichen Thätigfeit
ftehen, find nicht glüdlih, und wieder andere haben feinen
Beruf und find Doc zufrieden, weil fie gelernt haben, ben
großen Schaß ihres Herzens zu heben und in Eleine Münze
umzujegen. Dabei haben fie weder Zeit noch Neigung,
über taufenderlei Unverftanbenes nachzugrübeln. lind mer,
Hand aufs Herz, mer fteht fo einfam in der Welt, daß er
nicht Gelegenheit fände, Liebe zu üben?
Zuerft aber tft e3 nötig, an fich felbft anzufangen, feine
ihjüchtigen Wünfche zu erftiden, feine Ansprüche aufzugeben.
Dann wird der Blick fid Shärfen für die Wünfche und An-
fprüdhe der engeren oder weiteren lmgebung und das Herz
wird deren Berechtigung anerkennen.
Zur Pflihterfüllung, zur Arbeitfamteit, vor allem zur
Selbftverleugnung und zur Nächftenliebe folten unfere Sfinder
erzogen werden. Das dem lebenden Gefchlechte zum Bewußt-
fein zu bringen, wäre ein würbiger Zwed ber gefamten fo>
genannten: Frauenbildungsreform.
Um zu diefer Erkenntnis zu fommen, bedarf e8 wahrlid)
nicht erft des Studiums ber Philofophie, wie uns Frauen
in legter Zeit mit fo befonderer Vorliebe dargethan wird.
Die Philojophie und die Grau — befler die beiden
bleiben auseinander. Das Gehirn der rau mag vielleicht
den hohen Anforderungen entipreden, die gerade biejes
Studium ftellt. Ihr Verftand mag imftande jein, in bie
Beiblatt der Deutihen Roman-gZeitung.
unergründlichen Tiefen der Weltweißheit zu tauchen, deren
Offenbarungen fogar nicht immer der Mann gemwadjen ift:
Dennod fteht die Frau in ihrer Geiftegeigenart ber Philos
fophie eher feindlich gegenüber.
Welche Beweife werden nicht hervorgeholt, um dag Gegen
teil nadhjzumeijen und auf wie Shwadhen Füßen ftehen fie!
Wa8 die alten Deutfhen an den Frauen Geheimni?-
bolle® und Heiliges verehrten, galt wahrlich nicht einer uns
bewußt geahnten, philojophiihen Anlage des Weibes, fondern
der heiligen, geheimnisvollen Menfchwerbung, deren Träger
num einmal bie Fran tft. Das dürfte audy die Veranlafjung
gewejen fein, die im Verborgenen webenden Schickſalsmächte
in Frauengeftalten zu verkörpern.
Die Frau fteht weder über noch unter bem Manne,
jondern neben ihm, und jedem Teile ift eine, feiner
natürlihen Beftimmung entiprehende Geifteßeigenart und
Denktungsweife gegeben.
Wohl verchrten die Griechen eine Göttin ber Weisheit,
Zeus’ blauäugige Tochter Athene. Die Sage erzählt ung,
fie wäre unmittelbar dem Haupte de8 Vaterd entiprungen.
Sie ftelt alfo vor allem die Verförperung des plößlidy ent-
ftandenen Gebantens dar, der weder gewillt, nody imftande
ift, einen Grund oder eine Urjache feiner Entftehung an
zugeben, folglih mit Philofophie nichtS gemein hat.
Aus den Homerifhen Gefängen tritt uns Athene in
ihrer hervorragend weiblichen Geiſtesrichtung Elar vor Augen.
Shre Weisheit befteht in großer Kenntnis der Mienfchen, be=
fonder8 von deren Schwächen, fobann in einer gefchidten Be
nugung der Zeit, des Ortes und der gegebenen Verhältniffe,
endlich in dem aufrichtigen, herzinnigen Verlangen, unter
allen Umftänden ihrem Schüglinge zu helfen. Um diefes zu
erreichen, nimmt fie gegebenen Falls zur Lift, zur Verftellung,
ja fogar zur offenbaren Lüge ihre Zuflucht.
Ddyfjens gehordt den, ihn oft gewaltig in Erftaunen
jegenden NRatihlägen Athenes, ohne nah Gründen zu
forfhen; er weiß, e8 ift gut, e8 ijt zweddienlidh, gerade fo
wie fie befiehlt. Er folgt unbewußten Eingebungen, beren
Urfprung die Griehen, ba fie befonders weibliche Geiftes-
äußerungen find, der Einwirkung einer. Göttin, und nidt
eines Gottc3, zufchrieben.
Wo aber die eigenen Entichließungen be Helden in
Srage kommen, da durhdentt und überlegt er mit nad)
finnendem Berftande bis in das Heinfte das Für und Wider,
und mwägt die möglicherweife daraus entftehenden Wirkungen
und Folgen.
Aus diefer naiven Gegenüberftellung ber ratenden Göttin
und des denkenden Mannes treten uns die Gegenfäte zwilchen
feiner Geiftesanlage und der der rau deutlich entgegen.
Die rau, befonders wenn fie Takt und Herzensgüte in
fid) vereinigt, wird noch einen Nat und Ausweg bort ent:
deden, wo dem Verftande bes Mannes alles verfchlofien er:
jheint. Sie wird Lebenswahrheiten ausfprechen können, bie
der Mann trog allen Grübelns, oder vielleicht gerade be#-
wegen, nicht zu finden vermag. Einen einmal gefaßten
Gedanken wird fie möglichft jchnell in Handlung umifegen.
Kurz gelagt, bei der Srau bildet die Erkenntnis des Wahren
und des Rechten nicht den Echluß einer langen, mühlam ent:
widelten Gedantenreihe, wie eö bei dem Dianne ber Zall zu
fein pflegt — alfo fehlt der Fran jegliche philofophiiche Anlage.
Einem jedem Teile, jei e8 Mann, fei e& Weib, ift ein
jeiner Denkungsart entiprechender Wirfungsfreis im Leben
borgezeichnet.
855
Dem Manne mit ſeinem grübelnden, nachſinnenden
Verſtande die weiten Gebiete der geiſtigen Forſchung und
der Kampf mit dem äußeren Leben. Hier kann jede falſche
oder unterlaſſene Berechnung, jede unüberlegte That von
ſchweren Folgen begleitet ſein.
Dem Weibe die Erziehung und Pflege des werdenden
Menſchen, die Verwaltung des Hauſes. Hier kommt es auf
ſchnelles Eingreifen, raſches Erfaſſen des Augenblickes ohne
erwägendes Zaudern, auf leichtes Fortgleiten über tauſend
kleine Unannehmlichkeiten an. Ein Übergriff in den Wirkungs⸗
kreis des einen oder des andern wird ſich immer bitter rächen,
und kann nur mit Aufgabe des beſten und weſentlichſten
Teiles des urſprünglichen Seins von Erfolg begleitet werden.
Schlimm genug, daß die Not der Zeit die Frau zwingt,
ihrem natürlichen Wirkungskreiſe untreu zu werden. Schlimm
genug, daß ſie viele Gebiete des Erwerbes dem Manne ſtreitig
machen muß. Sie ſollte ſich an der Erreichung des Not⸗
wendigſten genügen laſſen und ſich, von falſchem Ehrgeize
getrieben, nicht auch noch auf ein Feld wagen, deſſen Anbau
nicht einmal großen, praktiſchen Erfolg verſpricht.
Wenn wieder Zeiten kommen, in denen die Frau ihrer
eigentlichen Beſtimmung unbeirrt folgen darf, wird ſie die
erſtrittenen Gebiete raſch und freudig wieder aufgeben.
Tauſend Beiſpiele einzelner beweiſen es, die ihre Thätigkeit
und ihren Beruf ohne Bedauern fallen laſſen, wenn ſich
ihnen die Pforten eines eigenen Heims öffnen. Einige wenige,
hervorragende Talente können vielleicht ausgenommen werden.
Jeder Beruf, der die Frau aus den Grenzen des Hauſes
führt, muß und ſoll als das gezeichnet bleiben, was er iſt —
ein Notbehelf.
Alles Ungeſunde und Unnatürliche trägt den Keim des
Unterganges in ſich ſelbſt, darum werden jene Zeiten wieder
kommen, und ſie werden keinen Rückſchritt, ſondern einen
Fortſchritt in der Geſchichte der Frau bezeichnen.
* * *
„Du jchiltft über Garbinenpredigten, und haft uns felbft
eine gehalten,” wirft Du Tagen, liebe Leierin. Du Haft recht
und ic) zweifele nicht, daß meiner Rede auch berfelbe Erfolg
beichieden if. Du wirft gähnen und die Augen fchließen,
um nichts zu fehben und zu hören. Du wirit Deine Stinder
in ber Schlucht großziehen, Du wirft Deine Töchter zu einem
Berufe zwingen und vielleicht felber zu Schopenhauer und
Ntegihe greifen. Die Welt wird ihren Weg weitergehen
und wer recht behält, Du ober ih, wir werben e8 mohl
beide nicht erleben.
„So kann,” erwiderft Du, „nur ein eingebildeter Dann
ichreiben, der ung weiter nechten, unterdbrüden — —“
Halt — Du irrft: ich bin Deine Gefchlechtögenoffin,
und eben darum hab’ id} das geichrieben; nicht als bloßen
Widerhall deflen, wa8 Männer jagen, fondern aus bem
Drange bes Herzens. Denn ih — und mit mir Taufende
und Taufende von deutihen Mädchen und Frauen fehen mit
Schmerz, wohin die Übertreibung einiger Hunderte von Ge:
Ihlechtögenoifinnen führt.
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
856
Wiegenlied.
Sumſum, ſumſum, ganz leiſe,
Der Sandmann geht einher,
Er ſtreuet Sand im Kreiſe,
Das macht die Äuglein ſchwer.
Sumſum, ſumſum, mein Schätzchen
Schließ Deine Äuglein zu,
Die Täubchen und die Spätzchen
Die gingen längſt zur Ruh.
Sumſum, ſumſum, die Sterne
Die halten draußen Wacht,
Und drinn' die Englein gerne
Am Bett die ganze Nacht.
Sumiſum, nun iſt die Weiſe
Zu End' eh ich's geglaubt. —
Der liebe Gott legt leiſe,
Den Segen auf Dein Haupt.
*. 4. Wentel.
Lin Meiſterwerk der vervielfältigenden
Kunſt.
Unter den Arten der Vervielfältigung von Kunſtwerken
hat ſich im Laufe weniger Jahrzehnte die ſogen. Photogravüre
eine bedeutende Stellung erworben. So große Schwierig:
feiten fih auch geboten haben, man rajftete nicht und heute
lafien fid) mit dem Verfahren Blätter herftellen, die felbft
den jchiwer zu befriedigenden Stunftfenner entzüden können.
Unter den deutfchen Anftalten, die mit dDiefem Verfahren
arbeiten, nimmt die Photographbiidhe Gejellihaft in
Berlin (Dönhofsplag) eine der erften Stellen ein. Eben
beginnt fie mit der Herausgabe eines Werkes, dag ihrer
Leiftungsfähigkeit ein glängendes Zeugnis ausſtellt: Kaiſer⸗
lihe GemäldesGalerie der Eremitage in St.
Petersſsburg.“
Die Sammlung der Eremitage gehört zu den reichſten
der Welt. Beſonders zahlreich ſind in ihr die Niederländer,
Rembrandt, Rubens, van Dyck, Ruysdael u. ſ. w. vertreten
und zwar mit Arbeiten, die zu ihren beſten gehören. Wenn
nun auch manches dieſer Gemälde durch Kupferſtiche und
Lithographien, auch durch ziemlich ſchwache Stahlftidhe be-
kannt iſt, ſo hat doch bis jetzt ein Sammelwerk gefehlt, das
die meiſt bedeutenden Bilder der Eremitage in würdiger
Wiedergabe vereint. Dieſe Aufgabe hat die genannte Geſell⸗
ſchaft übernommen und in glänzender Weiſe gelöſt.
Die zwei erſten Lieferungen (in ſieben zu 12 Blatt
wird das Werk vollendet ſein) habe ich eingehend betrachten
können. Sie enthalten neben anderen folgende Bilder: von
Rembrandt „Pallas Athene“, „Opfer Abrahams“,
„Abraham empfängt die drei Erzengel“ u. „Der ungläubige
Thomas“ — von Rubens „Helene Fourment“, „Venus
und Adonis“, „Kammerfrau der Erzherzogin Iſabella“ —
von van Dyck „Wilhelm II. von Naſſau“ u. „Jugendliches
Selbſtbildnis“ — von Murillo „Himmelfahrt Marias“
„Verkündigung“, „Ruhe auf der Flucht nach Agypten“ —
bon Raffael „Heil. Georg“ u. „Madonna mit dem Buch“
— von Titian „Danaë“ u. „Toilette der Venus“. Außer⸗
857
dem fei noch Botticellis berühmte „Anbetung der Weijen“
genannt.
Über die einzelnen Ylätter zu berichten ift unmöglid.
ALS Leiftungen des Kunftdruds find fie durchweg bortrefflid,
einige aber erheben fi) noch darüber, denn man fann fie
als unübertrefflid) bezeichnen.
MWie wunderbar diefe Technik den Gejamteindrud bes
Urbilds zu geben vermag, lehrt der eingehende Vergleich
von Naffaele „Madonna mit dem Buch“ — ich kann mid)
für fie fonft nicht begeiftern, mit ber „Helene Kourment“
von Ruben? und etwa Nembrandts herrlicher „Pallas
Athene*. Die Tonart der Farben und beren Auftrag Elingt
aus den Photograpüren beutlih hervor. Man fieht die
ruhigen Flähen und Haren Töne Naffael®, die breite
lebensfreudige Art ded Nubens und Nembrandts ver:
geiftigtes Licht.
Der Preis des ganzen Werks fchließt uns gewöhnliche
Erdenkinder von den Befige aus. Die Lieferung Eojtet 125MRE.,
das Ganze 875 ME. Aber nad) ber Vollendung werden aud)
bie einzelnen Blätter zu kaufen fein, je nad Bildgröße zu
25, 15, 10 ME Die Blatigröße ift bei allen gleich,
51x69 cm. So können aud) die weniger bemittelten Sunft-
freunde ein folches Blatt erwerben. Unb ich kann verfichern,
daß fie damit eine dauernde Freude ins Haus bringen.
Dem vollendeten Werke wird ein Tert von Bıf. Dr.
v. Tihudi beigegeben, der die Geihidhte und Beichreibung
jedes einzelnen Blattes enthalten fol.
O. v. L.
Das Lied vom Schmerz.
Vom Schmerz ein Lied! Wie milde Düfte ſteigen
Auch aus bedornter Blumen Kelch empor,
Wie oft vom dürft'gen Halm Prachtblumen neigen,
Wie friſches Grün aus Gräbern ſproßt hervor:
So ſoll vom Schmerz ein Lied, mein Lied erklingen,
So haucht's auf ſeinen Dornen aus mein Herz,
Und leiſe weht es von des Liedes Schwingen:
Des Lebens guter Engel iſt der Schmerz!
Ein freundlich Wort vom Schmerz, dem wohlbewährten,
Stets gegenwärt'gen nahen Freund, ein Wort!
Er blieb, als all die heiteren Gefährten
Des Lebens floh'n mit ihrem Glanze fort,
Er blieb. Ich fühlt's, er ward mir Arzt, er löſte
Mit Thränen, was die Bruſt umſpann wie Erz,
Die er als Balſam in die Wunden flößte,
Da fühlt' ich's wohl, ein Engel ſei der Schmerz.
Vom Schmerz ein Lied! Dem Wecker in der Wüſte
Des Lebens, wo Morgana treibt ihr Spiel
Mit Träumen, die der Arme bitter büßte,
Den ſchlafberückt ſie lockten von dem Ziel.
Wenn in die Nacht wie Irrlicht ſchwand ſein Hoffen,
Fällt in das Grau'n ein Lichtſchein niederwärts,
Woher er kam, ließ er ein Pförtlein offen,
Vom Himmel kam der Engel, kam der Schmerz
So tritt der Schmerz auch in die Nacht der Sünder,
Tränkt mit der Reue bittrer Arzenei,
Da werden ſie aufs neue Gottes Kinder,
Geneſung ſchafft der herbe Trank herbei.
Noman-⸗Zeitung 1896
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
858
Mag ihn Verzweiflung, hoffnungsloſe, rufen,
Und wer ſonſt; da iſt Rettung noch fürs Herz,
Iſt eine Bahn noch zu des Heiles Stufen,
Ein Engel ſchreitet ihm voran — der Schmerz!
Sei denn gebenedeit mir, ſei geſegnet,
Du treuſter Freund auf unſerm Lebenspfad!
Schon längſt kein Groll, ſo oft Du mir begegnet,
Kein Harm, Du Ernſter, Dir entgegentrat.
Mit heißen Thränen tilgeſt Du die Mängel,
Ich weiß auch, bricht einſt das gequälte Herz,
Weiß, daß an meiner Gruft nicht fehlt der Engel,
Mein Liebesengel fehlt dann nicht: der Schmerz!
Zul. Thomſen.
Vermiſchtes.
Unter Pennalismus verſtand man früher auf den
Univerſitäten das ſogenannte Fuchsrecht, welches in der
ſchimpflichen Behandlung und Mißhandlung der Ankömmlinge
auf hohen Schulen durch ihre älteren Kommilitonen gipfelte.
Dieſer Unfug hatte ſolche Tragweite erlangt, daß er ſchließ⸗
lich durch ein Reichsgeſetz, 1662, verboten werden mußte.
Wie es bei der Pennalputzerei in Leipzig zuging, davon
erzählt uns ein Bericht aus dem Jahre 1660, den O. Moſer
kürzlich in einer Zeitung wiedergab. „Man kann es hier
gar nicht mehr erdulden,“ wird geſagt. „Denn wenn ein
junger Studioſus hier ankommt, muß er die erſten vier
Wochen ein Fuchs heißen und darf nicht zu ehrlichen
Studenten kommen. Er muß auch in der Kirche ſeine Stelle
in der ſogenannten Fuchsecke nehmen, darf keine hübſchen
Kleider tragen, den Degen nicht anlegen und Mantel, Hut
und Kleid muß alt, zerriſſen und geflickt ſein, und darf man
an ihm kein Band ſehen. Je lumpenhafter er einhertritt,
für ein deſto ehrlicheres Pennal wird er angeſehen. Wenn
die alten Studenten ſpeiſen, müſſen die Pennäler aufwarten
und fragen, ob ſie etwas zu befehlen haben. Kommen die
alten Studenten zu ihnen, ſo müſſen die Pennäler ſpendieren,
was ſie verlangen, dürfen aber nicht mittrinken. Man zwingt
ſie unter die Tiſche zu kriechen, zu heulen wie ein Hund,
oder zu ſchreien wie eine Katze, zu krähen wie ein Hahn, zu
grunzen wie ein Schwein und zu wiehern wie ein Roß.
Wenn ſie überſtanden haben, werden ſie mit einer Scheuer—
bürſte mit Wagenſchmiere eingeſeift und mit einem alten
Degen raſiert, auf einem Schleifſteine geſchliffen, mit einem
Beſen abgekehrt, mit einem Neibeilen abgehobelt und mit
einer Pferdeftriegel audgefänmt. Dann fegt fi da® Er=-
pennal zu den alten Burfchen, und num geht e8 and Saufen.“
Werkzeuge, welche bei ſolchen Pennalpugereien gebraudt
wurden, verwahren nod die Sammlungen ber altertumss
forihenden Gejelihaft in Leipzig. Ta e8 aber doch vielen
Studenten, namentlid; Söhnen adliger oder fonftiger vor-
nehmen Samilien, nicht paßte, fi einer jolhen jchimpflichen
Behandlung zu unterwerfen, fo mieteten fie dafür Pennäler,
bie dann eine doppelte Portion zu ertragen hatten, ober fie
gaben ihre Diener, damals Jungen genannt, zu den Bußereien
her. Proteft gegen diejed Gebaren gab e8 nicht; was dem
Neuangefommenen von alten Ykademicis anbefohlen wurde,
mußten fie ohne Widerrede thun. Eine folde konnte nur
bie überlriebenfte Hudelei und Mißhandlung nad) fich ziehen.
Wegen einer im WBennaljahr angethanen Schmad; oder
IV 60
855
Dem Manne mit ſeinem grübelnden, nachſinnenden
Verſtande die weiten Gebiete der geiſtigen Forſchung und
der Kampf mit dem äußeren Leben. Hier kann jede falſche
oder unterlaſſene Berechnung, jede unüberlegte That von
ſchweren Folgen begleitet ſein.
Dem Weibe die Erziehung und Pflege des werdenden
Menſchen, die Verwaltung des Hauſes. Hier kommt es auf
ſchnelles Eingreifen, raſches Erfaſſen des Augenblickes ohne
erwägendes Zaudern, auf leichtes Fortgleiten über tauſend
kleine Unannehmlichkeiten an. Ein Übergriff in den Wirkungs⸗
kreis des einen oder des andern wird ſich immer bitter rächen,
und kann nur mit Aufgabe des beſten und weſentlichſten
Teiles des urſprünglichen Seins von Erfolg begleitet werden.
Schlimm genug, daß die Not der Zeit die Frau zwingt,
ihrem natürlichen Wirkungskreiſe untreu zu werden. Schlimm
genug, daß ſie viele Gebiete des Erwerbes dem Manne ſtreitig
machen muß. Sie ſollte fih an ber Erreihung des Not⸗
wendigſten genügen laſſen und ſich, von falſchem Ehrgeize
getrieben, nicht auch noch auf ein Feld wagen, deſſen Anbau
nicht einmal großen, praktiſchen Erfolg verſpricht.
Wenn wieder Zeiten kommen, in denen die Frau ihrer
eigentlichen Beſtimmung unbeirrt folgen darf, wird ſie die
erſtrittenen Gebiete raſch und freudig wieder aufgeben.
Tauſend Beiſpiele einzelner beweiſen es, die ihre Thätigkeit
und ihren Beruf ohne Bedauern fallen laſſen, wenn ſich
ihnen die Pforten eines eigenen Heims öffnen. Einige wenige,
hervorragende Talente können vielleicht ausgenommen werden.
Jeder Beruf, der die Frau aus den Grenzen des Hauſes
führt, muß und ſoll als das gezeichnet bleiben, was er iſt —
ein Notbehelf.
Alles Ungeſunde und Unnatürliche trägt den Keim des
Unterganges in ſich ſelbſt, darum werden jene Zeiten wieder
kommen, und ſie werden keinen Rückſchritt, ſondern einen
Fortſchritt in der Geſchichte der Frau bezeichnen.
*
, ®
„Du Ichiltft über Garbinenpredigten, und haft uns felbft
eine gehalten,“ wirft Du fagen, liebe Leferin. Du haft recht
und ich zweifele nicht, baß meiner Nebe auch berjelbe Erfolg
beichieden if. Du wirft gähnen und die Augen fchließen,
um nichts zu fehen und zu hören. Du wirft Deine Kinder
in der Schfucht großziehen, Du wirft Deine Töchter zu einem
Berufe zwingen und vielleicht jelber zu Schopenhauer und
Niegihe greifen. Die Welt wird ihren Weg weitergehen
und wer recht behält, Du ober ih, wir werben e8 wohl
beide nicht erleben.
„Sp kann,” erwiderft Du, „nur ein eingebilbeter Mann
Ichreiben, der uns weiter nechten, unterbrüden — —*
Halt — Du imft: ih bin Deine Geſchlechtsgenoſſin,
und eben darım hab’ ich das geichrieben; nicht als bloßen
Widerhall defien, wag Männer fagen, fondern auß den
Drange des Herzend. Denn ih — und mit mir Taufende
und Taufende von deutihen Mäbchen und Frauen fehen mit
Schmerz, wohin bie Übertreibung einiger Hunderte von Ges
Ihlehtsgenoffinnen führt.
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
Wiegenlied.
Sumfum, fumfunm, ganz leiie,
Der Sandmann geht einher,
Er ftreuet Sand im Sreife,
Das macht die Äuglein ſchwer.
Sumſum, ſumſum, mein Schätzchen
Schließ Deine Äuglein zu,
Die Täubchen und die Spätzchen
Die gingen längſt zur Ruh.
Sumſum, ſumſum, die Sterne
Die halten draußen Wacht,
Und drinn' die Englein gerne
Am Bett die ganze Nacht.
Sumſum, nun iſt die Weiſe
Zu End' eh ich's geglaubt. —
Der liebe Gott legt leiſe,
Den Segen auf Dein Haupt.
5. 4. Beutel.
sin WMeiflerwerk der vervielfältigenden
Kunſt.
Unter den Arten der Vervielfältigung von Kunſtwerken
hat ſich im Laufe weniger Jahrzehnte die ſogen. Photogravüre
eine bedeutende Stellung erworben. So große Schwierig⸗
keiten ſich auch geboten haben, man raſtete nicht und heute
laſſen ſich mit dem Verfahren Blätter herſtellen, die ſelbſt
den ſchwer zu befriedigenden Kunſtkenner entzücken können.
Unter den deutſchen Anſtalten, die mit dieſem Verfahren
arbeiten, nimmt die Photographiſche Geſellſchaft in
Berlin (Dönhofsplatz) eine der erſten Stellen ein. Eben
beginnt ſie mit der Herausgabe eines Werkes, das ihrer
Leiſtungsfähigkeit ein glänzendes Zeugnis ausſtellt: Kaiſer⸗
liche Gemälde-Galerie der Eremitage in St.
Petersburg.“
Die Sammlung der Eremitage gehört zu den reichften
der Welt. Belonders zahlreich find in ihr die Niederländer,
Rembrandt, Rubens, van Dyd, Nuyzdael u. f. w. vertreten
und zwar mit Arbeiten, bie zu ihren beften gehören. Wenn
nun aud mandes diefer Gemälde durch Kupferftihe und
Lithographien, aud duch ziemlih fhwache Stahlftiche be:
fannt ift, jo hat body big fett ein Sammelmwert gefehlt, das
die meift bedeutenden Bilder der Eremitage in würbiger
Wiedergabe vereint. Dieje Aufgabe Hat die genannte Gejell:
Ihaft übernommen und in glänzender Weife gelöft.
Die zwei erften Lieferungen (in fieben zu 12 Blatt
wird da8 Merk vollendet fein) habe ich eingehend betrachten
fönnen. Ste enthalten neben anderen folgende Bilder: von
Rembrandt „Palas Athene“, „Cpfer Abrahanıs“,
„Abraham empfängt die drei Erzengel“ u. „Der ungläubige
Thomas“ — von Rubens „Helene Fourment“, „Venus
und Adonis“, „Kammerfrau der Erzherzogin Sfabella" —
bon van Dyd „Wilhelm II. von Naffau* u. „Sugendliches
Selbftbildnis? — von Murillo „Himmelfahrt Marias“
„Verkündigung“, „Nube auf der Flucht nad) Ägypten“ —
bon Raffael „Heil. Georg“ u. „Madonna mit dem Buch“
— don Titian „Dana“ u. „Toilette der Venus“. Wußer:
857
dem fei noch Botticellig berühmte „Anbetung der Weilen“
genannt.
über die einzelnen Blätter zu berichten ift unmöglid.
Als Leiftungen des Kunftdruds find fie durchweg bortrefflic,
einige aber erheben fid; nod darüber, denn man fann fie
als unübertrefflicd) bezeichnen.
Wie wunderbar diefe Technik den Gefamteindrud de
Urbilds zu geben vermag, lehrt der eingehende Vergleich
von Naffael® „Madonna mit dem Buch“ — id fan mid)
für fie fonft nicht begeiftern, mit der „Helene Tourment“
von Nubens und etwa Rembrandt berrlider „Pallas
Athene”. Die Tonart der Farben und deren Auftrag Llingt
aus den Photogravüren deutlih hervor. Man ficht die
ruhigen Flädyen und Zaren Töne Naffael®, die breite
lebenöfreudige Art des Nubens und Nembrandiß ber-
getitigtes Licht.
Der Preis des ganzen Werks fchließt und gewöhnliche
Erdentinder von den Befige aus. Die Lieferung Eoftet 125ME,,
das Ganze 875 Mt. Aber nad) der Vollendung werden aud)
die einzelnen Blätter zu faufen fein, je nad Bildgröße zu
25, 15, 10 ME. Die Blattgröße ift bei allen gleich,
51x69 cm. So können aud) die weniger bemittelten Kunft=
freunde ein folche® Blatt erwerben. Und id) kann verfichern,
baß fie damit eine dauernde Freude ins Haus bringen.
Dem vollendeten Werte wird ein Tert von Bıf. Dr.
v. Tihudi beigegeben, der die Geihichte und Beichreibung
jedes einzelnen Blattes enthalten fol.
O. v. L.
Das Lied vom Schmerz.
Vom Schmerz ein Lied! Wie milde Düfte ſteigen
Auch aus bedornter Blumen Kelch empor,
Wie oft vom dürft'gen Halm Prachtblumen neigen,
Wie friſches Grün aus Gräbern ſproßt hervor:
So ſoll vom Schmerz ein Lied, mein Lied erklingen,
So haucht's auf ſeinen Dornen aus mein Herz,
Und leiſe weht es von des Liedes Schwingen:
Des Lebens guter Engel iſt der Schmerz!
Ein freundlich Wort vom Schmerz, dem wohlbewährten,
Stets gegenwärt'gen nahen Freund, ein Wort!
Er blieb, als all die heiteren Gefährten
Des Lebens floh'n mit ihrem Glanze fort,
Er blieb. Ich fühlt's, er ward mir Arzt, er löſte
Mit Thränen, was die Bruſt umſpann wie Erz,
Die er als Balſam in die Wunden flößte,
Da fühlt' ich's wohl, ein Engel ſei der Schmerz.
Vom Schmerz ein Lied! Dem Wecker in der Wüſte
Des Lebens, wo Morgana treibt ihr Spiel
Mit Träumen, die der Arme bitter büßte,
Den fchlafberüdt fie lodten vor dem Ziel.
Wenn in die Naht wie Srrliht Ichwand fein Hoffen,
Fält in das Srau’n ein Lichlihein niederwärtg,
Woher er fam, ließ er ein Pförtlein often,
Vom Himmel fam der Engel, fam der Schmerz.
So tritt der Schmerz aud) in die Nacht der Sünder,
Tränft mit der Neue bittrer Arzenei,
Da werden fie aufs neue Gottes Stinder,
Genefung jchafft der herbe Trank herbei.
RomansFeitung 1896.
EEE iR
Beiblatt ber Deutihen Roman-Zeitung.
858
Mag ihn Verzweiflung, Hoffnungaloje, rufen,
Und wer fonft; da ift Rettung nodh fürd Herz,
Sft eine Bahn nad zu des Heiles Stufen,
Ein Engel fdpreitet ihm voran — der Schmerz!
Sei denn gebenedeit mir, fei gejegnet,
Du treufter Yreund auf unferm Lebenspfab!
Schon längft fein Groll, fo oft Du mir begegnet,
Sein Harm, Tu Erniter, Dir entgegentrat.
Mit heißen Thränen tilgeft Du die Dlängel,
Sch weiß aud), bricht einft das gequälte Herz,
Weiß, daß an meiner Gruft nicht fehlt der Engel,
Mein Liebesengel fehlt dann nidt: der Schmerz!
Zul. Thomſen.
Vermiſchtes.
Unter Pennalismus verſtand man früher auf den
Univerſitäten das ſogenannte Fuchsrecht, welches in der
ſchimpflichen Behandlung und Mißhandlung der Ankömmlinge
auf hohen Schulen durch ihre älteren Kommilitonen gipfelte.
Dieſer Unfug hatte ſolche Tragweite erlangt, daß er ſchließ—
lich durch ein Reichsgeſetz, 1662, verboten werden mußte.
Wie es bei der Pennalputzerei in Leipzig zuging, davon
erzählt uns ein Bericht aus dem Jahre 1660, den O. Moſer
kürzlich in einer Zeitung wiedergab. „Man kann es hier
gar nicht mehr erdulden,“ wird geſagt. „Denn wenn ein
junger Studioſus hier ankommt, muß er die erſten vier
Wochen ein Fuchs heißen und darf nicht zu ehrlichen
Studenten kommen. Er muß auch in der Kirche ſeine Stelle
in der ſogenannten Fuchsecke nehmen, darf keine hübſchen
Kleider tragen, den Degen nicht anlegen und Mantel, Hut
und Kleid muß alt, zerriſſen und geflickt ſein, und darf man
an ihm kein Band ſehen. Je lumpenhafter er einhertritt,
für ein deſto ehrlicheres Pennal wird er angeſehen. Wenn
die alten Studenten ſpeiſen, müſſen die Pennäler aufwarten
und fragen, ob ſie etwas zu befehlen haben. Kommen die
alten Studenten zu ihnen, ſo müſſen die Pennäler ſpendieren,
was ſie verlangen, dürfen aber nicht mittrinken. Man zwingt
ſie unter die Tiſche zu kriechen, zu heulen wie ein Hund,
oder zu ſchreien wie eine Katze, zu krähen wie ein Hahn, zu
grunzen wie ein Schwein und zu wiehern wie ein Roß.
Wenn ſie überſtanden haben, werden ſie mit einer Scheuer—
bürſte mit Wagenſchmiere eingeſeift und mit einem alten
Degen raſiert, auf einem Schleifſteine geſchliffen, mit einem
Beſen abgekehrt, mit einem Neibeiſen abgehobelt und mit
einer Pferdeſtriegel ausgekämmt. Dann ſetzt ſich das Ex—⸗
pennal zu den alten Burſchen, und nun geht es ans Saufen.“
Werkzeuge, welche bei ſolchen Pennalputzereien gebraucht
wurden, verwahren noch die Sammlungen der altertums—⸗
forfchenden Gejellichaft in Leipzig. Da e8 aber doch vielen
Studenten, namentlid) Söhnen adliger oder fonftiger vor-
nehmen Yyamilien, nicht paßte, fi) einer jolchen Ihimpflichen
Behandlung zu unterwerfen, fo mieteten fie dafür Pennäler,
die dann eine doppelte Bortion zu ertragen hatten, oder fie
gaben ihre Diener, damals Jungen genannt, zu den Bußereien
her. Proteft gegen diejed Gebaren gab es nicht; wad dem
Neuangelommenen von alten Ykademicis anbefohlen wurde,
mußten fie ohne Widerrede thun. Eine folde Fonnte nur
bie überlriebenfte Hudelei und Mikßhandlung nach fich ziehen.
Megen einer im Bennaljahr angethanen Schmad) oder
IV 60
859
Snjurie fid) Später zu. rächen, wäre al8 SKapitalverbrechen ers
achtet worden. Als das Geſetz gegen dielen Unfug auftrat
und das Furfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite” an:
geihlagen wurde, waren e8 gerade die Pennäler, welde
mit Feuer und Flammen gegen diefe „Beichränfung der
akademiſchen Freiheit“ proteftierten. 8 verjammelten fi)
derer über zweihundert vor dem Großen Yürftenfollegium
und verihmworen jid) zufammen, an dem Pennalwejen feit-
zubalten, was auch geichehen möge. Sie bejannen fid) jedoch
bald eines Beeren und fügten fid) ins lInvermeidlihe. Nur
ein Bennal konnte jeinen Grimm nicht bändigen, jo daß er
den Rektor Johann Sttig in feinem Haufe infultierte und
beim ‘yorigehen ihm ein yenfter einwarf. Er wurde gefaßt
und anf feh® Jahre zur Relegation und Räumung der
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nad) zwanzig Wochen
fi wieder in Leipzig blicken ließ, fam er abermals in Haft,
und am 13. Tezeniber 1662 erfolgte feine Relegation auf
ewige Zeiten!
In Wiener SHindentenkreifen erzählt man fid einige
heitere Geihichten über drei PBrofefforen, melde zur Br=
fümpfung der überaus läfıigen Folgen ihrer figenden Lebent:
weile eined Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu
nehmen. So lange tie würdigen Herren innerhalb der ver-
ihwirgenen NReitichulmände dem edlen Reitiport oblagen,
madıte fih die Sadye ganz gut; denn die fpottluftige Tugend
erfuhr nichts von den fchlimmen Abftürzen, welden die
Männer der Wiflenfchaft mitunter außgejegt waren. Allein,
als fie in der Reitfunft bereit fo weit borgeichritten waren,
um am frühen Morgen hoch zu No& felbftändige Ausflüge
in den Brater zu wadhen, da gab ed gar bald Anlaß zu
ichnurrigen Eızählungen. Profeſſor U. pflegte feine Bors
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die
Rednergabe voljtändig verfagt hatte. Er bediente fich ftetö
feines SKollegienhiftes und war ohne dasjelbe jchledyterdings
nicht imftande, der wiffensdurftigen Jugend den Born feiner
Gelehriamteit zu erichließen. Eines Morgens fuchte cr, im
Hörjaale angelangt, vergebens nad) dem bedeutungßbollen
Hefte. E83 befand fi nicht in feinen Tafchen und aud) nidjt
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entjendet halte.
Mehr als Hundert Sörer mußten unverrichteter Dinge den
Hörjaal verlaffen — eine Notwendigkeit, welcher jich die
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei folcher
Gelegenheit ftet3 ausgezeichnet, mährend der PBrofefior fidh
Ihweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Kollegium
in einer abgelegenen PBratergegend mehrere Galoppverjuche
gemacht habe, bei weldien das Heft offenbar feiner Tafche
entglitten und nun unmiederbringlich verloren fei. Welche
Freude für ihn, ala ihm am nädften Doorgen der Reitfnedht
das Heft unverjehrt überreichte. „Wo haben Eie'ö denn ge:
funden?” fragte er leuchtenden Antliges. — „Sm Futterfad’!
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der NReitknedyt. — „Im
Futterſack'l,“ dehnte der Profellor, „ja, wie fann es denn
dorihin gekommen fein?" — „Hab’ i mir a denkt,“ meinte
der Neitfnedt, „der Herr Profelfor werd’'n Ihna Halt ver:
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt.
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be⸗
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
860
geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in ben Prater unter-
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater nad. Sn der
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor,
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu—
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasſelbe
gelingt vollſtändig, und Lehrer wie Schüler haben danach
alle Urſache, mit ihrem Morgenritte zufrieden zu ſein —
Sinnſprüche.
Ein reicher Geiſt iſt wie der Flamme Licht,
Die um ſich ſchart des Hauſes trauten Kreis,
Die lebenſpendend durch das Dunkel bricht,
Und fröhlich Schaffen weckt und Kraft und Fleiß.
*
Kehre Dich nicht in der Welt Gedränge
An das käufliche Urteil der Menge,
Halte Zwieſprach in Leid und Luſt
Mit der Stimme in Deiner Bruſt.
Was quälſt Du Dich mit Sorgen,
Dein Herz iſt krank und wund,
Am Abend wie am Morgen,
Das macht Dich nicht geſund —
Nimm's auf mit Streit und Plage,
Schau nimmer müßig zu —
Nach heißem Kampfestage
Folgt eine Nacht voll Ruh!
%
Glüd, Liebe und Freundfchaft, die Löjtlichen dret,
Dem einen die Märdenbrillanten der Fey,
Glasperlen dem andern — fie brachen entzwei!
x
Nicht die Fülle ift e8 allein,
Die der Gabe den Wert verleiht,
Aber die Abficht gut und rein,
Ind die Hilfe zu rechter Zeit!
*
Der „Wig”, ein leder Gauffer, ber im Sold
Der Menge [hwakt und ladt, —
„Semüt”, ber jchlichte Bergmann, der dag Gold
Holt aus der Erde Schadt.
*
Mand Lebensgärtlein, bunt und auserwählt
Prangt dufterfüllt im Ylor von Blüt’ und Rantle,
Vollfommen wär's, nur daß der Wildling fehlt,
Der unter Dornen wudert — ber Gebante!
*
Die felige Erwartung, die Dich blind
Ina farbenfriihe LZeben lodt hinein,
Die buntbemalte Etikette, Kind,
Auf einer Flaiche tft’ mit — herbem Wein!
Si» +
861
Betradhtungen.
Von 6. Aruoldi.
Mitleid haben, „mit leiden“ iſt die edelſte Blüte des
reinen und guten Herzens. Aus ihr entſpringt den Müh—
ſeligen und Beladenen tauſendfacher Segen, doch die koſtbare
Pflanze gedeiht nur, wenn ſie mit Herzblut genährt wird.
*
Die Philoſophen ſtreiten ſich darüber, ob das Leid, der
Schmerz notwendige Zuchtmeiſter der Menſchenkinder ſeien.
Dieſe bejahen die Frage, andere treten für Glück und Freude
als gleichwertige Erzieher ein. Lehrt aber nicht die Erfahrung,
daß die da Leid tragen, der Menſchheit am meiſten und beſten
dienten?
*
Leben heißt fih befcheiden lernen.
———, © _— —
Splitter.
Bon ©.
er feines Steuers fundig ift, des Scdifflein wird im
Sturm niht wanten.
Der Blumen ftilles Blühen fommt jenem DMenjchen gleich,
Der treu und ftetig fuchet den Weg zum Himmelreich.
*
Als Höchfte Menichenleiftung gilt mir: zu entjagen,
Und dennoch pflichtgetreu fein Leben weitertragen.
%
Wenn Du zum Freunde erft Vertrauen haft,
Bedarf es nicht mehr der Vertraulichkeit,
Um Dir zu fagen, daß Tu ihn bejigeft.
%*
Kiebe fordert als Ihr Necht „bie Liebofung*. In der
Freundſchaft aber Liegt ihr Wert darin, baß fie nit zur
Gewohnheit wird, Jondern al Ausdrud des Heiligften
Empfindens herbortritt, wenn außergewöhnlihe Stunden
unfer Innerftes bewegen.
%
Befängen wir no al& Demant den Tau,
Kenn er die Noje immer fhmücen würde?
Briefkaflen.
Grifa. Berlin C. Die Eprade gewandt; das Gefühl
warm, aber das hüpfende Versmap entipricht dem Stoffe
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
862
gar nicht. In „Frage“ ſprachliche Fehler; z. B. das
„weinend“ in der letzten Zeile: worauf ſoll ſich das be—
ziehen? Auch in „Letzte Roſe“ ſind fehlerhafte Wendungen.
Doch können Sie mir neue Verſuche ſenden. — Herrn C.
v. A. in O. bei G. Nicht ſo viel, junger Freund! Viel—
leicht kommen die „Scherben“. — Herrn Th. K. in N. Sie
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G.
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber“
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache.
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D.
„Mein Hochzeitstag“ zum Teil ergreifend, aber leider in der
Form etwas unſicher. Ich wünſche, Sie mögen den Stoff
nicht aus eigener Erfahrung geſchöpft haben. Sie können
Neues ſenden. — Frau E. Pr. in K. Warmes Gefühl,
aber nicht zureichende Begabung. — Frl. X. Y. in Z. So
lange Sie ſo lehrhaft predigen, wird Ihnen nie ein Gedicht
gelingen. Gedanken ganz in dichteriſches Schauen aufzu⸗
löſen, dazu gehört eine ſehr große Begabung; dieſe haben
Sie nicht. Darum wäre es beſſer, wenn Sie ſich anderen
Stoffen zuwendeten oder für die Ihrigen andere Formen
ſuchten. — Herrn cand. Pf. in W. Der Hauptgedanke
Ihrer Elegie iſt Schön, aber bie Ausführung mangelhaft.
Sie beginnt mit dem Vergleich zwiichen GeiftesIeben und
Duelle. Im dritten YJmeizeiler „blüht nun im Lenz der
Geiſt“; dann ſprechen Sie wie ein Gefhichtäbud bis Zeile 24;
hier wird ber Allgeift der Himmel, die Einzelgeifter Sterne,
und „fe nahen der Mündung“. Alfo Hier jpringt wieder
das erſte Gleichnis hervor. Ein Bild foll innerlid in
feiner ganzen Breite geichant fein, jo daß die Hauptmerf-
male mit dem Verglichenen ftimmen. Dann erft entwidelt
fi) der große Zug in da8 „Plaftiihe”. So aber zerbrödelt
dad Ganze. — Herrn Dr. Sr. St. in9. Duma tit bie
ruffifche Bezeichnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat.
Inhalt der Wo. 51.
Art zu Art. Roman von 9 Schobert. Fort. —
Schwertflingen. Baterländiiher Roman von Hang
Werder. Fortj. — Beiblatt: Sejam. Bon U. Hin deldbeyn.
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Da3
Ende Bon Clara Müller. — Üllerlet zur Frauenfrage.
Bon M. Müller — Wiegenlid. Von ©. 2. Wenjel. —
Ein Meifteriwerf der vervielfältigenden Kunft. Bon O.v.%.
— Tas Lied dom Schmerz. Bon Zul. Thomjen —
Bermifchtes. — Siunfprühe. Bon 9.9. — Betrachtungen.
Bon E. Arnoldi. — Eplitter. Von G. — Brieffaiten.
An unfere Leſer!
Pit dem mächiten Hefte (Nr. 52) Ichließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung.
Wir
bitten unjere Abnehmer, ihre Beitellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und PBoitämtern rechtzeitig
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitichrift eintritt.
Aus umjftehender Anzeige wollen unjere Yeler Kenntnis von dem vorausfichtlihen Inhalte des
neuen ahrganges nehmen.
859
Snijurie fi Ipäter zu. rächen, wäre al3 Stapitalverbrechen ers
achtet worden. Al® das Gefeß gegen dielen Unfug auftrat
und da3 kurfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite” an-
geihlagen tourde, waren ed gerade die Pennäler, welde
mit euer und Flammen gegen diefe „Beichränfung ber
akademiſchen Freiheit“ protefticrten. &8 verfammelten fi
derer über zmweihundert vor dem Großen Fürftenfollegium
und verfchworen fid) zufammen, an dem PBennalmwejen feft-
zubalten, wa8 auch geichehen möge. Sie bejannen fid) jedoch,
bald eines Befjeren und fügten fi ins Unvermeidlidhe.. Nur
ein Bennal fonnte feinen Grimm nicht bändigen, To daß er
den Rektor Iohann Zttig in feinem Haufe injultierte und
beim Fortgehen ihm ein TFenfter einwarf. Er wurde gefaßt
und auf fehs Jahre zur Relegation und Räumung der
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nach zwanzig Wochen
fi wieder in Leipzig bliden ließ, fam er abermals in Haft,
und am 13. Dezember 1662 erfolgte feine Nelegation auf
ewige Zeiten!
In Wiener Sindentenkreifen erzählt man fid) einige
heitere Gefhichten über drei Profefforen, welde zur Br:
fümpfung der überaus läfıigen Folgen ihrer figenden Lebent:
weile eined Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu
nehmen. So lange tie würdigen Herren innerhalb der ver-
Ihwiegenen Reitihulmwände dem edlen NReitiport oblagen,
madıte fich die Sadje ganz gut; denn bie fpottluftige Jugend
erfuhr niht3 don den fchlimmen Abftürzen, welden bie
Männer der Wiffenfhaft mitunter ausgelegt waren. Allein,
al® fie in der Reitfunft bereits jo weit borgelchritten waren,
um am frühen Morgen hoch zu Noß jelbftändige Augflüge
in den Prater zu wadhen, da gab ed gar bald Anlaß zu
Ihnurrigen Eızählungen. Profeffor U. pflegte feine DBors
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die
Nednergabe volftändig verfagt hatte. Er bediente fi ftets
feines Kollegienhiftes und war ohne dasjelbe fchledterbings
nicht imftande, der mwiffensdburftigen Jugend den Born feiner
Gelchriamkeit zu erichließen. Eine8 Morgens fudjte er, im
Hörjaale angelangt, vergeben? nadı dem bedeutungspollen
Hefte. E38 befand fih nicht in feinen Tafchen und aud nidht
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entjendet hatte.
Mehr als Hundert Hörer mußten unverridhteter Dinge den
Höriaal verlaffen — eine Notwendigkeit, mwelder jich die
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei folcher
Gelegenheit ftet3 ausgezeichnet, während der Brofeflor fich
jchweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Kollegium
in einer abgelegenen Pratergegend mehrere Galoppverjuche
gemacht habe, bei weldhen das Heft offenbar feiner Talche
entglitten und nun unmieberbringlich verloren je. Welche
Freude für ihn, al8 ihm am nädften Morgen ber Reitfnedht
das Heft unverfehrt überreihte. „Wo haben Eie'8 denn ge-
funden?* fragte er leuchtenden Antligcd. — „Im Futterfad’I
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der Neitfneht. — „Sn
Futterfad’l," dehnte der Profeilor, „ja, wie kann e3 benn
dorthin gefommen fein?" — „SHab’ i mir a denkt,“ meinte
der Neitfnedht, „der Herr Profelfor werd’n Ihna Halt ver:
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt.
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be⸗
— — ——
Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung.
860
geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in den Prater unters
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater näch. In der
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor,
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu—
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasfelbe
gelingt vollftändig, md Lehrer wie Echüler haben danadı
alle Urfache, mit ihren Morgenritte zufrieden zu fein —
Sinnfprüde.
Ein reicher Geift ift wie der Slanıme Licht,
Die um fih jchart des Haufes trauten reis,
Die Tebenipendend burd) das Dunkel bridt,
Und fröhlih Schaffen wedt und Straft und Fleiß.
*
Kehre Dich nit in der Welt Gedränge
An das fänfliche Urteil der Menge,
Halte Zivieiprach in Leid und Luft
Mit der Stimme in Deiner Bruft.
*
Was quält Du Did) mit Sorgen,
Dein Herz ift frank und wund,
Am Abend wie am Morgen,
Das madt Tih nicht gefund —
Nimm’s auf mit Streit und Plage,
Schau nimmer müßig zu —
Nach heißem Kampfestage
Folgt eine Nacht voll Ruh!
*
Glück, Liebe und Freundſchaft, die köſtlichen drei,
Dem einen die Märchenbrillanten der Fty,
Glasperlen dem andern — ſie brachen entzwei!
*
Nicht die Fülle iſt es allein,
Die der Gabe den Wert verleiht,
Aber die Abſicht gut und rein,
Und die Hilfe zu rechter Zeit!
*
Der „Wiß”, ein keder Gaufler, der im Solb
Der Menge Ihwatt und ladt, —
„Semüt”, der jchlihte Bergmann, der das Gold
Holt au8 der Erde Schadit.
*
Mand) Lebensgärtlein, bunt und auserwählt
PBrangt dufterfült im Flor von Blüt’ und NRante,
Volllommen wär's, nır daß ber Wildling fehlt,
Ter unter Dornen wudert — der Gebante)
*
Die felige Erwartung, die Dich blind
Sn8 farbenfrifhe Leben lodt hinein,
Die buntbemalte Gtifette, Kind,
Auf einer Flafche ift’3 mit — herbem Wein!
S.
Betrahtungen.
Von 6. Arnoldl.
Mitleid haben, „mit leiden“ ift die edelfte Blüte des
reinen und guten Herzend. Aus ihr entipringt den Müh-
feligen und Beladenen taufendfaher Segen, doc die foftbare
Pflanze gedeiht nur, wenn fie mit Herzblut genährt wird.
*
Die Bhilofophen ftreiten fi) darüber, ob das Leid, der
Schmerz notwendige Zuchtmeifter der Menfchenkinder feien.
Diefe beiahen die Frage, andere treten für Glüd und Freude
als gleichwertige Erzieher ein. ehrt aber nicht die Erfahrung,
daß die da Leid tragen, ber Menfchheit am meiften und beiten
dienten?
*
Leben heißt fich beicheiden lernen.
— in m —
Splitter.
Bon ©.
er jeines Steuers fundig ift, des Scifflein wird im
Sturm nicht warten.
Der Blumen ftiles Blühen kommt jenem Menicden gleich,
Der treu und ftetig fuchet den Weg zum Himmelreich.
*
Als höchfte Menichenleiftung gilt mir: zu entfagen,
Und dennoch pflichtgetreu fein Leben weitertragen.
%
Wenn Du zum Freunde erjt Vertrauen haft,
Bedarf e8 nicht mehr der Vertraulichkeit,
Um Dir zu jagen, daß Tu ihn beligeft.
%*
Kiebe fordert als ihr Net „bie Liebfofung*“. In ber
SFreundichaft aber Liegt ihr Wert darin, daß fie nicht zur
Gewohnheit wird, Sondern al Ausdrud des Heiligiten
Empfinden® hervortritt, wenn außergewöhnlide Stunden
unfer Innerftes bewegen.
Belängen wir noch ald® Demant den Tau,
Wenn er die Noje immer jchmücden würde?
DBriefkaflen.
Erila. Berlin C. Die Sprache gewandt; das Gefühl
warm, aber ba8 hüpfende Vergmaß entipricht dem Stoffe
Beiblatt ber Deutihen Roman-Beitung.
862
gar nidt. Im „Trage“ Tpradhlihe Fehler; 3. 3. da8
„weinend* in der legten Zeile: worauf fol fi das be—
ziehen? Auch in „Legte Noise” find fehlerhafte Wendungen.
Doh können Eie mir neue VBerfuhe fenden. — Herrn ©.
v.A. ind. bei ® Nicht fo viel, junger Freund! Viel—
leicht fommen die „Scherben“. — Herrn Th. E. in N. Eie
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G.
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber”
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache.
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D.
„Mein Hochzeitstag” zum Teil ergreifend, aber leider in ber
sorm etwad unfider. Ich wünfhe, Sie mögen den Etoff
niht aus eigener Erfahrung geihöpft haben. Sie können
Neues jenden. — Frau E. Br. in 8. Warmes Gefühl,
aber nicht zureihende Begabung. — Frl. X. 9. in 3. ©
lange Sie jo lehrhaft prebigen, wird Shnen nie ein Gedicht
gelingen. Gedanken ganz in bichterifches Schauen aufzus=
löjen, dazu gehört eine fehr große Begabung; diefe haben
Sie nidit. Darum wäre e8 beffer, wenn Sie fih anderen
i Stoffen zumwenbeten oder für bie hrigen andere Formen
judten. — Herm cand. Pf. in W. Der Hauptgebante
Ihrer Elegie ift Schön, aber die Ausführung mangelhaft.
Sie beginnt mit dem Vergleich zwifchen Geiftesleben und
Duelle. Im dritten Zmweizeiler „blüht nun im Lenz der
Geiſt“; dann Ipredhen Sie wie ein Geihichtshud) bis Zeile 245
hier wird der Allgeift der Himmel, die Einzelgeifter Sterne,
und „fie nahen der Mündung“. Alfo hier fpringt wieder
das erfte Gleihnis hervor. Ein Bild fol innerlich in
feiner ganzen Breite geihaut fein, fo daß die Hauptmerf:
male mit dem Verglichenen ftinnmen. Dann erft entwidelt
fih der große Zug in da „Plaftiihe”. So aber zerbrödelt
da8 Ganze. — Herrn Dr. Fr. St. ind. BDuma ift bie
ruflische Bezeihnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat.
Inhalt der Wo. 51.
Art zu Art. Roman von 9 Schobert. Fortl. —
Schwertllingen. VBaterländiiher Roman von Hang
Werder. Yorti. — Beiblatt: Scjam. Bon U. Hin deldeyn.
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Das
Ende. Bon Clara Müller. — Allerlei zur Yrauenfrage.
Bon M. Müller. — Wirgenlid. Bon ©. 2. Wenfel. —
Ein Meifterwerf der vervielfältigenden Kunft. Von O.v.R.
— Tas Lied vom Schmez. Bon Jul. Thomjen —
Bermifchtes. — Sinufprüde Bon 9.9. — Betrachtungen.
Bon E. Arnoldi. — Splitter. Von G. — Brieffaften.
—— — — — — — — — —
An unſere Leſer!
Mit dem nächſten Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung.
Wir
bitten unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitichrift eintritt.
Aus umiftehender Anzeige wollen unjere Yejer Kenntnis von dem vorausiichtlihen halte des
neuen Jahrganges nehmen.
859 Beiblatt der Deutihen Romanzgeitung.
Snijurie fi fpäter zu. rächen, wäre als Klapitalverbrechen ers
achtet worten. Ald das Gefeß gegen diejen Unfug auftrat
und das Furfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite“ an:
geihlagen twurde, waren ed gerade bie Bennäler, welche
mit Teuer und Ylammen gegen diefe „Beichränfung ber
akademiſchen Yreiheit” protefticrten. E8 verfammelten fid)
derer über zmweihundert dor dem Großen Yürftenfollegium
und verihworen jid) zufammen, an dem PBennalwejen feit-
zubalten, ma8 auch geichehen möge. Sie bejannen jid) jedod)
bald eines Befjeren und fügten fi) in& Unvermeidlide.. Nur
ein Bennal konnte feinen Grimm nicht bändigen, lo daß er
den Rektor Johann Yttig in feinem Haufe infultierte und
beim ‘Fortgehen ihm ein TFenfter einwarf. Er wurde gefaßt
und auf feh3 Sabre zur Relegation und Räumung der
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nad zwanzig Wochen
fi) wieder in Leipzig blicken ließ, kam er abermals in Haft,
und am 13. Tezember 1662 erfolgte feine Nelegation auf
ewige Zeiten!
In Diener Sindentenkreifen erzählt man fid einige
heitere Geihichten über drei Brofefforen, weldhe zur Be—
fümpfung der überaus läftigen Folgen ihrer figenden Qebent=
weile eine® Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu
nehmen. So lange fie würdigen Herren innerhalb der ver-
ihwirgenen Neitihulmwände dem edlen Reitiport oblagen,
madıte fi die Sadhe ganz gut; denn die fpottlufiige Jugend
erfuhr nichts don den jchlimmen Abftürzen, welchen die
Männer der Wiffenichaft mitunter außgejett waren. Ylllein,
als fie in der Reitfunft bercit® fo weit borgeichritten waren,
um am frühen Morgen Hoch zu Noß felbitändige Ausflüge
in den Prater zu maden, da gab e8 gar bald Anlaß zu
Ichnurrigen Eızählungen. Profefior U. pflegte ſeine Vor—⸗
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die
Nebnergabe volftändig verfagt hatte. Er bediente fich ftets
feines Kollegienhiftes und war ohne dasjelbe jchledhterdings
nicht imftande, der wiffensdurftigen Jugend ben Born feiner
Gelehriamkeit zu erichließen. Gine® Morgens fudhte er, im
Hörjaale angelangt, vergebens nadı dem bedeutungdvollen
Hefte. E8& befand fih nicht in feinen Tajchen und auch nicht
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entiendet hatte.
Mehr als Hundert Hörer mußten unverridhtetir Dinge den
Höriaal verlaffen — eine Notwendigkeit, welcher jich die
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei foldher
Gelegenpeit ftet3 ausgezeichnet, während der Profeffor fich
fhmweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Stollegium
in einer abgelegenen PBratergegend mehrere Galoppverjuche
gemadt habe, bei welden das Heft offenbar feiner Tafche
entglitten und nun unmiederbringlich verloren jet. Welche
Freude für ihn, ald ihm am näditen Morgen der Reittnecht
das Heft unverfehrt überreichte. „Wo haben Eie'3 denn ge-
funden?* fragte er leuchtenden Antliges. — „Im Futterfad’(
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der Neitfneht. — „Sn
Futterfad’I,* dehnte der Profellor, „ja, wie kann e3 benn
dorthin gekommen fein?" — „SHab’ i mir a denkt,“ meinte
der Neitfneht, „der Herr Profeffor werd’'n Ihna halt ver=
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt.
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be—
860
geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in den Prater unter
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater näch. In der
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor,
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu—
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasſelbe
gelingt vollſtändig, und Lehrer wie Schüler haben danach
alle Urſache, mit ihrem Morgenritte zufrieden zu ſein —
Sinnfprüde.
Ein reicher Gelft ift wie der Flamme Licht,
Die um fi jchart des Haufes trauten Kreis,
Die Iebenfpendend durdy das Dunkel bricht,
Und fröhlih Schaffen wedt und Kraft und Fleiß.
*
Kehre Dich nicht in ber Welt Gedränge
An das fänfliche Urteil der Menge,
Halte Zwieſprach In Leid und Luft
Mit der Stimme in Deiner Bruft.
*
Was quälft Du Did) mit Sorgen,
Dein Herz ift frank und wund,
Am Abend wie am Morgen,
Das macht Dich nicht geſund —
Nimm's auf mit Streit und Plage,
Schau nimmer müßig zu —
Nach heißem Kampfestage
Folgt eine Nacht voll Ruh!
*
Glück, Liebe und Freundſchaft, die köſtlichen drei,
Dem einen die Märchenbrillanten der ey,
Glasperlen den andern — fie brachen entzwei!
x
Nicht die Fülle ift es allein,
Die der Gabe den Wert verleiht,
Aber die Ablicht gut und rein,
Und die Hilfe zu rechter Zeit!
*ᷣ
Der „Witz“, ein kecker Gaukler, der im Sold
Der Menge ſchwatzt und lacht, —
„Gemüt“, der ſchlichte Bergmann, der das Gold
Holt aus der Erde Schacht.
*
Mandy Lebendgärtlein, bunt und auserwählt
Prangt dufterfült im Flor von Blüf und Nante,
VBolllommen wär's, nur baß der Wilbling fehlt,
Der unter Dornen wuchert — der Gedantel
%*
Die felige Erwartung, die Dich blind
Ins farbenfriſche Leben lodt hinein,
Die buntbemalte Etikette, Sind,
Auf einer Flaiche ift’3 mit — erben Wein!
Ss &
— — — =
Betrahtungen.
Von 6. Arnold.
Mitleid Haben, „mit leiden” ift die ebelfte Blüte des
reinen und guten Herzend. Aus ihr entipringt den Müh:
jeligen und Belabenen taufenbfaher Eegen, doch die Loftbare
Pflanze gedeiht nur, wenn fie mit Herzblut genährt wird.
*
Die Bhilojophen ftreiten fi) darüber, ob da8 Leid, ber
Schmerz notwendige Zuchtmeifter der Menfchentinder feien.
Diefe beiahen die Trage, andere treten für Glüf und Sreude
als gleichwertige Erzieher ein. Lehrt aber nicht die Erfahrung,
daß die da Leid tragen, ber Menjchheit am meiften und beiten
dienten?
*
Leben heißt fich beicheiden lernen.
— — —— — —
Splitter.
Bon ©.
er feines Steuers kundig ift, bes Scifflein wird tm
Sturm nicht wantlen.
Der Blumen ftilles Blühen kommt jenem Menichen gleich,
Der treu und ftetig juchet den Meg zum Himmelreid.
*
Als höchite Menichenleiftung gilt mir: zu entjagen,
Und dennod) pilichtgetreu fein Leben mweitertragen.
%
Wenn Du zum Freunde erjt Vertrauen haft,
Bedarf es nicht mehr der Vertraulichkeit,
Um Dir zu jagen, daß Tu ihn befigeft.
Kiebe fordert als ihr Necht „bie Lieblojung“. In der
Sreundfchaft aber liegt ihr Wert darin, daß fie nicht zur
Gewohnheit wird, jondern al Ausdrud des Heiligiten
Empfindens hervortritt, wenn außergewöhnlide Stunden
unſer Innerſtes bewegen.
Beſängen wir noch als Demant den Tau,
Wenn er die Roſe immer ſchmücken würde?
Vriefkaſten.
Erika. Berlin C. Die Sprache gewandt; das Gefühl
warm, aber das hüpfende Versmaß entſpricht dem Stoffe
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
862
gar nicht. In „Frage“ ſprachliche Fehler; z. B. das
„weinend“ in der letzten Zeile: worauf ſoll ſich das be—
ziehen? Auch in „Letzte Roſe“ ſind fehlerhafte Wendungen.
Doch können Sie mir neue Verſuche ſenden. — Herrn C.
v. A. in O. bei G. Nicht ſo viel, junger Freund! Viel—
feiht fommen die „Scherben“. — Herrn Th. K. in N. Sie
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G.
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber“
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache.
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D.
„Mein Hochzeitstag“ zum Teil ergreifend, aber leider in der
Form etwas unſicher. Ich wünſche, Sie mögen den Stoff
nicht aus eigener Erfahrung geſchöpft haben. Sie können
Neues ſenden. — Frau E. Pr. in K. Warmes Gefühl,
aber nicht zureichende Begabung. — Frl. X. Y. in Z. So
lange Sie ſo lehrhaft predigen, wird Ihnen nie ein Gedicht
gelingen. Gedanken ganz in dichteriſches Schauen aufzu⸗
löſen, dazu gehört eine ſehr große Begabung; dieſe haben
Sie nicht. Darum wäre es beſſer, wenn Sie ſich anderen
ı Stoffen zuwendeten oder für die Ihrigen andere Formen
ſuchten. — Herrn cand. Pf. in W. Der Hauptgedanke
Ihrer Elegie iſt ſchön, aber die Ausführung mangelhaft.
Sie beginnt mit dem Vergleich zwiſchen Geiſtesleben und
Quelle. Im dritten Zweizeiler „blüht nun im Lenz der
Geiſt“; dann ſprechen Sie wie ein Geſchichtsbuch bis Zeile 24;
hier wird der Allgeiſt der Himmel, die Einzelgeiſter Sterne,
und „ſie nahen der Mündung“. Alſo hier ſpringt wieder
das erſte Gleichnis hervor. Ein Bild ſoll innerlich in
ſeiner ganzen Breite geſchaut ſein, ſo daß die Hauptmerk—
male mit dem Verglichenen ſtimmen. Dann erſt entwickelt
ſich der große Zug in das „Plaſtiſche“. So aber zerbröckelt
das Ganze. — Herrn Dr. Fr. St. in H. Duma iſt die
ruſſiſche Bezeichnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat.
Inhalt der No. 51.
Art zu Art. Roman von H. Schobert. Fortſ. —
Schwertklingen. Vaterländiſche Roman von Hans
Werder. Fortſ. — Beiblatt: Seſam. Von A. Hinckeldeyn.
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Das
Ende. Bon Clara Müller. — Ullerlei zur YJrauenfrage.
Bon M. Müller. — Wiegenlid. Bon ©. 2. Wenjel. —
Ein Meiftertwerf der vervielfältigenden Kunft. Von O.v.%.
— Tas Lied vom Schmerz Bon Zul. Thomfen —
Bermiihtes. — Sinufprüde. Bon 9.9. — Betraditungen.
Bon E. Arnoldi. — Splitter. Von G. — Brieffaften.
ml — —
An unſere Leſer!
Mit dem nächſten Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung.
Wir
bitten unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitſchrift eintritt.
Aus umſtehender Anzeige wollen unſere Leſer Kenntnis von dem vorausſichtlichen Inhalte des
neuen Jahrganges nehmen.
Ter nee Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten:
Ein doppeltes Ich. { Unter den Borsgia.
Roman Roman
Hermann Heiberg.
Richard Bob.
— —— TA ALLA EU AG ANSL A EURER INNE A — — —— — —— — —— ————— ——
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — ee —— —— — — — — — — — — — —— — —— — — — — — — — — — — — — —
S Mohenfroſt, roman on Garl Wulle. =
En a nn LE nn nn Tip nn ln mt m ——
ETW —α« EAN ER EAN ANNE AR BR WARE REN VW RNETS — EAN ANA Ar EAN RED ÄLTERE TEE
Snfriganten. Die Fremde.
Hiftorifcher Roman Roman
von
Fedor von Zobeltih.
von
Dans Warhenhufen.
Am Ende von Alt-Berlin.
Hiſtoriſcher Roman
Ohne Liebe.
Roman
von
ED Wald-Zedtwitz.
Wendepunkte.
Roman
von
Bruno Garlepp.
Schloß Geisberg.
Roman
von
A. Norden.
(A. Hinnius.)
von
Joſefine Gräfin Schwerin.
Romane von H. Schobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, ſo daß wir unſeren Leſern eine Ab—
wechslung bieten, die von feiner anderen Zeitichrift erreicht wird.
Das BVeiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer
Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialismus
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſähe bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen,
9
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeitung.
Berlin, Anhaltſtr. 11
Verantwortlicher veiter: Otto von veixner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei-Altien-Geſellſchaft
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗-Vereins).
— — it — 2.2 — —*
Deutſche
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
beziehen.
—1896.
Roman-Zeitung.,
Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober.
Ne 5.
Art zu Art.
Roman
von
H. Schobert.
(Schluß.)
Einunddreißigſtes Kapitel.
Wie lang iſt eine ſchlaflofe Nacht!
Es iſt, als wäre ſie allen Geiſtern der Finfter:
nis preisgegeben, die ſich hohnlachend beeilen, ihre
Beute zu peinigen. Maud freute ſich faſt, als das
erſte Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber.
Aber auch der Tag dehnte ſich ſo endlos lang und
monoton, trotzdem ſie ſich fieberhaft bemühte, die
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. Es ge—
lang ihr nicht.
Von Fortunat kam keine Nachricht.
Trotzdem war ſie ruhiger geworden, ſie fühlte
beſtimmt, er würde nichts thun, was ihr das Leben
noch erſchweren könnte, und Trennung hatte ſie ja
ſelbſt gewollt. Nun es aber entſchieden war, fehlte
er ihr überall. Daß ſie ihn ſo vermiſſen könnte,
hätte ſie niemals gedacht. — Beſuche machte ſie
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriſch, daß
ſie ſich von allen zurückhielt, bis — nun, bis man
entweder ihr wieder entgegenkam, oder bis Fortunat
imſtande war, ſie auf irgend eine Art zu rehabili—
tieren. Freilich war ſie weltklug genug, um zu
willen, daß es nichts Schwereres giebt, als eine ver—
lorene Poſition wiederzugewinnen, daß ſich ſelbſt die—
jenigen Menſchen, die ſich für großherzig oder chriſt—
lich geſinnt halten, ſcheuen, die erſten zu ſein, die
einen Irrtum bekennen und wieder gutmachen.
Aber trotz ihrer Einſamkeit, trotz ihrer trüben
Gedanken verging auch der Tag, und der folgende
brachte ihr Nachricht von Fortunat.
Sie fühlte ſchon durch das Couvert hindurch
eine dicke Karte, und ungeduldig riß ſie den Um—
ſchlag auf.
Luzie Quenſel
Alexander Fortunat
Verlobte.
Roman⸗ZJeitung 1890. Llef. 52.
ſtand darauf; und auf der Rückſeite in ſeiner faſt
weiblich zarten Handſchrift: „Ich habe mein Wort
gehalten; Sie ſind jetzt entſündigt.“ —
Maud ſtieß einen Schrei aus.
„Das habe ich nicht gewollt,“ ſagte ſie heftig,
mit dem Fuß aufſtampfend, in emporwallendem Ärger.
„Das iſt thöricht! Er hat ſein ganzes Leben mit
dieſer Handlung zerſtört.“
Dann ſetzte ſie ſich, die Karte in ihrem Schoß,
und verſuchte ſich alles möglichſt klarzumachen.
Standen ihre Chancen dadurch beſſer? Sie
glaubte es kaum. Jedenfalls mußte er ſein ganzes
Leben hindurch für den Heroismus büßen, der ihn
zu dieſem Opfer getrieben. Mochte Luzie ſein wie
ſie wollte, für Fortunat paßte ſie nicht.
„Armer Freund!“ flüſterte ſie ſehr traurig vor
ſich hin; denn daß ſie ihn ſicher und auf immer
verloren hatte, das wußte ſie genügend.
Als Heeken zum Frühſtück kam — er that es
in letzter Zeit wieder pünktlicher, denn Eva mahnte
ihn daran — legte ſie ſchweigend die Karte neben
ſeinen Teller. Er griff danach und warf ſie dann
mit einem ſonderbaren Laut zur Seite.
„Der iſt ja ganz verrückt geworden!“ ſagte er
dann, und ſtrich ſich über das Haar und das Geſicht
wie in großer Aufregung. „Was willſt Du denn
nun machen?“
Sie ſah ihn befremdet an. „Ich? — Ja, gegen
mich hat er doch keine Verpflichtungen.“
Er ſah ſie an.
„Der Leute wegen hat er es gethan,“ ſagte er
dann ſcharf. „Das iſt unrecht! Man ſoll nicht aus
irgend welchen Rückſichten etwas thun, was einen
nachher reuen könnte, und er hat ſich nie etwas aus
Luzie gemacht.“
Maud ſah ihren Mann mit grenzenloſem Er⸗
ſtaunen an.
IV. 6ı
Ter neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten:
Ein doppeltes Ich.
Roman
Unter den Borsia.
Roman
Richard Boß.
—— — — — Law wm aaa — —— — An AN — — ——— — — — ——— — — —
S Mohenfroſt, roman son Carl Wille. =
ERNW RED WERE ANNE EM An — — — An — ——— — — —— — — — N ar — — ARTE ANDERE AND DAL AÄTLAETERLER
Intriganten. Die Fremde.
Hiſtoriſcher Roman Roman
von
Hermann Heiberg.
von
Hans Wachenhuſen.
von
Fedor von Zobeltitz.
Am Ende von Alt-Berlin.
Hiſtoriſcher Roman
Ohne Liebe.
Roman
von
Bruno Garlepp.
von
E. v Wald-Zedtwitz
._—— Lohn
Wendepunkte,
Roman
Schloß Geisberg.
Roman
RN
>
von
A. Horden.
(AR. Dinnius.)
von
Iofefine Sräfn Schwerin.
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*
Romane von H. Schobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, ſo daß wir unſeren Leſern eine Ab—
wechslung bieten, die von keiner anderen Zeitſchrift erreicht wird.
Das B eiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer
rt : ine jp W 3
Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialiſsmus
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen.
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman: Zeitung.
Berlin, Mubalttr. 11.
Verantwortlicher deiter: Dito von Xeirner in Berlin, — Berlag von Dtto Janke in Berlin. — Drud der Berliner Buchdruderei⸗-Altien-Geſellſchaft
(Seperinnen =» Schule bed Fette» Verein).
— EEE EEE ————— — — — — — — — — — ——— —— —
Deutſche
Roman-Zeifung.
18%.
ämter nehmen dafür Beitellungen an.
beziehen.
Erjheint mwödjentlih zum Preife von 3% M vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Boft
Durd) ale Buchhandlungen audy) in Monatsheiten zu
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dfiober.
Ne 5.
Art zu Art.
Roman
bon
3. Schobert.
(Schluß.)
Einunddreißigſtes Kapitel.
Wie lang iſt eine ſchlafloſe Nacht!
Es iſt, als wäre ſie allen Geiſtern der Finſter⸗
nis preisgegeben, die ſich hohnlachend beeilen, ihre
Beute zu peinigen. Maud freute ſich faſt, als das
erſte Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber.
Aber auch der Tag dehnte ſich ſo endlos lang und
monoton, trotzdem ſie ſich fieberhaft bemühte, die
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. Es ge—
lang ihr nicht.
Von Fortunat kam keine Nachricht.
Trotzdem war ſie ruhiger geworden, ſie fühlte
beſtimmt, er würde nichts thun, was ihr das Leben
noch erſchweren könnte, und Trennung hatte ſie ja
ſelbſt gewollt. Nun es aber entſchieden war, fehlte
er ihr überall. Daß ſie ihn ſo vermiſſen könnte,
hätte ſie niemals gedacht. — Beſuche machte ſie
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriſch, daß
ſie ſich von allen zurückhielt, bis — nun, bis man
entweder ihr wieder entgegenkam, oder bis Fortunat
imſtande war, ſie auf irgend eine Art zu rehabili—
tieren. Freilich war ſie weltklug genug, um zu
wiſſen, daß es nichts Schwereres giebt, als eine ver—⸗
lorene Poſition wiederzugewinnen, daß ſich ſelbſt die—
jenigen Menſchen, die ſich für großherzig oder chriſt—
lich geſinnt halten, ſcheuen, die erſten zu ſein, die
einen Irrtum bekennen und wieder gutmachen.
Aber trotz ihrer Einſamkeit, trotz ihrer trüben
Gedanken verging auch der Tag, und der folgende
brachte ihr Nachricht von Fortunat.
Sie fühlte ſchon durch das Couvert hindurch
eine dicke Karte, und ungeduldig riß ſie den Um—
ſchlag auf.
Luzie Quenſel
Alexander Fortunat
Verlobte.
Romau⸗Zeitung 1890. Lief. 62.
ftand darauf; und auf der Nüdfeite in feiner fait
weiblih zarten Handichrift: „Ich babe mein Wort
gehalten; Sie find jegt entjündigt.” —
Maud ftieß einen Schrei aus.
„Das habe ich nicht gewollt,“ jagte fie heftig,
mit dem Fuß aufftampfend, in emporwallendem Ärger.
„Das ift thöriht! Er hat fein ganzes Leben mit
diefer Handlung zerftört.”
Dann fette fie fi, die Karte in ihrem Schoß,
und verfuchte fi alles möglichft Harzumadhen.
Standen ihre Chancen badurh beiler? Sie
glaubte es kaum. Sedenfalls mußte er jein ganzes
Leben hindurh für den Heroismus büßen, der ihn
zu biefem Opfer getrieben. Mochte Luzie jein wie
fie wollte, für Fortunat paßte fie nicht.
„Armer Freund!” flüfterte fie jehr traurig vor
ih bin; denn daß fie ihn fiher und auf immer
verloren hatte, das wußte fie genügend.
Als Heelen zum Frühfltüd fam — er that es
in legter Zeit wieder pünftliher, denn Eva mahnte
ihn daran — legte fie jhweigend bie Karte neben
feinen Teller. Er griff danad und warf fie dann
mit einem jonderbaren Laut zur Seite.
„Der ift ja ganz verrüdt geworden!” jagte er
dann, und ftrich fih über das Haar und das Gelicht
wie in großer Aufregung. „Was wilft Du denn
nun machen ?”
Sie fah ihn befremdet an. „Ah? — a, gegen
mich bat er doch Feine Verpflichtungen.”
Er jah fie an.
„Der Leute wegen hat er es gethan,” jagte er
dann jharf. „Das ift unredht! Man fol nit aus
irgend welchen NRüdfjichten etwas thun, mas einen
nachher reuen könnte, und er bat ich nie etwas aus
Luzie gemacht.“
Maud ſah ihren Mann mit grenzenloſem Er⸗
ſtaunen an.
IV. 61
Ter neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten:
Ein doppeltes Ich.
Roman
Unter den Borsia.
Roman
Richard Boh.
uwaa wi Ye Br WE HAND ÄNGE WERE KETTE SE ARTEN ANDALE TEN FR ——— — ——— — ö —
S Möhenfroſt, oma on Garl "Bulle =.
EDER EB — — — * ee — —— — — — — — — ESA A BG a a EEE WAL ANTEERERETE EBRUETE BITTE
Intriganten. Die Fremde.
Hiſtoriſcher Roman Roman
von
Hermann Heiberg.
von
Hans Wachenhuſen.
: Am Ende von Alt:-Berlin.
Diftoriicher Noman
von
Fedor von Zobeltitz.
— — — — —
Ohne Liebe.
Roman
von
Bruno Garlepp.
von
E. od Wald-Zedtwitz
“
Schloß Geisberg.
Roman
Wendepunkte,
Roman
von
A. Horden.
(R. Hinnius.)
von
Iofefine Gräfin Hdwerin.
USA. IEN
EUGENE!
Nomane von H. Scobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, jo day wir unferen Yelern eine Ab-
werhslung bieten, die von feiner anderen Zeitichrift erreicht wird.
Das B eiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer
Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialisſsmus
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſähe bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren
Yelern Defamm, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen.
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeitung.
Berlin, Anhaliſtr. 11.
Verantwertliger deiter: Otto von Leixner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckrei-Aktien⸗-Geſellſchaft
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗Vereinß).
Deutſche
—1896.
ämter nehmen dafür Beſtellungen an.
beziehen.
Roman-Zeitung.
Erjcheint wöcentlih zum Preife von 3% M vierteljährlih. Alle Buhhandlungen und Bolt
Durd) alle Buchhandlungen aud) in Monatsheften zu
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober.
Ne 52.
Art zu Art.
Roman
von
H. Schobert.
(Schluß.)
Einunddreißigſtes Kapitel.
Wie lang iſt eine ſchlafloſe Nacht!
Es ift, al& wäre fie allen Geiftern der Finfter:
nis preisgegeben, die fih hohnladhend beeilen, ihre
Beute zu peinigen. Maud freute fi faft, als das
erite Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber.
Aber auch der Tag behnte fi jo endlos lang und
monoton, troßdem fie fich fieberhaft bemühte, bie
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. €& ge
lang ihr nidt.
Bon Fortunat fam feine Nachricht.
Trogdem war fie ruhiger geworden, fie fühlte
beitimmt, er würbe nichts thun, was ihr das Leben
noch erihmweren Tönnte, und Trennung hatte fie ja
jelbft gewollt. Nun es aber entjchieben war, fehlte
er ihr überall. Daß fie ihn jo vermillen könnte,
hätte fie niemals gedadht. — Bejuhe made fie
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriih, daß
fie ih von allen zurüdhielt, bis — nun, bis man
entweder ihr wieder entgegenfam, oder bis Fortunat
imftande war, fie auf irgend eine Art zu rehabili-
tieren. Freilid war fie weltllug genug, um zu
wiflen, daß es nichts Schwereres giebt, ala eine ver:
Iorene Bofition mwiederzugewinnen, daß fich felbit die-
jenigen Menfchen, die fich für großherzig oder drift-
lich gefinnt halten, jcheuen, die erften zu fein, bie
einen Srrtum befennen und wieder gutmaden.
Aber troß ihrer Einjamleit, troß ihrer trüben
Gedanken verging au der Tag, und ber folgende
bradte ihr Nadhridht von Fortunat.
Sie fühlte jhon durh das Couvert hindurch
eine Ddide Starte, und ungeduldig riß fie den Um:
Ihlag auf.
Luzie Quenjel
Alerander Fortunat
erlobte.
Roman-geltung 1896. Liel. 52.
ftand darauf; und auf der Nüdfeite in feiner fait
weiblich zarten Handicrift: „Ich babe mein Wort
gehalten; Sie find jegt entjündigt.” —
Maud ftieß einen Schrei aus.
„Das babe ich nicht gewollt,” jagte fie heftig,
mit dem Fuß aufftampfend, in emporwallendem Ärger.
„Das ift thöriht! Er hat fein ganzes Leben mit
diefer Handlung zerftört.”
Dann fegte fie fi, die Karte in ihrem Schoß,
und verfuchte fi alles möglihft Harzumaden.
Standen ihre Chancen dbadurdh befjer? Sie
glaubte es faum. ebenfalls mußte er jein ganzes
Leben hindurch für den Heroismus büßen, der ihn
zu biefem Opfer getrieben. Mochte Luzie jein wie
fie wollte, für Fortunat paßte fie nicht.
„Armer Freund!” flüfterte fie jehr traurig vor
ih Hin; denn daß fie ihn ficher und auf immer
verloren hatte, das wußte fie genügend.
Als Heelen zum Frühltüd Tam — er that es
in leßter Zeit wieder pünktliher, denn Eva mahnte
ihn daran — legte fie jchweigend die Karte neben
feinen Teller. Er griff danad und warf fie dann
mit einem jonderbaren Laut zur Seite.
„Der ift ja ganz verrüdt geworden!” jagte er
dann, und ftrih fi) über das Haar und das Gelicht
wie in großer Aufregung. „Was willit Du denn
nun machen ?”
Sie jah ihn befremdet an. „Ah? — Ya, gegen
mich bat er doch feine Verpflichtungen.”
Er jah fie an.
„Der Leute wegen bat er es gethan,” jagte er
dann jcharf. „Das ift unredht! Pan fol nit aus
irgend weldhen Rüdfichten etwas thun, mas einen
nachher reuen fönnte, und er bat fich nie etwas aus
Luzie gemacht.“
Maud jah ihren Mann mit grenzenlojem Er:
ftaunen an.
iv. 61
—
867 Art zu Art.
„Meintt Du?” fragte fie wie abweiend. Und
dann fih befinnend, „Du jollit die Wahrheit hören,
zino. Er bat einen anonymen Brief befommen,
der feinen Verkehr mit mir verbädtigte — in ben
Staub 309. — Durd diejen Schritt bat er meine
Ehre wiederberitellen wollen.” —
Sie hatte zulegt jehr erregt geiprochen. SYhre
Wangen brannten.
„Das war jehr überflüffig,” jagte Heelen und
balancierte ein Mefjer auf feiner Fingeripige. Diefe
Ruhe empörte fie.
„Wenn Du den Brief nur gelejen bätteft!”
„St nicht nötig; ich Tenne feinen Inhalt.”
Sie Jah ihn maßlos erftaunt an.
„Was joll das heißen, Tino!“
„Man bat mir wohl denjelben zugejhidt.”
„Dirt?!" Sie jprang auf und trat Dicht neben
„Und Du haft nichts gejagt?“
„Wozu? fragte er, ohne fie anzufehen. „Ach
babe ihn verbrannt.”
Einen Augenblid drüdte fie die Hände gegen
die Augen.
„zino!” jagte fie leife,
dem Gehörten.
Er lächelte, ein ganz Klein wenig. Dann ent:
gegnete er:
„Sa, fiehit Du, der Bauer hat feine eigene
Moral! ZH bin Euch mit feinem Gedanken zu
nahe getreten. E3 Lonnte ja gar nicht anders
fommen, als wie ed nun aud gelommen ift.”
Sie war ganz verwirrt, betroffen, außer fid.
Etwas wie Scham durdhaudte fie und wie eine Ab:
bitte lag in ihrem Blid. Xeije legte fie ihren Arm
um feinen Hals.
„Tino!“
Er ſchob ſie nicht unfreundlich, aber unwider—
ſtehlich von ſich.
„Laß es gut ſein, Maud,“ ſagte er in ſeiner
ruhigen Art. „Das taugt uns nicht.“
Beſchämt ging ſie von ihm und ſetzte ſich in
ihren mit Blumen dekorierten Erker.
Noch an demſelben Nachmittag wurde ihr das
Brautpaar gemeldet. Luzie kannte ſich gar nicht in
ihrer triumphierenden Freude. Trotzdem glitten ihre
Blicke unabläſſig ſuchend, ſpürend von einem zum
anderen. Und jedesmal, wenn ſie glaubte, daß über
Mauds Geſicht ein Schatten flog, fand ſie Ge—
legenheit zu irgend einer demonſtrativen Zärtlichkeit
für ihren Bräutigam, der ſtill und blaß daneben
ſaß, kaum ein Schatten des luſtigen Fortunat von
ehemals.
Luzie war klug genug, die Gründe, die ihn in
ihre Arme getrieben, zu durchſchauen, aber das
„Warum“ war ihr, bei ihrem Charakter, ziemlich
gleichgültig; ſie würde ihn ſich ſchon ziehen, reſü—
mierte ſie.
Nicht ein einziges Mal bot ſich Maud Gelegen—
heit, ihm von Martins verblüffender Mitwiſſenſchaft
zu ſprechen, nicht ein einziges Mal gelang es ihm,
ihr Einverſtändnis wenigſtens durch einen Blick zu
erhaſchen. —
ihn.
ganz überwältigt von
Roman von H. Schobert.
868
a fie gegangen, fuhr fi Maub mit dem
Taſchentuch über das Geſicht.
„Welh eine Dual,” fagte fie laut. „Weld
eine namenlofe Dual!”
Sie fühlte genau, daß fie ihn lieber an jede
andere verloren hätte, als an diefes Mädchen, Die
fih zwilhen jedes Wort, jeden Gedanken drängen
würde, die ihn fich jchließlich ganz zu eigen maden
würde . Das Ungelannte wäre barmberziger
geweien, e8 lieh dem Kernen noch einen Nimbus —
ließ dem Zurüdbleibenden noch eine Hoffnung .. .
diefer Brautitand aber tötete alles.
Sie riß und zerrte an ihrem Spißentuch, während
fie im Zimmer auf und ab lief. Das Herz 309 ich
ihr zufammen in richtiger, echter Eiferfudt. Was
hätte fie darum gegeben, dies Verhältnis ungejchehen
zu maden! —
Am nädhften Tage fuhr die amerifaniihe Ge:
fanbdtin vor.
Als fie gegangen, lächelte Maud eigen vor jich
hin. hr jchien es, als hätte fie etwas zu hoch ge:
ſchätzt, weit über ſeinen Wert bezahlt, das ſich nun,
im Grunde genommen, als etwas recht Gering—
fügiges erwies.
Was galten ihr auſ einmal alle dieſe Leute,
nun ſie Fortunat verloren!
Zweiunddreißigſtes Kapitel.
Ein paar klare, ſonnige Tage noch, ehe der
Winter kam.
In dem Gärtchen, das Heekens gehörte, ging
Eva zwiſchen den ſterbenben Blumen, den welkenden
Blättern. Sie war die einzige, die oft hierher kam,
die im Sommer gepflanzt und gegoſſen hatte und ſich
im ſtillen ihrer Lieblinge freute.
Auf dieſem Fleckchen Erde fühlte ſie ſich jetzt
am heimiſchſten, denn droben lag eine ſo drückende
Schwüle über allen Bewohnern des Hauſes, daß es
Eoa manchmal den Atem nahm.
Oder ging das nur von ihr aus?
So lange ſie lebte, hatte ſie wohl noch nicht ſo
viel gegrübelt wie jetzt, der Kopf that ihr ordentlich
weh davon, aber das Reſultat blieb immer dasſelbe,
ſo ſehr ſich ihr Herz auch dagegen wehrte. Es war
eine Sünde, einen verheirateten Mann zu lieben,
und ſie mußte dieſes Gefühl ausrotten mit Stumpf
und Stiel, wollte ſie ein rechtſchaffenes Mädchen
bleiben.
Daß es der Martin war, that nichts zur Sache.
— Wenn nur wenigſtens ein Kind dageweſen wäre,
ein kleines, unſchuldiges Geſchöpfchen, an das ſie ihr
Herz hätte hängen können, das dem Vater geglichen,
und auf das ſie allmählich ihre tiefe Liebe hätte
übertragen können, aber ſo blieb ihr nichts. — Seine
Mutter, das war doch etwas ganz anderes, und ſeine
Frau — vor der fürchtete ſie ſich von Tag zu Tag
mehr, um ſo mehr, je erfolgloſer ſie bisher gegen
ihre Liebe gekämpft hatte.
In ihre Gedanken verſenkt, ſtand ſie vor dem
869 Art zu Art.
Georginenbeet und jah auf die hängenden Köpfe der
Blumen, ohne doch etwas zu fehen. Sie hörte aud
nicht, daß jemand den jchmalen Weg binter ihr ber:
fam, angelodt durch das helle Kleid, das er hatte
von weiten fchimmern jehen.
Dicht Hinter ihr Ichlang er plöglich einen Arın
um ihre Taille, die eine Hand dedte er auf ihre Augen.
Mit einem Schredensiärei fuhr fie zufammen.
„Martin!” fagte fie dann zitternd, bemüht, bie
Hände fortzufchieben.
Es gelang ihr nicht, vielmehr bog er ihr faft
gewaltiam den Kopf bHintenüber und fuchte ihre
Lippen zu erreichen.
Ein Geruh von Cigaretten und Parfün ftieg
ihr in die Nafe. Das war nit Martin, und in
demjelben Augenblid hatte fie ihre Körperfräfte, bie
vorher zu verlagen drohten, wieder.
Mit einem Rud rviß fie die Hand von ben
Augen und jah in Emil Quenjels rotes, gieriges
Geſicht.
„Nicht ſchreien, ſchöne Eva!“ flüſterte er ihr
heiſer in das Ohr. „Nur einen Kuß — einen ganz
kleinen Kuß.“
Zornige Röte überflammte ihr Geſicht.
„Gehen Sie weg, Herr — laſſen Sie mich in
Ruhe,“ gebot ſie mit blitzenden Augen.
„Das glaubſt Du doch ſelbſt nicht, daß ich ſo
dumm ſein werde,“ gab er brutal zurück. „Ich bin
froh, den ſcheuen Vogel einmal gefangen zu haben.“
Und er drückte ſie an ſich mit aller Kraft.
Eva biß die Zähne zuſammen und ſetzte ſich
zur Wehr.
Sie rangen miteinander, lautlos; immer
heftiger, immer leidenfchaftliher. Das Mädchen im
Zorn, der Mann in heißen Begehren. Mit einer
Hand fjtemmte fie jich gegen feine Bruft, aus ihren
Augen bligte es, halb verädhtlih, halb höhnilch.
„zallen Sie mid in Ruh’, Herr,“ fagte fie
etwas undeutlih von dem Schred, „oder... .“
„Dder Du rufit Deinen Liebften — den Martin,”
vollendete cr böhniih, denn ihr Widerftand er:
bitterte ihn.
„Und wenn ih es thäte!“
Die bligenden Augen, die wogende Brujt Iprachen
deutlicher von ihrer Erregung als die Stimme, aber:
fie madten Emil noch viel unvorfichtiger.
„hu es nicht,” jagte er höhniih. „Der Martin,
der bat eine Frau — das Fönnte Dir jchlecht
bekommen.“
Statt aller Antwort bog fie fih in feinem
Arm zurüd.
„Martin!“ rief fie bel und laut. „Martin!“
— Diefer da jollte nicht glauben, daß fie irgend
etwas zu Icheuen hätte.
Beinahe hätte Emil „dummes Frauenzimmer”
gerufen, aber er befann ji noch zur rechten Zeit;
nur ohne einen Kuß follte fie ihm icht erit recht nicht
davon kommen, ehrenhalber nidt. Und er riß fie,
die fih jet geborgen wähnte, an fih und drüdte
jeine Lippen auf ihren purpurnen Mund.
Auf einmal fühlte jih Emil Duenfel am Kragen
gepadt, und ehe er noch mußte wie ihm geidhah, lag
Roman von 9. Schobert.
870
er mitten im Georginenbeet. „Zump — elendiger!”
jagte Martin verähhtlid. „Läßt Du mir gleich das
Mädel in Ruh!“
sn diefem Augenblid late Eva laut auf, als
fie ihren Gegner mitten unter den Blumen am
Boden liegen jah, fte konnte fich nicht helfen, und
Emil hatte jelbit das Gefühl, als ob er diejen beiden
Naturkindern gegenüber feine glänzende Rolle fpiele.
Auh Martin lachte, aber er lachte grimmig und
verädhtlih, jo als wäre es nicht ratiam, ihm nod
lange vor Augen zu bleiben. „Daß Du Di nit
unterfiehft und mein Haus noch mal betrittft,” fagte
er. „Wir zwei find fertig miteinander.“
Und Emil mußte vor diefen beiden Menden,
die ihn verächtlich wie einen Hund behandelten, auf:
fteben, die Erde von feinem Rod abflopfen und den
Garten verlafien. Seine Eitelfeit krümmte ſich, er
biß die Zähne zufammen, daß fie Inirihten. Wut
und Race lebten in ihm.
Wie konnten fich diefe beiden erfrechen, ihn fo
zu behandeln! Dieje beiden Schulbigen, die er
\hließlih in der Hand hatte!
Und al® er nun aus dem Garten ging, da
hörte er noch einmal Evas Lachen hinter fid.
O, fie jollte no blutige Thränen weinen, ba:
für wollte er fchon jorgen! —
Aber Evas Lachen verftummte bald, als ber
Berhaßte verlhwunden war, jcheu jah fie auf.
„Gott, Martin — er ift ein jchlechter Kerl, das
verzeiht er Dir nicht.”
Heelen lachte.
„Er fol eg aud gar nicht, Ev’! Den bin ich
boffentlih los. ch habe genug von der Sorte! O,
ih wünfchte, ich Fönnte jo alles loswerden. Alles!” —
Aber Evas befümmertes Geficht hellte fich nicht
auf. „Mir ift angft, Martin!” — Und plößlich
die Hände ineinanderfaltend, flehte fie mit feuchten
Augen: „Laß mih gehen — nah Haufe — in
einen andern Dienft — mir ift, als wenn ich mit
Gewalt fort müßte!”
Er ja) jie traurig an.
„IH Tann Dich ja nicht halten, Ev’! — Daß,
wenn Du geht, fein Menjch mehr da ift, der für
mich forgt, Feiner, der mir zur Freude ift, das braucht
Dich ja nicht weiter fümmern. Alfo geh nur.” Er
wandte fih ab, fie verjhludte ihre Thränen mit
aller Kraft.
„Nein,“ Yagte fie baflig, „das Jolft Du nicht
lagen können, Martin, daß ich jo undankbar wäre —
— ich Dir von Nutzen bin — dann bleibe ich
gewiß ...“
Sie ſtanden im Atelier. Heeken ſah zum
Fenſter hinaus und drehte ihr den Rücken, er wandte
ſich auch jetzt nicht zu ihr.
„Wenn es Dir aber ein Opfer wäre — das
will ich auch nicht, Ev'.“
Trotz ihres Kummers, ihres Schreckens vorhin,
mußte ſie wieder lachen.
„Ein Opfer, daß ich bei Bir bleibe, Martin?
Rede doch nicht foldhen Unfinn — wo Fönnte es mir
wohl befjer gefallen als hier bei Dir — aber —” fie
ftotterte ... . was fie jet ausfprechen wollte, blieb
871 Urt zu Art.
doch wohl lieber verjhwiegen — wie jollte er es
deuten, daß fie vor ihm floh, wenn er nicht ber
Wahrheit nahe kam.
„Ih wollte Dir au noch danken für vorhin,“
fagte fie haftig, wijchte die Hand an der Schürze ab
und reichte fie ihm. „Wenn Du nicht Ddazuge:
fommen wärft — lange hätte ih mich nicht mehr
wehren können.”
Sr berührte ihre Hand nur flüdhtig, jein Ge:
fiht war finfter.
„Keine Urfahe!” erwiberte er kurz.
Sie ging hinaus, über feine plögliche Unfreund:
lichleit grübelnd; und er fah fie wieder vor ji) in
Emils Arm, fie, die er fich nicht einmal zu berühren
traute, und ber Born ftieg ihm nod einmal bod).
Er ballte die Fäufte und ftieß halblaute Ber:
wünjhungen aus.
Dreiundbreißigftes Kapitel.
Daß der Brautftand zwifchen Fortunat und Quzie
große Freuden für erfleren barg, Tonnte niemand,
ber tiefer hineinjah, behaupten. E8 gab wohl feinen
zerftreuteren, niebergebrüdteren Bräutigam als Xer,
und alle Zärtlichleiten feiner Braut waren nicht
imftande, ihn aufzubeitern, im Gegenteil machten
fie gerade ihn immer zurüdhaltender.
Sm geheimen meinte Xuzie viele zornige
Thränen, fie zermarterte ich den Kopf, auf welde
Weile es ihr gelingen werde, das Herz desjenigen,
der ihr nun bald auf der Welt am nächften ftehen
follte, auch für fich zu gewinnen, allein es blieb alles
fruchtlos. Fortunat merkte gar nicht, daß fi) Luzie
neben ihm faft verzehrte, nur eins fam ihm täglich
deutlicher zum Bemwußtjein, daß fie fih mit aller
Kraft jeder Annäherung an das Heelenihe Haus
wiberfegte. Bald fcherzhaft, bald piliert wußte fie
jeden ferneren Befuch zu vereiteln, denn fie empfand
in Maub das eigentlihe Hindernis ihres Glüdes.
Eo fah denn Fortunat mehr und mehr die Hoffnungen
Ihmwinden, die er fih auf ein allmähliches freund:
Ihaftliches Zujammenleben gemadt hatte, nun er
der Welt den Stein des Anftoßes in jeiner unge-
bundenen Berfon aus dem Wege geräumt hatte.
Se Harer er fi darüber wurde, daß Himmel
und Erde nicht jo trennend zwilchen fie treten fonnten
als Luzies zierliche Geftalt, je unglüdlicher fühlte er
ih, je mehr drüdten ihn die Fefieln, die er fih in
falfh angewandtem Heroismus felbft angelegt.
Und wie feit ihn Luzie hielt! Da gab es fein
Entrinnen! WMandmal hatte er das unheimliche
Gefühl, als ftänden fogar feine Gedanken unter ihrer
Kontrolle.
Gelegentlih einer Hingeworfenen Bemerkung
ihrerfeits fiel ihm einmal das Prahlen ein, mit
dem fie vor einem Sahr von ihrer Toleranz geiprocdhen;
damals hatte er es ihr geglaubt, und vielleicht wirkte
die Erinnerung noch halb unbewußt nad), als er fie
jett gebeten, feine Srau zu werden. Nun mußte er
längft, daß es fich in Wirklichfeit ganz anders verhielt,
Roman von H. Schobert.
872
und er madhte fie bei einer abermaligen Weigerung,
Maud zu befuhhen, darauf aufmerkjam.
„Du folft ja allein gehen — id) verlange ja
gar nicht mitgenommen zu werden,” jagte er, und
boffelte da irgend etwas aus Brotlrume zujammen,
um nit aufjehen zu müflen. „Frau Heelen ift
ficher viel allein und wird es Dir danken.”
Sie jah ihn mit funkelnden Augen an.
„Halt Du Sehnfudht nah ihr? Möchtelt Du
etwas von ihr hören? Dann jude Dir nur einen
andern Boftillon db’amour,” fagte fie jharf. „Oder
glaubft Du etwa, ich gebe meinen Auf einer Frau
willen preis, die die Welt jo in Bann und Adt
gethban hat wie Maud?“
„Mm meinetwillen,” jegte er bitter hinzu, denn
meiftens,, wenn zwildhen ihnen das Gelpräh auf
Maud kam, fpielte Zuzie diefe Bemerkung als
Trumpf aus.
„Sei froh, daß ich das vergeilen will.”
„Du haft nichts zu vergefien,“ braufte er auf,
denn fie hatte ihn die legten Tage unerhört mit
ihrer Eiferfucht gepeinigt, fprang auf, warf den
Stuhl um und ftürmte hinaus.
„Das haft Du ja möglidft dumm gemacht,”
fagte Emil, der im Nebenyimmer gejellen hatte, hinein:
fommend zu feiner weinenden Schwelter.
„Slaubft Du, daß Ler darauf brennt, fi) von
Dir täglih ein Sündenregifter vorhalten zu laflen?
Er wird bald ergebenft danken. Papa bei jeiner
tindliden Naivität ift es jchon aufgefallen, was für
ein jonberbares Brautpaar Ahr jeid, und das will
viel jagen.“
„Ich kann es mir doch nicht gefallen Lafjen,“
ſchluchzte Luzie, „daß fein drittes Wort immer
Maud — Maud — Maud — iftl md wahr:
iheinlich fein einziger Gedanfe.”
„Wahricheinlih!” gab er zu. „Uber dagegen
giebt es kein Mittel. Geheul und Grobheit vertreibt
ihn wohl am ficheriten.“
„Du haft eben Fein Herz!” jeufzte Zuzie, aber
fie weinte nit weiter. Daß Emil redt batle,
wußte fie genau, nur konnte fie ihr Temperament
nicht immer zügeln, wenn fie fih auch nachher über
ih jelbft ärgerte.
„Übrigens hielt heute der Wagen des ameri-
taniihden Gelanbten vor Heelens Haus. Sch er:
fannte die Livree. Frau Maud jcheint fich wieder
in die Höhe zu Frabbeln.”
„D Gott, ich bafe fie!” jchrie Zuzie aus tieffter
Brufl. Was half es ihr, Fortunats Braut zu fein,
wenn fein Herz an Maud hängen blieb. Was half
ihr ihre feingelponnene Spntrigue, ihr Ehüren und
Klatihen den langen Sommer bindurdh, wenn der
Beluh der Gelandtin das mit einem Schlage ver:
nichtete.
Sie hätte in ohnmädtigem Zorn rajen können,
nahm fich aber mit allem Ernft vor, duldfamer gegen
Fortunat zu fein. Emile Worte hatten fie tödlich
erihredt, denn nichts lag ihr ferner als der Gedante,
ihren Bräutigam aufzugeben.
Nah einem Tag der Dual, des Ningens mit
fih jelber, fam er denn auch wieder, der arme
573
Fortunat, gedrüdt bei Luzies Zärtlichleiten, noch
gedrüdter bei den freundliden Worten des von ihm
hochverehrten Profelliors. Emil lag im Bett und
ließ fich nicht jehen, er wäre gefallen, hieß es.
Als einen Augenblid Zuzie das Zimmer ver:
ließ, rüdte der alte Herr jeinem jungen Schüler
ganz nahe, dann jah er ih vorfihtig um, ob aud
niemand laujche.
„Fortunat,“ ſagte er endlich eindringlid. „Es
Icheint mir, als fehlt Ihnen etwas. Sie find jo anders
als jonft — jo gebiüdt! Wenn es etwa hr Ver:
hältnis zu meiner Luzie ift, lieber Junge, was Sie
drüdt — ich wollte Jhnen nur jagen, meinetwegen
brauden Sie fi da feinen Zwang anzuthun — die
Ehe ijt nämlich etwas jehr Ernites — Schweres mit:
unter — wer fie einem tragen hilft — das will
gründlid erwogen jein. Seder paßt nicht zu
jedem ... und es it ein ganzes langes Xeben,
das man vor fich hat in Shrem Alter. — So, das
wollte ih Shnen nur jagen.” —
Er nidte ihm freundlih zu und ging hinaus,
Seinem großen, guten Herzen hatte er genug gethan.
Er wollte jeinem langjährigen Lieblingsichüler feine
moraliihe Feflel anlegen und das jollte er willen.
Fortunat dedte die Hand über die Augen.
Alfo ed gab noch eine Freiheit für ihn! Darauf
hatte er gar nicht mehr gerechnet, obgleich ihn Die
Bande, die er fich jelbit angelegt, wund bdrüdten.
Es gab noch eine Freiheit!
Aber was jollte er mit der? Sein Leben war
ja doch, jo oder jo, in jeinen Grundfeiten erjchüttert,
zerbrodhen meinte er jogar.
Und was für edle Motive ihm diejer alte
Mann, der ihm immer ein Freund und ein Vater
geweien war, unterlegte! Er jeßle voraus, daß es
Dankbarkeit gewejen, Anhänglichleit an ihn —
mußte er fi nicht eigentlich jchämen, daß es jo
ganz, ganz anders lag?
Fortunat fühlte fich bedrüdt, daß er gerade
hier zu hoch tariert worden war, wo er fich eigentlich
Ihuldig fand. Echuldig? Nein, das war e8 aud
nicht! Zuzie Hatte genau gewußt, wie e8 um ihn
ftand, aud) ohne große Erklärungen jeinerjeits. Sie
hatte ihn doch genommen. — Nun war er wohl
verpflichtet, ihr Treue zu halten, obgleich er ein ver:
fehltes Leben vor fi jah, und der Lodruf der
Freiheit durfte nicht meiter dringen als bis an
jein Ohr.
Ob fih Maud nah ihm jehnte, jo wie er id
nah ihr, oder ob fie mit ihrem etwas berben,
jelbftbeherrichten Charakter Schon mit fich fertig war?
Wer ihm das doch beantwortet hätte!
Daß ih ihr die Gejelichaft wieder näherte,
hatte er erfahren; aljo war fein Opfer nicht um:
lonft gebracht worden, jagte er fih. Was er aber
nicht erfuhr, war, daß fih Maud aus diejfer Gejell:
Ihaft gar nichts mehr madte. Sie empfand ihren Be:
judern gegenüber faft ein Gefühl von Feindjeligfeit,
denn Nüdficht auf diefe war es ja gemwejen, die fie
veranlaßt hatte, den einzigen Freund von fich zu
weilen, den fie je bejeflen. Dhne ihn jchlichen die
Tage langjam und freudlos hin; es gab jebt Feine
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
3 |
Stunde mehr, auf die fie fich freute, feine, die fie
entijhädigte für die Snhaltslofigkeit und Einjamteit
der andern. Warum hatte fie das gethban? Fühlte
fie ih wirklid nicht mutig genug zu dem Kampf
mit den Vorurteilen, jelbjt wenn man ihr jchließlich
eine Niederlage bereitet hätte? Was lag ihr eigent:
ih an al diejfen Menjchen? Sie begann ihren
Verkehr daraufhin zu prüfen und wurde immer
mutlojer. Da war niemand, von dem fie je hätte
einen Freundjchaftsdienft fordern dürfen, und der
einzige, bdefjen fie fiher war, den hatte fie jelbit
verbannt, und in eine unglüdjelige Zukunft gebegt.
Sie vergaß ganz, daß fie fich liebten. Es war
bisher alles unausgeiproden und rein zwilchen ihnen
geblieben, jo hätte es in alle Ewigfeit bleiben
fönnen. Eine Gewähr dafür waren ihre beiderjeitigen
Charaftere.
An Luzie durfte fie nun jehon gar nicht denten,
dann froh ihr etwas durch die Adern, das ihr den
Atem nahm.
Sie hatte den Wagen beftellt und war in eine
Kunftausftellung gefahren. Mehr um die Zeit tot-
zujhlagen, etwaigen Beluhen zu entgehen, als um
fih zu erbauen. Die Kunft hatte ihr, zum Dant
für ihre Begeifterung, übel mitgelpielt. Auf einem
der roten Sammetjofas fitend, jah fie auf die
Bilder an den Wänden, etwas gedanfenlos, denn
ihr fiel es unmillfürli ein, wo wohl Fortunat jeßt
jein fünne — da hörte fie fich plößlich angeredet.
„Meine gnädige Frau! ... Weld ein Zufall,
Sie hier zu Jehen!”
Sie wandte fih dem Spredhenden zu. Emil
ftand vor ihr.
„Ah, Herr Quenfel.”“
Khre Worte langen nicht jehr enthufiajtiich,
aber Emil war von Mauds Seite nie bejondere Be:
handlung zu teil geworden, er durfte es daher
dreift ignorieren. Und das that er denn aud.
„Sie geflatten do, daß ih mid zu Shnen
lege. Ein fo jeltenes Glüd muß man fefthalten. —
Und wirklih, ich bin dem Scidjal ganz bejonders
danfbar für diejes Zufammentreffen.”
Che fie etwas erwidern konnte, jaß er Jchon,
Ihlug ein Bein über das andere und ftarıte tief:
finnig auf die Bilder ringsum.
Maud Hatte ihn mit einem flüchtigen, erjftaunten
Blid geftreift, dann fich gleichgültig zurüdgelehnt,
Emil war ihr ja zur Genüge befannt.
„sh möchte Shnen etwas jagen, gnädige Frau,
und finde den Anfang nit,“ begann er nad) einer
fleinen Pauje.
Sie zwang ein fonventionelles Lächeln auf ihre
Lippen. Sm Grunde war es ihr unfäglich gleich:
gültig, was ihr Quenjel anzuvertrauen hatte. „Was
betrifft e8 denn?” fragte fie mit böfliher Kühle.
„Ras? Fragen Sie lieber wen, gnädige Frau,
und wir fommen der Sade erheblich näher.”
„Run aljo, wen!”
„Sie und meinen guten Freund Martin. Ya!
— Geftatten Sie mir, daß ih aus Freundihaft für
Gie beide ganz deutlich werde.“
„D, gewiß; wenn Sie das für nötig halten?“
„gür nötig in Ihrem Sntereije.”
Sie jah ihn nun doch etwas gejpannt an. Als
er noh ein Weilden jeinen Ladihuh nachdenklich
hin und ber tanzen ließ, fragte fie:
„Run?“
„Sie haben ein junges Mädchen in Shrem
Haufe, Eva heißt fie, nicht wahr? Sit fie zu Shren
jpeciellen Dienften da?“
„Rein; für meine Schwiegermutter, aber wirf:
lid, Herr Duenjel, ich begreife nit . . .“
„Was mich das angeht? — Natürlich nichts,
aber Sie dejto mehr, meine gnädige Frau.”
Maud Hatte fih zu ihm herumgedreht.
„Wollen Eie nicht diefe geheimnisvollen An:
deutungen laſſen und ehrlih reden?” fragte fie
beinahe ungeduldig. „Sie haben doh einen Zwed
Dabei.”
„a. Seit Wochen jhon quält es mich, ob
ih Jehweigen oder jprehen jol. Da gab Fürzlich
ein Borfal in Ihrem Garten den Ausihlag. Sind
Sie blind aus Gefinnungsvornehmheit, bin ich es
Shnen Shuldig, zu jchweigen, find Sie es aus Klug:
heit, können Sie meine Worte vergeflen.”
Maud runzelte die Stirn.
„Was heißt das?“
„Das beißt, daß Zhr Mann und dies Mädchen
in den zärtlichften Beziehungen zu einander ftehen,
daß ihnen weder hr Haus noch Ihre Perſon
heilig ift.”
Mauds Augen blikten.
„Unerhört!“ ſagte fie und preßte das Tajchen-
tuch zuſammen.
„Das ſage ich auch!“ Emil beugte ſich jetzt
ganz nahe zu ihr. Wie wohl ihm in dieſem Augen—
blick war, wo er Rache nehmen konnte an allen
dreien. „Aber Sie müſſen bedenken, gnädige Frau,
Art läßt nicht von Art. Als Sie Heeken damals
mit Ihrer Hand beglückten, war er im Herzen, trotz
ſeiner Künſtlerſchaft, ein Bauer. Das iſt er heute
noch. Das wird er bleiben ſein Leben lang. Sie,
Ihre Erſcheinung, Ihr Weſen waren gar nicht im—
ſtande, auf ſeine robuſten Inſtinkte einzuwirken, er
verhielt ſich immer ablehnend gegen Sie, und nur
Ihr Reichtum lockte ihn. Jetzt tritt eine Schöne
aus ſeinen Kreiſen ihm entgegen, derb, geſund, robuſt
wie er, natürlich, daß ſie leichtes Spiel mit ihm hat.
Um ſo mehr, da ſich alte Beziehungen von früher
hineinmiſchen. Den Menſchenkenner wundert es nicht.
Nur daß man Ihr Haus nicht rein hält, iſt der
Vorwurf, den ich ihm mache; ſo viel Ehrerbietung
muß er vor Ihnen haben. Mag er doch die Perſon
wo anders hinbringen. Hindern werden Sie nichts
können, aber auf ihre Entfernung müſſen Sie
dringen. — Das war es, was ich Ihnen ſagen
wollte.“
Sie hatte die Zähne in die Unterlippe gegraben,
ihre Bruſt wogte. Alſo betrogen —, von dem
Mann, dem ſie alles gegeben, was ſie beſaß. Uner—
hört betrogen!
Ihr Stolz wand und krümmte ſich bei dieſem
Gedanken, denn es war ein Dienſtmädchen, von ihr
bezahlt, das ſich rühmen konnte, die Liebe ihres
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
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876
Mannes zu befigen. Mel eine Demütigung! Und
daß es ihr Quenfel jagen mußte! Gerade der!
Mit Aligesichnelle fiel ihr alles wieder ein.
Heefens Drängen um Evas Kommen, jein verändertes
Weſen — Evas Schüchternheit, ja Demut ihr
gegenüber! So benimmt fi nur ein jchlechtes Ge:
wiljen. — War fie denn bisher mit Blindheit ge:
ihlagen, daß fie nichts bemerkt hatte? Mie mochte
man in ihrem eigenen Haufe über fie jpotten und
lahen! Und zu denfen, daß Fortunat .. .
„Snädige Frau,“ Jjagte Emil wieder mit
beugpleriicher Teilnahme, „ih bedaure wirklih, daß
Shnen meine Mitteilungen jo tief gegangen find.
Bei dem Eindrud, den Jhre Ehe machte, fonnte ich
das nicht vorausjegen, vielleicht hätte ich fonft doch
geſchwiegen . ..“
Sie unterbrach ihn heftig.
„Laſſen wir das, bitte! Ihre Anſchuldigungen
müſſen ſich aber doch im weſentlichen auf irgend
etwas Thalſächliches ſtützen. Darf ich darum bitten?
Da Sie ſich nun doch einmal zum Hinterbringer
ſolcher Dinge hergegeben haben, werden Sie auch
davor nicht zurückſcheuen, denke ich.“
Emil war rot geworden, ihre Worte trafen ihn
doch wie ein Peitſchenhieb, mehr noch der Ton.
Gedrückt erhob er ſich.
„Gnädige Frau, ich bedaure, daß meine Teil—
nahme für Sie mich ſo weit hingeriſſen hat — ge—
ſtatten Sie mir, mich Ihnen zu empfehlen.“
Aber Maud war aufgeſprungen.
„Nein, ſo entkommen Sie mir nicht,“ ſagte
ſie hart. „Thatſachen! Thatſachen!“ —
Sie gingen anſcheinend von einem Bild zum
andern, in Wahrheit aber erzählte Emil ſeine ſommer—
liche Begegnung mit dem Paar als Rendezvous im
Garten, das er ahnungslos geſtört hätte . .. Maud
hörte zu. — Es klang alles ſo natürlich, ſo gar nicht
zu bezweifeln, ihre Bruſt fühlte ſie immer gepreßter,
ihr Herz immer ſchwerer werden. — Nicht den Ver—
luſt ihres Mannes beklagte ſie, daß ſie ihn immer
nur äußerlich beſeſſen, wußte ſie genau, aber daß
ihr das geſchehen konnte! Ihr! Und um einer ſolchen
untergeordneten Perſon willen, das empörte ſie.
Sie hatte ihm Reichtum, Bildung, Schönheit,
gebracht, er hatte keins von allen gewürdigt, das
Mädchen aus dem Volk mußte kommen und ihn
lehren, was Liebe ſei — ihn — den Künſtler!
Daß Emil immer noch geſprochen, hatte ſie gar
nicht mehr gehört, erſt allmählich kamen ihr wieder
ſeine Worte zum Bewußtſein.
„So iſt es einmal im Leben, meine gnädige
Frau, wo Sie auch hinſehen mögen, und erſcheint
es anders, trügt eben nur die Oberfläche. — Art
zu Art. — Auch die Seelen haben ihre Sprache
und wollen verſtanden ſein.“
Sie trat ungeduldig mit dem Fuße auf.
„Art zu Art, ganz recht. Aber ein Künſtler
iſt doch wohl hinausgewachſen über beſchränkte Ver—
hältniſſe, will und kann höher hinaus, über ſich
ſelber, durch die Kraft ſeines Genies.“
Emil lächelte.
„Warum gerade ein Künſtler? Die Erziehung
— ——
877
-madht den Menihen, nicht das Genie. Wir beibe,
gnädige Frau, troß Ihrer Abneigung gegen mich,
wären ein befjeres Ehepaar geworden als Sie mit
Heelen, davon bin ich überzeugt. Diejelbe Lebens:
atmofphäre, das ift die Grundbedingung einer Ehe.”
Sie jhüttelte den Kopf. Nidht an ihn dachte
fie, aber an Fortunat. Das wäre der NRedte ge:
weſen — gewiß. Aber blind waren fie aneinander
vorübergegangen.
„Ih will nah Haufe,” jagte fie plötlich, aber
diesmal bielt er fie zurüd.
„Rein, gnädige Frau, no nit. Geben Sie
erft der Überlegung Raum. Seht würden Sie die
Sähuldigen rufen laflen und richten wollen, das
wäre verfehlt. Alle beide leugnen natürlid, denn
fie find auf eine Entdedung vorbereitet. Warten
Sie die Gelegenheit ab, überrajchen Sie fie, wenn
fie glauben, Sie find fort. Rache ijt ein Gericht,
das am beiten kalt genofjen wird.“
Er ipradh die legten Worte jo hämifch, daß ihn
Maud erjtaunt anfah.
„War dies aud
fragte fie dann.
„Ehrlich geftanden, ja!” Er zögerte nicht ein:
mal bei bdiefem Belenntnie. „Sch habe es Heelen
nie verziehen, daß er fih zwildhen Sie und mid
gedrängt hat.”
Sie zudte die Achjeln. — Und dann endlich
aß fie allein in ihrem Wagen und gab dem Kutfcher
Befehl, eine Stunde Ipazieren zu fahren. Sie wollte
ih erft fammeln. — Warum hatte fie das Gehörte
jo erfhüttert? War e8 nur Zorn und Demütigung,
oder noch etwas anderes, das fie quälte® mmer
wieder taudte der Gedanke an Fortunat in ihr auf,
an fein zerftörtes Leben, denn daß er fie noch liebte,
daran fam ihr fein Zweifel. Wie glüdlich hätte fid)
alles fügen können, wenn fie nicht eigenmächtig das
Sdidjal gelenkt hätte.
Nun es aber einmal gejchehen war, Eonnte fie
ih Teinen Vorwurf machen, mit aller Selbftver:
leugnung hatte fie die Verfuhung zurüdgemwielen —
ihr Mann dagegen . . . Eigentlich durfte es fie nicht
wundern bei jeiner nie geübten Selbftbeherrichung,
der geringen Schulung feiner Snftinkte, deshalb hatte
fie ja doch immer innerlihd auf ihn berabgejehen,
\o wenig fie fih auch davon merken ließ. Es mar
nur natürlich, daß er unterlag.
Aber da biß fie fchon wieder die Zähne auf die
Lippen, und ihr Stolz erbitterte fih, daß es gerade
jo ein unbedeutendes Mädchen fein mußte, dem fie
unterlag.
Sie begann zu überlegen, was jollte fie thun?
Shren Mann gerade heraus fragen? Er würde leugnen
— nelürlid. — Das Mädhen aus dem Haufe
weiſen? Gleih? Noch heute? Nein, Emil hatte
recht, zuerft mußte fie Gemwißheit haben. Aber die-
jelbe erlauern, eritehlen, das ging gegen ihr Empfinden,
würdigte fie vor fich felbft herab.
Wenn fie fih nur einem Menjchen hätte an:
vertrauen können, aber fie hatte niemand. —
Notdürftig ruhig kam fie endlih nad Haufe,
und eigentlich halb gegen ihren Willen ging fie in
ein Racheakt Ihrerſeits?“
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
878
das Atelier. Wenn ihr Mann da war, gab es
vielleicht doch einen Anhaltspunkt. Ihr wollte es
jetzt ſcheinen, als ſei ſeine Handlungsweiſe mit dem
anonymen Brief, die ihr zuerſt faſt imponiert hatte,
nur ein Zeichen ſeines böſen Gewiſſens, wenn —
dieſe Sorte, wie ſie ſich verächtlich zu ſich ſelbſt
ausdrückte, überhaupt ein Gewiſſen hatte!
Aber er war ausgegangen. — Aus Frau
Heekens Stube hörte ſie Evas Stimme und blieb
zögernd einen Augenblick an der Thür ſtehen.
Wenn ſie mit Eva ſprach? —
Aber die Mädchen dieſes Standes kennen ja
keine Verſchwiegenheit. Sie würde es der Diener—
ſchaft erzählen, der Alten, deren boshaft höhniſches
Grinſen ſie ordentlich vor ſich zu ſehen meinte, und
die der verhaßten Schwiegertochter ſicher den Ärger
gönnte.
Nein, das ging alles nicht. Sie mußte die Be—
weiſe in Händen haben und bis dahin ſchweigen.
Aber obgleich nur Eitelkeit und Stolz in ihr litt, es
war doch recht ſchwer zu tragen, ſo allein! — Wie
oft hatte ſie ſchon begonnen an Fortunat zu ſchreiben
und doch die Briefbogen jedesmal zerriſſen, nachdem
ſie ſich mit Schmerzen bewußt geworden, daß ſie
kein Anrecht mehr an ihn beſaß, daß ſie ihn nur
in Kolliſion mit ſeiner Pflicht bringen würde. —
Recht müde und matt, recht abgeſpannt und nieder⸗
gedrückt vom vielen Grübeln fuhr ſie eines Abends
ins Theater. Sie wollte ſich amüſieren und zerſtreuen.
Heroiſch hatte ſie bisher jedem Spionieren, jedem
Horchen widerſtanden, ſie fand es ihrer unwürdig.
Ein Zufall ſollte ihr zu Hilfe kommen, hoffte ſie,
ohne daß ſie ſich dabei erniedrigte. Heut abend war
das Stück langweilig, und im zweiten Akt meldete
ſich ihr altes Kopfleiden. War es nicht am beſten, ſie
fuhr nach Hauſe, gönnte ſich Ruhe und ging zu Bett?
Sie nahm einen Wagen; Nina mochte dem
Kutſcher Beſcheid bringen. Es fröſtelte ſie und zu—
weilen befiel ſie eine Beklemmung, daß ſie laut
atmen mußte.
„Wie elend mir doch iſt,“ ſagte ſie vor ſich
hin und deckte mit der Hand die Augen.
Endlich war ſie zu Hauſe. Seit einiger Zeit
öffnete ſie ſich meiſt die Thüre ſelbſt, es ſchien ihr
bequemer; fo auch heut. Und nun trat ſie wieder
ein in dieſe prunkvolle Einſamkeit, in der kein bißchen
Liebe, kein bißchen Gemeinſamkeit mit wohnte, und
ging haſtig, auf den dicken Teppichen unhörbar, durch
all die erhellten Zimmer bis in ihren Ankleideraum.
Er war einſam wie die übrigen. Es kam Maud
vor, als herrſche trotz aller Wärme eine froſtige
Temperatur darin, und den Mantel abwerfend, ſetzte
ſie ſich auf die Chaiſelongue. Das Gas ſurrte über
ihrem Haupt, die Uhr tickte und ihr Herz ſchlug un—
ruhig, als ginge ſie einer Entſcheidung entgegen. —
Kurze Zeit vorher, ehe Maud aus dem Theater
ungeſehen und unerwartet zurückkehrte, rief Heeken
mit lauter Stimme aus ſeinem Atelier nach Eva.
Sie ſahen ſich jetzt felten; es hatte beinahe den
Anſchein, als vermeide einer den andern, trotzdem
folgte ſie ſofort ſeinem Ruf. Es wäre ihr gar nicht
879
eingefallen, ihn warten zu lajlen oder etwa Bedenken
zu tragen. Er war eben der Herr.
Als fie eintrat, ftredte er ihr den Arm entgegen.
„Schau, Ev’, vom Hemdbärmel ift mir der Knopf
abgeiprungen, das hindert nun in der Arbeit. Willft
Du es in Drdnung bringen?”
„Ben Schaden werden wir glei Furieren,”
fagte fie, mit den prachtvollen Zähnen lächelnd, denn
der Untergrund ihrer Natur war jonnige, Jchalthaftige
Tröhlichleit, die immer fofort zum Durhbrud Fam.
Sie nahm eine Nähnadel mit langem, weißem
Faden aus dem hellen Kleid und bemädhtigte fich des
Armes. Dabei trat fie ihm ganz nahe, jo nahe,
daß das helle Blond des Haares vor ihm aufflimmerte
und ihre Schulter ihn faft berührt. Stumm unb
til ftanden fie alle beide, Eva eifrig beichäftigt,
Martin die Augen auf das Haar und ben fjchmalen
Streifen feiten, rofigen Fleijches gerichtet, der zwifchen
Kragen und Haar beraustrat, bis ihm jchwinbelte.
„So!” jagte fie und biß mit den blanten Zähnen
den Faden dur. „Der hält, Martin.” — Sn dem:
jelben Augenblid fühlte fie fih leidenichaftlich umfaßt
und an ein Elopfendes Männerberz gepreßt.
„So’!” flüfterte er nur. Und dann trafen ji
ihre Augen, ihr Kopf jant in den Naden, und ohne
Bedenten, ohne ein Zurüdweichen ihrerjeits, füßten
fie fih heiß und fchweigend. Nur das Gefühl hatte
in diefem Augenblid Macht über beide, Was Füimmerte
es fie, daß es ein Unredht, daß er verheiratet war,
fie dachten nichts, fie fühlten nihts ale nur ihre
gegenfeitige Nähe, ihre Liebe.
„So’!” — Und wieder und wieder preßten fid)
jeine Lippen auf die ihrigen, umflammerten feine
Arme ihren blühenden Leib, der fih ihm nicht entzog.
Er jeßte fi in den fofibaren, geichnigten Stuhl
und riß das Mädchen auf feine Kniee, immer nod)
Ihmweigend, und ebenfo legte fie beide Arme um feinen
Hals und jah ihm tief in die Augen. Was brauchten
fie zu reden! Daß fie fich liebten, wußten fie ja.
Und die marmornen und gipjernen Geftalten,
die er geihaffen, jahen ebenfo jchweigend auf fie
herab, und das belle Arbeitslicht überftrahlte alles
gleihmäßig, als gäbe es Fein Dunkel und feine
Schuld.
„Sieh, Martin,” jagte Eva nach einer langen
Weile, „daß es jo fommen würde, wußte ih, ich
habe Dich ja viel zu lieb dazu gehabt, al mein
Lebtag, und Du mid aud. Gelt?“
Er prebte ihren Kopf feit, feft gegen feine
Bruft, ein dumpfes Stöhnen rang fich hervor.
„Wir hätten jo glüdlich fein Tönnen, Eva!
Das verfluhte Gold hat mich geblendet! So fehr
glüdlih, Eva!”
Und wieder umfchloffen feine Hände ihren Kopf,
und wieder Füßte er fie, als könne er nit genug
befommen.
„Wäre ih Dir nicht zu gering gewejen, Martin?”
„Du!“ ſagte er, mit einem Ton fo zärtlicher
Snnigfeit, wie er ihm no niemals über die Lippen
getreten war. „Arm wollt’ ih jein — und von
allen veradhtet, wenn ih Di haben könnt’, Eva,
mein Scha.”
Art zu Art. Roman von 9. Schobert.
880
Shre Augen füllten fih mit Thränen.
„Reb’ nicht jo was, Martin. AU meine ganze
große Lieb’ zu Dir reichte ja nit aus, um Dir
das zu vergelten! . Aber vergeflen, daß Du mir das
gejagt haft, will ich nie, fo alt ich auch werde.”
„Ih will es Dir täglich fagen — jede Stunde,“
flüfterte er leidenfchaftlih in ihr Ohr.
Sie jhüttelte den Kopf, die Thränen perlten
über ihre Wangen. Hinter feinem Naden faltete fie
die Hände.
„sh wußte daß diefe Stunde käme, Martin,
wenn ich bierblieb, und ich weiß, daß alles jo
fommen wird, wie Du es willft — weil id Did)
eben allzu lieb babe — aber darum muß idy fort,
ganz fort — denn jchledt, fiehit Du, jchledht will
ich nicht werden.“
Sie Hammerte fi noch feiter an ihn an und
ſchluchzte laut auf.
„Aber ich lalle Dich nicht!” fchrie er.
„Du wirft es jelbft nicht wollen, daß ich Ichlecht
werde,” jagte fie ganz demütig.e „Du gewiß nidt,
Martin. Den? an meinen Bater und an meine
Mutter — und wenn wir aud beide den beiten
Willen hätten — kommen thät es doch, darum laß
mid gehen!” —
Er ftieß einen Laut aus, als litte er Lörperliche,
unerträglihe Dualen und bohrte feinen Kopf fait in
ihren Arm. Sie hatte vet, er wußte e8 nur zu
genau, aber fie gehen zu lafen, überftieg doch feine
Kräfte. Die ganze leidenjchaftlihe Sehniudht nad
Liebe, die ihn gequält, fein heißes Blut, alles Tehnte
ih dagegen auf.
„Du bleibft, Ev’!” fagte er beifer und padte
raub ihren Arm.
Aber fie Ichüttelte den Kopf.
„3b bin Dir viel zu gut, um Dich unglüdlich
zu maden — wenn ich auch jegt nicht einmal an
mi denke. — Du fönnteft ja Deiner Frau nicht
mehr in die Augen jehen. Für Leute wie uns,
Martin, giebt es nur gut oder jchlecht, mehr Fennen
wir nicht.”
„SH Tenne doch noch mehr — ich Tenne Dich!”
preßte er hervor. „Und ih will Dich haben.”
Gie lächelte.
„Säledt werben läßt Du mich doch nicht,” jagte
fie zuverfihtlih. „Ich Fenne Dich.“
Und wieder riß er fie an fi, und wieder Füßte
er fie leidenfchaftlih. Ihr Kopf jfank in den Naden,
fie dachte nicht mehr und fragte nit mehr, nur
der Augenblid hatte Rechte an fie. —
Auf einmal war es ihr, als durchzittere fie etwas
eisfalt; fie riß ihren Mund von dem feinen und drehte
ih um.
Unter der Portiere ftand Maub blaß und ftarr.
Nicht ein Laut Fam über Evas Lippen, wie ge:
bannt ftarrte fie nur auf die Frau, in deren Hand
e3 jegt lag, fie zu vernichten.
Auch Heelen drehte fich haftig um.
„Du!“ fagte er.
Ihre Blicke wurzelten ineinander und freuzten
fih wie zwei jcharfe Klingen.
„3a, ih!” fagte Maud langſam näherkomniend.
— —
881 Art zu Art.
„Es iſt alſo wahr, was man mir fchon lange erzählt
bat, daß Du nit Scheu trägft, mein Haus zu be:
Ihmugen. — Ich traute Dir zu viel Anftand zu —
Du haft mid) eines Beflern belehrt.” — Und fie lachte
bart auf.
Eva war vor ihr auf die Knie gejunfen, heiße
Thränen überfluteten ihr Geficht
„Snädige Frau,” ftammelte fie, und griff nad
ber jchleppenden Seibe des Kleides, die neben ihr
am Boden bing.
Mit einer Gebärde des Abicheus entriß fie ihr
Maud.
„Schaffe die Dirne hinaus,” berrichte fie ihrem
Manne zu.
Eva Iprang jäh auf.
„Eine Dirne bin ich nicht,” rief fie mit funleln-
den Augen. „Die Ehre Tann ih mir von feinem
nehmen laflen.”
Maud maß fie von Kopf bis Fuß.
„Schaffe die Dirne hinaus!” wiederholte jie
nod einmal gebieteriich.
Heelen trat zu Eva und umjchlang das zitternde,
ſchluchzende Mädchen, deren Mut jchon wieder
dahin war.
„Die Eva ift anftändig, ich leide es nicht, daß
man ihr etwas Böjes nadhlagt,” grollte er mit ge:
runzelter Stirn.
Maud lachte nervös.
„Köſtlich! Verlangſt Du wirklich diejen Kinder:
glauben von mir? Dazu bin ich allerdings nicht
imſtande. Und ich verlange — verſtehſt Du wohl,
ich verlange als Frau des Hauſes, daß morgen mit
dem frühſten dieſes — Frauenzimmer mein Haus
verläßt.“
Ihre Augen ſprühten, ein maßloſer, aber kalter
Zorn hielt ſie gepackt. Er trat ihr ganz nahe:
„Sprichſt Du von Eva Leitner? Ich wiederhole
Dir noch einmal, ſie iſt ein anſtändiges Mädchen.“
Maud ftampfte heftig mit dem Fuß auf.
„Renne Du fie wie Du mwillit, in meinen Augen
it die Geliebte meines Mannes ein verächtliches Ge:
Ihöpf, das ich hinausmwerfe.“
Zwei Schreie ertönten gleichzeitig. Der eine
fam von Evas erblaßten Lippen, den andern ftieß
Heelen aus, indem er die Fauft ballte und gegen
feine Frau zum Schlage ausholte. Aber zwei zitternde
Hände umklammerten feinen Arm.
„Um SZeju willen! Thu’ es nit, Martin!
Was weiß denn die vornehme Dame davon, wie e8
uns beiden zu Mute ift! Sch geh’ ja, wie fie be
fohlen bat.”
„Und wahrhaftig, am beiten wäre es jchon,“
fuhr Maud fchneidend fort, „wenn Deine Mutter
gleich mitginge. hr verdanfe ich dieje Stunde, das
weiß ih wohl — fie haft mid, und rädt fi für
. Wohlthaten, die ich ihr erwielen habe, in ihrer
11.“
„Und weifelt Du mir nicht auch gleich die Thür,
wie diefen beiden?” fragte Heelen mit zujammen:
geprebten Zähnen. „Das ift zwar jehr rüdjichtsvoll
von Dir, aber ich verzichte auf jede Rückſicht! Zu
diefen gehöre ih — mit bdiefen gehe ih! — Haft
Roman: Zeitung 1896.
Roman von 9. Schobert.
852
Du jemals etwas anderes in mir gelehen, als den
Bauern, den Du um feines jungen Ruhmes willen
duldeteft, ohne ihm als Menjch gerecht zu werben?
Wenn wir uns die Ntechnung aufmaden, dann glaube
ja nicht, daß ich allein nur der Schuldner bin.“
„Du haft mein Haus entehrt mit Deiner Liebelei,
genügt Dir das noch nicht?” fragte fie unverjöhnlich.
Er öffnete die Lippen, jchloß fie aber wieder.
„Seh’, Ev',“ feine Stimme Hang jo weich, jo
zärtlih, Maud überraichte diefer Laut. „Sag’ der
Mutter heut abend fein Wort, morgen paden wir
und gehen fort. Weine nicht, Mädel; Du bift braver
BR die fi vornehmer dünft als Du; ich
we
Er ftredte ihr die Hand entgegen, fie ergriff fie
laut Ihluchzend.
„O, Martin — die Shand — die Schand!”
Dann, mit einem jammervollen Blid auf Maub,
den dieje damit beantwortete, daß fie ihr den Rüden
kehrte, jchlich fie hinaus. Die Gatten waren allein. —
Maub hob den Kopf und fah ihn aufmerklfam an.
„Du wilft alfo morgen mit denen fort?”
14
„Weißt Du, was das bedeutet?”
„Ja. Scheidung. —
„Wegen der da! Der Eoa —!“ ſagte ſie mit
verächtlichem Hochmut.
Er ſah ſie an, von Kopf bis Fuß, als müſſe
er ſich jede Einzelheit an ihr gründlich einprägen.
„Ich habe ſie lieb!“ ſagte er dann einfach nach
ſeiner langen Prüfung. „Aber das iſt es nicht; wir
wären ſtill auseinandergegangen, ohne unſer Gewiſſen
zu beſchweren. So hatten wir es heut abend be—
ſchloſſen. Gegen die Liebe kann man nicht an, aber
gegen das Unrecht. — Ich wäre dann hiergeblieben
und Du hätteſt nichts erfahren. Aber Gott wollte es
nicht. — Ich wäre zu Grunde gegangen neben Dir —
warum, weiß ich nicht, aber es iſt ſo. — Siehſt Du
da den Centaur? So iſt es mir immer zu Mut
geweſen dies ganze Jahr, bis die Eva kam, da gab
es denn manchmal helle Stunden. So haſt Du mich
zuſammengepreßt und mir Luft und Freiheit ge—
nommen.“
Sie war ihm näher getreten und ſah ihn inter⸗
eſſiert an, ihr Zorn war verraucht.
„Was that ich Dir denn?“ fragte ſie erſtaunt.
„Gab ich Dir nicht alles, was Du brauchteſt, hielt
Dir die Sorgen fern, bradte Di in die Gejell-
\chaft, bildete Did — und Du fagit, ih nahm Dir
die Freiheit?”
Er atmete tief auf. „Wielleiht war es gerade
das!” Seine Hand ftrih das Haar von der Stirn,
immer aufwärts, ganz gebanfenlos. „ch weiß es
nicht, ich bin nicht gebildet genug dazu. Aber Du
hättet mid an Seele und Leib gemordet! — Sn
Ihlechte Gejelihaft fam ich, ins Trinten — Du haft
mih drum veradhtet, wenn Du au nichts fagtelt.
Aber wie mir zu Mut war, das weißt Du nit. —
Art gehört eben zu Art. Ein Mädel wie die Eva,
und ih will arm fein und arbeiten wie früher, Tag
und Naht, und doch glüdlich dabei.”
Sie nidte ein wenig vor fidh hin.
IV. 62
883 Art zu Art.
„Art zu Art,” jagte fie mit ihrer alten Über-
legenheit.. „Du magft redht haben.“
Er redte die Arme weit von fih in die Luft
hinaus.
„Frei muß ich fein! Frei! Frei!”
Sie nahm die jchillernde Seidenjhhleppe zujammen.
„Allo: der Centaur bat fi der Schlange ent:
ledigt, jo lange es noch Zeit war. Lebewohl, Tino;
morgen reden wir weiter,” fagte fie mit einem jelt-
amen Lächeln, und ging an ihm vorüber zur Thüre
hinaus. Zwilchen den Portieren wandte fie fi) nod)
einmal um.
„Wer hätte an fol ein Ende gedacht!“ ſagte
fie faft Ihwermütig. — Dann war fie fort.
Vierundbreißigftes Kapitel.
Raftlos ging Maud in ihrem Zimmer auf und
ab. Das Erlebte ließ ihr feine Ruhe. Aber je
weiter die Nacht vorjchritt, je mehr jchwand ihr Zorn,
alle empörten Gedanken.
„Art zu Art,” ang es ihr immer wieder in
den Ohren. Er hatte redht damit, als er es Jagte.
Es giebt Feine Brüden über die Abgründe, die ver:
chiedene Erziehung zwilhen den Menichen aufreißt.
Sie lönnen eine lange Zeit unbeadhtet bleiben, dann
plöglich Haffen fie wieder auf, nur durd ein Wort,
eine Anihauung aufgeriffen, die an fich vielleicht be:
langlos, doch mit greller Deutlichleit zeigt, daB es
niemals eine wahre Gemeinjamleit gegeben.
Auch ale Künftlerihaft ift machtlos dagegen.
— Vielleicht hilft LXiebe überwinden, echte, ehrliche
Liebe, wenn der eine Teil nur geben wollte, immer
nur geben... . Dieje Liebe hatte fie nicht bejellen —
aber ob fie auf die Dauer au aushalten würde,
dieje Liebe?
Maud fügte den Kopf in die Hand als fie fi
auf die Chaifelongue niederjegte. " Das ganze Leben
fam ihr auf einmal vor wie ein Labyrinth, das zu
überjehen fiy der einzelne niemals vermellen tonnte.
Wie gut hatte fie alles zu machen geglaubt!
Wie fiher war fie ihren Weg gegangen. — Und nun?
Cs war do ein Gefühl der Bitterleit, das in ihr
aufwallte, wenn fie daran zurüddadte, daß fie mit
allem, was fie gab, ihrem Manne nicht mehr gemwejen
war, als die mordende Schlange, aus deren würgen:
ber Umarmung er fich befreien oder zu Grunde gehen
mußte. Dagegen war ihm dies einfache Mädchen
aus dem Boll alles, was ihm Glüd bedeutete.
So gab es denn wirklih nur noch eins, was
ihr zu thun übrig blieb, ihn freigeben! —
Woran fie niemals gedacht hatte, als jich ihr
Herz Fortunat zumwendete, verlangte er jegt kategoriſch,
und fie fühlte, fie Hatte nicht das Recht, ihm zu
wiberitehen.
Sie fette fih Hin und jchrieb Heelen einen
langen Brief, in dem fie ihn bat, fo lange Inhaber
der Wohnung zu bleiben, bis der Kontrakt erlojchen,
ohne Scham ein Zahrgeld von ihr anzunehmen, bis
er in der Lage jei, für jeine Familie ausgiebig zu
jorgen, die Scheidung aber jogleich einzuleiten.
Roman von H. Schobert.
684
„Du wirft,“ Tchloß der Brief, „mir bei reif-
licher Überlegung recht geben, daß Du gezwungen
bit, meine Vorichläge anzunehmen. cd babe
Did eigenmädhtig aus dem Boden geriljen, in
dem Du murzelteft, und Di in Üppigleit ver:
pflanzt, die Dir ein Greuel war. Jh wußte nicht,
was ih Dir damit anthat, fondern babe es gut
gemeint. Zu verzeihen haben wir uns beide nichts,
denn Srren ift unjer menfchliches Erbteil. Gehen
wir aljo auseinander ohne Grol, und wünjchen
wir einer dem andern das Belte. ch werde mich
nad) wie vor an den Früchten Deiner Arbeit erfreuen.
Maud.“
Sie ruhte ein wenig nad biefem Brief und
ihloß die Augen, aber jhon in aller Morgenfrühe
war fie wieder auf und jchellte Nina, der fie einen
Heinen Koffer mit dem Notwendigiten zu paden befahl.
Sm Laufe des Tages jollte dann die übrige Garde-
robe in die großen Koffer weiter untergebracht werben.
Nina flugte, aber fie fragte nichts, vielleicht
ahnte fie genug, um Schweigen bewahren zu fönnen.
„Und dann Ichiden Sie mir Eva in das Wohn:
zimmer,” fagte Maud, jchon fertig angekleidet in
dunkler Reijetoilette.
Shrem blafen, überwadten Geficht Jah man es
deutlih an, daß fie nicht ohne Erjchütterung zu dem
Entfhluß gelommen war, während Martin Heelen
gerade in diefer Nacht tief und feit, ohne irgend-
welde Erregung Ihlief. Seiner robufteren Natur
waren die feineren Geelenvibrationen fremd, der
Augenblid bradte ihm den Entihluß, und jeder Ent-
IHluß die Kraft, ihn durchzuführen. Für ihn war
feine Che bereits eine abgethbane Sade, und wie
Maud und er auseinandergingen, erihien ihm ohne
Belang. —
Eva fam. hre Augen waren rot und ver:
Ihwollen vom Weinen. Sn letter Stunde hatte die
Alte zu keifen und zanten begonnen, denn die Angit
um ihr Wohlleben hatte fie gepadt. Eva brummte
der Kopf von all den Vorwürfen, die fie nun plößlich
zu hören befam. Im Grunde ließ fie das alles
ziemlich gleihgültig. — Was konnte man ihr nun
noch zuleide tun? Shre Ehre war ihr genommen,
ihre Xiebe zertreten, denn nie, das ftand in ihr feit,
durften die Gatten ihretwegen auseinandergeben.
Die Sünde durfte fie nicht auf fi) nehmen.
Die ganze Nacht lag fie grübelnd und weinenbd
wach, wie fie der jungen Frau Herz wenden fönnte,
was fie jagen jollte, um diefen unbeilvollen Entichluß
zu ändern, denn das ftand in ihr feit, fie mußte
Maud noch einmal jehen, ehe fie ging. Shre Bot:
Ihaft erichredte fie troßdem. Wie weh würde fie ihr
jegt wieder mit harten, falten Worten thun, wie
bitter weh!
Aber Mauds Gelicht jah zwar ernft, doch nicht
zornig aus.
„Kommen Sie ber, Eva,” jagte fie faft freund:
lich. „Ich habe mit Ihnen zu Iprechen.”
Das Mädchen Iehlih näher, ihr Herz war ihr
wie zerriflen.
„Sn einer Stunde habe ich dies Haus für immer
verlaflen,” fuhr Maud fort, „und Sie follen mir,
885
ehe ich gehe, das Veriprecdhen geben, bier zu bleiben
und nad dem Rechten zu fehen. Herr Heelen hat
Sie jehr lieb, ich weiß das, und in nicht zu langer
Zeit werden Sie glüdlih und zufrieden als feine
Frau mit ihm leben. Darum lege ich jebt jchon
alles Notwendige in hre Hand.“
Eva warf fi Ichluchgend vor ihr auf die Knie.
„Snädige Frau, Sie halten mid für ein jchlechtes
Geihöpf, wenn Sie es auch nicht jagen, ich fühle es
boh! — Mit dem Vorwurf fann ich aber nicht leben.
— Nichts Böfes hab ich gethan all mein lebelang —
und werde es aud nit — 0, gnädige Frau, um
meinetwillen brauchen Sie nicht von dem Martin zu
gehen! — Wir haben uns wohl lieb — aber das
fann feine Sünd’ jein, der Herrgott bat’s uns ja
felbft ins Herz gelegt — aber das ift au alles. —
Und nun geb ih — und feiner foll mehr von mir
hören... .“
Sie preßte das thränennaffe Gefiht gegen ben
Teppich; wie zerbroden lag fie da, und Wahrheit
Iprad aus jedem Wort, jeder Bewegung. Maud
wurde ftußig. Wer war denn ihr Gewährsmann
gewefen? Emil Quenfel! Der freilih ... von dem
war e8 fein Wunder, daß er alles mit feinen Augen
anfah. Plöglih that ihr das Mädchen leid.
„IH glaube Yhnen, Eva,” jagte fie eilig, fait
ohne Überlegung, und legte ihre Hand auf ben
blonden Kopf am Woden.
Eva fuhr auf.
„Sie glauben mir, gnädige Frau! — Sie glauben
mir!” — Aus ihren Augen brad) ein Zeudhten, und
impulfiv brüdte fie Maubs feine weiße Hand an
ihre Lippen.
„Und Sie bleiben nun bier?” febte fie zögernd,
hoffenb hinzu. „Ih will ja gehen — und nie —
nie — wiederlommen.”
Maub jchüttelte den Kopf.
„Setzen Sie fi her, Eva, und hören Sie mir
zu,” fagte fie ruhig. „Ih will zu Ihnen ſprechen
wie zu einer jüngeren Freundin, hoffentlich werden
Sie mid verftehen. — Eine joldhe Ehe wie zwijchen
Martin und mir, in der die Herzen nichts mitein-
ander zu thbun haben, fondern nur ein gegenjeitiger
Taufh flattfindet, kann kein Glüd in fidh bergen.
Wir beide haben es an uns erfahren. — Sch gebe
ohne Schmerz, und er läßt mich ohne Kummer geben.
Nun treten Sie an meine Stelle — und — maden
Sie es beſſer!“
Da drückte Eva beide Hände auf die Bruſt und
mit felig leuchtenden Augen jagte fie nur: „ch hab’
ihn fo lieb — fo fehr — Jehr lieb!“
Maud nidte.
„Werden Sie glüdlih!” jagte fie noch kurz,
und bann ging fie fchnell hinaus, denn etwas wie
Neid wollte fie anwandeln, wenn fie an den Reid)
tum von Gefühlen dachte, den jebt die Bruft des
einfachen Mädchens barg. — —
Sn ihrem Hotelzimmer angelangt, jchidte fie
Nina mit einem turzen Billet an Fortunat.
„I bin bier; erwarte Sie in einer halben
Stunde — aber allein — denn diesmal braude
ih Freundesrat. Maud.“
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
886
Fortunat flürzte jo eilig und aufgeregt aus
feinem Atelier fort, daß er eine fojtbare Kleine
Figur zertrümmerte, ohne barauf zu achten.
Maud im Hotel — fie rief ihn — was fonnte
nur vorgegangen jein!
Bla, außer Atem langte er endlich bei ihr an
und erfuhr das Gejchehene.
„Ih reife nun, mein lieber Freund,” jagte fie,
„bon ber morgende Tag fieht mi auf dem Wege
nad Stalien. Shre Sorge muß es fein, Martin zu
bewegen, das ausgejehte SJahrgehalt einjtweilen von
mir anzunehmen. Er tft jebt doch ein anderes Leben
gewöhnt, und ih will nidt, daß er Urlache hat,
meinen willfürlichen Eingriff in feine Eriftenz noch
nachträglich zu verwünjchen. Übrigens verfichere ich
Sie, daß er mit Eva jehr glüdlich fein wird.“
Er war im Zimmer auf und ab gelaufen, nun
blieb er plöglich ftehen und Tehrte fih ihr Haftig zu.
„Snäbdige Frau!” rief er vorwurfsvoll.
hr altes Lächeln glitt über das blafle, hübfche
Geſicht.
„Art zu Art!“ ſagte ſie faſt ſcherzend.
Da ſchlug er die Hände vor das Geſicht und
warf ſich in einen Seſſel; ſie wußte, was in dieſem
Augenblick in ihm vorging, er dachte an Luzie!
„Und Liebe zu Liebe!“ fügte er faſt flüſternd
hinzu. —
Ein beſchwerlicher Tag war's noch für beide, denn
Fortunat begleitete Maud überall hin, wo es noch
etwas zu ordnen gab. Zum Rechtsanwalt — zum
Bankier — er war ihre rechte Hand.
„Wenn ich Sie nicht hätte!“ ſagte ſie ganz ge:
rührt, und keiner von ihnen dachte an die wartende
Braut. Sie waren ſelig eines neben dem andern
nach der langen Trennung, und begehrten vom Augen:
blick nichts mehr. —
Luzie hatte gerade Geburtstag an dem Tage, der
Maud von ber Seite ihres Gatten trieb. Ihr Bräu—⸗
tigam hätte wohl daran benten können, aber neben
Maud hatte ihr Bild feinen Pla mehr.
So ging der Vormittag hin ohne eine Gratulation,
ein Seien! von ihm zu bringen, jo jehr fie aud
wartete.
„Es ift etwas palfiert,“ dachte fie und rang in
ohnmäcdhtiger Verzweiflung die Hände, obgleih Emil
late und behauptete, Fortunat babe es einfach
vergeflen. |
Am Nachmittag hatten fi) die Freundinnen zum
Kaffee angefagt und waren aufs äußerfte erftaunt,
weber den Bräutigam noch eine Gabe von ihm vorzu-
finden, fo unbefangen Zuzie au in ihrem Born
und Kummer that.
„Künftler,” fagte fie ladhend, „Künftler find
eben anbers als andere Menihen und man muß fie
mit anderem Maß meflen. Sch wette, er fit tief
vergraben in einem neuen Entwurf und weiß weder,
ob bie Sonne Icheint no ob es regnet.“
Man hatte bie Höflichkeit, zu thun, als glaube
man ihr das; im flillen dachte fich jede ihr Teil.
Und als nun gar ber legte und jüngfte Gaft eintraf
und Quzien zwilchen ben berrlichfien Gratulationen
die Verfiherung gab, joeben fei fie ihrem Bräutigam
887
mit Frau Heelen in einer Drojchle begegnet...
„denke Dir nur, in einer Droihle — nit im
Heelenihen Wagen!" da war es jo ziemlih um
Ruziens Selbftbeherrihung geichehen.
Sie fonnte nicht fort, die lieben Freundinnen
laßen ja da und beobachteten jedes Wort, jede Miene,
aber fie beihwor Emil, zu Fortunat zu fahren und
Aufflärung zu holen.
„Ih werde den Teufel thun,” antwortete er ihr,
ben Rauch Jeiner Cigarette jeelenruhig von fich blajend.
„Nachher verjöhnt Yhr Euch wieder und ich bin dann
der Geleimte, denn ein Zerwürfnis zwilchen Männern
ift immer noch ein anderes Ding als ein zanlendes
Brautpaar.”
So mußte fie denn aushalten — den ganzen
Nachmittag bis gegen Abend, Jeeliich und körperlich
auf die Folter geipannt dur ihr unausgelettes
Horhen auf irgendweldhe Nachricht zwiichen dem Ge-
Ihwäß der Freundinnen. Manchmal glaubte fie es
nicht länger ertragen zu fünnen, laut hinausjchreien
zu müflen; und die Haft, mit ber fie allen in ihre
Garderobe half, wurde jpäterhin mit manchem lachen:
ben Kommentar verleben.
Endlih war fie allein! Endlid! — Sie nahm
fih nur noch Zeit, einen Mantel umzumwerfen, dann
fuhr fie in Fortunats Atelier.
Alles til — alles duntel! —
Nah langem Warten fam die Haushälterin
endli von einem Befuh beim und ließ die vor
Furdt und Aufregung zitternde Braut, die fie ja
gut kannte, eintreten, aber auch fie hatte feine Ahnung,
wo fich ihr Herr den ganzen Tag aufgehalten, Zuzies
Fragen blieben erfolglos. Und nun faß fie hier —
wieder fiundenlang — fiebernd, halb finnlos vor Zorn
— und er fam nidt. —
Das Licht erlofch in den Häufern und Korridoren
— da endlid — endlich hörte fie feinen Schritt! —
Zujammengelnäult wie eine Kae, regungslos, blickte
fie ihm nur mit funtelnden Augen entgegen.
Er hatte keine Ahnung von ihrer Anwejenheit,
ganz in Gedanken verloren zündete er Licht an,
dann fchraf er heftig zufammen.
„zuge — Du —! Verzeib — ih hatte gar
nicht an Dich gedadt.” —
Sie jprang auf und trat dicht vor ihn.
„Das glaube ih! — Du warft ja bei ihr, die
Du liebt! — Was konnte ih Dir da gelten!“
„Ja!“ ſagte er nad) kurzem Befinnen. „Es ift
etwas Unerwartetes geſchehen. Heekens trennen fih —
ich begleitete Frau Heeken zum Rechtsanwalt und
ſorgte für alles Nötige. Sie verläßt morgen früh
die Stadt für immer. Das entſchuldigt mich wohl
heute bei Dir.“
Sie ſtampfte leidenſchaftlich mit dem Fuß.
„Nein — das entſchuldigt Dich nicht! Was
geht Dich Maud an! Zu mir gehörſt Du. — Vor
allen meinen Freundinnen haſt Du mich heut mit
Deiner Rückſichtsloſigkeit lächerlich gemacht.“
Sie begann wild und unbändig zu ſchluchzen,
er verſuchte ſie zu tröſten, obgleich ſein Herz, ſeine
Gedanken ganz wo anders waren.
„Luzie,“ ſagte er eindringlich, „glaubſt Du
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
888
denn nicht, daß ſolch ein ernſter Schritt, wie die
Trennung einer Ehe, eine Geburtstagsfeier wert iſt?“
„Was geht ſie Dich an?“ fragte ſie mit funkeln⸗
den Augen.
„Ich war ihm und ihr einmal Freund,“ ſagte
er mit bedeckter Stimme.
„Und biſt es noch! Und liebſt ſie noch, wie Du
es ſtets gethan! Ich war Dir nur Mittel zum Zweck,
um ihren Ruf wiederherzuſtellen!“ ſchrie ſie außer
ſich. „Leugne es doch, wenn Du es kannſt!“
Er ſenkte den Kopf und ſchwieg.
„Und jetzt wird ſie Dich kaufen, wie ſie ſich
damals Heeken gekauft hat,“ fuhr Luzie fort, „und
Du wirſt ebenſo bereit dazu ſein wie er.“
Da fuhr er auf mit flammenden Augen.
„Beſchimpfe die Frau nicht, die mir am höchſten
ſteht auf der Welt! Glaubſt Du, Du mit Deiner
kleinlichen, engherzigen Auffaſſung verſtehſt ſie zu
würdigen? Der Neid hat Dich immer gegen ſie blind
gemacht.“
Luzie warf ſich auf die Chaiſelongue und brach
in ſchneidendes Lachen aus.
„Der Neid? Worauf denn? — Auf ihr Geld?
Pah! Auf ihren Bauernbengel von Mann? Oder
auf Deine blöde Anbetung? Das alles habe ich ihr
nicht zu beneiden.“
„Luzie!“ ſagte er warnend, denn er ſah, daß
ſie die Herrſchaft über ſich ſelbſt verlor. Aber da
half nichts mehr.
„Manchmal glaube ich ſogar, ich haſſe Dich,“
ſagte ſie und biß die Zähne ſo feſt zuſammen, daß man
kaum ihre Worte verſtand, „denn ich weiß genau
genug, daß ich Deinen Beſitz mit meiner größten
Feindin zu teilen habe, und ich bin zu ſtolz dazu.“
„Luzie!“ ſagte er noch einmal.
O, wie er dieſe Scenen haßte, ihrer überdrüſſig
war! Faſt kein Tag verging ohne ſie.
„Ich ſehe nicht ein, warum ich mir das alles
gefallen laſſen ſoll,“ fuhr das Mädchen in demfelben
Ton fort. „Da! Du biſt frei!“
Und ſie riß den Verlobungsring vom Finger
und ſchleuderte ihn zu Boden.
Auge in Auge, ſchweigend und blaß ſtanden ſie
ſich dann eine Weile gegenüber.
„Du haſt es gewollt!“ ſagte er endlich tonlos
und zog auch den ſeinen vom Finger.
Als ſie das Funkeln des Metalls ſah, ſtürzte
ſie auf ihn zu, umſchlang ihn und preßte ihn an ſich.
„Fortunat — nein — nein! — Es war mein
Ernſt nicht!“
Er ſchob ſie langſam, aber entſchloſſen von ſich.
„Es geht ſo nicht weiter, Luzie. Ich kann das
nicht ertragen und gehe daran zu Grunde. Ein
Leben mit Dir würde geiſtiger Tod für mich werden.
Auch die Seelen müſſen von gleicher Art ſein, wenn
es Harmonie geben ſoll, und ohne ſolche iſt kein
Schaffen denkbar. Um meinetwillen muß ich mich
ſchon von Dir trennen.“
„Das iſt nicht wahr!“ Sie wiſchte Thränen
und zerzauſte Locken aus ihrem glühenden Geſicht.
„Du thuſt es um Mauds willen.“
Er ſah ſie groß und voll an.
ö ñ—ñ— —ñ—o e ú — — —— — — tt — — —h —
889 Art zu Akt.
„Und wäre es jelbft jo; wir gehören nicht zu
einander.”
Ein Zittern überlief fie und jchüttelte fie wie
einen jungen Baum der Sturmwind.
„Allo lebewohl!” |
„zebewohl! Und wenn Du es vermagft, verzeih
mir. Befler ein Eurzer Schmerz als ein langes,
gualvolles Zufammenleben.”
Sie ladte Thrill auf. An diefenm Augenblid
hätte fie ihn töten fönnen. — —
Eine Stunde Ipäter war Zuzie zu Haule und
lag in ihrem Bett. Was hatte fih nicht alles in
ben vergangenen vierundzwanzig Stunden abgefpielt!
Sie war außer fih. Gelfräntte Eitelkeit, Furt vor
bem Gerede der Leute, wütender Zorn erfüllten ihre
Seele jo jehr, daß das Füntchen echter, wahrer
Liebe, die fie einft für Fortunat gehegt, jämmerlich
darin erlojdh.
* *
*
Am nädten Morgen, als Maud die Stabt ver-
ließ, ftand auf dem Perron, in einen dunflen Mantel
gewidelt, Fortunat. Er war fehr blaß, aber jeine
Bruft atmete fo frei, jo leicht war ihm zu Mute,
daß es ihm unmwillentlihd aus den Augen ftrablte.
„Sie freuen fi wohl, daß Sie mich loswerden?”
meinte Maud jcherzend, fich aus dem Soups beugend.
Er jah fie an. — Was lag nicht alles in dem
einen Blid! Faft drängten fi ihr die Thränen in
die Augen, wenn fie bedadte, daß es doch nie —
nie, fein konnte.
„Ih bin frei — jeit geitern abend!” jagte er
baftig flüfternd. — „Wann darf ih Shnen folgen,
Maud?”
Ein heißes Rot ftieg in ihr Gefiht. Sie reichte
ibm die Hand.
„Mit dem Scheidungsdelret in der Tajche,“ gab
fie ebenjo leile zurüd.
„Und dann?”
„Dann . . .” Die Lofomstive pfilf, der Zug
legte fih in Bewegung. Maud fuhr davon, und er
blieb zurüd, aber er Jah noch ihr Lächeln, jah, daß
fie die Hand an die Lippen bob und ihm einen
Kuß zumwarf.
Wie von Engelsflügeln getragen, lehrte er in
fein Atelier zurüd. —
* *
*
Aber das alltägliche Leben machte bald feine
Rechte geltend... Schon am nädjften Tage kam Emil,
um eine Verfühnung zwilhen dem Brautpaar herbei:
zuführen. Er hatte fih das jo leicht gedacht, da er
Fortunats Charakter, der im allgemeinen jehr zur
Nachgiebigkeit neigte, genau Tannte, fcheiterte mit
feiner Million aber völlig.
Das „Art zu Art”, das er Maud gegenüber
jelbft ing Treffen geführt, richtete fich bier als eherne
Mauer gegen ihn auf, gegen die es feinen Anjturm
gab. LUnverrichteter Sache kehrte er nach Haufe zurüd,
wo Luzie rafte und tobte wie eine Wahnfinnige.
Am Abend ging dann Fortunat in aller Heimlidh-
feit zu dem alten Brofellor Duenjel, dem er nad
Roman von H. Schobert.
890
Unterrihtsihluß auflauerte. hm war das Herz fo
voll, aber der Mund Jeltiam verjchloflen.
Diefem alten, graubaarigen Manne gegenüber
fühlte er feine Handlungsmweife wie eine Schuld, weil
diefer bei jedem Menichen immer bie ebelften Motive
in Berehnung 309, ahnungslos, wie oft er fich täufchte.
Und Emil, der feinen Vater einen „unverbeflerlicen
Sspealiften” zu nennen pflegte, hatte nicht jo unrecht
mit feinem Ausiprud.
Cr fand ihn zwar ein wenig niedergeichlagen
durh den Kummer, ben jeine Tochter ohne jede
Selbftbeherrihung zur Schau trug, aber von der:
jelben ehrlihden Freundlichkeit gegen ihn — ben Ur:
beber; gerecht und mild, wie er immer zu fein pflegte.
„Wenn man alt geworden ift, fieht man das
Leben mit jo ganz andern Augen an,“ fagte er zu
Fortunat, „und bedauert nur jede Stunde, die man
ih vom Glüd nicht erobert hat. — Sch mußte es
ja längft, lieber Sohn — entihuldigen Sie, daß ich
Sie no einmal jo nenne — daß Ghnen in der
Verbindung mit meiner Luzie nicht das werben
würde, was Sie zu Ihrem Frohfinn, Ihrer Schaffens:
fraft braudden. Da ift es denn gut, wenn man |o:
bald wie möglich einen Stridy) madht und fich heraus:
rettet, Zuzies Kummer ift viel zu ungebärbdig, als daß
er jehr nachhaltig fein wird, bas tröftet mich. — Aber
nun jagen Sie mir einmal — Heelens! Wer hätte
das gedacht!”
„Sie paßten gar nicht zufammen, Herr Profeflor.”
Er fchüttelte den weißen Kopf.
„Mag ja fein — mag gewiß jein! Aber willen
Gie, lieber Sohn, ich denke, die heutige Generation
rechnet mit zu vielen Faktoren, und erit, wenn bie
ganze Summe flimmt, dann fafjen fie nach ihrem fo:
genannten Glüd. Ich meine aber nad) meiner alten
Erfahrung, al der vielen Faktoren braudt es nicht,
Liebe muß nur da fein, die alles ausgleicht, und
eine Gleichheit der Seele, die äußere Mängel über-
jehen läßt. Aber wer fragt heute noch nach Xiebe,
und wer bört auf die jo unendlih feine Sprache
der Seelen zu einander! — Ych bin manchmal recht
froh, daß ich jo alt bin und bald aus dem Leben
berausgehe, das, was noch fommt, gefällt mir recht
wenig.”
„Und Sie find mir nicht böje, Herr Profeflor?”
fragte Fortunat bewegt.
Er lächelte fein.
„Slauben Sie, meine Theorie ift nur für die
Allgemeinheit? Im befondern Fall aber, der mid)
angeht, denke ich anders? Nein, jo ift es nit. Und
weil zwilhen hnen und Quzie feine Liebe war, wie
ich fie meine, darum ift es bejler, Yhr habt das Band
zerrifien! — Sollte Shnen aber einmal doch die echte,
wahre Liebe begegnen, mein junger Freund, jollte
Shnen eine begegnen, die der Yhrigen gleichwertig
ift, danıı rechnen und fragen Sie nicht lange, dann
öffnen Sie ihr weit die Arme, denn Sie werben
das Slüd feithalten, und fommt e8 au im Kattun:
Heid mit einem Stüd trodnen Brot in der Hand.
Srgendwo haben wir Menihhen doch alle eine weiche,
tingende Stelle, die ihr Recht verlangt — oder. uns
lonft mande qualvolle Stunde bereitet.”
891
Fortunat Ichüttelte die Hand des Greijes heftig.
„Ih werde Khre Worte nie — nie vergeflen,
Herr Profefjor.”
* *
*
Nun blieb ihm no übrig, Heelen aufzufuchen.
Er hatte eg Maud veriproden, und fonderbar, jeit:
dem er fie fern mußte, für immer von SHeelen ge:
trennt, lebte auch das alte, freundichaftliche Gefühl
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem
Herzen auf.
Wie aber würde er ihn empfangen nad der
langen Entfremdung?
Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor,
Elingelte und betrat bie ihm jo wohlbelannten Räume.
Ein Hauh von Vergangenheit jchien ihm über allem
zu liegen, von Moder und Ode, benn fie, die ihm
damals alles belebt hatte, war ja fortgegangen und
hatte auch den Leinften Teil ihres MWelens mit hinweg-
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und ale er
den langen Korridor durdichritt, da hörte er pfeifen
drinnen. MWirkliches, vergnügtes Pfeifen!
Er blieb einen- Augenblid laufend ftehen —
das war wahrhaftig Martin felber!
Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals,
als feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er
in Todesangft fam, den DVerzmweifelten zu tröften.
Er fand ihn pfeifend; — und heute pfilff er
wieder. — Die Erinnerung an die Bergangenbeit
übermannte ihn plöglih, und eintretend ftredte er
ibm beide Arme entgegen.
„Martin! Mein alter Martin!”
Wie e8 dann plöglic fam, daß fie fi umarmt
hielten, wußte nachher feiner.
Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und
Fortunat mußte lachen.
Da war e8 ja wieder das aniprudslofe Woll-
bemd, wenn aud in erneuter Geltalt, und Iuftig
ftarrte ihm Kopf- und Barthaar rund um das Ge-
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu modellieren
pflegte, da bob fich wieder in den erften Anfängen
ein maffiges® Etwas empor, von dem man gleich
wußte, es müfle etwas Gewaltiges, Rielengroßes
werden.
Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie
ih etwas verlegen in die Augen.
„sh bin lange nicht hiergeweſen,“ fagte er
dann, nur um zu beginnen.
„Recht lange nicht.”
„Und Du bift wieder fleißig an der Arbeit?“
Martins Augen leuchteten.
„Und wie! Sch bin ja frei! — frei! — frei!”
Und er redte feine gewaltigen Arme in die Luft und
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?“
„Deine Frau bat mir nichts verhehlt; mit meinem
Beiftand hat fie die nötigften Schritte gethan.”
„sh dankte Dir! Du bift wirklich ein redlicher
Sreund gemwejen all die Zeit. Und wenn ih Di
mal jchledht behandelt habe... nichts für ungut,
Ler, ih war ein todunglüdlider Menich!“
„And nun?”
„Run bin ih glüdlih! Selig! Und das Leben
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
892
liegt vor mir — jo hell, daß ich mit feinem Kaifer
tauchen möchte.“
„Aber Martin, Du haft Die jegt an jchranten:
lofen Reihtum gewöhnt .
„Semwöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebradt bat er
mich beinahe. Meine Kunft hätte er mich gekoftet,
wenn ich ihn immer hätte ertragen müfjen! Mich
mich felbft hätte er zu einem liederlicden Kerl gemacht
und alles niedergetreten, was doch einmal in mir
ftedt. Der Reichtum, mein Lieber, ift ein verflucht
zweifchneidig Ding.”
„Wenn Du wüßteft, wie es mir ein ftet$ leben:
biger Vorwurf gemwejen ift, daß Du nicht glüdlich
warft!” fagte Fortunat mit gelenktem Kopf.
Martin legte ihm die Hand auf die Schulter
und rüttelte ihn ein wenig.
„Bas Tannft denn Du dafür? Yh — ich hätte
mid nicht in etwas bineinzwingen lafjen jollen, was
mir fo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte,
man gewöhnt’s vielleicht mit der Zeit! Und fie aud),
fie date: Du gewöhnft ihn dir! Was aber ein
rechter Mann ift, der bleibt bei jeiner Art — oder —
er geht zu Grunde.” Dann dem Freunde näher
rüdend, fette er im vertraulichen Flüfterton hinzu:
„Sie bat fih wohl mandmal über mich beklagt,
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mid für einen
rohen, eigenfinnigen Burjchen ..... ich weiß nicht, ob
ih es bin — ih weiß nur, daß man auf die Dauer
nicht gegen fi an fann. Den Zwang babe ich fo
gehaßt, mit dem babe ich Krieg geführt, gar nicht
mit ihr, und — Gott fei Dank, id babe ihn ab-
geſchüttelt.“
„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“
Martin atmete tief auf.
„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich
jelbft geworden. Die Welt, denk ich, ſoll noch mit
mir zufrieden ſein.“
„Wie konnten wir nur ſo auseinanderkommen?“
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt⸗
fein bes Freundes, das Fluidum, das die herum:
ftehenden Arbeiten ausftrömten, hatten wieder die alte
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als jei bie
ganze legte Zeit nicht gemwelen.
„Die Frau fland zwilden uns,” fagte Heelen
ganz felbitverfländlid. „An der maßeft Du es erft
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an der
maß auch ich mid — und hätte mich bald felbft auf:
gegeben, wenn nidt —“ er lächelte und jchwieg ein
Meilen. „Du weißt natürlich alles,“ jagte er dann.
„Ales, Martin.”
„Und mödteft nun aud die Ev’ jehen?”
Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte,
ging er zur Thür und öffnete fie weit.
„Everl, wilft Du jo gut jein und ein paar
Flajhen Bier für uns beide bringen? Denn weiter
langt es jegt nicht,” jeßte er lachend Hinzu, fich zu
Fortunat wendend. „Aber ih will arbeiten — ar:
beiten! Ich kann ja wieder arbeiten!”
Eva fam und bradte das Bier. Ihre Wangen
waren rot, und fie lachte mit all den bligblanten,
wundervollen Zähnen, während fie dem Gaft das
893
Bier eingoß. Sn ihrem Ichlichten, gewürfelten Kattun-
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber
wie eine pallende Lebensgefährtin für den Mann,
der jegt in jelbftvergejlener Zärtlichkeit den Arm um
ihre Hüfte legte.
Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen
hatte, der Sreund, der mit offenen Augen Dabei:
geitanden und zugejehen, wie wenig eins für das
andere getaugt, damals, als die feingliederige, fein:
nervige Maud an feiner Seite geitanden!
Eva jchob feinen Arm fort und fah ihn vor:
wurfspol an; noch war ihr bänglich und verwundert
zu Sinn, wenn fie das Geichehene überbadhte. Und
Martin fam ihr jo hoch vor, jo bimmelhodh neben
ihrer Leinen, beicheidenen Eriitenz.
Als fie gegangen war, fagte Heelen fchnell:
„Du braudft mir fein Wort über fie zu jagen, lein
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie
if. Weibt Du, alles jchict fich nicht für jeden...
ih glaube, ich brauche es, baß die Frau zu mir in
die Höhe fieht, nicht auf mich herab.“
Und Fortunot jchwieg aud. Die Eva in all
ihrer friihen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen
Schönheit konnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es
vor, als habe der Freund einen Edelftein fortgeworfen,
um einen fompalten Kiejel aufzuheben. Da er aber
den Edelftein gefunden, braudte er nicht böfe bar-
über zu jein.
Heelen fragte mit feinem Wort nah) ben Be
jiehungen, die zwilchen dem Freunde und feiner Frau
beitanden. Entweder interefjierten fie ihn nicht mehr,
da cr mit der Vergangenheit fo endgültig gebrochen,
oder er war zu taftvol dazu. Auch Fortunat er:
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum jeines Herzens
vermochte er nicht preiszugeben.
Dagegen madte Martin das Glüd mitteiljamer.
„Ih werde rüftig Ichaffen,” jagte er und ftraffte
das Haar rüdwärts, „niemand flört mich mehr, und
die Eva jorgt für mein Törperliches Behagen. Sieht
Du, mein Lieber, das ift doch etwas anderes als
mein damaliges Haufen in dem armjeligen Atelier,
als ih meine Gentaurengruppe Ihuf! — Nun geht
es vielleicht nicht ganz jo flink, aber mit gefräftigtem
Leib und frober Seele.“
„Du wilft das Mädchen, das Du nachher zu
heiraten gedentit, bei Dir behalten bis Du gefchieden
bit?“ jagte Fortunat erjchroden. „Aber das geht
doch gar nicht, Martin! — Die Menichen .. .”
Er ladıte auf.
„Die Menjhen!” wiederholte er in gutmütigem
Spott. „Sa, die fönnen mir fonft was! —
braudhe fie niht — ih will fie nidt — ich bin ein
freier, unabhängiger Mann. Sie Icheren mich ben
Teufel! Niemand foll meine Schwelle betreten außer
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” —
Und wieder umarmten fie fich herzlih wie in
früherer Zeit.
Schluß-Kapitel.
Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge⸗
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
894
ſchiedenen Frau Heeken ehelich verbunden habe, und
manche Nachricht fand ſpäter auch noch den Weg in
die Stadt, die Heeken nicht verlaſſen hatte.
Fortunat blieb mit ſeiner Frau im Suüden. Sein
humorvolles, trotz alledem etwas weiches Talent fand
dort den beſten Boden. Das liebenswürdige, reiche
junge Paar ſpielte dort eine große Rolle und ſehnte
ſich nicht in das kalte Nebelland zurück, nur ab und zu
fand eine der feinſinnigen Schöpfungen des Künſtlers
ihren Weg dahin, und dann konnte Heeken ſtunden⸗
lang ſchmunzelnd davor ſtehen und ſich an dem Ge—
botenen erfreuen.
Fortunats Ruf wuchs mit Recht, und ſeine
Frau hatte teil an ſeinem Schaffen, wie ſie es ſich
einſt erſehnte.
* *
%
Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in
aller Stille fi mit feiner zweiten Frau trauen ließ,
da rümpfte die Gejellichaft gewaltig die Nafe. — Ein
Dienſtmädchen! Eine Perſon, die ihm ganz ſchamlos
den Hausſtand geführt, als er mit ſeiner Frau in
Scheidung lag. Dieſe Leute waren ja einfach un—
möglich! —
Aber in den ſeltenen Fällen, wo man ihn
wirklich einmal zu Geſichte bekam, ſah der Mann
gar nicht aus, als ob er ſich etwas daraus machte.
Für ſeine früheren Bekannten hatte er ein ſchlechtes
Gedächtnis, er kannte ſie alle nicht mehr, und nie—
mand kannte ihn.
Aber er ſah ſo anders aus! Sein Außeres
wohl etwas vernachläſſigt, wenn auch niemals wieder
ſo wie zu Anfang ſeiner Carriere, dafür aber den
Kopf ſtolz getragen, in den Augen das Leuchten ab—
ſoluter Zufriedenheit und Selbſtgenügſamkeit.
Es gab eine Zeit, da munkelte man, daß es
ihm pekuniär nicht glänzend gehen ſollte, denn das
war eine Thatſache, wenn auch eine merkwürdige.
Als Mauds Gatte mußte man ſich immer erſt auf
den Künſtler beſinnen, der er doch immer geweſen,
jetzt war es der Künſtler allein, der das Intereſſe
jo wad hielt, daß man fih auch um feine Privat:
verhältnifje kümmerte.
Er mußte von alledem nichts.
Draußen vor dem Thore bejaß er ein Kleines
Haus, jehr beicheiden, nach feinen Angaben gebaut,
darin lebte er jchliht und einfach mit feinem Weibe
und drei ftrammen Buben, die in feinen Mußeftunden
um ihn berumtollen, ohne ihn zu ftören.
Aber jein Atelier ift geheiligt! — Selbfi Eva
bat nie den ehrfürdtigen NReipelt überwunden, ben
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die
dort herumſtehen.
Sjede vollendete Arbeit wird ihm ein neues Lor-
beerblatt. Er bat alles gehalten, was er veriprocdhen!
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Treu und
Slauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben,
wenn plögli diejes Genie entfliehen und ihr nur
den einfahen Gatten zurüdlaflen würbe. Seit zehn
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf
und den Kindern.
Die alte Frau Heelen ift längit tot. —
891
Fortunat jchüttelte die Hand des Greifes heftig.
„Ih werde Khre Worte nie — nie vergeflen,
Herr Profellor.”
* *
*
Nun blieb ihm noch übrig, Heelen aufzujuchen.
Er hatte es Maud verfproden, und fonderbar, jeit:
dem er fie fern mußte, für immer von Heelen ge:
trennt, lebte auch das alte, freundfchaftlide Gefühl
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem
Herzen auf.
Wie aber würde er ihn empfangen nad der
langen Entfremdung?
Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor,
fingelte und betrat die ihm jo wohlbelannten Räume.
Ein Haud von Vergangenheit Ichien ihm über allem
zu liegen, von Moder und Ode, denn fie, bie ihm
damals alles belebt hatte, war ja fortgegangen und
hatte auch den Kleinften Teil ihres Welens mit hinweg:
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und als er
den langen Korridor durdichritt, da hörte er pfeifen
drinnen. Wirkliches, vergnügtes Pfeifen!
Er blieb einen- Augenblid laufchend ftehen —
das war wahrhaftig Martin felber!
Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals,
ol3 feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er
in Todesangft fam, den Verzweifelten zu tröften.
Er fand ihn pfeifend; — und beute pfilf er
wieder. — Die Erinnerung an die Vergangenbeit
übermannte ihn plöglih, und eintretend firedte er
ihm beide Arme entgegen.
„Martin! Mein alter Martin!”
Wie es dann plößlich fam, daß fie fi umarmt
hielten, wußte nachher feiner.
Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und
Zortunat mußte laden.
Da war es ja wieder das anipruchslofe Woll-
hbemd, wenn aud in erneuter Geftalt, und Iuftig
flarrte ihm Kopf: und Barthaar rund um das Ge:
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu mobellieren
pflegte, ba bob fich wieder in ben erften Anfängen
ein malfiges Etwas empor, von dem man gleich
wußte, es müffe etwas Gewaltiges, NRielengroßes
werden.
Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie
fih etwas verlegen in die Augen.
„Ih bin lange nicht hiergewelen,” jagte er
dann, nur um zu beginnen.
„Recht lange nicht.”
„Und Du bift wieder fleißig an der Arbeit?”
Martins Augen leudhteten.
„Und wie! Ich bin ja frei! — frei! — frei!”
Und er redte feine gewaltigen Arme in bie Quft und
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?“
„Deine Frau bat mir nichts verhehlt; mit meinem
Beiftand hat fie die nötigften Schritte gethan.”
„IH danke Dir! Du bift wirklich ein reblicher
Freund gewejen all die Zeit. Und wenn ich Dich
mal j&hledht behandelt habe... nichts für ungut,
Ler, ih war ein tobunglüdlicher Menſch!“
„Und nun?“
„Nun bin ich glücklich! Seligl Und das Leben
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
892
liegt vor mir — ſo hell, daß ich mit keinem Kaiſer
tauſchen möchte.“
„Aber Martin, Du haſt Dich jetzt an ſchranken⸗
loſen Reichtum gewöhnt.
„Gewöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebracht hat er
mich beinahe. Meine Kunſt hätte er mich gekoſtet,
wenn ich ihn immer hätte ertragen müſſen! Mich —
mich ſelbſt hätte er zu einem liederlichen Kerl gemacht
und alles niedergetreten, was doch einmal in mir
ſteckt. Der Reichtum, mein Lieber, iſt ein verflucht
zweiſchneidig Ding.“
„Wenn Du wüßteſt, wie es mir ein ſtets leben⸗
diger Vorwurf geweſen iſt, daß Du nicht glücklich
warſt!“ ſagte Fortunat mit geſenktem Kopf.
Martin legte ihm die Hand auf die Schulter
und rüttelte ihn ein wenig.
„Was kannſt denn Du dafür? Ich — ich hätte
mich nicht in etwas hineinzwingen laſſen ſollen, was
mir ſo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte,
man gewöhnt's vielleicht mit der Zeit! Und ſie auch,
ſie dachte: Du gewöhnſt ihn dir! Was aber ein
rechter Mann iſt, der bleibt bei ſeiner Art — oder —
er geht zu Grunde.“ Dann dem Freunde näher
rückend, ſetzte er im vertraulichen Flüſterton hinzu:
„Sie hat ſich wohl manchmal über mich beklagt,
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mich für einen
rohen, eigenſinnigen Burſchen ... ich weiß nicht, ob
ich es bin — ich weiß nur, daß man auf die Dauer
nicht gegen ſich an kann. Den Zwang habe ich ſo
gehaßt, mit dem habe ich Krieg geführt, gar nicht
mit ihr, und — Gott ſei Dank, ich habe ihn ab—
geſchüttelt.“
„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“
Martin atmete tief auf.
„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich
jelbft geworden. Die Welt, denk ih, jol noch mit
mir zufrieden fein.”
„Wie konnten wir nur jo auseinanderlommen?”
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt:
fein des Freundes, das Fluidum, das die herum:
ftehenden Arbeiten ausftrömten, hatten wieder die alte
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als jei die
ganze leßte Zeit nicht gewejen.
„Die Frau ftand zwilhen uns,” fagte Heelen
ganz felbftverftändlid. „An der maßeit Du es erit
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an ber
maß auch ich mich — und hätte mich bald jelbft auf:
gegeben, wenn nit —” er lächelte und jchwieg ein
Meilen. „Du weißt natürlich alles,“ fagte er dann.
„Alles, Martin.”
„Und mödteft nun aud die Ev’ jehen?”
Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte,
ging er zur Thür und öffnete fie weit.
„Everl, wilft Du jo gut fein und ein paar
Flafhen Bier für uns beide bringen? Denn weiter
langt es jegt nicht,” fjeßte er lachend hinzu, fich zu
Fortunat wendend. „Aber ih will arbeiten — ar:
beiten! ch Tann ja wieder arbeiten!“
Eva fam und bradte das Bier. Ihre Wangen
waren rot, und fie late mit all den bligblanten,
wundervollen Zähnen, während fie dem Gaft das
893
Bier eingoß. An ihrem jchlichten, gewürfelten Kattun-
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber
wie eine paflende Lebensgefährtin für den Mann,
der jegt in jelbitvergeljener Zärtlichkeit den Arm um
ihre Hüfte legte.
Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen
hatte, der Freund, der mit offenen Augen dabei-
geftanden und zugejehben, wie wenig eins für das
andere getaugt, bamals, als die feinglieberige, fein:
nervige Maud an feiner Seite geitanden!
Eva job feinen Arm fort und jah ihn vor:
wurfsvoll an; noch war ihr bänglich und verwundert
zu Sinn, wenn fie das Gejchehene überbadte. Und
Martin fam ihr jo hoch vor, jo bimmelhodh neben
ihrer Lleinen, beicheidenen Erilten;.
Als fie gegangen war, jagte Heelen jchnell:
„Du braudft mir fein Wort über fie zu jagen, fein
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie
iſt. MWeibt Du, alles jchict fi nicht für jeden...
ih glaube, ich braudhe es, daß bie Frau zu mir in
die Höhe fieht, nicht auf mich herab.“
Und Fortunat fhwieg aud. Die Eva in all
ihrer frifhen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen
Schönheit Tonnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es
vor, als habe der Freund einen Ebdelftein fortgeworfen,
um einen lfompaften Kiejel aufzuheben. Da er aber
den Edeljtein gefunden, braudte er nicht böje bar:
über zu fein.
Heelen fragte mit feinem Wort nah den Be
ziehungen, die zwilchen dem Freunde und feiner Frau
beitanden. Entweder interellierten fie ihn nicht mehr,
da er mit der Vergangenheit jo endgültig gebrochen,
oder er mar zu taltvol dazu. Auch Fortunat er:
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum feines Herzens
vermochte er nicht preiszugeben.
Dagegen madhte Martin das Glüd mitteilfamer.
„Ih werde rüftig jchaffen,“ jagte er und ftraffte
das Haar rüdwärts, „niemand flört mic) mehr, und
die Eva jorgt für mein Zörperliches Behagen. Siehit
Du, mein Lieber, das it doch etwas anderes als
mein dbamaliges Haufen in dem armijeligen Atelier,
als ic meine Centaurengruppe jhuf! — Nun gebt
es vielleicht nicht ganz jo flink, aber mit gefräftigtem
Leib und frober Seele.“
„Du wilit das Mädchen, das Du nachher zu
heiraten gedentit, bei Dir behalten bis Du gejchieden
bit?“ jagte Fortunat erjchroden. „Aber das geht
do gar nicht, Martin! — Die Menichen... .”
Er ladıte auf.
„Die Menjchen!” wiederholte er in gutmütigem
Spott. „Sa, die fönnen mir fonft was! —
braude fie nidt — ih will fie nicht — ich bin ein
freier, unabhängiger Mann. Sie Iicheren mich den
Teufel! Niemand fol meine Schwelle betreten außer
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” —
Und wieder umarmten fie fih berzlid wie in
früherer Zeit.
Schluß-Kapitel.
Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge⸗
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
894
ſchiedenen Frau Heeken ehelich verbunden habe, und
manche Nachricht fand ſpäter auch noch den Weg in
die Stadt, die Heeken nicht verlaſſen hatte.
Fortunat blieb mit ſeiner Frau im Suüden. Sein
humorvolles, trotz alledem etwas weiches Talent fand
dort den beſten Boden. Das liebenswürdige, reiche
junge Paar ſpielte dort eine große Rolle und ſehnte
ſich nicht in das kalte Nebelland zurück, nur ab und zu
fand eine der feinſinnigen Schöpfungen des Künſtlers
ihren Weg dahin, und dann konnte Heelen ſtunden⸗
lang ſchmunzelnd davor ſtehen und fih an bem Ge:
botenen erfreuen.
Fortunats Ruf wuchs mit Recht, und ſeine
Frau hatte teil an ſeinem Schaffen, wie ſie es ſich
einſt erſehnte.
* *
*
Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in
aller Stille fih mit feiner zweiten Frau trauen ließ,
da rümpfte die Gejelichaft gewaltig die Nafe. — Ein
Dienitmädchen! Eine Berjon, bie ihm ganz jchamlos
ben Hausitand geführt, als er mit jeiner Frau in
Scheidung lag. Dieje Leute waren ja einfah un:
möglih! —
Aber in den jeltenen Fällen, wo man ihn
wirtlih einmal zu Gefichte befam, fah der Mann
gar nicht aus, als ob er fi etwas daraus machte.
Für feine früheren Bekannten hatte er ein fchlechtes
Gedädtnis, er Fannte fie alle nicht mehr, und nie-
mand kannte ihn.
Aber er ſah jo anders aus! Sein Außeres
wohl etwas vernadjläffigt, wenn auch niemals wieder
jo wie zu Anfang feiner Carriere, dafür aber den
Kopf ftolz getragen, in den Augen das Leuchten ab:
joluter Zufriedenheit und Selbftgenügjamteit.
C8 gab eine Zeit, da munlelte man, daß es
ihm peluniär nicht glänzend gehen follte, denn das
war eine Thatjahe, wenn aud eine merkwürdige.
Als Mauds Gatte mußte man fih immer erft auf
den Künftler befinnen, der er doch immer gewelen,
jest war es der Künftler allein, der das Intereſſe
jo wa hielt, daß man fi auch um feine ‘Brivat-
verhältniſſe kümmerte.
Er wußte von alledem nichts.
Draußen vor dem Thore beſaß er ein kleines
Haus, ſehr beſcheiden, nach ſeinen Angaben gebaut,
darin lebte er ſchlicht und einfach mit ſeinem Weibe
und drei ſtrammen Buben, die in ſeinen Mußeſtunden
um ihn herumtollen, ohne ihn zu ſtören.
Aber ſein Atelier iſt geheiligt! — Selbſt Eva
hat nie den ehrfürchtigen Reſpekt überwunden, den
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die
dort herumflehen.
jede vollendete Arbeit wirb ihm ein neues Lor:
beerblatt. Er hat alles gehalten, was er veriprochen!
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Treu und
Glauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben,
wenn plöglih Ddiefes Genie entfliehen und ihr nur
den einfahen Gatten zurüdlaflen würde. Seit zehn
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf
und den Kindern.
Die alte Frau Heelen ift längit tot. —
891
Fortunat jchüttelte die Hand des Greijes heftig.
„Ih werde Ahre Worte nie — nie vergeflen,
Herr Profeflor.”
* *
*
Nun blieb ihm noch übrig, Heelen aufzufuchen.
Er hatte e8 Maub veriproden, und fonderbar, feit-
dem er fie fern wußte, für immer von Heelen ge:
trennt, lebte auch das alte, freunbfchaftliche Gefühl
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem
Herzen auf.
Wie aber würde er ihn empfangen nad) ber
langen Entfremdung?
Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor,
Iingelte und betrat bie ihm jo wohlbefannten Räume.
Ein Hauch von Vergangenheit jchien ihm über allem
zu liegen, von Mobder und Ode, denn fie, bie ihm
damals alles belebt Hatte, war ja fortgegangen und
hatte auch den Heinften Teil ihres Wefens mit hinweg:
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und als er
den langen Korridor durchichritt, da hörte er pfeifen
drinnen. Wirkliches, vergnügtes Pfeifen!
Er blieb einen. Augenblid laujchend ftehen —
bas war wahrhaftig Martin felber!
Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals,
als feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er
in Todesangft fam, den Berzmweifelten zu tröften.
Cr fand ihn pfeifend; — und heute pfiff er
wieder. — Die Erinnerung an die Vergangenheit
übermannte ihn plöglih, und eintretend firedte er
ihm beide Arme entgegen.
„Martin! Mein alter Martin!“
Wie e8 dann plöglih Tam, daß fie fi umarmt
hielten, wußte nachher feiner.
Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und
Fortunat mußte laden.
Da war es ja wieder das anipruchslofe Woll-
bemdb, wenn au in erneuter Geftalt, und Iuftig
ftarrte ihm Kopf: und Barthaar rund um das Ge-
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu modellieren
pflegte, da bob fich wieder in den erften Anfängen
ein majfige® Etwas empor, von dem man gleich
wußte, es miüfle etwas Gemaltiges, Rielengroßes
werden.
Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie
fih etwas verlegen in die Augen.
„Ih bin lange nicht hiergeweſen,“ ſagte er
dann, nur um zu beginnen.
„Recht lange nicht.”
„And Du bift wieder fleißig an der Arbeit?“
Martins Augen leuchteten.
„Und wie! Sch bin ja frei! — frei! — frei!”
Und er redte feine gewaltigen Arme in die Luft und
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?”
„Deine Frau hat mir nichts verheblt; mit meinem
Beiftand bat fie die nötigften Schritte gethan.”
„SH dante Dir! Du bift wirklich ein redlicher
Freund gewejen all die Zeit. Und wenn ich Dich
mal jchledht behandelt habe... nichts für ungut,
Ler, ih war ein todunglüdlider Menſch!“
„And nun?”
„Run bin ich glüdlih! Selig! Und das Leben
Art zu Art. Roman von H. Schobert.
892
liegt vor mir — fo Hell, daß ich mit feinem Kailer
taujhen möchte.“
„Aber Martin, Du haft Dich jegt an jchranken-
Iojen Reichtum gewöhnt . . .*
„Sewöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebradht bat er
mich beinahe. Meine Kunft hätte er mich geloftet,
wenn ih ihn immer hätte ertragen müflen! Mid —
mich jelbft hätte er zu einem liederlichen Kerl gemacht
unb alles niedergetreten, was do einmal in mir
ftedt. Der Reichtum, mein Lieber, ift ein verflucht
zweilchneidig Ding.”
„Wenn Du wüßtelt, wie es mir ein ftets leben-
dDiger Vorwurf gemwejen ift, daß Du nicht glüdlich
warft!” fagte Fortunat mit gejenkttem Kopf.
Martin legte ihm die Hand auf die Schulter
und rüttelte ihn ein wenig.
„Was Tannft denn Du dafür? Zch — ich hätte
mich nicht in etwas bineinzwingen laflen jollen, was
mir jo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte,
man gewöhnt’s vielleicht mit der Zeit! Und fie aud),
fie dadte: Du gewöhnft ihn dir! Was aber ein
rechter Dann ift, der bleibt bei feiner Art — oder —
er gebt zu Grunde.” Dann dem Freunde näher
rüdend, jeßte er im vertraulichen Flüfterton hinzu:
„Sie hat fih wohl mandmal über mich beklagt,
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mid für einen
toben, eigenfinnigen Burjen ..... ich weiß nicht, ob
ih es bin — ih weiß nur, daß man auf die Dauer
nicht gegen fih an kann. Den Zwang habe ich fo
gehaßt, mit dem babe ich Krieg geführt, gar nicht
mit ihr, und — Gott fei Dank, ih babe ihn ab:
geſchüttelt.“
„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“
Martin atmete tief auf.
„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich
jelbft geworben. Die Welt, denk ich, ſoll noch mit
mir zufrieden ſein.“
„Wie konnten wir nur ſo auseinanderlommen?“
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt—
ſein des Freundes, das Fluidum, das die herum⸗
ſtehenden Arbeiten ausſtrömten, hatten wieder die alte
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als ſei die
ganze letzte Zeit nicht geweſen.
„Die Frau ſtand zwiſchen uns,“ ſagte Heeken
ganz ſelbſtverſtändlich. „An der maßeſt Du es erſt
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an der
maß auch ich mich — und hätte mich bald ſelbſt auf—
gegeben, wenn nicht —“ er lächelte und ſchwieg ein
Weilchen. „Du weißt natürlich alles,“ ſagte er dann.
„Alles, Martin.“
„Und möchteſt nun auch die Ev' ſehen?“
Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte,
ging er zur Thür und öffnete ſie weit.
„Everl, willſt Du ſo gut ſein und ein paar
Flaſchen Bier für uns beide bringen? Denn weiter
langt es jetzt nicht,“ ſetzte er lachend hinzu, ſich zu
Fortunat wendend. „Aber ich will arbeiten — ar-
beiten! Ich kann ja wieder arbeiten!“
Eva kam und brachte das Bier. Ihre Wangen
waren rot, und ſie lachte mit all den blitzblanken,
wundervollen Zähnen, während ſie dem Gaſt das
893 Art zu Akt.
Bier eingoß. Sin ihrem jchlichten, gewürfelten Kattun:
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber
wie eine paflende Lebensgefährtin für den Mann,
der jegt in jelbftvergeljener Zärtlichkeit den Arm um
ihre Hüfte legte.
Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen
hatte, der Freund, der mit offenen Augen dabei:
geftanden und zugejehen, wie wenig eins für das
andere getaugt, damals, als die feinglieberige, fein:
nervige Maub an feiner Seite geitanben!
Eva Ichob feinen Arm fort und jah ihn vor:
wurfsvol an; noch) war ihr bänglich und verwundert
zu Sinn, wenn fie das Gejichhehene überdadte. Und
Martin fam ihr jo bo vor, jo bimmelhoh neben
ihrer kleinen, bejcheidenen Eriften;z.
Als fie gegangen war, fagte Heelen jchnell:
„Du braudft mir tein Wort über fie zu jagen, fein
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie
it. Weißt Du, alles jchict fich nicht für jeden...
ih glaube, ih braude es, daß die Frau zu mir in
die Höbe fieht, nicht auf mich herab.“
Und Fortunat jhwieg aud. Die Eva in all
ihrer friihen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen
Schönheit konnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es
vor, als habe der Freund einen Edelftein fortgeworfen,
um einen lompalten Kiefel aufzuheben. Da er aber
ben Edeljtein gefunden, braudte er nicht böje dar:
über zu ſein.
Heelen fragte mit keinem Wort nad den Be:
ziehbungen, die zwilhen dem Sreunde und Jeiner Frau
beftanden. Entweder interejlierten fie ihn nicht mehr,
da cr mit der Vergangenheit jo endgültig gebrochen,
oder er war zu taftvoll dazu. Auch Fortunat er:
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum jeines Herzens
vermochte er nicht preiszugeben.
Dagegen machte Martin das Glüd mitteiljamer.
„Sch werde rüftig jchaffen,” fagte er und ftraffte
das Haar rüdwärts, „niemand flört mic) mehr, und
die Eva fjorgt für mein körperliches Behagen. Sieht
Du, mein Xieber, das ift doch etwas anderes als
mein bamaliges Haufen in dem armjeligen Atelier,
als ich meine Gentaurengruppe Ihuf! — Nun gebt
es vielleicht nicht ganz jo flint, aber mit gefräftigtem
Leib und frober Seele.“
„Du willt das Mädchen, das Du nachher zu
heiraten gedentjt, bei Dir behalten bis Du gejchieden
bit?” fjagte Fortunat erichroden. „Aber das geht
bob gar nicht, Martin! — Die Menihen .. .”
Er ladıte auf.
„Die Menihen!” wiederholte er in gutmütigem
Spott. „Sa, die können mir jonft was! —
braude fie nidt — ih will fie niht — ich bin ein
freier, unabhängiger Manıı. Sie jcheren mich den
Teufel! Niemand fol meine Schwelle betreten außer
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” —
Und wieder umarmten fie fi berzlid wie in
früherer Zeit.
Schluß-Kapitel.
Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge—
— r ———— —
Roman von H. Schobert.
— — — —
894
Ihiedenen Frau Heelen ehelich verbunden babe, und
manche Nachricht fand jpäter auch noch den Weg in
die Stadt, die Heelen nicht verlajlen hatte.
Fortunat blieb mit feiner Frau im Süden. Sein
humorvolles, troß alledem etwas weiches Talent fand
bort den beiten Boden. Das liebenswürdige, reiche
junge Baar Ipielte dort eine große Rolle und ſehnte
ih nicht in das Talte Nebelland zurüd, nur ab und zu
fand eine ber feinfinnigen Schöpfungen des Künitlers
ihren Weg dahin, und dann konnte Heelen fjtunden:
lang jchmunzelnd davor ftehen und fih an dem Ge:
botenen erfreuen.
Fortunats Ruf wuhs mit Nedht, und feine
Frau hatte teil an feinem Schaffen, wie fie es fid
einft erjehnte.
* *
*
Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in
aller Stille fih mit feiner zweiten Frau trauen ließ,
da rümpfte die Gejellihaft gewaltig die Nafe. — Ein
Dienftmäddhen! Eine Berfon, die ihm ganz Ihamlos
den Hausftand geführt, als er mit feiner Frau in
Scheidung lag. Diele Leute waren ja einfadh un:
möglid! —
Aber in den jfeltenen Fällen, wo man ihn
wirtlih einmal zu Gefidhte befam, jah der Mann
gar nicht aus, als ob er fih etwas daraus madhte.
Für feine früheren Belannten hatte er ein jchlechtes
Gedächtnis, er kannte fie alle nicht mehr, und nie-
mand kannte ihn.
Aber er jah jo anders aus! Sein Äußeres
wohl etwas vernadhläjfigt, wenn auch niemals wieder
jo wie zu Anfang feiner Carriere, dafür aber ben
Kopf Stolz getragen, in den Augen das Leuchten ab:
joluter Zufriedenheit und Selbftgenüglamleit.
Cs gab eine Zeit, da munlelte man, daß es
ihm peluniär nicht glänzend gehen follte, denn das
war eine Thatjahe, wenn auch eine merkwürdige.
Als Mauds Gatte mußte man fih immer erft auf
den Künftler befinnen, der er doch immer gemwejen,
jegt war es der Künftler allein, der das Intereſſe
jo mad hielt, daß man fi aud um feine Privat-
verhältnifie kümmerte.
Er wußte von alledem nichts.
Draußen vor dem Thore bejaß er ein Meines
Haus, jehr beicheiden, nad feinen Angaben gebaut,
darin lebte er jchliht und einfach mit feinem Weibe
und drei jtrammen Buben, bie in feinen Mußeftunden
um ihn berumtollen, ohne ihn zu ftören.
Aber jein Atelier ift geheiligt! — Selbit Eva
bat nie den ehrfürdtigen Reipelt überwunden, den
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die
dort herumfiehen.
Ssede vollendete Arbeit wirb ihm ein neues Lor:
beerblatt. Er hat alles gehalten, was er verjprodhen!
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Zreu und
Glauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben,
wenn plöglih Ddiejes Genie entfliehen und ihr nur
den einfadhen Gatten zurüdlaflen würde. Seit zehn
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf
und den Kindern.
Die alte Frau Heelen ift längit tot. —
ie —⸗— mn.”
895 Schwertllingen.
Und dann fam ein ftolzer Tag. Martin wurde
als Profeflor an das Kunftinftitut berufen, dem bisher
der alte Duenfel vorgeftanden. —
Die Frau Profeflorin geht zwar immer noch in
Heingewürfelten SKattunkleibern mit blenbend weißen
Schürzen in ihrem Gärthen umber, aber die Gefell:
Ihaft fängt allmählid an mit dem berühmten Mann,
zu liebäugeln, freilich ohne auf Gegenliebe zu ftoßen.
Man findet jeine Vergangenheit „riefig intereflant“,
Roman von Hans Werber.
896
ſein Äußeres bedeutend, ſeine Frau friſch wie Alpen—
luft. Als aber das erſte Einladungsſchreiben an das
Ehepaar auf den Schreibtiſch des Herrn Profeſſors
flog, legte er es kopfſchüttelnd beiſeite. Es kam aus
ziemlich hohen Regionen.
„Nein, Ev'!“ ſagte er, „das laſſen wir hübſch
bleiben; wir ſind uns ſelbſt genug, nicht wahr? Art
zu Art!“
Ende.
Schweriklingen.
Baterländifher Roman
bon
Hans Werder.
(Schluß.)
Renate preßte beide Hände an die Schläfen.
„Daß ih nur nicht den Verfiand verliere!” dachte
fie halblaut. „Ich Habe ihn noch nie jo notwendig
gebraudt!" Sie bob die gerungenen Hände gen
Himmel in einem ftummen Angftgebet, das aus ber
Tiefe um Hilfe und Errettung fchrie. Kalte Schweiß
tropfen feuchteten ihre Schläfen. Zunge und Lippen
waren wie ausgedörrt in diefen wenigen Selunden.
Wanlenden Schrittes ging fie vorwärts — Licht —
Luft! Sie Ihlug den Vorhang des Fenfters zurüd,
öffnete dasjelbe mit zitternden Händen und fchaute
hinaus. Der Wald trat bier dicht heran und das
Haus war body. Unten lag Steingeröl. Ein Sprung
bier hinab — gut! Sie faltete die Hände und betete
wieder — inbrünitig, heiß, wie Todesnot beten lehrt.
Da wurde leile der Schlüffel umgedreht, Die
Thür geöffnet, wieder geichloffen. Renate fuhr herum.
Ein franzölifher Offizier war bereingetreten,
groß und fchlant. est wandte er ihr fein Geficht
zu. Daricot!
Es war feine Überrafhung — nur eine Gewißheit.
Er verneigte fi tief. „Mademoifelle, ich bin
entzüdt von der Ehre, Sie hier in meiner Wohnung
begrüßen zu dürfen!”
Renate trat unmwilllürli ein paar Schritte auf
ihn zu. „Sch bin gelommen, meinen Vater zu fehen!
Er liegt jchwer verlegt hier im Haufe! Wo ift er?
Wo ift mein Obeim?“
„She Herr Obeim ift auf der Jagd mit meinen
Kameraden! hr Vater — parbleu, der ift wahr:
Iheinli in Berlin — jedenfalls weit von bier!
Und follte er frank fein — wir willen nichts da:
von! Mein Abgejandter hat Yhnen, wie’3 jcheint,
ein Märchen aufgebunden, um meine Einladung zu
unterjtüßen!”
„Aber der Brief meines Oheims!” rief Renate
mit fiodendem Atem.
„Ad, Mabemoilelle! Zhr Ontel ift ein Narr!
Und ein Zruntenbold obenein! Werzeihen Sie bie
unhöflihe Sprade! Wir madten ihn betrunken mit
dem Inhalt feines eigenen wohlgefüllten Weintellers,
und da fjchrieb er den Brief, den ih von ihm ver:
langte. Sebt weiß feine Seele nichts mehr davon,
und Shre Vorwürfe würden verjchwenbet fein!”
Kenate blicdte den Spreder an, mit ben geilter:
baft großen Augen, aus marmornem Antlig. Als er
Ihmwieg, öffnete fie langfam die Lippen. „Sie er:
bärmliher Zump!” jagte fie Mar und vernehmlidh.
Daricot zudte zulammen. Eine flammende Röte
ging über jein Gefiht. „Mademoijelle —- die Zeiten
find vorbei, wo Sie mich ungeftraft beleidigen durften!
Biel zu oft Schon haben Sie es gethban! — Sekt
werden Sie um Verzeihung bitten — in meinen
Armen, an meinem Herzen!”
Ein Blid grenzenlojer Beratung ftreifte über
ihn hin. Sie trat an das Fenfter zurüd und Ipäbte
raid und forjchend hinaus.
„Geben Sie fih feine Mühe!” Lächelte ber
Stanzoje. „Es ift niemand in der Nähe, der Shnen
helfen Llönnte. Nur meine Kameraden und Unter:
gebenen, weit und breit. Sie find jo völlig in
meiner Gewalt, daß feine Macht ber Welt Sie
daraus befreien kann! hr einziger Belchüger, den
Sie fortan haben werden, Mademoijelle, bin ih!” —
Er trat mit diefem Wort auf fie zu.
Renate jchlang ihren Arm feit um das Feniter:
freuz und bog fi rüdlings hinaus.
„Sowie Sie mid anrühren, ftürze ih mich
hinunter!” jagte fie jehr feft und ruhig.
Er ladte. „Aber Mademoijelle, Sie werben
doh nit! Wie fönnen Ahre Schönen Lippen mid
Io erjchreden wollen!”
„Srihreden joll es Sie gewiß nicht!” rief Renate.
„Es wird niemand danad fragen, ob hr Hentere:
Inechte ein deutjches Landeskind mehr oder weniger
umgebradt habt! Yh jage Shnen nur, was ih
thDun werde, falls Sie fi unterftehen jollten, mir zu
nabe zu treten!”
Daricot trat zögernd zurüd, Flücdtig fam ihm
der Gedanke, daß Güte und Freundlichkeit ihn viel-
leicht feiner ftolzen Gefangenen näher zu bringen ver:
mödten. Er warf fih in einen Sefjel und ftarrte
897 Schwertklingen.
grübelnd, unmutig vor ſich hin. Renate ſtand regungs—
los am Fenſterkreuz.
Endlich erhob er ſich und verließ das Zimmer,
die Thür ſorgſam verſchließend.
Renate ſetzte ſich auf das niedrige Fenſterbrett,
lehnte die Stirn an das Holzkreuz, welches hier ihre
einzige Stütze und Halt war, und verſuchte ihre
fürchterliche Lage zu überdenken.
Ob wohl Mademoiſelle nach Tiefenſee entkommen
war, den Ihrigen Mitteilung zu machen? Schwer—
lich! Vielleicht hatte man auch ihr ein „ritterlich
Gefängnis“ bereitet unter ihren Landsleuten.
Renate ſah an den beleuchteten Waldwipfeln
draußen, daß die Sonne im Untergehen war. Weiche
Schatten lagerten ſich unter Baum und Geſträuch.
Das Sonnenlicht auf den Wipfeln erloſch — der
bläuliche Schleier der Dämmerung ſank hernieder.
Kühl zog die Abendluft herein. Renate trug ein
leichtes Sommerkleid. Sie hatte keinen Mantel, der
ſie ſchützte und ihre einzige Zuflucht war das offene
Fenſter, das Kreuz, daran ſie ſich klammerte! „Wenn
es Haſſo wüßte — er würde mich befreien! Aus
Ritterlichkeit, wenn auch nicht mehr aus Liebe! Von
ihm wollte ich keine Hilfe, keine Dienſtleiſtung —
und dieſem Werwolf lieferte ich mich in die Hände!“
Jetzt trat Daricot wieder herein, gefolgt von
ſeinem Diener, welcher Speiſen und Wein auf dem
Tiſch zurechtſtellte, die Lichter anzündete und ſich
dann geräuſchlos entfernte.
Daricot vertauſchte ſeinen goldbetreßten Waffen⸗
rock mit einem weichen, leichten Jackett, von deſſen
Kleidſamkeit er ſelbſtgefällig durchdrungen ſchien, und
näherte ſich Renate ein wenig.
„Mademoiſelle, wollen Sie mich nicht das Fenſter
ur lafien? Die Abendkühle wird Ihnen Schaden!“
„Rein!“
„Darf ich Shnen meinen Mantel umlegen? Sie
werden frieren!”
„Rein!“ Dabei entging ihm nidt die leichte
Bewegung des Abjcheus, der fie überriejelte Eine
furze PBaufe entitand.
„Sie müflen etwas genießen, Mademoifelle!“
begann er aufs neue. „Wenigftens ein Glas Wein
trinten! Sch jerviere es Ahnen hier auf Jhrem un:
nabbaren Feljenfig!“
„Danke! Bemühen Sie fi nicht!”
Unshlüffig ftand er vor ihr. „Mademoijelle —
es ift thöricht von Shnen, fi) auf diejen feindlichen
Fuß mit mir zu ftelen! Sn meiner Madht find
Sie — daran ändern Sie dur Zhre Ihroffe Haltung
nichts! Die Macht würde aber fofort in Shre Hände
übergehen — Sie würden mid als Sklaven zu Jhren
Füßen jehen, wenn Sie mir nur einen Schatten von
Hoffnung geben wollten!” Seine Blide ruhten durch—
bohrend auf ihr. Er jchien einen tiefen Eindrud
jeiner Worte zu erwarten. „Mademoijelle, hören Sie
auf mid! Gönnen Sie mir einen freundliden Blid,
lafien Sie mid den Saum Shres Kleides Füffen,
zum Zeichen, daß Sie mir vergeben wollen, daß ich
hoffen darf, Zhr Vertrauen zu gewinnen! D, und
Sie jollten jehen, wie Nves Daricot zu lieben ver:
Neht! Befehlen Sie über mich, Stellen Sie mich auf die
Probe — ich will alles, alles thun, was Sie verlangen!”
Noman von Hans Werber.
898
Renate hob die dunklen Wimpern auf und ah
ihn an. „Sp verjuhen Sie ein einziges Mal wie
ein Ehrenmann zu banbeln, und Ilaflen Sie mid
meiner Wege gehen!" Bei diefen Morten aber
leudhtete aus den großen, angftvollen Rehaugen ein
Hoffnungsſchimmer, der ihnen zugleih einen hin:
reißenden Ausdrud verlieh, nur allzu geeignet, den
heigblütigen Sranzofen um den Reit feiner Be
finnung zu bringen. Er warf fih vor ihr nieder.
„Alles, allee — ma belle — nur daß ih Sie
freigeben fol — verlangen Sie nit! Das kann
ih nit! Unmöglihd! Wenn ih Sie jegt gehen
lafje, jo jehe ih Sie niemals wieder, und das er»
trage ich nicht! Sie find das Schidjal, dem ich ver-
fallen bin! Haben Sie Erbarmen mit mir!” Er
ftredte die Hände nad ihr aus.
„Rühren Sie mid nit an!“ es Tlang wie ein
Ihaudernder Angitruf.
Da fprang er auf, wilde Glut fladerte in feinen
Augen. „Und Sie werden dennodh mir angehören
und mein eigen jein! Sie jollen und müflen! Meine
Liebe ftoßen Sie mit Veradhtung von fi) — ich werde
Sie lehren, zu betteln um meine Gnade, mein Mit:
leid! Haben wir nicht ganz Preußen unterjodht, ganz
Deutichland gelnechtet, und ein einziges Weib, ein
thörichtes Mädchen jollte uns Troß bieten können?
— Nein, Mademoifelle, Sie werden Yves Daricot
kennen lernen! — Sa, ftehen Sie nur da mit diefen
Augen, als ob Sie mich ungeftraft verachten dürften!
Wir wollen doch jehen, wer es länger aushalten
fann — Sie oder ih!” —
Wie ein blutdürftiges Raubtier ftand er vor
ihr. Renate meinte nah Minuten oder Selunden
berechnen zu lönnen, wie lange jeine Vernunft ihn
noh im Zaum zu halten vermödhte. Und dann jah
fie hinab in die Tiefe, wo das Steingeröll in ber
Dämmerung verfhdwamm und fih zu glätten Tchien.
War denn der Sprung au tief genug, um ihr
wirklich — Rettung zu bringen?
V.
In Buggendorf war keine neue Einquartierung
angemeldet. Es lag ein wenig abſeits von der Heer⸗
ſtraße und wurde daher ſchonender behandelt. Dies
war ein Glück, denn die letzten Eindringlinge hatten
faſt mit allen Vorräten in Scheune und Keller ge⸗
räumt. Es mußte Geld beſorgt und danach neue Vor:
räte angeſchafft werden. Erſteres war ſehr ſchwierig!
Herr von Zarchow begab ſich in dieſer Abſicht zur
Stadt, an demſelben Tage wie ſein Nachbar Paul
Conreuth. Schwager Hans Brünnow begleitete ihn.
Frau Selma von Zarchow ſtand auf dem Raſen—
platz, ſonnte die Betten und ließ ſie ausklopfen, be—
ſonders die, in welchen die franzöſiſchen Gäſte geruht.
Da ward ihr von dem Diener ein Brieflein aus
Tiefenſee überbracht, zwar an ihren Bruder, Herrn
Lieutenant von Brünnow, gerichtet, doch öffnete ſie
es und ſah hinein. Eine Aufforderung von Julie
Conreuth an ihn, ſchleunigſt hinüber zu kommen.
Ja, das konnte er nun leider nicht! Sie ſandte
einen ſchönen Gruß mit der Nachricht, daß ihr
Roman⸗Zeltung 1696.
IV. 63
895 Schwertllingen.
Und dann lam ein ftolzer Tag. Martin wurde
als Profefior an das Kunftinflitut berufen, dem bisher
der alte Duenfel vorgejtanden. —
Die Frau Profefjorin geht zwar immer noch in
Heingemwürfelten Kattunkleidern mit blendend weißen
Schürzen in ihrem Gärten umber, aber die Gejell-
Ihaft fängt allmählih an mit dem berühmten Mann,
zu liebäugeln, freilich ohne auf Gegenliebe zu ftoßen.
Man findet feine Vergangenheit „riefig intereflant”,
Roman von Hans Werber.
S96
jein Hußeres bedeutend, feine Frau frifeh wie Alpen:
luft. Als aber das erfte Einladungsichreiben an das
Ehepaar auf den Screibtiih des Herrin Profefiors
flog, legte er es Topfichüttelnd beifeite. Es fam aus
ziemlich hohen Regionen.
„Nein, Eo’!* jagte er, „das lafjen wir hübich
bleiben; wir find uns felbft genug, nicht wahr? Art
zu Art!”
Ende.
5chwertklingen.
Vaterländiſcher Roman
bon
Dans Werder.
(Schluß.)
Renate preßte beide Hände an die Schläfen.
„Daoß ih nur nicht den Verftand verliere!” dachte
fie halblaut. „Sch babe ihn noch nie jo notwendig
gebraudt!” Sie hob die gerungenen Hände gen
Himmel in einem ftummen Angfigebet, das aus der
Tiefe um Hilfe und Errettung Ichrie. Kalte Schweiß:
tropfen feuchteten ihre Schläfen. Zunge und Lippen
waren wie ausgedörrt in diefen wenigen Sekunden.
Wankfenden Schrittes ging fie vorwärts — Licht —
Luft! Sie jhhlug den Vorhang des Fenfters zurüd,
öffnete dasjelbe mit zitternden Händen und jchaute
hinaus. Der Wald trat bier dicht heran und das
Haus war body. Unten lag Steingeröl. Ein Sprung
bier hinab — gut! Sie faltete die Hände und betete
wieder — inbrünftig, heiß, wie Tobesnot beten lehrt.
Da wurde leile der Schlüflel umgedreht, Die
Thür geöffnet, wieder geichloffen. Renate fuhr herum.
Ein franzöfifher Dffisier war hereingetreten,
groß und ſchlank. Sekt wandte er ihr fein Geficht
zu. Dario!
Es war feine Überraſchung — nur eine Gewißbeit.
Er verneigte fich tief. „Mademoifelle, ich bin
entzüdt von der Ehre, Sie hier in meiner Wohnung
begrüßen zu dürfen!“
Renate trat unwilllürlih ein paar Schritte auf
ihn zu. „Ich bin gelommen, meinen Bater zu jehen!
Er liegt jchwer verlegt Bier im Haufe! Wo ift er?
Wo ift mein Obeim?”
„Ihr Herr Oheim iſt auf der Jagd mit meinen
Kameraden! Ihr Vater — parbleu, der ift wahr:
Iheinliy in Berlin — jedenfalls weit von bier!
Und jollte er krank fein — wir willen nichts ba:
von! Mein Abgejandter hat Zhnen, wie’s jcheint,
ein Märchen aufgebunden, um meine Einladung zu
unterftügen!”
„Aber der Brief meines Obeims!“ rief Renate
mit ftodendem Atem.
„Ad, Mademoijele! Ahr Onkel ift ein Narr!
Und ein Trunfenbold obenein! Verzeihen Sie die
unböflihe Sprade! Wir machten ihn betrunfen mit
dem Inhalt jeines eigenen wohlgefülten Weintellers,
und da fchrieb er ben Brief, den id von ihm ver:
langte. Sept weiß feine Seele nichts mehr davon,
und Shre Vorwürfe würden verjchwendet fein!“
Renate blidte den Sprecher an, mit den geilter-
baft großen Augen, aus marmornem Antlig. Als er
Ihwieg, öffnete fie langjam die Lippen. „Sie er-
bärmliher Zump!” fagte fie Har und vernehmlid.
Daricot zudte zufammen. Eine flammende Röte
ging über fein Gefiht. „Mademoijelle —- die Zeiten
find vorbei, wo Sie mich ungejtraft beleidigen durften!
Viel zu oft Shon haben Sie es gethan! — Sekt
werden Sie um Verzeihung bitten — in meinen
Armen, an meinem Herzen!”
Ein Blid grenzenlojer Verachtung ftreifte über
ihn hin. Sie trat an das Fenfter zurüd und jpäbte
traf und forjhend hinaus.
„Seben Sie fih teine Mühe!” Tächelte der
FStanzofe. „Es ift niemand in der Nähe, der Ihnen
belfen Tönnte. Nur meine Kameraden und Unter:
gebenen, weit und breit. Sie find jo völlig in
meiner Gewalt, daß keine Macht der Welt Sie
daraus befreien fan! hr einziger Beihüger, den
Sie fortan haben werden, Mademoijelle, bin ih!” —
Er trat mit diefem Wort auf fie zu.
Renate fchlang ihren Arm feit um das Fenfter:
freuz und bog fich rüdlings hinaus.
„Sowie Sie mid anrühren, flürze ich mid
hinunter!” jagte fie jehr feit und ruhig.
Er lachte. „Aber Mademoijele, Sie werden
doh nit! Wie können Ihre ſchönen Lippen mid)
jo erfchreden wollen!”
„Srichreden fol es Sie gewiß nicht!” rief Renate.
„Es wird niemand danad) fragen, ob hr Henfers:
tnechte ein deutiches Landesfind mehr oder weniger
umgebracht habt! Ich jage Jhnen nur, was id)
thbun werde, falls Sie fih unterftehen jollten, mir zu
nahe zu treten!”
Daricot trat zögernd zurüd, Flüdhtig fam ihm
der Gedanke, daß Güte und Freundlichkeit ihn viel-
leicht jeiner ftolzen Gefangenen näher zu bringen ver:
möchten, Er warf fi in einen Seffel und ftarrte
897 Schwertklingen.
grübelnd, unmutig vor ſich hin. Renate ſtand regungs-
los am Fenſterkreuz.
Endlich erhob er ſich und verließ das Zimmer,
die Thür ſorgſam verſchließend.
Renate ſetzte ſich auf das niedrige Fenſterbrett,
lehnte die Stirn an das Holzkreuz, welches hier ihre
einzige Stütze und Halt war, und verſuchte ihre
fürchterliche Lage zu überdenken.
Ob wohl Mademoiſelle nach Tiefenſee entkommen
war, den Ihrigen Mitteilung zu machen? Schwer—
lich! Vielleicht hatte man auch ihr ein „ritterlich
Gefängnis“ bereitet unter ihren Landsleuten.
Renate ſah an den beleuchteten Waldwipfeln
draußen, daß die Sonne im Untergehen war. Weiche
Schatten lagerten ſich unter Baum und Geſträuch.
Das Sonnenlicht auf den Wipfeln erloſch — der
bläuliche Schleier der Dämmerung ſank hernieder.
Kühl zog die Abendluft herein. Renate trug ein
leichtes Sommerkleid. Sie hatte feinen Mantel, der
fie jhüßte und ihre einzige Zuflucht war das offene
Senfter, das Kreuz, daran fie fich Hammerte! „Wenn
e8 Hafjo wüßte — er würde mich befreien! Aus
Ritterlichleit, wenn auch nicht mehr aus Liebe! Von
ihm mollte ich feine Hilfe, Teine Dienftleiftung —
und diefem Wermwolf lieferte ich mich in die Hände!”
Seht trat Daricot wieder herein, gefolgt von
feinem Diener, weldder Speifen und Wein auf dem
Th zurectitellte, die Lichter anzündete und fidh
dann geräufchlos entfernte.
Daricot vertaujchte feinen golbbetreßten Waffen:
rod mit einem weichen, leichten AJadett, von befjen
Kleidſamkeit er ſelbſtgefällig durchdrungen ſchien, und
näherte ſich Renate ein wenig.
„Mademoiſelle, wollen Sie mich nicht das Fenſter
DI lafien? Die Abendfühle wird Shnen fchaden!“
„Rein !”
„Darf ich Zhnen meinen Mantel umlegen? Sie
werden frieren!”
„Nein!“ Dabei entging ihm nidht die leichte
Bewegung des Abjcheus, der fie überriejelte. Eine
kurze Pauſe entſtand.
„Sie müſſen etwas genießen, Mademoiſelle!“
begann er aufs neue. „Wenigſtens ein Glas Wein
trinken! Ich ſerviere es Ihnen hier auf Ihrem un—
nahbaren Felſenſitz!“
„Danke! Bemühen Sie ſich nicht!“
Unſchlüſſig ſtand er vor ihr. „Mademoiſelle —
es iſt thöricht von Ihnen, ſich auf dieſen feindlichen
Fuß mit mir zu ſtellen! In meiner Macht ſind
Sie — daran ändern Sie durch Ihre ſchroffe Haltung
nichts! Die Macht würde aber ſofort in Ihre Hände
übergehen — Sie würden mich als Sklaven zu Ihren
Füßen ſehen, wenn Sie mir nur einen Schatten von
Hoffnung geben wollten!“ Seine Blicke ruhten durch—
bohrend auf ihr. Er ſchien einen tiefen Eindruck
ſeiner Worte zu erwarten. „Mademoiſelle, hören Sie
auf mich! Gönnen Sie mir einen freundlichen Blick,
laſſen Sie mich den Saum Ihres Kleides küſſen,
zum Zeichen, daß Sie mir vergeben wollen, daß ich
hoffen darf, Ihr Vertrauen zu gewinnen! O, und
Sie ſollten ſehen, wie Yves Daricot zu lieben ver—
ſteht! Befehlen Sie über mich, ſtellen Sie mich auf die
Probe — ich will alles, alles thun, was Sie verlangen!“
Roman von Hans Werder.
898
Renate hob die dunklen Wimpern auf und ſah
ihn an. „So verſuchen Sie ein einziges Mal wie
ein Ehrenmann zu handeln, und laſſen Sie mich
meiner Wege gehen!“ Bei dieſen Worten aber
leuchtete aus den großen, angſtvollen Rehaugen ein
Hoffnungsihimmer, der ihnen zugleich einen bin:
reißenden Ausdrud verlieh, nur allzu geeignet, den
beißblütigen Franzofen um den Neft jeiner Be:
finnung zu bringen. Er warf fih vor ihr nieder.
„Alles, allee — ma belle — nur daß ih Sie
freigeben jol — verlangen Sie nit! Das kann
ih nit! Unmöglid! Wenn ih Sie jebt geben
lafje, To jehe ih Sie niemals wieder, und bas er»
trage ih nicht! Sie find das Scidial, dem ich ver:
fallen bin! Haben Sie Erbarmen mit mir!” Er
ftredte die Hände nad ihr aus.
„Rühren Sie mid nicht an!” es lang wie ein
Ihaudernder Angitruf.
Da fprang er auf, wilde Glut fladerte in feinen
Augen. „Und Sie werden dennoch mir angehören
und mein eigen fein! Sie jollen und müflen! Meine
Liebe ftoßen Sie mit VBeradjtung von fi — ich werbe
Sie lehren, zu betteln um meine Önabde, mein Mit:
leid! Haben wir nicht ganz Preußen unterjodht, ganz
Deutihland gefnedhtet, und ein einziges Weib, ein
thörichtes Mädchen jollte uns Troß bieten können?
— Nein, Mademoifele, Sie werden Yves Daricot
fennen lernen! — Sa, ftehen Sie nur da mit diefen
Augen, als ob Sie mich ungeitraft verachten dürften!
Wir wollen do jehen, wer e8 länger aushalten
fann — Gie oder ih!” —
Wie ein blutdürftiges Raubtier ftand er vor
ihr. Renate meinte nah Minuten oder Selunden
beredänen zu können, wie lange feine Vernunft ihn
nodh in Zaum zu halten vermödte. Und dann jah
fie hinab in die Tiefe, wo das GSteingeröll in ber
Dämmerung verihwamm und fi zu glätten jchien.
War denn der Sprung au tief genug, um ihr
wirtllid — Rettung zu bringen?
V.
In Buggendorf war keine neue Einquartierung
angemeldet. Es lag ein wenig abſeits von der Heer⸗
ſtraße und wurde daher ſchonender behandelt. Dies
war ein Glück, denn die letzten Eindringlinge hatten
faſt mit allen Vorräten in Scheune und Keller ge:
räumt. Es mußte Geld beſorgt und danach neue Vor:
räte angeſchafft werden. Erſteres war ſehr ſchwierig!
Herr von Zarchow begab ſich in dieſer Abſicht zur
Stadt, an demſelben Tage wie ſein Nachbar Paul
Conreuth. Schwager Hans Brünnow begleitete ihn.
Frau Selma von Zarchow ſtand auf dem Raſen—
platz, ſonnte die Betten und ließ ſie ausklopfen, be—
ſonders die, in welchen die franzöſiſchen Gäſte geruht.
Da ward ihr von dem Diener ein Brieflein aus
Tiefenſee überbracht, zwar an ihren Bruder, Herrn
Lieutenant von Brünnow, gerichtet, doch öffnete ſie
es und ſah hinein. Eine Aufforderung von Julie
Conreuth an ihn, ſchleunigſt hinüber zu kommen.
Ja, das konnte er nun leider nicht! Sie ſandte
einen ſchönen Gruß mit der Nachricht, daß ihr
Roman⸗Zeitung 1896.
IV. 63
899 Schwertklingen.
Bruder nicht zu Hauſe, und wandte ihr Intereſſe den
ſich ſonnenden Betten wieder zu.
Ihr lieber Gaſtfreund Haſſo kam des Weges daher,
im Reitanzuge mit hohen Stiefeln. So ſoh ſie ihn
am liebſten und ergötzie ſich damit, ihm dies mitzu—
teilen. Er freute ſich zwar pflichtſchuldigſt, verab⸗
ſchiedete ſich dann aber bald. Als ſie den Hufſchlag
ſeines Pferdes in der Ferne verhallen hörte, fiel ihr
ein, daß er ja vielleicht anſtatt ihres Bruders nach
Tiefenſee hätte reiten können. Wie ſchade, daß ſie
ihm nichts davon geſagt, Juliens Bitte ſchien eigent⸗
lich ſo dringend zu ſein!
Haſſo ritt ahnungslos in den Wald hinein, in
den rauſchenden, ſommerlichen Wald. Buggendorfer
Grund und Boden hatte er bereits verlaſſen. Tief—
ſchattendes Dickicht umgab ihn. Er kannte es wohl,
es war Penzlower Gebiet. Er hatte bald nach dem
Zuſammentreffen in Tiefenſee dem alten weltfremden
Sonderling, der ihm einſt ſo treue Gaſtfreundſchaft
ecwieſen, ſeinen Beſuch abgeſtattet. Näheres Wieder—
ſehen mit dem lieben alten Jagdrevier aber hatte er
noch nicht gefeiert.
Jetzt hielt er vor dem Nixenteich. Glatt und
Ihwarz lag der Wafleripiegel, wie an jenem SHerbit:
abend, als er die Lleine Renate darauf umberge:
rudert. Die weißen Mummeln blühten. An tiefem
Schweigen ftanden die Ihwarzen Fichten umher. Der
Kahn lag noh im Scilf, zerbroden, mit Moos
überzogen.
Ach, jener holde Abend, da fih das Kind jo
fiher und wohl gefühlt in feinem Schuge, und ihn
angeladht aus den jonnigen Augen. Wie lange war
e8 ber. Wie war die Welt jo anders geworden,
wie leer und wie graujam.
„Weidmannsheil, Yunler!” rief eine Stimme
ihn an, gedämpft nach Sägerweife.
„Ad, Hinte, Weidmanns Dank!” Er reichte ihn
herzlich die Hand vom Sattel herab. Sie hatten jhon
neulich eingehendes und rührendes Wiederjehen gefeiert.
„Ra, Junker, wann pirichen wir wieder auf den
Nehbod oder den Kapitalhirich?”
Hallo zudte die Achjeln. „Es ift jchlechte Zeit
jegt, mein Freund! Mir jcheint, die Franzojen be:
forgen alleweile das Pirihen! Ich hörte zwei Schüfle
in Eurem Revier!”
„Sawohl, die Satansbrut! Alles Inallen fie
herunter und frank, NRiden und Mutterwild — das
Herz Nößt’s einem ab! Aber was joll man dabei thun!
Auch der gnädige Herr Tann’s nit ändern!” — —
Als Haflo wieder in Buggendorf anlangte, jaß
Frau Selma vor der Thür, mit ihrem blondlöpfigen
Knaben auf dem Schoß, und Hafjo fegte fich zu ihr.
Er erzählte von feiner Begegnung mit Dinge, einer
aud ihr befannten Perfönlichkeit. Doch plöglich unter:
brah fie ihn lebhaft. Die Botfchaft aus Xiefenjee
fiel ihr ein. Sie 309g den Brief an ihren Bruder
aus der Tajhe und gab ihn Hallo zu lefen.
Eine Veränderung ging auf feinem Gefidht vor.
„Einen Ritterbienft? — Was Tann da vorgefallen
fein? Das beunruhigt mid! Warum gaben Sie
mir den Brief nicht vorhin Son! Ich muß ſofort
nad Xiefenjee!“
Roman von Hans Werder.
900
„Sie waren jo eilig vorhin, ich vergaß es leiber!
Aber hr Pferd wird müde fein —”
„Kein, nein, das ift andere Strapazen gewöhnt!”
rief er |hon aus der Ferne.
Ein einziger Galopp trug ihn nad Tiefenfee
hinüber. Julie war allein, fie jah verängftigt und
verfiört aus. „Ach, Hallo, wären Sie doch vor drei
Stunden gefommen !”
Seine Hand Elammerte fih um ben Knauf der
Reitpeitihe. „Was ift gefchehen?” fragte er mit
beiferer Stimme.
Sie berichtete ihm möglihit kurz und genau.
„Beigen Sie mir den Brief Jhres Dheims!“
Mit fieberhaft geichärften Sinnen durdforfchte er ihn.
„Der Alte ift betrunken gewejen! ch babe feine
Handſchrift ſonſt ſchon geſehen — die Buchſtaben hier
tanzen! Die Geſchichte iſt erlogen! Ich habe vorhin
den alten Hintze im Walde geſprochen — das hätte
er mir erzählt! Sie haben ſich düpieren laſſen,
Gnädigſte! — Herr Gott — wie konnten Sie in
Conreuths Abweſenheit das Kind fortlaſſen! Mit
einem Franzoſen! — Warum riefen Sie denn nicht
mich, anſtatt Brünnow!“
„Ja, daran ſind Sie ſchuld, Haſſo!“ rief Julie,
durch ſeine Vorwürfe gereizt. „Sie müſſen Renate
ſchlecht behandelt haben, denn ſie lehnte mit Beſtimmt—
heit ab, von Ihnen irgend einen Dienſt anzunehmen!“
Er wurde totenblaß bei ihren Worten und nagte
nervös an den langen Spitzen ſeines Schnurrbarts.
„Können Sie ſich hier irgend einen vernünftigen
Zuſammenhang denken, ſo ſagen Sie ihn mir, bitte,
ſchnell!“ drängte er.
„Nein, ich weiß keinen! — Wenn Daricot noch
dort im Quartier läge —“
„Wer iſt Daricot?“
Mit Schnelligkeit entwarf ihm Julie ein genaues
Bild von Daricots Perſönlichkeit, Stellung, den Be—⸗
ziehungen aus der Berliner Zeit und ſeiner zudring—
lichen Bewunderung für Renate. Auch der aufreizenden
Verachtung, mit der dieſe ihn von ſich gewieſen,
erwähnte ſie.
Haſſo ſtand und hörte ihr zu, als ſei der ganze
Menſch nur Ohr und Verſtändnis. Ab und zu warf
er eine ſcharf betonte Frage dazwiſchen. „Adieu,“
ſagte er dann kurz, „ich reite hin!“ Ein Griff nach
ſeinem Weidmeſſer — es ſtak feſt im Gürtel. Sein
Plan war gefaßt. Vorwärts denn mit Gott.
„Haſſo, Sie können doch nicht allein in das von
Franzoſen überfüllte Haus? Was wollen Sie da
ausrichten?“
Er warf einen einzigen Blick nach ihr zurück —
aufblitzend wie Stahl und Feuerſtein — und fort war er.
Die Dämmerung ſank bereits. Nach Verlauf
einer guten Viertelſtunde parierte er ſeinen dampfen⸗
den Renner mitten im Penzlower Walde, vor dem
einſam gelegenen Förſtergehöft. Der alte Hintze trat
ſogleich heraus, von ſeinem Hühnerhunde begleitet.
„Hintze —“ Haſſo bog ſich tief aus dem Sattel
zu ihm nieder. „Sagt mir, alter Freund, iſt der
Bruder des gnädigen Herrn jetzt bei Euch? Liegt
er im Penzlower Schloß?“
901
„Der Herr Oberftlieutenant? % wo! Der war
fhon lange nicht bier!”
„Er fol aber krank in Penzlow liegen, mit ges
brochenem Fuß!”
„Ne, Sunler, das ift nicht wahr, Fein Sterbens:
wort!”
„St denn das junge Fräulein heut in Penzlow
angelommen, des Oberftlieutenants Tochter?”
„Donnerſchlag! — Die Glasfutihe fuhr weg, ein
jranzöfifcher Lieutenant jaß drin, und wie fie gegen
Abend wiederkam, ſaß der Franzofe auf dem Bod
und zwei Frauenzimmer jollen am Schloß ausge:
ftiegen fein! ch hab’ fie nicht gejehen, aber bie
Leute jagten es! Die Franzofen haben den Wagen
umftanden und die beiden gleich ins Haus geführt!
Schodihwerenot! Menn das das gnäbd’g Tsrölen wäre!”
Hallo ftieg vom Pferde. „Es ift jo! Die Canaillen
haben das Fräulein bingelodt! Stellt mein Pferd
bier ein, Alter! Hölle und Teufel, da ift ein Ber:
breden im Gange! Wenn das der Satansbrut ge-
lingen dürfte — hier mitten in preußiichen Landen!”
„Sol Ion nicht, Junker! ch denke, wir legen
ihr das Handwert! Wäre nicht der erfte Pirfchgang,
den wir beide miteinander ausgeführt!“
„Nein — und nit der erfte Fuchs, den wir
ins Eijen legten, aber der Ihlaufte — nichtswürdigfte!”
ſagte Haſſo zähneknirſchend.
Sie gingen zuſammen dem Waldſchloſſe zu. Und
leiſe, eingehend beſprachen ſie alles miteinander
und verſtändigten ſich genau und ſicher in kurzen,
knappen Worten, nach Art erprobter Jäger und
Weidgenoſſen. In der Nähe des Hauſes trennten
ſie ſich. Hintze verſchwand im Wirtſchaftsflügel, den
Räumen der Dienerſchaft. Haſſo ging mit zielbe—
wußten Schritten über den Hof, dem Eingange zu.
Franzoſen ſchlenderten umher und folgten ihm miß—
trauiſch mit den Blicken, als er den Hausflur betrat,
deſſen Wände mit Hirſchgeweihen und Rehkronen be—
dedt waren.
Mehrere franzöfiihe Offiziere ftanden bier bei:
fammen. Er grüßte wohlwollend und vertraulich zu-
gleid. „Bon soir, Messieurs! Kann id) vielleicht
den Colonel Daricot Iprechen?”
Die Herren jahen fih an und ladhten. „Heute
abend? a unmöglid! Mit wen haben wir die Ehre?“
„Ih Tomme im Auftrage des General Bonfanti
mit geheimer Orbre, melde burhaus feinen Auf:
ſchub duldet!“ berichtete Hallo in mehr gewandtem
als korrektem Franzöſiſch.
„Aber Colonel Daricot iſt krank!“ wandten die
Herren ein. „Er ſtürzte vor einigen Tagen mit dem
Pferde, hat ſich den Fuß verletzt und kuriert ihn
hier aus! Sein Regiment iſt ſchon vor mehreren
Tagen vorausmarſchiert!“
„Mais mon cher camarade, das weiß ich doch
alles!“ lächelte Haſſo, dem Franzoſen vertraulich die
Hand auf den Arm legend. „Meine Ordre iſt an
ihn perſönlich! Sie wiſſen, er war früher Adjutant
bei Bonfanti und ſteht ihm perſönlich nahe! Wollen
Sie die große Güte haben, mich zu ihm zu führen!“
„Kamerad, das iſt unmöglich! Sie müſſen ſich
bis morgen früh gedulden! Der Colonel hat Beſuch!
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
902
Ah — tout ce qu'il y à de plus charmant! Er
würde uns eine Störung niemals verzeihen! — Er:
zeigen Sie uns bis dahin die Ehre, unjer Gaft zu jein!“
Haflo fühlte auf feiner Stirn einen feudtlalten
Tau, wie ihn die Dual des Unerträgliden aus:
preßt. Dabei lachte er verbindlih. „ch werde von
diefer Liebenswürdigkeit mit Vergnügen Gebraud
maden! Mein Name ift Meinhard, ich bin Weftfale,
Unterthan des glorreihen Königs Jeröme! Sch habe
als Kapitän die Campagne in Spanien mitgemadt,
bin noch nicht wieder felddienftfähig —” er beutete
auf feinen Reifen Fuß — und jchwaßte weiter auf
die Herren ein, gewandt und gefällig, ohne fie zu
Wort oder auch nur zur Überlegung kommen zu
lafjen. Dabei war er fih völlig bewußt, daß ein
einziges unzutreffendes Wort ihn verraten, daß nur
die unverihämtefte Sicherheit ihn in feiner Rolle
halten und zum Ziele führen lönnte. Nun — daran
lollte e8 nicht fehlen! —
Die „liebenswürdigen Kameraden” zogen ihn
mit fich fort zu ber geöffneten Thür des Speijejaals,
aus weldhem Becherllang und die Stimmen wein:
jeliger Zecher ihm verheißungsvoll entgegentönten.
„Sharmant!” rief Haflo, „nicht einen Augen:
bli länger als nötig werde ih mich diefem frohen
Kreife entziehen. Aber meine Pflicht geht jelbit diejem
augerlejenen Vergnügen vor! Zeigt mir nur den Weg
zu dem Zimmer des Colonels, Kameraden, die VBerant:
wortung für die Störung nehme ih auf mich allein!”
„Run — wenn’s denn gar Jo eilig ift, fo ver:
ſuchen Sie Ihr Heil! Die Treppe hinauf und oben
den Gang zu Ende, links die letzte Thür! Ich ſelber
habe den ſchönen Gaſt da hineingeführt, voller Selbſt⸗
verleugnung!“ erzählte ein Lieutenant.
Haſſos Hand ſuchte taſtend nach dem Weidmeſſer.
Ja, es war da! Prinz Louis hatte es ihm geſchenkt,
dadurch war es geweiht zum Ritter- und Minnedienſt.
„Vielen Dank, Meſſieurs! Auf Wiederſehen in
wenigen Minuten!“ damit drückte er die Thür des
Speiſezimmers hinter ſich zu.
Mit wenigen Sprüngen flog er die Treppe bin-
auf. Aus einem dunklen Wintel des Hausflurs trat
ihm ber alte Hinge entgegen und deutete mit jtummem
Blie des Einverftänbniffes auf jene Thür am Ende
Des Ganges links.
Hallo pohte an mit dem metallnen ER der
NReitpeitihe. „Qui viver“ tönte es ärgerlich heraus.
„ffnen Sie, mon colonel,* rief Hafjo mit ver:
ttelter Stimme. „Eilige Ordre von General Bonfanti!
Verfönlid an Sie allein!” Der baftig dringende
Ton verfehlte feine Wirkung nit. Der Colonel
öffnete neugierig die Thür, um Fingersbreite nur.
m nämlichen Augenblid aber ward fie aufgeftoßen,
ſo daß er jelber zurücprallte, und ein Fremder ftand
vor ihm.
Mit einem Blid umfaßte Hallo die Sadlaae.
Dort am offenen Fenfter ftand Renate, blaß, mit
dem Ausdrud tobbereiter, beldenhafter Gegenwehr,
den Arm feft um das Kreuz gefchlungen, dem Bilde
einer Märtyrerin gleich.
„Monfteur, wer find Sie, was unterftehen Sie
ih?“ rief der Franzofe.
899 Schwertllingen.
Bruder nicht zu Haufe, und wandte ihr Jnterefje den
fih jonnenden Betten wieder zu.
Shr lieber Gaftfreund Haflo fam des Weges daher,
im Reitanzuge mit hohen Stiefeln. So jeh fie ihn
am liebften und ergößie fi damit, ihm dies mitzu:
teilen. Er freute fih zwar pflihtichuldigft, verab-
Ichiedete fih dann aber bald. Als fie den Hufichlag
jeines Pferdes in der Ferne verhallen hörte, fiel ihr
ein, daß er ja vielleiht anftatt ihres Bruders nad
Tiefenjee hätte reiten können. Wie fchade, daß fie
ihm nichts davon gejagt, Yuliens Bitte jchien eigent-
li jo dringend zu Jein!
Haflo ritt ahnungslos in den Wald hinein, in
den raufchenden, jommerliden Wald. Buggendorfer
Grund und Boden hatte er bereits verlafien. Tief:
Ichattendes Didiht umgab ihn. Er kannte es wohl,
ed war Benzlower Gebiet. Er hatte bald nad dem
Bufammentreffen in Tiefenjee dem alten meltfremden
Sonderling, der ihm einft jo treue Gaftfreundichaft
ecwiejen, jeinen Bejuch abgeltattet. Näheres Wieder:
jehen mit dem lieben alten Sagdrevier aber hatte er
noch nicht gefeiert.
Segt bielt er vor dem Nirenteih. Glatt und
Ihwarz lag der Wafleripiegel, wie an jenem SHerbit:
abend, als er die Tleine Renate darauf umberge:
rudert. Die weißen Mummeln blühten. Sn tiefen
Schweigen ftanden die hwarzen Fichten umher. Der
Kahn lag noh im Schilf, zerbrodhen, mit Moos
überzogen.
Ad, jener holde Abend, da fih das Rind fo
fiher und wohl gefühlt in jeinem Schuge, und ihn
angeladht aus den fonnigen Augen. Wie lange war
e8 ber. Wie war die Welt jo anders geworden,
wie leer und wie graujam.
„Weidmannsheil, unter!” rief eine Stimme
ihn an, gedämpft nad Sgägermeile.
„Ad, Hinge, Weidmanns Dank!” Er reichte ihm
herzlich die Hand vom Sattel herab. Sie hatten jchon
neulich eingehendes und rührendes Wiederjehen gefeiert.
„Ra, Junker, wann pirjchen wir wieder auf den
Rehbock oder den Kapitalhirſch?“
Haſſo zuckte die Achſeln. „Es iſt ſchlechte Zeit
jegt, mein Freund! Mir ſcheint, die Franzoſen be—
ſorgen alleweile das Pirſchen! Ich hörte zwei Schüſſe
in Eurem Revier!“
„Jawohl, die Satansbrut! Alles knallen ſie
herunter und krank, Ricken und Mutterwild — das
Herz ſtößt's einem ab! Aber was ſoll man dabei thun!
Auch der gnädige Herr kann's nicht ändern!“ — —
Als Haſſo wieder in Buggendorf anlangte, ſaß
Frau Selma vor der Thür, mit ihrem blondköpfigen
Knaben auf dem Schoß, und Haſſo ſetzte ſich zu ihr.
Er erzählte von ſeiner Begegnung mit Hintze, einer
auch ihr bekannten Perſönlichkeit. Doch plötzlich unter⸗
brach ſie ihn lebhaft. Die Botſchaft aus Tiefenſee
fiel ihr ein. Sie zog den Brief an ihren Bruder
aus der Taſche und gab ihn Haſſo zu leſen.
Eine Veränderung ging auf ſeinem Geſicht vor.
„Einen Ritterdienſt? — Was kann da vorgefallen
ſein? Das beunruhigt mich! Warum gaben Sie
mir den Brief nicht vorhin ſchon! Ich muß ſofort
nach Tiefenſee!“
Roman von Hans Werder.
900
„Sie waren ſo eilig vorhin, ich vergaß es leider!
Aber Ihr Pferd wird müde ſein —“
„Nein, nein, das iſt andere Strapazen gewöhnt!“
rief er ſchon aus der Ferne.
Ein einziger Galopp trug ihn nach Tiefenſee
hinüber. Julie war allein, ſie ſah verängſtigt und
verſtört aus. „Ach, Haſſo, wären Sie doch vor drei
Stunden gekommen!“
Seine Hand klammerte ſich um den Knauf der
Reitpeitſche. „Was iſt geſchehen?“ fragte er mit
heiſerer Stimme.
Sie berichtete ihm möglichſt kurz und genau.
„Zeigen Sie mir den Brief Ihres Oheims!“
Mit fieberhaft geſchärften Sinnen durchforſchte er ihn.
„Der Alte iſt betrunken geweſen! Ich habe ſeine
Handſchrift ſonſt ſchon geſehen — die Buchſtaben hier
tanzen! Die Geſchichte iſt erlogen! Ich habe vorhin
den alten Hintze im Walde geſprochen — das hätte
er mir erzählt! Sie haben ſich düpieren laſſen,
Gnädigſte! — Herr Gott — wie konnten Sie in
Conreuths Abweſenheit das Kind fortlaſſen! Mit
einem Franzoſen! — Warum riefen Sie denn nicht
mich, anſtatt Brünnow!“
„Ja, daran ſind Sie ſchuld, Haſſo!“ rief Julie,
durch ſeine Vorwürfe gereizt. „Sie müſſen Renate
ſchlecht behandelt haben, denn ſie lehnte mit Beſtimmt⸗
heit ab, von Ihnen irgend einen Dienſt anzunehmen!“
Er wurde totenblaß bei ihren Worten und nagte
nervös an den langen Spitzen ſeines Schnurrbarts.
„Können Sie ſich hier irgend einen vernünftigen
Zuſammenhang denken, ſo ſagen Sie ihn mir, bitte,
ſchnell!“ drängte er.
„Nein, ich weiß keinen! — Wenn Daricot noch
dort im Quartier läge —“
„Wer iſt Daricot?“
Mit Schnelligkeit entwarf ihm Julie ein genaues
Bild von Daricots Perſönlichkeit, Stellung, den Be⸗
ziehungen aus der Berliner Zeit und ſeiner zudring—
lichen Bewunderung für Renate. Auch der aufreizenden
Verachtung, mit der dieſe ihn von ſich gewieſen,
erwähnte ſie.
Haſſo ſtand und hörte ihr zu, als ſei der ganze
Menſch nur Ohr und Verſtändnis. Ab und zu warf
er eine ſcharf betonte Frage dazwiſchen. „Adieu,“
ſagte er dann kurz, „ich reite hin!“ Ein Griff nach
ſeinem Weidmeſſer — es ſtak feſt im Gürtel. Sein
Plan war gefaßt. Vorwärts denn mit Gott.
„Haſſo, Sie können doch nicht allein in das von
Franzoſen überfüllte Haus? Was wollen Sie da
ausrichten?“
Er warf einen einzigen Blick nach ihr zurück —
aufblitzend wie Stahl und Feuerſtein — und fort war er.
Die Dämmerung ſank bereits. Nach Verlauf
einer guten Viertelſtunde parierte er ſeinen dampfen—
den Renner mitten im Penzlower Walde, vor dem
einſam gelegenen Förſtergehöft. Der alte Hintze trat
ſogleich heraus, von ſeinem Hühnerhunde begleitet.
„Hintze —“ Haſſo bog ſich tief aus dem Sattel
zu ihm nieder. „Sagt mir, alter Freund, iſt der
Bruder des gnädigen Herrn jetzt bei Euch? Liegt
er im Penzlower Schloß?“
901 Schwertklingen.
„Der Herr Oberſtlieutenant? J wo! Der war
ſchon lange nicht hier!“
„Er ſoll aber krank in Penzlow liegen, mit ge⸗
brochenem Fuß!“
„Ne, Junker, das ift nit wahr, fein Sterbens-
wort!”
„SR denn das junge Fräulein heut in Penzlow
angekommen, des Oberſtlieutenants Tochter?“
„Donnerſchlag! — Die Glaskutſche fuhr weg, ein
franzöſiſcher Lieutenant ſaß drin, und wie ſie gegen
Abend wiederkam, ſaß der Franzoſe auf dem Bock
und zwei Frauenzimmer folen am Schloß ausge-
ftiegen fein! Ich hab’ fie nicht gejehen, aber bie
Leute jagten es! Die Franzojen haben den Wagen
umftanden und bie beiden glei ins Haus geführt!
Schodihwerenot! Menn das das gnäd’g Frölen wäre!”
Hafjo ftieg vom Pferde. „Es ift fo! Die Canaillen
haben das Fräulein bingelodt! Stellt mein Pferd
bier ein, Alter! Hölle und Teufel, da ift ein Ber:
breden im Gange! Wenn das der Satansbrut ge-
lingen bürfte — bier mitten in preußijhen Landen!”
„Sol Ion nit, Zunter! ch denke, wir legen
ihr das Handwert! Wäre nicht der erfte Pirſchgang,
den wir beide miteinander ausgeführt!“
„Nein — und nicht der erſte Fuchs, den wir
ins Eiſen legten, aber der ſchlauſte — nichtswürdigſte!“
ſagte Haſſo zähneknirſchend.
Sie gingen zuſammen dem Waldſchloſſe zu. Und
leiſe, eingehend beſprachen ſie alles miteinander
und verſtändigten ſich genau und ſicher in kurzen,
knappen Worten, nach Art erprobter Jäger und
Weidgenoſſen. In der Nähe des Hauſes trennten
ſie ſich. Hintze verſchwand im Wirtſchaftsflügel, den
Räumen der Dienerſchaft. Haſſo ging mit zielbe—
wußten Schritten über den Hof, dem Eingange zu.
Franzoſen ſchlenderten umher und folgten ihm miß—
trauiſch mit den Blicken, als er den Hausflur betrat,
deſſen Wände mit Hirſchgeweihen und Rehkronen be—
deckt waren.
Mehrere franzöſiſche Offiziere ſtanden hier bei—
ſammen. Er grüßte wohlwollend und vertraulich zu:
gleich. „Bon soir, Messieurs! Kann ich vielleicht
den Colonel Daricot ſprechen?“
Die Herren ſahen ſich an und lachten. „Heute
abend? Nein, unmöglich! Mit wem haben wir die Ehre?“
„Ich komme im Auftrage des General Bonfanti
mit geheimer Ordre, welche durchaus keinen Auf:
ſchub duldet!“ berichtete Haſſo in mehr gewandtem
als korrektem Franzöſiſch.
„Aber Colonel Daricot iſt krank!“ wandten die
Herren ein. „Er ſtürzte vor einigen Tagen mit dem
Pferde, hat ſich den Fuß verletzt und kuriert ihn
hier aus! Sein Regiment iſt ſchon vor mehreren
Tagen vorausmarſchiert!“
„Mais mon cher camarade, das weiß ich doch
alles!“ lächelte Haſſo, dem Franzoſen vertraulich die
Hand auf den Arm legend. „Meine Ordre iſt an
ihn perſönlich! Sie wiſſen, er war früher Adjutant
bei Bonfanti und ſteht ihm perſönlich nahe! Wollen
Sie die große Güte haben, mich zu ihm zu führen!“
„Kamerad, das iſt unmöglich! Sie müſſen ſich
bis morgen früh gedulden! Der Colonel hat Beſuch!
Roman von Hans Werder. 902
Ah — tout ce qu'il y à de plus charmant! Er
würde uns eine Störung niemals verzeihen! — Er—
zeigen Sie uns bis dahin die Ehre, unſer Gaſt zu ſein!“
Haſſo fühlte auf ſeiner Stirn einen feuchtkalten
Tau, wie ihn die Qual des Unerträglichen aus:
preßt. Dabei lachte er verbindlich. „Ich werde von
dieſer Liebenswürdigkeit mit Vergnügen Gebrauch
machen! Mein Name iſt Meinhard, ich bin Weſtfale,
Unterthan des glorreichen Königs Jeͤrome! Ich babe
als Kapitän die Campagne in Spanien mitgemacht,
bin noch nicht wieder felddienſtfähig —“ er deutete
auf ſeinen ſteifen Fuß — und ſchwatzte weiter auf
die Herren ein, gewandt und gefällig, ohne ſie zu
Wort oder auch nur zur Überlegung kommen zu
laſſen. Dabei war er ſich völlig bewußt, daß ein
einziges unzutreffendes Wort ihn verraten, daß nur
die unverſchämteſte Sicherheit ihn in ſeiner Rolle
halten und zum Ziele führen könnte. Nun — daran
ſollte es nicht fehlen! —
Die „liebenswürdigen Kameraden“ zogen ihn
mit ſich fort zu der geöffneten Thür des Speiſeſaals,
aus welchem Becherklang und die Stimmen wein—
ſeliger Zecher ihm verheißungsvoll entgegentönten.
„Charmant!“ rief Haſſo, „nicht einen Augen—
blick länger als nötig werde ich mich dieſem frohen
Kreiſe entziehen. Aber meine Pflicht geht ſelbſt dieſem
auserleſenen Vergnügen vor! Zeigt mir nur den Weg
zu dem Zimmer des Colonels, Kameraden, die Verant⸗
wortung für die Störung nehme ich auf mich allein!“
„Nun — wenn's denn gar ſo eilig iſt, ſo ver:
ſuchen Sie Ihr Heil! Die Treppe hinauf und oben
den Gang zu Ende, links die letzte Thür! Ich ſelber
habe den ſchönen Gaſt da hineingeführt, voller Selbſt⸗
verleugnung!“ erzählte ein Lieutenant.
Haſſos Hand ſuchte taſtend nach dem Weidmeſſer.
Ja, es war da! Prinz Louis hatte es ihm geſchenkt,
dadurch war es geweiht zum Ritter- und Minnedienſt.
„Vielen Dank, Meſſieurs! Auf Wiederſehen in
wenigen Minuten!“ damit drückte er die Thür des
Speiſezimmers hinter ſich zu.
Mit wenigen Sprüngen flog er die Treppe hin⸗
auf. Aus einem dunklen Winkel des Hausflurs trat
ihm der alte Hintze entgegen und deutete mit ſtummem
Blick des Einverſtändniſſes auf jene Thür am Ende
des Ganges links.
Haſſo pochte an mit dem metallnen Quauf der
Reitpeitſche. „Qui vivo?“ tönte es ärgerlich heraus.
„Offnen Sie, mon colonel,“ rief Haſſo mit ver—
ſtellter Stimme. „Eilige Ordre von General Bonfanti!
Perſönlich an Sie allein!“ Der haſtig dringende
Ton verfehlte ſeine Wirkung nicht. Der Colonel
öffnete neugierig die Thür, um Fingersbreite nur.
Im nämlichen Augenblick aber ward ſie aufgeſtoßen,
ſo daß er ſelber zurückprallte, und ein Fremder ſtand
vor ihm.
Mit einem Blick umfaßte Haſſo die Sachlage.
Dort am offenen Fenſter ſtand Renate, blaß, mit
dem Ausdruck todbereiter, heldenhaſter Gegenwehr,
den Arm feſt um das Kreuz geſchlungen, dem Bilde
einer Märtyrerin gleich.
„Monſieur, wer ſind Sie, was unterſtehen Sie
ſich?“ rief der Franzoſe.
903
„Hafo!” Ichrie Renate auf. Es war der herz:
erſchütternde Jubelklang der Erlöſung — ber Selig:
keit. Sie flog auf ihn zu, an ſeine Bruſt. Mit einem
wilden Griff preßte Haſſo ſie an ſich — einen Augenblick.
„Sacre mille tonnerre —“ fluchte der Franzoſe
und warf ſich wie ein Raſender auf die beiden. Haſſo
ſchlug ihn mit der Reitpeitſche zurück. Ein Pfiff —
der alte Hintze ſtand neben ihm und zog Renate mit
ſich fort. Es war das Werk einer Sekunde. Die
beiden Männer ſtanden ſich allein gegenüber.
Langſam, vor den Augen des Colonel, zog Haſſo
ſein Weidmeſſer — Daricot wollte nach ſeiner Piſtole
ſtürzen. Doch zu ſpät. An der Kehle packte ihn Haſſo
mit eiſernem Griff und ſetzte ihm das blanke Meſſer
auf die Bruſt.
„Verfluchter Hund, Du biſt des Todes, auf mein
Ehrenwort, wenn Du Dich rührſt oder um Hilfe
rufſt! — Die Dame iſt jetzt in Sicherheit! Auch ich
werde mich ſogleich entfernen! Sollten Sie es wagen,
mir auf den Flur zu folgen, oder einen Laut aus—
zuſtoßen, ſo ſind Sie nicht mehr! Dort ſteht mein
Jäger poſtiert, deſſen Kugel noch niemals gefehlt hat.
Auf Hilfe brauchen Sie nicht zu rechnen. Ihre
Kameraden lärmen da unten im Weinrauſch, und
hören und ſehen nichts!“
Seine Hand gab die Kehle des Franzoſen frei.
Dieſer ſtarrte mit gläſernen Augen auf ihn und auf
die blanke Klinge in ſeiner Hand.
Mit feſtem Schritt verließ Haſſo das Zimmer,
verſchloß die Thür und zog den Schlüſſel ab. Starr
wie eine Bildſäule ſtand Colonel Daricot da — ein
Gefangener in ſeinem eigenen Zimmer.
„Nun vorwärts, Junker, die Hintertreppe runter
— ich führ' Euch!“ raunte Hintze. Er hielt das
Fräulein am Arm und fort ging es, einen dunklen
Gang, eine halsbrechende Stiege hinunter, an der
Küche vorbei, aus welcher wüſtes Schreien und Lachen
ertönte — durch die offen ſtehende Thür ins Freie
hinaus. Ein paar Schritte hart an den Fenſtern und
am Altan entlang — dann in das dichte Flieder—
geſträuch hinein — Tannendunkel — und in den
geheimnisvollen Schatten des nächtlichen Waldes
waren die drei Flüchtlinge verſchwunden.
VI.
„So, gnädig Frölen, hier verpuſten Sie ſich ein
bißchen,“ ſagte der alte Jäger. „Wenn uns die
Satansbrut auf den Hacken wäre, hätte ſie uns in
der Wieſenlichtung gefaßt, hier nicht!“
„Nein, nein, nur weiter!“ war Renates haſtige
Antwort. Sie hatte kaum noch das Bewußtſein, wo
ſie war, und wohin ſie eilte. Nur weiter — fort
von dem fürchterlichen Kerker, aus dem ihr der Tod
Errettung bedeutet, nur immer fort aus der Nähe
jenes entſetzlichſten aller Menſchen! Daß ſie frei war,
beſchützt und geſichert, dieſe Gewißheit vermochte ſich
in ihrer angſtbetäubten Seele noch nicht zu befeſtigen.
Ihr Pfad führte ſchmal, verwuchert durch jungen
Buchenaufſchlag und wildes Geſtrüpp. Feucht vom
Tau war das Gezweig, der Nebel lag gleich weißen
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
904
Streifen in den Gründen, aus benen die Baum:
gruppen auftaudhten wie Shmwarze Ichattenhafte Inſeln.
Darüber breitete fih die opalfarbene Helle der Früh:
Tommernadt.
Flüchtigen Fußes eilte Renate dahin. An ihrer
Seite der alte Waldläufer, rüflig ausfchreitend. Haflo
ging hinter ihr, und nicht ein einziges Mal fchaute
fie zurüd. Seine Blide aber hingen an ihr und
folgten jeder ihrer Bewegungen.
Täufhte ihn denn ein Rraumgebilde feiner
Phantafie, oder war fie das mwirkflihd — fie, die ihn
einft von fi gewiefen und ihm fo bitter weh ge:
than? Syn feinem Ohr tönte jegt der bejeligte Jubel:
ihrei, mit dem fie fih an feine Bruft geworfen.
Das war doch Wirklichkeit, und fie brach einen Riß
in bie Eijesrinde, die jo lange fein Fühlen in grau:
famer Fefjel gehalten. Wie eine heiße Flut quoll es
darunter auf, befreiend, ungeftüm. Was jollte Daraus
werden? Er jah wohl, jo wie dort auf der Rojen:
veranba, als fie ihm nachgegangen, und er fie zu-
rüdgemwiefen, konnte er Renate nicht wieder gegenüber:
ftehen. Es war ihm, als jchlügen die Wellen höher und
raubten ihm Atem und Belinnung. Mit einem tiefen
Atemzuge, einem kurzen Rud blieb er plöglich ftehen.
„hut dem Sunler der zerichoflene Fuß weh?”
fragte Hinge in feinem Enurrenden Ton. „Wär’ fein
Wunder! Sole Fußpiriche taugt noch nicht für Sie!”
Wie ein Stih ging Renate diefeg Wort durchs
Herz, mwedte fie aus ihrer Angftbetäubung und gab
ihrem Empfinden eine andere Richtung. Auch fie
blieb jegt ftehen, den Kopf wie in Beihämung gejenft.
Das niedrige Didiht lag Hinter ihnen. Sie
ftanden wie in der Eingangshalle des Hochwaldes,
Ihmarze Nacht vor ihnen. Gleih einem weißen
Nebelbilde hob fich die helle Mädchengeftalt daraus ab.
Keines von beiden jpradh ein Wort.
„Ein feiner Pirfhgang war das aber!” jeßte
der alte MWeidmann feine Rede fort und lachte leife,
daß es wie das Knarren eines Eichenaftes Klang.
„Und was für ein Fangftoß wär’ das geworben,
wenn Sie zufließen, Junter! Ych fenn’ Ihre Hand!
Schade drum — feinen Mud hätt’? der Franzofe
mehr gejagt!”
„Sa, freilih war e8 fjchabe!” Haſſo zog ſein
Fangmefjer heraus. Der geihliffene Stahl bligte in
der Dämmerung. „Hinte, ih hab’ einmal einen
groben Keiler abgefangen, zum Andenken daran be:
fam ih dies Mefler geihentt. — Prinz Ludmig,
mein Held — daß dieje Klinge mir helfen würde
gegen den Erzfeind — im Dienite einer Dame —
das gefhah nah Deinem ritterliden Sinn!“
Sept endlich wandte fi Renate ihm zu. Sie
ah ihn vor fich ftehen, in dunklen Linien gezeichitet,
männlich und feit — leibhaftig jo, wie er Tag und
Nacht in ihrer Erinnerung gelebt. Er hatte fie ge:
jucht, gerettet mit ritterlihdem Mut und ftarlem Arm.
Ah und fie wußte es ja — in feinem Schuß war
fie vor der ganzen Hölle fiher. „Haflo, was haben
Sie für mid gethan!” rief fie aus.
Hallo antwortete nicht. Er wollte feinen Dant.
Sein Auge ruhte auf ihr wie mit qualvoller Frage.
„Befehlen Sie weiter zu gehen, Nenate?” fagte
905
er. „So geben Sie mir bitte den Arm. Unfer
Weg ift uneben und dunkel. Diejes Kleine Vorrecht
darf ich mir heute wohl erbitten.“
Gehoram folgte fie ihm. Ihr Herz klopfte
zum Zerfpringen. War er denn das wirklich, der
jo heiß Erjehnte, verloren Geglaubte, unverjöhnlich
Zürnende, und fie lehnte Jhugjudhend, vertrauend an
feinem Arm? —
Stumm jhhritten fie nebeneinander ber. Vor
ihnen ging mwegkundig, aufmerffam und doch fchein-
bar ohne zu jehen und zu hören, der alte Waldläufer.
Totenitile war um fie ber. Nur zumeilen
Inadte ein Aft unter ihren Füßen. Hin und wieder
ftrich froftig kühl der Atemzug der Nacht durch die
Baumfronen, jo daß fie jeufzend erichauerten. Dann
wieder das tiefe Schweigen.
Lang war der Weg.
„Sind Sie no nit müde, Renate?” fragte
Hallo endlich.
Sie Iehüttelte den Kopf. „Ich bin nicht mübe!
Ich könnte ſtundenlang ſo weitergehen! Aber Sie,
Haſſo — Ihr verwundeter Fuß —“ ſie zögerte, doch
er wies mit abwehrender Handbewegung die Fürſorge
zurück und zog ſie weiter mit ſich fort.
„Jetzt noch zehn Minuten, dann ſind wir in
Tiefenſee!“ tröſtete Hintze mitleidig brummend.
„Gnädig' Frölen wird ſich auch ſchon die kleinen
Füßchens wundgelaufen haben!“
Eine Anhöhe ging es hinauf, da lichtete ſich
der Wald.
Vor ihnen tief unten lag der See — wie
mattes Silber zwiſchen den ſchwarzen Baumwipfeln
heraufſchimmernd. Jenſeits das Herrenhaus von
Tiefenſee, mit den erhellten Fenſtern in der dunklen
Umrahmung.
„Da ſind wir,“ erklärte der Alte. „Jetzt wiſſen
die Herrſchaften Beſcheid. Ich werde vorausgehen
und ſichern. Ein Wagen kommt nämlich die Land—
ſtraße herauf — zu dieſer Stunde — das muß
etwas zu bedeuten haben!“ Fort war er.
Haſſo und Renate blieben ſtehen. Sie löſte
ihren Arm aus dem ſeinen und hob ſchüchtern den
Blick zu ihm auf. „Haſſo — Sie wollen es nicht
— doch muß ich davon reden!“ begann ſie ſtockend.
„Wie kamen Sie ſo plötzlich dorthin, unter die
Feinde? Wie ein Engel Gottes erſchienen Sie mir!“
„Aber ich kam ſo ſpät, Renate! Sie mußten
ſo lange ausharren! Hat er Sie nicht faſt zu Tode
geängſtigt, der Schurke?“
„Ja, es war die höchſte Not! Aber die Hilfe
mußte kommen! Ich klammerte mich an das Kreuz
— und das hat mich geſchützt und gehalten, bis Sie
kamen! Ehe ich die letzte Rettung durch den ent—⸗
ſetzlichen Sprung aus dem Fenſter ſuchte!“
„Renate — das — wollten Sie thun?“
Ihr Kopf war tief geſenkt. „Es wäre mir keine
Wahl geblieben!“ —
Er ſah auf ſie nieder. Seine Pulſe begannen
zu fiebern. „Kenate — — warum haben Sie nicht
mich gerufen, ſtatt Brünnow! Ich war da, ich hätte
kommen können! So erfuhr ich es erſt zwei, drei
Stunden nachdem Sie ſich hatten fortlocken laſſen in
dieſe Mordgrube.“
Schwertklingen. Roman von Hans Werder.
906
Sein Vorwurf traf ſie unerwartet. „Aber Haſſo
— das konnten Sie doch nicht von mir verlangen!
Ich habe Sie gebeten, mir zu verzeihen, was ich
Ihnen einſt zuleide gethan. Sie ſchlugen es ab!
Konnte ich danach jemals noch mit irgend einer
Bitte zu Ihnen kommen?“
„Herr Gott!“ rief er ſchaudernd. „Welche
Verantwortung wälzen Sie auf mich! Durch meine
Schuld alſo! — a haben mid) gebeten, und ih —
Ihlug es Shnen ab — —’
Ah, Hallo, das ift jegt nicht mehr das
Schlimmfte!“ rief fie leidenfchaftlih auffchluchzend.
„Kun haben Sie mi auch noch zu jo tiefem, un
enblihem Dank verpflichtet, und ih kann ihn nicht
abtragen. hr Herz ift verhärtet gegen mid, id
weiß es wohl, jeit ich Ihnen jo bitteres Unrecht ge:
than! Nicht einmal verzeihen fonnten Sie mir, als
ih Sie bat! Was fol Yhnen da mein Dank! Eine
läftige Bürbe, die auf mich jelbft wieder zurüdfält —”
fie konnte nicht weiter.
Hallo ergriff ihre beiden Hände und zog fie an
fein Rürmifch pochendes Herz. „Meine Süße, Heiß:
geliebte, können Sie denn das nicht verftehen? Ein
Wort nur fan es zwilhen uns geben, ein Entweder
— Dder! Als Sie mir fagten, daß Sie mid für
einen feigen, jammervollen Kerl hielten und mid
niemals lieben Tönnten — nur einen Helden —
nidt mid —“” noch einmal zitterte der grollende
Schmerz; nahllingend in feiner Stimme — „ia, da
verhärtete ih mid gegen Sie! — Was Jol mir
Reue, Berzeihen und Dank! Lieben jollen Sie mid!
Nichts weiter verlange ich auf der ganzen Welt!”
„Ah, Hallo!” Es Hang wie jubelndes Er-
jchreden. Sie fah ihn an mit wirrem, aufleudhtend
judendem Blid. Dann beugte fie fich nieder und
drüdte ihr Antlig auf feine Hände. „Hallo — ih
will e8 gut maden, was ih Ahnen zuleide gethan!
Menn Sie fein Held find, wer ift es dann? Mein
Held find Sie, der einzige — einzige!”
Hallo Hielt ihre Hände feft, mit eilernem Griff.
Die feinen erzitterten dabei. „Renate, ift das wahr?”
Er bob ihr Haupt zu fih empor. Wie in einen
tiefen Born Schaute er in ihre Augen. Was ihm
daraus entgegenleuchtete, war Liebe, Hingebung, Selig-
feit. Da kam es über ihn wie die große wogende
Flut, die nun nichts mehr zurüddämmte — über:
mädtig, überwältigend. — —
Renate hatte beide Arme un feinen Naden ge
Ihlungen, ihr Haupt anf an feine Bruft. „Hallo,
Du wollteft einen Menjchen haben, dem Du alles in
der Welt jein kannit! Das bit Du mir, mein
Alles in der Welt!“
VD.
Sehr langjam gingen fie den Abhang hinunter,
durch den Garten, der wie fchlummernd dalag,
eingehüllt in die weißen Nebel der Sommernadt,
dem Wohnhauje zu.
Aus dem Gartenzinmer über die Veranda ber,
famen ihnen dunfle Geftalten entgegen, wintend und
rufend. Der alte Hinge hatte Hafjos und Renates
903 Schwertklingen.
„Haſſo!“ ſchrie Renate auf. Es war der herz⸗
erſchütternde Jubelklang der Erlöſung — der Selig—
keit. Sie flog auf ihn zu, an ſeine Bruſt. Mit einem
wilden Griff preßte Haſſo ſie an ſich — einen Augenblick.
„Sacre mille tonnerre —“ fluchte der Franzoſe
und warf ſich wie ein Raſender auf die beiden. Haſſo
ſchlug ihn mit der Reitpeitſche zurück. Ein Pfiff —
der alte Hintze ſtand neben ihm und zog Renate mit
ſich fort. Es war das Werk einer Sekunde. Die
beiden Männer ſtanden ſich allein gegenüber.
Langſam, vor den Augen des Colonel, zog Haſſo
ſein Weidmeſſer — Daricot wollte nach ſeiner Piſtole
ſtürzen. Doch zu ſpät. An der Kehle packte ihn Haſſo
mit eiſernem Griff und fetzte ihm das blanke Meſſer
auf die Bruſt.
„Verfluchter Hund, Du biſt des Todes, auf mein
Ehrenwort, wenn Du Dich rührſt oder um Hilfe
rufſt! — Die Dame iſt jetzt in Sicherheit! Auch ich
werde mich ſogleich entfernen! Sollten Sie es wagen,
mir auf den Flur zu folgen, oder einen Laut aus—
zuſtoßen, ſo ſind Sie nicht mehr! Dort ſteht mein
Jäger poſtiert, deſſen Kugel noch niemals gefehlt hat.
Auf Hilfe brauchen Sie nicht zu rechnen. Ihre
Kameraden lärmen da unten im Weinrauſch, und
hören und ſehen nichts!“
Seine Hand gab die Kehle des Franzoſen frei.
Dieſer ſtarrte mit gläſernen Augen auf ihn und auf
die blanke Klinge in ſeiner Hand.
Mit feſtem Schritt verließ Haſſo das Zimmer,
verſchloß die Thür und zog den Schlüſſel ab. Starr
wie eine Bildſäule ſtand Colonel Daricot da — ein
Gefangener in ſeinem eigenen Zimmer.
„Nun vorwärts, Junker, die Hintertreppe runter
— ich führ' Euch!“ raunte Hintze. Er hielt das
Fräulein am Arm und fort ging es, einen dunklen
Gang, eine halsbrechende Stiege hinunter, an der
Küche vorbei, aus welcher wüſtes Schreien und Lachen
ertönte — durch die offen ſtehende Thür ins Freie
hinaus. Ein paar Schritte hart an den Fenſtern und
am Altan entlang — dann in das dichte Flieder—
geſträuch hinein — Tannendunkel — und in den
geheimnisvollen Schatten des nächtlichen Waldes
waren die drei Flüchtlinge verſchwunden.
VI.
„So, gnädig Frölen, hier verpuſten Sie ſich ein
bißchen,” ſagte der alte Jäger. „Wenn uns die
Satansbrut auf den Hacken wäre, hätte ſie uns in
der Wieſenlichtung gefaßt, hier nicht!“
„Nein, nein, nur weiter!“ war Renates haſtige
Antwort. Sie hatte kaum noch das Bewußtſein, wo
ſie war, und wohin ſie eilte. Nur weiter — fort
von dem fürchterlichen Kerker, aus dem ihr der Tod
Errettung bedeutet, nur immer fort aus der Nähe
jenes entſetzlichſten aller Menſchen! Daß ſie frei war,
beſchützt und geſichert, dieſe Gewißheit vermochte ſich
in ihrer angſtbetäubten Seele noch nicht zu befeſtigen.
Ihr Pfad führte ſchmal, verwuchert durch jungen
Buchenaufſchlag und wildes Geſtrüpp. Feucht vom
Tau war das Gezweig, der Nebel lag gleich weißen
Roman von Hans Werder.
904
Streifen in den Gründen, aus denen die Baum:
gruppen auftauchten wie Schwarze jchattenhafte Sinieln.
Darüber breitete fich die opalfarbene Helle der Früh:
jommernadt.
Flüchligen Fußes eilte Renate dahin. An ihrer
Seite der alte Waldläufer, rüflig ausfchreitend. Hafio
ging hinter ihr, und nicht ein einziges Mal jchaute
fie zurüd. Seine Blide aber hingen an ihr und
folgten jeder ihrer Bewegungen.
Täufhte ihn denn ein Traumgebilde jeiner
Vhantafie, oder war fie das wirklid — fie, die ihn
einft von fich gemwielen und ihm jo bitter weh ge:
than? Sn feinem Ohr tönte jet der bejeligte Jubel—
ihrei, mit dem fie fih an feine Bruft geworfen.
Das war doh Wirklichkeit, und fie brad einen Riß
in die Eilesrinde, die jo lange fein Fühlen in grau:
famer Feflel gehalten. Wie eine heiße Flut quoll e8
darunter auf, befreiend, ungeftüm. Was jollte daraus
werden? Er jab wohl, fo wie dort auf der Rojen:
veranda, als fie ihm nadgegangen, und er fie zu:
rüdgemwiejen, konnte er Renate nicht wieder gegenüber:
fteben. Es war ihm, als Ichlügen die Wellen höher und
raubten ibm Atem und Befinnung. Mit einem tiefen
Atemzuge, einem kurzen Rud blieb er plöglich ftehen.
„Thut dem Sunter der zerichoflene Fuß weh?”
fragte Hinge in feinem Inurrenden Ton. „Wär’ fein
Wunder! Solche Fußpiriche taugt noch nicht für Sie!”
Wie ein Stich ging Renate diejes Wort durchs
Herz, mwedte fie aus ihrer Angftbetäubung und gab
ihren Empfinden eine andere Richtung. Auch fie
blieb jegt ftehen, den Kopf wie in Beihämung gejentt.
Das niedrige Didiht lag Hinter ihnen. Sie
ftanden wie in der Eingangshalle des KHochwaldes,
Ihmarze Naht vor ihnen. Gleih einem weißen
Nebelbilde hob fi) die helle Mädchengeltalt daraus ab.
RKeines von beiden jprad) ein Wort.
„Ein feiner Pirfhgang war das aber!” jeßte
der alte Weidmann feine Rede fort und lade leile,
daß e8 mie das Knarren eines Eichenaftes Tlang.
„Und was für ein Fangltoß wär’ das gemorden,
wenn Sie zuftießen, Junker! Ich kenn' Ihre Hand!
Schade drum — feinen Mud hätt’ der Franzofe
mehr gejagt!”
„Sa, freilih war es habe!” Hafjo zog fein
Fangmeſſer heraus. Der geihliffene Stahl bligte in
der Dämmerung. „Hinte, ih hab’ einmal einen
groben Keiler abgefangen, zum Andenken daran be:
fam ich dies Mefler geichentt.e — Prinz Ludwig,
mein Held — daß diefe Klinge mir helfen würde
gegen den Ersfeind? — im Dienite einer Dame —
das geihah nad Deinem ritterlicden Sinn!”
Set endlich wandte fih Renate ihm zu. Sie
ah ihn vor fich ftehen, in dunklen Linien gezeichiret,
männlich und feft — leibhaftig jo, wie er Tag und
Nacht in ihrer Erinnerung gelebt. Er hatte fie ge-
jucht, gerettet mit ritterlihdem Mut und ftarlem Arm.
Ah und fie wußte e8 ja — in feinem Schuß mar
fie vor der ganzen Hölle fiher. „Haflo, was haben
Sie für mid gethan!” rief fie aus.
Haffo antwortete nicht. Er wollte feinen Dant.,
Sein Auge ruhte auf ihr wie mit qualvoller Frage.
„Befehlen Eie weiter zu gehen, Nenate?” jagte
— —— — —
905
er. „So geben Sie mir bitte den Arm. Unſer
Weg iſt uneben und dunkel. Dieſes kleine Vorrecht
darf ich mir heute wohl erbitten.“
Gehorſam folgte ſie ihm. Ihr Herz klopfte
zum Zerſpringen. War er denn das wirklich, der
ſo heiß Erſehnte, verloren Geglaubte, unverſöhnlich
Zürnende, und ſie lehnte ſchutzſuchend, vertrauend an
ſeinem Arm? —
Stumm ſchritten ſie nebeneinander her. Vor
ihnen ging wegkundig, aufmerkſam und doch ſchein—
bar ohne zu ſehen und zu hören, der alte Waldläufer.
Totenftile war um fie her. Nur zuweilen
fnadte ein Aft unter ihren Füßen. Hin und wieder
ftrih froftig fühl der Atemzug der Naht durch Die
Baumfronen, jo daß fie feufzend erihauerten. Dann
wieder das tiefe Schweigen.
Lang war der Weg.
„Sind Sie nodh nicht müde, Renate?” fragte
Haflo endlich.
Sie fhüttelte den Kopf. „Ich bin nicht müde!
Ich Tönnte ftundenlang fo weitergehen! Aber Sie,
Haflo — Zhr verwundeter Fuß —” fie zögerte, doc)
er wies mit abmehrender Handbewegung die Fürjorge
zurüd und 30g fie weiter mit fidh fort.
„segt noch zehn Minuten, dann find wir in
Tiefenjee!” tröftete Hinge mitleidig brummend,
„Bnädig’ Frölen wird fih audh ſchon die Kleinen
Füßchens mundgelaufen haben!“
Eine Anhöhe ging es hinauf, da Lichtete fi
der Wald.
Bor ihnen tief unten lag der See — mie
mattes Silber zwilhen den jchwarzen Baummwipfeln
beraufichimmernd. Senfeit8 das Herrenhaus von
Tiefenfee, mit den erhellten Fenftern in der dunklen
Umrahmung.
„Da find wir,” erklärte der Alte. „Sebt willen
die Herrichaften Beihheid. Ach werde vorausgeben
und fihern. Ein Wagen kommt nämlich die Land:
ftraße herauf — zu diefer Stunde — das muß
etwas zu bedeuten haben!” Wort war er.
Hafjo und Renate blieben ftehen. Sie löfte
ihren Arm aus dem feinen und bob fchüchtern den
Ylid zu ihm auf, „Halo — Sie wollen es nidt
— doh muß ich davon reden!” begann fie ftodend.
„Wie famen Sie jo plöglich dorthin, unter Die
Feinde? Wie ein Engel Gottes erjchienen Sie mir!”
„Aber ih kam jo jpät, Renate! Sie mußten
jo lange ausharren! Hat er Sie nicht fait zu Tode
geängftigt, der Schurke?”
„Sa, es war bie hödjite Not! Aber die Hilfe
mußte fommen! Ich Hammerte mi an das Kreuz
— und das hat mich gefchügt und gehalten, bis Sie
kamen! Ehe ih die legte Rettung durd den ent:
leglihen Sprung aus dem Fenfter Juchte!”
„Renate — das — wollten Sie thun?”
hr Kopf war tief gejentt. „Es wäre mir feine
Wahl geblieben!” —
Er jah auf fie nieder. Seine Pulfe begannen
zu fiebern. „Renate — — warum haben Sie nicht
mich gerufen, ftatt Brünnow! Ich war da, ich hätte
fommen können! So erfuhr ich es erft zwei, Drei
Stunden nahdem Sie fi hatten fortloden laflen in
dieje Mordgrube.”
Schwertllingen. Roman von Hans Werder.
906
Sein Vorwurf traf fie unerwartet. „Aber Haflo
— das konnten Sie do nit von mir verlangen!
Ich babe Sie gebeten, mir zu verzeihen, was ich
hnen einft zuleide gethan. Sie Ihlugen es ab!
Konnte ih danadh jemals noch mit irgend einer
Bitte zu Ihnen fommen?“
„Herr Gott!“ rief er jchaubernd. „Welche
Verantwortung wählen Sie auf mih! Durch meine
Schuld alfo! — Sie haben mid gebeten, und ih —
\hlug es Shnen ab — —'
„Ad, Hallo, das ift jeßt nicht mehr das
Schlimmfte!” rief fie leidenschaftlich aufichluchzend.
„Run haben Sie mid au noch zu fo tiefem, un-
endlihdem Dank verpflichtet, und ich kann ihn nicht
abtragen. Shr Herz ift verbärtet gegen mi, id)
weiß e3 wohl, jeit ich Ihnen jo bitteres Unrecht ge-
than! Nicht einmal verzeihen konnten Sie mir, als
ih Sie bat! Was fol Ahnen da mein Dank! Eine
läftige Bürde, die auf mich jelbft wieder zurüdfällt —”
fie fonnte nicht weiter.
Hafjo ergriff ihre beiden Hände und zog fie an
fein ftürmifch pocdhendes Herz. „Meine Süße, Heiß:
geliebte, Tönnen Sie denn das nicht verjtehen? Ein
Wort nur kann es zwilchen uns geben, ein Entweder
— Dder! Als Sie mir fagten, daß Sie mid für
einen feigen, jammervollen Kerl bielten und mid
niemals lieben fünnten — nur einen Helden —
nit mid —” nodh einmal zitterte der grollende
Schmerz nadllingend in feiner Stimme — „ja, da
verhärtete ih mich gegen Sie! — Was joll mir
Reue, Verzeihen und Dank! Lieben jolen Sie mid!
Nichts weiter verlange ich auf der ganzen Welt!”
„Ad, Haflo!“ Es Mang wie jubelndes Er-
ichreden. Sie fah ihn an mit wirrem, aufleuchtend
juhendem Ylid. Dann beugte fie fich nieder und
drüdte ihr Antlig auf feine Hände. „Haflo — ich
will e8 gut machen, was ich Syhnen zuleide gethan!
Wenn Ste kein Held find, wer ift es dann? Mein
Held find Sie, der einzige — einzige!”
Haflo hielt ihre Hände feft, mit eijernem Griff.
Die feinen erzitterten dabei. „Renate, ift das wahr?”
Er bob ihr Haupt zu fih empor. Wie in einen
tiefen Born jchaute er in ihre Augen. Was ihm
daraus entgegenleuchtete, war Liebe, Hingebung, Selig-
teit. Da kam e8 über ihn wie die große wogende
Flut, die nun nichts mehr zurüddämmte — über:
mädtig, überwältigend. — —
Renate hatte beide Arme um feinen Naden ge:
Ihlungen, ihr Haupt lan an feine Bruft. „Haflo,
Du mwollteft einen Menjchen haben, dem Du alles in
der Welt fein Tannit! Das bit Du mir, mein
Alles in der Welt!”
VL.
Sehr langfam gingen fie den Abhang hinunter,
durch den Garten, der wie jchlummernd balag,
eingehült in die weißen Nebel der Sommernadt,
dem Mohnbhaufe zu.
Aus dem Gartenzimmer über die Veranda ber,
famen ihnen dunfle Geftalten entgegen, wintend und
rufend. Der alte Hinte hatte Hafjos und Renates
907
Ankunft Schon verkündet.
furzem des alten Jägers Verdacht erregt hatte, jaßen,
von Buggendorf fommend, das Zarhomwihe Ehepaar
und Hans Brünnomw. Lebterer hatte zu eiligem Auf:
bruh nad Tiefenjee getrieben, denn Frau Yulies
Botihaft an ihn, die er abends bei feiner Rüdkehr
aus der Stadt vorgefunden, und Haflos unerflär:
lies Ausbleiben flößte den treuen Freunden Angft
und Belorgnis ein. Kurz vor ihnen war Paul Con:
reuthb zu Hauſe eingetroffen. Ihn hatte Renates
verhängnisvolle Fahrt nach Penzlow mit maßloſem
Entſetzen erfüllt, welches kaum gemildert wurde durch
die Kunde, daß Rochlitz ihrer Spur gefolgt war.
Was ſollte dieſer allein helfen können? Sie ſchwebten
nun beide in größter Gefahr. Die unerwartete An—
kunft der Buggendorfer Freunde erſchien als un—
endliche Erleichterung. Alsbald beſchloſſen die drei
Männer einen ſofortigen Aufbruch nach Penzlow.
Doch jetzt erſchien der alte Hintze mit ſeiner erlöſen—
den Meldung. Und gleich darauf erblickte man in der
nebligen Dämmerung die Geſtalten der beiden Ge:
retteten, ſich langſam dem Hauſe nähernd. Warum
nur ſo langſam? Sie eilten ihnen mit fliegendem
Atem entgegen. Renate löſte ſich von dem Arm ihres
Kavaliers und flog wie ein Vogel herbei, in die Arme
ihrer Schweſter, die ſie laut weinend an ſich preßte.
Welche Qualen der Angſt und Selbſtvorwürfe hatte
ſie in dieſen Stunden durchlebt, die AÄrmſte. Sie
meinte, ſich in ihrem ganzen Leben nicht wieder
davon erholen zu können.
Unter lautem Jubel, Lamentieren, Händeringen
wurden die beiden hineingezogen in das warme, helle
Zimmer. Und nun ging es ans Fragen, —*
und Beſtürmen. Frau Selma Zarchow ſchalt in
Kraftausdrücken über ihre eigene Thorheit. Schweſter
Julie zerfloß noch immer in Thränen. Die Herren
aber waren ungalant genug, einſtimmig feſtzuſtellen,
daß ihre drei verehrten Damen ſich untereinander
überboten hätten in Befolgung falſcher Maßnahmen.
„Abſcheuliche Geſellſchaft, Ihr vier!“ rief Selma.
„Das iſt nun wieder Waſſer auf Eure Mühle! —
Aber beſte Julie, wahr iſt es beinah! Nun kommen
Sie endlich wieder zu ſich! Das Kind iſt faſt er—
ſtarrt in ſeinem dünnen Sommerfähnchen, in der
kalten, feuchten Nachtluft! Kommen Sie, Renate,
kommt, wir ziehen die Kleine um! Am beſten wäre
es ſchon, wir ſteckten ſie gleich ins Bett, doch wenn
ich dieſe ſtrahlenden Augen anſehe, wage ich kaum
davon zu reden!“
Die drei Damen verließen das Gemach.
Haſſo ſolgte ihnen mit den Augen. Dann warf
er ſich in einen tiefen Seſſel, zog den ſchmerzenden,
übermüdeten Fuß auf ſein Knie und ſchloß die Augen.
Hans Brünnom heftete einen aufmerkſamen Blick
auf ihn. Seine Hohadhtung für den Kriegsgefährten
war jo groß, daß er fich unmwillfürlich verpflichtet
bielt, die Nube zu behüten, deren jener augenfchein-
liö bedurfte.
„Ssühren Sie Zhre gute Abficht aus, Conreuth,
und beforgen Sie ein Glas beißen Punich ober
Grog,” mahnte Brünnow. „Unferen beiden Aben:
teurern wird die Stärfung gewiß nit unmill-
kommen ſein!“
Schwertklingen.
Roman von Hans Werder.
In dem Wagen, der vor
908
Der Hausherr befolgte ſofort dieſen einleuchten—
den Wink. Leiſe berieten die Herren miteinander
über die Möglichkeit eines Racheunternehmens ſeitens
der Franzoſen. Brünnow hielt ein ſolches für un—
wahrſcheinlich.
„Was wollen ſie denn machen, es ſind ja ſo—
genannte Friedenszeiten,“ meinte er. „Schwerlich
wird der Colonel die Geſchichte an die große Glocke
hängen, dazu iſt die Rolle denn doch zu erbärmlich,
die er dabei geſpielt hat!“
Der kluge Brünnow ſollte mit ſeiner Zuverſicht
recht behalten. Der Name des Colonel Daricot drang
nicht wieder zu den Ohren Haſſos und ſeiner Freunde.
Jetzt kehrten die drei Frauen zurück. Mit
elaſtiſcher Bewegung ſprang Haſſo auf die Füße.
Renate trug ein warmes, dunkelfarbiges Kleid.
Ihr Haar fiel in lockiger Wildnis frei über den
Naden hinab. hr Gefiht war weiß wie Lilien:
blätter, doch die Tippen rot und bie Augen mehr
benn je den bunflen Lichtern des fcheuen, ftolzen
Nehes vergleichbar.
Mit fragendem Blid gingen diefe Augen dDurd)
das Zimmer und blieben auf Hallo ruhen. Sie ging
auf ihn zu, beide Hände ihm entgegenftredend.
„Hallo!“ —
Er ergriff dieſe Hände, beugte ſich tief darüber
und bedeckte ſie mit Küſſen.
„Aber Renate!“ rief Julie faſt erſchreckt. Sie
fühlte wohl, welchen großen Dank Renate ihm ſchul⸗
dete, aber dies machte doch einen zu merkwürdigen
Eindruck!
Renate wandte lächelnd den Kopf zu ihr hin,
ihre Hände feſt in die ſeinen geſchmiegt.
„Sie gehören ihm, Julie, es läßt ſich nichts
mehr daran ändern!“ ſagte ſie und ihr Ton klang
ſtolz und innig. „Er hat ſich ſeine Braut aus der
Hölle herausgeholt! Wenn er ſie behalten will —
ſie gehört ihm!“
„Donner — wetter!“ rief Brünnow, denn das
Erſtaunen machte ihn bis auf dieſen ihm zu geläufigen
Ausruf ſprachlos. Freudig überraſcht, ſtimmten die
übrigen mit ihren Äußerungen ein. Nur Schweſter
Julie begann ihr Händeringen aufs neue.
„Um Himmels willen, Renate, auch das noch!
Wie kannſt Du denn ſo etwas thun, ohne mich oder
Papa zu fragen!“
„Gnädigſte Frau Julie, ich weiß, was Papa
dazu ſagen wird!“ nahm jetzt Haſſo das Wort. „Un⸗
mögliches kann er nicht fordern, und was die Hammer⸗
ſchläge des Schickſals in eins geſchmiedet, das wird
er nicht mehr trennen wollen! — Gegen meine Perſon
kann er, denke ich, nichts einwenden, da ſich Renate
an derſelben genügen laſſen will! — Eine Stellung
aber werde ich ihr, ſo Gott will, bieten können, die
ihrer einigermaßen würdig iſt!“
„Eine kühne Behauptung!“ murmelte Paul
Conreuth mit bewunderndem Blick auf ſeine Schwä—
gerin. Wie ſie zu ihm aufſah, ſtolze Hingebung aus
den Augen ſtrahlend, wahrlich, beneidenswert vor
anderen Sterblichen erſchien ihm dieſer Mann, und
ungewöhnlicher Auszeichnung mußte er würdig ſein.
„Gewiß, die Behauptung mag kühn ſein, da
haben Sie recht!“ beſtätigte Haſſo die halblaute Be:
909 Schwertklingen.
merkung. „Brünnow, auf Abenteuer ins Aus—
land zieh ich nun nicht mehr, das iſt vorbei. Aber
die Frau eines preußiſchen Rittmeiſters zu werden,
bei den Blücherſchen Huſaren — vielleicht läßt ſich
meine Gebieterin das gefallen?“ Er küßte abermals
ihre Hand. „Und ſagt ihr dieſe Stellung nicht mehr
zu, ſo ſteht es mir jeden Augenblick frei, ſie als
Herrin nach Reckentin zu führen! Sie hat nur zu
befehlen! — Damit freilich ſind dann die Schätze
erſchöpft, die ich ihr zu bieten habe!“
„Ich bin damit zufrieden!“ ſagte Renate. „Aber
ich glaube faſt, doch noch mehr der Schätze zu kennen,
die mir ein Haſſo Rochlitz zu bieten vermag!“
VIII.
„Na, Rochlitz, ſind Sie endlich da!“ rief
Excellenz Blücher. „Dachte ſchon, Sie wären mich
durchgebrannt, irgendwo ins Ausland, wie ſo viele
von die Feuerköppe, die es nicht abwarten können,
bis es bei uns losgeht!“
Der kommandierende General war ſoeben von
einem Beſichtigungsritt zurückgekehrt und ſtand noch
mit Pelzmütze und Säbel, als er die Meldung des
Lieutenants von Rochlitz entgegennahm. Dieſer trug
jetzt die Armeeuniform der Kavallerie, die den
Schillſchen geſtattet war, bis ſie verabſchiedet oder
anderen Regimentern zugeteilt wurden.
„Wo haben Sie ſich denn ſo lange rumgetrieben?
Erzählen Sie mich das doch!“
Rochlitz berichtete kurz, wo er ſich ſeit Beendigung
ſeiner Feſtungshaft aufgehalten und ſchließlich auch,
daß er ſich mit der Tochter des Oberſtlieutenants von
Veldegg verlobt hätte.
General Blücher, der ſich des letzteren aus
ſeiner Huſarenzeit als guten Bekannten erinnerte,
nahm die Nachricht wohlwollend auf, freute ſich auch
über die angelegentliche Empfehlung, welche Rochlitz
von ſeinem künftigen Schwiegervater an den Feld—
herrn ausrichtete.
„Das war ein recht geſcheiter Einfall, mein
Sohn! Die Veldeggs — gute Familie, der Alte
ſelber ein Ehrenmann! Iſt ein gutes Zeugnis für
Ihnen, daß Sie das Mädel kriegen! Jedem erſten
beſten wird der ſeine Tochter nicht geben! Ich habe
mir auch ſonſt nach Ihnen erkundigt, bei dem von
Lützow, der Eure Campagne da mitgeritten iſt, und
bei dem von Kleiſt, der auch beim Prinzen Louis
Adjutant war. Beide ſagen mich dasſelbe von Ihnen!
Danach müſſen Sie Pech und Schwefel im Kopf,
und ſozuſagen ein gutes Stück Satan im Leibe haben!
Beſonders wenn es auf dem Feinde druffgeht! Daß
Sie dabei einen rechtſchaffenen Sinn haben, der gerade—
durch geht und keine verfluchten Winkelzüge macht,
das habe ich mich ſchon ſelber überführt! Eine
Schwadron in Stolp iſt frei, hab' Sie Ihnen offen
gehalten, — und Ihre Ernennung zum Rittmeiſter
muß auch bald herauskommen!“
Haſſo ſprach mit warmer Betonung ſeinen ganz
gehorſamſten Dank aus.
„Is ſchon gut!“ ſagte Blücher. „Ein kleines
Roman von Hans Werder.
910
Douceur mußten Sie doch noch von mich haben für
die Arnswalder Affaire mit dem Victor, dem Halunken!
Heute zu Mittag können Sie bei mich eſſen — wir
wollen mal zuſammen ein Glas trinken auf den
baldigen neuen Rittmeiſter, und auf gute Kriegs—
kameradſchaft, wenn es nun endlich losgehen wird
auf die Satanskerle, die verdammten!“
Er brach plötzlich ab. Ein Ausdruck ging über
ſein Geſicht, der den jungen Offizier erſchreckte, wie
das zurückkehrende Bewußtſein eines erſchütternden
Schmerzes, der ſich durch den friſchen Eindruck nur
flüchtig hatte zurückdrängen laſſen und nun doppelt
ſein Recht geltend machte.
„Ja — jetzt iſt's aber doch, als wollte unſer
Herrgott droben uns ganz und gar in der Patſche
ſitzen laſſen und den Satanshöllenmächten allen Vor—⸗
rang über uns einräumen! Das Beſte, was wir
überhaupt noch hatten in der weiten Gotteswelt —
Rodhlig, willen Sie e8 denn nod nit?”
„Nein, ih weiß nicht, wovon Eure Ercellenz
Iprehen, welder neue Schlag uns getroffen hat?”
Blüder fah ihn an mit den blauen, feuer:
bligenden Augen. — „Die Königin ift tot!”
Königin Zuife von Preußen. Rot!
War es denn nicht genug, daß Preußen in
Schmad und Elend zertreten im Staube lag — mußte
ihm auch nod) das Herz aus der Bruft gerillen werben
und das Licht jeiner Augen ihm genommen?
Wie war es möglich, das Ungeheure, Entjegliche
zu fallen? Zn al ihrer Jugend und Schönheit —
„\hön unter Taujenden” — Segen und Wonne
jpendend, wo fie vorüberging, die holdefte aller
Frauen, die behrite aller Königinnen! — Gie war
tot! Berwailt war Preußens Land und Volk und
zerichmetterndb vor allen traf diejer Schlag das Haupt
des unglüdlichen Königs.
„Die Königin tot!“
NRodhlig prallte zurüd, wortlosg — verfteinert
von Entjegen. Wie betäubt legte er die Hand vor
die Augen. Der Stoß, der Preußen ins Herz traf
— jeder Preuße fühlte ihn fo im Herzensgrunde.
Eine Pauje jchmerzerfüllten Schweigens folgte.
„Wann haben es Eure Ercellenz erfahren?”
fragte Hafjo endlich leife.
„Heute früh durch eine Stafette aus Berlin! —
Borgeftern, am 19. Yuli — in Hohen:Zierig! Seine
Majeftät war da! — Ya — hol’ mich der Teufel —
nun ift es zu Ende mit uns!” Und der alte Rede
ftieß im Grimm feines Schmerzes mit dem Säbel
auf den Fußboden, daß es dröhnte.
NRohlig hob mit lebhafter Bewegung den Kopf
ER Sn feinen dunklen Augen flammte eine heilige
Glut.
„Verzeihen Eure Excellenz, nein, es iſt nicht zu
Ende! Königin Luiſe iſt von uns gegangen, nicht
um ihr Volk im Elend verſinken zu laſſen, ſondern
um es emporzuziehen! — Hat ſie unſere Erhebung
auf Erden nicht mehr erleben können, ſo wird ſie
vom Himmel darauf niederſchauen, als der Stern,
der uns voranleuchtet, als der Genius unſeres Sieges
und unſerer Freiheit!“
General Blücher zog die eisgrauen buſchigen
907
Ankunft Ion verkündet. In dem Wagen, ber vor
furzem des alten Jägers Verdacht erregt hatte, jaßen,
von Buggendorf kommend, das BZarhomwidhe Ehepaar
und Hans Brünnow. Lebterer hatte zu eiligem Auf:
bruh nah Tiefenjee getrieben, denn Frau Julies
Botichaft an ihn, die er abends bei jeiner Rüdkehr
aus der Stadt vorgefunden, und Haflos unerflär:
liches Ausbleiben flößte den treuen Freunden Angft
und Bejorgnis ein. Kurz vor ihnen war Paul Con:
veutb zu Haufe eingetroffen. Ihn hatte Renates
verhängnispolle Fahrt nah Penzlom mit maßlojem
Entjegen erfüllt, welches kaum gemildert wurde burdh
die Runde, daß Rodhlig ihrer Spur gefolgt war.
Was follte diefer allein helfen können? Sie jchwebten
nun beide in größter Gefahr. Die unerwartete An:
funft der Buggendorfer Freunde erjchien als un:
endliche Erleichterung. Alabald beichloffen die drei
Männer einen Jofortigen Aufbruhd nah Penzlom.
Doch jeht erihien der alte Hinte mit feiner erlöjen-
den Meldung. Und gleich darauf erblidte man in ber
nebligen Dämmerung die Geftalten der beiden Ge:
retteten, fi langjam dem Haufe nähernd. Warum
nur jo langjam? Sie eilten ihnen mit fliegendem
Atem entgegen. Renate löfte fich von dem Arm ihres
Kavaliers und flog wie ein Vogel herbei, in die Arme
ihrer Schweiter, die fie laut weinend an fich preßte.
Welche Qualen der Angſt und Selbſtvorwürfe hatte
ſie in dieſen Stunden durchlebt, die Ärmſte. Sie
meinte, ſich in ihrem ganzen Leben nicht wieder
davon erholen zu können.
Unter lautem Jubel, Lamentieren, Händeringen
wurden die beiden hineingezogen in das warme, helle
Zimmer. Und nun ging es ans Fragen, Srrählen
und Bellürmen. Frau Selma Zarhom fchalt in
Kraftausdrüden über ihre eigene Thorbeit. Schweiter
sulie zerfloß noch immer in Thränen. Die Herren
aber waren ungalant genug, einftimmig feltzuftellen,
daß ihre drei verehrten Damen fich untereinander
überboten hätten in Befolgung faliher Maßnahmen.
„Abſcheuliche Gefelihhaft, Ahr vier!” rief Selma.
„Das ift nun wieder Waller auf Eure Mühle! —
Aber befte Julie, wahr ift es beinah! Nun fommen
Sie endlich wieder zu fih! Das Kind ift fat er:
ftarrt in feinem dünnen Sommerfähnden, in ber
falten, feuchten Nactluft! Kommen Sie, Renate,
fonımt, wir ziehen die Kleine um! Am beften wäre
es ſchon, wir ftedten fie gleich ins Bett, Doch wenn
ich dieje ftrahlenden Augen anjehe, wage ih Taum
davon zn reden!”
Die drei Damen verließen das Gemad.
Hallo folgte ihnen mit den Augen. Dann warf
er fih in einen tiefen Sellel, 309 den fehmerzenden,
übermüdeten Fuß auf fein Knie und fchloß die Augen.
Hans Brünnom beftete einen aufmerlfamen Blid
auf ihn. Seine Hohadtung für den Kriegsgefährten
war jo groß, daß er fih unwillfürlich verpflichtet
hielt, die Nuhe zu behüten, deren jener augenjchein:
li bedurfte.
„szühren Sie KJhre gute Abfiht aus, Conreuth,
und bejorgen Sie ein Glas heißen Punih oder
Grog,” mahnte Brünnow. „Unjeren beiden Aben-
teurern wird die Stärkung gewiß nidt unmill-
fommen fein!“
Schwertllingen. Roman von Hans Werder.
908
Der Hausherr befolgte fofort diefen einleuchten-
den Wink. Leife berieten die Herren miteinander
über die Möglichkeit eines Rucheunternehmens feitens
der Srangofen. Brünnom bielt ein joldhes für un:
wahrſcheinlich.
„Was wollen ſie denn machen, es ſind ja ſo—
genannte Friedenszeiten,“ meinte er. „Schwerlich
wird der Colonel die Geſchichte an die große Glocke
hängen, dazu iſt die Rolle denn doch zu erbärmlich,
die er dabei geſpielt hat!“
Der kluge Brünnow ſollte mit ſeiner Zuverſicht
recht behalten. Der Name des Colonel Daricot drang
nicht wieder zu den Ohren Haſſos und ſeiner Freunde.
Jetzt kehrten die drei Frauen zurück. Mit
elaſtiſcher Bewegung ſprang Haſſo auf die Füße.
Renate trug ein warmes, dunkelfarbiges Kleid.
Ihr Haar fiel in lockiger Wildnis frei über den
Nacken hinab. Ihr Geſicht war weiß wie Lilien—
blätter, doch die Lippen rot und die Augen mehr
denn je den dunklen Lichtern des ſcheuen, ſtolzen
Rehes vergleichbar.
Mit fragendem Blick gingen dieſe Augen durch
das Zimmer und blieben auf Haſſo ruhen. Sie ging
auf ihn zu, beide Hände ihm entgegenſtreckend.
„Haſſo!“ —
Er ergriff dieſe Hände, beugte ſich tief darüber
und bedeckte ſie mit Küſſen.
„Aber Renate!“ rief Julie faſt erſchreckt. Sie
fühlte wohl, welchen großen Dank Renate ihm ſchul⸗
dete, aber dies machte doch einen zu merkwürdigen
Eindruck!
Renate wandte lächelnd den Kopf zu ihr hin,
ihre Hände feſt in die ſeinen geſchmiegt.
„Sie gehören ihm, Julie, es läßt ſich nichts
mehr daran ändern!“ ſagte ſie und ihr Ton klang
ſtolz und innig. „Er hat ſich ſeine Braut aus der
Hölle herausgeholt! Wenn er ſie behalten will —
ſie gehört ihm!“
„Donner — wetter!“ rief Brünnow, denn das
Erſtaunen machte ihn bis auf dieſen ihm zu geläufigen
Ausruf ſprachlos. Freudig überraſcht, ſtimmten die
übrigen mit ihren Äußerungen ein. Nur Schweſter
Julie begann ihr Händeringen aufs neue.
„Um Himmels willen, Renate, auch das noch!
Wie kannſt Du denn ſo etwas thun, ohne mich oder
Papa zu fragen!“
„Gnädigſte Frau Julie, ich weiß, was Papa
dazu ſagen wird!“ nahm jetzt Haſſo das Wort. „Un—⸗
mögliches kann er nicht fordern, und was die Hammer:
\hläge des Schidjals in eins gejhmiedet, das wird
er nicht mehr trennen wollen! — Gegen meine Berjon
fann er, denfe ich, nichts einwenden, da fih Renate
an berjelben genügen lafjen will! — Eine Stellung
aber werde ich ihr, jo Gott will, bieten fönnen, bie
ihrer einigermaßen würdig ift!”
„Eine fühne Behauptung!” murmelte Paul
Gonreuth mit bewunderndem Blid auf Jeine Schwä-
gerin. Wie fie zu ihm aufjab, ftolze Hingebung aus
den Augen firahlend, wahrlich, benmeidenswert vor
anderen Sterblihen erichien ihm diefer Mann, md
ungewöhnlicher Auszeichnung mußte er würdig fein.
„Sewiß, die Behauptung mag fühn jein, da
haben Sie recht!” beftätigte Haflo die halblaute Be-
909
merlung. „Brünnow, auf Abenteuer ins Aus-
land zieh ih nun nicht mehr, das ift vorbei. Aber
die Frau eines preußilchen Rittmeifter® zu werben,
bei den Blücherijhen Hufaren — vielleidht läßt fi
meine Gebieterin das gefallen?” Er küßte abermals
ihre Hand. „Und jagt ihr dieje Stellung nicht mehr
zu, jo fleht e8 mir jeden Augenblid frei, fie als
Herrin nah Nedentin zu führen! Sie hat nur zu
befeblen! — Damit freilih find dann die Schäße
erichöpft, die ich ihr zu bieten habe!”
„Ich bin damit zufrieden!” jagte Renate. „Aber
id glaube faft, doch noch) mehr der Schäge zu kennen,
die mir ein Hafjo Rodlig zu bieten vermag!”
VIII.
„Na, Rochlitz, ſind Sie endlich da!“ rief
Excellenz Blücher. „Dachte ſchon, Sie wären mich
durchgebrannt, irgendwo ins Ausland, wie ſo viele
von die Feuerköppe, die es nicht abwarten können,
bis es bei uns losgeht!“
Der kommandierende General war ſoeben von
einem Beſichtigungsritt zurückgekehrt und ſtand noch
mit Pelzmütze und Säbel, als er die Meldung des
Lieutenants von Rochlitz entgegennahm. Dieſer trug
jetzt die Armeeuniform der Kavallerie, die den
Schillſchen geſtattet war, bis ſie verabſchiedet oder
anderen Regimentern zugeteilt wurden.
„Wo haben Sie ſich denn ſo lange rumgetrieben?
Erzählen Sie mich das doch!“
Rochlitz berichtete kurz, wo er ſich ſeit Beendigung
ſeiner Feſtungshaft aufgehalten und ſchließlich auch,
daß er ſich mit der Tochter des Oberſtlieutenants von
Veldegg verlobt hätte.
General Blücher, der ſich des letzteren aus
ſeiner Huſarenzeit als guten Bekannten erinnerte,
nahm die Nachricht wohlwollend auf, freute ſich auch
über die angelegentliche Empfehlung, welche Rochlitz
von ſeinem künftigen Schwiegervater an den Feld—
herrn ausrichtete. |
„Das war ein recht geicheiter Einfall, mein
Sohn! Die Veldeggg — gute Familie, der Alte
jelber ein Ehrenmann! Sit ein gutes Zeugnis für
Shnen, daß Sie das Mädel kriegen! Sedem eriten
beiten wird der feine Tochter nicht geben! Sch habe
mir auch fonft nah Ihnen erkundigt, bei dem von
Lüßom, der Eure Campagne da mitgeritten ift, und
bei dem von Kleift, der auch beim Prinzen Louis
Adiutant war. Beide jagen mich dasjelbe von Jhnen!
Danahd müllen Sie Beh und Schwefel im Kopf,
und fozufagen ein gutes Stüd Satan im Leibe haben!
Beionders wenn e8 auf dem Feinde druffgehbt! Daß
Sie dabei einen rehtichaffenen Sinn haben, der gerade:
dur geht und feine verfluhten Winfelzüge macht,
das babe ih mich jchon jelber überführt! Eine
Schwadron in Stolp ift frei, hab’ Sie Shnen offen
gehalten, — und Shre Ernennung zum Rittmeifter
muß auch bald berausfommen!”
Hallo Iprah mit warmer Betonung jeinen ganz
gehorfamften Dank aus.
„Is ſchon gut!” fagte Blüher. „Ein lleines
Schmertllingen. Roman von Hans Werber.
910
Douceur mußten Sie bo noch von mich haben für
die Arnswalder Affaire mit dem Victor, dem Halunfen!
Heute zu Mittag können Sie bei mid eſſen — wir
wollen mal zufanmen ein Glas trinfen auf den
baldigen neuen Rittmeifter, und auf gute Kriegs-
fameradfchaft, wenn es nun endlich losgehen wird
auf die Satanglerle, die verdammten!”
Er brach plöglih ab. Ein Ausdrud ging über
fein Gefiht, der den jungen Offizier erjchredte, wie
das zurüdkehrende Bewußtjein eines erjchütternden
Schmerzes, ber fih durch den frifhen Eindrud nur
flüchtig Hatte zurüddrängen lafen und num doppelt
fein Recht geltend machte.
„Ja — jetzt ift’s aber doch, als wollte unfer
Herrgott droben uns ganz und gar in der Patjche
figen laffen und den Satanshöllenmädten allen Bor:
rang über uns einräumen! Das Belle, was wir
überhaupt noch hatten in der weiten Gotteswelt —
Rodlig, willen Sie es denn no niit?”
„Nein, ich weiß nit, wovon Eure Ercellenz
ipredhen, welder neue Schlag uns getroffen bat?”
Blüder jah ihn an mit den blauen, feuer:
bligenden Augen. — „Die Königin ift tot!”
Königin Luife von Preußen. Tot!
War es denn nidht genug, daß Preußen in
Schmad und Elend zertreten im Staube lag — mußte
ibm au no) das Herz aus der Bruft gerillen werden
und das Licht jeiner Augen ihm genommen?
Wie war es möglich, das Ungeheure, Entjegliche
zu faflen? Sn al ihrer Jugend und Schönheit —
„\hön unter Taufenden” — Segen und Wonıe
ipendend, wo fie vorüberging, die holdeite aller
Frauen, die hehrite aller Königinnen! — Sie war
tot! Vermwaift war Preußens Land und Boll und
zerichmetternd vor allen traf diefer Schlag das Haupt
des unglüdlihen Königs.
„Die Königin tot!“
Rodlik prallte zurüd, mortlos — verfteinert
von Entjegen. Wie betäubt legte er die Hand vor
die Augen. Der Stoß, der Preußen ins Herz traf
— jeder Preuße fühlte ihn jo im Herzensgrunde.
Eine Baufe jhmerzerfüllten Schweigens folgte.
„Wann haben es Eure Erceellenz erfahren?”
fragte Hafio endlich leife.
„Heute früh duch eine Stafette aus Berlin! —
Vorgeftern, am 19. Zuli — in Hohen:Zierig! Seine
Majeftät war da! — Ya — hol’ mich der Teufel —
nun ift e8 zu Ende mit uns!” Und der alte Nede
ftieß im Grimm feines Schmerzes mit dem Säbel
auf den Fußboden, daB es dröhnte.
NRochlig hob mit lebhafter Bewegung den Kopf
u Sn feinen dunklen Augen flammte eine heilige
Blut.
„Verzeihen Eure Excellenz, nein, es ift nicht zu
Ende! Königin Zuile ift von uns gegangen, nidt
um ihr Volk im Elend verfinten zu laflen, jondern
um es emporzuziehen! — Hat fie unjere Erhebung
auf Erden nicht mehr erleben können, jo wird fie
vom Himmel darauf niederijhauen, als der Stern,
ber uns voranleucdhtet, als der Genius unjeres Sieges
und unjerer Freiheit!”
General Blüher 309g die eisgrauen bufdigen
911
Brauen zufammen, baß feine Augen darunter funtelten,
wie ein Paar ftählerne Klingen.
„Gott's Blitz vom Himmel, Junge, ja, Sie
haben vet! Dazu haben wir zu viel an unjerer
Königin gehabt, als daß wir fie jemals ganz ver:
lieren könnten, wenn fie auch leider Gottes gejtorben
it! Aus Sram über das verdammte Elend ift fie
geftorben, aljo auch ihren Tod verdanten wir ber
Höllenbande! Und wir wollen es ihr entgelten
laffen! — Ein Dentmal fol unjere gute Königin
haben — von Blut joll es flarren! Und von
preußiihen Schwertllingen wird es aufgebaut!”
Und er riß feinen Säbel aus der Scheide mit
flirrendem Rud.
„Und ‚Preußens Freiheit‘ wird es beißen!”
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
912
legte Rochlit Hinzu, die Hand an den GSäbelgriff
legend. Er Ijpracdh es dem Felbherrn nach wie einen
heiligen Schwur.
Und was die Männer geihmworen, auf ihre
Schwertllingen, dem heiligen Angedenten ihrer
Königin, das haben fie gehalten — und Taufende
mit ihnen. Unter Strömen freudig vergoflenen Herz:
blutes richteten fie jenes Denkmal auf, dem verklärten
Siegesgenius geweiht — Preußens Befreiung und
Auferftehung.
No lag das Vaterland unter dem eilernen “och
der Schmah und Knedhtihaft faft drei Jahre lang.
Dann aber ging das Morgenrot auf und leuchtete
ihm zu Freiheit, Sieg und Größe!
Ende.
Heiblatt der PDentihen Noman: Zeitung.
Sommernadt.
D Sommernadt, jo reid) an Wonnen,
So friedbevoll und büftefchwer: |
Sehnfüdhtig raufcht e8 in den Bronnen,
Und filbern leuchten Bufh und Wehr.
Nur leife atmet’3 in den Fluten,
Die träumerifh den Naden wiegen
Und fih wie müdgefpielte Kinder
Ans Ihilfunfäumte Ufer fchmiegen.
Sie mögen mid) von dannen tragen —
Wohin der Weg? Ach frage nicht!
Nod grüßt mid) fernher Zitherichlagen
Und froher Menichen trautes Licht.
D, fünnt’ ih doc) der ewigen Stille
Die Arme jegt entgegenbreiten
Und in dem lieben, Kleinen Nachen
So lautlos in das Senjeits gleiten.
Gertrud TVriepel.
Das freudige Veflament.
Bon Karl Pröll.
Schluß.)
Er zauderte ein wenig, doch der egoiſtiſche Magen
flüſterte ſo dringend zu: „Nimm! Nimm!“ Da hatte er
das runde Ende in der Hand. Und es war ſicher nicht die
Ungeſchicklichkeit Hannis, daß beim Brechen das weitaus
größere Stück Hugo verblieb. Er wollte es austauſchen, ſie
aber wies das zurück: „Jedem das Seine! Und nun im
Takt hineingebiſſen. Eins, zwei, drei!“
Wirklich, Hugo biß an und wieder an, und ſo hatte es
ihm noch nie geſchmeckt im Leben. Hanni, die langſamer
aß, gelangte mit ihm gleichzeitig zum Schluß.
Dem letzten Kauen folgte überſtrömender Dank Hugos,
ein Beweis, daß die Liebesfreude und Lebensfreude unver⸗
Hugo verlangte, daß Hanni ihn Du nennen und auf—⸗
ſuchen müſſe, wenn ſie an einem Sonn⸗ oder Feiertage in
die Stadt komme.
Sie wollte ausweichen und ſagte, das „Du“ werde ihr
zu ſchwer und was ſollte ſie in der Stadt und bei ihm machen.
Die Mutter wünſche, daß ſie in der Sonntagszeit im Alten
oder Neuen Teſtamente leſe und höchſtens im Garten der Nach⸗
barin zuhorche, wie in der Schenke zum Tanze gefiedelt werde.
Hugo ſchlug alle dieſe Einwände ſiegreich nieder. Das
„Du“ ſei ſo kurz wie das „Sie“ und viel natürlicher. Weigere
ſie ſich, ſo würde er Hanni auch „ſietzen“, was er erſt lernen
müſſe. Das Alte oder Neue Teſtament könne ſeine Brot⸗
ſchweſter von heute bei ihm auch leſen und ſein Vater habe
gar nichts dagegen. Dann führe er Hanni zu einem
Karuſſell oder in einen wirklichen Tanzſaal, wo ſogar
Bäckermeiſterstöchter ſich herumdrehten und Zigeuner auf»
ſpielten. So öffnete er Hanni eine neue, bunte Märchenwelt,
deren Verlockungen ſie nicht widerſtehen konnte. Namentlich
das Tanzen bei Zigeunermuſik kam ihr wie der Vorhof des
Himmels vor, von dem aus nur noch einige Treppenſtufen
bis zum wirklichen Himmel waren.
Hanni errötete und erblaßte voll innerer Luſt und liſtete
bereits nach einem gangbaren Weg zu dieſen Herrlichkeiten.
Sie verriet gleich ihren Eva⸗Plan: „Da die Mutter doch etwas
ſchwach wird und das Garn für die Strümpfe ſich meiſtens
durch den Landſchlächtergeſellen aus der Stadt mitbringen
läßt, will ich der lieben Frau einreden, daß man durch Eigen—
kauf vielleicht billiger dazu kommen könne. Auch wird ſie
mir geſtatten, daß ich beim Apotheker nachfrage, ob dieſer
nichts Heilſames für ihren ſchwachen Atem wiſſe. So machen
wir es, wenn — Du damit einverſtanden biſt?“
Hugo hörte vergnügt dem Plaudermäulchen zu, das ſo
kluge Anſchläge bekundete, wie dies kaum ein Sekundaner
zuwege brächte. Er lobte Hanni und ihre holde Verſchmitzt⸗
heit, drückte ihr die Hand, die ſie ihm willig ließ, während
ihre Augen ſich ſeinen noch mehr näherten. Dann trabte er
munter nach dem Preleuthnerſchen Meierhofe hin.
Als er zu dem grünen Rain kam, den der Kaplan be—
treten und der zu Hugos Hauptweg führte, faßte ihn das
dorbener Menſchen, ſeien ſie Studenten oder Soldaten, durch | Gefühl, er hätte irgend etwas vergefien. Sollte da8 vom
ben Magen gebt. ı nadjgappelnden Gewiffen herrühren? DO nein! Plöglid) fiel
913
ihn: bei, daß er Hannt feinen Kuß gegeben, obidon ihr
Mund fi feine zwei Zoll von dem feinigen befunden hatte.
Alle Liebesgeihihhten fangen body mit einem Fuß an und
ganz zweifellos ftedte er jegt mitten in feiner erften Liebes
geihichte.e Hugo Ichlug fih an die Stirne und feufzte: „O!
ih Scafsfopfl Sch denfe aud nur an Butter und Brot.
Was nügt mir jet dag Yrühftüd bei der Preleuthnerin,
da th) mit durftigen Lippen hinfomme und mid; meiner
eigenen Dummheit fhämen muß. Sa, die wichtigften Sadıen
werden einem im Gumnafium nicht gelehrt. Doch id) werde
das Berfäumte in der Stadt nadhholen.“ Und er hob die
langen Schülerbeine und wirbelte den Staub des Weges auf.
* *
*
Der Regen ftrömte nieder, ald Hugo nad) reichlicher
Bewirtung der Preleutgnerfhen Cheleute fih zum Nücd:
marſch entichloß. Auf dem Stoppelfeld, wo vor drei Stunden
fit Hanni mit ihren Gänfen befunden hatte, lag ticfgrauer
Nebel. „Eigentlich hätte fie warten oder mir entgegengehen
fönnen,” murmelte er ungehalten, wideriprah fich jebodı
jelbft: „So bumm ift bie nicht. Aber lieb und nett tros
der vielen Sommerfproffen.“
Hanni fchlief an diefem Tage Später ein. Immer wieder
tauchte vor ihr das Bild Hugos auf, fie hätte in feinem
dichten Haarbufh mühlen und ihn fo lange neden mögen,
bi3 —. Endlih lachte fie fih in den Schlaf.
Am Sonntag wußte fie e& bei ber Mutter durdjzufegen,
daß fie in die Stabt gehen durfte. Das war eine Sreis-
ftabt von beicheidenem Umfange, bie noch immer Raum
genug für Hausgärten, grüne Straßenallen und nicht
ängftlid” abgeichlofjene Kinderfpielpläge enthielt Das uns
ebene Straßenpflafter aus Wellfteinen und die Eleinbürgerliche
Solidität der Bewohner paßten zu einander und die Laternen
waren nicht zahlreicher als die gewohnheitsmäßigen Nacht:
fhwärmer. Hanni Elopfte da8 Herz ftärfer, als fie das ge-
malte Einhorn ſah, das Wahrzeihen der einzigen Ortd-
apothele. Ste zögerte in ben Laden einzutreten, in dem ein
älterer Herr mit blauer Brille irgend etwas in einer Porzellan
Thale verrieb. Durch die geöffnete Thür drang ein geheimni?-
voller, kräftiger Miſchgeruch heraus.
Auf einmal hörte ſie von rückwärts rufen: „Hanni!“
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Als ſie ſich umdrehte,
ſah ſie niemand. Aber der Ruf wiederholte ſich und ſchien
von der dickſtämmigen Linde zu kommen, die ſich breitäſtig
über einen offenen Röhrbrunnen ſpannte. Sie wandte ſich
der Richtung zu, und dann flogen ihr einige Waſſertropfen
in das Geſicht. Jetzt entdeckte Hanni Hugo, der halbverſteckt
unter der Linde ſtand. Er winkte ihr, und ſie kam und
faßte die dargereichte Hand.
„Ich habe Dich erlauert vom Fenſter aus und wollte
Dich hier treffen, damit Du keine Umſtände haſt. Meine
Schweſter Marie iſt noch zu Hauſe und die thut gewöhnlich
hochmütig und neugierig. Der Vater will in ſeiner Be⸗
ſchäftigung nicht geſtört werden. Da bleibt es das Beſte,
wir machen gleich zuſammen unſern Spaziergang. Du biſt
früh gekommen und nun wollen wir uns den Tag fröhlich
vertreiben.“
Hanni merkte ſeine Verlegenheit, war jedoch zus
frieden, daß er ihr den heiklen Weg in ſein Haus und das
viele Fragen und Gefragtwerden erſpart hatte. Doch eine
Schelmerei flog ihr durch den Sinn: „Wie wird es denn
mit dem Leſen des Alten oder Neuen Teſtamentes, das Du
Remanszeitung 1896.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
914.
mir zugejagt haft? Ganz ohne Sottesfurdt Toll man den
Sonntag nicht verbringen.“
Hugo prüfte noch immer ihre Erfheinung: „Wie hübich
Du Ti gemacht Haft. Tas helle leid, die Heinen Stiefelhen
und der Strohhut: Du darfit Di mit jedem Bürgermädchen
vergleichen. Nur die Fibel fehlt, die ift wertvoller ala Deine
Brofche. Und wegen de Bibellefend braudhft Du Dich nicht
zu grämen. Sch will Dir dafür von dem freudigen Teftas
ment zmeier junger Leute erzählen, die fi in wahrer
Nächftenliebe zufanımenfinden.”
Hanni errötete leiht. „Sch Fürdte mid, mit Dir fo
allein zu gehen. Und die anderen, denen wir begegnen, find
mir unbefannte Menfchen.”
„Auf dem freien Felde, mo uns feiner fah, Haft Du
Dih nicht gefürditet.*
„Da war ih die Königin — über die Gänfe Die
hätten mich ſchon verteidigt, und jelbft wenn ih Schuhe
habe, holft Du mich doch nicht ein.“
„Will ich denn Schlimmes?* fragte Hugo ehrlich betrübt.
„Nein,“ antwortete Hanni treuherzig, Dir traue id).
Aber man fürdtet fih vor dem Glüd, wenn es auf
der Landftraße kommt und nicht uns zu Haufe auffudt.“
„Ad, zu was foldhe Gebanten! Vorwärts! Dort um
die Ecke zeigt fi) fchon der gelehrte Iltis, mein Lehrer im
Griehifhen. Der nimmt e8 mir übel, daß ich nicht daheim
büffele.*
„Du Ihamft Dih wohl meiner?”
„Aber Hanni, hätte ich Dich) fonft gebeten, mid aufzu-
ſuchen?“
„Nein, nein!“ erwiderte Hanni.
als Dich ſehen.“
Sie eilte ihm, der bereits einige Schritte gethan, nach.
Er führte ſie durch eine ſtille, menſchenleere Straße dem
Ufer des Flüßchens zu, das die Stadt nach Weſten abgrenzte.
Mehrere Laſtbote waren da verankert, alte Stumpfweiden
wiegten läſſig ihre grünen Gerten. Ein ſchmaler Pfad führte
daneben und im Hintergrund dehnte ſich dichteres Gehölz aus.
„Du bringſt mich in den Wald. Von dem habe ich ja
in meiner Gegend genug.“
„Fällt mir nicht ein. Wir wollen eine Waſſerpartie
machen und gleich um den Bug iſt unſer Kahn befeſtigt.
Auf der Stadtpromenade trifft man vor der Kirchenzeit zu
viel Bekannte. Wir frühſtücken im Tannenwald, wo es gute
Milch und Butterbrote giebt. Das hält bis Nachmittag aus.
Dann bringe ich Dich in ein Tanzlokal, in dem die Geſellen
mit ihren Schätzen walzen. Und haben wir uns ebenſo ver⸗
gnügt, ſo gehſt Du abends wieder heim. Ich habe dem
Vater geſagt, daß ich mit Schulkollegen einen Ausflug mache.
Man erwartet mich nicht zum Mittageſſen und in Rückſicht
auf den Ausflug hat mir der Vater auch einiges Geld ge⸗
geben.“
„O, wie ſchlau Du biſt! Doch es gefällt mir, was Du
vorſchlägſt. So gut kann es mir ja im ganzen Leben nicht
mehr gehen.“
„Warum nicht, es wird immer ſchöner werden, je länger
wir uns kennen“
Hanni ſah ihn ernſthaft an: „Glaubſt Du? Ich nicht.
Den Armen wird ſo ſelten etwas Gutes zu teil.“
Hugo hatte die Kette des Kahnes gelöſt, Hanni ſprang
auf ſeinen Wink leichtfüßig in dieſen hinein.
„Jetzt mußt Du aber recht ruhig ſitzen,“ mahnte Hugo.
Er ergriff die Ruder und fuhr längs des Ufers dahin, unter
„Ich will ja nichts,
IV. 64
Brauen zufammen, daß feine Augen darunter funtelten,
wie ein Paar ftählerne Klingen.
„Bots Blig vom Himmel, Junge, ja, Sie
haben reht! Dazu haben wir zu viel an unjerer
Königin gehabt, al® daß wir fie jemals ganz ver:
lieren Lönnten, wenn fie aud) leider Gottes geftorben
it! Aus Sram über das verdammte Elend ilt fie
geftorben, alfo auch ihren Tod verdanten wir ber
Höllenbande! Und wir wollen es ihr entgelten
laflen! — Ein Dentmal fol unfere gute Königin
haben — von Blut fol es ftarren! Und von
preußiihen Schwertllingen wird es aufgebaut!”
Und er riß feinen Säbel aus der Scheide mit
klirrendem Ruck.
„Und ‚Preußens Freiheit‘ wird es heißen!”
911 Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 912
ſetzte Rochlitz hinzu, die Hand an den Sädbelgriff
legend. Er ſprach es dem Feldherrn nach wie einen
heiligen Schwur.
Und was die Männer geſchworen, auf ihre
Schwertklingen, dem heiligen Angedenken ihrer
Königin, das haben ſie gehalten — und Tauſende
mit ihnen. Unter Strömen freudig vergoſſenen Herz:
blutes richteten ſie jenes Denkmal auf, dem verklärten
Siegesgenius geweiht — Preußens Befreiung und
Auferſtehung.
Noch lag das Vaterland unter dem eiſernen Joch
der Schmach und Knechtſchaft faſt drei Jahre lang.
Dann aber ging das Morgenrot auf und leuchtete
ihm zu Freiheit, Sieg und Größe!
Ende.
Heiblatt der PDentihen Noman:Zeilung.
Sommernadt.
D Sommeradt, jo reih an Wonnen,
So friedevoll und büftefhwer:
Sehnfühtig raufcht e& in den Bronnen,
Und filbern leuchten Bufh und Wehr.
Nur leife atmet’3 in den Fluten,
Die träumerifch den Nachen wiegen
Und fi wie müdgelpielte Kinder
Ans Ichilfumfäumte Ufer fchmiegen.
Sie mögen mid) von dannen tragen —
Wohin der Weg? Ich frage nicht!
Noh grüßt mich fernher Zitherichlagen
Und frober Menihen trautes Licht.
D, fönnt’ ich doch der ewigen Stille
Die Arme jegt enigegenbreiten
Und in dem lieben, Eleinen Nachen
©o lautlos in dag Ienjeits gleiten.
Gertrud Vriepel-
Das freudige Veflament.
Von Karl Yröf.
(Schluß.)
Er zauderte ein wenig, doch der egoiſtiſche Magen
flüſterte ſo dringend zu: „Nimm! Nimm!“ Da hatte er
das runde Ende in der Hand. Und es war ſicher nicht die
Ungeſchicklichkeit Hannis, daß beim Brechen das weitaus
größere Stück Hugo verblieb. Er wollte es austauſchen, ſie
aber wies das zurück: „Jedem das Seine! Und nun im
Takt hineingebiſſen. Eins, zwei, drei!“
Wirklich, Hugo biß an und wieder an, und ſo hatte es
ihm noch nie geſchmeckt im Leben. Hanni, die langſamer
aß, gelangte mit ihm gleichzeitig zum Schluß.
Dem letzten Kauen folgte überſtrömender Dank Hugos,
ein Beweis, daß die Liebesfreude und Lebensfreude unver⸗
dorbener Menſchen, ſeien ſie Studenten oder Soldaten, durch |
den Magen gebt.
Hugo verlangte, daß Hannt ihn Du nennen und auf:
fuhen müfje, wenn fie an einem Sonn oder Feiertage in
die Stabt komme.
Sie wollte ausweichen und fagte, bad „Du* werbe ihr
zu fchwer und maß follte fie in der Stadt und bei ihn machen.
Die Mutter wünjche, daß fie in der Sonntagszeit im Alten
oder Neuen Teftamente Iefe und höchfteng im Garten der Nad)-
barin zuborche, wie in der Schenke zum Tanze gefiedelt werde.
Hugo Ichlug alle diefe Einwände fiegreidh nieder. Das
„Du“ fei fo kurz wie das „Ste“ und viel natürlicher. Weigere
fie fi, jo würde er Hanni aud) „fiegen”, was er erft lernen
müffe. Das Alte ober Neue Teftament könne feine Brot»
ihwefter von heute bet ihm auch lefen und fein Vater habe
gar nichts dagegen. Dann führe er Hanni zu einem
Karufjel oder in einen wirklihen Tanzfaal, wo jogar
Bädermeifterstöchter fi herumdrehten und Zigeuner aufs
jpielten. So öffnete er Hanni eine neue, bunte Märchenmelt,
deren Berlodungen fie nicht widerftehen konnte. Namentlich
da8 Tanzen bei Zigeunermufil fam ihr wie der Vorhof des
Himmels vor, bon dem aus nur noch einige Treppenftufen
bi8 zum wirklichen Himmel waren.
Hanni errötete und erblaßte vol innerer Quft und liftete
bereitö nad einem gangbaren Weg zu diefen Herrlichkeiten.
Sie verriet gleich ihren Eva» Plan: „Da die Diutter dod) etwas
Ihwad wird und da Garn für die Strümpfe fich meiftens
durdy den Landichlächtergejellen aus der Stadt mitbringen
läßt, will ich der lieben Frau einreben, daß man durch Eigen:
fauf vielleicht billiger dazu fommen könne. Auch wird fie
mir geftatten, daß ich beim Apotheler nadıjfrage, ob biejer
niht8 Heilfames für ihren Ihwadhen Atem wiffe. So madıen
wir e8, wenn — Du damit einverftanden bift?*“
Hugo hörte vergnügt dem Plaubermäulchen zu, das jo
fluge Anichläge befunbete, wie bie kaum ein Selunbaner
zuwege brächte. Gr lobte Hanni unb ihre holbe Berjcymißt:
beit, drüdte ihr die Hand, die fie ihm willig lich, während
ihre Augen fi) feinen noch mehr näherten. Dann trabte er
munter nach dem Preleuthnerichen Meierhofe Hin.
Al er zu dem grünen Rain kam, ben ber Saplan bes
‚ treten und der zu Hugos Hauptweg führte, faßte ihn das
Gefühl, er hätte irgend etwas vergefien. Sollte da8 bom
nachzappelnden Gewiſſen herrühren? DO nein! Plötlidh fiel
913
ihn bei, daß er Hannt feinen Kuß gegeben, obihon ihr
Mund fidh feine zwei Zoll von dem feinigen befunden hatte.
Alle Liebesgeihichten fangen doch mit einem Kuß an und
ganz zweifellos ftedte er jegt mitten in feiner erften Liebes»
geihichte.e. Hugo Ihlug fi an die Stirne und feufzte: „O!
ich Schafskopf! Sch denke audh nur an Butter und Brot.
Was nügt mir jeßt das Yrühftüd bei der Preleuthnerin,
da id) mit durftigen Lippen hinfomme und mid) meiner
eigenen Dummiheit Shämen muß. Sa, bie wichtigften Saden
werden einem im Gumnafium nicht gelehrt. Doch ich werde
da8 Verfäumte in der Stadt nachholen.” Unb er hob bie
langen Schülerbeine und wirbelte den Staub des Weges auf.
* *
*
Der Regen ſtrömte nieder, als Hugo nach reichlicher
Bewirtung der Preleuthnerſchen Eheleute ſich zum Rück—⸗
marſch entſchloß. Auf dem Stoppelfeld, wo vor drei Stunden
ſich Hanni mit ihren Gänſen befunden hatte, lag tiefgrauer
Nebel. „Eigentlich hätte ſie warten oder mir entgegengehen
können,“ murmelte er ungehalten, widerſprach ſich jedoch
ſelbſt: „So dumm iſt die nicht. Aber lieb und nett trotz
der vielen Sommerſproſſen.“
Hanni ſchlief an dieſem Tage ſpäter ein. Immer wieder
tauchte vor ihr das Bild Hugos auf, ſie hätte in ſeinem
dichten Haarbuſch wühlen und ihn ſo lange necken mögen,
bis —. Endlich lachte ſie ſich in den Schlaf.
Am Sonntag wußte ſie es bei der Mutter durchzuſetzen,
daß fie in die Stadt gehen burfte. Das war eine Sreiß:
ftadbt von beicheidenem lUmfange, die noch immer Raum
genug für Haußgärten, grüne Straßenallcen und nicht
ängftlid” abgejchloffene Kinderfpielpläge enthielt Das un:
ebene Straßenpflafter aus Wellfteinen und die Heinbürgerliche
Solidität der Bewohner paßten zu einander und die Laternen
waren nicht zahlreicher als die gewohnheitsmäßigen Nacht:
fhwärmer. Hanni Elopfte da8 Herz ftärfer, alö fie das ge-
malte Einhorn ſah, das Wahrzeichen der einzigen Ort3-
apothefe. Sie zögerte in ben Laden einzutreten, in dem ein
älterer Herr mit blauer Brille irgend etwas in einer Porzellan
fchale verrieb. Durch die geöffnete Thür drang ein geheimnis-
voller, fräftiger Mifchgeruch berauß.
Auf einmal hörte fie von rüdwärts rufen: „Hanni!“
Die Stimme fam ihr befannt vor. ALS fie fich umbdrehte,
fah fie niemand. Uber der Auf wiederholte fid) und jchien
von ber didftänmigen Linde zu fommen, die fich breitäftig
über einen offenen Röhrbrunnen fpannte. Sie wandte fid)
der Richtung zu, und dann flogen ihr einige Waflertropfen
in das Gefiht. Sett entdedte Hanni Hugo, der halbverftedt
unter der Linde ftand. Er winkte ihr, und fie fam und
faßte die dargereichte Hand.
„Sch habe Did; erlauert vom Fenfter aus und mollte
Dih bier treffen, damit Du feine Umftände haft. Meine
Schhweiter Marie ift noch zu Haufe und die thut gewöhnlid)
hodmütig und neugierig. Der Vater will in feiner Bes
ihäftigung nicht geftört werden. Da bleibt e8 da& DBelte,
wir maden gleicd) zufammen unfern Spaziergang. Du bift
früh gefommen und nın wollen wir ung den Tag fröhlich
vertreiben.“
Hanni merkte feine WBerlegenheit, war jiedod) zu:
frieden, daß er ihr den heilen Weg in fein Haus und das
biele Fragen und Gefragtwerden erfpart hatte. Doc eine
Schelmerei flog ihr durd) den Sinn: „Wie wird e8 denn
mit dem Lefen des Alten ober Neuen Teftamentes, da8 Du
Reman-Zeitung 1896.
Beiblatt der Deutihen NRoman:Zeitung.
914
mir zugeiagt haft? Ganz ohne Bottesfurdht fol man den
Sonntag nicht verbringen.”
Hugo9 prüfte noch immer ihre Erſcheinung: „Wie hübſch
Du Ti gemadt haft. Das helle Kleid, die Heinen Stiefeldhen
und der Strohhut: Du darfit Dich mit jedem Bürgermäbden
vergleichen. Nur bie Fibel fehlt, die ift wertvoller als Deine
Brofche. Und wegen des Bibellefens braudhft Du Dich nicht
zu gränen. Ich will Dir dafür von dem freudigen Teftas
ment ameier junger Leute erzählen, die fih in wahrer
Näcjitenliebe zufammenfinden.”
Hanni errötete leiht. „Sch fürdte mid, mit Dir fo
allein zu gehen. Und die anderen, denen wir begegnen, find
mir unbefannte Menfchen.”
„Auf bem freien Felde, wo un feiner jab, haft Du
Dich nicht gefürchtet.“
„Da war id die Königin — über die Gänfe. Die
hätten mich fchon verteidigt, und jelbit wenn ih Schuhe
habe, holft Du mich doch nicht ein.”
„Will ich denn Schlimmes ?“ fragte Hugo ehrlid) betrübt.
„Nein, antwortete Hanni treuherzig, Dir traue ich.
Uber man fürdtet fih vor dem Glüd, wenn e3 auf
der Landftraße kommt und nicht uns zu Haufe aufjucdht.“
„Ad, zu was folde Gebdanten! Vorwärts! Dort um
die Ede zeigt fi) fehon der gelehrte Qltis, mein Lehrer im
Griedifhen. Der nimmt e8 mir übel, daß id) nicht daheim
büffele.*
„Du Ihamit Dih wohl meiner?”
„Aber Hanni, hätte ich Dich fonft gebeten, mid) aufzu=
ſuchen?“
„Nein, nein!“ erwiderte Hanni.
als Dich ſehen.“
Sie eilte ihm, der bereits einige Schritte gethan, nach.
Er führte ſie durch eine ſtille, menſchenleere Straße dem
Ufer des Flüßchens zu, das die Stadt nach Weſten abgrenzte.
Mehrere Laſtbote waren da verankert, alte Stumpfweiden
wiegten läſſig ihre grünen Gerten. Ein ſchmaler Pfad führte
daneben und im Hintergrund dehnte ſich dichteres Gehölz aus.
„Du bringſt mich in den Wald. Von dem habe ich ja
in meiner Gegend genug.“
„Fällt mir nicht ein. Wir wollen eine Waſſerpartie
machen und gleich um den Bug iſt unſer Kahn befeſtigt.
Auf der Stadtpromenade trifft man vor der Kirchenzeit zu
viel Bekannte. Wir frühſtücken im Tannenwald, wo es gute
Milch und Butterbrote giebt. Das hält bis Nachmittag aus.
Dann bringe ich Dich in ein Tanzlokal, in dem die Geſellen
mit ihren Schätzen walzen. Und haben wir uns ebenſo ver⸗
gnügt, ſo gehſt Du abends wieder heim. Ich habe dem
Vater geſagt, daß ich mit Schulkollegen einen Ausflug mache.
Man erwartet mich nicht zum Mittageſſen und in Rückſicht
auf den Ausflug hat mir der Vater auch einiges Geld ge⸗
geben.“
„O, wie ſchlau Du biſt! Doch es gefällt mir, was Du
vorſchlägſt. So gut kann es mir ja im ganzen Leben nicht
mehr gehen.“
„Warum nicht, es wird immer ſchöner werden, je länger
wir uns kennen“
Hanni ſah ihn ernſthaft an: „Glaubſt Du? Ich nicht.
Den Armen wird ſo ſelten etwas Gutes zu teil.“
Hugo hatte die Kette des Kahnes gelöſt, Hanni ſprang
auf ſeinen Wink leichtfüßig in dieſen hinein.
„Jetzt mußt Du aber recht ruhig ſitzen,“ mahnte Hugo.
Er ergriff die Ruder und fuhr längs des Ufers dahin, unter
„Ich will ja nichts,
IV. 64
915
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
916
duftigen Büfchen, die manchmal Blätter auf das junge Paar
ftreuten.
Hanni war völlig traumperfunten. Shre braunen
Augen leuchteten und ein unenbliches Wohlgefühl zog durch
ihre Bruft. Die Wellen Eräufelten fi, farbige Schmetter-
linge flatterten über die Wiefen und jet begannen die
Gloden ihr feierliches Geläute. Hugo ließ die Ruder in ber
Nähe einer kleinen Infel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß.
„Weißt Du,Hannt, baß Du mir nod) etwas jchuldig bift?“
Erichroden fuhr fie aus ihrem feligen Dahinbrüten auf:
„a3 denn? Ach babe kein Gelb bei mir.“
Er ladte: „Du bift doc meine Brotichweiter und Haft
mir noch nicht einen Kuß gegeben. In allen Liebesbüchern
fteht aber, daß, wenn zwei fi gerne haben, fie fi aud)
füffen müffen.“
hr wurde wieder bange zu Mute. Als fie ihm in die
guten Augen blidte, fühlte fie fih zu Ihwah, dem Hugo
etwa zu verfagen. Ihr leichtherziger Übermut war ver-
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Sie
flüfterte nur: „Wenn e8 fein muß, fo nimm den Ruß! Ich
traue mid nicht, anzufangen.”
Hugo ließ einen Juchzer erichallen, jprang auf, um fi
Hanni zu nähern. Doch die Erregung madıte ihn ungefchidt,
er ftolperte über dba3 mittlere Querbreitt und ber Slahn
fippte um.
Ein Schrei des Entiegens entfuhr Hanni und don
war aud) fie von den Wellen herabgezogen. Sie fpürte nur
feine Nähe und klammerte ſich unbewußt an Hugo an.
Mit aller Kraft Hob diejer feinen Kopf nochmals über die
Wafjerfläche, fuchte vergebens den Kahn zu erhajchen, der
borbeigeruticht war, und rief verzweifelnd: „Yaß 108, Hanni,
fonft find wir beide verloren. Ich Ihmwimme und falle Dich
bet den Haaren.“
Dod) Hanni ließ nicht mehr Io8, weil fie nimmer fonnte
oder wollte. Hugo drang das Wafler in den Mund, er fanf
mit ihr. Die Wellen ftrudelten nod) furze Zeit, und dann
war e8 ftile — ganz ftille!
Gie follten dag „Freudige Teftament“ der reinen, jungen
Liebe nicht Iefen.
SHtiergefedt.
on Dom Alfredo Sau Mismo.
Seht Ihr da8 Volk gedrängt zu hödjften Stufen,
Erwartungsbang geht durd die NReih’'n ein Zittern,
Schwül, wie's vorangeht heißen Lenzgewittern —
Dann kommt ein Donner von den Beifallgrufen.
Die Maja oben, die Mardefa unten,
Sie beben in der Seide, in den bunten
Mantillen bei den MWechjel des Gefedhtes.
Nun regnet Früchte e3, Eigarren, Blumen!
Die Nelten aus des jchwarzen Haargefledhtes
Mühfamen Bau, fie grüßen rot den Sieger —
Herzlofer Hohn umichallt den Unterlieger!
Kin Toreador ftirbt unter Stiere&hufen,
Und während alle neuen Blutquell wittern,
Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern —
Der Tod hat aud) des Toten Lieb’ gerufen... .
(Deutih von Alfe. Frtedmann.)
A. los Toros.*)
Bon Max Tilke
Die bunten Anichlagezettet haben in den Straßen
Madrivs fon vor einigen Tagen eine große „Gorrida be
Toros* angekündigt, in der ſechs oder acht ſchöne Stiere
aus den renommierteſten Züchtereien von dem berühmten
Guerrita, von Fuentes und Bombita bekämpft und getötet
werden ſollen. Scharenweiſe drängte ſich das Publikum
ſchon drei bis vier Tage vorher um die kleine Bretterbude
in der breiten und ſchönen „Calle Sevilla“, in der Billets
zum Stiergefechte verkauft werden. Billethändler haben
bereits die beſten Plätze in ihre Hände gebracht und ver⸗
kaufen nun die Billets mit großem Nutzen, denn faſt niemand
möchte ſich dieſe ſchöne „Corrida“ entgehen laſſen. In ganz
Madrid ſpricht man von dem bevorſtehenden Stierkampfe,
jung und alt iſt in Erwartung der Dinge, die da kommen
ſollen, aufgeregt, in den Cafés wird heftig disputiert und
gewettet und in den Familien läßt man das Abendeſſen
unter begeiſterten Geſprächen kalt werden. Ja, es kommt
ſogar vor, daß viele der „Aficionados“ zwei Nächte vor⸗
her nicht ſchlafen können. An dem Tage des Feſtes kennt
nun die Begeiſterung keine Grenzen mehr, die Straßen
gleichen wimmelnden Ameiſenhaufen, ſo dicht gedrängt
wandern die Einwohner Madrids dem ziemlich weit im
Oſten vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nach dem
eine lange Allee hinführt. Von der „Puerto de Sol“, dem
größten Platze Madrids, aus ergießt ſich der lärmende
Menſchenſtrom durch die breiten Straßen. In dieſen
wimmelt es von dicht beſetzten Omnibuſſen, die mit bunt
betroddelten Maultieren beſpannt ſind, von Droſchken,
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen ſogar die ſeitlichen
Trittbretter beſetzt ſind. Es gleicht einer wilden Jagd.
Die Peitſchen der Kutſcher und ihr Geſchrei und Zungen⸗
ſchnalzen treiben die dahinraſenden Tiere zu noch größerer
Eile an, ſo daß der auch oben beſetzte Wagen gefährlich
wankend über den unebenen Erdboden dahinſpringt, einen
ungeheuren Staub aufwirbelnd, der das heitere Farben⸗
gewimmel in ein leichtes Graubraun hüllt. Die Sonne
brennt heiß hernieder und hat bereits die Stehlen ber fchau-
Iuftigen Menge ausgetrodnet, die fi aber zur Fürſorge
„Vino tinto“ in Schläuchen und Stürbisflafchen mitgenommen
hat. Dazu fehlen aud nicht die Wafferverfäuferinnen, bie
mit gellender Stimme ihr „agua fresca“, falt wie Schnee,
feilbieten. iiberhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufenbe
und abertaufende von Stimmen wogen durcheinander. Da:
zwijchen hört man die fingenden Töne der Auörufer an ben
Upfelfinenwagen, der Yyacherhändler oder Sonnenihirmden-
verfäufer und vieler anderer Eleiner Gefchäftsleutchen mehr.
Dem Theater zu wird das Gefchrei immer wüfter und das
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen,
Pferdbebahnen und Omnibuffe, d. h. fobald fie auf ber
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber
diejer Zeilen benußten paifierte.
Über die Toreros in ihrer reihen Tracht kommen eben
in einigen Drojdten an, ebenfo die Picadores zu Pferde
mit dem Burfchen hinter jih, überall jubelnd begrüßt und
angeftaunt: Das ift das Zeichen, daß die Gorriba bald bes
ginnen wird, und wirklid hört man drinnen in der Arena
*) Aus Stangens Iſluſtrierter Reiſe⸗ und Verkehrß-Zeitung“, bie wir
unſern Leſern ſchon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenitt.)
— —————————————
917
Ihon die Militärmufif die echt Ipanifchen zerhadten Dielodien
iptelen. Alfo hinein!
Die „Plaza de Torog* ift ein jchönes, großes Amphi-
theater im maurijchen Stile mit einem gewaltigen hufeifen-
bogigen Cingangsportale und zierlihen Fenftern. Sie ift
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20000 Berjonen.
Bon einem Aundgange au8 gelangt man auf die Sigpläke,
auf die GSteinftufen mit Nummern und in Die oberen
Galerien. Man unterjcheidet hauptlfählich zwei Arten von
Blägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit
NRedt, denn es ift wirflid ein linterfhied, ob man bei
45 Grad Hite in der Sonne oder im Schatten figt. Natürlich
ift die Sonnenjeite viel billiger al& die andere, aber es ift
auch im Schatten, wenigftens für einen Nordländer, kaum
auszuhalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanıe
figt, ohne daß der erfriihende Wind Hinzutreten Lönnte.
Snfolgedeflen fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das
ganze Publikum madht den Eindrud einer farbig wogenden
See, und daß beionderd auf der Sonttenjeite, wo man fidh
mit runden, bunten PBapierfähern al® Sonnenfdirmen ver:
jehen hat oder fi die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier fiten
auch die rothofigen Soldaten und die Landleute in Iumpiger
Nationaltradht und Ihmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem
Stinn und den breiten „Sombrero* auf dem Stopfe; ferner
die Mäddyen und Frauen in den buntbejtidten und lang:
befranzten Umjchlagetühern oder in bunten Blufen und
mit Blumen in den jhön und Eunftvoll frifierten fhwarzen
Haaren. Ein bienengleihes Sunmen erfüllt das ganze
Theater, dag jchon beinahe überfüllt ift; die unvermeidlichen
Wafjferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der
Schulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen aud bier
nit und quälen fih mühlam durd) das dichtgebrüngte
Publikum hindurch. Unten in der Arena ift eben der au3-
getrodinete Sand beiprengt worden, und das Yublifum fängt
ihon an ungeduldig zu werden, wa® bald zu einem er:
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen ausartet, obwohl dag
Stiergefeht immer auf die feitgelegte Diinute anfängt —
übrigens das einzige, was in Spanien pünftlid ift —, big
endlich die beiden Ihwarz gekleideten Reiter in altipanijcher
Tracht und Feberhut in der Arena erjheinen, die bon dem
Präfidenten, der oben in jeiner Loge, den Kopf mit dem
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbeftidtem
Sanımet bekleidete Brüftung lehnt, den Sclüffel zu den
Pforten befommen haben.
Gleich) darauf öffnen fih die Barrieren, und während
die Mufit den raufchenden Stierfehtermarih fpielt, findet
unter ihrem Voranritte der malerijche Aufzug der „Torerog“
ftatt. &8 ift dies einer der Ichönften Momente der Eorrida.
Die helle Sonne läßt die jchweren Gold: und GSilberver-
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen
grell aufbligen, und die jichönen Atlasmäntel, die fi) die
Stierfechter elegant um Schulter und Hüften geichlungen
haben, glänzen farbig in dem Lichtmeere. Ein ungeheurer
Qubel begrüßt die Aufmarjchierenden, ein gewaltiges Durd)-
einander von Stimmen und Brapvorufen durdhbrauft Die
Arena. Zuerft kommen bie drei Espada3 oder Matadores,
die im vollen Bewußtfein ihres Wertes erhobenen Hauptes
den nachfolgenden Banderilleros voranjdreiten. Diejen
folgen wiederum die Capeadores und denen die Picadores
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Filzhüten
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Gefichter
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
918
hervorlugen. Den Schluß bilden die „Mionojabios“ (meijen
Affen), die Scnechte der Picadores und die „Araftreg“, Dreis
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und
Fahnen gefhmücdten Maultieren.
Der pradtvolle Zug bewegt fi dem Präfidenten ent-
gegen, der nah ber Zoge hinauf von den Toreros durd
Schwenfen der Hüte feierlih begrüßt wird. Ein helles
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergejpanne verjchwinden
wieder aus der Arena, die Stierfechter vertaujchen ihre Eoft-
baren Vtäntel mit Ichlechten, bereit arg geflidten und blutigen
„Sapotes*, die Shon von manchem heißem Kampfe zeugen.
Die beiden jchwarzen Neiter galoppieren aus der Arena,
nadden ein alter Schließer in dunklem Torerofoftün ben
vergoldeten, mit bunten Bändern geihmücdten Schlüffel zum
„Toril“ (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille
tritt jegt ein, während der Alte die fchwere, dicke, mit Eiſen be-
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... . Eine Kleine
Baufe, und der wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen
Sonne geblendet auf den Kampfplag; er bat die fogenannte
„Devife“ bereit? im Naden. E8 ift dies ein Widerhafen,
an dem bunte, feidene Bänder in den Tarben der Züchterei
befeftigt find, und der ihm, während er fi) nod) eingefchloffen
befindet, durch eine Öffnung hindurch vermittelft einer langen
Stange zwiidhen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt-
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig
verwirrt und fann faft nichts unterfheiden als einige fich be=
wegende rote Tücher, die Gapoten der Toreroß.
MWütend raft er diefen nad, über den gelben, noch, reinen
Sand hinweg, aber der Zorero tjt flinf auf den Beinen und
verjchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere.
Verdutzt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf
eine andere fliegende Capote aufmerljam gemadt und raft
num dDiefer nad, den ihn bereitö erwartenden Picabores ent:
gegen. Diefe haben fic) jeitlich aufgeftellt, nahe ber Barriere,
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Füße in arabiſchen
Kaftenfteigbügeln, deren Eden zugleid ala Sporen dienen.
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben jie eiferne Bein
ichienen, gleich denen der alten Ritter, die fie vor den ge-
fährlichen Hornftößen des Stiereg fhügen. Eine fchöne furze
Sammetjade nıit Gold= oder Silberfticereien, die ungefähr
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenfolde
Mefte und eine feidene Zeibbinde vervollftändigen den Anzug.
Die lange Lanze, die oben in einer feiten Holzbirne endigt,
aus ber eine dreifantige, ungefähr drei Gentimeter lange
Stahlipige herborlugt, halten fie, feit unter den Arm einge:
fiemmt, dem anrafenden Stiere mit der halb mit Leder ge:
Ihüsten Yauft entgegen.
Der Stier, der bis dahin dem flinfen Gapeadore nadıe
eilte, fieht fich plöglih vor dem Pferde eines Picadore und
geht auf den vermeintlichen Urheber der Nedereien mit ges
ienkten Hörnern 108. In demfelben Momente aber bohrt
fih ihm die Lanze in den Naden, die der Picador mit
eiferner Kraft angejegt hat. Von Schmerzen gefoltert, fehrt
der Stier um und wird von den Gapoten der Toreros zu
einem anderen Pferde dirigiert. Laute Braporufen erfreut
den geichickten Picador. Da raft der Stier bem zweiten
Picabore entgegen und bohrt mit furdhtbarer Kraft eines
feiner fpigen Hörner dem jhwanfenden Pferde in den Leib,
fo daß aus dem geöffneten Magen be armen Stlepperö der
balbverdbaute Hädjel über den breiten Kopf des Stieres fällt
und ihn mit häßlichem Gelb und Blut bejudelt. Der
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duftigen Büfchen, die manchmal Blätter auf das junge Paar
ftreuten.
Hanni war völlig traumberfunfen. Shre braunen
Augen leuchteten und ein unendliche Wohlgefühl 30g durd
ihre Bruft. Die Wellen kräufelten fi, farbige Schmetter:
linge flatterten über die Wiefen und jekt begannen Die
Gloden ihr feierliches Geläute. Hugo ließ die Ruder in ber
Nähe einer Heinen Snjel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß.
„Weißt Du, Hanni, daß Du mir nod) etwas fchuldig bift?“
Erihroden fuhr fie aus ihrem jeligen Dahinbrüten auf:
„Was denn? Ich babe fein Geld bei mir.“
Er ladte: „Du bift doc meine Brotichwefter und haft
mir nod nicht einen Kuß gegeben. In allen Liebesbücern
fteht aber, daß, wenn zwei fi gerne haben, fie fih aud
füffen müfjen.”
Ihr wurde wieder bange zu Mute. ALS fie ihm in bie
guten YUugen blidte, fühlte fie fi zu Ihwadh, dem Hugo
etwc8 zu verfagen. Ihr leichtherziger Übermut war ver:
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Gie
flüfterte nur: „Wenn e8 fein muß, jo nimm den Fuß! Ih
traue mich nicht, anzufangen.”
Hugo ließ einen Juchzer erihallen, fprang auf, um fi
Hanni zu nähern. Doc die Erregung machte ihn ungeldhidt,
er ftolperte über das mittlere Querbreitt und ber Stahn
fippte um.
Ein Schrei des Entiegen® entfuhr Hanni und jon
war aud) fie von den Wellen herabgezogen. Sie |pürte nur
feine Nähe und Elammerte fih unbewußt an Hugo an.
Mit aller Kraft Hob diefer feinen Kopf nochmals über die
Wafjerfläche, juchte vergebens den Kahn zu erhafhen, der
borbeigerutfcht war, und rief verzweifelnd: „Qaß los, Hanni,
fonft find wir beide verloren. Ich Ihwimme und fafle Dich
bei den Haaren.”
Dod) Hanni ließ nicht mehr 108, weil fie nimmer fonnte
oder wollte. Hugo drang daB Wafler in den Mund, er jant
mit ihr. Die Wellen ftrudelten nod kurze Zeit, und dann
war e8 ftille — ganz ftille!
Sie jollten das „freudige Teftament” der reinen, jungen
Liebe nicht lefen.
Stiergefedt.
Bon Dom Alfredo Sau Mismo.
Geht Ihr das Volk gedrängt zu hödjiten Stufen,
Erwartungsbang geht dur die Reih’n ein Zittern,
Schwül, wie's vorangeht heißen Lenzgewittern —
Dann fommt ein Donner von ben Beifallgrufen.
Die Maja oben, die Marchefa unten,
Gie beben in ber Seide, in den bunten
Mantillen bei dem Wechſel des Gefechtes.
Nun regnet Früchte e3, Gigarren, Blumen!
Die Nelken aus des fchwarzen Haargefledtes
Mühjamem Bau, fie grüßen rot den Sieger —
Herzlojer Hohn umjhallt den Unterlieger!
Ein Toreador jtirbt unter Stiereshufen,
Und während alle neuen Blutquell wittern,
Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern —
Der Tod Hat aud des Toten Lieb’ gerufen... .
(Deutih von Alfe. Irtedmann.)
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
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A los Toros.*)
Don Max Vilke.
Die bunten Anjchlagezettet haben in den Straßen
Madrids jhon vor einigen Tagen eine große „Gorrida de
Toros“ angefünbigt, in der feh8 oder act Ichöne Stiere
au8 den renommierteften Züchtereien von dem berühmten
Guerrita, von Fuentes und Bombita befämpft und getötet
werden jollen. Scharenweije drängte fit) dag Publikum
Ihon drei bis vier Tage vorher um die Heine Bretterbude
in ber breiten und jchönen „Galle Sevilla”, in der Villet3
zum GStiergefechte verkauft werben. Billethändler haben
bereit8 die beiten Pläge in ihre Hände gebradt und ver-
faufen nun die Billet3 mit großem Nugen, denn faft niemand
möchte jich dieje jhöne „Sorrida” entgehen lafien. In ganz
Madrid jpriht man von dem bevorftehenden Stierfampfe,
jung und alt tft in Erwartung der Dinge, die da fommen
follen, aufgeregt, in den Cafes wird heftig bisputiert und
gemettet und in den Familien läßt man da® Mbendefjen
unter begeifterten Geiprähen kalt werden. Sa, e3 fommt
fogar vor, daß viele der „Aficionado®“ zwei Nächte vor-
her nit jchlafen können. An dem Tage des Feites kennt
nun die VBegeifterung feine Grenzen mehr, die Straßen
gleihen mimmelnden Ameijenhaufen, jo dicht gedrängt
wandern die Einwohner Madrids dem ziemlich weit im
Often vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nad dem
eine lange Allee hinführt. Won der „Puerto de Sol*, dem
größten Plage Madrivs, aus ergießt fih der lärmende
Menfchenitrom durh die breiten Straßen. In dieſen
wimmelt e8 von dicht bejegten Omnibuffen, die mit bunt
betrobdelten DMaultieren beipannt find, von Drofden,
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen jogar die jeitlichen
Trittbretter bejegt find. E83 gleicht einer wilden Sagd.
Die Peitihen der Kutiher und ihr Gejchrei und Zungen
ihnalzen treiben die dahınrajenden Tiere zu nod) größerer
Eile an, fo daß der auch oben bejegte Wagen gefährlid)
wanfend über den unchbenen Erdboden dahinipringt, einen
ungeheuren Staub aufmwirbelnd, der das heitere Farben
gewimmel in ein leichte® Graubraun hült. Die Sonne
brennt heiß hernieber und hat bereits die Stehlen der jchau=
Iuftigen Menge außgetrodnet, die fid) aber zur Fürſorge
„Vino tinto“ in Schläuden und Kürbisflajhen mitgenommen
hat. Dazu fehlen aud) nicht die Wafferverfäuferinnen, Die
mit gellender Stimme ihr „agua fresca*, kalt wie Schnee,
feilbieten. liberhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufende
und abertaufende von Stimmen wogen durcheinander. Da-
zwiichen hört man die fingenden Töne der Ausrufer an den
Apfelfinenwagen, ber Fäcerhändler oder Sonnenſchirmchen⸗
verfäufer und vieler anderer fleiner Gejchäftsleutchen mehr.
Dem Theater zu wird da Geichrei immer wüfter und das
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen,
Pferdebahnen und Ommnibuffe, d. 5. jobald fie auf der
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber
diejer Zeilen benugten paifierte.
Aber die Toreros in ihrer reihen Tracht fommen eben
in einigen Drofchfen an, ebenjo die Picadores zu Pferde
mit dem Burfchen Hinter jih, überall jubelnd begrüßt und
angeftaunt: Das ift da8 Zeichen, daß die GCorrida bald be-
ginnen wird, und mirklid hört man drinnen in der Arena
unfern 2Lefern fon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenitr.)
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Ihon die Militärmufik die echt Spanischen zerhadtten Dielodien
ipielen. Alfo hinein!
Die „Plaza de Toros* ift ein fchönes, großes Amphi-
theater im maurijchen Stile mit einem gewaltigen Hufeiien-
bogigen Eingangsportale und zierliden Fenftern. Sie ift
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20000 Berjonen.
Bon einem Rundgange au8 gelangt man auf die Sitpläge,
auf die GSteinftufen mit Nummern und in Die oberen
Galerien. Man unterjcheidet bauptlählich zwei Arten von
Blägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit
Nedjt, denn es ift wirklich ein linterfchied, ob man bei
45 Grad Hige in der Sonne oder im Schatten fitt. Natürlich
ift die Sonnenjeite viel billiger al® die andere, aber e8 ift
auch im Schatten, wenigjtens für einen Nordlänber, kaum
auszuhalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanıe
jigt, ohne daß ber erfriihende Wind Hinzutreten könnte.
Snfolgedefien fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das
ganze Publikum madht den Eindrud einer farbig wogenden
See, und das bejonderd auf der Sonttenfeite, wo man fi
mit runden, bunten PBapierfähern ald Sonnenjhirmen ver-
jehen hat oder fi die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier fien
aud) die rothofigen Soldaten und die Landleute in Iumpiger
Nationaltraht und Shmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem
Sinn und den breiten „Sombrero“ auf bem Stopfe; ferner
die Mädchen und Frauen in den buntbeftidten und lang
befranzten Umjchlagetüdern oder in bunten Blufen und
mit Blumen in den jhön und kunftpoll frifierten fchwarzen
Haaren. Ein bienengleihes Summen erfüllt das ganze
Theater, dag fchon beinahe überfüllt ift; die unvermeiblichen
Woafferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der
Edulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen aud bier
niht und quälen fih mühlam durch das dichtgedbrüngte
Publikum hindurd. Unten in der Arena ift eben ber aus:
getrodnete Sand beiprengt worden, und dag Publikum fängt
ihon an ungebuldig zu werden, waß bald zu einem er-
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen ausartet, obwohl dag
Stiergefeht immer auf die feftgelegte Minute anfängt —
übrigens das einzige, wa3 in Spanien pünftlid ift —, bis
endlicdy die beiden jchwarz gekleideten Reiter in altipanifcher
Tradt und Tseberhut in der Arena eriheinen, die bon bem
Präfidenten, der oben in jeiner Loge, den Kopf mit dem
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbeftictem
Sanımet bekleidete Brüftung lehnt, den Sclüffel zu den
Pforten befommen haben.
Gleich darauf öffnen fih die Barrieren, und während
die Mufit den raufchenden Stierfechtermarjch fpielt, findet
unter ihrem Voranritte der maleriiche Aufzug der „Toreroz“
ftatt. € ift dies einer der jhönften Momente der Gorriba.
Die helle Sonne läßt die [chweren Gold» und GSilberver-
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen
grell aufbligen, und die jchönen Allasmäntel, Die fi) die
Stierfechter elegant um Schulter und Hüften gefchlungen
haben, glänzen farbig in dem Licdhtmeere. Ein ungeheurer
Jubel begrüßt die Aufmarfchierenden, ein gewaltiges Durd)-
einander von Stimmen und DBravorufen durcdhbrauft Die
Arena. Zuerft fommen die drei E3padas oder Matadorcs,
die im vollen Bewußtjein ihres Wertes erhobenen Hauptes
den nachfolgenden Banberiflerog voranjchreiten. Dielen
folgen wiederum die GCapeadores und denen die Picadores
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Filzhüten
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Gefichter
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
918
hervorlugen. Den Schluß bilden die „Monofabiog“ (meifen
Affen), die Sinechte der Picadores und die „Araftreg“, Drei:
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und
Fahnen gefhmücten Mantltieren.
Der pradtvolle Zug bewegt fi dem Präfidenten ent-
gegen, der nah der Zoge hinauf von den Toreros durd)
Schwenfen der Hüte feierlich begrüßt wird. Ein helles
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergeipanne verichwinden
wieder auß der Arena, die Stierfedhter vertaufchen ihre Eoft-
baren Däntel mit Ichlechten, bereit3 arg geflidten und blutigen
„Gapotes“, die Son von mandhem heißem Kampfe zeugen.
Die beiden fchwarzen Neiter galoppieren aus der Urena,
nadhdem ein alter Schließer in dunklem Torerofoftüm den
vergoldeten, niit bunten Bändern geihmüdten Schlüffel zum
„Toril“ (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille
tritt jegt ein, während der Alte die fchwere, dicke, mit Eiien be=
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... Eine Kleine
Baufe, und ber wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen
Sonne geblendet auf den Kampfplaß; er hat die fogenannte
„Devije* bereit? im Naden. 3 ift dies ein Widerhaken,
an dem bunte, feidene Bänder in den Farben der Züchterei
befeftigt find, und der ihm, während er fidy nod) eingefchloffen
befindet, durch eine Öffnung hindurch vermittelft einer langen
Stange zwiichen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt-
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig
verwirrt und fann faft nichts unterfcheiden als einige fich be—
wegende rote Tücher, die Gapoten der Toreros.
Wütend raft er biefen nach, über den gelben, noch reinen
Sand hinweg, aber der Zorero ift flinf auf den Beinen und
verfchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere.
Verdutzt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf
eine andere fliegende Capote aufmerkjam gemadt und raft
nun diejer nad, den ihn bereit erwartenden Bicadored ent-
gegen. Diele Haben fich feitlic) aufgeftellt, nahe der Barriere,
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Füße in arabijdhen
Kaftenfteigbügeln, deren Eden zugleih als Sporen dienen.
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben fie cijerne Bein-
ihienen, gleich denen der alten Ritter, die fie dor den ge-
fährlihen Hornftößen des Stieres |hügen. Eine jchöne kurze
Sammetjade niit Gold- oder Silberftidereien, die ungefähr
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenjolche
Weite und eine feidene Leibbinde vervollftändigen den Anzug.
Die lange Lanze, die oben in einer feften Holzbirne endigt,
aus der eine dreifantige, ungefähr drei Sentimeter lange
Stahlipige herborlugt, Halten fie, feit unter den Arnı einge-
fiemmt, dem anrajenden Stiere mit der halb mit Leber ge-
ſchützten Fauſt entgegen.
Der Stier, der bis dahin dem flinken Capeadore nach—
eilte, ſieht ſich plötzlich vor dem Pferde eines Picadore und
geht auf den vermeintlichen Urheber der Neckereien mit ge—
ſenkten Hörnern los. In demſelben Momente aber bohrt
ſich ihm die Lanze in den Nacken, die der Picador mit
eiſerner Kraft angeſetzt hat. Von Schmerzen gefoltert, kehrt
der Stier um und wird von den Capoten der Toreros zu
einem anderen Pferde dirigiert. Lautes Bravorufen erfreut
den geſchickten Picador. Da raſt der Stier dem zweiten
Picadore entgegen und bohrt mit furchtbarer Kraft eines
ſeiner ſpitzen Hörner dem ſchwankenden Pferde in den Leib,
ſo daß aus dem geöffneten Magen des armen Kleppers der
halbberdaute Häckſel über den breiten Kopf des Stieres fällt
und ihn mit häßlichem Gelb und Blut beſudelt. Der
315
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
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duftigen Büfchen, bie manchmal Blätter auf das junge Paar
ftreuten.
Hanni war böllig traumverfunfen. Shre braunen
Augen leuchteten und ein unenbliches Wohlgefühl zog durch
ihre Bruft. Die Wellen träufelten fih, farbige Schmetter-
linge flatterten über die Wiejen und jest begannen Die
Gloden ihr feterlihes Geläute. Hugo ließ die Ruder in der
Nähe einer Kleinen Snfel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß.
„Weißt Du, Sanni, daß Du mir noch etwas fcyuldig bift?“
Erichroden fuhr fie aus ihrem feligen Dahinbrüten auf:
„Was denn? Ic habe fein Geld bei mir.“
Er ladte: „Du bift doch meine Brotfchweiter und Haft
mir nod nicht einen Kup gegeben. In allen Liebesbüchern
fteht aber, daß, wenn zwei fich gerne haben, fie fih aud
küſſen müſſen.“
Ihr wurde wieder bange zu Mute. Als ſie ihm in die
guten Augen blickte, fühlte fie fih zu Ihwadh, dem Hugo
etwa zu verfagen. Shr leichtherziger Übermut war ver-
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Sie
flüfterte nur: „Wenn e3 fein muß, jo nimm den Kuß! Ich
traue mich nicht, anzufangen.”
Hugo ließ einen Suchzer erichallen, fprang auf, um fi
Hanni zu nähern. Doch die Erregung madte ihn ungeichidt,
er jtolperte über das mittlere Querbreitt und der Kahn
fippte um.
Ein Schrei des Entiegens entfuhr Hanni und jhon
war au fie von den Wellen herabgezogen. Sie jpürte nur
feine Nähe und Lanmerte fih unbewußt an Hugo an.
Mit aller Kraft hob diefer feinen Kopf nochmals über die
Wafferfläche, juchte vergebens den Kahn zu erhafchen, der
vorbeigerutfcht war, und rief verzweifelnd: „Laß 1o3, Hanni,
fonft find wir beide verloren. Sch fhwimme und falle Dich
bei den Haaren.“
Dod Hanni ließ nicht mehr log, weil fie nimmer fonnte
oder wollte. Hugo drang das Waffer in den Mund, er janf
mit ihr. Die Wellen ftrudelten noch furze Zeit, und dann
war e8 ftille — ganz jtille!
Sie follten ba3 „freudige Teftament” der reinen, jungen
Liebe nicht Tejen.
Stiergefedt.
Bon Dom Alfredo Sau Mismo.
Seht hr das Volk gedrängt zu hödhjiten Stufen,
Grwartungsbang geht dur die Reih’'n ein Yittern,
Schmwül, wic’3 vorangeht heißen Lenzgewittern —
Dann fommt ein Donner von den Beifallärufen.
Die Maja oben, die Marchela unten,
Gie beben in der Seide, in den bunten
Mantillen bei dem Mechiel des Gefedtes.
Nun regnet Früchte es, Gigarren, Blumen!
Die Nelten aus des Ihwarzen Haargeflechtes
Mühjamenm Bau, fie grüßen rot den Sieger —
Herzlofer Hohn umfchallt den Unterlieger!
Sin ZToreador ftirbt unter Stiereshufen,
Und während alle neuen Blutquell wittern,
Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern —
Der Tod hat aud des Toten Lieb’ gerufen... .
(Deutih von Alfe. Ariedmann.)
A los Toros.*)
Bon Max Tilke.
Die bunten Anfchlagezettet haben in den Straßen
Madrids fon vor einigen Tagen eine große „Eorrida de
Zoro8" angefündigt, in der jeh8 oder acht ſchöne Stiere
aus den renommierteften Züchtereien von dem berühmten
Guerrita, von Fuente® und Bombita befämpft und getötet
werden jollen. Scharenweife drängte id} da8 Publikum
ihon drei bis vier Tage vorher um die Eleine Bretterbude
in der breiten und jchönen „Galle Sevilla”, in der Billets
zum Stiergefehte verkauft werben. Billethändler haben
bereit8 die beiten Pläge in ihre Hände gebradt und ver
taufen nun die Billet3 mit großem Nugen, denn faft niemand
möchte fich dieje jchöne „Sorrida“ entgehen Lajjen. In ganz
Madrid fpriht man von dem bevorftehenden Stierfampfe,
jung und alt ift in Erwartung der Dinge, die da fommen
jollen, aufgeregt, in den Gafes wird heftig bisputiert und
gemwettet und in den Familien läßt man das Abendeſſen
unter begeifterten Geiprächen Zalt werden. Sa, ed kommt
fogar vor, daß viele der „Aficionabog“ zwei Nächte vor-
her nicht fjchlafen können. An dem Tage des Seited fennt
nun die DBegelfterung feine Grenzen mehr, die Straßen
gleihen wimmelnden WUmeifenhaufen, fo dicht gedrängt
wandern die Einwohner Mabrivs dem ziemlid weit im
Often vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nach dem
eine lange Allee binführt. Won der „Puerto de Sol”, dem
größten Plage Mabrivs, aus ergießt fit) der lärmende
Menichenftrom durch die breiten Straßen. In diefen
wimmelt e8 von dicht bejegten Omnibuffen, die mit bunt
betroddelten Maultieren beipannt find, von Drofchlen,
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen jogar die jeitlihen
Trittbretter befegt find. E38 gleiht einer wilden Sagd.
Die Beitihen der Kuticher umd ihr Gejchrei und Zungen:
ihnalzen treiben die dahinrajenden Ziere zu nod größerer
Eile an, fo daß der auch oben bejegte Wagen gefährlid)
wantend über den unebenen Erdboden dahinipringt, einen
ungeheuren Staub aufwirbelnd, der da8 heitere Karben
gewimmel in ein leichtes Graubraun hült. Die Sonne
brennt heiß hernieder und hat bereits die Stehlen der hau:
Iuftigen Dienge ausgetrodnet, die fi aber zur Türforge
„Vino tinto“ in Schläuchen und Kürbisflafchen mitgenommen
hat. Dazu fehlen aud nicht die Wafferverfäuferinnen, bie
mit gellender Stimnie ihr „agua fresca“, kalt wie Schnee,
feilbieten. Überhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufende
und abertaujende von Stimmen wogen durdeinander. Da:
zwilcyen hört man die fingenden Töne der Ausrufer an den
Apfelfinenwagen, der Yäderhändler oder Sonnenihirmden«
verfäufer und vieler anderer fleiner Gejchäftsleutchen mehr.
Dem Theater zu wird das Gejidrei immer wüfter und das
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen,
Pferdebahnen und Omnibuffe, d. . Sobald fie auf ber
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber
diefer Zeilen benugten pajfterte.
Uber die Torerog in ihrer reihen Tracht kommen eben
in einigen Drojdhfen an, ebenjo die Picadores zu Pferde
mit dem Vurfchen hinter jih, überall jubelnd begrüßt und
angeftaunt: Das ift daß Yeichen, daß die Gorriba bald bes
ginnen wird, und wirkli hört man drinnen in der Arena
2) Aus Stangend „Ilujtrierter Reife und Verkehrb⸗-Zeitung“, bie wir
unfern Lejern fhon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenjtr.)
917
ihon die Milttärmufif die echt jpanifchen zerhadten Vielodien
ipielen. Alfo hinein!
Die „Plaza de Toros* ift ein fhönes, großes Amphi-
theater im manurijchen Stile mit einem gewaltigen Hufeijen-
bogigen Eingangsportale und zierliden FSenftern. Sie ift
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20 000 ‘Berjonen.
Bon einem Rundgange aus gelangt man auf die Sigpläße,
auf die Steinftufen mit Nummern und in die oberen
Galerien. Dan unterjcheidet hauptfächlich zwei Arten von
PBlägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit
Nedt, denn e8 ift mwirklid ein linterihied, ob man bei
45 Grad Hige in der Sonne oder im Schatten figt. Natürlich)
ift die Sonnenfeite viel billiger al& die andere, aber es ift
auch im Schatten, wenigftens für einen Norbländer, faum
anszubalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanne
jigt, ohne daß der erfriichende Wind Hinzutreten Eönnte.
AInfolgedefien fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das
ganze Publilum maht den Eindrud einer farbig wogenden
See, und daß bejonder? auf der Sonttienfeite, wo man fi
mit runden, bunten Bapierfähern al® Sonnenfdhirmen ver-
jehen hat oder fih die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier figen
auch die rothofigen Soldaten und die 2andleute in Iumpiger
Nationaltraht und Shmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem
Sinn und den breiten „Sombrero“ auf dem Stopfe; ferner
die Mädchen und Frauen in den buntbeitidten und lang>
befranzten Umfchlagetüchern oder in bunten Blufen und
mit Blumen in den jhön und funftvoll frifierten Schwarzen
Haaren. Ein bierengleiheg Summen erfüllt das ganze
Theater, das fon beinahe überfüllt ift; die unvermeidlichen
Wafferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der
Schulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen auch bier
nit und quälen fih mühfam dur; daS didhtgebrängte
Bublifum hindurd. Unten in der Arena ift eben der aus:
getrodinete Sand beiprengt worden, und das Rublikun fängt
ihon an ungebuldig zu werden, wa3 bald zu einem er:
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen außartet, obwohl das
Stiergefeht immer auf die feitgejete Dlinte anfängt —
übrigens das einzige, was in Spanien pünfktlid ift —, big
endlich die beiden jchwarz gefleideten Reiter in altipanijcher
Tracht und Federhut in der Arena ericheinen, die von bem
PBräfidenten, der oben in feiner Loge, den Kopf mit dem
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbefticdtem
Sammet bekleidete Brüftung lehnt, den Schlüffel zu den
Pforten befommen haben.
Gleich darauf öffnen fih die Barrieren, und mährend
die Mufit den raufchenden Stierfehtermarih fpielt, findet
unter ihrem Voranritte der malerifche Aufzug der „Torerog“
ftatt. E83 ift dies einer der fhönften Momente der Gorrida.
Die helle Sonne läßt die jchweren Gold: und Silberver-
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen
grell aufbligen, und die fhönen Atlagmäntel, die fich die
Stierfehhter elegant um Schulter und Hüften geichlungen
haben, glänzen farbig in dem Lichtmeere. Ein ungeheurer
Subel begrüßt die Aufmarjchierenden, ein gewaltiges Durd-
einander bon Stimmen und Braborufen durdhbrauft Die
Arena. Zuerit kommen die drei E3pada3 oder Matadores,
die im vollen Bewußtjein ihres Wertes erhobenen Hauptes
den nachfolgenden Banderillero® vboranfchreiten. Dielen
folgen wiederum die Capeadores und denen die Picadored
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Yilzhüten
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Sefichter
Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung.
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hervorlugen. Den Schluß bilden die „Monojabios” (meijen
Affen), die Snechte der Picadores und die „Arafireg*, Dreis
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und
Fahnen geihmücdten Maultieren.
Der pradtvolle Zug bewegt fih dem Präfidenten ent-
gegen, der nad der Zoge hinauf von den Toreros durch
Schwenfen ber Hüte feterlih begrüßt wird. in helles
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergejpanne verichmwinden
wieder auß der Arena, die Stierfechter vertaujchen ihre Foit-
baren Mäntel mit jchlechten, bereit3 arg geflicten und blutigen
„Sapotes*, die fhon von mandem heißem Stampfe zeugen.
Die beiden fchwarzen Reiter galoppieren au8 der Arena,
nadden ein alter Schließer in dunklen ZTorerofoftüm den
bergoldeten, mit bunten Bändern geihmüdten Schlüffel zum
„Zoril” (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille
tritt jegt ein, während der Alte Die fchwere, dide, mit Eijen be-
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... .. Eine Heine
Baufe, und der wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen
Sonne geblendet auf den Kampfplag; er hat die jogenannte
„Deviſe“ bereit? im Naden. 8 ift dies ein Widerhalfen,
an dem bunte, feidene Bänder in den Farben ber Züchterei
befeftigt find, und der ihm, während er fi) nod) eingeichloffen
befindet, durch eine Öffnung hindurd) vermittelt einer langen
Stange zwijchen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt-
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig
verwirrt und Iann faft nichts unterfcheiden als einige fich be=
wegende rote Tücher, die Sapoten der Toreroß.
MWütend raft er diefen nach, über den gelben, roch reinen
Sand hinweg, aber der Torero ift flint auf den Beinen und
verfchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere.
Berbugt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf
eine andere fliegende Capote aufmerffam gemadht und raft
num diejfer nach, den ihn bereit3 erwartenden Picadores ent-
gegen. Diele Haben fic) feitlic) aufgeftellt, nahe der Barriere,
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Jüße in arabifchen
Ktaftenfteigbügeln, deren Eden zugleih al8 Sporen dienen.
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben fie eiferne Bein:
fhienen, gleih denen der alten Ritter, die fic vor den ge-
fährlichen Hornftößen des Stieres hügen. Eine jchöne furze
Sammetjade mit Gold- oder Silberitidereien, die ungefähr
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenjolche
MWefte und eine feidene Zeibbinde verbollftändigen den Anzug.
Die lange Lanze, die oben in einer feiten Holzbirne endigt,
aus ber eine dreifantige, ungefähr drei Gentimeter lange
Stahlipige hervorlugt, halten fie, feit unter den Arm einge:
fiemmt, dem anrafenden Stiere mit der halb mit Leder ge-
Ihügten Fauft entgegen.
Der Stier, der bis dahin dem flinfen Gapeadore nachs
eilte, fiebt jich plöglid vor dem Pferde eine Picadore und
geht auf den vermeintlichen Urheber der Nedereien mit ge=
fenkten Hörnern 108. In demjelben Momente aber bohrt
fi) ihm die Lanze in den Naden, die der Picador mit
eiferner Kraft angefegt hat. Bon Schmerzen gefoltert, fehrt
der Stier um und wird bon den Gapoten der Torerog zu
einem anderen Pferde dirigiert. Lautes Bravorufen erfreut
den geichikten Picador. Da raft der Stier dem zweiten
Picadore entgegen und bohrt mit furcdtbarer Kraft eines
jeiner fpigen Hörner dem jchwanfenden Pferde in ben Leib,
jo daß aus dem geöffneten Magen des armen Stleppers der
halbverbaute Hädjel über den breiten Kopf des Stieres fällt
und ihn mit häßlihem Gelb und Blut bejudelt. Der
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Picabor, der dem furcdtbaren Anfturme nicht widerftehen
fonnte, fliegt über bie Barriere, und der Stier wühlt in
dem Leibe des Pferdes mit den Hörmern herum, auf denen
er da8 unglüdlihe Tier eine Strede fortichleift. Cndlid)
haben die Gapeadores den Wütenden von feinem Opfer abs»
gelenft. Der Stier ftößt nah allen Seiten um fih und
bleibt einen Augenblid, fi verichnaufend, ftehen.
Aber da reitet fhon der dritte Picador heran und hebt
die gefenkte Lanze, wie zum Stampfe herausfordernd, dem
Stiere entgegen. Aber audy diefer gepanzerte Reiter kann
die gewaltige Beitie nicht hindern, daß fie ihn mit jamt
feinem Pferde ummirft. Hilflos liegt dann der NReiter
unter dem blutenden Pferde, an dem der Stier feinen Zorn
auszulafjen Scheint, und kann fich wegen ber jchweren Bein-
rüftung und dem baraufliegenden Pferdeleibe nicht bewegen.
Aber e8 war fein jchlimmer Jal, fondern nur eine fo-
genannte „Caida cubierta*, ein gededter Fall, denn er liegt
ja durd den Leib ded Pferdes gededt. Die Pflicht der
Toreros ift e& nun, dur fogenannte „Quites“ (von quitar
„wegnehmen”), Scwenfungen mit dem „Gapoted“, den am
Boden Liegenden zu befreien, der fih umfonft bemüht hatte,
fih mit dem VBauche platt auf den Erdboden zu legen, um
fih jo vor dem GStiere befler zu fihern. Nacd einer Weile
läßt diefer auch wirklih von feinem Opfer ab und verfolgt
einen neuen Neder; e3 ift „Suerrita* felbft. Er ſchwenkt
feine Gapote in jchhlangenähnlichen Windungen, während der
Stier ihr immer mit den Hörnern folgt, bi8 „Guerrita”“
plöglic eine jchnelle Wendung macht, fi in die Gapote
hüflt oder fie über die Schulter auf den Rüden wirft, und
langfamen Scrittes, ohne fidh jcheinbar weiter um den
Stier zu befümmern, durd die Arena fchreitet. Der Stier
bleibt erft verdugt ftehen und folgt dann ebenjo langjam
dem fih Entfernenden. Jubelnder Applaus belohnt das
großartige Kunftftüd. Hüte und Gigarren fliegen bereit?,
von dem begeifterten Publikum hinabgetworfen, in die Arena.
Dankend und lachend wirft der Begünitigte jeinen Gönnern
die Hüte in fühnem Bogen mit großer Sicherheit wieder
zu, mährend feine Burihen die Gigarren auflefen. Es iſt
diejes Manöver eines der jchiwierigften, die e8 überhaupt in
der Stierfechterkunft giebt, und fegt, ganz abgejehen von ber
größten Staltblütigfeit, eine Stenntnis des Etiercharalterg
voraus, bie fich nur durdy jahrelanges liben und Studieren
erreihen lüßt. E83 giebt Stierfedhter, die als Stiertöter jehr
wenig leijten, aber trogden mit „echar tela“ (Leinwand
werfen), wie fi die Torero jelbit ausdrüden, die Gunft des
Publikums ebenfo errungen haben.
Snzwiihen wurde der Stier wieder von einem Picador
angegriffen, aber audy hier hob er dag Pferd hoc auf feine
Hörner, jo daß der Picador auf den Rüden des GStieres
niederfällt und fo von diejen Fräftig mit den Hörnern be=
arbeitet und wohl aud) einige Meter in die Luft geworfen
wird. Schon äußert fi der Unmwille des Publifumg gegen
die „Zuchwerfer* in lauten Verwünfcdhungen und Slüchen,
als e3 enblid, gelingt, den rajenden Stier am Schwanze
bon feinem gepanzerten Epielball zu enifernen. Witz
ichnaubend erhebt jich der Picador mit blutenden Kinn und
Wangen und bejteigt unter der Bilfeleiftung ber Burichen
zun zweiten Male das zitternde Noß, dem die Gedärme be=
reit3 weit zum aufgeichligten Leibe hberaushängen. Aber
das arme Tier will trog verbundener Augen nidyt vorwärts
und bleibt jogar gegen die erbarmungslojen Stodijdjläge
unempfindlid. Ter Bicador, der feine Ehre wiederherftellen
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
920
möchte, Tchlägt ihm die Eden der jchweren Steigbügel in
den Leib und fluht und Ichimpft wie ein Yuhrlnecht, aber
alles Hilft nichts. Sobald der Stier herantommt, fehrt das
geängftigte, gemarterte Pferd um und befommt jo bie
Hörer in jein Hinterteil, jo daß der Reiter bornüber:-
fliegt. Von neuem verfucht der Picador wieder aufzuiteigen,
aber nun empört fih da Publikum doch endlich gegen die
rohen Gefellen und man ruft von verjcdiedenen Geiten:
„mata le“ (töte e&), wotauf dann aud wirklich die Kerle
dem armen, zitternden Tier die Nuntilla vier oder jeh&mal
ins Genid zwiihen die Ohren jagen, bis «8 enblidh, Die
Beine weit und ftarr von fid) ftredend, gräßlich zudend
berendet.
Sp geht «8 weiter. Pferde und Picadores fallen, und
ein Schimmel mit vom Blut rot gefärbten Beinen und lang
nadhjichleifenden Särmen raft vor Schmerz in der Arena ums
her, während er fih die eigenen Eingeweide abtritt; ein
anderes Pferd befam eben ein Horn tief in die Bruft, jo
daß ein didfer Blutftrabl, gleich einer Notweinpumpe, auf den
blutdurchtränften Erdboden herniederplätichert. Endlich er:
tönt ein neues jchmetterndes Trompetenfignal. Die halb=
toten Pferde führt man ab, um ihnen die Gebärme wieder
hineinzuftopfen und das Sell zuzunähen, damit fie dann
zum nädjften Schaufpiel noch einmal gebraucht werben
fönnen. Aber noch immer wird der Stier durd die fliegen
den Lappen der Torero® hin und her gehegt, biß ihn aber»
mals eine neue Dual erwartet. Die Banderilleroß treten
auf. Seder hat ein paar Im lange Stäbe (Banberillas)
in den Härden, die oben fcharfe ftählerne Widerhafen auf:
weilen und deren Holzihäfte von bunten, gerollten oder ges
federten Papierihnigeln umhült find. Diele Stäbe follen
dem Stier von vorn her auf beide Seiten ded Naden? ges
ftedt werden; e3 ift dies cine fehr fchmwierige Aufgabe und
eine große Geichiclichfeit dazu erforderlich, um fo mehr, als
die Hömer de8 Stieres beim Seten biefer Harpunen ben
Leib des Banderillero faft jtreifen müffen. Die Art und Weife
dieje® „echar palo“ (Stodwerfens) gefchieht fo, daß fich ber
Banderillero ungefähr in die Mitte des Plages ftellt und ben
Etier mit den erhobenen bunten Stäben heranzuloden fudht.
Konmt diefer dann heran, jo läuft ihm der Kämpfer einige
Edritte weit entgegen und biegt fi, wenn er dicht neben
bem Stier ift, geichmeidig zur Seite, während er ihm die
Stäbe in den Naden ftößt. Will der Stier nicht auf den
Mann jelbft Iosftürneen, jo jtellt fid) der Banderilfero ihn: im
Rücken auf, ein Scpeador dreht ihn vermittelft einer elegant
ausgeführten Cuite herum, dem Wartenden zu, und Diefer
ftößt dem ahnungslojen Stiere die Hölzer in den Naden,
wo fie dann Iuftig zufammenklappern. Der Stier jpringt
nun wie bejeffen umher und jucht fich diefe unbequemen
Plageitöde abzufhütteln, aber fie dringen mit jeder Be-
wegung nur tiefer in fein Fleifh hinein. Seine Wut fennt
feine Grenzen, er fühlt jeinen Nachedurft an den herum:
liegenden PBferdeleichen, in denen er mit den Hörnern herum—
wühlt. Aber immer und immer wieder loden ihn bie
„Gapotes*“, immer wieder befommt er neue Banberillaß,
aber fein Quäler muß fich jehr vorjehen, denn beim Hineins
fteden der Hölzer ftreifte ihn das linke Horn des Stieres
und riß ihm die engen Seidentricothojen in der Leiften=
gegend auf. Aber aud; die Mäntelwerfer haben fich zu
hüten, denn als einer von ihnen, bom Stiere verfolgt, fi
über die Barriere jchwingt, erreichen ihn nod die Hörner
und dringen tief von hinten in den Unterleib hinein, fo daß
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er ohnmädtig in den Gang, der Zufchauer und Arena von:
einander trennt und für die Toreros beftimmt ift, niederfällt
und von einigen Gehilfen in dag Sranfenzimmer getragen
werden muß, wo immer ein Arzt fi) während der Gorrida
aufhält. Aber das ftört nicht die Yortiegung des Kampfes.
Zorero® und Zufchauer haben fofort wieder joldye Zwifchens
fälle vergefien.
Tas Publifum ruft nad den „Matadbores“. Dieje er:
fcheinen dann aud), und da e8 berühmte Stierfämpfer find,
machen fie ihre Eadhe fehr gut. Sie ftellen fi kurz vor
ben Stier auf und fteden ihm mit famojer Grazie die
Steden in da® Yel. Man nennt das „pareando en
corto“. Außerdem hat man noch Ffurze Banderilla von
ungefähr 50 cm Länge. Diefe dem Stiere beizubringen, ift
natürlich jehr jchwer und gefahrvoll, und machen dies aud)
nur wenige Torerod. Natürlich fennt das Bublitum mit
feinem Applaus feine Grenzen, wenn die Banberillag gut
geitedt werden. Aber ebenjo fjaynell wie zum Lobe ift es
aud zum Pfeifen und Aushöhnen bereit.
Doh wiederum ein Trompetenftoß. Sie fündigt den
Hauptalt der ganzen Corrida an. Stolz, hochaufgerichtet
und gemefjenen Schrittes erjcheint der Held des Tages, der
Espada. E38 ift eine fchöne männliche Erfcheinung, bie die
reihe Tracht zu befter Geltung bringt. Sein Anzug befteht
aus einer grünfeidenen furzen Jade, die über und über von
vergoldeten Eleinen Ylitterplättchen und Trobdeln befät ift,
ebenfo die Weite und die ganz eng fih an ben Körper an-
ihmiegenden Sniehofen. Er trägt eine rojajeidene Faja
(Leibbinde), ebenfolde Strümpfe und an den Füßen leichte
niedrige Schuhe. Ein reich gezierteß, fehneeweißes Vorhemd
verbolfiändigt den Anzug. Die „Montera“, eine oben
fhräg vieredige und unten runde Müte, die mit einer uns
zähligen Menge von jchwarzen Seidenfügelchen verziert ift,
hat er auf feinem Haupte. Die jchwarzen, furzen Haare
find nah vorn und Eofett in die Schläfen gelämmt, und am
Scheitel hinten trägt er einen Fleinen Zopf (da8 Zunftzeichen
der ZToreroß), an dem eine fchwarze Nofette befeftigt ift, an
der wiederum ein größerer, ungefähr 15 cm langer falicher
Zopf hängt. Wie alle Toreros, ift er vollftändig rafiert;
ed wäre ein lInding, fich einen Torero mit Schnurrbart vor-
ftellen zu wollen. In der Hand Hält er feinen ftarfen
geraden Degen, der oben einen ganz Fleinen Griff bat, fo
daß nur drei Finger in die Rundung paflen, und bie
„Muleta“, da8 rote Tuch, das an einem Stabe außges
breitet hängt. Vor ber Loge bes BPräfidenten fpricht er
einen impropifterten NReimfprud, der bejagt, daß er den
Stier töten werde, follte er jelbft auch dabei zu Grunde
gehen. Hierauf wirft er, fi auf den Ferien umdrehend,
jeine Kappe in weiten Bogen ind Publikum, das fi
darum reißt, als fei e8 ein Heiligtum. Selten, ficheren
Scrittes geht er nun dem Stiere entgegen, ben Degen in
der Rechten, mit der Spige nah unten gejenft. Sekt
fommt da nterefjantefte für den Kenner, denn c8 bes
ginnen nun die Feinheiten des Stampfes zwiichen dem
Stiere und dem faltblütigen Torero , die fogen. pases de
muleta. Da Entzüden beö Bublitums Tennt jegt feine
Grenzen mehr, und lautes Bravogebrüll ertönt im Amphi:
theater. Der mutige Kämpfer weicht fiher und elegant den
täppifhen Stößen des jhon mit breiten Blutſtreifen be⸗
dedten Stiere8 aus, jchwenkt ihm die Muleta von unten
herauf über den Stopf hinauf, dreht ben Stier durch raffi=
nierte Schwenfungen der „Muleta“ um fich herum und be=
Beiblatt der Deutihden Roman-Zeitung.
922
wirkt, daß diejer mit den Hörmern in die Luft ftößt. ing
der größten Kunftftüde tft das Wedleln der Muleta von
einer Hand in die andere vor dem Körper vorüber, da da
bei der Torero in Gefahr fchwebt, von der Beitie in dem:
jelben Momente, in dem fi) das rote Tuch, dem der Stier
immer folgt, vor jeinem Störper befindet, angerannt zu
werden. Auf diefe Weile bat jet der Eöpada den Chas
ralter des Stieres erlannt umd ift feiner Sache fidher ge-
worden, er weiß, wie er da8 Tuch zu bewegen bat, um ihn
zum Todesftoß zuredizuplacteren. Der Stier ift durd) das
erfolglofe Hin- und Herftoßen bereit müde geworden und
bleibt einige Augenblide ruhig, da® Tuch beobachtend,
ftehen. Aber da Hat fi der Espada jchon mit ftaunener-
regender Kaltblütigfeit und Nuhe in die Bofition zum
Todesftoße geftelt. Die Füße geichlofien zufanımen, die
Nechte mit dem „espada“ (Degen) bis in bie Augenhöhe
erhoben, die Spige auf den blutigen, banderillapverzierten
Naden de8 Stiereß gerichtet, die andere Hand mit der
Muleta an feinem Körper vorüber nach reht3 unten zu
borftredend, jo wendet er feine linke Seite dem Stiere ent:
gegen. Der hat das Tuch beobadıtet, glaubt, da e3 fih
nicht mehr bewegt, e& jett fafjen zu fönnen und ftürzt Haftig
mit geientten Hörnern darauf 108. In diefem Moment aber
ftredt der Edpada die Muleta noch weiter nach rechts und
bohrt, fih etwas Links zur Seite biegend, den Degen mit
eijerner Kraft dem Stier bis ans Heft zwilhen die Schultern.
Das tödlid in die Qunge getroffene Tier ftredit den Kopf
mit hängender Zunge weit vor, zudt einige Male zus
fammen; dann bricht rudweile da® Blut aus Maul und
Nüftern hervor. Das Publikum toft, Beifall Elatichend, und
der Stier fchreitet, gebrochen, mit wanfenden Beinen, wie
ein Betruntener der Barriere zu, wo er fi zum Sterben
niederlegt. Nun befomnt er noh den Gnadenftoß bes
„PBuntilleros*, der ihn mit der „PBuntilla“, einem fcharfen
Ihweren Dolde, zwiichen Kopf und Hals flößt, worauf er
fofort, die Beine ftarr von fid) ftredend, verenbet. Sekt
fchreitet der glüdlide Matador rund um die Arena, fich für
den ftürmilchen Beifall bedanfend, während feine Begleiter
die herabgeworfenen Cigarren einfteden und fih an den in
mächtigem Bogen herabgeflogenen Weinſchläuchen mit „Vino
tinto Valdepenas“ ftärfen, indem fie den Schlau mit
beiden Händen hocdheben und aus ber Heinen Offnung
den dünnen Weinftrabl in den geöffneten Mund fchiehen
laffen (bie jpanifche Art des Trinkens).
die bunten, Elingelnden Maultiergefpanne, welche die efels
haft verftümmelten Pferbeleihen und ben toten Stier in
laufendem Galopp aus der Arena fchleifen. Kaum ift der
Stier hinaus, fo ertönt fchon wieder ein Trompetenfignal,
durch welches der zweite von den jech® Stieren angemeldet
wird. Auch er ift ein jhönes Tier, ein Pracditeremplar,
vollſtändig ſchwarz und ſchlank gewachſen. Wie ein König
ſteht er in der Mitte der Arena mit aufmerkſam erhobenem
Kopfe, aber auch er geht, wie alle anderen, die die Arena
betraten, dem ſicheren Tode entgegen, wenn er nicht etwa
wegen Feigheit ausgepfiffen wird und das Publikum ſeine
Entfernung verlangt.
Mag man über dieſe rohen Schauſpiele ſagen, was man
will, der Spanier hängt doch mit Begeiſterung an ſeinem
Nationalfeſte, verhöhnt alle Fremden, die das Theater
während der Vorſtellung der Scheußlichkeiten wegen ver—⸗
laffen, nennt fie „corazones de Manteca“ (Butterherzen)
und beläcelt fie mitleidig. Spanien ift eben ohne GStier-
Inzwiſchen kamen
919
Picabor, der dem furdtbaren Anfturme nicht widerftehen
fonnte, fliegt über die Barriere, und der Stier wühlt in
dem Leibe ded Rferdes mit den Hömern herum, auf denen
er da8 unglüdlihe Tier eine Strede fortichleifl. Endlich
haben die Gapeabores den Wütenden von feinem Opfer abs
gelenft. Der Stier ftößt nah allen Seiten um fi und
pleibt einen Augenblid, fi verfchnaufend, ftehen.
Aber da reitet fon der dritte Picador heran und hebt
die geienkte Lanze, wie zum Kampfe herausfordernd, dem
Stiere entgegen. Aber auch diefer gepanzerte Reiter kann
die gewaltige Beitie nicht hindern, daß fie ihn mit jamt
feinem Pferde ummirft. Hilflos Iiegt dann der Reiter
unter dem biutenden Pferde, an bem der Stier feinen Zorn
außzulaffen jcheint, und kann fich wegen der jchweren Bein:
rüftung und dem daraufliegenden Pferbeleibe nicht beiwegen.
Aber e8 war fein fchlimmer al, fondern nur eine fo-
genannte „Caida cubierta“, ein gededter Tall, denn er liegt
ja dur den Leib des Pferdes gededt. Die Pflicht der
Toreros ift e8 nun, durd fogenannte „Quites“ (don quitar
„wegnehmen”), Schwentungen mit dem „Sapoted“, den am
Boden Liegenden zu befreien, der fi) umjonft bemüht hatte,
fih mit dem Bauche platt auf den Erdboden zu legen, um
fih fo vor dem Stiere beffer zu fihern. Nach einer Weile
läßt biejer audy wirklich von jeinem Opfer ab unb verfolgt
eiten neuen Neder; es iſt „Guerrita“ ſelbſt. Er jchwenft
feine Sapote in Ichlangenähnlichen Windungen, während der
Stier ihr immer mit den Hömern folgt, bi® „uerrita“
plöglih eine jchnelle Wendung madıt, fi in die Gapote
hült oder fie über die Schulter auf den Rüden wirft, und
langiamen Schrittes, ohne fidy jcheinbar weiter um ben
Stier zu befümmern, durch die Arena Ichreitet. Der Stier
bleibt erft verdugt ftehen und folgt dann ebenjo langjam
dem fit) Entfernenden. Subelnder Applaus belohnt das
greßartige Kunftftüd. Hüte und Gigarren fliegen bereit?,
von dem begeifterten Bublifum hinabgeworfen, in die Arena.
Dantend und lahend wirft ber Begünftigte feinen Gönnern
die Hüte in fühnem Bogen mit großer Sicherheit wieder
zu, während jeine Burihen die Cigarren auflefen. Es iſt
dDiefeg Manöver eines der jchwierigiten, die e3 überhaupt in
der Stierfechterfunft giebt, und jegt, ganz abgejehen von der
größten Staltblütigfeit, eine Kenntnis des Etierhharalters
borauß, die fid) nur durdy jahrelanges llben und Studieren
erreichen läßt. E83 giebt Stierfechter, die ala Stiertöter jehr
wenig leiften, aber trogdem mit „echar tela* (Beinwand
werfen), wie fidh die Torero jelbit ausdrüden, die Gunjt des
Publikums ebenjo errungen haben.
Snzwiichen wurde der Stier wieder von einem Picabor
angegriffen, aber aud) hier hob er das Pferd hoch auf feine
Hömer, fo daß der Picador auf ben Rüden des Stieres
niederfällt und jo von diefem kräftig mit ben Hörnern be=
arbeitet und mwohl auch einige Meter in die Luft geworfen
wird. Schon äußert fi der Unwille des Publikums gegen
die „Zuchwerfer* in lauten VBerwünihungen ınd Flüchen,
als e8 endlid, gelingt, den rafenden Stier am Schwarze
bon jeinem gepanzerten Spielball zu entfernen. Wit:
ichnaubend erhebt fich der Picador mit blutendem Kinn und
Wangen und bejteigt unter der Hilfeleiftung der Burfchen
zum zweiten Dale das zitternde Noß, dem die Gedärme be-
reit8 weit zum aufgeichligten Leibe heraushängen. Aber
da8 arme Tier will troß verbundener Augen nidt vorwärts
und bleibt jogar gegen die erbarmungslofen Stodidläge
unempfindlid. Ber Picador, der feine Ehre wiederherftellen
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
920
möchte, Schlägt ihm die Eden der jchweren Steigbügel in
den Leib und fluht und Ihimpft wie ein Yuhrfneht, aber
alles Hilft nichts. Sobald der Stier heranfommt, fehrt das
geängftigte, gemarterte Pferd um und befommt fo bie
Hörner in fein Hinterteil, fo daß der Reiter bornüber:
fliegt. Von neuem verjucht der Picador wieder aufzufteigen,
aber nun empört fid dag Publilum doch endlich gegen die
rohen Gejelen und man ruft von verichiedenen Seiten:
„mata le“ (töte ed), wotauf dann auch wirklich die Kerle
dem armen, zitternden Tier die Puntilla vier= oder ſechſsmal
ins Genid zmwilhen die Ohren jagen, bis e8 endlich, die
Beine weit und ftarr von fich ftredend, gräßlich zudend
berendet.
Sp geht e3 weiter. Pferde und Picadores fallen, und
ein Schimmel mit vom Blut rot gefärbten Beinen und lang
nachſchleifenden Därmen raft vor Schmerz in der Arena ums
her, während er fi die eigenen Eingemweide abtritt; ein
anderes Pferd befam eben ein Horn tief in die Bruft, jo
daß ein Didler Blutftrahl, gleich einer Rotweinpumpe, auf den
blutdurchtränften Erdboden herniederplätidert. Endlih er:
tönt ein neues jchmetternded Trompetenfignal. Die halb»
toten Bferde führt man ab, um ihnen die Gebärme wieder
hineinzuftopfen und das Zell zuzunähen, damit fie dann
zum nädften Schaufjpiel noh einmal gebraudht werben
fönnen. Aber nod immer wird der Stier durch die fliegen-
den Lappen der Tooreros hin und her gehest, bis ihn aber»
mald eine neue Qual erwartet. Die Banderillerog treten
auf. Seder hat ein paar I m lange Stäbe (Banberillag)
in ben Härden, die oben jcharfe ftählerne Widerhafen auf:
weijen und deren Holzihäfte von bunten, gerollten oder ges
federten Papierichnigeln umhüllt find. Diefe Stäbe follen
dem Stier von vorn her auf beide Seiten bed Nadens ge=
ſteckt werden; es iſt dies eine jehr fchwierige Aufgabe und
eine große Geichidlichkeit dazu erforberlid, um fo mehr, als
die Hörner bes Stieres beim Segen diejer Harpunen den
Leib des Banberillero faft Streifen nrüflen. Die Art und Weile
dieje® „echar palo“ (Stodmwerfens) geichieht jo, daß fich der
Banberillero ungefähr in die Mitte des Plaßes ftellt und den
Etier mit den erhobenen bunten Stäben heranzuloden fudht.
Konmt diefer dann heran, jo läuft ihm der Kämpfer einige
Cdritte weit entgegen und biegt jih, wenn er dicht neben
dem Stier ift, geichmeidig zur Seite, während er ihm die
Stäbe in den Naden ftiößt. Will der Stier nidyt auf den
Mann jelbit losftürmen, fo ftellt fi der Banderillero ihn: im
Rücken auf, ein Ecpeador dreht ihn vermittelft einer elegant
ausgeführten Uuite herum, dem Wartenden zu, und diefer
ftößt dem ahnungslojen Stiere die Hölzer in den Naden,
wo fie dann luftig zujammenkflappern. Der Stier jpringt
nın wie bejeffen umher und jucht fich Diefe unbequemen
Plageitöde abzujhütteln, aber fie dringen mit jeder Be:
wegung nur tiefer in fein Yleiich hinein. Seine Wut fennt
feine Grenzen, er Eühlt jeinen NRachedurft an den herum:=
liegenden PBferdeleidyen, in denen er mit den Hörnern herum:
wühlt. Aber immer und immer wieder Ioden ihn bie
„Sapotes“, immer wieder befommt er neue Banberillas,
aber jein Quäler muß fi) jehr vorjehen, denn beim Hineine
fteden der Hölzer ftreifte ihn das linke Horn bes Stieres
und riß ihm die engen Seidentricothofen in der Zeiften-
gegend auf. Aber aud) die Mäntelwerfer haben fich zu
hüten, denn als einer von ihnen, vom Stiere verfolgt, fi
über die Barriere jhwingt, erreihen ihn nod die Hörner
und dringen tief von hinten in den lnterleib hinein, fo daß
921
er ohnmädtig in den Gang, der Zujchauer und Arena von
einander trennt und für bie Toreroß beftimmt ift, nieberfält
und von einigen Gehilfen in das Strankenzimmer getragen
werden muß, wo immer ein Arzt fi während der Corrida
aufhält. Aber das ftört nicht die Fortiegung des Kampfes.
Zorero® und Zufchauer haben fofort wieder foldje Zwifchens
fälle vergejien.
Tas Publitum ruft nad) den „DMatadores“. Diefe er:
icheinen dann aud), und da e8 berühmte Stierfämpfer find,
machen fie ihre Eadhe fehr gut. Sie ftellen fi) kurz vor
bem Stier auf und fteden ihm mit famofer Grazie bie
Steden in das Fell. Man nennt das „pareando en
corto“, Außerdem hat man nod furze Banderillad von
ungefähr 50 cm Länge. Diefe dem Stiere beizubringen, ift
natürlich jehr Ichwer und gefahrvoll, und machen dies aud
nur wenige Torerod. Natürlich fennt bag Publiktum mit
jeinem Applaus feine Grenzen, wenn die Banderilag gut
geftekt werden. Aber ebenjo fchnel wie zum Lobe ift e3
auch zum Pfeifen und Aushöhnen bereit.
Doch wiederum ein Trompetenftoß. Sie fündigt den
Hauptaft der ganzen Corrida an. Stolz, hodhaufgerichtet
und gemefjenen Schritte erjcheint der Held des Tages, ber
Espada. E38 ift eine Ichöne männliche Erfcheinung, die Die
reihe Tracht zu beiter Geltung bringt. Sein Anzug bejteht
aus einer grünfeidenen furzen Jade, die über und über bon
vergoldeten Eleinen Ylitterplätthen und Trobdeln bejät ift,
ebenjo die Weite und die ganz eng fi) an den Körper an
ihmiegenden SKniehojen. Er trägt eine rofafeidene Faja
(Leibbinde), ebenjolde Strümpfe und an ben Füßen leichte
niedrige Schuhe. Ein reich geziertes, ſchneeweißes Vorhemd
vervollſtändigt den Anzug. Die „Montera“, eine oben
ſchräg viereckige und unten runde Mütze, die mit einer un⸗
zähligen Menge von ſchwarzen Seidenkügelchen verziert iſt,
hat er auf ſeinem Haupte. Die ſchwarzen, kurzen Haare
ſind nach vorn und kokett in die Schläfen gekämmt, und am
Scheitel hinten trägt er einen kleinen Zopf (das Zunftzeichen
der Toreros), an dem eine ſchwarze Roſette befeſtigt iſt, an
der wiederum ein größerer, ungefähr 15 em langer falſcher
Zopf hängt. Wie alle Toreros, iſt er vollſtändig raſiert;
es wäre ein Unding, ſich einen Torero mit Schnurrbart vor⸗
ſtellen zu wollen. In der Hand hält er ſeinen ſtarken
geraden Degen, der oben einen ganz kleinen Griff hat, ſo
daß nur drei Finger in die Rundung paſſen, und die
„Muleta“, das rote Tuch, das an einem Stabe ausge⸗
breitet hängt. Vor der Loge des Präſidenten ſpricht er
einen improviſterten Reimſpruch, der beſagt, daß er den
Stier töten werde, ſollte er ſelbſt auch dabei zu Grunde
gehen. Hierauf wirft er, ſich auf den Ferſen umdrehend,
ſeine Kappe in weitem Bogen ins Publikum, das ſich
darum reißt, als ſei es ein Heiligtum. Feſten, ſicheren
Schrittes geht er nun dem Stiere entgegen, den Degen in
der Rechten, mit der Spitze nach unten geſenkt Jetzt
kommt das Intereſſanteſte für den Kenner, denn es be⸗
ginnen nun die Feinheiten des Kampfes zwiſchen dem
Stiere und dem kaltblütigen Torero, die ſogen. pases de
muleta. Das Entzücken des Publikums kennt jetzt keine
Grenzen mehr, und lautes Bravogebrüll ertönt im Amphi⸗
theater. Der mutige Kämpfer weicht ſicher und elegant den
täppiſchen Stößen des ſchon mit breiten Blutſtreifen be:
deckten Stieres aus, ſchwenkt ihm die Muleta von unten
herauf über den Kopf hinauf, dreht den Stier durch raffi⸗
nierte Schwenkungen der „Muleta“ um ſich herum und be—
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
922
wirkt, daß dieſer mit den Hörnern in die Luft ſtößt. Eins
der größten Kunſtſtücke iſt das Wechſeln der Muleta von
einer Hand in die andere vor dem Körper vorüber, da da⸗
bei der Torero in Gefahr ſchwebt, von der Beſtie in dem⸗
ſelben Momente, in dem ſich das rote Tuch, dem der Stier
immer folgt, vor ſeinem Körper befindet, angerannt zu
werden. Auf dieſe Weiſe hat jetzt der Espada den Cha⸗
rakter des Stieres erkannt und iſt ſeiner Sache ſicher ge⸗
worden, er weiß, wie er das Tuch zu bewegen hat, um ihn
zum Todesſtoß zurechtzuplacieren. Der Stier iſt durch das
erfolgloſe Hin- und Herſtoßen bereits müde geworden und
bleibt einige Augenblicke ruhig, das Tuch beobachtend,
ſtehen. Aber da hat ſich der Espada ſchon mit ſtaunener⸗
regender Kaltblütigkeit und Ruhe in die Poſition zum
Todesſtoße geſtellt. Die Füße geſchloſſen zuſammen, die
Rechte mit dem „espada“ (Degen) bis in die Augenhöhe
erhoben, die Spitze auf den blutigen, banderillaverzierten
Nacken des Stieres gerichtet, die andere Hand mit der
Muleta an ſeinem Körper vorüber nach rechts unten zu
vorſtreckend, ſo wendet er ſeine linke Seite dem Stiere ent⸗
gegen. Der hat das Tuch beobachtet, glaubt, da es ſich
nicht mehr bewegt, es jetzt faſſen zu können und ſtürzt haſtig
mit geſentten Hörnern darauf los. In dieſem Moment aber
ſtreckt der Espada die Muleta noch weiter nach rechts und
bohrt, ſich etwas links zur Seite biegend, den Degen mit
eiſerner Kraft dem Stier bis ans Heft zwiſchen die Schultern.
Das tödlich in die Lunge getroffene Tier ſtreckt den Kopf
mit hängender Zunge weit vor, zuckt einige Male zus
ſammen; dann bricht ruckweiſe das Blut aus Maul und
Nüſtern hervor. Das Publikum toſt, Beifall klatſchend, und
der Stier ſchreitet, gebrochen, mit wankenden Beinen, wie
ein Betrunkener der Barriere zu, wo er ſich zum Sterben
niederlegt. Nun bekommt er noch den Gnadenſtoß des
„Puntilleros“, der ihn mit der „Puntilla“, einem ſcharfen
ſchweren Dolche, zwiſchen Kopf und Hals ſtößt, worauf er
ſofort, die Beine ſtarr von ſich ſtreckend, verendet. Jetzt
ſchreitet der glückliche Matador rund um die Arena, ſich für
den ſtürmiſchen Beifall bedankend, während ſeine Begleiter
die herabgeworfenen Cigarren einſtecken und ſich an den in
mächtigem Bogen herabgeflogenen Weinfhläudhen mit „Vino
tinto Valdepeñas“ ſtärken, indem ſie den Schlauch mit
beiden Händen hochheben und aus der kleinen Offnung
den dünnen Weinſtrahl in den geöffneten Mund ſchießen
laſſen (die ſpaniſche Art des Trinkens).
die bunten, klingelnden Maultiergeſpanne, welche die ekel⸗
haft verſtümmelten Pferdeleichen und den toten Stier in
ſauſendem Galopp aus der Arena ſchleifen. Kaum iſt der
Stier hinaus, ſo ertönt ſchon wieder ein Trompetenſignal,
durch welches der zweite von den ſechs Stieren angemeldet
wird. Auch er iſt ein ſchönes Tier, ein Prachtexemplar,
vollſtändig ſchwarz und ſchlank gewachſen. Wie ein König
ſteht er in der Mitte der Arena mit aufmerkſam erhobenem
Kopfe, aber auch er geht, wie alle anderen, die die Arena
betraten, dem ſicheren Tode entgegen, wenn er nicht etwa
wegen Feigheit ausgepfiffen wird und das Publikum ſeine
Entfernung verlangt.
Mag man über diefe rohen Schaufpiele jagen, was man
will, der Spanier hängt doch mit Begeifterung an feinem
Nationalfefte, verhöhnt alle renden, die das Theater
während der DBorftelung ber Scheußlichkeiten wegen ver-
laffen, nennt fie „corazones de Manteca“ (Butterherzen)
und belädelt fie mitletdig. Spanien ift eben ohne Stier-
AInzwilhen famen
y23
gefechte nicht zu benfen, und bie Beichöniger behaupten,
daß dieje Schaufpiele der Bevölkerung ben unerfhrodenen,
mutigen, feften Charalter bewahrten, den fie 3. B. bei den
napoleonihen Eroberungsverjuchen bezeugt haben.
Die Hauptfige der Stierfechterjchule find Sevilla und
Kordoba. Bort werden ZTorerod unter Leitung guter
Lehrer zunädjft theoretiich ausgebildet, worauf fie dann Die
Prari® an den fogenannten „Novillo8* (jungen ziveis bis
dreijährigen tieren) üben, von denen fie allerdings mand)
mal fhlimm genug behandelt werben, biß fie durd) jahre:
lange Übung die nötige Geichidlichkeit errungen haben.
Teer größte und befanntefte Stierfehhter der Segtzett fft
Rafael Guerra (Guerrita), der bi8 zu 10000 Frc2. für eine
Borftelung erhält. Er unternimmt mit feiner „Tuadrilla*
Gaftipiele in allen Provinzen Spaniens, und der Wunfd,
die Höhe feiner Kunft zu erreichen, bejeelt alle angehenden
Toreros. Sein Nebenbuhler Manuel Garcia (Eöpartero)
der beliebter war alß er, verunglückte bei dem Töten eines
Gtiered in der „Plaza de Madrid“ am 27. Mai 1894, wad
beinahe eine Nationaltrauer herborrief. Die bunten Lithos
graphien ber befannteiten Stierfehhter ficht mar in allen
Tavernen und Eleineren Geihäftsläden ald Wandihmud,
und unzählige Zeitungen mit Tabellen, in denen die „Saidag“
der Picadores,, die toten Pferde, die Pafes de Muleta
u. f. w. genau und rubrifmäßig aufgezählt find, erjcheinen
gleid;, am Abend nad dem Stiergefedht.
Die Stiergefechte finden an allen Sonntagen, aud an
einigen Donnerdtagen ftatt, nur während der Wintermonate .
wird Paufe gemadt. Man zählt jährlih ungefähr 500
Eorridas de Toros, in den gegen 3000 Stiere und vielleicht
5000 Bferde getötet werben, in einem Werte von 2 000 000
Neietas. Die Stiere, die zu ben Stierfämpfen verwendet
werben, beziehen die Unternehmer au8 ben Züchtereien zu
hohen Preifen; man bezahlt für einen Stier 7502000
Peſetas. Ein Aufhören diefer Kämpfe in Epanien darf
man wohl vorläufig faum erwarten, denn felbjt der ärmite
Spanter hängt mit wilder Leidenihaft daran und verjegt
lieber feine Wertfadhen, darbt und bungert, che er eine große
Corrida verſäumt.
Naͤchtliche Wanderung.
Auf düſt'rem Pfade düſt'res Schweigen;
Zu rieſenhafter Höhe ſteigen
Der Eichenkronen ſchwarze Reih'n.
Sie reichen oben ſich die Hände,
Und von dem Himmel blickt am Ende
Ein ſchmaler Streifen noch herein.
Und endlich iſt es völlig düſter;
Nur noch ein zitterndes Geflüſter,
Wenn ſich das Laub im Winde regt.
Der Wandrer ſpürt mit leiſem Beben,
Wie auch des Waldes Wonneleben
Ein ſtilles Grauen in ſich trägt.
Tilia Guignon.
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
924
Vermiſchtes.
Yon Mommſens Zerſtrentheit oder, beſſer geſagt, Ver⸗
tiefung in ſeine Arbeit erzählt man folgendes Erlebnis von
älterem Datum: Eines Tages bringt der Diener in das
Arbeitszimmer des Herrn Profeſſors das Mittageſſen und
bittet ſeinen Herrn zu Tiſche. Dieſer aber, in ſeine Arbeit
vertieft, nimmt davon keine Notiz. Es wird bereits der
zweite Gang aufgetragen, und noch ſteht der erſte unberührt.
Beim Anblick der köſtlichen Speiſen kommt dem Diener ein
„philoſophiſcher“ Gedanke, der aber nirgends aufgezeichnet
ſteht, in den Sinn. Schnell ſtellt er den zweiten Gang hin,
nimmt den erſten Teller weg und verſpeiſt ſeinen Inhalt.
So erging es auch dem zweiten, dritten. Nach einigen Stunden
verſpürt der Gelehrte eine gewiſſe Leere im Magen, er be⸗
giebt ſich ſelbſt in die Küche und fragt ärgerlich: „Bekomme
ich denn heute kein Mittagbrot?“ Worauf der Diener er:
widerte: „Der Herr Profeſſor haben ja ſchon gegeſſen.“
Und Mommſen ſetzt ſich wieder an ſeinen Arbeitstiſch und
murmelt: „Wie konnte ich nur ſo vergeßlich ſein?“
Zemand beſuchte Kürzlich die Weſtminſterabtei und fand
eine Perſon, die im Schiff der Kirche auf den Knieen lag
und eifrig betete. Doch bald erſchien ein Nirchendiener,
klopfte dem ſtillen Beter auf die Schultern und teilte ihm
mit, er dürfe dort nicht beten. „Wenn wir dies erlauben,“
ſagte der Diener mit einem verächtlichen Seitenblick, „haben
wir bald das ganze Gebäude voll von Leuten, die beten
wollen.“ Beſſer läßt ſich die verknöcherte engliſche Eng⸗
herzigkeit und der Buchſtabengeiſt wohl nicht illuſtrieren.
Eine Zueignung. Im Jahre 1824 erſchien: „Chriſtlicher
Tempel des Herrn, der häuslichen Andacht geweiht, Dünkels⸗
bühl und Leipzig, bei Walther“, mit folgender Zueignung:
„Dir, König aller Könige und Herr aller Herren! Drei-
einiger Gott, Bater, Sohn und Heiliger Geift, geweiht vom
Verleger.”
Die reifenden Sundwerksdurfgen haben für jedes Ge:
werbe einen bejonderen Epignanıen. Die Müller heißen
„Roler*, die Bäder „Lehmer*; Schmiede „Tylammer“;
Schneider „Stihler”; Barbiere „Wegichmeißer‘; Schuhs
madher „Pflanzer”; Klempner „Sonnenichmiede*; Tleiicher
„Katzhof“; Tiſchler „Hobeloffiziere“; Schloſſer „Katzenkopf“.
Das iſt ein luſtiges Stexben ...
Die Schnitter lachen und ſcherzen,
Die Lerche jubelt laut;
Es rauſchen die Halme zur Erde,
Von Thränen licht betaut.
Aufküßt der Himmel die Thränen,
Hell klingt die Sichel drein:
Das iſt ein luſtiges Sterben
Im goldenen Frührotſchein!
Ein Mägdlein hält wohl die Ähren
In ihrem braunen Arm:
Das iſt ein luſtiges Sterben
So lebensſonnenwarm!
Falentin Traudt.
925
Sprüche.
Zerſchellte auf Pfaden irr und ſteil
Dein Lebensfahrzeug auch in Stücken,
Du kannſt daraus zu anderer Heil
Noch einen Wegweiſer zuſammenflicken.
2.
Grundfäge braucht, Vorfäge nicht
Ein feiter Mann, ein ganzer:
Wer underwundbar von innen ift,
Der jhleppt auch feinen Panzer.
3.
Wenn Du Dir nod fo weife fchienit,
Dein Raten bringt Dir feine Hulbd:
Stet3 nimmt der Frager das Berbienft
Ind giebt dem Nater ftet3 die Schuld.
4.
Und trugft Du geftern centnerjdjiver,
Heut’ drüdt das Lot von heute mehr.
9.
Gelbfttadel prüfft am beften Du,
Stimmt Du ihm, leicht entichuld’gend, zu:
Demütige Erkenntnis zeigt
Sid) nie verlegt; fie nit und fchmweigt.
Jedoch verfappte Eitelfeit
Sit zur Verteid’gung leicht bereit.
Haus Rordeck.
Briefkaſten.
Herrn S. KK. in E. Leider in der Form durchaus
ungenügend. — Frl. G. L. in H. „Herbſt“ iſt mir doch
etwas zu düſter. Auch ſind im erſten Abſatz einige
Wendungen etwas zu ſehr abgebraucht. Nichts für ungut! —
Herrn Spr. in Str. Bedeutend beſſer. „Am Strande“
werde ich wohl bringen können. In „Hafenſtille“ wieder:
holen Sie den Reim ‚Köpfen“, was nicht gut wirkt. —
Harn Fr. G. v. O. in C. „Im Münſter zu Worms“ iſt
in Form unſicher, im Ausdruck etwas ſchrullig. Aber Sie
können neue Verſuche ſenden. — Frl. Luiſe M. Gedanke
wäre an ſich nicht übel, aber die Ausführung iſt mißlungen.
— Frl. H. St. in B. über Kant „plaudert“ man nicht.
Mit einer Nußſchale befährt man das Meer nicht. Wo
wohnen Sie? Wenn Sie wollen, können Sie ſich das
Schriftſtück in unſerem Verlage abholen. Aber ein ander—
mal plaudern Sie über alles, nur nicht über Philoſophie.
An unſere Leſer!
Mit dieſem Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung.
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung.
— FB. Din. Sie find ia ein „Weib des Säredens*!
Bfliht von Ihnen fett unabweisbar forbert.
926
Sn den zwei Balladen fliegen die Köpfe umher wie Schwalben
im Sommer.
„Aufgehäuft wie hölzerne Kloben
Zagen fie jegt Rumpf an Rumpf.
Und grimmmverzerret gehet der Sultan
Lächelnd durd) den blut’gen Sumpf.
Die abgehadten Köpfe fchauen
Radeichnaubend hinter ihn
Und fie beten zum Chriftengotte:
‚Strafe, Herrgott, jtrafe ihn.‘
In das Blut er taudt den Turban
Und prejjet ihn dann an die Bruft.
TZamerlar, Du Sceufal, Satan,
So wa madt Dir aud no Luft!”
Wie können Sie „jo wa8* fchreiben! — Herrn ©. W. in
W—r „Kann’8 ander fein?“ wird wohl gelegentlidy
fommen. — Herrn PR. in PB. Obwohl das Gedicht
feinen Sormjinn und gewandte Sprache zeigt, fanıı ic) e8 nicht
bringen, da der Teil von Zeile 25-32 unklar ift. Aber
Sie dürfen mir anderes jenden. — Ungenannt aus Mostaı.
Sn folder Lage giebt e8 nach meiner tiefften Überzeugung
nur ein3, wa3 die Seele retten kann: Wahrheit. Und dann
nehmen Sie mit ruhiger Kraft die Buße auf fid. So
weiterzuleben, hieße fi für immer entwürdigen. Möge
Gott Ihnen die Kraft geben, zu thun, wa8 die fittlidhe
Für Ihr
Bertrauen Dank. Der Brief ift Ihrem Wunfche gemäß
vernichtet. — Herrn Gurt 9. in B. Angenommen — Frau
©. Th. in®. Das 1.Bud ift mir nicht zugefendet worden,
2. u. 3. werden gelegentlich beiprodhen. — Nr. 2. X. Leider
fann ich Ihre Trage nicht beantworten. „Nacht“ etwas un-
far; „Zaufftaat“ Tomımt. Beften Gruß. — Herrn und Frau
b. 9. in 2. Beiten Dank für die freundlihe Gefinnung!
— Frau D. A. in 9. 1) Nein. 2) Sa. 3) Lebt in Wien.
— Han M. Th. in R. Wenden Ste fid an Brof. Sof.
Kürfchner in Eifenacdh, der Ihnen darüber die beite Auskunft
geben fann.
Inhalt der No. 3.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Schluß. —
Schwerttlingen. Baterländifher Roman von Hans
Werder Schluß. — Beiblatt: Sommernadt. Bon Gertrud
Triepel. — Das freudige Teftament. on Karl Pröll.
Schluß. — Stiergefeht. Yon Dom Alfredo Saö Mismo.
(Deutih von Alfr. Friedmann.) — A los Toros. Bon
Mar Tilte — Nädhtlide Wanderung. Bon Tilia
Gutignon. — Vermifcdtes. — Das ift ein Iuftiges Sterben...
Bon Balentin Traudt. — Sprüde. Von Hang Norded.
— Briefkaſten.
—
Wir bitten
unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig
zu Jerneuern, damit keine Störung im Bezuge der Zeitſchrift eintritt.
Aus umſtehender Anzeige wollen unſere Leſer Kenntnis von dem vorausſichtlichen Inhalte des
neuen Jahrganges nehmen.
y23
daß dieſe Schauſpiele der Bevölkerung den unerfchrodenen,
mutigen, feſten Charakter bewahrten, den ſie z. B. bei den
napoleoniſchen Eroberungsverſuchen bezeugt haben.
Die Hauptiſitze der Stierfechterſchule ſind Sevilla und
Cordoba. Dort werden Toreros unter Leitung guter
Lehrer zunächſt theoretiſch ausgebildet, worauf ſie dann die
Praxis an den ſogenannten „Novillos“ (jungen zwei⸗ bis
dreijährigen Stieren) üben, von denen ſie allerdings manch⸗
mal ſchlimm genug behandelt werden, bis ſie durch jahre⸗
lange übung die nötige Geſchicklichkeit errungen haben.
Der größte und bekannteſte Stierfechter der Jetztzeit iſt
Rafael Guerra (Guerrita), der bis zu 10 000 Fres. für eine
Vorſtellung erhält. Er unternimmt mit ſeiner „Ouadrilla“
Gaſtſpiele in allen Provinzen Spaniens, und der Wunſch,
die Höhe ſeiner Kunſt zu erreichen, beſeelt alle angehenden
Toreros. Sein Nebenbuhler Manuel Garcia (Espartero)
der beliebter war als er, verunglückte bei dem Töten eines
Stieres in der „Plaza de Madrid“ am 27. Mai 1894, was
beinahe eine Nationaltrauer hervorrief. Die bunten Litho—
graphien der bekannteſten Stierfechter ſieht man in allen
Tavernen und kleineren Geſchäftsläden als Wandſchmuck,
und unzählige Zeitungen mit Tabellen, in denen die „Caidas“
der Picadores, die toten Pferde, die Paſes de Muleta
u. ſ. w. genau und rubrikmäßig aufgezählt ſind, erſcheinen
gleich am Abend nach dem Stiergefecht.
Die Stiergefechte finden an allen Sonntagen, auch an
einigen Donnerstagen ftatt, nur während der Wintermonate .
wird Paufe gemadt. Man zählt jährlid ungefähr 500
KSorridad de Torog, in den gegen 3000 Stiere und vielleicht
5000 Pferde getötet werden, in einem Werte von 2 000 000
Vefetas. Die Stiere, die zu den Stierfämpfen verwendet
werden, beziehen die Unternehmer aus den Züchtereien zu
hohen Preifen; man bezahlt für einen Stier 7502000
Peſetas. Ein Aufhören biefer Kämpfe in Spanien barf
man wohl vorläufig faum erwarten, denn jelbjt der ärmite
Spanier hängt mit wilder Leidenfhaft daran und verjegt
lieber feine Wertfachen, darbt und Hungert, che er eine große
Gorrida verfäumt.
Nähtlihe Wanderung.
Auf düft’rem Pfade düft’reg Schweigen;
Zu riefenhafter Höhe fteigen
Der Eichenkronen Ihwarze Reih'n.
Sie reihen oben fi) die Hände,
Und von dem Himmel blidt am Ende
Ein Shmaler Streifen noch herein.
Und endlich ift e8 völlig büfter;
Nur no ein zitterndes Geflüfter,
Wenn fi dad Laub im Winde regt.
Der Wandrer fpürt mit leifem Beben,
Wie aud des Waldes Wonneleben
Ein ftilleg Grauen in fi trägt.
Tilte Gulguen.
Beiblatt der Deutihen Roman:geitung.
gefechte nicht zu denken, und die Beichöniger behaupten,
924
Vermiſchtes.
Bon Aommſens Zerſtrentheit oder, beſſer geſagt, Ver:
tiefung in ſeine Arbeit erzählt man folgendes Erlebnis von
älterem Datum: Eines Tages bringt der Diener in das
Arbeitszimmer des Herrn Profeſſors das Mittageſſen und
bittet ſeinen Herrn zu Tiſche. Dieſer aber, in ſeine Arbeit
vertieft, nimmt davon keine Notiz. Es wird bereits der
zweite Gang aufgetragen, und noch ſteht der erſte unberührt.
Beim Anblick der köſtlichen Speiſen kommt dem Diener ein
„philoſophiſcher“ Gedanke, der aber nirgends aufgezeichnet
ſteht, in den Sinn. Schnell ſtellt er den zweiten Gang hin,
nimmt den erſten Teller weg und verſpeiſt ſeinen Inhalt.
So erging es auch dem zweiten, dritten. Nach einigen Stunden
verſpürt der Gelehrte eine gewiſſe Leere im Magen, er be⸗
giebt ſich ſelbſt in die Küche und fragt ärgerlich: „Bekomme
ich denn heute kein Mittagbrot?“ Worauf der Diener er⸗
widerte: „Der Herr Profeſſor haben ja ſchon gegeſſen.“
Und Mommſen ſetzt ſich wieder an ſeinen Arbeitstiſch und
murmelt: „Wie konnte ich nur ſo vergeßlich ſein?“
Zemand beſuchte Kürzlich die Weſtminſterabtei und fand
eine Perſon, die im Schiff der Kirche auf den Knieen lag
und eifrig betete. Doch bald erſchien ein Kirchendiener,
klopfte dem ſtillen Beter auſ die Schultern und teilte ihm
mit, er dürfe dort nicht beten. „Wenn wir dies erlauben,“
ſagte der Diener mit einem verächtlichen Seitenblick, „haben
wir bald das ganze Gebäude voll von Leuten, die beten
wollen.“ Beſſer läßt ſich die verknöcherte engliſche Eng⸗
herzigkeit und der Buchſtabengeiſt wohl nicht illuſtrieren.
Eine Zueignung. Im Jahre 1824 erſchien: „Chriſtlicher
Tempel des Herrn, der häuslichen Andacht geweiht, Dünkels⸗
bühl und Leipzig, bei Walther“, mit folgender Zueignung:
„Dir, König aller Könige und Herr aller Herren! Drei⸗
einiger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geiſt, geweiht vom
Verleger.“
Die reifenden Sandwerksdurfgen haben für jedes Ge⸗
werbe einen bejonderen Epignanen. Die Müller heißen
„Roler*, die Bäder „Lehmer*; Schmiede „Tylammer“;
Schneider „Stihler*; Barbiere „Wegichmeißer‘; Schuh
mader „Pflanzer*; Klempner „Sonnenichmiede*; Fleifcher
„Katzhof“; Tiſchler „Hobeloffiziere“; Schloffer „Ratenkopf“.
Das iſt ein luſtiges Sterben ..
Die Schnilter lachen und ſcherzen,
Die Lerche jubelt laut;
Es rauſchen die Halme zur Erde,
Von Thränen licht betaut.
Aufküßt der Himmel die Thränen,
Hell klingt die Sichel drein:
Das iſt ein luſtiges Sterben
Im goldenen Frührotſchein!
Ein Mägdlein hält wohl die Ähren
In ihrem braunen Arm:
Das iſt ein luſtiges Sterben
So lebensjonnenwarm!
Balentin Traudt.
925
Sprüde.
1.
Zerfchellte auf Pfaden irr und fteil
Dein Lebenzfahrzeug aud in Stüden,
Du kannt daraus zu anderer Heil
Noch einen Wegweijer zujammenfliden.
2.
Grundfäße braucht, Vorfäte nicht
Ein fefter Mann, ein ganzer:
Wer unverwundbar von innen ift,
Der jhleppt auch feinen Panzer.
3.
Wenn Du Dir noch fo weile fchienit,
Dein Raten bringt Dir feine Hulb:
Stet? nimmt der Frager das Berbienit
Und giebt dem Nater ftet3 die Schuld.
4.
Und trugft Du geftern centnerjchiver,
Heut’ drüdt das Lot von heute mehr.
9.
GSelbittadel prüfft am beften Du,
Stimmft Du ihm, leicht entjchuld’gend, zu:
Demütige Erkenntnis zeigt
Sid nie verlegt; fie nit und fchweigt.
Sedo verfappte Eitelkeit
Sit zur Verteid’gung leicht bereit.
Haus Rordeck.
Briefkaſten.
Ham ©. 8. in E. Leider in der Form durchaus
ungenügend. — Frl. G. L. in H. „Herbſt“ iſt mir doch
etwas zu düſter. Auch ſind im erſten Abſatz einige
Wendungen etwas zu ſehr abgebraucht. Nichts für ungut! —
Herrn Spr. in Str. Bedeutend beſſer. „Am Strande“
werde ich wohl bringen können. In „Hafenſtille“ wieder—
holen Sie den Reim ‚Köpfen“, was nicht gut wirkt. —
Herrn Fr. G. v. O. in C. „Im Münſter zu Worms“ iſt
in Form unſicher, im Ausdruck etwas ſchrullig. Aber Sie
können neue Verſuche ſenden. — Frl. Luiſe M. Gedanke
wäre an ſich nicht übel, aber die Ausführung iſt mißlungen.
— Frl. H. St. in B. über Kant „plaudert“ man nicht.
Mit einer Nußſchale befährt man das Meer nicht. Wo
wohnen Sie? Wenn Sie wollen, können Sie ſich das
Schriftſtück in unſerem Verlage abholen. Aber ein ander—
mal plaudern Sie über alles, nur nicht über Philoſophie.
Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung.
gel. W.D.in B. Sie ſiind ja ein Weib des Shredens"!
Pflicht von Ihnen jetzt unabweisbar fordert.
926
In den zwei Balladen fliegen die Köpfe umher wie Schwalben
im Sommer.
„Aufgehäuft wie hölzerne Kloben
Lagen ſie jetzt Rumpf an Rumpf.
Und grimmverzerret gehet der Sultan
Lächelnd durch den blut'gen Sumpf.
Die abgehackten Köpfe ſchauen
Racheſchnaubend hinter ihn
Und ſie beten zum Chriſtengotte:
„Strafe, Herrgott, ſtrafe ihn.“
In das Blut er taucht den Turban
Und preſſet ihn dann an die Bruſt.
Tamerlan, Du Scheuſal, Satan,
So was macht Dir auch noch Luſt!“
Wie können Sie „ſo was“ ſchreiben! — Herrn G. W. in
W—r „Kann's anders ſein?“ wird wohl gelegentlich
kommen. — Herrn P. R. in P. Obwohl das Gedicht
feinen Formſinn und gewandte Sprache zeigt, kann ich es nicht
bringen, da der Teil von Zeile 25-32 unklar iſt. Aber
Sie dürfen mir anderes jenden. — Ingenanntaus Mostau.
In folder Lage giebt e8 nach meiner tiefften Überzeugung
nur eins, wa3 die Seele reiten kann: Wahrheit. Und dann
nehmen Sie mit ruhiger Sraft die Buße auf fi. So
weiterzuleben, hieße fich für immer entwürdigen. Möge
Gott Ihnen die Kraft geben, zu thun, was die fittliche
Für Ihr
Vertrauen Dank. Der Brief ift Shrem Wunde gemäß
vernichtet. — Herrn Gurt 9. in B. Angenommen — Frau
©. Th. in®. Das 1.Bud ift mir nicht zugejendet worden,
2. u. 3. werden gelegentlich beiprochen. — Nr. 2. &. Leider
fann ih Ihre Frage nicht beantworten. „Nacht“ etwas un-
Har; „Zaufftaat“ kommt. Beiten Gruß. — Herrn und Frau
v.9. in 2. Beiten Dank für die freundliche Gefinnung!
— Frau D. A in 9. 1) Nein. 2) 3a. 3) Lebt in Wien.
— Herrn M. Th. in R. Wenden Sie fid an Brof. Sof.
Kürfchner in Eifenadh, der Ihnen darüber die beite Auskunft
geben fann.
Dnhalt der No. 52.
Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Schluß. —
Schwertilingen. Baterländifher Roman von Han
Werder. Schluß. — Beiblatt: Sommernadt. Von Gertrud
Triepel. — Das freudige Teftament. Von Karl Pröll.
Schluß. — Stiergefeht. Bon Dom Alfredo Saö Mismo.
(Deutih von Alfr. Friedmann.) — A los Toros. Bon
Mar Tilte — Nädtlihde Wanderung. Bon Tilia
Guignon. — Vermifchtes. — Das ift ein Inftiges Sterben...
Bon Valentin Traudt. — Sprüde. Von HanzNorded.
— Brieflaften.
An unlere Befer!
Mit diefem Hefte Nr. 52) fchließt der 33. Jahrgang dev Deutfchen Noman-Zeitung.
Wir bitten
unfere Abnehmer, ihre Beftelungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poftämtern rechtzeitig
zu erneuern, damit feine Störung int VBezuge der Seitjchrift eintritt.
Aus umjtehender Anzeige wollen unjere Lejer Kenntnis von dem vorausfichtlichen Synhalte des
neuen SYahrganges nehmen.
Der neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten:
Ein doppeltes Ich.
Roman
Unter den Borgia.
Roman
von
Sermann Seiberg.
von
Rihard Boß.
BL ARE TE BE FELL AR A En ENDE FRI DE BEE EB FR RE BE
5 Söheufrofk, roman von Cart Bulle. =
— — ———— ——— EREREBETRT TREE EB RER EHER RI BNETN
Die Fremde.
Roman
*
Intriganten.
Hiſtoriſcher Roman
von
Hans Wachenhuſen.
Am Ende von Alt-Berlin.
Hiftorischer Roman
von
Sedor von Bobeltik.
Ohne Liebe.
Roman
von
Bruno Garlepp.
von
E. v. Wald-Zedtwitz.
Schloß Geisberg.
Roman
Wendepunktre.
Roman
von
MA. Horden.
(R. Binnius.)
von
Iofefine Gräfin Schwerin.
Romane von H. Schobert, &. Karl, 2. Glaß werden folgen, jo daß wir unferen Yelern eine Ab—
wecdjslung bieten, die von feiner anderen Zeitjchrift erreicht wird.
al wird im unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unferer
Das WVeib latt Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialismus
zum Ziele genommen. Dtto von Leixners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen.
Leitung und Verlag der Deutſchen Zoman⸗-Zeitung.
Berlin, Anhaltſtr. 11.
Berantwortlicher Leiter: Otto von Leixner in Berlin, — Berlag von Otto Jauke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei⸗ Aktien⸗ Geſell ſchaft
(Setzeriimen⸗Schule des Lette⸗Bereinß).
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Der neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten:
Ein doppeltes Ich.
Roman
Unter den Borgia.
Roman
von
Rihard Bob.
von
Sermann Seiberg.
UT LAN FEN ir —— — — — — ————— — — — —
—F SHöohenfroſt. Moman ven Garſ Wuſſe. =.
— —— ———— ——— — — ———— SE — — — EEE AN AR Su E
Die Iremde.
Roman
önfriganten.
Hiftorischer Roman
von
Dans Wachenhufen.
Am Ende von Alt-Berlin.
Hiftorifcher Roman
von
Sedor von Bobeltik.
Ohne Liebe.
Roman
von
Bruno ©arlepp.
von
&. v. Wald-Bedtmiß.
Shlof Geisherg.
Roman
Wendenunkte,
Roman
von
A. Horden.
(A. Binnius.)
von
Iofefine Eräfin Schwerin.
Romane von H. Schobert, €. Karl, &. Glaf werden folgen, jo daß wir unjeren Yelern eine Ib-
wechslung bieten, die von feiner anderen Zeitjchrift erreicht wird.
cf wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil umnjerer
Das Veib lat Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialis mus
zum Ziele genommen. Dtto von Leixners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen.
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman⸗-Zeitung.
Berlin, Anbaltjtr. 11.
f- — — — — — ——— — ————— ——— —— —————— nn re ad,
Berantwortlicher Leiter: Otto von Leixnet in Berlin, — Berlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdrucerei⸗ Aktien⸗ Geſell ſchaft
(Gegeriuunen » Schule deB vette⸗Bereinß).
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