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Full text of "Deutsche Roman Zeitung 33.1896, Band 4"

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Deulſche 


Roman-Zeikung. 


Dreiunddreißigfler Jahrgang. 1896. 


Vierter Band. 


Unbefugter Nahdrud aus dem Inhalt diefer Zeitung tft unterfagt. 





Berlin, 1896. 
Berlag von Otto Janle. 


STANFORD UNIVERSITY 
LIBRARIES 


Jul = w sol 


STANFORD UNIVERBITY 
LIBRARIES. 


JUN 18 1982 


lräkzicen. — Be 


Schwertklingen. 
73— 100; 
687 — 1702; 

Die neue Herrin. 
99 —128. 

Ohne Gott. 


Inhalt des vierten Bandes, 


Roman von €, Karl. 
Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


— sl an — 


Seite: 


721-758; 793—828; 865—89%6. 


FSortfegung und Edhluß. 


Seite: 


Seite: 169-200; 241-272; 311-344; 375 —4W. 
433-468; 505—542; 577-616; 649-686; 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Selte 


VWetternadht. Bon Hanna Chin . . 
Eine Xoilette vor adptzehnhundert Jahren. Bon 


57 


Adolf Kable . . —— 68, 135 
Unverzagt. Bon Auguft Arauſe ee ee er OR 
Die Umerllanerin in Ergland. Bon Luife 

Rent . . ö 63, 131 
Der wilde Rofenbufd. "Bon Gertrud Triepel 65 
Verigiedened. Bon Biltor von Kohlenegg . 67 
Deine Toten. Bon Agathe en 73 
Randbemerlungen. Bon 3. Brebfen . . 72 
Sommermärden. Bon R. von Auerdwaltt „ . 139 
Im Walde. Bon 3. B. M... e . 1839 
Sommertag. Bon #. Weip . FRE 130 
Mittagsfrieden. Bon Anna Behniſch — 180 
Sommerabend. Bon Dito — — 130 
Sommei nacht. Von Felicitaß. ne 181 
Wedruf. Bon Hans Biermann . 134 
„Blüten im düji’cen Hof’. Bon — von 

Monfterberg . . . 497 
Der Dorffrtebhof. Bon 8. v. Dberbofen . eo 00. 143 
Grillenliedchen. Von Helene Bernard . 201 
Er ſpricht doriſch. Ein Wenrebild auß Haffifhen 

Tagen. Bon Däkar Eine . . . 0. . 201 
Bute NRadt. Bon Luz Scheibe . . 207 
Bei Seiner Green, Bon Marie Schwarz .. 207 
Es iſt ein Reif gekommen. Von 2, Ballanı „ 211 
Altes Goid. Von Konrad Nieß . . 278 
Die Anfänge der jüngften litterarifchen Bewegung 

in Deutfhland. Bon OD von keimer . . 278 
Zwei Gedichte. Bon Karl Banfeloew . . 283 
Die Liebespoefle in ber alten ——— Bon 

Doris kilie . . . de An gi 282 
Erinnerung. Bon Klara Müller 287 
Gebe . . . — . 288 
Schnfuct Ben €, Theodor Shulg 315 
Wann über Bord. Bon Dbmwald SeUgnE 345 
Rofenlieder. Bon M. M, 350 
Ihr Ideal. Eine moderne Vhegefgige vı von Georg 

a, Albert — re . 850, 433 


Seite 
immmel und Erde. Bon OSlar Line. 355 
te Kunft, zu vergefien. . . . 355 
Einem Kinde. Bon WM. von Daffow — . 359 
Sprüche und Splitter. Bon Eduard Echmidi 359 
Gaite, Galte, laß den Streit. Von Robert 
Burns, deutſch von W. — . 419 
Mopi. Bon Mar Heuer . 419 
Deurſch polniſch. Von G. Hermann . 433 
Befänftigung. Bon Dito Doeptemeyer . 439 


Aus dem Leben für daß xeben. Bon D. vd, e. 
429, 644, 
An der Brust be Reichfreiherin vom Stein zu 
zrüdgı bei Em. Bon Wilhelm Joel . . 
Aus meinen Erinnerungen. Bon Dtto von — 
Maitönigd Tod. Bon Wilhelm Shoof . . 
Der Zimmerberr. Bon Biltor von —— 
Mein Leid. Bon Hans Biermann . . . 
Tilettantiömuß. Bon M..M. ....x. 
Trugbild. Bon Paul Köhler. . — 
Sommernacht. Von Anna Behnifh” 
Erinnerung. Bon Erid Schwarg . 
Ein Fe Brief. Bon bel Wilpelm 


Morgenlied. Bon Odtar Linke — EEE 

Achter die Lchrerin. Bon M. Müller . . . . 

In Ruhe fingen. Bon Roga . . 2. 2.2. 

Aphorismen. Bon Conrad Timm . . 

Die „unehrlihen? Leute = Deiielalters, Bon 
A. Etanidlad. . . Sr 571, 

Mädchens Klagelid . 2 >» 2 0 20 0a 

Krant. Bon DM. Sommerfelb. . . 

Taß goldene Sprüdlein. Von Bertrud Triepel 

Die Dde. Bon Doroihee Gocbeler . . . 

Eine Tragödie auß ber Großſtadt. Lebenß⸗ und 


Stimmungßbilder von 3. Gebhardt 639, 
Beeihovens Comoll⸗Konzeit. Von M. un ; 
Welteß Blatt. Bon Hanna Ebleaı . . . a 


Terfäumt. — Max Brenke... 
Laß nur... Von Hans Blermanı . . : 


77 


487 
488 
492 
493 


501 
603 
504 


. 659 


559 
566 
867 
569 
570 


708 
573 
633 
633 


703 
644 
703 
708 
710 


Vaterländiider Roman von Hans Werber. Fortlegung und Schluß. Seite: 1—28; 
145—168; 217—240; 289312; 361—374; 467—486; 543 —560; 615—632; 
159 —174; 829-844; 895—912. 


Roman von Karl Erdm. Edler. 27—58; 


Geile 
Bom Wege. Bon Ana Behnifd 714 
Herdfilteder. Bon Dtto Kiefer . . 7175 
Die liebe Bequemlichtelt. Auß dem Leben von 
Martha Sommer . 778 
Auf der Heide. Bon Ghr. Dieur. Oiweſen .. 780 
Die villen auf Schloß Soöporg Von A. same 781 
Morgenlied Bon Elifabeth Kolbe „ . . 785 
Scfam. Bon A. Hindeideyn . . 845 


Das freudige Teitament. Bon Karl Bıöu 86, 


911 


Daß Ende. Bon Glara Müller . . & 849 
Allerlei zur Frauenfrage. Bon M. Müler . 849 
Wiegenlied. Bon ©. X. Wenjel. . 856 
Ein MRetjterwert der veroielfätigenben Kunfı 

Bon OD. v 856 
Das Lied vom Schmerz. von Zu, homfen . 857 
Sinnfprühe. Bon 9. 9.. oe. 860 
Betrachtungen. Bon €, Arneidi FE.) | 
Spiitter. Von &. . 200. 861 
Scmmernadt. Bon Gertrud Triepel RS 9 
Stiergefeht. Bon Dom Alfredo Sad Misıno 

(Deutſch von Alfr. u Oman.) 020.00. 95 
A los Toros. Bon Max Xule . . 916 
Nähtlihe Wanderung. Bon Tilia Suignon . . 9383 
Das ift ein Iuftigeß terben . ... Bon Balentin 

Traubt > a a .. 994 
Sprüde, Bon Hans "Rorbet . 000. 98 

Litteratur. 

Der Seilterfeber. Von Baum . 0.2... 66 
Deuter Slaube . . . ... 68 
Berjgüttet. Dichtung von Unna Bauer 2.6 
Dirt Kluin. Epiſches Sebiht von 9. Gannır . 66 
Sempach. Kin Schweizer Freiheitsſlied von Guſtav 

Ad, Erdmann . 66 
Grethen. Ein Gang aus ben Breieitrigen 

von Theodor Herold ; 66 


Die Kugelfucberin. Bon Warimillan von — 
ber ‘ ® “ “ 

Judas. on Ernji Staufen — 

Ein Schlagwort der Zeit. Von Fedor von Zobeitih 

Leidenſchaften. Geſchichten von Geerg Frhuvon 
Ompted.. . 

Reine Liebe. Geſchichten aus dem fernen Oſten 
von C. Eſchrichtt... 0 een 

Berliner Hoͤllenfahrt Ernſtes und Heiteres auß 
der ReichsShauptſtadt von Rudol —— 

Sein AH. Bon Emil Roland . . R 


Reindeit Novelle von Wilhelm ven Fo’ enz 
Penſion Fratelli. Von Felix Holläuder... 
Um das Weib, Bon Hand Land 


Aus den erften Univerfitättjahren. Bon vu 
Nanfen. . 
Diffonanzen. Von George Egerten. "Deut von 
Dora Lande .„ . 
Sibila Dalmar, Roman aus dem” Ende dieſes 
Jahrhunderis. Von Hedwig Dohm .. 
Das Hungerlos Eine tragitomiſche ——— ven 
9.8. Schuhmader . 
Volniſche Wirtſchaft. Von Ottat Höder . — 
Die Pflicht des Starken. Von Rudolf side 
Lebensrärfel. Von E. Qunder (Elfe Schmieden) 
Der Fels von Erz. — — Roman von 
ECmil Brachvogel .. 
rauenehre. Von Marie Eiabl . — 
ie Freierſsfahrten und Freierämelnungen des 
weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer. 
Herausgegeben von Otto Julius Bierbaum 
Rezepte. Satiren von Guſt Schwartzkopf. 
Ermft Wigert8 „Sefammelte Verle . . . . 
Das Magdalenenhaar Bon Jcan Rameau . 
„Selbfigereht?. Bon Kriedrihd Eptelhagen 
Roman: Studien. Von Jerome 8. Rerome . . 
Augendftürme. Bon Kart Bulle. . 2.2. 
Wären. Bon 5 Hermanı . . 
Anna Dtarie. Gin Berliner sn "von Ludwig 
Zacobomßli . . 
en Novellen. und Skigzen von 
Onkel Johns Prinzipien. "Bon Johanna zeümann 
Die Madonna von Swidlowice, Bilder und 
Skizzen von Tarraß Kunowsti.. 
Rabubu Altägyptiſcher Original « Roman "in 
deutfhher Bearkteitung von Leon Ritter . 
Die Elfäfjertn. Das Gonntagekind. Zwei Nos 
vellen von Kurl Etord . — 


Seite 


138 
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215 


Meyers Konverſationblexikn.. 

Napoleon J. von Armaud Daythtt . 2... 

Das Waltharilied. Ein Heldenſang aus dem 10. 
Jahrhundert im Versmaße der Urſchrift 
überfegt von Bref. Dr. Hermann Althef . 

Das deutjhe Drama in ben litterarifchen Bes 
mwegungen der Gegenwart, — von 
Berthold Litzmann. ODritte Aufl... 

Robert Kurns Lieder und Balladen . 

Sonja et au von Gparlotie 
Leffler. — — 

Edgar Allan Poes Erzahlu 


— von 

überſetzt von Johannes Hoogs.. 

Kunfizgefibichte de Altertumß und beß Mittelalters 
von Brof. Dr. Dar Sg. Zimmermann . . 

Wir Gebildeten. Nachdenkfame BEIDEN. Ben 
Hans Shlicepmann . . . 5 

Dulcamara. Von Paul Gerin 

Dram atiſche Handwerkslehre. Von Avonianus 

Die ſieben Schwaben und ihr hervorragendſter 
Hiſtoriograph Ludwig Auerbacher. Von Max 
Radlkofer .. 

Der Wandel deuiſchen Gefuͤhlalebens. Bon Dr. 
Georg Steinh’uferr . . Be 

Tom beutfihen Handwerk und feiner Boefie. Bon 
Theodor Ebner . . 

Die fibyNinifchen Bücher in Rom. Bon Dr. Rarl 
Schul . . 

Bertha von Wiarenpolg-Bülom. Bon Henriette 
Solbihmidt . . 

Die Bildung deß Harzgebir tged Bon Dite Lang 

Soldatenlieder auß Dem deutich: franzdjischen Kriege 
1870/71. Bon Martin Wagner ; 

Miltons Jugendjahre und Jugendwerke. Bon 
Prof. Immanuel Schmidt . 

Drei Eſſays. Von Ralph Walbo Enerfon. 
Teutih von Thora Weigdand . . 

Aus meined Yebend Vai. Bon X. Behmaun. 

Bedite und Erzählungen . 5 

Xiebeßnonne. Lieder von E. Kling . . 

Natur und Welt Bon Julius Gersdoiff 

Lautenfpieler8 Lieder. Bon bemifelben . . . . 

Eliana. Cine Symphonie von demfelben . . 

Träumen. Berichte von Abolf Holt . . . . 

Nach ſieben Jahrzehnten Won Karl Stelter. . 

Aus Habdlaub8 Heim. Gedichte von Zrip Rohrer 

Valaden und postifche Erzählungen ve drang 
Dittmatt . . 2 2 08 0 08a 


n : 
gen Harte, . Kell, 


Seite 


287 
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187 


Hiltorien. Bon Garl Pol. . ; 
Dentfhe Dichtungen von Aleſſandro Strabelli . 
Aungbeutjche Lieber. Bon Friedrich ne . 
Zeitfonette. Bon Tb Wiaurerr . i 
Rügelieder. Bon Wilhelm Welgand . 
Morgenfilmmen und andere. Bon Mar Hoffmann 
Schmetterlinge. Gebichte von Earl von Amswaltt 
und Albrecht Mendelsfohn-Bartboliy . . 
Böttinger Viufen- Almanach für 1896 . . 
Aus Tag und Traum. Gedidte ven n Submig 
ZJucobomild . . 2 2 02. Pag 
Vermißſchtes. 
Noch ein engliſches Urteil über das ur Heer 
Bom Älteften Maß und Gewiht.. . ei 
Adalbert Stifter-Dentmal in Binz x . 
Schrepenbauer . . » 2 2 0 6 
Der heilige Niemınd ; W 
Der derühmte „olle Irieche“ Bultmann 4 
Fine befannte Borfänpferin . . ——— 
In einem Dotfe bei Schwedt a. O.... 
Kigenmädtige Zul. - 2 4 
Kardinal Nikolaud von Eufa . 
Soeben hat der allgemeine deutſche Spracverein 
Profeffor Unger . . ae 
Eineß Xaged wurde baß Ergdentmat' —J 
Der König Friedrich Wilhelm J...... 
Charles Gravier . 
Die zerrifiene Shleppe - - 2 2 2 2 2 0. 
Unter Pennalisms . . u a ar Be 
In Wiener Stubententreifen ä 


Bon Mommjenß Zerftreutheit 

Zemand befuchte fürzlich bie Beiiminfierabtel 
Eine Zueiguung . Pe 
Die velfenben Sandwertiburigen — 


Brieffaften. 


Seite: 141, 215, 618, 792, 861, 925. 





Seite 


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787 
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676 
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715 
715 
716 
789 
859% 
859 
„24 
934 
924 
924 


— — — — —— — —— — — — 
— — a — 


Deutſche 





—1896. 


Roman-Zeitfung. 


Erfcheint wöchentlih zum Preife von 34 #4 vierteljährlid. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
ämter nehmen dafür Beitellungen an. Durd alle Budhhandlungen aud) in Monatsheften zu N. 4) 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober. = — 





Schwertklingen. 


Baterländifcher Roman 
von 


Bans Werder. 
(Fortfegung.) 


Die Königin wollte etwas ermwidern, lebhaft — 
und zweifellos zuftimmend, doch hielt fie inne und 
blidte erwartungsvol auf die Thüre, weldher von 
außen ber ein mwohlbelannter Schritt fi) genäbhert. 


Der König trat herein. Er flußte leicht bei 
den unerwarteten Anblid des Prinzen. eben 
anderen lieber, als gerade diefen Saufewind mit 
dem Teuerherzen hätte er bei feiner Gemahlin an- 
treffen mögen, der er für fein unentichloffenes Jagen 
Sympathie einzuflößen gehofft. 

„Euer Liebden haben es eilig gehabt,” begann 
der König zögernd. „Sa, befinden uns in einer 
traurigen Situation! Werden mich gewiß barin 
verfteen! Ganz unerhörter Tyrevel! Wölter- und 
Fürftenrechte verlegt! Und doh nah Lage ber 
Dinge unmöglich, Konful zur Recdhenichaft zu ziehen, 
wie biernad) verdient!” 

Prinz Louis ftand frei und ftolz, do mit dem 
Ausdrud der Ehrerbietung feinem Könige gegenüber. 
„Da jei Gott vor,” fagte er mit von tiefer Be: 
wegung durchbebter Stimme, „daß Eure Majeftät 
aud jeßt nody in der Lage fein follten, biefen Frevel 
ungeräht hinnehmen zu müflen! Wellen bedarf es 
denn weiter? Die Armee fteht Ichlaggerüftet da, 
ein Heer von Führern wartet nur mit Ungebuld 
auf den Befehl, fie dem Feinde entgegen zu führen! 
Der Moment ift gelommen, Majeftät! Erklären Sie 
den Krieg! Ach Iprehe im Namen des ganzen 
Heeres! Es ift niemand unter uns, ber fidy nicht 
danad) jehnte, Blut und Leben freudig für unferen 
König und des Baterlandes Ehre dahinzugeben!” 

Eine tiefe Erregung arbeitete in den ftillen, 
edlen Zügen des Könige. War das nicht bes Ver: 
fuhers Stimme?! War es nicht heiße Verjuchung 
für das Hobenzollernberz, aufzufahren wie ein Adler 
und mit einem Wurf das Joch der Demütigungen 


abzujhütteln? Doch nein, die Anmwanblung ging. 


Nomansfeltung 1896. Lie. 40 


vorüber, eine Schwäche! Die Pflicht ftand eijern 
vor ihm ba. 

„Smmer das alte Lied!” rief er mit abweilen: 
ber SHandbewegung. „Kennen wir bereits! Will 
Shre gute Gefinnung nicht unterfhägen, Couſin 
Louis, darf fie aber nicht zu der meinigen maden! 
Bin froh, daß Ste unfer Land nit zu regieren 
haben! — Halte Liebe zum Frieden für Landesvater 
wichtiger, al® Vergnügen am Xosichlagen bei jeder 
Heinen Widerwärtigleit! — Andere Mächte audy alle 
fehr erregt, natürlih, doh für uns momentan 
nirgends ficherer Bundesgenofle!” 

Heldenmütig bezwang Prinz Louis die in ihm 
aufihäumende Empfindung. Nur feine feinen Nafen- 
flügel bebten wie die Nüftern eines edlen Streit: 
rofjes, das warten muß, und fih bezwingen, und 
gehorchen. 

„Majeftät — aus Liebe zum Frieden nimmt 
Preußen gegen alle Mächte eine friedliche Stellung 
an unb wird in berfelben einmal von einer Macht 
Ihonungslos überrafht werden, wenn diejer ber 
Krieg gerade recht ift! Dann fallen wir — ohne 
Hilfe! Und vielleiht au gar noch ohne Ehre!” *) 

Wie von peinlihder Empfindung berührt, trat 
König Friedrih Wilhelm einen Schritt zurüd. Es 
war noch gar nicht lange ber, als er den Prinzen 
um biejer felben Reben willen für längere Zeit von 
feinem Angefiht und aus Berlin verbannt hatte. 
Doh heute war es ihm nicht möglich, in gleicher 
Weile dem feurig Erregten mit Zorn und Strafen 
entgegenzutreten. Bu tief fühlte er im Grunde 
feines Herzens, daß Wahrheit in den Worten bes 
Prinzen lag. Zu Kar flammten ihm die jelbftlojen, 
bodpherzigen Gefühle, der Ausbrud einer reinen 
Helvenjeele aus den Augen besielben entgegen. 
Hatte nicht Königin Luife vorhin ähnlich fo zu ihm 


*) Des Prinzen eigene Worte. 


3 Schwertllingen. 


geiproden? Ob fie nicht doch vielleicht beide recht 
hatten? D, wer das willen könnte! Mer doch der 
Nichtigkeit feiner Entjchließungen gewiß fein durfte, 
ohne fich niedergedrüdt zu fühlen von der Kalt 
übermenfchliher Verantwortung! — Einen jchmweren 
Seufzer erpreßte dem jorgengequälten Monarchen 
diefe Gedantlenfolge. 

„Sind Anfihten!” fagte er beflommen. „Wollen 
uns heute nicht darüber ftreiten, können ein ander: 
mal darauf zurüdftommen! Bin jegt wichtiger be: 
Ihäftigt!" Ein kühler Abjchiedegruß mit der Hand 
und der König verließ das Gemad). 

Des Prinzen Blide folgten ihm flumm. Ale 
die Thür fich geichloffen, wanderten fie zur Königin 
zurüd. Schweigend hatte fie der kurzen Unterredung 
zugehört, Ichweigend ftand fie da, die herabhängen: 
den Hände leicht gefaltet, einen tiefbewegten Ausdrud 
auf dem wunderijhönen Antlig. 

„Habe ich wieder einmal das Unglüd gehabt, 
meinen föniglichen Gebieter zu verlegen?” fragte 
Prinz Louis mit gepreßter Stimme. 

„Rein, ich denke, er hat Sie verftanden!” ent: 
gegnete die Königin feft und blidte zu ihm auf, die 
großen, feelenvollen Augen von einem Glanze heiligen 
Ernftes erfült. „DO, Vetter Louis, verfennen Sie 
ihn nit! Halten Sie e8 nicht für zaghafte Schwäche, 
was doc nur die übergroße Mäßigung unendlicher 
Pflichttreue ift! Unterihägen Sie nit den un: 
geheuren Drud der Verantwortung, der auf eines 
Könige Herzen laftet! Sein Gemillen, fein Bolt, 
die Gelhichte fordern NRechenichaft von ihn für jede 
feiner Thaten. ft es da zu tadeln, wenn er fie 
wägt und zaudert,. und darüber fich’s verjagt, als 
ein Seld zu erjcheinen!“ 

„Wie aber, wenn Volk und Geichichte bered): 
tigt find, ben Helden in ihm zu fordern?” jchaltete 
er ein. 

Ein ftolzger Zug ging über der Königin Gelidht. 
„Bott lalje uns bald den Tag erleben, da wir den 
Helden in ihm mwiedererlennen bürfen, und ftolz auf 
ihn jein! — Und wenn der Tag lommt, Wetter, 
dann werden Sie dem König zur Seite ftehen? Sie 
find ein Hohenzoller wie er! Sie werden ihn ver: 
jtehen, zu ihm halten, audy wenn alles ihn verließe! 
35h glaube mid darin nicht zu täufhen! Wenn 
es auch anderen jcheinen will, als irrten Ihre Wege 
gar oft von den unfrigen ab — mein Vertrauen zu 
Ihnen iſt unerſchüttert!“ 

Das ſtolz getragene Haupt des Prinzen neigte 
ſich tief. Unwillkürlich faßte ſeine Hand zum Herzen. 
„Majeſtät, wenn Sie an mich glauben, was ficht es 
mich an, ob die ganze übrige Welt mich verleugnet 
und verleumdet! Dann halte ich mich der höchſten 
und heiligſten Aufgaben für wert!“ 

„Ja, mein Couſin, ich glaube an Sie,“ ent— 
gegnete die Königin. „Ich glaube feſt an die Auf— 
richtigkeit Ihrer Geſinnungen! Auch an Ihre un—⸗ 
getrübte, ehrliche Freundſchaft für mich! Und habe 
auch dann nicht an ihr gezweifelt, als man ſie mir 
zu verleumden verſucht hat!“ 

Der Prinz hob raſch den Kopf und blickte ſie 
forſchend an. Er verſtand ſie. Zwei Jahre war es 


Roman von Hans Werder. 4 


her, als an ſeiner eigenen Tafel von übermütigen 
Zechgenoſſen ſeine anbetende Begeiſterung für die 
königliche Frau in ein zweifelhaftes Licht gezogen 
und zum Gegenſtand der Spötterei gemacht worden 
war. In aufflammendem Zorn, wie ihn nur ſelten 
jemand an ihm geſehen, hatte er die Frevler zum 
Schweigen verwieſen, von Stund' an den Verkehr 
mit ihnen abgebrochen. Der Vorgang aber war 
dadurch bekannt geworden und hatte Aufſehen erregt. 
In böswilliger Entſtellung, ja in ſein Gegenteil ver— 
kehrt, war er auch zu den Ohren des Königs ge— 
drungen und hatte dieſen tief und nachhaltig gegen 
den Prinzen erzürnt. So hatte auch die Königin 
davon erfahren. Und das wußte er. Doch niemand 
konnte ihm ſagen, ob ſie's geglaubt, und ob auch ſie 
bereit geweſen, das reinſte und edelſte Empfinden 
ſeines Herzens für Lüge und Gemeinheit zu halten. 
Was er gelitten unter dieſem Zweifel, unter der Un— 
möglichkeit, ſich zu reinigen von dem unwürdigen 
Verdacht, das konnten nur die wenigen ermeſſen, die 
ihn kannten in der glühenden Leidensfähigkeit ſeines 
Herzens. Sie aber, die Kluge, die feinfühligſte aller 
Frauen, ſie hatte ihn verſtanden, lange ſchon. Und 
bei der eiſten Gelegenheit, die ſich ihr bot, löſte ſie 
mit linder Hand dieſen Stachel aus ſeiner Bruſt. 

Prinz Louis ſank auf ein Knie vor ihr nieder 
und berührte den Saum ihres weißen Gewandes 
mit ſeinen Lippen. „Meine Königin — Dank habe 
ich nicht — Anbetung bis in den Tod!“ 

Königin Luiſe ließ ihn gewähren. Sie kannte 
ihn, ſeinen heißen Ungeſtüm und den edlen Kern 
ſeiner Seele! Sie wußte, daß Liebe und Vertrauen 
ihn emporzuziehen vermochten, über ſich ſelber hinaus 
— das Gegenteil aber ihm nur Schaden zufügte. 
Mit all der holden Anmut, welche ihre Freundlichkeit 
beſaß, blickte ſie ihn an, als er ſich langſam wieder 
erhob. „Alſo, mein Vetter, wir ſchließen einen Bund 
miteinander?“ Er bejahte mit ſeinem ſtummen Blick. 
— „Wenn endlich die erſehnte Stunde kommen wird, 
wenn das Vaterland Sie ruft zu ſeinem Schutze, 
dann ſtehen Sie zu uns!“ 

„Bis zum letzten Blutstropfen! So wahr ich 
ein Hohenzoller bin!“ Mit feſtem Druck hielt er 
die dargereichte Hand der Königin, neigte ſich tief 
darüber und küßte ſie. 

Dann entließ ſie ihn. — 

Weiter rollten die Schickſalswürfel. Der Frevel 
von Vincennes blieb ungeahndet. Napoleon Bona— 
partes Macht und Übermut kannte keine Grenzen 
und wuchs empor wie eine Palme, die mit ihrer 
Krone zum Himmelsdom hinauf begehrt, und Europa 
Ihaute, vom falihen Xicht geblendet, ehrfurdtspoll 
und ftaunend zu. Wenige Monate jchon nach diejem 
legten Verbreden — es war im Mai 1804 — ließ 
er fi zum Kaifer der Franzoſen ausrufen und jeßte 
mit eigener Hand die Krone auf jein und feiner 
Gemahlin Haupt. 

Die europäilchen Höfe ermangelten nicht, den 
neuen Kaijer in jeiner Würde anzuerlennen und 
bradten ihm demütig ihre Glüdmüniche dar. 


— — — — 








VIII. 


Der alte Diener mit weißgepuderter Perücke 
und Schnallenſchuhen öffnete weit die Thür zu dem 
Wohngemach des Oberſtlieutenant von Veldegg in der 
Wilhelmſtraße. „Herr von Rochlitz!“ meldete er 
dabei in feierlichem Tone. 

„Sehr angenehm!“ lautete der Beſcheid, den 
die ſchöne, blonde Julie in ihrer Würde als Wirtin 
und Tochter des Hauſes darauf erteilte. Sie lehnte 
behaglich in den Kiſſen des Kanapees und ſonnte 
ſich in der Glut der Bewunderung, welche ihr ge: 
zollt ward. Ein junger Künſtler ſaß ihr gegenüber, 
blaß und blond, mit ſchmalen Schultern und dürftiger 
Kleidung, und verſchlang ſie mit den Blicken. 

Sie ſchaute erwartungsvoll auf die Thür. Herr 
von Rochlitz, das konnte doch nur der elegante Hil— 
mar vom Regiment Gendarmes ſein! 

Doch nein, es erſchien ein Huſar in dunkel— 
rotem Dolman, ſchlank, and elaftiid — mit dicht 
Iprofjendem rötlihem Schnurrbart und dunklen Augen. 
„Hallo!“ rief Julie und lachte, denn fein Anblid ver: 
gegenmärtigte ihr fogleih mand fröhlihen Moment, 
ben jein eigenartiger Humor ihr bereitet. 

„unter Haflo!” rief zugleih der Künjtler und 
Iprang von feinem Stuhle auf in unverfennbar 
freudigem Schreck. Und — 

„Haſſo!“ rief Renate jubelnd. Sie hatte, in 
ein Buch vertieft, in einer Ecke des Zimmers ge— 
ſeſſen. Das Buch flog zur Erde und ſie eilte ihm 
entgegen. „Haſſo, Sie ſind Lieutenant geworden!“ 
Mit dieſem einen Blick hatte ſie die Abzeichen der 
neuen Würde an ſeiner Uniform erkannt. 

„Ja — und zur Schwadron des Rittmeiſters 
von Zieten nach Berlin verſetzt!“ erwiderte er und 
grenzenloſe Freude klang aus ſeiner Stimme. 

„Das iſt ja herrlich! Sie verdanken es gewiß 
Ihrem hohen Gönner und Jagdgenoſſen — ſonſt 
hätte Lichnowsky Sie nicht fortgelaſſen!“ meinte 
Renate mit wichtiger Miene. Sie war jetzt fünfzehn 
Jahre alt und fühlte ſich vollberechtigt, zuweilen mit— 
zuſprechen. 

„Ich glaube, er war recht froh, mich los zu 
werden,“ erwiderte Haſſo leichthin. „Aber daß ich 


überhaupt jetzt ſchon Offizier geworden, iſt freilich 


zu verwundern!“ 

Renate fand das gar nicht. Ihre Freude war 
groß, alle Welt ſollte daran teilnehmen und ſo eilte 
ſie hinaus, den Vater herbeizuholen. 

„Ludwig Zürn — was tauſend, Dich gerade 
treff' ich hier?“ rief Haſſo indeſſen, den jungen 
Muſiker bei den Schultern faſſend und im Kreiſe 
herumdrehend. Er war der Sohn des Reckentiner 
Pfarrers, um deswillen der alte Herr ſich für Haſſos 
Fortgang aus dem Elternhauſe hatte gewinnen laſſen. 

„Brechen Sie ihn nicht entzwei, Haſſo!“ mahnte 
Julie. „Aus ſo ſolidem Stoff wie Sie iſt er nicht 
gefertigt! Sie verſtehen noch nicht mit der Kunſt 
umzugehen. Jetzt aber, wenn Sie wünſchen in dem 
Freundeskreis des Prinzen acceptiert zu werben, 
müſſen Sie das lernen!“ 


5 Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 6 


„Nun, gnädiges Fräulein, von Marzipan iſt er 
doch auch nicht gerade, und von Glas ebenſowenig! 
Wenn Sie mir Unterricht geben, lerne ich's vielleicht 
bald. — Oder biſt Du von Marzipan, Ludwig, holder 
Engel, ſo komm und ſchmilz an meinem Herzen!“ 

„Wenn auch nicht gerade von Marzipan,” er: 
widerte der Künftler mit janftem Lächeln, „jo bin 
ih doch bereit, an Deinem Herzen zu jchmelzen, 
Sunler Hajo, und zwar aus lauter Dankbarkeit. 
Durh Deine Empfehlung bin ih in diefes Haus 
gelommen — und no nicht einmal hinaus: 
geworfen!” 

„Rührende Seele! Es freut mich übrigens, 
wenn ich mich mit meiner Empfehlung nicht blamiert 
habe!” gab Haflo zurüd und ber Ausdrud warmer 
Herzensgüte, der aus feinen Augen ftrahlte, fland 
wie jo oft im Wider|prud) mit dem übermütigen Ton 
feiner Worte. 

Renate Tam jet zurüd in Begleitung ihres 
Baters, der den Hufarenlieutenant beglüdwünjchte. 
Hallo verlebte mit ihnen den Abend wie in trautem 
Familienkreile und als ein befonders belebendes Mit: 
glied desjelben. 

Sehr oft Fehrten diejfe Abende wieder. Haſſo, 
der nie dad Gefühl wirklicher Heimat gelannt, fand 
bier einen Erjag für diefen Mangel. Die Kleine 
Renate ftrahlte vor Freude, wenn er fam. Sie 
fannte nichts Schöneres, ale die Plauderftunden 
mit ihm, als die Streihe und Schwänte, die er mit 
feinem Humor und Nahahmungstalent erzählte. Be: 
jonders feine Soldatengejhichten feflelten fie. Denn 
das Militär, die preußilche Armee, die patriotilche 
Begeifterung jpielten die Hauptrolle in dem Gedanten- 
leben bes kleinen Mädchens. Seit nun Haflo in 
ihrer Seele den Franzofenhaß nährte, den Wunjd 
des Krieges, der Unterbrüdung des übermütigen 
Feindes, gemwöhnte fie fih zu Mademoijelles Ber- 
zweiflung fogar das Franzöfiihiprehen ab. Diele 
geplagte Dame fuhr deshalb fort in ihrem Grol 
gegen Haflo, jo wie einft Mamjell Chriftiane in 
Nedentin, und Lottes Kate auf dem alten Hofe. 
Es war fchade, daß er fih fo oft unbeliebt machte, 
wie Renate mit Bedauern feitftellen mußte. — 

Ludwig Zürn war viel im Veldeggihen Haufe. 
Er unterrichtete beide Töchter, Renate im Klavier:, 
Sulie im Guitarrefpiel und dieler Elagte er in den 
Saiten des zarten Sinftruments jeines Herzens Sehnen 
und Verlangen. Die jchöne Yulie ließ fich’S gern 
gefallen, obgleih ihr Jnterefie gefellelt war durch 
die Huldigungen des eleganten Paul von Gonreuth, 
des Erben von Tiefenfee, in der Nahbarichaft von 
Benzlom. Er ftand in Botsdam beim Regiment des 
Königs, und fie jah ihn oft in ihrem Baterhaufe, 
traf ihn in jeder Gejellihaft. Es waren jehr be- 
Ninmte Träume und Wünfche, welche fie an diejen 
Verkehr Enüpfte, daneben aber bereitete ihr die An- 
betung des empfindfamen SKünftlers ein gemilles 
Ihmeichelndes Behagen. Sie hatte das ftolze Bes 
mwußtjein, ihn durch ihre PBroteftion zu fördern und, 
einer Göttin gleich, ihre Jhügenden Flügel über ihm 
ausgebreitet zu halten. - 

Sebt jollte ihrer Anficht nah Ludwig Zürn ein 





7 Schwertklingen 


. Roman von Hans Werber. 8 


Konzert geben, um in der Gejellihaft befannt zu 
werden und Schüler für feinen vortrefflichen Unter: 
riht zu gewinnen. Zur Ausführung ihrer Abfichten 
hielt fie e8 notwendig, das nterelle des Prinzen 
Louis für ihren Schügling zu erweden. Die Auf: 
gabe war nicht leicht, aber wenn einer fie auszu- 
führen vermodte, jo war dies Hallo mit feiner ge: 
wandten Entichlojlenheit. Er übernahm bereitwilligft 
diefe Ehrenpfliht und ging alabalb mit Seuereifer 
an feinen Plan. Zunächft machte er Bejuch bei Frau 
von Srayen, in deren Hauje der Prinz intim ver: 
fehrte. Dann führte er Ludwig Zürn bei ihr ein, 
und gewann die kunftliebende Frau für fein nterefie. 
Sie erllärte fich bereit, ein gemütliches Zufammen: 
fein mit dem Prinzen herbeizuführen, zu welchem je: 
bob auch Veldeggs berangezogen werben jollten. 
Auf das Erjheinen der Kleinen Renate legte fie be: 
fonderen Wert. Der Prinz fand zuweilen Gefallen 
daran, fih von freimütiger Kinderart überrajchen zu 
lafien, darum follte Renate als Fürjprecherin ihres 
Mufillehrers bier, wie Hallo fi ausbrüdte, ins Ge: 
fecht geführt werben. 

Der verabredete Abend war gefommen. Prinz 
Louis hatte jein Erjcheinen angemeldet, um, wie fo 
häufig, feinen engeren $reundesfreis in Frau von 
Srayens Haufe beifammen zu finden. 

Sn großer Aufregung, mit Elopfendem Herzen, 
trat Renate in ihres Vaters und Schweiter Yulies 
Begleitung in die ihr jo fremde Gejellichaft.. Tröft- 
lih erjchien es ihr, als fie darunter das liebe Antlig 
ihres Freundes Hallo erfannte, ber fie mit einem 
ftrahlenden Blid des Einverftändnifjes begrüßte. 

Das noh völlig Eindlide, fünfzehnjährige 
Mädden, Ichlank und zierlich in ihrem Ihmudlojen 
Ichneeweißen Kleide, bildete eine durchaus eigenartige 
Erſcheinung. Mit den großen, fragenden Augen in 
dem feinen Kindergeficht glich fie eher einer Elfe als 
einem wirklichen Menſchenkinde. Lebhaft empfand 
Frau von Crayen dieſen fremdartigen Reiz. Sie 
zog Renates Arm durch den ihren und führte ſie 
freundlich umher, hie und da eine Bekanntſchaft für 
ihren jungen Gaſt vermittelnd. 

„Sehen Sie nur, gnädige Frau, wer iſt dieſe 
zarte Erſcheinung dort, mit den großen, dunklen 
Augen?“ flüſterte Renate. 

„Die kennen Sie nicht, liebes Kind? Das iſt 
ja die Rahel Levin! Ich will Sie präſentieren, 
wenn es Ihnen Freude macht!“ 

Mit forſchendem Blick muſterten die klugen 
Augen der Jüdin das unreife Kind. „Lilienknoſpe!“ 
ſagte ſie und ſtreckte ihr die Hand hin. „Sie kommen 
ſo freudig auf mich zu, mein junges Fräulein, als 


hätten Sie mir etwas Beſonderes zu ſagen! Darf 
ich's nicht hören?“ 
„Nichts Beſonderes, Mademoiſelle! Ich freue 


mich ſo ſehr, Sie kennen zu lernen!“ 

„Eh bien! So reine helle Freude, wie ſie in 
Ihren Augen geſchrieben, die erſcheint mir dennoch 
als etwas Bejonderes. Und woraus entipringt fie? 
Warum freut es Sie, mich fennen zu lernen?“ 

„Mein guter Freund, Herr von Rodlik, Hat 
mir von Shnen erzählt, Mademoijelle!“ 


„Rohlig? Der Gendarmes:Lieutenant oder 
der flotte Hular dort, mit dem unternehmenden Ge: 
ficht und den melandholifhen Augen?” 

„Ja, dieſer!“ 

„O, der gefällt mir außerordentlich. Schon 
weil er Ihr Freund iſt, meine Kleine! Wollen Sie 
ſich nicht zu mir ſetzen und ein wenig mit mir 
plaudern, Fräulein von Veldegg? Sie müſſen mir 
noch Näheres von ihm erzählen!“ 

Sie hatte wohl das Recht, ſolch eine Erlaubnis 
als Gunſt zu erteilen, denn die auserleſenſten 
Menſchen drängten ſich nach derſelben. Selbſt wer 
den Vollwert ihrer Perſönlichkeit nicht zu ſchätzen 
verſtand, beachtete ſie doch, ſchon wegen ihres eigen⸗ 
artigen Freundſchaftsverhältniſſes mit dem Prinzen. 
So kam ſie mit den verſchiedenſten Menſchen in Be: 
rührung und hatte ſich gewöhnt, ſie nach ihrem per—⸗ 
ſönlichen Werte, nicht nach Rang und Stellung ab⸗ 
zuwägen. Auch in ihrem erlauchten Freunde liebte 
und bewunderte ſie einzig den Menſchen, der ihr 
groß und herrlich und liebenswert in ihm entgegen⸗ 
trat. Daß er nebenbei noch königlicher Prinz von 
Preußen war, intereſſierte ſie nur inſofern, als eben 
dieſer Begriff an ſich von ſeiner Perſönlichkeit un⸗ 
trennbar war. Und ſie wußte, daß auch er ſie nicht 
hätte höher ftellen, fie nicht mit anderen Augen an: 
ſchauen Tünnen, wenn fie eine Fürftin gemwelen wäre. 

Der eigentümliche Reiz diefer berühmten Kleinen 
Verfon, der geiftvolle Ausdrud ihres Gefichts, ihrer 
anmutigen Sprecdhweile, umfing au Nenate mit 
dem oft bewährten Zauber. 

Plöglid verftummte die Unterhaltung in dem 
ganzen Kreile. Die Herren erhoben fih. Nabel 
Ihaute auf und ein Strahl der Freude leuchtete aus 
ihren jchwarzen Augen. 

Ein neuer Anfümmling. 

Renate beftete einen großen, durchdringenden 
Blid auf ihn. Ein General, jo jugendli noch, jo 
ihön und jchlant! Das mußte er fein — Prinz 
Zudmwig, der Held! Er trug den blauen Gefellichafts- 
tod jeines Magdeburger Regiments, mit weißen 
Beinkleidern und Hohen fchwarzen Laditiefeln, in 
der Hand den großen Seneralshut, den er zumeilen 
beim Spredhen wie einen Fächer hin und her bewegte, 
als er die Anmwejenden begrüßte und bie und da ein 
kurzes Gelpräh anfnüpfte. Sett drang jeine Stimme 
an ihr Ohr, tiefer, weicher, muſikaliſcher Wohllaut, 
und jein Lachen. Lebhaft mechielte während der 
Nede der Ausdrud feiner Augen, getreuer Spiegel 
feiner Seele, in der es brandende Hodflut und zu 
Zeiten verfiegende Ebbe gab. Enblih trat er auf 
Rahel zu. 

„Rahel, warum find Sie geftern abend nicht 
gelommen?” Ein Vorwurf in liebenswürdigiter Be- 
deutung jprah aus dem Tone. Nabel legte ihre 
fleine feite Hand in jeine dargereichte Rechte. 

„Mein gnädigfter Prinz, ich ließ Ihnen durch 
Affefor Vetter jagen, warum ich nicht fäme. Wollen 
Sie meine angegebenen Gründe nicht gelten laflen, 
oder verlangen Sie, daß ich fie Hinter Entjchulbi: 
gungen verbarriladiere?” 

„Entihuldigungen, nein, was jollte e8 mir wohl 


EEE g 


9 Schwertklingen. 


helfen, wenn ich die von Rahel verlangte!“ lachte 
der Prinz. „Entſchädigung fordere ich, nichts weiter! 
Sie ſollen ein andermal kommen. Morgen, über: 
morgen, wann Ihre unerbittlichen Gründe es ge— 
ſtatten! Wann wird es ſein, Kleine?“ Er hielt 
ihre Hand noch und drückte ſie feſter, wie mit un—⸗ 
geduldiger Mahnung. 

„Ich kann es heute noch nicht beſtimmen, König— 
liche Hoheit! Sonſt wiſſen Sie ja, wie gern ich 
dieſe liebenswürdigen Anſprüche erfülle!“ 

„Gut, ſo komme ich morgen und hole mir Be— 
ſcheid. Aber ich flörte hier ein töte-a-tete. Wollen 
Sie mich gütigft präfentieren, WMademoijelle!" Ein 
Blid des feinen Frauenftenners mufterte dabei die 
zarte Mädchengeftalt mit prüfendem MWohlgefallen. 

Renate machte den allertiefften Knide, defjen fie 
ih von der Tanzftunde her erinnerte. 

„sräulein von Veldegg ift heute nur bier, um 
Eure Königliche Hoheit zu jehen und zu jprechen!“ 
fagte Rahel. „Sie hat Shnen eine Bilte vorzu: 
tragen.“ 

„Mir, eine Bitte? OD, Mademoifelle!” Er jchob 
ihr einen Stuhl hin, in den fie fih folgfam nieder: 
ließ, und feßte fih zu ihr. Eine Freundlichkeit und 
Güte jpra aus dem Blid, nit dem er fie ermartungs: 
voll anjchaute, eine Anmut aus jeinem ganzen Welen, 
die ihr jede Scheu benahm. “eile und beicheiden 
trug fie ihm ihr Anliegen vor. Er follte fi für 
ein Konzert ihres Mufillehrers interejfieren und dem: 
jelben dadurch zu Glanz verhelfen. 

Prinz Louis jah nachdenklih aus. „Wollen Sie 
mir zunähft den Künjtler zeigen. ch zmweifle nicht, 
daß er Ihre Teilnahme verdient. Aber es ift mit 
der Kunft eine eigene Sade! Ehe ih einen ihrer 
Sünger fördern belfe, muß ich mich jelbit überzeugt 
baben, ob er deilen würdig ſei!“ 

„Er ift hier, darf ich ihn rufen?” Auf ihren 
Wink holte Haflo, der in der Nähe geitanden, feinen 


Shüpling herbei. 

„Halo, Sie aud bier? MWeidmanns Heil!“ 
rief Prinz Louis. „Wie geht es unjerm Penzlomwer 
Sagdfreund, was machen die Hirihe? Sch denke, 
nähften Sommer pirjhen wir wieder zujammen. 
Vielleiht auch einmal bei mir, in Schride! — Doc 
wen bringen Sie mir bier? 

„Sie dienen derjelben Kunft, die auch ich als 
meine Herrin betrachte!” redete Prinz Louis den 
Mufiler freundlich an. 

„a, Königliche Hoheit, aber ich diene ihr nur 
unvollommen!” ermwiderte diefer mit etwas mühlam 
erzwungenem Freimut. „Mein Freund bier verfichert 
mich oft, daß es nur einen wahren Künftler auf dem 
Fortepiano gäbe und da er das Glüd gehabt, diefen 
bören zu dürfen, meine Eljays ihn forthin nicht mehr 
tontentieren könnten!” 

Der Prinz ftreifte Haflo mit einem lächelnden 
Blid. „Ich bin überzeugt, daß Herr von Rodlik 
über meine weidmännijchen Leiltungen mit abjoluter 
Sadılenntnis zu urteilen verliebt. Wo es fi aber 
um Fragen der Kunft handelt, da lafien Sie fidh 
durch jeine Meinung nicht einfhüchtern, wenn ich 
Shen raten darf, Monfteur Zürn! Wollen Sie 





Nomen von Hans Werder. 10 


mir aber,“ fuhr er fort, „einen Einblid geltatten, 
jo haben Sie die Güte! Der Flügel der Frau von 
Crayen ift vorzüglich, ich Tenne ihn gut!” 

Ludwig Zürn nahm an dem Flügel Pla und 
ipielte Beeihovens E-Dur-Sonate. Die zumeift aus 
Kunſtfreunden beſtehende Geſellſchaft ſaß aufmerkſam 
lauſchend umher. Prinz Louis ruhte in einem tiefen 
Seſſel, den Kopf leicht geſenkt, die Augen mit dem 
Ausdruck tiefſten Zuhörens auf den Muſiker geheftet. 
Er las gleichſam von der blaſſen Stirn desſelben den 
Gang der arbeitenden Phantaſie, die das Spiel der 
Hände leitete. Als die Sonate geendet, blickte der 
Künſtler auf, befangen, ungewiß und ſtrich ſich mit 
nervöſer Hand über das lange, ſchlichte Haar. 

„Ihre Muſik intereſſiert mich ungemein, Herr 
Zürn!“ ſagte endlich der Prinz. „Sie klingt mir 
ſo, als hätten Sie viel der Sachen von Johann Se— 
baſtian Bach geſpielt, ſo geſchult und korrekt!“ 

Ludwig Zurn ſprang auf wie elektriſiert. „König⸗ 
liche Hoheit, wer das heraushört aus meinem Spiel 
— der — dann — dann — o — das verrät Meiſter⸗ 
ſchaft!“ 

Der Prinz lächelte flüchtig. „Darf ich um eine 
Fuge des großen Orgelmeiſters bitten?“ 

Ludwig Zürn gehorchte. Als die mächtigen 
Klänge verſtummt waren, trat ein Schweigen ein. 
Dann erhob ſich der Prinz und lehnle ſich auf den 
Flügel. 

„Ich möchte Ihnen gern helfen, Herr Zuürn. 
Wo es in meiner Macht ſteht, der Kunſt zu dienen, 
einem Kuünſtler förderlich zu ſein, da thue ich's mit 
Freuden. Aber wie fangen wir das an? Wenn ich 
Ihr Konzert beſuche, wie es die kleine Veldegg plant, 
ſo kann ich mir davon nicht ſonderlichen Erfolg ver⸗ 
ſprechen. Ich bin dem Publikum kein ſo unge— 
wohnter Anblick, daß es ſich danach zerreißen ſollte! 
Was wollen Sie ſagen, Rochlitz?“ mit dieſer Frage 
ſtreifte fein Blick Haſſo, der an Zürns Seite ge: 
treten war. 

„Wenn Königliche Hoheit die Gnade hätten, 
ſelber ein Stück in dem Konzert vorzutragen, dann 
käme die ganze Stadt, die ganze Geſellſchaft!“ 

Der Prinz lachte. „Ein verrückter Einfall, 
Haſſo — ſieht Ihnen ganz ähnlich!“ — Er beſann 
ſich ein wenig und fuhr dann fort. „Ich habe das 
nämlich ſchon einmal gethan — vor Jahren in 
Frankfurt am Main.“) Da ging es! Ich war noch 
ſehr jung! — Aber jetzt — hier in Berlin! — Enſio, 
ich will es mir überlegen und mit kompetenten Leuten 
darüber ſprechen. Mein Adjutant, Herr von Kleiſt, 
wird Ihnen Nachricht von mir bringen!“ 

„Der von Kleiſt wird ſeine helle Freude an der 
Eskapade haben!“ flüſterte der Hofrat Gentz mit 
einiger Ironie in Rahels Ohr. „Aber in Scene gehen 
wird ſie deshalb doch! Darauf können Sie ſich ver— 
laſſen! Der Prinz iſt nicht imſtande, eine Bitte 
abzuſchlagen!“ 

„Das iſt richtig,“ erwiderte Rahel. „Wenn er 
es könnte, es wäre oft beſſer für ihn! Und doch — 


*) Hiſtoriſch. 








11 Schwertklingen. 
mir würde dann etwas fehlen an der Unendlichkeit 
des Gefühls in diefem großen Menichenherzen!“ 


IX. 


Der Abjutant von Kleift war allerdings in ge: 
linder Verzweiflung, als er dem Monfieur Zürn die 
Nachricht bradite, Königliche Hoheit wären entichloffen, 
jelber in bem fraglichen Konzert eine Mufikpiece vor: 
zutragen. Nur einen öffentlihen Charakter durfte bie 
Sade nicht annehmen, der Schein des geichlofjenen, 
privaten Kreijes jollte unter allen Umfländen gewahrt 
werben. Die Vorkehrungen zu dem in einigen Tagen 
fattfindenden Mufiffeft waren vertrauensvoll in Frau 
von Crayens Hand gelegt. — 

Der große Saal füllte fi bis auf den Teßten 
Plag. Hofgelelichaft, DOffizierlorps, Künftler: und 
Gelehrtenfreife, alles war vertreten. Alle, denen es 
die „Einladungstarten” ermöglichten, waren berbei- 
geeilt, diefen neuerflandenen Schügling des Prinzen 
—— zu hören und vor allen Dingen den Prinzen 
e 


Auch ſeine Schweſter, die Fürſtin Radziwill, er⸗ 
ſchien in Begleitung ihres Gemahls, und die junge 
Prinzeſſin Wilhelm. Prinz Louis begrüßte ſie mit 
einem Ausdruck der Freude und Genugthuung. „Alſo 
iſt über meine Caprice doch nicht völlig der Bann 
geſprochen?“ ſagte er mit ſeinem leichten Lachen. 
„Sonſt hätten weder meine Schweſter noch Sie, 
ma belle cousine, mir die Freude Ihres Kommens 
bereiten dürfen!“ 

„Am liebſten wäre die Königin ſelber erſchienen!“ 
gab Prinzeß Wilhelm freundlich zurück. Sie wollte 
noch etwas hinzuſetzen, ſtockte jedoch. 

„Doch das wäre der Gnade zu viel geweſen!“ 
vollendete er ſelber mit dunkler werdendem Blick. 

Das Konzert begann. Prinz Louis ſtreifte die 
Handſchuhe von ſeinen ſchlanken Ritterhänden und 
nahm vor dem Flügel Platz. Ein unterdrücktes 
Lächeln zuckte um ſeine feinen Nuſtern. Die Si— 
tuation amüſierte ihn. Er ſpielte eine ſeiner eigenen 
Kompoſitionen. Die Menge lauſchte entzückt dem 
herrlichen Vortrage, der weichen, ſchwermütigen Muſik, 
die romantiſch wie Mondſchein und Märchenduft ihr 
Ohr umſchmeichelte. Als der Prinz geendet, erhob 
er ſich und kam langſam die Stufen des Podiums 
herab. Der Beifall, der ſich anfangs nur ſchüchtern 
hervorwagte, brach endlich mit enthuſiaſtiſchem Un— 
geſtüm los. Er galt der Muſik ſowohl als der Perſon 
des von allen vergötterten Helden. 

„Königliche Hoheit, wer wird mich nach Ihnen 
noch hören wollen?“ ſtammelte Ludwig Zürn, als 
der Prinz auf ihn zutrat. 

„Wenn Sie Bach und Beethoven ſpielen?“ fragte 
dieſer zurück. „Ich bin in Ihrem Intereſſe bei der 
Wahl meines Komponiſten ſehr beſcheiden geweſen!“ 

„Königliche Hoheit!“ rief Zürn faſt vorwurfsvoll. 

Der Prinz legte ihm freundlich die Hand auf 
die Schulter. „Nun gehen Sie nur, und möge Apoll 
Ihnen zum ſchönſten Erfolge verhelfen!“ 
mpathie, welche der hohe Herr ihm ſomit 


Roman von Hans Werder. 


12 


auf den Weg gab und die bei der Zubhörerſchaft ein 
unwillkürliches Echo fand, hob den Künſtler wie auf 
Flügeln empor über Bangigkeit und Scheu. Mit 
der Sicherheit kam Begeiſterung über ihn und er löſte 
die große Aufgabe, die er ſich geſtellt, mit Meiſterſchaft. 
Reichlicher Beifall belohnte ihn. Er hatte mithin er— 
reicht, was er angeſtrebt, Wurzel gefaßt in der öffent— 
lichen Meinung und durfte von dieſem Standpunkt 
aus hoffen, immer weiter zu gelangen. Wonne— 
trunken nahm er die Glückwünſche ſeines hohen 
Gönners, ſeiner Freunde und Schüler entgegen. 
Die Fürſtin Radziwill richtete huldvolle Worte an 
ihn. Sie war gleich ihrem Bruder muſikaliſch und 
voll feinſten Verſtändniſſes. 

Auch Renate hatte ihren Lehrer begrüßt. 

„Ach, da iſt ja unſeres jungen Künſtlers Pro: 
tektorin!“ rief Prinz Louis gut gelaunt. „Sind Sie 
denn zufrieden mit dem Siege Ihres Meiſters, 
Mademoiſelle?“ 

„Ja, ſehr!“ 

„Und ſind Sie auch mit mir zufrieden?“ fragte 
er wieder. „Habe ich das Vertrauen gerechtfertigt, 
das Sie auf mich geſetzt hatten?“ 

„Ja, Königliche Hoheit haben mich fehr obli—⸗ 
Ich danke Ihnen vieltauſendmal!“ 

Er blickte mit ſchalkhaftem Vergnügen in die 

ſtrahlenden Augen. „Dieſer Monſieur Zürn iſt aber 

ein Glückspilz!“ bemerkte er neckend. „So wie Sie 

ſich erſt für ihn verwendet haben und jetzt für ihn 

danken, erſcheint er mir beneidenswert!“ 

Sie bog das Köpfchen zurück. Ein herber, fünf— 
zehnjähriger Hochmut, der ſie reizend kleidete, kräuſelte 
ihre Lippen. „Für beneidenswert halte ich ihn nicht, 
Königliche Hoheit, ſonſt würde ich mich nicht für ihn 
verwandt haben!“ — 

„Wer war das charmante kleine Mädchen, das 
Dich ſo herzlich zum Lachen brachte?“ fragte Fürſtin 
Radziwill, als ſie am Arm ihres Bruders den Saal 
verließ. 
Er erzählte ihr im heiteren Tone, wer die Kleine 
ſei und was er mit ihr geſprochen. 

„Louis, Du biſt heute wie in Sonnenſchein ge⸗ 
taucht, ſo ſah ich Dich lange nicht!“ flüſterte die zärt— 
liche Schweſter. 

„Lange nicht!“ wiederholte er. 

Sie ſianden in dem Vorzimmer. Forſchend, ge—⸗ 
dankenleſend, blickte Fürſtin Luiſe zu ihm auf. „Ich 
weiß — Du haſt wieder Frieden gemacht mit Deiner 
ſchönen Madame Wieſel, Dich mit ihr ausgeſöhnt! 
Ich las es, als Du hereinkamſt, in Deinen Augen, 
ſonſt hätte nicht fo viel Licht darin geſtrahlt!“ 

„Meine Enge Schwefter!” fagte er leile. 

„Und nit wahr, fie war bier?“ fuhr die Prin- 
zeffin fort. „Ich fah eine wunderfchöne Perjon mit 
goldenem Haar, in griehifhem Gewande — fie jaß 
zwilchen der Baronin Grotthuß und Deinem Freund, 
dem Afjellor Vetter, und verwandte fein Auge von 
Dir!” 

„Das war fie!” beftätigte er mit träumerijchem 

ck 


giert! 


* * 





— — — 
ö— — — — — 





13 Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 14 


Prinz Louis hatte ſich von ſeinen fürſtlichen 
Verwandten getrennt. Das Haus der Baronin Grott- 
buß fuchte er auf, denn er wußte, er würde zu diejer 
Stunde fie dort finden, die Schöne, die Einzige, in 
deren Banden feine Seele gefeljelt lag. Es war 
noch nicht lange ber, feit er Pauline Wielel kennen 
gelernt. Sie war die Tochter der Geheimrätin Cäjar 
in Berlin, in zarter Jugend an einen ältliden, un: 
geliebten Dann verheiratet, der nur feinen eigenen 
Ssntereflen lebte, und dem ehrgeizigen Streben nad) 
Stellung, Anjehen und Reichtum jedes Gefühl zum 
Opfer bradte. Er batte jeine junge Gattin nad 
Paris geführt und in die große Welt. Jr das lodere, 
Iaddende, über blutigen Abgründen bintanzende Paris 
bes „Erften Katjerreih&“, welches die Schreden ber 
Revolution zu vergellen trachtete über dem Siege®: 
jubel und der Macht feines neuen, gewaltigen Be: 
berriherse. Dort war fih Pauline ihrer Schönheit 
bewußt geworden und der fiegenden Macht diejer 
Schönheit. Yhr Mann ergögte fih an den Triumphen 
jeiner Gattin und wußte diejelben für feine Zmede 
auszubeuten. Die junge Frau geriet auf eine ab- 
Ihüjfige, gefahrvolle Bahn. Shrem Gatten, der ihr 
feinen Halt gewährte, entfremdete fie jidh völlig, und 
er war e& zufrieden. 

So kam fie nad Berlin zurüd, verwöhnt, auf- 
geklärt, genußjühtig und in ihrer Haltlofigkeit tief 
unglückich. 

Da lernte Prinz Louis ſie kennen. Er ſah ſie 
öfter, ſah ſie täglich, und bald gab ſein Herz ſich 
ihrem Liebreiz zu eigen in anbetender Leidenſchaft. 
Das Glück, das ſie entbehrte, wollte er ihr geben mit 
ſeiner Liebe, und er ſelber meinte in ihr das Glück 
ſeiner Seele zu finden, das er ſehnſüchtig ſein Leben 
lang geſucht. 

Aber Pauline war nicht ganz das, was ſein 
verklärender Blick in ihr ſah. Weder ihr Herz noch 
ihr Charakter ſtanden auf der Höhe, die er voraus— 
ſetzte, und ihre Liebe bereitete ihm, zumal jetzt, da 
er gewiſſermaßen noch als Werbender vor ihr ſtand, 
ein „Glück ohne Ruh“. 

Heute jedoch, wie Fürſtin Luiſe richtig durch— 
ſchaut, war eitel Sonnenſchein. Als Prinz Louis den 
Salon der Frau von Grotthuß betrat, umfaßte ſein 
erſter Blick ſie, die er ſuchte, — eine herrliche Geſtalt 
von ſchlanker Fülle und jenem edlen Ebenmaß der 
Formen, das die Meiſter griechiſcher Kunſt uns als 
das Ideal der Schönheit hingeſtellt haben. Ihr Antlitz 
trug den Ausdruck lebensvoller Friſche und einen 
Liebreiz, der ſeinen Eindruck auf ihre Umgebung faſt 
niemals verfehlte. Wie ein Magnetismus, gegen 
den er kein Schutzmittel beſaß, wirkte er auf den 
Schönbeitsfinn des Prinzen und auf fein heißpochen- 
des Herz. 

Sn volllommener Haltung begrüßte er die An: 
wejenden, Pauline zulegt. Es lag fogar ein Etwas 
von Zurüdhaltung,; wenn nicht Befangenheit in feinem 
Wejen gegen fie. 

„3b dachte nicht, daß Königliche Hoheit noch 
fommen würden,” bemerfte Afjellor Better. „An diefem 
der Kunft geweihten Abend unter einen Kreis Funft- 
fremder Laien —” er jprah mit einem Anflug von 


Sronie im Tone. Er felbft war einer von Paulinens 
wärmften Anbetern und jah mit Bangen dem frag- 
lojen Siege feines fürftlichen Freundes entgegen. 

Diejer 309 die Augenbrauen empor. „Was fällt 
Shnen ein, Better? Haben Sie mir’s jchon je zuvor 
verdadt, wenn ich durch rajhen Wedel den Genuß 
bes Lebens zu erhöhen juchte? Machen Sie’s nicht 
ebenjo?“ 

„Gewiß, Königliche Hoheit! Aber heute jchienen 
Sie jo ganz Künftler von Beruf zu fein, baß id 
glaubte, Sie würden fih für den Reft des Abends in 
feinem anderen Fahrmwaller mehr amüfieren können!” 

Prinz Lonis zudte die Achleln. „Spreden Sie 
doch nicht von Amüfieren! Sch kenne nichts Trivialeres 
wie biefen Ausdrud! — Kinder, Hofbamen und Fähn- 
ride — die amülieren fih. Aber ein Mann, beflen 
Berftand fich beichäftigen, der denken, fühlen, genießen 
fann, der amüftert fi nicht!” *) 

„> Königlide Hoheit, jo lallen Sie uns mit 
Ihnen denken, fühlen, genießen,” rief die Grotthuß 
enthufiaftiid. „Dann freilid find wir berechtigt, 
auf jedes ‚Amüjement' zu verzichten! Aber ich dente, 
für dieſe Anſchauung werden Sie Verftändnis bei 
vielen Menihen finden!” 

Brinz Louis machte eine abwehrende Bewegung. 
„Derftändnis bei den Menfchen, gnädige Frau, das 
fenne ich nicht! — Gott, wie find die Menichen! 
Bosheit, Falte Bosheit gilt ihnen als Wit und Ber: 
ſtand! Sie fchänen fih, jelbft gutmütig zu fein! 
Und zu lieben — verftehen die wenigjten! Gie 
treiben fi in der Welt herum ohne Luft und ohne 
en mit erjchlafftem Gemüt und berzlojer 

ruft!” 

„Hören Sie's, Better — Pauline —“ rief Die 
Baronin lähelnd. „Uns wird die Aufgabe zufallen, 
unferes hohen Herren Anjhauung über die Menjchen 
wieder in eine günftigere Richtung zu lenten!” 

Die Unterhaltung ward noch eine Zeitlang in 
dieſer Weile fortgeführt. Pauline, melde fih nicht 
daran beteiligt, erhob fich leife und verließ das 
Zimmer. Sie ging langfam, und wie die weichen 
Talten ihres hellen Gewandes über die Schwelle 
binglitten, war es, als flöffe ein Lichtitreif dort 
hinaus und bielte den Blid des Nachichauenden ge: 
fefelt — und zöge ihn nad. 

Es war das Bouboir ber Baronin, welches fie 
betrat, ein laujchiges, zierliches Gemad, von rötlichem 
Ampellicht erhellt. Da blieb fie ftehen, gerade unter 
der Ampel, die Hände gefaltet, das Haupt gelenkt, 
die Augen vor fich Hinfchauend ins Ungewilje, als 
grübelte oder horchte fie. 

Dualvolle Tage lagen Hinter ihr. Sie war in 
einer Anwandlung böjer Zaune dem Prinzen mit herz: 
lojer Kälte begegnet, einer tofetten Art von Kälte, die 
fein feines Gefühl aufs tieffte verlegt. Und er hatte 
fie gemieden, lange Tage, länger als fie gemeint, 
daß er’s ertragen fönnte. Aber er ertrug es, ob: 
Ihon frantend an der Herzenswunde, tiefer als fie 
es verltand. Doch auch fie litt jchmerzlid. Und 


*) Diefe, wie alle folgenben Außerungen de Prinzen 
in diefem Kapitel, wörtlih feinen Briefen an Pauline 
Wiefel 2c. entnommen. 





15 Schwertklingen. 


als ſie ſah, er kam nicht wieder, er würde nimmer 
wiederkehren, bis ſie gut gemacht, was ſie ihm zu— 
leid gethan, da überwand ſie ihren Stolz und ſchrieb 
ihm zum erſten Male, reuevoll, flehend. Und ſo— 
gleich kam er hierher, wo er ſie zu finden wußte. 

Sie ſtand und wartete auf ihn. Da endlich, 
ſein leichter Schritt auf der Schwelle — und noch 
ehe fie aufgeſchaut, fühlte ſie ſih von ſeinem Arm 
umſchlungen. Ihr Haupt ſank an ſeine Bruſt in 
ſeligem Selbſtvergeſſen. Leidenſchaftliche, zärtliche 
Hingebung war es, die er über ſie ausſchüttete, und 
doch kam er als der Verzeihende — ſtand vor ihr 
als der Gebietende. 

„So darfſt Du mich nicht wieder von Dir 
weiſen, Pauline, nicht ſo vor mir fliehen!“ ſagte er 
mit weicher, tiefer Stimme, welche ſein heißes 
Empfinden durchzitterte wie die Saiten eines edlen 
Inſtrumentes. „Sieh mir in die Augen! Sag — 
könnteſt Du mich vergeſſen? — Nie!“ Er hob mit 
zärtlicher Bewegung ihr Haupt zu ſich empor. „Nie! 
Geliebteſte, nicht Stolz, nicht Eitelkeit ſpricht dieſes 
Wort aus! Mein iſt Dein zukünftiges Leben!“ 

„Ja!“ ſagte ſie und ſchaute ſtrahlend, in be— 
glüdter Hingabe zu ihm auf. „Dein ift mein zu: 
fünftiges Leben! — Aber wie, Geliebtefter, wirb 
mein 208 fi dadurch geftalten? Der Krieg, Du 
Krieger — die Jagd, Du Zäger — die Mufil, Du 
Mufltus — biefe drei find meine ftarlen Rivalen. 
Dann erit fommt die Liebe! Bei mir aber giebt es 
feine Teilung! Sch liebe nur Di allein in der 
Welt, alles andere töteft Du in mir!” *) 

Prinz Louis Ferdinand lächelte, das entzüdte 
Lächeln des Siegere. „Du haft diefe Rivalen nicht 
zu fürdten, wenn Du Deine Liebe dagegen ein- 
jegeft und mir Dein PBertrauen giebt! Dann bin 
ih Dein, — ewig! Nur Du kannt mid von Dir 
trennen! — Pauline, Du wirft mich wieder an das 
Glüd gewöhnen!“ 


X. 


Wie ein echtes Kagdihloß, Hein und fchlicht, 
nur den Bebürfniflen des fürftlihen Sägers und 
jeiner ländlichen Gelelligfeit entiprechend, lag Schride 
einlam, weltvergeflen zwilhen den unermeßlichen 
Wäldern, die fein Jagdrevier bildeten. Denn aud 
die rings umberliegenden Magdeburger Forften hatte 
der König dem Prinzen für fein frohes Treiben zur 
Verfügung geftelt. Sn diefem Sommer follte der 
erftie Verfuchh der VBarforcejagb gemacht werben. Die 
benadhbarten Fürften hatten ihre Hunde dazu ber: 
gejandt, um den Vielbewunderten in jeinem Unter— 
nehmen zu unterftügen.**) 

Schon harrte auf dem Hofe des Yagdichlofjes 
die zujanmengeloppelte Meute, Ichon ftanden einzelne 
Pferde gefattelt. Die Jagdgejelihaft begann fich 
zum Frühftüd zu verjammeln. 


*) En Wiejeld eigene Worte. 
**) Siehe Karl v. Noſtitz' Tagebuch. 


Roman von Hans Werder. 16 


„Wer kommt da auf den Hof geritten?“ fragte 
Prinz Louis, durchs Fenfter blidend. „Ein Qufaren: 
offizier?” Er trat in die Hausthür. Der An: 
fümmling fprang eben vom Pferde und meldete fi 
in dienfllider Haltung bei feinem hohen Wirte. 

„Willlommen, Nochlig!” rief Ddiefer. „Sie 
jehen, ich komme Ahnen fchon in der Hausthür ent: 
gegen, damit Sie mir nicht die Treppe hinauf durch 
die Zimmer reiten!“ 

„Sanz wie Königliche Hoheit befehlen! Mein 
Pferd jomohl wie ich willen zu gehordhen!” ermwiberte 
Hallo mit der leichten Schlagfertigfeit, die ihm eigen. 

„Elegantes Pferd übrigens!” fagte der Prinz. 
„Tadellos auf allen vier Beinen! Hat es Bieten 
nicht früher geritten? &s& Tommt mir jo belannt vor!“ 

„Binde von meinem Regiment hat es geritten, 
Königlide Hoheit! ch habe es vor einigen Tagen 
von ihm gekauft!” 

„Und Sie fommen bdirelt von Berlin?” 

„gu Befehl! Bin gegen Abend abgeritten!” 

„Run, dann ift der Rappe müde! Morgen 
werden Sie ihn mir in der Sauhat vorreiten. Heut 
darf ich Yhnen eines meiner Pferde zur Verfügung 
ftellen! Beforge das, Drdorf!” befahl er feinem 
Leibjäger. „Laß die Stute fortführen und ver: 
pflegen. Und Sie begleiten mich hier hinein, Hallo, 
Sie fommen gerade recht zum Frühftüd. Sie Tennen 
Herrn von Rodlig bereits, Noftig?” wandte er fi 
an feinen Adjutanten. „Als der Bruder SYhres 
Kegimentsfameraden hat er ja noch ein bejonderes 
Anrecht an Ihr Intereſſe!“ 

Der Lieutenant Karl von Noſtitz vom Regiment 
Gendarmes war ſeit kurzer Zeit als zweiter Adjutant 
des Prinzen kommandiert, ein rieſengroßer Menſch, 
ſchön und ſtattlich, mit klugem, männlichem Geſicht, 
die urwüchſigen Formen ſeines Auftretens gemildert 
durch das Übergewicht eines feingebildeten und eigen— 
artigen Geiſtes. Dabei feurig, verwegen und zu 
jeder Art von Unternehmung aufgelegt, erſchien er 
wie geſchaffen zum Schildknappen ſeines jungen Ge—⸗ 
bieters, da er auf allen Punkten ſeines Weſens mit 
ihm harmonierte, ohne ihm nur in einem überlegen 
zu ſein. Er trat deshalb auch bald in vertrautere 
Beziehungen zu ihm als der Hauptmann von Kleiſt, 
der in ſeinem ernſten, förmlichen Weſen weniger mit 
der freien Leichtlebigkeit ſeines Herrn übereinſtimmte. 

„Ich freue mich beſonders, Sie hier zu finden, 
Herr von Noſtitz,“ ſagte Haſſo, von ſeinem Frühſtück 
zu dem ihm gegenüber Sitzenden aufblickend. „Ich 
bin ſonſt ziemlich fremd unter dieſer Geſellſchaft!“ 

„Dieſer Zuſtand pflegt bei Ihnen nicht lange 
anzuhalten!“ erwiderte Noſtitz. „Doch auch ich freue 
mich, Sie gerade hier zu begrüßen und hoffe ſehr, 
wir werden uns nähertreten in gemeinſamer Ver— 
ehrung eines Herrn, wie's keinen zweiten auf der 
Welt giebt. Stoßen wir an auf gutes Zuſammen⸗ 


halten!“ 
Die Gläſer klangen aneinander. Zugleich er— 
Die 


hoben ſich beide mit der ganzen Tafelrunde. 
Gefellſchaft brach auf. 

Herrlich verlief die Jagd bei köſtlichſtem Hubertus⸗ 
wetter. Prinz Louis betrieb jede Art von Weidwerk 





17 Schwertllingen. 
mit Sadlenntnis und Leidenichaft. 


— ———— Do LI m ——— 


Gar zu bald 
ermüdete ihn ſonſt in allen Wettübungen das Be—⸗ 
wußtſein des leichten Sieges, den er über alle Ge— 
noſſen davontrug. Das Jägerhandwerk aber war 
für ihn kein Sport, ſondern ein Austoben der in 
ihm wohnenden Kraft und Thatenluſt, eine An— 
ſtrengung, die das Einſetzen der vollen Kraft und 
Entſchloſſenheit von ihm forderte, durch die er ſich 
freier, geſunder und wie veredelt fühlte. Er ver— 
traute deshalb gern von vornherein den Menſchen, 
die er als Jäger kannte und wählte aus ihrem 
Stande mit Vorliebe ſeine Dienerſchaft. Aus 
dieſem Grunde rechnete auch Noſtitz darauf, Haſſo 
in immer nähere Beziehung zu dem Prinzen treten 
zu ſehen und trank ihm deshalb zu auf „gutes Zu: 
ſammenhalten!“ 

Müde, auf dampfenden Roſſen, doch in heiterer 
Stimmung kehrte um fünf Uhr die Jagdgeſellſchaft 
heim. Eine Stunde ſpäter verſammelte ſie ſich zur 
Tafel in der mit Jagdtrophäen ausgeſchmückten Halle 
des Schlößchens. Einige Freunde des Prinzen, die 
am Weidwerk nicht teilnahmen, und dazu gehörige 
Damen harrten ihrer bereits. 

Auserleſene Speiſen, gute Weine, perlender Sekt 
wurden geboten. Bald ſtieg die Stimmung zu einer 
Höhe und Freiheit, welche an die Gelage genußfroher 
griechiſcher Antike erinnerte, doch nie das Maß des 
Schönen überſchritt. 

Längſt war das eigentliche Mahl beendet, doch 
unverändert dauerte das Beiſammenſein fort. Immer 
aufs neue wurden Erfriſchungen herbeigetragen und 
zu beliebiger Auswahl hingeſtellt. Die Frauen ruhten 
in den Polſtern eines Diwans, die Huldigungen der 
Kavaliere entgegennehmend und die Unterhaltung in 
den Grenzen des Zarten feſthaltend. 

Der Hand des Prinzen erreichbar ſtand ein 
Piano, unter allen Freunden ſeines Lebens ihm der 
wertvollſte und unzertrennlichſte. Eine Wendung nur 
aus der Unterhaltung heraus, und ſeine Hand führte 
dieſelbe weiter in der Sprache der Töne, feuriger 
noch und ſüßer, als es Worte vermochten. In ſeiner 
Nähe ſaß Duſſek, ſein Klavierſpieler und ſteter Be—⸗ 
gleiter, der dieſe Sprache ſeines Herrn verſtand wie 
keiner ſonſt, und antwortend griff auch er in die 
Taſten. Hinüber, herüber klangen und wogten die 
Töne und gaben in berückendem Wohllaut wieder, 
was man gefühlt und empfunden, angeregt durch 
den freien Austauſch der Gedanken. 

Doch auch Karten und Würfel blieben nicht 
ausgeſchloſſen von dieſen ſeltſam frohen Gelagen.“) 

Unmerklich verrannen die Stunden. Durch die 
geſchloſſenen Läden herein drang endlich die helle 
Morgenſonne und ſchien auf abgeſpannte, übernächtige 
Geſichter. 

Todmüde ſuchte Haſſo ſein Lager auf. Doch 
wenige Stunden tiefen, geſunden Schlafes genügten, 
ihn wieder friſch und zu allen erdenklichen Unter— 
nehmungen aufgelegt zu machen. Er war der erſte, der 
morgens unten im Frühftüdsjaal erihien. Niemand 


*) Alle diefe Schilderungen dem Tagebud) von Noftit 
entnommen. 


Romansfeitung 1896. 


Roman von Hans Werder. 18 


dort, au Noftit nicht. So fehlenderte er entdedungs: 
Luftig in den Garten hinaus. Sonnenbeichienene 
Rajenflähen und verjchnittene Heden umgaben das 
Haus. Doh daran Ihloß fi gar bald die Forft, 
die mit ihrem raufhenden Wipfelmeer den Reiz und 
Charakter der Umgegend bildete. 

Tiefer im Garten, unter freundlidem Grün 
balb verborgen, entdedte Hafjo ein Häuschen, zierlich 
anzujhauen. Gewiß war das die „Meierei”, die er 
geltern mehrfah hatte erwähnen hören. Als er 
näber kam, blieb er überrafcht ftehen. Im Schatten 
eines SFliederftraudes, allein und unbejorgt ihres 
Lebens fich freuend, nur von einem großen Neufund: 
länder gehütet, erblidte er zwei Kinder. Das eine, 
dem Alleingebraud) ſeiner Füßchen noch nidt an: 
vertraut, in zierlihen Wagen gebettet, ein zartes, 
ſchneeweißes und roſiges kleines Geſchöpf. Das 
andere, ein Knabe von etwa vier bis fünf Jahren, 
ſchlank gewachſen und ſchön, mit freier Haltung 
und leuchtendem Blick. Er war in hellblauen Sammet 
gekleidet, mit breitem Spitzenkragen, auf den das 
blonde, leichtgelockte Haar herabfiel. 

Haſſo kannte dieſe Kopfhaltung und die Ge— 
ſichtszüge, wie dieſer Knabe ſie trug. Er konnte 
nicht im Zweifel ſein, weſſen Kinder er hier vor ſich 
ſah. Ein tiefes, faft peinigendes Staunen über: 
fam ihn. 

Wer aber war die Mutter diefer holden Ge: 
Ihöpfe? Sene hbübjche, blonde, junge Frau vielleicht, 
die er gejtern in fo eifriger Unterhaltung neben dem 
Klavierjpieler Dufjet bei Tiich hatte fiten fehen, und 
die man ihm als Demoijelle Fromm genannt? Er 
hatte fie für eine ber Gäfte gehalten, bis er zufällig 
gejehen, wie der Prinz fie durch einen zwar freund: 
lien, aber doch kurzen Wink bedeutet, fich zurüd: 
zuziehen. „Henriette Fromm” — ja, das mußte 
fie jein. 

Er wäbherte fih den Kindern. Der Knabe bob 
den Kopf und fjah ihm gejpannt entgegen. Hafjo 
war von feinen früheren, kindliden Anjchauungen, 
KH Prinzen und Fürftenlinder mit goldenen Kronen 
und Purpurgewändern vorzuftellen, längit zurüd: 
gefommen. Sept fühlte er Neigung, Sich denfelben 
wieder zuzumenden. „Es ilt doch ein eigen Ding,” 
dadhte er bei fih, „um jolh ein Nolergejchlecht, 
jelbft wenn man die junge Brut in dem Neft einer 
Haustaube findet!” 

Die blauen Louis Ferdinands:Augen ‚mufterten 
ihn prüfend, ein wenig von oben herab. „Bilt Du 
auch einer von Papas Gäften? ch Tenne Dich ja 
no gar nicht?” 

„Sa, Du Kleines Herrhen, wenn Du nichts 
dagegen haft! Gieb mir doc Deine Hand! Wie 
beißt Du denn?” 

„Louis heiße ich!” 

„Louis! Was taufend, aud das noh! — Und 
dies bier ift Deine Schweiter?” 

„a, das ift Blanche!” 

Haflo trat an den Kinderwagen und ließ fi 
auf ein Knie nieder. „Blande! Ei, was bift Du 
für eine nieblide Puppe! So etwas ift mir ja in 
meinem Leben noch nicht vorgelommen! Sieb mid 


IV, 2 


19 Schwertklingen 


doch einmal an mit Deinen merkwürdigen Guck— 
augen!“ 

Über das ſüße Geſicht der Kleinen ging ein 
nachdenklicher Schatten bei dieſer ihr ungewohnt 
klingenden Rede. Doch blickte ſie ihn nicht ohne 
Wohlwollen an. Er ſtreckte ihr einen Finger hin, 
die Hand konnte er ihr nicht bieten, denn bie er: 
ſchien ihm größer als die ganze kleine Perſon, und 
ſie erfaßte ihn zutraulich. Warm und weich wie ein 
Flaum war das Händchen, ein Allaspolſter mit 
winzigen Grübchen darin. Haſſo berührte es leiſe 
mit den Lippen. Es war ihm zu Mute, als habe 
er einen verborgen gehaltenen Schatz entdeckt. 

„Papa!“ rief plötzlich der kleine Louis und 
eilte jubelnd quer über den Nafenplag dem An- 
fommenden entgegen. 


„Ah, mignonne, nimmft Du fon Cour an in 
aller Morgenfrühbe?” rief die weiche mufikklingende 
Stimme des Prinzen. 

Hallo Iprang auf. „Königliche Hoheit wollen 
gütigft entiehuldigen —” begann er in leichter Ber: 
legenbeit. 


„Bitte jehr! Ich freue mich, die Kinder in 
jo guter Gejelihaft anzutreffen!” Er beugte fi 
über den Wagen. Sett erft ließ Blanche den Finger 
ihres neuen Verehrers fahren und ftredte beide 
Armen dem fhhönen jungen Vater entgegen. 


Prinz Louis bob das Kleine MWejen empor bis 
zur Höhe des eigenen Hauptes und fchaute jefunden: 
lang ftumm, mit einem Blid voll Liebe in die 
ftrahlenden Augen feines Kindes. Dann füßte er 
es zärtlih, tändelnd und ließ es janft zurüdgleiten 
in die jpigenumjäumten Kiffen, die er mit anmutiger 
Hand zuredhtrüdte. 


Als er fih wieder fortwanbte, bödcandie er 
Haflos fragendem Bid und ein nicht zu unter: 
drüdendes Lächeln ging über fein Gefiht. „Nun, 
was zerbreden Sie fi den Kopf! Kommen Sie, 
mein Junge, das Dejeuner wartet auf ung!“ 

Sn diefem Augenblid öffnete fi die Thür der 
Meierei und die hübjhe blonde Frauengeitalt, die 
Haffo geitern bewunbert, erichien, licht und frifch in 
hellem Sommermorgentlleidte. Sa, es war Henriette 
Fromm. Am Fortgehen begriffen, z0g er grüßend 
den Hut. Der Prinz aber jah fie nicht, achtete 
nicht auf fie. Sn dem Blid, der ihm folgte, lag 
fein Magnet, der ihn zurüdzog an ihre Seite oder 
audh nur den Kopf ihn wenden ließ, einen Gruß 
mit ihr zu taufhen. Der Zauber war erlojchen, der 
einft bier gemwaltet. Haflos ungeübtem, doch fein- 
fühligem Verftändnis ward es Kar: der Prinz hielt 
fie wert und in Ehren als die Mutter jener Kinder. 
Er bielt fie mit Treue und Anhänglichleit und dedte 
fie mit dem Schilde feiner Fürjorge, feines Schußes 
um der Kinder willen, an denen feine Seele hing. 
Doch Tängit fchlug fein heißes Herz in anderen 
Tefleln und ging dur Tiefen der Sehnjudt und 
des Hoffens, der Leiden und Glücdjeligkeit, die fern: 
ab lagen von diefem JdyN Teidenjchaftslofen Familien: 
glüdes. Hallo Hatte von ihr gehört, er wußte den 
Namen und hatte fie gejehen, Pauline Wiejel, Die 


vielgenannte Frau, die wunderſchöne, 


. Roman von Hans Werder. 20 





die jetzt des 
Prinzen Liebe beſaß. — — 

„Rochlitz,“ ſagte dieſer plötzlich, friſch und leb— 
haft den Gedankengang ſeines Begleiters durch— 
ſchneidend, „Ordorf meldete mir ſoeben einen groben 
Keiler, in den Tannendickungen der Wettiner Forſten 
geſpürt. Das Hetzen geht dort nicht! Was meinen 
Sie, wir reiten beide dieſe Nacht hinüber und jagen 
morgen früh! Zum Diner find wir dann wieder 
bier!“ 

Hallos Augen jlammten. „Königlidde Hoheit, 
a \ollte e8 fein, den diejer unerhörte Vorzug 
trifft! ?” 

„Sa Sie!” erwiderte Prinz Louis gutgelaunt. 
„Kenn ih Sie nit als birjähgerecdhten Jäger? Da 
denfe ich werden Sie fih aud bei der Sagd auf 
den Seiler bewähren. Außer meinem geireuen 
Noftig, der feinen Mann in jeder Feuerprobe ftcht, 
wüßte ich feinen unter meinen Gäften, von dem ich 
das jagen könnte! Der aber muß bier bleiben und 
die Honneurs madhen! Sie fchen, es bleibt auf 
Ihnen ſitzen!“ — 

Der Tag verging wie der geſtrige mit Hallo 
und Hundegebell, mit tollkühnem Reiten und fröh— 
lichem Halali, ermüdeter Heimkehr, kurzem Ausruhen 
und geſelligem Gelage. Oftmals während der Tafel 
ſchweiſte Haſſos Blick hinüber zu der blonden 
Henriette Fromm, welche wieder neben Duſſek ſaß 
und großes Intereſſe an dem Muſiker zu nehmen 
ſchien. Sie gefiel Haſſo nicht. „Gewiß,“ dachte er, 
„mag ſie lieblich, ſanft und hingebend geweſen ſein 
und dadurch den Sinn des ritterlichen Helden ge— 
feſſelt haben. Aber auf die Dauer können Tauben 
und Hühner ſich im Adlerneſt nimmermehr wohl 
und an ihrem Platze fühlen!“ 

Er äußerte dieſe Anſicht zu Noſtiz, welcher neben 
ihm ſaß. Der ſah ihn an und lachte. „Sie haben 
recht! Mit dieſem einen Wort iſt die ganze Situa— 
tion gekennzeichnet. Der Demoiſelle Fromm hälte 
einſt, ſozuſagen, eine große Aufgabe zufallen 
können, doch war ſie derſelben nicht gewachſen. Sie 
hat ihren hohen Gebieter nie verſtanden, nie zu 
würdigen gewußt — das Huhn den Adler! Darum 
konnte ſie auch auf die Dauer weder ſein Herz aus— 
füllen noch ſelber beglückt ſein!“ 

„Sie kennen die Madame Wieſel?“ fragte Haſſo. 

„Gewiß!“ Noſtitz ſah ihn bei der kurzen Ant: 
wort flüchtig von der Seite an. Haſſo lächelte. 

„Bitte, Herr von Noſtitz, halten Sie mich nicht 
für indiskret, wenn ich mich nicht gar ſo leicht zur 
Ruhe verweiſen laſſe! Sie wiſſen, ich verehre den 
Prinzen ſo ſehr hoch, ich möchte ihn auch gern in 
allen Dingen verſtehen und bewundern können!“ 

Jetzt wandte Noſtitz den Kopf zu ihm herum 
und ſeine klugen Augen ſchauten ihn ernſt und nach— 
denklich an. „Mein lieber Rochlitz, bewundern 
dürfen Sie den Prinzen überall! Verſtehen werden 
Sie ihn vielleicht nicht ſo bald! Aber Sie werden 
es einſt, wenn Sie das Leben und die Menſchen 
beſſer kennen gelernt und erfahren haben, was für 
ein Menſch er iſt!“ Er warf einen langen Blick zu 
ſeinem Herrn hinüber, der die ihm zunächſt Sitzenden 


21 Schwertklingen. 


| in einem Sprühfeuer der Unterhaltung mit ſich 


fortriß. 

Haſſo folgte dem Blick. „Ich meine faſt, ich 
müßte ihn auch jetzt ſchon verſtehen,“ ſagte er. „Ent— 
ziehen kann ich mich dem Einfluß ſeiner Perſönlichkeit 
nicht! Entweder ich muß mich mit einem großen 
Fragezeichen von ihm wenden oder ihn lieben und 
bewundern! Gleichgültig zu bleiben iſt unmöglich!“ 

„Unmöglich!“ beſtätigte Noſtitz lebhaft. „Aber 
ich kann Ihnen nur zu dem letzteren raten, was auch 
die Tugendphiliſter darüber ſagen mögen, die ihn 
nimmermehr zu würdigen verſtehen! Man hat 
ihn von Jugend auf herabzudrücken verſucht, durch 
Mangel an würdiger Beſchäftigung, durch ſtrenge 
Entfernung von allem, was ſeine großen Eigenſchaften 
in einem würdigen Wirkungskreiſe angeſpannt hätte! 
Wenn dann ſein feuriges Naturell hie und da auf 
Abwege gerät, ſo ſtempelt man das fein ſittſam mit 
dem Namen Immoralität und nennt ihn einen ver— 
lorenen Menſchen! Nun frage ich Sie aber, iſt der 
verloren, der bei Weibern, beim Zechen und in allem 
wilden Jubel der Jugend ſich ſelber nie verliert, der 
immer bleibt, was er iſt? Der ſich in dem Adel 
ſeiner Seele und in der Freiheit ſeines Geiſtes aus 
jeder Tiefe im Adlerflug erhebt, und das niedere Volk 
im Schlamm weit hinter ſich läßt!““) Er hielt inne, 
faſt erſchrocken über das Feuer, in das er ſich hin— 
eingeredet, und das doch ſo aus der Tiefe ſeines 
treuen, begeiſterungsfähigen Herzens flammte. 

Der, dem dieſe Begeiſterung galt, ſchaute jetzt 
herüber wie in magnetiſchem Verſtändnis und hob 
ſein Glas auf. „Proſit, Karl!“ 

Noſtitz ſprang auf und leerte ſein Glas. Der 
Prinz winkte ihn zu ſich heran und ſprach leiſe einige 
Worte zu ihm, dann erhob er ſich ſchnell und verließ, 
mit einigen verbindlichen Worten der Entſchuldigung 
an ſeine Gäſte, das Zimmer. Haſſo folgte ihm. 

Ein ſcharfer Ritt war es, bei Nacht und Nebel, 
durch die Dunkelheit der meilengroßen Waldungen, 
über Thal und Hügel, durch Schluchten und Sümpfe, 
oft ohne Weg und Steg. Haſſo hatte ſchon manch 
wunderſame Mär gehört von dieſen verwegenen, 
nächtlichen Ritten des Prinzen. Jetzt erhielt er eine 
Probe davon, die ihn mit Entzücken erfüllte. 

Als die kalte, rötliche Morgendämmerung das 
Waldesdunkel zu lichten begann, hatten fie Burg 
Wettin erreicht. Eine verfallene Ruine war es, von 
didem Epheu umfponnen. Zwei Zimmer darin für 
den fürftlihen Jagdherrn zur Unterkunft hergerichtet, 
ein drittes für den Kaftellan, einen alten, invaliden 
Förfter, defien Lebensaufgabe es war, der Ankunft 
feines Gebieterd gemwärtig zu fein. Sn dem raud): 
geihwärzten Kamin fladerte ein euer, das zugleich 
den niebriggewölbten Raum mit unrubigem Licht er: 
bellte. Davor faßen bie beiden Herren und tranten 
heißen Grog zur Neubelebung nad dem Ritt. Prinz 
Louis loderte feinen SJägerrod ein wenig und dehnte 
die Schlanke Rittergeftalt in dem uralten, hochlehnigen 
Seffel. Zwei Jagdhunde kauerten zu ſeinen Füßen. 

Haſſos Sinn war empfänglich für Romantik 


*) Wörtliche Außerungen von Noſtitz. 


Roman von Hans Werder. 22 


und Poeſie. Er glaubte ſich in eine alte Ballade 
verſetzt, in einen dunkel märchenhaften Traum, der 
ihn beglückte, und aus dem er zu erwachen fürchtete. 

Der Oberförſter wurde gemeldet — damit war 
die kurze Raſt beendet. Die Herren brachen auf. 

Ein Hauptſchwein war beſtätigt, und ſachkundig 
waren die Saufinder auf der Fährte ſeines Einwechſels 
angelegt. 

Prinz Louis ſtand auf ſeinem Poſten in einer 
von niederen Tannen umgebenen Waldblöße, lange 
ſchon, in geſpannter Erwartung — als endlich einer 
der Hunde, laut Hals gebend, bei ſeinen Kumpanen 
ein weit durch den Wald hinſchallendes Echo hervor— 
rief. Dazwiſchen ertönten die Hatzrufe des die Hunde 
führenden Jägers. Das Schwein ſchien die bergende 
Dickung nicht räumen zu wollen, ſondern tapfer mit 
ſeinen Ruheſtörern den Kampf aufzunehmen, wie hin 
und wieder das Schmerzgeheul eines ſchwer getroffenen 
Hundes andeutete. 

Mit Aufbietung aller Sinne war Prinz Louis 
dem Gang des Kampfes gefolgt und mit jägeriſcher 
Sicherheit zu dem Entſchluß gekommen, ſich nicht von 
ſeinem Poſten zu rühren. Er erkannte es als das 
Richtige, denn plötzlich war der Standlaut nahe vor 
ihm. Die Tannen knackten und bogen ſich, die 
ſchwarzbraune Schwarte eines Hauptſchweins wurde 
ſichtbar. Die ſchußbereite Büchſe des Prinzen flog 
an die Wange und ſuchte ihr Ziel. Doch halt. Zwei 
Saufinder, die ſich feſt verbiſſen, waren mit gefährdet. 

Der Keiler hatte jetzt den Rand der Waldblöße 
erreicht. Plötzlich gewahrte er den neuen, den fürft: 
lichen Gegner. Mit Blitzesſchnelle wandte er ſich 
gegen dieſen, ihn anrennend, daß er ſtrauchelte. Die 
Büchſe entlud ſich in die Luft und wehrlos ſtand der 
Prinz dem Wildſchwein gegenüber. Kurz kehrt machte 
das Untier, wobei es ihm gelang, die Hunde abzu- 
ihütteln, und flürzte fi) zum zweiten Male auf den 
Prinzen. Durd einen gewandten Seiteniprung wid) 
diefer dem Schlage aus, erfaßte gleichzeitig mit eijernem 
Griff den Heiler an den Gehören und warf fi mit 
der ganzen Kraft feines Körpers auf ihn, um bie 
Beftie zu Boden zu drüden. Es war ein Ringen 
auf Tod und Leben. „Kraft mißt fih an Kraft“. 
Erlahmte die des Mannes, fo fonnte der Kampf einen 
böjen Ausgang nehmen. Da — auf einen Moment 
gelang es ihm, die Hand frei zu bekommen. “Der 
Moment genügte. Aus der Scheide fuhr das Weib: 
meſſer zum tödlichen Fang. Tod der Stoß war nicht 
ftart genug, die Bewegung dur den Kampf gehemmt. 
Mit MWutröcheln verdoppelte das Untier die Gewalt: 
anftrengung, fich feinem Bezwinger zu entwinden. 
Diefem verging der Atem, auf feine bläulihen Lippen 
trat der Schaum. Wie lange noch follte der biegjame 
Stahl feiner Muskeln die übermenjhlide Anipannung 
ertragen? 

Da plöglich ein Zuruf, ein wilder Schrei. Eine 
zweite Klinge bligte in der Luft und traf den Keiler 
mit töblicher Kraft. Todesmatt ward jein Sträuben, 
dunfelroter Schweiß milchte fich dem Geifer, der dem 
Gebrehe entquol. Dann flredte der unförmliche 
Maldriefe verendend feine ftruppigen Glieder. 

Aufreht fand Prinz Ludwig da — heil und 


EEE EEE —— — 


23 Schwertilingen. 


unverjehrt. Er nahm den Hut ab und ftridh fid 
langfam über die feuchte Stirn. „Hallo — das 
waren Sie?” — Hallo antwortete nit. Das Herz 
ihlug ihm noch von der furdtbarften Aufregung, die 
er je empfunden. Mit einem warmen, weichen Blid 
ſah der Prinz auf ihn. „Hab’ ih Ahnen zu danten 
für die Verlängerung diejes nuglofen Lebens? Ich 
glaube faft, ohne Zhr Dazwilchentreten läge ich jeßt 
da im Moofe, und die Beftie lachte fih anftatt meiner 
ins Fäuſtchen!“ 

„Gewiß nicht, Königliche Hoheit,“ entgegnete 
Haſſo jetzt. „An einem ſolchen Gegner wie Sie 
hatte ſelbſt dieſe Beſtie genug, ohne mein Zuthun! 
Ihr Weidmeſſer ſitzt tadellos! Ein klein wenig tieſer, 
— hätte der Kampf nicht mehr gedauert, bis ich 
am!“ 

„But, behalten Sie Ihre Anſicht und geſtatten 
Sie mir, bei der meinigen zu bleiben!“ ſagte Prinz 
Louis mit der bezaubernden Liebenswürdigkeit, die 
ihm eigen. „Ich werde Ihnen dieſen Augenblick 
nicht vergeſſen, Rochlitz!“ Er ſtreckte ihm die Hand hin. 

Entblößten Hauptes nahm Haſſo dieſe Hand 
und küßte ſie. „Gnädigſier Herr, wenn ich für Sie 
mein Leben hätte hingeben dürfen, ſo wäre ſein Zweck 
damit erfüllt und erſchöpft geweſen!“ 


xl. 


Wieder ging ein Schrei der Wut und Entrüftung 
durch die preußiihen Lande. Napoleons Truppen 
unter Bernabotte hatten, Anfang Ditober 1805, das 
preußifche Gebiet Ansbadh: Bayreuth befegt und hauften 
darin wie in Feindesland. Das war ein neuer, un: 
erhörter Angriff auf Preußens Ehre, eine gröbliche 
Verlegung ber von des Königs Seite jo mühlam 
gegen alle europäifhen Mächte und gegen die laut 
redende Bolfsfimme aufrecht gehaltene Neutralität. 
Da erwahte auch der Zorn in des Königs Herzen 
mit bem Bemwußtjein, nicht länger dulden zu dürfen, 
wo bas heilige Gebot der Ehre ftolzes Aufraffen 
forderte. Einen fchmweren Kampf mit feinem pflicht- 
getreuen Herzen, das die Erhaltung des Friedens für 
die höchfte Negentenpflicht erfannte, hatte er dennoch 
zu beftehen. Der Minifler Haugmwig wurde an Napoleon 
entfendet, Rechenichaft zu fordern für diefe unerhörte 
That, und um Sühne und neue Friedensbedingungen 
mit ihm zu unterhandeln. 

Am Abend vor feiner Abreile war Eleiner 
FSamilienzirfel bei der Königin, und Graf Haugmwiß, 
noch immer ber Vertraute des Königs, war dazu ge- 
laden. Er jollte fich bei ber Gelegenheit von der 
Königin und den Mitgliedern des Herriherhaufes 
verabihieden dürfen, denn vorausfichtlich fonnte feine 
Abwefenheit jehr lange währen. Napoleon war auf 
fiegreihem Feldzuge gegen Uflerreih begriffen, an 
feines Heeres Spite bald bier, bald dort anzutreffen, 
dem rollenden Donner gleich, der über das geängitete 
Land binzog, feine Blibe fhleudernd, wohin es ihm 
gefiel. So galt es vielleicht, ihn mühjam aufzujuchen, 
wodhen:, monatelang hinter ihm berzuziehen, auf der 
Fährte feiner rauchenden, blutigen Siege. 


Roman von Hans Werder. 24 


Graf Haugwig jedody jah keine Schwierigkeit in 
dem ihm zu teil gewordenen Auftrage. Seine Ber: 
ebrung für Bonaparte war überjchwenglich groß, fo 
groß wie jeine Berftändnislofigfeit für das, was 
König, Volk und Vaterland von ihm, als ihrem erften 
Minifter, zu fordern hatten. Es dünfte ihm ein 
Vorzug und eine Ehre erjten Ranges, mit dem Sailer 
der Franzojen unterhandeln zu dürfen, und zugleich 
eine Quelle von Erfolg, Ruhm und Ehren für feine 
eigene ruhmbebürftige Perfon. 

„Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich wahr: 
baftig nicht gelommen!” bemerkte Prinz Louis halb- 
laut, doch im leichten unverfänglichen Unterhaltungston 
zu der neben ihm fitenden Fürftin Nadziwill, 

Sie blidte mit einem Eugen Lächeln auf, in ihres 
Bruders Augen. „Du wärelt doch gelommen! Oder 
wiegt Dir etwa diejer ganze Mann, jo lang und breit, 
wie wir ihn dort hüpfen fehen, jchwerer als ein Stirn: 
runzeln der Königin über eine jchwad) motivierte 
ne Mehr als der Verluft eines Abends in ihrer 
Nähe?“ 

Das Lächeln ging auch auf ſeine Züge hinüber. 
„Du haſt recht, wa petite soeur, ich beuge mich 
Deinen Argumenten! Wann hätte ſchon eine Dame 
mit Klugheit und Anmut Waffen gegen mich ins 
Feld geführt, denen ich mich nicht gebeugt? Aber nun 
gieb auch Du mir recht! Um mit einem Auftrage, 
wie dieſer es iſt, vor den ſiegestrunkenen Eroberer 
hinzutreten, dazu gehörte ein Charakter von der Art 
der alten Römer, aber kein Haugwitz!“ 

„Ja, Louis! Es gehörte dazu ein Mann, wie 
es biſt!“ erwiderte die junge Fürſtin in innigem 

one. 

Über Prinz Louis Ferdinands Antlitz ging ein 
ſchmerzliches Zucken. Eine abwehrende Bewegung war 
ſeine Antwort. 

Der Ausdruck „Hüpfen“, den Fürſtin Luiſe ge— 
braucht, war auf den würdigen Miniſter nicht ganz 
mit Unrecht angewandt. Unendlich zierlich und ver— 
bindlich lächelte und tänzelte er da vor der Königin, 
ſich ihrer Huld und Gnade bis zu ſeiner Rückkehr 
empfehlend. Dann in ähnlicher Weiſe den anweſenden 
Prinzeſſinnen, endlich den Prinzen. Mit hämiſch 
triumphierendem Lächeln trat er vor Prinz Louis hin. 
„Haben Eure Königliche Hoheit keine Befehle für 
mich nach Wien?“ 

Es ſollte eine Anſpielung ſein auf die Reiſe nach 
Wien, die der Prinz das Jahr zuvor zu Haugwitz' 
Ärger unternommen, und auf welcher er ſo warne 
Sympathien für ſterreich gewonnen, als man ihm 
dort Bewunderung und Huldigungen entgegengebracht. 

Ein einziger Blick aus den Hohenzollernaugen 
glitt auf den Höfling herab. „Herr Graf, hätte ich 
Befehle zu geben — Sie würden ſie nicht über— 
bringen!” *) 

Graf Haugmwit folgte dem König in defien Ge: 
mäder, um bort noch befondere Suftruftionen ent: 
gegenzunehmen. 

Als Prinz Louis fih ummandte, jah er den 
Blid der Königin auf fich gerichtet, von einem Lächeln 


*) Hiſtoriſch. 


ö — — — — —— — — — ꝰ õ õä õ õ ä ä ——— 


25 Schwertklingen. 


begleitet, ſo ſchalkhaft und anmutig zugleich, wie es 
nur ihrem Liebreiz gegeben war, ſich zu äußern. 
Verſtohlen drohte ſie ihm dabei mit dem Fächer. 

Raſch und lebhaft trat der Prinz zu ihr. „Galt 
dieſe Drohung mir, Majeſtät? Nun, dann wiſſen Sie 
auch, daß es nur eine Hand auf der Welt giebt, 
von der ich willig und gern alles hinnehme, was ſie 
über mich verhängt! auch eine Drohung! Aber wo: 
durch habe ich fie verdient? Welches Vergebens machte 
id mich ſchuldig?“ 

Das leile, doch deutlich vernehmbare Kniftern 
eines jchweren Seidengewandes berührte warnend 
fein Ohr. Ein übermütiges Lächeln blitte über jein 
Gefiht. Er verftand — e8 war die Gräfin Voß, 
die ftrenge Hüterin ber Etikette, die nahe hinter ihrer 
Herrin ftand und ihn erinnerte, in feinen Neben und 
Manieren nicht allzu vertraulih zu werden. Die 
Frau Oberhofmeifterin liebte ihn nit! Sie trug ihm 
leilen Groll jeit jenen längft vergangenen Tagen, 
da er der Schweiter der damaligen Kronprinzejlin, 
der nachherigen Fürftin Solms, in auffallender Weije 
den Hof gemadt. Die fchlaflofen Stunden, die er 
da der treuen Wächterin bereitet, konnte fie nicht ver: 
gellen. Er mußte das wohl, doch ging es ihm nicht 
fonderlich zu Herzen. Der Beifall fittenftrenger alter 
Damen war nie das Ziel jeines Chrgeizes gemelen. 

Auch die Königin veritand jenes ausdrudsvolle 
Kniftern. Auch fie erichredte es nicht. Der gefunde 
Humor, ein Beitandteil und zugleih Ergebnis ihrer 
hohen Geiftes: und Charalterftärte, hob fie leicht und 
fiher über Etiketten und fonftige Vorurteile empor. 
Er leudtete jett wie ein Sonnenftrahl in ihrem 
Ihönen Auge auf, als fie mit halbem Blid den ihres 
Vetters ſtreifte. 

„Nehmen Sie es nicht als Drohung, mein 
Couſin! Ihre Antwort an den Grafen war gut — 
aber ſie war ſcharf! Und ich wollte Sie nur warnen 
— Sie ſehen, es wird hier heute viel gewarnt!“ 
ſchaltete ſie lachend ein. „Ich ſehe nicht gern in 
Ihrem Auge den großen Zornfunken, ſelbſt wenn er 
ſich auf dieſe Zielſcheibe richtet!“ 

Prinz Louis unterdrückte einen Seufzer. „Die 
Zielſcheibe, welche Graf Haugwitz heißt, dürfen Eure 
Majeſtät immerhin meinen Zornfunken preisgeben! 
Sie ſchaden ihm, leider Gottes, nicht, ſie erreichen 
ihn nicht einmal! Aber meine Gefühle ihm verbergen, 
das kann ich nicht, ob ich auch ſeiner Rache nur zu 
gewiß bin!“ 

Die Königin neigte ſich näher zu ihm hin. 
„Rache — Vetter Louis welch ein Wort! Trauen 
Sie ihm ſchon die Abſicht zu, das mag ſein! Aber 
die Macht beſitzt er nicht, wenigſtens nicht, wo er 
dazu ſeines Einfluſſes auf den König bedarf! An 
dieſem Felſen ſcheitern Verleumdungen und Rache— 
gelüſte!“ 

„An dem Felſen, welcher Königin Luiſe heißt — 
ja, da ſcheitern ſie, Gott ſei es gedankt! Aber glauben 
Sie mir, Majeſtät, viel leichter würde ich jede De— 
mütigung ertragen, die mir aus meines Königs Hand 
zu teil wird, wenn ich wüßte, ſein unbeeinflußtes 
Urteil diktierte ſie ihm! Doch überall und immer 
wieder erkenne ich Haugwitz' Hand! Seine Dolchſtiche 


En 


Roman von Hans Werder. 26 


find es, bie ich hinnehmen muß, feinen Hohn oben: 
drein! Und das ift hart!” 

Königin Luife beftete einen forihenden Blid 
auf ihn. Da war wieder der große Funte, den fie 
nicht zu jehen gewünjdht, aber es war nit Zorn, 
den er jpiegelte, ſondern verhaltener, Leidenj&haftlicher 
Schmerz. 

„Was ift wieder vorgefallen? Sagen Sie es 
mir!” befahl fie. 

„D, nichts Neues, eine alltäglihe Sade! Ich 
bat — Majeftät, ich bat! mir bei der jegigen Mobil- 
madung eine SHeeresabteilung jelbftändig anzuver: 
trauen! Jh glaubte, was ich vor zwölf Jahren ge: 
leiftet, würde man mir auch jegt zutrauen lönnen. 
%h ward abichlägig beihieden. Die Regimenter find 
ausgerüdt — ich fige hier! Ah, Majeftät, willen Sie, 
was Tantalusqualen bedeuten?” 

Die Königin bewegte leife ihren Fächer bin und 
ber, wie in ernfter Erwägung. Dann näherte fie 
ih ihm wieder. „Vetter — was grämt Sie bdiele 
Mobilmahung, die fi gegen die Koalition, gegen 
unfere natürliden Verbündeten richtet. Sie jelbft 
verurteilen biefelbe am bhärteften! Wenn wir erft 
unfere Heere gegen den Feind rüften werden, dann 
erhalten Sie einen felbftändigen Oberbefehl, verlafjen 
Sie fih darauf!” 

Prinz Louis bob einen tummen Blid zu ihr 
auf. Sie nidte ihm freundlich zu und wandte fi 
mit einer lebhaften Frage an die junge Prinzeß 
Wilhelm, ihre Schwägerin, diejelbe zu einem Sofa- 
plat binführend. Die Unterhaltung ward eine all- 
genteine. 

Sept Lehrte der König zurüd, fichtlich beunruhigt, 
jorgenerfült.e. Er wäre gern mit jeiner Gemahlin 
allein gewejen, und wenn er aud biefem Munich 
keinerlei Ausdrud verlieh, jo wirkte doch der Drud 
feiner Stimmung lähmend auf die der hohen Bäfte. 
Der Fluß der Unterhaltung drohte zu ftoden, dod) 
Königin Luife wußte jolhem Unfall vorzubeugen. 

„Better Louis, geben Sie uns ein wenig Mufit! 
Ich dente, es wird meinem Manne angenehm jein?” 


"wandte fie fi mit lieblicher Freundlichkeit an diejen. 


„Allo machen Sie uns die Freude!” 

Prinz Louis fprang auf: „Wenn Eure Majeflät 
befehlen, unendlich gern!” Die Aufforderung entiprach 
feiner Stimmung. Er nahm vor dem geöffneten 
Flügel Plat und mit den fchlanften Händen darüber 
hingleitend, juchte er mit leichtgefalteter Stirn in 
jeiner Erinnerung. 

Dann aber quoll e8 aus den Taften hervor, 
majeftätifh, beldenhaft, eine Flut der Begeifterung, 
wie nur die Mufif fie hervorzuzaubern vermag. -Ind 
fie wirkte in den Herzen einer Zuhörer aufrüttelnd 
— fortreißend. Sie fang ihnen von Baterlandsliebe, 
von Heldengröße, von Sieg und blutigem Tod, von 
unfterblihem Lorbeer. E8 war Beethovenihe Mufik, 
die er ihnen gab. Als er fie einft jo vor des Meijters 
eigenem Obr geipielt, da fagte diefer bemundernd 
von ihm: „Er jpielt gar nicht prinzlich, jondern wie 
ein echter, tüchtiger Mufiter!“ *) 





*) S, Kohl, „Beethoven”. 


27 Die neue Herrin. 


Roman von Karl Erdm. Ebler. 


Der Heldengefang verftummte und tiefes, be: | 


wegtes Schweigen lag über der hohen Verfammlung. 
Sn dem Auge der Königin Ichinmerte eine Thräne 


und rollte langfam über die zarte Wange hinab. 
 Deutfhland keinen Helden,‘ erklärte er mir, ‚ich habe 


Prinz Louis gemwahrte fie mit dem einen Blid, ben 
er zu ihr hinüberfandte. 

„Vorzüglid — kann man nicht anders jagen!” 
meinte der König. „Habe Dich nie jo gehört, Zouis! 
Mas war es, das Du jpielteft?” 

Prinz Louis erhob fi langlam und jtrich mit 
dem feinen Seidentuh über die Stirn. „Es war 





28 


Vorwurf gemadt, und er jagte mir, daß er fie Bona- 
parte zuerteilt, als derfelbe feine Siege in Ägypten 
und Stalien erfochten, ehe er der Feind unjeres 
Baterlandes geworden. ‚Sh FTannte zur Zeit in 


auch jett noch feinen erfannt. Aber er wird fommen, 
bes bin ich gewiß! Er wird auferfiehen und Deutich: 
lands Größe wieder aufrichten, herrlicher als je zu- 


vor. Db Schon bald — als Sieger über den Helden 


| 


meiner Eroica, das weiß ich nicht! Kommen aber wird 
er einit, uns an dem Unterdrücker zu rächen! Und 


eigentlich feine Klavierlompofition, Majeftät ,“ fagte dann fol ihm, wer e8 auch) jei, die Eroica gewibmet 
er mit bededter Stimme. „Ich hatte es nur jo in ber | fein!‘ Sn diefem Sinne |prah Meifter Beethoven zu 
Erinnerung, — die sinfonia eroica von Beethoven!” 


Mit rafher Bewegung fah die Königin auf. 
„Aber Louis, wie kannit Du die fpielen!“ be- 


| 


mir, und legte damit gewifjermaßen ein Vermächtnis 


in meine Hände!” Prinz Xouis trat vor die Königin 


hin. „Auf diefen Helden warten wir!“ fuhr er fort. 


merkte Prinz Auguft, fein jüngerer Bruder, ein da- | 
- voltommenbeit die Sinfonia der Größe meines Vater: 


mals ebenjo gejetter und ehrbarer junger Herr, als 


ber ältere Das Gegenteil davon war. „Die Eroica ift auf 


Napoleon Bonaparte gejchrieben und ihm gewidmet! 
ih dadte nicht, daB Du Did mit joldem Werte 
abgeben mwürbdeft!“ 


„Rein,“ fagte Prinz Youis feit und er wandte | 


„Snzwilchen aber weile ich mit des Meiftere Macht: 


landes, ich weihe fie dem Genius, den wir anbeten, 


‚ der beilbringend und fiegverheißend über Preußen 


| 
| 
| 


fſchwebt!“ 
Königin Luiſe ſah ihn an, und ſie neigte in 
königlicher Demut ihr Haupt vor dem Glorienkranze, 


ſich damit an die Königin, deren UÜberraſchung ihm den er mit ſeinen Worten darauf gedrückt. 


nicht entgangen war. „Ich ſelber habe dem Meiſter, 


als ich ihn in Wien beſuchte, dieſe Wiomung zum 





Sie entließ ihre Gäfle. 
(Fortfegung folgt.) 





Die neue KHerrin. 


Roman 
von 


Barl Erdm. Edler. 
(Fortſetzung.) 


Es leuchtete dabei Franziska zum erſten Male 
ein, weshalb die Mutter immer von den „Hunnen—⸗ 
augen“ und von der „Etzelhand“ Hoͤtvarys redete. 
Es lag doch etwas Wahres in diefen Bezeichnungen 
verborgen. Der Blick brannte ſo heiß, daß ſie noch— 
mals tief errötete, und der Händedruck war ſo feſt 
umklammernd, daß er ſchmerzte. Aber beides that 
ihr ſeltſamerweiſe doch ſo wohl. Eigentlich koſtete 
es ſie nicht geringe Uberwindung, Hetraͤty nicht um 
den braunen Hals zu fallen. Als ſie endlich den 
Sieg über ſich Jelbit dDavongetragen hatte, that es 
ihr doch leid um den armen Menfcden, und fie ver: 
meinte, ihm einen Eriaß für dieje verhaltene Um: 
balfung bieten zu müflen. So gab fie ihm denn 
dafür wenigftens nadträglih die Antwort, die fie 
vorhin auf feine Frage chuldig geblieben war, ob 
fie mit ihm „auf unjere Pußta” ziehen wollte. Sie 
nidte ihm nämlich treuberzig zu. Sie that es zwei- 
mal, und das zweite Mal ungeheuer auffällig, da- 
mit es ihm ja nicht entgehe. Weil er aber gar jo 
verzüdt und verwirrt ausjah, traute fie ihm fchließ: 
lich doch nicht recht zu, daß er das Nicden ordentlich 
verjtehe. Darum eradhtete fie es für alle Fälle als 
erſprießlich, ſeinem Verſtändnis mit einem Heinen 





Kommentar zu Hilfe zu eilen, und jagte, indem fie 
die Augen niederfchlug: „Auf Wiederfehen, und — 
faft hätte ich es vergefien — ih will es mir 
anjehen fommen, ob die Brunnen dort wirklich nicht 
genug Waller haben zu allen diefen ... .” Und ba- 
bei drängte fie ihn ängfllih zur Thüre hinaus. 
Denn der „Hunnenblid” machte ihr auf einmal 
ihweren Kummer. Sie las in bemfelben deutlich, 
daß Hetvary fie jegt gleih, und trogdem der Papa 
im Nebengemady zujhaue, umarmen werde. ALS fie 
ihn ohne Gefährbe glüdlih durch die Thüre gebracht 
hatte, benahm er fi zwar etwas beruhigender. 
Gleichwohl ſah ihn der Freiherr jehr erflaunt an, 
als er erflärte, er werde morgen wiederlommen, um 
ibm und der Freiin eine wichtige Sadje zur Ent: 
Iheidung vorzulegen. 

Franzisfa unterbrach energilh alle weiteren 
Auseinanderfegungen, indem fie fih zwilhen Papa 
und Hetväry wie ein Keil einihob. Sie fand aud) 
feine Rube, bis fie jelbit hinter Hetwäry die Thüre 
geihloflen Hatte und ihm nadblidte, wie er auf 
feinem Stappenhengft in Sturmeseile zum Hofthore 
binausjagte. E& war ein präcdtiger Anblid — nur 
zu furz dauernd! Und fie dachte mit einer gemwiffen 


29 Die neue Herrin, 


Befriedigung daran, um wieotel länger fih auf 
der weitgedehnten Rußta die Augen an einem joldden 
Scaufpiele weiden lünnen. Sie Jah die Pußta 
wieder vor fi: groß, weit, flah, oben die Sonne, 
unten auf dem lichten Wollengrund die Dduntle 
Reitergeftalt, erft groß, dann Heiner, dann winzig, 
immer näher dem Saume des Himmels entgegen: 
eilend, bis fie wie ein Vogel bineintaudte und ver: 
ſchwand. 

Der Freiherr rieb ſich inzwiſchen die Hand, 
welhe Hetväary zum Abfchiede gedrüdt hatte, und 
betrachtete fie dann aufmerliam von allen Seiten, 
ob fie nod die übliche Form befige. Nachdem er 
fih über ihre äußere Geftalt beruhigt und fi) aud 
dur mehrmaliges Schlenlern von ihrer inneren Un: 
verjehrtheit überzeugt hatte, jagte er zu Franzisfa 
mit unverbohlenem Verdruß: „Was fällt denn 
Heivary um des Himmels willen wieder ein? Wir 
baben do genug Brunnen in Oberlingen, über: 
genug. Nur zuviel eigentlih und zu kalte. Wozu 
aljo noch andere, die Du Dir anjehen wilfi?! Die 
Mama ift imftande, wenn fie von bDiefen neuen 
Brunnen hört, wieder ... . kurz, daß Du mir ja 
nicht etwa der Mama davon zu Jhwaten anfängii.” 

„Lieber Papa, ih . . .” fagte fie errötend. 
Sie fand jedoch keine rechte Erwiberung und benützte 
endlich ſeine eigene ſtereotype Antwort, indem ſie 
ausrief: „Der Mama? Das fällt mir nicht ein- 
mal im Traume ein.“ 

„Mir auch nicht. Weißt Du, Fanny, ſie iſt 
ein Phänomen und wäre imflande . . 

Aber Franzisfa war bereits wieder zum Klavier 
geeilt, um weiteren Auseinanderfegungen über Die 
geographiſche Lage der geheimnisvollen Brunnen zu 
entihlüpfen. Dajelbft wühlte fie fi vor neugierigen 
Fragen, die etwa noch aus dem Raudgemwölf des 
Nebenzimmers bereintönen konnten, in ein dröhnen: 
bes Fortilfimo ein, jpielte nacheinander eine ungarische 
Nhapjodie von Lilzt, die ungariihen Tänze von 
Brahms, dann wieder eine ungariihe Rhapjodie von 
Liſzt, und verſuchte endlich die Pußtaphantaſie Het: 
varys weiterzujpinnen. Aber der Cymbal Elang wie 
eine Harfe, und aus ben bunllen Zigeunerweilen 
wuchs es auf einmal fo blond und fchliht und weid 
heraus, und hörte fih ganz an wie das alle: 

Ad, wie ift’8 möglich dann, 
Daß ih Dich lafien faun? 
Hab Did von Herzen lieb, 
Das glaube mir! 

Dann ward zwar jchleunigft wieder nah Ungarn 
zurüdgelentt; alein auch jett behaupteten fidy die 
heldenhaft klirrenden Anklänge an den Raͤkoczi⸗-Marſch 
doch nur wenige Takte lang und bildeten bloß eine 
etwas befremdende Einleitung zu dem lieblichen: 


Wir winden Dir den Jungferkranz 
Mit veilchenblauer Seide. 


—R 


Es hatte ſich wunderlich gefügt, daß die leibliche 
Tochter Gittas zur ſelben Stunde flügge ward, in 
welcher dieſe ihre Adoptivtochter Martina unter ihre 





Roman von Karl Erdm. Edler. 30 





ſchützenden Fittiche zu nehmen ———— Gitta war 
über das Leben in Wartenkcon genau unterrichtet 
und brannte vor Eifer, umgeſtaltend in dasſelbe ein— 
zugreifen. Jetzt war die Gelegenheit da, und ſie ge— 
dachte diejelbe feit beim Schopf zu paden. Als ſich 
Martina nad der Beratung über die Kindermälche 
verabjchieden wollte, rief Gitta: „Nur noch einen 
Augenblid! Sieh Dir doc wenigftens meine Zimmer 
an! Du mußt nämlih willen — nein, Du fannft 
nicht wiflen, welden Aufwand an geiftiger und körper: 
liher Arbeit mid das geloftet hat. Und welche 
Mühe, der Ichablonenhaften Routine diejer begriff: 
ftügigen Handwerler ein wenig genialen Schwung 
anzubilden! ch babe ihnen das Leben fauer genug 
gemadt, aber, wie Du fiehft, es ift nett geworden, 
nit wahr? Und zugleih praltiih. Alles meine 
See. Bitte, lafie Di doch einmal auf biefe Gau: 
jeufe nieder! Was? Nicht wahr? Das ift einmal 
ein Siten! Audh meine Erfindung Weißt Du, 
mein Mann hätte mih mit der größten Seelen: 
ruhe in dem gebanfenlos Eonftruierten Mobiliar 
weiter vegetieren laflen, welches noch jeine Groß: 
mutter... nebenbei gejagt, jeine Großmutter war 
eine geborene Wartentron. Daher hat Andre ficher 
den Mangel an Eigenwillen geerbt. Ale Warten: 
froner haben das. Ulrich hat gleichfalls ein gut Teil 
von diefem Erbe mitbefonmen. Draußen flellt Ler, 
drinnen Thomafine die Almadht vor, Ulrid aber 
läßt fih von beiden... 

„PBardon, ich muß doch wohl aufbrechen,” unter: 
brad Martina, fi erhebend. Das warme Entgegen: 
fommen Gittas beim erften Zujammentreffen auf 
Wartenkron hatte ihr wohl gethan. Sie war fich ihrer 
Unerfahrenbeit zu gut bewußt, um fih dur Gittas 
Abficht, fie bevormunden zu wollen, gebemütigt zu 
fühlen. Auch zählte fie nicht fo viele Freunde, um 
nicht eine Hand feftzubalten, die fich ihr herzlich, 
wenn aud etwas jelbftbewußt, entgegenftredte. Aber 
wider Ulrich follte die Freiin nit reden, und fie 
wollte e8 nicht anhören. 

Gittas Icharfen Augen war diele ablehnende 
Haltung nit entgangen. Der plöglide Aufbrud 
riß ihr den jchön geiponnenen Faden jäh ab. Aber 
GSitta war feine geborene Wartentron und bejaß 
einen unerihöpflihden Worrat an Eigenmwillen. So 
drüdte fie denn Martina energiih auf die Caufeufe 
nieder, nahm die beiden Enden des Yadens ruhig 
auf und Inotete fie EZunftreich wieder zulammen, 
indem fie jagte: „Berzeih, Du haft mich nicht aus: 
reden lafien. Bift Du wehleidig, und haft Du ge- 
ahnt, daß jegt die Reihe an Dich fonımt, beanftandet 
zu werden? Sch jagte: Ulridy läßt fich von beiden 
fortichieben, und Du — wollte ih fortfahren, als Du 
mich unterbrachſt — Du bilfft den beiden nod) dabei, 
ihre Herrichaft zu verewigen. Du haft mir erlaubt, 
Dih als meine Tochter anzufehen. Alfo denke Dir, 
eine Mutter redet zu Dir, die e& gut mit Dir meint, 
und renne mir nit davon, wie Du Deiner Mutter 
nicht davonlaufen würdeſt, wenn fie offen mit Dir 
fpreden würde! Zunähft laß Dir jagen, Kind, daß 
man, um biejen Herren der Schöpfung zu gefallen, 
fein Ausbund von allen erbenkliden jchönen Eigen: 





a ea en nr 
— — —— DD6 6 — 


31 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 32 





ſchaſten zu ſein braucht. Im Gegenteil, es ſteckt 
etwas Verderbtes in ihnen, und eine ſolche Voll— 
kommenheit ſchreckt ſie eher ab. Um ihnen liebens— 
wert zu erſcheinen, genügt eine einzige Eigenheit, die 
ihnen juſt zuſagt, und das iſt häufig keine Tugend, 
ſondern eine ganz gräuliche Schwäche. So hat auch 
Thomaſine ihren Mann nicht mit einem auserleſenen 
Strauß von edlen Eigenſchaften bezaubert, ſondern 
mit einem Fehler. Eigentlich war ſie ganz und gar 
nur eine Verkörperung dieſes Fehlers — außen und 
innen nichts anderes als Unterhaltungsſucht. Nicht 
ich allein, jeder weiß das, der ſie ein einziges Mal 
mit den unerbittlichen Augen der Unbefangenheit ge— 
ſehen hat. Daß ihr Mann dieſe Augen niemals im 
Kopfe Hatte, dafür giebt es hundert und etliche Ur: 
jahen. Da ift vorerft fein Sdealismus, der jedesınal 
lange braudt, ehe er von einer Zllufion zurückkommt. 
Zumal um fi betreffs Thomafinens enttäufchen zu 
Tönnen, war die ihm gegönnte Frift einer dreijährigen 
Ehe viel zu kurz. Was fage ih: Ehe! Drei Sahre 
Schonzeit find e& gewejen. Schonung während der 
Brauttage, der Flitterwochen, der Honigmonde, jcho: 
nendes Entgegenfommen bei ihren Bizarrerien vor 
der Geburt des Kindes, nach derfelben fchonender 
Erfag für das inzwilhen PVerfäumte, fchonende 
Erholung von bdiefem tollen Nachholen, jchonende 
Pflege in der nun folgenden Krankheit — Schonung 
vom eriten Augenblid bis zum legten! Er ift nicht 
dazu gefommen, fie ein einziges Mal nicht Schonungs: 
bedürftig zu erbliden und entzaubert zu werden, jo 
weit ein jo eingefleilchter Spdealift überhaupt einer 
Entzauberung zugänglidh ift. Sehr weit ficher nicht! 
Sch glaube fait, er wäre auch nad einem halben 
Sahrhundert nicht zur Railon gelommen. Denn juft 
Thomafinens Sudt nad Unterhaltung, Aufregung, 
Abwechslung war der Zauber, der ihn Inedtete.. .” 

„Sprich nicht jo hart von ihr!” unterbrad fie 
Martina. „Sie war ein liebliches, reizendes — armes 
Kind.” 

„Du mißverftehit mid. Es fällt mir nicht im 
Traum... ih will fagen: ich denke nicht daran, 
Thomafine zu tadeln. Sm Gegenteil. Meine ganze 
Rede verfolgt den Zwed, fie Dir al8 Mufter anzu: 
empfehlen. Sie war eine ruheloje Natur, die ihren 
Mann nie zu Atem fommen ließ. Dafür babe ich 
nicht nur feinen Tadel, fondern perfönlid viel Syın- 
pathie. Ah bin gleihfals, wenn auch in anderer 
Rihhtung, eine ruheloje Natur, Mein Mann muß 
gleichfalls außer Atem gehalten werden, überhaupt 
— merle Dir das, Kind — überhaupt mehr oder 
minder alle Männer. Sie verfallen Jonft in eine träge 
Tyrannei, in eine empörend egoijtiiche Behaglichkeit, 
machen bodenloje Anfprüche, und wollen den ganzen 
Vorrat an aufopferungsvoller Xiebe des MWeibes all- 
täglich als Hausmannstoft aufgetiicht befommen. Alle 
Männer neigen dazu, alle ohne Ausnahme — aljo 
aud) der meine und der Deine. Darum müjlen fie 
furz gehalten werden. Das ift pure Selbiterhaltungs: 
pfliht. Wenn man biezu unglüdlicherweile feinen 
inneren Antrieb verjpürt, wie Du, mein armes Kind, 
jo muß man fih ein wenig zwingen. Biß zu einem 
gewillen Grade fanın man fih das aud durh An: 


— — —⸗ 





bildung eigen machen, und ſo viel Wandelbarkeit der 
Phantaſie findet ſich ſchließlich in jedem Frauenkopfe 
vor, um dem Herrn Gemahl abwechſelnd den Stein 
des Siſyphus, das Rad des Irxion, das Faß der 
Danaiden zur heilſamen Beſchäftigung anzuweiſen — 
nicht zu vergeſſen die Leckerbiſſen des Tantalus. Wohl— 
gemerkt: abwechſelnd! Und ohne daß er ahnt, was 
eben jetzt an die Reihe kommt — es muß dabei immer 
auf eine Überraſchung herauskommen. Haſt Du Dich 
einmal hineingearbeitet, ſo geht es von ſelbſt, und 
dann wird Dir auch die Luſt daran ſteigen.“ 

„Ich glaube nicht,“ entgegnete Martina. „Und 
ſiehſt Du, ich möchte es auch nicht. Es widerſtrebt 
nicht allein meiner Natur, ſondern — aber Du darfſt 
nicht böſe werden — es ginge auch gegen mein 
Gewiſſen.“ 

„Das habe ich von Dir erwartet, mein armes, 
armes Kind! Ich böſe werden? Und Dir? Weil 
Du ſo ſtupid-ſublim-herzensgut biſt? Ein Gewiſſen 
würdeſt Du Dir daraus machen? Mein Gott, Kind, 
wie naiv Du noch biſt! Du ſcheinſt alſo nicht einmal 
zu ahnen, daß ſich dieſe Herren zumeiſt vor Entzücken 
nicht zu faſſen wiſſen, wenn ſie nach Art des Siſyphus 
und dergleichen behandelt werden. Setzt man dies 
ſcharfe Verfahren konſequent fort, ſo verwandelt ſich 
— wie bei meinem Mann — das Entzücken mit den 
Jahren in das ruhigere Gefühl dauernder Zufrieden— 
heit. Geh und frage André, und wenn er Dir nicht 
glücklich ſcheint, ſo will ich mir auch ein Gewiſſen 
daraus machen. So, und dann geh zu Ulrich und 
frage auch ihn! Thomaſine iſt ihm täglich ein neues 
Räiſel geweſen, an deſſen Löſung er ſich ſelbſtoer— 
geſſen abmühte. Jedes Wort kam unverhofft, alles 
Thun war eine Überraſchung, kein Tag ſah dem 
anderen ähnlich, keine Stunde brachte, was die vor— 
hergehende erwarten ließ. Entzückt vom Reiz end— 
loſer Abwechslung, ließ er ſich in einer Art Taumel 
aus einer Aufregung in die andere mitreißen, und 
iſt dabei nie zur Ruhe, ja kaum zur Beſinnung ge— 
kommen. Jetzt kann er ausruhen. Du, Kind, machſt 
Dir ein Gewiſſen daraus, ihn aufzuſtören. Du biſt 
gut und hell und durchſichtig wie friſches Quellwaſſer 
— das ſchäumt nicht und berauſcht nicht. Du haſt 
ihm vom erſten Augenblick an nichts zu erraten ge— 
geben, und was in der nächſten Stunde, morgen, in 
einem Jahre, das ganze Leben hindurch von Dir zu 
gewärtigen iſt, ſteht klar vor ſeinen Augen wie in 
einem aufgeſchlagenen Buche.“ 

„Und ſoll denn das nicht fo fein?” fragte Mar: 
tina lächelnd, 

„Sewiß joll es fo fein. Aber das ift eben das 
Verderbte und Berfehrte in der Männernatur, daß 
ihnen das lieber ift, was nicht fein fol. Was Jein 
fol, langweilt fie leider. So ruht fih aud Ulri 
jegt bei Dir von Thomafinen aus, aber, glaube mir, 
er langweilt fih dabei. Es ift — ih made Dir das 
Zugeltändnis — eine behagliche Xangmeile, beruhigend, 
erquidend. Eine Weile thut das wohl, wie Waldes- 
bämmern nah den fprunghaften Sonnenlidhtern 
und frafien Farbenzujammenftellungen eines bunten 
Blumengartend. Aber wenn man jo fortwandert, 
ftunipft fih der zarte Reiz ab — es bleibt immer 





ie nun ee A ee 


„ut _ 





33 Die neue Herrin. 





dasjelbe Grün nah und fern. Sieh Dir einmal, 
wenn Du beimlommft, diefen Ulrich bei guter Be: 
leudhtung genau an, ob er derzeit in Deinem rub- 
famen Waldesjchatten ebenjo entzüdt ift, wie er e8 
ehedem in Thomafinens grellfarbigem Srrgarten war. 
Sollteft Du dabei ein Deficit für Deine Methode 
entdeden, dann . . .” 

„Ich . ..“ 

„Kind, ich weiß, was Du ſagen willſt. Aber 
verſchwöre es nicht, antworte mir nicht jetzt, beſchlafe 
es erſt — es iſt praktiſch ...“ 

„Praktiſch, das mag es wohl ſein,“ jagte Mar: 
tina verſonnen. „Aber ich beginne nachgerade zu 
glauben, daß ich ſelbſt zu dem einfachſten natürlichen 
Einfluß unpraktiſch bin, geſchweige denn zu dem ver⸗ 
worren künſtlichen, an welchen Du denkſt. Mir er— 
geht es Deinem Rat gegenüber genau ſo, wie vorhin 
beim Vorſchlage Deines Mannes, künſtliche Raud: 
ringe um die Wette zu bilden — ich kann nicht 
einmal rauchen.“ 

„Nein, ich ſehe es, das kannſt Du wirklich nicht. 
Weder Tabak- noch Illuſionsrauch verſtehſt Du jeman— 
dem vorzumachen. Es iſt mit Dir nichts anzufangen, 
als Dich um den Hals zu nehmen und nach Herzens— 
luſt abzuküſſen ... ſo, Du widerſpenſtiges Kind! 
Aber ich habe Dich doch lieber, als wenn Du prak— 
tiſcher wäreſt. Im Vertrauen geſagt: ich hätte mich 
ſelbſt lieber, wenn ich manchmal weniger praktiſch 
ſein würde. Andere praktiſche Leute kann ich eigentlich 
nicht recht ausftehen, wie zum Beilpiel den Hetväry. 
Du aber bift mir jegt erft recht ans Herz gewadjlen, 
und wer Dir ein Härdhen frümmt, der bat es mit 
mir zu thun!” 

Unter allerlei geheimnisvollen Kriegserklärungen 
gegen jemanden, den fie offenbar im VBerdadhte jolches 
Haarkrümmens hatte, begleitete fie mit dem Freiherrn 
und mit Franzisfa ihr Adoptivlind zum Wagent. 
Zahäus ließ diefen eine jener eleganten Bogenlinien 
beichreiben, die ihm kein Sterblicher nachkutſchierte, 
und fuhr, von dem Freiherrn bewundert und fid 
felbft bewunbernd, zum Thore hinaus. 

„Run, wer zulegt lacht, lacht am beiten,” jagte 
-Gitta zu dem Freiherren, der noch immer den wunder: 
baren Schwung der NRäderjpur im Hoflande an: 
ftaunte. 

„Wer?” fragte er aufblidend. 

„Wer? 3h. Sch werde zulett laden. Mit 
Martina ift nichts anzufangen. Sie tft eben ein 
Engel, und wenn man glaubt, man hat fie jchon, 
jo entfaltet fie gelaflen ihre Flügel und fchmebt 
bimmelwärts. Aber Ulrich ift fein Engel... .” 

„Rein, ein Engel ift er nicht!” 

„Habe ich das behauptet? m Gegenteil. Aber 
Du mußt immer widerjprehen. Nebenbei gejagt, 
will ih mir anftatt Martinas jest diefen Ulhih um 
die Singer wideln!“ 

„Thu das! Du wirft das im Handumdrehen 
zuftande bringen. Diejer alberne Ulrih! Ach glaube 
gar, er hat ihr das Rauden verboten!” fagte der 
Freiherr, ließ fih ein Pferd jatteln und ritt nad 
einem entlegenen Meierbof. 

Als er abends heimfam, war er fo ermübdet, 


Roman-Zeitung 1896, 


= BE — — —— - — * = 


— — — — —— — * — — 


Roman von Karl Erdm. Edler. 34 


daß er bald nach dem Souper im Schlafzimmer ver⸗ 


ſchwand. Franziska hatte zwar von jeder ſervierten 
Schüſſel eine große Portion auf ihren Teller ge: 
nommen, diejelbe jedoch unberührt wieder wegtragen 
laflen. Dann war auf einmal ihr Stuhl leer. Gitta 
beforgte noch einige Korreipondenzen. Dabei hatte 
fie die unllare Empfindung, als jumme beftänbig 
irgend etwas Melandolifhes und zugleich Erotifches 
um ihre Ohren. Als fie beim Couvertieren eines 
Briefes einmal aufmerkjamer borchte, erlannte fie in 
der erotilhen Melancholie einen ungarifchen Cjardas, 
welden Franzisfa, durch zwei Zimmer von ihrem 
Schreibtifh entfernt, auf dem Klaviere jpielte. Sie 
nahm ji vor, ihr morgen ernftli ins Gewiflen zu 
reden, daß fie fih mehr mit Flaffischer Muftt abgebe, 
und jchrieb weiter. Das Summen ging auch weiter. 
Als fie nah einer halben Stunde abermals einen 
Brief zullebte, Eang es immer noch berüber wie 
Sporengellirr und Ferjenftampjen, Cymbalichlag und 
Tiedellang. 

„Was fol denn das heißen?” jagte Sitta zu fi) 
jelbf.. „Das Fannerl wird ja ein ganzer Zigeuner: 
frag!” Dabei erhob fie fi auch jchon empört und 
ftürzte ins Klavierzimmer mit den Worten: „Was 
treibft Du denn da feit einer Stunde für einen un: 
civilifierten Unfug? Um des Himmels willen, wie 
Du nur ausfiehft! Not, verweint, zitternod — was 
baft Du denn, Kind?” 

„ziebe Mama, Hetvary ift da gemejen und... 
und wird morgen wiederlommen.” 

„Das thut er gewöhnlich, umd ich verftehe nicht, 
wie das... .” 

„Er will Dir etwas jagen.” 

„Das thut er gewöhnlich nit. In der Regel 
Ichweigt er. Aber ich begreife immer noch nicht, we: 
halb Du. . .* 

„Er will mit Dir von Brunnen reden.” 

„Bon Brunnen?” 

„Sa, und von der Pußta, und... 
von mir.” 

Gitta betrachtete jett Franziska fehr aufmerlfam. 
Diele aber warf auf einmal beide Arme um Gittas 
Hals und barg ihr Gefiht an deren Bruft. 

„Mama, liebe Mama!” ftammelte fie chluchzend. 

Bitta jagte nichts, fie wartete. 

„Mama ... er wil mid nämlich mitnehmen 
auf die Pußta.” 

„Sonft nichts? Und Du?” 

„IH? Ih, Mama — weißt Du, liebe Mama — 
ich lafje mi ganz gerne mitnehmen.” 

„Mitnehmen? Schon bei bem Gedanken daran 
tönnte man das Grufeln lernen. Nein, Kind, daraus 
fann nie und nimmer etwas werden. Das ift fein Mann 
für Dih, Fannerl. Ein Hunne! Halt Du die Gejdhichte 
der Völkerwanderung ſchon ſo ganz vergefien? Ein 
Menich, der imftande ift, feinen Wohnfig auf irgend 
einem firuppigen Pferde aufzufchlagen, wenn ihm 
feine Frau einmal eine ernfte Vorfiellung macht, und 
der fih jein Beefftenl unter dem Sattel gar reitet, 
wenn er aus Troß oder Bosheit nicht mit feiner 
Frau Ddinieren will!” 

„Aber Mama, die Magyaren ftammen gar nicht 


. und aud 


IV. 3 





35 


von den Hunnen ab. Und wenn au, fo ift diefe | 


Geihichte von der Beefitealreiterei bereit8 ein und 
ein halbes Sahrtaufend alt. Das ift Schon jo lange 
ber... .* 

„Biel zu wenig lange. Beobadte ihn nur ein: 
mal, wenn er reitet! Ganz als ob der Pferderüden 
fein eigentlihdes Domizil wäre. Oder betrachte Dir 
ihn, wie er auf meinen niedrigen Salonftühlen mit 
feinen enblofen Hunnenbeinen reitet, wenn er mit 
dem Papa Schach jpielt! Ganz als ob er auf einem 
furzbeinigen Steppenpferde fein Diner mürbe galop-: 
pieren würde. Sieh Dir das genau an, und dann 
werden Dir diefe Lölferwanderungsgeichichten nicht 
mehr jo alt vorfommen. Und fein Blid, fein Hände: 
dbrud — Fannerl, ich fage Dir, der Generaladjutant 
Epels hat nicht um ein Haar anders ausgejeben als 
diefer Hetvary.” 

„Dann muß diefer Adjutant gar nicht übel aus: 
gejehen haben — jei nicht böfe, liebe, liebe Mama! 
Aber fiehft Du, das alles ift ja doch fein Grund, um...“ 

„Kein Grund? a, wenn Du mir nadıgeraten 
wäre! Dann wäre es in ber That fein Grund, 
weil Du den alten Egel in diefer neuen Hetväry: 
Auflage zähmen würdeft. Aber Du blondes, blau- 
äugiges Kind mit dem weichen, traumhaften, deutjchen 
Heraden — und diefer kaffeebraune, glutäugige, ener: 
oifhe Steppenreiter! In aht Tagen würde er Dich 
maltraitieren.” 

„Liebe Mama, id made mir nichls daraus, 
daß er energiih if. Sch glaube nicht recht daran, 
aber, fiehft Du, von ihm ließe ich mich gerne aud) 
ein bißchen maltraitieren.” 

„Höre ich denn recht? Wie ift es möglich, daß 
ein Gejhöpf mit jo verjchrobenen Anfichten unter 
meinen Augen bat aufwadjen fönnen? Und biejer 
Nomade fiedelt überdies nicht in der Nachbarſchaft, 
nicht einmal in demjelben Lande, wo er wenigiteng 
unter meiner mütterliden Zudt ftände. Aber wie 
wilft Du, daß ih Dich hier in Oberlingen gegen 
die Barbaren:Delpotie Ihüte, mit welcher er Did 
auf feiner Aparenfteppe Inechtet? D, der Plan ilt 
furdtbar praltiih: Dich irgendwohin an das Ende 
der Welt jchleppen, und mich bier am andern Ende 
laffen! Er ift überhaupt durch und durch praftifch, 
biefer Hetvary! Daß Du es nur weißt: Ler bat 
Urjadhe zu glauben, Hetväry habe fih nur deshalb 
als Volontär auf Wartentron feitgejegt, um jich in 
die Sabrilsgeheimnilfe der Glashütten einzufchleichen, 
welche Fremden gegenüber ftreng gehütet werben. 
Diejelben betreffen jowohl Slasforten als auch Glas: 
farben — durdaus Erfindungen von Ulrich Warten: 
fron, ber in feinem Laboratorium oben ein Genie 
fein fol. 2er it der Meinung, Hetvary wolle auf 
feinem Gute Glashütten errichten und mit den bier 
erihlichenen Erzeugungsmethoden betreiben. ch bin. 
überzeugt, er jpefuliert auch darauf, neben bieje 
Glasfabrif eine Iufrative Kaltwafler:Heilanftalt bin: 
zubauen, und lodt mir alle meine neuen Sbdeen für 
deren Ausftaltung ab. Darum hat LXer alles daran 
gelegt, daß der allzu praftiihe Herr möglichjt meit 
abjeit der Fabrif Beichäftigung finde. Die Heide: 
höfe haben gerade die rechte Entfernung. 


Die neue Herrin. Roman von Karl Erbm. Edler. 36 


Franziska hob das Gefiht von der Bruft Gittas, 
warf den Kopf mit einer heftigen Bewegung rüdwärts, 
daß die blonden Zöpfe einen unwirhen Sprung 
madten, und dur die feuchte Bläue der Augen 
hoffen Blite. — „Mama,“ fagte fie, und alle 
Meichheit war aus ihrer Stimme gewidhen — „Herr 
von Hetvräry ift ein Mann von Ehre, und Herr von. 
Thurmbrud iſt ein ſchlechter Menſch!“ — Damit 
wandte ſie ſich und wollte gehen. 

Gitta hielt ſie am Arme zurück und ſagte nach— 
drücklich: „Noch eins. Ich verpflichte Dich, von der 
vertraulichen Außerung Thurmbrucks gegen niemanden 
Gebraud zu maden, amı allerwenigiten gegen Hetvärı) 
jelbit, falle Du mit ihm an einem zweiten Drte zu: 
jammentreffen fjollteft — bier wirft Du nicht mehr 
in die Lage kommen. Was die Merbung jelbit an: 
belangt, fo jei überzeugt, daß Herr von Hetvary 
fih einer entidhiedenen Ablehnung mit Gleichmut 
fügen wird. Praktiſche Naturen nützen ſich nicht 
umſonſt in ausſichtsloſen Kämpfen ab. Was Dich 
betrifft, ſo iſt es eine Kinderei, die Du Dir morgen 
aus dem Kopfe ſchlagen und übermorgen ſchon ver— 
geſſen haben wirſt. Geh, ſei mein kluges Kind, und 
denke lieber ſchon heute nicht mehr daran! Wenn 
Du es beſchlafen haſt, wirſt Du morgen früh ſelbſt 
über dieſes Hunnenmärchen lachen.“ 

„Es giebt Märchen, über die man auch weint. 
Er wird nicht mehr kommen, ich werde ihn nicht 
mehr ſehen — Du willſt es ſo. Ich darf ihm auch 
nicht ſagen, weshalb ... nicht einmal einen Wink 
von der Bosheit ſoll ich ihm geben, die der argliſtige 
Thurmbruck gegen ihn erſonnen hat. Ich gehorche 
Dir, Mama. Aber lieb haben werde ich ihn doch, 
morgen, und übermorgen, und immer. Verzeih mir, 
aber dafür kann ich nichts, und dagegen kannſt Du 
nichts! Praktiſche Naturen — haſt Du vorhin ge— 
ſagt — nützen ſich nicht umſonſt in ausſichtsloſen 
Kämpfen ab. Du biſt eine praktiſche Natur, Mama, 
thu mir alſo nicht umſonſt wehe in meinem Gefühle! 
In allem anderen bin ich Dir ja zu Willen. Gute 
Nacht, Mama!“ — 

Gitta ſtand noch immer und ſtarrte auf die 
Thüre, durch welche ihre Tochter verſchwunden war. 
„Iſt denn das unſer Fannerl?“ ſagte ſie ganz er— 
ſtaunt zu ſich ſelbſt. „Sie fängt auf einmal an, 
mir nachzugeraten. Gar nicht übel! Als Neſtling 
ſchien ſie mir ganz aus meiner Art nn... aber 
jeßt, da fie flügge wird, ift die Ahnlichkeit nicht 
mehr zu verlennen. Die Krallen wadjen, jogar ber 
Schnabel wird härter und fpiger. Sch follte mid 
darüber freuen — wenn nur der Anlaß ein erfreu: 
liderer wäre. Ah was! Es ift doch nur eine 
Kinderei, und fommt Zeit, fommt Rat!” 


XVL. 


Helvary Fam nach Oberlingen und warb um 
Sranzislas Hand. Es war die längfte Rede, die der 
Ihmeigjame Mann in feinem Leben gehalten Hatte. 
Die Antwort darauf mochte die fürzefte fein, welche 
die redjelige Gitta je erteilt hatte. Es war ein un: 





37 Die neue Herrin. 


verblümtes entichiedenes Nein. Als fie fah, wie 
feine „Öunnenfarbe” dabei von einer fahlen Bläffe 
überhaucht wurde, motivierte fie die Furze Abmweilung 
wenigftens böflih damit, daß fie über ihre Tochter 
bereits anders entichieden babe. Er verneigte fich 
Humm und ging. Im Korridor drüdte ihm jemand 
etwas in die Hand. Er war fo verwirrt, daß er 
die Gabe eine Weile umflammert hielt, ohne nad) 
zujehen, was es war. Als er fih dann befann und 
um fich blidte, war der SKtorridor leer. An der Hand 


hielt er ein fchmales Streiflein Papier. Darauf 
ftanden die Worte: 
„Spreden darf ich nicht mehr. So |chreibe 


ih denn, wenn aud nur Dies einzige Mal. Nötig 
wäre es auch diesmal nicht, weil das, was ich 
Ihreiben will, felbftverfländlih ift: daß ich halte, 
was ih veriproden habe. Sch thue es nur des- 
halb, weil ich gelefen habe, daß Neitervölfer einen 
ungeduldigen Charakter befigen, und weil es bo 
nicht geichehen Tann, daß ich mir die Brunnen in 
der Pußta glei anſehen kann, wahrſcheinlich auch 
nicht bald — aber einmal ficherlidh! 
Franziska.“ 

Hetvary preßte die Zeilen an die Lippen, warf 
den Kopf empor und fchritt hochaufgerichtet die Schloß: 
treppe hinab. Unten Sprang er mit elaftilcdem 
Schwung in den Sattel und galoppierte in ftolzer 
Haltung zum Thore hinaus. Gitta, die ihm nad: 
blidte, murmelte: „Ob ich nicht redht habe? Wie 
mit dem Rappen zufammengewadlen! Ganz, mie 
wenn er als Trdonnanzoffizier bei den Gentauren ge: 
dient hätte. Und das will einen friedlichen Haus: 
und Familienvater bei meinem blonden Fannerl ab: 
geben! Lächerlich!“ 

Das blonde Fannerl aber jagte fich hinter der Vor: 
bangipalte: „Und da8 da unten ift nun berfelbe 
Erwin, der vor fünf Minuten mit gelenkten Kopf, 
bleih, zufammengebroden aus Mamas Bimmer 
ſchwankte. Was jo ein winziges Zettelhen vermag! 
Wie dasjelbe ihn kühn, ftattlih, beldenhaft gemacht 
bat, und fo tannengerade hoch und fchlant, fogar eine 
Taille hat es ihm angebrechlelt — alles mein Zettel: 
hen. Das liebe Zettelhen! Aber die Mama befommt 
eine Abfchrift davon — wenn fie auch einen Augenblid 
böje wird, e8 wäre unrecht, ihr nichts davon zu jagen.” 

Hetvary fam nicht mehr nach Dberlingen, und 
FSranzista verlegte fich Seitdem Ieidenichaftlid auf 
das Schadjipiel. Sie war imftande, mit dem Papa 
eine ganze Partie zu Ende zu fpielen, ohne ein ein- 
ziges Mal aufzufpringen, was fie früher alle fünf 
Minuten lang gethan hatte. Und biebei hatte fie 
noh dazu bloß Unannehmlicdhkeiten zu überdauern. 
Denn angenehm war es doch nicht, jeden Augenblid 
von Papa hören zu müflen, wie Hetvary in Diefer 
Lage einen anderen Zug gewählt, wie er jenen 
Zmwifchenfall Tängft vorausgefehen, wie er überhaupt 
die Partie in einer finnreicheren Weile durchgeführt 
hätte. Allein der Tadel Papas über ihr „Eleinlich 
einhertrippelndes Dilettantentum” Hang ihr mie bie 
Ihönfte Mufil. Sie war ungeheuer zufrieden, wenn 
er die großartige Gelaflenheit Hetvarys in den ver- 
zmweifeltiten Momenten rühmte und ihr vorwarf, fie 


— — — BET re ee Tre en 
m — — — — — 2— 


Roman von Karl Erdm. Edler. 38 


mache ſchon in einem halbwegs bedenklichen Falle 
ein Geſicht, als ob ihr die Hühner das Brot weg— 
gefreſſen hätten. Sie hörte ihm ſchrecklich gerne zu, 
wenn er Hétvaͤrys Meiſterleiſtungen auf ihre Koſten 
hervorhob, und es ward ihr immer wohler, je tiefer 
er ſie ſelbſt taxierte. Sie machte ſich manchmal 
ſogar hinterdrein Vorwürfe, daß ſie ein klein 
wenig verſucht hatte, dem Glücke nachzuhelfen, aber 
immer nur zu ihrem Nachteile, um aus Papa einen 
feurigen Hymnus zu Hétvaͤrys Preis hervorzulocken, 
der ſchließlich in eine Elegie über den verlorenen 
Partner ausklang. Er ſeufzte, und ſie ſeufzte auch — 
damit endete jede Partie. 

Doch auch in ſonſtigen Gewohnheiten hatte ſich 
manches an Franziska geändert. So war von dem 
früheren hurtigen Flattern und Herumſchlüpfen einer 
Meiſe nichts mehr an ihr zu bemerken. Sie glich 
jetzt mehr einem Vöglein, das im Käfig auf ſeinem 
Stäbchen unbeweglich fitzt und das enge Gegitter 
anſtarrt. Und wie das gefangene Voöglein ſang ſie 
aus Gram, aus Sehnſucht, aus Hoffnung, zu 
Zeiten auch aus Zorn. In der hoffnungsreichen 
Stimmung ſang ſie ungariſche Volksgeſänge, in der 
ſchmerzlich weichen deutſche, in der grimmigen jedesmal 
engliſche Lieder, weil ſie das Engliſche nicht leiden 
konnte. In der Geſindeſtube aber verbreitete ſich 
eines Morgens die ſchauerliche Märe, die Baroneſſe 
ſchließe ſich am Abend in ihrem Zimmer hinter 
Schloß und Riegel ein und lerne Chineſiſch. Die 
Kammerjungfer hatte es gehört, und es hatte den 
Aufſchriften der chineſiſchen Theebüchſen ungeheuer 
ähnlich geklungen, ganz wie: „Aſſam-Pecco“-Blüten“ 
oder ſchwarzer „Seofajun“, oder aromatiſcher 
„Ljanſin“⸗Thee. An demſelben Abend waren bie 
Hausnäherin, das Stubenmädchen und die Kammer⸗ 
jungfer in dem Zimmer der letzteren verſammelt. 
Sie redeten nichts, ſie lauſchten nur. Aus dem an— 
ſtoßenden Gemach tönte es in einförmigem Tonfall 
herüber: 


„il. Fall. Kedves gyérvizü gémeskütaim, 
meine lieben ſpärlichen Ziehbrunnen; 
2. Fall. Kedves gyervizü gemeskuütaim’, 
meiner lieben jpärlihen Ziehbrunnen; 
3. Fall. Kedves gyervizü g&meskütaimnak, 
meinen lieben jpärliden Ziehbrunnen; 
4. %all. Kedves gyervizü gemeskütaimat, 


meine lieben fpärlichen Ziehbrunnen.” — 
Es war in der That die Stimme der Baroneffe, 
und fie las die ganze Deklination dreimal hinter: 
einander ber. Ein viertes Dial ging es unvergleichlich 
langlamer — mwahricheinlih jagte fie es jet aus: 
wendig auf. Als fie dabei fteden blieb, flug fie 
zwar mit der Hand ungeduldig auf den Tiih, fing 
jedoch gleich danady wieder an: 
„i. Fall. Kedves gyervizü gemeskütaim, 
meine lieben ſpärlichen Ziebbunnen;“ — 
und ſo weiter, ganz wie vorhin. Das klang freilich 
der Theebüchſen-Sprache ungeheuer ähnlich, und 
fortan ſtand, von drei Ohrenzeugen beſtätigt, unbe— 
ſtreitbar die Thatſache feſt, die Baroneſſe habe ſich 
dem Studium des Chineſiſchen ergeben. 
Aber es war bloß eine ungariſche Grammatik, 


39 Die neue Herrin. 


die fih SFranzista, nebit dem Schlüffel zum Selbft- 
ftudium, von ihrem Tajchengelde beftellt hatte. Sie 
war fchredlih neugierig auf die „Hunnenfprade”. 
Als fie aber ihr Näschen darein vertiefte und fich 
mit Feuereifer auf die Dellinationen und Konjugationen 
ftürzte, belfam fie reichlihe Gelegenheit, fih in der 
Geduld zu üben. Es war „unfinnig Ichwer”, und 
fie hatte jeden Augenblid irgend einen triftigen An: 
laß, mit dem Fäuftchen den Tiih abzuflopfen. Die 
ganze ungariihe Srammatif erjhien ihr gleich der 
Pußta ungeheuer groß und weit, und wie bie dunklen 
Balkenlinien der Ziehbrunnen fanden an allen 
Eden und Enden der Wörter drohende Anhängiel, 
„die Suffire”, wie diefer „unausftehliche” Grammatiter 
fie nannte. Sie hängten fi, eines hinter das andere, 
einem unglüdlichen Worte rüdmwärts an, und diejes 
mußte fie dann feuchend mit fich jchleppen, wie bie 
Zolomotive einen unüberjehbaren Laftzug. Der immer 
„unausſtehliche“ Grammatiker ſchrieb natürlich mit 
der größten Seelenruhe Dinge her wie: alkalmatlan- 
kodom oder meggyözödéséhez, die doch zum Weinen 
und zum Verzweifeln waren. Bei dem entſetzlichen 
tapaszatalasokkal war fie nahe daran, dem Aber: 
glauben ihrer Mama von der Hunnenabftammung 
der Magyaren doch einige Beredhtigung zuzugeltehen. 
Wortfoltern wie igazsagtalansägot fonnte eigentlid) 
doh nur der graufame Ehel anmenden, wenn er auf 
der Pußta mit Frau Helle, oder nad deren Tode 
mit Frau Kriemhild eine unangenehme Konverjation 
hatte. Bor einem jolhen Heerwurm von Nachfilben 
lernte fie erft begreifen, wie aus der lieblichen 
Kriemhild vom Rheine in Ehels Landen ein fo ent: 
jeglih rahlüchtiges Weib werden konnte. Denn diele 
Suffire verbitterten ihr jelbit den Tag und durd: 
geifterten die Träume der Naht als grauenhafte 
Gejpenfter, jedes mit einer langen Schleppe, auf 
deren Endjaum das nädjlte Gelpenft jaß, jelbft wieder 
mit einer langen Schleppe, und jo fort ohne Ende. 
Aber Franzisfa gab nit nad. Diele „elenden 
Suifire” follten fih nicht berühmen, daß fie die 
Oberhand behalten hätten! Und mit Troß, Hart: 
nädigfeit, Fleiß, Tiihabflopfen und Füßeltampfen 
brachte fie diejelben auch glüdlich unter. Lim jedoch 
auch einer anderen Seite der ungariihen Bolfsjeele 
näber zu treten, magyarifierte Franzista ihr Klavier: 
ipiel volftändig.e. Wenn fie daheim allein fpielte, 
gab fie fih ausichlieglihd mit ungarilhen Kompo- 
fitionen ab, und fuchte denfelben beim vierhändigen 
Spielen mit Martina möglichit die Obmacht zu fichern, 
wenn fie nah Wartentron berauflam. Das lehtere 
geihah jet häufig und jedesmal ziemlich Lange. 
Bitta war nämlid im vollften Zuge, auf 
Wartenkron „normale Berhältnifje zu ftiiten”. Sie 
hielt es für eine unabmeisbare Pflicht, ihre originelle 
und praftiide Begabung zu Nuß und Srommen ber 
ärmlicher Bedadhten zu verausgaben. Sie wäre fidh 
wie der ungetreue Knecht des Evangeliums vorge: 
fommen, der fein Pfund vergrub, wenn fie bas 
Wartenktroner Leben hätte jo weiter gehen laflen, 
daß die Nachbarn es belädelten oder bejpöttelten, 
amüfant oder toll, unpaflend oder fomilh fanden. 
Die Neugeftaltung der Kinderwälche für Agnes bot 


‚dem Herzen. 





Roman von Karl Erdm. Ebler. 40 


ihr die willkommene Gelegenheit, ſich halbe Tage 
lang auf Wartenkron anzuſiedeln. Da Martina 
nicht zu einem energiſchen Verfahren umzuſtimmen 
war, ſo verſuchte Gitta an ihr wenigſtens das Talent 
des Ausfragens, um das Terrain für die Bearbeitung 
Ulrichs genau zu ſondieren. Aber Martina beſaß 
ihrerſeits das Talent des Schweigens. Seitdem 
nahm Gitta jedesmal Franziska mit und warf ſie 
Martina gleichſam als Opfer hin, um deſto un—⸗ 
geſtörter ihre Kreiſe um Ulrich ziehen zu können. 
„Liebes Kind,“ ſagte ſie zu Martina, „ich weiß 
durch Wimbacher, daß Du ein muſikaliſches Phänomen 
biſt. Mit Händen und Füßen vor Wonne ſtrampelnd, 
hat er mir erklärt, daß Du nicht bloß mit den 
Fingern, ſondern auch mit dem Herzen und mit dem 
Kopfe zugleich Muſik machſt. Nimm Dich doch der 
Fanny an! Sie macht bloß mit den Fingern Muſik, 
oder eigentlich „mit den Pfoten“, wie Wimbacher 
draſtiſch zu ſagen pflegt. Alſo ich laſſe ſie Dir.“ — 

Seither ſpielte Martina mit Franziska vier— 
händig. Es ſtellte ſich heraus, daß letztere in der 
That bloß „mit den Pfoten“ Muſik machte. Nur 
wenn etwas Ungariſches auf dem Pulte lag — und 
Fannerl ſchürfte unter dem Notenvorrat mit Vor⸗ 
liebe dergleichen heraus — dann ſpielte ſie auch mit 
Und dieſes Herz gab ſich dabei ſo 
ungeſtüm, ſo leidenſchaftlich, ſo überquellend leidvoll 
und freudvoll, daß Martina nachgerade merkte, das 
ſei nur ein Mittel, den gepreßten Gefühlen Luft zu 
machen. Eines Tages hatten ſie die ungariſchen 
Tänze von Brahms geſpielt, dann folgte Schuberts 
Divertiſſement à la Hopngroise, und zuletzt kamen 
Volkmanns ſieben ungariſche Skizzen daran. Da 
geſchah es, daß Fannerl mitten in der vierten von 
den ſieben mit den Fäuſtchen in die ſchöne Klaviatur 
des Erard hineinſchlug und vor Martina in die 
Knie ſtürzte, um ihr Geſicht in deren Kleid zu ver— 
bergen. Als Martina hierauf das ſchluchzende Kind 
an ihre Bruſt emporzog, erfuhr ſie in halb er— 
ſtickten Worten, was ihr die ungariſchen Melodien 
bereits verraten hatten. Nun war Martina in dem 
naturgemäßen Elemente, das ihr ganzes Weſen be— 
ſtimmte. Sie übte auch diesmal ihre Zaubermacht 
mit dem altgewohnten Erfolge. Als Fannerl mit 
der Mutter heimfuhr, ſchien ihr die Welt wieder ſo 
ſchön, hell, hoffnungsreich, und mitten darin winkte 
die liebe Pußta mit ihren Ziehbrunnen als ſichere 
Belohnung für Mädchen, die brav und folgjam, ge: 
dDuldig und mutig bleiben. 

„Weshalb kommt Herr von Hetvary niemals 
herauf?” fragte Martina Ulrih, Sobald Gittas 
Magen davonrollte.. „Wie Du ermwähntelt, ift er 
Dein Studiengenofje gewejen, und man jagt mir, 
er jei ein tüchtiger, gebildeter, adhtungswerter Mann. 
Wäre das nicht eine angenehme Gefelichaft für Dich?“ 

„Hetvary ift ein goldener Menih. Auf ber 
Hochſchule waren wir täglich im Laboratorium beim 
chemiſchen Braftitum beifammen.. Wir trieben 
damals beide Agrikulturhemie. Er blieb auch dabei, 
während ih zur Chemie der Farbitoffe überging, 
die mid wegen unjerer Glasfabrikation jehr inter: 
effierte. Hetväry ift ein Lenntnisreiher Donom 





—— — — 


41 Die neue Herrin. 


geworden, hat dann vielſeitige Studien im Auslande 
gemacht und Anſichten über den landwirtſchaftlichen 
Betrieb mitgebracht, welche Lex leider nicht billigt. 
Wir ſind übereingekommen, daß er auf einem Meier— 
hof ſeine Ideen ſelbſtändig verwirklicht. Er disponiert 
dort unumſchränkt über Hof und Leute, was dadurch 
leichter ermöglicht iſt, daß die Heidehöfe abgeſondert 
als Enclave in dem ehemalig Thurmbruchſchen, jetzt 
Wildenſchildſchen Beſitztum liegen. Dieſe Abſonderung 
hat den Reibungen zwiſchen ihm und Lex ein Ende 
gemacht, und er kommt bloß deshalb nicht herauf, 
um mit Lex nicht zuſammenzuſtoßen. Ich bedaure 
das ſehr; denn ich ſchätze Hetväry als Menſchen, als 
Landwirt, als Edelmann aufrichtig, aber Lex ...“ 

„St Herr von Hetvarı vermögend? Man bat 
es mir verfihert, aber dann begreife ich nicht, weshalb 
er unter Jolhen Verbältnifien bier bleibt.“ 

„Hetvary ift der einzige Sohn eines reichen 
Mannes. Der Bater ift noch rüftig genug, um den 
großen ungariihen Grundbefig verwalten zu können. 
Der Sohn ftudiert indefjen die Wirtjchaftsorganifation 
anderer Länder. Daß er troß des unglüdieligen 
BZerwürfnifies mit Ler auf ben Heibehöfen ausharrt, 
mag jo zu erklären fein, daß er fich felbit die Probe 
liefern will für jenes Bewirtihaftungsfyftem, welches 
er gegen Xer bei uns eingeführt willen möchte. Denn 
auf dem fetten Weizenboden feines ungarifchen Gutes 
fann er das Experiment nicht madjen. Er ift auf meine 
drängende Einladung bier als Volontär eingetreten, 
hat mich jedoch gleih nad den Zwift mit Xer er: 
juct, ihm die Heidehöfe in Pacht zu geben, was id) 
ihm auf der Stelle zujagte. Ler, der eben ab: 
wejend war, zeigte fih von diejer Maßregel jehr 
wenig erbaut. Aber ich hatte mein Wort gegeben, 
und fo ijt es dabei geblieben.” 

Während Martina fih Franzisfas am Klavier 
annahm, halte Gitta einigemal Rekognoscierungen 
gegen Ulrih unternommen, wobei es bereits zu 
Heinen Gefechten gefommen war. Nun hielt fie Die 
Zeit für gelommen, den Hauptichlag wider ihn zu 
führen. Bei dem nädjften Bejuch eröffnete fie die 
Feindjeligleiten damit, daß fie ihm glei im vor: 
hinein den Rüdzug abihnitt. Sie übeıfiel ihn 
nämlich ohne weiteres mit einer Flut von Vorwürfen, 
daß er das junge Frauen nirgends binbringe, 
niemanden binauftufe, fie in die Einfamfeit förmlich 
einwidle, eigentlich lebendig begrabe. Als er einzu: 
wenden verjuchte, die Urfache jolder Zurüdhaltung 
jei die beiderjeitige Trauer, hatte fie ihn glüdlich 
dort, wo fie ihn haben wollte. „Lieber Ulrich,” 
Ipradh fie, „ih habe Sie als Kind gelannt, ich war 
eine Freundin Ihrer Eltern und bin eine Verwandte 
Khres Haufes. Erlauben Sie mir, einmal offen mit 
Shnen zu reden — als Verwandte, oder befjer noch 
— wie ih mit meinem Sohne reden würde?” 

Uri nidte mit dem Kopfe und blidte nach: 
dentlih vor fih Hin. 

„Sehen Sie, lieber Freund, diefe Ihre Trauer 
ift es eben, über die ich mit Shnen fprechen möchte. 
Es ift eine Ihöne Sade um die Trauer, und die 
Toten haben es gut. Ale Mängel und %ebler, 
Flecken und Schatten find mweggewilht, und Die 





Roman von Karl Erdm. Edler. 42 


Phantafie ftürzt fih mit einer Art wahnmibiger 
Übertreibung auf das Ausmalen ihrer Tugenden. 
Die Läuterung fteigert fich zur Verklärung, bdieje zur 
Bergötterung. Es fann vorlommen, daß auf Diele 
MWeife ein nicht eben bedeutjames, vielleicht Togar 
launifhes und Findifhes Welen unmittelbar nad 
feinem Hinjheiden Flügel belommt und fih zum 
Engel ummandelt, dann immer höher wählt, bis es 
fih endlih auf den Himmelsihron niederläßt und 
mit der ruhigften Miene jagt: ‚Du jollft feine fremden 
Götter haben neben mir!" Das erinnert mid an 
einen Abend, an dem ih mit Andre die SKreuzheide 
entlang fuhr. Sch war in eine neue dee vertieft 
und fuhr erjchroden empor, als Andre auf einmal 
brummte: ‚So jhön! Das wäre mir nit im 
Traum eingefallen.‘ ch wiederhole: erihroden fuhr 
ih empor! Denn Andre ift fein Naturichwärmer, 
und bejonders die Kreuzheide war mit ihrer unbe- 
fiegbaren Unfrudtbarkeit immer ein Gegenftand feines 
Grolles. Es giebt da nichts als Heidefraut, Flechten 
auf dem Geftein, bie und da verfümmerten Wach— 
bolderanflug, alles gebörrt und gebräunt von der Glut 
des Tages. Seht freilich erihien das alles ganz 
nett, weil fi die Sonne gerade als rotglühende 
Kugel davonmadte. PVerklärung des Abjchieves — 
nichts weiter! Andre aber ging dabei jogar die 
Cigarre aus. Sn der rüdfichtslofeften Weile, als ob 
ih Zuft wäre, drüdte er mich beifeite, um die von 
ihm fo tief veradhtete Heide beiler überbliden zu 
fönnen, und rief, als ob ich es nicht fchon gehört 
hätte, und fo laut, ala ob ich halb taub wäre, nod 
einmal: ‚So Ihön! Wirflid — nit einmal im 
Traum wäre mir fo etwas eingefallen!‘ So wird 
durch die überfcehwenglide Abjciebsillunination aus 
der Kreuzbeide der Zaubergarten Armidas, und bie 
eigene treue Lebensgefährtin auf dem Wagenſitz zur 
Nechten wird Luft. Von dem falfchen Glanzlicht des 
Abjihiedsjchmerzes geblendet, hat man fein Auge 
mehr für das, was einem am nädhlten fteht. Es faın 
dies zum Beilpiel eine Frau fein, deren Liebreiz 
und Anmut jeden binreißt, deren Selbitverleugnung 
und jchrantenlofe Güte feinen ungerührt läßt, deren 
Charalterhoheit und Gefühlstiefe die Bewunderung 
jedermanns erregt. hr Mann allein ift blind dafür, 
weil er als ungetröfteter Witwer no) im verklärenden 
Abſchiedsſchmerze ſchwelgt.“ 

„Sie wollten wie eine Mutter zu mir ſprechen, 
Gitta,“ ſagte Ulrich aufſeufzend. „Darum habe ich 
Sie nicht unterbrochen. Aber Sie haben wie eine 
ungerechte Mutter geredet. Einem Sehenden ſticht 
man nicht den Star. Kein Menſch kann ſchärfer 
als ich ſehen, worin Sie mir Blindheit vorwerfen.“ 

„Deſto ärger! Wenn jener Mann nicht blind 
iſt, dann iſt er ungerecht. Dann unterſchätzt er das 
Neue, weil es nicht das Alte iſt — ich meine das 
Alte, nicht wie es war, ſondern wie er es ſich hinter—⸗ 
drein erträumt. Dann möchte er wenigſtens der zweiten 
Frau ihren eigenen Kopf abnehmen und ebenſo allen 
Heiligen, Engeln, Erzengeln und der Madonna dazu, 
und ihnen insgeſamt das Haupt anzaubern, deſſen 
Anblick allein ihn beglückt. Wie wäre es denn 
übrigens auch nur denkbar, daß ein lebendes Weib, 








und wenn fie an Seele und Leib jo niederzwingend 
berrlih wäre wie... turz, daß ein bloß anbetunge: 
wertes lebendes Weib in Wettitreit treten könnte mit 
einem bereits angebeteten vergötterten Welen nad) 
deflen Himmelfahrt!” | 

| „Aud darin würde eine Mutter mir nahe treten, 
Bitte. Sch bin nicht ungereht, und kein Menſch 
fönnte höher als ich den Wert deflen jchägen, was 
ihm zu teil geworden ift,” fagte Ulrih, zu Boden 
blidend. 

„Das ift ziemlich einerlei für die arme Frau, 
wenn ihr thatfächlih doch immer nur jene Wlindheit 
oder Geringfhäßung zum Bewußtfein gebradt wird. 
Mir hat die Sahe Kummer gemadt, und ich habe 
die junge Frau ausgeholt . . .” 

„Sitte, Sie haben . . .2” 

„Beruhigen Sie fih! Sie verfteht befier zu 
Ihmweigen, als ich zu fragen. Sie ift eben in allem 
und jedem ein Weib wie fein zweites auf Erden.” 

„Das ift fie,“ beftätigte Ulrich überzeugungsvoll. 

Sitta blidte ihn zunädhft tief erftaunt, dann 
naddenflih an. Erft nad einer Weile fuhr fie fort: 
„Anvertraut bat fie mir nichts. Glüdlicherweile 
disponiere ich über jo viel Menfchenkenntnig, um 
auh ohne Ohrenbeichte manches zu erfahren. ch 
will e8 Yhnen als ehrliche Freundin nicht verhehlen. 
ch denke, fie ift eine Heilige an Selbftverleugnung 
und Geduld. Es ift nit Schwadhheit,, die es 
als pflichtgemäß erachtet, fidh einer Kräntung demütig 
zu beugen; nicht Klugheit, die bloß Zeit und Ge: 
legenbeit ablauert, um dann mit der Schnellfraft 
bes zurüdgehaltenen Bogens loszubrehen, auch nicht 
Gelafjenheit de8 Temperaments, weldhe gleichmütig 
die Dinge zu fich berantreten Täßt. Ih bin aud 
überzeugt, daß fie fich jelbit noch nicht ein einziges 
Mal gefragt bat: ‚Was habe ich denn diefem Mann 
Urges angethban, daß er jo gegen mich ift!* Ach 
glaube vielmehr, daß fie fih immer nur das eine 
fragt: ‚Was kann ich denn diefem Mann no Gutes 
thbun, auf daß er gegen fi felbft anders if“ 
Herzensgüte, nichts als unfäglihe Herzensgüte ift 
alles an ihr — fie ift ein wahrer Engel. Ich bin 
ein nüchternes praftiiches Gejchöpf, aber jehen Sie, 
lieber Ulrih, es ift ein ftiller, tiefer Zauber um 
diefe Frau, den ich jelbft jegt nicht mehr milien 
mödte. Er gleitet jo jacht und gleihmäßig janft 
beran, daß man ihn wohl vorüberziehen laflen kann, 
ohne fich jonderlich feines Neizes bewußt zu werden; 
aber ich meine, hinterbrein mag man fi dann wohl 
frank danach jehnen.” 

„Krank danah jehnen,“ wiederholte Ulrih in 
dem einförmigen Ton eines gänzlich Verjonnenen, 
der unbemußt vor fich hinredet. 

Gitta ftarrte Ulrich verblüfft an. Plöglich zudte 
es wie ein Lichtftrahl über ihr Gefiht. Es war ein 
Einfall — nein, etwas Höheres: eine Eingebung, 
die alles durchhellte. Sie betrachtete Lllrich jeßt mit 
einer ungebeuren Neugierde, wie er fih in ihrer 
neuen Beleuchtung ausnehme Aber fie zwang fich 
zu einer leidenjchaftslofen Kühle und fragte in nad: 
läffig bingeflreuten Worten: „Krant danadh jehnen 
— fagten Sie vorhin. Wonah?” 


43 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdn. Edler. 44 


Uri Hatte die Hand über den Augen liegen. 
Yeht nahm er fie herab und blidte Gitta betroffen 
an. „Bardon,” fagte er verlegen, „ich war einen 
Augenblid zerftreut. Ih fjann nodh über Shre 
früheren Worte nah. Herzensgüte haben Sie vorhin 
das einzige Motiv von WMarlinas Handlungsweije 
genannt. Nun fragte ih mi: was ift das Motiv, 
daß fih fo. viel Güte gerade einem Menjchen zu: 
wendet, der nach Shrer Anficht für diefelbe blind ift 
oder fie gering Ichäßt?” 

Sitta lächelte. Es ift fait unglaublich naiv von 
dem Manne, wie er fi ihr jo an Händen und 
Füßen gebunden jelbft zur Probe für ihre Eingebung 
augliefert. Einen Augenblid jhwantt fie, ob fie 
diefe Probe darauf machen joll, was er hofft, oder 
darauf, was er fürdten mag. ie enticheidet fich 
für das legtere — eine enttäujchte Miene jcheint 
ihr lesbarer zu fein als eine befriedigte. „Martinas 
Herzensgüte für Sie, lieber Freund?” jagt fie nad): 
denktlih, indem fie ihn mit mitleidigem Wohlwollen 
betrachtet. „ch dente, es ift eine jchöne Legierung 
von feelifher Krankenpflege und von einer jchwelter: 
lihen, vielleicht faft mütterlihden Zärtlichleit. Das 
Ganze mag matter glänzen als die Liebe des Meibes 
zum Mann, aber es ift foldem Edelmetall wohl 
gleihwertig zu erachten und eine gute Mifchung.”“ 

„Das alfo!“ murmelt er, jpringt auf und be- 
ginnt in dem Zimmer heftig auf und ab zu gehen. 

Gitta lächelt weiter — die Brobe ftimmt. Gie 
erhebt fih, und da er wieder an ihr vorbeiftürmt, 
erhafcht fie feine Hand. Diefe Hand ift heiß und 
umflammert die ihre mit einem frampfhaften Drud. 
Es thut wehe, aber fie lächelt darüber, daß fie vor- 
ausgelehen hat, es werde wehethbun, und weil fie 
ihre Eingebung jet fogar handgreifli fühlen kann. 
„Auf Wiederjehen, lieber Ulrih!” jagt fie, fich ver- 
abjichiedend. „Ach werde Sie nicht wieder mit jolchen - 
Dingen quälen. Und menn ich heute darin weiter 
gegangen fein follte, als Jhnen angenehm und mir 
felbft lieb ift, nun, jo denten Sie: Gitta ilt eine 
alte Freundin, und unter Freunden nimmt man e8 
nicht gar fo ftreng!” 


XVIII. 


Stolz wie ein Triumphator fuhr Gitta heim. 
Sie fühlte ihre Bruſt von dem ſchwellenden Be— 
wußtſein gehoben, Ulrich aus aller Irrung auf den 
richtigen Weg in Martinas Geleiſe hervorgelockt zu 
haben — alles infolge ihrer Eingebung. Aber es 
giebt Eingebungen, mit denen bloß ein neckiſcher 
Dämon die Phantaſie am Narrenſeile führt. Und 
derſelbe boshafte Poſſenreißer bringt es zu ſtande, 
daß ſich zwei auch auf demſelben Weg und Geleiſe 
gegenſeitig nicht näher rücken, ſondern ſogar immer 
weiter bis zum völligen Verlieren entfernen — er 
ſcheucht ſie einfach mittels ſeiner täuſchenden Ein⸗ 
gebungen nach entgegengeſetzten Richtungen aus: 
einander. 

Ulrich war allmählich in einen Zuſtand geraten, 
der ihn tief beunruhigte. Es begann damit, daß 





- - FZ2>"” en ri — nt UT. — 


45 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 46 


ſeine Trauer verſiegte. Er konnte ſich darüber nicht 
mehr täuſchen. Die Wunde vernarbte und that auch 
nicht mehr wehe. Nur wenn Lex mit aller Wucht 
darauf hämmerte, erwies ſich die Stelle noch 
empfindlich; hingegen war es nicht einmal eine un— 
angenehme Empfindung, ſobald die zarte Hand 
Martinas lind darüber hinſtrich. Dieſe Erkenntnis 
demütigte ihn unſäglich vor ſich ſelbſt. Er war 
empört ˖ über ſein ſeichtes Gefühl, über die Stumpfheit 
oder Roheit ſeines Herzens, über die leichtſinnige 
Wandelbarkeit ſeines Charaklters. Noch mehr jedoch 
war er gegen Martina aufgebracht als die Ur— 
heberin dieſer beſchämenden Wandlung. Er hatte 
von einer Art Suggeſtion geträumt, welche die tote 
Thomaſine auf die lebende Martina ausüben ſollte. 
Es hatte ſich jedoch im Gegenteil eine Suggeſtion 
Martinas auf den ganzen Willensbereich der Ber: 
ſtorbenen entwickelt. Und es war eine Seelen— 
wanderung geworden in dem alten tiefen Sinn der 
Läuterung auf einer höheren Stufe der Vollkommen— 
beit. Mit Ingrimm vertiefle ſich Ulrich in die Be— 
trachtung dieſes Aufſchwunges. Es war eine 
feſſelnde Plaſtik, eine abgeklärte Ruhe in Martinas 
Weſen, welche die zielloſen Anläufe, das Unfertige, 
Zerſplitterte, Sprunghafte der vorangegangenen Zeit 
ſieghaft aus der Erinnerung verdrängen mußte. 
Ulrich konnte ſich ſogar den bitteren Vorwurf nicht 
erſparen, daß er dieſe Erinnerung, wenn ſie gleich— 
wohl heranſchlich, bereits ungeduldig beiſeite ſchob, 
als ob ſie ihm irgend eine Ausſicht verſtellen würde. 
Mit Scham, Reue, Mißachtung blickte er auf ſich 
ſelbſt, auf Martina aber mit jenem dumpfen Groll, 
welchen der Schuldige gegen den Mitſchuldigen fühlt. 
Und wie ein Reumütiger in ſolcher Zerknirſchung 
dem Gekränkten gar nicht genug thun kann an Liebe 
und Treue, ſo hatte Ulrich noch nie Thomaſine ſo 
beſtändig im Munde geführt wie jetzt, da ſie ihm 
aus dem Herzen geſchwunden war. Niemals auch 
hatte ihn Martina ſchwerer befriedigen können als 
in den Tagen, da ihm die Unebenheiten an Thoma— 
ſine ſichtbar zu werden begannen. Indem er ſich 
mit allen Kräften gegen die Anerkennung einer voll: 
fommeneren Gegenwart fträubte, geriet er in eine 
Tyrannei, bie feinem Wejen nicht nur fremd, jondern 
bei jpäterem Befinnen ihm jelbft unverftändlich und 
beihämend erihien. Von jener Güte, die er an 
andere im Übermaße zu vergeuden pflegte, fiel für 
Martina au nicht ein Brofamen ab. Shre bloße 
Gegenwart jchien fein Gemüt zu verjcdhatten und zu 
erfälten. 

Nun war unglüdjeligermweile noch der Ber: 
mittelungsverjuh Gittas dazugelommen. Was Bitte 
als Motiv von Martinas aufopfernder Herzensgüte 
für ihn angeführt hatte, machte die Verftimmung 
unbeilbar. „Eine fchöne Legierung von feelijcher 
Krankenpflege und einer fait mütterlihen Zärtlich: 
feit —” hatte fie es genannt. Und dies waren un: 
zweifelhaft Martinas eigene Worte, da G®itta offen 
zugegeben hatte: „ich babe die junge Frau ausgeholt.“ 
Er erinnerte fih nicht, daß ihn irgend etwas je jo 
Bat, gedemütigt, beleidigt hatte wie diejer Ge: 
anfe. 


une 


Sp regte Reue wegen des Alten und Kränfung 
durch das Neue beftändig feine Seele auf. Er war 
auffallend zerftreut, jelbft im Verlehre mit Zer, der 
jett das Ventil gänzlich öffnete, ja alle Thore auf: 
riß, um demjenigen rechtzeitig Abzug zu Ichaffen, was 
in Ulrih gärte, und was ihm um fo bedenklicher 
erihien, als er es nicht ergründen fonnte. Ulrich 
benüßte jevoh Thurmbruds Bentile widerwillig und 
irrte zu anderen Dingen ab. Er unterbrad ihn 
mitten in ber intereffanteflen Auseinanderjegung, um 
in den Hof binabzueilen und fih dafelbit jämtliche 
Reit: und Sagdpferde vorreiten zu laflen; aber er 
ad gar nit nah ihnen Hin, jondern betrachtete 
aufmerlfam ben Zug der Wollen. Oder er befahl 
einzulpannen, weil er bald diefe, bald jene Wagen: 
pferde erproben wollte; wenn er aber herabfam, ließ 
er den Kuticher fahren und ging oder ritt in das 
bolzige Hügelland hinein. Am häufigften geriet er 
dabei auf die Heidehöfe zu dem ſchweigſamen Hét— 
vary. Sie jaßen dann beilammen, rauchten, ritten 
dur die Felder, ohne ein Wort zu reden, oder 
gingen auf die Jagd, ohne etwas zu fchießen. Beide 
waren in heftiger Aufregung und Juchten in heftiger 
Körperbewegung dazu ein Gegengewicht. Sinfolgedefjen 
artete der Ritt jedesmal in einen tollen Galopp aus, 
und beim Gehen gerieten fie Jchließlih immer in 
einen weit ausholenden Sturmidhritt. So verarbeiteten 
fie auch äußerlih, was fie im Innern durdlämpften, 
ahen aneinander vorüber in die Quft, als ob fie 
dort etwas Juchhten, und jeder hatte für ben andern 
eine rechte Sympathie, ohne fih Kar zu machen, 
worauf diejelbe beruhte. Nachdem ji Ulrich jo mit 
Hetvary ausgeichwiegen hatte, nahm er daheim Zei: 
tungen oder Revuen vor, wobei ihn Ler einige Male 
darauf ertappte, daß er die Blätter verkehrt in der 
Hand hielt. Dann verihwand er in feinem Labora- 
torium, wo er bis in die jpäte Nadt vor feinem 
Glasmalerofen brütete und braute, objwar er biezu 
bei Tage genug .Zeit und ein richtigeres Licht ge: 
habt hätte. Er hatte der Fabrik neue Yarbentöne 
für das Farbenglas und für das farbig überfangene 
Glas geliefert, er hatte zumal für die Glasmaler 
Farbennuancen gefunden, die bisher noch nie beim 
Brennen berausgelommen waren. Er jchien dielen 
Experimenten jebt weit mehr Eifer als ehedem zu 
widmen; denn man hatte ihn nie vorher jo oft in 
das Laboratorium gehen jehen. Gleichwohl konnte 
Lex dafelbft weder einen neuen Erfolg, no aud) 
irgend eine erhebliche Förderung des bereits Ange- 
bahnten wahrnehmen. Ebenjowenig fanden Sorre: 
Ipondenzen eine Erledigung, obzwar Ulrih ji mit 
großer Aufmerkjamteit in diejelben zu vertiefen Ichien. 
Bei allem fteigerte fich feine nervöje Halt von 


Tag zu Tag; das plöplice Abjpringen von jedem 


eben begonnenen Thun ward nachgerade zur Regel. 

Martina fand fih nicht mehr zuredt in der 
Blanlofigfeit eines jo zerftücdten Dafeins. Ulrich ging, 
man wußte nicht wohin, er fam, man mußte nicht 
woher, er verihwand plöglid und tauchte plößlid) 
wieder auf; fein Erjcheinen war eine Überrajhung, 
fein Thun und Laflen war das Unermartete. Mar: 
tina erriet nicht, was er wollte, fie erriet vor allem nicht, 


47 Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 48 


was er von ihr wollte. Sie forfchle mit einer Jchmerz: 
lihen Neugier in feinen Augen, was er noch mehr 
begehrten könne. Was fie darin las, war entweder 
eine Enttäufchung, die filh dumpf in das Unvermeibd: 
liche ergiebt, oder eine Gereiztheit, die fich gegen Un: 
erträgliches auflehnt. Unter diefem jeltfjamen Blid 
I\hwand Martina die anmutige Unbefangenbeit, 
fröftelnd 309 fi ihr Herz zufammen, das gewohnt 
war, feine Wärme offen auszuftrahlen. Seder Schritt, 
den fie that, Shien ihr nun felbft falich, fie zögerte 
ratlos mit faum mehr gefaßter Seele. Sie wagte 
faft nicht zu Sprechen oder fprah nur, um nichts zu 
jagen; was fie auch vorbringen mochte, er jchien es 
anders erwartet, vielleicht dabei nad) der MWeife und 
Sprade ber Verftorbenen ausgehordht zu haben. 

Urih fühlte aus Martinas Schweigen, aus 
ihren abgezirkelten Reden, aus dem Gezwungenen 
ihres Benehmens bloß neue Kränfungen heraus. Er 
gedadte der Zeiten, da diejelbe Martina um ihren 
Bater jo inniges Wohlbehagen zu zaubern wußte, 
wo ihr Reden und Schweigen, Blid und Wiene, 
Nuhe oder Bewegung, ja ihre bloße Gegenwart wie 
Morgenhaud und Frühlingsduft erquidend anmutete. 
Das war nun vorbei — für „die jchöne Legierung” 
wäre dies ein finnlofer Qurus gemwelen, welchen fie 
offenbar vor fich felbft nicht hätte rechtfertigen können. 
Sn jeiner Berbitterung mied er ihre Gegenwart und 
beichränfte fich darauf, bei den Hauptmahlzeiten mit 
ihr zufammenzutreffen. Er fam, verneigte fich, er: 
griff in fteifer Haltung ihre Fingerfpigen und fragte 
mit einem gleichgültig Jcheinenden Ausdrud: „Dein 
Befinden?” — Dann jpradh er ungewöhnlich lebhaft 
mit Zer, und wenn er dazwilhen das Wort an 
Martina richtete, jo war es eine nichtsfagende höfliche 
Kedensart. Dabei Jah er fie nicht an, fondern blidte 
neben ihr bin, oder betrachtete aufmerkjam eines der 
Tiihgeräte. Er beeilte fi mit dem Elfen, ward un: 
geduldig und trieb die Diener zu rajcherem Ser- 
vieren an. Auch nah dem Efjen bielt er es bloß 
wenige Augenblide im Rauchzimmer aus, und hatte 
gewöhnlich ein dringendes Gejchäft im Auge, das ihn 
abberief. 

E83 lag mwucdtend über den Häuptern wie Ge 
witterſchwüle. Beide hatten bas Gefühl, es könne 
unmöglih fo weiter geben. Gleichwohl wichen fie 
vor dem Gemwölle zurüd, aus welchem der erlöjende 
Blig niederzuden follte. 

Ler war für mehrere Tage in die Refidenz ge: 
fahren. Gitta hatte fi verfühlt und mußte das 
Zimmer hüten, wobei ihr Franzista Gejellichaft Leiftete. 
Ulih und Martina waren aufeinander angemwiejen, 
und dies um jo mehr, als der Winter in jeiner 
unmirtlidhften Geftalt eingebrohen war und jeden 
weiteren Ausflug verhinderte. An einem diejer Düfteren 
furzen Tage war ed. Schon über der Mittagszeit 
laftete eine trübe Dämmerung, bald dunfelte es wie 
am jpäten Abend. NAjchgraue Nebel ballten fich in: 
einander und ftießen zu bleigrauen Mafjen zufammen. 
Bulegt ftanden fie als undurdhdringlide Wände — 
oben, unten, nad allen Seiten hin nichts als das 
öde graue Einerlei. Ulrih war mit Martina beim 
Diner beilammen gewejen. Sie hatten einige ge: 


zwungene Worte gemechlelt, dann war Schweigen 
über beide gefommen, bis er jchließlich troß des 
Nebels in den Hof hinabgegangen und fie zu Agnes 
zurüdgelehrt war. Am Abend fanden fie fih zum 
Souper wieder zufammen. Draußen war inzwijchen 
ein ungeftünmes Wehen von Dften bereingeftürzt und 
hatte wilde Stöße in die Nebelmand geführt, jo daß 
diefelbe wie bei einem Erdbeben in unrubiges Wogen 
geriet, auseinanderklaffte, abjeits niederbradh. Darüber 
fam dem Sturmmind erft die rechte Yuft und Kraft: 
mit wuchtigen Fäuften in die Brejche greifend, riß 
er fie unter entjeglidem Gelächter auseinander und 
Ihlug aufheulend in die Trümmerflumpen, daß fie 
zerjplittert umberflogen, fi als mwirbelnde Wöltchen 
bimmelan retteten, als zerftäubter Schutt auf bie 
Erde Janten. 

Martina und Ulrih waren nad) dem Souper 
in das Nauchzimmer gegangen. Er jucdhte feine ge: 
wohnte Ede auf, fie jaß dicht vor dem Kamine. Sie 
fröftelte und hatte die Füße auf die niedrige Metall: 
Barriere geftellt, welche das Kaminfeuer umzäunte. 
Die Flammen büpften in jähen Sprüngen auf und 
nieder, oder griffen in mädtigen Sägen jeitwärts 
aus. hre unrubigen Lichter Yujchten ſchimmernd, 
anglänzend, aufbligend über Martina bin und er: 
lojhen hinter ihr im Dämmernden Dunkel. Zumeilen 
bielt der friedlos zudende Flanımenfchein einen Augen: 
blidE an und lag unbemwegt auf ihrem Antlif. Es 
war eine wunderbare Ruhe in diefer hohen Geltalt, 
wie fie jo janft zurüdgelehnt da jaß, das edle Haupt 
mit dem herrlichen Profil Teile jeitwärts neigend. 
Ultih erinnerte fi genau an das Frauenbildnis 
unter den Parthenonfiguren, dem fie jo merkwürdig 
ähnlich erihien. Zugleich hätte er viel darum ge: 
geben, nicht bier verweilen zu miüjlen, wo alles 
Frieden, Wärme, Licht und Schönheit war, fondern 
draußen in der durdhftürmten, froftigen, jchwarzen 
Naht. Und er barrte jehnfühtig des Augenblides, 
wo er allein bleiben würde. 

Beide jchwiegen. Der Sturm brüllte unerfättlich 
weiter. Draußen hatte er nunmehr jein Werk gethan 
und den Nebel gänzlich weggefegt. Aber er war 
noch nicht befriedigt, fondern chien auch drinnen 
Derartiges zu planen. Denn auf einmal fam er 
feuchend durh den Kamin beruntergeraft. Unter 
Winfeln und Heulen ftürzte er fich über den Feuer: 
berd. Der ganze Brand jchauerte verjchredt zufammen, 
die noch eben emporzüngelnde Blut ledte verzagt am 
Boden hin, die vorher aufftrebenden Flänınden büdten 
und dudten fihd — immer niedriger, immer Kleiner. 
Doh da half nicht Troß, nicht Demut mehr, nur 
noch Flucht. Die ganze fladernde Lohe flürzte plöglich 
fopfüber herein, im Gemadhe Rettung Judhend. So: 
gleich ftieß der Orkan in feiner Verfolgungsmut faufend 
herab, wühlte Funfen, Aihe und Raud in einen 
Stnäuel zujammen und jchleuderte ihn der flüchtenden 
Slamme in das Zimmer nad. Die Funken flogen 
über die Barriere und |prühten über Martinas Kleid 
bin, welches jogleich zu brennen begann. 

Ulhih war in demfelben Augenblid neben ihr, 
riß den Stuhl zurüd, warf den Fußteppich über fie 
und preßte ihn um das brennende Kleid. Dadurd) 








49 Die neue Herrin. 








war jede Gefahr im Entftehen unterdrüdt. Martina 
dankte ihm mit bewegten Worten und tabelte ebenjo 
ihre eigene Unvorfichtigleit, wie fie feine Geifles: 
gegenwart und Entichlofienheit rühmte. Er bat fie, 
fi) fogleih umzuziehen und ihm vor dem Schlafen: 
gehen no Nadhriht zu Ichiden, ob ihr die Auf: 
regung nicht geihadet habe. Sie verließ ihn, über 
die ängitlihe Sorge erftaunt, die er nad) der Härte 
und Herbheit der legten Zeiten ihr auf einmal zu- 
wendete. Aber noch mehr erftaunt wäre fie gewelen, 
und fie hätte nicht gewußt, was fie mit jeinem Blide 
anfangen follte, wenn fie gejehen hätte, wie er ihr 
nadftarrte. Er jelbit wußte fich nicht zu beuten, 
was ihn fo aufregte. Er hatte einen Augenblid für 
ein Menjhhenleben gezittert — aber das war nun 
vorüber, jagte er fich jelbft beruhigend. Gleichwohl 
fand er feine Ruhe. Plöglich jchritt er der Thüre 
zu, um nad dem rechten Flügel zu gehen und jelbft 
zu fragen, wie e8 Martina gebe. 

Sr demjelben Augenblid öffnete jemand die 
Thüre. Es war Martina, die mit einem zaghaften 
Lächeln auf der Schwelle ftehen blieb und Jagte: „Sch 
bin doch Lieber jelbft gelommen, anftatt Nachricht 
berüberzufchiden. Du tannft nun mit eigenen Augen 
jehen, daß ich volllommen wohl bin, nadhdem Du fo 
gut geweien bift, Dich darüber zu beunrubigen. Auch 
danfen wollte ih Dir no einmal. Das Kleid ift 
an fünf Stellen durdbrannt, und auh an dem 
Unterkleid ift der Stoff ftelenweile gebräunt und 
zerbrödelt morjch bei der Berührung. E83 war feine 
geringe Gefahr, weldder Du mich entrifien hafl. Wenn 
ih nur aud für Dich etwas thun Fönnte! Sch meine 
jo, wie e8 Dir recht wäre. Denn in der jüngften 
Zeit hatte ich bei allem eine unglüdliche und unge: 
Ihidte Hand — aber verzeih! Ach vergelle Deine 
Hände, mit denen Du den brennenden Saum bes 
Kleides zufammendrüdteft. Und doch bin ich gerade 
deshalb vor allem felbft gelommen. Bitte, Deine 
Hände! Gott jei Dant, eine einzige Brandblaje auf 
dem Kleinen Finger. Aber fie ift groß! Du erlaubft, 
daß ich mein altes Hausmittel dafür anmwende? Es 
it harmlos und lindert den Schmerz, wie ich oft im 
Snftitute erprobt babe. Man ergiebt fih inmitten 
ber zabllojen winzigen Schmerzen der Kleinen un: 
vermerft der Duadfjalberei, und wird eine leiden: 
Ihaftlide Kurpfufcherin. Und nun —” dabei überflog 
ein heller Strahl ihre Züge, wie er in den lebtver: 
floflenen Tagen nie, und aud fonft Selten, an ihr zu 
jehen war, ein traulich Ichalthaftes Lächeln, welches 
in dem ernften, edlen Antlit binreißend wirkte — 
„und nun will ih denn, wie für das Kleine leibende 
Bölklein des SInflitutes, ebenjo für den armen Kleinen 
Finger Arzt und Mütterchen fein!” 

Da war fie wieder, „die jhöne Legierung”. 
Man hielt diejelbe für ihn ganz jo bereit wie für 
die fremden Kinder, für jeden Leidenden oder Be: 
Dürftigen, dem man eben begegnet. Sie unterjudhte 
nob die Brandblaje, als er ihr plöglich die Hand 
entzog. „Danke, danke,“ ftieß er hervor. „Es ilt 
dDurhaus nicht nötig. Und wenn aud, id mag 
bergleihen nicht, ich danke.” — Dabei wandte er 
fih ab, trat zum Kamin und jchürte mit dem euer: 
baten in dem verglimmenden Brande herum. 


Roman⸗Zeitung 1896. 


Roman von Karl Erdm. Edler. 50 


Martina ſtand und blickte ihm verſtändnislos 

nach. Daß ihr unterdrücktes Gefühl in dieſer glück⸗ 
lichen Stunde nicht an ſich halten konnte, war doch 
nur gekommen, weil er ſelbſt ihm mit ſeiner Rettungs⸗ 
that und dann mit ſeinen fürſorglichen Worten die 
Schleuſe geöffnet hatte. Und jetzt hemmte er es und 
ſtieß es zurück, da es ihm rückhaltlos zuſtrömen 


wollte. Es war alles wie gelähmt in ihr. Sie 
rührte ſich nicht, ſie ſagte auch nichts. Nur die 
Augen ſprachen in dem bleichen Geſicht. Beredter 


als es Worte vermöchten, rang ſich aus ihnen die 
wehe Frage der gequälten Seele empor: „Was habe 
ich Dir denn gethan?“ 

Er richtete fich langjam aus der gebüdten Hal- 
tung vor dem Kamine empor. PBlögtlich redte er ich 
mit einem gemwaltiamen Entihlufje in feiner ganzen 
Höhe auf und fagte: „Qergieb, ich rede und handle 
unverantwortlih! Auch was Du vorhin von Deiner 


unglüdlihen Hand in der jüngften Zeit vorgebradht 


baft, fällt einzig mir zur Laft. Das Unrecht ift bloß 
auf meiner Seite: ih habe geichwiegen, wo id; hätte 
reden jollen. Das Schweigen mag ja gut fein, um 
zu verhüten und vorzubeugen; aber ein PBalliativmittel 
it fein Heilmittel und taugt nicht mehr, wenn das 
Leiden einmal zum Ausbruch gekommen it. Nun 
denn: wenn es zuleßt nicht war, wie es bätte jein 
follen, jo erflärt fi dies aus einer Lörperlichen und 
feeliihen Berftimmung, die mich reizbar madt. Ich 
fühle mi nit wohl und hänge diefem Gefühle 
bypohondriih nad. Das kommt von dem Einerlei 
des Alltagslebens, wo e8 heute jo ift, wie es geitern 
war, und wo es morgen wie beute fein wird. Ich 
glaube, ein anderes Klima wird mich wohlihätig an: 
regen. Dazu die neuen Eindrüde, die ablentenden 
Unbequemlidteiten des NReilens jelbft — id bin 
früher jo viel gereift, daß mir vielleicht bloß das 
Reifen jelbit abgeht. Auch möchte ich mir den einen 
oder den anderen campo santo in Stalien anjehen 
— vielleiht findet fih da ein teilweile verwendbares 
Vorbild für Thomafinense Maufoleum. Und dann 
— fur, e8 giebt außer den angeführten noch eine 
Menge von ‚Weil‘, mit denen ich Dich nicht lang: 
weilen möchte.” 

Shre Augen jchienen in jeinem Snnern zu lelen. 
Sie ſahen jo aus, als wüßten fie alles das, was er 
etwa noch hätte fagen fünnen. „Weil!“ Iprach fie 
endli leile. „Und jo ein ‚Weil‘ auf das andere 
getürmt, wie ein Stein auf den anderen, bis bie 
Mauer jo hoch geworden ift, daß eines das andere 
nicht mehr jehen kann.“ 

„Ich glaube nit, daß Du Dich auf die Fuß: 
Ipigen ftellen wirft, um berüberzufhauen,” entgegnete 
er in einem jcherzhaften Tone, welchen die barte 
Miene Lügen ftrafte. — „Ih bitte Did um Ber: 
gebung,” fagte er gleich darauf. „Du fiehit nun 
jelbft, wie rankhaft fogar meine Redeweile fih an- 
läßt. Mir kommen Worte in den Mund, die un: 
höflich, ja geradezu roh find. Wollte ich doch damit 
nichts anderes ausdrüden, als daß Deine felbitändige 
Eigenart feiner Anlehnung bedarf. Ych bitte Dich, 
zu glauben, daß dies fein Vorwurf ift, jondern die 
einfahe Anführung einer Thatſache. Aus derjelben 
folgt, daß Du Di ohne mich behelfen wirft, fobald 


IV. 4 


Hl Die neue Herrin. 


ih nicht mehr da bin, wie Du Did ohne mich be: 
bolfen haft, während ich da war. Um das, was 
lonft zurücbleibt, jorge ich nicht — ich Hinterlafje es 
in Deinen Händen wohlgeborgen. Was endlich mich 
betrifft, jo bringt die Ferne zumeilen erftaunliche 
Wirkungen hervor. Vielleicht” — rief er, in einen 
bitteren Ton verfallend — „vielleicht fliegt mir von 
jelbft eine richtigere Anjchauung ber Dinge an, wenn 
id mir nur einmal Wartentron in die gehörige Ent: 
fernung rüde. So tritt ja der Maler von dem Ge: 
mälde zurüd, um es befler zu jehben. Man wird 
außerdem jo Elug in der Fremde und jo jelbitändig 
— am Ende lernt man fi} jogar emanzipieren von 
mitleidiger Pflege und einer faft mütterlichen Be- 
treuung.” 

Martina ftarrte ihn fragend an. Er aber blidte 
gar nicht auf, Jondern redete in feiner berben Weife 
weiter, bis er plöglich innehielt und in dem eifigen 
Tone förmlicher Höflichkeit beifügte: „Wergieb, ich 
rede wie ein Fieberfranter! Achte nicht darauf, es 
ift auch gar nit der Beahtung wert! Es beweiſt 
Dir nur die Unerläßlichfeit meines Vorhabens. 
Bielleiht ift es die Unruhe des Ortswechſels, das 
Mipbehagen des Körpers, der müßig daheim bodt, 
indes der Geift bereits auf Reifen if. Kind und 
Haus überantworte ich Deiner Hut. Ych weiß, daß 
es in der Welt niemanden giebt, bei dem beide befler 
aufgehoben wären — aud bei mir nidt. Daß Du 
die alten Eltern drüben nicht vergeflen wirft, braude 
ih Di gleichfalls nicht erft zu bitten. Für das 
übrige ift Ler da. Sullte einmal während feiner 
Abmejenheit eine unaufidhiebbare Entiheidung zu 
treffen jein — aber nur in einem wirklidd dringen: 
den Falle — bitte ih Did, Hetvary rufen zu laflen, 
er wird fih aus Freundjchaft für mich gerne zu 
jedem Dienfte bereit erklären.” 

Martina war es, als müfle fie noch etwas fragen 
oder jagen. Aber mieder rief es in ihr: thu es 
nicht, laß es! Wozu jollen Worte noch führen — 
dadite fie — wenn man einmal jo weit gelommen 
ift, auseinanderzugehen! Und aud das Reden ann, 
wie es Ulrih vorhin vom Schweigen gejagt hatte, 
nit mehr verhüten und vorbeugen, wenn das Leiden 
einmal zum Ausbruch gelommen if. „Gute... .“ 
Iprady fie, aber die Stimme verfagte ihr, und mit 
einem neuen Anlauf wiederholte fie leife im Hinaus: 
gehen: „Gute Nacht!" — 

Am näditen Morgen fam Ler zurüd und 
bradte den ganzen Tag in Beipredhungen mit Ulrich 
zu. Am folgenden Tage reifte Ulrich ab. Martinas 
Augen hatten ein zitterndes, verjchleiertes Leuchten, 
da fie unter den Bärenjäulen des Portals von ihm 
Abihied nahm. Es war zugleich der Abjchied von 
allen Hoffnungen und Träumen, von ber reichbe: 
jegten, blumengejhmüdten Tafel des Erdenglüdes. 
Hungernd und dürftend fjchied fie von dem großen 
sreubdenmahle, bevor fie fih no an ihrem Plate 
niedergelaffen hatte, und die Blumen, die dajelbit 
ihrer barıten, hatten fich Schon entblättert, als fie 
nn von weitem die Hand zaghaft nad) ihnen aus: 

edte. 





Noman von Karl Erdm. Edler. 52 


XIX. 


Martina hat dem Schlitten Ulriche nachgeblidt, 
bis er durch das Hofthor verfhwunden war. Dann 
geht fie in ihr Gemad. Sie tritt an das Fenfter 
und blidt in das neblige Dämmern ber Winter: 
landicdaft. Ein dunkler Vogel Ereift einfam in einem 
mädtigen Bogen über den Schneewehen bes Matthias: 
baues. &s ift ein ftilles, rubevolles Gleiten, mühe: 
08, ohne Slügelichlag. Unbemwegt liegen die großen, 
Ihmarzen Schwingen ausgeweitet, Tein Schrei tönt 
berab, ein leifer Laut. Die Bäume in der Tiefe 
niden mit den weißen Häuptern jadhte wie müde 
Sreife beim Abenddämmern — die Blumengloden 
des Grabhaujes dort unten mögen fie wohl in ben 
Traum einläuten. Dann ftehben auf einmal bie 
Wipfel ohne Regung, den dunklen Vogel hat bie 
Schneewolke verſchlungen, ausgeödet ift rings Die 
Erde. Nur die Glödlein des Waldhaufes läuten 
no immer und ohne Ende weiter. 

Martina wendet fih ab — fie will zu Agnes 
gehen. Sie muß bei dem “Pfeilerjpiegel vorüber, 
welder ihr das eigene Widerbild aufzwingt. An 
bejlen Augen hängen Tropfen wie an Blumen, wenn 
der Gemwitterregen längft vorüber if. Nun weiß fie 
erft, daß fie geweint bat. Aber Agnes fol es nicht 
wiflen, nicht einmal ahnen. Sie trodnet die Tropfen 
und wartet geduldig, bis fich jede Spur berfelben 
verloren hat. Sie wird auch morgen und alle Tage 
die Thränen niederzwingen, bevor fie ihr bie Augen 
trüben. Dem fnojpenden Seelchen bes Kindes muß 
fie die Freude erhalten; darum läßt fie den Schmerz 
niht aus der Tiefe aufichreien, die Kette der Ent- 
täufhungen darf nicht Hirten, kein dDumpfes Brüten 
ol fih merkbar machen. GSelbft nit ein jedes 
Lächeln ift gut genug für Agnes. Martina kann 
fih nicht begnügen zu lächeln, wie etwa die um: 
düfterte Herbitionne matt durch Schleier hervor: 
Ihimmert, no auch mie das froftige Winterlicht, 
das nicht wärmt, fondern nur aufdämmert, um als: 
bald im grauen Schneegewölt zu verlöihen. Nur 
ein Lächeln taugt für die zarte Menichentnofpe, 
und darum glänzt ed auh aus Martinas Antlig 
über diejelbe hin. Es it das Lächeln der Morgen- 
jonne an einem Maientag.e So ermädhlt ihr aus 
der Hingebung an das Kind eine Stüße, an ber fie 
feftgelehnt Kraft fammeln kann. Die Aufmerkjamteit, 
welde fie dem bilflojen Wejen unablälfig widmen 
muß, ruft auch alle wandernden Gedanten heim. Sie 
Ihweifen nur no um das Kind herum — aud in 
jenen Stunden, da fie allein if. Was foeben nod 
vor ihr gezappelt und fie umtlreift hat, fie fieht es 
Ihon als aufblühendes, als halbreifes Mädchen, als 
Sungfrau. An jede diefer Stufen Inüpfen fi) 
Pläne der Lebensführung, bis fie der herangewadhle: 
nen Tochter jchließlich einen Mann ausmählt. Nun 
wendet fih diefem alle Geftaltungstraft der Phan- 
tafie zu, einer idealen Blüte der Menjchheit, wie fie 
die unvolllommene Erde nod) nie gezeitigt hat. Der 
Umgang mit folden geliebten Traumgebilden ihrer 
zärtlihen Einbildungstraft benimmt ihr das Gefühl 





53 Die neue Herrin. 


der Einjamkeit — immer ift Agnes in irgend einem 
Klein: oder Großformat der Altersentwidelung an 
ihrer Seite. Aber wenn fie wieder das rofige Ge: 
fihtehen betrachtet, und Agnes die Händchen um 
ihren Hals jchlingt, jo feit, daß fie ganz rot wird 
und börbar aufatmen muß von der Anftrengung, 
dann verwirft fie alle die Träumereien. Dann madt 
es ihr keine Freude mehr, an die größere, ober gar 
an eine große Agnes zu denken, am wenigften jeboch 
an den Fünftigen Mann derjelben. Es ift doch un: 
vergleichlich beiler, wenn fie bleibt, wie fie jeßt ift: 
etwas jo Kleines, Herziges, das am liebflen auf der 
Mutter Schoß fiebelt und am beiten an der Mutter 
Herz Ichläft, das am lautelten zwitichert, am hellften 
lat, wenn die Mutter dabei if. Es erjcheint fo 
jüß, diejem bilflojen, flaumweihen Neftling alles zu 
fein, daß fie gern dies holde Glüd weiter ausge: 
Iponnen hätte, immer weiter ohne Ende. Agnes 
jelbft blüht dabei auf in beweglicher Frifche und ge: 
runbeter Fülle, zu roten Wangen und felten Mar: 
[hierbeinden, wie es in jo Furzer Frift fein Arzt 
und fein Heilmittel der Erde zu ftande gebracht 
hätte. Martina ftaunt jelbit über das liebliche 
Wunder. Daß fie es ift, die es vollbracht bat, 
daran denlt fie ebenjowenig, wie der Maihaud, 
wenn er über ein kümmerlich verwailtes Gärtlein 
weht, und nun darin urplöglid das Grünen und 
Sproffen anhebt, das Knofpen und Blühen. 

Die Kraft, mit welcher Martina um des Kindes 
willen ihr Herzeleib niederrang, fie bielt dann in 
anderen Stunden gleichfalls vor. Es erichien ihr 
unerläßlih für das Gebdeihen des ihr anvertrauten 
Haufes, die Würde von defjen Herrin zu wahren. 
Das höhnische Kächeln, mit weldem Thurmbrud bei 
Ulrihs Abreife fie angeblidt hatte, war von jeinen 
zudenden Mundwinteln unter die Beamten und 
Diener geiprungen und durcdhwanderte wieder, wie 
nach dem Einzuge, alle Schloßräume. Aber es ließ 
fih doch auf den Tippen der meiften anders an als da: 
mals, gutmütiger, milder, und Martina konnte die 
Wahrnehmung maden, daß fie die Leute zuweilen 
mitleibig von der Seite anjahen. Da bielt fie ftill 
und ließ fich gebuldig betradgten. Weil fie dabei 
nihts von ihr abjeben konnten, was anders als 
fonft gemwejen wäre, und weil fi in allem Reben 
und Thun der janfte Ernft von ehedem zeigte, fo 
gaben fie e8 auf. Allein jenes Lächeln war aud 
wieder nach allen Weltgegenden auseinandergeiprüht. 
Es gab abermals anregende Unterhaltungen über 
diefe „Scheidung im Guten”, driftlide und im: 
hriftlihe Hypothefen, barmberziges Bedauern und 
unbarmberzige Witte. Martina bejab der Trauer 
wegen bloß zur nädhften Nahbarihaft Beziehungen, 
und aud diefe hatten fih auf je einen Befuh und 
Gegenbefuch beichräntt. Yn diefer engeren Umgebungs- 
runde jchien man allerjeits übereingelommen zu fein, 
eben jebt fei der geeignete Zeitpunkt, im Borbeifahren 
auf Wartenfron gelegentlich nachzujehen. Während 
biefer Beluche lachte Martina weder gezwungen, noch 
weinte fie fich vertraulich aus, fie geriet nicht einmal 
in Berlegenbeit, jobald man mit zarten Umfchreibungen 
nah Ulrich fragte. Er hatte für jeine Gejundbeit 








Roman von Karl Erbm. Edler. 54 


eines Klimamwechiels beburft und war deshalb nach 
Stalien gegangen. Sie jagte das jo ruhig, ba fidh 
die meiften damit zufrieden gaben, zumal da Doltor 
Grilling dasjelbe behauptete. 

Sie fämpfte tapfer ihren Kummer nieder und 
that, was die Gegenwart verlangte. Mit einem 
ttillen großen Blid umfaßte fie die Forderung jeder 
Stunde und ftredte die Arme willig aus, ihr gerecht 
zu werden. So weit diefe Arme reichten, wurben 
Menihen und Dinge gefördert, und das Alte mich 
einem Neuen, das befier war. Gitta behauptete, 
diefes raftloje Abmühen Martinas ei bloß die Ab- 
lentung einer tiefen Verzweiflung, jomwie ihre milde 
Ruhe nur die Maste eines nagenden Kummers. 
Sie war wie vom Donner gerührt gewelen, als fie 
in ihrer Krankenftube Ulrihs Abreife vernahm. Ihre 
Eingebung, ihr Stolz auf dielelbe, ihr genialer Plan, 
nicht mehr an den Dingen zu rühren, ba fie bereits 
überreif von felbft in den Schoß fallen würden — 
alles war nichtig. Sie faßte einen leidenfchaftlichen 
Haß gegen Ulrih und empfing Martina, als ihr 
diefe einen Krantenbefuh machte, mit zerichmelzendem 
Erbarmen,. Allein dieje redete mit der alten Un: 
befangenheit über alle anderen Dinge und jchwieg 
mit der früheren Zurüdhaltung über bie intimen 
Vorgänge auf Wartentron. Sie lächelte Franziska 
zu wie jonft, fegte fih mit ihr an das Klavier und 
jpielte meifterhaft wie immer. Unterweifung und 
Verbefierung brachte fie nebenbei in den Baufen und 
dabei zärtlich wie eine Lieblojung vor, jo daß das 
Mädchen hingerifien fih an fie jchmiegte oder fie mit 
ftiller Anbetung verzüdt anjdhaute. Gitta wäre faft 
eiferfüchtig auf Martina geworden, wenn das grenzen: 
oje Erftaunen über deren Gelafjenheit fie nicht davon 
abgelentt hätte. Sie ging von der Anfiht aus, daß 
man einen foldhen Kummer vor einer mütterlichen 
Freundin offen zur Schau tragen folle. Sie jelbft 
hielt fie für verpflichtet und auch für befähigt, diefen 
Kummer auf eine praltiihe Weile gänzlich aus ber 
Welt hinauszudisputieren. Aber Martina bot nirgends 
eine Handhabe für Troftreden. Gitta betrachtete fie 
fortan als eine ungeheuer jchwierige Charabe, bei der 
es gilt, die Silben einzeln aufzujpüren, um fchließlich 
das Ganze mühjelig zu ergründen. Sie grübelte 
jeder Nede und Miene Martinas nad und beichaute 
fie danıı wieder finnend vom Kopf bis zu den Füßen. 
Endlih fchidte fie Franzisfa mit einem Auftrage 
hinaus, um vielleiht unter vier Augen Martinas 
Vertrauen herauszufordern. Allein dieje redete noch 
immer nicht von fich jelbit und folgte auch der vor: 
fihtigen Fragerin nicht auf diefes Gebiet, fondern 
lenkte im Gegenteil das Gejpräh auf Gittas eigenen 
Hausbann. Sie jpradh von Franzisfas veränderten 
Wejen: daß die ehedem herumbligenden Augen jeßt 
gern verfonnen auf einem Punkte mweilten, daß bie 
blonden Zöpfe ale Schnaden, Schnörkel und Sprünge 
verlernt hätten, daß über dem ganzen fonft uued: 
filbernen Figürden eine feltiame Windftille lafte. 
Sie lenkte dann zu Hetvary ab und bob jein mann: 
baftes, tüchtiges Wejen hervor, deijen verhaltene Kraft 
man erft ahnıe, wenn fie einmal zufällig zum liber: 
ftrömen gebracht werde. 





55 Die neue Herrin. 


Gitta gab den bedauerlichen Umſchwung in 
Franziskas Benehmen zu, ſie beſtritt auch nicht die 
Anſammlung innerer Kraft in Hetvary. „Aber eben 
deshalb,” jchloß fie, „mwürbe er für mich nicht zum 
Manne taugen.” 

„Für Di?” fragte Martina eritaunt. 

„Ja, für mid. Das ift mein Mapftab. Denn 
Sannerl ift mein Ebenbild. Sie hat, wie ich jelbit, 
zu viel innere Kraftiammlung.“ 

„Berzeib, aber ich glaube, Franziska ift wirklich 
nicht ganz jo wie Du. . .” 

„Dann jol fie es werden, und an der Geite 
eines Hetvary ift feine Ausfiht darauf. Das ift ein 
Menih aus einem Guß, dem nirgends beizulommen 
if. Hammer oder Amboß — und meine Tochter 
fann unmöglich für eine Amboßrolle geihaffen fein. 
Übrigens ift dies eine afademiiche Disputation. Die 
Sade ift feit Jahren entichieden: Fannerl befommt 
den Mar Wildenihild in Thurmbrud drüben zum 
Mann. Er it ein harmlojer phlegmatiiher unge 
mit viel Schlaf und gefundem Appetit, durh und 
durch gutmütig, ohne allen Eigenfinn. Dazu wird 
er Majoratsherr und bleibt immer unjer nädhlter 
Nachbar.” 

„SH babe ihn bloß einmal gefehen und möchte 
nicht zu vorjchnell urteilen. Es fihien mir, als jei 
er eine etwas magere Sntelligenz . . .” 

„Defto befier — das prädeftiniert ihn zu meinem 
Schwiegerjohn. Fannerl bat genug Antelligenz für 
fih und für ihn. Er bietet in jeder Hinfiht das 
Moterial, aus dem Eluge und feite Frauenbände, 
wie bie meiner Yanııy, fich einen idealen Ehemann 
Ineten.” 

„IH fürdte wirklich, Gitta, das Kind wird bie 
Hände in den Schoß legen, weil e8 zu biefem Kneten 
feine Zuft haben wird. Haft Du mit ihr bereits 
darüber geiprochen?” 

„Welche See! Mit der Mama Wilbenjchild 
babe ih die Sahe abgemadt. Die beiden Kinder 
wiflen fein Wort davon. Auch das haben wir ab- 
gemadt. Nichts Unpraftilcheres, als wenn man die 
jungen Leute einander offen aufdrängt. Sie find 
dann imftande, einen fürmlihen Widermwillen gegen: 
einander zu belommen, wie Kleine Kinder gegen den 
Brei, den man ihnen gemwaltiam aufzwingt. Wir 
laflen nur beide möglichfi oft zulammen fommen — 
natürlih in unauffäliger Weile. Die janft feflelnde 
Macht der Gewohnheit eritarlt almählid, das Ge: 
wohnte wird zum Unentbehrlien, und jo weiter — 
kurz, die Sache macht fich von Jelbit.” 

„I fürdte, Gitta, Du unterfhägeft Franzistas 
Gefühl für... .“ 

„Du meinft für Hetvary? Das ift eine Kinderei. 
Du wirft es doch nicht ernft nehmen? Mein Gott, 
ih fenne das! %h babe mih als Badfiih bei 
meiner erften Eilenbahnreife für einen Lofomotiv- 
führer begeiltert. Er Hatte einen großen fchwarzen 
Bart und jah auf feiner feuer: und rauchipeienden 
Maſchine ganz aus wie Herkules, Thejeus, Berjeus 
und dergleichen Ungetümbezwinger. ch babe eine 
Naht von ihm geträumt und den Tag darauf ver: 
ädhtliche Blide auf alle anderen Menjchen geichleudert, 





Roman von Karl Erdm. Edler. 56 


weil fie nicht Lokomotivführer waren. Am nächlten 
Tag waren wir in ber Refibenz, und über ben 
Dffizieren, welde die Neitallee belebten, babe id) 
augenblidlih mein rußiges deal vergeflen. Gerade 
jo mag bas Erxotiihe an Hetväry, diefes gemifie 
intereffante Sunnentum, für ein Weilchen den praktiſchen 
Sinn in Fannerl Tlahmgelegt haben. Aber diejes 
Übel liegt nach meiner eigenen Erfahrung jo feicht 
an der Oberfläche, daß es fih Ihon auf phyfiichem 
Wege bejeitigen läßt. Sch werde fie einfadh dazu 
anhalten, fleißiger und kälter zu dufhen. Du mirft 
jehen, wie leicht fie jede Spur folder Badfiihichwäche 
dabei abbadet.” — 

Franziska begleitete Martina zum Schlitten 
hinab und fing plöglid an zu weinen, als dieje fie 
zum Abjehied fühle. Martina drüdte fie feit an fi) 
und fuhr in trüben Gedanken von Überlingen fort, 
um mit hellen Plänen in Wartentron anzulommen. 
Der Kreis ihrer Nützlichkeit ermeiterte fich fortan um 
die Sorge für Franzistas gequältes Herzen. So 
ſcharf ſie die Trugſchlüſſe Gittas durchſchaute, konnte 
ſie einen Widerſtreit der Tochter gegen die Mutter 
nicht unterſtützen. Wohl aber lenkte ſie die reißende 
Gefühlsflut Franziskas in vielen ſeichten Bächlein 
ab. Der Hauptſtrom floß zwar immer noch weiter, 


aber harmlos geduldig zwiſchen geſicherten Ufern; 


nur das dammbedrohende UÜbermaß des Schwalles 
wurde unſchädlich auseinandergeleitet. Die rührende 
heimliche Anbetung, welche ihr Franziska widmete, 
drängte in biejer zeitweile den Gedanlen an Hetvary 
nah dem Hintergrunde. So lange fie auf Warten: 
fron vermeilte, vergaß fie, daß fie nicht glücdlich fei, 
und war fiil zufrieden, wenn fie neben der untrenn- 
baren Dreieinigfeit — Martina, Agnes, Puppe — 
als vierte fiten oder auf den ausgeichaufelten Garten: 
wegen zwilhen den hohen Schneewänden einher: 
Ichreiten Fonnte. Niemand ftörte diefen innigen 
Verkehr. MWimbaher war der einzige, der regel- 
mäßig am Sonntag berauffam. Es wurde gute 
Mufit gemadt, Wimbacher jchwelgte im fiebenten 
Himmel, Franzisla aber gewann Freude am 
Mitwirten und Frieden in der Andaht des Zu 
börens. m übrigen führte Sranzisfa ein wunder: 
lides germanifchmagyariihes Doppelleben. Auf 
Wartentron wurde Beethoven geipielt, Schubert ge- 
jungen, ®öthe gelefen. Dder man verlegte fi mit 
Stift und Pinfel auf die Romantit des deutlichen 
Mittelalters, wie fie fih in dem winterlichen Bilde 
des Matthiasbaues jo malerifch daritellte, wenn man 
durch das Fenfter von Martinas Genad hinausblidte. 
Sn der anderen Fenfterniihe jaß Deartina und 
malte an einem Aquarellporträt von Agnes für bie 
Großeltern jenjeit des großen Waflers, während das 
feine Modell inmitten des Zimmers auf dem Teppich 
jaß und mit der Puppe fpielte. Dabei wurde von 
beuticher Kunft und Art geiprocdhen, deutihen Gemüts: 
regungen zart und jachte nachgegangen, und deutjche 
Geduld geübt. An Oberlingen hingegen war alles 
ungariih: ungeduldiges Sporenklirren im Kopfe, im 
Herzchen, auf dem Klavier, in den Worten, jelbit in 
der Stimme, deren natürliher Unifang Hinauf: 
geihraubt erihien. Sogar die blauen Augen jchienen 








57 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 58 


nad) einem fernber erlaufchten Sporengellirr auszu: 
Ipäben. Sie hatten nichts mehr von jener finnigen 
Verfenfung, mit welcher fie den beichränfkten Erben- 
ausfchnitt von Wartentron zu betrachten pflegten, 
jondern den weit auslangenden, jehnjüchtig bin: 
ſchweifenden Blid, vor welddem fich ein unüberjehbarer 
Horizont aufgethan hat. Diefer ungeheuere Gefichts: 
treis ftand jo anfchaulich vor ihr, daß fie fich den: 
jelben in einem umfangreihen Aquarell verbildlichte. 
Es ftellte eine weite Ebene dar, im Hintergrund hing 
am Himmelsjaum eine feuerrote Sonne, den Mittel: 
grund durdichnitten magere Balkenlinien eines Zieh: 
brunneng, im Vordergrund ftand ein Hirt mit Kleinem 
Hüthen und großem Schafpelz;, den Beilftod in der 
Hand, einen Wolfshund zu feinen Füßen. Es war 
eine ibeale Landichaft ohne alle lokalen Borltubien, 
an welcher Franzisfa mit Feuereifer in ihrem Ober: 
linger Stübcdhen arbeitete. Das Notengeftell war mit 
ungarischer Mufil vollgepfropft, auf dem Schreibtilch 


und im Bücherlaften wimmelte e8 von ungarijchen 
Büchern ober von Büchern über Ungarn. Das alles 
gab ihr eine angenehme Beihhäftigung bie zum Ein- 
Ihlafen und verfüßte auch noch ihre Träume. Dagegen 
übertam fie beim Erwachen gewöhnlich eine fummervolle 
Stimmung; benn zugleich mit der nüchternen Morgens» 
beleudtung jehlihen regelmäßig die Sorgen um ihre 
höchft zerrütteten Finanzen herein. Das Portemonnaie 
wies gänzlich veröbete Fächer auf, in der Sparbüdjle 
Eirete e8 auch nicht ein wenig, das Tajchengeld für 
den ganzen Monat verfhwand bereits in beflen erften 
Tagen, und — dies war das Entieglichite — es gab 
überdies no Schulden. Sn der Tiichlade lag nämlich 
die noch nicht bezahlte Rechnung des Mufilalien: 
bändlers über ſämtliche ungariſche Rhapſodien von 
Liſzt. Der ganze, vom Taufdukaten an zufammen- 
geſparte Barſchatz Franziskas war dem ungariſchen 
Buch- und Muſikalienhandel zu gute gekommen. 


(Schluß folgt.) 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 


Welternacht. 


Im Wetterflammen iſt der Tag verſunken, 
Der ſonnenfroh in goldnem Glanz gelacht, 
Vom Himmelsbrande ſprühn die letzten Funken 
Aus Wolkenſchutt, durch trübe, ſchwüle Nacht. 


Auf naſſen Fluren weißes Nebelwallen: 

Der letzte Atem jäh gelöſchter Glut; 

In regenſchwerem Laub ein Tropfenfallen 
Gleich müdem Weinen nach des Sturmes Wut. 


Der Nachtwind ſchläft; kein friſcher Hauch will tragen 
Erſehnte Kühlung durch das dunſt'ge Land. 

Ein Unkenpaar ſtimmt an die Totenklagen 

Um alle Schönheit, die im Dunkel ſchwand. — 


Zu ſolcher Stunde wacht geſtorbnes Sehnen, 
Aus Todesſchlummer ſchreckt es wild empor, 
Und fieberſchauernd pocht's in irrem Wähnen 
An einſt'gen Glückes feſtverſchloſſnes Thor. 


„Mach auf — mach auf — laß mich noch einmal ſtehen 
Im Sonnenglanz, im goldnen Tagesſchein — 

Laß Roſen blühn — und blaue Lüfte wehen — 

Laß mich noch einmal — einmal glücklich ſein!“ 


Umſonſt. — Dahin — in Wetternacht verſunken 
Der goldne Tag, der ſonnenfroh gelacht. 

Im Weidenſumpfe klagen dumpf die Unken, 
Ein müdes Weinen zittert durch die Nacht. 


Sauna Ehlen. 


ze Voifette vor ahtzehnhundert Dahren. 
Bon Adolf Kable. 
I. 


Vor acdtzehnhundert Sahren war bie Taunenhaftelte, 
emancipiertefte aller Göttinnen, die Mode, noch nicht viel in 
ber Welt herumgeweien; fie war noch nicht heimatlos und 
doch überall zu Haufe, am allerwenigfien hatte fie Luft, ihr 
zartes Füßchen in bie falten, jumpfigen Wälder Deutichlands 
zu fegen, bentiche Frauen zu puten und beutihe Ehemänner 
feufzen zu machen. Monfteur und Madame gingen in 
gleiher Traht — welches Glüd, daß dem heute nicht mehr 
fo ift: wie mander Mann würde für feine Frau, und wie 
mande Frau für ihren Mann gehalten werden! 

„Bebedung ift allen ein Mantel,“ jagt Tacitus, der faft 
einzige Schriftfteller, der uns menigften® eiwas von unferen 
Borfahren erzählt, „burd; eine Spange oder, wenn diefe fehlt, 
durch einen Dorn zufammengeheftet. Die Wohlhabendften 
unterfcheiden fi) durch ein Kleid, das nicht fo weit fie uns 
ichließt, wie bei ben Sarmaten und Parthern, fondern eng 
anfigt und die Glieder erkennen läßt. Sie tragen aud) die 
VBelze wilder Tiere; die dem Ufer am näcjften Wohnenden 
ohne Sorgfalt, die weiter im Innern ausgejuchter, da ihnen 
fein anderer Schnuud durdy Hanbel zu teil ward; die ab«- 
gezogenen Häute bes Wildes fprenkeln fie mit Tleden und 
Sellen anderer Tiere, die ber Ocean und ein unbefanntes 
Meer erzeugt. Auch haben die Frauen feine andere Tracht 
als die Männer, außer daß fie des Ktleides oberen Teil 
nicht in Armel ausdehnen; Arme, Schultern und Hals find 
bei ihnen unbebedt.“ 


Einfadh, Shmuds und kunſtlos müſſen demnach unſere 
deutſchen Damen damals ausgeſehen haben, und doch — 
ſollte man es glauben — wurden ſie um einen Teil ihrer 
Toilette von der ſtolzen, macht- und glanzvollen Römerin 
beneidet! Das lange rotgoldene Haar der deutſchen Frauen 


5) Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung. 60 


wurbe teuer in Nom erftanden und die daraus gefertigten 


Hanrtouren und Chignons zierten die Nöntcrin bei glänzenben 
Selten. Wie Supenal erzählt: 

„— Sie bauet Stodwert auf Stodwert 

Sich auf den Kopf und erhöht ihn durd) Bindebalten zum Turnte, * 

St Nom allein fühlte fih damals die Göttin Mode 
heimisch unter dem cwig Haren Himmel, beim Dufte ber 
Narziffen, beim Kaufen und Flüftern der Pinien und 
Cedern, dort Shmüdte fie mit der glühenden Stanıelie und 
berrichte frei und Tauniich über Nömerin und Römer, über 
Gold und Perlen, über die Schäge der ganzen Welt, die dag 
jtolze Rom gefammelt ıınd geraubt hat und ihr demütig zu 
Füßen legte. — Wad jett die ftolzefte Yürftin, die Hoch» 
gebietende Frau eines engliihen Großen in Indien, was 
die Iaunenhaftefte ruffiiche Knefin faum in der übermütigjten 
Herriherlaune von ihren Dienerinnen verlangen und mit 
al ihren Schägen faun bezahlen fann, da8 madjte die Frau 
eines römifchen Scnators, eines römifchen Ritters, der ganze 
Länder geplündert, Könige zu feinen Füßen gefehen und 
Hunderte von Sklaven und Sklavinnen aus ben unter: 
iohten Provinzen in feine Häufer nah Rom und Italien 
geichleppt Hatte, alle Tage des Jahres in ihren Hauie 
möglid. Die Toilettengegenftänbe heutiger Zeit, die fofts 
barften Stoffe des jetigen Lurus, fie wären faum beachtens- 
werte Dinge in den Augen der reichen, ftolzen Römerin 
geweien. Ein Blid ins alte Rom mit feiner Pracht, mit 
jeinen Paläften, ein Blid in das Boubdoir der Senatorsfrau 
mag ung von der Wirklichkeit des Gejagten überzeugen. 

E3 ift no früh am Morgen; die Sonne hat joeben 
erft ihre Bahn am mwolfenlofen Himmel begonnen. Hinter 
uns liegt das Kapitol in ftolger Majeftät auf dem tarpejifchen 
Felfen, ein riefiger Bau, der Verfammlungsort der Senatoren; 
dicht davor die Nojtra, die Rebnerbühne von Stein, mit 
den Schiffsichnäbeln erbeuteter Schiffe geziert, von ber herab 
fo manches Wort gelungen, daS die ganze Welt erzittern 
machte, nmiandje Weisheit gefprochen,- die noch nad) zwei 
Sahrtaujenden bewundert wird. Geradeaus von ber Roftra 
geht ber breite Weg an herrliden, mit Säulen geihmüdten 
Tenpeln vorbei bis zum rieſenhaften Koloſſeum. Rechts der 
palatinifche Hügel mit dem goldenen Haufe des Nero, einer 
ganzen Reihe der pradhtvollften Paläfte uud lints hart am 
Tempel des Kaftor und Pollur, deilen Eoftbare Marmorfäulen 
einst in Athen gejtanden und zur Akropolis hinaufgejhaut, 
ficht der Palaft der Nömerin, der wir heute einen DBefud 
zugedadht. Die Wege find noch öde, nur hin und wieder 
erfheinen Stlaven in braunen oder erdfarbenen wollenen 
Ktitteln von grobem Gewebe und tragen Wafler in Krügen 
oder faufen Schnee zur fünftlichen Bereitung des Eifes und 
zur Kühlung des Weines. Mädchen und rauen kommen 
mit Blumen und Früdten zum Markt, und der DBefiker 
eines Fühlen offenen Gewölbes an der Ede einer Neben- 
ftraße bat dasjelbe foeben geöffnet; weiche Polfter an ben 
Wänden besfelben laden ben von Staub und Hite Er⸗ 
ihöpften zur Nuhe ein, außgeipannte Leinwand fehügt den 
weiten Eingang vor den Sonnenftrahlen und auf dem 
Marmortiih im Gewölbe fteht das beliebte Gemiſch von 
Wein, Waffer und Honig in mannigfacd geformten Thonvajen 
ihon fertig bereitet. 

Noc einige Schritte, und wir ftehen vor dem Palaft 
unferer Nömerin Terentilla, der Zrau eines reichen Senator?. 
Eine herrlide Dede auf [hönen forinthiihen Säulen wölbt 
fih vor dem Eingange; wir treten in die Vorhalle, rechts 


und Iinfs führen Thüren zu Eleineren Gemächern, geradeaus 


fommten wir in den Hauptraum des ganzen Haufes, in da3 
Arium. Säulen aus ägyptifdiem Marmor tragen das Dad), 
weldhes in der Mitte offen ift. Gerade darunter ift ein 
großes Beden zum Auffangen ded Negens. Ein Streis bon 
prädtigen Marmorftatuen umgiebt dasfelbe, um deren 
Eodel die jeltenften Edylingpflanzen fih Tchniegen. Der 
Sußboden befteht aus dem feiniten Mofait und der dunfel- 
braune Hintergrund der Wände läßt die auf denjelben be- 
findlichen herrlichen Gemälde in den fchönften Farben er— 
Iheinen. Dem Gingang gegenüber tragen vier 1ächtige 
Marmorjänlen dag Gebälf; wir [chlagen den herunterwallenden 
purpurnen Vorhang zurück und find im zweiten Hauptgemad), 
ähnlich dem vorigen, nur pradjtvoller. Das Licht fällt nicht 
wie im erften von oben hinein, jondern fommt von der offenen, 
dem Eingange gegenüberliegenden Seite, deren Säulenbogen 
einen zauberhaften Blif in den üppig Ichönen Garten ge= 
währen. Die TIhüren recht? führen in die Gemächer des 
Hausherrn, die linf® zur Gebicterin. Wir treten ein in ihr 
Ankleidezimner und ruhen aus von dem weiter Wege auf 
ben jchwellenden Bolftern der Eoftbaren griedhiihen Sejjel. 

Ein Schwarm von Sklaven erwartet fon feit Stunden 
die Herrin in dem geräumigen Gemadj; leije und ängſtlich 
flüftern fie in verjchiedenen Gruppen, fein Kichern wird ges 
hört, kein heiterer Blick iſt bei ihnen möglich: in Furcht 


und Zittern erwarten ſie die Gebieterin, deren Lanne frei 


ſchalten kann über Leben und Tod. Endlich erſcheint die 
gefürchtete, die ſtolze, reiche und mächtige Römerin. Toch — 
wo iſt die majeſtätiſche Geſtalt, von der wir geträumt, wo 
die dunklen Augenbrauen, unter denen das dunkle Auge 
feurig brennt, wo die Korallenlippen, durch die das blendende 
Weiß der tadelloſen Zähne ſchimmert? Ein Geſpenſt 
glauben wir zu ſehen, über das uns Lucian folgende Aus— 
kunft giebt: 

„Sollte jemand dieſe Frauen in dem Augenblicke ſehen 
können, wo ſie ſich endlich aus ihrem Morgenſchlaf er: 
heben, er würde ſicher glauben, er begegne einer Meerkatze 
oder einem Pavian, mit welchem beim erſten Ausgang am 
Morgen zuſammenzutreffen man im gemeinen Leben für 
eine ſehr ſchlechte Vorbedeutung zu halten pflegt. Ein Teig 
von Brot und Eſelsmilch iſt der ſtolzen Schönheit geſtern 
abend vor dem Schlafengehen auf das Geſicht gepackt, um 
die Geſichtsfarbe weiß zu erhalten und die Runzeln zu ver— 
treiben; die trockene, rußig gewordene Kruſte bedeckt jetzt 
die Züge, nur die Augen blicken daraus hervor; wer kann 
daher dem Dichter verargen, wenn er dabei an eine Meer⸗ 
katze denkt, wer dem Martial ſein Epigramm verübeln: 
„Galla, Dich ſetzt Dein Putztiſch aus hundert Lügen zuſammen; 

Während in Rom Du lebſt, rötet Dein Haar ſich am Rhein. 
Wie Dein ſeidenes Kleid, ſo hebſt Du am Abend den Zahn auf 
Und zwei Drittel von Dir liegen in Schachteln verpackt. 
Wangen und Augenbrauen, womit Du Erhörung uns zuwinkſt, 

Malte des Mädchens Kunſt, die Dich am Morgen geſchmückt. 
Darum kann auch kein Mann Dir: ich liebe Dich! ſagen. 
Was er liebt, biſt nicht Du! Was Du biſt — liebt kein Mann!“ 

Doch — mag die herbe Täuſchung uns nicht hindern, 
unſere Neugier zu befriedigen, halten wir mutig aus und 
betrachten wir ungeſehen den Vorgang der Toilette. 

Terentilla winkt zuerſt der Sklavin, die das Amt der 
Thürſteherin vor ihrem Ankleidezimmer hat und erteilt ihr 
Befehle, welche Kaufleute, Wahrſager, Unterhändlerinnen und 
Briefträgerinnen jetzt allein Zutritt erhalten können. Für 





61 Beiblatt der Deutihen Noman-Zeitung. 62 


jeden reund, jeden Bekannten ift fie frank; fie gebentt der 
Worte des Dichters: 
„Alles dient zur Schönheit. Doch ijt’S fein reizender Anblid, 
Das entitehen zu feh’n, was nur entitanden gefällt.” 

Endlid nimmt fie Pla in dem zahlreihen, ängftlid 
harrenden Streife ihrer Zofen und Schmucdbereiterinnen; 
jede derjelben bat ihr eigenes Amt, jede beftrebt fih, burd 
pünftlihe Beobadtung ihrer Pflichten und die gewanbtefte 
Behänbdigfeit, ihrer Gebieterin wenn audy nur einen hulbd- 
reihen Blid abzugewinnen. Tas ganze Heer der Sklapinnen 
ift, der gehörigen Ordnung willen, in Kleinere Abteilungen 
geteilt. Sie treten jegt gleihfam fompagnieweife auf. Ein 
Mädchen naht fih der Gebieterin mit filbernem Beden, in 
dem fi) Taue Ejelgmilch befindet; zwei andere nehmen zarte 
Shwämme von Nhodus, feuchten die Krufte des Gefichtes, 
bis fie fih ILöft und entfernen dieſelbe behutſam. Eine 
andere fommt mit lauem Waffer, in weldhes Schönheits- 
effenzen getröpfelt find und wälht damit und mit wohl: 
riehenden Seifen das Gefiht der Gebieterin. Segt kommt 
die Schminferin an die Neihe. Das reingewafchene unb 
mit weißen Tüchhern getrodnete Antlig wird mit Not und 
Weiß bemalt, doc darf die Sklavin diefe Operation nicht 
eher vornehmen, bevor fie einen metallenen Epiegel ange: 
baucht und Diefen der Gebieterin zum Beriechen dargeboten 
hat. Daran erkennt diefe, ob da8 Mädchen reinen Speichel 
im Munde führt, ob fie die borgefchriebenen Paftillen ſchon 
gefaut hat, benn mit Speihel muß die Schminke erft an- 
gerieben werden. Saum hat dic Sklavin ihre Arbeit vollendet, 
fo tritt fhon eine andere heran, in der linfen Hand eine 
Mujchel mit fein gepulvertem, eigens bereitetem Bleiglanz, 
in der rechten einen PBinfel. Dur ihre Kunft mwölben fid) 
zwei jchöne Augenbrauen, bie an ber Najenwurzel eng zu= 
fammenjhließen müffen, um die Gebieterin ber jcdhön- 
äugigen Yuno ähnlid) werden zu lafjen. Die Zahnpugerin 
folgt; fie bringt in Eleiner golbener Schale weißgelbliche 
Maftirfömer, bie die Herrin faut; in einer anderen 
pulverifierten Bimftein, der durh Beimifhung fehr fein 
geriebeiien Marmor in allerlei Yarben jpielt; aus Fünftlid) 
geformter Kapfel nimmt fie die bereits geputten Zähne aus 
Elfenbein, welche mit Goldbrabt im Munde befeftigt werben. 
Wahäfugeln in ben Stinnbaden, zur Hebung der einge: 
fallenen Wangen, find bei Terentilla no nicht nötig, fie 
befindet fi) nody in den beiten Sahren. 

Jeßt begiebt Terentilla fidy in den Kreis ihrer Haar: 
Ihmüderinnen, die heute alle ihre Verſchönerungskünſte 
aufbieten müffen, um die geftrenge Herrin zufrieden zu 
ftelen. Bergeblid) war bisher verfucht, durd) Fünftliche 
Mittel ihr Haar fhön goldgelb zu färben; das Cchmwarzbraun 
war zwar liter, aber nidt Hodgelb, nicht Yichtrot 
geworden. Ehon war fie entichloffen gemwefen, den, von 
vielen ihrer Freundinnen beliebten Schritt zu Ihun, das 
eigene Haar abzujchneiden und eine blonde, von deutlichen 
grauen genommene Perüde zu fragen, allein der Betrug 
war ihr wegen der häufigen Bäder zu Yäftig. Jetzt wird 
die Blafe, in welche die Haare mit den Eauftifchen neuen 
Mitteln abends zuvor gepadt waren, abgenommen und: 
„Ei wie rot!” ruft die ganze Schar von Mädchen entzüdt aus, 
als wäre ein Signal dazu gegeben; ZTerentilla, von dem 
einftunmigen Erftaunen erfreut, glaubt felbft im Spiegel bie 
Beftätigung bdeffen zu fehen, was fie fo eifrig zu jehen 
wänjcht; fie lächelt gnädig und nimmt auf dem Seflel 
Pag, um von vier Dienerinnen auf einmal den Eoftbaren 


Bau ihres Haarputes vollenden zu laffen. Die eine crs 
hist dag DBrenneifen im filbernen Nichbeden und fräufelt 
die Haare an ber Stirn unb den Schläfen; eine andere 
beiprigt mit ftaunenswerter Fertigkeit die überall aufgelöften 
und geloderten Haare mit Ekoftbarem Nardenöle und mwohl- 
riehenden Efjenzen. Die britte tritt heran und muß bie 
vorher eingefalbten und wohldurdfämmten Haare in zierliche 
Flechten von hinten zufammenlegen, bann in eine Art von 
Wulft über dem Scheitel fo gefchict auftürmen, baß ein 
Haarput daraus entiteht, der in fich felbit durch die mannig«- 
faltigften Verzierungen verfchieden tft. Sie ift jet damit 
fertig und nimmt aus einem Schmudfäftchen von Elfenbein 
die von der Gebieterin unter den vielen gewählte Nadel 
und fticht Diefelbe zwiihen bie zufammengeflochtenen und 
funftmäßig übereinander gewidelten Zöpfe, wie Martial jagt: 


„Daß die gejalbien Haare das feidne Gewand nicht befleden, 
Hält den gewundenen Zopf jichrer die Nadel Dir feit.” 


(Säluß folgt.) 


Anverzagt. 
Ob auch übers dunkle Land 
Schwarz die Wolkennacht ſich breite, 
Iſt zum Himmel doch gewandt 
Eine golo'ne Sonnenſeite. 


Wenn auch hart ein Schmerz Dich drückt, 
Unverzagt durchs Leben ſchreite, 

Auch das ſchwerſte Leiden ſchmückt 

Eine gold'ne Sonnenſeite. 


Auguſt Krauſe. 


Die Amerikanerin in England. 
1. 


An To ausgebehnter Weife man in England aud) jeit 
Sahren ben gänzlid; veränderten Ansprüchen und Ziclen des 
weiblichen Gefchlehts Necdnung getragen hat, fo irren wir 
hier zu Lande, wo bie Srauenbewegung einen jpäteren Anfang 
nahm und Tangjamere Fortichritte machte, dennoch in der 
Annahme, e8 jei dort bereit ba Mögliche erreicht. Freilich 
hört man fortwährend von neuen Univerfitäten, Golleged 
und Slaffen, die fich dort den Schon beftehenden Zehranftalten 
für Frauen anreihen und aud) in unabhängigen Verhältnifien, 
in denen man bie geiftige Ausbildung nicht etwa als Sriftenz- 
mittel betrachtet und verwertet, thut fih ber neuerwacte 
Drang ber rauen nad) Vollentwidelung aller Sräfte deutlich 
fund. Das großartige Syften ber Wohlthätigfeit, da3 be: 
fanntlich fomwohl in London wie auf dem Lande jede Art 
ber Bebürftigen und Notleidenden umfaßt, ift ein weiterer 
Ausflug diefes Dranges. Die Energie unb der praftifche 
Sinn der englifchen Frauen, bie felbftlofe Hingebung vieler 
einzelnen unter ihnen wirken mit ben fegensreichften Folgen 
bei biejen Liebeswerfen und e3 beteiligen fih an benjelben 
neben den Mitgliedern bes Ktönigähaufes faft alle engliſchen 
Damen, eine sede in ihrer Weife, möge übrigens ihre foclale 
und politifhe Nichtung fein welche fie twolle. 

Bekannt ift ferner, daß viele englifche Frauen ber Setzt: 








63 | Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung. 64 


zeit e8 nicht bei dem Streben bewenden laſſen, das Wiſſen, 
die Rechte und die lInabhängigkeit des Viannes zu erlangen, 
feine Yeihäftigung und feinen Beruf zu ermwählen, fonbern 
daß fie aud) feine Gewohnheiten, feine Sprache, ja felbft 
jeine Kleidung nadjahmen und die früher beobadjteten Yormen, 
weiblichen Sitten und Gepflogenheiten beijeite legen. Von 
feiten des in feiner Dafeinsberehtigung , feinen Charatter- 
eigenschaften und jeinen Eriftenzmitteln nad allen Richtungen 
bin hartbebrängten Mannes erfcheinen jeit lange Ihon niehr 
oder weniger ernft gemeinte Nufe der Notwehr, pathetifche 
Klagen über die gefchehenen Übergriffe und Beihmwörungen 
an das Ichöne Geihleht, zu weibliden Thun und Sein 
zurückzukehren. 

Männliche Beſucher beſchreiben die neugegründeten weib— 
lichen Klubs in London, die Zufluchtsorte für die Freiheits— 
prediger der Frauenbewegung und unter dieſen beiſpielsweiſe 
den luxuriös eingerichteten, mit Rauchzimmer und ſonſtigen 
Bequemlichkeiten verſehenen Pionierklub in Bruton Street. 
Sie ſchildern ihre Verwunderung, dort viele hübſche junge 
Mädchen, ja, was noch mehr ihr Staunen erregt habe, 
auch verheiratete und zwar glücklich verheiratete Fmuen ge⸗ 
funden zu haben und bemerken mit gutmütigem Spott, daß 
ſich manche dieſer Mitglieder allerdings noch herablaſſen, 
mit den Männern — natürlich auf dem Fuß der Gleichheit 
— zu verkehren, daß ihre Führerin indeſſen ſtrengeren Regeln 
folgt und beiſpielsweiſe unlängſt eins der beſten Werke 
Robert Brownings aus der Klubbibliothek verbannte, auf 
Grund ſeines allzukühnen Titels „Männer und Frauen“, 
da ihre eigene Deviſe unwandelbar laute „Frauen und 
Männer“. 

Könnte es ſomit freilich ſcheinen, als ſei den engliſchen 
Frauen kaum noch eine Grenze ihrer Freiheit geſteckt — es 
können gleichwohl alle hier erreichten Siege ſich nicht entfernt 
mit denen meſſen, deren Früchte die Amerikanerinnen ſeit 
lange ſchon in abſoluter Ruhe genießen. In Amerika, wo 
alles einen koloſſaleren Maßſtab hat als in Europa — die 
Berge, die Seen, die Flüſſe und Waſſerfälle, die ungeheuren 
Privatvermögen, der Luxus, die Rieſenhotels, die Unfälle 
— wurden auch die dort weit ältern Reformverſuche des 
weiblichen Geſchlechts gleich ins Große und Weite getragen. 
Die damit zuſammenhängenden Excentricitäten nahmen einen 
bizarreren Charakter an als in andern Ländern und alles 
in England Erreichte, ſelbſt die verwegenſten Verſuche der 
Britinnen verſinken in Kleinlichkeit und Nichts gegenüber 
den Erfolgen ihrer transatlantiſchen Schweſtern. In England 
glaubte man beiſpielsweiſe neuerdings in Bezug auf die 
Gewohnheit des Rauchens große Fortſchritte gemacht zu 
haben. Früher blieb dies faſt ausſchließlich den Männern 
überlaſſen und pflegte daheim ſelbſt für dieſe ſtreng in die 
Grenzen des entlegenen Rauchzimmers gebannt zu werden. 
Jetzt hat man in vielen, ſogar in einigen der früher ſtrengſten 
Häuſer nicht nur dieſe Regel erheblich gelockert, es leiſten 
manche der Damen den Herren bis in ſpäte Nachtſtunden 
ſogar thätige Geſellſchaft bei dieſem Zeitvertreib. Gehört 
doch ſelbſt eine gewiſſe Anzahl von Cigarren- und Cigaretten⸗ 
kaſten und-Taſchen bereits zu dem Trouſſeau einer modernen 
Braut. Aber was will das bedeuten gegen die Freiheit, 
die in dieſer Beziehung in Amerika herrſcht! Als jüngſt in 
England Lady Colin Campbell, eine ſchöne, geiſtreiche Frau, 
für ihre Mitſchweſtern das unbeſtrittene Recht des Rauchens 
in Anſpruch nahm und behauptete, das weibliche Geſchlecht, 
dem in ſo hohem Maße die Mühen und Beſchwerden des 





täglichen Lebens zufallen, ſolle unbedingt auch teilhaben an 
der Beruhigung und Erholung, die ſich die Männer durch 
dieſen Sorgenbrecher, dieſe Pangcee gegen alle Übel verſchaffen, 
da fand ſich alsbald aus weiblicher Feder eine kräftige Ent⸗ 
gegnung, welche die Folgen einer ſolchen Geſchmacksverirrung 
geißelte und die cigarettenrauchende Zofe beim Friſieren der 
Herrin, die am Herde mit ihrer Pfeife hantierende Köchin 
in draſtiſcher Weiſe vorführte. Die Amerikanerin dagegen 
hält ſich bei dergleichen Vorreden nicht mehr auf, bei ihr 
bedarf es des Kampfes um dieſes Vorrecht nicht mehr. Bei 
einer Sammlung für notleidende Grubenarbeiter ſchickte ein 
amerikaniſches Mädchen vor kurzem drei Schilling mit dem 
Zuſatz: „Erſparnis durch achttägiges Enthalten vom 
Rauchen.“ Ja es fehlt dieſem Rechte ſelbſt die gerichtliche 
Beſtätigung nicht mehr; als unlängſt in Louisville drei 
Amerikanerinnen wegen Rauchens auf öffentlicher Straße 
vor dem Richter erſchienen, entſchied dieſer, daß dieſe Ge— 
wohnheit, möge ſie auch an einigen Orten noch von der 
öffentlichen Meinung beanſtandet werden, eine Geſetzwidrigkeit 
jedenfalls nicht enthalte. In ähnlicher Weiſe wird jeder 
andere hier gemachte Fortſchritt der Frauen drüben an 
Gründlichkeit und Vollſtändigkeit weit übertroffen. 

Die ganze Erziehung der Amerikanerin fördert ihre 
Eigenart und dient dazu, einen entſchloſſenen, faſt männlichen 
Sinn und eine Kraft und Schärfe des Urteils auszubilden, 
die nichts zu wünſchen übrig laſſen. In ihren Sitten und 
Gewohnheiten, ihrer Sprache und ihrem ganzen Weſen ver⸗ 
ſteht ſie in ſehr entſchiedener Weiſe das Recht völliger Frei—⸗ 
heit und Unabhängigkeit in Anſpruch zu nehmen. Aus dem 
allen entwickelt ſich ein höchſt eigenartiges Weſen, das dem 
iungen Engländer eine neue, ſehr reizvolle Offenbarung war, 
als es vor einigen Jahren für die vornehme männliche 
Jugend Englands Mode wurde, zum Zweck des Vergnügens 
und der Belehrung Reiſen nach Amerika zu unternehmen. 
Der Ideenreichtum der Amerikanerin, ihre Art und Weiſe, 
die ganze pikante Verſchiedenheit, die zwiſchen ihr und ſeinen 
Landsmänninnen beſtand, entzückte den jungen Mann. War 
doch die Engländerin der vornehmen Stände bis vor ver—⸗ 
verhältnismäßig kurzer Zeit überhaupt noch in einer gewiſſen 
Lethargie und beſchaulichen, nutzloſen Unthätigkeit befangen, 
die ſie zu einem ziemlich unnützen Mitgliede der Geſellſchaft 
machte. Von Kindheit auf bewacht, behütet und bevormundet, 
an großen Luxus gewöhnt, aber an geiſtiger Entfaltung 
und Kraftentwickelung gehindert und beſchränkt, war ſie eher 
ein koſtbares, wenngleich oft ſehr anmutiges Spielzeug für 
den Mann, als ſeine intelligente, hilfreiche Gefährtin. Sie 
war, wie ein ſcharfſichtiger Beobachter beider Nationen ſich 
ausdrückte, monoton, einfarbig im Weſen wie im Leben, in 
Anſichten und Charakter. Der Mann aber bedarf der Ab— 
wechſelung, er würde ſelbſt einer Schmetterlingsnatur den 
Vorzug vor einem Weſen geben, das ſo gänzlich der In—⸗ 
dividualität ermangelt. Und wäre in einem ſolchen ſelbſt 
das Rohmaterial zu einer entzückenden Frau vorhanden, der 
junge Brite fühlt ſich zu dem erforderlichen Erziehungswerke 
weder fähig noch berufen, weit lieber wählt er das Fertige 
und ihm wirklich Zuſagende. In der Amerikanerin nun fand 
er, was er wünſchte, alle Vorzüge der Britinnen und viele 
andere, die jenen fehlten. Intelligenz, Ideen, Lebhaftigkeit, 
Ausbildung und Wiſſen von mehr als gleicher Höhe mit 
dem ſeinen, dazu Friſche und Temperament, häufig glänzende 
Eigenſchaften, ſtets aber unbedingt eine eigene Individualität. 
Das war ihm völlig neu und bezaubernd, kein Wunder, 








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65 Beiblatt der Deutjchen Roman-Zeitung. 66 


daß er diefe anziehenden Welen feinen Landsmänninnen 
borzog. EB wurde Mobe unter der vornehmen Jugend 
Englands, fich die Lebensgefährtin von ienfelt bes Dceanz 
zu holen. Die erften Fälle biefer Art waren ein Ereignis, 
faft eine foctale Revolution. Bet einer diefer Verbindungen, 
bon der man unerwünichte verwanbtichaftliche Verwidelungen 
für das englifhe und deutiche Königshaus voranzfehen wollte, 
wurbe, fo erzählt man, mit großem Fleiß zuvor bie Anficht 
und Haltung ber bezüglidhen Herrfcherfamilien erkundet; bie 
Trage gelangte fucceffive an die hauptlächlichiten Mitglieder 
derjelben und endlich an Bismard, ber kurz und dharakteriftiich 
entſchied, es ſei abſolut nleihgältig, wen der Betrefiendbe 
heirate!' In der Folge dachte allerdingd niemand mehr 
daran, dergleichen Fragen aufzumwerfen, man gewöhnte fi) an 
ben Stand ber Dinge Die britifhe Mutter freilih, jo 
fpottete man, bie ihre Tochter fürber auf dem Heiratsmarlte 
nit mehr anbringen fonnte, Magte bitter über bie einges 
tretene Gejchmadsvertrrung und über biefe Wilberer in bem 
beimifchen Nevier, die, wie fie behauptete, nicht durdy bie 
Macht ihrer Reize fiegten, fondern vielmehr durd) ihre Ränfe 
und bie berecinenden Künfte, mit denen fie ben vornehmen 
engliihen Gemahl zu ködern veritanden. 
(Schluß folgt.) 


Der wilde Hofendufd). 


Sch hab’ im Wald einen Lieblingsfled, 
Ummwudert von Dornen und Ranfen, 
Die Falter irren durdy mein Berftecd 
Wie ſtille Sehnſuchtsgedanken. 


Und auf dem ſonnigen Grunde ſteht 

Ein Dornſtrauch, blütenbehangen, 

Sobald der Wind durch die Stoppeln weht, 
Treibt hin mich ein ruhlos Verlangen. 


Stumm lehne mein Haupt ich an einen Baum, 
— Hoch über mir krächzen die Raben — 

Hier hab' ich einſt einen lieben Traum 

Mit heißen Thränen begraben! — — 


Gertrud Friepel. 


Hene Epik. 
Belprocden von Karl Stord. 


Sept, in biejen ſchönen Sommertagen, lieſt es ſich gut 
draußen im Freien, ſelbſt wenn man nicht zu zweien iſt, 
wie es der darin ſachverſtändige Sänger vom Oberrhein für 
feinen „Trompeter“ verlangte So füllte ich denn beide 
Nodihöße mit Büchern und z0g hinaus an ein ftilles Wald» 
plägchen. — Aber die Vögel mögen nody jo Iuflig fingen, 
die Bäume nod fo traulich raufchen, bie Blätter der Bücher 
rafheln nur um fo bürrer, wenn fein frifches Leben darin 
ift. Und dag pulfiert nit allzu reich in den mir vorliegen» 
ben eptichen Gedichten. 

Baum, Der Geifierfeder (isriebenau » Berlin bei G. 
Bohres) und Deuter Glaube (anonym) (Berlin, Guftav 
Schabe) intereffieren nur, infofern fie ein Zeichen dafür find, 


Romansfeltung 1896. 





daß unfere Zeit des öden Materialiamus gründlich müde 
ift und fi nach einem Lande jehnt, wo auch die Seele das 
heim ift. 

Audh Anna Bauer Dichtung Berfgüttel (Dresden, 
€. Pierfon) kann, felbft wenn man von der unwahrideins 
fihen Handlung abfieht, tiefere Teilnahme nicht erweden. 

Dagegen ift Dirk Alutm, epiiches Gedicht von 9. Garmer 
(Pleudongm) (Közlin, Alfred Hofmann) bag Werk eines 
großen Talentes, dag, wenn e8 fich energiicher zufammens 
nimmt, den Stoff mehr ausreifen läßt, noch Befleres bieten 
wird. Aber auch die vorliegende Dichtung tft aller Achtung 
wert. Ein ergreifender, piychologiich Scharf zugeipigter Vor- 
gang ift in Teidenfchaftlicher, nur bisweilen etwas gewalt- 
famer Sprache geftaltet. Die tiefempfundenen Iyriichen Ges 
dichte find nicht — wie fo häufig in Epen — eine überflüffige 
Zugabe, fondern eng mit dem Stoff verwadfen und ben 
Gang ber Handlung förbernd. Alles in allem ein Buch, bas 
auf feinen feinen Eindrucd verfehlen wirb. 

Die beiden Dichtungen 

Seupaß, ein Schweizer Treiheitslied von Guftad 
Ad. Erdmann (Wittenberg, NR. Herrofe) und 

Green, ein Sang auß ben reiheitäfriegen von 
Theodor Herold (Münfter i.W., Heinrih Schöningh) 
fordern in mancher Hinfiht zum Vergleich heraus. Beide 
haben die Freiheitsfämpfe eines Volles zum Gegenitand. 
Uber während Herold uns bie Liebesgefhichte eines unter 
den Lütowern fämpfenden Grafenfohnes zu einem bürger- 
liden Mädchen erzählt, die weltbewegenden Ereignifje nur 
im Hintergrund jchauen läßt, madt Erbmann gerabe diefe 
zum Gegenftand feiner Dichtung. Und doch hat Herold ein 
befjeres Bild jener Tage gegeben — von denen Th. Körner 
an feinen Vater jchreiben konnte: „Gott, was tft dag für 
eine große, herrliche Zeit. Alles geht mit fo freiem, ftolgem 
Mute dem großen Kampfe fürd Vaterland entgegen, alles 
brängt fi, zuerft für bie gute Sache bluten zu können. 68 
ift nur ein Wille, nur ein Wunfch in ber ganzen Nation, 
und da abgenugte: Sieg oder Tod! befommt neue, heilige 
Bedeutung (22. März 1813)* — als der Dichter des Sempad;- 
liedes. Solche Vorgänge, zumal blutige Schlachten, verjagen 
leihht unter der Hand des Kunftdichters, fie gelingen faft 
nur dem Volksepiker. Vom Kunſtdichter verlangen wir 
Menſchen, Individuen, und er wird, wenn er große Vor⸗ 
gänge ſchildern will, dieſe in einzelnen Perſonen uns mit⸗ 
erleben laſſen. Bei Erdmann iſt alles, was nicht zur eigent⸗ 
lichen Schilderung des Schweizeraufſtandes gehört, in der 
nebenſächlichen Epiſode ſtecken geblieben, mit dem Hauptſtoff 
nicht tiefer in Verbindung gebracht. Die einzige Ausnahme 
machen die Winkelried betreffenden Abſchnitte. Aber wie 
vollſtändig aus dem Stoff fallend iſt die einen breiten Raum 
einnehmende Liebesgeſchichte des Falkners Vitus zur ſchönen 
Röſi. Jener wird der heimiſchen Sache untreu, hält zu 
Habsburg und verſtößt auch die Schweizermaid, die darüber 
wahnſinnig wird. In öſterreichiſchem Dienſte wird er auf 
einer Kundſchaft erſchlagen. Hätte er wenigſtens beim Feinde 
Ehre errungen und dann im Kampfe gegen das Vaterland 
den Lohn für ſeinen Verrat gefunden, ſo wäre von einer 
gewiſſen poetiſchen Gerechtigkeit die Rede, das Schickſal des 
einzelnen könnte mit dem Ganzen in Zuſammenhang gebracht 
werden, der Verfaſſer hätte überdies Gelegenheit zur Schilde⸗ 
rung des Seelenkonflikts des Verräters gefunden. So werden 
auch ſonſt manche Fäden angeknüpft, die nachher nicht weiter⸗ 
geſponnen werden. Schade, daß der Stoff nicht beſſer durch⸗ 


IV. 6 


EWR — 





67 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 68 


gearbeitet tft, die Sprache ift fehr [hön und Eräftig und dem 


Berfafier eignet, troß aller nötig gemwefenen Ausftellungen, 
eine nicht unbedeutende Dichterfraft. 

Herold® Epos ijt viel anipruchslofer. Die Liebed- 
geihichte erwedt die Teilnahme des LVeferß, die verichiebenen 
Stimmungen der Zeit fpiegeln fi in den einzelnen Berföns 
lichkeiten. Manche Tiebgewordene Geitalt auß der Schar ber 
Freiheitsfämpfer, vor allem bie ftrahlende Körners, treten 
aus dem Hintergrund hervor — kurz, da8 Ganze ift eine 
genußreiche Lektüre, obwohl das Bud höhere Bedeutung 
nicht beanfpruchen darf. Das beigegebene Bild ift bödhft 
überflüffig und durchaus feine Zierde des fonft gut außs 
geitatteten Buches. 


Vexſchiedenes. 


Von Pilktor von Kohlenegg. 
J. 


Müde warſt Du ach vom weiten Gehen, 
Schleppend war Dein Schritt und trüb Dein Auge, 
Leer Dein ſtarrer Blick in bleichem Antlitz. 

Liebend neigt' ich mich zu Dir hinüber, 

Wollt' Dich ſorglich ſtützen, treulich führen 

Ohn' Ermatten, ſo von Herzen gerne. 

Leiſe nahm ich Deine kalten Hände, 

Wärmte ſie an meinen heißen Lippen — 

Müde ſchritteſt Du an meiner Seite, 

Müde ach vom einfam=wetten Gehen; 

Langiam wandeft Du die blafjen Hände 

Aus dem inn’gen Griffe meiner Finger, 

Sahft mir ftarr und mübe in die Augen, 

Hießeft mich mit leifer Stimme gehen — 

Zögernd ging id), langjam, weiter, weiter... . 
Aus der Ferne jah ich dann zurüd... 

Einfam fchleppteft Du die müben Glieder, 

Und Dein Antlig war jo bleidh in Totenftarrheit . . 


II. 


Ein Adler hatte auß Laune fidh 
Zur Tiefe hinabgelafien; 

Da lam etwas geflogen die Quer 
Als wollt’3 den Adler faflen. 

Der ftugte und hadte jo nebenher 
Nach dem raufhenden Wunbdertier, 
Und als er fich’8 genauer beiah, 
War's ein Sinäuel Zeitungspapier. 


Il. 


E3 ruht eine Saite in meiner Bruft, 
Hab’ früher nicht? von ihr gemußt, 
&3 ift eine heimliche Saite; 

Dort wo das Herz am tiefften ift, 
Tönt leife fie zu mancher Fyrift, 
Sang lei3, ald wär’3 im Leide. 

Sie Elinget in den Werfeltag, 

Ich weiß nicht, wad daß werden mag, 
Möcht' mich zur Freude wenden; 
Doch immer ſüßer wird der Klang 
Und weckt ein Sehnen herzensbang 
Nach weichen Frauenhänden. 





IV. 


Du darfſt nicht immer in Dich greifen, 

Manche Gedanken wollen reifen 

Nach eignem Geſetze; aus eigner Macht 

Sich heben, verbinden im Seelenſchacht. 

Das giebt wohl für Zeiten ein unſchlüſſig Wollen, 
Der Thörichte wird Deiner „Weichlichkeit“ grollen; 
Doch heimlich, beglückend in tiefſter Bruſt, 

Da webt und glüht die Werdeluſt. 

Und geht Dir auch Zeit und Geld verloren — 
Ein tiefer Gedanke wird Dir geboren. 


Vermiſchtes. 


Die „Alldeutſchen Blätter“ ſchreiben unter dem 
Titel „Noch ein engliſches Urteil über das deutſche Heer“ 
folgendes. 

Zur Erheiterung unſerer Leſer teilen wir ihnen heute 
einige Auszüge aus bem Buche: „Kriegsabenteuer eines 
Telbarztes" mit, das ein Engländer, Dr. Ryan, ber als 
freiwilliger Arzt einen Teil des Tseldzuges von 1870/71 
auf franzöfiiher Seite mitgemacht hat, kürzlich veröffentlichte. 
E8 ift gar ergößlicy zu fehen, daß ihm die beutfche Kriegs: 
führung und da8 beutfche Heer jehr gegen feinen Willen 
dod) Bewunderung abgerungen haben; dieö offen zugugeftehen, 
fann Dr. Ryan fi jedbod nicht überwinden, und fo zieht 
er e8 denn vor, feine fhiefen Anfichten und Übertreibungen 
auf den Markt zu bringen, um ben verhaßten Deutichen, 
die feine lieben Franzojen jo gründlich zu fchlagen wagten, 
doch wenigftens eins anzuhängen. 

Nachdem er die Kataftrophe von Sedan gefchildert, fi) 
lebhaft über die mangelhafte Ausrüftung der franzöftichen 
Solbaten, über bie Unfähigkeit ihrer Offiziere und die Nicht- 
adhtung, der fie von feiten ihrer Mannfchaften ausgefeßt 
geweſen jeien, außgeiprochen hat, fchreibt er über die deutjchen 
Soldaten folgendes: 

„Mein Eindrud von ihnen ift der: Man bekümmere fich 
nit um einen deutfhen Soldaten, man beläftige ihn nicht, 
man trete ihm nicht in den Weg, bejonder8 dann nicht, wenn 
er die Befehle feiner Vorgefegten ausführt, und er wird fo 
harmlos und fo leicht zu befriedigen fein wie ein Kind. 
Uber wenn man amnbdrerjeits ji in feine Angelegenheiten 
mifcht und feine Wut durch irgend etwas reizt, danı wird 
feine Rache nicht weniger fchnell als fchredlich fein. Auf 
dem Schlachtfeld gebraudt er, wenn er erft erregt ift, fein 
Bajonett und fein Gewehr wie ein Zulu feinen Affegai ober 
ein Indianer feinen Tomahawfl. Seine Manteren find im 
beiten Fall ungeihladt, um nicht zu jagen wiberwärtig und 
beim Efjen efelhaft. Er ift ein großer Effer, bem nicht viel 
an der Qualität dejien liegt, was er verichlingt, fo lange 
die Quantität ausreichend tft, und obgleich er ein Quantum 
Bier trinkt, da8 jeden andern Europäer hoffnungslos be: 
raufchen würde, fit er fjelten betrunfen. Nichts reizt ihn jo 
fehr als Hunger und Durft, worin er den häßlidhiten Gegen- 
faß zu dem franzöfifhen Soldaten bildet, der immer ge- 
duldig und heiter ift unter jolden Entbehrungen. Wenn 
der deutfhe Soldat in diefer Weile phnfiih litt (mas 
übrigen felten vorfam, bei der bewundernswerten Ein 
richtung der deutfchen Heereßverpflegung) pflegte er zu rauben 
und zu plündern, wa8 vor ihn fan, um Efjen oder Bier zu 








69 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 70 


befommen. Für jolhe Ausschreitungen wurde er, wenn er 
dabei ertappt wurbe, unbarmberzig geitraft. Und der deutiche 
Soldat unterwirft fih bebingungslos dDiefer Behandlung 
feitens feiner Offiziere, als ob er ein Hund fei, fcheinbar 
ohne fie nachzutragen. Sch Habe Offiziere und ihre Unter- 
gebenen auf den Duais von Orleans ihre Mannichaften 
wiederholt fchlagen jehen, und bei der Barade die Refruten 
mit dem flahen Säbel in gerade Reihen richten fehen — 
ein niederträchtiges Verfahren, dem fi weder ein englifcher 
nody ein franzöfiiher Süngling unterwerfen würde.“ 

Die Meinung des VBerfaffers von den beutichen Offizieren 
ift in vieler Hinfiht durhaus nicht fchmeichelhaft. Indem 
er von ben hödjften Rangftufen fpridt, von Prinzen, Her- 
zögen und Generalen, erklärt er, baß wenngleich er nidyt 
behaupten molle, während eined Feldzuges könnten Die 
Regeln des Anftandes immer beobachtet werden, e8 doch jo 
etwas gäbe, wa& man das Betragen eines Gentleman nennt, 
und baß er „inmitten ber großen Verfammlung, welde fich 
des älteften deutichen Blutes rühmte, wenige fah, die fi 
fo verhielten, wic man e3 von einem engliichen Offizier 
erwartet.” 

Dr. Ryan verurteilt hart die Gottlofigkeit der Franzofen 
und Schreibt ihrer Veradhtung der Religion und Moral ben 
größten Teil ihres Unglüds zu; aber die Deutichen follen 
fih jkanbalös betragen haben in Bezug auf Slirchen unb 
Dome. So fand Dr. Ryan 3. B. in der Pfarrfirhe von 
Etampes eine Anzahl Kavalleriepferde untergebracht, und kann 
er fih nicht genug über diefe Gottlofigfett entiegen, während 
er, wollte man ihm die Plünderung der rheinifchen Dome, 
die Schändung der Gräber in ihnen burd die TFranzofen 
enigegenhalten, hierfür wahricheinlih nur ein Achfelzuden: 
c’est la guerre! haben würde. 

Nah Furzer in England verbraditer Ruhezeit fährt 
Dr. Ryan nah Franfreih zurüd in Gejelihaft eines 
Kapitüns Bradenbury, der feinerfeits in das Hauptquartier 
bes deutichen Sronprinzen zurüdfehrte.e Als die beiden 
Herren fih Dieppe nähern, jehen fie in ber Morgenfonne 
die Bajonette „dieler allgegenmwärtigen preußiihen Scilb- 
wachen“ glänzen, und nun erzählt Dr. Ryan: 

„Sie gingen auf und ab auf bem Hafendamm in einer 
herausfordernden, um nidt zu jagen drohenden Art. Sch 
mnß fagen, der Anblid erfchredte mich, wir Hatten den An- 
blif von England no vor unjern Augen, und Dieje ehr: 
geizigen Krieger jchienen zu gefährlihd nahe. Ic empfand 
den Wunich, fie beim Kragen zu nehmen und ins Meer zu 
werfen. Sch Eonnte nit umbin, zu Kapitän Bradenbury 
zu jagen, baß ich fie gern fragen möchte, nad) waß fie über 
den Stanal hinausſchauten. Aber, wie diejer troden bemerkte, 
ihre Antwort würde fein, daß fie nad einer Eleinen Sniel: 
feftung (England natürlih!) auf hoher See ausihauten, 
ein Heiner Punkt ber Schöpfung im Vergleich zu dem großen 
beutfhen Neihe, welches Soeben in Verfailles verfünbet 
worden war.” 

Und gegenüber biejer trodenen Antwort des Kapitän 
Brackenbury zog es Dr. Ryan do vor, die bdeutjchen 
Schildwadhen lieber nicht zu befragen, gefchweige fie denn 
in3 Meer zu werfen, und daran hat er wohlgethan! Aber 
das in Seiner Erzählung enthaltene unbewußte Eingeftändnis 
feiner Angft und ohnmädtigen Wut gegenüber den Deutichen 
ift darum nicht minder föftlich. 

Vom alleſten Naß und Gewicht. Daß zwiſchen Ge⸗ 
wicht und Längenmaß ein gewiſſes, häufig ſogar ganz be— 


ſtimmtes Verhältnis beſteht, weiß heutzutage jedes Schulkind. 
Bildet doch ſchon ſeit Jahren das für wiſſenſchaftliche Zwecke 
geradezu unentbehrlich gewordene Meterſyſtem auch im ge⸗ 
wöhnlichen Verkehr die Regel, indem als Grundgewicht das 
„Kilogramm“ gilt, d. i. das Gewicht eines Kubikdecimeters 
deſtillierten Waſſers im Zuſtande ſeiner größten Dichtigkeit 
(etwa 40 Celſius). Den Rauminhalt dieſes Kubikdecimeters 
als Hohlmaß nennt man „Liter“, der ungefähr 1,145 preuß. 
Quart entſpricht, während das Kilogramm genau zwei alte 
Pfunde aufwiegt. Übrigens haben es ſchon die älteſten 
Kulturvölker verſtanden, mit Zuhilfenahme eines Längenmaßes 
das Gewicht zu beſtimmen. Die römiſche „Amphora“ z. B., 
welche bei den byzantiniſchen Kaiſern noch bis ins 10. Jahrh. 
n. Ch. im Gebrauch war, mußte geſetzlich 80 römiſche Pfunde 
wiegen, was einem Hohlmaße gleichkommt, deſſen drei Di⸗ 
menſionen wieder genau die Länge des römiſchen Fußes 
aufweiſen. Auch die Griechen gingen bei ihren Gewichts⸗ 
beſtimmungen meiſt vom Waſſergewicht des ſogenannten 
„attiſchen Metretes“ aus, einem kubiſchen Maße, dem der 
griechiſche Fuß zu Grunde lag. Die römiſche Amphora faßte 
etwa zwei Drittel vom Inhalt des attiſchen Metretes. 

Neuere Forſchungen haben nun ergeben, daß die Hellenen 
keineswegs die Erfinder dieſer Methode zur Feſtſtellung 
eines Normalgewichts geweſen ſind, ſondern damit nur 
älteren und zwar morgenländiſchen Vorbildern folgten. Auf 
babyloniſchen Trümmerſtätten nämlich wurden Mengen von 
Gewichtsſtücken aus Bronze, Eiſen und Stein (in Form von 
Löwen oder Enten) aufgefunden, welche in aramäiſcher 
Sprache Inſchriften über Gebrauch und Bedeutung enthalten. 
Da guterhaltene Stücke von 15 Minen bis herab zur Viertel⸗ 
mine feine Seltenheit find, fo konnte die babyloniſch⸗-aſſyriſche 
„Mine* als das Normalgewiht auch annähernd feftgeftelft 
werden: fie wog (nad) Brandis) etwa 545 gr. Betradyten wir fie 
als Gewichtseinheit (Pfund), fo zerfiel fie wieder in 60 Schekel 
oder Säkel (Lot), während anderfeit3 60 Minen ein Talent 
(Sentner) ausmadhten. Hiernach hätte das Talent alio ur: 
fprünglih 3600 Schekel gezählt, Doch verboppelte fidy in ber 
fpäteren Zeit fein Gewicht, weshalb audy fchmwere und leichte 
Talente unterfhieden werben. Bei Edelmetallen rechnete man 
die Mine nur zu 50 (das Talent aljo zu 3000) Scefel, 
und gab hier Ion das Wertverhältnis den Ausfchlag, denn 
e3 wird ausdrüdlicdh zimiichen Gold und Siibertalenten unter: 
ihieden. Diejes babylonische Gewichts- und Teilungsiyften 
war natürlich fpäter auch auf die Wertbeftimmungen de 
Geldes, d. h. der gemünzten Metalle (Gold, Weißgold, 
Silber und Kupfer), von großem Einfluß. Die älteften und 
befannten Münzen überhaupt find von Gold und ftammen 
aus dem 7. Sahrh. v. Chr., doch haben ficher viel früher 
ihon edle Metalle in Barren= oder Ringform mit beftimmter 
GewichtSbezeihnung zu Taufchzmweden gedient und das Geld 
im öffentlihen Berfehr erjegt. Für die Nidjtigfeit des Ge- 
wicht? bürgte gewöhnlid) ein von Staats wegen den einzelnen 
Stüden aufgedrüdter Stempel. 

Der berühmte Ägyptologe, Prof. Brugſch-Paſcha, ſtellte 
zuerſt im Gegenſatz zu andern Forſchern die Behauptung 
auf, daß die Idee eines Normalgewichts ſowie des darauf 
fußenden Syſtems nicht babyloniſchen ſondern viel eher wohl 
ägyptiſchen Urſprungs ſei, und daß demnach das geſamte 
Haffifhe Altertum audh Maß und Gewidht wie no manches 
andere dem geheimnisreihen Nillande zu danken hätte. Syn 
der That deuten alle Spuren in dieje Richtung, ar den 


heiligen Nil, wo noch heute Bauwerke und Denkmäler über- 


— — 





71 Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 12 


rajchende Kunde geben von einer um Sahrtaufende zurüds 
liegenden Kultur in geradezu unerreichter Vollendung. Prof. 
Brugih gelang e8, altägyptiiche Inichriften aus dem 3. Jahrh. 
vb. Chr. aufzudeden und zu entziffern, welche genauen Aufs 
Ihluß über Maß und Gewicht gaben und feine Behauptung 
zur Thatfache erhoben. Wieberholt ift ba nämlich von ganz 
beftimmten Gewichtsmengen ber vier oben erwähnten Ebel- 
metalle die Rebe, welde genau mie unfer Gelb gebraudt 
wurden: man bemaß 3. B. banad) ben von befiegten und 
unteriohten Yürften zu entrichtenden Tribut, berechnete 
Arbeitslöhne und kaufte oder taufchte bafür ein lebende und 
tote Waren, der, Gärten u. |. w. Diefen Spuren nadjzu= 
gehen, erwies fi als fehr Iehrreid. 

Schon auf Darftellungen aus ber Zeit ber Pyramiden 
bauten (3500 v. Chr.) ericheint bie Standiwage in primitivfter 
Geftalt als Mittel zu Gewichtsbeftimmungen. Der Wages 
balten ruht mit den an beiden Enden herabhängenden Schalen 
für die Gewichte auf einem aufrechten hölzernen Doppelftänder, 
was unverkennbar an ein Ichbendes Modell, ven Wafferträger, 
erinnert. Etwa 1500 Sabre fpäter dagegen zeigt die Wage 
fhon eine künftleriiche Yorm, welche die genaueften Angaben 
bi8 zum Hleinften Bruchteil des Gewichts ermöglichte. Vom 
16. Zahrh. an pflegten die Äghpter ben größeren Gewichten 
bie Geftalt lebender Tiere (ganze igur), den Eleineren bie 
bon Tierföpfen (Qöwen, Rinder zc.) zu geben. Die Baby: 


lonier haben diefe Manier alfo einfady nachgeabmt, nur daß | 


fie auch Vögel ald Modelle benugten, was in Ägypten nie 
mals geſchehen iſt. 

Eingehende Vergleichungen und Unterſuchungen an 
derartigen Stücken, von denen ein abgeplattetes Kugelgewicht 
mit der Aufſchrift: „ß Lot Schatzkammer von Heliopolis“, 
ſich in Forſcherkreiſen beſonderer Berühmtheit erfreut, ergaben 
für das altägyptiſche Lot etwa 9,096 gr. Das Zehnfache 
hiervon (90,96 gr) hieß „Wote“ oder „Uote“ und würde uns 
gefähr unſerer Bezeichnung „Pfund“ entſprechen. Bei den 
alten Hebräern mußte gleichfalls abgewogenes Edelmetall 
das gemünzte Geld erſetzen, wie der öfter wiederkehrende 
bibliſche Ausdruck „jemandem Geld abwägen“ (für bezahlen) 
verrät. Der Kurswert diefer Metalle nad) heutiger An- 
Ihauungsweife war bei den einzelnen Völkern ein ganz ver: 
fchledener. Das Verhältnis von Gold zu Silber beilpiels- 
weiie Ihwanktt im Altertum zwilchen 13%/s:1 und 10:1, 
da8 von Silber zu Kupfer gar von 2834:1 biß 48:1, 
während heut im erften Galle die Proportion etwa 15%/2 : 1, 
im zweiten 90:1 lauten dürfte. Sämtliche antite Gemwichtd- 
Iofteme, bad fteht unumftößlich feft, find vom ägyptifchen 
Lot ald Einheit ausgegangen, dem da3 babylontihe Mi- 
nimalgewicht (!/so Mine, der Schekel) gleihlommt. Man 
tanın alfo unbebenklich behaupten, daß der Weltverfehr Maß 
und Gewicht eigentlich jenen roten Linien an den 5000 Sahre 





alten Pyramiden verdankt, die als äguptiiche Ellen zu deuten 
find. */s biefer Elle, der Zuß, war für die Dimenfionen 
bes Hohlmaßes beftimmendb, und Iettered wiederum biente 
zur Teftftellung de3 Gewichts. Hier gilt demnad vor allem 
das Wort: Eleine Urfachen, große Wirkungen! 

A. Stanislas. 


Weine Voten. 


Trüh ftarb in mir der Glaube 
Un Menfchentreu bahin, 

Shm folgte bald der leichte, 
Lenzfrohe Kinderfinn; 


Dann bettete den Frieden 
Der Seele ich zur Ruh — 
Auf ſpätes Glück das Hoffen 
Ich legt' es jüngſt dazu. 


So ſtarb, was einſt geweſen, 
Was lebte froh und licht, 

Willſt Du die Grabſchrift leſen? 
Schau mir ins Angeſicht. 


Agathe Nopſcowicz⸗ Ahlmann. 


Randbemerkungen. 


Wenn ſich Frauen nach Jahren wiederſehen, zählen ſie 
zuerſt in der Frende des Wiederſehens ihre durchgemachten 
Leiden auf. 

Geſelligkeit pflegen iſt die Kunſt: anderen das zu geben, 
was man ſelbſt haben will. 

** 


Der Welt geht es wie ſo manchen ſchönen Lokalen — 
die dort verkehrende Geſellſchaft bringt ſie in ſchlechten Ruf. 


3. Grebſen. 


— — 


Inhalt der No. 40. 


Schwertklingen. Vaterländiſcher Rman von Hans 
Werder. Fortſ. — Die neue Herrin. Roman von Karl 
Erdm. Edler. Fortſ. — Beiblatt: Wetternacht. Von Hanna 
Ehlen. — Eine Toilette vor achtzehnhundert Jahren. Von 
Adolf Kahle. J. — Unverzagt. Von Auguſt Krauſe. — 
Die Amerikanerin in England. J. — Der wilde Roſenbuſch. 
Bon Gertrud Triepel. — Neue Eprik. Beſprochen von 
Karl Stord. — Berjchiedened. Bon Viktor von Kohlen: 


ine. — Bermildtes. — Meine Toten. Bon Agatbe 
oHfcomwiczsUhlmann. — Handbemerlungn. Bon 
J. Grebſen. 





— — 


WE A Zur Beachtung! “Tu 


Alle unverlangt an die Leitung oder den Verlag bes Blattes eingejenbeten Manufkripte — größere 
Romane ausgenommen — werben nur zurüdgeiendet, wenn ein mit ber Abrefje verfehener, freigemachter 
Umschlag einliegt. Irgendwelche Bürgfchaft für Zurüdjendung wird nicht geleiftet, Gedichte werden überhaupt 


nicht zurüdgelendet. 


Feitung und Verlag der Roman-Beitung. 


BVBerantwortlider Leiter: Dtto von Leirner in Berlin. — Berlag von Dtto Janke in Berlin — Drud der Berliner Buchdruckerei⸗Aktien⸗Geſellſchaft 
(Geperinnenfgule deß Leite Verein). 








Deutſche 


Moman-Beitung. 


18%, 


ämter nehmen dafür Beitellungen an. 


Erfheint wöchentlih zum Preife von 3% AM vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Boit- 
Durd) ale Buchhandlungen aud in Monatsheften zu 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Dftober. 


Ne 41. 





Schwertklingen. 


Baterländifcher Roman 


von 


Dans Werder. 
(Yortfegung.) 


All. 


Die Antwort, weldhe Napoleon auf des Königs 
Ichriftlihe Zurücdweifung feines Auftretens erteilte, 
lautete völlig ungenügend. Sa, mehr als das, fie 
war böhnifch und verädhtlich, und in dem edlen Herzen 
des Hohenzollern erwachte eine grenzenloje Entrüftung 
gegen den übermütigen Parvenu! „Ich will mit dem 
Menjchen nichts mehr zu Ihun haben!” war feine 
ganze Antwort, ald Lombard und Beyme, Haugmwit’ 
Geihöpfe, den König noch einmal mit Napoleons 
Sandlungsmweife auszuſöhnen verſuchten. Als gleich 
darauf, Anfang November 1805, der Zar Aleranber 
zum Bejuch in Berlin erihien, jchloß der König mit 
ihm ein Bündnis, das am Sarge Friedrichs des 
Großen mit Schwüren und Umarmungen feierlich 
befiegelt wurde. Das preußifhe Heer rüdte weiter 
nad Sadjen vor, und mwährenddeflen reifte Haugmwig 
noh immer hinter Napoleon ber, ohne ihn aufzu: 
finden — vermutlih, weil es ihm doch nadjgerabe 
ängftlich wurde, welche Rolle er eigentlich bem Welt: 
eroberer gegenüber mit feiner Milfion würde zu 
Ipielen haben. 

In Erfurt, dem Hauptquartier des „General 
en chef” Fürften von Hohenlohe, traf jegt auch Prinz 
Louis ein. „Durd feine frühere glorreihe Waffen: 
probe am Rhein,” *) fchreibt fein Vertrauter Noftig 
über ihn, „und buch natürliches Übergewicht ragte 
Prinz Louis über die Erften des Heeres hervor. 
Seine Milde jebodh, fein Scherz und jeine famerab- 
Ihaftlihe Art begegnete dem Neid und beugte alle 
Häupter. Dhne jhwerfälige Berührung jchritt er 
über die meilten von ihnen und die, bei denen er 
ih aufhielt, die mußten ihm Freunde jein, wenn er 

*) Erjtürnung der Zahlbadher Schanzen vor Mainz 1792, 


a er, im Alter von 20 Sahren, zum Generalmajor befördert 
wurde. 


Koman⸗Zeitung 13886. Lief. 41. 


zu ihnen trat, denn ſeine Gegenwart übte eine 
ſiegende Gewalt, wo er ſich nur zeigte.“ 

Bei der ſchlagbereiten, doch immer nur zum 
Warten verurteilten Armee traf die Kunde der Schlacht 
von Auſterlitz ein, in welcher Napoleon die Kaiſer 
von Rußland und Oſterreich aufs Haupt geſchlagen. 
Unendliches Entſetzen verbreitete ſich, doch um ſo 
heißer loderte der Wunſch zum Losſchlagen in der 
Armee empor. „Tantalusqualen“, ſagte Prinz Louis 
immer wieder. Er rückte jetzt mit der Vorhut, aus 
Preußen und Sachſen beſtehend, ins Erzgebirge vor 
und nahm fein Hauptquartier in Zwidau. Eine be: 
lebte Hofhaltung bildete dasjelbe den langen, thaten: 
ofen Winter hindurch. Außer feinen Adjutanten und 
dem SKapellmeifter Duffet, die jeine tete Umgebung 
bildeten, gingen Generale und Dffiziere aller Waffen: 
gattungen bei ihm ein und aus und vereinigten fi) 
an feiner Tafel zu froher, unterhaltender Gejellichaft. 

Daneben bildete die Mufit auch jegt die Nahrung 
feiner Seele, der einzige Freund, der durdh& ganze 
Leben ihm die Treue hielt, wie er jelber jagte, und 
die Ichönften jeiner Werke fomponierte er bier. 

„Wir anderen vom Schweif,” fchreibt Nofti,*) 
„überließen uns ganz unjeren Neigungen, denn ber 
Heine philojophiiche und abjprechende Kleift abjorbierte 
alle Dienftgeichäfte, jo daß ich nur ganz von weiten 
zujhaute und mich allein die perjönlichen Beziehungen 
zum Prinzen vor gänzlicher Nullität vetteten. — — 

„Sb bing wie ein Jünger griehifcher Welt: 
weifen an ben Lippen bes fürftlichen Meiftere, und 
was ich damals von feinen Bemerkungen, Ausiprüden, 
Tiipreden eilig aufs Papier geworfen hatte, würde 
ala Beleg und teure Reliquie feines jcharfen, tiefen 
und edlen Geiftes dienen, wäre nit die Sammlung 
im Sturme ber Zeiten mit meinen anderen Skip: 
turen untergegangen.” 


) Tagebuch. 


75 Schweriklingen. 


Unterdeſſen hatte Napoleon nach dem Auſterlitzer 
Siege den armen, herumirrenden Haugwitz endlich 
vor ſein Angeſicht treten laſſen, ihm gedroht, ge— 
ſchmeichelt, und ſo mit leichter Mühe, unter ſchmäh— 
lichen Bedingungen mit Preußen ein Schutz- und 
Trutzbündnis abgeſchloſſen. 

Ein wenig beſchämt durch dieſen unerwarteten 
Erfolg ſeiner Sendung trat Haugwitz zögernd und 
langſam die Rückreiſe an, um ſeinem Allerhöchſten 
Gebieter perjönlid und mit den nötigen Entichuldi- 
gungen das trofiloje Ergebnis zu unterbreiten. 

Eine unbeichreiblide Wut und Erbitterung ging 
durch alle Herzen, weldye für des Vaterlandes Ehre 
Ihlugen. Das kampfbereite Heer ward zurüdberufen 
und bezog grollend, in ohnmädtigerr Wut jeine 
Triedensgarnijonen. 

Spät am Abend eines Februartages traf Prinz 
Louis zu Berlin in feiner Wohnung ein. Stür: 
miihen Schrittes eilte er die Treppe binan, ohne 
um fi zu bliden, vhne einen der ihn Ermwartenden 
zu beadten. Er verihwand in feinem Zimmer und 

Ihloß die Thür hinter fih ab, Mit kummervoller 
Miene laufchte der alte Francois, jein Kammerdiener, 
ftundenlang an der verjchloflenen Pforte. Er wünjdhte 
jeinem Herrn einen $mbiß anzuridten, ihn zu ent 


Heiden für die Nachtruhe — doch) der jhhien ihn ver:. 


geflen zu haben, wie er Schlafen, Efjen und Trinken 
vergaß. Ruhelos wanderte er auf und ab in dem 
weiten Gemadh, in heißem Kampfe mit feinen auf: 
braujenden Gefühlen. D dies Bemwußtlein der Echmad! 
Er trug es nicht nur als einer aus dem an jeiner 
Ehre gefräntten Volke, als einer der Kriegsdurftigen, 
die das balbgezogene Schwert in die Scheide zurüd: 
ftoßen und fih wenden mußten zu ruhmlofer Heimtehr. 
Nein — er fühlte die Schmach des ganzen Preußen: 
landes vereinigt auf feinem Haupte brennen, fein 
Ihmerzzerrilfenes Herz unter der Laft zufammen: 
breden. Er, ein Hohenzoller, den Prinz Heinrich, 
der „Teldherr ohne FSehle”, erzogen, damit er ein 
geiftiger Nachlomme Friedrich des Einzigen werde! 

Ganz allmählich erft wurde er ruhiger, warf 
jih auf fein Lager und drüdte fill den Kopf in 
beide Arme, wartend, ob ein milder Edhlummer das 
ungeſtüme Herz zur Ruhe wiegen mödhle. 

Es war jehr jpät am Vormittage, als er ben 
Riegel zurüdihob und nad) Francois Elingelte. Den 
ganzen Tag blieb er ftil in feinen Zimmern, un: 
möglich Ichien es ihm, fich den Bliden jener Menfchen 
auszujegen, die bei jeinem Ausmarjch ihm zugejauchzt 
als dem Helden und Erretter des Vaterlandes. 

Am Abend erft, bei bereingebrocdhener Duntel: 
beit, befahl er einen verjchloffenen Wagen und fuhr 
allein durh die Straßen dem Palais feiner Eltern 
zu. Als er fih dem Hauje des Minifters Grafen 
Hardenberg näberte, traf eigentümlih wüfler Lärm 
fein Ohr. Ein Volkshaufe ſcharte fi zufammen, 
der dur jein Gedränge den Wagen am Weiter: 
fahren binderte. 

„Das find königliche LTioreen, das ift der Jäger 
des Prinzen Louis!” riefen Stimmen aus der Menge, 
und verwundert beugte fih der Prinz aus dem 
Wagenfenfter. Der Schein einer Laterne beleuchtete 


roman von Hans Werber. 





76 


grell jein Geficht, welches die Soldaten ala das ihres 
Lieblingshelben, ihres Schlachtengottes erfannten. Ein 
Gebrül erhob fi, „Prinz Zouis hoh! Prinz Louis 
jo leben! Unfer Held, unfer Befreier! Prinz Louis ge- 
hört zu uns, er darf uns nicht im Stich lalfen!” Der 
MWagenichlag wurde ftürmifch geöffnet. Mit Entjegen 
erfannte der Prinz Dffiziersuniformen der Garde du 
Corps und Hujaren unter der Menge. Haftig ver: 
ließ er den Wagen. 

„Meine Herren, um Gottes willen, was thun Sie 
bier! Ruhe vor allen Dingen! Gedenken Sie Shrer 
Uniform, Ihres Eides —“ 

„Wir gedenken unferes Eides, Königlide Hobeit 
— mir thun nichts Böles — wir haben dem Grafen 
Hardenberg ein Ständchen gebradt, und nun wollen 
wir —” 

„Nichts weiter, es it gut — nun gehen Sie 
nad Haufe, ich beihwöre Sie!” 

„Nichts da, wir lafjen Sie nicht fort, gnädigiter 
Herr, Ihüten Sie das Vaterland,” riefen wieder 
die Stimmen aus der Menge. 

Prinz Louis aber Ichob entichloffen einen Hufaren: 
ojfizier zur Seite, der vor ihm ftand, und verschwand 
eiligen Schrittes im Duntel des Gemwühles. Zu Fuß 
legte er den Weg bis zum Palais feines Vaters zu: 
rüd. Diejer hatte fich bereits zur Ruhe begeben — 
Prinzeilin Ferdinand, die Mutter, aber war in ihrem 
Salon, wo fie den Sohn erwartete. Brinz Auguft 
und Fürftin Radzimill, ihre Tochter, waren jcdyon 
bei ihr. Prinz Auguft, auch einer der ruhmlos 
beimgefehrten Krieger, fand fi durd dieſes Schick⸗ 
jal verftiimmt und gereizt, do nicht viel mehr 
als das. Fürftin Zuife aber trat ihrem Lieblings: 
bruder mit Thränen in den Augen entgegen. Gie 
las in feinem befümmerten Herzen wie in einem auf: 
geihhlagenen Buch, und litt mit ihm von ganzer Seele. 

Prinzeifin Ferdinand konnte einen Vorwurf 
nicht unterdrüden, daß ihr Sohn erjt jebt käme, Die 
Mutter nach der langen Trennung zu begrüßen, da 
er doch Ichon vergangene Nadıt in Berlin eingetroffen. 

Prinz Louis antwortete nicht darauf. Er nahın 
den Sejlel in ihrer Nähe, den fie ihm angemiejen, 
fügte den Arm auf fein Knie und verdedte bie 
Augen mit der Hand. Vorwürfe anzuhören, heute 
— audh das noch? 

Fürftin Zuife, die Liebreihe Schweiter, beugte 
ih über ihn und füßte feine Schläfe und jein 
duftiges Haar. 

„Ein ftiliehmweigender Proteft gegen meinen un: 
gerehten Vorwurf!” bemerkte die alte Prinzejlin 
lähelnd. „Sei gut, mein Louis, ich) weiß, Dein 
Herz ift jchwer, und Dein Auge fieht trübe in bie 
Zukunft!“ 

Prinz Louis ſchaute auf. Er ergriff die Hand, 
welche ſeine Mutter ihm gütig hinreichte, und zog ſie 
voll Ehrerbietung an die Lippen. 

„Nicht nur trübe, hoffnungslos ſehe ich in die 
Zukunft! O, meine verehrte Mutter, Sie ſind ein 
Mitglied unſeres Königshauſes wie ich, wir ſind es 
alle vier, ich kann mich ungehindert ausſprechen! Ich 
glaube nicht an den Sieg unſerer guten Sache! Die 
Armee Friedrichs des Großen iſt nicht mehr, was ſie 





77 Schwertllingen. 


war, nicht, was fie jein muß, um den Siegesfcharen 
Napoleons gegenüber zu ireten. Das Selbitbewußt- 
jein ihrer Führer entipricht nicht ihrem Können, noch 
ihrer Tüchtigleit, die Siegesgewißheit, die ich überall 
gefunden, nicht den Schäden und Viängeln, die mir 
Ihreiend an allen Eden und Enden entgegentraten!” 

„rouis, wie lannit Du das jagen!” mahnte 
Brinz Auguf. „Du fiehit zu Schwarz! Wo auf 
Erden giebt e8 denn eine Armee, die ber unfrigen 
gleichkommt!“ 

Prinz Louis Ferdinand antwortete nicht. Das 
Herz that ihm buchſtäblich weh bei den Worten ſeines 
Bruders, denen er nicht beiſtimmen konnte und die 
ihm deshalb wie ein Hohn erſchienen. 

„Ich muß dem beipflichten,“ nahm Prinzeß 
Ferdinand wieder das Wort. „Du ſiehſt zu ſchwarz, 
mein Sohn! Du, der Neffe unſeres großen Friedrich, 
ſollteſt ſolchen Kleinmut aus Deiner Seele verbannen, 
ſollteſft zu ſeiner Armee und ihren Heerführern 
größeres Vertrauen haben. Du wirſt anders ſprechen, 
mein junger Feldherr,“ fügte ſie mit einem Lächeln 
mütterlichen Stolzes hinzu, „wenn Du ruhmgekrönt 
aus ſiegreichem Feldzuge zu mir zurückkehrſt!“ 

„Und wenn der Feldzug nicht ſiegreich wird?“ 
fragte Fürſtin Luiſe mit herber Betonung. „Was 
dann?“ 

„Was dann?“ Prinz Ludwig blickte auf, in 
ihre Augen. In den ſeinen flimmerte es wie Fieber— 
glut. „Dann wolle Gott dem Vaterlande gnädig 
ſein! Ich — überlebe das nicht!“ 

Die Schweſter lehnte ſich in den Seſſel zurück 
und ſchloß für einen Moment die Augen, als graute 
ihr vor dem Zukunftsbilde. „Und Du meinſt nicht,“ 
fragte ſie faſt vorwurfsvoll, „daß dann gerade das 
Vaterland Deiner am dringendſten bedürfen würde, 
Louis? Wenn es vom Glück verlaſſen iſt, müſſen 
dann nicht ſeine Helden aufrecht ſtehen bleiben und 
mit letzter Kraft ihm dienen?“ 

„Bis in den Tod, ja — und mit ganzer Seele,“ 
erwiderte er glühend. „Doch ich habe ihm noch 
niemals recht dienen können! Und es wird mir auch 
fernerhin nicht vergönnt ſein! In der Schlacht, ja, 
ſo Gott mir gnädig ſein wolle! Wo ich handeln 
darf auf eigene Verantwortung und aus eigener 
Kraft. Sonſt aber — ſind mir nicht überall die 
Hände gebunden? Zu nah am Thron, um meiner 
Bewegungen Herr zu ſein, zu fern dem Thron, um 
ihm mit meinem Einfluß nahen zu dürfen, durch 
Eiferſucht und Mißtrauen ferngehalten, ſo habe ich 
meine fürſtliche Geburt mein Leben lang nur als 
eine Kette empfunden!“ 

„Die Idee iſt mir unverſtändlich!“ ſchaltete 
Prinz Auguſt trocken ein. 

„Mir wenigſtens klingt ſie ſehr betrübend!“ 
fügte die Prinzeſfin-Mutter hinzu. „Es liegt auch 
ein Irrtum darin, Louis. Gieb dem heiligen Glühen 
Deines Herzens keinen falſchen Namen. Du könnteſt 
niemals ganz das ſein, was Du biſt, wäreſt Du 
nicht der Abkömmling eines ſo großen Heldenge⸗ 
ſchlechtes, ae Ti das preußilche Königshaus ift!“ 

3 N Shnen nicht mwidertpreden, teure 
Mutter, “ — Prinz Louis. „Doch meine ich, 


—— ⸗—— — —— — — 





Roman von Hans Werder. 78 


in anderer Stellung und Lebenslage hätte ich die 
Gaben, die mir angeboren ſind, beſſer verwerten 
können. Ein Regiment zu exerzieren jahraus, jahr— 
ein, das iſt keine Lebensaufgabe für mich. Und 
drüber hinaus gönnte man mir nicht einen Schritt! 
Für einen preußiſchen Prinzen giebt es feine Be: 
wegungsfreiheit. Die härteſten Feſſeln überall, wie 
ich ſchon ſagte: Eiferſucht und Mißtrauen!“ Er 
ſprang auf und durchmaß das Zimmer mit heftigen 
Schritten. Dann, wie erſchöpft, ſank er in den 
Seſſel zurück. 

„So haben ſie meine Seele eingeſchläfert,“ fuhr 
er wie zu ſich ſelber redend fort, „und warfen mit 
Steinen auf mich, wenn ihr Selbſterhaltungstrieb 
ſie wachrütteln wollte, indem ſie ſich in Thorheit und 
Leidenſchaften ſtürzte! Und ſo wird es bleiben! 
Keine Beſſerung zu hoffen!“ 

„Doch!“ ſagte Luiſe mit Betonung. „Wenn 
endlich der Krieg ausbricht, ſo werden wir ſehen, daß 
Deine Seele ſich nicht einſchläfern ließ, ſie wird ihre 
Schwingen ausbreiten im Adlerflug und unſere Heere 
aufs neue ſiegen lehren!“ 

Prinz Ludwig ſah ſie an. In ſeinen Augen 
brannte eine düſtere Flamme. „Oder vielmehr: Wenn 
Preußen ein Reis ſeines Königsſtammes braucht als 
Totenopfer für ſeine Freiheit und Größe — dann 
ſoll es mich bereit finden!“ 

Er ſchwieg und die anderen mit ihm. Die 
Mutter war ſchmerzbewegt durch ſeine Worte. Fürſtin 
Luiſe aber fühlte in tiefem Leid mit ihm den Schmerz 
und ſtolzen Todesmut, der ſeine Bruſt erfüllte. 

Prinz Auguſt hielt es für angezeigt, dem Ge— 
ſpräch eine leichtere Wendung zu geben. Er fragte 
ſeinen Bruder, ob er auf der Herfahrt Lärm ver⸗ 
nommen, die Straßen hätten ihm einen unruhigen 
Eindruck gemacht. Prinz Louis erzählte kurz, was 
er vor Hardenbergs Hauſe erlebt. 

„Hardenberg ein Vivat gebracht,“ wiederholte 
Fürſtin Radziwill, „dann wird doch auch Haugwitz 
ſein Pereat bekommen haben! Glaubſt Du, daß ſie 
ſchon von dort kamen, oder vielleicht jetzt vor ſeinen 
Fenſtern ſtehen und ihm Schmeicheleien zurufen?“ 

„Mon Dieu, das will ih nicht annehmen —-“ 
Prinz Louis erinnerte fih mit Schred des Aufes: 
„wir haben Hardenberg ein Ständen gebradt und 
nun wollen wir —” ja was? Luife mochte recht 
haben. „Das wäre mir jehr fatal! Ach will nod) 
heute abend Drdborf ausichiden, er jol fich erfundigen !“ 

Die Nachricht, melde Drdorf zu jpäter Nacht: 
ftunde feinem Gebieter überbradhte, war keineswegs 
erfreulih. Es Hatte vor dem Haule des Grafen 
Haugmwig ein entjeglicher Lärm ftattgefunden, der fid 
ungebührlich lange ausgedehnt. Ein Offizier oder 
Kornett der Gödingfhen Hujaren und ein Schüler 
batten Steine nah den Fenftern des Berbaßlen ge: 
worfen, welhem Beilpiel die Menge alsbalb ge: 
folgt war. 

m Laufe des nädten Tages bejudhten Fürft 
Radzimil und Prinz Auguft den Bruder. Gie 
bradten die Nachricht, daß der Vorfall des geftrigen 
Abends bereits allgemein bekannt und aud dem 
Könige zur Kenntnis gebradht wäre. Und zwar mit 





— —— — — — — * 


19 Schwertklingen. 


dem Vermerk, daß Prinz Louis als Urheber genannt 
ſei, ſowohl der Ovationen für Hardenberg als der 
Inſulten gegen Haugwitz. 

„Cola va sans dire!“ war des Prinzen ganze 
Entgegnung. Dann aber warf er ſich in das Polſter 
zurück und hell auflachend ſchlug er ſeine Hand über 
die Augen. „Als einen Rebellen werden ſie mich 
noch brandmarken, das wird wohl die nächſte 
Folge ſein!“ 

Bruder und Schwager wechſelten einen Blick 
miteinander. Ja, es wurden ihm nicht nur rebelliſche 
Gelüſte untergeſchoben, ſondern auch Reden und 
Thaten bereits. Doch wozu das „löwenkranke“ Herz 
auch damit noch verwunden. „Ich kann ja bezeugen, 
daß es alles Verleumdung iſt!“ ſagte Prinz Auguſt 
beſchwichtigend. „Ich habe Dich geſtern geſehen und 
geſprochen zur ſelben Zeit als das geſchah! Ich 
werde verſuchen, gelegentlich beim Könige —“ 

„Dank Dir, lieber Junge! Es wird nicht viel 
nützen! Ob die Königin —“ er ſtockte. 

„Dafür laß Luiſe ſorgen!“ unterbrach ihn ſchnell der 
Fürſt. „Die Königin ift niemals geneigt, Dir zu miß- 
trauen!” 

Als die beiden ihn verlafien, kam Noſtitz. Er 
wußte bereits alles, und der Prinz beipradh fidh ein- 
gehend mit dem Dertrauten. 


„Es ärgert mich zu jehr, daß ich nicht dabei 


war!” grollte diefer. „Königliche Hobeit jollten fidh 
jeßt gar nicht ohne Khren Scildinappen binausbe: 
geben. Das Augenmerk des ganzen Volles ift auf 
Sie gerichtet! Bei bdiefer aufgeregten Stimmung 
fann durch hr Erjcheinen überall Unruhe hervor: 
gerufen werden. Dann ift es gut, wenn jemand 
zugegen war, der feftitelen fanı, wie’s zuge: 
gangen ijt!“ 

„Und der auch mich gleichzeitig ein wenig in 
Ordnung hält! Wollten Sie das nicht jagen, Noftig?“ 

„Nein, mein gnädigfter Herr! das wollte ich 
ganz und gar nicht jagen!” erwiderte Noftig gereizt. 

Der Prinz ladte. „Sei do nicht feindlich, 
Karl! Du am Ende trauft es mir nicht zu, daß ich 
zu meinem ‘Brivatvergnügen Haugwig die Fenfter 
einwerfen lafje! Darauf rechne ih ja noch!“ 

Es war eine befannte Gewohnheit des jungen 
Herrn, diejenigen, welche ihm innerlich nahe ftanden, 
zuweilen mit Du anzureden. Da es aber nur biejen 
wiederfuhr, fo fühlten fie jih immer angenehm be: 
rührt. GSelbft dem alten Blüher erging es nicht 
anders. 

„Weißt Du übrigens,” fuhr Prinz Louis fort, 
„wer der Qufarenlieutenant gewelen ift, der ben 
Fenſterſcheiben-Eclat pecciert hat?” 

„Nein, ich weiß es nicht und bitte, daß König- 
lihe Hoheit mir erlauben, meine etwaigen Ber: 
mutungen für mich zu bebalten!” 

„Ih erlaube es Dir, denn ich glaube, ich habe 
diefelben wie Du! Beranlajle doch bitte, daß Noch: 
lit beute abend bei Dunkelheit zu mir fommt!“ 

Haſſo Rochlitz erſchien zum befohlenen Zeitpunkt. 
Der freie, ſelbſtbewußte Ausdruck, mit welchem er 
dem Prinzen gegenüber trat, deutete auf ein zu: 
friedenes Gewiſſen hin. 


Roman von Hans Werder. 80 


„Rochlitz, wiſſen Sie, wer der Offizier Ihres 
Regiments war, der geſtern abend den erften Stein- 
wurf gegen die Fenſter des Grafen Haugwitz aus—⸗ 
führte?“ redete der Prinz ihn an. 

Über Haſſos Geſicht blitzte es wie ſtolze Sieges⸗ 
freude. „Zu Befehl, Königliche Hoheit —“ 

„Still!“ mit einer raſchen Handbewegung ſchnitt 
der hohe Herr gleichſam die Antwort ab. Er ſah 
deutlich genug, daß er den Miſſethäter vor ſich hatte, 
und daß dieſer ſich im Bewußtſein einer Heldenthat 
ſonnte. 


„Weiß es noch jemand außer Ihnen?“ fragte 
er wieder. Auf ſeiner Stirn zeigte ſich eine ſtrenge 
Falte, die Haſſo noch niemals dort geſehen. Seine 
Zuverſicht ſank um einige Grad. „Nein, Königliche 
Hoheit, das glaube ich nicht!“ 

„Gut, dann wünſche ich auch nicht, daß es 
jemand erfährt. Auch ich ſelber will es nicht wiſſen. 
Man hat bereits Seiner Majeſtät dem Könige be— 
richtet, daß ich der Urheber diejes Unfuges fei! — 
Es wäre mir nicht angenehm, wenn biejes Gerücht 
an Wahrjcheinlichleit Dadurch gewönne, daß man ben 
Thäter joldhen Streiches als einen erlennte, den ich 
in mein Haus und in meinen Verlehrstreis gezogen!” 


Von Haſſos Antlig war alle Farbe gewichen, 
fein Atem ging | hwer. Das freilich hatte er nimmer: 
mehr gewollt, noch geahnt. Nicht nur erzürnt Hatte 
er ben angebeteten fürftlihen Herrn, auch geſchädigt 
hatte er ihn, der Verleumbung preisgegeben. Und 
das ohne allen Zwed und Grund, nur dem wilden 
Hange zu tollen Rnabenftreihen folgend, der wie 
eine zweite Natur ihn beberrihte. Er jah wohl, es 
war nicht einerlei, ob man zu Haus der Mamiell 
Ehriftiane die Fenfter einwarf, oder hier dem Minifter 
Haugmwig. Und obenein war dies le&tere mit einem 
jo ne Gefühl der Genugthuung verbunden ge 
wein — — 

„Hat man in Jhrem Regiment Recherchen über 
die Sache angeftellt?” fragte der Yirinz wieder. 

„Nein, Königlihe Hoheit! Und wahrjhheinlich 
wird es auch nicht geichehen!” 

„Woher glauben Sie das?” 

„Der Regimentsadjutant W’Eftocg jagte es heut 
in meiner Gegenwart zu dem von Nheinbaben und 
von Münfter, die au dort waren. Nur wenn 
Seine Mojeftät extra eine Iinterfuhung befehlen 
ſollten!“ 

„So hoffen wir, daß das nicht geſchehen wird! 
Zum Ruhme dürfte dem Thäter dieſe tour de gamin 
ohnehin nicht gereichen! Ich hoffe, Sie haben mich 
verſtanden, mein lieber Rochlitz!“ 

In tiefer Beſchämung nahm Haſſo dieſen ſcharfen 
Verweis entgegen. Er durfte ja nicht ſagen, wie 
leid ihm ſeine Thorheit war. Deutlich aber ſprach 
der flehende Blick es aus, den er zu dem Prinzen 
aufſchlug. Dieſer betrachtete ihn ſekundenlang und 
ſein menſchlich fühlendes Herz ward davon gerührt. 

„Nun gehen Sie nach Haus, mein Junge, und 
thun Sie Ihren Dienſt,“ fuhr er in milderem Tone 
fort. „Und laſſen Sie mich ſtets von Ihnen hören, 
daß Sie ein — FTaugenichts‘ ſind, der höchſtens 





81 Schwertklingen. 


einmal ſeinen eigenen Ruf ſchädigt, aber nie die 
Ehre der Uniform, die er trägt!“ 

„Zu Befehl, Königliche Hoheit!“ war Haſſos 
leiſe Antwort. Doch ſie klang wie ein Gelübde. 
Gütig entließ ihn der Prinz. 


XIII. 


Im Berliner Tiergarten hielt der Frühling 
ſeinen Einzug mit grün aufknoſpendem Schmuck der 
Bäume und des Raſens, mit Vogelgeſang und ſüß— 
berauſchendem Blütenduft. Ob es auch in Reckentin 
ſchon Frühling ward? Die Frage zog ſehnſüchtig 
durch Haſſos Herz. Einſam wanderte er durch den 
Tiergarten dahin. Sein Schleppſäbel ſchlug klirrend 
hin und wieder auf einen Stein im Wege. 

Wie breit in den Schultern er geworden war, 
nicht ſehr groß, doch biegſam und ſtählern. Tadellos 
ſaß ihm der pelzverbrämte, dunkelrote Schnürenrock. 
Das Geſicht erſchien nicht mehr ſo dürftig und klein, 
das Haar nachgedunkelt. Nur der für ſein Alter 
ungewöhnlich volle Schnurrbart zeigte noch die röt⸗ 
liche Schattierung, die ſeiner Pflegemutter einſt ſo 
unangenehm geweſen. Selbſt dieſe hätte ſich jetzt 
beim beſten Willen nicht mehr über ſeine Häßlichkeit 
aufregen können. 

Dieſe Betrachtung ſtellte der elegante Gendarmes⸗ 
Offizier an, der einen Seitenweg daherkam und den 
in Gedanken Verſunkenen beobachtete. Endlich, in 
ſeiner unmittelbaren Nähe angelangt, rief er ihm ein 
etwas gereiztes Halt entgegen. „Haſſo, biſt Du denn 
im Traum, ſiehſt und hörſt nicht, was um Dich vor—⸗ 
geht! Denn abſichtlich wollteſt Du mich doch wohl 
nicht für Luft anſehen, hoffe ich!“ 

„Hilmar — entſchuldige! Ich war in Ge— 
danken!“ 

„Ja, das bemerkte ich! Aber wo rennſt Du 
denn hin? Komm mit mir, mein Weg hat ein Ziel, 
das Dich intereſſieren wird!“ 

„Nein, danke, Hilmar, ich kann nicht! 


andermal!“ 
„Weshalb nicht? Haſt Du Dienſt?“ 
Einen Befehl viel: 


„Nein, eine Einladung! 
mehr!” 

„zum NRudud, Menih, laß die Geheimnis: 
främerei, ich habe nicht Luft, Dir jedes Wort ab- 
zufragen. Wohin bift Du eingeladen?” 

„Rah Moabit!” 

„Moabit — zu wem?” 

„Aber Hilmar, Du braudft mich ja gar nicht 
zu fragen,” lachte Haflo. „Wenn ich nur einfilbige 
Antworten geben mag, was fann ih dafür, wenn 
Du jo neugierig bift!“ 

„Sanz egal — ih muß willen, zu wem Du 
geht — für wen Du Deine erite Garnitur ange: 
zogen haft! Mer ift in Moabit?” 

Haflo aögerte eigenfinnig no einen Moment, 
dann aber fıgte er: „Sn Moabit ift das Sommer: 
bäuschhen des Prinzen Louis!“ 

„Und dorthin bift Du befohlen?” 


„.30!" 


Ein 


Roman von Hans Werder. 82 


Hilmar verftummte und eine Wolle ging über 
fein Gefiht. Er hatte keine Erklärung dafür, daß 
diefer Knabe, diefer Neuling in der Gejellichaft, ein- 
und ausgeben durfte in des vergötterten Kriegshelden 
Haufe, deilen Pforten fi ihm, dem eleganten Garbe: 
offizier noch niemals geöffnet hatten. Er gönnte 
fonft feinem Pflegebruder alles Gute, ja wie er 
meinte, das Belte von ber Welt. Aber Diele uner: 
hörte Auszeichnung vor ihm, vor fo vielen Würbi: 
geren, nein, die gönnte er ihm nicht! 

„Darf ih mir die Frage erlauben,” begann 
Hilmar nad längerer Paufe ablentend, „ob Du 
dieje vielen Uniformen jchon bezahlt haft, die der 
Umgang im prinzliden Palais Dich Loftet? Und 
die teuren Pferde, melde Du jett zu reiten pflegit, 
mwahrjeinlih den Sagden in Schride zu Ehren?” 

„Entiäuldige, Hilmar,“ ermwiderte Hallo Fübhl, 
„ih jehe nit ein, warum Du Dir die Frage er: 
lauben barfjt!” 

„Das heißt aljo mit anderen Worten, fie find 
nicht bezahlt! Und mein Vater kann fi auf eine 
bübide Schulbenfumme gefaßt machen, die eines 
Tages von ihm eingefordert werden wird,” gab 
Hilmar Iharf zurüd. 

Ein Gefühl der Entrüftung ftieg in Haflo auf. 
No niemals hatte jein Bruder fo mit ihm geiprodhen. 
„Das glaubft Du ja felber nicht,” fagte er Furz und 
ichroff, doch weiter nihts. Er kannte den anderen 
und wußte, baß eine Art von Neid oder Eiferjucht 
aus ihm Iprad, darum that er ihm leid. 

„IH würde Dir alles glauben,” rief Hilmar 
heftig, „wenn Du mir nicht überhaupt Dein Ber: 
trauen entzögeft und Deine eigenen Wege gingeft, 
als wäre ich nicht mehr auf der Welt!“ 

Mit einem ftumm:berebten Blid jah Haflo ihn 
an. Das war jo ganz das alte befannte Haflo: 
Gefiht, weldhes fih jo unzählig oft mit unausge- 
Iprodhener Bitte an das brübderliche Herz gewanbt. 
So erkannte Hilmar ihn wieder. Und mit der alten 
Zuneigung regte fi bas befiere Empfinden bei ihm. 
Er ließ das peinlihe Thema fallen. 

„SH will nun übrigens weniger fpröde ein 
ale Du und Dir erzählen, wo ih bingehe und Dich 
mitnehmen wollte, wenn Du nicht unterdes zum 
Hofmann geworden wäre. Zu Onkel Ruprecht 


gehe ich.” 

Haflo jah ihn verfländnislos an. „Zu Onkel 
Nupredt? Hier in Berlin?“ 

„Sa, weißt Du nicht, daß Onkel Rupredt jebt 
hierhergezogen ift?” 

„Keine Ahnung! Woher fol ih das mwifjen? 
Sit es wirklih wahr?” 

„Ja fiher! BProfeflor Fichte ift jegt bier, und 
da hielt’s den guten Ohm nicht länger auf dem alten 
Hofe. — Was das eigentlih für ein Meergreis ill, 
biefer Herr Fichte und was der Dhm an ihm ge: 
frefjen bat, davon habe ich feinen Schimmer. Genug, 
biefer ift nun hier, und das ift mir die Hauptſache.“ 

„And Lotte mit?” 

„Natürlich do! Bob Blig, dent Du, id 


würde um den Dhm Ruprecht mit jeinem verräu- 
herten Pelzrod in Aufregung geraten und mid) darum 


— — ———— — —————— ———— — ————— ——— — — — — 


83 Schwertklingen. 


ehauffieren, ob er bier oder im Y:fefferlande Logis 
nähme?” Seine blauen Augen bligten in glüd: 
feligem Übermut bei biefen Worten. 

Hallo Ichwieg. Seit Wochen war Lotte jchon 
in feiner Nähe und nahm fih nit einmal Die 
Mühe, es ihn willen zu lafjen. So wenig verlangte 
fie danach, ihn wiederzufehen. 

„Lotte wird fi übrigens wundern, daß Du 
noch nicht bei ihr warjt,” bemerkte Hilmar noch zum 
Überfluß. 

Haſſo zuckte die Achſeln. „Hätte ſie mir ihr 
Hierſein mitgeteilt, ſo würde ſich kein Grund zum 
Verwundern geboten haben.“ 

„Warum kommſt Du doch niemals zu mir!“ 
zürnte Hilmar, ſich gegen den Vorwurf wehrend. 

„Ich werde Dich nächſtens beſuchen, vielleicht 
morgen ſchon. Adieu, Hilmar, ich muß jetzt gehen.“ 

„Soll ich Lotte von Dir grüßen?“ 

„Danke —“ das Nein verſchluckte Haſſo und 
ging raſch weiter. An der nächſten Wegecke begeg— 
nete er Noſtitz, dem ſchlanken Rieſen in Gendarmes— 
Uniform. 

„Guten Abend, Rochlitz, wohin des Weges?“ 
rief ihm dieſer entgegen. „Nach dem Sommer— 
häuschen an der Spree? Charmant, da gehen wir 
zuſammen. War das nicht übrigens einer meiner 
Regimentskameraden, mit dem Sie da eben Unter— 
haltung pflogen?“ 

„Jawohl, mein Vetter.“ 

Noſtitz ſtreifte den Huſarenlieutenant mit einem 
Seitenblick. „Sagen Sie, Haſſo, warum ſind Sie 
eigentlich nicht auch bei meinem Regiment einge— 
treten?“ 

„Wiſſen Sie das nicht?“ fragte Haſſo lächelnd 
zurück. „Seine Eltern wünſchten nicht, daß ich 
unwürdiges Subjekt ihm durch mein Vorhanden— 
ſein die Stellung im Offizierkorps verderben möchte. 
Ich nehme an, daß Sie das erklärlich finden 
werden.“ 

Noſtitz ſtieß mit ſeinem Pallaſch auf den Boden, 
daß es klirrte. „Vomben und Granaten — — 
Nun, wiſſen Sie, dann hätte Hilmar ſich lieber an— 
derswohin verfügen ſollen und Sie uns überlaſſen, 
das iſt meine Anſicht von der Sache.“ 

„Dieſelbe iſt für mich ſehr ſchmeichelhaft,“ be— 
merkte Haſſo, „doch weniger für meinen Vetter. 
Mögen Sie ihn nicht, Noſtitz?“ 

„Wenn Sie mich fragen, nein! Er ift Salon: 
men, ganz und gar, kein Soldat. Geht mich ja 
nichts an, aber ich liebe das nicht. Sie dagegen — 
was man jo fagt — nun, im übrigen paljen Sie 
auch beiler zum Hufaren, als zum Küraffier. Unfer 
gnädigiter Herr findet das aud.” 

„Nun, dann ift ja alles erfüllt,“ beftätigte Hallo 


lähhelnd. „Seit wann ift denn der Prinz von 
Schride zurüd? Er fann nit lange dort gemwejen 
fein?” 


„Nein, nur kurze Zeit,“ berichtete Noftik, „und 
diesmal ganz allein. ch las einen rührenden Brief 
an Madame Wiefel, in dem er ihr fein Einfiedler: 
leben bejchreibt. Um fieben hr ausgeritten, nachher 
auf Zagd, bis neun Lhr in die Briücher, wie er fi 





Roman von Hans Werder. 84 


ausdrüdt, um Schnepfen und Belaffinen zu Ichießen. 
Dann diniert und Tchließlich Höchit ermübdet zu Bett 
gegangen. Das ift jein Tageslauf, wie er ihn liebt 
und wie er ihm zuweilen notwendig if. Mir ward 
unterdes der ebhrenvolle Auftrag, das Moabiter 
Häuschen zu kaufen und nah dem Geihmad der 
Madame Wiefel einzurichten.” *) 

„Da bin ich ja doppelt neugierig,” meinte Hallo. 
„Es ift wunderbar, Noftig, wie ausgezeichnet gut 
Sie zu Ihrem Herrn pafjen. Yhm überall gewachlen 
und nirgend überlegen, ihn nie überjehend und doch 
voll Verfländnis für ihn. Ganz geeignet, ihn Schild- 
Inappe und Freund zugleich zu fein. — Woher hat 
der Prinz Sie fo gut gefannt, um diefe Wahl zu 
treffen?” 

„Sr bat mid gar nicht gelannt, als er mid) 
wählte,” erwiderte Noftit. „Aber jest, glaube ich, 
fennt er mich befler als irgend ein Menjch auf der 
Melt. Nie werde ich den Abend vergeflen, als ih 
zum eriten Mal an feinem Tiihe Jaß. Es war 
in jenen Tagen, wo wir alle die Mobilmahung er: 
warteten, und er war jo firahlend vor Freude in 
dem Gedanken, wie ih ihn nie fonft gejehen. Fürft 
Nadziwil jaß neben ihm, die beiden Schwäger 
ließen an auf einen fröhlichen, friichen Krieg. ‚Wir 
wollen ung mit Ehren betragen‘, jagte unjer Prinz, 
ih hör’ ihn no. ‚Der Erfolg ift aber nicht leicht, 
darum muß alles dran, und einer für den andern 
ſtehen! Amd dann wandte er fih zu mir —” der 
Erzähler ftodte. 

„Bitte weiter, was fagte er?” mahnte Haflo. 

„Er jagte: ‚Nun Noftig, ich hoffe eine gute 
Mahl an Ihnen gemacht zu haben! Sie werden mir 
ein Kriegsgefährte fein, auf den ich in allen Fällen 
zählen kann!" — Ach trat zu ihm, um ihm zu danten. 
Da umarmte er mid. Und diejer Augenblid machte 
mi ihm unterthänig auf Leben und Tod.” **) 


’k * 


28 


In Moabit, abſeits von dem Getriebe der großen 
Stadt, maleriſch am Ufer der Spree, im Schatten 
blühender Kaſtanien, lag das kleine Landhaus, welches 
der Prinz für ſeine ſchöne Freundin Pauline Wieſel 
hatte herrichten laſſen. Außerlich unſcheinbar, wie 
ein zierliches Bauernhäuschen, innen ein Feenneſt an 
Schönheit und Luxus, eine glänzende Faſſung, würdig 
dieſen Karfunkel zu umſchließen. 

Da ruhte ſie, in einem tiefen Seſſel hingeſtreckt, 
durch die offene Glasthür hinausſchauend auf die 
langſam vorüberfließenden Waſſer der Spree, auf die 
lichtgrünen Väume des Tiergartens am jenſei— 
tigen Ufer. 

Das weiße, antike Gewand, das ſie trug, durch 
einen goldenen Gürtel zuſammengehalten, ſchien ihre 
Schönheit nur zu verhüllen, um ſie deſto beſſer zur 
Geltung bringen zu können. Das blonde, gold— 
flimmernde Haar war gleichfalls nach Art der Antike 
geordnet. Wie eine Göttin war ſie anzuſchauen aus der 


*, Büchner, Briefe des Prinzen Louis Ferdinand. 
**) Wörtlich, Noſtitz' Tagebud). 


35 Schwertflingen. 


Ihönbeitsfrohen Griechenzeit — do voll warmen, 
blühenden Lebens. Es war fein Wunder zu nennen, 
wenn der jchönfte der Fürftenföhne zu ihren Füßen bie 
ganze übrige Welt vergaß. 

Er jaß neben ihr, ein wenig jeitab, den Blid 
ihr zugewandt mit geipannt erregtem Ausdrud. Sie 
aber jchaute ihn nit an. Unverwandt ruhte ihr 
Auge auf dem eintönigen Frühlingsbilde draußen, 
und um ihre purpurrote Xippen zudte e8 wie von 
unterdrüdten Weinen. Es jah wiederum aus, ale 
brächte diejes Liebesglüd nicht eitel felige Stunden. 
Auf der Stirn des jungen Kriegsgottes lagerte eine 
Wolke, die auf Gewitter deutete, auf ein fchon vor: 
übergebraujtes, das aber dennoch nicht alles Gewölt 
mit binmeggeräumt. Etwas von Groll lag no in 
dem Blid, mit dem er fie betrachtete. 

„Wenn ich mich doch nicht immer zur Heftigfeit 
reizen ließe,” begann er endlich gepreßt, „es ilt fo 
thörit, da ih ja doch weiß, daß es Dir Freude 
madt, mich zu quälen! Diefe Scenen haben aber 
das Üble, daß fie alles jchöne, große Gefühl in mir 
zurüdichreden, und in der®egenwirkfung au in Dir!“*) 

Pauline wandte rajch den Blid ihm zu — aus 
großen, tiefdunflen Augen, einen falten, troßigen 
Blick — und eigenfinniger nod) als zuvor hob fid 
die volle Unterlippe.. Ein Zuden ging um jJeine 
Augen. Doch allmählich milderte fih der Groll darin 
und der dunkle Schatten der Schwermut breitete fich 
über die blauen Tiefen. 

„Pauline, es fteht Dir fchlecht an, eiferfüdhtig 
zu fein!” fjagte er weicher als vorhin. „Du weißt 
ja doh, daß Du die einzige bift auf der ganzen 
Welt! Beurteile mich nicht falih, die erbärmlidhen 
‚bonnes fortunes‘ find für mich nicht reizend! Oft 
wünjdhte ih, nie mehr als ein Weib im Leben ge: 
liebt zu haben!“ 

Sie zudte wie in Geringihätung die Scäultern. 
„Das wäre do Ihade um alle die berühmten Aben- 
teuer bes galanten Prinzen! Wie jagt Doch Leporello 
— im ganzen taufend und drei! Schade jelbit um 
die interejlanten Abmwechjelungen, die auch jegt nicht 
ausbleiben — —” 

„Pauline, jag’ das nicht noch einmal!” gebot er 
ruhig und feft, und nur das Flimmern in feinem 
Blid deutete abermals auf unterdrüdtes Zorngemwitter 
bin. „®eliebte, verbanne doch diele erbärmliche, 
eine Anfiht von meinem Charakter. Die Farbe, 
das Kolorit, das meine Handlungen tragen, ift, weil 
es andern gleicht, nicht dasjelbe wie jene! Sch habe 
10 hohe, heilige Begriffe von der Liebe, daß fie Dir 
und manden andern vielleiht unbegreiflih ſcheinen 
würden. Die berben Erfahrungen bes Lebens haben 
mein Herz nicht erkaltet, nicht abgeftumpft gegen 
diefe himmlifche Poefie des Lebens! Sie allein be- 
greift das Glüd in fich!“ 

„Ein jhönes Glüd, das ich genieße!” **) Tamm es 
no immer trogig, doch jhon zaghafter von ben 
Lippen der Schönen. AYmmer noch fehaute fie Hin: 
aus, an ihm vorüber. Er fchüttelte leife den Kopf. 

*) Alle Außerungen des Prinzen in biejer ganzen Scene 


wörtlich feinen Briefen entnommen. 
*, Baulines eigene Worte. 


Roman von Hans Werder. 86 


„Bei Gott, Pauline, Du kennft mich nicht, wenn 
Dih wirkli der Gedanfe beherriäht, daß ich Frauen 
leicht liebe, daß der Wunih nah Belit ftets rege 
in mir jei!” Er unterbrach fih durch eine unge: 
duldige Bewegung. „Gerwiß, ich liebe die Frauen! 
Sch finde etwas Sanrtes, Angenehmes in ihrer Ge: 
jelichaft! Nahels Freundichaft zum Beilpiel hat einen 
Charakter, der viel jüßer ift als alles übrige! Ach 
fühle das lebhaft! Der Männer Freundichaft ift jo 
jelten, fo ungenügend! Ich finde es angenehm, mit 
Frauen umzugehen! — Aber Did, Süße, Did) liebe 
ih! Du weißt es ja, ich bin beftimmt, Dich zu lieben!” 
Der Klang feiner Stimme war tiefer geworden, wie 
der einer Saite, die voller und mächtiger in der 
Kraft ureigenen Empfindens ertönt. Er drang ihr 
tief, unmiderftehlich zum Herzen, und eine Thräne 
löfte fih von den bunflen Wimpern. 

Prinz Zouis Ichlang den Arm um ihren Naden, 
jo daß feine Hand ihr Kinn umfaßte und leife das 
gelenkte Haupt emporridhtete. So küßte er zart die 
Ihimmernden Tropfen von ihren Wimpern fort. 
Nicht Länger vermochte Bauline dem unausipredlichen 
Zauber jeines Wefens zu wiberftehen. Tiefer fentte 
fie das Haupt. SYhr Antlig verbarg fich in jeiner 
Sandflähe und ihre bebenden Lippen berübrten 
zärtlih, kaum merkbar die jchlanfen Finger bdiejer 
großmütigen Fürftenhand. 

„Pauline,“ fagte er leife, „wenn Du nur bie 
Hälfte der Mühe, die Du gebrauchft, mir zu jchaden, 
oder mich falfeh zu beurteilen, anmwenben mollteft, 
mich zu entichuldigen, jo würde ich glüdlich fein!” 
Einen Seufzer, unbörbar, fühlte fie nur wie einen 
linden Haud an ben Haarmellen ihrer Schläfe zittern. 

„SH brauche Dich nicht zu entjchuldigen, Youis, 
ih liebe Dih, ich bete Dih an, fo wie Du bift!“ 
und die [hönen Arme jchlangen fi um feinen Naden 
in bingebender Zärtlichkeit. 

D, fie hatte wohl Grund ihn zu lieben, jo wie 
er war, fich genügen zu laflen an ber Xiebesfülle, 
die er ihr bot. Hatte er auch in vergangenen Zeiten 
von frübften Zünglingsjahren an fein ungeſtümes 
Herz in ungezählten Abenteuern, XTändeleien und 
Leidenſchaften zerjplittert, Gefühl und Seelenfräfte 
vergeudet — mas er biejer feiner leßten Liebe 
gab, war ein fo unverfiegbarer Reichtum edelfter 
Hingebung, daß auch eine höher veranlagte Natur, 
als Pauline Wiefel, beglüdt und befeligt dadurd 
bätte jein können. Und fie |prah es aus — Hahre 
ſchon, nachdem das hochſchlagende Heldenherz die 
Grabesruhe gefunden — in einer Stunde ſchmerzlichen 
Erinnerns:*) 

„Gott wie hat der geliebt! Wie Goethe jagt: 
‚Wahre Liebe ift die, die immer und immer fich gleid) bleibt, 
Ob man ihr alles gewährt, ob man ihr alles verfagt!‘" — — 

Es war gut, daß der Friede nun wieder herge- 
ftellt, die Stirn des jungen Mars entwölft war, und 
die Rofenlippen der Schönen wieder lächelten. Denn 
ihon nahten fi) einige der Gäfte, wie fie allabendlic) 
im Haufe des Prinzen anzutreffen waren. Humboldt, 
Hardenberg, Sohannes von Müller ja man am 


*) Brief Paulines an Rahel S. Barnhagen. 





87 Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 88 


bäufigften, zuweilen felbft den Minifter Stein, an 
weldhen fih Prinz Louis mit Verehrung und Bu: 
trauen angeichlofien, wie ber jünger an jeinen 
Meifter.*) . 

Heute waren es Humboldt und Hardenberg, die 
zuerft bereintraten. Wie fortgeweht waren von des 
Prinzen Antlig die Spuren der vorangegangenen 
Ecene, vergefien Liebesleid und :Glüd. Was bieje 
Männer ihm entgegenbradten, nahm jeinen Sinn 
und Snterelle gänzlich gefangen. 

Neue politifche Ereignifje bereiteten fich vor. Der 
König weigerte fih, dem Rheinbunde beizutreten, in 
welhen Napoleon die deutfchen Länder zujammen: 
jchmiedete, um das Ganze alsdann wie einen Spiel: 
ball in feiner Hand zu halten. 

Noch immer verjudhte Haugwig den König aud 
zu biefer Nachgiebigkeit zu überreden, um dadurch 
das jammervolle Bünbnis mit Napoleon zu Trönen 
und deilen Freundihaft für Preußen zu gewinnen. 
Doh nein — mit Entrüftung wies der Herricher 
das Ichmähliche Anfinnen zurüd. Soeben hatte er 
fih in diefem Sinne zu Graf Hardenberg geäußert, 
der fogleih glüdjirablend dem Nrinzen Louis Mit: 
‘teilung hiervon machte. 

„Endgültig hat es Majeltät abgelehnt! ich ver- 


fihere Sie, Königlide Hoheit, jelbft Graf Haugmwiß. 


wird davon nun nicht wieder anfangen. Selten jah 
ich foldde Entichlofienbeit auf ber Stirn unferes Aller: 
gnädigften Gebieters! D ih wußte c3 glid — 
ihon ala ih bHineinging in das Kabinett Seiner 
Majeftät, da begegnete mir die Königin, die eben da 
heraus fam! — Ab, Königliche Hoheit,” fuhr der 
elegante Kavalier mit einem Ceufzer innigfter Be: 
geifterung fort, „wenn ich jemals Shre Majeftät be: 
wundert habe, jo war es in biefem Augenblid, als 
fie an mir vorüberging und mich mit einem Lächeln 
grüßte. Welche Huld und Gnade lag darin! Welche 
frohe Zuverficht zugleich, und weldde Königinnenwürbe! 
Es wollte mid bedünfen, als hätte fie, ohne ge- 
fämpft, ohne es gewollt zu haben, einen Sieg er: 
fohten! ch koflete die Früchte davon, und lege fie 
nun Sbhnen, mein gnädigfter Herr, zu Füßen, wenn 
ih mich jo ausdrüden barf!” 

Prinz Ludwig hatte feine Erwiderung für die 
ibm fo erwielene Aufmerfjamleit. Bewegt, mit warmem 
Händedrud nahm er fie entgegen. „Gott fei Dank!” 
lagte er nur dabei. — „Aber nun verjudhen Sie, 
beiter Graf, Majeftät in folder Stimmung zu er: 
balten!” nahm er dann das Wort. „Sett müjjen 
die Waffen Ipreden! Diefe Zurüdweilung ift zu 
völlig, zu großartig, als daß Napoleon fie einfteden 
fünnte. Er bat deren jchon mehrere erhalten, wenn 
auch leider ohne den nötigen Nahdrud des Schwertes! 
Und das war ein Mangel, ja mehr als das: eine 
Gefahr! Hier gilt gewiß das Wort meines großen 
Obeims: Il est dangereux d’offenser a demi — 
et quiconque menace, doit frapper!“ 

Höher leucdhteten Prinz Yudwigs Augen, während 
er jo jpradh, und fein fein gebräuntes Antlig färbte 
fich tiefer. Er ftand mit einem Arm auf ben Flügel 








*) Noftig. 


gelehnt, bineinverjentt mit glühbender Seele in das 
feffelnde Gelpräh mit ben beiden jo bemwanderten 
Männern. 

Endlih öffnete fih abermals die Thür des 
Solond. Bon ihrem guten Freunde, dem Afjeflor 
Better, begleitet, trat bie Rahel herein. Lebbaft 
richtete der Prinz fih auf und ging ihr entgegen. 

„Xiebe Kleine, lafien Sie fi endlih einmal 
jehen!“ rief er, mit beiden Händen ihre Rechte um— 
Ichließend. 

Die zierlihe Yüdin jah mit ftrahlendem Blid 
zu ihm auf. „OD mein teurer Prinz, es ift gültig, 
ja rührend, daß Sie mich heute jo begrüßen, nadhdem 
ih Shnen geftern lauter unverbindlide Dinge ge: 
agt habe!” 

„Dann find meine Begrüßungen für Sie immer 
rübrend, liebe Rahel,” rief er lebhaft. „Denn Sie 
lagen mir jehr oft unverbindlie Dinge. Es ift Jhr 
Vorreht und Sie nüben e8 aus, das willen mir 
beide Doch zur Genüge!” 

„Nein, mein Prinz, ih muß Sbhnen wider: 
Ipreden,“ erwiberte Rahel. „Daß id Ahnen die 
Wahrheit jage, ja — das willen wir beide! Aber 
die Wahrheit braucht Jhnen gegenüber nur in jeltenen 
Fällen Unfreundlichleiten zu enthalten! 

„Heute aber,” fuhr fie fort, „bin ich lediglich 
gefommen, WBauline wieberzujehen und das neue 
Quartett mit anzuhören. Selbft den unmuſikaliſchen 
Better hat es begeiftert. Wie viel mehr darf ich mir 
davon veripredhen!” 

„Es fol SJhnen werden, Kleine! Aber auf Vetters 
Empfehlung, wo es fih um ein Mufiljiüd handelt, 
würde ich feinen großen Wert legen — wenn id) 
auch fonft von tiefftem Reſpekt vor feiner Geiftes- 
größe erfüllt bin! Nicht wahr, Better, davon find 
Sie überzeugt!” 

„Sa, Königlide Hoheit, bis auf einige Löcher, 
die fich in biefer Reipeltstoga doh wohl bin und 
wieder zeigen dürften,” lachte Afjefior Vetter. Er 
war ein hübjcher, begabter, junger Mann und burfte 
ih mit gutem Recht zu ben vertrauteren Freunden 
bes Prinzen zählen. Daß er einftmal® Pauline 
Wiefel geliebt, bis die Leidenjchaft des hohen Herrn 
fie wie eine unfihtbar madhende Wolle umhüllt und ihm 
entrüdt, ja, daß er fie vielleicht jet noch liebte, hinderte 
das Fortbeftehen diefer Freundjchaft feinesmweg. 

Der Kreis der Anmelenden jammelte fi jett 
um eine Kleine Tafel mitten im Zimmer, wojelbft 
Speilen und Getränke zu beliebiger Auswahl auf: 
getragen waren. 8 ging jehr zwanglos zu bei 
diefen Zufammenfünften. 

Karl Noftig und Haflo traten herein. Der 
Prinz erhob fih leiht und kam ihnen entgegen. 
„Noſtitz, gut, daß Sie da find! Fefleln Sie für 
einige Minuten die Aufmerkfamfeit, damit niemand 
meine Abmejenheit merlt.e Ein paar Atemzüge 
friiher Luft nur will ich Shöpfen! Mir brennt ber 
Kopf! Kommen Sie mit, Rodlig!” 

. Sie traten durd) bie Glasthür ins Freie hinaus. 
Uber den Bäumen des Tiergartens war ber Mond 
aufgegangen und warf ein zitterndes Net von Silber: 
fäden über das bdunfel fließende Wafler der Spree. 


89 Schwertklingen. 


Ein feuchter Windhauch ſtrich herüber und kühlte 
lind die heiße Stirn des kriegeriſchen Helden, in 
deſſen Seele das Hoffen der nahenden Entſcheidung 
Flammen entfachte. Schweigend ging er einige 
Male auf und nieder, am Ufer entlang, ohne auf 
ſeinen Begleiter zu achten. Dann aber hemmte er 
plötzlich den Schritt. 

„Rochlitz, unſer letztes Zuſammenſein war ein 
wenig ſtürmiſcher Art. Ich hoffe, das heutige wird 
fih deito erfreulicher geftalten!” 

Haflo atmete tief auf. Diefen Moment batte 
er erfehnt. „Darf ih hoffen, daß Eure Königliche 
Hoheit für mein Vergehen Berzeihung haben?” 
fragte er mit bemegter Stimme. Dabei fiel ihm 
ein, daß er nun zum erftien Male und fo ganz frei: 
willig eine Bitte um Verzeihung ausgeiproden, die 
feit feinen Kinderjahren niemand weder dur Güte 
no Härte battle erprefien können. Auch bas alio 
hatte der angebetete Held über ihn vermodt! 

„Sa, Hallo, das ift erledigt! Ach Habe jegt 
eine andere Frage an Sie! Wenn wir nun ins 
Feld rüden follten, Gott gebe es, bald, wollen Sie 
dann bei mir ordonnanzieren? Überlegen Sie fidh’s! 
Sch denke, Sie werden mir feinen Korb geben!” — 

Als fie ins Haus zurüdkehrten, waren SKapell- 
meifter Duffet und NRittmeifter von Möllendorf an: 
gelommen. Die Künftlerichaft war jomit beifammen 
und das Konzert begann. Tas wundervolle Duartelt 
FMol, fein reifftes und gediegenftes Werk, im ver: 
gangenen Winter in Zmwidau fomponiert, ward vor: 
geführt, zum Entzüden der Zuhörer. 

Rahel hielt fi den Blid auf den fürftlichen 
Mufiter gerichtet. Für fie war es nicht allein der 
MWohllaut der Töne, ber zu ihrem Empfinden Iprad) 
als vielmehr der Herzihlag, den fie zmilchen ben 
Tönen pochen hörte, voller Luft und Web, voller 
Kraft und Ungeftüm, bald Ihmwermütig, bald über: 
mütig, doch immer edel und tief empfunden. 

Als das Quartett beendet, wandte der Prinz 
ih fort, mit einer abgeichloffenen Bewegung, die 
weder Frage noch Kundgebung zuließ. Auh Mufil 
wollte er beute nit mehr. Zu deutlich hatte er 
jegt bei jeinem Were noch einmal nadhempfinden 
müfjen, was damals burch feine Seele geflürmt war, ala 
er ihatenduritig, zum Harren verurteilt, ſeine pochenden 
Nerven zu beruhigen verfuht im Dienfte der Kunft. 

Erregt und heiß trat er zur Tafel, füllte ein 
KReldhglas mit perlendem Selt und flürzte ihn hinunter. 

Mit Halbem Ohr nur nahm er weiter an ber 
Unterhaltung teil, die unter feinen Gäften fortge: 
führt wurde. Bald empfahlen fich dielelben nad} 
einander. Auch Pauline 309 fi zurüd, 

Prinz Ludwig ftand allein und fchaute in bie 
Mondnadt hinaus. Er dachte jett nicht an feine 
Liebe, vernahm nicht mehr den Nadyllang der Mufit, 
die ihn fo tief bewegt. Die nimmer raftende und 
neu aufglühende Sehnfuht nad Größe und Helden: 
tum wob ihren Traum um ihn. Es war, als breitete 
feine Seele ihre Schwingen aus zu mädhtigem Fluge, 
alles Unmelentlihe und Geringe tief unten zurüd: 
laflend, wie der Adler, der einfam emporfteigt mit 
gewaltigem Flügelichlage, zur Sonne hinauf. 


Romunsgeitung 1896. 





Roman von Hans Werber. 90 


Dritter Abfchnitt. 
Des Udlers Todesflug. 


Nur Todgeweihten 
Taugt mein Anblid. 
Wer mich erihaut, 
Gelder vom XebenBlict! 
Auf der Walftatt allein 
Su Baia ich den Helden, 
Dig —X 
dahr t Big! 
Nach En folgt Du mir! 


I. 


Der Sommer des Jahres 1806 ging zu Ende. 

Preußens Schidjal drängte immer gewaltjamer 
zur Entfeidung hin. Das Deutihe Rei war auf: 
gelöft worden, das taujendjährige Neih Karls bes 
Großen zu Grabe getragen. Ein Dritteil desjelben 
ftand, zum Rheinbund vereinigt, unter dem Schuße 
bes franzöfiihen Sailer als feine Vajallen und 
Verbündeten. UOfterreih, Rußland und England 
Ihlofien mit Frankreih Frieden. Preußen jab fi) 
allein und jhußlos dem Haß und Übermut Napoleons 
überantwortet, an den es durch ein unfreimilliges 
Bündnis gefettet war. Diejes Bündnis erhielt erft 
feine richtige Form, als Haugmwig, nah Paris ent: 
fendet, dort mit Napoleon den Allianzvertrag ab: 
ſchloß. Dieler aber glich mehr einer Kapitulation, 
als einer freiwilligen Handlung. Haugmwig’ Günftling 
Lombard jpielte in Berlin den Spion des franzöfiichen 
Gefanbten, Jo daß Napoleon, über alle Vorfälle und 
Schwankungen im preußiſchen Kabinett unterrichtet, 
dasjelbe nur um jo übermütiger bintergehen und 
Preußen feine Tlberlegenheit fühlen laſſen konnte. 
Auf beiden Seiten bäuften fih Kränftungen und 
Verftiimmungen, die unvermeidlid den Ausbrud 
bes Krieges heraufbeichiooren. Wie ein Raubtier mit 
erhobener PBranke beobachtete Napoleon die Windungen 
des preußifchen Kabinetts, das noch immer feinem Ge: 
waltichlage zu entkommen hoffte. Er wartete falten 
Blutes auf den richtigen Augenblid, die wehrlofe 
Beute zu zermalmen, mit all der Fülle von Haß 
und Radhjucht, deren feine Korjennatur fähig war. 
Der König von Preußen aber hoffte noch jett auf 
die Möglichkeit einer friedlichen Löjung, jelbit da, 
al8 die Heere ſchon gegeneinander vorzurüden be: 
gannen. Und dieje Unficherheit wirkte lähmend und 
verderbli jelbft auf die Entichließungen der Heer: 
führer ein. Auch unter diefen gab es feinen ein- 
beitliden Willen, feine gegenfeitige Verfländigung 
und Unterordnung. Und jo 309 man den fieg: 
gewohnten Scharen Napoleons entgegen, mit halbem 
Herzen und halben WMaßregeln, voller SYUufionen 
und Selbittäufchungen und doch ohne rechte Sieges: 
freudigleit. Mit mattem Flügelihlage 309 ber Abler 
aus, — dem Iprungbereiten Tiger entgegen. 

Das Regiment Gendarmes hatte Befehl zum 
Ausrüden erhalten, übermorgen fıühb. So war heute 
der vorlegte Tag in Berlin. 

Hilmar Rohlig ging rafhen Schrittes in der 
Abendftunde die Häuferreihen entlang, der Dorotheen- 
ftraße zu, in welder Dntel Rupreht Wohnung ge: 


IV, 7 


91 Schwertklingen. 


nommen, wo die Geliebte ihn erwartete. Es war 
ſpät und dunkel und wurde jetzt ſtiller auf den un— 
ruhig belebten Straßen. Sein klirrender Schritt 
hallte auf dem unebenen Steinpflaſter. Als er ſich 
der Hausthür, der wohlbekannten, näherte, trat, von 
entgegengeſetzter Richtung kommend, ein anderer 
gleichfalls auf dieſelbe zu. Ein Mann mit waffen⸗ 
klirrendem Schritt, im goldverſchnürtem Hufaren- 
dolman, wie der Schein der Straßenlaterne ihm zeigte. 

„Haſſo, Du?“ 

„Ja, Hilmar, ich! 
dieſer Stunde zu kommen! 
Abſchiedsbeſuch bei ihr ſein!“ 

„Gewiß — aber wart' noch einen Augenblick — 
ich will Dir ſagen, warum ſie Dich zu dieſer Stunde 
gerade gerufen. Es iſt beſſer, Du erfährſt es hier, 
jetzt gleich! — Siehſt Du, wie hell die Fenſter da 
oben ſind? — Zu meiner Hochzeit gehe ich hinauf! 
Unſer Trauzeuge ſollſt Du ſein, Haſſo!“ 

„Ach, Hilmar, wirklich?“ 

„Ja wirklich! Freuſt Du Dich nicht mit mir 
darüber?” 

„Serwiß, ja, ih freue mih! hr wünjchtet 
es Euch ja wohl beide feit lange! Aber nun — zu 
Anfang diefes Krieges — — arme Lotte!” 

„Arme Lotte — ift das Dein ganzer Glüd: 
wunſch?“ 

„Was ſagen Deine Eltern dazu?“ 
Haſſo zurück. 

„Ich habe es Mama in größter Eile mitgeteilt, 
aber ich weiß lange, daß ſie mit meiner Wahl von 
Herzen einverſtanden iſt! — Wir hätten freilich noch 
eine Ewigkeit warten müſſen, wenn nicht dieſer 
herrliche, fröhliche Krieg — — komm, nun ſchnell, 
Haſſo! Wir haben ihnen allen das Recht über den 
Kopf genommen!“ 

Er flog die Treppe hinan, raſcher, ſtürmiſcher 
mit jeder Stufe, und die Zimmerthür öffnete ſich vor 
ihm. Da ſtand ſeine Braut im ſchlichten, weißen 
Kleide, ein Myrtenkränzlein in dem braunen Haar, 
und wartete auf ihn. Mit einem leiſen ſchluchzenden 
Laut, halb Jubel, halb Weh, ſank ſie an ſeine Bruſt. 

„Arme Lotte!“ ſagte er unwillkürlich. 

Sie hob den ſchüchtern geſenkten Veilchenblick zu 
ihm auf mit banger Frage. „Warum ſagſt Du das 
Hilmar?“ 

„Hallo jagte es, aber das Wort joll feine Vor: 
bedeutung für uns haben, meine jüße Lotte! Mit 
Gottes Hilfe Fehre ich wieder aus dem Selde, fieg- 
reih und glüdlih, und unfjere Wonne dann wird 
unendlidh fein!” Er flüfterte e8 leije ſchmeichelnd 
und tröftend in ihr Obr. 

Dann aber löfte fie fidh fanft aus feinem Arm. 
Sie waren nit mehr allein. Ihr Vater ftand da, 
mit verlegener, unbefriedigter Miene. Xhm vor allen 
war das Recht über den Kopf genommen und er 
vermodte noch nicht, fih in die Sachlage zu finden. 

Ein Freund und Regimentslamerad von Hilmar, 
Lieutenant von Bredow, war Zeuge, ber Geiftliche 
im Drnat vollzog die Trauung. Hilmar und Lotte 
von Rodhlig waren Mann und Weib. 

Hafjio jah das tiefe, innige Glüd aus beider 


Lotte hat mich gebeten, zu 
E3 ol zugleih mein 


fragte 


Roman von Hans Werber. 92 


Augen ftrahlen und gönnte es ihnen von Grund 
jeiner Seele. Dod das Herz war ihm jchwer dabei. 
Sie gingen einer dunklen Zulunft entgegen! Er 
nahm Abjchied von beiden und verließ mit Bredomw 
zujammen das Haus. 

Seiner Mutter hatte Hilmar die Nachricht der 
fo raid beichlofjenen Heirat gefandt und fie und 
den Vater um ihren Segen gebeten. Derjelbe ward 
ihm nicht vorenthalten. Die Mutter war bejeligt 
dur das Blüd ihres Sohnes, das aus feinem 
Briefe jubelnd zu ihr jprah. Wäre nur nicht die 
qualvolle Angit damit verbunden gemweien, daß nun 
wirklich der Krieg begann und ihr Liebling mit hinaus: 
ziehen mußte in Strapagen und Todesgefahr. So 
war e8 für fie ein Glüd unter Ängften und Thränen. 

Einen Stihd ins Herz gab ihr zugleich Die 
Nahriht, daß Haflo zum LDrdonnanzoffizier bes 
Brinzen Louis Ferdinand fommandiert wäre. Wie 
kam diejer Stalljunge — jo bezeichnete fie ihn in 
ihren Selbftgelpräden — zu folder bevorzugten 
Stellung und an den Hof des Prinzen? Diejes leicht: 
finnigen jungen Herrn, der noch dazu gewiß feinen 
Spott mit ihm trieb und ihn zum Trinken, Spielen 
und wer weiß was fonft noch für Lajtern verführte! 
Den Knaben, den fie aufgezogen unter fo viel Sorgen 
und Mühen! 

Herr von Rodhlig aber verwies ihr diefen Aus: 
fall auf den königlichen Prinzen. Wenn ber Schlingel, 
der Haflo, zu Grunde ging, fo war dies feine eigene 
Schuld! Den Neffen feines großen Königs aber 
dafür verantwortlich zu machen, den jungen Kriege: 
belden, der fi jhon als zwanzigjähriger Jüngling 
duch die Erftürmung der Zahlbaher Schanzen Jo 
prächtig bewährt, von dem er jegt jo Großes er: 
wartete — Sole Unbilden duldete er in jeinem 
Haufe nidt. Und Frau von Rohlik gab fi zu: 
frieden. Mocte denn Hallo zu Grunde gehen, wie 
und buch wen er wollte, modte er fich Jelbit einer 
bevorzugten Stellung erfreuen! Wenn nur Hilmar 
ihr erhalten blieb, der Abgott ihres Herzens! Wenn 
nur bdiejer Krieg vorüber ging, ohne ihn zu ge: 
fährden — feinen andern Wunjh und Sehnen mehr 
fannte ihr Herz! 

Als Haflo das Haus feiner Verwandten ver: 
laflen, ging er nad der MWilhelmftraße. Dort 
erwartete ihn Renate zum lebten gemütlichen Bei- 
jammenfein in altgewohnter Weije und zum Abfchieb: 
rehmen. Denn übermorgen rüdte au er aus im 
Gefolge feines Prinzen. 

Nenate war in heller Begeilterung. Am liebjten 
wäre fie jelber mit binausgezogen in Schladht und 
Sieg, und fie beneidete die Wtänner, denen biejes 
herrliche Vorrecht vergönnt war. 

Herr von Veldegg, der mit ganzer Seele zur 
Kriegspartei gehörte, war Feuer und Flamme für 
die Sache. Eingehend ſprach er alle die Hoffnungen 
und Ausſichten des Feldzuges in ſeiner lebhaften 
Weiſe durch, und Haſſo mußte ihm berichten über 
die Stimmung und Anſichten des Prinzen, ſo viel 
er nur irgend vermochte. 

Und dann kam der Abſchied. Als Haſſo ſeinen 
Säbel umſchnallte, die ſcharfe Huſarenklinge für den 


— — — —.. —— — — — 





93 Schwertklingen. 


mörberiihen Krieg, da kam e8 Renate plöglih ins 
Bewußtlein, daß er jet von ihnen ging, in grimme 
Todesgefahr hinaus. Daß er nach langer Zeit erft 
wieberlehren würbe, ein friegserfahrener Mann, ein 
Held und Sieger, oder vielleiht auch nimmermehr! — 

Und wie er nun vor ihr fland und ihre Hand 
in ber feinen bielt zum innigen Abjchied, da flofien 
ihre Thränen unaufbaltfam, als jollte ihr das Herz 
zeripringen im Trennungsleid. 

Mit tiefem, warmem Blid jah Hafjo auf fie 
nieder. So meinte fie um ihn und würde um ihn 
bangen, für ihn beten, während er draußen im 
Kriege war, und würde fih freuen, wenn er lebend 
wieberlehrte? Ach, daß er die Gewißheit mit bin: 
ausnehmen burfte! Das Herz Ihwol ihm in zärt: 
liher Dankbarkeit. Nie, bis zum lebten Atemzuge 
würde er ihr bas vergeflen, nie aufhören, fie zu 
lieben für diejes füge Mitgefühl, durch das fie ihm 
jo unendlid wohlgethan. 

Prinz Louis Ferdinand jaß allein in feinem 
Zimmer am Screibtiid. Die zu dem Korps bes 
Fürfien Hohenlohe gehörige Avantgarde war unter 
feinen Befehl geftelt.e. Morgen wollte er den fchon 
ausgerüdten Truppen folgen, um fi zunädft in 
— Hauptquartier des Fürften nach Dresden zu bes 
geben. 

Mit fiebernder Ungeduld jah er die Entiheidung 
näher rüden. Morgen endlich jollte dem Ausharren 
in friedlicher Umgebung ein Ende gemadt werden. 
Es war ber lebte Abend, und ein jchwerer Tag lag 
hinter ihm. Bon feinen Eltern batte er Abichied 
genommen und von Fürftin Luife, der geliebten 
Schweiter. Wie traurig war das gemweien! Sie 
hatte ja bie großen Ziele vor Augen wie er, und 
ihre Seele war die einer Heldin! Er mußte fi 
eins mit ihr im Wollen und Empfinden, jo wie e8 
nur möglich zwilchen Bruder und Schweiter, zwei 
Reilern aus einer Wurzel, an einem Stamm ge: 
wadhjen. Darum verftand er wohl das hoffnungs- 
loje Web, mit dem fie ben vielgeliebten Bruder 
Icheiden jah. Es war auf Nimmerwiederjehen! 

Dann der Abichiedb von Henriette und von 
feinen Kindern. Ste wußten nidt, die abnungs- 
Iojen Heinen Gej&höpfchen, was ihnen widerfuhr, als 
er da von ihnen ging, mit thränenjchwerem Blid 
ihre unjhuldigen Lieblofungen erwidernd. Er aber 
wußte, daß der Schuß feiner Liebe und Fürjorge 
ihnen genommen ward mit diefem Augenblid und 
fie fortan allein, verlaffen zurüdblieben fürs Leben. 
So gut er fonnte, hatte er für fie und ihre Mutter 
gejorgt. Doch wie viel blieb noch zurüd, jein Herz 
mit fchwerer Sorge zu belaften! — 

Er hatte alle feine Arbeiten beendet, alle 
Pflichten erledigt, und nun lag aud) der Abjchieds- 
brief an die Königin vollendet vor ihm da. Sie 
hatte Fürzlich Berlin verlaflen, während er fich bei 
jeinem Regiment in Magdeburg befand. So hatte 
er ihr nicht Lebewohl jagen, nicht ihren Segen er: 
bitten fünnen für diefen Kampf, in welchen er aus: 
zog als ihr Paladin, das Herz von glühendenm Zorn 
erfüllt, feine Königin an dem korfiihen Barbaren zu 
rächen. Schon jegt hatte diejer begonnen, beißende 


— — — — —— — — 


Roman von Hans Werder. 94 


Schmähworte gegen ſie, die edelſte aller Frauen, zu 
richten, und ſich dadurch in ſeiner Unritterlichkeit 
und Gemeinheit zu brandmarken für alle Zeiten. Ja 
— ihr Rächer hoffte Prinz Ludwig zu werden. 

So hatte er an ſie geſchrieben, in feurigen 
Worten ſeinen Abſchiedsgruß und ſeine Huldigung 
dem Siegesgenius und Schutzengel Preußens zu 
Füßen gelegt, hatte ſie angefleht um ihren Segen 
und um ein gütiges Gedenken, falls ſein Auge ſie 
nicht wieder erſchauen ſollte in dieſem Leben. Der 
Brieſ war fertig und Prinz Louis blickte ſinnend 
darauf nieder, den Kopf in die Hand geſtützt. Auf 
ſeinem Antlitz lag ein tiefer Schatten, welcher Todes⸗ 
ahnung bedeutete. 

Und zugleich zog es durch ſeine Seele wie ein 
Rückblick auf das vergangene Leben. In ſeinem 
vierunddreißigſten Lebensjahre ſtand er jetzt. Eine 
Jugendzeit lag hinter ihm voll brauſender Stürme 
und glühenden Sonnenlichtes, ſchwarz wie Gewitter⸗ 
nacht und rofig wie ſanfter Abendſchein. Sie war 
zu Ende, die reifen, ernſten Jahre ſtanden vor ihm, 
in denen er handeln und wirken ſollte, ſich be⸗ 
währen als ein Mann und ein Held. Würden fie 
fommen, oder wartete fein das frühe Grab? Ad 
um bie verlorenen Sabre! Um all die unerfüllten 
MWünfche, vernichteten Hoffnungen, all die Seelen: 
träfte, die fih aufgezehrt im Kampf der Leiden: 
Ihaften, der inneren und äußeren Raftlofigkeit. 

Wieder gingen feine Augen über den Brief 
bin, der vor ihm lag. „Meine Königin, über allen 
Abgrundtiefen meines Lebens ftandeft Du wie ein 
Harer Stern und warfit Dein Spiegelbild hinein, 
läuternd und veredelnd. Hätte ih no einmal 
nur vor Dir ftehen dürfen und Dir Beichte ab- 
legen über mein Srren und Streben! Hätteft Du 
Deine gütige Hand auf mein Haupt gelegt, Tegnenb 
a bie legte Weihe zu geben — für den nahen 
To ___M 

Wie aus fohwerem Traum fuhr er endlih auf 
und berührte die filberne Slode auf feinem Schreib: 
id. — „Meinen Wagen, Drdorf! — Nah ber 
Sägerftraße!” 

Rahel erwartete ihn. Sie hatte viel gelitten 
und viel geweint den Tag bindurd. Seht war fie 
ruhig, denn fie wußte, daß der heißgeliebte Freund 
der Ruhe und Klarheit ihrerjeits bedürfen würde. 
Die Wachskerzen, auf hoben filbernen Leuchtern 
brennend, erhellten freundlich das traulide Gemad). 

Der Prinz trat herein. Stumm grüßten fie 
feine Augen. Er warf fi in eine Ede des Kana- 
pees, dort, wo er jo mandes Mal ein Nilles Aus: 
ruhen gefunden, wenn die Welt und bes eigenen 
Herzens Stürme ihn müde gebegt. Rahels dunkle 
Augen ruhten auf ihm voll Liebe und Weh. Es 
lag in feinen Augen der Ausdrud eines unlösbaren, 
doch unwiderſtehlich anziehenden Rätſels. 

„Er war die feinſte Seele,“ ſagte ſie einſtmals 
von ihm, „von beinah niemand gekannt, wenn auch 
viel geliebt — und viel verfannt!”*) 

Sie aber Tannte ihn. 


*) Barnhagen, „Salerie von Bildniffen”. 





91 Schwertklingen. 


nommen, wo die Geliebte ihn erwartete. Es war 
ſpät und dunkel und wurde jetzt ſtiller auf den un— 
ruhig belebten Straßen. Sein klirrender Schritt 
hallte auf dem unebenen Steinpflaſter. Als er ſich 
der Hausthür, der wohlbekannten, näherte, trat, von 
entgegengeſetzter Richtung kommend, ein anderer 
gleihfalls auf diefelbe zu. Ein Mann mit waffen: 
flirrendem Schritt, im goldverignürtem Hufaren- 
dolman, wie der Schein ber Straßenlaterne ihm zeigte. 

„Hallo, Du?” 

„sa, Hilmar, id! 
diefer Stunde zu kommen! 
Abſchiedsbeſuch bei ihr ſein!“ 

„Gewiß — aber wart' noch einen Augenblick — 
ich will Dir ſagen, warum ſie Dich zu dieſer Stunde 
gerade gerufen. Es iſt beſſer, Du erfährſt es hier, 
jetzt gleich! — Siehſt Du, wie hell die Fenſter da 
oben find? — Zu meiner Hochzeit gehe ich hinauf! 
Unſer Trauzeuge ſollſt Du ſein, Haſſo!“ 

„Ach, Hilmar, wirklich?“ 

„Ja wirklich! Freuſt Du Dich nicht mit mir 
darüber?“ 

„Gewiß, ja, ich freue mich! Ihr wünſchtet 
es Euch ja wohl beide ſeit lange! Aber nun — zu 
Anfang dieſes Krieges — — arme Lotte!“ 

„Arme 
wunſch?“ 

„Was ſagen Deine 
Haſſo zurüd. 

„Ich habe es Mama in größter Eile mitgeteilt, 
aber ich weiß lange, daß ſie mit meiner Wahl von 
Herzen einverſtanden iſt! — Wir hätten freilich noch 
eine Ewigkeit warten müſſen, wenn nicht dieſer 
berrliche, fröhlide Krieg — — lomm, nun jchnell, 
Hallo! Wir haben ihnen allen das Recht über den 
Kopf genommen!” 

Er flog die Treppe bhinan, rajcher, ftürmifcher 
mit jeder Stufe, und die Zimmerihür öffnete fich vor 
ibm. Da Stand feine Braut im jchlichten, weißen 
Kleide, ein Myrtentränzlein in dem braunen Haar, 
und wartete auf ihn. Mit einem leijen jchluchgenden 
Laut, halb Yubel, halb Web, jant fie an feine Bruft. 

„Arme Lotte!” fagte er unwillfürlid. 

Sie hob den Ihüchtern gefenkten Veilhenblid zu 
ihm auf mit banger Frage. „Warum fagit Du das 
Hilmar?” 

„Hallo Tagte es, aber das Wort fol feine Vor: 
bedeutung für uns haben, meine füße Lotte! Mit 
Gottes Hilfe Fehre ich wieder aus dem Felde, flieg: 
reid und glüdlih, unb unjere Wonne dann wird 
unendlich jein!” Er flüfterte es leije jchmeichelnd 
und tröftend in ihr Ohr. 

Dann aber löfte fie fich janft aus feinem Arm. 
Sie waren nicht mehr allein. hr Vater ftand da, 
mit verlegener, unbefriedigter Miene. Yhm vor allen 
war das Redht über den Kopf genommen und er 
vermochte nod nicht, fi in die Sachlage zu finden. 

Ein Freund und Regimentstamerad von Hilmar, 
Lieutenant von Bredow, war Zeuge, ber Geiftliche 
im Drnat vollzog die Trauung. Hilmar und Lotte 
von Rodlig waren Mann und Weib. 

Safio fah das tiefe, innige Glüd aus beider 


Lotte hat mich gebeten, zu 
Es ſoll zugleich mein 


Eltern dazu?” fragte 


Lotte — ift das Dein ganzer Glüd:. 


Roman von Hans Werber. 92 


Augen ftrahlen und gönnte es ihnen von Grund 
feiner Seele. Doch das Herz war ihm fjchwer dabei. 
Sie gingen einer bunflen Zulunft entgegen! Er 
nahm Abichied von beiden und verließ mit Bredomw 
zujammen das Haus. 

Seiner Mutter hatte Hilmar die Nachricht der 
fo rajch beichloffenen Heirat gelandt und fie und 
den Vater um ihren Segen gebeten. Derjelbe ward 
ihm nit vorenthalten. Die Mutter war bejeligt 
durh das Glüd ihres Sohnes, das aus jeinem 
Briefe jubelnd zu ihr Iprad. Wäre nur nidt bie 
qualvolle Angft damit verbunden gemwejen, daß nun 
wirklich der Krieg begann und ihr Liebling mit hinaus: 
ziehen mußte in Strapazen und Todesgefahr. So 
war 8 für fie ein Glüd unter Ängften und Thränen. 

Einen Stih ins Herz gab ihr zugleih die 
Nahriht, daß Haflo zum Ordonnanzoffizier des 
Prinzen Louis Ferdinand fommandiert wäre. Wie 
tam biefer Stalljunge — jo bezeichnete fie ihn in 
ihren Selbitgeiprähen — zu Joldher bevorzugten 
Stellung und an den Hof bes Prinzen? Diefes leicht: 
finnigen jungen Herrn, der nody dazu gewiß feinen 
Spott mit ihm trieb und ihn zum Trinten, Spielen 
und wer weiß was jonft noch für Laftern verführte! 
Den Knaben, den fie aufgezogen unter jo viel Sorgen 
und Mühen! 

Herr von Rodhlit aber verwies ihr diefen Aus: 
fall auf den königlichen Prinzen. Wenn ber Scylingel, 
der Hallo, zu Grunde ging, jo war dies jeine eigene 
Schuld! Den Neffen feines großen Königs aber 
dafür verantwortlich zu machen, den jungen Kriegs: 
belden, der fih jchon als zwanzigjähriger SJüngling 
durh die Erftürmung der Zahlbadher Schanzen jo 
prächtig bewährt, von dem er jekt jo Großes er: 
wartete — Jolde Unbilden duldete er in feinem 
Haufe nit. Und Frau von Rodhlik gab fich zu: 
frieden. Mocdte denn Hallo zu Grunde gehen, wie 
und dur wen er wollte, mochte er fich Jelbit feiner 
bevorzugten Stellung erfreuen! Wenn nur Hilmar 
ihr erhalten blieb, der Abgott ihres Herzens! Wenn 
nur diejer Krieg vorüber ging, ohne ihn zu ge- 
fährden — feinen andern Wunjh und Sehnen mehr 
fannte ihr Herz! 

Als Hallo das Haus jeiner Verwandten ver: 
laffen, ging er nah der Wilhelmftraße. Dort 
erwartete ihn Renate zum legten gemütlichen Bei: 
jammenfein in altgemohnter Weile und zum Abfchied- 
rehmen. Denn übermorgen rüdte au) er aus im 
Gefolge feines Prinzen. 

Renate war in heller Begeifterung. Am liebjten 
wäre fie felber mit binausgezogen in Schladt und 
Sieg, und fie beneidete die Männer, denen biejes 
berrlihe Borredht vergönnt war. 

Herr von VBeldegg, der mit ganzer Seele zur 
Kriegspartei gehörte, war Feuer und Flamme für 
die Sache. Eingehend Ipradh er alle die Hoffnungen 
und Ausfihten des Feldzuges in jeiner lebhaften 
Weile durh, und Hallo mußte ihm berichten über 
die Stimmung und Anfichten des Prinzen, jo viel 
er nur irgend vermochte. 

Und dann fam der Abichied. Als Haflo feinen 
Säbel umjchnallte, die jhharfe Hufarenklinge für den 


— — — — — —— — — — 





93 Schwertklingen. 


mörberiihen Krieg, da lam es Renate plöbßlich ins 
Bewußtlein, daß er jegt von ihnen ging, in grimme 
Tobesgefahr hinaus. Dap er nach langer Zeit erft 
wieberlehren würbe, ein friegserfahrener Mann, ein 
Held und Sieger, oder vielleicht auch nimmermehr! — 

Und wie er nun vor ihr fland und ihre Hand 
in der feinen bielt zum innigen Abihied, da floflen 
ihre Thränen unaufhaltiam, als jollte ihr das Herz 
jeripringen im Trennungsleid. 

Mit tiefem, warmem Blid jah Hallo auf fie 
nieder. So meinte fie um ihn und würde um ihn 
bangen, für ihn beten, während er draußen im 
Kriege war, und würbe fich freuen, wenn er lebend 
wieberlehrte? Ach, daß er die Gemwißheit mit bin: 
ausnehmen burfte! Das Herz Ichwoll ihm in zärt- 
liher Dankbarkeit. Nie, bis zum lebten Atemzuge 
würde er ihr das vergellen, nie aufhören, fie zu 
lieben für bdiejes jüße Mitgefühl, dur das fie ihm 
jo unendblid wohlgethan. 

Prinz Louis Ferdinand faß allein in feinem 
Zimmer am Schreibtiid. Die zu dem SKorps des 
Fürften Hohenlohe gehörige Avantgarde war unter 
feinen Befehl geftelt.e. Morgen wollte er den fchon 
ausgerüdten Truppen folgen, um fi zunädft in 
. Hauptquartier des Fürften nad) Dresden zu bes 
geben. 

Mit fiebernder Ungeduld jah er die Entſcheidung 
näber rüden. Morgen endlich jollte dem Ausharren 
in friedliher Umgebung ein Ende gemacht werben. 
Es war ber lette Abend, und ein jchwerer Tag lag 
hinter ihm. Bon feinen Eltern Hatte er Abfjchied 
genommen und von Fürftin Quife, der geliebten 
Schweiter. Wie traurig war das gemwelen! Sie 
batte ja die großen Ziele vor Augen wie er, und 
ihre Seele war die einer Heldin! Er mußte fidh 
eins mit ihr im Wollen und Empfinden, jo wie es 
nur wmöglid zwilhen Bruder und Schweiter, zwei 
Reilern aus einer Wurzel, an einem Stamm ge: 
wadhfen. Darum verftand er mohl das boffnungs: 
loje MWeh, mit dem fie den vielgeliebten Bruder 
ſcheiden ſah. Es war auf Nimmerwiebderjehen! 

Dann der Abjchied von Henriette und von 
jeinen Kindern. Sie mußten nidt, die ahnungs: 
Ilojen Kleinen Geihöpfchen, was ihnen wibderfuhr, als 
er da von ihnen ging, mit thränenjchwerem Blid 
ihre unfchuldigen Lieblojungen erwidernd. Er aber 
wußte, daß der Schuß feiner Liebe und Fürjorge 
ihnen genommen ward mit diefem Augenblid und 
fie fortan allein, verlaffen zurüdblieben fürs Leben. 
So gut er Eonnte, hatte er für fie und ihre Mutter 
gejorgt. Doch wie viel blieb noch zurüd, jein Herz 
mit jchwerer Sorge zu belaften! — 

Er hatte alle feine Arbeiten beendet, alle 
Pflichten erledigt, und nun lag aud der Abjchieds- 
brief an die Königin vollendet vor ihm da. Gie 
hatte Türzlich Berlin verlallen, während er fich bei 
jeinem Regiment in Magdeburg befand. So hatte 
er ihr nicht Lebewohl jagen, nicht ihren Segen er: 
bitten können für diejen Kampf, in welchen er aus: 
zog als ihr Paladin, das Herz von glühenden Zorn 
erfüllt, feine Königin an dem korfiihen Barbaren zu 
rächen. Schon jebt hatte diejer begonnen, beißende 


Roman von Hans Werber. 94 


Schmähmorte gegen fie, die ebelfte aller Frauen, zu 
rihten, und ſich dadurch in feiner Unritterlichkeit 
und Gemeinbeit zu brandmarlen für alle Zeiten. Ja 
— ihr Nächer hoffte Prinz Ludwig zu werben. 

So hatte er an fie gejchrieben, in feurigen 
Worten feinen Abichiebegruß und feine Huldigung 
dem Siegesgenius und Schußengel Preußens zu 
Füßen gelegt, batte fie angefleht um ihren Segen 
und um ein gütiges Gedenken, falls fein Auge fie 
nicht wieber erjchauen jollte in diefem Leben. Der 
Brief war fertig und Prinz Louis blidte finnend 
darauf nieder, den Kopf in bie Hand geflüßt. Auf 
feinem Antlig lag ein tiefer Schatten, welcher Tobes- 
ahnung bedeutete. 

Und zugleich 309 es durch feine Seele wie ein 
Nüdblid auf das vergangene Leben. Syn feinem 
vierunddreißigften Lebensjahre fand er jebt. Eine 
Sugendzeit lag binter ihm voll braufender Stürme 
und glühenden Sonnenlichtes, Ihwarz wie Gewitter: 
naht und rofig wie fanfter Abendichein.. Sie war 
zu Ende, bie reifen, ernften Sahre ftanden vor ihm, 
in benen er handeln und wirken jollte, fich be- 
währen als ein Mann und ein Held. Würden fie 
fommen, oder wartete fein das frühe Grab? Ad 
um die verlorenen Sabre! Um all bie unerfüllten 
MWünjche, vernicteten Hoffnungen, all bie Seelen: 
fräfte, die fi aufgezehrt im Kampf der Leiden- 
Ichaften, der inneren und äußeren Raftlofigkeit. 

Wieder gingen feine Augen über den Brief 
hin, ber vor ihm lag. „Meine Königin, über allen 
Abgrundtiefen meines Lebens ftandeft Du wie ein 
Harer Stern und warfft Dein Spiegelbild binein, 
läuternd und veredelnd. Hätte ich noch einmal 
nur vor Dir ftehben dürfen und Dir Beichte ab- 
legen über mein irren und Streben! Hätteft Du 
Deine gütige Hand auf mein Haupt gelegt, jegnenb 
an die legte Weihe zu geben — für den nahen 
To — —“ 

Wie aus ſchwerem Traum fuhr er endlich auf 
und berührte die filberne Glode auf feinem Schreib: 
id. — „Meinen Wagen, Drborf! — Nah ber 
Sägerftraße!” 

Rahel erwartete ihn. Sie hatte viel gelitten 
und viel geweint den Tag hindurch. Set war fie 
ruhig, denn fie wußte, daß der heißgeliebte Freund 
der Ruhe und Klarheit ihrerjeits bedürfen würde. 
Die MWachskerzen, auf hohen filbernen Leuchtern 
brennend, erhellten freundlich das traulide Gemad. 

Der Prinz trat herein. Stumm grüßten fie 
feine Augen. Er warf fih in eine Ede des Kana- 
pees, dort, wo er jo mandes Mal ein Nillee Aus: 
ruhen gefunden, wenn die Welt und bes eigenen 
Herzens Stürme ihn müde gebegt. NRahels dunfle 
Augen rubten auf ihm vol Liebe und Weh. Es 
lag in feinen Augen der Ausdrud eines unlösbaren, 
doch unwiderſtehlich anziehenden Raͤtſels. 

„Er war die feinſte Seele,“ ſagte ſie einſtmals 
von ihm, „von beinah niemand gekannt, wenn auch 
viel geliebt — und viel verfannt!”*) 

Sie aber fannte ihn. 


*) Barnhagen, „Salerie von Bilbniffen”. 





95 Schwertllingen. 


„Rahel, es war ein harter Kampf,” fagte er 
endiihd. „Er hatte mich müde gemadt. Nun bin 
ih ruhig. Wenn man mit Freudigfeit in den Tod 
gehen will, dann muß man ruhig fein -— nicht müde!“ 

„SR der Abichied überwunden?” fragte Rahel. 

„Bon allen, außer von Pauline. — An Sie, 
Rahel, ‚mein Freund‘, aber babe ich ein Verimädht: 
nis!” Er firedte bie Rechte nah ihr aus, als wollte 
er fie näher zu fi ziehen. Nabel erfaßte bieje 
Hand und drüdte einen langen Kuß darauf. Er 
jah fie an mit warmem Blid. „Wenn ich tot bin, 
Nabel, werben fie alle mi mit der Zeit vergeflen, 
nur Du nit! Meine Kinder werben unter Fremden 
aufwadjen und niemand wird in ihren Seelen das 
Bild ihres Vaters lebendig erhalten. Die Welt wird 
ben Stab über mich brechen, wie fie es bisher ge: 
ihban. Zch gab ihr leider gar oft ein Net dazu. 
Wenige verflanden mi — außer Dir! Was in 
meinem Herzen vorging — Du haft e8 immer ge: 
wußt, — Du follft es meinen Kindern fagen, folft 
fie lehren, mich auch nad meinem Tode zu lieben. 
WAR Du das, Rahel?“ 

„Sa, fo wahr ih Sie liebe!” 

Cr bob den weichen, tiefen Blid zu ihr auf. 
„Das ift ein großer Schwur, denn Deine Liebe ift 
groß. Sie war mir fehr teuer im Leben, und wird 
mir über den Tod hinaus Die Treue halten!” 

„Sie lohnen mir wie ein Königsfohn! ch 
will e8 verdienen!” *) jagte Rahel mit tiefer, jelter 
Stimme Er jhloß fie in feine Arme zum legten 
Abiehied — und ging. 

Der Ichwerfte Augenblid war ihm noch vorbe: 
halten — die Trennung von Pauline. Zum Aus: 
mar fertig, in der Morgenfrühe ritt er vor ihr 
Haus und flieg vom Pferde. Maffenklirrend eilte er 
hinauf, doch nicht vermochte der Friegerifhe Klang 
den bangen Schlag feines Herzens zu übertönen. 

Schluchzend ſank Pauline in feine Arme. „Rinm 
mi mit, Louis, ich folge Dir in Schladht und Ge- 
fahren! Mein Plag ift an Deiner Seite! Jh kann 
nit leben ohne Dich!” 

Mit Ichmerzlihem Lächeln blidte er nieder in 
das traurige Antlit. „Nein, mein Lieb! Der 
preußiihe Soldat läßt feine Lieben daheim, Du 
fannft mich nicht begleiten! — Weine nit! Laß 
mich ein ungetrübtes Bild von Dir mitnehmen, und 
lo mid Did To liebend wiederfinden, wenn id 
beimlehre, den Sieg in Händen! Dder —” Dod 
nein, er jprad e8 nicht aus! Das war nidt für 
Paulines Ohr. 

hr Schmerzensausbrud, als fie ihn unerbitt: 
ih fand, that ihm weh, weher vielleicht als ihr 
jelber. Do vermodte er feine Standhaftigkeit nicht 
zu erjhüttern und auch nicht einmal feine Aube. 
Das war vorbei. Sein Blid blieb vorwärts ge- 
riet, den Ereignillen zu, die große Anforderungen 
an ihn fliellten. Was den Kreis feines eigenen 
Lebens ausgefüllt, verjant davor in die Dämmerung 
der Vergangenheit. 

Freilich Konnten ihn jelbft in ber Ferne bie 


*, ©. Fannı) Lewwald. 








Roman von Hans Werber. 96 








Sorgen und der Bwielpalt feiner eigentümlichen 
Berhältnifie nicht verichonen. Auch bier blieb Rahel 
die Vertraute feiner Kümmernifle, auf deren Ber: 
ftänbnis er zuverfichtlid bauen Tonnte. 
Dom Hauptquartier aus jchrieb er an fie: 
Den 11. Sept. abends 1806. 

„Liebe Kleine, bier, wo ich Baulinen wie fie 
mich jehnlihft zu ſehen wünſchte, empfing ich 
diefe beiden Briefe. Wie alles diefes mich beugt, 
meinen Schmerz und bie Angft, die ich darüber 
babe, Tönnen Sie leicht erraten. Gott! Hier 
hide ich Jhnen zwei offene Briefe, einen an 
Pauline, einen an Settchen, in der Angit und im 
Schmerz geichrieben. Sie jehen alles darin — Io 
wahr es in meinem Herzen liegt, meine heiße 
Leidenſchaft für Pauline, meine innige Anhänglid; 
teit an Henriette, fiegeln Sie fie beide zu und 
Ihiden fie bin. — — — 

Hier ward ich mit Liebe, Freude und Ber: 
trauen aufgenommen. Einen früheren Freund, 
mit dem ich feit vorigem Kriege ehr aufrichtig 
verbunden war, Blumenftein, ein Franzole oder 
Eljafler, fand ich hier wieder — e8 ift eine $reund- 
I&haft, die jo alte Kameradichaft, Achtung für Tapfer- 
feit, die eriten Gewehrjhüfle zufammen gehört zu 
haben, Berluft gemeinjchaftlider Jugendbelannten 
und alle mit der Jugend verbundenen been, er- 
zeugt bat, die fi aber über diejfe Grenze nicht 
erhoben, weil die meilten Sranzojen über biele 
falfierten Spdeen nicht erhaben find. Heute haben 
wir bier ein Rendezvous der verjchiedenen brei 
Avantgarde:Chefs gehabt, des General Blücher, des 
General Rüchel und mir, der die bes linlen Armee: 
forps fommandiert. Morgen geht jeder zu jeiner 
Beltimmung, und am 20. bin ih am Fuße des 
böhmifhen Gebirges mit meiner aus Preußen 
und Sadjen zulammengejegten Avantgarde. Ein 
Wort gaben wir uns alle, ein feierlicheg, männ: 
liches Wort — und gewiß es fol gehalten werden 
— beftimmt das Leben daran zu jeßen, und 
diefen Kampf, wo Ruhm und hohe Ehre ung er: 
wartet — oder politiihe Freiheit und liberale 
See auf lange erflidt und vernichtet werben, 
wenn er unglüdlih wäre, nicht zu überleben! — 
E3 fol gewiß fo fein! Der Geift der Armee ift 
trefflih und würde es noch mehr fein, wenn mehr 
Beflimmtheit und erregende Kraft von oben wäre, 
und ein feiter Wille die Shwahen und jchwanten: 
den Menihen beftimmte! Was ift biejes er: 
bärmlidhe Leben, nichts, auch gar nichts! Alles 
Schöne und Gute verjehwindet, erhaben ift das 
Schledte, und die traurige Erfahrung reißt un: 
barmherzig alle jchöne Hoffnungen von unferen 
Herzen! So muß es in dielem Zeitalter fein, 
denn jo erjtarben auch alle ſchönen, menſchenbe— 
glüdende odeen! Nur das Erbärmliche blieb, nur 
diefes fiegt — warum aljo fich beklagen, wenn 
nn seinen geihieht, woran ein ganzes Zeitalter 
eidet! — 

Einen Brief von Pauline, aus Scride mir 
geichrieben, fand ich bier, er war gut und liebend 
und wahr. Wenn ih mich jo oft ins meibliche 





97 Schwertklingen. 


Herz hinein dachte, ſo glaubte ich, nichts heiliger 
müßte einem Weibe ſein, als den Geliebten im 
Kriege zu wiſſen; ihn zu betrüben, ja vielleicht 
noch mehr zu thun, wär' in meinen Augen noch 
ſchlimmer als ein Mord! — 

Hier, liebe Kleine, einen Brief, einen langen 
Brief für Paulinen, ich gebrauche eine Eſtafette, 
die nach Berlin geht, geben Sie ihr dieſen Brief, 
er iſt ſo lang, ſo ſchlecht geſchrieben, allein ich litt 
zu viel, als ich ihn ſchrieb, und meine Ideen 
konnte ich alſo wenig ordnen, bitten Sie Paulinen, 
ihn zu leſen, und des undeutlichen Schreibens 
wegen nicht zu ermüden. — Leben Sie glücklich 
— ſchreiben Sie mir oft. — Wachen Sie über 
Pauline — ſeien Sie wahr gegen mich, und lieben 
Sie mich etwas, weil ich es verdiene. 

Louis.“ 


II. 


Eine bunte, intereſſante Geſellſchaft fand ſich in 
Dresden zuſammen, als dem Mittelpunkt der Be— 
gebenheiten, die man erwartete, und von denen man 
einen Umſchwung der Verhältniſſe Europas erhoffte. 
Aller Augen waren auf Preußen gerichtet, als auf 
den Felſen, an dem Bonapartes Macht wenigſtens 
eine Hemmung erleiden ſollte. Das preußiſche Haupt⸗ 
quartier bildete den Brennpunkt der Dresdener Ge— 
ſellſchaft. Die Stadt war ein Zufluchtsort franzöſiſcher 
Emigranten, politiſcher Märtyrer, die vor Napoleons 
Bedrückung entflohen. Jetzt ward ſie der Sammel— 
platz neugieriger Zuſchauer für das große, erwartete 
Kriegstheater. 

Wie auf der Bühne wurden die einzelnen be— 
deutenden Perſönlichkeiten als Helden des zukünftigen 
Dramas beobachtet und mit Intereſſe verfolgt. Mit 
doppelter Wärme natürlich der Stern unter ihnen, 
der gefeierte, intereſſante Prinz Louis Ferdinand. 
Sein Hoflager ward auch hier der glänzende Mittel— 
punkt allen geſelligen Lebens. 

Mitten in dieſem Treiben bewegte ſich Haſſo 
von Rochlitz als Ordonnanzoffizier des Prinzen mit 
unbefangener Sicherheit, als ob er unter den Ver— 
hältniſſen eines kriegeriſchen Hoflagers groß geworden 
wäre. Einigen der Herren, mit denen er in tägliche 
Berührung kam, ſchloß er ſich an in freundſchaſt— 
lichem Verkehr und galt bei ihnen als ein treuer, 
warmherziger Kamerad und luſtiger Geſellſchafter. 
Andere wieder, welche weder Sympathie für ihn 
empfanden noch bei ihm erweckten, ſahen in ihm 
einen ſchroffen, unzugänglichen Charakter, tadelten 
übermütiges Gebaren und mochten ihn nicht 
eiden. 

„Sie ſind eigentlich ein rabiater Geſelle, Haſſo,“ 
ſagte der Prinz einmal zu ihm. „Freundſchaft oder 
Feindſchaft, eine neutrale Stellung kennen Sie gar 
nicht! Erſchwert Ihnen das, zumal bei Ihrer großen 
Jugend, nicht den Umgang mit den Menſchen?“ 

„Mag ſein, Königliche Hoheit, ich kann das 
nicht beurteilen,“ erwiderte Haſſo. „Ich bin von 


Treiben. 


Roman von Hans Werder. 98 





klein auf daran gewöhnt, allein meinen Weg zu 
gehen und mir ſelber zu meinem Recht zu verhelfen. 
Dabei habe ich gelernt, rückſichtslos gegen diejenigen 
zu fein, die mir's erſchwerten. Vielleicht aber —“ 
fügte er nachbenklih hinzu — „paßt das nicht für 
meine jetige Stellung?” 

„So war das nicht gemeint,” entgegnete Der 
Prinz. „Sie find ja fein Hofmann, Sie find Soldat! 
Gegen mich werden Sie ja wohl nicht rüdjichtslos 
fein, denn ich babe Fhre Rechte nicht beeinträchtigt, 
foviel ich weiß. Und den anderen gegenüber jehen 
Sie zu, wie weit Sie fommen. Sich jelbit zur 
Geltung zu bringen ift gut und geboten für einen 
Soldaten!” Ein leichter Seufzer begleitete diele 
Worte. Prinz Louis wußte wohl, daß der eilerne 
Drud der Verhältniffe ihn binderte, fein Selbit fo 
zur Geltung zu bringen, wie er die Kraft und Be: 
re&ptigung bazu in fi fühlte. Ob ihm der fo heiß 
erjehnte Feldzug dieje Möglichkeit gewähren würde? 

Ehe in den legten Septembertagen das Haupt: 
quartier von Dresden aufbradh, folgte Prinz Louis 
nodh einer Einladung bes Fürften Loblowig nad) 
Eifenberg, jenjeits der böhmiichen Grenze. Yür zwei 
Tage nur. Dann eilte er feinen bereits ausgerüdten 
Truppen nad und traf am zweiten Marichtage, in 
Obderau, bei benfelben ein. Der kurze Aufenthalt 
unter den ihm fo mohlgelinnten öfterreichiichen 
Freunden hatte ihn erheitert, mandhe ihrer Äußerungen 
jeine Zuverficht neu belebt. Eine aufregende Sau: 
jagd, durch die man ben hohen Beluch gefeiert, feine 
Nerven erfriiht. Noftit Jah es auf den erften Blid, 
als der Prinz aus dem Sattel ftieg, den Gruß feines 
Getreuen burdh ein Lächeln erwidernd. 

„Ih babe ihnen viel zu erzählen, Noftig! 
Bor allen Dingen müflen Sie aber jett meine neueite 
Errungenschaft bewundern, auf die ich jehr ftolz bin! 
Ein Pferd, das ich mir gefauft habe! Laß uns den 
‚Slop‘*) vorführen, Drborf!“ 

„Slop“ ftand dba, vom NReitlneht lang am 
Zügel gehalten, ein englifches Vollblutpferd, von 
Ihlanfem, Traftoolem Gliederbau und unvergleid- 
liher Schöndeit. 

Bewundernd ftanden die Herren umber. Prinz 
Louis ftreichelte Tieblojend die feine Mähne, den 
atlasglänzenden Hals bes Renners. „Mein tapferer 
Ramerad in der Schladht folft Du werden! — 
Wirft Du mid) auch fiher zum Siege tragen?” 

Leije wieherte das NRoß und legte den fchönen, 
feinen Kopf auf die Schulter feines Herrn. Es 
Hang nicht freudig, eher einem Seufzer ähnlich. 
Prinz Louis ward ernft. Wie tröftend glitt jeine 
Hand noch einmal über die Jammetweihe Nüfter. 
„Führ ihn fort, Drdorf!” — | 

Immer kriegeriſcher geſtaltete ſich jetzt das 
Die Quartiere wurden enger, die Märſche 
anſtrengender. In größeren Maſſen drängten ſich 
Truppen zuſammen. Ein Befehl jagte den andern. 
Die Dispofitionen der Generale wurden häufig um— 
geftoßen und dur andere erjegt, die Ordonnanz⸗ 
offiziere jagten mit den wideriprechendften Befehlen 





*) Hiftorifd). 


99 Die neue Herrin. Roman von Karl Erbni. Edler. 100 


bin und ber und das Ganze gab ein aufregendes, | wohnter, bligjcharfer Weile Ausdrud verliehen. Der 
bo wenig erfreulides Schaujfpiel. : Tadel jeines Vorgejeßten änderte an jeiner An: 
Endlih wurde in den erften Oftobertagen das : Ihauung nit. „Wie fol ih ben Krieg nicht 
Hauptquartier zu Sena aufgefhlagen. In Erfurt wünſchen,“ antwortete er berb, „da nur er ung 
erwartete man den König und den Herzog von ' fihert! Das Erftürmen des ‚Butterberges‘ thut’s 
Braunjhweig, der den Oberbefehl über die gefamte : halt nimmermehr!" Das Wort vergaß ihm der 
Armee übernommen hatte. Fürft Hohenlohe mit Herzog nicht.”) 
feinem General:Quartiermeifter Oberft von Maßen: Mit fieberhafter Ungebuld wartete Prinz Louis 
bah wurde zum Kriegsrat dorthin befohlen. Des in ena auf die Entfheidung aus dem Hauptquartier 
Prinzen Anweſenheit war nicht gewünſcht worden zu Erfurt. Doch ſie kam noch immer nicht! Gar 
und dieſer blieb in Jena zurück. ... zu vieles hatte man dort zu erwägen und zu be— 
‚Der Herzog von Braunſchweig war ihm nicht | raten, zu viele Ratfchläge fürmten auf den jagenben 
wohlgefinnt. Einft an öffentlicher Tafel zu Magder | Mut bes Königs ein und raubten ihm jebe Feftig: 
burg jaßen fie einander gegenüber. &8 war am ; feit bes Entichluffes. Nicht einmal, ob Krieg ober 
Schluß der Herbitmanöver und der Herzog feierte | abermals Frieden fein jollte, ftand ganz feft bei ihm, 
denjelben gleichfam jedes Jahr dadurch, daß er mit dafür ſorgte Haugwitz durch feine unermüblicen 
großer Anftrengung und Weitläufigkeit den unweit | Schlangenwindungen. 
Magdeburg gelegenen „Butterberg” erftürmen ließ. 
Da tadelte ber alte Herzog mit Iharfen Worten die 
Kriegsliebe des Prinzen, der diejer foeben in ge: | *) Noftig. 


(Fortfegung folgt.) 








Die neue Herrin. 


Noman 
bon : 


s Barl Erdm. Edler. 
(Schluß.) 


Snzwilhen hatte Martina auch in einen näheren | Häufern annehmen wollte. Ym übrigen fümmerte 
Verkehr mit dem Manne treten müflen, welchem zu: | er fih faum mehr um fie und kam höchſt ſelten 
liebe Franzista jenen fremdländifhen Dingen nad | von Unter:Wartenfron herauf. 
hing. Martina war nämlid) unerwartet vor eine Die Poft hatte Martina ein Patet Schriftitüde 
Entiheidung geftelt worden, weldhe in ber That | gebradht nebit der Tobesnadhriht eines Fräuleins 
unaufihiebbar war, wie es Wlrih als Bedingung | von XKeftenah, deren Verlaflenihaft der Gräfin 
für Hetvarys Berufung gefordert hatte. Die zweite | Wartentron als Erbe anbeimfale. Es war ein 
Bedingung, die er biefür als unerläßlich betont hatte, | großes Vermögen — fie erichral vor der märden- 
fehlte dagegen: Xer war derzeit nicht abmwejend. | haften Ziffer der Gefamtjumme Es war dasjelbe 
Gleichwohl legte Martina die Angelegenheit nicht | Vermögen, welches einft die Tante ihrem Vater zu: 
ibm vor; denn es handelte fi zunädft nicht um | gedacht, dann jedoh in launenhaften Groll einer 
dag Haus Wartenfron, jondern um das Haus | Eoufine vererbt hatte. Diefe, eine unvermählte Dame, 
Leftenad. Enticheiden jollte übrigens auch KHetväary | deren eigener Reichtum ebenjo Iprichwörtlicy geworben 
nicht darüber, die Enticheidung hatte fie jchon jelbft | war wie ihr Geiz, hatte das Erbe nicht nur nicht 
getroffen, bevor fie ihn berief.” Nur des Rates | angegriffen, fondern mit Zins und Zinfeszins an- 
ermangelte fie, wie fie ihren Willen auszugeftalten | jchwellen laffen. Urſprünglich ſchon bedeutend, fiel 
habe, und zu jfoldem Rate bedurfte fie eines Mannes, | eg nun verboppelt an Martina Wartenfron, bie 
dem fie rüdhaltlos vertrauen konnte. Ler hatte fi | Iette LXeitenadh; dazu erbte fie noch die ganze reiche 
offen als ihr Widerfacher erwielen, und mar heimlih | Eigenhabe der Verfiorbenen. 
ihr bartnädigfter Verfolger geweien. Seit Ulrichs Martina las die Dokumente flüchtig Durch, legte 
Abreife nahm er fih biezu zwar nicht mehr die | fie dann auf ben Schreibtiih und fuhr fi mit 
Mühe — Martina war eine geftürzte Größe, die er | der Hand über die naffen Augen. Bor den Schäten, 
zu fürchten aufgehört hatte. Es wäre Verfhwendung | die ihr da unverhofft in den Schoß fielen, hatte fie 
gewejen, die wohl gejpitten und vergiiteten Pfeile | nur den einzigen Gedanken: Hätte doch mein armer 
an ein jo nichtiges Ziel zu wenden; daß er diejelben | Vater das erlebt! Und fie fühlte einen empörten 
gleihwohl ftets Jchußbereit im Köcher hielt, trat jo: | Widerwillen gegen diefen Reichtum, der zu Ipät kam. 
fofort zu Tage, wenn Martina fi eines armen | Dem Bater hätte er Freude gemacht, ihm Lörperlich 
Kindes oder einer Tranken Frau in den Arbeits: | und geiftig aufgerichtet, ihm vielleicht das Leben 


101 Die neue Herrin. 
verlängert. Zu ſpät! Unaufhaltfam floffen ihr bie 
Thränen über die Wangen — ber Rechtsanwalt 
hätte nicht wenig geftaunt über eine folde Wirkung 
jeiner vermeintliden Freudenbotihaft. Zu fpät für 
den Vater — und was follten biefe Unfummen ihr 
jelbft, die nicht einmal ihr Nabelgeld verbrauchte, 
weil ihr Ler in den Arm fiel, fo oft fie irgend ein 
Werk der Barmberzigkeit unter den Arbeitern üben 
wollte! Traurig erhob fie fich endlich und trat zu 
dem Fenſter. Dort ragte die Matthiasburg, und 
der auftauende Schnee fraß an dem morjcdhen Ge- 
mäuer. Dbzwar die Aufrichtung des alten Baues große 
Summen Ekoften würde — hatte Wlriy gejagt — 
tönne er gleichwohl ben Plan als Vermächtnis feines 
Baters nicht aufgeben, ſondern barre günftigerer 
Zeiten. Er follte nicht mehr harren, date Martina. 
Sn dieje jeine Lieblingsidee follte er ihr Erbe ver: 
bauen. Aber der Rechtsanwalt hatte jofortige Antwort 
gewünjcht und Befehle über die nächflen Maßnahmen 
erbeten. Martina wandte fi von dem TFenfler, 
läutete und befahl, einen Neitlnedht an Herrn von 
Hetvary nach den Heibehöfen zu jchiden. 

Zwei Stunden danah ritt Hetväry in den 
Wartentroner Hof ein. Martina trat ihm wie 
einem alten Freunde entgegen. Daß er ihr Freund 
fei, wußte fie, objwar fie ihm nur felten begegnet 
war; in ihr war jener feine SKinderinflinft noch 
nicht abgeftumpft, der eine wohlmollende Seele un: 
trüglid berausfühlt. Sie wußte aud, daß fein 
ganzes Herz an Franzista hing; er dagegen wufßfte, 
wie warmberzig fie fich derjelben Franzista annahm. 
Sie durften beide nicht über das liebe Mädchen 
reden, aber fie verftanden einander und dachten beide 
an fie, während fie fih die Hände reichten. Martina 
legte ihm die Dokumente vor und erbat ich jeinen 
Rat, indem fie ihre Willensmeinung dahin ausiprady, 
das Erbe jei als eine nadträglid eingelangte 
Mitgift zu betrachten, welche fie in die Ehe mitgebracht 
babe. Hetväry bedeutete ihr, jeßt ließe fich ſolches 
nur in Form eines Gejchenkes an Ulrich oder eines 
Vertrages mit ihm bewertitelligen. 

„3b bin e8 zufrieden,” erwiderte Martina. 
„Die Form ift für mich dabei gleichgültig.” 

„Aber nicht für den Grafen,” warf Helvary 
ein. „Man müßte body die Annahnıe diefes großen 
Sejchentes mit einiger Wahricheinlichleit vorausjegen, 
und fomweit ih den Grafen kenne .. .” 

„zweifeln Sie an jeiner Zuftimmung? Sie 
haben redt. Cr würde bdiejelbe verweigern. Wir 
müflen eine andere Form wählen. Aber welche?” 

„zunädlt feine. Doch nicht allein in ber Form, 
auh in der Sade ift derzeit feine bejondere Ent: 
Iheidung zu treffen. Es genügt, daß Sie vorerft 
nidt über das Vermögen zu Shren perjönlichen 
Zweden verfügen, jondern es unangetaſtet laſſen, 
um fpäter damit irgend einen Familienzwed, irgend 
ein Wartenfroner Sjnterefle zu fördern. Sn foldher all- 
gemeinen Faflung wird der Graf faum etwas ba- 
gegen einwenden. Das Erbe ift aljo zu übernehmen, 
fiher anzulegen und daran nit zu rühren, bis der 
Graf heimfehrt. Jh fahre noch heute abend mit 
Shrer Vollmadht in die Refidenz und ordne die An- 


Roman von Karl Erdin. Edler. 





102 








gelegenheit in biefem Sinne, wenn es Shnen fo 
recht if.” — 

Martina gab ihre Zuflimmung, unb acht Tage 
jpäter legte Hetväry die ganze Angelegenheit gefichert 
und geordnet in ihre Hände. 


XX 


Inzwiſchen war über Nacht der Vorfrühling 
hereingekommen, für den Landbewohner die unan—⸗ 
genehmſte Zeit des Jahres. Dem einzigen Zachäus 
gefiel ſie wunderſchön; er konnte täglich für ſein 
Comteßchen einſpannen, weil an einen Spaziergang 
nicht zu denken war. Die Alleen des Parkes trieften, 
auf den durchweichten Gartenwegen ſank der Fuß bis 
zum Knöchel ein, die Straße war unterwaſchen. Im 
Walde träufelte es von den Baumwänden, auf allen 
Pfaden luſtwandelten hurtige Wäſſerlein, von der 
Höhe kamen die Quellen in breitem Geſtröm über 
den Moosboden niedergeſtürzt und fegten allen Moder 
des Wintertodes hinweg. In Unter-Wartenkron ſahen 
die Fabrikbeamten mit beſorgten Blicken auf den an— 
ſchwellenden Bach, während Okonomiebeamte und 
Schloßgärtner einander unter Kopfſchütteln ver—⸗ 
derblichen Spätfroſt prophezeiten. 

Aber es wandte ſich alles zum Guten. Der 
Matthiasturm lüftete das Viſier des Wolkenhelmes, 
welchen er bisher trotzig aufgeſtülpt hatte. Dann 
nahm er denſelben ganz herab — es mußte ihm 
dort oben in der Sonnennähe wohl zu ſchwül ge— 
worden ſein. Da ſaß auch ſchon auf ſeinem bemooſten 
Haupte ein kecker Edelfink und begann ſogleich das 
Vorſpiel zu dem gewaltigen Frühlingsſange der Natur. 
Es beſtand aus einem fröhlich herausfordernden 
Pfeifen, woran jedesmal ein übermütig geſchmetterter 
Schnörkel gehängt wurde — „ein Suffix“ nannte 
es Franziska, welche dem munteren Bürſchlein mit 
Martina andächtig lauſchte. Agnes ſah lieber den 
beiden Störchen zu, die auf einer Mauerkante des 
Matthiasbaues ſaßen. Sie waren erſt geſtern von 
ihrer Reiſe angelangt, aber es ſchienen alte Be— 
kannte von Agnes zu ſein; denn ſie lächelte ihnen 
zu, rief ihnen Koſenamen hinauf und ergänzte dieſe 
mit einer leidenſchaftlich zärtlichen Gebärdenſprache. 
Sie ſchienen dies alles auch gut zu verſtehen und 
wohl zu würdigen, denn ſie verneigten ſich ſehr 
höflich, obzwar ſie bloß auf einem Beine ſtanden. 
Aber dann hielten ſie es doch in dieſer ceremoniöſen 
Steifheit nicht mehr aus, ſondern klapperten vor 
lauter Luſt und Freude des Wiederſehens, wie kleine 
Gaſſenjungen mit Oſterklappern.“ Wenn ſolche tief⸗ 
ernſte Geſellen einmal in das Luſtige geraten, kommt 
ihnen gern das Maß abhanden, und ſo begannen 
ſie denn in wilder Ausgelaſſenheit Agnes zu necken, 
indem ſie, bald verſchwindend, bald wieder auftauchend, 
zwiſchen dem Ruinengemäuer hinflogen. Agnes 
wollte ihnen durchaus nach, um mit ihnen Haſchen 
zu ſpielen, aber da ſtürzten ſie ſich thalwärts und 
kamen nicht zurück. Franziska beruhigte die ſchmerzlich 
berührte Agnes mit der Erklärung, ihre beiden lang⸗ 
beinigen Freunde ſäßen jetzt unten am Waſſer bei 





103 Die neue Herrin. 
ihrem Befperbrot unb fämen erft nad geftilltem 
Hunger wieder an ihr gewohntes Lieblingsplägchen. 
Martina aber wies ihr zum Erjat für die Zwilchen- 
zeit die zahllojen weißen Wölklein oben — eine große 
Lämmerherde, welde über den ganzen Frühlings: 
himmel ausgebreitet war und langjam einherweibete. 

Sn Unter-Wartentron war ber drobend ange: 
Ihmwollene Waflerihwall wieder zum friedbfamen Bade 
geworden. KHarmlos hüpfte er zwilhen den grünen 
Uferrändern einher und raufchte nur noch unwillig 
auf, wo ihm eine Schleufe das Iuftige Fließen ver: 
legte oder ein Rad feine freien Wellen Inedhtete. 
Hafeljtauden beugten fi laufchend über das brodelnde 
Wafler, jaftige Weiden langten mit jchlanten Armen 
Ipielend in die Flut, untermijht mit Erlen, welde 
in berjelben den Fuß babeten. Sie ftanden zu 
beiden Seiten, das Ufer entlang und bildeten einen 
fortlaufenden lebenden Zaun in den Vorgärten der 
Arbeiterhäushen. Sn jenen Tagen, da der ver: 
ftorbene Graf die Smduftrie als Notftandsbeichäftigung 
einführte, mußte er zunädhfit wohlgejchulte Arbeiter 
als Lehrer der Einheimifchen aus der Ferne herbei- 
rufen. Für dieje fremden Glasbläſer, Vorrichter, 
Maler, Schleifer, Mobellbrecheler waren die niedlichen 
Arbeiterhäuschen bergeitellt worden, je eines für zwei 
Familien mit einem zmweiteiligen Vorgärthen am 
Bade. Nah der NRüdfeite bin bejaß jedes einen 
ummauerten Hof mit Hübnerverichlägen und Kleinen 
Ställen für Ziegen oder Borftenvieh. Die Häuschen 
blieben falt wie eine Eigenhabe im Befite derjelben 
Arbeiterfamilien und waren zumeift von den Söhnen, 
mande jhon von den Enteln der uriprünglidhen 
Bewohner bejett. Diejer eingewanderte Kern der 
Arbeiterfchaft, weldem jchon jeiner Gejchidlichkeit 
balber gewille Vorrechte eingeräumt worden waren, 
hatte fih durch Fleiß und Sparjamfeit zu einem 
behaglihden Wohlftand aufgefhwungen, aud wohl 
ein Kartoffelfeld ober eine Wieſe für eine Kuh er: 
worben. Den Arbeitern trat der alte Graf willig 
ein Stüd Grund ab, während er fonft feinen Fuß- 
breit Wartenfroner Bodens veräußerte; er jah es 
gern, wenn fi biedburd) das Gefühl der Seßhaftig: 
feit und Heimat in ihnen feftigte. Es ging ihnen 
gut in Wartentron. Der Fall fam überhaupt nicht vor, 
das einer ausgewandert wäre. Der Nahmudhs der Ein: 
beimijchen geriet den eingewanberten Lehrmeiftern in 
allem und jedem nach. E8 wurden neue Häuschen am 
Ufer aufgebaut, und auch in diefen gab e8 genügendes 
Austommen und mit der Zeit Erjparnifle, die endlich 
zur Erwerbung von Feld und Viehftand führten. 
Es war auch in diefer neuen Generation fein Bei- 
jpiel von Auswanderung erlebt worden. Wejentlich 
verändert hatten fi dieje Verhältniffe unter Xer. 
Die jüngeren Arbeiter wollten fi feiner Tyrannei 
nit fügen und zogen fort. Sie mußten durd 


rende erjegt werden, zumeift untauglicdhe, filten: 


rohe, arbeitiheue Elemente mit unklar gärenden 
jocialiftiihen oder bereits abgellärten anardiftiichen 
been im Kopfe. Auch von bdiejen hielten es viele 
nicht lange aus, e8 gab ein ruhelojes Kommen und 
Gehen, und jeder folgende Nahihub war ein ver: 
Ichlechterter Abklatih des vorangegangenen. Die 


Roman von Karl Erdm. Ebler. 


104 


älteren Meifter blieben, jedoch nicht mehr wie vor 
Zeiten deshalb, meil es ihnen gut ging; fie blieben 
jeßt, troßgdem es ihnen jchledht ging. Sie mußten 
jelbft das Unleidlihe von Ler geduldig ertragen, 
weil fie die Scholle fefthielt, welche ihnen gehörte. 
Häuschen und Garten waren wie ihr Eigentum, Ader 
und Wiefe, Kuh und Hiege waren e8 in der That. 
Die Freizügigkeit hatte für fie als anfällige Leute 
bloß ben Sinn, aus dem Wohlftand freiwillig in 
die Bettelarmut fortziehen zu fönnen. Denn die 
unbemwegliche Habe, welde ihre Eltern und fie jelbit 
mit Weib und Kind erarbeitet und zufammengejpart 
hatten, war höchitens um einen lächerliden Echleuder: 
preis an den Mann zu bringen. Das wußte Xer, 
und daran bielt er fie fell. Die Beamten mußten 
Thurmbruds Beilpiel folgen und jeine bis zum 
Widerfinn peinlihen Disciplinarregeln in feiner ab: 
ftoßenden Weile handhaben. Der Direltor Würz 
forgte dafür, daß diefen Abfichten genau entiprodhen 
werde, und wo fich feine ungeheure Körperfülle durch 
eine Thüre hereinklenimte, nahm felbft der niedrigite 
Auffeher Ichärfere Worte in den Mund und verbärtete 
feine Miene. Daß fi trogdem in der Arbeiterjchaft 
der willenloje Sklavenfinn nidht jo völlig einbürgern 
wollte, wie e8 Zer wünjchte, rührte nach feiner Über: 


-zeugung davon ber, daß es ihnen immer no zu gut 


ging. Er führte infolgedejlen ein unbarmbherzig er: 
Elügeltes Syftem von Gelpftrafen und Lohnabzügen 
ein, feßte den Stüdlohn für fämtlihe Arbeiten 
herab, und veridärfte die Strenge bei der Durch 
mufterung des Gelieferten. Ein Austommen war 
dabei nicht mehr zu finden. Man arbeitete fich ent: 
weder frant, oder man lebte vom Eriparten und 
verarmte. Das Wirtshaus war niemals jo gut be: 
jucht gewejen; dafelbit ertränktte man die verzweifelten 
Gedanten über die hoffnungsloje Zage und die argen 
Gedanken gegen die Vorgejegten. 

Sp mar in diele Mufterlolonie des verftorbenen 
Grafen durh Ler Dürftigkeit, Siehtum und ein 
empörter Geijt verpflanzt . worden. Das rollen, 
welches fih lange ftumm verhalten hatte, war all: 
mählih laut geworden, erft in unverfländlichem 
Murren oder in Geflüfter, dann in offener Rebe, 
endlid bei dem jüngeren Volle in Gejchrei und 
Tojen. Als diejes bedenklich zu werden anfing, faßten 
fih um des beiderjeitigen Wohles willen die jechs 
älteften Meijter ein Herz und Elopften an das Thor 
der Billa, welde Ler in Unter-Wartentron bewohnte. 
Sie mußten lange warten, erjt im Flur, dann im 
Vorzimmer. Endli wurden fie vorgelaffen. 

Ler lag im Fauteuil zurüdgelehnt, rauchte eine 
Cigarette, hatte den rechten Fuß über das linfe Knie 
gelegt und hielt fih gleihlam an dem türkifchen 
Bantorjel mit der linfen Hand fell. Mit einer Nad: 
läjfigleit, die unverlennbar Veradtung ausdrüdte, 
bob er ein wenig die Rechte und winkte ihnen, zu 
reden. Das thaten fie in Ehrfurcht, bejcheiden warnend, 
demütig bittend. Er bejah indellen feine Finger, be: 
mwegte fie langjam auf und ab, und ließ die koftbaren 
Ringfteine daran bligen, während die linke Hand mit 
dem Pantoffel jpielte. Dieje zweifache Unterhaltung 
Ihien ihn ganz in Anjprud zu nehmen. Er ließ 


105 





die Männer reden, er unterbrad fie nicht, er erhob 
feinen Einwand; es war, ala ob er fie gar nicht 
böre, denn auch feine hochfahrende Miene zeigte nicht 
die mindefle Veränderung. Aber es war bloß bie 
Trägheit der Geringihätung. Als die Männer 
Ihmwiegen, blidte er mit feinem böjen Lädheln auf. 
Er fagte noch immer nichts, er betrachtete fie nur 
grinfend von oben bis unten. Er fah babei nicht 
die jchneeweißen Haare, bie durdhfurdten Gefichter, 
die malten Augen, welche länger als ein halbes Sahr- 
hundert dur die Feuerbrille au fchauen gemohnt 
waren; er beadhtete auch nicht die nervigen Hände, 
welche fi ebenfolange in mwaderer Arbeit gemüht 
batten, wahre Künftlerhände, geübt, im Fluge die 
Ihöne Form aus einem Stoff zu geftalten, der nur 
einen Augenblid bildjam bleibt. Er hatte auch bei 
ihren Reden nicht herausgehört, daß fie nit aus 
Selbftjuht warnten und baten, fondern weil fie für 
Wartenkron das Ärgfte fürdteten. Er fah und hörte 
nur eines, und er jagte es ihnen auch, indem er 
mit Bantoffel und Ringdiamanten weiterjpielte, in 
Ihleppenden Worten, falt, ohne jede Erregung: „Was 
die Jungen draußen laut ausbrüllen, das bringt Ihr 
bier ftödish mit Ränken und Kniffen vor. Stänter, 
‚Krafeeler, Rebellen jeid $hr alle miteinander, ob hr 
mit der Fauft in der Luft herumfuchtelt, oder ob 
Shr fie in der Taſche ballt und mir dabei allerlei 
Mittel und Mittelhen vorihlagt. Sch kenne bloß 
ein Mittel für Euch) alle: das Müffen. In weſſen 
Haufe wohnt Ihr? Meilen Brot eflet Yhr? Habt 
Shr nie gehört, daß ein Hund, der wider feinen 
eigenen Herrn belt, fih dafür hinterbrein auf das 
Winfeln und Heulen verlegen muß? Nun denn, da- 
mit das widerbelliihe Murren einmal gründlid) ab: 
getban wird, und auf daß fich alle anderen an dem 
Heulen der Betroffenen ein heilfames Exempel nehmen, 
jo feid hr jehs Wortführer hiemit aus dem Arbeits: 
verhältnis entlaflen. Laut meiner neuen Bertrags: 
Haufel, die Jhr alle unterfchrieben habt, werdet Yhı 
in vierzehn Tagen Euere Arbeit am Ofen oder 
Säleifrad einftellen und Euere Wohnhäufer in ordent: 
lihem Zuftand übergeben.” Langlam erhob er fi 
und jchlenderte, ohne fie eines Blices zu würdigen, 
in das Nebengemad). 

Die jeh8 alten Männer jhritten gejentten Hauptes 
hinaus, drei zu den Glasöfen, drei in Die Schleifereien. 
Eine halbe Stunde jpäter verließen mitten in ber 
Arbeitzeit Jämtlihe Meifter die Yabrilgebäude in 
einem ftillen, faft feierlihen Zuge, und gingen beim. 
Unfug und Boflen treibend, lärmend und drohend 
Ihwärmte der größere Zug der Gehilfen und Lebt: 
linge dur die Ortichaft. Die Arbeit war in ganz 
Unter:-Wartentron eingeflelt. Lex erhielt die Nad}: 
riet davon durch den Direktor Würz, welcher leuchend 
mit ängftlider Beflifienheit auseinanderfegte, um der 
lieben Ruhe willen wäre es doch am beiten, von der 
Entlaffung der ſechs lteften abzufehen. 

Lex hatte wieder fein arges Lächeln, indem er 
entfchied: „Die jechs bleiben entlaffen. Die Öfen 
werden Talt geftellt, und wenn auch die Spaten in: 
zwilden darin niften follten, bis Ddiejes Pad zum 
Kreuze Trieht. Wir wollen jehen, wie lange fie fi 


Roman-Zeltung 1896. 


Die neue Herrin. Noman von Karl Erdm. Ebler. 





106 


jelbft aushungern werden. Adieu, lieber Würg — 
dieje Tollhäusler unterfhäßen mi” — dabei brüdte 
er dem Direktor die Hand und begann eine Opernarie 


zu ſummen. 


Am ſelben Nachmittag hatte ſich die geſamte 
Jugend der Arbeiter auf der Kreuzheide verſammelt. 
Das Wetter war warm, in dem Heidewirtshaus fanden 
die Getränke reißenden Abſatz, die Stimmung wurde 
allmählich erregter. Böſe Andeutungen fielen, ge— 
fährliche Drohungen wurden laut, man plante ver: 
derblihde Anichläge und erörterte fchon die äußerften 
Mittel. 

Ein einziger Mann redete zum Guten, lentte 
ab, beihmwidtigte.e Er war jehr bleid und hüftelte, 
er trank nicht und raudte nidi. Wenn er rebete, 
geihah es in heilerem Tone, und bie anderen ließen 
ab vom Tofen, um ihn zu hören. Elmer war der 
geihidteite in der ganzen Schleiferzunft, dazu ein 
mwaderer Kamerad und ein braver Menih. Sein 
Bater war wie er ein fleißiger und gejhidter Meifter 
gewejen, jo lange er fi nit in der XZuft der 
Scleiferei, welche von jchneidenden Glasatomen flirtt, 
die jurchtbare Schleiferfrankheit in die Zungen geatmet 
hatte. Dann erhielt Elmer den fiechen Vater und 
die jüngeren Gejhmwilter mit feiner Arbeit allein, bis 
der Alte ftarb und von den Kindern bloh feine 
Schweiter Magdalena übrig blieb. Aber nun fiechte 
er Selbit an der Krankheit der Glasjchleifer dahin, 
nachdem er fih vom Morgengrauen bis zum Abenp: 
dämmern keinen Atemzug in gejunder Luft und Dabei 
bloß die notdürftigfte Nahrung gegönnt hatte. Doc 
auch jeßt arbeitete er mit unvermindertem Eifer fort, 
obzwar er den Tod vor Augen hatte. Er that es 
für feine Schweiter. Er hatte fie immer von den 
Fabrifarbeiten ferngehalten aus Angft, fie werde 
auch dahiniterben wie die übrigen Gejchmwilter. Sie 
führte bloß feine Eleine Wirtihaft und beichäftigte 
ih daneben mit Handarbeiten. Nun mar fie ein 
blühendes jchönes Mädchen geworden, feiner geartet 
als die anderen Srauen und Mädchen von Warten: 
fron, welde beim Einbinden und Derpaden bes 
Glajes, als Handlangerinnen bei den Holzjägen oder 
beim Felbbau beichäftigt waren. Magdalena war 
Elmers Stolz, feine Liebe, die Stüße, die ihn auf: 
recht erhielt; er lebte nur noch, um den Sparpfennig 
zu mehren, welden er ihr binterlafien wollte. Der 
Strife war ihm nit willlommen; er verlor durd 
denjelben Arbeitzeit und mußte zu gut, daß er ba: 
von nur noch jehr wenig vor fich habe. Doc empörte 
audh ihn des Freiheren Verfahren gegen die jech® 
greilen Männer; nur wollte er mit jeinem redlichen 
Sinn die Sade im guten geichlichtet willen, weshalb 
er von jeder Gewaltthätigleit abriet. Als er jeine 
beihwichtigende Mahnung beendet hatte, war es einen 
Augenblid fill. Dann riet aus der Menge eine 
höhnifhe Stimme: „Natürlid! So kann nur ber 
gnädige Herr Schwager unjeres ungnädigen Herrn 
Barons reden!” 

Elmer blidte fragend auf den Mann. Es war 
einer von den Fürzlich Eingewanderten. Diejer lachte 
ihm jpöttifch ins Geficht. Elmer jah die befreundeten 
Genofjen an, bie in feiner Näbe ftanden. Sie jchlugen 


IV. 8 


107 Die neue Herrin. 
‘vor jeinem forjhenden Blid die Augen nieder oder 
wandten fi ab. Elmer faßte den nädjlten beim Arm 
und führte ihn aus dem Gebränge abjeits. Dort 
erfuhr er, wa8 alle mußten, nur er allein nidt: 
Magdalena war Thurmbruds Geliebte. Elmer jagte 
fein Wort, ließ den Erzähler ftehen und ging ohne 
Abichied Heim. Mit gefeftetem, ruhigem Geficht betrat 
er Magdalenas Kammer, mit entftellter, zerwühlter 
Miene verlich er diefelbe und jchrilt geradeaus auf 
Thurmbrude Villa zu. Den Diener, der ihn auf: 
halten wollte, jchleuderte er beifeite.e. Dem Frei: 
berrn, der jich überrajcht ummandte, fagte Elmer mit 
unbeimliher Ruhe: „Herr Baron, Sie werden meine 
Schweſter Magdalena heiraten!” 

„Dhne weiteres?” fragte Ler auflahend. „Und 
font haft Du feine anderen Schmerzen?” 

„Herr Baron, Sie werden meine Schwelter 
Magdalena heiraten!” wiederholte Elmer ınit ge: 
ſpenſtiger Gelaſſenheit. 

„Mein lieber Elmer, Du biſt ſehr jung. In 
Deinem Kopfe ſpuken noch allerlei rührſelige dumme 
Geſchichten herum, die Du in Leſebüchern und auf 
Schönſchreibvorlagen geleſen haſt. Deine Schweſter 
iſt ein netter Schatz — ich werde für ſie anſtändig 
ſorgen, das iſt ſelbſtverſtändlich.“ 

„Herr Baron, Sie werden meine Schweſter 
Magdalena heiraten!“ kam es abermals eintönig von 
Elmers Lippen. 

„Zu Euch ſoll man nie mit Worten reden, 
ſondern immer mit der Reitpeitſche!“ ſchrie Lex voll 
Zorn und ſtampfte heftig auf. Dann ſchleuderte er 
einen Stuhl, der neben ihm ſtand, gegen die Wand, 
verſetzte ſeinem Hund, welcher ihm gerade im Wege 
lag, einen unbarmherzigen Fußtritt in die Rippen 
und langte nach dem Glockenzug. Bevor er denſelben 
jedoch erreicht hatte, faßte Elmers Hand ſeinen Arm. 
Es war dieſelbe Hand, deren Muskelkraft gewohnt 
war, vom Morgen bis zum Abend die Gläſer an das 
Schleiftad zu preſſen. Wie eine eiſerne Schrauben— 
klammer hielt ſie umſpannt, was ſie einmal ergriffen 
hatte. 

Kreidebleich, vor Wut knirſchend, mit halb er— 
ſtickter Stimme ſtammelte Lex: „Das ſollſt Du mir 
bezahlen! Und Dein huldreiches Schweſterlein mit, 
das Dich angeſtiftet hat, das nichtswürdige, elende 
Geſchöpf ...“ 

Da ſchnellte die eiſerne Schraubenklammer von 
dem Arme ab und ſprang jäh an Thurmbrucks Kehle, 
weitere Schmähungen erſtickend. Lex war ein Rieſe 
an Größe und Stärke gegen Elmer, er war ein ge— 
ſunder und mutiger Mann, er wehrte ſich, wie ſich 
das blühende Leben gegen den Tod zur Wehr ſetzt. 
Ein furchtbares Ringen folgte, ein entſetzliches Keuchen, 
ein grauenhaftes Röcheln. Aber der Hals konnte die 
Hand nicht abſchütteln, ſo ſehr er ſich drehte und 
wand; ſie war es gewohnt, daß ſich unter ihr das 
Schleiferrad noch viel heftiger in raſendem Kreiſen 
regte. Zulegt lag der Freiherr auf dem Teppich hin: 
geitredt, während Elmer vor ihm Tniete und mit den 
zähen Fingern immer noch feinen Hals fefthielt. 
Elmer hordhte. Das war nur noch fein eigener Atem, 
welden er vernahm, und aus der Zimmerede das 


Noman von Karl Erdbm. Eoler. 


108 


wehe Winjeln des Hundes, dem jein Herr vorhin 
den Fuß in die Rippen geftoßen hatte. Elmer neigte 
fih tiefer über den Liegenden und laufchte mwieber. 
Aber der Freiherr war ganz fill geworben, er fymähte 
nicht mehr auf Magdalena, er rödhelte nicht, er atmete 
nit. Elmer ftand langlam auf, verbeugie fich ehr: 
furhtsvol gegen den Xoten und fagte eintönig: 
„Hert Baron, Sie werden meine Schweiter Magdalena 
heiraten!” Hierauf ging er in bie Zimmerede, bob 
den ftöhnenden Hund auf, nahm ihn unter den Arm 
und jchritt ruhig heim. Dort öffnete er ein wenig 
die Thüre zu Magdalenas Kammer, jchob ben nody 
immer winjelnden Hund binein und fagte freundlid: 
„Da haft Du Dein Hochzeitsgeichent!” Ehe fie auf: 
ftand und zur Thüre fam, war er bereits hinter dem 
Haufe verihwunden. Er geriet aus der unnatürlichen 
Nuhe auf einmal in große Eile und ftürzte ber 
Antoni:Slashütte zu. Zn dem Ofen, melden die 
ausftändigen Arbeiter dajelbit in Stich gelafjen hatten, 
glomm das Feuer nur no malt weiter, und darin 
ftanden die Glashafen mit der nunmehr halbflüjfigen 
Kryftallmaffe. Elmer riß die Thüren des Dfens auf 
und fchleuderte mit jener ungeheueren Kraft und Be- 
weglichkeit, wie fie nur der Wahnfinn verleiht, große 
Holzjcheite hinein, bis e8 darin wieder hell aufbrannte. 


Dann ftellte er fi dicht vor ein gebrecjeltes Guß- 


modell und jagte eintönig: „Herr Baron, Sie werden 
meine Schweiter Magdalena heiraten!” Als er jedod 
feine Antwort erhielt, faßte er dasjelbe mit der 
eilernen Klammerhand, preßte es wütend und warf 
e8 unter die anderen Holzmodelle hin. Aber er riß 
auch noch einen Feuerbrand aus dem offenen Dfen 
und jchleuderte ihn wütend dem Modelle nad, und 
jo einen zweiten, einen dritten, bis alles gedrechjelte 
Holz mit den zur Feuerung aufgefhichteten Scheiten 
in einer Flamme zujammenfchlug. 

Der Abend war angebrochen. Die Arbeiterjugend 
309 von der Kreuzheide jingend und joblend beim. 
An der Spite und zu beiden Seiten des Zuges 
trugen einige brennende Fackeln, welche fie joeben 
jelbft im Walde aus harzigem Holze zugehauen hatten. 
Diejelben waren nicht notwendig, denn e8 bämmerte 
no; aber es jhien der grell fladernden Stimmung 
der Menge befjer zu entiprehen, bei Fadelliht zu 
marſchieren. Doh audh für folde ftimmungsvolle 


- Beleuchtung erwiejen fih die Fadeln als überflüffig, 


jobald fie um die Thalede bogen. Denn die ganze 
große Antoni:Glashütte brannte wie eine ungeheuere 


-Sadel bimmelwärts. Der Zug bielt einen Augenblid 


im Gehen und Zärmen an und ftarrte in den Brand. 
Da war es auf einmal, als leuchte der Flammen: 
Ihein in die verwirrten trunfenen Köpfe hinein. Sie 
hatten ftundenlang auf der Kreuzheide beraten, ge: 
plant, geitritten, ohne zu einem feiten Entihluß zu 
gelangen. Sett wußten fie in einem Augenblid genau, 
was jie zu thun hatten. Das Feuer dort drüben 
gab das Mufter her — fie braudten es ihm nur 
nadhzuthun oder ihm auch bloß nadyzuhelfen, um alle 
diefe verhaßten Arbeitzwinger dem Crbboden gleich 
zu maden. Wie fie jo gierig in den giftig roten 
Schein ftarrten, fteigerte fih die Trunfenheit zum 
Wahnfinn, zur Tollheit. Mit einem weithin hallenden 








109 Die neue Herrin. 
Wutgejhhrei geriet die Dienge plöglich wieder in Be: 
wegung. Allein dies war kein Gehen mehr, jondern 
ein Stürmen. Der Wudht und Raferei dieler an- 
pralenden Menſchenmaſſe hielt auch nichts mehr 
fand. Die Lölhenden wurben verjagt, die Beamten, 
welde die Xölcharbeiten leiteten, umringt und in ein 
Amtshaus gedrängt, die Thüren desjelben verjperrt 
und mit einer ftarfen Wache bejegt. Hierauf ftanden 
fie und jahen dem Brande mit einer freubigen Neu: 
gier zu, wie Kinder einem Feuerwerf. Einige padte 
mitten in dem wirren Taumel ein faft lächerlicher 
Ordnungstrieb, und fie bradten die Spriten und 
lonftigen Löfchgeräte forglam in das Eprigenhaus. 
Ein anderes Häuflein trennte fih und begann mit 
Steinen nad) allen Fenfteriheiben zu werfen, wobei 
fie wetteten, wer befler zielen könne. Die Fadelträger 
des Zuges fühlten fi mit einer gewiflen Beihämung 
völlig überflüjfig, deshalb marjchierten fie zur Theo- 
bald-Glashütte und mühten fi), Ddiejelbe nach dem 
Mufter der Antonihütte in Brand zu bringen. Es 
gelang ihnen au, worüber fie unbändig ladten. 
Danıı fam einer gelaufen und fagte: „Der Baron 
it erihlagen.” Da ließen fie vom Feuer ab. Es 
freute fie nicht mehr. Sie fahen, der Brand war 
gar nicht das rehte Mufter gewejen. Diefes hatten 
fie jeßt erft vor den Augen. Was nütte es, bie 
Zwinger zu zerftören, wenn die PBeiniger blieben? 
Bor allem diefer Teufel Würz und feine treuen Helfer 
und Helfersbelfer? Diefe mußten dem Baron nad), 
man wollte ihrer ledig fein für alle Ewigkeit, und 
das fogleih! Allein weder Würz war in feinem 
Haufe, noch fein Selretär, noch auch feine rechte Hand, 
der Ober:Controleur. Aber man mußte fie finden. 
Und fie fucdhten. 

Auf Schloß Wartentron war an demielben 
Nachmittag der junge Baron Mar Wildenihild zu 
Gaſte. Er hatte in Oberlingen zu Mittag geipeiit 
und mar jowohl von Gitta wie von Andreas mit 
einem Auftrag für Schloß Martentron bedadjt worden, 
an weldhem er auf dem Heimmwege nah Thurmbrud 
vorüberritt. Dem Freiherrn Andreas, welchen Ulrich 
die Obforge über Stall und Meute anvertraut halte, 
lag daran, daß Wildenfchild beides einmal gründlich 
anjehe. hm felbft mangelte es der Frühjahrebe: 
ftelung wegen an Zeit, und Mar, der fonft gar 
nichts verftand als Hunde: und Pferdezudt, Ichien 
ihm ein verläßlider Erjfagmanı. Gittas Auftrag 
dagegen war bloß eine praftiihe und geniale inte, 
um ihren fünftigen Schwiegerlohpn Martina zur 
näheren Kenntnisnahme aufzudrängen. Sie follte 
fih einmal in der Nähe „das harmloje Material” 
bejehen, aus dem fih Franzisfa „einen idealen Ehe- 
mann Ineten” würde. Harmlos war er in der That 
bis zur Lächerlichkeit, und auch wirklih bloß ein 
Material, aus dem erft irgend etwas gefnetet werben 
follte. Aber Martina begann bald zu zweifeln, daß fich 
daraus jemals etwas Rechtes würde formen laflen. 
Er redete ihr von Pferden, Hunden, Stroh, Heu 
und Hundefutter vor, infpizierte dann unter großem 
Gejchrei die genannten Tiere und Gegenftände zwei 
Etunben lang in den Ställen und Höfen von Ober: 
Wartentron, und fam endlich herauf, um abermals 


Roman von Karl Erbm. Edler. 





110 


von diejen jelben Xieren und Gegenfländen mit 


Martina zu reden. 


Da erihien ein Bote mit der erften Schredens: 
nahriht aus Unter-Wartenfron, und bald darauf 
ein zweiter, der bdiejelbe ergänzte. Martina erhob 
ih. Sie läutete und befahl, augenblidlih ihren 
Magen einzuipannen. 

Mar Wildenihild war bei der Schilderung der 
Greuelfcenen auffallend bleich geworden. SJebt Iprang 
er auf und verabjchiedete fih mit überflürzter Haft, 
indem er ftammelte, er wolle lieber allein voraus: 
reiten und nicht neben Martinas Wagen, obzwar 
fie denjelben Weg hätten — man müfle unnötiges 
Aufiehen vermeiden. Der große, ftarke, dide Men 
Ichlotterte dabei vor Angft. Im Hinausgehen bradte 
er auf der Schwelle do noch die Phrafe zu ftanbe: 
„Ih bedaure nur, Gräfin, daß ich Ihnen in dieſer 
fatalen Situation mit nichts bienlih fein kann.“ 

„Doch, Baron, Sie reiten auf dem Heimweg 
an den Heibehöfen vorbei. Benadrichtigen Sie 
Herrn von Hötvary! Ach bitte ihn, zu kommen — 
Ichnell, gleid. Er findet mich in Unter-Wartenfron. 
Aber Sie müßten rafh reiten — Jonft fchide ich 
lieber einen von den Scloßleuten, obzwar vielleicht 
jeder Mann bier oben von nöten jein Tann.” 

„Ih werde rafch reiten,” flüfterte der große 
Menih, job fich eilfertig hinaus und galoppierte 
mit der verfprochenen Raſchheit aus dem Sinnenhof. 

Einige Dinuten jpäter ftieg Martina in den 
offenen Wagen. Dem Diener, welcher fi neben 
den Kutfcher jegen mollte, befahl fie, daheim zu 
bleiben, und rief Zahäus zu, fo Ihnell als möglich 
zu fahren. Der alte Dann nidte, und die Pferde 
raften thalmärts. Hinter ihm ließ nah Martinas 
Auftrag der Schloßverwalter alle Thore der Schloß: 
böfe abiperren und bielt die Leute zu etwaiger 
Abwehr hinter dem äußeren Turme beifammen. 

Als Zahäus den Wagen über die Brüde des 
Fabritbahes donnern ließ, bot Unter-Wartenfron 
ein fchredenerregendee Bild. Die weitgeftredten 
Gebäude der Antoni: und Theobald:Glashütte lohten 
in zwei ungeheuren Bränden zum Himmel auf; 
dazwifchen ledten da und dort aus Häufern, Maga: 
jinen, Arbeiterwohnungen, SHolzvorräten niedrigere 
Flanımen empor. Sn das PBrafleln der Feuersbrunft 
hallte wildes Gejchrei, aus dem fich zuweilen ein 
Brülen emporwühlte, wie von einem Nudel 
bungriger Naubtiere, da® vergebens nad) Beute 
judt. Sie fudten aud alle und allerorten. Und 
überall, wo fie Würz nicht fanden, ließen fie ihre 
Enttäufhung blindwütig an ben Dingen aus, indem 
fie alles zu Splittern und Feen auseinanderfchlugen. 
Kerze, Lampe oder Span, womit fie in Verftede ge: 
leuchtet, jchleuderten fie achtlos weg, jo daß bald 
da, bald dort neue Flämmdhen aufzüngelten. Alles 
war nur nodh ein gräßlides Gemildh von Feuer, 
Raub, Gebrül, Herumtaumeln entmenfdhter Ge- 
Ihöpfe. Aus diefem Brodem ftieg auf einmal ein 
greller Freudenfchrei. Jmmer lauter, immer viel: 
fimmiger ward das fchauerlide Saudzen. Würz 
war gefunden. In dem äußerſten Pochwerk nächſt 
der Brücke, welche nach dem Schloß Wartenkron 





111 Die neue Herrin. 
führt, hatte er fich hinter den großen Kiesfäflern 
versteht. Das war höchft gelegen. Man brauchte 
ih nit die Mühe zu nehmen, ihn weiter zu 
f‘hleppen; er war bereit® an bem geeignetiten Tr. 
Die Gewalt des Pochmwerkes, welde den sties Hein 
ftampft, würde mit dem aufgedunjenen Fettllumpen 
jpielend fertig werben. Unter allgemeinem Jubel 
zerrten fie den halbtoten Mann dem Pocher zu, 
weldher ihn jhon im nädften Augenblid zu einer 
formlofen Mafle zerdrüden mußte. 

Da bob fich plöglich aus der weiß beftäubten 
Umgebung der Wände. und Kiesfäfler, wie ein jcharf 
ausgeſchnittenes Schattenbild, eine jhwarze Frauen: 
geftalt ab. „Die neue Gräfin!” murmelte aufblidend 
der Borderfte an dem Bocher. 
Halt!” fagte Martina. Sie überlegte nicht, 
fie plante nichts, fie folgte dem inneren Antrieb und 
ftellte fih fchügend vor Würz bin. Es war ein 
furchtbares Wageflüd, und jelbft anzufehen erjchredend. 

„Halt!“ wiederholte fie lauter, als die Außen: 
ftehenden nadhdrängten, hielt das Haupt hochragend 
über der mwütenden Menge und jah unverwandt in 
die vermwilderten, entitellten, verzerrten Gelichter. Es 
war fein Stolz in ihrem Blid nod aud Verachtung, 
auch feine Furt und fein Jagen — nur mitleidige 
Trauer. E& wurde ihnen weh bei diefem Blid. Sie 
ftarrten auf die Hohe, ftile Geftalt, in das blafie 
Antlig, in die Jchwermütigen Augen. So ftanden 
fie und rührten fih nidt. Es war ganz fill ge: 
worden. 

„Und lafjet ab von ihm!” jagte fie in ruhigen, 
feftem Ton. 

Aber fie ftanden und wichen nicht. Im Hinter: 
grunde murrten Ihon wieder einige, und plöglic 
rief eine Jchrille Stimme: „Der Baron ift erichlagen. 
Würz muß ihm nad! Erft der Herr, dann der 
Diener!” — 8 war ein Schicljalsjchwerer Augenblid, 
und er mußte fie mit binabreißen, wenn fie zagte 
oder auch nur ratlos zögerte.e Schon erhob fidh 
wieder die fchrille Stimme und rief unwirſch: „Unſer 
Herr, der uns bis aufs Blut gequält bat, ift er: 
Ihlagen, und . . .” 

„And darum bin ich jegt Euer Herr,” feßte 
Martina feine Rede fort, und plöglich überflog das 
traurige, bleie Antlig jenes leife, Ihalkhafte Lächeln, 
weldes fdhon einmal bei der eriten Begrüßung in 
der Schloßhalle die Arbeiter Hingerifien hatte. „Und 
da denfet hr wohl, auch ich werde Euch quälen?” 
fragte fie weich. 

Wenn fhon jenem Lächeln Tein Menfch miber: 
ftehen fonnte, bei dem guten, jchlichten, herzlichen 
Ton, mit dem fie diefe Frage in die Menge hinmwarf, 
bob fih auf einmal ein tojender Lärm. „Nein, 
nein!” vief e3 rings um fie und fehüttelte mit den 
Köpfen und hob die Arme abmwehrend in bie Höhe. 
„Rein, nein!“ jchrieen fie leibenjchaftlich weiter, be: 
leidigt über diefe Zummutung, und wurben böfe auf 
fie, daß fie jo etwas glaubte. Dazmwilchen aber rief 
eine helle Stimme, welche bas dumpfe Gemwirr über: 
tönte: „Qivat unjere neue Herrin!” — Und ber 
Ruf ging weiter und hinaus. 

Sie ftand und lächelte immer no. Dann jagte 


Roman von Karl Erbm. Ebler. 





112 








fie: „Nun denn, fo laflet Würz frei und aud die 
anderen! Nieniand von Euch glaubt, daß Eure neue 
Herrin Euch peinigen wird. Glaubet Ihr etwa, fie 
wird Eu) von anderen peinigen lafien? Würz ift 
nicht mehr Euer Direltor — gebet Raum!” Indem 
fie Würz, der faum aufrecht ftehen konnte, bei dem 
Arme faßte, führte fie ihn hinaus, half ihm jelbit 
in ihren Wagen und befahl Zadhäus, ihn rajch in 
das Echloß hinaufzufahren. Dann jchritt fie auf 
das Sprigenhaus zu, und die Menge mit ihr, endlos 
rufend: „PBivat unjere neue Herrin!” Wie ein 
Zauffeuer pflanzte fi der Huldigungsruf von einem 
Ende des Drtes zum andern fort. Von allen Seiten 
ftrömten die verlaufenen Häuflein herbei und wieder: 
holten: „Vivat unfere neue Herrin!” Gie riffen 
die Thore des Spritenhaufes vor ihrem Winte auf, 
fie fpannten. fich jelbft vor die Sprigen, und jene, 
die am lauteften gelärmt hatten, waren jeßt Die 
eifrigften beim Löfchen. Ä 

Dann kam Hetvary jamt feinen Kinechten mit 
Sprigen und Löjheimern angefahren. Ein Ader: 
Inecht, welcher um bie Thalede heimfehrte, hatte ihm 
das Schhabenfeuer angezeigt. Er Fam nod zeitig 
genug, um die ohnmädtige Magdalena Elmer aus 
bem brennenden Häuschen zu retten. Es geichah 
mit Lebensgefahr, indem er mit ihr durch das 
flammenumzüngelte Fenjter binabjprang, während 
das Dach zujammenbradh. Aber es glüdte. Bloß 
fein Ichwarzer „Hunnenbart” und aud eine Seite 
der Kopfhaare war dabei verbrannt. . SJnywilchen 
raflelte auch die Schloßfprige von Oberlingen heran, 
und ihr voran fprengte der Freiherr Andreas an 
der Spite berittener bewaffneter Knete — ein 
friegeriiher Haufe, der feinen Syeind mehr vorfand. 
Wohl aber gab es bei den vereinzelten Branditätten 
noch genügende Arbeit für ihn fowie für die Nachbarn, 
die nad) und nad von allen Seiten mit Löjchgeräten 
und Mannen herbeieilten. 

Der Morgen dämmerte bereits, als „die neue 
Herrin” beimfuhr. Sn den Wagen unterbradte fie 
die betäubte Magdalena mit Hilfe des Doktor 
Grilling, welder fi zu der Kranken fegte und fie 
ftügend umfaßt hielt. Martina jelbft fette fich auf 
den Kutihbod neben Zahäaus und fagte zu ihm: 
„Sabre langfam, redht langfam — des armen 
Mädchens wegen!” 

Der Alte fab auf fie mit einem Blic! hin, wie 
der verzüdte Beter fein Heiligenbild anjhaut. Weil 
fih aber jein übervolles Gemüt irgendwie Luft maden 
mußte, jo trat ihm unmilllürlich über die Lippen, 
was er die ganze Nadhıt hindurch viele hundert Male 
gehört hatte: „Wivat unfere neue Herrin!” 

„Mein guter Alter!” fagte Martina gerührt. 

Da begann Zahäus auf einmal zu Tchluchzen, 
und große Thränen liefen in den tiefen Wangen- 
furhen wie auf wohl eingebämmten Weglein hin. 
Er fah weder Straße no Pferde mehr, und Mar: 
tina erhajchte eben noch die Zügel, als fie zu Boden 
gleiten wollten. Ungelentt jchritten die Pferde die 
gewohnte Bergitraße hinan den erften Sonnenftrahlen 
entgegen, die hinter dem Matthiasbau fchräg hervor: 
braden. Aus der Waldestiefe tünte das Morgenlied 





= — — — — — — — ⏑ Te 


113 


ber Amfel herauf, und die Blumengloden des Grab: 
hauſes begleiteten e8 mit fachte verfchwebenden 
Klängen. Neben Dlartina aber. weinte der weiß- 
baarige Alte leife vor fih hin wie ein Meines Kind. 
Es gehörte alles zu einander und. ftimmte rührend 
zufammen — aber das Schönfte war do, was fie 
oben zu hören befam, ber jauchzende Freudenruf ber 
erwahenden Agnes: „Mama! Mama!” 


XXI 


Sin Oberlingen hatte man den Aufftand und 
Brand von Unter-Wartentron durh Mar Wilden- 
Ihilb erfahren. Derjelbe war mit Martinas Auf: 
trag an Heträry bereitwillig den Wartenfroner Berg 
binabgaloppiert. Als er jedoch das Feuer, den Lärm, 
dus Stimmengewoge, bie dunklen Menichenhaufen er: 
blidte, an denen er vorüber follte, um nad den 
Heidehöfen zu gelangen, da befann er fih nidt 
lange und peitichte fein Roß in der entgegengejebten 
Richtung nad) Oberlingen. Dort berichtete er, vor 
Schred noch ganz verftört, die Gefchehnijle. 

„Und Sie haben Heträry nicht benadhrichtigt?” 
fragte Gitta. „Sie haben es überhaupt zugelaflen, 
daß die Gräfin binunterfährtt? Sie find nidt an- 
ftatt ihrer mit den Hoffnechten binabgeritten, um 
Ordnung zu jhaffen? Und wenn fhon — Eie find 
nicht mit ihr gefahren oder neben ihr hergeritten?“ 
Wie Hiebe mit der Reitpeitihe jauften ihm Gittas 
Worte um die Ohren. Dann mandte fie fih und 
rief: „Andre!” Aber der Freiherr war bereits an 
ber Thür, um binauszueilen. Sie ging ihm nad), 
gab ihm einen herzlihen Kuß und fagte: „Du bift 
mein lieber Mann! Bannerl, umarme den Papa 
zum Abſchied! Ihm fällt von felber ein, mas 
Menfchen: und Chriftenpflicht if. Ihm braudt man 
nicht zu jagen, was ein Mann und Edelmann zu 
thun bat, jelbft wenn es ihm ans Leben geht. Gute 
Nacht, Baron Wildenſchild!“ 

In der trägen Maſſe, welche Wildenſchild ſein 
Hirn nannte, begann doch etwas wie eine Ahnung 
aufzudämmern, als ſei ihm ſoeben eine Art moraliſchen 
Fußtrittes verſetzt worden. Franziska aber ging an 
ihm vorüber wie an den „naſſen Greueln“ der Bade— 
requiſiten, mit zurückgebeugtem Oberkörper, die Hände 
auf dem Rücken, um jede Berührung zu vermeiden. 

Einen Augenblick danach hörte man unten die 
Donnerſtimme des Freiherrn Knechte und Pferde 
aufſtürmen, und alsbald raſte der Oberlinger Hilfs— 
ſchwarm zu Roß auf der Straße gegen Wartenkron. 
Erſt ſpät am nächſten Morgen, als alle Arbeit gethan 
war, kam der Freiherr heim. Aber er legte ſich nicht 
ſchlafen, ſondern erzählte Gitta und Franziska eine 
geſchlagene Stunde lang nur von Martina. „Dieſe 
kleine Wartenkron!“ ſchloß er ſeinen feurigen Bericht. 
„Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Das 
iſt ein Weib wie kein zweites ... Dich ausge— 
nommen!“ 

„Auch mich nicht ausgenommen, Andréè. Du 
mußt immer etwas zu mäkeln haben, ich begreife 
Dich nicht. — 


Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 





114 


„Allo — weißt Du was, Bitta — jagen wir: 
fie ift ein Mann wie fein zweiter. Sie hat es heute 
bewiefen. Das madt ihr keiner von uns nad, Feiner! 
Ich habe einen ungeheuren Reipelt vor ihr. Aber 
ihr zunächlt kommt der Hetvary.” — Nun erzählte 
er ausführlich, wie Hetvary das ohnmäctige Mädchen 
dur die Flammen trug, und wie unmittelbar nad 
feinem verwegenen Sprung burh das Fenfler das 
Dachgebälk des Hauſes einſtürzte. 

Franziska hörte bleich und zitternd zu. Dann 
ging ſie in ihr Zimmer. Dort ſaß ſie eine Weile 
mit gefalteten Händen. Später ſetzte ſie ſich an das 
Klavier. Aber ſie ſpielte nichts Ungariſches. Es 
war Beethovens Eroica. 

Gitta ließ ſogleich einſpannen und fuhr nach 
Wartenkron. „Du biſt ein tapferes Herz!“ rief ſie, 
Martina leidenſchaftlich umarmend. „Noch unſere 
Kindeskinder werden von Dir erzählen und ſtolz auf 
Di fein — wir find es alle: Andre, Fannerl, id) 
— nebenbei, Du bift mir auch in anderem über. 
Ich habe Dir geftern ben Mar zugeihidt, damit 
Du Dir ihn anfiehlt. Er ift dann zurüdgelommen, 
bei welcher Gelegenheit ih mir ihn genauer als bis: 
ber befiytigt babe. Du haft redt. Das ilt kein 
Mann für Fannerl. Das ift überhaupt fein Mann. 
Das ift eine Vogelſcheuche.“ 

„Ih wüßte einen Erſatz,“ jagte Martina. 

„Hetea’y? Andre behauptet, er: fei wie ein 
Salamander im Feuer berumfpaziert. Au ein 
Mädchen hat er mit Lebensgefahr gerettet. Eigent- 
fih Handelt er troß feines Hunnentums doc wie 
ein braver germanifdher Chriftenmenih. Ach glaube, 
es wäre praftifh, ihn bei folder Ummandlung zu 
ermutigen, auch follte man feine wadere Rettung®: 
that irgendwie belohnen — ich denke, Fannerl taugt 
eigentlich ausnehmend gut für diefe beiden Ymede... 
aber Martina, liebes’ Herz, Du erdrüdft mich ja mit 
Deiner Umarmung! Und weinen? Weinen wie ein 
Kind, Du, die Heldin, die Bezwingerin diejer 
mwütenben Arbeiterhorde? Ach glaube, Du haft mein 
Fannerl lieber als Dich jelbfi. Überhaupt haft Du 
alle Menfchen lieber als Dich jelbft. Darum hängen 
fie au an Dir wie die Zecen, jelbit wenn fie in 
der tolliten Rebellion find. Und was den Heträry 
betrifft, jieht Du, To habe ih im Innerften immer 
eine gemiffe Schwähe für ihn gehabt. Aber eine 
unerläßlide Bedingung fee ih, und Du mußt mir 
im vorbinein veriprehen, Dih daran zu balten. 
Alfo gut, ich babe Dein Wort. Andre jowie alle 
Nachbarn werden Dir in diejer erften Verwirrung 
helfen, jelbft wenn fie daheim alles jtehen und liegen 
laffen müßten — eritens weil es Nädhftenpflicht if, 
zweitens weit fie Dich nach ber heutigen Schredens: 
naht insgefamt vergöttern werden, wie es Andre 
jegt Schon thut. Wer Dir jedoch am beiten helfen 
fann, ilt Hetvary. Du braudit ihn jeßt wie das 
täglihe Brot. Darum darf er nichts davon er: 
fahren, daß ih ihm mein Fannerl geben will. Er 
ol nicht zerftreut nad Bergißmeinnicht herumjuchen, 
er fol Feine Hunnenritte nach Oberlingen maden, 
er fol nicht ftundenlang vor Fannerl Süßholz 
rafpeln — er jol an nichts anderes benfen als an 


111 Die neue Herrin. 





führt, hatte er fich Hinter ben großen Kiesfällern 
verftedt. Das war hödjit gelegen. Man braudte 
ih nit die Mühe zu nehmen, ihn weiter zu 
fhleppen; er war bereit an bem geeignetiten Urt. 
Die Gewalt des Pochmerkes, welche ben Nies Mein 
ftampft, würde mit dem aufgebunjenen Fettflumpen 
jpielend fertig werben. Unter allgemeinem Jubel 
zerrten fie den balbtoten Mann dem Pocher zu, 
welder ihn jhon im nädjiten Augenblid zu einer 
formlofen Mafle zerbrüden mußte. 

Da bob fich plößli aus der weiß bejtäubten 
Umgebung der Wände. und Kiesfäller, wie ein jcharf 
ausgefchnittenes Schattenbild, eine fchwarze Frauen: 
geftalt ab. „Die neue Gräfin!” murmelte aufblidend 
der Vorderfie an dem Bocher. 

„Halt!“ fagte Martina. Sie überlegte nidt, 
fie plante nichts, fie folgte bem inneren Antrieb und 
ftellte fih fchügend vor Würz bin. Es war ein 
furchtbares Wageflüd, und felbft anzujehen erjchredend. 

„Halt!“ wiederholte fie lauter, als die Außen- 
ftehenden nachbrängten, hielt das Haupt hochragend 
über der wütenden Menge und jah unverwandt in 
bie vermwilberten, entftellten, verzerrten Gelichter. € 
war fein Stolz in ihrem Blid nod auch Veradjtung, 
aud feine Furt und fein Jagen — nur mitleidige 
Trauer. E& murde ihnen meh bei dielem Blid. Sie 
ftarrten auf die hohe, ftille Geftalt, in das blafie 
Antlig, in die jhwermütigen Augen. So ftanden 
fie und rührten fih nidt. Es war ganz till ge: 
worden. 

„Und laflet ab von ihm!” jagte fie in rubigem, 
feſtem Ton. 

Aber fie ftanden und wichen nit. Im Hinter: 
grunde murrten Shon wieder einige, und plößlic 
rief eine fohrille Stimme: „Der Baron ift erjchlagen. 
Würz muß ihm nad! Erft der Herr, dann ber 
Diener!” — E38 war ein Schicjalsjchwerer Augenblid, 
und er mußte fie mit binabreißen, wenn fie zagte 
oder au nur ratlos zögerte. Schon erhob fidh 
wieder die fehrille Stimme und rief unwirſch: „Unſer 
Herr, der uns bis aufs Blut gequält bat, ift er: 
Ihlagen, und . . .” 

„And darum bin id jet Euer Herr,” Tebte 
Martina feine Rede fort, und plöglich überflog das 
traurige, bleihe Antlig jenes leiſe, ſchalkhafte Lächeln, 
welhes jhon einmal bei der eriten Begrüßung in 
der Schloßhalle die Arbeiter bingerifjen hatte. „Und 
da denfet Ihr wohl, auch ich werde Euch quälen?” 
fragte fie mweid. 

Menn Ihon jenem Lächeln fein Menich wider: 
ftehen konnte, bei dem guten, jchlichten, herzlichen 
Ton, mit dem fie diefe Frage in die Menge hinwarf, 
bob fih auf einmal ein tojender Lärm. „Nein, 
nein!” rief e8 rings um fie und jchüttelte mit den 
Köpfen und bob die Arme abmwehrend in die Höhe. 
„Nein, nein!” jchrieen fie leidenfchaftlich weiter, be: 
leidigt über diefe Zumutung, und wurden böje auf 
fie, daß fie jo etwas glaubte. Dazmwilhen aber rief 
eine helle Stimme, welche das dumpfe Gemirr über: 
tönte: „Bivat unfjere neue Herrin!” — Und der 
Nuf ging weiter und hinaus. 

Sie ftand und lächelte immer nod. Dann fagte 


Roman von Karl Erdm. Edler. 








fie: „Nun denn, fo laffet Würz frei und auch die 
anderen! Niemand von Euch glaubt, daß Eure neue 
Herrin Euch peinigen wird. Glaubet Yhr etwa, fie 
wirb Euch von anderen peinigen lafjen? Würz ift 
nit mehr Euer Direltor — gebet Raum!” Indem 
fie Würz, der faum aufrecht ftehen konnte, bei dem 
Arme faßte, führte fie ihn hinaus, Half ihm felbft 
in ihren Wagen und befahl Zadhäus, ihn rajch in 
das Schloß hinaufzufahren. Dann fchritt fie auf 
das Sprigenhaus zu, und die Menge mit ihr, endlos 
rufend: „Vivat unfere neue Herrin!” Wie ein 
Zauffeuer pflanzte fich der Huldigungsruf von einem 
Ende des Drtes zum andern fort. Bon allen Seiten 
ftrömten die verlaufenen Häuflein herbei und wieder: 
holten: „Vivat unfere neue Herrin!” Sie rifjen 
die Thore des Spritenhaufes vor ihrem Winte auf, 
fie fpannten. fich jelbft vor die Sprigen, und jene, 
die am lauteften gelärmt hatten, waren jegt die 
eifrigften beim Löjchen. | 

Dann fam Hetvary famt feinen Knedhten mit 
Sprigen und Löfcheimern angefahren. Ein Ader- 
Inecht, weldher um bie Thalede heimfehrte, hatte ihm 
das Schabenfeuer angezeigt. Er fam noch zeitig 
genug, um die ohnmädtige Magdalena Elmer aus 
dem brennenden Häuschen zu retten. Es geichah 
mit Lebensgefahr, indem er mit ihr durch Das 
flammenumzüngelte Fenfter binabjprang, während 
das Dah zufammenbrad. Aber es glüdte. Bloß 
fein jchmwarzer „Hunnenbart” und aud eine Seite 
der Kopfhaare war dabei verbrannt. . Sinzwilchen 
rafjelte au die Schloßiprige von Oberlingen heran, 
und ihr voran Iprengte der Freiherr Andreas an 
der Spite berittener bemwaffneter Knete — ein 
friegeriiher Haufe, der einen Seind mehr vorfand. 
Wohl aber gab es bei den vereinzelten Brandftätten 
noch genügende Arbeit für ihn jowie für die Nachbarn, 
die nad) und nad von allen Seiten mit Rölchgeräten 
und Mannen berbeieilten. 

Der Morgen dämmerte bereits, als „die neue 
Herrin” beimfuhr. In den Wagen unterbradte fie 
die betäubte Magdalena mit Hilfe des Doktor 
Grilling, welder fi zu ber Kranken feßte und fie 
ftügend umfaßt hielt. Martina jelbft fette fih auf 
den Kutihbod neben Yahäus und fagte zu ihm: 
„Fahre langlam, redht langlam — des armen 
Mädchens wegen!” 

Der Alte jah auf fie mit einem Blid Hin, wie 
der verzüdte Beter fein Heiligenbild anjhaut. Weil 
fih aber jein übervolles Gemüt irgendwie Luft machen 
mußte, jo trat ihm unmwillfürlih über die Lippen, 
was er die ganze Nacht hindurch viele hundert Male 
gehört hatte: „QWivat unfere neue Herrin!” 

„Mein guter Alter!” jagte Martina gerührt. 

Da begann Zahäus auf einmal zu Ihluchzen, 
und große Thränen liefen in den tiefen Wangen- 
furden wie auf wohl eingedämmten Weglein bin. 
Er jahb weder Straße noch Pferde mehr, und Mar: 
tina erhajcdhte eben noch die Zügel, als fie zu Boden 
gleiten wollten. Ungelenkt jchritten die Pferde die 
gewohnte Bergitraße hinan den erften Sonnenftrahlen 
entgegen, die hinter dem Matthiasbau Tchräg hervor: 
braden. Aus der Waldestiefe tönte das Morgenlied 








113 


ber Amfel herauf, und die Blumengloden des Grab: 
baufes begleiteten es mit jachte verfchwebenden 
Klängen. Neben Martina aber meinte ber weiß- 
baarige Alte leife vor fih hin wie ein Heines Kind. 
Es gehörte alles zu einander und, ftimmte rührend 
zulammen — aber das Schönfte war do, was fie 
oben zu hören befam, der jauchzende Freudenruf ber 
erwachenden Agnes: „Mama! Mama!” 


XXI. 


In Oberlingen hatte man den Aufſtand und 
Brand von Unter-Wartenkron durch Max Wilden— 
ſchild erfahren. Derſelbe war mit Martinas Auf— 
trag an Hétraäry bereitwillig den Wartenkroner Berg 
hinabgaloppiert. Als er jedoch das Feuer, den Lärm, 
dus Stimmengewoge, die dunklen Menſchenhaufen er⸗ 
blickte, an denen er vorüber ſollte, um nach den 
Heidehöfen zu gelangen, da beſann er ſich nicht 
lange und peitſchte ſein Roß in der entgegengeſetzten 
Richtung nach Oberlingen. Dort berichtete er, vor 
Schreck noch ganz verſtört, die Geſchehniſſe. 

„Und Sie haben Hétväry nicht benachrichtigt?“ 
fragte Gitta. „Sie haben es überhaupt zugelaſſen, 
daß die Gräfin hinunterfährt? Sie ſind nicht an— 
ſtatt ihrer mit den Hofknechten hinabgeritten, um 
Ordnung zu ſchaffen? Und wenn ſchon — Sie ſind 
nicht mit ihr gefahren oder neben ihr hergeritten?“ 
Wie Hiebe mit der Reitpeitſche ſauſten ihm Gittas 
Worte um die Ohren. Dann wandte ſie ſich und 
rief: „André!“ Aber der Freiherr war bereits an 
der Thür, um hinauszueilen. Sie ging ihm nach, 
gab ihm einen herzlichen Kuß und ſagte: „Du biſt 
mein lieber Mann! Fannerl, umarme den Papa 
zum Abſchied! Ihm fällt von ſelber ein, was 
Menſchen- und Chriſtenpflicht iſt. Ihm braucht man 
nicht zu ſagen, was ein Mann und Edelmann zu 
thun hat, ſelbſt wenn es ihm ans Leben geht. Gute 
Nacht, Baron Wildenſchild!“ 

In der trägen Maſſe, welche Wildenſchild ſein 
Hirn nannte, begann doch etwas wie eine Ahnung 
aufzudämmern, als ſei ihm ſoeben eine Art moraliſchen 
Fußtrittes verſetzt worden. Franziska aber ging an 
ihm vorüber wie an den „naſſen Greueln“ der Bade— 
requiſiten, mit zurückgebeugtem Oberkörper, die Hände 
auf dem Rücken, um jede Berührung zu vermeiden. 

Einen Augenblick danach hörte man unten die 
Donnerſtimme des Freiherrn Knechte und Pferde 
aufſtürmen, und alsbald raſte der Oberlinger Hilfs— 
ſchwarm zu Roß auf der Straße gegen Wartenkron. 
Erſt ſpät am nächſten Morgen, als alle Arbeit gethan 
war, kam der Freiherr heim. Aber er legte ſich nicht 
ſchlafen, ſondern erzählte Gitta und Franziska eine 
geſchlagene Stunde lang nur von Martina. „Dieſe 
kleine Wartenkron!“ ſchloß er ſeinen feurigen Bericht. 
„Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Das 
iſt ein Weib wie kein zweites ... Dich ausge— 
nommen!“ 

„Auch mich nicht ausgenommen, Andréè Du 
mußt immer etwas zu mäkeln haben, ich begreife 
Dich nicht. — 


Die neue Herrin. Roman von Karl Erdm. Edler. 





114 


„Allo — weißt Du mas, Gitta — jagen wir: 
fie ift ein Mann wie kein zweiter. Sie hat es heute 
bewiejen. Das madt ihr feiner von uns nach, feiner! 
xh habe einen ungeheuren Refpelt vor ihr. Aber 
ihr zunähft kommt der Hetvary.” — Nun erzählte 
er ausführlich, wie Hetvary das ohnmädtige Mädchen 
dur) die Flammen trug, und wie unmittelbar nad 
feinem vermwegenen Sprung dur das Fenfter das 
Dachgebälk des Haufes einftürzte. 

Sranzista hörte bleih und zitternd zu. Dann 
ging fie in ihr Zimmer. Dort faß fie eine Weile 
mit gefalteten Händen. Später fette fie fih an das 
Klavier. Aber fie fpielte nichts Ungariihes. €8 
war Beethovens Eroica. 

GSitta ließ jogleih einipannen und fuhr nad 
Wartenfron. „Du bift ein tapferes Herz!” rief fte, 
Martina leidenfchaftlid umarmend. „Noch unjere 
Kindestinder werden von Dir erzählen und ftolz auf 
Di fein — mir find es alle: Andre, Fannerl, id 
— nebenbei, Du bift mir auch in anderem über. 
%h babe Dir geftern den Mar zugeihidt, damit 
Du Dir ihn anfiehft. Er ift dann zurüdgelommen, 
bei welcher Gelegenheit ich mir ihn genauer als bis: 
ber befichtigt habe. Du haft redt. Das ilt fein 
Monn für Fannerl. Das ift überhaupt fein Mann. 
Das ift eine Vogeliheuche.” 

„Ih wüßte einen Erjag,” jagte Martina. 

„Hétväry? Andre behauptet, er: fei wie ein 
Salamander im euer berumfpaziert. Au ein 
Mädchen hat er mit Lebensgefahr gerettet. Eigent- 
lid handelt er troß feines Qunnentums doch wie 
ein braver germanifcher Chriftenmenih. ch glaube, 
e8 wäre praltiih, ihn bei folder Umwandlung zu 
ermutigen, auch jollte man feine wadere Rettungs: 
that irgendwie belohnen — ich denke, Sannerl taugt 
eigentlich ausnehmend gut für dieje beiden Ywede... 
aber Martina, liebes’ Herz, Du erdrüdit mid) ja mit 
Deiner Umarmung! Und weinen? Weinen wie ein 
Kind, Du, die Heldin, die Bezwingerin dieler 
wütenben Arbeiterhorde? Ach glaube, Du haft mein 
Fannerl lieber als Dich jelbft. Überhaupt haft Du 
ale Menichen lieber als Dich felbfi. Darum hängen 
fie au an Dir wie die Zeden, jelbft wenn fie in 
der tollften Rebellion find. Und was den Hetrary 
betrifft, fiehft Du, fo habe ich im Snnerften immer 
eine gemiffe Schwäche für ihn gehabt. Aber eine 
unerläßliche Bedingung fjege ih, und Du mußt mir 
im vorbinein veripreden, Dih daran zu halten. 
Alfo gut, ich habe Dein Wort. Andre fowie alle 
Nahbarn werden Dir in diefer erjten Verwirrung 
helfen, jelbft wenn fie daheim alles jtehen und liegen 
laffen müßten — erftens weil es Nädhltenpfliht if, 
zweitens weit fie Dich nach der heutigen Schreden®: 
naht inegefamt vergöttern werben, wie e8 Andre 
jegt Ichon thut. Wer Dir jedoh am beiten helfen 
fann, ift Hetvary. Du braudft ihn jeßt wie das 
täglihe Brot. Darum darf er nichts davon er: 
fahren, daß ich ihm mein $annerl geben will. Er 
Sol nicht zerftreut nach Vergißmeinnicht herumfudhen, 
er Soll feine Hunnenritte nad Oberlingen machen, 
er fol nicht ftundenlang vor Fannerl Süphol; 
rafpeln — cr fol an nichts anderes denten als an 


rn nn nn EEE nenn 


115 Die neue Herrin. 
Wartenkron. Du baft mir im vorhinein Dein Ver: 
prehen gegeben — binterdrein hätte ih e& Dir 
doh nicht abzwingen können, ich weiß. Aljo ich be: 
dinge mir: fein Wort davon zu ihm, nod aud zu 
ihr! Sobald einmal Ulrih bheimgelehrt und alles 
wieder im Gang ift, dann erit Ichide mir Dielen 
braunen lieben ungen herüber, und lafje mich wifjen: 
der Mohr bat feine Arbeit getdan, der Mohr fanıı 
geben. Und nun Ichlafe Dih tüdhtig aus — Du 
baft es Dir verdient, meine Heldin, mein liebes, 
liebes Kind!” — 

Aber Martina jchlief fih nicht aus. Denn kurz 
nah Gittas Abfahrt Fam Hetvary. Sie erkannte 
ihn faum. Da ihm das Feuer den Bart und teil: 
weile aud) die Kopfhaare veriengt hatte, fam er glatt 
rafiert und kurz gejchoren. Über die Schläfe lief bis 
zur Wange herab ein Pflafter, das ihm Grilling an- 
geheftet hatte, der linke Arm rubte verbunden in 
einer Chlinge. Martina fagte ihm feine lob- 
preilenden Worte, fie drüdte ihm nur herzlich die 
gejunde redte Hand. Schliht, wie er ihr eine 
Hilfe ohne Worte als etwas Selbftverftändliches ent- 
gegenbradte, nahm fie dielelbe von dem treuen 
Freunde an. Es murden jogleich die dringendften 
Vorkehrungen vereinbart und ein Plan für die 
nächſte Zukunft feitgefeßt. Dann jchloß Hetväry 
die Beratung in jeiner entichiedenen Weile mit 
den Worten: „Set will ich die beiden “Briefe 
in Shrem Sinne fchreiben. Sie aber, Gräfin, 
müſſen Ichlafen!” Darauf ritt er nah Unter: 
Wartenktron, wo er fid in der Direktionskanzlei ein 
Teldbett und einen Schreibtiih aufftellen ließ. Nad- 
dem er fich fo häuslich angefiedelt hatte, jchrieb er 
die zwei Briefe. In dem erften beauftragte er 
Martina Rechtsanwalt, ohne Verzug einen Teil 
des Leilenahhichen Erbes flüjfig zu madhen und an die 
Gräfin Wartenfron zu fchiden, ber zweite war an 
den Grafen Wartenfron gerichtet. 

Ulrih Hatte kurze kühle Briefe zuerft aus Ober: 
Sstalien, dann aus Rom, aus Neapel, aus Sizilien 
gejchrieben. Plöglih war er wieder in Genua, um 
ih für Amerifa einzuihiffen, weil die alten Eltern 
erkrankt feien. Er jchrieb, er werde der Freiin Die 
Nachricht bringen, Thomafine jei außer ftande, an 
ihr Krankenlager zu eilen, da fie felbft dur ein 
Leiden feitgehalten werde. Um die alte Zrau nicht 
zu erjchreden, dürfe bloß ein unbebenkliches Leiden 
sum Vorwand gewählt werden — er werde alfo 
lagen: eine Sehnenzerreißung am Fuße. Schließlich 
bat er Martina, gleihfalle in bdiefem Sinne zu 
Ihreiben, daß fie an die Chaifelongue gefeflelt jei 
und ihr Fuß in einem PVerbande feitliege. Dies 
hatte Martina gethan. Jetzt gab Heträry in einem 
geihäftliden Schreiben an WUlrih eine gebrängte 
Darftellung der Ereignilfe und der zunädlt ge: 
troffenen Maßregeln. Hierauf fam als Antwort 
ein Kabeltelegramm mit der Gutheißung des Ge: 
thanen und der Nadhriht von einer Berfchlimmerung 
im Zuftand der beiden Kranfen, die er nicht ver: 
laſſen könne. Dasfelbe meldete ein jpäterer Brief 
in ausführlicher Weife und jchloß mit der Bitte, alles 
Nötige mit unbejchräntter Vollmacht zu verfügen. 


Roman von Karl Erbm. Ebler. 


116 


Heträry berief einen ihm perjönlich befannten 
tüchtigen Direktor für die Glasfabrifen. Die Leitung 
der Landwirtichaft übertrug er einem Unterbeamten, 
der wegen feiner Umfiht und Ehrlichkeit bisher ab- 
wegs gehalten und zu unmwejentlider Dienjtleiftung 
verwendet worden war. Überhaupt waren gerade 
die niederen Stellen zumeift mit brauchbaren, red: 
lihen Männern bejegt, und KHetvary bedeutete 
Martina, „daß viel Korn unbeadhtet unter dent 
Stroh gelegen hatte.” Was fi von dem Beamten: 
förper als unverläßlich erwies, erjegten die neuen 
Direktoren mit bejjeren Männern. Dabei überbot 
ih die Nahbarihaft in Welteifer, der tapferen 
Gräfin Wartentron mit Rat und That, mit Anbot 
von Menfhen und Dingen beizuftehen, und in den 
älteften Herren erwachte ein ritterlicher Geift, fo daß 
fie fih der jungen Frau für jeden MWunjdh zur Ver: 
fügung ftellten. 

Die neuen Beamten ginnen vorerft an bie 
Mufterung der Bücher und Kallen. Xer hatte Fein 
feftes Gehalt bezogen, jondern die Kaflen ftanden zu 
feiner uneingefchräntten Dispofition. „Du bift mein 
Kompagnon,” hatte ihm Wlrich bei Jeiner Beftallung 
gejagt, „Deine Einlage ift Deine mühevolle Arbeit.” 
Sett ftellte es fich heraus, daß Xer in jene franl- 
bafte Vergeudungsmanie zurücgefallen war, welche 
er vom Vater geerbt, und durch die er den Familien: 
befig überjchuldet hatte. Er pflegte von Zeit zu 
Zeit mit vollen Händen aus den Kafjen zu jchöpfen 
und in die Refidenz zu reifen. Dort verfehwanden die 
mitgenommenen Summen binter den Balletcouliflen, 
auf dem Nennplaß, zumeift jedoh am Spieltiich mit 
einer unglaublichen Leichtigkeit. Die größten Beträge 
waren für ihn bloß ein flüchtiger Belig, welchen er an 
einem Abend, im beiten Falle binnen wenigen Tagen 
losihlug. Zu Haufe fträubte fich fein hochfahrendes 
Blut dagegen, wie ein Bankbedientefter fiir die rich: 
tige Einfaffierung der Gelder zu jorgen. Würz und 
Maltdörfer waren dazu bier, die Kaflen zu füllen, 
und zwar möglichlt ausgiebig und zum gemwünfcten 
Zeitpunkt. Dafür jah er ihnen nicht auf die Finger, 
wieviel beim Einlegen an denfelben Tleben geblieben 
war; ebenjo hatten fie die unbewadhte Nachleie, 
wenn er fi jeinen Bedarf vorweg genommen hatte. 
Sie waren ihm, er ihnen dienlih, und fie jelbft 
wieder bis zu einem gemwillen Grade den nädhjiten 
Dberbeamten. Die Unterbeamten blieben als Une 
eingeweihte von dem Bunde ausgejhlofen, und die 
Arbeiter trugen die Koften davon. Ober-Wartenfron 
erhielt der Form halber einige lächerliche Reſte der 
Einnahmen, lebte von feinen anderweitigen Renten, 
und befam beim Büderabihluß unabänderlich die 
Phrafe zu hören: „Es it eben Heuer wieder ein 
ſchlechtes Jahr geweſen.“ 

Mit Schauder blickte Martina in dieſe ſchmach— 
vollen Verhältniſſe, welche ihr Hétväry darlegte, 
nachdem er dieſelben durch Sachverſtändige hatte 
klarſtellen laſſen. Und wie viel blieb noch übrig, 
was ſich nicht ziffermäßig als Unterſchleif nachweiſen 
ließ, aber doch keine helle Beleuchtung vertrug! 
Leichtſinn an der Spitze, Veruntreuung oben, Aus: 
ſaugung unten! Der Betrug der Oberbeamten um— 





117 Die neue Herrin. 
faßte nachweisbar fo bedeutende Summen, daß bie 
Sadverjtändigen ein gerichtliches Einjchreiten befür- 
worteten. Als Hetvary dies Martina mitteilte, ent: 
Ihied fie: „Nein. Wenn der Ridhter die Fäden un: 
verwirrt in feiner Hand behalten will, welche fi 
durch diefe Ihlammigen winkligen Schleihpfade fort: 
i&längeln, jo muß er fie alle an er anknüpfen. 
2er aber ift ohne Schuld, weil er über die Ein: 
gänge frei verfügen burjte und ein Recht hatte, zu 
thbun, wie er that. Wenn er dies Recht weiter aus: 
nügte, als ein anderer gethan hätte, jo hat er dafür 
eine Entjhuldigung: es war eine ererbte Krankheit. 
Der Gerichtshof kann ihm nichts anhaben, wohl 
aber könnten ihm SSernerftehende eine Schuld bei: 
mefien. Ih will nicht, daß der Name Thurmbrud 
in Berhandlungen und öffentliden Berichten herum: 
gezerrt werde. Auf Thomafinens Bruder fol kein 
Makel fallen — er verdient ıhn auch in diefer Sache 
nit. Und die ihn verdienen, jollen e8 dem Toten 
danten, daß fie einem gerechten Gerichte entgehen.” — 
Aber die ehrlihe Entrüftung, welde Martina auf 
die Ehhuldigen hinabbligte, die ächtenden Worte, mit 
denen fie aus dem Amte gefegt wurden, waren auch 
ein Geridt. 

Nun, da Unterjhleif und Mikbraucdh befeitigt 
waren, galt es, die ganze Verwaltung meu zu 
Ihaffen. Es war eine fchwere Zeit für Martina. 
Eine verhängnisvolle Stunde hatte fie dazu aufge: 
rufen, das flille Leben des Meibes mit dem 
Drängen, Stoßen und Ringen des Männerwerfes 
zu vertaufhen. Die Notwendigkeit hob die Tüchtig- 
feit ihres Wejens mie eine edle getriebene Arbeit 
aus der Fläche hervor, und im Bemwußtjein der Ber: 
antmwortlichleit wuchs ihre Thatkraft zu bewunderns: 
werter Höfe. Sie Hatte den unerjchütterlichen 
Glauben, daß fie alle die Arbeitslaft zu einem 
glüdlihen Ende führen werde, und darum brachte 
fie e8 zu Stande. In dem harten Boden ihrer 
arbeitfamen, aufopferungsvollen Sugend lagen bie 
Wurzeln folder unermüdlichen Energie, der Wiß- 
begierde, die jelbit jehen und hören will, des un: 
trügliden Snflinktes, der errät, wo Auge und Ohr 
verfagen. Sie ging zu den Mrbeitern in ihre 
Häufer, in die Magazine, auf die Felder, um mit 
eigenen Augen zu fehen, welde Übertretungsfünden, 
welche Unterlafjungsfünden an ihnen gut zu maden 
waren. Sie lernte die Menihen, ihre Berhältnifie, 
ihre Bebürfniffe fennen. Die Arbeiter fühlten, daß 
die Augen der neuen Herrin nicht in müßiger Neu: 
gier auf ihnen ruhten, fondern mit herzlicher Wärme, 
mit jener fchwefterlihen Teilnahme, die fich felbft 
einen Teil des großen Meltleives tapfer auf: 
bürdet, auf daß es die Schwächeren nicht erbrüde. 
Wo fie als Geberin fam, da rührte mehr noch als 
das Gejchen? die Art, wie fie e8 ihnen reichte. Man 
ah ihr die helle Freude des Schenfens an, und ba- 
bei erichien es ihr jo felbftverfländlih, daß fie bie 
Gabe jtill Hinlegte oder oft auch ganz unbemerft 
das Verbraudte mit dem Neuen vertaufchte. Wie 
fie mit ihren guten, ehrlichen Bliden den Beamten 
und Arbeitern gerade in die Augen fchaute, jo fagte 


fie ihnen auch ihre ehrlide Meinung geradeaus. ! 





Roman von Karl Erdm. Ebler. 


118 


Wo fie jelbft eingriff, that fie es einfach, uhne da: 
mit wichtig zu thun. Dabei bildete fie zugleich ein 
beilfames Gegengewicht zu den weit ausgreifenden 
Mapregeln Heträrys, der mit feinen PBußtaaugen 
in große Horizonte zu jchauen gewohnt war und 
deshalb zuweilen überjah, was zu feinen Füßen lag. 
So fam es, daß feine Fehlgriffe geihaben, und daß 
jedermann der neuen Herrin recht gab. Aber mehr 
noch als der Berftand thaten Gemüt und Stimmung 
dazu. Daß fie bei allem ihr Herz zu Rate 309, 
welches jelbit im ſtürmiſchen Wellengang geprüft 
worden war, daß fie den Zuftrom ihrer Gedanken 
an diefem Herzen erwärmte, bevor fie denfelben in 
Wort oder That umfehte — darin lag das eigent: 
liche Geheimnis der Macht, melde die neue Herrin - 
ausübte. Das Vertrauen wudhs zu einer tiefen 
Zuverficht, die fih oft in wahrhaft rührender Weile 
äußerte. 

Für ausgiebige Arbeit hatte die neue Herrin 
gleid am erften Tage nad dem Aufftande gejorgt. 
Die Antoni: und die Theobald:Glashütte waren 
vollftändig niedergebrannt ; ebenjo eine Tleinere 
Sdleifmühle, zwei Beamtenhäufer, mehrere Maga- 
zine, eine ganze Reihe Arbeiterhäufer und endlich 
große Holzuvorräte. Es ftand noch eine dritte Glas: 
fabrif, die fogenannte „alte Hütte”. Sie wurbe 
den älteften Meiftern zur Verfügung geftelt, und 
diefe begannen dafelbft jchon am nädjlten Tage: das 
Einlegen in den Dfen. Die Thätigleit in ber 
großen Scleiferei, am Glasmalerofen, in der 
Dredslerei ging ungeflört weiter. Die Arbeitslojen 
wurden zum Abräumen des Schuttes gerufen. Sie 
fanden beim erften Vorbringen unter den Brand: 
trümmern der Antonihütte den halbverfohlten LXeich- 
nam Elmers. Zunädhjft gingen fie daran, den Schutt 
der beiden Fabrilen zu bejeitigen, um vorerjt wieder 
Arbeitftätten für die Glasarbeiter zu jchaffen. Alle 
unbeichäftigten älteren Hände, das vereinte junge 
Volk griff raftlos zu, ale Wagen und Pferde waren 
in Thätigkeit. Wenige Tage danadh kamen Maurer 
und Zimmerleute, und abermals griffen alle Hände 
zu, um Stein und Holz berbeizufchleppen. Zuletzt 
erfhienen fremde Dfenbauer und errichteten neu: 
artige Gasöfen. So ftanden durd allfeitiges ange: 
ftrengtes Mühen jomwie durch den Zauber des Geldes, 
das man nicht zu jparen brauchte, in unglaublich 
furzer Zeit die Antoni: und die Theobald-Glashütte 
an den alten Stätten. Martina wurde gebeten, fie 
einzumeihen. Als fie die Antonihütte betrat, riefen 
alle: - „Wivat unfere neue Herrin!” und die alten 
Meifter um/pannen fie nach hergebradter Sitte mit 
Blastäden im Kreife. Nach bergebradter Sitte follte 
fie ih nun aus folder Haft Iosfaufen. Das üb- 
lide XLöjegeld befteht in einem guten Trunk für 
Meifter, Gehilfen und Zuträger. 

Martina ftand lächelnd inmitten der Glasfäden 
und jagte zu den alten Meiftern: „Wie Yhr mid) 
da umftridt habt, daß ih müßig anhalten muß, jo 
umftridt Euch alle das Alter. Löfet mi, fo will 
auh ih Eud löjen! IH will Eud ein Haus hin- 
bauen mit PBiründen für die, welche in der Arbeit 
bier alt geworden find, auf daß fie dort jorglos und 


119 Die neue Herrin. 


a a 


bequemlich ausruben. 
der Brüde ein Plägchen dafür. Es ift grün, fill, 
mit freunblidem Ausblid, der Bach raufcht vorüber; 
die Sonne wird vormittags warm auf den Garten: 
bänklein vor dem Haufe liegen, am Abend aber an 
deſſen NRüdjeite auf dem weiten Wiejenplag. Das 
jei mein Löjegelb!" — 

Sn der neuen Theobaldhütte löfte fie jih aus 
dem Glasgelpinit, indem fie verfprah, neben Die 
Schule ein Haus zu errichten für eine Kleinkinder: 
bewahranftalt und für eine Krippe. Sn der 
Scleiferei, welche neu eingerichtet und mit finn: 
reichen Bentilationsapparaten verjehen worden war, 
lagte fie eine allgemeine Erhöhung des Stüdlohnes 
zu. Außerdem fündigte fie jämtlichen Arbeitern die 
Erridtung eines Spitales an mit einem abgejonderten 
Pavillon für Kinderkrantheiten. 

Die Nadhridten Ulrihs lauteten inzwiſchen 
immer betrübender. AZuerft war der alte Thurm- 
brud unbeilbar erkranlt. Die Freiin konnte nichts 
mehr für dies meißhaarige Kind thun, um welches 
fie feit jeher geforgt hatte. Er war nun verjorgt 
für diefe Welt, und als fei damit ihr Tagemwerf bie- 
nieden vollendet, madte auch fie auf Erden Feier: 
abend. Sie ließ fi von der Chailelongue auf das 
Bett legen und barıte geduldig des Augenblides, 
mit ihrem Manne. in die Ewigkeit zu ziehen; fie 
fonnte fih ihn auch dort drüben nicht ohne ihre 
Bevormundung denken. Er bejaß eine ungemeine 
MWiderftandskraft, und fie wollte nicht vor, nicht nad) 
ihm hinübergehen, jondern, weil er ihrer bedurfte, zu: 
gleih mit ihm. So kämpften denn jein riefiger 
Körper und ihr ftarrfinniger Wille monatelang gegen 
die Vernichtung. Einen erfahrenen Arzt hatte Ulrich 
dem nädjften Etabtipital entnommen und für die 
ausihließlihe Behandlung des alten Paares ge: 
wonnen. Er bradte ihn nebit einer Hausapotheke 
auf die Thurmbrudihe Beligung und teilte fih mit 
ihm in die Pflege. Beide Kranke waren nicht an: 
Iprudevol. Die Augen des Freiherın mit dem fteis 
verwunderten Kinderblid hingen zumeilt an jeiner 
Frau. Shre Blide jchweilten von ihm zu der Wand, 
wo ein verblichenes Stinderbild Thomafinens bing, 
und daneben ein Aquarellportrait der Kleinen Agnes, 
das ihr Thomafine erit vor wenig Tagen geichidt 
hatte. — „Sie hat meifterhaft malen gelernt,” jagte 
die Freiin einmal nah langer Betrachtung des 
Aquarelles zu Ulih. „Auch, mandes andere.” 

„Was, liebe Mama?” 

„Auh mandes andere bat fie gelernt. . ch 
hätte e8 ihr nicht zugetraut. Sie muß fich jehr 
geändert haben — Gott fjei Dank!” 

„Worin, meinen Sie, geändert?” fragte Ulrich, 
beunruhigt durd) ihren nachdenllihen Zon. 

„sm innerftien Weſen. Die Briefe aus den 


erften Yahren haben mir Sorge gemadt um Guer 
beider Glüd. Dagegen bradte mir jeder Brief ber 
legten Monate einen Felttag.e Auch an ihr ift wahr 
geworben, daß der Menih nur zu wollen braudt; 
dann fallen ale Echladen von ihm ab. Untenntlich 
ift fie mir faft geworden. 
jagen. 


Engelhaft — möchte ich 


Das bante ih Dir, Ulrid. Du haft mein 


— * 





Roman von Karl Erdm. Edler. 


Ich weiß am Waldrand vor 


klärung des Scluſſes. 


120 


Kind ſo gluclich gemacht, daß es vor Glück edler 

wird. Der ſchönſte Dank, den ich Dir dafür geben 
kann, iſt, daß ich Dich die Briefe leſen laſſe. Hier 
der Echlüſſel — dort in der grauen Schublade rechts 





liegen alle, die alten und die neuen. Nimm, lies, 
und vergleiche ſelbſt!“ 
Uri that nah ihrem Geheiß. Wehmütig 


durchblätterte er die zwei getrennten Bücher ſeines 


Lebens, welche für die Sterbende bloß ein einziges 
Werk bilbeten, von der menjchlichen Unvollfommenheit 
im Beginne fih fteigernd bis zur engelhaften Ver: 
Das echte ältere Häuflein 
bot das mwohlbefannte, nur ctwas nadgebunfelte Bild 
haftigen Dabinjagens, raftlofen Wechliels, abipringender 
Gedanken, zeriplitterten Gefühles, ewig ledhgenden 
MWollens — alles unter die einheitliche Beleuchtung 
eines entzüdenden Eindlichen Xächelns gebradjt. Aber 
jeltfjam: er hatte ehedem diejen jonnigen Lidhtitrahl 
allein geliehen, jeßt Jah er auh, was berjelbe mit 
jeinem täujhenden Glanz überwebte. Und er erichrat 
über die grauen Schatten, über die dunklen Ahnungen, 
bie im Hintergrunde des Bildes lauerten, indem er 
die Morte der Sranten wieberholte: „Die Briefe 
aus den eriten Tagen haben mir Sorge "gemacht um 
Euer beider Glüd.” 

Nun Famen die Briefe an die Reihe, welche 
von Martina geichrieben waren. Martina hatte jeit 
ihrer Kindheit ihr Leid liebreih vor den Vater, 
Iheu vor Fremden gehehlt, und das, was fie fonft 
bewegte, Teujch verichloflen dabingetragen. Der alten 
Mutter dagegen legte fie ihr Herz offen bin — fie 
jollte ja ihr Sind fein. Wie ein Kind am Mutter: 
berzen ftammelte fie al ihr Sinnen und Fühlen aus. 
Es mar aber nichts als Freude, Glüd, Liebe, wovon 
fie der alten Mutter berichtete — genau jo, wie fie 
das Bild ihres Lebens auf Wartenfron fi einft 
ausgemalt, wie fie es als füßen Traum im Herzen 
getragen hatte. Alles war von einem verklärenden 
Licht übergoldet und auf einen feligen Ton geflimmt, 
welder rührend an das alte Diuiterherz jchlagen 
und beglüdend darin verklingen mußte. Zuweilen 
trat aus den Worten eine verhaltene ftile Größe 
bervor, welde den eingejhrumpften Geift der alten 
einjamen Frau ausweiten mußte. Auch diefe neueren 
Briefe erjhienen Ulrich wohlbelannt — es war ihm, 
als habe er fie ale mit erlebt und nur nicht be: 
achtet, weil feine Augen von einer einzigen Bifion 
erfült waren. Diele ift jeßt zu unbeftinmiter Er: 
innerung zerijhmolzen, und hinter ihr tritt rührend 
aus der Umnadhtung ein anderes Bild von holder 
Hoheit, von Tpfermut, von Leidenskraft. ngelhaft 
bat e8 die Mutter genannt. Erjchredt blidt er zu 
demjelben empor mit der bangen Stage, ob e8 zu 
der Fähigkeit, alles zu ertragen, auch jene befige, 
alles zu vergeben. 

Aber es mwährte noch viele lange Moden, bevor 
er fie jelbjt fragen konnte. Ter Frühling war längft 
in den Sommer übergegangen, als es mit dem Frei- 
bern zu Ende ging. Den Tag nah jeinem Hin: 
Iheiden erlojh auch die Freiin frieblih, ohne daß es 
jemand merkte. Es fiel Ulrich erft nachträglich auf, 
daß fie ihm die Hand lange gedrüdt hatte, wie zum 











121 Die neue Herrin. 
Abihied. Dann hatte fie wohl ruhig zu fich Telbft 
gejagt: „Ih will fierben” — und ihren Willen 
Ihliht ins Merl gefegt. Die Ordnung der Hinter: 
laflenihaft vermodte Ulrich nicht zurüdgubalten; er 
gab dem treuen Verwalter VBollmadıt unb eilte ohne 
Säumen in das PBaterland zurüd. 


XXI 


Ulrich hatte nichts von feiner Abreife gejchrieben, 
er wollte unangemelbet zu Haufe eintreffen. Als er 
id am letzten Reifetage der Wartentroner Bahn: 
ftation näberte, beftiegen zwei alte Herren fein Coupe. 
Es waren Sutsnadhbarn Ulrihs, und von ihnen 
erfuhr er alles, was Martina gethan, und was ihm 
Hetväry auf deren Wunich verjchwiegen hatte. Ihr 
beifpiellojer Heroismus erwedte felbft in den beiden 
weißbärtigen Landebelleuten eine jugendlihde Be: 
geifterung und feurige Berebfamleit. Ulrich aber ward 
dabei immer ftiller. 


Endlih fland er vor ihr. Sie fagte nichts über 
fein langes Fernbleiben und über fein unermwartetes 
Heimlommen. Spradlos reichte fie ihm die Hand, 
das Antlig von Frieden überglänzt. Es war basfelbe 
bleidhe, holde Antlig, wie er es in der Erinnerung 
mit fih genommen hatte; aber der Ausdrud war 
ein anderer geworden. &8 wirkte nicht mehr burd) 
feine Trauer und Demut; es ftrahlte jet fanft 
gebietend, in ruhevoller Majeftät. Es rührte nicht 
mehr, es jchücdhterte ihn ein. Als fie endlich zu reden 
begann, da jah er ein, daß fie au im übrigen 
eine andere geworben war, ein ernfles Weib, wie e8 
wohl die Ehe aus einem Icheuen Mädchen zu bilden 
pflegt. Aber nit er ift es gemweien, fonbern fie 
felbft, die fi jo umgebildet bat. Sie ift Fein 
Windling, welder gelehrig Ihmiegfan an der Stüße 
aufklettert, jondern ein Lärdenbaum, bo, ftolz, 
fturmgefeftet, bligableitend. Er bat das Gefühl, daß 
die Zwilchenzeit fie ihm gänzlich entfremdet und in 
unnahbare Ferne gerüdt bat. 

Dann eilte fie hinaus und führte an der Hand 
die trippelnde, jauchzende, blühende Agnes dem Vater 
zu. Auf dem anderen Arm trug fie, von Hüllen 
ummidelt, ein winziges Kindlein, das volllommene 
Abbild von Agnes. „Das Töchterlein des unglüd: 
lihen Ler und der armen Magdalena, welde ihm 
bald in den Xod nadgegangen ift!” jagte fie. 
„Hetväry hat fie aus den Flammen gerettet. Wir 
haben fie heraufgenommen und betreut. Aber id 
glaube, das Leben war ihr eine Laft nad allen den 
Greueln, an denen fi die Arme die Schuld beimaß. 
Nun habe id zwei Kinder. Sie jehen einander wie 
Geihrifter ähnlih, und fieh nur” — fie bielt ihm 
das Kind näher hin — „die großen blauen Augen 
mahnen getreu an die Augen drüben auf den Bildern, 
ganz Thomafinens Augen!” Sie fagte es mit jo 
berzlichem Eifer, fie lächelte jo beglüdt, daß es offen: 
bar mwurbe, wie ihr bDiefe hnlichkeit lieb und teuer 
jein mußte. Und dabei jah fie Ulrich an, dem fie mit 


Remans>Zeitung 1896. 


Roman von Karl Erdm. Edler. 


— — u —— - in — — — 1) 


122 


Mitteilung eine holde Überraſchung hatte machen 
wollen. 

Sie vernahm nur einen leiſen Seufzer, mit dem 
er fich raſch abwandte. Hetva’y trat ein, und Alrich 
fuhr mit ihm nach Unter-Wartenkron. Als er zurück— 
kehrte, faßte er Martinas Hand und ſagte: „Ich 
danke Dir. Was könnte ich auch ſonſt ſagen? Alle 
Worte würden es ja doch nicht ausreden, wie tapfer 
und wie weiſe Du gehandelt haſt. Alle Worte 
ſchienen auch den Menſchen unten unzulänglich, die 
mir von der heldenhaften, klugen und guten neuen 
Herrin erzählt haben. Dein Vater faßte es in den 
Ausſpruch zuſammen: ‚Sie ift ein wackeres Herz.“ 
Wartenkron, ſeine Bevölkerung, ich — wir alle bleiben 
Deine Schuldner für alle Zeit. Was Du dabei auch 
von Deinem Vermögen bergeliehen haſt, wird mein 
Bevollmädtigter Deinem Anwalt zurüderitatten.” 

„Zergieb — das dariit Du nicht thun! Es ift 
fein Gehen? gewejen, noh aud eine Anleihe an 
Wartentron, fondern ein Werk der Barmherzigkeit. 
Die Arbeiter waren dur den Brand der Fabriken 
brotlos, für fie babe ich diejelben raid aufgebaut. 
Dann habe ih für die Armen, für die Snvaliden, 
für die Kinder vorgeforgt. Du fiehlit, für Di ift 
bei diejfen Thaten der Nächitenliebe nicht das mindelte 
abgefallen. Es gelchah aus ChHriftenpfliht und wird 
auch fürderhin jo geihehen — das madıt mich glüdlich, 
und bie Freude wirft Du mir nicht nehmen wollen. 
Wenn Du gleihwohl meinft, e8 jei damit aud) 
Wartenkron jelbft gedient worden, und wenn Did 
dies dermaßen drüdt, daß Du e8 nit annehmen 
magft, jo jchente mir eine Gegengabe! Sie ift nicht 
allein mir, fondern auh Dir weit mehr wert ale 
das, was ih an jene Samariterwerle gewendet habe. 
Du madft dabei einen fchlehten TZaufhd — mwillit 
Du? Du nid. SH danle Dir. Nun denn — 
von bdiefer Stunde an ift das Matthiasihloß mein 
Eigentum. Vielleicht wird Agnes oder Magdalena 
bereinft darin haufen wollen. Morgen lafje ich die 
Wieberaufrihtung der Burg beginnen — nidt aus 
Laune, nit Dir zur Augenweide, jondern gleichfalls 
als Wert der Barmberzigteit, ale Notftandsbau. Es 
find viele Bauarbeiter bergezogen zur eiligen Her: 
ftellung ber Fabrilen, es leben audh bier viele, zumal 
unter der weiblihen Bevöllerung, die Beichäftigung 
brauden — ber Wiederaufbau des Matthinsichlofjes 
fol ihnen diejelbe auf eine Reihe von Jahren hinaus 
gewähren.” — 

Am nähften Morgen fuhr Martina wie all: 
täglid nad Unter: Wartenfron hinab. Als Die 
Direktoren, Beamte, Arbeiter fich ihre Befehle ein- 
holen famen, fagte die neue Herrin: „Won heute ab 
befiehlt der Graf. Jh bin nur noch einmal berab- 
gefommen, um Eud) allen von Herzen zu banken für 
Euren treuen Beiltand in der jchweren Zeil.” — 
Dann fchidte fie au den Baumeifter zum Grafen 
hinauf, daß er befjen Anordnungen erfrage betreffs 
ber Schuttabräumung im Matthiasbau, bevor der 
Architeki aus der Reſidenz eintreffe. Zuletzt wandte 
fie fih an Heiva’y mit ben Worten: „Kommen Sie, 
mein getreuer Kompagnon in der Not, auh Ihr 
Werk ift zu Ende!” Sie bat ihn, zu ihr in ben 


—————— —— — —— — 


IV, 9 


123 Die neue Herrin. 
Wagen zu fleigen. Diejer fuhr jedoh nit nad 
Wartentron hinauf, fondern Ihlug den Weg nad 
Oberlingen ein. Hetvary wollte fi verabjdhieden 
und den Wagen verlaflen, jobald die Dberlinger 
Schloßalle in Sit fam. Aber Martina erbat fich 
feine Begleitung bis zum Schloßthor. Dafelbft ftieg 
fie nicht ab, fondern Tieß durch den Diener die 
Baronefle Franziska herabbitten, weil fie nur wenige 
Augenblide zur Verfügung babe. Franzisfa Faın 
atemlos die Treppe herab, blieb jedoch errötend vor 
dem Portale ftehen, als fie Erwin erblidte. Martina 
aber jagte zu Letväary: „Ih danke Shen, lieber 
Freund, für Shre treue Begleitung beute und die 
ganzen legten Monate hindurdh. — Da haft Du ihn, 
Fannerl — ich braude ihn nicht mehr, er gehört 
jegt Dir allein! Deine Mama bat nichts dagegen. 
Führe ihn nur hinauf und melde ihr nebjt meinem 
Gruß: Der Mohr hat feine Arbeit getan, der Mohr 
farnın gehen.” 

Hetvary war mit einem Sat aus dem Wagen 
und im nädften Augenblid auf der Bortaljchwelle. 
Aber Franziska, die. noch immer hodhrot und bebend 
daftand, wollte jeßt auf einmal zu dem Wagen hin: 
eilen, um an Marlinas Herzen ihre Seligfeit zu 
bergen. Martina war fo jelbftlos, daß fie auch Dies 
erfte Entzüden nicht dem edlen Freunde entziehen 
wollte. Bligfchnel batte auf ihren Wint Zachäus 
den Wagen dur das Oberlinger Thor verjchwinden 
lafien. PWartina blidte nicht mehr zurüd, fie jah 
auch nicht vor fih hin, weil ihr die Augen vol 
FSreudenthränen hingen. Sie hörte nit einmal, wie 
Franziska flüflerte: „Magam jövök el, hogy kedves 
gyervizü gemeskuütaimat meglätogassam!*“ 

Der Magyare Hetvary verftand zwar biele 
magyariihen Worte nicht, aber e8 dämmerte ihm 
etwas wie eine Ahnung auf, daß fie bedeuten fünnten: 
„sch werde jelbft hinfommen, meine lieben, fpärlichen 
Biehbrunnen zu bejuden.” Es war nämlich ein 
Ihauerlih faliher Accent darin, wie man fich ihn 
anzueignen pflegt, wenn man eine Sprade heimlich 
mit einem Schlüfjel lernt. Aber e3 war ungarild. 
Da erlebte Franzisfa erit, wie jehr die Mama recht 
gehabt hatte. Erwin war ganz und gar einer jener 
Wildlinge, die fie aus der Gefchichte der Völker: 
wanderung fannte, ein Hunne, wie er im Buche fteht. 
Er Ichaute fie mit jeinen glühenden hwarzen Augen 
verzüdt an und trug fie dann ganz einfach bie 
Schloßtreppe hinauf. — 

Martina fam beim, jegte fid) an Magdas Wiege 
und bob Agnes auf ihren Schoß. Der Fuß jchaufelte 
die Wiege, die Hand ftreichelte Agnes’ Lödchen. 
Plöglic” atmete fie tief auf wie der Taucher, welcher 
wieder in das gewohnte Lebenselement emporkoninit. 
Nun konnte fie ausruhen von der übermenjchlichen 
Anftrengung in nervenverzehrender Männerarbeit. 
Es war Feierabend, obzwar die Sonne hob am 
Simmel hing. Die Wiege ftand auf einmal ftill, 
die Hand lag unbeweglich auf Agnes’ Köpfchen. Sie 
Ihlummerte, Als fie erwacdhte, fühlte fie im ganzen 
Körper eine Müdigkeit, wie nad) einer erjchöpfenden 
Wanderung. Ein Übermaß war in allem gemwefen, 
was fie in jo kurzer Frift gefühlt, geduldet, gethan 


Roman von Karl Erbm. Eoler. 


124 
hatte; nun folgte die natürlide Abfpannung. Es 
zeigte fih ein Nadhlafien in der Haltung, in ber 
Stimme, im ganzen Velen. Am deutlichiten fihtbar 
wurde die Veränderung in den Augen; fie waren 
tief eingefunfen und von dunklen Schatten umgeben, 
jo daß fie größer und erniter erichienen. m Berlehr 
mit Ulri beobachtete fie eine gleihmäßige Zurüd- 
haltung. E8 war nichts Unfreundliches darin, jondern 
nur jene unübermwindlide Scheu, die fi nicht mehr 
vorwagen mag. AU jein jehnliches Bemühen ver: 
mochte diefem Zagen feinen Vorjprung abzugemwinnen. 
Gie hatte den Ton an jenem Tage angenommen, da 
er fortzog, fie hatte ihn behalten für die dazmwijchen 
liegende und, wie e8 fehien, für alle künftige Zeit. 
Welde Saite Ulrich auch greifen, wie immer er fie 
anihlagen mochte, es blieb ftets diejelbe verhaltene, 
umjchleierte Stimmung, 

Seine Haltung vor ihr war die eines Verbrechers, 
den man verurteilt, jedoch begnadigt hat. Er weiß, 
er ift aus ihrem Leben berausgefallen, er hat fein 
Anrecht mehr auf ihr Vertrauen, doppelfinnig Elingt 
feine Rebe, verbädtig erfcheint fein Thun, gelähnıt 
finft Auge und Hand vor dem argmöhnifch forfchenden 
Blid. Er hätte ihr jo gerne jein Herz aus der Bruft 
geihält, auf daß fie jehe, wie es fich verwandelt hatte. 
S$enes alte, thörichte Herz, das fie einft gefannt hatte, 
er fannte es jet jelbft nicht mehr. Wildfremd, un: 
begreiflich erfchien ihm alles Vergangene — fein 
Fühlen in feinem Haufe oben, jein Verhalten in 
feinem Befigtum unten. Die Hände, die unthätig 
alles Ler überlaflen hatten, griffen jett bis zur Er- 
müdung in bas vielräderige Getriebe ein. Sein 
idealer Sinn hatte es verjhmäht, fi an Kleinigkeiten 
und Einzelnem zu bethätigen, da er fid) des Großen 
und Ganzen neben Ler nicht bemädtigen Fonnte. 
Dirfe Spröbdigfeit einer ftolgen Natur wid nun 
einem rubelojen Schaffen, weil dasfelbe der Mühe 
wert erihien, und meil er fich fein Fleines Reich 
endlich ganz nad feinem deal geftalten fonnte. Es 
war fein Umbau, jondern ein Weiterbau deifen, wozu 
„die neue Herrin” den Grund gelegt hatte, und es 
erfüllte ihn mit unfäglicher Freude, daß fein deal 
auch das ihre war. So wurde er in unermüdlidher 
Thätigfeit für Unter:Wartenkron thatählich „ein neuer 
Herr”, und „faft jo gut wie die neue Herrin”, jagten 
die Leute. Wenn er dann voll Sehnjudht für eine 
Stunde hinaufeilte und vor Martina trat, empfing 
ihn ein Lächeln, defjen wehmütige- Heiterkeit ihm wie 
ein Dolhftih ins Herz drang. Rafch wandte er fidh 
ab und jchritt ruhelos bin und ber. Er jah ihr 
Gefiht nicht, aber er wußte, daß fie jegt aufgehört 
hatte zu lächeln, und es war für ihn ein tiefer Schmerz, 
nicht einmal diefes Teife Lächeln mehr in ihrem Antlig 
zu wiflen. Shre bloße Nähe war Glüd und Dual 
zugleidh; er hätte ihre Gegenwart mit feiner anderen 
Freude vertaufchen mögen, und er fannte nichts, was 
ihm mehr wehe thun konnte. Er ftaunte nicht darüber: 
was von dieler Frau fam, machte edel, gut, gejegnet, 
jelbft wenn es der tieffte Schmerz war. Und wenn 
fie audy nicht lächelte — die fanfte Schwermut, melde 
dann in ihrem Antliß rubte, war immer nod) leuchtend 
wie die Sonne hinter dünnen Wolkenfchleiern. 


125 Die neue Herrin. 
Einmal aber brach diefe Sonne auf ein Stündchen 
mit ihren hellften Strahlen hervor. Dies gelchah 
an jenem Tage, da GBitta mit ihren Dann bei 
Martina eintrat, und hinter ihnen Franzisla mit 
Hötvary. GBitta erflärte, fie komme, um bie beiden 
in aller Form feierlih als Brautpaar vorzuftellen. 
Sranzisfa warf fih ftürmiih an Martinas Hals und 
flüfterte ihr in das Ohr: „Das verdanfe ich Dir, 
Du immer Gute!” Der Freiherr Andreas aber jagte 
zu Ulrich, indem er einen ftolzen Blid auf Hetrary 
warf: „Ich danke Dir für Deinen Glüdwunfcd, 
lieber Ulrich. Es ift wirllid ein Siid — ein 
Pradtmenih diejer Erwin, hat Raſſe! Tüchtig in 
allem, was er anfängt: Okonomie, Reiten, Schach— 
ſpielen, Leben retten und Franziska den Kopf verdrehen. 
Ich habe ihn ſeit jeher gut leiden mögen, aber leider 
meine Frau — kurz, es wäre mir nicht im Traum 
eingefallen, daß er mein Schwiegerſohn werden könnte. 
Aber da war wieder meine Frau — nun ja, ſie ift 
ein Phänomen!“ 

Gitta nahm inzwiſchen Martina beiſeite und 
flüſterte im vertraulichen Tone: „Weißt Du, daß ich 
über dieſe Verlobung Fannerls entzückt bin? Doch 
nein, das kannſt Du noch nicht wiſſen, weil das 
eine neue Idee von mir iſt. Dieſe Ehe dient höheren 
Zwecken, und Fannerl wird als Frau von Hétvaͤry 
eine Miſſion zu erfüllen haben. Eine große Miſſion! 
Haſt Du nie gehört oder geleſen, daß die Ungarn 
alles magyariſieren? Daß ſie die Siebenbürger 
Sachſen, die Deutſchen am Südhang der Karpathen, 
und was ſonſt in Kolonien oder vereinzelt vom 
germaniſchen Stamme unter ihnen ſiedelt, ihrer 
Nationalität entfremden? Glaubſt Du, daß man 
kaltblütig zuſehen wird bei ſolcher Erdroſſelung des 
Deutſchtums durch die Magyaren?“ 

„Meinſt Du,“ erwiderte Martina mit ihrem 
ſachten, guten Lächeln, „daß deutſche Mädchen dieſer 
Erdroſſelung Einhalt thun, wenn ſie ihr deutſches 
Herzchen einem Magyaren ſchenken und ungariſch 
parlieren?“ 

„Liebes Kind, Du haſt eine zu geringe Meinung 
von Erwin. Das iſt ein edler Menſch — Du haſt 
ihn ſeit jeher unterſchätzt. Ich begreife Dich nicht. 
Ein Mann, der ſich ſein Wiſſen, ſeine Bildung und 
ſchließlich ſeine Frau von den Deutſchen holt, iſt 
wohl über den Verdacht erhaben, zu dieſen Meuchlern 
des Germanentums zu gehören.“ 

„Gewiß, das meinte ich auch,” entgegnete Mar: 
tina, erfreut über den Eifer, mit welchem Gitta jetzt 
für den einſt ſo ſchlecht behandelten Erwin eintrat. 
„Und darum entfällt zum Glück für Franziska die 
Miſſion, bei ihrem Mann ...“ 

„O doch nicht! Meine neue Idee iſt kühner. Wenn 
ſie dort das Deutſchtum erdroſſeln, ſo kann man ja 
die Sache umkehren. Und Fannerl iſt meine Tochter. 
Sie fängt ihre Miſſion ſchon hier als Braut an. 
Du mußt ſie nur hören, wenn ſie Erwin korrigiert, 
weil er zuweilen die deutſchen Worte auf der erſten 
Silbe betont und ‚Gelegenheit‘ ſagt. Sie läßt ihn 
‚die Wacht am Rhein‘ fingen, obzwar er feine Stimme 
bat und es gar nicht vertrauenerwedend klingt, wenn 
er in jchauerlich falichen Tönen losbridht: ‚Lieb Vater: 


Roman von Karl Erdm. Edler. 


126 


land magft ruhig fein!‘ Geftern hat fie ihn Goetheſche 
Gedichte aufjagen laflen, obgleich er genau fo ab: 
Ihredend deflamiert, wie er fing. Und danır, was 
ih jo abjeits und mit gelegentlichen Seitenbliden 
wahrgenommen babe: wenn er ihre germanijchen 
blonden Zöpfe anftarrt, jobald fie abgewendet fchmollt, 
oder wenn er in die ebenjo germanilchen blauen 
Augen jhaut, jobald fie wieder gut ift, da vergißt 
Dir diefer Menih volftändig, was für ein Lanbs- 
mann er if. Das Magyarentum ift bereits halb 
erdroflelt.. Fannerl verfteht ihre Miffion. Daß fie 
berjelben nicht vergißt, dafür werde ich ſorgen. Ich 
werde zeitweilig nadhihauen fommen in diejfe Hunnen- 
fteppe. Heutzutage giebt es gar feine Entfernung 
mehr, alles ift nur no ein Katenfprung... guten 
Tag, lieber Freund,” rief fie dem eben eintretenden 
Doktor Grilling entgegen. „Gut, daß Sie fommen! 
Sagen Sie, wird Helvary die Brandnarbe an ber 
Shläfe behalten?” 

„Leider ja. Aber das thut ja nichts zur Sache.” 

„Leider? jagen Sie. Sie find eben ein neidifcher 
Menih, Doktor. Leider! Sm Gegenteil. Das ift 
eine Lebensrettungsmedaille, die nicht abgelegt wird. 
Mich freut es. Bei jedem Bi auf fein Geficht wird 
dies feine Frau mahnen, daß ihr Mann ein ganzer 
Mann if. Und das thut fehr viel zur Sade. Gie 
fteht ihm eigentlich jehr gut, diefe Narbe! Martina, 
meinft Du nicht?” 

Urih führte den Doktor in eine Feniterver: 
tiefung und machte ihn auf Martinas Trankhaft ver: 
ändertes, ermattetes Wejen aufmerkjam. 

„Wundert Sie das?” entgegnete Grilling. „Nach 
der ungeheueren Ülberanftrengung folgt eben ber ent: 
iprehende Grad der Reaktion. Das thut nichts zur 
Sade. Ruhe mat alles wieder gut.” — 

Nach der Abfahrt der Oberlinger beipradh Grilling 
mit Uri nod) einige hygienische Neuerungen in ben 
Habrilräumen. Dann begab er fih in den rechten 
Schloßflügel, wohin ihm Martina vorangegangen 
war. DWeartina jaß in der Fenfterniiche und blickte 
hinaus. Sie vernahm nit einmal fein Eintreten, 
jo verjonnen war fie. 

„Woran denken Sie, Gräfin?” fagte er, ihre 
Hand ergreifend. Diejelbe war eilig falt, und der 
Buls, an weldem er wie zufällig taftete, Tchleichend 
und unregelmäßig. 

„Woran ich dente? An die zwei lieben Menichen, 
welche ich jegt auch verliere, weil fie in ein fernes 
Land fortziehen. Aber das ift nun einmal nicht zu 
ändern, wie jo vieles andere nit. Laß es, laß 
es — jagt man endlich zu fich ſelbſt. Laſſen wir 
es denn, mein Freund! Werfen Sie lieber einen 
Blid auf die ftille Schönheit dort draußen, wie fie 
gemeinfam von Himmel und Erde hingezaubert wird. 
So janft ift die Farbenjtimmung, daß man im 
Schauen von einem füßen Traum ummoben wird. 
Es ift, als fächle eine milde Hand alles Leid Hin- 
weg, und als enthalte die Welt ringsum nur nod 
den tiefften Frieden, das reinfte Glüd — dies alles 
ift ja au zu finden auf Erden, man muß fi nur 
begnügen lernen und vom Leben jo wenig fordern — 
ah, jo wenig! Man muß die Sehnjudht nad Un: 





127 Die neue Herrin. 





erreihbarem verbannen und die Wünjche berab- 
fimmen, ober am beften fie ganz ftill nacheinander 
zur Ruhe legen — nur fo ift Frieden, jo ift Glüd 
möglich, anders nit!” — 

Doktor Grilling ging zu Ulrih zurüd, obzwar 
er fih fon von ihm verabfdhiedet hatte, und fagte: 
„IH würde Sie nicht unnötig beunruhigen, aber die 
Sade ift ernfter, als fie fi beim erjten Anblid 
bargeftellt hat. Es ift auch eine Abipannung der 
Seele da. Die Gräfin ift immer fo tapfer, mutig, 
ftart gewejfen — ich erfenne fie nit mehr. Es 
fehlt die rechte Vebensfreubigkeit und jelbit der Wille 
bazu. Dies erjchwert dem Körper ungemein das 
Aufraffen aus folhen Depreifionen. Sie müflen 
ernftllid nah ihr jehen, Herr Graf, und auf ihr 
Gemüt einzuwirlen tradhten.” 

„Auf ihr Gemüt einwirken!” murmelte Ulrih 
und dadhte mit bitterer Neue, daß biezu jeder andere 
befler tauge als er jelbit. „Ernftlich nad ihr fehen,” 
wieberholte er eintönig Grillings Worte. „Ernitlid!” 
rief er plöglihd laut, prang in jähem Schreden 
auf und eilte nach dem rechten Flügel. 

Da faß fie noh in der Fenfternifche, aber fie 
blidte nicht mehr hinaus, fondern auf die beiden 
Kinder. Magda lag in einer Polfterhülle auf ihrem 
rehten Arm, Agnes jaß auf ihrem Schoß feit gegen 
ben linten Arm gelehnt. Beide jchlummerten, und 
Martina regte fih nicht. Als er eintrat und ihr die 
Hand entgegenftredte, flüfterte fie: „Verzeihb — bie 
Kinder, fie haben mir beide Arme mit Beichlag be: 
legt.” Dabei hatte fie wieder das matte Lächeln, 
nad weldhem er fo jehnjüchtig ausipähte, und das 
ibm do jo mwebe that. 

Er hielt einen Augenblid an und wollte etwas 
jagen. Aber eine ungeihicte Schüchternheit jchloß 
ihm die Lippen, und er wandte den Blid ab, als 
fie verwundert beflen flebenden Ausdrud gewahtrte. 
Haftig trat er in die zweite Fenfterniihe, um fi 
vor ihren Haren Augen zu retten. Dies war das 
treffendfte Bild — dadte er — fie hatte zwei Arme, 
aber beide waren ſchon mit Beichlag belegt — für 
ihn blieb nichts mehr übrig! Ein Seufzer entglitt 
feinen Lippen, jo leife, wie ihn nur eine Frau ver: 
nehmen fann, die mit dem Herzen laufdt. 

„Bühl Du Dih nicht wohl?” fragte fie jachte 
berüber. „Du bift fo blaß — 

Er wandte ſich und wollte antworten. Aber 
wie er ihren Kopf weit vorgeneigt um die Fenſter— 


En 


Roman von Karl Erbm. Ebler. 


128 


fante nah ihm ausjhauen jah mit dem ängfllid 
forfhenden guten Blid, da war es vorbei mit aller 
Kraft, auch) nur den Schein der Fallung zu wahren — 
er Iniete plöglih zu ihren Füßen und barg fein 
Haupt in ihrem Schoß. 

„Was Haft Du?” ftammelte fie erjchroden. 
Und da fie die beiden Arme der Kinder wegen nicht 
rühren fonnte, fo neigte fie das Haupt tief zu Dem 
feinen hinab und bob mit ihrer Stirne feine Stirn 
fadhte in die Höhe, bis fie jein Antlig bicht vor 
ihren Augen batte. 

„Um Gottes willen,” rief fie, „Ulrih, was 
fehlt Dir?” 

„Du,“ Sagte er. „Du, Martina, fehlft mir, 
Du haft mir immer gefehlt. Ich mußte es nur nicht, 
ih babe jogar verblendet dagegen angefämpft. Ich 
weiß, Du trägit anderes im Herzen: Agnes, Magda, 
alle Xeidenden, alle Dürftigen. Dulde benn wenigftens 
meine Liebe! Deine beiden Arme find mit Befchlag 
belegt — jo laß mich zu Deinen Füßen, wie jeßt! 
Sieh, mein thörichtes wirres Leben und Treiben, 
jeit ich Dich Fenne, ift ja nichts anderes geweien, 
als die unbewußte Sehnjudt, vor Dir auf die Knie 
zu fallen.“ 
| „Und mein armes Leben, Ulrich, Teit ih Dich 
fenne,” flüfterte Martina errötend, „fieb, es ift nie 
etwas anderes geweien, als die Sehnfuht, Dir um 
den Hals zu fallen.” 


Er flarrte fie einen Augenblid an, dann jagte 
er: „Das bift eben Du, Du allein! Du rähft nicht 
an mir, Du verdammt mich nit, Du wilft mich 
jogar nit ohne Troft laffen, weil Du gut bift wie 
ein Engel, und barmberzig wie die Heiligen, während 
ich ſchuldvoll ...“ 

„Laß es, laß es, Ulrich!“ unterbrach ihn 
Martina. „Seht iſt ja alles gut.“ Dabei ſtand 
fie auf und trug die ſchlummernden Kinder mit 
ſich fort. Nachdem ſie Magda in die Wiege und 
Agnes in ihr Gitterbettchen gelegt, kam ſie zu—⸗ 
rück und ſtand mitten im Gemach ſtill. Eine leiſe 
Röte war in die bleichen Wangen aufgeſtiegen, und 
die Augen waren niedergeſchlagen. „Ulrich!“ ſagte 
fie leiſe, und zum erſten Mal ſeit ſeiner Heimkehr 
ſah er das hinreißende ſchalkhafte Lächeln auf dem 
ernſten Antlitz. „Ulrich, ich habe nun beide Arme 
freil“ — Aber im nächſten Augenblick, da er zu ihr 
hinſtürzte, lagen ſie feſt um ſeinen Hals. 


De 


——— mein 
En 








129 Beiblatt der Deutihen NRoman:Zeitung. 130 
Beiblatt der Pentihen Noman- Zeitung, 
- : 111. 
Sommer im Siede. S—— 
I. Müd’ blidt der warme Sommertag 

Eommermärden. In feinem ftählern blauen Kleibe; 
Eine Fee fah ich vorüberfchreiten Des Windes lauer Flũgelſchlag 
Durch das Wieſenland. Tönt mattgedämpft nur von der Heide. 
Ihren Zauberſtab, den goldnen, Die Häupter neigt der rote Mohn 
Hielt ſie in der Hand. Und träumt in grüne Einſamkeiten, 
Leicht berührte ſie die Blumen, Und dann und wann ein Glockenton, 
Siehe da, und flink Verloren aus umblauten Weiten. 
Wandelte ſich dieſe, jene, Heut ſchweigt und ſchlummert jeder Schmerz. 
Um zum Schmetterling. In dumpfem Bann liegt Wunſch und Wille, 
Weiße, gelbe, bunte flogen Und auch das tiefbewegte Herz, 
Gaukelnd durch die Luft, Das ſtürmiſche, iſt einmal ſtille. 
Badeten befreit ſich ſelig Y. Weltz. 
In dem Blütenduft. 
Flatterten im Sonnenſchein * 
Träumend hin und her, Mitagofrieden. 


Und erzählten ihren Schweſtern 
Wunderſame Mär. 


Dieſe ſtanden ſtumm und traurig 
Auf dem Wieſenland, 

Ihre ſüßen Blütenaugen 

Zu der Fee gewandt. 


Aber lächelnd ſprach die Holde, 
Guütig: „Morgen Ihr! 
Heute dient dem grünen Grunde 
Noch zur lichten Zier. 
Morgen fang' ich Eure Schweſtern 
Alle wieder ein, 
Ei, und dann könnt Ihr ein Weilchen 
Schmetterlinge ſein.“ 
A. von Auerswald. 


II. 
Im Walde. 


Von Finkenruf und Amſelſchlag 

Tönt wieder Baum und Hecke; 

In Zweig und Buſch, am blum'gen Hag 

Welch luſtige Verſtecke. 

Wie ſchmettert es laut, und wie klingt es ſo hell 

Und wiegt ſich und ſchwingt ſich von Stelle zu Stell', 


Als ging es mit tänzelndem Neigen 
Zum Reigen. 


Ein Blütenhauch, ein Roſenduft 

Geht um auf allen Wegen, 

Mit weicher, warmer Lenzesluft 

Auf alles ſich zu legen; 

Es ſchmeichelt uns fpielend um Stimme und Haar 
Und wehet fo lieblih, jo würzig und Mar 


Und nimmt ung mit glübenden Wangen 
Gefangen. 


I X. A. 


Ein zitternd Goldgeſpinſt liegt auf den Fluten, 
Im Sonnenduft verſchwimmt der Berge Zug, 

Die Erde träumt im Bann der Mittagsgluten, 
Der Menſchengeiſt ruht aus von ſtolzem Flug. 


Auch nur ein leiſes, wunderſames Träumen 
Bebt durch des Herzens unerforſchten Grund 
Und wie die weißen Wogen wallend ſchäumen, 
Heilt in der Seele ſtill, was krank und wund. 


Ein altes Hoffen regt ſich ſcheu verſtohlen 
Und bringt des Herzens Blütenzeit zurück, 
In lichten Schleiern naht auf weichen Sohlen 


Ein himmliſch Bild und ſegnet mich — das Glück. 


Mir iſt, als ob ſich Gottes milde Hände 

Im Mittagsfrieden mir aufs Haupt gelegt, 
Daß alles ſich fortan zur Freude wende, 
Was mir die Bruſt in banger Furcht bewegt. 


Auna VFehuiſch. 


V. 
Sommerabend. 


Soweit umher mein Auge ſchaut, 
Iſt Fried' und ſüße Ruh: 

Da fällt der abgetriebnen Welt 
Das müde Auge zu. 


E3 tritt die fanfte Dämmerung 

Mit Ieifem Yuß herein 

Und hüllt, was alles fchroff fidh jchied, 
Sp mildverföhnend ein. 


Und was der grelle Tag getrennt 
In meiner eignen Bruft, 

Nun fließt e8 friedevoll in einS: 
Der Kummer und die Luft. 


Stto Doepkemeyer. 


131 


v1. 
Sommernadt. 


D Sommernadt im Rollmondiceine! 

Dem duntelblauen Ebelfteine, 

Aus deffen Tiefen Lichter Iprühen, 

Vergleich” id) Deines Himmels Glühen! 

Mondftrahlen jchlafen in den Roſen, 

Im Buſch die Nachtigallen koſen, 

Vom Mondnachtzauber wonnetrunken 

Umſchwirrt's den Hain wie Feuerfunken. 

Es fliegt ein Rauſchen in den Bäumen, 

Das wiegt Dich ein wie Liebesträumen, 

Duftwellen fluten um die Sinne, 

Aus Roſenlauben winkt Frau Minne, 

Der Himmel glüht in Strahlengarben, 

Die Erde blüht in Zauberfarben — 

Ein Paradies iſt uns geblieben, 

Und offen ſteht's, wo zwei ſich lieben. 
Jelſicitas. 


Die Amerikanerin in England. 
(Schluß.) 

Kommen übrigens bei dieſen Eheſchließungen auch Fälle 
vor, in denen, wie es kürzlich geſchah, der junge Edelmann 
es vorzieht, die Hochzeit drüben zu feiern, da er es ſchlechter⸗ 
dings unmöglich findet, die Eltern ſeiner Braut in die 
ariſtokratiſchen Kreiſe daheim einzuführen, ſo iſt dagegen 
die Erwählte ſelbſt gar bald in dieſen Kreiſen daheim und 
erregt in ihnen ein ſehr berechtigtes Erſtaunen. Sie entzückt 
nicht nur durch ihre unleugbaren Reize und ihre graziöſe 
Sicherheit, ſondern auch durch jenen ihrer Schönheit und 
ihrem ganzen Weſen innewohnenden Zug von Vornehmheit 
und ariſtokratiſcher Verfeinerung, den man bisher gewohnt 
war, zu den Vorzügen zu zählen, die echte Raſſe giebt und 
die nur im Lauf der Generationen durch eine lange Reihe 
von Ahnen fortgepflanzt zu werden pflegen. Wie es ſcheint, 
beſitzt die junge Amerikanerin eben in eminentem Grade 
jene leichte Beweglichkeit und das ſchnelle Verſtändnis, die 
ſie befähigen, ſich ſowohl ein vielſeitiges Wiſſen, wie jegliche 
Art geſellſchaftlicher Politur zu eigen zu machen. Sind es 
auch hauptſächlich die vornehmen Kreiſe, in denen dieſe Ver⸗ 
bindungen ſtattfinden, ſo hat man in England in letzter 
Zeit auch in anderen Umgebungen reichliche Gelegenheit zu 
näherer Bekanntſchaft mit dieſen eigenartigen Weſen, ihrer 
Anmut, ihrem kühlen Gleichmut, ihrer herriſchen Beſtimmt⸗ 
heit und ihren verſchwenderiſchen Gewohnheiten, da ſich jetzt 
viele Amerikanerinnen in England aufhalten. Denn wie 
der Bürger des „freieſten Landes der Erde“ trotz feines 
republikaniſchen Stolzes und der vorgeblichen Nichtachtung 
aller Standesunterſchiede eine große Vorliebe für die ehr⸗ 
würdigen Inſtitutionen, die prächtigen alten Landſitze und 
den Adel Albions hegt und für „einen lebenden Lord“ eine 
unzweifelhafte Hochachtung empfindet, ſo hat auch für die 
Amerikanerin die vornehme Geſellſchaft Londons einen außer⸗ 
ordentlichen Reiz und manche unter ihnen laſſen es ſich 
namhafte Opfer koſten, um von einer engliſchen Dowager, 
deren beſchränkten Verhältniſſen zeitweiſe aus der Aufnahme 
einer dieſer reichen Fremden ein wünſchenswerter Zuſchuß 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





132 





erwächſt, bei Hofe vorgeſtellt und in jene begehrten Kreiſe 
eingeführt zu werden. Ihrerſeits erregen ſie dort oft unzweifel⸗ 
haftes Aufſehen. Ihre eigenen Vorzüge werden aufs beſte 
unterſtützt durch die großen Mittel, die dieſem oft anmutigen 
und reizenden, ſtets pikanten, zielbewußten und kühl über— 
legenden Weſen zu Gebote ſtehen und dieſe Mittel, die 
ihnen aus der Silbermine, der Goldgrube oder dem 
Diamantenlager ihres Vaters oder aus einem der kommerziellen 
Unternehmen zufließen, aus denen dieſe amerikaniſchen 
Millionäre ihren Reichtum ſchöpfen, ſetzen ihren verſchwen⸗ 
deriſchen Launen und originellen Ideen nach außen kaum 
eine Schranke. 

Ihre haushohen Koffer bergen Schätze an Kleidern 
und Schmuck, die ſelbſt die an den größten Luxus gewöhnte 
Engländerin in Staunen verſetzen. Mit einer unglaub— 
lichen Nichtachtung des Preiſes verwenden ganz junge 
Mädchen die reichſten Stoffe und die koſtbarſten Spitzen zu 
ihrer Toilette und tragen Diamantſchmuck von fabelhaftem 
Wert, was in England anfänglich um ſo mehr auffiel, als 
dort bis vor kurzem das Tragen von Diamanten für bie 
Jugend überhaupt nicht für paſſend galt. Das amerikaniſche 
Mädchen legt eine vier Meter lange Boa aus friſchen, an 
den Stengeln aufgereihten Chryſanthemumblüten von der 
Farbe des Ballkleides um, unbekümmert um die Vergäng-— 
lichkeit dieſes Schmuckſtückes, das höchſtens einige kurze 


Abendſtunden dauert, und bekundet auch in jeder anderen 


Hinſicht ein ähnliches Talent, die meiſtens unbegrenzte 
väterliche Freigebigkeit zum Nutzen und zum Schmuck ihrer 
reizenden Perſönlichkeit zu verwenden. Mit dieſer Nicht—⸗ 
achtung der Koſten und mancher freigebigen Wallung und 
Laune verbindet ſie indeſſen ein äußerſt kühles, praktiſches 
Verſtändnis von dem Wert der Dinge, eine ſichere, gewandte 
Art, zu prüfen und zu rechnen, und eine ſcharfe Beſtimmtheit 
gegenüber Verſuchen der Erpreſſung oder Übervorteilung, 
die dem Beſitzer der beſcheidenſten Mittel Ehre machen 
würden und die bei denen, welche hofften, von der Uner⸗ 
fahrenheit oder Leichtgläubigkeit eines jungen Mädchens 
Vorteil zu ziehen, einen ſolchen Gedanken ſicherlich nicht 
zum zweiten Male aufkommen laſſen. 

Freilich iſt ſeit ihren Kinderjahren in ihrem Leben, 
ihrer Erziehung und Gewöhnung alles darauf berechnet, 
eine frühreife Entwickelung zu fördern und die faſt unbe— 
grenzte Freiheit im Reden und Handeln zu befeſtigen, die 
ſie überall kennzeichnet. Als Kind von 5 bis 6 Jahren 
trägt ſie Ringe an ihren kleinen rundlichen Fingern und 
darf laut mit drein reden; von 12 oder 14 Jahren nimmt 
ſie an den ſpäten Diners und der Unterhaltung teil, mit 
16 Jahren werden ihre geſellſchaftlichen Erfolge in den 
Zeitungen beſprochen. Eine ganze Spalte in einem 
faſhionablen Blatte iſt den Leiſtungen der Schulmädchen 
von New York und Waſhington während ihrer Ferienzeit 
gewidmet, man beſpricht die Hotels, die ſie bewohnen, ihre 
Toiletten und ihr Treiben. Dieſe jungen Mädchen geben 
ihren Freundinnen Feſte, bei denen der Blumenluxus — 
bekanntlich nehmen in Amerika die Blumenſpenden, das 
ſogenannte bunching, überhaupt unglaubliche Dimenſionen 
an — ſamt den tauſend originellen, mit verſchwenderiſcher 
Pracht ausgeführten Ideen und dem Naffinement in jeglichem 
Detail, geradezu verblüffend wirken. Entwickelt ſchon der 
ungeſtörte Verkehr beider Geſchlechter eine große Freiheit 
im Umgange, ſo iſt vollends die Unabhängigkeit, die dem 
amerikaniſchen Mädchen in Bezug auf die Wahl eines 





133 


— 
— 


Lebensgefährten von ihren Eltern gewährt wird, eine abſolute. 
Ob dies Verfahren zu loben iſt, oder wünſchenswerte Folgen 
hat, das erſcheint allerdings angeſichts des ſehr zweifelhaften 
Eheglückes manches jungen Paares und der drüben ſo 
häufig vorkommenden Eheſcheidungen im hohen Grade fraglich. 

Die Folgen des Einfluſſes, den dieſe unternehmende 
Weiblichkeit ſeit geraumer Zeit in Altengland erlangt hat, 
machte ſich übrigens in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen 
noch in anderer Weiſe unerfreulich bemerkbar. Als der 
jungen. Engländerin die Einſicht kam, daß ſie ihre Herrſchaft 
über den Mann verlor und daß er ſich augenſcheinlich ihrem 
Geſchmack nicht anpaſſen wollte, bequemte ſie ſich zu dem 
ſeinigen. Eine ganze Anzahl weiblicher Weſen ahmte die 
Gewohnheiten des Mannes, ſeine Manieren, ſeinen slang, 
den Sport, das Treiben auf dem Turf und auf der Fuchs⸗ 
jagd nach, ſie wurden mit Stall und Hundezwinger, manch⸗ 
mal auch mit dem Rauchzimmer vertraut und nicht ſelten 
hörte man von friſchen jungen Lippen Ausdrücke, deren 
Bedeutung der Redenden ſelbſt vermutlich zum großen Teil 
unverſtändlich war. Sie ſelbſt veranlaßten den jungen 
Mann zu denken, daß er ſich in Geſellſchaft der Damen 
keinerlei Zwang oder Rückſicht aufzuerlegen brauche. 

Daß ſich indeſſen das weibliche Geſchlecht irrte, wenn 
es mit ſolcher Nachgiebigkeit den Mann dauernd zu feſſeln 
dachte, das zeigte ſich ſelbſt zur Zeit der größten Form⸗ 
loſigkeit bei denen unter den jungen Engländerinnen, die, 
unbekümmert um das allgemeine Treiben, unentwegt an 
vornehmem Ton und feiner Form feſthielten. Ihnen gegen⸗ 
über ließ ſich der junge Mann keinerlei Nachläſſigkeit oder 
Rückſichtsloſigkeit zu Schulden kommen. Üübrigens iſt der 
Einfluß der Amerikanerin nicht nur in der erwähnten Will- 
fährigfeit zu fuchen, au) ift e3 feinesmweg3 etwa der Neichtum 
allein, der fie „wirkungsvoll“ madjt. GSelbft in nrittellojen 
Verhältniffen weiß fie einen Weg zum Fortfommen zu finden 
und fie ift in diefer Beziehung unerfhöpflich in neuen Ssdeen. 
Sunge hübihhe Amerifanerinnen haben unter anderen in 
harakteriftiicher Weife eine neue Erwerbaquelle barin ge= 
funden, daß fie fih mährend einiger Abendftunden damit 
befhäftigen, für die englifcde jeunesse doree graziöfe 
Sramattentnoten zu fchlingen, da der englifche masher längft 
zu der Überzeugung gekommen ift, daß die fertig gefnüpften 
weit weniger leicht und gefällig find und er außerdem einen 
pifanten Reiz darin findet, biefen Teil jeines Mbendanzuges 
bon hübjchen Mädchenhänden vervollftändigen zu lafien. 

Eo viel Nadeiferung in gutem und fchledhtem Sinne 
die Amertfanerin aud) herausgefordert hat, fo ift fie ihren 
engliihen Schweftern doc im Grunde feinesiwegs verftänd- 
Tih oder fympathiih. Die antagoniftiihe Haltung zwiichen 
den Bewohnern beider Xänder tritt indeſſen weit weniger 
Ihroff zu Tage alö ehemals und insbejondere hat die früher 
faum verhehlte Verachtung der Britin für ihre transatlantifche 
Schwefter fid angelihts der gejellfchaftlihen Erfolge der 
legteren allerdings erheblich vermindert. 

Sm ganzen fallen die Vergleiche, die don Sennern 
beider Länder zwifchen der Amerikanerin und Sngländerin 
angeftellt werben, zum Nachteil der erfteren aus. In Eng: 
land, fagt einer diejer Kritiker, findet man eine weit größere 
Anzahl Shöner Mädchen und Frauen. Und begegnet man 
freilih auch in New Hork einer Menge hübfcher Gefichter, jo 
wird ihr Neiz doc) gar jehr beeinträchtigt durch den felbft- 
bewußten Ausdrud, den fie im Durdichnitt alle tragen. 
Bei dem beiten Typus der engliihen Mrijtofratin findet 


Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung. 





134 


man von foldem Selbftbewußtfein feine Spur und Diele 
anmutige linbefangenheit ift einer ihrer größten Reize. Die 
Blütezeit der Amerikanerin ift zudem eine weit Eürzere ala 
bie ber Engländerin. Möge der Grund bavon in ber 
Überfättigung aller Genüffe liegen, eine natürliche Folge 
der befchriebenen, fo frühzeitig entwidelten Gewohnheiten, 
ober in einer durd) ein Übermaß von Thee, Eis und Süßig— 
feiten gejhädigten Konftitution — genug, die Amerikanerin 
altert früher al ihre englifhe Schweiter. Nad dem 
bierzigften Jahre wird fie plöglid grau und jchweigfam 
und ihre vertrodneten, fcharfen und farblofen Züge bilden 
einen großen Kontraft mit denen ber englifdyen Matrone, 
die biß zu einem weit höheren Alter ihr hübfches, fFrifches, 
fröhliches Ausfehen bewahrt. Am intereffanteften ift die 
verheiratete Amerilanerin von 25 Jahren bis zu dem ers 
wähnten Eritifchen Alter. Worausgefegt, daß fie keine zu 
große Vorliebe für Stofaine und jene gemwifjen franzöfiichen 
Romane auf grauem Papier befigt, tft fie die unterhaltendfte 
Gefährtin, die e8 geben kann. Gemwöhnlih hat fie mehr 
geiehen, gelefen und gedacht al& die Englänberin und ver: 
fteht e8 befjer als diefe, das Erlebte und durch Reifen und 
Lektüre Aufgenommene zu verarbeiten und fid) zu cigen zu 
machen. Dabei wird ihre belebte Unterhaltung nicht durd) 
ähnliche Geiftesabmwejenheit geftört, wie fie Die Sorge für ihre 
Kinder bei der jungen englifhen Mutter mitten im Gefpräd) 
hervorzubringen pflegt. Und doch widmet die Amerikanerin 
ihren Kindern im Grunde eine weit eingehendere und um: 
faffendere Sorgfalt ala die Engländerin, nur verfteht fie e8 
freilich, fich diefe Sorge während der Unterhaltung, für Die 
fie überhaupt ein großes Talent befigt, ganz au8 den Ge: 
danken zu jchlagen. 

Die Amerikanerin, fo fchließt derjelbe Kenner, ift wie 
die englifhe Nofe und Welke ohne deren Duft, oder mie 
Duft mit fortwährendem Tauten Pedal; fie tft wie das 
eleftrijche Licht, ganz Glanz und Feuer, e8 fehlen ihr gänz- 
lich die mwohlthuenden fühlen Schatten, die Zurüdhaltung 
der Engländerin verleiht. 

Fuife Rebentiſch. 


Weckruf. 


Durch den jungen Frühlingstag 

Geht ein mildes Düften, 

Finkenlied und Droſſelſchlag 

Schallt aus Hecken und Lüften; 

Lauſchend halt ich ein im Streit, 

Senkend die ſchlagerhobenen Waffen; — 
Will im Hauch der Frühlingszeit 
Träumend mein trotziger Sinn erſchlaffen? 


Starkes Herz! vergiß Dich nicht! 
Schwerterklang und Singen 

Mag gar wohl im hellen Licht 

Frendig zuſammenklingen. 

Schlag den Takt zum Liederklang, 

Laſſe die Waffen blitzen und funkeln! 
Ohne Sang und ohne Klang 

Kämpfſt Du noch lange genug im Dunkeln. 


Hans Biermann. 





135 





sine Voilelte vor ahtzehnhundert Dahren. 
Von Adolf Kate. 
Echluß.) 


Die letzte der vier Dienerinnen vollendet nun den 
Kopfputz; die Herrin hatte die Form der hohen Schleife 
beliebt. Letztere beſtand aus den Haaren ſelbſt, die vorn 
über der Stirn zuſammengeſchlungen und ineinandergeknüpft 
wurden. Dieſe Art von Toupet wurde auf beiden Seiten 
mit Locken eingefaßt; das übrige Haar wurde um Stirn 
und Schläfen geführt, eine goldene Platte wurde davor be⸗ 
feſtigt und das Haar ſelbſt mit Perlen geſchmückt. 

Niemand hat während dieſes ganzen Getümmels eine 
ſo ſchreckliche Aufgabe, als die Sklavin, welche der Herrin 
den Spiegel bald zur Rechten, bald zur Linken vorhalten 
muß. Drehbare Spiegel auf Toilettentiſchchen waren noch 
nicht erfunden, und ſo mußte die Sklavin einen lebendigen 
Spiegelhalter abgeben, mußte mit kunſtmäßiger Gewandtheit 
den Blick ihrer Gebieterin auffangen. Aber es verlohnte 
ſich, für einen Spiegel, wie den der Terentilla, ein eigenes 
Mädchen zu halten. Er iſt nicht von Glas, ſondern be— 
ſteht aus einer ſilbernen, ſchön polierten Platte, deren hintere 
Seite mit getriebenem Goldblech überlegt iſt und deren 
Rand von den koſtbarſten Edelſteinen umfaßt wird. Die runde 
Spiegelplatte ruht auf einem aus Elfenbein künſtlich ge⸗ 
drehten Griffe, an welchem zu beiden Seiten zwei Schwämmchen 
befeſtigt ſind, um den geringſten Hauch von der Spiegel⸗ 
fläche ſogleich abzuwiſchen. Weit mehr koſtet der Spiegel 
als die Sklavin ſelbſt; wehe ihr, wenn ſie ihn fallen ließe! 
Terentilla würde zur Nadel greifen und Arme und Bruſt 
der Unglücklichen damit peinigen. 

Die Thüurſteherin meldet, daß eine alexandriniſche Kranz⸗ 
flechterin vorgelaſſen zu werden wünſche. Dieſelbe darf 
eintreten, und zwei kleine Sklaven bringen teils friſche, 
teils künſtliche Blumen, Levkoyen, Narziſſen, Lilien, Krokus, 
Hyazinthen und Roſen ſchlingen ſich um zarte Myrten⸗ 
ſprößlinge mit der feinſten Berechnung der Schattierungen. 
Kaum würdigt Terentilla all die Pracht eines flüchtigen 
Blickes, ſie wählt einen andern Kranz der jetzt allbeliebten 
Mode: zarte Schnüren aus dem feinſten Baſt der Papyrus⸗ 
ſtaude gedreht, und in zierliche Bandſchleifen verſchlungen, 
bilden den Körper des Kranzes, aus welchem in kleinen 
Zwiſchenräumen Palmenblätter von weißem Silberblech wie 
Strahlen hervorragen. Hinten, wo der Kranz ſich zuſammen⸗ 
fügt, flattern Bänder, die beim Aufſetzen über die Schultern 
fallen. Die Blumenhändlerin wird entlaſſen, und während 
die Nägelputzerin ihre Arbeit verrichtet und mit einem in 
Weineſſig getauchten Schwämmchen die Finger der Ge— 
bieterin abreibt, teeten zwei, in die feinſte ägyptiſche Lein⸗ 
wand gekleidete, zierlich aufgeſchürzte und ſchön gelockte 
Knaben in das Zimmer und bringen der Gebieterin das 
Frühſtück. Der eine trägt eine ſilberne Kochmaſchine, aus 
welcher die Dämpfe des Waſſers ziſchend hervorbrodeln. 
Der andere hat ein Körbchen aus mattpolierten Silber: 
ſtäben, in welchem acht der ſchönſten Feigen auf Wein⸗ 
blättern liegen, auf einem aus Citronenholz geſchnitzten 
Teller trägt er eine koſtbare Vaſe, in welcher der feurige 
Wein von Chios ſich befindet, und zwei ſilberne Schälchen, 
um in das eine das kochende Waſſer, in das andere den 
Wein zu gießen, um ſo ſeiner Herrin, wenn ſie die Feigen 
genoſſen, den glühenden Wein zu kredenzen. Während 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 








136 


Terentilla mit dem Frühftüd beichäftigt ift, Lieit eine Sklavin 

von einem befichriebenen Täfelhen die dur den eigen? 
dazu angeftelten Hauspbilofophen gefanımelten Neuigkeiten 
der Stadt, die Chronique scandaleuse. Mit häufigen 
LZädeln hat die Herrin zugehört; bag Lejen ift beendet, 
und fie befiehlt dem betreffenden Mädchen, den Anzug zu 
bringen. Diejes eilt zu der im Seitenflügel des Palaftet 
gelegenen Garderobe, vorbei an den Stuben der Spinnerinnen, 
der Meberinnen, der Kleidermadjerinnen und Kleider: 
falterinnen — denn all die Arbeiten berfelben werben im 
Haufe felbft von eigenen Sklavinnen beforgte — und fehrt 
mit der Schar der Sleiderfalterinnen zurüd, über deren 
Armen die verfchiebenen Teile des Anzuges gebreitet find, 
während eine andere Sklavin bereits der Herrin.die Schuhe 
von weißem Leder angezogen hat. Statt de noch nid 
erfundenen SKorfett3 werden jchmale Purpurfireifen um Die 
Bruft gewunden, worüber die Tunila geworfen wird. 
Diele bildet das Hanptgewand, an dem bie meifte PBradjt 
verfchwendet ift. Ste befteht aus der feinften milefiichen 
Wolle, mit baummollenem Einihlag gewebt und ift don 
blendend weißer Sarbe. Das Gewand hat furze Slrmel, 
die nur den Oberarm bebeden und welde aufgeihligt und 
wieder mit goldener Agraffe zujammengefegt find. lber 
dem Ausfchnitt der Bruft ift fie mit einem zwei Yinger 
breiten PBurpurftreifen eingefaßt. Von bderfelben Tarbe ift 


auch die unterfte Einfafjung der Yalbel, die für das aus- 


zeichnende Mierkinal ber römijchen Bamentunila gehalten 
wird. Die einfache, weiße TZunila gebt nämlich nur etwas 
über die Knie herab und wurde von ben einfadyeren Frauen 
nur fo getragen, mobei jedodh mehr ober minder Zoftbare 
Fußbänder über den Knöcheln befeftigt wurden. Die Tunika 
ber Terentilla hat jedod einen befonderen Anfag, in viele 
Fältchen gelegte Yalbel, die fomweit herabgeht, dab man 
faum die Fußfpigen erblidt. Seingeichlagene Goldbleche find 
darauf geheftet, gebiegene Goldfäden durchziehen biejelbe, 
ein weiter Purpurrand faßt fie ein und eine Fünftlich aufs 
geftedte Perlenfchnur hebt ihren Glanz nodh mehr Die 
Schmucdbewahrerin tritt jegt mit dem Schmudtäftchen vor 
die Gebieterin; das Siegel ift noch unverjehrt, welches ftatt 
des Scloffes daran befeftigt ift; XTerentilla befichlt «8 zu 
öffnen und die Perlenfchnur zu wählen. Diefelbe bejteht 
eigentlich aus drei Schnüren, wovon die eine, enger ans 
gezogen, nur ben Hals, bie zweite und dritte aber, melde 
weiter und loderer herabhängen, den Bufen bebeden und 
fi) in der Mitte etwas tiefer hinunterfenten. Die oberfte 
Schnur, das eigentlihe Halsband, befteht nur aus Perlen, 
die beiden anderen aber haben nody zwiichen jeder Perle 
einen grünen, goldigen oder perlfarbigen Edelftein. Diefes 
Halsband hat, nad) der BVerfiherung des bejchreibenden 
Autors, dem Herrn Gemahl dte Stleinigkeit von 300 000 ME. 
gekoftet. Die dazu gehörigen Ohrgehänge werden ans 
gelegt; fie beftehen aus je brei fünftlih nebeneinander ges 
fügten Glodenperlen; endlicd; werben die Ringe ausgejudt. 
Sie wählt Heute eine Sommergarnitur; da nämlich jäntliche 
Ringe mit Gemmen oder gefchnittenen Steinen geziert 
find, werben die großen und Eoftfpieligen ihrer Schwere halber 
für die Ealten Monate aufbewahrt. Die jchönften werden 
an den Heinen Finger geftedt, der, wie die andern, außer 
ben frei bleibenden Mittelfinger, mit zwei Ringen ges 
Ihmüdt wird; aljo fecdhzehn Ninge erglänzen heute an 
Terentillag zarten Händen. | 

Sept wird der Mantel oder die Balla umgelegt. Diejes 








137 


Umlegen oder Ummwerfen bildet ein Hauptftüd der Toilette. 
An Feithalten derjelben durd) Bänder, Agraffen, oder gar 
durd; Stednabeln, diefer barbarifchen Erfindung fpäterer 
Zeiten, war dabei nicht zu denten. Die Pala wurde fd 
gefaßt, daß der eine Teil, unter der rechten Bruft fidh 
herumichlingend, den rechten Arm und bie rehte Schulter 
völlig unverhült Jieß, ber andere aber über bie linfe 
CE dhulter geworfen, und vom linken Arm, den er oft ganz, 
oft bis zur Hand bededte, gehoben wurde. Bor allem 
kam es dabei auf einen zierlichen Faltenwurf an; fie fonnte 
tiefer und höher getragen werden, um bie Falbel der Tunita 
in ihrem Glanze mehr oder weniger zu zeigen; fchleppen 
durfte fie niemal2. 

Die Toilette ift vollendet. „Herrlih!* rufen mit ge 
heucheltem Staunen die Sktlavinnen, „Herrin, ganz Rom 
wird auf Did) fchauen, jo ſchön mwarft Du nod niel“ 

Die Herrin lächelt, dann aber — verzeih, jchöne Leierin 
— fpeit fie dreimal in ihren Bufen, um das Unglüd, mweldjes 
diefe Qobeserhebungen mit fich bringen könnten, abzumenden. 
Sie tritt teßt vor den großen Spiegel aud mächtiger Silber: 
platte, der ihre ganze Geftalt zeigt, lädhelnd jchaut fie ihr 
Bild. Edel geformt find die Züge, herrlich — maieſtätiſch 
eriheinen fie trog ber Schminke, doc) fo manches Yältchen 
zeugt von wilden, wüften Leben und auf ber hohen, plaftiich 
fhönen Stimme thront die Göttin des Hochmutes, kalt blickt 
das ftolze Auge und nie hat die innige, aufopfernde Liebe 
ein Plägchen im Herzen der Terentilla gefunden. So ſteht 
fie da vor dem Spiegel, von dem Seneca verfihert, daß er 
alfein mehr als in früheren Zeiten die ganze Ausftener ge= 
fojtet hat. 

Eine Sklavin eilt der Herrin voraus und die übrige 
Schar geleitet fie zur Sänfte, die draußen unter dem 
Portituß ihrer hart. PBurpume Kiffen ruhen auf dem 
koſtbar vergoldeten Geftell; acht riefige fappabocifhe Sklaven 
find die Träger. Terentila nimmt eine halb Tiegende 
Stellung auf dem Nuhebett der Sänfte ein, ihre Liebling3= 
ftlapin bringt ihr zwei Kugeln, eine von Bergfryftall‘, eine 
von Bernftein, welde zur Kühlung in ben Händen gehalten 
werden. Ein anderes Mädchen übergiebt ihr die Kleine 
zahme Lieblingdfchlange, meldher ber Pla am fchönen 
Bujen der Herrin zufommt. Enblid) ift alles vollendet. Die 
acht Kappadocier heben In einem Moment die Sänfte auf 
bie Schulter, der Zug feßt fih in Bewegung. Voran zwei 
Mohren aus dem Macyten-Stamme, gekleidet in meißes 
innen mit breiten, fchön verzierten Arme und Fußringen 
von Silberbleh; zur Nechten der Terentilla ihre Lieblings 
fflavin mit dem Wedel aus Slamingofebern, zur Linken 
eine andere mit dem hohen Schirm von Bambus, dahinter 
zwei Skflapinnen mit purpurnen Siffen, für den Fall die 
Herrin weicher zu liegen wünjdt, und zum Schluß zwei 
Sklaven mit Fußfchemeln, um der Herrin ein ctwaiges 
Aufftehen zu erleichtern. In gemefjenem Taftichritte bewegt 
fih der Zug vorwärt® — die Schöne Terentilla macht ihrer 
Freundin eine einfadye Morgenpifitel 


„Blüten im düfren Hof“. 


Sn einem engen, düfter feuchten Raum, 

Des Lichtes faft beraubt von hoher Mauer, 
Steht voll erblüht ein junger, ihwanter Baum, 
. Um fich verjtreuend dichten Blütenſchauer. 


RomansZeitung 1896. 


Beiblatt der Deutiden Roman-FZeitung. 


138 


Talt ohne Sonnenftrahl und Elare Luft, 

Eritrahlt er doh im fchönften Blütenprangen — — 
Wie viele Sinofpen, wonntg rein, voll Duft, 

Sind Ihon in büftren Raum erblüht — vergangen?! 


Elimar v. Monflterderg. 


Heue Romane und andere Unterhaltungs 
bücher. 
Angezeigt von &. v. £. 
l. 


In anderen Jahren pflegt in der Zeit vom Mai bis 
Anfang Auguft eine gewiffe Nuhe im deutichen Verlag eins 
zutreten: die Schonzeit für die VBerichterftatter. Diele Mal 
aber find alle Teufel Io8 und befonbers der Romanteufel, fo 
daß die Flut der Bücher zu einem Papiermeer angeihmwollen 
ift. Und die Wogen ergießen fich über die Armen, die vom 
Schidfal zum Beiprechen beftimmt find. Ad, wie gerne be: 
fpräche id) fie mit einem kräftigen Zauberiprüdjlein, daß fie 
in da8 Hirn der Erzeuger zurückröchen! Aber ich habe leider 
den Höllenzwang nicht in ber Gewalt und muß mich mit 
meinen Scidfalsgenofien fügen. 

Belonderd eifrig ift der Verlag von Fontane & Co. 
(Berlin W.), der una großmütig gleich zehn Bände tn den 
Schoß geworfen hat. Unter ihnen find einige bemerfenömwerte 
Arbeiten, bejonders: 

Die Augelfuderin. BonMarimilianpon #ofenberg. 

Der Verf. ift eine reife Kraft, ein Kenner des Lebens 
und der Menihen, mit gelundem Bli für das Gute und 
Böfe. Entichiedener Wirklichkeitsfinn zeichnet ihn aus, aber 
er flieht Helle® und Dunkles und verfteht,. ohne fünftliche 
Made, im Heinen Rahmen ein Weltbild zu geben. Einzelne 
Abichnitte find etwas gedehnt; etwas größere Straffheit wäre 
für eine zweite Auflage von großem Vorteil. Die Haupt» 
trägerin der Handlung ift vortrefflih ausgeführt; aber auch 
die anderen Geftalten feffeln dur innere Lebensmwahrbeit. 
Zu rühmen tft die forgfältige Behandlung der Spradie; ab: 
gebrauchte Wendungen find jehr felten. (S. 307 „Blutroter 
Nebel legte fih auf meine Augen“ — diefer „blutrote Nebel“ 
ift zu einem Glide geworden, da8 ein Schriftfteller wie 
Rojenberg nicht benügen dürfte) ch empfehle da® Buch 
ernten und reifen Lejern. Wenn ich bemerfe, daß e8 zu: 
weilen an Otto Qudwigs Art erinnert, dürften fie wiffen, 
was fie zu erwarten haben. 

Indas. Von Ernit Claufen. 2 Mt. 

Den Hauptitoff bildet die Geichichte zweier Freunde, die 
dag gleiche Mädchen Lieben und deren einer, Weltmenfch, ehr: 
geizig, an dem zweiten zum Qubas wird. Das Ganze ift 
geihidt gebaut, obwohl am Schluß überhaftet. Die Dar: 
ftelung tft gewandt, entbehrt aber noch der Eigenart; aud) 
muß der Verf. ftreben, den Stil von Flüchtigfeitsfehlern frei 
zu machen. „Sliegend geht die Feder“ (158) und ähnliche 
Wendungen darf ein ftrebjamer Schriftfteller nicht ftehen 
laffen. 

Eis Schlagwort der 3ett. Bon Fedorvon Zobeltik. 
2 Bde. S Mt. 

Dem frifch geichriebenen und gut gebauten Roman liegt 
ein gejunder Gedante zu Grunde, der, ohne fi vorzubrängen, 
da8 Ganze beherricht. Der Verf. wendet fich gegen die faliche 





IV. 10 


139 


Auffaffung des Begriffe „modern“, der Beute nicht nur bei 
Künſtlern und Scriftftellern, jondern aud) im geſellſchaftlichen 
Leben viel Verwirrung anſtiftet, das Gute geſunder Über: 
lieferung untergräbt und ſo oft auch begabte Menſchen um 
die geiſtige oder ſittliche Klarheit bringt. F. v. Z. hat ſich 
gehütet, den dargeſtellten Träger des Modernen zu übertreiben 
und zu verzerren; ſie ſind alle wahrſcheinlich, was die Be⸗ 
weisſskraft der Vorgänge verſtärkt. Der Roman ſpielt in 
Berlin und in der Provinz und entnimmt ſeine Geſtalten 
den Ständen, die in unſerer Geſellſchaft am meiſten hervor—⸗ 
treten. Wohlthuend iſt's, daß er die Hauptgeſtalt nicht in 
dem Wirbel zu Grunde gehen läßt; eine reine Liebe weckt 
das Gute in ihm und führt ihn aus dem Treiben der Welt— 
ſtadt und deren überhitzter Stimmungen in klare Verhältniſſe, 
in denen ſeine tüchtigen Eigenſchaften die Führung des Lebens 
übernehmen. Etwas einſeitig iſt des Verfaſſers Standpunkt, 
aber heute iſt auch das berechtigt. Der Stil iſt gewandt, wenn 
auch nicht frei von einzelnen Flüchtigkeiten. J1. 62 z. B. läßt 
er eine Bügelfalte ſich blähen. Eckiges kann ſich nicht 
blähen. 

Feidenſchaften. Männliche, weibliche, ſächliche Ge⸗ 
ſchichten. vVon Georg Frh. von Ompteda. 3,50 ME. 

Der Band enthält neun Geſchichten. Drei davon haben 
litterariſchen Wert: „Sonnenzeit“, eine wirklich ſonnige No— 
velle mit friſchen, liebenswerten Menſchen; „Der Spiegel“, 
eine Seelenſchilderung in Selbſtgeſprächen, als Ganzes un⸗ 
möglich, aber fein und geſchickt gearbeitet, und „Das Kriegs⸗ 
recht“. Dieſe Arbeiten ſind der Anerkennung wert, beſonders 
die erſte. Das andere beweiſt die Gewandtheit des Verfaſſers, 
aber erhebt ſich in keinem Zuge über den Durchſchnitt. 

Meine Liebe. Geihihten aus bem fernen Often von 
C. Eſchricht. 

Der Band enthält zwei Erzählungen: „Unter ben Ver— 
ihidten” und „Passio pura“. Das Bud verdient wegen 
der Spunigkeit und Sraft der Darftellung, die einzelne 
Schwächen vergeſſen laſſen, wärmſte Anerkennung. Die 
erſte Erzählung erſchüttert, obwohl ungewöhnliche Mittel nicht 
angewendet ſind; der ſchlichte Vortrag erhöht die Wirkung. 
Hier iſt nicht ein Wort zu viel; die Kennzeichnung der 
Menſchen iſt tadellos, und die der Umgebung von genauer 
Kenntnis zeugend. Die zweite Geſchichte iſt äußerlich viel 
reicher an Geſtalten, entbehrt auch nicht — beſonders in der 
Darſtellung der Judenfamilie — Komik, aber die ganze 
Technik iſt nicht frei vom Einfluß ruſſiſcher Vorbilder. Aber 
jedenfalls verdient das Buch warme Empfehlung. 

Verliner Höllenfahrt. Heiteres und Ernſtes aus der 
Reichshauptſtadt von Rudolf Stratz. 

Der Band enthält ſechzehn Skizzen, denen aber alles 
Diaboliſche fehlt. Der Verf. will es mit „Tout Berlin“ nicht 
verderben und ſo hat er Handſchuhe, ſehr weiche, angezogen. 
Die Leſung kann unterhalten. 

Sein 3ch. Von Emil Roland. 3Mk. 

Lebhaft erzählt; der Stoff feſſelnd, die Hauptgeſtalten 
geſchickt durchgeführt; neben dem Ernſt des leitenden Ge⸗ 
dankens kommt auch drollige Frohlaune zur Geltung; der 
Eindruck des Ganzen gut. 

Reinheit. Novelle von Wilhelm von Polenz. 3Mk. 

Der Verf. iſt in allen ſeinen Arbeiten bemüht, ſein Beſtes 
zu geben. Überall tritt eine ernſte Geſinnung als das Leitende 
hervor; die Sprache wird mit Sorgfalt behandelt. Wenn 
ich auch die Novellen nicht ſo hoch ſtellen kann, wie den 
Roman „Der Büttnerbauer“, ſo ſind doch auch ſie als Er- 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


140 


zeugniſſe eines ehrlichen Künſtlers zu bezeichnen und reifen 
Leſern beſtens zu empfehlen. 

Vom Verlage S. Fiſcher, Berlin, ſind uns folgende 
Werke zugekommen: 

Venſton Fratelli. Von Felix Holländer. Ein kurzer 
Roman und anderes. 

Der Band enthält fünf Geſchichten, die das Mittelmaß 
nirgendwo überragen. Überall zeigt ſich das Beſtreben des 
Verfaſſers, ſich über ſein natürliches Maß zu ſtrecken, aber er 
muß auf den Zehen ſtehen, um größer zu ſcheinen. Dabei 
erinnert jede Geſchichte an fremde Vorbilder, nirgendwo 
offenbart ſich ein Selbſt, das aus eigenem Beſiz geſtaltet. 
Seit dem Roman „Frau Ellen Röte*, der zwar zu breit war, 
aber dod; Gutbeobadhtetes bot, hat der Schriftfteller feinen 
Fortichritt mehr gemadt. Das Angelefene und Aufgeleiene 
drängt fi immer mehr vor. 

Um das Weit. Bon Hans Land. 3 ME. 

Die früheren Arbeiten litten unter der zu ftarf herbor- 
tretenden Iehrhaften Abficht. Dieje tritt hier zurüd und fo 
fommt die Begabung des Berfafjer® mehr zur Geltung. Der 
Eindrud der Hauptgeftalt, des Schriftiteller8 Oft und ber 
anderen Tsedermenfchen ift vortrefflih, da fie in ihrer Art 
typifch ausgeitaltet find, für meitere Kreife aber jhwädt fi 
die Wirkung ab, weil diefe das Sennzeichnende nicht zu be= 
urteilen vermögen und auch die Schuld Ojfts nicht recht ver- 
ftehen werden. Diefer hat an das dramatiiche Bruchftüd aus 
dem Nachlajje eines Freundes die fehlenden Akte gefnüpft 
und damit einen großen Erfolg errungen. Das Bewubßtfein 
diefer halben Unehrlichkeit verwirrt fein ganzes Snnenleben. 
Das tft fein durchgeführt, aber body) um einen Ton zu jchrill. 
Über trogdem verdient daB Buch Anerkennung, weil e8 das 
Streben nad) Vertiefung offenbart. 

Aus den erfien Aniverfitätsjaßren. Von PeterNanien. 
Überfegt von Matth. Mann. 

Nanfen ift einer ber neueften Lieblinge der Diode. Ein 
Teil der Preffe hebt ihn in den Himmel, findet in ihm die 
lauterfte „Natur“. Sc vermag dieje Begeifterung nicht zu 
teilen. Auch bei Nanfen tft jehr viel Künjtelei und Dlache, 
was mir bejonder3 „Maria, ein Buch der Lichbe“ bewiejen 
hat. Die Geſchichte des Studenten, der fi in furzer Zeit 
von allen zu Haufe erhaltenen Überlieferungen und An 
fhauungen loslöft und aud mit dem Vater bridt, enthält 
figer jehr viel richtige Züge. Aber den Ktunftwert fann id) 
nicht hod, bemefjen. Die Briefform, in der der Roman ab- 
gefaßt ift, bringt an fih etwas Schwanfendes mit fid), ba 
fih jehr Schwer in ihr ein allfeitig außgearbeitetes Bild geben 
läßt. Außerdem ift der Stoff durchaus nicht neu oder durch 
beſondere Züge ausgezeichnet. Derartige „überwindungen“ 
ſind ſchon häufig und tiefer dargeſtellt worden, als es hier 
geſchehen iſt. 

Diſſonanzen. Von George Egerton. Deutſch von 
Dora Lande. 

Auch diefe Engländerin ift durch eine Laune des Ges 
ihmad3 in die erfte Neihe der beliebten Schriftftellerinnen 
gehoben worden. Geift fol ihr nicht abgeiprochen werden. 
Aber es ift ein unfrudhtbarer, auflöfender; eijige Kälte Liegt 
über allen jeinen ußerungen, tiefere warmes Gemüts- 
leben offenbart fit nirgends. An deilen Stelle tritt 
fränfelnde Neizbarkeit der Empfindung. 8 ift be= 
zeichnend, daß ein Zug mehrmals wiederfehrt: wenn die 
Heldinnen fid in wirrer Stimmung befinden, beißen fie 
fih in den Arm, um fi dur förperlihen Schmerz abzu- 


141 

Ienten. Rein verftandesmäßige Crörterungen fchieben fi 
in den Ablauf der Gefühle, die jich bei dem geiftig und 
törperlich gefunden Weibe von felber orbnen. Das Leitende 
find ftetö die Beziehungen zwiichen Mann und Weib. Der 
Mann ericheint fait ftet? als Beftie, die nur das „Weibchen“ 
fucht. In der legten Novelle „Wiedergeburt“ aber hat die 
Verf. jo eine Art von Leitbild für Ehe und Liebe aufgeitellt: 
die erfte erfaßt als freien Bund, der auf Zeit geichlofien 
wird. E83 tit diefer Gedanfe bei den Vertretern ber 
radifalen Anfichten heute fehr beliebt. Wie tief dadurd das 
Weib fänfe, wenn er fich vermwirklichte, darüber zerbricht man 
fi nicht den Stopf. Übrigens ift auch biefe Novelle ganz 
fünftlih aufgebaut. Eine Modedame, die fih niemals mit 
etwas Grnfterem beichäftigt hat, reich und verwitwet, lernt 
einen Dichter kennen, deffen Worte ihre Seele erweden. Im 
Handumdrehen wirb fie ein wirtichaftlides Genie und 
gründet eine Art von „harmonifcher Gemeinde“, die fie allein 
ordnet und beherriht. Das ift jehr unwahricheinlid. Dann 
fommt fie wieder durch einen faft undentbaren Zufall mit 
dem Dianne zujammen, der geradezu ein Walchlappen ift, 
und fie geben als „freier Dann“ und „freies Weib“ den Ver: 
trag auf Kündigung ein. 

Natürlich begegnet man auch bei dieler Schriftitellerin 
Stirner und Niepfhe. Wie George Sand ihre Gedanken 
von Sandeau, Muffet, Lilzt, Lammenaiß, Bourges, Lerouzr 
bezog, fo muß auch die Egerton ihren Geift von Männern 
befruchten laffen. Wo das geichieht, giebt die rau ihren 
angeborenen Reichtum auf, um dafür mit geborgtem zu 
prunfen. Die Überjegung ift mäßig. ©. 113 beißt «8 
„io. unflätig wie Sterne“. Das kann unmöglich richtig 
jein. Das Berlinifch, mit dem die Verdeuticherin die Mund- 
art in „Eheitand“ wiedergiebt, ift ftellenweife jehr gefünitelt. 

Sibiſta Dalmar. Roman aus dem Ende diejed Jahrs 
hundert?. Bon Hedwig Dohm. 4 Mt. 

Die Verfafferin tft eine rau von ungewöhnlichen 
Verftande und bedeutendem Wilfen; in beiden überragt fie 
bie Egerton um vieles. Das beweijen auch ihre älteren 
Schriften. Der Anlage nad könnte man fie, die Eitelkeit 
abgerechnet, einen weiblichen Lafjalle nennen. Ihr Verftand 
ift viel Ichärfer entwidelt, al8 der irgend einer der vielgenannten 
Frauenredtlerinnen; dazu befigt fie Ironie, die oft harmloſer 
iheint, als fie ift. Aber aud ihr Verftand ift nur ver: 
neinend, in folder Einfeitigfeit, daB er, um eine Warze auf 
der Nafe gründlich zu entfernen, den Kopf abichneidet. Für 
da3 Leben und Weben des deutichen Gemüts, für das Glüd 
ftilen Waltens, die fih hingebende Liebe fehlt ihr daS Ver: 
ftändnis, und fie hat faft nur Worte des Spottes für die 
Hauöfrau, vielleicht weil fie, ein Großjtabdtfind durd und 
burh, nur Berrbilder folder kennen gelernt hat. Daß des 
Volkes Wohl auf den echten Müttern und echten Hausfrauen, 
auf beren Gemütseigenichaften beruht und nicht auf einem 
oder zweien Taufenden gelehrter rauen, die in allen 
„Rechten“ dem Deanne gleichftehen, befümmert fie nicht. 

Aus diefen Anfhauungen heraus will aud) diejer Roman 
beurteilt fein. Er enthält, da8 wird jeder Kenner Berliner 
Verhältniffe jehen, viel Selbftbeobadhtetes und nod) mehr 
Selbftgelebtes. Die eigentliche Trägerin des Hauptgedantens 
ift eine Berlinerin, und zwar, wie aus einer Bemerkung bom 
„Sudenjhidjel” zu entnehmen, der Sprößling eines Hauſes 
von jüdijcher Abftammung. Diefe Sibilla fchreibt mit zwölf 
Sahren in ihr Tagebud: „— — fie ift ein Kind und das 
bin ich nicht mehr, vielleicht bin id) e8 nie gewefen.“ 


Beiblatt der Deutihden Roman-Zeitung. 


142 


Und da3 ftimmt. Diefes Mädchen hat die Dämmerungen 
ded Gemüts, au8 benen erft der echte Dann, das rechte Weib 
hervorgehen, nie gelannt; fie befigt überhaupt Gemüt nidıt. 
Über viel Verftand, viel Sronie; lieft ala Kind ichon Uns 
menge von Romanen, und dann Ipäter alles mögliche. Ein 
Hirngeihöpf, mit ftarfen Nerpenbewegungen, die zumeilen 
Leidenihaft hHeucheln. Wohl fpricht fie.in den Briefen, bie 
fie al8 Gattin eines reihen Mannes an ihre Mutter jchreibt 
— diefe Briefe find der Stern des Ganzen — von „Über- 
Ihuß an Thatkraft“. In Wahrheit hat fie gar feine. Alles 
tft nur Vorftellung; fie bejigt zu wenig fittliche Bildung, zu 
wenig wahre Innerlichkeit, um ihr Zeben geftalten zu können, 
daß e8 nüße Sie verpufft ihren Intelleft in Kleinen oder 
großen Bosheiten, in Wien und Wigeleien, in verblüffenden 
Wendungen, die nicht felten mit „Kalauern” verwandt find. 
Und diejer thatkraftloje Srrwilch, der nichts als fein Sch 
fennt, jagt: (©. 205) „Mein Beruf wäre geweien. zu denken, 
niht8 weiter. Al männliches Geihöpf wäre ich vielleicht 
Spencer oder Stuart Mill oder Niegiche geworben.“ Sie 
irrt fih; denn jelbft zu dem Denten diejer beiden Engländer, 
die nirgendwo in daß Tieffte geben, gehört Thatfraft und 
Beharrlichfeit — die fie nicht befigt; und auch ein Niegfche 
zu fein, muß man neben der Phantafie ein jehr weiches 
Herz befigen — feine Härte ift ja nur maßstierte Weichheit. 
GSibilla aber hat ein weiches Herz nit. So find alle foldye 
Bemerkungen Seuerwerl. Wie fie innerlich herrihlüchtig tft, 
beweift ihr Leitbild von einem Manne (©. 170) „— — — 
und Brofefjor müßte er fein, ein jehr gelehrter. Und fanft 
bon Gemüt und naid wie ein Kind will ich ihn, einen 
Menihen will ich, dem ich die Hände küffen möchte". Wohl 
deutet der legte Sat auf den unklaren Drang, zu dienen, 
aber das ift dody Schein. Sibille will das „Kind“ beherrichen, 
e3 Überfchen. Hätte fie einen folden Mann befommen, er 
wäre ihr in einem halben Jahre zum Sterben langweilig 
geweſen. 

Wenn die Verf. nur eine Zeitkrankheit hätte ſchildern 
wollen, dann wäre die Kennzeichnung trotz manches ver⸗ 
künſtelten Teiles vortrefflich. So aber ſtehen hinter dem 
Ganzen alle lehrhaften Abſichten, alle Überzeugungen der 
äußerſten Linken, Sibille ſoll als Opfer ihrer Zeit gelten, 
die den Weibern nicht die volle Gleichheit mit den Männern 
zugeſteht und dadurch die großen Geiſter unter ihnen zu 
Grunde richtet. Durch dieſe Abſicht wird die Beweiskraft 
des Einzelfalles vernichtet. Denn Sibille iſt nicht ein groß⸗ 
angelegtes Weib, ſondern nur das Ergebnis einer durchaus 
ſchlechten Erziehung durch eine thörichte Mutter und 
einen leichtſinnigen Vater, die beide im Grunde nur dem 
Scheine gelebt haben, durch das Treiben im Geſellſchaftsleben, 
das ſchon Kinder künſtlich erhitzt, ihnen das Gemüt vergiftet. 
Das aber, was Schuld einzelner iſt, der „Zeit“ — einem 
Begriff — als Schuld aufzulaſten, iſt rechtswidrig. 

Dennoch ſei der Roman empfohlen, da er wertvolle 
Beiträge zur Kenntnis der Stimmungen in einem kleineren 
Kreiſe der Frauen bietet. 

Im „Deutſchen Verlagshaus Bong und Co. 
Berlin M. ſind erſchienen: 

H. V. Schumacher „Das Hungerlos“. 
komiſche Geſchichte. 

Der Anfang des Werkes hält den Leſer zum beſten. 
Wir werden auf ein Gut geführt, wo, wie es ſcheint aus 
Not, die äußerſte Sparſamkeit, ja Filzigkeit herrſcht. In⸗ 
deſſen ſorgen kleine komiſche Auftritte, daß der Eindruck nicht 


Eine tragi⸗ 





143 


quälend wird. Weshalb ber Befiger fih und bie Seinigen 
zum „ÖQungerlos“ verdammt, trogdem er wohlhabend ift, wird 
erft gegen Ende offenbar. Die Geichichte barf fi mit Redt 
tragtlomish nennen, denn beide Beftandteile find in ihr 
borhanden und fehr gefchidt vereint. Der Verf. hat uns 
ftreitig für diefe Art befondere Begabung; zuweilen zwar 
übertreibt er, aber er verfällt niemals in jene rohe Komif, 
die heute oft ala „Humor“ gilt. Das Buch fei befonders 
unſern Lefern auf dem Lande beftens empfohlen; die werden 
auch für drollige Züge, die den Stabtleuten nicht recht ein- 
gehen, das richtige Verftänbnis haben. (3 ME.) 


- Der Dorffriedhof. 
Als wär’ e8 Schlafenzzeit, regt fih fein Laut, 
Die grünen Hügel mit vermorfchten Kreuzen 
Sind herbitlih Ihon vom Abendtau betaut; 
Es iſt ſo ſtill. 
Die welken Blätter, die der Wind verweht, 
Sie konnten müde nun zur Ruh' gelangen 
Und in ber Qufl’c8 ſchwebt ein ſtumm Gebet; 
Es iſt ſo ſtill. 
Grün webt ſich's über jeden Hügel hin, 
Es miſcht ſich Epheu mit den Herbſtzeitloſen. 
Ein wehmutsvoller Friede füllt den Sinn — 
Es iſt ſo ſtil. 
Wenn tiefer noch das Thal der Schatten füllt 
Erklingt das Glöcklein für die Ruh' der Toten 
Und jeder Ton mir aus dem Herzen quillt. 
Es iſt ſo ſtill. 
&. v. Oberhofen. 


Dermildttes. 


Wir haben folgende Zufchrift erhalten: 

Adaldert Htifter-Denkmal in Linz Sn Linz, der 
Hauptitadt Oberöfterreihs, in der Adalbert Stifter mehr als 
zwanzig Qahre Tebte, al8 Schulmann wirkte, hat fi unter 
dem Ehrenvorfige des Bürgermeifters ein Ausfchuß gebildet, 
um dem Dichter des „Hochwaldes“ an ben lifern der rauichen- 
den Donau in Angefiht der Berge und Wälder, der Aus: 
läufer feines heimatlihen Vöhmerwaldes, ein mürdiges 
Denkmal zu errichten. 

Der Ausschuß wendet fi hiebei an alle Verehrer von 
Adalbert Stifter Mufe mit der Bitte, ein Scherflein bei- 
autragen, um diefen Zwed zu fördern. Adalbert Stifters 
Werke find heute nody wahre Perlen deuticher Erzählungss 
tunft ınd gewähren heute noch Taufenden von Lejern einen 


Beiblatt der Deutichen Roman-ZBeitung. 


mir die Reime jenbeft, 





144 





hohen Genuß und hohe Freude. Möge jeder, den biejer 
Dichter erquidt und begetftert, e8 auch als eine Pflicht an 
fehen, dazu beizutragen, daß ein würbiges Denkmal an ber 
Stätte, wo ber Dichter lebte und wirkte und jchrieb, von 
der Dankbarkeit feines Volkes Stunde geben kann. 

Jeder Beitrag ift willlommen, und mir bitten, ben- 
felben an ben Ausfhuß zur Errichtung eine Adalbert 
Stifter-Denfmals in Linz a. d. Donau, zu Handen des 
Schatmeifter, Herrn f. u. E. Hofbuchhändler® Vinc. Fink, 
jenden zu wollen. Der Ausihuß zur Errichtung eines 
Adalbert Stifter- Denkmals in Linz a. d. Donau. 


Briefkaften. 

Frl. M.M. in 8. „Nofenlieder” 2.0.3 angenommen. 
1. tft zu fpielrifh. — Frl. ® L. in H. Niht ganz fo 
gut, wie manches frühere. Die Arbeit fommt; verzeihen Sie, 
daß ich Ihre Geduld fo Hart geprüft habe. Beften Gruß. 
— Herm Fri H. in M. Die Gedichte find gut gemeint, 
aber nod zu unreif in Form und Inhalt — Ein Suchen: 
der. Das haben Sie falih aufgefaßt. Wer mir fein Ver: 
trauen jchenkt, Menfch zum Dienfchen, der mag mir fchreiben, 
wie viel er will; ich werde ihm gerne, wenn auch furz ant= 
worten und nad befter Einfiht meine Meinung jagen. 
Nur muß e8 fih um wirklich ernfte Lebensfragen handeln. 
Alfo fchreiden Sie, Ihren Namen brauche ic) ja nicht zu 
willen. — Frl. EM. in D. Gedichte werben nicht zurüd: 
geiendet. Die 20 Pf. find in eine Sammelbücdje für die 
„serienkolonten geftekt worden. Leider unbrauhbar. — 
Herrn stud. B. in 2. Neines Gefühl, aber zu empfind- 
jam und im Ausdrud noch ohne Eingenart. — Alter 
Abonnent in Wiesbaden. Ein Buch „Der Mönd von 
Amalfi* ift mir nicht zugelommen. — Herrn Relt. W. 3. in 
WB. „An der Gruft“ werde ih wohl bet günftiger Gelegen- 
heit etwa8 gefürzt bringen. — Frl. M. Br. in. Daß 
Du, im Schein der Sonne lebend, „wonnebebend“ bichteft, 
auf Deiner Heimat Höh’n, tft Shön. Doc daß Du Did nicht 
zur Einfiht wendeft, nit auf den Drud verzichteft und 
nit meine Qualen enbeit, bemweift 
einen Geift der Graujamteit und des Gemütes Nauhfamteit! 


Inhalt der io. 41. 


Schwertflingen. Baterländifher Roman von Han 
Werder. Fortj. — Die neue Herrin. Roman bon Karl 
Erdm. Edler. Schluß. — Beiblatt: Sommer im Liede. 
— Die Amerifanerin in England. Bon Luife Reben: 


tiih. Schluß. — Wedruf. Bon Hans Biermann. — 
Eine Toilette vor achtzehnhundert Sahren. Bon Adolf 
ahle. Schluß. — „Blüten im büftren Hof. Bon 


Elimar von Monfterberg. — Neue Romane und andere 
Unterhaltungzfchriften. Angezeigt von D. dv. 2. — Der Dorf: 
friedhof. Von. v.Oberhofen. 2” Bermifchtes, — Briefkaften. 





— — 


WE Zur Beachtung! ur 


Alle unverlangt an bie Leitung oder den Verlag des Blattes eingejendeten Manujtripte — größere 


Romane ausgenommen — werden nur zurüdgejenbet, 
Irgendwelche Bürgichaft für Zurüdiendung wird nicht geleiftet, Gedichte werben überhaupt 


Umſchlag einliegt. 
nicht zurückgeſendet. 


wenn ein mit der Adreſſe verſehener, freigemachter 


FSeitung und Berlag der Roman Zeitung. 


Verantwortlicher Xeiter: Dito von Leirner in Berlin. — Verlag von Dtts Janke in Berlin. — Drud ber Berliner Buchdrudereis Aktien» @ejellihaft 
(Segerinnen s Schule beB Fettes Bereinß). 


Deutſche 


ı Roman Zeilung. 


Erjcheint wöchentlich zum Preijfe von 31; A vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bolt. 
Durd) alle Buchhandlungen aud) in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober. 


_18%. 


ämter nehmen dafür Beltellungen an. 
beziehen. 





Ne 4, 


36wertklingen. 


Vaterländiſcher Roman 


von 


Dans Werder. 
(Fortſetzung.) 


Tag und Nacht wartete Prinz Louis auf den 
Kurier, den ihm Hohenlohe verheißen. Daß in dem 
bisher feſtgeſetzten Schlachtplan verhängnisvolle Ände⸗ 
rungen eingetreten waren, wußte er bereits und 
ſchwere Sorge erfüllte ſein Herz. Ach, dies Schwanken 
und Zagen, während die Heere des Feindes ſich wie 
eine große Klammer um die preußiſche Armee zu— 
ſammenzogen! All die heiße Kampfesungeduld, die 
ſeit Jahren an dem jungen Heldenherzen genagt, 
preßte ſich jetzt zuſammen, da an der Verſäumnis 
einer Stunde der Erfolg zu ſcheitern vermochte, und 
brannte wie verzehrende Flamme. 

Die Stunden verrannen. Prinz Louis war ſtill 
und ernſt. All die freimütige Offenheit ſeines Weſens 
war von ihm gewichen, der kameradſchaftliche Ton 
verſchwunden, als Feldherr nur ſtand er den Seinigen 
gegenüber und zeigte ihnen eine ruhig heitere Stirn, 
die Qual der Sorge ſtumm in ſeiner Bruſt ver— 
ſchließend. Doch die ihn kannten, errieten nur um 
ſo leichter, was in ſeiner Seele vorging und trugen 
ſtill mit ihm die Sorge. 

Der kluge, klare Blick ſeines treuen Noſtitz er⸗ 
ſchien dem Prinzen jetzt allzu hellſehend, er ſandte 
ihn voraus nach Rudolſtadt, dem dortigen Fürſten 
von Schwarzburg ſeine Grüße zu überbringen und 
bei ihm Quartier zu beſtellen. Nach dorthin mußte 
unter allen Verhältniſſen ſein Marſch ſich richten. 

Die Nacht brach herein. In überreizter Müdig— 
keit warf der Prinz ſich endlich in voller Uniform 
auf ſein Lager. Da ſchreckte ein Poſthorn ihn auf. 
Sofort flog er empor und ſtand aufrecht in bebender 
Ungeduld — Drbdorf öffnete feine Thür, Fürft Hoben- 
Iohe felbft trat zu ihm herein. „Durdlaudt — Gott 
jei Dant, daß Sie fommen!” mit dem Ausruf empfing 
ihn der Prinz. 

Zwei Stunden währte bie Unterredung, dann 
verließ ihn der Fürft wieder. Prinz Zouis hatte bie 
nötigen Sinftrultionen empfangen. Sogleih brad er 


Romansfeltung 1896. Lief. 42. 


mit jeinen Truppen auf und traf alsbald — am 
T. Dftober — in NRudolftadt ein. Noftig ritt ihm 
entgegen und traf feinen Herrn auf der Zandftraße, 
furz vor den Thoren der Stadt. „Bott fei Dant — 
endli bat man fich zu etwas entjchloflen!” rief ihm 
diefer entgegen. 

Der Prinz mit feinem Gefolge, beitehend aus 
Nofig, Kleift, Nohlig, dem Duartiermeifter Haupt: 
mann von Balentini und einigen anderen Offizieren, 
bezog Quartier im Schlofje des Fürften, der ihn mit 
ftrahlender Freude empfing. Ein großes Feftmahl 
und Ball folte am Abend die Ankunft des be- 
wunberten Gaftes feiern. Die Adjutanten beftanden 
darauf, daß der Brinz fi vorher einige Stunden 
zurüdziehen und der Ruhe pflegen jollte, und er ließ 
ih die Fürforge gefallen. Seht, da für den Augen: 
blid die furdtbare Spannung von ihm gemwidhen, 
vermochte er fich einem Furzen, erquidenden Schlummer 
hinzugeben.” 

Abends an ber Feſttafel ſeines fürſtlichen Wirtes 
ſchien er dann völlig wie ſonſt zu ſein — der liebens— 
würdige Geſellſchafter, der ſpielend die Unterhaltung 
beherrſchte und durch ſeine geiſtvollen Äußerungen 
alles bezauberte. 

Zu dem Ball, welcher auf das Galadiner folgte, 
erſchienen zahlreiche Offiziere der Feldarmee. Es 
war ein glänzendes Feſt, mit Tanz und rauſchender 
Muſik. Die edelſten Weine aus dem fürſtlichen Keller 
ſorgten dafür, die fröhliche Stimmung auf der Höhe 
zu erhalten. Und doch waren die Herren nur mit 
halbem Herzen dabei. Gar zu nahe bevor ſtand die 
Schlacht und die Blicke der Offiziere ſuchten das 
Antlitz ihres hohen Führers, das in ſeiner ernſten, 
geſchloſſenen Ruhe nicht wie ſonſt auf ihre Stimmung 
zünnenD- wirkte. Die edle Fürftin fühlte mit ficherem 


) Alles, aud) das folgende, genau hiftorifch, zum Teil nad) 
Nojtig” Erzählung. 


IV. ı1 


147 Schmertflingen. 


Talt heraus, daß der laute Subel in bem Herzen = 


ihres Gaftes fein Echo fand. Sobald es angängig 
war, nahm fie feinen Arm und verließ mit ihm den 
Balljaal. Nur die fürftlide Familie nebit den Hof: 
ftaaten folgten ihnen und der Eleine Kreis blieb noch 
in zwanglofer Unterhaltung beifammen. 

„Mein Prinz,” wandte fih die Fürftin an 
diefen, „Sie fehen, dort fteht der Flügel geöffnet, 
das Renommee von der Künftlerjchaft des Prinzen 
Louis ift auch zu uns gedrungen, ich glaube, Sie 
würden ein dantbares auditoire in uns finden!” 

„Eure Durdlaudht haben über mich zu befehlen!” 
erwibderte der Prinz, „nur um einige Minuten Zeit 
bitte ih noch!” 

Die Unterhaltung ging weiter. Allmähli ward 
er jchweigfam, als hörte er nicht mehr, was um ihn 
ber geiprohen wurde und feine Augen nahmen einen 
in fich gelehrten Blid an. Langjam erhob er fidh 
und nahm vor dem Flügel Plat. Das ganze Ge: 
Iprähd — jedes Flüftern verftummte. Atemloje Stille 
berrichte im Saal. Prinz Zudwig begann zu jpielen. 
Freie Phantafien fluteten buch feine Seele, über die 
Saiten hin. Schwermütig erft und büfter. Auf: 
jauchgende XLebensluft und fchmerzvolles Entjagen 
rangen miteinander in titanenhaftem, erjchütterndem 
Kampf. Süße Liebesklage flüfterte firenengleih da—⸗ 
zwilhen. Dann aber ward die Stimmung jreier, 
mächtiger. Kriegerifhe Klänge jchienen die Geele 
aus der Betäubung wadh zu rütteln. Hehr und ge- 
waltig wuchlen fie an, doch nicht wie Siegesfreude 
über den fliehenden Feind, jondern feierlid, er- 
Ihütternd, wie der Einzug erichlagener Helden in 
Walhalla. Triimphierend löften fich die Diffonanzen. 
Klar und fieghaft brach es hindurdy wie Sonnenlidt, 
befreit und erlöft von Erdennot und Enge, aufatmend 
in großen, freien Harmonien, jo verhallte endlich der 
Heldengejang und verjtummte. 

Gefungen hatte der töniglide Schwan und id) 
die Bruft befreit, und aufwärts gerichtet blieb fein 
Blid, dorthin wo jeine Schwingen ihn trugen, zum 
Siegen oder Sterben. 


111, 


Wieder brach ein neuer Morgen an, der ben 
Tag der Enticheidung näher rüdte. Noftig trat in 
jeines Herrn Gemad, die Befehle desfelben entgegen: 
zunehmen. Der Prinz jaß an jeinem Schreibtilch, 
den Kopf leiht in die Hand geftügt. Vor ihm ftand 
fein Frübftüd, zurüdgeihoben, nur wenig berührt. 
Ein angefangenes Schreiben an den Fürlten Hohen: 
lohe lag vor ihm. Noftig ftand am Schreibtiih und 
ber Prinz gab bie erwünjchten Befehle. Dann aber 
unterbra er fih und lächelte — er wollte unter: 
brüden, was er zu jagen hatte, und erlag boch ber 
Verſuchung. 

„Noſtitz — denken Sie, daß mir dieſe Nacht 
die weiße Frau erſchienen iſt!“ 

„Königliche Hoheit!“ es klang wie ein zürnender 
Vorwurf. 


Roman von Hans Werder. 


148 


Prinz Louis mußte lachen. „Natürlich war es 
ein Traum, obgleich ich mich nicht erinnere, geſchlafen 
zu haben! Sie ſtand vor mir und ſah mich an, die 
Züge erinnerten mich an die der Königin, aber 
geiſterhaft. Sie lächelte, ein ſo trauriges Lächeln, 
und berührte mich mit ſchneeweißem Finger am Kopf 
und auf der Bruſt! Ich wollte zu ihr ſprechen, aber 
ſie ging fort, langſam, mit nachflatternden, weißen 
Schleiern. Ich hätte ſie gern noch zurückgehalten!“ 

„Nun, zu ſagen hat das nichts, gnädigſter Herr!“ 
bemerkte Noſtitz nach einer kleinen Pauſe. „Die 
weiße Frau, die unſerm Königshauſe bedeutungsvoll 
ſein will, die ſpukt im königlichen Schloſſe zu Berlin 
— nicht hier in Thüringen!“ 

„O Noſtitz, wenn ſie mir wirklich etwas zu 
ſagen hätte, meinſt Du nicht, ſie könnte ſich um 
meinetwillen bis hierher in mein Kriegslager be— 
mühen? Sollte ich das nicht verdient haben um die 
Frauen?“ Er weidete ſich ſekundenlang an dem 
mühſam beherrſchten Ausdruck auf dem Antlitz ſeines 
Adjutanten. „Laß es gut ſein, Noſtitz, wen es treffen 
ſoll, den trifft es, dafür ſind wir im Kriege! Aber 
wer es auch ſei von uns beiden, Du oder ich, immer 
wird der Zurückbleibende ſich ſagen können, daß er 
getreu zu dem andern gehalten hat, bis in den Tod!“ 
Er reichte ihm herzlich die Hand hin, welche Noſtitz, 
keines Wortes mächtig, an ſeine Lippen drückte. 

„Und nun ſchicke mir Valentini her,“ fuhr Prinz 
Louis in verändertem Tone fort, „er ſoll dieſen 
Brief an den Fürſten Hohenlohe bringen — ich denke, 
die Entſcheidung iſt da!“ 

Zwiſchen den Herrſchern der beiden kriegeriſchen 
Mächte waren endlich die Würfel gefallen. Der 
König hatte ein „Ultimatum“ geſtellt, auf welches 
Napoleon mit höhnendem UÜbermut geantwortet. „Man 
giebt uns ein Rendezvous auf den 8. Oltober,“ 
ſchrieb er an einen ſeiner Generale. „Ein Franzoſe 
läßt nie auf ſich warten. Man ſagt aber, eine ſchöne 
Königin wolle Zeuge ſein bei den Kämpfen, gut, wir 
wollen artig ſein und ohne Aufenthalt nach Sachſen 
marſchieren!“ 

Unmittelbar ftanden die feindlichen Heere ein- 
ander gegenüber. m preußifchen Hauptquartier aber 
berrichte Uneinigfeit nach wie vor. Unabläffig wurden 
die Dispofitionen geändert, und feiner der Sseldherren 
fonnte ganz ficher fein, von dem andern jeine Be: 
fehle nicht wenigitens umgangen zu jehen. 

Prinz Louis Ferdinand wußte das alles. Auch 
die legten Jlufionen waren ihm geichwunden und 
damit zugleich der Glaube an den Erfolg. Aber fein 
Bagen und fein Verzweifeln fam in jeine Seele. 
Konnte die heilige Sache, für bie er in den Kampf 
gezogen, nach Veritandesberechnung nicht mehr auf 
Gelingen hoffen, fo wollte er fi) und das ihn an: 
vertraute Heer in die Schanze jchlagen, verdoppelt 
gleihjam, im heiligen Feuer des Todesmutes, und 
ehrenvoll untergehen, wenn der Sieg unmöglid) war. 
So hatte er mit feiter Hand das Los über fich ge 
worfen, und nichts trübte ihm mehr die befreite 
Seelenrube. 

Die Naht vom 9. zum 10. DOftober ging zu 
Ende. Der Prinz vernahm Schüfle, die ihm ver: 





149 Schwertklingen. 
kündeten, daß ſeine Vorpoſten mit denen der Fran— 
zoſen zuſammengetroffen waren. Aus den hochgelegenen 
Fenſtern ſeines Quartiers im Schloſſe ſah er die 
feindlichen Wachtfeuer fern am Horizont entlang. 
O, wäre die Nacht erſt vorüber! 

Eine letzte Botſchaft aus dem Hauptquartier 
erwartete er noch. Doch da ſie ſeiner Anſicht nach 
nichts anderes bringen konnte, als den Befehl zum 
Angriff, ſo traf er daraufhin alle Anordnungen aufs 
beſtimmteſte. Bei Tagesgrauen erreichte ihn die 
Kunde, jenſeits Saalfeld ſeien die vorgeſchobenen 
Poſten in ein Gefecht verwickelt und vermöchten ſich 
nicht zu halten. Der Prinz erteilte ſofort die nötigen 
Befehle. Um acht Uhr traf er ſelbſt bei der Ko— 
lonne ein. 

Den Stern des Schwarzen Adlerordens auf der 
Bruſt, den Federbuſch auf dem Haupte, das Sieges— 
leuchten im Auge, ſo ritt er der Schlacht entgegen, 
„wie der erſtgeborene Sohn des Mars“. 

Die franzöfiſchen Truppen, welche der Prinz zu— 
nächſt für eine „ſtarke Avantgarde“ gehalten, er— 
wieſen ſich bald als den ſeinen um das Dreifache 
überlegen. Ein heißes Gefecht entbrannte. Mit großer 
Tapferkeit fochten Preußen und Sachſen unter ihrem 
fürſtlichen Führer, doch die Übermacht des Feindes 
war zu groß und alle Vorteile auf gegneriſcher Seite. 
Als der Prinz ſich auch in der Flanke attackiert ſah, 
ohne dort die nötige Deckung zur Hand zu haben, 
befahl er, dem dringenden Rate ſeiner Umgebung 
folgend, nach Schwarza hin zurückzugehen. Schweren 
Herzens begab er ſich ſelber, von Noſtitz und Haſſo 
begleitet, an den gefährdetſten Punkt jenſeits von 
Saalfeld, um den Rückzug zu leiten. Doch ſchon in 
der Stadt traf er überall Haufen fliehender Füſiliere 
und Jäger. Bei ſeinem Anblick prallten ganze 
Trupps zurück und blieben ſtehen. Im Bügel ſich 
hebend, rief er mit weithin ſchallender Stimme ihnen 
zu: „Preußen, wollt Ihr mich im Stich laſſen, Euren 
General, Euren Prinzen!?“ Ein ſtürmiſches Hurra 
war die Antwort. Sie ſcharten ſich um ihn, als 
gehorchten ſie einer Zaubermacht, und bald ſtanden 
die Reihen wieder, wie von dem Blick ſeines Auges 
gebannt. Ruhig, gelaſſen beherrſchte er die Situation, 
kein Blick, keine Bewegung verriet den ungeheuren 
Schmerz ſeiner Seele, obſchon die ganze Größe der 
Gefahr und die Ausſichtsloſigkeit des Kampfes ihm 
klar vor Augen ſtand. Sein Erſcheinen ſtellte die 
geſtörte Ordnung wieder her, Mut und Ruhe ver— 
breitend, wo er ſich zeigte. 

Inzwiſchen war Kavallerie und Artillerie nach 
Wölsdorf hin zurückgegangen. Die Artillerie hatte 
ſich in einem Hohlwege feſtgefahren. In dieſem ge— 
fahrvollen Augenblick erſchien zahlreiche franzöſiſche 
Kavallerie, um, in zwei Treffen entwickelt, die Ar— 
tillerie anzugreifen. Mit mörderiſchem Feuer wurde 
ſie empfangen, und das vorderſte der franzöſiſchen 
Regimenter zog ſich eilig wieder zurück. Das war 
der Moment, der dem Prinzen Rettung zu verheißen 
ſchien. An der Spitze der bereits vereinigten fünf 
Schwadronen ſächſiſcher Huſaren warf er ſich auf den 
Feind, von den weiter zurückſtehenden Schimmel: 

pfennig-Huſaren Hilfe erwartend. Doch fie kamen 


Roman von Hans Werder. 


150 


zu ſpät. Schon griff ihn das zweite Treffen franzö— 
ſiſcher Kavallerie mit erdrückender Übermacht in der 
Flanke an. Von Minute zu Minute wurde der 
Widerſtand ſchwieriger und endigte mit wilder Flucht 
ſeiner aufgelöſten Reiterſchar. Noch wollte der Prinz 
ſie zum Stehen bringen — es war vergebens. Sie 
hörten ſeine Stimme, ſie ſahen auf ihn, doch alles 
verſchlang das Entſetzen der Flucht und des Kampfes. 
Im dichteſten Handgemenge, wie ein Löwe, focht 
Prinz Ludwig, den Tod herausfordernd, Bruſt an 
Bruſt. 

In Todesangſt drängten die Seinen ſich um ihn. 

„Retten Sie ſich, mein Prinz, um Gottes 
willen!“ ſchrie Noſtitz ihm verzweifelnd ins Ohr. 

„Was liegt an meinem Leben! Die Schlacht 
iſt verloren!“ klang ſein Ruf zurück. 

„Alles, Herr! — man nimmt Sie gefangen, 
das iſt ſchlimmer als die verlorne Schlacht!“ 

Gefangen! das Wort ſchlug ihm zündend in die 
Seele. Keine Verzweiflung, auch jetzt nicht. Überall 
gab es Rettung, nur in der Gefangenſchaft nicht! 
Schon warf Noſtitz gewaltſam des Prinzen Pferd 
mit dem ſeinen herum. Der Feind folgte unmittel— 
bar, nur eiliges Fliehen konnte Rettung bringen. 
Wie ein Vogel flog „Slop“, der Nenner, über ben 
Boden dahin, über Gräben und Hecken — nicht— 
achtend — nur vorwärts! Ein hoher Zaun ver— 
ſperrte den Weg. Das iſt kein Hindernis für den 
Reiterfürſten! — Schenkel und Sporn dem Pferde 
— und wie ein Pfeil zum Sprunge ſtreckt ſich der 
Renner — hinüber! Doch ſchon iſt ſeine Kraft er— 
mattet nach des Tages ſchwerer Arbeit — er bleibt 
hängen mit einem Fuß und ſtürzt nieder. 

Eilig raffte Prinz Louis ſich auf, der Hut war 
ihm im Sturz vom Kopfe geflogen. Schon um— 
drängten ihn feindliche Reiterhaufen. Ein Säbelhieb 
traf ſein entblößtes Haupt. Er ſchwankte. Doc 
einen Augenblick nur und feſt ſaß er wieder im 
Sattel. Wie die Raſenden fochten die Seinen neben 
ihm. Wie einen Schild, mit ſeinem Leibe ihn deckend, 
warf ſich Haſſo vor ihn hin, doch ein wuchtiger Hieb 
über den Kopf ſtreckte ihn zu Boden. 

„Herr, Ihren Degen, Sie ſind mein Ge— 
fangener!“ ſchrie ein franzöſiſcher Wachtmeiſter dem 
Prinzen zu. 

„Da haſt Du ihn!“ — und noch einen Todes— 
ſtreich führte das Preußenſchwert in der löwenhaften 
Fauſt. Da aber traf ein Degenſtoß die unbewehrte 
Bruſt. Noch hielt der Held ſich aufrecht. Um ihn 
drängten fi Noftig und Balentini, mit ihrem Herz 
blut ihn zu ſchützen, auch Rochlitz, ſich aufraffend, 
blutüberſtrömt, zu kämpfen mit letztem Atemzuge. 

Der Prinz ſchwankte. In ſeinen Armen fing 
Noſtitz den Sinkenden auf und hielt ihn, ſtützte ihn. 
Schon verhauchte er ſein Leben. 

„Prinz Louis, mein geliebter Herr!“ 

Schwer lag das Haupt des ſierbenden Helden 
auf ſeiner Schülter. Das Löwenherz hatte ſeinen 
letzten Schlag gethan. 

Mit der Raſerei der Verzweiflung fochten die 
beiden andern, um nur den geheiligten Toten den 
Feinden zu entreißen. Schon lähmte eine Wunde 


147 Schwertflingen. 


Talt heraus, daß der laute Subel in dem Herzen = 


ihres Gaftes fein Echo fand. Sobald es angängig 
war, nahm fie feinen Arm und verließ mit ihm den 
Balljaal. Nur die fürfilihe Familie nebft den Hof: 
ftaaten folgten ihnen und der Feine Kreis blieb noch 
in zwanglofer Unterhaltung beifammen. 

„Mein Prinz,” wandte fih die Fürftin an 
biefen, „Sie jehen, bort fteht der Flügel geöffnet, 
das Renommee von der Künftlerichaft des Prinzen 
Louis ift auch zu uns gebrungen, ih glaube, Sie 
würden ein dantbares auditoire in uns finden!“ 

„Eure Durhlaudt haben über mich zu befehlen!” 
erwiderte der Prinz, „nur um einige Minuten Zeit 
bitte ich noch!” 

Die Unterhaltung ging weiter. Allmählich ward 
er Ihweigiam, als hörte er nicht mehr, was um ihn 
ber geiprochen wurde und feine Augen nahmen einen 
in fich gefehrten Blid an. Langjam erhob er id 
und nahm vor dem Flügel Plat. Das ganze Ge: 
ſpräch — jedes Flüftern verftummte. Atemloje Stille 
berrichte im Saal. Prinz Ludwig begann zu jpielen. 
Freie Phantafien fluteten durch feine Seele, über die 
Saiten hin. Schwermütig erft und büfter. Auf: 
jauchzende Lebensluſt und ſchmerzvolles Entjagen 
rangen miteinander in titanenhaftem, erſchütterndem 


Kampf. Süße Liebesklage flüſterte ſirenengleich da- 
zwiſchen. Dann aber ward die Stimmung ſreier, 
mächtiger. Kriegeriſche Klänge ſchienen die Seele 


aus der Betäubung wach zu rütteln. Hehr und ge— 
waltig wuchſen ſie an, doch nicht wie Siegesfreude 
über den fliehenden Feind, ſondern feierlich, er— 
ſchütternd, wie der Einzug erſchlagener Helden in 
Walhalla. Triumphierend löſten ſich die Diſſonanzen. 
Klar und fieghaft brach es hindurch wie Sonnenlidt, 
befreit und erlöft von Erdennot und Enge, aufatmend 
in großen, freien Harmonien, jo verhallte endlich der 
Heldengefang und verjtummte. 

Gejungen hatte ber königlide Schwan und fid) 
die Bruft befreit, und aufwärts gerichtet blieb fein 
Blid, dorthin wo jeine Schwingen ihn trugen, zum 
Siegen oder Sterben. 


In. 


Wieder bradh ein neuer Morgen an, der den 
Tag der Entiheidung näher rüdte. Noftig trat in 
jeines Herrn Gemad, die Befehle desjelben entgegen: 
zunehmen. Der Prinz jaß an jeinem Schreibtifch, 
den Kopf leicht in die Hand geftügt. Vor ihm ftand 
jein Frühftüd, zurüdgeihoben, nur wenig berührt. 
Ein angefangenes Schreiben an den Fürften Hohen: 
lohe lag vor ihm. Noftik ftand am Schreibtiih und 
ber Prinz gab die erwünfchten Befehle. Dann aber 
unterbrad er fih und lächelte — er wollte unter: 
drüden, was er zu fagen hatte, und erlag doch der 
Verſuchung. 

„Noſtitz — denken Sie, daß mir dieſe Nacht 
die weiße Frau erſchienen iſt!“ 

„Königliche Hoheit!“ es klang wie ein zürnender 
Vorwurf. 


Roman von Hans Werder. 





148 


Prinz Louis mußte lachen. „Natürlich war es 
ein Traum, obgleich ich mich nicht erinnere, geſchlafen 
zu haben! Sie ſtand vor mir und ſah mich an, die 
Züge erinnerten mich an die der Königin, aber 
geiſterhaft. Sie lächelte, ein ſo trauriges Lächeln, 
und berührte mich mit ſchneeweißem Finger am Kopf 
und auf der Bruſt! Ich wollte zu ihr ſprechen, aber 
ſie ging fort, langſam, mit nachflatternden, weißen 
Schleiern. Ich hätte ſie gern noch zurückgehalten!“ 

„Nun, zu ſagen hat das nichts, gnädigſter Herr!“ 
bemerkte Noſtitz nach einer kleinen Pauſe. „Die 
weiße Frau, die unſerm Königshauſe bedeutungsvoll 
ſein will, die ſpukt im königlichen Schloſſe zu Berlin 
— nicht hier in Thüringen!“ 

„O Noſtitz, wenn ſie mir wirklich etwas zu 
ſagen hätte, meinſt Du nicht, ſie könnte ſich um 
meinetwillen bis hierher in mein Kriegslager be— 
mühen? Sollte ich das nicht verdient haben um die 
Frauen?“ Er weidete ſich ſekundenlang an dem 
mühſam beherrſchten Ausdruck auf dem Antlitz ſeines 
Adjutanten. „Laß es gut ſein, Noſtitz, wen es treffen 
ſoll, den trifft es, dafür ſind wir im Kriege! Aber 
wer es auch ſei von uns beiden, Du oder ich, immer 
wird der Zurückbleibende ſich ſagen können, daß er 
getreu zu dem andern gehalten hat, bis in den Tod!“ 
Er reichte ihm herzlich die Hand hin, welche Noſtitz, 
keines Wortes mächtig, an ſeine Lippen drückte. 

„Und nun ſchicke mir Valentini her,“ fuhr Prinz 
Louis in verändertem Tone fort, „er ſoll dieſen 
Brief an den Fürſten Hohenlohe bringen — ich denke, 
die Entſcheidung iſt da!“ 

Zwiſchen den Herrſchern der beiden kriegeriſchen 
Mächte waren endlich die Würfel gefallen. Der 
König hatte ein „Ultimatum“ geſtellt, auf welches 
Napoleon mit höhnendem Übermut geantwortet. „Man 
giebt uns ein Rendezvous auf den 8. Oltober,“ 
ſchrieb er an einen ſeiner Generale. „Ein Franzoſe 
läßt nie auf ſich warten. Man ſagt aber, eine ſchöne 
Königin wolle Zeuge ſein bei den Kämpfen, gut, wir 
wollen artig ſein und ohne Aufenthalt nach Sachſen 
marſchieren!“ 

Unmittelbar ſtanden die feindlichen Heere ein- 
ander gegenüber. Im preußiſchen Hauptquartier aber 
herrſchte Uneinigkeit nach wie vor. Unabläſſig wurden 
die Dispoſitionen geändert, und keiner der Feldherren 
konnte ganz ſicher ſein, von dem andern ſeine Be— 
fehle nicht wenigſtens umgangen zu ſehen. 

Prinz Louis Ferdinand wußte das alles. Auch 
die letzten Illuſionen waren ihm geſchwunden und 
damit zugleich der Glaube an den Erfolg. Aber kein 
Zagen und kein Verzweifeln kam in ſeine Seele. 
Konnte die heilige Sache, für die er in den Kampf 
gezogen, nach Verſtandesberechnung nicht mehr auf 
Gelingen hoffen, ſo wollte er ſich und das ihm an— 
vertraute Heer in die Schanze ſchlagen, verdoppelt 
gleichſam, im heiligen Feuer des Todesmutes, und 
ehrenvoll untergehen, wenn der Sieg unmöglich war. 
So hatte er mit feſter Hand das Los über ſich ge— 
worfen, und nichts trübte ihm mehr die befreite 
Seelenruhe. 

Die Nacht vom 9. zum 10. Oktober ging zu 
Ende. Der Prinz vernahm Schüſſe, die ihm ver: 





149 Schwertklingen. 
fündeten, daß jeine Vorpoften mit denen der Fran: 
zojen zujammengetroffen waren. Aus den hochgelegenen 
Fenftern feines Duartiers® im Schlofe jah er bie 
feindlihen Wachtfeuer fern am Horizont entlang. 
D, wäre die Nacht erit vorüber! 

Eine legte Botihaft aus dem Hauptquartier 
erwartete er noh. Doch da fie feiner Anficht nach 
nichts anderes bringen Tonnte, als den Befehl zum 
Angriff, fo traf er daraufhin alle Anordnungen aufs 
beflimmtefte. Bei TQTagesgrauen erreichte ihn bie 
Kunde, jenjeits Saalfeld jeien die vorgefchobenen 
Voften in ein Gefecht verwidelt und vermöchten fich 
nicht zu halten. Der Prinz erteilte jofort die nötigen 
Befehle. Um adht Uhr traf er jelbft bei der Ko: 
lonne ein. 

Den Stern des Schwarzen Adlerordens auf der 
Bruft, den Federbufh auf den Haupte, das Sieges: 
leuten im Auge, jo ritt er der Schlacht entgegen, 
„wie der erftgeborene Sohn des Mars“. 

Die franzöfiihen Truppen, weldhe der Prinz zu: 
nädhft für eine „starte Avantgarde” gehalten, er: 
wielen fih bald als den feinen um das Dreifache 
überlegen. Ein heißes Gefecht entbrannte. Mit großer 
Tapferkeit fochten Preußen und Sachen unter ihrem 
fürftlihen Führer, doch die TÜbermadht des Feindes 
war zu groß und alle Vorteile auf gegnerifcher Seite. 
ALS der Prinz fih auch in der Flanke attadiert jah, 
ohne dort die nötige Dedung zur Hand zu haben, 
befahl er, dem dringenden Rate jeiner IImgebung 
‘folgend, nad Schwarza hin zurüdzugehen. Schweren 
Herzens begab er fich felber, von Noftit und Haflo 
begleitet, an den gefährbetiten Punkt jenfeits von 
Saalfeld, um den Rüdzug zu leiten. Doch fchon in 
der Stadt traf er überall Haufen fliehender Füftliere 
und Jäger. Bei jeinem Anblid prallten ganze 
Trupps zurüd und blieben ftehen. Jm Bügel fich 
bebend, rief er mit weithin jchallender Stimme ihnen 
zu: „Preußen, wollt hr mid) im Stich laffen, Euren 
General, Euren PBrinzen!?” Ein ftürmiihes Hurra 
war bie Antwort. Sie jcharten jih um ihn, als 
gehorchten fie einer Jaubermadt, und bald ftanben 
die Reihen wieder, wie von dem Blid feines Auges 
gebannt. Ruhig, gelaflen beherrichte er die Situation, 
fein Blid, Teine Bewegung verriet den ungeheuren 
Schmerz jeiner Seele, obſchon die ganze Größe ber 
Gefahr und die Ausfichtslofigkeit des Kampfes ihm 
Har vor Augen ftand. Sein Erfcheinen fiellte die 
geftörte Ordnung wieder ber, Mut und Nube ver: 
breitend, wo er fich zeigte. 

Inzwiſchen war Kavallerie und Artillerie nad 
MWöledorf hin zurüdgegangen. Die Artillerie batte 
fih in einem Hohlwege feftgefahren. In biefem ge- 
fahrvollen Augenblid erjhien zahlreihe franzöftiche 
Kavallerie, um, in zwei Treffen entwidelt, die Ar: 
tillerie anzugreifen. Mit mörderiihem Feuer wurde 
fie empfangen, und das vorberfte der franzöftfchen 
Regimenter 309 fi eilig wieder zurüd. Das war 
der Moment, der bem Prinzen Rettung zu verheißen 
dien. An der Spige der bereits vereinigten fünf 
Schwadronen fähfischer Hufaren warf er fi auf den 
Feind, von den meiter zurüdftehenden Schimmel: 
pfennig-Hufaren Hilfe ermartend. Doch fie famen 





Roman von Hang Werder. 


150 


zu jpät. Schon griff ihn das zweite Treffen franzö: 
fiiher Kavallerie mit erdrüdender Übermadht in der 
Slanfe an. Bon Pinute zu Minute wurde der 
Wideritand jchwieriger und endigte mit wilder Flucht 
leiner aufgelöften Reiterichar. Noch wollte der Prinz 
fie zum Stehen bringen — es war vergebens. Gie 
hörten feine Stimme, fie fahen auf ihn, doc alles 
verihlang das Entjegen der Flucht und des Kampfes. 
Sm bichteften Handgemenge, wie ein Löwe, focht 
Prinz Ludwig, den Tod herausfordernd, Bruft an 
Bruft. | 

Sr Todesangft drängten die Seinen fi um ihn. 

„Retten Sie fih, mein Prinz, um Gottes 
willen!” jchrie Noftig ihm verzweifelnd ins Ohr. 

„Was liegt an meinem Leben! Die Schladht 
ift verloren!” Eang jein Ruf zurüd. 

„Alles, Herr! — man nimmt Sie gefangen, 
das ift Schlimmer als die verlorne Schlacht!” 

Gefangen! das Wort jhlug ihm zündend in bie 
Seele. Keine Verzweiflung, au) jegt nicht. Überall 
gab es Rettung, nur in der Gefangenihaft nicht! 
Schon warf Noſtitz gewaltſam des Prinzen Pferd 
mit dem ſeinen herum. Der Feind folgte unmittel— 
bar, nur eiliges Fliehen konnte Rettung bringen. 
Wie ein Vogel flog „Slop“, der Renner, über den 
Boden dahin, über Gräben und Hecken — nicht— 
achtend — nur vorwärts! Ein hoher Zaun ver— 
ſperrte den Weg. Das iſt kein Hindernis für den 
Reiterfürſten! — Schenkel und Sporn dem Pferde 
— und wie ein Pfeil zum Sprunge ſtreckt ſich der 
Renner — hinüber! Doch ſchon iſt ſeine Kraft er— 
mattet nach des Tages ſchwerer Arbeit — er bleibt 
hängen mit einem Fuß und ſtürzt nieder. 

Eilig raffte Prinz Louis ſich auf, der Hut war 
ihm im Sturz vom Kopfe geflogen. Schon um— 
drängten ihn feindliche Reiterhaufen. Ein Säbelhieb 
traf ſein entblößtes Haupt. Er ſchwankte. Doch 
einen Augenblick nur und feſt ſaß er wieder im 
Sattel. Wie die Raſenden fochten die Seinen neben 
ihm. Wie einen Schild, mit ſeinem Leibe ihn deckend, 
warf ſich Haſſo vor ihn hin, doch ein wuchtiger Hieb 
über den Kopf ſtreckte ihn zu Boden. 

„Herr, Ihren Degen, Sie ſind mein Ge— 
fangener!“ ſchrie ein franzöſiſcher Wachtmeiſter dem 
Prinzen zu. 

„Da haſt Du ihn!“ — und noch einen Todes— 
ſtreich führte das Preußenſchwert in der löwenhaften 
Fauſt. Da aber traf ein Degenſtoß die unbewehrte 
Bruſt. Noch hielt der Held ſich aufrecht. Um ihn 
drängten ſich Noſtitz und Valentini, mit ihrem Herz⸗ 
blut ihn zu ſchützen, auch Rochlitz, ſich aufraffend, 
blutüberſtrömt, zu kämpfen mit letztem Atemzuge. 

Der Prinz ſchwankte. In ſeinen Armen fing 
Noſtitz den Sinkenden auf und hielt ihn, ſtützte ihn. 
Schon verhauchte er ſein Leben. 

„Prinz Louis, mein geliebter Herr!“ 

Schwer lag das Haupt des ſterbenden Helden 
auf ſeiner Schulter. Das Löwenherz hatte ſeinen 
letzten Schlag gethan. 

Mit der Raſerei der Verzweiflung fochten die 
beiden andern, um nur den geheiligten Toten den 
Feinden zu entreißen. Schon lähmte eine Wunde 


151 Schwertklingen. 
Noſtitz' Arm und Seite, er konnte ſich nicht mehr 
halten. Des Prinzen Brieftaſche zog er heraus, und 
nun galt es Rettung aus äußerſter Geſahr. Wütend 
hieb der Rieſe ſich durch den feindlichen Knäuel. 
Nur Haſſo hielt noch mit beiden Armen den 
teuren Leichnam umklammert. Doch ſchon ſchwand 
ihm das Bewußtſein, und wie ein vom Sturm ge— 
troffener junger Eichbaum brach er nieder zu Füßen 
des erſchlagenen Herrn. 
Das war der Tag von Saalfeld. Verloren die 
Schlacht. Und erſchlagen auf blutiger Walſtatt lag 
Prinz Ludwig von Preußen, der Held — von Todes: 
wunden überdeckt, ein heiliges Opfer — der Not des 
Vaterlandes dargebracht. Hinweg war er genommen, 
ehe Schmach und Jammer mit tauſendfachen Schmerzen 
ihm das Herz gebrochen hätten. In hoffnungsloſer 
Ferne lagen für Preußen die Tage der Rache und 
Vergeltung. Doch als ſie endlich kamen, da ſchwebte 
es vor Preußens ſieghaften Fahnen her, gleich 
rauſchenden Fittichen, wie ein Ruf zur Freiheit, wie 
ein Siegestraum: der Geiſt des toten Königsadlers! 


— — — — — — — — 


Zweiter Teil. 


Vierter Abſchnitt. 
Unter des Siegers Fur. 


„Deutſches Volk, Du konnteſt fallen, 
Aber ſinken kannſt Du nicht!“ 


J. 


Der blutige Tag von Saalfeld war nur 
ein Vorſpiel zu der grauſigen Tragödie von Jena 
und Auerſtädt, der Preußens Macht zum Opfer 
fallen ſollte. Die Nachricht jenes unglücklichen Gefechtes 
trug weſentlich dazu bei, die Ratloſigkeit und Un— 
entſchloſſenheit im preußiſchen Hauptquartier zu er— 
höhen. Uber die Stellungen des Feindes herrſchten 
nur dunkle Gerüchte. Als man dem Herzog von 
Braunſchweig am 11. Oktober meldete, daß die 
Franzoſen am nächſten Tage in Naumburg ſein und 
das preußiſche Heer vollſtändig umgangen haben 
würden, erwiderte er ruhig: „Sie wollen mich wohl 
glauben machen, daß die Franzoſen fliegen können?“ 

Ach, leider Gottes, ja! Auf Flügeln der ſtolzeſten 
Siegeszuverſicht zog das Verderben heran. Mit ſcharf 
berechnender Klugheit ſenkte es ſich auf ſein Opfer 
hernieder. Kaiſer Napoleon ſeinerſeits hielt es für 
nicht glaublich, daß die preußiſchen Feldherren ihm 
ſo ganz alle Vorteile der Sachlage ſollten überlaſſen 
haben. Bei Nacht und Nebel ritt er auf ſeinem 
Falben, wie ein Geiſterfürſt, über Heide und Felder, 
die Stellungen des preußiſchen Heeres in Augenſchein 
zu nehmen, und über ſein ehernes Antlitz leuchtete 
triumphierender Hohn: „Les prussiens se trompent! 
Ils se trompent furieusement, ces vieilles 
perruques!“ — Sein Schlachtplan ſtand bereits feſt. 
Am nächſten Tage, — es war der 14. Oktober 1806 — 
ging hinter dichtem Nebel die Sonne auf. Ach, in 


— 





Roman von Hans Werder. 


— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —— 


152 


blutigen Wolken ging ſie für Preußen unter — auf 

lange Zeit. Ihr Angeſicht verbarg ſie vor der Schmach 
und dem Jammer! Es war der Tag von Jena und 
Auerſtädt! 

Die Schlacht war geſchlagen, und Preußen lag 
am Boden, in den Staub getreten. 

„Wo iſt der König?“ fragte die Königin mit 
ſtockendem Herzſchlag den Kurier, welcher ihr die 
Schreckenskunde überbracht. 

„Majeſtät — ich weiß es nicht!“ war ſeine 
Antwort. 

„Aber iſt der König denn nicht bei der Armee?“ 

„Die Armee? — Sie exiſtiert nicht mehr!“ 

Preußens Armee — das Heer des großen 
Friedrich exiſtierte nicht mehr. Vor dem verfolgenden 
Feinde her flohen vereinzelte Scharen — aufgelöſte 
Haufen — gehetzt — unaufhaltſam! Mit den wenigen, 
noch geſchloſſenen Truppenteilen in Oſtpreußen Ber: 
bindung zu ſuchen war ihr nächſtes Ziel oder auch 
nur Leben und Freiheit davonzubringen vor den 
verfolgenden Siegerſcharen. Nichts weiter konnten 
die Flüchtigen retten. Ruhm und Ehre waren ver: 
loren, das Vaterland vernichtet, Preußens Größe 
zu Spott und Schanden gemadjt. 

Der fiegestrunfene Eroberer z0g am 27. Dftober 
unter dem Donner ver Geihüte und dem Läuten 
aller Gloden durch das Brandenburger Thor in bie 
preußilche Königsitadt ein. Eine Schar von Marjhällen 
und Generalen in bligenden Uniformen, mit Sternen 
und Ordensbändern geihmüdt und mit wallenden - 
Federn auf den Hüten, bildete das glänzende Gefolge 
des KRailers. Er jelbit, ohne Shmud noch Abzeichen 
jeiner Macht, im Ihlichten Kriegerrod — der Kriege- 
gott jeiner Scharen ritt er einher, in nacdhlälliger 
Haltung, mit gleihgültigem Blid, die Augen ber 
ganzen Welt auf fi) gerichtet. Sein prädtiger, an: 
dalufiiher Schimmelhengft nahm anftatt feines Herrn 
mit ftolzem Kopfniden die Grüße der Menge, ben 
brüllenden Siegesjubel der Garden entgegen. Regungs: 
[08 blidte das Antlit des Smperators, gelbbraun wie 
aus Bronze gegofien. Wohnte denn eine menjchliche 
Seele mit lebendigem Fühlen hinter diejer ehernen 
Stirn? D ja! Das große, dunfelblaue Auge fonnte 
Todesblige der Vernichtung jchleudern und Sonnen: 
Ihein jpenden. Die feingefchnittenen Tippen Tonnten 
verführerifch lächeln. Doch nicht jegt. Mit gleich: 
gültiger Verachtung ftreifte jein Auge bin über 
Preußens bezwungene Königsitadt und das vor ihm 
im Staube liegende Voll. In dem hohenzollernſchen 
Königsichlojje Ichlug der Kaifer jein Hoflager auf. 

Totenftille berrichte in den Straßen, die der 
Siegeslärm nicht erreihte. Dumpf und jchauerlich 
tönte er berüber. Und die Gloden läuteten bes 
Baterlandes Macht und Ehre zu Grabe. 

Oberjtlieutenant von Beldegg war in feiner 
Wohnung und hHordte auf das Getöfe der in ber 
Serne vorübermarjchierenden Kavallerie. 

Ssegt 309 die erfte Einquartierung in fein Haus. 
Er Hatte die Befehle zur Aufnahme der Feinde ge- 
geben und jaß nun ftumm, feine beiden Töchter 
neben fi, das linvermeibliche über fich ergeben 
lajjend. Des Vaterlandes Feinde und Befieger wurden 


— — —— — —, —  dimmmemn GENE — — — 


153 Schwertklingen. 
Herren in ſeinem Hauſe — auf Jahre hinaus — wie 
ſie die Herren des Vaterlandes geworden. 

Blaß und ſtill kauerte Renate neben ihm. Die 
Augen thaten ihr weh und ihr Herz war müde vom 
vielen Weinen. Die Nachricht vom Tode des Prinzen 
Louis war zu ihnen gedrungen und erfüllte ſie mit 
tiefſtem Leid. Sie hatte ihn bewundert in dem Zauber 
ſeiner Schönheit und Liebenswürdigkeit, hatte ihn in 
der Seele ihres Freundes angebetet und die Hoffnung 
des Vaterlandes in ihm verkörpert geſehen. Auch 
dieſe war nun hinweggenommen, ſo ſchien es ihr, 
mit ſeinem heldenhaften Tode, wie aller Glanz 
und Sonnenſchein von dieſer Erde! Mit ſeinem 
Prinzen mußte auch Haſſo gefallen ſein — er konnte 
und wollte ihn nicht überleben, das wußte ſie gewiß. 
Und doch hoffte ſie und betete für ſein Leben und 
ſeine Wiederkehr mit aller Inbrunſt ihrer jungen 
Seele. Wie ein ſcheues Wild, in den ſtillſten Winkel 
geflüchtet, vertrauerte ſie ihre Tage. Schon der 
Blick aus dem Fenſter bereitete ihr grauenhaftes 
Entſetzen, denn er bot ihr den ſteten Anblick des 
napoleoniſchen Heeres. Viele Generale der Garden 
wohnten dort in der Nähe — täglich wurden die 
Adler am Hauſe vorübergetragen. Die ganze Wilhelm— 
ſtraße entlang reihten ſich dieſe weltberühmten 
Grenadiers de la Garde mit dem ſelbſtbewußten 
Ausdruck des unbezwinglichen Siegers in Haltung 
und Mienen. Auf und ab wogte das Meer ihrer 
feuerroten Federbüſche, hallte das widerlich heulende 
franzöſiſche Kommando, der helle Klang ihrer 
Trommeln, unausgeſetzt oft, von früh bis ſpät. O, 
es war eine Folter für jedes deutſch ſchlagende Herz. 

Entſetzlich waren die Schilderungen von dem 
Auftreten Napoleons und ſeiner Marſchälle. In 
Potsdam ſchon empfing der Kaiſer die Deputation 
des Berliner Magiſtrats. Und unwillig, nur dieſe 
und nicht auch eine Abordnung des hohen Adels vor 
ſich zu ſehen, ließ er ſie den ganzen Zorn ſeiner Laune 
fühlen und verſchmähte es nicht in den roheſten Aus— 
fällen ſelbſt über den König und die Königin ſich zu 
ergehen. 

„Pourquoi avez-vous permis aux otficiers des 
Gardes, de casser les fenetres de Monsieur de 
Haugwitz?“ war die erfte Frage, mit ber er fie 
anjchnaubte. „Mon cousin Frederic Guillaume avait 
cesse de regner, des le moment qu’il a manque 
de faire pendre le prince Louis pour cette cause la!“ 

Mit grenzenlojem Entjegen hörte Renate durch 
einen Herr der Deputation dieje Worte ihrem Vater 
wiederholen. Sie allein wußte ja, wer jenen wilden 
Knabenftreih an den Senftern des Grafen Haugmiß 
vollbradt, wußte am beiten, daß Prinz Louis und 
der Berliner Magiftrat unjhuldig daran waren und 
wie dies VBorfommnis ihrem Freunde einit den erften 
Unwillen feines geliebten Prinzen eingebradt. — 
Sie kam fi vor wie eine Mitjchuldige den Drohungen 
Napoleons gegenüber. 

Neue Schredensfunden liefen ein, der Fall all 
der Seftungen nacheinander: Magdeburg, Erfurt, 
Stettin, Küftrin — dann die Kapitulation des 
SHobenloheihen Korps bei Prenzlau. 

Prinz Auguft, Louis Ferdinands Bruder, hatte 


Roman von Hans Werber. 





154 








ih tapfer gegen die anftürmenden franzöfiichen 
Dragoner verteidigt. Bei Brenzlau, an der Uder 
entlang, verjuchte er darauf fein Grenadier-Bataillon 
in Sicherheit zu bringen, doch vergebens. Gräben, 
Sümpfe und Moräjte binderten fein Vorbringen, 
Ipotteten aller Anftrengungen und machten die Rettung 
unmöglid. Der Prinz hatte fein Pferd am Zügel 
geführt. E& war Slop, der engliihe Renner, der 
feinen Heldenbruder Yudwig auf dem Tobesritt in 
der Saalfelder Schleht getragen. Das edle Roß, 
die Schmad ber Gefangenihaft ahnend, riß fih [os 
und fprang in die Uder hinein — Freiheit oder 
Untergang.*) Vielleicht daß fein toter Herr es ge- 
rufen — zum Ritt nah Walhalla. 


Gefangenichaft war nun das %08 des tapferen 
Prinzen. Er wurde von Prenzlau nad) Berlin ge- 
bradt. Ohne Hut, mit zerfeßter Uniform und ab: 
geriffenem Orden, wie er war, mußte er vor dem 
Raifer eriheinen. Und troß diejes elenden Aufzuges 
ein Fürft vom Scheitel bis zur Sohle, in edler, 
würdiger Haltung, fland der junge Hobenzoller vor 
dem rohen Groberer, der ihn mit übermütigen 
Schmähungen empfing. 

„Haben Eure Königlihe Hoheit fi jekt Die 
Kriegshige ein wenig abgekühlt?” Tpöttelte der Kaijer. 
„Sie hat Shnen und Khrem ‚Bruder Louis lange 
genug den Kopf verbreht! Xhm hat fie den Kopf 
gekoftet! Und Sie, Monfeigneur —” Jein DBlid 
mufterte mit vieljagendem Ausdrud die junge Krieger: 
geftalt vom Kopf bie zu dem verwundeten Fuße. 


„Verwechſeln mich Eure Majeltät bitte nicht mit 
denen, welche bie Kapitulation von Prenzlau ab: 
geichlofien haben!" war Prinz Augufts alte Er: 
widerung. Napoleons Übermut vermochte folcher 
Haltung gegenüber nur jelten Triumphe zu feiern. 
Er z30g alsbald höflichere Seiten auf und verficherte 
den Prinzen feines Reſpektes vor der bewiejenen 
Tapferkeit. 

Mit ewigen Lettern fiehen alle die Worte im 
Schidjalsbuch verzeichnet, durch welche der plebejiiche 
Eroberer unfer Königshaus zu verunglimpfen gewagt! 
Die Vergeltung ijt über jein Haupt dahingegangen 
wie ein eijerned® Rad, das ihn zermalmt hat, 
mitten in der Laufbahn feines bimmelftürmenden 
NRuhmes! — — 

„Bott fei gelobt, daß Prinz Kouis in der Schlacht 
gefallen ift!” rief Herr von DBeldegg, als er biefe 
Geihichte vernahm. Und Renate ftimmte ihm im 
Herzen bei. Biel taufendmal befier für den Königs- 
adler der ehrenvolle Schlachhtentod, als jo entweiht, 
zerfeßt, geihunden das Linerträglide zu überleben. 

Und er hätte e8 doch nicht überlebt! XLießen 
Ihon des eigenen Xebens Kümmernifje jo oft in ihm 
den Wunjch entbrennen, des heißen Herzens Schlag 
zu ewigem Schweigen zu bringen, wie hätte er jo 
Ungeheures ertragen jollen — des ganzen großen 
Baterlandes Sammer und Schmad) zulammengepreßt 
in der eigenen Bruft, wie ein Brennglas das 
Himmelsfeuer in fih zujammenfaßt. Es mußte 


Hiſtoriſch. 





155 Schwertklingen. 


darunter brechen — heilig glühend Herz! Wohl ihm, 


daß es vorher ſeinen letzten Schlag gethan. 

Wie groß aber mußte das Unglück ſein, daß 
dieſer tiefbetrauerte Verluſt des Helden dagegen als 
ein Troſt erſcheinen konnte! 


Schwere Trübſal bereitete auch überall das 
Geſchick der tapferen Gendarmes. Das Regiment 
hatte ſich zwiſchen den Seen von Boitzenburg gegen 
die Übermacht der Franzoſen gewehrt, und ſich 
ſchließlich übermüdet und verſchmachtet nach Wolfs— 
hagen hin zu retten vermocht. Endlich mußte es 
ſfich doch ergeben und wurde — eine verzweifelte 
Schar Gefangener — nach Berlin transportiert. 
Zu Fuß, teilweis ohne Stiefel und Hüte, wie eine 
Herde, trieb man die Reiter durch die Stadt. Das 
Offizierlorps die Linden entlang, nach dem Luft: 
garten bin, wo der Kailer gerade die Parade über 
jeine Fußgarden abhielt Dort mußte au das ge: 
Ihlagene, einft jo ftolge Regiment in feinem jammer: 
vollen Aufzuge an ihm vorbeidefilieren. Hinter dem 
Dom blieben fie ftehen, der Befehle des SKaifers ge: 
wärtig, und ftundenlang ließ man fie warten. General 
Duroc, der in dem Major von Schad einen alten 
Belannten aus fröhlichen Zeiten in Paris wieder: 
erfannte, ritt heran und bot ihm feine Dienfte und 
feine Börfe an. Herr von Schad lehnte die Freundlich: 
feit dankend ab. „Wollen Sie fih aber gütigft 
unjerer alten Beziehungen erinnern,” fügte er hinzu, 
„jo bitte ich Sie für mich und alle meine Kameraden 
um die eine Gunft: Sagen Sie dem Sailer, er 
möchte Barmherzigkeit üben und uns alle im Hofe 
des Schloſſes erſchießen laſſen!“ 

Duroc ritt an den Kaiſer heran und überbrachte 
ihm die Bitte der Unglücklichen. „a Spandau!“ 
war ſeine kurze und kalte Antwort. 

Und nach Spandau zu ging der Zug die Linden 
entlang. Einen Monat war es her, als ſie den— 
ſelben Weg geritten, zum Brandenburger Thor hin— 
aus, glänzend in ſtolzer Siegeshoffnung! Damals 
begleiteten ſie die Hurrarufe der frohen Menge, 
jetzt trafen höhniſche Zurufe, grauſamer Spott ihr Ohr. 
An ihren verſchloſſenen Wohnungen kamen ſie vor— 
über, doch durften ſie nicht hinein, nicht eine Minute, 
um ſich mit friſcher Kleidung, Wäſche und Geld zu 
verſehen. 

Unter die Menſchenmenge, welche die Offiziere 
vorüberziehen ſah, drängten ſich die Frauen derſelben, 
um ihren Männern nach Möglichkeit einen Gruß 
oder irgend einen Troſt zu ſpenden. In vorderſter 
Reihe ſtand Lotte Rochlitz und ſchaute ſie an, die 
müden, gequälten Geſichter, von Schweiß und Staub 
entſtellt, die den Stempel hoffnungsloſer Verzweiflung 
trugen, eins wie das andere! Sie ſchaute und ſuchte. 
Da fand ſie das Antlitz ihres Gatten — war er 
das wirklich? Er ſah auf, von ihrem flehenden Blick 
gefeſſelt, und ſah ſie an aus matten, eingeſunkenen 
Augen. Er ſchrack nervös zuſammen, als er ſie er— 
kannte und öffnete die trockenen Lippen, als wollte 
er ihr zurufen. Lotte ſchob ſich gewaltſam zu ihm 
heran und griff nach ſeiner Hand. Er erfaßte die 
ihre und preßte ſie kurz und heftig. „Kannſt Du 


Roman von Hans Werder. 


mir helfen, Geliebte, mir Geld und Wäſche ſenden — 


156 


ich bin wie ein Bettler! Nach Spandau!“ 

„Ich werde thun, was ich kann, Hilmar!“ ſie 
ſchob ein Täſchchen in ſeine Hand, das ihre ganze 
Habe enthielt. Dann ward ſie zurückgedrängt, von 
dem Zuge getrennt und bahnte ſich mühſam den 
Weg zu der Stelle hin, wo ihr Vater ſie erwartete. 
Mit ihm kehrte ſie in ſein Haus zurück, doch Lebens— 
mut und Glückeshoffnung hatte ſie draußen gelaſſen. 
Hilmars verftörtes Antlig und der Blid der Ver: 
zweiflung in feinem Auge ftanden vor ihrer Seele 
bei Tag und Nadt. Sie wußte, daß des Pater: 
landes Unglüd ihr eigenes Lebensglüd zerbrochen, 
in der Wurzel vernichtet hatte! 


* * 
X 


Um dieſe Zeit drang die Kunde von der Schlacht 
bei Jena auch in das ſtille Herrenhaus von Reckentin. 
Der Pfarrer Zürn war nach der Stadt gefahren, 
und als er abends zurückkehrte, ließ er ſein ſtroh— 
durchflochtenes Wägelchen zuerſt vor dem Neuen 
Hofe halten. 

„Iſt der gnädige Herr zu ſprechen?“ rief er 
mit ſeiner hellen Stimme hinauf. 

Der alte Seydlitz-Dragoner ſaß ſtill auf dem 
Kanapee in ſeiner behaglichen Kemnate und dampfte 
aus kurzer Pfeife gemächlich die Rauchwolken vor 
ih hin. Draußen wehte kalter Herbfiwind. Dann 
Ihmerzte ihn die alte Kunersdorferr Wunde und 
feine Gedanken wanderten zurüd in vergangene 
berrlihde Tage voller Schlahten und Todesgefahr, 
vol Sieg und fühner Abenteuer, die unvergeßlichen 
Zeiten des alten Srig! Und diefe Tage Jollten ich 
jeßt erneuern! Die Armee des großen Friedrich 
tand dem Feinde gegenüber, demjelben ‘einde, der 
einft bei Roßbach vor ihnen hergetrieben wurde! — 
est war jein Sohn mit darunter, fein einziger 
Sohn, und lernte, was es hieß, zu fämpfen für 
König und Baterland, und zu fiegen. 

Ein Lächeln ging über des alten Striegers Ge— 
ficht, als er die Stimme des Pfarrers erkannte. a, 
er Jollte nur fommen, der teilte feine Kriegsbegeifterung 
und feinen Siegesmut, und ließ fih jo gern immer 
wieder die alten Geichichten erzählen! 

Aber das Lächeln verging ihm, als der Pfarrer 
bereintrat. „Himmelfreuzgewitter — Herr Pfarrer, 
was maden Sie für ein Gelihte? Wo waren Sie, 
was bringen Sie für Kunde?” 

„5% war in der Stadt, Herr Oberfitwacdhtmeilter, 
und ich bringe böfe Kunde! Der Herr bat fein 
Angeiht im Zorne von uns gewendet — hat ung 
in die Hand der Feinde gegeben!” 

„Der — Feinde —” die Hand des Dragoner: 
majors padte mit frampfhaftem Griff den Arm des 
Pfarrers. 

„Hier — lejen Sie jelber, mas die Blätter be- 
rihten! — Uniere Armee ift bei Sena und Auerftädt 
aufs Haupt geichlagen — der König geflohen!” 

„Das ift nicht wahr!” brüllte der Major. „Unfer 
König — unfere Armee — geichlagen — das Heer 
des alten Frig! — Sie lügen, Herr — die Zeitungen 


157 Schwertllingen. 
lügen — hören Sie mid? — Es ift nicht wahr, 
ſage ich Ihnen!“ 

Erſchüttert faltete der Pfarrer die Hände. „Des 
Herrn Zorn iſt ſchrecklich über uns entbrannt! Seine 
Fluten gehen über unſer Haupt daher!“ murmelte 
er — „Kyrie eleiſon — Herr erbarme Dich!“ 

Währenddeſſen aber las Herr von Rochlitz mit 
ſtarren Blicken die Schreckensnachrichten aus den 
Zeitungsblättern. „Geſchlagen! Auch die Garde? 
Mein Gott, das iſt ja nicht möglich, es kann ja 
nicht ſein! Und das Regiment Gendarmes? Das 
kann doch nicht auch geſchlagen ſein — das Regiment, 
bei dem mein Sohn ſteht!“ 

„Das Regiment ſoll bei Prenzlau kapituliert 
haben und gefangen ſein!“ 

„Gefangen — doch nicht das Offizierkorps! 
Wer wagt eine ſolche Verleumdung über das Offizier⸗ 
korps der Gendarmes?“ 

„Man ſagte mir ſo, Herr Oberſtwachtmeiſter — 
das ganze Regiment!“ 

„O Du barmherziger Gott!“ rief Herr von 
Rochlitz aus. „Dann alſo iſt mein Hilmar tot! Denn 
gefangen — gefangen kann mein Sohn nicht ſein!“ 


II. 


Bei Wöhlsdorf, unweit des Schlachtfeldes von 
Saalſeld, lag eine kleine Bauernhütte, einſam, unter 
Waldbäumen halb verſteckt und deshalb vom Schlacht— 
getöſe verſchont geblieben. Die beiden alten Leutchen, 
die darin hauſten, ſahen ihr Leben gerettet und ſogar 
das alte, liebe Dach über ihrem Haupte unverſehrt. 
Als nun der Kampf vorbei und die Truppen abge— 
zogen waren, wagte der alte Mann ſich zaghaft hin— 
aus, zu ſehen, ob draußen die Welt noch ſtünde, 
deren alsbaldigen Untergang während des ſchrecklichen 
Kanonendonners er als wahrſcheinlich angeſehen hatte. 
Vorſichtig ſpähte er umher. Es lagen Tote und 
Verwundete überall — Freund und Feind durchein— 
ander — und herzzerreißendes Stöhnen und Jammern 
drang an ſein Ohr. „Wenn man hier doch helfen 
könnte,“ dachte der Bauer. „Allen, das iſt ja nicht 
möglich! Aber einigen doch! Ein wenig Leinenzeug 
zum Verband wird meine Alte wohl haben! Ein 
paar von unſeren tapferen Kerlen könnten doch ge— 
rettet werden!“ 

Seine Aufmerkſamkeit ward gefeſſelt durch kläg— 
liches Hundegeheul. Da ſtand ein ſchlanker, braun— 
und weißgefleckter Hühnerhund und verkündete ſeinen 
Jammer in herzbrechenden Tönen. „Sollte die arme 
Kreatur verwundet ſein? Wollen ihr den Garaus 
machen,“ dachte der Bauer und naäherte ſich dem 
Hunde. Doch dieſer lief vor ihm her, ängſtlich zurüd: 
ſchauend, als wollte er ihn bitten, ihm zu folgen. 
Und der Bauer erfüllte die Bitte. 

Unweit des breiten Grabens, an welchem man 
vor einigen Stunden die Leiche des Prinzen Louis 
Ferdinand aufgehoben, blieb der Hund laut auf— 
heulend ſtehen. Ein verwundeter Huſar ſaß hier 
am Boden und hielt in feinen Armen einen jungen 
Offizier, ſeinen Herrn, wie es ſchien. 


Roman von Hans Werder. 


158 


„Helf Er mir, Alter — mein Lieutenant lebt 
noch!“ ſtöhnte der Huſar. 

Der Bauer trat näher und beugte ſich über den 
Offizier. Das Antlitz desſelben war bleich und ſtarr. 
Eine tiefe, klaffende Wunde lief von der Mitte der 
Stirn aufwärts über den Schädel hin. „Ich gebe 
keinen Sechſer für das Leben Seines Lieutenants,“ 
bemerkte er trocken. 

„Sie haben mir das Bein zerſchoſſen, die Ca— 
naillen — ſonſt würde ich ihn tragen!“ ächzte der 
Huſar. „Fides hat ihn gefunden! Helf Er mir, 
Bauer, ich will es Ihm mein Leben lang gedenken!“ 

Der Bauer holte Hilfe und ſo brachten ſie den 
Lieutenant von Rochlitz in die Hütte. Jägers Fritze, 
ſein Burſche, ſchleppte ſich ihnen nach. Seine Wunde 
war nicht gefährlich und er konnte der Bäuerin in 
der Pflege ſeines Herrn beiſtehen. Sie war wohl 
bewandert in der Heilkunde und das junge Blut, 
das da ſo hilflos vor ihr lag, dauerte ſie von Herzen. 


Durch ihre treue Sorgfalt rangen ihn die beiden 


dem Tode ab. 


Eines Tages öffnete Haſſo die Augen. Es 
dauerte lange, bis er begriff, wo er fich befand und 
was Mit ihm geichehen war. Er jah nur, wie Fibes 
jeine Hand ledte und daß Jägers Frige bei ihm 
faß — das war ja zunädft ein ganz wohlthuendes 
Gefühl. Allmählich aber dämmerte eine furdtbare 
Erinnerung in feinem Hirn herauf. 

„Srige, jag’ mir, ob es wahr ift — haben wir 
die Schladht verloren?” 

Srige jenkte den Kopf, als trüge er die Schuld 
an dem Unglüd. „Sa, Herr Lieutenant!” mur: 
melte er. 

„Aber der Prinz — Sag’ es mir, Trike — 
Prinz Louis, mein Herr — ift er noh am Leben?” 

Srige Ichwieg, feine Augen füllten fih mit 
Thränen. Hallo jah eg — und die Erinnerung kam 
ihm wieder, die Erinnerung an den fürdhterlichiten 
Augenblid, den das Dajein mit allen Schrednifien 
der Hölle ihm bereiten lonnte. Bon Entießen ge- 
troffen, fuhr er auf. 

„Prinz Louis ift tot — mein Herr, mein Held — 
und ich lebe noch, wie ift das möglich! Dein Gott, 
warum ftarb ih nit auh — ih darf — ich kann 
ja ohne ihn nicht weiter leben!” Und er griff mit 
beiden Händen nad feinem Haupt, als wolle er den 
a. von jeiner Wunde gemwaltiam herunter: 
reißen. 


Da richtete von einem zweiten Strohlager neben 
ihm ein anderer fih empor und bielt ihm mit feftem 
Griff die Hand. E8 war ein junger Infanterie: 
offizier, Lieutenant Scriver, ben bie alten Leutchen 
gleih ihm in ihr Haus gebracht, mit ihm zujammen 
gepflegt und vom Tode gerettet, der aber früher 
Ihon als Hafjo dur) Genefungsanfänge ihre Mühen 
zu belohnen jchien. 

„Degeben Sie feine Thorheiten, Kamerad,” 
lagte er ruhig. „Wenn wir unjerem herrlichen 
Prinzen dadurdh das Leben wiedergeben könnten, ich 
rifje mir das Herz aus der Bruft, wie Sie! Aber 
da ihm das nicht mehr nügt, jo wollen wir unfer 





159 Schwertllingen. 


König und Vaterland!” 

„Ih wollte ihn Ihügen — was jol ih nun 
auf der Welt!” gab Hallo traurig zurüd. 

„Sie haben hr möglichftes gethan!” erwiberte 
der andere. „Sie hielten $hren Herrn umklammert, 
als wollten Sie au im Grabe nit von ihm laffen. 
%h jah es mit an, ale man Sie losriß von der 
Leiche!” 

Laut ftöhnend warf fih Haflo auf fein Zager 
zurüd. Sm milden yieberphantafien ging abermals 
fein Bemwußtfein unter, ihn befreiend von der Dual 
jeines verzweifelten Schmerzes. Schon fürdhteten 
fie, das junge Xeben würde diesmal nicht anfämpfen 
fönnen gegen die verheerende Slut bes %iebers. 
Endlih jedoh fiegte aufs neue feine Jugendkraft 
über die Gewalt der Krankheit. Das Fieber wich, 
die Wunde beilte. 

Der Sinfanterielieutenant hatte mit feiner Gene- 
jung bereits beilere Fortichritte gemadt. Er ver: 
mochte das Beit zu verlaflen und übte feine Kräfte 
durch Geh: und jelbft Schüchterne Turnverfuche. Haflo 
begleitete ihn dabei mit müden, ungebuldigen Bliden 
aus den krankthaft großen Augen. Der Lieutenant 
fühlte diefen Blid. Er fegte fih auf einen hölzernen 
Schemel in die Nähe des Dfens und beftete feine 
fühlen, hellen Blauaugen mit forfchendem Sinterefle 
auf den franfen Kameraden. 

„Ih will Shnen etwas jagen, Herr von Rodhlig, 
beeilen müflen Sie fich jett, geJund zu werden. Gie 
fönnen es, wenn Sie wollen und es ift hohe Zeit!” 

„Warum meinen Sie da8?” fragte Hafjo mit 
einiger Vermunderung. 

„Weil der König feine Offiziere braucht! Unjer 
braves Bäuerlein bat uns mit Lift und Courage bier 
verftedt gehalten — Dank feinem braven Herzen! 
Aber nun müllen wir fort, Tonft bringen wir uns 
und unjere Gajtfreunde in Gefahr! Der Feind iült 
im Lande, Sie willen noch nicht alles, was geichehen 
ift jeit dem traurigen Tage von Saalfeld — er war 
nur der erite in der Neihe der Unglüdsichläge, die 
uns betroffen haben!“ Er beugte fih zu Hafjo nieder 
und erzählte ihn leife, was er während feiner Kran: 
beitshaft, zumeift Durch den Pfarrer des nahen Dorfes, 
ber die VBermundeten zuweilen bejucht, erfahren, von 
den Schlachten, die das preußilche Heer vernichtet, 
von dem Siegeszuge der Franzojen dur) das zer: 
tretene, gelnechtete Zand. 

Mit zufammengebifjenen Zähnen hörte Hafjo der 
Erzählung zu. Das Herz ftand ihm ftil vor namen: 
Iofem Entjegen. „Sa, ih will gejund werben,” jagte 
er endlid. „Sch danke Shnen, daß Sie mir alles 
gejagt! Aber gehen Sie nit ohne mid! Ein paar 
Tage gedulden Sie fih noh, dann komme ich mit 
Ihnen!“ 

Nach einigen Tagen verließen die drei Schickſals— 
gefährten zuſammen das ſchützende Obdach. Der 
patriotiſch geſinnte Pfarrer, der an den Verwun— 
deten that, was er konnte, ließ ihnen auch jetzt nach 
Kräften Hilfe angedeihen. Zunächſt verfchaffte er 
ihnen die zur Flucht notwendigen Kleidungsſtücke. 
So gingen ſie denn gut ausgerüſtet aus dem Häuschen 


Roman von Hans Werder. 





160 


Leben bewahren, um es nochmals einzuſetzen für hervor, der ſchlanke hagere Scriver als ehrſamer 


Schulmeiſter, im langen, ſchwarzen Rock, mit leicht⸗ 
gebeugter Haltung, eine Brille auf der Naſe. Jägers 
Fritze als Bauersmann verkleidet, und Haſſo, der 
Kleinere, als deſſen Sohn. Die verräteriſche Wunde, 
mit dem ſchwarzen Heftpflaſter auf der Stirn, war 
durch eine tief herabreichende Perücke verdeckt, unter 
der das magere, verwegene Geſicht ſeltſam genug 
hervorſchaute. Jetzt, da er die große Körperſchwäche 
des Blutverluſtes und Fiebers glücklich überwunden, 
war ihm ſein todverachtender Mut und ſein aben— 
teuerſuchender Übermut zurückgekehrt. Es durchglühte 
ihn der heiße Wunſch, mitzuhelfen an der Vergeltung 
und zu retten, wo noch zu retten war. 

So wanderten die drei quer durch das vom 
Feinde beſetzte Land, von Saalfeld nach Schlefien. 
Es war ein gefahrvolles Wagnis für preußiſche 
Offiziere. Sobald ſie den geringſten Verdacht er— 
regten, waren ſie verloren. Nicht nur durch die 
Franzoſen allein drohte ihnen Gefahr. Sie hatten 
auch alle Urſache ſich in acht zu nehmen vor jenem 
großen Teil der Einwohnerſchaft, die, knechtiſch 
kriechend vor dem ſiegreichen Feinde, bereitwilligſt 
ihr Vaterland und ihre Brüder verriet. Und ſchwerlich 
wären ſie unbeargwohnt hindurchgekommen. Doch 
Haſſo mit ſeiner Geſchmeidigkeit und ſeinem merk— 
würdigen Talent ſpielte den thüringiſchen Bauern— 
burſchen in Sprache und Manieren ſo täuſchend, 
durch die unbefangene Dreiſtigkeit ſo verblüffend, 
daß man die Wanderer ungehindert überall paſſieren 
ließ. Die beiden Genoſſen, nicht geübt in dieſer 
Mimenkunſt, ſchwiegen fein ſtill und ließen ihren 
„Jüngſten“ für ſich reden. 

In Schleſien hielt General Graf Götzen noch 
das Feld gegen die aus Kontingenten des Rhein— 
bundes beſtehende Armee des Prinzen Jérôme Bona— 
parte, der die Feſtungen belagerte. Schweidnitz war 
noch nicht eingeſchloſſen und dorthin gingen die drei. 
In dem Vorterrain der Feſtung gab es tägliche Ge— 
fechte und mit Hochgenuß meldeten ſich die Saal— 
felder Flüchtlinge dort zum Dienſt. „Gott ſei Dank,“ 
ſagte Haſſo, als er zum erſten Mal wieder in preußi— 
ſcher Uniform die Glieder dehnte. „Es iſt keine 
Kleinigkeit für einen pommerſchen Junker und Ru— 
dorff-Huſaren, ſich als thüringiſcher Bauernlümmel 
durch die Welt zu ſchlagen!“ 

Ach, es waren herrliche Tage, da man wieder 
fechten konnte im offenen Kampf gegen den ver— 
haßten Feind — den Tod ihm entgegenſendend, und 
ſelber dem Tode ins Angeſicht ſchauend. 

Doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange. Die 
Feſtung wurde cerniert, das Bombardement begann. 
Der Kommandant erklärte ſich außer ſtande, wegen 
Mangel an Lebensmitteln und Munition, eine Be— 
lagerung durchzuhalten. Es gebrach ihm am rechten 
Vertrauen in ſeine heilige Sache. Es gebrach ihm 
an Umſicht und Überſicht, an Seelenſtärke und dem 
Mut der Verantwortung, der allein befähigt, ſolchem 
entſcheidenden Poſten vorzuſtehen. 

Er kapitulierte. 

Entwaffnung der Truppen, Überführung in Ge— 
fangenſchaft! — ſo lautete die Übergabe-Konvention. 





ED 


161 Schwertklingen. 

Starr vor Wut und Entſetzen hörte Haſſo dieſen 
Beſchluß. „Das mache ich nicht mit!“ erklärte er. 
„Ich bin hierhergekommen, die Feſtung verteidigen 
zu helfen, aber nicht in Gefangenſchaft zu gehen. 
Das hätte ich früher haben können! Mögen ſie mich 
über den Haufen ſchießen oder ſonſt mit mir machen 
was ſie wollen — aber das thue ich nicht!“ 

„Und wie wollten Sie ſich dieſem Verhängnis 
entziehen?“ fragte Richard Scriver geſpannt. Er 
ahnte bereits, daß Rochlitz etwas ganz Beſonderes 
im Schilde führte. 

„Ich entziehe mich der Übergabe-Konvention, 
ich kapituliere nicht mit! Wenn die Namen der 
Offiziere aufgerufen werden, die ihre Säbel abzu— 
geben haben — ich bin nicht dabei! Prinz Louis 
kannte nur eine Antwort, als man ihm ſeinen Degen 
abverlangte — ich folge ſeinem Beiſpiel und wenn 
ſie mich in Stücke hacken!“ 

„Ich auch!“ ſagte Scriver. „Ich thue mit, 
was Sie thun. Beſſer, wir ſterben zuſammen einen 
ehrlichen Soldatentod, als dieſer Höllenbande zum 
Opfer zu fallen. Das Gaudium wollen wir ihr nicht 
bereiten.“ 

„Weiß Gott, ſie hat ohnehin Gaudium genug!“ 
knirſchte Haſſo vor ſich hin. „Wir wollen wenigſtens 
nicht die Muſik dazu machen! — Aber Fritze — 
was thun wir mit dem?“ 

„Ihren Fritze müſſen Sie ſeinem Schickſal über— 
laſſen,“ entſchied Scriver. „Das, was wir beide 
vorhaben, kann nur ein Mann aus eigener, freier 
Initiative unternehmen und vollbringen, um ſeiner 
ſelbſt und um der Ehre und Überzeugung willen! 
Kein Diener aber aus Liebe zu ſeinem Herrn, kein 
ſchlichter Soldat, der all ſeine Kameraden ſich willig 
und anſtandslos ergeben ſieht!“ 

„Mag alles ſein, aber ſchade iſt es doch um 
ihn!“ brummte Haſſo. „Könnten wir uns nicht zu 
dreien ebenſogut durchhelfen?“ 

„Nein, ſicher nicht Glauben Sie mir nur 
diesmal, Rochlig, im übrigen will ih mich ja blind 
Shrer Leitung anvertrauen!” 

„Bis auf die Momente, wo Sie felber die 
Leitung übernehmen!” gab Hafjo lahend zurüd. 

Die beiden Herren jaßen gemütlich zufammen 
in dem warmen und gut eingerichteten Wohnzimmer 
des reipeftablen Bürgerhaufes, in dem fie Quartier 
genommen. XTherejel, die hübjdhe rotwangige Magd, 
trug joeben auf dbanıpfender Schüflel das Mittageflen 
herein, welches der Lieutenant von Rochlig mit wohl: 
gefäligen Außerungen begrüßte. Bald erjchien der 
Hausherr, der behäbige Drechslermeilter Lamprecht, 
und fein Sohn und Gefelle, ein Stil und nüchtern 
dreinichauender SZüngling. Eine Hausmutter mar 
nicht vorhanden. 

„Willen die Herren Ihon — wir Fapitulieren!” 
rief der Meifter mit Wichtigkeit. „Ach, jammer: 
Ichade ift es um unfere jchöne, ftolze Feitung, daß 
fie ar doch dem Franzmann in die Hände fallen 
muß!” 

„Wir kapitulieren —” wiederholte Hafjo. „Wenn 
Ihr das thut, mein braver Meifter, ich thue es 
teinesfals! Wenn wir mit franzöfiicher Gefangen: 


RomansZeitung 1896. 


Roman von Hans Werder. 


Ihaft unfere Raufbahn beenden wollten, jo hätten 
wir das bequemer haben können, mein Kameradb und 
ih, ohne diefe mühlame Reife nah Schweidnig zu 
vollführen!” Er war während biejer Worte dem 
Beilpiel feines Wirtes gefolgt und hatte an dem 
jauber gededten Tiih Pla genommen, bieb aud 
mit Fräftig gejundem Appetit in die mwohlgefüllte 
Ecüjlel ein. 

„Sa, aber was wollten Sie thun, Herr Lieute- 
nant?” entgegnete der Meifter. „Uns allen mwirb’s 
wohl jauer genug! Eine Weile, dente ih, hätten 
wir uns noch halten können. Aber jchließlid — 
auf Entfag durfte man nicht rechnen bei diejen Zeit: 
läuften, und wenn uns dann die Häufer über dem 
Kopf eingeihollen worden, wenn die Lebensmittel 
zu Ende gingen und Hungersnot ausbrad, wie weiland 
in dem belagerten Serufalem —” er Yielt inne bei 
den fhaubervollen Bildern, die in feiner Seele herauf: 
fiegen und blidte feufzend an feinem ftattlichen Leibes⸗ 
umfange bernieder. 

„Bor der Hungersnot & la Sjerufalem jeib hr 
diesmal bewahrt geblieben,“ bemerkte Richard Scriver. 
„Sm übrigen aber werden bie Franzofen Euch bald 
bemweifen, wozu Eure reipeftablen Vorräte von Naß 
und Troden gut find, darauf fünnt Shr Euch ver: 
laflen, mein werter Meifter!” 

„Ach Gott, ach Gott, diefe Franzofenmwirtichaft! 
Herr Lieutenant, wenn ih Rat Schaffen könnte!” 

„Nat Ichaffen gegen Kapitulation und Einquar: 
tierung, das könnt hr nicht, Meifter!” nahm Haflo 
wieder das Wort. „Uns beiden aber helfen bei dem, 
was wir vorhaben, das fünnt Shr gewiß!” 

Rihard Ecriver blidte nachdentlih auf feinen 
Teller nieder, die drei anderen aber ftarrten dem 
Spredher mit weit aufgerifienen Augen der Neu: 
gierde ins Gelidht. 

„Shr drei gerabe müßt ja in unferem Bunde 
fein,” fuhr Haffo fort, „jeder von Euh muß aus: 
helfen und einverftanden fein, darum Tann ih mid) 
jegt gleich darüber äußern. Wir beide, Herr Lieute: 
nant Ecriver und ich, entziehen uns der Kapitu: 
lation, wir geben uns nicht gefangen! Wollt hr 
uns in Eurem Haufe verbergen, Meilter?” 

Dem Meifter fiel vor Schred das Meiler aus 
der Hand. „Herr Lieutenant — —“ er erftarrte in 
Entjeßen. 

„Das geht niht — ad) Gott, Herr Lieutenant, 
das geht nicht!” flüfterte der Sohn aus beflommener 
Kehle. Therejel aber fchaute den Lieutenant an. 
Was hätte fie nicht für ihn gethan, und wenn’s das 
junge Leben gegolten hätte! Wie freundlich begeg- 
nete er ihr ftets. Und wie verftand er zu erzählen! 
Solche ſchnurrigen Geſchichten und ſolche kurioſen 
Einfälle, dergleichen hatte Thereſel in ihrem Leben 
noch nicht gehört. Auch ſolche Augen hatte ſie noch 
nicht geſehen. Es gab keinen Panzer, oder wenigſtens 
die Thereſel hatte keinen, der ihr Herz vor dem 
dunklen, ſchimmernden Blick dieſer Augen hätte ſchützen 
können. Wie ſie nun aufſchaute, begegnete ſie ſel— 
bigem Blick. 

„Aber Anton, ſeid nicht ſo ängſtlichen Gemütes!“ 
gab fie auf den verneinenden Seufzer des Meilter: 


IV, 12 


162 


— 


163 Schwertllingen. 
lohnes zurüd. „Warum jollten wir die Herren nit 
verfteden können! In biefem großen Haus wird 
Doch wohl Plat genug jein?” 

„Schweige Sie, Therejel!” verwies ber Meifler 
die Vorlaute. „Sie weiß nicht, was Gie Ipridt. 
Wenn nachher das Haus voll franzöfiiher Einquar: 
tierung ftedt, wo jollte da wohl Plag fein, zwei 
preußiihe Offiziere zu bergen, jo daß der Feind fie 
nicht findet?“ 

„Dben auf der Bodenfammer, Meijter!” ent: 
gegnete Therefel unverzagt. „Wenn wir bie Herren 
. unter dem Gerümpel verfteden, findet fie feine 

abe!” 

„Und wenn bie Kate fie dennoch findet — und 
e8 geht den Herren ans Leben — uns vielleiht an 
den Kragen? Nein, nein, To gerne idh’s thäte — 
zwei eble, tapfere Offiziere — jo liebensmwürbige 
Herren!” Er jchwieg. Desgleihen auch jein Sohn. 
Herr Richard Scriver lächelte vieljagend. Haflo und 
Therejel taufchten einen Blid miteinander, und ver: 
ftanden fi. 


ID. 


Die Feltung Schweidnig hatte Fapituliert. Der 
Trommelwirbel der fiegreiden Truppen ballte burd) 
die Straßen der Stadt — der Feind war darinnen 
und begehrte Quartier in den friedlichen Bürger: 
bäufern. Zum Glüd waren e8 zumeift Deutjche, 
gemütliche Württeımberger, darum war das Entjegen 
nicht jo furdtbar, wie die franzöfifchen Sieger es 
um filh zu verbreiten pflegten, mit denen feine Ver- 
ftändigung möglid war, welde kein Erbarmen 
kannten. 

Das preußiſche Beſatzungsheer wurde entwaffnet, 
um dann in die Gefangenſchaft abgeführt zu werden. 
Die Zahl und Namen der Ojfiziere wurden feſtgeſtellt. 
Zwei darunter fehlten, die Lieutenants Scriver und 
von Rochlitz waren nicht zur Stelle. Der Kommandant 
zog Erkundigungen ein, doch ohne jeden Erfolg. In 
ihrem Quartier beim Drechslermeiſter Lamprecht 
waren ſie ſchon ſeit früh morgens nicht geſehen worden. 
Der Meiſter ſelber und ſein Sohn durchſtreiften die 
Stadt, ſie zu ſuchen, wobei das böfe Gewiſſen ihnen 
die hellen Schweißtropfen der Angſt auf die Stirn 
trieb. Die beiden Offiziere mußten deſertiert, auf 
unbegreifliche Weiſe entkommen ſein, daran war kaum 
zu zmweifeln.*) 

Wieder jchallte Trommelmwirbel durch die Straßen 
der Stadt. An ben Eden, auf den ‘Bläten verlas 
man eine Orbre des franzöfiihen Kommandanten 
von Schweidnig. Die Lieutenants von Rodhlik und 
Ecriver wurden als Tonventionsbrüdig für vogelfrei 
erklärt. Auf ihre Einlieferung ward eine Belohnung 
gejegt, ein Unterftügen ihrer Flucht mit jchwerer 
Strafe bedroht. Sie felbft waren verurteilt, ftand- 
rechtlich erichoflen zu werden, und Batrouillen durd- 
zogen die Stadt, um die Delinquenten einzufangen. 


*) Alles wirkliche Erlebniffe nach den Aufzeichnungen des 
betreffenden Offiziers. 


Noman von Hans Werder. 





164 








Hoch oben unter dem Biegeldah des Lam: 
prechtichen Haufes, Hinter einem Bretterverichlag, der 
dem Urväter-Hausrat zur unmwandelbaren Herberge 
diente, vergraben unter zerbrochenen Möbeljtüden, 
altem Eijen und anderen wertlofen Uberbleibjeln 
einer einft nüglihen Vergangenheit, lauerten die 
zwei preußijchen Difiziere, deren Xodesurteil unten 
auf der Straße verfündigt wurde. Dab Menichen 
unter diefem Gerümpel verborgen lagen, war nicht 
leiht anzunehmen, ja man konnte es nicht einmal 
für möglich halten. Wären die beiden nicht ſo ſchlank 
und geichmeibig gewejen, jo war e8 eben auch eine 
Unmöglidleit. Ein Fenfter bejaß der Raum nicht, 
doch zwilchen den Elapprigen Ziegeliteinen jchimmerte 
der belle Tag bindurd. Auch Kälte, Wind und 
Regen verhießen auf dieſem Wege zu ihnen herein: 
zudringen. Aber ebenjo der Schall von ber Straße 
ber, die fchnarrende Stimme der DOrdonnanz, melde 
das Todesurteil über die Flüchtlinge verlas, man 
hörte jeden Ton, verftand jede Silbe. Mit angehaltenem 
Atem laujchten die beiden. E& war immerhin inter: 
ejlant, was fie da zu hören befamen. 

„Seriver,” flüfterte Hafjo, „iegt bin ih SZhnen 
dankbar, daß Sie mich verhindert haben, meinen 
FSrige mit bier hereinzuziehen! Yh fühle mid 
zwar höliich behaglich in diejem lieblichen Quartier — 
aber die Verantwortung möchte ich denn doch nicht 
auf mich nehmen für einen, der fih um meinetwillen 
da bereinbegeben!”  * 

„Auch mödte ih wohl willen,” fette Scriver 
binzu, „wo ein dritter bier no Pla finden Jollte, 
ohne uns alle drei bemerkbar zu maden. Enger 
eingeihacdtelt al& wir beide hier, das vermag meine 
Phantafie nur jhwer fih auszumalen!” 

„Richard,“ fragte Hafjo leile, „it es Shnen 
auch wahrhaftig nicht leid, daß Sie fi) zu diefem 
Streih haben überreden lallen? ch möchte nicht 
gern jemand auf dem Gemwillen haben! Es ift eine 
faule Sade, wenn man nicht mit ganz unbejhwertem 
Herzen in fol einen Scherz bineingehen Tann!“ 

„Hören Sie, Rohlig, jett will ich Ihnen etwas 
lagen! Sie haben diefe Frage jhon einmal an mid) 
geitellt und nun habe ich’s fat. Ach wußte genau, 
was ich that, als ih auf Ihren Vorſchlag einging. 
Ein Zurüd giebt es nicht mehr für uns, nur ein 
Vorwärts und Zufammenhalten ohne Zweifeln und 
Fragen, mit feftem Verlaß einer auf den andern, 
bis in den Tod, oder in die Freiheit!” 

„Schlagen Sie ein!” ergänzte Haflo, ihm die 
Hand binhaltend. Es war eine fühle, feite Männer: 
band, weldhe den Drud der feinen erwiderte. — 

Unten in der Wohnftube faß an dem mohl- 
befannten Eptijch die feindliche Einquartierung, zwölf 
Mann an der Zahl, und ließ fih fchmeden, was 
Therejel gekocht hatte. Dieje ftand am Herd und 
blidte trüben Auges in die Flammen. Den Riegel 
der Küchhenthür hatte fie vorgejhoben. Anton trug 
die Speifen für das fremde Kriegsvolf hinein, denn 
Meiſter Lamprecht wünſchte diefem den Anblid der 
hübſchen Dirne jolange als möglich vorzuenthalten. 
Sie war jehr froh darüber. Auch fie hatte die in 
den Straßen verlejene Ordre mit angehört und ihre 


165 Schwertllingen. 
Seele war voll Angft und Sorge um bie beiden, 
die fie unter ihre Dbhut genommen, um „ihren“ 
Lieutenant zumal. 

Der Meifter aber faß auf feinem Bett in bem 
Kämmerlein, das er bei der jetigen Raumbebrängnis 
mit feinem Sohne teilte, und rang die furzen bdiden 
Hände in Angit und Verzweiflung. „Ans Leben 
wird e8 mir gehen — nit nur den armen Herren, 
auh mir! Ah und mein Sohn Anton! Hätte ich 
do den Unfug nicht geduldet! Wenn ich nur ge: 
wußt hätte, daß die Sadhe jo barbariich ernft ge- 
nommen würde! Todesftrafe! Ach, hätte ih doh — 
nun ift es zu ſpät — ad, hätte ich doch!“ 

Der jugendblide Anton fam bereingejchlichen, 
anzufhauen wie die wandelnde Betrübnis, und nahm 
an feines Vaters Seite auf dem Bettrande Pla. 

„Vater, fie reden von nichts als von unjern 
beiden Lieutenants! Die Hausjuchungen follen morgen 
nod einmal und gründlicher vorgenommen werben! 
Wenn fie die Herren finden — Bater, ac, Vater, 
dann ifl’s um uns geihehen!” 

Die Angflichkeit feines Sohnes erwedte in ber 
Bruft des Baters einen Heldenmut, der folange 
nicht zu Tage getreten, aljo vermutlich in derjelben 
geihlummer. „Schweig und rede Di nicht in 
unnötige Bejorgnis hinein! Daß wir die Harmlojen 
Ipielen und nit dur Armejündermienen Verdacht 
erregen, darauf allein fommt es an! Nimm Dich 
zulammen, Sjunge, und behalte den Kopf oben! 
Können wir jo viel nicht einmal thun für unjeren 
König,” fuhr er mit immer wahljendem Tapferleits- 
bemwußtfein fort, „daß wir ihm zwei fo brave Dffiziere 
zu retten verjucdhen, dann find wir’s auch nidht wert — 
nun, wie fol ich glei jagen — preußilche Zandes- 
finder zu heißen! — Über nun höre, Anton, dies 
ift das lette Mal, daß wir darüber reden! Die 
Wände haben Ohren. Wir müflen dies — Pad 
(feine Stimme dämpfte fi unwilfürlid) nun im 
Haufe dulden, fie haben die Macht, aljo find wir’s 
unferer eigenen Haut jhuldig, mit peinlichiter Vor: 
fiht und Kaltblütigleit aufzutreten!” 

Anton Zampredt nidte trübjelig mit dem Kopfe. 
Er glaubte, was fein Bater jpra und war zu jeder 
Art von „peinlichiter VBorficht” bereit, darüber Tonnte 
gar fein Zweifel auffommen. 

„Wenn Deine Mutter felig noch lebte,” begann 
ber Vater aufs neue, „jo fönnten wir bie Sade 
nimmermebr verjhweigen! Ohne ihr nahetreten zu 
wollen — fie war eine brave Frau! Gott hab’ fie 
jelig, aber den Mund zu halten, das verftehen bie 
MWeibjen einmal nicht und wenn’s Kopf und Kragen 
foftet!' Ob wohl die XTherefel wird dicht halten 
tönnen? JR mir jehr zweifelhaft!” 

Da fuhr Herr Anton aus feinem Brüten auf. 
„sa, Vater, die Therefel — die hält reinen Mund — 
tönnt Euch drauf verlaflen! Das ilt’s ja eben, der 
Lieutenant bat’s ihr angethan, der mit den Augen, 
und für ben thut fie alles — alles —” feine 
Stimme ward mweinerlih und ftodte. — 

Zu |päter Abendftunde, als die württembergijchen 
Soldaten nah der guten Aufnahme in des Drechsler: 
meifters Haufe im feften Schlummer ruhten, fchlüpfte 


Roman von Hans Werber. 


166 


Therejel leife, Ieife auf unhörbaren Sohlen bie 
Stiege hinauf, die zur Bodenlammer führte. Sie 
blieb fliehen und laufchte — alles war ftill, es mußte 
fie niemand gehört haben. PVorfichtig chlug fie Licht 
mit dem Feuerftein und zündete die Unfchlittlerze an. 
Dann babnte fie ih den Weg zwildhen dem Ge 
rümpel bindurd und räumte geräufchlog einige Stüde 
— hinweg, bis ſie der Verfolgten anſichtig 
ward. 

„Nun, Thereſel, wie ſteht's?“ fragte Haſſo leiſe. 

„Für den Augenblick gut, mein lieber Herr 
Lieutenant! Hier laſſen's die Herren ſich wohl be— 
kommen!“ Sie reichte jedem ein Krüglein warmer 
— und eine derbe Brotſchnitte mit kaltem Fleiſch 

elegt. 

„Thereſelein, Gott woll' es Dir vergelten, was 
Du an uns thuſt!“ raunte Haſſo ihr zu, und dann 
vertilgten die beiden das Mitgebrachte mit dem ge- 
ſunden Hunger vielſtündigen Faſtens und kräftiger 
Jugend. 

„Morgen ſoll noch einmal Hausſuchung in der 

ganzen Stadt vorgenommen werden,“ erzählte Thereſel 
indeſſen. „Die Herren müſſen liegen wie im Schraub⸗ 
ſtock! Ich werde noch mehr Schurrmurr darauf 
packen, damit's recht unverfänglich ausſieht!“ 
Das nennt ſie unverfänglich, wenn wir hier 
unter Schurrmurr erſticken! Nun mein gutes Thereſelein, 
packe nur auf! Wenn wir erſtickt ſind, ſagen wir's 
Dir!“ 

Am andern Vormittag kam wirklich noch einmal 
die Hausſuchungs-Kommiſſion in das Lamprechtſche 
Quartier. Die Wohnräume wurden durchſtöbert bis 
in die letzten Winkel, Küche, Keller, Vorratskammern, 
Drechslerwerkſtatt. Kein Schrank und keine Truhe 
blieb uneröffnet. Jetzt knarrte die Treppe, die Hin- 
auf zur Bodenlammer führte, das Schloß ward ge: 
öffnet. „Ein japperlotiches Loch tft dies daher oben!“ 
Inurrte eine bärbeißige Stimme. „Wenn bier bie 
Spigbuben halt unterfälupft find —” ein Boltern 
mit Kiften und Kaften unterbrach die Rebe. 

Regungslos lagen die beiden da — fein Atem- 
zug — nur das Blut Eopfte und hämmerte in ihren 
Adern. 

„Schau halt diefen Rumpelhaufen !” fchrie ein 
zweiter. „Liegen die Sappermenters bier berunten, 
jo holt fie alleweil der Teufel!” Er ftieß mit einem 
Fußtritt in das morjhe Möbelmwert, daß es darunter 
erfradte. Ein benkellojer Krug ward dabei durch 
eine Stuhllehne Hindurchgeftoßen und fjchlug Hallo 
gerade ins Gefiht. Er zudte nicht. 

„Keine Ra pfeift hier innen, wieviel weniger 
zwei preußiihe Ganaillen! Der Henler mag halt 
wiffen, wo er die fchon am Kragen gefabt bat! 
Komm, Kamerad!” 

Die Bobdenthür warb zugeichlagen, verjchlofien 
mit bes Meifters raflelndem Schlüffelbund. Die 
Stiege erbröhnte unter den jchweren Tritten ber 
Herabfteigenden. Tief aufatmeten die Gefangenen 
in ihrer Enge. 

Unten am Feuerherd ftand Therefel und betete 
in Herzensangft um Schub und Errettung für ihre 
Pfleglinge. Dann hörte fie herablommende Schritte 





Ss 


167 Schwertklingen. 
— die Stimmen — fie fah auf und jubelte im 
Herzensgrunbe: ihre Schüglinge waren gerettet. 

Die mwürttembergiihe Cingquartierung machte 
fih’s völlig beimifh in dem Lampredtihen Haufe. 
Kein Winkel war vor ihnen fiher und Therejel hatte 
große Mühe, für ihre Gefangenen da oben zu jorgen, 
ohne daß jene e& gewahr wurden. Wären fie nur 
nicht noch obendrein jo zubringlich gegen das hübjche 
Mädchen geweien und Hätten fie mit ihren Auf: 
merkjamfeiten in Ruhe gelafien! So aber geitaltete 
ih ihr freimilliges Kerlermeifteramt no um vieles 
ihmwieriger! Borfihtig fahl fie fi eines Abends 
die Treppe hinauf, einen Korb in der Hand, der 
das Abendbrot für ihre Schüßlinge enthielt. Da 
gerabe, ehe fie um die Treppenwindung verihwand, 
trat ein Württemberger in den Hausflur. Es war 
der Zange, Semmelblonde, der ihr jo befonders zu: 
gethan, und jo bejonders zumider war. 

„Sungfer, wo geht Sie hin, was trägt Sie da?” 
rief der Soldat ihr zu. Kopflos ftürzte Therejel 
vorwärts. Wenn er fie einholte — das Efjen in 
ihrem Korbe jah und fih Gedanfen darüber machte, 
aus welchem Grunde fie den Korb da oben hinauf: 
bradte! Nein — das durfte nicht fein! Zn langen 
Sägen flog fie hinauf. „Sungfer, Zungfer, Sie fann 
ja fpringen als a Gambe!“ rief der Soldat ihr 
atemlos nah. Aber da Hatte fie jchon den ge: 
wünjhten Vorjprung erreiht, job mit einem Ruck 
den Korb zwifchen zwei Schränfe und ergriff den 
erften beften Belen, der gerade ihrer Hand erreid): 
bar. So blieb fie ftehen und erwartete ihren würltem: 
bergiſchen Verehrer, der keuchend jetzt erſchien. 

„Was will Er hier!“ herrſchte ſie ihn ungnädig 
an. „Kann ich nicht einmal die Treppe abfegen, ohne 
daß Er mich dabei moleſtiert?“ 

„Die Treppen kehren — aber Jungfer, das 
war doch kein Beſen, den Sie da in der Hand ge— 
habt? Sah mir doch halt aus wie a Körbel!“ 

„Hier hat's kein Körbel!“ rief ſie in edlem 
Zorn erglühend. „Er wird mir wohl weiß machen, 
was ich in der Hand gehabt hab! Laß Er mich 
ungeſchoren, ſonſt kann Er noch was erleben!“ Und 
ſie ſchwang den Beſen über ihrem Haupt mit drohen— 
der Gebärde. Der Württemberger verludte noch, 
fie zu bejänftigen, und endlich ftieg fie mit ihm die 
Treppe hinab, auf das Abfegen derjelben für heute 
verzichtend. 

Zu vorgerüdter Stunde erft Ichlih fie wieder 
hinauf, holte das „Körbel” aus einem Berjted und 
Ihaffte e8 jorglih nach feinem Beltimmungsort. 

„Ihr habt uns ja heute jo lange jchmadhten 
laflen, Süngferlein?“ bemerkte Ecriver. Ad, jeder 
neue Tag ward ihnen länger als der vorhergehende. 
Die enge Haft war faum noch zu ertragen. Therelel 


Roman von Hans Werber. 


— — — — — — — — 








168 





erzählte ihr Abenteuer mit der Gambs, dem Körbel 
und dem Beſen. Haſſo ſah nachdenklich aus. Ein 
kleines Verſehen dieſes Mädchens — und ſie waren 
verloren, das war klar wie der Tag. 

„Thereſelein,“ ſagte er, „Du verſprachſt mir, 
zuzuſehen, ob die Feſtungsgräben ſchon zugefroren 
ſeien! Warſt Du ſchon dort?“ 

„Ja, ich war dort, noch hielt das Eis nicht, 
aber vielleicht friert es dieſe Nacht ſtärker — es iſt 
ſehr kalt!“ 

Ja freilich — das brauchte Thereſelein ihnen 
nicht zu erzählen. Eiſig drang die Kälte durch die 
Ritzen des Daches herein und trotz der Decken, die 
das gute Kind ihnen herbeigeſchafft, froren die beiden 
in ihrer regungsloſen Lage bis ins Mark hinein. 

Am nächſten Abend kam ſie wieder. Ihre 
Augen glänzten vor Aufregung. „Das Eis hält, 
Herr Lieutenant, auf den Wallgräben ſchlitterten 
heute die Buben.“ 

„Dann vorwärts!“ entſchied Haſſo ſofort. „Mich 
dünkt, Scriver, wir haben kein Zeit zu verlieren!“ 

Sie krochen aus ihrem Verſteck hervor, in 
der bäueriſchen Tracht, in welcher ſie einſt nach 
Schweidnitz gekommen, und rüſteten ſich leiſe zum 
Aufbruch. Mit Geld waren ſie verſehen, für einen 
fräftigen Imbiß und die nötige Schnapsflafche forgte 
Therejel. „Aber ich weiß nicht,” meinte fie zagend, 
„überall mag das Eis doch noch nicht Halten! Wenn 
nur die Herren nicht zum Unglüd fommen! OD bu 
bimmliihe Güte, dann wär’s durch meine Schuld!” 

Scriver jah ein, daß fie recht haben könnte. 
„Wir wollen’s menigftens verjudhen!” jchlug er vor. 
„Wil Sie am Küdhenfenfter auf uns warten, Sungfer, 
und uns aufmadhen, wenn mir wiederfommen? 
Sind wir in einer Stunde nicht zurüd, dann kann 
Sie annehmen, daß wir hinaus find aus der Falle!“ 

„Ich will aud zwei Stunden warten — aud) 
drei — die Herren fönnen fih auf mich verlaffen!” 
ſchwor Thereſel. 

Aus dem niedrigen Küchenfenſter, das ſie leiſe 
geöffnet, ſchwangen die beiden Herren ſich geräuſch— 
los nieder auf das Steinpflaſter der Straße. Es 
war eine ſternenhelle, eiskalte Nacht. Sie mußten 
vorſichtig gehen, daß ihre Schritte nicht ſchallten auf 
den Steinen. 

„Ich hab' dem Thereſelein gar nicht ordentlich 
Adieu geſagt,“ bemerkte Haſſo plötzlich. „Das wird 
wohl eine Vorahnung ſein, daß ich noch einmal 
zurück muß in ihr Haus!“ 

„Unſinn!“ brummte Richard Scriver ärgerlich 
als Antwort. 

„Hier in dieſem Turmſchatten müſſen wir den 
Wall überklettern!“ ſagte Haſſo. „Hier ſieht uns 
niemand und drüben iſt das Eis!“ 


(Fortſetzung folgt.) 





169 Ohne Gott. 


Roman von E. Rarl. 


170 


Ohne Gott!) 


Roman 


bon 


€. Rarl, 


I. 


Schneidend pfiff der Norboft durch die Straßen 
der alten Stadt, fegte ftoßmweije den lofen, trodenen 
Schnee von den Dächern und ließ ihn über Die 
Köpfe der Paflanten binftieben. Schräge weiße 
Streifen davon lagen auf dem überfrorenen Pflafter, 
wie die Laune der Windsbraut fie gerade bingemweht 
batte, um fie im nädjften Nugenblid in tollem Spiel 
wieder aufzurollen und nebelgleih vor fih berzu- 
treiben. 

Wer ein Heim hatte, ftrebte ihm zu, und wen 
fein Beruf den Aufenthalt im “Freien gebot, der 
Ihlug menigftens den Rodkragen in die Höhe und 
rieb gelegentlih Wangen und Obren, bie von den 
iharfen Kıryitallen wie mit Nadeln geflohen wurben. 

Die Abenddämmerung janf bereits herab und 
immer \chärfer ward der Sturm, immer unbeimlicher 
das Saufen in der Luft, das Klappern auf den 
Dächern. E3 fam mohl vor, daß ein fjchlecht be: 
feftigtes Fenfter oder ein loderer Dachftein auf die 
Straße Mlirrte, und die Vorfichtigen hielten fi in 
der Mitte derjelben. 

Meit ab vom Mittelpuntt der Stadt und fern 
vom Geheimratspiertel, in einer der langen häßlichen 
Straßen, die vorwiegend der Arbeiterbevölferung 
zum Wohnplag dienten, jchritt eine einfame Frau. 
Sie gehörte ihrer Kleidung nach den befjeren Ständen 
an, war feit in einen Mantel gehüllt und hatte zu 
beilerem Schu gegen das Iinwetter ein Tuch über 
den Hut geihlungen. So verwahrt jchritt fie ziel: 
bewußt weiter, und man fah es den Bewegungen 
ihrer mittelgroßen, rundliden Geftalt an, daß fie 
nicht gewohnt war, fi) durch äußere Hindernifle von 
ihrem Wege abbringen zu laflen. 

Faft am legten Ende der Straße, nahe ber 
großen Eifengießerei, die einen Zeil ihrer Bewohner 


ernähtte, trat die Frau in die Thür eines dreiftödigen, | 
 ärmliden Bette lag, „wie gebt e& heute? Hat 


aber jehr verwahrloft ausjehenden Haufes. Sin dem 
Ihwaden rötliden Schein, den die Abenddämmerung 
durch Ichmale Fenfter auf die fteilen Stiegen warf, 
Iohritt fie aufwärts und erflomm auch die vierte und 
legte derjelben, die bereit auf dem Dachboden bes 
Haufes endete. Menichlihe Hubgier hatte aber aud 
diefem unmirtlihen Raum nodh zwei „Wohnungen“ 
abgezwungen und menjchlidhes Elend fie als joldhe 
bezogen. 

Als auf leifes Klopfen an der nädhften Thür 


Zimmer. Das Abendrot, durch Fein gegenüber: 
liegendes Gebäude mehr gehindert, leuchtete durch 
das ziemlich große Fenfter und füllte den Raum 
mit rofigem Licht, gligerte aber auch auf den mit 
Eisfryftalen überzogenen Wänden. Die Feniter: 
iheiben hatten Kinderhände teilweile von der Eis- 
Schicht befreit, um einen Blid auf den pradtvoll 
geröteten Himmel und die jagenden Wollen zu ge: 
winnen. Ein etwa jehsjähriger Junge ftand davor 
und baudhte in bie fteifen Hände, während ein zwölf: 
jähriges, ehr Trank ausjehendes Mädchen fich mit 
ebenfo fteifen Fingern abmühte, den lebten Tages: 
Ichein für eine Hälelarbeit zu verwerten. 

Der äußerft dürftige, aber peinlich jauber ge: 
baltene Raum hätte durch Diele lettere Eigenſchaft 
anmutenb wirken können, wenn bie eifige Kälte, die 
ihn erfüllte, nicht jedes Gefühl des Behagens jchon 
im Entftehen unterbrüdi hätte. Die Temperatur 
ftand jedenfall no) etwas unter dem Geftierpunft, 
benn das Wafler des MWajchbedens in der Ede zeigte 
eine leiſe Eisſchicht. 

Die Dame löſte unter freundlichen Begrüßungs— 
worten das Kopftuch und enthüllte damit das rund— 
liche Geſicht einer Fünfzigerin. Die friſche Hautfarbe 
deutete auf Geſundheit, das dunkle, ſprechende Auge 
unter kräftigen Brauen auf Klugheit, ein Zug von 
Energie um den feingeſchnittenen Mund ſprach von 
Lebenserfahrung; aber über dem ganzen Geſicht, das 
von welligem, ergrautem Haar eingerahmt wurde, 
lag, wie Sonnenſchein auf einer Herbſtlandſchaft, 
eine ſolche Fülle von Herzensgüte und Liebens— 
würdigkeit, daß jedes Auge ſich wohlthuend davon 
berührt fühlte. Frau Profeſſor Niederſtetter war 
aus einem anmutigen Mädchen nach und nach eine 
würdige Matrone geworden, ohne ihre Beliebtheit 
einzubüßen, weil die Schönheit ihrer Seele über den 
Verfall des Körpers hinwegtäuſchte. 

„Nun, Minna,“ wendete ſie ſich an die kranke 
Frau, welche unterhalb der ſchrägen Decke in einem 


Mariechen Dir die Suppe, die ich ſchickte, ſchön ge— 
wärmt und hat ſie Dir geſchmeckt?“ 

Über die eingefallenen, fieberglühenden Wangen 
der Kranken rollten große Thränen, ſie hielt die dar— 
gereichte Hand des Gaſtes feſt und führte ſie an ihre 
trockenen Lippen. „Ach, gnädiges Frauchen, ich hab' 
die Suppe gegeſſen, weil Sie es ſo haben wollten, 
und damit ich bald zu Kräften komm, Appetit hab' 
ich noch gar keinen. Ach Gott, was ſoll doch aus 


eine ſchwache Antwort erfolgte, öffnete die Dame uns werden,“ klagte ſie, „Köhler hat ſeit vier 
und trat in das ſchmale, auf einer Seite abgeſchrägte Wochen, ſeitdem der Fluß zu iſt, keine Arbeit, und 


*) Wenn auch die leitenden Gedanken dieſes Romans unſeren Anſchauungen nicht ganz entſprechen, ſo glaubten wir 
doch die Arbeit unſeren Leſern nicht vorenthalten zu follen, weil ſie gewiſſe Strömungen unferer Tage in klarer Weiſe wiedergiebt. 
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeltung. 


;— — — — — —— —— — —— —— —— — — — — — — 





171 Ohne Gott. 
ih Liege bier und fann auch nichts verdienen. ch 
hab’ Ichon alles ins Leihhaus geichidt, ober an bie 
alte Bänken verfauft, was ich irgend abgeben Eonnte, 
nun hab’ ich nichts mehr, und bie Kinder Bungern. 
Wir wären ja jhon längit verfommen und verborben 
ohne Sie, Frau Profeflern, aber wir können Shnen 
doch nicht immer zur Laft liegen.” 

„Run, das lalle meine Sorge fein, Minna,” 
antwortete die Dame freundlich, „ich thäte gern nıehr, 
wenn ich es fünnte, das weißt Du ja, aber ih muß 
mid) doch auch nach meiner Dede ftreden. — Was 
madt denn das Kleine?” 

„Ih dene’, e8 wird nicht lange mehr leben,” 
antwortete die Kranke in müdem Ton, „es ift zu 
Ihwadh, und die jchlehte blaue Mil befommt ihm 
auh nicht. Der Doktor jagt, ih fol ihm von ber 
Milh aus der neuen Anftalt geben, aber die koftet 
dreißig Pfennig der Liter, und foviel fünnen wir in 
Tage nicht für uns alle ausgeben. Da muß der 
Kleine denn fterben und es ift ja auch das befte 
für ihn und für uns. — Wenn ich nur milßte, wie 
wir den Sarg bezahlen follen?” 

Die Frau Profefjor Hob von der Wanbjeite des 
Bettes ein Bleines Bündel herauf und enthüllte aus 
den darumgeſchlungenen Tüchern ein winzig Kleines 
Menſchenkind. 

„Es war ſo ein hübſches Kindchen,“ ſeufzte 
die kranke Frau, „wenn ich geſund geblieben wäre 
— ich hätte es gewiß groß bekommen.“ 

Die alte Dame ſah mitleidig auf das dem Tode 
geweihte Geſchöpfchen herab, dem der Erſatz für die 
fehlende Muttermilch nicht beſchafft werden konnte, 
weil die geringen Mittel ſelbſt eine ſo kleine Aus— 
gabe nicht geſtatteten. Wer da beſſern könnte, wer 
die Macht zu energiſcher Abhilfe hätte; denn ſo wie 
hier das eine, gingen in der großen Stadt jährlich 
Hunderte zu Grunde — aus Mangel an Nahrung, 
an Pflege, an Aufſicht. Wöchentlich brachten die 
Zeitungen Mitteilungen über verbrannte, überfahrene 
oder aus dem Fenfter geflürzte Kinder, und nur in 
den jelteniten Fällen war Nadjläffigfeit der Mütter 
die Urſache. Sie hatten derweil ums tägliche Brot 
gearbeitet. Wer aber zählte erft die Säuglinge, bie, 
wie dieler, der Not erlagen. 

„Entjeglih,“ murmelte die warmherzige Fran. 
„der Menichheit ganzer Sammer faßt mich an!‘” 

Das Würmchen begann leife zu meinen, es fror 
wohl in dem falten Raum. Frau Niederftetter hüllte 
es wieder ein und fchob es unter die Bettbede, dann 
wendete fie fi an das Mädchen, das eben der herein: 
brechenden Duntelheit wegen die Hälelarbeit fort: 
gelegt hatte. 

„Hattet Yhr denn heute kein Feuer? Es ift ja 
bitterfalt bei Euch.” 

„Doch, gnädige Frau,” fprach des Kind, indem 
es näher trat, „aber e& waren nur noch einige Späne 
da, die gerade langten, den Kaffee zu kochen. Das 
bigchen Wärme hat der Sturm wieder herausgeblajen, 
das Feniter Tchließt jo Jchlecht.” 

Frau Niederftetter trat zum Feniter, von dem 
der kleine Junge fich entfernt hatte, um zu den 
Füßen feiner Franken Mutter ins Bett zu Eriechen, 


Roman von €, Karl. 


172 





es war da wärmer. Der Fenfterrahmen zeigte breite 
Spalten, die man notbürftig mit Qumpen verftopft 
hatte; die lofen Scheiben Elirrten, und die nur einen 
Biegel Starke Mauer jchien unter den Stößen des 
Windes zu erbeben. Ab und zu ging ein polterndes 
Geräufeh über die fchräge Fläche oberhalb des Bettes 
hin. — Es war der Sturm, der die Dachpfannen 
bewegte, fie waren dem Auge dur eine bünne 
Bretterchicht entzogen. 

Frau Niederftetter griff in die Tale und 
wendete fih dann an Mariehen, um ihr einen 
Auftrag zu geben; ehe fie aber dazu fam, begann 
das Kind furchtbar zu buften. Sn entfeglicher Atem: 
not lehnte es fich gegen bie bereifte Mauer, während 
dunlelrote Flede auf den Wangen erihhienen, unb 
die Augen aus ihren Höhlen traten. DVergebens 
blidte die erjchredte Frau nah irgend einem 
Linderungsmittel umber; das eisbededte Wafler aus 
dem vorhandenen Waflertruge wagte fie der Huftenden 
nicht zu bieten. 

„zafen Sie man, Frau Profeflern, da hilft 
do nichts mehr,” flüfterte die Kranfe, und von 
neuem |hoß ein Thränenftrom aus ihren Augen. 
Endlich beruhigte fi das Mädchen und fank jchweiß- 
bededt und atemlos auf einen Holzichemel. Die alte 
Dame fprad) ihm gütig zu, ftrih ihm das feudhte 
Haar aus ber Stirn und flüfterte ihm leife Worte 
ins Obr, die zur Folge hatten, daß die matten Augen 
plöglih zu glänzen begannen. Dann fprang bie 
Kleine auf, um die Stube zu verlafien. 

„Halt, halt,“ rief die alte Dame, „jo erhikt 
darfit Du nicht in die Kälte,” und fie nahm ihr 
eigenes Tuch, das fie auf den Tifch gelegt hatte, und 
büllte das Kind forglih hinein. „So, nun lauf, 
und der Kleine Bruder kann helfen, er befommt dann 
die Zugabejemmel.“ 

Mit einem Sa war der Kleine aus dem Bett 
und zur Thür hinaus. 

Frau Niederftetter jah fih in dem jett faft 
dunfeln Zimmer um, fragte nah Feuerzeug und 
Lampe und zündete biefe an, dann nahm fie am 
Bette Plat. „Was ift es mit Mariehen? Geht 
e3 dem Kinde wieder jo jchleht? Du follteft doch 
den Arzt fragen.” 

„3 bab’ ihn vorige Woche gefragt,” meinte 
die Frau, „als Mariehen fo ftarke Bruftiegmerzen 
hatte, da bat er fie unterjucht und gemeint, länger 
als ein bis zwei Jahre wird es nicht mehr mit ihr 
dauern, fie hat eine ganz Franke Zunge. Aber fie 
weiß es nicht und fpricht fchon von ihrer Einfegnung, 
und daß fie dann Kindermädchen werben will. Sie 
friert immer fo und denkt dabei an die warme 
Stube, in der fie dann fiten fann. — Ach Gott, 
gnädiges Frauden, wenn id auh das Kind nod 
hergeben muß, dann weiß ich nicht, wie ich weiter 
leben jol. ch habe ja fchon vier auf dem Kirchhof, 
aber fie waren doch noch Hein. Diefes Mädchen ift 
mein einziger Troft und meine Hoffnung gemelen, 
aber ich weiß ja jchon feit drei Sahren, baß es au 
fterben muß.“ 

„Berliere den Mut nit, Minna,“ Iprach bie 
Profefforin tröftend, „Gott ift barmherzjig, und bie 





113 Ohne Gott. 
ärztliche Wiflenihhaft nicht unfehlbar. Nege Dich nicht 
auf, jondern fieh zu, daß Du wieder ganz gejund 
wirft, es geht Dir ja Schon befler, und dann — zum 
Frühjahr — Ichide ih Mariehen für einige Wochen 
auf das Gut meines Bruders, da wird fie fich fchon 
erholen.” 

Die Kranke hajchte wieder nach der Hand der 
gütigen Frau, um fie an ihre Lippen zu führen. 

„Der liebe Gott vergelte Ihnen tauſendfach, 
was Sie an uns thun,” Ipradh fie inbrünftig, fügte 
dann aber zögernd hinzu: „Sie jagen ja aber, es 
giebt Teinen Gott, und manchmal denfe ich wirklich, 
die Leute haben recht.” 

„Am Gottes willen, Minna, laß Dich nicht zu 
loldem Unglauben bethören,” rief die alte Dame 
entjegt, „gewiß giebt e8 einen Gott, der die Welt 
Ihuf und fie erhält, laß Dich nicht irre machen, laß 
Dir den Glauben an ihn nicht nehmen.” 

Ein jcharfer Luftzug machte fie plöglih um: 
hauen. In der Thür, deren Offnen fie überhört 
batte, ftand eine jchlanfe Männergeftalt, groß, aber 
nicht fräftig, bie bei den legten Worten der alten 
Frau jarkaftiih auflahte.. Der Mann lehnte gegen 
den Pfoften der offenen Thür, als fuhe er einen 
Halt, er war augenicheinlih beraufht. Diejer Um: 
ftandb ließ ihn aud den fonft geübten Reſpekt der 
MWohlthäterin feiner Familie gegenüber vergeflen. 

„Sie ftehen wohl mit dem lieben Gott auf Du 
und Du, Frau Profeflern, daß Sie jo genau Be: 
ſcheid wiſſen,“ ſprach er höhniſch. „Ich find' auch, 
daß er alles ſehr ſchön eingerichtet hat. Die Reichen 
können drei Tage in eins praſſen und ſchlemmen, 
ohne daran zu erſticken, und wir können noch länger 
hungern und frieren, bis wir über unſere eigenen 
Füße fallen, und ſterben noch lange nicht daran. Der 
liebe Gott hat wirklich alles ſehr ſchön gemacht.“ 

„Kommen Sie herein, Köhler,“ ſprach Frau 
Niederſtetter ſtreng, „und ſchließen Sie die Thür, es iſt 
ohnehin ſchon kalt genug, weil Sie das Geld, das 
den Ihrigen eine warme Stube und warmes Eſſen 
verſchafft hätte, vertrunken haben. Schämen Sie ſich!“ 

Der Mann ſchloß die Thür, ließ ſich ſchwer auf 
den nächſten Schemel fallen und antwortete trotzig: 
„Die lumpigen fünfzig Pfennige, die mir heute ein 
Herr gab, dem ich zwei Stunden lang ſein Pferd 
hielt, hätten nich hin, nich her gereicht für ſo viele 
— und etwas muß ein Familienvater doch auch für 
ſich ſelbſt thun, um ſeine Kraft zu behalten.“ 

„Die Kraft aus der Kneipe macht ſchwache 
Beine, wie ich ſehe,“ bemerkte Frau Niederſtetter 
ſarkaſtiſch und wendete ihm den Rücken. Sie beugte 
ſich über das Bett, um den Kleinen, welcher in— 
zwiſchen zu ſchreien begonnen, in friſche Wäſche zu 
hüllen, die die Mutter an ihrem fiebernden Körper 
gewärmt hatte. 

„Ach mein Gott, mein Gott,“ ſeufzte die Leidende, 
„wenn nicht bald Hilfe kommt, dann geht mein Mann 
zu Grunde. Er kann das Elend nicht ertragen und 
ſucht es im Schnaps zu erſäufen.“ 

Auf der Treppe polterten die Füße der zurück— 
kehrenden Kinder, nun traten ſie, im Vorgenuß der 
zu erwartenden Herrlichkeiten, mit ſtrahlenden Augen 


Roman von E. Karl. 


174 


ein. Sie trugen zwiſchen ſich einen Korb mit 
Brennmaterial, das Mädchen außerdem ein Hand— 
körbchen, in welchem Bierflaſchen und eine blecherne 
Milchkanne ſichtbar waren, und der Junge unter 
dem Arm ein großes Brot. Die verheißene Zugabe— 
ſemmel hatte er bereits zwiſchen den Zähnen. 
Die vier Treppen unter ziemlich bedeutender Laſt 
hatten den kleinen ſtämmigen Kerl nicht im geringſten 
angefochten, Mariechen dagegen keuchte hörbar und 
die Flecke auf den bleichen Wangen brannten in leb⸗ 
haftem Inkarnat. Trotz deſſen ſchickte ſich das Kind 
ſofort an, mit flinken Fingern Feuer zu entzünden, 
während Frau Niederſtetter eine Flaſche entkorkte 
und ihm Anweiſung gab, aus Brot, Bier und Milch 
eine Suppe zu bereiten. Auch die Milchflaſche des 
Kleinen ſollte friſch gefüllt und für die Kranke eine 
Taſſe Kakao aufgebrüht werden, von dem die Dame 
eine Büchſe voll in ihrer Handtaſche mitgebracht 
hatte. Sogar ein Töpfhen Schmalz entwidelte fich 
aus derielben und wurde den jubelnden Kindern ale 
Zukoſt zum Brote übergeben. 

Ale alles genügend vorbereitet war, um ben 


geihidten Händen des Heinen Mädchens zur Boll- ' 


endung überlaflen zu werben, wendete fih Frau 
Niederftetter an den Mann, der bisher teilnahmlos 
in der Ede geleflen hatte, jebt aber durch die 
appetitlihen Gerüche, die vom SKKochofen berüber: 
drangen, aus jeiner Lethargie gewedt zu werben jchien. 
„Sie haben, wie mir fchien, vor einer Weile 
dem lieben Goti fein Dafein abgejprochen, er jenbet 
Shnen aber dur mid ein Zeichen davon.” Damit 
zog fie einen Zettel hervor und reichte ihn dem 
Manne. „Melden Sie fih damit morgen früh in 
dem Comptoir der Eifengießerei, Sie haben ja jhon 
einmal da gearbeitet, bevor der Betrieb zeitweile 
eingej&hräntt werden mußte.” 

Der Mann ftierte auf das Blatt in feiner 
Hand. „Der Arbeiter Gottlieb Köhler erhält in 
meiner Fabrik Beichäftigung als Hilfsarbeiter,” ftand 
darauf, durch die Unterfchrift des Beſitzers beglaubigt. 

Das Bapier begann in feinen ohnehin zitternden 
Fingern zu flattern, wie vom Winde bewegt. Mit 
der den Trunlenen eigenen Maßlofigleit jchlug feine 
Stimmung plöglih ins Gegenteil um. Hatte er 
vorher bramarbafiert, jo begann er jegt zu weinen. 

„Und nun noch eins, Köhler,” fuhr die Dame 
fort, „mögen Sie an Gott glauben oder nicht, ein 
tüchtiger, braver Menih können und müflen Sie 
unter allen Umftänden fein, wenn Sie fih nidt an 
Weib und Kindern verjündigen wollen. Kehren Sie 
um von dem Wege, den Sie in lehter Zeit ge 
gangen find, er führt direlt ins Elend. Meiden 
Sie die Schente und ihre Befuher — was man 
Shnen da predigt als Geift der neuen Zeit, find 
ganz oder halb verkehrt verftandene Anichauungen, 
die von Euch) allen ebenjowenig verbaut werden, als 
ob man Euh WBerlen und Edelfteine zum Mittag: 
eilen vorjegen wollte. 33h Habe mich für Sie ver: 
bürgt, Köhler, habe Sie als einen ordentlichen, 
nüchternen Mann geidhildert, mahen Sie mir feine 
Schande.” 

Der Mann griff laut fchluchzend nad ihren 


175 Ohne Gott. 

Kleiderfalten und drüdte das Geficht hinein. „Sie 
Tönnen fih auf mich verlaffen, Frau Profeffor, Sie 
jolen mich einen Hund ſchimpfen, wenn id) mid) 
noch ein einziges Mal betrinte.“ 

Die Dame löfte ihr Kleid fanft aus den 
Händen des Mannes und trat, fich verabichiebend, 
an das Belt der Kranlen. „Nur Mut und Zu 
verfiht, Minna, es kommen wieder beflere Zeiten. 
Sprid Deinem Manne freundlich zu, daß er die 
Kneipe läßt; nur nicht Schelte oder Vorwürfe, Du 
jagft ihn damit vollends aus dem Haufe, das ihm 
jegt ohnehin durh Deine Krankheit nicht be: 
haglich iſt.“ 

Sie ſah ſich nach ihrem Tuch um. Mariechen 
hatte es noch nicht abgelegt, ſondern kauerte ſelbſt— 
vergeſſen, die Hände darunter geborgen, neben dem 
Kochofen, auf dem die Suppe ihrer Vollendung ent— 
gegenging. Es war der alten Dame unmöglich, 
dem kranken Kinde die wärmende Hülle zu nehmen. 

„Leuchte mir die Treppe hinunter, Mariechen, 
ich will noch bei Liedkes anſprechen, das Tuch darfſt 
Du behalten, mein Hut iſt mir warm genug.“ 


* * 


x 


Die Dame flieg zwei Treppen tiefer und Elopfte 
an die rüdmwärts gelegene Stubenthür, binter der 
ihr müfter Kinderlärm entgegenfhalltee Derfelbe 
verftummte zwar bei ihrem Eintritt, do Fonnte Die 
wilde Keine Bande die Spuren ihrer Beichäftigung 
nicht Schnell genug bejeitigen und Frau Niederftetter 
hatte noch einen tief betrübenden Anblid. 

Am Senfter des jegt durch ein Lämpdhen be: 

leuchteten Zimmers aß in einem alten Lehnftuhl 
eine völlig gelähmte Frau von etwa ftebzig Jahren, 
die die rohen, jchledht erzogenen Kinder zum Gegen: 
ftand ihrer Beluftigung gemadt Hatten. Eine fpiße 
Bapiermüge thronte über dem welfen Geficht, dem 
fie mit Kohle einen gewaltigen Schnurrbart gemalt 
hatten, während in den unbemweglien Armen ein 
Bejen und ein Schrubber rubten, Teßterer ein Scheuer: 
tuch wie eine Fahne tragend. 
. Mit einigen Fräftigen SKlapfen fuhr Frau 
Niederftetter über die Meinen Unbolde ber und 
Iheuchte fie von ihrem Opfer hinweg, dann befreite 
fie diefe8 von Jeiner jonderbaren Verkleidung. 

„Ad, gnädige Frau, wie danfe ih Ihnen, daß 
Sie mid von diejer Rotte Korah erlöjen,” jprad 
die Alte dankbar, während die Dame mit einem 
Handtuch ihr die Kohlenftrihe abwulh. „So quälen 
fie mid jchon zwei Stunden, jeildem die Male, bie 
no die Beite ift, fortgehen mußte. Es find zu 
ungezogene Rangen.” 

„Aber warum behalten Sie denn bie Familie in 
Ihrer Wohnung, Juden Sie doch ruhige Leute.” 

„IH finde fie fo jchwer,” antwortete die Alte, 
„und fanın do nicht allein bleiben, feildem meine 
gute Schwiegertochter geitorben ift und meine Groß: 
tohter Alma Tag für Tag jchneidert, um Brot für 
uns zu jchaffen. Es will niemand fold elenden 
Krüppel, der gefüttert und wie ein Kind aus: und 
angezogen werden muß, um ich dulden. Da muß 


Roman von ©. Rarl. 


176 


ich eben nehmen, was fih findet, die ftädtilche Unter: 
flügung reiht nur zur halben Miete.“ 

„Sie arme Frau,” Iprad die Profefforin mit: 
leidig, „verlieren Sie nur nidt die Geduld, Gie 
willen ja, daß Sie ins Siehenhaus fommen follen, 
obald eine Stelle frei wird.” 

„Ih die Geduld verlieren,” rief die alte Frau 
eifrig, „denken Sie das ja nit, Frau Profeflor. 
Des Herrn Hand liegt fchwer auf mir, aber id 
murre nit. Unfer Hergott weiß, was er thut und 
wen er lieb hat, den züchligt er. Sch weiß, daß er 
mich einft in fein himmlifhes Reich rufen wird — 
darauf warte ih. Nun find es bald zwanzig Jahr, 
daß ih jo dafite, nun wird meine Prüfungszeit 
bald beendet fein.” 

„Schon zwanzig Jahre find Sie fo völlig be: 
wegungslos?” fragte Frau Niederftetter, die erft feit 
furzer Zeit dur ihre Scneiderin Alma in Die 
näheren Familienverhältniffe eingeweiht war. 

„3a, e8 ift bald jo lange, gnädige Frau, daß 
ih auf diefem Stuhl fige, ih befam den böjen 
Nheumatisnıus in die Beine, als ih noch Wajdı: 
frau war. — Sehen Sie, wenn einer immer in den 
zugigen Waſchhäuſern fteht und dann erhikt ans 
Wafler jpülen geht und nachher feine Zeit hat, fich 
trodene Strümpfe anzuziehen, da fann jo was fomımen. 
Aber ih hab’ nadhher noch zehn Jahre menigitens 
bäfeln und ftriden fönnen und hab’ meinem Sohn 
nicht zur Laft gelegen. — a, wie der liebe Gott 
meinen armen Jungen dann zu fih genommen bat 
— GSie willen, er war Maurer und flürzte vom 
Gerüft — da hab’ ich meiner Schwiegertochter noch 
was abgeben können und die Alnıa erziehen helfen. 
Aber danı, wie wir in der naflen Bordertihen 
Wohnung wohnten, da ift die Krankheit in meinen 
ganzen Körper gelommen und nun bin ih nur 
nod ein unnüßes Holz, das der Herr je eher, je 
lieber ausreißen fönnte. Aber meine Schwiegertochter 
ift immer gut zu mir gewelen und die Alma ift es 
auh. ch freue mich bloß auf das GSiedhenhaus, 
weil das arme Kind mich dann los ift und feinen 
Verdienft für fich behalten kann. Auch giebt es dort 
wohl feine ungezogenen Kinder.” 

Frau Niederftetter rief die Kinder heran und 
hielt ihnen eine eindringliche Standrede, fie glaubte 
aber jelbft faum an den Erfolg und nahın fi vor, 
im Armenverein, deflen Vorligende fie war, für 
anderweitige Alnterbringung der armen Dulderin 
zu plaidieren. 

„5% freue mich, daß Alma fi) jo gut eniwidelt 
bat,” iprach fie dann zu der alten Frau, deren Ge: 
ficht Sich bei dem Xobe der Enkelin völlig verklärte, 
„Ne ift eine recht geichidte Arbeiterin und ein liebene- 
würdiges Mädchen dazu. ch ziehe fie ganz zur 
Familie, wenn fie bei mir arbeitet.” 

„sa, es ijt ein gutes Kind, die Alma,” antwortete 
die Großmutter, „wenn fie fih nur nicht mit dem 
Menihen, dem Schmieder, einläßt, der ihr immer nad): 
geht. Ich bitte den lieben Gott alle Tage, er möchte 
ihr Herz von ihm abwenden, aber bis jeßt ift noch 
feine Bellerung zu fpüren, fie wird immer fchon rot, 


177 Obne Gott. 


wenn fie nur feinen Namen hört. Und er fann fie 
doch nicht heiraten.” 

„Warum kann er fie nicht heiraten?” 

„Weil er Ihon eine Frau bat, wenn fie aud) 
von ihm fort ift. Sie haben fi nicht veriragen, 
aber es fol ja mehr an ihm als an ihr gelegen 
haben. Und dazu ift Schmieber einer von den ganz 
Gottlojen, er predigt den Leuten, daß es gar feinen 
Gott giebt.” 

Die Thränen waren ber alten Frau aus ben 
Augen geflürzt, und die PBrofeflorin mwünjchte fie zu 
beruhigen. 

„3% denke, Sie haben für Alma nichts zu fürdten, 
liebe Frau, fie ift ein braves Mädchen und wird zur 
Befinnung kommen.” 

„D, Sie tennen den Schmieder nit, gnädige 
Frau, der fann reden wie ein Bud, er ift ein halb 
Studierter und dazu ein hübfcher, anjehnlidher Dann. 
Ah, Frau PBrofefior, ich habe meinen Mann und 
alle meine Kinder überlebt, aber wenn meine alten 
Augen noch jehen jollten, wie mein Fleifh und Blut 
in Schande fällt — das müßte mir den legten Stoß 
geben. D mein Gott und Herr,“ betete fie, „erbarme 
Did und laß das nicht geichehen. ch babe Dir 
fill gehalten in allem Elend, denn ich weiß, daß Du 
mich im Sjenfeits dafür belohnen wirft, aber bas — 
Das eripare mir.” 

Sie halte die Finger, das einzige, was fie an 
ihrem Körper noch etwas bewegen Tonnte, im Schoß, 
wo die Hände nebeneinander ruhten, zu falten ver: 
Judt und blidte zur Dede empor; jo blieb fie einige 
Augenblide unbeweglih, dann neigte fie leile das 
graue Haupt und fpradh ergeben: „Herr, Dein Wille 
geichehe, Du weißt, was Du thuft.” 

Tief erjchüttert verabichiedete fih die Profefjorin. 
Hier hatte fie gejehen, was die Religion den Armen 
und Elenden ift. — Wie hätte wohl diefes bedauern: 
werte Wejen das Leben ertragen können, ohne den 
Glauben an einen gütigen Gott, ohne die Hoffnung 
auf ein beſſeres Jenſeits. 


II. 


Als Frau Profefjor Nieberftetter auf die Straße 
fam, faßte fie der Sturm mit berjelben Heftigkeit, 
aber er blies ihr in den Rüden und beichleunigte 
nur ihre Schritte. Bald lag das Arbeiterviertel 
hinter ihr, die Straßen wurben breiter und freundlicher, 
die Menjhen darin Jahen beiler genährt aus und 
waren befler gekleidet. Seht rollte die Equipage 
eines befannten Millionärs vorüber, Kutjcher und 
Diener in dide Pelze gehüllt, der Beliger nadhläjfig 
in bie feidenen PBolfter gelehnt, ein rechtes Bild des 
thatenlojen MWohllebens. Mit dem, was diejer befannte 
Lebemann zuweilen an einem Tage ausgab, hätten 
die armen Familien, von denen fie eben fam, ein 
Sabr forgenfrei leben Tönnen. 

Die Frau jeufzte tief auf. AR es den Armen, 
die bungern und frieren und die Shrigen aus Mangel 
fterben jehen, wohl zu verdenten, wenn fie mit Groll 


auf jolde Eriftenzen bliden und wenn fie in ihrer 





Roman-Zeitung 1896. 


Roman von ©. Rarl. 





178 


Kurzlichtigfeit wähnen, eine gleihmäßige Verteilung 


aller vorhandenen Werte könne bie irdifche Glüdfeligkeit 
herbeiführen ? 

Nein, zu verbenlen ift es ihnen nicht, aber auf 
dem Mege, den fie fich vorftellen, ihnen zu belfen, 
ift ebenfalls unmöglih. Nur der Zwang bringt das 
Gros des Menjchengejchlechtes zur Entfaltung feiner 
Leiftungsfähigkeit, man nehme ihm die treibenden 
Faktoren, und es verfinkt in Trägbeit und Genußſucht. 

Der Großvater des Mannes, der eben auf 
Gummirädern an ihr vorüberrollte, war einfacher 
Arbeiter gewelen, fein Vater hatte als armer ingenieur 
begonnen, um als Kröjus zu fterben. Der Sohn 
genoß, was der Bater erworben, er verjchleuderte die 
Srüchte jeines Fleißes, ohne an ihre Ergänzung zu 
denfen. Seine Nahlommen mochten einft wieder 
auf demfelben Punkt enden, wo ihr Ahın angefangen, 
als Arbeiter oder Kleine Beamte. So war der Kreis: 
lauf gemefen jeit Beginn unjerer Civilifation und 
jo wird es bleiben, wenn es nit gelingt, den 
moraliſchen Gehalt des Menſchengeſchlechtes durchweg 
auf eine höhere Stufe zu heben. 

Die Mehrzahl arbeitet nur „der Not egen 
nicht dem eignen Trieb“, und viele der heftigſten 
Schreier, die „das Recht auf Arbeit“ nicht genug 
betonen können, würden ſie als überflüſſige Zuthat 
betrachten, — man ihnen die Mittel zur Exiſtenz 
ohne Gegenleiſtung gäbe. Nur der kleinere Teil ſteht 
hoch genug, um zu erkennen, daß die Arbeit nicht 
nur Mittel zum Zweck, ſondern der wahre Zweck 
des Lebens iſt. Freiwillige Arbeit im Dienſte 
der Allgemeinheit. 

Aber werden wir je dahin gelangen? Das 
ſocialdemokratiſche Ideal eines Zukunftſtaates mit 
Zwang zur Arbeit für alle, ohne perſönlichen Vorteil 
für den einzelnen würde ſchlimmere Tyrannei ſein, 
als der jetzige Zuſtand. Es liegt in den meiſten 
Menſchen der Trieb, ihr oder der Ihrigen Wohl— 
ergehen und Behagen durh eigene Thätigfeit zu 
fördern; noch über das Grab hinaus gewillermaßen 
der Schußgeift ihrer Geliebten zu fein. Man nehme 
ihnen diefe Möglichkeit und nur ein jehr Heiner 
Teil wird feine ganze Leiftungsfähigfeit für ein Seal 
einſetzen. 

Frau Niederſtetter überjchritt jegt eine Straßen: 
treuzung, fie näherte fich bereits ihrem Heim. Ein 
Herr, der aus der Geitenftraße trat, 30g ebrerbietig 
den Hut. 

„Suten Abend, liebe Tante! So jpät in diejem 
Unmetter auf der Straße?” 

„Ei fieh da, Egon — bift Du auf dem Wege 
zu ung?” 

„Jawohl, liebe Tante, ich wollte Dir und dem 
Dnfel mitteilen, daß ih am nächſten Sonntage in 
der Altitadt meine erfte Predigt halten werbe. 
Vieleicht fchenlfi Du mir Deine Gegenwart. Auf 
Onfelchen darf ich wohl nicht rechnen.” 

Frau Nieberftetter late. „Raum, Du tennfl 
ja feine Abneigung gegen Kirchenluft, ich aber komme 
beftimmt.” 

„Run aber Jage mir, wo Du berlommit, Tantchen, 
Du ieh ja wie ein Schneemann aus und es ift 


IV. 13 


179 Ohne Gott. 
nicht anzunehmen, daß Du Dir diefes Höllenwetter 
freiwillig zur Promenade ausfuchteft.” 

„Ich komme aus dem Elend,” antwortete die 
alte Dame fehr ernft. „Denke Dir eine Mutter, 
die durh Schuld einer unwillenden Frau fchwer 
frank daniederliegt und ihre Gejundbeit wohl nie 
völlig zurüderhalten wird. DenkeDir ihrNeugeborenes, 
ein urjprünglich gelundes, Träftiges Kind, flerbend 
aus Mangel an Pflege und geeigneter Nahrung, 
denfe Dir dazu als Stüße und PVerjorgerin der 
Familie ein zmölfjähriges, Ihmindjüchtiges Mädchen 
und einen bisher ordentliden Mann, den Not und 
Verzweiflung zum Truntenbold gemadt haben. Dente 
Dir diefe alle in einer zugigen, ungeheizten, eis- 
umfrufteten Dachlammer, von Cichorienbrühe und 
trodenem Brot lebend, und Du baft einen Ylid in 
das Elend gethan, das fih in unjerem Arbeiterftande 
breit madt, ſobald Krankheit oder Arbeitslofigkeit 
die Familie heimjuchen.“ 

„Welch furhtbares Bild entrolft Du ba, Tante,“ 
Iprad) ber Kandidat erjhüttert, „Tann man denn nicht 
helfen?” 

„Sn diefem einen Falle vielleicht etwas, wenn 
auch nur wenig. ch thue, was ich fann, aus Snterefle 
für die Frau, mein ehemaliges Dienftmäbchen, wer 
aber hilft allen denen, die feine Gönner und Freunde 
haben? Das Schidjal meiner Minna ift keine jeltene 
Ausnahme. Es droht jedem und jeder. Der einzige 
Lichtblid in allem Sammer der Köhlerichen Häuslichkeit 
ift ein prächtiger, Fleiner Junge, wohl das einzige 
von jieben Kindern, das ihnen erhalten bleiben wird.” 

„Der Herr bat fie ihnen gegeben, der Herr hat 
fie genommen,” Ipradh der Kandidat fromm. 

Frau Niederftetter, die gerade im Flur ihrer 
Wohnung den Mantel ablegte, fuhr herum. „Sa: 
wohl, der Herr hat fie genommen,” rief fie jarkaltiich, 
„er ließ eines durch das Seniter auf die Straße 
fallen, zwei fi} in der Nadhbarwohnung die Diphtheritis 
holen, als die Mutter im Wochenbeit lag und fie 
nicht beauffichtigen konnte. Das vierte ließ er an 
ganz natürlider Schwäde fterben. Vielleicht hätte 
es aber etwas mehr Lebenstraft mit auf die Welt 
gebracht, wenn jeine Mutter weniger jchwer gearbeitet 
und dafür etwas befjer gelebt hätte Cs fam am 
Ende eines Winters zur Welt, in dem der Mann 
eine fchwere Lungenentzündung durdgemadt hatte 
und drei Monate arbeitsunfähig gewejen war.” 

Die Stirn des Kandidaten hatte fich gerötet. 
„Aber liebe Tante,“ jchaltete er ein. 

„Ss ift merkwürdig," fuhr Frau Niederitetter 
fort, „daß der liebe Gott immer nur den Armen bie 
Kinder, die er ihnen gab, in jo großer Zahl wieder 
fortnimmt. 3b fürchte faft, daß ihm dann Volke: 
findergärten, Kleintinderbewabranftalten und Kinber- 
beilftätten ein Greuel find, fie arbeiten ihm ja ent- 
gegen.” 

zrau Niederftetter und ihr Gafl waren in: 
zwilchen ins Wohnzimmer getreten, einen freundlichen, 
etwas altmobiihen, aber unendlich behaglih einge- 
richteten Raum. Die Dame jhritt zu einem Tiich, 
auf dem bereits Theegerät ftand und entzündete bie 
Spiritusflamme unter dem jpiegelnd blanten Theekeflel. 





Roman von ©. Karl. 


180 

„Ih bin durchkaltet an an Leib und Seele, ie 
freue mich auf ben warmen Tranl,” jprad) fie, „meine 
Skhütlinge haben nun ihre Extrafuppe auch bereits 
gegefien und jammeln in ihrer durhwärmten Stube 
Kraft für die Leiden des näcdlten Tages.” 

„Hält Du es für angebradt, liebe Tante, 
wenn ih die unglüdliche Familie befuhe, um fie 
mit geiftlihem Troft zu unterftügen?” fragte Egon 
Schmidt. 

Die Frau Profeffor fann nad. „Du kannt es 
ja verfucdhen,“ meinte fie jchließlih, „obwohl ih Dir 
für den Erfolg nicht ftehen kann. Es ift in unfere 
Arbeiterkreife Schon zu viel von dem gedrungen, was 
Du ‚das Gift der Aufflärung‘ nennt. Das beißt 
alfo Kenntnis vom natürlihden Welen der Dinge. 
Die focialiftiichen been, meiftenteils mit frafjeftem 
Materialismus gepaart, find jeder pofitiven Religion 
abholb. Die Kenntnis ber Naturwiflenichaften erobert 
fih immer weitere Kreife, und unfer Chriftentum in 
feiner jegigen Form ift nicht in der Lage, den Kampf 
mit jo unerbittliden Gegnern aufzunehmen.” 

Der Kandidat ftarrte der Sprecherin ins Geficht, 
als traue er feinen Ohren nicht. „ft es möglich, 
Tante, Du Iprichit unjerer göttlihen Religion die 
Kraft ab, den Geift des Atheismus, der jebt bie 
Melt Durddringt, zu überwinden? Das beißt ben 
Untergang des Chriftentums prophezeien.” 

„Den Untergang der chriftlichen Kirche in ihrer 
jegigen Geftalt allerdings, aber das Unglüd wäre 
nicht zu groß, denn die Kirche ift nicht identiich mit 
dem Chriftentum. Wir find weit abgefommen von 
dem, was Chriftus lehrte, obwohl feine Lehre der 
reinfte Socialismus war, freilih in mehr idealer 
Form als man ihn heute fordert. Wenn es aber 
auch möglich wäre, feine Lehre in ihrer urfprünglichen 
Reinheit mwiederherzuftellen, jo würde fie dem heutigen 
Bedürfnis nicht genügen. — Keine Religion, aud) 
nicht die idealjte, kann unverändert dauern für alle 
Beiten.“ 

„Ih muß Dir widerjprechen, liebe Tante,“ 
ſprach der Kandidat feſt, „unſere uns von Gott 
offenbarte Religion kann die Zeit ſehr wohl über— 
dauern, eben weil ſie göttlich iſt. Es gehen An— 
fechtungen über die Erde, ſchwere, dunkle Zeiten, in 
denen das Wort Gottes gleichſam am Boden liegt. 
Aber wie ein Samenkorn in dunkler Erde, bleibt es 
dem menſchlichen Wahrnehmungsvermögen wohl eine 
Zeitlang verborgen, um dann ſiegreich als ſtrahlende 
Blüte emporzuſteigen ans Licht der Sonne.“ 

„Richtig,“ ſtimmte die Tante bei, „aber wenn 
das Erdreich ſich ändert, muß ſich die Pflanze ihm 
anpaſſen, oder ſie geht zu Grunde. In dieſem Falle 
befindet ſich zur Zeit unſer religiöſes Bekenntnis. 
Der Boden, aus dem es zuerſt herauswuchs, war 
ein weſentlich anderer als unſere Jetztzeit mit ihrer 
hoch entwickelten Wiſſenſchaft ihn der Religion bietet, 
und doch ſteift Ihr Gottesgelehrten Euch darauf, 
immer noch die alten Märchen aufrecht zu erhalten. 
Ihr verſchmäht es, das zarte Pflänzchen Religion ſo 
zu kultivieren, daß es den ſcharfen, kritiſchen Luftzug 
der neuen Zeit vertragen kann, und wundert Euch 
dann, wenn es verdorrt. Hütet Euch, daß Ihr nicht 





181 


durh eigene Schuld eine Sandbwüfte jchafft, wo 
blühende Landichaft fein Tönnte. Das Religionsbe: 
dürfnis liegt tief in der menjchliden Natur begründet, 
aber e8 ift uns Modernen nicht zuzumuten, im 
eigenen Gemüt eine Dunkellammer einrichten zu follen, 
in die fein Strahl vom Lichte der Wiflenichaft fallen 
darf. Das aber müflen wir, wenn mir an unjer 
Hriftlides Dogma glauben follen.” 

„Der Glaube und die Willenihaft haben fi 
ftetS feindlich gegenüber geftanden, liebe Tante. AU 
unfer Willen ift Stüdwert, Menjchenwerl, wie weit 
wir au im legten Jahrhundert gelommen jein 
mögen. Unjere uns durch Chriftus, ben Gottesjohn, 
offenbarte Religion mit diefem Maß zu mellen, haben 
wir fein Reht — uns ziemt nur demütiger, aber 
felfenfefler Glaube. Unb das eben ift ber Krebs: 
Ihaben ber heutigen Zeit. Es giebt feinen Glauben 
und darum keine Religiofität mehr. Man lieft bie 
Bibel nur, um fie auf MWiderjprühe ober noch 
Ihlimmere Dinge anklagen zu können, man taftet 
an den SHeilswahrbeiten herum, wie an einem 
anatomilhen Präparat, anftatt fie binzunehmen und 
zu bewahren wie ein beiliges Kleinod. Der Glaube 
it die Himmelsleiter, auf der wir vom Sichtbaren 
zum Unfichtbaren auffteigen.“ 

„Richtig, wo das Begreifen aufhört, bleibt 
uns nur das Nichts oder der Slaube, aber man 
muß ihn uns nicht in einer Form zumuten, die dem 
bereits Begriffenen widerjpriht. Das aber thut hr 
—: hr Strenggläubigen — und Ihädigt die Menic- 
beit damit jchlimmer als der eifrigfte Socialdemofrat, 
wenn er jagt: ‚Bott ift Unfinn, die Kraft ift alles. 
Sie war und wird fein und weiter nichts‘.” 

Der Profeflor trat ein, um am Abenbthee teil- 
zunehmen. Er war ein lleines, bürres Männden 
mit faltigem, gelblidem Gefiht, in dem die intelligenten 
Augen hinter fcharfen Brillengläjern funtelten und 
- deflen mächtige Stirn nur no von jpärlichem 
grauem Haar umlränzt wurde. Nachdem er Gattin 
und Neffen berzlich begrüßt hatte, nahm er am Tifche 
PBlat und griff die legten Worte der alten Dame 
wieder auf. 

„Die Kraft ift auch alles, Anna, und Euer 
alter Gott nur ein menichlicher Begriif, ein vom 
Menihen erichaffenes Welen, das feine Eigenichaften 
änderte, je nad) dem Stande der augenblidlichen 
Kultur. Als Moloch forderte er lebendig gebratene 
Menihenopfer, als der Yehova der erjten Bücher 
Mojes mwütete er mit Feuer und Waflerfluten gegen 
das Ihwadhe, jündige Menjchengeichleht, das er 
jelbft doch fo geichaffen haben follte und befjen mangel- 
- bafte Beichaffenheit er als Allwifjender doch fennen 
mußte. Als bedeutend veredelter Gott des Chrilten- 
tums ließ er fi zwar herbei, diverfe Wunder zu 
verrichten und feine von ihm jelbft geichaffene Welt: 
ordnung damit auf den Kopf zu fielen, aber bas 
einzig Richtige that er nicht. Er unterließ es, den 
wahren Glauben To deutlich zu ‚offenbaren‘, daß 
Zweifel daran ausgejhhloffen blieben. Er, ber Al: 
wiflende, alles Worberbeftimmende, Eleidete feine 
‚DOffenbarungen‘ in fo unbeftinmte $ormen, daß fich 
bie chriftliche Menfchheit ein paar Yahrtaufende lang 


Ohne Gott, Roman von €. Karl. 





182 


gegenfeitig zerfleiiden konnte, um dahinter zu fommen, 
weldhe Auslegung etwa die richtige fein dürfte. Er 
ließ und läpt Millionen Menjchen ohne ihr Zuthun 
in Gegenden geboren werden, in bie noch nie ein 
Strahl jeines Lichte — wie Yhr Geiftlihen jagt — 
gedrungen ift, und jchidt fie dann als Heiden in bie 
Hölle. Sn diefelbe Hölle, die er Do fjamt ihrem 
Beherricher, dem Teufel, jelbft geichaffen haben müßte, 
wenn man ihn als ‚alleinigen Gott, Schöpfer Himmels 
und der Erde‘, anjehen joll. — Geht mir mit Eurem 
Bibelgott, der Glaube an ihn bat unfägliches Unheil 
über die Welt gebradht.” 

Der Kandidat wendete fih mit gefränkter Miene 
ab, er ftritt grundfägli nicht mit dem Obeim, ben 
zu überzeugen er nicht hoffen durfte Frau Anna 
aber fprang auf und rief mit bodhroten Wangen: 
„Und bob ift ein Gott und er offenbart fich 
ftündlih vor Euren Augen, Yhr Eugen Herren, wenn 
Shr diefe nur aufthun wollte. ch bin leider eine 
ganz ungelehrte Frau, befige nichts von der glänzenden 
Dialektil, die es Euch ermöglicht, jcheinbar Logiich 
zu bemweilen, daß jhwarz eigentlich weiß ift. Jh muß 
zu Deinen Gründen oft jcehweigen, weil mir das 
Nüftzeug der Gelehrjamteit fehlt, un ihnen zu be: 
gegnen, und doch fühle ih, daß fie unridhtig, will 
lagen, nicht erjchöpfend find. An den aus Wiber: 
jprüdhen zulammengejegten Gott, wie ihn die Bibel 
lehrt, kann auch ich nicht glauben, aber muß man 
denn feine Eriftenz abjtreiten, weil die Form, unter 
der man ihn bisher darftellte, fi als unbaltbar er: 
weit? SH muß Dir zufliimmen, wenn Du bie 
finnlide Borftelung Gottes als ein Produft bes 
Menfchengeiftes bezeichnet, auch Goethe jagt: 

‚Wie einer tft, fo tft fein Gott, 

Darum wird Gott fo oft zu Spott.‘ 
Rohe Völker haben aljo rohe Götter, fie können in 
ihren Begriffen nicht über fich jelbft hinaus. Darum 
fann auch, wie ich erfl zu Egon äußerte, eine Ne: 
ligionsform niemals ewig währen, jedes Belenntnis 
ift nur ein Sleichnis für ein uns Unbefanntes — es 
muß fi ändern, jobald mit fleigernder Erkenntnis 
das Gleichnis nicht mehr paßt. Soll ich aber Gott 
darum leugnen, weil ih ihn mir nicht vorftellen 
tann? Sol ih die Unendlichkeit, die Ewigkeit 
leugnen, weil ich keinen Begriff dafür habe?” 

„Das thun au wir nicht,” Tprach der Profeffor, 
„wir willen, baß es für unjer Willen eine Grenze 
giebt, aber wir haben der Natur bereits genug hinter 
die Gouliffen geihaut, wir haben ertennen gelernt, 
daß Kraft und Stoff die wahren Götter find. Sn 
unendlihem Wechjel verkinden und Iöjen fich Die 
Stoffe, aber nit willtürlih auf göttliches Gebot, 
fondern nad) Gejeten, die feines Gottes Hand durdj= 
breden Tann.” 

„Und woher kamen biefe Gelege und woher fam 
der Stoff? Mögt Ihr nad Darwin vom Urjchleim 
reden, mögt hr mit Laplace als losmilhe Materie 
eine Art Nebel annehmen, die den Weltraum erfüllte, 
um fi mit Hilfe der Anziehungstraft und Notation 
zu Sonnenfyftemen zu verdichten, immer müßt hr 
etwas bereits Vorhandenes vorausjegen und einen 
Willen, oder nenne es eine Kraft, die diefem Bor: 


nn nn 


f 


183 Ohne Gott. 
hbandenen ben richtigen Anftoß gab, um aus dem 
Gleihförmigen ein Mannigfaltiges zu ſchaffen. 
Diefer Wille, diefe bewußte Kraft ift Gott. Ach 
möchte ihn das Weltbemußtjein nennen. Da er 
aber die Naturgefege nicht willlürlih durchbrechen 
darf, wenn er fein eigenes Werk nicht zerflören will, 
fo kann er fi nit in plumper Form ‚offenbaren‘, 
er muß e8 unferer fteigenden Entwidelung überlafien, 
feinem wahren Wejen näher zu lommen.” 


Die Frau Shwieg und blidte den Gatten an; 
aber dieſer fchien nicht gewillt, fie zu unterbrechen, da 
fuhr fie fort: 

„Ihr Tagt jehr geiftreih: ‚Was den Menjchen 
vom Tier unterjcheidet, ift die Fähigkeit, Geilt zu 
entwideln, zu denten.‘ — Nun, ijt diefer Geift, der 
fid auf der Stufenleiter des Gemworbenen erft beim 
Menihen findet, der ihn befähigt, innerhalb ber 
Grenzen ber Gejegmäßigfeit jelbftändig zu handeln, 
reipeltive zu Ichaffen — ift er nicht ein Teil Gottes? 
Wir können uns einen lebenden Menjchen nicht vor: 
ftellen ohne diefen Geift, warum jollen wir ung denn 
das Weltall nur ale Materie, nur als geiltlofen 
Körper voritelen? Mir geiftesbegabten Menſchen 
denken und handeln troß unferer Icheinbaren Willens: 
freiheit nur im Banne der Gejegmäßigfeit und doc 
bewußt. — Warum fol der Geift, der den ganzen 
Organismus des MWeltals durchdringt, nicht erft recht 
fih jeiner jelbft bemußt fein und innerhalb gegebener 
Grenzen immer no Ichaffen, bewußt jchaffen? Wir 
jehen, daß Tiere, in andere Zonen verlegt, anderen 
Gefahren ausgefest, ihre Farbe, ihre Korm verändern. 
Shr Belz wird im hohen Norden dider und nimmt 
weiße Farbe an, um die Kälte ertragen und ber 
Verfolgung durch Feinde fih auf den weißen Schnee: 
und Eisfeldern befjer entziehen zu können. Syhr 
nennt das ‚Selbftihuß der Tiere‘; habt hr aber jchon 
erlebt, daß irgend ein Geihöpf nur einem feiner 
Heare aus eigener Kraft eine andere Farbe gegeben 
hätte? Die ‚Natur‘ jorgt allo nad Bedürfnis für 
ihre Gelhöpfe. Sollte fie das unbemußt thun? 
Warum jorgt fie denn nicht für den vernunftbegabten 
Menihen? Der Estimo kommt auf Grönland ebenfo 
nadt zur Welt wie der Afrikaner am Äquator, fein 
Haar ift nicht weiß wie das des Eisbären — es 
a fih alfo bier nicht um ein allgemeines Natur- 
geſetz.“ 

Der Profeſſor lachte und ſtrich liebevoll über 
das erhitzte Geſicht ſeiner Gattin. „Ich ſtreite nicht 
mit Frauen,” ſprach er dann mit dem ganzen Selbſt— 
bewußtſein des gelehrten Mannes, „ſonſt könnte ich 
Dir beweiſen, daß auch der Geiſt des Menſchen nur 
eine Außerung ganz beſtimmter Naturkräfte iſt, daß 
er ſich im menſchlichen Körper entwickelt und mit 
ihm ſtirbt; aber Ihr Weiber feid ja nicht zu über— 
zeugen.“ 

„Nein, Friedrich, in dieſem Falle bin ich es 
wirklich nicht, denn ich habe Deine und anderer Ge— 
lehrten geiſtreiche Abhandlungen darüber geleſen, ohne 
daß ſie mich überzeugt hätten. Ich möchte Euch Ge— 
er ber Naturwiſſenſchaften wieder mit Goethe zu: 
rufen: 





Roman von €, Rarl. 





184 


‚Daran ertenn’ ich den gelehrten Herrn! 

Was hr nicht taftet, fteht Euch meilenfern! 

Was Jhr nicht fabt, das fehlt Cud) ganz und gar! 
Mas ar nicht rechnet, glaubt Zhr, jet nicht wahr; 
Was hr nicht wägt, bat für Euch fein Gcewidt; 
Was Zhr nidt münzt, dad, meint Shr, gelte nicht.‘“ 

Der Profeflor lachte abermals, der Eifer feiner 
Gattin amüfierte ihn augenjcheinlic. 

„Sahrhundertelang,” fuhr diefe fort, „haben 
einzelne die Erxiftenz der Eleftricität geahnt, ohne fie 
beweifen zu fönnen. Heute ift fie bewielen, und wie 
würdeft Du über einen Menidhen laden, der fie 
leugnen wollte, weil die Majchine, die fie — nicht 
erzeugt, denn fie ift überall in der Natur vorhanden 
— Sondern zur Eriheinung bringt, zerbrocden ift. 
Sch glaube wirklih, daß es mehr Dinge zwilchen 
Himmel und Erde giebt, als Eure Schulweisheit fich 
träumen läßt, wenn ich dabei auch anderes im Sinne 
babe wie Hamlet.” 

„Nun, fo bleibe bei Deinem Glauben, Kind, 
aber verlange nicht, daß ich ihn teile.” 

„Wem ein Glaube oder Linglaube wie ber 
Deinige genügt,” rief feine Gattin, „wer jein Leben 
bei völliger Entfaltung feiner Geiftesträfte voll aus- 
leben darf und bamit zufrieden ift, dem will ich feinen 
Glauben weiter aufdrängen, er vermißt ihn ja nidt. 
Aber, Friedrih, es ftehen nicht alle Menjchen auf 
Deinem Standpunkt. Millionen ringen in unerträg- 
liben Berhältnillen ums tägliche Brot, fie jehen fich 
oder die Shrigen vor der Zeit von mörderiichen Zu: 
fällen, die abzuwenden fie feine Macht haben, dahin: 
gerafft und Zhr nehmt ihnen den einzigen Troft und 
Halt, den fie no haben, die Religion. In einer 
Volkslitteratur, die bisher ihresgleichen ſuchte, ver: 
arbeitet die Socialdemokratie die Errungenjchaften der 
modernen Willenfchaft und verdiente damit, indem 
fie allgemeine Geiftesbildung fördert, den mwärmften 
Dant aller Gebildeten, wenn fie nit aus Partei: 
interefje in einfeitiger Weije vorginge. Sie fördert 
ben Atheismus, um bie arbeitende Klalfe aus ihrer 
Lethargie aufzurütteln. Sie joll niht an ein Sen: 
jeits glauben, damit fie das Diesjeits beſſer ausnüßt. 

‚Macht Euch das Leben gut und fchön, 

Kein Ienfeits giebt’3, fein Wiederjehn,‘ 
ift ein belannter focialdemofratifher Sprud. Aber 
er kann denen, die nicht die Macht haben, ihr Leben 
gut und Schön zu geftalten, nur Verzweiflung bringen. 
hr Modernen reißt das Alte ein und hr thut 
reht daran, wo es fih um Berrottetes banbelt. 
Aber hr baut nicht Neues, oder das Neue nicht zwed: 
entiprehend. Statt warmer, behagliher Wohnungen 
baut hr Talte, nüchterne Räume, in denen das 
Menihengeihhlecht erfriert und verdirbt.” 

„ziebe Anna, wenn die Wahrheit kalt ift, fo 
fönnen wir fie nicht fünftlih erwärmen, ohne fie zu 
zerftören,” |prach der Profeflor. 

„Wer jagt Euch aber, daß alles Wahrheit ift, 
was hr predigt? Wie zwei entgegengeleßte Richtungen, 
folgerichtig durchgeführt, fich Ichließli berühren, fo 
fann man umgefehrt, von demjelben Buntt ausgehend, 
zu ganz verichiedenen Anfchauungen gelangen. hr 
Materialiften wollt aber nur mit dem rechnen, was 
Eure Sinne wahrnehmen können, wo die Natur Euch 





185 Ohne Gott. 
einen Schleier vor das jpürende Auge zieht, da 
proflamiert Shr das Nichts und ahnt nicht, weld 
Ihwere fociale Gefahr Zhr damit heraufbeichmwört. 
Der Materialismus wirkt verrohend auf die Maflen, 
nur einzelne fittlih bochitehende Menichen fünnen ihn 
ohne Schaden vertragen. Sie überwinden ihn, wie 
der gejunde Organismus ein Gilt. Anders aber 
fteht e8 um unjere breiten Bolleihichten und um 
weiche, gemütswarme Naturen. ihnen genügt Eure 
talte Lehre nicht, fie bliden auf dem wilden Meer 
des Lebens angftvoll nach einem rettenden Hafen aus, 
fie liegen fjchmerzzerrifien auf den Gräbern ihrer 
Lieben und verlangen Troft, und Shr haltet ihnen 
ftatt deilen das ‚Nichts‘ entgegen; das Nichts, das hr 
nicht beweilen könnt.” 

„Liebe Tante,” milhte fih jet endlich ber 
Kandidat in das erregte Gelpräch, „hier aber ift der 
Punkt, wo unfere Thätigleit einjegen muß, wer noch 
jo fühlen, fo nad Höherem verlangen kann, beflen 
Ohr ift der ewigen Wahrheit noch nicht verjchloflen.” 

„Do, mein Sohn,” war die Antwort. „Sn 
weſſen Verſtand das Licht der Wifenfhaft einmal 
bineingeleuchtet hat — und es leuchtet heute au 
dem einfacdhiten Arbeiter, wenn er danad) verlangt — 
der verjchließt jein Ohr der jogenannten Wahrheit, 
die Yhr ihın bietet, ihm allein bieten dürft, wenn 
Ihr nicht von Amt und Brot fommen wollt. Er: 
neuert erft das Gebäude der dhriftlichen Kirche, brecht 
es ab bis auf das Fundament der unvergleichlichen 
hriftlihen Sittenlehre, deren oberfter Grundfag hieß: 
‚liebe Deinen Nädjften wie Dich felbit,‘ und dann 
baut darauf ein neues Gotteshaus, in dem auch der 
wiflenichaftlih Gebildete beten fann, ohne Augen und 
Ohren zu fchließen, in das die Sonne der Willen: 
Ihaft bineinfcheinen darf, ohne Eure Altarkerzen mit 
ihrem Licht zu verdunfeln. Schafft uns eine Nteligion, 
die wir glauben können, und Millionen Menfchen 
werden e8 Euch danken.” 

Der Profeſſor erhob ich vom Tiich, er hatte fein 
Mahl beendet. 

„Du meint e8 gut, Anna,” jprad er, fie auf 
die Stirn fülfend, „aber Du wirft nichts erreichen. 
Uns befehrit Du nit, und die Theologie, die Du 
jo zum Brüdenbau aufforderft, wird Di in Acht 
und Bann erklären. Nicht wahr, Egon?“ 


„Das wohl nicht,“ ermwiderte der Neffe, „denn 
Tante meint es gut, fie will nad rauenart ver: 
mitteln. Aber damit ift uns nicht gedient. Wir 
fönnen feine Halben gebrauden, wer fidh zu Chriftus 
befennt, jol e8 ganz und voll thbun. Nicht die chrift- 
lihe Sittenlehre ift das Fundament unferer Kirche, 
jondern der Glaube an Chriftus als unfjern Erlöfer, 
ber fein teures Blut für unfere Sündenichuld vergoß. 
Und wem es nur rechter Ernft ift mit dem Glauben, 
der wird fich dieje bejeligende Gewißheit nicht nehmen 
lafien, der Wilfenfchaft zum Troß. Das Chriftentum 
ift den Menihen gegeben als ein Licht, den Geift zu 
erleudhten, und als eine Kraft — eine Kraft Gottes, 
die Anfechtung zu beitehen und die Herzen zu freudiger 
Buverficht zu erheben.“ 

Der VBrofeflor ladhte auf. „Da haft Du das 


Roman von €. Karl. 


186 


Nejultat Deiner Predigt. — Yh mwünjidhe eine ges 
jegnete Mahlzeit.” 

Er verließ das Zimmer, feine Gattin aber jentte 
das Haupt in ihre Hände und feufzte aus tiefftem 
Herzen. 


III. 


Der Frühling war ins Land geloinmen und 
hatte Schnee und Eis mit feinem Belen aus Sonnen: 
trahlen binweggefehrt. Die von Eryftallener Fellel 
befreiten Wellen des Stromes trugen wieder ftolze Kauf: 
fahrteifchiffe, und die Fracht, die fie brachten und hin: 
wegnahmen, gab Hunderten fleißiger Hände das be: 
icheidene Brot der Arbeitereriften;. 

Auch große Traften Holz famen den Strom ab: 
wärts und auf den Holzpläßen entwidelte fich reges 
Leben, die Stadt trieb großen überfeeifchen Holzhandel. 

Zur Feierabendflunde jchoben fih zahlreiche 
Voltsmaflen durh den Stadtparf, um das frilche 
Grün zu genießen und den Nachtigallen zu laujchen, 
die in den Büjchen ihre LTiebeslieder fangen. Manch 
junger Burjhe ging da Arm in Arm mit feinem 
Liebhen, aber manch trübes Auge ftreifte auch nur 
gleichgültig ale die junge Pracht und ftrebte dem 
niedern, bunfeln Thor zu, das aus dem Park ins 
Freie führte, denn da draußen lagen die Friedhöfe 
und manch friiher Hügel hatte fih im Lauf des 
Winters dort gemölbt. 

Auch das SKtöhlerjche Ehepaar hatte fein jüngites 
Söhnen dort zu den vier vorangegangenen Kindern 
gebettet, der erfte Wochenlohn aus der Eijengießerei, 
in der der Mann Arbeit erhalten, hatte den Sarg 
geliefert. Aber die Mutter war am Leben geblieben 
und fogar ziemlich gefund geworden; nur jehr Ihonen 
mußte fie fich, fie hatte, wie ihr Mann jagte, „einen 
Knar weg”. 

Sie hatte eine Stelle als Aufmärterin mit 
täglich dreiftündiger Arbeit angenommen, der Mann 
hatte jein VBeriprechen gehalten und die Schente ge: 
mieden. Er arbeitete nicht nur fleißig in der Fabrik, 
jondern faft an jedem Sonntagmorgen mit einem: 
Belannten zufammen am Hafen, um die Schiffe 
bineinzufchaffen, die fich veripätet hatten. 

So gab es denn wieder beflere Koft und man 
hatte fogar begonnen, die verjegten Befigtümer wieder 
einzulöjen. Der Meine Karl jah aus wie ein Bors: 
dorfer Apfel, und Mariechen jchrieb mit ungelenfer 
Kinderhband jede Woche eine glüdlihe Epiftel. Sie 
hatte Schulurlaub und war auf dem Lande. 

Audh noch eine Einnahmequelle war der armen 
Familie geworden. Der Armenverein hatte auf Bitte 
ber Frau Profellor die alte rau Liedfe bis zu ihrer 
\berfiedelung ins Siehenhaus bei Köhlers in Pflege 
gegeben. Die neben der Stube gelegene Bodenfammer 
fonnte jett in der guten Jahreszeit von Köhler und 
leinem Söhnden als Schlafraum benußt werden, jo 
war im Zimmer Raum für die alte Frau geworden. 
Da jaß fie nun in ihrem alten Holzlehnftuhl am 
Senfter und freute fich über die Shöne Ausficht, über 
die Ruhe und über die Sauberkeit, die fie umgab, 





187 Ohne Gott. 
Abends und Sonntags fam Alma und las ihr vor 
— es war fein Vergleich mit ihrem früheren Leben, 
wo die rohen Miteinwohner fie vernadläjligt und 
geplagt hatten. Wie dankte fie Gott und wie freute 
fie fi über die Feine Einnahme, die der arbeitfamen 
. Hausfrau dur ihr Koftgeld erwuchs. Sie hätte fi 
am liebften nur halb fatt gegellen, um nicht zu viel 
zu verbrauden. 

Alma aber drang auf gute Pflege der Groß: 
mutter und fteuerte von ihrem Berdienft bei, joviel 
fie fonnte. Sie fchlief noh im alten Logis, mied 
aber den Aufenthalt darin foviel wie möglich, weil 
ihr die habjüchtigen Leute die Entfernung der alten 
Frau nadtrugen. Eines oder das andere der Kinder 
hatte fih immer noch aus dem Napf der geduldigen 
Alten gefättigt, wenn Alma abwejend war. 

So entitand auch zmwiigen Alma und den 
Köhlerihen Familiengliedern eine Art Freundichaft, 
obgleih das Mädchen als ehemalige Schülerin einer 
guten Bürgerfhule und als Schneiderin nicht recht 
in den Kreis bineinpaßte. Die Dankbarkeit über: 
brüdte die Kluft. 

Sa, es war überall Frühling und goldene Beit. — 

Ein Sonntagabend war’s und die Nadtigallen 
iohienen ihre füßeften Lieder zu fingen, da faßen ein 
Mann und ein Mädchen auf einjamer Bank im 
Stadtparl. Er Hatte den Arm um ihre Schulter 
geihlungen und flüfterte Worte heißer Leidenjchaft 
in das Ohr der atemlos Laujchenden. 

Cs war ein fchönes Baar, der Former Hans 
Schmieder, von feinen Kameraden fchlechtiweg 
Schmiederhang genannt, und die Schneiderin Alma 
Liedle. Er ein bochgewadjlener, blonder Menich 
mit energiihem, vielleicht etwas herrifchem Geſichts⸗ 
ausdrud, dem der Vollbart prächtig ftand, fie ein 
zartes Mädchen, mehr ſchwärmeriſch und weich an— 

gelegt. Er eine auf ſich ſelbſt geitellte, wohl ent- 
Ihieden jelbjtherrlide Natur, fie eine fügjame, 
führungsbedürftige, mehr zaghaft als energiih ver: 
anlagte Seele. 

So eridienen die beiden dem Beichauer auf 
den eriten Blidl, fie trugen den Stempel ihrer Per: 
Tönlichkeit gewiſſermaßen zur Schau und waren 
ſchon in dieſer Äußerlichkeit ein Beweis, wie gerade 
die Gegenſätze ſich anziehen. 

„Ich kann nicht, Hans, ich kann es wirklich 
nicht thun,“ flüſterte das Mädchen. 

„So liebſt Du mich eben nicht mit der rechten 
Liebe, dieſe kann alles,“ war die unmutige Antwort. 

Das Mädchen brach in Thränen aus. „O 
könnte ich Dich in mein Herz ſehen laſſen, könnte 
ich Dir meine Liebe zeigen — könnte ich für Dich 
ſterben,“ rief es ſchwärmeriſch und umſchlang ihn mit 
den Armen. 

„Das ſind Romanphraſen, die ich auf ihre 
Echtheit gar nicht prüfen will,“ ſprach der Mann 
kühl, indem er ſich aus ihrer Umſchlingung löſte. 
„Wir brauchen heutzutage keine unklaren Gefühle, 
kein Sterbenwollen, wir brauchen Thaten, wenn 
wir die neue glückbringende Zeit heraufführen 
wollen. Wir Pioniere der neuen Kultur müſſen 
den Mut haben, mit den hergebrachten Formen der 


Roman von E. Karl. 


188 


alten zu brechen und zwar durch die That. Da 
hilft kein Mundvollnehmen, kein Redenhalten, da 
hilft allein das Beiſpiel, wenn wir nicht wie Schafe 
in ihrem Pferg immer in die Runde gehen wollen. 
Glaube mir, Liebchen, die Zukunft wird diejenigen 
als Bahnbrecher preiſen, die kühn den Ring be— 
ſchränkter Vorurteile durchbrechen und andern den 
Weg weiſen.“ 

„Aber die Gegenwart wird mit Fingern auf 
ſie zeigen,“ warf das Mädchen ein. 

„So mag ſie doch,“ rief der Mann, „es hat 
zu allen Zeiten Märtyrer gegeben, die für ihre Idee 
und deren Verbreitung gelitten haben, die Nachwelt 
preiſt ſie als Heilige oder Helden, baut ihnen 
Kirchen oder ſetzt ihnen Denkmäler.“ 

Dieſer Aufruf zu einem Märtyrertum ſchien 
das ſchwärmeriſche Mädchen tief zu berühren. 

„Du biſt ſo klug, Hans,“ ſprach es, „Du weißt 
die Worte ſo zu ſetzen — man merkt es, daß Du 
das Gymnaſium beſucht haſt, ich komme mir Dir 
gegenüber immer ſo dumm vor, ich kann zuweilen 
gar nicht begreifen, warum Du nur ein Arbeiter 
biſt. Mir ſcheint es manchmal, als hörte ich den 
Herrn Rechtsanwalt ſprechen, für deſſen Töchter ich 
arbeite.“ 

Die Bewunderung der Geliebten ſchien dem 
Manne wohl zu thun, obgleich ſie damit der Ant— 
wort auf ſein Verlangen auswich. „Glaube doch 
ja nicht, daß ich meine Klugheit‘, wie Du es nennſt, 
dem Gymnaſium verdanke, ich habe es, Gott ſei 
Dank, nur bis Oberſekunda beſucht, ſonſt wäre ich 
heute vielleicht ein ebenſo beſchränkter Bureaukrat 
wie der erſte beſte höhere Beamte. Glaube mir, 
Leute, welche Abiturienten- und Staatsexamen hinter 
ſich haben, beſitzen ſelten noch die geiſtigen Fähig— 
keiten, um das, was die moderne logiſche Wiſſen⸗ 
ſchaft uns handgreiflich bietet, überhaupt verſtehen 
und begreifen zu können.“ 

Das Mädchen ſah ihn erſtaunt an. „Ja, meinſt 
Du denn, daß ſtudieren dumm macht? Alles, was 
Du mir von den Errungenſchaften der Wiſſenſchaft 
erzählt haſt, iſt doch von ſtudierten Leuten aufge— 
funden worden.“ 

Der Mann lachte, ihm fiel im Augenblick keine 
Antwort ein. 

„Ich denke mir, es muß damit doch nicht ſo 
ſchlimm ſein,“ fuhr das Mädchen fort. „Als ich 
geſtern mit Rechtsanwalts am Tiſch ſaß — ich eſſe 
nämlich am Familientiſch — kam die Rede auf die 
Schule und die Frau Rechtsanwalt meinte, es wäre 
doch recht gut, wenn man die Gymnaſien endlich 
verbeſſern wollte; die armen Jungen lernten ſich 
ganz dumm an allerlei, was fie jpäter nicht ge- 
braudten. Da fagte der Herr Rechtsanwalt — und 
ih babe gut aufgepaßt, weil Du do auch das 
Gymnafium bejudht haft und es mich baber inter: 
eifierte — da jagte der Herr Rechtsanwalt: ‚Wer 
nur einen hellen Kopf bat, der lernt fih nicht Dumm, 
auh wenn er das Erlernte jpäter nicht braudt. Wie 
feine Körperfräfte muß man auch feinen Berftand 
üben, wenn er leiftungsfähig werben jol. Ob man 
ihn nun an diefem oder jenem übt, ift ziemlich gleich: 


189 Ohne Gott, 


Roman von E. Rarl. 





190 





‚68 erben fid; Gefe und Rechte 


gültig. Wer fi einmal an folgerichtiges Denen in 


einer Disciplin gewöhnt hat, kann es mit Leichtig- 
teit auch auf eine andere übertragen.‘ — So fagte 
er und ich habe ihn ganz gut begriffen, das ift ebenjo 
al8 wenn ein Maler malen lernt. Da wird es 
wohl aud gleich fein, ob er Menjchen oder Tiere 
malt und ob er feine Bilder gleich brauchen kann 
oder nicht, wenn er dabei nur lernt, wie man e8 
maht, um aus einzelnen Farben ein Bild berzu: 
ftellen.” 

Alma ſprach lebhaft, es war, als wollte fie den 
Mann verhindern, auf das frühere Thema zurüdzu: 
fommen. Aber es balf ihr nichts. 

„Run, wenn Du jo fürs Lernen bit, Schab,” 
jprad er, „jo lerne doch auch die Forderungen der 
neuen Zeit verftehen. Ich frage Dich noch einmal: 
Wil Du in freier Liebe meine Gattin werben?” 

„Aber Hans,” Ijchrie das Mädchen auf, „wie 
ann ich denn jeßt jchon Deine Frau werben, wo 
Du nodh eine bafl. Wir leben doch nicht in der 
Türkei.“ 

Der Mann ſprang heftig auf und ſtampfte mit 
dem Fuß. „Ich habe keine Frau mehr, ich habe 
mich von ihr geſchieden, weil das innere Band 
zwiſchen uns längſt zerriſſen war. Nach den An— 
ſchauungen Eurer Pfaffen hätten wir zwar unſer 
Leben lang nebeneinander hergehen und uns das 
Daſein nach Kräften verbittern müſſen, um im Jen⸗ 
ſeits dann die Belohnung für unſere Tugend zu er— 
halten. Wir Neuen aber erachten es ſür unſittlich, 
eine Ehe weiter zu führen, der die innere Berechtigung 
fehlt. Nur in Liebe ſollen die Geſchlechter ſich be— 
gegnen.“ 

„Aber Du haſt ſie doch einſt geliebt, kann 
Liebe denn ſterben?“ 

„Ich habe die Frau geliebt und wie geliebt, 
aber dieſe Liebe war ein Irrtum. Unſere Charaktere 
paßten nicht zu einander. Sie iſt eine kleinliche, be— 
ſchränkte Natur, die nicht über ſich ſelbſt hinauskann. 
Darum auch hat ſie mir die geſetzliche Scheidung 
verweigert. Unſere erbärmlichen Geſetze geſtatten 
aber eine ſolche nicht einſeitig auf ideale Gründe 
hin und zu andern hat ſie mir keine Veranlaſſung 
gegeben. Es bleibt alſo bei der freiwilligen 
Trennung.“ 

„Dann können wir uns auch nicht heiraten, 
Hans, vor dem Geſetz biſt Du ein Ehemann und 
das göttliche Gebot lautet: Du ſollſt nicht ehe— 
brechen.“ Das Mädchen brach in Thränen aus. 
„Wir müſſen entſagen, Hans, wir dürfen uns hier 
nicht wiederſehen. — Vielleicht im Jenſeits —“ 

„Es giebt kein Jenſeits, Mädchen, ich habe es 
Dir ſchon einmal geſagt, und es giebt auch kein gött— 
liches Gebot, weil es keinen Gott giebt. Was Ihr 
Gott nennt, iſt eine Naturkraft, die jedem Dinge 
und jedem lebenden Weſen die zu ſeiner Entwicklung 
nötigen Bedingungen ſchafft. Das Tier wird vom 
Inſtinkt getrieben, das ſeiner Art Zukömmliche zu 
wählen. Wir denkenden Menſchen aber gehen oft 
in die Irre, wir ſchaffen uns Geſetze, die wider 
— Natur ſtreiten, und ſtöhnen dann unter ihrem 
Joch. 


Wie eine ew'ge Krankheit fort, 


ſagt ein Dichter, aber er läßt es wohlweislich vom 
Teufel ſagen, damit man ihn ſelbſt für den Aus— 
ſpruch nicht verantwortlich machen kann. Solch ein 
vererbtes Geſetz iſt die lebenslängliche Dauer der 
Ehe — es iſt zur Krankheit geworden, alſo fort 
damit.“ 

„Aber Hans, ich kenne doch ganz alte Eheleute, 
die fi immer noch innig lieben.” 

„Sewiß, mein Herz, und auch wir werden, wie 
ih hoffe, ein jolches Paar fein. Wenn die Leiden: 
Ihaft, die die Individuen verjchiedenen Gejchlechts 
aneinander bindet und fie zur Erfüllung ihrer 
Pflicht gegen das Naturgejeh treibt, fi nicht ver: 
flüchtigt, fondern fih, vermöge übereinftimmender 
Geiftes- und Charaftereigenihaften in Freundichaft 
ummwandelt, dann fann ein folches Verhältnis bie 
an den Tod beftehen.” 

„Das verftehe ich nicht, Hans, bas ift mir zu 
hoch. Du haft jo viele Bücher gelefen, Bebel und 
Nordau und — und ih kann die Namen nicht alle 
behalten — Du magit es ja willen. Ich weiß nur, 
daß ih Dich liebe und lieben werde bis ans Grab. 
Wie es aber dann fein fol, wenn Deine Liebe fi 
verflüchtigt oder in Freundichaft ummanbdelt, während 
ih mit ganzer Seele an Dir hänge, das weiß ich 
nit. Soll ich dann Deine Freundin fein, während 
Du Dir zum Lieben eine andere Frau nimmt?” 

„Aber Närrhen, wer denlt daran, wer wird 
fich überhaupt mit folden Sorgen plagen. Heute lieben 
wir ung, darum wollen wir uns angehören, unbe: 
fümmert um das Gefchrei der Philifter. Mein Haus 
ift leer und barrt der Herrin, Du weißt, die Ein- 
rihtung darin gehört mir, ich bin niemand Reden: 
Ihaft jhuldig. Deine alte Großmutter ift verjorgt, 
fie gebraudt Dich nicht und weitere Blutsverwandte 
bat Du nicht. — Komm, die Nacht finkt herab, laß 
fte unjere Brautuacht fein.” 

Er umjhlang die Zitternde und küßte leiden: 
ſchaftlich ihr bleiches Geſicht. 

„Und meine Kundſchaft, mein ſicheres Brot?“ 
ſtammelte ſie angſtvoll. „Es wird mich kein an⸗ 
ſtändiger Menſch mehr anſehen.“ 

„Wer Dich, die Du aus freier Wahl das ehrliche 
Weib eines ehrlichen Mannes biſt, nicht mehr anſieht, 
der verdient nicht, daß Du Dich um ihn grämſt. 
Wir ſind hier eine kleine Gemeinde vorurteilslos 
denkender Menſchen, unter ihnen wirſt Du geehrt 
und geachtet ſein wie jede durch Pfaffenwort ver⸗ 
heiratete Frau, und ich will Dich auf Händen durchs 
Leben tragen. Komm —“ 


Er verſuchte die Zögernde vom Boden aufzuheben, 
ſie fühlte ſeinen heißen Atem in ihrem Nacken — 
da ging es plötzlich wie Entſetzen durch ihren ganzen 
Körper, ſie ſtieß den Verführer von ſich und floh 
wie ein geſcheuchtes Reh den Weg entlang. Eine 
Weile folgte er ihr in wilden Sprüngen, dann kam 
ihm ein Trupp Menſchen entgegen und zwang ihn, 
wollte er nicht Aufſehen erregen, die Verfolgung 
aufzugeben. Mit vor leidenſchaftlicher Aufregung 


191 Dbne Gott. 
pohenden Schläfen ließ er fih atemlos auf eine 
Bant fallen. Ä 

„Ste ift noch nicht reif für die neue Lehre, fie 
hängt noch zu jehr am alten Aberglauben; aber nur 
Geduld — Geduld — ” 

Tief verftedt im Gebüjch aber lag ein Mädchen 
auf den Knieen und rang verzweiflungsvoll die 
Hände. „Gott, o Gott, gieb mir ein Zeichen, wenn 
Du bift, damit ich weiß, ob Deine Gebote gelten 
oder nicht. Ich weiß ja nicht mehr, was recht und 
unrecht if. — Gieb mir ein Zeichen, guter Gott.“ 

Der Mond ftand Mar am Himmel und goß fein 
Silberliht über die Ichlafende Welt, die Nachtigallen 
Ihlugen immer nodh und die Nebel lagen duftig 
über den Partwielen. — Aber das erbetene Zeichen 
kam nicht. 


IV. 


Der Sommer kam und ging, die reifenden 
Früchte mahnten an den Herbſt, und der Wind ſpielte 
nicht mehr mit ſchwankenden Ahren, er fegte über 
kahle Stoppeln. Noch aber lag heiterer Sonnenſchein 
über Stadt und Land, und der neue Ernteſegen half 
Schiffe und Eiſenbahnzüge befrachten. — Am Hafen 
und Bahnhof regten ſich Hunderte fleißiger Hände. 

Auf dem Damm, der am Ufer des Fluſſes hin— 
führte, um einerſeits die weiten Wieſenflächen vor 
ſeinen Fluten zu ſchützen, andererſeits bei Windſtille 
den Segelſchiffen Gelegenheit zur Weiterbeförderung 
durch Menſchen oder Pferde zu geben, ſchritten zwei 
Perſonen, der Arbeiter Köhler und ſein Genoſſe 
Braun, ein kleiner ſtämmiger Menſch mit rohem 
Geſichtsausdruck. 

Es war Sonntagmorgen und eigentlich Feiertag, 
die beiden aber waren trotz deſſen keine Spazier— 
gänger. An ſchräg über die Bruſt laufenden Gurten 


hatten ſie lange Seile befeſtigt, mit deren Hilfe 


ſie noch vor Beginn des Gottesdienſtes ein ſchweres 
Schiff in den inneren Hafen ſchleppen ſollten. Sie 
„treidelten“, wie der Fachausdruck lautete. Im 
allgemeinen beſorgten kleine Schlepppampfer das 
Hineinſchaffen der Schiffe, am Sonntage ruhte aber 
der Schleppdienſt. 

Den kräftigen Braun ſchien die Arbeit wenig 
anzuſtrengen, dem ſchwächlicheren Köhler lief der 
Schweiß trotz der Morgenkühle ſtromweiſe über das 
Geſicht. Es ging gegen Wind. Endlich blieb er 
ſtehen und rang nach Atem. „Ein Hundeleben,“ 
fluchte er, als er endlich zu Atem gekommen war. 

„O ja, es iſt recht pläſierlich,“ meinte der Ge— 
fährte giftig, „ich kann mir nichts Schöneres denken, 
als in der Sonntagsfrühe fpazieren gehen und ſo ein 
niedliches Schiffchen wie ein Hündchen am Strick 
hinter ſich herziehen. Wirklich ein reizendes Ver— 
gnügen und wert, dafür um drei Uhr aufzuſtehen.“ 

„Aber der Verdienſt,“ meinte Köhler, „iſt doch 
gut mitzunehmen, am Sonntag zahlen die Leute 
doppelt.“ 

Die Seile zogen ſich plötzlich ſtraff, als wollten 


Roman von E. Karl. 


verſorgt ſind. 





192 


fie die Arbeiter rüdwärts reißen, und vom Schiff 
ertönte ein unwilliger Zuruf. 

„Ra, denn man jüh,” rief Braun, indem er 
ih kräftig in den Riemen legte; „das Beet will 
abſchwimmen.“ 

Weiter ging es, die kurze Raſt hatte die 
Arbeiter doch erfriſcht, ſie nahmen die unterbrochene 
Unterhaltung wieder auf. 

„Warum kommſt Du denn gar nicht mehr in 
die ‚Laterne‘?” fragte Braun. 

Der Angeredete murmelte etwas in den Bart. 

„Ra, laß Dihd man von Deiner Profellern nid 
zu jehr unterbrüden, was fie an Euch thut, ift ja 
recht Ichön, aber doch nur ihre verflucdhte Pflicht und 
Schuldigkeit, Deine Minna hat ihr doch fechs Jahre 
treu gedient.” 

„Na, fie bat aber aud guten Lohn und gute 
Behandlung gehabt,” meinte Köhler, der ein lebhaftes 
Gerechtigkeitsgefühl befaß, „eigentlich hat doch feiner 
mehr was zu fordern, wenn er den Dienft aufgiebt. 
Und die Minna bat felbft gekündigt, weil mir 
heiraten wollten.” 

„Ne ja, aber wozu haben Profeflers denn ihr 
gutes Eintommen und no Vermögen daneben, das 
fönnen fie ja gar nich verbrauchen, jeit die Kinder 
Macht ihnen man Ios, fo viel hr 
önnt.“ 


„Das ſaaſt Du ſo,“ meinte Köhler, „aber mir 
kommt es doch undankbar vor, nich zu thun, was 
die Frau will. Ohne ſie wär' meine Minna auf 
dem Kirchhof, ſie hat ihr einen tüchtigen Doktor ge— 
Ihidt und immer foviel Effen — fie hat mir aud) 
Arbeit beforgt und fidh über mein Trantes Mariechen 
erbarmt. Da hab’ ich ihr verfprochen, nich zu trinken, 
nu muß ich mein Wort jchon halten.” 

„Das i8 wohl ganz Ihön, Du braudjft Dich ja auch 
nich zu betrinfen, aber binfommen fannit Du doch? 
Soviel freien Willen wirft Du dodh noch haben.” 

„Ih weiß doch nid,” meinte Köhler zögernd. 

„Ad, mah Dich nich niedlich!” rief der andere 
ärgerli, „der Schmiederhang fommt heute um fünf 
Uhr hin und wird uns aus einem neuen Buch über die 
Unfterblichkeit vorlefen. Das jol alles bloß Mumpit 
fein, was die Pfaffen lehren.“ 

„Allo lefen wollt Zhr, nicht trinken?” fragte 
Köhler, halb gewonnen. 

„Sins thbun und das andere nich laffen. Wir 
fiten im Garten in einer verjtedten Laube beim 
GSlafe Bier, und der Schmiederhang lieft oder erzählt, 
was er gelejen hat, und wer für Bildung is, hört 
zu. Wenn er fertig is, kann nach Haufe gehn, wer 
will, aber wir bleiben meift beilammen, der Laternen: 
wirt führt gutes Bier und bejonders fräftigen 
Schnaps. Aber Du braudft ja feinen zu trinken.” 

„Ich möcht' doch lieber zu Haufe bleiben,” 
meinte Köhler [hüchtern. 

„Dummer Kerl,” fuhr Braun auf. „Wirft Dich 
gerad’ von einem alten Weib am Schürzenband 
führen lallen. Du bift mir ’n netter Held. Zieh 
Dir 'n Weiberrod an.“ 

Köhlers Geficht färbte fih mit dunkler Nöte. 


193 Ohne Gott. 
„sh werd’ fommen!” rief er baflig, als fürchte er, 
es fönne ihn wieder gereuen. | 

Sie waren bald darauf am Hafen angelommen, 
löften die Taue und nahmen die Bezahlung in 
Empfang. Braun ging zunädhft in ein primitives 
Srübftüdslofal, Köhler dagegen eilte beim, eßte 
aber zehn Pfennige feines Jchwer verdienten Geldes 
in Kuchen um, den er den Kindern mitbradte. 

Minna war bei feiner Heimkehr noch nicht von 
ihrer Aufwarteftelle zurüdgelehrt, Mariechen hatte aber 
wie immer die Wohnung fauber gefegt und gewilcht, 
Gemüje zum Mittagefien vorbereitet und den Kleinen 
Bruder und Frautiedke jonntäglich herausgepugt. Nun 
brachte fie dem Vater einen Topf Kaffee, den fie 
jo gut wie möglich in der Alche warm gehalten hatte, 
und legte auf das dazugehörige, umfangreiche Butter: 
brot ein großes Stüd Lebermurft. „Weil beute 
Sonntag ift und Du Icon fchwer gearbeitet haft,” 
erklärte fie ftrahlend, „hat Mutter Wurft für Dich 
holen laflen.“ 

Der Mann ab langjam und mit Behagen, 
während er den Arm um fein Töchterchen legte. 
Das trante Mädchen war fein Lieblingslind, an dem 
er mit rührender Zärtlichkeit hing. Wenn fein mehr 
paffiver Geift fih einmal zum Bau von Luftichlöflern 
erhob, jo waren bieje Iuftigen Gebilde ftets für 
Mariehen bejtimmt. E83 war gewiß gar nicht jo 
hlimm mit ihrer Krankheit. Wenn er nur genug 
Geld Hätte, um eine jchöne große Wohnung und 
gutes Efjien zu bezahlen, dann würde das Kind 
gewiß gejund und kräftig werden. Er fah auf das 
ſchmale, dürftige Figürchen herab — felbft der Auf: 
enthalt auf dem Lande hatte es nicht runden, den 
blafien Wangen feine Farbe geben können. Nur der 
böje Huften hatte nachgelafien, aber wer wußte, was 
der Winter wieder brachte. 

Er 309 das Kind noch feiter an fih und jeine 
Gedanken gingen Bahnen, die ihnen bisher fremd 
gewefen. Da war der Sohn jeines Prinzipals, ein 
hoch aufgeſchoſſener Jüngling von achtzehn Yahren. 
Wie friid und gejund der jet ausjah, und vor zwei 
Sabhren, nach der böjen Qungenentzündung, hatte man 
ihn als Todestandidaten bezeichnet. Da hatte ihn 
fein reicher Vater ein ganzes Jahr fortgeihidt, ganz 
weit fort, in Länder, wo es feinen Winter giebt, 
hatte ihm einen jungen Arzt als Begleiter und 
Pfleger mitgegeben, und nun war er wieder da und 
jo gejund, als wäre er nie frank gewejen. Das 
Geld jeines Vaters hatte ihm das Leben gerettet. 

Wenn er jein Mariehen au fo fortichiden 
tönnte, dahin, wo fie gejund werden müßte. Wenn 
er für fie eine feine Gouvernante engagieren lönnte, 
anftatt daß fie mit ihrer franten Bruft die Stube 
fegen und bie Steinfohlen vier Treppen binauftragen 
mußte. — Warum nur das Geld jo verjchieden 
verteilt war. — 

Die ungebildeten Leute find jelten jehr zart 
fühlend in ihren Außerungen, fo trug der Mann denn 
auch fein Bedenken, die Kleine zu fragen: „Wird 
es Dir jehr jehwer werden, Mariehen, wenn Du 
en bald fterben mußt? Möchteft Du gern 
eben?” 


RomansZeitung 1896. 


Roman von €. Karl. 





194 


Das Schmale Gefichtchen bebedte fich mit leb- 
bafter Nöte. „AK ja, Vater, ich möchte jo gern 
leben und groß und gejund werden. Die alte Frau 
Liedle jagt zwar, wenn ich fterbe, komme ich in ben 
Himmel und werde ein Engel; aber das kann ih 
ja auch jpäter noch, ich will gewiß recht fromm und 
gut bleiben. Erit möchte ich viele, viele Jahre leben.” 

Dem Manne ftieg es heiß ins Gefiht — Gelb, 
Geld, wenn er nur Geld hätte — warum jollte 
fein Kind nicht ebenfogut gejund werben wie das 
feines Prinzipals. Einftweilen hatte er das dringende 
Bedürfnis, feinem Heinen Hausgeiſt etwas Liebes 
zu thun, jo Schnitt er denn ein Stüd von feiner 
Wurft ab, jchob es dem Kinde in den Mund und 
lagte laloniih: „Da if.“ Und Mariehen aß, war 
jeelenvergnügt und vergaß alle Todesgedanten. 

Ald der Nachmittag gegen die fünfte Stunde 
vorrüdte, wurde Köhler unruhig, fein Verjprechen, in 
die „Laterne“ zu fommen, reute ihn fait, aber er 
Ihämte fi vor den andern Männern, fie hatten ihn 
ihon einmal mit feiner Abhängigfeit vom Willen der 
Frau Profeflor genedt. Und dann — der Schmieber- 
hans wollte über die Unfterblichkeit lefen — wenn fein 
Mariehen doch vielleicht nicht groß wurde — er 
wollte gern willen, was die „Neuen” anderes zu 
lagen hatten als der Pfarrer. 

So übertäubte er denn fein leife mahnendes 
Gewillen, trennte fih von Frau und Kindern, die 
nod ein Stüdchen fpazieren gehen wollten, und eilte 
in den Biergarten. 

Das Abendeilen wartete an diefem Tage ver- 
gebens auf den Hausvater. Die müden Kinder 
gingen zu Bett, und es warb Mitternacht, ehe Minna, 
die laufhend auf der Treppe faß — fie wußte, ihr 
Mann hatte feinen Hausfchlüllee — ihn an der 
Thür lärmen hörte. Sie Hufcdte die Treppen 
hinunter, öffnete und bat ihn flehentlich, fi rubig 
zu halten. Aber der jchwerberaufhte Mann ließ 
fih nicht bedeuten, mit rauher Stimme brüllte er 
unaufhörlich: 

„Macht Euch das Leben gut und fchön, 
Kein Senfeits giebt’S, fein Wieberfehn.“ 

Vergebens beichwor ihn die weinende Frau, 
til zu fein, er jehrie nur immer ärger: 

„Leben wollen wir, Minnadhen, leben und 
luftig fein, nachher frefien uns nur die Würmer 
und es ift alles aus — aus — aus —” 

Mit Mühe und Not fchaffte die Frau den 
Truntenen in die Wohnung, wo er fhwer auf fein 
Bett niederfiel, ohne fi auszulleiden. 


* % 
3 


In derſelben Woche, an einem berrlichen, 
ionnigen Septembertage, beitieg eine heitere Ge⸗ 
jelipaft einen ber regelmäßig kurfierenden Ber: 
gnügungsdampfer, um eine Fahrt ftromaufwärts 
nad) einem vielbefuchten Dörfchen zu madhen. €s 
waren Profefior Niederftetter nebit Gattin, der Fabrif: 
beiiger Wahrholm mit Gattin und Sohn, Brofefjor 
Steiner mit feiner neunzehnjährigen Tochter Hilde 
und Kandidat Egon Schmidt. Man faß in beiterfter 





IV. 14 


195 Ohne Gott. 
Laune auf dem Hinterded des Eleinen Dampfers 
und freute fi der wundervoll Haren Luft, die die 
Heinften Gegenflände bis in weite Ferne fichtbar 
werben ließ. 

Die Landichaft zeichnete fih nicht durch hervor: 
tragende Schönheit aus, fie war zu flach, um romantiſch 
oder intereflant zu fein, aber die weiten Wiejenflächen, 
von Viehherden belebt und in der Ferne von walbd- 
bededten Hügeln begrenzt, das breite, blaue, jchön 
geihwungene Band des Flufles dazwiihen und ber 
fare Himmel darüber gaben ein harmonijches, 
beiteres Bild, das von der feinfinnigen Gejellichaft 
in feiner Eigenart richtig gewürdigt wurde. 

Die Mitglieder derjelben hatten fich gruppiert, wie 
Zufall oder perjönliche Snterefien fie zufammenjührten, 
und da gleiches Lebensalter ähnliche Sintereflen mit fich 
zu führen pflegt, batten fih die Alten zufammen: 
gethban und es den ungen, die fi wenig Tannten, 
überlaflen, ebenfalls Antnüpfungspunfte zu finden. 
So jaßen denn Hilde und Egen nebeneinander, aber 
e8 wollte feine rechte Plauderei zu ftande kommen. 

Hilde Ihaute finnend in die freundliche Land: 
Ihaft hinaus, und der junge Mann hatte Zeit, die 
feine Linie ihres Profils zu ftudieren. 
wendete fie fih um und jah ihm mit zwei Tlaren 
blauen Augen ins Gefiht. „O wie herrlich ift es 
do auf der Welt, man möchte fi noch einen 
Sinn mehr wünjden, um alles Schöne recht ge: 
nießen zu können.“ 

„Ja, wunderſchön ift Gottes Erde und wert, 
darauf vergnügt zu fein,“ citierte der Kandidat. 

„Heißt e8 nicht weiter: ‚Drum will ich, bis ich 
Alhe werde, mich biejer fchönen Erde freu’n?‘“ 
fragte Hilde. 

„Jawohl, unjer alter Hölty fingt jo.” 

„Ih muß SJhnen zu meiner Schande geitehen,” 
late das Mädchen, „baß ich bis vor furzem diejen 
Bers, in etwas veränderter Form, für den Anfang 
eines Kirchenliedes gehalten babe, Natürlich bat 
ih dem braven Hölty meinen argen Verdacht herzlich 
ab, als ich neulih die richtige Fallung in feinen 
Werten entdedte.” 

„Warum abbitten, Fräulein Steiner,” meinte 
ber Kandidat verwundert. „Der Berfaller eines 
Ihönen, tief empfundenen Kirchenliedes fein, ift Doc 
wabhrlidy feine Schande. Übrigens haben wir wirklich 
eines, das ähnlich beginnt.” 

Das Mädchen errötete. „Sch meinte nur, daß 
es unjerm modernen Empfinden widerftrebt, fich 
einen wirkliden Dichter als Fabrilanten eines 
Kirchenliedes denten zu jollen. Freilich ift die freie 
Richtung der gejamten gebildeten Menſchheit erſt 
ein Produkt der Neuzeit und wir dürfen der älteren 
Generation ihre Vorurteile nicht zu jehr verübeln, fie 
verftand es nicht beiler. — Darwin, Karl Vogt, 
Büchner, Renan und Strauß hatten die Fadel nod) 
nicht entzündet, die dem alten Aberglauben beim: 
leuchten jollte.” 

Faft entfegt ftarrte der junge Mann auf bie 
tofigen Lippen, die jo unjugendlid, ja, wie es ihm 
ihten, jo frevelhaft plauderten. Endlich erwiderte 
er, indem der Unmut ebenfalls feine Stirn rötete: 


Roman von ©. Ratrl. 


Endlich 


196 


„Sie dürften doch irren, mein Fräulein, wenn Sie 
annehmen, daß die geſamte gebildete Geſellſchaft 
zur Fahne der genannten Herren ſchwört. Man hat 
es Sie im Hauſe Ihres Herrn Vaters ſo gelehrt, 
weil er ſeine eigenen Anſchauungen in Sie zu ver⸗ 
pflanzen wünſchte, aber glauben Sie ja nicht, daß die 
abſolute Negation alles Göttlichen und Uberirdiſchen 
eine Notwendigkeit für den geiſtig Hochſtehenden 
ſei. Sie finden ebenſo bedeutende Geiſter, wie im 
Lager der Materialiſten, auf der entgegengeſetzten 
Seite; Sie wiſſen es nur nicht.“ 

Hilde war ſehr verlegen geworden, jetzt erſt 
fiel ihr ein, daß ſie einen Theologen vor ſich hatte. 

„Wilhelm von Humboldt,“ fuhr Egon fort, als 
ſie nicht antwortete, „ſagte kurz vor ſeinem Tode 
zu feinen Kindern, indem er das Bild ſeiner ver⸗ 
ſtorbenen Gattin, welches er lange betrachtet hatte, 
aus der Hand legte: ‚Jh will fie von Euch grüßen, 
ih werde wohl heute noch bei ihr fein.‘ Werden 
Sie Wilhelm von Humboldt jegt für einen Schwad)- 
topf halten?“ 

Das Mädchen errötete noch tiefer und fchaute 
befangen in den Schoß, es war ihm jehr fatal, daß 
ed feine Weisheit jo an die faljche Adrefle gerichtet 
batte; der junge Mann aber blidte mit innigem Snter: 


:efje in die rofigen Züge, aus denen Glüd und 


Lebensluft ftrahlie. Hinter Ddieler glatten Stirn 
hatten wohl noch niemals geiftige Stürme getobt und 
ihr Gemüt glihd wohl noch der Maren Waflerfläche 
vor ihnen, die den Himmel wiederfpiegelte. 

„Mein Fräulein,” brach er endlich das Schweigen, 
„ed gebt Zhnen wie den meiften Menjchen, bie 
innerhalb einer Partei ftehen, fie hören nur bie 
Anihauungen eben diefer Partei und jehen verächtlich 
auf alles andere herab.“ 

Hilde machte eine abwehrende Bewegung. 

„Nein, leugnen Sie nidt, es ilt ja in der 
Politit nit andere. Der Konfervative hält fid 
für zu vornehm, um eine focialdemokratiiche Zeitung 
oder Brojchüre zu lefen, der Socialdemofrat oder 
Sreifinnige fürchtet zu ‚verdummen‘, wenn er ein 
tlerifales Blatt in die Hand nimmt. So kommt es, 
daß — die Führer ausgenommen — in jeder Partei 
faft nur PBarteiorgane gelejen werden, die die wirkliche 
Meinung der Andersdentenden in mangelbafter, oft 
geradezu gebäjliger Weile zum Ausdrud bringen. 
Und da fprehen die Leute denn von Überzeugung. 
Ahnen, mein Fräulein, hat man die Religion vor: 
enthalten und Sie fprehen davon wie der Blinde 
von der Farbe. Sie find weder getauft nocd ein- 
gejegnet, haben mithin keinen Neligionsunterricht 
empfangen. Wie wollen Sie da urteilen? Waren 
Sie jhon je in einer Kirche?“ 

„Rein,“ antwortete Hilde Kleinlaut, „Papa gebt 
zumeilen zu einem Konzert in den Dom, er liebt die 
Mufit jehr, aber ich bin ganz unmufilaliich.” 

Sn dem Kandidaten regte fi der Geiftliche, 
„Würden Sie mir eine große Gunft erweilen, mein 
Fräulein?” Iprady er bittend. 

Hilde Ihoß wieder das Blut ins Gefiht, als 
fie in feine ernften braunen Augen blidte; fie ärgerte 
fi darüber, denn jegt war gar fein Grund dazu vors 


197 


handen, aber fie mochte ihn nicht noch mehr kränten, 
hatte fie e8 aus Achtlofigkeit doch jchon gethan, in- 
dem fie berabjegte, was ihm heilig war. So nidte 
fie denn zuftimmend. 

„Ditte Tommen Sie Sonntag — aljo über: 
morgen — über adt Tage um neun Uhr in die 
Kirche der Altftabt, ich werbe dort den beurlaubten 
Geiftliden vertreten. E8 würde mir Freude machen, 
vor Hhnen zu predigen.” - 

Hilde erfhrat. Sie, ihres Baters Tochter, 
jollte ohne jein Wiffen die von ihm als Verbummungs: 
anftalt bezeichnete Kirche befuhen? Denn ohne jein 
Wiffen mußte es gefchehen, wenn fie nicht furdtbar 
nusgeladht jein wollte. Sie entzog fi der Antwort, 
indem fie den jungen Mann auf einige Leute auf: 
merffjam machte, die auf einem gerade begegnenden 
Transportihiif einen lufligen Tanz aufführten. 

Egon fühlte, daß fie das ernftle Geipräh ab: 
zubreden wünjchte, er ging auf das neue Thema 
ein und bald jcherzten die feindlihen Parteien wie 
zwei fröhliche Kinder und dachten weder an Vogt 
noh an Darwin. 

Auh der ältere Teil der Gelelihaft war in 
eifrigfiem Geipräh begriffen, denn der Fabrifbe: 
figer Wahrholm batte foeben eine Mitteilung ge- 
macht, die namentlich die Frau Profeior aufs höchite 
intereffierte. Sie jprang in ihrer lebhaften Weiſe 
vom Sit auf und Ichlug mit den Worten: „Aber 
das ift ja unglaublich!” die Hände zufammen. 

„Bas ift unglaubli!* fragte ihr Gatte. 

„Dente Dir,“ belehrte ihn die erregte Frau, 
„unjere Alma bat mit dem Former Schmieber eine 
wilde Ehe geidjlofien. Sie haben im Kreile einiger 
Bleichgefinnten eine Art Hochzeit gefeiert und dann 
bat er fie in fein Haus geführt. — Da bört doc 
alles auf.“ 

Der Profeflor jehüttelte den Kopf. „Wer hätte 
das von Alma gedacht, ich bielt fie ftets für ein 
ordentliches, fittlihes Mädchen.” 

„Sie dürfen auch jett nicht jchleht von ihr 
denten,” mijchte fih der Fabrikbefiger hinein. „Sie 
bat fih von Schmieder, den fie abgöttifch liebt, mit 
allerlei neumodiihem Kram, als da ift: freie Liebe, 
Erfüllung der weiblihen Beftimmung und jo weiter, 
ben Kopf verdrehen laflen und glaubt ein ver: 
bienftlich Werk gethan zu haben, glaubt eine Pionierin 
ber beileren Zeit zu fein. So etwa lautete der 
Ausipruh, mit dem mir Schmieder jeine ‚Ber: 
beiratung‘, wie er e8 nennt, anzeigte.“ 

„Sa, warum heiratete er denn das Mädchen 
nicht gejeglich?” fragte Profeflor Steiner, ein langer, 
bünner, alter Mann mit bäßlihem, aber jehr geift- 
vollem Gefidt. 

„Weil feine erfte Frau lebt und bartnädig die 
Scheidung verweigert, was aber Schmieder, wie ich 
glaube, ganz recht ift. Der Menjch hat dem Mäbchen 
lange nachgeftellt und es endlich überredet. Schade 
darum, es ijt ein anmutiges Gefchöpf.” 

„Wer ift eigentlich diefer Schmieder?” fragte 
Frau Niederftetter. „Ih babe ihn zufällig einmal 
zu Geficht befommen und bin aus ihm nicht recht 


Ohne Gott. Roman von €. Rarl. 


198 








Hug geworden. Er trug bie Arbeiterblufe und ſprach 
wie ein gebildeter Menſch.“ 

„Schmieder iſt ein Zmwitterding, wie es unjere 
Zeit zumeilen bervorbringt,” erklärte Wahrholm. 
„Als Sohn eines gut bejoldeten Subalternbeamten 
— id glaube fein Vater war NRendant — bat er 
eine jorgfältige Erziehung erhalten, Sprade und Im: 
gangsformen der gebildeten Gejelihaft angenommen 
und das Gymnafium einer Provinzialitadt bejucht. 
Aber jein etwas unbändiger, jeden Zwang baflender 
Charakter hat ihn verhindert, auf diefem guten Funda- 
ment weiterzubauen. 

„Rah dem frühen Tode jeines Vaters, ber 
wohl noch einigermaßen Einfluß auf ihn ausübte, 
bat er das regelrechte Studium als geilttötend bald 
über Bord geworfen und tft als ‚freier Menjch‘, wie 
er e8 bezeichnete, in die Welt gegangen, um fid 
einen ihm zufagenden Beruf zu Juden. Sein Lebens: 
lauf, wie er ihn mir erzählte, ift die wahre Nobin- 
fonade, aber wie vielerlei er auch verjucdht, nirgends 
bat er gefunden, was ihm zulagte, denn es giebt 
wohl keinen Beruf, der ganz ohne Zwang fidh aus: 
üben ließe. Er glaubt aber Feinen Zwang ver: 
tragen zu können. Deshalb jhilt er auf alles Be: 
ftehbende. Wollte man aber, was ihm wünjchenswert 
Icheint, gejeglih einführen, fo würde es ihn ebenjo 
unerträglich dünlen. | 

. „So hat ihn denn die Notwendigkeit und der 
Mangel an ausreihendem, geordnetem Wiflen zum 
Arbeiter gemacht, er jelbit aber behauptet, es frei- 
willig geworden zu fein. Er nennt fich einen Apoftel 
der neuen Zeit und meint durch feine Bildung zur 
Hebung des vierten Standes beitragen zu müflen. 
Natürlich ift viel Eitelkeit dabei, er will der erfte 
fein, fei e8 auch nur unter Arbeitern. Übrigens bat 
er viel gelejen und redet wie ein Buch.“ 

„Die arme Alma thut mir unendlidh leid,“ 
äußerte Frau Wahrholm auf den langen Bericht 
ihres Gatten, „einem Mann feiner Art wird jede 
dauernde Verbindung, mag fie gejeßlih oder un- 
gejeglich fein, zur unerträgliden Tyrannei werden 
und die Frau wird darunter leiden.” 

„Sanz ficher,” pflichtete ihr Gatte bei, „ich gebe 
der Herrlichkeit zwei SYahre höchitens.” 

„Hat er den wenigftens guten Verdienft?” fragte 
Profefjor Steiner. 

„Er verdient nodh einmal foviel wie meine 
andern Arbeiter, da ich ihn gelegentlich als Techniker 
beichäftigeund bezahle, obgleich er eigentlich nur Former 
ift. Zudem bat er vor ein paar Zahren jeine Mutter 
beerbt und außer einigen Taufend Mark eine hübjche 
Hauseinrihtung erhalten. Er gilt unter meinen 
Arbeitern als Kröjus einerjeitse und als Licht der 
Weisheit andererjeits und das ift es, was ihn reizt. 
Es ftedt eine Sroßmannfudht in ihm, von der er felbft 
nichts ahnt. Er revoltiert gegen jeden Drud, würde 
aber gegebenen Falle jelbft Deipot fein. 

„Meine arme, verblendete Alma,” IHagte Frau 
Niederfteiter, „ih will do in den nädhjlten Tagen 
zu ihr geben. ch muß ohnehin Jhr Stadtviertel 
befuden, Herr Wahrholm, der Arbeiter Köhler joll 





199 


jeit einigen Tagen wieder unausgejegt betrunten 
fein, feine Frau Magte es mir heute.“ 

„SH babe es zufällig auch bemerkt,“ antwortete 
Wahrholm, „bitte jagen Sie ihm, er folle fi zu: 
jammennehmen, ich vertrüge in jolden Dingen feinen 
Scherz. Der Mann ift ohnehin feiner Ehwädlic- 
feit wegen fein befonders tüchtiger Arbeiter, jehe ich 
ihn noch einmal betrunfen, jo it er entlaflen.“ 

Das Schiff näherte fi feinem Beitimmungs: 
orte, der auf der rechten lupjeite fi in Geftalt 
eines freundliden Dörfchens präjentiertee Ein 
mäßiger Hügel, von Parkanlagen bevedt, flieg un: 
mittelbar vom Flußufer auf und trug auf jeiner 
Spige, dur grüne Bäume verdedt, ein ländliches 
Gafthaus. Ein Stüdhhen davon lag die altertüm- 
lihe Kirhe, ebenfalls in Grün gebettet, und tiefer, 
wie ein Kranz darum geordnet, die bejcheidenen 
Bauernhäushen. Das Ganze ein Koyll ohne jede 
Prätenfion, aber lieblihd und berzerfreuend. 

Der junge Wahrholm, die Röte der Gejundheit 
auf den Wangen, fam von der andern Seite des 
Dampfers, wo er mit einem Belannten geplaudert 
hatte, herüber; ein paar Körbe mit befjeren Lebeng- 
mitteln, als fie bier zu haben waren, wurden aug- 
geladen, die Herren bemädhtigten fich ihrer dienft- 
eifrig und der Eleine Zug ftieg bergan, um bald 
darauf von einer Art Belvedere Belit zu nehmen, 
das fih oben am Rande des Parfes erhob. 

Die Damen padten belifaten Kuchen aus und 
eine ländliche Hebe jervierte recht guten Kaffee auf 
fauberem Tifhtuh. Da faßen nun acht befreunbete 
Menihen in munterem Geplauder und fchauten in 
das freundliche grüne Thal hinab. Der Fluß durd; 
Ihnitt die weite Wiejenfläche in zwei breiten Armen 
und weiße Segel, duftige Rauhmöltchen, den Dampfern 
entjirömend, bezeichneten weithin feinen Lauf. Auf 
den Wiejen regten fich fleißige Hände, präcdtiges Vieh 
belebte die Landichaft. — 

Ein liebliches Bild, fo recht zu harnılojem Genuß 
einladend und do — der Menich trägt in jedes Bild, 
jei es Tieblich und reizgend oder großartig und fchauer: 
lich, feine eigene Stimmung hinein, und bier pocdhte 
mehr als ein Herz in unrubigen, abnungsreichen 
oder jorgenvollen Schlägen und fühlte nur halb den 
holden Frieden der Natur. 

Nach dem Kaffee Ichidten die beiden Brofefloren 
fih zu einem botanischen Spaziergang an, die älteren 
Damen wünjhten auf dem anmutigen Blat figen zu 
bleiben und Herr Wahrholm ihnen Gelellihaft zu 
leiften. So blieb es denn den drei jungen PBerjonen 
überlaffen, ebenfalls zu bleiben oder ihre eigenen 
Wege zu gehen, und fie zogen das leßtere vor. 

„Wir wollen zunädhft einmal auf den Kirchhof 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 


200 





geben, er gewährt eine bübjche Ausfiht nad ber 
andern Seite, die bier dur die Bäume verdedt 
wird,” Schlug der junge Wahrholm vor, „vielleicht 
finden wir auch bie Kirche offen — es jcheint eine 
Hochzeit im Dorfe zu fein — es find interefjante 
alte Bilder darin.” 

Der Vorihlag wurde angenommen und jofort 
zur Ausführung gebradt. Durd ein Pförtchen er: 
reihte man die Landftraße, die fih im Lauf ber 
Sabhrhunderte wie eine Rinne zwilhen Kirchhof und 
PBarf hineingewühlt hatte, und, fie überjchreitend, ben 
geflafterten Aufftieg zur Kirche. 

Auf dem ländlichen Friedhof jah es allerdings 
anders aus, als die Stäbter es gewohnt waren. 
Hier gab es feinen üppigen Blumenjhmud, keine 
von Gärtnerhband gemundenen Kränze auf den 
Hügeln; einfach und beicheiden war alles, oft aud 
ärmlih und jchmudlos, aber man fah doch, baf bie 
Hand der Liebe au hier waltete und hätte fie ihre 
Thätigkeit: nur durh die Sauberkeit des grünen 
Hügels beweilen können. 

Die Ausfiht vom Kirchhof war wirklich anmutig 
und der Blat jelbft bot Unterhaltung burdh einen 
gewiflen unfreiwilligen Humor, der bei der Abfaffung 
einzelner Grabjchriften gemwaltet hatte. 

Hilde lachte zuweilen laut auf, jentte aber 
jofort befhämt die Augen, wenn ein vorwurfsvoller 
Blid Egons fie traf. Er hatte ja ganz recht, fie zu 
tadeln, wenn ihre natürliche Heiterkeit fie fortriß. 
Die Worte, die da fanden, hatte tiefer Schmerz 
diktiert, wer durfte laden, wenn die Form verfehlt 
war, oder wenn der brave Dorflünftler in Bezug 
auf die Drthographie das Prädilat „mangelhaft“ 


: verdiente. 


An die Kirche war die Grablapelle einer Adels: 
familie der Nahbarfhaft angebaut. Paul Wahrholm 
machte auf das chöne fchmiedeeiferne Gitter des alter: 
tümliden Baues aufmerffam, erklärte den Bauftil 
der Kirche und der fpäter angebauten Kapelle und 
erwies ji im diefen Dingen, troß feiner Jugend, 
durdaus jachverftändig. 

Eben verließ auch der ländliche KHochzeitszug 
die Kirche und nad Berftändigung mit dem Küfter 
betraten die drei Spaziergänger den Hleinen, aber 
intereffanten Raum. Das Baumer! war über fechs- 
hundert Yahre alt und no völlig unverändert. 
Deutlid erfannte man die Spuren des Katholicismus, 
ber e8 errichtete. Die Nebenaltäre waren zwar ver: 
ſchwunden, aber diejelben Bilder und Holzichnigereien, 
die ji darüber erhoben hatten, hingen noch an ben 
Mauern und bildeten die Rüdwände tunftvoll ge: 
Ihnigter und vom MNAlter gebräunter Kirchenftühle, 
die wohl den LZandadel zugehörten. 


(Fortfegung folgt.) 


201 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


202 


Deiblatt der Dentihen Noman:Zeitung. 


Grillenliedchen. 


Singe, ſinge, kleine Grille, 
Singe in der Abendſtille 

An dem klaren, grünen Rhein; 
Wo die Nixen heimlich lauſchen, 
Wenn die Elfen Grüße tauſchen 
Bei des lichten Mondes Schein. 


Zu dem Klange Deiner Lieder 
Schweben leicht ſie auf und nieder, 
Nippend wilder Blumen Duft. 
Welch ein ſommernächtig Leben, 
Welch ein Wogen, welch ein Weben 
In den Wellen, in der Luft! 


Und der Blüten Köpfchen neigen 
Leiſe ſich in ſüßem Schweigen, 
Träumend an dem grünen Rhein. 
Singe, ſinge, kleine Grille, 
Heimlich in der Abendſtille, 
Sing auch mich in Träume ein. 
Helene Bernard. 


SEr ſpricht doriſch! 


Ein Genrebild aus klaſſiſchen Tagen. 
Von Gollar Linke. 


Zur Zeit der großen Dionyſien, wo nach Athen eine 
Unzahl Fremder aus anderen helleniſchen Städten zuſammen⸗ 
zuſtrömen pflegte, um teilzunehmen an der allgemeinen Luſt⸗ 
barkeit und Freude, ſowie das neueſte Luſtſpiel eines Kratinos 
oder die neueſte Tragödie eines Sophokles mit anzuſchauen, 
hatte ſich eine junge Geſellſchaft aus mancherlei helleniſchen 
Stämmen zuſammengefunden in dem Fühlen, geräumigen 
Epeifefaale eines äußerlih fchlihten Haufe, das einem 
reihen, jungen Athener gehörte. Aber wenn aud die Außen- 
jeite diefeß Haufes, wenig von anderen unterfchieben, fich 
durch jeine Armfeligkeit fchier auffallend abhob von der rings 
aufragenden Praht der Marmortempel und Hallen und 
öffentlichen Gebäude, fo verbreitete doch die erwadte Sonne 
des perifleifchen Zeitalter ihre Wirkung auf die innere 
Häußglichkeit derart, daß die Einrichtung eines vornehmen 
Hauje3 auch zumeift den Reichtum feines Befiterd wibers 
jpiegelte. 

Unfer junger Athener Hatte e8 jih nicht nehmen laffen, 
fein Haus, zumal da8 jäulengetragene Perifiyl und den 
großen Männerfaal dur mancherlei Zierrat und Schmud 
auszuftatten, nicht bloß um zufällig bei ihm einfehrenben 
Gaftfreunden aus Sparta oder Theben zu zeigen, wie jet 
dem Athener der Vorrang gebührte in der Pflege des Schönen, 
fondern aus eigener Quft für die Augen und im Gebanten 
an die Kürze des rofigen Lebens, der freilich nur felten und 
porübergehend wie jommerlicdher Abendmwolfenhaud) die heitere 
Seele zu trüben vermochte. 


{ 
ı 


Wie eS zu gejchehen pflegte, wenn Mitglieder ver» 
icyiedener hellenifcher Stämme beim Mahle zufammengelagert 
rubten, fo war auch bier in Verlaufe be3 Sympofions bas 
Geipräh auf die mannigfaltigen Sitten und Gebräuche der 
einzelnen Bölkerfchaften gefommen, welche fi oft wie Tag 
und Naht voneinander unterfchteber, ohne daß fie barum 
aufhörten, fih als Hellenen zu fühlen. 

Der Boiotier wurde gehänfelt twegen feiner Vorliebe für 
ein ledere8 Mahl und wegen feiner Vernahläffigung bes 
Schönen, obwohl er fi) barauf berufen konnte, daß Bindaros, 
der Sänger von Theben, bie Kunft des Iyrifchen Sanges 
als unübertroffener Meifter gepflegt; und obwohl — wie 
jeltfam von den Göttern gefügt! — die Frauen aus Theben 
oder Theipiai die Schönften von Helles hießen. 

Den gleichen Vorwurf mußte fi der Spartaner gefallen 
lajjen, Soviel ihm auch feine Pflege des Guten, zumal der 
Tapferfeit, nachgerühmt wurde. 

„Breilih,* meinte der anweiende Dorer, „Ihr Athener 
vom jonifhen Stamme, fürs Schöne forgt Ihr; Indeffen, ich 
meine, Ihr vergeßt darüber das Wichtigere und wandelt 
auf abjchüffiger Bahn. Denn allgufehr, bünkt mich, hat e8 
Euren Augen und Obren das Sirenenwort Sreibeit ans 
gethan. lind wenn man bie Sache bei Licht befieht —” 

„Namlid mit doriihen Augen!“ fchaltete lachend der 
athenifche Bajtgeber ein. 

„Mit dorifchen Augen!“ fagte ruhig der Spartaner, „Io 
jeid Shr gerade jet unter Perifles unfreier als jemals. Er 
it gleihfam Euer heimliher Tyranın; wie das immer ber 
Tal fein wird, wenn fich jemand unter feinen Mitbürgern 
erhebt, dem die Himmlifchen etwas mehr Verftand als allen 
übrigen zufammen und auch da8 zugebörende Glüd gegeben 
haben.“ 

„Dei der Palas Wihene,“ fiel ibm fchlagfertig der 
Athener in? Wort, „ich glaube das nicht. In dem einzigen 
Berikles ift gegenwärtig ber Wille des gefamten Bolfes 
zum Ausdrud gelangt; aber die Möglichkeit it vorhanden — 
denn fein Weib beißt Aipafia! — daß Perifles und das 
athenifche Volt nicht immer dasfelbe bebeuten!“ 

„Sch möchte e8 beinahe erleben,” entgegneic der Spartaner, 
„damit Du fäheft, in welchen Augen das Licht jaß, ob in 
ben boriihen oder den joniichen Augen!“ 

„Bei den Böttern!* rief ba ein fchwerfälliger Thebaner 
aus, „ich fehe fchon, der Streit läuft darauf hinaus, zu ent: 
icheiden, weldhen von den helleniihen Stämmen bie Führer: 
Ihaft zufomme. Liebe Freunde, vergeflen wir nicht, daß wir 
in ben Tagen ber Dionyfien leben, daß vor uns der Wein 
plüht und anf unferen Häuptern der Myrtenkranz mit den 
lächelnden Veilhen! Mich kümmert und befünmert die Politik 
gar nicht; denn diefe machen zu guter Lett die Hinmliichen 
felber nad) ihrer tieferen und uns armen Sterblichen meiiten- 
teils rätjelbunteln Einficht. Lieber höre ich da einige Inftige 
Scherzfragen, mid) im übrigen an das vor kurzem bernommene 
Skolion haltend: 

Wohl glühe der Wein, wo erblühen der Luſt 

Sanftſchimmernde Veilchen und Roſen; 
Doch glüh' auch der Wein, wo die Männer vereint 
Heiß fröhlichen Kampfes gedenken! 





203 


Ein Becher ertön’ an den anderen an: 
Den Freien ein jauchgender Hochruf! 
Hinftürz’ er jobann aus gefhhwungener Hand — 
So mögen fie fallen, die Knedjte! 
Noch viel lieber aber neige ich meine Ohren einem Inftigen 
Geichichtlein. Und da wir wohl augenblidlich von Euch beiden 
feines zu erwarten haben, jo will ich mich entichließen, eines 
zum beiten zu geben. Ich Babe e8 vor einigen Sahren bei 
einem Spmpofion während der pythlichen Spiele zu Delphi 
von einem alten Spartaner gehört.“ 

„Srzähle, erzähle!“ riefen einige junge Athener da⸗ 
zwijchen; „aber befeuchte erft mit einigen Tropfen bes feurigen 
Nafjes von Chios Deine Kehle; fie möchte Dir fonft während 
be3 Vortrages verfiegen wie ein attifdhes Bädjlein in ben 
Sluttagen der Panathenänen!“ 

„Seid unbejorgt!* erwibderte gutinütig lächelnd ber wohl: 
beleibte Thebaner. Nachdem er aber feine Phiale geleert und 
über die Sculter einem Hinter ihm fichenden Sklaven ge: 
reicht halte, fe ihm. von neuem zu füllen, begann er fo zu 
erzählen: 

„Bar vielfah Hatte [hon das Leben einen jungen 
Zaufendlünftler und Gaufler umbergeworfen. Adanıas, 
wie er fih nannte wegen feiner athletenbaften Stärke und 
Größe, die an Herafled gemahnte, befand fich eines Tages 
fern überm Meere auf jonifhem Boden, in einer Lleinen 
Stadt, um feine Künfte dort der Dienge zu zeigen, die wegen 
"des Frühlingsfeftes zahlreid) aus den benachbarten Orten 
und Weilern herbeigeftrömt ivar. 

„Während abfeits am Wege jein treues Maultier ftand, 
das ihm feine Habjeligkeiten und Sünftlergerätfchaften trug, 
hatte er fchnell ein leichtes Zelt aufgeichhlagen und fuchte nun, 
wie c8 bei folhen Leuten üblich tft, durch allerhand mwohl- 
flingende Redensarten über feine ans Unmögliche ftreifenben 
Runftfertigkeiten die Dienge oder vielmehr die Kleinen Obolen 
diefer vielföpfigen Menge an fih zu Ioden. 

„Bald Hatte fih um den fremden Gaufler ein bichter 
Kreis von Zufchauern verjammelt, unter been fi auch ein 
vom Geſchick Hierher verſchlagener autochthoner Athener 
befand. 

„So zierlich und zartgebildet ſich nun auch diefer ‚Sohn 
der Pallas Athene‘ dem rieſigen Gaukler gegenüber aus—⸗ 
nahm, blickte er dennoch mit einem gewiſſen höhniſchen 
Mitleid zu dieſem empor, lächelnd über den Schwulſt ſeiner 
prahleriſchen Worte. Adamas, an alle Schwächen der 
Menſchen gewöhnt und wenig dadurch beläſtigt, ſo lange er 
nicht in ſeiner Jagd auf die Obolen gehindert wurde, ſah 
ſeinerſeits wieder voll Verachtung auf den windigen Knirps 
herab, deſſen ärmlicher, mit Kreide notdürftig zu neuem 
Glanze ausgeſtatteter Chiton ihm ſelber kaum bis zu den 
Hüften gereicht hätte. 

„Der Athener verſuchte jedoch bald, den Mann zur Ziel—⸗ 
ſcheibe ſeiner Scherze zu machen. Mit größter Seelenruhe 
hörte der Rieſe hin und wieder ein Wörtchen eſſigſauren 
Spottes in ſeinen Ohren erklingen; aber er hielt an ſich, 
ſprach in ſeiner alten Weiſe weiter und zeigte auch manches 
erſtaunliche Zauberſtückchen ſeinen verehrlichen Zuſchauern, 
denen ein zwiefacher Genuß geboten wurde, inſofern als ſie 
über die ſpöttiſchen Witze des Atheners lachten und auch mit 
offen ſtarrenden Augen die unheimlichen Künſte des Rieſen 
bewunderten. 

„Als aber Adamas berichtete, nur Wiſſensdurſt hätte 
ihn getrieben, ſich auf dieſe Künſte zu legen, in denen er es 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 


ſcheu ſich auseinanderteilende Zuſchauermenge, 


204 


zu einer noch ‚nie bagewejenen‘ Meifterichaft gebradht, und 
als er hierauf ein langes Schwert dom Tifhchen nahm und 
e8 mit rafchem Stoße fih bis ans Heft in ben Hals ftieh, 
ba — indeffen er breitbeinig baftand und den Oberleib nad 
hinten übergeneigt hielt — mußte er hören, mie ber Elcine 
Athener witelnd einige Worte fpradh, fogleih in sorm eines 
Trimeters: 

‚Das Wiſſen ſchwand, doch übrig blieb allein der Durſt!“ 

„Alle im Umkreiſe lachten laut auf. Die ziemlich roten 
Wangen des ſtarken Geſellen wurden ein wenig röter gefärbt 
vor innerem Ärger. Ein drohender Blick flammte aus ſeinen 
Augen nieder auf den kleinen Spötter. Aber dieſer ſchien 
ſich ſo frei und ſicher zu fühlen wie nur je ein Poet auf der 
komiſchen Bühne im Lenaion zu Athen. 

„Noch immer bewaährte ſich Adamas ſeine zur Schau ge⸗ 
tragene Ruhe und Gleichgültigkeit — ein ſtolzer Löwe, welcher 
die neben ihm ſpielende Maus unbeachtet läßt. 

„Als nun aber von neuem der Gaukler allerlei ſtaunen⸗ 
erregende Kunſtſtückchen zeigte, darunter einige, welche ein 
nicht menſchengewöhnliches Maß von Leibesſtärke verlangten, 
und als er nad Vollendung feiner ‚Herallesthaten‘ jcheinbar 
ermüdet und doch ftolzerfüllt wie ein Sieger auf der olympifchen 
Nennbahn erklärte, derartiges fönne nur ein Dorer leiften, 
denn die ftärfften Männer in Hellas, bie wären in Lafonien 
daheim, da höhnte laut fpottend der Athener: 

„Tu spricht Doris? Ei, mein Urenfel de gewaltigen 

Herafles und damit gar ein Ururenfel des himmlischen Zeus 
jelber, id weite hier auf der Stelle taujend Drachmen gegen 
eine, daß Du niemals als Anabe ben Eurotas burdihwommen 
hajt, ja vielleiht niemals den Ghorgefang einer attifchen 
Tragödie vernommen. Ei, meine Tieben jonifchen Stammes: 
genofien in ber Runde, beim Apollon, hört den Mann, wie 
er borifc Ipricht! Hört biefe einem aus ber Ferne her 
Hingenden SKuhgebrüle ähnlichen, dumpfen Selbftlauter! 
Beim Helios und fämtlichen Göttern über fowie unter ber 
Erbe, das ift ein herrliches Doriih — noch nie dageweien — 
nie dagemweien! 
-  „Adamas aber, defjen Augen vor Wut rollten, konnte 
fih vor innerer Empörung nidyt mehr mäßigen. Ab warf 
er das Himation, weldies er eben in die Hand genommen 
hatte, damit e8 ihm bei einigen Fingerkunſtſtückchen dieſelben 
Dienite leiften follte, wie der befannte, unfidhtbar machende 
Helm des Hermes, und ftürzte jodann mit einem fräftigen 
Sate von feiner Höhe herab mitten unter bie verianımelte, 
indem er 
donnernd ſchrie: 

„Nun ſollt Ihr ſehen, mit eigenen Augen ſehen, wie 
ich doriſch ſpreche! Jetzt habt acht, Leutchen, wie man 
doriſch redet, ſoweit die Sprache reicht — zweier kräftiger 
Fäufte!‘ 

„Darauf nahm er den Eleinen Athener, der erbleichend 
nit mehr zu flüchten vermochte, padte ihn mit fchnellem 
Griffe am Halje, legte ihn wie einen ungezogenen Schul: 
buben über feine Siniee und prügelte ihn mit feiner Rechten 
nad urälteften Regeln weijer Pädagogik durd). 

„Der Lleine Athener ftrampelte erbärmlich und fchrie aus 
Leibeskräften; allein feiner der Anmefenden fprang ihm zu 
Hilfe. Zu fomijch wirkte der Anblid. Sie fonnten nur aus 
vollem Halje Tadhen und empfanden zum Teil wohl aud 
heimliche Schabenfreude über diefe gerechte Beitrafung des 
Gegners. 

„Beim Herafles! geichieht ihm recht. Ich hätte e8 auch 





205 


—— — — — — — — — — 


jo gemacht, ſagten jetzt diejenigen, die zuvor über die luſtigen 
Bosheiten des Kleinen am meiſten gelacht hatten. 

„Und ein angehender Philoſoph von einundzwanzig 
Jahren ſchrieb fich folgende Bemerkung in ſeine Schreibtafel: 

„Gegen die Logik zweier Menſchenfäuſte kämpft die 
ſchlagfertigſte Rede vergeblich an! ... 

„Als nun aber der winzige Athener in ſeiner ohnmächtigen 
Schwebelage gar verſuchte, den gewaltigen Rächer zu beißen, 
und zwar in die blühenden Schenkel, da verſetzte ihm der 
große Adamas lachend einige Hiebe gegen den Kopf, daß 
dieſer taumelnd wackelte wie der eines Trunkenen; und 
ſpottend rief er dazu aus: 

„Pfui, Du ungezogenes Büblein, willſt gar noch mit 
Deinen Zähnchen beißen? Sind Deine Erzeuger Hunde ge⸗ 
weſen? Siehſt Du, mein überkluges Pallasſöhnlein, nun 
machen wir beide zuſammen Kunſtſtücke und erfreuen die 
Herzen der Zuſchauer nicht minder! Sei froh, daß Hellenen 
umherſtehen und keine menſchenfreſſenden Barbaren! Dieſe 
hätten Dich längſt um klingendes Silber von mir gekauft 
und ſich heißhungrig geſehnt nach ſo wacker geklopftem und 
wohlbearbeitetem Fleiſche! Aber Du biſt ſehr leicht, wie eine 
Huhnfeder! Jetzt laßt uns ſehen, ob Du am Ende auch 
fliegen kannſt, leichtſinniges Bürſchlein mit Deiner leichtbe⸗ 
flägelten Zunge!‘ 

„Spradh’8 und wie ein Bündel Neifig warf er ihn eine 
weite Strede durdy die Quft bin, fo daß der Aihener mit 
dumpfem Fall auf den Boden ftürzte und bort Liegen blieb, 
ala wäre die Seele aus feinem Leibe geflogen. 

„Gerubig fehrte Adanıas zurüd. Als er fi aber bald 
wieder umjah und bemerkte, dab der Athener fi nicht rüttelte, 
fondern in jeiner regungslofen Stille verharrte, da erfaßte 
den gutmütigen Riefen nicht feige Angit, fonbern weiches 
Mitleid. Er eilte zu ihm bin, bob ihn wie ein Kind auf 
und trug ihn nach feinem Zelte, wo er ihm bie blutunter: 
laufenen Stellen mit frifdem Waffer fühlte. 

„Der junge Athener mwinfelte vor Schmerz, als ihm 
Adamas mitleidsvoll ale Blieber bed Leibes berübrte, 
um die Stelle des Schmerzes zu finden. Da jah er zu 
jeinem eigenen Bedauern, daß der Athener beim Nieberfallen 
fih ba8 rechte Bein verftaucht hatte. 

„Bol Teilnahme blidten die Zufchauer auch) auf biejes 
eigenartige, unerwartete Schaufpiel. Der Gaufler aber 
forderte einige auf, ihm gu helfen und den Süngling auf 
leichtem Pfühle nady dem nahen Asklepiostempel zu tragen. 

„Nachdem Abamaz die Obhut feines Maultierd dem be- 
dienenden Sklaven übertragen und das Zelt geichlofien hatte, 
mit der Erllärung, am anderen Morgen würde erft da8 
wahrhaft Großartige beginnen, er wolle ihnen etwas bors 
führen, was ihm nur Männer aus ben fernen Sonnenländern 
am Indos nadymachen könnten, begab er fich jelber zum nahen 
Tempelfrantenhaufe famt einigen Männern, die mit ihm be= 
hutlanı das fchnell Herbeigeihaffte Auhepfühl trugen, auf 
welchem der junge Athener dalag, zitternd, leife vor fidy hin 
wimmernd, die Augen gefchlofien. 

„Die im Tempelheiligtum anmwefenden Pıiefter erklärten 
dem ängftlich breinichauenden Abamas, daß die Heilung wohl 
einige Zeit beanjpruchen würbe; jedenfalls aber dürfte der 
Süngling mit Ende der Frühlingsfeftfeier wieder gefund fein; 
denn die Verftauhung wäre nur unbebeutender Art. 

„Wohlan,‘ ſprach Adamas, ‚hier find einige Silber: 
müngzen, pflegt mir ben Bebauernöwerten gut und gebt ihm 
alles, was er ſich wünſcht. Auf Hellenenwort verpflichte 


Beiblatt der Deutihen RomansBeitung. 


206 





ih mich, jedes Mehr treu nacdhzuzahlen. Sch bin zwar ein 
bon Stadt zu Stadt, von Land zu Land reifender Gaufler,‘ 
jagte er zu dem alten Briefter des Asfleplos, der im langen, 
weißen Himation würdevoll vor ihm ftand, ‚inbeflen ich hoffe 
mit diefem Sabre, fowie die Plefaden untergehen, meinen 
Srrfahrten ein Ende zu machen, um als glüdliher und nicht 
ganz armer Landmann bahetın in der fruchtbaren, böotifchen 
Ebene am Kopaisfee all das Schöne nadzugenichen, was 
mir vorher die Armut nicht erlaubte.‘ 

„Bier Tage waren vergangen, da fahen fich beide fchon 
wieder in eincr Herberge an vielbewanderter Lanbftraße. 

„Adamas und der junge Athener lagen zu Mabhle bei 
funlelndem Wein in einer von wilben Rofenbüjchen umblühten 
Laube und feierten das Felt bes Wieberfehens und lebend» 
länglicher Freundſchaft. Gutmütig lächelnd aber ſprach 
Adamas zu dem raſch verſöhnten Athener: 

„Siehſt Du, mein Freund, ich bin zwar ein Thebaner, 
aber des Lebens Not — und den Göttern ſei Dank! — die 
eigene Kunſtfertigkeit und Anlage zwangen den Adamas, dieſe 
Beſchäftigung zu ergreifen, die ihn bisher redlich ernährt hat 
und ihm geſtattete, manche Silbermünzen beiſeite zu legen. 
Ich hoffe, Du bewahrſt nun in Deinem klugen Kopfe, ohne 
mir zu grollen, wie das Doriſche geſprochen wird! Komm, 
Junge, neige Dich zu mir und gieb mir einen herzhaften 
Kuß der Verföhnung! So! — 

„Dann aber ipradh er ernfthaft, nachdem er einen 
Sklaven befohlen hatte, neuen Wein herbeiguichaffen: 

„Freue ſich jeder der Gaben, die ihm bie Götter vers 
lichen, daß er fie würdig verwerte; aber fuche er fie nur da 
anzubringen, wo fie am Plage find. 

‚Mit feiner Schlauheit prahle nicht der Fuchs vorm Leu’n, 
Der ihn mit einem Tagenhieb zu Boden fchlägt.‘“ 


* * 
* 


Sp Iautete die Beichichte bes jungen Thebanerd. Die 
Anmwelenden Iachten laut auf zu ber fcherzhaften Begebenheit, 
zumal ber Spartaner. Der athenifhe Baftgeber lich durch 
jeine befränzten, jugenblich fhönen Sklaven die Becher von 
neuem füllen und hieß fie, da er zugleich für ben Abend 
Sympoſiarch war, leeren auf ba8 Wohl der ganzen, unteil- 
baren Hellas. „Denn,“ fagte er, und verftändnisvoll bes 
gegneten fid; feine Blicke mit denen bes Spartanerd und 
Thebaners, „da® Schöne und Große ift nit ein Eigen- 
artiges, fondern etwad Mannigfaches und Vielgeftaltiges. 
Athen ift nicht Hellas und Hellas tft nicht Athen!“ 

„Aber wir bleiben immer Hellenen!*“ riefen die anderen 
dazwiſchen. 

„Wohlan,“ ſprach der Thebaner begeiſtert, „ſo laßt uns 
dieſe neuen Becher leeren auf Bakchos, den Beherrſcher dieſer 
feſtfröhlichen Lenzzeit, auf unſeren Dionyſos, den ewig wieder⸗ 
erſtehenden Gott der unſterblichen Freude!“ 

Und darauf ſangen ſie alle zuſammen: 


Den Veilchenkranz im duftenden Haargelock, 
So liegen wir auf blumigem Polſterpfühl 

In trauter Freundſchaft, vor uns leuchtet, 
Schöner Dionyſos, Deine Gabe! 


O Seelentau, lichtſonnige Rebenflut, 

Du hebſt das Herz zu lachenden Götterhöh'n; 
Tief unter uns liegt, was der Erde 

Trauriges Erbe, die düſt're Sorge. 


— ꝰä — —— — — — — — — — — — — — — —— — — — 


207 





Du bauft die Sehnfudht. Aber Du giebit nod) mehr 
ALS Sceptermadit und Fülle des Gold’S und Prunt! 
Schmerzlos auf einmal beuft Du alles, 
Schön zu genießen im Gaufeltraumipiel. 


Nichts kümmert uns, fein Morgen, aud Geftern nicht! 
Mir atmen heut! Und fänfe des Himmel! Dad) 

Bei nähfter Dämm’rung über unfern 
Yäupiern zufammen, die legten Worte, 


Sie Hängen Dir, Du fchöner Dionyfos! 
Sie Hängen Dir, Du rofenumhaudte Luft! 
D Freude, Du nur wedit im Herzen 
Götilihes! — Leert die gefüllten Becher! 


Hute Nacht. 


Nun wird e8 Abend, mein fühes Sind, 
Nun bift Du müb; 

Der Nahtwind murmelt fo lei und Iind 
Dein Schlummerlied. 


Er raufht in den Wipfeln dem fcheibenden Tag 
Eintön’gen Sang, 

Vom Turm Elingt verhaflender Stundenidlag 
Da3 Thal entlang. 


Die Wollen zieh’n über die Berge hinaus, 
Der Mond ift bleidh; 

Wie Schatten wanfet der Flieder vorm Haus, 
Die Weib’ am Teich. 


Ein verirrter Lichtftrahl Dein Angefiht traf 
Mit blaffen Schein; 
Du lähelit müde, ihon halb im Schlaf, 
Und [hlummerft ein! 
Fu qheibe. 


Bei Seiner Sxcellen;. 
Von Marie Swars. 

In dem Vorzinnmer des Minifter® für innere Ange: 
legenheiten wartete fchon feit zwei Stunden ein hagerer, 
ältliher Maın mit gefurhtem Antlig und befünmerter 
Miene auf den Augenblid, wo aud er Zulritt zu dem viel- 
bermögenden Danne erhalten follte. Er hatte vor Sahren, 
nachdem er in den ruhmreihen Feldzug gegen Trankreich, 
ben Erbfeind, mitgefochten, bis eine franzöfifhe Kugel ihn 
invalid gemadt, einen Civilverforgungspoften ala Schreiber 
erhalten. Aber, du lieber Himmel! er war au danad! 
Eigentlih nur dem Namen nad ein cehrender Dank dafür, 
daß er ji mit Begeifterung Hatte zum Krüppel hießen 
lafien für König und Vaterland. Allein hätte fih noch 
davon leben laffen; aber der arme Schreiber, ber Herz und 
Hand fon vor dem Kriege einen treuen, lieben Mädchen 
verpfändet, hatte auch Verlangen danad) getragen, fidh einen 
häuslichen Herd zu gründen. linb da hatte er’8 nun, den 
Weheftand im Eheftand! Mit Frau und Sindern hatte 
man jhon faum das liebe Leben gehabt; nun aber feine 
Frau, die fonft fleißig mitverdienen half, felt länger als 
einem Sahr frank lag, Hatte ein fürmlicher Notftand bei 
ihn P lag gegriffen. — 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


208 





Um feines armen WVeibcs willen, dem twahrlid) befiere 
Pflege not that, entihloß jih unfer armer Tyamilienvater 
endlich), beim Minifter felbft um Aufbeflerung jeines Ge- 
haltes, reipektive linterftügung vorftelig zu werben. Gem 
that er e8 nicht, denn er war ein fchüchterner, beicheidener 
Mann, und feine Nedegemwandtheit gerade nicht groß, barım 
fam ihn der Gang recht fauer an. — 

Heute nun war er endlich zur Aubienz befohlen, batte 
aber noch auf Abfertigung verichiedener Petenten zu warten, 
die vor ihm gelommen waren. 

Als der Iette von ihnen das Arbeitälfabinett des 
Minifters verließ, und der Schreiber fid, fhon erwartungßs 
voll erhob, trat der Diener, welcher bie Wartenden aufzus 
rufen hatte, an ihn heran und fagte: „Der Herr muß fidh 
noch etwas gedulden, Seine Excellenz halten jet Frühſtücks⸗ 
paufe.“ 

Damit ging er hinaus, und ber in banger Erwartung 
Harrende blieb allein und zwar in recht Schlechter Stimmung. 
E3 traf fih nämlich für ihn fo Schlecht wie möglid) mit dem 
Audienztage; feit der Nacht fhon plagte ihn mäütender 
Zahnſchmerz. 

Während er ſein mit einer ſcharfen Eſſenz befeuchtetes 
Taſchentuch an die Backe hielt, kam eilfertig ein kleines, 
hageres, einfach gekleidetes Männchen aus dem Aller⸗ 
heiligſten heraus und ſchritt quer durch das Vorzimmer nach 
der Ausgangsthür. 

Bei dem Bittſteller vorbeikommend, fixierte er ihn und 
ſagte vertraulich: „Nun, was ſchaffen's denn hier, wollen 
Sie auch was bei uns?“ 

Unſer Schreiber war ſonſt der höflichſte Mann von 
der Welt, nicht nur gegen ſeine Vorgeſetzten, denn das will 
gar nichts beſagen, ſondern, was ſtets für wahre Herzens⸗ 
höflichkeit ſpricht, auch Gleichſtehenden und ſelbſt unter ihm 
Stehenden gegenüber. Heut verſchuldete es daher lediglich 
dieſer ſich von einer Zeit zur anderen und wohl durch das 
Fieber der Erwartung noch mehr ſteigernde Zahnſchmerz, 
wenn er unwirſch erwiderte: „Geht Sie ja gar nichts an!“ 

„Ei, ſeien Sie doch nicht ſo grob!“ verſetzte der kleine 
Mann etwas beleidigt, wie es ſchien. „Wenn's mich nichts 
anginge, würd' ich doch nicht fragen!“ 

„Einerlei!“ ſagte der Schreiber eigenſinnig. „Was ich 
will, werde ih dem Herrn Mirniſter ſchon lieber ſelber 
ſagen!“ Und er rieb ſeine Backe ſo heftig, daß ſie rot wie 
ein Paradiesapfel wurde und grollte: „Erſt ſtundenlang 
warten, und mich dann von jedem Narren, dem's beliebt, 
um ungelegte Eier zu kakeln, ausfragen zu laſſen — laſſen's 
mich in Ruh!“ 

„Grobian!“ ſagte der kleine Mann, den der Schreiber 
für irgend einen Haußoffizianten hielt, darauf lalonifch und 
ging hinau2. 

Ungefähr eine Viertelftunde verging. Dann fam ber 
Diener und meldete: „Seine Ercellenz laffen bitten!“ 

Der Bittfteller, defien Bade vor Schmerz ganz ge= 
Ihwollen war, erhob fi) und betrat des Minifters Kabinett. 

Sm eriten Augenblid jah er vor Aufregung gar nidts; 
es lag wie ein Nebel vor feinen Augen. Sept galt’s! 
Würde e8 ihm gelingen, den allmächtigen, allerhöchften Vor⸗ 
gefegten von feiner Notlage zu überzeugen, ihn zu rühren? 

Als er nad einem tiefen, unterthänigen Diener aber 
aufjah, begegnete er nur den Elugen, grauen Augen des 
Heinen Wannes, den er vorhin, feiner unzeitigen Neugier 
wegen, fo unfreundlid angelafjen. 





209 


„Ah, das Fragezeichen!“ fuhr’ ihm heraus. „Sind 
Sie hier au Schon wieder? Haben mich tmohl nod) etwas 
zu fragen vergeſſen? ...“ 

Bei dem jpöttifchen und dabei vornehmen Blid, der ihn 
jegt traf, fam e3 wie eine hödft fatale Erleuchtung über 
ihn. „Excellenz? ... .“ ftotterte er fragend. 

„Sanz redht, mein lieber Hand Tap8!” entgegnete der 
Eleine Herr farkafttih. „Sch bin’ halt wirklid — und aud) 
der Narr, der um ungelegte Eier fafelte. Sa, fhaun’s, man 
kann gar leiht an den linrechten kommen, welcher doch der 
Rechte ft!“ 

Dem armen Schreiber war ob des fchredlichen Miß- 
griffes, den er fi) hatte zu Schulden kommen -Iafien, das 
Weinen nahe; verfchwinden mittel3 einer Verfenfung wäre 
ihm jeßt das Liebfte geweien. „Crellenz, Verzeihung . . .“ 
ftammelte er, puterrot vor Verwirrung und Belhämung, 
„id — 05 — 05 — wußte niht — id) habe —“ 

„gahnichhmerz — ba8 jehe ich,“ unterbradh ihn der 
Minifter kurz. „Warum aber in aller Welt ließen Sie fidh 
den Zahn nicht vorher ziehen, ehe Sie zur Aubdienz kamen? 
Wär’ halt praftifcher gewefen!” 

„E38 — e8 — Loftet fo fehr viel Geld,“ ftotterte ber 
Petent. „Da hält unjereiner jchon lieber aus!“ 

„Ach fol und andere follen mit Shnen aushalten, Shre 
Grobheiten nämlihd! Davon hab’ ich gerad’ genug! Und 
nun —* die Kleine Ercellenz machte eine energtiche Bewegung 
um feinen Kopf herum — „heraus mit ihm!“ 

E3 war nicht ganz Har, ob „er“ durh die Dede, in 
den Boden ober fonft wohin verfchwinden follte; der auf8 
tiefjte erjchrodene Biltfteller wollte fih auf diefen nadhbrüd: 
lichen Befehl hin, fchon alles verloren gebend, rüdwärts 
ftolpernd, auf dem gemwöhnlicheren Wege durdy die Thür 
entfernen. Da rief der gewaltige, eine Mann wieder: 
„Pit! Halt da — doc) feinen Unfinn machen!" — und vers 
wirrt und ängftlich blieb unfer Schreiber ftehen. 

„Wieviel?* fragte die Ercellenz mit gerungzelter Stirn. 

„Ad, jo viel — das heißt, jo wenig ald Eure Ercellenz 
zu gewähren geruhen ... .” 

„5 ift dod) eine wahre Het mit Ihnen! Ich mein’ halt: 
Was Eoftet’3 bei dem Zahnreißer?“ 

„Drei Mark, Euer... .* 

Der Minifter z0g die Börfe. „Hier find fiel Und nun 
gehen’8 zu meinem Zahndottor hier nebenan und laffen’s 
mal jchnell den Attentäter, der Ihnen und mir fo grob kam, 
herausholen. Dann wieberfommen. Will jehen, wie ©ie 
danach reden fünnen. Menih mit Zahnichmerz halber Mienfch 
nur; wa8 der fo hinredet, das ift — da8 tft —* er fudhte 
nad einem Ausdrud und fchloß triumphierend, mit einem 
bo&haften fleinen Gelächter — „Kakelel ift’3! — Verftanden 3“ 

Gehorjam ging der Schreiber zu dem berühmten Zahn 
profeflor herum, wo ihm mwenigftens ein jchmerzlofes Aus» 
ziehen wintte. Ihm war wunderlic zu Mut. FYurdt und 
Hoffnung ftritten in feiner Seele, body bie erftere, blaß- 
wangige, behielt die Oberhand. Ach, e8 war ja faum dent: 
bar, daß Crcellenz ihm feine bobenlofe Grobheit vergab! Gr 
war geliefert! Bei der erften Gelegenheit kaſſiert! Er 
glaubte, nur zu gut verftanden zu haben. 

Gern hätte er fih’8 gejchenkt, noch einmal in das Fege- 
feuer beim Herrn Minifter hinein zu müffen; e8 hatte nun ja 
dody feinen Zwed mehr. Aber Sreellenz hatten einmal be- 
fohlen, da gab e8 feine freie Wahl. 

Ein Zettelhen, das er mitbefommen, hatte ihm beim 


Roman-Zeitung 1896, 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


210 


Zahnarzt troß vieler Wartender fogleid) Einlaß und Abe 
fertigung verihafft. In zehn Minuten war er mieber bei 
dem Minifter und Fam fi) wie neugeboren vor. 

„Zahnihmerz 108°“ fragte Seine Ercellenz. 

„Ganz wie Eure Ercellenz befehlen,“ antwortete der 
Schreiber unterwürfig. 

„Ra, nur nicht in andere Ertreme verfallen,“ meinte ber 
Minifter mit halbem Lächeln. „Der Zahnjchmerz war nod) 
niemand8 lintergebener, leider! Eher fpielt er. den Meifter 
und fchert fih den Kudud drum, wa8 etwa fo’'n Faklicher 
Narr — wollt fagen, fo eine Ercellenz befichlt! Aber nun, 
da ih ja nun wohl vor weiterem Anfchnauzen ficher bin, 
zur Sache! Alſo was wünſchen Sie? Reden's jetzt halt 
ſo, wie Ihnen ums Herz herum iſt — eigentlich müßt' man 
ſagen: um die Zähne herum.“ 

Das that denn der Bittſteller auch und er hätte vorher 
ſelbſt nicht gedacht, daß er an dieſem Unglückſtage ſeine 
Sache noch ſo gut werde führen können. Er ſprach ſich 
ſchließlich warm, denn die Begeiſterung des alten Soldaten, 
der damals Blut und Leben für nichts im Dienfte des be- 
drohten Baterlandes geachtet, kam über ihn in der Rüds 
erinnerung, ald er, durch ein paar kurze, vom Minifter 
eingeworfene Bemerkungen dazu veranlaßt, erft auf den 
glorreihen Tag von Sedan zu fprechen fam, ber ihm dod) 
den Dampf gethan. Aber auch er hatte fein Hein Teilchen 
dazu beigetragen, wenn damals dem preußifchen Aar mächtig 
die Schwingen gewadfen, und man hörte ihm den Stolz 
darauf troß aller VBefcheidenheit an. 

Der Minifter hatte zulegt ftill zugehört, ohne ihn weiter 
zu unterbrechen. Segt madte er fi einige Notizen und 
winkte ihm fchweigend zu, daß er entlafien jei. 

Ob, ob, da hatte er fich fchön verplaudert! Das war 
ja gar nicht die Eleine, mwohlgefegte, ftreng bei ber Sadıe 
bleibende Rede gewefen, die er fich zurecht gelegt. Das kam 
aber nur davon, daß ihm nad) dem prächtigen Zahnaug- 
reißen jo leiht und wohl zu Mut geivefen war! Nun einer: 
lei! — Berjehen ift veripielt! — Betrübt und niedergefchlagen 
fam der Schreiber nad) Haus. Seine Ausfiht, daß biefe 
Audienz den erjehnten Erfolg haben könne, eradhtete er faft 
für Null Ta, wenn er höflicher gewefen wäre! Cr hätte 
fih wegen feiner Gjelei jelber ohrfeigen fönnen! Und als 
feine franfe rau mit Shwader Stimme zu wifjen begehrte, 
was er denn ausgerichtet, gab er eine ausmweicdhende Antwort 
und machte fich inSgeheim ihretiwegen Doppelte Vorwürfe. 

Einige Wochen vergingen; von Entlaflung, fo jehr er 
da3 gefürchtet, war feine Rede. Dafür ward ihm, da es in 
die vierte ging, aus des Minifters Kanzlei ein amtliches 
Schreiben ausgehändigt, das er mit Herzklopfen eröffnete. 
Dasfelbe zeigte ihm an, daß Seine Excellenz ihn eine vor- 
läufige Unterftügung zur Linderung jeiner augenblidlichen 
Not bewilligt habe, zahlbar jofort, und daß jein Gehalt 
vom nächſten Eriten an eine wefentlihe Aufbelferung er: 
fahren folle. 

Unter de Minifter8 Namenszug ftand aber, offenbar 
aud; von deifen eigener Hand gefchrieben: 

„Nur wer den Zahnfchınerz kennt, 
Weiß, wa man leidet * 

Dies follte jedenfall eine Parodie auf das befannte 
Lied fein: „Nur wer die Sehnfucht kennt, weiß, was ich 
leide!" — Diefer gnädige, Heine Scherz eines Kleinen, großen 
Mannes ging unferem armen, nun fo od) beglüdten Schreiber 
freilich verloren, weil er befagtes Lied nicht Yannte. Eines 





IV. 15 


211 


hatte er au8 dem munberliden Boftifriptum aber dod 
richtig herausgeleien, und zwar mit inniger Dankbarkeit 
und Rührung: daß dies ein Wink fein folle, die Eleine, 
gütige Exrcellenz habe humanerweife feiner durd) ben Zahn 
fchmerz und alle feine fonftigen Schmerzen herborgerufenen, 
verzweifelten Stimmung verftändnispoll Rechnung getragen. 
Der Minifter Hatte fih auf edle Weije gerächt, ganz würdig 
eine? Mannes in feiner hohen Stellung, von dem das Wohl 
und Wehe jo manchen armen Teufels abhängt. 


$5 if ein Reif gekommen. 
Es it ein Reif gelommen 
Tief in der dunklen Nadt; 
Eh’ man e8 wahrgenommen, 
Zerftört der Blumen Bradit; 
Die geftern noch die Sonne 
Mit ihrem erften Licht 
Dem Schlaf entriß zur Wonne, 
Ermwedt fie heute nicht. 
Zur Bruft das Köpfchen wenden 
Eie jegt den ganzen Tag, 
Ch aud die Sonne fenden 
Dis Tpät die Strahlen mag. 


Auch mir fchien einft beichieden 

Ein jel’ge8 Glüd zu fein. 

Die Roien all hienieden, 

Sie blühbten mir allein. 

Für dieſe höchſte Freude 

Erſchien zu eng die Bruſt — 

Da ward mir's klar im Leide: 

Gebüßt war alle Luſt. 

Eh' ich es wahrgenommen, 

War in mein Herz mit Macht 

Ein tiefer Schmerz gekommen, 

Tötend wie Reif bei Nacht. 
$- Yalllant. 


Heue Romane und andere Unterhaltungs: 
bücher. 
Angezeigt von ®. v. 4. 
Schluß.) 


Volniſche Zirtſchaft. Von Oskar Höcker. (6 ME) 

Der Verf. muß das Leben in unſerem preußiſchen Oſten 
aus eigener Erfahrung kennen; das Buch iſt reich an durch— 
aus lebenswahren Zügen; die Polen aller Stände, hoher 
und mittlerer Adel, Bauern und Landarbeiter ſpiegeln klar 
die Volkseigenart wieder, im Guten und Schlimmen; doch 
überwiegt das zweite. Die oft ſinnloſe Wirtſchaft, die aus 
dem Vollen lebt, bis nichts mehr da iſt, die Sucht zu prunken, 
die raſche Entflammbarkeit neben Mangel an Ausdauer, die 
Sicherheit in Beherrſchung äußerer Formen neben ſittlicher 
Unreife: all das iſt klar wiedergegeben. Einzelne Züge 
jpielen ins „Romantiiche* hinüber, aber zeritören die Wahrs 
jcheinlid;feit nicht. 

Die Fit des Starken. Ton Rudoli Eldio. (5 ME.) 

Der Verf. wandelt auf den Pfaden Spielhagen!. Die 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





212 





Kreife, in denen ber Roman fpielt, find bie ber Offiziere 
und der adligen Gutsbefiger; daneben ein geabelter Hals 
abfchneider und einige bürgerlihe Dienfchen. Der Berf. 
bemüht fich, gerecht zu fein, aber man fühlt, daß fein Herz 
auf der Seite der „Telbftgemadhten“ Männer fteht. Cin foldher 
löft durch feine Klugheit, Güte und fein Geld alle Wirren, 
die fich im Laufe der Handlung entwidelt haben, und es 
find deren fehr viele. Diefe Häufung von Edelmut giebt 
der Geitalt da8 Gepräge des VBeabfichtigten, wodurd) jie an 
Wahrjcheinlichkeit verliert. Einzelne Vorgänge find nicht 
recht denkbar. Daß auf einem Ebelfig, wo ein großer Ball 
ftattfindet, die Mufiter während der Tanzpaufe alle Torten: 
reite, Gigarren u. f. mw. einfteden; daß bie OffizierSburfchen 
und Autjcher die Vorzimmer und ben Yeltfaal „überfluten* 
und Wein und Epeiferefte vertilgen, ift mir undentbar. Die 
Sprade ift mit Adytung behandelt. 

In dem Verlage von Otto Zanke, Berlin, find drei 
Nomane erichienen, auf die ich unfere Leſer aufmerkſam 
maden möchte. 

$Sebensrätfel. Bon EC. Junder. 
3. Aufl. 2. ME. 

E3 ift eine der älteren Arbeiten, mit denen die Verf. 
ihren Ruf begründet hat. Der Hauptwert bes Romans liegt 
in den weiblichen @eitalten, die, voneinander fehr verichieben, 
durdhiweg mit großer Stenntnis der Mädchen: und Frauen⸗ 
feele dargeftellt find. Dabei ift der Stoff feffelnd, und der 
leitende Gedante edel. 

Au in 3. Aufl. liegt vor: 

Der Fels von Erz. Paterländifcher Roman von Emil 
Bradhvogel. 4. ME. 

Die vom vaterländiichen Geijte bejeelte Arbeit ift ganz 
befondber® aud für Bolls- und Schulbüchereien geeignet, 
ebenfo zum Gefchent für die reife Sugend. Der Roman 
beginnt in der Zeit nad dem breißigjährigen Strieg; eine 
Menge vertrauter Geftalten ift mit Gefhid in die Vorgänge 
verwebt, das Ganze, trogbem Jahrzehnte vergangen find, 
feitdem e8 herausfam, fo friidy, wie mander heutige Roman 
in zwanzig Jahren unlesbar jein wird. 

Großes Auffehen dürfte der dritte Roman erregen: 

Draneneßre von Marie Stahl. 

Sch merke fofort an, daß er nur für reife Lefer be 
ftimmt if. Mit den leitenden Gedanken, die hier nidht er» 
örtert werben können — e8 handelt fi um da3 NRedt auf 
freie Liebe — bin ich nicht einverftanden. Die ganze Beiveiß- 
führung hinkt, weil der einzelne Fall zur Grundlage allge: 
meiner Säge genommen ift. Aber dad Bud ift für 
benfende Menſchen intereflant, da e3 ihnen, ähnlih den 
Büchern von Hedwig Dohm und der Egerton, die Tenf- und 
Gefühlsweife in einem Teile der „modernen“ ;srauenwelt 
enthüllt. Die Verf. befist Geift, das ſteht außer Frage, aber 
e8 fehlt ihr die Ruhe, aus ihren Sägen alle pindhologiichen 
Tsolgerumgen zu ziehen und deren Wirkungen auf die Durd- 
ihnittsmenichen, d. bh. die erdrüdende Mehrheit zu prüfen. 

Die Freiersfaßrien und Firdiersmeinungen des weißer- 
feindfigen Herrn Yankrasius Grannger, der Schönen 
Nifienihaften Toktor, nebit einem Anhang, wie jchließlid 
alles ausgelaufen. Derausgegeben von Ltto Julius Bier: 
baum. (Berlin IStw, Verein für freies Schrifttum.) 
4 ME. 

Der Verf. beiigt einen Kern gefunder und eigener Des 
gabung, aber iit daneben audy durd fremde Cinrlürte leicht 
beſtimmbar. In ſeinem erſten Proſageſchichtchen ſtand er 


(Elſe Schmieden.) 





213 


faft ganz im Banne Gonrads und der Süngften; in feiner 
Lyrik war er teild von Liliencron, teild von franzöfiichen und 
älteren beutichen Worbildern beitimmt, wenn fi auch 
in den „Erlebten Gedichten“ warme SHerzendtöne geltend 
machten. Ein etwas gegiertes Naturburfchentum, wie e8 bei 
manchem der in München lebenden Schriftfteler Mode wurde, 
verband jich mit den Einflüjfen bes Naturaliamus; daß Ge: 
Ihlechtlihe wurde die Hauptfahe. Man glaubte die ‚Natur‘ 
zu geben, wenn die Heldin ein Wäfchermabel oder eine 
Kellnerin war und es in der Geichichte fehr — natürlid) 
herging. 

Sn dem vorliegenden Roman wirft ftellenweije all das 
nod nad; die Natürlichkeit tit dann „geitellt”; die Gefühle 
trotz des jcheinbar naiven Ausdruds geziert; und aud an 
geihmadlofen naturaliftiihen Seitenfprüngen fehlt e8 nicht. 
Aber dennocd) bedeutet das Buch einen entichtedenen Fortichritt. 
In Bierbaum ift nämlich thatfählih ein Zug von frifcher 
Launigfeit, von unmittelbarer Frohlaune vorhanden, ber fi 
nur lange in fremden Formen bewegt hat. Hier aber in den 
beiten Abjchnitten findet er den ihm entiprechenden Ausdrud. 
Noch überwiegt das Komifche, aber hier und dort treten Züge 
bon Humor zu Tage, in bem fich tiefere Anlage bethätigt. 
Wenn der Verf. fih von allen fremden Einflüffen befreit, 
feiner angeborenen deutfhen Art folgt, jo mwirb er uns 
fünftighin Werke fchenfen, die zum Herzen fpredhen. Ich 
freue mich befonders, daß allmählich wieder der Humor, wenn 
auch noch nicht in feiner ganzen Bedeutung, wach wirb. Ach 
erwarte gerade von Bierbaum, daß er in biefer Richtung fein 
Beites jchaffen werbe. 

Begepte. Satiren von Buft. Shwargkopf. (Dresben 
und Leipzig 1896, Carl Reißner.) 

Der Band enthält zwölf Satiren; nach ber eriten ift da8 
Buch benannt. Sie behandeln zumeljt Eleine Schwächen ber 
Litteratur und de8 öffentlichen Lebens. DQiefer greift der 
Berf. nicht; die großen Fehler und die after bleiben un⸗ 
berührt. Aber dba er über gutmütige Frohlaune verfügt, 
fann das Büchlein als unterhaltend empfohlen werden. 

Im gleihen Verlage beginnen zu erjcheinen: 

Ernſt Wiherts „Gefammelte Merke. Sie jollen 
bon Romanen enthalten: „Heinrid von Plauen“ (3 Bde); 
„Hinter den Gonliffen” (2 Bde); „Tileman vom Wege“ 
(3 Bde); „Der jüngfte Bruder“ (1 3b.) und „Der große 
Kurfürft in Preußen“ (5 Bde). Seber Band foftet 3 ME. 
in guter Ausftattung. Der vaterländifche Geift diefer Arbeiten 
ift befannt; vornehmlich jei auf „Heinrid von Plauen” hins 
gewiefen, der e8 fhon zur 6. Auflage gebradjt hat. jeder 
Noman kann für fid) bezogen werden. 

Allgemeine Roman-Bibliothet. (3.Engelhorn, 
Stuttgart.) 

Bon den in ben legten Monaten erfchienenen Bänden feten 
hervorgehoben: 

Das Magdalenendaar von Jean Nameau. 

„SHelöfigeret*. Bon Griedrih Spielhagen. In 
feiner befannten Art gejchrieben. 

Moman-Studien. Don Jerome R. Jeronte. 

Ein heiterec3 Büchlein. 

Ingendflürme. Bon Karl Buile. 

Der Roman des jungen Schriftitellers ſei beiten? 
empfohlen. 

Unterwegs und Ddaßeim. Linterhaltungsbibliothef. 
(Schleſiſche Buchdruckerei, Kunjt: und Verlagsanitalt, 
borm. Schottlaender, Breslau.) 


Beiblatt der Deutihen Roman-geitung. 





214 


E38 find uns von diefem Unternehmen zwei Bände zu= 
fommen. 

Würden. Bon 9. Herrmanı. 

Der Band enthält fehs® Märchen, deren jedes einen 
erniten Grundgedanten in fymbolifcher Weife behandelt. Daß 
der Verf. ein innerlich reicher Menfch ift, der nach eigenartiger 
Ausprägung jeines getftigen Befiges ftrebt, beweilen auch die 
bei uns erfchienenen Gedichte. Bi3 jett ftelle ih ihn al 
Lhrifer höher. Obwohl auh in bdiefen Märden fi) dag 
warme Gemüt und das rebliche Ningen offenbart, jo fehlt 
dod; nod) die durchfichtige Klarheit. Derartige Arbeiten follen 
kryſtallhell ſein, ſo daß nirgendwo die beutbilbliche Bedeutung 
getrübt erſcheint; ſelbſt die kleinen Züge müſſen innerlich 
mit dem Leitgedanken verbunden ſein. Aber leſenswert ſind 
die Märchen doch und mögen vor allem ſinnigen Leſern 
empfohlen ſein. 

Der zweite Band enthält: 

Anna Narie. Ein Berliner Idyll 
Jacobowski. | 

Eine einfahe Gefhichte mit rühmenswerter Einfachheit 
erzählt. Daß fie, 188 Seiten umfaffend, ald Brief an eine 
Schweiter gelten muß, ift ein Formfehler; jie hätte befler 
gewirkt, wen der Verf. ung unmittelbar das Gejichehen ge- 
zeigt hätte. So tritt zu jehr die Geftalt des Schreibers 
hervor, während die des Mädchens im Halblichte bleibt. 
Einige Eleine Bemerkungen fchriebe ein Bruder an die „heilige 
Schweiter* nicht. Aber das Ganze ift Doch fauber gearbeitet 
und jpriht für das ernftie Streben bes Verfaffers. 

Die Ausftattung der Schmaloftav-Bände ift gefällig. 

Kartänfergefiten. Novellen und Skizzen von Otto 
Ernft. (Hamburg 1896, Sonrad Klof.) 2,25. ME. 

Der Band enthält 5 Geihichten: „Anna Menzel“; „Die 
Kunftreije nad Hümpeldorf” ; „Der Kartäufer*; „Ein Ein: 
fchleiher* und „Hans im Glüd*. Die erfte leidet unter der 
Tendenz; jehr unterhaltend ift bie zweite, geiftreich und fein 
ift die Schilderung der vorgelefenen Gedichte Goethes, doc 
fällt fie aus dem Rahmen des Stoffis. 

nel Joßns Principten. Bon Sohanna Feilmann. 
(Deutfhe Verlags: Anjtalt, Stuttg.) 

Wie ein Deuticher, der fih für einen Stod-Englänber 
hält, dur einen Freund und eine liebe Nichte von der 
Anglomanie befreit wird, erzählt die Verf. mit fehr viel 
Trohlaune. Die einzelnen Geftalten, Deutihe unb Engländer, 
find lebendig; die Entwidelung geihidt. Dabei geht die 
Komik niemals über die Grenzen des guten Gefchmads, und 
dag Ernite zeichnet fich durd; Wärme aus. Ich empfehle das 
zierliche Bändchen unjern Lefern. 

Kollektion Birtoria Begia- 
Baumert und Ronge. 

Von diefer Sammlung moderner Novellen und feltener 
Werke der Weltlitteratur, die von unserem Mitarbeiter Dr. 
Dälar Linfe herausgegeben wird, find und zwei Bände zu- 
gefommen. Schon der Name des Herausgebers bürgt für 
die gute Auswahl. 

Die Madonna von Hwidlowice, Bilder und Skizzen 


bon Zubmwig 


Großenhain und Leipzig, 


von Tarras Runowatli, enthält fünf Kleine Arbeiten, die 


ale für entichiedene Begabung iprechen und befonders den 
Lejerinnen gefallen werben. Für Männer dürfte bejonderg 
intereffant fein: 

Tabubu. Altägyptifcher Original:Roman in deuticher 
Bearbeitung von Leon Nitter. 

Das Wert ift thatfählic; bedeutend in feiner Art. 





215 


Dankenswert iſt die Einleitung. Beigegeben ift die aus der 
XIX. Dynaftie ftammende Geichichte der beiden Brüder, die 
zwar Ichon in verichiedenen Werfen inhaltlid) wiedergegeben 
ift, aber hier leichter zugänglicdy wird. 

Der folgende Band fol Voltaire „Sandide“ bringen. 

Die Elfäferin. Pas SHonntagskind. Zwei Novellen 
von Harl Stord. (Stuttg. 1896, Sofef Roth.) 

Karl Stord gehört neben Frig Lienbard, Chriftian 
Schmitt u. a. zu den jungen Elfäfjern, die fidy) mit inniger 
Liebe an Deutichland angeichloffen Haben. Schon diele That» 
jadye enthält die Verpflitung in fih, daß die Lejer im 
Reiche diefen Schriftitellern warme Teilnahme entgegenbringen 
follten. Für unbegabte Schmierer nehme ich fie gewiß nicht 
in Anſpruch. Aber diefe jungen Dichter zeichnen fich durd- 
weg durch geiftige und fittlihe Gejundheit aus; die franls 
haften Stimmungen, unter denen die Entwidelung unjerer 
Süngften und Jungen fo oft gelitten hat, ließen diefe Eljäfler 
unberührt. Auch die Novellen von Karl Stord find rein 
in ihrem Gefühlsinhalt, fchlicht und deutich in der Auffaffung 
der Menſchen. E3 ift da3 erfte VBuch des jungen, ernit- 
ftrebenden Litteraturforfcher8 auf diefem Gebiete. Ich wünfche 
herzlich, daß e8 bei unferen deutjchen Frauen eine recht freund» 
lihe Aufnahme finde. Die Ausftattung macht e8 zum Ge: 
fchenk fehr geeignet. 


— — — — — 


Briefkaſten. 

Frau E. S. in L. Mit beſtem Willen unmöglich. 
Auch der neueften Sendung fehlt e8 an bem Nötigen. Das 
fann alle Teilnahme mit Shrem trüben Gefchhid nicht ändern. 
Shre Begabung ift zu gering — Frl. Aline R. in Br. 
1) Gedichte leider ungeeignet. 2) Nein, ein foldhes Mittel 
giebt c8 nicht. Übrigens tröften Sie fih. Sie können noch 
wachſen. Wenn Sie aber Elein bleiben, mwa3 verichlägt’8 3 
Denten Sie nur, Napoleon ift aud Fflein gemelen und 
Friedrih II. von Preußen aud. Wacdhlen Sie aljo dann 
innerlid. — 6. Kr. in V. Gewandt gejchrieben, aber in 
Stoff und Ausdrud zu herfömmlid. — Harn U. 2. in 
Gotha. Im zweiten Gedichte ein friiher Zug. Aber dieſe 
Stoffe entitammen nit dem Herzen. Sie müfjen erft in 
Shr Selbit einfchren, um eigene Klänge zu erlaufchen. — 
Herren 3. ©. in DO. „Sm Gemitter* enthält jchöne und 
innig gefühlte Stellen. Das Ganze aber ijt ein Brudftüd 
ohne Abichluß, und als foldhes zu umfangreid. „Preis der 
Noje“ bewegt fih, obwohl in flüffiger Sprade gefchrieben, 
zu jehr in herfömmlichen Vorftellungen. — Frl. ©. v. Br. 
in Br. In Ihnen lebt Herzensreinheit und warmes Ge- 
fühl. Noch find Sie oft unfider in Rhythmus und Reim, 
aber e8 ringt etwas Tieferes nad) Geitaltung. Vielleicht 
bringe ich gefürzt „Wunfch“. Sie dürfen mir von Zeit zu 
Zeit drei Gedichte auf einjeitig beichriebenen Blättern jenden. 
Durd) das Leien von Geihichtäwerten fann man fi nod 
nicht zum Dichter bilden. Man muß zuerft in fi Einkehr 
halten, wenn man Welt und Geift begreifen, in fi nad) 
fühlen wil. — Ohne Namen. Mannheim. Wahrheit 
allein kann Sie au3 diefer Lage erlöfen. Die Schuld ge- 
ftehen und deren Folgen auf fid) nehmen ift Buße vor den 
Menſchen und Freifprud Gottes. Wer in der Lüge weiter 
lebt, gleitet zum Abgrund. Mögen Sie die Kraft finden, 
zu thun, wa8 das höhere Geje gebietet! — Frl. 3. 9. in 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





216 


MR. Gie pflegen beim Stiden zu dichten. Cine Löbliche 
GemoäHnheit. Set müflen Sie fid) no eins gewöhnen: 
reizt e8 Sie, die Gedichte aufzufchreiben, greifen Sie raldh 
zur Stiderei. So wird die Nieberfchrift verhindert und ung 
beiden tft geholfen. — €. ©. in 3. „Am Ziele” angenommen. 
— Herrn stud. B.in Münden. Gut behandelte Sprache, aber 
in den Anfchauungen noch zu viel Unjelbftändiges. — Herrn 
Spr. in Str. Gewandte Darftellung, aber alleß herföümmlich. 
Soldie „Scholaren=Lieber* find in den legten Sahrzehnten 
ald MWiederhall zu Taufenden entitanden. Gehen Sie in ihr 
Gelbft, da findet fit) wohl Beileres. — Herrn Dr. W. Sch. 
1) Der Berfaffer lebt in Bremen. 2) Gebunden 5 ME. 
3) Yaft alles in Dtito Zankes Verlag ericyienen bis auf die 
Dramen. 4) War ein Drudfehler, wie Sie richtig vermuten. 
— Frau Balt. 9. in N. Das fiele zu ehr aus dem NRahnıen 
unjere3 Blattes heraus. Wozu find Kochbücher dpa? — Herrn 
stud. ®h. in 2. Sch habe gegen den Stoff nidts einzus 
wenden. Aber idy bitte dabei, die Leitgedanten unferes 
Blattes zu beachten. Wenn Sie mit biefen nicht innerlich 
übereinftimmen, dann wählen Sie licber etwaß andered. — 
Frau M. D. in #. Sch Habe Icider darüber nichts er- 
fahren können. — Frl. 3. Th. in 3. Das hängt zu enge 
mit der innerften Anlage eines Dienfhen zufammen. Sch 
fenne Sie aber, außer burd) den Brief ein wenig, darin gar 
nit. Srankenichweiter nur darum zu werben, um unleib- 
Iihen Verhältniffen zu entgehen, Scheint mir falich gehandelt. 
Die Srantenpflege fordert, mit dem Drange des Herzens 
aufgenommen zu werden. Wüylen Sie den nidt, dann 
unterlaffen Sie e8, biefen Beruf zu ergreifen. — Herm Ed. 
Sh. in Die Kleinigkeiten und „WVerfcherzt“ behalten. 
Beiten Gruß. — Herrn stud. W. Br. in2. „Maienzauber” 
und „Streben“ fommen wahrideinlid. Die Sprüdhe find 
im Ausdrud etwas jchwerfälig, aber die Gedanken meift 
gut. — Frl. EL. 2. in 9 „Tod“ dürfte gelegentlich 
fommen. — Herrn D. 2. in 2. Die Wärme Shres Gefühle 
und die Kraft der Phartafte überragen den Durdichnitt, 
aber Ihr Ausdrud ift leider fo ungelidhidt, daß e3 mir nicht 
möglich ift, etwaß zu bringen. — Frl. Th. T. in ® Sie 
jchreiben: „Sch bin leider jo vielfeitig begabt: ich finge und 
jpiele Klavier, ich male und dichte. Ihr Urteil über da3 
legtere wäre mir angenehm.” Menn Sie ebenfo malen und 
fingen wie Sie dichten, dann rate ih Ihnen dringend, fi) 
in bäuglihen Arbeiten auszubilden. — Luctan. Alles 
jehr gut gemeint und für reines, warmeß Gefühl zeugend, 
aber dichteriihe Eigenart fehlt. DBeiten Gruß! — Herrn 
Prof. Th. in 2. Der Stoff paßt für uns nidt. — Herrn 
Med.:R. Dr. W. in 9. Sft bei Cotta erfchienen 1865. 

(Der Brieffaften ift am 6. Juli abgejhlofjen. Alles 

Nichterwähnte uuntauglich oder irgendwie erledigt.) 


Der Leiter der Nom.sZtg. ift verreift und bittet, 
ihm in ben nädften 5 Wochen nichts zu jenden, weil es 
jonft biß zu feiner Heimkunft umerledigt bleiben muß. 


Inhalt der No. 42. 


Schwertllingen. Baterländiicher Roman von Hans 
Werder. Fortf. — Ohne Gott. Noman von E. Karl. 
— Beiblatt: Grillenliedden. Bon Helene Bernard. — Er 
ipriht doriih! Don Oskar Linke — Gute Naht. Bon 
Luz Scheibe — Bei Seiner GEreellenz. Bon Marie 
Schwarz. — C3 ift ein Neif gefommen. Bon 2. Vaillant. 
— Neue Romane und andere Unterhaltungsbücder. Angezeigt 
bon DO. d. 2. Schluß. — Briefkaften. 





Berantwortliger Leiter: Dito von Leirner in Berlin. — Berlag von Dito Janke in Berlin — Drud der Berliner Bugprudereie Wetien» Gefenfgaft 
-  (Sebertunenfchule beB Kette» Bereing). 








ämter nehmen dafiir Beftellungen an. 
beziehen. 


1896. 





Deutſche 


Roman-Zeitung. 


Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt— 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 43, 


Schwertklingen. 


Baterländiicher Roman 


von 


Dans Werder. 
(Fortſetzung.) 


Leiſe ſtiegen ſie hinauf und glitten jenſeits 
wieder hinab. Ihre Füße ſtanden auf der blanken 
Eisfläche des Wallgrabens. Raſch und leicht glitten 
ſie zwiſchen den finſteren Feſtungswällen, auf ſpiegel⸗ 
glatter Bahn. Plötzlich knackte das Eis unter Haſſos 
Fuß. Zuſammenſchreckend blieb er ſtehen. Das 
Waſſer quoll auf und ſchob ſich mit laut gluckſendem 
Ton unter der gelockerten Eisfläche hin. 

„Halt — wer da —“ rief eine Schildwache in 
ſcharfem, langgezogenem Ton. 

Atemlos ſtanden die Flüchtlinge in eine Mauer— 
falte gepreßt. Leben und Tod hing an einem Haar 
für ſie. 

Da plötzlich ſtrich eine Schar wilder Enten, 
in ihrer Ruhe geſtört, von der breiten, offenen 
Waſſerfläche vor ihnen ab, quakend und flügel— 
ſchlagend. 

Das war Rettung. 

Die Schildwache ſah beruhigt den Enten nach 
und wunderte ſich nicht, daß ſie auf ihren Anruf 
weder Loſung noch Feldgeſchrei als Antwort erhielt. 
Die Flüchtlinge aber vermochten für jetzt nicht weiter 
vorzudringen, es war undurchführbar. In raſchem 
Einverſtändnis wandten ſie ſich zurück. Scriver war 
aufs tiefſte verſtimmt durch das Scheitern dieſes 
Verſuches. Haſſo aber ließ ſich ſo leicht nicht um 
ſeine gute Laune bringen: „Ich ſagt's ja gleich, eh' 
ich dem Thereſelein nicht ordentlich Adieu geſagt, 
kommen wir aus ihrer Vaterſtadt nicht hinaus!“ 

„Unſinn!“ vervollſtändigte Scriver abermals 
den Monolog. 

Thereſel ſtand am Küchenfenſter und wartete. 
Sie wußte nicht, ob ſie ſich freuen oder grämen ſollte, 
als die beiden Herren plötzlich aus dem Dunkel vor 
ihr auftauchten. Behutſam ſchwangen ſie ſich zum 
Fenſter herein und ſchlichen einigermaßen niederge— 
ſchlagen in ihr Gefängnis zurück. 





Rowmansfeilung 1896. Lieſ. 43. 


Vater Lamprechts beſorgtes Hausherrnohr hatte 


ein wenig von den ungewöhnlichen Geräuſchen der 
Nacht vernommen. Beunruhigt erhob er ſich und 
eilte in die Küche, wo er Thereſel bereits bei ihrer 
Hantierung fand. „Thereſel, um aller Heiligen willen, 
was iſt paſſiert — ich habe Schritte gehört — weiß 
Sie etwas davon?“ 

„Pſt!“ machte Thereſel. Und eifrig erzählte 
ſie dem Meiſter, was vorgefallen. 

Dieſem ſtanden vor Angſt und Beſorgnis die 
Haare zu Berge. „Wenn nur die Einquartierung 
geſchlafen hat!“ 

Ja, die hatte geſchlafen. Kein Argwohn ſtörte 
die harmloſen Gemüter, als ſie ſich mit gewohntem 
Behagen um die dampfende Morgenſuppe gruppierten. 
Vater Lamprecht hielt mit ſeinem Sohne ernſten 
Rat und dann pilgerte diejer hinaus, um mit un: 
verfänglider Miene nochmals die Wallgräben zu 
inipizieren. „Es friert Stein und Bein!” berichtete 
er mit tröftlicher Gemwißheit. „Die offenen Stellen 
find bereits zu, wenn’s fo bei bleibt, fommen bie 
Herren diefe Nacht ungehindert hinüber!“ 

Und es blieb jo „bei“. Mit Rüdfiht auf die 
große Kälte braute Herr Anton zum Abendtrunf 
feiner Einquartierung einen heißen Bunjh und milchte 
ihn jo Stark, daß die waderen Kriegsinechte ihre innige 
Freude daran hatten. „Himmel, wenn ich das trinken 
follte!” dachte der janfte Anton mit einem Schauder. 
Als dann der legte Tropfen die durftigen Kehlen 
hinabgeflofien war, begaben fih die Braven zur 
Ruhe und bald erzitterte das Haus von dem ge: 
waltigen Schnardhen der Schläfer. 

Vater und Sohn Lampredt aber, auf Filz: 
\ohlen einherfchleihend, halfen diesmal jelber ihren 
Gaftfreunden auf den Weg. 

„Brauchen Sie auch no) Geld, Herr Lieutenant? 
Menn’s auch jchlechte Zeiten find — joldden tapferen 
Offizieren —” 

„Nein, mein befter Meifter Lamprecht, taujend 


IV. 16 








219 


nn en nn — nn no 


Dank! Mit Geld find wir reichlih verjehen, und 
Therejele Brot: und Fleifchichnitte Shügen uns auf 
Tage hinaus vor dem PVerhungern!” 

„Sit au die Schnapsflafhe nicht vergeflen?” 
„Nein, nein, bier ift fie!“ 

„Nun denn — Gott befohlen!” 


„Thereſel — noch einmal Ieb’ wohl! Im 


meinem Leben vergeß ih Dir’s nidt!" Einen 
warmen Kuß drüdte Hallo auf die roten Xippen des 
Mädchens, das feine Thränen tapfer bezwang. Un: 
hörbar drehte Anton den eingeölten Schlüfjel herum 
und öffnete die Hausthür, die Herren traten hinaus, 
und faht ward fie wieder ins Schloß gedrüdt. 

Mit gejenttem Kopfe eilte Cherefelein ihrer 
Kammerthür zu. Anton jah ihr nah, die Laterne 
in der Hand, einen fummervollen Ausdrud in den 
gutmütigen Augen. „Sie wird’s verwinden!” dDadte 
er jtill bei fidh. 

Geräufhlos durch die Schatten der Nacht eilten 
die beiden denjelben Pfad wie geftern entlang. Un: 
hörbar glitten fie auf dem Eisipiegel der Feltungs: 
wälle dahin. Set kamen fie zu der verhängnis- 
vollen Stelle — das Eis fnadte — body nein, es 
hielt — nur weiter. Dröhnend lang der Schritt 
der Schildwadhe auf dem harten Boden. Sie näherte 


id. Regungslos ftanden die Flüdtlinge an eine 


dunkle Mauerede gepreßt. Der Boften jpähte herüber. 
Dann lehrte er um und entfernte fi wieder. Her: 
vor jegt aus dem Verfted und über die helldaliegende 
Flädhe bin wie ein Pfeil — bis zu dem jchwarz 
Ihattenden Brüdenbogen, dort waren fie geborgen. 
Mit Bligesichnelle war das Werk vollbradt und das 
Slußbett der Weiftrig erreiht. Naih und duntel 
jahen fie das offene Wafler hart an ihrem Fuß vor— 
überfließen. 

Die Feltungswälle lagen Hinter ihnen, Gott jei 
Dank! Und vor ihnen dehnte fi unter dem nädht- 
lihden Winterhimmel die freie, weite Welt! 

„Vo nun Hin?“ 

„Stromaufwärts, wir müllen der böhmijchen 
Grenze zu!“ 

Mühjam Eletterten fie an den hohen Uferwänden 
hin. Ein paar Boote lagen bier angelettet und in 
= hölzernen Hütte des Fährmanns brannte nod) 

icht. 

„Wir werden ſehen, was zu thun iſt, müſſen 
uns den Mann gewogen machen!“ entſchied Haſſo. 
„Losbrechen können wir die Boote nicht, er würde 
es doch hören!“ damit ging er auf das Häuschen zu 
und klopfte an. 

Unwillige Antwort tönte von drinnen, dann 
ward die Thür geöffnet und ein ältlicher Mann 
ſchaute heraus, mit rotbraunem Schiffergeſicht und 
kleinen gelben Ringen in den Ohren. Haſſo, ihm 
entgegentretend, drängte ſich ohne weiteres zur Thür 
hinein, begrüßte den Hausbewohner mit großer Wärme 
und erkundigte ſich ſo herzlich nach deſſen Ergehen, 
als läge kein Intereſſe auf der Welt ihm näher, 
als das ſeine. Zugleich zog er ſeinen Gefährten mit 
zur Thür herein und erzählte dem Schiffer über ihr 
beider Herkunft und Reiſeziel einen ſo intereſſanten 
Roman und in ſolchem Ton der Sicherheit und 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


220 





a en nn nn 


Überzeugung, daß dieler nicht wagte, au nur im 
mindeften an dem Gehörten zu zweifeln. Alsdann 
erfolgte das Anliegen, fie einige Stunden ftromauf: 
wärts zu rudern, behufs Erleichterung ihrer langen, 
anftrengenden Reije. 

„Bas, jegt, heute nacht?” 

„3a, lieber Freund, fofort! Ih babe Eu 
bob langes und breites erzählt, wie eilig wir’s 
haben!” 

Etwas wie Mißtrauen blitte nun doh in den 
feinen, hellblauen Augen auf. Wenn das nur nicht 
Spione waren oder fonft Flüchtlinge, wenn’s ihm 
nur doch nicht zulegt Gefahr brächte, fi) mit diejen 
abenteuerlihen Geiellen einzulafien? 

Er follte e8 ja nicht aus Liebenswürdigfeit thun, 
die Fremden boten ihm reichlich Sährgeld, doch er 
jhüttelte ben Kopf dazu. Sie verdoppelten das Ge- 
bot, da konnte der Mann nidht mehr widerfteben. 
Rafh ward ein Kahn von der Kette gelöft, und bald 
ging die Fahrt ftromaufwärts mit Träftigen Aubder: 
Ihlägen. Die Flüchtlinge halfen ihm dabei auf das 
beſte. Endlih als der rötlidhe Schein des ſpäten 
Wintermorgens am Himmel erihien, verließen fie 
das Boot. Der Fährmann wurde mit Elingender 
Münze und freundligem Wort belohnt und dann 
begannen fie fräftigen Schrittes ihre Wanderung ins 
Land hinein, die Wohnungen der Menjchen ver: 
meidend. Ihre Wegzehrung reihte aus, fie vor 
Hunger zu Ihügen. Eine ftärkende Raft mit wenigen 
Stunden Schlaf fanden fie auf dem Heuboden eines 
einfamen Gehöjts. Noch waren fie gut zu Fuß und 
in boffnungsvoller Stimmung, als die ölterreichiiche 
Stadt Braunau, das angeitrebte Ziel ihrer Reife, 
erreicht wurde. Bon der Grenzwadhe aufgenommen, 
bie ihre Papiere durhjah und in Ordnung fand, 
erbaten fie, den Kommandanten jprechen zu dürfen. 
Diefer empfing die Offiziere jofort und begegnete 
ihnen böfih, doh mit gemwifler Zurüdhaltung. 
Scriver fühlte fih hierdurch etwas verlegt, Hafio 
aber fand das Mißtrauen erllärlid und beichloß, es 
zu bejeitigen. 

Der Kommandant forderte die beiden Herren 
auf, am gemeinfamen Dffiziertih mit ihm zu 
Ipeifen und fie nahmen die Einladung erfreut an. 
Dort nun, im Kreije ihnen gleichgefinnter Männer — 
gleichgefinnt in trauernder Vaterlandsliebe und glühen: 
dem Haß gegen ben Unterbrüder — trug Haflo die 
Gejhichte ihrer Erlebniffe vor, jeit dem Augenblid 
der Saalfelder Schladt. Sein lebhaftes Darftellungs: 
vermögen, in welchem abwedjelnd warmes Gefühl 
und fprühender Humor zum Ausdrud kam, wirkte 
binreißend auf die Zuhörer. Schlicht, offenherzig 
und mit dem Stempel der Wahrheit wußte er ihre 
feltiamen Erlebnifje zu jhildern. In Bewunderung 
und Snterefle flogen ihm die Herzen zu und warme 
Sympathie jhuf bald einen Kreis von Freunden um 
die Srembdlinge. 

Einige Tage genojlen fie die Gaftireundfchaft 
der öfterreihiicden Kameraden zu Stärlung, NRube 
und Erholung für Leib und Seele. Danı aber litt 
es die preußijchen Offiziere nicht länger in feiernder 
Unthätigkeit. Zurüd in Gefahr und Strapazen, in 





221 Schwertklingen. 


den Kampf für das untergehende Vaterland, feine 
andere Wahl gab es für fie. Man wußte, dag in 
Preußen noch eine Fleine Armee für des Königs 
Sade kämpfte, daß die Feltung Kolberg ein Hort 
und Stüßpunlt derjelben wäre, und dorthin be: 
Ihlollen fie zu gehen. Der Weg war weit und jett 
zur Winterszeit über alle Maßen beihwerlid. Ein 
Heer von Entbehrungen aller Art ftand als Gemiß- 
beit vor ihren Augen. Hungern, frieren, betteln, 
tödliche Erichöpfung ohne einen anderen Rubheplasß, 
als vielleicht den fchneegefüllten Graben. Die Gefahr, 
erfannt zu werben als preußifche Offiziere, von feigen 
Zandsleuten verraten, von den Feinden aufgegriffen, 
ala Gefangene fortgeichleppt, ala Spione erhängt — 
.. ja, das waren Ausfidhten, auf welche fie täglich und 
ftündlih gefaßt fein mußten. Ihre öſterreichiſchen 
Gaftfreunde warnten fie davor und rebeten ihnen 
dringend zu, in ihrer Armee Dienfte zu nehmen, doch 
vergebens. Sie Jagten ihnen warmen Dank für alle 
genofjene Freundlichkeit und zogen ihre Straße, 
freudig entihloffen, auch das Schredlichfte auf fi 
zu nehmen! 

Vorwärts denn, mit Gott, für den teuren 
za und für das unglüdlie, vielgelieble Bater- 
and! 


IV. 


König Friedrih Wilhelm III. ließ Kriegägericht 
halten über feine Offiziere, melde die ihnen anver: 
trauten Feſtungen leichifertig dem Feinde überliefert, 
durch Tchlehte Führung oder SKopflofigkeit feine 
Schladten verloren, durd;) mangelhafte Haltung bie 
gute Sache geihädigt hatten. Es wurde ftreng ver: 
fahren. Wohl war das linglüd groß und Ichidfale: 
gewaltig, weldjes Preußen vernichtet, doch zahlreich 
auh die Häupter der Sculdigen, welche berufen 
geweien, der Woge einen Damm entgegenzujegen, 
und ftatt deilen fi miderftandslos hatten hinweg: 
ſpülen laflen. 

Das Ergebnis diejer Triegsgerichtliden Ber: 
handlung ward von allen Gutgefinnten im ande 
mit jchmerzlichem Synterejle vernommen. Wie viele 
Namen fand man, die, geachtet, bewundert, hoch: 
geftelt, nun gebrandmarft waren mit unauslöjd: 
lihdem Dale. Wie viele Eriftenzen wurden ver: 
nichtet durch dieſe Urteilsſprüche — oft nur allzu 
wohl verdient, oft aber auch, wie es den Näher— 
ſtehenden erſcheinen wollte, mit unnachſichtiger Härte 
die Opfer treffend, die büßen mußten für Fehler, 
welche höhere Befehlshaber begangen hatten. 

Voll fieberhaften Intereſſes begleitete dieſe Er⸗ 
eigniſſe der alte Erb- und Standesherr auf Reckentin. 
Ihm wollte es völlig unfaßbar dünken, daß preußiſche 
Offiziere wegen Feigheit und ſchlechter Haltung vor 
dem Feinde verklagt und verurteilt werden konnten! 
Das Bewußtſein erfüllte ihn förmlich mit Angſt und 
Schrecken. Es konnte, es durfte ja nicht ſein! Er 
hoffte immer wieder, zu erfahren, daß man keinen 
von ihnen für wirklich ſchuldig befunden hätte. 

Der Hauptmann von Wollin wurde dem Major 


Roman von Hans Werder. 


222 


gemeldet. Erſchrocken fuhr dieſer aus einem kleinen 
nachmittäglichen Selbſtvergeſſen, das einem Schläfchen 
nicht unähnlich ſah, empor. Es war etwas wie ein 
Schauder, den er empfand, als ſein alter Freund 
und Gutsnachbar die Schwelle ſeines Gemaches 
überſchritt. 

„Morgen, alter Freund — wie geht's, wie 
ſteht's!“ rief Herr von Wollin mit Stentorſtimme. 

Major Rochlitz erhob ſich, trat dem Gaſt ent—⸗ 
gegen und ſchüttelte ihm kräftig die Hand. „Kommſt 
Du endlich, Wollin! Seit Wochen warte ich darauf, 
Dein bärbeißiges Geſicht hier durch die Thür herein— 
treten zu ſehen! Biſt Du denn erſt jetzt von Deiner 
Reiſe zurückgekehrt?“ 

„Nein — zurück bin ich fchon ſeit geraumer 
Zeit — aber ich hatte es nicht eilig. Die Nach— 
richten, die ich bringe, ſind nicht erfreulicher Natur. 
Kannſt Dir's denken!“ 

„Ja, ja — aber doch brennt man darauf, zu 
hören, wie es ausſieht in der Welt! Du warſt in 
Königsberg — erzähle! Jedes Wort iſt mir wichtig 
und wert. Haſt Du den König geſehen?“ 

„Ja, ich ſah ihn — und unſere herrliche, ge 
liebte Landesmutter! Eine kapitale Frau iſt ſie, 
Gott ſegne ſie!“ 

„Ja!“ ſagte Rochlitz. „Und der König? Er— 
zähle — wo ſahſt Du ihn und wie war er?“ 

„In Oſterode war es,“ brummte Wollin. „Ich 
wurde mit ein paar Herren von der Garde du Corps 
zur Tafel bei Hofe befohlen. Bei Hofe ſag' ich — 
Donner⸗-Schlag — das unſer preußiſcher Hof! Blutige 
Thränen möcht man weinen. Stell Dir vor, Rochlitz 
— ein Lokal eng und duſter, niedriges Zimmer, 
ſchmutzige Treppe, klapprige Fenſter, durch die der 
Wind hereinfährt, da hält unſer König ſein Hof— 
lager! Und das mit der Königin, dem ganzen Hof: 
ftaat! Seine ordentliche Etikette, alles jo recht wie 
auf der Flut! Die Königin mit Thränen in den 
Augen. Ad, wie ein Engel fah fie aus. Donner: 
wetter ja — ift die Frau ſchön!“ 

„Wollin, Du biſt ja rein aus dem Häuschen 
über unſere gnädigſte Landesmutter! Nun komm 
doch nur wieder zur Raiſon!“ 

„Ja, ja, ich komm ſchon,“ fuhr Wollin fort. 
„Es war ſonſt eben nicht ſehr erquicklich an unſerer 
königlichen Tafel. Die alte Gräfin Voß ſchimpfte 
in allen Tonarten über Napoleon und ſeinen Hof 
von Parvenus — ſie hat ja natürlich recht, aber 
eine ungemütliche alte Dame iſt ſie doch, die Voß! 
Das kleine, nette Hoffräulein, Comteſſe Tauentzien, 
machte auch ein Geſicht dazu, wie die Katze, wenn's 
donnert.“ 

„Ra und der König?” 

„Sa, der König! Unfer allergnäbdigiter Herr 
jprad) jo allerlei über die Kapitulationen, über bie 
Feftungstommandanten! Na ja, verdient haben’s ja 
die Kerle! Aber jo ganz abjonderlih Tlang feine 
Rede — tadelnd und entrüftet, aber gar nicht, als 
ob es fi um feine Offiziere handelte und er ber 
Herr und Nichter darüber fei, jondern nur der Zus 
Ihaner. Einige Male deutete Majeftät an, es wäre 
jein einziger Troft, daß er diejen jchredlichen Strieg 


223 Schwertklingen. 
nicht gewollt. Himmel und Hölle! Als ob es nicht 
an ſich ein Unglück für uns wäre, wenn irgend 
etwas geſchehen kann, was der König nicht gewollt!“ 

„Sag' ſo etwas nicht,“ meinte Rochlitz. „Tadle 
ihn nicht, er iſt der König! Und ſchwerer als er 
hat's noch keiner gehabt, der auf dem preußiſchen 
Throne geſeſſen!“ 

Eine Pauſe trat ein. Beide Herren folgten dem 
Zuge ihrer eigenen Gedanken. Bei beiden waren ſie 
peinlicher Natur, das las man auf ihren Geſichtern. 
Endlich blickte der Major wieder auf. 

„Du ſprachſt von den — Feſtungskomman— 
danten. — Hörteſt Du Näheres über die Kriegsver— 
handlungen?“ 

„Ja — ſo einiges! Haſt Du ſchon die neuſte 
Nummer der Spenerſchen Zeitung geleſen?“ 

„Nein!“ lautete ſeine kurze Antwort. 

Herr von Wollin faßte in ſeine Bruſttaſche, 
und als er das knitternde Papier darin fühlte, zog 
er wie erſchrocken die Hand zurück. „Haſt Du mal 
etwas von Deinem Sohne gehört?“ fragte er dann 
und räuſperte ſich heftig, denn ſeine Stimme klang 
heiſer. 

„Nein — ſchon ſeit längerer Zeit nicht — wie— 
ſo?“ Herr von Rochlitz lehnte ſich in ſeinen Sorgen— 


ſtuhl zurück und ſchloß für einen Moment die Augen. 


Es war ihm, als ſchwebte eine graue, bleiſchwere 
Wolke auf ihn zu und verdunkelte das Himmelslicht. 
„Wieſo?“ fragte er wieder. 

„Ich meinte nur ſo. — Du fürchteteſt damals, 
er würde bei Jena gefallen oder verwundet ſein.“ 

„Nein, ich fürchtete es nicht, ich dachte nur — 
ich wußte nicht, daß ein Oſfizierskorps zu Pferde 
könnte gefangen genommen werden! — Das war 
damals nicht! Wenn ich ſo denke — Seydlitz —“ 
er hielt inne. 

„Nun aber, wenn Dein Junge lebt und geſund 
iſt, ſo bleibt das doch die Hauptſache, Alter — nicht 
wahr? Alles andere läßt ſich wieder einholen und 
gutmachen, ſollt ich meinen!“ 

Auf der Stirn des alten Seydlitz-Dragoners 
zeigte ſich ein feuchte Tau — er ſelber wußte 
nicht, daß es kalter Angſtſchweiß war. Der andere 
aber ſah es. 

„Nein, bei Gott im Himmel — das iſt nicht 
die Hauptſache!“ fuhr er plötzlich auf — und es 
kam über ihn wie eine Offenbarung, wie der Pro— 
phetenblick des Fieberwahns. „Was hältſt Du mid 
mit Reden hin — heraus mit der Sprache — mein 
Sohn iſt kaſſiert!“ 

Herr von Wollin ſtand auf, zog die Zeitung 
heraus und legte ſie ausgebreitet vor ſeinem Gaſt— 
freund auf den Tiſch. „Hier ſteht alles genau — 
lies es ſelber — mein Mund ſoll nicht der Ver— 
mittler ſolcher Nachrichten ſein. Ich gehe indeſſen 
zu Deiner Frau — wenn Du mich nachher noch 
etwas fragen willſt, ſo bin ich bereit.“ Damit ver: 
ließ er das Zimmer. 

Der Major ſah ihm nach mit gläſernem Blick. 
Dann ſetzte er ſich und las. Die Buchſtaben tanzten 
vor ſeinen Augen und brannten ſich ihm doch zugleich 
ins Gehirn. Er vermochte nicht zu leſen, aber doch 


Roman von Hans Werder. 


224 


ſah er, was da gedruckt ſtand. Urteilsſprüche des 
Kriegsgerichts. Der Kommandeur, Major von Löſch⸗ 
brand, des bei Prenzlau gefangenen, in Spandau 
internierten und dann ſpäter wieder freigelaſſenen 
Offizierforps der Gendarmes fei vor ein Kriegs: 
gericht geftelt und wegen begangener Fehler ver- 
urteilt worden. „Der Lieutenant Hilmar Ruprecht, 
Kunz von Rodlit ift infam faffiert. Derfelbe war 
während der Schladht bei Zena als Ordonnanzoffizier 
mit dem Befehl an General Rüchel entjendet worden, 
den Drt Vierzehnheiligen unverzüglid anzugreifen. 
Der Befehl ift dur die Schuld des Lieutenant von 
NRohlig nicht zur Ausführung gelangt, er bat ihn 
dem General nicht übergeben.” 

So las der Major. 

Die Zeitung jpradh fi noch bebauernd darüber 
aus, weldy ein Schmerz dies für feinen alten Vater 
fein müßte — einen ehrenvollen Veteranen aus den 
Schlachten von Roßbah und Kunersbdorf. 

Ein Rödeln kam über die Lippen des  „Vete: 
ranen”. Still lehnte er ih in den Stuhl zurüd. 
Er hatte feinen Schmerz no nicht voll erfaßt — 
er fühlte nur, daß ihn der Schmerz erfaßte und ihm 
wie mit glühender Kralle das Herz zerriß. 

Ein lauter Schredensruf aus dem Nebenzimmer, 
dem Wohngemad) feiner Frau, drang an fein Ohr. 
Cie mußte es jett alfo auch fchon, daß ihr Hilmar, 
der Abgott ihrer Seele, unauslölhlide Schande ge: 
bracht über feines Vaters graues Haupt! — — 


N 


Hilmar war in Berlin bei jeiner jungen Gattin. 
Arme Lotte! Das eriehnte Glüd der Vereinigung 
mit ihm hatte ihr bisher nur Thränen und Herzeleid 
gebradt. Erft fein Auszgiehen in den Krieg, Togleich 
nad ihrer Trauung, dann die baldige, entjegliche 
Nüdkehr als Gefangener. Seine Freilajjung aus 
Spandau war ein kurzes Aufatmen gewejen. Das 
Shredlichite folgte nur zu bald. Er, ihr Satte, der 
vielbewunderte, geliebte, ward vors Kriegsgericht 
geftellt, verurteilt und ſchimpflich kaſſiert. So kam 
er zu ihr zurück — eine vernichtete Exiſtenz, ein 
verlorener Menſch, das ſah ihr liebendes Auge 
auf den erſten Blick. Wie gebrochen ſank er vor ihr 
nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Ein 
thränenloſes Schluchzen machte ibn erzittern am 
ganzen Körper. Sie umſchlang ihn mit zärtlichen 
Armen und weinte mit ihm in herzbrechendem Leid. 

„Aber Hilmar, mein Einziger, es iſt doch nicht 
wahr, man hat Dir ja Unrecht gethan, grauſames, 
entſetzliches Unrecht —“ 

Da richtete er ſich auf. „Nein, Lotte — wahr 
iſt es! Wahr muß es ſein — denn den Befehl, den 
ich überbringen ſollte, — ach Gott, er war wohl von 
großer Wichtigkeit, — habe ich thatſächlich nicht ab— 
gegeben! Ich habe Excellenz Rüchel nicht gefunden. 
Wie es möglich war, weiß ich nicht und werde es nie be: 
greifen! Auch nicht die leiſeſte Erinnerung iſt mir 
von den ganzen Vorgängen geblieben. Ich muß 





225 Schwertklingen. 
vollftändig den Kopf verloren haben! Doch das eben 
darf der Soldat nit. SKaltblütig und bejonnen! 
Steht erit weiß ich, was damit gefordert wird! Aber 
um das auszuprobieren, darf man uns nit auf ein 
Schlachtfeld von Sena ftellen! — Ad, hätte doc 
eine barmberzige Kugel mich binweggerafft, ehe ich 
diefe Schande über mid ‚gebradht! Mein armer 
Vater — 0 Gott — mas Habe ih ihm zuleide 
gethban!“ Dualvol war dieje Vorftellung für ihn, 
fie ließ ihn Feine Ruhe finden bei Tag und Nadit. 

Heldenmütig und treulich teilte Lotte mit ihm 
den ganzen fchweren Sammer. „Hätte ih das ahnen 
tönnen, Geliebte,” jagte er traurig zu ihr, „nie hätt’ 
ih’s gethan, Dich hineinzuzerren in das Shmachvolle 
Slend meines Lebens! Wenn ih Di in Frieden 
ließ, wie forglos glüdlich könnteſt Du jetzt fein!” 

„Unglüdlih fo oder jo, mein Liebfter! Mein 
Leben gehört einmal unlösbar zu dem Deinen!” 
So verfudhte fie liebend wenigſtens dieſen Selbſt⸗ 
vorwurf von ihm hinweg zu jcheuden. 

Einmal fragte fie ihn, ob er nie wieder feit 
dem Ausmarih eine Kunde von Hafjo vernommen. 
„Rein,“ jagte er darauf, „wenigflens nichts Gewiſſes. 
Wie ich hörte, fol Noftig erzählt haben, daß er tot, 
oder doch tödlich verwundet bei der Xeiche des Prinzen 
liegen geblieben jei. Xapferer Sunge, ja, der bat 
durchgehalten in der Gefahr!” 

„der vielleiht war es die barmberzige Kugel, 
die Du Dir felber gewünfcht, mein armer Hilmar, 
und die ihn vor einem Schidjal wie das Deine be: 
wahrt hat!“ wandte Lotte begütigend ein. 

„Ab nein, Lotte, dente das nicht, ich Tenne 
Hafjo! Er hat faltblütig mit der Gefahr zu jpielen 
gewußt, von Hein auf, fie war ihm etwas Altge: 
wohntes! Wie ungezählte Male babe ih ihn in 
Lebensgefahr gejehen, auf höchfter Dadipige, auf 
fhwantender Leiter, morhem Eife oder mit durch: 
gehenden Pferden. jeder nur denkbaren Situation 
fette er diejelbe nichtsachtende Verwegenbheit entgegen! 
Sb weiß, jo itt er auch bei Saalfeld gemwelen. 
Wie oft haben ihn meine Eltern wegen feiner Toll- 
fühnheit gejcholten und gefchlagen, und er fonnte 
doch nicht anders, der arme unge! Ych hätte das 
willen müflen und ihm helfen, aber ih fand bie 
Strafen verdient, denn ich felber hatte fein Vergnügen 
an jeinem Treiben! Und jegt — mein Leben gäb’ 
ih Hin mit taufendb Freuden, könnt’ ich jo fein wie 
er! Dann ftände ich jeßt ficher mit Ehren da, und 
mein unglüdlider Vater braudte mid nicht mit 
Schmad feinen Sohn zu nennen!” Diejer Gedante 
war der Gipfelpuntt der Bein und Verzweiflung für 
den armen Hilmar. 

Auf Lottes dringendes Anraten entichloß er fich 
endlich, an jeinen Vater zu |chreiben. Er jchilderte 
ihm der Wahrheit gemäß den Sachverhalt, beihönigte 
oder entichuldigte jein Vergehen mit feiner Silbe, bat 
aber flehentlich und demütig um die Erlaubnis, jelber 
fommen und fich die Verzeihung feiner Eltern erbitten 
zu dürfen. Er hoffte viel von dem unterwürfigen 
Tone diefes Briefes, er baute auf bie Xiebe feines 
Vaters, deren Fülle er bisher noch nie erfchöpfbar ge- 
funden. Er rechnete auf die Fürjprache feiner Mutter, 


Roman von Hans Werber. 


226 


die ihn vergötterte. Und jo jah Hilmar der Antwort 
mit Sehnen und Hoffen entgegen. 

Er fannte feinen Bater noch nicht, der Ärmſte! 
Er mußte nit, daß eine Entiheidungsitunde ge: 
ihlagen hatte, in der das PVaterherz verftummt und 
nur das beleidigte Gefühl des Edelmannes, bes 
preußiſchen Offiziers zurüdgeblieben war. 

Die Antwort des Majors von Nohlig fam nad 
angemefjener Frift. 

„Du bift nicht mehr mein Sohn,” hieß es darin. 
„Ein Feigling, der nicht würdig it, Des Königs 
Rod zu tragen, fol audh nicht würdig jein, mein 
Sohn zu heißen und meines Haufes Schwelle zu 
überſchreiten!“ Weiter fand nichts in dem Briefe. 
Unterzeihnet war er: „Rodhlik, Major a. D.“ 

Und biejes kurze Major a. D., das den ganzen 
herben Soldatenftolz des Kunersborfer Snvaliden 
zum Ausdrud bradte, erihien dem Sohne wie ein 
Meflerfchnitt, duch den der Vater fi Tostrennte 
von ihm. 

Hilmar durdhlas den Brief ohne ein Wort, ohne 
einen Laut. Dann ließ er ihn aus der Hand gleiten 
und warf fih in das Sofa zurüd, flach ausgeftredt 
auf das Polfter. So blieb er regungslos liegen, der 
unglüdlihe Menih. Sein junges Weib hüllte ihn 
in warme Deden und Iniete an feinem Xager Die 
ganze Naht. Sein Kopf glühte im Fieber, während 
die Glieder bebten vor Froft. Sie fürdhtete eine 
jmwere Erkrantung, do die Gefahr ging vorüber. 

Nach einigen Tagen traf ein Brief von Hilmars 
Mutter ein. Er war fihtlih ohne Vorwiſſen des 
Vaters geihrieben und in unverminderter grenzenlojer 
Liebe. Sedes Wort war berzzerreißender Sammer, 
und Hilmars ftumm binbrütende Verzweiflung wurde 
aufgerüttelt zum Erwachen und zu erlöfenden Thränen. 

„IH Tann fo nicht weiter leben!” jagte er 
endblid. „Entweder ich werde wahnfinnig, oder ich 
jude mir den Tod! Aber vorher will ich noch jehen, ob 
ih nicht bei Bott oder Menſchen Erbarmen finden 
fann! Meine Mutter verfchließt mir ihr Herz nicht, 
meine Mutter und mein geliebtes Weib, Gott jei 
Dank dafür! Aber das kann mir nicht helfen! ch 
muß —” er jann nah, und dann fam ihm ein 
Bibelwort in den Sinn, die Geihichte vom verlorenen 
Sohn. Und zagend, doch noch immer hoffnungsvoll, 
Ipra er die Worte: „Sch will mid aufmachen und 
will zu meinem Bater gehen!” 


VI 


Wie jchlihen die Tage jo qualvol dahin über 
das ftille NRedentiner Herrenhaus, wo Vater und 
Mutter fchweigend einander gegenüber faßen. Der 
Bater, der im Zorn fi losgejagt von feinem einzigen 
Sohne, die Mutter, die mit allen Sajern ihrer Seele 
fih feftllammerte an das Bemwußtjein, daß ihr Sohn 
dennoch unmandelbar ihr gehörte. Wovon jollten fie 
reden? Das Leid war gar zu groß. Auf des Vaters 
Haupt brannte es als eine Schmad, die ihn weder 
Auge noh Stimme erheben ließ. Auf der Mutter 





— — 


227 Schwertklingen. 


Seele laſtete es als eine Ungerechtigkeit, die ſie ſchier 
zu Boden drückte. 

„Was mag aus Haſſo geworden ſein? Man 
hat gar nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Herr von 
Rochlitz plötzlich leiſe, mit unterdrückter Stimme, als 
ſchäme er ſich zu ſprechen, oder als ſchäme er ſich, 
daß dieſe Frage ſich ihm erſt jetzt aufdrängte, ſo 
viele Monate, nachdem ſein Pflegeſohn hinausgezogen 
in Krieg und Gefahr. 

Frau von Rochlitz erzitterte bei der Frage wie 
von einer ſcharfen Nadel getroffen. „Er wird wohl 
deſertiert ſein!“ kam es herbe von ihren Lippen. 

Der Major warf einen finſteren Blick nach ihr 
hin. Zum erſten Mal durchfuhr ihn der Gedanke, daß 
der wilde, trotzige Burſche, der ihm ſtets zuwider ge— 
weſen, vielleicht gar ein viel unverfälſchterer Sproß des 
alten Rochlitzſchen Stammes ſei, als ſein bewunderter 
Hilmar. Und ſo grimmigen Schmerz ſchuf ihm der 
Gedanke, daß er die Zähne aufeinander biß, um das 
Stöhnen zu unterdrücken. 

In finſteres Schweigen verſanken ſie abermals 
beide. Draußen heulte der Sturm. Das Licht der 
Kerze vor ihnen auf dem Tiſch flackerte hin und her 
und ließ dicke Tropfen geſchmolzenen Wachſes auf 
die Tiſchdecke herniederrinnen. Die Wanduhr tickte 


langſam, bedächtig und holte zu ſicheren Schlägen 


aus. Frau von Rochlitz horchte zählend darauf und 
ließ dabei die feinen Hände mit dem Strickzeug in 
den Schoß ſinken. 

Plötzlich ſchlug draußen eine Thür. Der Schall 
ließ ſie bis ins Herz zuſammenfahren. 

Die Zimmerthür ward aufgeriſſſe — — 
Hilmar! 

Blaß wie der Tod war er, die Augen rot unter⸗ 
laufen, die Lippen verzerrt von der furchtbaren Auf— 
regung. 

ß Er ſtürzte herein, er warf ſich ſeinem Vater zu 
üßen. 
„Vater, haben Sie Erbarmen! Vergeben Sie 
Ich will die Schande ſühnen!“ 
Major von Rochlitz war aufgeſprungen. Die 
Augen rollten ihm im Kopfe. „Wie kannſt Du mich 
Vater anreden! Du biſt mein Sohn nicht mehr! 
Ich habe keinen Sohn! Hab' ich Dir nicht mein 
Haus verboten? Was wagſt Du — mir unter die 
Augen zu treten!“ 

„Vater, ich liege am Boden vor Ihnen! Ich 
weiß, ich habe alle meine Rechte verſcherzt! Ich flehe 
um Erbarmen, nichts weiter!“ 

„Ja, liege Du nur! Für einen Edelmann — 
für einen preußiſchen Offizier wäre das kein Platz! 
Aber für Dich — Du —“ er hielt inne. 

Mit einem Auſſchrei warf ſein Gattin ſich ihm 
entgegen. „Schweig ſtill — ſchmähe ihn nicht! Ver—⸗ 
gieb ihm — ſo Dir Gott Deine Sünden vergeben 
ſoll in Deiner Todesſtunde!“ 

Der alte Kriegsmann ſchüttelte ſie ab mit rauhem 
Griff. „Geh Du — und bleibe bei Deiner feigen 
Brut! Was gilt Euch die Rochlitzſche Ehre! — 
Meine Sünden mögen ſchwarz ſein wie die Hölle — 
an meinem König und meinem Vaterland, an meiner 
Mannesehre hab' ich nicht geſündigt — ſo möge Gott 


mir! 


Roman von Hans Werder. 





228 





mir gnädig ſein! Aber den Feigling ſtoß' ich aus 
von Gnade und Recht und Erbarmen!“ 

Hilmar ſprang auf. Wie glühendes Eiſen traf 
ihn die furchtbare Verachtung in den Worten ſeines 
Vaters und ſtachelte ihn zu faſt ſinnloſer Verzweiflung. 

„Vater — ſo dürfen Sie nicht zu mir reden! 
Hab' ich auch Ihren Zorn verdient bis in den Tod 
— doch nicht, daß Sie mich mit Füßen treten! — 
Um eine Barmherzigkeit nur flehe ich — nehmen Sie 
Ihren alten Heldenſäbel von der Wand und ſtoßen 
Sie ihn mir ins Herz! — So trag' ich das Leben 
nicht weiter!“ 

Mit flammendem Blick maß ihn der alte Soldat 
von oben bis unten. — „Meine tapfere Dragoner: 
Hinge — Dir — in die Bruft? Nein — geh und 
verdiene Dir erft den Tod!“ 

Hilmar ftand auf und jah ihn an aus umflorten 
Augen. „Sa, Vater, ich werde gehen! Sagen Sie 
mir nur das eine nod: Geben Sie mir Jhren 
Segen mit, wenn id in ben Tod gebe? Vergeben 
Sie mir, wenn ih meine Ehmad) mit meinem 
Herzblut gelühnt?“ 

„WBalh’ die Shmah Dir ab, tel’ Deine Ehre 
wieber her — wie und mwodurd, ift Deine Eade! 
Dann will ih Dir vergeben, dann fannft Du wieder: 
fommen und nad meinem Segen fragen. — Gott 
helfe Dir!” 

E53 war das lebte Wort, das er hienieden zu 
jeinem Sohn geiprodden, der lette Blid, den er auf 
ihn geworfen. Es lag in dem Blid weder Zorn 
noch Verahtung mehr. Nur ein Gram, der dem 
alten Manne das Marl des Lebens aufzehren mußte 
— jo nagend, fo bofinungslos. Er ging hinaus 
und jchloß die Thür zmwifchen fich und jeinem Sohn. 

Hilmar blieb allein mit feiner Mutter. Eine 
lange, bange Naht war es. Sie rang mit Gott 
um Faflung, das Unmöglihe zu ertragen, fie flehte 
um Erhaltung ihres Sohnes, fie hielt ihn umidhlungen 
mit ihren Armen und lieblofte jein Haupt mit 
zitternden, verjagenden Händen. 

Als das Morgengrauen beraufftieg, bleich und 
alt wie Tobesihatten, da jchied er von ihr. Der 
erwacdhende Tag durfte ihn nicht mehr im Vaterhaufe 
antreffen, das fortan ihm verichlofien fein jollte. Er 
ging, und die Mutter blieb zurüd, die Unglüdliche. 
Das Herz aus ihrer Bruft hatte er mit binmwegge: 
nommen als ein Totenopfer — für die unfühnbare 
Schmach. 


Fünfter Abſchnitt. 
Kolberg. 


Franzoſen, o ie un wlügel geſchwind, 
(#8 naher der Schill, unb er reitet wie Wind, 
O weh Fud Zranzofen, iept feid Ihr tot, 
3 färbt die Säbel der Weiter rot! 

D Sıil, Dein Gäbel thut weh! 


J. 
Ob auch alle Feſtungen im Königreich Preußen 


ſich dem Feinde ergaben, die größeſten und ſtärkſten 
jelbft, die beftverwahrten und wohlgefüllten ihm ihre 





229 Schwertflingen. 


Thore öffneten, als zöge eine Zaubermadt vor ihm 
ber, der nichts zu wiberftehen vermöchte: die Feitung 
Kolberg ergab fi nicht. Sie kannte es nicht anders. 
Schon im fiebenjährigen Kriege hatte fie ih in 
dreimal wiederholter Belagerung gegen die Rufen 
jo andauernd und heldenmütig verteidigt, daß ihr 
Name fortan nur mit Ruhm und Ehren genannt 
werden konnte. Die glänzendfte Probe ihrer helden- 
baften Ausdauer aber gab fie jett, wie fie aufrecht 
daftand als ein Feljen, während alles umher — 
das ganze Vaterland — mie morjches Geftein zer: 
brödelte unter dem Außtritt des Sieger. 

Tapfere, Leine Seite! Da liegt fie durch die 
Sabrhunderte unentwegt und bewacht ihre pommerjche 
Dftfeefüfte — bewacht das treue, trogige Pommerland 
gegen jeden anrüdenden Feind jo wader, als wäre 
fie vereidigt, es für ihr Herriherhaus zu hüten bis 
an den jüngiten Tag. — Da liegt fie, Sturm und 
Winden ausgelegt, an der rauhen Meeresküfte, und 
die alte, graue Dftiee fingt ihr ein uraltes Lied von 
Sturm und wilder Wut, von Troß und Treue, von 
Heldenmut und ewigem Kampf und Streit. Gie 
hört auf das Lied auch heute noh. Man bat ihr 
Wehr und Waffen genommen, doch ihre alten Schangen 
ftehen da als Denkmäler ihrer einftigen Größe, und 
die Erinnerung fchwebt darüber wie ein Strahlentranz 
bes Ruhmes. | 

Die Feftung Kolberg lag abjeits von der großen 
Straße, auf der die franzöjiihen Heere dur das 
Land nah Preußen binzogen, darum blieb fie vor: 
läufig unbeadtet. Auch war fie ja jo klein und un- 
bedeutend, keines Ummeges wert! Hatten die großen 
Seftungen alle jo bereitwillig ohne einen Schwertitreich 
die Waffen geftredt — dies winzige Ding ftedte man 
fid wohl fo nebenher in die Talche! 

Doh das war ein Srrtum. Dur eben Diele 
Verzögerung gewann Kolberg, welches überhaupt nicht 
für Krieg und Belagerung ausgerüftet worden, Zeit 
und Muße, fih auszubauen, mit Munition und 
Lebensmitteln zu verforgen. Zu Wafler und zu Lande 
wurden Truppen berbeigezogen und die FSellung in 
jeder Weile verteidigungsfertig gemadt. Als dann 
die eriten franzöfiiden Parlamentäre vor den Wällen 
erihienen, um zur Kapitulation aufzufordern, wurden 
fie, ohne irgend welches Änterefje zu erregen, von 
den Borpoften abgewielen., Die Franzofen hatten 
jolh Verhalten in diefem Feldzuge — leider Gottes — 
noh nicht Tennen gelernt. Sie Tannten eben aud) 
Kolberg no nidt. 

Der Kommandant, Oberft von Loucadou, war 
ein greifer, erfahrener und bejonnener Herr, der jeine 
Feltung gar wohl für die Verteidigung vorbereitete. 
Doch jpäterhin, als die Sache ernitlicher wurde, bat 
er, Tich zurüdziehen zu dürfen, und ein Schiff von 
Memel ber brachte feinen Nachfolger herein, den 
großen Felbherrn Gneijenau, der die Gejdhichte feines 
unfterbliden Ruhmes bier zwijchen den Feitungsmwällen 
von Kolberg beginnen jollte. Doc jegt, zur Winter: 
zeit noch, beherriähte Youcadou das Feld. Zum zweiten 
Kommandanten warb der Kapitän von Waldenfels 
ernannt, einjugendlicher Held, der pommerjche Leonidas. 

Und würdig ihm zur Seite, eine Jchier phantaflijche 


Roman von Hans Werder. 


230 


Heldengeftalt, ftand Serdinand von Schill — bisheriger 
Königin-Dragoner, der fi mit jchmwerer Kopfwunde 
von Auerftädt hierher gerettet hatte. Sept, noch als 
Nelonvalescent mit verbundenem Haupte, jchuf er 
ih ein Freilorps von Hufaren und Sinfanterie und 
war entihlofjen, mit demjelben, ob au) alles um ihn 
ber zerbrah, das Vaterland zu verteidigen bis auf 
den legten Blutstropfen. Aus Stargard und Naugard 
hatte er durch Belagerung und Sturm die franzöftiche 
Bejagung zu vertreiben gefucht. Dies war ihm nicht 
gelungen. Nun aber z30g er wie ein Sturmmwind im 
pommerjhhen Lande umher, warb Truppen zujammen 
und beunruhigte den Feind. 

Er eriäwerte ihm die Kommunikation zwilchen 
Oder und Weichjel und verhinderte die Einjchließung 
von Kolberg länger, ale man dies irgend zu hoffen 
gewagt. Durch Erfolge fühn geworden, begann Schill 
ernftlich zu überlegen, wie er wohl dem bedenflichen 
Mangel an Waffen und Munition in der Feftung 
ein Ende bereiten Fönnte. Als nun einer jeiner 
Offiziere von einem Streifzuge in die Alt:Dammjche 
Gegend die dunkle Kunde mitbrachte von einem großen 
franzöfiihen Waftentransport, der fi von Stettin 
nad Oftpreußen zu in Bewegung gelegt hätte, ent: 
warf er feinen Plan. In derſelben Nacht noch brach 
er mit ſeinem Korps von Kolberg auf und pfeilgeſchwind 
ritten die Huſaren durch das Land. Stargard mußte 
umgangen werden, denn eine ftarfe franzöfiiche Be- 
fagung lag darin, die Schill Ion früher fich vergeblich 
bemüht hatte, daraus zu vertreiben. Die Umgegend 
war ihm von jenen Tagen ber wohl belannt. Er 
nahm jeinen Weg zu dem bochgelegenen Dorfe 
Schöneberg, von wo er freie Umjchau über die weite 
Ebene Halten konnte — auf der einen Seite bis 
Stargard hin, deilen ehrwürdige Türme berüber: 
Ihauten, Har und jeharf wie Silhouetten vom bellen 
Himmel abgezeichnet. Schwerlich vermochte ihm bier 
zu entgehen, was fich auf jener Ebene mit ihrer offen 
baliegenden Landftraße bewegte. 

Seine Kleine Avantgarde unter dem Lieutenant 
von Hagen empfing ihn mit der Nachridht, daß vor 
furzem ein gewaltiger Wagentrain unter ftarfer 
franzöſiſcher Infanteriebedeckung hier durchgekommen 
ſei und ſich auf dem Marſche nach Arnswalde befände. 
Das war erfreuliche Kunde. Kriegsrat ward gehalten 
und eine Raſt von wenigen Stunden. Bald nach 
Mitternacht brach die Reiterſchar auf. Eine breite 
Mondſichel am ſternklaren Winterhimmel beleuchtete 
ihren Pfad. Abwärts von Schöneberg ging es, die 
Höhe hinunter ins Ihnathal, über den Fluß, an der 
geſpenſtiſch aus weißen Wieſennebeln aufragenden 
Ruine der Wedellburg vorüber. Durch das alte 
Wedellſche Cremzow, — den beiden Wedells, die mit im 
Zuge ritten, ſchlug ſehnſüchtig das Herz. Doch ihr 
Weg führte weiter — unaufhaltſam. 

Am Rande eines alten Eichenwaldes, der Schutz 
gewährte gegen den kalten Nachtwind, machten die 
Reiter endlich Halt. Linker Hand, nah des Weges, 
blitzte durch die Eichen der Spiegel eines Sees. 

„Wo ſind wir hier, Wedell? Sie müſſen ja 
orientiert ſein!“ fragte Schill. 

„Gewiß, Herr Lieutenant, dies iſt der Bleienſee, 





231 Schwertflingen. 


vor uns liegt Schönmwerder, Wohnfig des Landichafts- 


direltors Bonin, vielleiht zehn Minuten von hier!“ 

Aus dem Schatten der Eihen tauchten dunfle 
Reitergeftalten auf, die vor kurzem zur Aufklärung 
entjandte PBatrouille Fehrte zurüd unter Führung bes 
zweiten Webell, der als ortskfundig hierzu erjehen war. 

„Die Wagenkolonne hat joeben bas Dorf Schön: 
werder pajliert, in einer Viertelftunde können wir fie 
erreicht haben!” Iautete feine Meldung. 

Auf brachen die fchneidigen Hufaren und vorwärts 
ging es. Senfeits des Dorfes Schönwerber, auf 
offener Fahritraße zwiihen Feldern und Wiefen, 309 
langfam auf dem holprig ausgefahrenen Wege die 
Ihmwere Wagenreihe dahin, bei der ungemwiflen Be- 
leuchtung einem endlos fi) hinfhlängelnden Ungetüm 
vergleihbar. Nah allen Richtungen Iprengten bie 
Schmwadronen auseinander — von vorn, von hinten, 
von rechts und links zugleih warb die Kolonne 
attadiert. Die franzöfiihe Dedung Jette fich verzweifelt 
zur Wehr, do umfonft. Nach kurzem Kampfe mußte 
fie dem ftürmiihen Anprall ber Hufaren weichen. 

Der Tag brad) an und zeigte den fiegesfrohen 
Reitern die berrlide Beute, die fie errungen. 
„Hurra, hiervon bewaffne ich ein ganzes Regiment, 
ohne daß unter alter LZoucadbou fi audh nur 
Jonderlih beeinträchtigt fieht!“ 
glüdlich beim Anblid diejes ftolzgen Waffenreichtums, 
den er der Feltung nun zuführen konnte. 

„Herr Lieutenant, bitte, jehen Sie!“ mahnte 
einer der Offiziere. 

Bom Dorfe ber, deflen Einwohner zahlreich 
berbeiftrömten, näherte ji ihnen jchnell, doch in 
äußerft würdevoller Haltung, ein großer, ftattlicher 
Herr mit jchmalem, glattrafiertem Antlig, vornehm, 
ruhig und fiher; ohne Zweifel der Gutsherr. 
Lieutenant von Schill jprang aus dem Sattel, ging 
ihm entgegen und ftellte fich vor. 

„Ihr Name bat guten Klang bei uns, mein 
Herr von Schill,” jagte der Landichaftsdirektor Bonin. 
„zallen Sie mid Ihnen danken im Namen unferer 
guten Brovinz! Sie pflanzen in Bommern das jchon 
gejuntene Banner unferes Königreichs wieder auf!” — 

Eine kurze Raft und Stärkung für die Huſaren 
im Dorf, für die Dffiziere in dem gaftlihen Hauje 
des Edelmannes — dann trat das Schillihe Korps 
mit jeiner eroberten Wagentolonne über PBepnid, 
Zahan und Freienwalde den Rüdweg nad) Kolberg an. 

Zur Beit, da diejes fi) von der Stadt Arnswalde 
entfernte, näherte fich derjelben eine andere Kolonne, 
weniger großartig, weniger Achtung einflößend. Etwa 
zehn bis zwölf Perfonen in jchäbiger, vielgetragener 
Bauernkleidung, mit verwetterten Abenteurergefichtern. 
„KRanzionierte” waren es, verijprengte Soldaten von 
aufgelöften Regimentern oder aus ber franzöfiichen 
Gefangenſchaft entflohen. Scharenweis irrten joldhe 
jegt im Lande umher, von der Mildthätigkeit der 
Einwohner lebend, meift Kolberg, Danzig oder Königs: 
berg als Ziel ihrer Wanderung im Auge, um bei 
einem gejchloffenen Truppenlörper aufs neue ihr 
Heil unter preußifher Fahne zu verfuhen. Daß fie, 
zumal bei zahlreihem Erfcheinen, einigermaßen wüſt 
und gemwaltthätig auftraten und überhaupt als recht 


Roman von Hans Werder. 


rief? Schill über: 





232 


ungemütlihe Rumpane gelten fonnten, verfleht fi 


von jelbft. 

Etwa zehn joldher Leute ftrebten, von Küftrin 
berauffommend, der guten Stadt Arnswalde zu und 
nahmen in dem Dorfe Granow Aufenthalt, um in 


‚ber dortigen Krugwirtichaft eine Eleine Herzitärkfung 


für den kalten Wintermorgen zu erlangen. Geld zum 
Bezahlen hatten fie natürlich nicht. Der Wirt Ihimpfte 
und fluchte, denn e8 war wahrlich nicht das erite 
Mal, daß feine Gaftfreundihaft in diejer Weile in 
Anfpruh genommen wurde. „Da drinnen fißen 
Ihon zwei jolder jauberen Vögel — nichts zu beißen, 
nichts zu bezahlen! — Banlerott wird man Dabei, 
für König und Vaterland, und weiß nicht einmal, 
er a ih aufhalft mit dem hergelaufenen Ge- 
indel —” 

Die Ranzionierten verbaten fih alle anzüglichen 
Bemerkungen und brohten unangenehm zu werben. 
Sie fühlten ih ftart in der Überzahl dem Wirt 
und feinem Hausfnecht gegenüber. 

„Da drinnen fiten jchon zwei?” griff einer 
der Braven die hingeworfene Bemerkung auf. Vol 
Ssnterefle an bdiefer Nachricht öffneten fie die Thür 
der Scenlitube und drangen hinein. Da faßen 
allerdings jchon zwei: junge, friegsfähige Leute wie 
fie, in groben, abgetragenen Bauernlitteln, wegmübde, 
wettergeprüft wie fie, und doch nicht ihresgleichen. 
hr verhungertes Ausjehen deutete an, daß fie Das 
Betteln, zumal das erfolgreiche, gemwaltiame, nicht 
lernen fonnten. Der müde Blid, mit dem fie die 
Eindringlinge muflerten, verriet, daß fie feine Freude 
fanden an dem Landftreicherleben, feine Freude an 
der Genofjenfchaft der da eben eintretenden Stameraden. 
Dieje aber markierten dafür die Freude Doppelt. Sie 
jehüttelten ihnen die Hände, Klopften fie auf die 
Schultern, fragten woher und wohin und ließen jich’s 
nicht verdrießen, daß fie feinen Bejcheid erhielten. 
Statt deilen erhoben fich die beiden Fremden, jdhoben 
ihre Brotrinden, die milde Gabe des edlen Wirtes, 
in die Tajche und griffen nad) Hut und Stod. 

„Ja, ja, Shr jeib gute, liebe Kerle,“ jagte der 
eine, und fah fich lachend mit feinen großen, bunflen 
Augen die wüften Gejellen an. „Wir wollen Eud 
darum au) Play machen und Euch nicht Läftig fallen. 
Lebt wohl — amüfiert Euh gut — und laßt’3 Eu 
wohl befommen. Sa, ja — hr feid gute Kameraden!” 
Er mußte ihnen allen nacheinander die Hand jchütteln, 
was er aud gutwillig auf fih nahm. Cndlih ge: 
lang es ihm, die Thür zu gewinnen, in der fein 
Reifegefährte Ichon ungeduldig wartete. Herzlich 
dantten fie dem Wirt für Die ihnen ermiejene 
Freundlichkeit. Dann fchlugen fie den Weg ein, der 
zur nahen Stadt binführte. Yhre Stiefel waren zer: 
iffen, die Füße wund. Bon weither mußten ie 
gelommen  jein. | 

„Wo Sie do nur immer und immer wieder 
Shre gute Zaune hernehmen, Rodlig! Mit joldem 
Gefindel umzugehen! Wäre ich allein ihnen in Die Arme 
gelaufen, ich hätte rettungslos Prügel befommen!” 

„Dan befigt eben ein wenig Menjchenfreundlid: 
feit und Hat Umgang mit Menicdhen ftudiert, 
mein lieber Scriver,” lautete die gutgelaunte Ant: 





233 Schwertklingen. 











wort. „Daß Sie ohne mich ſchon hundertmal Prugel 
bekommen hätten, und ich ohne Sie ſchon hundert— 
mal in andere ſchreckliche Abgründe geraten wäre, 
das wiſſen wir doch beide längſt! Alſo fahren wir 
fort, beiderſeitig unſere Stellung auszufüllen wie 
bisher!” 

„Sa, ja, aber ih wollte, wir tönnten Diele 
Stellungen an ben Nagel hängen. Hungern, frieren, 
betteln, oͤbdachlos in der Winterkälte und keinen 
Groſchen Geld in der Taſche — das will immer—⸗ 
hin durchgemacht ſein, ehe man leichtfertig über die 
Schwierigkeit ſolcher Situationen urteilt! Zu den 
Annehmlichkeiten gehören ſie jedenfalls nicht!“ 

„Wenn uns wenigſtens dieſe infamen Ran— 
zionierten nicht immer in die Quere kommen wollten,“ 
entgegnete Haſſo lachend. „Übrigens fürchte ich, 
daß dieſe zehn Braven — Reiſeziel haben wie 
wir und uns bald auf den Hacken ſein werden. 
Vertilgen wir deshalb unſere ehrwürdigen Brotrinden, 
damit ſie uns dieſe unſere einzige irdiſche Habe nicht 
abjagen, ehe wir ihrer froh geworden!“ und er biß 
mit ſeinen weißen Zähnen hinein, daß es knirſchte. 
„Wir wollen in Arnswalde,“ ſagte er dabei, die 
Pauſen ausfüllend, „ein Konzert geben — um uns 
Geld — für die Weiterreiſe bis Kolberg zu ver— 
ſchaffen —“ 

„Ein Konzert?!“ 

„Ja, ein Konzert! Die Stadt wird doch einen 
Saal haben, darin verſammeln wir die Bürgerſchaft! — 
Meinen Sie nicht, daß wir eine Stunde lang Unfug 
genug treiben könnten, um die guten Bürger von 
Arnswalde glauben zu machen, ſie hätten eine Konzert⸗ 
vorſtellung angehört?“ 

„Wir? Nein, ich ſicher nicht!“ verwahrte ſich 
Scriver mit Nachdruck. „Was Sie aber fertig 
bringen können, die Menſchen glauben zu machen, 
mein guter Rochlitz, das überſteigt noch immer mein 
Vorſtellungs vermögen, obgleich ich nachgerade daran 
gewöhnt ſein könnte.“ 

„Und doch gelingt es mir nicht einmal, meinen 
Schickſalsgefährten glauben zu machen, daß er einen 
Br verftändigen Menjhen vor fi hat!“ rief 
Hallo. 

Der andere johlug ihn lahend auf die Schulter. 
„Rein, das gelingt Shnen nit! Der muß nun 
Ion zujehen, wie er aud) ohne dieje Zlufion mit Jhnen 
austommt!” 

Die Freundfchaft zwilchen diefen beiden mußte 
eine zuverläffige geworden fein, denn fie war zu: 
jammengeichmiedet mit ebernem Sammer, durch ge: 
meinfam erlebte Abenteuer der feltenften Art, durch 
Gefahren und Todesnot, in treuem Aneinanderhalten 
und Einftehen des einen für den andern. 
eine harte Zeit gemweien, diefe Wanderſchaft, unter 
Verhältnifien, wie fie Rihard Scriver bejchrieben, 
mitten durch Feindesland, denn jo mußte man unfere 
beimifchen Provinzen nennen in jenem furdtbaren 
Sabre. Sie hätten fih nimmer bindurchmwinden 
fönnen ohne Scrivers Elare Bejonnenheit, welche die 
Gefahren umging; ohne Haffos gewandte Sicherheit, 
mit der ertunbefangen den bedentlichften Situationen 
begegnete und jede Rolle zu Ipielen wußte, bie ihm 


RomansZeitung 1896, 


Noman von Hans Werder. 


Es war 





234 





behilflich Ichien, fein Ziel zu erreichen. Und fo waren 


fie bis hierher gelangt, ber pommerjdhen Grenze nah. 
Das Schlimmite war überwunden. 

Bor ihnen, anmutig am Spiegel eines großen 
Sees, hoc überragt von uraltem gotilehem Dome 
mit unvollendet abgeftumpftem Turm, lag die Heine 
märlifhe Grenzitadt Arnswalbde. 

„Dies Neft fieht verheißungsvoll aus!” meinten 
die beiden Wanderer. 


II. 


„Alle Heiligen ſtehen mir bei, da ſind die 
Ranzionierten ſchon wieder!“ rief Richard Scriver 
im Tone der Verzweiflung. „Daß man doch nicht 
einen Augenblick Ruhe haben kann vor dem Geſindel!“ 

„Schimpfen Sie nicht ſo, Richard,“ lachte 
Haſſo leiſe. „Wir ſind bedenklich in der Minderzahl 
und dürfen uns nicht das Wohlwollen dieſer lieben 
Brüder verſcherzen! Sie ſcheinen übrigens nüchtern 
und vernünftig zu ſein! Der Wirt des Grand Hotel 
de Granow wird ſie ebenſo fürſtlich abgeſpeiſt haben 
wie uns!“ 

„Nun dann gehen Sie und machen Brüderſchaft 
mit den lieben Kameraden!“ ſpottete Scriver, „es iſt 
die höchſte Zeit!“ — 

Die Ranzionierten warteten keine Aufforderung 
hierzu ab. Sie waren ſchneller gegangen als die 
beiden Offiziere, hatten dieſe jetzt eingeholt und um— 
ringten ſie von allen Seiten. Sie wünſchten jetzt 
ihre Fragen von vorhin beantwortet zu haben, waren 
zwar zudringlich, doch recht gemütlich dabei, und 
Haſſo ging auf ihre ſcherzhafte Unterhaltung ein. 
Das Rollen eines Wagens hinter ihnen unterbrach 
dieſelbe. Sie wandten ſich um. Eine Extrapoſt 
mit vier Pferden beſpannt kam die Straße von 
Oſten dahergefahren. Das heißt, ſie war eigentlich 
mit drei Pferden beſpannt. Das vierte, lahm geworden, 
lief angebunden nebenher. Die Poſtchaiſe rollte vor⸗ 
über, die zwölf Wanderer ſahen ihr nach. Kurz vor 
dem Thore von Arnswalde aber hielt ſie ſtill, das 
lahme Pferd wurde wieder eingereiht, wahrſcheinlich 
des ſtattlicheren Anſehens halber. 

Während dieſes Aufenthaltes holten die Ranzio⸗ 
nierten den Wagen ein, näherten ſich ihm und 
guckten neugierig in das Innere. 

„Was macht Ihr denn da, Leute?“ fragte Haſſo 
ſcharf. Das Gefühl der Verantwortlichkeit für die 
Untergebenen erwachte in ſeinem Lieutenantsherzen. 

„Hier ſitzen Franzoſen drin!“ berichtete einer 
derſelben. 

„Das iſt Napoleon!“ erklärte ein anderer. „Ich 
kenne ihn!“ 

„Großartig!“ applaudierte Haſſo. Er ſchob 
raſch den Soldaten zur Seite und blickte ſelber in 
das Wagenfenſter. Ein älterer franzöſiſcher Offizier 
ſaß darin — ſeinen Adjutanten neben ſich. Der 
ſcharf prüfende Blick, der ihn aus dieſen herein—⸗ 
ſchauenden Augen traf, jagte dem Franzoſen einen 
Schreck ins Herz. Er befahl, ſchleunigſt weiter zu 
fahren. Haſſo hob grüßend die Hand und trat 


IV. 17 


235 Schwertllingen. 

zurüd. Sn furzen, Earen Worten befahl er den 
Ranzionierten, das Gefährt zu begleiten. Dasſelbe 
rollte langjam weiter, während Haflo und Ecriver 
den Pferden zur Seite blieben. Synftinktiv gehordhten 
die Leute dem gewohnten Kommandoton. Doch im 
Meitergehen betrachteten fie den befehlenden Gefährten 
von der Seite. „Sagen Sie mal (bisher hatten fie 
ihn Du genannt), Sie find wohl am Ende gar ein 
Herr Lieutenant? Sie fünnen ja fo flott fomman: 
dieren?” 

„Sa, Kameraden! Wir find beide Lieutenants 
Seiner Majeltät des Königs. Freut mich, daß Ahr 
uns das angemerkt habt! Wir find auf dem Wege 
nah SKolberg, zum Freilorps des Lieutenant von 
Schill!“ 

„Wollen Sie ihnen unſere Lebensgeſchichte nicht 
noch etwas detaillierter erzählen?“ raunte ihm Scriver 
zu. „Sie werden dankbares Publikum finden!“ 

„Aber Herr Lieutenant, warum haben Sie uns 
das nicht gleich geſagt!“ meinten treuherzig die 
Ranzionierten. „Wir ſind ja heilfroh, einen zu haben, 
an den wir uns halten können!“ — 

Auf dem Marktplatz der Stadt Arnswalde, 
vor dem Rat- und Poſthauſe hielt die Equipage. 
Die Pferde mußten gewechſelt werden. Der Reiſende 
ſtieg aus und trat eilig in das Haus. Neugierig 
umringten die zurückbleibenden Soldaten den Wagen, 
ſtiegen hinein, durchſuchten ihn und nahmen heraus, 
was ſie fanden. Haſſo ließ ſie vorläufig gewähren 
und blickte aufmerkſam nach den Fenſtern des Poſt— 
hauſes. Da ſpähte der Reiſende heraus, mit ängſt—⸗ 
lichen Blicken nach dem Wagen hin, der ſich vor 
ſeinen Augen mit dieſen unliebſamen Gäſten füllte. 
Er hatte jetzt den Mantel zurückgeſchlagen, Haſſo 
gewahrte ein blitzendes Ordenszeichen, das Großkreuz 
der Ehrenlegion, auf ſeiner Bruſt. Ihre Blicke 
trafen ſich, der Franzoſe prallte zurück. 

„Ein franzöſiſcher General! Kommen Sie, 
Scriver!“ Raſch traten ſie ins Haus. Die Thür 
zu dem Wartezimmer war verſchloſſen. — Als ſie 
auf lautes, endlich wütendes Pochen geöffnet wurde, 
war das Zimmer leer, das heißt der General und 
ſein Adjutant entwichen.“) 

Scriver hatte unterdes die Ranzionierten herein— 
gerufen. Das Haus wurde eilig umſtellt und durch— 
ſucht, doch vergebens. Die franzöſiſchen Herren hatten 
einen Ausweg durch das niedrige Fenſter gefunden 
und ihr Heil in der Flucht geſucht. 

Mit blitzſchneller Überlegung leiteten die beiden 
Offiziere die Verfolgung ein. Daß dieſer Fang ihnen 
nicht entgehen durfte, ſtand felſenfeſt. 

Hin über Gartenzäune und Hecken, wobei ſein 
großer Generalsrock zerriß, eilte der Franzoſe, von 
dem Adjutanten gefolgt. Ein ödes Gäßchen an der 
Stadtmauer nahm ihn endlich auf, führte ihn bis 
zum Mühlenthor und dort ins Freie. Es war die 
Richtung nach Stargard zu. Vielleicht wußte er 
das. Stargard war franzöſiſche Garniſon. 

Querfeldein ging ſein Lauf, überſchwemmte 


) Alle dieſe Vorgänge genau hiſtoriſch, nach Thatſachen 
erzählt. 


Roman von Hans Werder. 


236 


Wiefe war ſein Weg, deren leichte Eisdecke einbrach 
unter jedem Tritt. Und nun ein breiter Waſſer⸗ 
graben. Entſetzlich — Da — vom Stadthor her 
verworren Geſchrei! Ein Volkshaufe — voran die 
Ranzionierten. Ein verzweifelter Blick zeigte dem 
Franzoſen an ihrer Spitze jenen ſchlanken Va— 
gabonden mit dem langen, rötlichen Schnurrbart — 
und er gab ſich verloren. 

Nach wenigen Sekunden ſah er ſich umringt 
und der Vagabond, deſſen Anblick ihm nun ſchon 
dreimal zum Schrecken gereicht, bot ihm höflich ſeine 
Begleitung an. 

Zurück zur Stadt ging der Zug unter Jubel 
und Triumphgeſchrei, dem Steinthore zu, wo ein 
neuer Volkshaufe ihn empfing. Unter dem Be— 
geiſterungsgetöſe, das ſie umringte, konnte es ge⸗ 
ſchehen, daß die Offiziere für einen Moment ihren 
Gefangenen aus den Augen verloren, obgleich ihnen 
für immer dieſe Möglichkeit unaufgeklärt blieb. 

Der Franzoſe aber, ſeinerſeits ein bewährter 
Stratege, machte ſich den Augenblick zu nutze. Er 
gewahrte in der Thür einer Hütte, die wie ein 
Schwalbenneſt an der Stadtmauer klebte, ein altes 
Weib, neugierig den Vorgängen zuſchauend. Ver— 
trauen und Hoffnung durchſtrömten ſein Herz. Ein 
paar flehende Worte in gebrochenem Deutſch, ein 
Goldſtück in ihre knochige Hand, die Dame hatte 
ihn verſtanden, und der General verſchwand in dem 
Häuschen. 

Fort war er. 

Haſſo gewahrte es. „Himmeldonnerwetter, hat 
ihn die Erde verſchluckt! Franzos, Halunke — wo 
biſt Du geblieben! — Dieſe Bude da — hier muß 
er ſein! — Aufgemacht — Lumpengeſellſchaft — wir 
ſchlagen Thür und Fenſter ein!“ und ſchon dröhnten 
die Schläge gegen das ſchwächliche Mauerwerk. Ver⸗ 
zweifelnd ſchaute die Frau des Hauſes daraus hervor 
und ſchrie um Erbarmen. 

„Heraus, alte Hexe — aufgemacht — ſonſt 
reißen wir Dir das Haus überm Kopf ein. Vorwärts!“ 

Die Thür ſprang auf, ein drangen die preußiſchen 
Soldaten und im Nu ward jeder Winkel durchforſcht. 

„Kameraden, brecht den Schrank auf! Hier 
das Bett! — drin liegt er nicht! Faß an, Richard!“ 
Ein Ruck — die wacklige Bettſtelle polterte zur Seite 
— unter dem Bette lag der Franzoſenfeldherr! 

Staubflocken bedeckten ſein wohlfriſiertes Haar, 
grauer Staub umhüllte ſeine glänzende Uniform. 

„Ab — mon general! Ahr ganz gehorfamer 
Diener! Bebaure unendlih, Sie diejem traulichen 
Schlupfwintel entreißen zu müfjen! Darf ich Ihnen 
zum Aufftehen behilflih jein? Ich ftehe ganz au 


'Shrer Verfügung! Tout a vos ordres, mon general!“ 


Sie nahmen ihn in ihre Mitte, Haffo rechts, 
Richard lints, und zurüd zum Rathauſe ging der 
fröhlihe Zug, dem Ausgangs: und Endpunlte des 
ganzen Kefleltreibens. Ein wertvolles Wild hatten 
fie zur Strecke. 

In dem Natbaufe hatte inzwildden der body: 
Löbliche Magiftrat der Stadt fih verjammelt und 
tagte dort unter Zittern und Bagen. Denn das 
war zweifellos: Sobald das franzöfiiche Gouvernement 





237 Schwertflingen. 
in Stargard von diejen Vorgängen Kenntnis erhielt, 
war es um ihre gute Stadt geihehen! Wahrjcheinlich 
aud um das Xeben der Ratsherren. Um aber aud 
jeinerfeit® bandelnd einzugreifen, hatte ber Bürger: 
meifter NRodenwaldt den Bedienten bes Generals 
dingfeft gemacht, jeine etwaige Entfernung in ber 
Rihtung nah Stargard zu verhindern. 

Mit dem General jelber flellte er jekt ein 
feierlihes Verhör an. Es ergab fih, daß der Ge: 
fangene der Divifionsgeneral Victor, Duc de Bellune 
jei, auf der Reife von Warfhau nah Stettin be- 
griffen, um dort ein Armeelorpe zu übernehmen 
und dasjelbe nad) Kolberg zu führen, zur endgültigen 
Belagerung und Einnahme diefer trogigen Fefte. 

„Nah Kolberg! — — ah, mon general, das 
trifft ich ja ausgezeichnet! Auch ich bin auf dem 
Wege nach Kolberg und werde nun die Ehre haben, 
mit Ihnen gemeinſam dieſen Weg zurudhulegen! 
Sie geſtatten, daß ich mich Ihnen vorſtelle — —“ 

Es lag durchaus keine Bosheit in Haſſos Worten 
noch in ſeinem Ton. Nur die unendliche Freude 
über ſeinen bis jetzt ſo wohlgelungenen Streich, die 
übermütige, knabenhafte Glüchkſeligkeit ſpiegelte ſich 
darin ab. Der Franzoſe aber empfand einen Haß 
gegen ihn, als träte in dem kecken, ſchnauzbärtigen 
Geſellen der Böfe in leibhaftigſter Perſon ihm 
gegenüber. 

Noch hütete der Gefangene ſich zwar, dieſe ſeine 
Empfindung merken zu laſſen. Durch ausgeſuchte 
Artigkeit hoffte er die Sachlage zu ſeinen Gunſten 
zu wenden. Er bot der Stadt ein Löſegeld, den 
Offizieren ſein Ehrenwort, in Arnswalde bleiben zu 
wollen. Doch alles vergebens. Haſſos Höflichkeit 
wurde kälter, ſein Ton entſchiedener. Er mahnte 
zum Aufbruch. Die Poſtchaiſe des Generals ward 
mit friſchen Pferden beſpannt, einige Leiterwagen 
für die Ranzionierten ausgerüftet, und zwei Reit: 
pferde zur Stelle geichafft. Der General nahm in 
jeinem Wagen Blat, ein würdiges Magiftratsmitglied 
neben ihm, um bejjen Begleitung er gebeten, ber 
Adjutant und Scriver gegenüber. Hallo und der 
junge Stadtbürger Kelm folgten zu Pferde, Ießterer 
als wegkundig mit einer Laterne voran, denn bie 
Nacht brady herein — Io begann die Reife. 

„Herr Lieutenant, nun muß ich Ihnen aber er: 
zählen, was ich heute gehört habe!” hub Herr Kelm 
an. „Geftern hat eine Meile von bier, in Schön: 
werder, das Schillihe Korps den FSranzofen einen 
Munitions: oder Provianttransport weggelapert! Es 
jol fcharf dabei bergegangen jein! Das hätt’ ich 
ahnen follen! D diefer Schill! Ych feh’ es kommen, 
ih laffe meine Seifenfiederei im Stih und trete 
auch) bei feinem Korps ein! Mit Jhnen zujammen, 
Herr Lieutenant, was jagen Sie dazu?“ 

„Bonnerwetter, lieber Kelm, ift das wahr? 
Wer hat Ahnen das erzählt?” fragte Haflo hoch: 
erfreut zurüd. „Dazu lage ich, daß wir dann fofort und 
unter allen Berhältnijien denjelben Weg einjchlagen. 
Wir müflen Schill finden und wenn er in bie Hölle 
geritten wäre. Jh Halte es außerdem für redt 
wahriheinlid, daß man uns von Stargard aus 
verfolgen wird. Alfo vorwärts denn, reiten Gie 
vor, um Erlundigungen einzuziehen!” 


Roman von Hans Werber. 





: 238 


IM. 


Die Reife ging jchnell von ftatten. Dem Schill: 
Ihen Korps war man auf der Spur und Jobalb 
eine größere DOrtfchaft in Sicht fam, traf Helm bie 
nötigen ®orbereitungen zu friihem Borfjpann. Be: 
reitwilligft wurde derjelbe dur Bauern wie Befiger 
geitelt. Meift fanden bie Pferde jchon bereit, wenn 
ber bebeutungsvolle Zug beranlam und raſilos ging 
es dann weiter. Dem gefangenen General ward es 
bei dieſer Eile ſehr übel zu Mut. Von ganzer Seele 
hoffte er auf eine franzöſiſche Verfolgerſchar aus 
Stargard, welche dieſe Räuberbande überwältigen 
und ihn ruhmbringender Freiheit wiedergeben würde. 
Doch von Stunde zu Stunde ſank die Hoffnung. 
Dringend forderte er endlich die ihm bisher ver—⸗ 
weigerte Erholungsraſt. Richard Scriver konnte ſich 
nicht länger ablehnend dagegen verhalten. Er bog 
ſich aus dem Wagen und rief nach Haſſo — dem 
Räuberhauptmann, wie ihn der Franzoſe im Grimm 
ſeines Herzens nannte. Bald ſchaute das verwegene 
Geſicht vom Sattel herab in das Wagenſenſter. 

„Nehmen Sie’s mir nicht übel, mon general, 
ih kann Yhren Wunfch beim beiten Willen nicht er: 
füllen! Wenn ih Sie nur erft fiher hinter ben 
Mällen von Kolberg habe, dann können Sie aus: 
ruben nad Herzensluft, niemand wird Sie bort 
ſtören, ich verſprech' es Ihnen! — — Trop fatigué? 
mais non! Zwei Stunden Geduld noch, dann ſind 
wir in Labes, dort bekommen Sie etwas Gutes zu 
eſſen — un bon diner!' — Votre serviteur, mon 
general!“ Er grüßte verbindlich und weiter ging es. 

Endlih war Labes erreicht. Über die holprigen 
Straßen des Stäbtchens rollten die Wagen, welde 
mit ihren zwei Vorreitern und der von Dorf zu 
Dort angemadhjenen Schar von Begleitern einen 
merkwürdigen Zug bdarftellten. Die Einwohnerſchaft 
itrömte denn auch neugierig herbei und aus allen 
Thüren und Fenftern blidte man der Kolonne nad). 

So ging es bis zum Marltplag. Da parierte 
Hafjo jein Pferd und jchmwentte mit lautem Hurra 
die Müße über dem Kopf. Bor fi jah er das Ziel 
ſeiner Wünſche: Die Schillihen Hufaren! Ga, fie 
mußten es jein! Sn dichten Reihen ftanden bier die 
Magen mit den franzölifhen Waffen, die Schill er: 
beutet. Hufaren gingen bin und ber, fütterten bie 
Pferde, fpannten aus und ein. &s war bas Bild 
frohen ſoldatiſchen Treibens. Ach, welch ein erjehnter 
Anblick! 

„Holla he — Kameraden, iſt der Lieutenant 
von Schill hier?“ rief Haſſo. „Seid ſo gut und 
führt mich zu ihm! Ich muß ihn ſprechen!“ 

Verwundert ſchauten die Huſaren zu dem Redenden 
auf. Ein Landſtreicher in zerfetztem Rock und zer— 
riſſenen Stiefeln, zu Pferde — und dazu die Wagen 
und all das Volk — höchſt merkwürdig! 

„Da wird er wohl ſein,“ beantwortete endlich 
einer von ihnen die Frage und deutete auf ein 
Wirtshaus in der Mitte des Platzes. Gleich darauf 
ſtieg Haſſo vor der Thür desſelben vom Pferde. 
Laut und dringend wiederholte er ſeine Frage nach 
dem Lieutenant von Schill. Wieder antwortete ihm 


239 


neugieriges Zögern. Das Icharfe Dhr des Freilorps- 
Führers aber drinnen in der Gaftitube börte den 
Lärm. Er jelber, Ferdinand von Schill, trat heraus, 
um zu fehen, was es gäbe. 

Sn der Hausthür blieb er fiehen. Eine mittel: 
große, kräftige Geitalt, fchwarzes, in die Stirn 
fallendes Haar, leicht berabhängender Schnurrbart; 
ein dunkles Antlig, jchliht und angenehm — das 
war der äußere Eindrud jeiner Erjcheinung. Das 
gejentte Auge ftreifte fragend über die Gruppe vor 
ihm, dann, ala wenn der Sunte des Sinterefjes ein 
Feuer darin entzündete, ging e3 weit auf, tiefichwarz 
in glühender Leuchtkraft. 

„Was giebt es da — wer find die Leute?“ 
fragte er in dem Tone, der den Befehlshaber fenn: 
zeichnet. Der Landftreiher mußte diefen Ton wohl 
erfennen. Er trat auf ihn zu und 309 die Müße, 
in freier, ficherer Haltung. 

„Herr von Schill, darf ich die Ehre haben, mich 
hnen vorzuftelen! Lieutenant Rodhlif vom Xeib- 
hufaren-NRegiment von Göding. Ach bringe hier den 
franzöfiihen General Victor! — Wir haben ihn in 
Arnswalde gefangen genommen und find im Begriff, 
ibn nah Kolberg zu führen! Wir fuchen den 
Lieutenant von Schill!” 

Ein Lächeln von jeltiam angenehmen Ausdrud 
ging über Schills ernfles Gefiht. „Den Schill haben 
Sie Ihon gefunden! Und wenn Sie fi jo bei ihm 
einführen — laljen Sie doch einmal jehen, das ift 
ja kaum glaublih!“” Er näberte fih dem Wagen. 

Hallo warf dem Gefährten Kelm feines Nofjes 
Zügel zu und öffnete vajh den Wagenihlag. „Nun 
fteigen Sie aus, mon general, ich lege hr ferneres 
Scdidjal in würdigere Hände — Monsieur le general 
Vietor, Duc de Bellune — Herr Lieutenant von 
Schill!" — — — 

„Pot Wetter — ift’8 möglich, ift das nicht Hafjo 
NRohlig?” Es war ein Ruf ftaunender Überrafchung. 
Die Dffiziere des Schillihen Korps umftanden bereits 
die interellante Gruppe, um zu jehen, mas fich hier 
weiter entwideln würde. — „Menih, wo kommen 
Sie her — wie jehen Sie aus! ch denke, Sie jollen 
bei Saalfeld gefallen fein?“ 

Es zudte über Hajjos Geficht wie bei der Be: 
rührung einer Wunde, „Leider nit! Nur etwas 
nahpdrüdlich über den Kopf gehauen! Unkraut ver: 
geht nicht, mein lieber Hagen!” 

„sa, das Icheint mir auch jo! Aber ich finde 
es recht erfreulih, mein alter Freund!” fagte, ihm 
die Hand jchüttelnd, Herr von Hagen. Er war eine 
einnehmende Eriheinung, kräftig von Geltalt, mit 
edel gejchnittenem Gefidht, feiner, jchöner Nafe und 
dem Ausdrud wohlmollender, behagliher Lebensfreude. 
Haflo kannte ihn aus der Berliner Garnijonszeit 
und freute fih, ihn bier unter jolden Berhältnilien 
wiederzufinden. 

Auch Herr von Schill war angenehm berührt, 
ſogleich durch einen ſeiner Offiziere über dieſen neuen 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


240 





Ankömmling unterrichtet zu werden; um ſo mehr, als 
ſich derſelbe ſo unvergleichlich bei ihm einführte, mit 
einer Beute, deren Wert von unermeßlicher Trag⸗ 
weite ſein konnte. Mit forſchendem Intereſſe be— 
trachtete er Rochlitz, mit ungewöhnlicher Wärme 
hieß er ihn unter der Schar der Seinen willkommen. 
So einen konnte er gerade gebrauchen! 

Auch Richard Scriver ward dem Huſarenführer 
vorgeſtellt. Bald fühlten die beiden Fremdlinge ſich 
völlig heimiſch in dem Kreiſe der neuen Kameraden. 

Jetzt trat der Arnswalder Magiſtratsherr, der 
bisher dem Gefangenen zur Begleitung gedient, den 
Rückweg an, wohl verſehen mit der Beſcheinigung 
des Generals, daß nur die böſen Ranzionierten mit 
ihrem wilden Anführer den verbrecheriſchen Streich 
verübt, der Magiſtrat aber unſchuldig ſei, vielmehr 
ſich tadellos benommen habe. So hoffte er, die gute 
Stadt und ihren wohlweijen Rat vor der Rache ber 
Franzoſen zu jhüten. Es ift ihnen auch wenigftens 
teilmeile gelungen. Der Bürger Kelm fchloß fich dem 
Heimreilenden an, do nur, um die Sorge für feine 
Seifenfiederei anderen Händen zu übertragen und 
dann eiligft zurüdzufehren unter bie Standarte des 
Shillihen Korps. 

Die Hufaren rüdten am folgenden Tage mit 
ihrer reihen Beute in Kolberg ein. Der General 
Victor beobachtete beim Hindurchfahren gar aufmerkfam 
die Thore der Feltung, die er hatte erobern follen. 
„Scheunenthore find e8, leicht zu nehmen!“ fagte er 
verädhtlih. „Sa, menn mir die verbammten Spip: 
buben nit in die Quere gelommen wären!” Nun 
aber jaß er hier machtlos, ein Gefangener! 

E8 dauerte lange, bis die Aufhebung bes General 
Bictor im franzöfifhden Hauptquartier befannt wurde. 


-Die ihm übertragene Belagerung von Kolberg erlitt 


nun eine erheblide Verzögerung und biefe föftliche 
Frift wurde von Schill und dem Kommandanten auf 
das beite benugt, um die Feltungswerfe in Ver: 
teidigungszuftand zu fjegen. General Victor mußte 
dem Kaijer der Sranzojen mohl eine außergewöhnlich 
wertvolle Perjönlichleit bedeuten, bern der Gefangene 
diente zur Ausmwechlelung gegen das ebelfte preußilche 
Piand, das der Feind in feine Hände befommen: 
Es war General Blüher. Diefer hatte fih nad 
der Prenzlauer Kapitulation ber Hobenloheichen 


Armee mit feinem Korps bis nad Lübed durchge 


ſchlagen. In wütender Gegenwehr wie der grimmige 
Keiler, der um fih hauend die verfolgenden Rüden 
zerfleilcht und zurüdwirft, hatte er fich gewehrt, bis 
zur äußerten Verzweiflung. Enblih, müde geheßt 
zum Tode, von Munition und Lebensmitteln voll- 
fländig entblößt, von ber Übermacht erdrüdt — hatte 
er in die Kapitulation von Lübed willigen und fid 
jelbit gefangen geben müfjen. In preußiihen Händen 
befand fi bi8 dahin Fein franzöfifcher General, ber 
für den grimmen Reden zur Auslöfung hätte dienen 
fönnen. Nun aber endli umfhloffen die Mauern 
von Kolberg General Victor, den franzöfifchen Feld: 
berrn, und Blüdher ward frei! 


(Fortfegung folgt.) 
m Da — 


SE» 


241 Ohne Gott, 


Roman von ©. Karl. 


242 


Ohne Gott! 


Noman 
bon 


E. Rarl. 
(Fortſetzung.) 


Es berührte Hilde eigentümlich, daß die beiden 
Männer im Eintreten ehrfurchtsvoll das Haupt ent: 
blößten, es kam ihr im Augenblick zum Bewußtſein, 
daß ſie in einem Raume weilte, der anderen heilig 
war, und mit dieſem Bewußtſein überrieſelte es ſie 
wie ehrfurchtsvoller Schauer. 

Tauſende und Abertauſende hatten hier im 
Lauf der Jahrhunderte auf den Knieen gelegen, vor 
dem Gott, den die Neuzeit leugnete. Von hier hatten 
fie ſich Troſt geholt, wenn Krieg und Peſtilenz ſie 
bedrohten, hierher hatten ſie ihre teuerſten Toten ge— 
bettet. Faſt der ganze freie Raum des Fußbodens 
beſtand aus Grabſteinen. 

Die Sonne warf bunte Lichtſtreifen durch die 
farbigen Fenſter und die Schritte der Beſucher hallten 
dumpf auf den hohlen Steinplatten. Der Küſter 
hatte behufs beſſerer Lüftung zwei gegenüberliegende 
Thüren geöffnet, und in dem leiſen Lufthauch, der 
hereindrang, bebten die alten vergilbten Bänder, die 
von verdorrten Totenkränzen herabhingen. Sie hatten 
einſt auf den Särgen Dahingegangener geruht und 
liebevolle Pietät fie „zu ewigem Gedenken“ in der 
Kirche aufbewahrt. 

Auf den Fußfipigen nur jchritt Hilde an ber 
Seite ihrer Begleiter über bie uralten Grabtafeln 
und fie fühlte zum erften Mal die tiefe Poefie, die 
jeden Raum erfüllt, der jahrhundertelang die Stätte 
eines frommen Kultus war, mag man feine Lehren 
teilen oder nicht. Es ift als hätte der Geift frommer 
Erhebung eine dauernde Spur hinterlaflen, als er: 
hielten lebloje Dinge eine Sprade und rebdeien 
damit zum Herzen Ipäterer Gejchhledhter. Hilde, bie 
Tochter der neuen Zeit, hatte das Gefühl, ale müfle 
fie leife auftreten, um die Schläfer da unten nicht 
zu weden, die Toten, die einft Menfchen geweſen 
waren wie fie und die nah den ehren der 
Materialiften nichts anderes fein jollten ala chemifche 
Stoffe; die die eine oder andere Verbindung einge: 
gangen waren. Ein WMäushen hulchte über bie 
liefen — e8 beftand ja aus denfelben Stoffen, was 
war fie denn befleres? 

Es fröftelte fie plöglich, als flünde fie vor einer 
Ihmarzen, öden Höhle, aus der es fie alt und fchaurig 
anmebhte. 

Der junge Wahrholm beugte fih zur Erbe 
nieder. „Hier die Anfchrift ift deutih und noch 
teilweije erhalten, obgleich fie vom Jahr — warten 
Sie einmal, die römischen Zahlen find nicht jo leicht 
abzulefen — vom Sahr 1680 ftammt. Der bier 
liegt, ift aljo ein Zeitgenofje des großen Kurfürften 
gewejen.” Er begann zu buchftabieren: „‚Hier ruhet 
— in Gott — die Tugendreiche —‘ Der Zujammen- 


bang ift nicht mehr zu entziffern, aber es ijt ein 
junges Mädchen, die Tochter eines Kirchenpatrong. 
Nur die Schlußworte find wieder ganz deutlich: ‚eine 
fröhliche Urftänd.‘” 

„Eine fröhlide Auferftehung,” überjegte Hilde 
leife, das war biefelbe Hoffnung, die fie auch auf 
den Kreuzen draußen, in Poefie und Proja ausge 
drüdt, gelefen hatte, die uralte Hoffnung des 
Menihengeihlehts auf Berbeilerung und Bervoll- 
fommnung in einem anderen Leben. Someit ihre 
Kenntnis reihhte, hatten alle Völler mit höher ent: 
widelter Kultur fie gebegt, die Agypter, die uden, 
die Griechen und Römer, ja jogar die altnordifchen, 
balbwilden Völterfhaften hatten ihr Walhall gehabt. 
— Sollte der Glaube an die Unfterblichleit in der 
Menichenfeele Shlummern mie der Snftinft im Tier, 
dem die Kenntnis von bem, was zu willen ihm not: 
wendig ift, angeboren wird? 

Hilde firih die blonden LXödchen mit tiefem 
Atemzug aus der Stirn, blidte dur die gotijchen 
FSenfter in den blauen Himmel hinauf und in ihr 
Herz 309 es wie Wärme und Sonnenjcein. 

„Wir müflen wohl zurüdlehren,“ mahnte endlich 
Paul Wahrholm, der vereint mit dem Kandidaten 
noch verjchiedene Votivtafeln an den Wänden ftubdiert 
hatte, „die Damen erwarten ung pünttli um fieben 
Uhr, der Dampfer fommt bald danach hier vorüber 
und jol ung mitnehmen.” 

Er jchritt voraus der Thür zu. Der Kandidat 
aber näherte ih Hilde, jah ihr mit warmem Blid 
ins Gefiht und fragte eindringlid: „Werben Sie 
meine Bitte erfüllen, Fräulein Hilde, und in meine 
Kirche kommen?” 

„3a,“ ſprach das Mädchen leije, aber bejtimmt. 

Über das Gefiht des jungen Mannes hujchte 
e8 wie ein Sonnenftrahl, er drüdte herzlich ihre 
Sand. „SH danfe Shnen, wenden Sie jih an die 
große bagere Kirchenfrau mit der weißen Haube, fie 
wird SYhnen einen guten Pla anweijen.“ 

Die Eonne war längft zur Rüfte gegangen und 
weiße Nebel brauten über dem Flußthal, als ber 
Dampfer mit den Heimkehrenden fih der Stabt 
näherte. In vielzadiger Silhouette bob fi ihr 
Profil gegen den Klaren Himmel ab und ein Lichter: 
franz Ipannte fi darunter in weitem Bogen über 
die Ebene. 

„Bat wie Venedig,” jcherzte Paul Wahrholm 
auf die Äußerung eines Mitreifenden. 

„Der lange Aufenthalt im Süden muß bod 
eine reizgende Erinnerung für Sie fein,” meinte 
Frau Niederftetter. 

„Das ift er au und das Schönfte daran war 


— —— — — 


247 Ohne Gott. 





Roman von ©. Karl. 


248 


Neuen meinen es auch gut mit dem weiblichen Ge: | das Glüd, und nur wenige willen es zu finden. 


Ihleht. E& werden von Sahr zu Sahr weniger 
Ehen geichlojlen, und mehr als die Hälfte der Frauen 
bleibt von dem eigentlichen Beruf des Weibes aus: 
geihloffen. Ein großer Teil der Ehelojen ver: 
fümmert darüber an Leib und Seele. Dem wollen 
wir durch naturgemäßere Snftitutionen abhelfen.” 

„Ih weiß, daß hr e8 gut meint, aber hr 
leid im Srrtum, Ahr fchabet, wo hr helfen wollt. 
Hütet Eu, die Art an die Wurzel der Familie zu 
legen, fie it der ftarle Stamm, auf dem unjere 
Kultur ruht. — Denen Sie an Rom, Herr 
Schmieder, fein Weltreich zerfiel, feine Kultur ver: 
faulte von innen heraus, als Üppigfeit und Gitten: 
Iofigkeit überhband nahmen. Auch dort begann ber 
Verfall mit dem Ruin des Familienlebens.” — 

Alma, die bald nad) der Heimkehr des Mannes 
das Zimmer verlaflen hatte, Lehrte jegt zurüd und 
madte fih” an einem großen ®lasihrant, der 
Borzelan und Glas enthielt, zu jhhaffen, fie bereitete 
augenjcheinlih einen Ymbiß vor. Schmieder folgte 
ihrer fchlanten Geftalt mit verliebten Bliden und 
Ihaute unmutig auf die Thür, als fie hinausging. 
Set erihien fie wieder und trug ein Tablet mit 
Theegerät und Hleinem Badwerl. Sie hatte alles 
jo zierlich arrangiert, wie fie e8 in den feinen Häufern, 
in denen fie bisher als Schneiderin arbeitete, gejehen 
hatte. Das Porzellan war altmodiih und die Ber: 
goldung abgenugt, aber es war einft geihmadvoll 
und folide geweien, auch fehlte es nicht an ebenio 
jolivem, altem Silberzeug. Die Vorftellung, fi in 
der Wohnung eines Arbeiter zu befinden, wurde 
Frau Nieberftetter jchwer, und fie jprad es aus, 
während fie freundlich eine Tafje Thee aus der Hand 
der jungen rau nahm. 

„Sie find aus gutem Haufe, Herr Schmieder, 
ud haben willenjhhaftlihe Bildung, wie halten Sie 
es nur im Verkehr mit dem rohen Arbeitervoll aus?” 

„Ih bemühe mid), das rohe Material zu ver: 
edeln, gnädige Frau, und finde darin meine Be: 
friedigung. Ich babe Xelezirkel und PVortragszu: 
fammenfünfte eingerichtet und teile den Genoſſen 
von den Errungenjhaften der Neuzeit mit, was ihrem 
Faflungsvermögen zugänglid ift. Sie glauben nicht, 
weld) danktbares Auditorium ih babe. Mander 
Profeſſor könnte mich darum beneiden.” 

„Und Sie beginnen aud bier damit, daß Sie 
das Fundament zeritören, indem Sie den armen 
urteilslojen Leuten die Religion nehmen, indem Sie 
ihr armjeliges Leben des lebten Nefites von Boefie 
entkleiden.” 

„Wir brauden keine Religion und wir brauden 
feine Poefie, gnädige Frau, denn wir haben bie 
Wiffenihaft.e Uns thut not, allen Ballaft von uns 
zu thun, das unklare Sehnen nad einem befjeren 
Senjeits, das nur die frifhe Kraft lähmt, damit wir 
dem Ziele — daß jeder Menih bier auf Erben 
glüdlih jei — immer näher rüden.” 

„D, hr Thoren,” rief die Frau, „Glüd, un: 
getrübtes Glüd für alle hier auf Erden? — Welcher 
Gedanke! — Da müßtet ZYhr das Menichengeichlecht 
erft umfhaffen, denn in der eigenen Bruft wohnt 


Nicht in der materiellen Zage allein ruht die Be: 
friedigung, und könntet Zhr diefe auch für alle gleich: 
mäßig geftalten, das Unglüd könnt hr dem einzelnen 
nicht fernhalten, und bier giebt die Wiflenichaft feinen 
Troft. Was nüßt fie dem, der an den Gräbern 
feiner Liebften fteht, was nübt fie dem Armen, den 
ein unverjchulbeter Unglüdsfall zum nutzloſen Krüppel 
madt. Hier tröftet nur die Religion und ihre Lehre 
von der Lnfterblichkeit.“ 

„Sie wollen alfo,“ warf Schmieder ein, „den 
Glauben an die Unfterblichleit erhalten willen, als 
Mittel zum Zwed, nit aus Überzeugung.” 

„Ich will ihn aufrecht erhalten willen aus 
Überzeugung — aus wirklicher Überzeugung, denn 
ich glaube daran,” rief die alte Frau feierlich, „ich 
glaube daran, trog aller Naturmwiflenfchaft, denn 
diefe widerſpricht nicht.“ 

„Aber fie beweift auch nicht,“ jprady Schmieber, 
„und nur der Beweis it enticheidend.” 

„Er ift nicht enticheidend, wo es fi um Gebiete 
handelt, die unjerer finnliden Wahrnehmung ver: 
Ihloffen find. Wie wollen Sie zum Beijpiel einem 
Blindgeborenen beweilen, daß man zehn Meilen 
entfernte Berge noch wahrnehmen könne? Sie fünnen 
es nit, wenn er es Ahnen nidt glaubt. Das 
einfache Geleg der Logik jcheint mich auf die Fort- 
dauer des Menichengeiftes binzumweilen, weil er allein 
unter allem Lebenden aus innerem Trieb nach Ber: 
ebelung ftrebt, weil es für ihn ideale Güter giebt. 
Dielfer Trieb zur Veredelung ijt meiner Meinung 
nad) jhon Beweis genug, denn er wäre unnüß, wenn 
feine NRejultate mit dem Sndividuum vergehen 
müßten.” 

„Doh nicht,” warf Schmieder ein, „nad der 
Bererbungstheorie fommt jeder yortichritt der ganzen 
Rafje zu gut, und die Natur arbeitet daran, Die 
Art nicht nur zu erhalten, fondern zu verbeflern.“ 

„Nun, dann hat die Natur in den legten fünf: 
taufend Jahren in Bezug auf das Menjchengeihlecht 
jo ziemlich umjonft gearbeitet, und das pflegt ihr 
nicht zu palfieren. Die Ausgrabungen in Grieden: 
land und Ägypten in den legten Sahrzehnten haben 
ganz merkwürdige Nejultate geliefert. Wir find 
heute in der Kultur wohl wenig weiter, als es Die 
Ägypter zu Zeiten des Mojes waren. Wenn bie 
Natur aber derartigen Wedel, wie er nady dieler 
Richtung durhmweg auf der Erde herriht, dauernd 
zugiebt, jo bemweift fie damit, daß fie anderes 
im Auge bat als eine fortichreitende Berbeflerung 
der Art. Ein zweiter Beweis für die Fortbauer 
liegt für mid) im Spnftinkt des Menjchen, der immer 
wieder darauf zurüdgreift, jo oft feindliche Zeit: 
trömungen fi Ddiefer PVorftellung entgegenftellen. 
Bliden Sie in die Weltgefchichte zurüd. Aus den 
Trümmern eines zerfallenden Kultus wädjlt ftets eine 
neue Religion hervor, die denjelben Grundjaß bes 
Fortlebens in anderer Form bringt. Sollte aber, 
was dem ganzen Menihengejchleht jo eingeboren 
it, daß e8 wie ein friiher Quell immer wieder 
bervorbriht, wie oft man e8 audh zu verjchütten 
verfuht, nicht Fingerzeig der Natur fein? Nein, 


245 Ohne Gott. 
„Sie find erftaunt, mich hier zu jehen,” begann 
die Dame das Geipräh, „es befindet fi aber in 
Shrem Haufe, unter jehr merfwürdigen Verhältnifien 
ein junges Welen, für das ich berzlichites Intereſſe 
bege. Sie werden e8 daher begreiflich finden, wenn 
ih gefommen bin, um Sie zu fragen, welche Garantie 
Sie für Almas dauerndes Glüd bieten können.” 

Dem Manne rötete fih die Stirn, es Argerte 
ihn, daß die refolute alte Dame ihm fo die Biftole 
auf die Bruft fegte. Er richtete fich ftolz auf, warf 
ben Kopf zurüd und erwiderte mit pathetiicher Ge- 
bärde: „Die Garantie für das Glüd meiner Frau 
liegt in meinem Herzen.” 

„Das hört fih recht yübjh an, Herr Schmieder,” 
erwiderte Frau Niederftetterr, „und im Grunde 
haben Sie aud redt, das Slüd muß im Herzen 
der Beteiligten feine Grundlage haben, aber wenn 
nun dem Gebäude der Ehe die Stüße der Geleh: 
mäßigfeit fehlt und das Herz ins Schwanten gerät 
— mas dann? ch denke, Sie haben jchon einmal 
bewiefen, daß hr Herz fih irren fann.” 

„Jedes Menſchenherz kann irren,“ antwortete 
Schmieder ernſt. „Hat denn die Stütze der Geſetz— 
mäßigkeit meine erſte Ehe gehalten?“ 

„Ihre erſte Ehe iſt trotz der Geſetzmäßigkeit 
gebrochen, weil Sie ſelbſt keine Achtung vor dem 
wohlthätigſten aller Geſetze hatten. Das aber iſt 
das erſte Erfordernis.“ 

„Sie wollen alſo zwei Menſchen unter allen 
Umſtänden zuſammenſchmieden wie Galeerenſklaven, 
nur weil ſie ſich aus Irrtum einmal vereinigt haben?“ 

„Bei Leibe nicht,“ rief die alte Dame eifrig, 
„ich tadle es lebhaft, daß man ſich in der Geſetz⸗ 
gebung bemüht, die Eheſcheidung noch immer mehr 
zu erſchweren. Es giebt Fälle, in denen eine 
Trennung den Beteiligten Erlöſung iſt; aber es 
iſt doch ein himmelweiter Unterſchied zwiſchen einem 
ſolchen Ausnahmefall und der Regel. Was Sie 
und Ihre Geſinnungsgenoſſen an Stelle des alten 
geheiligten Inſtituts der Ehe einführen wollen, iſt 
unheilvoll für Mann und Weib und am meiſten für 
die Kinder, die einer ſolchen Vereinigung entſpringen.“ 

„Das kann ich nicht einſehen,“ erwiderte 
Schmieder, „wenn Kinder Unfrieden zwiſchen den 
Eltern ſehen, wirkt es ſchlimmer auf ſie, als 
eine Trennung.“ 

„Das will ich zugeben, darum müſſen Eltern 
ihren Kindern den Unfrieden fernhalten. Überſetzen 
Sie Ihre Theorien aber doch einmal in Wirklichkeit. 
Sie ſind jetzt etwa dreißig Jahre alt und haben die 
zweite Frau — bis zu Ihrem fünfzigſten Jahre iſt 
fiherlih,, wenn Shnen Thür und Thor offenftehen, 
das halbe Dutend vol. Die von Shnen aufge: 
gebenen Frauen tröften fi” wieder mit andern 
Männern, denn was dem einen recht, ift dem anbern 
billig — wer fol für die Kinder jorgen, die nicht 
mehr willen, wen fie als Vater und Mutter anzu: 
jehen haben?“ 

„Der Staat,” antwortete Schmieder prompt, 
„owie alle Individuen gleihmäßig für ihn arbeiten 
jolen, bat aud er für alle gleihmäßig zu forgen.” 

„Alfo Findelhaus im großen, Maflenerziehung, 


246 


Roman von €. Karl. 
wie unvermeidlih, nach der Edhablone — als Re: 
jultat nicht individuelle Perſönlichkeiten, ſondern 


Dugendmenihen ohne Sinn für das SHeiligfte, Die 
Familie. Sede behaglich eingerichtete Häuslichkeit 
nur eine Art Gafthaus mit wechlelnden Bewohnern.” 

„Ganz jo dürfte es doch wohl nicht kommen,” 
meinte der Mann überlegen, „aber Sie müflen doch 
zugeben, daß unfere heutigen Eheverhältniffe nichts 
weniger als befriedigend find.” 

„Das muß ich leider zugeben, aber auf die von 
Shnen vorgejkhlagene Art werden Sie feine Beflerung 
erzielen. E83 ift mit der gejeglichen Ehe und mit 
Shrem Surrogat bafür, wie mit einem Haufe, das 
man befigt, oder in dem man zur Miete wohnt. 

„sn meiner Kindheit bewohnte mein Vater als 
Univerfitäts-Bibliothefar eine Dienftwohnung. Wenn 
ich heute daran zurüddente, jo Steht fie vor mir als 
das non plus ultra von Mangelhaftigfeit und doch 
fnüpfen Jich meine jchönften Erinnerungen daran. 
Sn dem Bewußtjein, daß ein Wechjel ausgeihloflen 
jei, befjertten und pußten wir unausgejegt baran, 
freuten uns an jeder VBervolllommnung und waren 
Ihließlich der Meinung, daß feine andere Wohnung 
jo behaglich jei wie die unfrige. Das alte Haus ift 
mir bis zu meiner Berheiratung ein liebes Heim 
geweſen. 

„Auf eine Wohnung, welche man nach Belieben 
wechſeln kann, verwendet man weder Mühe noch 
Koſten, man zieht eben aus, wenn ſie nicht zu paſſen 
ſcheint, und wer ſich einmal an das Herumziehen ge— 
wöhnt hat, hält es auf die Dauer nirgend mehr aus. 
So wird es mit der Ehe gehen, wenn Sie den 
dauernden Beſitz in einen Vertrag auf Kündigung 
verwandeln.“ 

„Einen Vertrag, der befriedigt, kündigt man 
aber nicht,“ wendete Schmieder ein. 

Frau Niederſtetter ſchüttelte den Kopf. „Den 
meiſten von Euch Männern iſt die Liebe zum Weibe 
— das heißt zu einem beſtimmten Weibe — nur 
eine Epiſode, die vorübergeht.“ 

„Und halten Sie es denn für ein Glück, zwei 
Menſchen noch länger aneinanderzufeſſeln, wenn dieſe 
Epiſode, wie Sie es nennen, vorüber iſt?“ 

„Lieber Schmieder, ich ſprach von den Männern. 
Wir Frauen find anders organiſiert — Ausnahmen 
natürlich zugegeben. Was das weibliche Herz ein⸗ 
mal erfaßt hat, das hält es feſt, wenn man es ihm 
nicht gewaltſam zerbricht. Das Weib hängt am 
Mann, den es beſeſſen hat, der der Vater ſeiner 
Kinder iſt, bis zum letzten Atemzuge, und wenn es 
ſich gewaltſam von ihm löſen muß, ſo geht häufig 
ſein beſtes Teil dabei zu Grunde. Das aber würde 
in den meiſten Fällen der Ausgang ſein. Frei— 
willige Aufgabe von der einen Seite, ein gebrochenes 
Herz auf der andern. Ich habe Ihre Alma lieb, 
ein ſolches Schickſal für ſie würde mich ſchmerzen.“ 

Der Mann beugte ſich über die Hand der alten 
Dame und küßte ſie. 

„Sie meinen es herzlich gut, Frau Profeſſor, 
aber fürchten Sie nichts, ich bin ein ehrlicher Mann, 
und hoffe, mit Alma noch das fünzigjährige Jubiläum 
unſerer Vereinigung zu feiern. Glauben Sie, wir 


247 Ohne Gott. 


Neuen meinen e8 auch gut mit dem weibliden Ge: 


Ihledt. E8 werden von Jahr zu Jahr weniger 
Ehen gejhlofen, und mehr als die Hälfte der Frauen 
bleibt von dem eigentlihen Beruf des Weibes aus- 
geſchloſſen. Ein großer Teil der Chelofen ver: 
fümmert darüber an Leib und Seele. Dem wollen 
wir dur naturgemäßere Snftitutionen abbelfen.” 

„sh weiß, daß hr es gut meint, aber hr 
ſeid im Irrtum, Ihr ſchadet, wo Shr helfen wollt. 
Hütet Euch, die Axt an die Wurzel der Familie zu 
legen, ſie iſt der ſtarke Stamm, auf dem unſere 
Kultur ruht. — Denken Sie an Rom, Herr 
Schmieder, ſein Weltreich zerfiel, jeine Kultur ver: 
faulte von innen heraus, als Üppigkeit und Sitten: 
lofigfeit überhband nahmen. Auch dort begann ber 
Verfall mit dem Ruin des Yamilienlebens.” — 

Alma, die bald nad) der Heimtehr des Mannes 
das Zimmer verlaflen hatte, Tehrte jet zurüd und 
madte fih' an einem großen Glasichrant, der 
Borzellan und Glas enthielt, zu Jchaffen, fie bereitete 
augenscheinlich einen Ambiß vor. Schmieder folgte 
ihrer fchlanfen Geftalt mit verliebten Blidden und 
Ihaute unmutig auf die Thür, als fie hinausging. 
Set erichien fie wieder und trug ein Tablet mit 
Theegerät und Tleinem Badwer!. Sie hatte alles 
jo zierli arrangiert, wie fie e8 in den feinen Häulern, 
in denen fie bisher ala Schneiderin arbeitete, gejehen 
hatte. Das Porzellan war altmodiich und die Ver: 
goldung abgenugt, aber es war einft geijhmadvoll 
und folide gemwejen, aud fehlte es nicht an ebenfo 
jolidem, altem Silberzeug. Die Vorftellung, fih in 
der Wohnung eines Arbeiter zu befinden, wurde 
Frau Niederitetter jchwer, und fie jprad) es aus, 
während fie freundlich eine Tafle Thee aus der Hand 
der jungen Frau nahm. 

„Sie find aus gutem Haufe, Herr Schmieder, 
mıd haben willenihaftlide Bildung, wie halten Sie 
es nur im Verkehr mit dem rohen Arbeitervolf aus?” 

„IH bemühe mi, das rohe Material zu ver: 
edeln, gnädige Frau, und finde darin meine Be: 
friedigung. Ah habe Xejezirtel und Vortragszu— 
fammentünfte eingerichtet und teile den Genoflen 
von den Errungenjchaften der Neuzeit mit, was ihrem 
Faflungsvermögen zugänglid ift. Sie glauben nicht, 
welh danfbares Auditorium ih babe. Mancher 
Profefjor könnte mich darum beneiden.“ 

„Und Sie beginnen auch bier damit, daß Sie 
das Fundament zerftören, indem Sie den armen 
urteilslofen Leuten die Religion nehmen, indem Sie 
ihr armjeliges Leben des lebten Reftes von Poefie 
entkleiden.“ 

„Wir brauchen keine Religion und wir brauchen 
keine Poeſie, gnädige Frau, denn wir haben die 
Wiſſenſchaft. Uns thut not, allen Ballaſt von uns 
zu thun, das unklare Sehnen nach einem beſſeren 
Jenſeits, das nur die friſche Kraft lähmt, damit wir 
dem Ziele — daß jeder Menſch hier auf Erden 
glücklich ſei — immer näher rücken.“ 

„D, Ihr Thoren,” rief die Frau, „Glüd, un: 
getrübtes Glüd für alle hier auf Erden? — Welcher 
Gedante! — Da müßtet Zhr das Menichengeichlecht 
erft umihaffen, denn in der eigenen Bruft wohnt 


Roman von €. Karl. 


248 
das Glüd, und nur wenige wiflen es zu finden. 
Nicht in der materiellen Lage allein ruht die Be: 
friedigung, und fönntet $hr diefe auch für alle gleich: 
mäßig geitalten, das Unglüd lönnt hr dem einzelnen 
nicht fernhalten, und hier giebt die Wiffenjchaft feinen 
Troft. Was nübt fie dem, der an den Gräbern 
feiner Liebften fteht, was nübt fie dem Armen, den 
ein unverjchulbeter Unglüdsfal zum nuglojen Krüppel 
madt. Hier tröftet nur die Religion und ihre Lehre 
von der Unfterblichkeit.” 

„Sie wollen aljo,” warf Schmieder ein, „den 
Glauben an die Unfterblichkeit erhalten willen, als 
Mittel zum Zwed, nit aus Überzeugung.” 

„3 will ihn aufrecht erhalten willen aus 
Überzeugung — aus wirklicher Überzeugung, denn 
ih glaube daran,” rief die alte Frau feierlih, „ic 
glaube daran, troß aller Naturmwillenfchaft, denn 
diefe widerjpricht nicht.“ 

„Aber fie beweift auch nicht,“ Iprad) Schmieder, 
„und nur der Beweis ift entjcheidend.” 

„Er ift nicht enticheidend, wo es fich um Gebiete 
handelt, die unferer finnlihen Wahrnehmung ver: 
Ihlofjen find. Wie wollen Sie zum Beilpiel einem 
Blindgeborenen beweijen, daß man zehn Meilen 
entfernte Berge no wahrnehmen könne? Sie können 
e8 nicht, wenn er es Shnen nicht glaubt. Das 
einfache Geleg der Logik jcheint mich auf die Fort: 
dauer des Menjchengeiftes binzumeilen, weil er allein 
unter allem Lebenden aus innerem Trieb nad Ber: 
edelung ftrebt, weil es für ihn ideale Güter giebt. 
Diefer Trieb zur DBeredelung ift meiner Meinung 
nad jhon Beweis genug, denn er wäre unnüß, wenn 
leine Rejultate mit dem Syndividuum vergehen 
müßten.” 

„Doch nit,” warf Schmieder ein, „nad der 
Vererbungstheorie fommt jeder Fortichritt der ganzen 
Kaffe zu gut, und die Natur arbeitet daran, Die 
Art nit nur zu erhalten, jondern zu verbeflern.” 

„Run, dann hat die Natur in den legten fünf- 
taujend Sahren in Bezug auf das Menjchengeichlecht 
jo ziemlich umjonft gearbeitet, und das pflegt ihr 
nit zu palfieren. Die Ausgrabungen in Griechen: 
land und Ägypten in den legten Jahrzehnten haben 
ganz merkwürdige Nejultate geliefert. Wir find 
heute in der Kultur wohl wenig weiter, als es Die 
Ägypter zu Zeiten des Mofes waren. Wenn bie 
Natur aber derartigen Wechlel, wie er nad dieler 
Rihtung durhmeg auf der Erde herriht, dauernd 
zugiebt, jo beweilt fie damit, daß Tie anderes 
im Auge bat als eine fortichreitende Verbeflerung 
der Art. Ein zmeiter Beweis für die Fortdauer 
liegt für mid im Snftinkt des Menjchen, der immer 
wieder darauf zurüdgreift, jo oft feindliche Zeit: 
ftrömungen fih diefer PBorftellung entgegenitellen. 
Bliden Sie in die Weltgeihichte zurüd. Aus den 
Trümmern eines zerfallenden Kultus wädjlt ftets eine 
neue Religion hervor, die denjelben Grundjaß des 
Fortlebens in anderer Form bringt. Sollte aber, 
was dem ganzen Menfchengeichleht jo eingeboren 
it, daß es wie ein friiher Duell immer wieder 
bervorbrit, wie oft man e8 au zu verihütten 
verfucht, nicht Fingerzeig der Natur fein? Nein, 


249 





Herr Schmieder, unfer Menfchentum ift unvoll: 
fommen und wird ftets unvolllommen bleiben, 
darum ift es in meinen Augen nur ein Übergangs: 
ftadium, wie wir es in der Natur au fonft noch 
beobachten fünnen; aber es ift nicht abgeichloffen. Die 
Natur, oder, wie ich jage, Gott, jchafft nichts Un: 
vollfommenes.” 

Alma präjentierte die friichgefüllte Theetafle. 

„Sie haben recht, Alma, mi an Shre Gegen: 
wart zu erinnern, wir beide vergaßen Sie über 
unſerem Geſpräch.“ 

„O, ich höre ſo gern zu, liebe gnädige Frau, 
ich freue mich ſo, Sie in unſerem Hauſe zu ſehen.“ 

„Ich wollte mich von allen Verhältniſſen durch 
den Augenſchein überzeugen und habe, nun es ge— 


ſchehen iſt, noch eine Frage an Sie beide. Sie 
haben Ihre ‚Ehe‘é, wie Sie Ihre Vereinigung 
nennen, aus freier Liebe geſchloſſen. Das heißt, 


Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht, 
weil die geſetzliche Ehe für Sie ausgeſchloſſen war. 
Würden Sie das Verſäumte nachholen, Herr 
Schmieder, wenn es mir gelänge, Ihre Frau zu 
einer Scheidung zu bewegen?“ 

„Gnädige Frau, das hieße meiner eigenen Lehre 
ins Gefiht Ichlagen,” antwortete Schmieder. 

„And eben jpraden Sie aus, daß Sie mit 
Alma Yhre goldene Hochzeit zu feiern Hofften.” 

„Sewiß, ih hoffe und wünfjcdhe es, aber die 
Hoffnung Joll nit dur Zwang zur Erfüllung ge: 
bradht werden.” 

„Hm, hm,” madte Frau Niederftetter. Alma 
aber warf fi weinend an Schmieders Bruft. 

„Hans, lieber einziger Sans, nimm den Bor: 
Ihlag der gütigen Dame an, ih bitte Dich von 
Herzen.” 

Die junge Frau hatte Grund zu bdiejer Bitte. 
Seitdem eine Dame, bei der fie früher wöchentlich 
gearbeitet hatte, ihren Gruß auf der Straße durd 
MWegwenden des Hauptes beantwortet, jeitdem ihre 
alte gelähmte Großmutter, die immer noch bei Köhlers 
lebte, fie abgemwiejen hatte, war ihr zum Bewußtjein 
gelommen, daß die Welt eine VBerworfene in ihr jah, 
und viele heimliche Thränen waren fchon über dieje 
Erkenntnis gefloffen. Schmieder durfte dieje aber 
nicht jehen, wenn fie von ihm nicht feige und Blein- 
berzig genannt fein wollte. 

„Sehen Sie zu, was Sie ausridten, gnädige 
Frau,” Iprad) der Mann endlich zögernd, „mir können 
dann weiter jprechen.” Aber es zudte, während er 
Iprab, Ipöttiih um feinen Mund, er glaubte das 
Refultat zu wiflen. SJmmerhin benugte er die Ge- 
legenbheit, um Alma zärtlich zu Tüflen. 

Frau Niederftetter erhob fih. „Es ift Ipät ge- 
worden, und mein Mann fol nicht auf fein Abend: 
effen warten. Wollen Sie mir eine Drofchle holen, 
Herr Schmieder? Es giebt wohl aud in diefem 
Stadtviertel einen Halteplat.” 

„Er iſt jogar ganz in der Nähe, gnädige Frau, 
und Sie Jollen fofort bedient fein.” 

Er verließ das Zimmer, und Frau Niederftetter 
wendete fih zu Alma. „Ach babe Yhnen eben ver: 
Iprodhen, liebes Kind, den Verſuch zu machen, Frau 


Roman-Leltung 1896. 


-— 


Ohne Gott. Roman von ©. Karl. 





250 





Schmieder zu einer Scheidung zu bewegen, weiß aber 
nicht, ob meine Bemühungen Erfolg haben werden. 
Bevor Sie Schmieders redhtmäßige Gattin find, 
fann ih Sie nicht bitten, Shre alten Beziehungen 
zu meinem Haufe wieder aufzunehmen, das bieke 
Shre augenblidliche Stellung vor der Welt janktionieren, 
und das fann ic) nicht, aus Überzeugung nidt. Sie 
wiſſen wohl, ich bin fonft nicht feige, mich leitet 
nicht die Anihauung anderer, jondern die eigene. 
Sind Sie aber einmal in Not,” fuhr fie fort, als 
fie Jah, daß Alma erbleihend das Haupt fenkte, „Io 
wiffen Sie, wo eine alte Freundin zu finden ift. 
Ich werde ſtets bereit fein, mit ganzer Kraft für 
Sie einzutreten.” 

Frau Niederftetter nahm das Mäntelden aus 
Almas Händen, ftrih der jungen Frau, die ihr mit 
halb erflidter Stimme zu danten verjuchte, freundlich 
über die Wange und verließ das Zimmer. Draußen 
fuhr die Drojchle vor, Schmieder half mit der Ge: 
wandtheit eines Gentleman beim Einfteigen, und in 
tiefen Gedanten fuhr die alte Dame ihrer Wohnung zu. 

Der Mann aber fehrte in die Wohnung zurüd 
und jchloß feine Geliebte feit in die Arme, als wollte 
er fih für den Zwang der legten Stunde enti&hädigen. 
„Eine gute Frau, die Profefforin,” fprach er, 
„aber no ganz in alten Vorurteilen befangen. 
Laß Dir die Laune nicht verderben, mein Lieb, laß 
uns das jchöne Leben genießen, jo lange wir nod 
jung find und uns lieben.” 

Er zog fie Eojend auf das Sofa nieder, und 

Alma ermwiderte feine Lieblofungen, aber ihre Ge: 
danken flogen weiter, zu der Frau, der der Plat 
an der Seite des geliebten Mannes gebührte, und 
die man zu einem freiwilligen Verzicht überreden 
wollte. — Aud fie hatte einft in feinen Armen ge 
ruht, und er hatte ihr von der goldenen Hochzeit 
geiprocdhen. 
Da mar e8 Alma, als griffe eine eifige Hand 
in ihren Bufen und preßte das arme Herz darin zu- 
fammen, als jollte es file ftehen. — Sie j&haubderte 
zufammen und löfte fih langiam aus den fie um: 
Ihlingenden Armen ihres Geliebten. 


* * 
* 


An einem der nächſten Tage fuhr Frau Pro—⸗ 
feſſor Niederſtetter eine Station mit der Eiſenbahn 
und ſchlug dann, nach eingezogener Erkundigung, zu 
Fuß den Weg nad einem nahe gelegenen Dorf ein. 
Sie wußte, daß dort bei ihrem Vater, dem Schul: 
lehrer, Frau Schmieder wohnte. 

Cs waren bo ganz jeltiame Gefühle, die die 
rejolute Dame überfamen, als fie fih dem Haufe 
näherte. Sie fam ja, eine rechtmäßige Gattin zum 
Verziht zu Gunften einer unrechtmäßigen aufzu: 
fordern. 

Eine mittelgroße, recht hübiche Frau, in der 
Mitte der Zwanziger, öffnete ihr und gab fidh als bie 
Gejuhte zu erfennen. Sie trug das jchmarze Haar 
glatt geicheitelt und ihre Gefihtszüge drüdten 
ruhiges, gefammeltes Wejen und eine nicht gewöhnliche 
Energie aus. Frau Niederftetter jagte fich Jofort, daß 


IV. 185 


251 Ohne Gott. 
diefe Frau mit einem Manne wie Schmieder nur 
bei gleihen Anihauungen in Frieden leben konnte. 
Gegenfäge mußten harte Kämpfe herbeiführen, denn 
Schmieder würde Widerjprud faum vertragen, und 
diefe Frau ficherlih niemals etwas gegen ihre Über: 
zeugung jagen oder thun. 

Frau Schmieder führte den Gaft in die niedere, 
ländlich eingerichtete Wohnftube und lud zum Sigen 
ein. Frau Niederitetter teilte ihr ohne jeden Rück— 
halt den Grund ihres Kommens mit und fragte fie, 
ob fie eine Verföhnung mit ihrem Manne wünſche 
und jür möglih halte. Ym Berneinungsfalle wolle 
fie ihr zu einer gejeglihen Scheidung raten, um das 
Argernis, das Schmieder und Alma infolge ihrer 
Weigerung der Welt gäben, fortzujchaffen. 

„Rein, Frau Brofellor,“ Tautete die rubige 
Antwort, „ih Tann Shren Wunidh nicht erfüllen, 
e8 ginge gegen mein Gewiflen. Es geht heute ein 
Zug durh die Welt, der Sitte und Gele um: 
Nürzen will, um etwas Neues dafür einzuführen, 
was fi der eine fo, der andere jo dentt. Sch muß 
ja zugeben, daß recht vieles in unjeren Einrid) 
tungen beiler fein fünnte und auch gebeflert werden 
muß. Diejenigen aber, die damit anfangen wollen, 
erit einmal alles über den Haufen zu werfen, um 
tet gründlid neu bauen zu fünnen, richten nur 
Unbeil an und man darf fie daher nicht unterftügen. 

„Wenn einer, während er fein Haus neu auf: 
baut, darin wohnen muß — und wir lönnen aus 
unjerer Welt doch nicht heraus — jo darf er es 
nicht erft ganz zufammenfcütteln, dann hat er 
einen Steinhaufen ftatt einer Wohnung, und ebe 
diefe wieder benugbar wird, find die Bewohner zu 
Grunde gegangen. Die Neuen machen fich theoretiich 
Spiteme zuredt, die fich gelefen recht hübih an- 
hören. Mein Mann hat mir viele Bücher dariiber 
gegeben. Aber in der Praris fehen fie anders aus, 
denn fie find nur für gedachte Menjhen berechnet. 
Wenn fie jagen, daß die Frau nur in der Ehe ihren 
wahren Beruf erfült, jo haben fie recht und jedes 
Mädchen wird gewiß gern heiraten, wenn ber Rechte 
fommt. Aber wir Frauen find nun einmal jo, was 
wir haben, wollen wir aud behalten, jonft mögen 
wir e8 lieber gar nicht.” 

„Da haben Sie gewiß recht, Frau Schmieder,” 
Ipra die Profefjorin, „und ich ftimme Ihnen durd 
aus bei; wenn nun aber das Band doch jchon ge: 
riffen ift, wie bei Ihnen, was hilft es da, gemalt: 
jam balten zu wollen, was fih nicht halten läßt?“ 

Die Frau janıı nad, es wurde ihr augenfchein- 
ih nicht leicht, die Gedanten zu Süßen zu formen, 
hatte fie aber die Worte gefunden, fo Ipracd fie 
ruhig und Klar, wie von ihrer Anjchauung feft durd- 
Drungen. 

„zrau Brofeflor, mein Mann kann feine brave, 
rechtihaffene Frau mehr unglüdlih maden, wenn 
ih ihn nicht freigebe. Er gehört zu den Männern, 
die nicht treu fein können, weil fie immer nur be: 
gehren, was fie nicht haben. Der Befik wird ihnen 
bald langweilig, Ich bin ihm aud) nur langweilig 
geworden und erft nachträglich hat er es fidh zurecht: 
gelegt, daß wir nicht zulammen paflen. Er wird 


Roman von ©. Karl. 


252 


auh der Frau, mit der er jebt lebt, nicht treu 
bleiben, dieje hat aber fein Necht zur Klage, fie ift 
ja nicht feine Frau. Die Treue liegt eben nicht in 
feiner Natur, darum kommt ihm die Xehre von der 
freien Xiebe gerade recht, fie erllärt ja als gut und 
richtig, was nad) unferer alten Moral fündhaft und 
verwerflich if.” 

„Wenn Sie aber meinen, daß Ihr Mann Shrer 
einfach überdrüffig ift, warum wollen Sie ihn denn 
nicht aufgeben?” fragte Frau Niederitetter, „Ahr 
Stolz müßte es Yhnen doch jo gebieten.” 

„Mit dem Stolz ift es ein eigenes Ding, gnä- 
dDige Frau, einer ift auf diejes ftolz und der andere 
auf jenes. Mein Stolz ift, meine Pfliht fo zu thun, 
wie ih fie auffafle. Ih jagte Shnen jchon den 
einen Grund, der mich hindert, ihn freizugeben, es 
ift aber nicht der Hauptgrund.“ 

„Run, und diefer Hauptgrund?” fragte der Gaft. 

Eine glühende Nöte breitete fich Tangjam über 
Gefiht und Hals der jungen Frau aus. „Frau 
Profellor, ich hab’ ihn lieb gehabt — und wenn id) 
ihn jegt au) aus meinem Herzen geriffen babe, ich 
fühle mich doch als feine Frau. Einmal wird die 
Beit fommen, vielleicht wenn er ein alter Mann fein 
wird, wo ihn alle jeine Liebehen im Stich laflen, 
wo er vielleiht frank und elend fih nad einer 
belfenden Hand umfieht. Dann wird bie redhtmäßige 
Ehefrau da jein und dann wird er die Ehe, die nur 
ber Tod jcheidet, auch; wenn es einmal Stürme darin 
giebt, zu ſchätzen wiſſen.“ 

Die alte Dame erhob fi und reichte der jungen 
Frau die Hand. „Wenn das Yhre Gründe find, fo 
wil ih Fein Wort mehr verlieren. Ich glaubte, 
Sie hätten fich beiderfeitig für immer aufgegeben 
und Sie wollten den Treulofen nur Yhre Macht 
fühlen laflen. ch perfönlich würde anders handeln 
wie Sie, aber das ift Anfihtsiade, Ihre Motive 
find bohadıtbare.e Mi Hat nur das Mitleid mit 
der armen Alma, die troß ihres eraltierten Charakters 
IHwad und leitungsbedürftig, aber liebenswürdig 
ift, zu Yhnen geführt. ch freue mid, Sie kennen 
gelernt zu haben, Sie find ein Charalter.”“ 

Die Frauen Ipraden noch über Dinge des 
äußeren Lebens und Frau Schmieder erzählte, daß 
fie jegt, an Stelle ihrer verfiorbenen Mutter, dem 
Vater den Haushalt führe. Nach defien binnen ein 
bis zwei Jahren erfolgender Benfionierung wolle fie 
mit ihm nad der Stadt ziehen und ein Feines Koft- 
baus errichten. 

„Dein Jungdhen ift im Alter von jehs Wochen 
geftorben, mich allein werde ich ſchon durchbringen,“ 
meinte die rejolute Frau, „id werde nie nötig 
haben, meinen Mann um Unterftüßung zu bitten.” 

Sie geleitete ihren Gaft no bis zur Eifenbahn- 
ftation, und Frau Niederftetter trat die Rüdfahrt in 
jehr ernfter Stimmung an. Almas Schidjal war 
jet befiegelt, aber fie mußte die legitime Frau hoch: 
Ihäten. Sicher liebte fie ihren treulojen Mann 
immer no — melden Schat hatte ber Thor von 
ſich gewieſen! 


253 


VL 


Ein berbfillarer Sonntagsmorgen lächelte über 
den Straßen der alten Stadt, von allen Türmen 
läuteten die Gloden zum Gottesdienft und auf allen 
Straßen zogen erbauungsbedürftige Landleute im 
. Sonntagspug der Stadt zu. 

Sn ihrem zierlihen Mädchenftübchen ftand Hilde 
Steiner und Fämpfte einen legten Kampf. Sie 
wollte jo gern zur Kirche geben, es z0g fie mächtig 
dahin, ohne daß fie fih Necdenihaft über das 
Warum abzulegen wußte. „Es muß wohl Neugierde 
fein,” meinte fie fchließlih. Und gehen mußte fie 
ja eigentlih, fie hatte e8 dem jungen Kandidaten 
verfprodyen und ehrliche Leute halten Wort. — Ja, 
gehen mußte fie. 

Aber wenn die alte Amalie fragte, wo fie 
binginge? Dber wenn Papa fie bei der Rüdtehr 
beträfe? Sie jann ein Weilden nah und warf 
dann energilh den Kopf in die Höhe. Warum das 
Zaubern und Zagen. Für Amalie fand fi wohl 
eine Ausrede, und Papa würde fie die Wahrheit 
jagen, ihren Kirhenbefuh als einen Alt der Höflich- 
feit hinftelen. Sie hielt ihn ja jelbit dafür. 

Eie vollendete raid ihren Anzug und jchidte 
fih zum Gehen an. Halt, gebraudte man nicht in 
der Kirche ein Gejangbuh? Sie befaß nod) eines 
aus dem Kadlaß ihrer verftorbenen Mutter, es 
ftand feitdem unberührt in ber Ede ihres Bücher: 
Ihränthens. Da war e8 — aber fie wollte es doc 
lieber in die Tafhhe fchieben — wie, wenn eine 
Freundin fie fragte, warum fie, die NReligionslofe, in 
die Kirche ginge? 

Amalie war in der Kühe und Papa in feiner 
Arbeitsftube, als fie das Haus verließ. Sie atmete 
erleichtert auf und jchlug den Weg zur Altftadt ein. 

Das Glodengeläut war längft verftummt und 
feierliche Orgeltöne j&hallten ihr entgegen, als fie in 
die hochgewölbte Vorhalle eintrat. YZaghaft that fie 
einige Schritte — da Tam die große bagere Frau 
mit der weißen Haube, von der Egon geiprochen 
hatte, auf fie zu — fie jchien fie erwartet zu haben 
— faßte fie leife am Armel und führte fie in biefer 
abfonberliden Form faft dur die ganze Länge ber 
Kirche zu einer Sitreihe, in der ein Plaß leer ge: 
blieben war, odgleih rund herum alle Stände dicht 
befegt waren. Mit den leilen Worten: „Hier, 
BEP wies fie darauf hin und verihwanb 
ofort. 

Im erſten Augenblick wagte Hilde gar nicht 
aufzublicken, ihr war als müßten alle Augen auf 
ſie, die zu ſpät Gekommene, gerichtet ſein, aber bald 
wurde ſie gewahr, daß immer noch neue Andächtige 
eintraten und daß niemand auf ſie achtete, das gab 
ihr wieder Mut. Sie zog ihr Geſangbuch hervor 
und blätterte unſchlüſſig darin hin und her. Da 
traf ſie auf den Namen Paul Gerhard, ſie kannte 
ihn aus der Litteraturſtunde, ſie wußte, er war 
einer der vorzüglichſten Kirchendichter des ſiebzehnten 
Jahrhunderts geweſen. Sie wollte ſich jetzt ſelbſt 
überzeugen und las die tief empfundenen Verſe, 





Ohne Gott. Roman von E. Karl. 





254 


während die Orgel mäßig durch den Raum brauſte 
und ihr Herz in banger Erwartung ſchlug, ſie wußte 
nicht weshalb. 

„Befiehl Du Deine Wege 

Und was Dein Herze kränkt, 

Der allertreuſten Pflege 

Des, der den Himmel lenkt. 

Der Wolken, Luft und Winden 

Giebt Wege, Lauf und Bahn, 

Der wird auch Wege finden, 

Da Dein Fuß gehen kann.“ 

Ja, troſtreich mußte ein ſolcher felſenfeſter 
Glaube ſein, aber wer hatte ihn noch? — 

Während ſie die letzten Zeilen las, ſchwieg der 
Geſang und die Orgel ſchloß mit einem kurzen 
Nachſpiel. 

Wie ein leiſes Rauſchen und Kniſtern ging 
es jetzt durch die Kirche, die Gemeinde erhob 
ſich von ihren Sitzen, um ſtehend das Evan: 
gelium anzuhören. Auch Hilde ſtand auf und zum 
erſten Mal erhob ſie frei das Haupt und ſchaute 
durch den Raum. 

Da ging es ihr wie ein elektriſcher Schlag 
durch den ganzen Körper. Gerade vor ihr erhob 
ſich die Kanzel, ſie hatte es bis jetzt noch nicht be 
merkt, und darauf ſtand Egon. Er hatte das Haupt 
tief auf die gefalteten Hände geneigt, jetzt erhob er 


es und ihre Blicke trafen ſich. Wie ein Leuchten 


ging es über ſein Geſicht und es war ein Jubelton 
in ſeiner Stimme, als er begann: 

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß 
nicht, was er Dir Gutes gethan hat.“ 

Er fprach das Gebet und las Evangelium und 
Text, aber Hilde hörte die Worte kaum, ſie hielt 
die Hände krampfhaft gefaltet und die Augen darauf 
geſenkt, bis ihre Nachbarinnen ſich wieder ſetzten 
und ſie es ihnen mechaniſch nachthat. 

Da erſt wagte ſie wieder den Blick zu dem 
Manne zu erheben, auf deſſen Wunjch fie heute ge- 
kommen war. 

Egon ſprach ſchön, formgewandt und eindring⸗ 
lich, er unterließ jede Salbung und jedes theatralifche 
Pathos. Auch hatte er mit richtigem Takt ver— 
mieden, heute, wo er hauptſächlich für Hilde ſprach, 
das chriſtliche Dogma in den Vordergrund zu ſtellen. 

Der gewählte Text: „Die Himmel erzählen 
die Ehre Gottes und die Feſte verkünden ſeiner 
Hände Werk,“ ließ eine freiere Behandlung zu. Er 
wollte zunächſt als Fundament den Gottesglauben 
in dem Mädchen wecken, ehe er zu dem kam, was 
für ihn der Kernpunkt des Chriſtentums war. 

Hilde lauſchte mit geſpannter Aufmerkſamkeit 
und verwandte keinen Blick von dem Redner. Sie 
hatte die Schöpfungsgeſchichte in der Schule nach 
der Bibel gelernt, ſie damals mit derſelben Gleich— 
gültigkeit wie ihre Vokabeln als Schulpenjum be- 
handelt und ſpäter, als ihr Vater mit ihr Natur— 
wiſſenſchaft getrieben, daran zurückgedacht wie an 
ein Ammenmärchen. Jetzt klang die Sache doch 
anders und berührte ſie im innerſten Herzen, ihr 
war als werde noch einmal ein „Werde“ ge— 
ſprochen, das in der eigenen Bruſt ihr eine neue 


Welt erſchuf. 





255 Ohne Gott. 
Und Egon madte auh an fi eine eigen: 
tümlide Entdedung Als jeine Tante ihn im 
vorigen Winter aufgefordert hatte, eine Brüde zu 
bauen zwilhen Willenihaft und Religion, hatte er 
es entihieden abgelehnt, und jett — war er im 
vollen Bau begriffen: Sn dem Bemühen, diele 
Sfüngerin des Moterialismus der Religion zuzu- 
wenden, mußte er Wiberjprüche zu befeitigen juchen, 
um nicht ihre Oppofition mwachzurufen, und fiebe, 
e3 ging. 

Wie ein neuer Weg that es fi vor feinen 
Augen auf, und er durfte den Weg gehen, ohne 
mit feinem Gewiflen in Konflift zu fommen. Dieje 
Überzeugung gab ihm eine foldhe innere Freudigfeit, 
daß es ihm war, als hätten jeine Worte Flügel, 
die ihn über fich jelbit hinaushöben. 

Und aud Hilde fühlte, daß er nur für fie 
fprad, und es rührte fie. An beiliger Stätte 
fnüpfte fi ein Saden von Herz zu Herzen, ohne 
daß die Beteiligten es merkten. 

Als nad dem Gottesdienit die Gemeinde ins 
Freie ftrömte, hörte Hilde verihiedene Außerungen 
des Lobes über die jchöne Predigt. Sie zögerte 
no in der Kirche, um ihr pochendes Herz zur Ruhe 
fommen zu laflen. Sie wollte als lette das Gottes- 
haus verlaflen und lehnte an einer Säule, dem herr: 
lihen Boftludium laufchend, mit dem der Drganift 
den Ausgang der Gemeinde begleitete. 

Da Ichritten zwei behäbige ältere Herren, augen: 
iheinlih wohlhabende Bürger und vielleicht Kirchen: 
räte, an ihr vorüber. 

„Den müllen wir uns warmbalten,” meinte 
der eine, „wenn unfer alter Boretius nicht mehr ein- 
treten Sollte, wollen wir jehen, daß wir den Schmidt 
befommen, er madt ja noch Dielen Winter jein 
Eramen.” 

„Sa, der Tann reden, da haft Du recht,” ant: 
wortete der andere, und dann waren fie vorüberge: 
gangen. Hildes Herz aber begann vor Freude über 
die Anerkennung, die dem jungen Geiltlichen wurde, 
zu büpfen, als wäre ihr jelbjt etwas Liebes gejchehen. 

Jetzt ſchwieg die Orgel und fie verließ das 
Gotteshaus. Langfam jchritt fie die Stufen hinunter 
und dachte nicht daran, das Geſangbuch ängſtlich in 
der Tale zu verfteden. Wenige Schritte war fie 
gegangen, da Klang ein eiliger Schritt und Egon fland 
im |hwarzen Gehrod neben ihr. S$ett wieder derjelbe 
wie auf ber Dampficiifahrt, während er ihr auf 
der Kanzel wie ein junger Apoftel erjchienen war. 

„sh danke Shnen, daß Sie gelommen find,” 
—— er warm und ergriff ihre lebhaft ausgeſtreckte 
Hand. 

„Und ich danke Ihnen für Ihre herrliche 
Predigt,“ antwortete Hilde in demſelben Ton. „Mir 
iſt, als ſei ich erwacht und ſchaute in eine neue, ſchöne 
Welt hinein. Ich ſehe eine Weſenheit, wo ich bisher 
nur ein Ding ſah.“ 

Ein helles Rot flog über das jugendliche Geſicht 
des Geiſtlichen und er blickte tief in die ſchönen klaren 
Augen des Mädchens, die es ſo ehrlich und treuherzig 
zu ihm aufgeſchlagen hielt. Sein Herz ſchwoll vor 
Seligkeit und was bisher nur als dunkler, un— 


Roman von E. Karl. 


256 


klarer Wunſch in ihm geruht hatte, wurde Vorſatz. 
Dieſes Mädchen mit dem warmen ewmpfänglichen 
Gemüt wollte er zu erringen ſuchen für ſein Leben. 

Er ſprach aus der Tiefe ſeines bewegten Herzens 
heraus noch ein paar Worte, die Hilde kaum verſtand, 
drückte ihre Hand, zog den Hut und war im nächſten 
Augenblick in der Richtung der Predigerwohnung ver⸗ 
ſchwunden. Hilde aber eilte heim, als hätte fie 
Flügel an den Füßen. 

Schien denn die Sonne nicht noch einmal ſo 
ſchön, hallte die ganze Luft um ſie nicht von Jubel— 
ſtimmen wieder? Was war ihr denn nur geſchehen? — 

Sie hatte wieder Glück, niemand ſah ihre Heim: 
kehr und das freute ſie, denn ſie hätte jetzt mit keinem 
Menſchen ſprechen können. Sie ſchloß die Thür ihres 
Stübchens ab, ſchleuderte die Straßenkleider von ſich 
und warf ſich auf ihr kleines Sofa, um in Thränen 
auszubrechen, während ihr Herz doch vor Glück zu 
ſpringen drohte. 

Das Weib hat im höchſten Ausdruck ſeines Ge— 
fühls nur Thränen, ſie fließen dem Glück wie dem Leid, 
und wehe der Frau, deren Augen es verlernten, ſie 
zu vergießen, ſie wäre ſicher der Unglücklichſten eine. 

Hilde Steiner war die Tochter eines Mannes, 
der ganz aus eigener Kraft ſich zu dem gemacht hatte, 
was er war. Als Sohn eines Seminardirektors war 
er unter ſtrenger Zucht in orthodox⸗chriſtlichem Sinn 
aufgewachſen und vom Vater zum Theologen beſtimmt 
worden. Schon mit ſechzehn Jahren hatte er die Uni—⸗ 
verſität Berlin bezogen und war dort ſofort in Kreiſe 
gekommen, die ihn der Theologie, zu deren Studium 
er ſich überhaupt ganz ohne Neigung entſchloſſen 
hatte, völlig entfremdeten. Er ſchrieb ſeinem Vater 
ſchon im erſten Semeſter, daß er ſich den Natur— 
wiſſenſchaften zugewendet hätte und dabei zu bleiben 
gedächte. Eine ſchwere Verſtimmung war die Folge, 
die zum völligen Bruch wurde, als der Student ſich 
in dem darauffolgenden Frühling — dem des Jahres 
1848 — an den politiſchen Unruhen beteiligte und 
endlich ſein Heil in der Flucht ſuchen mußte. 

Der Vater eines „Hochverräters“ zu ſein, ging 
dem hochkonſervativen Beamten zu ſehr gegen die 
Natur. Er zog ſeine Hand ganz von dem „Unge— 
ratenen“, wie er ihn bezeichnete, ab und verbot ihm 
ſogar die Führung des väterlichen Namens, ein 
Verbot, dem Steiner ſich indeſſen nicht fügte. 

Nur mit einem ganz kleinen Notgroſchen, den 
die Mutter ihm heimlich zugeſteckt hatte, ausgerüſtet, 
ging er in die Fremde, um ſich als Sprachlehrer 
etwas zu erwerben und die Zeit zur Rückkehr abzu— 
warten. Einige Jahre ſtieß er ſich ſo herum, bis ihm 
dieſe gewährt wurde. Sich durch Stunden und ſchrift— 
ſtelleriſche Arbeiten ernährend, vollendete er ſein 
Studium auf einer ſüddeutſchen Univerſität und ſpäter 
in Berlin, doch trug man ihm ſeine politiſche Ge⸗ 
ſinnung nach und ſtellte ihn nicht an. Seine be: 
deutende Begabung konnte aber nicht verborgen 
bleiben, ein hervorragender Gelehrter rief ihn zu ſich, 
um ſeiner Hilfe bei weitgehenden Forſchungen teil⸗ 
haftig zu werden, und endlich fand ſich auch ein Lehr⸗ 
ſtuhl an einer kleinen Univerſität für ihn, den er 
inne hatte, bis ein Ruf als ordentlicher Profeſſor 





257 Ohne Gott. 
an jeinen jetigen Wohnort ihn dauernd in ange: 
nehme Lebensverhältnifje verjegte. 

So hatte er erit als Vierziger einen Ehebund 
Ihließen fönnen, den aber nad) einigen Jahren volliter 
Befriedigung der Tod wieder trennte. Seine einzige 
Tochter Hildegard war feitdem fein alleiniges Glüd, 
und jein heißefter Wunjch, fie möchte ihm einft einen 
Scmiegerjohn bringen, der, an Stelle eines leib- 
lihen Sohnes, feine geiftige Erbichaft übernähme. 

Vielleicht hatte es die mit Dejpotismus verbrämte 
firhliche Richtung des Elternhaufes verſchuldet, daß 
der Sohn jo radifal mit den Anfchauungen besjelben 
brad. Er befannte fih ohne Einihräntung zum 
Materialismus, erklärte jede Religion für unfinnig, 
ja für Ihädlih, und ging fogar foweit, alle Geift- 
liden ausnahmslos für Heuchler zu erllären. Ein 
gebildeter Menih könne unter feinen Umftänden 
religiös fein, meinte er, entweder er betrüge fich 
jelbft, oder er ftreue anderen Sand in bie Augen. 
Die legte kirchliche Handlung, an ber er teilgenommen 
batte, war feine Trauung gewejen. Er hatte fidh ihr 
nicht entziehen fünnen, weil die Civilehe noch nicht 
eingeführt war. Daß er politiih auf der äußerften 
Linten ftand, war jelbftveritändlih, er bezeichnete 
ih fogar als Socialdemokraten, wenngleich er vielen 
ber Jocialdemofratiihen LXehren nicht beiftimmte. 

Als Menid war PBrofefior Steiner hohadtbar 
und troß gelegentliher Schroffheiten und Formlofig: 
feiten auch jehr beliebt. Als Gelehrter und Foricher 
aber hatte er einen ganz außerordentlich hohen Ruf 
und die Wifjenichaft verdankte ihm mehrere hochwichtige 
Entdedungen. 

Mit Profeffor Niederftetter verband ihn ein 
herzliches Sreundfchaftsband, das bis in die Stubenten: 
zeit zurüdreichte.e So hatte auch feine früh mutter: 
[08 gewordene Tochter an Frau Niederftetter eine 
mütterlie Freundin, deren eigene zwei Töchter be- 
reits jeit einer Reihe von Jahren verheiratet waren. 
Das liebenswürdige Mädchen war ihr in hohem 
Grade Iympathilh und fie hätte perjönlich eine Ver: 
bindung mit ihrem herzlich geliebten Neffen gern ge: 
jehen, wenn nicht die Richtung des Steinerfchen Hauſes 
eine fjoldhe Möglichkeit vorweg ausgeichloflen hätte. 


VD. 


Das jhöne Tlare Wetter des Frühherbftes war 
durch Regen und Sturm abgelöft. Die lekten 
Blätter wurden von den Bäumen gezauft und tanzten 
einen trübjeligen Totentanz in floßweilen Wirbeln, 
aber bald fam der ftürzende Negen und brüdte fie 
der alten Mutter Erde ans Herz. Dort follten fie 
vergehen, um in neuer Form von ber ewig fidh 
Berjüngenden wieder geboren zu werden. Die Natur 
aber läßt fih vom |pürenden Menichenauge nicht in 
ihre geheime Werkftatt fchauen und jo bedt fie das 
Schneetuch über alles Geftorbene, wie über bie neuen 
Lebengleime, die fich darunter regen. Sept freilich 
wob fie no an ben erften Fäden dazu, nur ver: 
einzelte Floden mijchten fih unter den Regen, um 
zu vergehen, jobald fie die Erbe berührten. 


Roman von €. Rarl. 





258 


Bor vier Wochen etwa hatte es in der Stabt 
eine Revolution gegeben, eine unblutige freilih und 
e8 war nur toter Hausrat dabei ab und zu in bie 
Brüche gegangen. Man hatte dieje oft wiederkehrende 
Revolution den Dftober:Ziehtermin genannt. 

Auch der Arbeiter Köhler hatte mit jeiner Familie 
eine andere Wohnung bezogen, ftatt der Dad: batte 
er jebt die Kellerwohnung inne. Unter dem Dad 
waren die Bewohner im Winter faft erfroren, im 
Sommer vor Hite geihmolzen, bier war e8 gleich- 
mäßiger, wenigftens gleichmäßig feucht zu allen Sahres- 
zeiten. 

Köhler betranf fi zum Kummer feiner Frau 
iede Woche mehrmals, hatte es aber auf Mahnung 
der Frau Profellor bis jest vor feinem Brotherrn 
zu verbergen gewußt. So glaubte er wenigftens. 

Seitdem ihm Hans Schmieder in einer der regel: 
mäßigen Borlefungen, die er bielt, bemwielen hatte, 
daß jeine Eriftenz; mit dem Tode aufhöre, glaubte 
er aus diefem für ihn recht jammervollen Leben jo: 
viel wie möglich herausichlagen zu müflen und that 
e3 auf die einzige Art, die er fannte. Wenn er bie 
erſten Gläſer Schnaps binuntergegofjen hatte, glaubte 
er plöglich nicht mehr er felbft zu fein, ein Gefühl 
der Gehobenheit, der inneren Glüdfeligfeit überfam 
ihn, ihm war, als fei die rauchige Kneipe ein Königs: 
palaft und er der Herricher darin. Und je mehr er 
trant, deito jeliger wurde ihm zu Mut, er mußte 
Ichreien und brüllen vor LXebensluft und er that es 
aus voller Kehle. Zweimal jchon, als er vor Freude 
die Släjer zu zerichlagen begann, Hatte man ben 
Truntenen binausgeworfen und der Nahtwächter ihn 
mit energiihen Stößen aus ber Gofle, wo er eines 
feften Schlafes genoß, aufgeftört. Dann war eine 
gräßlide Ernüchterung über ihn gefommen und er, 
wie ein Kind mweinend, nah Haufe getaumelt. 

Die Tage, welche folhen Nächten folgten, waren 
freilich furchtbar. Mit fchmerzendem Kopf und zer: 
Ihlagenen Gliedern hatte er früh zur Arbeit müflen, 
und läjfig gethan, was fich nicht umgehen ließ, dabei 
auf fein jammervolles Schidjal, das ihn zum Arbeiter 
gemacht Hatte, fluchend und fih auf den nädjften 
Trintabend freuend. 

Sn jeinem Haufe wurde ihm der Aufenthalt 
audh mehr und mehr verleidet. Minna, mit der er 
bisher ganz glüdlich gelebt hatte, gab ihm Fein gutes 
Wort mehr, fie weinte, murrte oder jchalt, jo oft fie 
ihn jah. Sie verlangte am Zahltag feinen Wochen: 
lohn und war außer fid, wenn er ihn nicht heraus: 
gab. Da hatte er fi zu helfen gewußt, indem er 
die neu angeihafften Stüde in Haushalt und Kleider: 
Ihranf, die eine Errungenjchaft des guten Sommer: 
verdienftes waren, ins Leihbhaus trug. Dann legte 
er der Frau ben Pfandichein einfach auf den Tiich 
und fie mußte wohl oder übel die Sachen einlöfen. 
Sp kam er zu Geld. Natürlich machte fie ihm hinter: 
ber eine furdtbare Ecene, die er nur beenden konnte, 
wenn er den eriten beften Gegenjtand ergriff und auf 
fie losfhlug. Dann flüchtete fie fchreiend aus dem 
Zimmer und er behauptete das Feld. 

Sie fpeifte ihn jegt mit jchlechtefter Koft ab, gab 
ihm am Sonntage, wo fie in guter Zeit ftets Fleiſch 





259 


auf den Tiih gebracht hatte, faum einen Hering und 
Kartoffeln in der Schale — es war ein Elend. 
Wenn er nur mehr Gelb gehabt hätte, wäre er gar 
nicht mehr nad Haufe gegangen. Daß fie abends 
auf ihn wartete, fam nie mehr vor, er ober jeine 
ihn geleitenden Kumpane pocdten an den Laden 
des niederen Fenſters, fie Tchloß die Thür auf, 
empfing ihn mit Scheltworten und jchloß Hinter ihm 
wieder zu, ohne fih darum zu kümmern, ob und wie 
er in fein Bett fam. Sie hatte jchon längft beide 
Kinder in ihre große Beltitatt genommen und ihm 
Mariehens jchmales Bett angewiefen, fie wollte 
feinen finnlos Beraufchten neben fich haben. 

Einmal war er die Treppe hinuntergetaumelt und 
unten auf den Ziegeln liegen geblieben, fie hatte ihn 
liegen lafen, bis die Kälte, die aus dem Boden 
drang, ihn genügend ernüchtert hatte, um, bejubelt 
wie er war, ins Bett riechen zu lünnen. Köhler 
hätte fih jagen müflen, daß nur der Efel und 
Abiheu feine faubere, ordentlihe Frau jo handeln 
ließ, er fah aber darin nur „Nieberträcdhtigfeit”, wie 
er e8 nannte und fuchte fie auf jede Weife zu ärgern. 

Und noch einen anderen Sammer wollte er im 
Alkohol erläufen. Mariechen, jein Abgott, war wieder 
franl. Die Herbftftürme und eine Erfältung beim 
Umzuge hatten das Kind niebergeworfen. Die gute 
Frau Niederfteiter hatte zwar fofort den Arzt ge: 
endet und es ging ja au jchon etwas beiler; aber 
der Gedanke, daß fein Liebling dem Tode verfallen 
jet, den Tode, von dem es fein Erwahen mehr gab, 
war ihm doch wieder vor bie Seele gerüdt. 

Er arbeitete in ber Fabrik in einer Abteilung, 
wo er täglich mehrmals den jungen Wahrholm zu 
Gefiht befam und der Anblid diefer blühenden 
Jugend gab ihm fiel einen Stih ins Herz. Er 
war zufällig dabei gewejen, al$ man vor zwei 
Sabren den „Todesfandidaten”, wie man den 
Süngling damals nannte, in Kiffen verpadt in den 
Wagen getragen hatte, um ihn nach Stalien oder 
jonft irgendwohin zu bringen. Set war er fern: 
gejund, konnte fteinalt werden und hatte durch feinen 
Vater auch Geld genug, um das jhöne lange Leben 
genießen zu können. 

Und er mußte trinfen, um wenigftens für 
Stunden fih glüdlih zu fühlen, und fein berziges 
Mariehen mußte fterben, weil er fein Geld hatte, 
um es dahin zu fchiden, wo es, wie der junge Paul, 
gejund werden mußte. Der Gedanke, fein liebftes 
Kind hingeben zu müflen, war ihm immer furdtbar 
geweien, aber e8 lag doch immerhin nod ein Troft 
darin, daB es dann im Himmel fein und dort auf 
ihn warten werde, bis er jeine befchwerlihe Erden: 
fahrt vollendet habe. Aber denken zu müflen, daß 
er den entjeelten geliebten Körper nur in die Erde 
legen Fönne zur Speije für die Würmer, und fi 
dann mit bem Gedanken tröften müflen, der All 
mutter Natur wiedergegeben zu haben, was ihr ge 
bübhre, damit fie anderes baraus jhaffe — das traf 
ihn ins innerfte Herz, das konnte er nicht überwinden 
und er griff zum Glafe, um wenigitens für Augen- 
blide zu vergeflen, was ihm bevorftand. Er Tonnte 
auch das bleiche Leidensgeficht der Kleinen nicht mehr 


Ohne Gott. Roman von €. Karl. 


260 


anjehen und er machte fih auch gegen fie abftchtlich 
raub und hart, um feinen inneren Jammer zu ver: 
bergen. 

Er jaß eines Tages nad Arbeitsihluß allein 
in der verräucherten Schankftube, feine Kameraden 
waren noch nicht erfchienen, fie jaßen daheim beim 
Abendeffen. Er aber hatte nur eine Portion Kar: 
toffeln mit Salz hinuntergeihlungen und war aus 
dem Zimmer gegangen. WMinna batte wieder ge 
zanft, weil er von dem geftern erhaltenen Wochen: 
lohn ihre nur eine Kleinigkeit zur Beftreitung der 
Wirtfehaft abgegeben; fie hatte ihm vorgehalten, daß 
fie nit einmal das franfe Kind pflegen, nicht ein- 
mal die Medizin bezahlen könne, fie hatte ihn einen 
Rabenvater genannt und gemeint, er tolle lieber gar 
nicht nach Haufe fommen, er fei die Kartoffeln nicht 
wert, die er verzehre. Zu mehr als trodenen Kar⸗ 
toffeln reiche es ja überhaupt nicht mehr. Der Fabril: 
berr habe die Löhnung am Freitag Abend eingeführt, 
damit bie Hausfrauen auf dem Sonnabendmarlt 
ihre Bebürfnifie einfaufen fönnten, ehe die Männer 
Zeit gehabt hätten, ihren VBerdienit am Sonntag zu 
vertrinten. — Sie fünne nichts mehr einkaufen, 
weil fie einen Säufer zum Mann babe, der den 
Ihönen Berdienft fchon dur die Gurgel jage, ebe 
er ihm gehöre. — Da hatte er die Thür in die 
Hand genommen und war hinausgegangen. 

Nun faß er allein in der Kneipe und mwälste 
die jammervollfien Gebanken in feinem wülten Hirn. 
Einen Rabenvater hatte Minna ihn genannt und er 
verdiente ja die Bezeichnung — aber wer wußte 
denn, wie ihm zu Mute war. Ob fein Mariedhen ihn 
auch für einen Nabenvater hielt? Es fah ihn oft 
jo traurig an — fo vorwurfsvoll. — 

Der Mann padte das Haar über feiner Stirn 
und riß in Verzweiflung daran, bis er einen Büjchel 
in der Hand behielt. Sa, ja, er war ein jchlechter 


. Kerl, ein ganz mijerabler Samilienvater — er hätte 


fich jelbft anipeien mögen, jo verädhtlic fam er fich 
vor. Ein Rabenvater — ein Nabenvater — und 
Mariehen würbe fterben und diefe Meinung von ihm 
mit ins Grab nehmen. — Wenn er doch etwas thun 
fönnte, etwa® ganz Ungeheures. Wenn er das Kind 
retten fönnte — er ganz allein. 

Er hatte jchon mehrere Släjfer Schnaps hin: 
untergeftürzt und fein nie mehr ganz Mlarer Kopf 
begann zu glühen. — Wenn er zu dem Fabrikheren 
binginge und zu ihm Iprähe: „Herr, Jhr Sohn 
war todfranf und ift ganz gejund geworden, meine 
Tochter jo auch gefund werden. Geben Sie mir 
foviel Geld, als gebraucht wird, um dahin zu kommen, 
wo die gute Luft ift, die die Kranken geſund macht, 
und ich will Ihnen dann zehn Jahre ganz umjonft 
dienen.” 

%a, ja, jo mußte e8 gehen. — Er fing an zu 
berechnen wieviel bares Geld diejer Vorjehlag re: 
präfentierte. Er berechnete Jeinen Monatsverdienft, 
multiplizierte ihn mit zwölf und dann no einmal 
mit zehn. Es war eine jaure Arbeit, die er faum 
bewältigte. Er hatte aber ein Stüdchen Kreide in 
der Taihe und fchrieb die Zahlen auf den Tiihd — Jo 
Tam er endlich zu einem Rejultat, das ihm richtig Ichien. 





261 Ohne Gott. 
Herrgott, das war ja eine ungeheure Summe, 
er hätte nie geglaubt, daß er fo viel wert fei, faft 
befam er Ehrfurcht vor fich jelbft, denn er hatte über 
viertaufend Markt ausgerehnet. Das viele Gelb 
fonnte ja lange, lange nicht verbraucht werben, die 
Frau Profefjor würde gewiß alles fehr praftiich ein- 
richten, denn daß fie die Sade in bie Hand nehmen 
mußte, verftand fich von Jelbft. 

Der Mann phantafierte immer weiter. Trinfen 
fonnte er dann freilich nicht mehr, aber das war 
dann au nicht nötig. Einen alten Rod würbe ihm 
wohl fein Herr oder die Frau Profeflor gelegentlich 
Ihenfen, den Haushalt mußte Minna allein unter: 
balten, fie hatte es ja jchon feit Wochen, feitdem er 
alles vertrant, gethan. Sie würde gewiß au 
freundlich zu ihm fein, fie hatten fih doch früher 
lieb gehabt, und fein Mariechen, wenn es erft gejund 
und groß wäre, würde ihn gewiß nicht Not leiden 
lafien. Mariehen würde dann jelbft verdienen und 
faufte ihm gewiß ab und zu eine Flache Bier, oder 
ein Päckchen Tabak. — 

Ja, ja, ſo mußte es gehen, Herrgott, warum er 
nur nicht früher auf den Gedanken gekommen war. 
Er wollte ihn ſofort ausführen, Herr Wahrholm 
konnte doch nicht nein ſagen, wo es ſich um ein 
Menſchenleben handelte. Er ſtand auf — ſeine 
Beine erſchienen ihm wie mit Blei gefüllt, er taumelte 
— ſo konnte er doch nicht zu ſeinem Brotherrn gehen, 
er würde ihn für betrunken halten. 

Köhler ging mit ſchwankendem Schritt einige— 
mal im Zimmer hin und her, die Petroleumlampe 
mit dem ſchwarz beräucherten Blechſchirm ſchien an 
der Decke wie ein Perpendikel zu pendeln, die be— 
ſchmutzten Wände ſchienen zu wanken — er hatte doch 
wohl etwas im Kopf — ſo konnte er nicht zum 
Herrn gehen. Aber trinken wollte er lieber nicht 
mehr, es mußte nun damit genug ſein für alle Zeit. 
— Er wollte nach Hauſe gehen und ſührte dieſen 
Vorſatz, trotz des erſtaunten Zurufs des Gaſtwirts, 
auch aus. 

Draußen ſtand er ein Weilchen an die Mauer 
gelehnt, denn die Straße ſchwankte wie bei einem 
Erdbeben. Neben der Kneipe befand ſich ein kleiner 
Materialladen. Im Schaufenſter, das noch nicht ge⸗ 
ſchloſſen war, ſtanden und lagen allerlei Leckereien, 
wie ſie von der Straßenjugend bevorzugt wurden, 
Kandis und Gerſtenzucker, Johannisbrot und der— 
gleichen ſchöne Dinge. Mariechen aß Gerſtenzucker ſo 
gern, ob er wohl noch Geld hatte? Richtig, ein 
Nickel befand ſich noch in ſeinem Beſitz, er trat ein, 
legte ihn auf den Tiſch und erhielt dafür zwei große 
Stangen, in grobes Papier gewickelt. 

Nun ging er heim. Heute durfte er nicht 
klopfen, die Hausſsthür ſtand offen, es war noch nicht 
neun Uhr. 

Minna blickte erſtaunt von ihrer Näharbeit auf, 
der kleine Junge war auch noch nicht zu Bett ge: 
gangen, er ſpielte mit Soldaten, die er ſich aus 
einem alten Stück Deckelpapier geſchnitten hatte. Es 
gehörte einige Phantaſie dazu, die Gebilde für Soldaten 
anzuſehen, aber ihm genügten ſie. 

Der Mann zwang ſeine ſchwankenden Beine zu 


Roman von E. Karl. 


262 


feſtem Schritt, ging auf das Bett zu und legte die 
Tüte auf die Decke. „Da haſt was.“ Das Kind 
blickte mit ſtrahlenden Augen bald den Vater, bald 
die Näſcherei an und wußte nicht, was es ſagen 
ſollte. Der Mann wartete auch keine Antwort ab, 
ſondern ſtrich der Kleinen über das ſchlichte, blonde 
Haar und fügte hinzu: „Sei man ruhig, Du wirſt 
ſchon geſund werden.“ 

Dann drehte er ſich um, ſchritt zu ſeinem Bett 
und begann ſich ordnungsmäßig zu entkleiden. 

Minna hatte die Arbeit ſinken laſſen und ſtarrte 
ihn ganz faſſungslos an. War ein Wunder ge—⸗ 
ſchehen? Nach kaum einer Stunde kehrte der Mann 
zurück? Wollte er wieder auf den guten Weg ein— 
lenken? Dann wollte ſie ihm entgegenkommen. Sie 
ſtand auf, trat zu ihm und fragte: „Willſt Du noch 
Suppe eſſen, Gottlieb, es iſt noch welche da?“ 

Er verneinte, aber in freundlichem Ton, und 
ce ih zu Belt, um Sofort in tiefen Schlaf zu 
allen. 

Piinna aber jaß noch lange auf, fie flidte an 
feinem Sonntagsrod, der ihm neulih bei einer 
Rauferei in der Kneipe zerrifien worden war. Sie 
batte die Arbeit mit Murren begonnen und vollendete 
fie unter Hoffnungspollen Gedanten. E& war ja 
Unfinn von ihrem Mann, Gerftenzuder zu faufen, 
wo das Nötigfte im Haufe fehlte, aber vielleicht war 
e8 der erſte Schritt zur Umtehr. Gott wolle es 
geben. Sie faltete die Hände und Ichidte ein heißes 
Gebet gen Himmel. 

Mariehen batte den Tleinen Bruder herange⸗ 
winkt, ihm die Hälfte ihres Schates gegeben und 
den Reſt unter dem Kopfliffen verborgen. Sie hatte 
feinen Appetit — aber morgen würde ihr gewiß 
befier fein, morgen, morgen — 

Der nähfte Tag bradıte Hares Wetter und den 
eriten Froft. 

Köhler erwadhte wie immer mit dumpfem Kopf 
und dem elenden Gefühl des Gemwohnheitsjäufers. 
Minna jekte einen Topf mit jogenanntem Kaffee vor 
ihn bin, legte auch eine Scheibe Brot daneben, er 
fonnte aber faum einen Biffen genießen, ihm war 
übel. Wenn er nur einen Schnaps gehabt hätte, 
wäre ihm bejler geworden. Dodh der Genuß war 
ja jegt für ihn vorbei. So feft hatte er fich geftern 
in den abjonderliden Gedanten, fich jelbft gemwifler- 
maßen zu verlaufen, hineingevadht, daß er ihm aud 
heute in jeinem halbwegs nüchternen Zuftande nod 
ausführbar erihien, ja ihm war, als hätte er mit 
dem bloßen Entihluß jchon das Schwerite gethan. 
Der Mann hatte natürlich Teine Ahnung, um was 
es fich eigentlich handelte. Er dachte fi, es gäbe 
irgendwo auf der Erde einen Ort, an dem die Stranlen 
gefund würden, er batte es ja an Paul Wahrholm 
erlebt und biefer Ort wäre für alle erreichbar, bie 
genug Geld bejäßen. Unmünbdigen Kindern aber 
gäbe man einen Begleiter mit, der alles Nötige für 
fie beforgte. Diejen Begleiter fand man durd die 
Zeitung. Herr Wahrholm hatte es auch jo gemacht, 
er, Köhler, hatte damals in der Fabrik gearbeitet und 
man hatte in den Arbeiterkreien davon geiprochen. 
Es lag aljo nur am Gelde und das wollte er jchaffen. 


— — — —— — 


263 Ohne Gott. 





Herr Wahrholm machte ja eigentlih ein gutes Ge- 
Ihäft dabei; wenn ihn zehn Jahre Arbeit noch nicht 
genug büntten, wollte er gerne noch zwei zugeben, 
das Sollte fein Hindernis fein. 

Als e8 etwa acht Uhr war, legte der Mann, 
der vorher teilnahmlos in der Ede gejellen und 
feinen Bhantafien nachgehangen hatte, Jeinen befjeren 
Rod an, es war ber, an dem Minna bis jpät in 
die Nacht hinein ausgebeflert hatte, und Ichidte fich 
an, zu feinem Brotherrn zu gehen. Vorher trat er 
an Mariechens Bett und ftrih dem Finde, das matt 
und teilnahmlos in den Kiffen lag, lieblojend mit 
ber Hand über das Gefiht. Das Mädchen griff 
nad) feiner Hand und hielt fie einen Augenblid feit, 
ed freute fih, daß der Vater wieder gut war — aber 
— am Morgen, wenn das Fieber nacdhgelafjen hatte, 
fühlte es fih jo müde — ad, jo müde. — Die Finger 
löften fi) wieder und die Liber fielen über die ein- 
gejunfenen Augen. 

„Schlaf man, Mariehen, nu wirit Du bald ge- 
fund werden,“ Iprah der Mann und verließ das 
Zimmer. 

hm war aber jammervoll elend zu Mut und 
bie Übelfeit wollte nicht nachlaffen, er fonnte eigentlich 
in Ddiefer Verfaffung nicht zum Herrn geben, er bielt 
fih ja Inapp auf den Füßen. Ein Schnäpschen 
war doch nötig. Er ging nad feiner Stammtneipe 
und betrat fie dur die Thür des Materialladens, 
diefe wurde bis zum Beginn des Gottespienftes ftets 
offen gehalten. Er trat in das Schantzimmer und 
forderte einen Schnaps. D, wie das gut that, es 
ging ihm wie Feuer durch die Adern. Noch einen — 
jo nun hatte er jeine Kraft wieder, aber — brauchte 
er nicht heute zu diefem jchweren Gange befonders 
viel davon? Sa gewiß, er mußte fih Mut trinken. 
Der dritte Schnaps verjehwand in feiner Kehle. Nun 
aber war e8 genug. — 

Er rief dem Wirt zu, jeine Zeche anzufchreiben 
— er batte Shon mehr auf der Kreide — und eilte 
ind Freie. 

Es war doch ein jchwerer, ſchwerer Gang und 
ihm war immer noch ſo merkwürdig umnebelt zu 
Mut. Der in den leeren Magen gegoſſene Spiritus 
war ihm zu Kopf geſtiegen, ohne ihm das ſonſt 
empfundene Gefühl der Friſche zu geben. Aber 
wenigſtens ſtraff und gerade gehen konnte er. 

So fragte er denn das öffnende Stubenmädchen 
nach dem Herrn, den er in dringender Angelegenheit 
zu ſprechen wünſche und wurde nach eingeholter Er—⸗ 
laubnis in die Privatwohnung des Fabrikbeſitzers 
geführt, er hatte fie noch nie betreten. 

Herr Wahrholm faß mit jeinem Sohn nod an 
dem gut bejegten Frübftüdstiich und las die Zeitungen. 
Die fleißige Hausfrau hatte fich bereits entfernt, der 
Hausherr aber liebte ed, das gemütliche Morgen: 
ftündden an den Sonntagen jo lange wie möglich 
auszudehnen, weil er fich wochentags nur das Inappite 
Mat davon geftattete. 

Der Arbeiter warf einen Blid dur) das trauliche 
Gemad und über den Til), von dem ihm die filberne 
Theemajchine entgegenblitte. Ya, das jah anders 
aus als bei ihm daheim. Aus der Ichönen, gemalten 


Roman von €. Karl. 


überflog. 


264 


— ln un — — mn — — 


Taſſe da mundete das Morgengetränk wohl beſſer 

als aus dem geſprungenen Topf ohne Henkel, den 
Minna ihm heute vorgeſetzt hatte. Daß dieſer Topf 
unter ſeiner trunkenen Fauſt dieſe fragwürdige Form 
angenommen hatte, vergaß er bei ſeiner Betrachtung. 

Ja, ja, ſeine Kameraden hatten wohl recht. Alle 
die Hunderte von Arbeitern mäſteten mit ihrem 
Schweiß nur den einen. 
denn Schinken und Eier zu eſſen, wenn ſeine Arbeiter 
ſich von Cichorienbrühe und Kartoffeln nähren mußten. 
Er arbeitete doch nicht. 

Auf bequemem Stuhl vor dem Schreibtiſch ſitzen 
und ſchreiben oder durch die Fabrik gehen und über 
alles raiſonnieren, das war keine Arbeit. Die Reichen, 
die ſich die Gebildeten nannten, hatten überhaupt 
ſonderbare Begriffe von Arbeit, die neue Zeit erſt, 
von der Schmieder ſprach, ſollte es ſie lehren, was 
Arbeit ſei. Köhler verſtand darunter, nach Art un— 
gebildeter Leute, nur körperliche Arbeit, alles übrige 
hielt er für Kinderſpiel. 

Der Mann war an der Thür ſtehen geblieben. 
Herr Wahrholm hatte ſeinen Eintritt nicht ſogleich 
bemerkt und ihm dadurch Zeit gelaſſen, ſeine Be—⸗ 
trachtungen anzuſtellen, jetzt wurde der Fabrikbeſitzer 
durch ſeinen Sohn erinnert und blickte auf. 

„Sie ſind es, Köhler! Was giebt es denn?“ 

Der Arbeiter trat näher, drehte die Mütze in der 
Hand, fand aber keine Worte. 

„Nun? Iſt etwas geſchehen oder haben Sie eine 
Bitte an mich?“ 

„Ich wollte man —“ ſtotterte Köhler, „ic 
dachte bloß — weil der junge Herr — und meine 
Tochter iſt doch auch ſo krank —“ der Atem verging 
ihm, er ſchnappte nach Luft. 

Der Fabrikbeſitzer ſah ihn verſtändnislos an. 
„Was iſt es mit meinem Sohn und Ihrer Tochter?“ 
fragte er erſtaunt, während ſein Blick zu Paul hin⸗ 


Der Arbeiter wiſchte ſich mit der Hand den 
Schweiß von der Stirn und nahm einen neuen An— 
lauf. „Der junge Herr war doch ſo krank und — 
und meine Mariechen is auch ſo krank — und da 
wollt' ich gern — daß ſie in die gute Luft könnte — 
und ich will auch gern arbeiten — ich will zehn Jahr 
arbeiten — erbarmen Sie ſich bloß, Herr — meine 
Mariechen muß ſonſt ſterben.“ 

Herr Wahrholm begriff immer noch nicht, aber 
er ſah, daß der Mann ſich in der unglaublichſten 
Aufregung befand. Seine Kniee ſchlugen zuſammen 
und die lange Geſtalt ſchwankte wie ein Rohr. 

„Nehmen Sie ſich einen Stuhl, Köhler,“ ſprach 
er gütig, „und dann verſuchen Sie, mir Ihr Anliegen 
zuſammenhängend vorzutragen, ich verſtehe Sie nicht.“ 

Köhler ergriff wirklich einen Stuhl. Es ſchickte 
ſich nicht, in Gegenwart des Herrn zu ſitzen, das wußte 
er wohl, aber die Füße trugen ihn nicht länger und 
in ſeinem Kopfe tobte es wie ein Waſſerfall. Die 
im Zimmer Anweſenden wußten nicht, was ſie aus 
ihm machen ſollten und warfen ſich fragende Blicke zu. 

Nun begann der Mann zu reden. „Meine 
Mariechen hat die Auszehrung, und der Doktor ſagt, 
ſie muß ſterben, aber der junge Herr is doch auch ſo 


Wozu brauchte der Mann 


265 Dhne Gott. 
frant geweien und wieder gejund geworben — ba 
wollt’ ih bloß ben Herrn bitten — mir das Geld 
zu geben. — Wenn fie in die gute Luft fommt — 
wird fie auch gefund werden, wie der junge Herr — 
und ih will alles abarbeiten.” 

Seht begann Herr Wahrholm zu veritehen, ohne 
bob den ganzen Sinn fallen zu fünnen. Der Ge: 
bante, daß ein Arbeiter fein Kind nad) Sttalien jenden 
wolle, war zu abjurbd. 


„Sie wollen alfo Ahre Tochter dahin jchiden, 
wo mein Sohn nad jeiner jehweren Krankheit ge: 
weſen iſt?“ 

Der Mann nickte. 

„Ja, aber lieber Mann, haben Sie denn eine 
Ahnung, was das koſtet?“ 

„Wenn ich zehn Jahr für den Herrn arbeite 
macht es beinah' fünftauſend Mark — und ich will 
einen Schein unterſchreiben — und die Frau Profeſſor 
wird ſchon für alles ſorgen. — Die Minna und 
der Junge müſſen ſeh'n, wie ſie fertig werden. — 
Die Minna is wieder ganz geſund — meine Mariechen 
ſoll nich ſterben —“ ſchrie der Mann plötzlich auf, 
ſprang in die Höhe und ſtürzte ſo heftig auf ſeinen 
Brotherrn zu, daß dieſer unwillkürlich zurückwich. 
„Erbarmen Sie ſich, Herr, und geben Sie mir 
das Geld.“ Er ſtürzte wie ein gefällter Baum dem 
Herrn zu Füßen und griff nach ſeiner Hand. 

Wahrholm ſuchte den Erregten in die Höhe zu 
ziehen. Jetzt hatte er trotz der abgebrochenen Rede 
begriffen, was der Mann wollte und ſein Verlangen 
rührte ihn, trotz der unglaublichen Naivetät, die aus 
ſeiner Bitte ſprach. „Setzen Sie ſich wieder, Köhler,“ 
ſagte er freundlich, „Sie denken ſich die Sache doch 
wohl anders als ſie iſt. Wenn Ihre Tochter wirklich 
die Schwindſucht hat, hilft ihr auch Italien nicht 
mehr, und wollte ich Ihnen die geforderte Summe 
geben, ſo würden Sie ſehen, daß ſie noch nicht ein— 
mal reicht. Glauben Sie aber, ich oder ein anderer 
Geſchäftsmann könne ſo thöricht ſein, die Arbeitskraft 
eines Menſchen für zehn Jahr voraus zu kaufen, wo 
doch niemand weiß, ob er das nächſte Jahr noch er⸗ 
lebt? Sie find zudem ein fehr läffiger Arbeiter, 
Köhler, wie würde es mit hren Leiltungen erft be 
ftelt jein, wenn Sie den Lohn voraus hätten. — 
Nein, lieber Mann, Sie thun mir leid, aber Shre 
Bitte fann ich nicht erfüllen. Da könnten fonft alle 
meine Arbeiter kommen.” 

Die Augen des Bittenden, der fi) langlam vom 
Boden erhoben hatte, waren immer ftarrer geworden 
und aus feinem Gefiht war jeder Blutstropfen ge: 
widen. So feft hatte er fich in feine dee binein- 
gedadht, daß er nur fehr langjam begriff. 

„Allo Sie wollen mir das Geld nich geben?” 
fragte er nah einer Weile, während jeine Augen 
vor Entjegen faft aus ihren Höhlen traten. 

„Nein, Köhler, ich Tann es wirklich nicht. Shre 
dee ift gut gemeint, aber völlig phantaftiih und 
unausführbar, das werden Sie bei ruhiger Überlegung 
ih felbft jagen. Seßt gehen Sie und geben Sie 
dieſen Zettel der Wirtichafterin, fie wird Ihnen zwei 
TSlajhen guten Wein für Ihr krankes Kind geben. 


Koman⸗Zeitung 1R9K. 


Roman von €. Karl. 





266 


Ich will mid nad ihm erkundigen und thun, was 
ih fann.” 

err Wahrholm hatte, während er jprad), ein 
paar Worte auf ein Stüd Papier geworfen und 
reichte ihm Diefes. 

Dem Arbeiter war, als hätte er einen Schlag 
vor den Kopf befommen. Er griff nicht nad) dem 
Papier, er ftarrte auf den Boden, ber mit einem 
wertvollen Teppich bededt war. Die furdtbare Auf: 
regung batte feine Truntenheit — indem ſie 
ihm alles Blut nach dem Kopfe trieb. Er ſchwankte 
fichtlich, murmelte unartikulierte Laute, ging aber 
nicht von der Stelle. 

„Nun, warum gehen Sie nicht?“ ſprach Wahr⸗ 
holm immer noch in gütigem Ton; ihn dauerte der 
Mann, der ſich für ſein Kind ſo aufopfern wollte, 
und er nahm ſich vor, den Fall genau zu unterſuchen. 

„Gehen — wieder fortgehen,“ murmelte Köhler 
wie im Traum. Plötzlich aber fuhr er in die Höhe 
und raſende Wut ſprach aus ſeinen Zügen, die ſich 
krampfhaft verzerrten. Er brach in höhniſches Gelächter 
aus. „Wieder gehen — wieder in mein naſſes Loch 
kriechen und meine Mariechen ſterben ſehn — ja das 
paßt Euch wohl, Ihr Blutſauger. Was geht Euch 
das elende Volk an, das ſich für Euch plagt und 
ſchindet bis aufs Blut. Ihr ſeid die Herren — Ihr 
legt Euch Sammet und Seide unter die Füße, damit 
Ihr weich geht, und freßt Euch voll, während wir —“ 

„Hinaus, Köhler!“ rief Paul aufſpringend und 
den Arbeiter am Arm packend. „Wie können Sie 
es wagen, in meines Vaters Gegenwart ſolche Worte 
zu brauchen, weil er Ihr unſinniges Verlangen ab» 
weiſen muß. Hinaus —“ 

„Biſt Du auch da, Kröte —“ ſchrie der Arbeiter 
erboſt. „Daß Dein Vater das Geld, was wir ihm 
mit unſerm Schweiß verdienten, für Dich mit vollen 
Händen fortſchmiß, das haſt Du ganz in der Ordnung 
gefunden; wenn aber mal einer von uns Euch um 
Erbarmen bittet, dann heißt es nur ‚raus mit dem 
dummen Kerl, was denkt er ſich — raus mit ihm, 
ins Elend — wo er hingehoͤrt.“ 

„Sie find in Verzweiflung, Mann, und dabei 
betrunken,“ rief Paul, der den widerlichen Fuſelgeruch 
ſeines Mundes ſpürte, „darum will ich Papa bitten, 
Ihre Worte nicht auf die Wagſchale zu legen, aber 
machen Sie, daß Sie hinauskommen.“ 

Er verſuchte ihn am Arm nach der Thür zu 
ziehen, aber der Betrunkene riß ſich los, focht mit 
den Armen umher und rief wild: „Rausſchmeißen — 
haha — ich geh' ſchon von ſelbſt, aber erſt will ich 
Euch die Wahrheit ſagen.“ Er ſpie aus. „So ſpuck“ 
ich auf Euch alle — habt man noch 'n bißchen Geduld, 
treibt es man noch weiter ſo, dann ſetzen wir Euch 
den roten Hahn aufs Dach, dann ſollt Ihr ſelbſt 
ſchmecken, was Elend is.“ 

Er ſtieß Paul, der ihn hindern wollte, abermals 
zurück und ergriff die gemalte Taſſe des Hausherrn, 
um ſie am Boden zu zerſchmettern. 

„So werden wir Euch alle Zzerſchlagen, Ihr — 
Ihr — Zumpenpad — Ihr —“ 

Auf ein Glockenzeichen des Hausherrn war ein 

Diener ins Zimmer getreten. 


267 Ohne Gott. 


Roman von €. Karl. 





268 


„Schaffen Sie den Bann hinaus,“ | eingegangen war, hatte fie die Wohnung der Groß: 


Habrifbefiger. „Sie find aus meiner Fabrik entla 

Köhler — ih habe Eie nur aus Mitleid —— 
Samilie fo lange behalten, benn id weiß fchon jeit 
Boden, daß Sie ein unverbefierlidher Eäufer find. 
&3 hat aber alles eine Srenze. Sie werden fi nidt 
ERBEN. DER ID SEEN JRLDE: 


we. gut, iS gut,“ feuchte der Mann, während 
der Diener ihn binauszerrte, „macht Eud) das Leben 
gut und jhön — ba ba ha ba — 


% % 
x 


Sin der Naht, die diefem Tage folgte, wurbe 
Minna Köhler dur Lärm an der Hausthür aus 
dem Schlummer, in den fie fid) geweint hatte, unfanft 
aufgeftört. Man bradte ihren Mann finnlos be: 
trunfen in fein Haus zurüd, das er am Morgen 
bereits verlaflen hatte. 

„Ra, nu feid hr audy fertig,” lachte einer der 
halb beraufhten Männer, die ihn trugen. „Der 
Herr bat ihm heut die Arbeit gekündigt, er fol fid 
nid mebr bliden lafien.” 

Sie ließen den Betrunfenen adtlos auf Die 
Dielen gleiten und entfernten fi taumelnd. Dinna 
aber jant mit jammervollem Wehelaut in die Kniee. 
— Nun war alles vorbei — vor ihr fland das Elend 
und grinfte fie mit hohlen Augen an. — 


VI. 


Prediger Boretius, der zweite Geiftlihe in der 
Altftadt, war immer no nit wieder in fein Amt 
eingetreten, jeine Krankheit zog fih länger hin, als 
man geglaubt hatte und der Kandidat Schmidt ver: 
trat ihn immer no, joweit es möglih war. Er 
batte fich viel Liebe in der Gemeinde erworben und 
dankte dieje nicht jeinem hervorragenden Rednertalent 
allein, fondern aud) jeinem warmen, menjchenfreund- 
lien Herzen, das ihn die Wohnungen der Armen 
und Kranfen aufjuchen hieß, Troft fpendend, wo er 
verlangt und angenommen wurde. 

Im Haufe des Arbeiters Köhler war er jeit dem 
vorigen Winter ein häufiger Gaft. Der Dann hatte 
ihn zwar zuerfi mit Gleichgültigleit, in letter Zeit 
jogar mit entjchiedener Abneigung behandelt, jeitdem 
er verjuht hatte, ihm ins Gewillen zu reden, ben 
Frauen aber, und namentlich der alten Frau Xiedfe 
waren feine Befuche eine Wohlthat. Sie freute fidh 
die ganze Woche auf das halbe Stündchen, das er 
ihr wöchentlich zu jchenten pflegte. Das Lejen wurde 
ihr immer jchwerer, und Frau Köhler hatte jo wenig 
Zeit dazu; Mariehen aber durfte nicht laut lejen, 
fie befam jofort einen Huftenanfall. Da war es denn 
der Kandidat allein, der ihr das Wort Gottes ver: 
mittelte. Er war e8 auch, der ihr über den Verluft 
ihrer Entelin, des legten Welens, das noch auf der 
Welt zu ihr gehörte, hinmweghalf. 

Seitdem Alma die wilde Ehe mit Schmieder 





| mutter nicht mehr betreten dürfen, biefe betrachtete 
fie wie eine für fie Geftorbene. 

Da war es Egon geweien, der ben Sammer 
der alten ;srau durch den Hinweis zu mildern gewußt 
hatte, Daß aud ein Sünder nit verloren {e, bab 


lieren und ihr beizuftehen, wenn fie in Not geriete, 
und tröftete die arme, gequälte Frau mit diefem 
Beriprechen nod) mehr als mit allen frommen Worten. 

Es ging gegen Veihnadhten und jeit dem Beginn 
des HRovember war die alte Frau ins Siedenhaus 
gelommen, ihre Borgängerin hatte endlid) das Zeit- 
lie gejegnet. Run lag kein Grund mehr für den 
jungen Mann vor, fo oft die Köhlerihe Wohnung 
zu bejuden und er war in Boden nidht dort ge- 
weien; da traf er enblid Minna auf ber Straße 
und erfuhr von ihr, daß ihr Mann jeht nie mehr 
nüchtern jei und daß fie ihn aus dem Haufe gewielen 
babe. DMariehden aber jei wieder gelund, jo lange 
wie e8 Dauere. 

Da beihloß Egon, die Familie an einem der 
nädhjiten Tage zu bejuhhen und fid eingehender nad) 
den Berhältnifien zu erkundigen, als es auf der 
Straße geichehen Eonnte. Das Haus hatte auch nodh 
eine Anziehungskraft für ihn. Der Former Schmieber 
wohnte jeit dem erften Dezember in der über der 
Köhlerihen Behaujung gelegenen Wohnung. Sein 
bisheriger Hausmwirt Hatte auf Almas Entfernung 
gedrungen, „er wolle feine ungehörigen Berhältnifje 
bei fi dulden,” hatte er gejagt, und Schmieder 
daraufhin die Wohnung geräumt. Er hatte genommen, 
was gerade leer war, fi aber zu Almas Kummer 
ſehr verſchlechtet. Die Fenfter der zwei Kleinen 
Stuben gingen auf einen dunllen, unfauberen Hof 
und die Küche war beinahe finjter, bildete aber troß 
deilen den Eingang zur Wohnung. 

Egon wünjchte die junge Frau einmal zu Gefidht 
zu befommen, um fidh ein Urteil über ihre Berjönlidh- 
feit bilden zu können. Bielleiht war ihm der Zufall 
günftig, wenn er das Haus, in dem fie wohnte, öfter 
bejuchte. 

Mit Hilde war der junge Mann jeit ihrem erften 
Kirhhenbefudh öfter zufammengetroffen als fonfl. Es 
war, als ob der Zug des Herzens ihnen beiden bie 
Wege gewiejen hätte. Sie trafen fi, ohne Berab: 
redung, bald bei der Tante Niederftetter — aud) 
Hilde nannte die alte Dame jo — bald bei be- 
freundeten Samilien, bald bei den zahlreichen Armen, 
bie Frau Niederftetter unter Dbhut hatte und zu 
denen fie im Berbinderungsfalle eine Vertreterin 
jenbete. 

So oft fie fi) aber trafen und in die Augen 
blidten, fühlten fie immer mehr und mehr, daß es 
ein unzerreißbares Band zwiidhen ihnen gab, aber 
auch immer Elarer wurde ihnen, daß fich ein Hindernis 
zwilhen ihnen türmte und ihnen den Weg zum Glüd 
unerbittlih |perrte — ihre verichiedene Anſchauung. 

ber Hilde war es an jenem unvergeßlichen 





269 Ohne Gott. 
Sonntag wie eine Dffenbarung gelommen. Sbre 
warme, poetiihe Natur hatte nur eines Anftoßes be- 
durft, um die Lehre von einem höheren MWejen, nun 
fie ihr in annehmbarer Form geboten wurde, mit 
Begeifterung in fih aufzunehmen. Für fie hatte 
damit das tote Weltall Leben befommen, was nur 
Körper gewejen war, hatte ihr eine Seele erhalten. 
Aber fie war zu ehr ihres Baters Tochter, um 
prüfungslos binzunehmen, was man ihr bot. Shres 
Vaters Bibliothet ftand ihr offen — fie las und 
ftudierte mit Feuereifer, jobald fie ihn abwejend wußte, 
und mit innigfler Sreude warb es ihr Mar, daß bie 
Willenihaft nicht widerjprad. Sie war boppelbeutig, 
fie gab jedem, was er von ihr verlangte. 

Sie ging einen Schritt weiter, nahm Bibel und 
Katehismus zur Hand und ftudierte den chriftlichen 
Glauben. D web — da waren allerdings Puntlte, 
über die fie nicht hinweg fonnte. Der göttlide Ur: 
Iprung Chrifti, die Wunder, die Erlöfung durch den 
Glauben. — Da madte ihr Verftand einen Strich; 
bis hierher und nicht weiter. Nein, Chriftin im kirdh: 
lihen Sinn fonnte fie nicht fein. 

Die herrliche Sittenlehre, die jelbftlofe Menjchen: 
liebe, die Fejus gepredigt und geübt, die Überzeugungs- 
treue, die er gelehrt und mit feinem Tode befiegelt 
hatte. Der unerjchütterlihe Glaube an ein ewiges 
Leben — das waren Dinge, bie fie begriff, die fie er- 
hoben. Aber dann —? Gie follte ein göttliches 
Wefen als menjchliches Vorbild betrachten und ihm 
nadhftreben? Sie follte glauben, daß die ihr als gütig 
und gerecht bezeichnete Gottheit, um einer Sünde der 
angebliden Stammmutter des Menjchengefchledhts 
willen, Ddiejes ganze Menfchengeichleht der ewigen 
Derdammnis preisgegeben hätte? Sie follte glauben, 
daß Diele gütige Gottheit fih die Strafe durch ein 
blutiges Opfer ablaufen ließ, zu dem fie einen 
Menichen beftimmte, der eigentlich ein Gott war? 

Der gütige Gott hätte aljo zuerft unvollflommene 
Menden gei'haffen, fie dann dur Yahrtaufende für 
diefe angeborene Unvolllommenheit durch) VBerdanımnis 
geftraft und Schließlich einen ganz fündenlofen Menjchen 
gebildet, um diejen die Strafe für alle tragen zu 
lafien. Und nun durften die Menjchen weiter fündigen, 
hatten es bereits dur abermals faft zwei Jahr: 
taujende in der alten Weile gethban und blieben ftraf: 
los, wenn fie nur an ben Dpfertod Diejes einen 
glaubten. Die aber, denen diejer Glaube verjagt 
war, jollten verdammt bleiben. Wo blieb da Gottes 
Almadt, wo feine Gnade, feine Gerechtigkeit, wo 
jeine Weisheit? Nein, nein und aber nein — an 
das jo gefaßte riftlide Dogma von der Erlöjung 
fonnte Hilde nicht glauben. 

Sefus war als Märtyrer für feine Lehre ges 
ftorben. Er hatte uriprünglid nichts gewollt, als 
das in Formellram verfnöcherte Judentum reformieren, 
als die grobfinnliche Vielgötterei des Heidentums ver- 
edeln, indem er, jeiner Zeit weit vorauseilend, Gott 
ale einen Geift auffallen lehrte und der Menfchheit 
höhere fittliche Ziele ftedte. Er hatte die Liebe ge- 
predigt und damit den Keim zu jpäterer gedeihlicher 
Entwidelung der Menjchheit legen wollen. Was aber 
batte man aus bdiejer Zehre gemaht? Dan hatte die 


Roman von ©. Rarl. 


270 


poetifhen Bilder der orientalifchen Sprechweile für 
Wahrheit genommen, man hatte die Klare Lehre des 
größeflen Menichen, der gelebt, in Myftizismus ge- 
bült und fih im Namen ber Liebe, die man auf das 
Banier gejchrieben, jahrhundertelang zerfleiicht. Und 
dann war bie Neuzeit, die Willenichaft gelommen, 
hatte mit ihrer Tadel alle Ungereimtheiten beleuchtet, 
und die plöglich geblendete Denfchheit hatte entweder 
die Augen zugedrüdt und das Licht nicht jehen wollen, 
oder fie hatte über Bord geworfen, was ihr überlebt 
erihien; den Srrtum und die Religion dazu. Man 
hatte das Kind mit dem Bade ausgejhütte. War 
das nötig? 

Hilde juchte ih ale Schriften zu verichaffen, 
die ihr die Chriflusfigur in biftoriiher Beleuchtung 
zeigten. Sie las Renan, Strauß und andere; fie 
verglich ihre Anfichten mit den Ausjprüden der Bibel 
und baute ich jelbft eine Religion, die mweitab lag 
von ben, was Egon lehrte. Und do war ihr die 
PVerfon Selus in diefer menjchlihen Form weit ver: 
ftändlicher und jympathifher als vorher. So Tonnte 
fie an ihn glauben, während er ihr in firchlicher Be- 
leuchtung nichts anderes als eine mythiſche Gottheit 
gewejen war. 

Aber was würde Egon zu diejer Art von 
Chriftentum jagen? Konnte er dulden, daß jein 
Weib — fie fühlte, er mwünjchte fie fein eigen zu 
nennen — fo feiner Lehre ins Gefiht jhlug? Und 
Hildes Herz z0g fich jchmerzhaft zufammen, wenn fie 
fih diefe Frage vorlegte. hre Ehrlichkeit verbot ihr, 
ihn zu betrügen, und ihr Herz Jühlte, daß die Wahrheit 
eine Schrante zwifchen ihnen baute. — 

E3 waren nur noch wenige Tage bis zum 
MWeihnachtsfeft, da trat Egon eines Tages in die 
feuchte Kellerwohnung der Yamilie Köhler und fand 
zu feiner Befriedigung die Frau daheim und bie 
Kinder abmwejend, fie waren in der Nachmittags: 
Ihule.. Er jeßte fich zu der fleißig Nähenden, ber 
er eine Unterbredung ihrer Arbeit verbot, und fragte 
fie na ihrem Manne. | 

„Ah Bott, Herr Kandidat,” Teufzte die Frau, 
„ih hab’ keinen Dann mehr, ich hab’ ihm die Thür 
gewiefen, weil er alles vertran? und mir und den 
Kindern faft die Kleider vom Leibe verfaufte, um fich 
Schnaps zu jhaffen. Das konnte ich um der Kinder 
willen do nicht dulden. Da nahm ich eines Tages 
jeine paar eigenen Sachen, band fie in ein Bündel 
und trug fie in die Kneipe, in der er immer jaß. 
Erft hat er dann fehr geihimpft, als ih ihn nachts 
nicht in die Wohnung ließ, und der Nachtwächter hat 
ihn wegen NRuheltörung auf die Polizei gebradt, 
nachher aber fol er gejagt haben, e8 jei wohl jo am 
beiten, nun fei er ganz fein freier Herr.” 

„Aber wovon und wie lebt denn der unglüdliche 
Mann?” fragte Egon, als die rau jchwieg. 

„Er lungert am Hafen herum und hilft hier oder 
ba, bis er ein paar Nidel zufammen bat und dann 
vertrinlt er fi. Er fol nur von Schnaps und 
trodenem Brot leben. Seine Wälhe und jeine 
Sonntagslleiber bat er längft verkauft oder verjegt 
und eine Wohnung hat er gar nicht. Wenn er einen 
Nidel erübrigt, geht er für eine Nacht in eine Schlaf: 





271 Ohne Gott. 
file — e8 giebt jolde Spelunten, die Gefindel für 
eine Naht aufnehmen — wenn er fein Geld hat, Liegt 
er in irgend einem Schuppen oder einer Einfahrt, wo 
er ein Bündel Stroh findet. Der Nahtwädhter hat 
ihn zweimal fon wegen Obdadlofigkeit verhaften 
wollen. Auch aus feiner alten Kneipe haben fie ihn 
feines Ungeziefers wegen binausgeworfen. Steht gebt 
er nur no in Häufer, wo Gefindel verehrt.” 

„Allo ganz verfonmen und verborben,” Iprad 
Egon traurig. 

„Sa, ganz verlommen — und ift dody mein an: 
getrauter Mann,“ jchrie die Frau plögli auf und 
legte den Kopf auf die gerungenen Hände „OD 
mein Gott und Herr, wie fannft Du das zulaflen?” 

„Liebe Frau,” jpradh Egon, „bezeichnen Sie mir, 
wenn Sie lünnen, den Aufenthaltsort Ihres Mannes, 
ih will verfuden, ihm ins Gemwiflen zu reden und 
ihn zu Shnen zurüdführen. Dann jeien Sie barm- 
berzig und helfen Sie mir, wieder einen Menden aus 
ihm machen.“ 

„Nein, nein,” rief die Frau wild, „ich will nichts 
von ihm wiflen. Er haft mich, weil ich ihm oft die 
Wahrheit gejagt habe und er verdirbt mir die Kinder. 
Ich will ihn nicht mehr jehen, nie, nie!” 

BVergeblich bemühte fi) Egon, der Irmften mildere 
Gefinnungen gegen den baltlojen, beklagenswerten 
Mann beizubringen, vergebens erinnerte er fie an 
ihre Pflicht als Ehefrau, fie blieb bei ihrem Willen, 
für Lebenszeit fih von ihm zu fcheiden und ihre 
Kinder allein zu erhalten. 

„Mit meinem Mariehen geht es ohnehin bald 
zu Ende. Sie bejudt zwar die Schule, weil fie es jo 
gern will, aber fie ift jo Ihwad, daß fie feine Treppe 
mehr fteigen Tann und fiebert jede Nat. Die Lehrer 
verlangen auch nichts mehr von ihr, fie lernt joviel 
fie will. Mandhmal liegt fie au) den ganzen Tag 
im Bette und fieht die Dede an. Ich glaube auch, 
fie bangt fi nach dem Bater, aber es ift beiler, fie 
fieht ihn gar nicht mehr, als daß fie Efel und Ab- 
Iheu vor ihm befommt.” 

Egon jagte der armen Frau nod einige Troft: 
worte und erhob fih, um zu gehen, ba warb bie 
Thür geöffnet und eine junge Frau trat ein. Sie 
ftugte, als fie den fremden Herrn erblidte und wollte 
fih jchnell zurüdziehen, dohd DMinna rief fie an. 

„Kommen Sie nur, Alma, diejes ift der junge 
Herr Schmidt, der Shrer Großmutter immer Jo 
freundlih vorgelefen und fie getröflet hat, als Sie 
fortgingen.” 

Alma trat ein, brennende Röte auf den Wangen, 
feine andere Begegnung konnte ihr peinlicher fein als 
biefe. Sie faßte fich aber gewaltiam, ging auf Egon 
zu und bot ihm die Hand. 


Roman von €. Rarl. 


272 





„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Kandidat, 
für alles Gute, was Sie an meiner Großmutter ge 
than haben.” 

„Wenn ich wirklich imftande gewejen bin, ihr 
Gutes zu erweilen, fo ift es. herzlich gern gejcheben, 
Fräulein Liebe, ich lernte Shre Großmutter ehr 
ſchätzen.“ 

Alma zudte bei der Anrede „Fräulein” zu: 
fammen, bie Genofien Schmieders pflegten fie 
„Madammdhen” zu nennen uud fie batte fidh ge- 
wöhnt, fi als rechtmäßig verheiratet zu betrachten. 
Die Anrede „Fräulein“ traf fie ftets wie ein Schlag 
ins Geiht. Egon fchien auch ihre ausgeftredte 
Hand nicht zu fehen, aber er verbeugte fih höflich. 

„Wie geht e3 meiner Großmutter?” fragte fie 
endblih, um nur etwas zu jagen. 

„I Jah fie jeit mehreren Wochen nicht, fie hat 
jet Gejelichaft und auch geiftliden Troft und ge 
braucht mih nit. Sie ift aber feit dem Verluft 
ihrer Entelin jehr zufammengefallen.” 

Um Almas Munb begann es zu zuden. „Können 
Sie e8 nicht veranlaflen, Herr Kandibat, daß meine 
Großmutter mir geftattet, fie zu bejuchen?“ 


„3 babe es bereits verjudt, Fräulein Liedfe, 
weil ih von einer Zujammenktunft zwifhen Shnen. 
Gutes erwartete, aber fie hat es mir abgefchlagen, fie 
will nur die Reuige an ihr Herz nehmen.” 

„3 babe nichts zu bereuen,” Iprach Alma ftolz, 
wendete fi) kurz um und verließ das Zimmer. 

Der Kandidat wartete, bis ihre Schritte auf der 
Treppe verllungen waren, dann verließ auch er das 
Haus. Sn tiefen Gedanten fchlug er den Weg nad 
jeiner Wohnung ein. E83 war gelindes Yroftwetter, 
dabei Sonnenjdein und der Raubreif funtelte auf 
den Baumäften, die jeitwärts über eine Hofmauer 
ragten. Da mußte es herrlich im Stadtpark fein und 
es war faum ein Ummeg, wenn er ihn durdichitt. 
Eo bog er denn von ber Straße ab und befand fi 
bald im bligenden Reich des Winters. Sa, bier war 
es wirklich jchön und bier war es heimlich und fiill. 
Wie mit YZuder überfläubt der Rafen, in zarte 
ſchimmernde Kryſtalle gehüllt jedes Zweiglein, darüber 
der ladende, gegen ben Horizont fi ſchon purpurn 
färbende Himmel und der zarte Duft des Haren 
Wintertages. Keine Seele weit und breit, nur eine 
Kräbenichar, die in eine Baumgruppe fiel und unter 
ihren Füßen eine Reifwolte nieberftieben ließ. Das 
Flüßchen im Grunde riejelte noch zögernd zwiſchen 
der Eisrinde des Ufers und blanke Eiszäpfchen hingen 
En Ihlanten Weidenzweigen, die fi) binein- 
audten. 


(Bortfegung folgt.) 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





2714 


Beiblatt der Pdentihen Noman-Zeilnng. 


Altes Gold. 


Nun bin der Gaſſen lautem Vielerlei 
Ich froh entkommen! 
Es hat die Einſamkeit der Bücherei 
Mich aufgenommen. 


Von den Folianten, die rings Wand an Wand 
Hochauf erklettern, 

Greif ich heraus mir planlos einen Band, 
Ihn zu durchblättern. 


Verſchollne Reime von verſunknem Glück 
Schaun mir entgegen. 

Vergilbter Kram! Schon will das Buch zurück 
Enttäuſcht ich legen. 


Da durch die Strophen ſuchend noch einmal 
Die Augen ſtreifen, 

Und plötzlich, lodernd wie ein Wetterſtrahl, 
Will's heiß mich greifen. 


Tief in die Seele flutet heil'ge Glut 
Aus dieſen Weiſen — 

Wer war der Dichter, deſſen Lebensblut 
Ich hier fühl' kreiſen? 


Nicht Jahr noch Name nennt das Titelblatt, 
Nicht iſt's zu leſen, 

Wer, der fo heiß und tief gejungen hat, 
Dereinit gewejen. 


Doch ob vergefien auch und ungefanınt 

Der Sänger modert, 
Sein Glüd und Leid, das bier inı Lieb gebannt, 
E8 lebt und lodert! 


DO, würd’ au mir einft fold) Poetenlos: 
Dem Sein entihwinden 
Und nur als Lied fortlebend namenlos 
Noch Herzglut zünden! 
Konrad Ries. 


Die Anfänge der jüngflen lifterarifchen 
Bewegung in Deutfhland.*) 
Bon ®. von femme. 


Sn feinem Buche: „Derbitfäben“ (1886) bat der 
Berfafier darauf Hingewieien, daß in jeder Zeit Menfchen 
vieler Zeiten leben, d. h. Wirkungen von fi) ausgehen 
lafien und Wirkungen anderer empfangen. Als das Reich 
wiedererjtand, da lebten noch viele, die 1813 mitgezogen 
waren gegen Napoleon I.; neben ihnen jolche, die als 
Knaben mit leuchtenden Augen die Sieger von Leipzig und 
Waterloo begrüßt, fich fpäter in der Sünglingszeit mit ben 
Borftellungen des romantischen Deutichtums begeiftert hatten. 
Das folgende Gefchleht trat in bie erften Mannesjahre, 


®) Auß der 4. Aufl. der „Seichichte der beutfhen Litteratur® (Dilo Spamer, 
Leipzig), die etwa im Ditober beraußfommt db vielemori3 ner bearbeitet ijt. 


als die Junirevolution in Parts ausfchweifende Hoffnungen 
wedte und enttäufhte; die Nachfolgenden nahnıen in fi 
die Stimmungen der Zeit vor 1848 auf, Tießen fih von 
Herwegh8 aufreizenden Liedern gefangen nehmen oder nährten 
in fih den Haß gegen den Zeitgeift. So ging e8 weiter 
bis zu den Stnaben, die 1870 auf den Etraßen die „Wadıt 
am Rhein” fangen und unter dem ftolzwehenden Banner 
des neuen Neich SJünglinge und junge Männer geworden 
find. Wir haben gefehen, wie diefe verichiedenen Gefchlechter 
verichiedene LXeitbilder befaßen und im Schrifttum für fie 
fämpften. Über auch die Bewegungen auf philojophifchem, 
religiöfem und wiffenfchaftlichem Gebiete wirkten auf Die 
Neihe der Geichlehter verichieden ein. Die Standpuntte 
wecfelten mit größerer Schnelligfeit, da der Völferverkehr 
wuchs; vielerort8 vermifchten fich die Wirkungen. 

Aber die Zeit febt nit von der Zeit allein, fondern 
aud; von der Vergangenheit. Seder Gedanke, jede Vor: 
ftellung, mögen fie vor Sahrtaufenden entjtanden fein, finden 
ftet3 Zaufende von Einzelgeiftern, die in ihnen etwas ers 
wanbtes erkennen und fie in fih zu weiteren Wirkungen 
verarbeiten. „Das Leben der Menichheit (Leirner, 
„Deutihe Worte“, 1887, ©. 20) fennt in tiefitem Sinne 
feine Vergangenheit; e8 ift zeitloß wie die Gedanken felbft, 
diefe Nährmülter der Stimmungen und Thaten, wie ba8 
Urmweien. So ftrömt fiet3, unerfennbar unferen Augen, in 
hunderttaufend Heinen Rinnfalen das, was wir Vergangen: 
heit nennen, in den Strom der Gegenwart hinein, und unter 
uns wandeln träumerifche, weltflüchtige Inder, jchönheitss 
gläubige,, lebensfreudige Griechen, ftarrnadige, nüchterne 
Römer unb erwerbseifrige Phöniker. E83 ift ala bürfteten 
einmal ausgeſprochene Gedanken danach, wieder Fleiſch zu 
werden, als bemächtigten ſie ſich der Seelen, um ſie nach 
ihrem Willen zu lenken und wirken zu laſſen.“ 

Kann man auch dieſe ſteten Wirkungen aus dem geſchicht⸗ 
lichen Zuſammenhange erklären, ſo iſt das nicht mehr mög⸗ 
lich bei Anſchauungen und Gedanken, die unmittelbar aus 
dem innerſten Weſen bedeutender Menſchen hervorgehen. 
Wohl iſt ein Gelehrter imſtande, mit Verſtandesſchlüſſen 
ſcheinbar den Nachweis zu führen, daß dieſer oder jener Ge⸗ 
danke, dieſe oder jene That in einer beſtimmten Zeit not⸗ 
wendig eintreffen mußten. Man kann bei ſolchen Beweiſen 
viel Zeit und viel Geiſt verſchwenden. Aber im Grunde iſt 
diefe Notwendigfeit unbeweisbar. Daß wir 3. B. eines 
Bismard bedurften, Iäßt fi) darlegen; warum aber diefer 
jo genannte Menih an diefer Stelle, jo wie er war, ges 
fommen ift, woher er fein Wefenhaftes empfangen hat, das 
läßt fih durd) die veritandesmäßige Entwidelung der äußeren 
Thatfachen nicht ermeifen. 

Alle die erwähnten Gruppen von Gefchlehtern find nun 
in der Gegenwart zugleich thätig. Wer wagte nun zu bes 
haupten, daß er imftande fei, die Wirkungen unb Gegen: 
wirfungen aller zu überjchauen, die Fäden, bie fid) von 
Milltonen Spulen aus abhajpeln, verknüpfen, verftärken, 
bermwirren, zu verfolgen? Sebes diejer Geichlechter Iebt in 
feiner Zeit, jedes bringt in feinem Wirkungsraunme Be- 
wegungen hervor. Die eine wädlt langjam an, die zweite 
ftürmtfch, eine dritte verzittert, um dann plöglich an fernfter 


275 


Stelle von neuem aufzuzuden, und mieder eine verjchwindet 
ſcheinbar ſpurlos. 

Dem gegenüber iſt die Frage berechtigt: „Iſt das 
Problem der Geſchichtſchreibung jemals rein zu löſen? Wir 
dürfen darauf, ohne den großen Geiſtern der Geſchichts⸗ 
wiſſenſchaft nahezutreten, mit „Nein“ antworten. Und da—⸗ 
mit iſt auch verneint, daß eine reine Darſtellung der Litte⸗ 
raturgeſchichte möglich ſei. Nicht nur wirken die großen 
Strömungen der Vergangenheit weiter, nicht nur ſind ein 
Leſſing, Herder, Goethe und Schiller noch lebendige Mächte, 
nicht nur wirken Stimmungen der Romantik, des jungen 
Deutſchland u. ſ. w. fort, von jeder Zeit, von jedem Orte 
aus können Wirkungen auf die litterariſche Jugend ausge⸗ 
übt werden. Und jeder einzelne, er müßte denn bloß for⸗ 
maler Nachahmer ſein — ein ſolcher läßt ſich vielleicht ohne 
Reſt „erklären“ — trägt in ſich ein Selbſt, das aus ſich, aus 
ſeinen Stimmungen, Gedanken, Gefühlen heraus Wirkungen 
entwickelt, deren Urſache er ſelber in kurzer Zeit nicht mehr 
anzugeben vermöchte. 

Das mußte vorausgeſchickt werden, damit der Leſer 
nicht Gebrechen, die in der Sache liegen, dem Darſteller an⸗ 
rechne. Es ringt ein Neues, wenn auch nicht im Sinne des 
jüngſten Geſchlechtes, aus dem Chaos ſich zu löſen; ein 
Neues, das in ſich das Beſte des Alten enthalten wird. 
Aber ein Chaos iſt noch nicht darſtellbar. Bei unſeren 
Klaſſikern ſind es vornehmlich äſthetiſche Einflüſſe, die wirkten, 
abgeſehen von dem freien Selbſt der großen Dichter, das 
man als gegeben hinzunehmen hat —; ſchon bei den Jung⸗ 
deutſchen machen ſich eine Menge von Strömungen bemerkbar, 
die mit der Kunſt gar nichts zu thun haben; in der jüngſten 
Litteratur iſt ſtellenweiſe ein faſt unauflösbarer Rattenkönig 
von Einflüſſen vorhanden, die auf Politik, Religion, Socio⸗ 
logie, Phyſiologie, auf den Darwinismus, auf den ſtarken 
Einfluß von Werken der bildenden Kunſt u. ſ. w. zurück⸗ 
weiſen und ſich mit der Einwirkung fremdländiſcher Vorbilder 
verknoten. Im allgemeinen ſind dieſe Wirkungen von den 
Schriftſtellern und Dichtern nicht innerlich überwunden und 
in lebendigen Fluß gebracht; ſie ſtellen faſt überall künſtleriſch 
ungeformte Trümmer dar; kurz, zumeiſt ſind die fremden 
Einflüſſe ſtärker als die Begabungen. 

An der Wende des neunten Jahrzehnts befanden ſich 
die jüngſten Kräfte, die nicht im Lohndienſt der Tages⸗ 
zeitungen ſtanden, in einer harten Notlage. Mit wenigen 
Ausnahmen vermögenslos, nicht ſelten aus mißverſtandener 
Genialitätsſucht einem geregelten Beruf abhold, ſtanden ſie 
am Markte, ohne Verwendung zu finden. Die ſogenannten 
„vornehmen“ Blätter hielten ſich, da ſie nur mit „Namen“ 
auftreten wollten, die jungen Talente faſt ganz fern, die 
großen Tageszeitungen ebenfalls. So begann zunädjft da= 
mal die Zeit der verfehlten Blatigründungn. Mar 
Hempel (geb. 1857 in Breslau) gab erft die „Monats- 
blätter* in Bremen (1879), bann in Berlin „Die Litteratur“ 
(1850) heraus. Beide gingen nad) Eurzem VBeftehen ein. 
Noch zeigt ih dom „modernen“ Geifte jehr wenig; neben 
älteren Schriftitellern von Ruf finden fid) nur wenige des 
jungen Gejhlehts ein (AUpenarius, Wildenbrudy, Bulthaupt, 
Sul. Hart); der Ton der Kritik zeigt zumeilen cine größere 
Stiche, aber noch ift der Naturaligmus, wie ihn Zola ver: 
förperte, ein Feind, den man bekämpft. Die Leer bes 
fümmerten fih um biefe Verjuche ebenjowenig wie um die 
meiſten dichterifchen Arbeiten des nachdrängenden Gefchleht8. 
Soviel aud in diefen an Inreife und Phrafenfchwulft vor: 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





276 


handen fein mochte, e8 war ein Streben nad Höherem uns 
verfennbar. Nur im ganz Kleinen reife wirkten die erften 
Arbeiten ber Gebr. Hart, Titgers, Wildbenbruchs und anderer 
auf die Jüngften, fonft aber begegneten fie überall bei den 
Lefern, mie bei ben allermeiften SKunftrichtern der voll 
fommenen Gleichgültigfeit; befonders Lyrik und das ernfte 
Drama waren wie in Berruf erklärt. Wohl beitanden einige 
Zeitichriften, die Gedichte braten, aber meift nur folche 
ihrer Abnehmer; e8 waren Hanbelöunternehmungen, bie auf 
die Menge der dihtenden Jünglinge und Sungfrauen red): 
neten, aber litterariich nicht den Eleinften Einfluß bejfaßen 
und meiteren Kreiien unbefannt blieben. Stennzeichnend ift 
e3, daß die großen Unterhaltungsblätter faft gar feine Lyrik 
bradten, oder nur, wenn e3 galt, zu einem füßlihen Bilde 
einige erflärende Berie zu geben. 

Dieje Gleichgültigfeit hat viel dazır beigetragen, daß 
fih in mandem Jüngften der Pellimismus gegenüber der 
„gebilbeten* Schicht einniftete; Diefe Stimmung bildete den 
beften Nährboden für die ſocialdemokratiſchen Gedanken, die 
im Laufe der Zeit bi etwa 1885 manden Gefolgsmann 
aus diefen Streifen gewannen, ber wieder anf Jüngere Eins 
fluß ausübte Steigern mußte fid der Widerwille der be- 
gabieren Jugend, mwenn fie jenes Schrifttum jah, das fidh 
die goldenen Ähren des Erfolges Schnitt: die Erzeuger ber 
Moderomane, die Neuromantifer, beren Epen in ungezäblten 
Auflagen von den Lefern verichlungen wurden; die Macher, 
die faft alle Bühnen beherrichten, fei e& mit eigenen Werfen 
oder mit Verdbeutfhungen franzöfifcher Ehebruchsfomödien. 
Und die meiften Stunftrichter fanden nur Worte des Beifall 
für das herrfchende Schrifttum, für die Gremdlinge nur jenes 
mit Bewunderung gemijchte Zweifeln, das Lelfing ben 
Meiftern gegenüber vorfchreibt. Die deutfchen Bühnenleiter, 
mit wenigen Ausnahmen, reiften bei jedem von Paris ge- 
meldeten Erfolg nad der Haupiftadt Frankreichs, um die 
Neuigfeit zu erwerben; um bie ringende, oft Hungernde 
Sugend der Heimat befümmerte fie fich faft gar nicht. Wie 
oft mit der Erbitterung auch Neid vermijcht fein mochte, fie 
war jedenfalls in Grenzen mwohlberedhtigt. 

Das find nur äußere Verhältniffe geweien, aber aud 
fie haben mitgewirkt, die aufrühreriihe Stimmung zu er: 
zeugen und zu vermehren. in den erften Sahren des 
neunten Sahrzehnts begann e8 fi zu regen. Die Bühnen: 
erfolge Wildenbruch®, an deffen Seite fi in Berlin zunädjit 
ein Teil der Hohfchuljugend und der jungen Dichter ftellte, 
erregten Hoffnungen auf eine befjere Zeit. Zunäcdft begann 
ein Eritiicher Kampf, an deffen Spite die Gebrüder Hart 
fi) ftellten. Bon 18852—1S84 gaben fie in fedi8 Heften 
„Kritiihe Waffengänge”“ (Leipzig) heraus. Sie wandten 
ih) zunächft gegen verfchiedene der „Alten“, Ieider nicht 
immer mit genugjamer Überlegung, ob bie Geftalt auch als 
Vertreter einer auf der Zugend laftenden Strömung gelten 
fönne. Weber Sirufe, deifen Bühnenftüde faft gar nicht auf 
die Bühne famen, nocd Albert Träger, der im politifchen 
Singfang immer mehr verflachte, verdienten die Stanonen= 
ihüffe, die auß den Slartaunen der Stritif gegen fie abges 
feuert wurden; Lindau wurde al8 Kunftrichter verdammt, 
„Das deutjiche Theater de3 Herrn VArronge* (eine Berliner 
Bühne, die da8 Wort „deutih” nur zum Scheine trug) ftart 
mitgenommen; Spielhagen? yehler in einem fcharf ge- 
Ihriebenen Hefte aufgedekt; Zolad Wahrheiten und Irr⸗ 
tümer befproden. Nur Graf Schad wurde im fünften Hefte 
etwas über Gebühr gepriefen. 


an SrDEESESESTEEESEESEEEn 


nn, 


277 





Die „Waffengänge“ enthalten vortreffliche, nicht nur 
geiſtreiche Bemerkungen. In den Einleitungsworten zum 
1. Hefte heißt es: Dwei Worte find eg, mit welchen id) 
die Aufgaben des Aderer® wie des Kritifers genügend be: 
zeichnen lafjen: PBrlügen ift Pflegen. — — — Hinmeg niit 
der Ihmarogenden Mittelmäßigfeit, hinweg alle Greifenhaftig- 
feit und Blafiertheit, hinweg das verlogene Recenjententum, 
hinweg mit der Gleichgültigleit des PBublitums und hinweg 
mit allem fonftigen Geröll und Gerümpel. Reifen wir die 
jungen Geifter [08 aus dem Banne, der fie umfängt, machen 
wir ihnen Zujt und Mut, fagen wir ihnen, daß das Heil 
nicht aus Ägypten und Hellas fommt, fondern da fie fchaffen 
müflen aus der germanischen Bolfsfeele heraus, daß mir 
einer echt nationalen Dichtung bedürfen, nit den Stoffe 
nad), fondern dem Geijte, daB e3 wieder anzufnüpfen gilt an 
den jungen Goethe und feine Zeit, und daß wir feine weitere 
Sormenglätte braudjen, fondern mehr Tiefe, mehr Glut, mehr 
Größe, 

Die Forderung, im beutfchhen Geifte zu Ichaffen, war 
fiher berechtigt, aber e8 blieb unauzgefprodyen, maß biefcs 
Beiftes eigenfte Artung fei. Der Hinweis auf Goethe Hatte 
gleichfalls Berechtigung — er fcdheint aus Anregungen des 
Litteraturgefchlchtichreiberg W. Scherer hervorgegangen zu 
fein — aber überjehen ift, daß fich der Nat nicht ausführen 
fäßt, außer von Goethegleihen; mit Recht verlangten bie 
Brüder mehr Tiefe, Glut und Größe — fie durften e8, weil 
ihre Begabung über der der Mobdebichter ftand — mo bie 
Quellen diejer Tiefe, diefer GIut und Größe lagen, das 
zeigten fie nicht. Ä 

Aber ihr Wort verhallte doch bei den Genofjen nidjt; 
e8 hätte zwar mehr gewirkt, wenn nicht fchon der Natura⸗ 
lismus nach YZolag Vorbild zu wirken begonnen hätte, 
wenn nit ruffiihe und norwegiicde Schriftfteller in den 
Gefihtsfreis der Jüngften getreten wären. Damit begann 
die Bärung, die dem leitenden Gedanken ber Harts ent: 
gegenitand. 

Aber ıumnbeacdhtet blieb eine andere geiftige Bewegung, 
die ohne Litterarifche Einflüffe aus der tiefften ESchnjudt 
bon Sunderitaufenden langlam fich bildete und vereinzelt, 
faum beadtet hier und dort hüchtern hervortrat. Aus der 
Not der Gemüter, ber geiftigen und der körperlichen, ge: 
boren, langfam erftartend im Stampfe gegen den ethiichen 
Materialismus, in deflen Herrendienft au ein großer Teil 
der berrfchenden Litteratur Stand, erwadıte der ethifcherelt: 
giöfe Drang der beutichen Voltsfeele. Daß aber in ihm 
jener Quell der „Tiefe, Glut und Größe“ vorhanden war, 
das jollten bie Jüngsten — nit alle — erft jpäter erkennen. 
Wir werben noch fchen, zu welden Srrtümern fie Dabei unter 
dem Cinfluffe des Beitgeiftes, befonber8 der foctaldemo- 
fratifheu Gedanken gelommen find. 

Ganz in den Dienft diejer ftillen Bewegung hatte fi 
ihon jehr früh Otto von Qeirner geftellt (geb. am 24. April 
1847 m Schloß Eaar in Mähren) Schon als unreifer 
Süngling hatte er den Kampf gegen die Fremdländerei mit 
unzureihenden Mitteln begonnen, fon damals die Be- 
freiung des beutfchen Empfindens als nötige Vorbebingung 
einer neuen Zeit zu begreifen angefangen. Durd) bie Be: 
Ihäftigung mit der Naturwiffenfhaft war er einige Sahre 
in die Schlingen des theoretifchen Materialismus gefallen 
und Hatte dann in einer unklaren äfthetiichen Kunftreligion 
Befriedigung geſucht. Aber auch in diefer Zeit ging ber 
Leitgedanke nicht verloven; er führte ihn allmählicd, zu einer 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





278 








reineren Anfhauung und ließ ihn dahin ftreben, die Bes 
bürfniffe des beutfchen Gemüts mit den Forderungen ber 
tiefer erfaßten Chriftuslehre zu vereinen. Im Sahre 1883 
übernahm er bie Leitung ber „Deutihen NomansYeitung“ 
(Berlin). Schon im Mai bes Sjahres trat er bier gegen 
jene Boefle auf, die fid) ganz von der Gegenwart abwenbdete, 
gegen bie fpielerifche Neuromantik, gegen die Iyriihen Beilis 
miften, die in dem eigenen Leibe fchwelgen, gegen die Befinger 
der Liederlichtett. 

„Alle hohen Gedanten, die dag Gefchleht unferer Tage 
mit Stolz erfüllen,“ fo fehrieb er damals, „find für die Dic)- 
tung nicht vorhanden; nicht jene tiefen Schmerzen, die das 
Herz der Menfhheit durdmühlen, nidt die aufregenden 
Kämpfe des gejelichaftlichen Lebens, nicht der leidenſchaftliche 
Drang, der fih in dem religiöfen Empfinden der erniten 
Naturen zu fanımeln beginnt” — — — Und den über 
ausbleibenden Erfolg Magenden Dichtern rief er zu: „Wendet 
Ihr Eud an die ringenden Geilter? Kündet hr pen 
Ehiwantenden eine erlölende Botihaft? Habt Ihr es ver» 
judt, die freifende Zeit von ihrem Gedanken zu entbinden? 
Ringt hr danad), in Euch felbit die Krankheiten der Gegen- 
wart zu befämpfen, um dann, felber gefundet, Srzte und 
Seher zu fein, die geijtigen Führer in den Kämpfen unferer 
Tage?“ 

Er fprad) fid) gegen bloße „Tendenzdichtung“ aus, aber 
verlangte der Yeit gemäß in ber Didyiung aud) Gedanfen: 
inhalt, der aber burd) die formgebende Phantafie Ieben3voN 
geitaltet fein müffe. Er forderte die Sugend zum Stampfe 
gegen alles linreine der Gegenwart auf; fie follte fi 
nicht abmenden von dem Hoffen und Ringen des cigenen 
Volkes. 

„Wohl mag es jtiller fein in jenen Sphären, in 
denen die Phantafie ungeftört von: Slamıpfe der Geifter ihre 
Beftalten bildet, aber Doch ift’3 heute fchöner, mitten im Ge= 
dränge der Weiftegfchlacht mutig mitzufämpfen. Man fürd)te 
nit, daB damit die sreiheit der fchaffenden Straft in enge 
Grenzen gebannt fei, der Stoff, den unfere Tage bieten, it 
unerfchöpflih groß und fait noch unberührt. Eine Boclie, 
welche ji) dem Polfsgeifte verbindet, eintritt für die reinfte 
Eittlifeit, die im geiftig freien Glauben an das Höhere 
wurzelt, eine folhe wird auch im Bolfe immer tiefere Wurzeln 
Ihlagen, ihr gehört die Zukunft, weil dann jene Gedanten 
Sieger fein werden, zu denen fid) heute nur die Minderheit 
befennt, aber eine Minderheit, die niemals vor dem ethifchen 
Materialismus die Waffen itreden wird, die fich nicht Icyämt, 
zu befennen, daB ihr Mut, ihr Vertrauen auf befjere Tage 
aus der Hingabe an Gott fließt, an ihn, von dent allein die 
echte Tyreiheit des Menfchengeiltes jtamımt.” 

Sm gleihen Sahre wies er nad, daß der auftauchende 
Naturalismus in jeiner Entwidelung zur WYällhung der 
Natur führen müfje und nur vorübergehende Mode ei, auf 
die notwendig ein Nüdichlag folgen werde. 

Ein Jahr Später (Junt 1834) begann er in dem ge: 
nannten DBlatte eine eingehende linterfuchung zu beröffent- 
lihen, die den Titel „Keime der Zufunftsdidtung” führte 
(wieder abgedrudt in „Randbemertungen eine Einſiedlers“, 
1885). Hter wieß er zunächft wieder die falſche Romantik 
ab und forderte für die Dichtung die Neubelebung des Natio- 
nalen. Den Inhalt des Begriffs umjchrieb er in folgenden 
Worten: 

„Bir wollen werden, was wir no nidt find: ein 
Bolt; wir jehnen uns danad), alles zu überwinden, was 








279 


diefe Einheit im jtaatlihen “eben befümpft. Wir wollen den 
Spealismus zur Weltung bringen, der folange niedergeiworfen 
war, und nad) feinen Forderungen das jtaatlihe und gejell- 
Ihaftlihe Leben reinigen vom lingeiite der Selbftfuddt, der 
srivolität und des Sceinwefens. Belämpfen wollen mir 
die einfeitige Übergewalt des Mammonismus, betämpfen die 
Ungeredtigleit der focialen Gliederung. Der Liebe die 
Herrichaft zu gewinnen, ethifche Begeifterung zu weden und 
dadurd die Gottenifremdung zu überwinden: das jind die 
höchſten Ideale der erniten Geilter unferer Zeit, ihre Ge» 
italtung, fomweit fie in den Grenzen der Möglichkeit liegt und 
ohne Gewalt erreiht werden fanrı, it die Aufgabe, die der 
Weltgeiit dem deutfchen Bolfe gejtelt hat, und die wir mit 
vollem Bewußtfein und und der Menfchheit zum Heil löjen 
müſſen.“ 

Dieſe Gedanken gingen an mandem ber Jüngften nicht 
wirtungslos vorüber; verſchiedene, ſo H. Friedrichs, Karl 
Henckell, Herm. Conradi, Arno Holz u. ſ. w. traten dem 
Leiter des Blattes brieflich näher, und die „Roman-Zeitung“ 
war die erſte in weiteren Kreiſen geleſene Zeitſchrift, die 
von den Genannten Beiträge gebracht hat, beſonders 
lyriſche. Der Nachhall der Anſchauungen Leirners iſt noch 
ſpäter in verſchiedenen Kundgebungen der Jüngſten zu ver⸗ 
folgen geweſen. Aber als ſie mit ihrer erſten gemeinſamen 
Arbeit „Moderne Dichtercharaktere“ (Ende 1884), 
herausgegeben unter Mitwirkung Conradis und Henckells 
von Wilhelm Arent, hervortraten, ſollte ſich ihre Stellung 
gegenüber Leixner bald ändern. Dieſer brachte Juli 1885 
als der erſte von den nicht zur Gruppe gehörenden Schrift⸗ 
ſtellern eine eingehende Kennzeichnung der neuen Be⸗ 
ſprechungen: „Unſere Jüngſten“ (in die Sammlung 
„Herbſtfäden“ [1886) aufgenommen). Hier anerkannte er 
bie Zeihen von oft großer Begabung, bie aus den Ge: 
dichten ber Anthologie fprah, aber er wandte fich ebenio 
entichieden gegen bie Übertreibungen, gegen den Meifiad- 
wahn, mit ben fih viele beraufchten, den Atheismus, den 
andere felbftgefällig vortrugen, die auftaudhende Neigung 
zur vaterlandslojen Socialdemofratie und zu Klingenden 
Prunkworten, und damit zur Schaufpielerei vor fid und 
anderen; gegen daß Spiel mit Ichmugig erotiihen Bor- 
jtelungen, die oft nicht einmal Wiedergabe de Erlebten, 
fondern nur Ausgeburten frankthafter Erregung waren. Mit 
diefer Iinterfuchung hatte e8 ber Verfalfer, trogben auf: 
richtige Teilnahme an dem Werdenden aus ihr fpradh, mit 
den Süngften verdorben. 

Sm Sahre 1885 gründeten Georg Conrad und 
Wolfgang Kirhbah in Münden die Zeitichrift „Die 
Gefelichaft“, die fid gleich als „realiftiih” anfündigte; im 
April bes gleihen Jahres begann Heinrich Hirt die „Ber- 
liner MonatShefte” herauszugeben, die fi nicht lange 
hielten, während das erite Blatt biß 1895 beftand und im 
engen Sreife viel gelefen wurde. Von da an waren ziwei 
Mittelpunkte ber „modernen Bewegung” vorhanden, Berlin 
für den Norden, Münden für den Süden. Obwohl vielfach 
zwifchen beiden Verbindungen beftanden, To ließ fic) doc 
bald wahrnehmen, daß da Stammesweien nicht ohne 
Einfluß blieb. Aber die „Berwegung* war damals nod) 
immer faft nur auf die litterarifchen Sreife beichräntt; das 
meifte, was geichaffen wurde, fand faum.Lejer, mochte es 
auch in den Gruppen der Süngiten noch jo viel Lärm er- 
regen. 


Indeſſen tauchte plöglich jene andere, aus tieferen 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


280 


Quellen geborene Bewegung auf, die da8 Erwacden be8 
fittlihereligiöfen Dranges verfündigtee Überall, in 
Nord und Süd, in Ofterreih und im Reiche ftanben ältere 
und jüngere Dichter auf, die gegen den lngeift des 
Materialismus, für die Rechte einer ibealeren WWeltan- 
Ihauung, für eine minbeftens fittliche Neugeburt des Volkes 
und der Menichheit eintraten, ohne von ausländiſchen Vor: 
bildern angeregt zu fein. 8 mar der Verfaffer diejes 
Buches, der in der erwähnten Unterfuhung „Keime der 
Zukunftsdichtung“ dieſe ſonſt unbeachtete Thatjache nadj= 
wies. In Epen, Iyriihen Gedichten und in allen Formen 
be8 PBrofafchrifttung offenbarte fih die tiefe Sehnjudht nad) 
einer befferen Zeit; laut außgeiproden mwurbe bie Yorde- 
rung, die Liebe wieder ala Herricherin einzufegen, die alles 
vergiftende Schlucht zu bekämpfen. Und e8 geichah mit uns 
verfälfchter Begetfterung und Herzenswärme, die fi oft zu 
einer im hödjften Sinne religiöfen Inbrunft fteigerte. Nicht 
felten Elang ergreifend ein Ton de3 MWeltichmerzes bin- 
dur, nit aber jener, der in der eriten Hälfte bes Jahr⸗ 
hundert3 aus ber Ichlucht des einzelnen hervorbrad und 
fih oft jo eitel in der Zerriffenheit fpiegelte, denn in ihm 
lebten Menfchenliebe und Mitleid und bie tiefe Sehnfudt 
nad) Erlöjung des Gemütg. 

Das Urſprüngliche diefer Bewegung offenbarte fih auch 
darin, daß fie felbjt Wertreter des theoretiihen Diaterialißs 
mus crfaßte, bie in dem Wirrfal der Zeit hinwiefen auf die 
Lehren Ielus von Nazareth, die doch in ihrem tiefften 
Grunde ihrer eigenen Weltanfhauung feindlid) find. 

Mit diefem Auferftehen bes fittlihen Bewußtſeins 
mußten fi auch focialiftiihde Gedanken und Wahngedanfen 
verbinden; e8 lag in ber Strömung bes öffentlichen Lebens. 

Taft alle Werte diefes geihilberten Gedantentreifes traten 
im Zeitraum eine einzigen Sahres (1883 auf 1884) auf; 
einige noch jpäter. Die Verfaffer lebten in ben verfchiebenen 
Teilen Deutihlands und Ofterreihs; kaum einer von ihnen 
gehörte zu den belannten Namen; die meiften waren noch 
jung, aber alle mehr oder minder Dichter von echter Ber 
gabung. — — — — 

Diejes plößliche Hervorbrehen eine® Gefühle an fo 
vielen Stellen wies auf eine mächlige Erregung der Ge- 
müter hin, auf die Abwendung von jener äjtbetiichen Selbft- 
genußfuht, der fo mancher Dichter bes älteren Geichlchtß, 
ein Heyfe, A. v. Schad und andere hulbigten, auf das Er: 
jtarfen des deutihen Gewilfens und der Teilnahme an ben 
wichtigften gyragen ber Zeit. Dabei aber trat daß Beftreben 
hervor, aud) innerhalb der Versbichtung, dort wo «8 Stoff 
forderte, gefundem Realismus fein Recht einzuräumen. 

Diefer war überhaupt nicht? Fremdes in unferem 
Schrifttum, ftelte auch durchaus nicht eine der Haffiichen 
geit feindliche Kunftanfhauung dar. Trog allem Schwunge 
der deutijhen Phantafie und troß ber Neigung, bie Wirklich: 
feit zu überfliegen, fehlt e8 dem Geifte unferes Volkes nicht 
an dem Sinn für Beobadhtung und Wiebergabe deö Lebens, 
joweit biejes mit den Mitteln der Sprache gegeben werben 
fan. Sm 12. und 13. Jahrhundert jchon ift diefer Sinn 
für [lichte Auffaffung des fogenannten Wirklichen, daß aber 
ftet8 ein in der Seele liegendes Spiegelbild der Erfcheinungen 
ift, nicht felten hervorgetreten; er ericheint ftärfer im 16. 
und 17. Sahrhundert, in Schwänten und dann im Noman; 
er befunbete jih im jungen Goethe und in mandjem Werte 
ber anderen Stürmer, ja auch in der eigentlich „Elaffiichen“ 
Zeit, wie 3. B. „Hermann und Dorothea” von ihm Zeug: 


— —— — ——— — — ESS ⏑ 








281 


nid ablegen. Diefer gejunde Sinn für die „Wirklichkeit“ 
wurde nicht einmal in der Romantik ganz erftidt; weniger 
vertrug er fid) mit der jungdeutichen Strömung. Aber in 
Proiaerzählungen, wie in den beiten Schöpfungen bed 
Bitiud, Freytag, bei Meldhior Meyr („Seihichten aus dem 
Nies“), bei Botifrieb Keller u. j. w. jwar Nealiämus in 
deuticher Auffaffung unbeftreitbar vorhanden. Im Gegen 
fate zur Stunfinovelle, die meift in den verfeinerten Sreiien 
jpielte, traten Bürgertum und Bauernitand immer mehr 
hervor; das Kleine, Unicheinbare fand liebevolle Schilderer, 
die aud vor Tarftelung des Dunkien nicht zurüdicheuten. 

So war bei uns eine realiftiihe Strömung längft bors 
handen und jegte ji zunädit ohne fremde Einflüffe fort, 
die jih erft im Laufe des Sahrzehnts geltend madten und 
zum jogenannten Naturalismus führten. 


Sn der Zeit zwilchen 1880 und 1885 traten nadjeinander 


folhe Vertreter des beutichen Nealismus auf, der in fid) den 
Keim des Humors enthält. Wohl machten fi aud) in der 
Darjtellung bei einzelnen franzöfifche Einflüffe geltend, aber 
fie betrafen mehr das Außerliche — das Sinnenleben blieb 
in den Grundzügen dem deutichen Wejen entiprechend. 


Bon Ende 1885 ab, etwa nad) dem Ericeinen ber 
„Modernen Dichterharaktere“, breitete fid) unter ben Süngjften 
dad Gerede von der „Revolution“ im dbeutihen Schrifttum 
immer mehr aus. Zuerft gab ein junger 2yrifer, Paul 
Sritfhe (1863 — 1888), eine Flugfchrift heraus, „Die mo- 
derne Lyrifer-Revolution“ (1885), die im nadhgeahmten 
Kraftitil der Stürmer des vorigen Jahrhunderts eine faft 
rührende Unreife verrät. Anzumerfen ift, daß er ald Pfad- 
finder der Jugend Dranmor, Lingg, Grofle, Schad und 
Hamerling nennt. Er befennt, daß die Sugend ganz deutich 
jein wolle, „für Thron und Reich” einftehe, aber aud für 
den „vierten Stand”, aus Nächftenliebe; fie fei religiös, 
aber pantheiftiih, und wolle dad Wolf zu gleicher „Höhe* 
Hinaufleiten, und fie befenne fid) ald Gegnerin des Materialiß- 
mus. Die fritiihen Ausführungen über die Dichter der 
„Modernen Dichtercharaftere* und anderer Werfe find wirr 
und oberflädlid. 

Mit viel größerem GSelbftbewußtjein trat eine zweite 
Slugigrift auf: „Revolution in der Litteratur” 
(1886) von Karl Bleibtreu — fie war Georg Conrad 
zugeeignet. Das Büchlein Hat in ben Streifen der dichtenden 
Sugend großes Aufjehen erregt und tft auch in weiteren 
Streiien beachtet worden. Von dem, was jie Gutes enthält, 
war faum etwas neu; einem Teile der Züngften machten 
die mit unglaublihem Selbjtgefühl verbundenen Urteile über 
die Alten, Süngeren und Süngften gebietenden Eindrud. 
Gerade dad Gärende und Unreife der Ylugichrift, das heute 
ihon als jolches erfannt ift, da3 Wirre in den Ausführungen, 
gefiel; mander guten Bemerkung fonnte auch der fchärfite 
Berurteiler beiftimmen. Thatlählihe Forderungen ließen 
jih jehr jchwer auß dem Ganzen beraußlefen, aber aud 
dieje Unbeftimmtheit, die verhüllt immer auf des Verfafjers 
eigene dichterijche Ihaten hinwies, mußte in jener Stimmung 
wirken, und war geeignet, die Erregung in unfertigen Köpfen 
zu mehren. 


RomansZeitung 1896. 





Beiblatt der Deutihen Romanz-Zeitung. 


— — — — — — — — — — —— — ——— — — — — — — — — — RE rss SP mn ET —— —— ———— —— —— ——— ne nn er — ——————— —— 





282 


Zwei Gedichte. 
Bon Karl Banfelow. 
Mein Lied. 


Sch jang mein Lied in die Nacht hinaus, 

Sn die Nacht, die frille, verträumte, 

Und mein Lied ging wandern von Haus zu Haus, 
Bis e8 fam, wo die Meerflut ichäumte. 


Und da bat e8 die Wellen und bat den Wind 
Und fragte: „Wie komm’ ich hierüber? 

Und Wellen und Wind, die trugen’s geichwind 
Nad) dem Land meiner Sehnjucht hinüber. 


Und da hat ed nad Dir gejuht — und ich weiß, 
E3 hat Dich in Treue gefunden, 

Und e8 grüßte Dich ftill, und es küßte Dich [eis 
Und lebt nun die glüdlidhiten Stunden. 


Seelenrufen. 


Meine Seele ruft durch alle Räume 

Wie der Pirol durd) die Wälder jchreit, 

Nuft nah Dir, Du Sehnfudht meiner Träume, 
Daß Du kommt mit Deiner Geligfeit. 


Daß Du fommit und in des Tages Brände 
Mir die Nacht mit ihren Sternen trägft, 
Und mir fühlend Deiner ftillen Hände 
Weichen Segen auf die Stimme legit. 


Die Siebespoefie in der alten Provence. 
Von orig Lilie 


Sm ehrwürdigen Dom zu Mainz befand fih bis zum 
Ssahre 1842 ein alter, verwitterter Grabftein, deffen Injchrift 
völlig unleferlich geworden war. In dem gedachten Sahre 
wurbe bdiejes unfcheinbare Erinnerungszeichen dur ein 
Ihöne® Denkmal von Schwanthaler® Meifterhand eriegt, 
und mit einer einfachen, aber würdigen eier enthüllt. Das 
Mittelfeld Diejfes Monumenies zeigt eine Anzahl weinen 
der Frauen, die auf ihren Schultern einen Sarg zur Gruft 
tragen, in dem Earg aber ruhen bie irdifchen Überrefte 
eine® ber liebenswürdigften deutſchen Minnefänger, des 
trefflichen Heinrich von Meißen, der fi den ehrennollen 
Beinamen „rauenlob*” erwarb. In diejer Bezeichnung find 
feine Berdienfte ausgebrüdt; jeine Lieder erflangen zum 
Preife der rauen, und in einem Streilgedicht gegen den 
Mainzer Schmied und Meifterfänger Barthel Regenbogen 
verteidigte er dag Wort „Frau” gegen die Bezeichnung 
„Weib“, die er jeltjamermweile für verlegend hielt. 

Und wie bdiejer edle Sänger, fo haben nod unzählige 
andere Dichter die Schönheit, Tugenden und dag häußliche 
Wirken der Frauen in Ihwungvollen Dithyramben gefeiert, 
niemal3 aber ftand diefe Art von Poefie in jolcher Blüte, 
als zu den Zeiten der Troubadours und der beutjchen Minnes 
und Meifterfänger. Wie in jenen Tagen des romantischen 
Rittertums bei feftlihen Turnieren die Kämpfer die Sarben 
ihrer Dame trugen, und aus Frauenhänden des Gieges 
Preis enigegennahmen, fo verherrlidten die Troubadours 
ihre Huldinnen in begeifterten Liebern. Frauenliebe und 
Srauenleben zu preijen, war die Aufgabe diefer ritterlichen 





IV. 20 


— — — 


283 


Sänger, und felbit Fürften wie Richard Löwenherz und 
König Alfond der Zweite von Aragonien verfhmähten e8 
nicht, diefer Dichtergenoffenfhhaft beizutreten und ihre Kunft 
auszuüben. | 

Sn den fonnigen Thälern der Provence, an den grünen 
Ufern der Garonne, den blütenduftenden SKüften bes Mittel: 
meered und den wälderreihen Abhängen der Pyrenäen, 
unter einem fangesfrohen und liebebebürftigen Volte, er: 
wachte zuerft jene Poelte, welche im Gegenjage zur antiten 
die Bezeichnung der romantifhen führt. Hier war ber 
Boden, auf welhem criftliches un) maurifches Rittertum 
feine gewaltigen Kämpfe ausfocht, hier hatte Sarl der Große 
und jeine Baladine gerungen und hier war e8, wo im Thal 
Noncesvalles Held Roland jein treue Schwert Durendart 
Ihwang; hier war e8 aber aud, wo fi nad) den Stürmen 
der Völkerwanderung und den Wirren ber Streuzzüge jene 
dichteriiche Eigenart entwidelte, die auf die Geftaltung der 
Gejamtlitteratur Europas einen fo mächtigen und nachhaltigen 
Einfluß ausübte. 

Wie die deutfhen Minnefänger zogen aud die Trouba- 
dours im Anfange des elften Sahrhunberts als wandernde 
Didter von Hof zu Hof, von Schloß zu Schloß, um ihre 
Lieder vorzutragen und dafür ben Bohn aus fchöner Hand 
zu empfangen. Die vornehmeren unter ihnen bielten fid 
ftimmbegabte Gehilfen, welche den Namen der alten Volks⸗ 
fünger, Soglars, führten und die Mufgabe hatten, die von 
jenem verfaßten Gedichte in deflamatorifcyer oder mufifalifcher 
Form zum Vortrag zu bringen; indeffen gab es aud) Zoglarg, 
welde unabhängig von einem adeligen Herrn im Lande 
umberzogen und ihrer Kunft lebten. Wo die Minnefänger 
und Troubadours aud) Einlaß begehrten — überall waren 
fie willfommene Gäfte, die in hohem Anfehen ftanden, und 
jehr oft in die intimften freundfchaftliden Verhältniffe zu 
den Burgberren und deren Angehörigen traten. 

Der Einfluß diefer wandernden Dichter erhöhte fih, als 
fie aucd, öffentlihe Angelegenheiten, Bolttit, Krieg, Moral, 
Religion, in das Bereich ihrer poetiihen Thätigfett zogen. 
Man nannte diefe Gattung von Boelien Sirventes, im 
Gegenfage zur Kanzone, weldhe in Eunftreichem Versbau bie 
Liebe zum ausjchließliden Gegenftande hatte, und die am 
meiften gepflegte und geübte Art der höfifchen Lyrik bildete. 
Sn diefen politifchen Gedichten mußten fie für beftimmte 
Zwede zu wirken und Stimmung zu machen, und dadurch 
derjenigen Partei, für welche fie eintraten, nicht felten zum 
Siege zu verhelfen. 

AS Meifter der Galanterie und ritterlihden Frauen 
verehrung wurden die Troubadours häufig an die Yürftens 
höfe gezogen, um hier ald Leiter des offiziellen Geremontell® 
thätig zu fein. Satier riedrih Barbaroffa, Peter von 
Aragon, NRihard Lömwenherz und viele andere Herricher 
nahmen folche fahrende Sänger zu diefem Zmede in ihre 
Dienfte, und den Iesteren fiel dann gleichzeitig bie Aufgabe 
zu, ihre Gebieter und ganz befonders ihre Gebleterinnen 
poetiih zu verberrliden. Dafür ward den PDichtern bie 
Gunit ihrer Gönner und Elingender Dan zu teil, und leßterer 
war oft fo bedeutend, daß bei feitlichen Gelegenheiten Taufende 
bon Golditücden geipendet wurden; ja, von dem Dauphin 
Robert von Auvergne wird fogar erzählt, daß er an bie 
Troubadourd® und Soglars feine Halbe Grafihaft ver- 
fhwendet habe. 

Nicht felten verbanden dieje ritterlichen PBoeten mit der 
Gabe der Dichtkunft aud) die Befähigung, ihre Lieder jelbit 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 





284 


in Mufil zu fegen, und den eigenen Gejang mit Geige oder 
Harfe zu begleiten. Von Pong von Gapdeuil, einem bes 
rühmten Troubadour, wird in einer alten Handichrift ge= 
jagt: „er verftand gut zu dichten, |hön zu geigen unb treff- 
U zu fingen,“ und viele befaßen außer diefen Eigenfchaften 
nodh ein befonderes Erzählertalent, jomwie ein gute8 Ge: 
bädıtnis, To daß fie ihre Wirte ducch feffelnde Geichichten 
zu unterhalten vermoditen. Bon ber Bunft der gajftfreien 
Burgbewohner getragen, blieben dieje fahrenden Boeten oft 
lange Zeit an einem Orte, bis die alte Wanderluft wieder 
in ihnen erwadte, und fie wieder von dannen zogen, hinaus 
„ins alte romantifche Band“. 

Die Ihwärmerihen Huldigungen, welche die Trouba= 
dour3 ihren Damen barbradten, waren nur in feltenen 
Fällen mehr als ritterliche Galanterien, wenn e8 auch wohl 
zuweilen vorfam, daß fi zwiichen dem Dichter und dem 
Gegenitande feiner Verehrung ein wirkfliche® Qiebesverhältnis 
entipann. Die wichtigfte Aufgabe des MPoeten war, bie 
Schönheit und Tugend jeiner Dame zu befingen, und bies 
geihah oft in der überjchwenglicdhiten Korm und den läder- 
lichften Übertreibungen. Freilich fegten fi) die Sänger ba- 
bei au der Gefahr aus, die Eiferfuht bes Schloßherrn zu 
erregen, wie e8 Guillem de Gabeitaing ging, deflen tragtiches 
Geihid die Sage erzählt. 

Als fi diejer Troubadour am Hofe Raiımunds von 
Gaftel-Roufiilon aufpielt, dichtete er nad) der Sitte ber 
Zeit auf deffen Gemahlin die begeiftertften Qiebeslieder. Das 
entflammte den Zorn des Nitters; er ließ ben Sänger er: 
morben und ba8 Herz besjelben zubereitet feiner Gattin 
Margaridba vorlegen. 

US lettere dies erfuhr, jagte fie: 

„Weil ich fo edles Fleifch gegeifen, begehre ich nun fein 
anderes mehr!” und am nädlten Morgen fand man fie zer: 
Ichmettert im Abgrunde Itegen. 

Allein die ruchlofe That Raimunds blieb nicht unge— 
jühnt; auf Veranlaffung der Verwandten Margaridas und 
Cabejtainga 30g König Alfons von Aragonten gegen den 
Übelthäter zu Felde, verwüftete mit Feuer und Schwert 
befien Gebiet, nahm den Ritter gefangen und ließ ihn im 
Kterfer verhungern. — 

Welhe unglaublichen Übertreibungen in der Ber: 
himmelung ihrer Damen biefe Sänger zuweilen leiiteten, 
davon nur einige Beilpiele. Der ebengenannte Guillem 
Gabeitaing fagte von feiner Huldin: Gott habe fie als Ab- 
bild feiner eigenen Schönheit erihaffen, und er müfle fie 
dereinft als den fchönften feiner Engel in jein Paradies auf: 
nehmen — denn ohne fie wäre dasielbe unvollfommen. 

Rambeud von Orange erklärte, ein freundlicher Blid 
feiner Dame jei mehr wert, als die zärtlichfte Sorgfalt von 
vierhundert Engeln. 

Richard von Barbezieur behauptet, die Angebetete, welcher 
er feine Lieder widmete, habe erft die Herrichaft der Liebe 
auf Erden begründet. 

PBeire Nogier verfihert ganz ernfthaft, die Schönheit 
jeiner Geliebten verbreite einen foldhen Glanz, daß rings 
um fie ber die Nacht felbft fid) mit ben glänzenden Farben 
des Tages ſchmücke. „Glücklich,“ fügt er mit bichteriichem 
Bombait Hinzu, „glüdlich der, deffen Augen fähig find, fo 
viel Reize zu erfennen und zu wirbigen!“ 

Bis zu welchen geradezu widerlichen Ungeheuerlichkeiten 
das Beitreben, fich in den Lobeserhebungen ihrer Damen zu 
überbieten, die Troubadourg verführte, erhellt aus der Bes 


285 


merkung Boniface Calvos, daß, wenn Gott eine Sterbliche 
lieben wolle, die nur einzig und allein feine Herrin fein 
fönne, während fein Zeitgenofie Beire Vidal meint, ein 
Hänbedrud feiner Ungebeteten fei ihm lieber als hundert 
golbbeladene Kamele. 

Ein folhes Übermaß an leerem Phrajentum, mit Haaren 
herbeigezogenen Gleichniffen und ſchwülſtigen überſchweng⸗ 
lichkeiten gereicht natürlich aud) den Gedichten jelbft feines 
wega zum Vorteil und viele derjelben verlieren dadurch nicht 
wenig an ‚ihrem poetilchen Werte; immerhin aber liegt aud) 
in biefen ÜIbertreibungen eine gewifle Stunft und ein Beweis 
bon ber regen Phantafie diejer ritterlichen Sänger. 

So läderlih und heute diefe WVerhimmelungen vor- 
fommen, fo unmwürbdig, ja veräcdhtlich, ericheint uns ber weg 
werfende, geringihätige Ton, in weldhem die Troubadourg 
von fich felbit Sprechen, die Schüchternheit und jchmwächliche 
Beicheibenbeit, die fie der Geliebten gegenüber zur Schau 
tragen. Sie erklären die geringfte Gunitbezeigung für un- 
berbient, und preifen fih glüdli, daß fie — hoffnungslos 
lieben. 

Der Ihon erwähnte PBeire Vidal nennt fi) den Sklaven 
jeiner Dame; Adalafia, der Gattin de Diengrafen von 
Marfeille, giebt er das Nedt, ihn verkaufen oder verfchenten 
zu können, und erllärt, daß er lieber zu ihren Süßen ver- 
ihmadten wolle, ala einen anderen in ihrer Nähe zu jehen. 
Allein diefe Beteuerungen hielten ihn nicht ab, fih bald 
darauf mit einer Schönen Griedin von der Inſel Cypern zu 
verheiraten, und am Hofe Alfons III. von Mragonien feine 
Galanterien fortzufegen. 

Bertrand de Born, bdefjen feurige Minnelieder der 
Schweiter von Nihard Löwenherz, nahmaliger Gattin 
Heinrich® des Löwen, galten, meint, er wolle gern wie ein 
Hund vor der Thür feiner Dame liegen, nur Tolle ihn diefe 
nicht von jih ftoßen; und doch war er jonjt feineswegs ein 
Feigling, fondern einer der tapferiten Srieger feiner Zeit. 

Ahnliche Auswüce einer affektierten Selbftverachtung 
finden fich faft bei allen Troubadours, aber e3 war ihnen 
damit durchaus nicht fo ernft, als fie fid) den Anjchein gaben. 
Sm Gegenteil fühlten fie fih in feiner Weife an die fchein- 
bar vergötterte Dame gefeffelt, Tonbern verichmähten es nicht, 
gelegentlich einem halben Dugend Frauen zu gleicher Zeit 
ihre Huldigungen darzubringen. 

Der Kultus der Liebe, wie er fih in den Dichtungen 
diefer Sänger de3 Mittelalter8 äußert, führte endlich dahin, 
daß die Grotif fih zu einer förmlichen Wiſſenſchaft ent- 
widelte. 8 bildeten fih fogenannte Liebeshöfe, die in 
ihrer Form ganz der Einrihtung der bürgerlichen Geridhtß: 
höfe entiprachen, und in allen Fragen und Streitigfeiten, 
die fi auf die Liebe bezogen, Recht zu jprehen hatten. 
Bon bdieien Liebeshöfen erlangten eine bejondere Berühmt: 
heit berienige der Damen von Gascogne und der der Gräfin 
Ermengarde von Narbonne; ferner. errichteten derartige In- 
ftitute die Königin Eleonore von Aquitanien, die Gräfin 
Marie von Champagne, die Gräfin Sibylle von Flandern 
und die Frauen von Romanin. 

Diefe Liebeshöfe waren entweder nur aus weiblichen 
Mitgliedern zujfammengefegt, wie der von Marie bon 
Champagne begründete, welcher au8 jehzig Damen beitand, 
oder e8 murden auh zur Hälfte Herren hinzugezogen. 
Einzelne diefer Minnehöfe ftellten befondere Regeln auf, 
weldhe in allen ftreitigen ragen als Richtſchnur zu dienen 
hatten. So verorbniete 3. ®. der Liebeshof von Gadcogne 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





286 


mit Zuftimmung aler denjelben bildenden Frauen, fein 
Urteil jolle ala beftändige Vorichrift dienen, und diejenige 
Dame, welche derjelben nicht Folge Ieifte, jolle der Feinde 
Schaft aller übrigen Teilnehmerinnen ausgelegt fein. Die 
Grundlage der Erfenntniffe aber bildete ein förmliches Gefeßs 
bud), deffen jagenhafter Urfprung folgendermaßen erzählt 
wird: 

Ein bretagnificher Ritter hatte fi einfam in einen großen 
Wald vertieft, um den König Artus zu treffen. Da be= 
gegniete ihm eine junge rau, melde ihm fagte, fie wife, 
was er fuche, aber er werde das nur mit Ihrer Hilfe finden. 
Er jei in eine bretagniiche Dame verliebt, welche von ihm 
verlange, daß er ihr den berühmten Falten bringe, welcher 
am Hofe ded Königs Artus auf einem Stabe fite. Um 
biefen Falten zu erlangen, müffe er dur einen Steg im 
Zmeifampfe beweijen, daß jene Dame fchöner jei alß irgend 
eine don denen, die von den Rittern am Hofe geliebt würden. 
Die Frau ging und der Nitterämann zog weiter. Nad) 
vielen romantifhen Abenteuern fand er den zalfen auf 
einen goldenen Stabe am Eingange bed Palaftes und be= 
mächtigte fich deöfelben. An einer Heinen, an dem Stabe 
befeitigten goldenen Sette hing ein befchrieberres Papier; 
bie8 war das Gefeßbuc, der Liebe, und der Nitter jollte e8 
im Auftrage bes Stönigs allgemein befannt machen, wenn 
er den Falken ungehindert mitnehmen wolle. Dies gejchah, 
und wo ber Ritter da8 Gejegbud; zeigte, wurde e3 anges 
nommen und verordnet, daß dasfelbe bei jchweren Strafen 
Geltung haben folle. 

Offenbar ift diefe Mythe erfunden worden, um bie 
Minnehöfe zur fchnellen und bedingungsloien Annahme diejer 
Satungen zu veranlaffen; denn der geheimnisvolle Urfprung 
berfelben verlieh ihnen in den Augen der Beteiligten fchon 
eine gewiffe Autorität. Das Gefegbuch jelbjt befteht aus 
einunddreißig Artikeln, die zum Zeil hHöchit wunderliche Be- 
ftimmungen enthalten, fpigfindig und verichroben wie ber 
zu einer förmlichen Kunft erhobene Minnedienft jelbit. 

E83 hieß darin unter anderem: 

Die Ehe ift feine legitime Entfchuldigung ber Liebe. — 
Der wahrhaft Liebende muß da3 Bild der Geliebten ftets 
vor ſich ſehen. — Es iſt durch nichts verboten, daß eine 
Frau von zwei Männern, oder ein Dann von zwei rauen 
geliebt werde. — Der liebende Teil, mweldher ben andern 
überlebt, ift verpflichtet, eine zmeifährige Witwer: oder 
Witwenichaft zu halten. — Und fo weiter. 

MWelhe Macht aber hatten diefe Liebeshöfe? Welche 
Zwangsmittel ftanden ihnen zu Gebote, ihrem Willen Geltung 
zu verichaffen, ihre Urteile zu vollftreden? Seine anderen, 
al& die Gewalt der äffentliden Meinung, derjelben, welche 
einem Nitter nicht geftattete, ruhig und glüdlid im Schoße 
feiner Zamilie auf feiner Burg zu leben, wenn die übrigen 
über dag Meer zogen zum Sampfe gegen bie Ungläubigen; 
derfelben öffentlichen Meinung, welche nod, jet gemiffen 
Ständen dad Neht verfagt, ein Duell auszufchlagen, ob 
gleich die8 von den Gerichten als ein Vergehen geahndet 
wird, berfelben, vor welcher felbft die höchften Gewalten im 
Staate fi beugen. 

Wie eine ferne Landichaft mit Nitterburgen, von deren 
Söller Fraftvolle Heldengeitalten und jchöne rauen dem da= 
hinztehenden fahrenden Sänger ben letzten Scheidegruß zu: 
winften, liegt die romantiihe Zeit der Troumbadours und 
Minnefänger im grauen Nebel der Vergangenheit hinter ung, 
aber noch heute blüht namentlich au im dentichen Dichter- 








287 


walde die Blume der Liebe, da grüne Neis hingebenber 
Freundihaft; und daß dieje nimmer verwelfen mögen, dafür 
wird auc) ferner der Mund gottbegnadeter Sänger forgen. 


Frinnerung. 


Das ift der Plag, auf dem ich ftand 
Zum legten Mal, zum legten Mal 

An Teiner Seite, Hand in Hund — 
Nun ging ein Wetter überd Land: 

Die Luft ward fühl, dad Laub wird fahl. 


Senjeits der Düne ſchäumt das Meer, 
Gein Raufchen Elingt wie Klagejang; 
Ccharf weht der Wind von Often her — 
Mir pocht das Herz jo jehniudhtzichwer: 
Sch jah Dich nicht, weiß Gott wie lang! 


So idjleppt fih müde Tag um Tag, 
Schon färbt ji rot des Waldes Saum; 
Sn Thränen fteht der NRojenhag — 
Daß ich in Deinen Armen lag, 

E3 dünft mid) wie ein Traum... 


Klara Aüller. 


Meners Konverfations- Sexikon. 
(Bibliograpgiiches Snftitut, Leipzig.) 


Die neue Auflage ift bis zum 12. Bande fortgeichritten. 
E83 ift faft überflüflig, über die neuejten Bände etwas zu 
jagen. Der erlag und fein Stab von Arbeitern hat den 
redlichiten Willen, da® große Werf „auf der Höhe“ zu er: 
halten. Die Arbeit erjcheint leichter, als fie in Wirklichkeit 
ift. Denn die Gegenwart eilt im Tyieber vorwärts. Wohl 
ift dad zum Zeil nicht gerade ein gejundes Zeichen. Aber 
eine Encyflopädie hat nicht allein den Zwed, dad Felt: 
ftehende in kurzer Taflung feitzuhalten; fie muß, foll fie alß 
Beraterin ihren Zwed erfüllen, auch das ließende, da8 
Augenblidliche, da wieder in der nädjften Auflage veraltet 
ift, wiederjpiegeln. Dabei nicht Eleinlih zu werden und 
ben richtigen Ausdrud zu finden, verlangt Takt, rajches 
Urteil und große Schulung der vielen Mitarbeiter. 

Sch habe den neuen zwölften Band mit dem entiprechenden 
Teil ber vorhergehenden Auflage genauer verglichen und ich 
darf mit gutem Gewifjen jagen: er bedeutet in jeder Beziehung 
wieder einen Forticritt. Die Zahl der Stihmworte hat fi 
ganz aniehnlich vermehrt; der frühere 12. Bd. enthielt jchon 
Nathufius—Phlegmone; der neue „Mauria—Nordfee”; alles 
Neue hat vollfommen Berehtigung, aufgenommen zu jein; 
und daneben ift Überflüjfiges bejeitigt. Die Faflung mander 
Abfchnitte ijt gedrängter, wodurh Play für wichtige That» 
jahen gewonnen wurde. Der Zeit nad) gehören die Ans 
gaben — und das tft ein Hauptvorzug gegenüber den aus 
ländiihen Werfen biejer Art — bis Inapp zu ber Ausgabe 
der einzelnen Hefte; die neueften Grrungenjchaften der Technif, 
die jüngiten Beobadytungen auf dem Gebiete der Ntatur- 
wiljenichaften haben Berüdfihtigung gefunden. Auf diejen 
beiden Gebieten darf man den „Meyer“ als den beiten Spiegel 
der jeweiligen Lage anfehen. Zu einer jchärferen Stritif der 
beftehenden Theorien bietet ein jolches Werk nicht den An: 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


288 





laß. Sehr reid) ift Die Zahl der neuaufgenommenen Diänner 
auf allen Gebieten; die fremden Litteraturen find biß auf 
die jüngiten Namen berüdfichtigt; die Politiker und Staats 
männer aller Völfer und jeder Farbe ebenfalle. 

Einen Auflag nur hebe ich beionders hervor: „Menfch“. 
Er ift fehr ftarf bearbeitet und har eine danfenswerte Ver⸗ 
mehrung über die Geitalt des Menjhen und deren Ber- 
hältnifje erfahren. Dem Abjchnitt find ungemein wertbole 
und vorzüglic; ausgeführte Bilder beigegeben, vier Männer: 
und vier Franengeftalten nach der Natur, und ein brittes 
Blatt: Die Geftalt de Menfhen in der bildenden Stunit. 
Die Erflärungsworte enthalten vortrefflihe Bemerkungen. 
Daß alle Ktarten und Sluftrationen, ob in Schwarz= oder 
Buntdrud, tadellos find, verfteht fi von jelbft. 


Einer weiteren Empfehlung bedarf es nidt. O. v. L. 





Credo. 


Wie es ſo ging, ich weiß nicht mehr, 
Daß ich verlor den Kinderglauben; 
Nur daß es lange, lange her, 

Seit Bibel und Gebetbuch ſtauben. 
Längſt ſchau ich anders in die Welt; 
Ich bin ein Kind der Zeit geworden, 
Die nichts von Höll' und Teufel hält, 
Und helfe Gott durch Wahrheit morden. 
Nur manchmal, wenn zur Abendzeit 
Die Augen wandern zu den Sternen, 
Und nun die Sphinx Unendlichkeit 
Unfaßbar ſtarrt aus dunklen Fernen: 


Dann ſtehen alle Rätſel auf, 

Und jedes Wiſſen ſinkt zum Schemen, 
Dann flieht die Seele bang hinauf, 
Sich ihre Zuflucht rückzunehmen. 

Doch wie ſie ſucht in Scham und Gram, 
Sie iſt allein im Unermeſſ'nen, 

Der Kinderwahn ward flügellahm 

Mit ſeinem Troſt, dem halbvergeſſ'nen; 
Mit ſeiner Einfalt gläub'gem Schluß: 
Hoch über allen Sternregionen, 

Am Ende aller Welten muß 

Doch aller Welt ein Lenker thronen. 

O Kinderwahn, der nie gezagt, 

Wenn er das Haupt nach oben wandte, 
Der nicht nach ew'gen Rätſeln fragt, 
Und doch die ew'ge Löſung kannte! 
Die Wiſſenſchaft, die ihn verhöhnt, 
Wird ſie den letzten Schleier heben? 
Ans Fragen hat ſie uns gewöhnt, 

Und kann uns keine Antwort geben. 


Inhalt der No. 43. 


Schwertklingen. Vaterländiſcher Roman von Hans 
Werder. Fortſ. — Ohne Gott. Roman von E. Karl. 
Fortſ. — Beiblatt: Altes Gold. Von Konrad Nies. — Die 
Anfänge der jüngſten litterariſchen Bewegung in Deutſchland. 
Von O. von Leirner. — Zwei Gedichte. Von Karl 
Vanſelow. — Die Liebespoeſie in der alten Provence. 
Von Moritz Lilie. — Erinnerung. Von Klara Müller. 
Meyers Konverſations-Lexikon. — Eredo. 


Verantwortlicher Leiter: Otto von Leirner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei⸗-Aktien⸗ Geſellſchaft 
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗Vereins). 








— — — 


Deutſche 


Roman-Zeitung. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 


—1896. 


Erjcheint wöchentlich zum Preife von 34 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
duc alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 44, 


Schwertklingen. 


Baterländiiher Roman 


bon 


Dans Werder. 
(Fortfegung.) 


IV. 


„Rohlig, wollen Sie fih mit Ihrer Schwadron 
die Feuertaufe holen?” fragte Schild. „Wir haben 
den Weg nad Stolp fo lange unbehelligt gelaflen! 
Reiten Sie einmal dort hinaus und jehen Sie zu, 
wie’3 da ausfieht!” 

„Dante gehorfamft, Herr Lieutenant! Wenn’s 
da jo Ahnlih ausfieht wie in Arnsmwalde, jo ol 
mir’s lieb fein!“ ermwiderte Halo mit leuchtenden 
Augen. Er führte feit kurzem die neu errichtete 
Schwadron. Seine Arnswalder Ranzionierten waren 
ihm unterftelt worden. Als jpäter wieder ein Haufe 
jolh braver Gejellen eintraf, erblidte er zu feiner 
unbejchreibliden Freude SZägers Frigen darunter. 
Auf anderen Wegen hatte diefer dasjelbe Ziel wie 
fein geliebter Lieutenant erreiht. Die feindliche 
Armee, welde ihre Gefangenen berbenweile nad 
Frankreich zutrieb, hatte weder Zeit noch Luft, alle 
ihre Schüglinge gemwiflenhaft zu überwachen, jo war 
es ihnen möglich, in ganzen Trupps zu entlommen, 
und folde Gelegenheit hatte Frite nicht unbenupt 
gelalien. Bon Kolberg batte er feinen Lieutenant 
öfter jprechen hören, und bier fand. er ihn wirklich. 
Die Wiederjehensfreude war grenzenlos. Volllommen 
aber jollte jelbft diefes Glüd nicht fein. Es fehlte 
der dritte in dem trauten Bunde, Fides, der un: 
vergleichlihe, war den Xeiden des Gefangenentrans- 
portes erlegen. Das war freilid ein Kummer. 

Haſſos treuer Schidjalsgefährte Scriver war 
dem Bataillon des Kapitän Waldenfels zugeteilt, der 
ihn bald mit Auszeihnung in jeine engere Uın- 
gebung 309. Lbgleich jo dienftlich getrennt, hielten 
die beiden Schweidniger Flüchtlinge doch treulich zu 
einander, denn ihre Freundihaft war, wie fie felbft 
fagten, mit Feuer und Eijen zufammengejchmiebet. 
Doh auch unter den neuen Waffenbrübern Enüpften 


"Ramanefeltung 1898. Lie. 44. 


fie freundfchaftlide Beziehungen an. Beſonders 
fühlte ih Haflo diefe erfte Zeit zu Hagen, feinem 
alten Belannten, bingezogen. Von ihm erfuhr er 
das Nähere über die jchredlichen Begebenheiten des 
Krieges, da Hagen auf dem Schauplat derlelben 
geblieben war. Haflos erite Frage war nach Noftik, 
dem treuen freunde feines toten Kern. Sagen 
wußte, daß er, im Rampfe bei dem Prinzen ver: 
wunbet, fi tapfer bis Königsberg durchgeichlagen 
hätte, dann aber die Armee verlafen und in ruffijche 
Dienjte getreten wäre. 

Auh von dem Schidjal der Gendarmes erzählte 
er ihm und von Hilmars Unglüd in der Schladt. 
Bon dem Spruch bes Kriegsgerichts jedoch wußte er 
noch nichts. — 

Haſſo ſtand mit ſeiner Schwadron marſchfertig 
zum Ausrücken bereit. Er ſollte ſich alſo mit ihr 
die Feuertaufe holen. Es war das erſte ſelbſtändige 
Unternehmen, das ſeinen Händen anvertraut wurde, 
und eiligſt ging er, feine Befehle zu erteilen. 

„Holla he!“ es war ein Ruf, der wie heller 
Jubel klang. Die drei Lieutenants ſeiner Schwadron 
kannten ihn ſchon und wußten, daß er ihnen Gutes 
bedeutete. _ Sn der dämmernden Frühe des März: 
morgens ritt die Feine Schar hinaus und ftreifte 
über den Gollenberg fort, die große Heerjtraße ent: 
lang, die über Stolp und Lauenburg nah Danzig 
führte. Unermeßlide Fichhtenwaldungen, wie ein 
grüner Decean, umgaben die Reiter. SHügelletten, 
Ihroff und wild, dazwilhen dunkel umjchattete Seen, 
enge Schluchten, romantische Flußthäler — wer ver: 
mutet das alles in dem als jo öde verrufenen und doch 
jo ernithaft jchönen, weltentfernten Hinterpommern? 

Sn burftigen Zügen atmete Haflo die barz- 
duftende, Töftliche Heimatluft. Seit fünf Jahren war 
er aus ihr verbannt in die YSremde, denn er jelber 
war ja fremd zu Haufe! Und do, war er nidt 
jelber ein Kraut, auf diejer Heide gewachlen, ein 


IV. 21 


Ta Tin - 


291 Schwertklingen. 
Zweig, gleichſam von einem dieſer Fichtenbäume? 
Klang nicht ſein Name aus dem Rauſchen des Windes, 
ſein Herzſchlag aus dem Murmeln des Baches? Es 
war ihm, als müßte ein jeder ſehen und hören, wie 
er es ſelber empfand. Ein pommerſch' Kind, daheim 
— und doch ein Fremdling in dieſen Wäldern hinter 
dem Gollenberge. 

An dem romantiſchen Herrenhauſe von Brotzen 
ritt er vorbei, durch das Weberdorf Friedrichshuld, 
durch die endloſen Forſten von Treblin. Todes- 
ſchweigen, der atemloſen Ruhe der Wüſte vergleichbar, 
lagerte umher. Kein Laut, kein Leben, Meilen in 
die Runde. Den halben Tag ſchon verfolgte er ſo 
durch grüne Wildnis eine kleine, franzöſiſche Kolonne. 
Ein vornehmer Reiſewagen ſollte es ſein, von 
franzöſiſchen Dragonern begleitet, ſo hatte ſeine Pa— 
trouille gemeldet. Daß Haſſo Rochlitz Grund hatte, 
von einer Begegnung mit ſranzöſiſchen Reiſeequipagen 
ſich Genuß zu verſprechen, war zweifellos. 

Doch auch den Franzoſen entging die verfolgende 
Huſarenſchwadron nicht, und ſie waren auf ihrer Hut. 

Hier aber, in der tiefen Waldeinſamkeit der 
Trebliner Forſt ereilte ſie das Verhängnis. Wie aus 
der Erde gewachſen, von allen Seiten, zwiſchen den 
ſchlanken Fichtenſtämmen, ſtoben die Schillſchen Reiter 
hervor! Ein verzweifeltes Ringen entſtand, doch nur 
minutenlang konnten die franzöſiſchen Dragoner dem 
heftigen Anprall widerſtehen. Dann ſah ſich Haſſo 
mit ſeinen Huſaren als Herrn der Situation. Der 
während des kurzen Gefechts davonjagende Reiſe— 
wagen wurde, ſeiner teils gefangenen, teils fliehenden 
Bedeckung beraubt, bald eingeholt. Aus demſelben 
entpuppte ſich ein Kurier, der in ſeiner Ledertaſche 
wichtige Depeſchen trug. Dieſe gaben genauen 
Aufſchluß über die nächſten Belagerungsmaßnahmen, 
mit denen der Feind gegen Kolberg vorzugehen be— 
ſchloſſen.“) Rochlitz las die Depeſchen ſeinen Offizieren 
vor. Sie erſchienen ihm von unſchätzbarem Wert für 
den Kommandanten, der den Inhalt erfahren mußte, 
wenn auch nur einer von ihnen lebend in die 
Feſtung zurückkam. Ebenſo wertvoll erſchien den 
Herren ein zweiter Fund, den bei näherer Unter— 
ſuchung der Wagen herausgab: Eine wohlgefüllte 
Kaſſe, für welche die ſtarke Dragonerbedeckung wahrlich 
nicht übertrieben erſchien. 

Leichte Verwundungen hatten einige der Huſaren 
aus dem Gefecht davongetragen, darunter der Lieute— 
nant von Blomberg. Dem Schwadronsführer ſelber 
war das Pferd unter dem Leibe erſtochen. Der 
herrliche Brabanter eines gefangenen, franzöſiſchen 
Offiziers aber bot ihm trefflichen Erſatz dafür. 

Mit Windeseile traten die Huſaren jetzt ſamt 
ihren Schätzen und Gefangenen den Heimweg an. 
Beim Überſchreiten des Gollenberges aber mußten 
ſie ſich überzeugen, daß ihnen durch franzöſiſche 
Truppen die Rückkehr abgeſchnitten ſei. Doch war 
man ja hier der Meeresküſte nah. Der in der 
Gegend heimiſche Lieutenant von Blanckenburg machte 
den Vorſchlag, die Gefangenen mittels einer See— 
reiſe in offenen Booten nach Kolberg zu ſchaffen. Es 


Alles hiſtoriſch. 





Roman von Hans Werder. 





292 


war bei dieſer Jahreszeit kein freundlicher Gedanke, 
zumal für die armen Franzoſen. Der Kurier 
empfahl Gott ſeine Seele, doch die Huſaren fragten 
nach ſeinen Empfindungen nicht viel. Blanckenburg 
erbot ſich, die erforderlichen Strandſchiffer mit ihren 
Booten anzuwerben. Einige Huſaren als Bemannung 
ſeiner Flotte — er ſelbſt der Kapitän! Seine dunkel⸗ 
blauen Augen blitzten bei dem Gedanken vor Unter⸗ 
nehmungsluſt wie blankgeſchliffener Stahl. Haſſo 
fand den Vorſchlag herrlich! Am liebſten wäre er 
ſelber mitgegondelt, doch ihn hielt die Pflicht bei 
ſeiner Schwadron zurück und ſo ſah er beglückt und 
ſehnſuchtsvoll zugleich ſeiner davonſchwimmenden 
Flotte nach. Fröhlich grüßte der kühne Huſaren— 
Admiral ihm zu, indem er ſeinen Säbel über dem 
Haupte ſchwang. 

Rochlitz, mit ſeiner Schwadron den Heimritt 
auf Schleichwegen fortſetzend, ſtieß wiederholentlich 
auf den Feind und — „ſchlug ſich durch, mit dem 
Säbel in der Fauſt“ — wie die alte Kolberger 
Chronik erzählt. 

Sn mitternädhtliher Stunde fehrte er zurüd, 
nur um wenige Pferde ärmer, melde, erjchoflen, 
zurüdgelafien waren. „Hola be!” da war ber 
Auf wieder, und diesmal Mang er als wahres 
Triumpbgejchrei durch die dunkle, Talte Nacht. 

„Da ift unjere Hola he:Schwabron!“ bemerkte 
lähelnd der würdige alte Bürger:Nepräjentant 
Nettelbed. 

„Kommen Sie, wir wollen hören, was fie aut: 
gerichtet hat!” fügte Schill zuverfichtlich Hinzu. 

„Sit meine Flotte noch nicht gelandet?” war 
Haflos erfte Frage. 

„Was — Hhre Flotte?” fragte Nettelbed er: 
ftaunt und ladend zurüd. NRoclig fegte in kurzen 
Zügen den Sachverhalt auseinander. „Nein, Ihre 
Flotte ift noch nicht eingelaufen, aber zur Be 
unrubigung ift fein Grund vorhanden!” tröftete der 
jee- und wetterfundige Nettelbed. „Der Wind ift 
ungünftig, aber der Seegang leiht — ein Kinder: 
Ipiel für einigermaßen geübte Schiffer!“ 

Schill hatte hocherfreut Haflos Bericht ent: 
gegengenommen. „Sie find ein Teufelsferl, mein 
lieber Rodlig! Jeder Franzoſe, der fih in eine 
Poſtchaiſe jeßt, follte fi zweimal bebenfen, ob er 
Sshnen nicht unterwegs begegnen könne! — Aber 
nun gratulieren Sie auh mir! Nach heute ein: 
getroffener Kabinettsordre hat Seine Majeftlät bie 
Gnade gehabt, mid zum Nittmeifter zu befördern!“ 

Das gab freilih große Freude unter ben 
Schilihen Reitern. Sebder einzige von ihnen fühlte 
fih mit geehrt und erhoben in ihrem fühnen, all 
geliebten Führer. 

In der Morgenfrühe lief Blandenburg mit 
feiner Flotte in den Hafen ein. Haffo begrüßte fie 
freudig. Kurier, Kalle, Depefhen und Gefangene 
wurden dem Kommandanten eingehänbigt. 

„Ihre Schwadron hat die Feuer: und Wafler: 
probe beftanden!” fagte Schill. „Darüber find mir 
einig,“ und nad Ffurzer PBauje feßte er hinzu: 
„Kommen Sie mit mir, Rodlit, bier zmwijchen die 
Schanzwälle! Ih babe Zhnen etwas zu fagen!” 


— 





293 Schwertklingen. 
Es ſchien ihm ſchwer, den Anfang zu finden, doch 
endlich hub er an. „Sie wiſſen nicht, was aus 
Ihrem Vetter oder Pflegebruder geworden iſt?“ 

„Nein, Herr Rittmeiſter —“ 

„Er iſt hier, er hat ſich geſtern abend bei mir 
gemeldet!“ 

„Ach — das freut mich!“ rief Haſſo aus der 
Tiefe ſeines Herzens. 

„Freuen Sie ſich noch nicht, Rochlitz! Er iſt 
nicht hier als Offizier — er tritt als Gemeiner bei 
meinen Huſaren ein!“ 

„Wie —“ unwillkürlich blieb Haſſo ſtehen und 
blickte den Sprecher verſtändnislos an. 

Da erzählte Schill, was er geſtern durch den Un— 
glücklichen perſönlich erfahren. 

Stumm lehnte ſich Haſſo an die Mauer der 
Schanze, von Entſetzen überwältigt. — Wie Furcht— 
bares enthielt dieſer ſo ruhig geſprochene Bericht. 

„Sein Vater — der unglückliche alte Mann!“ 
klang es endlich von ſeinen Lippen. Schill erinnerte 
ſich, daß ihm Haſſo von dieſem ohne Liebe, faſt mit 
Bitterkeit geſprochen — darum verwunderte ihn das 
namenloſe Mitleid in dieſem Ausruf. 

„Was iſt ſein Vater für ein Mann?“ 

„Ein Veteran von Roßbach iſt er, ein alter 
Seydlitz- Dragoner, Invalide von Kunersdorf her. 
Wahnſinnig wird es ihn machen! Die Schande — 
ach und ſein einziger Sohn — er ſah einen Helden 


und Halbgott in ihm! — Mein Gott, wie fol er 
dies tragen!” 

Beide Männer jchwiegen erichüttert einen 
Moment. „Herr Rittmeilter, eine Bitte —” fuhr 


Hafjo dann auf. „Geben Sie ihn mir wenigitens 
in meine Schwadron, damit ich für ihn forgen kann!“ 

„Nein!“ entgegnete der Rittmeifter beitimmt. 
„Das Tanı ih nit. Er bat-mid — nur das eine 
nicht! ch Hatte ja feinen Grund, ihm den Wunſch 
abzufchlagen und habe ihn Hagen bereits zugeteilt!” 

Hallo jenkte ftumm den Kopf. Ein Ausdrud 
von Härte trat in fein Geficht, der ftets feine fcharfen 
Linien dort bineingrub, fobald man ihm wech gethan. 
Er beurlaubte fih von dem Nittmeifter und ging 
feinem Eleinen Quartier zu, das er oben im Haufe 
eines Bädermeifters bezogen. An den Broten und 
Semmeln vorüber eilte er die jchniale Stiege hinauf, 
die zu feinem Zimmerden führte. Als er dasjelbe 
betrat, fand Hilmar vor ihm. Eine abgemagerte 
Geftalt, ein blafles, vergrämtes Geliht, das blonde 
Haar gelichtet. So erjhien er ihm ein anderer, als 
er ihn jonft je gefannt. Das Gefühl der Kränkung, 
das er eben noch empfunden, ging unter in grenzen: 
lojem Mitleid. 

„Hilmar!“ Er breitete die Arme aus, und 
Hilmar jant an jein Herz. Nie zuvor Hatten fie fi 
umarmt, doch Haſſo wußte, was jet dem jo jchwer 
Gedemütigten Linderung gewähren konnte. 

Diejer richtete fich endlich wieder auf. „Weißt 
Du denn jhon, Hallo?” 

„sa, ja, ih weiß! Schill fagte mir! Be: 
griften habe ich's natürlih noch nicht! Wenn Du 
einmal Zeit und Luft haft, fannjt Du mir ja davon 
erzählen! Daß es Pech war — entjeglidhes Unglück, 





Roman von Hans Werber. 





294 





und nichts weiter, verfteht fi ja von felbft!” Hilmar 
jüttelte ftil abwehrend den Kopf. „Meih es Dein 
Bater Schon?” fragte Haflo leife. 

Sn ftiller Verzweiflung ftarrten die hellblauen 
Augen ihn an. „Mein Vater — 09 ja!” — ein 
Lächeln verzerrte feine Lippen. „Mein Vater bat 
mid) einen Ehrlofen genannt, mid) von jeiner Schwelle 
gejagt! Nicht vor die Augen fol ih ihm fommen 
— nidt den Tod babe ich verdient, den Tod von 
feiner Hand, um den ich ihn bat! — Sa, was foll id) 
denn noch auf der Welt! Schimpf und Schande —” 
Er ſank auf einen Stuhl — legte beide Arme 
auf den Tifh und den Kopf darauf, fchwer mie 
eine Bürbe. 

„Nun, Hilmar, daß Dein Bater felber Dich 
töten jollte — das Ekonnteli Du ihm eigentlich nicht 
zumuten! Sei nidt jo Treuzunglüdlich, Tieber Kerl! 
Wenn Du Did wirkliid in die Kopflofigfeit ber 
ſchrecklichen Schlachttage haſt mit hineinreißen laſſen 
— hier findeſt Du Deine Courage ſchon wieder und 
einen ehrlichen Reitertod obenein, wenn's durchaus 
ſein ſoll! Sonſt aber auch ein ehrliches Reiterleben!“ 

Haſſos Worte klangen ſo beruhigend, glättend 
in die Hochflut der verzweifelten Empfindungen des 
andern hinein. Unendlich wohlthuend fühlte er ſich 
davon berührt und hob unwillkürlich das Haupt 
wieder empor. 

„Es iſt mir lieb, daß Du zu Hagens Schwadron 
gekommen biſt!“ fuhr Haſſo fort. „Er iſt ein vor— 
nehmer, famoſer Menſch und wird keinen Augenblick 
vergeſſen, wen er vor ſich hat. — Es kann ja auch 
nur für kurze Zeit ſein, dann biſt Du wieder einer 
der Unſeren und dieſe ganze böſe Geſchichte iſt ver—⸗ 
geſſen! Aber ſag' mir nur, Hilmar, iſt es Dir nicht 
wenigſtens lieb, daß Du mich hier gefunden?“ Es 
klang dies ſo weich und zaghaft, als wagte er kaum 
auf eine Bejahung zu hoffen. 

Hilmar lehnte den Kopf zurück und ſah zu dem 
vor ihm Stehenden auf. Er dachte daran, wie es 
Haſſo einſt verboten worden, in ſeinem Regiment 
einzutreten, um ihm nicht durch ſeine Unvollkommen⸗ 
heiten die glänzende Stellung zu gefährden, die er 
darin beſaß. Jetzt kam er ſelber als ein Ausge⸗ 
ſtoßener und fand hier ben ſtets mißachteten Pflege⸗ 
bruder angeſehen und ſelbſtbewußt, als Schwadron— 
chef in dem berühmten Schillſchen Korps! Und 
war er denn je dem Jüngeren, dem Unterdrückten 
ſo zart und liebevoll begegnet, als dieſer ihn jetzt 
empfing? — Die Frage ging ihm durch den Sinn. 

„Ja, Haſſo, ſehr lieb iſt es mir, Dich hier zu 
haben! Du hältſt ſo treu zu mir, Bruderherz! 
Gott lohn' es Dir! Du weißt nicht, wie wohl Du 
mir damit thuſt!“ 


V. 


Wie ein deckender Schild hatte Schill mit ſeinem 
Freikorps vor Kolberg geſtanden und es drei Monate 
lang vor dem herandrängenden Feinde geſchützt. 
Dichter und dichter aber zog ſich jetzt das neu ver— 
ſtärkte Belagerungsheer zuſammen und ſchloß die 
Feſtung ein. Das Schillſche Korps, zum Patrouillieren 





EEE — — 


Roman von Hans Werder. 





























































295 Schwertklingen. 
und kecken Angriff geſchult und geſchaffen, mußte 
jetzt hinter Wällen und Feſtungsgräben liegen und 
unter den Leiden der Belagerung doppelt ſeinen 
Mut bewähren. Der Schauplatz ſeiner Thaten ward 
die Maikuhle, der verſchanzte Wald an der linken 
Seite der Perſantemündung, deſſen Verteidigung 
Schill übernahm. Es ward eine Zeit ſchweren 
Dienſtes, doch ſtete Ausfälle, zurückgeſchlagene An⸗ 
griffe oder ſonſtige Reibungen mit dem Feinde ver— 
liehen ihr hohes Intereſſe. Tägliche Gefahr, Täglich 
Gelegenheit zur Auszeichnung, das war das Wahr— 
zeichen der Arbeit dieſes tapferen Freikorps. 

Dem alten Oberſten Loucadou wurde jetzt ſchwül 
und unheimlich zu Mute. Er ſehnte ſich lebhaft 
nach einem Erſatz, um der immer drohenderen Ver— 
antwortung überhoben zu ſein. Manche notwendige 
Vorkehrung war ſeinerſeits vernachläſſigt worden. 
Um nun das Verſäumte nachzuholen, hatte er ſchon 
in fieberhaftem Thatendrang die Lauenburger Bor: 
ſtadt niederbrennen laſſen, ohne die Einwohner der⸗ 
ſelben vorher zu benachrichtigen. Die Häuſer wurden 
ihnen über dem Kopfe angeſteckt, nicht das Geringſte 
ihrer Habe, nicht einmal das lebende Vieh ver— 
mochten ſie zu retten. Arm wie die Bettler, in Wut 
und Verzweiflung waren ſie ſcharenweiſe in die Stadt 
geflüchtet. Derſelbe Vorgang ſollte jetzt bei der 
„Geldervorftadt” wiederholt werden, dieſelbe grauſame 
Übereilung mit dem gleichen Elend im Gefolge. Dies 
beihloß Schill zu verhindern. Er bejegte mit einem 
Teil feiner Truppen die Vorftadbt und bielt den 
Feind zurüd, bis die Einwohner ihre Käufer ge: 
räumt hatten. „Es bat noch keine Gefahr — id) 
bürge dafür!” gab er als biündige Erklärung für 
fein Thun. Dann erft, al® auch der legte fih und 
feine Habe in die Stadt gerettet, gab er den Ort 
der Verbrennung preis. Unendlih war die Danl: 
barleit der Bevölkerung. Oberft von Loucadou aber 
ergrimmte in großem Zorn und ließ den Mifjethäter 
zu fi bejceiden. Mit ruhiger Beftimmtheit er: 
läuterte Schill die Gründe, welde ihn zu jeiner 
Handlungsweife bewogen. Doh das verftärkte nur 
den Zorn des Kommandanten. Lange Ion war er 
eiferfühtig auf des jungen Neiteroffizierg Erfolge 
und feinen wadjenden Ruhm. Hier fand er endlid 
einmal Gelegenheit, dem Übermütigen, der oft jchon 
feine Befehle zu umgehen gewußt, eine empfindliche 
Demütigung zu teil werden zu laffen. Schills offen: 
tundiger Ungehorfam gab die jchönfte Veranlajjung 
dazu. Mit der ganzen Würbe des ftrengrichtenden 
Borgelegten diktierte er ihm zwei Tage Zimmerarreft. 
Ferdinand von Schi gab feinen Säbel ab und ging 
in feine Wohnung. „Schade nur um die zwei Tage 
der Unthätigkeit!” fagte er fich mit zürnender Ungedulod. 

Die Bürger von Kolberg aber erfuhren von 
diefem Vorgang. Eine grenzenloje Entrüftung erhob 
ih. Schill, der Schußgeift der Stadt, in Gefangen: 
ihaft — unerhört! Das durfte nicht jein! Man ver: 
fammelte fi, beriet, was zu thun wäre. Eine Ab: 
ordnung erjchien bei dem Kommandanten und forderte 
laut und drohend bie Befreiung bes Rittmeifters. 
Doppelt erbittert buch diefe Parteinahme der Bürger: 
Ihlug Loucadou ihre Forderung ab. Die 


Rittmeifter ein. 
Sie heraus, zeigen Sie fid — die Kolberger wollen 
die Gefangenihaft ihres Helden nicht dulden! €& 
giebt eine Gemwalttfat — einen Sftandal ohne: 








296 











Entrüftung ftieg aufs bhödftee Man beichloß den 
gefeierten Helden gewaltfam zu befreien und ber 
Zug begab fi} zu des Hufarenführers Wohnung. 


Nettelbed, ihnen voraneilend, trat haftig bei dem 
„Xieber Herr Nittmeilter, kommen 


gleichen, wenn Sie dem nicht entgegentreten!” 

„Einen Gewaltftreid — für mid!” rief Schill 
entjegt. „Um des Himmels willen, lieber Nettelbed, 
beruhigen Sie bie Leute! Der Kommandant  ijt 
mein Borgejegter! Da ich gegen feinen Befehl ge: 
bandelt habe, kann er mich beftrafen, wie es ihm 
gut dünt! Ein anderes ift es freilih, ob er es 
unter diefen Umftänden hätte thun jollen! Dod 
darüber haben weber bie Kolberger nody ich zu ent: 
fheiden! Gehen Sie und jagen Sie den Xeuten, 
ih ließe fie bitten, fi fill zu verhalten, wenn meine 
Bitte ihnen etwas gälte!“*) 

Sa, feine Bitte galt ihnen etwas. 
ihn — und alles blieb ruhig. 

Wenige Tage darauf fchlug der geängfieten 
Feftung eine Freudenftunde — Loucadou ward ab: 
gerufen und an feine Stelle trat Major von 
Gneijenau, ein junger, fraftvoller Mann, ein 
genialer Feldherr und ein Held. Seine Maßnahmen 
zeigten der Bürgerichaft alsbald, was fie von ihm 
zu hoffen hätte. Die feurigen Worte, mit denen er 
fie antedete, entflammten ihren jchon gefunfenen 
Mut. Sie jhmwuren dem neuen Kommandanten, 
mit ihm für die Feftung zu leben und zu fterben, 
fie nicht zu übergeben, ob au die ganze Stadt in 
Feuer aufginge. 

Unterbeflen trieb in der Maituhle das Schilliche 
Korps jein Wefen, zum Schuß des Hafens, der allein 
nod die Verbindung mit der Außenwelt ermöglichte. 
Sonft war alles vom Feinde umjdhloflen. 

Hier aber herrfchte trogdem fiegesfroher Ülber: 
mut. Oft reisten und nedten die flotten Hujaren 
den Feind und weibeten fi bis zur Ausgelafienheit 
an den Täufchungen, die fie ihnen bereiteten. ‘Der 
ernfte, junge Rittmeifter fchüttelte zuweilen tadelnd 
das Haupt zu dem Unfug. „Das ift feine Kriegführung 
— das find Kindereien,” fagte er ftreng. Und dod) 
ergögten au) ihn diefe Ausbrühe der Freude und 
Luft des Kriegerlebens. „Wenn ih nur nicht immer 
im voraus wüßte, daß Sie der Urheber von all 
diefen Streihen find, Rodlig,” meinte er. „Mid 
wundert, daß die Sranzofen noch immer drauf herein: 
fallen, wenn Sie mit Shrem Hola be losziehen. 
Die Bande ift zu dumm, eigentlid müßte fie nad) 
gerade daran gewöhnt fein!“ 

Haffo fchwieg, denn der Tadel des Rittmeilters 
behagte ihm nicht. Blandenburg aber nahm lebhaft 
für ihn das Wort. „Glauben Sie nit, Herr Ritt: 
meifter, daß es den Franzofen doch einmal Ichledt 
befommen fünnte, wenn fie auf unfere Wie nidt 
mehr anbeißen wollten?” 

„Gewiß, ich glaube alles!” erwiderte Schill mit 


*) Schilla eigene Worte. 


Sie Tiebten 





297 Schwertklingen. 


einem lächelnden Blick auf Haſſos ernſtes Geſicht. 
„Sie brauden mir gegenüber meine NRodlig- 
Schwadron nicht zu verteidigen, ich weiß, was id 
an ihr babe!“ 

Zuweilen aber nahmen die Maikuhlen-Scherze 
aud einen fehr erniten Charafter an. Eines Morgens 
rüdten die Belagerer mit mehreren Taufend Mann 
von der „Epinntothe” nad dem Strande, um einen 
Sturm auf die Maiktuhlen-:Schanze zu unternehmen. 
SHil ging ihnen mit feiner ganzen Bejaßung ent: 
gegen. Er flürmte mit Hurra die Spinntothen: 
Schanze und warf den Yeind mit Hilfe von zwei 
Kanonen aus mehreren Dörfern bis in die Sellnowiche 
Verihanzung zurüd. Es war ein äußerft fcharfes 
Gefecht, viele Verwundete und Tote auf beiden Seiten. 

„Wer war der Mann,” fragte Schill am Abend 
diejes beißen Tages, „ber allein zuerft auf der 
Spinntothen-Schanze ftand? Es war fein Dffiier, 
wie mir jchien?“ 

„Es war der Hujar von NRodlig aus meiner 
Schmwadron,” berichtete Hagen. „Er ift bleffiert 
worden!” 

„Ah ſo, Rochlitz!“ Der Nittmeifter verftand. 
E3 war nit mehr Mut, es mar todjuchende Toll: 
fühnheit gewejen, die jenen da hinaufgeführt. Der 
Erfolg Hatte die That zu einer glänzenden unb 
beldenhaften geflempelt. „Wo ift er? Ich wünſche 
ihn zu ſprechen!“ 

Hilmar Rochlitz trat vor, mit verbundenem 
Kopf und Arm. Sein Blick begegnete dem des 
Rittmeiſters. Nicht ein Wort des Lobes wagte dieſer 
ihm zu ſagen; er reichte ihm die Hand. 

„Melden Sie ſich bei Ihrem Schwadronchef als 
zum Unteroffizier ernannt!“ ſagte er. Und leiſe 
fügte er hinzu: „Sie werden mir geſtatten, über 
den heutigen Tag Ihrem Herrn Vater zu berichten!“ 

Mit einem ſtummen Händedruck dankte ihm 
Hilmar. 

„Schreiben Sie den Brief an ſeinen Vater 
noch heut, Herr Rittmeiſter,“ bat Haſſo ihn ſpäter. 
„Es gehen morgen in aller Frühe einige Boote 
aus dem Hafen, in denen unſer Herr Kommandant 
ganze Ladungen von Greiſen und Schwächlingen 
nach Rügenwalde befördern läßt! Einen habe ich 
aus erſehen, der noch Mannes genug ſein dürfte, den 
Brief ſicher nach Reckentin zu befördern!“ Der 
Rittmeiſter erfüllte gern die Bitte. 


* * 
* 


Zum Leidweſen der Garniſon wie der Bürger: 
ſchaft verließ der kühne Huſarenführer, ſein Korps 
zurücklaſſend, Kolberg zu Schiffe, um ſich nach Stral⸗ 
ſund zu begeben und von dort mit Hilfe der Schweden 
einen Entſatz der Feſtung zu veranlaſſen. Er wußte 
dieſe jetzt wohl aufgehoben unter Gneiſenaus Händen 
und glaubte, ihr ſo noch beſſer nützen zu können. 
Zu ſeinem Stellvertreter in Kolberg ernannte er den 
älteſten ſeiner Offiziere, Lieutenant von Gruben I, 
und als zweiten Rochlitz. Die Maikuhle blieb nach 
wie vor der Schauplatz ihrer Thaten. 

Die Belagerung ward immer ernſtlicher und 


— 
Roman von Hans Werder. 


298 








gefahrdrohender. Granaten fielen in die Stadt und 
richteten arge Beſchädigungen an. Die Wolfberg— 
Schanze, ein ſehr wichtiger Punkt, fiel nach heftiger 
Gegenwehr in die Hände der Franzoſen. Sie wieder 
zu erobern ward jetzt ein Hauptaugenmerk der 
Kolberger Beſatzung. Kapitän von Waldenfels be— 
ſchloß mit ſeinem Grenadierbataillon einen Ausfall, 
den Sturm auf den Wolfsberg zu wagen. 

Es war eine ſtockfinſtere Nacht, das Meer 
brauſte ſturmgepeitſcht, dazwiſchen hörte man das 
Praſſeln des Regens. 

„Gehen Sie mit Gott, Waldenfels!“ ſagte 
Gneiſenau. „Es iſt ein hartes Werk, das Sie ſich 
vorgenommen haben, aber wenn's einer durchführen 
kann, ſo werden Sie es ſein!“ 

Des jungen Helden blaue Augen leuchteten in 
tiefem, heiligem Feuer. Ein hoher Ernſt lag auf 
ſeiner Stirn. „Mit Gott!“ ſagte er nur. 

In dem Toben der Sturmnacht verhallten die 
Tritte der Grenadiere. Voll banger Erwartung 
lauſchten die Bürger von Kolberg an den Thüren 
ihrer Häuſer. Major von Gneiſenau und der alte 
Nettelbeck ſſtanden zuſammen in dem kleinen Wacht— 
zimmer des Kommandanten über dem Lauenburger 
Thor am offenen Fenſter, ſchweigend, atemlos. Alles 
war ſtill, nur die See brüllte wilder und der 
Sturm pfiff. 

Eine halbe Stunde war vergangen. 

Da knatterten Schüſſe auf Schüſſe, größer, 
unheimlicher ward das Getöſe. Endlich war es wieder 
Nil. Der Regen hatte aufgehört und der Sturm: 
wind legte fih. Tiefer, majeflätiiher braufte ber 
Gelang ber See dur die Nacht dahin. Wem jang 
fie das Grablied? 

„Wie find die Helden gefallen!” 

Ein Bote trat in das Zimmer des Kommandanten. 
Er meldete den Sieg Die Wolfsberg Schanze 
war geftürmt — in den- Händen ber Preußen. Der 
Feind Hatte fih mit großem Berluft zurüdgezogen. 
Doh audh das preußiiche Grenadierbataillon hatte 
ſchwer gelitten. 

MWaldenfeld war gefallen! Er felbft war der 
erite beim Sturm, der erfie auf der Bruftwehr, und 
ber erfte, der mit feinem Leben den Sieg erfaufte. 
Ein feindlihes Bajonett burhbohrte feine Bruft. 
Er jah mit bredendem Auge den Sieg in der Hand 
der Seinen und freudig ftrömte fein Herzblut dahin — 
vergojlen für des Vaterlandes heilige Sade. So 
anf er fiegend im Tode dahin — ber pommerjce 
Leonidas. 

Leider waren fie nicht von Dauer, die Früchte 
diefes edlen Opfers. Die Feinde eroberten den 
Wolfsberg zurüd und alle Verfuhe, ihn mieder zu 
gewinnen, blieben vergeblih. Immer enger ward die 
Feſtung umjchloffen. Bon der Außenwelt drang 
feine Kunde mehr in die geängftete Stadt. Bomben 
und Granaten jchlugen unausgejegt berein, zer: 
trümmerten die Gebäude oder jeßten fie in Flammen. 
Leihen, Verwunbete, PVerftümmelte lagen auf den 
Straßen, in den Häufern. Unaufbörli eriholl das 
Wimmern und MWehllagen. Herzjerreißend waren 
die Eindrüde für Auge und Ohr, unermeßlich der 





299 Schwertklingen. 
Jammer in jedem Winkel der Stadt, grauſenhaft 
die Gefahr, die ſich jede Minute ſteigerte. Und doch 
ward feine Stimme laut, welche Übergabe der Feſtung 
gefordert hätte. Ausbarren bis zur letten Stunde, 
das fchien die Lolung jedes Bürgers wie Soldaten 
in der ganzen Stadt. Unjerem König die Feltung 
erhalten, darauf war jeber zu fterben bereit. 

Der erfte Juli brad an. Entjegliches berichtet 
die Kolberger Chronit über diefen Tag. No war 
die Sonne nicht aufgegangen, als der Donner ber 
feindlichen Geihüge die Einwohner aus dem Schlafe 
wedte. Bon ben Wällen dröhnte die Antwort des 
fürdhterlihen Morgengrußes. Die Erde bebte, ber 
Tag des Weltgerichis Ichien gelommen. Aus allen 
Batterien der Belagerer rund um die Feftung warfen 
Die Sean Tod und Vernichtung in die arme 
Stadt. 

Zu gleider Zeit unternahm der Feind einen 
heftigen Angriff auf die Maituhle. Mit der Wut der 
Berzweiflung wehrte fich das Schillihe Korps und ver: 
teidigte feinen Plag. Doch die Übermadht des Feindes 
war groß — die Verichangungen nicht ftarl genug. 

„Wir müfjen die Maituhle Halten! Kolberg 
vom Meere abgeihnitten — ilt unrettbar verloren, 
wenn ber Feind fih bier feftiegt! Ach, daß Schill 
bier wäre!“ 

„Wir müflen thbun, was Schill gethan hätte!“ 
war Hafjos Entgegnung auf biefen Ausruf des jungen 
Befehlshabers Gruben. „Wir halten die Maituhle, 
wir mweihen nicht einen Zol — mögen fie uns in 
Stüde baden!” 

Und jo thaten fie. Do ihre Zahl verringerte 
ih, die des Feindes ſchien ſich zu verdoppeln. Immer 
dichter ſchlugen die Kugeln herein und lichteten ihre 
Reihen! 

Einen ſchlanken Huſaren ſah Haſſo in einer 
Breſche ſtehen, welche ſoeben von einer Kanonen— 
kugel in den, Wall geriſſen war. Mit ſeinem Leibe 
bedte er die Offnung, aus mehreren Wunden blutend. 
Da traf ihn ein Gefhoß mitten in die Bruft und 
er jant nieder, langlam — lautlos. 

„Hilmar!” Mit einem Sprunge war Hafjo an 
jeiner Seite. Die Kugeln pfiffen um ihn ber — er 
achtete es nicht, er warf fih an des Bruders Seite 
nieder. Der öffnete die Augen, matt und jchwer. 
Aus feiner Bruft quoll das rote Blut, die erblaflenden 
Lippen bewegten fih zum Spreden. 


„Sage meinem Vater — ih hätte mir den 
Tod verdient!” 
„Ja, Hilmar — id werd’ es ihm jagen, Jo 


wahr ih ein Rodhlig bin! Du ftirbit als ein Held 
und nimmft feinen Segen mit ins Grab!” 

Die bleihen Lippen färbten fih mit Blut. 
Haflo fprang auf, eine Kugel ri ihm den Kolpat 
vom Kopf. Vorwärts drang er an der Spiße ſeiner 
Schar. „Blomberg!” rief er diefem zu — „Sie 
fahen ihn kämpfen und fallen! Wenn ich bleiben 
follte — bringen Sie jein Vermächtnis dem Vater!” 

„Isa — ih bring’ es ihm — ih hörte es — 
verlaflen Sie fi) darauf!” 

immer heftiger wogte der Kampf. Sie rangen 
ehem Feinde Zoll um Zoll — mie es Hafjo ge: 





Roman von Hans Werber. 


‚wollt. Doc es ward zur Unmöglichkeit. 


300 


Gefangen: 
Ihaft oder Rüdzug, es gab keine andere Wahl. 
Schritt vor Schritt, in tobveradhtender Verzweiflung 
fih Ichlagend, wurden fie zur Stadt zurüdgedrängt. 
Herr von Gruben, der Anführer, ward, zum Tode 
verwundet, binweggebradt. NRodhlig übernahm die 
Führung. Er ließ in Flammen auflodern, was 
irgend den Feinden hätte nüten können — audy die 
Brüde über den Fluß, jobald fie dDiefelbe überfchritten. 
Das lekte Verteidigungswerk des Schillihen Korps, 
die Maifuble, war verloren und damit die Herrichaft 
über den Hafen in der Hand bes Feindes. 

Rettelbed, der jugendliche Greis, welcher bie 
ganzen Xölcharbeiten leitete, der die Vertretung ber 
waderen Bürgerihaft in fih jelber perfonifizierte 
und zugleih immer und überall des Kommandanten 
rechte Hand war, tritt vor das Stadtthor hinaus, 
feine lieben Schilliden zu begrüßen. 

„Nettelbed, wir find geihlagen!” jchrie Hafio 
ihm entgegen. „Aber nur vorläufig, wir müfjen die 
Maituhle wieder haben! Mit etwas Hilfe nur 
hätte ih mich halten Fünnen — aber fiher, wir 
müflen fie wiedergewinnen!” 

„Ratürlich, das meine ih auch!” rief Neitelbed, 
ibm von feinem Roffe herüber die blutende Hand 
brüdend. „Bon der Saline ber, am linten Ber- 
janteufer entlang — Wajor Gneijenau wird jhon 
Rat wiffen, no brauden wir nit zu verzagen!” 

„Aber wie lange, lieber Nettelbed, werden wir 
uns noch halten können?” fragte Hajlo. 

„Wie lange no? MWenigftens jehs Wochen! 
Wir haben ja noch Munition und Proviant im 
Überfluß! Und eher darf fein braver Solbat oder 
Bürger an Kapitulation denken, bis weder Hund 
no Kate übrig it, die man eflen fünnte! Wir 
müflen den PBlat unferm König erhalten!“*) Nach 
diefen Worten ritt er grüßend weiter — die Gafle 
entlang. Die Hularen blidten ihm nad und wer 
feine Worte gehört, dem Ichlug das Herz aufs neue 
bohd in Mut und Freudigfeit zum Ausharren bis 
aufs lepte. 

Schrediih war die Naht, die diejfen Tage 
folgte. Bei bem SKtradden des feindlichen Gejchüges, 
dem Geprafjel der einftürzenden Gebäude hörte man 
faum ben Donner der eigenen Kanonen auf den 
Wällen der Stadt. Überall wüteten die Flammen. 
Und mit neuen Schredniffen begann der Tag, 
dröhnend als ginge die Welt in Trümmer. Kein 
Leben zeigte fih auf den Straßen. Wimmern, 
Schreien, Hilferufen drang aus dem Snnern ber 
Häufer. Und nirgends, jelbit in den Kellern nicht 
mehr, gab es Sicherheit. Die Dächer flürzten ein 
— die Flammen |hlugen empor. Der Feind machte 
Anftalten, das Münder Fort, die legte Zufludt am 
Hafen, zu ftürmen — Das bedeutete einen neuen 
entjeglihen Schlag. 

Unglüdjelige Stadt — bis aufs äußerfte mußte 
fie die Probe beftehen. Wenn das Belagerungsheer 
jest den Sturm unternahm? — Nah menichlichem 
Srmefjen war dann die Stadt verloren. 


*) Nettelbeö eigene Worte. 





301 











Und doch ſprach feiner, Feiner von Kapitulation! 
„Wir alle Stehen dann 
Mutig für einen Mann 
Kämpfen und bluten gern 
Für Thron und Reich!“ 
Das war Nettelbeds Lofung, und feine Kolberger 
ftanden mit ihm — treu bis in ben Tod. 

Fürdterlih fteigerte fih die Gefahr. Inter 
dem Feuerregen der tobbringenden Gejhofle, dem 
Ziihen der Flammen, dem Brüllen der mörberiichen 
Kanonen ftieg die Tobesnot bis zur Verzweiflung. 

Da plöglid — was bedeutete da8? Nachmittags 
um drei Uhr — jchwieg der Kanonendonner. 

Ein Leben — ein Aufatmen — ein Sturm der 
Hoffnung wogte durdy die geängfiete Stadt. Konnte 
das Frieden bedeuten? Crlöfung aus der furdt: 
baren Drangjal? 

Sa, e8 war jo! — Ein Kurier aus dem fönig: 
liben Hauptquartier bei Tilfit brachte die erlöjende 
Botihaft. — Es war der Lieutenant von Holleben, 
der von Kolberg aus mit Kriegsgefangenen dorthin 
gejandt war und jegt zurüdtehrte. Der König hatte 
mit dem franzöfiihen Kaifer einen vierwöchentlichen 
Waffenftilftand abgejhloffen. Unter Trommelichlag 
ward den Bürgern von Kolberg die Nachricht ver: 
fündet. Waffenruhe! Der Vorbote bes Friedens! 

Die Belagerung hatte ein Ende. Die Tage der 
Prüfung für Stolberg „waren vorübergegangen, und 
die treue pommerjhe Seite war nicht unterlegen. 
Siegreih und fiolz ftand fie da, ein Felfen in 
der Meeresbrandung — ein funfelnder Ebelftein 
in der Krone ihres Könige. — Sie trug den 
einzigen Lorbeerzweig davon, ben dieler ganze 
Krieg für Preußen erübrigt. 





VI. 


Mit dumpfen Schlägen verkündete die Glocke 
auf dem Kirchturm zu Tilſit die mitternächtige Stunde. 
Vor dem Rathauſe ſtand ein uralter Nachtwächter, 
ein Invalide des ſiebenjährigen Krieges, der blies 
ſein Horn in klagenden Tönen und ſang mit 
prophetiſcher Stimme: 

„Hört Ihr Herren und laßt's Euch ſagen, 
Euer letztes Stündlein hat geſchlagen!“ 

Er allein wußte, was die Glocke geſchlagen hatte! 
Es war die Nacht vom 9. zum 10. Juli 1807. 
Droben hinter den hellen Rathausfenſtern wurde 

der Friede unterzeichnet. Der Friede von Tilſit! 

Talleyrand, der hinkende Mephiſto, Napoleons rechte 

Hand, ſchrieb vor — und die Grafen Goltz und 

Kalkreuth, des Königs von Preußen Bevollmächtigte, 

unterzeichneten in blinder Unterwürfigkeit. 

Was war das Unglück von Saalfeld, Jena und 
Auerſtädt, was die Schmach von Magdeburg und 
Prenzlau gegen die Erniedrigung dieſes Friedens— 
ſchluſſe! Betrogen, verlaſſen, zertreten ſtand 
Preußen da. 

Faſt die Hälfte ſeines Ländergebietes büßte es 
ein. Die Armee durfte nicht über vierzigtauſend 
Mann ſtark ſein und ſämtliche größere Feſtungen 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 





blieben im Belig der Franzolen. Die | Heerftraße 


302 











durhd das ganze Preußenland hatte Napoleon fid) 
vorbehalten, zum Durchzug feiner Truppen, wie er 
fagte. Hiermit hielt er den Schlüffel zu jeder Willkür 
in feiner Hand, und alle, auch die Eleinften Freiheits« 
gelüfte des armen, gefnechteten Königreichs konnten 
jofort im Keime erfticdt werden. An Kriegsfontribution 
waren bundertundzwölf Millionen Francs zu ent: 
richten, von einer Bevölkerung, welche in der furdht- 
baren Kriegsnot Ion den legten Grojchen eingebüßt 
hatte. Eine große Dccupationsarmee, im ganzen 
Zande verteilt, mußte bis zur Dedung der franzöfiichen 
Forderung frei verpflegt werden. So wollte e8 ber 
unerbittlide Ujurpator. 

Alle diefe Abmahungen aber waren nur für 
den König, nit für Napoleon verbindlid und 
fonnten je nad) deflen Tyrannenlaune erweitert oder 
eingefchräntt werben. 

Gottes Geridhte gingen über Preußens Haupt. 
Aber der fie beraufführte, der lud den Fluh auf fi 
und jollte daran zu Grunde gehen! 

„Wenn Preußen anderthalb Millionen Ein- 
mwobhner behält, jolte das nicht genug jein für das 
Mohlbefinden der königliden Familie?” äußerte der 
Eroberer mit dem Lächeln Jeines eifigen Hohnes. 
Nah diefem Grundjage beichloß er feine ferneren 
Maßnahmen. 

Kaifer Alexander von Rußland aber, der Freund 
und Bundesgenofje Preußens, ließ das alles gejchehen, 
von Napoleons Schmeicheleien geblendet, von jeinem 
überlegenen Geifte beberricht. Vergebens war bie 
Bufammentunft ber brei Herrider auf der Niemen- 
brüde bei Memel, von der Alexander dem verlaflenen 
Freunde jo großen Vorteil verhieß: fie brachte ihm 
nur neue Demütigungen von jeiten Napoleons ein. 
VBergebens war es felbft, daß unlere herrliche Königin 
fih für den Entihluß gewinnen ließ, fi dem über: 
mütigen Sieger zu nähern und ihm ihre Bitten für 
ihr unglüdliches Land ans Herz zu legen. Er be: 
gegnete ihr zwar mit ausgefuchter Höflichkeit, er 
brachte ihrer holden Schönheit die Huldigung bar, 
die ihr feiner zu verfagen vermodte, der in ihren 
Strahlenkreis trat. Er ging auf ihre Unterhaltung 
ein mit dem feurigften interefje. Und doc) — mas 
fie gewann buch diejen jchwerften Schritt ihres 
Lebens, die edelfte aller Frauen — das waren ein 
paar fchmeichelhafte Verficherungen, leere Redensarten, 
Iherzhaft gefärbte Verfprehungen, fi ihrer Bitten 
erinnern zu wollen — und nidts — nichts weiter! 
Eine unendlide Enttäufchung. 

„IH babe große Mühe gehabt, diefer Königin 
gegenüber ftand zu halten,” jchrieb Napoleon jelbit 
ipäter in feinen Memoiren. „Sie ließ in unjerer 
Unterredung ihre ganzen Geiftesfräfte jpielen — und 
fie it fehr Hug! Sie führte den ganzen Zauber 
ihrer Perlönlichfeit gegen mich ins Feld — und ihre 
Schönheit ift von großem Weiz!” Das Höcdhfte aber 
und Edelfte an ihr, womit fie ihm entgegentrat — 
das erwähnte er nit. Die beldenmütige und doc) 
jo weiblihe Selbftaufopferung für ihr Land und 
Volk, die Dulderkrone, die fie trug über dem Könige: 
ſchmuck, in welchem fie es über fih brachte, an jeiner 





— — — 





Tafel zu fiten, — die verftand er nicht, und darum | 


rühmte fi der Plebejer, daß er fiegreih ftand zu 
halten vermodt — gegen dieje Königin! — 

E53 war eine jchwere, erwartungsvolle Zeit. 
Große Gedanken, gewaltige Entihlüffe reiften unter 
dem Drude des ehernen Foces, um einft in ber 
Stunde der Beireiung als fühne Thaten ihr Haupt 
zu erheben. Gedemütigt in feinem Leid, dod un: 
gebrodhenen Mutes ftand der Rönig aufredt. Die 
Stunde der Not fand ihn bereit, feine ganze Seele, 
fein ganzes Können einzufegen zur Rettung bes ge 
Ihlageren Landes, des gefährdeten Thrones. hm 
zur Seite die treufte und berrlichfte aller Königinnen, 
mit dem fanften Einfluß ihrer Liebe, ihres Geiftes, 
ihrer großen und dharaltervollen Tugenden. Um ihn 
ber ein Kreis von Helden, die auferftanden ſchienen 
aus der Ajche ber vernichteten Ruhmesgröße, um ihm 
zu belfen, Heer und Landesregierung zu erneuern 
für eine größere, fommende Zeit. Stein und Harben- 
berg, Schharnhorft und Gneifenau, Grolmann und 
Blücher. Ferner Prinz Wilhelm, des Königs Bruder. 
Diefer ging als Geilel nah Paris, um mit dem 
Katfer wegen Ermäßigung der unerfhwinglichen 
Kriegskontribution zu unterhandeln, fidy felbft in 
Haft auf Gnade und Ungnade darbietend. Mit ihm 
feine edle Gemahlin Marianne, die fih freudig erbot, 
Kerler und vielleiht den Tod mit ihrem Gatten zu 
teilen. Und noch eine Frau aus dem Küönigshauje 
trat wie ein feines, Lichtes Bild in den Vordergrund, 
Hug, geiftvol und tiefempfindend, ihren edlen, 
jördernden Einfluß mit dem ihrer königlichen Bale 
vereinigend — Brinzeliin Luije Radziwill, Prinz 
Kouis Ferdinands würdige Schwelter. 

So Stand diejer Fföniglidde Hof in feiner Ber: 
bannung und boffnungslojen Verlaffenheit groß und 
edel da. Würdig und Hehr in feinem Unglüd, 
die Abhtung und Teilnahme der ganzen Welt fidh 
erzwingend. 

Sn den Provinzen des gelnechteten Staates ſah 
es troftlos aus, und Berlin war Haupt-Garnijonftadt 
ber franzöfiihen Sieger. Eine Bürgergarde hatte fi) 
außerdem gebildet, vornehmlih aus jugendlichen 
Handlungsbeflifienen beftehend, die fäbelraflelnd in 
prunfhaft bunten Uniformen durh die Straßen 
ftolgierten. Leider gefielen fie fi darin, den Fremb- 
lingen zu dienen und ihr Vaterland, ihr Vollsbe: 
wußtlein berabzumwürdigen, jo daß jelbft die Sieger 
Efel davor empfanden. Es war feine rühmlicdhe Zeit, 
auh für die gute Stadt Berlin. Der König, die 
Königin galten als übermundene Begriffe. Man 
jpottete über fie, man flimmte ein in die Schmähungen 
der Franzoſen über dieje geheiligten Häupter. 

Die Beahtung bes Geburtstages der Königin, 
lonjt ein Fefttag für das Volk, war durch ben franzd- 
iihen Kommandanten aufs firengite unterfagt worden, 
und treulid ward das Verbot erfüllt. Der Schau: 
jpieler Yffland nur, als er an jenem Abend die 
Bühne des Schaufpielhaufes betrat, wagte es, jeinen 
Empfindungen einen ftummen, berebten Ausdrud zu 
geben. Er z0g einen Blumenftrauß hervor, blidte fi 
um und drüdte ihn feurig an feine Brut. Das 
likum jauchzte ihm verftändnisvoll Beifall zu, 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 





304 


Iffland aber ward ins Gefängnis geworfen und mit 


Füſiliertwerden bedroht. 

Zwei Jahre ſpäter erſt kehrte das geliebte Königs⸗ 
paar in ihre Hauptſtadt zurück. Den erſten Abend 
ſchon zeigten ſie ſich bei der Vorſtellung im Schau: 
ſpielhauſe ihrem beglückten Volke. Da ließ die Königin 
Iffland in ihre Loge rufen, und mit warmen Worten 
dankte ſie ihm, daß er allein vor Tauſenden Freiheit 
und Leben für ſeine Königin aufs Spiel geſetzt! 


* * 
* 


Im Grunde ſeines Herzens fürchtete ſich Na⸗ 
poleon vor Preußen, denn er war ſich bewußt, die 
Sehne allzu ſtraff geſpannt zu haben. Kein unter: 
worfenes Land hatte er ſo zertreten, bis an den 
Rand der Vernichtung geitoßen, gehöhnt und be- 
Ihimpft, wie das unfere, und er ahnte dunfel, daß 
aus der Verzweiflung, die er gejäet, eine verderben: 
bringende Rache aufgehen könnte. 

Darum vor allen Dingen durfte Preußen Teine 
nennenswerte Heeresmadht mehr befigen. Wohl aber 
folte e8 ein QTummelplag feiner Kriegsicharen 
bleiben und die Feftungen in feinen Händen! 

Nur an Kolberg reichte jeine Macht nicht heran, 
das hatte fih dem Könige erhalten. Seine Be: 
fagung bildete den alten, heiß erprobten und be- 
währten Kern für ein Heer, das mit neu belebter 
Kraft wieder auferftehen follte. Drei Bataillone der: 
jelben wurden zum „Leib:Grenadierregiment Nr. 8* 
vereinigt, drei zum „Örenadierregiment Kolberg 
Nr. 9.” Sie tragen noh heut auf Helm und 
Fahnen die Anjchrift „Kolberg 1807” als hödhites 
Ruhmeszeichen! 

Aus dem Schillſchen Freikorps ward das „Zweite 
brandenburgiſche Huſarenregiment“ gebildet, er ſelbſt, 
der kühne Führer, als Regimentskommandeur zum 
Major befördert. Gneiſenau war Oberſt geworden. 
Der verdienftvolle Nettelbed erhielt Benfion und die 
Berechtigung, Admiralsuniform zu tragen. 

Bald nah dem Friedensihluß begab ih Schill 
nah Königsberg, um fich dajelbft bei jeinem Aller: 
höcdhften Kriegsheren zu melden. Überaus buldvoll, 
mit außerordentliden Gnadenbezeugungen ward er 
empfangen, Den hoben Berbienftorden „pour le me- 
rite“ bejtete der König an jeine Bruft, zum Lohn 
für das, was er dem Baterlande geleiftet. 

Doh höher als alles andere lohnte ihm Die 
Stunde, da er vor den Augen jeiner angebetelen 
Königin ftand. Holdjelige Worte des Danfes und 
der Anerkennung jprad) ihr Mund. Sie wollte jelber 
von ihm hören, wie er fein Werk der Treue und 
Tapferkeit volbradt und gütig lähelnd Ichalt fie ihn, 
daß er jo gar nichts darüber zu jagen wußte, nichts 
al8 daß er ein preußiicher Soldat fei, und jein 
Herzblut nur da, um für feinen König, jeine Königin 
vergojlen zu werden. 

„Sie müflen aud von mir ein Andenten mit: 
nehmen, lieber Herr von Schill!” fagte die Königin. 
„Sehen Sie dieje Kleine Perlentrone! Befeftigen Sie 
den Drden daran, den Shnen der König verliehen! 
Berlen find der einzige Schmud, den ich jelber nod) 





305 


trage, fie beuten auf bie zahllofen Thränen bin, die 


id um unjer Unglüd vergoflen!” Ihre Stimme 
verichleierte ih, in ihren blauen Himmelsaugen 
ihimmerten Berlen, köftlicher, jchöner als die in ihrer 
Hand! „Meine Brillanten, meine Syuwelen habe ich 
verkauft!” fuhr die Königin fort. „Die einzigen 
Edelfteine, die uns geblieben, das jeid hr, unfere 
Helden, unfere Tapferen und Getreuen, der Föftlichfte 
Schmud unjerer jhwer beraubten Krone! Diamant 
it die Treue Eurer Herzen, Rubinen die Bluts: 
tropfen, die hr jo freudig für das Vaterland ver: 
giebt! Daraus befteht der preußiihe Kron: Trejor! 
Gebenten Sie daran, Herr von Schill, wenn Sie 
meine Keine Perlentrone tragen!“ 

Ferdinand von Schill gedachte daran. Er trug 
mit feinem Orden bie Perlentrone auf feiner Bruft 
als einen Talisman, bis das feurige Herz feinen 
legten Schlag geihan und mit blutigem Tode das 
heilige Gelübbe feiner Treue befiegelt hatte. 


v1. 


Der Major von Schill war in gehobener Stim- 
mung, als er von feiner Königsberger Reije zurüd: 
fehrte. Die Gnade des Königs, die Huld feiner 
Königin hatten ihn unenblih beglüdt, darum kam 
ihm der Wunich von Herzen, aud diejenigen glüdlich 
zu machen, die ihm bei feiner Ruhmesarbeit treulich 
geholfen. Hallo Rolig benußte den günftigen Augen: 
blid, Sid einen längeren Urlaub zu erbitten, und 
dberjelbe warb ihm gewährt. Es war der erfte, fo 
lange er diente Schon längft brannte es ihm auf 
ber Seele, das Bermäcdtnis Hilmars an jeinen Bater 
zu erfüllen. Von dem Xode feines Sohnes hatte er 
diefem jchriftlih Mitteilung gemacht, doch Feine Nach: 
riht darauf erhalten. In Fritens Begleitung brach 
er auf und ritt tagelang den Weg dur die ro: 
mantiſche Einſamkeit hinter dem Gollenberge. Faft 
ein Sjahr war es ber, jJeit er bier den franzöfilchen 
Kurier aufgefangen, mitten in den tiefen, tiefen 
Wäldern. AJmmer weiter ging jein Weg. Immer 
befannter ward ihm das Land. 

Wie der Fichtenwald jo Träftig raufchte! Wie 
der Specht jo luftig hadte in den fhhlanten Stämmen. 
„Sunter Haflo — guten Tag — Aunter Haflo — 
guten Tag!” jo tidte der Spedht. Und dem Junker 
i&hlug das Herz jo laut faft wie bes Spechtes Schnabel 
im Fichtenholz. 

Der Wald that fi auseinander. Freies Feld 
lag vor ihnen, eine weite Strede, und dann das 
Dorf, unter winterfahlen Bäumen malerijcy gebettet, 
der kurze, dide Kirchturm im See fidh jpiegelnd. 
Dahinter mit feinem hohen Dad, binmwegragend über 
die Lindenwipfel, das Herrenhaus von NRedentin. 
Eine Kubherde weidete auf dem Anger nahe des 
Weges. Melodiich läuteten die Gloden, wie fie Schritt 
um Schritt fich fortbewegten, die ftattlihen, weiß: 
und jchwarzgefledten Milchfühe. Die eine hob bas 
breite Haupt empor und firedte es janft brüllend 
nad den beiden Reitern bin: „unter Hallo — 
guten Abend — Zunler Hafio — guten Abend!” — 


Roman-Zeitung 1896. 


Schmwertllingen. Roman von Hans Werber. 


306 


Sunler Hafio parierte fein Pferd und ließ den 
Blid umberichweifen in Rührung und Wieberjehens- 
freude. „Srite, es ift faum zum Aushalten! — 
Mir wird jo wunderlid ums Herz, wie noch nie 
zuvor im Leben!“ 

„Sa, Herr Lieutenant, aber es ift bo aud 
wunderſchön, wieber zu Haufe fein,“ Fang es faft 
Ihluchzgend von den Lippen feines Burjchen. 

Da richtete fi Haflo auf. „Ja — wenn man 
ein Zuhaufe hat! — Aber Du haft recht, Yrike, 
vorwärts denn!” Sie ritien weiter, bis vor bie 
hölzerne G®itterthür bes Pfarrhofes. 

„Sp, Frige, nun mad), daB Du nad) Haufe fommit, 
nimm mein Pferd mit, beide in den berrichaftlichen 
Stall — ſuch' den alten Dietrih auf — weiter ift 
nichts nötig.” 

Er öffnete die Gitterpforte und ging hinein. 
Seine Sporen Elireten auf dem Steinpflafter. 

„Ein fefte Burg ift unfer Gott —” tönte ba 
ber wohlbefannte Gelang an jein Ohr, leife, faft 
gemütlih. Hier galt es ja feine Walbunholde zu 
veriheuden — das Singen beim Spazierengehen 
war eben nur nachgerade eine liebe Gewohnheit ge- 
worden. 

Hallo blidte forfhend umber. Da fjah er ben 
alten, guten Pfarrer, die Hände auf dem Rüden, 
das ſchwarze Käppchen auf bem filberweißen Haar, 
gemädlich in feinem winterlihen Gärten auf und 
ab wandeln. Ein wenig gebüdter jchien ihm Die 
Haltung, ein wenig zitternder die Stimme gemor: 
den. Sonft, ach wie unverändert, wie mwohlbefannt 
das alles. 

Der alte Herr hörte den Schritt des Dffiziers 
und fuhr erjhroden auf: Ein Frangole etwa, man 
fonnte feinen Tag noch Stunde fiher Jein! 

„Buten Abend, Herr Pfarrer, fennen Sie mid) 
no?” Die Stimme war geeignet, Schred und Un: 
rube zu vertilgen. Sie Hang fo wohlbefannt, jo 
ureinheimifch, und dabei jo männlich, foldatiih. So, 
ale ob fie Schuß verbieße gegen ein ganzes Dutend 
Franzoſen! 

„Die Stimme kenn' ich doch! Und die Augen! 
Aber, mein Gott, es iſt ja wohl gar nicht möglich! 
Meine Augen werden alt. — Nehmen Sie mir's 
nicht übel, Junker Haſſo, wenn Sie's wirklich ſind!“ 

„Ja, ich bin es, Herr Pfarrer! Schönen Dank, 
daß Sie mich erkannt haben! Sagen Sie mir einen 
Willkommensgruß, es wird der einzige ſein, den ich 
zu erwarten habe!“ 

Er ſtand vor dem Pfarrer, entblößten Hauptes, 
die Hände am Säbelgriff. Und jener legte bewegt 
die feine runzlige Hand auf das ſtolze, ſich beugende 
Jünglingshaupt. „Gott ſegne Dich — mein Sohn! 
Gott der Herr ſegne Deine Einkehr in das Erbe 
Deiner Väter und mache Dich zu ſeinem treuen 
Knecht!“ Dann legte er ihm leicht die Hand unter 
das Kinn und richtete ſein Haupt empor. „Sehen 
Sie mir einmal in die Augen, Junker Haſſo! Wie 
ſchauen Sie denn aus? — — Ein Mann ſind Sie 
geworden, das ſehe ich! Und ſitzt das Herz noch auf 
dem alten Fleck?“ 

„Ja, Herr Pfarrer!“ 





IV. 22 


307 Schwertklingen. 
„Nun, ich meine, dann ſitzt es auf dem rechten 
Fleck! Gott gebe es! Einem in die Augen ſehen, 


das können Sie noch! Aber mit einem Blick über— 
ſchauen, was darin vorgeht, in der Tiefe — das 
kann ich nicht! — iſt ja aber wohl auch nicht 
nötig! — Nun kommen Sie herein — und geſegnet 
ſei die Stunde, da Sie über meine Schwelle ſchreiten!“ 

Als Haſſo ein wenig geruht und zu ſeiner 
Stärkung genommen, was die Gaſtlichkeit des ehr- 
würdigen Pfarrhauſes ihm bot, als die erſten wich— 
tigen Fragen mit dem alten Herrn gewechſelt waren, 
begab er ſich nach dem „Neuen Hofe“ hinüber. Gar 
ſo raſch ging das nicht, wie er ſich's gedacht. Hier 
kam Fritzens Vater, der Förſter, ihm freudeſtrahlend 
entgegen, hier ſcharte ſich eiin Trupp Dorfbuben um 
ihn, die in dem ſtolzen Offizier den ſchmächtigen 
Junker wiedererkannten, der in ihrer Kindheit 
Träumen eine Hauptrolle geſpielt. Nun der alte 
Dietrich unter Freudenthränen. Ein Wiederſehen 
ward immer nachdrücklicher gefeiert als das andere. 

„Junker Haſſo — Haſſo — Haſſo!“ gackelten 
die Hühner und Enten und flogen aufgeregt aus— 
einander. Sie allein meinten nichts Gutes von ihm 
erwarten zu dürfen. Nein, nicht ſie allein. In ihrer 
Mitte ſiand Mamſell Chriſtiane, die Ausgeberin, 
und blickte ihnen zürnend nach allen Seiten hin 
nach. Die weißgeſtärkten Bänder ihrer Haube zitterten 
vor Schreck, als ſie in dem ſchnauzbärtigen Reiters— 
mann den wilden Junker von einſt erkannte. Er 
rief ihr einen Gruß zu und ein Lächeln huſchte über 
ſein Geſicht, ſehr flüchtig nur. Er näherte ſich dem 
Herrenhauſe des Neuen Hofes und das Herz ward 
ihm ſchwer wie ein Stein in der Bruſt. 

Der alte Major hatte bereits von der Ankunft 
ſeines Neffen gehört, denn wie ein Lauffeuer war 
die Kunde vor ihm hergeeilt. 

Er ſaß aufrecht da und ſtarrte nach der Thür. 
In nervöſem Zittern umfaßte ſeine welke Hand die 
Lehne des Seſſels. Was wollte der Bube hier? Zu 
ihm kommen? Ihn höhnen in ſeinem Jammer? Es 
ſah ihm ähnlich! 

Jetzt öffnete ſich zögernd die Thür. Der alte 
Diener ſchaute herein, verlegen, ſcheinbar beſchämt 
über die ſtrahlende Freude, die er doch nicht zu unter- 
PR vermodte. „Der Herr Lieutenant SYunfer 

ano!“ 

„Der Herr Lieutenant!” Ein leifer Schmer: 
zenston fam von ben Lippen bes alten Dffiziers. 
So und nicht anders hatte man ja feinen Sohn ge: 
nannt, als er noch lebte! Auch, als er nicht mehr 
Lieutenant war nah dem Nichteriprud) des Könige! 
E3 wurde ihm jchwarz vor den Augen. 

Als er wieder auflah, war der Diener ver: 
Ihmwunden und vor ihm ftandb ein Hufarenoffizier, 
der fich tief verneigte. 

„Mit wen habe ich die Ehre? 
Sie von mir?“ 

Haſſo hob das Haupt und die fchweren, dunklen 
Wimpern enıpor. E83 lag ein Blid mweidhen Schmerzes 
in den großen Augen, der dem alten Reden wun⸗ 
berlih zum Herzen drang. „Lieber Ontel, Sie 
fennen mich do noch?“ 


Was wünſchen 


Roman von Hans Werder. 


308 


„Ah, Haſſo, ja, ich erkenne Dich! Kommſt Du, 
um Dein Erbe in Augenſchein zu nehmen?“ 

Haſſo ſchwieg. Sein Blick ruhte auf dem ſchnee—⸗ 
weißen Haar, dem gramverzehrten Antlitz, und Mit— 
leid, nichts als grenzenloſes Mitleid erfüllte ſein 
Herz. „Ich komme, um Ihnen das letzte Vermächtnis 
Ihres Sohnes zu bringen,“ ſagte er. 

„Meines Sohnes! — Sein Vermächtnis! Ach 
Gott, mein armer, armer Junge! Welch Vermächtnis 
hat er mir zu ſenden?“ 

„Lieber Onkel, Ihr Sohn hat gekämpft wie ein 
Held, er war unter den Tapferen des Schillſchen 
Freikorps in Kolberg der Tapferſte! Und als ein 
Held iſt er geſtorben! Mit ſeinem Leibe die Breſche 
in der Mauer ausfüllend — von Wunden bedeckt — 
die tödliche Kugel mitten in der Bruſt! Ich war 
bei ihm! „Sage meinem Vater, ich hätte mir den 
Tod verdient!‘ das waren ſeine letzten Worte!“ 

„Den Tod verdient — Herr Gott, erbarme Dich 
meiner!“ ächzte der unglückliche Vater. 

„Sehen Sie, lieber Onkel — hier bringe ich 
Ihnen den Rock, den er getragen! — Ich dachte, 
es würde Ihnen lieb ſein, dieſes Andenken zu 
haben!“ 

Der Rock war blutgetränkt, am Arm, an den 
Schultern zerfetzt von Säbelhieben, ein Kugelloch 
mitten auf der Bruſt. 

„Wie Helden ſterben.“ 

Der alte Soldat nahm das blutige Sterbekleid 
ſeines Sohnes und laut aufweinend verbarg er ſein 
Geſicht darin. 

Es währte lange, bis Haſſo den Mut fand, 
das eingetretene Schweigen zu unterbrechen. „Darf 
ich die Tante nicht begrüßen?“ fragte er faſt zaghaft. 

Herr von Rochlitz richtete ſich mühſam auf. 
„Ja, komm, meine Frau iſt hier. Sie wird ſich 
freuen — ſie wird Dich doch auch ſehen wollen!“ 
Mit zitternden Händen verwahrte er die traurige 
Reliquie in feinem Schranf und ging feinem Neffen 
voraus. Diejer folgte vorfichtigen Schrittes, unmwill: 
fürlih darauf acdhtend, ob feine Stiefel feine Flede 
auf den glänzend fauberen Dielen zurüdließen, ob 
feine Sporen nit zu laut Mlirrten, alles Dinge, 
dur) die er, ach, jo ungezäblte Male den Zorn feiner 
Vflegemutter auf fich gezogen. 

Ein tiefer Schred ließ ihn zufammenfahren. 
Da jaß fie — war es möglid — fonnte fie fich fo 
verändert haben in diejen wenigen Jahren, die fchöne, 
edle Frauenerjheinung? Zufammengejunten, welt und 
ſchwach. Die blaflen, abgezehrten Hände auf der 
Dede gefaltet, bie fie fröftelnd über bie Kniee ge 
breitet. Matt und glanzlos blidten die Augen aus 
dem feinen, abgezehrten Gefiht. SJett jchauten fie 
auf und eigentümlich leuchtete ihr Blid, ein Forſchen, 
ein Wiederertennen, ein Auffladern, wie von jchwad: 
glimmender Hoffnung und dann ein rafcher Übergang 
zu verzweifeltem Schmerz. Sie hob die Hände empor 
in troftlofem Sammer. „Hallo, Du? Du lebft und 
bift gefund — Du fommft wieder ohne meinen Xieb- 
ling, mein einziges Herzblatt!“ | 

Für einen Augenblid hemmte Haflo den Schritt 
wie unter einem Gefühl der Erftarrung. Dann aber 





309 Schwertklingen. 
näherte er ſich ihr, beugte ſich über ihre Hand 
und küßte ſie. „Ich bringe Ihnen die letzten Grüße 
von Ihrem Liebling, liebe Tante! Ich war bei ihm, 
als er ſtarb. Es war ein raſcher, leichter, helden⸗ 
hafter Tod und er lächelte im Entſchlafen, wie einer, 
der allen Kummer überwunden und nun glücklich und 
zufrieden iſt.“ 

Frau von Rochlitz ſank in ihren Stuhl zurück 
und bedeckte das Geſicht mit den Händen. 

„Sag' nichts weiter,“ brummte leiſe der Major, 
im Zimmer auf und ab gehend. „Sie kann nichts 
mehr ertragen! Armes Weib — es hat ihr das 
Herz gebrochen!“ 

Sie aber ſah wieder auf. „Du biſt es, Haſſo? 
Du warſt immer wild und ungehorſam, aber ich 
— gegen Hilmar biſt Du niemals ſchlecht ge⸗ 
weſen!“ 

„Ich habe Hilmar immer lieb gehabt!“ war 
Haſſos einfache Antwort. „Und beſonders dieſe letzte 
Zeit — in Kolberg!“ 

„Und Du warſt bei ihm, als er ſtarb? Erzähle 
mir — ach, ſag' alles von ihm, was Du weißt!“ 

Haſſo zog ſich einen Stuhl an ihre Seite und 
erzählte leiſe, ſchönend, alles, was ihrem Schmerz 
wohlthuend und lindernd ſein mochte. Lange hatte 
ſie zugehört, gefragt und begierig gelauſcht. Endlich, 
als er innehielt, blickte ſie auf und ſah ihm forſchend 
ins Geſicht. 

„Aber wie biſt denn Du da nach Kolberg ge— 
kommen, Haſſo? Biſt Du auch vors Kriegsgericht 
geſtellt und verabſchiedet worden?“ 

Eine dunkle Farbe ſtieg zu Haſſos Stirn und 
Schläfen auf. „Nein, liebe Tante,“ ſagte er ſanft, 
faſt entſchuldigend. 

„Nein?! Ah, Du haſt es beſſer gehabt wie 
er! Du biſt nicht in Gefahr und Verſuchung ge— 
weſen! Haſt keine Schlacht, keinen Kampf zu be— 
ſtehen gehabt!“ 

Ein trauriges Lächeln ging durch Haſſos Augen, 
die ruhig den ihren begegneten. Er antwortete nicht. 

Das aber litt das Gerechtigkeitsgefühl des Vete⸗ 
ranen denn doch nicht. Er kannte ſeines Bruders 
Sohn! Schroff wandte er ſich herum. „Nein, nein, 
Marianne, das laß nur gut ſein, mit den Franzoſen 
herumgeſchlagen wird er ſich ſchon haben. Sieh nur, 
wie er ausſieht!“ und er ſtrich ihm mit dem Finger 
über die Saalfelder Stirnnarbe, über die blutrote 
Schmarre, die ſich von der linken Schläfe bis zum 
Kinn herunterzog — ein Erinnerungszeichen an die 
Tage der Maikuhle. „Haſt ja wohl den Unglücks— 
tag von Saalfeld mitgeritten und biſt da zuſammen— 
gehauen, wie der Prinz gefallen iſt? Der Pfarrer 
Zürn wollte davon gehört haben!“ 

„Ja!“ ſagte Haſſo. 

Herr von Rochlitz ſeufzte ſchwer. 

Seine Gattin aber ſchaute kopfſchüttelnd von 
einem zum andern. „Alſo doch in einer Schlacht — 
und unverſehrt geblieben? O, mein Kind — mein 
armer Hilmar! In den Tod habt Ihr ihn ge— 
trieben — gewaltſam — ich weiß es!“ — 

Der Major atmete mühſam. Ja — in den 


Roman von Hans Werder. 


310 


Tod getrieben! Hätte er den Gedanken nur einmal 
noch los werden können bei Tag oder Nacht! 

Nach kurzer Pauſe fuhr ſie fort: „Und nun biſt 
Du gelommen, Hallo, Dir Dein fünftiges Lehen an- 
zufehen? Du bift ja nun der Erbe.” 

Da ftand Hallo auf: „Weshalb ich gelommen 
bin, bab’ ich Jhnen ja gejagt, liebe Tante! Der 
—— bin nicht ich, ſondern Hilmars Sohn 
iſt es!“ 

In höchſter Überraſchung fuhren ſie beide auf. 
„Hilmars Sohn — was ſprichſt Du, Haſſo!“ 

„Ja, ich hoffe zu Gott, es iſt ein Sohn! Wiſſen 
Sie nichts davon? Hilmar ſagte es mir, als er nach 
Kolberg kam! Er hoffte auf einen Knaben, der 
ſeinen Eltern erſetzen würde, was ſie — an ihm 
verloren! — Aber wo iſt denn Lotte? Haben Sie 
all dieſe Zeit keine Nachricht von ihr gehabt?“ 

„Lotte iſt in Berlin,“ rief der alte Herr auf— 
geregt. „Du weißt, von daher giebt es keine Nach— 
richt, keine vernünftige Poſtverbindung; alles hat ja 
der Feind in Händen. Herr des Himmels — wenn 
ich denke — was da ſchon könnte geſchehen ſein! 
Mein Hilmar einen Sohn — und ich weiß es nicht 
einmal!“ — 

Als Haſſo ſich verabſchiedete, geſchah es mit dem 
Verſprechen, nach Berlin reiſen und Lotte aufſuchen 
zu wollen. Er wußte, daß dies für ihn eigentlich 
unausführbar ſei! Jeder preußiſche Offizier, der die 
franzöſiſche Garniſonſtadt Berlin betrat, hatte ſich in 
voller Uniform bei dem Kommandanten zu melden. 
Kommandant in Berlin und den Marken aber 
war zur Zeit Marſchall Victor, ſein Arnswalder 
Freund und Gefangener! Haſſo wußte, daß kein 
Menſch auf Erden ihn glühender haßte als der! Er 
wußte, daß bei Vicetors allbekannter Geſinnungsart 
kein Vorwand dieſem zu gering ſein würde, ſich des 
Verhaßten zu bemächtigen und ihn ſeine glühende 
Rache fühlen zu laſſen. Die Handhabung der fran— 
zöſiſchen Juſtiz aber, ſelbſt mitten im Frieden, voll⸗ 
zog ſich ſehr leicht, ſehr eilig und ohne alle Ge— 
wiſſensbedenken. 

Auf grüner Heide, auf offener Heerſtraße dem 
Marſchall wieder zu begegnen, wäre für Haſſo eine 
beſondere Freude geweſen. Aber in ſeinem, von 
franzöſiſchen Schildwachen umſtellten, von Franzoſen 
beſetzten Hauſe — nein, der Gedanke war ohne jeden 
Reiz! „Aber nach Berlin gehe ich doch — erſt recht, 
um dem Kunden ein Schnippchen zu ſchlagen! Bin 
doch ſchon einmal ſo glatt mit ihm fertig geworden,“ 
damit ſchloß er ſeine Überlegung. 

Herr von Rochlitz geleitete ſeinen Pflegeſohn bis 
zur Eingangshalle des Hauſes. 

„Wo willſt Du denn eigentlich hin?“ fragte er 
ihn plötzlich mit leichte Verwunderung. „Wo haſt 
Du Dein Pferd und Deine Sachen?“ 

„Mein Pferd iſt hier im Stall, Dietrich nahm 
es in Empfang. 3 felbft bin im Pfarrhaufe ab: 
geftiegen!” 

„Aber das geht doch nicht!” wandte der alte 
Herr verlegen ein. „Du gehörit ja am Ende hierher! 
Was jollen die Leute dazu jagen!” . 

„Ih weiß wohl, daß ich hierher gehöre,” er: 








all Ohne Gott. Roman von €. Karl. 312 


wiberte Hafjo mit einem Anflug feines alten Troßes. | froh dabei werden! Die Erlaubnis, in den Reden: 
„Aber Iaffen Sie mid nur dort, Ontel, es ift befler! . tiner Wäldern zu jagen, wie früher, Die jeße ich 
MWozu der armen Tante die Dual meines Anblids | danfend voraus für die Tage meines Hierjeins!” 
länger zumuten, als nötig? Ich könnte jelber nicht | Damit ging er. 


(Fortfegung folgt.) 


Ohne Gott! 


Roman 
von 


€. Rarl. 
( Fortjegung.) 





Egon blieb auf einer Anhöhe ftehen, überjchaute 
das frieblihe Bild und murmelte, indem ein tiefer 
Atemzug feine Bruft bob: 

„Die Welt tft herrlich überall, 

Wo ber Menfch nicht Hinkonmt mit feiner Dual.“ 

No ftand der junge Mann im Anjchauen ver: 
funten, als binter ihm der Schnee unter leichten 
Fritten nirihte und ihn umfchauen madte. Da 
fiand es hinter ihm, das Mädchen, bas er liebte. 
Hilde Steiner. Sie trug einen grünen Kranz über 
dem Arm und fah mit den firahlenden Augen unter 
dem Bleidfamen Pelzbarett jo reizend aus, daß feine 
Blide wie gebannt an ihr hingen, während fein hod)- 
Hopfendes Herz ihm faft den Atem verjeßte. 

Vergeflen war alles Elend, beflen Anblid eben 
noch jein Gemüt bedrüdt hatte, vergeflen die Schön- 
heit der Natur, die ihn umgab, er jah nur fie, die 
er an fein Herz ziehen wollte, als höcdften Schag 
für Zeit und Ewigkeit. Sie reichten fidh mit leudy: 
tenden Augen ftumm die Hände, fie Ihauten fi an 
— und beide wußten, was ihnen die nädhfte Stunde 
bringen mußte. 

„Wo gehen Sie hin, Fräulein Hilde?” brach 
endlihd Egon das Schweigen. 

„gum Grabe meiner Mutter, fie ruht bier auf 
dem alten Friedhof am Park.“ 

„Darf ich Sie begleiten?” 

Das Mädchen nidte nur'und errötete noch tiefer 
als vorher. 

Schweigend ſchritten fie dur den ftilen Par, 
der ihnen vergebens jeine winterlide Pracht ent- 
gegenbreitete. An ihren Herzen ladıte der Früb- 
ling und doch ftand die Sorge als drohende Ge: 
witterwolfe am Himmel. Sie traten durd) die Pforte 
bes Friedhofs zum nahen Grabe der Mutter und 
Hilde legte den Kranz darauf nieder, dann fchaute 
fie unverwandt auf den Hügel hinab; jie fürchtete 
fih, den Augen ihres Geliebten zu begegnen, ihr war 
als hätte fie eine heimliche Sünde gegen ihn auf 
dem Gewiffen. Egon aber wendete fi herum und 
erfaßte ihre Hände. 

„Sräulein Hilde, der gütige Gott hat ung an 
diefer heiligen Stätte zulammengeführt. Laflen Sie 
mich die gute Gelegenheit benugen, um eine Frage 


an Sie zu richten, deren Beantwortung entjheibend 
für mein Lebensglüd ift. Ych liebe Sie, feit ich Sie 
näber fenne, bas willen und fühlen Sie wohl, denn 
ih babe mir feine Mühe gegeben, mein Herz vor 
Shnen zu verbergen. Nur aus Ihrer Hand kann 
mir bie höchfte irbiiche Glüdfeligleit fommen. Sagen 
Sie mir ebenso frei, mas ich zu hoffen babe. Sch 
ftehe ber geiftigen Richtung, melde in Zhrem Vater: 
baufe berricht, ganz fern, regt fih aber troß befien 
in Ihrem Herzen vielleicht ein wärmeres Gefühl für 
den Diener bes Gottes, an ben hr Bater nicht 
glaubt? Der Blid Jhres lieben Auges bat es mid) 
zuweilen hoffen lafien.” 

Hilde feufzte tief auf und jchlug die Hände, die 
fie ihm entzog, vor das Gefidtt. 

„Hilde,“ rief der junge Mann angftvoll, „habe 
ih mich getäufcht, oder fürdten Sie den Widerjprud) 
Shres Vaters?“ 

Hilde hob die Hände von den Augen, jchob mit 
energiiher Bewegung den Eleinen Schleier auf ben 
Pelzrand ihres Barettes zurüd, als jolle keine Ber: 
büllung ihren Blid trüben, und bing fih an den 
Arm des jungen Mannes. „Laflen Sie uns bier 
auf und ab gehen, ich habe Shnen ein Bekenntnis zu 
machen,“ ſprach ſie jehr ernft und 30g ihn in den 
breiten Mittelgang. Egons Herz Ihlug wie ein 
Sammer — was follte er hören? 

Zuerft Kodend, dann immer Elarer und felter, 
berichtete Hilde von ihren religiöjen Kämpfen und 
Zweifeln, und jchloß endlih mit den Worten: „Sie 
jehen, id) tauge nicht zur Frau eines Geiftlichen. 
Troß meines reblihen Willens fehlt mir der Glaube.“ 

„Ich jehe aber gerade in diefem redlichen Willen 
etwas, was mich unendlich beglüdt,“ Iprad) Egon, 
indem er ftehen blieb und wieder ihre Hände ergriff: 
„Hilde, liebe, einzige Hilde, beantworten Sie mir 
nur die eine $rage, Tönnten Sie mid) lieben? Könnten 
Sie glüdlih mit mir werden?“ 

„Ja,“ antwortete das Mädchen Mar und feft, 
„6 babe Sie unendlih lieb, aber gerade darum 
fann ih Sie nidht betrügen.“ 

„D Du goldenes Herz,” rief der junge Mann 
entbufiaftiih, indem er die jchlante Geftalt feft in 
jeine Arme |hloß, „dann ift ja alles gut. Die Tiebe 





313 


madht das Unmöglie möglid und Gottes Gnabe ift 
unendid. Er wird meinem fjchwadhen Wort bie 
Kraft geben, Dein Gemüt dem wahren Glauben zu: 
zuführen. Hilde, meine jüße Hilde, darf ih morgen 
zu Deinem Vater geben, un Deine Hand zu bitten?” 

Das Mädchen richtete fi langjam aus feinen 
Armen auf, jeder Blutstropfen war aus feinem Ge 
ſicht gewichen. 

„Und wenn ich troß Deiner Überredung doc 
nicht glauben fann? Was dann, Egon? Made es 
Dir Har, Lieber, Einziger, damit wir nicht jpäter 
unglüdlid werden. ch werde nie, nie auf ben 
Standpunkt Tommen, auf dem eine Predigerfrau 
fliehen muß. Glaube es mir.” 

Sie Ihaute flehend zu ihm auf, aber der Dann 
jahb nur die heiße Liebe in ihren jchönen Augen und 
fein Herz ließ ber Überlegung feinen Raum. „Gott 
wird gnäbig fein, meine Hilde, hoffen wir auf feine 
Barmherzigkeit.“ 

Er jhloß fie von neuem in feine Arme und 
füßte fie zärtlih auf Augen und Mund, während 
das Mädchen bingegeben an feiner Bruft rubte und 
nichts mehr benten, nichts mehr fühlen Tonnte, als 
grenzenlojes Glüd. 

Dann führte Egon die Braut zum Grabhügel 
der Mutter zurüd und fprah, indem er ihre Hand 
fefthielt: „Wenn Du auf uns berabihauen bdarfft, 
verflärter Geift, jo höre mein Gelübde: Jh will 
Dein Kind halten als mein böchftes Gut, ich will es 
lieben mit aller Liebe, die der höchfte Bott in mein 
Serz gelegt hat. Amen!“ 

Die Verlobten ftanden no einige Augenblide 
neben dem bereiften Hügel, dann fchritten fie Arm 
in Arm der Stadt zu. 


* * 
* 


Der Brofefior Steiner faß am nädften Bor: 
mittage in jeinem Arbeitszimmer, als ihm der Kan 
didat Egon Schmidt gemeldet wurde, der bald darauf 
in tabellofem jhwarzem Anguge bereintrat. Erftaunt 
blidte der alte Herr auf — eine formelle Bifite? 
Was hatte die denn zu bedeuten? Der junge Mann 
war ja als naher Verwandter der Familie Nieder: 
ftetter jchon öfter im Haufe gewejen. Er erhob fidh 
von feinem Schreibtiih und lub den Beludher, mit 
einigen jcherzhaften Worten über feinen feierlichen 
Aufzug, zum Siten ein. 

„3b fomme auch in einer Angelegenheit, die mein 
ganzes Herz erfüllt,” jprahd Egon in jeltiam be 
dedtem Tone, er wußte, daß er mit dem alten Heiden, 
wie der Profeflor fich jelbit jcherzhaft nannte, einen 
Ihmweren Stand haben würde. 

„Run, dann jchießen Sie los,” rief der alte 
Herr, der alle Umjchweife und Ichönen Redensarten 
verabſcheute. 

„Alſo ganz kurz, da Sie es ſo wünſchen, Herr 
Profeſſor, ich liebe Ihr Fräulein Tochter und komme 
Sie um deren Hand zu bitten.“ 

Der Profeſſor gab ſeinem auf Rollen gehenden 
Lehnſtuhl einen ſolchen Ruck, daß er wie entſetzt einen 
reichlichen Meter mit ihm zurückfuhr. „Mann Gottes, 
was wollen Sie?“ 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 


314 


Der junge Mann preßte einen Augenblick die 
Lippen zuſammen, die Anrede verdroß ihn, dann 
aber faßte er ſich und erwiderte ehrerbietig: „Ich 
erlaubte mir um die Hand Ihrer Tochter Hildegard 
zu bitten, Herr Profeſſor, wir lieben uns und haben 
uns geſtern verlobt, es fehlt uns nur noch der Segen 
des Vaters.“ 

Der Profeſſor griff mit der Hand an die Stirn, 
als erwache er aus tiefem Traum und könne Wahr⸗ 
heit und Trugbild noch nicht klar voneinander trennen. 
„Sie haben ſich mit meiner Tochter verlobt?“ ſprach 
er dann ſinnend. „Mit meiner Tochter, die ich 
frei von allem religiöſen Aberglauben erzogen habe? 
Mein Kind, mein, mein Kind wollen Sie zur 
Predigerfrau machen und Hilde ſollte damit ein— 
verflanden fein? Nein, nein, Sie irren fih, Sie 
müflen fi irren.” 

Egon war noch bleiher geworben als vorher, 
e8 Fam, wie er gefürchtet hatte „Es ift mir tief 
Ichmerzlih,” begann er endlih, „daß meine Berjon 
und mein Amt Shnen jo wenig Iympathileh find, 
Herr Profeffor, und ich gäbe viel darum, käme id) 
Ihnen erwünſchter. Seien Sie aber überzeugt, daß 
fein Mann der Welt Ahr Kind inniger lieben fann 
als ih. Ob Materialifi, ob Idealiſt — wer fragt 
danad), wenn nur die Herzen zufammenftimmen. Die 
Liebe löft jede Disharmonie.” 

„Rein, lieber Mann, fie Löft fie nicht. Gerade 
in der Ehe ift innere Übereinfiimmung bie Haupt: 
fahe und Sie können mit einem Wejen, das ich 
erzog, dem ich meine Anjchauungen einpflangte, nicht 
übereinftimmen.” 

„Und bob bat mir Hilde nad) ihrem erften 
Kichhenbefuch gejagt, ihr fei ein neues LXeben aufge: 
gangen,” antwortete der Kandidat faft triumpbhierend. 

Eine dunkle Nöte überzog das Geficht des Pro- 
feffors. „Alfo jo flieht es. — Mein Lebenswert wollt 
hr zeritören, das Licht, das ich entzündete, wolli Ahr 
auslöihen, damit bie myftiihe Dunkelheit in ben 
Köpfen beftehen bleibt. Meine Tochter, die ich im 
reinen Licht der Wiflenichaft erzog, ſoll binfort im 
Schatten Yhrer Kanzel fiten, von der Sie verdbammen, 
was ich lehre. Meine Enkel jollen Dunfelmänner 
werben wie Sie. — Nein, nein,“ fchrie er plößlich 
auf, „ich gebe es nicht zu. Sch weiß, daß Sie es 
ehrlich meinen, daß Sie noch lange nicht der Schled): 
tefte find, aber — nein — id muß Ihren Antrag für 
meine Tochter ablehnen, wenn fie jelbft es nicht ge- 
than bat.” 

Eine Weile berrichte peinlihes Schweigen und 
man hörte nur die Atemzüge der erregten Männer, 
dann begann der Kandidat: „Bedenten Sie, was 
Sie thun, Herr Profefior, Zhre Tochter liebt mich, 
wie ih fie, wir haben es ung gellern am Grabe 
%hrer Gattin befannt. Sie zerflören ihr Glüd mit 
dem meinigen zugleih, wenn Sie bei Jhrem ‚Nein‘ 
bleiben.” 

Die Thür öffnete fich leife und Hildegard trat 
leihenblaß ins Zimmer. Sie hatte bochklopfenden 
Herzens vor ber Thür geftanden und am Tonfall der 
Nedenden wahrgenommen, daß die Angelegenheit 


Ihief land. 





315 Ohne Gott. 
„Hilde, Dein Vater will uns trennen, er ver: 
weigert feine Einwilligung, fomm und hilf mir fie 
erbitten,” rief der junge Mann, indem er dem Mädchen 
die Hände entgegenftredte. 

Hilde ftürzte auf ihn zu, langte mit einem Arm 
nad jeinem Halje hinauf und firedte den andern 
lebend dem Vater entgegen. „Vater, lieber Vater, 
lage nicht nein, ich Tiebe ihn ja von ganzem Herzen.” 

Mit tiefem Schmerz fah der Profeflor auf fein 
einziges Kind, feinen Nbgott, und der flehende Blid 
Ihnitt ihm ins Herz. Dann aber leucdhtete es plöß- 
lih wie Sanatismus in feinem bunflen Auge, er trat 
dazmwilchen und riß die Tochter an fi. „Nein,” rief 
er beftig, „ih, Dein Vater, bin verantwortlich für 
Dein Glüd und ich weiß, daß Du, die Lichtgemohnte, 
es nicht finden fannft in ber Dunfelbeit. Dein 
jugendlides Gefühl hat Dich irre geleitet. Vertraue 
mir, meine Tochter,” fuhr er weicher fort, als Hilde 
ih, Taut aufmweinend, an feine Bruft warf, „Du 
wirft vergefien lernen und mir fpäter banten.” 

„ie, nie, Vater,” rief das Mädchen, „Du weißt 
nicht, was Du mir thuft.”“ 

Auch Egon wollte noch etwas ermwibern, aber der 
Brofellor ließ ihn nicht zu Wort kommen. 

„Sehen Sie, Herr Kandidat, die Sade ift er: 
ledigt. ZH achte Sie ale Menih, aber mein Kind 
fann ich Jhnen nicht geben.” 

Wie im Traum verließ Egon das Zimmer und 
wie im Traum legte er langlam im Borraum feinen 
PBaletot an. Da, als er endlih bie Thür geöffnet 
batte und die Treppe binabfteigen wollte, fam es 
leije hinter ihm bergehufht. Zwei Arme legten fich 
un feinen Hals und eine thränenerftidte Stimme 
flüfterte: 

„Bleibe mir treu, Egon, no ift nicht alles 
verloren. Papa wird nachgeben, wenn er fieht, daß 
ih Dich nicht vergeflen fan. Er ift ein alter Mann 
und weiß nicht mehr, wie die Jugend fühlt.” 

Mit dem Gefühl neu auffteigender Hoffnung 
Ihloß Egon die Arme um das tapfere Mädchen und 
drüdte einen beißen Kuß auf die frifchen Lippen. 
„Auf Wiederfehen denn, mein füßes Lieb, Gott 
helfe uns.“ 

Auf der Treppe über ihnen Tlangen Schritte, 
Hilde hHujchte in ihre Wohnung zurüd und Egon ftieg 
die Treppe hinab. Tief traurig, aber nicht mehr 
garız hoffnungslos. 


IX. 


Alma Liedle lag in ihrer dunklen, unfreunb: 
lihen Hinterftube auf dem Bett und meinte. Sie 
fühlte fich jeit einiger Zeit ehr leidend und namentlich 
in ihrer Stimmung |chwer bedrüdt, und Hans, an: 
ftatt fie aufzuheitern, jchalt fie aus und verlangte 
mehr Selbitbeherrihung von ihr. Seit der Be: 
gegnung mit dem Kandidaten war es ganz jhlimm, 
fie war fi ihrer Zwitterftellung von neuem bewußt 
geworden, und die VBorftellung, wie jchwer ihre alte 
Großmutter gelitten haben, wie fehr fie ihr zürnen 
mußte, brüdte fie faft zu Boden. Diefen Kummer 


Roman von ©. Karl. 





316 


aber mußte fie jchweigend ganz allein tragen, ihr 
Hans hatte entweder fein Verftändnis bafür, oder er 
wollte feines haben. Wenn er mittags oder abends 
aus der Arbeit fam, wollte er ein beiteres Geficht 
ſehen, wollte tändeln und jchergen und weder mit 
häuslichen Stleinigleiten, noch mit wirklichen Sorgen 
beläftigt werden. Sie aber hatte reichlich Zeit, ihnen 
nachzuhängen. 

Verkehr gab es nicht mehr für ſie. Ihre alten 
Freundinnen hatten ihr die Freundſchaft gekündigt 
und wendeten den Kopf fort, wenn ſie ihr begegneten. 
Die ſonntäglichen Spaziergänge mit Hans waren 
daher nur eine Qual für ſie und doch durfte ſie ſich 
ihnen nicht entziehen. Hans wollte ihre Geſellſchaft 
nicht entbehren und nannte ſie kindiſch und kleinlich, 
wenn die Nichtachtung der „Philiſter“, wie er Anders— 
denkende nannte, ſie kränkte. 

„Der Menſch thue, was ihn gut dünkt und 
kümmere ſich nicht um die Meinung anderer,“ war 
ſeine ſtehende Redensart. 

Schmieder war auch durchaus nicht damit ein⸗ 
verſtanden, daß ſie allen Verkehr mied. Er hatte ihr 
einige „vorurteilsfreie“ Frauen zugeführt, aber ſie 
ſah mit ihrem unverdorbenen Sinn, daß dieſe „Vor⸗ 
urteilslofigfeit”“ nichts anderes als verfappte Sitten: 
Iofigleit war und fühlte fih von ihnen angemwibert. 
Sie begegnete diefen Frauen abfihtlih unfreundlich, 
um fie von weiteren Annäbherungsverjuchen zurüdzu: 
Ichreden und mußte mit immer fteigender Eiferfucht 
wahrnehmen, daß Diefes Verhalten ihren Hans zu 
befonderer Freundlichkeit gegen die Vernachläffigten 
anftadhelte. Er gab vor, gutmadjen zu müflen, was 
fie verdarb, in Wahrheit veranlaßte ihn fein ange: 
borener Widerfpruchsgeift gerade das zu protegieren, 
was ein anderer verwarf. Sein ganzes Leben war 
Oppofition gegen das augenblidlich Beftehenbe ge: 
wejen. Er nannte das originell fein. 

Auch heute — €8 war der zweite Weihnachts: 
feiertag — batte fie vor Tiih Beluh von der 
„blonden Therefe” gehabt, einer jchönen fünfunb: 
zwanzigjährigen Perfon, die als Goupletfängerin 
an einem untergeordneten Specialitätentheater ange: 
geftellt war. Diefe Dame bezeichnete fich felbft als 
„anftändiges Frauenzimmer“ und führte bieje Be: 
zeichnung mit Vorliebe im Munde, man burfte aber 
nit den landläufigen Begriff von Anftand damit 
verbinden. Therefe befucdhte zwar niemals fchlechte 
Häufer, jpradh aber von ihrem zwei Jahre währenden 
Zujfammenleben mit einem jungen Kaufmann mit 
größefter Unbefangenheit, wie von etwas burhaus 
Erlaubtem, und Schmieder Nimmte ihr bei. Zur 
Zeit war ihr Herz frei und fie lebte allein in einer 
befcheidenen Wohnung. 

Alma, müde und elend, hatte verbroffen auf 
dem Sofa neben ihr gejellen und auf ihr Geplauder 
faum geantwortet, aud bie Beteiligung an einem 
Beluhh ihres Theaters, wo Therefe heute in einer 
bejonders pilanten Rolle auftreten follte, mürrifch 
abgelehnt. Hans, der zugegen gemwefen, hatte ihr 
Winte gegeben und Zeichen gemacht, aber bamit nur 
das Gegenteil von dem Gemwünjchten erreiht. Da 
war er plöglid, um Alma zu ftrafen, auffällig 





317 Ohne Gott. 
liebenswürdig gegen Therefe geworden, hatte fie bei 
ihrem Aufbruch begleitet und feinen Befuch ihres 
Theaters verheißen. 

Nun waren vier Stunden jeitdem vergangen 
und Hans nit zurüdgefehrt, obgleih er wußte, 
daß fie ihm fein Leibgericht zu Mittag gekocht hatte. 
Sie ſelbſt hatte natürlich feinen Biffen genoflen und 
lag weinend auf ihrem Bett, von qualvollen Ge: 
danfen gepeinigt. Wenn ihr Hans jegt plöglich 
Therefe begehrenswerter fand als fie, wer hinderte 
ihn? Welches Recht hatte fie auf ihn? „Nur das 
Herz allein joll uns binden,“ hatte er ihr gejagt. 
Wenn das Herzensband aljo riß, war er frei. Und 
batte es fih nicht jchon gelodert, jeitbem fie jo elend 
und infolge Davon fo verdbrießlich geworden war? Faft 
ihien es fo. — „Immer heiter, immer frifh und 
tbatkräflig,” war feine Devife. Ach, wie fchledht fam 
fie ihr in ben Ießten jehs Moden nad. Sie 
fühlte fih jo mübe, jo zerichlagen, nur mit An: 
ſtrengung kam fie ihren häuslichen Pflichten nad) 
und hätte fie wohl arg vernadläjligt, wenn bie gute 
Srau Köhler ihr nicht aus Dankbarkeit für die 
Heinen Lederbilien, die fie ihrem kranten Mariechen 
binuntertrug, die jchweriten Arbeiten abgenommen 
hätte. Das Förperliche Leiden wäre wohl zu über- 
winden gewejen, wußte fie do, daß es natürlich 
war und enden mußte. Aber diejfer entjeßliche 
Nervenzuftand. Sie befand fih fait immer in 
Thränen, ohne ihnen wehren zu fünnen, und je un: 
gehaltener Hans war, beito Ichlimmer wurde ee. 
Energiihe Willensanftrengung hätte wohl gebellert, 
und Hans hatte diefen Zwed im Auge, wenn er fie 
bart anließ; aber Alma war eben eine weiche, hin: 
gebende, aber feine energifhe, wibderftandsfräftige 
Natur. Das Schlimmfte aher blieb doch bie ver: 
zehrende Eiferfuht, von der Alma geplagt wurde 
und der fie rüdfichtslos und in wenig Tluger Weije 
nachgab. 

Noch war Schmieder ihr mit keinem Gedanken 
untreu geworden, er liebte ſie wirklich aufrichtig. 
Aber wenn ſie ihm grundlos beſondere Freundlichkeit 
gegen die eine oder andere der „vorurteilsloſen“ 
Frauen vorwarf, ſo ärgerte es ihn und er begann 
nun gerade dieſer den Hof zu machen. Er wollte 
Alma erziehen, erreichte aber nur das Gegenteil, 
ihre Eiferſucht ſchärfte ſich. So wurden die ernſten 
Verſtimmungen zwiſchen ihnen immer häufiger. 

Und doch war Alma von Hauſe aus keine eifer— 
ſüchtige Natur. Hätte ſie bei Hans dieſelbe Achtung 
vor der Heiligkeit ihrer Vereinigung vorausſetzen 
dürfen, die ſie hegte, ſie hätte ihn kaum ſo gequält. 
Aber ſie wußte, daß die beſchworene Treue ihm an— 
tipathiſch war, weil ſie die perſönliche Freiheit be—⸗ 
ſchränkte. So ließ denn die Unſicherheit ſeines Be—⸗ 
ſitzes ſie vor Angſt fiebern, und die Angſt machte ſie 
kopflos. Sie beobachtete jeden Blick, jede ſeiner 
Mienen, wenn er mit anderen Frauen ſprach, und 
fühlte nicht, daß ſie ihm dadurch läſtig wurde. 

Die Nacht ſank herab und immer noch weinte 
Alma. Ihre Augen waren ſchon dick geſchwollen. 
Sie wußte, daß ſie morgen unſchön und gedunſen 
im Geſicht ausſehen, und Hans ſie wegen dieſer 


Roman von E. Karl. 





318 


Vernachläſſigung ihres Äußeren auszanken würde, 
aber kam es darauf überhaupt noch an? Sie würde 


jetzt ohnehin mit jedem Tage häßlicher werden, und 


Hans machte ſich ja nichts aus ihr, er lief der 
blonden Thereſe nach. Jetzt mußte die Vorſtellung 
in vollem Gange ſein, jetzt ſaß er gewiß dicht an 
der Rampe und bewunderte die Sängerin und das 
ſchamloſe Koſtüm, das ſie ihr beſchrieben hatte. 

Die Uhr ſchlug elf, jetzt mußte Hans bald 
heimkehren. Sie erhob ſich von ihrem Lager, 
um die Lampe anzuzünden, er war gewohnt, ſie 
brennend zu finden. Der Boden wankte unter 
ihren Füßen, ſie lehnte ſich gegen den Bettpfoſten 
und taſtete nach Kerze und Streichhölzchen. — End⸗ 
lich hatten ihre ſchmerzenden Augen ſich an das Licht 
gewöhnt, ſie ſchritt ins Nebenzimmer und entzündete 
die Lampe, aber es dauerte lange, ehe ſie damit zu 
ſtande kam, ſie ſtürzte ſie auch beinahe um, als ſie 
durch die Stube ging, um ſie auf den Sofatiſch zu 
ſtellen. Alles wankte und ſchwankte um ſie her, die 
Wände ſchienen auf ſie ſtürzen zu wollen. Eine 
grenzenloſe Schwäche überfiel ſie und ſie ſank ſchwer 
in die Sofaecke. So lag ſie eine Weile. — Ach, 
wenn ſie gleich ſterben könnte, das wäre das beſte, 
dann durfte Hans nach keinem Grunde ſuchen, ſie 
wieder loszuwerden. 

Ein brennender Durſt begann ſie zu quälen — 
da fiel ihr ein, daß ſie ſeit mehr als zwölf Stunden, 
eigentlich ſeit dem Morgenkaffee, nichts genoſſen 
hatte. In der Küche gab es Waſſer. — Sie erhob 
ſich ſchwerfällig und ſchritt zur Waſſerleitung. Sie 
trank in durſtigen Zügen und ließ den kalten Strahl 
über ihr Geſicht rieſeln, das that gut, ihr wurde 
beſſer — nun wollte ſie aus dem Küchenſchrank, der 
in dem vorderen, als Entree benutzten Teil der 
Küche ſtand, etwas Brot holen, ſie mußte ſich doch 
auf den Füßen halten können, wenn Hans kam. 
An die Wand ſich lehnend, ſchlich ſie zum Schrank, 
doch ehe ſie ihn erreichte, kam der Schwindel wieder 
und die Sinne ſchwanden ihr. Noch fühlte ſie, daß 
ein ſcharfer Gegenſtand ſchmerzend gegen ihre Schläfe 
ſchlug, dann wurde es ſchwarze Nacht um ſie her. — 


* * 
* 


Hans Schmieder hatte ſich prächtig unterhalten, 
er hatte, um Alma zu zeigen, daß ihre Unliebens— 
würdigkeit ihn aus dem Hauſe triebe, mit Thereſe 
in einem Reſtaurant zu Mittag geſpeiſt, dann einen 
Spaziergang mit ihr gemacht und ſie nach Haufe 
geführt. 

Nun war ihm die Zeit lang geworden und er 
hatte ſich nach ſeiner kleinen Frau gebangt, aber — 
er batte fih vorgenommen, ihr heute einmal orbent: 
lich zu zeigen, was fie mit ihrer Weinerlichleit und 
Abneigung gegen Therele erreichte. So war er denn 
in den Straßen umbergejchlendert, bis der Zufall 
ihm einen lange nicht gejehenen Jugendfreund zu: 
führte. Mit diefem hatte er zufammengejellen und 
Ihliegid mit ihm das Specialitätentheater bejucht, 
um fein Berjpreden gegen XThereje zu halten. 

Nun aber war ed genug. Um elf Uhr erhob 





319 Obne Gott. 
er fi und verabfchiebete fi von jeinem Freunde, 
um beimzugeben. 

Aus feiner Vorderftube drang Licht, Alma war 
alfo no auf. Wie fie ihn wohl empfangen würde? 
Er wollte ihr ordentlich ins Gewillen reden, falls 
fie maulen jollte. Er jchloß die Küdenthür auf, 
um einzutreten. Was war denn das? Die Thür 
ging nur ein Feines Stüd auf, dann ftieß fie an 
etwas, das fih auf dem Boden befand. Er jchob 
ih durh den Spalt — ba lag — in dem Lidl: 
fireifen , der aus ber geöffneten Stubenthür fiel — 
Alma. 

Mit einem Schredenslaut beugte fich der Diann 
nieder und faßte die Ärmfte in feine Arme, um fie 
ins Zimmer zu tragen. Sie lebte — e& handelte 
fih wohl nur um eine Ohrnmadt. Aber da riefelte 
ja Blut von ihrer Scläfe, fie war mit dem Kopf 
auf ein Eifen geichlagen, das man neben der Thür 
zum Reinigen der Füße angebradht hatte. 

Aller Zorn, wenn überhaupt noch vorhanden, 
war aus der Bruft des Mannes wie weggeweht. 
Mit den zärtlihften Namen rief er die Ohnmädhlige, 
trug fie auf ihr Bett und ftürzte in die Keller: 
wohnung, um Frau Köhler berbeigurufen. Mit 
ihrer Hilfe entkleidete er die Ohnmädhtige, verband 
ihre zum Glüd nicht erheblihe Wunde und bradıte 
fie endlih zum Bemwußtjein zurüd. 

Raum aber war die junge Frau wieder Herrin 
ihrer Sinne, jo begann fie zu Magen, daß Hans fie 
gewiß nicht mehr liebe, daß er fie nädhjftens aus 
dem Haufe mweilen und Therefe zu fih nehmen 
werde, und daß fie lieber jterben, ale von ihm 
gehen möchte. 

Mit erniten, liebevollen Worten verwies Schmieder 
der Erregten ihre Thorheit, machte fie darauf auf: 
merfiam, daß ihr Gebaren, gerade wenn fie für 
feine Liebe fürdhte, das ganz verkehrte fei und daß 
fie fih zulammennehmen und böje Scenen ver: 
meiden müfle. 

Er war unleugbar im Recht, aber Kranken 
gegenüber helfen eine Bernunftgründe, fie brauchen 
Geduld. Und Alma war franf, vornehmlid an 
ihrem Gemüt, doc das jah Hans nit ein, Geduld 
aber gehörte zu den Eigenfchaften, die er nicht bejaß. 
Doch was feine Vernunftgründe nicht zumege brachten, 
gelang den Lieblofungen, mit denen er fie begleitete. 
Alma berubigte fih und fcdhlief endblih in feinen 
Armen ein. 

Am nädften Morgen züblte fie fih noch an⸗ 
gegriffener als fonft, und Hans holte wieder Frau 
Köhler, um das Nötigfte im Haushalt von ihr be: 
jorgen zu lafien. Almas Stimmung aber war eine 
befiere, fie ließ fih auh im Laufe des Tages zu 
einem Spaziergange überreden, und Hans jchöpfte 
wieder Hoffnung. Er fühlte, daß er ein Leben wie 
jein jebiges nicht lange ertragen würde. Aber die 
Zukunft mußte ja Beflerung bringen. 

* : * 

Auch im Haufe des PBrofeflors Steiner war das 
Weihnachtsfeſt kein frohes gewejen. Nachdem bie 
erfte Aufregung des Profeſſors über bie eigen: 


Roman von ©. Rarl. 





320 


mädtige Verlobung feiner Tochter verraudt war, 
hatte diefe noch einmal mit Ruhe von ihrem ge 
lieblen Vater die Einwilligung zu erbitten verjudht, 
aber vergeblid. Er behauptete, fie könne unmöglid 
mit einem „Dunlelmann” für die Dauer glüdlich 
fein, und er als Bater jei verpflichtet, zu verhindern, 
daß fie in ihr Unglüd renne. 

Er fragte fie aufs Gemwiflen, ob fie das chrift: 
lihe Dogma, weldes Egon lehrte, lehren mülle, 
glauben könne, und fie war ebrlih genug, mit 
„nein“ zu antworten. Damit aber jchien ihr Schid- 
ſal völlig befiegelt zu jein. 

Sie rief endlid den Beiltand der Frau Pro- 
feffor an und dieler gelang es, nachdem fie mit 
ihrem Neffen Rüdiprahe genommen hatte, einen 
Vergleih zu ande zu bringen. Sie wußte Den 
Profeflor zu überzeugen, daß ein weibliches Gemüt im 
Kampf mit dem Leben die Religion nötig habe, und 
daß eine ftreng Tirdhlihe Richtung, obgleich fie jelbft 
fie nicht teile, immer noch befjer jei als abfolute 
Ungläubigleit. Er jehe ja an feiner Tochter, mit 
welcher Begeifterung fie der Glaube an Gott erfülle. 

So jhlug fie denn vor, Egon folle jein Ehren- 
wort geben, Hilde gegenüber mit feinem Wort auf 
ihre Verlobung anzufpielen und fih nicht die ge 
ringfte Vertraulichkeit zu geftatten. Dann folle ihm 
das Steinerjhe Haus wieder offen ftehen und er 
verjudhen dürfen, Hilde zu feinen Anjchauungen zu 
befehren. Dann würde fih das meitere finden, 
meinte die Huge Frau. Hilde wille, daß ein Geilt- 
liher auf eine firdhliche Einjegnung feiner Ehe nicht 
verzichten dürfe; diefe aber fei ohne voraufgegangene 
Zaufe mohl nicht zu erlangen. Hilde in ihrer 
Wahrhaftigkeit und unbeftehlichen Ehrlichleit werde 
fih nie dazu verftehen, feierlich ein Glaubensbetennt- 
nis abzulegen, das ihr widerftrebe. Sie wifle, daß 
das Hleichbedeutend mit Meineid jei. So kämen die 
jungen Xeute mit fich jelbft ins reine und hätten 
ipäter fein Neht, den Vater um zerftörter Lebens: 
boffnungen willen anzuklagen. 

Nah mehrtägiger Überlegung und mit fehr 
Ihwerem Herzen ging der Profefjor endlich auf den 
Vorſchlag ein, er konnte Hildes bleiches Gefiht und 
ihre verweinten Augen nidht länger anjehen. 

Der Kandidat erhielt eine Einladung zu einer 
Heinen Sylvefterfeier, nachdem der PBrofefior fidh 
unter vier Augen mit ihm verftändigt hatte. Später 
jollte er dann im Haufe und in Gegenwart der 
Frau Profeflor Niederftetter Hilde zweimal mwöchents 
lid Religionsftunde geben. 

So fahen fih die Liebenden denn früher wieder, 
als fie es im Augenblid ihres Abjchiedes vor Weib: 
nachten gedacht hatten, aber wie anders war biejes 
Wiederjehen.. An Stelle des herzlichen „Du”, das 
ihnen jhon ganz geläufig geworden war, trat wieder 
bas fteife „Sie*. Sie mwagten fih faum die Hände 
zu reihen und faßen unter den Augen der An: 
welenden wie auf Kohlen. Und doh maren fie 
glüdlih — fie durften ja wieder hoffen. 


321 


Ohne Gott. 





X. 


Am traurigften war das Weihnachtsfeft an ber 
Familie Köhler vorübergegangen. Mariehen halte 
fih auf dem Weihnadtsmarkt, den fie fo brennend 
gern bejuhen wollte, von neuem erfältet und lag 
wieder Jeit faft drei Wochen zu Bett. Nun Hoffnungs: 
los. Der alte freundliche Arzt, der fie immer nod 
behandelte, obgleich jeine ganze Kunft fi darauf 
beichränfen mußte, ihr gelegentlich eine Fleine Er: 
leichterung zu verfchaffen, Iprad) jo diplomatiich über 
den Ausgang, daß jelbit ein ganz unbefangenes 
Gemüt jeine wahre Meinung ahnen mußte. 

Ganz fill und gebuldig Tag das junge Wejen 
auf feinem Echmerzenslager, Iprah nicht und ver: 
langte nichts, und die fieberglängenden Augen redeten 
eine beutlide Sprade. Nur wenn die furdtbaren 
Huftenanfälle famen, oder bie entjeliche Atemnot 
quälte, griffen die Hände wild um fi und die Augen 
quollen aus ihren Höhlen. Dann richtete Minna 
das Kind auf und während fie es angftooll zu unter: 
ftüßen bemüht war, betete fie inbrünftig, Gott möge 
das arme gequälte Geichöpf nicht mehr zu lange 
leiden laflen. 

Dft war die arme Kleine aber bei den jchredlichen 
Anfällen ganz allein, denn ihre Mutter mußte ja 
Brot Ichaffen für drei, feit ihr Vater ein Taugenichts 
geworden war. D der Vater — wie fie fi nad 
ihm fehnte. — Mit der Elafticität des Kindergemüts 
hatte fie die legten jchredlichen Auftritte ganz ver: 
geflen, ihr ftand nur der liebevolle Mann vor Augen, 
beflen Liebling fie gewejen war. Stundenlang lag 
fie und dadte an ihn und malte fi aus, mie es 
jein würde, wenn er plöglih in die Stube träte. 

Minna hatte den Kindern gelagt, der Vater fei 
auswärts auf Arbeit, fie wußte es au ihrem Fleinen 
ungen auszureden, als er einjt den Bater gejehen 
zu haben meinte, fie wollte den Kindern die Wahrheit 
jo lange wie möglich vorenthalten. Kein Tag ver: 
ging aber, an dem Mariehen nicht fragte: „Wann 
fommt der Vater?” und DMinna verjchludte Die 
Thränen, die ihr brennend in die Augen fliegen, 
und antwortete: „Bald — bald." — 

Der Mann aber, nah dem bas fterbende Kind 
fich fehnte, führte fein Bagabundbenleben weiter fort. 
Er war ganz verlommen. Gelegentlich fegte er Die 
Straße, oder half in einem Ausipann bie Pferde 
pußen, bis er genügend Geld zufammen hatte, um 
feinem Lafter frönen zu lönnen.  Zumeilen bettelte 
er. Als aber einft ein Reilender in dem Kleinen 
Gafthof, der ihn gerade aushilfsweile beichäftigte, 
ein Geldtäihchen verlor, gab er ihm das gefundene 
zurüd, ohne fi nur einen Pfennig daraus anzueignen. 
Die erhaltene Belohnung reichte hin, ihn für drei 
Tage finnlos betrunten zu maden, und das war 
ihm gerade recht. 

Eines Abends trieb er fih beihäftigungslos in 
ben Straßen umher. Er hatte fein Geld, um bie 
düftere Höhle zu befuhen, in der er dem Schnaps 
zu buldigen pflegte, denn Arbeit hatte er heute nicht 
gefunden. Auch den Bettelnden hatte man überall 


Roman-Feitung 1896, 


Roman von €. Karl. 


abgewielen, er jah zu jehr nah einem Strolh aus. 
Sp Ichlenderte er denn frierend und Hungernb um: 
ber und verwünidte jein Schidial. Ein paarmal 
fam er über den Fluß, der troß bes bereits begonnenen 
Januars noch eisfrei war. Wenn er bineinjpränge, 
bätte alles Elend ein Ende. — Er lehnte fi) gegen 
das Brücdengeländer und fchaute in das gurgelnde 
Waller hinab. — 

Es überfam ihn wie leidenichaftlide Tobes: 
jehnfudht, das ganze Elend feines verfommenen Dafeins 
padte ihn wie mit Geierkrallen. Aber in der matten 
Energielofigfeit, die die Begleiterin feiner nüchternen 
Stunden war, fand er den Mut nicht, feinen Wunfch 
zu erfüllen. Er lehnte am Geländer, f&haute in bie 
vom Laternenichein ftreifig beleuchteten Wellen und 
verlor fih immer tiefer und tiefer in Träumereien. 

Wenn er num tot wäre und den Seinigen als 
Reihe ins Haus gebradt würde, ob fie ihn dann 
wohl wieder lieb hätten? hm war als fühle er 
Mariechens magere Händchen über fein Geficht ftreichen, 
wie fie es früher in feiner guten Zeit oft gethan 
hatte, wenn er ihr Kuchen oder Bonbon bradtte. 
Dann wieder fah er fih mit dem Heinen Karl auf 
dem Knie, wie er den Jungen reiten ließ — bopp — 
bopp — hopp. — Der Kleine jauchzte und fchrie, 
wenn er ihn fcheinbar bintenüberfallen ließ. Der 
einfame Mann am Brüdengeländer lächelte — Io 
deutlich erlebte er die Ecene in der Phantaſie. Er 
ftarıte ins Waller, als fei es ein Spiegel, der feine 
Vergangenheit zurüdwürfe. 

Nun wieder ein anderes Bild. 

Minna hatte ihre Arme um feinen Hals gelegt 
und füßte ihn. Sie hatte es früher jo oft gethan, 
fie hatten fi ja aus Liebe geheiratet und jo glüdlich 
gelebt. Wie hatte fie in feiner jchweren Krankheit 
um ihn gelorgt, in welcher Verzweiflung feine rauhen 
Hände gelüßt, als fie ihn fterbend wähnte. Ach, 
wenn er doch tot vor ihr läge, dann würde fie ihn 
gewiß wieder Füflen. 

Aber tot fein — das hieß ja vernichtet jein — 
mit dem Tode börte alles auf — ber Schmieber 
batte e8 gejagt und der wußte es aus Büchern. 
Wozu waren die Menjchen eigentlich auf der Welt? 
Nur um fi zu quälen? — Uber nein, alle quälten 
fih nit, die Reichen hatten es gut, die jaßen in 
der Wolle, fie Hungerten nicht, fie froren nit und 
ihre Kinder durften nicht fterben, wie jein Mariechen. 
Die Reihen — o, wie er fie haßte — wie glühend. 
Es wäre ihm eine Wonne gewejen, nur einen von 
ihnen unter feine Füße zu treten. 

Der Mann riß den Rod auf, batte ihn erft 
gefroren, jo lief es ihm jett glühend heiß über ben 
Rüden, der Haß wärmte ihn von innen beraus. 
Und vor dem Haß, der ihn durdhglühte, flohen aud) 
die freundlichen Bilder, die ihn umgaufelt hatten, 
und die ganze gräßlide Wirklichkeit lag wieder 
vor ihm. Sein Weib hatte ihn, den Truntenbold, 
aus dem Haufe gewiejen und fein Kind ftarb unter: 
deffen und er jah e8 nie wieder — nie, nie. 

Er verijhräntte die Arme auf dem Eifengitter, 
legte den Kopf darauf und begann To laut zu jchluchzen, 
daß die Vorübergehenden fi) nah ihm umjahen. 


IV. 23 


323 Ohne Gott. 
Sa, ja, er war ja ein erbärmlicher Menidh, 
das jagte er fi in folden Stunden der Einkehr 
jelbft, er verbiente es nicht befler, aber wenn Minna 
in fein Herz fehen fönnte, fie würde e8 gewiß noch 
einmal mit ihm verjudhen. Vor mehreren Wochen 
batte er, in einer Stimmung wie jeine heutige, 
feine legten Pfennige an einen Briefbogen gewendet 
und einen Brief an fie begonnen. Beendet batte 
er ihn nit, er wußte au nicht, wo er geblieben 
war. — Nun war er inzwilhen ganz verlumpt und 
verfommen, nun jchämte er fih vor ihr und hielt 
fih abfihtlih in einem entfernten Stabiteil auf. 
Als er neulich feinen Leinen ungen von fern er: 
blidte, hatte er fi jchnell umgedreht, aber die 
Sehnfuht, die grenzenlofe Sehnjuht war nach diefer 
Begegnung nur noch heftiger geworden. Wie anders 
wäre e8 gelommen, wenn der reihe Fabrilherr ihm 
einen kleinen Zeil jeines Neichtums abgegeben hätte. 

Nun mit einem Mal hatte der verzweifelte Mann 
einen greifbaren Gegenftand für feinen Haß. — 
Herr Wahrholm und fein Paul — die waren fchuld 
an feinem Unglüd und er wollte e8 ihnen eintränfen. 
Die Thränen verfiegten, Köhler ballte die Fäufte 
und firedte fie drohend von fid. 

„Wartet nur, hr Hunde, 
noch.“ 

Eine harte Hand ſchlug ihn auf die Schulter: 
„Na, Köhler, was machſt Du denn da für Komödie?“ 

Der Angeredete fuhr herum, ſein früherer Arbeits: 
kamerad Braun ſtand vor ihm und ließ ſeine Blicke 
prüfend an ihm niedergleiten. 

„Na, juſtement wie 'n Prinz ſiehſt Du nich aus, 
Köhler.“ 

Der Mann errötete und antwortete ſtockend: 
„Es geht mir ſchlecht — Arbeit hab' ich nich — 
und von zu Haus bin ich auch fort.“ 

„Ich weiß, ich weiß,“ beſtätigte der andere. 
„Du privatiſierſt,“ und er lachte unbändig über 
ſeinen eigenen Witz. „Na, willſt mit mir mitkommen 
und was eſſen? Du ſcheinſt mir ſo eingeſchnurrt 
um den Leib rum.“ 

Köhler ärgerte ſich eigentlich über die gönner— 
hafte Art ſeines Kameraden, aber die Ausſicht auf 
etwas Eßbares war doch zu verlockend. Er hatte 
ſeit drei Tagen nichts Warmes genoſſen. So er: 
klärte er ſich denn zum Mitgehen bereit und folgte 
dem Genoſſen in eine Arbeiterkneipe. Seine Todes— 
gedanken waren verflogen wie ſeine weiche Stimmung. 

Braun ließ zwei Portionen eines einfachen Ge— 
richts kommen und ſah mit bedauernder Verwunderung, 
wie heißhungrig Köhler die ſeinige hinunterſchlang. 
Ein großes Stück Brot ſpülte er zum Schluſſe mit 
einigen Schnäpſen hinunter, Braun hatte eine Flaſche 
davon auf den Tiſch ſtellen laſſen. 

„So, nu bin ich wieder 'n Menſch,“ meinte 
er, ſich behaglich zurücklehnend, „ich dank' Dir, Braun, 
nun erzähl' mir aber was von Euch.“ 

„Da wär' viel zu erzählen, aber leider nichts 
Gut's. Wegen der Zollgeſchichte hat unſer bisheriger 
Herr jetzt weniger ins Ausland zu verkaufen, und 
damit ihm doch man ja kein Schaden geſchieht, 
ſchränkt er wieder, wie vor zwei Jahren, den Betrieb 


Euer Tag kommt 


Roman von E. Karl. 


324 





ein und entläßt ein Viertel der Arbeiter. Die können 
nu ſehn, wie ſie ſertig werden. Ich bin auch ent- 
laſſen, aber ich hab' gleich Arbeit in einem Speicher 
am Hafen bekommen.“ 

„Dir ſchad't es nichts, Du biſt ledig und kannſt 
im Notfall wo anders hingehn,“ meinte Köhler, 
„aber die armen Familienväter.“ 

„Familienväter hatte er keine entlaſſen, bloß 
ledige Leute und thut ſich nu recht was drauf zu 
gut. So ''n Lump, ſo 'n geiziger. Als wenn ſolche 
große Fabrik nich auch in ſchlechten Zeiten ihre Ar: 
beiter ernähren muß. Dann laß er doch mal eine 
Zeitlang auf neuen Verdienſt verzichten und vom 
alten Fett leben. Aber proſt Mahlzeit, das ging 
ihm ja an ſein eigenes liebes Leben, da wird er 
ſich ſchön hüten.“ 

„J ja, wenn einer fo gewöhnt is, alles bloß 
von Silber zu haben und einen jchönen Teppid) 
unter den Füßen und alle Tage Braten, dann dent 
er, das muß für ihn fo fein. Das elende Pad, 
was wir find, das kann ja hungern.” Und Köhler 
pie verächtlich auf die Diele. 

„Ru will er ja wohl eine fchöne Reife machen,” 
fuhr Braun fort. „Wenn bas Frühjahr bei uns nod) 
lang’ nid) anfängt, dann will er mit feiner Sau 
nad Sttalien fahren, dahin, wo fein Paul gewelen 
18. Der bat ihm jo viel davon erzählt, daß er fi) 
die Geihichte nun audh mal anjehn will. Einige 
jagen wohl, es is nich wahr, aber warum fol er 
nid.“ 

Köhler war aufgeiprungen und ftarrte Den 
Spreder mit Teichenblaffem Geliht an. „Nah 
Stalien? — Dahin willer reilen, wo meine Mariechen 
gefund geworden wär’, wenn er mir das Geld ge: 
geben hätt’? Dahin will er nur zum Vergnügen 
reifen? Nu bat er das Geld? — Aber wie ich ihn 
auf Knieen gebeten hab’, meiner Mariechen das 
Leben zu retten, da hatt’ er es nich?“ 

Der Mann ballte die Fäufte und fchritt, un: 
artitulierte Zaute murmelnd, im Zimmer bin und 
ber, jo daß die Kleine Zahl Anmwefender fi erflaunt 
nah ihm umjah. Endlih warf er fich wieder in 
jeinen Stuhl und preßte die Fäufte in die Augen: 
böhlen, während feine Bruft frampfhaft arbeitete. 
Braun betradhtete ihn prüfend von der Seite. Die 
Sade ging ja prädtig, vielleicht fand fih in diefem 
verlumpten, verlommenen Menihen das Werkzeug 
der Rache, das er und einige Kameraden judten. 

„Ra, Deine Mariehen bat Stalien nich mehr 
nötig, die wird nu ganz wo anders hinreijen.” 

„Mas meint Du?” fuhr Köhler auf. 

„Ste liegt nu Jon wieder über drei Wochen 
fe und diejfes Mal wird es Ernftl. Sie is am 
Sterben. Deine Frau hat e8 mir heut’ gefagt. — 
Sie verlangt auh alle Tage nah Dir, aber die 
Minna will nid, daß fie Dih fo — fo — na, Du 
weißt Schon. Aber Kerl, nu hab’ Dich doch nich To, 
trint lieber eins auf den Schred, ftierben müjlen 
wir alle.“ 

Er verjuchte den Verzmweifelten, der laut auf: 
ftöhnend mit dem Kopf auf den Tiich gefunfen war, 
in die Höhe zu ziehen und füllte ihm aus der vor 





325 Ohne Gott. 
ihm ftehenden Flafche das große Schnapsglas. Endlich 
glüdte die Bemühung, Köhler richtete fih auf, griff 
nad dem Glaje und leerte es auf einen Zug. Ein 
zweites folgte — ein drittes — nun mußte er ge: 
nug haben — Braun |hob die Flaiche zurüd. 

„Amer Kerl, ja, Du haft die meifte Urjadh’, 
dem noblen Yabrifherrn gram zu fein,” fprach er 
ee „eigentlich iS er allein an Deinem Unglüd 

u =“ 

„Wenn ih ihn erwürgen, wenn ih ihn mit 
meinen Füßen zertreten könnte,“ jchäumte der plöglich 
Betrunfene mit heiferer Stimme. 

„ven Wunihd Tann Dir keiner verdenfen,” 
meinte Braun, „aber laß es doch Lieber bleiben — 
Du Haft ja au nich die Kurafch’” dazu.” 

Köhler fuhr auf ihn los. „Was jagt Du, id) 
keine Kuraſch'?“ 

„Na, ſei man nich gleich ſo ſchlimm, ich mein' 
man ſo,“ begütigte er. „Eigentlich geſchäh' den reichen 
Kerls recht, wenn ihnen mal einer zeigte, was paſſiert, 
wenn fie nich aufhören, unjeren Schweiß zu ver: 
praffen, aber — ih will Dir nich zuraten.” 

Er nahm das große, blante Brotmeller vom 
Th und befühlte die fcharfgefchliffene Schneide. 
Dann legte er c8 wieder hin. 

Köhler war den Bewegungen bes Genofjen mit 
glühenden Augen gefolgt. — Wenn er das Mefler 
dem Verhaßten in die Bruft bohren Tönnte, wenn 
diefer noch früher fterben müßte als fein Mariechen 
— Das wäre was! Er verjant in brütendes Sinnen. 

Braun beobadtete ihn und las ihm die Ge: 
danfen vom Gefiht. „Ih muß nu gehn,” Iprad 
er endlich aufftehend, „freilih nid in Gejelihaft, 
wie der reihe Herr Wahrholm, aber ich will nod 
zum Schmieder nach einem Bud.” 

„Sn Gejelihaft geht er?” murmelte Köhler 
immer noch fihtbar nachgrübelnd. 

„Sa, zum Profellor Niederftetter, Ta joll Geburts: 
tag fein. Die andern bat ber Kuticher Ihon früher 
bingefahren, der Herr will aber bis halb adt im 
Somptoir bleiben und dann zu Fuß gehen. Die 
Sobanne, was meine Braut is, hat es mir erzählt.” 

Köhler fehwieg und ftarrte immer das Meller an. 

„Ra denn atje, alter Freund,“ jprach Braun, 
ihm auf die Schulter fchlagend. Er ftedte den Reit 
des Schnapjes zu fi, Köhler durfte jegt nicht mehr 
trinken, ging zur Bahlftele, um feine Rechnung zu 
begleihen und verließ das Lofal. 

Der Zurücbleibende ftarrte noch eine Kleine 
Meile auf den Fußboden, dann auf die Uhr an ber 
Wand. Es war halb acht, gerade die richtige Zeit. — 
Er blidte jcheu zu den Männern am anderen Tiich 
hinüber — fie fpielten Karten und achteten nicht auf 
ihn. Er ergriff fchnel das Brotmefjer und ließ es 
in die Tafche gleiten. Niemand hatte e8 bemerft. 
Er taumelte zur Thür und verihwand in der jchledht 
beleuchteten Straße. 

* * 
* 

Herr Wahrholm räumte die Bücher zuſammen 
und ſchloß ſein Schreibpult. Dann machte er Toilette, 
um den Seinigen nachzugehen. Der faſt halbſtündige 


Roman von E. Karl. 





326 


Spaziergang war ihm gerade recht, er hatte den 
ganzen Tag am Schreibtiſch geſeſſen. Die letzte 
Arbeit war ein Brief an einen alten Freund in 
Berlin geweſen, der ihn hatte überreden wollen, mit 
ihm gleichzeitig eine Reiſe nach Oberitalien zu machen. 
Man hatte die Angelegenheit im Familienkreiſe 
mehrfach beſprochen und durch das Stubenmädchen 
Johanna, die Braut Brauns, war etwas davon in 
die Arbeiterkreiſe gedrungen. Herr Wahrholm hatte 
nach reiflicher Uberlegung aber dem alten Freund 
heute einen Abſagebrief geſchrieben. 

„Die Zeit, in der man hundert Arbeiter ent⸗ 
laſſen muß, iſt für Vergnügungsreiſen ſchlecht geeignet,“ 
ſchrieb er, „warten wir auf beſſere Tage.“ 

Damit war die ſchwebende Angelegenheit erledigt. 

In heiterer Stimmung ſchritt Herr Wahrholm 
durch die Stadt und näherte ſich der Wohnung des 
Profeſſor Niederftetter. Sie lag in einer ftillen, vor: 
nehmen Straße, die zum jogenannten Geheimrats- 
viertel gehörte. Kurz vor dem Haufe gabelte fich 
der Fahrweg und man hatte bier Gartenanlagen in 
Geftalt eines fpigen Winkels angelegt, die ber 
öffentlihen Benugung anheimgegeben waren und die 
Etraße anmutig belebten. Sebt im Januar freilich 
war das Gebüfch Fahl und der Kleine Plag leicht zu 
überjehen. 

Es war ein verhältnismäßig milder Abend und 
dem rüftig Vormärtsfchreitenden wurde der Pelz fo 
warnı, daß er ihn öffnete. Als er fih dem Kleinen 
Gartenfled näherte, trat eine hohe, fchlotterige Geftalt 
hinter einem Gebüjch hervor und faßte ihn fcharf 
ins Auge, um dann mit bej'hleunigten Schritten auf 
ihn zuzueilen. Herr Wahrholm bemerkte no, daß 
der Mann jchwankte wie betrunten. Er trat zur 
Seite, um feine unliebjane Begegnung zu haben, 
aber der Menich, in dem er den von ihm entlaffenen 
Arbeiter Köhler erkannte, vertrat ihm den Weg. 

„Allo jegt haft Du Geld, um nad Stalien zu 
reifen, Du Hund — aber Du wirft nicht hinkommen.” 

Wie ein Tiger ftürzte fih der Mann auf fein 
Opfer, jo daß es bintenüber jhlug, und fließ ihm 
mit voller Wucht fein Mefler in die Bruft. Dann 
riß er diejes heraus und rannte in langen Säßen 
Davon. 

So plöglih war der Überfall gelommen, baf 
Wahrholm nur einen einzigen Schrei ausfioßen 
fonnte, bevor ihm aus Schreden und Schmerz bie 
Sinne vergingen. Sn der um diefe Abendftunde 
faft menjchenleeren Straße wurde diejer nur von 
einer Perfon vernommen, die dem Überfallenen fchon 
feit geraumer Zeit gefolgt war und fih im ent: 
Iheidenden Moment hinter das Eifengitter eines Vor: 
gärtheng gedrüdt hatte. Sept trat der Arbeiter 
Braun hervor und beugte fi über den jcheinbar 
Sterbenden. 

„Gute Gelegenheit muß genügt werben,“ 
murmelte er, während er mit flinfen Händen fid 
Uhr und Portemonnaie aneignete. „Vor zwanzig 
Minuten bin id mit dem Buch vom Schmieder weg: 
gegangen, da joll mal einer auf mich raten.” Sm 
nädhjften Augenblid war er verichwunden. 

Mehrere Minuten vergingen und jchon begannen 


323 Dbhne Gott. 
Sa, ja, er war ja ein erbärmlicher Menich, 
das fagte er fih in jolden Stunden der Eintehr 
felbft, er verdiente es nicht befler, aber wenn Minva 
in fein Herz fehen fönnte, fie würde es gewiß noch) 
einmal mit ihm verjuden. Bor mehreren Wochen 
batte er, in einer Stimmung wie jeine heutige, 
feine legten Pfennige an einen Briefbogen gewendet 
und einen Brief an fie begonnen. Beendet hatte 
er ihn nit, er wußte auch nicht, wo er geblieben 
war. — Nun war er inzwilhen ganz verlumpt und 
verfommen, nun fjchämte er fih vor ihr und hielt 
fih abfihtlihd in einem entfernten Stabiteil auf. 
Als er neulich feinen Heinen Jungen von fern er: 
blidte, batte er fich fchnell umgedreht, aber die 
Sehnfuht, die grenzenloje Sehnjuht war nad) biejer 
Begegnung nur noch heftiger geworden. Wie anders 
wäre e8 gelommen, wenn ber reiche Fabrifherr ihm 
einen Tleinen Zeil jeines NReichtums abgegeben hätte. 

Nun mit einem Mal hatte der verzweifelte Mann 
einen greifbaren Gegenftand für feinen Haß. — 
Herr Wahrholm und fein Paul — die waren jhuld 
an feinem Unglüd und er wollte e8 ihnen eintränfen. 
Die Thränen verfiegten, Köhler ballte die Fäufte 
und firedte fie drohend von fid). 

„Wartet nur, hr Hunde, Euer Tag kommt 
noch.“ 

Eine harte Hand Ichlug ihn auf die Edhulter: 
„Na, Köhler, was mahft Du denn da für Komödie?” 

Der Angeredete fuhr herum, fein früherer Arbeits: 
famerad Braun ftand vor ihm und ließ jeine Blicke 
prüfend an ihm niebergleiten. 

„Ra, juftement wie ’n Prinz fiebft Du nich aus, 
Köhler.” 

Der Mann errötete und antwortete ftodend: 
„Es geht mir jchleht — Arbeit hab’ ih nid — 
und von zu Haus bin id aud fort.” 

„Ich weiß, id weiß,“ beftätigte ber andere. 
„Du privatilierf,“ und er lachte unbändig über 
feinen eigenen Wit. „Na, willfi mit mir mitlommen 
und was ejlen? Du jcheinft mir jo eingejchnurrt 
um den Leib rum.“ 

Köhler ärgerte fih eigentlih über die gönner: 
bafte Art jeines Kameraden, aber die Ausfiht auf 
etwas Ehbares war bo zu verlodend. Er hatte 
jeit drei Tagen nichts Warmes genofien. So er: 
Härte er fih denn zum Mitgehen bereit und folgte 
dem Genofjen in eine Arbeiterfneipe. Seine Todes: 
gedanken waren verflogen wie jeine weiche Stimmung. 

Braun ließ zwei Portionen eines einfachen Ge: 
rihts fommen und fah mit bedauernder VBermunderung, 
wie heißhungrig Köhler die jeinige binunterjchlang. 
Ein großes Stüd Brot jpülte er zum Schluffe mit 
einigen Schnäpjen hinunter, Braun hatte eine Flajche 
davon auf den Tiih ftellen Laflen. 

„So, nu bin ih wieder 'n Menih,” meinte 
er, jich behaglich zurüdlehnend, „ich dank’ Dir, Braun, 
nun erzähl’ mir aber was von Euch.” 

„Da wär viel zu erzählen, aber leider nichts 
Gut’3. Wegen der Zollgefehichte hat unfer bisheriger 
Herr jegt weniger ins Ausland zu verlaufen, und 
damit ibm doh man ja fein Schaden geichieht, 
Ichräntt er wieber, wie vor zwei Jahren, den Betrieb 


Roman von ©. Karl. 


324 








ein und entläßt ein Ziertel der Arbeiter. Die fönnen 
nu jehn, wie fie fertig werden. Ich bin aud ent- 
laflen, aber ich hab’ gleich Arbeit in einem Speicher 
am Hafen befommen.“ 

„Dir Ichad’t es nichts, Du bift ledig und fannft 
im Notfall wo anders bingehn,“ meinte Kübler, 
„aber die armen Familienväter.” 

„Samilienväter hatte er feine entlaffen, bloß 
[edige Leute und thut fih nu recht was brauf zu 
gut. So ’n Zump, fo ’'n geiziger. Als wenn joldhe 
große Fabrik nich au in fchlehten Zeiten ihre Ar- 
beiter ernähren muß. Dann laß er do mal eine 
Zeitlang auf neuen Berdienit verzichten und vom 
alten Fett leben. Aber proft Mahlzeit, das ging 
ihm ja an jein eigenes liebes Xeben, da wird er 
fh Ihön hüten.” 

„J ja, wenn einer jo gewöhnt is, alles bloß 
von Silber zu haben und einen jchönen Teppid) 
unter den Füßen und alle Tage Braten, dann dentt 
er, das muß für ihn fo fein. Das elende Pad, 
was wir find, das kann ja bungern.” Und Köhler 
Ipie verädhtlid auf die Diele. 

„Ru will er ja wohl eine jchöne Reife maden,” 
fuhr Braun fort. „Wenn das Frühjahr bei uns nod) 
lang’ nid anfängt, dann will er mit feiner Frau 
nah Stalien fahren, dahin, wo jein Paul gemwejen 
ie. Der bat ihm fo viel davon erzählt, daß er fich 
die Geihihte nun aud mal anjehn will. Einige 
= wohl, es i® nich wahr, aber warum fol er 
n m 

Köhler war aufgelprungen und ftarrte den 
Spreder mit leichenblaſſem Geſicht an. „Nach 
Italien? — Dahin will er reiſen, wo meine Mariechen 
gefund geworden wär’, wenn er mir das Geld ge: 
geben hät? Dahin will er nur zum Vergnügen 
reifen? Nu bat er das Geld? — Aber wie ich ihn 
auf Snieen gebeten hab’, meiner Mariehen das 
Leben zu retten, da hatt’ er es nich?“ 

Der Mann ballte die Fäufte und jhritt, un: 
artilulierte Laute murmelnd, im Zimmer bin und 
ber, jo daß die Heine Zahl Anmwejender fih erftaunt 
nah ihm umjahb. Endlich warf er fidh wieder in 
feinen Stuhl und preßte die Fäufte in die Augen: 
bhöhlen, während feine Bruft frampfhaft arbeitete. 
Braun betrachtete ihn prüfend von der Seite. Die 
Sade ging ja prädtig, vielleicht fand fich in diefem 
verlumpten, verlommenen Menihen das Werkzeug 
der Rache, das er und einige Kameraden juchten. 

„Ra, Deine Mariehen hat Italien nich) mehr 
nötig, die wird nu ganz wo anders hinreilen.“ 

„Was meinft Du?” fuhr Köhler auf. 

„Sie liegt nu fon wieder über drei Wochen 
feft und diejes Mal wird es Ernft. Sie is am 
Sterben. Deine Frau bat es mir heut’ gejagt. — 
Sie verlangt auh alle Tage nad Dir, aber die 
Minna will nid, daß fie Dih jo — fo — na, Du 
weißt jhon. Aber Kerl, nu hab’ Dich doch nich To, 
trint lieber eins auf ben Schred, fierben müllen 
wir alle.” 

Er verfuhte den Verzweifelten, ber laut auf: 
ftöhnend mit dem Kopf auf den Tifch gefunfen war, 
in die Höhe zu ziehen und füllte ihm aus der vor 





325 Ohne Gott. 


ihm ftehenden Flajche das große Schnapsglas. Endlich 
glüdte die Bemühung, Köhler richtete fih auf, griff 
nach dem Glafe und leerte es auf einen Zug. Ein 
zweites folgte — ein brittes — nun mußte er ge: 
nug haben — Braun job die Flajche zurüd. 

„Armer Kerl, ja, Du haft die meifte Urjadh’, 
dem noblen Fabrikherrn gram zu fein,“ fprad er 
ee „eigentlich iS er allein an Deinem Unglüd 

uld.” 

„Wenn ih ihn erwürgen, wenn ih ihn mit 
meinen Füßen zertreten könnte,“ jchäumte der plöglich 
Betruntene mit heijerer Stimme. 

„ven Wunid lann Dir feiner verbenfen,” 
meinte Braun, „aber laß es doch lieber bleiben — 
Du halt ja au nid die Kuralch’ dazu.” 

Köhler fuhr auf ihn los. „Was fagft Du, ich 
feine Kurafch’?“ 

„Ra, jei man nich glei fo jchlimm, ich mein’ 
man }o,” begütigte er. „Eigentlich geihäh’ den reichen 
Kerls recht, wenn ihnen mal einer zeigte, mas pajliert, 
wenn fie nich aufhören, unferen Schweiß zu ver: 
praflen, aber — ih will Dir nich zuraten.“ 

Er nahm das große, blanfte Brotmefjer vom 
Tiih und befühlte die jcharfgeichliffene Schneide. 
Dann legte er es wieder Hin. 

Köhler war den Bewegungen des Genofjen mit 
glühenden Augen gefolgt. — Wenn er das Meier 
dem VBerhaßten in die Bruft bohren Tönnte, wenn 
diefer noch früher fterben müßte als fein Mariechen 
— das wäre was! Er verlant in brütendes Sinnen. 

Braun beobadjtete ibn und las ihm die Ge 
danfen vom Gefidt. „Jh muß nu gehn,“ Iprad 
er endlih aufftehend, „freilih nid in Gefellichaft, 
wie der reihe Herr Wahrholm, aber ih will nod 
zum Schmieder nad einem Bud.“ 

„Sn Gelelihaft geht er?” murmelte Köhler 
imnier noch fihtbar nachgrübelnd. 

„Sa, zum Profellor Niederfteiter, ta fol Geburts: 
tag fein. Die andern bat der Kuticher Schon früher 
bingefahren, der Herr will aber bis halb adht im 
Comptoir bleiben und dann zu Fuß gehen. Die 
Sobanne, was meine Braut is, hat es mir erzählt.” 

Köhler Ihwieg und ftarrte immer das Mefler an. 

„Ra denn atje, alter Freund,” Iprad Braun, 
ibm auf die Schulter fchlagend. Er ftedte den Reit 
des Schnapjes zu fi, Köhler durfte jet nicht mehr 
trinfen, ging zur Zahlftelle, um jeine Rechnung zu 
begleichen und verließ das Xofal. 

Der Zurüdbleibende ftarrte noch eine Kleine 
Meile auf den Fußboden, dann auf die Uhr an der 
Wand. Es war halb acht, gerade die richtige Zeit. — 
Er blidte jcheu zu den Männern am anderen Tiich 
hinüber — fie jpielten Karten und acdhteten nicht auf 
ihn. Er ergriff jchnel das Brotmefjer und ließ es 
in die Tafche gleiten. Niemand hatte es bemerkt. 
Er taumelte zur Thür und verjhwand in der jchledht 
beleuchteten Straße. 

* * 
* 

Herr Wahrholm räumte die Bücher zuſammen 
und ſchloß ſein Schreibpult. Dann machte er Toilette, 
um den Seinigen nachzugehen. Der faſt halbſtündige 


Roman von E. Karl. 





326 





Spaziergang war ihm gerade recht, er hatte den 
ganzen Tag am Schreibtiſch geſeſſen. Die letzte 
Arbeit war ein Brief an einen alten Freund in 
Berlin geweſen, der ihn hatte überreden wollen, mit 
ihm gleichzeitig eine Reiſe nach Oberitalien zu machen. 
Man hatte die Angelegenheit im Familienkreiſe 
mehrfach beſprochen und durch das Stubenmädchen 
Johanna, die Braut Brauns, war etwas davon in 
die Arbeiterkreiſe gedrungen. Herr Wahrholm hatte 
nach reiflicher ÜUberlegung aber dem alten Freund 
heute einen Abſagebrief geſchrieben. 

„Die Zeit, in der man hundert Arbeiter ent—⸗ 
laſſen muß, iſt für Vergnügungsreiſen ſchlecht geeignet,“ 
ſchrieb er, „warten wir auf beſſere Tage.“ 

Damit war die ſchwebende Angelegenheit erledigt. 

In heiterer Stimmung ſchritt Herr Wahrholm 
durch die Stadt und näherte ſich der Wohnung des 
Profeſſor Niederſtetter. Sie lag in einer ſtillen, vor⸗ 
nehmen Straße, die zum jogenannten Geheimrats- 
viertel gehörte. Kurz vor dem Haufe gabelte fich 
der Fahrweg und man hatte hier Gartenanlagen in 
Geltalt eines jpigen Winkels angelegt, bie ber 
öffentlihen Benußung anheimgegeben waren und die 
Etraße anmutig belebten. Jetzt im Sanuar freilich 
war das Gebüjh Fahl und der Kleine Plat leicht zu 
überjehen. 

E3 war ein verhältnismäßig milder Abend und 
den rüftig Vormwärtsichreitenden wurde ber Pelz fo 
warnt, daß er ihn öffnete. Als er fih dem Eleinen 
Gartenfled näherte, trat eine hohe, Ichlotterige Geftalt 
hinter einem Gebüjch hervor und faßte ihn jcharf 
ing Auge, un dann mit beijchleunigten Schritten auf 
ihn zuzueilen. Herr Wahrholm bemerkte no, daß 
der Mann jchwanktte wie betrunken. Er trat zur 
Seite, um keine unliebjame Begegnung zu haben, 
aber der Menidh, in dem er den von ihm entlaflenen 
Arbeiter Köhler erkannte, vertrat ihm den Weg. 

„Allo jegt haft Du Geld, um nad Stalien zu 
reifen, Du Hund — aber Du wirft nicht hintommen.” 

Wie ein Tiger flürzte fih der Mann auf fein 
Opfer, jo daß es Hintenüber f&hlug, und ftieß ihm 
mit voller Wucht fein Meffer in die Brufl. Dann 
riß er diejes heraus und rannte in langen Sätßen 
Davon. 

Sp plöglih war der Überfall gelommen, daß 
Wahrholm nur einen einzigen Schrei ausftoßen 
fonnte, bevor ihm aus Schreden und Schmerz die 
Sinne vergingen. Sn der um Diele Abenbftunde 
faft menfchenleeren Straße wurde Ddiejer nur von 
einer Perfon vernommen, die dem Überfallenen fchon 
jeit geraumer Zeit gefolgt war und fih im ent 
Iheidenden Moment hinter das Eijengitter eines Vor: 
gärtcheng gedrüdt hatte. Seht trat ber Arbeiter 
Braun hervor und beugte fi über den jcheinbar 
Sterbenden. 

„Bute Gelegenheit muß genügt werben,” 
murmelte er, während er mit flinlen Händen fid 
Uhr und Portemonnaie aneignete. „Vor zwanzig 
Minuten bin ih mit dem Bud vom Schmieder weg: 
gegangen, da joll mal einer auf mich raten.” m 
nächſten Augenblick war er verſchwunden. 

Mehrere Minuten vergingen und ſchon begannen 


327 Ohne Gott. 
Bewegungen bed bdaliegenden Körpers das wieder: 
tehrende Bemußtjein zu verkünden, als endlich zwei 
Studenten bes Meges lfamen und mit Entfegen ben 
Blutenden entbedten. Schnell entichloflen hoben fie 
den ftöhnenden Manır auf und trugen ihn nad) einer 
unfern gelegenen Privatklinik, wo fie hoffen durften, 
jofort ärztlihe Hilfe zu erhalten. 

Der Berlegte fam bereits während des Trans: 
ports zur Befinnung, fonnte jeinen Namen nennen 
und Anmeifung zur Benachrichtigung der Seinen 
treffen. Auh nannte er Namen und Wohnort 
bes Thäters, deflen vagabundierendes Leben ihm 
fremd war. 

Die Wunde erwies fich bei genauer Unterfuhung 
als nit fo gefährlih, wie e8 nad ber ftarlen 
Blutung der Fall zu fein fchien. Troß der gewaltigen 
Wucht, mit der der Stoß geführt war, hatte das zwar 
Iharfe, aber nicht jehr fpige Mefler an der jeidenen 
Krawatte und dem fteifen Vorhemde einen zu großen 
Widerftand gefunden, um tödlich wirken zu können. 
immerhin war aber die Qunge etwas verlegt und 
ber flarle Blutverluft hatte den Verwundeten ehr 
erichöpft, jo war Schonung dringend geboten. 

Der Schreden im Haufe Niederftetter Tpottete 
jeder Bejchreibung, als einer der hilfreichen Studenten 
die Nachricht von Überfall des Fabrikbefigers brachte, 
und die Gattin des Verwundeten ſiedelte ſofort in 
die Klinik über, um ihm nahe zu ſein. Paul 
mußte allein in die elterliche Wohnung zurückkehren, 
den Vater zu vertreten. 

Der zweite der freundlichen Helfer war ſofort 
nach Ablieferung des Kranken zur Polizei geeilt, um 
die Verhaftung des Verbrechers zu veranlaſſen. Die 
geöffneten Kleider des Verletzten und das Fehlen von 
Portemonnaie und Uhr deuteten auf Raub. 


XI. 


Minna Köhler ſaß am Bette ihres kranken 
Kindes. Mariechen lag ganz ſtill, man hätte ſie mit 
ihrer gelbweißen Haut und den tief eingeſunkenen 
Augen fchon für eine Leiche halten können, wenn 
dieſe Augen nicht in faſt unheimlichem Glanze ge—⸗ 
leuchtet hätten und der Atem nicht mit raſſelndem 
Geräuſch gegangen wäre. 

Minna wußte, daß die nächſten Tage das Ende 
bringen mußten und wich nicht vom Bett, wenn es 
nicht die dringendſte Notwendigkeit erforderte. Mußte 
ſie aber fortgehen, ſo vertrat Alma, die fich in dieſer 
ſchweren Zeit als hilfreicher Engel bewährte, ihre 
Stelle. Die beiden ſo verſchiedenen Frauen unter: 
ſtützten ſich gegenſeitig. 

Der Abend war faſt bis zur neunten Stunde 
vorgerückt, der kleine Karl ſchickte ſich an, ſein Lager 
aufzuſuchen, und Minna hatte eben die Lampe für 
die Nachtwache friſch gefüllt, als auf der Treppe ein 
flüchtiger Schritt klang. 

Mariechen, die ſich lange nicht gerührt hatte, 
machte eine plötzliche Bewegung und verſuchte ſich auf— 
——— „Der Vater,“ flüſterten ihre bläulichen 

ppen 


Roman von E. Karl. 





328 


Um Minnas Mund zuckte es ſchmerzlich, immer 
dieſelbe Hoffnung, die doch unerfüllt bleiben mußte. 
Aber im nächſten Augenblick fiel ihr das Strickzeug 
aus den Händen und ſie ſelbſt entſetzt an die Stuhl— 
lehne zurück. Die Thür wurde haſtig aufgeriſſen 
und im Rahmen ſtand Köhler — aber wie ſah er 
aus. — 

Zerlumpt und barhaupt, abgezehrt und ver: 
fommen. Doch das war nicht das Schlimmfte. Das 
Haar hing ihm lang in ein wild verzerrtes Geficht, 
in dem die Augen wie im Wahnfinn glühten. Er 
ftand einen Augenblid, als wage er die Stube nicht 
zu betreten, dann flürzte er vorwärts, brad vor 
dem Bett in die Knie und wübhlte den Kopf neben 
der Bruft des Franken Kindes in die Bettbede. So 
blieb er lange liegen, während Mariehen ihre Arme 
um das geliebte Vaterhaupt legte und ihre Augen 
einen falt überirdiihen Ausdrud annahmen. 

Endlih richtete der Mann den Oberförper in 
die Höhe und blidte wie geiftesabwejend umber. 

„Um Gottes willen, Gottlieb, Du bift ja ganz 
vol Blut, was ilt Dir geſchehen? rief Minna ent- 
legt, weil fie an eine Verwundung ihres Mannes 
glaubte. 

Köhler rieb fich mit der Hand die Stirn, als 
fude er feine Gedanken zu jammeln, und blidte dann 
prüfend auf feine bejudelten Hände. Er hatte das 
blutige Meffer mehaniih zmwildhen ihnen abgewilcht, 
der aufipringende Blutftrahl ihm aud Bruft und 
Geficht beiprikt. 

„Blut, Blut,” murmelte er, „es wird noch viel 
fließen, wenn fie e8 jo weitertreiben. Segt bat erft 
einer feinen Xohn. — Du mußt nu fterben, mein’ 
Tochter, aber er ift auch geftorben, weil er Dich nich 
bat gejund werden lafjen.” 

Er murmelte no etwas Ilnverftändbliches und 
foht mit ben Händen in der Luft herum, dann 
jenfte er den Kopf wieder in das Kiffen, auf dem 
feines fterbenden Kindes Haupt rubte, und blieb uns 
beweglich liegen, lange, large Zeit. Es war, als ſei 
er eingeſchlafen. 

Minna blickte ratlos und verzweifelt umher. 
War ihr Mann wahnſinnig, oder war er nur be— 
trunken? Er hauchte einen penetranten Fuſelgeruch 
aus. Oder hatte er etwas Böſes begangen? Wer 
war geſtorben? Augenſcheinlich hatte es irgendwo 
eine arge Rauferei gegeben. 

Endlich, als wohl eine reichliche Viertelſtunde 
vergangen war, winkte ſie dem Kleinen, der immer 
noch bekleidet auf ihrem Bett ſaß, und hieß ihn zu 
Schmieders hinaufgehen, um den Mann, wenn er 
daheim ſei, herunterzurufen. 

Der Beſcheid lautete aber wenig befriedigend. 
Schmieder war nicht zu Hauſe, er ging jetzt, ſeitdem 
Alma ſo viel elend war, oft aus. Dieſe erwartete 
ihn aber jeden Augenblick und verſprach, ihn ſofort 
hinunterzuſenden. 

Wieder verging eine kurze Zeit, ohne daß Köhler 
ſich gerührt hätte, in Mariechens Zügen aber zeigte 
ſich eine Veränderung. Nun ihr heißer Wunſch er— 
füllt war, nun des Vaters Haupt neben dem ihrigen 
lag, ließ die Spannung nach, die ſie bisher aufrecht 


ö — — — — — — — — ——— —— 


329 Ohne Gott. 
erhalten hatte. Der unnatürlide Glanz der Augen 
erlofh und die Lider janten darüber. Das Näschen 
wurde jpig und bläulide Schatten begannen fid) 
darum auszubreiten. 

Minna, die jhon jo viele ihrer Sinder Hatte 
fterben jehen, erfannte, baß die Hand des Todes 
leife über das flile Gefiht frid. D, wenn er bie 
Heine Dulberin jett hinwegnähme, ehe das Schredliche, 
defjen Nähe fie fühlte, ohne jagen zu lünnen, woher 
fie e8 erwartete, einträte. — 

Wieder polterte e8 auf der Treppe, diejes Mal 
wie von mehreren Süßen. Köhler fuhr in die Höbe 
und in demjelben Augenblid wurde die Thür auf: 
gerifien, zwei Poliziften ftanden auf der Schwelle. 
„sm Namen des Königs! — Arbeiter Köhler, Sie 
find verhaftet.” 

Minna ftieß einen gellenden Schrei aus, ber 
das Halb entfchlummerte Kind wieder aufrüttelte. 

Köhler taumelte vom Boden auf. „Kommt Yhr 
mich Ihon holen — SYhr Schufte? Könnt Ihr mir 
nich Zeit laflen, bis meine Mariehen geflorben is? 
E3 dauert nich mehr lang! — Aufs Schafott komm’ 
ih noch zeitig genug.” 

Minna erftarrte das Blut in den Adern, fie 
fonnte feinen Laut mehr hervorbringen. Mit brechenden 
Snieen Tchleppte fie fih zu dem nädjlten der Ein: 
getretenen und faßte feinen Arın, während ihr Mund 
ih wiederholt öffnete, ohne einen Laut hervorzu: 
bringen. Aber der Mann verftand fie doc. 

„Er hat den Herren Wahrholm geftochen md 
beraubt,“ berichtete er. 

„3a, ich hab’ ihn totgeftochen, den Hund,” jchrie 
Köhler. „Es fällt mir gar nich ein, das abzuleugnen.” 

Der Beamte 309 ein Paar Handichellen hervor 
und näherte fi dem Arbeiter, als ein gurgelnder 
Laut diefen umjchauen made. 

Mariechen, die fidh jeit Tagen nicht mehr allein 
aufgerichtet hatte, jaß im Bette und ftarrte mit weit 
aufgeriflenen Augen und entjegt vorgeftredten Händen 
auf den Bater. Nochmals wiederholte fidh der Laut, 
der wohl einen Schrei bedeuten jollte, dann fiel ber 
Körper rüdwärts in die Kiffen. 

Mit einer Kraft, die niemand dem abgezehrten 
Manne zugetraut hätte, ließ Köhler die ihn faffenden 
Hände der Beamten zurüd und riß das unbeilvolle 
Mefler aus der Taihe. „Wer mich jest anrührt, 
ift des Todes,” jchrie er, e8 über dem Kopf jchwingend, 
dann ließ er die Hand finten und jeßte fi auf den 
Rand des Bettes. 

Die Schugleute begriffen die Situation, zogen 
ih gegen die Thür zurüd und beratichlagten leife 
miteinander. Sn diefem Augenblid trat aud) 
Schmieder ein. Der große, Eräflige Mann war ein 
nicht zu veradhtender Zuwads ihrer Macht dem Ver: 
zweifelten gegenüber, fie unterridhteten ihn im lüfter: 
ton von dem Porgefallenen und verlangten im Not: 
falle jeinen Beiſtand. 

Mariehen atmete nur noch leife. Minna war 
neben dem Bett auf die Kiniee gejunfen, der Mann jaß 
auf dem ande und ftarrte in die groß geöffneten 
Augen der Sterbenden. „Sieh mid nid jo an, 
Mariehen — ieh mi ni fo an — ih bin Dir 


Roman von €. Karl. 


330 


ja jo gut — mad)’ mir doch ein freundliches Geficht,“ 
jo jammerte der unglüdlide Mann unaufhörlic. 

Da war es, als ob die geipannten Züge fi) 
glätteten. Hatte ihn das Mädchen noch verftanben, 
oder war es nur die Erihlaffung der Muskeln? Ein 
freundlicher Ausdrud breitete fi) über das Geficht 
und unter feiner lieblfofenden Hand Ichloflen fich die 
blauen Augen für immer. Dariechen hatte ausgelitten. 

Einige Minuten blieb alles ftil, die Majeftät 
des Todes, der durch den Raum jchritt, hielt jeden 
in ihren Bann. 

Endlich erhob fih Köhler — langjam und wie 
es jchien völlig nüchtern richtete er fih zu feiner 
vollen Höhe auf und jchleuderte das Mefier in weiten 
Bogen dur das Zimmer, daß es vibrierend in der 
Diele fteden blieb. Danıı wendete er fih an die 
Diener bes Gejeges. „Seht is es aus — nu Fönnt 
hr mich mitnehmen.” 

Der eine der Beamten 309 wieder die Hanb- 
hellen hervor, aber Köhler mies fie mit ruhiger 
Bewegung zurüd. 

„38 nich nötig, Herr Schugmann, ich komm’ 
Ihon von allein.” 

„Laſſen Sie den Mann ungefefjelt,” vermittelte 
Schmieder, „ih will Sie begleiten, dann find wir 
drei gegen einen.” Man willfahrte ihm und fchidte 
fih zum Gehen an. 

„Atje, Minna,“ wendete ſich der Arbeiter an 
ſeine Frau, indem er ihr die blutbefleckte Hand hin— 
hielt, „nu ſiehſt Du mich nich mehr im Leben, jetzt 
machen ſie mich einen Kopf kürzer.“ 

Minna ſchluchzte laut auf, aber ſie wendete ſich 
ab — ſie konnte die Hand des Mörders nicht ergreifen. 

Köhler ſah ſie ſchmerzlich an, wendete ſich zu ſeinem 
kleinen Sohn, ergriff deſſen Kopf und drückte einen 
Kuß auf das dichte, blonde Haar, dann ſchritt er der 
Thür zu, während der junge Schutzmann ſeinen Arm 
ergriff. Ruhig erſtieg er die kurze Treppe, als er 
aber die Schwelle ſeines Hauſes überſchritt, brach er 
zuſammen. 

„Na, auf, auf,“ rüttelte ihn der Beamte in 
rauhem Ton. 

Der Arbeiter erhob ſich, doch ſeine Kraft war 
erſchöpft. 

„Geſtatten Sie mir, meinem Genoſſen einen 
Wagen zu holen,“ miſchte ſich Schmieder hinein, 
„was er auch gethan haben mag, er iſt ein Menſch.“ 

Den Schutzleuten erſchien eine Fahrt ebenfalls 
bequemer als der weite Weg zum Gefängnis. Sie 
ſetzten ſich, den Delinquenten in die Mitte nehmend, 
auf der Thürſchwelle nieder, bis Schmieder von der 
nahen Station einen Wagen beſchafft hatte. 

„Sie werden den anfänglichen Widerſtand des 
Mannes gegen Sie nicht melden, Herr Schutzmann,“ 
ſprach Schmieder bittend, als ſie in den Wagen ſtiegen. 

„Nein, Herr, gewiß nicht,“ antwortete der alte 
Mann ernſt, „ich kann Verzweiflung von Renitenz 
unterſcheiden.“ 

Köhler ſprach kein Wort mehr, er hatte mit dem 
Leben abgeſchloſſen. Vor ſeinen Augen ſchwebte ein 
blankes Richtbeil, aber es erregte ihn nicht. Es 
war ja alles gleichgültig. — 





331 


Am nähften Morgen wurde Köhler vernommen 
und befannte fih ruhig, wie am Abend vorher, zu 
feiner That. Nur das Motiv dazu blieb rätjelhaft, 
denn die Gejhichte von feiner vergebliden Bitte um 
vierlaufend Mark und feiner Wut über eine angeblich 
von Herrn Wahrholm projeltierte Reife nach Sttalien 
Hang doch zu ungereimt. 

Cine Beraubung des VBermwundeten leugnete er 
aber rund ab und wiederholte immer von neuem: 
„Ih bin ein ehrlider Mann, Herr Richter, ich hab’ 
den Herrn bloß totfleden wollen.” Dabei blieb er. 

Aud Braun, der unmittelbar vor der That mit 
ihm zufammen gejehben war, wurde vernommen. Es 
fanden fi unter den in ber Kneipe anmwejend ge: 
wejenen Perjonen zwei, die von Aufreizung Ipraden, 
weil fie fi) der Aufregung des vorher ganz jchweig- 
famen Mannes entjannen, nahdem Braun eine 
Weile auf ihn eingeredet hatte. Braun aber jeßte 
eine Unjhuldsmiene auf und verficherte, Köhler von 
feinem Vorhaben abgeraten zu haben. Er berief fi 
jogar auf deilen Zeugnis, und Köhler beftätigte in 
feiner MWahrbeitsliebe die Ausfage.. Er war nicht 
Hug genug, um die Reden feines Genofjen nach ihrer 
Meinung abzuihägen, er bielt fih an die fchlauen 
Worte: „Laß es lieber fein.” 

Herr Wahrholm konnte no nicht vernommen 
werden, doch machte die Nachricht, daß er lebe und 
binnen einigen Wochen geheilt fein werbe, einen jehr 
liefen Eindrud auf Köhler, nur blieb es zweifelhaft, 
ob ihm die Thatjache lieb oder leid fei. So mußte 
der Angeklagte denn nad mehreren Verhören wieder 
ins Gefängnis zurüdgeführt werben, es war für den 
Augenblid kein Licht in die dunkle Angelegenheit 
zu bringen. 


* * 
% 


Minna hatte ihr Töchterhen, zwei Tage nad 
dem Tode, eben in den Sarg gelegt, als der Bote 
einer Schlafitellenvermieterin ihr einen PBfandichein 
über einen Rod bradte, mit der Anfrage, ob fie ihn 
einlöjen wolle. Da Köhler, der ihn an Zahlungs: 
ftatt gegeben batle, nun im Gefängnis jäße, wolle 
die Frau lieber ihr Geld, als den alten Rod, den 
fie erft verlaufen müßte. 

Minna war felbft ohne Geld, fie wollte aber 
das Kleidungsftüd nicht verloren gehen lafjen und 
entlieh die Eleine Summe von Alma. Jhr Mann 
julte doh anftändig vor Gericht ericheinen. Sie 
löfte den Rod nodh an demfelben Tage ein und 
madte fi abends daran, ihn auszubellern, um ihn 
am nähften Tage ins Gefängnis tragen zu können. 
Mährend fie ihn prüfend hin und ber drehte, aud 
die Tajhen ummendete, um fie auf ihre Haltbarkeit 
zu unterfuchen, fiel ihr ein zufammengeballtes Papier 
in die Hände, das in einer TQTajche ftedte. Sie 
glättete es mehaniih, ohne etwas dabei zu denten, 
aber ihre Augen wurden größer und größer, je länger 
fie darauf binftarrte. 

Was fie da in der Hand hielt, war ein ange: 
fangener Brief ihres Mannes an fie. Er war in 
ungeſchickter Handſchrift und ſehr fragwürdiger Ortho— 





Ohne Gott. Roman von E. Karl. 





332 


graphie abgefaßt, aber bas flörte fie nicht, fie wußte 
ja, daß Köhler, auf dem Lande aufgewadjfen, nur 
eine jehr mangelhafte Schulbildung erhalten und 
feit Jahren nicht mehr gefchrieben halte. 

Der Brief lautete: 

Einfiges Libftes Minachen 

Ich fize bier in grofen Jammer und Nobht 
weil mein berz fih fo Bangt nah Dir und die 
Kinder denn ih bin wol fjerr ein jdhledhter Kerl 
und ih fan nich lajen von den brantweihn aber 
wen Du mir von Dir flofen tubeft den mus idy 
Zugrunde gehen den ich dente blos an Dir und 
den Karbel und die Marichen Bejonders wo mir 
das Herz wehtuth zu Zerbreden. Erbarme Dich iber 
mir mein einfiges Minaden das ih wider — — 

Hier brach das Schreiben ab, aber aus Minnas 
Augen, die jeit der furdhtbaren Abendftunde, da man 
ihren Mann als Mörder ins Gefängnis führte, troden 
geblieben waren wie verborrte Quellen, braden bie 
Thränen firommeife hervor. Sie trat zu dem jchlichten 
Sarge, der im Hintergrunde des Zimmers auf zwei 
Stühlen ftand, und legte ihr Gefiht neben das ihres 
toten Kindes auf das harte Kiffen, wie es vorgeftern 
ihr unglüdlider Mann gethan hatte. 

Nun konnte fie weinen, lange, lange. — Dann 
faltete fie die Hände und bat Gott, er möge ihr 
Kraft geben, den Berlorenen auf den redten Weg 
zurüdzuführen. Wenn er no jo fühlen Eonnte, 
wenn er noh jo an ihr und den Kindern Bing, 
war er noch zu reiten. 

Am Sarge ihres Kindes fand fie die tief ver- 
jüttete Liebe zu ihrem Gatten wieder. 

Dur Frau Profefjor Nieberitetter, die fie geflern 
Ihon befucht und au den Sarg bezahlt hatte, wußte 
fie, daß Herr Wahrholm lebte, daß ihrem Manne 
aljo nur eine mehr oder weniger lange Zudthaus- 
ftrafe bevorftand, und gerade diefer Umftand erjchien 
ihr günftig für ihn. Die Ichlechte Gejelihaft würbe 
ibm nichts anhaben, er war von Charakter gut und 
ehrlih, das Trinken aber würde er fi abgewöhnen 
und dafür arbeiten lernen müflen. Sie aber wollte 
ihm oft jchreiben und ihn tröften und ermutigen, bis 
fie ihn zurüderhielt. Sie halte eine gute Volle: 
Thule bejucht und wußte ſich ſchriftlich durchaus ver⸗ 
ſtändlich auszudrücken. 

Nach und nach verſiegten ihre Thränen und 
machten einem himmliſchen Gefühl der Erleichterung, 
aber gleichzeitig furchtbarer körperlicher Müdigkeit 
Platz. Sie warf ſich halb angekleidet neben dem 
kleinen Karl auf ihr Bett und fiel ſofort in tiefen, 
erquickenden Schlummer. Seit vielen Tagen zum 
erſten Mal nahte ihr ſo der holde Bruder des Todes; 
in demſelben Zimmer raſteten die Brüder vereint 
und jeder von ihnen brachte eine Wohlthat. 

Am nächſten Vormittag trug Minna den aus— 
gebefjerten Rod ins Gefängnis und bat den Unter: 
\udungsrichter, den fie zufällig bort antraf, um eine 
Unterredung mit ihrem Manne. Sie wurde ihr 
nad einigem Zögern — natürlid nur in Gegen: 
wart eines Beamten — gewährt. Gerichtsrat Burger 
ermahnte fie aber, ihren Mann in Bezug auf den 
Verbleib der Wertfadhen zur Aufrichtigkeit anzubalten. 





333 Ohne Gott. 
„Senommen bat er ficherli nichts, Herr Ge: 
ritsrat, er ift ein ganz ehrlider Mann,” antwortete 
ihm die Frau im Tone vollfter Überzeugung. 

Alfo aud fie hielt den Mörder für ehrlich, ob 
er es wirklich jein jollte? 

Es war ein thränenreiches und doch freudiges 
Wiederjehen zwilhen dem Ehepaar. Köhler verging 
faft vor Ichmerzlihem Glüd, daß jeine Minna, die 
ihm jüngft, als er fürs Leben Abjchied nehmen wollte, 
ihre Hand verweigert hatte, jebt zu ihm fam und 
ihre Arme genau jo um jeinen Hals legte, wie er 
es vor drei Tagen auf der Brüde geträumt hatte. 

Nach der eritien Begrüßung freilih hielten fie 
fih Scheu voneinander fern, die Gegenwart bes 
Gefangenenmwärters beengte fie, aber fie hatten fich 
do innerli gefunden. Minna ſprach ihre große 
Freude darüber aus, daß Herr Wahrholm außer 
Lebensgefahr, ihr Gottlieb alfo, troß jeines Ichredlichen 
Borfages, nicht zum Mörder geworden war, und diefer 
flimmte ihr bei. 

„sa, e8 18 gut jo; wenn ich meine Straf’ hinter 
mir hab’, will id zu ihm gehen und ihn um 2er: 
gebung bitten.” 

Dann Sprachen fie vom Tode des Kindes. 


„Wenn ich bloß ihre entjetten Augen nich immer 
vor mir jehen müßt’,” Elagte der Mann. „Daß fie 
bat fortgehen müllen mit dem Grauen vor mir, das 
fann ich nich verwinden.“ 

Minna tröftete ihn jo gut fie konnte, fie meinte, 
das Kind habe fih nur vor dem Geidhrei und den 
fremden Meniden erjchredt, aber nicht mehr ver- 
ftanden, um was es fi handelte. Cie jagte damit 
mehr als fie jelbft glaubte, aber fie hielt es für ihre 
Pflicht, den ganz Gebrocdhenen aufzurihten, und es 
gelang ihr endlich Durch den Hinweis auf das freundlich 
lächelnde Gefidht, mit dem die Kleine eingejehlummert 
fei. Sie gab ihm aud eine Strähne ihres blonden 
Haares und ermahnte ihn, dabei täglich zu denken, 
wie Mariehen fih freuen würde, wenn fie wüßte, 
daß er wieder ein ordentlicher Menih werde. Er 
verjprady alles unter Thränen. 


Endlid mußten fie fcheiden. 


„ven Rod nimm nur wieder mit, Minna, id 
hab’ nu jhon meine Livree,” dabei wies er auf den 
fauberen Gefangenenanzug, ben er ftatt feiner Qumpen 
trug, „die will ih nu behalten bis ich wieder ein 
andrer Men bin. Aber ich dank’ Dir, daß Du 
dran gedacht haft.“ 

Sie reidhten ich die Hände und fchieden. — Beide 
in tiefer Befümmernis, aber beide mit der Hoffnung 
auf befjere Zeiten im Herzen. 

Am näditen Morgen wurde Mariechen begraben. 
Der geliebte Vater konnte ihrem Sarge nicht folgen, 
aber er lag in feiner Zelle auf den Sinieen und 
beiete zum erften Mal wieder zu dem Gott, den er 
fo lange verleugnet hatte; es gab für ihn über dem 
jammervollen Zeben wieder ein Etwas, zu dem er 
hoffnungsvoll aufbliden konnte. 


Roman von ©. Karl. 





334 





XII. 


Der Kandidat Schmidt war ein Bruderſohn 
der Frau Profeſſor; auf ſeinem väterlichen Gut hatte 
Mariechen Köhler im vergangenen Sommer eine ſo 
ſchöne Zeit verlebt. Aber als zweiter und begabteſter 
der beiden Söhne hatte er die Anwartſchaft auf 
dieſes dem älteren überlaſſen und ſich dem Studium 
gewidmet. Bei der frommen Richtung, die durch die 
Mutter, eine Pfarrertochter, in die Familie eingeführt 
war, kam für ihn kein anderes als das theologiſche 
in Frage. Von Kindheit auf war ihm der Glaube 
ein geheiligtes Etwas, an dem zu deuteln Sünde ſei. 
Glaube und Wiſſenſchaft erſchienen ihm als unab— 
hängig voneinander, und wenn er auch nicht mehr 
an die ſechs Schöpfungstage glaubte und die Erde 
nicht für den Angelpunkt des Weltalls hielt, ſo ſtand 
er doch in Bezug auf das chriſtliche Dogma auf durch— 
aus bibliſchem Boden. 

Da er ſich mit den Naturwiſſenſchaften nie über 
das im Gymnaſium gebotene Maß hinaus befaßt 
halte, waren ſie ihm ein ziemlich fremdes Feld, und 
während ſeiner theologiſchen Studienjahre Hatte er 
es inſtinktmäßig vermieden, Schriſtſteller zu ſtudieren, 
die ſich das chriſtliche Dogma in feindlicher Abſicht 
zum Thema gewählt hatten. Ohne daß er es ſich 
klar machte, ſcheute er davor zurück, ſeinen Glauben, 
ſein höchſtes und heiligſtes Gut, kritiſch zerlegen und 
beleuchten zu laſſen. Es ging ihm damit in erhöhtem 
Maße, wie es poetiſchen Naturen ergeht, wenn man 
ihre Lieblingsgeſtalten aus Geſchichte und Poeſie 
kritiſch zerfaſern will. Sie mögen nichts davon 
wiſſen. 

Egon hätte nie zugegeben, auch vor ſich ſelbſt 
nicht, daß eine Zerſtörung ſeines Heiligſten möglich 
ſei, und doch hatte er als Student kein verpöntes 
Buch leſen mögen. Feſt davon überzeugt, daß der 
rechte chriſtliche Glaube ein Fels im Meer ſei, hatte 
er es vorgezogen, ihn in klarer Flut ſich ſpiegeln zu 
laſſen, als ſeine ohnehin nicht angezweifelte Feſtig— 
keit im Wellenſturz zu erproben. Egon war durch 
und durch ein ſtrenggläubiger Chriſt, aber er war 
kein Fanatiker und die liebeswarme Atmoſphäre ſeines 
Vaterhauſes und der darin herrſchende Geiſt echt 
chriſtlicher Duldſamkeit hatten ihn vor Engherzigkeit 
bewahrt. 

Mit dieſer faſt naiven Gläubigkeit im Herzen 
war er vor etwas mehr als Jahresfriſt von einer 
anderen Univerſität an ſeinen jetzigen Wohnort 
übergeſiedelt, um noch das Kolleg eines berühmten 
Kirchenlichtes zu beſuchen und ſein letztes Examen 
zu beſtehen. Im Hauſe ſeiner Tante aber und in 
deren Umgangskreis wehte eine herbe, kritiſche Luft 
und der Fels ſeines Glaubens wurde von manchem 
Sturm umbrauſt. 

Die Religionsſtunden, welche er in Gegenwart 
der Frau Profeſſor ſeiner geliebten Hilde erteilte, 
waren für ihn gleichzeitig eine Quelle von Glück 
und Leid. Seinem gegebenen Verſprechen treu, 
machte er nie den Verſuch, das Mädchen außer der 
feſtgeſetzten Zeit zu ſprechen und ging auf der Straße 


335 





mit böflihem Gruß vorüber. So freute er fich denn 
die halbe Woche auf das geitattete Stündchen, um 
jedesmal tief entläufht von der Unterrichtsftunde 
beimzulehren. Seine Schülerin madte feine Fort: 
Ihritte in der Erkenntnis. 

Wenn er aus tieffter Überzeugung ihr einen 
Lehriag vorgetragen und fie durch feine Glaubens: 
innigfeit zu überzeugen gemeint halte, machte fie 
ihm einen Einwand, der ihn im Augenblic verblüffte. 
Mit dem ganzen NRüflzeug der modernen Forfhung 
auf religiüjem Gebiet ging fie ihm zu Leibe, er 
mußte, wenn er ihr antworten follte, jelbft Iefen 
und ftudieren, was fie vor ihm gelejen und ftubiert 
hatte, und ſein geſunder Menfchenverftand mußte zu: 
geben, daß das beglaubigte geihhichtliche Zeugnis den 
Angaben der Evangeliften oft wideriprad). 

Mit dem Ausipruh: „Der Chrift jo glauben, 
was Gott ihm in ber Bibel offenbart bat, und nicht 
grübeln,” durfte er ihr aber gar nicht lommen. Gie 
behauptete geradezu, das hriftlide Dogma fei Feine 
Offenbarung und von Sefus auch gar nicht als eine 
jolhe aufgeftelt, jondern von feinen Nadifolgern, 
die ihn nur halb verftanden hätten, nad) und nad 
zulammengeftellt worden. Sie fünne au an eine 
Erlöjung durh den Glauben nit glauben. Dabei 
blieb fie, und mit wahrer Verzweiflung wurde Egon 
inne, daß feine glänzende Rednergabe nichts fruchtete. 

„Ih möchte mich ja jo gern überzeugen laflen,“ 
rief Hilde eines Tages weinend, „aber die Grünbe, 
die Sie mir anführen, überzeugen mic eben nicht 
und ih bin zu ehrlid, um Sie und mid) felbft zu 
betrügen!” Sie fiel der Frau Profeffor Ichluchzenb 
um den Hals und verließ dann fchnell das Zimmer. 

Es entitand eine drüdende Paufe. — Egon, 
blaß wie eine Leiche, fchritt raftlos im Simmer bin 
und ber, und Frau Niederftetter fchwieg, fie wußte 
feinen Nat. Nach langer PBaule begann fie endlich: 

„Kannft Du Hilde nicht entgegenlommen, Egon? 
Muß die Taufe und dag feierliche Slaubensbefenntnis 
denn fein? Kann nicht jeder von Euch feinem Gott 
dienen auf feine Art?“ 

„Nein, Tante, fo kann es nicht jein!” rief Egon, 
„wenn ich mein Priefteramt nicht aufgeben will. 
Wie jol ich den Glauben predigen, wie ben Unglauben 
befämpfen, wenn mein eigenes Weib in feindlichen 
Lager jteht? 8 geht nicht, Hilde muß den chriftlichen 
Glauben befennen ober —-” 

„Dder?” fragte Frau Niederftetter langjam, in: 
dem fie den Neffen traurig anjah. Aber Egon ant- 
wortete nicht, er Ichlug plöglih, laut aufftöhnend bie 
Hände vor das Gefiht und flürzte aus dem Zinmer. 
Einen Augenblid jpäter Elappte die Korridorthür — 
er war gegangen. 

Hilde hatte eine Ichlaflofe Naht. -- Am nädften 
Tage erhielt Egon einen Brief von ihr. Mit zitternden 
Fingern öffnete er ihn und thränenden Auges legte 
er ihn aus der Hand. Hilde gab ihm fein Wort 
zurüd. 

Sie jhrieb nah einer furzen Einleitung: 

„Blauben Sie nit, daß ih Sie weniger 
liebe, Egon, nein, o nein, jede Faler meines 
Herzens gehört Jhnen, aber gerade darum will 


q 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 


336 











ih fein Stein auf Zhrem Lebenswege Jein. Lügen 
fann ich nicht, das willen Sie, ih fann aljo aud) 
die Taufe nicht empfangen und kann nit mit 
Shnen zum Abendmahl gehen, denn ich jehe in 
diefer feierlichen Handlung nur ein Symbol, nur 
eine Gedädhtnisfeier für den idealften Menjchen, 
der gelebt hat. Sn diefem Sinne könnte id) es 
mit Andacht genießen, aber nicht als den wahren 
Leib und das Blut Sefu Ehrifti, das für uns 
vergoflen wurde zur Vergebung der Sünden. 


Ich bilbete mir ein, in den leßten Monaten 
eine gute Chriftin geworden zu fein, mehr im 
Sinn Sefu, als wie Ihre Kirche es lehrt, aber 
ih muß mid mit Trauer überzeugen, daß Ihr 
Bucdjftabenglauben verlangt, wo ih mid an den 
Sinn halte, wie er für unfere Zeit paßt. 

x habe die fefte Überzeugung, daß Sefus, 
fönnte er zur Erde zurüdkehren, fich entiegen 
würde über das, was nıan aus feiner reinen 
Lehre gemacht hat und der erfte wäre, der Wandel 
ſchaffte. 

Mit dieſer Geſinnung kann ich nicht Prediger⸗ 
frau werden, das ſehen Sie wohl ein. 

So trenne ich mich denn mit blutendem 
Herzen von Ihnen, Egon, aber ich danke Ihnen 
aus tieffter Seele für das, was Sie mir gaben — 
für die Neligion. — ft fie auh anders als fie 
Shnen richtig eriheint, mir haben Sie damit 
eine neue lebendige Welt erichaffen. Die materia- 
ifiihe Weltanfchauung meines Vaters wäre mir 
im Unglüd nie ein Troft gewejen, das fühle ich 
beutli, nun zum erften Mal ein berbes Leid an 
mic) beranttitt. 

Leben Sie wohl, Egon, und der Gott, zu 
dem Sie mich beten gelehrt haben, nehme Sie 
für $hr ferneres Leben in feinen befonderen Schuß. 

Hildegard.” 
Zange hielt Egon den Brief in der Hand und 
ftarıte ihn an wie etwas Fremdes, Entjegliches, und 
doh überraichte ihn der Snhalt nit. Hilde hatte 
far vor ihn bingeftelt, was bisher nur wie ein 
Iheues Nachtgeipentt durch feine Gedanken gehufcht 
war — die Notwendigkeit ihrer Trennung. 


Bon dem Sieg feiner gerehten Sade über: 
zeugt, hatte er leichten Herzens das Hindernis zwilchen 
ihnen binwegzuräumen übernommen. — War feine 
Sade nit jo gerecht wie fie ihm eridhien? Hilde 
hatte nit aus KLeichtfinn oder Troß gehandelt, 
da8 wußte er nur zu gut. Gie zerflörte ja mit 
fefter Hand ihr eigenes Glüd mit dem feinigen zu: 
jammen, weil fie ehrlih war und nicht heudheln 
fonnte. 

Der Abend fant herab und immer no faß 
Egon auf derfelben Stelle. Die graue Dämmerung 
um ibn ber erihien ihm plößlich wie ein Bild feines 
Eüinftigen Lebens. — Da übermannte ihn der Sammer, 
er ftürzte zur Thür, um fie zu verjchließen, und warf 
ih, laut aufweinend, vor dem Sofa feines be: 
Icheidenen Stübchens auf die Kniee nieder. 


* * 
* 





337 Ohne Gott. 
Der Frühling war ins Land gekommen, hatte 
der Erde ein neues Felllleid angezogen und mande 
Wunde, die der raube Winter geichlagen, Liebevoll 
geheilt. Aber die tiefen Herzenswunden ber zwei 
Meniden, die fi) einander nur genäbert hatten, um 
den Abgrund zu jehen, der zwifchen ihnen lag, fonnte 
nit Frühlingsſonne noch Vogeljang heilen. 

Eeiil und bleih ging Hilde ihren Weg. Sie 
pflegte in Tiebevoffter Weife ihren alten Vater und 
laufchte ihm die Wünſche ab, fie las ihm vor und 
beforgte gewandt das Hausmwefen, aber ihre jonnige 
Heiterleit war dahin. Es lag über ihrem lieblichen 
Gefiht wie ein Haub von Schwermut und ihre 
Ihönen, fonft fo firahlenden Augen. blidten oft jo 
weltvergefjen, als jähen fie in weite, weite, unerreid): 
bare Fernen. 

Bunädft war Profellor Steiner über die Yöjung 
des Berlöbniffes jehr erfreut geweien, denn er nahm 
an, jeine Tohter würde das HLleine Herzeleid in 
wenigen Wochen überwunden haben. Als aber nad) 
zwei Monaten ihr Geficht ftatt beiterer nur immer 
bläffer und durchgeiftigter wurde, da ward er inne, 
daß die Sadhe body ernfter fei ala er gemeint, und 
das tieffte Mitleid mit feinem finde trat an Stelle 
der Befriedigung. Er wollte Hilde auf Reifen jchiden, 
ja, er wollte jelbft mit ihr an einen anderen Dit 
ziehen, wenn es ihr lieb fei. Aber Hilde lehnte diejes 
Opfer entijhieden ab und bat ihn aud, von einer 
zeitweiligen Entfernung abzufehen, fie fäme in den 
altgewohnten Verhältniffen am beften mit fich felbit 
ins reine. 

Egon hatte fie nicht mehr gelprodden. Er hatte 
auf ihren herzlichen Brief ebenjo herzlich geantwortet, 
aber fich gegen ihre Enticheidung nicht gefträubt. Er 
ah ein, wie recht fie hatte. Nun wicden fie fi aus 
und hatten es aud) fertig gebracht, fi nicht zufällig 
bei NRiederftetters zu treffen, aber in Gedanken waren 
fie beifammen. Immer — immer — 

Prediger Borelius war aus dem Süden gefräftigt 
beimgefehrt und batte fein Amt noch für einige Zeit 
wieder übernommen. Egon konnte fih aljo ganz der 
Vorbereitung für fein lettes Eramen widmen, welches 
er denn auch glänzend abjolvierte Er hätte nun, 
bis es eine Anftelung oder neue Vertretung für ihn 
gab, zu feinen Eltern gehen können, aber es waren 
der Fäden viele, die ihn in der Stadt feithielten. 
Er hatte zu Dftern die Wohnung gewecdjelt und an 
den Fenftern feiner jeigen ging Hilde jaft täglich 
ahnungslos vorüber. So jah er das Mädchen, 
bem fein Herz hing, wenigjtens aus ber Ferne. Er 
geftand es fich jelbft faum ein, aber es war immer 
no ein Schimmer jener Hoffnung in jeinem Herzen, bie 
den Ertrintenden nad) einem Strohhalm greifen madıt. 

Er verwendete nun jeine ganz freie Zeit zum 
Studium, aber er ftudierte anders als bisher. Er 
las, prüfte und fludierte alle Schriften, die fich gegen 
das orthodore chriftliche Bekenntnis richteten und ver: 
olih fie mit den Duellen, aus benen fie fchöpften. 
Er wollte ihren VBerfaffern jeden Trugichluß, jeden 
Srrtum nachmeilen, fie mit ihren eigenen Waffen 
Ihlagen und das von ihnen angegriffene Dogma 
glänzend rechtfertigen. | 


Bess, 





Roman>Zeitung 1896. 


Roman von E. Karl. 





338 


Vielleiht würde er dann als Schriftfteller Hilde 
gegenüber mehr Glüd haben. Er mußte fidh felbft 
zugeflehen, daß er nicht genügend vorbereitet gewefen 
war. Er hatte fie eine offenbarte Religion lehren 
wollen, die gläubig hingenommen werden mußte, und 
fie hatte wiflenihaftliche Beftätigung verlangt. Sie 
batte das gebeiligte myfliiche Etwas, das er ihr bot, 
mit der hell ftrahlenden Fadel moderner Wiffenfchaft 
beleuchten wollen. Nun wohl, mochte fie, er zweifelte 
nit daran, daß es ihm gelingen würde, auch zu be= 
weijen, wo er bisher nur geglaubt hatte Woche 
um Woche jaß er über den Büchern und hatte feine 
Augen für den Mai und feine Herrlichkeit, er arbeitete 
ja für das Teuerfte, was er bejaß, feine Liebe und 
feinen Glauben. 


Aber wehe ihm — fein frommer Klinderglaube, 
den er während feines jahrelangen Stubiums fefl- 
gehalten hatte, weil er inflinktiv alles vermied, was 
ihn erjhhüttern konnte, trat jet, da er mit den 
Iharfen Waffen der Logik für ihn kämpfen wollte, 
immer weiter, immer fchemenhafter zurüd. Mit 
perlender Stirn Iprang er oft von feinem Schreib: 
ih auf und ftredte unwillfürli die Arme aus, als 
wolle er etwas Geliebtes faflen, das ihm in nebel- 
bafter Ferne entichwand. 


Es war eine jchwere, jchwere Zeit, die Egon 
durdhlebte und fie reifte ihn innerlid um ein Sahr: 
zehnt, aber fie ftreifte erbarmungslos die Blüten von 
feiner Seele. Wenn er nicht Herr werben fonnte 
über die wiberjprehenden Stimmen in jeinem 
Sinnern, jo job er die Bücher zujammen und 
ging zum Siehenhaufe. Er wußte, daß ihm dort 
ein Herz freudig entgegenjchlug. 

Die alte Frau Liedfe war jeßt ganz bettlägerig, 
weil fie fein Glied mehr bewegen fonnte und bas 
Augenliht bis auf einen Schimmer verloren hatte. 
Aber ihr Geift war immer noch friih und ihr Gehör 
fein. In der Erwartung ihrer Auflölung, die ihr 
Erlöjung bringen jollte und deren Herannaben fie 
fühlte, war eine faft erhabene Freudigfeit über fie 
gefommen. Sie follte ja bald zu Gott und. zu ihren 
Lieben geben. 

An einem Haren Spätnadhmittag, zu Anfang 
bes Juni, trat Egon nad adttägiger Paufe in das 
keine Zimmer, das fie mit einer anderen Brefthaften 
teilte. Er fand fie allein, denn die Miteinmohnerin 
war in den Garten gegangen. 

Schon im Eintreten rief ihm Frau Liedfe einen 
Gruß entgegen, fie hatte feinen Schritt erfannt. 

Er trat an das Jaubere Bett und firich lieb: 
fojend über bie welfen Hände auf der Bettdede, er 
fonnte ihr nicht mehr die Hand drüden, ohne ihr 
wehe zu thun. „Nun, wie geht es, Frau Lieble?” 
fragte er freundlih und fette fich neben das Bett. 

„But, gut,” war die freudige Antwort, „mein 
Herrgott nimmt mich jegt bald zu fih und alle Dual 
bat ein Ende.” 

Egon jah an ihrem veränderten Geficht, daß fie 
die Wahrheit fprah. Sie hatte wohl nur noch Tage, 
vieleiht Stunden zu leben, aber er bemühte fidh 
nicht, ihr die Wahrheit zu bemänteln, fie war ja be- 


IV, 24 


339 Ohne Gott. 
glüdend für die arme Dulderin. Er jprad) einige 
freundlide Worte und fragte, was er ihr vorlefen jolle. 

„Heute nichts, lieber Herr Kandidat, ich möchte 
mit Shnen jpreden. — Haben Sie Alma in legter 
Beit einmal gejehen?“ 

„Rur flühtig auf der Treppe, als ih Frau 
Köhler bejuchte,” war die Antwort, „ihr — — id 
meine Schmieber, hat erfahren, daß ich fie vor einigen 
Wochen bejuhen wollte — es geihah auf Zhren 
Wunid, Frau Liebe” — Ichaltete er ein, „und bat fich 
meine Anwejenheit in jeiner Wohnung verbeten. 
‚Sr babe feine Frau zu freier, naturgemäßer An- 
Ihauung berangebildet und wolle fie durch feinen 
Pfaffen wieder verbummen lafien.‘“ Das find nad 
Frau Köhlerse PVerfiherung feine eigenen Worte. 
Sie begreifen, daß ih mi da nicht aufdrängen 
mag.“ 

Frau Liedle feufzte tief. „Das arme Kind — 
für den Augenblid ift ihr dann freilich nicht zu 
belfen. Aber — e3 kommt eine Zeil, da fie einjam 
und verlaflen fein wird — ich weiß es beitimmt, 
Herr Kandidat. Was jo ohne richtiges Fundament 
auf den Sand gebaut ift, jo gewifiermaßen als Sahr: 
marktsbude zum augenblidlihen Vergnügen, das bricht 
früher oder jpäter zufammen und auch meiner Entelin 
eingebildetes Slüd wird zujammenftürzen. Wollen 
Sie mir dann verjpredhen, ihr beizuftehen, Herr 
Kandidat?” 

„Wenn ich es lann, von Herzen gern, Frau 
Liedfe, felbft wenn mich meine jpätere Anftellung aus 
der Stadt führen follte, will ich Shre Enkelin im 
Auge behalten.” Und Egon legte beieuernd jeine 
NRehte auf die verfnöcherten Hände ber Krantlen. 
„Aber wollen Sie die junge Frau nicht nod jehen? 
Sch weiß, wie liebevoll Sie ihr alles Leid, das fie 
Ihnen zufügte, vergeben haben.” 

„3b möchte es wohl,” antwortete die Sterbende 
finnend, während ein warmer Strahl über ihr blaljes 
Sefiht glitt, „aber die Aufregung könnte ihr in 
biefer Eritiihen Zeit fchaden. — Nein, nein,” fuhr 
fie nad einer Pauje fort, „wir wollen auf das 
MWiederjehen droben warten, aber bringen Sie ihr 
meinen Segen — meinen wärmften Segen. — Sie 
war mir immer eine gute Tochter, Gott wird ihr 
ihren Fehltritt nicht anrehnen — fie war ja nur 
eine Verführte —” 

Die Frau Ichwieg erihöpft und jchloß die blinden 
Augen. Egon erhob fich leile, da regte fich etwas 
neben der Thür, Frau Profefjor Niederfterter war 
eingetreten. Sie begrüßte Egon und beugte fich über 
bie Kranke, die bei dem geringen Geräujch die Augen 
wieder geöffnet hatte, obgleich fie nichts Jah. 

„Wer ift da?“ fragte fie faum vernehmlidh. 

„Shre alte Freundin,” antwortete die Dame und 
ri üder die welle Wange der Sterbenden. „Ih 
babe Ihr Vermächtnis an meinen Neffen gehört. 
Seien Sie überzeugt, daß aud ih Alma nie verlafien 
werde. ch babe fie zur Zeit aus meinem Haufe 
verbannt, weil ich fein Ärgernis vor ber Welt geben 
will und fie mid aud) nicht gebrau Unglüd: 
liden wird mein Haus fiets @ und ic 
werde ihr mit Rat und That PR 









Roman von E. Karl. 





340 


Ein feliges Lächeln bHufchte über die Züge der 
alten Frau. „Dank, Dank,” haudte fie, „jest kann 
ih ruhig fterben.” 

Frau Niederftetter entlorfte ein mitgebrachtes 
Fläihchen, das Iingarwein enthielt, goß davon in ein 
bejonders fonftruiertes Trintglas und führte es an 
die Lippen der Kranken, die den Synhalt mit ficht: 
lihem Behagen genoß. Dann z0g fie den Arm hinter 
dem ftüßenden SKopflifien hervor und blidte teil- 
nehmend in das flille Gefidt. 

„Run aber jchlafen, liebe Frau, Sie haben fidh 
aufgeregt und angefitrengt.” 

„Sa, Ihlafen — Ichlafen — ” flüfterten bie 
bleichen Lippen. 

Die Beſucher verließen das kleine Zimmer. Von 
der Thür aus blickten ſie noch einmal auf die blinde 
Frau zurück, ſie wußten, daß ihre Augen ſie nicht 
mehr ſehen würden. 

Egon begleitete die Tante nach ihrer Wohnung, 
aber ſie ſchwiegen beide. 

„Kommſt Du nicht mit hinauf?“ fragte die 
Dame freundlich, ale Egon fih an der Thür ver: 
abj&ieden wollte; „Du warft jo lange nidht bei 
ung.” 

„Nein, Tante, ich kann nit — verzeih mir.” 

Mitleidig blidte die alte Dame in das blafle 
Gefiht des Neffen, jchwere Seelentämpfe hatten ihre 
Spuren darin zurüdgelafen. „Armer Junge,“ 
ſprach ſie. 

„Ja, Tante, arm, bettelarm und Du weißt nicht 
einmal wie ſehr,“ brach es aus ſeiner tiefſten Seele. 
Er küßte die Hand der alten Dame und ſtürzte die 
Straße hinunter, während Frau Niederſtetter ihm tief 
bekümmert nachblickte. 

* * 
* 

Sn ihrer Wohnung angelommen, fand Frau 
Nieberftetter ihren Gatten bereits auf dem freund: 
lihen Balkon ihrer barrend, damit bejchäftigt, einige 
junge Ranten wilden Weines am Geländer zu be 
feftigen.. Er küßte fie, wie immer, berzlidh auf bie 
Wange und fragte, wo fie gemwejen jet. 

Sie erzählte von ber alten Xiedle, die wohl in 
den ganz nädhlten Tagen einjchlafen würde, und fam 
in der Ideenverbindung au auf Alma. 

„Ih glaube auch,“ meinte der Profefior, „daß 
die Herrlichkeit dort feine Dauer haben wird, aber 
ih juhe den Grund nit in ber fehlenden gejeh- 
liben Form ihrer Ehe, Tondern im Charalter des 
Mannes.” 

„Natürlich,” ftimmte die Frau lebhaft bei, „das 
eine fchließt das andere nit aus. Im Grunde ift 
der Charafter der Menichen ftets die Hauptfache. 
Aber wie viele ganz tadellofe giebt es denn? ‚Wir 
find allzumal Sünder‘ fteht in der Bibel und fie 
bat hierin, wie in vielen anderen Dingen, redht. Wenn 
alle Menjhhen ehrlich, aufrichtig und zuverläffig wären, 
jo braudten wir auch feine gerichtlihen Verträge 
und Abmadhungen, und do — wie würde es in 
ber Welt ausjehen, wenn wir dieje aufheben wollten.” 

„Du baft ja recht,” antwortete der Profeflor, 
indem er die lete Rante befeftigte und ſich zu feiner 


341 Ohne Gott. 
Sattin in das laujhige Ehen feste, wo ein grünes 
Laubgitter fie-den Bliden ber Nachbarn entzog. 
„Aber hältft Du eine folde gewaltiam zujammen- 
gehaltene Ehe für ein Slüd? Bei einem gerichtlichen 
Vertrage handelt es fi doch meift um äußerliche 
Dinge.“ 

„Ein Slüd — nein, aber in den meilten Fällen 
für fein direktes Unglüd. Die Gewohnheit Hilft und 
die “äußeren Verhältnifie Tönnen wenigftens einiger: 
maßen befriedigende fein, wenn beibe Teile mit gutem 
Willen das Shrige thun. Die Frau bat ihre ge: 
fiherte Lebensftellung, der Mann eine geordnete 
Häuslichkeit und die Kinder ein Elternhaus. Das 
find Dinge, für die man jchon viel in den Kauf 
nehmen fann. lberbaupt die Kinder — ‚ein Rif 
zwiichen Eheleuten gebt immer mitten dur) das Herz 
der Kinder‘, jagt Friedrich Spielbagen und er hat 
recht. In all ben jhhönen Predigten über freie Liebe 
und fo weiter wirb viel zu wenig an die Kinder und 
ihre Herzensbebürfnifle gedacht.“ 

Der Profeflor blidte eine Weile finnend vor fi 
hin. „Jh babe mir im ganzen über diefe Dinge, 
die mir jehr fern liegen, wenig den Kopf zerbrodhen,” 
fagte er dann, „daß im modernen Ehbeleben aber 
vieles faul ift, fieht jeder, der nicht ganz hinter feinem 
eigenen Zaun verichwindet.” 

„Ja,“ rief die Frau, „faul, es ift vieles faul 
in unjerer modernen Gefellichaft, aber es wird nirht 
beffer werden, folange man fich gegen die eigentlichen 
Urfacdhen des Leidens blind ftellt. Tinjere Gejellichaft 
ift wie ein jchöner Garten, in dem die beiten Bäume 
krank find. Aber anjtatt die immer noch lebens: 
fräftigen auf vernünftigem Wege auszuheilen, fommen 
nun die einen und wollen die Schäden verdeden, 
indem fie die fahlen Äfte mit künſtlichen Blättern 
umfleiben und Rinde über das faule Holz nageln. 
Und die anderen, unjere Radilalen, rufen nad Art 
und Säge, um alles dem Erdboden gleich zu machen. 
Beides aber ift falih. Unter der Fünftlihen Ber: 
dedung wudert der Krebsjhaden immer weiter, und 
wollte man einfach alles abbauen — nun, da hätte 
man ftatt des Gartens eine Steppe, in der bie 
Menihen von der Sonne verjengt würden, ehe eine 
nee Kultur ihnen notdürftigen Schatten gäbe.” 

Der Profeflor hatte aufmerkfam augehört, während 
feine Finger mit dem Garnknäuel feiner ftridenden 
Gattin jpielten. Nun warf er dasfelbe in den Becher 
zurüd und fragte nachdenllih: „Und hältit Du den 
Krebsihaden der modernen Ehe für heilbar?” 

„Gewiß,” rief die Frau lebhaft, „aber ich weiß 
nicht, ob unfer Gejchleht jchon reif dazu ift, denn 
nur wenige jehen die wahren Urjadyen ein. Sieh 
Dir einmal eine recht glüdlihe, bis an ihr Ende 
glüdlih bleibende Ehe an — es find ftets moralijche, 
fittlih bochftehende Menichen, die fie führen. Wie 
fieht es aber mit der Sittlichfeit in unjerer Gejell- 
haft von body bis niebrig aus? Wie der größere 
Teil unjerer männlichen Jugend lebt, darf ih Dir 
wohl nit auseinanderjegen, je höher hinauf auf der 
geſellſchaftlichen Stufenleiter, je tiefer hinein in bie 
Goldregion, deſto ſchlimmer. 

„Eine Ehe wird mehr aus äußeren Urſachen 


Roman von E. Karl. 





342 


geſchloſſen und von Achtung vor ihrer Heiligkeit 
findet ſich keine Spur. Der Mann hat nach wie 
vor ſeine Liebſchaften, ſcheut ſich vielleicht nicht einmal 
vor ſeinen erwachſenen Söhnen, die ſich ein Beiſpiel 
an ihm nehmen, und die Frau verkümmert neben 
ihm oder entſchädigt ſich auf andere Art, vielleicht 
durch hohles Geſellſchaftsleben, wenn ſie ſich nicht 
auh einen „Hausfreund‘ hält. Der Lurus fleigt 
rapide auf allen Gebieten, das natürlie Einlommen 
reiht nirgend mehr zur Gründung eines eigenen 
Herdes bin, die ‚Zulage‘ ift unerläßlid. Alfo die 
Folge? Zühtige, ebrenhafte Männer heiraten ohne 
Neigung feichte, oberflähliche, vielleicht Tiederliche 
Frauen, wenn fie nur Geld haben, und junge un: 
Ihuldige Mädchen werfen fih ganz verlebten Roues 
in die Arme, um eine glänzende Stellung in ber 
Welt zu haben. Nachher giebt es unglüdliche, ober 
wenigftens gleichgültige Ehen und häufig frante Nady: 
kommenſchaft.“ 

„Du zeichneſt ſchwarz, Anna, es ſieht zum Glück 
nicht überall ſo aus,“ warf der Profeſſor ein. 

„Nein, nicht überall,“ beſtätigte die Frau, 
„darum halte ich eine Beſſerung für möglich. Schafft 
uns moraliſche Männer, die vor Sittenloſigkeit und 
Ehebruch zurückſchrecken wie vor entehrendem Dieb⸗ 
ſtahl, ſchafft uns anſpruchloſe Frauen, die häusliches 
Glück höher ſtellen als einen hohen Titel, und die 
Zahl der glücklichen Ehen wird ſich heben. Und 
wenn Ihr dann noch die Eheſcheidung erleichtert, 
ſtatt ſie zu erſchweren, damit den Unglücklichen, die 
fih in der Wahl ihrer Lebensgefährten täuſchten, eine 
Bellerung ermöglicht wird — traurig bleibt ihr Nos 
ohnehin — jo habt hr den Weg eingeihlagen, ber 
nah und nad zum Heil führt. Die freie Liebe, ge: 
jeglich eingeführt, macht dagegen die ganze Welt zu 
einem großen Freudenhaufe.” 

„Sb glaube, Du verlangft zu viel, Anna,” 
wenbete der Profeflor ein, „Du fannft einen jungen 
Mann und ein Mädchen nit in eine Reihe ftellen.” 

„Das thue ih au nicht,“ eiferte die Frau, 
„wenn junges heißes Blut einmal über die Schnur 
ihlägt, bin ich die legte, e& zu verdammen, ich ziehe 
nur gegen die gewohnbheitsmäßige Unfittlichleit zu 
Felde, die den Grund zu unlagbarem Elend nad 
allen Richtungen hin legt.” 

„3 muß Dir im großen und ganzen recht 
geben,“ pflichtete der Profefior bei, „doch würbeft Du 
immer Ausnahmen zugeben müflen. Auch das aller: 
vortrefflichite Moralgejeß bedingt immer einen gewiflen 
Zwang, und es wird tet? Naturen geben, die fi 
dagegen auflehnen.” 

„Sewiß, Fricdrich, e& giebt und hat ftets Menjchen 
gegeben, bie zu groß waren für die engen Gefete der 
Turdjchnittswelt. Ste zerbraden fie und man ver: 
gab es ihnen und wird es ihnen, um ihrer Größe 
willen, ferner vergeben. Und es giebt und bat 
Menichen gegeben, die diefe Gelege abſichtlich durch— 
brachen, damit man fie für groß halten jollte Für 
diefe wird man nur ein Wort des verächtlichen Mit: 
leibs haben. Aber Gejeße aufheben oder ausnahms: 
weife ihre Mbertretung entjchuldigen, ift Doch zweierlei.” 

Frau Niederftetter hatte das Stridzeug aus der 





343 Ohne Gott. 


Gefiht. ZYhr Gatte betrachtete fie liebevoll von der 
Seite, dann ftand er auf und [chloß fie liebevoll in 
die Arme. 

„Wie heiß Du Dich wieder geredet haft, Du 
liebe Weltverbeflerin.” 

Die alte Dame richtete fih auf, jchlang ihre 
Hände zärtlid um das Fahl gewordene Haupt ihres 
Mannes, jo zärtlich wie fie fie einft um das braune 
Gelod des Bräutigams geichlungen hatte, und jah ihm 
innig in das faltige Gefidht. 

„Wenn man jo glüdlih ift wie ih, mein 
Ftiebri, nun jchon volle fünfunddreißig Jahre, dann 
wünfht man nod recht vielen ein jolcdes Glüd und 
orämt fih, daß fie es fich jelbit zeritören.” 

Der Vrofeffor jeßte fi wieder und z0g die 
Gattin auf Sein Knie. „Wir bätten feine Trauung 
gebraucht, Änncdhen,” fcherzte er, „unfere Ehe hätte 
auch jo gehalten.” 

„sa, fie hätte gehalten, mein Friedrih, uns 
aber war es au von Anfang an heiliger Ernit mit 
unferer Liebe und Ehe. ch denke mir, wer jo gar 
arg gegen den Zwang eifert, will fi nur ein Hinter: 
thürdhen zum Entwilchen offen lafljen, weil er fi) 
jelbft nicht traut.” 

Der Profeflor antwortete nicht, er ftreichelte und 
füßte das liebe alte Gefiht der Gattin, als wären 
die fünfundbreißig Jahre ein Traum gemefen und 
er bielte die jugendlide Braut in den Armen. Sie 
waren beibe zufammen alt geworden, aber ihre Herzen 
waren jung geblieben. 

Sm Zimmer tnarıte eine Thür. „Oroßmama, 
Großpapa, “ rief eine frifhe Kinderftiimme, „wo jeid 

r?“ — 


und das alte Liebespaar ſprang in die Höhe, 
als ſei es auf einem Unrecht ertappt. 


XIII. 


Zwei alte, lebensmüde Augen hatten ſich ge— 
ſchloſſen — Frau Liedke war ſchlafen gegangen, aber 
zwei junge hatten ſich dafür aufgethan und blickten 
aus dem Geſichtchen ihrer Urenkelin. Alma hatte 
ein Töchterchen. 

Der Todesengel war hart an ihrem Lager 
vorübergegangen, aber er war doch gegangen, ohne 
ſie mitzunehmen, und nun ſaß ſie lächelnden An— 
geſichts in der Sofaecke neben Schmieder und hielt 
ihr Kindchen im Arm. Es war eine böſe, böſe Zeit 
geweſen, die nun hinter ihr lag. Scenen wie die 
am zweiten Weihnachtsfeiertage hatten ſich, wenn 
auch nicht ganz ſo ſchlimm, noch öfter wiederholt. 
Thereſe, die blonde Coupletſängerin, hatte ſich ganz 
an ihr Haus attachiert, ſeitdem ſie, aus Furcht vor 
Hans, ihr freundlich begegnet war. Alma aber war 
vor Eiferſucht faſt vergangen. 

Ihr Geſundheitszuſtand hatte ſich ſeit dem Januar 
zwar ſehr gebeſſert, ihre äußere Erſcheinung ſich aber 
von Woche zu Woche verſchlechtert und ſie hatte es 


Roman von E. Karl. 


Hand gelegt und ſtrich ſich nun über das erhitzte 





344 


nicht über ſich gewinnen können, ſo unter Menſchen zu 


gehen. Mit faſt krankhafter Scheu verkroch ſie ſich 
in ihrer dunklen, unfreundlichen Wohnung und brachte 
Schmieder damit in Zorn. Er ſah die Beweggründe, 
die ſie trieben, ſich vor den Augen ihrer Mitmenſchen 
zu verſtecken, nicht ein und wollte ihre Geſellſchaft 
nicht miſſen, wenn er Sonntags oder nach Feier⸗ 
abend ausging. 

Zuweilen ſetzte er ſein Stück durch und ſie be— 
gleitete ihn, um ſich in die dunkelſte, ſchlechteſte Ecke 
des Saales oder Gartens zu ſetzen und durch eine 
unnahbare Miene jede Annäherung ſeiner Genoſſen 
abzuwehren. Noch öfter aber ging Schmieder allein 
aus, nachdem es eine heftige Scene zwiſchen ihnen 
gegeben hatte, ſuchte ſich dann andere Frauen auf, 
und Alma, der ſolche Vorkommniſſe ſtets zugetragen 
wurden, verzehrte ſich vor Eiferſucht. Sie machte 
ihm keine Vorwürfe mehr, aber ſie ſprach oft in 
elegiſchen Tönen von der Zeit, da eine andere, 
Hübſchere und Geſündere an ihrer Stelle ſein würde 
und machte ihn damit geradezu raſend. 

Als aber ihre ſchwere Stunde kam, als er ſie 
leiden und tagelang zwiſchen Leben und Tod ſchweben 
ſah, war alle Unbill vergeſſen. Er rührte ſich nicht 
von ihrem Schmerzenslager, küßte ihre Hände und 
bat ſie himmelhoch, ihn nicht zu verlaſſen, als ob ſie 
Herrin über Leben und Tod ſei. 

Und wirklich ſchien das Bewußtſein ſeiner un⸗ 
verminderten Liebe ihre Lebenskraft anzufriſchen. Die 
Gefahr ging vorüber, aber ein langes Siechtum 
folgte und ſeine Geduld wurde wieder auf die Probe 
geſtellt. Ein paar Wochen hielt er aus, als aber 
vier ſeit der Geburt der Kleinen vergangen waren 
und Alma immer noch vor Schwäche den größten 
Teil des Tages auf dem Sofa lag und ihre Wirt- 
Ihaft in Unordnung und Staub verfam, wurde es 
ihm unbehaglih in feinem Haufe und er juchte das 
Weite. Alma legte ihm nichts in ben Weg, fie quälte 
ihn auch nicht mit Eiferfucht, Hatte er ihr doch in 
ihrer Ichweren Krankheit feine LXiebe bemiejen, aber fie 
bärmte und grämte fich heimlich über ihre Schwäche 
und jchadete fi dadurd. Statt nach dem Wochenbett 
blühender und jugendlicher zu erjcheinen, wie e8 bei 
gejunden Frauen der Yal ift, blieb fie hager und 
bleih und jah troß ihrer Jugend verblüht aus. 

Nun war die Feine Hanna Ichon zwei Monate 
alt, die Auguftionne Schien über leere Stoppelfelder und 
die Großftadt begann fi wieder mit den Glüdlichen 
zu füllen, denen ihre Verbältnifie eine ausgiebige 
Sommerfriihe geftattet hatten. Schmieders gehörten 
natürlich nicht zu diefen Bevorzugten, aber die Zeit 
batte auch bier günftig gewirft, Alma war genefen 
und ihre Wohnung zeigte wieder die gewohnte Ordnung 
und Behaglichkeit; fie jelbft fand wenigftens ab und 
zu etwas von ber Heiterkeit wieder, die in der erften 
Zeit ihrer Verbindung Schmieder entzüdt hatte. Sie 
war in ihrem Gemüt ruhiger geworden, ihr Hans 
liebte, wie es jchien, die Tleine Hanna, das war ein 
Band mehr zwilden ihnen. 


(Sortjegung folgt.) 


——>2><s>-+.+ — 





Beiblatt der Deutihen Romanz-Zeitung. 





346 


Peiblatt der Dentihen Noman-Zeitung. 


Sehnſucht. 


So pochend mein Herz und ſo ſchweigend die Nacht; — 
Die Sterne funkeln; hab einſam gewacht. 

Noch gedacht und geſchrieben bei Lampenſchein, 
Bis umflort ſich mein Auge. — Wo magſt Du ſein, 


In den Rauch meiner Pfeife verweben ſich 

Deine Züge, wie blaß doch! Was quälet Dich? 

So jung noch, o Jugend, o Mondenſchein! 

Längſt dahin meine Jugend! Wo magſt Du ſein, Du ſein? 
Dumpf hallet vom Turme der Glockenſchlag. 

In wenig Stunden ſchon wird es Tag. — 

Ob wohl ein freundlicher Traum Dich wiegt ein 

Und Dir mein Bild zeigt? Wo magſt Du ſein? 


C(. Theodor 5chultz. 


Du ſein? 


Mann über Bord! 


Bon Gswald FRergener. 


Die Naht lag nody über der Stadt, den weiten Feldern 
und der ftilen Mceresbudht, ala der Sonderzug den Bahn» 
hof verlieh und fchnaubend und raffelnd dem Norden ent= 
gegenrollte. 

Zahlreihe Schlahtenbummler faßen, meift dicht gedrängt, 
in den trüb erleuchteten Wagenabteilungen. Shr Ziel war 
ba8 bevorftehende große Slottenmanöver zmwifchen ben nörb- 
lihen Buchten und Inſeln. 

In einem Coupe zweiter Klaffe jaß ganz allein ein 
einzelner Herr. Er lehnte in den weichen Bolftern, hatte bie 
Augen geichloffen und träumte. Von ber Dede fiel matter 
Zampenihimmer auf fein fahles, jcharfgeichnittenes Geficht. 
Selbft bei diefer vorfündfiutlichen Beleuchtung verrieten feine 
Züge, dab er gewohnt jei, jeglicher Leidenichaft fi) gterig, 
unerfättlic hinzugeben. 

Er Shnardte. Das that er nun freilich nicht aus Leiben- 
Ihaft. Aber felbft in dem Schnardhen lag etwas Satanifches. 
Es hörte fid überaus rachgierig an, fein offener Mund 
gähnte abgrundweit, ala wollte er allen Idealismus ver⸗ 
fhlingen und dafür fein materialiftifches Gift außfprigen. 

Plöglih blieb er mitten im Schnardien jteden, die Me- 
Iodie riß ab. Er jchredte empor, blinzelte mit den Augen 
und wollte fie eben wieder jchließen, al8 e8 ihm plöglich 
fhien, al8 hode vor ihm auf dem leeren Sit irgend ein 
wunderliches Weſen, das feine Sorm noch Geftalt Hatte. 

Er riß die Augen weit auf und ftierte das Etwas ver: 
wundert an. Se länger er e3 multerte, deito mehr gewann 
e8 beutlihe Geftalt. Und endlich mar das Ungetüm fir md 
fertig, formte fidh nicht weiter um, fondern blieb wie e8 war 
und glogte ihn trogig an. 

Es hodte auf dem Polfter wie ein fheußlicher Stlumpen 
— oben eine wilde Frage mit Bodähörnern und Ziegenbart, 
in der Mitte wie ein ungeheurer, tätowierter Frojchleib, unten 
mit einem Schwanz wie ein Affe und mit Taken wie ein 
audgewachfener Jaguar, dazu trug es in ben Spinnenfingern 
des rechten Armes eine mächtige, halbverkohlte Fadel — 


furzum ein Wefen, fheublich genug, den mwiütendften Natura: 
Tiften in Entzüden zu ftürzen. 

Indeſſen überlief den einfamen Neifenden doch etwas 
wie eine Gänfehaut. Er faßte nad) feiner Brufttafhe — der 
Nevolver war noh ba. Und mit neu auffladerndem Mut 
fragte er ben abjcheulichen Neifegefährten: 

„He Wer bift Du?“ 

E3 erhob fih in dem Frofhbaud ein Naffeln wie in 
einer eingerofteten Uhr, der man neue Gewichte anhängt, und 
nad) diefer Ouvertüre fprad) das Ungetüm: 

„Sch bin Dein böfes Gewiſſen.“ 

E83 Hang wie ber Hahnenkraht bei Beginn des jüngften 
Geriht8 — der Unhold ging offenbar darauf aus, den ein- 
famen Reijenden zum Graufen zu bringen. Sobald er fchiwieg, 
flang e3 au feinem Bauche wie das unterirdifche Hilferufen 
eines eingefperrten 11Huß. 

„Mein böfes Gemiflen?“ 

Der Herr — er hieß übrigens Brandwolf — fühlte ein 
heftiges Drüden an ber Kehle. Er fchludte ein paarmal, 
dann ermannte er fi, lachte und fprad: 

„Da id) fein böfes Gewiſſen babe, maßeft Du Dir ent: 
weder einen falfhen Nanıen an — oder Du bift überhaupt 
nur ein Phantom. Fort mit Dir!“ 

Er flug mit der Fauft nad) dem Ungetüm. Aber fo: 
bald er e8 berührte, prallte er wie von einem Gummilifien 
zurüd, e8 überlief ihn ein eisfalter Schauer, und bod) meinte 
er fih die Finger verbrannt zu haben. Gr fant wieder a" 
feine Polfter hinein. 

„Der Name thut nichtE zur Sache,“ näfelte dag Säeufal, 
„nenne mich meinethalben Lämmchen —“ 

„Du wärſt mir ein nettes Lämmchen. Eher ſcheinſt Du 
mir ein Wolf, nicht in Schafskleidern, aber in einem aus 
allen möglichen Tierbehauſungen zuſammengeſtohlenen 
Proletarierhabit —“ 

„Proletarier! Gut, daß Du das Wort gebrauchſt! Be⸗ 
trachten wir uns einmal die Landſchaft draußen. Das 
Morgengrauen ſickert durch die dicken Septembernebel. 
Siehſt Du's?“ 

„Daran iſt nicht viel zu ſehen — öd und langweilig 
genug!“ 

„Schau näher hin! Es iſt vielleicht doch ganz intereſſant.“ 

Unheimlich erwachte wieder das unterirdiſche Uhugelächter: 
Hilfe! Hilfe! Brandwolf ſchielte mit unangenehmen Empfin⸗ 
dungen nach dem buntſcheckigen Froſchbanch. Dann ſtarrte 
er in die weißgrauen Morgennebel hinaus. 

Es regte ſich dort. Es ſchien ſich eine lange, breite, mit 
hohen Häuſern beſetzte Straße zu öffnen, es begannen ſich 
menſchliche Geſtalten abzuheben, es entwickelte ſich ein groß⸗ 
ſtädtiſches, aufgeregtes Leben mit Pferdebahnen, Droſchken, 
Omnibusgeſpannen, Dienſtleuten, Juden und anderen 
Menſchen, auch Litfaßſäulen — und in Windeseile jagten 
die Bilder neben dem raſſelnden Zuge her. 

Auf einmal fuhren die Nebel wild durcheinander, 
Männer und Weiber, teils lumpige Proletarier, teils Arbeiter⸗ 
geſtalten in anſtändigem Kittel — ſie fuchtelten und ſchrieen 
durcheinander wie Beſeſſene, ſchwenkten rote Fahnen und 
tranken unmäßig viel Branntwein. 





347 Beiblatt der Deutfhen Roman-Zeitung. 3418 


Der IInhold wies mit der [hwarzgefohlten Fadel hinaus. 


„Dein Werk!” fpradh er mit fröftelnerregendem Hohn. 

Man jah die Aufgeregten die wenigen Grofchen, bie fie 
in ihren Tafchen fanden, in einen ungeheueren Xopf 
ichleudern. Darauf fam ein einzelner Mann, fie Ichrieen 
ihn alle in wahnfinnigem Eifer gu wie bie blöden Heiden 
ihrem Götenpriefter, und jahen mit Wonnegeheul, wie er 
den Inhalt des Topfes in feine unermeßlichen Tafchen füllte. 

„Sol ich diefem Bilde eine Iinterjchrift geben?* höhnte 
das hodende Scheufal, und nad) einem UhusSintermezzo Frähte 
es: „Die Unterfchrift lautete: Hier ftenert der vierte Stand 
in die foctaldemofratifhe Ortöfaffe — dort nähert fidh der 
gefeierte Agitator und holt fih ein Sümmcdhen zum Wohl« 
leben, insbejondere für eine Fahrkarte zweiter Slaffe. 
Tableau? Nicht wahr?“ 

„Was joll der Zauber?“ 

Brandwolf ſuchte möglichſt barfch zu fein. 

„Nur zu Deiner Ergökung, mein Lieber,” war bie 
Antwort, „auf der langweiligen Yahrt — in der zweiten 
Stlaffe! Du Haft dody au Bein Billet fiher in der Talche, 
ehrmwürdiger Socialiftenführer? — Es hängt viel Schweiß 
daran, Schweiß und Thränen armer Mütter — biele 
Thränen!“ 

„Schweig, Du Unhold!* 

„But, id) Scyweige — aber die Nebel werden reben!“ 

Stumm wieß er wieder zum Yenfter hinaus. | 

Man jah die eleganten Läden der Großftabt, die Schaus 
fenfter mit ben unzähligen Modewaren und anderen Dingen, 
an denen fo mandes arme Mädchen, jo manches müde 
Mütterhen mit heißen Augen gearbeitet und geftichelt, an 
denen fo manche gefchicfte Arbeiterfauft ihre Kunft bewwiefen 
und Wocenlohn auf Wochenlohn verdient hatte — unzählige 
Begenftände, die burd) das eifrige Schaffen unzähliger Hände, 
das Prüfen und Überlegen unzähliger Köpfe, das fcdarfe 
Sehen und Unterjudhen unzähliger Augen geadelt, geheiligt 
waren. 

Ein mwüfter Pöbelhaufe brad in die Läden hinein, jchrie, 
zeritörte, raubte, plünbderte, vermüftete in Blödwahn das 
Selbitgeihaffene, die Yrucht der eigenen Arbeit — rubige 
Fabritgejellen fuchten wie in Tobanfällen die eifernen Ofen 
zu zerichlagen, deren Eunftboll verzierte Platten fie jelbft mit, 
bielleicht unbewußter, Freude an ben fchönen Figuren gegoffen 
hatten. 

„Ein läcerliches Bild!“ Trächzte ber Unhold; „unter- 


Ichreiben wir e8: Das Volk, von feinem Führer zum Streit, 


zum Aufruhr geheßt, trifft mit feiner wahnfinnigen Wut 
sicht die, die e8 treffen will — — «8 Ichlägt fich Telbit!“ 

„Wie ergöglich!“ höhnte er weiter, „das raft und wütet 
gegen fich jelbft, ald würbe e& dafür bezahlt. Siehft Du — 
Dich felbft dort hinten — in dem behagliden Zimmer, im 
Fauteuil, hinter verfchloffener Thür? Du Taufceft dem Auf: 
ruhr in den Straßen. Vor Tir auf dem Tiih blinkt der 
Nevolver. Wenn fie auch in Dein Tuaculum dringen und 
von Tir begehren, daß Du mit ihnen thuft, daß Du Dein 
Gold unter fie fchleuderft, damit fie ihre Kupferpfennige 
wieder herausflauben, fo wirft Du fie nieberfchießen wie tolle 
Hunde. Hihi! Ein vortreffliher Gedante!“ 

„Schweig, entſetzliche Kreatur!“ 

Wütend riß Brandwolf ſeinen Revolver aus der Taſche. 

„Steck ein!“ hohnlächelte das Vis.à-vis; „ich bin feiner 
von den Unglücklichen, die Du wie eine Hammelherde haſt 
in den Abgrund ſpringen laſſen.“ 





Eine unheimliche Stille trat ein. Draußen kochte und 
gärte es weiter im Nebel. Zahlloſe Arbeiterſtuben öffneten 
fich, überall ſchmachteten die Familien der Streikenden im 
Elend. Die alte ſterbenskranke Großmutter verlangte nach 
der ſchmerzenlindernden Medizin; aber nicht ein Pfennig mehr 
da, der Alten zu helfen. Schluchzend lag ihre Tochter, die 
Arbeiterfrau, auf den Knieen an dem Bette. Sie ſieht ihr 
Mütterchen dahinſterben, ohne Hilfe und Rettung — — 

Hungernde Kinder — —! 

„Natürlich — hungernde Kinder!“ ſprach das gräßliche 
Ungetüm; „was iſt an hungernden Kindern gelegen? Man 
lieſt davon in jedem modernen Roman — aber von all den 
Romanen werden die Kinder nicht ſatt. Und am Ende iſt 
es nicht einmal ſo ſchlimm, wenn die kleinen Bälger ſchon 
jetzt langſam verhungern. So werden ſie nicht hochwachſen 
in dem wüſten Materialismus, in dem alles Heilige be—⸗ 
geifernden Irrwahn ſocialer Propheten. Sieh, Du braver, 
ehrenwerter Socialiſtenführer, Deine That bringt Segen über 
Segen! Sie ſterben alle hin wie die Fliegen — dadurch 
entziehſt Du Dir ſelbſt die Rekruten für Deine zukünftigen 
Revolutionsheere! 

„Haſt Du Deine Fahrkarte zweiter Klaſſe auch feſt? 
Dieſer Sonderzug führt leider nicht die Dir mehr zuſagende erſte 
Klaſſe!“ höhnte es weiter, und Uhugeſchrei erwachte drohend 
in allen Wagenecken — haarſträubend! Schaudernd duckte 
ſich Brandwolf in die Polſter. 

Der Unhold ſchwenkte wie ein Kapellmeiſter leicht mit 
der Fackel! Sogleich wieder Totenſtille! Draußen ein neues 
Bild! 

Polizeimacht, von Militär unterſtützt, ſuchte die wüſten 
Horden von dem Schauplatz ihrer ſocialiſtiſchen Weltver⸗ 
beſſerungsverſuche, aus den zerſplitterten Ladenfenſtern, aus 
den mit Schmutz beſudelten Kirchen hinauszutreiben. 

„Die Beſtie wehrt ſich!“ grinſte das hockende Ungetüm, 
„ſie ſpringt dem Poliziſten an die Kehle, ſie reißt ihm Augen 
und Stirnhaut herunter — der Infanteriſt ſticht der Beſtie 
das Bajonett in die Bruſt! Nur zwei Menſchenleben! 
Warum? Das kümmert Dich nicht, mein lieber Freund! 
Wenn Du nur zweiter Klaſſe durch die Welt reiſen kannſt, 
ſo mögen die, denen Du mit Deinen Hetzreden die Groſchen 
für Dein Billet entlockt haſt, vierter Klaſſe zur Hölle fahren! 
Was kümmert's Dich? Jedem Hänschen ſein Schwänzchen! 
Mach Dir das nur klar: von den Verſammlungsabenden her, 
wo Du Dich mit dem armen Teufel verbrüderteſt, biſt Du 
nur ſcheinbar mit ihm Arm in Arm einem wüſten Ideal 
nachgetaumelt. In Wahrheit gingen von dem Tage an, wo 
ſie Deinen Ideen verfielen, Eure Wege diametral ausein⸗ 
ander: der arme Teufel ſtieg in das Unglück des Ausſtandes 
hinunter, Du in ein ſelbſtherrliches Wohlleben hinauf! 
Hihihi! Juhu! Hilfe! Hilfe! Eine wunderſchöne Fahrt im 
Morgennebel, zum Flottenmanöver! Wirklich, ich freue mich, 
mit Dir zu reiſen! 

„Aber ſieh, es wird heller! Oben auf den Nebelwolken 
zeigt ſich ein Roſenſchimmer! Wird Dir nicht unheimlich, 
Du lieblicher Sohn der Nacht?“ 

Das Scheuſal firedte langfam eine Hintertage vor, als 
mollte 8 nad) feinem Opfer greifen. Wild fchrie eg auf: 
„Feuer! Morbio! Du brennft!“ 

E3 padte die erlofhene Fadel fefter, und raffelnd fuhren 
bie erften Hiebe nieder auf das Haupt des Üüberraſchten. 
Schauernd vor Schreden riß er zum zweiten Mal ben Re 
bolver heraus, zielte und f[hoß. Aber bie Kugeln prallten 


349 


ab von dem entjeglichen Froichleib. Schuß auf Schuß folgte, 


jeder beantwortet von einem jchauerlihen „Juhu!“ Aber 
ale die Kugeln schlugen zurüd und fauften ihm jelbft um 
die Ohren. 

Nun ftürzte fi) da3 Greuel wütend über ihn her und 
bearbeitete ihn mit der Fadel, bi8 Funken umbherjprühten. 
Entjegt prang der Gepeinigte in dem Waggon umher, die 
Beftie ja ihm im Naden wie ein oder) und frallte ihn, 
daß er aufichrie vor Graufen. 

Endlih die Station! Er ftürzte auf ben Bahniteig 
hinaus, er floh dur die Menge, durd) die Straßen, Hinunter 
zum Wafler, zum Lanbungsplag, dort wo die Dampfer lagen, 
wo die Menfchenmenge hin und her wogte und drängte und 
Ihob, um eine Fahrgelegenheit zu erwijchen hinaus in das 
offene Meer zum Flottenmandver, zum Kaifermanöver. 

Mit gräßlichem Hihihi heute ihn das böje Gemiffen 
borwärtd, al® märe er ein Gaul auf der Nennbahn. Er 
erregte Wut und zornige Püffe bei den Menjchen, die er zur 
Ceite ftieß, um an ben Billetihalter zu gelangen. 

Endlid war er im Befig des Scheines. 

„Sabre Du nur erfte Stajüte!* heulte ihm das Sceufal 
in die Ohren; „jo wirft Du die entjeglichen, thränentriefenden 
Sparpfennige armer Leute fchneller los!“ 

Er ftürzte auf Ded. Er floh in die ftajüte hinunter — 
und raftloß hegend jaß der entjegliche Sodey in feinem Naden. 

AL dann der dumpfe Pfiff des Dampfers eriholl, als 
die Wogen aufraufhten wie ein gewaltiam geöffnetes Bud), 
als da Schiff in die dicken Nebel Hinausftenerte, da fuhr es 
um ihn her wie ein rajender Sturmwind. Aus dem uner- 
ihöpflidyen Meeresdunft geboren, jtürzten alle die weinenden 
Mütter, die Hagenden Kinder, bie fluchenden Väter auf ihn 
ein wie die wilde Jagd in den Nactichaucen des Harzes, 
und taufend Fäujte ftrecten fih nad ihm aus, ihm Leib und 
Seele zu zerfegen. 

Graujen und Entjegen trieb ihn von einem Bord zum 
andern. Weit drüben im Nebelihoß erwadhte dad Gehen! 
der Torpebofignale — ihm war e8 das Gehen! feiner un: 
glüdlichen, verhegten Opfer. 

Mit rajendem Ingrimm ftürgte ihm von neuem ber Un 
hold in den Naden. Er fühlte die entjeglichen Strallen und 
Spinnenfinger, die fcheußlihe Kälte des Frofchleibes, er 
hörte da8 marferjchütternde: Hilfe! Hilfe! — er fühlte bie 
rafjelnden Hiebe der zerfplitterten Yadel, Funken umftoben 
ihn, plößlich zucte e8 um ihn auf wie Flammen — „Feuer! 
Tener!” fchrie er in feinem Wahnfinn, und: „Feuer! Mordio!“ 
heulte der lUinhold in zweiter Stimme. Gr erhob ein Ge- 
Ichrei, alß fühle er fih jchon zerriffen von den taujend 
fnöchernen Armen. Das Feuer lief an feinem Leibe entlang, 
Tlamımen fauften um ihn empor, die Verzweiflung ftieß ihn 
bin und her, er wollte fi auf das Badbordgeländer 
ihwingen — — 

Blöglih Fühlte er eine Schwere Fauft in feinem Naden — 
der Wahnfinnige jollte dingfeft gemacht werben. Aber ihm 
jdien e3, ald Elammere das lIngeliim feine Tagen um feinen 
Hals, um ihn zu erdroffeln — — er ſah die knochigen Fäuſte 
der Schredgeipenfter nach ihm langen, er fühlte fid) gepadt, 
gezerrt an Haaren und Händen — — — 

Da mit einem gellenden Aufjchrei ftürzte er über Bord, 
in die Ece. Auf fpriste die Flut, zornig, wild fchaudernd 
über den unmillfommenen Gaft, und mit gräßlichem „Suhu!“ 
und Siegesgeheul tauchte ihm der Kobold nad) in den Meeres: 
ſchoß 


— — — 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗-Zeitung. 





350 


Weiter ſchoß das Schiff. Der Nebel riß auseinander 


wie ein gewaltiger Vorhang. Auf einen Zauberſchlag öffnete 
ſich die Weite, rechts und links bäumten ſich die Dünſte 
zur Seite, der bewundernde Blick floh über das blaue 
plätſchernde Meer weit hinaus zu der ſtolzen Linie der 
Kriegsſchiffe, der trotzigen Repräſentanten der Staatsgewalt. 

Und oben herein, von dem entzückend blauen Himmel, 
lachte die goldene Morgenſonne herab auf die hoffnungs— 
freudige Menſchenmenge. 


Roſenlieder. 
J. 
Das war die Zeit der Roſenpracht, 
Verwelkt ſind die duftenden Blüten, 
Verweht iſt Johannis Zaubernacht, 


Erloſchen die Glut, die ſo heiß entfacht, 
O Herz, Du thatſt Dich nicht hüten! 


Dir blieb jetzt ein heißes Sehnen zurück, 
Wie willſt Du die Flamme kühlen, 
Entbehrſt Du das wonnige, ſelige Glück: 
Den Schlag ihres Herzens, den ſüßen Blick 
Und Lippe auf Lippe zu fühlen? 


Nun ſpinne Dich wieder in Trauern ein, 
Dein Roſentraum nahm ein Ende, 
Du thörichtes Herz, o merke Dir fein: 
Es blühen die holdeſten Röſelein 
Zur Sommerſonnenwende. 
2. 
Wohl bin ich wieder am trauten Ort, 
Dod die Nojen find hin, der Sommer tft fort, 
Die Schwalbe breitet jhon ihre Flügel 
Zum legten Zug über Thal und Hügel, 
Der Sonne jcheidender Abendglanz 
Schmüdt goldig verflärend der Höhen Kranz. 
Dur meine Seele ein Weinen geht: 
D Sommer, o Nofen, wie jeid hr vermeht. 
A. M. 


Ihr Ideal. 
Eine moderne Ehegeſchichte von Georg A. Albert. 
I; 

Er ftand allein in der Welt und befaß nichts, was er 
hätte lieben können. ls eine Waife hatten fie ihn auf 
Stoften der Gemeinde erzogen, fireng, nachfiht3lo8, nad) jener 
erzieheriichen Methode, die die frühe Jugend unter einem 
harten Zwange hält, damit das auffirebende, wuchernde Vöfe 
im Stinderherzen von vornherein im Steime erftictt werbe. 

63 war eine jchlimme Zeit, die er in jenem Haufe ver- 
bradte — eine Zeit der ftummen Thränen und ftillen Sehn: 
jucht nad) einem warmblidenden Auge und fühlenden Herzen, 
wie e8 jene arme Frau für ihn hatte, der er einft mit 
jtammtelndem, jauchzendem Munde das heilige Wort: Mutter! 
entgegenrief. 

Dann gab man ihn in die Lehre mit der Schuld: 
„Der Gemeinde, dem Staate Dadurd zu danken, daß er 
ein braver, tüchtiger, nüßlidyer Bürger würde,“ wie der 
Waifenvater in feiner Entlafjınigsrede an die in die Welt 
eintretenden gefirmelten Zöglinge der Anftalt betonte. 


351 


So trat er ind Leben — und die Arbeit wurbe ihm 
alles: jeine Liebe, fein Ehrgeiz, feine Befriedigung. Er 
Ihuf an fid) rafilos, mit verjtedter Energie, ohne Erregung 
und Haft, ganz in ber Ieidenjchafslofen Ergebenheit feiner 
Ssugend, der der Schorfam und die Pflicht über alles geftellt 
wurde. Sa, er fjchuldete die rajtlofe Arbeit fich felbft und 
der Menfchheit, die ihn als ein zulünftiges gemeinnügiges 
Mitglied erhalten wollte. ind fern — ganz fern blintten 
ihm ftille, trauerndbe Stinderaugen entgegen — ftredten fich 
Hände nad ihm, die von frühem Schaffen raub und rijfig 
geworden, gleih den feinen — drängten fid) vereinjamte, 
frierende Herzen nad) einem Sonnenftrahle echter Liebe. DO, 
er hatte fie hin'hwinden fehen, Tosgelöft vom warnıquellenden 
Born der elterlichen Sorge und Zärtlichkeit, eingepfercht in 
bie leblojen, ftarren Lehrfäge einer falten Theorie, wie bie 
Blume, ber der erquicende Regen fehlt. Die Heinen Gräber 
drängten fi oft nädtlid vor fein innere Auge und ber 


Klagegefang aus Kindermunde ftieg auf zum Himmel, zum 


wahren Vater aller Waifen, den man fie lieben gelehrt hatte, 
und den fie mit jener zitiernden Furt und Scheu begriffen, 
wie jemen, der ihnen für diefe Welt als ftrenger Nichter ges 
fegt war. 

Ein einfacher Arbeiter follte und wollte er nur werden. 
Aber die in ihm fchlummernde, unabläffig herporbredhende, 
bon ihm jelbft nicht beachtete, nur halb verftandene Begabung 
machte ihn zum Künftler. Erft der Zufall fandte ihm An 
erfennung und Hilfe für feine Talente. Sie hob ihn aus 
der Handlangerfchaft heraus zur Höhe geiltiger Sclöftändig- 
feit, fie gab ihm eine neue gefellichaftliche Bedeutung. Dod) 
im Grunde feines verichlichterten Wefens wurzelie die Be- 
ſcheidenheit. 

So kam er zu jenem Mann, deſſen Vertretung in den 
Geſchäften er übernommen hatte, und der ſeine wirtſchaftliche 
Rettung ihm, als einer bekannten, hervorragenden Kraft, 
vertrauensvoll in die Hände legte. Es gelang ihm. Die 
gleichmäßige Stetigkeit ſeines Weſens, unbeirrt von Außen⸗ 
dingen, wurde zu ſtarken Pfeilern für ein erſchüttertes Haus. 
Und mit der Achtung und Dankbarkeit für ſein treues, ſelbſt⸗ 
loſes Schaffen widmete ihm der kränkliche Chef ſeine Freund⸗ 
ſchaft. Dann ſprach er von ſeinem Kinde, das er an einer 
ſolchen ſtarken Bruſt geborgen wiſſe — daß er ihn von Herzen 
„Sohn“ nennen möchte. 

Der ehemalige arme Waiſenknabe zitterte vor dieſer 
Idee. Ihm ſchwebte die hohe, majeſtätiſche Geſtalt jenes 
Mädchens vor, das der alte Herr „Tochter“ nannte, und 
deſſen Würde und Vornehmheit ihn in reſpektvoller Ferne ge⸗ 
halten hatten. 

„Ihre Teilnahme für mich geht zu weit —“ brachte der 
Vertreter mit ſtillem Aufblick zum Chef mühſam hervor. 
„Ich kann Ihnen wohl ein Mitarbeiter, aber nicht mehr ſein.“ 

„Nicht mein Freund?“ fragte der alte Herr aus ſeinem 
Lehnſtuhl lächelnd herüber. „Und Sie waren doch mein 
Retter, Guſtav — und können mein Freund nicht ſein?“ 

Der junge Mann blickte zu Boden. 

„Sie haben ſich nicht allein meine Dankbarkeit, ſondern 
auch meine Liebe erworben,“ fuhr er fort. „Ich trage Ihnen 
das Beſte an, was ich beſitze — mein Kind — und es iſt 
nicht nur der dankbare, ſondern zugleich auch der beſorgte 
Vater, der zu Ihnen fpriht. — Sehen Sie, Guftav, als ich 
Sie für mein wanlendes Haus anwarb, follten Sie mir eine 
bezahlte Kraft fein — wir hatten feine anderen Beziehungen 
im Leben. Mein Nugen und der Ihre waren die Motive. 


Beiblatt ber Deutihen Noman-Zeitung. 





332 


Und aud) jegt, diejen Augenblid bin ich nicht frei von felbit: 
füchtiger Berechnung: Id) will Ste mir bauernd erhalten, weil 
ih weiß, daß die Laft der Gefchäfte, welche jett auf Ihren 
Schultern ruht, weder[von mir noch bon einem anderen mit 
gleihem Erfolge aufgenommen werben fann. Und um Sie 
mir dauernd zu erhalten, möchte ich in Ihnen meinen einftigen 
Eohn und Nachfolger fehen.” 

„Sch werde Sie au ohne das nicht verlaffen, Herr 
Edard,“ verfegte Guftan feit. 

Der leidende Chef neigte ein wenig das Hanpt. 

„Und wenn ich nicht mehr bin?“ fragte er leife und blidie 
unfier vor fid) hin. „ER geht mit NRiefenfchritten abwärts, 
mein Freund — nur kurze Zeit bleibt mir no — id) möchte 
ruhig fterben können — und Ihnen diefe Ruhe zu danken 
haben.“ 

„Herr Edard!“ rief der Vertreter mit gebämpfter, bebender 
Stimme. 

„Kommen Sie hierher," bat der Kranke mit einladender 
Handbewegung auf das ihm näher ftehende Sofa weijend. 

Der junge Mann gehordhte jchweigend. 

„Ih habe in diefer Welt von Selbjtfudyt nur wenige jo 
felbftlofe, gute Menfchen Eennen gelernt wie Cie,” fagte er, 
„niemals eine jo beicheidene, verläßlide Natur wie Sie. E8 
ift der einzige Vorwurf, den id) Ihnen zu maden habe. — 
Tiefe Beicheidenheit Hat Sie hre ganze wertvolle Perjon 
unterfhägen laffen. Sie wien, wer ich war, al& Sie famen 
— und ©ie mwifjen, wer ich jest bin, da Sie feit fünf Jahren 
bei mir find. Sch habe Ihnen alles zu danken — ohne Ihnen 
den Anteil gegeben zu haben, den Sie gerechter und Eluger: 
weife zu fordern hätten. Ich ftehe tief in Shrer Schuld, 
Buftan. — E8 ift fo!“ beftätigte er, dem ihn mit einer Ab- 
lehnung Unterbrechenden die Hand auf den Arm legend. 
„Nun aber ftehe ih vor der Abrechnung — und id 
frage Sie nochmald: wollen Sie mein Tochtermann werden? 
Ich will Ihr Schidjal und das meines indes beftimmend 
feftlegen, weil ich weiß, daß für Sie und mich und Alice 
nicht befjer geforgt werden fan. Mit meinem Kinde zugleid) 
will ich Ihnen mein ganzes Erbe übergeben. — Wollen Sie, 
lieber Guftav?“ 

Die Bruft des jungen Manıtes hob und fenkte fidy wie 
unter ftarfem Drud. Er blickte Fämpfend, bedrüdt und ver- 
Ioren vor fi hin. Eine tiefe Nöte verbreitete fi) über feine 
Wangen, ald er erwiderte: 

„Ste Iprechen In Ihrer Güte fo beftimmt, daß ich glauben 
muß, gegen alle eigene Einfidyt und nie gewagte Hoffnung: 
Shrem Fräulein Tochter wäre ich einigermaßen ein Gegen 
ſtand des Intereſſes?“ 

Der alte Herr begegnete dem zögernd und verſchleiert 
auf ſich gerichteten Blicke ſeines Vertreters mit Lächeln. 

„Davon hatten Sie keine Ahnung?“ fragte er wie 
neckiſch, doch nicht ganz ſicher. 

„In der That — nein,“ ſtammelte der junge Mann 
unter neuem, faſſungsloſem Erröten. „Ich meinte — ich 
glaubte bemerkt zu haben — —“ 

„Daß ein anderer ein Anrecht auf ihr Herz hätte?“ 
vollendete der Chef den beſcheiden und zart gegebenen Ein⸗ 
wurf. „Das iſt geweſen, lieber Guſtav! Alice träumte 
einmal — wie junge Leute wohl thun — dem Ernſte gegen— 
über hat dieſe leichte Neigung nicht Stich gehalten. Sie 
legen doch darauf kein Gewicht — auf eine harmloſe Epiſode, 
deren Ende über ein Jahr zurückdatiert?“ 

Guſtav ſchüttelte den Kopf. 





353 


„Sp werde ich Alice rufen laffen, damit Sie eine gegen 
feitige nötige Ausfpradje finden,“ meinte der Yabrikherr und 
erhob fih mühjam. 

Der junge Mann hielt ihn indes zurüd. 

„Sch bitte Sie, erlafien Sie mir für diefen Augenblid 
die Begegnung,” bat er unruhig. „Diefe unerhoffte Eröffnung 
findet mid) nicht genügend vorbereitet — id) bin etwas vers 
wirt —“ 

„Sp gehen Sie nur, lieber Sohn,“ veriegte Herr Edard, 
thm liebıvoll beide Hände auf die breiten Schultern legend. 
„Sie werden fid) jeßt audy ohne mein Hinzuthun beide zuredht- 
finden. — Uber Ste können mir doch die beruhigende Ver: 
fiherung geben, daß mein Antrag bei Ihnen nicht auf eine 
ausgeiprochene Abneigung ftößt?* feßte er ernft und mit leifer 
Beforgniz Hinzu. 

„sch bin Shnen und Ihrem Yräulein Tochter von ganzem 
Herzen ergeben,“ meinte ber junge Mann bewegt und drüdte 
dankbar die ihm dargereichten Hände des alten Herrn. „Ste 
ahnen nicht — Ic habe noch nicht gelernt, ein unerwartetes 
Glük zu verftehen.“ 

Damit verlich er in einer Art von Taumel das Zimmer. 

Zunädft feines beitinnmten Gedankens fähig, fucdhte er 
fein einfaches Heim auf. Hier überließ er fi einer ihm 
ganz neuen Empfindung, die dur die Entdedung wach ges 
rufen war, daß die ftolze Tochter feines Chefs ihn mit mehr 
als einem gewöhnlichen fühlen Sntereffe betrachte, und Die 
in ihm nun mächtig zu wacdjien begann. E83 war mehr ein 
Schreden ala ein Triumph, ber fein Herz erbeben ließ. Er 
ftand vor der Thatfahe, daß ein Weib feine Huldigungen 
anzunehmen bereit war — ein Weib, wie dDiefes, deifen äußere 
und innere Eigenfhaften ihn jo weit von ihm entfernten, daß 
er nur mit einer gewifjen jcheuen Achtung und Verehrung zu 
ihr aufzubliden wagte. Denn bei aller Selbftändigfeit und 
Abgeichlofienheit feines Wejenz fühlte er in fidy die Unfrei⸗ 
heit eines in der früheiten Jugend verichüchterten 3chs, bas 
fi zu felbftfüchtigen Wünfchen nur mit Überwindung viel- 
feitiger VBedenten zu erheben vermochte. Für das Snterefie 
des Nächten dagegen hatte er, mit bem Verzicht auf alle 
eigenen Vorteile, den Einjag feiner ganzen Kraft. Die Tochter 
feines Chef8 gehörte zu jenen Naturen, die er im Willen und 
Handeln als ihm überlegen ihägte. Er hatte nie den An- 
fprudy erhoben, daß fie in ihm eine jener geiftigen Autoritäten 
anerfenne, vor denen fie fi) beugte. Und er meinte in der 
That darin richtig zu fühlen, wenn er fi jagte: ihre fühne 
Geele erhebt fidy Himmelhoch über die Alltäglichfeit, der ich 
mein Nachdenken und meine Kräfte weihe; ihr idealer Flug 
überfieht mich auf diejer Erde. Diejes Vorreht war ihr als 
Weib wohl gegeben — wie er denn ihrem Geichlechte über» 
haupt eine hohe Stellung zuerfannte. 

Segt nun — durd jene Eröffnung ihres Vater — deren 
jeltfjame Korm ihm Feine Bedenken einflößte, fah er in 
näcdfte Nähe gerüdt fie, die er fo weit von fi entfernt 
wähnte. Und Schauer und Bangigfeit beihlicdhen ihn neben 
dem fühlbar jchnellen Auflfeimen eines ehemals Ichlummernden 
Samentornes, da3 die fi zwijchen ihnen beiden außbreitende 
Unmöglichkeit einer intimeren Beziehung zu einander ohne bes 
frudtenden Regen gelajien Hatte. Das Bewußtlein des 
Slüdes jhlug in ihm mädtig Wurzel, In der natürlichen 
Betradhtungsmweije feines einfachen Weiens grübelte er nicht 
biel dem Urfprung ihrer Neigung zu ihm nad). Vie feine — 
das wußte er — war al8bald nad ihrer erften Begegnung 
faft unbewußt und ununterfucht als eine Thorheit begraben 


RomansZeitung 1896. 


Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung. 





354 


worden. Sie wurde nun wieder eriwedt burch den Zauber 
der Liebe und fein Gemüt umfing da8 Weib in ihr mit 
Innigkeit und ſtiller Inbrunſt. 

Aber als er ihrer Perſon gegenüberſtand, drückte ihn die 
Hoheit ihres Weſens in ſeine Nichtigkeit zurück und er fand 
nicht den Mut, in der ſtolzen, geiſtreichen Schönheit die Ge⸗ 
liebte ſeines geraden, warmquellenden Herzens zu ſuchen. 
Er empfand das mit leiſem Schmerz — doch mußte er ihrer 
Eigenart das Lebensrecht zugeſtehen. Ihr konnte er nicht 
zürnen, wohl aber ſeiner inneren Unfreiheit, die ihn hinderte, 
im kühnen Anlauf von dem Glücke, das ſie ihm durch das 
Geſchenk ihrer Hand verhieß, Beſitz zu nehmen. 

Endlich gewann er es doch über ſich, ihr von ſeiner 
Neigung zu ſprechen. 

„Ich ſage nicht nein,“ erwiderte ſie, ſein Geſtändnis wie 
eine erwartete und gewohnte Huldigung entgegennehmend. 
„Ich ſage aber auch nicht ja. — Hören Sie mich aufmerkſam 
an,” fuhr fie, ihm gleichmätig ins Auge blidend, fort: „Ihre 
Gefühle für mid ehren mid — benn Sie find ein durdaus 
achtendwerter Mann. Mein Vater Ihägt Ste über alleg — 
ih jchulde Ihnen mit meinem Vater zugleich Dankbarkeit. 
Eine Verbindung zwiihen uns ift fein Wunidh, da er — 
mich nicht allein Tafien will.” Hier hielt fie nur mit Mühe 
einen jäh auffteigenden kindlichen Schmerz zurüd. „Ich habe 
mid) während der Sahre Zhres Verkehrs in unferem Haufe 
an Sie gewöhnt, ich habe nur Gutes von Ahnen denten 
gelernt — id adte Sie gewiß als einen jelten treuen 
Charafter — — aber —* und fie erhob fi plöglih — „id 
liebe Sie nicht.” 

Er zudte, wie von einem Schlage getroffen, zufammen 
und murde totenbleih. Ste fah die Wirkung und erichraf 
heftig. 

„Sch liebe Sie noch nicht,“ fette fie fchnell Hinzu, „noch 
weiß ich nicht, ob Sie mir nicht mehr werden fünnten. Das 
ift eine Referve, die ich meiner Wahrhaftigfeit fchuldig bin. 
Ericheine idy Ihren fo noch begehrenöwert — ift Ihnen an 
einer Gattin gelegen, die Sie achtet, fo bin id) die Ihre — 
verlangen Sie dagegen eine braufende LVeidenichaft, fo muß 
id mid Ihrer Werbung entziehen. Sch bin ihrer nicht 
mehr fähig. — Nun erllären Sie fih. Ich Ihäge Sie als 
einen ruhigen Menfchen, der den Taumel der Leidenichaft 
nicht liebt — dem eine verftändige Lebensgefährtin näher 
fteht als eine Ehwärmerin. Wollen Sie Bedentzeit, jo will 
ih fie Shnen gerne gewähren, und Shren Verzicht auf meine 
Hand will ich nicht als eine Beleidigung auffaffen,“ fagte 
fie, feine Erwiderung gefpannt erwartend. 

Er Hatte fih gefaßt und blidte fie feft an. Dhre 
zwingende, imponierende Eriheinung hielt ihn unter einem 
Bann von Liebe und Weh gefeffelt. Aus ihrer jcheinbar 
ruhigen und doch bewegten Stimme drang ein geheimnisvolles, 
lodendes Hoffen — fie jelbft ftand vor ihm wie ein fern 
Ihimmernder Stern, auf dem die irdifhe Sehnfudyt die 
Seligkeit jucht. Die vielen Zahre zurüdigedrängten Gefühls 
rannen wie entfellelte Ströme zu einem Meer zujammen und 
die aufgewühlten, jhäumenden Wogen hielten ihn befinnungss 
108 zwiichen Himmel und Erde. Da ergriff er die arnıfelige 
Blanke, die ihm Rettung verhieß. 

„Meines Gefühls für Sie bin ich nun fidher,” verlegte 
er leife. „Ich babe einen Blumengarten erwartet und Sie 
bieten mir eine Wüfte an. ber id; will den Öden Boden 
mit meinem Herzen beadern, daß er mir und Ihren zum 
Paradies wird. Und darin werden Sie mid nie ermüden 





IV. 25 


355 


ſehen, Alice. Fürchten Sie nicht, daß ich verzweifeln werde. 
Wer, wie ich, einſam durch die Welt pilgerte und von ihren 
Freuden nur den ſchwachen Abglanz empfing, der läßt ſich 
auch an dem Schatten des Glücks ohne allzugroße Schmerzen 
genügen. Ich werde mein Daſein ſchon preiſen lernen, wenn 
ich durch meine warme Hingabe Ihren Augen einen freund⸗ 
lichen Schimmer erwecken, auf Ihre Lippen ein flüchtiges 
Lächeln zu zaubern vermag — ich will zufrieden ſein, wenn 
ich Sie durch meine Sorge geborgen weiß.“ 

Und er näherte ſich ihr und zog ihre Hände, bevor ſie 
es hindern konnte, an ſeine Lippen. Dann ſchied er. 

Aber er ging als ein Hoffender, der in der Macht der 
Liebe die ſiegende Gewalt gefunden. Das Elend ſeiner 
Jugend ſollte von dieſer Stunde an hinter ihm verſunken ſein. 

Mit Staunen, Bewunderung und Schreden halte fie ihn 
entlaffen. Sein unvermuteter Entihluß fam ihr wie daß 
Beginnen eines linfinnigen vor. Wußte er, was er wagte — 
wer fie war? DO, er hatte von bems Doppelfinn bes Weibes 
feine Ahnung! Er Lonnte e8 unmöglich faflen, daß eine 
Frau diefem angehören wolle, um jenem als Ideal anzu⸗ 
bangen. Und dod) war e8 jo: fie fonnte den heißgeliebten 
Gegenftand ihrer erften Neigung nicht vergeflen; er würde 
ihr ewig gegenwärtig fein und gegen ihn ein jeder andere 
als Pygmäe ericheinen 

Und doc wiederum lag ein geheimnisvoller Reiz in der 
mutigen, opferfreudigen Liebe diejes einfachen Mannes, der 
fie bezwang und dem Schritte geneigter machte, als fie «8 
für möglidy hielt. Ihre fittliden Bedenfen kämpfte fie nieder 
im Hinblid auf die unzähligen täglichen Verbindungen 
gleichen lofen Snhalts, die man „moderne Ehen“ nennt. 
Sa, fie würde eine moderne Ehe eingehen, ohne Rauih — 
und ohne Verbindlichkeit, eine Ehe, wie die Gefelichaft fie 
verlangte und anerfannte, die für das Alleinjein einer Frau 
nur Mibhandlung und ein Hachliches Urteil hat. Ber 
Mann, der fi jegt um fie bewarb, erfchien ihr unter al den 
übrigen rohen Formen, in welden fid ihr die Männerwelt 
im allgemeinen repräjentierte, alß die fjanftelte, uneigen- 
nügigfte Natur, und jo durfte fie fi die Sicherheit geben, 
baß fie bei dem, deffen Namen fie annahm, bleiben würde, 
die fie vorben: war, ohne fidy felbjt verachten zu müffen. — 

(Schluß folgt.) 


Simmel und Srde. 
Gleich filberfarbner Blüte winkt von fern 
Aus duftigem Blau ein weißer Riejenftern. 


Und Dir zu Füßen innig ftil vertraut 
Ein Heines Beilhen auf der Wieje blaut. 


2odt Dih mit überirdifher Gewalt 
Die Ferne, bleibft Du, ah, dem Nahen Ealt? 


Dein Herz Dich fanft zur Erdenblume weift — 
Nacfliegt dem Sternenwint Dein Feuergeift. 
Osſtar Finke, 


Die Kunft, zu vergeflen. 

Fin gutes Gedächtnis wird als eine beneidensiwerte Gabe 
angejehben; wer e8 nicht hat, wendet viel Zeit und Mühe 
daran, e3 fid) zu erringen. In den Schulen galten Ge- 
dbädhtnisübungen lange Zeit ald das vorzüglichite Bildungs: 


Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung. 





356 


mittel; denn das gute Gebädhtnis Hilft Kenntniffe fanımeln 
und gewährt uns im praftiihen Leben viele Vorteile und 
Annehmlichkeiten. Dennoch wird das Vergefien, gegen welches 
mit allen möglihen Mitteln angelämpft wird, eine Kunft 
genannt, und derjenige glüdlich geihägt, ber fie verfteht. 
Schon die alten Völfer haben da8 Vergeflen ala etwas 
ebenjo Schweres wie Schöne angejehen und Dieje Idee 
in einem berrlihen Mythus verfinnbildliht. Sie glaubten, 
daß die Seelen der Verftorbenen nur dann bie reine Seligteit 
im Elyfium empfinden konnten, wenn alle Erinnerung an 
das irdifche Leben mit feinen wandelbaren Erfcheinungen, 
mit feinen Unvolllommenbeiten und DBefledungen von ihnen 
genommen war; unb das konnte nur durd) eine übernatürs 
liche, göttliche Macht geichehen, nicht durd) ihre eigene Straft. 
Darum mußten fie au8 dem Letheitrom, den Strom ber 
Vergefienheit, trinken, bevor fie in das neue Leben eingehen 
fonnten. 

Die Anfihten der Alten find nicht mehr die unjeren. 
Weder mit unferer Vernunft noch mit unferer Religion wäre 
der Wunih vereinbar, die Seele von allen Erinnerungen 
des Erdenlebens einit befreit zu willen. Wenn Schiller in 
jeinem Gedichte „Die Speale und das Leben“, in weldhem 
er die mythiichen Bilder mit den idealen Empfindungen aller 
Menihengeichlechter verbindet, von der Eörperbefreiten Seele 
fagt: „roh des neuen, ungewohnten Schwebens, fließt fie 
aufwärt3, und des Erdenleben® jchweres Traumbild fintt 
und finft und finft,“ — fo hat er damit dem Gefühle der 
Sehnfuht nad) einer Vergefienheit alles Leides, aller irbifhen 
Schwädhen Ausdrud gegeben. Ein Befreitiein von allen 
quälenden Schmerzen unferes irdifchen Dafeins ift zum 
Trieden der Seele notwendig, und daher fordert auch unjere 
Vorftelung von Seligfeit ein folches Vergeſſen. 


Aber au unser Erdenleben geftaltet fich glüdlicher, 
wenn wir vieles vergeflen können. Das Bergeffen bewahrt 
uns oft vor Berbitierung, vor Täufchungen, vor Leiden aller 
Art und fihert unfer Slüd in bemjelben Maße, wie e8 die 
Tähigfeit thut, alles in uns feftzuhalten, wa® erhebt und 
vervollfommnet. Das Vergeflen it ein Schild gegen viele 
Teinde nunferes inneren Glüdes, weldye jo leicht und unbe 
merkt unfere Seele gefangen nehmen. Diele Feinde treten 
in mancdherlei GSeftalt auf, in Lieblicher und in drobender, 
unser Herz zu umfiriden. 8 erjcheint fo ſchuldlos, fo uns 
Ihädlich, jih den jchmeichelnden Träumen hinzugeben, durch 
welche ung Bilder irdifchen Glüdes umifpielen, weldye die 
Wirklichkeit weit überflügeln. Warum jollen nicht Hoffnungen 
über ein einförmiges Dafein erheben dürfen? — Gewiß; 
aber bie Gefahr lauert gleich einer Schlange unter blumigen 
Gefilden; wenn die Hoffnungen melfen, tritt fie in ihrer 
Nacdtheit hervor und nagt al8 Mikmut und Trübfinn an 
dem unbefriedigten Herzen. Glüdlich, wer die Träume, welche 
fih nicht erfüllt Haben, noch erfüllen können, zu rechter Zeit 
vergeflen fann; ihm haben fie Freuden verihafft, ohne 
Schmerzen zu hinterlaffen. 

Erfüllen fi aber unfere Wüniche, und bietet das Leben 
reiche Genülfe, wie fie unjeren Erwartungen entiprecden; tit 
es ung geltattei, von Freude zu Freude zu cilen, wie der 
Schmetterling von Blume zu Blume, dann wird Überbruß 
und Sraftlojigfeit fidh unjerer jo fiher bemächtigen, al& der 
frühe Tod des Schmetterling, wenn wir unfer Herz von 
dem Ichädlihen Einfluß nicht unabhängig machen, wenn wir 
die Genüfje nicht vergellen fünnen und von ihnen zurüds 
fehren. zum Ffräftigen Handeln. Alles, mwodurd die Seele 





367 


Scaben leiden könnte, muß fie in Vergeſſenheit verſenken, 
um, befreit von dem Banne, fid; dankbar erheben zu 
fönnen. 

Sa, felbft dur) das Bute, was mir anderen thun, 
fönnen wir in Gefahr geraten, wenn wir es unferer &r- 
innerung zu feft einprägen. „Lab die redhte Hand nicht 
wiflen, was bie Iinfe thut,“ heißt e3 in ber Schrift; ma? 
will das meiter jagen ala: „thue es in fo tiefer Ber: 
borgenbeit, daß faum Du es weißt, was Du gethan halt. 
Gar leicht verliert Deine gute That ihren Wert, wenn Du 
fie ala ein Verdienft anderen gegenüber zur Geltung bringen 
willft. ‚VBergiß das Gute, was Du gethan haft, vergiß aber 
noch viel mehr das Böfe, wa8 Dir widerfahren tft.‘“ 

Alles Leid wird dadurd fo unendlich vergrößert, daß 
e3 al8 Erinnerung in unferem Herzen weiter lebt, uns bie 
erlittene Unbil wiederholt empfinden läßt und neue 
Ubel heraufbeihwört. Wir Menichen find fo fehr dazıı ges 
neigt, da8 Glüd, die Freude und jede Annehmlichkeit als 
Tchuldigen Tribut des Schidfal® und nnierer Mitmenfchen 
binzımehmen, da8 Gegenteil aber, den Schmerz, ichwer unb 
nadhaltig zu empfinden, und boch tft daS gerade der Weg, 
uns Ddeffen zu berauben, was mir juchen, nämlich dbe8 wahren 
Glückes. 

Weil aber das rechte Vergeſſen einen Kampf gegen 
unſere Natur erfordert, weil es nur durch ſtete Ubung und 
Arbeit an uns ſelbſt errungen werden kann, darum wird es 
eine Kunſt genannt. Die Ausübung einer jeden Kunſt er⸗ 
fordert Aufmerkſamkeit, Mühe und Arbeit, die Kunſt, zu 
vergeſſen, verlangt die ſchwerſte Arbeit von uns, die Selbſt— 
verleugnung. 

Wohl iſt es ſchwer, die Wunde, welche das Schickſal 
ſchlug, vernarben zu laſſen; ſie wird durch tauſend Ers 
innerungen aufgeriſſen, und gegen jede einzelne muß in den 
Kampf gezogen werden; denn welchen Gewinn bringen dieſe 
Erinnerungen? Sie machen uns unfähig, die Freuden 
dankbar zu erkennen, welche uns geblieben ſind; ſie rauben 
uns den Genuß der Gegenwart und den Mut zum Leben 
und Streben. Das verlorene Gut wird durch die Ber 
zweiflung dem Schidjal nit wieder abgetroßt, und Die 
Klage, fie weder den Toten nicht auf! 

&3 ift auch nicht leicht, bittere Kränfungen zu vergeffen; 
nicht leicht, unjeren Teind zu lieben, benen wohlzuthun, die 
uns haflfen, und zu fegnen, wo uns gefluht wird. Aber 
noch ichwerer ift e8, die Folgen zu tragen, wenn wir das 
und zugefügte Unrecht nicht vergeffen fönnen, fondern in 
unferem Herzen wudhern lafjen. Während der verlegte Stolz. 
fit} empört und den Sieg über bie befleren Gefühle davon- 
trägt, während da8 aufgeregte Gemüt forgiam die Schwere 
der zugefügten Beleidigungen erwägt, haben fich die Sturmes» 
wellen in dem Herzen bed Gegners vielleicht längft beruhigt; 
die verlegenden Worte, weldhe er im Augenblik der Leiden: 
Schaft geiprochen Hatte, find ihm faum mehr bewußt, fein 
Zorn verihwand fo Ichnell wie er entflammt war. Der Un- 
verföhnliche aber läßt die Sonne über feinem Zorn unter: 
gehen und neu erwacht er mit dem neuen Morgen; er kann 
die unfeligen Worte nicht aus feinen Gedanten verbannen 
und herber und bdrohender wird bie Stimme des Grols, 
bis die Sränkungen ermwidert find, und das bittere Gefühl 
dadurch nur vergrößert ift. Hab und Feindichaft find aus 
dem Samen weniger Worte gleidy Unkraut einporgeichoffen 
und nagen an jeder Freude. E3 folgt eine Reihe von 
bitteren Kränktungen, während nad kurzem Kampf das Xer- 





Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





358 





gefien und Vergeben den füßen Lohn innerer Befriedigung 
und ein reines Herz dDavongetragen hätte. 

Sn anderen Fällen aber, wenn wir uns durd bie 
Handlungen unferes Nächften zum Richter über ihn berufen 
fühlen, ihn mit Spott und Beradtung, ja mit Haß ver: 
folgen, wa8 werben wir erreihen? Unſere ftrenge Tugend 
hebt den Gefallenen nit auf; unfer hartes Urteil wirkt im 
Gegenteil nur nocd verderbliher auf ihn und madt und 
felbft vielleicht keines Hleineren Vergehen ſchuldig. Wer 
bag Uinreht des Nächften vergeffen faın und durch ftete 
Liebe feurige Kohlen auf fein Haupt jammelt, wird nit 
nur feine eigene Seele erretten, er wirb vielleiht auch ihn 
zurüdführen auf die Bahn des Guten. 

Sp wenig wir die eigenen Fehler auß dem WUuge ver- 
lieren dürfen, jo fehr muß unfer Bemühen darauf gerichtet 
fein, die Schwächen des Nädjften zu überjehen, zu vergeflen, 
daß jeine Fchler oder Eigentüntlichleiten uns Abneigung 
eingeflößt haben, wenn «3 barauf anftommt, durch Wort 
ober That zu feinem wahren Wohle beitragen zu können. 

- Das Leben bietet fortwährend Gelegenheit, die Ktunft, 
zu vergefien, nad der einen oder anderen Ridhtung hin zu 
üben. Wer fie erftrebt, wird den Segen an der Wirkung 
auf fein eigenes Selbft erkennen und fann verfihert fein, 
baß feine guten Beftrebungen einen fegensreihen Einfluß 
auch auf weite Kreife ausüben, wie alle8 Große und Edle. 
Darum ift diefe Kunft audy des Erfämpfens wert; fie fordert 
wie jede andere ein Studium, oder Ausdauer und Arbeit 
auh dann no, wenn fie erlernt und verftanden ift. Ein 
Künftler aber achtet der Arbeit nicht um be3 Lohnes willen. 
Maler und Bildhauer dürfen nicht ruhen, wenn fie etwas 
Vollendetes Schaffen wollen; denn: „Nur dem Tleiß, den 
feine Mühe bleichet, raufcht der Wahrheit tief verftedter Born; 
nur des Meißels fchwerem Schlag erweichet fich de Marmor? 
hartes Korn.” Mit feinem Geiftesauge Sieht der Stünitler 
das vollendete Bild Iange, ehe die Hand e8 aus dem rohen 
Material zu geitalten vermag, fie aber überwindet dur 
diefen Hinblid auf die Vollendung die körperliche Schwere 
mit Leichtigkeit. edem SKünftler winkt der Lorbeerfrangz; 
wer aber bie Kunft des Vergeffens übt, dem grünt er in 
undermwelfliher Schönheit. 

Wer follte nicht feine Kraft daran jeßen, diefe Krone 
zu erringen? De fchwerer die Arbeit, um fo jchöner der 
Lohn! Und wie jeder Künftler fein Werkzeug hat, das er 
fiher handhabt,, fo fehlt es uns auch nicht an Werkzeugen, 
um bie Kunft des Vergeffens zu üben, fie heißen: „Die 
moralifhe Kraft und der Wille“. Der ernfte Wille ift Die 
Frucht richtiger Erkenntnis eined dem Guten zugemwendeten 
Herzens, und mit jedem Erfolge wächft die moralifche Kraft. 
Sie wädjlt, indem fie fit) Nahrung Ihöpft aus den erniten 
Worten der Schrift, welde in vielfaher Form da8 Vergeben 
und VBergefien als Chriftenpfliht Hinftellt, indem fie fid) 
ftärft an den Ausjprüchen unferer Dichter und Phtlojophen, 
und indem fie aus eigener Thätigfeit den Lohn ermacjen 
fühlt. Das rechte DVergeffen ichließt einen großen Teil 
unferer Pflichten gegen uns jelbit und gegen unjeren Nächiten 
in fi), e8 rettet die Seele auß mandem Zwiejpalt mit fi 
und der Welt und ift der Weg zum inneren und äußeren 
Frieden. 


359 


Finem Kinde, 


Du traf’ft ind Leben — aus ber Ewigkeit, 
Um wieder heimzufehren in die Ewigleit, 
Wenn diejes Lebens wirrer Traum vorbei... 
Sol ih Dir wünjden: Set der Traum Dir leicht, 
Sei jorglos, tändelnd? Möge nie ein Hauch 
Dir Deine fpiegelklare Seele trüben, 
Ein Heißer Hauch von dem, 
Was eine Menfchenjeele kann durchwühlen 
An Dual, Verzweiflung, Zorn und Weh? 
Möge nie Dein Herz 
Mit einer jener dunklen, jchweren Fragen ringen, 
Auf die fein Menjd) noch eine Antwort fand, 
Wie heiß er auch gerungen und gejudht, — 
Die unfre Träume, Nachtgeipenftern 1 
Beängft’gen? 
Mög’ft Du nie erfahren, 
Was Sturm, was Leidenschaft, was ungeftillte Sehnfucht tjt? 
Soll ih Dir’d wünjchen? 
— — — Aber wie?! 
Wirft Du ber Menihen Qualen nicht erfahren, 
Wirft Du auch nie der Menfchen Wonnen fühlen! 
Eh’ die Seele nicht 
Die Tiefen bittren Leid8 und Zorns und Yweifels 
Ohnmädt’ger Qualen hat durchmeffen, 
Eh’ fie nicht in wildem Troß 
Sich gegen Welt und Schidjal aufgebäumt, 
Eh’ nit de8 Lebens Stürme über fie gebrauft, 
Eh’ fie nicht eine lange bange Nadıt 
Mit ihrem Gott gerungen bi zur Morgenröte, 
— CH’ Hat fie nicht gelebt! 
Auh Schmerz it Wonne! 
Auh Qual ift Wonne! 
Und in des Lebens Stürmen ftehn, 
Und in dem Stampfe feine Kräfte fühlen! 
Sit Lächeln — leben? 
Aber Kämpfen ift e8! 
Ningen um fich jelbft! 
Ein ftolzes, tapfres Kämpfen — bis an? Ende... 
Bis ausgeträumt de& Lebens wirrer Traum, 
Und Deine Seele heimlehrt in die Ewigkeit... 
Sol id Dir wünjchen 
Ein vollgerüttelt Maß an Dual und Wonne? 
Kannft Du e8 tragen? 
I. von Maſſow. 


Sprüche und Splitter, 


Von Eduard Humidt. 


Da hat die MWohlthat rechten Sinn 
Und nüget jeder Frift, 

Wo die Vernunft die Yührerin 
Des blinden Herzen? tft! 


Wie viele Vorteile könnte mancher für fi gewinnen, 
wenn er nit — jo egoiftiid fein mollte! 


%* 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





360 





Mer eine „gute That“ zu thun bereit, 
Schau’ fie fi hübfch auf ihre Folgen an, 
Weil leicht die eine gute mit ber Zeit 
Zehn böfe Thaten nad; fi) ziehen Tann! 


Für manden ift der Pellimismus ein Sport, ohne den 
er nicht leben fann. 


v 


Die Protektion iſt die Zahnradbahn für die Gipfel 
der Ehre! 


% 


Die geiellihaftlihen Formen find für den Ungebildeten 
eine Zwangsjade, für den Halbgebildeten oft eine Narren- 
jade. 


% 


Bei manden Frauen genügt eine Schmeichelet über ihre 
Toilette, um zehn Beleidigungen in Bezug auf ihren Cha= 
rafter vergefjen zu machen. 


Die Menjchen find ein eitles und ſchwaches Geſchlecht. 
Der ſtolze Bau der Überzeugung, den wir uns mit Hilfe 
vieler Thatſachen und einer langen Erfahrung mühſelig auf— 
geführt haben, ein wie zerbrechliches und windſchiefes Ding 
muß er im Grunde ſein, wenn das winzige Geſchoß eines 
einzigen Schmeichelwörtchens, der ferne Glockenton einer un⸗ 
gewiſſen Hoffnung, der leiſe Hauch eines nahenden Zweifels, 
der nebelhafte Schatten einer aufſteigenden Furcht ihn über 
den Haufen werfen kann! 


Welches kleinliche Benehmen! 

Willſt Du grollend Dich beklagen, 
Daß Du manchmal Dich bequemen 
Und ein Mißgeſchick mußt tragen? 
Trag's mit Faſſung und in Frieden; 
Und dem Schickſal dank' von Herzen, 
Weil's Dir ſo viel Glück beſchieden, 
Daß Dich kleine Wunden ſchmerzen! 


%* 


Es giebt Dinge, deren wir und gern erinnern, ohne 
den Wunfch zu hegen, fie noch einmal zu erleben. -Die 
wunfchlofe Erinnerung ift die fchönfte! 


Inhalt der Wo. 44. 


Schwertklingen. Baterländiiher Roman von Hans 
Werder. Fort. — Ohne Bott. Roman von E. Karl. 
Forti. — Beiblatt: Sehnjudt. Von CE. Theodor Schule. 
— Mann über Bord! Bon Oswald Bergener. — Rojen» 
lieder. Bon M. M. — Shr Seal. Eine moderne &he- 
gefhichte von Georg A. Albert. I. — Himmel und Erde. 
Bon OBfar Linke. — Die Kunft, zu vergefjen. — Einem 
Rinde. Bon M. von Mafjjow. — Sprüde und Splitter. 
Bon Eduard Schmidt. 


Berantwortlidder Leiter: Otto von Leirner in Berlin — 8 von Dtto Janke in Berlin — Drud ber Berliner Buchbrudereis Altien » Gefellichaft 
(Geperkunenfgule d 


beß Bette» Vereins). 





Deutſche 





ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 
beziehen. 


—1896. 


Roman Zeitung. 


Erjheint wöchentlich zum Preife von 3% AG vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bot. 
Durd) ale Buchhandlungen au in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Oktober. 





Schwertklingen. 


Baterländifcher Roman 


von 


Dans Werder. 


(Fortfegung.) 
VII ders. Doch fiegte bei Lotte gar bald eine warme, 
" berzlihe Wiederjehensfreude über die jchmerzlichen 
Sn ihrem einfamen Stübchen in der Dorotheen: | Empfindungen. Hafios tiefes Mitgefühl, die Lieb: 
ftraße jaß Lotte von Nodlig, Hilmars trauernde | reiche und doch jo frifhe, gefunde Art, mit der er 


Witwe. nm ihr junges Gefiht hatte der Schmerz 
feine Linien gegraben und ihm viel von feiner rofigen 
Sriihe genommen. Auf ihrer jchmalen Stirn lag 
ein Ausdrud faft feierlider Würde unb in ben 
Beilchdenaugen ein tiefer, finnender Ernfl. Das 
Ihwarze Trauerlleid, das fie trug, erhöhte noch den 
veränderten Eindrud ihrer Erjcheinung. 

Mie einfam fie war — Hilmar tot, der Vater 
tot. Das Meine, jhlummernde Wejen in der Wiege 
da neben ihr das einzige, was ihr auf der Welt ge- 
blieben von Leben, Liebe, Glüd. Sehr arm und 
fümmerlih lebte fie bier. Bon franzöfiicher Ein- 
quartierung war fie verihont geblieben, auf Ver: 
wendung guter Freunde, dafür aber mußte fie Ab- 
gaben zahlen, fi von der Verpflichtung zu Töfen, 
denn wirklide Schonung kannten die fremden Macht: 
baber nicht. 

Es war ftil um fie ber. Das Kind fchlummerte. 
Bon der Straße herauf tönte gebämpfter Lärm. Ihre 
Hände arbeiteten in raftlofem Fleiß und ihre Gebanten 
wanderten zurüd zu den kurzen Stunden verlorenen 
Blüdes — der Quelle ihres grenzenlojen Herzeleids. 

Die Hausthür unten fiel ins Schloß. Faft er: 
itterte das Häuschen unter dem fcharfen Drud. 
Lotte erihral. Sie war an folde Störungen nicht 
gewöhnt. Schnelle, lebhafte Schritte famen die Treppe 
herauf — ein furzes Boden und rajches Offnen ber 
Thür, und Hallo ftand vor ihr. Wie ein Stich ins 
Herz traf Lotten der unerwartete Anblid, eine Flut 
qualvoller Erinnerungen fürmte auf fie ein, und mit 
leifem Webelaut jchlug fie die Hände vors -Gefidht. 

‘a, er lebte, und der andere war tot! NHaflo 
war auf den Schmerz, den bieje Thatlache hervor- 


rief, völlig vorbereitet, er fannte es jchon nicht an- 





RomansZeitung 1896. Lief. 45. 


ihr begegnete, waren ihr eine Wohlthat, wie fie lange 
feine empfunden. Sie vermodte fi auszuſprechen, 
zu weinen, zu tlagen, und fie hörte an, was er ihr 
erzählte von ben [ebten Tagen und Stunden bes 
Geliebten, von feiner helbenhaften Tapferleit, von 
der Liebe, mit ber er ihrer gebacht jeden Tag und 
jede Stunde. DO wel ein Himmelstroft waren alle 
biefe jüßen Botichaften für fie, als fiele noch einmal 
ein Lichtichein aus der Sonnenzeit des Glüdes herüber 
in die Nacht ihrer Bereinfamung. 

„Aber nun fag’ mir, Lotte,” fragte Hafjo endlich, 
„warum haft Du den armen Eltern in Redentin 
niemals eine Nachricht zulommen laffen? Sie willen 
nichts vom Tode Deines Vaters, noch von der Ge: 
burt des Kindes, faum, baß fie Deinen Aufenthalts: 
ort fennen — und bo bift Du und das Kind das 
einzige auf der Welt, was fie befigen, Das. teure 
Vermächtnis des Sohnes, den fie jo tief betrauern!” 

„Ich habe ihnen den Tod meines Vaters und 
die Geburt des Kindes angezeigt — wenn fie ben 
Brief nicht erhielten, jo ift es nicht meine Schuld!” 
erwiderte Lotte in gedrüdtem Tone. „Eine zmeite 
Annäherung wollte ich nicht verfudhen. Der Vater 
hat Hilmar aus feinem Haufe und Herzen verftoßen — 
vielleicht mit ihm auch fein Weib und Kind! Wie 
fann ich es wiflen!“ 

„Run, liebe Lotte, etwas befler ſollteſt Du denn 
doch den alten Onkel kennen,“ war Haſſos lebhafte 
Entgegnung. Und er ſchilderte ihr den Jammer der 
beiden vereinſamten Alten, ihre Sehnſucht nach der 
Schwiegertochter, ihr Aufleben in dem Gedanken an 
den einzigen Enkel — mit ſo warmer Beredſamkeit, 
daß Lottes ſchmerzlicher Groll ſich löſte und der 
Wunſch in ihr erwachte, die ihr liebend gebotene 


IV. 26 


363 Schwertllingen. 
Zufluht anzunehmen. Sinnend, überlegend jaß fie 
da, ben thränenjchweren Blid zur Dede empor: 
gerichtet. 
hinüber. 

„Was bat Dich eigentlih in bdieje feindliche 
Stabt hereingeführt,“ fragte fie, „und jeit warn bift 
Du bier?“ 

„Ungefähr jo lange, - ala ich bier bei Dir fiße, 
mein liebes Lotthen! Nur die Zeit nahm ich mir, 
mid vom Bärenführer, der Dir Furt und Abicheu 
eingeflößt hätte, in einen anftändigen Menjchen zu 
verwandeln, dann bin ich Ihnurftrads zu Dir geeilt!” 

„Bärenführer? Liebſter Junge, was ſprichſt 
Du eigentlich?“ fragte ſie beſorgt. 

„Ja, Bärenführer — Lotte, Du mußt es ſchon 
glauben! Als Dffizier durfte ih in Berlin nicht 
auftreten, jo mußte es auf andere Weile geichehen!” 

„Aber warum benn nicht als Offizier?” 

„Sanz einfach,“ rief Haflo. „Die Offiziere müſſen 
fih in preußijher Uniform bei General PBictor 
melden, und diefer Wadere ift mir jo wohlgefinnt, 
daß er mi fiher um einen Kopf fürzer maden 
würde, wenn ich ihm Gelegenheit böte, meiner hab: 
haft zu werden!” Er berichtete ihr in kurzen Zügen 
fein Arnswalder Abenteuer mit dem General, und 
Lotte war entjeßt über die Gefahr, in welcher Hafjo 
troß der Verkleidung fidh bier befand. 

„Nah Berlin aber wollte und mußte ich!” 
fuhr er in feiner Erzählung fort, „und jo verließ 
ih Nedentin in der YZuverliht, noch unterwegs 
einen guten Gedanten und entiprechende Gelegenheit 
für mein Unternehmen zu finden! Und ich fand 
beides! Sn Eberswalde, wo ih mir einen Ruhetag 
gönnte, jah ic auf dem Marltplag eine Zeltbube, 
vor der das Volk jih in Scharen drängte. Da 
mußte ich doch dabei fein! Bezahlte meinen Srojchen 
und meidete mich an der großartigiten Vorftellung 
ber Welt — mit Bären und Affen als Schau: 
jpieler. Als ih mid in der Paufe leutjelig mit 
dem Herrn Direktor unterbielt und ihm meine Be: 
wunderung ausipradh, forderte er mi auf, aud in 
Berlin jeine Vorftelungen mit meinem Bejudhe zu 
beehren, er ginge morgen dorthin. Durd eine 
Galavoritelung jollte die Antunft in der Haupt: 
und Refidenzftadt gefeiert werden. Da jdhoB mir 
mein Plan wie ein Blit dur den Kopf! Ganz 
Berlin ficherte ich dem Direktor ale Bejucher feiner 
Bude zu, wenn es ihm gelänge, mid, den Grafen 
Wolkenkukuksburg, inlognito in die Großjtadt ein- 
zuführen. Ym gemütlihden töte-a-töte bei einer 
fühlen Blonden wurden alle jeine Bedenten binmweg- 
geihwagt — und jhon am nädjiten Morgen trat 
ıh als Mitglied der Spielerbande die Reife nad 
Berlin an! Eine jchwarze Perüde, den Schnurr: 
bart jchwarz, das Geficht braun gefärbt, im Slo: 
walentlittel, eine Kappe mit roter Troddel, den 
Bären an der Strippe und einen Knüppel in ber 
Hand, um die Beftie in Ordnung zu halten — ad), 


Lottchen, ſchade ift es dod, daß ich mid) * in 
dem Aufzug nicht präſentieren konnte! Siege) 1.6 


bin ih jo in Berlin eingezogen! De 2 Sail * 
Wachen traten zwar nicht vor iR 


bie unverjhämten Gejellen, aber: FE 


Roman von Hans Werber. 


Dann endlich ftreifte derfelbe zu Haflo 






364 


gehindert paffieren und das war bie Hauptiade! 
Da bin ih nun — zu Deinen Befehlen! Und jo: 
mit ift mein Ziel erreicht!” 

Sie hatte ihm mit großem Ergößen zugehört 
und ladte, zum erften Male jeit undenklier Zeit. 

„Allo no immer berjelbe abenteuerfuchende 
Wildfang! Sch gratuliere Dir zu dem glänzenden 
Gelingen, mein guter Hafjo! Aber weshalb eigent: 
lih diefer waghalfige Streih? Das habe ih aus 
Deiner jchönen Geihichte no immer nicht ent: 
nehmen tönnen!” 

„Aber Lotte!” rief er aufipringend. „Um Dich 
aufzuſuchen! Als Bärenführer fam ich in die Stabt, 
ald Dein Kuticher werde ich fie wieber verlafen! 
Dich zu holen, ift der einzige Zwed meines Kommens 
— Did den Eltern zuzuführen und Hilmars Sohn, 
den Keinen Erben von Redentin!“ 

Mit neugierigem Blid fchaute er dabei in die 
Wiege, auf das Meine Etwas, das Ichlummernd darin 
rubte, die winzigen roten Fäufthen feft vor bie 
Augen gebrüdt. Lotte freifte mit einem jeltfjamen 
Blid erft die Wiege und dann fein Gefidt. „Sa, 
Hallo, wir werden mit Dir fommen,” jagte fie dann. 
„Ih und bas Kind — Du jollft es fein, der uns 
den Eltern zuführt! Aber — ih muß es Dir jagen 
— Hilmar Kind tft ein Mäbdhen! Der Lehns: 
erbe bift Du!” — 

Haſſos Mienen zeigten Überrafhung und Ent- 
täufhung. Nicht einen Augenblid hatte er bie 
Möglichkeit erwogen, daß er ber Lehnserbe fein 
fönnte, wie die Eltern vor kurzem ihm mit fo viel 
Bitterkeit vorgeworfen. Hilmars Kind ein Mädchen! 
Entjeglih war diefe Thatjache für die jchwergeprüften 
Großeltern! 

Lotte jelber hatte die Enttäufhung in ihres 
Hilmars Seele tief nahempfunden und zu überwinden 
gehabt. Dab aber gerade Hafjo diefe Nachricht fo 
Ihmerzerfüllt aufnehmen würde, hatte fie am wenigften 


erwartet. Und doh — fie mußte lächeln — fie 
fannte ihn ja! Wie fjah diefe Uneigennügigleit 
ihm ähnlid! Wie ganz entipradh fie dem ftetd von 


ibm gebegten Bilde. 

„Shr jolt meinem armen Kindchen nicht zürnen, 
weil e8 ein Mädchen ift!” fagte fie, mit feuchten 
Blid das Heine, ahnungsloje Wejen betracdhtend. 
„Es Tann aud, ohne ein Knabe zu fein, den Eltern 
und mir zu Glüd und Segen gedeihen! Ein Lehns: 
erbe iſt ja überdies vorhanden! Er fteht vor mir 
wie ein junger Eihenftamm! Was verlangt Yhr 
denn noch weiter!” 

„Ich will das Lehen nicht haben!“ rief Haſſo 
verſtimmt. „Ich will Reckentin nicht wiederſehen! 
Dich und das Kind bringe ich bis an die Grenze 
und gehe dann meiner Wege!“ 

„Unſinn, mein lieber Haſſo!“ gab Lotte lächelnd 
zurück. „Du haſt heilige Kindesrechte im Reckentiner 
Hauſe, und daß dieſelben jetzt, im Gegenſatz zu 
früher, anerkannt werden, dafür laß mich Sorge 
tragen. Aber Pflichten ſind Dir nun auch gegeben! 
e mehr Du Dir dieſe ins Bewußtſein rufſt, deſto 
en auch die Eltern dazu gelangen, es als 
Wtte⸗ anzuſehen, daß ſie Dich noch haben!“ 
Bi Iwieg. Ihre Worte überzeugten ihn 







365 Schwertklingen. 
nicht ganz, doch wollte er nicht widerſprechen und 
küßte ihre Hand zum Zeichen der Unterwerfung. 

Im Begriff, ſich zu verabſchieden, zögerte er 
noch einen Augenblick. „Lotte, haſt Du zuweilen 
von Veldeggs etwas geſehen oder gehört?“ 

„O ja! Die kleine ſüße Renate iſt lange Zeit 
hindurch mein einziger Verkehr geweſen Ihr tiefes, 
warmes Empfinden, ihr Intereſſe für Dich und Hil—⸗ 
mar hat ſie mir ſehr teuer gemacht!“ 

„So! — Und wann ſahſt Du ſie zuletzt?“ 

„Es ſind ſchon einige Wochen her! Sie haben 
Berlin ſür längere Zeit verlaſſen!“ 

„Ach! Wohin find fie gegangen?” 

„zu dem fogenannten Ontel Auguft nad 
Penzlomw. Du meißt, daß fih Qulie mit dem jungen 
Sonreuth in Tiefenfee verlobt bat — dort in ber 
Nachbarſchaft. Sobald fie zurüdtehren, joll die Hoch: 
zeit gefeiert werden!” 

„Das find ja alles jehr interellante Nach: 
richten!” bemerkte Hallo. „Ih würde mich fonft 
auch wahrjcheinlic darüber freuen! Aber daß ich 
jett um das MWiederfehen mit Renate tomme, ift mir 
außer allem Spaß!“ 

Damit entfernte er fih für heut. 

Die Reife nad Redentin warb angetreten. Un: 
gehindert ließen ihn abermals die franzöfiichen Thor: 
wahen pafjteren — diesmal ale den „Diener der 
Frau von Rodlig”. Ohne Fährlichleiten geleitete 
er diefe auf der weiten Fahrt, in wohlverjchlofienem 
Wagen, jo daß felbft das Kleine Fräulein von Noch: 
lig in dem warmen Reijebetthen nichts von den 
Unbilden der rauhen Witterung verjpürte. 

Kurz vor NRedentin nahm Hallo Abjchied von 
Lotte. Mit Thränen und warmen Dantlesworten 
entließ fie den treuen Gefährten. — Bald darauf 
erreichte Lotte wohlbebalten die alte Heimat und 
warb von Hilmars Eltern mit Freuden empfangen. 
Ein neues Leben ging ihnen auf in der Sorge für 
das Kind und feine Mutter, die ihnen nie eine 
sremde geweien und nun eine gute und geliebte 
Tohter ward. Xotte fand Frieden und neues Bes 
bagen unter dem jchügenden Dach der Verwandten, 
wo im Zujammenleben fi allmählich eine Freuden: 
blume nach der anderen ihr erichloß. 

Haflo 309 wieder in die weite Welt hinaus. 


Sechfter Abſchnitt. 
Der Held des Volkes. 


.Das blanke Eiſen, das junge Blut, 
Man muß es brauchen in Jahren! 

Die Jugend locket mit friſchem Mut, 
Wird friſch von hinnen auch fahren! 


Drum bringet herbei mir daß Mägdlein hold, 
Den Stahl der blitzenden Klinge! 

Die Maännerſchlacht und der Minneſold 

Sind tapfere, freudige Dinge.“ 


J. 


Zwei Jahre und zwei Monate hatten die fran⸗ 
zöſiſchen Truppen in Berlin gehauſt als Sieger und Ge⸗ 
bieter. Endlich, endlich — am 3. Dezember 1808 zogen 
ſie davon mit Trommelwirbel und klingendem Spiel, 
ſiegesfreudig, wie ſie einſtmals einmarſchiert. Unter 


Roman von Hans Werder. 


366 


ſchmeichelhaften Verſicherungen über die vortreffliche 
Haltung und Geſinnung der Bürgerſchaft während 
ber Beſatzungszeit verabſchiedete ſich der franzöſiſche 
Kommandant und übergab dem alten Prinzen Fer⸗ 
dinand die Schlüffel der Stadt an dem feiner Sieges: 
göttin beraubten Brandenburger Thor. 

Fort waren die Franzofen, Gott jei Dank! 
Und wenige Tage darauf, am 10. Dezember, 
hielten die erften preußiichen Truppen ihren Einzug 
in Berlin. Doch keines von den alten Berliner 
Regimentern war bierzu erwählt, nicht die ftolgen 
Garden, auch nit die Gendarmes, deren einftiger 
Ruhm und Glanz vernichtet, wie unter Rofieshufen 
zertreten war. 

Ferdinand von Schill mit feinem Hufarenregi- 
ment und ben reitenden Sägern war biefer hoben 
Auszeihnung würdig befunden worden. 

Ein unermeßlicher Jubel durchwogte die: jo 
lange in Furcht und Grauen geknechtete Stadt, als 
die Nachricht von Schills unmittelbar bevorſtehendem 
Einzuge ſich wie eine rollende Lawine verbreitete, 
ein Jubel, wie man ihn ſeit den Siegestagen 
Friedrichs des Großen nicht gekannt. In all der 
Schmach, in all dem Elend des Unterliegens der 
einzige unbeſiegte Held, der Stern, auf den alle 
Blicke ſich hoffnungsvoll richteten als den zukünftigen 
Befreier des Vaterlandes — ritt er herein durch die 
Thore Berlins und führte der lange verwaiſten 
Königsſtadt die erſten preußiſchen Truppen wieder zu! 

Von vielen Tauſend Stimmen ſcholl ihm 
jauchzendes Hurra — Hoch — Willkommen entgegen. 
In Scharen ſtrömten die beglückten Einwohner her⸗ 
bei, jung und alt, hoch und gering. Sie drückten 
ihm die Hände, ſie ſtreichelten die Mähne ſeines 
Pferdes. Alte Krieger aus des großen Königs 
Zeiten, deren gramgebeugtes Herz aufs neue höher 
zu ſchlagen begann bei dem Namen Schill, drängten 
ſich herzu, ihm zu huldigen, ſeinen Steigbügel zu küſſen. 

Nah allen Seiten bin, von Rührung übermwäl- 
tigt, dankte und grüßte ber gefeierte Held, und mit 
ihm die Seinen, welde ihr reichlich Teil des Yubels 
erhielten. Aus allen Fenftern regnete es Blumen 
und Kränze auf ie herab; wie über einen Wiefen- 
teppih von Blüten und Blättergrün bin tänzelten 
die Hufe der Hufarenpferde. In einen Frühlings: 
morgen jchien ber rauhe Dezembertag verwanbelt. 

Ein Kranz von roten Rojen flog auf ben Hals 
von Hafios Pferd. Er fing ihn mit ber Spike 
feines Säbels auf, bob fi im Bügel und blidte 
zurüdgewandt nad den Fenftern binauf, von wo 
der bolde Gruß ihm gelommen. Zwei Mäbchenköpfe 
Ihauten da heraus, ber eine blond, ber andere braun. 
Tief grüßte der Hufar mit gezogenem Säbel. Er 
hatte ein Lächeln aufgefangen und einen Blid, den 
er erfannte. 

Die gute Stadt Berlin konnte fih nicht genug 
tun, ihre neuen Selden zu feiern. Mit einem 
großartigen Feltmahl im Rathaufe follten fie bewill- 
fommnet werden und der Magiftrat empfing bafelbft 
die Offiziere mit ausgefuchten Ehrenbezeugungen. Es 
war ein gar zu erhebendes Gefühl, daß man wieder 
gut preußifch fein durfte, ohne für Leben und Frei: 
beit fürchten zu müflen! 





367 Schwertklingen. 
Major von Schill an der Seite des Ober— 
Bürgermeiſters Geheimrat Müller nahm ſich gar 
ſeltſam aus mit ſeinem jungen, wetterbraunen 
Huſarengeſicht unter den ernſt ehrwürdigen Häuptern 
der Stadt. Vielleicht hätte er lieber wie ſonſt in⸗ 
mitten ſeiner Lieutenants geſeſſen und mit ihnen ge⸗ 
zecht und gelacht in der zwangloſen Kameradſchaft 
des Kriegerlebens. Doch hier ſchon trat ihm über: 
raſchend deutlich die Thatſache entgegen, daß man 
ihn als eine offizielle Perſönlichkeit auffaßte. 

Es wurden Neben gehalten und Toafte ausge- 
bradt. Manch edler Tropfen güldnen Weines floß 
bie durftigen Kehlen der kriegeriihen Herren hinab. 

„Rohlig, was ift Dir denn heute?” fragte der 
Lieutenant Hagen, der Hafio gegenüber jaß. „Dein 
Glas ift noch immer gefüllt! Menich, haft Du denn 
feinen Durft befommen nad all dem Speftalel und 
Hurrageſchrei?“ 

„Ich habe nicht mitgeſchrieen,“ erwiderte Haſſo 
trocken. „Wie ſoll es mich durſtig machen, wenn 
andere Menſchen ſich die Kehle anſtrengen!“ 

Die Kameraden kannten es an ihm, daß ſein 
ſtets auf der Oberfläche liegender Humor bei ge— 
ſelliger Anregung bald überquellend zum Vorſchein 
kam und ſich bis zu ausgelaſſener Tollheit ſteigerte. 
Heute aber gewahrten fie nidhts davon. Haſſo war 
nicht bei der. Sadıe. 

Nah aufgehobener Tafel trat Schill an ihn 
heran. „Rodlit, Sie haben ja zu Ehren ber 
Magiftratsontels gar feinen Lärm vollführt, was ift 
Shnen denn eigentlih? Y& Jah mich mehrmals 
nah Sihnen um, glaubte jhon, Sie hätten fi 
heimlich aus dem Staube gemadt!” 

„Ih wünjchte mir heute ausnahmsmeije hr 
Lob zu verdienen, Herr Major!” war Haflos rajche 
Antwort, „nun fcheint es mir doch wieder nicht ge- 
glüdt zu fein! Aus dem Staube maden aber 
fönnten wir uns bald! Das dürften die ehriamen Väter 
der Stadt uns nicht verargen! Sie werden es nur 
natürlih finden, wenn wir uns heute abend nod) 
um unfere Schwadronen befümmern!” 

Schill jahb ihn lahend an. „Sie jehen mir 
au gerade jo aus, als zöge Yhr Herz Sie jekt 
noh zu Schwadbron und Kommißdienft! Doch dente 
ih, wir machen hier bald gemeinfam ein Ende und 
beichließen den angebrochenen Abend gemütlich unter 
uns! Hagen hat fi) erboten, den Führer abzugeben. 
Kh darf doch wohl annehmen, daß Sie fich unjerer 
vortreffliden Gefelichaft nicht entziehen werben!“ 

„Sewiß nit, Herr Major! Wenn Sie er: 
lauben, jchließe ih mid Ihnen etwas jpäter an! 
Hagens Schlupfwinkel find mir nicht unbelannt! Ich 
werde Sie wohl auffinden!” 

„Stwas jpäter aljo!” wiederholte der Major. 
„Run, jo amüfteren Sie fih gut bis dahin!” 

Herr von Schill befaß PVeritändnis für die Art 
von Ungeduld, weldhe den anderen heut feine eigenen 
Wege juchen ließ. Auch in feiner Bruft fehlug ein 
beißes, glüdverlangendes Herz, das nach Rofen, nicht 
einzig nur nach dem Lorbeer verlangte. — — — 

Hafjo ging eiligen Schrittes die Straße entlang, 
dem Haufe in der Wilhelmftraße zu, das Leldeggs 
bemohnten. Db fie zu Haufe waren? Gewiß! Sie 


Roman von Hans Werber. 


368 





mußten doch annehmen, daß er heute jchon fäme — 
ihn erwarten! 

Renate! Db fie ihn wiedererlennen würde? 
Ob fie fi verändert? Sechjehn Jahre war fie ge 
weien, als er fortzog, ein halbes Kind noch! Sept 
aljo achtzehn! \ 

D, wie batte er fi auf dies MWiederjehen ge- 
freut! Wenn es ihm doc nur feine Enttäufchung 
bereitete! 

Nein, nein, da glänzte die erhellte Fenfterreibe, 
jo trauli befannt, jo gaftfreundiih! Er flog bie 
Treppe binan und: z0g ftürmilch die Glode, die Thür 
warb geöffnet. Der alte Klaus mit ber gepuberten 
PBerüde ftand vor ihm und erlannte ihn mit einem 
FSreudbenruf. „Ach, unjer Herr Lieutenant! Mein 
Gott — und ein preußiicher Offizier — nad) ber 
ſchrecklich langen Franzoſenzeit! Welch eine Freude! 
— Ob die Herrſchaft den Herrn Lieutenant empfangen 
würde? Aber natürlich doch! Solch eine charmante 
Überraſchung!“ Er trippelte aufgeregt voran, öffnete 
die Thür zum Wohnzimmer und nannte den Namen 
des Gaſtes. 

Ein freudiger Laut von drinnen her antwortete. 
Haſſo trat über die Schwelle. Es war jo hell im 
Gemad nad der Duntelbeit draußen, daß er einen 
Augenblid wie geblendet fand. Yugleih aber be- 
grüßte ihn herzliches Willlommen. „Rochlitz, lieber 
unge, das ift ja prädtig, daß Sie wieder ba find! 
Heil und unverjehrt! Gott fjei Dant!” Es war 
jein väterliher Freund, Oberſtlieutenant Veldegg, 
der ihn bei diefen Worten in die Arme jhloß. 

Jetzt durchſtreifte Haſſos Blick das Zimmer, 
ſpähend, ungeduldig. Julie trat auf ihn zu, ſeit 
kurzer Zeit Frau von Conreuth. Sie war unver⸗ 
ändert hübſch, roſig und ſtrahlend, ein wenig ſtärker 
geworden vielleicht. Mit Herzlichkeit ſtreckte ſie ihm 
die Hand entgegen. „Sieh da, Junker Haſſo! Das 
nenne ich wirklich eine Freude! — Was für ein 
ftattliher Mann Sie geworden find! Haben ordentlich 
ein Geficht befommen! Das hatten Sie früher faum, 
nur ein Baar Augen und einen Mund! ch barf 
Sie wohl mit meinem Manne befannt machen!” 

Hallo 309g lachend ihre Hand an die Kippen. 
„Run, gnädigfte Frau, Mund und Augen find nod 
vorhanden, und beide auf dem alten Fled! Es madt 
mid glüdlich, Thon auf den erften Blid von Shnen 
eine Verbeflerung anerlannt zu hören! — — hr 
Herr Gemahl übrigens ift ja mein alter Belannter! 
Conreuth — ih jah Sie zulegt hHangend und bangend 
in jhmwebender Pein, und jegt —“ 

„sinden Sie mid) wieder als ben Glüdlichiten ber 
Sterbliden und können mir gratulieren!” ergänzte 
Herr von Gonreuth, ihm die Hand fchüttelnd. 

Wieder ging Haflos Auge juhend umher. Da 
wurde die Thür geöffnet, und — fie flog herein. 
„Daflo — lieber Halo!” Der AYubelruf der füßen 
Stimme, die in jeinem Herzen einft jo zärtlichen 
Wiederhall gefunden, Hang an fein Dhr. Renate — 
wirklih. Mit ausgeftredten Händen eilte fie auf ihn 
zu. Plöglih aber verhielt fie den Schritt und ihre 
Arme janten herab. Eine tiefe Rojenfarbe ging über 
ihr Geiiht. E& war, als hätte fich vor ihren Biden 
irgend etwas wie durch einen Zauberichlag verwanbelt. 


ne, 


369. Schwertllingen. 
„Renate, Sie find es wirtlid —!” Hallo ftand 
vor ihr. Er fah die großen, rehfarbenen Augen zu 
fih aufgeichlagen in feuchten Schimmer, mit fragendem 
Blid, er jah die roten Lippen zittern wie in unter: 
brüdter Erregung. Wäre er allein mit ihr gemejen, 
er wäre vor ihr niedergelunten. 

„Renate!“ rief er noch einmal. Sie ftredte ihm 
die Hand Hin, und er beugte fich tief darauf nieder 
und füßte fie mit innigem Ausdrud. 

„Run, mein Töchterhen, Du bift wohl recht 
froh, Deinen Sugendfreund wieder zu haben, friih 
und lebendig, als einen hübjchen, flotten Reiters: 
mann?” Herr von Veldegg war mit biefen Worten 
zu ihnen getreten und legte zärtlich den Arm um 
feine Tochter. 

„Ja, Papa, ib bin froh und alüdlihd. Ych 
fann es noch kaum fallen nad) ber langen Zeit der 
Angft und Sorge!” 

„Haben Sie gejorgt um mid, Renate?” fragte 
Haſſo. Er hielt ihre Hand noch in ber feinen, und 
fie erwiberte die Frage dur einen warmen Drud. 

„Bott jei Dant, daß es vorüber ift!” jagte 
fie leije. 

„Aber nun jeßt Euch, Kinder,” mahnte Herr 
von Beldegg. „Kommen Sie, Haflo, Sie müllen 
uns viel, viel erzählen, wir willen ja jo gut wie 
nichts von Shren Erlebnifjen!” 

„Mit Vergnügen, Herr Oberftlieutenant, alles, 
was Sie befehlen! — Aber — jagen Sie mir nur 
noch eins, Renate,“ er bielt fie gleihlam mit den 
Bliden fell. „Sie waren es, die heute bei unjerm 
Einzuge in der Friedrichftraße am Feniter ftand 
un _M 

„Und Shnen den Rojentranz zuwarf, den Sie 
jo geihidt auffingen! Das fragen Sie, Hallo? Ich 
ftand mit meiner Freundin Elife Rüchel zufammen! 
Haben Sie uns denn nit erfannt?” 

„Sräulein von Rücdhel habe ich nicht gejehen!“ 
ermwiderte Hallo. „Ich Jah nur Sie, Renate, und — 
gewiß babe ih Sie erkannt, obgleih Sie fich jehr 
verändert haben!“ 

Sein Blid umfaßte fie mit einem Ausdrud bes 
Entzüdens. „Lilientnojpe” hatte fie Rahel einft ge: 
nannt. Und jebt war die Lilie erblüht, fo jchlant, 
jo zart und königlich, wie nur je eine in prangenden 
Königsgärten gewahjen. Und auh das Hatte fie 
mit ihrem bolden Ebenbilde gemeinfam, daB ihre 
reinen, jchneeweißen Blätter einen Kelch umjchlofien, 
der wie Feuer glühte. Haflo folgte diefem Gedanken 
und um ihn ber begann die übrige Welt in ein 
wejenlofes Nichts zu verlinken. 


GConreuth trat zu ihm und erfaßte lachend feinen. 


Arm... „Nun kommen Sie zunähft mit den Füßen 
mal wieder auf den Erdboden, mein lieber Rodhlig! 
Wir warten darauf! Hier wohnen auch noch Leute!” 

Hafjo verjuchte fIchlagfertig den nedenden An- 
griff zu parieren. „Reden Sie fih nihts an ben 
Hals, mein verehrter Herr! Entweder im Sattel, ober 
jehr feft auf den Füßen! Und wie Sie wilfen, foger 
auf Feitungsverteidigung verftehen fidh die Schillichen 
Reiter!” 

„Um fo befler für Sie! Vielleicht werden Sie’s 
brauchen können, wer mag das willen!” raunte Herr 


Roman von Hans Werber. 


370 
von Conreuth ihm nedend zu. Und Hallo verjuchte 
ernitlih, den Zauber abzufchütteln, der ihn dem Erb- 
boden entrüdt hatte, 

Es war jpät geworden, ala er endlich ging, 
jeinem Berjprehen gemäß die Kameraden in ihrem 
gemütlichen „Schlupfwintel” aufzufuchen. 


1. 


Der alte Prinz Ferdinand und feine Gemahlin 
waren die einzigen Glieder der Töniglihen Familie, 
welche getreulich in Berlin ausgeharrt und die ganze 
Zeit der feindliden Bejagung darin durchgemacht 
hatten. Da fie fih jehr zurüdgehalten, ängitlich und 
trauernd auf das engfte Familienleben beichräntt, jo 
waren ihnen auh weder von Napoleon no von 
einen Scergen erbeblihe SKräntungen zugefügt 
worden und fie blidten ohne perjönlicde Anklagen 
auf dieje Zeit der Fremdherrihaft zurüd. Dennoch 
war den alten Herrichaften, zumal der Frau Prinzeffin, 
einer ftolzen Hobenzollerntochter aus dem Schwebter 
Haufe, ein Stein vom Herzen, als die Franzojen von 
bannen zogen, und preußiiches Militär in ber Königs: 
ftadt erihien. Preußiiher Trompetenihal, Trommel: 
wirbel, — durftig tranf ihröbr den jo lange entbehrten 
Klang! Thränen der Rührung füllten ihre Augen 
und zum eriten Mal war es ihr wieder, als vermödhte 
ihr Herz Hoffnung zu fallen für ein Wieberaufleben 
von Preußens Größe. Es gab doch noch preußifche 
Soldaten — preußifche Helden! Schill war ja in 
Berlin. en 

„Liebe Neal, ich wünfcdhe meine Salons wieder 
zu öffnen!“ redete fie die freudig überrajchte Ober: 
hofmeifterin an. „Arrangieren Sie eine Empfangs- 
Soiree für morgen abend. Yh will den braven 
Herrn von Schill und fein ganzes Dffizierforps bei 
mir jeben, und alles von ber Hofgejellichaft, was 
fih irgend in Berlin aufhält! — Die Zeit ber 
Trauer war lang und hoffnungslos!” fügte fie mit 
einem Seufzer hinzu. „Set wollen wir wieder an: 
fangen zu hoffen! Und vor allen Dingen, um unfere 
Offiziere ift es mir zu thun! Gie follen jehen, wie 
durch alle Zeiten fi ihr Königshaus mit ihnen eng 
litert fühlt!” 

Gräfin Neal traf die Vorbereitungen zu der be 
fohlenen Soiree mit großer Genugthuung, und die 
Hofgejelihaft ging erfreut darauf ein. Ein Felt bei 
ber Prinzeifin Ferdinand! Es war doch wieder wie 
ein Ahnen kommender beilerer Zeit! 

Mit ftolzer Würde durchichritt die hohe Frau 
die Ihon gefüllten Säle, ihre Gäfte zu begrüßen. 
Sie trug ein langjchleppendes Gewand von jchwarzem 
Sammet und einen jchwarzen Spißenjchleier ilber 
dem filbergrauen Haar, um den Hals einige Föftliche 
PBerlenreihen als einzigen Schmud. Denn noch hatte 
fie die Trauer nicht abgelegt um Prinz Louis, ihren 
berrlichen, älteften Sohn, in welchem fie zugleich den 
Genius von Preußens Macht und Größe beweinte. 

Mit Huldvollem Neigen des Hauptes, bie und 
da gnädig die Hand zum Gruß Hinftredend, fchritt 
fie durch die Reihen der Gäfte. Doch noch juchte ihr 
Blid voll unbefriedigter Erwartung. Da — jebt hatte 
fie gefunden: Major von Schill mit Jeinen Offizieren. 








367 


Major von Schill an der Seite bes Uber: 
Bürgermeiftere Gebeimrat Müller nahm fi gar 
jeltjam aus mit jeinem jungen, wetterbraunen 
Hufarengefiht unter den ernit ehrwürdigen Häuptern 
der Stadt. Vielleicht bätte er lieber wie jonft in- 
mitten feiner Lieutenants gejeflen und mit ihnen ge: 
jeht und gelaht in der zwanglojen Kameradfchaft 
bes Kriegerlebens. Doch bier jchon trat ihm über- 
rafchend deutlih die Thatjache entgegen, dab man 
ihn als eine offizielle Perſönlichkeit auffaßte. 

Es wurden Reden gehalten und Toafte ausge: 
bradt. Mand) edler Tropfen güldnen Weines floß 
die durftigen Kehlen der kriegerifhen Herren hinab. 

„Rohlig, was ift Dir denn heute?“ fragte der 
Lieutenant Hagen, der Hafjo gegenüber ja. „Dein 
Glas ift noch immer gefüllt! Menich, haft Du denn 
feinen Durft befommen nad all dem Speftalel und 
Hurrageſchrei?“ 

„Ich habe nicht mitgeſchrieen,“ erwiderte Haſſo 
trocken. „Wie ſoll es mich durſtig machen, wenn 
andere Menſchen ſich die Kehle anſtrengen!“ 

Die Kameraden kannten es an ihm, daß ſein 
ſtets auf der Oberfläche liegender Humor bei ge- 
jelliger Anregung bald überquellend zum Vorſchein 
kam und ſich bis zu ausgelaſſener Tollheit ſteigerte. 
Heute aber gewahrten ſie nichts davon. Haſſo war 
nicht bei der Sache. 

Nach aufgehobener Tafel trat Schill an ihn 
heran. „Rochlitz, Sie haben ja zu Ehren der 
Magiſtratsonkels gar keinen Lärm vollführt, was iſt 
Ihnen denn eigentlich? Ich fah mich mehrmals 
nach Ihnen um, glaubte fſchon, Sie hätten ſich 
heimlich aus dem Staube gemacht!“ 

„Ich wünſchte mir heute ausnahmsweiſe Ihr 
Lob zu verdienen, Herr Major!“ war Haſſos raſche 
Antwort, „nun jcheint es mir Doch wieder nicht ge: 
glüdt zu fein! Aus dem Staube machen aber 
tönnten wir uns bald! Das dürften die ehrijamen Väter 
der Stadt uns nicht verargen! Sie werden es nur 
natürlih finden, wenn wir uns heute abend nod) 
um unjere Schwadronen befümmern!“ 

SHil jah ihn lahend an. „Sie jehen mir 
auch gerade jo aus, als zöge hr Herz Sie jekt 
no zu Schwabron und Kommißdienft! Doch bente 
ih, wir machen bier bald gemeinjam ein Ende und 
beichließen den angebroddenen Abend gemütlich unter 
uns! Hagen hat fich erboten, den Führer abzugeben. 
Ich darf doch wohl annehmen, daß Sie fich unferer 
vortrefflichen Gejelihaft nicht entziehen werden!“ 

„Sewiß nit, Herr Major! Wenn Sie er: 
lauben, j&liefe ih mich Shnen etwas jpäter an! 
Hagens Schlupfwinfel find mir nicht unbelannt! Ich 
werde Sie wohl auffinden!” 

„Stwas jpäter aljo!” wiederholte der Major. 
„Run, fo amüfieren Sie fih gut bis dahin!” 

Herr von Schill beiak PVerftändnis für die Art 
von Ungeduld, welche den anderen heut feine eigenen 
Wege fuchen ließ. Auch in feiner Bruft flug ein 
heißes, glücverlangendes Herz, das nad) Rofen, nicht 
einzig nur nad) dem Lorbeer verlangte. — — — 

Hafjo ging eiligen Schrittes die Straße entlang, 
dem Haufe in der Wilhelmftraße zu, das Veldeggs 
bewohnten. Db fie zu Haufe waren? Gewiß! Sie 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 


368 





mußten doch annehmen, daß er heute ſchon käme — 
ihn erwarten! 

Renate! Db fie ihn wiebererfennen würde? 
Ob fie fi verändert? Sechzehn Jahre war fie ge 
weien, als er fortzog, ein halbes Kind no! Set 
alſo achtzehn! i 

DO, wie hatte er filh auf dies Wiederjehen ge- 
freut! Wenn es ihm doch nur feine Enttäufchung 
bereitete! 

Nein, nein, da glänzte die erhellte Yenfterreibe, 
fo trauli befannt, jo gaftfreundlih! Er flog die 
Treppe binan und z30g ftürmiich die Glode, die Thür 
ward geöffnet. Der alte Klaus mit ber gepuderten 
Verüde ftand vor ihm und erkannte ihn mit einem 
Freudenruf. „Ah, unjer Herr Lieutenant! Mein 
Gott — und ein preußiicher Offizier — nad ber 
ichredlih langen Franzojenzeit! Weldh.eine Freude! 
— db die Herrjhaft den Herrn Lieutenant empfangen 
würde? Aber natürlih doh! Sol eine charmante 
Überrafhung!“ Er trippelte aufgeregt voran, öffnete 
bie Thür zum Wohnzimmer und nannte den Namen 
des Gaſtes. 

Ein freudiger Laut von drinnen her antwortete. 
Haſſo trat über die Schwelle. Es war ſo hell im 
Gemach nach der Dunkelheit draußen, daß er einen 
Augenblick wie geblendet ſtand. Zugleich aber be—⸗ 
grüßte ihn herzliches Willkommen. „Rochlitz, lieber 
Junge, das iſt ja prächtig, daß Sie wieder da ſind! 
Heil und unverſehrt! Gott ſei Dank!“ Es war 
ſein väterlicher Freund, Oberſtlieutenant Veldegg, 
der ihn bei dieſen Worten in die Arme ſchloß. 

Jetzt durchſtreifte Haſſos Blick das Zimmer, 
ſpähend, ungeduldig. Julie trat auf ihn zu, ſeit 
kurzer Zeit Frau von Conreuth. Sie war unver⸗ 
ändert hübſch, roſig und ſtrahlend, ein wenig ſtärker 
geworden vielleicht. Mit Herzlichkeit ſtreckte ſie ihm 
die Hand entgegen. „Sieh da, Junker Haſſo! Das 
nenne ich wirklich eine Freude! — Was für ein 
ſtattlicher Mann Sie geworden ſind! Haben ordentlich 
ein Geſicht bekommen! Das hatten Sie früher kaum, 
nur ein Paar Augen und einen Mund! Ich darf 
Sie wohl mit meinem Manne bekannt machen!“ 

Haſſo zog lachend ihre Hand an die Lippen. 
„Nun, gnädigſte Frau, Mund und Augen ſind noch 
vorhanden, und beide auf dem alten Fleck! Es macht 
mich glücklich, ſchon auf den erſten Blick von Ihnen 
eine Verbeſſerung anerkannt zu hören! — — Ihr 
Herr Gemahl übrigens iſt ja mein alter Bekannter! 
Conreuth — ich ſah Sie zuletzt hangend und bangend 
in ſchwebender Pein, und jetzt —“ 

„Finden Sie mich wieder als den Glücklichſten der 
Sterblichen und können mir gratulieren!“ ergänzte 
Herr von Conreuth, ihm die Hand ſchüttelnd. 

Wieder ging Haſſos Auge ſuchend umher. Da 
wurde die Thür geöffnet, und — ſie flog herein. 
„Haſſo — lieber Haſſo!“ Der Jubelruf der ſüßen 
Stimme, die in ſeinem Herzen einſt ſo zärtlichen 
Wiederhall gefunden, klang an ſein Ohr. Renate — 
wirklich. Mit ausgeſtreckten Händen eilte ſie auf ihn 
zu. Plötzlich aber verhielt ſie den Schritt und ihre 
Arme ſanken herab. Eine tiefe Roſenfarbe ging über 
ihr Geſicht. Es war, als hätte ſich vor ihren Blicken 
irgend etwas wie durch einen Zauberſchlag verwandelt. 


ö —— —— ——r e — — — — — — — — —— — — — — — 


369 Schwertllingen. 
„Renate, Sie find es wirflid —!” Hallo ftand 
vor ihr. Er jah die großen, rehfarbenen Augen zu 
fih aufgejhlagen in feuchtem Schimmer, mit fragendem 
Blid, er jah die roten Lippen zittern wie in unter: 
drüdter Erregung. Wäre er allein mit ihr gewefen, 
er wäre vor ihr niebergelunten. 

„nenate!” rief er noch einmal. Sie ftredte ihm 
die Hand bin, und er beugte fich tief Darauf nieder 
und füßte fie mit innigem Ausdrud. 

„Run, mein Töchterden, Du bilt wohl recht 
froh, Deinen Yugendfreund wieder zu haben, friih 
und lebendig, als einen hbübichen, flotten Reiters: 
mann?” Herr von Veldegg war mit diefen Worten 
zu ihnen getreten und legte zärtlich den Arm um 
jeine Tochter. Ä 

„Sa, Papa, ih bin froh und glüdlid. Ych 
fann es noch faum fallen nach der langen Zeit der 
Angft und Sorge!” 

„Haben Sie gejorgt um mid, Renate?” fragte 
Hallo. Er hielt ihre Hand nody in der feinen, und 
fie erwiderte die Krage durch einen warmen Drud. 

„Bott jei Dank, daß es vorüber ift!” fagte 
fie leife. 

„Aber nun feßt Euh, Kinder,” mahnte Herr 
von VBeldegg. „Kommen Sie, Hafjo, Sie müflen 
uns viel, viel erzählen, wir willen ja jo gut wie 
nichts von Shren Erlebniffen!” 

„Mit Vergnügen, Herr Oberftlieutenant, alles, 
was Sie befehlen! — Aber — jagen Sie mir nur 
no eins, Renate,” er hielt fie gleichlam mit den 
Bliden fell. „Sie waren es, die heute bei unjerm 
Einzuge in der Friedriditraße am Fenfter ftand 
und —” 


„Und Shnen den Rojentranz zuwarf, den Sie 
jo geichidt auffingen! Das fragen Sie, Haflo? Ich 
ftarnd mit meiner Freundin Elife Rüchel zujammen! 
Haben Sie uns denn nicht erkannt?” 
| „Sräulein von Rüchel habe ich nicht gejehen!“ 
erwiderte Hallo. „Ih Jah nur Sie, Renate, und — 
gewiß babe ih Sie erfannt, obgleih Sie fich ehr 
verändert haben!“ 

Sein Blid umfaßte fie mit einem Ausdrud des 
Entzüdens. „Lilientnojpe” batte fie Rahel einft ge: 
nannt. Und jet war die Xilie erblüht, jo jchlant, 
jo zart und königlich, wie nur je eine in prangenden 
Königsgärten gewadhien. Und aud das hatte fie 
mit ihrem holden Ebenbilde gemeinfam, daß ihre 
reinen, jchneeweißen Blätter einen Kelch umichloflen, 
der wie Feuer glühte. Hafjo folgte diefem Gedanken 
und um ihn ber begann die übrige Welt in ein 
wejenlojes Nichts zu verlinken. 


Conreuth trat zu ihm und erfaßte lachend feinen. 


Arm.. „Nun tommen Sie zunädhit mit den Füßen 
mal wieder auf den Erdboden, mein lieber NRochlit! 
Wir warten darauf! Hier wohnen audy noch Xeute!” 

Haffo verfuchte jchlagfertig den nedenden An- 
griff zu parieren. „Reden Sie fih nihts an ben 
Hals, mein verehrter Herr! Entweder im Sattel, oder 
jehr feft auf den Füßen! Und wie Sie willen, fogar 
auf Feltungsverteidigung verjtehen fidh die Schillihen 
Reiter!” 

„Um fo befjer für Sie! Vielleiht werben Sie’s 
brauchen können, wer mag das willen!” raunte Herr 


Roman von Hans Werder. 


370 
von Conreuth ihm nedend zu. Und Haflo verjudte 
ernitlih, den Zauber abzufchütteln, der ihn dem Erb- 
boden entrüdt hatte. 

Es war Ipät geworden, als er endlich ging, 
jeinem Berjpreden gemäß die Kameraden in ihrem 
gemütliden „Schlupfwintel” aufzufuchen. 


I. 


Der alte Prinz Ferdinand und feine Gemahlin 
waren die einzigen Glieder der königlichen Familie, 
welche getreulih in Berlin ausgeharrt und die ganze 
Zeit der feindliden Belakung darin durchgemacht 
hatten. Da fie fih jehr zurüdgehalten, ängftlich und 
trauernd auf das engite Familienleben beichräntt, jo 
waren ihnen au weder von Napoleon noch von 
einen Scergen erheblihe SKräntungen zugefügt 
worden und fie blidten ohne perlönlide Anklagen 
auf diefe Zeit der Fremdherrfchaft zurüd. Dennoch 
war den alten Herrihaften, zumal der Frau Prinzelfin, 
einer jtolzen Öobenzollerntodhter aus bem Schwebter 
Haufe, ein Stein vom Herzen, als die Franzojen von 
dannen zogen, und preußilches Militär in der Königs- 
ftadt erihien. Preußilcher Trompetenihal, Trommel: 
wirbel, — duritig trant ihröbr den fo lange entbehrten 
Klang! Thränen der Rührung füllten ihre Augen 
und zum eriten Mal war es ihr wieder, als vermödhte 
ihr Herz Hoffnung zu faflen für ein Wiederaufleben 
von Preußens Größe. Es gab do noch preußilche 
Soldaten — preußifhe Helden! Schill war ja in 
Berlin. — 

„Liebe Néal, ich wünſche meine Salons wieder 
zu öffnen!“ redete ſie die freudig überraſchte Ober⸗ 
hofmeiſterin an. „Arrangieren Sie eine Empfangs⸗ 
Soiree für morgen abend. Ich will den braven 
Herrn von Schill und ſein ganzes Offizierkorps bei 
mir ſehen, und alles von der Hofgeſellſchaft, was 
fih irgend in Berlin aufhält! — Die Zeit ber 
Trauer war lang und hoffnungslos!” fügte fie mit 
einem Seufzer hinzu. „Sebt wollen wir wieder an- 
fangen zu hoffen! Und vor allen Dingen, um unfere 
Offiziere ift es mir zu thun! Sie jollen jehen, wie 
durch alle Zeiten fi ihr Königshaus mit ihnen eng 
liiert fühlt!” 

Gräfin Neal traf die Vorbereitungen zu der be 
fohlenen Soiree mit großer Genugthuung, unb Die 
Hofgefelichaft ging erfreut darauf ein. Ein Seit bei 
der Prinzejfin Ferdinand! Es war doch wieder wie 
ein Ahnen kommender beflerer Zeit! 

Mit ftolzer Würde durchichritt die hohe Frau 
die Ihon gefüllten Säle, ihre Gäfte zu begrüßen. 
Sie trug ein langichleppendes Gewand von jchwarzem 
Sammet und einen jchwarzen Spitenjchleier über 
dem filbergrauen Haar, um den Hals einige köftliche 
Perlenreihen als einzigen Schmud. Denn noch hatte 
fie die Trauer nicht abgelegt um Prinz Louis, ihren 
berrlidden, älteiten Sohn, in mweldem fie zugleich den 
Genius von Preußens Macht und Größe bemeinte. 

Mit Huldvollem Neigen des Hauptes, bie und 
da gnädig die Hand zum Gruß binftredend, jchritt 
fie durch die Reihen der Gälte. Doch noch Juchte ihr 
Blid vol unbefriedigter Erwartung. Da — jet hatte 
fie gefunden: Major von Schill mit jeinen Offizieren. 








371 Schwertllingen. 
Ein Leuchten ging über das jchöne alte Gefidht. 
Sie blieb ftehen und firedte beide Hände dem ge: 
feierten Helden entgegen. „Herr von Scdill, ber 
Held, der Retter unferes Baterlandes! Seien Sie 
mir taufendmal willlommen!” 

Betroffen, fat erjchredt prallte Schill zurüd. 
„Eure Königliche Hoheit halten zu Gnaden — nein, 
folhe Worte verdiene ich nicht! Meine armieligen 
Dienste —” abbredend, wie in Beihämung, beugte 
er fich tief über die Hände ber fürftlichen Frau. 

„Eh bien — wir wiflen, was wir Shnen zu 
danken haben, mein lieber Herr von Schill! Seine 
Majeftät der König und unfere geliebte Königin jo 
gut wie wir alle!” 

Sdill verneigte fihd — ftumm wie immer, wenn 
zu ihm von der Königin gejprohen ward. Denn 
der Enthufiasmus, der für die angebetete Herrin in 
jeinem Herzen glühte, entzog fich menjchlicher Sprade. 

„Und dies find Ihre tapferen Mitlämpfer aus 
der Kolberger Ruhmeszeit?” fuhr die Prinzelfin 
gütig fort. „Nennen Sie fie mir alle, Herr von Schill! 
Ich will jeden einzelnen wiflen und Tennen!” 

Nacdeinander ftelte der Major feine Offiziere 
vor, oft einige erläuternde Worte der Namensnennung 
zufügend. Für jeden hatte die Prinzeifin bulbvolle 
Worte und einen Hänbdedrud. 

Als der Name Rodhlig ihr Ohr berührte, ſchrak 
die Prinzeffin zufammen. „Ein Rodlig war während 
des Feldzuges in der Suite meines Sohnes —” 

„Bu Befehl, Königliche Hoheit! Ich hatte Die 
. Ehre und das große Glüd!” Ein Blid begegnete 
dem ihren, jo vol tiefen Schmerzes, daß es ihr 
wunderbar durchs Herz ging. 

„Oh! — Und find Sie denn in der Schladt 
meinem Sohne zur Seite gewelen?” 

„Zu Befehl!” Hang feine kurze Antwort. Er 
jentte Kopf und Blid. Es war ihm qualvoll, mitten 
in diejem Feftesgewühl von jener Nachiftunde jeines 
Lebens reden zu follen. 

Der Blid der trauernden Mutter aber baftete 
auf der fingerbreiten Narbe, die wie eine Pflüger: 
furde unter dem dichten Haar zu verfolgen war. 
„Herr von Rodhlig, find Sie etwa jener Hujaren- 
offizier, der auf dem Schladhtfelde —” auch fie hielt jett 
inne, denn ihre Stimme ward unfider. Haflo Ichwieg. 

„Jamwohl, Königliche Hoheit, er war es, Der 
bier gemeint ift!” bejtätigte Schill für ihn. 

„D mein Gott!” feufzte die Prinzeifin. Und 
dann nad) Turzer Pauje. „Herr von Rodlig, bier 
fönnen wir nicht darüber fprehen! Kommen Sie 
morgen zu mir, gegen zwölf Uhr mittags! Geben 
Sie Befehl, liebe Neal, daß er mir fogleich gemeldet 
wird!" Mit Wärme reichte fie ihm die Hand zum 
Kufle, und Haflo trat zurüd. 

„Sraf Püdler, von Bismard, Graf Moltte, von 
Brünnow, von Bornftedbt” — alles Namen von gut 
befanntem Klange. 

„Herr Albert von Wedel!” ftellte der Major 
weiter vor. 


„Sin Wedel war doch fon bier? Brüder 
vielleicht?” fragte die Prinzejfin. 
„zu Befehl, Königliche Hoheit! Webell I ift 


mein Bruder, wir find beide aus Braunsforth!“ 


Roman von Hans Werber. 


372 


„Sreut mi, freut mi — aber Herr von 
SHhil, haben Sie denn aud) Knaben unter Yhrer 
tapferen Schar! Wie alt find Sie wohl, mein lieber 
Wedell?“ 

Das jugendliche Antlitz, allerdings noch bartlos, 
weich und faſt zart gefärbt, erglühte in Unwillen 
und Beſchämung. 

„Eure Königliche Hoheit halten zu Gnaden, ich 
bin neunzehn Jahre alt! Wir Wedells ſehen oft 
jünger aus als wir ſind!“ 

„So — nun, laſſen Sie ſich meine Frage nicht 
kränken!“ lächelte ſie gütig. „Um ſo größer der 
Ruhm, in ſo jungen Jahren ſchon zu den Kriegern 
des Schillſchen Korps zu zählen!“ 

Als die Vorſtellung der Herren beendet, überflog 
das Auge der hohen Frau noch einmal die ſtattliche 
Reihe mit Wohlgefallen. 

„Unſere liebe Jugend hat lange, lange Frohſinn 
und Tanz entbehrt! Ich hoffe, mit unſeren flotten 
Offizieren wird beides zurückgekehrt ſein. — Das 
Schillſche Korps wird ſich im Ballſaal zu behaupten 
wiſſen wie im Sattel und vor dem Feinde!“ Sie 
lächelte, grüßte und ſchritt hoheitsvoll weiter. 

Wie eine ſchillernde, glänzende Woge aber um—⸗ 
rauſchte es jetzt von allen Seiten die Helden des 
Tages. Seber wollte” fie tennen lernen, fprecden, 
ihnen die Hände drüden. Den fürlorglic bedacdhten 
Müttern gingen die Augen über beim Anblid all diefer 
jungen Kavaliere, unter denen noch fein einziger — 
bis zum Kommandeur hinauf — in ehelichen Banben 
gefellelt war. Den Mädchen aber jchlug das Herz 
höher bei dem Gedanken, von einem der Schillihen 
Reiter auch nur zum Tanze geführt zu werben. 
Mit Enntſchloſſenheit bahnte ſich Haſſo durch 
dieſen Wall der Huldigungen einen Weg in freies 
Fahrwaſſer. Er hatte ſeine weiße Lilie mit dem 
güldenen Herzen von weitem erblickt und alles, was 
es ſonſt noch im Saale gab, erſchien ihm wie 
Hinderniſſe und überflüſſige Staffage. 

Da ſtand ſie in weißem Seidenkleide, das ein 
goldener Gürtel um die feine Taille zuſammenhielt. 
Das dunkle Haar wellte ſich leicht um die weiße 
Stirn, am Hinterkopf hoch in einen antiken Locken⸗ 
knoten zuſammengefaßt. 

„Sieh nur, Eliſe, das iſt er, der da eben auf 
uns zukommt!“ flüſterte ſie erregt, leiſe den Arm 
der Freundin berührend. „Hat er ſich nicht unge⸗ 
heuer verändert? So breit iſt er geworden, der 
Schnurrbart ſo lang — und das Geficht ſo voller 
Narben!“ 

„Gewiß, mein Herz! Du haſt allen Grund, 
ſtolz auf ihn zu ſein!“ erwiderte Eliſe mit einem 
warmen Blick auf das ſtrahlende Geſicht der Freundin. 
Dieſe lächelte jetzt dem Ankommenden den ſonnigſten 
Gruß entgegen. 

„Guten Abend, Renate! Haben Sie den erſten 
Tanz noch für mich frei?“ war Haſſos atemloſe Frage. 

„O gewiß, ſeien Sie unbeſorgt! Sieh, Eliſe, 
hier iſt er!“ 

Eliſe von Rüchel war ein wenig älter als 
Renate, ein ſchönes Mädchen von kräftig ſchlanker 
Geſtalt, mit aſchblondem Haar und einem feſten, 
klaren Blick in den hellblauen Augen. 


|, 


373 Schwertklingen. 

„Darf ich hoffen, daß Sie fih meiner nod er: 
innern, gnädiges Fräulein?” wandte Hafjo fich ihr 
lebhaft zu. 

„Ganz gewiß! Auf den erften Blid, jchon neulich 
beim Einzuge erfannte ih Sie!” verfiherte fie 
freundlich. 

„Rein, nein, auf den allererften Blid babe nur 
ih ihn erlannt!” behauptete Renate. „Du fahft ihn 
erit, als ich ihn Dir zeigte! Geftehe es ein, Elije!“ 

Haflo Heftete einen kurzen, brennenden Blid 
auf fie. Zhr Anblid, das Sintereffe, welches fie ihm 
entgegenbradhte, erfüllten ihn mit einem Entzüden, 
das im Ungeftüm der Steigerung ihn faft über: 
wältigte. Wie konnte nur ein Menichenkind auf 
Erden jo über alle Beichreibung Holdjelig jein! Und 
gegen ihn jo engelbaft liebreih und füß, ihn, den 
fein Menich jonft Tieb gehabt! Sein Herz jhwoll 
über in dem Gefühl, als follte es ihm die Bruft 
Iprengen! Wie heißer Sübmwind ging es über einen 
eisgefeflelten Strom. Wohin mit all ber über: 
Ihäumenden Flut?! 

Sept ftimmten die Geigen den erften Walzer 
an. So viel Befinnung hatte er noch gerade, Fräulein 
von NRücdhel um den nädfifolgenden Tanz zu bitten, 
dann 309 er Renate in feinen Arm und flog mit 
ihr in den Wirbel des Tanzes hinein. Ein wenig 
außer Atem Tehrte fie zurüd. Eine kurze, knappe 
Berbeugung, damit ließ er fie auf ihren Plaß gleiten 
und trat an ihre Seite. 

„Stürmen jo die Schillihen Reiter auf den 
Feind wie zum Tanze, dann wundert es mich nicht, 
wenn ber Sieg ben Hufen ihrer NRoffe folgt!” Renate 
Iprah es lächelnd und mit bem eigentümlich me: 
lobifhden Klang ihrer Stimme, der fich durch lauteftes 
Getöje hindurch geltend machte. 

Ein Offizier, der in ihrer Nähe ftand, drehte 
fih jchnell herum, er hatte die Worte gehört. „Wer 
find bie beiden Damen?” flüfterte er Hallo zu. 

„Die beiden Ichönften Mädchen von Berlin, 
Fräulein von Veldegg und Fräulein von NRüchel!“ 

„zochter des Generals?” 

„Jawohl!“ 

„Bitte, ſtellen Sie mich vor!“ 

„Herr Major von Schill!“ 

Renate ſprang auf, ihr Geſicht erglühte. „Darf 
ich um einen Tanz bitten, mein gnädiges Fräulein?“ 
fragte der Gefeierte einfach. 

„Einen Tanz — Major Schill, — iſt das 
nicht zu viel für ein ſterbliches Menſchenkind?“ und 
ſie blickte zu ihm auf wie zu einem aus Walhall 
herniedergeſtiegenen Helden, deſſen Stirn der Lor— 
beer der Unſterblichkeit krönt. 

Er ſah ſie an mit dem aufſprühenden Blick 
ſeiner ſchwarzen Augen. „Ich wünſchte, die jungen 
Damen, welche die Gnade haben wollen, mit mir 
zu tanzen, ſprächen nicht in ſolchem Ton zu mir! 
Seien Sie doch barmherzig — was ſoll ich denn 
darauf antworten?“ 


Roman von Hans Werder. 


374 


„Sie haben gar nichts darauf zu antworten,” 
erwiderte Renate mit unverminderter Wärme, doc) 
in leihterem Ton. „Der Ruf Ihres Namens er: 
lingt wie Trompetenihal dur die Welt! Die 
Shnen bier entgegengebradhten Huldigungen find nur 
die Antwort darauf!“ 

„Aber es ift die rechte Antwort nicht!” rief 
SHhil. „Man madht zu viel aus mir!” *) 

Wie ehrlih das Hang! Die überzeugungsvolle 
Wahrhaftigkeit eines ganzen Mannes. 

Ssebt beftete Elife Rüchel ihren Maren, forjchen- 
den Blid auf ihn. Sie war fo enthufiaftiicher Be: 
geifterung nicht fähig wie ihre jüngere Freundin. 
Aber diefe Äußerung des vielbewunderten Mannes 
berübrte fie mit tieffter Sympathie. 


„Man wird hnen diejes Wort nicht glauben, 
Her von Schill,” jagte fie janfl. „Wir find 
ja jo glüdlih, wir armen Preußen, endlich) wieder 
einen Helden zu haben, für den wir ung begeiftern 
können!“ 

„Es iſt aber ſehr ungünſtig für mich,” er: 
widerte der Major, „wenn man mir jetzt nicht glaubt 
und ſpäter vielleicht ſelber dahinterkommt! — Aber 
Sie, Fräulein von Rüchel, nicht wahr, Sie glauben 
mir? Zu Ihnen paßt die Begeiſterung nicht!“ 

Freundlich erwiderte Eliſe ſeinen ernſten Blick 
und lachte ein wenig. „Ich würde als eine ſchlechte 
Patriotin erſcheinen, wenn ich Ihnen — ſchon heute 
— ſolchen beſcheidenen Wunſch verſagte! Alſo, ich 
will Ihnen glauben und alle Begeiſterung beiſeite 
laſſen!“ 

„So, Herr Major, jetzt ſteht Fräulein von Vel— 
degg als ſchlechte Patriotin da, weil ſie ſich für 
meinen Regimentskommandeur begeiſtert!“ warf Haſſo 
dazwiſchen. „Das kann ich mir als guter Schill⸗ 
Huſar nicht gefallen laſſen!“ 

„Ach, Haſſo, jetzt fangen Sie auch noch an!“ 
wehrte ſich Schill. 

„Ja, Herr von Schill, er hat aber recht, mir 
beizuſtehen!“ erklärte Renate. „Sie haben mich mit 
meiner Begeiſterung jämmerlich abblitzen laſſen. Wie 
verſchaffe ich mir dafür Genugthuung?“ 

„Es wird Ihnen daran nicht fehlen!“ ent—⸗ 
gegnete Schill mit einem Schatten von Befangenheit. 
„Vorläufig bitte ich um mein gutes Recht, gnädiges 
Fräulein! Der Tanz, den Sie mir gütigft ge- 
währten, bat begonnen!” Und fo wiberfuhr dem 
begeilterten Mädchen wirklih das Unfaßliche, mit 
dem Helden von Kolberg eine Mazurla tanzen zu 
dürfen. 

War es das Bemwußtjein diejes Vorzugs, oder 
ward ihr ein anderes, tieferes Glüd gegenwärtig 
— Renate date an diefen Abend zurüd wie an 
den Aufgang eines neuen großen Glanzes, der fid 
fortan über ihr Leben breiten jollte. 


H) Schills oft wiederholtes Wort, 


(Fortſetzung folgt.) 


—,— — — - 








875 Ohne Gott. 


Obne 


Roman von €. Karl. 


376 


Gott! 


Roman 


bon 


€. Karl. 
(Fortfegung und Schluß.) 


So jagen fie eines Sonntags beim Nachmittags: 
taffee und Schmicber fuchte fie zu einem Spasier: 
gange zu überreden. Sie wäre jebt gern mit ihm 
gegangen, aber fie konnte fich jo jchwer entichließen, 
das Kind allein in der Wohnung zu laflen, und ben 
Kinderwagen binter fich berzuziehen, wollte ihr Hans 
nicht geftatten. Er that fich gelegentlich etwas darauf 
zu gut, ein Arbeiter zu fein, liebte es aber, berren- 
mäßig aufzutreten. 

Während fie noch miteinander bebattierten und 
der Ton auf beiden Seiten jchon gereizt zu werben 
begann, Hopfte es und Frau Köhler trat ein. Alma 
begrüßte die einfache Frau herzlich, fie war ihr ftets 
ein bilfreiher Engel geweien und hatte auch während 
ihrer langen Krankheit das Hauswejen wenigftene 
etwas in Ordnung gehalten, jomeit e& ihre ftarf be- 
jegte Zeit geitattele. Man jah es der Frau jchon 
am Gefiht an, daß etwas Außerorbentliches fie be- 
ihäftigte und es bedurfte faum einer Frage Schmiebers, 
um ihr da® Herz auf die Zunge zu bringen. 

„Sie haben fie gefunden, fie haben Du ge: 
ftohlenen Saden gefunden,” rief fie. 

„Welche geitohlenen Sachen?“ fragten Hans 
und Alma wie aus einem Munde. 

„Uhr und Portemonnaie vom Herrn Wahrholm,” 
rief die Frau, „nun willen die Herren, daß mein 
Mann ehrlich ift, ich hab’ nie daran gezweifelt.” 

„Wo find die Sadhen gefunden?” fragte ber 
Dann. 

„Bor der Stadt, ganz auf ber andern Seite 
wo wir wohnen,” rief Minna. „Der Dieb hat bas 
Geld aus dem Portemonnaie genommen, es find gegen 
hundert Mark drin gewejen, hat die doppelten goldenen 
Dedel von der Uhr abgebrochen und das leere Porte- 
monnaie und das Uhrwerk in eine Zeitung gemwidelt 
und in einen Haufen mit Baufchutt geftedt. Da ift 
es geitern beim Abfahren des Schuttes gefunden und 
im Portemonnaie hat no eine Vifitenkarte geitedt 
und die Zeitung ift von dem Tage gemweien, wo mein 
Mann den Herrn geftohen bat. Der Herr bat fie 
in der Taiche gehabt und fih was rot angeltrichen 
zum Borlejen.“ 

„Welches Glüd,” rief Alma, „baß die Wahrheit 
noch vor Thoresichluß zu Tage kommt, das Schwur: 
gericht tritt ja in einigen Wochen zulammen und noch 
einmal wäre die Sade kaum vertagt.” 

„Rein, fie wäre jekt zum Sprud gelommen 
und Köhler wegen verfuhten Raubmorbes angellagt 
worden, der Herr Unteriuhungsrichter hat es mir 
gelagt. Er ließ mic) heute früh rufen, um mich noch 
einiges zu fragen. Köhler ift gleich nach feiner That 
zu uns gelaufen, das ftand ja fef, er fam fchon vor 
neun Uhr. Wäre er erft an der Ablabeftelle ge: 


weien, fo hätte er eine Stunde mehr gebraucht. Ad, 
Alma, ih fann ja dem lieben Gott nicht genug 
banken, daß er die Wahrheit an ben Tag gebracht 
hat. Mein Mann bat ja fchlecht, fehr fjchlecht ge: 
banbelt, aber wenigftens nicht gemein. Wenn er nun 
aus dem Zuchthaufe wieberlommt, brauch’ ich mid) 
doch nicht fo für ihn zu fchämen, als wenn die Leute 
bäcdhten, daß er geraubt und geftohlen hätt! — nun 
bat er doch wieder feinen ehrlihen Namen.“ 

„Und bat man feine Ahnung, wer ber Ruchlofe 
war, der einen fcheinbar Sterbenden berauben konnte, 
ftatt Hilfe herbeizurufen?” fragte Schmiebder. 

„Keine Ahnung hat man,” jagte die Frau, „aber 
das ift mir auch ganz egal, der liebe Gott wird ihn 
ihon finden und trafen.” 

Schmieber lächelte fpöttifih, und Alma nötigte 
die Nachbarin, eine Taffe Kaffee zu trinken. 

Nah und nah kam die Rebe in ein rubigeres 
Fabrwaller und Stlein- Hanna mußte den Geipräd: 
ftoff hergeben. Frau Köhler hielt ihr die Finger in 
lebhafter Bewegung vor das Gefiht und fchüttelte 
ben Kopf, als die Kleine e8 gar nicht zu bemerken jchien. 

„Richt wahr,” nahm Schmieder das Wort, „Sie 
wundern fih aud, daß bie Kleine noch nichts wahr: 
nimmt. Mein Tleiner Paul wurde nur jehe Wochen 
alt, aber er war entichieden weiter.” 

„Du möchtet wohl, die Kleine jolle fi allein 
aufrihten und ‚Papa‘ jagen,” jcherzte Alma, aber 
der Scherz fam nicht redht von Herzen, eigentlich 
ärgerte fie fih, daß man ihr jüßes Kindchen nicht 
außergewöhnlich vorgejchritten fand.” 

„Das Kleinen wird doch nicht blind jein?“ 
meinte Frau Köhler bejorgt. 

„Nein,“ antwortete Schmieder, „blind ift 
Sannden glüdlicherweije nicht, als ihr neulich ein 
greller Lichtftrahl plöglich ins Auge fiel, zudten die 
Kider, aber fie ift merfwürdig teilnahmlos.“ 

„Das Kind ift außerordentlich ruhig,“ entichied 
Alma, „und das ift ein Glüd für mid, da ich feine 
Bedienung halten kann.” 

„Run, fo mad’ Dir feine Ruhe wenigftens zu 
nuge und entichließe Dih zu einem Spaziergange, 
die Kleine liegt ja ftundenlang ohne fi} zu rühren,“ 
bat Schmieder. 

Alma zögerte noch, aber Frau Köhler Ichaffte 
Nat. „Geben Sie mir das Kindchen mit hinunter, ich 
gehe heute nicht mehr aus, da kann es ruhig auf meinem 
Bett liegen und ich fie mit der Handarbeit daneben.” 

Das war ein annehmbarer Borihlag. Alma 
fuhte jchnell alles Erforderlihe für die Pflege des 
MWürmdens zufammen, und Frau Köhler verließ mit 
ihrer leichten Bürde die Wohnung. 

Sn der ihrigen angelommen, blidte fie lange 





377 Ohne Gott. 
und traurig in bie ftarren, ausdrudslofen Augen ber 
Kleinen und fuhr prüfend mit der Hanb über ben 
ungewöhnlich großen Kopf. „Armer Wurm,” jprad) 
fie dann befrübt vor fi bin, „Du wärft auch befier 
nicht zur Welt geflommen. Ych fürdhte, Deine Eltern 
werden wenig Freude an Dir erleben.” 

Sie bettete das Kind warm und weich und jete 
fih mit dem Stridzeug an das Fenfter, um bald in 
tiefe Gedanten zu verfinten. — — — 

Alma räumte das Kaffeegerät zujammen und 
madte fih zum Ausgehen fertig. Sie juchte einen 
recht eleganten Hut hervor, den Schmieder ihr im 
vorigen Sommer gleih nad ihrer Vereinigung ge: 
Ichenft und der fie damals ganz außerordentlich gut 
gelleidet hatte. Sie nahm auch basjelbe anjchließende 
Sädchen zur Hand, aber jest, nun fie bas befannte 
Bild wieder aus dem Spiegel anjah, wurde ihr recht 
Har, welhe Veränderung diefes eine Sahr in ihrem 
Äußeren bervorgebradht hatte und ihre gute Laune 
war fort. Statt des janften Dvals zeigte ihr Ge: 
fiht langgezogene Linien und das zarte Rot ber 
Wangen war verblichen. Die Veränderung war nad) 
der jchweren Krankheit ganz natürlich und bei ihrer 
Yugend hätten wenige Wochen der Pflege und Ge- 
mütsruhe bingereicht, alles Verlorene wieder einzu: 
bringen. Zubem war fie nit einmal unkleidjam, 
das Gefiht jah reifer und durchgeiftigter aus. Aber 
Alma jahb nur die Veränderung und dachte nichts 
anderes als: Wie lange wird e8 noch dauern, bis 
ih ganz häklih bin und Hans mich verläßt. Und 
mit diefem Gedanten kam wieder die alte wahn: 
finnige Angjt über fie und fie zitterte innerlich, während 
fie äußerlich den Mund zu einem Lächeln zwang. 

Die Thürglode wurde gezogen und Hans, ber 
bereits fertig war, öffnete. SChereje ftand im Thür: 
rahmen und blidte lächelnd um fih. Sie war immer 
noh am Drt, niemand wußte weshalb, denn ihr 
Engagement an der Specialitätenbühne hatte bereits 
vor drei Monaten jein Ende erreicht. 

„Ih will mid ausruhen und meine Eriparnifle 
verzehren,” äußerte fie auf Befragen, es war aber 
fonderbar, daß fie zu diefem Zmwed den Sommer in 
ber beißen Großftabt blieb. 

- „Ste bleibt um meines Hans willen, fie legt 
es darauf an, meine Nachfolgerin zu werben,” fagte fich 
Alma heimlich und brennende Eiferjudt flieg wie ein 
Feuer in ihr auf, das alle beileren Regungen verzehrte. 

„Nun, das nenne ich eine Überrafhung,“ rief 
Hans freudig, indem er der Eintretenden die Hände 
Ihüttelte. „Seien Sie herzlich willfommen.” 

Auch Alma trat hinzu und reichte dem Gaft die 
Finger, aber die Begrüßungsmworte blieben ihr in 
der Kehle fteden. 

„Ih Tomme nicht, um bier zu bleiben,” begann 
Therefe, „das Wetter ift herrlich, nicht zu heiß, nicht 
zu falt, da wäre ein Beluch des Gartenkonzerts auf 
Steffenshöhe anzuraten.” 

„samos,” rief Schmieder, „meine Frau war in 
diejem Sommer noch) in feinem Gartenlonzert, wir 
tommen mit.” | 

Auf Almas Herz jentte fih eine jchwere Lat. 
Sie hatte gehofft, mit Hans einen jchönen Spagier: 


RomanzZeltung 1896. 


Roman von €. Rarl. 





313 


gang, vielleicht mit einer Heinen Rafl in einem Bier: 
garten maden zu dürfen und frühzeitig wieber heim 
zu fein. Nun würde fie bis elf Uhr auf Steffens: 
höhe figen und zujfehen müflen, wie Hans Therefen 
die Cour fchnitt. Sie legte es jedesmal darauf an 
und er that ihr ben Gefallen. „Nur zum Scherz,” 
pflegte er zu jagen, aber wie leicht konnte aus dem 
Scherz Ernft werben. oo 

Dazu ihre äußere Ericheinung. Almas Garbe- 
robe war gut und geihmadvoll gewählt, fie hatte als 
Schhneiderin Erfahrung darin, aber die Kleider waren 
ausnahmslos vom vorigen Sahr. Therefe dagegen 
firahlte auch heute wieder in bochmoderner Toilette, 
die in geradezu ftudierter Weile ihrer Eigenart an: 
gepakt war. Sie jah blendend aus und ein gemwiller 
Stih ins Naffiniert:Pilante, der nah Halbwelt 
Ichmedte, war für Schmieder, als Gegenjag zu feiner 
bürgerlich ehrbaren „Frau“ nur ein Reiz mehr. 

Am Garten von Steffenshöhe waren bei ihrer 
Ankunft die beiten Pläte bereits bejeßt und Alma 
fteuerfe in einem Gefühl der Erleichterung dem abge 
legeneren Gartenteil zu, aber Thereje rief entjchieben: 
„Nein, im Wintel fige ich nicht,“ beauftragte einen 
Kellner, recht im Mittelpunkt des Gartens einen Extra: 
th für fie zu ftelen und unterftügte den Munich 
mit einem beimlihen Xrintgeld. 

Da jagen fie nun, recht wie auf dem Präjen- 
tierteller, und es dauerte nicht lange, jo fanden fi 
aud ein paar junge Yebemänner dazu, bie den Stern 
der Specialitätenbühne erfannt hatten. 

Schmieder mit feinem Anftand, feiner gebildeten 
Sprahe und guten Kleidung ‚behauptete fi voll- 
fommen in dem Kreife, der hinter dem vorgeftellten 
„Heren Schmieder” wohl alles andere eher als einen 
Arbeiter vermutete. Alma juchte ihre Befangenheit 
zu bemeiftern, um nicht nachträglich von Hans wegen 
albernen Benehmens ausgefcholten zu werben, fie be: 
mübte fih, an der Unterhaltung teilzunehmen, ob: 
wohl der leichtfertige Ton derjelben fie abftieß. 

Der erponierte PBlah freilih war ihr gräßlich, 
aber die Duntelheit begann fich einzuftellen und die 
bunten Ölasgloden der Zampen verhießen eine minder 
blendende Beleudtung, als fie Frau Sonne ihnen 
bisher hatte angebeihen lafien. 

Da trat wieder ein Herr zu ihrem Tiih und 
bat um die Erlaubnis, fih einen Stuhl bazujegen 
zu dürfen. Der Zufall führte ihn neben Alma, die 
mit Entiegen den Sohn einer wohlhabenden Familie 
erfannte, bei der fie früher gearbeitet hatte. Eine 
Weile hatte er nur Augen für Therefe; dann aber 
wenbete er fih an Alma, die er fofort erfannte. Sie 
hatte in dem jchlicht bürgerlichen Haushalt jeiner 
Eltern oft im Familienzimmer gearbeitet, und der 
junge Mann, dem das hHübfhe Mädchen geftel, 
wiederholt den vergeblihen Verfuh gemadht, fie nad) 
Haufe zu geleiten, oder in ein Neflaurant zu führen. 

„Ab — Fräulein Liedle — fieht man Sie aud) 
einmal?” begrüßte er fie. „Das iftja darmant — find 
diefen Winter nirgend zu jehen gewejen, mein |chönes 
Fräulein — babe immer vergeblich darauf gehofft.“ 

Alma erglühte bis unter die Saarwurzeln und 
preßte die Lippen zujammen, es lag bei aller Ga: 


IV. 27 


379 Ohne Gott. 

lanterie eine gewifle Nichtachtung in feinem Tone. 
Scämieder glaubte ihr zu Hilfe fommen zu müflen. 
„Meine Frau,” jagte er an ihrer Stelle mit Be: 
tenung, „ilt lange Zeit frank geweien, jegt aber zu 
meiner Freude wieder ganz mwohlauf.” 

„ah“ — madte der andere — „die Herriaften 
find verheiratet — bitte um Entichuldigung, ‚gnädige 
Frau‘,“ und dabei verzog er das Gelicht jo jpöttiich, 
legte auf die Worte ‚gnädige Frau‘ eine jo bejondere 
Betonung, daß Alma fie ald Beleidigung empfand. 
Er war augenicheinlich in die Verhältniffe volllommen 
eingeweiht. 

Auh Schmieder fühlte den Hohn Heraus und 
fein Gefiht rötete fi vor Zorn. Aber er mußte 
Ihweigen. Die Morte enthielten Teine Beleidigung 
und den Ton durfte er nicht kritifieren, er hatte ihn 
ja berausgefordert. Auch ignorierte ihn der junge 
Mann — ein Gerichtsreferendar Langenbah — als ob 
er Luft ſei. 

Langenbach wünſchte augenſcheinlich von Thereſe 
ganz beſonders beachtet zu werden und in ſeinem 
Zorn beſchloß Schmieder, den ziemlich unanſehnlichen 
Mann bei ihr aus dem Sattel zu heben. Er rückte 
plötzlich noch näher an ſie heran und begann, un—⸗ 
bekümmert um die übrigen, ihr wie toll den Hof zu 
machen. Thereſe aber, die einen beſtimmten Zweck 
verfolgte, ging mit Wonne darauf ein. 

Den übrigen Anbetern wurde die Sache bald 
langweilig, ſie entfernten ſich einer nach dem andern 
und nur der junge Referendar blieb übrig. Um ſich 
an Schmieder zu rächen und Therejen jeine Nicht: 
ahtung zu beweilen, begann er jett Alma in zu: 
dringlier Weile auszuzeichnen. 

Eine Weile that fie fpröde und juchte ihn zu- 
rüdzufheuden, als ihr Hans es aber immer toller 
trieb und Thereje fchlieglich faft im Arm hielt, padte 
fie der Zorn und fie ging auf die Courmacherei des 
jungen Mannes ein. Sie late laut zu feinen nicht 
immer jehr zarten Scherzen und fteigerte fich felbft 
in eine Lebhaftigkeit hinein, die ihr jonft völlig fremd 
war. Schmieder durdfchaute ihre Abficht, ihn eifer: 
jüchtig zu machen, und amüfierle fich darüber. Sa, 
fie freute ihn jogar, denn er lernte feine Eleine, zu: 
rüdhaltende Frau von einer neuen Eeite fennen. 
Bon Eiferfuht war bei ihm feine Rede, er Fannte 
ja jeine unumjchräntte Macht über ihr Herz. 

Der Garten war faft leer geworden, und man 
mußte an den Heimmeg benfen. Therefe hing fich, 
ohne nah Almas Rechten zu fragen, an Echmiebers 
Arm — da nahm Alma im Troß den böflid ge: 
botenen des Referendars und die zwei Paare machten 
ih, in ziemlihem Abftand von einander, auf den Weg. 

„Willen Sie, Hans,” begann Therefe — fie er: 
laubte es fich häufig, ihn beim Vornamen zu nennen — 
„willen Sie, daß Sie alle biefe vornehmen Herren 
ausftechen?” 

„Und bin do nur ein Arbeiter und ber bodh: 
wohlgeborene Herr da hinter uns fieht mich über 
die Achſel an.“ 

„Ja, warum ſteifen Sie ſich denn darauf, durch— 
aus gewöhnlicher Arbeiter zu ſein? Das verlangt 
doch Ihre Socialdemokratie nicht. Als Techniker 
ſind Sie auch Arbeiter‘ wie jeder, der ſeinen feſten 


Roman von E. Karl. 


380 


Beruf hat. Wenn ich, halb in Tricot, auf der Bühne 
ſinge und tanze, ſo arbeite ich auch.“ 

„Gewiß,“ pflichtete der Mann bei, „aber zum 
Techniker fehlt mir das letzte Examen. Ich hielt das 
trockene Studium nicht aus und lief ein halbes Jahr 
vor dem Examen davon. Es kam mir vor, als ſolle 
ich an dem Zopf, der unſerm ganzen Schul⸗ und 
Studentenweſen noch anbaumelt, aufgehängt werden.“ 

„And ließen Ihre Zukunft im Stich, Sie leicht⸗ 
ſinniger Menſch Sie.“ 

„Ach was Zukunft — ich habe es ſiets mit der 
Gegenwart gehalten.“ 

„Ich auch, aber das hindert doch nicht, nebenbei 
auch an die Zukunft zu denken, die ſpäter Gegen: 
wart wird. $ch will Shnen was jagen, Hans, geben 
Sie zum Herbit Yhre Stelle auf, fommen Sie nad) 
Dresden und fludieren Sie fertig, was Sie vor 
Sahren begonnen haben, Sie werden das Bergeflene 
wieder einbringen.” 

„Sie gehen von bier nad Dresden?” fragte 
Hans intereifiert. 

„zunähft nicht, aber ich Hoffe im Yrübjahr im 
‚Viltoriafalon‘ anzulommen. Mein Ehrgeiz firebt 
aus biejen Heinen Tingeltangeln hinaus. ch möchte 
auch Shnen Ehrgeiz einflößen. Sie flehen bier auf 
einem Plaß, für den Sie zu jchade find.“ 

„Und Alma? Und die Mittel, um einen Aufent- 
halt von mindeftens eineinhalb Jahren zu beftreiten?” 

„Alma ift eine geichidte Schneiderin , fie findet 
Arbeit, jobald fie fie Haben will, wenn nidht hier, jo 
an einem andern Drt. Und die Koften für Shren 
Aufenthalt während des Studiums? — Nun, Sie 
baben doch Vermögen geerbt, wenn es auch nur klein 
ift, und einige Hundert Thaler will ih nen gern 
leihen, Sie willen, ich denke an die Zufunft und 
lege bei. %ch bin jonft in Geldfadhen jehr engherzig, 
aber für Sie —” und dabei jah fie ihm zärtlich in 
die Augen. 

Schmieder beugte fi nieder und füßte ben 
runden, rofigen Unterarm, von dem fie den langen 
Handihuh abdgeitreift hatte. „Alma würde es nicht 
zugeben, fie würde denken, ich fäme nicht wieder,“ 
jagte er zögernd. 

„Ja, wenn Sie jo unter dem Pantoffel ftehen? 
— Alma müßte fih doch freuen, alde Maſchinen⸗ 
techniker fteht nen die ganze Welt offen.” 

„Ste haben redt, aber — nun, ih will es mir 
überlegen.” 

Das andere Paar hatte fi zunädhit mit weniger 
erniten Dingen befaßt. Der Referendar fuhr fort, 
Alma von der Verehrung vorzuihwärmen, die er 
Ihon für fie empfunden hätte, als fie noch in das 
Haus feiner Eltern fam. Er fragte, wann er fie 
beſuchen dürfe. 

„Ich weiß nicht, ob ich Sie dazu auffordern 
darf, Herr Langenbach, mein — mein Mann — iſt 
ein einſacher Arbeiter und hat keinen Verkehr mit 
vornehmen Herren.“ 

„Nun, ich habe auch nicht die Abſicht, Herrn 
Schmieder zu beſuchen, ſondern Sie, mein ſchönes 
Kind. Laſſen wir die Komödie, nun wir unter uns 
ſind, beiſeite Ihr ‚Mann‘ — wie Sie zu ſagen be: 
lieben — vernachläſſigt Sie, und Ihre ſchönen Augen 





381 Dbhne Gott. 
Iprehen von Thränen. Nein, leugnen Sie nicht, ich 
lebe e8 deutlich, und ich jah auch, welche Dual diefer 
heutige Abend für Sie war. Wollen Sie mir, Jhrem 
alten Freunde und PVerehrer, nicht geltatten, Sie zu 
tröften? Sie find gewiß viel allein.” 

„IH bin viel allein,” gab Alma zu, „aber nur, 
weil Schmieder den größten Teil des Tages in ber 
Fabrik fein muß. ch habe Feine Urfache, mich über 
ihn zu beflagen und liebe ihn von ganzem Herzen, 
würde aud niemals ohne fein Willen Herrenbefuche 
empfangen.” 

Dabei z0g fie ihren Arm aus dem feinigen und 
trat einen Schritt von ihm fort. 

„IH wollte Sie nit Tränlen, Alma,” rief 
Zangenbadh, der einfah, daß er zu Ichnell vorgegangen 
war. „Sie müflen aber doch zugeben, daß fein 
Benehmen gegen die blonde Thereje in Ihrer Gegen⸗ 
wart tadelnswert war.” 

„Thereſe ilt eine gute Freundin von uns beiden,“ 
log Alma, „gerade meine Gegenwart bewies wohl 
am beften die Harmlofigfeit der Sache. Übrigens 
geht fie zum erften Oftober aus der Stadt fort.“ 

Alma jpielte die Ruhige und Sichere aus Stolz; 
in ihrem Herzen jah es dafür defto jchredlicher aus. 
Fremde Menichen jahen jhon ihr Elend, und ihre 
Stellung zu Hans bot ihr nicht einmal Schuß gegen 
Ihamloje Anträge. Sie galt für vogelfrei und jeder 
durfte Jagd auf fie maden. Macdte nicht auch 
Thereje Jagd auf Hans? — Waren das bie Zu: 
ftände, die diefer als die allein richtigen und fittlichen 
in der ganzen Welt eingeführt zu jehen wünjcdhte?! — 
‘hr jchauderte. 

Der Neferendar jah ein, daß zur Zeit ebenfo- 
wenig zu maden jei wie vor einem Jahr und lenkte 
ein. „Ih hoffe, Sie nehmen meine Worte nicht 
anders auf, als fie gemeint find,” Tpracdh er nad: 
drüdlih, indem er ihren wibderftrebenden Arm unter 
den feinen 309. „Ich Iprah als Freund, auf den 
Sie unter allen Umfländen zählen dürfen.“ 

Er Ientte das Gelpräh, an dem fih Alma 
wenig beteiligte, auf gleichgültige Dinge und man 
fam au bald vor Therejes Wohnung an, wo er 
fih ebenfalls empfahl. Ein weiterer Spaziergang 
zu dreien hätte feinen Reiz für ihn gehabt. 

Das Schmiederihe Paar fette aljo feinen Weg 
allein fort. Alma jchwieg hartnädig, und Hans ver: 
judte es, fie mit ihrem neuen Verebrer zu neden, 
batte aber wenig Slüd. So jhwieg au er und 
das junge Paar fam veritimmt in jeiner Wohnung an. 

Frau Köhler jchlief Schon, als Alma um Mitter: 
nacht Elopfte. Sie hatte das anvertraute Kindchen 
aber treu bebütet. 

Hans Schmieder Ichlief nach Furzer Zeit ben 
Schlaf der Geredten, er hatte fich vorzüglich amüfiert. 
Alma lag no lange wa an jeiner Seite und 
malte fih in jelbitquäleriihen Gedanken die Zeit 
aus, wenn er fie verlaflen haben würde. 


XIV. 


Der Herbft war gelommen, oder wenigitens ber 
früchtereifende Worbote bdesfelben, in ben Gärten 
jammelte man jeinen Segen und bradte ihn zu: 


Roman von €. Karl. 


382 


jammen mit ben legten Blumen des Sommers zu 
Marti. Eo auf der Scheide ber Jahreszeiten ift bie 
Natur am vieljeitigiten. Der Sommer jpendet noch, 
der Herbit Schon. Noch erntet ber Landmann und 
ıhon lodt die leere Stoppel zu den Freuden ber 
Zagd. Noch brennt die Sonne und |chon mahnt 
die berbllare Luft an Tünftigen Froft. 

So dadıte auch der einjame Spaziergänger, ber 
dur die Alleen des Stabtpartes Schritt, als das 
fallende Sommerlaub vor feinen Füßen tanzte und 
ihn troß beflen die bunte Pradt der Aftern und 
Herbfilevfojen von den Nabatten ber Rajenpläße 
grüßte. Mit Behagen jog Egon die frifche kühle 
Luft ein und doc wollte die Wehmut, die fein Herz 
erfüllte, nicht weichen. 

Es war beute der adhtzehnte Sonntag nad 
Trinitatis — es jährte fi) der Tag, an dem jeine 
Liebe den eriten feften Faden von feinem begeifterten 
Herzen zu Hilde binübergefponnen Halte Vor 
einem Jahr ſtand er auf der Kanzel, feft bavon über: 
zeugt, die Geliebte dur die Macht feiner Rede zum 
Chriftentum, wie er es verftand, binüberziehen zu 
fönnen, und heute wußte er, daß feine Zuverficht ihn 
betrogen hatte. Und fein eigener Kinderglaube? — 
Wo war er bingelommen? — 

Erft leife und fchüchtern, dann immer deutlicher 
batte der Zweifel an fein Herz gepodht, und wie fich 
diejes auch wehrte und fein teuerftes Gut, den Glauben, 
verteidigte, der Verftand, diefer alte Widerjacher bes 
Herzens, hatte Tchließlih die Felt verichloffene Thür 
geöffnet. Und nun machte fi der Zweifel in der 
eingenommenen Feftung breit und nahm jchrittweije 
Befiß von allem, was barin war. 

Egon hatte einen Teil des Hodhlommers auf 
jeinem väterlihen Gut zugebraht und fih dann 
wieder um eine proviforiihe Stellung in ber 
Univerfitätsftadt beworben. Sie war ihm geworben, 
er war bei der geifllichen Behörde gut angefchrieben 
und man hatte ihn als Hilfsarbeiter einem alters: 
Ihwadhen Superintendenten zugeteilt. Vielleicht wäre 
für fein Gemüt ein anderer Ort befier gemwefen, aber 
er wollte flubieren, ftudieren -—- — 

Am heutigen Sonntage war er frei. Der alte 
Herr predigte, und er hatte, ftatt ihm zuzubören, es 
vorgezogen, feinen eigenen Gedanken auf einem ein 
jamen Spaziergange Audienz zu geben. 

Eine Frau mit einem Knaben Tam ihm ent: 
gegen, in ber er Frau Köhler erlannte. Sie grüßte 
ihn und erklärte auf Befragen, daß fie eine freie 
Nachmittagsftunde benugen wolle, um mit ihrem 
Karl die Gräber ihrer Kinder zu beſuchen, am Nach⸗ 
mittage babe fie verfproden, das Schmieberiche 
Kindbhen zu warten, damit die Frau ausgehen könne. 
Egon ſchloß fi ihr an und fragte nach ihrem Ergehen. 

„D, Herr Kandidat, e8 geht mir ja jo gut wie 
es mir gehen lann. Mein Karl ift gejund und 
munter und mein Mann, der vorige Woche abge: 
urteilt ift, hat jo gelinde Strafe befommen, wie es 
das Gejeß zuläßt. Drei und ein halbes Jahr Zudt- 
haus. Ach hab’ ihn aud no mit dem Karl be: 
judhen dürfen und er hat mir veriprodhen, ein anderer 
Menſch zu werden.“ 

Während Frau Köhler, an den Gräbern ihrer 


383 


Kinder angelommen, fi daran zu Ihaffen machte 
und Karl fortiprang, um bie mitgebradhte Gießlanne 
zu füllen, fragte Egon nah Alma und ob fie nod 
immer glüdlich fei. 

„Run, fo recht glüdlich ift fie wohl nie gewefen,“ 
lautete die Antwort, „und wie fann fie aud. Sie 
liebt ja den Mann, daß fie ihm die Hände unter: 
legen möchte, dba ift ihr der Gedanke natürlich 
fürdhterlih, daß er in jedem Augenblid wieder von 
ihr fort kann, und in ihrer Angft quält fie ihn mit 
Eiferfudt. Er giebt ihr auch Urjach’ genug, wenn ich 
auch glaube, daß es bis jegt nicht Ichlimm gemeint ift.“ 

„Aber wie thöriht von Alma, unter jolchen 
Berbältniffen ihren Geliebten zu plagen,” meinte 
Egon, „treu ift er ja feiner eriten Frau aud) nicht 
gemeien, ihn bat das Band ber rechtmäßigen Ehe 
ebenjowenig gehalten.” 

„Das ift ja wahr,” Iprad) Frau Köhler, „aber 
wenn einer fchon fo ift und es ihm dann nod jo 
bequem gemadt wird? — —” 

„Glauben Sie denn, daß er es jemals mit 
Alma ernit gemeint hat?” | 

„Ganz ernft,” verficherte Frau Köhler. „Das 
meinen fie wohl alle, bie die ‚freie Liebe‘, wie fie es 
nennen, einführen möchten, aber wenn es ihnen nad): 
ber über wird, dann find fie eben ‚frei‘ und geben 
ihrer Wege, benten auch, das tft das Richtige, weil 
die Liebe do nu mal vergangen ilt. Schmieder 
fängt au jhon an wadelig zu werden, wenn er 
auch vorläufig jelbit noch nicht daran glaubt.“ 

„Wie?“ rief Egon. 

„Sa, da ift die Perfon, die ‚blonde Thereje‘, 
wie fie fie nennen, bie fommt immer gelaufen und 
rebet ihn zu fortzugehen und zu ftudieren, damit er 
was Befleres werden fann, na, und ilt er erft fort, 
dann adieu Partie.” 

„Aber folte ihn nicht das Kindchen an der 
Mutter fefthalten?” | 

„Ah du lieber Gott, das Kindchen, das wird 
ihn erft recht vertreiben. So wie id) mich auf Kinder 
verfteh’, hat es einen Wallerfopf und wird blöb- 
finnig bleiben. ch hab’ den Eltern nichts gejagt, 
aber der Vater fängt jhon an zu merfen. Es ift 
jegt ein Vierteljahr alt und liegt da wie ein Kloß.“ 

„D mein Gott, die arme Frau,” rief Egon mit: 
leidig, „da müßte do Jon das Erbarmen den 
Menſchen feſthalten.“ 

„Ja, das ſollte es wohl, aber Schmieder kann, 
wie viele Männer, keinen Kranken um ſich leiden. 
Wie hat er ſich gehabt, als Alma am Sterben war, 
gleich als wollt' er ſich mit ihr in die Erd' legen. 
Aber als die Gefahr vorüber war und ſie dann ſechs 
Wochen auf dem Sofa lag, oder elend herumfſchlich 
und keinen lauten Ton hören konnte, da hielt er es 
nicht aus. Da nahm er die Thür in die Hand 
und kam halbe Tage lang nicht ins Haus. Soll 
er das Unglückswürmchen immer um ſich ſehen und 
dann noch Almas Jammergeſicht dazu, dann iſt es 
aus. Er wird ſich ſelbſt vorreden, daß er nur für 
einige Zeit fortgeht, um ſich zu verbeſſern, aber nach 
und nad) wird er fih fagen, daß er das Wieber: 
fommen ja nicht nötig bat, und dann wirb er fi 








— l J 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 


384 








wieder ſelbſt vorreden, daß es unſittlich iſt, eine Ehe 
weiter zu führen, der das innere Band fehlt — ich 
denke, ſo ſagte er neulich — und dann iſt es aus 
zwiſchen ihnen. So wird es kommen,“ ſchloß die 
Frau prophetiſch. 

„Arme Alma,“ ſprach Egon traurig, „wenn Sie 
meinen, daß ich ihr einmal beiftehen Tann, fo lafien 
Sie mid es willen.” 

„Recht gern,” veripradh die Frau, „aber fie ift 
jo ganz in die Lehre Schmieders übergegangen, daß 
es feinen Gott und fein ewiges Leben giebt — id 
glaube nicht, daß fie von Ihnen etwas wifjen will.” 

Frau Köhler nahm ihren Knaben an die Hand 
und verließ den Friedhof. 

Egon trat noh an den Grabhügel der Frau 
Profefior Steiner, neben dem ihm die jeligften 
Minuten jeines Lebens verfloflen waren, und folgte 
ihr dann langfam und in tiefen Gedanlen. — — 

Am Nachmittage jaß Egon : mit feinem alten 
Herrn und beilen faft tauber Frau zujammen am 
Kaffeetiih. Er Ihäste die beiden alten Leute hoch 
und durfte nad) ihrem Benehmen auch vorausfegen, 
daß fie ihm herzlich gewogen feien. So wurden 
auch intimere VBerhältnifle im Geipräch berührt, an 
dem fich die alte Dame aber nicht zu beteiligen pflegte. 

„DBenn ih nun zu Neujahr mein Amt nieder: 
lege, lieber junger Freund, werden Sie doch eine 
Stelle annehmen?” begann ber alte Herr, jeine ge 
leerte Tafle zurüdichiebend. „Ich denke, es Tann 
Shnen nicht fehlen. Bei Ihrem ausgeiprochenen 
Rebnertalent werden Sie hre Mitbewerber leicht 
aus dem Felde jchlagen. Warum eigentlich haben 
Sie jo lange gezögert? Es waren doc jchon zwei 
gute Landpfarren frei und in der Altftadt-Gemeinde, 
wo Sie im vorigen Jahr den Prediger Boretius 
vertraten, bat man eigentlich jet, als der alte Herr 
abging, auf Shre Bewerbung gerechnet.” 

Egon Ihwieg und hohe Nöte flammte plöglich 
über jeine Stirn. Da war ja, was er jo lange ge: 
fürdtet hatte, eine Frage nad) feinen Lebensplänen, 
und er lag mit fich jelbft im Kampf und wußte ben 
Ausgang nidt. Er Iprang vom Stuhl auf und 
ging duch das Fleine Zimmer, während ihm bie 
Augen des Ehepaares erjtaunt folgten. . 

„Was haben Sie, Herr Kandidat, drüdt Sie 
etwas und darf ich es willen? Gie dürfen meiner 
Diskretion ficher jein.” 

Egon trat wieder an den Tiih und ergriff bie 
Hand des alten Herrn. „Sch möchte eine Frage an 
Sie richten, Herr Superintendent, geitatten Sie mir 
ein Geiprädh unter vier Augen.” 

Der alte Herr erhob fih und fchritt in fein 
Studierzimmer hinüber, dort begann Egon, als fie 
Pla genommen hatten: 

„Halten Sie es für möglid, daß ein Menih 
Geiftlicher werden und von der Kanzel das Evangelium 
predigen darf, der in feinem Herzen ein Abtrünniger 
ift, der die Dffenbarungen ber Bibel anzweifelt?” 

„Alfo jo flieht e8 mit Shnen, lieber junger 
Freund,“ Iprad) der Beiltlihe nach einigem Zögern, 
„Sie haben Gemwifjensftrupel — die haben vor Khnen 
ihon viele gehabt und werden noch viele haben, aber 





385 Ohne Gott. 
beten Sie fleißig zu Gott um ein demütiges, einfältiges 
Herz und Sie werben überwinden, was Sie ängitigt.” 

„Rein, ip überwinde es nicht,” klagte Egon 
verzweifelt, „mir geht e& wie dem Kinde, das einmal, 
duch die Thürfpalte gudend, die Mutter den Weih- 
nadtsbaum Ichmüden fah, es Tann nicht mehr an 
das Chriftlind glauben, wie gern es auch möchte.“ 

„Run, jo lafen Sie wenigflens andern ben 
Blauben daran,” jpracdh der alte Geiftliche gleichmütig 

Egon jah ihn entjegt an. „Ah Tann doch nicht 
lehren, mas ich jelbft nicht glaube,“ rief er mit blaflen 
Lippen. 

„Und warum denn nicht? Nehmen Sie an, die 
andern jeien Kinder und für die Wahrheit noch nicht 
reif. — Wer weiß denn überhaupt, was Wahrheit 
ift? Seder Diener der Kirche hat die Pflicht, zu ihr 
zu fteben mit Leib und Seele, denn wir haben nicht 
nur eine Religion, wir haben vor allen Dingen eine 
Kirche, deren Anjehen aufrecht erhalten werben muß.” 

Der alte Herr jchlug ein Bein über das andere 
und die Flügel feines langen Hausrodes über den 
Knieen zulammen, als ob ihn fröre, dann fuhr er fort: 

„Das Gebäude der Kirche ift im Laufe vieler 
Sabrhunderte von berufenen Händen aufgebaut, aus: 
gebaut und renoviert worden, heute aber fommt 
jeder und will daran fliden oder gar rütteln. Das 
bürfen wir nicht zulaflen. Wie ein Mann müflen 
wir fett auf dem Dogma ftehen und jeden Sturm 
abwehren, denn jedes Gebäude kann durch den An- 
fturm vieler erfchüttert werden.” 

„Wenn das Gebäude aber alt und moridh ift, 
Herr Superintendent?” rief Egon. 

„So muß man es um jo felter flügen. Laßt 
man erft zu, daß nur ein Clein gerührt wird, fo 
fallen andere von felbit nach.” 

„Herr Superintendent,” rief Egon, „Sie geben 
durh SHhren Vergleih zu, daß auch Sie unfere 
KHriftlide Kirhe für ein Wert von Menfhenhand 
halten. Was der ewige Gott aus lebendigem Fels 
baut, das bat Beltand für die Emwigfeit, das braucht 
man nicht zu fügen.” 

„Doh, mein junger Freund,“ jpracdh der alte 
Geiftlide, „auch der härtefle Granit wird vom Wafler 
zernagt, vom Gletiher zerrieben. An dem Fellen 
unferer Kirhe nagt das Wafler der Steptil, reibt 
das Eis des lUnglaubens und der Gleichgültigkeit. 
Die Wolltengebilde aber, aus denen fich diefe zer: 
jgenden Elemente niederichlagen, find die Wiflenichaft 
und die fogenannte Vollsaufllärung. Darum haben 
wir Männer der Kirhe die Aufgabe, die taujenb 
Ninnjale, in denen das Wafjler fih jammelt, vom 
Fuß unferer ehrwürdigen Kirche abzulenten, damit 
der Fels, wie Sie fagen, oder das Gebäude, wie ich 
lagte, nit untergraben werden.” 

Egon prekte die Hände gegen die Stirn und 
brütete vor fich Hin. „Und wenn, was wir ftüßen follen, 
uns nicht mehr ehrwürdig erjcheint?” fragte er leife. 

„Das darf nicht fein, mein junger Freund, das 
dürfen wir uns felbit nicht eingeftehen,”“ eiferte ber 
alte Herr. „Die Imftitution der Kirche ift ehr: 
würdig, felbft wenn wir ihren Lehren nicht in allen 
Punkten unbedingt zuftimmen können. Die Kirche 


Roman von E. Rarl. 


386 





fol das Gemwiflen, die geiltliche Zuflucht der fün- 
digen Menfchheit jein, fie kann diefe Milfion nicht 
erfüllen, wenn fie an Macht einbüßt, muß aber un: 
fehlbar davon einbüßen, jobald wir zugeben, daß 
unjer Dogma Srrtümer enihält. Es wird beutzu- 
tage zu viel ftudiert und gegrübelt, jehr zum Schaden 
unferer Sade, denn wie jollen wir Madt behalten 
über die Gemwiffen anderer, wenn wir uns mit 
unferem eigenen nicht abfinden Tönnen. Mädhtig 
aber muß die Kirche fein — mädhtig.” 

„Sie Iprehen von ber Kirche, Herr Superinten- 
dent, und id von ber Religion, von dem teuren 
Glaubensichag, ber das Glüd meiner Shwärmeriichen 
Sugend ausmadte und nun an der Sonne der Er: 
fenntnis zu verdorren droht. Ich ſchätze die Kirche 
hoch, als das koſtbare Gefäß, welches unjere Reli« 
gion bewahrt, wir Diener berfelben jollen aber den 
erquidenden Tranf rein und lauter an die duritigen 
Seelen ausjchenten, die danach verlangen. Können 
wir ihnen, wie ein betrüglicher Wirt, anpreifen, was 
uns felbft jchal erſcheint?“ 

„Sa, wir bürfen es und wir follen es. Weilere 
und Bellere wie wir haben unjer Dogma_ feftge: 
ftelt und uns fommt es nicht zu, daran zu mäleln. 
Gehorjam fordert nicht die katholiihe Kirche allein 
von ihren Dienern, auch wir haben uns zum Seile 
des Ganzen zu fügen. Wir lehren, was unjere 
Kirche verlangt, und weichen nicht, wie aud bie 
Neuzeit uns bebrängen mag. Cinigleit madt flarf. 
Solange das Schiff der Kirche über die Wellen der 
Zeit ftreicht, bat es alle Schwankungen milgemadht, 
ift bald auf bie hödhfte Spike der Woge erhoben, 
bald tief hinabgefchleudert worden, als jolle es im 
Abgrunde verfinfen. Simmer aber hat es fidh fieg: 
reich wieder erhoben, denn e8 trug die Religion, die 
das Menichengeichleht auf die Dauer ebenjomwenig 
entbehren fan wie die Luft zum Atmen. 

„Materialiftiihe Strömungen, wie die jeßigen, 
die alles leugneten, was fih nicht finnlich wahr: 
nehmen ließ, hat es zu allen Zeiten gegeben. Schon 
die alten Inder vor Buddha Hatten philojophiiche 
Schulen, die den kralleften Materialismus lehrten. 
Shre Anihauung gipfelte in dem Lehrjag: ‚Die 
Seele gehört der Materie an, fie ift aus den vier 
Clementen gebildet und wird von ben Eltern er: 
zeugt, bei der Auflöfung des Körpers gebt fie zu 
Grunde‘ Diefe Anjhauungen haben in Zeiten 
moraliihen Niederganges immer die Oberhand ge: 
wonnen und fih mit ihrem Gefolge von rober 
Genußjudt und Sinnenluft breit .gemadt. Aber 
der Selbfterhaltungstrieb der Menfchheit, die an 
Eonfequent durchgeführten Materialismus zu Grunde 
gehen müßte, bat fich immer wicder der Religion 
zugemwenbdet, ja, jogar mit immer größerer nbrunft, 
je breiteren Boden der Unglauben gewonnen hatte. 
— Darum müffen wir feftftehen, auch unjere Zeit 
fommt wieder.” Ä 

„SH muß Shnen in der Hauptjadhe vollftändig 
recht geben, Herr Superintendent,“ antworlete Egon 
finnend, „nur mit Shrer Anichauung, daß wir feft- 
balten müflen, was uns einmal als Glaubensjag 
vorgefchrieben ift, Tann ich mich nicht einverftanden 





387 Obne Gott. 


erflären. Mein Gewiflen fträubt fih dagegen. Auch 
glaube ih, daß unjerem Wort die Kraft zu über- 
zeugen mangelt, wenn wir jelbit nicht überzeugt find.” 

„Das glauben Sie do ja nicht, mein lieber 
Freund. Es ift nur erforderlih, daß wir uns von 
ber Notwendigleit überzeugen, eine in fich gefchlofjene 
Kirhengemeinichaft feitzuhalten, die mächtig genug 
it, allen Stürmen zu troßen. Wollen wir über: 
haupt modeln, jo mobdelt der eine bier und ber 
andere da und wir haben ftatt einer gemwaltigen 
Kirhe nur eine Anzahl Meiner, Ichwadher Selten, 
die fih untereinander befehden. Darum müllen wir 
lehren, was das Dogma fordert und e8 uns nad 
außen nicht merfen laflen, wenn uns ein Lehrjat 
nicht ftimmt. Machen aud Eie das zu Shrer Richt: 
Ihnur, mein junger Freund.” 

Der alte Herr erhob fih, Egon wußte, daß er 
um Diefe Zeit mit feiner tauben Frau fpazieren zu 
gehen pflegte, er empfahl fi daher und ging in 
fein Zimmer hinauf. Aber die Laft auf feinem 
Herzen war nicht leichter geworden. 

„Maht, Macht,” murmelte er, „eine mächtige, 
berrichende Kirche, deren Diener felbft nicht glauben, 
was fie lehren. — D Traum meiner Jugend, wo 
bit Du bingelommen?” — 


* * 
% 


Vier Wochen fpäter ſaß Frau Profeflor Nieder: 
ftetter an ihrem Nähtifh über der Arbeit. Da 
Elopfte es an die Thür und auf ihr energilches 
„Herein” trat Egon ins Zimmer. 

„Endlid kommit Du einmal, lieber Junge,“ 
Iprah fie aufftehend und ihm Herzlih die Hand 
Ihüttelnd, „wie lange ift es ber, daß Du uns nicht 
bejuchteft.” Sie blidte dabei prüfend in fein Geficht 
und erfannte mit Befriedigung, daß es einen ruhigen, 
faft heiteren Ausdrud trug. 

„Ih komme mit einer Bitte, liebe Tante,” 
Iprad Egon, fi neben die alte Dame feßend, „ih 
wil Dih um Deine Fürfpradde bei meinen Eltern er: 
juden, die mit einem Entihluß, der nad) langem 
Ringen bei mir zur Reife gelommen ift, nicht ein: 
verftanden jein werden. Ach fannn nicht Geiftlicher 
werden und will meinen Vater um die Mittel zu 
weiterem Studium bitten.” 

Spradlos vor Ülberrafhung ließ Frau Nieder: 
ftetter die fleißigen Hände in den Schoß finten. 
„Egon, Du —? Du wilft einen Beruf aufgeben, 
ber feit der Kindheit Dein Sydeal war?” 

„Manches deal verblaßt, wenn man ihm nabe 
ins Geficht fieht,” antwortete der junge Dann. 

Die Tante blidte ihn lange prüfend an. 
„Egon, Du thuft es um Hildes willen — fieh Dich 
vor, daß Du jpäter nicht mit Deinem Gewiflen in 
Konflikt kommſt.“ 

„Nein, Tante, um keiner irdiſchen Liebe willen, 
ſondern aus eigenem innerem Drang. Glaube mir, 
ich habe unter der Trennung von meiner erſten 
Liebe ſchwer, ſehr ſchwer gelitten, aber ich hätte ſie 
meinem Glauben zum Opfer gebracht. Mein Glaube 
ſelbſt hat ſich gewandelt und die Zeitverhältniſſe ge— 
ſtatten mir nicht, ihn als Prediger ſo zu bekennen. 
Lügen aber kann ich nicht. 


Roman von E. Karl. 


388 





„Sieh,“ fuhr er fort, als die Tante ſchweigend 
verharrte, „ich bin aufgewachſen im ſtrengen Kirchen⸗ 
glauben, man hat mich gelehrt, unſer Dogma als 
heilige Offenbarung hinzunehmen, an der jeder 
Zweifel ſündlich ſei, und mein Studium hat daran 
nichts geändert. Du haſt mich vor langer Zeit auf— 
gefordert, eine Brücke zu bauen zwiſchen Religion 
und Wiſſenſchaft und ich habe es damals aus 
innerfter Überzeugung abgelehnt. Heute jehe ich ein, 
daß wir der Wiffenihaft Konzellionen maden 
müſſen — daß fie berechtigt ift, gegen viele unjerer 
Kirchenlehren zu Felde zu ziehen und daß wir das 
Gebäude unferer Kirche nicht ftüben müflen — wie 
vor einigen Wochen ein alter Weiftlicher mir fagte, 
fondern daß wir e8 neu ausbauen follten, bis es 
feiner Stüße mehr bedarf. Ich babe mich auch zu 
meinem tiefften Schmerz überzeugen müflen, daß ein 
Teil unferer Geiftlihen nicht mehr glaubt, was er 
lehrt und das bat mir den einft jo hoch gehaltenen 
Beruf verleibet.“ 

„Und was wilft Du nun thun, mein alter 
unge?” fragte Frau Niederitetter. 

„Ich will einftweilen die Nebenfächer meines 
bisherigen Studiums, alte Spraden und Gejchichte, 
weiter ausbilden, bis ich fie als Philologe verwerten 
fann. Bielleiht wende ih mid dann jpäter ber 
Philojophie zu, um barin als Univerfitätslehrer zu 
wirlen und Baufteine zu ber Brüde zufammenzu: 
tragen, die vom Sidtbaren zum Unjichtbaren Hin- 
überführt. %h glaube an Gott und an Chriftus 
und will diefen Glauben befennen bis an mein 
Lebensende, aber ih will Dir folgen und verfucdhen, 
ihn den Anforderungen unferer aufgellärten Zeit an- 
zupaflen. Hilf mir, liebe Tante, den Meinigen 
gegenüber, ich fürchte, fie verftehen mich nicht.“ 

Frau Niederftetter erhob fih und ſchloß ben 
Neffen in die Arme. „Ih will Dir helfen, ſoweit 
meine Kraft irgend reiht, Egon, babe Geduld und 
fei ftandhaft, Du wirft mit Ehren aus dem Kampfe 
hervorgehen.” 

Der junge Mann Füßte zärtlich die Hand der 
Srau, die er wie feine zweite Mutter verehrte, und 
ging dann, von ihr geleitet, in das Zimmer bes 
Ontels hinüber, um auch dielem feine veränderten 
Lebenspläne mitzuteilen. 


XV, 


Kalter Novemberregen fchlug Hatihend an bie 
Fenfter der Schniederfhen Wohnung und wehrte 
dem fpärlichen Tagesliht den Eintritt. Xrübe und 
troftlos jah es in der Natur, trübe und troftlos im 
Sinnern des Haules aus. 

Alma jaß vor dem altmodilchen Nähtiih am 
Feniter, hatte den Kopf darauf gelegt und weinte 
berzbredend. Schmieder ging verdrießlich im Zimmer 
auf und ab, jhhaute auch gelegentlich zum Fenfter 
hinaus; wenn es nicht jo gar arg geregnet hätte, 
wäre er gern ausgegangen, um Almas Weinen nicht 
bören zu müflen. Plöglih Iprang fie auf, warf fi 
in ihrer eraltierten Weile zu feinen Füßen nieder 
und umllammerte feine Kniee mit ihren Armen. 





389 


„Seh nicht von mir, verlag mi nicht,” jchrie 
fie, „ich fterbe, wenn Du mir untreu wirft.” 

Salb gerührt, halb geärgert, beugte der Mann fich 
nieder, hob die Weinende auf und z30g fie an jein Herz. 

„Wenn Du bo nur vernünftig fein mwollteft,” 
Ipradh er, indem er fie auf bie Stirne füßte, „wenn 
ih gebe, fo geihieht es doch nur zu unferem Beften. 
Du mußt doch zugeben, daß es Thorheit von mir 
it, mein nicht geringes Willen fo in mir bradjliegen 
zu laflen, während ein verhältnismäßig kurzes, regel: 
mäßiges Studium mir die Anwartihaft auf eine 
beflere und freiere Stellung giebt. Eine Verbeflerung 
meiner Lebenslage Täme do Dir ebenjogut zu 
ftatten wie mir.” 

„Aber Du kommft nicht wieder, wenn Du fort- 
gehſt, das weiß id,“ ſchluchzte Alma. 

„Wenn Du mir unjer gemeinfames Haus zur 
Hölle” madjft, jo muß ich wohl mit der Zeit auf den 
Gedanken einer Trennung verfallen. — Vergiß dann 
nicht, daß Du der jchuldige Teil bift.” 

Er langte ein Buh vom Bücherbrett und 309 
fih damit ins Schlafzimmer zuüd, während Alma 
fi wieder auf ihren alten Plat fette und trübe in 
den Regen binausftarrte. Sie date nad. — 

Sa, fie madte ihm mit ihren ewigen Thränen 
und Vorwürfen das Leben zur Hölle, aber Tonnte 
fie denn laden und jcherzen, wo ihr vor Angit das 
Herz brad? Sie jah ja, daß feine Leidenichaft für 
fie immer mehr verraudite. Hatte fie das wirklich 
jelbft verfhuldet? Sie fonnte ihm nicht ganz un: 
recht geben, aber das unklare, unfidhere Verhältnis 
nahm ihr die innere Ruhe und Bejonnenheit. 

Schmieder verjuchte es, ganz in jeinem Buche 
aufzugeben, um den vorangegangenen Vorgang, der 
freilid nur einer aus einer langen Reihe ähnlicher 
war, zu vergeilen, und es gelang feiner elaftiichen Natur. 

Eine halbe Stunde verging in völliger Ruhe. 
Da ließen fich plöglih aus ber Zimmerede, wo die 
Miege fand, quäfende, unartitulierte Töne hören, 
und ber lejende Mann fuhr herum. Da war wieber 
bie Wirklichkeit, die zu vergefien er fih mühte. Mit 
einem tiefen Seufzer ftand er auf und trat zu feinem 
unglüdlichen Finde. 

Er, der Mann, wußte, daß in bem franten 
Gehirn der Kleinen da vor ihm fein Geiftesfunfe 
zu finden war, die Mutter hoffte immer noch, es 
tönnte ihrer grenzenlofen Liebe und Hingebung ge: 
lingen, ihn zu entzünden. Auch jekt ftand fie im 
Augenblid neben ber Wiege, jorgte für die körper: 
lihen Bebürfnifie der Kleinen und fuchte dabei dur 
zärtlihes Rojen ihre Aufmerkjamkeit zu erregen, aber 
die großen, ftarren Augen bes Kindes blidten ins 
Leere und ihre Bemühungen waren umfonft. 

Schmieder hatte jhweigend dabei geftanden, nun 
wendete er fi jeufzend ab. Er Tonnte es nidt 
über das Herz bringen, der arnıen Mutter feine fefte 
Überzeugung mitzuteilen und — er feheute auch die 
erneute Aufregung. Mocdte fie nah und nad — 
wenn er fort war — dabinterlommen. „Sch made 
es ihr jo leichter,” jprady er zu fich felbit und be- 
mübte fi, an feine Worte zu glauben. 

Einftweilen nahm er Hut und PBaletot und ver: 
abjchiedete fih von Alma: „Der Regen bat nad): 


Ohne Gott. Roman von €. Karl. 


390 





gelafien, Schag, ich gehe noch ein Weilchen irgend: 
wohin. Man kann do nicht den ganzen Sonntag 
zu Haufe figen.” Er füßte fie und verließ die Wohnung. 

Schon nah den erften hundert Schritten in der 
friihen Luft fiel die Verftiimmung von ihm ab und 
faft unbewußt begann er leife einen belannten Tanz 
zu pfeifen. Er machte zunädjit einen kleinen Spazier⸗ 
gang dur den nahen Stabtpart und betrat dann, 
ale Duntelbeit und Regen gleichzeitig einfielen, ein 
nabe gelegenes Reftaurant, das er zu diefer Tages: 
zeit leer zu finden hoffte. Sein Entihluß, fortzu- 
geben, hatte fi nad der heutigen Scene befeftigt 
— er ertrug diejes Leben nit — vielleicht würbe 
e8 befjer gehen, wenn er nad) längerer Abwefenheit 
wiederfäme. Zunächſt wollte er in Ruhe alles über: 
legen und das konnte er zu Haufe nit. Er jete 
ih in eine Ede bes leeren Zimmers und zog jein 
Notizbuch heraus. 

Aus dem Nachlaß der Mutter batte er vor 
etwa zwei Sahren jehstaufend Mark geerbt, die in 
der beimatlidhen Kleinftadt auf einem Grundftüd ein: 
getragen waren. 

Er wollte die Hälfte davon zum näcdhiten April 
fündigen und fi auf das gute Dokument bin bie 
Summe von einer Bank leihen. Damit wollte er 
zunädlt nad Dresden, um fi privatim vorzubilden 
und fpäter in eine Fakhichule einzutreten. Er hatte 
eine Solche früher bejudht, aber vor dem Examen 
verlaflen, als ihn etwas anderes reizte. Warum er 
gerade Dresden wählte? Nun, es war doch eine jehr 
Ihöne Stadt, und fpäter fam ja Therefe dorthin — 
warum jollte er den angenehmen Umgang aufgeben. 

Die Zinfen der anderen Hälite feines Der: 
mögens follte Alma behalten, was fehlte, mochte fie 
dann jelbit verdienen. Sie konnte ja das Kind für 
den Tag in Koft geben und in einem Ktleidergejchäft 
arbeiten. Eine fo geichidte Arbeiterin fand ihr Brot. 
Auch konnte fie ja die Wohnung mit einer anderen 
weiblichen Perjon teilen. So überlegte der Mann. 

Er, der gegen perjönliches Eigentum flritt, der 
das Erbredt verdammte, empjand doch den Befit in 
dieſem Augenblid als etwas jehr Angenehmes und 
er batte nichts dagegen, ber Erbe der Spargroichen 
feiner Eltern zu fein, fie machten ihn frei. 

Als er mit feinen Zulunftsplänen im reinen 
war, flappte er jein Buch zu, trank noch mit Be: 
bagen ein zweites Glas Grog und trat den Heim: 
weg in gehobener Stimmung an. Das Leben lag 
wieder jhön und abmwedjjelungsreih vor ihm und an 
den Abjchied dachte er nicht, er fonnte ja wiederlommen, 
jobald er wollte, Alma wurde ihm nicht untreu. 

Zunädft jhwieg er aber über jeine Pläne, der 
„Sturm im Waflerglajfe”, wie er häusliche Scenen 
nannte, fam immer noch früh genug. 

Er fand Alma beruhigt und freundlich, fie hatte 
fih wieder einmal — wie jchon fo oft — vorge: 
nonımen, jet ganz vernünftig zu jein und ihrem 
Manne das Haus unentbehrlid zu machen. Sie 
hatte ihm zum Abendeflen einen Kleinen Lederbifien 
beforgt, ein Kleid angelegt, welches er liebte und 
empfing ihn bei feiner Heimkehr mit lächelndem Ge- 
ficht und zärtlider Umarmung. 

Schmieder lobte fie, jchälerte mit ihr wie in 





391 Dbhne Gott. 


Roman von ©. Karl. 


392 


—— —e — — nu 


der Brautzeit, und niemand hätte dem jungen, hübſchen 
Paar die vorhergegangene Verſtimmung angeſehen. 
Schmieder war wirklich vergnügt, und Alma that 
als ob ſie es ſei. Nach Tiſch ſaßen ſie auf dem 
Sofa beiſammen und Schmieder las ein Kapitel aus 
Nordaus „Konventionelle Lügen“ vor. Das war 
ſein Lieblingebuch — — — 

Zu Neujahr hatte Schmieder ſeine Stellung 
bei Wahrholm gekündigt, nun ſtand man dicht vor 
dem Weihnachtsfeſt und er mußte Alma benach— 
richtigen, daß er in den erſten Januartagen abzu— 
reiſen gedächte. Seine Wäſche und Garderobe mußte 
doch pünktlich in ſtand geſetzt werden. 

Es gab eine furchtbare Scene, die damit endigte, 
daß Alma in Krämpfe fiel und ein Arzt geholt 
werden mußte. Sie lag einen Tag zu Bett, von 
Hans freundlich gepflegt, und erholte fi dann ziemlich 
ſchnell, doch lag eine eigentümlihe Starrheit über 
ihr, die fie auch nicht mehr verließ. Es war, als 
jei etwas in ihr geiprungen. 

Sie jhmüdte, wie im vorigen Jahr, am Weih- 
nadtsabend ein Bäumden, bemühte fich vergeblich, 
ihr jet halbjähriges Kindchen auf die Lichthen auf: 
merljam zu maden und flarrte dann jelbft wie ein 
Steinbild ins Leere. 

Wie im Traum, aber fehr ordentlich und um: 

fihtig, traf fie alle Vorbereitungen zu Schmieders 
Abreife und machte ihm au feine Scene, als er 
am zweiten Januar abfuhr. Seinem Wunjh gemäß 
begleitete fie ihn nicht zum Bahnhof, fie hätte es 
auch kaum fönnen, denn ihre Glieder waren wie 
mit Blei gefüllt. 
Er überſchüttete fie beim Abjchiede mit Zärtlich- 
feit und Eonnte fih an Liebesworten nicht genug 
thbun. Sie aber lag jchweigend an feiner Bruft. — 
Als er ihr Haupt endlich janft aufrichtete, fiel es 
matt zurüd und ihr Körper fanf zufammen. Sie war 
ohnmädtig. Vorfichtig trug er fie zum Sofa, drüdte 
no einen zärtlihen Kuß auf ihre Stirn und ver: 
ließ das Zimmer. 

Als Alma erwadhte, war fie allein. — — — 

Ein paar Wochen vergingen in bumpfer Gleich: 
gültigkeit für die arme Verlaffene. Sie dachte über 
ihre Zulunft nad und fah die Notwendigkeit ein, 
einen Erwerb zu ergreifen. Aber fie war jo müde, 
fo energieloge — fie begriff fich felbft nicht. Sie 
beichidte das Nötigfte in ihrer Leinen Wirtichaft, fie 
mußte doch leben und das Stindehen mußte verjorgt 
werden. Dann aber lag fie teilnahmlos auf dem 
Sofa in einem Zuftande, der nicht Schlaf, nidt 
Wachen war. Dabei Shmanden ihre Kräfte immer mehr, 
bis fie fich eines Tages nicht vom Bette erheben konnte. 

Frau Köhler, die fie fiebernd fand, rief Frau 
Profeffor Niederftetter und diefe den Arzt herbei. 
Alma hatte ein nervöjes Fieber und war mehrere Wochen 
Ihwer frant, dann erholte fie fih wieder, die Jugend 
fiegte, aber die Rofen auf ihren Wangen waren jeßt 
gänzlich verblüht, fie glich einer wandelnden Leiche. 
Einige mitleidige Damen aus ihrem früheren Kunden: 
freije batten bisher für ihre Pflege geforgt und bie 
Koften beftritten, das mußte nun aufhören. 

As Alma etwa eine Woche nad ihrer Er: 
frankung wieder bei Elarer Befinnung war, hatte fie 


einen jehr vergnügten Brief jchrieb, von ihrer 
Krankheit zu benadjrichtigen. Die Antwort war ein 
berzlicher Brief an Alma mit dem Wunjcd baldiger 
Genefung und der Anweilung, auf das in ihren 
Händen verbliebene Dokument Geld zu leihen, damit 
es ihr an nichts fehle. Kein Wort von Rüdlehr 
oder fonftigen Hinmeis auf die Zukunft. 

Alma widerjegte fih dem Anfinnen, Geld auf 
Schmieders Hypothek aufzunehmen, auf das ent: 
Ichiedenfte, fie Schien fi) gar nicht darum zu kümmern, 
wo die Mittel zu äbrer Pflege herfämen. ALS fie 
etwa vier Wochen Ipäter wieder ungehindert aus: 
gehen durfte, verkaufte fie ein Stüd ihres perjönlichen 
Belites nad dem andern und verharrte in ihrem 
thatlojen Hindämmern. 

So war der März berangelommen und ein 
vorzeitige Frühjahr goß feinen Sonnenjdein über 
die Erde, da Elopfte es eines Tages an ihrer Thür 
und Frau Niederfteiter trat ein. Alma fuhr vom 
Sofa in die Höhe und ftridh das verwirrte Haar 
aus der Stirn, fie hatte fi heute noch nicht frifiert. 

Frau Niederftetter jegte fich neben fie und nahm 
die hagere Talte Hand des jungen Gefchöpfs in ihre 
volle, lebenswarme. „Sch bin heute zu S$hnen ge: 
fommen, Alma, um einmal über S$hre Zulunft mit 
Shnen zu Ipreden, jo geht es nicht weiter, Sie 
gehen zu Grunde.” Ä 

„Bas liegt daran, Frau Profeffor,“ war bie 
müde Antwort, „mir wäre in der Erde am wohlſten.““ 

„Nein, jo dürfen Sie nicht |predden, Alma, 
das ift Sünde. Seder Menjch bat im Leben einen 
Plag auszufüllen und darf nicht vorzeitig vom Bolten 
laufen. — Sagen Sie mir, hat Schmieder Sie enb- 
gültig aufgegeben?” 

„Er jchreibt mir freundlid und ich glaube er 
dentt vorläufig noh an Wiederlommen, aber er 
hat ein empfänglidhes Herz; — wenn er fi wieder 
verliebt, was nicht ausbleiben wird, dann — dann 
macht er einen Strid dur die Vergangenheit.” 

„Wenn Sie davon überzeugt find, Alma, jo 
dürfen Sie biejen Zeitpunkt nicht abmarten. Eine 
verlaflene Frau, die dem Gatten nacdmeint, wirft 
mitleiderregend, eine verlaffene Geliebte, die fih in 
ihr Schidjal nicht finden kann, verädtlid. Sie 
gelten in Shrem früheren Belanntenfreile für das 
überredete Opfer eines Srrmahne und man bat 
Shnen Ssnterefle bewahrt. Erhalten Sie fich diejes 
und es fann noch alles gut werden. 

„Rafen Sie fih auf, Kind,” fuhr die Dame fort, 
als Alma jchwieg, „diefes müde Sichgehenlaffen muß 
aufhören. Zch will Shnen helfen mit Rat und That.” 

„zaflen Sie mid) fterben, Frau BProfeffor,” 
Iprah Alma tonlos, „ih Ffann nicht leben.“ 

Das Herz der alten Dame jhwoll vor Er: 
barmen und fie legte den Arm um die gebrochene 
Geſtalt. „Und Ihr Kindchen, Alma?” 

„Mein Kind iſt blödſinnig!“ ſchrie die Mutter auf, 
„jetzt weiß ich es und er hat es ſchon lange gewußt.“ 

„Dann gerade haben Sie eine doppelte Pflicht 
dem armen Würmchen gegenüber, denken Sie, welches 
Schickſal es hätte ohne das liebende Mutterherz.“ 

Alma ſchwieg wieder. 





— 


393 Ohne Gott. 





Kind,” Iprah die PBrofeflorin nad einigen Augen: 
bliden, wie von einem plößlicden Gedanken erfaßt. 
„Kommen Sie für eine Seillang zu mir. Mein 
Fremdenftübdhen jteht leer, da erholen Sie fi und 
tommen nad) und nach zu fich felbit. Ich will jehen, 
Ihnen inzwiſchen einen fjelbfländigen Wirkungstreis 
zu verfhaffen. Hier müflen Sie heraus, Sie dürfen 
nicht zu Grunde gehen. Hält Schmieder an Ihnen 
feft, jo können Sie fpäter immer no thun, was 
Sie wollen.” 

Alma beugte fich nieder und küßte die Hände 
der gütigen Frau. „Wenn ich no an einen Gott 
glaubte, würde ich jagen: Gott jegne Sie und ver: 
gelte hnen taujendfad, was Sie an mir und meiner 
verftorbenen Großmutter gethan haben. Seht jehe 
ih ein, wie jehr recht fie hatte, mich zu warnen. 
Sch bereue tief den Kummer, ben ich ihr machte.” 

„Ihre Großmutter ift mit einem Segenswunjd) 
für Sie geftorben,” tröftete Frau Niederftetter, „aber. 
nun jagen Sie, daß Sie fommen und ein neues 
Leben beginnen wollen.” 

„SH will es mir überlegen,” 
Unglüdliche. 

Frau Nieberftetter erhob fih. „Sa, überlegen 
Sie, aber mit rehtem Ernft und gutem Willen.” 

Sie trat no zur Wiege des Kindes, das 
förperlich gebieh, das heißt, wuchs und ftärker wurde, 
aber fi nicht aufredht halten konnte und in geiftiger 
Beziehung einem Neugeborenen glih. Mit tiefem 
Seufzer wendete fie fih ab und verließ unter freund: 
lihem Gruß das Zimmer. 

Als die warmberzige Frau fih ihrem Hauſe 
näberte, fiel ihr doch die Eigenmädhtigkeit, mit der 
fie Alma ein Afyl in ihrem Haufe geboten batte, 
ihwer aufs Herz. Wie, wenn ihr Gatte nicht ein: 
veritanden wäre? Bei dem innigen Einvernehmen, 
das zwilchen ihnen berrichte, war es jonft nicht 
üblih, daß ein oder der andere Teil fo tiefein- 
jchneidende Entichlüffe faßte, ohne die Meinung bes 
andern zu bören. Ste begab fi aljo jofort in 
fein Zimmer und fragte beinahe jhücdhtern, ob er 
Zeit für fie hätte. 

Der Profeffor murmelte no‘ ein paar Worte, 
während er fie flüchtig mit Bleiftift auf ein Papier: 
blatt warf, er wollte den Faden feiner geiltreichen 
Abhandlung nicht verlieren, dann jchob er das 
Papier zurüd und wendete fih freundlid um. Für 
die Gattin hatte er immer Zeit. 

„3 habe heute Furcht vor Dir,“ begann biefe, 
„id babe etwas ohne Dein Wiflen gethan, was auch 
auf Dich zurüdwirkt.” 

Er führte die Frau zum Sofa und nahm neben 
ihr Plag. „Dann ift gewiß das gute Herz mit meiner 
Anna durdgegangen,”“ fcherzte der Dann. 

Frau Anna late und berichtete eingehend den 
Sergang. 

„Ich glaube, es handelt jid um ein Menſchen⸗ 
leben, Friedrich,” Tchloß die Dame, „da konnte ich 
nicht anders.“ 

Der Profeflor firich liebevoll über den grauen 
Scheitel jeiner Gattin. „Nun, wenn Du nicht anders 


flüfterte Die 


Roman-Feitung 1896. 


Koman von ©, Karl. 


„3 will Shnen einen Vorſchlag machen, liebes 





394 


konnteſt, fo war es ja ſelbſtverſtändlich, übrigens 
habe ich auch gar nichts dagegen. Du haſt Dich 
ja nur für kurze Zeit gebunden und vielleicht glückt 
es Dir, das Dläbchen für immer zu einem hilfreichen 
Geift für Dih heranzuziehen. Du haft eine Hilfe 
nötig, mein liebes Herz, vergiß nit, daß Du eine 
alte Frau bift, wenn audh Dein Herz jung blieb.” 

Er ſchaute beforgt in das Gefiht ber Frau, 
das jett, nun die Spannung wid, deutlihe Spuren 
der Erihöpfung zeigte. Er trat an ein Wands 
Ihräntdhen, bolte Flafhde und Glas heraus und 
nötigte die Vebensgefährtin, ein Glas Wein zu trinten. 

„Du bift zu gut, Friedrich,“ wehrte fie ab, ale 
fie die Stärlung aus feiner Hand nahm, „und zu 
bejorgt um mich, ich habe ja unfere Klara und Hilde.” 

„Eine Todter, die Mann und Kinder bat, 
zählt nur halb, und Hilde wird uns auch nicht mehr 
lange gehören, Egon hat den Doktor gemadt und 
fommt zurüd.” 

Mit einem Ruf freudigen Erflaunens jprang Frau 
Niederftetter auf. „Egon ift Doktor ber Philofophie?” 

„Run, das Vergnügen bätte er jchon früher 
haben fünnen,“ war die Antwort, „die Sade bat 
feinen weiteren Zwed, als ihm einen Titel zu geben, 
aber fie ift die Vorftufe zum Privatbocenten, auf 
den er fpäter losgehen will.“ 

„Ih glaube, es war jehr klug von Egon, nad 
dem fchweren Konflitt mit feinen Eltern, für ein 
Semefter ganz fortzugehen,” meinte Frau Nieder: 
ftetter. „Ich hoffe, wenn er jett heimkehrt, findet 
er glatte Bahn. Mein Bruder ift chon gewonnen 
und bet meiner Schwägerin hat die Sehnjudht nad) 
dem. Sohn aud gute Früchte getragen.” 

„Ob Hilde no auf ihn Hoff?” fragte der 
Profeſſor, „es ift jest gerade ein Sahr Seit ihrer 
Trennung vergangen.“ 

„Die Hoffnung Tonnte wohl erft mit der Auf: 
gabe von Egons theologifhem Beruf wiederlommen, 
aber .giebt es denn überhaupt ein Xiebe, die nicht 
hofft? Ih glaube nur, fie „geitebt es fich jelbit nicht 
ein. Wann kommt Egon?” 

„Ih dente in einigen Tagen ſchon, nach der 
Promotion hält ihn dort nichts mehr.“ 

Das Ehepaar beſprach noch Näheres über die 
Unterbringung der jungen Frau und ihres unglüd: 
lien Kindes, dem der Hausarzt, der es gejehen 
hatte, nur eine furze Lebensdauer prophezeite; dann 
verließ Frau Anna das Studierzimmer des Gatten, 
um ihren häuslichen Pflichten nachzugehen. 

* a * 

Alma war nach Frau Niederſtetters Fortgang 
wieder auf das Sofa zurückgeſunken und ſtarrte nun 
vor ſich hin. — Sollte ſie den liebevollen Vorſchlag 
der Dame annehmen? Mußte ſie es um ihres 
Kindes willen? Sie wollte ſo gern ſterben, ſie 
fühlte, nun die Pflege der fremden Damen aufhörte, 
wie fie wieder täglich fhmächer wurde, denn fie lebte 
nur von dünnem Kaffee und Brot. Wenn das 
no‘ eine Weile fo fortging, farb fie gewiß. — Aber 
ihr Kind? — Sie hatte es fi noch nie Har gemadit, 
was beilen Schidjal fein würde. Db man es ins 





IV. 28 


395 Ohne Gott. 
Waiſenhaus brachte? Ob man Schmiever zwang, 
ih feiner anzunehmen? Sie wußte es nicht, weil 
die gejegliden Beltimmungen ihr fremd waren. 
Sgedenfalls ftieß es fich, wenn es am Leben blieb, unter 
fremden Menſchen herum, die kein Herz dafür hatten. 

Shre Phantafie führte ihr widerlide Scenen 
vor. Gie jah die Heine Ydiotin geichlagen werden, 
bungern und frieren, weil die Habjucht der Pflege: 
eltern fi an ihrem SKoftgelde bereihern wollte — 
Sie jah fie krank, verfämahten — nein, das durfte 
nicht fein, fie mußte leben für ihr unglüdliches Kind. 
. Die Kleine Hanna begann zu weinen und diejer 
Ton gab ben legten Anftoß. Sie erhob fich energilch 
vom Sofa, verjorgte das Kind und begann fidh an- 
zulleiden. Dazwiichen überjchüttete fie ihren Beinen 
Abgott mit Liebkojungen. 

Während fie ihr Haar ordnete, famen auch wieder 
andere boffnungsvollere Gedanken. Sie hatte ja 
feinen Bemeis, daß Hans fie verlaflen wollte. Nur 
daß er auf ihre flehentlihe Bitte, fie mitzunehmen, 
ftets mit „nein“ geantwortet hatte. „Er Tönne dann 
nicht ftudieren.” Daß er aber weiterlommen, jeine 
geiftigen Fähigkeiten ausnügen wollte, war ja nur 
zu billigen. 

Auch jetzt ſchrieb er ſtets herzlich — vielleicht 
fie zu jchwarz gelehen. — 

Sie beihloß, an Hans freundlich zu fchreiben, 
ihm ihre zeitweilige Überfiedelung in das Nieber: 
ftetteriche Haus — nur bis zu ihrer völligen Genefung 
— mitzuteilen und anzufragen, wo jeine Hausein- 
rihtung inzwilhen bleiben jole. Die Wohnungs: 
miete war nur bis zum erflen April bezahlt und fie 
ganz ohne Mittel. Dann mußte er ja etwas über 
. jeine Zufunftspläne äußern. 

Eben hatte fie ihren Anzug vollendet und auf 
dem Herde Feuer entzündet, um fi eine Suppe zu 
fochen, als e8 wieder Elopfte und eine Dame eintrat. 

Es war Emma Hinz, eine ber „vorurteilslojen” 
Srauen, die Schmieder ins Haus gebradt hatte. Syn 
einem Bußgeichäft bedienftet, war fie eine fleißige 
und gefchidte Arbeiterin, doch ließ ihr Lebenswandel 
mancherlei zu wünjchen übrig. Sie verftand es aber, 
diefen Umftand, wo e8 ihr vorteilhaft fchien, zu ver: 
bergen und galt für fehr folibe. 

„Warum ben Philiftern vor ben Kopf floßen,” 
fagte fie, „das wäre wenig Hug.“ Übrigens war 
fie eine Bufenfreundin der „blonden Thereje” ge 
worden und forreipondierte noch mit ihr. 

„Run, guten Tag, meine liebe Alma,” begann 
fie lebhaft, „ich hörte von Khrer jchweren Krankheit 
erit jegt auf weitem Ummege und jege meine freie 
Mittagsftunde daran, mid nad) Jhnen umzufchauen. 
Wie geht es denn jeßt?“ 

Alma berichtete mit gleichgültiger Miene, das 
Mädchen war ihr jehr urjympathiiy, bemühte fich 
auch, die Unterhaltung bald auf ein anderes Gebiet 
zu führen, fie wollte nicht nad) ihren Zulunftsplänen 
gefragt fein. Aber der Gaft jhien es gerade darauf 
abgejehen zu haben. 

„Werden Sie no von Herrn Schmieber unter: 
balten, oder wollen fie fi) wieder auf eigene Füße 
itellen?” fragte Emma ganz breift. 


Roman von E. Rarl. 


396 


Alma ftieg die Röte ins Gefiht und fie wußte 
nit, was fie jagen follte. „Hans hat mi nod 
nicht Mangel leiden lafjen,” ftotterte fie endlich, „aber 
ih weiß nicht, ob ich feine Unterftügung annehmen fol, 
jolange er abmejend ift, er braucht fein Geld jegt jelbft.“ 

„Allo Sie rechnen beflimmt auf feine Rüdkehr?” 
fragte Emma lauernd. 

„Gewiß,“ log Alma, „er fchreibt ja immer, daß 
er in einem Sahr fertig zu fein hofft, dann nimmt 
er eine Stelle an, wo er fie findet, und wir ver: 
einigen ung wieder. — 

Die Ärmſte ſprach mit einer Zuverſicht, als 
gäbe es keinen Zweifel für ſie. Das neugierige 
Mädchen ſollte ihr nicht ins Herz ſehen. 

„So —?“ ſprach Emma gedehnt, „das klingt 
freilich anders als Thereſe mir ſchrieb.“ 

„Wer Ichrieb?” fragte Alma, während ihr Herz 
ihlag zu floden jchien. 

„Meine Freundin Therefe Bloch, die bier bie 
‚blonde Thereje‘ genannt wurde. Sie ift feit hem 
erften Februar im Biltoriafalon in Dresden engagiert 
und Ipricht Herrn Schmieder faft täglih. Durd fie 
erfuhr ih au von Shrer Krankheit.” 

Vor Almas Augen wurde e8 Naht und jett 
erft wurde es ihr Har, baß die Hoffnung bisher noch 
nie ganz in ihr erlojchen geweien war. Troß Ber: 


. zweiflung und Todesjehnfucht hatte immer noch ein 


Fünthen davon in ihrem Herzen gelebt. Sekt exit 
war e$ ganz aus damit. 

„Das ift nicht möglid, das Tann nicht fein,” 
feuchte fie, erhob fi und wollte — ja, was wollte 
fie? — €s kam nicht zur Ausführung, ohnmmädhtig 
jant fie zu Emmas Füßen nieder. 

Das Mädchen, auf einen Sturm gefaßt, erichrat 
bob — das fam unerwartet. Mit geichidten Händen 
bob Emma die Ohnmäcdhtige auf, löfte ihr die Kleider 
und bHolte Wafler herbei. Aber Alma lobnte ihr 
ihledht. Sobald fie wieder bei Befinnung war, fließ 
fie die helfenden Hände zurüd und rief unaufhörlid: 
„ort, fort, ich will allein ſein.“ 

Da begnügte fie fi, ein in der Nähe befind- 
liches Tuch über die Tiegende zu breiten und verließ 
eilig das Zimmer. 

Während fie flüchtigen Fußes die Treppe hinab: 
bujchte, flüfterte fie vor fih bin: „Du kanuft zu: 
frieden fein, Thereje, ich habe Dir hier vorgearbeitet. 
Den nädften Brief Almas wird Schmieder fidh nicht 
an den Spiegel fteden.“ 

Alma lag unbeweglihd — das Feuer auf dem 
Herde erlojh, das Kindchen begann zu fchreien und 
Ichlief endblid vor Erjhöpfung wieder ein. 

Schon fant die Sonne und immer nod) lag 
Alma ohne fich zu regen. Nur einmal war fie heftig 
aufgeiprungen und hatte den Riegel vor die Ein- 
gangsthür geitoßen, weil fie Schritte zu hören ge: 
meint hatte und feinen Menfchen jehen wollte. Dann 
batte fie fich wieder in ihrer Ede sulammengefauert 
und vor fich bingeftarrt. 

Es waren jchauderhafte Bilder, die dur ihr 
Hirn zogen. Sie jah ihren Hans von Therejens 
Arm umfhlungen, fie hörte ihn alle die Worte der 
Leidenichaft in das Ohr der Blonden flüftern, bie 


397 


einft ihre Seligleit gewejen waren. ebe unver: 
geklihde Stunde ihres BZujammenlebense mit Hans 
tauchte wieder aus dem Nebel der Vergangenheit 
auf, aber greifbar deutlich jah fie Therefe an ihrer 
Stelle. Zhr galten jeine Küffe, feine Liebesworte — — 
Mit einem Schrei fuhr fie endlich in die Höhe und 
ftarrte um fid. 

Es war im Zimmer ganz dunkel geworben, 
nur von draußen leuchtete der mondbelle Frühlings: 
bimmel binein. 

„Sterben, fterben,“ flüfterte fie wie im Traum, 
„wenn auch ber Tod die Vernichtung ift — — lieber 
das Nichts als diefe Dual.” 

Sie ordnete ihre Kleider nah dem Gefühl, 
büllte fi in das große Tuch, mit dem Emma fie 
zugededt hatte, nahm ihr leile wimmerndes Kindehen 
in den Arm und jchritt der Thür zu. Noch einmal 
horchte fie, ehe fie auf die Treppe hinaustrat, ob kein 
Menih in der Nähe fei, dann floh fie hinab unb 
mwenbete fi faft laufend dem Stadtpark zu. 

Starr und winterlih flanden in biejer frühen 
Ssahreszeit die Bäume, aber von den Wiejen duftete 
es nah friihem Erdreih und das jonft jo träge 
Bädhlein pläticherte in ungewohnter Waflerfülle dem 
erlenumftandenen Weiher zu. Auch diejer hatte feine 
Fläche weit ausgebehnt und eine zierliche Brüde, die 
fonft an feinem Ausfluß in weitem Bogen über 
fumpfiges Moorland führte, lag jeßt falt auf ber 
Ipiegelnden Fläche. — Bor der fanften Anhöhe da- 
neben ftand die Banf, auf der Alma fo oft mit 
Hans gejefien hatte. Sie jeßte fih auch jetzt darauf 
nieder und flarrte auf das Abbild des Mondes im 
Waſſer. 

„Du winkſt mir, alter Freund,“ ſprach ſie das 
Bild an. „Ich komme, ich komme — ich gehe ins 
Nichts — das weiß ich — Hans hat mich ja gelehrt, 
daß ‚Gott‘ und ‚Ewigkeit‘ nur menſchliche Begriffe 
ſind. — Wenn ich Deinen Glauben hätte, Groß— 
mutter, den ſchönen Irrtum, der Dich das Leben 
ertragen ließ — ja, dann ertrüge auch ich es vielleicht, 
aber ſo — leben, um zu arbeiten — ohne Freude, 
ohne Hoffnung, mit dem Bewußtſein, daß ich mein 
Teil am irdiſchen Glück genoſſen habe und nun ab— 
gefunden bin — daß, was ich einſt liebte, nun einer 
anderen gehört — nein — lieber vergehen in ewiger 
Nacht. — Ich komme, Mond — ich komme ſchon —“ 

Sie drückte ihr immer noch wimmerndes Kind 
feſt an die Bruſt und ſchritt auf die Brücke zu, an 
der ein Stück Geländer fehlte, man beſſerte gerade 
aus, was der Winter beſchädigt hatte. 

Das Mondbild im Waſſer ſchien zurüchzufliehen, 
als ſie ſich näherte. Dunkel lag es unter ihr, als 
ſie an die Breſche trat. Sie erhob den Blick zu dem 
Geſtirn, dem ſich gerade eine große, ſchwarze Wolke 
näherte, um darüber hinzuziehen. 

„Du willſt mir nicht leuchten, Mond? Mein 
Weg ſoll dunkel ſein?“ flüſterte die Unglüdliche, 

„duntel — ganz dunlel — mie die ewige Nacht. — 
Hans — 0 mein geliebter Sans — — — 

Die Ihwarze Wolfe 309 über den Mond — — 
als jein Silberlicht fich wieder frei über den weiten, 
ftillen Park ergoß, war die Brüde leer. 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 





398 





XVI. 


Das Ehepaar Niederſtetter ſaß am nächſten Vor—⸗ 
mittag beim Frühſtück, als Frau Köhler hereinſtürzte 
und, ganz gegen ihre ſonſtige höfliche Gewohnheit, 
auf den nächſten Stuhl ſank. 

„Ach Gott, Frau Profeſſor, unſere Alma iſt tot.“ 

Mit einem Schreckensſchrei fuhr die Dame von 
ihrem Stuhl in die Höhe. „Sie hat ſich das Leben 
genommen!“ 

„Ja, heute früh haben ſie die Arbeiter, die im 
Stadtpark das Brückengeländer ausbeſſern, im Waſſer 
gefunden. Ihr Kind hat ſie im Arm gehabt.“ 

„Und hat ſie ganz unbemerkt das Haus verlaſſen?“ 

„Ja, es hat ſie keiner mehr geſehen. Ich war 
ſo gegen vier Uhr an ihrer Thür, fand ſie aber 
verſchloſſen und es rührte ſich innen nichts. Da 
dachte ich, ſie ſei bei dem ſchönen Wetter mit dem 
Kinde ausgegangen.“ 

Frau Niederſtetter hatte tief erſchüttert die Hand 
über die Augen gedrüdt. Sie hatte es jo gut mit 
der Unglüdlihen gemeint, fie hatte fon im Geift 
fie unter ihrer Führung fi) zu einem neuen Menjchen 
entwideln jehen. Nun war alles umfonft gemejen, 
ein blühendes Leben hatte fich jelbft vernichtet. 

„Db man wohl Schmieder fofort benachrichtigen 
fol — er hat doc bisher jeine Verbindung mit 
Alma nicht gelöft?” fragte fie ihren Gatten. 

„bhne Zweifel, er muß Doch aud Anweiſung 
in betreff ſeines Hab und Guts geben. Doch i 
mag nichts mit ihm zu thun haben, vielleicht —* 
ihm Frau Köhler, aber heute noch.“ 

Man beſprach noch allerlei Geſchäftliches, das 
unglückliche Mädchen mußte doch beerdigt werden, 
dann ging Frau Köhler, und das Ehepaar blieb tief 
erſchüttert zurück. 

Vier Tage ſpäter wurde Alma mit ihrem Kinde 
auf dem Friedhof neben dem Stadtpark zur Ruhe 
gebettet. Ihr Schickſal hatte in ihrem früheren Kreiſe 
viel Teilnahme erregt und ſo fand ſich ein beſcheidener 
Trauerkreis um das offene Grab verſammelt. Von 
der Begleitung eines Geiſtlichen hatte man mit 
Rückſicht auf Almas Anſchauung Abſtand genommen. 
So wurde denn der einfache Sarg ſchweigend in die 
Gruft geſenkt und nur einige Hände voll Erde 
deuteten ſymboliſch darauf hin, daß teilnehmende 
Herzen die Beſtattung vollzogen. 

Aber nicht dieſe kleine Zahl ihrer alten Freunde 
allein hatte ſich zu Almas Begräbnis in aller Sonn: 
tagsfrühe verſammelt. In weitem Bogen ſtanden 
Scharen von Arbeitern mit ihren Angehörigen um 
den intimeren Kreis und es war nicht nur Wohl— 
wollen, was aus den Geſichtern ſprach. Schauluſt, 
Neid und Klatſchſucht hatten ein breites Kontingent 
geſtellt und auch eine Schar mitleidloſer Tugend: 
prieſterinnen ſtand in der Nähe und gab ihrer inneren 
Befriedigung über den tragiſchen Ausgang dieſes 
intereſſanten Romans im Flüſterton Ausdruck. 

Egon Schmidt, der geſtern heimgekehrte junge 
Doktor, ſtand neben ſeiner Tante und beobachtete 
ſchweigend den Ausdruck in den Geſichtern der Um— 





399 


fiehenden, er jprach deutlih genug. Set trat er 
ale (e$ter an die offene Gruft und nahm eine Hanb- 
vol Erde auf, aber wie von einem plößlichen Sim: 
puls erfaßt ließ er fie mieber finfen, richtete ſich 
hoch auf und gab dem Totengräber einen Winf, fich 
zurüdzuziehen. Dann erhob er die Stimme und ſprach 

„Wenn ich in dieſem feierlichen Augenblick das 
Wort ergreife, ſo geſchieht es nicht als Diener der 
Kirche, ſondern als Menſch, der ſeinem Mitmenſchen 
ein letztes Lebewohl in die Gruft nachruft. Wie ich 
hoffe im Namen vieler. Wo immer zwei Augen für 
ewig ſich ſchließen, da wird in den Reihen der Über— 
lebenden das Urteil laut und zieht aus dem Leben 
des Verblichenen die Summe. Gutes und Böſes, 
Großes und Kleinſtes wird in den Bereich der Schätzung 
gezogen und je nach dem Grade perſönlicher Zu⸗ oder 
Abneigung vermehrt und vermindert. Zur Ehre des 
Menfchenherzens fei es ‘aber gejagt, daß der Tob ver: 
jöhnend wirkt und auch das herbfte Urteil vor feinem 
ernften Angeſicht ſich mildert. 

„Die rau, die wir bier beitatten, bat gefehlt 
gegen bie herfömmliche Sitte, aber fie that e& in dem 
Mahn, damit an ihrem Teil einer neuen, heilbringenden 
dee zum Siege zu verhelfen. Wer aber aus Über: 
zeugung den Mut zu folder Aufgabe feines Selbft an 
eine bee hat, den fol man adten, felbft wenn er 
irre geht. Wenn ein Bolleftamm in Wüfte und 
Einöde fhmachtet, fo dringen wohl die Kühnften feiner 
Angehörigen vor in die umgebende Wildnis, einen 
Pfad zu Juden, ber zu befieren Gefilden führt, und 
bie ihnen zugethban find, folgen 'vertrauengvoll ihrer 
Führung, um mit ihnen zu fliegen oder unterzugehen. 
Wird ihr Suden von Erfolg gekrönt, fo preift man 
fie als Pfadfinder, gehen fie in bie Srre, jo ift Hohn, 
Shmadh und Tod ihr 208. 

„Schmad und Tod ift auch das Xo8 diefes jungen, 
blühenden Wefens gemwejen, das vertrauensvoll einem 
Borangebenden folgte — in die Sjrre. — Denn in 
bie $rre geht jeder, ber den ficheren Boden des fittlichen 
Geleges verläßt. Es ift nit vom Menjchenverftand 
willkürlich gebildet, es ift ein Naturgejeß wie jebes 
andere, und wo immer in Zeiten ber Zügellofigfeit 
feine Grenzen fi verwildhten, da war Linheil und 
Untergang die Folge. Die Verftorbene hat es über: 
treten aus zu großem Vertrauen, aus zu großer Liebe, 
darum fordere ih Achtung für fie und Mitleid mit 
ihrem tragiihen Geſchick. Wir find nicht berufen, 
fie zu richten, wir haben auh uns das Wort des 
reinften Menjhen, der gelebt, — Yejus — ins Ge: 
bächtnis zu rufen: ‚Wer ohne Sünde ift, ber werfe 
den erften Stein auf fie‘.“ 

Er firedte die Hand über die Gruft und fchloß: 
„So jhlafe denn fanft, Du Verführte, und nimm 
den Segen Deiner verewigten Großmutter, den ich 
Dir im Leben nicht mehr bringen durfte, mit ins 
Grab. Sei Dir die Erde leicht.“ 

Er trat zurüd und die Totengräber walteten 
ihres Amtes. 

Mäbhrend der Hügel fi mehr und mehr wölbte, 
zeritreuten fi die Zufchauer und nur Frau Nieder: 
ftetter und Egon blieben noch in der Nähe, um ein 
paar Kränze auf das fertige Grab zu legen. Sie 





Ohne Gott. Roman von €. Karl. 





400 





Iritten in einer feitwärts gelegenen Allee auf und ab 
und vertieften fi jo in ihr Geipräcdh, daß fie bie Zeit 
darüber vergaßen. Der Friedhof war ganz leer, als 
fie endlih zur Ausführung ihrer Abficht jchritten. 

Über den einfanten, dunflen Erbhügel hingemworfen 
lag eine große Männergeftalt, die auch nicht aufichaute, 
als die Dame mit dem jungen Mann berantrat. 
FStagend blidte Frau Niederftetter den Neffen an, 
ber ebenfalls jchweigend die Achleln zudte. Da hob 
der Mann fein bärtiges Haupt unb- zeigte Jchmerz- 
zerrifiene Züge. — Es war Schmieber. 

Zangfam erhob er fi vom Boden und blidte 
bie in fpradlofer Überrafhung vor ihm Stehenden 
wie geiftesabwejend an. „Das habe ih nicht ge: 
wollt — das nicht — ich habe es ehrlich gemeint —“ 
ftammelte er mehr als er jprad. „Ach wollte Alma 
nicht verlaffen — ich fonnte nur das elende Kind 
nicht anfehen — und fie weinte jo viel —“ Er ftarrte 
auf das Grab nieder. 

„Ss ift jeßt nit an der Zeit, mit Ihnen zu 
rechten, Herr Schmieder,“ ſprach Frau Niederſtetter 
ſanft, „Ihre Verbindung mit Alma iſt an der inneren 
Unſicherheit zu Grunde gegangen, die erſt ihr Glück 
und dann ihr Leben koſtete. Nur ſehr leichtſinnige 
Menſchen können genießen, was ihnen in jedem Augen⸗ 
blick genommen werden kann. Alma aber war nicht 
leihtfinnig und hat Sie über alle Maßen geliebt.“ 

Mit einem Webelaut Shlug der Mann die Hände 
vor das Gefiht und fanf wieder auf das Grab nieder. 

Frau Nieberftetter blidte zögernd auf die un: 
geordneten Kranzipenden, aber fie wollte ben ver- 
zweifelten Mann nicht jtören. —- Leile verlieh fie 
mit Egon den Friedhof. 

Am Nachmittag meldete ihr Frau Köhler, die 
fie hinausgefendet hatte, daß Schmieder vor kurzem 
in feiner Wohnung gemejen fei und dort Bapiere an 
fih genommen habe. Dann fei er fortgegangen, habe 
ihr wieder den Schlüffel gegeben und auf ihre Frage, 
was mit feinen Sadhen werden jolle, geantwortet: 
das fei ihm ganz gleichgültig. 

* : * 

Am Abend des Tages trat Egon wieder bei ſeinen 
Verwandten ein und traf dort zufällig mit Profeſſor 
Steiner zuſammen. Egons Herz ſchlug hoch, als er 
ſo plötzlich dem Vater ſeiner immer noch Geliebten 
gegenüberftand. Der Profeflor aber blieb völlig gleich: 
mütig und half ihm damit über das Peinliche des 


Miederjehens hinweg. Eingehend erkundigte er ſich 


nach Egons Lebensplänen und erklärte ſich damit ein⸗ 
verſtanden, beſonders, daß er ſich zunächſt als Philologe 
eine ſichere Stellung zu erringen verſuchen wollte. 

„Mein letztes Ziel iſt aber eine Profeſſur,“ 
ſchloß Egon. 

„Sie thun bei Ihrer rhetoriſchen Begabung auch 
gut, daran zu denken. Auf welches Specialfach gehen 
Sie aus?“ 

„Philoſophie, Herr Profeſſor, ſie reizt mich am 
meiſten, doch werde ich ſtets von realem Boden aus: 
gehen und mich nie in ſpitzfindigen Spekulationen 
verlieren.“ 

„Hm, hm,“ machte der alte Herr nachdenklich. 


401 Ohne Gott. 
„Run, das hat no Zeit, erit jorgen Sie, daß Sie 
zu Brot kommen.” 

Er wendete fih abjichiednehmend zu feinen 
Freunden und dann mit den Worten an Egon: „I 
hoffe, Sie lallen fi bald jehen.“ 

Sn Egon wallte es heiß auf, er ergriff die Hand 
des alten Mannes und blidte ihm feit ins Gefidt. 
„Darf ih denn kommen, Herr Profefjor?” 

Auge traf auf Auge und der Angeredete wußte, 
daß es eine inhalifcehwere Frage war, bie ber Junge 
an den Alten richtete. Faft gerührt bafteten feine 
Blide auf dem jugendliden, erregten Geliht, dann 
Iprad) er in fcherzendem Ton: „Muß ich alter Heide 
Shnen die Bibel citieren? ,‚Bittet, jo wird Euch 
gegeben, Elopfet an, jo wird Eu aufgethan‘.” 

Er drüdte no einmal Träftig die Hand des 
jungen Mannes und war zur Thür hinaus, ehe diejer 
zu Wort fam. 

Egon aber trat jchnell in das Kleine Neben: 
zimmer — der Profeflorin Allerheiligftes — und 309 
die Thür hinter fi zu. Nicht nur der Schmerz, 
au das Slüd will allein fein, wenn e8 das Menfchen: 
herz in jeinen tiefiten Tiefen erjchüttert. 

Am nächſten VBormittage Ichritt Egon auf das 
Haus feiner Geliebten zu. Schon von fern erfpähte 
er den blonden Kopf zwilhen den Gardinen ihres 
Senfters, aber er verfchwand bei feinem Näherkommen. 
Wie durh Zauber thaten fi die Thüren vor ihm 
auf, das „Anklopfen” blieb ihm eripart. 

Und dann fand er das Mädchen auf ber Schwelle 
des reizenden Kleinen Boudoirs und es flog ihm 
lahend und mweinend an die Bruft. 

„Die Schranke ift gefallen, Egon, jeßt darf ich 
Dir gehören.” 

Und „mein, mein,“ jubelte der Mann, während 
er die endlich Gemwonnene feit an fein Herz Tchloß. 


* * 
*vᷣ 


Vierzehn Tage ſpäter wollte das gaſtliche Haus 
Niederſtetter ſeine Pforten öffnen, um im engſten 
Familien- und Freundeskreiſe das Brautpaar bei ſich 
aufzunehmen. Es war bei ſolchen Anläſſen Gepflogen— 
heit, Frau Minna Köhler zur Stütze bes Dienft: 
perſonals zu engagieren, und Frau Niederftetter be: 
nutzte einen Geſchäftsgang, um perſönlich bei ihr 
vorzuſprechen. Sie fand die Thür verſchloſſen, der 
Knabe war in der Schule und auch Minna aus— 
gegangen, der Armenverein hatte ſie gegen gutes Ge— 
halt als Botenfrau engagiert. 

Verdrießlich über das Hindernis ſtand die Dame 
vor der Hausthür und überlegte, an wen ſie wohl 
ihre Botſchaft ausrichten ſolle, da fuhr ein Handwagen, 
von zwei Männern geführt, vor die Thür, und zu 
gleicher Zeit kam eine Frau, die ihn erwartet zu haben 
ſchien, die Treppe herunter. Es war Frau Schmieder. 
Ihr blaſſes, dunkelumrahmtes Geſicht zeigte denſelben 
ruhigen und feſten Geſichtsausdruck wie damals, 
als Frau Niederſtetter ſie in ihrem Vaterhauſe auf— 
geſucht hatte. 

Die Frauen begrüßten ſich und Frau Schmieder 
wendete ſich erklärend an die alte Dame: „Ich ſehe, 


Roman von E. Karl. 





402 


Sie ſind erſtaunt über meine Anweſenheit, aber ich 
kann doch nicht das Hab und Gut meines Mannes 
preisgeben. Schmieder iſt nicht aufzufinden und ſeine 
Wohnung muß übermorgen geräumt ſein, da bin ich 
doch die Nächſte dazu, um Rat zu ſchaffen. — Ich 
babe mich als legitime Frau ausgewiejen und die Er: 
laubnis erhalten, die Sahen an mid zu nehmen. 
Eben bin ich dabei, ein Verzeichnis aufzunehmen. 
Wollen Sie fih nicht hinaufbemühen? Frau Köhler 
muß bald kommen, fie wollte mir helfen.” 

Sie ging ber Dame voraus die Treppe binauf 
und öffnete ihr oben die Thür. Es berührte Frau 
Niederitetter ganz cigen, in den Räumen, die Alma 
bewohnt hatte, eine Sremde, als die eigentlich Be: 


techtigte, walten zu eben. 


Frau Schmieder hatte bereits allen perjönlichen 
Belig Almas, der fehr zujammengefhmolzen war, 
ausgefondert, er fiel an eine entfernte Verwandte. 
Sept gerade war fie dabei, das Silberzeug nebft 
anderen fleinen Lurusgegenftänden aus dem Haus: 
halt der Frau Rendant in eine fefte Kifte zu verpaden. 

„Diele Gegenftände werde ich, als nicht mir ge- 
börig, ‚nie gebrauden,” fagte fie, darauf beutend. 
„Die Möbel in derfelben Weile ruhig ftehen zu lafen, 
fehlt mir der Raum, fie müflen daher den Plaß, den 
fie einnehmen, gemwifjermaßen verdienen. Sch babe 
eine Wohnung in ber Wafleritraße gemietet, um 
einzelne Zimmer an Penfionäre zu vergeben, da hat 
jedes Räumen feinen Wert. Aber ich werde fie 
halten wie meinen Augapfel. Wenn Schmieder |päter 
nichts anderes mehr hat — und bei feiner Ruhe: 
lofigfeit wird er nie auf den grünen Zweig kommen 
— fo fol er wenigftens fein altes Net finden. ch 
bin doch einmal feine Frau, wenn e3 auch für mid) 
bejfer gemwefen wäre, ich hätte ihn nie fennen gelernt, 
fo will ih wenigitens meine Pfliht thun.” Sie 
wintte den Arbeitern und gab ihnen Anweijungen. 

Frau Niederftetter trat an die leere Wiege des 
Kindes und blidte jchweigend darauf nieder. „Das 
Kartenhaus ift zufammengefallen, ohne eine Spur zu 
binterlafen; arme Alına, deren junges Leben darum 
zerftört werden mußte.” 

E8 duldete die Frau nicht länger in dem traurigen 
Naum, fie hinterließ eine Beftelung an Minna und 
fagte Frau Schmieber herzlich Lebewohl. Sie mußte 
die Frau bewundern, die jo ruhig und mie felbftver- 
Nändlich die Antereflen ihres treulojen Mannes vertrat. 

Frau Nieberftetter war erit ein Kleines Stüd 
die Straße hinaufgegangen, als fie Frau Köhler traf. 
Sie richtete ihre Beltellung aus und fragte dann, 
Ihon im Begriff weiter zu fhreiten: „Und wie geht 
es Deinem Mann? Bilt Du mwirklih dort gemwelen?” 

„Sa, Frau Profefjor, vorgeftern hab’ ich nid) 
freigemadht und bin binübergefahren. Es geht ihm 
gut, und er bat fi bei dem regelmäßigen Leben 
und guten Efien jehr erholt. Auch in feinem Gemüt 
ift er ein ganz anderer geworden. Er glaubt wieder 
an den lieben Gott, der ihn jo gnädig Davor be: 
wahrt bat, ein Mörder zu werden, nun wird er 
auch wieder ein ordentlider Menih. Der Aufjeher 
lobt ihn fjehr und der Pfarrer auch.“ 

„Nun, das freut mich redht, Minna,; was wird 





403 


er aber unternehmen, wenn er zurüdlommt? Ein 
Zuchthäusler findet jchwer Arbeit. 

„Der Herr Pfarrer dort nimmt fich der Leute, 
die fih gut Halten, naher an und bejorgt ihnen 
Arbeit. Er bat jhon fo feine Kundichaft. Köhler, 
als verbeirateter Mann, joll über drei Jahr in 
eine große Ziegelei kommen. Da wird er, wenn er 
ich gut führt, nad) einem Jahr feit angeftelt. Dann 
fommt er gar nicht mehr hierher und ich ziehe zu 
ihm. Wir wohnen auf dem Dorf, und ich werde 
für die Bauernfrauen fchneidern und weben. Ich 
Ipare jegt Schon von meinem guten Verdienft foviel 
ih kann für die erfte Zeit.“ 

„Dann fängt aljo für Euch beide ein neues 
Leben an, Minna.” 

„sa, gnädige Frau, und der liebe Gott mög’ 
belfen, daß es ein befjeres wird.” 

Die Dame blidte teilnehmend in das verblübhte, 
vergrämte Geliht, auf dem fich wieder ein Strahl 
frober Zuverficht hervorzumagen begann, und jprad 
leife im Weiterfchreiten, nachdem fie fih freundlich 
verabſchiedet hatte: 

„Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden.” — — 

Als es am nähften Tage bunfelte und Frau 
Brofefjor Niederftetter no einmal dur ihr feitlich 
geihmüdtes Heim jchritt, Das, wie immer, jchon eine 
Stunde vor der Zeit zum Empfang ber Gälte bereit 
war, wurde die Glode gezogen und das Dienft- 
mädchen überbracdhte ihr einen Brief. Erftaunt be: 
trachtete fie das große Couvert mit dem fremd: 
ländifhen Stempel, ben fie als englüchen erkannte. 
Southampton entzifferte fie endlich. 

Sie ließ fih an ihrem Schreibtifch nieder und 
las beim Schein der Kerzen ben Brief, der „Hans 
Schmieder” unterzeichnet war. 

„Snädige Frau! Ich babe den Staub des 
Landes, in dem meine Wiege ftand und das die 
Sppealiften ‚Heimat‘ nennen, von meinen Füßen ge- 
jhüttelt und lege das Meer zwijchen meine Ber: 
gangenheit und Zukunft. Der erwähnte Staub 
fing an mir zu Kopf zu fteigen und vereint mit 
dem Dunjt eines gemwillen Wallers mein klares 
Gehirn zu umnebeln. 

Da war es an der Zeit, einen Stridh durch 
alle Sentimentalitäten zu maden und einen anderen 
Boden unter die Füße zu nehmen. m Augen: 
blid ift diefer Boden noch etwas jchmwanfend, denn 
er bejtehbt aus den Planten des guten Schiffes 
‚Hoffnung‘, auf dem ich nach dem freien Amerika 
binüberdampfe, aber er wird fich feitigen wie meine 
Zukunftspläne. 

Mein Weg geht nach dem fernen Weſten, 
vielleicht auch Süden des kolumbiſchen Erdteils, 
wo es noch Raum giebt für Manneskraft und 
Mannesmut, wo eine von feiner veralteten Über: 
fultur entnervte Bevölferung wohl mehr Ber: 
tändnis für die Lehre von Freiheit und Sleichheit 
haben wird, als die unferes zopfigen, jentimentalen 
und in Vorurteilen erjtarrten Deutichlands. Dort 
wil ih fjehen, den Samen zu ftreuen für eine 
neue Zeit. — 

Warum ich Yhnen, gnädige Frau, die feine 
Sympathie für meine Beitrebungen bat, Diejes 


Ohne Gott. Roman von ©. Karl. 


404 
fchreibe? — Se nun, der Menih ift ein Ge: 
jelichaftstier und kann der Mitteilung an andere 
nicht entraten, und zudem — Sie haben einem Wejen, 
das mir unendlich teuer war, Gutes gethban, — 
ih möchte Ihnen ein Zeichen geben, daß ich Shrer 
in Dankbarteit gedente. " 

Sie werben vielleicht fragen, ob ich bereue, 
Alma an mein Herz genommen zu haben, und 
ih muß Ahnen, troß allem, mit ‚nein‘ antworten. 
Einige Tage freilih babe ich bedenklih mit dem 
Revolver liebäugelt, aber die Vernunft bat endlich 
den Sieg bavongetragen. 

Nur eines bedauere ich tief, das Weib, das 
ih liebte, nicht vorweg in bie reinere Zuft der 
amerilanifhen Wildnis entführt zu haben. Nicht 
ih bin ihr Mörder, bie Vorurteile der anderen 
und ihre eigene Sentimentalität waren es. Warum 
nahm fie mich nicht wie ih bin, fie kannte doc 
meine Anihauungen; warum wollte fie mich zum 

' Schmacdhtenden Ritter umftempeln, für den feine 
andere Frau mehr eriftieren follte. 

‚Die Rofen brechen, jolange fie blühen, den 
Mein trinfen, wenn er in Slaje perlt, und fi 
über Vergangenes nicht grämen, denn ewig ift 
nur der Wedel.‘ Warum machte fie dieje, meine 
Lebensmweisheit nicht zu der ihrigen. Wir hätten 
Freunde bleiben fönnen bis an unjer Ende — 
warum fonnte fie fi in diefen natürlichen Um- 
\hmwung nicht hineinfinden. 

Armes junges Weib, das nicht flark genug 
war für die Wahrheiten einer neuen Weltorbnung. 
Möge Dein Staub in Frieden ruhen, die Er: 
innerung an Di, wie an ein Holdes, Schönes, 
wird mich durch mein ganzes Leben begleiten! 

Und nun — vogue la galere! — Die Reue 
ift nur für Schwädhlinge.” — — 

Frau Niederftetter faß no nadhbdentlih auf 
ihrem Plat, als ihr Gatte zu ihr trat. Eie blidte 
zu ihm auf und reichte ihm wortlos den Brief. 

Der Profellor las bas Schreiben aufmerkjam 
dureh und faltete es zufammen. 

„Du ftehit mich völlig Ipradhlos,” begann Frau 
Niederftetter endlid. „Ih glaubte Schmieder von 
Neue verzehrt und ftatt berjelben diefer frivole, 
phrajenreihe Brief.“ 

„Menjhen feiner Art bereuen nicht und fehren 
auh von ihrem Wege nidt um,” meinte der 
Brofefior, „da ihre Eitelleit ihnen verbietet, den 
Grund irgend welden Mißgeihids oder Mißerfolgs 
im eigenen Innern zu fuhen. So müflen denn 
Verhältniffe und Menfchen herhalten.” 

„Arme Alma,” fprad Frau Niederftetter leife, „To 
nul[o8 geopfert und nicht einmal gewürdigt zu werden.” 

„Nicht nußglos, Anna,” Iprad der Profellor, 
„jede DOppofition gegen das Herklömmliche jchafft 
Nugen, denn fie trägt zur Klärung bei und ver: 
hindert ein Erftarren und Stagnieren im Altherge- 
braditen. Ohne LDppofition fein Fortichritt. Die 
Hefe in richtiger Menge wirkt mwohlihätig, nur ein 
Zuviel treibt Die Mafje zur Sormlofigkeit auseinander. 
— Was ein Teil unferer Neuen fordert, gehört aller: 
dings zu diefem Zuviel. Almas Schidjal zeigt die 
Kehrjeite der Theorien, die die Apoftel der freien 








405 





Liebe prebigen. Alle Boeten und Schriftfteller fchließen 
ihre Romane und Abhandlungen mit der leiden: 
Ihaftlihen Hingabe des Weibes an den Mann, was 
Ipäter lommt, danad) fragt niemand. Alma bat ge 
zeigt wie es fommen Tann, ihr Schidfal ift eine 
Überfegung der Theorie in die Praxis. So kann es 
zur Klärung der Anihauungen beitragen und der 
Menichheit mehr nüßen, ald mandes im Genuß ver: 
brachte Dafein. Auch ich fage: ‚SFsriede ihrer Ajche.‘” — 

Eine halbe Stunde jpäter füllten fidh die gaft- 
lichen Räume mit froben Menfchen. 

Da erichien, im Kreije der Seinen, Herr Wahr: 
bolm, der in völliger Gejundheit heute zufällig den 
Sabrestag jeiner Entlaffung aus der Klinik feierte. 
Da war der Oberlehrer Baumgart, der Schwieger: 
john der Gaftgeber, mit feiner liebenswürdigen Gattin. 
Da war Profefjor Steiner, jegt ausgejöhnt mit ber 
Wahl feiner Tochter. Wäre ihm audh ein Mann 
feiner Dentart ale Schwiegerjohn lieber gemweien, jo 
ging ihm das Glüd feines einzigen Kindes doch über 
das eigene Wünfchen. Und Hilde war glüdlich. 

Wer fie in ihrem weißen Kleide daftehen jah — 
die Hände um ein Meines Sträußchen roter Rofen 
geichloffen, die Egon ihr gebracht hatte, und bie ver: 
Härten Augen über alles Gegenwärtige hinweg wie 
in eine himmlische Zukunft gerichtet — dem erjdien 
fie wie eine Berjonifilation des Glüds, jenes hoben, 
reinen Glüdes, dem bie Erde unter den Füßen zu 
verIhwinden jcheint, um himmlischen Wolfengebilden 
Pla zu maden. 

Auch Egons Eltern waren gelommen, fih am 
Glüd des Sohnes zu freuen. Es hatte harle Kämpfe 
zwilchen ihnen gegeben, und namentlih die Mutter 
fih Tchwer von der Hoffnung, ben Sohn auf der 
Kanzel zu fehen, die ihre Väter durch Generationen 
eingenommen batten, getrennt. 

Aber nun war das Schwere überwunden, nichts 
Nörte mehr die Harmonie der Familie, und Hilde 
hatte im luge das Herz der Schwiegereltern erworben. 
So verlief das Felt in ungetrübter Heiterkeit und 
bildete den fröhlicden Abjipluß einer Epoche voller 
Seelentämpfe, Angft und Thränen. 


XVL. 


Über dem Territorium Jdaho im Welten ber 
Vereinigten Staaten Norbamerilas neigte fih an 
einem tlaren Septembertage die Sonne dem Horizont 
zu. Noh eine Stunde modten ihre jchrägen 
Strahlen die pittoreste Landichaft vergolden, ehe fie 
binter den fernen Spigen des Gebirges verjhwanden., 
Aber gerade in diefer Beleuchtung machten die eigen: 
artigen Felsformationen, aus berbfilich fich färbendem 
Walde hervorragend, den herrlichften Eindrud. Der 
amerilanijche Herbfimald giebt das denkbar farben- 
prädtigite Bild. Ale Tinten des Regenbogens 
Ihmelzen ineinander, vom leuchtenden Rot des 
wilden Weines, der an den Stämmen ranlt, bis 
zum gelb- und orangefarbenen Laub von Eiche, 
Ahorn und Ulme Nur die Eiche bewahrt ihr Grün 
und tönt es mit fanfter Bronzefarbe. Seht freilich 
behielt diefes Grün noch die Oberhand, und bie 
bunten Farben waren in den weiten grünen Mantel, 


Ohne Gott. Roman von €. Karl. 


406 


der fi über Gebirgsabhänge und Thäler breitete, 
nur wie Borten und Mufler hineingeftidt. — 

Auf dem primitiven Wege, der eigentlih nur 
ein Bfad mit hin und wieder fichtbaren Wagenfpuren 
war, ritten zwei Männer. Der eine, body, blond, 
mit ftarlem VBoßbart, trug augenjheinlich norb- 
deutiche® Gepräge, der andere, feiner Sprache nad 
ein Oflerreiher, war Hein und beweglih, es lag 
aber in feiner Art etwas, das auf Energie und 
Ausdauer Ichließen ließ. Die Männer kamen aus 
einer, ein paar Tagereifen entfernten rapide auf- 
wadjenden Stadt, wo fie fi in einem Boarding: 
boufe zulammengefunden hatten, und waren auf bem 
Wege zu einer im Bau befindlichen Zmeiglinie ber 
großen Norbpacific-Cijenbahn, die neue Gebiete bes 
noch weniger bevölferten Weftens aufichließen jollte. 

Sie hätten au) einen anderen, bequemeren Weg 
längs der Bahn nehmen können, aber ihrem Ge: 
ihmade jagte eine Reife auf Roflesrüden burd) 
teilweije noch jungfräuliches Land befler zu. 

Der amerifaniihe Welten ift heute nicht mehr, 
was er noch vor zwanzig Jahren war, und Gebiete, 
bie ein europäilcer Fuß noch nicht betrat, faum zu 
finden. Aber ganz find die unendlichen Wälder, Die 
ih einft mweftlih vom Feljengebirge behnten, noch 
nicht verſchwunden, wie fehr auch rüdlichtslofer 
Erwerbafinn und fträfliche Gleihgültigkeit fie mit der 
Art und dem fchlimmeren Feuer verwüftet haben. 

Auh unfere NReilenden hatten eben eine vom 
Teuer vernichtete Strede pajfiert. Noch gewährte fie 
einen troftlojen Anblid, aber ſchon waren fleißige 
Hände bei der Arbeit, den fruchtbaren Boden zu 
Ader: und Weideland umzujhaffen und ein Stüd 
des Vernichteten wieder anzuforiten, denn aud in 
Amerila beginnt man ben Segen bes Waldes zu er: 
fennen, und die Regierung der Vereinigten Staaten 
bat eine Prämie auf die Erneuerung vermwülteter 
Streden gejeßt. Die Mahnungen unferes Lands- 
mannes Karl Schurz, dem man drüben den Spip- 
namen „der Forjtmeilter“ angehängt hatte, find nicht 
ganz fruchtlos geblieben. 

Die Männer waren im Anblid der finfenden 
Sonne eine Weile in fharfem Trabe geritten, denn 
das Ziel, die neue Anfiedelung Bladftone — be: 
ftimmt, Station der Zufunftsbahn zu werden — lag 
noh eine Anzahl engliicher Meilen entfernt, jeßt 
aber Ientten fie wieder in jchattigen Wald ein und 
der mwurzeldurdhgogene Pfad legte ihnen Vorfiht auf. 
So ritten fie im Schritt und nahmen das unter: 
brochene Geiprädh wieder auf. 

„Wie lange find Sie eigentlich jehon bier und 
was haben Sie bisher getrieben, Schmieber?” fragte 
der Oſterreicher. 

„Es find im Frühling zwei Jahre geweſen,“ 
antwortete der blonde Mann, „und was ich getrieben 
habe? Nun, was man eben in Amerika treibt, 
wenn das Geld alle wird. Ich war Straßenfeger, 
Kellner — ſpäter, als ich wieder einen anſtändigen 
Rock auf dem Leibe hatte, Reporter einer deutſchen 
Zeitung in Chicago, dann Sprachlehrer an einem 
Mädchenpenſionat in Mineapolis, wo gerade mein 
Vorgänger ſich als Durchgänger erwieſen hatte. Aber 
die Lebensanſchauungen, die ich den jungen Ladies 





407 Ohne Ghott. 
beizubringen verjuchte, fagten der ehriamen Ynftitute- 
vorfteherin nicht zu und fie jegte mich mit erjchreden- 
der Plöglichkeit an die Luft.” 

Der andere lachte und Jah jeinen Begleiter von 
der Seite an. „Scheint mir aud, als wär’ da ber 
Bod zum Gärtner gefeßt,“ fchmungzelte er. 

„So bin ih denn nun auf dem Wege zur Wilb- 
nis, joweit diefelbe hier noch zu haben ift. PVielleicht 
findet fi bei der neuen Bahn eine Stelle als Ted: 
nifer oder ingenieur. ch habe zwar feine Zeug: 
nifje aufzumweilen, verftehe aber mehr von dem 
Rummel ald mander andere. Es fol mir aud 
nicht darauf anftommen, zunädft als gemeiner Ar- 
beiter zu beginnen, Vorurteile fenne ih nit. Da 
in dem Felleifen hinter mir jtedt eine folide Arbeiter: 
blufe, die den Rod des Gentleman wieder einmal 
ablöjen fann. Hoffentli nur für ein Weilden.” 

Schmieders Begleiter jah bemwundernd zu dem 
ftattlihen Manne auf. 

„Ihnen Tann es nicht fehlen,” meinte er, „aber 
auh ich Hoffe dort auf beflere Zeiten, ich gebefe 
einen ‚saloon‘ aufzuthun, wenn möglich ein ‚opera- 
house‘. Man ift bier zu Lande halt noch nicht jo 
aniprudhevoll. Eine große Bretterbude genügt, und 
die Sparpfennige, die ich als Steward auf einem 


Mijfijfippi-Dampfer beilegte, werden zu ihrer Her: 


ftelung ausreichen.” 

„Ich glaubte eigentlih, zu einer Oper ge: 
braudte man auch Cänger,” lachte Schinieder, 
„wollen Sie alle Partien allein fingen?” 

„Bar nicht fingen will ich, ich bin der Direktor und 
zugleich mein eigener Barleeper. Meine Künftler warten 
Ichon,” fügte der gemütliche Mann hinzu, „ein Stuben: 
mädchen und ein Kellner aus Saint:Xouis, die ganz 
hervorragendes Talent für humoriſtiſche Geſangsvor⸗ 
träge befiten, wollen berüberfommen, jobald mein 
‚saloon‘ fertig ift. — Sehen’s, das ift halt der An: 
fang, das übrige findet fi.” | 

Die Sonne fant immer tiefer und ihre rötlichen 
Strahlen tauchten den Wald in immer wunderbarere 
Farben. Der Weg, der fi eine Weile bergan, zur 
Seite einer bewaldeten Berglehne, neben einem tiefen 
Abhbang Hingezogen und fehr fteinig gewejen war, 
beilerte fich jett und ſenkte ſich thalwärts. Die 
Schluchten zur Seite füllten fih mit immer tieferen 
Schatten, abendlide Nube begann fi auszubreiten 
und nur der Schrei eines Raubvogels ertönte ab und 
zu aus der ‘Ferne. 

In ſchlankem Trabe auf weihenm Rajen legten 
die Männer etwa zwei Meilen zurüd, dann traten 
die Waldbäume auseinander und der Ausblid in ein 
ziemlich weites Thal öffnete fih. Am legten Abend: 
Ihein jahen die Reiter die neue Anfiedelung vor fich 
liegen und erreichten fie, als gerade die erften Zaternen 
in den primitiven Straßen aufflammten. 

Der Ort beftand erft feit etwa einem fahre und 
zählte nur wenige, Hundert Einwohner, die fi vor: 
zugsweife aus Bahnarbeitern und Baubeamten zu: 
ſammenſetzten. Aber es fehlte auch nicht an Abenteurern 
jeder Art, die die noch wenig geordneten Verhält- 
nifje zu ihren Gunften auszubeuten fuchten. Kneipen, 
Spielhöllen und Vergnügungslolale niedrigfter Sorte 


Roman von €. Rarl. 


408 


jorgten dafür, den Einwohnern Unterhaltung und 
gleichzeitig Gelegenheit zu geben, ihr jauer erworbenes 
Geld wieder [os zu werden. 

Die Straßen, von rohen Holzgebäuden begrenzt, 
waren pflafterlos und nur an den Seiten marfierten 
einige Planten das Zukunftstrottoir, dafür aber ragte 
hin und ber nodh ein Baumftumpf aus der Erde, 
den auszugraben man fi} keine Zeit genommen hatte. 
Sn der VBorausfegung eines rapiden Wachstums ber 
neuen Stadt hatte man ein beträchtliches Stüd ber 
Thaljohle gerodet und nur wenige der Anfiedler 
hatten daran gedacht, einige Bäume ftehen zu laflen, 
um ihren Wohnungen den Schmud eines Gartens 
zu verjchaffen. 

Nur einer hatte hinter feinem ziemlich großen 
Anwejen ein größeres Stüd Grasland mit prächtigen 
Bäumen, das er ftolz „Bladftonepark” benannte. Cs 
war ber Befiter des einzigen „Hotels”, eines großen 
Holsgebäudes, das im Oberftod eine Reihe an die 
Zellen einer Babdeanftalt erinnernder Holzverjchläge, 
Fremdenzimmer genannt, bejaß. 

Hier fanden auch die Reifenden erfte Unterkunft 
und im bar room, einem großen, fahlen und un: 
fauberen Raum zu ebener Erbe, die Gelegenheit, fich 
an Speife und Tranf zu erquiden. 

Der Wirt entpuppte fich ebenfalls als Deutjcher, 
der aber fchon als halbwüchliger Junge mit feinen 
Eltern nad Amerika gefommen war und feine Mutter: 
Iprahe mit der Landesſprache in Turiojeiter Weile 
„gemixt“ hatte. Naubeit und Gutmütigleit mifchten 
ih in ebenjolder Weile in feinem Gebaren und 
gaben ihm, gegenüber einer Gruppe jehr unheimlich 
ausfehender Gejellen, die fih an einem Seitentijch mit 
Kartenjpiel unterhielten, etwas Vertrauenerwedendes. 

Die Kühe bejorgte feine Frau, eine noch jehr 
junge, |hwarzhaarige, auf den Namen Kathleen hörende 
Srländerin. Sie verftand fein Deutich, es waren über: 
haupt außer dem Wirt, wie die Neijenden bald er: 
fuhren, nur wenige Deutihe am Ort. 

Kathleen kam, nachdem die Mahlzeit bereitet 
war, ebenfalls ins Zimmer, und Schmieder, der fertig 
Engliih Ipradh, tnüpfte jofort eine Unterhaltung mit 
der hübſchen Kleinen Perfon an, auf die fie munter 
einging. J | 
Der etwas phlegmatiihe Wirt war augenjcein- 
ih in fein Tleines Frauchen verliebt, ob fie feine 
Gefühle teilte, mochte bahingeitellt bleiben. Kinder 
bejaß das Ehepaar noch nicht, obgleich es bereits 
zwei jahre verheiratet war. Der Wirt, „Didhäufer“ 
mit Namen, aber nah jeinem Vornamen meiftens 
„Did: Bil“ genannt, hatte feine Frau aus dem Often 
mitgebradt. | 

Eine Weile blieb die Unterhaltung ganz friedlich, 
Did: Bil erzählte von feiner Anfiedelung und wie er 
boffe, daß nad Eröffnung der Bahn Bladitone der 
Hauptitadt des Territoriums an Glanz und Komfort 
nichts nachgeben werde. 

„Sie Tönnen believe, Mifter Schmieder,“ meinte 
er, „wir haben in unjeren mountains noch Stein- 
tohlen genug, um die ganzen States zu verjorgen, 
und bier müflen fie vorüber. Haben wir erft bie 
rail road, fo zieht fih der ganze Handel in unfere 





409 


city und dann jollen Sie einmal jehben. Sn zehn 
years, garantier ich, haben wir zmeihunderttaujend Ein- 
wohner, tramway, Theater, elektriiches Licht und —“ 

Ein wüfter Lärm unterbrach den Redner, die 
Spieler waren in Streit geraten, einer Ichien den 
anderen zu befchuldigen, fein Glüd auf eigene Hand 
verbejjern zu wollen. Ein Eleiner, verlebt ausſehen— 
der Menfch mit jchmarzgelber Sefichtsfarbe war auf: 
geiprungen und fchalt in einem Gemiſch von Engliſch 
und Spaniih, das den Merilaner verriet, auf jein 
Gegenüber, einen VBolblutengländer, ein, der mit 
ruhigen, aber nahprüdliden Worten feine Bejchuldi- 
gung wiederholte. Leidenfchaftlich focht der Ange: 
Hagte mit den Händen in ber Luft herum, jentte 
plöglich die Rechte und griff in die Hofentafche. Aber 
ehe er das runbliche Ding, das fich darin abzeichnete, 
bervorgezogen hatte, legte jih Did:Bills breite Tate 
wie eine Eifenllammer um feinen Arm. 

„Hier wird nicht geihoflen, Milter Diablo,” 
tief er in engliiher Sprade und 309 zugleich die 
Hand, weldhe den Revolver gepadt hatte, energilch 
aus der Taihe heraus. Dabei fiel ein Pädden 
Karten zur Erde und wurde jo zur ftummen Be: 
ftätigung der ehrenrührigen Beichuldigung. 

Ein unglaubliches Gefchrei erhob fi, und Mifter 
Diablo — e8 blieb unentjhieden, ob es fich bei 
diefer Bezeihnung um feinen wirlliden Namen 
handelte — flog wie ein Gummiball zur Thür hin- 
aus. Den Revolver hatte der vorfichtige Wirt zu: 
rüdbehalten, die blauen Bohnen wären ihm fonft in 
die Seniter geflogen. 

GSleihmütig ftrih der Engländer das Tiegenge: 
bliebene Geld ein, trank jein Glas aus und verließ 
mit feinen Begleitern, eingeborenen Amerilanern, die 
an der Bahn beichäftigt waren, den unmwirtliden Raum. 

Sin den nähften Wochen waren bie neuen An: 
fiedler no oft Zeugen ähnliher Scenen, obgleich 
der ehrenwerte „Diablo“, nun jein Falichipielertum 
im Ort befannt geworden war, e8 vorgezogen hatte, 
fih ein anderes Arbeitsfeld zu juhhen. Er war ftill 
und |purlos verduftet. 

Sie konnten aber mit ihrem Fortlommen zu: 
frieden fein. Steinbadhere „opera-house“ war fertig 
und bereits hatte der unternehmende Ofterreicher eine 
Tagereife nad ber nädhften Xelegraphenitation ge- 
macht, um feine Künftler berbeizurufen. Die Holz: 
bude zeigte Barterre und Logen. Der Boden war, 
ben Gemwohnbeiten der fautaballiebenden Gälte ent: 
Iprehend, mit einer biden Lage Sägeipäne bebedt 
und die Bühne prangte im Schmud gemalter Bäume, 
einer Kunftleiftung von Steinbadders eigener Hand. 
Der vielgewandte Mann war in jeiner Jugend unter 
vielem andern auch eine Weile Zimmermaler gewefen. 

Schmieder hatte fi vom gewöhnlichen Arbeiter 
bereits zu einer Aufleherftele aufgeihwungen und 
zeichnete daneben in einem Bureau. Cs war lein 
Zweifel, daß er bei nädhiter Balanz eine leitende 
Stelle erhielt. Und diefe Balanz fonnte jeden 
Augenblid eintreten. Der jüngfte der Bauleiter war 
eine heftige, gewaltthätige Natur, die Gefahr lag 
nabe, daß er bei nächfler Gelegenheit von feinen un: 
disciplinierten Arbeitern erijchoffen wurde, oder das 
Feld räumen mußte. 


Roman-Zellung 1896. ° 


Ohne Gott. Roman von €. Karl. 





410 


Schmieder hatte es auch in diejfer Weltabge- 
Ihiedenheit verftanden, einen Kreis um fich zu bilden, 
dem er Vorträge bielt. Es lag ihm vielleicht weniger 
an der Berbreitung feiner S$peen, bie in diefem 
loderen Gemeinwejen faum einen praftiihen Zwed 
hatten, als daran, der gefeierte Mittelpunft einer 
Genofjenfchaft zu fein. Eitelkeit gehörte eben zu ben 
Grundzügen jeines Charalters. Die Zufammenlünfte 
fanden in Didhäufers „Part“ ftatt; der, trot des 
begonnenen Dftobers, immer noch freundliche Herbit 
erlaubte einen Aufenthalt im Freien, und Did:Bill 
jah die Perfonenanfammlung, die jein Bier trant, gern. 

Eines Sonntags nad dem Gottesdienft, der in 
einer Kleinen Holzlapelle abgehalten und von Ameri: 
fanern und Engländern eifrig bejuht wurde, follte 
wieder ein Vortrag gehalten werden. Schmieder 
madte, um dus Thema noch einmal im Kopf durch 
zuarbeiten, einen Spaziergang nad) dem „Bladitone”, 
einer Schieferklippe, die ziemlich” unvermittelt aus 
dem Walde aufragte und der Anfiedelung ihren 
Namen verliehen hatte. Aber die Gedanten jchweiften 
ihm immer ab, er verließ fih fchließlih mit 
feinem Bortrage auf fein gutes Glüd und folgte 
der Erinnerung, die ihn rüdwärts führte, in Die 
verlaflene Heimat. 

Es war heute Almas Geburtstag. Heute vor 
vier Jahren hatte er ihr, als feiner geliebten kleinen 
Frau, zum eriten Mal den Geburtstagstifch gerichtet 
und über jeine Berhältnifle hinaus mit Gejchenten 
belaftet.. Wo war alles Glüd hin, das an biefem 
Tage ihre Herzen erfüllt hatte? Alma rubte im 
Grabe, und er lebte an der Grenze der Givilijation unter 
Bedingungen, die andern unerträglich dünlen mußten. 

Zum erflen Mal jeit langer Zeit fam es wie 
eine weihe Stimmung über ihn. Seine Umgebung 
trug wohl auch das Shrige dazu bei. Über ihm 
raufchte der herbitlih bunte Wald gerade wie in 
Deutihland, Tonntägige Ruhe breitete ih um ihn 
und er war allein — ganz allein. Wer oder was 
trug die Shuld? Er? — Alma? — dDder die 
Unficherheit des Verhältniffes zwilchen ihnen, wie 
jene jonderbare alte Profefiorin gelagt hatte? Oder 
war es Thereje, die verführeriiche Chanfonnetten- 
längerin? Sie hatte e8 auf ihn abgejehen, fie wollte 
die flüchtige Liebelei, die er in Dresden mit ihr an- 
geiponnen hatte, zu einer feiten Verbindung aus: 
wachſen laſſen. Er hatte es wohl gemerkt und es 
hatte feiner Eitelkeit gejchmeichelt. 

Und dann war der Brief der Frau Köhler ge 
fommen, der in lakonifcher Kürze meldete, Alma babe 
fih mit ihrem Kinde erträntt. Sn jeinem eriten 
Schreden und Schmerz; — denn Alma war ihm 
immer noch teuer wie eine Schweiter, wenn er fid 
die Frage, ob er fpäter wieder mit ihr leben wolle, 
au noch nicht ernithaft vorgelegt hatte — war er 
zu Therefe geftürzt, um das Entjeßliche einem fühlenden 
Menien zu melden. 

Er batte auf gleihgültig bedauernde Worte ge- 
rechnet, aber was geihah? Geilterbleich hatte das 
leichtlebige Mädchen ihn angeltarrt, um dann mit 
dem Schrei: „Das hab’ ich nicht gewollt,“ in Die 
Kniee zu flürzen. 

Später freilich hatte fie alles abgeleugnet, wie 


IV. 29 


411 Dbne Gott. 
jehr er au bat und flehte, ihm zu jagen, was fie 
gemeint, ja, fie hatte jogar geichwiegen, als er fie in 
rajendem Zorn bedrohte. Noch dadte er mit Scham 
an die blauen Flede auf ihren weißen Armen, die 
unter feinen jchüttelnden Fäuften entitanden waren. 

Und doch hatte er die Überzeugung, daß etwas 
geichehen jei. Welche Intriguen hatten hinter feinem 
Rüden geipielt? Nein, er trug die Schuld nicht, jo 
beihwictigte er jein Gewiflen immer von neuem, 
das im Anfange laut gefchrieen und ihn auf das 
Grab der Unglüdlichen getrieben hatte. — 

Eine lange Zeit hatte er am Fuß des Feljens 
gelegen, endlih erhob er fih, er mußte heim, die 
Beit des Vortrags rüdte heran. 

Als er den Fußpfab verfolgte, der zur Anfiedelung 
zurüdführte, kam ihm von feitwärts Freund Stein: 
badyer entgegen, aud er hatte einen Sonntagsipazier: 
gang gemadit. 

So ernft, Schmieder?” redete ber bewegliche 
Ofterreiher den Blonden an. 

„Weiß der Teufel,“ Iautete die Antwort, „diejes 
Wetter, das wir daheim ‚Altweiberfommer‘ nennen, 
brütet allerlei wunderlideg Gemwürm in meinem 
Hirn aus. Es jummt mir um Ohren und Verftand, 
als wäre ich ein jentimentales Mägblein.” 


„Ste haben Heimweh, Mann,” meinte ber 


Operndireftor in spe. 

„Pah — Heimweh,” machte Schmieder ver: 
ächtlih, „meine Heimat ift Die ganze Welt, fomeit 
fie vernünftigen Anfchauungen zugänglih if. Sch 
glaube, mir fehlt ein Liebehen, das mir die Grillen 
fortfängt.” 

„Und ich glaube, Sie haben jhon angefangen, 
id danadh umzuthun,“ fagte Steinbadher in balb 
Iherzhaften Ton, dem man aber ben Ernft anhörte. 
„Laſſen Sie fih warnen, Mann, die Meine Kathleen 
ift eine verheiratete Frau, wenn aud möglichermeife 
von wenig ftrengen Grundjägen. Die ihres Mannes 
dürften wohl defto: ftrenger fein. Und wenn er aud) 
in feinem Haufe das Schießen verbietet, einen Ne: 
volver befigt er jedenfalls.” 

Schmieder late. „Wie mag der phlegmatifche 
Bär zu der Heinen Bachitelze gelommen fein? Aus 
Liebe hat fie ihn kaum genommen.” 

„Aber aus Not und fie befindet fih vet gut 
dabei. Er trägt fie in feiner Art auf Händen und 
wird fie gewiß, wenn er erft die Mittel dazu hat, 
die große Dame Ipielen lafjen, und das ift wohl das 
Biel ihrer Wünjche.”“ 

„Sie jeheinen über die Verhältniffe orientiert zu 
fein,” meinte Schmieber, „erzählen Sie doch.“ 

„Mein Hausmwirt ift mit Dichäufer zufammen 
bergelommen, er fprad) davon. Alfo, Kathleen ift 
die Tochter einer irischen, vor etwa zehn oder zwölf 
Fahren nad) New York ausgemanderten Familie. Sie 
haben fich jchlecht und recht ein paar Jahre durch: 
geihlagen, dann find die Eltern geftorben, und bie 
balbwüchfige Kathleen ift wie ein unnüßer Gegen: 
ftand bin und ber geitoßen, bis ein Mädchenfänger 
ihre Schönheit entdedte und für feine Zwede auszu: 
beuten bejhloß. Er ließ fie tanzen lernen, aber 
Ihon bei ihrem erften Auftreten in dem anrüdigen 
Lokal jah fie der brave Did:Bill und heiratete fie 


Roman von ©. Karl. 


412 
vom Fled. Ich glaube, er hat ihrem jogenannten 
Beihüger einen hübfhen Baten zahlen müflen. Der. 
Tanzunterricht und die goldenen Zulunftsberge jollten 
wett gemacht werben.” 

„Arme Kathleen,” jprah Schmieder nachdenklich, 
„ein beneidenswertes Los bat fie nicht gezogen.” 

„Was wollen Sie,” mwibderjprah der andere, 
„der phlegmatiihde Did ift ein braver und tüchtiger 
Mann, der einft reich jein wird, und was bie Haupt: 
fadhe ift, er bat fie jehr lieb und ift zuverläffig. — 
Zuverläffigfeit it die Hauptlache,“ wiederholte er. 

„Hm,“ madte Schmieder und jchwieg dann 
nachdenklich. Ä 

Sie waren in der Niederlaffung angelommen 
und begaben fi in den „Park“, der fchon von einer 
Ihmwagenden Menge erfüllt war. Man nahm es an 
diefem weltfernen Drt mit der Sonntagsheiligung 
nicht jo fireng. Der größefte Teil der Gäfte beitand 
aus Männern, die überhaupt in Bladftone weitaus 
in der Mehrzahl vorhanden waren, aber auch einige 
Frauen hatten fich eingefunden. 

Schmieders weihe Stimmung war verflogen, 
das Geipräch mit Steinbadher hatte ihn erfriicht und 
aufgeheitert, die große Zuhörerihar Ichmeichelte ihm 
und trug ebenfalls zur Verbeflerung feiner Stimmung 
bei. Und bo war es weniger Änterefle an- der 
Sade, welches die bunt zufammengewürfelte Menge 
bergeführt hatte, jondern das Verlangen nad) Unter: 
haltung und Abmwechlelung. Hätte Schmieder getanzt 
oder gefungen, man wäre noch lieber gelommen. 

Schmieber |prach über „die freie Liebe im Gegen: 
fat zur Ehe”, fein Lieblingsthema, und fand für 
feinen lebhaften Vortrag auch ungeteiltes Sinterefle, 
aber nicht ungeteilte Zuftimmung. 

Die jungen Burjchen freilich jubelten ihm zu, 
aber die Ehemänner jchüttelten den Kopf oder unter: 
braden ihn mit Zurufen, er folle ihren Weibern 
nit den Kopf verdrehen. Die Frauen jeien in 
Amerifa fon frei genug, noch mehr Freiheit jei 
vom Übel und dergleichen mehr. 

Schmieder konnte aber mit fich jelbit zufrieden 
jein, er hatte den langen Vortrag in einer Sprache, 
die nicht feine Mutterfpradhe war, wenn er fich ihrer 
jeit zweieinhalb Jahren auch ausschließlich bediente, 
glänzend bemälligt. 

Zu feinen intereffierteften Zuhörern hatte Kathleen 
gehört, die mit glühenden Wangen fein Auge von 
ibm wendete. &s jollte alfjo nicht Sünde fein, fid 
dem Geliebten zu ergeben, au wenn man leinen 
Pakt auf Lebensdauer vor dem Friedensrichter ges 
macht hatte. Das war ja eine herrlide Lehre und 
herrlich erfhien ihr auch der ftattlide Dann, der fie 
lehrte. Sie hatte aber nicht Zeit, ihren Gebanlen 
lange nadhguhängen, man rief nad) Bier und andern 
Getränken und fie mußte an die Arbeit. 

Schmieder blieb nah Schluß feiner Rebe eine 
Weile an einen Baum gelehnt ftehen und beobachtete 
ihre verjchiedenartige Wirkung. Da trat Did:Bil an 
ihn heran, jchlug ihn derb auf die Schulter und fpradh: 

„Old fellow, für folde Neben ift bier nicht 
der richtige place. Drüben in Eurem alten Europa 
mag wohl mandes faul geworden fein, und ich kann 
e8 begreifen, menn some people lieber gleich alles 





Ohne Gott. 


turz und Klein fchlagen möchte. Wir aber find bier 
noch in the beginning, wir brauden Ordnung — 
Freiheit haben wir plenty. Und nod eins, dear 
friend, wenn Sie mit Ihrem Gejchwäß von ber 
freien Liebe meiner Fleinen Kathleen den Kopf ver: 
dreben, fo — safe your head — X babe das 
junge Weib nidt aus dem Sumpf berausgeholt, 
damit der erite beite es wieder bineinftößt. Aljo 
— hands ofl.“ — 

Er ging weiter, und Schmieder blieb mit ge: 
mijhten Gefühlen zurüd. Sein Mohlgefallen an 
der hübjchen Tleinen Perjon, die höchftens achtzehn 
Jahre zählen fonnte, war aljo merkbar, er erhielt 
heute die zweite Warnung. Für einen Charalter 
wie den jeinigen Grund genug, nun gerade auf 
ein Ziel loszugehen, das er bisher nur flüchtig ins 
Auge gefaßt Hatte. Als er den „Park“ verlieh, 
Iprach er leife zu fich felbft: „Sie muß mein werben 
und follte es ein Leben foften.”“ 

Almas Schatten war verjunfen. 

Der Abend war bhereingebroden und Die 
Mehrzahl der Säfte heimgegangen. Nur ein Meiner 
Kreis faß im bar room jpielend um einen Tiich und 
andere ftanden zujhauend hinter ihnen. Aud 
Schmieder gehörte zu Ddiefen. Er trank mehr Bier 
als gewöhnlich, ſuchte der einſchenkenden Kathleen 
ſoviel heimliche Feuerblicke zuzuwerfen, wie irgend 
möglich, und hatte die Genugthuung, ſie jedesmal 
erröten zu ſehen. 

Dick-Bill, der lebhaft in Anſpruch genommen 
war, verließ endlich den Raum, um im Keller 
eine neue Biertonne anzuſtechen; Kathleen ſtand im 
Hintergrunde, mit dem Spülen der Gläſer beſchäftigt. 
Das war der richtige Augenblick. 

Schmieder näherte ſich der jungen Frau und 
ſetzte ſich neben ſie auf einen niedrigen Schemel. 
Der Platz geſtattete ihm, von unten in ihre ſchönen 
Augen zu blicken. Sie wurde fehr verlegen, ſchien 
aber ſeine Nähe nicht ungern zu ſehen. 

„Süße Kathleen,“ begann er engliſch, „ich habe 
die heutige Rede allein für Sie gehalten, nur bei 
Ihnen waren meine Gedanken. Mir ſcheint, auch 
Sie gehören zu den beflagenswerten Opfern der alt: 
fräntifhen Ehe. Dder follten Sie wirklih glüd: 
lich fein?” 

Kathleen war fih no nie wie ein Opfer vor: 
gelommen, ihr jetiges Leben erjdhien beneidenswert 
gegen die legten Sabre in Nem Vorl, wo fie oft 
vor Hunger geweint hatte. Aber wenn Schmieder 
es fagte, mußte es wohl jo jein. Sie jeufzte tief auf. 

„Bi ift jehr gut zu mir, er hat mid) jehr lich,” 
ſprach fie zögernd. 

„Aber er tft doppelt fo alt und gar kein feuriger 
Liebhaber für ein jo reizendes Frauchen. {ch weiß einen, 
der jein Glüd ganz anders zu jchäten willen würde.” 

Ein verliebter Bi in ihre Augen nannte den 
einen beutliher als Worte. Kathleen errötete nad) 
tiefer und jchwieg. 

„3 habe Ahnen viel zu jagen, teure Kathleen, 
tönnten Sie fi entichließen, morgen abend, wenn 
Milter Didhäufer beichäftigt it, an die Hede bes 
PBarles zu fommen? PDorthin, wo bie Heine Bank 
fteht? Wir können bier nicht unbelaufcht plaudern, 


413 


Roman von E. Karl. 





414 


und ih vergehe vor Sehnfuht nah Shnen. — 
Kathleen — Sie wifjen nicht wie ih Sie liebe.” 

Der Mann erwärmte fi in der Nähe des in 
feiner Verwirrung reizenden MWeibes an feinem 
eigenen euer, er glaubte jegt jelbit, was er jprad). 

Kathleen aber jchüttelte leife den Kopf. „Ich 
fann nicht, Bill würde böje werben, wenn er e8 merlte.” 

„Sehen Sie! — Si es nidt eine Schmad), 
die Sklavin eines ungeliebten Mannes zu fein?“ 

„Ih babe Bill lieb — aber —“ 

„Aber es ijt mehr Freundfchaft als Liebe, wollen 
Sie jagen. D Kathleen, und ich vergehe vor Leiden- 
Ihaft neben Ihnen und muß darben, während er 
faum zu willen fcheint, was er an ihnen befigt. 
— Gie fommen?“ 

„Ih weiß nicht — “ Ipradh die junge Frau zögernd. 

„Kathleen, ich bitte Sie — ich flehe Sie an —” 

Dem jungen Weibe rannen die Thränen über 
die Wangen, aber es jchwieg. 

„So muß ich wieder in die weite Welt gehen, 
oder mir eine Kugel dur den Kopf fihießen. Ich 
tann nicht jo gleichgültig neben SJhnen hergeben. — 
Sie willen nicht, was Liebe heißt. — Leben Sie 
wohl, Kathleen,” jagte Schmieder jehr beftimmt und 
ftand auf. 

„AmGottes willen,” rief Kathleen tödlich erjchredt. 

Die Füße des zurüdkehrenden Bill tappten ver: 
nehmlih auf der Kellertreppe; es war feine Zeit zu 
verlieren. 

„Sie fommen morgen abend acht Uhr zur Bank?“ 

„Ja,“ tönte es leiſe zurück. 

Der eintretende Bill fand Schmieder hinter 
einem der Spieler ſtehend und ſeine Frau eifrig 
über ihre Arbeit gebeugt, aber ihre glühenden Wangen 
fielen ihm auf, und er warf einen mißtrauiſchen 
Blick auf den ſtattlichen Apoſtel der freien Liebe. 

Am nächſten Abend befand ſich Hans Schmieder 
zu verabredeter Zeit auf dem Rendezvousplatz. Es 
war ein rauher Abend und niemand hatte Luſt, ſich 
zu ſo ſpäter Stunde im Freien zu ergehen. 

Das geſtern noch ſo freundliche Wetter war 
plötzlich umgeſchlagen; der Herbſt, müde des milden 
Regimentes, ſchien ſein wahres Geſicht zeigen zu 
wollen, ein trübes, regennaſſes Geſicht. Zur Zeit 
freilich hatte der Wind die Wolken zerſtreut, und 
der Vollmond ſtand unverhüllt am Himmel, aber 
die kalte Luft war deſto empfindlicher. 

Im Hauſe ſchien es voll zu ſein, der Harrende 
fürchtete ſchon, die Frau würde nicht kommen können. 
Eine Viertelſtunde verging — ihn fröſtelte, und ſeine 
Stimmung wurde immer unbehaglicher. Wenn fie 
wirklich nicht käme? Sie war vielleicht nicht geſchickt 
genug, einen Vorwand für ihr Verſchwinden zu ſuchen. 

Dem Mann lief es trotz der Kälte heiß über 
den Leib, jetzt verlangte es ihn mit allen Sinnen 
nach dem Weibe und kein Gedanke mahnte ihn an 
den Mann, deſſen Rechte er kränkte. 

Da huſchte es plötzlich über den feuchten Raſen 
und Kathleen ſtand vor ihm. „Man denkt, ich bin 
zur kranken Miſtreß Webſter gegangen,“ lachte ſie, „und 
mein armer Bill quält ſich allein mit den Gäſten.“ 

Schmieder ſchloß mit einem unterdrückten Jubel⸗ 
laut das leiſe widerſtrebende Weib in die Arme und 


415 


füßte ihm leidenihaftlih Gefiht und Haar. 
Kathleen, Heißgeliebte, wie joll id Dir danken.“ 

Kathleen war jung und ihre Sinne hatten 
bisher neben Bill, in dem fie eine Art guten Onkels 
jah, geilafen. Nun erwadhte unter den Lieblojungen 
bes ftattlihen Mannes etwas bisher Unbelanntes in 
ihr, der Kopf begann ihr zu glühen, und fie jchmiegte 
fih zitternd in die umfchließenden Arme. hr Ge: 
willen fträubte fi not — aber es war wie ein 
füßer Traum, wie ein Rau — fie konnte nicht 
wiberftehen. 

Schmieber 309 das junge Weib noch tiefer in 
den Schatten der Hede, denn das helle Mondlicht 
lag auf dem Kieswege vor ihnen. Er feßte fich auf 
das geftern erwähnte Bänfchen und zog die leichte 
Geftalt auf fein Knie. 

„Haft Du mi lieb, mein Leben?” fragte er 
zärtlich. 

„Ja,“ kam es leiſe von ihren Lippen, „aber es 
ift Sünde.” 

„Lob Dir nichts weiß madhen, Närrhhen, es tit 
niht Sünde, dem Zuge bes Herzens zu folgen, e 
ift Menfhenreht, das fie Dir mit Satungen nicht 
verfümmern Jollen.“” Und er tüßte wieber die zitternden 
Lippen, bie feine Küffe faum zu ermwidern wagten. 

„Mein armer Bil,” rief die Frau plöglich, 


„O 


„wie unglücklich würde er ſein, wenn er es wüßte.“ 


„Denke nicht an ihn, Liebchen, er verdient Dich 
nicht,“ antwortete Schmieder, unmutig darüber, daß 
die Kleine in ſeinen Armen an den Mann denken 
konnte, den ſie verriet. 

„Was ſoll nun aus uns werden,“ fragte 
Kathleen wieder, „ich kann doch nicht bei Bill bleiben, 
wenn ich Dich lieb habe?“ 

Schmieder kam die Frage ungelegen, er hatte 
an die Zukunft noch gar nicht gedacht. „Für den 
Augenblick wirſt Du es doch müſſen,“ ſprach er 
endlich, „bis ich genug Geld verdient habe, um mit 
Dir an einen anderen Ort zu ziehen. Aber wir 
ſehen uns heimlich ſo oft es irgend geht.“ 

„Aber dann betrüge ich ja Bill, das wird er 
mir nie vergeben,“ ſprach Kathleen weinerlich. 

„So laß doch den albernen Bill aus dem Spiel,“ 
rief der Mann ärgerlich, „und verdirb mir nicht die 
ſchöne Stunde durch den verhaßten Namen. Küſſe mich 
und denke nicht an die Zukunft. Das Heute iſt unſer.“ 

Er blidte fih um, ihm war als hätte fi im 
Gebüfch etwas bewegt. Es war wohl nur der Wind, 
der eben einen jeufzenden Atemzug that. 

Schmieder nahm die Arme der willenlofen jungen 
Frau und legte fie um feinen Hals, ihm Tam plößlich 
das Berlangen, von ihren Lippen feine Mutter: 
iprahe zu vernehmen. 

„Späh mir nad, mein füßes Lieb: ‚Mein 
Hans“ — 

„Mein Hans,“ ſagte Kathleen gehorſam in 
deutſcher Sprache. 

„Mein Hans, ich liebe Dich,“ lehrte Schmieder 
weiter. 

„Mein Hans, ich — —“ 

Ein Schuß krachte und unterbrach die intereſſante 
Lektion. Der Mann machte einen hohen Satz, die 


Ohne Gott. Roman von E. Karl. 





416 


junge Frau willenlos von ſich ſtoßend, und ſchlug 
dann vornüber auf den Sand. Er war durch den 
Kopf geſchoſſen. 

Aus dem Gebüſch trat Dickhäuſer, ein langes 
Jagdgewehr in der Hand. Aus dem Hauſe ſtürzten 
die aufgeſcheuchten Gäſte. 

„Ich habe mein Hausrecht gebraucht,“ ſprach der 
Wirt ruhig. 

Kathleen lag wie ein geſchlagener Hund am 
Boden und ſchaute mit entſetzten Augen zu dem 
Gatten auf, deſſen Ehre zu kränken ſie im Begriff 
geweſen war. Jetzt plötzlich kam ihr das Verſtändnis 
für ihre grenzenloſe Undankbarkeit gegen den braven 
Mann, der ſie aus dem Elend gezogen hatte und mit 
Liebe überſchüttete; wenn es ihm auch nicht gegeben 
war, dieſelbe in tönenden Redensarten auszuſprechen. 

Bill ſah ſie zuerſt zornig an, als wolle er ſie 
ſtrafen; dann aber, im Anblick ihres Entſetzens und 
ihrer Angſt, ſänftigten ſich ſeine rauhen, wetterharten 
Züge, Liebe und Mitleid überzogen ſie mit warmem 
Abglanz. 

„Komm her, Kathleen, Du biſt ja noch ein 
dummes Baby und weißt nicht, was Du thuſt. Ich 
will Dir die madness nicht hoch anrechnen.“ 

Er bob das zitternde Weib vom Boden auf, und 
Kathleen Ihlang mit einem Aufichrei ihre Arme wie 
Schuß juhend um feinen Hals. Dann ftieß er ben 
Kolben feines abgeichoflenen Gewehrs auf den Boben, 
während die Rechte den Zauf umipannte, und wendete 
ih gegen die Umijtehenden, unter denen er mehrere 
junge Burjchen bemerkte, die Schmieders Rede geftern 
ftarf applaudiert Hatten. 

„Und Euch rascals will ich etwas jagen. Wenn 
einmal irgendwo in der Welt der nonsense, den der 
Mann da geprebigt hat, eingeführt werben follte, To 
wird Mord und Totihlag die Folge fein. Kein 
braver Mann läßt fich nehmen, was er befitt, weil 
e3 gegen bie menjchlidhe Natur geht, und da ift es 
glei, ob es fih um ein Haus, ein Pferd oder ein 
Weib handelt. — That’s my opinion,“ 

Der Scherif des Drtes war bazu gelommen und 
beugte fih über den Toten, defjen rinnendes Blut 
den mondbeglänzten Sand färbte. 

„zabt den Mann anjtändig begraben,” Ipradh 
Didhäufer, nahdem er jchweigend darauf Hingeflarrt 
hatte, „und wenn er papers befigt, jo jchidt fie in 
jeine Heimat, e8 muß alles feine order haben.” 

Er jritt, fein halb ohnmächtiges Weib im Arm, 
dem Haufe zu. 

Am nächſten Morgen wurde Schmieder begraben 
— in fremder Erde. — Kein Kläger fand fih, Did- 
bäufers That dem fernen Gericht zu melden, man 
hatte fie ganz in der Ordnung gefunden. 


Schluß: Kapitel. 


Während ein fchneller Dampfer die Nachricht 
von Schmieders Tode über den berbftlih flürmiichen 
Ocean trug, rüftete man im alten Deutfchland, im 
Haufe des Profeljor Steiner, ein Ihönes Felt. Die 
Hochzeit der einzigen Toter mit dem ONmNaN, 
lehrer und Privatdocenten Egon Schmidt. 





417 Ohne Gott. 
Die Wartezeit war vorüber, das Kleine Neft 
hergerichtet, in das ber jeht jelbitändige Mann fein 
junges Weib führen wollte Nur ein  beicheidenes 
208 fonnte Egon jeiner Heißgeliebten zur Zeit bieten, 
aber fie war e8 zufrieden, und Vater Steiner nahm 
fih vor, fein eigenes erhebliches Einfommen mit 
feinen Kindern zu teilen. 

So war es denn ein Fleiner, aber von Herzen 
frober Kreis, der fih um das ftattlihe Brautpaar 
vereinigte. 9 

Mit Nüdiiht auf die bejonderen Berhältnifje 
hätte das Brautpaar gern auf eine firdlidhe Ein- 
fegnung feiner Ehe verzichtet. Egon madhte aus 
feiner Gefinnung fein Hehl und galt infolge einer 
füirzlich veröffentlichten Schrift feinen früheren Kollegen 
als Abtrünniger, wenn er jelbit fih auch heftig gegen 
diefe Bezeichnung wehrte. Profefior Steiner aber 
war in firhliden Kreifen geradezu verrufen. 

Doh ber gute Sohn wünfchte den Gefühlen 
feiner Eltern Rebnung zu tragen. So hatte man 
denn ben Ausweg einer Haustrauung gewählt und 
ein taftooller Geiftlicher vollzog bie Feier in erheben: 
der Weile. 

Sn Hildes freundlichem Mädchenſtübchen, das 
vor zweieinhalb Jahren ihr junges bräutliches Glück 
geſehen hatte, war unter den geſchickten Händen der 
Frau Profeſſor ein blumengeſchmückter Altar ent— 
ſtanden, über dem ſogar ein großes ſchönes Chriſtus⸗ 
bild prangte. Aber es war nicht der ſterbende Jeſus 
am Kreuz, es war der lehrende, wie er heute noch 
in jedem Chriſtenherzen leben follte. Das wertvolle 
Bild war das Hochzeitsgeſchenk von Egons Eltern. 

Der Geiſtliche hatte einen Text aus der erſten 
Epiſtel Sankt Johannis gewählt: „Laſſet uns unter— 
einander lieb haben, denn die Liebe iſt von 
Gott,“ und führte das ſchöne Thema in würdiger Weiſe 
durch. Vom Nächſtliegenden ging er auf das Allgemeine. 
Nicht nur die Glieder einer Familie ſollten ſich lieben, 
ſich treu bleiben bis in den Tod, ein einziges großes 
Liebesband, gefeſtigt durch den Glauben an einen Gott, 
ſolle einſt die Menſchheit umſchlingen und zu immer 
höherer Geſittung führen. Wer aber an ſeinem Teil 
durch Wort und Beiſpiel auf dieſes Ziel hinarbeite, 
der ſei Gott lieb, denn „Gott iſt die Liebe und 
wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott 
und Gott in ihm.“ 

Tief bewegt legte Egon in feinem Herzen das Ge: 
lübde ab, jein Zeben der Menjchheit zu widmen, indem 
er törende Gegenfäte zu vermitteln beftrebt fein wollte. 

Ein frohes Mahl folgte auf die Trauung und 
bald Töfte der Wein alle jo natürlide Rührung in 
ungemiſchten Frohſinn auf. 

Aber auch die Zungen pflegt der herzerfreuende 
Rebenſaft zu löſen. Schon waren alle offiziellen 
Toaſte erledigt, Profeſſor Niederſtetter hatte das Wohl 
des Brautpaars ausgebracht, Egon geantwortet. Die 
Eltern, die Gäſte hatten ihr Teil erhalten. Da klang 
wieder der ſcharfe Ton eines angeſchlagenen Glaſes 
durch das Speiſezimmer und zu aller Erſtaunen er—⸗ 
hob ſich Frau Profeſſor Niederſtetter. 

Überraſcht blickte ihr Gatte auf. „Aber liebe 
Alte, was muß ich erleben!“ 


Roman von E. Karl. 





418 


Doch die Dame nickte ihm nur freundlich zu 
und begann mit anfangs etwas zitternder Stimme: 

„Meine lieben Freunde! Es iſt zwar unge—⸗ 
wöhnlich, daß eine Frau das Wort ergreift, obgleich 
man unſer Geſchlecht — ich fürchte, nicht immer im 
beſten Sinne — das zungenfertige nennt. Ich gehöre 
aber zu den Menſchen, die gern mitteilen, was ſie 
auf dem Herzen haben, und ſo kann ich auch heute nicht 
unterdrücken, was mich angeſichts unſeres lieben 
Brautpaars bewegt. Wir ſtehen in einer merk— 
würdigen Zeit, in der die Extreme ſich bekämpfen und 
von ber niemand weiß, was aus dem Chaos ſich einſt 
abklären wird. Meine Lieben, wo eine Sturmflut 
über das Land hereinbricht, da ſucht der geängſtigte 
Menſch aus den Trümmern ſeiner Habe wenigſtens 
das Teuerſte, Wertvollſte ſich für ein ſpäteres Leben 
zu retten. Auch über uns iſt eine Sturmflut herein⸗ 
gebrochen, zur Zeit mehr auf geiſtigem Gebiete, aber 
wer weiß, wie weit ihre Wogen ins bebaute Land 
hineinſpülen. Da ziemt auch uns nach dem Teuerſten 
zu greifen, was wir beſitzen, damit es nicht untergehe 
im Schwall der wirbelnden Gewäſſer. Diejes Wert: 
vollſte aber, das uns die Mittel geben ſoll, das alte 
Zerſtörte in neuer Form wieder aufzubauen, ſind 
unſere Ideale. 

„Wir leben jetzt in einer Zeit, die den Realis— 
mus begünſtigt und ſie thut in gewiſſem Sinne recht 
daran, denn allein das Reale giebt ein ſicheres Fun⸗ 
dament. Aber wie ein herrliches Bauwerk nicht allein 
aus Fundament beſteht, ſondern ſich in hehrer Schöne 
hoch und höher erhebt, dem Himmel zu, auch wenn es 
ihn nicht erreichen kann, ſo auch ſollen wir Menſchen 
nicht am Boden kleben, ſondern, uns hoch und höher 
erhebend, den Idealen nachſtreben, die — ſelbſt un—⸗ 
erreichbar — uns den Weg weiſen. Die vornehmſten 


unſerer Ideale aber ſind Kunſt und Religion. 


„Möge uns aus dem Ringen auf allen Gebieten 
wieder eine Kunſt geboren werden, die uns wahrhaft 
erhebt, ftatt ihr Genügen in der platteften Alltäglich- 
feit zu finden, und möge aus dem Klaffenden Spalt 
zwilhen Bibelglauben und materialiftiider Natur: 
anfhauung eine geläuterte Religion uns auffteigen, 
die Herz und Verftand gleichzeitig befriedigt. 

„Theologie und Naturwiflenjchaft ftehen fich heute 
gegenüber wie zwei ftarre Fellen, zwilchen denen ein 
wildes Meer brandet. — Baumeifter, wo bift Du, auf 
daß Du die Brüde Ihlägft? Vom ficheren Boden 
des Wirklichen ausgehend, von den Pfeilern logifcher 
Schlußfolgerung getragen, mag fie uns hinüberleiten 
in jenes Reich, das wir nicht leugnen bürfen, ob: 
wohl wir es mit unjeren irdifhen Sinnen nicht 
wahrnehmen können. Die Philojophie trete in ihr 
Recht, wo bie exakte Forihung ihre Grenze fieht. 
Unb ob wir unter ihrer Führung einmal irre geben 
— was thut es — jede Religion, ich fagte es jchon 
einmal, ift nur Gleichnis für die Wahrheit, die zu 
Ihauen uns verjagt ift. 

„In dem teuren jungen Paar jcheinen fich die 
beiden feinblihden Parteien zu verjchmelzen. Möge 
ihre Verbindung ein Symbol fein, daß mein heißelter 
Wunſch feiner Vermwirklihung fi nähert. So laßt 
uns denn, meine Lieben, diejes leßte Glas unjerer 





419 


fröhlihden Tafelrunde leeren: auf 4ine glüdlihe Zu: 
funft, in der Sdeales und Reales Zu jener Milchung 
fih vereinigt, die ben fühlenden und denfenden 
Menihen allein beglüdt. — Hoch unfere Zdeale.” — 

Die Gefellihaft erhob ficd und bie Släfer Hangen 
zufammen. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





420 





Hilde blickte ihrem Bräutigam innig in Die 
treuen, braunen Augen. „Wir wollen fie hochhalten, 
mein Egon.” | 

„Sa, mein Lieb,” antwortete er, „mit Gott!” 


EnD oe. 





Beiblatt der Dentihen NRoman-Zeitung. 


Halte, Hatte, laß den Hfreit. 
Von Robert Aurus, deutſch von W. Priuzhorn. 


Gatte, Gatte, laß den Streit 
Und die Herrſchermienen! 

Du haſt mich als Weib gefreit, 
Doch nicht, Dir zu dienen. 

Eins von zwein nur herrſchen kann, 
Nanch, Nancy! 

Iſt's die Frau nun, iſt's der Mann, 
Mein Weib Nancy? 

Willſt dies ſtolze Wort Du noch 
Stets im Munde führen, 

Dann ade jetzt, Ehejoch — 
Will mein Bündel ſchnüren. 

Wohl betrübte ich mich des, 
Nancy, Nancy! 

Doch die Zeit bringt Leidvergeß, 
Mein Weib Nancy. 


Nun, mein armes Herz, ſo brich, 
Höre auf zu ſchlagen! 

Ruh ich unterm Raſen — ſprich, 
Wie willſt Du dies tragen? 

Hat der Tod Dich hingerafft, 
Nancy, Nancy! 

Giebt der Herr mir Troft und Kraft, 
Mein Weib Nancy. 

Gut! So nmijdhe ich mich dreift 
Unter die Gefpeniter, 

Komme Nacht für Nacht als Geift, 
Durd Dein Kammerfenfter. 

Nehm’ ein Weib dann, das Dir gleicht, 
Nancy, Nancy! 

Und die ganze Hölle weicht, 
Mein Weib Nancy. 


„Mopi. 


„Sreuzfakra, meine Herren, mögen Ste e3 glauben ober 
nit, fo war mein ‚Bergmann‘,“ jhloß der Forftmeifter 
a. D. Häfelein, pafite einige fürcdhterliche Züge aus feiner 
treuen Pfeife, nahm einen tiefen Schlud von dem „Extras 
fteifen“ und jahb fih dann im Streife feiner Zuhörer nad 
der Wirkung feiner joeben vorgetragenen „wirflih und thats 
ſächlich paſſierten Geſchichte“ um. 

Der Kreis ſetzte ſich aus den Stammgäſten des „feuchten 
Zapfens“ in Xſtein zuſammen und der Forſtmeiſter hatte 


wieder einmal eine ſeiner haarſträubenden Jagdgeſchichten 
zum Beſten gegeben, auf die denn auch die üblichen „Au“ 
und „Na, na“ folgten. 

Doch, merkwürdig, der Doktor, ſonſt der eifrigſte Wider⸗ 
facher biefer „Leberftrümpfe”, wie er bie Augsgeburten des 
forftmeifterlihen Sägerlateins zu nennen pflegte, war heute 
ruhig und, während er fonft Ihonungslos, in jarkaftiicher 
Weife gegen fie zu Selb zog, fIchien die Glaubwürdigkeit 
diefes neuelten Triebes Häfeleiniher Erfindung für ihn 
über jeden Zweifel erhaben; mit einem geradezu feierlichen 
Ernfte nidlopfte er dem Erzähler feine Überzeugungstreue zu. 

Das war derartig überrafchend, daß felbft der bide 
Nentier Shwädlig, ber fonft, ein Glas nad) dem andern 
Icerend, dafab und buch nihts aus feiner beichaulichen 
Nuhe zu bringen war, verwundert nad jenem binftarrte, 
während ber lange Apotheler meinte: „Doktorchen, fehlt 
Shnen etwas ober find Sie von jegt ab immer jo duldjam?* 

„Nun, weshalb denn, meine Herren,” erwiberte der Ans 
gerebete troden, „id; meine eben, derartige Sachen ſind durch⸗ 
aus nicht unmwahriheinlih, wie ih aus eigener Erfahrung 
beweiien kann.“ 

„Vormachen,“ grunzte der Mathematikus Kreiſel, den 
Redner erwartungsvoll anſehend, als ob er deſſen rundes 
Pausbackengeſicht mitſamt der anſehnlichen Naſe in Quadrate 


einzuteilen gedächte. 


„Ja, vormachen,“ echote nun auch der Wirt, der ſich, 
ſobald ſeine Zeit es erlaubte, gern ein Weilchen bei ſeinen 
Stammgäſten aufhielt. 

„Vormachen, vormachen! Unſinn!“ brummte der Doltor 
ärgerlich und fuhr dann fort: „Ich will Ihnen etwas ſagen, 
meine Herren, Sie wiſſen, daß ich keineswegs immer mit 
den ‚thatſächlich und wirklich paſſierten Geſchichten‘ unſeres 
Freundes einverſtanden bin, allein zu der eben gehörten 
könnte ich Ihnen aus meinem eigenen Leben ein Pendant 


erzählen — —“ 
„Oho, erzählen!“ 
„Los!“ 


„Immer munter!“ rief es durcheinander und alle waren 
geſpannt „wie ein Flitzbogen“, wie der Mathematikus be—⸗ 
merkte. 

Der ſo Beſtürmte kam, ohne auch nur einen Augenblick 
ſeinen Ernſt zu verlieren, mit tiefem Zuge ſeinem Nachbar 
den Reſt und, nachdem er mit der Umſtändlichkeit eines 
Kenners ſich eine neue Cigarre angebrannt hatte, begann er: 

„Es iſt ſchon manches Jahr verfloſſen, ſeitdem die Ge: 
ſchichte ſich ereignete, die ich Ihnen jetzt mitteilen will, aber 
trotzdem erinnere ich mich ihrer noch in allen Einzelheiten. 

„Ich war noch Student. Die ſchönen Sommerferien 
waren vorüber und in nicht allzu freudiger Stimmung ſtieg 
ich in das Coupé ‚dritter‘, das mich wieder nach dem Muſen⸗ 





421 


fie Göttingen zurüdführen follte, wo ein ganzer Hügel Ars 
beit für das nahe Phyfitum anf mich wartete. 

„Sn die Ecke gebrüdt — id war allein — qualmte ich 
meine Cigarre. 

„Wie ich alfo fo dafige und gerade im Begriff bin, mir 
e3 bequem zu machen, ba8 heißt meine unteren &rtremitäten 
in wagerechte Lage zu bringen, fteigt, als ber Zug falt Ihon 
in Bewegung ift, eine mittelalterliche Dame mit den üblichen 
zwei Dugend Schadteln und Staften ein. 

„Ih war von biefer Begleitung nicht fehr erbaut mad 
wurde e8 auch nicht, nachdem ich einen Bli anf das mit 
einer fpigen Nafe und Sneifer bewaffnete Gefiht der Holden 
geworfen hatte. Nachdem fich mein Vis-ä-vis unter ihrem 
Serempel jeßhaft gemacht Hatte, mufterte fie mid) fo vogel- 
perſpektivenartig und verlangte ſchließlich höchſt brüsk, ich 
ſolle die Cigarre wegthun — —“ 

„Alle Hagel, das war zu viel verlangt von Ihnen.“ 

„Sa, das fand ih auch, zumal wir im Rauchcoupé 
ſaßen, und antwortete daher auch ganz kühl, daß mir das 
gar nicht einfiele, da ſie ja hätte im Nichtraucher‘ fahren 
können. Ein Wort gab das andere, bis endlich mein Engel 
kurz entſchloſſen mir meine Cigarre aus der ahnungsloſen 
Hand riß und brevi manu zum Fenſter hinauswarf. — 

„Nun, meine Herren, Sie werden zugeben, daß ein der⸗ 
artiges Vorgehen die Geduld eines Schafes zum Reißen 
bringen könnte. Ich, an jenem Tage nichts weniger als 
friedfertig aufgelegt, geriet in eine gelinde Berſerkerwut, wie 
ich meine ſchöne Nikotina ſo mir nichts dir nichts heidi gehen 
oder vielmehr fliegen ſah. 

„Am liebſten hätte ich trotz Europas übertünchter Höflich⸗ 
keit das Frauenzimmer — Pardon, die Dame, wollte ich 
ſagen — links und — — aber da lag gerade der Haſe im 
Pfeffer. Es war eben eine Vertreterin des ſchwachen Ge⸗ 
ſchlechtes, gegen die man auch wütend und ohne Cigarre 
Rückſicht zu nehmen gezwungen iſt. Ich begnügte mich alſo 
mit einigen zarten Grobheiten und würgte meinen Grimm 
hinunter, indem ich ziemlich erfolgloſe Verſuche machte, die 
Enden meiner eben hervorſproſſenden Schnurrbarthaare 
zwiſchen die Zähne zu bekommen, um in vier Vierteltakt 
darauf herumzukauen. 

„Da unterbrach plötzlich ein merkwürdiger Ton die 
mühſam hergeſtellte NRuhe unſeres Idylls. Halb Quieken, 
halb Heulen, kurz, ganz eigenartig. 

„Wie ein Blitz ſchoß mir ein Gedanke durch den Kopf. 
Mit ſchnellem Griff klappte ich den Mantel meiner Wider⸗ 
ſacherin zurück und richtig kam der Kopf des eingeſchmuggelten 
Mopi‘ zum VBorfchein, der mit höchft fatalem Selnurre nad) 
meinen Finger fchnappte, fo baß ich biefelben nur mit Mühe 
vor der näheren Bekanntfchaft mit den Zähnen bes Tiebenz> 
würdigen Tierhens reitete. 

„Gin allerliebfter, biffiger Köter,‘ bemerkte ich und 
fnüpfte die Köfliche Trage daran, ob gnäbiges Fränlein 
and) nicht vergeffen habe, bie vorgeichriebene Platkarte zu 
löſen. 

„Das ſind Ihre Sachen nicht, war die pikierte Ant- 
wort, ‚überhaupt geht mein ‚Mopi‘ Sie nichts an.“ Und 
dabei brüdte fie das Hiebe Viehzcug fo innig an fi, daß 
ih feine Rippen fnaden zu hören glaubte. Sch beneidete 
ihn durchaus nicht, und er felbft fhien von diefer Zärtlich- 
teit Teineswegs erbaut zu fein; wenigftens Inurrte er in be- 


benfliher Weife fort. Ob biefes mir oder feiner Herrin: 


gelten follte, weiß ich nicht, nehme jedoch Iettere an. 


Beiblatt der Deutichen Roman-Zeitung. 





422 





„Wir beiden menfchlihden Wejen folgten biefem er- 
munterndben Beilpiele und das fhönfte Wortgefeht war 
wieder im Gange. 

„Ich behauptete, der Köter müfje analog meiner Cigarre 
hinaus, fie jprad) von ‚Unmaßung‘, ‚unerhörter Unverfroren⸗ 
heit‘ u. f. w. Scjließlid) wurde fie derartig anzüglid), daß 
mein mühlam zurüdgehaltener Grimm fid Luft madıte. 

„Mit einem fchnellen Griffe Eriegte ich den jühen ‚Mopi‘ 
zu paden und, mwupp, faufte er in elegantem Bogen zum 
Tenfter hinaus.” — 

„Na aber, glaubhaft, Doktor?!“ 

„Heiliger Nepomul, Sie Ungeheuer!” 

„Das ift zu did gelogen!” 

„Sie verbienen, beim erften beiten Tierſchutzverein zur 
Anzeige gebradjt zu werben!“ 

So jhwirrte e8 im Scherz unb Ermft Durcheinander. 

Der Erzähler allein behielt feine Leichenbitiermiene un= 
erfhätterlich bei und fuhr fort: 

„Da reden Sie nun alle burcdheinander und thun, als 
ob fih nod niemand außer mir hat Hinreißen laſſen von 
ber Aufregung. Gewik ift die That nicht zu loben, allein, 
denten Sie fih einmal in meine Lage hinein, fo wird fie 
Ihnen auch erklärlich ſein. 

„Wie geſagt, ich ſelbſt bereute mein Thun im nächſten 
Augenblick, wie ich das zappelnde Hundevieh ſo durch die 
Luft fahren ſah, doch es war nicht rückgängig zu machen. 

„Was ich nun zu hören bekam, darüber ſchweigt des 
Sängers Höflichkeit, aber, im Vertrauen, es geht auf keine 
Kuhhaut. Ich ließ alles über mich ergehen, jeden Augen⸗ 
blick darauf gefaßt, daß die beleidigte, mopiloſe Dame mir 
nach bekanntem Muſter mit allen zehn Fingern ins Geſicht 
fahren würde. Doch das geſchah nicht. Ihr Zorn löſte ſich 
bald in einen unendlichen Thränenſtrom auf. 

„Nun, ich bin kein Unmenſch. 

„Als ich ſie ſo gottesjämmerlich klagen hörte über ihren 
bielgeltebten ‚Mopi‘, der nun wohl fon lange gegen einen 
Telegraphenpfahl oder gar den Schädel eines unjhuldigen 
Bahnarbeiter8 geflogen war, überfam mid) ein menjchliches 
Rühren. ' 

„Mid, entfchuldigend, verfuchte ich die Verwailte zu 
tröften, indem ih ihr al8 Erfak einen von Onlels Tedeln 
verfprad. Sa, Hoppla, da kam ih [hön an. Sch möchte 
mich mit meinen Tedeln bahinfcheren, mo der Pfeffer wählt — 
und was ded Angenehmen mehr war. Anzeigen miürbe fie 
mich und zwar auf ber nädjiten Station. — 

„Na, dann nicht, dachte ih und fing an, mir die Folgen 
meines Verbrechens auszumalen. — 

„Da, Binü—-ü—h! Der Zug hielt. ‚Kreienfen,‘ brüllte 
ber Schaffner, die Wagenthür aufreißend, ‚fünf Minuten 
Aufenthalt!‘ 

„Wie der Wind war meine TZeindin an mir borüber- 
zur Thür hinausgepfuticht, um ihre gräßliche Drohung wahr 
zu maden, und id fäumte nicht, in aller Eilfertigkeit hinter 
ihr her zu Klettern, um einen legten Sühnverfudh zu machen. 

„Doch was ift das! Da flieht, zwar etwas atemloS vom 
Lauf, aber fonft ganz fidel der ‚Mopi‘ und hat die Cigarre 
in der Schnauze und, meine Herren, mögen Sie e8 glauben 
oder nicht, fie brannte nodj!“ 

Wax Heuer. 


* 


————— a — 


419 


fröhlichen Tafelrunde leeren: auf «ine glüdlidhe Zu: 
funft, in der Fdeales und Reales zu jener Milchung 
fih vereinigt, die den fühlenden und dentenben 
Menihen allein beglüdt. — Ho unfere Ideale.” — 
Die Gefellihaft erhob fi und bie Gläfer Hangen 
zulammen. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





420 





Hilde blidte ihrem Bräutigam innig in bie 
treuen, braunen Augen. „Wir wollen fie hochhalten, 
mein Egon.” 

„DIa, mein Lieb,” antwortete er, „mit Gott!” 


EnD ee. 





Beiblatt der Dentihen Roman-Zeitung. 


Halte, Hatte, Faß den Streit. 
Von Mobert Burns, beutih von IE. Wriusdorn. 


Gatte, Gatte, laß ben Streit 
Und die Herrſchermienen! 

Du haſt mich als Weib gefreit, 
Doch nicht, Dir zu dienen. 

Eins von zwein nur herrſchen kann, 
Nancy, Nancy! 

Sft’3 die Zrau num, ift’3 der Dann, 
Mein Weib Nancy? 

Wiltft dies jtolzge Wort Du nod) 
Stets im Munde führen, 

Dann ade jegt, Eheiod — 
Wil mein Bündel jchnüren. 

Wohl betrübte ich mich des, 
Nancy, Nancy! 

Doc) die Zeit bringt Leidvergeß, 
Mein Weib Nancy. 


Nun, mein armes Herz, fo brid, 
Höre auf zu fchlagen! 

Ruh ih unterm Nafen — jprid), 
Wie willft Du dies tragen? 

Hat der Tod Dich hingerafft, 
Nancy, Nancy! 

Giebt der Herr mir Troft und Kraft, 
Mein Weib Nancy. 

Gut! So mifche ih mid) dreift 
Unter die Gefpeniter, 

Komme Nacht für Nacht ala Beift, 
Durh Dein Kammerfenfter. 

Nehm’ ein Weib dann, dag Dir gleicht, 
Nancy, Nancy! 

Und die ganze Hölle weicht, 
Mein Weib Nancy. 


„Mopi. 


„Sreuziatra, meine Herren, mögen Sie e3 glauben ober 
nidt, jo war mein ‚Bergmann‘,“ fchloß der Yorftmeifter 
a. D. Häfelein, pafite einige fürdhterliche Züge aus feiner 
treuen Pfeife, nahm einen tiefen Schlud von dem „Extras 
ſteifen“ und ſah fih dann im Streife feiner Zuhörer nad 
der Wirkung feiner foeben vorgetragenen „wirklich und thats 
fählih pajfierten Geihichte* um. 

Der Streis fette fi) aus den Stammgäjten bes „feuchten 
Zapfens“ in Xftein zufammen und der orftmeifter hatte 


wieder einmal eine feiner haarftiräubenden Sagdgeichichten 
zum Beiten gegeben, auf bie benn aud) die üblichen „Au“ 
und „Na, na“ folgten. 

Dod, merkwürdig, ber Toltor, fonjt ber eifrigfte Wider: 
facher biefer „Leberftrünpfe”, wie er die Augsgeburten bes 
forftmeifterlihen Sägerlateins zu nennen pflegte, war heute 
ruhig und, während er fonft [honungslos, in farkaftiicher 
Weile gegen fie zu Selb zog, jhien die Glaubwürdigkeit 
diefeg neueften Triebes Häfeleinfcher Erfindung für ihn 
über jeden Zweifel erhaben; mit einem geradezu feierlichen 
Ernfte nidkopfte er dem Erzähler feine Überzeugungstreue zu. 

Das war derartig überrafhend, daß felbit der bide 
Nentier Schwädlig, der fonft, ein Glas nad) dem andern 
Icerend, dafab und buch nihts aus jeiner beichaulichen 
Nuhe zu bringen war, verwundert nad jenem binftarrte, 
während der lange Apotheker meinte: „Doltorhen, fehlt 
Ihnen etwas oder find Sie von jegt ab immer jo duldjam?“ 

„Nun, weshalb denn, meine Herren,” erwiberte der Ans 
gerebete troden, „ich meine eben, derartige Sachen find durd)= 
aus nicht unmwahriheinlih, mie id aus eigener Erfahrung 
beweiien fann.“ 

„Vormachen,“ grunzte der Mathematikus Streifel, den 
Redner erwartungsvoll anſehend, als ob er deſſen rundes 
Pausbackengeſicht mitſamt der anſehnlichen Naſe in Quadrate 


einzuteilen gedächte. 


„Ja, vormachen,“ echote nun auch der Wirt, der ſich, 
ſobald ſeine Zeit es erlaubte, gern ein Weilchen bei ſeinen 
Stammgäſten aufhielt. 

„Vormachen, vormachen! Unſinn!“ brummte der Dolktor 
ärgerlich und fuhr dann fort: „Ich will Ihnen etwas ſagen, 
meine Herren, Sie wiſſen, daß ich keineswegs immer mit 
den ‚thatſächlich und wirklich paſſierten Geſchichten‘ unſeres 
Freundes einverſtanden bin, allein zu der eben gehörten 
könnte ich Ihnen aus meinem eigenen Leben ein Pendant 


erzählen — —“ 
„Dho, erzählen!* 
„208 !* 


„mmer munter!” rief e8 Durcheinander und alle waren 
geipannt „wie ein Fligbogen*, wie der Mathematilus be= 
merkte. 

Der ſo Beſtürmte kam, ohne auch nur einen Augenblick 
ſeinen Ernſt zu verlieren, mit tiefem Zuge ſeinem Nachbar 
den Reſt und, nachdem er mit der Umſtändlichkeit eines 
Kenners ſich eine neue Cigarre angebrannt hatte, begann er: 

„Es iſt ſchon manches Jahr verfloſſen, ſeitdem die Ge⸗ 
ſchichte ſich ereignete, die ich Ihnen jetzt mitteilen will, aber 
trotzdem erinnere ich mich ihrer noch in allen Einzelheiten. 

„Ich war noch Student. Die ſchönen Sommerferien 
waren vorüber und in nicht allzu freudiger Stimmung ſtieg 
ich in das Coupé ‚dritter‘, das mich wieder nach dem Muſen⸗ 





421 


beit für da3 nahe Phyfifum anf mid, wartete. 

„sn die Ecke gedrüdt — id) war allein — qualmte ich 
meine Gigarre. 

„Wie ich alfo fo dafite und gerade im Begriff bin, mir 
e3 bequem zu machen, das heißt meine unteren Ertremitäten 
in wagerehte Lage zu bringen, fteigt, als ber Zug falt Schon 
in Bewegung ift, eine mittelalterliche Dame mit den üblichen 
zwei Dutend Schadteln und Staften ein. 

„Ih war von diefer Begleitung nicht fehr erbaut mad 
wurde e8 auch nicht, nadhbem ich einen BIid auf das mit 
einer fpigen Nafe und Kneifer bewaffnete Geficht der Holden 
getworfen hatte. Nachdem fid mein Vis-&-vis unter ihrem 
Krempel ſeßhaft gemacht Hatte, mufterte fie mi) fo vogel- 
perjpeftivenartig und verlangte Ichließlig hödhft brüst, ich 
fole die Gigarre wegtiun — —“ 

„Alle Hagel, das war zu viel verlangt von Shnen.“ 

„Sa, das fand id auh, zumal wir im Naucdconpe 
faßen, und antwortete baber aud) ganz kühl, daß mir das 
gar nicht einfiele, da fie ja hätte im ‚Nichtraucher‘ fahren 
fönnen. Ein Wort gab ba andere, bis enblih mein Engel 
furz entichloffen mir meine Gigarre and ber ahnungslofen 
Sand riß und brevi manu zum enfter Hinauswarf. — 

„Nun, meine Herren, Sie werben zugeben, daß ein der- 
artige® Borgehen die Geduld eines Schafe zum Reiben 
bringen Lönnte. Sch, an jenem Tage nicht? weniger als 
friedfertig aufgelegt, geriet in eine gelinde Berferlerwut, wie 
ich meine chöne Nifotina fo mir nichts bir nicht® Heidi gehen 
oder vielmehr fliegen fah. 

„Am liebſten hätte ich troß Europas übertündhter Höflid- 
feit das Frauenzimmer — Pardon, bie Dame, wollte id) 
fagen — Iints und — — aber ba lag gerade ber Hafe im 
Pfeffer. E8 war eben cine Vertreterin des fchwaden Ge: 
Schlechtes, gegen die man aud; wütend und ohne Gigarre 
Nüdficht zu nehmen gezwungen tft. Ih begnügte mich aljo 
mit einigen zarten Grobheiten und würgte meinen Grimm 
hinunter, indem ich ziemlich erfolglofe Verfuche machte, Die 
Enden meiner eben hervorjproffenden Scnurrbarthaare 
zwifchen bie Zähne zu belommen, um in vier Bierteltaft 
darauf herumzufauen. 

„Da unterbrad plöglidd ein merkwürbiger Ton die 
mühſam hergeſtellte Ruhe unſeres Idylls. Halb Quieken, 
halb Heulen, kurz, ganz eigenartig. 

„Wie ein Blitz ſchoß mir ein Gedanke durch den Kopf. 
Mit ſchnellem Griff klappte ich den Mantel meiner Wider⸗ 
ſacherin zurück und richtig kam der Kopf des eingeſchmuggelten 
„Mopi‘ zum Vorſchein, der mit höchſt fatalem Geknurre nach 
meinen Finger [chnappte, fo daß ich diefelben nur mit Mühe 
vor der näheren Bekanntichaft mit den Zähnen des Ticbeng» 
würbigen Tierchens rettete. 

„Ein allerliebfter, biffiger Söter,“ bemerkte ich nnd 
müpfte bie Köfliche Trage daran, ob gnädiges Fränlein 
and) nicht vergefien habe, die vorgefchriebene Platfarte zu 
löfen. 

„Das find Ihre Sachen nicht,‘ war die pifierte Ant- 
wort, ‚überhaupt geht mein ‚Mopi‘ Sie nit an. Und 
Dabei brüdte fie das Hiche Viehzeug fo innig an fi, daß 
ich feine Rippen Enaden zu hören glaubte. Sch beneidete 
ihn burhaus nicht, und er jelbft Ichten von biefer Zärtlich- 
feit feineswegß erbaut zu fein; wenigftens Inurrte er in be- 


denkliher Weife fort. Ob bdiejeg mir oder feiner Herrin: 


gelten follte, weiß ich nicht, nehme jedoch letteres an. 


Beiblatt der Deutihen RomanZeitung. 





_ fite Göttingen zurüdführen ſollie, wo ein ganzer Hügel Ar- 








422 


„Wir beiden menihlihden Weien folgten biefem er: 
munternden Beifpiele und das fchönfte Wortgefedyt war 
wieder im Gange. 

„Sc behauptete, der Köter müfje analog meiner Cigarre 
hinaus, fie fprad) von ‚Unmaßung‘, ‚unerhörter Unverfroren- 
heit‘ u. f. wm. Schließlid; wurde fie derartig anzüglid, daß 
mein mühfam zurüdgehaltener Grimm fid) Luft machte. 

„Mit einem fchnellen Griffe friegte ich den führen ‚Mopi‘ 
zu paden und, wupp, faufte er in elegantem Bogen zum 
Zenfter hinaus.” — 

„Na aber, glaubhaft, Doktor?!“ 

„Heiliger Nepomul, Sie Ungeheuer!“ 

„Das tft zu bi gelogen!“ 

„Sie verdienen, beim erften beſten Tierſchutzverein zur 
Anzeige gebradt zu werben!“ 

So jchwirrte e8 im Scherz und Ernft durcheinander. 

Der Erzähler allein behielt feine Leichenbittermiene un: 
erichütterlih bei und fuhr fort: 

„Da reden Sie nun alle burdjeinander und thun, als 
ob fih noch niemand anker mir hat binreißen laſſen von 
der Aufregung. Gemwiß ift die That nicht zu Yoben, alletı, 
denten Sie fi einmal in meine Lage hinein, jo wird fie 
Ihnen auch erklärlich fein. 

„Wie geſagt, ich ſelbſt bereute mein Thun im nächſten 
Augenblick, wie ich das zappelnde Hundevieh ſo durch die 
Luft fahren ſah, doch es war nicht rückgängig zu machen. 

„Was ich nun zu hören bekam, darüber ſchweigt des 
Sängers Höflichkeit, aber, im Vertrauen, es geht auf keine 
Kuhhaut. Ich ließ alles über mich ergehen, jeden Augen⸗ 
blick darauf gefaßt, daß die beleidigte, mopiloſe Dame mir 
nach bekanntem Muſter mit allen zehn Fingern ins Geſicht 
fahren würde. Doch das geſchah nicht. Ihr Zorn löſte ſich 
bald in einen unendlichen Thränenſtrom auf. 

„Nun, ich bin kein Unmenſch. 

„Als ich ſie ſo gottesjämmerlich klagen hörte über ihren 
vielgeliebten ‚Mopi‘, der nım wohl ſchon lange gegen einen 
Zelegraphenpfahl oder gar ben Schäbel eines unfchuldigen 
Babhnarbeiter8 geflogen war, überlam mid) ein menfchliches 
Rühren. 
„Mich entſchuldigend, verſuchte ich die Verwaiſte zu 
tröſten, indem ich ihr als Erſatz einen von Onkels Teckeln 
verſprach. Ja, hoppla, da kam ich ſchön an. Ich möchte 
mich mit meinen Teckeln dahinſcheren, wo der Pfeffer wächſt — 
und was des Angenehmen mehr war. Anzeigen würde ſie 
mich und zwar auf der nächften Station. — 

„Na, dann nicht, dachte ich und fing an, mir die Folgen 
meines Verbrechens auszumalen. — 

„Da, Püuü — ü —h! Der Zug hielt. Kreienſen,‘ brüllte 
der Schaffner, die Wagenthür aufreißend, ‚fünf Minuten 
Aufenthalt!“ | 

„Wie der Wind war meine Yeindin an mir porüber- 
zur Thür hinansgepfuticht, um ihre gräßliche Drohung wahr 
zu machen, und ich fäumte nicht, in aller Eilfertigkeit hinter 
ihr her zu Klettern, um einen legten Sühnverfuh zu machen. 

„Tod, was ift das! Da flieht, zwar etwas alemlo8 vom 
Lauf, aber fonft ganz fidel der ‚Mopi‘ und hat die Gigarre 
in ber Schnauze und, meine Herren, mögen Sie e8 glauben 
oder nicht, fie brannte nad!“ 

Hax Heuer. 








423 


Deutfh-pyolnifd. 


Bon 8. KHermann. 


„Brennt die Laterne immer fhledhter? 
Scaffen’8 die alten Augen nit mehr? 
Halt ftile, Scheder — wenn unfereiner 

-©o gut wie Du fchon gefuttert wär’! 


Slobiczed hat nir Morgentränfe, 
Ehe er mit der Striegel hantiert — 
Und Odfe hat Pelz im falten Winter, 
Globiczel in feinen Lumpen friert... . 


Anno jiebzig tft auch ein Winter gewveien! 
Wie lange ift’3 her jegt — laffen wir’ fein — 
Da hat man auch gehungert, gefroren, 

Aber wenn ich dran dente — ’3 war doc) fein! 


Sch kann noch ganz gut franzöfifch parlieren, 
Fusiler tout de suite — allons, allons — 
War aud) ein Sammer, die [hwarzen Nader! 
Lagen im Schnee und fchrieen Parbon. 


Unfer Herr Hauptmann, das war der beite, 
Da hätt’ ih nie nach dem Teufel gefragt: 
Hab’ ihn 'raußgehanen mitfamt ber Fahne, 
‚Globiczed, braves,‘ hat er gejagt! — 


Bin in Berlin aud mit eingezogen, 
Und den Kaifer, den alten, hab’ ih geich’n — 
Daz ging über lauter Blumen im Tritte... 
’3 wird Tag Shon — Bläffer, wilft Du wohl fteh'n! 


Nun möcht’ einen fhwarzen Rod id haben, 
Dab ich, mein Eifernes Kreuz auf der Bruft, 
"No einmal könnt’ in die Kirche gehen — 
Bei meiner Seele, das wär’ eine Luft! — 


Aber Slobiczed Wochen: wie Felttags 
Sid, um das Rindpieh In Lumpen plagt — 
Hat fein Weib fi die Grojhen md Dreier 
All durch die brandige Kehle gelagt.” 


hr Deal. 


(Eine moderne Chegeicdhidyte von Georg A. Albert. 
(Schluß.) 


Bald darauf knüpften ſie jenes wichtige, folgenſchwere 
Band, das für dieſes Sein für unanflöslich gelten ſollte, 
weil doch der eine oder der andere nur mit dem Verluſt des 
Beſten ſeiner Seele es bricht. Sie erklärte, daß ihr der 
ſtaatliche Akt vollkommen genüge und daß eine geräuſchvolle 
Hochzeit nicht in ihren Wünſchen liege. In ſein Leben 
ſpielte hauptſächlich der Bureaukratismus und die ſtaatliche 
Autorität hinein; in dem, was verboten und erlaubt war, 
hörte er auch als Mann noch immer die Stimme des Lehrers und 
Waiſenvaters in ihrem unbeſchränkten Abſolutismus. Über dem 
irdiſchen Geſetz und dem Richter ſtand ihm in der Welt 
nichts; es hatte für ihn die höchſte bindende Kraft, und ſeine 
eigene Achtung und Ehrfurcht davor ſuchte er auch bei andern. 
So erfaßte er Gott als etwas Beſonderes, das zwar über⸗ 
mächtig in das Erdenſchickſal hineinwob, aber doch der ſtrengen 
irdiſchen Gewalt an ſeiner Stelle das Schwert in die Hand 
gegeben hatte, je nach ſeiner Weisheit, in dieſer und jener 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





424 








Form und Geſtalt. Er war es alſo zufrieden, ihre Ehe mit 
dieſem geſetzlichen Bande geknüpft zu ſehen, und er fand 
auch darin nichts Unvollkommenes, ſofern eben dieſes Zu⸗ 
ſammenleben ſeine innerliche Weihe erhielt durch eine echte, 
warme Neigung. Die vorläufige Zurückhaltung ſeiner Ver⸗ 
lobten ſchien ihm dafür nicht bedenklich; es mußte ſich ja 
naturgemäß ein Verhältnis ergeben, das dieſer ethiſchen 
Bedingung im Laufe der Zeit nahe kam und ſich ſchließlich 
zu einem ſchönen, harmoniſchen Ganzen vereinigte. Denn 
einem immer ſich gleich bleibenden liebenden Herzen, dem 
ſelbſtloſe Opfer und Sorge ein beneidenswertes Glück 
dünkten, konnte ſie auf die Dauer nicht widerſtehen. Und 
er zitterte mit Wonne dem — wenn auch noch ſo fernen — 
Momente entgegen, wo er ihr Herz gewonnen haben und 
befiegt, rüdhaltlos, an dem ſeinen ſchlagen fühlen werde. 
Darin wollte er ſich gewiß nicht getäuſcht haben, wo er 
wußte, daß ſie ehrlich und gut, wenn auch von herbem 
Stolze und ein wenig zu großer, treuer Anhänglichkeit 
an Geweſenes ſei. Darum eben mußte er ſie doppelt lieben 
und hegen, weil ſie nicht war wie die kriechende Winde, 
die ſich um den zufällig auf ihrem Wege ragenden Stamm 
wand. 

In dieſer Schätzung anerkannte er ihre Selbſtändigkeit 
gern und genehmigte, daß fie Gatten blieben, ohne Hingabe 
und Opfer, die der jeclifchen zreiheit zumiberliefen. Die 
Achtung davor und vor bem Weibe im allgemeinen und diejer 
feiner rau im befonberen entiprang fo tief feinem innerften 
Gein, daß fie feinem Nadydenten und Urteile eine ehrfurcdhtös 
volle Grenze 309. Er fagte fi) mit befcheibener lÜberzeugung, 
daß diefe Frau „verdient“ fein wolle, und betradtete fih — 
wenn auch ohne Grund, nur alein feinen adhtungspollen 
Gefühlen entiprungen — fo tief unter ihrem geiftigen und 
gefelihaftlichen Niveau, daß er in der gleichwertigen Vers 
bindung nit ihm bei ihr ein freiwilliges Herabfteigen zu 
ihm oder feine Erhebung durch fie jah. Und dabei fühlte 
er, daß ber männliche Stolz Diefer Art von Frauen gegen 
über nicht auf ein angeborenes Vorredyt pochen bürfe, wenn 
er nicht zu niedrigfter Unbildung und Brutalität ausarten 
wolle. Dem Manne in fi Hatte er durch diefen fpeciellen 
Standpunkt nichts vergeben. 

Shr Verkehr hielt fi anfangs auf der Stufe adjtung3- 
voller, rüdfihtnehmender Freundichaft, aber er bejtrebte fid, 
feinem gütigen Herzen nad, mählidy mit Feinheit mehr Liebe 
hineinzulegen. Sie ftieß oft auf Dinge im Haufe, auf 
Negungen und Gebanten bei ihm, bie feinem gleihmäßigen 
zarten Benehmen eine ftille, jchmeichelnde, rührende VBebentung 
gaben, die fie denken unb fühlen und forfchen ließen und 
feine, unfihtbare Fäden hinüberleiten zu einem Selbft, das 
fie in diefer Eigenart noch nicht fennen gelernt hatte. Zhr 
war da8 treue, geheimnispolle Walten eines männlichen, nicht 
äußerlich Tärmenden, in ſtarke Leidenſchaftlichkeit ausbrechenden, 
weltverborgenen Gemüts nicht geläufig. Sie hatte das Gegen: 
teil an fi — und wie fie meinte — mit Wonne erfahren. Hier 
aber fah fie es fih entfalten und QWlüten treiben, wie fie 
nidt für die laute Bewunderung der großen, nad) ftarfem 
Neiz verlangenden Dienge, fondern für bie heilige Einfantkeit 
eines verſchwiegenen, ſeligen Glüdes geichaffen find. Sie 
vertiefte fich zeitweije gern in den Zauber biefes männlichen 
Gemüts — aber dauernd darin zu weilen, verfagte ihr ihre 
unrubige, leidenjchaftlihe, nah Raufh und Schmerz ver: 
langende Seele. Sie fand fid) abgezogen von ihrer Vor: 
ftellung entipredhenden Ssdealen, die, ihrem Gefühle nad), ein 





425 


bimmelftiirmendes Liebesglüd, wenn audy mit nachfolgender 
Vernichtung, verhießen. Und ihre heiße Eehnjuht malte 
phantaftifche, jchillernde Wilder um eine einzige Perfon, der 
zu entjagen fie fich gezwungen fah, bereit3 zu einer Zeit, von 
ber ihr Vater fagte und wifjen wollte, daß fie fie nad) uns 
berftändiger, fich felbft und die Wirklichkeit nicht verftehender 
Mädchenart durhträumt habe. Sie glaubte ihm zum Teil. 
Dod ihrer innerfien Natur nah, im Grundmeien der 
Ihwärmereidburftigen, einer Welt unflarer Triebe überlafjenen 
Weiblichkeit hingegeben, fam fie inmer wieder vor jener 
täufchenden Vergangenheit an und überredete fih, daß fie 
einem gütigeren Schidjal ein unfaßbares, maßloje Glüd 
zu danken gehabt hätte. 

An ihn, den fie vor der Welt „Satte* nannte, dadte 
fie in jolhen Momenten wenig. 

Sp verging ein Jahr. 

Der Mann, in feiner treuen Werbung um das Herz 
feiner rau, erkannte fchließlid) das Hoffnungslofe feiner 
Bemühungen. Er fah, daß es ihm nicht gegeben war, fie 
zu erringen, fei e8 nun au8 Mangel an äußerer Gabe oder 
innerer Kräfte, die eine zwingende Macht über fie hatten. 
Er wußte jehr wohl, daß ihr Geichledht der Ihönen äußeren 
Erihheinung eine fiegende Gewalt zuerlannte, und daß er in 
diefer Beziehung vernadläjfigt fei. Sein einfaches Äußere 
verfhwand gegen ihre ftolze, vornchme Formenihönhelt. 
Sie war fi) des Gegenfages bewußt und fand feine Ber: 
föhnung für fie beide. Demnad; mußten bie echten, redlichen 
Gefühle feines Herzens Feinen Wiederhall bei ihr gefunden 
haben. So war er aud in diejer Hinfiht zurüdigeblieben 
gegen andere, denen die Eeinfte Mühe die herrlichiten Früchte 
in den Schoß warf. Er gab ben ftrengen Eindrüden feiner 
liebearmen Jugend jchuld, die den faum zum Leben erwachten 
Keim achtlos verdorren ließen, daß jein innerftes Weien 
nicht lebendiger, überzeugender, verlodender und fieghafter 
hervortrat — und verdadte ihr nicht die Kälte und Nichte 
adhjtung, weldye fie für das Neizlofe hegte. 

Shr Vater war einige Monate nad) ihrer Hochzeit 
geftorben. Seine legten vertrauliden Worte an den 
Tohtermann waren: 

„Harren Sie aus in der gebuldigen Güte Shres Herzens, 
mein Sohn! Zulegt ift da8 doch ber echte, wahre Charalter, 
der fih in allen Lagen und Kämpfen treu bleibt. Sch habe 
e3 gut mit Ihnen gemeint — und fie gab Ihnen ihre Hand, 
nicht mir allein zum Gehorjam und Gefallen, fonbern weil 
fie inftinktiv fand, daß Sie ihrer wert find. S;hnen bleibt e3 
überlafjen, falihe Sbealbegriffe und ungeklärte Leidenichaften 
bei jonftiger ftrenger, berber Sittlichfeit zu entmwurzeln. 
Bleiben Sie fi nur treu, lieber Sohn.“ 

Und diefe Mahnung eines Sterbenden war nidjt ver: 
gebens geweien, da ein wadiender Schmerz felbft eine ftarke 
Überlegung zurüdzudrängen und die größte Geduld zur 
Verzweiflung umzuwandeln vermag. 

Der Mann diejer rau war aus feinem Gleihmut und 
Trieben geriffen gegen jeine Natur, und dies um fo ftärker, je 
größer feine Liebe für diefe rau wurde. Sie benterkte diefe 
Veränderung und legte e8 ihrer Gefühlslofigfeit zur Laft, 
die jeine Geduld erihöpft und jeinen Unmut machgerufen 
haben mußte. Davor fih zu fügen, fand fie keine andere 
Waffe, alZ fein ihr gegebenes Einverftänbnis in die von ihr 
geitellten Bedingungen zu einer Verbindung mit ihm. Doch 
würde ihr diefe Stellung auf die Dauer unbequem, ja un⸗ 
haltbar werden. Und fid) durch gemaltfame Umftände um 


RomansZeitung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman-gBeitung. 





426 


ihre Freiheit bringen zu laflen, bazu war fie der fchwade 
oder verborbene Charakter nit. Sn der Erregtheit ihres 
Dentens fuchte fie ohne Urfache bei ihm eine brutale Gewalt, 
die ihn das Recht gab — während er in fchmerzlidher Er: 
gebenheit ein zum Unglüd verwanbeltes Glüd trug. 

Er bemerfte ihre Unruhe wohl und verfuchte, fie über 
ihn ficherer zu ftimmen. Die beabfichtigte Wirkung gelang 
ihm aber nur teilmweile. Sie mißtraute feiner Stetigfeit unb 
argmwohnte den Ausbruc, einer elementaren Leidenichaft, Die 
fie jelbit an feiner Stelle hinreißen würde. Und da fprad 
fie von Trennung — von Scheidung. 

Er jah fie ruhig an — nur jein Antlig bededte fi) 
mit Leichenbläfie. 

„Ich werde gehen,“ fagte fie, „um damit eine Verbindung 
aufzuheben, die wir uns erträglider daten. Die Achtung 
allein — das fehe id; nun — reicht für eine Ehe nit au — 
und ih babe audy heute faum mehr — ald meine Freunb- 
haft — zu geben.“ 

„Sie werden — geben?“ wiederholte er monoton. 

„5a, ich halte es für beffer, aufrichtiger, Shrer und 
meiner mwäürbdiger, wenn wir uns burd diefen gemeinjamen 
Schritt der Freiheit wiedergeben,“ verjegte fie etwas unficher. 
„Ich vermute bei Ihnen wohl nicht ganz mit Unrecht einen 
gewilfen Uberdruß — den ich begreiflich finde. Mein Damaliges 
unüberlegtes Samwort bereue ic; Ihretwegen, denn Sie haben 
im Laufe der Zeit viel Teilnahme in nıir für Sie erwedt. 
Mit Ihren Eigenichaften Haben Sie eine berechtigte Anmwart- 
Ihaft auf da3 Glück durch die Liebe einer Frau, bie Sie 
beijer zu jhägen weiß. Und ich darf Sie diefem GIüd nicht 
länger entziehen.“ 

Er madte eine ablehnende Bewegung. 

„Da8 folte Sie nicht beirren,“ meinte er. 

„Doch,“ erwiderte fie hartnädig. „Mir ift bad Bewußt- 
fein uneriräglid, daß ich eventuell für Sie ein Hindernis 
fein Eönnte. — Laflen Sie uns vernünftig fein,“ fuhr fie 
mit Shwad verhehlter Erregung fort, „laffen Sie e8 ung 
gut und ehrlihd mit ung meinen. Visher haben wir eine 
große Thorheit begangen. Wir haben nicht wie reife, vers 
ftändige Menfchen, jondern wie unüberlegte Kinder gehandelt. 
Sagen Sie jelbit: was ift das, was wir miteinander vors 
ftellen? Yühlen und finden Sie nidt das Erniedrigende, 
Gehaltlofe unferer gegenfeitigen Stellung heraus? Unb 
bejonders für Sie ald Mann liegt darin etwas Beichämendes, - 
das Ihr Stolz nicht billigen folltee Mir ift eg unmöglich, 
Ihnen auf die Dauer die einwandsfreie Achtung entgegen 
zubringen, die ich vordem für Sie hatte. Sch will von dem 
Manne Energie, felbft auf die Gefahr eines herben Vers 
zichtes. Und die müßten Sie mir gegenüber finden, da ich 
Shnen als Frau nidhts fein kann.“ 

„Sie wollen alfo unter allen Umftänden — frei fein?“ 
fragte er, jcheinbar ruhig, doch mit merklich zudenden Lippen. 

„sa!“ rief fie leidenfchaftlich und begegnete feinem feft 
auf fie gerichteten Wlidde mit gleicher Entichloffenheit. 

Er neigte ein wenig da8 Haupt. 

„But,“ fagte er, wie überlegend, und verließ ohne ein 
weitere® Wort das Zimmer. 

ALS fie allein war, machte fie fi dody Vorwürfe und 
halt ihr ichfüchtiges, undanfbares Herz. Aber fie feste fi) 
über alle Bedenken hinweg im Hinblid auf ein wirkliches Glüd, 
da8 fi unter gewiffen Bedingungen in veränderter Geftalt 
ihr zu eigen geben wollte. Der Mann ihrer erften Liebe, in 
den fie ihr Ideal fah und harinädig fefthielt, hatte wieber 


(Er nu 


IV. 30 


427 


ben Weg zu ihr gefunden, und neue, noch leidenfchaftlichere 
Hoffnungen, als ehedem, gewedt. Aud er lag in den Felleln 
einer übereilten Ehe und war beftrebt, fie zu brechen, um 
in der Vereinigung mit ihr das föftlihe Glüd zu finden. 

Das Fieber riß fie fort, und fie fpradı fi) jelbft das 
Recht zu, ein Wort zu breden, das fie nicht dor Gott, 
fondern allein vor dem Gefege geiprochen hatte. Shre That 
fei fomit kein Verbrechen. Und fie entichulbigte fich mit der 
edlen Negung: daß fie dem, ben fie vor der Welt „Satte“ 
nannte, mit der Sreiheit aud) dem Glücde wiedergab. Bei 
feiner pedantifhen Auffafiung von Pfliht und Gewiffen- 
baftigfeit, mit welcher er ihr Verhältnis au ferner aufrecht 
erhalten wiflen wollte, bei feiner Naivität bes Gefühls mußte 
fie für ihn und fi) handeln. O, er hatte ja gar kein Ver⸗ 
ftändniis für die Beziehungen ber Geichledhter zu einander — 
er kannte die Gewalt nicht, die Mann und Weib übermädtig 
zu einander reißt. Vielleicht, daß ihm dieſe Erkenntnis noch 
einmal bejchieben war und daß er fie Dann begreifen würde. — 

Er verließ auf einige Tage in dringenden Geichäften die 
Stadt. Bon feinen fhwierigen Plänen eingenommen, fand 
er nur wenig Zeit, dem fich vorbereitenden Geichid feine 
Gedanfen zu widmen. Auf feiner Seele jedoch lag eine 
Schmerzliche Laft. Sein Unglüd war ihm aud vor ihrer 
Eröffnung offenbar geworden, aber er zehrte dDody noch art 
den Neften der Seligteit, die von ber Liebe zu diefem Weibe 
in ihm geblieben. Gegt follte e8 leer — ganz leer in ihm 
werden. Seine Hoffnung, feine Gebuld, feine Mühe, fein 
Schafen — alles ftürzte auf einmal zufammen. Und 
in bdiefer verzweifelten Ode fah er feinen Lebenszmwed fich 
verlieren. 

So traf er in feinem Hauie ein. Der Ipäte Abend 
überhob thn, fie von feiner Anweſenheit zu unterrichten. 
MWozu auch, da fie mit ihrer Seele body nicht bei ihm war? 
Er fühlte fid) franf, hinfällig — fterbensmatt. Und ſo ſchlich 
er leife nad) feinem Schlafgemadh. Er ftredte fid) auf Die 
Kiffen, ohne fich zu entlleiden, wie einer, dem die irbijche 
Hülle eine Laft geworden. Da brangen verworrene Stimmen 
an fein Chr. Er laufchte. Seine Augen erweiterten fih — 
und wie ein Nadtwandelnder ftand er auf, um dem lange 
zu folgen, ber burd die Thüren mehrerer Zimmer zu ihm 
herüberdrang. Faft unbewußt fand er fich vor dem Eingange 
zu ihrem Wohnzimmer. Er börte Leidenjchaftlihe Rede 
und Widerrede — ihre Stimme und eine andere, die eines 
Mannes. Die männlide Stimme tief, doll, aber wie bie 
eine® Schauipielerd, der die tragiichen Helden giebt. Shre 
aber hatte die zu Herzen dringende, überzeugende Aufrichtige 
feit, gehoben von einem Zauber, der ihm in der Seele nad): 
zitterte, und den er nie fi) gegenüber lebendig gefühlt, aber 
jehnfüchtig vorempfunden und geahnt hatte. Hier vernahm 
er fein Wehen und e8 hauchte ihn wie ein Raul) an, der 
ihm Überlegung und Willen lahm legte. 

Was fie mit jenem Fremden jprady und der Fremde 
mit ihr — er begriff es. liber alles, was fie jagten, lag 
der Taumel der Leidenjichaften. Und die Siniec des Mannes 
hinter der Thür bebten. Er taftete nad einem ihm zunädhit- 
ftehenden Stuhl und fegte fih, das Haupt fchwer gegen den 
Nioften gelehnt. So blieb er eine Weile regungslos, Die 
ftarren Blie in das Dunkel gerichtet. Dann erhob er ich. 
Seine Echritte trugen ihn in da8 zunädjitliegende Zimmer 
zurüd. Leiſe rafjelte ein Sclüffelbund in feiner Hand. 
Leicht rollte ein geöltes Schloß. Mit fiherer Hand jchlug 
er die Thüren des großen Trejord zurüd, den ihr Vater 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





428 


bier aufgeitellt hatte, fein Vermögen zn bergen. Durd; die 
offen gebliebene Thür feines Schlafzimmers fiel der Schein 
bes jchwachen Lichtes über die Schwelle, auf die glänzenden 
Dielen herein und warf einen unbeftimmten Abglanz in den 
Hintergrund des Behälters. Dort bligte und flinumerte es. 
Er griff hinein und z30g eine vernidelte Schußwaffe hervor. 
Einen Augenblid ftand er, wie ſchwankend, beſinnungslos, 
mit jchmerzdurdhwühlten Zügen. Snjtinktiv prüfte er bie 
Ladung: die Geichoffe ftedten darin. Ein Ieiie® Zittern 
durchlief feinen Körper, die Finger fchloffen fi) feft um den 
Schaft ded Revolver — dann aber hob ein tiefer, pfeifender 
Atemzug feine Bruft — — und er legte die tödliche Waffe 
ruhig an ihren alten Plag. 

So ging er, ben offenen Geldichranf Hinter fi, Iangfam 
in fein Schlafzimmer zurüd und verriegelte die Thür. Er 
löſchte das Licht und ftredte fi) wiederum auf da8 Lager. 

„Und führe uns nit in Verfudhung,” murmelte er, 
und legte die Hände über der Stirn zufammen. Die Situation 
Ihwand vor feinem geiftigen Blid und madıte einem jeltfamen 
Bilde Plag: er fah einen Streuzträger geben, der feuchte 
unter feiner Lajt mit tropfender Stirn, dod auf feinen 
Lippen lag ein milbes Lächeln der Ergebenheit und Vers 
gebung. — 

Dann hörte er eine Thür gehen — fchwere Schritte 
wurden laut, die plöglich ftodten. Er wußte, an welder 
Stelle. Gleih darauf vernahm er einen leifen Schrei bes 
Schredens aus weiblihem Munde, dem eine Totenitille folgte. 

„Vorwärts!“ drängte die männliche Stimme gedämpft 
und gebieterifch. 

„Nein — nein — ftehlen! das fann ich nicht!” hörte er 
fein Weib fprechen. 

Sn furdtbarer Spannung erhob fih der laufende 
Mann auf feinem Bett. 

„Und führe uns nit in Verfuhung —* murmelte er 
nochmals. 

Wiederum eine lautloſe Pauſe. — 

Darauf das Rauſchen von Frauenkeidern und leichte, 
flüchtige Tritte — das feine Geklirr von kompakten Geld⸗ 
maſſen — und der eilige Männerſchritt dumpf hinterdrein. 

Der Mann auf dem Bette ſchlug die Hände vor das 
erſtarrte Antlitz und ſtöhnte. 

„Was ſoll aus mir werden?“ hauchte er. 

So fand ihn der grauende Morgen. Als er endlich, wie 
aus tiefem Schlaf erwachend, aufſchaute, ließen ſeine Züge 
die Spuren eines ſeelenverzehrenden Grames erkennen. 

Die Stunden verrannen und noch befand er ſich auf 
demſelben Flecke, aber nicht wie ein hoffnungslos Ver—⸗ 
zweifelter, ſondern wie ein Harrender. „Stehlen — das 
kann ich nicht.“ Immer lauter klang es in ihm nach. Nein, 
ſein Weib konnte dieſem Manne nicht gefolgt ſein, der die 
Mittel zur Flucht durch ein Verbrechen gewinnen wollte, 
das der Zufall ermöglichte. Mit faſt freudigem Ausdruck 
hafleten ſeine Blicke am Eingang zum Zimmer. Er erhob 
ſich, entriegelte die Thür und wartete weiter. Schließlich 
blitzte es in ſeinen Augen hell auf — ſie trat zu ihm herein 
und ließ ſich gebrochen, matt in einen Stuhl gleiten. 

Sie blickten ſich beide lange an. 

„Sie haben mich erwartet?“ 
Stimme. 

Er nickte. Durch ſeine veränderten Züge glitt ein 
zitterndes Leuchten der aufgehenden Sonne. Da ſah ſie auch, 
was dieſe wenigen Stunden der Nacht dieſem Mann gekoſtet. 


fragte ſie mit hohler 


429 


„Sie haben mich noch erwartet?“ fragte fie wieder, und 
e3 Hang fajt wie ein halbunterbrüctes Schreien. 

„Ih hatte Sie ja nur eine kurze Zeit verloren, Alice,“ 
fagte er einfach, mit halber, weicher Stimme, die wie Lanten- 
Hang in ihre wunde Geele fiel. 

„Und warum hielten Sie mid) nicht?“ fragte fie mit 
ausbrehendem Weh und rang die Hände. 

„Weil Sie dag von |hnen errichtete Sdeal felbft ftürzen 
mußten, um e3 für immer vernichtet zu jehen,“ ermiderte er. 
„Das furhtbare Spiel diefer nächtlichen Stunden Hätte uns 
zu Helden einer bIutigen Tragödie machen und die Chronik 
der ‚modernen Chen‘ um eine Standalgeihicdhte bereichern 
fünnen. Gott fei Dank, daß wir einen befonneneren, fitt- 
liheren Ausgang fanden! Mir fiel e8 noch zu rechter Zeit 
bei, daß Sie von Anfang an immer bei mir gewejen und 
in meinem Herzen gelebt haben, ohne dab Sie e8 mußten 
oder willen wollten. — Sit e8 jo, meine Alice?” fragte er 
und ftredte der Erjchütterten beide Hände entgegen. 

Sie drüdte ein thränennafjes Tafchentucd; gegen ben 
Ihluchzenden Mund. Aus ihren Augen bradı Zärtlichkeit, 
Ergebung und unendliche LViebe. 

Sie barg da3 Haupt an feiner u 
Deinem Gefallen mit mir — — —* 


„Ihue jett nad 


— — ——— = 


Beſäaänfligung. 
Hat die Welt Dir Leids gethan, 
Furcht der Groll Dir düſtre Falten, 
Sperren Dir die freie Bahn 
Drohend feindliche Gewalten; 


Türmt der Leidenſchaft Gebraus 
In der Seele wilde Wogen, 
Kommt des Unheils finſtrer Graus 
Durch Dein trautes Heim gezogen: 


Eines labt Dich wunderſam, 

Sänftigt all den Streit und Jammer: 
Tritt, wann ſchon der Traumgott kam, 
Sacht in Deiner Kleinen Kammer. 


Sieh ihr unſchuldvoll Geſicht 
Traumbeglückt im Schlummer lächeln — 
Fühlſt Du hier den Frieden nicht 

Weich Dein ruhlos Herz umfächeln? — 


Otto Doepſtemeyer. 


Aus dem Leben für das Leben. 
on ®. v. £. 


Arbeite treu! Und die Hälfte der Dir beftimmten 
Reiben geht wie blind an Tir vorüber. 

Überwunden ift ein Leib erft dann, wenn wir in beffen 
Kern den verhülten Segen erfannt haben. Über der 
Schwade findet ihn nit. Darum: mad Dich ftark! Treue, 
zu ber Du Did mit redlihem Willen erziehen fannft, tft 
Stärfe. 


* 
Jedes verſunkene Glück iſt ein Vineta. Wenn bie 
Wogen des Lebensmeers Dich wild umbrauſen, der Sturm 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





430 


des Leids Dich umheult, dann lauſch in das Getoſe: au 
den Tiefen tönt tröſtender Glockenklang und giebt Dir neue 
Hoffnung. 

* 

MWenn man auf der Höhe des Leben? in die Jugend 
zurüdichaut, jo erfennt man, daß in der tiefiten Sehnjudt 
jener Tage unjer Mannesichidjal fi) voraußverkündigt hat. 

* 


Morgen: und Abenddämmerung find glei und wirken 
dody anberd. Sn der erften ahnt Dein Herz den jungen 
Tag und darım ift fie Dir durchleuchtet; in die zweite hinein 
haut e8 die fommende Nacht, und fühlt jo in fie das 
Dunkel. Bift Du aber weise, fo wird Dir auch die Nadıt 
nicht Wehmut weden: denn fie ift ja nur die bunfle Wiege, 
in der der Morgen jchläft und Sterne träumt. 


%* 


Tür jeden echten Freund ift in unferem Herzen eine 
Saite aufgeipannt, die nur er zum Qönen bringt. 


* 


Weſſen Herbſt Früchte trägt, der ſcheut den Winter nicht. 
Troſtlos iſt er nur dem, der die Zeit der Ausſaat ver⸗ 
ſäumt hat. 

Die Gefühle der Jugend ſind unbändige Füllen: ſie 
haben Feuer und begehren Freiheit. Aber ihr Rückgrat iſt 
noch zu ſchwach, um den Reiter, den Vernunftwillen, tragen 
zu können. Darum ſoll man von ihr nicht allzuviel ver⸗ 
langen. Es genügt, ſie im Pferch einer vernünftigen Er⸗ 
ziehung zu halten. 

* 


Willſt Du Wärme behalten, gieb Wärme aus. Wer 
ſie für ſich behält, wird vereiſen. 


* 


wenn Du geordnete Gedanten 
Ein wirrer Kopf deutet auf ein wirres Herz. 


Heute wird mancher durd; vieles Wiffen gehindert, 
eigene Gedanken zu haben. Aber da ber Kopf voll ift, be= 
merft er deren Mangel nidt. 


%* 


E83 gehört viel tiefere Einfiht und weiter Blick dazu, 
die Ungleichheit, die thatjädhlich überall herricht, zu erkennen, 
ala dem Begriff der Gleichheit in fich einen Altar zu bauen. 
Enge Gehirne fült er heute ganz aus — deren Überzahl 
erklärt Die Erfolge ber Socialdemofraten. Stark und Ihwadı, 
begabt und unbegabt, Mann und Weib: alles ift gleich. 
Sp fanı da3 allgemeine Stimmredt zulegt zur Pforte 
werden, durd die man in? Land der Uinvernunft einzieht. 
Die erfte Regierungshandlung wäre aber die gejeßliche Auf: 
hebung der Gleichheit. Und darin liegt lein großer .Troft 
für ’allejDentenden. ; 


DOrbne Deine Gefühle, 
haben millft. 


cr. 
ZIWo viel Ärzte, dort giebt e3 viele Krankheiten. Das 
gilt auch für da8 Leben der?Bölfer. Und viele Krankheiten 
erzeugen 1 ſchwindleriſche Quackſalber, die ſich den Beutel 


füllen wol wollen. Das gilt für das Völferleben leider auch. 





431 


Vermiſchtes. 


Schopenhauer hat bekanntlich dem Traumleben einen 
Abſchnitt in ſeinen Schriften gewidmet; er ſpricht dort von 
Träumen, in denen man durch mehrere Mauern ſehen kann 
und rechnet auch die Schädeldecke als eine ſolche, da ja im 
Schlaf nicht das Auge, ſondern nur das Gehirn die Seh—⸗ 
thätigkeit übt. Er ſagt, daß dieſe Art Träume ſehr ſelten 
ſeien. Beim Leſen fiel mir ein, daß ich — worauf ich damals 
gar nicht geachtet — auch einſt derartig geträumt hatte. Ich 
war als Erzieherin in einer adligen Familie in der Nähe 
von Magdeburg, welche ein ſchönes, uraltes Schloß bewohnte, 
es war eine Waſſerburg und ein großer, viereckiger Turm 
ſtammte aus der Zeit der Ungarnkriege unter Kaiſer Otto — 
in dem es ſogar, wie der Volksmund ſagte, nicht ganz ges 
heuer war. Beſonders ein Korridor war berüchtigt, keine 
Arbeitsfrau aus dem Dorfe hätte nach Anbruch der Dunkel— 
heit dort geſcheuert. Ich muß ihn übrigens dieſes Nimbus 
berauben, denn obgleich ich ihn ziemlich ſpät jeden Abend 
kreuzte, wenn ich aus den Familienzimmern in mein Zimmer 
ging, und er ſich lang und finſter, ſo daß ich das Ende nicht 
abſehen konnte, vor mir hinzog, habe ich nie etwas Ver- 
dächtiges bemerkt. Ich ſage das, um mich von vornherein 
von jedem Verdacht der Geſpenſterfurcht zu reinigen. 

Mein Zimmer, nebſt einem kleinen Vorzimmer und die— 
jenigen der Kinder, wo ſie mit einer Bonne ſchliefen, befand 
ſich in einem, im rechten Winkel an das Hauptgebäude an⸗ 
gebauten Flügel. Das Hauptgebäude war in Form eines 
Dreiecks erbaut — man ſagte mir auf mein Befragen, es 
ſei die Form der Templerburgen, als ich einſt über die 
Seltſamkeit derſelben meine Verwunderung ausſprach — und 
umſchloſſen die drei Seiten einen dreieckigen Hof, in deſſen 
Mitte ein Brunnen ſtand. Die Fenſter der Zimmer gingen 
ſämtlich nach der Außenſeite, nach dem inneren Hofe zu gingen 
Korridore, jetzt vermauert und mit ſchönen, großen, alter⸗ 
tümlich geformten Fenſtern mit bleigefaßten Scheiben; in 
alten Zeiten waren wohl offene Galerien geweſen. Aus dem 
inneren Hofe war nur ein Ausgang in den Schloßhof, durch 
die ganze Tiefe des Gebäudes führte ein nicht ſehr breiter 
Gang, ein wenig gekrümmt, ſo daß eine abgeſchoſſene Kugel 
die Mauer getroffen hätte. Aus dem großen Schloßhofe 
führte eine Durchfahrt unter dem angebauten Flügel ins 
Freie. Aus dieſer Durchfahrt war durch die ungeheuer dicke 
Mauer ein Pförtchen gebrochen, welches aber nur ſelten be⸗ 
nutzt wurde; aus dieſem Erdgeſchoß, wo eingemauerte, ge⸗ 
waltige Eiſenringe es nicht unmöglich erſcheinen ließen, daß 
dort einſt Gefängniſſe geweſen, oder, wie es hieß, Folter⸗ 
kammern, führte eine hohe, ſteile Treppe auf den Platz vor 
meinem kleinen Vorzimmer. 

Ich mußte dieſe weitläufige Beſchreibung geben, um 
den Traum anſchaulich zu machen; dieſer ſelbſt war, wie 
folgt: Ich wußte genau, daß ich in meinem Bett lag und 
fhlief; trogdem fah ich aber durd fünf Mauern, meine 
Schädeldede mit eingerechnet — alles, was fi) in bem inneren 
Schloßhofe zutrug. Derjelbe war jo, wie er wohl in früheren 
Sahrhunderten ausgefehen haben modie; an Gtelle des 
Pumpbrunnens war ein Ztehbrunnen, an Stelle der Seorridore 
hölzerne, offene Galerien. Am Brunnen war ein großes 
Teuer angezündet und um dasfelbe jagen und ftanden Lands— 
Inehte in der Tracht de& breißigjährigen Strieges mit ge: 
baufcten, buntverzierten Wämfern und Bluderhofen, die wilden 








Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 





432 





Gefichter unter mächtigen, breiten Hüten herborblidend; andere 
lehnten fi über die Galerien der oberen Stodwerfe und 
blidten in den Hof hinunter. E83 war eine Scene, wie man 
fie wohl auf den Bildern von Woumerman gemalt fieht, ich 
fannte übrigens Woumwerman damald nur dem Namen nad), 
in einer Propvinzialftadt und in fehr beicheidenen Berhältniffen 
erzogen, war id noch in feine Bildergalerie gefommen. Die 
Soldaten am Feuer tranfen und jpielten Karten und Würfel 
und e3 ift wohl nicht unmöglich, daß fich eine folde Scene 
dort abgeipielt hat, da das Schloß, wie ich fchon fagte, nahe 
bei Magdeburg, auf dem Wege nad Braunfchweig liegt. 
Einer der Soldaten im Hofe ftand auf und ging von ben 
anderen weg, und in demjelben Augenblid wußte ich, daB 
er in mein Zimmer fommen würde, mußte aber aud, daß 
er mir fein Leid zufügen würde; trogdem erfüllte mich die 
Erwartung des geipenftiichen VBejuchers mit Entfegen. Nun 
war e8 feltiam, baß id) feinen Weg Schritt für Schritt vers 
folgen Eonnte, ich fah ihn durd) den Gang gehen, den Hof 
durchichreiten, in die Durdyfahrt eintreten und daß FZleine 
Pförtchen öffnen, alles trogdem e3 draußen dunfel war, und 
endlich jah ich ihn Stufe für Stufe Die Treppe herauflommen, 
erit die Thür des Vorzimmerd aufmachen, und nun öffnete 
er die Thür meines Zimmers und trat ein. Ich kann fein 
Ausfehen nody genau befchreiben; er war rot gekleidet, mit 
weißen, aus den Schligen vorquellenden Puffen und trug 
einen großen fhwarzen Hut mit roten, wallenden Strauß» 
federn; das Gefiht war ein alltägliches, die Augen duntel, 
der Bart pehichwarz. Mein Bett ftand ber Thür entfernt, 
aber fo, daß ich biefelbe im Auge Hatte, und Eonnte ich den 
Bl nicht von dem unheimlichen Beiucdye abwenden. Ders 
jelbe näherte fich dem Bett und blieb dann vorgebeugt ftehen, 
ala wolle er jehen, wer im Bett läge, ich aber war wie in 
Angftihweiß gebadet und mein Herz Ihlug zum Zerfpringen. 
Da lam mir der Gedanke, daß, wenn ich Licht anzünbete, 
der Sput verfchwinden würde, denn da8 Bewußtfein, daß 
e3 nur eine Spufgeftalt jei, hatte mich feinen Augenblid 
verlaffen, ich ermannte mich, zündete mein Licht an, und nun 
Töfte fidy die Geftalt nad) und nad) auf mie eine Nebelmolfe. 
Um jemand um mid) zu haben, mit dem ich fpredyen Eonnte, 
rief ih unter einem VBorwanbe bie Bonne, ich glaube, ich 
gab vor, eine der Stinder hätte fich geregt und bie Dede 
abgeworfen. Dann nahm ich, um mich auf andere Gedanken 
zu bringen und mich ganz zu beruhigen, mein Neues Teftas 
ment, was auf meinem Nadıttifd) lag, und las darin, was 
mid) völlig beruhigte, jo daß ich bald wieder einfchlief. 
gar und Frau von... waren in ber Zelt verreift, 
fonft hätte ich den jeltiamen Traum mohl erzählt; als fie 
nad) längerer Zeit wieber famen, vergaß ich ihn; erft Durch) 
Schopenhauer ift er mir wieder in Erinnerung gelommen 
und ift Diefelbe jehr lebhaft, fo daß id), wenn ich mir abends 
allein denfelben vergegenwärtige, mic dasfelbe Gefühl bes 
Grauens befchleicht, welches ich Damals empfunden. E. K. 


Dnhalt der Wo. 45. 

Schwertflingen. Baterländifher Roman von Hans 
Werder. Fortf. — Ohne Gott. Roman von E. Karl. Fortf. 
u. Schluß. — Beiblatt: Gatte, Gatte, lab den Streit. Von 
Robert Burns, deutih von W. Prinzhorn. — „Mopi”. 
Bon Mar Heuer. — Deutihepolnifh. Bon 9. Hermann. 
— Ihr Ideal. Eine moderne Ehegeihichte von Georg N. 
Schluß. — Befänftigung. Bon Otto Doepke— 
meyer. — Au8 dem Leben für das Leben. Bon ©. v. 8. 
— Vermiſchtes. 


* der Lelter: Dito von Leirxner in Verlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druc der Berliner © druckerei⸗ Akti 
(Setzerinnen⸗ Schule deñ Lette⸗Vereins). uch en⸗ Geſellſchaft 





Deutſche 


Roman-Zeitung. 


—1896. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 


— — — 


Erfheint mwöcentlid zum Preife von 35 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 46, 





Art zu Art. 


Roman 


bon 


3. Schobert. 


Erftes Kapitel. 


Weit draußen, wo die letten Gebäude ftehen, 
wo fih die große Stadt in endloje Felder und 
Wiefen verliert, wo man die Sonne aufgehen fieht 
und friiher Erdgeruh in die Häufer dringt, wo nad) 
jedem Regen das Wafler in tiefen Pfüen auf dem 
nur feftgetretenen Boden der Straßen fteht, und 
allerlei nütlicdes Hausgetier fein MWejen treibt — 
dort fteht auf einem winkligen, vernadjläffigten Hofe 
ein einfaher Schuppen — mwindidief, und bäßlich 
anzufehen. — Des Winters pfeift eifiger Wind durd) 
die leichten Bretterwände, im Sommer brütet bie 
Sonne darauf, und alle unangenehmen Gerüche der 
Nachbarſchaft finden ungehindert Eingang. 

Trogdem ift er bewohnt. — 

Notdürftig ausgeflidt durch einige neue Bretter, 
mehr Sinn für das Praftiihe als das Schöne ver: 
ratend, weilt er nah Norden ein gemwaltiges Feniter 
auf, das, faft die ganze Front einnehmend, Licht in 
vollen Strömen einläßt und fo den Raum zu einem 
Atelier umfhafft. Freilihd ein primitives, außer: 
ordentlich anfpruchslofes Atelier, beflen Befiger in 
einem Abſchlag rechter Hand fein Duartier aufge: 
Ihlagen bat, gerade nur ausreichend für die aller: 
befcheibenften Bedürfniſſe. 


Martin Heelen war auch nicht gewöhnt, irgend 
weldhe Aniprüdhe an das Leben zu fielen. Er war 
zufrieden, ja wunjchlos glüdlich in diefen feinen vier 
Wänden, deren Miete zu erihmwingen ihm jchon jchwer 
genug wurde. Er wollte nichts von der Welt und 
vom Leben ald Arbeit — Arbeit, immer nur raft: 
loſe Arbeit. 

Die Sonne war jhon untergegangen, ihr leßter 
rötliher Widerfchein fpiegelte fih in den großen 
Scheiben und fiel auf den Bewohner des Ateliers, 
der, in feinem Winkel auf einem Strobfad liegend, 


Romansgeltung 1896, Tief. 48, — 


feſt und traumlos ſchlief — den Schlaf des körper⸗ 
lih und geiftig zu Tode Ermüdeten. Ganz regung®: 
[08 lag er da auf dem Rüden, die Hände fchlaff an 
den Seiten berabhängend, den Mund ein wenig ge- 
öffnet, um dem fchweren, ftoßmweifen Atem Raum zu 
geben. Das alte Wolhemd war auf der Bruft zer: 
riffen, Gefiht und Hände befhmutt. Der Schlaf 
hatte ihn überfallen, jäh, unermartet, wie ein Raub: 
tier fein Opfer. 

Neben jeinem Lager lag eine feine Holzichnigerei 
und die dazu nötigen Werkzeuge wirr durcheinander. 
Sie waren die lebten Maffen des Willens gegen 
den unterlegenen Körper gewejen, endlich aber hatten 
auch fie verfagt. Aus jedem berumliegenden Span, 
aus den Winkeln, von den Wänden grinfte bie 
Armut in Traffelter, erbarmungsmwertefter Radtheit. 

Auf dem fhmal voripringenden Feniterfims ein 
balbgeleerter Waflerfrug und neben ihm der Reit 
eines ftarlen Stüds Schwarzbrotes, um das jebt 
Fliegen fummten. Zn der Mitte des Ateliers land, 
von feuchten Tüchern verhüllt, ein gewaltiges, koloflales 
Etwas, faft den ganzen Raum einnehmend und unter 
dem Tuh in grotesfen Formen und Eden hervor: 
wadhlend. Auf dem Boden und an ben Wänden 
in Haufen Gipsabgüffe, Torfen von Tierleibern, 
Zeichnungen, alles auf: und nebeneinander geidhichtet, 
ohne den geringften Verjuh, einen dem Auge ge: 
fälligen Eindrud zu erzielen. Und in einem andern 
Winkel künftlerifhe Holzichnigereien, wie verihämt, 
baß fie fih hierher verirrt hatten, Thürfüllungen 
eines Schranfes, eines Büffetts, Stuhlauffäge, alles 
mit einer Verve, einer Kraft gearbeitet, daß man 
das Auge faum abwenden mochte. Und deutlicher 
als wohl jemals bie Lippen des Schläfers ſprach 
die Teilung der Arbeit von dem gewaltigen Kampf, 
den biefer Menich ausfocht, den Kleinlichen, ermübenden 
Kampf für das tägliche Brot, um fein ganzes Sein 
und Leben jenem ungleich größeren Kampf weihen 


IV. 31 


435 


zu können, ben ber Stünftler mit jeiner Stunft zu be: 
ftehen bat, ehe fie fih ihm zu eigen giebt. Und auch 
dann immer nur für kurze Zeit, wie eine unerreichbar 
hohe Geliebte, um deren Befig er jedesmal aufs neue 
ringen muß, mit Einjegung jeiner ganzen Kraft, 
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm der 
Sieg bleibt, immer nur gehegt von Furcht und 
Hoffnung, von Verzweiflung und jaudhzender Selig: 
feit, bis er enblih mit TLeuchender Bıuft und er: 
matteten Gliebern an das Ende gelangt, um dann 
mit peinigender Deutlichkeit einzufehen, daß alles, 
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge: 
blieben ift, was er jchaffen wollte. 

Einftweilen bielt der Schlaf nun die Hand ge- 
bannt, und ber ftarle Körper juchte Kraft zu neuer 
Arbeit. 

Er jelbft, der Künftler, als er fo dalag mit 
zerwühlten Haar und geöffnetem Munde, war fein 
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn, 
das maffive, wenn auch nicht unjchöne Gelicht, um: 
wucert von fhwarzgem Vollbart, die unterjegte, falt 
plump wirlende Geftalt verriet feine Abkunft aus 
den unterften Schichten bes Volkes deutlicher als 
Worte, und die große behaarte Hand, von früher, 
ihwerer Arbeit yeugend, paßte vortrefflih zu dem 
Dunft der Armut, der ihn umgab. — 

Meder das Gejchrei der fpielenden Kinder, nod 
Peitichentnall und Hundegebell hatten den zu Tode 
Erihöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge: 
gangen. Sebt lichtete fih auch die furze, kühle 
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Dften auf, 
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben, 
ale fürchte fie fih vor der Laft von Dual, Gram 
und Verzweiflung, die der heraufziehende junge Tag 
auf Jeinen Fittihen fir die duldende Menſchheit 
berbeitragen würde. 

Einen Augenblict war es, als wenn dies Erbeben 
und Schauern fih auch auf Martin Heelen erftreckte, 
feine Glieder zudten, er ftieß einen jchweren Seufzer 
aus und fchlug dann die Augen auf, graue, kühle, 
Iharfe Augen, die dem ganzen Gefidht einen eigen: 
tümlih konzentrierten Ausdruck verliehen. Er ftarrte, 
wie no nicht völlig wa, einen Augenblid in den 
aufdänmernden Tag, dann jprang er auf bie Füße, 
Ihüttelte fih, redte und debnte fih, fuhr mit den 
Händen durch fein wirres Haar und riß endlich die 
ins Freie filhrende Thür auf. 

Kalte, Scharfe Märzluft drang in den jchlaf: 
dunfligen Naum, in dem es nach Holy und feuchten 
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt 
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und 
ließ das eisfalte Waller über Kopf und Hände rinnen, 
obgleich) er fich dabei fein zerrilienes Wolhemd naf; 
machte; dann, mit diejer primitiven Toilette zufrieden, 
trant er einen tüchtigen Schlud Wafler, brach ein 
Stid von dem Schwarzbrot, und nun zog er mit 
behutfamer Hand den feuchten lan von dem ge 
waltigen Koloß und jab beim erften hellen Tages: 
dein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis 
von taufenden von einfamen Stunden, in hartem 
Ringen um die Geflaltung des Sedankfens, ber ihn 
bejeelt hatte, der fichtbar nemwordenen Kämpfe und 


Art zu Art. Roman von H. Ecjobert. 





436 





Entbehrungen, bie er ruhig und Elaglos, Taum be- 
wußt ertragen, um fich das Material für feine Arbeit 
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm 
mehr als nur fein Schöpfungsmwerf, fie verkörperte 
ihm zugleih den Hunger, den er ihretwegen erlitten, 
die zähe Energie, die ihn durdhglühte, und die Kraft, 
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr 
als in diefem Augenblid. 

Ein tiefer Seufzer hob feine Bruft. Ein Seufzer 
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes 
über das Gejchaffene. 

Sa, e8 war gut. 

Weit über menfchliche Dimenfionen hinaus ein 
Gentaur mit wild webendem Haar und bie Luft 
peitihenden Borberhufen; um jeinen Leib geringelt 
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem 
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Dpfer. 
Syn diejer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei 
do der Ausdrud der Augen graujam, graufan aus 
Naturnotwendigkeit. Der Gentaur hatte den Kopf 
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz, 
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejfer Um: 
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas 
Fürchterlichem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte, 
das ftärler war als er. Grauen fprad aus ben 
bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden 
Unfaßbaren aus der Haltung bes Kopfes. Er fühlte 
fein Schidjal. Einen unblutigen, unrühmlichen Tod 
durch einen heimtüdifchen Feind, ben er weber jehen 
noch beſiegen konnte. 

Martin Heeken trat ein paar Schritte vorwärts, 
ein paar Schritte zurück und prüfte ſein Werk. In 
dem hellen, klar darüber hinflutenden Frühlicht 
wirkte es gewaltig. Langſam nickte er vor ſich hin. 
Dann holte er die Leiter, nahm den Spachtel zur 
Hand und grub noch hier und da ein weniges an 
den Augen des Centauren. Er arbeitete langſam, 
aber mit unfehlbarer Sicherheit, ſeine Stirn wurde 
feucht, ſeine hellen Augen leuchteten mit einer In⸗ 
tenſität, als ſtrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail 
deutlich heraus. 

Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte auch 
keinen andern Meſſer für ſie als die Sonne und 
ſeinen knurrenden Magen. 

Da wurde die Thür des fragwürdigen Ateliers 
mit einem Ruck hinter dem Arbeitenden aufgeriſſen 
und eine helle, friſche Stimme ſagte: „Gott zum Gruß, 
Martin! Du biſt ſchon fleißig?“ 

Heeken ſah ſich um mit finſter gefalteter Stirn, 
der Störenfried kam ihm ungelegen; aber als er 
die ſchlanke, elegante Geſtalt erkannte, die dort, um— 
woben von Licht und Sonnenſchein, ſtand, hellten 
fih feine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig 
ftieg er die Leiter herab. 

„gortunat — Du!” 

Er fab auf feine lehmbeihmugten Hände und 
die fledenlojen Handichuhe feines Befuches, etwas 
wie Verlegenheit überfiel ihn. 

„IH fann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte 
er entichuldigend. 

Der andere hörte ihn nicht, er ftarrte nur auf 
die hiüllenlofe, in Licht gebabete Gruppe. Den Kopf 


— — — — — — — 


— — — — - 
* —— 2 


— — 


437 Art zu Art. 





ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die 
ſchmalen Naſenflügel vibrierend, war er in dieſem 
Augenblick nur der Sehende, alle andern Sinne an 
ihm waren empfindungslos. 

Martin Heeken betrachtete ihn von der Seite, 
und je länger er das that, je freudiger zuckte es in 
ſeinem Geſicht. 

„Du meinſt alſo, es iſt gut?“ ſagte er nach 
längerer Pauſe, ohne daß der andere ein Wort 
geſprochen. 

Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken, 
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie 
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend 
heiteres Geſicht zuckte. 

„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung 
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich, 
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch 
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie 
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein 
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig 
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem 
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten 
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen, 
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann 
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie, 
Martin Heeken.“ 

Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf 
den Fußboden, auf dem die Holzſchnitzereien lagen. 
Die ehrliche Bewunderung des feinen, zierlichen 
Kunſtgenoſſen hatte ihn entzückt, bis ins tiefſte Herz 
hinein beglückt, aber ſo tief er das auch empfand, 
in Worte zu kleiden verſtand er es nicht. Die 
Zunge des Proletariers war langſam und ſchwer—⸗ 
fällig, nur daß ſich ſein Geſicht rötete, gab Zeugnis 
von dem, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich 
kam eine ohnmachtähnliche Erſchlaffung über ihn, 
als gäben die phyſiſchen Kräfte wie gelähmt dem 
Anſturm der Erſchöpfung nach, er taumelte auf einen 
Holzklotz, der an der Wand ſtand, und, den Kopf 
in die Hand ſtützend, ſagte er bitter: „Ein Genie, 
das hungert.“ 

Fortunat bemerkte den Zuſtand des andern 
nicht, er ſtand wieder vor der Gruppe. „Wie Du 
das gemacht haſt, Menſch! Dieſer Ausdruck von 
grauender Furcht in dem Geſicht des Centauren, der 
das kommende Unheimliche, Unbekannte, Erſtickende 
fühlt, ohne es faſſen, ohne dagegen kämpfen zu 
können, und das doch nichts weiter iſt als ein 
glattes, knochenloſes Etwas, zierlich und behende, gewiß 
nicht dazu angethan, um einen Centauren fürchten 
zu machen, und doch wird er daran untergehen. — 
Wie biſt Du nur auf dieſe Allegorie gekommen, 
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die 
Macht des Weibes anzuerkennen.“ 

Heeken hob verwundert den Kopf, der Schwindel, 
der ihn befallen, war vorüber. „Ich verſtehe Dich 
nicht,“ ſagte er, von der Gruppe auf den Sprechenden 
blickend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun? 
Es ſoll auch keine Allegorie ſein, nur das, was es 
darſtellt: Kampf zwiſchen zwei nicht gleichartigen 
Geſchöpfen, von denen das höher organiſierte eben 
untergeht, weil ihm das Verſtändnis für die Waffen, 


7 
— a — - —— — — — — 


Roman von H. Schobert. 


— — — — 
⁊ — — 





438 





mit denen das andere Fämpft, nicht gegeben ift. 
Das, was fiherlid am ftärkiten unjer Leben burd; 
zieht, it eben immer Kampf und wieber Kampf. 
Bei den Menichen nicht weniger wie bei den Tieren, 
und bei denen habe ich es beobachtet, wenn ich die 
langen Sommertage auf dem Baudh lag und auf 
meine Schafe paßte. Ya, Du fannft mir’s glauben, 
dba babe ih e8 gejehen, dur alle Arten burd. 
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als 
wäre das der Zwed des ganzen Lebens. Und barum 
fanın ic) auch nur den Kampf darftellen, immer wieder, 
und immer wieder, weil ich nichts anderes Tenne.” 
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf ift 
aud die Grundbbedingung der Beziehungen zmwilchen 
Dann und Weib, mir fannit Du es glauben,“ fagte 
Fortunat nahdenklih und ftrih an feinen Hanb- 
Ihubfingern. „Und ob nun mit ober ohne Deinen 
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie 
finden — fie ift es aud. Darum rate ih Dir: 

widerjprich nicht.” 
Heelen jchüttelte den Kopf. „Wilft Du fie 
Sie 


mir erklären?” 

„3a. Denn fie ift groß — gewaltig! 
Ihnürt einem die Bruft zujammen und würgt in 
ber Kehle — fie vernichtet und jühnt doch wieder 
aus: Einem unerbittlihen Fatum kann eben niemand 
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ih Dir 
jet fage. Du wirft ein großer, ein berühmter Dann 
werden — Ehren und Gold werden Dir zuftrömen 
— und id) werde dabeiltehen — neiblosg — und mid 
an Dir freuen, denn ich habe das längft gewußt 
— don damals, ald wir noch in der Alademie 
unter Profeflor Duenfel zufammen arbeiteten. — Du 
bift ein Genie, und ih beuge mid vor Dir.” 

Thatfähli neigte Fortunat den lodigen Kopf 
tief vor dem anderen im zerriffenen Molheımd, ber 
rot und verlegen ausjah als er fi abmwanbte und 
gedankenlos nad) feiner Holzichnigerei griff. 

Fortunat jeßte fih auf den einzigen vor: 
bandenen Stuhl und Jah dem Arbeitenden ein 
Weilden ftumm zu, dazwilden manberten feine 
Blide immer wieder zurüd zu der Gruppe, bie fid 
jo lebendig, FTraftuoll und übermächtig gemaltig in 
den bürftigen Raum ausnahm. 

„Melde das zur Kunftausftellung an,” jagte er 
endlih nach einen Weildhen. „Sie werben es nicht 
allein nehmen, ſondern eine Medaille ift Dir auch 
wohl ficher.” 

- Seelen warf heftig fein Arbeitszeug zur Seite, 
dunkles Not flammte in feinem Gefiht auf. „Meinft 
Du, daß ih nicht auch daran gedadt habe? Denkſt 
Du, ih weiß nicht, daß e3 gut ift, was ich da ge: 
madht habe? Das fühle ich hier am beutlichiten.”“ 
Er ſchlug fih mit der Sand auf die Bruft, ein 
intenfives Feuer loderte in den hellen Augen auf. 
„Aber was nüßt das alles; ich habe Fein Gelb, den 
Transport zu bezahlen, fein Geld, um irgend etwas 
aus mir zu maden. — So muß ich denn warten, 
bis ich mir das Nötige verdient und erjpart habe; 
ift es nicht in diefem Jahr, ift es im nächften. ch 
habe Zeit und Geduld.” Er Hatte feine Arbeit 
wieder aufgenommen und fchnißelte weiter, ala ob 








zu fönnen, den der ünftler mit feiner Kunft zu be- 


435 


itehen bat, ehe fie fih ihm zu eigen giebt. Und aud 
dann immer nur für furze Zeit, wie eine unerreichbar 
hohe Geliebte, um deren Befig er jedesmal aufs neue 
ringen muß, mit Einjegung feiner ganzen Kraft, 
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm ber 
Sieg bleibt, immer nur gehett von Furdt und 
Hoffnung, von Verzweiflung und jaudjgender Selig: 
teit, bis er endlid mit keuchender Bıuft und er: 
matteten Gliedern an das Ende gelangt, um dann 
mit peinigender Deutlichleit einzujehen, daß alles, 
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge: 
blieben if, was er jhaffen wollte. 

Einftweilen hielt der Schlaf nun die Hand ge: 
bannt, und der ftarfe Körper juchte Kraft zu neuer 
Arbeit. 

Er felbft, der Künftler, als er fo dalag mit 
zerwühltem Haar und geöffnetem Munde, war fein 
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn, 
das majfive, wenn auch nit unfchöne Gelicht, um: 
wudert von Shwarzem Vollbart, die unterjegte, fait 
plump wirkende Geftalt verriet feine Abkunft aus 
den unterftien Schichten bes Volles deutlicher als 
Worte, und bie große behaarte Hand, von früher, 
fchwerer Arbeit zeugend, paßte vortrefflih zu dem 
Dunft der Armut, der ihn umgab. — 

Meder das Gefchrei der jpielenden Kinder, noch 
Beitfhentnal und Hundegebell hatten den zu Tode 
Erjchöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge: 
gangen. Sett lichtete fih auch die kurze, fühle 
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Often auf, 
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben, 
als fürdte fie fih vor der Laft von Dual, Gram 
und Verzweiflung, die der beraufziehende junge Tag 
auf feinen Fittihen für Die duldende Menjchheit 
berbeitragen würde. 

Einen Augenblid war es, al& wenn dies Erbeben 
und Schauern fih auch auf Martin Heelen erjtredte, 
feine Glieder zudten, er ftieß einen fchweren Seufzer 
aus und fchlug dann die Augen auf, graue, fühle, 
Iharfe Augen, die dem ganzen Geficdht einen eigen- 
tümlich konzentrierten Ausdrud verliehen. Er ftarrte, 
wie no nicht völlig wa, einen Augenblid in den 
aufdämmernden Tag, dann jprang er auf die Füße, 
jhüttelte fih, redte und dehnte fih, fuhr mit den 
Händen durdy jein wirres Haar und riß endlich die 
ins Freie führende Thür auf. 

Kalte, jcharfe Märzluft drang in den jchlaf: 
dunftigen Raum, in dem es nad Holz und feuchten 
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt 
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und 
ließ das eisfalte MWafler über Kopf und Hände rinnen, 
obgleih er fi dabei fein zerrijienes Wollhemd na 
madte; dann, mit diefer primitiven Toilette zufrieden, 
trant er einen tüdhtigen Schlud Wafler, brad ein 
Stüd von dem Schwarzbrot, und nun 309g er mit 
behutfjamer Hand den feudten Plan von dem ge: 
waltigen Koloß und jah beim erften hellen Tages: 
Ihein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis 
von taufenden von einlamen Stunden, in bartem 
fingen um bie Geftaltung des Gebanfens, ber ihn 
bejeelt batte, der fichtbar gewordenen Kämpfe und 


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Entbehrungen, die er ruhig und Elaglos, Taum be: 
mußt ertragen, um fich das Material für jeine Arbeit 
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm 
mehr als nur fein Schöpfungsmwerf, fie verkörperte 
ihm zugleich den Hunger, den er ihretwegen erlitten, 
die zähe Energie, die ihn durchglühte, und die Kraft, 
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr 
als in diefem Augenblid. 

Ein tiefer Seufzer hob Jeine Bruft. Ein Seufzer 
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes 
über das Gelchaffene. 

Sa, e8 war gut. 

Weit über menjchlihe Dimenfionen hinaus ein 
Gentaur mit wild mwehendem Haar und bie Luft 
peitihenben Borberhufen; um feinen Leib geringelt 
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem 
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Opfer. 
In dieſer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei 
boch der Ausdrud der Augen graufam, graufam aus 
Naturnotwendigfeit. Der Centaur batte den Kopf 
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz, 
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejer Um- 
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas 
Fürchterlidem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte, 
das ftärler war als er. Grauen fpradh aus den 
bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden 
Unfaßbaren aus der Haltung des Kopfes. Er fühlte 
fein Schidjal. Einen unblutigen, unrühmliden Tod 
durch einen heimtüdifchen Feind, den er weder jehen 
noch beſiegen konnte. 

Martin Heeken trat ein paar Schritte vorwärts, 
ein paar Schritte zurück und prüfte ſein Werk. In 
dem hellen, klar darüber hinflutenden Frühlicht 
wirkte es gewaltig. Langſam nickte er vor ſich hin. 
Dann holte er die Leiter, nahm den Spachtel zur 
Hand und grub noch hier und da ein weniges an 
den Augen des Centauren. Er arbeitete langſam, 
aber mit unfehlbarer Sicherheit, ſeine Stirn wurde 
feucht, ſeine hellen Augen leuchteten mit einer In— 
tenſität, als ſtrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail 
deutlich heraus. 

Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte auch 
keinen andern Meſſer für ſie als die Sonne und 
ſeinen knurrenden Magen. 

Da wurde die Thür des fragwürdigen Ateliers 
mit einem Ruck hinter dem Arbeitenden aufgeriſſen 
und eine helle, friſche Stimme ſagte: „Gott zum Gruß, 
Martin! Du biſt ſchon fleißig?“ 

Heeken ſah ſich um mit finſter gefalteter Stirn, 
der Störenfried kam ihm ungelegen; aber als er 
die ſchlanke, elegante Geſtalt erkannte, die dort, um— 
woben von Licht und Sonnenſchein, ſtand, hellten 
ſich ſeine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig 
ſtieg er die Leiter herab. 

„Fortunat — Du!“ 

Er ſah auf ſeine lehmbeſchmutzten Hände und 
die fleckenloſen Handſchuhe ſeines Beſuches, etwas 
wie Verlegenheit überfiel ihn. 

„Ich kann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte 
er entſchuldigend. 

Der andere hörte ihn nicht, er ſtarrte nur auf 
die hüllenloſe, in Licht gebadete Gruppe. Den Kopf 


IT 


437 Art zu Art. 





ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die 
Ihmalen Najenflügel vibrierend, war er in biefem 
Augenblid nur der Sehende, alle andern Sinne an 
ihm waren empfindungslos. 

Martin Heelen betrachtete ihn von der Seite, 
und je länger er das Ihat, je freudiger zudte es in 
jeinem Gefidt. 

„Du meinft alfo, es ift gut?” fjagte er nad 
längerer PBauje, ohne daß der andere ein Wort 
geſprochen. 

Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken, 
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie 
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend 
heiteres Geſicht zuckte. 

„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung 
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich, 
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch 
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie 
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein 
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig 
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem 
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten 
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen, 
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann 
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie, 
Martin Heeken.“ 

Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf 
den Fußboden, auf dem die Holzſchnitzereien lagen. 
Die ehrliche Bewunderung des feinen, zierlichen 
Kunſtgenoſſen hatte ihn entzückt, bis ins tiefſte Herz 
hinein beglückt, aber ſo tief er das auch empfand, 
in Worte zu kleiden verſtand er es nicht. Die 
Zunge bes Proletariers war langlam und jchwer: 
fällig, nur daß fi) fein Geficht rötete, gab Zeugnis 
von dem, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich 
fan eine ohnmadtähnlidde Erihlaffung über ihn, 
ale gäben die phyfiidhen Kräfte wie gelähmt dem 
Anfturm der Erihöpfung nad, er taumelte auf einen 
Holzklog, der an der Wand ftand, und, den Kopf 
in die Hand ftügend, jagte er bitter: „Ein Genie, 
das hungert.“ 

Fortunat bemerkte den Zuſtand des andern 
nicht, er ſtand wieder vor der Gruppe. „Wie Du 
das gemacht haſt, Menſch! Dieſer Ausdruck von 
grauender Furcht in dem Geſicht des Centauren, der 
das kommende Unheimliche, Unbekannte, Erſtickende 
fühlt, ohne es faſſen, ohne dagegen kämpfen zu 
können, und das doch nichts weiter iſt als ein 
glattes, knochenloſes Etwas, zierlich und behende, gewiß 
nicht dazu angethan, um einen Centauren fürchten 
zu machen, und doch wird er daran untergehen. — 
Wie biſt Du nur auf dieſe Allegorie gekommen, 
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die 
Macht des Weibes anzuerkennen.“ 

Heeken hob verwundert den Kopf, der Schwindel, 
der ihn befallen, war vorüber. „Ich verſtehe Dich 
nicht,“ ſagte er, von der Gruppe auf den Sprechenden 
blickend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun? 
Es ſoll auch keine Allegorie ſein, nur das, was es 
darſtellt: Kampf zwiſchen zwei nicht gleichartigen 
Geſchöpfen, von denen das höher organiſierte eben 
untergeht, weil ihm das Verſtändnis für die Waffen, 


Roman von H. Schobert. 


438 


mit denen das andere kämpft, nicht gegeben iſt. 
Das, was ſicherlich am ſtärkſten unſer Leben durch— 
zieht, iſt eben immer Kampf und wieder Kampf. 
Bei den Menſchen nicht weniger wie bei den Tieren, 
und bei denen habe ich es beobachtet, wenn ich die 
langen Sommertage auf dem Bauch lag und auf 
meine Schafe paßte. Ja, Du kannſt mir's glauben, 
da habe ich es geſehen, durch alle Arten durch. 
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als 
wäre das der Zweck des ganzen Lebens. Und darum 
kann ich auch nur den Kampf darſtellen, immer wieder, 
und immer wieder, weil ich nichts anderes kenne.“ 
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf iſt 
auch die Grundbedingung der Beziehungen zwiſchen 
Mann und Weib, mir kannſt Du es glauben,“ ſagte 
Fortunat nachdenklich und ſtrich an ſeinen Hand— 
ſchuhfingern. „Und ob nun mit oder ohne Deinen 
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie 
finden — ſie iſt es auch. Darum rate ich Dir: 
widerſprich nicht.“ 
Heelen ſchüttelte den Kopf. „Willſt Du ſie 
Sie 


mir erklären?“ 

„Ja. Denn ſie iſt groß — gewaltig! 
ſchnürt einem die Bruſt zuſammen und würgt in 
der Kehle — ſie vernichtet und ſöhnt doch wieder 
aus: Einem unerbittlichen Fatum kann eben niemand 
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ich Dir 
jetzt ſage. Du wirſt ein großer, ein berühmter Mann 
werden — Ehren und Gold werden Dir zuſtrömen 
— und ich werde dabeiſtehen — neidlos — und mich 
an Dir freuen, denn ich habe das längſt gewußt 
— ſchon damals, als wir noch in der Akademie 
unter Profeſſor Quenſel zuſammen arbeiteten. — Du 
biſt ein Genie, und ich beuge mich vor Dir.“ 

Thatſächlich neigte Fortunat den lockigen Kopf 
tief vor dem anderen im zerriſſenen Wollhemd, der 
rot und verlegen ausſah als er ſich abwandte und 
gedankenlos nach ſeiner Holzſchnitzerei griff. 

Fortunat ſetzte ſich auf den einzigen vor— 
handenen Stuhl und ſah dem Arbeitenden ein 
Weilchen ſtumm zu, dazwiſchen wanderten ſeine 
Blicke immer wieder zurück zu der Gruppe, die ſich 
ſo lebendig, kraftvoll und übermächtig gewaltig in 
dem dürftigen Raum ausnahm. 

„Melde das zur Kunſtausſtellung an,“ ſagte er 
endlich nach einem Weilchen. „Sie werden es nicht 
allein nehmen, ſondern eine Medaille iſt Dir auch 
wohl ſicher.“ 

»Heeken warf heftig ſein Arbeitszeug zur Seite, 
dunkles Rot flammte in ſeinem Geſicht auf. „Meinſt 
Du, daß ich nicht auch daran gedacht habe? Denkſt 
Du, ich weiß nicht, daß es gut iſt, was ich da ge— 
macht habe? Das ſühle ich hier am deutlichſten.“ 
Er ſchlug ſich mit der Hand auf die Bruft, ein 
intenſives Feuer loderte in den hellen Augen auf. 
„Aber was nützt das alles; ich habe kein Geld, den 
Transport zu bezahlen, kein Geld, um irgend etwas 
aus mir zu machen. — So muß ich denn warten, 
bis ich mir das Nötige verdient und erſpart habe; 
iſt es nicht in dieſem Jahr, iſt es im nächſten. Ich 
habe Zeit und Geduld.“ Er hatte ſeine Arbeit 
wieder aufgenommen und ſchnitzelte weiter, als ob 


435 Art zu Art. 


zu fönnen, den ber Künftler m mit — Kunſt zu be: 
ftehen hat, ehe fie fi) ihm zu eigen giebt. Und aud) 
dann immer nur für furze Zeit, wie eine unerreichbar 
hohe Geliebte, um deren Beſitz er jedesmal aufs neue 
ringen muß, mit Einjfeßgung feiner ganzen Kraft, 
feines ganzen Könnens, ohne Gewähr, ob ihm ber 
Sieg bleibt, immer nur gebegt von Furdt und 
Hoffnung, von Verzweiflung und jauchyender Selig: 
teit, bis er enblihd mit feuchender Bıult und er: 
matteten Sliedern an das Ende gelangt, um dann 
mit peinigender Deutlichfeit einzufehen, daß alles, 
was er erreicht hat, weit, o jo weit unter dem ge: 
blieben ift, was er jchaffen wollte. 

Einftweilen hielt der Schlaf nun die Hand ge: 
bannt, und der ftarle Körper juchte Kraft zu neuer 
Arbeit. 

Er felbft, der Künftler, als er fo dalag mit 
zerwühltem Haar und geöffnetem Munde, war fein 
begeifternder Anblid. Die breite vorjpringende Stirn, 
das maffive, wenn auch nicht unfchöne Gefiht, um- 
wudert von Ihwarzem Bollbart, die unterjegte, falt 
plump wirltende Geftalt verriet feine Abkunft aus 
den unterften Schichten des Bolfes deutlicher als 
Worte, und die große behaarte Hand, von früher, 
ihwerer Arbeit zeugend, paßte vortrefflich zu dem 
Dunft der Armut, der ihn umgab. — 

Meder das Gejchrei der Ipielenden Kinder, noch 
Beitihenfnall und Hundegebel hatten den zu Tode 
Erihöpften erwedt. Der Tag war zu Ende ge: 
gangen. Sebt lichtete fih auch die furze, fühle 
Märznadt. Ein fahler Schein glomm im Dften auf, 
und über die Erde ging ein Schauern und Erbeben, 
ala fürchte fie fih vor der Xaft von Qual, Gram 
und Verzweiflung, die der beraufziehende junge Tag 
auf jeinen Fittihen für die duldende Menjchheit 
berbeitragen würde. 

Einen Augenblic war es, als wenn dies Erbeben 
und Schauern fih aud auf Martin Heelen erjtredte, 
feine Glieder zudten, er fließ einen jchweren Seufzer 
aus und Ihlug dann die Augen auf, graue, kühle, 
Iharfe Augen, die dem ganzen Gefidht einen eigen: 
tümlich konzentrierten Ausdruc verliehen. Er ftarrte, 
wie noch nicht völlig wa, einen Augenblid in den 
aufdämmernden Tag, dann |prang er auf die Füße, 
Ichüttelte fih, redte und dehnte fih, fuhr mit den 
Händen durch jein wirres Haar und riß endlich die 
ins Freie führende Thür auf. 

Kalte, Icharfe Märzluft drang in den fcdhlaf- 
dunftigen Naum, in dem es nad Holz und feuchten 
Lehm roh, ohne daß Martin Heelen davon berührt 
Ihien. Eilig ging er hinaus an den Brunnen und 
ließ das eisfalte Wafler über Kopf und Hände rinnen, 
obgleich er fih dabei fein zerrilienes Wollhemd naß 
madte; dann, mit diefer primitiven Toilette zufrieden, 
trant er einen tücdhtigen Schlud Wafler, brach ein 
Stüd von dem Schwarzbrot, und nun 309g er mit 
bebutfamer Hand den feudhten Plan von dem ge: 
waltigen Koloß und fah beim erften hellen Tages: 
Ihein auf das Werk feiner Hände, dem Ergebnis 
von taufenden von einfamen Stunden, in hartem 
Ringen um die Geftaltung des Gedantens, der ihn 
bejeelt hatte, der fichtbar gewordenen Kämpfe und 


Noman von 2 zen 





436 


Entbehrungen, bie er ruhig und Haglos, faum be- 
mwußt ertragen, um fich das Material für jeine Arbeit 
abzuringen. Diefe Gruppe da vor ihm war ihm 
mehr als nur fein Schöpfungswerk, fie verkörperte 
ihm zugleih den Hunger, den er ihretwegen erlitten, 
die zähe Energie, die ihn durchglühte, und die Kraft, 
der er fih bewußt war. Vielleicht niemals mehr 
als in diefem Augenblid. 

Ein tiefer Seufzer hob feine Bruft. Ein Seufzer 
der Befriedigung über das Erreichte, des Stolzes 
über das Gelchaffene. 

‘a, e8 war gut. 

Weit über menjchliche Dimenfionen hinaus ein 
Gentaur mit wild wehendem Haar und die Luft 
peitihenden Borderhufen; um feinen Leib geringelt 
eine Schlange, den Hals feitwärts gehoben, mit dem 
vorgeftredten Kopf herabzüngelnd zu ihrem Opfer. 
Sn biefer Haltung faft etwas wie Mitleid und dabei 
doch der Ausdrud der Augen graufam, graufam aus 
Naturnotwendigfeit. Der Centaur hatte den Kopf 
in den Naden geworfen, noch fühlte er feinen Schmerz, 
no nicht das Atem: und Lebenraubende diejer Um: 
armung, und doch befiel ihn die Ahnung von etwas 
Fürdterlidem, dem er nicht mehr entrinnen Tonnte, 
das ftärler war als er. Grauen jprah aus den 


| bervortretenden Augen, Grauen vor dem nahenden 


Unfaßbaren aus der Haltung des Kopfes. Er fühlte 
lein Schidjal. Einen unblutigen, unrühnlidhen Tod 
durch einen heimtüdiichen Syeind, den er weder jehen 
noch) befiegen Tonnte. 

Martin Heelen trat ein paar Schritte vorwärts, 
ein paar Schritte zurüd und prüfte fein Werk. Ar 
dem hellen, klar darüber binflutenden Frühlicht 
wirkte e8 gewaltig. Langjam nidte er vor fi hin. 
Danıı holte er die Leiter, nahm den Epadtel zur 
Hand und grub noch bier und da ein mweniges an 
den Augen des Gentauren. Cr arbeitete langjam, 
aber mit unfehlbarer Sicherheit, feine Stirn wurde 
feudt, feine hellen Augen leuchteten mit einer Sn: 
tenfität, als ftrahle aus ihnen jede Linie, jedes Detail 
deutlich heraus. 

Die Zeit verrann, er wußte nicht wie, hatte aud) 
feinen andern Mefler für fie als die Sonne und 
feinen Inurrenden Magen. 

Da wurde die Thür des jragwürdigen Ateliers 
mit einem Rud hinter dem Arbeitenden aufgerillen 
und eine belle, friihe Stimme fagte: „Gott zum Gruß, 
Martin! Du bift fchon fleißig?“ 

Heelen fah fih um mit finfter gefalteter Stirn, 
der Störenfried fam ihm ungelegen, aber als er 
die jchlanke, elegante Geftalt erkannte, die dort, um: 
woben von Licht und Sonnenschein, ftand, bellten 
fih feine Züge mit einem Schlage auf. Eilfertig 
ftieg er die Leiter herab. 

„sortunat — Du!” 

Er ſah auf jeine lehmbeihmugten Hände und 
die fledenlojen Handichuhbe jeines Bejuches, etwas 
wie Berlegenheit überfiel ihn. 

„Ih kann Dir die Hand nicht geben,“ murmelte 
er entjchuldigend. 

Der andere hörte ihn nicht, 
die hüllenlofe, in Licht gebabete Gruppe. 


er ftarrte nur auf 
Den Kopf 


437 Art zu Art. 





ein wenig vorgebeugt, die Augen weit geöffnet, die 
Ihmalen Najenflügel vibrierend, war er in diefem 
Augenblid nur der Sehende, alle andern Sinne an 
ihm waren empfindungslos. 

Martin Heelen betrachtete ihn von der Seite, 
und je länger er das that, je freudiger zudte es in 
feinem Gefidht. 

„Du meinft aljo, es ift gut?” fagte er nad 
längerer Paufe, ohne daß der andere ein Wort 
geſprochen. 

Alexander Fortunat wandte ihm den Rücken, 
er that es abſichtlich, um nicht zu zeigen, wie 
ſchmerzlich es über ſein hübſches, ſonſt ſtets ſtrahlend 
heiteres Geſicht zuckte. 

„Siehſt Du,“ ſagte er, in dieſer Stellung 
verharrend, „daß Du das gemacht haſt, freut mich, 
mehr als ich es Dir ſagen kann, aber ich muß doch 
erſt darüber hinauskommen, daß ich ſo was nie 
werde machen können. Nie, Martin! Da hilft kein 
Wollen und Streben, da heißt es, ſich vernünftig 
kuſchen, denn — die Ente kann eben nicht aus ihrem 
Pfuhl heraus.“ Er hatte ſich während der letzten 
Worte umgedreht und ſah mit ſeinem gewöhnlichen, 
fröhlichen Geſichtsausdruck den andern an, dann 
ſagte er feierlich: „Du aber, Du biſt ein Genie, 
Martin Heeken.“ 

Deſſen Augen glitten von der Gruppe weg auf 
den Fußboden, auf dem die Holzichnigereien lagen. 
Die ehrlihe Bewunderung des feinen, zierlichen 
Kunftgenofien hatte ihn entzüdt, bis ins tieffte Herz 
hinein beglüdt, aber jo tief er das auch empfand, 
in Worte zu leiden verftand er es nidt. Die 
Zunge des Proletariere war langjam und jchmwer: 
fällig, nur daß fich fein Geficht rötete, gab Zeugnis 
von dein, was ihn innerlich bewegte. Und plötzlich 
fam eine ohnmadtähnlihe Erihlaffung über ihn, 
ale gäben die phyfiihen Kräfte wie gelähmt dem 
Anfturm der Erfchöpfung nad, er taumelte auf einen 
Holztlog, der an der Wand fland, und, den Kopf 
in die Hand ftügend, jagte er bitter: „Ein Genie, 
das bungert.” 

Fortunat bemerkte den Zufland des andern 
nicht, er fland wieder vor der Gruppe. „Wie Du 
das gemadht haft, Menih! Diejer Ausdrud von 
grauender Furcht in dem Geliht des Gentauren, der 
das kommende Unheimliche, Unbelannte, Erjtidende 
fühlt, ohne es faflen, ohne dagegen kämpfen zu 
fönnen, und ba8 doch nichts weiter it als ein 
glattes, Inochenlojes Etwas, zierlih und behende, gemiß 
nicht dazu angethan, um einen Gentauren fürchten 
zu maden, und dod wird er daran untergehen. — 
Wie bit Du nur auf diefe Allegorie gefommen, 
Martin? Du, dem doch nichts ferner liegt, als die 
Macht des Weibes anzuerlennen.” 

Heelen hob verwundert den Kopf, der Schwindel, 
der ihn befallen, war vorüber. „Ich veritehe Dich 
nicht,“ jagte er, von der Gruppe auf den Spreddenden 
blidend. „Was hat dies da mit dem Weibe zu thun? 
Es fol au Feine Allegorie fein, nur das, mas es 
darftelt: Kampf zwilchen zwei nicht gleichartigen 
Geihöpfen, von denen das höher organifierte eben 
untergeht, weil ihm das Verftändnis für die Waffen, 


Roman von H. Schobert. 


438 


mit denen das andere Tämpft, nicht gegeben ift. 
Das, was fiherlihd am ftärkften unfer Leben durch: 
zieht, ift eben immer Kampf und wieder Kampf. 
Bei den Menjhen nicht weniger wie bei den Tieren, 
und bei denen babe ich e8 beobachtet, wenn ich die 
langen Sommertage auf den Bauch lag und auf 
meine Schafe paßte. Ja, Du fannft mir’s glauben, 
da babe ich es gejehen, durch alle Arten durd. 
Gegeneinander — immer nur gegeneinander — als 
wäre das der Zwed des ganzen Xebens. Und darum 
fann ich auch nur den Kampf darftellen, immer wieber, 
und immer wieder, weil ich nichts anderes Fenne.“ 
„Und Kampf — nichts anderes als Kampf ift 
aud die Grundbedingung der Beziehungen zwilchen 
Mann und Weib, mir fannft Du es glauben,“ fagte 
Fortunat nahdenklih und firid an feinen Hand— 
Ihubfingern. „Und ob nun mit oder ohne Deinen 
Willen, man wird in Deinem Werk eine Allegorie 
finden — fie it es aud. Darum rate ih Dir: 

widerjprich nicht.” 
Heelen jchüttelte den Kopf. „Will Du fie 
Sie 


mir erklären?” 

„3a. Denn fie ift groß — gewaltig! 
\hnürt einem die Bruft zufammen und mwürgt in 
der Kehle — fie vernichtet und fühnt doch wieder 
aus: Einem unerbittliden Fatum fanır eben niemand 
entgehen! — Und nun höre zu, Martin, was ich Dir 
jegt fage. Du wirft ein großer, ein berühmter Mann 
werden — Ehren und Gold werden Dir zuftrömen 
— und ich werde dabeiltehen — neidlosg — unb mid) 
an Dir freuen, denn ich babe das längft gewußt 
— don damals, ale wir noch in der Afademie 
unter Brofejlor Quenjel zufammen arbeiteten. — Du 
bift ein Genie, und ich beuge mid vor Dir.“ 

Thatfählich neigte Fortunat den lodigen Kopf 
tief vor dem anderen im zerriffenen Wollhemd, ber 
rot und verlegen ausjah als er ji abwandte und 
gedankenlos nach jeiner Holzichnigerei griff. 

Fortunat jeßte fih auf den einzigen vor: 
bandenen Stuhl und Jah dem rbeitenden ein 
Weilchen ſtumm zu, dazwilhen wanderten feine 
Blide immer wieder zurüd zu der Gruppe, die fi) 
jo lebendig, fraftvoll und übermädtig gewaltig in 
dem dürftigen Raum ausnahm. 

„Melde das zur Kunftausftellung an,” fagte er 
endlih nad einem Weilden. „Sie werden es nicht 
allein nehmen, jondern eine Medaille ift Dir aud 
wohl ficher.” 

° Heelen warf heftig fein Arbeitszeug zur Seite, 
dunkles Not flammte in jeinem Gefiht auf. „Meinft 
Du, daß ih nicht auch daran gedacht habe? Dentft 
Du, ih weiß nicht, daß es gut ift, was ich da ge: 
madht habe? Das Jühle ich bier am deutlichften.” 
Er flug fih mit der Sand auf die Bruft, ein 
intenfives Feuer loderte in ben hellen Augen auf. 
„Aber was nügt das alles; ich habe fein Geld, den 
Transport zu bezahlen, fein Geld, um irgend etwas 
aus mir zu madhen. — So muß id denn warten, 
bis ih mir das Nötige verdient und eripart habe; 
ift e8 nicht in diefem Sahr, ift e8 im nädjiten. Ich 
babe Zeit und Geduld.” Er Hatte jeine Arbeit 
wieder aufgenommen und fchnigelte weiter, als ob 


439 Art zu Art. 
er fie gar nicht unterbrochen Hätte. 
mir ja allmählich!” 

Er dHielt die Stuhlbefrönung, an der er 
arbeitete, prüfend vor fih ber, jo jah er nicht den 
fonderbaren Blid, den Fortunatus auf ihn beftete. 
Halb Zweifel, halb Staunen, halb Verftändnislofigkeit. 

„Wenn ich's recht bedenke,” begann Heelen nad 
einer kleinen Pauſe, „it es ja auch gleichgültig, 
ob in diefem oder im nädjften Jahr. Sie ißt ja 
fein Brot — biefe da,” und er madte eine Kopfs 
bewegung nad) feiner Arbeit. 

„Und Du könnteft dies Hangen und Bangen, 
dies Hoffen und Zweifeln jo bis in die Unendlichkeit 
bin ertragen?” fragte der andere und |prang auf. 
„Bei dem Gedanken wird mir heiß.” 

Martin zudte die Achjeln. „Das Warten lehrt 
einen die Armut. Und dann — ich weiß, daß es 
gut ift.“ 

„Sa, e8 ift gut!” bekräftigte Sortunatus. „Und 
ih werde dem Profejjor davon erzählen und werde 
ihn Dir berihiden, damit er jelber fieht. Der weiß 
Nat.” eine Augen hingen an dem verzerrten Ge- 
fiht des Centauren, das ihn immer wieder über: 
wältigte, und leiler jegte er hinzu: „Wenn ich ein 
Neidhammel wäre . . . aber nit wahr, Martin, 
das trauft Du mir nicht zu.” 

„Rein!“ antwortete der andere raid. 

„sh muß mid) eben damit begnügen, ein 
Talenten zu jein und andern das Genie überlafjen. 
Wie bitter jolche Erkenntnis ift, weißt Du zwar 
nicht, Du Begnabdeter, aber doch immer nod bejler 
als GSelbftüberfhägung und Eitelfeit ohne Be: 
rechtigung.“ 

Er ſah Heeken an als erwarte er von ihm ein 
Wort des Widerſpruches, der aber ſchwieg. Fortu— 
nat räuſperte ſich und ging mit erregten Schritten 
ein paarmal auf und ab. 

„Sag mir einmal ehrlich: was hältſt Du von 
meinen Sachen. — Du kennſt ſie ja aus dem 
Atelier her, als wir zuſammen arbeiteten. Seitdem 
— in meinen eigenen Räumen habe ich Dich noch 
nicht geſehen.“ 

„Ich paſſe nicht unter Euch,“ ſagte Heeken faſt 
ſchroff. „Ihr ſeid viel gebildeter als ich, Ihr könnt 
über alles ſprechen — über Eure Gedanken — Eure 
Gefühle — über Kunſt und Kunſtſachen. Ich nicht, 
— ich kann nur arbeiten, und ich bin froh, wenn 
mich niemand dabei ſtört.“ 

„Ja, ich weiß, daß Du auch mich manchmal 
zu allen Teufeln wünſcheſt.“ 

Martin ſchüttelte den Kopf. Uber fein hartes 
Geſicht zog etwas wie ein weicher Schimmer. „Dich 
nicht,“ fagte er baftid. „Ach freue mich immer, 
wenn Du fommfl. — Du bift freilich der einzige. 
Die andern kann ich nicht leiden. Sie find boshaft 
und neidiid und aufdringlid, das bift Du alles 
nicht. Aber jage mir nur, was Du an mir haft? 
%h bin nicht fein erzogen, veritehe nichts von der 
Welt, in der Du lebt . ... Was haft Du an mir?” 

Hortunat blieb ftehen und fahb dem anderen 
offen in das Gefiht. „Ich achte in Dir den Künftler, 
den madhtvollen Seift, der alle Schwierigkeiten jpielend 


„Das bringt’s 


Roman von H. Schobert. 





440 


bezwingt, an denen andere zu Grunde gehen. Dann 
aber au den bilfreihen Menden. Haft Du es 
vergeflen, daß ih Dir mein Leben dante? Es mag 
ja im Grunde nit viel wert fein, Diejes Leben, 
aber lieb ift es mir do, daß ich’s noch ein Weilchen 
behalten babe.“ 

„Das hätte jeder an meiner Stelle gethan.” 

„Jeder? Yh weiß do nit! Du riskierteft 
Deine gefunden Knochen dabei, Deine Arme! Dente, 
was wäre aus Dir geworden ohne Arme,” 

„Verhungert wär’ ich,” entgegnete Heelen ge: 
lallen, „ia, — das glaube ich jchon jelber. Aber 
— ift es jeßt nicht auch beinahe jo weit?!” — Er 
fügte wieder den Kopf in die Hand, das ohnmadt- 
ähnliche Gefühl von vorhin fam zurüd, nur flärker, 
er wurde leihenblaß im Geſicht. 

„Martin! Was ift Dir, Martin!” Fortus 
nat faßte ihn bei den Schultern, er war wirklich 
erichroden. 

„Hunger hab’ ich,” jagte der andere und wijchte 
mit ber flachen Hand die Schweißperlen ab, die ihm 
die Erfhöpfung auspreßte. „Seit drei Tagen nichts 
genofjen als Brot und Wafler, dazu gearbeitet Tag 
und Nadt, das hält der Teufel aus.” 

„Und warum bift Du zu feinem von uns ge- 


| fommen? Zum Brofeflor, zu mir, Du bätteft Doc) 


genug haben können.” 

„sh mag nicht betteln.” Er 309 bie Stirn in 
ablehnende Falten, obgleich jeine LZippen zitterten. 
„Richt einmal in der Möbelfabrit wollte ich etwas 
lagen; wenn diefe Befrönung fertig ift, giebt es ja 
Geld genug, und Hunger Tenne ih Ihon lange — 
mir find gut Freund zufammen — nur heut ift mir 
jo mijerabel zu Mut — das madt das angeftrengte 
Arbeiten.” 

„Zieh Dih gleih an und fomm mit mir,“ jagte 
Fortunat berriich, jehr gegen feine jonftige Manier, 
aber er wollte nicht zeigen, wie nahe ihm die paar 
Worte desjenigen gingen, in dem er einen großen 
Künftler fah. „Wir gehen in das nädjlte Reftaurant, 
gleichviel wohin.“ 

Heelen ftreifte mit feinem Blid das fonnige, 
liebe Geficht des Jüngeren, das jebt auch etwas er: 
blaßt war vor Mitgefühl, dann erhob er fih ohne 
ein Wort der Ermwiderung. 

Und nun gingen fie nebeneinander bie Straße 
hinab, ein etwas verwunderliches Paar, dem jeder 
nadhfah. Martin Seelens unterjegte, Dreitichulterige 
Geftalt, eingepreßt in einen langen, jchwarzen Tuch: 
rod, der offenbar nicht für ihn gemadt war, ohne 
Hemdfragen, ein rotes Tuh um den Hals ge: 
Ihlungen, den verbeulten, fledigen Hut auf dem 
Kopf über ungeordnetem Bart: und Hauptbhaar, 
robufte, unfultivierte Kraft in jeder Muskel feines 
Körpers, den breiten Füßen und gewaltigen Händen. 
Neben ihm, fait ihwädhlid) ausjehend, Alexander 
Fortunat, von Kopf biß zu Fuß elegant gekleidet, 
in jeder Bewegung verfeinerte Vebensgewohnbeiten 
verratend, und doch zwilchen beiden das Band ber 
gemeinfamen Künftlerichaft, des gemeinfamen Ringens 
und Strebens, das zum Ausdrud zu bringen, was 
in ihnen nad fünftleriiher Geftaltung verlangte. 





441 Art zu Akt. 


Zweites Kapitel. 


„®ott bewahre,” jagte Zuzie Duenfel, indent fie 
ihre Arbeit von bunten Seidenfäden auf Sammet 
faft heftig in den Korb warf. „Sie werden bod 
fträflid langweilig, Fortunat. Seit ungefähr einer 
halben Stunde unterhalten Sie mid von nichts 
anderem als diefem unmögliden Meniden, diejem 
Heelen. Sagen Sie das Emil oder Papa, aber 
mich verihonen Sie damit, wenn ich bitten darf.“ 

Fortunat nahm einen bunten Seidenfaden 
und wand ihn gelaflen um feine Finger. „Sie find 
übler Laune, Fräulein Luzie. Oder muß ich wirklich 
deshalb um Entihuldigung bitten, daß ich der Tochter 
eines Künftlere au Berftändnis und Snterefle für 
tünftleriide Dinge zutraue? Ach jage Shnen, dieler 
von Shnen fo veradhtete Heelen wird einft die Welt 
von fih reden maden.“ 

Sie jagen im Gartenzimmer bei geöffneten 
Feniter, denn es war draußen jchon ganz frühlings- 
warm, troß der immerhin frühen Jahreszeit, beide 
ganz allein, ohne etwas darin zu finden, denn Quzie 
hatte feit dem Tode der Mutter eine abjolut jelb- 
ftändige Stellung im Haufe ihres Vaters, des 
Alabemieprofefjors Duenjel, und Fortunatus gehörte 
feit Jahren zu den Freunden ihres Bruders Emil. 
Seht wandte fie ihm das Geficht langjam zu. Ein 
Gefiht, wie e8 taufende von jungen Mädchen in dem 
Alter zwilhen achtzehn und vierundzwanzig Sahren 
haben, was die Züge anbelangt, nicht häßlih und 
nicht fonderlih hübich, aber was an ihr auffiel, war 
ber Zug frivolen Wiffens, der aus ihren Augen, eitler 
Gelbftüberfhätung, der aus ihrem ganzen Gebaren 
ſprach. 

„Ich gönne ihm die Unſterblichkeit,“ ſagte fie 
mit einer gewiſſen abſichtlichen Läſſigkeit. „Nur ſoll 
Papa nicht etwa auf den gräßlichen Gedanken kommen, 
ihn mir hierherzuſchleppen — Ihren Heeken! Ich 
habe an dem einen Mal genug, als er noch ſein 
Schüler war. Dafür mache ich Sie verantwortlich, 
Fortunat.“ 

Er lachte. „Heeken hat dazu am wenigſten Luſt, 
ich verſichere Sie das, Fräulein Luzie.“ 

„Gott ſei Dank!“ Sie atmete auf und verſchränkte 
die Arme unter dem Kopf; während ſie das that, 
warf ſie einen koketten Blick auſ ihr Gegenüber. 
„Sie find eigentlich doch ein komiſcher Kauz, 
Fortunatus! Was für ein Geſchrei machen Sie über 
dieſen Ihren Freund und Konkurrenten, gerade als 
gäbe es gar nichts anderes mehr auf der Welt, 
während Sie ſich immer herabſetzen — immer herab! 
Gar kein bißchen eitel ſind Sie auf Ihre Leiſtungen, 
und doch finde ich ſie einfach ſüß.“ 

Er machte ein Geſicht, als habe er unverſehens 
auf Sand gebiſſen. „Nun, Fräulein Luzie, Ihre 
Kritik konnte nicht grauſamer ſein.“ 

Sie ſah ihn lachend an. „Ein Drachentöter ſind 
Sie freilich nicht, kleiner Alexander, aber iſt denn 
das nötig? Wir wollen doch ſehen, was uns gefällt, 
nicht? All das Erhabene iſt manchmal ſchauderhaft 
langweilig.“ 


Roman von H. Schobert. 


442 


Er ſeufzte vor ſich hin, ohne das Spiel mit dem 
Faden einzuſtellen. So intim er ſeit Jahren im 
Hauſe des Profeſſors verkehrte, es fiel ihm doch nicht 
ein, auch nur ein geringes Bruchteil ſeines Empfindens 
dieſen ſeinen ſogenannten Freunden preiszugeben. 
Ebenſowenig wie es ihm je eingefallen war, Luzie 
Quenſel den Hof zu machen, ſo ſehr dieſe junge 
Dame es manchmal darauf anlegte. 

„Ach!“ ſagte ſie endlich, mit einem kleinen 
Gähnen ihre ſchlanke, elegante Geſtalt ſtreckend. 
„Ich wünſchte, Sie erzählten mir etwas Amüſantes, 
Fortunat. Kleine Ateliergeheimniſſe, Modellge— 
ſchichten — ich weiß nicht, das Leben iſt doch zu 
langweilig. Aber Sie gehören auch nicht zu denen, 
die es — zum Beiſpiel mir — etwas zu verkürzen 
verſtehen, oder wenigſtens wollen Sie nicht! Ach! 
Gott ſei Dank, da kommt Emil.“ 

In der That erſchien in der geöffneten Thür 
der Sohn des Hauſes. Etwas korpulent für ſein 
Alter, mit dem Anflug eines kleinen Bärtchens im 
rötlichen, augenblicklich ſehr verſtimmt ausſehenden 
Geſicht. Er hatte den Hut noch in der Hand und 
warf ihn ärgerlich auf den Seitentiſch, ohne die An— 
weſenden beſonders zu begrüßen. 

„Es iſt ein Elend, der Sohn eines berühmten 
Mannes zu ſein,“ ſagte er, ſich in einen Schaukel- 
ſtuhl werfend, und die Beine lang von ſich ſtreckend. 
„Jede Leiſtung wird von den Böotiern nur nach dem 
Maß gemeſſen! War meine ſchlafende Nymphe nicht 
hübſch in der Form? Nicht allerliebſt prickelnd in 
der Stellung? Ich frage Euch beide! Nun, der 
Kunſthändler, bei dem ich ſie ausſtellte, machte ein 
Geſicht dazu, als wäre ſie etwa ein flügelloſer Mai— 
käfer oder dergleichen. Wäre ich Hinz oder Kunz, 
würde man mir meine Sachen ohne Voreingenommen: 
heit beurteilen und loben, jo aber, weil der berühmte 
Name ‚Duenfel junior‘ daran fteht, foll es gleich 
etwas Weltbewegendes jein, oder man wird als 
Stümper angejehen.” 

„Sa, Du haft es jchwer, armer unge,” fagte 
Zugie Ipöttiih. „Zünde Dir nur eine Eigarre an, das 
vertreibt die Grillen. Übrigens war Deine Nympbe 
ehr Hübid. Du mußt ein nettes Modell dazıı ge: 
habt haben.” 

Emil zudte ärgerlich die Achleln. Jm übrigen 
befolgte er den Rat feiner Schweiter und raudhte. 

Fortunat Tchwieg. 

„Ss ift wirklich ein Leiden,” begann Emil wieder. 
„Was überwältigt denn heutzutage noh? Was macht 
Auflehen? Nicht einmal Thorwaldjen würde heut 
das werden, was er damals war. Genies fallen 
dob nicht vom Himmel!“ 

Zuzie lachte aus vollem Halfe. „Aa, fomme Du 
nur! Fortunat ift einem auf der Spur — einem 
gewaltigen! Heeken!!“ 

Emil ließ die Cigarre finten und jah dem 
Ichweigenden Freund in das Geficht mit einem Aus: 
drud ungläubigen Erftaunens. 

„Ih war heut vormittag bei ihm und jah fein 
eben vollendetes Werl. Er will es zur Kunftaus: 
ftellung anmelden. Allerdings genial.“ 


Emil war bunfelrot geworden. Er Tonnte es 


443 Art zu Art. 
einmal nicht ertragen, daß man andere in feiner 
Gegenwart hochftelte. Der Eleinliche, neidiiche Cha- 
rafter, der ihm innemwohnte, geftattete ihm fein groß- 
berziges Lob und ließ ihn feinen Tadel ertragen, 
das wußte jein Freund und richtete fi im allge 
meinen danadh, zumal diefe Eigenihaften meift nur 
auf Fünftleriidem Gebiet zu Tage traten, und viel: 
leiht um jo heftiger, weil Emil Quenjel in Wirklich: 
feit, troß des Namens feines Vaters, ein blutiger 
Stümper war und blieb. 

„Heelen!!” jagte er jet mwegwerfend und ftieß 
eine gewaltige Naudhmolle aus. „Dieler Prole- 
tarier! — Was fann er Großes jchaffen, da ihm 
der Sdeengang des Kulturmenjchen, die Verfeinerung 
jeden Gefühle volftändig abgeht! — An Heelfens 
Genie glaube ih nicht — abfolut nicht!” 

FSortunat jchüttelte heftig den Kopf. „Ein 
Menih, der fih jo durdringen muß, Emil — 
fo!! wie wir es uns gar nicht vorzuftellen ver- 
mögen, in dem muß etwas leben, was mädjliger ift 
al®e alles. Es kommt mir vor, als ift das Genie 
diejes Mannes wie ein tiefer, breiter Strom, der 
den ganzen Menihen bdurcflutet und für nichts 
mehr Raum läßt. Es verzehrt ihn, aber es hebt 
ihn enpor, hoch bHinaus über uns und hat gar 
nichts mit der Bildung zu thun, ebenfomwenig wie 
mit dem Charalter. Er ift Künftler — lediglich 
Künftler — und will auch nichts anderes fein.” 

„Das it Deine Anfiht! Die meine dagegen, 
daß fih ein Talent, jage jelbft Genie, ohne vor: 
bereitenden Bildungsgang nicht auf der Höhe halten 
kann; es erſchöpft fich zu jchnell, weil es Feine 
Quellen in fi trägt, aus denen es weiter jchöpfen 
farın. Sch Halte von Deinem SHeefen nicht viel. 
Du aber, Ler, bift ein Phantaft und immer geneigt, 
andere aufs Schild zu heben. Nur von meiner 
Nymphe haft Du mir noch Fein Wort gejagt.” 

„Sie ift nit Deine bejte Arbeit,” geitand 
Fortunat nad) kurzem Zögern. 

„Aber erlaube Du mir. . . ich verftehe nicht, 
daß br alle fo voreingenommen fein fünnt . . .” 
Emil jprang jehr zornig auf. „Da ift alles, wie 
ih es gejehen habe — genau — genau, fage id) 
Dir! ede Linie, jede Senkung . . .” 

„Lieben Kinder,” ſagte Luzie mit Nachdrud, 
„e8 wäre wirklich beiler, Ihr vertagtet foldhe Ge: 
Ipräde für Eure Ateliers. Wozu find denn die da, 
wenn Khr Eu nicht darin zanlen folltet. Aber 
bier bei mir, da bitte ich mir etwas mehr Gemüt- 
lichfeit aus, verftanden? Papa muß glei kommen, 
und bis dahin will ih Euch noch eine funkelnagel: 
neue Neuigleit erzählen, die fih auf uns alle drei 
ausdehnt. — Nun? Ganz Ohr?” 

„Sanz Ohr!” verfiderte Fortunat, während 
Emil im Zimmer umberlief, mit Gott und der 
ganzen Welt grollend, daß ihn niemand zu mür- 
digen Ichien. Dennoh war er Eug genug — troß 
feines nit allzu Icharf entwidelten Verftandes — 
um genau zu wiflen, mie viel von feinen ohnehin 
Ihon Shwahen Erfolgen auf Rechnung feines Namens 
fam. And bei aller Sndolenz und Trägheit jeines 


Roman von H. Schobert. 


441 


Charakters hatte er einen ftarken Ehrgeiz, der freilich 
lieber ernten als fäen wollte — 

„Allo: Papa bat heute morgen einen Brief 
aus Chicago von feinem alten Freunde Brunnhübler 
befommen, Du weißt, Emil, der SKonfervatorift. 
Der bat ihm fein Mündel empfohlen, eine deutfche 
Amerifanerin, deren Eltern nad) Amerifa ausge: 
wandert find, die aber nun, ganz verwaift, fich wieder 
bier bei uns in der Malerei ausbilden will. Brunn: 
hübler fchreibt, er traut ihrem Talent nicht allzuviel 
zu, aber Papa würde das ja wohl befjer verftehen, 
darum jchidt er fie ihm. Sie ift jung und reich 
und heißt Fräulein — oder vielmehr Miß Maud 
Winter. Nun, meine Herren, das ift SJagdbeute 
für Sie beide. Papa hat fi) ausgedadt, fie fol 
bei uns wohnen, damit ih Gejelichaft habe. — 
Was ih mir aus Mädchengejellihaft made! Mit 
Männern ift ein viel netterer Verkehr möglich). 
Aber ich denke, Tchließlicd braucht man fi ja nicht 
gegenfeitig zu genieren, ich wenigitens, ich werde mir 
Ihon meine Stellung madjen.” 

„Hoffentlih ift fie Hübich,“ fjagte Emil und 
blies den Rauch durch die Nafe. 

„Amerilanerinnen pflegen umgänglih zu fein; 
fönnen wir denn aber genug Engliih, um uns mit 
der jungen Dame zu verftändigen?” warf Fortunat hin. 

„Sie Tpriht Deutih wie Wafler, ift ja dod 
eine Deutiche,” erklärte Luzie. „Uber ich benfe 
fie mir Iheußlih. Wozu geht fie jonft von Amerika 
fort. Konnte fie da nit heiraten und vergnügt 
fein, anftatt fi) auf die Malerei zu werfen? Malende 
Frauenzimmer find meiftens Greuel.” 

„Wann kommt fie denn?” 

„Mit dem nädjften Dampfer. | suppose, meine 
Herren. Wir Eönnen fie von übermorgen ab jeden 
Tag erwarten. Eigentlih do eine Kateridee von 
Papa, ihr unfer Haus zu öffnen,, ohne daß mir fie 
gejehen haben, nicht wahr?” meinte Luzie. 

„Mich Jo fie nicht flören,; wenn fie mir nicht 
gefällt, fomme ich nicht zum Vorjhein, na, und Xer 
bleibt auch) weg,“ meinte Emil, ftärler rauchend. 

„Ihr feid fehr gütig, und ih?“ 

„Du wirft Ihon mit ihr fertig. Wenn fie Dir 
nicht gefällt, wette ich, daß fie bald das Weite jucht.“ 

Luzie late. Sie hörte es nicht ungern, wenn 
man ihr eine gemwille Selbftherrlichleit zuſchrieb. 
„Seder muß fih jeiner Haut wehren,” . jagte fie, 
und führte in der Luft einen Nafenftüber gegen 
Fortunats Nafe aus, 

Draußen Klang bas Gartenpförtchen. 

„Der Papa,” jagte fie aufipringend. 
laß ich den Kaffee bringen.” — 

Dem eintretenden Profeffor bot fich auf biele 
Art ein freundliches Familienbild. Er jelbft, mit 
jeinem langen, filberweißen Bart und dem Mofes- 
fopf, in dem ein Paar merkwürdig Tlare Augen 
ftrahlten, war feinen beiden Kindern jo unähnlid 
wie möglih. Nicht allein im Außeren, in feiner 
ganzen Lebensauffaffung mwurzelte er noch in ber 
romantifhen Periode, der er entitammte, und wenn 
Ruzie ihn lachend „unmodern” nannte, To hatte fie 
damit das Richtige getroffen. Vielleicht lag darin 


„Nun 





445 Art zu Art. 
der Grund, daß er fi geiltig jo außerordentlich 
jugendlih erhalten hatte. 

Shn für irgend etwas zu begeiftern, hielt nicht 
Ihwer. Als Fortunat nah einem Meilen fragte, 
ob er fih noch jeines Schülers Heelen erinnere, 
horchte er ſogleich hoch auf. 

„Heeken — Martin Heeken — natürlich! Er 
war ebenſo arm wie talentiert. Auf welche Art er 
es damals möglich gemacht hat, nach Italien zu 
gehen und dort zu leben, iſt mir immer ein Rätſel 
geblieben.“ 

„Darüber hat er auch zu mir geſchwiegen. 
Seine Energie iſt ebenſo groß wie fein Körper 
leiſtungsfähig. Seitdem er hier iſt, erhält er ſich 
mit Kunſttiſchlerei und daneben hat er etwas ge— 
ſchaffen — etwas Großartiges, Herr Profeſſor.“ 

„Du kennſt doch Fortunats Begeiſterungsfähig— 
keit, Papa,“ warf Emil mit etwas nervöſem Lachen ein. 

„Nein, nein, Herr Profeſſor,“ wehrte der heftig. 
„Sehen Sie ſelbſt, und Sie werden mir recht geben. 
Unter Hunger und Entbehrungen iſt das Werk ent— 
ſtanden, als es fertig war, fiel er vor Mangel an 
Nahrung zuſammen. Er möchte es auf die Kunſt— 
ausſtellung haben, aber die Mittel zum Transport 
vor die Jury fehlen ihm. — Da dachte ich an Sie, 
Herr Profeſſor.“ 

„Heraus mit der Sprache, junger Freund,“ 
ſagte der Profeſſor aufmunternd. „Was ſoll ich 
nach Ihrem Ermeſſen dazu thun?“ 

Fortunat ſah ihm offen in das Geſicht. „Wenn 
Sie dem armen Kerl die Koſten des Transports 
bei einem zweifelhaften Erfolg erſpatten, wenn Sie 
— als Präſident der Jury — ſich die Gruppe erſt 
einmal vorher anſehen würden. — Mich hat ſie ge— 
padt — ergriffen — aber ich bin ſchließlich kein 
Kritiker.“ 

„Wahrhaftig, nein!“ ſagte Emil und wechſelte 


das Bein, das er über das andere legte. Er dachte 
an ſeine Nymphe. 
Der Profeſſor beſann ſich ein wenig. „Ja — 


ja, Sie haben recht, Fortunat. Das wäre am Ende 
unter dieſen Verhältniſſen Menſchenpflicht. Warten 
Sie — morgen — nein, morgen kann ich nicht, 
aber übermorgen. Ich werde noch Profeſſor Hubry 
mitbringen, und Sie können mich führen.“ 

„Ich danke Ihnen herzlich im Namen meines 
Freundes.“ 

Fortunat ſah ſo glücklich aus, als habe er für 
ſich ſelbſt etwas errungen, ſagte aber nichts mehr, 
da er Emils ſpöttiſche Augen auf ſich gerichtet fühlte. 
Er war nun einmal ſo, er konnte es nicht laſſen, 
ſich für andere, die er höher ſtellte als ſich, zu be— 
geiſtern und dadurch den Spott der Genoſſen heraus⸗ 
zufordern. 

„Alſo teilen Sie es Heeken mit, übermorgen 
vormittag um zwölf Uhr, da bin ich frei,“ ſagte der 
Profeſſor aufſtehend, denn ſein Kaffee war getrunken 
und er ſehnte ſich nun, nach dem anſtrengenden 
Unterrichten, nach einem Ruheſtündchen. „Ich will 
hoffen, daß ich meine Erwartungen voll beſtätigt 
finde. Und nun laßt Euch nicht ſtören, Kinder.“ 

Er ging, aber auch Fortunat litt es nicht 


Roman von H. Schobert. 


446 
länger. Als er in ſeinem reizend eingerichteten 
Atelier ſtand, denn er war mündig und wohlhaben⸗ 
der Leute Kind, ſah er ſich wie prüfend ringsum. 
Da ſtanden um ihn herum ſeine Schöpfungen in 
lebensvoller, graziſſer Anmut, alle — alle. Es 
war, als konnten ſeine Hände gar nichts anderes 
formen, und doch, wie Klein, wie erbärmlich fam 
ihn heute gerade alles vor. Daß er aud fo offene 
Augen für alles Große, Gewaltige haben mußte! 
Solche faſt ehrfurdtsvolle Bewunderung! Nur was 
er felbjt leiftete, erfchien ihm fo unbedeutend, jo 
unmert. 

Er riß das feuchte Tuch von ber Figur fort, 
an der er gerade arbeitete, fie war bis auf weniges 
vollendet, denn auch er hatte die Abficht, die Aus- 
ftelung zu beididen. Bitter jchloffen fich jeine 
Lippen, während er darauf binjah und an Martin 
Heelens Werk dadhte. Das Ichaffen können! Sa, 
das! — Wie Plunder erjchien ihm jeine Arbeit — 
und do hatte er damit unredht. 

Liebreizend jchelmiich lächelte das Gefiht des 
faum halb Meter hohen Figürchens unter dem Drei: 
Ipig zu ihm berüber, der rechte Arm, in foletter 
Grazie gebogen, hielt die lange, von den Schultern 
fallende Schleppe empor, während jonft nur ein eng- 
anliegendes, kurzes Wams die feinen Glieder be: 
dedte. Syn der Haltung des Körpers, in dem Aus: 
drud des Gefihts lag. etwas jo Beitridendes, 
tünftleriich Vollendetes, daß der Schöpfer diefes Heinen 
Meifterwerfs wohl hätte zufrieden fein dürfen. Kein 
Wunder, daß er bem Publitum gefiel. — E8 famen 
viele Aufträge in fein fat frauenhaft üppiges Atelier; 
ein Rokotopärden in Marmor, fertig zum Fort: 
ihiden, ftand jchon auf prächtigen metallnen Säulen, 
und doch war er nicht zufrieden mit feinen Leiftungen, 
marterte und quälte fi mit dem Wunfch nach Höherem, 
Größerem. — 

Mit einem Seufzer verhängte er wieder das 
Gipsmodell, mit einem Seufzer blidte er nod) ein- 
mal ringsum, dann trat er an das große eniter 
und riß mit einem NRud den Vorhang zu. 

Es wurde dunkel. Er bedte noch die Hand 
über die Augen, und fo, im Finftern, taftete er fi 
bis zur Chaifelongue und warf fich darauf nieder. 


Drittes Kapitel. 


Martin Heelen faß in feinem Atelier und 
wartete. Zu Ehren der Kommenden hatte er die 
Schhniterei beifeite geräumt; auch das Bett war 
glattgeftrihen und der Waflerkrug beifeite geitellt, 
feftlidere Vorbereitungen aber ließen fich beim beiten 
Willen nicht treffen, und daß er felbft jeßt fchon in 
dem engbrüftigen Rod ftat, erichien ihm vollflommene 
Feierlichleit.. Merfwürdig nur, daß er gar nicht 
aufgeregt war. Sein Herz Ichlug jo ruhig wie zu 
jeder anderen Stunde. Was er eritrebt hatte, dort 


ftand es vor ihm, fein VBeltes hatte er gegeben, wie 


andere e3 beurteilen würben, was fam darauf an! 
Er war auch nicht gewöhnt, fein eigenes Empfinden 


447 Art zu Art. 
zu beobadten, es gemwillermaßen unter die Zupe zu 
rüden, er fragte fih nit, ob diefe Ruhe etwa 
Gelbftbewußtjein fein fönne, oder nur von feinen 
robuften Nerven herrühre, er bejaß jo gar nicht das 
Verſtändnis für den fomplizierten inneren Menichen ; 
das, was er fühlte und fah, genügte jeinen einfachen 
Begriffen. 

Es war hell und warm draußen, man hörte 
Vögel fingen und das luftige Laden und Schreien 
Heiner Barfüße, die fih auf einem Sandhaufen ver: 
gnügten. Sn helles Licht getaucht, ftand die Gruppe 
mitten in dem bürftigen Atelier, und jo, faft auf: 
dringlich gewaltig, Iprang fie auch wieder den Ein: 
tretenden entgegen. 

Profefior Quenfel vergaß bei dem Anblid feinen 
früheren Schüler zu begrüßen, der fih jchweigend 
zur Seite hielt. Es war wirklich etwas nieder: 
drüdend Gewaltiges, was fih ihm darbot. Eine 
foldhe Kraft, eine jolhe Individualität hatte er doch 
nicht erwartet. 

Erft nach einer langen, langen Bauje, nachdem 
fih die beiden älteren Herren zugenidt hatten, 
fuchten feine Augen den jungen Künitler. Der lehnte 
immer noch ganz ruhig und unbewegt an der Längs- 
wand feines Ateliers, jo, als ginge ihn die Sade 
nidit im geringiten etwas an. 


Der Brofefjor trat rafh auf ihn zu und ftredie 


ibm die Hand entgegen. „Sch gratuliere Ihnen, 
Helen. Das war ein großer Wurf; und er ift 
Shnen gelungen — verblüffend gelungen. Treffen 
Sie alle Anftalten für den Guß, ein Abweifen dur 
die Jury ift völlig ausgeichloffen. Jhre Arbeit wird 
Shnen einen Namen von gutem Klang jchaffen.” 

Er wollte noch mehr jagen, verfchludte es aber. 
Seelen hatte ftumm die Hand, die ihm dargereicht 
wurde, erfaßt und geichüttelt, mit der Formlofigfeit 
bes ungebildeten Mannes. Er hatte audh das un: 
beflimmte Gefühl, daß er jeht etwas jagen, fi 
mindeftens bedanken müfle, aber die Worte fehlten 
ihn. Er 309 die Stirn in Falten und ftieß einen 
tiefen Seufzer aus. 

„sh bin wirklich ftolz darauf, daß Sie mein 
- Schüler gewejen find,” fegte der Profefjor noch hinzu, 
und dazu leuchtete e8 jugendlih in feinen hellen 
Augen auf. „Wir können uns no auf viel 
Schönes von Ihnen freuen.” 

Erft da gelang es Martin, ein paar zufanımen- 
banglofe Worte zu ftammeln, während Emils Augen, 
der fih den Befichtigenden angeichloflen, ihn Tpöttifch 
mufterten. 

Er hatte die Gruppe umgangen und fand ihr 
im Rüden, genau jedes Haar am Pferdejchweif 
Nudierend, wie jein Vater die Fraftvolle Muskulatur 
des Gentaurenleibes; jo gern er getadelt hätte, er 
durfte es nicht wagen der Vollendung gegenüber, 
bie jelbit das Unbedeutendfte auszeichnete. Aber ein 
haßerfüllter Blid flog über die Gruppe und die Hand 
in der Tafche zufammenkrampfend, dachte er inbrünftig: 
„Hol der Teufel das Ganze!” 

Fortunat blieb zurüd als die andern gingen. 
Auge in Auge wurzelten die Blide der beiden jungen 
Männer, und plöglich Drad es bei Martin Heelen 


Roman von H. Schobert. 


448 


durch mit elementarer Kraft, was ihm diejfe Stunde 
gebradtt. Er fließ einen Schrei aus, fait wie ein 
Tier, Ichlang beide Arme um die elegante Geftalt 
feines Sreundes, der ihm foeben biefen großen Dienft 
geleiftet, und drückte ihn an fih, als wollte er ihn 
zerbrechen. 

Noh nie in jeinem Leben hatte er das Be- 
bürfnis nad) dem Austausch irgend welder Zärtlid- 
feiten gehabt, aber in diejem Augenblid, wo er fühlte, 
daß fich fein Leben wandte, da mußte er irgend 
jemand in die Arme nehmen und an fih drüden, 
als Ichlöfle er fih dadurh jymboliih an die Menjch: 
heit an, gleihfam als Zohn für fein einfames Ringen 
und Streben, für den Wrondienft, den er bisher 
auf fi genommen, nur um der Kunft zu Dienen. 

Fortunat machte fi haftig, fat brüst aus den 
ihn umichließenden Armen frei. Es war ihm etwas 
in die Naje gezogen, das ein Gefühl des Efels in 
ihm mwachgerufen hatte. Nun bemerkte er die Urjacdhe 
wohl. Der Geruh ging von dem alten Wollhemde 
aus, das feinem Befiger lange und treu gedient hatte, 
die Ausbünftung des Proletariats, das feine Zeit 
hatte, ven Körper zu pflegen, und auch nicht einmal 
Verftändnis dafür befaß. Er trat einen Schritt zu: 
rüd und jog die friiche Luft ein. Faſt jchämte er 
ih der NRegung, und doh — und do 

Martin Heelen hatte nichts davon gemerkt. Er 
ging jeßt aufgeregt, leife vor fih binmurmelnd, im 
Atelier auf und ab, die plöglihe Erfüllung feines 
beißeften Wunjches jchien ihm zu Stopfe geftiegen 
zu fein wie ein Rauſch. Endlid blieb er mit 
bligenden Augen vor Fortunat ftehen. 

„Sieh, daß es gut ift,” jagte er faft Teuchend, 
„das wußte ih ja, und daß fie’s nehmen würden 
auch, aber baß der PBrofeflor den Transport bezahlen 
will, weil er es jo gut findet, das bringt nıich vor 
Freuden beinahe um den Berjtand.” 

Fortunat Jah ihn ftumm an. Die elementare 
Kraft, die diefem Manne entfirömte, verblüffte ihn 
faft, und er jhämte fich feiner kleinlichen Regung 
von vorhin. War aud er wirklich unfähig, Geift 
und Körper zu trennen? WMadte er e8 mie Luzie 
Quenfel, bei der der Rod den Ausichlag gab? Ale 
ihn damals Heelen ınit Gefahr feines Lebens vor 
den wild gewordenen Pferden wegriß, war ihm eine 
perjönlihe Berührung nicht unangenehm gewelen, er 
hatte gar nicht daran gedadt, und jet, wo er vor 
allen Dingen den Künftler im Menichen zu achten 
hatte, da überwog bei ihm doch das Außerliche, troß 
aller Bewunderung, die er für ihn begte. Er ärgerte 
fih über fich felber, und Doppelt freundlich war bie 
Bewegung, mit der er ihm wieder näber irat. 

„Deine Familie wird ftolz auf Dich jein, Martin,“ 
lagte er baftig. „Bon melden Erfolgen fannit Du 
ihnen jegt berichten! So jung wie Du nod bift.” 

Heelen mwifhhte fih mit der Hand über das 
Gefiht. „Meine Familie! Die verfteht davon nichts. 
Als ich früher aus Mutters Brot Figuren Tnetete, 
befam ich Prügel wegen der unnötigen VBerfchwendung, 
und wenn ich ihnen jeßt nicht eine Handvoll Gold: 
fiüde unter die Naje halten kann, begreifen fie nicht, 
wo die Urjadhe liegt, daß ich Grund zum Stolz und 


449 Art zu Art. 
zur Freude babe. Wäre ich Kunittiihler geworden 
— das nährt feinen Mann, davor hätten fie Hod- 
ahtung gehabt.” Er fpradh ohne alle Bitterkeit, 
fonftatierte eben nur Thatjahhen, gegen die fih nicht 
ftreiten ließ. 

„Dieſe Böotier!“ ſagte Fortunat verächtlich. 

Heeken ſchüttelte den Kopf. „Von ihrem Stand—⸗ 
punkt haben ſie recht. Du weißt eben nicht, wie 
Hunger und Not und Kälte thut, Dir iſt es immer 
gut gegangen.“ 

„Hör', Martin,“ begann Alexander, mit einer 
gewiſſen Neugier ihm nähertretend. „Hat nie in 
Deinem Leben ein Weib einmal eine Rolle geſpielt? 
Du biſt ſo anders wie wir — die wir alleſamt keine 
Heiligen ſein mögen — immer nur Arbeit und 
Arbeit. — Steckt hinter Deiner Solidität eine ſtille 
Liebe, die Du Dir damit zu erringen ſuchſt? Mir 
könnteſt Du es doch ſagen, weil ich wirkliches Snter: 
eſſe für Dich fühle.“ 

Heeken lachte laut auf. „Die Weiber! Nein, 
geh mir damit! Es iſt ja recht ſchön, daß ſie einem 
ſeine Sach' zuſammenhalten, einen beflicken und 
kochen, aber ſoviel Weſens wie Ihr aus ihnen macht, 
das ſind wir nicht gewohnt. Nein, mit den Weibern 
habe ich nichts zu ſchaffen.“ 

Fortunat ſeufzte. Meiſtens pflegte ein Zipfel 
ſeines Herzens für ſein jeweiliges Modell in Flammen 
zu ſtehen, aber das war Strohfeuer, das in ſich 
ſelber wieder zuſammenſank, ohne je gefährlich zu 
werden. Trotzdem hielt er ſich für außerordentlich 
verworfen und blaſiert. „So kennſt Du alſo das 
ſüße Gift noch nicht,“ ſagte er, ſeinen Schnurrbart 
drehend. „Und ich weiß nicht recht, ſoll ich ſagen: 
Gott ſei Dank! oder: Schade! — Erſpart wird es 
Dir ja nicht bleiben. Und wenn ich Deine Gruppe 
ſo anſehe, möchte ich darauf ſchwören, Du hätteſt den 
weichen, ſchlangenhaften Einfluß des Weibes illu— 
ſtrieren wollen, der den ſtarken Mann ganz unmerklich, 
allmählich umſtrickt, bis er endlich merkt, er kann 
nicht mehr heraus, Muskeln und Knochen werden 
ihm zuſammengeſchnürt, zerpreßt, er iſt ihm verfallen 
mit Leib und Seele bis zu einem unrühmlichen 
Tode. Ja, das Weib iſt die Verderberin des Mannes!“ 


Heeken hatte die Hände auf den Rücken gelegt 
und ſtumm zugehört. Er begriff nicht alles, was 
Fortunat ſagte, doch genug, um zu verſtehen, welche 
Rolle er den Männern zuerteilte, und mit der ganzen 
Kraft des Selbſtbewußtſeins ſagte er verächtlich: 
„Das muß ein ſchöner Mann ſein, den ein Weib 
ſo umſtricken kann. Um den iſt es nicht ſchade. Der 
echte Mann wehrt ſich und kriegt ſie unter, und 
wenn es mit den Fäuſten iſt.“ 

„Sehr radikal, aber nicht immer anwendbar!“ 
Fortunat lachte. „Und ſieh, Dein Centaur hat ja 
auch Hände, ohne ſie brauchen zu können. Uns geht 
es ebenſo, wir haben oft auch gefeſſelte Hände dem 
Weibe gegenüber ... . Aber da kommt jemand.” 

Die Aelierthür öffnete fi, eine Frau aus dem 
Vorderhaus reichte Heelen einen Brief herein. „Das 
ift für Sie abgegeben, Herr Heelen.” 

Er nahm das Goupert entgegen, grobes, graues 


RomansZeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 


450 


Papier und eine jehr gejchnörfelte, unausgefichriebene 
Handſchrift. 

„Von zu Haus,“ ſagte er nach dem erſten Blick. 
„Der Herr Lehrer hat geſchrieben.“ 

„Ich bitte Dich, lies, laß Dich nicht ſtören.“ 

Das hätte er allerdings auch wohl ohne Auf— 
forderung gethan; woher ſollten ihm die Formen der 
guten Geſellſchaft kommen? Nach einer Weile ſagte 
er ganz ruhig: „Mein Bater ift tot. Morgen be: 
graben jie ihn.” 

Keine Muskel in feinem Geficht zudte. Er war 
den Seinen fremd geworden wie fie ihm. Daß alte 
Leute fterben, war der Welt Lauf, und daß e8 ge: 
\hehen, ohne daß fie einander wiedergejeyen, nun, 
das hatte fich eigentlich von felbft verftanden. 

Fortunat murmelte ein paar Worte der Rondolenz, 
in feinen Kreilen gehörte fi das jo. 

Heelen jah ihn jehr erftaunt an. „Du haft ihn 
ja gar nicht gelannt,” fagte er, „und fterben muß jeder.“ 

„Neilelt Du zum Begräbnis,” fragte der andere, 
aus dem Konzept geraten. Eigentli hatte Martin 
ja recht mit feinem Einwurf. Der natürliche Menſch 
würde nicht nad) Phrafen gejudht haben bei einer 
Angelegenheit, die ihn gar nichts anging, der Kultur: 
menſch hingegen juchte nad dem Ausdrud einer 
Teilnahme, die nur erkünftelt fein Tonnte. 

Heelen faßte in die Hofentafhe und 309g eine 
Handvoll Silbermünzen hervor. „Ih Tolli’s wohl. 
Weißt Du, ich bin der einzig Übriggebliebene, da 
gehört es fih am Ende. — Die alte Frau wird 
wohl aud deulen, daß der Sohn hinter den Sarg 
feines Vaters gehört. Und Geld habe ich ja.” 

„Wenn Du was braudjft, ich helfe Dir gerne aus.” 

„Nein, dante. Borgen und nicht wiedergeben 
thun nur Zune, und ich könnte es Dir gar nicht 
wiedergeben, e8 langt nur fnapp für mid, was ih 
verdiene, Du weißt — wegen denen da —” und er 
wies auf die Gruppe und die Torjen, die im Mintel 
lagen. 

„Aber Martin... .” 

„Ih thu’s nicht!” unterbrah ihn der andere 
heftig. Dann fuhr er nach einer Paufe fort: „Du 
bift Schon jo gut zu mir, fümmerit Did um mid), 
\hidit den Profefior — das kann ih Dir jo nicht 
vergelten, aber — ich dank Dir’s!” Und babei 
Ihlug er die Augen zu Boden und jah verlegen aus 
wie ein Mädchen. 

„Du bift ein fonderbarer Menſch,“ agte Fortunat 
fopfihüttelnd. „Ein fonderbarer! Aus Dir wird 
man nicht Klug.“ 

„Wenn ich heut abend abreile, bin ich gerade 
morgen zur Leiche da,” begann Heelen, „und allzu: 
viel often wird es auch nicht, wenigftens nicht 
für mich ...“ 

„Heut abend wollten wir Dich doch anfeiern, 
Du ſollteſt mit in die Künſtlerkneipe kommen, ich 
habe es in Deinem Namen verſprochen.“ 

„Dann reiſe ich ſchon gewiß. Unter Euch ſein 
mag ich nicht.“ 

„Und wenn Du ein großer, berühmter Mann 
wirſt, worauf Du doch hinſteuerſt, Martin, willſt Du 
Dich dann auch von allem fern halten? Das geht 


IV, 32 


451 Art zu Art. 
doh nit. Darum, je eher Du den Anfang madjlt, 
je befler ift es.“ 

„Sb geb nidt unter Euch,“ wiederholte 
Martin verftodt. „Laßt mich nur arbeiten, weiter 
verlange ich nichts vom Leben.” — 

Sie gingen auseinander, aber es war merl: 
würdig, wie Fortunat von dem Sinnen über den 
Charakter jenes Mannes feftgehalten wurde, den er 
„Freund“ nannte, und den er jo wenig Eannte, jo 
gar nit zu beurteilen vermochte. Bei aller Un: 
bildung blieb er ihm ein Buch mit fieben Siegeln, 
und er ahnte nur, daß Riffe, Tiefen und Untiefen 
dahinter verborgen fein könnten, die dem fühnen 
Entdeder mande Überrafhung bereiten würden. 
Sollte er es werden? ine Neugier begann fidy in 
ihm zu regen, der er gar nicht Herr zu werden ver: 
mochte, die ihn in tiefes Grübeln verftridte. Wer 
würde biefen Charalter ergründen, barmonijcher 
geftalten? Ein Freund oder ein Weib! Er wußte 
es nicht. — 


Viertes Kapitel. 


Ein feiner Regen hing wie ein Schleier in der 
Luft und hüllte in einen zitternden Nebel die Gegend, 
durch die Martin Heelen feinem SHeimatsdorf zu: 
Schritt. Aber fein Falfenblid drang über die be: 
waldeten Höhen hinaus, zu den Kuppen der Berge 
hinauf, und was er nicht mit feinen leiblichen Augen 
eben konnte, das jah er ebenjo jcharf und deutlich 
mit feinen geiftigen. 

Wie lange war es jchon her, daß er dies alles 
verlaffen und in die Fremde gegangen war, dem 
halb unbewußten Drange in jeiner Bruft folgend, 
der mädjtiger war als alles andere. 

Neun Zahre! — Eine lange Zeit der nimmer 
taftenden Arbeit, des erbittertften Kampfes um des 
Lebens Nahrung und Notdurft, des zäheiten Be: 
Darrens auf dem, was nun einmal jein Leben aus: 
madte. Neun Jahre — in denen er eine andere 
Armut Tennen gelernt hatte als bier in diefem Dorf, 
und von benen er boch feine Stunde hätte mifjen 
mögen. 

Wie fremd ihn alles anmutete, und doch wieder 
wie vertraut, je mehr er heimmwärts fam! Die 
dunklen Tannenmwalbungen, die jegt unter dem feinen 
Stegenflor einen filbernen Schimmer annahmen, die 
Matten mit dem eriten faftgrünen Frühlingsichimmer, 
die einzelnen Gehöfte und ab und zu ein Kirchturm 
oder ein Kapellden, die da und bort aufragten. 
Martin Heelen blieb ftehen und jahb fih um; er 
jog die reine frilche Lenzluft in Träftigen Zügen ein, 
während er fi die Näfle aus dem Geficht wilchte, 
aber das alles war ihm dody nur wie ein Wandel: 
bild, das nichts mehr mit feiner Seele verknüpfte. 

An diefem Abhang da hatte er feine Schafe 
und Ziegen gehütet, die der Reichtum des gejamten 
Dorfes waren; Stöde in die Ameijenhaufen geftedt und 
dem wilden Treiben der aufgeicheudhten leinen Be: 
wohner zugejehen. Wie deutlich er fich daran erinnerte! 


Roman von H. Schobert. 





452 





Dbhne die Augen zu jchließen, jah er heute noch jedes 
einzelne Tieren vor fih — mie fie durcheinander: 
liefen; er hätte es Sofort zeichnen Fünnen. Und 
dann fiel ihm ein, wie FMläglich fein erfter dar: 
ftelender VBerfuch, der Kampf zwilhen zwei Schäfer: 
bunden, gefcheitert war, und mie er fich den Kopf 
zergrübelt hatte, was anders jein müßte. Denn 
ohne zu verftehen, hatte er doch Fritiiche Augen. 

Er war ruhig weitergegangen in feinen Ge- 
danlen. Immer mit denfelben gleihmäßigen, lang 
ausholenden Schritten. Der enge Rod, der bis an 
die Knie ging, fchlug, feucht wie er war, in Hatjchenden 
Falten um feine Beine, von bem alten Hut troff 
es feucht, und in hellen Berlen hing der Negen ihm 
in Haar und Bart. So trat er bei jeiner Mutter ein. 

„Srüß Gott, Mutter,” fagte er in dem gleid)- 
mäßigen Tonfal, ale läme er eben von einem 
Spaziergang heim. 

Die Frau am Herde drehte ih um, aud ohne 
fonderlihe UÜberrafhung zu verraten, warf einen 
etwas jcheuen Blid auf den Sohn, wilchte ihre Hände 
an der Schürze ab und reichte fie ihm dann. 

„Der Martin! Grüß Gott, das ift jhön, daß 
Du kommſt.“ 

Er ſah ſich ſuchend um. „Wo iſt denn Vater? 
A zwei Stunden, dent’ ich), dauert es bis zur 

eich'.“ 

Sie ſtieß ſchweigend die Thür zum Nebenraum 
auf, in dem der fichtene Sarg ſtand, mit ein paar 
Tannenzweigen bedeckt und zwei dünnen Lichten am 
Kopfende, die ängſtlich hin und her flackerten. Das 
kleine, zuſammengeſchrumpfte Geſicht des alten 
Häuslers bekam in dieſer Beleuchtung etwas Höhniſches, 
als mache er ſich luſtig über die eben verlaſſene Welt. 

Die alte Frau nahm den kleinen Finger und 
wiſchte ſich ein weniges in den Augenwinkeln herum, 
ihre groblnocdige, derbe Geftalt, das harte Geſicht 
mit dem jcharfen Zug um den Mund ftempelte fie 
lonft nicht zu einer Xeidtragenden. Und der Sohn ftand 
neben ihr und jah vom Vater auf die Mutter und 
wieder zurüd zum Vater. Er wunderte fi, wie wenig 
berührt er fid von dem Scidjal derer fühlte, die ihm 
doch die nächften auf der Welt waren. Woher fam das? 
Hatte die Fremde alles in ihm aufgelogen, was vun 
Heimatsgefühl je in ihm gewejen? Xitt feine Kunft 
feine Nebenbubler und wären es glei Vater und 
Mutter? Fremd fühlte er fih auf einmal, und 
ein Froftgefühl lief ihm auch äußerlih den Rüden 
herab. 

„Sa, ja,” fagte die Alte endlich, „der hat nun 
ausgearbeitet! Die Ruh’ tft ihm zu gönnen. Aber 
freuen thät’ es ihn do, daß Du gekommen bift, 
Martin, wenn er es willen könnte, daß Du ihm die 
legte Ehr’ geben will.” 

„Warum fchriebt hr mir nidt, Mutter, daß 
Bater frank war?” 

„Sedaht hatten wir ed wohl mal, aber Du 
Eonnteft ihm ja do nicht helfen. Sterben müflen 
wir ja alle.” 

Der Sohn antwortete nit. Jmmer intenfiver 
fah er dem Toten in das Gefiht. Es mußte doch endlich 
etwas wie NRührung über ihn kommen, e8 war ju 








453 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


454 








doch fein Vater, der da lag. Ihn durchzuckte plötzlich, 
ohne jeinen Willen, die Erinnerung an Fortunat. 
Db der wohl geweint hatte ala man jeinen Vater 
begrub? Siderlid. Er war Jo ein feines Bürfchchen, 
hatte Gefühle und Empfindungen, die Martin gar 
nicht begriff. — 

„Martin,“ fagte die Mutter, ihm näbertretend, 
in vertraufihem Flüftern. „Halt Du Geld mit: 
gebraht? Bei einer ordentliden Leich' giebt es 
Kaffee und Kuchen, aber das Geld ift al, und der 
Kaffee auch. ch thät’ Deinem Bater doch gern bie 
legte Ehre an.” 

Er nidte flumm und bolte fein fchmales 
Beutelden hervor. Den Gebrauh FTannte er ja, 
und den Ehrgeiz der Mutter verfland er auch. Viel 
war e8 nicht, was darin war, und er hatte davon 
leben wollen bis zur Ablieferung feiner nädhiten 
Schnikerei, aber in den Augen der Alten, die immer 
nur gewohnt war mit Pfennigen zu rechnen, be: 
deutete e8 eine Summe; ihre Augen glänzten. 

„Das langt au zu Kuchen,“ fagte fie ftolz, „und 
es bleibt noch etwas über.” 

„Behaltet das, Mutter.” 

Sie nidte und jchüttete die Münzen in Die 
bohle Hand. Als fie fie betrachtete, lag etwas 
Bieriges in den eingelunfenen Augen, dann ging 
fie ihren Borbereitungen nad, mit Stolz im Herzen, 
nun niemand nadhftehen zu brauchen. 

Martin fam aus der Kammer zurüd, feste fich 
an den Tiih in dem Raum, der zugleich Zimmer 
und Küche war, und flüste den Kopf in die Hand. 
Es war eine bide, jhwere, mit allerlei Gerüchen 
durchtränfte Quft in dem Zimmer, die von ftets ge: 
Ihloffenen Fenjtern Iprah. Die Zuft feiner Kind: 
beit, jeiner Jugend. Er fog fie ohne Widerwillen 
ein, fie berührte ihn jogar heimatlich. 

Seine Mutter fam hinein und FHleidete fih für 
das Begräbnis an. Mit ihrer weiten chwarzen 
Schürze, dem weißen, jpigengefäumten ZTajchentud 
fam fie fich jehr ftattlid vor. Und dann famen die 
Nachbarn und Bekannten, die allmählich die niedere 
Stube füllten! Martin jah fie, einen nad) dem andern, 
bie er no aus feiner Kindheit fannte, und fie 
reichten ihm mit ihren ftunpfen, gleichgültigen Ge: 
fihtern, die der Feier angemefjen waren, die [chwieligen 
Hände, ohne ein Wort zu jpreden. Auch Frauen 
waren da und Mädchen, die er als Kinder gelannt, 
die fich jet beimlih in die Seite fließen und ihn 
anjahen wie ein Wundertier. — 

An langem Zuge Ichritten fie nun dahin, über 
die aufgeweichte Dorfitraße nad dem Eleinen, fall 
eine Viertelftunde entfernten Friedhof hinaus. Sr 
gleihmäßig grauen Echleiern riejelte der Regen nod) 
immer berab, nur manchmal trommelten ein paar 
Ihmwere Tropfen vernehmlich, mit hohlem Klang auf den 
tannenen Sarg, der zwijchen feinen Trägern Ihmwantte. 
Keiner |prad) ein Wort, Tein Flüftern oder Schluchzen 
war hörbar, nur das taltmäßige Patjhen der großen 
Füße auf dem naflen, grundlojen Boden der Straße. 

Dann ftanden fie um das offene Grab, in dem 
langfam der Sarg verfjhwand, und nun begann 
Frau Heelen zu fchlucdhzen, im Verein mit den 


andern Weibern. Db fie viel mehr fühlte als jene, 
oder ob bie Rinde, die lägliche Sorge und Kümmer: 
nis um ihr Herz gelegt hatte, jo hart war, daß fich 
fein warmes Gefühl jo recht durchdringen konnte? 
Sedenfalls brachte die Sitte dieje Thränen mit fidh, 
aber vielleicht lebte doch in ihr noch etwas Wärmeres, 
das gebieteriich fein Recht verlangte; fie vergaß das 
weiße Talchentuh und fuhr fi mit dem Zipfel ber 
ſchwarzen KRamelottihürze über Auge und Naje, als 
bätte fie ihr gemwöhnliches Werktagszeug an. 

Dann faßen fie wieder allefamt in der Stube, 
in der eine Verwandte inzwilchen hantiert und alles 
feierlid angerichtet hatte. Den Kaffee und Kuchen 
für die Frauen, Bier und Schnaps für die Männer. 
Es ging heut eben hoch her bei der Witwe Heelen. 
Sie jaß auf dem Ehrenplat und überfah mit ftolzem 
Bid ihre Säle. Daß fie einen fo opulenten 
Leihenihmaus geben Tonnte, erfüllte fie mit ge- 
rehtem Stolz. Ihren Mann im Grabe mußte das 
nod) mitfreuen. Sie jahb von einem zum andern 
und bemerkte, daß fih alle Augen auf ihren Martin 
richteten, zu dem eben der Schneiber jprad: 

„Das ift reht, daß Du herfommen bift — ehre 
Dater und Mutter heißt es jchon in der Bibel — 
Dein Alter war ein braver Mann, der es wohl um 
Dich verdient hat — wenn ihm auch die Zeit zu 
lang geworden ift, bis daß Du was Drbdentliches ge: 
worden bift und er drüber weggeflorben ift. Gelt, 
Martin — die Kunft, an die Du Dich gehängt haft, 
ift Doch eine magere Kuh, Icheint mir,“ und er iniff ein 
Auge dabei zu und Jchmunzelte pfilfig, denn er war 
der Spaßmader des Dorfes. 

Heelen zudie die Achleln. „Davon veriteht Yhr 
nichts, Meifter Leitner.” 

„Sol da was dran zu verftehen jein? Stramm 
von Natur bift Du ja, aber der Rod fommt mir jo 
befannt vor, und das Halstuh aud. — Sa, lieben 
Leut, die befte Sad’ auf Erden jcheint mir doch das 
liebe Geld, und das bat unjer Martin noch nicht 
erwiſcht.“ 

Er goß einen Schnaps hinunter und wiſchte ſich 
den Mund mit dem Handrücken ab, ehe er fortfuhr: 
„Obgleich ich zugeben muß, daß er ſeinen Vater 
wenigſtens ordentlich unter die Erde bringen läßt — 
ja, was recht iſt, muß recht bleiben.“ 

Ein anderer packte ihn freundſchaftlich bei der 
Schulter. „Sag, Martin, iſt es nun drinnen in der 
Stadt ſo viel ſchöner als bei uns? Ochſenknecht ſein 
iſt auch ein Pläſir, wenn man's nur dafür 'anſieht.“ 

Martin Heeken fuhr ſich mit den Händen durchs 
Haar und warf den Kopf in den Nacken. Es war 
eine eigentümlich ruckende Bewegung, über die man 
ihn auf der Akademie viel verſpottet hatte. „Ich 
ſchänd' keinem ſeinen Beruf, aber ich laß mir meinen 
auch nicht ſchänden, von niemand, hört Ihr? Meine 
Kunſt, die könnt Ihr freilich nicht begreifen, und 
Wohlleben hat ſie mir auch noch nicht gebracht, aber 
danach frag' ich ja nicht. Arbeiten will ich, ſchaffen, 
was ich ſehe und empfinde, das iſt Glück genug für 
mich. Und was ich mache, gefällt auch den andern, 
mein Profeſſor läßt meine letzte Arbeit ſelbſt auf die 
Kunſtausſtellung holen, das heißt alſo: daß er ſie 





⏑ — — 


455 Art zu Art. 
jedem zeigen und jagen will: Seht, das ift gut, das 
bat der Martin Heelen gemadt.” 

Sie fahen alle auf ihn mit gemilchtem Gelichte- 
ausdrud. Wie Hatten fie das, was er ihnen er: 
zählte, aufzufaflen? Dazu hatte der Schnaps die Ge: 
müter etwas aufgerüttelt. Die feuchten, am Xeibe 
trodnenden Kleider hatten die Luft mit atemraubenden 
Gerühen durchlegt, fie jchwer und feucht gemadit. 

„Ale Achtung!” jagte der Schneider kopfnidend 
und jah fih dann in der Runde um, als wollte er 
fagen: PBaßt auf, mas jest fommt! — „Aber giebt 
Dir denn nun diefer Ruhm und dieje Ehre etwas zu 
efen? Du Haft eine alte Mutter, der’s Ausruhn 
wohlthut, und müßteft eigentlid) darauf jeßt finnen, 
mein Buberl.” 

Trau Heelen nidte fill mit dem Kopf, und 
wieder jprang Martin dasjelbe entgegen wie damals 
Ihon, in feinen Sugendjahren — nicht allein Fein 
Verfländnis, nein, inftinttiver Haß gegen das, was 
ihm der Güter höchftes Ichien, gegen feine Kunft. 

„Daran Tann ich noch nicht denten — jebt noch 
nicht — Später wird’s einmal anders werden,” gab 
Martin kurz zurüd und fland auf. 

„Sa, ftehft Du — Ipäter — Ipäter — jo heißt’s 
immer, wenn die Sady’ niit viel nuß ift,” oralelte 
der Flügfte Dann des Dorfes. „Da wäre es doc 
nun viel befler, wenn Du jet berlommen thäteft, 
bliebft in den Häufel bier, hilfft Deiner Mutter die 
Arbeit thbun, und wenn Du fonft noch was magit, 
da in Sirchenlaibad) möchten fie nern eine neue 
Mutter Gottes, und drüben in ZTirichenreuth einen 
gefreuzigten Heiland, das Fönnteft Du jchniteln in 
Deinen Feierflunden, und es gäbe einen hübjchen 
Haufen Geld dafür, damit Du doch auch zeigen Fanntt, 
was Du in der Stadt gelernt haft, und dann nähmeft 
Du Dir ein Weib . . .” 


Die Mädchen in ihrer Ede Ficherten leije auf 
bei den Worten, aber Heelen warf ihnen keinen Blid 
zu, er hatte die Unterlippe zwijchen die Zähne gepreßt 
und fah zornig aus. 

„Laßt nur jeden auf jeine Art felig werden, Herr 
Leitner,” jagte er kurz und drehte fih um, indem er 
ans Feniter trat und fo ber ganzen Stube den Rüden 
tehrte. Es lag etwas fchroff Abweilendes in biejer 
Bewegung, ein Sicdijolieren, daß jelbfi die bid- 
Ihädeligen Naturmeniden das empfanden und 
empfindlich wurden. 


„So je, fiehft Du aus dem Loch?” meinte der 
Schneider mit einem langen Pfiff. „Na, nichts für 
ungut, gnädiger Herr! Die Stadtluft fcheint Euch) 
ja mädtig Courage gemacht zu haben. — Wenn id 
was geblafen habe, was mich nicht brennt, fo that 
ich es für die Frau Nachbarin. So ein altes, ein: 
ſchichtiges Weibsbild kann einen ja dauern, zumal 
fie einen Sohn draußen rumlaufen hat in der Welt. 
Aber es fol das lekte Wort gewejen fein, das ich 
geredet habe. Wir dummes Bauernvolf verftehen ja 
nichts davon.” Der alte Mann war empfindlich, man 
ah e8 an der Art, wie er fein Tafchentud) heraus: 
holte und es brauchte. 

Frau Heelen milchte wieder ein weniges mit ben 


Roman von H. Schobert. 


456 


en in den Augenminleln herum, aber fie jagte 
nichts. 

Martin trat an den Tiſch zurück und ſetzte ſich 
auf ſeinen verlaſſenen Platz. „Daß mich keines von 
Euch verſteht, das weiß ich gut genug,“ ſagte er ruhig. 
„Was ich thue, muß ich eben thun, es iſt mir ſo 
notwendig zum Leben wie die Luft und das Licht, 
ich kann einfach nicht anders. Warum ich ſo geworden 
bin, danach müßt Ihr einen anderen fragen als mich. 
Aber wenn ich hier einen vollen Tiſch fände, alles, 
was mein Herz begehrt, und ich müßte thun wie Ihr 
wollt, bei meiner Kunſt aber hungern und frieren, 
und alles drangeben, was das Leben ſchön macht, 
glaubt Ihr, ich würde mich beſinnen? — Auch nur 
einen Augenblick? — Ihr könnt mich ja für närriſch 
halten, aber ändern werdet Ihr mich nicht.“ 

Sie ſchüttelten die Köpfe, aber es lag ſo etwas 
Zwingendes in den ruhigen Worten des jungen 
Mannes, aus ſeinen Augen leuchtete ihnen ſo etwas 
Unbekanntes entgegen, daß ſie ſchwiegen. Imponierte 
er Fortunat durch die Kraft ſeines Genies und ſeines 
Willens, hier unter dieſen Leuten war es der Geiſt, 
der aus der Materie ſtrahlte und ſie ſich dienſtbar 
gemacht hatte. 

„Ja, die Stadt,“ ſagte der alte Leitner nach einer 
Pauſe, die er damit ausgefüllt hatte, ein paar Gläſer 
Branntwein bedächtig hinunterzutrinken. „Meine Ev' 
darf ſie mir nicht verändern, da halt ich ſchönſtens 
Wache. Und ſie iſt auch noch dieſelbige geblieben, 
ganz dieſelbige.“ 

Er ſah auffordernd im Kreiſe herum, ſie nickten 
ihm alle beſtätigend zu. 

„Die Ev'?“ fragte Martin, und zum erſten Mal 
glitt ſein Auge prüfend über den Winkel, in dem die 
Weiber und Mädchen zuſammenhockten. „Was thut 
die in der Stadt, Meiſter Leitner?“ 

„Sie iſt in Dienſt bei einer nobligen Herrſchaft, 
und im Sommer hat ſie uns beſucht. Ein ſtrammes 
Mädel iſt's geworden, mit roten Backen und runden 
Armen, daß es nur ſo ein Freud' iſt.“ 

„Die Ev’ ift meine befte Gelpielin gemwejen,” 
lagte Martin und etwas wie verkflärende Erinnerung 
huſchte über fein Geliht. „Solltet fie von mir 
grüßen, Bater Leitner.” 

Der Schneider griff über den Tifh und langte 
nah dem Rodfragen Martins, den er jchüttelte, fein 
Geſicht ſtrahlte. 

„He, Du, geprügelt haſt Du ſie meiſt braun und 
blau und an den Haaren gerauft, das iſt mir eine 
ſaubre Freundſchaft geweſen. Aber ausrichten will 
ich's doch. Ja, die Ev' iſt jetzt eine Feine, Statt— 
liche, da wirſt Du ſchauen, wenn Du ſie einmal ſiehſt.“ 

„Gebt mir ihre Adreſſe in der Stadt, Vater 
Leitner, ich kann ſie aufſuchen und ihr Grüße von 
Euch bringen.“ 

„Nichts da, mein Lieber.“ Der alte Mann machte 
eine wagerechte Handbewegung, als ſchöbe er damit 
eine Sache beiſeite. „Jung und jung taugt nicht zu— 
ſammen, weil es eben gerade füreinander geſchaffen 
iſt. Und Du haſt ja auch Deine Kunſt, Deine einzige 
Geliebte, was ſoll da die Ev' zwiſchen . .. Und dann 
kommt ſie wohl noch gar in liederliche Geſellſchaft ...“ 





457 


Martin ladte laut auf. „Mich um Weibsbilder 
zu fümmern, babe ich immer noch nicht gelernt, Vater 
Reitner. Vielleicht, daß ich mal mit herangegangen 
wäre, wenn ich in die Nähe fam, vielleicht auch nicht, 
meine Zeit iſt fnapp, und die Kunft wirklich meine 
einzig Geliebte. Wenn hr mir die Evo’ grüßt, wenn 
hr fie wiederjeht, To ift das auch gerad’ genug, damit 
fie fieht, ihr alter Spiellamrad denkt noch an fie.” 

Der Leitner fchmunzelte und jchüttelte den Kopf, 
was ungefähr fo viel heißen follte als: er hat fie eben 
nicht gefehen, das Teufelsmädel. — 

Die Bäfte des Leichenfchmaufes hatten fich entfernt, 
Frau Heelen hantierte unter dem unaufgewajchenen 
Gelhirr mit geihürzten Rod umher, Martin ward 
es almähli, ale müfle er erftiden. Auch das Zu: 
faımnmenfein mit der Mutter drüdte ihn. Sie fragte nad) 
nichts und wollte von nichts wijen. Wenn er fi 
auch fagte, daß es zumeift Unkenntnis ihrerjeits 
war, was fie jchweigen ließ, fo fühlte er doch aud) 
einen gewillen verftedten Groll heraus. Das Projekt, 
das der Schneider berührt hatte, war vielleicht nicht 
nur fo von ungefähr erwähnt, fie hatte fich damit 
Mil boffend getragen, e8 nur der Zunge eines dritten 
überlaflen, daß er e8 berühre. 
fur; und bündig gemweien, jeden Gedanken im Keim 
erftidend. Aber fonnte er denn anders? Und wenn 
man ihm goldene Berge geboten hätte, nichts würde 
ihn gehalten haben. Witende Sehnjuht nach jeinem 
fahlen, einfamen Atelier befiel ihn auf einmal, nad) 
der Gruppe, die dort ftand, ein Teil feines Selbft 
verlörpernd. 

Troß des Vegens ging er hinaus ins yreie, 
wanderte die Dorfitraße hinab, die Hände in den 
Talhen, das Haupt unbededt. Nein! Hierher ge: 
hörte er nicht mehr. — Wie ihm alles jo Elein vor: 
fam und jo fremd, jo fremd, daß er fih immer 
heftiger in fein Atelier zurüdjehnte. Dort war jeine 
Heimat, dort allein. 

Als er zurüdtem, dunfelte e8 bereits, und Die 
alte Frau jaß einfam an Tiih, die zujammengelegten 
Hände im Schoß. Etwas wie Rührung beſchlich 
ihn doch, als er fie jo fa. 

„Mutter,“ fagte er, fih auf den Til räfelnd 
wie in feinen Kindertagen, „tragt e8 mir nicht nad), 
daß ih Euch allein lajlen muß. Shr habt hier 
Freunde und Befannte genug, die Euch nicht ver: 
lafjen werben, bis...“ Er hielt zögernd inne. „a, 
einmal muß es doch fommen,”“ unterbrad er fi 
zuverfihtlih. „Einmal fommt e8 gewiß, und dann 
jolt hr keine Not mehr leiden, habt nur Geduld.” 

Sie jah trübfelig zu ihm auf. „Wenn’s gewiß 
wäre, Martin!” 

„Es tft gewiß, es ift ganz gewiß, Mutter!” Er 
wußte nicht, woher ihm plößlich die Überzeugung fam, 
hatte Fortunat ihm diefe Siegeshoffnung eingeflößt? 
Aber mit abjoluter Beftinimtheit wußte er, e8 würde 
jo werden. 

„Wenn Du mir nur etwas geben Fönnteft,”“ be- 
gann die Alte wieder, „nur ein paar Mark, damit 
ih den Kaufmann zahlen könnt’, weißt, Dein Bater 
hat viel gebraudt in der Ietten Zeit, und ich bin 
auch ein altes Weib, der’s Arbeiten nicht mehr jo flint 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


Seine Antwort war 


458 


geht.” Sie blickte ihn ungewiß an, der Sohn ftand 
ihr eben}o fern wie fie ihm. 

„Was ich Tann, werde ich tun, Mutter, die 
nächlte Zeit wird es gut gehen, ich habe feine Arbeit 
vor und kann fleißig jhnigen, dann freilih ... na, 
das liegt noch weit.” 

Er feufzte beimlid. Sn Diejer Zeit Hatte er 
fleißig ftudieren und modellieren wollen, fich weiter: 
bilden, aber er jah ein, daß jeine Pflicht auf jeiten 
der Mutter lag und gab es ohne Groll auf. Wenn 
er fleißig war, fonnte er ein gutes Stüd Geld ver: 
dienen. 

„St es ganz fiher, Martin — das mit dem 
Geld?” Shre Kleinen, eingefuntenen Augen [dimmerten 
ordentlih troß der Dunfelheit, die Verheißung bes 
Sohnes hatte all ihren Schmerz weggewildht. Geld! 
Das war, Solange fie denken konnte, der Seufzer 
ihrer Tage und Nächte geweien, um Gelb war fie 
imftande, vieles zu erdulden. 

„Sanz fiher, Mutter.” 

Mit derjelben Beftimmtheit hatte er eben auch 
von jeinem kommenden Glüd geiproden, ohne in 
diefem Augenblid daran zu denfen. Aud fie dachte 
nit mehr daran. Was er ihr damit veriprad), war 
etwas Unbelanntes, nicht zu Meflendes, aber das 
Geld, das er ihr Ihhiden wollte, das gehörte zu dent 
Greifbaren, Verftänblichen. 

Auf der fchmalen Dfenbant, mit ein paar Betl- 
ftüden aus der Zade des Vaters, bradte er dann die 
Naht zu, im tiefen, traumlofen Schlaf der Jugend, 
und doch atmete er auf, als er das Dorf im Rüden 
hatte und in den fühlen, morgenblihen Frühnebel 
binausging, feinem Streben und Schaffen entgegen, 
feiner Welt, die er fi geihhaffen mit der ganzen 
Kraft, der ein Menjch fähig ift. 


Fünftes Kapitel. 


Miß Maud Winter war feit adht Tagen im 
Haufe des Profeffor Duenjel. Daß fie inzwifchen mit 
den Bewohnern desjelben auf einen fehr vertraulichen 
Fuß gelommen mar, konnte niemand behaupten. Es 
lag Ihon nicht in ihrer ganzen Art und Weile, fich die 
Leute allzu nahe fommen zu laffen, und auch Quzie 
hatte eine gemwiffe Unliebenswürdigfeit von Anfang 
an gegen fie herausgelehrt, jeitbem fie gejehen, daß 
die junge Amerilanerin fie in al und jedem um ein 
Bebeutendes überragte. Maud war groß und fchlant, 
faft etwas zu jchlank, aber gerade das gab ihr eine 
unvergleichlich vornehme Eleganz. Auch Luzie hatte 
eine elegante Figur und war bisher fehr ftolz darauf 
neweien, wie fam es nun, daß fie neben Maud troß: 
dem nicht recht auffam? 

„Ihre Toiletten machen eg — einzig und allein 
ihre Toiletten! Das Ausländiihe, das ihr anbaftet 
und in das hr natürlich alle vergafft jeid,” behauptete 
fie zornwütig gegen ihren Bruder. „Sch natürlich, 
ich lafle mir davon nicht imponieren.” 

„Weiß nicht, ob es nur das ift, Zuzie.” Emil, 
den man nur raudend jah, paffte feiner Schwelter 





459 


eine ganze Wolfe in das Gelicht, ohne fich deshalb 
zu entihuldigen. „Sie hat eine forfchere Haltung als 
Du, glaube ih, überhaupt etwas in ihrem Wefen, 
das diftinguierter wirkt als Dein ewiges PBlappermaul. 
Ale Deine Anbeter werden mit fliegenden Fahnen 
zu ihr übergehen, dente ich.” 

„Wenn fie Deinen Ichledten Geihmad haben.” 
Zuzie drehte ihrem Bruder zornig den Rüden, aber 
jelbft wenn er fie mit folhen Äußerungen nur foppen 
wollte, ihre Rüdwirkung auf das Zujammenleben der 
beiden Mädchen ließ fich nicht Teugnen. 

Maud Ichien von den gelegentlichen Lleinen 
Simpertinenzen ihrer Altersgenojfin wenig zu merfen. 
Sie hatte einen großen Kummer in fih zu ver: 
winden, der fie mehr mitnahm, als fie es zeigen 
mochte, Alleinftehbend in der Welt, mit einem regen 
Sinn für alles Schöne und Künftlerifche, batte fie 
ihr ganzes Herz an den Gedanken gehängt, dereinft 
jelbft eine große Künftlerin zu werden, damit ihrem 
Leben Anhalt zu geben. 

Gefällige Lehrer hatten fie in diefer Hoffnung 
unterftüßt, und da fie ein großes Vermögen bejaß, 
völlig unabhängig war, jo war fie in bieje Kunft: 
ftadt gefommen mit der feiten Abficht, alles an bie 
Erreihung diejer großen Aufgabe zu jegen. 

Als Profeſſor Duenjel ihre Malereien, die fie 
ihm zur Begutaddtung vorlegte, zum eriten Mal jah, 
batte fich feiner eine große Verlegenheit bemädhtigt. 
Er bemerkte jehr wohl die minutiöfe Sauberkeit der 
Arbeit, die überall peinlich gewahrte Technik, aber 
von einer noch jo Kleinen individuellen Begabung 
jah er nichts. Das war alles ein wohleinftudiertes 
Können, aber auch nichts mehr. 

Und Maud faß neben ihm und wartete auf 
feinen Urteilsiprud. AZuerft mit Sicherheit, dann 
almählid aufmerffam werdend, unruhig, zuleßt 
mit einem peinigenden Gefühl der Scham. 

Die Viertelftunde, die fie neben diefen prüfen: 
den Haren Augen zubradte, war mit unter die 
Ihwerften zu rechnen, die ihr das Leben bisher be- 
Ihieden. Sie nahm ihr die Hoffnung, jemals etwas 
zu werden, zu bedeuten, den Sinhalt, den fie ihrem 
Dafein geben wollte — zerbradh ihre Zuverficht, ihren 
Glauben an fich jelbit, und wijchte aus ihrer Zukunft 
alles Licht und alle Helle, indem fie fie herabdrücdte 
in die gemeine Alltäglichkeit. 

PBrofeflor Duenfel hatte fehr ſchonend geſprochen, 
doh mit al der Deutlichkeit, die er dem jungen 
Mädchen Ihuldig zu fein glaubte. Er fahb wohl 
ihr Bittern und Erblaffen, aber was er ihr mit 
feinen Worten angetban, davon hatte er doch Feine 
Ahnung. Freilid würde ihn das nicht verhindert 
BR wahr zu jein, fobald man die Wahrheit hören 
wollte. 

Und dann halte er fie getröftet, daß es doch 
immer jehr etwas Hübjches jei, das eigene Heim 
mit derartiger Handfertigkeit zu Ihmüden, und daß 
fie ja nicht aufhören fjolle mit dem Malen, wenn 
e8 ihr nur Vergnügen made, und fie den Ge: 
danken aufgebe, eine große Künftlerin zu werden. 

Das hatte ihr den Neft gegeben. 
der Stimme, indem fie ihm eine lleine, Talte Hand 


Art zu Art. 


Mit zittern: 


Sa et ah ee ar ze en ee ee ——— ——— 
Roman von H. Schobert. 


460 


reichte, dankte ſie für ſeine ehrliche Offenheit. „Aber 
malen werde ich niemals mehr — nie,“ ſetzte ſie 
energiſch hinzu. 

„Ach, mein liebes, gutes Fräulein, nur nicht 
immer das Kind mit dem Bade ausſchütten, nur 
Kompromiſſe machen, Kompromiſſe.“ 

Sie ſchüttelte haſtig den Kopf. „Nein, Herr 
Profeſſor. Entweder — Oder! — Alles Halbe hat 
für mich keinen Reiz.“ 

Sie ging hinaus, und er war im ſtillen un— 
ruhig, ob er nicht doch zu hart geweſen wäre. Mein 
Himmel, ſie braucht es ja ſchließlich nicht ums Geld 
zu thun, wie viele Dilettanten giebt es, die ſelig 
und vergnügt ihr ganzes Leben lang bei ihren 
Stümpereien bleiben, ja ſogar davon verkaufen. — 
Warum war er gegen dieſes hübſche Mädchen denn 
ſo ſtrenge geweſen? Nun, ſie hatte einen Ernſt an 
den Tag gelegt, einen ſo zielbewußten Willen, auch 
das Unangenehme zu erfahren, daß er ſich dem un— 
willkürlich gebeugt hatte. Nicht als Dame wollte 
ſie von ihm beurteilt ſein, ſondern als ſtrebender 
Künſtler, und da war er ihr Wahrheit ſchuldig 
geworden. 

O, wenn doch Emil eine Ader von dem Ernſt 
dieſes Mädchens hätte! Bei dem war alles halb 
und haltlos; kein Fleiß, keine Thatkraft, immer nur 
ein fortgeſetztes Lotterleben bei großen Anſprüchen. 
Wie ſollte das enden! Und doch waren bei aller 
Klarheit die Augen des Vaters noch blind, wenn 
er ſeinen Sohn beurteilte. — 

Aber Mauds ftile Verzweiflung ging ihm doch 
nah, obgleich er fie nicht zu tröften wagte, fie jchien 
fein Verlangen danadh zu tragen. Wenn er gejehen 
hätte, wie fie noch in derjelben Stunde Pinfel, Palette 
und Farben in ein großes Paket jchnürte und es 
auf den Grund ihres Koffers verbarg, wie weiß und 
Ihmal dabei ihr zartes Geficht wurde und die gold: 
braunen Augen fi trübten, hätte er wohl noch viel 
mehr Neue empfunden. 

Aber nun war es einmal gejchehen,; und helben- 
mütig verbiß Maud den Schmerz über die zerftörte 
lufion, an die ihr Herz fih mit jeder Faler ge: 
bängt hatte. — — 

Ein mwundervoller Frühlingstag war es. Fall 
zu heiß Schon für die Frühe der Zeit. Man glaubte 
ordentlich unter der fchwülen, dunftigen Atmofphäre 
die Blätter wadhjen, die Blüten fid) runden zu jehen. 

Über der Veranda des Profeflor Duenjel hing 
noch die rot und weiß geftreifte Markife herab, ob: 
gleih die Sonne längit hinter der gegenüberjtehenden 
Häuferreihe verijhmunden war, und die Thüren und 
Senfter in dem Gartenzimmer ftanden offen, jo daß 
beides faft nur einen Raum bildete. 

Es war die Zeit des Nachmittagskaffees, aber 
der PBrofeflor hatte fi eines leichten Kopfwehs 
balber jchon zurüdgezogen, Zuzie empfing in ihrem 
Zimmer ihre Schneiderin zu lauger Beratung, an 
der fie grundjäglicd niemand teilnehmen ließ, jo lag 
nur nod Emil am Kaffeetiich, faul und phlegmatijch 
wie er war, im Schaufelftuhl, raudhend, aber die 
Zeitung, die er fich herübergelangt, zufammengefaltet 
im Schoß, zu bequem, fie zu öffnen. 





461 Art zu Art. 
FSortunat hatte ein Feines Figürchen vor, dus 
er mit gejhhidten Fingern aus Krume formte, und 
in dejjen Gelingen er jo vollftändig feine Aufmerkjam: 
teit jeßte, Daß es ihm ganz entging, wie Maub auf: 
ftand, auf die Veranda trat und fi in einen ber 
durcheinander gehobenen Korbfefjel jegte. In läſſiger 
Haltung, die Hände im Schoß, blidte fie träumerisch 
ind Blaue; mit ihrer lichten Eriheinung im hellen 
FSrübjahrskleid, dem feinen Kopfe mit dem dunflen, 
nad neufter Mode frifierten Haar, und dem Aus: 
drud der dunklen Augen, war fie felbft wie ein 
bübjches Genrebild anzufehen. 

Fortunat war fertig. Das Figürchen zwijchen 
zwei Fingern, ging er um den Tiih herum, eben: 
falls auf die Veranda, nicht ohne den hübjchen Ein: 
drud, den die Erjhheinung der Ameritanerin in biefem 
Augenblid bot, mit einer gewillen Genugthuung in 
fih aufzunehmen. Freilih nur mit dem regen Sinn, 
ben er für alles Schöne und Anmutige befaß; fein 
Herz ftand in bellen Flamnıen für fein neueftes 
Modell, und ließ keine andern Gefühle für irgend 
ein anderes Menfchenfind neben fih auffommen. 
So war er ein fehr ungefährlicher Bewunberer. 

„So in Gedanken, Miß Winter?” fragte er 
Iherzend, als er fih ungefragt neben ihr niederließ. 

Sie wandte ihm nur die dunklen Augen zu, 
ohne fih jonft zu regen. „Sch überlege eben, was 
ih thun fol,” antwortete fie. „Mit dem nächiten 
Dampfer wieder abreilen, oder den Sommer bier 
bleiben und Land und Leute etwas ftubieren.” 

Er war jo überrafht, daß er ganz vergaß, ihr 
jein Heines Machmert zu überreichen, wie er zuerft 
beabfichtigt hatte. 

„Abreilen? Aber ich bitte Sie — Sie wollten 
doch bier lernen, ftudieren ... Sind Frauen jo 
wandelbar in ihren Neigungen?” 

„Nein.“ Sie richtete fih etwas auf, ihre blafjen 
Wangen röteten fich ein wenig und ihre Bruft hob 
ih. „Nein, Tönnte ich das, würde ich nicht von 
abreifen jprehen. Aber der Profeflor hat mir den 
Mut genommen. Was ich Talent nannte, nannte 
er Fleiß, und mit Fleiß allein fann man nicht das 
erreihen, was ich wollte.” 

„Sind Sie fiher, daß Sie ihn nicht falfch ver: 
ftanden haben? Daß Sie feinem Urteil gegenüber 
nit unberedhtigt empfindlich gemwelen find? Sehen 
Sie, wir Schüler dürfen das nicht.” 

Sie lächelte melandoliih, legte die gefalteten 
Hände auf die Brüftung der Veranda und flüßte 
das Kinn darauf. So fah fie ihn nidt an als fie 
ihm antwortete. 

„Davon bin ich weit entfernt. Jh wollte ja 
arbeiten, fleißig jein mit allen meinen Kräften. 
Sch dürftete danad, mein LXeben zu beleben, indem 
ich es der Kunſt weihte. Ich bete die Kunft an. 
Sie erſcheint mir das einzige Große, Verſöhnende 
in unſerm kleinlichen, armſeligen Daſein, ihr wollte 
ich mich ganz weihen. Aber ſie iſt ſo ſpröde, ihr 
läßt ſich nichts abringen. Wahllos erteilt ſie ihren 
Gottesfunken, manchem, der gar nichts damit an— 
zufangen weiß, giebt ſie ihn, während ſie an anderen, 
die ſich danach ſehnen, achtlos vorübergeht. Von mir 


Roman von H. Schobert. 





462 


hat ſie nichts wiſſen wollen. Es hilft nun nichts, 
ich muß mich darin fügen.“ 

Fortunats warmes Herz war ſofort wieder wach 
und auf ſeiten der Klagenden. 

„Wollen Sie dem Profeſſor ganz allein ver— 
trauen? Vielleicht fragen Sie doch noch einen andern, 
eine Koryphäe im Malen.“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein. Wenn ich ehr—⸗ 
lich ſein ſoll, ich habe es geahnt all die Zeit hin— 
durch, wenn ich mich abmühte und plagte. Da war 
immer etwas in mir, das ſagte: Du biſt keine Aus— 
erwählte, laß ab! Aber wer hört denn bereitwillig 
auf ſolche Stimme, wenn es ſich um ſein ganzes — 
ganzes Glück handelt.“ 

„Wenn es Ihr Glück war,“ ſagte er, ganz ge— 
fangen genommen von ihrer weichen, ſanften Stimme, 
„dann thäten Sie unrecht, es aufzugeben. Freude 
und Befriedigung können Sie auch haben, ohne 
gerade eine große Künſtlerin zu ſein.“ 

Sie ſah ihm gerade in die Augen, es lag etwas 
ſehr Bewußtes und Freies in dem Blick. „Ich haſſe 
alles Halbe. Kein Nachtreten würde mir Befriedigung 
geben, nur freies Schaffen. Aber ich bin jo talent: 
lo8, in nidts babe ip es bis über die Anfangs: 
gründe gebradt, und dabei immer dielen heißen 
Wunih nah etwas Ganzem, Vollendetem in mir. 
Das ift hart.“ 

Sortunat hatte längit fein findiihes Püppchen 
beijeite geitellt und jah intereffiert in das feine, jeßt 
jo bewegte Gefidht. „Aljo auch wieder eine Darbende,” 
dachte er, „logar eine Frau,” und laut jagte er: „ch 
tenne jolde Stimmungen und Gefühle.” 

„Sie? Aber nein — Sie find ja ein Künftler. 
Der Profeffor jprach mit fo viel Anerkennung von 
Ihnen.“ 

„Bah,“ bemerkte er bitter. „Leichtes Genre! 
Vom Augenblick für den Augenblick geboren. Ein 
Künſtler von Gottes Gnaden, wie ich ihn auffaſſe, 
bin ich nicht. — Aber,“ fuhr er eilig fort, um keine 
Höflichkeit herauszuſordern, „wenn Sie auch den Plan 
des Studiums aufgeben, deshalb brauchen Sie doch 
nicht abzureiſen. Sie ſind ja kaum hier; und unſere 
Stadt iſt ſchön, die Umgegend noch viel ſchöner, und 
das rege Kunſtſtreben, das hier herrſcht, iſt ſchließ⸗ 
lich, da Sie Sinn dafür haben, Miß Winter, auch 
etwas wert. Noch kennen Sie ja nichts davon. Ich 
will Ihnen als Cicerone dienen und denke, Sie 
ſollen es nicht bereuen.“ 

Ihr Geſicht hatte ſich etwas erhellt. „Wenn 
Sie mir das verſprechen, Herr Fortunat, das nehme 
ich mit Dank an. Noch habe ich allerdings wenig 
hier geſehen — aber — es ſcheint mir, als wenn 
Fräulein Quenſel keine allzu große Zuneigung für 
mich hätte.“ 

Er lachte hell auf. „Ich will Ihnen keine 
Komplimente machen, Miß Winter, aber ſchließlich 
wäre es am Ende entſchuldbar. Und Fräulein Luzie 
iſt gewöhnt, jeder Laune nachzugeben. Kein Wunder, 
da ſie eigentlich nur unter Männern aufgewachſen 
iſt, die wenig Einfluß auf einen Mädchencharakter 
gehabt haben mögen. Sie iſt ſehr verzogen, ſehr 
eitel, etwas boshaft, aber ſonſt aufgeweckten Geiſtes 


463 Art zu Art 


464 


.. Roman von 9. Schobert. 


und immerhin ein gutes Mädchen, ich bin überzeugt, 


Sie werden jhließlich noch Jehr gut mit ihr fertig.“ 

„Wenn ich bierbleibe,” fagte Maud und lehnte 
fih jegt wieder in den Stuhl zurüd, „dann Hatte 
ih mir vorgenommen, da ich jelbft doch nun einmal 
hinter dem Zaun ftehen bleiben muß, mich wenigitens 
mittelbar doch zur Dienerin der Kunft zu machen. 
Ich weiß nicht, ob Shnen befannt ift, daß ich über 
genügende Mittel verfüge” — wie einfah und felbft: 
verjtändlich fie davon jprahd — „ih möchte nun mit 
einen: Teil derjelben jemand die Wege ebenen können, 
der alles das beligt, was mir abgeht, und dem das 
Schidjal wieder in unbegreiflicher Laune das verlagt 
bat, was ih befite. Sold einem hochbegabten 
Menfchen helfen, jein Talent fördern zu fönnen, das 
würde mich wieder etwas mit meinem Fiasfo ver: 
ſöhnen.“ 

„Vielleicht kenne ich einen ſolchen,“ ſagte er 
nachdenklich. Ganz unbewußt hatte er ſein Püppchen 
wieder aufgenommen und ſpielte damit, indem er 
überlegte, ob es einen Zweck habe, Heeken hier vor 
dieſer Dame zu nennen. 

„Nun?“ drängte ſie, da ſie ihm das Zögern 
anſah. 

„Ja, er nimmt nichts,“ ſagte er kläglich. „Nichts 
von mir, ſeinem Freunde, noch vom Profeſſor, er iſt 
ein komiſcher Kauz.“ 

„Alſo ein Mann!“ Sie war intereſſiert für 
ben Unbekannten durch die paar Worte. 

„Wenn Sie mich ehrlich fragen, muß ich ſagen, 
er iſt Proletarier durch und durch. Sein Rock hat 
Fräulein Luzie Lachkrämpfe verurſacht. Das war 
vor drei Jahren, und er trägt ihn immer noch.“ 

„Wir ſind nicht gewohnt, auf den Rock zu 
ſehen,“ unterbrach ſie ihn kurz. „Ich kenne Gentle— 
men ganz ohne Rock. Er iſt alſo ein Künſtler?“ 

„Von Gottes Gnaden.“ 

„Beritehen wir uns reht,” fagte Maud plöglich. 
„SH babe nicht die Abficht, irgend etwas anzulaufen, 
das ich vielleicht über den Wert bezahle, wodurch 
der junge Mann befonders gefördert wird, aber was 
nichts Wejentliches einträgt, denn jold Geld ift bald 
verjubelt, verichleudert und madt ihn nur für eine 
Meile untauglid und unluftig zur Arbeit. Nein, 
das will ich nicht. — ch will einen reich beanlagten 
Menidhen von der Sorge ums tägliche Brot auf 
Sahre hinaus befreien, ihm Zeit und Muße geben, 
fih nad) feiner Neigung auszubilden, und mich dann 
an jeinen Erfolgen mitfreuen Tönnen, die doch aud) 
zum Teil mein Werk find.” 

Sie blidte ihn aufmerfjam an — jein Gelicht 
jah etwas betreten aus. 

„Mein Freund, dem ih Hilfe wünjchte, it — 
wunderlid. Ich glaube, noch hat fein Weib feinen 
Lebensweg gefreuzt.” 

„Deito befler,” jagte fie ruhig. „Weshalb aber 
nennen Sie ihn hren Freund?” 

„Sr rettete mir das Leben, ohne mich zu fennen, 
aber ohne fih zu befinnen. Wir dürfen ihn über: 
baupt nit nad) unjerem Maß nieffen, Mi Winter, 
er ilt jo anders... .“ 

„Kann ih ihn nicht einmal fennen lernen? 


Führen Sie mid in jein Atelier. Als Shre Ver: 
wandte vielleicht, damit ich einer beileren Aufnahme 
fiher bin.” 

„Er duldet niemand um fih. Sch Habe mir 
den Eintritt bei ihm durch unfäglihe Ausdauer erft 
erzwingen müflfen, und — darf ihn mir nicht ver: 
herzen.“ 

Sie lächelte fein. „hr Freund beginnt mich 
zu interejfieren. Wie beikt er?” 

„Martin Heelen.” 

„Der Name ift mir ganz fremd.” 

„Das glaube ih wohl. Er wird erft befannt 
werben nad) bdiejer Ausftellung, in ber er zum eriten 
Mal mit einem größeren Werk vor die Offentlichkeit 
tritt. So großartig — jo gewaltig . . . Sch werde 
Sie hinführen, dann follen Sie mir fagen, ob ic 
Khnen zu viel veriprocdhen habe.” 

Sie blidte ihn jet nacdhdenklih an. Wie immer, 
wenn er Heelens LXoblied fang, war er heiß und 
erregt dabei geworden. 

„Entweder ift er oder — Sie ein jelten guter 
Menſch,“ Tagte fie endlich mit der fühlen Sadlidh: 
feit, die fie leicht annahm, wenn fie über irgend 
etwas urteilte. 

Fortunat machte ein betroffenes Gefiht. „D, 
das glaube ih weniger. Er — er hat mir nur 
den Eindrud gemacht, als zeichnete er ſich beſonders 
durch Gutherzigleit aus, und ih — ich bin wohl 
das, was man bier zu Lande eine ‚leichtfinnige 
Haut! nennt. Wie gefällt Ihnen das, Miß Winter?“ 

Er fah jo hübjch und fchalkhaft in dDiefem Augen- 
blid aus, daß fie ihn freundlich anlädhelte. „Recht 
gut. — Nach diefer Probe hier. Und ih wünjchte, 
Sie würden mein Freund, zu dem ich offen Iprechen 
dürfte wie zu einem Bruder. Sch habe nie einen 
Bruder gehabt und überjhäße das Glück deshalb 
vielleicht etwas. Aber das will nichts heißen, wollen 
Sie mein Freund Jein?” 

Sie reichte ihm die Ihmalen, jehr zarten Finger, 
und er drüdte fie herzhaft, dann plößlich beugte er 
ih darauf nieder und füßte fie warm. 

Sn Enils dämmernden Halbichlaf fiel Ddiejer 
Handfuß wie eine Bombe. Nicht etwa, daß er ihn 
gehört hätte, aber er Jah zwildhen dem jchmalen 
offenen Lidfpalt hindurch die etwas enthufiaftiiche Be- 
wegung, mit der Fortunat dieje ritterliche Huldigung 
anbradıte, und nun ftand er fofort auf den Füßen. 
Co tadellos er feine Arbeiten fand, fo jehr entzücdt 
war er auch von feinem äußern Menjchen, aber er 
betrachtete Maud als Mitglied des Haufes, jo quali 
ihm zugefallen, und fand joldhe Aufmerkjamfeit For: 
tunats einfach anmaßend. 

„Nun,” fagte er in feinem gewöhnlichen |pöttifchen 
Tonfall, als er, die Hände in den Talchen, zu den 
beiden auf die Veranda trat, „Du rafpelfi aber ge— 
börig Süßhol; bier. Wird das Miß Winter nicht 
langweilig?” 

„Wir haben uns nicht gelangweilt,” meinte 
Maud leichthin; aber auf ihrem Geliht ftand eine 
Wolfe. Sie fonnte Emil nicht leiden und brannte 
im ftilen darauf, etwas mehr von Heelen zu hören, 
den fie Schon als ihren Schügling betradhtete. 








465 Art zu Art. 
Aber wieder darauf das Geipräd zurüdzubringen, 
daran war fein Gedanke, denn nun fam auch Luzie 
und wurde mit ihrem Geihwäß, wenn fie einmal 
begann, überhaupt nicht fertig. 

„yortunat, Sie müßten mein neues Kleid fehen! 
Es iſt entzückend — himmliſch. Ych werde großartig 
darin ausſehen, denn es hebt alle meine Vorzüge 
ins hellſte Licht. Und, lieber, guter Fortunat, Sie 
helfen mir einen Hut ausſuchen, nicht wahr? Sie 
haben einen famoſen Geſchmack ...“ 

„Laß Lex in Frieden,“ brummte ihr Bruder, 
„der hat ganz etwas anderes im Kopf als Deine 
Toiletten.“ 

Sie ſah mit einem ſchnellen, ſcharfen Blick zu 
Maud hinüber. Welterfahren wie ſie trotz ihrer 
Jugend war, beſaß ſie auch ein ſtets reges Miß— 
trauen, aber das ruhige Geſicht der jungen Amerikanerin 
gab ihr keinen Anhalt, auch Emil nicht, der ebenſo 
phlegmatiſch dreinſchaute wie ſonſt. Nur Fortunat 
ſchien etwas erregt, trotzdem er ſich ſofort mit der 
Verſicherung beeilte, ſtets zu ihren Dienſten zu ſein. — 

An demjelben Abend no, als alles zur Nude 
gegangen war, Flopfte Zuzie an die Thüre ihres 
Bruders. Da er gerade nichts Befleres vor hatte, 
jondern, mit den Beinen auf dem Tiih, ganz in 
eine Sofaede gebubdelt lag, die unvermeidliche 
Cigarette im Munde, rief er fie gnädig heran. 

Luzie war jhon im Neglige und zwar, im 
Vergleich zu ihrer jonftigen Toilette, in einem ziemlich 
reduzierten, was fie indes ihrem Bruder gegenüber 
nicht weiter anfocht. 

„Welh ein Glüd, daß ih Dich zu Haufe treffe, 
Emil,” jagte fie, fi) ohne weiteres auf die Tilchede 
neben ihn jegend. „Yh muß einmal jehr ernitlich 
mit Dir reden.” 

„Du®?” fragte er gedehnt. 

Sie ignorierte den Ton; fih mit ihm zu zanten, 
danad) ftand ihr Sinn nit. „Haft Du jemals an 
unfere Zufunft gedacht?” fragte fie, gleich auf die 
Hauptjahe Iozgehend. „Ich muß gejtehen, mich be: 
unrubigt das manchmal, wenn ich mir Elar mache, 
was kommen muß — fommen wird.” 

Emil war jo überraiht, daß jeine Gigarette in 
Gefahr geriet, auszugehen. Mit aufgerilienen Augen, 
jo weit ihm das möglid) war, ftarrte er feine 
Schmelter an. 

„Papa ift alt, und wenn er wirklich noch lange 
Sabre vor fi hätte, ewig Tann er ja doch nicht 
leben,” fuhr Zuzie fort und trommelte mit den 
Fingeripigen den Taft auf der Tiihdede. „Dann 
fällt fein Gehalt an der Afademie fort, wir beide 
erben das Haus hier und ein Jehr geringes Bar: 
vermögen, das weißt Du aud. Wir find nun aber 
beide verwöhnt, Brüderlein, das Einjchränten würde 
uns jehr hart ankommen.“ 

„Bit Du des Teufels, Luzie, uns zu nacht: 
Ihlafender Zeit mit jolchen Sydeen aufzuregen? Wer 
fan denn da nachher fchlafen! Mad, daß Du zu 
Bette fommit.“ 

Sie beadhtete feinen Ärger gar nicht, änderte 
auch ihre Stellung nit, in derjelben Art fuhr fie 
fort: „Daß Du ein großer Künftler bift oder jemals 


Roman-Zeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 





466 


werben wirft, das, lieber Emil, bildet Du Dir wohl 


jelbft nit ein! Einzig und allein Papa wartet 
immer noch auf ein befreiendes, großes Werk von 
Dir, weil Du ja fein Sohn bift, und nennt Faul: 
beit, was Unvermögen if. Wir willen das alle 
genau. -— Du bift aber faul, weil Du fühlt, Du 
kannſt nichts leiſten.“ 

„Unverſchämtes Balg,“ fuhr er aus ſeiner Ecke 
ne „Mac jegt gleich, daß Du binaus kommſt, 
oder . . .“ 

„IH will Dir ja ein Mittel geben, um aus 
al Deiner Mifere herauszulommen,“ jfagte fie lachend, 
fih gegen feine Hand wehrend. „Das unverfchämte 
Balg ift in ihrem Heinen Finger Elüger ale Du in 
Deiner ganzen breiten Geftalt. Du jolft Maud 
heiraten. Sie ift reih, Du Fannft dann mit ihr 
teilen, Dich niederlafien wo Du willit, und fein 
Menih wird mehr irgend eine Kunftleiftung von Dir 
verlangen.” 

Er brummte vor fi hin, jog an jeiner Cigarette 
— fo unrecht hatte Quzie eigentli nicht. 

„Siehft Du, fie ift Dir ja faktiih aufs Prä- 
jentierbrett gelegt,” Emil. Ein bübjches, reiches 
Mädchen ohne Familie, was fannit Du Dir mehr 
wünjhen. Und ih will Dich bei ihr herausftreichen 
fo viel ih Tann, in allen Tonarten Dein Lob fingen. 
Ein hübſcher Menſch biſt Du doch aud, warum jollte 
ſie wohl nicht ja ſagen?“ 

Emil hatte ſich doch aufgerichtet und die Beine 
vom Tiſch gezogen. Ihm leuchtete die Sache ein. 
Merkwürdig, daß er ſelbſt noch gar nicht daran ge— 
dacht hatte! Freilich, die Weiber ſind ja immer ver— 
ſchlagener als die Männer. — Er dachte an den 
Handkuß von heut nachmittag, und jetzt erregte er 
ihn thatſächlich Unbehagen. Aber mit Lex nahm er 
es ſchließlich doch noch auf. Was war denn Lerx! 
Dieſes kleine, zierliche Kerlchen, ewig verliebt, ewig 
begeiſtert. Die Frauen lieben etwas mehr Körper— 
lichkeit und ein ruhigeres Gemüt. 

„Nun, Emil?“ fragte ſeine Schweſter, die neu— 
gierig in das rötliche, ſtarke Geſicht ihres Bruders 
geblickt hatte. „Wie gefällt Dir mein Plan?“ 

„Du biſt eine ſchlaue Lieſe,“ ſagte er ſchmunzelnd, 
griff ſie bein Kopf und gab ihr einen Kuß. „Lobe 
mich nur tüchtig. Schließlich verdiene ich es ja. Ich 
bin ein ſolider Menſch.“ 

„Und ein koloſſaler Weiberverächter,“ ſpottete ſie. 

„Ach Du! Na ja, ſchließlich wird man's eben.“ 

„Höre, Milchen, eine Liebe iſt aber der andern 
wert, nicht wahr?“ Sie zupfte jetzt an den Spitzen 
ihrer Jacke und ſah nicht auf. 

„Wenn's nicht zu viel iſt,“ meinte er reſigniert 
und ſetzte ſich wieder. 

„Ich habe die Abſicht, mir Fortunat feſtzuhalten,“ 
ſie wurde etwas rot, und ihr Bruder ſtieß einen 
leiſen, verſtändnisinnigen Pfiff aus. „Da iſt gar 
nichts zu pfeifen,“ fuhr ſie auf und warf den Kopf 
in den Nacken. „Wir Mädchen ſind noch ſchlechter 
dran als Ihr, wenn wir nicht verſorgt ſind, und 
ewig jung bleibt keine. — Fortunat iſt reich, wir 
kennen ihn ſeit Jahren, ich ſehe nicht ein, warum 
dies Projekt weniger gut ſein ſoll als Deins.“ 


IV. 33 


467 Schwertklingen. 





„Fortunat iſt ein liederlicher Kerl, der ſich an 
jedes Modell hängt.“ 

„Deſto beſſer.“ 

„Deſto beſſer?“ fragte er erſtaunt. 

„Deſto lieber wird er ein vernünftiges Mädchen 
heiraten, das ihn kennt und tolerant iſt. Wer auf 
die Bequemlichkeiten und ſchlechten Inſtinkte von 
Euch Männern ſpekuliert, findet immer ſeine Rech— 
nung.“ 

Er ſah fie mit offenem Munde an. „Luzie!“ 

„Ja, glaubſt Du, ich bin dumm? Ein Gänschen, 
das nicht Augen und Ohren aufgemacht hat? Niemand 
kann mir das Geringſte nachſagen, und doch kenne 
ich das Leben ſo genau, als wäre ich ſchon am Ende 
meiner Tage. Fortunat überlaſſe nur ruhig mir. 
Nur mußt Du mich nicht vor ihm ſchlecht machen, 
wie Du es ſo gern beliebſt, und mußt mich über 


Roman von Hans Werder. 


168 


ſeine kleinen Sünden auf dem Laufenden erhalten, 


das iſt alles, was ich von Dir will.“ 


„Wenn's weiter nichts iſt,“ ſagte er, noch ganz 
konſterniert von dem Eindruck, den ihm ſoeben ſeine 
junge Schweſter gemacht. „Das verſpreche ich Dir.“ 

Sie fi:l ihm um den Hals. „Alſo abgemacht. 
Bon morgen an bin ih mit Maud Freundin auf 
Leben und Tod. Und Tu fei froh, dab ih Dir 
feinen andern Schwager zu bringen gedenfe, etwa 
jo einen wie Martin Heelen.* Sie late übermütig. 
„Sute Radt, Emil, es ift fchon fpät geworden.” 

Eie jchlüpfte hinaus. Er murmelte etwas Un: 
verftändlihes hinter ihr ber. Sie hatte ihm doc 
imponiert mit ihren feden Worten und Plänen, das 
hätte er nit in ihr vermutet. Wenn fie hob, 


Und die Sade gefiel ihm nicht übel. 


| würde die Eadye jhon gehen. 


(Kortfegung folgt.) 





Schwertiklingen. 


Baterländiicher Roman 


bon 


Dans Werder. 
(Hortfegung.) 


Ill. 


„Rohlig, wollen Sie mir einen Gefallen thun?“ 
Mit diefer Frage redete Major Schill feinen Lieute- 
nant an, als die beiden, von einem Spazierritt zu: 
rüdtehrend, fih den Thoren Berlins wieder näherten. 

„Herr Major, die Frage Klingt fehr aufregend 
Ihrem gehorfamften Untergebenen gegenüber!” war 
Haljos Entgegnung. „Womit fan ich dienen?” 

„Ih möchte gern den Nücels und Beldeggs 
meinen Befuh mahen! Sie fchienen auf jehr ver: 
trautem Fuße mit den Damen zu ftehen — und 
mir find fie fremd. Darum möchte ih, daß Sie 
mid) dort einführten!” 

„Sb jol aljo meinen geftrengen Regiments: 
fommandeur unter meine j[hütenden Fittiche nehmen ! 
Brauche mohl nit zu betonen, daß id mich mit 
—— dieſer ehrenvollen Aufgabe unterziehen 
werde!“ 

„Spotten Sie nur!“ ſagte Schill lachend. „Sie 
bewegen ſich im Salon mit beneidenswerter Dreiſtig⸗ 
keit! — Das iſt mehr, als ich von mir behaupten 
könnte! Wenn Sie die Damen der Paſewalker Ge— 
ſellſchaft fragten, ſo würden biejelben Shnen ein: 
ſtimmig erzählen, daß ich ſtets nur eine mangelhafte 
Rolle bei ihnen geſpielt habe!“ 

„Herr Major, die Paſewalker Zeiten ſind 
vorüber, für Ihre geſellſchaftliche Stellung ſowohl 


— — 


als für die militäriſche! Daran brauche ich Sie 
wohl nicht erſt zu erinnern!“ 

„Wiſſen Sie denn etwas über die Vorzeiten 
meiner militäriſchen Stellung?“ fragte Schill. „Ich 
kann nicht ſagen, daß allzu große Orientiertheit 
ſeitens meiner Lieutenants hierüber zu meinen be— 
ſonderen Wünſchen gehörte!“ 

„Sie werden ſie aber nicht hindern können, 
Herr Major!“ erwiderte Haſſo. „In anſpruchsloſe 
Verborgenheit können Sie ſich nicht mehr zurück— 
ziehen! Sehen Sie ſelbſt —“ er deutete mit der 
Reitpeitſche auf ein paar Schaufenſter zur Rechten 
und zur Linken, an denen ſie gerade vorüberritten. 
Da prangte das Bildnis des Huſarenmajors ihnen 
in jeder nur denkbaren Umrahmung entgegen, ſelbſt 
auf Pfeifenköpfen und Porzellantaſſen zierlich ge— 
malt, auf Brieftaſchen geſtickt, von Lorbeerkränzen 
umgeben. „Sehen Sie ſelbſt — Ihr Bild in allen 
Schaufenſtern, und Ihr Name —“ 

„Hurra, Schill — vivat hoch!“ rief in dieſem 
Augenblick jauchzend ein Trupp Studenten, der, die 
Mützend ſchwenkend, an ihnen vorüberzog. Eine 
Schulkinderſchar fiel freudig ein und trug den Ruf 
weiter: „Hurra, Schill!“ 

„Da hören Sie!“ fuhr Haſſo lächelnd fort. 
„Und über populäre Perſönlichkeiten wollen die 
Menſchen alles ergründen — Herkunft, Schichſale, 
ihren ganzen inneren und äußeren Zuſammenhang 
mit der Welt, in der ſie ihre Rolle ſpielen!“ 


469 Schwertklingen. 
„Und dazu gehört aud meine Lieutenants- 
Criftenz in Bafewalf?” fragte Schill unmutig. 

„Gewiß, Herr Major! Meinen Sie nit, daß 
es fiir hr Offizierlorps ganz intereffant fein dürfte, 
dDiefe zu Fennen?” Es lag eine gewille heraus: 
fordernde Nederei in Hallos Ton, die dem Major 
unbehaglich war. 

„Was haben Sie denn davon gehört, zum 
Donnermetter! Erzählen Sie mir’s doch wenigftens!” 

„Nun — daß Sie fi flets im Widerſpruch zu 
Shren Vorgejegten befunden haben, auch daß Shnen 
der kleine Gamaſchendienſt höchft widermärtig mar 
und wie viel Unannehmlichkeiten diefe Abneigung für 
Sie im Gefolge hatte!” 

„Sie meinen die Arreftftrafen zum Beijpiel?” 
unterbrah ihn der Major. „Diele Eure SKenntniffe 
find mir allerdings jehr intereffant. Was joll id 
denn jagen, wenn hr anfangen wollt, Euch darin 
nah meinem Vorbilde zu richten?” 

„Das haben Sie, glaube ich, nicht zu befürchten, 
Herr Major,” jagte Hallo. „So ganz im unflaren 
find wir denn doch nicht über den berechtigten Unter: 
ihied, ber da befiebt! Auch Haben wir durd) 
Kommißdienft noch nicht viel zu leiden gehabt. Es 

wäre undankfbar, wenn wir das nicht anerfennten!“ 
| „Sreut mid! Sie ftellen mir wenigitens ein 
gutes Zeugnis aus!” entgegnete Schill gutmütig. 
„Sie willen, daß es von Anbeginn mein Streben 
war, ehrgeizigen Eifer, einen wirklichen Soldatengeift 
in meinem Regiment beranzubilden — im Gegenjaß 
zu der elenden Furcht vor Prügelftrafe, wie fie jonft 
in der Armee berrihtee Ob mir das bereits ge 
lungen — Sie müflen e8 ja alg Schwadrondef be: 
urteilen können!” 

„Ih denke wohl, Herr Major,” erwiderte Haflo 
zuverfihtlih. „Wir alle find der Anfiht: Wenn 
die preußiiche Kavallerie reorganifiert werden fol, 
fo wird es nad dem Mufter der Schillihen Truppe 
geſchehen!“ 

„Das iſt ein ſtolzes Wort,“ erwiderte der 
Major und es blitzte in ſeinem ſchwarzen Auge auf. 
„Wenn Sie als der einzige das ſagten, ſo würde 
es mir vielleicht wee Anmaßung klingen! Aber 
da auch Oberſt Scharnhorſt eine derartige Anſicht 
mir gegenüber entwickelt hat, ſo nehme ich ſie mir 
als Ermutigung und als Wegweiſer zu weiterem 
Handeln!“ 

Sie waren bei Schills Hauſe angelangt und 
trennten ſich, um dann gemeinſam die beſprochenen 
Beſuche auszuführen. 

Zu ihrem Bedauern fanden ſie Veldeggs nicht 
zu Hauſe. Frau von Rüchel empfing zwar die Be— 
ſucher mit allen Zeichen des Wohlgefallens, doch 
blieb auch Fräulein Eliſe unſichtbar, und ſie mußten 
ſich endlich unbefriedigt entfernen. 

„Meine ſchützenden Flügel haben Ihnen kein 
Glück gebracht, Herr Major,“ bemerkte Haſſo. 
„Schade, nun werden Sie kein Verlangen wieder 
danach tragen!“ 

„Wer weiß!“ antwortete Schill. „So leicht 
kann mich ein mangelhafter Start denn doch nicht 
aus dem Sattel bringen!“ 


Roman von Hans Werder. 


IV. 


Major Schill war im Recht mit ſeiner Zuver: 
ſicht. Wenige Tage nach dem erfolgloſen Beſuch 
lud Herr von Veldegg ihn und verſchiedene ſeiner 
Offiziere, die gleich ihm Beſuch gemacht, zur Tafel 
ein. Frau Julie, ſeine älteſte Tochter, wollte in 
den nächſten Tagen abreiſen, um mit ihrem Gatten 
auf deſſen Landgut Tiefenſee zurückzukehren. Heute 
aber empfing ſie ihres Vaters Gäſte als Hausfrau, 
wie in früheren Zeiten. Renate ſtand ihr zur 
Seite. Von jetzt ab ſollte dieſes wichtige Amt ihr 
zufallen. 

Unter den geladenen Gäſten befand ſich auch 
Frau von Rüchel mit ihrer Tochter Eliſe, und Ludwig 
Zürn, der noch immer ſo blond und dürſtig ausſah 
wie in früheren Zeiten. 

Renate empfing ihn freundlich wie immer, doch 
war ſie zerſtreut, beinahe aufgeregt. Heute zum 
erſten Mal ſollte der Held von Kolberg ihres Vaters 
— betreten und das war ein Ereignis in ihrem 

eben. 

Jetzt raſſelte es im Hausflur von Säbeln und 
Sporen, und die Huſaren traten herein, fünf an 
der Zahl. Die Begrüßung war ſehr lebhaft, denn 
hier wie überall empfing man die berühmten 
Streiter wie bewährte Freunde mit Ehren und Aus— 
zeichnung. 

Bald ging man zur Tafel. Herr von Schill 
führte Julie und hatte Excellenz Rüchel an ſeiner 
Linken; ſehr gegen Renates Wunſch, denn ſie 
wähnte mit ahnungsvoller Seele, daß ihm dieſe 
Anordnung nicht behagen würde. „So wird es 
ſpäter nicht wieder gemacht, wenn ich zu ſagen 
habe,“ dachte ſie im ſtillen. Sie ſelbſt hatte ihren 
Platz zwiſchen Blomberg und dem jüngeren Wedell, 
und war es wohl zufrieden. Albert Wedell zumal 
hatte ſie unter ihren Schutz genommen. „Der 
Knabe“ nannten ihn neckenderweiſe die Kameraden 
ſeit jener Anrede der Prinzeſſin Ferdinand, und das 
fand ſie ärgerlich. Auch ſie wurde oft als ſo jung 
und kindiſch hingeſtellt; die guten Leute täuſchten 
ſich, ſo ſchloß Renate ihre ernſten Betrachtungen. 
Namentlich beſaß der Schwager eine ganz unan— 
genehme Fertigkeit in dieſer Art von Neckerei. Sie 
wußte daher, wie unangenehm dieſelbe ſein konnte 
und beſchloß, ſich treulich des jungen Wedell anzu—⸗ 
nehmen. Auch erſchien er ihr keineswegs mehr ſo 
knabenhaft. Schlank und kräftig war er gewachſen, 
wie eine Fichte aus den pommerſchen Wäldern. 
Die hellblauen Augen blickten entſchloſſen und klug 
aus dem jugendlichen Antlitz und in ſeinen Reden 
äußerte ſich Feuer und Willenskraft. Verwunderlich 
erſchien ihr das nicht: er zählte ja auch zu den 
Helden von Kolberg. 

Haſſo Rochlitz, mit einer ihm fremden und un⸗ 
intereſſanten jungen Dame als Nachbarin begünſtigt, 
ſah an ſeiner anderen Seite Ludwig Zürn und das 
ergötzte ihn. Er hatte mit dieſem eine Fehde an—⸗ 
gebahnt, denn der Muſiker weigerte ſich beharrlich, 
ihm zu geſtehen, welcher neue Stern an ſeinem 


471 Schwertklingen. 
Himmel ihn darüber getröſtet, daß ſeine frühere 
Sonne, die ſchöne Julie, ſich anderen Sphären zu— 
gewandt. Daß er nicht einmal den Verſuch gemacht, 
ſich das Leben zu nehmen, legte ihm Haſſo als die 
unerhörteſte Philiſterei aus, ja als kränkend für die 
„Sonne“. Vergebens ſuchte der zartfühlende Künſtler 
ſich gegen die ungerechtfertigten Angriffe zu wehren, 
das Geſpräch vor allen Dingen auf einen geheimnis— 
volleren Ton zurückzuſühren. Haſſos Laune ſchlug, 
wie ſo oft, in fröhliche Ansgelaſſenheit über und 
kannte weder Schonung noch Grenzen. Seine junge 
Nachbarin, obwohl ſie nicht immer begriff, worauf 
ſich dieſe Flut von Neckerei bezog, kam doch aus 
dem Lachen nicht heraus, und bald war die ganze 
Tiſchecke in die lebhafteſte Heiterkeit hineingezogen. 

Mit einem ſcharf aufmerkenden Ausdruck, wohl: 
wollend und zugleich ein wenig tadelnd, beobachtete 
ihn der Blick ſeines Regimentskommandeurs. Haſſo 
achtete nicht darauf, aber Julie bemerkte es, ebenſo 
ihr rechter Nachbar, Lieutenant Bärſch, der Adjutant 
und „Quartiermeiſter“ des Regiments. 

„Mein lieber Kamerad Rochlitz übertrifft heute 
wieder ſich ſelber,“ bemerkte dieſer halblaut zu ſeiner 
Nachbarin. „Sie ſollten Ihren Einfluß geltend 
machen, gnädigſte Frau, ihm dieſe übertriebene Aus— 
gelaſſenheit abzugewöhnen! Sie iſt keine angenehme 
Zugabe!“ und ſeine klugen, ſcharfen Augen ſtreiften 
mit einem kalten Blick nach jener Richtung hin, wo 
Haſſo den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete. 

„Seien Sie vorſichtig,“ mahnte Julie lächelnd. 

„Rochlitz iſt enfant gäté in dieſem Hauſe. Man 
darf nichts gegen ihn ſagen!“ 
„D — das ift er auch bei uns!” entgegnete 
Bärkd. „Ih habe gewiß nichts gegen ihn. Aber 
es ift nicht jedermanns Geihmad, diefe ungewöhnlich 
lebbafte Art feines Auftretens. Bald ein über: 
Iprudelnder Humor, wie zum Beilpiel jet eben. 
Dann wieder gelegentlicd) eine unerhörte Schroffheit, 
mit der er fich felbft zur Geltung bringt und feinen 
Einfluß im Offizierforps ausübt.” 

Schill hatte dieje legten Worte gehört, er beugte 
ih ein wenig berüber. „Durch diefen Yufaß ent: 
räften Sie Shren ganzen Vorwurf, Bär,” Tagte 
er leife, doch mit Nadhprud. „Diejes Selbjt, was 
er zur Geltung zu bringen pflegt, ift das eines 
ganzen Mannes, daraus eben entipringt fein auf: 
fallender Einfluß unter den Kameraden. Dafür 
jollten eigentlih) gerade Sie Verftändnis haben!“ 
Jette er freumdlich Hinzu. 

„Herr Major, ih gebe mich fchon!” Tächelte 
Bärſch. Und fie verftändigten fich über dieje jchon 
oft berühtte Streitfrage mit einem Blid über das 
erhobene Champagneralas hinweg, welches fie beide 
leerten. 

Die Tafel ward aufgehoben. Yn dem ftrahlend 
erhellten Wohnzimmer blieb die Gejellihaft noch bei: 
jammen. Herr von Schill judhte jet einen Plat 
an Renates Seite. hre Augen leuchteten auf, als 
er fih ihr näherte. „Nun, Herr von Schill, bringen 
Sie mir jegt Genugthuung dafür, daß Sie mid) 
neulich fo gar arg haben abbligen lafjen?” 

Seine Ihmwärmerifhen Jchwarzen Augen blidten 


Roman von Hans Werber. 





472 


fie faft erjchroden an. „Uber gnädiges Fräulein, 
welch ein Wort — Sie zürnen mir doch nicht etwa?” 

„Rein, nein, leineswegs!” rief fie mit Wärme. 
„IH fürdte nur, Sie haben mich neulich allzu über- 
Ihmwenglich gefunden und von dem Borwurf möchte 
ip mich reinigen! Sie willen nit, wie die Welt 
um mich ber ausgefehen hat, ehe Sie lamen, was 
in mir vorging — was wir erlebt haben in diejen 
zwei Jahren ber Sranzojenplage in Berlin!” 

„IH Tann e8 mir lebhaft denlen, gnädiges 
Fräulein,” entgegnete er. „Um fo mehr wird es mid) 
interejlieren, Näheres gerade von Shnen darüber zu 
hören.” 


Sie atmete tief auf. Yhre Augen fchauten mit 
Ihmerzlih finnendem Ausdrud wie in weite Ferne! 
„Sa, Sie würden es mir nahfühlen lünnen, dieje 
zwei Jahre in der SKnechtichaft des Feindes! Be: 
denfen Sie, wir waren wie abgejchnitten von der 
Außenwelt, fein Wort, gejchrieben oder geiprocden, 
drang an unjer Obr, als nur das vom Feinde bil: 
tierte, oder, jhlimmer nod, dem Feinde huldigend! 
Alles, was uns lieb, ehrwürdig, heilig gewelen, warb 
beruntergeriffen, verhöhnt, verjpottet. Alles Edle und 
Große in der Welt in den Staub getreten, und bafür 
Napoleons Glüd und Siegesübermut als Gottheit 
vor uns bingeflelt! Das hat man ertragen müffen, 
jahrelang! Und fein eigenes Land und Bol ver: 
achten gelernt, in der Willfährigfeit, mit der es 
Shmadh und Ketten trug!” Sie brad) ab und be 
dedte die Augen mit der Hand, von ihrer Empfin: 
dung überwältigt. „Und dann famen Sie, Herr von 
Schill!” jegte fie nach Eurzer Paufe hinzu. 

Schill lehnte fih in den Seffel zurüd. 
dann fam ih! Sagen Sie das nit mit biefer 
Betonung, Fräulein von Veldegg! Sie bürden mir 
damit eine zu fchwere Aufgabe und eine Verant: 
wortung auf —“ er ftodte. Es war ihm, als höbe 
ih das Schidjal mädtig, fordernd vor ihm empor, 
wie eine DBergeslaft, die er auf feine Schultern 
heben follte! 


„Sa, das weiß ich!” rief Renate triumphierend 
auf jeinen unvollendeten Sag. „Eine Aufgabe viel- 
leicht, wie felten einem Manne eine größere warb!“ 

Wie fie jett aufblidte, jah fie Hafjo neben fich 
ftehen, an den Fenfterpfeiler gelehnt, den Blid auf 
fie geheftet mit jenem Ausdrud, als fei die ganze 
übrige Welt für ihn verfunfen und diejer eine Licht: 
ftrahl nur feinem Auge nod vorhanden. Als er 
dem ihren begegnete, wandte er fih ab und ging fort. 


„Ben lerne ich jet auch von einer neuen Seite 
tennen!“ bemerkte Schill und fein vielfagender Blid 
folgte ihm. 

„Sie Ipradhen bei Tiih von ihm?“ fragte Re: 
rate ablentend. 

„Konnten Sie denn das hören, gnädiges Fräu: 
lein? Wir jpradhen do fo vorfichtig leiſe!“ 

„Ich babe jcharfe Ohren und es interelfierte 
mid! Ih jah den unangenehmen Blid, den ber 
Lieutenant Bärih ihm zumarf. Er griff ihn an, 
nicht wahr?” 

„Run — ein Ihlimmer Angriff war es nicht!” 


„Und 





473 


berubigte fie der Major. „Er madte ja reichlich 
viel Lärm und das fanı Bärfh nicht leiden!” 

„Aber Sie verteidigten ihn?” fragte Renate 
dringend. 

„Sewißg — darüber fünnen Sie unbejorgt Jein, 
auf meinen Rodhlig lafje ih nichts fommen!” Und 
er begann ihr zu erzählen, was Rodlit ihm ge: 
wejen während der heißen Kolberger Tage, wie er 
einst zu ihm gefommen mit dem gefangenen General, 
und gar manches feiner tollfühnen Stüdlein, das 
fie von Haflo jelber niemals hätte erfahren fünnen. 
Atemlos laufchte Nenate und ihre Augen leuchteten 
dabei. ES war jedoh ein anderes Leuchten, als 
jenes unperjönliche Feuer heiliger Heldenverehrung, 
mit dem fie zu Schill aufgeblidt. Diefer empfand 
den Unterjhied aufs deutlichite und mit einem ge: 
junden Gefühl des Mißbehagens. Für diefe menjc): 
lihere Herzenswärme wäre auch er empfänglich ge: 
wejen. 

Ludwig Zürn näherte fich ihnen jeßt beicheiden 
und zögernd. „Gnädiges Fräulein, der Herr Oberit: 
lieutenant wünjcht, daß ic Mufit machen joll, wäre 
es Shnen ebenfalls —“ 

Renate erhob fich Schnell und mit freundlichem 
Abjichiedsgruß für den Major trat fie an ihres Muſik— 
lehrers Seite. „Gewiß wäre es mir ebenfalls!” 
wiederholte fie nedend. „Wollen Sie fih freundlich 
um die Unterhaltung unjerer Gäfte verdient machen, 
jo werde ich Ihnen ſehr dankbar fein, Herr Zürn!“ 

„Welh ein Glüd für dieje anderen Bälte, daß 
Eie fich ihrer endlich” auch erinnern wollen!” be: 
merkte jet Hallo, der fih zu ihnen gejellte. 

„WBiejo?” fragte fie ralh. „Finden Sie, daß 
ih eine jo unaufmerkfjame Wirtin bin?“ 

„SH Fann es nicht beurteilen!” jeufzte er. „Es 
it ja gewiß jehr ehrenvoll, mit unjerem großen Chef 
und Kommandeur in Gejellihaften zu gehen, aber 
man muß fih dazu mit einem guten Stüd Selbft: 
verleugnung ausrüften!” 

„Kun hören Sie nur, Herr Zürn, wie er wieder 
Ipriht!” jagte Renate mit verhaltenem Lachen. 
„Beben Sie ihm ein gutes Beilpiel, wie man fi 
als Hausfreund zuvorflommend und Tiebenswürdig 
benimmt!” 

„Sie meinen, gnädiges Fräulein, daß ich mich 
hierzu binlänglich in der Selbjtverleugnung gejdhult 
haben müßte?” fragte Ludwig Zürn, und jeine blauen 
Augen hingen an ihr mit einem Blid, der flehend 
und entjagungsvoll zugleich genannt werden Tonnte. 

„Ih meine, daß Sie uns jett alle erfreuen 
jollen dur das jchönfte, was Sie uns von Shrem 
mufifaliihen Repertoire geben fünnen!” erwiderte fie, 
nidte ihm freundlich zu und entfernte fich mit leichten, 
elaftiihen Schritten. 

Beide jahen ihr nad. Haflo Hatte den Blid 
aufgefangen, mit dem Ludwig Zürn feines Herzens 
Sehnen jo unabfichtlich offenbart, und die Erkenntnis, 
die ihm damit geworden, berührte ihn jeltiam, weh 
mütig. „Ludwig — warum haft Du mir das nicht 
gejagt! — Wenn ich gewußt hätte, daß Jie es it — 
nie würde ich jo barbariich gewejen fein, Di zu 
necken.“ 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


474 





„Warum ſollte ich Dir das ſagen!“ murmelte 
Ludwig träumeriſch. „Du haſt ſie ja geſehen, was 
fragſt Du dann noch! Wenn Du ſiehſt, daß die 
Sonne am Himmel ſteht, fragſt Du auch nicht, wo— 
von der Tag ſo hell iſt!“ Damit wandte er ſich 
fort, nahm vor dem Flügel Platz und ſpielte, von 
Leidenſchaft durchglüht, Melodien aus dem letzten 
großen Quintett des Prinzen Louis. Er wußte, 
damit rührte er am ſicherſten Renates Herz. Sie 
ſaß und lauſchte mit geſchloſſenen Augen. Hinter 
ihrem Seſſel ſtand Haſſo. Auch er kannte dieſe 
Muſik gar wohl. Und das Liebesleid, das darin 
klagte, das todverachtende Heldentum, das darin 
pulſierte, durchwogten ihn wie Fieberſchauer. Ob ſie 
ähnlich ſo empfinden mochte — ſie, die hier ge— 
ſenkten, abgewandten Hauptes vor ihm ſaß, in Sinnen 
verloren. Wohin wanderten wohl ihre Gedanken? 
Ach, wer in ihrem Herzen hätte leſen können! — 

Nachdem Renate ihn verlaſſen, hatte Major 
Schill Eliſe Rüchel aufgeſucht. Seine Lieutenants, 
die ihr Geſellſchaft geleiſtet, zogen ſich zurück. Ein 
warmer Schein von Farbe ging über ihr hübſches 
Geſicht, als ſie ihn kommen ſah. Der rührte auch 
von menſchlich warmer Herzensſtimmung her. Ferdi— 
nand von Schill wich für den Reſt des Abends nicht 
mehr von ihrer Seite. 

Als die Offiziere ſich empfahlen, ging auch Haſſo 
und begleitete wie gewöhnlich die Kameraden zum 
letzten, fröhlichen Abendtrunk ins Wirtshaus. So— 
bald als möglich aber verließ er ſie und ſuchte ſein 
einſames Wohngemach auf, nur um allein zu ſein, 
ſeinen ſtürmenden Gedanken Muße und Spielraum 
zu gönnen. 

Er hatte ſich brennend, ſehnſüchtig auf das 
heutige Zuſammenſein mit Renate gefreut, ſo viel 
auf dem Herzen gehabt, was er ihr ſagen, ſie fragen 
wollte. Und nun war ihm zu Mut wie nach einer 
großen Enttäuſchung. Sie war eine liebenswürdige 
Wirtin geweſen, für alle gleich. Schill huldigte ihr, 
Ludwig Zürn umgab ſie mit anbetender Schwärmerei, 
jeder der Kameraden bewunderte ſie, und allen An— 
forderungen war ſie gerecht geworden mit Grazie 
und Sicherheit. Warum konnte denn nicht auch er 
zufrieden ſein? Was bedeutete dieſe glühende Sehn— 
ſucht, ſie allein, ganz allein auf der Welt nur für 
ſich haben zu wollen? Das Gefühl war ihm ſelber 
rätſelhaft, beunruhigend, über jeden Ausdruck quälend. 
Und doch war es beglückend, wie er nie bisher im 
Leben etwas geahnt noch gewußt. 

Es war ſehr ſpät, als er ſich auf ſein Lager 
hinſtreckte, doch ohne Ruhe darauf zu finden. Der 
ganze Menſch war in ſeinen Lebenstiefen erſchüttert, 
ohne eigentlich noch zu wiſſen, was ihm widerfahren. 
Die tiefe Liebesfähigkeit ſeines Herzens, die niemals 
ſeit frühſten Kindheitstagen rechte Nahrung noch Er— 
widerung gefunden und jetzt zu lebendigem Erwachen 
gelangte, und die heiße Leidenſchaftlichkeit ſeines 
Temperaments vereinigten ſich zu einer Flamme, 
die lebenzerſtörend wirken mußte, wenn ſie ihm nicht 
zu Heil und Glück gereichen konnte. 

Er wußte das alles noch nicht und träumte ſich 
endlich in einen leichten Schlaf hinein. Da aber 





475 Schwertklingen. 


erichien bereits Frige, zu nadhtihwarzer Morgenftunbe, 
die Laterne in der Hand, jeinen Lieutenant zum Dienft 
zu weden. „SFrige, was läßt Du mid do nidt 
Ihlafen!” gähnte diejer, doch fiel ihm noch rechtzeitig 
ein, daß der Tönigliche Dienft nicht warten durfte. 

D, fol ein grauer, eisfalter MWintermorgen in 
froftiger Neitbahn, inmitten ber eintönigen Sreis- 
bewegung feiner dienftlichen Thätigfeit, noch dazu in 
überwachter, zerftreuter Stimmung — das war fein 
Vergnügen, weder für ihn noch für bie feiner 
Schwadron zugehörigen Offiziere. Glüdlicherweife 
dauerte die Sade nicht lange. 

„Was ilt Dir eigentlih, Nohlig?” fragte ihn 
Herr von Blandenburg. „Du bift fo verfatert, als 
hättet hr die Nacht durchgezgeht! War der Cham: 
pagner fo Ichledht, den Euch der alte Veldegg vor- 
gejegt hat?” 

„Keine Spur! Da kennft Du den alten Veldegg 
Ihlecht!” ermwiderte Haffo. „Sehe au nicht ein, 
warum Du diefen braven Herrn dafür verantmwortlid 
nahen wilft, wenn mi Deine hochintereflanten 
Reitinftrultionen nicht mit Begeifterung erfüllen 
fönnen !” 

„Thue do nit, ale ob Du von mir und 
meinen Neitinftruftionen überhaupt etwas bemerft 
hättet!” fpottete Frig Blandenburg. „Deine Ge: 
danken waren weit bavon entfernt! Wo, mögen bie 
Götter willen!” 

„Ih zum Beilpiel bin ein folcher Gott!” er: 
Härte Blomberg mit Stolz. „In der Wilhelmftraße 
waren fie! Das heißt: Sn ber Wilhelmftraße wohnt 
nur Fräulein von VBeldegg! Die Adrefle der beiden 
andern Holden ift mir unbefannt! Die Schöne Renate 
aber wird es hoffentlich nicht fein, die Deine Ge: 
danfen zum Wandern gebradt hat? Ilm Himmels 
willen, Rohlig, da fämft Du ja unferm Major 
ins Gehege!?” 

Rohlit Hopfte iym wohlwollend auf die Schulter. 
„Ich danke Dir, lieber, befter Junge, Du bift ein 
Engel, wenn audh zwar Dein Name mit einem 3 
anfängt! Ohne Deine treu gemeinten Warnungen 
täme ich über die Hinderniffe auf der Rennbahn bes 
Lebens nicht hinüber!” Er ging mit elaftifcher Le: 
bendigfeit auf ein anderes Thema über und bald 
gelang es feinen launigen Einfällen, die Kameraden 
von dem beunruhigenden Gedankenfahrwafler ab: 
zulenken. 

Wie ein Blitz ging es ihm durch alle Lebens— 
geiſter, als er mittags in ſeiner Wohnung einen 
Zettel des Herrn von Veldegg vorfand. Er wünſchte 
ſein Töchterchen nach der Abreiſe der Schweſter zu 
zerſtreuen und deshalb mit ihr die heutige Aufführung 
von Schillers Räubern im Schauſpielhauſe zu be— 
ſuchen. Haſſo möchte ihnen die Freude machen, ſie 
zu begleiten. Sein Eintrittsbillet lag ſchon mit im 
Briefe. 

Heute abend! In wenigen Stunden alſo ſollte 
er ſie wiederſehen! Haſſo ſchwindelte es. Er löſte 
haſtig die bereits eingegangene Verabredung für den 
Abend, konnte aber doch erſt im Schauſpielhauſe ein— 
treffen, als die Vorſtellung bereits begonnen. 

Herr von Veldegg und Renate ſaßen allein zu— 





Roman von Hans Werder. 





476 


ſammen in einer kleinen vierſitzigen Loge. „Ich 
glaubte ſchon, Sie wollten uns im Stich laſſen!“ 
flüſterte Renate mit leiſem Vorwurf im Tone, während 
der Oberſtlieutenant ihm die Hand ſchüttelte. Einen 
anderen Gruß hatte ſie nicht für ihn, nachdem er 
ſich ſo faſſungslos auf dieſen ihren Gruß gefreut? 

Stumm nahm er den Platz hinter ihr ein. Von 
den Vorgängen auf der Bühne ſah und hörte er 
nichts. Nur die edlen Linien der zarten Mädchen— 
geſtalt vor ihm verſchlang ſein durſtendes Auge, die 
weiche Biegung ihres Halſes, die Zeichnung ihres 
abgewandten Profils. 

„Renate!“ flüſterte er, ſo leiſe, daß ihr Ohr es 
kaum vernahm, nur den Hauch fühlte ſie und ver— 
ſtand es doch. Kaum merklich bog ſie den Kopf 
zurück, ſo daß die zierliche Ohrmuſchel ſich ſeinem 
Munde näherte. „Nun?“ 

„Renate, haben Sie keinen anderen Gruß für 
mich, als eine vorwurfsvolle Bemerkung?“ 

Langſam wandte ſie den Kopf herum, über die 
Schulter fort, bis ihr Auge in dem ſeinen ruhte. 
„Aber Haſſo!“ 

Sekundenlang hielt er ihren Blick mit dem ſeinen 
gefeſſelt. Wie es darin flimmerte und glühte! Mit 
Staunen, wie in eine neue Welt, ſah Renate in die 
heiße Tieſe hinein. Ein Schauer überlief ſie. 

Als ſie die Augen endlich von ihm losgelöſt 
und der aufregenden Scene zwiſchen Karl Moor und 
ſeinen Räubern wieder zugewandt, war es ihr, als 
müßte ſie ſich erſt mühſam zurechtfinden in der Außen⸗ 
welt, welcher ſie ſoeben wie durch einen Traum ent: 
rückt geweſen. 

Haſſo aber ſaß hinter ihr geſenkten Kopfes und 
machte ſich's klar, daß er fih beberrihen, zufammen- 
nehmen, daß er fehr vernünftig ſein müßte, wenn 
er nicht ſeines Lebens Glück in der Wurzel ſchon 
gefährden wollte. Denn ſeit er Renate jetzt wieder— 
geſehen, war es ihm klar bewußt, welche Macht es 
ſei, die über ihn gekommen. 

Beſcheiden und verſtändig unterhielt er ſich nach 
Schluß des erſten Aktes mit Vater und Tochter und 
verbarg geſchickt ſeine Ahnungsloſigkeit deſſen, was 
ſich auf der Bühne zugetragen. Im zweiten Zwiſchen— 
akte erhob ſich Herr von Veldegg und ging, um in 
einer der benachbarten Logen Bekannte zu begrüßen. 
Sogleich lockerte ſich ein klein wenig der Zwang, mit 
dem ſich Haſſo im Zaum gehalten. 

„Renate, wiſſen Sie, daß Sie geſtern kein Wort 
mit mir geſprochen haben?“ fragte er in vorwurfs— 
vollem Tone. 

Wieder wandte ſie den Kopf nach ihm hin, doch 
diesmal raſch und mit ſchelmiſchem Lachen. „Aber 
Haſſo!“ ſagte ſie. 

„Ihr gütiges ‚Aber Haſſo‘ kann mir gar nichts 
helfen! Bitte, haben Sie die Gnade, meine unter— 
thänige Frage zu beantworten.“ 

Die glatte weiße Stirn krauſte ſich gänzlich un— 
gnädig. „Weshalb denn? Ich liebe nicht examiniert 
zu werden!“ und fort wandte ſich das Köpfchen, dem 
übrigen Zuſchauerraume zu. 

„Renate,“ bat Haſſo leiſe, „aber nicht wahr, 
wenn ich Sie ſehr bitte, dann antworten Sie mir?“ 





417 Schwertklingen. 





Ein Etwas von mutwilligem Stolz kämpfte in 
ihr mit dem Wunſch, ſeine Bitte zu erfüllen. „Haſſo, 
wiſſen Sie, daß Sie ein recht anſpruchsvoller Menſch 
geworden ſind?“ fragte ſie ausweichend. 

„Nein, Renate,“ erwiderte er lebhaft. „Ge— 
worden — nicht; ich war es immer! Ich war immer 
ein anſpruchsvoller Menſch! Und daß mir das Leben 
mein großes, dringendes Begehren niemals erfüllte, 
das hat mich immer unbefriedigt und unglücklich 
gemacht!“ 

Renate wurde nachdenklich bei ſeinen Worten. 
Es war richtig, was er ſagte. Schon als ſie ihn 
kennen gelernt, den trotzig und einſam ſeinen Weg 
durchs Leben ſich bahnenden Jüngling, da war er 
weder ſchüchtern noch anſpruchslos geweſen, ſondern 
voller Stürmen und Sehnen, voll bewußter An— 
ſprüche, die damals zu ſeiner Stellung und Perſön— 
lichkeit im Widerſpruch geſtanden. Jetzt nicht mehr! 
Damals ſtanden auch die tiefen, ſchwermütigen Augen 
im Widerſpruch zu ſeiner Perſönlichkeit und dem 
kleinen, mageren, unternehmenden Geſicht. Jetzt — 
ſie wandte plötzlich raſch und ſorſchend den Blick ihm 
zu. Nein, jetzt nicht mehr! Jetzt war dieſer Mann 
ein fertiges Ganze. 

„Haſſo, welches iſt der große Anſpruch, den Sie 
an das Leben ſtellen und der Ihnen bisher uner— 
füllt geblieben?“ klang ihre Frage ernſthaft und 
dringend. 

Er ſah ihr ſekundenlang in die Augen und ſenkte 
dann die langen, dichten Wimpern. „Ein einziger 
Menſch — dem ich alles in der Welt ſein kann!“ 

Er ſagte es ruhig, doch bebte in der Tiefe die 
verhaltene Leidenſchaft. Wieder fühlte Renate den 
geheimnisvollen Schauer, als pochte eine fremde, un— 
bekannte Hand an ihres Herzens Thür. Heiß wallte 
der Wunſch in ihr auf, die Thür zu öffnen, weit 
— weit! — 

Wie verſtummt waren ſie beide. Und dann 
kehrte Herr von Veldegg zu ihnen zurück. Die Zwie— 
geſpräche hatten ein Ende. 

Spät abends, nah Schluß des Schaujpiels, be: 
gleitete Haffo den Oberfilieutenant und jeine Tochter 
bis zu ihrem Haufe. Dann fehrte er in fein Eleines, 
einjames Quartier zurüd. Still war es in den 
Straßen und dunkel. Droben am jchwarzblauen 
Himmel aber funfelten die Sterne in unermeßlicher 
Herrlichkeit. Und nicht groß und nit weit genug 
erihien ihm das Firmament mit jeinen Sternen, 
alle die Sehnfudt, alle die Seligfeit zu umfallen, 
die mit ihrem erften heiligen, allgewaltigen Empfin- 
den jeine Bruft erfüllte. 


V. 


Haſſos fernerer Verkehr in dem Veldeggſchen 
Hauſe erfuhr eine Einſchränkung, auf welche er nicht 
gerechnet hatte. Da nämlich Renate keine mütterliche 
Beſchützerin beſaß außer Mademoiſelle, welche als 
den Anforderungen nicht genügend betrachtet wurde, 
ſo hatte der alte Klaus den Befehl erhalten, jed— 


Roman von Hans Werder. 


478 


weden Herrenbeſuch abzuweiſen, ſobald der Oberſt— 
lieutenant nicht zu Hauſe. Für Haſſo war nicht 
nur keine Ausnahme geltend gemacht, ſondern ſein 
Name ſogar unter den Abzuweiſenden beſonders be— 
tont. Er erfuhr dies von Klaus und war wütend, 
ſah jedoch ein, daß er am beſten that, ſeinen Grimm 
ſtill in ſich zu verſchließen und gute Miene zum 
böſen Spiel zu machen. War dann der Oberſtlieutenant 
zu Hauſe und ſein Beſuch angenommen, oder auch 
erbeten worden, ſo faß Mademoiſelle als Wächter 
in Renates Nähe mit einer Gewiſſenhaftigkeit, die 
nad Hafjos Meinung einer befieren Sade würdig ge: 
wefen. Außerhalb ihres ftreng gehüteten KHeims 
aber traf er Renate oft genug, um fi für die Ent: 
behrung entihädigt fühlen zu fönnen. Im Rüchelſchen 
Haufe, wo er viel verkehrte, begegnete er ihr, im 
Theater und auf den zahllojen Felten, die biejer 
Winter mit fih brachte. 

Major Schill und fein Difizierlorps waren auf 
denjelben nad wie vor der Gegenitand allgemeiner 
Huldigung. Mit fagenhaften Ruhme ward Scills 
Name ummoben. Alles jauchzte ihm zu, wo er fi 
zeigte, jeder pries fich glüdlich, den Helden erbliden 
zu dürfen, der von ber Gottheit beftimmt jchien, 
der Netter des Baterlandes zu werden. Die Damen 
riffen fi darum, feinen Eäbel berühren zu dürfen, 
die unglüdlie geflüchtete Erbprinzelfin von Heflen 
ließ ihren tleinen Sohn malen, mit diefem „Schille 
Schwert” in der Hand, das ihm jein Erbe wieder 
erobern lollte. 

Und er ging Jhliht und fill Hindurdh unter 
al dem beraufhenden Weihraud. „Man madt zu 
viel aus mir!” Symmer wieder Iprah er e8 aus, 
und feft wie Eifen ftand in feinem Sinn die treu: 
berzige, mannbhafte Bejcheidenheit, in der er fich jelber 
befler beurteilte, al$ die Menge es that. 

Und dod), wenn er es immer wieder hören mußte, 
daß er, und er allein der Befreier Preußens, der 
verheißene, erjehnte Retter jei, dann wälzte jih auf 
feine Seele wie Gentnerlaft die Frage: „Sit es 
Teigbeit, daß ich mich zu Ihwah dünte, dem Vater: 
lande zu helfen? Willen die anderen es befler als 
ih, wozu ich berufen und befähigt bin? Sit es 
meine Pflicht, hervorzutreten und die Ketten zu zer: 
breden, in denen wir alle ſchmachten?“ Ach, wer 
ibm eine Antwort auf bdiejfe Fragen hätte geben 
fönnen! 

Die einzige unter all diejen vaterländijch gefinnten 
Frauen, welche nidt zu viel aus ihm machte, welche 
nicht feinen Heldenruhm vergötterte, fondern den 
braven, liebenswürdigen Mann in ihm jah, mit dem 
treuen, warmen Herzen und den jchwärmeriichen 
Augen, das war Elife Nücdel. Und zu ihr floh 
er von den beängftigenden Weihraucdhwolfen hinweg, 
wie aus heißer, bevrüdender Lampenluft zu herz: 
erquidender Waldesfriihe. Sie würde ihn lieben 
um feiner felbft willen, auch im Arbeitstittel, ohne 
den berühmten Eäbel, ohne den Majorsrang und 
den Verbienftorden mit der Perlenfrone, das fühlte er 
mit beglüdender Gemwißheit. Und jeine Dantbarteit 
ging über in tiefe, bingebende Neigung. Schon 
ging der geräufchvolle Berliner Winter dem Ende 





479 Schmwertklingen. 
zu — da fragte Schill die Auserwählte feines Herzens, 
ob Jie fein ungemiljes Soldatenlos mit ihm teilen, 
ob fie für Leben und Sterben, für Glüd oder Unter: 
gang die Seine werden wollte —- und ftols und 
freudig legte fie ihr Lebensfchidjal in jeine Hände. 

Schill hatte fih verlobt! Und es gab ein 
fterbliches Mädchen auf Erden, das ein foldh über: 
irdiiches Glüd ertragen konnte? Das nicht zufammen: 
brady unter der Zaft jo übermwältigender Bevorzugung? 
%a, Elife Rüchel trug ihr Glüd erhobenen Hauptes, 
in bejeligender Gemißheit, dem Verlobten ebenbürtig 
zu jein an Herz und Geele und darum befähigt, 
auch ihn zu beglüden! 

Am meiften wunderten fich feine Offiziere dar: 
über. „Wer hätte das gedacht!” meinten fie. „Eigentlich 
machte er doch Fräulein von Beldegg den Hof! 
Dies mwunderhüblde Mädchen — wenn man das 
nur ahnte — dann hätte man da doch felber jein 
Heil verfudhen können!” 

„Thut es doch noch!“ mahnte Hafio. „Es 
fteht Euch ja nichts im Wege!” 

Sein guter Freund Blomberg aber Jah ihn 
mit Iuftigem Augenzwinfern von der Ceite an. 
„Rein, böre Du! dazu ift mir Deine Freundichaft 
zu niel wert, und meine Knochen vor allen Dingen!“ 

Hafjo büßte e8 nachher, wenn er jelber mit 
jolh einem Scerzwort an feines Herzens Heilig: 
tum geftreift, dur Stunden qualvoller Unruhe und 
Sorge. Wer gab ihm das Recht, mit folder Sicher: 
heit die Rivalen herauszufordern? Wußte er denn jo 
gewiß, ob ihm auch wirklich beichieden war, wonad) 
jeine Seele verlangte? 

Bei der inneren Sicherheit und Freiheit, Die 
fie bejeelte, offenbarte Renate zmanglos einem jeden, 
der e8 begehrte, ihr wahrhaftiges Gefühl, Abneigung 
oder Wohlgefalen. Daß niemand für fih eine un: 
berechtigte Freiheit daraus entnahm, dafür forgte jhon 
der unbemußte Stolz ihrer Haltung. Leider Jah aud 
Hallo Hierdurh die Gewißheit Jeiner Hoffnungen nur 
wenig gefördert. 

Einmal — es war eines Abends in dem galt 
freien Rücheljchen Haufe, wo faft fein ganzes Offizier: 
forps ich zufammengefunden, richtete Schill die Frage 
an Itenate, welcher von dem „Schillihen Korps” denn 
nun am meiften Gnade vor ihren Augen fände. 
Mit einem ruhigen Blid wanderten dieſe Augen die 
ftattlihe Nunde entlang, bis zu den feinen zurüd, 
die voll nedender Erwartung auf ihr rubten. 

„Den großen Führer natürlich ausgenommen: 
Herr Albert Wedel!” antwortete fie mit Sicherheit. 

Ein kurzer Lärm von Beifall, Enttäufchung, 
Buftimmung folgte dem Belenninis. Albert Wedel, 
„der Knabe”, elegant und gejchmeidig wie eine Gerte, 
jprang auf und beugte ein nie vor ihr, welche 
Danteshuldigung fie niit königlicher Selbftverftändlidy: 
feit entgegennahın. 

Huflo war es gemejen, als hätte bei dem Rund: 
gang ihr Auge einen Furzen, zudenden Moment auf 
ihm gehaftet. Länger als auf den anderen? Natürlid) 
— er war ja ihr Jugendfreund! D über dieje qual- 
vole Ungemißheit! -- Tapfer bemühte er fi, Die 
Erregung niederzufämpfen, die jolche Zweifel immer 


Nonan von Hans Werder. 


den Kopf hin und ber. 


480 


wieder in ihm heraufbeihmworen, oder fie wenigitens 
vor den Icharfen Bliden der Kameraden zu verbergen. 
Ganz erfolgreich konnte dies Beftreben freilich nicht fein. 

Renate war heute allein bier erjchienen. Ein 
unerhörter Fall, da fie niemals jonft ohne Begleitung 
ausging. Mademoifelle aber war Trant, und un: 
gewöynlih früh jandte der Vater den alten Klaus, 
um die junge Herrin abzuholen. Dieje Gelegenheit 
tonnte fih Haflo nicht entgehen laflen. Er empfahl 
fih Schnell und erwartete Renate auf der Treppe. 

„SH babe denjelben Weg wie Sie, Renate,” 
redete er fie an. „Wollen Sie mir gütigit erlauben, 
Sie zu begleiten?” 

Sie fiußte leiht. „Papa wünscht eigentlich nicht, 
daß ich Herrenbegleitung annehme! — Aber —” 

„Aber —” unterbrad er fie jchnel — „Sie 
können mir unmöglich verbieten, zur jelben Zeit wie 
Sie über die Linden nad der Wilhelmfiraße zu gehen! 
Niht wahr, Renate?“ | 

„Rein, das fan ih unmöglich!” betätigte fie 
aus tieffter Überzeugung. Und dann gingen fie neben- 
einander. Klaus, der eine file Schwärmerei für 
den liebensmwürdigen jungen Herrn empfand, dem es 
immer einen Stich ins Herz gab, wenn er ihn an 
der Thür abmweilen mußte, blieb viel weiter zurüd, als 
er eigentlich mit feiner Amtspflicht vereinbaren fonnte, 
Hallo bemerkte es wohl. „Das jol Dir unvergefjen 
fein, alte, brave Haut!” dachte er bei fidh. 

„Wenn Albert Wedel an meiner Stelle wäre, 
würden Sie au bier ihm den Vorzug geben vor 
mir — und allen anderen?” fragte er. 

Sie befann fih ein wenig und wiegte unruhig 
„Barum fragen Sie fo, 
Hafio! Zh Habe das gar nicht gern!” 

Eine heiße Erregung überfam ihn. „Ich möchte 
aber fo fein wie Sie’s gern haben, Renate! Ich 
weiß es ja, zumeilen bin ich nicht jo, und dann 
wenden Sie die Augen von mir fort und find zu 
Albert Wedel und zu Schill und allen anderen 
freundlicher als zu mir! — Und das ijt fürchterlich!” 

„Das bin ich niemals!” erklärte fie mit Be: 
ftunmtheit. „Und nur das mag ich nicht gern, Hallo, 
wenn Sie jo eimas jagen und wenn Sie nach der 
größten Zuftigfeit plöglid fill und finfler werden, 
und Zhre Augen foldhen vorwurfspollen Blid be— 
fommen, und ich bin mir dod nicht bewußt, Shren 
Borwurf verdient zu haben!“ 

„Und ift Yhnen noch nie der Gedanke gelommen, 
woran das liegen Fönnte?” fragte er. 

„Bedanken gewiß, aber vielleicht nie der richtige!” 
erwiderte fie zaghait. 

„Wirtlih, Renate? Wiffen Sie nit, daß es 
für al mein Glüd und all meinen Kummer nur 
einen Namen giebt, nur einen bis in den Tod?” 
Eeine Stimme bebte unter dem Drud mädtig empor: 
wachſender Leidenſchaſt. 

Renate erzitterte bei dem Ungeſtüm ſeiner Worte. 
„Seien Sie ſtill — ich will ihn nicht wiſſen!“ 

„Nein, nein, Sie ſollen auch nicht! Nur ein 
einziges Mal mußt' ich es ſagen! Verzeihen Sie 
mir!“ 

Weiter ſprachen ſie nicht, bis er an der Treppe 





481 Schwertklingen. 
fih verabfchiebete. Hier erfaßte er ihre Hand und 
hielt fie in der feinen fett. „Sie zürnen mir nicht, 
Renate?“ 

„Nein, Haflo, wie follte ih? Bejonders jegt, 
wenn Sie fo lieb zu mir find!" Mie weich, wie 
innig das Hang! Cr blidte fie fragend, forſchend 
an, voll banger Zärtlichkeit. Das matte LTicht der 
Slurlampe fiel auf iyr Gefiht und zeigte ihm ihre 
Augen, die Karen Tiefen mit dem leuchtenden Stern 
darin. Wohl fchimmerte es in ihnen von jehnjüchtiger 
Unruhe, und body lag ein Hingebendes Vertrauen in 
dem Blid. 

„No nicht!” fagte fih Hafio. Er preßte jeine 
beißen Lippen auf ihre Hand, flumm, lange. Dann 
gab er fie frei, und fie eilte fort, während er ihr 
nachſah wie dem Schickſal, deſſen Gewalt fein Leben 
verfallen war. 


Dritter Teil. 
Siebenter Abſchnitt. 
Dem Abgrunde zu. 


Wabs klirrſt du in der Scheide, 

Du belle Elfenfreubet 

So wild und ſchlachtenfroh, 

Mein Schwert, was klirrſt du ſo?7 
Hurra! 


„Wohl klirr' ich in der Scheide, 
* ſehne mich zum Streite, 
echt wild und ſchlachtenfroh, 
Drum, Reiter, Mir’ i& jol” 
Hurral 


L. 


Der Winter des Jahres 1809 ging zu Ende, 
und ein merkwürdiges Frühlingsjehnen z30g durch die 
Melt, ein Allgewaltiges, Aufbäumendes, der Drang 
nah ?reiheit, nah Befreiung von dem Weltbe- 
zwinger, unter deilen Snechtichaft die Völker jeufzten. 
Ofterreih hatte abermals zu ben Waffen gegriffen 
und fandte unter Erzherzog Karl ein Heer gegen bie 
Scharen des Unterdiüders ins Feld. Doc leider 
allein, ohne Beiftand Preußens, welches fih nad) 
jeinem tiefen Sal noh nit zu erheben ver: 
modte. Das war ein unerträglider Schmerz für 
jedes vaterländiih jchlagende Herz in preußiichen 
Landen. 

Sn Spanien und in Tirol ftand das Voll 
auf, für feine Freiheit zu lämpfen. Sollte denn in 
Norddeutſchland ſolch ein Auferftehen unmöglich fein? 
Sn dem großen, treuen, Traftvollen Norbdeutichland, 
das doch jchwerer als alle anderen baniederlag unter 
dem Fußtritt des Eroberer. Wenn es wirklich ber 
König nicht vermochte — Tollte nicht das Volk aus 
eigenem Ermellen fih aufraffen können und bas 
Beiden zum Sturm geben? 

Männer wie Gneijenau, Scharnhorft, Srolmann 
waren e8, die den Mut zu diefem Gebanten in aller 
Herzen entfadhten. In Weftfalen, dem Reiche des 
„Komödiantentönigs” Seröme Bonaparte, follte der 
Aufftand beginnen, Preußen ihn weitertragen, Na: 


Roman von Hans Werder. 





482 








poleon, mit feinem ganzen Heere in Ofterreich be= 
Ihäftigt, follte von Frankreich abgejchnitten werden, 
und der König von Preußen würde dann — bar: 
auf Hofften fie mit Zuverfiht — ihm den Krieg er: 
klären. 

Für die Ausſührung dieſes Planes, ſoweit er 
Preußen betraf, ſah man in Schill den geeigneten 
Mann. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, alle 
Stimmen nannten ſeinen Namen. Leiſe zuerſt er⸗ 
tönte der Ruf: „Brutus, Du ſchläfſt?“ Dieſe 
Mahnung fand er — von unbekannter Hand auf 
Zettel hingeworfen — in ſeinem Zimmer vor. Dann 
kamen Sendboten aus Königsberg, aus Kaſſel — 
von Oſten und von Weſten, mit klar ausgeſprochenen 
Aufträgen und Forderungen. Endlich zweifelte er 
ſelber nicht mehr daran: Er war es, der berufen, 
* geliebte Vaterland aus der Knechtſchaft zu be: 

eien. 

Einer der Thätigſten bei den Vorbereitungen 
zu dem großen Unternehmen war in Berlin der 
Oberſtlieutenant Veldegg. Er ſtand mit Grolmann 
und Scharnhorſt in regem Verkehr, und Schill ging 
jetzt faſt täglich bei ihm aus und ein. 

„Wenn ich nur erſt wüßte, daß es wirklich des 
Königs Wille ſei!“ war anfangs des jungen Helden 
oft wiederholter Einwand. Doch allmählich ward 
auch dieſer zur Ruhe gebracht. „Der König kann 
ſeinen Willen nicht kund thun, ohne ſich aufs 
ſchwerſte zu kompromittieren! Ihrem erſten Siege 
wird die Kriegserklärung als Beſtätigung Ihres 
Thuns auf dem Fuße folgen. Keinesfalls aber läßt 
der König Sie im Stiche — des ſeien Sie gewiß!“ 
Durch ſolche Reden und Erörterungen von allen 
Seiten grub ſich die Gewißheit feſt in Schills Seele 
— und trieb ihn dem Verhängnis entgegen. Nicht 
durch ſreien Entſchluß, der aus eigenem Kraftbe⸗ 
wußtſein zur That treibt und zum Gelingen be— 
fähigt, nein — aus der Überzeugung anderer heraus 
reifte der Gedanke und die That. Deshalb trug ſie 
unrettbar den Keim des Unterganges in ſich. Schill 
ging hinein als ein Opfer, unbewußt vielleicht! 
Doch nie ward aus ſelbſtloſerem Herzen Leben, 
Überzeugung, Glüd und Ehre bingeworfen — frag: 
[08 und ohne Zaubern — um dem einen heiligen 
Zwede zu gehorchen. 

Sept drang die Nachricht zu ihm, daß in Kafiel 
der Oberfi von Dörnberg den Aufftand vorbereitete, 
welcher zu jeinem Unternehmen Anhalt und Grund: 
lage bieten follte. Ein vaterländich gefinnter ZYand- 
mann, Namens Romberg, ein zuverläffiger, wage: 
mutiger Kundichafter, erichien bei ihm, um Aufträge 
und Zufierungen aus Kafjel zu überbringen. Ganz 
erfüllt von dieſem erſten Scıitte, der die Aus: 
führung ihrer dee förderte, trat Major Schill zu 
Herrn von Beldegg herein, um das Nähere zu be: 
rihten. Sie hatten eine lange, eingehende Beratung 
miteinander und dem einftigen Zieten:Qufaren ging 
das Herz auf bei der jo glühend ihm entgegen- 
flammenben Kampfesluft diejes ritterliden jungen 
Hufarenfübrers. 

Yn ihrem Pleinen Erkerftübdden neben dem 
Zimmer bes Vaters jaß Renate und hörte jedes 


RomansZeitung 1896. 


IV. 34 


479 Schwertklingen. 


zu — da fragte Schill die Auserwählte ſeines Herzens, 


ob ſie ſein ungewiſſes Soldatenlos mit ihm teilen, 
ob ſie für Leben und Sterben, für Glüd oder Unter: 
gang die Seine werden wollte — und ſtolz und 
freudig legte ſie ihr Lebensſchickſal in ſeine Hände. 

Schill hatte ſich verlobt! Und es gab ein 
ſterbliches Mädchen auf Erden, das ein ſolch über— 
irdiſches Glück ertragen konnte? Das nicht zuſammen— 
brach unter der Laſt ſo überwältigender Bevorzugung? 
Ja, Eliſe Rüchel trug ihr Glück erhobenen Hauptes, 
in beſeligender Gewißheit, dem Verlobten ebenbürtig 
zu ſein an Herz und Seele und darum befähigt, 
auch ihn zu beglücken! 

Am meiſten wunderten ſich ſeine Offiziere dar— 
über. „Wer hätte das gedacht!“ meinten ſie. „Eigentlich 
machte er doch Fräulein von Veldegg den Hof! 
Dies wunderhübſche Mädchen — wenn man das 
nur ahnte — dann hätte man da doch ſelber ſein 
Heil verſuchen können!“ 

„Thut es doch noch!“ mahnte Haſſo. „Es 
ſteht Euch ja nichts im Wege!“ 

Sein guter Freund Blomberg aber ſah ihn 
mit luſtigem Augenzwinkern von der Seite an. 
„Nein, höre Du! dazu iſt mir Deine Freundſchaft 
zu viel wert, und meine Knochen vor allen Dingen!“ 

Haſſo büßte es nachher, wenn er ſelber mit 
ſolch einem Scherzwort an ſeines Herzens Heilig— 
tum geſtreift, durch Stunden qualvoller Unruhe und 
Sorge. Wer gab ihm das Recht, mit ſolcher Sicher—⸗ 
heit die Rivalen herauszufordern? Wußte er denn ſo 
gewiß, ob ihm auch wirklich beſchieden war, wonach 
ſeine Seele verlangte? 

Bei der inneren Sicherheit und Freiheit, die 
ſie beſeelte, offenbarte Renate zwanglos einem jeden, 
der es begehrte, ihr wahrhaftiges Gefühl, Abneigung 
oder Wohlgefallen. Daß niemand für ſich eine un— 
berechtigte Freiheit Daraus eninahm, dafür forgte jchon 
der unbemwußte Stolz ihrer Haltung. Leider ja aud) 
Hallo hierdurch die Gemwißheit jeiner Hoffnungen nur 
wenig gefördert. 

Einmal — e8 war eines Abends in dem galt: 
freien Rüchelihden Haufe, wo faft jein ganzes Difizier: 
torps jich zufammengefunden, richtete Schill die Frage 
an Kenate, welcher von dem „Schillihen Korps” denn 
nun am meilten Gnade vor ihren Augen fände. 
Mit einem ruhigen Blid wanderten dieje Augen bie 
ftattlide Runde entlang, Dis zu den feinen zurüd, 
die voll nedender Erwartung auf ihr rubten. 

„Ben großen Führer natürlid ausgenommen: 
Herr Albert Wedel!” antwortete fie mit Sicherheit. 

Ein Turzer Lärm von Beifall, Enttäufchung, 
Zuftimmung folgte dem Belenntnis. Albert Wedel, 
„der Knabe”, elegant und gejchmeidig wie eine Gerte, 
jprang auf und beugte ein finie vor ihr, welde 
Danteshuldigung fie mit föniglider Selbfiverftändlich: 
feit entgegennahm. 

Hullo war e8 gewejen, als hätte bei dem Rund: 
gang ihr Auge einen Turzen, zudenden Moment auf 
ihm gehaftet. Xänger als auf den anderen? Natürlich 
— er war ja ihr Jugendfreund! D über diefe qual- 
volle Ungewißheit! — Tapfer bemühte er fi), Die 
Erregung niederzulämpfen, die joldhe Zweifel imnier 


Roman von Hans Werder. 


den Kopf hin und ber. 


480 


wieder in ihm heraufbeichworen, oder fie wenigitens 
vor den Icharfen Bliden der Kameraden zu verbergen. 
Ganz erfolgreich fonnte dies Beftreben freilich nicht fein. 

Renate war heute allein bier erichienen. Ein 
unerhörter Fall, da fie niemals jonft ohne Begleitung 
ausging. Mademoifelle aber war Tranf, und un- 
gewöynlich früh jandte der Vater den alten Klaus, 
um die junge Herrin abzuholen. Dieje Gelegenheit 
fonnte fih Haflo nicht entgehen lafien. Er empfahl 
fih Ichnell und erwartete Renate auf der Treppe. 

„SH babe denfelben Weg wie Sie, Renate,” 
redete er fie an. „Wollen Sie mir gütigft erlauben, 
Sie zu begleiten?“ 

Sie flugte leicht. „Papa wünfcht eigentlich nicht, 
daß ich Herrenbegleitung annehme! — Aber —” 

„Aber —” unterbrah er fie Ichnel — „Sie 
fönnen mir unmöglich verbieten, zur felben Zeit wie 
Sie über die Linden nad der Wilhelmfiraße zu gehen! 
Nicht wahr, Renate?” | 

„Rein, das kann ich unmöglich!” beftätigte fie 
aus tieffter Überzeugung. Und dann gingen fie neben: 
einander. Klaus, der eine file Schwärmerei für 
den liebenswürdigen jungen Herrn empfand, dem es 
inmer einen Stich ins Herz gab, wenn er ihn an 
der Thür abmweifen mußte, blieb viel weiter zurüd, als 
er eigentlich mit feiner Amtspflicht vereinbaren konnte, 
Haflo bemerkte es wohl. „Das jol Dir unvergellen 
fein, alte, brave Haut!” dachte er bei id. 

„Wenn Albert Wedel an meiner Stelle wäre, 
würden Sie aud) hier ihm den Vorzug geben vor 
mir — und allen anderen?” fragte er. 

Sie befann fich ein wenig und wiegte unruhig 
„Warum fragen Sie fo, 
Hallo! Ach Habe das gar nicht gern!” 

Eine heiße Erregung überfam ihn. „Sch möchte 
aber jo jein mie Sie’s gern haben, Renate! Ich 
weiß es ja, zumeilen bin ich nicht jo, und dann 
wenden Sie die Augen von mir fort und find zu 
Albert Wedel und zu Schill und allen anderen 
freundlicher als zu mir! — Und das ijt fürchterlich!” 

„Das bin ich niemals!” erklärte fie mit Be- 
ftunmtbeit. „Und nur das mag ich nicht gern, Haflo, 
wenn Sie jo etwas jagen und wenn Sie nach der 
größten Luftigkeit plöglih fill und finfler werden, 
und Ihre Augen joldhen vorwurfspollen Blid be: 
fommen, und ich bin mir doch nicht bewußt, hren 
Vorwurf verdient zu haben!” 

„And ift Shen noch nie der Gedante gefommen, 
woran das liegen könnte?” fragte er. 

„Sedanten gewiß, aber vielleicht nie der richtige!” 
erwiderte fie zaghait. 

„Wirklih, Nenate? Willen Eie nit, daß es 
für al mein Glüd und al meinen Kummer nur 
einen Namen giebt, nur einen bie in den Tod?” 
Ceine Stimme bebte unter dem Drud mächtig empor: 
wachlender Leidenschaft. 

Kenate erzitterte bei dem Ungeftüm feiner Worte. 
„Seien Sie fill — ih will ihn nicht willen!” 

„Rein, nein, Sie folen au nit! Nur ein 
einziges Mal mußt’ ih es Jagen! Berzeihen Sie 
mir!” 

Weiter jpradhen fie nicht, bis er an der Treppe 


481 Schwertklingen. 


ſich verabſchiedete. Hier erfaßte er ihre Hand und 
hielt ſie in der ſeinen feſt. „Sie zürnen mir nicht, 
Renate?“ 

„Nein, Haſſo, wie ſollte ich? Beſonders jetzt, 
wenn Sie ſo lieb zu mir ſind!“ Wie weich, wie 
innig das klang! Er blickte ſie fragend, forſchend 
an, voll banger Zärtlichkeit. Das matte Licht der 
Flurlampe fiel auf ihr Geſicht und zeigte ihm ihre 
Augen, die klaren Tiefen mit dem leuchtenden Stern 
darin. Wohl ſchimmerte es in ihnen von ſehnſüchtiger 
Unruhe, und doch lag ein hingebendes Vertrauen in 
dem Blick. 

„Noch nicht!“ ſagte ſich Haſſo. Er preßte ſeine 
heißen Lippen auf ihre Hand, ſtumm, lange. Dann 
gab er ſie frei, und ſie eilte fort, während er ihr 
nachſah wie dem Schichſal, deſſen Gewalt ſein Leben 
verfallen war. 


Dritter Teil. 
Siebenter Abſchnitt. 
Dem Abgrunde zu. 


Was klirrſt du in der Scheide, 

Du helle Eifenfreube? 

So wild und ſchlachtenfroh, 

Mein Schwert, was klirrſt du ſo? 
Hurra! 


„Wohl klirr' ich in der Scheibe, 
ao fehne mid zum Streite, 
echt wilb und ſchlachtenfroh, 
Drum, Reiter, Hirt’ id fol” 
Qurral 


I. 


Der Winter des Jahres 1809 ging zu Ende, 
und ein merlwürdiges Frühlingsjehnen 309 durch die 
Welt, ein Allgewaltiges, Aufbäumendes, der Drang 
nah Sreiheit, nach Befreiung von dem MWeltbe- 
zwinger, unter defien Knechtichaft die Völker feufzten. 
Ofterreih hatte abermals zu den Waffen gegriffen 
und fandte unter Erzherzog Karl ein Heer gegen bie 
Scharen des Unterbrüders ins Feld. Doch leider 
allein, ohne Beiltand Preußens, wmweldes fidh nad) 
feinem tiefen Fall no nit zu erheben ver: 
modte. Das war ein unerträglicher Schmerz für 
jedes vaterländiih Tchlagende Herz in preußilchen 
Landen. 

Sn Spanien und in Tirol ftand das Volt 
auf, für feine Freiheit zu fämpfen. Sollte denn in 
Nordbdeutichland fol ein Auferftehen unmöglich jein? 
Sn dem großen, treuen, Traftvollen Norddeutichland, 
das doch jchwerer als alle anderen daniederlag unter 
dem Fußtritt des Eroberers. Wenn es wirklich der 
König nicht vermochte — Tollte nit das Volk aus 
eigenem Ermejien fih aufraffen können und das 
Zeihen zum Sturm geben? 

Männer wie Gneilenau, Scharnhorft, Srolmann 
waren es, die den Mut zu diefem Gedanken in aller 
Herzen entfadhten. In Weflfalen, dem Reiche bes 
„Komödiantentönigs” Zeröme Bonaparte, Tollte der 
Aufitand beginnen, Preußen ihn weitertragen, Na- 


RomansZcitung 1896. 


Roman von Hans Werder. 





482 








poleon, mit feinem ganzen Heere in Öfterreich bes 
ihäftigt, follte von Frankreich abgefchnitten werden, 
und der König von Preußen würde dann — bat: 
auf Hofften fie mit Zuverfihdt — ihm ben Krieg er: 
klären. 

Für die Ausführung diefes Planes, joweit er 
Preußen betraf, Jah man in Schill den geeigneten 
Mann. Aller Augen waren auf ihn geridtet, alle 
Stimmen nannten feinen Namen. Xeije zuerit er: 
tönte der Ruf: „Brutus, Du Schläafit?” Diele 
Mahnung fand er — von unbelannter Hand auf 
Zettel hingeworfen — in feinem Zimmer vor. Dann 
famen Senbboten aus Königsberg, aus Kafjel — 
von Dften und von Weften, mit Elar ausgeiprodhenen 
Aufträgen und Forderungen. Endlich zweifelte er 
felber nicht mehr daran: Er war es, der berufen, 
= geliebte Vaterland aus der Knechtichaft zu be: 

eien. 

Einer der Thätigiten bei den Vorbereitungen 
zu bem großen Unternehmen war in Berlin der 
Oberftlieutenant Veldegg. Er ftand mit Grolmann 
und Scharnhorft in regem Verfehr, und Schill ging 
jeßt faft täglich bei ihm aus und ein. 

„Wenn ih nur erft wüßte, daß es wirklich des 
Königs Wille jei!" war anfangs des jungen Helden 
oft wiederholter Einwand. Doh almählih ward 
auch diefer zur Ruhe gebradt. „Der König fann 
feinen Willen nit fund tbun, ohne fih aufs 
fhwerfte zu Tompromittieren! SJhrem erften Siege 
wird die Kriegserllärung als Beltätigung Ihres 
Thuns auf dem Fuße folgen. Keinesfalls aber läßt 
der König Sie im Stihe — des feien Sie gewiß!” 
Dur folde Reden und Erörterungen von allen 
Seiten grub fih die Gewißheit fett in Schille Seele 
— und trieb ihn dem Verhängnis entgegen. Nicht 
duch freien Entichluß, der aus eigenem Kraftbe- 
wußtjein zur That treibt und zum Gelingen be- 
fähigt, nein — aus der Überzeugung anderer heraus 
reifte der Gedanke und die That. Deshalb trug fie 
unrettbar ben Kein des Unterganges in fih. Schill 
ging hinein als ein Opfer, unbewußt vielleicht! 
Doh nie ward aus jelbitlojerem Herzen Leben, 
Überzeugung, Glüd und Ehre hingeworfen — frag: 
[08 und ohne Zaudern — um dem einen heiligen 
Bwede zu geboren. 

Seßt drang bie Nahriht zu ihm, daß in Kaflel 
ber Oberft von Dörnberg den Auffitand vorbereitete, 
welcher zu jeinem Unternehmen Anhalt und Grund: 
lage bieten follte. Ein vaterländiich gefinnter Land: 
mann, Namens Romberg, ein zuverläjliger, wage: 
mutiger Rundichafter, erihien bei ihm, um Aufträge 
und Zufiherungen aus Kafjel zu überbringen. Ganz 
erfüllt von diefem erften Schritte, der die Aus- 
führung ihrer dee förderte, trat Major Shi zu 
Herrn von Beldegg herein, um das Nähere zu be- 
rihten. Sie hatten eine lange, eingehende Beratung 
miteinander und dem einftigen Bieten-Qufaren ging 
das Herz auf bei der jo glühend ihm entgegen- 
flammenden SKampfesluft diejes ritterlihden jungen 
Huſarenführers. 

In ihrem kleinen Erkerſtübchen neben dem 
Zimmer des Vaters ſaß Renate und hörte jedes 


IV 3 


483 Schwertklingen. 
MWort der Unterredung mit an, ungejehen, denn ein 
Borhbang verhüllte die offene Thür. Ahr Zuhören 
aber geihah mit des Waters ausdrüdlicher Bes 
willigung. Der UOberft Beldegg beiaß auf Erden 
feinen vertrauteren Freund als jeine Tochter Re: 
nate, und er wußte, wie heilig ihr Herz erglühte 
für des Vaterlandes Befreiung, wie verichwiegen und 
gewillenhaft fie das bedeutungsfchwere Geheimnis be- 
wahren würde. 

Mit geipannten Sinnen laujdhte fie den Worten, 
die Schill dort prah, und ihre Hände falteten fich 
in bebender Erregung. Endlich — jetzt endlich — 
nahte die große Stunde, da die Helden aufſtehen 
würden, Deutſchland zu erlöſen von Knechtſchaſt und 
Schmach 

O, daß ſie ein Weib war und nicht mitziehen 
durfte in den Kampf — das war ihr einziges Leid! 
Doch dafür ſah ſie ja die beiden Männer hinaus: 
ziehen, die ihr jegt in gewiflem Sinne wie ein Teil 
ihres geiftigen Selbft erjhienen: Schill, den Gegen: 
ftand und die Verlörperung ihrer patriotifchen Be: 
geifterung, und Hafjo, den Freund und Vertrauten 
ihres Herzens. Um dieje beiden wob ihre Phantafie 
einen Strahlentrang zutünftigen Ruhmes und feierte 
fie als die Helden ihrer großen Zeit. 

Berauſchend verſchmolzen ſich dieſe Gedanten 
mit denen, welche Schill da drinnen bei dem Vater 
in Worte kleidete und erfüllten ihr Herz mit Be— 
geiſterung und Stolz. 

Da ging nebenan die Thür. „Der Herr Lieu— 
tenant von Rochlitz wünſchen ſeine Aufwartung zu 
machen!“ meldete die Stimme des alten Klaus. 

„O — das geht jetzt leider nicht —“ begann 
Herr von Veldegg. 

Doch der Major fiel ein. „Meinetwegen weiſen 
Sie ihn nicht ab, Herr Oberſtlieutenant. Meine Zeit 
iſt bald abgelaufen — und überdies —“ 

„Alſo, ich laſſe bitten!“ ſagte der Oberſtlieu— 
tenant, und Klaus verſchwand. 

„UÜberdies,“ fuhr Schill fort, „gehört Rochlitz 
zu den dreien, die ich in meine Pläne einweihen 
muß! Er ſteht mir ſehr nahe und ſein Einfluß im 
Offizierkorps iſt ſo groß, daß er mir die Stimmung 
desſelben gewiſſermaßen verkörpert!“ 

Renate jubelte innerlich bei dieſen Worten, die 
ihrem Freunde ſo große Bedeutung zuſprachen. 

Jetzt trat Haſſo herein, ſie hörte die herzliche 
Begrüßung, die ihm zu teil ward. 

„Es iſt mir lieb, daß Sie kommen, Rochlitz!“ 
ſagte Schill. „Ich muß doch einmal eingehender 
mit Ihnen über die Dinge ſprechen, welche ich 
Ihnen ſchon mehrfach angedeutet! Die Erfüllung 
unſerer Pläne rückt immer näher — es kann ſein, 
daß wir bereits in einigen Tagen gegen den Feind 
marſchieren werden!“ 

„Herr Major haben den Befehl des Königs?!“ 
Es klang wie ein Jubelſchrei, ungeſtüm freudig. 
Und merkwürdig wirkte die ſekundenlange Stille, die 
darauf erfolgte. 

„Ich habe den Befehl Seiner Majeſtät nicht,“ 
nahm darauf Schill das Wort. „Ich kann ihn nicht 
haben! Der König kann mir, ohne ſich Napoleon 


Roman von Hans Werder. 


484 


gegenüber zu fompromittieren, folhen Befehl nicht 
geben. &8 muß uns genügen, zu wiflen, daß ich 
dennoch feinen Willen erfülle!” 

Wieder eine kurze, inhaltvolle Pauſe. 

„Herr Major — preußiihe Soldaten —” 

Er bildete aus dieſem Anfang feinen fertigen 
Sat. Was jollte er weiter jagen? Weder Rat nod) 
Warnung ftand ihm zu. War aber beides nicht ge: 
nügend ausgelprodhen in dem einen Wort: preußifche 
Soldaten? 

„Ja, preußiide Soldaten!” nahm jegt Herr 
von Beldegg mit Lebhaftigfeit den Gedanken auf. 
„Mein lieber Rodhlig, Sie willen, au id war 
preußilcher Soldat und bin es noch mit jedem Blute- 
tropfen, obihon ich leider des Königs Rod nicht 
mehr trage. Ich kann Ihnen ſagen, daß es nicht 
allein des Soldaten Pflicht iſt, blind die Beſehle zu 
erwarten, er ſoll auch auf eigene Verantwortung 
handeln können und in großen, beſonderen Mo— 
menten Leben und Ehre einſetzen — nicht nur 
dem Schwert des Feindes, auch dem Richterſpruch 
des Königs gegenüber, um in deſſen Intereſſen zu 
handeln!“ 

„Herr Oberſtlieutenant, ſolche Anſchauungen 
ſind mir nicht geläufig!“ erwiderte Haſſo gemeſſen. 
„Es Steht mir jedoch nicht zu, meinem Regiments: 
fommandeur zu wiberiprechen !“ 

Shill fprang auf und faßte ihn am Arm. 
„Sa, NRohlig, Sie jollen mir widerfpreden! Ydh 
babe bier nicht die Abficht zu befehlen, fondern Ybhre 
Anficht für mich zu gewinnen. Wie jol ich meinen 
Plan zur Ausführung bringen, wenn hr nicht alle 
— jeder einzige von Eu — mit dem Herzen zu 
mir Steht! — Kinder, ih bin Eu doch mehr als 
nur ber NRegimentsfommandeur, ich bin nidt viel 
älter als Yhr, meine Offiziere, Jr jeid mir Brüder 
und Freunde! Mit dem Tage, wo Ahr anfangen 
wolltet, nur als Untergebene meinen Befehlen zu 
folgen, hätte das Schillihe Regiment aufgehört das 
zu fein, was es ift und bleiben joll!“ 

Mit faft zärtlihem Drud umfaßte Hallo die 
ritterlide Hand, die jo warm nad der jeinen grifl. 
„Herr Major, Sie willen, daß jeder einzige von 
uns fih mit Ihnen — für Sie — in Hleine 
Stüde zerhaden ließe; daß wir alle nur darauf 
brennen, von hnen gegen die Franzofen geführt zu 
werden! Aber — warten Sie den Befehl des Königs 
dazu ab!“ 

Schill ließ Jeine Hand fahren und begann er: 
regten Schrittes im Zimmer auf und ab zu geben. 
„3b werde den Befehl befommen! So hören 
Sie dobh, was ich Shnen fage! Nur auf ihn 
warten — Tann ih nit! Sch muß etwas unter: 
nehmen! Ih muß!” Unjer Erfolg wird es dem 
Könige ermögliden, mit der Kriegserklärung ber: 
vorzutreten! Diejer Erfolg ift aber nur denkbar, 
wenn ich ini auf meine Offiziere verlaflen kann, 
wie ich e8 in der Kolberger Zeit gefonnt!” Und er 
warf aus jeinen Ihwarzen Augen einen zündenden 
Blid auf den jchmweigend vor ihn ftehenden Offizier. 


*) Schills Wort. 


485 Schwertklingen. 
Ach, es bedurfte dieſer Mahnung an die Kol⸗ 
berger Ruhmestage nicht. Haſſos ganze Seele ſtand 
in Flammen bei der Ausſicht eines nahenden Zu: 
ſammenſtoßes mit dem tödlich gehaßten Unterdrücker. 


Aber vor dieſer beſeligenden Hoffnung ſah er einen 


unüberſteiglichen Wall: die leider Gottes noch fehlende 
Marſchordre des Königs. „Wir ſind dazu da, Ihnen 
zu folgen, Herr Major —“ ſagte Haſſo. Den 
Nachſatz — wenn es der König befohlen — ver—⸗ 
ſchwieg er, doch zitterte er gleichſam im Tone ſeiner 
Stimme nach. 

„Rochlitz, Sie ſind mir unbegreiflich!“ rief 
Oberſtlieutenant Veldegg jetzt aufgeregt. „Von Ihnen 
gerade hätte ich alles andere eher erwartet als ſolche 
vorſichtigen Schulmeiſteranſichten!“ 

Haſſos Haltung wurde geſchloſſener. „Meine 
Anſichten ſtammen aus der Schule des Prinzen 
Louis Ferdinand!“ ſagte er mit nur leicht markierter 
Betonung. 

„Nun hören Sie, lieber Freund, dieſe Schule 
werden Sie mir ſchwerlich als eine ſonderlich ernſte 
bezeichnen wollen!“ rief der Oberſtlieutenant gereizt 
auflachend. 

Jetzt flammten Haſſos Augen. „Wenn Sie 
daran zweifeln, ſo haben Sie ihn nicht gekannt, 
Herr Oberſtlieutenant! Er wünſchte den Ausbruch 
des Krieges ſo glühend, daß er die Höllenſcharen 
entboten hätte, um ſie gegen Frankreich zu führen! 
Und es hätte ihn ein Wort gekoſtet, ſo ſtand er an 
der Spitze des Heeres! Ja, wir riefen ihn — und 
wir wären alle, alle mit ihm gegangen! Aber er 
hatte nur eine Antwort für uns: „Ich bin Soldat 
meines Königs!“ 

Schill warf ſich in den Seſſel und ließ den 
Kopf in die Hand ſinken. Herr von Veldegg ſah 
den Eindruck, den Haſſos Worte auf ſeinen Aus— 
erwählten machten — und er hätte ihn erwürgen 
können vor Zorn. 

„Glauben Sie etwa, Prinz Louis ſelber hätte 
den großen Fehler mangelnden Entſchluſſes und 
Zögerns in jenen Oktobertagen nicht bitter bereut?“ 

„Wie fol er ihn bereut haben,” gab Haflo er: 
regt zurüd. „Sein Fehler war das nidt. Er ilt 
mit der ganzen Kraft feines Einflujles den Urhebern 
diefes Zauderns entgegengetreten, und als zu |pät 
ber Befehl zum Vorgehen erfolgte, da opferte er fein 
Leben, um das Verlorene wieder einzubringen! Aud) 
dafür war er ja Soldat!” 

Schill erhob fich während diefer Worte. „Es 
kann wohl feinem YZmeifel unterliegen,“ jagte er 


Roman von Hans Werber. 


baflig, „daß wir alle drei Hier auf einem Grunde | 


Sch hoffe, mid auch nod . 


ber Gefinnung ftehen! 





486 





| abfehiebete ih kurz und ging. Der Oberftlieutenant 


begleitete Schill ins Borzimmer, um ihm dort 
nochmals dringend ans Herz zu legen, fih ums 
Himmels willen nit von Hafios Einwendungen be- 
einfluffen zu laflen, und Fehrte dann verftimmt zu 
dieſem zurüd. 

Sn dem Augenblid teilte fich der Vorhang von 
dem Erferflübhen — und Renate trat berein. 

Sie erihien größer als jonit, ihr Gefiht blaß 
und die Augen jeltiam erweitert. „So haben mid 
meine Ohren mwirtlih nicht getäufht, das waren 
Sie — Hallo — der bier geiproden und Schill 
zu —— verſucht hat im Kampfe für die Frei— 


heit — 

Safe ftand vor ihr, flraff und feft, bie Linke 
Hand am Säbel. Sein Blid begegnete dem ihren 
klar und entſchloſſen, doch ein töbliches Web fchnitt 
ihm ins Herz. als er Renate jo fich gegenüberftehen 
fah. „Wenn Sie meine Worte gehört haben, Renate, 
und verftanden, dann werben fie Yhnen jchwerlid 
überrafchend gellungen haben!“ 

„Überraihend — Hafjo — vernidhtend! Aus 
allen Himmeln haben fie mih geſtürzt! Von 
allen Menichen auf Erden waren Sie der lehte, von 
dem ih das — das erwartet hätte!” 

„Was denn?“ fragte er nit ohne Schärfe. 
„Mid Iprehen zu hören, wie es fi für einen 
preußiihden Soldaten geziemt?!” 

Renate wollte heftig erwibern, doc der Dberft: 
lieutenant trat dagmwifhen. „Laß nur, mein Kind! 
— Lieber Haffo, ich beſchwöre Sie, verfteifen Sie 
ih nicht auf diefe Keen! Prinz Louis war ge- 
wiß ein Held, den man nicht body genug bewundern 
fann, doch wahrfcheinlich nicht der eiferne Charafter, 
deflen wir damals wie jeßt beburften, fonft wäre 
er eingejchritten!” 

„sh muß Ahnen das beitreiten, Herr Oberft: 
lieutenant. Wie von hartem Eifen ift er mir freilich 
nie erfhienen, aber immer wie vom feinften Stahl! 
Hätten Sie ihn gefehen in der Schladt, die er fo 
heiß erjehnt, von deren Ausgang Himmel oder Hölle 
für ihn abhing, Sie würden ficher nicht fo über ihn 
urteilen! — Er überfab mit dem Blid des Feld: 
berrn, daß der Tag verloren war, eher als wir alle! 
Größere Verzweiflung bat wohl niemals eines 
Menihen Bruft durdtobt! Sie kannten fein un: 
geitümes XTemperament, weldes jede NRegung in 
jeinen Mienen wiederfpiegelte. Und do, — in diejem 
Ihredliden Augenblid gab die heitere Ruhe feines 
Gelihts noch einmal den fliehenden Regimentern bie 
Zuverficht zurüd und brachte fie zum Stehen! — Seit 
ich das gejehen habe, weiß ich, was Selbftbeherrichung 


weiter mit Jhnen zu verftändigen, Haflo!” Er ver: | — und was Soldatenpflicht if!” 
(Fortfegung folgt.) 


487 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





488 


Heiblatt der Dentihen Noman-Beilnng. 


Un der Gruft des Reihsfreiheren vom Stein 
zu Frücht bei Ems. 


Mann von deutſchem Weſen, 
Mann von deutſcher Art, 
Der in Not erleſen 

Unſern Vätern ward, — 
Liebte ſchon als Knabe 
Deine Trutzgeſtalt, 

Bin zu Deinem Grabe 
Freudig hergewallt. 


Deutſchen Sinn zu feſten 
Hab' ich wohl begehrt. 
Zählteſt zu den Beſten, 
Die der Deutſche ehrt; 
Herrlich anzuſchauen, 
Urbild deutſcher Kraft, 
Lehrſt Du Gott vertrauen, 
Der Erlöjung Ichafft. 


Zogelt Deinem Wollte 
Starf und Lühn voran, 
Eine Feuermwolte 

Shm auf dunkler Bahn. 
Grimme Wetterfhauer 
Führteſt Du's hindurch, 
Warſt des Rechtes Mauer 
Und der Freiheit Burg. 


Deines Geiſtes Stärke 
War der Schwachen Hort, 
Deine hehren Werke 
Wirkten mächtig fort. 
Durfteſt ſelber ſchauen, 
Wie der Korſe fiel; 
Deutſches Reich zu bauen, 
War Dein höchſtes Ziel. 


Nicht war Dir beſchieden, 
Es erreicht zu ſehn; 
Schlummerſt nun in Frieden 
Hier auf freien Höhn. 

Aber aus den Gründen 

Her zum Heiligtum 

Muß der Schall Dir künden 
Deines Volkes Ruhm. 


Deine Gruft umſtrahlen 
Soll der Flammenſchein, 
Der von Höhn uud Thalen 
Dringt verflärend ein. 

Und herniedberfchweben 
Mög’ Dein feliger Geift, 
Daß er deutfchen Leben 
Rechte Pfade meilt. 


Glanzverklärt die Züge 
Spridft Du fühn und frei: 
„Kampf der mweljichen Lüge, 
Tod der Tyrannei! 


2 


— * * > 2 * 


ö— — — — — — ——— — —— — — — — — DE — — ——— — —— 


Sei in Eurer Mitte 
Heilig immerdar 
Deutſche Zucht und Sitte. 
Krone und Altar!“ — 


Mann von deutſchem Weſen, 
Mann von deutſcher Art, 
Der uns auserleſen 

Einſt in Nöten ward, 

Laß uns allerwegen 

Treu gedenken Dein, 

Dann wird Kraft und Segen 
Unſer Erbe ſein! 


Im Auguſt des Jubeliahres 1895. AX 


Aus meinen Frinnerungen. 
Ton Qlte von Lelxzner. 


Wieder einmal ziehen die Nationalitätsftreitigfeiten im 
Kaiferreih die Aufmerkfamtfeit Dentichlands auf fich und in 
weiten Streifen regt fih die Teilnahme an dem Xofe ber 
Stammedgenofien. Man bemerkt Flammen aus der Ferne 
erſt, wenn ſie zum Dach oder zu den Fenſtern hinausſchlagen, 
der glimmende Funke und der gloſtende Balken bleibt un⸗ 
bemerkt. So iſt es auch in dieſer Angelegenheit. Seit die 
Ungarn hauptſächlich durch Joſefs Il. gewaltſamen Reform- 
drang, ſeitdem die Slawen im Norden und Süden in den 
erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts zum Bewußtſein 
ihres Volkstums gekommen ſind, hat der kleine Krieg zwiſchen 
den Stämmen, aus denen ſich der Kaiſerſtaat zuſammenſetzt, 
niemals ganz geraſtet; niemals hat ſich ſeitdem ein wahrhaft 
inniger Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Volksſtämmen 
herſtellen laſſen und jede Verwickelung, die das Reich zum 
Kampf nötigte, fand Öſtereich geſpalten. 

Wohin jedoch auch die Sympathien der Völkerſchaften 
ſich neigen mochten, wie ſehr z. B. die einzelnen ſlawiſchen 
Stämme des Südens unter ſich uneinig waren, in einem 
Punkte trafen ſie zuſammen: in der Abneigung gegen die 
Deutſchen. „Svab nem ember“ „der Deutſche iſt kein Menſch“, 
ſagt eine ungariſche Redensart, „Nemec, tepec“ „der Deutſche 
iſt ein Dummkopf“ behauptet ein Volksreim der Slovenen. 

In der Zeit von ungefähr 1830 war die panſlaviſtiſche 
Idee noch platoniſch; da mochte Jan Kolar (1793 - 1854) in 
ſeiner Schrift „Uber die litterariſche Wechſelſeitigkeit zwiſchen 
den verſchiedenen Stämmen und Mundarten der ſlawiſchen 
Nation“ noch ſagen, daß die Einheit ,„nicht in einer politiſchen 
Vereinigung aller Slawen, nicht in demagogiſchen Umtrieben 
und revolutionärem Aufruhr“ beftehe. 1831 Hatte er einen 
litterarifchen Verein gegründet, dem fünfzehn Mitglieder an- 
gehörten; je mehr fich aber politiiche Ziele mit den litterarifchen 
verbanden, defto größer wurde der Bund und fchon 1846 
umſchloß er fiebzehnhundert Meitglieder. Wie fehr felbft 
Deutfhböhmen von diejer flawifhen Strömung ergriffen 
waren, beweifen verihiedene deutiche Didytungen, wie Harts 
manns „Kelh und Schwert” (1545) und Alfred Meifners 
„Ziska“ (1846). 


489 


Die Abrreigung gegen ba8 beutiche Element war in den 
tſchechiſchen Volksmaſſen lebendig, bas beweilen Die Ecenen 
im April und Mat 1848 in Prag. Man kennt die Antwort, 
die Palacky dem Frankfurter Borparlament auf die Ein- 
labung, feinen Plat in der Verfammlung einzunehmen, ge- 
geben hat. Er veriwahrt fich darin zuerft gegen den Vorwurf, 
als hege er feindliche Gefühle gegen Teutihland, betont 
jebod, daß er Slamwe jei und das czehifche Volk unbedingt 
nichts Gemeinſames mit dem beutfchen haben Fünne. Dann 
aber kommt eine Stelle, die kurz darauf eine merkfwürbige 
Beleuchtung finden follte. Dan wiife, heißt e8 dort, welches 
Niefenreih den Often Europas inne babe; faft unangreifbar 
auf eigenem Boden, bebrohe e8 die Treiheit der Welt, und 
ftrebe die allgemeine Herrihaft an. Obwohl ein Slame, 
würde er bieß alö ein ungeheures Unglüd betradten. 
Einige Zeit darauf tagte in Prag jener vielberufene Slawen 
fongreß, wo bie Vertreter der verichiedenen Stämme, um fich 
zu berftänbigen, bdeutjch verhandeln mußten und in der 
Sprache des gehaßten Feindes ihren Gefühlen freien Lauf 
ließen. — Bie ftarren Vertreter des nationalen Gedantens 
richteten Seitdem unter dem Trud des Schwarzenbergicdhen 
Gentralismug ihre Augen andädtig nad dem norbifchen 
DOger und zum Väterhen an der Netwa. 

Sangfamer und zerfahrener entwidelte fich die ſlawiſche 
Bewegung im Volfsbemußtfein der flawiihen Stämme tim 
Süben, bei Slovenen und Kroaten. Auch bei ben erfteren 
ging der Anftoß von der Litteratur aus und zwar in Srain, 
wo ein Dlatt „Srainifche Biene“ (Krajnska Cbelica). ba 
feinen Titel wohl einer Nachahmung der Zeitfchrift Bulgariens 
verdanft, die verjchiedenen Kräfte vereinte, unter denen nur 
BreSer und Bobnit eine felbftändige Begabung befaßen. 
Auf die niedrigen Volksidichten, die Bauern in Krain, 
Kärnten, Unterfteicrmart und Eüdweft-lingarn, wirkten diefe 
Beitrebungen gar nicht ein — denn diefe konnten faum lejen 
und verftanden bag Schriftjloveniich, wie e8 fih zu entwideln 
begann, nur zum Teile. Die VBollsiprahe war bejonders 
dort, wo die Spradhgrenzen in einander flofjen, unglaublich 
berwildert und mit ungariichen wie dentihen Worten durchs 
jet. Bezeichnend ift e3, daß die grammatifalifchen Lehrbücher 
faft durhgängig deutich geichrieben werden mußten und 
mander Dichter, wie PBreser, zur bdeutihen Sprade griff, 
um ben nationalen Gedanken vor einem größeren Hörerfreis 
zu verteidigen. Die Verhältniffe, die in den genannten 
Provinzen herrichen, brachten e8 mit fi), daB jede Bauern 
familie banad ftrebt, mindefteng ein Mitglied zum „geiftlichen 
Herrn“ zu maden. So waren e3 denn aud zum großen 
Teile Bauernföhne, die auf den Ghummafien und in den 
fatholtfchen Priefterhäufern das Volfsbewußtjein durch Bes 
ihäftigung mit der jlovenifhen Literatur in fich kräftigten 
und dann al3 Sapläne oder Pfarrer auf die Landbemohner 
in berjelben Richtung einwirkten. Aber aud Angehörige an- 
derer Stände rafteten nicht, und bejonderg jeit 1843 nahmen 
die Beitrebungen Aufihwuug. Der bei weiten größere Teil 
der Litteratur beftand aus Üiberfegungen vornehmlich beutfcher 
Werke. Auch Schillers Tramen find jpäter übertragen worden, 
wenn and nicht mit allzugroßer Sorgfalt. So entfinne id) 
mid, daß in „Maria Stuart“ die Stelle: „Konzepte von 
Briefen an bie Königin von England“ mit „Verjuche neu: 
befchnittener Federn“ wiedergegeben war. 

Sn den jechziger Jahren nahın die Haltung dem Deutich- 
tum gegenüber immer feindlichere Formen an und verbreitete 
ih allmählih aud in der Sugend. Sch befand nich jeit 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


490 


bem Jahre 1859 am Gymnafium in Marburg, einem Städtchen 
in Unterfteiermarf, das, hauptfählich von Deutichen betvohnt, 
ringaumber von floveniicher Bevölkerung umgeben war. Die 
Lehranftalt war deutich, aber ber größere Teil der Schüler 
wie der Lehrer gehörte dem flawifchen Stamme an. Das 
Völtchen jelbft ift geiftig begabt und von jener eigentümlichen 
Reibenshaftlichkeit, Die nur felten, aber dann heftig und uns 
vermittelt Tosbriht. Um das Jahr 1863 Hatten wir Schüler 
ber höheren Klafjjen ein Gefangsfrängdhen gebildet, in dem 
beutiche und jlamifche Lieder gefungen wurden. Bald jchlichen 
fih nationale Lieder der Slovenen ein, die ftart haupiniftilc 
gefärbt waren, wie eine Art von Stampflied „Naprey sastawe 
Slave“ (Vorwärts ihr ahnen Slavas). Wir Deutichen 
fchrieen wader und harmlos mit, ohne Ahnung, daß unfere 
Hovenifhen Mitichüler dabei noh an etwas anderes, als 
nur an die Ausbildung ihrer Stimmen dbadhten. Allmählich 
aber ging uns body da8 Verftändnis auf, denn bald befanden 
fid) alle Xieder diefer Art auf dem Repertoire bes „Sstränzchens“, 
während jonft in unferer Sprache nur gefragt wurde, wer den 
lieben Wald fo jhön Hingeftellt Habe, ober dem Hirtenfnaben 
die Nuhe veriprohen murde. Das wurde uns zulekt bo 
zu bunt, und wir verlangten, doc) wenigftens fragen zu bürfen, 
wa8 bes Deutfhen Baterland fe. E8 Fam zu Kleinen 
Neibungen in der Schule, und in mander Zwilchenpauje 
mwurbe nicht nur mit Worten geftritten. 

1864 und 1865 hatte indeffen die Beivegung immer mehr 
an Umfang gewonnen und bejonders auf dem Lande begann 
das jlovenifcdye Element ziemlich felbftbewußt zu werden. Der 
Einfluß der nationalen Hetfapläne machte fich immer ftärfer 
bemerkbar; Lefevereine und Gefangöfefte wurden zu einer 
lebendigen Aufwiegelung benugt. Befonbers zwei Vorfälle 
erregten Auffchen. Sm März 1866 hatte ein Kaplan im 
Bad Tüffer, wenn ich nicht irre, den Schülern in der Religions: 
jtunde den Gchrauch ber deutichen Sprache unterfagt und Hin 
zugefügt, das Land gehöre den Slovenen und man werbe 
bie Deutfchen nächftens Iinausjagen. Der zweite Tal fpielte 
fih in der theologiichen LZehranftalt in Marburg ab. Zwei 
der Alumnen, obwohl Slovenen von Geburt, der deutichen 
Voefie und Wiffenfchaft zugethan, hatten fih Schillers Werte 
angeichafft und ber eine bon ihnen war fo weit gegangen, 
des Dichters Bildnis über jeinem Tiih im Studierfaal aufs 
zuhängen. Die Leitung der Anftalt lag damals in der Hand 
eine® Mannes, ber als Katholit wie als Slovene gleich 
fanatifd) gefinnt war. Der Trevel wurde entbedt, die Sünber 
zur Verantwortung gezogen: al& größtes Verbrechen hielt 
man ihnen vor, daß fie die Werle eines Broteftanten unb 
noch dazu eines Deutichen gelejen hätten. 

Derartige Vorfälle erwecten natürlich bei uns bartlojen 
Bolitikern Die Leidenjchaften und wir Deutichen gaben all: 
mählig die angeftammte Geduld‘ — in ber die Deutlich 
Ofterreicher fo Großes leiften — auf. Es kam im Kränzchen 
zum rad. Am 1. Mai 1366 follte ein Maiausflug ftatts 
finden. Einer von uns hatte eine Jahre machen lajjen, auf 
die eine Lyra gemalt war; eine junge Dame ftidte einen 
Eichenkranz darum. AlS das Werk beendet war, zeigten wir 
e3 im „Stränzchen“, ohne zu ahnen, welher Sturm darüber 
losbrechen jollte. Die Slovenen machten ungufriedene Ges 
fihter, und endlih fan die Wahrheit an den Tag: biejer 
Fahne würden fie niemals folgen, denn die Eiche fei der 
deutfhe Baum, man folle einen Lorberfranz an die Stelle 
fegen. Unfonft boten wir an, daß ein frifcher Lindenkranz — 
die Linde hat der liebe Gott nämlich eigens für bie Slawen 





wachen Iafien — auf die Fahnenjpige kommen fönnte. Da 


491 





Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





492 








wurde denn die Stimmung immer jchwüler und zulest er: 
Härten wir ihtten, daß fie gar feine Urfache hätten, dem 
deutichen Eichenkranz nicht zu folgen; was fie an Willen be- 
füßen, vermittle ihnen Beutjchland; noch habe fein SIovene 
etwa8 Großes auf irgend einem Gebiete der Kunjt und Wifjen- 
ichaft geleiftet — furz, wir legten uns mit jugendlicher Be- 
geifterung in das Zeug So fand das Stränzdyen jamt dem 
Ausflug ein jähes Ende. Bald verbreitete fi das Gerücht 
bon dem Sturme im Glaje Waffer durd) die Stadt, aud) der 
Ghymnafialdireftor erfuhr ed. E83 fam zu einer Stonferenz 
der Lehrer und die „Führer“ beider Parteien wurden vor— 
geladen. Man hielt uns eine jchöne Nede von Eintradt, 
vom wahren öjterreihiichen Geift und dann wurden wir ent- 
lafjen. Aber der wirkliche Friede ließ fich nicht herftellen. 
Viele Wochen lang wurde zwijchen SIovenen und Deutichen 
fein Wort gewechjelt und bei geringen Anläffen fam e3 zu 
Streitigkeiten, alS deren legte Beweismittel die Fauft zur 
Verwendung Fan. 

Was hier im Stleinen geihah, wiederholte fid) an ver: 
ichiedenen Orten im größeren Stil. An Aufreizungen der 
Maffen fehlte e3 natürlicd) nicht. So fand einmal Sonntag, 
den 22. September 1867 ein national=jloveniiches Felt in 
Stleinfonntag bei Pettau ftatt, zur Erinnerung an einen 
(Shronikenichreiber aus dem 17. Sahrhundert. Man wollte 
zur Feier de Tages ein Drama „Samo“ geben, Der Titel 
offenbarte die Tendenz: Samo, ein Frante, hatte um 625 
nad) Chrifti Geburt ein füdjlamwijches Reich gegründet. Das 
Etii behandelte diefe Gründung zum Zmede der Agitation, 
feierte die Verbrüderung der Slovenen, Serben und Kroaten 
und wies in der bewährten Form einer Prophezeiung auf 
eine zweite derartige Gründung hin. Die hohe Obrigfeit 
fand aber die Tendenz doch ein wenig jeltjam und verbot 
die Aufführung. Aber e3 fand fich jchnell ein Erjag. Ein— 
geleitet wurde das Felt, zu dem alle Deutjchenfrejier aus 
Unterfteiermarf und Kroatien nebft vielleicht Hundert Geift- 
lien und ihrer Bauerngefolgihaft hingeftrömt waren, durd) 
die Nede eines Landtagsabgeordnneten, eines gewifjen Her: 
mann, deffen Name mit feinem fanatifhen Deutjchenhaß 
wenig übereinftimmte. Gr pried zuerjt den unbekannten 
Shroniften und jagte darauf mit redneriihem Phatos das, 
was man dramatijch zu jagen verboten hatte. 8 folgten 
Gejangsvorträge — alle Terte für den Zmwed beftimmt, und 
num zwei Ginafter. Der erfte hieß „Supan“ („Ort 
vorfteher*). Ein Supan hat große Morliebe für alles 
Deutfche und fpricht die deutjche Sprache jehr gerne, obwohl 
er ihrer nicht recht mächtig ift. Dieje feine Neigung ärgert 
die Familienangehörigen; mit Hohn und Spott machen jie 
fid) über des Vater8 Shmwäde her und jchmähen jo lange 
auf die „verfluchten Deutihen“ (memskutari), bis des 
Supans nationaler Stolz erwaht und er der Verirrung 
entjagt. 

War der Jubel der Anmwejenden jchon bei diefenm Meifter: 
werfe groß gemejen, jo erreichte er bei dem zweiten Stüdchen 
feinen Siedepunkt. Die Farce nannte jih „EHlindre in 
Klobonzet* („Sylinder und Nundhüthen“). E3 fpielten nur 
zwei Perjonen mit, deren eine dad Slawentum, die andere 
das Deutihtum repräfentieren jollten. Der Slawe trat im 
eleganten, verichnürten Nod auf, mit anliegenden Beinkleidern 
und halbhohen Laditiefeln, auf dem Kopfe das runde Hütchen; 
der Deutfche dagegen, ein magerer, langmähniger Menidh, in 
einem alten Frad mit furzen Arıneln, in abgeichofjenen 








Deinkleidern und zerriffenen Niederfchuhen, die Hände in zu 
großen weißmwollenen Handidyuhen und auf dem Kopf einen 
abgeichabten Sylinder. ALS er auftrat, ging ein unbefchreib- 
liches Lärmen 103; die Eitelkeit war augenjcheinlich befriedigt. 
Der eigentliche Stoff des Dialogs beitand darin, daß jeder 
ber beiden jeine Kopfbedefung als die jchönere prieß; aber 
in diefe Streitfrage waren lauter Hiebe gegen die Deutichen 
bermijcht, einer immer diimmer und gröber alß der vorher: 
gehende. Zulegt hob der Vertreter der Deutjchen hervor, 
jein Hut rage zum Himmel, der „Rlobouzel“ aber jei niedrig. 
Der Slawe findet ein Mittel, dieje Ungleichheit zu bejeitigen: 
er treibt dem Gegner den Gylinder mit einem Eunjtgerechten 
Fauftichlag ein. Unter allgemeinem Jubel fiel der Vorhang. 
Wir waren etwa jech8 Studenten anwejend; e3 Fam mit 
einigen Slovenen zum Streit, und wir mußten froh fein, 
daß wir entfamen. In folder Art wurden dem ungebildeten 
Volk das nationale Selbftbewußtjein und der Deutichenhaß 
zugleich eingeflößt. 

Da e3 auf den Hodichulen, bejonder® in Graz, wo 
noch 1867 viele Slawen und noc; mehr Italiener ftudierten, 
ebenfalls zu Neibungen kam, ift begreiflih. Aber der liber- 
mut der nichtdeutichen Nationen und Natiönchen hatte dod) 
auch fein Gutes, denn er ftärkte in der deutjchen Jugend 
Dfterreich® die Liebe zum geiftigen Mutterlande. E8 herricte 
in ihr felbft 1866 und fpäter eine Strömung, die vielleicht, 
vom Standpunkte des Staates au8 betrachtet, allzu deutich 
war; e3 gab Ktreife, die jchon damals mit flopfenden Herzen 
der Entwidelung der deutſchen Berhältniffe folgten. Sie 
waren e8 auch, in denen die Siege, die zu unjerer Einigung 
geführt haben, eine Begeifterung erwedten, die nicht geringer 
war als im eigentlihen Deutſchland. 

Aber ebenjo groß war aud) der Groll bei allen jenen 
Völkern, die im Geheimen auf „Nevande für Königgräß“ 
gehofft hatten. Wie die Verhältnifje liegen, iſt es unzweifel— 
haft, daß Ungarn und Slawen, obwohl unter jich vielfach) 
gejpalten, eins find im Haffe gegen die Deutjchen Oſterreichs, 
deren geiſtiges Übergewicht ſie nur widerwillig ertragen, es 
iſt unzweifelhaft, daß im Süden das Slawentum, in Ungarn 
und Siebenbürgen der Magyar und der Rumäne ſtetig vor— 
dringen. Ein geiſtiger Kampf iſt entbrannt, daran ändern 
Vertuſchungen nichts. Immer mehr wird es zur Pflicht 
des Reichsdeutſchen, den Blutgenoſſen in der Fremde lebendige 
und thatkräftige Teilnahme zuzuwenden. Er arbeitet damit 
für eine Zeit, in der die Gewißheit des inneren Zuſammen— 
hanges als entſcheidende Macht in die Politik der Zukunft 
eingreifen wird. 


Maikönigs Tod. 


Durchbebt von wehmutreichen Schauern 
Liegt die Natur in tiefem Trauern ... 
Durch ſchlummermüden Abend leiſe 
Weht eines Grablieds ernſte Weiſe. — 
Maikönig wird zur Ruh getragen; 

Ein graulich-dumpfes Totenklagen 
Raunt wie geſpenſterhaftes Flüſtern 
Durch Wieſengrund und Waldesdüſtern .. 
Maiglöcklein klingt ſo traurig heute, 
Singt feines Königs Sterbgeläute ... 
Drein hallt vom Grabesrande leiſe 


493 


Des Leihendhores heil’ge Weile. 

Defränzt den Sarg mit Mat’n und lieber, 
Maikönig finkt zur Gruft bernieder ... . 
Sm SZunihaud hört man verhallen 

Den Grabgejang ber Nadtigallen.... 


Belldelm Sioof. 


Der Bimmerferr. 
Von Yiklor von Koßleneng- 


Gelbft der infame Berliner Oftwind, der fonft beim 
tüdifh an den Straßeneden lauert, um dem ahnungalofen 
Wanderer mit hHöhnifchem Schnauben an den Leib zu Springen, 
hatte dem einziehenden Frühling zu Ehren eine Art heiteren 
Weiend angenommen und tollte als jauchzender Frühlings» 
fturm durch den Abend. m Grunde freilih war er der alte 
heimtückiſche Burſche. 

„Was für'n Sturm ...“ meinte Herr Erich Nödlich und 
ſchüttelte ſein borſtiges Haupt. Er ſah auf die ſpärlich er⸗ 
leuchtete Straße hinab und ging dann mit wichtig nach 
auswärts gedrehten Füßen und hochgezerrten Brauen im 
Zimmer auf und ab. „Nein wirklich, Frau, mir geht das 
widers Gefühl. Ich bin einmal ſo,“ ſagte er nach einer 
Weile wichtig verſonnen. 

„Ach was ... Als wenn wir's ſo dick hätten. Heut: 
zutage muß man's nehmen, wo man's kriegt.“ 

Der kleine, etwas geckenhaft gekleidete Herr ſtrich ſich 
nervös das ſtruppig hochſtehende Haar. „Erlaube — es 
giebt Geſinnungen! Verſtehſt Du? Geſinnungen! Aber 
darum kümmert Ihr Frauen Euch nicht. Alte Sache! ...“ 
Er kaute ſuchend an ſeiner erloſchenen Cigarre. „Da laß 
ich mir nicht 'zwiſchenreden. In dem Punkt nicht! Das — 
das iſt Geſinnungsſache. Verſtehſt Du?“ Er war ordentlich 
kühn in Blick und Ton, denn das Schweigen ſeiner Gattin 
beſtärkte ihn in dem Glauben, daß er jetzt Oberwaſſer habe. 
„Ich will ein Heim für mich haben. Unabhängig, ohne 
Scherereien mit Fremden — überhaupt ohne einen fremden 
Eindringling. Ich bin eben feinfühlig. So 'was ſtört mich — 
bringt mich ganz aus'm Geleiſe. Ihr Frauen denkt zu 
fleinlih! nur immer das Nächſte! Euch fehlt die — die — — 
Ihr denkt nicht vornehm genug! Das iſt's! Immer nur 
Geld — Geld. Geſinnung iſt auch 'was! Was ſehr Wichtiges 
ſogar — verſtehſt Du? Geſinnung und Feinfühligkeit ...“ 

Die Frau, eine etwas ſtarkknochige, entſchloſſen drein⸗ 
blickende Dame, hielt gleichmütig das durchlöcherte Hinterteil 
einer Nödlichſchen Hoſe gegen das Licht und fuhr dann 
rückſichtslos mit der Schere darein. Um den hübſchen, vollen 
Mund ſpielte ein verächtliches Lächeln. „Na, dann leb' Du 
von Deiner Geſinnung. Ich vermiet' das Zimmer. Baſta!“ 
Sie ſagte es hart, ſpöttiſch und gab dem „Baſta“ mit der 
ſchweren Schere einen kräftig klirrenden Nachdruck. 

Herr Nödlich warf einen ſonderbaren Seitenblick auf 
ſeine Gattin, bewegte nervös die ſtachlige Kopfhaut zur 
ſtaunenden Bewunderung ſeines Sohnes, der unter philo⸗ 
ſophiſchen Selbſtgeſprächen im Zimmer herumrutſchte, reckte 
den dürren, ſehnigen Hals und lachte dann mit rotem Kopfe. 
„Na ja, natürlich! ... Euch Weibern ſoll einer Vernunft 
beibringen! Blödſinn! ...“ 

Die Gattin machte eine ungeduldige Bewegung. 

„Na, iſt gut — iſt gut! Werd' mich ärgern! Iſt gut! 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


bereitete 





494 








Hahal ... Da könnt' ich ja ebenſogut von Fritzen Ges 
ſinnung verlangen! Was, Fritze?“ fragte Herr Nödlich mit 
ungemein ſpaßigem Geſicht. 

Fritze, der tiefſinnig an ſeinen Strumpfzipfeln herum⸗ 
zerrte, unterbrach ſich in dieſer inſtruktiven Beſchäftigung und 
ſtimmte ein verſtändnisvolles Krähen an. 

„Hahaha ... So iſt es! Was, Fritze? Wir verſtehen 
uns. Haha!“ Herr Nödlich war plötzlich voll ſprudelnder 
Laune, ſteckte ſeinen Cigarrenſtummel in eine rieſige Rohr⸗ 
ſpitze und blies dann mächtige Rauchwolken in die Luft. 
„Aber das ſag' ich Dir — mit meinem Willen geſchieht's 
nicht! Verſtehſt Du? Mit meinem Willen nicht!“ 

Die Gattin lächelte nur wieder. Dann geſchah's eben 
ohne ſeinen Willen ... 

Herr Nödlich verbrachte ſchlimme Tage, denn er kannte 
ſeine beſſere Hälfte. Er haßte bereits ſeinen Mieter, der 
noch mit Haut und Haaren im Schoße der Zukunft weilte. 
Warum? Der kleine Herr Nödlich war eiferſüchtig. Seit er 
verheiratet war, traute er den Frauen nicht mehr, denn er 
fühlte dunkel, daß er kein rechter Mann ſei, daß er bei einem 
Vergleiche leicht zu kurz käme ... Er ſuchte ſich zwar durch 
geckenhafte Kleidung und durch ein protzig⸗wichtiges Auftreten 
Nimbus zu geben, aber jene eiferſüchtige Unſicherheit verdarb 
ihm dennoch oft die Stimmung. Sie trieb ihn ſogar zu— 
weilen in eine arge Selbſtquälerei hinein, in der er für die 
Treue ſeiner Gattin fürchtete. Im allgemeinen aber lag 
ſeinem Kummer nur kindiſche Selbſtgefälligkeit zu Grunde. 
Seine Frau und die Verwandten ſollten ihn bewundern — 
nur ihn! „Ja, der Erich — das iſt einer!“ Und wehe, wenn 
ſie in ſeiner Gegenwart einen anderen lobten; dann ſtand er 
Qualen aus vor Neid und ſetzte die Verdienſte des Ge⸗ 
prieſenen rückſichtslos herab ... 

Und das Zimmer wurde vermietet, und eines Tages zog 
Herr von Matſchinskow ein. 

Die Sonne lachte, daß ihr die Strahlen zitterten, Frau 
Nödlich lächelte, Fritze machte ſein verblüffteſtes Geſicht und 
drückte ſo ſein allertiefſtes Intereſſe aus, und Herr Nödlich 
ſenior glänzte durch ſeine Abweſenheit. Doch Herr von 
Matſchinskow lachte, lächelte, ſtaunte und glänzte nicht. Er 
glitt ſtumm und lautlos wie ein Geſpenſt an ſeiner Wirtin 
und dem philoſophiſchen Fritze vorüber, daß ihnen eine 
unheimliche Luftwelle ins Geſicht ſchlug... Es war 
ein warmer Tag; aber das Geſpenſt fror. Es hatte eine 
rieſige Pelzmütze bis über die Augenbrauen gezogen und 
einen gewaltigen Pelzkragen bis über die Naſenſpitze geklappt, 
und ſeine zweifellos klapperdürren Beine trugen ſich an einem 
Paar mächtiger Pelz⸗Filzſchuhe zu Schanden. 

„Thür auf! Schnell! Schnell!“ krächzte das Geſpenſt 
und machte eine zornige Bewegung mit den Händen, die es 
krampfhaft in einem ungeheueren Jagdmuff hielt. 

Fritze ſperrte zum beſſeren Verſtändnis der Situation 
den Mund auf, und ſeine Mutter war auf dieſen ſonderbaren 
Willkommensgruß ſo wenig vorbereitet, daß ſie ein unſicheres 
„Wie meinen Sie?“ verlauten ließ. 

„Thür auf! Thür auf! Thür auf! Herrgott, Herr⸗ 
gott —!!“ wimmerte das Geſpenſt in verzweifelter Wut, als 
ihm eine verſchloſſene Thür die unerhörteſten 
Qualen. „Aber liebe, gute, beſte Frau! Wollen Sie mich 
denn umbringen?!“ Das Geſpenſt begann einen wahren 
Veitstanz auf ſeinen Filzſocken zu hüpfen, ſo daß Fritze ſich 
vor Vergnügen über den luſtigen Onkel krähend den Bauch 
ſtrich. Bringen Sie den Bengel zur Ruh! Meine Nerven — —“ 


—————————————— EEE 


495 


Frau Nöblih machte nun rejolut die Thür auf und 
wollte eben ein etwas ungehaltenes „Bitte!“ Tagen, dod) dag 
Gelpenft fuhr bereits wie eine Io@gelafiene Lokomotive ing 
Zimmer, bremfte, fuhr zurüd und warf mit dem dicigefütterten 
Nüden bie Thür wieder zu. Bumß! 

„Dah!* bemerkte Srige und fah verftändniglos auf feine 
berblüffte Mutter. 

Und dann fanıen Kiften und Saften und Koffer in uns 
beimlicher Menge, und obwohl fie hHandgreiflich körperlich und 
ihre Träger nicht8 weniger alß geifterhaft waren, fo fchten 
das Geſpenſt doch zu glauben, baß fie durd) die geichlofiene 
Thür ins Zimmer gelangen könnten. 8 krächzte fih faft 
die heifere Stimme aus dem Leibe und lief angftgehegt von 
einer Stubenede in die andere, biß e8 am Ende erichöpft 
und ftöhnend aufs Sofa fiel und feiner Auflöfung entgegenfah. 

Dann mußte Frau Nödlih durch einen hanbbreiten 
Thürfpalt hereinihlüpfen und ein Seuer anjcüren, ala wollte 
fih das Geipenft in der Stubenluft braten. 

„Und nun keine Störung mehr. Sch brauche nichts mehr. 
Gar nichts. Sie brauchen nicht mehr zu fommen. Und halten 
Sie vor allem den Bengel ruhig. Das wiffen Sie. inter 
der Bedingung hab’ ic; gemietet. Völlig ungeftört; ruhig 
Hören Ste? Sonft zieh’ ich fofort wieder. Sc) lebe ganz 
für mid. Sie haben ftilfchweigend zu fommen und zu 
gehen. Und nur, wenn ih Elingle. Das find meine Bes 
dingungen. Das wiffen Sie. Dafür zahle ih. Gute 
Naht — gute Nadıt!* rief da3 Gefpenft grämlidh-ungeduldig 
und macte plöglih ein Gefiht, al8 brädte ihm das nädhfie 
Wort den Tod. 3 ftredte daher wie beichwörend die 
Inochigen Hände vor und fcheuchte die fpradjlofe Dame aus 
dem Zimmer... 

AZ Ti die Sonne ängftlich zurückgezogen hatte, trug 
der Feine Herr Nödlih fein grimmiges Gefiht durd) bie 
Straßen. Und die Neugier fchritt hinter ihm her und jagte 
ihn vorwärts, biß fie beide atemlos in der Hallefhen Qor: 
jtadt anlangten. ind auf jeder Stufe, die Herr Nödlid) mit 
feinen jonderbar furzen Beinen nahm, trat ihm ein Herr von 
Matichinskomw entgegen; einmal mit gewaltiger Hafennafe und 
fühn aufgefegtem Echnurrbarte, dann wieder nıit einem feinen, 
verlebten Weibergefiht ... . Er mußte durd feine Gattin, 
daß der Herr ein alter Sonderling war; aber der Herr war 
aud) vermögend und adlig, und das war Herr Nöblich nicht. 
Und dann fonımanbdierte er, ein wildfremder Mann, 
feiner Gattin. Das war eine Schmälerung feiner Nechte! 
D, Herr Nödlich entwicelte diefer Mietöfrage gegenüber bie 
fubtiljten PBafchagefühle. Seine Frau war feine Frau; nur 
er ihr hatte zu befehlen ! philofophierte er in fühner Verkennung 
der Thatfadhen. „Mit meinem Willen ift er nicht dal Mit 
meinem Willen nicht!“ ... Dod) trogdem konnte er fidh 
einer füß pridelnden Erregung nicht erwehren. Er wollte fid 
Herrn von Matihinskom vorftellen, ihn Herr Baron betiteln, 
mit ihm über ftodfonfervative Dinge plaudern — kurz, fi 
gebildet, fein benehmen. Denn unferem Kleinen Palcha war, 
wie mandhem Wichte, der Adelige oder Neiche mit dem uns 
Haren” Nimbus” einer unbedingten äußeren und inneren 
Bornehmheit umgeben ... . Freilich, wenn der Herr ihn von 
oben herab behandeln würde — — Herr Nödlich fegte feine 
Kopfhaut in Bewegung und pfiff in grimmigem SHohne. 
Dann bürftete er fid) rafch das Haar und betrat forfch feine 
Wohnung. 

„Biifft 11° tönte e8 geifterhaft, wütend aus dem möblierten 
Zimmer. 


Beiblatt der Deutihen Romanzgeitung. 





496 

„Nanı? Was - * 

„Nude! . . . Das ift ja ’n ewiger Heidenlärn!“ 
wimmerte das Gejpenft. 

Herr Nödlich fah fi fheu um und tappte auf den Fuß: 
Ipigen welter. 

„Was ift denn das fürn Kerl?“ fragte er in der Stube 
nachdem er fich wichtig aufgeredt Hatte. 

„Mindeſtens verrückt!“ 

„Siehſt Du! Siehſt Du!“ triumphierte Nödlich. „Aber 
Ihr wißt fa natürlih alles beffer! Da haſt Du's. Nun 
laß Dich nur chikanieren — Du wollteſt's ja haben! Du 
wollteſt's ja haben!“ wiederholte er im höchſten Fiſteltone 
und legte Hut und Mantel ab. „Ich kenn' doch die Sache!“ 

„Er zahlt gut. Das iſt die Hauptſache,“ erwiderte die 
Gattin in erzwungenem Gleichmute 

„Soll ich ihm kündigen? hä?! ſoll ich ihm kündigen?“ 

Die Gattin lächelte ſpöttiſch. „Geh' mal 'rüber zu 
ihm! ...“ 

Der Ton beunruhigte Herrn Nödlich ein klein wenig. 
„Haha, Fritze! Ich ſoll mich natürlich fürchten! Als wenn 
ich — — na, glaub', was Du willſt! Haha — meinetwegen! 
Was Fritze, mein Sohn Habakuk?“ 

Der Sohn Habakuk würdigte ſeinen Erzeuger keines 
Blickes; er war eifrig damit beſchäftigt, einem jungen 
Dachſel den Bauch zu kitzeln, ſo daß ſich der ſenſitive Köter 
kaum das Lachen verbeißen konnte. 

Frau Nödlich ſah ein wenig unruhig in die Lampe. 
„'s iſt doch ein unheimlicher Menſch,“ meinte ſie dann, 
einem unklaren Mitteilungsdrange folgend. 

„Der Herr von — wieſo denn?“ fragte Papa Nödlich 
plötzlich verſöhnt. 

„Weißt Du — er iſt ſo ... ſo geheimnisvoll. Er hat 
ordentliche Angſt, daß man ſich um ihn kümmern könnte. 
Und dann die Menge Kiſten und Kaſten und Gläſer und 
Apparate, und das riecht alles ſo nach Säure und Apotheke ...“ 

„Er wird krank ſein. Wird ‚gelebt‘ haben ...“ be⸗ 
merkte Herr Nödlich mit der Miene eines Kenners. 

„Nervös iſt er. Das ſtimmt. Gott — über die geringſte 
Kleinigkeit kriegt er'n Koller. Und immer hat er'n Pelz an, 
als wenn er mitten auf'm Nordpol ſäße. Ich weiß nicht...“ 

„Wie ſieht er'n aus?“ 

„Unheimlich, ſag' ich Dir. Ganz unheimlid! 
Mit ſolchen ſchwarzen Augen und dabei bleich wie'n Bett— 
laken. Ordentliche Angſt kann man haben.“ Sie ſchwieg, 
und Herr Nödlich ſah ſie überaus ernſt an. 

„Wie — wieſo denn?“ fragte er leiſe. 

„Ich weiß nicht ... Ich trau' ihm nicht ... Ich trau 
ihm nicht. Ich kann mir nicht helfen ...“ Sie zuckte die 
Achſeln. 

„Wieſo denn?“ 

„Wenn er nur kein — kein Anarchiſt oder Nihiliſt iſt,“ 
ſagte ſie plötzlich mit etwas gedämpfter Stimme. „Sie ſpuken 
ja jetzt überall herum ...“ 

„Wie — wieſo denn?“ 

„Die ſoll'n alle 'n bißchen verrückt ſein, krank, nervös. 
Und dann ſo'n ruſſiſcher Name. Weißt Du, ich hab' ſo das 
Gefühl ... Und die Thüren hat er mit Friesdecken und die 
Fenſter mit gelben Tüchern verhängt, und die Schlüſſellöcher 
hat er verftopft ... Er zahlt ja gut. Aber eh'r wir die 
PBolizei auf den Hals kriegen... Wer weiß... .* 

Herr Nödlich Faute fehr ernfthaft an feiner Abendftulle. 
„Ad, das bildeft Du Dir nur ein,“ meinte er leife. 


497 


„3 tann ja fein; aber id bin boch jonft nit fo... . 
Na, abwarten müffen wir’s auf jeden Tal... .“ 

„Das mein’ id aud).“ 

„Und Du kannit Dir’n ja auch erft einmal anjehen.“ 

„sa gewiß,” meinte Herr Nödlidy in einem Anfluge von 
Wichtigkeit. „Das fan ih... Aber heute Ichidt fih’8 wohl 
nit mehr.“ Er pfiff Ieife eine fehr phantaftiiche Melodie 
und fah äußert gleihgültig in die Lampe. 

Und in ber Nadıt träumte der grimme Herr von einem 
langen, hageren, bleihen Manne mit fhwarzen, funfelnden 
Augen und jchwarzem Barte. Und er fam näher, näher, 
lautlos, langfam, mit weiten, ftierem Blicke, daß dem Träumer 
ber Atenı ftocte, das Haar fidh fträubte und der Schweiß aus 
dem Leibe brad. Er wollte fliehen, er fpannte alle Willen®- 
fraft an, doc) jeine Glieder waren centnerjchwer. Und das 
Geipenit fam näher, näher, lautlos und hob den dDürren Arm, 
baß der fnocdhige Zeigefinger faft an die angftvoll fraußges 
z0gene Nödlihjche Nafenipite ftieß. Der Träumer wollte 
cjreien, doch fein Laut fam über die bleichen, bebenden 
Lippen. Die höchfte Not gab ihm endlih Kraft, er Ichlug 
um fid) und traf dabei feine ahnungsalos jchlafende Gattin, 
deren Gefchrei ihn wedte. 

Am andern Morgen madte Herr Nödlich mit bleichem 
Gefidhte und Elopfendem Herzen dem geheimnisvollen Zimmer: 
herrn feinen Belud). 

„Wie? Was? Mollen Sie was?“ 

„Mein Name ift Nödlih,“ wiederholte der grimmige 
Herr jehr leife und unficher und betrachtete ängitlih das 
eingemummte, zappelnde und mißtrauifch fpähende Gejpenft. 

„St gut! Sf gut! Wenn ih ’'was will, werd’ id) 
Hingeln. Hören Sie? Ihre Frau weiß alles. Ich braud)’ 
jeßt nichts! — Hören Sie?“ 

„Samwohl, jawohl,* ſagte Herr Nödlich ein übers andere 
Mal dienftbefliffen und getraute fich nicht, vom lee zu gehen. 

„sh werde klingeln!” Zräczte daB Geipenit und 
zappelte verzweifelt. 

„Samohl,“ bemerkte Herr Nöpdlid. 

„Herrgott — — Wollen Sie denn noch was?!“ 

„Nein.“ 

„Na, da geh'n Sie doch!“ 

„Jawohl.“ Und der grimme Herr ſchlich halb bewußtlos 
aus dem Zimmer. „Mit dem iſt's nicht richtig,“ ſagte er, 
als er wieder zu ſeiner Frau in die Stube trat, und ging 
mit männlichen Schritten auf und ab. „Den werd' ich beob⸗ 
achten. — Und dann wird die Polizei benachrichtigt — beim 
geringſten Verdacht! Ohne Umſtände! Ohne Umſtände!... 
Das iſt ja ein Skandal, einen gebildeten Menſchen ſo zu 
behandeln! 's hätt' bald was geſetzt! Deibel noch 'mal! 
Aber wir ſprechen uns noch — haha! Wir ſprechen uns 
noch! Verlaſſen Sie ſich darauf, verehrteſter Herr und 
Freund! ...“ 

Und in ſeiner ſchmalen Bruſt vermählte ſich der Groll 
gegen den „Nebenbuhler“ mit dem Groll gegen den Be—⸗ 
leidiger, und die alſo verehelichten Grolle ſchürten das einmal 
geweckte ſpannungs volle Mißtrauen des kleinen Mannes höher 
und höher. „Dem Kerl trau’ ich alles zul Alles!“ 

Neben dem „möblierten Zimmer“ Yag die Nödlichiche 
gute Stube. Dort Ihlih nun der grimme Herr während 
jeiner freien Zeit auf großen silgpantoffeln herum und 
laufchte mit grujeligen Herzen und immer länger werdenden 
Ohren auf die Geräufche nebenan .. . Unheimlic raufchte 
die Etille der Vorftadt und dann fam ein Gläferflingen aus 


Romansgeitung 1896, 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


i 





498 


dem Nebenzimmer. Und dann ein undeutliches Geklapper, 
als würde ein Klöffel in einem Porzellanmörſer gerührt. 
Dann war es wieder ſtill; nur ein trockenes Hüſteln und 
Räuſpern ertönte zuweilen. Herr Nödlich legte ſeine rechte 
Ohrmuſchel an die Thür. Da — ein Plätſchern und Sludien; 
Bücherblätter rauſchten geheimnisvoll ... Und nun hub ein 
leiſes Kloppern und Klirren und Ziſchen an, als triebe eine 
myſteriſche Maſchine ihren Spuk. Herr Nödlich ſchnupperte an 
der Thürritze herum und nahm allmählich einen feinen Säure⸗ 
geruch wahr. Und ringsſsum war tiefes Schweigen — nur 
das leiſe Klappern, Klirren und Ziſchen, und das immer 
wiederkehrende trockene Hüſteln des Geſpenſtes; Herrn Nödlich 
lief eine Gänſehaut über den Rücken. 

Von da an wurde er nervös. Immer dachte er an das 
Geſpenſt und ſuchte hinter das geheimnisvolle Treiben zu 
kommen. Er ſprach mit ſeinen Bekannten über den Fall, und 
die beſtärkten das ängſtliche Männchen halb im Scherz, halb 
im Ernſt in ſeinem Mißtrauen. Auf der Straße war er voll 
Unruhe; er hatte das dunkle Gefühl, als würde er beobaächtet, 
als folgte ihm ein Kriminalſchutzmann auf Schritt und Tritt. 
Auf ihn konnte ja ſo leicht ein Verdacht fallen .. 

Er mußte ſich Gewißheit verſchaffen. Unbedingt! So 
ging's nicht weiter! Seine Frau erzählte allerlei Unheimliches 
bon ihren Erlebniſſen beim Reinemachen; dann umkreiſte ſie 
das Geſpenſt ſtets mit lauernden Blicken, als wollte es ſich aus 
irgend einer kommenden Urſache auf ſie ſtürzen. Und an 
ſeine Gläſer, Flaſchen, Retorten, Kiſten und Kaſten durfte 
ſie nicht rühren. Sollte er kündigen? Das konnte er erſt 
am 15., und dann blieb das Geſpenſt doch noch bis zum 
Letzten. Was konnte inzwiſchen nicht alles paſſieren! ... 
So ſchlich er eines Abends mit einem großen Bohrer bewaffnet 
auf ſeinen Filzpantoffeln in die gute Stube, „um ſich Ge⸗ 
wißheit zu verſchaffen“. — 

Das Geſpenſt rumorte in der Stickluft ſeiner unheim⸗ 
lichen Behauſung und krümmte ſich, bis zu den Hüften ent⸗ 
kleidet, vor dem hohen Stehſpiegel. Es atmete tief und lang, 
beklopfte ſeinen flachen Bruſtkaſten, befühlte ſeine vorſtehenden 
Rippen, betrachtete durch die Lupe die Poren ſeiner Haut 
und machte mit den dürren, ſchlaffen Armen grauſige Stoß⸗ 
beweg ungen. Dann ſtarrte es regungslos in die unſtet 
flackernden Kohlenaugen ſeines Spiegelbildes und ſtudierte 
ihren Ausdruck ... Die Lampe umhüllte ein rieſiger grüner 
Schleier, und das fahle Licht lag geiſterhaft auf dem Antlitz 
des Kranken. Unheimlich leuchteten die Flaſchen und Gläſer 
in den dämmrigen Winkeln, und die an den Fenſtern und 
Thüren herabwallenden Tücher und Decken ſchienen wie 
ſchattenhafte Wächter ſchwüle Spukgeheimniſſe zu behüten. 

Plötzlich ſchrak das Geſpenſt zuſammen, daß ſeine ſpitz⸗ 
knochigen Schultern in die Höhe ſchnellten. Es lauſchte 
atemlos nach der Thür hin ... Dort knackte es leiſe, als 
wühlten Bohrwürmer in dem Holze. Dann war es eine 
Weile lang ſtill. Das Geſpenſt ſchlich zitternd näher ... 
Jetzt begann das geheimnisvolle Knirſchen wieder. Es wurde 
deutlicher, lauter. Dem Geſpenſt ſträubten ſich die ſpärlichen 
dünnen Haare, es verſchränkte die Arme über der nackten Bruſt 
und lauſchte, das Ohr krampfhaft gegen die verhüllte Thür 
preſſend. Kein Zweifel! Da bohrte jemand! Das Geſpenſt 
fuhr zurück und ſah wie irr im Zimmer umher. Was ſollte 
es thun? ... Wer war das? ... Wollte man einbrechen? 
Wollte man ihn beobachten? Stellte man ihm nach? ... 
Ein dämoniſches Mißtrauen ſtieg in ihm auf. Er traute 
niemand — niemand! Die Menſchheit war ein einziges 


IV. 35 


499 


Gefindel; vol Nüdfihtslofigkeit, Schadenfreube und Nieder- 
trat! Er Hatte ihr nie getraut — nie! So weit er 
benfen £onnte, war er mit ihr in Konflikt geraten; fie hatte 
ihn verhöhnt, gemartert, betrogen, mit Füßen getreten — 
Das Gefpenft fuchtelte mit zitternden Händen tin der Quft 
herum. DO, bie Menihen! Die Bande! Nirgends Ruhe 
bor ihnen: Was Sollte e8 thun?! Was wollte man bon 
ihm?!... Sollte e&8 um Hilfe fchreien? Nein, nein!... 
Seine Gedanken verwirrten fih — e8 dadte an Diebitahl, 
Mord — — und der grimme Herr Nödlih bohrte und bohrte, 
daß ihm die Pulfe flogen. 

Das Geipenft fpreigte die Iangen Finger, ala wollte es 
ettvas faffen. E83 mußte wiflen, was hinter der Thür bor- 
ging. Das Kniftern und SKnaden bauerte fort, bon uns 
heimlichen Bauien unterbrochen. Plößlih Ihoß das Geipenft 
wie finnlo8 in einen Winkel, framte eine Weile Ieije, fchlich 
dann Baftig wieder zur Thür und fchob mit zitternden 
Händen die Portiere zur Seite. 

Der grimme Herr Nödlich machte gerade, zufolge eines 
allzu verräteriichen Knacdes, eine Baufe und laufchte. Und ein 
heimliches Sniftern drang an fein Ohr, als wühlten Holz 
würmer in der Nähe feine® Bohrer. Was war dbas?!... 
Die Brauen rutfchten ihm in die Höhe, und feine Kopfhaut 
wadelte vor Braufen. E83 war’wieder ftil ... Herr Nödlid 
drehte herausfordernd an feinem Bohrer; fofort Enifterte e8 
Haftig in nächfter Nähe. Dann wieder tiefe Stille... Er 
brehte wieder, wie beziwungen, und fofort feßte das geiſter⸗ 
bafte Echo ein... Immer kürzer wurden die Banfen, immer 
andauernder wurde das leife Snaden — fieberhaft drehten 
bie beiden ihre Bohrer, rücdjichtslos, wie befeflen; durd! 
durch! Unheimlich Mnifterte das Holz, von ben vorwärts 
baftenden Eijen durdwühlt - mad, mad, mad... und 
die Bohrerfpigen jchoffen hüben und brüben übereinander 
and Licht, glänzten einen Augenblid lang unbeildrohend und 
traten dann in wilder Eile den Rüdzug an... 

Mit Bligesichnelle brachte jeder fein Auge an das Gudlodh; 
atemlo8 ftarrten fie, doc) feiner fah etwas; jeder verdedte bem 
andern die Ausficht, und jeder fühlte den heißen, unrubigen 
Atem de andern durch die Öffnung zu fich herüberwehen, daß 
ihnen fhwüle Schauer über die Rüden liefen. Und fie ftarrten 
und ftarrten, al8 hielte jeder den andern durd magnetijche 
Kraft feft. Keiner verließ feinen Poften, wie angemurzelt 
ftanden fie, mit bebendem, heißem Haucdhe, mit zitternden 
Knieen, ſtarrend, ſtarrend ... 

Frau Nödlich kam. „Was iſt denn?“ fragte ſie flüſternd. 
Ihr Gatte winkte heftig mit dem linken Arme ab. 

„Herrjeh — was iſt denn?“ 

Herr Nödlich winkte krampfhaft mit dem rechten Arme, 
dann mit beiden und nahm ſchließlich noch ſeine kurzen Beine 
zu Hilfe, indem er abwechſelnd mit ihnen in grimmigen 
Stoßbewegungen zur Thür wies. Die etwas ſchlaftrunkene 
Gattin floh vor dieſer verzweifelten Zappelei verwirrt aus 
dem Zimmer. 

In unſeren Helden aber regte ſich mehr und mehr der 
Dämon, der den ſchaudernden Menſchen unaufhaltſam dem 
Schrecklichen, Furchtbaren entgegentreibt ... Sie ſtemmten 
ſich immer nachdrücklicher gegen die Thür, ſie faßten krampf⸗ 
haft die Klinken und drückten ſie leiſe nieder . .. Auf der 
Seite des Geſpenſtes war der Riegel, auf der Nödlichs ſteckte 
der Schlüſſel der Thür ... Und auf beiden Seiten begann 
ein minutenlanges heimliches Taſten, Drücken, Drehen und 
dann ein leiſes zögerndes Aufſchließen; ſchnapp! und der 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


500 





Flügel wich langſam, knarrend zurück, und der zitternde Herr 
Nödlich ſtand dem zitternden Geſpenſte gegenüber. Und ſie 
ſtarrten einander ſprachlos an ... 

„Was — was wollen Sie ...?“ krächzte der Ruſſe mit 
bebenden Lippen. 

„Was — was machen Sie ...?“ ſtammelte der kreide⸗ 
bleiche Herr Noͤdlich halb betäubt. Und ſie ſtarrten ſich 
wieder an. 

„Thür zu! ...“ wimmerte plötzlich das Geſpenſt und 
fuhr zuſammenſchauernd zurück, denn Frau Nödlich trat in 
lichtem Nachtgewande und mit aufgewickeltem Stirnhaar zu 
ihrem Gatten ins Zimmer. 

Das Geſpenſt flüchtete haſtig hinter die ſich ſchließende 
Portiere und fuchtelte, tieferregt nach Worten ſuchend, mit 
den Händen in der Luft herum. Dann brach es los. Es 
überhäufte ſeine hinter dem Vorhange ſtehenden Wirtslente 
mit Schmähungen. Kreiſchend tönte feine heiſere Stimme 
durch die ſtille Nacht; es wurde immer zügelloſer, ſinnloſer 
in ſeinen wütenden Vorwürfen; es nannte die wie verſteinert 
hinter der Portiere lauſchenden Gatten Spione, Einbrecher, 
Mörder, verfluchte die Welt, wimmerte um ſeine Geſundheit, 
um ſein Leben, bis ihm nach einem kurzen Röcheln bie 
Stimme ſchauerlich überſchnappte. 

Herrn Nödlich gaben auch die erſterbenden Fiſteltöne 
keinen Mut. Erſchöpft, regungslos ſtarrte er auf den 
zappelnden und ſich beulenden Vorhang, hinter dem das 
Geſpenſt geſtikulierte. 

Doch ſeine Gattin war in ihrer leichten Kleidung doppelt 
empfindlich für die Gewaltſtreiche des unſichtbaren Zimmer⸗ 
herrn. In der gereizten Stimmung eines Menſchen, der 
wenig Sinn für Schlummerſtörungen hat, ließ ſie ſich in ein 
tiefgehendes Geſpräch mit dem Geſpenſte ein, ſagte ihm ein 
paar ſonderbare Schmeicheleien und nahm höhniſch lächelnd 
ſeine Kündigung entgegen. Dann verſetzte ſie ihrem geiſtes⸗ 
abweſenden Gatten einen ermunternden Seitenſtoß und zerrte 
ihn erhobenen Hauptes mit ſich aus dem Zimmer. 

„Was — was iſt denn nun?“ fragte der grimme Herr leiſe. 

„Krank iſt er, verrückt!“ keifte die Gattin, als wollte fie 
ihn dafür verantwortlich machen. „Und nun will ich Ruhe 
haben! Wirtſchaft!“ 

Herr Nödlich ſchüttelte verſtändnislos ſein borſtiges 
Haupt, zog ſich aus und ſtieg fröſtelnd in ſein Bett. 

Ja, das Geſpenſt war ein Hypochonder ſchlimmſter 
Sorte. Noch lange rumorte es hüſtelnd, ſtöhnend und ab⸗ 
geriſſen wimmernd in ſeinem Zimmer herum zur tiefen Ent⸗ 
rüſtung der Nödlichſchen beſſeren Hälfte; die ſchlechtere Hälfte 
aber ſchlief, als wollte ſie die verſäumte Nachtruhe nachholen. 

Und am nächſten Morgen zog das Geſpenſt mit Kiſten 
und Kaſten ab. Nirgends fand es Ruhe! Nirgends! O, 
dieſe Menſchen! 

Der grimme Herr Nödlich aber erholte ſich allmählich 
von den Schrecken jener Nacht und erzählte bald ſeinen 
Freunden und Bekannten mit unheimlichem Augenrollen und 
kühnen Armbewegungen von ſeinen Heldenthaten. „Die 
Sache hätte ſchlimm werden können, wenn ich nicht beizeiten 
vorſichtig und beherzt eingegriffen hätte. Der Kerl war ja 
halb verrückt — verſteht Ihr? ...“ Und er ſah ſeine Zuhörer 
der Reihe nach pfeifend an, als wollte er ſagen: „Kinder, 
Ihr habt ja feine Ahnung von ſo 'was!“ 

Frau Nödlich will übrigens doch wieder vermieten. Viel⸗ 
leicht verſucht es einer der Leſer mit dem Zimmer ... 


— 








601 


Mein Jeid. 


Und al8 e3 mich wieder mürbe geglaubt, 

Da ftieg e8 hernieder aus dunklen Lüften 

Zum Kampfe gerüftet, und ftieß in da8 Horn 

Und wedte die Sehnfuht in Schluchten und SKlüften, 
Und fandte den donnernden Schlacdhtenruf 

Hinab in der Seele verborgenfte Schächte, 

Und wedte vom Schlummer zum Stampfe empor 

Die brennenden Wünfche, die feilen Knechte ... 


Und wieder geihah es, wie’ immer gefhah: 

Ih wand mid) im Staube, bedbedt mit Wunden, 

Die Hoffnung durdhfuchte das blutige Feld 

Uub hat mid vor Thränen und Angit nicht gefunden; 
Doch kihernb und höhnend in dunkler Nacht 

Die Schlachtfeld⸗Hyänen, die böfen Gedanten, 

Mit teufliichem Grinfen, mit graufigem Spott, 

Mit Beute beladen vom Schladhtfeld ſchwanken. 


Hans Biermann. 


Dilettantismus. 
Ein Märchen. 


Es war einmal eine Seele, der hatte die Natur, als fie 
ſie ſchuf, alles mitgegeben, was zum Fliegen nötig iſt: den 
Mut zu wagen, die unſtillbare Sehnſucht emporzuſtreben in 
die Höhe, die Kraft durchzudringen, die Nichtachtung des 
Erdenſtaubes, den man unter ſich zurücklaſſen muß — nur 
die Flügel hatte ſie zu guter Letzt vergeſſen. — Nun ſtand 
die arme Seele im Leben und wußte nicht, wohin ſich wenden. 

Sie ſah ihre Gefährten, die Sonntagsſeelen, denen ſie 
ſich verwandt fühlte im Streben, Thun und Denken, ſich 
mit kräftigen Flügelſchlägen emporheben in die ätherklare 
Luft, immer höher und höher, bis ſie ihrem Blicke ent⸗ 
ſchwanden, droben in jenen Höhen, die auch ihre Heimat 
waren, nach denen ſie ſich verzehrte in tödlicher Sehnſucht — 
und ſie konnte ihnen nicht folgen, denn die Flügel 
fehlten ih. — — — — — — — — — 

Und wandte ſie ſich zu den anderen, den Alltagsſeelen, 
die ſo ſicher und ruhig ihre Straße zogen und kaum einen 
ſpöttiſchen Blick für die Himmelsſtürmer übrig hatten, dann 
fühlte ſie ſich unverſtanden und verlaſſen. Wenn ſie von 
ihrer Sehnſucht, ihrem heißen Wunſche, auch Flügel zu haben 
wie jene Sonntagsſeelen, von ihrem Heimweh nach dem 
Reiche hoch in den Lüften ſprach, dann lachten ſie der 
phantaſtiſchen Träumerin. 

Sie fand ſich auf der Straße, die die anderen fo ficher 
fürbaß fchritten, nicht zurecht; fie blicte zupiel nach oben, 
darum ftolperte fie über die Steine und Wurzeln des Weges, 
fie verfolgte den Tlug der Sonntagzjeelen, und wußte auf 
bem eigenen Pfade nicht ein nody aus. — 

So Stand fie verlaffen im Leben, von dem einen bes 
mitleidet, von den anderen verladıt. 

Aber nicht umfonft hatte thr die Natur das Teuer des 
Mutes und der Kraft verliehen — fie wollte fliegen lernen, 
koſte es, was es wolle. 

Sie trat zu einer der Seelen heran, die ſich gerade nach 
hohem Fluge auf die Erde geſenkt hatte, um auszuruhen zu 
neuen Thaten, und bat ſie, ihr zu ſagen, wie ſie das Fliegen 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 
gelernt habe. Die aber lachte und ſprach: „Mir ſind die 


502 


Flügel gewachſen, ich weiß ſelbſt nicht, wvann und wie. Eines 
Tages fühlte ich ein ungeſtümes Verlangen, ein Drängen 
und Treiben, emporzufliegen in die lichte Luft, ich ſchwang 
mid) auf, ſieh, ſo —“ und iauchzend ſchwebte ſie empor in 
den Äther. — — — Unſere Seele aber ſah ihr nach mit 
heißen, ſehnſüchtigen Augen, beobachtete die glänzenden, 
ſtarken Flügel, die ſie ſo ſchnell und leicht dahintrugen, und 
rief aus: „Ich will mir ſelbſt Flügel machen, dann kann 
ich fliegen wie Ihr!“ 

Und die Seelen lächelten, ein ſtilles, eigenes Lächeln. 

So ſaß nun unſere Seele Tag für Tag und Nacht für 
Naht und ſchaffte und wirkte an einem Paar goldig⸗ 
glänzender Flügel. Die anderen aber, die Alltagsſeelen, 
ſahen zu und ſchüttelten den Kopf zu ſolch unpraftifchem, 
zweckloſem Thun. Unſer Seelchen aber ſah mit leuchtenden 
Augen in eine herrliche Zukunft. — — 

Es war ein hartes Stück Arbeit geweſen, doch endlich 
waren die Flügel fertig. Sie waren glänzend und ſchön, 
wie nur je die Natur welche geſchaffen. Kunſtgerecht be⸗ 
feſtigte unſer Seelchen ſie an den Schultern und kam nun, 
zitternd vor Glück und Erregung, zu den Gefährten ge⸗ 
ſprungen. „Nun nehmt mich mit, jetzt will ich fliegen, fliegen, 
fliegen!“ Und die Seelen lächelten, ihr ſtilles, eigenes 
Lächeln. 

Zwei von ihnen nahmen das Seelchen in ihre Mitte 
und wollten ſich mit ihr emporſchwingen in die klare, leuchtende 
Luft — aber die Erde hielt unſere arme Seele feſt, die 
Schwingen verſagten den Dienſt — denn die Natur muß 
die Flügel verleihen, und ſelbſtgemachte Schwingen können 
nichts helfen. — — 

Sie ſtand da mit ihren ſchönen, neuen Flügeln, ſah die 
anderen ſich emporſchwingen und konnte ihnen nicht folgen. 

Und die Seelen ſchwebten über ihr und lächelten auf 
ſie herab, ihr ſtilles, mitleidiges Lächeln. 

Die anderen aber, die Alltagsſeelen, kamen herbei und 
ſpotteten der armen Seele und ihrer ſchönen, goldenen 
Schwingen, mit denen ſie doch nicht fliegen konnte — — und 
unſer armes Seelchen ließ die Flügel hängen und weinte. 

Arme kleine Dilettantin! BR. RR. 


Vrugbild. 
E3 brauft da8 Meer; ich fuhr in Eleinem Sahne 
— Wild bradh fi Well’ um Wei’ an feinem Nand — 
Borbei an fteiler Klippen Felsgeſtade, 
Und ad fo fern, fo fern war id dem Band. 


Die Woge Ihäumt und ri in wilden Drange 
Das Nuder faft mir aus der müden Hand, 
Sturmpögel flogen freifhend auf und nieder, 
Und ad fo fern, fo fern war ih dem Land. 
Da fah ich, wie in nebelhafter Ferne 
Ein ftilles Eiland aus dem Meer entitand: 
„DO nimm mid auf, der Yahrt bin ich fo müde, 
O nimm mid) auf, Du heiß erfehntes Land!“ 
Schon wollt’ an ihm den Anter ich verfenfen, 
ALS Land und Anker meinem Blick entichwand; 
Ein Trugipiel ware, ein leeres Nichts gemweien, 
Und ich war fern, fo ferne noch dem Land. 
Vaul Koͤhler. 


— - 





503 


Dermildtes. 


Der Beilige Niemand. Sankt Nemo fpielte jchon im 
frühen Mittelalter eine bedeutungspolle Role. Das geht aus 
einem Manuifript der palatiniihen Bibliothek zu Heidelberg 
hervor, das die lateintich gefchriebene Legende des „Heiligiten 
und glorreichften Sankt Nemo“ (Niemand) enthält. 

Einige Einzelheiten aus derjelben werden nidjt ohne 
Interefie jein. Niemand ift der Zeitgenoife des ewigen 
Bater3, defjen Himmel ihm ftet8 offen fteht, denn es heißt 
in der heiligen Schrift „Niemand kommt zu mir 2c.“ und 
„Niemand fiehet den Herrn“. Seine Macht kommt der bes 
Erlöfers glei), denn e8 fteht gejchrieben: „Niemand thut 
joldhe Zeichen wie Du”. Dabei fann er vielfady thätig fein, 
denn „Niemand fann ziween Herren dienen”; er darf jogar 
in Doppelehe leben, denn „Niemand darf zwei Weiber haben“. 
In feinem Lande ift Niemand ein großer Prophet. Daß 
er ein großer Seiliger ift, erhellt aus den Worten „Niemand 
tft ohne Sünde”; er bedarf feiner Mbfolution, denn „Niemand 
wird ohne Buße jelig“. 

Daß wir in diefer aus dem fünfzehnten Sahrhunbert 
ftammenden Legende des heiligen Nemo c8 mit einer mwitigen 
Satire auf die unzähligen Legenden der Heiligen zu thun 
haben, ericheint Har. 
außerdem: „Der liebe Niemand tft an allem fchuld.” 

Der Berüßute „oe Iriede* Zuutimann erichien 
immer in hellgrauer Kleidung, wie e8 aud in Pforta einen 
Lehrer gab, der Stets in diejer Yyarbe erichien, wohl wegen 
ber Streide, die er viel benußte. Früher erfchienen ja aud) die 
Srifeure wegen des Puders jtet3 in Hellgrau und hatten 
diefe Uniform mohl nody zur Zeit Buttmanns. So ging 
Buttmann einft im bellgrauen Habit vor jeinem Haufe auf 
und ab, al ein sremder auf thn zutrat und ihn fragte, ob 
er ihm nicht die Haare abjchneiden wolle. Yuttmann erklärte 
fidh fofort bereit, ging mit ihm auf jein Zimmer, ergriff die 
PBapierfchere und fchnitt dem Manne die Haare ab. ALS er 
fertig war, ftellte fid) der Gefchorene vor den Spiegel und 
fpradh zu dem vermeintlihen Haarfünftler: „Wie jehe ich 
aus! GSie wollen Frifeur fein?“ Buttmann jagte jehr 
freundlih: „alt mir gar nicht ein, id) bin der Profeflor 
Buttmann.“ 

Eine BeRaunte Borkämpferin für Die Hebung des Lofes 
der Srauen hielt auf einer ihrer Agitationzreifen eingehende 
Umichau in einer namhaften Bejlerungsanftalt für weibliche 
Sträflinge. Der Direktor erwies ihr die Ehre, fie perlönlic) 
umberzuführen und ihr alle Räume und SInjallinnen zu 
zeigen. Zulegt famen fie in ein einfaches Zimmer, wo brei 
Frauen, eine alte und zwei junge, emfig mit Nähen bes 
ihäftigt waren. „Mein Gott, weldhe lafterhaften Gefichter,“ 
fagte leile die Berühmte zu ihrem Begleiter. „bei diefen 
Frauen ift wohl wenig auf Beilerung zu hoffen?“ Der 
Direktor verbeugte fich höflich und näherte fidy den arbeiten- 
den Frauen: „Verzeihen Sie die Einfachheit unjeres Wohn: 
zimmer — mir wollen burd; Gegenfäge nidjt beleidigen — 
und geftatten Sie mir, gnädige Yrau, Jhnen meine Yamilie 
vorzuftellen. Meine rau, meine beiden Töchter.“ — — 

In einem Dorfe bei Schwedt a. DO. war ein Raftor 
Grenlih, der in feinen meift plattdeutichen Predigten fein 
Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. Als Markgraf 
Hang don Echwedt hörte, Raftor Greulid habe von der 








(Sch 


Das alte deutihe Sprihwort jagt . 





ae ———— ——— 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


504 


Kanzel auch auf ihn geſchimpft, fuhr er eines Abends zu 
demſelben, hielt vor ſeinem Hauſe ſtill und befahl ſeinen 
Leuten, bei dem Wagen zu bleiben und ſich nicht von der 
Stelle zu bewegen, wenn ſie etwa im Hauſe würden ſchreien 
hören. Dann ging er zum Prediger, wurde freundlich be— 
willkommnet, erwiderte aber den Gruß nicht, ſondern zog 
eine Peitſche hervor und begann auf den Geiſtlichen mit den 
Worten: „Er verfluchter Pfaff, wie kann er ſich unterſtehen 
und in der Kirche auf mich ſchimpfen!“ loszuſchlagen. Allein 
das Blättlein wandte ſich. Der Paſtor war ein ſtarker 
Mann und entgegnete: „O, wenn das ſo iſt, dann muß ich 
Euer markgräflichen Gnaden zeigen, daß ich Herr im Hauſe 
bin!“ Er entwandte dem Markgrafen die Peitſche und ſchlug 
tüchtig auf ihn los. Der Markgraf ſchrie, ſeine Leute aber 
kamen nicht, er hatte ihnen ja ſelbſt geſagt, ſie ſollten beim 
Wagen bleiben, wenn auch ein noch ſo ſtarkes Geräuſch ent- 
ſtände. Schließlich warf Paſtor Greulich den Markgrafen 
aus dem Hauſe, ließ ſich aber klugerweiſe ſo bald als 
möglich nach Reinickendorf bei Berlin verſetzen, um der Rache 
des Geprügelten zu entgehen. 








Sommernacht. 


Schwül und ſtill die Sommernacht, 
Rote Roſen neigen 

Sich in märchenhafter Pracht 
Schwer auf ſchwanken Zweigen. 


Und den müden Sinn verwirrt 
Eine Flut von Düften, 
Ein verträumter Falter ſchwirrt 
Auf verträumten Lüften. 


Aus der Ferne tönen leis 
Sehnſuchtsbange Lieder 

Und im Herzen, jung und heiß, 
Hallt das Klingen wieder. 


Und im Herzen, heiß und jung, 
Fängt es an zu wogen, 
Hoffnung und Erinnerung 
Sind hineingezogen. 


Schwül und ſtill die Sommernacht, 
Rings die Welt in Frieden, — 
Nur der Seele, glutentfacht, 

Ward es nie beſchieden. 


Auna Vehniſch. 


Inhalt der No. 46. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. — Schwert—⸗ 
klingen. Vaterländiſche Roman von Hans Werder. Fortſ. 
— Beiblatt: An der Gruft des Reichsfreiherrn vom Stein 
zu Frücht bei Ens. Von Wilhelm Idel. — Aus meinen 
Erinnerungen. Von Otto von Leixner. — Maikönigs 
Tod. Von Wilhelm Schoof. — Der Zimmerherr. Von 
Viktor von Kohlenegg. — Mein Leid. Von Hans 
Biermann. — Dilettantismus. Von M. v. M. — Trug⸗ 
bild. Von Paul Köhler. — Vermiſchtes. — Sommer: 
nacht. Von Anna Behniſch. 

















Verantworiicher Leuer: Ottto von Leirner in Verim. — —— von Otto Janke in Berlin _ Drug der Berliner Bugpruderei- Nitten« Gefelfgoft 
enjhule beB Lette=Wereinß). 





Deutſche 


Roman-Zeitung. 


—1896. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 
beziehen. 


Erſcheint wöchentlich zum Breife von 3% A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Bofte 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 47. 





Art zu Art. 


Noman 


bon 


H. Schobert. 


Fortſetzung.) 


Sechſtes Kapitel. 


Martin Heekens primitives Atelier war über: 
flammt vom hellſten Sonnengold. Mehr in Licht 
gebadet konnte kein Königsſchloß ſein. Und etwas 
von dieſem Licht flutete mit hinein durch die wind— 
ſchiefe Thür, die er jetzt haſtig aufſtieß, um aus der 
grellen Helle und Hitze in den kühleren, dunkleren 
Raum einzutreten. 

Er war ſeit Stunden unterwegs geweſen, um 
alles Rötige zum Guß vorzubereiten, der morgen 
beginnen ſollte, — das letzte, was ihm nun noch zu 
thun übrig blieb, das letzte, was noch zwiſchen ihm und 
dem Ruhme ſtand! Profeſſor Quenſel hatte es 
ihm verſichert, aber noch viel feſter als dieſem glaubte 
er der eigenen Überzeugung, die immerfort in ihm 
wach geweſen war. 

Er hatte gar feinen Zweifel, weder an feiner 
Schöpfung no an fich Jelbft; e8 mußte alles jo 
tommen, wie e8 eben bis jeßt gefommen, e& fonnte gar 
nit anders fein! Und doch war er abjolut frei 
von dhörichter Selbftüberhebung, bhochgeichraubter 
Eitelkeit! Das Bewußtiein feines Könnens war }o 
eins mit ihm, daß jeder Zweifel unmöglich war, 
ebenjo aber auch jedes rauichartige, freudejauchzende 
Empfinden. 

Martin irat no einmal vor feine Gruppe. 
Sa, To hatte fie werden follen! Zug um Zug, Linie 
um Linie! Nichts durfte anders fein. — Wie 
Schattenbilder zogen noch einmal die Tage des 
beißen Ringens, der bitteren Entbehrungen an ihm 
vorüber — und wie Schattenbilder zeigten fich die 
Tage der Zufunft. Diefe Gruppe bier trennte beide. 

Er atmete boh auf und ftrich die Haare mit 
einer fajt harten Bewegung zurüd. 

Da plögßlih ... . er jprang einen Schritt rüd- 
wärts, feine Augen öffneten fih weit. — Yhm war 


RomansZeitung 1896. Lief. 47. 


e8 — den Bruchteil einer Sefunde hindurch! — als 
ginge ein Zittern durch den gefehmeidigen Schlangen: 
leib — als bewege fich der Kopf gierig vorwärts. 
— Er wollte über die Augen ftreihen, um Dies 
wunbderlie Bilb zu veriheudhen — aber ehe er nod) 
die Hand bob — ehe er einen Haren Gedanten 
fafien fonnte, ertönte ein bumpfer, Enifternder Laut 
— unbeimliches Leben durdaudte den Gentaur! — 
Dann ein fnirfchenbes, beritendes Poltern — eine 
Wolfe Staub, die Augen und Lungen füllte — ein 
Berg zerbrochenen, zermürbten Thones, der ausein- 
anberflog — ftob — rollte — und auf der Dreh: 
icheibe, die die Gruppe bisher getragen, ein weißes, 
formlofes Chaos. Zu den Füßen jeines Schöpfers 
lag das Kunitwerf. 

Martin Heefen jhrie auf. — Er taumelte. — 
Mit einem Griff padte er feine Bruft, al& müfle er 
darin etwas fefthalten, das zu zeripringen drohte, 
während er mit weit vorgequollenen Augen auf fein 
totes Wert herabitierte. 

Die Eifenftangen, die dem Thon Halt gegeben, 
waren zu jchwach geweien, die gewaltige Laft hatte 
fie gebrochen, jhwärzlich ragten fie bier und da aus 
dent Chaos. 

Und Martin Heelen fehrie noch einmal auf und 
ftürzte vorwärts und warf fi vor dem Thonhaufen 
auf die Knie und flug mit feinem Kopf in den 
grauen Staub. Aus war alles! — Aus! — 

Noch vor dem Guß war fein Werk zerflört, er 
hatte es verloren! — 

hm war zu Mut, als müfle er nun aud) gegen 
fich felbft vafen, und er rödelte, als fämpfe id 
mühfam ein trodenes, thränenlojes Schludgen aus 
feiner Bruft. 

Und dann fuhr er auf. Seine blutunterlaufenen 
Augen flammten, feine fehnigen Hände jchlofjen fich 
mit folder Gewalt zu Fäuften, daß Muskeln und 
Sehnen wie Stränge anjdhwollen, der Atem leuchte, 


IV. 36 


507 Art zu At. 





und jo rang er in wilder Verzweiflung mit dem 
Schidial — — oder war es nicht eigentlich mit der 
Armut? der würgenden, zerflörenden Armut? 

Weil er kein Geld bejaß, hatte er die Träger 
von der billigften Sorte nehmen müflen, überall 
jparen, wo es nur möglid war. Er hatte es gethan 
aus zwingendfter Notwendigkeit, ohne bejondere Furcht. 
An einen Unglüdsfall dachte er faum, das fam doc 
nur jelten vor, und an den Koften des Materials 
Icheitern wollte er auch nicht, denn jeine dee trieb 
und drängte rafilos zur Ausführung. 

So hatte er e8 begonnen — und nun war e8 ge: 
Iheitert — zerftört! — Die Thüre zum Ruhm, die 
er Ihon offen gewähnt, hatte fi ihm vor ber Nale 
geſchloſſen. — 

Und ein Fluch rang ſich aus ſeiner arbeitenden 
Bruſt gegen dieſe knechtende Armut! Er hatte das 
dumpfe Gefühl, als könne er nicht los von dieſem 
Fleck, als ſei die Stelle hier ein Grab, das ihn ge— 
bannt hielt. 

Leidenſchaftliche, ohnmächtige Verzweiflung durd)- 
tobte ihn und erſt lange, lange nachher drangen 
Thränen aus ſeinen Augen, ſalzige, bittere Tropfen. 
Und doch brachten ſie ihm Erleichterung. — 

Er kauerte zwar noch immer am Boden, mitten 
unter den Überreſten ſeiner Schöpfung, aber die 
wilde Verzweiflung machte einer gewiſſen Ruhe Platz. 
So deutlich ſah er jetzt jede Einzelheit ſeiner Gruppe, 
als wäre fie nicht zerſtört, ſondern ſtände leibhaftig 
vor ihm. 

Sie war gut — ſie war ſehr gut geweſen, das 
hatte man ihm geſagt. Fort war ſie — zerſtört — 
von der Erde verſchwunden. Aber da ſie noch in 
ihm lebte, ſo war bei ruhiger Überlegung vielleicht 
das Unglück nicht gar ſo groß. Seine Hände, ſein 
Kopf waren ihm ja geblieben. Er konnte wieder⸗ 
ſchaffen, was geweſen, bald — gleich — konnte er 
daran gehen und dann das Schickſal auslachen, das 
in ihm ſeinen Meiſter gefunden. 

Er richtete ſich auf und ſah um ſich. Die 
Verwüſtung war groß. Mühſam erhob er ſich, ſeine 
Glieder waren wie zerſchlagen, öffnete ein wenig die 
Thür und ſah auf den Hof hinaus, ob auch niemand 
da war. 

Er ſchien ihm leer, und ſo ging er denn unter 
den Brunnen und ließ ſich das kalte Waſſer über 
Kopf und Genick laufen. Wie das wohlthat — er— 
friſchte! — Wie ein ganz anderer Menſch konnte er 
jetzt denken und empfinden. 

Mit Staunen ſah er, daß die Sonne ſchon 
tief ſtand; alſo hatte er den ganzen Tag faſt ohne 
Nahrung in ſeiner Verzweiflung zugebracht. Un— 
fruchtbare Zeit, wahrhaftig, für einen Menſchen, der 
ums tägliche Brot zu arbeiten hat. Er ſchämte ſich 
faſt ſeiner Faulheit. 

Drinnen im Atelier ſah es wüſt aus. Das 
klügſte wäre wohl, dort erſt Ordnung zu ſchaffen. 
Er ging zu der Frau hinüber, die ihm ſonſt zuweilen 
kleine Dienſte leiſtete, um ſich einen Beſen zu borgen, 
aber ſie war nicht zu Hauſe. So hieß es alſo 
doch wieder warten. 

Er trug ſich, ſchnell entſchloſſen, ſeinen Schemel 


Roman von H. Schobert. 


508 








und ſeine Schnitzereien ins Freie; jetzt mußte er doppelt 
arbeiten, wollte er den gehabten Schaden erſetzen. 
Während er das Meſſer führte, rechnete und rechnete 
er. Wie lange würde es noch dauern, bis er ſich 
aufs neue die Eiſenkonſtruktion ſchaffen konnte, 
natürlich beſſere Qualität. — Und dann ſeine 
Mutter! — 

Ihm wurde heiß, als er zu einem endlichen 
Reſultat gekommen war. Nein! So lange konnte 
er nicht warten, das Bild entſchwand ihm ſonſt, das 
er jetzt noch ſo treu und deutlich in ſeinem 
Inneren trug. Mit kurzem Entſchluß, mit dem 
Egoismus des Künſtlers, ſtrich er die Mutter von 
ſeinem Ausgabeprogramm. Sie hatte ja bisher ge- 
lebt, fie würde auch weiter leben, bis — nun ja, 
bis er helfen tonnte ohne jelbft darunter zu leiden. 
Seine Gruppe mußte ihm midhtiger fein. 

So ließ fih’s mwenigftens abjehen! — Und doch 
— für feine plöglich elementar erwadte Arbeitskraft 
dauerte ibm auch der Termin noch zu lange. 
Morgen — am liebften noch heute — hätte er wieder 
anfangen mögen! Das erzwungene Zögern brannte 
ihm jegt wie Feuer in den Adern. Da trat zum 
erften Mal in feinem notreiden Leben der Berfudher 
an ihn heran und raunte ihm zu, baß Fortunats 
Börje ihm immer offen fei, er möge doch zugreifen 
— und dann gleich beginnen — gleih! — Außer: 
se Umftände redtfertigten außerordentliche 

ittel. 

Er nahm es ja auch nicht für fi, er nahm es 
ja nur für fein Werk, jein armes geftorbenes Werft, 
dem er zu neuem Leben verhelfen wollte — mußte! 
Es war ihm, als mürdigte er es jegt exit richtig, 
nun es ihm verloren war. 

Und wenn ihm Fortunat das Geld gab, wie 
fleißig wollte er dann fein! Er fühlte es ordentlich 
in den Händen zuden vor Schaffensluft. Sie jollten 
fih wundern, wie flint das ging! 

Und während er das alles jo bedadte, hatte der 
Schlag, der ihn betroffen, alle jeine Schreden für ihn 
verloren, ja, während er das Mefler führte, fpißte 
er die Lippen und pfiff leile vor fich Hin. 

Derjenige, an den er eben dadjte, trat in diefem 
Augenblid, unbemerkt von dem Arbeitenden, auf den 
Hof! Er jah von dem weiten Weg jehr erhigt aus 
und war innerlich nod mehr erregt dur) die Nad- 
richt, die ihm Heelen geichidt: 

„Komm. Meine Gruppe ift verunglüdt.” — 

Mehr hatte der lakonifche Wilch nicht vermelbet, 
dejlen fteile, ungelenfe Schrift merfbar verzerrt jchien. 

Und jo war er denn binausgeftürzt, in wilder 
Eile zu dem Uinglüdlihen, Verzweifelten. Er ahnte 
genug und wollte nun tröflen — raten — helfen! 
Gott, was wollte er nicht alles in dem über: 
Iprudelnden Mitleid jeines warmen jungen Herzens! 

Und nun fah er ihn da vor fih fißen, emiig 
arbeitend, pfeifend, überftrahlt von der untergehenden 
Sonne, die fein noch etwas weihlich Ichimmerndes 
Haupt: und Barthaar mit purpurnem Schein übergoß. 

Fortunat ftand wie angewadlen. Das Bild 
war jo ruhig und friedlih, daß es ihn vermirrte. 
Nur langjam kam er näher. 


509 Art zu Art. 
„Du — Du pfeifft, Martin?” jagte er endlich 
ganz Eoniterniert. 

„Ja —” erwiderte er — „was joll man ba- 
gegen thun? Klagen hilft doch nichts mehr. Noch 
einmal machen tft das einzigite.” 

„And Du haft den Mut — die Kraft dazu?“ 

„Na freilid. — Deutlich fteht fie ja vor mir, 
meine Gruppe, und ich wette, daß fein Haar anders 
— fchlechter wird.” 

Fortunat lehnte fi mit dem Rüden gegen bie 
geichloffene Thür. „Menih!” fagte er, als zweifle 
er an feinen eigenen Sinnen. „Und das ift alles, 
was Du da fagft? Keine Verzweiflung, nit einmal 
eine Klage? Sa, was bit Du denn? Ein Titan 
oder au nur ein Erdenwurm?“ 

Heelen fahb zu ihm auf und lädelte. „Ber: 
zweifelt war ich wohl zuerft. Sei frod, daß Du 
mih nicht jo geliehen. Aber dadurd wird dod) 
nichts geändert, es lähmt einen nur an Leib und 
Seele. Da fagte ih mir: Miedermaden ift ge: 
icheiter. Und fo bin ich ruhig und froh geworden.“ 

„Weißt Du, Heelen, ordentlih tragiich ift’s, 
wenn man darüber nadhdentt; fo kurz vor dem Ziel,“ 
fagte Sortunat vertraulid. „Der Profeflor ift ganz 
blaß geworben, als er es hörte. Und ih! Auf und 
davon fag ih Dir, weil ich fürdtete, Du könntet 
Dummpbeiten maden.” 

„Dummheiten? Ja, welche denn?“ 

Er ſah ſo naiv bei der Frage aus, daß ſich 
Fortunat beeilte, davon abzulenken. „Gott, was 
einem dann ſo alles einfällt! — Aber — Martin 
— mir ſitzt es noch in den Knochen.“ 

„Du biſt eben empfindlicher als ich,“ entgegnete 
der andere mit einem ſo guten, ruhigen Ausdruck 
im Geſicht, daß Fortunat Luſt ſpürte, ihn, trotz 
ſeines Wollhemdes, an die Bruſt zu drücken. „Dir 


iſt das Leben immer leicht geworden, mir nicht; da 


wird man an Fußtritte gewöhnt. Aber höre Du 
— ich möchte was mit Dir beſprechen — es wird 
mir ſchwer — aber es geht nicht anders — ich ver— 
liere ſonſt meine Gruppe aus dem Gedächtnis und 
das wäre dann erſt ein Unglück. Arbeit — die bin 
ich ja gewöhnt und die ſcheue ich nicht — aber 
— mit der Schnitzerei hier, das dauert ſo lange, 
bis ich alles beiſammen habe — und dann noch ...“ 

Ungeſtüm fiel ihm Fortunat in die Rede. „Du 
brauchſt Geld, Martin, ſag es nur ſchnell.“ 

„Natürlich brauche ich Geld. Sieh — nur weil 
‚ih fo fparfam war, ift das hier —“ er wies mit 
dem Meffer über die Schulter — „geliehen. Die 
Träger waren zu Ihwad.“ 

Er jaß mit gelenttem Kopf und jah aud nicht 
zu feinem Studiengenofjen auf, als er jprad. Diele 
erfte Bitte in feinem Leben fam ihn hart an, fait 
wie Scham bebrüdte es ihn dabei, und bod — 
und dohd — er konnte nicht anders. Gebieteriſch 
forderte die Kraft, die in ihm lebte und die ftärfer 
war als alles andere, biejes Opfer. 

Fortunat jchwieg einen Augenblid. Merkmwirdig, 
wie er auf einmal fharf und ar in die Seele 
feines kaum gefannten Freundes hinein zu fühlen 
vermochte. Er verftand die Triebfeber zu dieſem 


Roman von H. Schobert. 





510 





Preisgeben jeiner fonftigen Grundläge, und fie be: 
geifterte ihn ordentlih, wie es ihm ja jo leicht ge: 
hab, jobald Eigenihaften auf die Oberfläche einer 
Menichenfeele traten, die er nicht bejaß, und die er 
doch anerkennen mußte. 

Cr legte feine Hand auf Heelens Schulter. 
„Mach Dir über diefen Punkt feine weiteren Ge: 
danten, Martin,” fagte er fait feierlih. „Morgen 
um bieje Zeit bift Du im Beli jo ausreichender 
Geldmittel, daß Du Deine Gruppe neu beginnen 
kannſt. Verlaß Dih auf mich.” 

Heelen ftieß einen Jubelruf aus, am Abend 
bes Tages, an ben: ihn der jchwerite Schlag feines 
Lebens getroffen, einen rechten, von Herzen fommen: 
den Subellaut. Er dadte nicht an die Arbeit, Die 
feiner wartete, alles brannte, fieberte in ihm nad 
dem Beginnen. 

Fortunat Ichüttelte den Kopf. „Wie elafliich er 
it,” dachte er beim Nachhaufegehen. „Wäre ich es 
wohl auch?” 

Und feufzend befannte er es fich ehrlih, daß 
bei ihm eine Deprejfion länger anzubalten pflegte, 
Ihwieriger zu überwinden war. 

„Db er nicht glüdlih tft — troß alledem?” — 
Diefes „trog alledem” galt feiner Armut, feinem 
ungepflegten Außeren, Dinge, die Ler ein Greuel 
waren, und doc fragte er fih noch einmal fait 
Kulen: „Sb er nidt glüdlih it? Glüdlicher 
als wir?“ 


Siebentes Kapitel. 


Fortunat kehrte direkt in das Haus des Pro: 
feffors zurüd, wo man ihn mit großer Spannung 
erwartete. Das tragiihe Geihid, das ein bereits 
von der Sury jo gut wie anerlanntes Kunftwert jo 
kurz vor der Ausführung betroffen, konnte nicht 
anders ale audh für den Künftler Teilnahme er: 
weden. 

„Wie Haben Sie ihn denn gefunden, den 
Armen?” fragte der Profefior den Eintretenden, in: 
dem er fih erhob und ihm ein paar Schritte ent: 
gegenging. 

„Wie? BPfeifend,” antwortete Fortunat laloniich. 
Dann fuhr er erregter fort: „Sa, Herr Pro: 
feffor, es ift, wie ich jage — er arbeitete und pfiff 
fih dazu ein Lied, als ginge ihn die ganze Sache 
nichts an.” 

„Wie Ecipio oder fo ein großes Tier auf den 
Trümmern Karthagos,” fiel Zuzie jpottend ein. 

Der BProfeffor war vor Eritaunen ftehenge- 
blieben. „Nicht möglich!” 

„Sa, das dachte ich zuerft au, aber — id) 
kann e8 bejchwören.” 

„Der reine Milde im Empfindungsleben,” 
jagte Emil jpöttiid. „So babe ih ihn, troß feines 
Talentes, immer tariert. Was jagen Sie, Miß 
Maud?“ 

„Ein übermenſchlich großer Charakter, ſcheint 
mir.“ 





511 


Die Amerikanerin hatte ſich erhoben. Mit 
beiden Händen auf den Tiſch geſtützt, etwas vorge— 
beugt, ſtand ſie blaß, aber mit einem eigentümlichen 
tiefen Leuchten in den dunklen Augen da und ſah 
den Sprechenden an. 

Emil trat auf ſie zu. „Uberſchätzen Sie ihn 
nicht. Was meinem guten Lex und auch Ihnen 
ſolchen Eindruck zu machen ſcheint, iſt nichts anderes 
als das dicke Fell, das dieſe unteren Volksklaſſen 
vor uns voraus haben.“ 

Sie ſtreifte ihn flüchtig, ſogar etwas ungeduldig 
mit den Augen. „Mag ſein.“ 

„Sie haben noch ſo viel Illuſionen über die 
Menſchen, Miß Winter, Hände voll, ſcheint mir.“ 

Sein überlegenes, faſt impertinentes Lächeln 
ärgerte ſie — ſie würdigte ihn keiner Antwort. 
Dagegen lauſchte ſie mit geſpannter Aufmerkſamkeit 
hinüber, auf das, was Fortunat erzählte. Wie ſie 
das alles intereſſierte! Wie ſich Phantaſie und Ge— 
danken daran beteiligten, und dazwiſchen dachte ſie 
doch: „Wie leer und arm muß mein Herz ſein, 
daß ich nichts anderes habe als dieſen Fremden, 
den ich nicht kenne, und deſſen Kunſt mich noch 
nicht einmal hat begeiſtern können.“ 

Da ſagte der Profeſſor: „Dem Menſchen muß 
geholfen werden, das ſteht einmal feſt. Eine Schande 
wär's, wäre es anders. Nicht mit einem Darlehn 
aus Ihrer Taſche, lieber Fortunat, ſo hübſch die 
Abſicht Ihrerſeits auch iſt, ſondern von uns muß 
es ausgehen, von uns Vertretern der Kunſt. Ich 
werde dafür ſorgen, daß er ein Stipendium be— 
kommt, damit er wenigſtens ſorgenlos leben kann, 
und jetzt werden wir eine Sammlung veranſtalten, 
die ihn in ſtand ſetzen ſoll, neues Material anzu— 
ſchaffen; das ſind wir ihm ſchuldig als Glieder 
einer großen Korporation. Geben Sie einen Bogen 
her, Fortunat, damit wir gleich eine Subſkription 
beginnen.“ 

Und der Profeſſor ſetzte an den Kopf ſeinen 
Namen mit einer Summe von zweihundert Mark. 

„Aber Papa — welche Verſchwendung,“ rief 
Luzie, die hinter ihm ſtand. „Und für mich haſt 
Du kein Geld zu einem zweiten Sommerkleid übrig. 
Da fieht man, was für ein Nabenvater Du eigent: 
lich biſt.“ 

Sie ſprach im Scherz, und doch war es ihr 
bitterer Ernſt. Solche Ausgaben, die ſie für über— 
trieben und überflüſſig hielt, nahmen ihr die Laune, 
denn im Grunde ihres Herzens war ſie eine klein— 
liche, geizige Natur, ſowie es ſich um das Wohl 
anderer handelte. 

Der Profeſſor ſtrich ſeiner Tochter begütigend 
über den Kopf; er nahm ſolche Ausbrüche niemals 
ernſt und kam deshalb gar nicht dazu, ſich über den 
wahren Charakter ſeiner Kinder klar zu werden. 

„Darf ich auch?“ fragte Maud, an den Tiſch 
tretend und nach der Feder greifend. Ihre Augen 
glänzten, ſie empfand es einmal wieder mit Genug— 
thuung, wie angenehm es iſt, reich zu ſein. 

Der Profeſſor nickte vergnügt, und dann folgten 
alle der ſchmalen, weißen Hand, die in langſamer 
Sicherheit: „zweitauſend Mark“ hinſetzte. 





Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


512 


„Herr Fortunat muß nur ſo freundlich ſein, 
ſich der Wechſelung zu unterziehen,“ ſagte ſie und 
ging gleich eilig fort, um einen Check zu holen. 

Die Zurückbleibenden ſahen ſich erſtaunt an. 

„Welche Protzerei!“ warf Luzie mit einem ge— 
wiſſen Hohn hin. Maud war ja in dieſem Augen⸗ 
blick abweſend, da konnte ſie ehrlich ſein. 

„Wenn ſie ſich nicht bald einen vernünftigen 
Mann anſchafft, wird das ſchöne Vermögen wohl 
ſchnell zu Ende ſein,“ meinte Emil ärgerlich. Da 
er ſich bereits als Mauds Zukünftigen betrachtete, 
kam es ihm wie ein ungehöriger Raub an ſeinem 
Eigentum vor. 

„Iſt denn das Mädchen in ſo guten Verhält— 
niſſen?“ fragte der Profeſſor, ganz erſtaunt um ſich 
ſehend, und vielleicht kam ihm in dieſem Augenblick 
derſelbe Gedanke wie ſeinen Kindern. „Sie kleidet 
ſich doch ſo einfach und benimmt ſich ſo einfach, daß 
Du, Luzie, Dir nur ein Beiſpiel daran nehmen 
könnteſt.“ 

Seine Tochter erwiderte nichts, denn Maud 
kam zurück und reichte Fortunat das Papier herüber. 
Er ſah rot und verlegen aus, ein faſt herber Zug 
lag um ſeinen hübſchen Mund, als er nur zögernd 
danach griff, indem er den Profeſſor anſah. 

Der munterte ihn auf. „Genieren Sie ſich 
nicht. Wenn dies junge Fräulein wirklich über ſolche 
Summen verfügen fann, ohne fih deshalb Ein: 
Ihränfungen aufzuerlegen, dann find wir es unjerem 
Freunde — oder vielmehr feinem Genie jchulbig, 
das nicht abzumeilen.” 

„Don einer Dame . . .” jagte Fortunat halb: 

„Es könnte ihn beleidigen!” 

Nun late Emil laut auf. „Guter Ler, trage 
nicht Dein Feingefühl in die Bruft eines anderen. 
Übrigens Tanıı e3 Heelen ganz gleich fein, von 
wem das Geld foınmt, wenn es nur überhaupt da 
it, und ich glaube, in den FKreifen, aus denen er 
berftammt, ift man auch nicht gewohnt, danach zu 
fragen.” Ä 

„Du thuſt ihm unrecht,“ jagte Fortunat nad: 
drücklich. „Und überhaupt bei den reichen Gaben, 
was ſoll da noch mein Scherflein; er wird es kaum 
merken.“ Dabei ſah er kindlich unglücklich aus. 

„Vielleicht hat er arme Familienmitglieder, die 
zu unterſtützen ihm viel wert iſt,“ meinte der Pro— 
feffor gutmütig. „Und wenn Sie dann damit bie 
Subjfription Ichließen, jo haben Sie mwenigftens Zeit 
und Atem geipart, Fortunat.” | 

„Wie unfreundlid Sie gegen mich gewejen 
find,” fagte Maud im Verlauf des Abends, als fie 
ihn zufällig einen Augenblid allein jpredyen Eonnte. 
„Sehr unfreundlid! Und ich Tonnte mir einbilden, 
Sie würden mein Freund fein.” 

So melandoliih jah fie dabei aus, daß er jo: 
fort fein Herz gerührt fühlte. Auch war er ja etwas 
Ihuldbemwußt, denn er wußte jofort, was fie meinte. 
Schnell Jah er ih um, ob fie auch niemand hörte. 

„Sehen Sie, Miß Winter,” fagte er eilig, „es 
it jo ein verteufelt anderes Ding um die Theorie, 
ala um die Praris. Als ich das Geld von Ahnen 
nahn, da — da war es mir, als wäre das nicht 


laut. 


ee —— 


513 Art zu Art. 

anftändig — als dürfe ih das nit. Bei uns 
nimmt eben fein anftändiger Menih Geld von 
einer Dame.” 

„Ih weiß,” entgegnete fie immer nod mit 
demjelben Ernit. „Es hätte Sie aber nicht geniert, 
wenn ih Xhnen unbelannt gewelen wäre.” 

„Dielleiht nicht. Aber fo mußte ich an uniere 
neulihe Linterredung denten ... Sie wollen teil: 
haben an dem Schaffen des Mannes, dem Sie helfen. 
Bei Martin Heelen wird Ihnen das faum gelingen. 
Das drüdte mid. ch mußte es Ahnen jagen.” 

„Damit ih meine Gabe nicht bereue?” Sie 
war jehr- rot geworden und preßte die feinen Lippen 
zufammen. „OD, feine Sorge! Dies hat mit meiner 
Abfiht gar nichts zu thun. Dies biete ich einem 
Menihen, der mir größer zu fein Icheint als bie 
meijten, unter denen er fteht.” 

„Und wenn er e3 zurüdmweilt?” 

„Das darf er nicht.” hr Kleiner Fuß trat 
heftig den Boden, fie war zomig. „Sorgen Sie 
dafür, daß er es micht thut; nennen Sie meinen 
Namen nidt. Hören Sie — jagen Sie, es füme 
alles vom Profeffor. Alles!” 

„Sie find jehr großberzig. Unter diefer Flagge 
fann ich es thun.” 

Ohne ein Wort drehte fie fih ab. Sie war 
zornig auf ihn, auf fi, auf alle Welt. Welch einen 
Lärm machten fie um dies elende bißchen Geld, nur 
weil fie, die e8 gab, ein Weib war! Von einem 
Mann bätten fie es ohne Bedenfen genommen, ihn 
no dafür gepriefen. E8 aus ihrer Hand zu nehmen, 
Ihien beinahe eine Shmadh. — Dadıten fie wirklich 
alle jo, oder nur diejer Fortunat, der nad feinem 
Empfinden alle beurteilte, die ihm naheflanden. 
Und doch, obgleich fie vorher beleidigt gemwejen, gefiel 
er ihr recht gut in feinem vffenen Freimut. 

xhre Blide juchten ihn verjtohlen. Da faß er 
zwilden Emil und Luzie, plaudernd, lahend, jung, 
bübjh, begabt. Etwas wie Neid überfiel fie, daß 
fie nit au ein Mann war. 

Warum durfte fie nicht dabei fein, wenn 
Heelen morgen das Geld befam! Cinmal eine 
Freude jehen, jo eine rechte wilde, maßloje Menjchen: 
freude, danach lechzte fie ordentlid. — — 

Es war faum Mittag, ala Fortunat am nädjften 
Tag bei feinem Freunde eintraf. Er begegnete ihm 
auf dem Hof, auf und ab gehend, unruhig, unfähig 
zu arbeiten, voll bangendem, jehnendem Hoffen. Die 
ganze Nacht hatte er nicht fchlafen fünnen, fi nur 
auf feinen Lager. gewälzt in Gedanfen an feine 
Gruppe. Würde ihn Fortunat von diefer Schaffens: 
qual erlöjen? Er jahb in des Kommenben Gefidt, 
und ein Seufzer der Erleichterung hob jeine Bruft. 
Er Hatte aljo Wort gehalten. — 

„Komm hinein,” mwintte Fortunat, an der 
Atelierthür fteher bleibend. Es Ichien ihm nicht rät: 
lid, den Reichtum, den er mit fich brachte, vor all: 
zuviel gierigen Augen zu zeigen. 

Und drinnen im Atelier jeßte er fih Hin und 
legte das ganze Geld in Hundertimarfidheinen auf 
Heetens Bett. Sein hübjches Geficht leuchtete ordentlich 
vor Freude, 


Roman von H. Schobert. 





514 





Der andere jaß daneben, ftil, tumm und blaß; 
die Hände auf die Knie geitemmt, jah er mit faft 
ftumpfem Ausdrud auf die blauen Scheine herab. 
„Alles Dein,” jagte FYortunat, als er zu Ende 

„Alles — alles Dein!” 
Martin atmete tief auf, wie unter einem Drud. 
„Aber das brauche ich ja nit — was joll ih 
denn damit? . . .” fiieß er bervor. 

„Es gehört Dir!” 

„Mir? Der ih Dih nur um ein paar Marf 
für das Gerüft bat? Wie follt ih Dir das jemals 
zurüdgeben?” 

„Gar nicht, Martin, gar nicht! Es tft alles Dein, 
ohne daß Du jemals an Zurüdgeben benten braudit. 
Alles! — Der Profefior Ihidt es Dir, bamit Du ohne 
Sorge arbeiten und leben fannft. Nun ift feine Not 
mehr! — Freue Dich do, Menich, freue Di doch!” 

Es war nötig, daß er ihn anftieß, denn Heelen 
rührte fih nit. Stumm und flarr jahb er auf 
das Geld, das er no niemals in folder Menge 
beilammen gejehen, und dennoch erregte es ihm 
feine Freude, eher einen erjtidenden Alpdrud, den er 
im ganzen Körper zu fühlen meinte. 

„Ih will Euer Geld nidt — ich bin Fein 
Bettler!” ftieß er endlich heraus, als müfle er fi 
mit diefen Worten gegen das wehren, was jo über: 
mächtig plößlich über ihn hereinbradh und ftarf war, 
ftarf und dabei doch fo gejchmeibig wie die Schlange, 
bie feinen Gentauren tötete. Er fühlte, wie Das 
Geld vor jeinen Augen lebendig wurde, wuchs, nad) 
ihm griff und um ihn rang, um feine freie, jelb: 
ftändige Seele, die bisher fih noch feiner Macht 
gebeugt hatte. 

„Timm es fort!“ ftöhnte er und bedte bie 
Augen mit der Hand. „Nimm es fort! Ach will 
nit!” — Es war nur inftinftive Abwehr, die ihn 
trieb, jo zu handeln wie er that. Er fühlte die 
Schlinge, bie ihm um den Naden geworfen wurde 
und bäumte fi dagegen auf mit der ganzen Kraft, 
die ihm eigen. Heiß und beflemmenbd ftieg es in ihm 
auf vor diefen harmlojen blauen Scheinen, die jo 
friedlich dalagen, als hätten fie gar nicht die Macht 
über die Meniden, der doch ein jeder verfällt. 
Ein jeder! 

Fortunat late. Er war jo herzensfrob über 
die Freude, die er einem Menfchen, den er bodhitellte, 
maden fonnte, daB e8 ihm gar nicht einfiel, in 
Heelens Abwehr mehr zu jehen als nur die plößliche, 
berauſchende Überraihung. 

„Wie werde ih Dir denn fortnehmen, mas 
Dein rechtmäßiges Eigentum ift,” fagte er, im 
Melier auf und ab Schreitend. „Die erfte An: 
erfennung, die man Deinem Genie zollt. Sei doc 
olz darauf, Menfh! Wenn der Profeflor nicht 
ganz genau müßte, was in Dir ftedt, glaubft 
Du, er mürde fih dann Deine Angelegenheit jo 
zu Herzen genommen haben? Nein, mein Lieber, 
in der ganzen Welt wälcht immer nur eine Hand 
die andere. Du bilt fein Schüler, Dein Ruhm ift 
alfo jein Ruhm. ei nur ruhig, zu viel jchenten 
thut er Dir nit. Aber deshalb ift er doch ein 
jeltener Menjch, fobald es fih um das Helfen 


war. 


515 Art zu Art. 
handelt. Denke nur, ein Stipendium will er Dir 
auswirken.” 


Und Fortunat 309 fi den Schemel herbei und 
erzählte dem Aufhorchenden, was bei Quenjels ver: 
handelt worden war. Nur von Mauds Beteiligung 
an der Sammlung jhhwieg er. So ganz fiher war 
er fih nit, wie Heelen das aufnahm. Und er 
mochte Maud nicht Tränfen, um feinen Preis. Zu: 
dem batte fie ihm ja volllommene Freiheit gegeben, 
zu bandeln, wie ihm gut dünfte, er fündigte alfo 
nicht gegen fie. Erft jollten fie fich fennen lernen. 
Entweder verlor fie dann die Luft, fich gerade Heefen 
für ihre philanthropiichen Abfichten auszuludhen, oder 
die Sache glich ji aus, denn fchließlih war gerade 
diefe deutiche Amerikanerin ein Mädchen, das mit 
anderm Maß gemeflen werden mußte. 

Fortunat Iprach und jprady, er beachtete es nicht, 
daß Heelen ftumm neben ihm jaß, daß auf feiner 
Stirne Schweiß ftand und daß er die Augen nidt 
von bem Gelde wandte, das ihn völlig zu fascinieren 
dien. Endlih unterbrach er ihn. 

„Du fagft, das da ift mein — ih Tann damit 
maden, was ih will.” 

„Aber natürlich.” 

„Auh meiner Mutter davon geben? Der 
alten Stau geht es nur elend,” feste er balblaut, 
wie entichulbigend Hinzu. 

„Wer wollte Did wohl daran hindern? Nimm 
Deine Mutter zu Dir, Martin, jeder wird das nur 
anerkennen, und Du bift dann ficher befler verpflegt.“ 

Cr fjahb fih Ichaudernd in dem verwahrloften 
Raum um, und auch) des Freundes Kleidung ftreifte 
er dabei mit den Augen. Natürlich, ihm that eine 
FSrauenhband nötig, die um ihn forgte; wer fonnte 
das wohl befjer als die Mutter? Fortunat, der 
jeine Eltern nit gelannt, fühlte fait etwas wie 
Neid bei dem Gedanten, daß fein Freund von 
nimmermüder WMutterliebe umjorgt fein würde, 
während er niemand hatte, der jo feit und natürlich 
zu ihm gehörte. 

„Und mie die alte Frau Stolz auf Dich Jein 
wird,” fagte er weih. „Wie fie Did bewundern 
muß, ihren eigenen Sohn.” 

Heelen blidte jharf auf. „Meine Mutter ver: 
fteht nichts von meiner Kunft. Freilih” — aud 
er jah fich rings um — „jauberer wird es dann wohl 
werden, aber das geniert mich nicht, ih kann auch 
jo arbeiten.” Und als hätte er mit diefem Wort 
den Kulminationspunft jeines ganzen MWejens er: 
reicht, begannen feine Augen zu funteln, die Bruft 
hob fih und er ftrich die Haare aus der Stirn. 

„And arbeiten will ich jegt — arbeiten! hr 
jolt nur fo ftaunen! Sch habe ja feine Ruhe eher, 
bis ich meine Gruppe wieder habe.” 

Vergeflen war das Geld, die Mutter, er dachte 
nur an feine Schöpfung, und biejer Gedante jtraffte 
ihm Musteln und Sehnen. 

„Ra, na,“ meinte Fortunat zweifelnd, „jo eilig 
wird das wohl nicht gehen. Wenn Du in folcher Eile 
dann daneben greifft, kannt Du Dich nicht wundern.” 

Da warf Heelen den Kopf in den Naden und 
late auf. „Ich daneben greifen? ch?! Meine 


Roman von H. Schobert. 


516 


Hand jehe ich nicht deutlicher als meine Gruppe. 
Glaube mir, der Martin Heelen greift nicht da- 
neben.” Das Klang königlich ftolz aus dem Munde 
des Proletariers, der breitbeinig, feiner Kraft fi 
bewußt, daftand und auf den zierliden Freund 
berabfah, in beflen Bruft neben der Schöpferfraft 
immer zugleich ber Zweifel und das Fritiide Empfin- 
den lebendig war und ihm den Genuß an jeinen 
Schöpfungen beinträchtigte. Fortunat feufzte neidvoll. 

„Du Glüdliher! Sol Selbftbewußtjein ift 
bob eine Gottesgabe, bejonders wenn es be- 
rechtigt if. — Zh muß aber jet fort, hoffentlich 
zieht Du als Kröfus, der Du jet bift, in etwas 
erreihbarere Nähe, ih will Dir gern ein Atelier 
fuchen helfen. Und wann joll ih Dich beim Profejlor 
anmelden, daß Du ihm dantit?” 

„Banken?“ Heelen jchüttelte fihb. „Das ver: 
ftehe ich jIchlecht, Fortunat. Mit der Feder und mit 
den Morten, da bin ich nicht jo gewandt wie hr. 
Aber —“ und er padte ihn bei beiden Schultern 
und jchüttelte ihn Hin und ber — „lage ihm, daß 
ich arbeiten wil — arbeiten wie noch nie! Seine 
Ruh’ will ih mir gönnen Tag und Nacht, bis ich 
die Gruppe fertig babe — das fol mein befter 
Dank fein.” 

Fortunat jah ihn ein Weilden ftumm an. Er 
baßte eigentlich bieje elementaren Ausbrüche, die von 
einer gemwifjen Körperkraft unterftügßt wurden, Die 
ihm unbequem war; Martin Heelens Hände waren 
jo fehr feft, dennoch war er Künitler genug, die Be 
geifterung mitzuempfinden, die den andern durchglühte. 

„Das wird ihn jehr freuen, genügt aber doch 
nit ganz. Man quittiert nicht dreitaufend Mark 
mit einer mündlichen Beitellung. Du mußt jelbft 
gehen, Martin.” 

Er zudte bin und ber mit jeinen breiten 
Schultern wie unter Törperlidem Unbehagen, dann 
faltete er die Stirn. „Ah thu’s nidt. Ih will 
arbeiten,“ troßte er. „Geht es nicht ohne jolchen 
Dant, dann nimm das Geld nur wieder mit.” 

„Du bift verrüdt, Menjch, ganz verrüdt,” fuhr 
Fortunat auf. „Gut! Für diesmal werde ich Dich 
mit Deiner Arbeitswut, Deinem furor teutonicus 
entfhuldigen, wenn aber Deine Gruppe fertig ift, 
dann bolft Du das Berläumte nad, Tommit mit 
mir zu Quenfjels.“ 

„Dann in Gottesnamen.” 

„Hand darauf?” 

Heelen reichte ihm feine große, bäßlihe Hand. 
Er late dabei heimlich vor fi hin. „Oft werden 
fie fein Berlangen haben, mid zu jehen. Aber 
geh jeht, Fortunat, ich bitte Dich, gleih will id) 
mir alles beforgen, was ih braude, meine Holz: 
Ichnißereien abliefern und dann — dann arbeiten!“ 

Er redte die Arme in die Luft und dehnte die 
breite Brufl. Ganz verwandelt jah er in biejem 
Augenblid aus. „So jJolte ihn Miß Winter 
\eben,” dachte Fortunat im ftillen; und wieder 
regte fih in ihm der Stolz auf denjenigen, den er 
fih) nun einmal gewöhnt hatte Freund zu nennen, 
der Stolz, und das Gefühl des Nichtverftehense — 
trotz alledem. 


517 Art zu Art. 


Achtes Kapitel. 


Es war merkwürdig, mit welcher Beharrlichkeit 
ih Mauds Antereffe immer wieder den Thema zu: 
wandte, das fie in ben wenigen ungeftörten Augen: 
bliden, die ihr mit Fortunat blieben, zu variieren 
liebte: Martin Heelen! Sie wurde nicht müde, nad) 
allem, aud dem Geringften zu fragen. Die kraft: 
volle, zielbewußte Energie, die ihr aus dem, was fie 
hörte, entgegenatmete, diejes vollfländige Beharren 
auf fich jelbft imponierte ihr um fo mehr, je weniger 
fie jonft gewohnt war, es zu finden. 

Und Fortunat mußte jo viele Tleine Züge zu 
erzählen, die fich ihr zu einem immer beutlicheren 
Gejamtbild verjhmolzen, daß e8 ihr vorkam, als kenne 
fie ihn bereit8 ganz genau. 

„Machen Sie fih nur um Gottes willen feine 
Slufionen, Mig Winter,” fagte er einmal, feine Er- 
zählung |chroff unterbredend. „Das follte mir leid 
thun um meinen $reund. Man ift nämlich niemals 
ungerechter als gegen die Menfchen, von denen man 
vorher jo viel gehört Hat, daß fie zu Ausnahmen 
berausgewadhjlen find, und bie fich bei näherem Zu: 
jehen dann do als ganz einfadhe Menjhen ent: 
puppen.” 

Maud jah ihn groß an. „Berkleinern Sie fi) 
doch nicht felbft,” entgegnete fie faft piliert. „Wäre 
hr Heelen ein Dubendmenih, es gelänge ihm gar 
nicht, hr Interefle fo lange zu erregen und felt: 
zubalten. Seien wir Do froh, daß wir einmal 
jemand haben, der größer ift als die andern, und 
bejchneiden wir ihm feine Größe nicht.” 

„So ein Dußendmenih wie ih bin,“ meinte 
Fortunat Häglih, „hat vielleicht nicht einmal den 
rihtigen Maßftab für die Größe anderer. Nur ein 
Ausnahmemenſch Fünnte das richtige Urteil über 
einen ebenjolden abgeben.” 

„Darüber ließe fich fNreiten.” Mik Winter 
hatte eine niederträdhtige Manier, ihrer Meinung 
Nahdrud zu geben durdy die Art und Weile, wie fie 
eine Konverjation abbrad, das geitand fi Fortunat 
mandmal wütend. Ind dann war es doch auch feine 
Art, ihn fo ohne Widerfpruch unter die Dubendnienfchen 
einregiftriert zu lallen, eine Kleine böflihe Abwehr 
hätte doch nichts geichabet. Er biß fih auf bie 
Lippen und jah in Mauds Mares, ruhiges Gefidht. 
Er freute fih falt im fiilen, wenn er an bie 
Enttäufhung dachte, die ihr mwenigftens Martins 
äußerer Menjch bereiten würbe. 

Luzie fam in diefem NAugenblid dazu. Gie 
ärgerte fi jedesmal, wenn fie die beiden bei 
einander fand und machte Emil die beftigften Bor: 
würfe, aber der Bruder grinfte nur vergnüglid. Er 
tannte Fortunats momentane Zeidenichaft und mußte, 
daß er ganz ruhig fein Eonnte. 

Zuzie jchob ihren Arm unter denjenigen Mauds. 
„Liebite,” Tchmeichelte fie, denn feitvem Träulein 
Quenſel fih mit ihrem Bruder ausgeiproden, er: 
drüdte fie die Amerilanerin fürmlih mit Freund: 
Ihafts- und Zärtlichleitsbeweifen. „Wir fiten bier 
eigentlich recht wie die verwunjchenen Prinzelfinnen, 


Roman von 9. Schobert. 


518 


wollen wir nicht etwas |pazieren gehen, irgend elıvas 
vornehmen? Mir jcheint, man wird faul von diejer 
beihauliden Ruhe.” 

„Gern. Wohin wollen Sie gehen, Zuzie?” 
Maud war nie Spielverderberin und daher eine jehr 
bequeme Hausgenoffin. : 

„Bei der Hite!” flöhnte Emil aus ber Tiefe 
leines Seflele. „Du bift übergeihnappt. Miß 
Winter wird fich ihren Schönen Teint verderben.” 

„Herrgott, Emil, wie galant! Darauf können 
Sie fih wirflih etwas einbilden, Maud. — Aber 
Fortunat, warum ftehen Sie denn mit jo einem 
Sammergefiht abfeits? SIR es Shnen etwa aud) 
zu heiß?“ 

„SH warte nur, wie und ob die Damen mid 
überhaupt befehlen,“ jagte er immer nod etwas 
grollend. 

„Aber natürlich, Lerchen, Sie find ja jozujagen 
die Hauptperfon in meinem Plan.” Xuzie war vor 
ihn hingetreten und jah ihm mit großen Augen in 
das Gefiht. „Wird es uns nämlih zu Heiß, jo 
machen wir Station in Shrem Atelier, nit wahr? 
Maud hat nämlidy noch gar nichts von Ihnen geſehen 
und muß Sie doh auch bewundern lernen. Sit das 
nicht ein famoler Gedante?” 

Fortunat lächelte. Wahrlich etwas Angenehmeres 
hätte ihm gar nicht paffieren können als dies Projelt, 
dann mürde fih dod „Te“ aud am Ende zu ber 
Überzeugung burdhringen, daß er nicht nur fo ein 
allgemeiner Dußendmenid ei, daß man ihn ein 
bißchen ernft nehmen könne, ohne den hödjiten An- 
forderungen an die Kunft gar zu viel zu vergeben. 

Er verbeugte fi tadellos, mit dem Wiederichein 
des Vergnügens auf jeinem hübjchen Gefiht. „Nichte 
fönnte mir willlommener fein.“ 

„Halt Du no von Deinem Rufter Ausbrud?“ 
fragte Emil fürforglih, ehe er fih zum Mitgehen 
entichloß. 

Es war nicht drüdend heiß, aber doch Ichon 
ehr fommerwarm, als man auf bie Straße trat, 
die frifhe erquidende Herrihaft des Frühlings 
bereits zu Ende, Emil jchnaufte ein wenig, ging 
aber doch in einen an ber Straße belegenen Blumen- 
fiost und fam mit einem prachtvollen Strauß zart: 
gefärbter, blütenfhwerer Rofen wieder heraus. Daß 
fie nicht auf Draht, fondern an den eigenen langen, 
Ihmwantenden Stielen waren, madte fie doppelt reizend. 

„Miß Winter,“ fagte er, „darf ih mir ers 
lauben . . . Eine banale Redensart dazu zu finden, 
wäre ja nicht jchwer, aber abgeijhmadt Zhnen 
gegenüber.” 

Sie nahm die Rofen mit ungelünftelter Freude 
entgegen. So viel Gefjhmad und Takt im Über: 
reichen hätte fie ihm gar nicht zugetraut. 

„Und wo bleib’ ih?” rief Zuzie nedend ihrem 
Bruder zu. 

Er reichte ihr einen Eleinen Beildhenftrauß. „Zu 
mehr Fonnte ficd meine brüberliche Liebe wirklich) 
nicht aufſchwingen.“ 

Sie lachte, nahm den Strauß und hielt Fortunat 
zurück, der nun ſeinerſeits den Galanten ſpielen wollte. 

„Laſſen Sie nur. Und wenn es Ihnen recht 


519 Art zu Art. 
it, bleiben wir etwas zurüd. Sie glauben gar 
nicht wie froh ih bin, daß Emil einmal eine ernft: 
lihe Neigung gefaßt hat, die Dauer veripricht und 
eine Zulunft hat. Maud wäre mir als Schwägerin 
herzlich willkommen.“ 

Er ſtarrte „fie faffungslos an. Was er hörte, 
war ihm wie ein Schlag auf den Kopf. 

„3a, haben Sie es denn noch nicht gemerkt?” 
fuhr Luzie feelenruhig fort. „Sch brauchte feine 
Beichte gar nicht erft.” 

„Aber das fann ja nicht fein,” flotterte er 
verwirrt. 

Sie Jah ihm jharf in das Gefidht. „Sie fteden 
fih doch nicht etwa dazwildhen, Yortunat?” 

„Wie können Sie benfen,” rief er ärgerlich. 
„Sm Gegenteil. Aber paßt denn Miß Winter 
gerade für Emil?“ 

„Ih glaube jhon. Da fie feine jehr bequeme 
Frau if, jo muß fie einen bequemen Mann nehmen, 
na, und das ift Emil doc.” 

Er jchüttelte immer noch außer fih vor Staunen 
den Kopf. Wie blind mußte er fein, daß er jo gar 
nicht jah, was um ihn vorging! 

Sie waren jebt ein gutes Stüd hinter den 
anderen zurüdgeblieben. Maud, die fih umgefeben, 
blieb ftehen, fie zu erwarten. Emil benahm fich jo 
fonderbar, daß ihr das töte-a-töte lältig wurde. 
Nicht allein, daß er ihr immer in die Augen zu 
jehen verjuchte, er berührte auch beim Gehen zuweilen 
ihren Arm und |prad) jo anders als fonft. 

„Ab,“ Tagte er jegt mit bitterem Lächeln, als 
fie ftehen blieb. „Sch verfiehe! Sie weilen mid auf 
bieje feine Art in die Grenzen zurüd, die Sie mir 
zu fteden beliebt haben. Aber giebt es nicht 
Augenblide, wo man entihulbigt ift, wenn man 
diefe Grenzen nicht rejpeftiert?” 

„zum Beilpiel, wenn man jo warm ift wie Sie 
in diefem Augenblid,“ entgegnete fie mit feinem 
Lächeln. „Armer Mifter Duenfel! Hoffentlid mwintt 
Shen bald Erholung.” 

„sh habe Teine Dufche mehr nötig,” jagte er 
ingrimmig, trogdem aber doch Tlug genug, Tofort 
jeine Dffenfive einzuftellen. „Es bat fie überrafcht,” 
dachte er jehr vernünftig. „Ich darf nicht zu Icharf 
ind Zeug geben.” — 

Sm Atelier war es fühl und erfriichend. Fortu- 
nat liebte es, fih mit Blattpflanzen in gewaltigen 
Kübeln zu umgeben, die die Quft frifch erhielten. 
Er fonnte das, denn der Raum, in dem er empfing, 
und der mit allem Lurus ausgeltattet war, bildete 
nur ein Vorzimmer zu jeinem Atelier; der Arbeits- 
raum lag dahinter, Hein, Tabl und nadt, aber 
genügend, um feine Gedanken zu grazidien Werken 
zu formen. Er war abgeichloffen und niemand 
zugänglich. 

Maud biidte fih mit Befremden in diejem 
weichlihen, üppigen Raum um. Nichts gab ein 
treueres Bild von Fortunats ganzem Menjchen. 
Alles Hübih, graziös, zierlih, Fünftleriich feinjühlig 
und dennoch nicht voll befriedigend, weil der tief: 
innerfte Kern, das Arbeitsfeld des Mannes, ver: 
Ihlojlen war wie ein Etwas, deflen er fich zu 


Roman von H. Schobert. 


520 


Ihämen hätte. Nur die fertigen Statuen ftanden in 
Thon und Gips und Marmor überall umber auf 
Säulen und Poftamenten, aber wie etwas Neben- 
\ächliches, nicht Tonderlich zu Achtendes. 

Emil janf gleih in ben tiefiten Sellel des 
Ateliers. „Uf!” ftöhnte er. „Gieb mir zu trinken 
oder ich fterbe.” 

Fortunat war jchon eilig dabei, feine Gäfte zu 
bedienen, er liebte e& jehr, fich als Hausberr zu zeigen. 

„Run, Maud, wie gefällt es Ahnen bier?” 
fragte Luzie, die fih halb auf ein Chaifelongue ge: 
worfen. „Nicht wahr, Fortunat verfteht zu leben.” 

„Sa, das verfteht er,” gab Emil zu; Efniff ein 
Auge zu und blinzelte über den funfelnden Wein 
auf die Statuetten. „Alles nah dem Leben, Miß 
Winter; nad dem warmen, atmenden Leben. Sein 
Wunder, daß dabei fein Herz nicht ruhig bleiben fann.” 

Maud war aufgeftanden und hatte fich Dielen 
teizenden, verführeriihen Sachen genäbert, um fie 
näber in Augenjchein zu nehmen. Es ging ihr wie 
allen, fie fühlte fich entzüdt, bezaubert. Dieſe friſche 
Natürlichleit neben ausgejuchter Grazie verfehlte nie 
und nirgends ihren Eindrud und rüdte ihr den 
Künftler ale Menfhen auh in ein anderes Licht. 
Sgebt begriff fie, daß das, was fie oft für Leichtfinn 
gehalten hatte, nur ein Ausfluß jeiner fjonnigen 
Liebenswürdigteit, feiner heiteren Genußfreudigkeit 
war, und die Sympathie, bie fie flets für ihn gefühlt, 
verſtärkte ſich. 

Auf einer beſonders zierlichen Säule ſtand 
dasſelbe Figürchen im Dreiſpitz — nur bedeutend 
verkleinert — das er in der Ausftellung hatte, es 
wandte Zuzie jein lachenbes Geficht zu, und nadhdem 
fie es ein Meilen angeblidt, fagte fie ungeniert: 
„Sagen Sie doh, Fortunat, fieht jo Yhre neuefle 
Liebe aus?” 

Er wurde rot, augenfcheinlich etwas verlegen, 
aber Emil nahm ihm das Wort vom Munde. 

„Ratürlid. Wie tannft Du nur jo dumm 
fragen! Ler widmet feine Liebe immer derjenigen, 
die er gerade verewigt. Das giebt ihm erfjt bie 
richtige Begeilterung.” 

„Dann gratuliere ih Zhnen zu Shrem Gejhmad. 
Das Mädchen muß allerdings reizend fein, nur ein 
wenig zu ftark, nicht wahr? Hüften und Schenkel 
haben beinahe etwas rauenhaftes. Sind Sie ein 
Berehrer von Fleiih, Fortunat?” Luzie wandte ihm 
ihre Eugen, lebhaften Augen zu und fuhr fort: 
„Ih babe allerdings gefunden, daß gerade bie 
Skulptur fih jegt meilt auf überjchlante Geftalten 
geworfen hat. Stedt diefe modernen Statuen in 
Kleider und fie würden jo mager jein, daß der 
Schneiderin noh mandes zu thun bliebe. — Mir 
gefällt es nicht.” 

„Liebes Kind,” fragte Emil, „willit Du uns bier 
noch länger mit naturaliftiichen Studien unterhalten?” 

„Rein,” fagte fie, „aber warum fol id mich 
genieren, von etwas zu prechen, was ich doch jebe, 
was mir auffällt. Stehen meine Augen etwa auf 
einem anderen Standpunft ala mein Mund?” Sie 
lachte und richtete fich aus ihrer bequemen Stellung 
etwas auf. „Überhaupt bin ich mir bewußt, ein 


521 


jehr vernünftiges Mädchen zu jein, bdereinit noch 
eine viel vernünftigere Frau zu werden, und da id 
doch jedenfalls einmal einen Künftler heirate, jo fann 
id der nur dazu gratulieren. ch würde nicht 
eiferfüchtig auf ein Modell jein und meinem Mann 
feine Kontrolle auferlegen. Mag er fich die Eleinen 
Freiheiten immerhin nehmen, die feine Künftler: 
laufbahn entjchuldigt. Sch würde mich damit be: 
gnügen, ihm ein gemütliches Heim zu Ichaffen und 
mich mit ihm an allem Schönen zu erfreuen. Tolerant 
wäre ich bis in die Fingerjpigen hinein — vielleicht 
zu fehr. — Was meinen Sie, Fortunat, ließe fich 
unter folhen Umftänden nicht auch die Ehe ertragen?” 

Ste warf fi) wieder zurüd und jah ihm fofett 
ladhend in das Gefiht. Emil begriff ihre Abficht 
und flörte fie diesmal nicht mit einer Bemerkung; 
der junge Künftler aber fam ihr näher und jah mit 
einem gewillen Snterefie in ihr Gefidt. 

„Das ift ebenjo großherzig wie Hug, Fräulein 
Zuzie,“ fagte er herzlich. „Wenn nur alle Mädchen 
jo bächten, gäbe es ficherlih mehr glüdlihe Ehen in 
der Welt.” 

„Alſo — ih Halte mid vorkommenden Falls 
beftens empfohlen,“ rief fie lachend aufipringend. 
Aber der fchräge Blid, mit dem fie ihn ftreifte, hätte 
Fortunat zu denken geben fünnen, wenn er nicht ihr 
gegenüber fo jehr unbefangen gemwelen wäre. — 

Auf dem Heimweg nahm Maud Luzies Arm. 
„Laflen Sie uns vorangehen,” bat fie, um jede weitere 
Begegnung mit Emil zu vermeiden. 

Zuzie war von biefem Vorfchlag nicht fonderlich 
erbaut, doch fügte fie fich. 

Als fie ein Stüddhen gegangen waren, jagte 
fie mit gedämpfter Stimme: „Was ih vorhin in 
Fortunats Atelier fagte, ift meine innerfte Überzeugung. 
Neben einem Jolhen Künftler wie er, ift es für eine 
Frau nur möglid, mit der größten Toleranz zu 
eriftieren ober fie wird jehr unglüdlich.“ 

Maud jah fie betroffen an, und Zuzie deutete 
diefen Bid richtig. 

„Rein, natürlich dente ich nicht an ihn in Bezug 
auf mid — wir find ja jo gut befannt — da — 
da ift doch wohl alles andere ausgeichlofien. — Ad, 
Maud, Sie haben Shre Ihönen Rofen liegen laflen, 
wie Schade!” 

Wirflih ging Maud mit leeren Händen. Ob 
es Zufall oder Abficht war, darüber ließ fih nichts 
erraten, jedenfalls aber flürmte Fortunat zurüd, um 
das Vergeflene zu holen. Sie bingen jchon bie 
Köpfe als er fie ihr überreihte, und fie bob bie 
jchweren Kelche mit einer faft mitleidigen Bewegung 
empor. 

„Sie find Halbiot,” agte fie bedauernd. „Zu 
Haufe jollen fie Waller haben.” 

„Allo jo fteht es, Luzie 
Mir fcheint, er ahnt es 


Am ftillen dadte fie: 
bat ihr Herz verichentt! 

noh nit, ober — er hat Fein Snterefle dafür. 
Db fie wirklich zu einander pafjen?” 

„Mein Bruder ift ein ganz anderer Menjch,“ 
begann Ruzie wieder. „So Jolid! Mit dem wird 
eine jede Frau leicht glüdlih. Und jehen Sie, Maud, 
man verfennt ihn leihyt — er geht gar nicht jo 


Roman-Keitung 1896. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


522 


recht aus fich heraus, eben weil er ein Charalter ift. 
Nun, ich, als feine Schwefter, darf ihn ja wohl loben, 
ih babe ein Recht dazu.” 

„Dil Du witlih in Miß Winter verliebt?” 
fragte etwa in demfelben Augenblid Fortunat jeinen 
Freund, während fein Auge an den beiden jchlanfen 
Geftalten vor ihnen Bing. 

„ht fie nicht nett?” 

„Sa — aber zwilhen nett finden und lieben 
ift doch ein gewaltiger Unterjchied.” 

„Richt jo jehr wie Du bentft, mein guter Xer. 
Findet man eine Frau nett, jo genügt das einem 
ruhigen, foliden Menfchen, fein ganzes Leben mit ihr 
zu verbringen, ohne jonderlich unzufrieden zu fein.” 

„Dit Du fiher, daß Du ihr gefällt?“ 

Emil lachte felbftgefälig. „Einftweilen ift fie 
nah Mädchenart Eühl und zurüdhaltend gegen mid). 
Das gerade gefällt mir an ihr. Späterhin wird fie 
Ihon zahmer werden, bafür laß mich nur forgen. 
Wenn ich auch nicht immer zum Dache gleich heraus- 
brenne wie hr, deshalb erreiche ich doch mein Ziel 
um fo fiderer. Du bift doch nicht etwa verliebt 
in fie?” 

„Wahrhaftig nicht. Du weißt ja . . . aber 
deshalb gefällt fie mir doch fehr gut, und ich wünjche 
ihr alles Gute.” 

„Nun — dann wünjdhe ihr Deinen Freund 
Emil alg Mann.” — 

Am Abend desfelben Tages, als fih Yortunat 
eben von Duenfels verabjdiebete, jagte er balblaut, 
vorwurfsvoll zu Maub: „Sie haben mir kein Wort 
über meine Arbeiten gejagt, das ift hart.“ 

- Da bdrüdte fie ihm jo warm wie nod nie bie 
Hand, ihre dunklen Augen fahen ihn aufridtig an. 
„Ib war fo entzüdt, daß ich es vor den anderen 
nit wollte. Sie jollten nicht für leere Redensart 
halten, was von Herzen fam. Seht kann ih es 
aber jagen. Sie find in meinen Augen ein großer 
Künftler.” 

Er fcohüttelte ihr fräftig die Hand. „Das war 
ein gutes Wort, MiE Winter.” Und vergnügt wie 
nur je ging er an biefem Abend nach Haufe. „Schade 
nur das mit Emil,“ dadte er. „Sie kann nidt 
Geihmad an ihm finden, fie paßt jo gar nicht zu ihm.“ 


Neuntes Kapitel. 


War das noch Arbeiten zu nennen, was Martin 
Heelen jeit Wochen that? — Wie ein Fieber durd: 
rafte es ihn, nahm ihm jeden anderen Gebanten 
und ließ ihm kaum Zeit, ganz unbewußt die erfte 
befte Nahrung zu verichlingen, die man ihm vorfegte. 
Nur dem Zwang der Dunkelheit und der Erihöpfung 
nadjgebend, jchlief er ein paar Stunden dumpf, — 
fonft dachte und fühlte er nichts als feine Gruppe. 

AN das Leben, das ihn durchpulfte, fchien fich 
durch feine Fingerjpigen in feine Arbeit zu ergießen, 
wenn er bie maffigen Thonklumpen um die Träger 
ichleuderte, daran ging, mit dem Mobdellierholz Leben 
und Bewegung in bie tote Malle zu bringen. €s 


IV. 37 


523 


war als triebe ihn eine Kraft, die ftärler und größer 
war als er, mit Gewalt vorwärts. Und jo wuchs 
denn fein Wert faft zauberhaft jchnell empor, jo 
Ichnell, daß es für den Kenner faft etwas Dämonijches 
atte 


Während diefer vier Wochen blieb jeine Thür 
jedermann verjchlojlen. Haar und Bart wudlen ihm 
nod wirrer, jein Gefiht fiel ein und zeigte jcharfe 
Schatten und Linien, die Augen mit ihrem fladernden 
Glanz jchienen noch intenfiver, vergeiftigter zu fein. 

Aber jelbit eine jo kraftvolle Natur wie Martin 
Seelen mußte jchließlich fühlen, daß ber Geift nicht 
alles ift, daß auch der Körper fein Recht hat. Die 
Hände begannen ihm zu beben, vor den Augen 
Ihwamm es ihm oft wie zitternder Nebel. Wenn er 
dann aber dem Gentauren in das Gefidht blidte, war 
es ihm als überfäme ihn damit neue Kraft. Er wollte, 
er durfte nicht nachgeben, ehe das Werk vollendet war. 

Vier Wochen und fünf Tage hatte er in bdieler 
Art gearbeitet, da ftand es wieder in urjprünglicher 
Friige und FTraftvoller Schönheit vor ihm — fein 
Wert — auferfianden von den Toten, um ihn nun 
einzuführen in den Tempel des Ruhmes. 

Mit truntenen Augen blidte er zu ihm auf. 
Das war eine Leiftung gewejen und gleichzeitig ein 
MWagnis, es gleich in Gips auszuführen, anjtatt in 
Thon. Wäre er einer Sade nicht jo abjolut ficher 
gewejen, vielleicht wäre es nicht jo meifterlich geglüdt, 
aber er hatte ja nur die Hände zu rühren gebraucht 
— ſchien es ihm jeßt — nur die Hände, das andere 
fam von jelbft. 

Er riegelte die Thür des Ateliers auf und ließ 
zum erften Mal Luft und Sonne ungehindert ein: 
dringen. Es war jebt heiß und ftaubig draußen, 
den Frühling hatte er nicht bemerlt. Nun lam es 
ihm auch wieder zum Bemwußtjein, daß er Tlörperlidh 
Ihwadh und elend war; jegen mußte er fi ein 
MWeildhen und dann ben Kopf aufftügen, weil es ihm 
Ihwindelte. Mechanijch glitt feine Hand in die Tafche, 
in der er das Geld all die Zeit mit fich berum- 
gelragen. Es war noch da, vollzählig bis auf das, 
was ihn das Material zu feiner Gruppe gefoftet 
hatte, und nun erft erwacdhte er zum vollen Bewußtjein 
des Glüces, inmitten deilen er jegt ftand. 

Seine Arbeit war fertig, gut, ja faft noch bejier 
als die erite; die Aufnahme in die Ausftelung ihr 
fider. Geld hatte er, jo viel wie er noch nie bejeflen, 
und frei war er auch, frei, jegt zu geben, wohin er 
nur wollte Er ftieß einen lauten Subeljchrei aus, 
und da er gerade ein Kleines Kind über den Hof 
trollen jah, jprang er auf dasfelbe zu, ſchwang es 
boh in die Luft und ftammelte dazu Jubelworte. 
Der Heine erfchrodene Kerl nahm beides übel und 
begann jämmerlich zu heulen. Martin jebte ihn eilig 
an und drüdte ihm ein Marfflüd in die Kleine 

and. 

Wirklich, jo gut er mit Thon umzugehen verftand, 
mit Menden konnte er e8 jedenfalls nicht, dies bier 
war ein neuer Beweis dafür. Er geftand es fi 
mit heimlihem Lachen. 

Wenn er der Ev’ ihre Adrejle gewußt, ob fi 
die wohl mit ihm gefreut hätte? — Wahrſcheinlich 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


524 


au nicht, es jei denn, daß er ihr ein hübiches 
Halstuh dazu gelauft hätte. Das dumme Bauernvolt 
verftand jo gar nihts von der Kunft und deren 
MWonnen und Schmerzen. 

Fortunat war doch allein derjenige, der ihn ver: 
fand — und vielleiht au ber Brofeflor. Er riß 
ein Blait aus feinem Beihenbudh, darauf Erigelte er 
mit fteifer, ungelenter Hanbichrift: 

„Ih bin fertig, komm und fieh, wie e& ge: 
worden ift, 
Heelen.” 

Dann fiel er in einen tiefen, traumlojen Schlaf, 
der volle vierundzwanzig Stunden dauerte. Fortunat 
befam den Brief erit am nädjften Mittag und ging 
damit zum Profefjor, bei dem er oft zu Ipeilen pflegte. 

„Unmöglich!” jagte er ganz aufgeregt, als er ihm 
den groben grauen Wifch zeigte. „Eine phufilche 
Unmöglichleit meines Erachtens nad, Herr Profeflor. 
Dieje überlebensgroße Gruppe ift nicht jo Tchnell 
erneut, felbft unter den bentbar günfligften Bor: 
bedingungen.” 

Der Profeflor zudte die Achfeln. „Es bat jchon 
mander etwas geleiftet, was den anderen wie 
Zauberei erijhien. Am beiten, Sie gehen hin, ortu: 
nat. St e8 wirklich jo, dann fünnen Sie alles 
weitere beiprechen.” 

Fortunat war nicht imftande, einen Biflen 
herunter zu bringen, jo aufgeregt war er. „Es ill 
nicht möglid — nicht menjchenmögli,” Tagte er 
immer wieder zu Maub, neben ber er jaß. „IH 
zittere davor, daß etwas Minderwertiges beraus: 
gefommen fein könnte. Das verzieh ich Heelen nie.“ 

Almählid teilte fih feine Aufregung dem 
Mädchen mit, fie zerbrödelte nervös ihr MWeißbrot. 

„So ein großer Künfller — das glaube ich nicht.“ 

„Aber jeder ift doch audh vor allen Dingen 
nur Menich,” flülterte er eifrig. „Ob eine Arbeit 
gelingt oder mißlingt, niemand weiß es vorher, und 
deshalb hält fie den Schaffenden in Aufregung bis 
zum legten Augenblid. Stunden tieffter Dual wechleln 
mit Stunden hödjfter Befriedigung — ein mwogendes 
Chaos, aus dem dann endlich das Sertige hervorfteigt.” 

„Sagen Sie ihm — wenn es Jhnen nit gut 
erſcheint — er ſolle nicht ausfiellen, reden Sie ihm 
ab, wa8 bedeutet denn ein Kahr.” 

Er jah ihr aufmerkjam in das Gefiht. „Eigent: 
lich, Miß Winter, mache ich mir Vorwürfe, daß ich 
Sie jo mit meinem Änterefje für meinen Freund 
quäle. Sie, die Sie ihn gar nicht fennen, nicht 
einmal eine feiner Studien. Aber Sie dürfen mir 
deshalb nicht böjfe jein, Sie haben ein jo warmes 
Herz für die KRunft, und — und Sie find Jo eine 
gütige Zuhörerin, daß man unmwilllürli verſucht 
wird, weiter zu jprechen.” Ein wenig verlegen lächelte 
er fie an. 

„Es freut mich jehr, daß Sie mich wenigftens 
an etwas teilnehmen laflen,” fagte fie warm. 
„Denten Sie nur, wie leer mein Leben eigentlich ift.” 

Sleih nad) dem Efien flürzte Fortunat davon; 
Luzie jah ihm unmillig nad). 

„Als ob die Gruppe davonliefe, wenn er noch 
eine Taſſe Kaffee getrunfen hätte. Aber gegen Heelen, 


— — —— —— ——— 


525 


gegen dieſen abſcheulichen Menſchen, kommt nichts 
anderes auf.“ 

„Ra, meinte Emil, „wenn er wirtlih bas 
Kunftftüd fertig gebradt bat, und tadellos, bann 
fann er mehr als wir. Was für GStierfräfte muß 
der Menich haben!” 

So wurde denn Fortunats NRüdtehr mit all: 
gemeiner Spannung entgegengejehen. Und er kam. 
Glühend vor Entzüden, ausgelaflen, ala ob er jelber 
teil hätte an dem wiebererftandenen Meiftermwerf, 

Man trant an dem Abend in Eis gefühlte 
Bowle zu Ehren der Gruppe, bei der jchon morgen 
der Guß beginnen follte, und war auf der Quenſelſchen 
Veranda jehr vergnügt dabei. 

„Warum haben Sie Heelen nicht mitgebracht?“ 
fragte der Profellor, der ein offenes Haus liebte. 

„Ja, warum nicht?” fragte Maud au, und 
e8 Hang vorwurfsvoll, 

Fortunat late. „Er muß fi erft ausichlafen 
und dann, meine Damen — er war noch nicht in 
der Berfaflung, fih Ihnen würdig zu präjentieren.” 

Unwillkürlich ſtieg ihm das Bild in der 
Erinnerung auf, wie er ihn gefunden. Verſchlafen, 
zerwühlt, noch immer mit dem Dunſt der Armut 
um ſich, aber zu Füßen ſeines Kunſtwerkes, das ihn 
zu beſchützen ſchien und ihm eine glänzende Zukunft 
verhieß. 

„Aus Heeken werden Sie nie einen leidlichen 
Menſchen machen, auch wenn Sie alle Hilfsmittel 
in Bewegung ſetzen,“ meinte Luzie in ihrer oft ſcharf 
abſprechenden Art. „Was ihm dazu fehlt, fehlt ihm 
ſeit ſeiner Geburt. Maud wird die Augen aufmachen. 
Auf die Enttäuſchung freue ich mich nur.“ 

Fortunat wandte ſich haſtig an die junge 
Amerikanerin. „Ach nein, ſeien Sie nicht zu ſehr 
enttäuſcht, das würde mich kränken,“ bettelte er im 
Ton eines liebenswürdigen Kindes. 

Sie lächelte. „Wollen wir allein ganz früh in 
die Kunſtausſtellung gehen und uns die Gruppe, 
ſobald ſie dort iſt, anſehen?“ flüſterte ſie ihm ver⸗ 
ſtohlen zu. „Ich möchte ſo gern nur mit Ihnen ſein 
und nicht mit den andern zuſammen.“ 

„Von Herzen gern,“ flüſterte er ebenſo zurück 
und legte geheimnisvoll den Finger auf die Lippen 
zum Zeichen des Schweigens. 

Dann nickten ſie einander zu wie zwei gute 
Freunde, die ein harmloſes Geheimnis haben und 
ſich darüber freuen, 

Nun war bie Gruppe fort, das Atelier leer. 

Seitdem hatte Heelen eine gewilje Unraft be: 
fallen, die ihn auf die Felder und Wiejen hinaus: 
trieb, denn in die Stadt zu gehen, davon hielt ihn 
etwas wie Scheu zurüd. Schon hier draußen hatte 
er das Gefühl, als müfle er jedem Begegnenden in 
das Geficht jehen mit der flummen Frage: „Haft 
Du gejehen?” Dber als ftände es ihm jelbit lesbar 
an der Stirn gejchrieben: ch bin es, der das Wert 
draußen im Ausftelungspalaft gei'haffen hat. 

Sett erft kam es ihm recht zum Bemwußtiein, 
wel ein Vertrauen in jein Können doch darin lag, 
daß, nachdem Profeſſor Duenjel ihn zuerft felbft 
aufgeludit, er ihm auch noch Ausftand bis zur Bes 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


526 


endigung jeines Werkes gegeben, ihm fomit alle 
Hinderniffe aus dem Wege geräumt Hatte. Was 
für ein Kerl mußte er doch fein! 

Und plöglih wudhs das Bemwußtjein feines 
Wertes, jeines Könnens riefengroß in ihm auf, und 
er blieb flehen und ftarrte in die Sonne, ohne zu 
blinzeln, als fühle er fih ihr verwandt, denn nach 
— einer Bethätigung rang der erwachte Stolz 
n ihm. — — 

An einem Montag Morgen um neun Uhr trafen 
ſich Maud und Fortunat vor dem Eingang zur 
Kunſtausſtellung. Die Amerikanerin hatte Luzies 
neugierige Fragen nach dieſem frühen Ausgang mit 
der ihr eigenen ruhigen Sicherheit ſo oberflächlich 
behandelt, daß dieſe wohl fühlte, ihre Begleitung ſei 
nicht erwünſcht. Dadurch geärgert und neugierig 
gemacht, ſtürzte ſie zu ihrem Bruder, um den auf 
Mauds Fährte zu hetzen, fand aber wenig Gegen— 
liebe bei ihm; er wollte ſich nicht gern in ſeinem 
beſchaulichen Morgenſchlummer ſtören laſſen — und 
Emils Faulheit verdankten die beiden ſomit einen 
ungeſtörten Vormittag. 

Fortunat hatte ſchon gewartet. Diesmal hielt 
er die Hand voller Roſen, und als er die ſchlanke, 
hellgekleidete Geſtalt auf ſich zukommen ſah, dachte 
er wieder: „Sie iſt doch eine ganz reizende Perſon. 
Viel, viel zu ſchade für Emil, und auch wohl zu 
klug, um ihn nicht zu durchſchauen. Wenn ich nicht 
ſo bodenlos in Nelly verliebt wäre ...“ 

Da war ſie ſchon neben ihm und reichte ihm 
die Hand zum Gruß. Er ſah, daß ihr hübſches Ge- 
ſicht gerötet war, ihre Augen lebhafter glänzten. 
Wirklich ſchade, daß er ein ſo komiſcher Kerl war 
und ſeiner jeweiligen Liebe ſtets abſolute Treue be— 
wahrte, wie pikant hätte ſonſt dieſer gemeinſame 
Kunſtgenuß werden können. 

Die Gruppe, die ſie aufſuchen wollten, ſtand im 
Veſtibule, groß und gewaltig blickte ſie dem Ein— 
tretenden entgegen. Ein breiter Sonnenſtreifen brach 
durch das Glasdach des Gebäudes und tauchte ſie 
wie in einen goldenen Schein. 

Maud ſtand ganz ſtill und ſah auf das Kunſt⸗ 
wert, das, im Verein mit dem Künftler, die lette Zeit 
unabläjfig ihre Phantafie beichäftigt hatte. Den Mund 
ein wenig geöffnet, atmete fie langfam und tief, als 
Jöge fie die fraftvolle Sndividualität, die das Wert 
ausftrömte, ganz in fich ein. 

Erft nah einer ganzen Weile wandte fie fidh 
an ihren Begleiter. „D!” Tagte fie, „das ift etwas 
Gewaltigeg — etwas Belonderes. Das padt Sinn 
und Nerven. Welde Kühnheit der Kompofition! 
Welch Eraftvoller Ausdrud in der Schöpfung dieler 
Leiber! — Sie haben noch viel zu wenig von dem 
Können Yhres Freundes gejagt.“ 

„Berftehen Sie es jet, daß ich mir neben ihm 
wie ein Pygmäe vorlomme?” fragte er mit tiefem 
Seufzen und einem Schatten in feinem bübichen 
Geſicht. 

„Ja, aber was thut das! Nicht jeder kann 
ein Gigant ſein,“ ſagte ſie kurz. 

Dann ſetzte ſie ſich auf einen Stuhl, der Gruppe 
gerade gegenüber; daß er dasſelbe that, beachtete ſie 


527 Art zu Art. 
nit. Shre Augen bingen an dem Geliht des 
Gentauren, als leje fie aus diefem wie aus einem 
aufgeihlagenen Bud. Sie hatte ihre Umgebung 
vergeflen. 

Und Hinter den Gebüjhen jchlich ein blafler, 
Ichlecht gekleideter Mann umber, deflen Augen von 
dem begeifterten Mädchengefiht zu feiner Schöpfung 
wanderten. Wenn er doch verftehen fönnte, was 
fie jagen würde! Chrgeizige Neugierde befiel ihn, 
und jo nahe er Tonnte, fchob er fich hinter die beiden 
heran. Aber noch Iprach feiner von ihnen. — 

Endlih fagte Maud: „Sie müjjen ihn mir 
bringen, Yhren Freund, veriprehen Sie e3 bier vor 
diefer jeiner gigantiihen Schöpfung, und zwar bald 
— oder ich judhe ihn mir felber auf.” 

In dieſem Augenblid hatte Fortunat Martin 
gejehen, er zudte auf, die Gelegenheit war jo günftig 
wie möglid. Wenn er ihn bier gleich feithielt, 
fonnte er ihm nicht entwilhen, und Maud hatte 
ihren Willen. Aber mit derjelben Schnelligkeit, mit 
der ihm diefer Gedante fam, ſah er auh — jah 
das verworrene Haar und den vermwilderten Bart, 
den engen Rod, an dem die Knöpfe an einzelnen 
Fäden baumelten, die ganze verwahrlofte Geftalt 
desjenigen, den er „Freund“ nannte, und er begriff 
die Unmöglichkeit, ihn fo einer Dame zu präjentieren, 
die in fultivierterer Atmofphäre zu leben gewöhnt 
war. Durh all den Duft der blühenden Pflanzen 
und grünen Sträuder hindurch meinte er den Arme: 
leutegeruch zu |püren, der von diejer ungepflegten 
Geitalt auszugehen jhien, und — er drebte den 
Kopf wieder Maud zu, als habe er ihn nicht gejehen, 
als babe er feine Ahnung von Heelens Anwejenheit. 

Aber es war ihm nicht bebaglih dabei, und 
aufitehend fagte er: „Kommen Sie, Mik Winter, 
es ift no mandes Gute hier zu jehen, lafien Sie 
uns weitergehen.” 

Sie hob die Rojen bis an ihr Gefiht und 
jchüttelte den Kopf. „Für heute will ich nichts 
anderes. Gehen Sie ruhig, wenn es ihnen beliebt, 
und holen Sie mich nachher hier ab.” 

Er blieb natürlih daraufhin auh. Als er fi 
dann ein Weilchen fpäter verftohlen umjah, bemerkte 
er mit Genugthuung, daß Martin verfhwunden war. 

Nahdem er Maud nah Haufe gebradht hatte 
und nun umlehrte, um die beißen Stunden in feinem 
fühlen Atelier zu verbringen, trat ihm an ber nächlten 
Straßenede Martin entgegen. Sept, allein und ohne 
Damenbegleitung, empfand es Fortunat nicht jo un: 
möglich, mit ihm langjam weiter zu johlendern, dennoch 
beftete er feitwärts fritiide Blide auf ihn. 

„So fannft Du Dich aber unmöglich mehr jehen 
laflen, Martin,” fagte er enblidh, mit dem Stödchen 
eine Terz in der Luft jchlagend. „Du bift jegt ein 
Menih, der viel genannt und viel gefannt fein wird, 
jobald nur die Kritik erft an Deine Gruppe kommt, 
deren Borgejhichte man Ffennt. Dein erftes muß 
jein, daß Du für Deinen äußeren Menjchen etwas 
mehr Sorge trägft. An Geld dazu fehlt es Dir ja 
auch nicht.” 

Martin hatte die ganze Zeit hindburh auf bie 
falligen Steine zu jeinen Füßen geftarrt, auch jebt 


Roman von H. Schobert. 


528 


jah er nit auf. „Wer war die Dame, mit der Du 
in der Ausftelung warjt?” fragte er endlid und 
zerrte an jeinem Bart. 

Fortunat lächelte. „Eine Deiner größten Be: 
mwunderinnen, bas fannit Du mir glauben. Haft es 
auh wohl felbjt gejehen. Und auf diefen Erfolg 
fannft Du bdreift ftolz fein, denn Miß Winter läßt 
ih wahrhaftig feinen blauen Dunft vormaden.” Als 
Heeten nicht antwortete, fuhr er fort: „Sie will Dich 
perfönlich fennen lernen. Seit dem Unglüd, das Du 
mit Deiner Gruppe hatteft und Deiner phänomenalen 
Arbeitsleiftung jegt, glaubt fie einen Helden in Dir 
zu finden, und — Du begreifft — in diefem Zuftand, 
in dem Du Dich befindet, konnte ih Dich ihr nicht 
präfentieren.” 

Martin fhaute an fich herunter, jah den baumeln: 
den Knopf und riß ihn feelenruhig ab; er fand 
offenbar nicht8 anderes an fi, was irgendwie gegen 
fein Sußeres iprad. Offenbar war er fi in diefem 
Augenblid nicht recht Elar darüber, was ihn eigentlich 
mehr bewegte, der Wunjch, von ben Lippen der vor- 
nehmen Dame Lobesworte über fi und jein Wert 
zu hören, oder die Menjhenjcheu, die ihn hieß, allen 
aus dem Wege zu geben. 

„Komm,“ jagte Sortunat, ftehen bleibend und 
ben Hut von der feuchten Stirn nehmend. „Es ift 
Ihon Ihmadhvoll heiß, droben in meinem Atelier 
haben wir wenigftens Kühle und irgend etwas zur 
Erfriihung. Audh babe ih Dir no mandes zu 
lagen. Es ift zwar das erite Mal, daß Du zu mir 
fommit, aber ich enihebe Did) von vornherein jeder 
Kritit über meine Arbeiten, hörft Du?” 

Heelen nidte. Es war ihm jelbit ganz wunder: 
bar, daß er fih jo ruhig in Fortunats Vorjchlag 
fügte, geftern noch hätte er e8 faum gethan, aber 
heute — feit heute fühlte er fich jo verändert. Er 
lechzte ordentlih nach Zob, nad) Anerlennung, nad 
Menihen! Ya, auh nah Meniden! Denn um 
deren unit rang er doh jet. Wo waren bie 
Empfindungen feiner Arbeitsftunden geblieben, in 
denen er fih ein Titan wähnte, der nichts mit 
dem Gewürm der Welt zu thun haben wollte, weil 
es ihm nichts galt. Er fühlte und dachte damals 
nur fih allein, und jet hatte fich ihm alles fo jelt: 
Jam verändert! Das madte ihn ganz benommen. 

Sn Fortunats Atelier war es Dämmerig und 
fühl, der Arbeitsraum gejchloffen, nur die Portiere 
des Nebenzimmers halb zurüdgeichlagen, jo daß man 
den Einblid in ein elegantes Xoilettenzimmer hatte. 

„Entihuldige mich einen Augenblid und made 
es Dir inzwilhen bequem,” jagte der Hausherr, eine 
FSlajche Wein auf den Tiich Itellend. „Ich werde uns 
au) gleich etwas Subftanzielleres bejtellen. Aber einft- 
weilen ift es mir jo fchauderhaft heiß, daß ich erft 
den Anzug wecleln muß. Gedulde Dich jo lange, 
bitte.” 

Er war fchon fort, die Portiere jant zu, und 
bald darauf drang das BPlätihern von Waller aus 
dem Nebenzimmer. Martin Heelen blieb allein und 
jah fih um. 

Die köftliche, Dämmerige Kühle, die Jaftftrogenden 
großen Blattpflanzen, die Selle, Teppiche, Deden, 





529 Art zu Art. 
ihwellende Möbel, Bücher, Bilder, al das, was zur 
Ausihmüdung eines eleganten Raumes gehört, mutete 
ihn jfonderbar, atembellemmend an. Er jah das alles 
zum eriten Mal, und er wagte weder fich zu jeben 
noch vorwärts zu gehen. 

„Hier arbeiten?” jchoß es ihm durch den Sinn. 
„Unmöglih!” — Sa, es fam ihm vor als lege fidh 
das alles, was er jah, jchwer auf feine Bruft, als 
nehme e8 ihm die Luft. Mit jchnellem Entichluß 
wandte er fich zur Flucht. Die Hite draußen genierte 
ihn nicht. 

„Halt,“ jagte Fortunat, der in bemfelben Augen- 
blid eintrat und ihn am Arm padte. „Hier giebt 
es fein Entrinnen mehr. Aber um Gottes willen, 
Martin, haft Du die ganze Zeit geitanden? Warum 
denn, Du fiehlt ja auch ganz verftört aus. Sit Dir 
nicht wohl? Da kommt ja au fon meine Haus: 
bälterin mit einem verftändigen Frühftüd. Komm, 
jege Dich hierher und iß.” 

Er 309g ihn in einen bequemen Fauteuil, und 
beim Anblid der Speilen empfand Heelen plößlich, 
daß er jeit dem Morgen noch nichts genofien, haftig 
langte er zu. 

„36 babe eine Einladung zu morgen abend 
beim Profefjor Quenfel für Dih in der XTalche,” 
lagte Fortunat nad) einer Kleinen Paufe. „Du finbeft 
da auch Miß Winter, die Dame von vorhin. Sie 
ift eine vorurteilslofe Amerilanerin, aber in diejem 
Aufzug, lieber Freund, hätte ich denn doch nicht den 
Mut, Di ihr vor Augen zu bringen.” 

Martin jhüttelte den Kopf. „Ich gehe nicht hin.” 

„Ratürlid mußt Du, Du bift dem Profellor 
vielen Dank jhuldig, das quittiert man durch böf: 
lihen Verlehr. Überhaupt, Heelen, Deine Maulmwurfs- 
eriftenz bat jet ein Ende, Du mußt heraus, der 
Vorfall mit Deiner Gruppe war ja eine mächtige 
Reklame für Did, Du wirft befannt, in den Zeitungen 
genannt fein, che Du es no ahnit. Und dann — 
Du bijt eben ein großer Künftler, warum willit Du 
Dich nicht als ſolchen betrachten laſſen.“ 

Heekens Geſicht hatte ſich gerötet, mit einem 
ſcheuen Blick ſtreifte er den Freund. „Ich weiß 
nicht —“ ſagte er ſtockend, „das iſt alles anders — 


ſo neu ...“ 

„Ja — gut! Aber jeder Erfolg legt Verpflich— 
tungen auf. — Mit dieſem Haar und Bart kannſt 
Du den wilden Mann fpielen, und über Deinen 
Rod freut fih bald ein Bettler mehr. Du mußt 
zum Schneider, zum Schufter, zum Wäfchelieferanten, 
und vor allen Dingen zum Frifeur. Wenn wir uns 
etwas erfrijcht haben, fönnen wir das lettere gleich 
beforgen. Siehft Du das ein?” 

Heelen hatte fih ein Stüd Wurft auf die Spibe 
des Mefjers geipießt und job es nachdenklich in 
den Mund. Fortunat beobachtete ihn. Zum erften 
Mal kritiih. Wie gewöhnlich das alles war! Seine 
Haltung, fein Efjen, das ganze Gebaren. rüber 
hatte er ihn doch oft ejlen jehen, genau fo wie heute, 
unb er hatte e8 kaum beadhtet. Heute inbefjen ärgerte 
es ihn. Er war fih wohl bemußt, daß er mit Maubs 
Augen jah, mit Mauds Ohren hörte, deshalb hätte 
er am liebften feinen Freund in diejer Stunde völlig 


Roman von H. Schobert. 


530 


umgekrempelt. Allein daran war ja fein Gedante. 
Nicht einmal zu viel durfte er tadeln, Heefen war 
empfindlich und alfo leicht zu verjagen. 

Sebt antwortete er fauend mit einer Gegenfrage. 
„Warum muß ich denn bin?” 

Fortunat runzelte die Stirn. „Ich jagte Dir 
Ihon vorhin, Du bift ihm Dank Ihuldig. Abgelehen 
von dem, was er bereits für Dich gethban, will er 
Dir au für die Zukunft ein Stipendium beforgen. 
Treibt es Dich da nicht felber, ihm ein paar Dantes- 
worte zu jagen?“ 

Heelen fchüttelte den Kopf. „Ihm allein fchon. 
Aber da ijt der Emil, die Tochter, und Du jaglt, 
aud das fremde Fräulein.” 

„Jawohl, und ih aud. Trogdem wirit Du es 
thbun, Martin. S$eder anfländige Menich fühlt Doch 
einen gewiflen Dankbarkeitstrieb in fih, dente ich, 
und der erheilcht bier eine Annahme der Dir ge: 
wordenen Einladung. Verftehft Du das?” 

„Sa!” fagte der andere mit einem mürrifchen 
Seufzer. 

„Alſo gut. Du thuſt auch ſonſt alles, wozu ich 
Dir raten werde, nicht? In der Kunſt biſt Du mir 
über, im Leben ich Dir.“ 

Heekens Blicke ſchweiften über die Statuen und 
Statuetten, er öffnete den Mund. 

Aber Fortunat ſprang vor und breitete die Arme 
aus. „Nein, von Dir will ich kein Urteil hören! 
Von Dir nicht, und hier nicht. Augenblicklich haben 
wir es mit dem Leben zu thun. Wie hat Dir eigent- 
lid MiE Maud gefallen?” 

„Die Dame aus der Ausftellung?” 

„Dieſelbe.“ 

„Das weiß ich nicht. Was Vornehmes war ſie 
wohl, nicht?“ 

„Ein Mädchen, um das ſich hier alles reißt. 
Sehr hübſch, ſehr reich und ſehr klug. Weißt Du, 
von jener offenen amerikaniſchen Klugheit, von der 
die deutſchen Frauen keine Ahnung haben; der dicke 
Emil iſt verliebt in ſie, und vielleicht — heiratet ſie 
ihn, wer weiß es.“ 

„Und Du?“ 

„Ich nicht! Leider keine Spur. Wir ſind 
Freunde, nichts weiter.“ 

Heeken ſchüttelte den Kopf. „Das iſt — komiſch,“ 
ſagte er nach einer Weile. 

„Was? Ach, lieber Martin, davon verſtehſt Du 
nun wohl nichts. Und dann — ich liebe ja eine 
andere.“ 

Heeken wiſchte ſich mit der Hand über Mund 
und Bart, während Fortunat auf und ab lief. 

„Wenn Du klug biſt, ſuchſt Du auch gut Freund 
mit ihr zu werden,“ ſagte er plötzlich, vor ihm ſtehen 
bleibend. „Sie kann Dir nützen! — viel! Frauen ſind 
heutzutage eine Macht! Und die Vorbedingungen 
ſind gegeben, ſie intereſſiert ſich glühend für Dich als 
Künſtler, halte das Intereſſe wach. Ich als Dein 
Freund rate es Dir.“ 

„Frauen ſind eine Macht?“ fragte Martin in 
grenzenloſem Erſtaunen. „Wo denn? Warum denn? 
Was kann eine Frau einem Manne nützen?“ 

„Um das zu verſtehen, dazu gehört Welt- und 





Dal Art zu Art. 
Menjcentenntnis, mein Sohn,“ jagte Fortunat 
fröhlih, nad einer Cigarette greifend. „Die babe 
ih für uns beide, folge mir nur etwas, zu Deinem 
Schaden ift es nidt. Und nun ‚auf nad Kreta‘! 
heißt bier in den nädften Frifeurladen. WIR Du 
Dir no die Hände wachen?” 

Heelen blidte auf feine Cyllopenfäufte herunter. 
„Schön find fie nicht,” fagte er kopfichüttelnd. „Aber 
ich taufchte nicht mit anderen.” — 

Sortunat war ein guter Kunde, man merlte es 
jofort an der Art, wie man ihm entgegenfam. 

„Richten Sie mir einmal diefen Herrn bier Jo 
zu, wie e8 für ihn am vorteilhafteiten ift,” fagte er, 
auf Martin deutend und fidh felber in den gewohnten 
Stuhl ausftredend. 

Hier im Spiegel fonnte er mit Muße betradten, 
wie der Frileur fein Opfer mufterte. Von rechts und 
links, von vorwärts und rüdwärts; endlich entichloß 
er fih zu einem Spisbart und nötigte Heelen auf 
einen Stuhl. 

Der ftarrte, ganz erichroden im erften Augen: 
blid, in den Spiegel, ber fein Bild jharf und Elar 
zurüdwarf. Erfreulih war es nit, das fand er 
jelbft, bejonders nicht im Gegenjaß zu Fortunat, ben 
er auch jehen konnte. Das lange Haar, der wudhernde 
Bart, der abgeihabte Rod. Mit geipannter Auf: 
merkjamfeit folgte er der Thätigkeit des Frifeurs und 
Jah mit Staunen und geheimer Genugthuung, was 
ih allmählich da berausichälte. 

Die Dimenfion des Kopfes verringerte fich, nach: 
dem das Haar gefallen, üppig, in Furzen Wellen 
umrabmte es jeßt nur Stirn und Schläfe und aus 
dem Bart jchälte fich ein blafjes, faft mageres Gefidht, 
dem man überftandene Anftrengungen wohl anjah, 
das aber, wenn auch weder hübich noch fchön, jo doch 
geiftig bedeutend und interefiant wirkte. 

FSortunat ftieß einen Laut des Erfiaunens aus, 
als er, von den Fliegenden Blättern aufjehend, Heeken 
betrachtete, und audh Martin lächelte. 

„Sieht Du,” fagte der Jüngere vergnügt, als 
fie wieder auf die Straße traten, „das laß ich mir 
gefallen. ett fiehft Du doch aus wie ein Menich, 
und nod) dazu wie ein netter. Du wirft morgen fchon 
Figur maden. Wie war Dir denn bei der Brose: 
dur zu Mute!” 

„guerft hatte ich nicht übel Zuft, den Kerl nieber- 
zuichlagen,“ geftand Heelen freimütig. „Als er da fo 
um mid berumhüpfte und mir ins Gefidt ftarrte. 
Dann war es jheußlid und jekt bin id ja ganz 
zufrieden.” 

Fortunat late. „Die Zunge der Kultur hat Dich 
zum eriten Mal beledt. Paß auf, mit der Zeit madjt 
Du ihr Schon felbft die Arbeit leichter.” 


Zehntes Kapitel. 


Maud verftand es meifterhaft, Toilette zu machen; 
für den heutigen Tag Hatte fie aber.noch ein Be: 
fonderes gethan. Sie wollte Martin Heelen ge: 
fallen, aud als Weib, denn fie wußte recht gut, 


Roman von H. Schobert. 


532 


daß jedes perjönlide Wohlgefallen niemals umjonft 
in die Wagfchale geworfen wird. 

Zuzie, die das bemerkte, lahte. „Um Gott, 
Maud, geben Sie ih Feine Mühe! Heeken kennt 
nur das Geichleht ber Scheuerfrauen, Köchinnen 
und Stubenmädden, wir zählen bei ihm nicht.” 

Und doh Fonnte Miß Winter nicht hindern, 
daß fie etwas wie Herzklopfen verfpürte, als endlich 
die beiden jungen Künftler eintraten. 

Seelen, gut frifiert, in tabellojer Wälche und 
dunklem Anzug, jab fo außerordentlich intereffant 
und gut aus, daß die beiden Mädchen faft einen 
Auf der Überrafhung ausgefloßen hätten, und jelbft 
Emil madhte ganz runde Augen. Freilich Ihwächte 
fih der erfte gute Eindrud ein wenig ab durdh bie 
Unbeholfenbeit feiner Bewegungen und die unbehag- 
lihe Hilflofigkeit, die fich jeiner beim Sprechen be: 
mächtigte, aber felbit Zuzie machte doch zuerft feine 
Ipöttiide Bemerkung. 

Und nun, nachdem er dem Profefior gedankt 
und den Damen vorgeftelt war, trat Maudb mit 
warmer SHerzlichkeit auf ihn zu und gab ihm die 
Hand. „Ste willen gar nit wie gute Belannte wir 
Ihon find,” jagie fie, ihm diefelbe wie einem guten 
Kameraden jchüttelnd. „Herr Fortunat bat mir fo 
viel von Yhnen erzählt. ch habe mit Jhnen ge: 
trauert um die Zerftörung Ihres erften Werks, und 
mich geftern an dem zweiten entzüdt, bitte, betrachten 
Sie mid nicht als ganz Fremde.” 

Er fland vor ihr und fühlte fih fchredlih un- 
bebaglid. Die Zutraulichleit der eleganten Dame 
verfiand er nicht zu erwidern. Was ließ fich darauf 
lagen? Etwas follte e8 wohl fein, das fühlte er 
genau. Aber was? Er ftarrte Maud ins Geficht, 
und dann juchten feine Blide Yortunat, aber der 
ftand zwilchen den Gejchwiftern, lachte und kümmerte 
fih nit um ihn. 

Sie las in feinen Zügen bdeutlih; und nun 
lächelte fie auch, und ihm nochmals die Hand drüdenb, 
jegte fie Hinzu: „Sie find ein großer Künftler, Herr 
Heelen, ein jeder wird ftol; auf Shre perjönliche 
Belanntichaft fein müflen.” 

Das erfte Zob aus Frauenmund, und doch wäre 
Martin in diefem Augenblid lieber Gott weiß wo 
geweſen, als jo dicht vor diefen großen, dunklen 
Augen, die doch nichts weiter ausftrahlten als wirk- 
lihe Bewunderung. 

Und dann fam Emil und |pradh ein paar Worte 
mit ihm und endlih Luzie und Fortunat. Ihm 
wurde fiedendheiß. Der Echweiß perlte in großen 
Tropfen auf feiner Stirn. D nur Worte — Worte! 
Und ein wenig Freiheit und XLeichtigleit der Bes 
wegungen. — Herumzugeben in diefem vollen Zimmer 
wie die andern, jhhien ihm ein Ding der Unmöglichkeit. 

Erlöjend jchien ihm der Ruf zu Tih. Da 
braudte man doc nicht Iprehen, jondern Tonnte 
Ihmweigen und efjen, und nachher, nachher wollte er 
gleich fort, gleich auf der Stelle. Der fleife Hals: 
fragen drüdte ihn abjheulih, die ganze Kleidung 
Ihien ihn einzuengen wie ein Banzerhbemd. Um den 
Preis jolcher Unbequemlichleiten wollte er wirklich 


533 Art zu Art. 
nicht mit Menfchen zufammenfein, und follte daran 
jelbt fein junger Ruhm jcheitern. 

Als Luzie zu Tifche rief, bot Emil Maub Jeinen 
Arm, er that das mit Vorliebe, und obgleich fie ihn 
nicht mochte, hatte fie doch ftets der einfahen Form 
genügt und ihn acceptiert; beute that fie es nicht, 
fie wandte fih vielmehr an Martin. „Herr Heelen 
wird mid zu Tiiche führen,” Jagte fie mit göttlicher 
Ungeniertheit. „Ich babe viel zu lange auf dieje 
Belanntihaft warten müflen, um fie nicht ganz aus: 
zufoften.” 

Sie nidte Emil freundlid zu und job ihre 
Hand unter Heelens Arm. SYhn ummehte es plößlich 
wie Blumenduft, und bei jedem Schritt raufchte es 
neben ihm wie fturre Seide. Er jah jet auch, daß 
fie Juwelen an den jchlanfen Fingern trug, und 
neben al dem Unbehagen beihlih ihn doch auch 
ein eigentümliches Gefühl von Genugthuung, daß 
ihn diefe reihe, vornehme Dame jo augenjcheinlich 
auszeichnete. 

Emil verzog den Mund und jah geärgert aus. 
Wenn aber Maud geglaubt hatte, mit dem bloßen 
Sunorieren aller Schattenfeiten desjenigen, den fie 
als Künftler jo hoch ftellte, jei es abgethban, mußte 
fie Doch die Erfahrung machen, daß fie fi darin 
getäufäht hatte. Er aß den Fiih mit dem Mefler, 
hob ungefügige Billen in den Mund und Ichmagte 
laut beim Kauen. — Maubd Ichauderte. „jedem andern 
würde fie derartige grobe Manieren nie verziehen 
haben, bier aber gab fie fih Mühe, diejelben als 
nur belanglofe Außerlichkeiten zu betrachten. 

„Was jchadet es,” dachte fie. „Derartige Dinge 
ſchleiſt ſchon das Leben, die allmahliche Gewohnheit, 
ſich in guter Geſellſchaft zu bewegen, ab; wo aber 
gäbe es einen Menſchen, dem ſich Talent, oder gar 
Genie anerziehen ließe.” 

Und fie blieb liebenswürdig und freundlich 
gegen ihn wie zu Anfang, obgleih er es ihr recht 
fhwer madte, da er nur jelten ein paar Worte der 
Entgegnung fand. 

BZulegt, als das Diner bereits beendet war, biß 
er noch herzhaft von jeinem Weißbrot ein tüchtiges 
Stüd herunter und jchob den großen Bifjen Käje 
auf der Spite des Mefiers hinterher, wie in Fortunats 
Ütelier, dazu mit beiden Baden kauend. 

Über die Serviette hinüber, die fie fih vor ben 
Mund bielt, funtelten Quzies Augen zu Maud hinüber, 
jo boshaft und fchadenfroh, daß diefe vor Srger er: 
tötete. Man jah deutlih, daß Luzie nur mit Mühe 
das Lachen verbiß, und Emile, elbft Fortunats Ge: 
fit erhellte auch ein Kleines, Tpöttifches Lächeln — 
eine jo tomiiche Figur machte in diefem Augenblid 
der große Künftler, auf den Maub bisher fo viele 
von ihren Gedanten konzentriert hatte. 

Unter dem Drud einer jeeliiden Depreflion 
lagte fie, fi ihm voll zumwendend, in faft gereiztem 
Ton: „Es hat Shnen wohl jehr gut gejchmedt, Herr 
Heeken. Darf ih Ihnen noch etwas reichen laffen?“ 

„ein, dante!” Er merkte natürlich nichts von 
dem, was um ihn ber vorging. „Seht bin ich reich 
lich fatt. Aber rvechtichaffenen Hunger babe ich ge- 
habt, ich Hatte heut faft noch gar nichts gegellen.“ 


Roman von H. Schobert. 


534 





Er ftrih mit den Fingern über Bart und 
an dann lehnte er fich behaglich in den Stuhl 
zurüd. 

„Ih rate Yhnen, das nicht wieder zu thun,“ 
entgegnete Maud, immer noch gereizt. „So eine 
einzige, gewaltige Mahlzeit befommt jchlecht.” 

„Ab, mir belommt alles.” Er jah fie treu- 
berzig an. „Wer das Hungern jo gewöhnt ift wie 
ih, der fann au das Eflen vertragen.” 

Und da fand es wieder vor ihr, was Fortunat 
ihr alles erzählt hatte von der grenzenlojen Ent: 
jagung und der grenzenlofen Energie diejes Mannes, 
und mit einem Mal war al ihr Zorn verflogen, 
ganz weggewilcht. 

Da man fi inzwilchen erhoben hatte, reichte 
fie ihm die Hand. „Sie haben recht, Herr Heelen,” 
lagte fie ganz reuig, „und, bitte, verzeihen Sie mir 
meine Bemerkung. Ja?” 

Er nidte.e Was fie eigentlid damit jagen 
wollte, blieb ihm unklar. — 

Zuzie ging an ihr vorüber, ftreifte fie und lachte 
ihr ins Gefiht, fie nahm Feine Notiz davon. Emil 
fragte, ob fie fih gut unterhalten habe, was fie gleich: 
mütig bejahte, und nur Fortunat hielt fich ihr fern. 

Der Kaffee wurde auf der Terrafie getrunfen; 
e3 bämmerte bereit3 und die Hibe des Tages ging 
in erfriihende Kühle über, Heelen jaß neben dem 
Profeflor und fpra mit ihm, in feiner flodenden 
Art und Weije zwar, aber unbefangener als vorhin, 
Maud beobachtete die beiden unausgefett. 

Noch nie war ihr die geiftige Friiche, die dem 
alten Herrn aus den Augen leuditete, mehr auf: 
gefallen als in diefem Augenblid, und auch Heelens 
Geficht belebte fih almählih. Das, mwonad fie 
bisher vergeblich ausgelpäht, trat jet beutlih an 
ihm bervor, das Zeichen, das Genie in jelbftver: 
gefjenen Sekunden feinen Trägern aufzudrüden pflegt. 
Set war er ein völlig anderer. Sie Ipradhen aljo 
von Kunfl. Maub feufzte ungebuldig, während fie 
faum auf Emils fabes Geihwäß börte. Viel lieber 
hätte fie bei ben beiben dort geleflen, wenn auch nur 
als ftille Zubörerin, und wirklih, es war geradezu 
albern, fich bei einem ſolchen Menfchen wie diejen 
daran zu lehren, ob er ben Filh mit bem Mefler 
aß, oder das Brot mit den Zähnen abbiß. Wie 
gern hätte fie ihn belehrt, aber bas ging doch wohl 
noch nicht an, vielleicht jpäter, damit folche un: 
bedeutenden Menichen wie Luzic und Emil nichts zu 
laden hatten. 

Endlih fand der Profelfor auf und brachte 
Heelen zu den übrigen zurüd. „So, fagte er 
lächelnd. „Augend gebt zu Jugend, das Alter ruht 
ein Stünddhen aus. Weine liebe Miß, Sie werden 
auch jet wieder freundlich zu dem einzigen Fremden 
in diefem Kreile jein.” 

Maud nidte lähelnd, dann Jagte fie: „Bitte, 
Herr Quenfel, treten Eie Herrn Heeken Ihren Platz 
ab, da er mir fpeciel empfohlen ift, belege ich ihn 
mit Beichlag.” 

Emil jprang auf. 
Gnäbdigfte.” 

Aber Martin batte nichts um fi beadtet. Er 


„Sanz wie Sie befehlen, 





—,— — 


535 Art zu Art. 


trat an die Brüftung der Veranda, ohne fih um 
Maud zu Tüimmern, und fah in die Baummipfel 
hinauf. Er dachte augenfcheinlich jehr intenfiv über 
etwas nad, und dabei war ein Leuchten in feinen 
Augen, ein jo abfolutes Bergeflen feiner jelbft, daß 
ihn Maud interelfiert betrachtete. 

„Herr Heelen!” 

Sie mußte zweimal rufen bis er endlich hörte, 
dann jah er fich nad) ihr um. 

Sie wies auf den leeren Stuhl. „Seen Gie 
fih hierher, und erzählen Sie mir, was Sie dachten.” 

fam langiam, nicht jehr erfreut der Auf: 
forderung nad), ftüßte beide Hände auf die Knie und 
Ichwieg weiter. 

„Es muß eiwas Schönes, Großes gemwejen fein,” 
fuhr Maud Ihmeichhelnd fort, „man jah es an Ihrem 
Geſicht.“ 

Er ſah ſie unbehaglich an. „Was wollen Sie 
eigentlich von mir, Fräulein?“ 

Es lag etwas Mißtrauiſches in Stimme und Blick. 

Sie errötete heftig. Dann ſagte ſie ganz leiſe: 
„Ich möchte teilnehmen an Ihrem Schaffen, wenn 
auch nur in Gedanken. Ich möchte, daß Sie mir 
von Ihren Plänen — Entwürfen ſprächen ...“ 

Er vergaß ſeinen Scheitel und fuhr ſich mit 
der Hand ins Haar. „Das kann ich nicht — das 
kann ich überhaupt nicht. — Worte ſind nicht viel 
bei mir zu holen, das willen ale... Und nun 
Sie — ein Mädchen — was verfteht denn die erft 
von unjerer Kunft?” 

Er hatte mit einer gemillen jouveränen Ber: 
ahtung geiproden, Maud lächelte dazu. „Mehr 
vieleiht als Sie denten, probieren Sie e3 nur 
mit mir.” 

Dabei hatte fie fich ihm zugeneigt. Die Wendung 
des jchlanken Halfes, die Senkung des feinen Kopfes 
bob fih Scharf gegen den dunklen Hintergrund ab. 
Er folgte den Linien faft gedanfenlos mit den Augen, 
dann plöglih fuhr er zufammen und ohne Maud 
aus dem geipannten Blid zu laflen, z0g er jeinen 
Stuhl um ein Stüd rüdmwärts, fort von dem ihrigen. 

Si diefem Augenblid trat Fortunat herzu, und 
fih auf die Schulter feines Freundes ftügend, begann 
er mit Maud eine lebhafte Konverfation. Heelen 
ſchwieg. Dennod) beobadıteten beide, daß er zu: 
weilen verftohlen die Amerikanerin mit gejpanntem 
Ausdrud beobachtete. 

„Was hattet Du nur,” fragte Ler beim Nach— 
baufegehen den Freund, „Du ließeft ja zulegt Miß 
Winter gar nicht aus den Augen.” 

Er warf dabei no einen Blid auf die er: 
leuchtete Fenjterreihe bei Profeflors und wußte ganz 
genau, dab es jebt da oben über jeinen Freund 
arg berging. Luzies Laden Ichien ihn bis hierher 
zu verfolgen. Nun ja, wie ein Dandy hatte fich 
Heelen gerade nicht benommen, das war jhon richtig. 
Eigentlich hatte er Momente gehabt, wo e8 ihn ge 
ärgert hatte, aber Ichließlih war er doch ein Aus: 
nahmemenjh. Wer nur nad äußerer Form urteilte, 
der konnte fi ja derartig geledte tadellofe Herren 
holen, aber dann nicht Anfprudh) machen auf einen 
befonderen Kern. — Wie jeßt Luzie über ihn ber: 


Roman von 9. Schobert. 


536 


fallen würde! Und Maud? Er war fih nicht recht 
fiher, jedenfalls hatte fie Heelens Anftarren zulegt 
unruhig gemad)t. 

„Run?“ fragte Fortunat, ungeduldig über das 
lange Schweigen des andern. 

Heelen fah ieh um. „Hal Du es nicht be- 
merkt,“ fragte er halblaut. „Sie bewegte den Kopf 
ja wie meine Schlange, als fie zufammenftürzte. Über: 
haupt, fie hat Ahnlichkeit mit meiner Schlange, findeft 
Du nicht?“ 

Hortunat lachte aus vollem Halfe. „Du balt 
fider ein Glas zu viel getrunfen, Menidh. Rede 
nur um Gottes willen Jolden Unfinn nicht zu ihr, 
fie könnte e8 Dir übelnehmen.” 

„Rein, das fag’ ich nicht.” 

„Ra, man Tann bei Dir nicht willen. Wie bat 
fie Dir denn gefallen?” 

„Sie war fehr freundlich zu mir.” 

„Sa, ja; aber ich meine jegt, ob Du fie hübich 
findeft?” 

„Rein, ich denke nicht, fie ift jo dünn,” fagte 
Heelen nad einem Fleinen Naddenten. „Die zer: 
bricht ja, wenn man derb zufaßt.” 

Fortunat räufperte fi. „Ich liebe diefe jchlanken, 
grazilen Geftalten,” jagte er dann nadhdenklid. „Es 
liegt etwas darin. Gejundes %ett ift jo plebejiich. 
Die Seele fann gar nicht zum Vorihein kommen, 
fie ift zu tief eingepolftert. Sch könnte mich nur 
in ein fchlantes, elegantes Weib verlieben, Aber 
Gott fei Danf, der Gelhmad ift ja verfchieden. Mich 
gelüftet es immer mehr nach der Seele ald nach dem 
Körper. Und außerdem muß eine Frau duften, 
jumelenfunfeln, feidenraufchen, auf dergleichen re- 
agieren meine Nerven, und fehließlih machen im 
Gefühlsleben die Nerven alles.” 

Heelen blieb ftehen und Jah dem Sprechenden 
in das Gefiht, dann fenkte er den Kopf und ging 
Ihweigend weiter. — — 

Fortunat hatte recht gehabt. Als er fich mit 
feinem Freunde entfernt hatte, warf fi Zuzie in 
einen Gefjel, und die Arme über den Kopf ver: 
Ihräntend, fagte fie: „So, Kinder, nun feßt Euch 
no ein BViertelftündchen, nun wollen wir einen ge: 
mütlichen Kleinen Klatich halten. Wie findet Yhr 
diefen Heelen?” 

„Beinahe unmöglih.” Emil, der das Jagte, 
warf einen Blid in den Spiegel und betaitete jeinen 
tadellojen Bart. „Die Krawatte jaß ihm nachher 
ganz Ichief, der Halsfragen genierte ihn tödlich, er 
hatte immer den Finger dazwiihen, wie ein Ge: 
benkter, der den Strid abmehrt. Mit einem Wort, 
eine fomilhe Figur.” 

„Und die groben Manieren beim Een! cd 
babe mid in bie Zunge gebillen vor Entjeßen,” 
lagte Luzie lahend. „Maud, Sie Ärmfte, Sie haben 
gehandelt wie eine Heilige. War’s Shnen nicht ent: 
jeglich ?” 

„Ich dachte an feine Kunft und beadhtete das 
andere nit. Wie bald lernt fich äußere Forın.” 

„Da find Sie im Irrtum, Miß Winter. Frei- 
lich, eflen und fi) Eleiden, ja, das lernt er vielleicht. 
Aber diefer Menidh wird nie fo fühlen und handeln 








537 Art zu Art. 
wie wir, deijen feien Sie verfihert. Ein Reft rohen 
Empfindens bleibt ftet3 zurüd, davon laß ich nidt. 
Das Erbteil des Blutes ift Feine bloße Mär.” 
„Sie vergeflen jein Künftlertum von Gottes 
Gnaben.” 
„Das ändert den Menfchen nicht vom Grund 
Art bleibt bei Art.” 
Maud wideripradh ihm. 
„Aber er fieht gar nicht übel aus,” jagte Luzie 
dazwiſchen, „ein interefjanter Kopf. Wenn er erft 
berühmt ift, wird fih mande in ihn verlieten, bis 
dahin muß er natürlich abgeidhliffen fein!“ 
„Ih fand ihn angegriffen und elend,” be: 


merkte Maubd. 

„Bah! Die Rafie!” Emil warf fih an bie 
Rüdlehne jeines Sefjele. „Die ift das Arbeiten ge- 
wohnt, fann’s vertragen! Woran unfereiner zu 
Grunde geht, den rührt es nicht. Daher aud) die 
Erfolge folder Leute. — Wir, die wir jubtiler find, 
müflen naturgemäß in den Ruf ber Trägheit und 
Saulheit fommen, aber es ift ungeredt, jage id 
Shnen. Die Verfeinerung ber Raffe bringt das 
mit fi.“ 

Maud ftand am Tiich, die Hände auf die Platte 
geftügt, und Jah Emil an. „Sch glaube es nicht, 
was Sie da jagen,” meinte fie endlich nachdenklich. 
„Sin Künftlertum von Botted Gnaden lölcht Geburt 
und Erziehung, kurz, alle roheren Elemente vollfommen 
aus. Sie fünnten ja gar nicht nebeneinander eriftieren. 
Wie wollten fie fi denn vertragen.” 

Emil warf jeine Cigarre in ben Alchbecher, fie 
Ihmedte ihm heut abend nit. „Täujchen Sie fi 
nit in alzugroßem Sdealismus, Mi Winter,” 
fagte er ärgerli lahend. „Die Phantafie fpielt 
jedem gern jeinen Streih, aber Wirklichkeit bleibt 
trogßdem Wirklichkeit.“ 

Sie lachte jet aud. „Mich halten Sie für 
ideal angelegt? Sch fürdte, ih bin es nicht — 
feine Spur.” 

Als fie aber allein in ihrem Zimmer war, ba 
dachte fie eifrig darüber nah, ob es ihr nicht zum 
Beilpiel gelingen würde, Heefen zu bilden, zu er: 
ziehen, wo jeine Erziehung Züden aufwies, und ob 
er ihr das nicht, jobald ihm erft die Etkenntnis da⸗ 
für kam, tauſendfach danken würde. Und ſie träumte 
davon, was ſie noch aus ihm, dem großen Künſtler, 
machen wollte, einen tadelloſen, liebenswürdigen 
Menſchen, dem alle Kreiſe offen ſtanden und der ſie 
ſelber über die Alltäglichkeit herausheben würde. 


aus. 


Elftes Kapitel. 


Juni war es erſt, aber beinahe ſchon tropiſch 
heiß. Zu Pfingſten, wo ſonſt die Stadt noch voll 
Menſchen war, trachtete dies Jahr ſchon jeder nach 
einem kühlen Plätzchen an der See oder in den Bergen. 
Auch der Profeſſor hatte ſich entſchloſſen, früher als 
ſonſt mit ſeinen Kindern der Stadt den Rücken zu 
kehren. Sie hatten alljährlich eine hübſche Villa 
nicht weit vom Seeufer inne, und ob dem alten 


Roman⸗ZJeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 





538 


Herrn auch durch das tägliche Hin- und Herfahren 
am Morgen und Abend manche Unbequemlichkeit 
erwuchs, ob ſelbſt ſeine Geſundheit darunter litt, 
Luzie hielt ſtreng auf dieſe ſtandesgemäße Villegiatur 
Emil pflegte alsdann ſein Atelier zu ſchließen und 
ſich den Sommer als wohlverdiente Ferien zu rechnen, 
unter dem Vorwande, daß die Schweſter nicht allein 
bleiben könne. Diesmal war ihm beſonders das 
noch ungezwungenere Zuſammenſein mit Maud da 
draußen willkommen. 


Fortunat hatte ſich während der letzten Tage 
weniger als gewöhnlich beim Profeſſor ſehen laſſen, 
er ſuchte mit Heeken ein neues Atelier für dieſen, 
auch die notwendigen Möbel dazu, und da ſie dieſe 
Thätigkeit in die frühe Morgenſtunde verlegten, die 
kühlen Abende und halben Nächte aber dem Ver— 
kehr mit einigen noch anweſenden Kollegen widmeten, 
jo blieb ihm nur die heiße Zeit, die er jedoch vor- 
309 zu verichlafen. 

Er war zu unbefangen, um an jeinem Freunde 
inzwilchen ein eingehendes Studium auszuüben; aus 
Gemwohnheit nahm er ihn wie er war, und do gab 
es vielleicht nichts Sntereflanteres als die Metamor- 
phoje, die fich inzwildhen halb unbewußt an Martin 
Heelen vollaog. Er wurde nicht etwa rebfeliger, im 
Gegenteil jchweigiam, verjhloflen und unbehaglich 
jaß er im Kreije der jungen Xeute, die falt jeder ein 
interellantes Erlebnille hatten, über das fie jprachen. 
Shn interejiierte dos nicht, denn er fonnte weder 
über beitere noch tragijche Liebeständeleien mitiprechen, 
aber ein gewaltiger Hohmut wuchs dabei ganz 
beimlih und unbemerkt in ihm auf, wenn er fi 
mit jenen verglid. 


Man hatte in der Kritik einftimmig feine Gruppe 
bewundert, ihm eine große Zukunft prophezeit. Wie 
eine Gloriole wand fih das erlittene Martyrium 
um fein Haupt und gab dem allen nod einen be: 
jonderen Zauber. Die Zeitungsblätter begleiteten 
ihn jest täglich; er hatte einen wahren Heißhunger, 
fie wieder und wieder zu lejen. Auf der Straße 
blieben Kollegen, die ihn früher gar nicht beachtet 
hatten, jebt vor ihm ftehen, fchüttelten ihm die Hand 
und gratulierten ihm. Er hörte feinen Namen im 
Vorübergehen nennen, und blonde und braune 
Mädchenköpfe wandten fih nah ihm um. 


Das erite Mal, als das geichehen, war er tief 
erihroden, mit heißem Geficht in die nächte Straße 
eingebogen; allmählich hatte er fich daran gewöhnt, 
ja, er wartete heimlih darauf. Bis dahin war bie 
geöffnete Scheibe des Atelierfenfters fein Spiegel ge- 
wejen, jegt war jeine erftie Ausgabe, fich einen 
ordentlichen zu erftehen. 

Trogdem fühlte er fich noch immer todunbehag- 
lid in jeinen neuen Anzügen, und bejonders bie 
MWäfche, diele fteife, ungefüge Mafje, blieb ihm ein 
Stein des Anftoßes. Sobald er nur ungefehen 
fonnte, jchlüpfte er in fein altes Wollhemd, dann 
redte und dehnte er die Arme und feufzte tief auf, 
dann fam auch etwas wie Schaffensluft wieder über 
ihn, die in der fremden Kleidung ganz verſchwunden 
zu fein jchien. Freilich war nicht diefe daran Ihuld, 





IV. 38 


539 Art zu Art. 


— — — — — — 


ſondern die übergroße Erſchöpfung, die er immer 
noch nicht überwunden hatte. 

„Heut müſſen wir aber zu Quenſels,“ ſagte 
Fortunat eines Morgens, „Adieu ſagen. Morgen 
ziehen ſie aufs Land. Ohnehin waren wir nicht 
ſehr artig gegen ſie.“ 

Martin ſträubte ſich nicht, obgleich es ihm kein 
beſonderes Vergnügen machte, Maud wieder unter 
die Augen zu treten. Sie war ſehr freundlich zu 
ihm geweſen, gewiß. Aber er wurde die Vorſtellung 
nicht los, daß ſie ſeiner Schlange ähnlich ſei, und 
dann übte ihr ganzes Weſen, ſo lieb und ſanft es 
auch war, eine gewiſſe Autorität über ihn aus, die 
ihn unheimlich berührte, faſt etwas in Furcht hielt. 

Als ſie wieder wie gewöhnlich gemütlich auf 
der Veranda ihren Kaffee tranken, ſagte Luzie mit 
einem kleinen Seufzer: „Eigentlich iſt es ja ſchauder⸗ 
haft langweilig auf dem Lande! Warum kommen 
Sie nicht mit heraus, Fortunat, wie alljährlich, da 
Sie doch nichts Wichtigeres zu thun haben, als 
Ihren Freund zu — bevatern.“ 

Sie lachte, als ſie das ſagte, und der Profeſſor 
griff ſofort die Worte ſeiner Tochter auf, liebens— 
würdig, wie er war, ſobald es galt, jemand eine 
Freude zu machen. „Meine Tochter hat recht, kommen 
Sie mit, Fortunat, wenigſtens das Feſt über. Und 
Sie, Heeken, auch, Platz iſt da, und etwas Erholung 
ſcheint mir gerade für Sie ein Bedürfnis. Unſere 
liebe Miß wird Ihre Anweſenheit beſonders erfreuen, 
nicht wahr?“ 

Luzie warf klirrend den Kaffeelöffel zu Boden. 
Herrgott, war ihr Vater dumm! Dachte er denn 
wirklich gar nicht an ſeine Kinder? Ihr kamen in 
dieſem Augenblick ſehr ſkeptiſche Gedanken über die 
Weisheit der Eltern ihren Kindern gegenüber. Eigent⸗ 
lich lag es doch allzu nahe, Emil dieſe glänzende 
Partie zu ſichern. Aber wenn je ſolche Gedanken 
hinter des Profeſſors Stirn aufgetaucht waren, ſein 
kindliches Gemüt hatte dieſelben längſt vergeſſen. 

„Das iſt einmal ein geſcheiter Gedanke! Ver—⸗ 
ehrter Herr Profeſſor, ich lege mich Ihnen zu Füßen. 
Nun, Martin — was ſagſt Du dazu?“ 

„Stehen Sie ſchnell wieder auf, Lex,“ flüſterte 
Luzie ihm zu. „Ihr großes Kind zerbricht ſich ſonſt 
die Zunge.“ 

Und Martin ſaß wirklich da, verlegen, un— 
beholfen, nicht wiſſend, was er ſagen ſollte. Der 
Profeſſor nickte ihm freundlich zu. 

„Alſo abgemacht. Der Zug geht morgen um 
dreiviertel neun Uhr, bis dahin können die Herren 
noch das Nötigſte einpacken. Wir gehen ja aufs Land.“ 

„Papa iſt wirklich einzig,“ ſagte Luzie. „Ladet 
mir das ganze Haus voller Gäſte, ohne zu wiſſen, 
ob ich ſie unterbringen kann.“ 

„Dann laden Sie uns wieder aus, wenn Sie 
das Herz dazu haben,“ lachte Fortunat fröhlich. 
„Übrigens iſt da bald Rat geſchafft. Ich beziehe 
mein altes Zimmer, und Heeken wohnt mit darin.“ 

Sie warf ihm ein Blumenknöſpchen an die 
Stirn, halb ſchmollend, halb lachend. Im Grunde 
war ihr ja Fortunats Anweſenheit ſo erwünſcht, daß 


Roman von © Shobett. 


540 








fie ſogar Heeken mit in den gauf nahm. Mochte 
Emil ſich doch ſelber ſeiner Haut wehren. — 

Als ſie nachher mit ihm darauf zu ſprechen 
kam, fand ſie ihn ſiegesſicherer denn je. 

„Sie haben heut kaum ein Wort miteinander 
gewechſelt,“ ſagte er triumphierend. „Es ſieht aus, 
als ob ſich Heeken vor ihr fürchtet. Deſto beſſer. 
Das wird ſie beleidigen und ſie mir deſto ſicherer 
in die Arme führen.“ 

„Eitler Kerl,“ ſagte Luzie geärgert. „Aber 
wahrhaftig, ich wünſchte, ich hätte Dich erſt glücklich 
verſorgt, mit mir werde ich dann ſchon fertig.“ — 

Die Villa, die Profeſſors bezogen, hatte nur 
einen kleinen Garten, an den ſich gleich ein aus—⸗ 
gedehnter Kiefernwald ſchloß. Bei der herrſchenden 
Hitze kam der ſtarke Duft in ſchweren, betäubenden 
Wellen bis unter die Veranda, auf der Maud ſaß 
und ſchrieb. 

Sie atmete ihn ein wenig ein, dann ſchlug ſie 
die Mappe zu und beobachtete ihren Geſellſchafter, 
der unweit von ihr ſchweigſam in einem Korbſtuhl 
ſaß und die flimmernde Hitze betrachtete, die die 
Luft zittern ließ. — Es war Heeken. — Solch ein 
träumeriſches Nichtsthun war ihm ſo ungewohnt, er 
empfand es faſt wie eine Laſt, aber wie eine, die 
doch recht leicht zu tragen war, beſonders wenn man 
ihn nicht zwang zu ſprechen — das war für ihn der 
größte Schrecken. 

Der leichte Sommeranzug kleidete ihn vortrefflich, 
Maud dachte das, indem ſie ihn anrief. Er drehte 
den Kopf herum ohne Antwort. 

„Ich ſehe, Sie leiden wenig durch die Hitze, ich 
gar nicht,“ ſagte ſie, ihr leichtes Morgenkleid etwas 
ſchüttelnd. „Und es duftet ſo ſchön herüber; wäre 
es nicht nett, einen kleinen Spaziergang in den 
Wald hinein zu machen und ſich auf die erwärmten 
Tannennadeln zu legen? Ich habe Luſt, kommen 
Sie mit?“ 

Er erhob ſich. Dagegen einzuwenden hatte er 
nichts. 

Im Hauſe klangen Schritte. 

O flink! Flink!“ rief Maud, ihr Kleid zu: 
ſammenraffend und eilig die Treppe herunter—⸗ 
ſpringend. „Das iſt Herr Quenſel. Laufen wir 
davon, ehe er uns ſieht.“ 

Sie ſprang hurtig vorwärts, er ſah, indem er 
ihr langſamer folgte, ein Wogen von Spitzen, die 
ſich durch das Raffen des Kleides zeigten, einen ſchmalen, 
ſchwarzen Lackſchuh. Dinge, die er noch nie bemerkt, 
noch nie geſehen hatte, die ihn aber trotzdem eigen: 
tümlid anzogen. 

„So!” fagte Maud endlich ftehenbleibend. „Hier 
find wir fiher; bier fieht uns niemand mehr. Das 
war nett, daß wir ihm entlamen.” 

Er jah fie an. hr Gefiht war erhigt, ihr 
Atem ging Ihnel. Zum erfien Mal bämmerte ihm 
das Bemwußtlein, daß fie ein Weib fei wie andere 
auh, daß ein Mann das Recht hatte, fie zu be- 
gehren, wie andere aud). 

„Sie können ihn alfo nicht leiden,” fragte er, 
und es freute ihn faft. 

„PR. Das jagt man in unfern Kreifen nicht 


541 


jo unverblümt,” belehrte fie ihn Tächelnd. „Da beißt 
e8: ich babe Feine fonderliche Sympathie für ihn — 
er ift mir gleihgültig. — Ein bißchen Heuchelei ge 
bört zum guten Ton.” 

„Das gefällt mir nicht, das lerne ih aud) 
niemals.” 

„Do, vielleicht Do. Es lernt fich manches jchnell, 
Herr Heelen.” 

Sie gingen jchweigend dur den fommerheißen 
Wald. ZYhre Füße glitten zumeilen auf ben glatten 
Nadeln aus, und der jchwere Tannengeruch flieg zu 
Kopf und machte benommen. BZwilchen den gerade 
auffirebenden Stämmen zeichnete fih der Himmel 
ab in leuchtendem Blau wie eine unbewegliche Platte, 
und Hummeln und Käfer umjchwirrten fie. 

Plöglich blieb Maud ftehen. „Was babe ich 
Shnen gethban, Herr Heelen?” fragte fie und blidte 
zu ihm auf. 

Er war erihroden. „Mir? Aber nichts!” 
ftotterte er. 

„Sie find unfreundlic gegen mi und id — 
ic habe es doch fo gut mit Jhnen gemeint.“ 

„Sräulein,” jagte er mit einem gewaltigen 
Entihluß. „Ih verfiehe es nit, mit Zhnen zu 
fpreden — weiter nichts! Der Duenfel und der 
Fortunat Tönnen es, ich nit. Sch bin es eben 
nicht gewohnt.“ 

„St das alles? — Wirklich die Wahrheit?” 

Er verihlang die Finger. „Lügen babe id) 
auch nicht gelernt, und weil ich’s nicht gelernt habe, 
deshalb tauge ich jo Ichledht unter die Menichen. Sie 
fasten es vorhin ja jelbf.” 

Betroffen blidte fie ihn an; dann nidte fie. 
„Sa, etwas gehört wohl dazu. Aber zu Shnen bin 
ich ehrlih, wenn ich jage: ich meine e8 gut mit 
Ahnen.” 

Er fah fie von der Seite wie abjhätend an. 
„Was könnten Sie mir helfen, Fräulein. Ih wüßte 
es nicht, und,” er redte fi hoch auf, „ich möchte 
es auch nicht! Bon einem Weib! Bon einem 
Mädchen! Lieber wollte ich jchon untergehen. Dann 
wäre e8 doch aus mit der Freude am Leben.” 

Sie jah zu ihm auf während er jpradh, Jo 
jelbftbewußt, jo kraftvoll, und fie jeufzte vor fi 
hin. Wenn fie ihn auch vielleicht Doppelt hochadhten 
mußte nach biefem Belenntnis, traurig madte es 
fie do. Fortunat wird jchon recht haben, daß er 
nichts von ihrem Gelbe nimmt, daß fie feinen Teil 
an ihm gewinnt. 

„Es ift jo heiß,“ Tagte fie leile und berührte 
leiht mit der Hand ihre Wangen. „Wir wollen ein 
wenig niederfigen.“ 


Art zu Art. 


Roman von H. Schobert. 


542 


Sie fegte fih auf die warmen, duftenden Nadeln, 
308 das eine Knie etwas herauf, um den Ellenbogen 
zu ftüßen, und lehnte den Kopf in die Hand. So 
aß fie und flarrte ins Weite. Es war ordentlich 
eine Sudt in ihr, diefen DMenjhen da, von dem 
fie wußte, er war fo arm, daß ihn nur die Wohl- 
thaten feiner Freunde in ftand gelegt hatten, fein 
Werk zu vollenden, zu zwingen, etwas von ihr zu 
nehmen, mit ihr zu rechnen wie mit einem gleich- 
ftehbenden Wejen. Denn das empfand fie deutlich, 
fie und Luzie, die Frauen im allgemeinen, waren 
ihm nichts wert, galten ihm berzli gering. Das 
ärgerte fie. 

Er hatte fich nicht weit von ihr ebenfalls auf 
den Boden bingeftredt, ganz lang, die Hände unter 
den Kopf, und jah zum Himmel auf. Eins ftand 
feft, Fortunat würde biefe Pofe nicht in Gegenwart 
einer Dame eingenommen haben. 

Es war jo Hl um fi. Traumhaft fill. — 
Von weit ber fam verworrenes Geräufh, Menichen: 
fiimmen, Hundegebel, Rollen von Rädern, aber es 
Ihien fih alles zu brechen, in der Luft zu zerflattern 
an der Grenze diefes Waldes. Kein Vogel fang, 
fein Windhauh bewegte die Nadeln der Bäume. 
Maud fühlte allmählich ihr Blut Elopfen, fo deutlich, 
daß fie faft glaubte, er fönne e8 auch hören, ein Ge- 
fühl beichlih fie, ale fehle ihr der Atem. 

„Herr Heelen!” 

Sie rief es laut, faft jcharf, mit einem zornigen 
Anklang. Er drehte fih etwas auf die Seite. 

„Was, Fräulein?” 

„Möchten Sie fih nicht etwas aufrihten? Es 
geniert mi, daß Sie jo daliegen.” 

Er fette fih jofort; jo unbewandert er mit 
Frauen war, den fatalen Ton in Mauds Anruf 
fühlte er doh. An feinem diden, gemwellten Haar 
waren ein paar Nadeln fiben geblieben, fie taumelten 
hin und ber, Maud fjah fie zornig an. 

„Ich babe nichts Böjes thun wollen,” jagte er 
in dem dunklen Drang, jemand, der freundlich zu 
ihm gewejen, nicht zu verlegen, nahm einen bürren 
Zweig auf und Inadte ihn in Stüde „Ih bin 
das Feine eben nicht gewöhnt.” 

Er wunderte fih, daß er das alles über die 
Lippen bradte, vor Fortunat wäre ihm doch nie und 
nimmer der Gedanke einer Entichuldigung geflommen. 
Aber dies feine, junge Fräulein hatte eine Art an 
ih, daß fie ihn ganz bezwang, und gerade deshalb 
war fie ihm jo unbequem. 


(Fortfegung folgt.) 


543 Schwertflingen. 





Schwertiklingen 


Roman von Hans Werber. 544 
Baterländifcher Roman 
von 
Dans Werder. 
(Fortfegung.) 
„Lieber Hallo — gewiß — wir maren alle 


Die lebhafte Erinnerung an den Prinzen, den 
au fie jo glühend bewundert, belänftigte Renate 
ein wenig. „Haflo, ih weiß es ja, wie er war 
und was wir an ihm gehabt! Uber da wir ihn 
leider, leider verloren haben, wollen wir doppelt 
froh fein, daß fein Heldengeift unter ung fortlebt in 
einem Mann wie Shi! Wir dürfen ihn nicht 
fähmen in feinem Fluge, wenn der Genius die 
Schwingen aufhebt, um zu vollenden, was damals 
durh Prinz Louis Tod gehindert wurde!” 

Hallo Hob mit lebhafter Bewegung den Kopf. 
„Sıil ift fein Genius!” Tam es unwillfürlich aus 
innerfter Überzeugung von feinen Lippen. 

Da aber fuhr Renate auf. „Was — das fagen 
Sie? Das wagen Sie zu jagen von unjerm Helden, 
unferm Baterlandsbefreier — Sie, ben er feinen 
Freund nennt —” Sie hielt inne. inter ben 
dunklen Wimpern hervor heftete Haflo einen Blid auf 
fie, beilen Bann fie fi nicht zu entziehen vermochte. 

„Sräulein Renate —“ er nannte fie zum erften 
Male jo — „id babe Schill geliebt und verehrt, 
bin mit ihm und für ihn dur Feuer und Wafler 
gegangen, ehe Sie jeinen Namen kannten! ch weiß, 
was ich von ihm zu halten babe! Um fo mehr 
muß ich es für einen Fehler anjehen, wenn er jo 
handelt, wie ein preußilcher Soldat nicht handeln 
darf! — ch glaube nit, daß er die politifche 
Weltlage richtig überihaut, was do vor allen 
Dingen nötig wäre, um einen jolden Schritt zu 
rechtfertigen!” 

„Lieber Hallo,” unterbradh ihn Herr von Bel: 
degg jest ungeduldig, „es ift wirklich nicht Shre 
Sadje, über dergleihen Fragen abzuurteilen! Wenn 
Sie aljo Khrem Regimentslommandeur — und mir 
— in der Beziehung nicht viel zutrauen, jo räumen 
Sie doch vielleiht ein, daß Männer wie Scharnhorft 
und Gneilenau lÜberblict über die politifche Weltlage 
haben dürften!” 

„Bor allen Dingen,” jagte Renate jebt faft 
Ihluchzend vor Aufregung, „it Schill das deal 
eines ritterliden Streiters, jeden Augenblid bereit, 
ich für die heilige Sadje zu opfern! — Sind Sie 
dies nicht, nun, fo können Sie ja hier bleiben und 
fortfahren, Politit zu treiben!“ 

„Aber Renate!” warnte der Vater. 

Hallo Schwieg, doch es lag eine unenbliche 
Beredfamfeit in dem ftummen Blid, der noch ein: 
mal ihre Augen traf. „Herr LDberfllieutenant,” 
wandte er fi an diefen, „ich bitte um Entſchuldigung, 
wenn meine Morte bier nit am Plage waren! — 
Ich darf mich wohl jegt empfehlen!” 


drei erregt und haben manches geiprochen, was befjer 
unterblieben wäre! Kommen Sie nur bald einmal 
wieder! Sich hoffe, e8 gelingt uns ein andermal befler, 
unjere Anfichten in Einklang zu bringen!” 

Eine höfliche Verbeugung war alles, was Hallo 
zu erwidern hatte. Dann eine zweite noch tiefere 
vor der Tochter des Haufes — damit ging er. 


II 


Mit feiten Schritten eilte Hafo dahin, ein Ge: 
fühl in der Bruft, als fei ihm ein Unglüd zu: 
geitoßen, als jei ein Verluft über ihn hereingebrochen, 
der ihn arm gemadt, wie er nie zuvor ge: 
wejen. Bon feinem geliebten Kommandeur war er 
in Mißverftändnis und Verftimmung gejchieden, von 
Renate mit lieblojer Heftigfeit und Härte behanbelt, 
ja verhöhnt. Mas wollte, was dachte fie von ihm, 
fie, deren holde, herzliche Freundlichkeit fich wie 
Sonnenjhein über fein Dafein gebreitet, der einzige 
Sonnenidein feines einfamen Lebens. Wie graufam 
weh hatte fie ihm gethban! Und warum? Sie fonnte 
doh nicht zweifeln an feinen Auffaffungen von 
Offiziergehre und Soldatenpfliht, oder gar ihm zu: 
muten, daß er Diejelbe ihrer Meinung unter: 
ordnen jollte. Sie, die fonft fein Bilb mit Glorien: 
Ihein ummoben und geneigt gewelen war, ihn in 
al feinem Thun als Helden anzujehen, wie fonnte 
fie plöglih, bei der erften Abweichung ihrer Anficht 
von der feinen, ihm mit diejer beleidigenden Nicht: 
ahtung begegnen? 

Solde Fragen waren es, die dem heißen Zorn: 
gefühl eine marternde Beimifhung von Zweifel und 
Unruhe gaben. Es fam ihm gar nicht der Gedante, 
daß die Meinung bei ihr feftftand, er wolle überhaupt 
nicht mit ins Feld ziehen, jondern til hinter dem 
Dfen figen bleiben, Er grübelte fi über diejfen 
Zweifeln in einen menjchenfeindliden Grimm hinein. 
Die Aufforderung des Oberftlieutenants, bald wieber: 
zufommen, ließ er unberüdfichtigt. Sa, er mieb 
geflifientlich bie Gefelfchaften, in denen er Renate zu 
finden mußte. Er wollte fie jet nicht wieberjehen. 

Und doch verzehrte ihn die Sehnjudht nad ihr 
mit nimmer raftender Dual. In den dunklen, fpäten 
Abendftunden Ihlih er wie ein Dieb durch bie 
Straßen und blidte im Schatten der Häufer hinauf 
nah ihrem mwohlbelannten Erferftübhen, in ber 
Hoffnung, nur einmal die fchlante Seftalt an dem 





545 Schwertklingen. 
erleuchteten enter vorübergleiten zu jehen, vol 
zagenden Berlangens, wenn er fie erblidte, in 
grollender Verzweiflung mit feinem Schidjal hadernd, 
wenn fein Hoffen unerfüllt blieb. 

Und mwährenddeilen fchaute Renate nah ihm 
aus, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, ob 
er nicht wiederfommen würde, ihr Verföhnung und 
Verfländigung zu bringen. Sie litt unausfprechlich 
in dem Bemwußtfein, ihn fo tief und jchmerzlich ge- 
fränkt zu baben. Der Blid aus feinen bunflen, 
verichleierten Augen, mit dem er ihre lebten be- 
leidigenden Worte entgegengenommen, verfolgte fie 
anklagend bei Tag und Nadıt. Sie fehnte fi nad) 
einem Wort, einem Händedrud von ihm! Ach ver: 
gebeng! Er mied fie — er juchte die Verftändigung 
nicht, die ihr fo heiß am Herzen lag! Wie tief 
mußte jein Bürnen fein! 

Bon ihrem Vater befam fie ernfte Vorwürfe zu 
hören mwegen ihrer unmeiblichen SHeftigleit und der 
bitteren Kränfungen, die fie dem Gaft unter ihres 
Baters Dach angethan. Auch das war ihr ein Kummer. 
Ein größerer aber nodh, daß audh der Vater ihm 
zürnte und, wenn er auch ihre SHeftigleit tabelte, 
doh den Grund bderjelben anerlannte. Der Gedante 
eben chmerzte fie tiefer als alles andere, daß fie 
ih in Hafjo getäufcht, daß er kein Held fei, fondern 
ein gewöhnlicher Sterblider, der nur in den Krieg 
309, wenn er mußte. War er das mwirfid — 
nein, dann mollte fie ihn nit lieben. Einem 
Helden mwollte fie einft angehören, feinem zagenden 
Schwädling. 

Sn ihrem achtzehnjährigen Köpfchen hatten bie 
Feuerideen ihres Vaters und jeiner Freunde eine 
Flamme entfadt, der jede andere Anjchauung zum 
Opfer fallen mußte. Aufftehen für die Freiheit, jebt 
mitten im Frieden, um die Völker zur Erhebung zu 
erweden, das bedeutete für fie Heldentum, Mann: 
baftigkeit. Abmwägen, feithalten an Gele und Ge: 
borfam dagegen — Teigheit, unwürdige Schwäde. 
Und in diefe bochgeipannte Stimmung binein traf 
fie die vernichtende Enttäufhung: Haflo, ihr be- 
wunderter Freund, ftellte fih auf die Seite der 
Zaudernden — der Feiglinge! E& war ihr, ale 
hätte fie ihn zwiefach verloren, unmiederbringlicher, 
als wenn der Schladhtentod ihn ihr entrifien! Doc 
nein, nein, fie durfte die Hoffnung nicht aufgeben! 
Mit aller Kraft ihres Herzens wollte fie um ihn 
fämpfen, ihn zurüderobern, fich jelbft, ihrer Freund: 
haft und Liebe — vor allen Dingen aber der 
heiligen Sade des Baterlandes! 

Wieder war Schill zu ihrem Vater gelommen. 
Heut begleitete ihn fein Freund und Waffenbruder 
aus der Kolberger Zeit — Abolf von Lützow, der, 
damals bei Naugard verwundet und ald Major ver: 
abjehiedet worden, jeßt zu ihm zurüdgelfehrt war, 
um in heller Begeifterung für das geplante Unter: 
nehmen fih als freiwilliger Gefährte diefem anzu: 
fhließen. 8 war berjelbe, der jpäter mit feinem 
Sreiforps, der „Ihmwarzen Schar”, feinen Namen 
rubmvoll befannt gemadt. D — dielen Mann 
Iprehen zu hören! Renate ja in ihrem Stübchen 
und laute. Warum fonnte es nicht Hallo fein, 


Roman von Hans Werber. 


546 


ber jolhen Feuergedanten fo ftolzen Ausdrud ver: 
lieh! Wie unjagbar glüdlih Hätte es fie gemadt! 

„Haben Sie denn Rohlit jet zu unferer An: 
ficht befehrt?” hörte fie da ihren Vater fragen. 

„Ih habe ihn nicht wiedergejehen, Herr Oberft- 
lieutenant,” war Schild Entgegnung. „Wenigitens 
nicht geiproden! Er meidet mich fihtlid, und dar: 
aus jchließe ich nicht gerade auf einen Wechjel jeiner 
Gefinnung! Wenn es zum Ausmarjch Tommt, werde 
ih ihn beurlauben. Gegen fein Gewifien ihn zwingen, 
das möchte ich nicht!” 

„Aber Shi — Du fannft do in Hallo 
NRohlig nicht folche Zweifel jegen!” rief Herr von 
Lüpom lebhaft. „Alle Wetter — da fennt Yhr ihn 
Ihleht! Ach werde mit ihm Ipredden und Du wirft 
jehen, er flebt zu uns genau wie danıald, als er 
mit feinem General Victor aus Arnswalde ange: 
zogen kam!” 


„Ih bitte Dich, dies zu unterlaffen!” erklärte 
Herr von Shill mit Beltimmtheit. „Cinen Menjchen 
wie Rohlig will ih freiwillig haben, unbeeinflußt 
und ganz, oder gar nicht!” 

„Könnte ich nur mit ihm ſprechen — nod 
einmal!” dachte Renate. „Shn verföhnen und um: 
ftimmen! Wie wollte ih ihn bitten und beftürmen, 
bis es mir endlich gelänge! Aber er meidet aud) 
mich, er will mich nicht mehr kennen! Sein Born 
gegen mich ift tief! Aber follte meine Liebe nicht 
noch tiefer fein — und meine Macht über ihn ftärker 
— und am ftärkiten unfere gemeinjame Liebe jür 
das bedrängte Vaterland?” 


111. 


Hocdherregt ging Major Schill in feinem Zimmer 
auf und nieder. Das Verhängnis 309 fih um fein 
Haupt zufammen und trieb ihn vorwärts auf der 
gefahrvollen Bahn. 


Er hatte die Nachricht erhalten, daß fein Kund: 
Ihafter Romberg feftgenommen, in Kafjel vors Kriegs: 
gericht geftellt und erfchoffen worden war. Alle dorthin 
beflimmten Briefe und Aufrufe, von ihm felbft und 
feinen Gefinnungsgenoflen verfaßt, waren jomit in 
die Hände der Feinde gefallen und Herr von Küfter, 
der preußiihde Gefandte in Kaflel, aufs drohendfle 
deswegen zur NRechenihaft gezogen worden. Ein 
vaterländifh gelinnter SKavalier, Herr Alerander 
von Bothmar, Neferendar im dortigen Minifterium, 
war auf Kurierpferden zu Schill geeilt, dieje wichtige 
Kunde zu überbringen, zugleih mit dem Auftrag, 
ihn zu Ichleunigem Handeln und Aufbrud zu ver: 
anlaflen. Gleichzeitig war ein Billet aus der nächlten 
Umgebung des Königs in feine Hände gelangt mit 
den Worten: „Der König Ihwantlt, Schill, ziehen 
Sie mit Gott!” 

Don Ofterreih ber drang die trügerifhe Kunde, 
daß Erzherzog Karl die FSranzojen bei Hof geichlagen. 
„Karl und Hof” Tautete die Parole, die der Komman- 
dant von Berlin daraufhin ausgab. 





547 Schwertklingen. 
Gewiß, dies war ein günftiger Augenblid zum 
Losſchlagen. 

Schill nahm die verſchiedenen Blätter, welche 
alle ſo feurige Mahnrufe für ihn enthielten, und 
ſchob ſie in eine Brieftaſche von rotem Marqquin, 
auf welcher in farbiger Seide der preußiſche Adler 
geſtickt war. Auf der erſten Seite ſtanden hinein— 
geſchrieben die Worte: 

„Für den braven Herrn von Schill. 
Luiſe.“ 

Die Königin hatte das für ihn geſchrieben, ihre 
Hand den Adler geſtickt. Stumm blickte Ferdinand 
von Schill nieder auf dieſe heiligen Erinnerungs— 
zeichen, es zuckte weich um ſeine Lippen und er 
drückte das teure Angebinde an ſeine Augen. „Meine 
angebetete Königin, für Dich gehe ich in den Kampf, 
für die Krone auf Deinem Haupte. Ob ich recht 
oder unrecht that — Du wirſt darüber urteilen und 
wirſt es wiſſen, für Dich warf ich freudig Leben 
und Ehre hin!“ 

Immer klarer ward vor ſeinen Augen der 
Weg. Er richtete ſich auf. 

Sein Bediente trat herein und meldete die 
Herren Major von Lützow und Lieutenant Bärſch. 

„Freunde, was bringt Ihr mir?“ redete er die 
Eintretenden lebhaft an. „Bärſch, Ihre Mienen 
erzählen Außerordentliches!“ 

„Jawohl, Herr Major! Soeben eine Stafette 
aus Königsberg! Mein Freund Ribbentrop ſendet 
ſie mir! — Herr von Küſter, unſer Geſandter in 
Kaſſel, hat über Rombergs Feſtnehmung und unſere 
bei ihm gefundenen Papiere nad) Königsberg be 
richtet. Strengite Unterfuhung und Ahndung wird 
natürlich vom Könige gefordert, und — —” er flodte. 

„Run?“ fragte Schill und feine tiefichwarzen 
Augen erweiterten ih. Er wußte, was kommen 
würde. 

Major Lützow nahm das Wort. „Und in den 
nächſten Tagen erhältſt Du Befehl, Dich dem Kriegs⸗ 
gericht zu ſtellen!“ 

Einige Sekunden lang wurde es ſtill im Zimmer 
nach dieſen inhaltſchweren Worten. „Dem Kriegs— 
gericht!“ Schill atmete ſchwer. Der ganze Kampf, 
den ſein Soldatenherz in Wochen und Monaten 
durchgerungen, bis zur fiegenden Entſcheidung, loderte 
noch einmal darin auf. Sollte er ſich unterwerfen, 
die Sache des Vaterlandes im Stich laſſen? Sollte 
er ſich auflehnen gegen die geheiligten Geſetze der 
Subordination? 

Nein, nein, das war keine Auflehnung! Noch 
hatte ihn der Befehl des Kriegsherrn nicht erreicht, 
noch war er frei! Morgen, übermorgen vielleicht 
nicht mehr. Dann war ſeine Sache verloren und 
keiner, das wußte er, würde ſie nach ihm wieder 
aufnehmen. Er aber hatte ſich gebunden, verpflichtet, 
er konnte nicht mehr zurück. Vorwärts denn, der 
Augenblick der Entſcheidung war da! Auf ſeiner 
raſchen Entſchließung, auf ſeines Säbels Schneide 
ſtand jetzt des Vaterlandes Schickſal! 


Schweigend hatten die beiden Freunde gewartet, 
daß er ſprechen würde, ſchweigend den Kampf auf 


Roman von Hans Werder. 


548 


—— ausdrucksvollen Antlitz beobachtet. Jetzt blickte 
er auf. 

„Ich habe mich entſchieden,“ ſagte er langſam, 
„denn es giebt nur eine Entſcheidung. Morgen, ſo 
früh als möglich, rücken wir aus!“ 

„Morgen!“ wiederholte Bärſch faſt erſchrocken. 

Mit kurzen Worten legte Schill ihnen ſeinen 
Gedankengang vor. „Und nun noch Eure Meinung! 
Seid Ihr der Anſicht, daß ich das Rechte thue, und 
daß ich mich auf mein Offizierkorps, auf mein Re— 
giment verlaſſen kann?“ 

„Ohne Zweifel thuſt Du das Rechte!“ rief Adolf 
Lützow mit Nachdruck. „Dein Entſchluß iſt der einzig 
richtige. Gott ſei Dank, daß Du ihn gefunden, aus 
eigener freier Wahl!“ 

„Und die zweite Frage darf wohl ich beantworten, 
Herr Major!“ nahm Bärſch das Wort. „Ob Sie 
ſich auf uns verlaſſen können? Wie auf den Säbel 
in Ihrer Hand!“ 

Schills Augen leuchteten. „Gut — vorwärts 
denn! in Sieg oder Tod! Beſſer ein Ende mit 
Schreden, ala Schreden ohne Ende!*) — — Und 
nun, lieber Bari,” fuhr er nach kurzer Paufe fort, 
„Ihreiben Sie den NRegimentsbefehl für morgen! 
Um melde Stunde meinen Sie, daß wir zum Aus» 
marich fertig fein werden?” 

„Allerfrüheftens um vier Uhr nachmittags, Herr 
Major!” 

„But! Alfo morgen nachmittag vier Uhr fteht 
dag Regiment mit vollem Gepäd zum Ausrüden am 
Hallefhen Thore bereit: Difiziere und Mannicaften 
ericheinen Fomplett! — Und nun bante ih Ihnen, 
meine Herren! — Übrigens — heute abend ift ein 
Bal bei der Gräfin Hapfeld. Sch hoffe, es werden 
viele von uns bort fein, damit von feiner Seite ber 
Verdacht geſchöpft wird!“ 

„Ich bitte gehorſamſt, mich zu dispenfieren, Herr 
Major! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren!“ 

„Gewiß, lieber Bärſch, Sie bilden für mich 
eine ſtete Ausnahme!“ ſagte Schill lächelnd. „Aber 
Du kommſt, Adolf, nicht wahr? Ich will Dich meiner 
Braut vorſtellen! Wir werden hierzu keine Gelegen⸗ 
heit weiter haben! Bärſch, ſenden Sie ſogleich eine 
Ordonnanz an Rochlitz, er ſoll zu mir kommen!“ 

Die Herren entfernten ſich. Nach kürzeſter Friſt 
trat Rochlitz ein. 

„Herr Major haben befohlen!“ 

Sie ſtanden ſich ſekundenlang Auge in Auge 
gegenüber. „Rochlitz, wollen Sie auf Urlaub gehen, 
ſo ſei er Ihnen bewilligt, ſo lange Sie wollen! Aber 
unter einer Bedingung, Sie müſſen ihn ſofort an— 
treten, ſpäteſtens morgen früh Berlin verlaſſen!“ 

Haſſos Augen wurden ſchwarz wie die Nacht. 
„Darf ich fragen, aus welchem Grunde mir Herr 
Major dies Anerbieten machen?“ 

„Haſſo,“ ſagte Schill mit dem warmen Herzens⸗ 
ton, der ſo oft ſeinen Worten eigen. „Außer Lutzow 
und Bärſch, die ſoeben bei mir waren, weiß noch 
niemand von meinem Entſchluß, doch Sie müſſen 


ihn erfahren!“ Er teilte ihm in kurzen Worten die 


Schills Worte. 





549 Schwertklingen. 


Sadjlage mit. „Bärih jagt mir foeben,“ fuhr er 


fort, „ich lünnte mich auf mein Regiment verlaflen 
wie auf den Säbel in meiner Hand! Schon neulich 
betonte ih, daß dies die Hauptbedingung für mein 
Unternehmen fei und die einzige Gewähr für feinen 
Erfolg! Nun weiß ich aber, daß Sie mir Yhre Zu: 
fimmung verfagen, Rohlig — fonft wären Sie 
wohl fon einmal bei mir gemwejen Jeit unjerer 
legten Unterredung! ch tenne Sie! Entweder man 
bat fie ganz oder gar nicht! Darum frage ich noch: 
mals rund heraus: Wollen Sie mit mir kommen, 
überzeugt und gern — dann, das willen Sie wohl — 
find Sie mir mehr wert als eine ganze Schwadron! 
Glauben Sie aber, daß ich unredht handle — nun — 
\o tbun Sie, was Sie wollen!“ 

„Herr Major,” erwiderte Hallo mit tiefem Ernit, 
„& tft mir nicht möglih, eine Handlungsweije für 
rihtig anzufehen, die möglicherweile dem Willen unjeres 
Allerhöchſten Kriegsherrn zumiberläuft! Aber bie 
Stage berührt mich, den Dffizier, nicht, jobald Herr 
Major Yhre Enticheibung getroffen haben! Sch ftehe 
als Soldat Zhres Regiments unter SYbhrem Befehl, 
fomit auch unter der Verantwortung Shres Befehls!” 

„Meines Befehls gewiß!” rief Schill ungeduldig. 
„Aber SZhre Sefinnung bei der Sade! Ach ſagte 
ihnen, daß ich auf diefe den Wert lege!“ 

„Deine Gefinnung, Herr Major, die fennen 
Sie!” rief Hafjo jett fait heftig. „Dennoch jehne 
auh ih den Augenblid herbei, meinen Säbel in 
des verhaßten Feindes Blut tauchen zu lönnen, nicht 
minder als Sie! — Und wollen Sie wirllih das 
Unerbörte wagen, — ich habe zu gehordden, — und 
geborhe mit Freuden, wie nur einer! Sie kennen 
Shre Hujaren, Herr Major! Die Hölle ftürmen wir, 
wenn Sie uns führen!” 

Ein Lädeln ging über Schille Gefiht. „Nun 
denn — ih weiß ja, Hallo, Yhr Wort ift unver: 
brüdhlih! So ftehen wir aljo zufammen auf Tod und 
Leben?” 

„Auf Tod und Leben!” | 

Ein warmer Händedrud befiegelte den erneuten 
Bertrauensbund. 

SHil war allein und wieder verfant er in Ge: 
danfen. „Nun no eins — und das Schwerfte! 
Der Abihied von Dir, Elife! Aber morgen erft! 
Heute darf noch niemand Dich weinen jehen! — Db 
ih Dich jemals wiederfehe? — Schwerlich! — Lacht 
und das Leben, jo ruft uns das Grab!” 


IV. 


„Allo morgen rüden wir aus,” fagte fih Haflo. 
„Dann muß ich heute noch Renate wiederjehen! — 
Mein Gott, vielleicht ift es das lette Mal im Leben!” 
Er zweifelte nicht, fich unter dem Einfluß diejes Be- 
wußtleins leichter mit ihr verfländigen zu fönnen. 

Schon vorher hatte er fich zu dem Entjchluß durd): 
gefämpft, fich endlich wieder mit Renate auszulpredhen 
und darum die Einladung zu dem heutigen Ball bei der 
Gräfin Hatfeld angenommen. Daß fie dort fein würde, 


Roman von Hans Werder. 


550 
wußte er und jchnell war fein Plan entworfen. Er 
fleidete fich vorzeitig an und ging nach der Wilhelm: 
ftraße, wo ber alte Klaus ihn mit einem Ausbrud 
der Freude empfing. Db die Herriaften jchon fort 
feien, fragte er. D nein! Der Herr Oberftlieutenant 
wären erit eben nad Haufe gelommen, müßten fich 
noch anziehen. Das gnädige Fräulein würden aber 
wohl bald fertig fein. 

„Dann jagen Sie ihr, Klaus, ich wäre bier 
und bäte um den Borzug, mit der Herrichaft zu: 
jammen nah dem Palais Hapfeld fahren zu dürfen. 
Aber hören Sie, lieber Klaus, jorgen Sie, daß es 
Mademoifele nit hört — fonft Tommt fie und 
unterhält mi, und dazu bin ich heute nicht auf: 
gelegt! Sie verjtehen mich, alter Freund, ja?“ 

D, wie gut er ihn verfland! Schlau und treu- 
berzig zwinterte er mit den Auglein. „Herr Lieutenant 
fönnen auf mich rechnen!” 

Zange ftand Hafjo allein im Salon und wartete. 
Ein paar Wachsterzen brannten auf dem Tiih und 
erhellten die Dämmerung bes Gemaches mit fladern: 
dem Schein. In quälender Unruhe jchritt er auf 
und nieder. Und jedesmal, wenn er fi herum: 
wandte, warf der Pfeilerjpiegel ihm jein Bild ent: 
gegen. Der dunfelblaue Dolman mit ben gelben 
Schnüren und dem breiten Pelztragen fland ver 
kräftigen, elaftiihen Hufarenfigur ausgezeichnet. Sein 
ſchmales, männliches Geſicht erſchien wie durchgeiſtigt 
von der Erregung, die in ihm ſtürmte. Er ſah 
ſehr gut aus und mochte das auch wiſſen, doch hatte 
er heute keinen Sinn und keinen Blick dafür. 

Schritte nahten ſich der Thür. Unter dem 
dunklen Vorhang erſchien eine ſchneeweiße Geſtalt: 
Renate. Sie war ſchon im Ballanzuge. Ein weicher, 
weißer Mantel lag um ihre Schultern wie eine 
Wolke. 

„Klaus ſagte mir, Sie wären hier — Haſſo — 
Sie wollten mit uns fahren — es iſt ſehr nett — 
Sie waren ſo lange nicht bei uns —“ es ging nicht 
weiter. | 

Hallo verneigte fih tief und jpradh Fein Wort. 
Wo gab es Worte, in die er jein Empfinden hätte 
Heiden Fönnen — den tiefen Grol und bie ver: 
zeihende, unendliche Xiebe, die anbetende Leidenichaft 
und den entjagungsvollen Abjchiedsihmerz! Nur in 
feinen dunllen Augen, die unter dem jchweren Wimper: 
ſchatten zu ihr aufichauten, Ipiegelte fich das alles mit 
berzbewegender Beredjamteit. 

Doch au in ihren Augen fland Zweifeln und 
Sehnen und SHerzeleid genug zu lefen, und dabei 
unverfennbare Wiederjebensfreude. „Hajo,“ begann 
fie von neuem, „ich hätte Sie gern jchon längft — 
um — Berzeihung gebeten — id — id war Jo 
heftig gegen Sie!“ 

„Sie haben mir fehr weh gethan, Renate!” er: 
widerte er weich und leile. „Uber es ift Zhnen ja 
jo leiht, das wieder gut zu machen! Dies eine 
freundlide Wort — ich danke Shnen dafür!” 

Sie war dit an den Tiich getreten, auf dem 
die Kerzen brannten. Shre jchlanten, weißen Hände 
Ipielten nervös mit den Seidenquaflen des Dantels, 
ihre Lippen waren blaß und troden vor Erregung. 





551 Schwertklingen. 

Haſſo ſtand ihr gegenüber und ſein Blick verſchleierte 
ſich in trunkenem Anſchauen des geliebten Bildes. 
Er ſah, daß auch ſie gelitten und ſein Herz zog ihn 
liebeflehend zu ihren Füßen hin, nur ſein feſter 
Wille hielt ihn zurück. 

„Ich möchte mich ſo gern mit Ihnen ver— 
ſtändigen —“ begann ſie abermals mit Anſtrengung. 
„Es war ſo ſchrecklich neulich, Haſſo — ich wurde 
ganz irre an Ihnen!“ 

„Ich weiß es nicht, warum Sie irre an mir 
werden konnten!“ erwiderte er ernſt. „Mein Herz 
und Charakter haben allezeit offen vor Ihnen da— 
gelegen! Ich glaubte, Ihr Vertrauen zu beſitzen, 
Renate, und dasjelbe rechtfertigen zu können!” 

„Aber Ihre Anfichten, Haflo, Ihre Gelinnung,” 
rief fie jegt ein wenig freier. „ch glaubte, wo es 
fih um die Befreiung des Vaterlandes handelte, um 
den Kampf für die beiligften Erdengüter, da würden 
Sie der erfte fein, der Vorfämpfer — an Scdills 
Seite, der Held, mie ich ihn mir erträumt und er- 
jehnt — und nun —“ 

„Und nun?” fragte er. 

„Run wenden Sie der guten Sade den Rüden, 
tadeln den Heldenaufihmwung unferes großen Befreiers, 
Iprehen von heiligeren Pflichten, von Abwarten der 
Befehle, als ob ein Held wie Schill deflen bedürfte — 
hätten fein Vorhaben faft ins Schwanlen gebradt, 
wenn die Begeifterung für unjere gute Sadje nicht 
Ihlieglid doch den Sieg davongetragen. — Das 
meine ich,” fuhr fie fort, da er jchmwieg, „machte mich 
irre an Shnen! Aber nit wahr, lieber Hallo, Sie 
haben Syhre Anficht geändert, Sie ftelen fi auf unfere 
Seite und werden ihn fortan unterflüßen, nicht ihm 
zumider fein!” 

Hallo Ichwieg einige Sekunden, um feine Ge: 
danlen, feine rebelliihen Empfindungen in Sammlung 
zu bringen. 

„Derzeihen Sie, ich habe meine Anfichten eines: 
wegs geändert,” jagte er dann mit Icharfer Betonung. 
„Da es aber die Anfichten über Mannesehre und 
Soldatenpflicht find, um die es fich handelt, fo werben 
Sie niht wünjdhen, Nenate, daß ich diefelben dem 
Einfluß irgend eines Menfhen unterwerfe, am 
wenigften dem Ihrigen!“ 

„Am wenigften dem meinen — aber Haflo, ftehe 
ich denn jo tief in Shrer Achtung,” rief fie faft weinend. 
„Wo ih doch jo unbeichreiblidh viel von Shnen — 
nr womit hab’ ich das verdient, daß Sie mir jo etwas 
agen!” 

„Deine füße Renate —” fagte Hafjo und in 
jeiner Stimme zitterte e8 wie Wellen eines großen 
Stromes, der madhtvoll durd) jein Inneres dahinflutete 
und alle Dämme nieberriß. „Warum ich Ihnen das 
fage? Weil Sie ein Weib find, ein Mädchen, von 
dem ih in joldhen Fragen feine Lehren annehmen 
fann, ohne ihre Nihtahtung dafür zu gewinnen!” 

„Aber ich bin fein thörichtes Mädchen, das nichts 
weiß und verfteht von großen, herrlichen Gefühlen,” 
unterbrach fie ihn leidenjchaftlich, „das nur oberflächlich 
tändeln und jchwaten kann!“ 

„Das weiß ih! Darum eben follen Sie aud 
mich adhten und willen, daß ich ein Mann bin, defien 


Roman von Hans Werder. 


552 


Überzeugung feft fteht wie ein Felfen! Sie follen 
mir vertrauen und zu mir auffehen fönnen, nicht auf 
mich herab!” Der ganze Menjd erbebte unter ber 
Übermacht ſeiner Empfindung. Die Brandung ging 
immer höher und ließ ihn verkennen, daß das ent— 
ſcheidende Mißverſtändnis, welches ſie an ihm irre 
werden ließ, nicht hinweggeräumt war. „Renate, 
Sie wiſſen — ach, Sie wiſſen, wie grenzenlos ich Sie 
liebe! Sie ſind das Kleinod, der Abgott meiner 
Seele! Sie wiſſen auch, daß ich das Höchſte auf 
Erden von Ihnen verlange! — Ich will heute nicht 
um Sie werben, ich habe ja nichts Ihnen zu bieten 
als meine anbetende Liebe, beſitze nichts als meinen 
Säbel! Ich will heute nur wiſſen, daß auch Sie mich 
lieben und daß ich hoffen darf, Sie einſt, wenn ich 
Ihnen mehr zu geben habe, die Meine nennen zu 
können!“ 

Die Seine werden, — ihn lieben, den ſie nicht 
mehr ihrer Liebe für würdig hielt? 

„Nein — niemals!“ klang es ſtolz und heftig 
von ihren Lippen. 

Es war als ſprang eine Saite entzwei, die in 
wundervollem Ton geklungen und nun dahin war 
für allezeit. Aber er konnte es noch nicht glauben. 
Sein Herz ſtand ſtill und faßte nicht, was ihm wider— 
fuhr. „Was ſagten Sie?“ fragte er mit heiſer ent—⸗ 
ſtellter Stimme. 

„Haſſo — nein, lieben kann ich Sie nicht! 
Nur einem Helden wi ih angehören! Nicht Ihnen!“ 

Sie hatte e8 wirklich geiprodhen, und er battle 
es gehört. 

Regungslos, aufreht ftand er da und fühlte, 
daß es ihm dur und durch ging wie ein fcharfer, 
Ipaltender Säbelhieb. Er hatte genau dasjelbe jchon 
einmal empfunden — als Prinz Ludwig vor feinen 
Augen erichlagen ward, und er an feiner LXeiche zu: 
fammenbrad. Da war ein Blutftrom über fein Ge: 
fiht gefloffen. Mit irrer Bewegung griff er fi 
plößlich an die Stirn und betrachtete dann die Hand — 
fein Blut daran! Was war ihm denn eigentlich ge: 
ihehen? Wie damals das Schladhifeld fich vor feinen 
dunfel werdenden Augen im Kreife herumgedreht, jo 
jegt das Zimmer. Nur daß er nicht niederbrady wie 
dort, fondern ruhig ftehen blieb. 


Nenate ftarrte ihn an vol Entjegen. Sie hatte 
vollftändig das Gefühl, einen Mord begangen zu 
haben und irrte fich darin nicht. Sie wollte fprechen, 
irgend etwas widerrufen, gutmachen von dem, was 
fie gejagt. Aber fie war jelber wie gelähmt und 
ftarrte, feines Wortes mädtig, angitvoll nad ihm Hin. 


Dann Inartte leije die Thür, Klaus jchob vor: 
fihtig den Kopf herein. „Der Herr Oberftlieutenant!” 

Dieſer kam aljobald hinterdrein, begrüßte Haflo 
erfreut und herzlich, entichuldigte fich bei feinem Töchter: 
lein, daß er fo lange habe warten laffen und mahnte 
zu jchnellem Aufbrud. 

Hallo fa ihr im Wogen gegenüber und jah zu, 
wie die Lichter von der Straße ber hin und wieder 
ihr blafjes Gefiht mit flüchtigem Glanz übergoffen. 
Er dadıte an gleichgültige, fern abliegende Dinge, 
die fi in wirrer Folge in jeinem Kopf überhafteten. 


553 


Schwertflingen. Roman von Hans Werber. 





551 
den Saal. 


Auf etwaige Anreden des DOberftlieutenants antwortete 


er mit jcharf vernehmliher Stimme ja oder nein. 

Endlich hielten fie vor dem hellerleuchteten Felt: 
baufe. Hallo bob Nenate aus dem Wagen, mit einer 
Gleicgültigfeit des Ausdruds, als fei fie von Stein, 
oder er. E - 

Mie entjeglih war dieler helle Lichterglan; und 
alle die lärmenden, gejhmüdten Menfchen. Und nun 
gar die Tanzmuſik, dieſe lachenden, fchwermütigen 
Walzertöne, wie unerträglich gingen fie durch Herz 
und Nerven. Glücicherweife war Nenates erfter 
Tänzer Albert Wedel, da hatte fie wenigitens keine 
Mißdeutungen ihrer Stimmung zu fürdten. Der 
junge Kavalier war lebhaft und geipradig Mit 
Bewunderung betrachtete er die friichen, duftenden 
Veilchenfträuße, deren dunkler Sammet die einzige 
Unterbrehung in dem Weiß ihres Anyuges bildete. 
„Wo haben Sie die mwunderfhönen Beildden her?” 
fragte er, den Wohlgeruh einatmend. 

„Sa, nicht wahr, das finde ich auch!” jagte fie 
darauf, an ihm vorbei ins Xeere ftarrend. 

Albert lächelte über die Zerftreutheit, die er nie 
lonft an Nenate gefannt. Er 309 fie in feinen Arm 
und flog mit ihr dur) den Saal. Dann führte er 
fie aus dem Gebränge fort in das Nebenzinmer, zu 
einem bequemen Seflel. „Ruben Sie fih cin wenig 
aus!” fagte er freundlich. 

„Rein, nein, ich bin ja nicht müde! Das nüßt 
zu nichts! — Aber do — einen Moment — ja — 
Sie haben reht! Ach weiß nicht — e8 ift alles fo 
londerbar!” 

„3a, Tagte der junge Offizier in weich ge: 
dämpftem Tone, „ich finde e8 auch! Die Mufit macht 
mich jo traurig, ich) mag fie gar nicht hören! — Mir 
it, als wäre heut der leßte vergnügte Abend meines 
Lebens! Und das wäre doch Ichade!” 

„Am Gottes willen, Herr von Wedel! Sie mit 
Shren neunzehn Sahren!” 

„Ih bin nun bald zwanzig!“ fagte er tief 
atmend, „aber das thut ja nichts dazu! Als Soldat 
— als Hufar — eine einzige Kleine Bleitugel, heut 
oder morgen — e8 jchabet gar nichts, wenn man fid) 
das zumeilen KHarmadt!” 

Renates große Augen hefteten fi auf ihn mit 
einem ihm nicht verftändlichen Ausdrud. Wenn jie 
nun auszogen, die Schillihen Hufaren — und bieler 
Ihöne, lebengfrohe Knabe blieb draußen auf blutiger 
Walftatt, jene Bleikugel im Herzen, von der er 
Iprad, — und aud Schill fam nicht wieder — ad — 
und fie hatte gemahnt, getrieben zu dem Auszug! 
Schaudernd jchloß fie die Augen, ein leifes Ächzen 
fan von ihren Lippen! Nein, nein — fie hatte ja 
nur nebenan gejejlen und gelaufht und zugejauchzt — 
fie fonnte feine Schuld treffen. „Wir wollen in den 
Saal zurüdgeben,” fagte fie. „Es ift uns beiden 
beiler, wenn wir nicht unjern eigenen Gedanken über: 
laflen bleiben!“ 

Das Shillihe Dffizierforps war falt vollzählig 
vertreten. Er jelbft, der Kommandeur, hatte fich mit 
Lügomw ein wenig verjpätet. Seine Braut fah jchon 
ungeduldig nah ihm aus. Als er dann aber er: 
Ihien, ging es wie ein freudiges Aufraufchen durch 


Romansfeltung 1896. 


„Hurra, Schill!” Selbft hier grüßte ihn 
der frohe Ruf — von den Xippen ernfthafter Männer, 
wie aus den Neihen der Tangenden. Ach, fie alle 
mochten fich fein edles, ritterliches Bild wohl ins 
Gedähtnis prägen! Sie Jollten ihn nimmer wieder: 
jehen in biefem Leben! 

Schill war ruhig und heiter, wie man ihn lange 
nit gelaunt. Er hatte die Brüde Hinter fih ab: 
gebrohden — daran lag e&. 

Unter dem bunten Treiben bewegie Renate fi 
heute teilnahmlos, wie abwejend. Suchend wanderten 
ihre Blide durch den Saal. Sie hatte ja verloren, 
was ihrem jungen Dafein Glanz ıumd Licht gegeben 
— ohne felber genau zu willen, was e8 war! Nur 
den Berluft empfand fie wie eine Taffende Lüde 
im Herzen, ein trofilofes Wehgefühl. Ihre Augen 
folgten Hafjo immer mit dem fuchend fragenden Blid. 
Er tanzte, |pradh) und lachte. Es lag etwas Wildes 
in feiner Art und Weile, das fie fröfteln made. 

Plöglih fand er vor ihr. „Snädiges Fräulein, 
Sie müflen mir jhon die Gnade erzeigen, mit mir 
zu fanzen — es würde jonft zu auffallend fein!“ 

Gie nidte ftumm und folgte ipm. Schredlidh war 
ihr die Empfindung, fie hätte laut weinen mögen — 
jo laut, um die Mufil zu übertönen. 

„Hallo — verzeihen Sie mir!” brachte fie endlich 
mübjam hervor. Er zudte zufammen bei dem Wort 
— fie fühlte es in jedem Nerv. Doch antwortete 
er nidt. 

Als er fie auf ihren Pla zurüdgleiten Tieß, 
blieb er noch einen Augenblid ftehen. „Was joll 
id Ahnen verzeihen? Daß ih Fein Held bin? 
Darüber habe ich mit mir felber abzurechnen, nicht 
mit Shnen!“ 

„Aber Hallo —” ftammelte fie, „ich dente noch) 
immer, wir haben uns mißverftanden!” 

Er bob den dunklen Blid zu ihr auf. Der 
fonft jo weiche, feuchte Glanz darin hatte etwas von 
dem Geflimmer feiner Eiskörner in jonnentlarer 
Winterluft. „Sch habe Sie jedenfalls nicht mißver- 
ftanden!” fagte er mit harter Betonung. Eine 
böfliche Verbeugung — und ehe fie etwas ermwibdern 
fonnte, war er fort. 

Seht trat Schill zu ihr. „Nun, meine fleine 
Bundesgenoffin? Sie jehen heute fo ernft und ab: 
Iprehend dem bunten Treiben zu!” 

„a!” jagte fie mit trodener Kehle. 

Er 309 fih einen Stuhl an ihre Seite. Seine 
Braut tanzte eben mit Adolf Lüßomw, aljo war er 
für den Augenblid frei. Es war ein günftiger Plag 
— niemand fonnte laufchend Hinter ihnen ftehen, 
niemand fih unbemerkt nahen. Renate benugte den 
Moment. 

„Herr von Schill — wenn es zum Ausmarſch 
kommen ſollte — werden Sie Haſſo beurlauben?“ 

Er lächelte. „Nein, ich bot es ihm an, aber 
ich hatte zu thun, nur baldmöglichſt mein Anerbieten 
zurückzunehmen, wenn ich nicht noch mit meinem 
eigenen Lieutenant Händel bekommen wollte!“ 

„Warum —? Ich verſtehe das nicht!“ erwiderte 
Renate beunruhigt, gereizt. „Er hat ja doch ſeine 
Anſicht nicht geändert!“ 


IV. 39 


555 Schwertklingen. 


— — —— — — —— z — 


Der Major feufzte unwillkürlich bei dieſen Worten. 
„Nein, Fräulein Renate! Ein Haſſo Rochlitz ändert 
ſeine Anſicht nicht von heute auf morgen, ſonſt würde 
ſie mir nicht ſo wertvoll ſein!“ 

Renate verſtand ihn auch jetzt noch nicht, und 
das troſtloſe Gefühl der Leere überkam ſie mit er— 
neuter Pein. Wie konnte Haſſos Anſicht ihm ſo 
wertvoll erſcheinen, da ſie der feinen ſchroff entgegen⸗ 
ſtand, eine tiefe Kluft ihre Wege voneinander 
trennte? 

Das Verſtändnis für Schills Worte war ihr 
aufbehalten für jpätere Tage und für größeres Herze: 
leid, als fie jegt ahnte! 

„Fräulein von VBelbegg,“ Tagte Schill jegt leiſe, 
ih zu ihr hinneigend, „wer weiß, ob wir nod) ein: 
mal ungeftört zufammen prechen können, ehe — bie 
Entſcheidung eintritt! X möchte Jhnen noch danten 
für al Ihre Freundlichkeit und Teilnahme! Und 
wenn ich fort fein jolte — vielleiht für immer, 
wer fann es wiflen — dann bewahren Sie meiner 
Elife Zhre Freundfchaft und Liebe — und mir ein 
gütiges Gedenten!” 

„D, Herr von Schill,” flüfterte fie, Thränen in 
der Stimme, „nie werd’ ich aufhören, meinem Stern 
dafür zu danten, daß mir die Freundichaft unjeres 
Sreiheitshelden zu teil werden durfte! Und Shre 
Elife will ich lieben wie eine Schweiter, immer, immer!” 

Er drüdte mit treuherziger Wärme ihre Hand 
und 308 fie ritterlih an feine Lippen. Dann ent: 
fernte er fi, zu feiner Braut zurüdlehrend, und 
fie jah ihm nach mit jenem Weh im Herzen, durch 
welches zuweilen in geweihten Augenbliden dem 
Menihen bag kommende Schidjal fih ahnungevoll 
voraus verkündet! 

Das Felt war zu Ende. Renate ging an ihres 
Vaters Arm die Treppe hinab, nur leicht in ihren 
Mantel gehült, den Kopf frei, denn ein laumarmer 
Hauch der Frühlingsnadht wehte ihr entgegen. 

Auf der Treppe ftanden die Schillichen Offiziere, 
tnöpften ihre Mäntel zu und gingen langjam, 
plaudernd, jäbelrafjelnd hinunter. Höflih machten 
fie den Herablommenben Pla und grüßten, Abjchied 
nehmend, ein Teßtes Mal! Albert Webell aber eilte 
ihnen nad und trat an den Wagenihlag. „Fräulein 
Ktenate, jo kommen Sie nicht fort — habe mid) 
Shnen noh gar nicht empfohlen! Darf ih mid 
morgen nach Ihrem Befinden ertundigen? Das beit 
— nein, morgen haben wir Felbdienftübung! Nun 
— Sobald ih kann!” 

Sie beugte fih im Wagen vor und drüdte ihm 
mit warmer SHerzlichkeit die Hand. „Gute Nadt, 
Herr von Wedel, Bott behüte Sie!” Der Segensg- 
wunjdh drang ihr aus tiefftem Herzen. 

Die Wagenthür ward geichloffen. Noch einmal 
dur das Fenfter zurüdichauend, fah fie Haflo ftehen 
wie in einem Rahmen, den bdüftern Blid auf fie ge: 
beftet mit dem Ausdrud hoffnungslofen Schmerzes, 
der nur noh Abjihied nehmen, nichts mehr für 
dDiejes Leben erbitten will. 

Als der Wagen fortrollte, warf fih Nenate 
aufihluchgend an ihres Vaters Bruft. „Vater — 
morgen zieht er mit ihnen aus — Sie werden es 


Roman von Hans Werber. 


556 





jehen! Felbdienftübung, jagt Wedel — ich weiß es, 
fie gehen fort, und fommen alle nit wieder! Wir 
haben fie in den Tod gefandt!” — 

Hafjo ging Fi und allein in fein Feines Duartier. 
Es war die lebte Naht. Morgen zogen fie hinaus, 
vielleicht auf Nimmermwieberlehr. Er öffnete das 
Tenfter und fchaute hinaus. Es war fo fill auf 
den Straßen, jo ftil an dem fternllaren Himmel. 
Ein jhwaher Lichtihein ftieg weißlid im Oſten 
empor. Die Welt hlummerte dem Frühlingsmorgen 
entgegen. Gab es denn no Frühling auf Erden? 
Er ftredte die Arıne aus und ließ fie wieder fintlen. 
Die Betäubung, die ihn bisher umfangen gehalten, 
wi von ihm. So war er damals nah der Saal- 
felder Schlaht in dem Bauernhäuschen zum Be- 
wußtjein erwadt, und ba mit ihm zugleich der 
Schmerz, der unerträgliche! Konnte denn ein Menjchen- 
herz zum zweiten Male fo jein ganzes Hoffen, Xieben, 
feines Dajeins Anhalt zufammenbreden fehen, und 
weiter Ihlagen? — Er fant auf einen Stuhl, warf 
beide Arme auf das Fenfterfims und ließ den Kopf 
darauf finten. Wie war er jo glüdjelig gemefen, zum 
erften Mal in feinem ganzen Zeben, und fo kurze, kurze 
Zeit! — Nun war das Glüd zerbrocden, jeine Jugend 
ihm entwertet und das Leben öde wie ein Wüften- 
thbal. Dies Bemwußtjein ward jest ar und deutlich 
in ihm; der Schmerz preßte ihm das Herz zulammen 
mit faft förperlid fühlbarer Dual. Er flieg ihm 
brennend heiß in die Augen hinauf, als mollte er 
ihnen Thränen erprefien. Aber fie famen nicht. Er 
batte ja jeit vielen jahren das Weinen verlernt! 
Zange faß er fo, und fein heißes, junges Herz rechnete 
ab mit dem Jugendglüd, das ihm nur einmal ge 
lächelt und ihn betrogen. Ein leifes Ächzen nur 
verriet, was in ihm vorging. 

Endlich erhob fih Hallo wieder. Dabei Ichlug 
Hirrend fein Säbel auf den Boden. Er z0g ihn 
aus der Scheibe, ließ die blante Klinge im Sternen: 
Ichein funfeln und betrachtete fie, ftumm, gedanfen- 
vol. Dann drüdte er feine warmen Lippen auf 
den falten Stahl. „Hurra, du Eifenbraut!” 


V. 


Am 28. April 1809 nachmittags um vier Uhr 
ritt das Zweite Brandenburgiihe Hujarenregiment 
mit felddienjtmäßigem Gepäd und unter Elingendem 
Spiel, geführt von jeinem Chef und Kommandeur, 
dem Major von Schill, zum Hallefhen Thor hinaus. 
Eine fröhlide Schar Zufhauer, alt und jung, be 
gleitete wie gewöhnlich die Helden von Kolberg — 
alle Häupter entblößten fihd — „Hurra, Schill!” Der 
freudige Zuruf Ichallte ihm von allen Seiten entgegen. 
Er grüßte und dankte nach rechts und links, freundlich, 
bejcheiden, wie immer. 

„Nie wieder werd’ ich das hören!“ Er mußte 
es ganz genau. Nie wieder jah das ihm zujauchzende 
Berliner Bolt ihn und feine tapferen Hufaren! 

Auf der Stegliger Feldmark ließ Major Schill 
fein Regiment balten und ein Biered bilden. Mit 
flarer, volltönender Stimme redete er dasjelbe an. 


557 


„Kameraden! Der Augenblid ift gelommen, um 
die Unterdrüdung und Schmadh bes Baterlandes an 
dem verhaßten Feinde zu rädhen. Unfer Land hat 
ber franzöfifche Thronräuber in Unglüd und Jammer 
geftürzt, alle Nechte der Menjchheit unler feinen 
ehernen Füßen zertreten. Wie Yhr alle wißt, bat 
er den fpanifchen Thron umgeftoßen, basjelbe Schid: 
fal bat er au unferem preußiihen Königsthron 
und KRönigshaufe zugedadt. Aber nie” — feine 
Stimme hob fi in tief aus ber Bruft quellenber 
Bewegung — „nie Joll dem verräteriihen Tyrannen 
jein fhändliher Plan gelingen! Ofterreih, Spanien 
— Deutihland — Tirol — jedes brave Herz fteht 
gegen ihn in Aufruhr! Wir Preußen dürfen nicht 
zurüchleiben! Es gilt für das Vaterland, für den 
geliebten König, für unfere angebetete Königin! Ich 
weiß — ihr Segen geleitet uns! Diejes Pfand ihrer 
Gnade für mid — jebt ber, Kameraden — ift mir 
Bürgihaft dafür!” — Er zeigte ihnen die Fleine, 
rote Brieftafhe, die Worte, die der Königin Hand 
darin gejchrieben. „Sind einige unter Euch,“ fuhr 
er fort, „die nicht gelonnen, mein freigewähltes 
Schidjal zu teilen, die mögen nad Berlin zurüd: 
fehren ohne Feindfhaft no Vorwurf! Dder —” 
jein Schwarzes Auge glühte auf in zündendem Feuer 
— „geht Ihr alle, alle mit mir, freudig und frei- 
willig, mit Gott, für König und Vaterland — zum 
Siegen oder Sterben?!” 

„Sa, alle, alle!” Und ein braufendes Hurra 
antwortete ihm. Offiziere und Hufaren zogen Elirrend 
ihre Säbel und jhmwuren dem geliebten Führer, zu 
ihm zu ftehen in Not und Tod — zum Siegen oder 
Sterben. Mit lautem Tujch gaben jchmetternd bie 
Trompeten ihren jubelnden Beifall zum heiligen 
Gelübde! — — 

Bei Baumgartenbrüd bezog das Kleine Korps 
fein erftes Bimal. Hell fladerten die MWachtfeuer 
durh das Dunkel, fröhlich klangen die Lieber ber 
Huſaren durch die Stille der Naht. Schill hordte 
darauf, den Kopf in die Hand geftügt, während das 
Feuer mit rotzüngelnder Glut fein ernftes Antlig, 
\eine rubende Geftalt beleuchtete. Seht, da das Un: 
widerruflihe gejhehen — wuchs die Verantwortlich 
feit riefengroß vor feinen Augen empor. 

Sn feiner Nähe jaßen die Schwadronsführer 
und ber Regimentsadjutant zujammen, tranten, 
ladhten und unterhielten fid. Er war jo gern Jonft 
als einer der Shren harmlos in ihrer Mitte. Heute 
aber konnte er nicht — das Herz war ihm jchwer. 

Eine plöglide Bewegung, Geräufh und fi 
näbernde Stimmen ließen ihn aufjehen. Einer ber 
Offiziere fam raid auf ihn zu. „Herr Major von 
Zepelin vom Leib-Sinfanterieregiment!” lautete Die 
Meldung. 

Schill erhob fih und ging dem Anfömmling 
entgegen. „Ah, Herr von Zepelin — melde ange: 
nehme Überrafhung!” jagte er lahend. Er wußte 
genau, was jener ihm bradte, und jede Spur nad): 
denllider Weichheit war von ihm gemwichen, jeder 
Zug feines Gefichte verriet feurige Entichloffenbeit. 

„Ih muß um Entiehuldigung bitten wegen ber 
Ipäten Störung!” fagte Bepelin. „Käme ich aus 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 


558 


eigenem Antriebe, fo gäbe e& nur ben einen Grund, 
um mid Shrem courageufen Korps als Freiwilliger 
anzufchließen! Leider aber fomme id auf Befehl 
Seiner Ercellenzs bes Gouverneurs von Berlin, 
Generals von Leftocg! — Darf ich Sie einen Moment 
allein fprechen, Tieber Schill?” 

„Wenn es jein muß, gewiß! Lieber wäre es 
mir, meine Offiziere hörten alle mit an, was wir 
zu verhandeln haben!“ 

Die Dffiziere zogen fich zurüd‘, die beiden Herren 
blieben anfangs bei dem Feuer ftehen, gingen dann, 
eifrig Iprechend, auf und nieder. ZBepelin legte dem 
Hularenlommandeur den Befehl des Gouverneurs 
vor, Sofort mit dem ganzen Regiment nad Berlin 
zurüdzufehren. S$eder perjönlihen Stellungnahme 
enthielt er fih, denn feine Überzeugung ftand auf 
jeiten der patriotiihen Befreiungspartei. Schill 
lehnte das Anfinnen rund und entjchieben ab. „Die 
Stimme des Volkes hat mich erwählt und die Auf: 
gabe, welche ih übernommen, ift mir heilig! Nichts 
tann mich jegt noch zu Ihwächlicher Umfehr bewegen!” 

„Run, jo jei Gott mit Shnen!” erwiderte Zepelin. 
„Brehen Sie uns Bahn, wir alle warten nur auf 
den Moment, wo wir Ahnen nachfolgen können!” 

Er verabichiedete fih und ging. Schill teilte 
feinen Offizieren bas Gefchehene mit, und fie alle waren 
mit feiner Enticheibung einverftanden. Ein Rüdwärts 
fonnte es nicht geben. 

As Schill zu Jeinem Feuerplag zurüdkehrte, 
ah er Hallo dort ftehen, in tiefe Gedanken verfunten. 
Bei der Annäherung des Kommandeurs fchrat er 
auf und wollte fich entfernen, doch biejer legte ihm 
die Hand auf die Schulter. 

„Rohlig,” Tagte er halblaut, „keiner hat mir 
beute freudiger zugeftimmt als Sie! Jh hörte hr 
Hurra und Hhren Zuruf vor allen andern. Unb 
doch jehe ih, Sie find nit, der Sie jonft waren! 
Alles Leben ift von Yhnen gewihen! Wie fol ich 
mir das deuten?” 

Hallo Ichaute auf und jah ihm gerade in die 
Augen. „Gewiß, Herr Major, ich bin nicht, der ich 
jonft war. Aber daran find nit Sie jhuld! Auch 
mit der Marfchordre des Königs in der Tajche würde 
ih nicht anders fein! m Gegenteil, Sie fünnen fi 
für unfjer Unternehmen feinen befjer geitimmten 
Gefährten denken als mich, der auf der Welt nichts 
mehr zu gewinnen und zu verlieren hat!“ 

„Kun, Hallo,” rief der Major, fait erjchredt 
dur Diele Worte und den harten Ton, in bem 
fie geiprocdhen worden, „ein Menſch in Ihren Jahren, 
dem das ganze Leben ladht — Glück und Liebe und 
Abenteuer —” er brady plöglich ab in dem Gefühl, 
das Rechte nicht getroffen zu haben. Hallo jchwieg. 
Er konnte fih nicht ausfpredhen. Wer feine feltiam 
freublofe Kindheit und Jugend, die Einjamleit feines 
Herzens nicht Tannte, war nicht imftande, ihm nad 
zufühlen, was ihm widerfahren. 

„Sawohl, Herr Major, das Abenteuer!” fagte er 
endlich mit furzem Lachen, „aber ein anderes, als Sie 
mir eben verheißen! Zu dem jollen Sie mid) führen!” 

„Unfinn — es giebt noch Luftigere für Sie!“ 
rief Schill, „wenn Yhnen au jet eine Hoffnung 





559 Beiblatt der 
fehlgeichlagen ift — mas ich übrigens noch nicht recht 
begreifen fann — ein Kerl wie Sie braudt deshalb 
nicht den Kopf hängen zu laflen!” 

„Ih laß ihn aud nicht Hängen! Drei Dinge 
bab ih auf der Welt, die mir Freude machen: 
Mein Pferd, meinen Säbel und meine Soldatenebhre 
— als Schilliher Hufar! Das ift genug, meinen 
Sie nit au?” 

„Run ja, für den Augenblid ift es genug — 
ih bin einverftanden! Will nur, daß Sie wieder 
vorwärts bliden! 
zu wünfhen für Sie, wohin Sie jhhauen!” 


Deutihen Roman⸗Zeitung. 





560 


nah Deffau und Bernburg. Bon hier aus entjandte 
Schill verihiedene Kommandos nah allen Richtungen 
hin. Der Lieutenant von Hagen unternahm mit 
feiner Schwabron einen Streifzug bis nad Goslar, 
von wo er Pulver, Kugeln und einige ausgeräumte 
weitfäliihde Kaflen mitbrachte. Wejentlide Erfolge 
jedoch hatte der Schillihe Zug bisher nicht zu ver- 
zeihnen. Wohl fchlugen ihm freudig die Herzen 
entgegen und marme Sympathien in den unter: 
drüdten Landen begrüßte ihn überall. Hie und da 


Cs giebt noch zu gewinnen und | au gefellten ſich Wreimillige zu ſeinem Korps, 


 Nefruten wie Offisieree Doh ein Aufruhr aller 


„Ih weiß nur eins: Einen fröhlichen Reitertod _ Herzen und Gemüter, ein freudiges zu den Waffen 


auf grüner Heide — als Scilliher Hufar!“ 

Schill hatte Ichon oft jolde Rede gehört — 
aber diefe hier Hang verzweifelt ernfthaft in ihrer 
refignierten Bitterfeit. 
Stimmung!” jagte er bejorgten Tones. 

„Tücht gut zum Leben, Herr Major, aber jehr 


„Hallo — das ift feine gute 


greifen und mit ihm Losflürmen auf den Feind — 
| fo wie es Schill von allen fundigen Seiten prophezeit 
war, davon fand er nirgend eine Spur. 

Schwer nieberichlagend wirkte dieje Erkenntnis 
auf ihn. Sollte e8 dennoch zu früh gemwejen fein für 


| den Nuf zur Erhebung — die Saat im Volle nodh 


gut zum Sterben! — Sie follen fchon zufrieden |, nit reif für die große Stunde der Befreiung? 


mit mir fein!” — — — 
Die Hularen zogen weiter, ins Land hinein — 
über die fächfifche Grenze, an Wittenberg vorüber, 


Düftere Ahnungen beichlichen fein Herz. E8 war ihm, 
als zögen bie Schlingen eines jchweren Berhängnifies 
fih dichter und fefter um ihn zulammen. 


(Fortjegung folgt.) 





Beiblatt der Dentſchen Roman-Zeitung. 


‚srinnerung. 


Die Märchen hörte einft id gar zu gern, 
Und Hab’ fie faft vergeflen! 

Dod) manchmal funkelt’3 wie ein Stern 
Durd Finfterniffe, unermefien! — 


Ein Laut, wie ihn die Mutter fprad), 
Wird leis in meiner Seele wad, — 
Und langfamı tajtet die Erinnerung 
Dem Nufe in die Traummelt nad. — 


Erich Sqhwartz. 


Lin pädagogiſcher Brief: 
Von Adolf Wilhelm Ernfl. 


„Viel zu wenig geſchrieben und geſprochen wird von 
Kindern und über Kinder. Gegen ein Buch über Kinder— 
erziehung erſcheinen zwölf über Pferdedreſſur! Und die 
Kinder ſind doch das Heiligſte im Leben. Ein jedes Kind 
iſt ein Pfandſchein für den Anteil, den der Menſch im 
Himmel empfängt,“ behauptete einmal der Ihnen bekannte 
humoriſtiſch⸗ſatiriſche Dichter M. G. Saphir, der auch ſeine 
ernſten Augenblicke hatte. Wenn nun auch ſeine Klage über 
den Mangel an Büchern, die ſich mit der Erziehung befaſſen, 
in unſeren Tagen nicht mehr in ihrem vollen Umfange be— 
rechtigt iſt, da kein Gebiet der menſchlichen Geiſtesbethätigung, 
wie die Statiſtik beweiſt, eine derartig hohe Anzahl Bücher 
auf den Marft bringt, wie gerade die Pädagogik (die Wiffen- 
idyaft von der Erzichung), fo läßt fid) audererjeits cin fühl: 


— —— 


barer Mangel an guten volkstümlich gehaltenen Schriften 
erzieheriſchen Inhalts nicht leugnen. Haben Sie ſelbſt doch, 
die Sie ein ſo warmes Intereſſe für das Wohl unſerer her⸗ 
anreifenden Jugend beſitzen, über einen derartigen Mangel 
geklagt, und giebt es wie Sie doch Tauſende von Müttern, 
die ſich gern an der Hand volkstümlicher Aufſätze über ihre 
wichtigſte Lebensaufgabe, die Kindererziehung, unterrichten 
möchten, und die ſich vergebens in der Hochflut der alljährlich 
erſcheinenden Bücher nach derartigen Hilfsmitteln umſehen. 
Ich weiß deshalb die Ehre wohl zu ſchätzen, daß Sie mich 
zu Ihrem pädagogiſchen Ratgeber ernannten, und nach 
beſtem Wiſſen und Gewiſſen werde ich Ihnen über die 
Jugenderziehung, der mein Leben geweiht iſt, meine Ge⸗ 
danken und Erfahrungen mitteilen. 

„Über Erziehung ſchreiben, heißt beinahe über alles auf 
einmal ſchreiben,“ ſagt Jean Paul. Dieſes bedeutſame Wort 
kommt mir in den Sinn, wenn ich Ihre Aufmerkſamkeit für 
heute auf den Zuſammenhang lenke, der zwiſchen Schule 
und Haus waltet. In der That: Schule und Haus ſtehen 
miteinander in ſo inniger und lebhafter Wechſelwirkung, 
ſenden ihre geiſtigen Fühlfäden eins zum andern ſo zahlreich 
und ſo häufig aus, kurzum: beeinfluſſen ſich in ihren päda— 
gogiſchen Beſtrebungen ſo ſehr, daß die junge Menſchenpflanze 
nur in dem Boden eines guten Einvernehmens zwiſchen 
Eltern und Lehrer die eigentlichen Nähr- und Kraftwurzeln 
für ihre gedeihliche Entwicklung finden kann. Es iſt dieſe 
Wahrheit ſo einleuchtend und allbekannt, daß es hieße, 
Waſſer ins Meer ſchütten, wollte man mit Hilfe eines ge⸗ 
lehrten Rüſtzeuges die Unwiderlegbarkeit dieſer Behauptung 
nachweiſen. Andererſeits zeigt dieſe Wechſelwirkung aber 
auch eine Vielſeitigkeit ihrer zu Tage tretenden Erſcheinungen, 
daß ich mich — eingedenk des oben erwähnten Wortes Jean 





561 


Pauls — für heute beſcheiden muß, aus der Fülle der hier 
auftauchenden Fragen eine herauszugreifen, deren Wichtigkeit 
wohl unſer Nachdenken anregen kann. 

Sie, geehrte Frau, der ſich überreiche Gelegenheit 
geboten hat, einen vollen und tiefen Blick in ſo manches 
Familienleben zu thun, werden mehr als einmal die Er— 
fahrung gemacht haben, daß Mütter ihren Kindern die 
Schule, welche die Kleinen in Kürze beſuchen ſollen, als eine 
Zwangs- und Beſſerungsanſtalt hinſtellen, als eine Art 
Schreckgeſpenſt an die Wand malen, um das Kind zu augen⸗ 
blicklicher Sittſamkeit zu bringen, nachdem alle übrigen 
mütterlichen Erziehungsmittel fehlgeſchlagen ſind. Somit 
bildet dieſer drohende Hinweis bei manchen Müttern — und 
nicht allein bei ſolchen aus den unteren Volksſchichten, wie 
ein Uneingeweihter glauben ſollte — den letzten Schluß ihrer 
pädagogiſchen Weisheit. Sie glauben damit wunder was 
für einen Trumpf ihrer Erziehungstüchtigkeit auszuſpielen, 
um den Kleinen das ſittliche Gewiſſen zu ſchärfen, und be⸗ 
denken in ihrer geiſtigen Kurzſichtigkeit nicht die in das 
Innenleben des Kindes tief und gewaltſam eingreifenden 
Schäden, welche mit Naturnotwendigkeit einer derartigen be⸗ 
dauernsſswerten Handlung entkeimen; ſie klammern ſich in 
ihrer pädagogiſchen Hilfloſigkeit an den Augenblickserfolg, 
der ſich ja auch meiſtens einzuſtellen pflegt, allein ſchon des— 
halb, weil die vor dem kindlichen Geiſte heraufbeſchworene 
Vorſtellung von der Schule durch den Reiz der Neuheit wirkt 
und die kindliche Einbildungskraft in Thätigkeit verſetzt. 
Es berührt ſich die Erziehungsart in ihrem Weſen und ihren 
ſchädlichen Folgen in mancher Hinſicht mit der vielleicht noch 
häufiger geübten, den Willen fehlerhafter Kinder dadurch zu 
brechen und in die richtigen Bahnen zu lenken, daß man 
ihnen auf künſtliche Weiſe Furcht und Angſt vor unſinnigen 
Phantaſiegebilden („ſchwarzer Mann“ u. dergl. m) einflößt. 
Eine ſolche widernatürliche Beeinfluſſung des Kindes rächt 
ſich grauſam. Vergiftet man mit derartigen aus der Rumpel⸗ 
kammer des düſterſten Mittelalters geholten Wahnvor—⸗ 
ſtellungen die für Eindrücke äußerſt empfindſame zarte 
Kindesſeele, ſo würde, wenn nicht zum Glück früher oder 
ſpäter einflußreiche geſunde Gegenſtrömungen das kindliche 
Gemut durchflöſſen und jenen mittelalterlichen Staub daraus 
hinwegſpülten, friſcher, fröhlicher Jugendmut und zugreifende 
Tapferkeit bei unſerer Kinderwelt ſelten zu finden ſein. Wo 
bliebe da die Wahrheit des demutſtolzen Wortes unſeres 
edlen Kämpen Ernſt Moritz Arndt: 

„Vor Menſchen ein Adler, vor Gott ein Wurm! 
So ſtehſt Du feſt im Lebensſturm!“ 
Etwas von dieſem beklemmenden Furchtgefühl bleibt in 


der jugendlichen Seele meiſtens haften, und — das ſei be— 


ſonders betont — dieſes Unluſtgefühl, welches zunächſt die 
wirkliche Sinnenwelt des Kindes beherrſcht, dehnt, — man 
möchte faſt ſagen — polypartig ſeine Herrſchaft auch auf 
die geiſtige Welt des Kindes aus, d. h. überträgt ſich auf 
ſeinen Charakter, ſoweit man bei unſerer Jugend von einem 
ſolchen reden darf, und hemmt in bedenklicher Weiſe ſeine 
Entwickelung zur Wahrheit und Furchtloſigkeit im Bekennen 
von Schuld. Wahrlich, angeſichts des Geiſtes der Verneinung 
und der Lüge, der ſich in ſo tauſenderlei glänzend aufge—⸗ 
putzten Geſtalten in unſerer Zeit breit macht, angeſichts des 
erbitterten Kampfes zwiſchen Sein und Schein, zwiſchen Tag 
und Nacht, hat die Menſchheit im allgemeinen und unſer 
Vaterland im beſonderen wohl Grund zu der Hoffnung, in 
dem heranwachſenden Geſchlecht einen Stamm wahrheit— 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


562 


mutiger, furchtloſer Streiter zu gewinnen, wobei man durch⸗ 
aus nicht ſofort an waffenfähige Jünglinge und nicht zuletzt 
an hochſinniges weibliches Heldentum zu denken braucht. 
Perſönliche Tapferkeit und Treue in Wort und That waren 
zwei der Hauptzierden unſerer Altvordern, deſſen möge ſich 
das germaniſche Weib erinnern, welches die Natur unmittel—⸗ 
bar zur Mutter, d. h. zur Erzieherin beſtimmt hat; dieſe 
Tugenden möge ſie in den Herzen ihrer Kinder zur Blüte 
zu bringen ſich beſtreben, damit das Kernwort des urdeutſchen 
Recken lebendig ſei und bleibe: 

„Wir Deutſche fürchten Gott und ſonſt nichts in der Welt!“ 

Manche Eltern denken in dem Augenblick, wo ſie die 
Schule als ein Schreck- und Gewaltmittel für ihre Kinder 
anwenden, wohl kaum an die ſchweren, verhängnisvollen 
Wirkungen, die ſie dadurch auf ſich ſelbſt, auf ihre Kleinen 
und auf die Schule ausüben. Wie viele Eltern giebt es, 
die in dem Augenblick eines ſolchen Handelns überlegen, daß 
ſie dadurch die Ohnmacht ihrer Erziehungskunſt beweiſen? 
Und man glaube ja nicht, daß dem Kinde dieſe Hilfloſigkeit 
ſeiner geiſtigen und leiblichen Vormünder entgehe! Wenn 
es das pädagogiſche Nichtkönnen ſeiner Eltern auch nicht 
klar erkennt, ſo ahnt der erwachende junge Geiſt es doch mit 
gewiſſermaßen inſtinktiver Feinheit. Denn die Strafe hat 
nur dann erziehlichen Wert, wenn ſie unmittelbar, d. h. ohne 
Aufſchub der Vergehung folgt. Hier aber, in unſerem Falle, 
folgt überhaupt keine Strafe, ſondern nur eine Drohung, 
die noch dazu völlig unfruchtbar bleibt, weil es ja gar nicht im 
Machtbereich der Eltern liegt, die Schule und zwar in der 
beabſichtigten Richtung auf das unwillige Kind ſofort wirken 
zu laſſen, und es wird Ihnen das Wort Jean Pauls in der 
Erinnerung ſein, daß auf Kinder nichts ſo ſchwach wirke, 
als eine Drohung, die nicht noch vor Abend in Erfüllung 
gehe! Eine andere, nicht minder bedenkliche Folge ſolcher 
reinen Wortdrohungen kann ich Ihnen hier nur andeuten, 
weil ihre allſeitige Ergründung mich zu weit von meinem 
Hauptgedanken ablenken würde. Sie iſt in dem Worte aus⸗ 
gedrückt, das ich in einem jetzt ſo ziemlich vergeſſenen Buche 
„Bilder ohne Rahmen“ geleſen habe: „Wenn man auf einen 
Blütenbaum ewig regnen ließe, damit alles Ungeziefer aus⸗ 
gewaſchen würde, ſo müßten endlich mit dem Entbehrlichen 
auch die Blüten herunterfallen. So iſt's in der Erziehung, 
wenn man allzuviele Worte und Ermahnungen macht.“ Daß 
das Kind auf dieſe Weiſe nicht willfährig gemacht wird, iſt 
unſchwer zubegreifen; im Gegenteil: da es die erzieheriſche 
Ohnmacht ſeiner Eltern inſtinktiv fühlt, wenn nicht ſchon gar 
durchſchaut, ſo wird es immer wieder und je länger, deſto 
heftiger und eigenſinniger an ſeinem Willen feſthalten und 
ſich gegen den ſeiner Erzieher auflehnen. 

Weit ſchwerer aber wird das Verhältnis des Kindes zur 
Schule in Mitleidenſchaft gezogen. Hier treten die allerbe⸗ 
denklichſten Folgen zu Tage. Das Kind wird von vorn—⸗ 
herein gegen die Schule eingenommen; mit dem erſten Tage, 
wo es den Ranzen auf dem Rücken trägt, bringt es eine 
durch die Unvernunft ſeiner Eltern erzeugte Befangenheit, 
wenn es von Natur gut geartet iſt, im entgegengeſetzten 
Falle eine mehr oder weniger verſteckte Unluſt an der Schule, 
ja, nicht ſelten einen heimlichen Trotz gegen ſeinen Lehrer 
mit, der ihm ja von den Eltern in den ſchwärzeſten Farben 
geſchildert iſt Und doch haben die Eltern alle Urſache, daß 
die Kinder die Schule als einen Ort betrachten, wo Ernſt 
und unbefangene Heiterkeit, wo Liebe und Vertrauen ihre 
gaſtlichen Zelte aufgeſchlagen haben. Ja, auch die Freude! 





559 


fehlgeihlagen ift — was ich übrigens noch nicht recht 
begreifen fann — ein Kerl wie Sie braudht deshalb 
nicht ben Kopf hängen zu lafjen!” 

„Ich laß ihn auch nicht hängen! Drei Dinge 
bab ih auf der Welt, die mir Freude machen: 
Mein Pferd, meinen Säbel und meine Soldatenehre 
— als Shilliher Hufar! Das ift genug, meinen 
Sie nit au?” 

„Run ja, für den Augenblid ift es genug — 
ih bin einverftanden! Will nur, daß Sie wieder 
vorwärts bliden! Es giebt noch zu gewinnen und 
zu wünjhen für Sie, wohin Sie Ihauen!” 

„IH weiß nur eins: Einen fröhlichen Reitertod 
auf grüner Heide — als Schiliher Hular!” 

Schill hatte Shon oft Foldde Rede gehört — 
aber diefe bier Elang verzweifelt ernfthaft in ihrer 
reſignierten Bitterkeit. „Haſſo — das ift feine gute 
Stimmung!” fagte er bejorgten Tones. 

„Sücht gut zum Leben, Herr Major, aber fehr 
gut zum Sterben! — Sie follen jhon zufrieden 
mit mir jein!” — — — 

Die Hufaren zogen weiter, ins Land hinein — 
über die Jächfiihe Grenze, an Wittenberg vorüber, 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





560 


nah Deflau und Bernburg. Bon hier aus entjandte 
Schill verjhhiedene Kommandos nad) allen Richtungen 
hin. Der Lieutenant von Hagen unternahm mit 
feiner Schwadron einen Streifzug bis nach Goslar, 
von wo er Pulver, Kugeln und einige ausgeräumte 
weſtfäliſche Kaſſen mitbrachte. Weſentliche Erfolge 
jedoch hatte der Schillſche Zug bisher nicht zu ver- 
zeichnen. Wohl ſchlugen ihm freudig die Herzen 
entgegen und warme Sympatbien in den unter: 
drüdten Landen begrüßte ihn überall. Hie und da 
auch gejellten fih Freimillige zu feinem Korps, 
Rekruten wie Dffijieree Doh ein Aufruhr aller 
Herzen und Gemüter, ein freudiges zu den Waffen 
greifen und mit ihm Losflürmen auf den Feind — 
jo wie eg Schill von allen kundigen Seiten prophezeit 
war, davon fand er nirgend eine Spur. 

Schwer niederfchlagend wirkte dieje Erkenntnis 
auf ihn. Sollte es dennoch zu früh gemefen fein für 
den Ruf zur Erhebung — die Saat im Volle nod 
nicht reif für die große Stunde der Befreiung? 
Düftere Ahnungen beichlichen fein Herz. Es war ihm, 
als zögen die Schlingen eines jchweren Verhängnifles 
fih dichter und feiter um ihn zufammen. 


(Sortjegung folgt.) 





Heiblatt der Dentihen Noman: Zeitung. 


‚srinnerung. 


Die Märchen hörte einft ih gar zu gern, 
Und Hab’ fie faft vergefjen! 

Dody manchmal funkelt’8 wie ein Stern 
Durch Finſterniſſe, unermeſſen! — 


Ein Laut, wie ihn die Mutter ſprach, 
Wird leis in meiner Seele wach, — 
Und langſam taſtet die Erinnerung 
Dem Nufe in die Traumwelt nach. — 


Erich 5qwartz. 


Fin pädagogifher Brief: 
Bon Adolf Wilhelm Ernfl. 


„Biel zu wenig geichrieben und geiprodyen wird von 
Kindern und über Kinder. Gegen ein Buch über Kinder: 
erziehung ericheinen zwölf über Pferdbedreffur! Und Dice 
Kinder find doch das Heiligfte in: Leben. Ein jedes Kind 
ift ein Pfandfchein für den Anteil, den der Menfid im 
Himmel empfängt,” behauptete einmal der Ihnen befannte 
humoriftifch-fatirifche Lichter M. &. Saphir, der aud) feine 
ernften Augenblide hatte Wenn nun aud) jeine lage über 
den Mangel an Büchern, die fih mit der Erziehung befaffen, 
in unferen Tagen nit mehr in ihrem vollen Umfange be= 
rechtigt ift, da Fein Gebiet der menichlichen Geiftesbethätigung, 
wie die Statiftif beweiit, eine derartig hohe Anzahl Bücher 
auf den Markt bringt, wie gerade die Pädagogik (die Wiffen- 
idjaft von der Erzichung), fo läßt fid) audererfeits ein fühl» 


— 


barer Diangel an guten volfstümlich gehaltenen Schriften 
erzieherifchen Inhalts nicht leugnen. Haben Sie felbft doch, 
die Sie ein jo warmes Sntereffe für das Wohl unferer her= 
anreifenden Sugend befigen, über einen derartigen Mangel 
geklagt, und giebt e8 wie Sie dod) Taufende von Müttern, 
die fih gern an der Hand volfstünicher Auffäge über ihre 
wichtigfte Lebensaufgabe, die Stindererziehung, unterrichten 
möchten, und die fid) vergebens in der Hochflut der alljährlich 
erfcheinenden Bücher nach derartigen Hilfsmitteln umifehen. 
Sch weiß deshalb die Ehre wohl zu Shäßen, daß Sie nid) 
zu Ihrem pädagogiichen Ratgeber ernannten, und nad) 
beitem Wiffen und Gewiflen werde ih hnen über die 
Sugenderziehung, der mein Leben geweiht ift, meine Ge» 
danfen und Erfahrungen mitteilen. 

„Über Erziehung fchreiben, heißt beinahe über alles auf 
einmal jchreiben,* Sagt Sean Baul,. Diejes bedeutjame Wort 
fonımt mir in den Sinn, wenn ich Shre Aufmerkfandeit für 
heute auf den Zufammenhang Ienfe, der zwiichen Schule 
und Haus waltet. In der That: Schule und Haus ftehen 
miteinander in jo inniger und lebhafter Wechfelmwirkfung, 
jenden ihre geiftigen Yühlfäden eins zum andern fo zahlreid) 
und fo häufig aus, furzum: beeinfluffen fid) in ihren pädas 
gogiichen Beitrebungen fo Sehr, daß bie junge Mienfchenpflanze 
nur in den Boden eined guten Ginvernehmeng zwijcdhen 
Eltern md Lehrer die eigentliden Nähr- und Sraftwurzeln 
für ihre gedeihlihe Entwiclung finden fan. &3 ift diefe 
Wahrheit jo einleuchtend und allbefannt, daß es hieke, 
Waſſer ins Meer jchütten, wollte man mit Hilfe eines ge= 
lehrten NRüftzeuges die Inwiderlegbarfeit diefer Behauptung 
nadweijen. Andererjeit3 zeigt dieſe Wechſelwirkung aber 
aud eine Vielfeitigfeit ihrer zu Tage tretenden Erfcheinungen, 
daß id) mid) — eingedenf des oben erwähnten Wortes Jean 





561 


Paul® — für heute beicheiden muß, auß der Fülle der hier 
auftauchenden Fragen eine herauszugreifen, deren Wichtigkeit 
wohl unfer Nachdenken anregen kann. 

Sie, geehrte Frau, der fi überreiche Gelegenheit 
geboten Bat, einen vollen und tiefen Bli in fo mandjes 
Tamilienleben zu thun, werden mehr als einmal die Er- 
fahrung gemadht haben, daß Mütter ihren Sindern die 
Schule, welde die Kleinen in Kürze bejuchen jollen, als eine 
Zwang? und Befferungsanftalt Hinftellen, als eine Art 
Schredgeipenit an die Wand malen, um das Kind zu augen 
blidlihder Sittjamfeit zu bringen, nachdem alle übrigen 
möütterlihen Grziehungsmittel fehlgeichhlagen find. Somit 
bildet biefer drohende Hinweis bei manchen Müttern — unb 
nicht allein bei foldhen au8 den unteren Volksſchichten, wie 
ein Uneingeweihter glauben follte — den legten Schluß ihrer 
päbagogifchen Weißheit. Sie glauben damit wunder was 
für einen Trumpf ihrer Erziehungstüchtigfeit auszufpielen, 
um den Stleinen bag fittlidde Gewifien zu fchärfen, und bes 
denfen in ihrer geiftigen Kurzfichtigfeit nicht die in ba3 
nnenleben de3 Kindes tief ımd gewaltiam eingreifenden 
Scäben, welche nit Naturmotwendigfeit einer derartigen be- 
dauernöwerten Handlung entkeimen; fie Eammern fid in 
ihrer päbdagogiichen Hilflofigfeit an den Nugenblidserfolg, 
ber fi ja aud) meiftens einzuftellen pflegt, allein fchon des- 
halb, weil die vor dem findlichen Geifte heraufbeſchworene 
Vorftelung von der Schule durd) ben Reiz der Neuheit wirkt 
und die LEindlihe Einbildungsfraft in Tchätigkeit verlegt. 
(3 berührt fih die Erziehungsart in ihren Weien und ihren 
ihäblichen Folgen in mander Hinfiht mit der vieleiht nod 
häufiger geübten, den Willen fehlerhafter Kinder dadurch zu 
brechen und in die richligen Bahnen zu lenten, daß man 
ihnen auf künstliche Weile Furcht und Angft vor unfinnigen 
Bhantafiegebilden („Ihwarzer Mann” u. bergl. m) einflößt. 
Eine folde widernatürlihe Beeinfluffung des Kindes rächt 
fih graufam. Bergiftet man mit derartigen aus der Numpel: 
fammer des düſterſten Mittelalter geholten Wahnvor: 
ftellungen die für Eindrüde äußerft empfindfame zarte 
Sinbesfeele, jo würde, wenn nit zum Glüd früher oder 
fpäter einflußreiche gefunde Gegenftrömungen das Eindliche 
Gemüt durdflöffen und jenen mittelalterlihen Staub daraus 
hinwegipülten, friiher, fröhlicher Sugendnuut und zugreifende 
Tapferfeit bei unferer Kinderwelt felten zu finden jein. Wo 
bliebe da die Wahrheit deS demutftolgen Wortes unjeres 
edlen Kämpen Emft Morig Arndt: 

„Bor Menjcdyen ein Adler, vor Gott ein Wurm! 
So ftehft Tu feit im Lebensiturm!” 
Etwas von diefem beflemmenden Furdhtgefühl bleibt in 


der jugendlichen Seele meiftens haften, und — das fei bes 


fonder8 betont — diejed Unluftgefühl, welches zunächt die 
wirklihe Sinnenwelt des Stindes behenriht, dehnt, — man 
möchte faft fagen — polypartig feine Herrihaft aud) auf 
die geifiige Welt des Kindes aus, d. h. überträgt fich auf 
feinen Charakter, jfoweit man bei unferer Jugend von einem 
folhen reden darf, und hemmt in bedenklicdher Weife feine 
Entwidelung zur Wahrheit und FZurctlofigkeit im DBelennen 
bon Schuld. MWahrlich, angefichts des Geiftes der Verneinung 
und der Lüge, der fi in fo taufenderlei glänzend aufge= 
pugten Geftalten in ınjerer Zeit breit macht, angefihts des 
erbitterten Stanıpfe8 zwifchen Sein und Schein, zwifchen Tag 
und Nadıt, hat die Menichheit im allgemeinen und unser 
Vaterland im befonderen wohl Grund zu der Hoffnung, in 
dem heranwachjenden Gejchleht einen Stamm wahrheit: 


Beiblatt der Deutihen Roman-geitung. 


562 


mutiger, furchtlofer Streiter zu gewinnen, wobei man durch: 
aus nicht fofort an waffenfähige Sünglinge und nicht zulett 
an hochfinniges weibliche Heldentum zu denken braudt. 
Berfönliche Tapferkeit und Treue in Wort und That waren 
zwei der Hauptzierden unjerer Altvordern, deffen möge fi 
das germaniſche Weib erinnern, welches die Natur unmittel- 
bar zur Mutter, db. h. zur Erzieherin beftimmt hat; Dieje 
Tugenden möge fie in den Herzen ihrer Kinder zur WVlüte 
zu bringen fich beitreben, damit das Kernwort bed urdeutjchen 
Neden lebendig fei und bleibe: 

„Wir Deutfhe fürditen Gott und jonft nidhts in der Welt!‘ 

Mande Eltern denken in bem Augenblid, wo fie die 
Schule ald ein Schred: und Gemwaltnittel für ihre Kinder 
anwenden, wohl kaum an die fchweren, verhängnispollen 
Wirkungen, die fie badurd) auf fi) felbft, auf ihre Kleinen 
und auf die Schule ausüben. Wie viele Eltern giebt «2, 
die in bem Augenblid eines foldhen Handelns überlegen, daß 
fie dadburh die Ohnmadt ihrer Erziehungsfunft bemweijen? 
Und man glaube ja nicht, daß dem Finde dieje Hilflofigfeit 
feiner geiftigen und leiblihen VBormünder entgehe! Wenn 
e8 das pädagogifhe Nichtlönnen jeiner Eltern auch nicht 
Elar erkennt, fo ahnt der erwachende junge Geift e3 doc mit 
gewiffermaßen inftinftiver Feinheit. Denn die Strafe hat 
nur dann erziehlichen Wert, wenn fie unmittelbar, d. 5. ohne 
Auffchub der Vergehung folgt. Hier aber, in unjerem alle, 
folgt überhaupt feine Strafe, fonbdern nur eine Drohung, 
die nody dazu völlig unfrudhtbar bleibt, weil e8 ja gar nicht im 
Machtbereich der Eltern liegt, die Schule und awar in der 
beabfichtigten Richtung auf das unmillige Kind jofort wirken 
zu lafjen, und e3 wird Ihnen das Wort Sean Pauls in der 
Erinnerung fein, daß auf Kinder nichts fo fchtwach wirke, 
als eine Drohung, die nidyt nod) vor Abend in Erfüllung 
gehe! Eine andere, nicht minder bedenkliche Yolge foldher 
reinen Wortdrohungen kann ich Ihnen hier nur andenten, 
weil ihre alljeitige Ergründung mid) zu weit bon meinem 
Hauptgebanken ablenten würde. Sie ift in den: Worte auß= 
gebrücdt, das ich in einem jett jo ziemlich vergeffenen Yuche 
„Bilder ohne Rahmen“ gelefen habe: „Wenn man auf einen 
Blütenbaun ewig regnen ließe, damit alles Ungeziefer au3= 
gewaihen würde, jo müßten endlich mit dem Entbehrlidhen 
auch die Blüten herunterfallen. So ift’8 in der Erziehung, 
wenn man alzupiele Worte und Ermahnungen macht.” Taß 
das Kind auf diefe Weife nicht willfährtg gemacht wird, ift 
unfchiwer zubegreifen; im Gegenteil: da c& die erzieherijche 
Ohnmadt feiner Eltern inftinktiv fühlt, wern nicht Schon gar 
durdhichaut, jo wird e8 immer wieder und je länger, deito 
heftiger und eigenfinniger an feinem Willen feithalten und 
fi gegen den jeiner Erzieher auflchnen. 

Weit fchwerer aber wird ba Verhältnis de3 Kmdes zur 
Schule in Mitleidenfchaft gezogen. Hier treten die allerbe= 
denklichiten Folgen zu Tage. Das Kind wird bon born 
herein gegen bie Schule eingenommen; mit dem erften Tage, 
wo e3 den Ranzen auf dem Nüden trägt, bringt «3 eine 
durcd) die Unvernunft feiner Eltern erzeugte Befangenheit, 
wenn e8 von Natur gut geartet ift, im entgegengejekten 
Falle eine mehr oder weniger verftedte Unluft an der Schule, 
ja, nidjt felten einen heimlichen Trog gegen feinen Lehrer 
mit, ber ihm ja von den Eltern in den jchwärzeften Farben 
geſchildert iſt Und doch haben die Eltern alle Urlache, daß 
die Kinder die Schule ala einen Ort betraditen, wo Ernft 
und unbefangene Heiterkeit, wo Liebe und Vertrauen ihre 
gaftlichen Zelte aufgeichlagen haben. Sa, auch die Freude! 





563 


Ein berufstreuer Lehrer, ber eben nicht nur ein befoldeter 
Mietling ober Handlanger der Schule tft, ein einfichtsnoller 
Volkserzieher, weldher die Negungen und göttlichen Seine 
heiten der Kindesjeele zu beuten und feinen guten Mbfichten 
dienftbar zu machen verfteht, wird darauf halten, baß bie 
feiner Pficge Anvertrauten fi menigftens tägli einmal 
herzlich freuen Tönnen. Nicht umjonft jagt ein Dichterwort: 
„Heiterkeit ift der Himmel, unter dem alles gedeiht, Gift 
ausgenommen!” Deshalb braudht der Sugenbbilbner im 
Unterriht feine Zuflucht nicht zu allerlei nichtsfagenden 
Mätzchen und Späßchen zu nehmen; denn die Schule ift 
feine vorſtädtiſche PVoflenbühne Das find wahrlid feine 
leuchtenden Vorbilder alfeitiger Menfchenbildung, die ihre 
Zöglinge dur eiferne Zucht zu feelenlofen Drahtipuppen, 
welche man beliebig, ganz nad) jeweiliger Laune bin und 
her jchieben fann, entwürbdigen, bie ber Stinbesfeele jebe be- 
rechtigte Eigenart (Sndividualität) nehmen und fie mit haar- 
fharfer Genauigkeit und ftrammer Unbemweglichfeit auf bie 
Sculbänfe pflanzen, wie ber Bauer feine Kohlköpfe oder 
Nüben reihiveife auf das Feld! ch gebe zur, baß e8 unter ben 
mehr al& Humbderttaufend Lehrern, in deren Händen das 
nationale Erziehungswerf Tiegt, immer noch eine viel zu 
hohe Zahl von geiftlofen Schablonenmenfjchen giebt, welche 
ihre bedeutungfchtwere Arbeit rein majdhinenmäßig vornehmen 
und ihr „Handwerf” tüchtig Eappern laffen, daß «8 leider 
noh immer eine Schar innerlich Unberufener giebt, die in 
völliger Verfennung bes erften und oberften Grunbjabes 
einer gelunden Pädagogik, daß nämlich dag Kind ein Necht 
auf feine Individualität habe, ihre Zöglinge in bie geift- 
und herzeinfchnürenden Hürden einer längjt veralteten, rein 
mechantfierenden Erztehungsmweije einpferchen! Jedoch find 
das nur Ausnahmen. 

Aber weiter! Ssft die Schule in der That ein foldher 
Sammerort, al8 welchen verblendete Eltern fie ihren Sindern 
vor bie Phantafie zu rüden juhen? ES jcheint mir fait, 
ala ob auf folde Eltern der Spruch Goethes paßt: 

„Man könnt’ erzogene Kinder gebären, 
Menn die Eltern erzogener wären.“ 

Die Zeiten find gottlob im Strom der Vergangenheit 
berraufcht, wo ein harter, finfterer Geift unabläffig den Stod 
ober bie Rute auf unſere Kleinen ſchwang, wo man ein 
Folter- und Marterſyſtem in die Schule verpflanzte und dort 
mit ausgeſuchter beiſpielloſer Raffiniertheit und Roheit die 
Kindesſeele mißhandelte. Ich nenne Ihnen — um nur 
einige ſchlagkräftige Beiſpiele anzuführen — eine Verfügung 
des Freiburger Stadtrates von 1668, der das ſogenannte 
„Eſelreiten“ als Zuchtmittel im Unterricht empfahl. Ein 
hölzerner Eſel, „uff einem prett geſchnitten oder gemalt“, 
wurde aufgeſtellt und als Strafe denen zu reiten gegeben, 
die ihre Hausaufgaben ungenügend oder überhaupt nicht 
gelöft hatten. Die Anwendung eines ſolchen Zuchtmittels 
ift geradezu ein Hohn auf die Entwidelung jedes Chr: und 
Scuangefühls! Eine nody ärgere Graufamteit in der Hands 
habung der Schulzudt zeigt eine um 1700 ohne Angabe bc8 
Berfaffers erfchienene Schrift mit dem Titel: „Sieben böje 
Geifter, welche heutigen Tages guten Theils die SKüfter oder 
fo genanndte Dorfj-Schulmeifter regieren; al& da find: 1. der 
ftolge, 2. der faule, 3. ber grobe, 4. der falfche, 5. der böje, 
6. der naffe, 7. der dumme Teuffel. Welchen fümmt hinten 
nad gehunfen ber arme Teuffel. Mit angefügten Sieben 
Käfter- Tugenden.” Hier heißt e3 in dem Abfchnitt vom 
„böſen Teuffel*; „ES möchte fid) jemand wundern, warn 





Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





564 


man benn eben ben Schulmeiftern vor andern Leuten foldhe 
Boßheit und Graufamkeit zufchreibe. Antwort wegen des 
Hanbdwert, benn fie find des grimmigen Weiens bei ber Ins 
formation (Unterricht) gewohnet, und meinen, fie können die 
Kinder nichts lehren, wenn fie fie nicht, wie fie zu reden 
pflegen, fharf halten und ftet? poltern, jchelten, außefeln, 
Ichlagen, peitfchen, martern, peinigen und tyrannifieren, alfo 
daß man ihnen fein Unrecht thäte, wenn man fie Scharf: 
lehrer nennte, gleihwie man bie Diebhenter Scharfrichter 
nennt, weil fie ein fo großes Wefen von der Schärfe machen. — 
Wenn der Herr Schulmeifter bes Henker Amt verwaltet und 
einem Knaben einen Schilling (Schläge) giebt, da muß ber 
arme Sünder Kat aus halten, er muß fich felbit entblößen, 
überbüden und fi parat halten, da ihm ber Schulmeifter 
das Urtheil vordecliniret: 

Nominativo: Leg Dich. Accusativo: Machs nicht lang. 
Genitivo: Streck Dich. Vocativo: Es thut mir weh. 
Dativo: Über die Bank. Ablativo: Thu es nicht meh! 2 

Weil aber bie Sungens, man mag fie fo feft halten als 
man will, dennoch firampeln, hinten außfchlagen, wie ein 
unbändig Pferd, und den Schulmeifter oft mit dem Fuß ins 
Geficht ftoßen, dab das Blut heraus fprüßet, oder bie Zähne 
ihm im Maule EHappern, haben einige Echulmeifter eine Leiter 
im Vorrat, welche oben angenagelt und unten eingegraben, 
da müffen ihnen die Jungens oben den Topf und bie Arme, 
unten aber die Beine durchiteden, aljo daß fie ganz geipannt 
fein und fid) nicht regen können. Da Triegt nun der Schul- 
meifter feine Henfers:Nuihe aus einen Eymer vol Waffer, 
darein er fie eingeweicht, daß fie beffer anziehen jo, hervor, 
peiticht und trummelt den armen Schelm auf dem Hinterges 
jtelle herumb,, daß er fhreyt, dag mans übers dritte Haus 
hören möchte. Da haben die Schulmeifter einen rechten 
Glauben3-Artikel drauß gemadt, daß die Nuthe fronme 
Stinder made, wegwegen aud bie Sinder die Nuthe mit 
großer Andacht bergen und füffen müßten, wobei fie ihnen 
das ſchöne Sprüchlein vorbeten: 

„Ach, du liebe Ruthe, 
Du thuſt mir viel zu gute!“ 

Gegen dieſe Rohheit, die nicht zum wenigſten eine Folge 
der durch den blutigen dreißigjährigen Krieg herbeigeführten 
Sittenverderbnis und Gefühlswildnis war, ſticht ſchon das 
vorige Jahrhundert heller und freundlicher ab, deſſen menſchen⸗ 
erzieheriſches Thun und Wollen in Männern wie Baſedow, 
Campe, Salzmann, Freiherr Eberhard von Rochow und vor 
allem in dem edlen Heinrich Peſtalozzi die kräftigſten Stütz— 
und Strebepfeiler beſaß. Allerdings war von einem Lehrer⸗ 
ſtand noch keine Rede; es herrſchte in faſt allen Gegenden 
unſeres Vaterlandes ein fühlbarer Mangel an Erziehern, 
und dies iſt mit eine Urſache zu dem Mißgriffe geweſen, daß 
man ausgediente Unteroffiziere, Invaliden und Krüppel zu 
ſtaatlich wohlbeſtallten Lehrern machte, die von der ſchweren 
Kunſt der Erziehung gerade ſoviel verſtanden, wie ein ge⸗ 
wiſſer nützlicher Wiederkäuer vom Klavierſpiel, gerade ſo wie 
die Schneider, Schreiner, Bäcker und Seiler, die im 16. Jahr⸗ 
hundert zur Erziehung der Jugend berufen, aber nicht aus⸗ 
erwählt waren. Daß damals der Bakel die Schule beherrſchte 
(ich ſpreche natürlich nicht vom höheren Schulweſen), kann 
Sie unter ſolchen Umſtänden nicht wunder nehmen. Aber 
Jammergeſtalten, wie ſie noch im vorigen Jahrhundert in 
der Lehrerwelt zu finden waren, ſind in unſeren Tagen 
bereits geſchichtlich geworden; höchſtens wird ihr Geiſt in 
den Spalten von Witzblättern, die in Zerrbildern alles 


565 


Mögliche und Unmögliche Ieiften, dann und warn aus ihrer 
wohlverdienten Vergefjenheit von neuem heraufbeichtvoren. 
Die Erziehungskunft unferer Zeit fteht in dem Zeichen wahren 
Menihentums; der Geift der heutigen Schulzudt iſt 
Menichlichkeit, Gerechtigkeit und ernfte Milde troß aller Miß- 
griffe, die fih hier oder dort ereignen, und von denen jo 
mande in dag Schuldbuch wenig einfihtspoller Eltern ges 
hören. Das berühmie Wort Salzmanns, bes verbienftpollen 
Begründer ber noch jekt beftehenden Erzichungsanitalt 
Schnepfenthal bei Gotha, Hat, fo fehr e8 auch mit Vorficht 
aufgenommen werden muß, feine Zöftlihen Früchte in der 
Lehrerwelt gezeitigt: „Von allen Fehlern und Untugenden 
jeiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in fidh jelbft 
fuhen.* Sn unferen Tagen ift ben Lehrern die Wahrheit 
des gemütpollen und finberlieben Dichters und Seelenents 
rätfelers Leopold Schefer tief In® Herz gebrungen: 


„Ein Kind ift göttliher Natur. Dem Urjein 
Entitiegen, bringt e8 in der Seele Kenntnis 

Des Göttlihen und Wiedererfennen mit. 

Das Höcdjite, das Herrlichite begreift’S am leichteften; 
Srühzeitig ehr’ es. Halt es wie einen Engel." 


Sa, unferer gegenwärtigen Erziehungsfunft, die fid) bes 
fleißigt, zunädft die Eigenart bes jungen Weltbürgers zu 
erkennen und ihn bemgemäß zu feinem Ziele, zu einem ber: 
ftändigen brauchbaren Mitglied der menfchlihen Gejellihaft 
emporzubilden, wird fogar zuweilen der Vorwurf gemacht, 
fie taumele in einem „Humanitätsbufel* planlos einher. Das 
ift gerade jo übertrieben und falih, wie die Behauptung, 
unfere SZugend fteuere einer fittlihen Werrohung zu, bie 
Schule müffe jchärfere Zuchtmittel anwenden u. dergl. m. 
Ein jolches Urteil zeigt eine Einfeitigleit und Engherzigfeit, 
wie man fie nur bei Leuten findet, denen ein gefchichtlicher 
Sinn, der Blid aufs Ganze und Weite und perjönlide Er: 
fahrung abzugehen pflegen. Dan leje nur die einichlägigen 
Ouelleniriften, in denen fih die Eulturgefhhichtliche Ver: 
gangenheit treu und unverfälfcht abfpiegelt, ımdb man wird 
einfehen, wie fehr man unferer Jugend Unredi thut. Denn 
bebauerlihe Einzelfälle Iaffen durchaus Leinen Schluß auf 
die Allgemeinheit zu. 


Sch führe Ihnen alle diefe Thatfachen nur an, um Shnen 
ben Nachweis zu liefern, wie verfehrt Eltern handeln, wenn 
fie ihren Kindern die Schule als eine Art Strafanftalt Hin 
ftellen. Sn dem findblichen Herzen bat fid) aladann ein Vor: 
urteil gegen den Lehrer eingeniftet, wodurd) das Erziehung?- 
werk in der erften Zeit ungeheuer erjchwert wird. Und be- 
fanntlich fett die Arbeit auf ber linterftufe einen Grad von 
Selbftverleugnung, Mühewaltung und Berufsfreudigfeit vor- 
aus, daß man mit vollem Nedht gefagt hat, in bie Unterklafje 
gehöre der tüchtigite Pädagoge. Der Lehrer wird fid) auf 
jeden Fall, fofern er feine Unterweljung und Menichenbildung 
nicht nad) einem toten Regelfram betreibt, die Liebe und das 
Vertrauen feiner Zöglinge zu erringen fuchen, und Dice 
findliche Qiebe und diejeg findliche Vertrauen, das die Kleinen 
zu „ihrem“ Lehrer haben, tft der jchönjte und füßefte Lohn 
für fein mühejchweres Walten und Wirken. Natürlich giebt 
e3 immer einige räubige Schafe in der Herde, aber die Mehr: 
zahl diefer Keinen Griffelhelden blickt leuchtenden Auges auf 
ihn, und e8 ift durchaus feine feltene Ericheinung, daß gerade 
die Kinder, weldhe durch eine ziellos hin und her pendelnde 
häusliche Erziehung zum Ungehorfam gegen die Eltern und 
zu einem Vorurteil gegen die Schule gefommen find, in ber 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


566 


Stlaffe der Stolz des Lehrers und das Vorbild ihrer Genofien 
find. Ich Eönnte Ihnen Beifpiele anführen, wo .bie Eltern 
ale Urfahe Haben, ben oben erwähnten Ausipruh Salz- 
manns auf fih anzuwenden. Gerade daburd, daß bie 
Stleinen aus den Worten und Thaten ihres Lehrers feine 
Liebe zu ihnen herausfühlen und an ihrer eigenen fleinen 
VBerfon erfahren, daß die Schule burdhaus nicht ein fo 
ichredficher Aufenthalt ift, wie die Eltern behaupteten, gerade 
dadurd kommen fie bazu, den Worten ihrer Vormünder noch 
weit weniger Wert beizulegen, als fie eS vielleicht in nod) 
nicht fchulpflichtigem Alter thaten. Sie fehen alfo, der Riß 
zwiihen Kind und Eltern verbreitert fi burd) die Schuld 
der legteren, und wie häufig zeigt e8 ji, baß derartig bes 
hanbelte Skinder einerfeit3 ihrem Lehrer aufs Wort gehorcdhen, 
auf jeine Worte gewifjermaßen Ihwören und andererjeitö fich 
mit der größten Gleihgültigfeit über die Anorbnungen und 
Ermahnungen ber Eltern binwegfegen. Dann wird über 
die Undankbarkeit und Verborbenheit bes Kindes gejammert, 
bie Eltern ringen verzweifelt bie Hände, flatt fich jelbft an» 
zuffagen und von fi) felber Rechenichaft zu fordern. Sehr 
treffend heißt e8 bei Hamilton: „Die frühefte Erziehung ift 
weit wichtiger, ala wir e8 je berechnen fünnen. Gewiſſe 
Vorurteile hindern uns nur nod zu oft, daß man bie 
Nichtigkeit diefer Behauptung bedenkt; fonft müßte jeder, 
ben Neligton und Vaterland am Herzen liegen, e8 fich zur 
bejonderen Sorge machen, die Frauen im allgemeinen zu 
einem höheren Bewußtjein ihres Berufes ala Mutter zu er: 
heben, denn e8 hängt daran nicht bloß das Glüäd und Une 
glüc des einzelnen, fondern der Charalter des ganzen Volfes, 
ja die Verfaffung des Menſchengeſchlechts!“ 

Ich habe Sie im Vorftehenden auf einen wunben Punkt 
aufmerkjam gemacht, wo Schule und Haus leicht in Gegen: 
fag zu einander geraten können, wo bie Segnungen einer 
wahren Erziehung dur Elternhand — teils bewußt, teils 
unbewmußt — leicht gefährbet werben. Gern gebe ich zu, daß 
das Schredgeipenft der Schule mehr und mehr auß ber 
Vorratsfammer elterlicher Strafen und Drohungen Ihwindet. 
Eins aber tft nicht zu bezweifeln: nur wenn Schule und 
Haus in Einmut an ber geiftigen und körperlichen Bildung 
des jungen Geflecht? arbeiten, können dem Menfchen in 
Wirklichkeit Die Tugenden erblühen, bie da heißen: in der 
Wahrheit zu denken, in ber Liebe zu fühlen und in der 
Freiheit zu wollen. 


Morgenlied. 


Wie trägft Du, 0 goldene Sonne, 

Fern hinter den buftigen Hügeln 
Auf rofigen Flügeln 

Den lahenden Morgen herauf! 


Veblenbet die Tiere des Waldes 

In Wipfeln’und Höhlen _erwaden, 
Ob balb in den Rachen 

Des Todes aud manches verfinft. 


Die Blumen, die prangten im Schniude 
Des perlenden Tauesnod) eben, 

Als Opfer Dir geben, 
Was täufhend die Stirnen umfhmintt. 


— ——— —— —— ——— — — — — — — — — — — — — 


567 


Und während die fchtwebende Lerche 
Unfidhtbar über der Aue 

Am heiteren Blaue 
Laut trillernd ihr Lied anfhlug: 


Da wandelt fo ruhig der Landmann 

Traumjelig und ohne zu wanfen 
Und ohne Gedanten 

Wohl hinter dem eifernen Pflug. — 


Wann trodneft Du, goldene Sonne, 

Doc mir in den Augen bie Thränen? 
Bereiteltes Wähnen! 

3 fühle nur tiefer den Schmerz! 


Wenn oft aud die Bilder der Schönheit 
Die fehnende Seele vertröften: 

Ad nimmer erlöften 
Die Schmeichelnden Bilder das Herz! 


D trüge mich, goldene Sonne, 
Bald über die buftigen Hügel 
Dein rofiger Flügel 
Zum ewigen Morgen hinauf! 
®scar Kine. 


Achtet die Sehrerin. 
Von M. Müller. 


In einem vor längerer Zeit erſchienenen Aufſatze der 
‚„Deutſchen Roman⸗Zeitung‘ wurde „Zur Erörterung über Frau 
u. ſ. w.“ die ſeit einiger Zeit brennende Schulfrage angeregt. 
Gewiß muß jeder der Verfaſſerin beiſtimmen, wenn ſie auẽführt, 
wie viel unnötiges Wiſſen den Kindern, beſonders den heran⸗ 
wachſenden Mädchen, eingepfropft wird und wie wenig die 
Schule auf die Erziehung und Bildung der Herzen ihrer Zöglinge 
einwirkt. In erſterem Falle kann ein geſchickt ausgearbeiteter 
Lehrplan manche Abhilfe bringen, doch überſehe man auch 
nicht, daß viele Eltern ſtark übertreiben, wenn ſie die Über⸗ 
bürdung ihrer Lieblinge beklagen. Wollten ſie ſich der Mühe 
unterziehen und ſelbſt ihre Kleinen ſtreng zur gewiſſenhaften 
Ausführung häuslicher Arbeiten anhalten, es bliebe noch 
genug Zeit zu Spiel und Erholung. Gewiß iſt es nicht 
ungerechtfertigt, gerade in dieſer Zeit, wo alles für die Er— 
leichterung des Lernens gethan wird, wo die armen Kinder, 
die zum Glück am wenigſten von der Überbürdung leiden, 
überall beklagt werden, eine Lanze zu brechen für die Ge- 
plagteſte der Geplagten, für „die Lehrerin“. Hiermit kommen 
wir zugleich auf die Erziehung in der Schule, denn dieſe 
Aufgabe liegt hauptſächlich in der Hand der Lehrerin. 

Zuerſt: kann die Lehrerin überhaupt erziehlich einwirken? 
Leider iſt nur ein ſehr bedingungsweiſes „Ja“ die Antwort. 
Sie könnte es, wenn ihr nicht überall die Hände gebunden 
wären. Was ſie allenfalls während der Schulzeit erzielt, 
zu Hauſe, durch die Eltern der Kinder, wird es zum größten 
Teil wieder zerſtört. Ich habe hauptſächlich höhere Mädchen— 
ſchulen vor Augen und weiß aus eigener Beobachtung, daß 
die Eltern in der Lehrerin meiſtens die geborene Feindin 
ihrer Kinder ſehen, die, eine Art Rachegöttin, in das Paradies 
der Kindheit tritt. Statt die Kinder zur Ehrerbietung an⸗ 
zuhalten, hören Vater und Mutter ruhig zu, wenn Töchter— 
lein daheim erzählt, wie die Becker heut wieder ganz 


—— —— — —— —— — — — — — — — — — — ————— — 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Der ha 


568 


ſchauerlich im grünkarrierten Kleide ausſah, und die Müller 
hätten ſie wieder mit allgemeinem Huſten ſo recht gründlich 
geärgert. Höchſtens ſagt die Mutter lächelnd: „Aber Grete, 
ſo was darf man doch nicht thun,“ jedoch Grete weiß ganz 
gut, daß keine ſtrenge Strafe folgt und plappert ruhig weiter; 
ja, wenn ſie in demſelben Tone von Frau Müller geſprochen 
hätte, oder von Fräulein Becker, der Tochter des Vor⸗ 
geſetzten ihres Vaters! Können aber Ermahnungen, die das 
Kind in der Schule erhalten hat, Früchte tragen, wenn es 
daheim in ſolchem reſpektloſen Tone über die Perſon der 
Lehrerin reden darf? — Kommt Grete gar nach Hauſe und 
hat eine Strafe erhalten, natürlich ungerecht — wann hätte 
je eine Lehrerin gerecht geſtraft! — wie wird dann das arme, 
verkannte Kind bedauert! Manchmal heißt es wohl: „Dir 
iſt recht geſchehen,“ aber Grete hört leider, wie die Mutter 
zu Frau Müller ſagt, die Becker verſtehe auch gar nicht ihre 
Grete zu behandeln, und ein kleines Verſehen müßte doch 
auch mal ſo einem iungen Dinge zugute gehalten werden. 
Grete erzählt dabei dem kleinen Annchen, daß ſie nächſtes 
Jahr auch zu der eklichen, frechen Becker in die Schule 
müßte, und von vornherein iſt das Kinderherz mit Miß⸗ 
achtung und Mißtrauen erfüllt, das die Lehrerin ſelten aus— 
rotten kann und das allen ihren Beſtrebungen einen Damm 
entgegenſetzt. Unter allen Umſtänden ſollten die Eltern auf 
ſeiten der Lehrerin ſtehen, ſelbſt wenn einmal eine ln- 
gerechtigkeit wirklich vorkäme. Denn, ſo müſſen ſie ſich 
fragen, werden ſie immer ihren Kindern gerecht? — Iſt die 
Mutter nicht in der Stimmung, ſich mit ihrem Töchterchen 
abzugeben, ſo ſchickt ſie es in den Garten mit Fräulein 
oder Mädchen ſpazieren oder befiehlt ihm einfach, ſich ſtill 
zu halten. Eine Lehrerin jedoch, mag ſie in der Stimmung 
ſein oder nicht, mag das Herz voll Kummer und Sorgen 
ſein, ſie muß ſich in den Stunden mit den Kindern abgeben, 
ſie muß Jahr für Jahr dasſelbe lehren, dieſelben Fragen 
ſtellen. Wie oft nach unſäglicher Mühe erfolgt auf die ein— 
fachſte Frage eine Antwort, die nur zu deutlich zeigt, daß 
das Kind nichts verſtanden hat und die Siſyphusarbeit von 
neuem begonnen werden muß; daß dann einmal der Ge— 
duldsfaden reißt und der gerechte Zorn nicht immer das 
ſchuldigſte Haupt trifft, iſt es verwunderlich? In ſolchem 
Falle ſollten die Eltern ihr Kind ermahnen, durch doppelten 
Fleiß, durch doppelte Aufmerkſamkeit der Lehrerin zu be= 
weiſen, daß ſie ihm unrecht gethan hat. — Iſt das Schul⸗ 
jahr zu Ende und Grete erhält ein ſchlechtes Zeugnis und 
wird nicht verſetzt, ſo ſtürzt ſicher die Mutter zur Lehrerin 
und ſagt ihr mit ſüßen Worten gar bittere Dinge. Da hat 
Fräulein Müller ihre Grete nicht zu behandeln verſtanden, 
das Kind iſt ſo eigentümlich, iſt doch immer ſo fleißig und 
artig, wäre doch ſonſt ſo gut erzogen. Sie könnte gar nicht 
begreifen, daß Grete nach dem Schulſchluß der Lehrerin ihren 
etwas hinkenden Gang nachgeahmt haben ſollte, die Lehrerin 
hätte ſich ſicher getäuſcht u. ſ. f. Daß aber die Eltern in 
ſich gehen und ſich ſagen: wir ſind ſchuld an der Faulheit, 
an den Ungezogenheiten unſeres Kindes, o nein, die Schule 
iſt ſchuld, die Schule verdirbt die Kinder. Da wird denn 
alles in Bewegung geſetzt, Grete in die höhere Klaſſe zu 
bringen, und iſt der Widerſtand unüberwindbar, ſo wird 
Grete in eine andere Schule gethan. Iſt denn aber das 
Sitzenbleiben ſo gar fürchterlich? Wird ein begabtes Kind 
nicht verſetzt, ſo geſchieht ihm ganz recht, denn es iſt faul 
geweſen, für ein unbegabtes Kind jedoch, das langſam lernt 
und ſchwer begreift, iſt ein ſolches zweites Jahr oft eine 





569 


wahre MWohlthat, und jedenfalls beffer, ala wenn es durch 
fortbauernde Privatfiunden zum Vorwärtsfommen gepreßt 
und dadurch bleid und frank gemadt wird. — Doch zurüd 
zu unferer Grete, die e8 in der neuen Schule natürlich nicht 
befier treibt, al8 in der alten. Sa, e8 wird immer fchlimmer, 
je weiter fie Eommt, denn in den höheren Klaffen gebt fie 
allmählich /au8 der Hand ider Lehrerin in die de Lehrers 
über, der ihr num fon ganz und gar fleinen NReipelt ein- 
flößt und ihrer Spottluft vollftändig zur Beute fallt. Der 
Lehrer foll den Kindsfopf wie eine erwacjene junge Dame 
behandeln und fteht deshalb wehrlos dem voll taufend Toll: 
heiten ftedenden Badfifch gegenüber. Armer Mann! NRedt 
aus tiefem Herzensgrunde fommt fein Seufzer: „Lieber eine 
boppelte Schar milder Buben unterrichten, al® Euch paar 
Mädchen Stunden geben!“ Gndlid kommt da8 Mädchen 
aus der Schule, glüdielig, ber Haft entronnen zu fein und 
thun unb laffen zu können, was ihm beliebt. Balb ift alles 
(Srlernte vergeffen, nur bie Kunft. fchnippiiche Antworten zu 
neben und abiprechende Urteile zu fällen, hat e8 behalten. 
Den Lehrerinnen, denen fie fo lange Sahre das Leben ver: 
bittert Hat, wird fein Gruß mehr gegönnt, höchftens heift 
e8: „Ach, die alte Beder, die hat mich auch mal figen Iaffen.”“ 
Strenge Pflihterfülung, Dankbarkeit und Chrerbietung, 
Tugenden, die die Schule befonders zu entwideln fähig tft, 
find für das junge Mädchen unbefannte Dinge, bie gar 
bald die Eltern trauernd an threm Kinde vermiffen werben. 
An den Eltern liegt e8, ber Schule die Aufgabe zu ermög: 
lichen, die Herzen der ihr anvdertrauten Finder au bilden, fte 
wird Erfolge erzielen, wenn bie Eltern die Lehrerin auf bie 
nleihe Stufe mit fich jelber ftellen und von ben Sindern 
biefelbe Achtung und Ehrerbietung für fte verlangen, wie 
für fi felbft. 


In Ruhe fingen. 
(Bei den Schwefterfinbern.) 


Dort liegen fte im Bettchen 
Und fchauen groß mir zu, 
Sch halte ihre Händchen 
Und finge fie in Ruh’. 


Und jest find fie entichlafen, 
Sch bin fo ganz allein, 

Sch trete an die Scheiben 
Und fteh’ im Mondesichein. 


Sm bleihen Mondesicheine 
Da taudt vor meinem Blid 
Empor ein lod’ges Antlig, 
Empor ein kurzes Glüd. 


Sn bleihen Mondedicheine 
Schließ’ ich bie Augen zu 
Und finne Melodien 

Und fing’ mein Herz in Ruh’. 


Roman Zeitung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 





570 


Uphorismen. 
Don Gonrad Timm. 


Man fegt andere herab, um fich felbft zu erheben. Wäre 
man nur einigermaßen veritändig, jo finge man damit an, 
die anderen ein wenig zu — erheben, um dann zı zeigen, 
wie hody man felbft noch über ihnen erhaben fei. 


* 


Wenn wir gar feinen anderen Ausweg mehr entdeden 
fönnen, und einer moraliihen Verpflichtung auf ehrenvolle 
Weile zu entziehen, fo fommen wir gewöhnlich zu der liber« 
zeugung, daß unfere Bemühungen doch frucdhtlos bleiben 
würden. 

Mißtrauen gegen den Tsreundb ift ftetß® Eurer Freund—⸗ 
fhaft Tod: ift er der Deinen noch wert, biit Du ed doch 
der feinen nicht mehr. 


% 


Die Liebe einer Mutter zu threm gefallenen Sinde 
fängt immer erft da in ihrem ganzen Umfange an, mwo die 
des Vaterd bereit3 am Ende ift — in jenem troftlo8 fürdhter- 
lichen Augenblid. der offenbart, daß feine Nettung mehr zu 
hoffen ift. 

_j 

Das wahre und tiefe Bemwußtiein feiner Schuld tft das 
einzige, was cinen halbwegs Berlorenen dem Guten wieder 
zuführen kann — und zugleih dasjenige, mas feiner 
Beflerung die größten Schwierigfeiten in ben Weg legt. 


x 


Leidenschaften, die uns beherrichen, find Torannen, Die, 
je mehr wir ihnen opfern, nur um fo mehr verlangen und 
um fo meniger gewähren — zırlett nicht einmal mehr Bes 
friebigung ihrer felbft. — Leidenſchaften, Die wir beherrichen, 
machen oft einen — feineöwegs unmelentliden — Teil 
unſeres Glückes aus. 


Die Sittlichkeit ift Iniht das Neih, wohin die, Kunſt 
ftrebt, aber doch der Boden, darein fie ihre Wurzel 
ſchlagen muß.. 

xe 

Es giebt noch immer Menſchen, die glauben, daß es 
die ausſchließliche Eigentümlichkeit gewiſſer Tiere —3 der 
Strauke — ſei, im Angeſicht einer heranrückenden Gefahr 
zu ihrer perſönlichen Sicherheit den Kopf in den Sand zu 
ſtecken. 

Schuld und Unſchuld, Keuſchheit und Sünde können in 
einem und demſelben Körper wohnen. Wem dieſer erlöſende 
Schlußaccord im wildzerriſſenen Fluten und Wogen des 
Menſchenlebens nie erklang, der kennt die Höhen und 
Tiefen des menſchlichen Herzens nicht. 


* 


Edelmut des Geiftes maht Dich fähig zur Größe: der 
des Herzens zum Glück. 

* 

Bei mandhen Menfchen drängt fi einem unwillfürlich 
die Einfiht auf, ihnen gebe zum Schriftiteller, den man 
bewundern mwürbe, nichts als bie Fähigkeit ab, zu erkennen, 
was fie dor anderen boraußhaben. — Dennodh irrt man 


IV. 40 





571 


fehr, dies auf Beicheidenheit zurüdzuführen: es ift ein feines- 
wegs unmejentliher Mangel — der Mangel einer gemwiffen 
Objektivität des geiftigen Vlies — ber hier enticheidend 
wirft. 

* 


E3 giebt Menjcdhen, die in ihrer ganzen bodenlofen 
Unbedeutendheit dennoch ein tiefes Geheimnis bewahren, das 
bedeutende Geifter längft verzweifelten, je fidh dienftbar zu 
machen: dag ift die Kunft, den unabläffig fortarbeitenden 
Mechanismus de8 Gedankenapparates nad) Bedarf abzu= 
ftellen und nad) freiem Ermeffen minuten=, ſtunden⸗, ja tage: 
lang — gar nichts zu denken. 


Die „unehrlichen Br des Wittelalters. 


Freies Net für alle, = für folche, welche burd) ver» 
brecheriiche Handlungen fih außerhalb ber Gefete geftellt, 
ift wohl die bedeutendfte neuzeitliche Errungenschaft, von der 
jene oft gerühmte „gute alte* Zeit nichts wußte ober nichts 
wifjen wollte. Dagegen Eannte fie aber Berfönlichkeiten, 
jogar ganze Stände und Berufsklafien, welde dburh ihre 
bloße Eriftenz refp. infolge ihrer Beichäftigung aller Nedht2- 
und Gefegeswohlthaten entbehren mußten, wweldye nicht für 
voll geachtet wurden und zun Teil vogelfrei waren. Der: 
gleichen Zeute bezeichnete man mit einem allgemeinen Begriff 
als „unehrlich“, was hier alſo ebenſoviel wie ohne Ehre, 
ehrlos, geächtet bedeuten würde. 

Die Geſellſchaft von damals huldigte nämlich der An⸗ 
ſicht, daß der Einzelmenſch erſt innerhalb einer Korporation, 
einer Zunft, eines Standes oder Gewerbes, je nachdem, zur 
Geltung gelangen, Ehre und Rechtsſchutz beanſpruchen könne 
— wer ſich dieſem ſtreng formulierten und genau geregelten 
bürgerlichen Ehrenkoder nicht fügte oder anpaßte, der war 
für die Allgemeinheit einfach nicht mehr vorhanden. Be— 
denklich bleibt hierbei nur, daß die Wahl eines Berufes, die 
Entſcheidung für dieſe oder jene Körperſchaft durchaus nicht 
ins Belieben eines einzelnen geſtellt geweſen iſt, vielmehr 
wieder von ganz beſtimmten Vorausſetzungen abhing. Anderen⸗ 
falls wäre ja gar nicht einzuſehen, warum nicht jeder ſich 
beeilt haben ſollte, „ehrlich“ zu werden, d. h. ſeine Aufnahme 
in einen der vielen geachteten Verbände nachzuſuchen und 
damit an Recht und Geſetz zu partizipieren. Das Kapitel 
von den unehrlichen Leuten des Mittelalters bliebe dann 
ſicher ungeſchrieben! 

Zwei Arten dieſer „Unehrlichen“ ſind beſonders zu unter⸗ 
ſcheiden: einmal jene, denen ſchon durch ihre Geburt ein 
Makel anhaftete, oder die durch ihren gewöhnlich auch er—⸗ 
erbten reſp. aufgezwungenen Beruf rechtlos wurden, und 
dann ſolche, welche durch eigene Schuld infolge rechtswidriger 
Handlungen des Schutzes ihrer Korporation oder ihrer Zunft 
verluſtig gingen, die eigentlichen Verbrecher alſo. Mit Be⸗ 
ziehung auf letztere ſei als Beiſpiel für die naive Rechtsan⸗ 
ſchauung des Mittelalters hier gleich erwähnt, daß ſogar 
die ſtrafrechtliche Verfolgung wie die Vollſtreckung der er⸗ 
kannten Sühne in Händen der beleidigten und geſchädigten 
Körperſchaft, alſo der Familie im weiteſten Sinne, lag. 
War da wohl ein unparteiiſches Urteil möglich? Indes 
ſollen uns hier nicht die Verbrecher, ſondern die „Unehrlichen“ 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


572 


ber erften Kategorie beichäftigen, weil nur biejen nach unierem 
Gefühl offenbares Unredt geihah. 

Zunädft madıten alle Hantierungen unehrlih, welde 
ih mit der Vollftredung von ZTodedurteilen und anderen 
Leibesftrafen befaßten. Bis ins 13. Zahrhundert etwa war 
man entgegengejegter Anficht gewejen. Bei den heibnijchen 
Deutihen gehörten Hinrihtungen zu den Funktionen der 
Briefter, und als mit Einführung bes Chriftentums barin 
eine Änderung nötig wurde, übernahmen die Gemeinden 
gewiffermaßen als Gerchtiame die Verpflichtung zu folchen 
Erkutionen. Bald hatte der jüngfte Nichter (hiervon die 
Vezeihnung „Nadrichter*), bald der jüngite Bürger oder 
Familienvater das peinlihe Gefchäft zu beforgen, meift aber 
fiel e&8 dem „ronboten” zu, dem ehrbaren Diener des Ges 
riht8, der da8 „Türgebot“ (die Ladung) austrug und ben 
Richtern aud) jonjten noch „zur Hand ging“. Ctellvertreter 
waren fhon früher zuläjfig. Erft mit Einführung des jehr 
fomplizierten römiihen Rechts fam das Snftitut der Henker 
oder Scharfrichter in Aufnahme, und zwar zunädjft in den 
größeren Städten, während auf dem Lande (3. 3. in 
Dithmarfchen, Friesland, im Weimarihen u. a. DO.) nod 
lange die alte PBraris beibehalten wurde. Da nun Unfreie, 
meift entlaufene Leibeigene oder begnabigte Verbrecher, fich 
al8 Untvärter für das Henferant meldeten, bie e8 gegen 
Bezahlung und gewerbsmäßig ausübten, auch fehr bald die 
Abdederei 2c. mit übernehmen mußten, fo erklärt fi Daraus 
freilich ihre Unehrlichkeit von felbft. Der Freigeborene hätte 
fih nie und nimmer zu bdergleihen Geichäften hergegeben, 
obihon Veifpiele vorhanden find, daß felbft regierende Herren 
ertappte Wegelagerer eigenhändig auffnüpften, jo ber Herzog 
Otto von Braunfchweig- Lüneburg, vom Volfe Herr „Ott’ von 
der Haide*, von den Shroniften aber „Scheepbeen“ (Srumme 
bein) genannt, und die Herzöge Magnus und Heinrid) von 
Medlenburg. 

Ter Scharfrichter Fonnte nie und nirgends Bürgerrecht 
erlangen, und e8 war ihn aufs ftrengfte unterfagt, am ges 
jeligen Leben der ehrlihen Leute teilzunehmen. Schon 
äußerlidd machten ihn farbige Lappen am NRodärmel oder 
am Slrmelloch des Mantels kenntlich, denn ängftlich mieb 
jeder feine Nähe, wie er denn jelbit auch im Gotteshaufe 
feinen abgefonderten Plat hatte und ftetö als Legter allein 
dag Abendmahl empfing. Tiel er auf offener Straße Erant 
hin, jo regte fich feine Hand ihn aufzuheben, und wenn er 
ftarb, mußten ihn jeine Angehörigen oder Sinechte in aller 
Stille irgendwo vericharren. Der ältefte Sohn erbte bes 
Vater? Gefhäft. Diele Strenge trug natürlich viel zur 
Verrohung des geädhteten Standes bei, und öfter wurden 
fatferliche Freibriefe nötig, um den Henker gegen Ausbrüdje 
der Volföwut zu fhügen. Das Einkommen der Echarfrichter 
freilich‘ war nad) damaligen Begriffen ein bedeutendes, 
namentlih durch die Nebeneinnahmen, wie Reinigen bes 
Hodhgerihtd, Abnehmen und Begraben des Gericteten, 
Stäupen der Landesverwiejenen, Abdederei, Einfangen 
herrenlojer Hunde, Reinigen der Sloafen n. f. f. Der Scharf: 
rihter von Neval bezog 1670 folgende Einkünfte: 50 Thlr. 
Salarium nebft freier Amtsmohnung und Feuerung, 8 Tonnen 
Malz, 3 Tonnen Roggen, 4 Tonnen Hafer, 5 Thlr. Heus 
geld und alle vier Jahre eine komplette Bekleidung nebft 
Scharlahmantel; fenerr 1 Thlr. für jede Hinrichtung, 
Tortur oder Ausftreihen am Pranger; in betreff der Ab: 
dederei: für Wegichaffen eines großen Aafes '/s Thlr,, eines 
fleinen / Thlr.; bes weiteren für Nadtarbeit (Räumen 





573 





ber Stloafen) mit Karren und zwei Pferden jedesmal 4 Thlr., 
ein „Stübchen“ fpanifhen Wein und „genugiam“ Hafer. 
Noch einträglider war der Poften in Hamburg — man 
höre: Freie Wohnung, winters in der Fronveite, jonft in 
der Abdederet auf dem Galgenfeld, jobann ein Salarium 
bon 600 ME. aus der Gerichtsfaffe, ein reichliches Koftgeld 
für bie ihm zugemwiejenen Verurteilten, weitere 600 ME. aus 
der Stämmereilafle für Wegichaffen aller Stadaper von den 
Straßen und aus den Kanälen; für biejelbe Arbeit bei 
Privaten pro Stüd 1 Thlr., für Nacdtarbeit nad Atkord; 
ferner den Ertrag der „Srondpflidt” (einer Art Kollekte, 
welde 1732 der Nat mit 500 ME. ablöfte), endlich für das 
Verfcharren eines GSelbitmörder8 10 Thlre. Nebenbei war 
er vom Kopfgeld und allen bürgerlihen Laften befreit. An 
manden Orten bejaß er Struggeredtigfeit, d. h., er durfte 
eine Schänfe aufthun für alles unehrlihe Wolf, was natür= 
fi der Polizei die Überwachung des vagierenden Befindels 
fehr erleihterte. Mit dem Scharfrichter felbft galten aud 
feine Angehörigen, Weib und Kinder, joiwie feine Gehilfen, 
die Stodfnehte oder Schinder, für unehrlid. Ihre Woh- 
nungen befanden fi außerhalb der Städte, und durften fie 
legtere nur zu gewiflen Zeiten beireten, fi aud) nur in bes 
ftimmten Straßen oder Bierteln aufhalten. Und doch Holte 
fih da8 abergläubiiche Volf gerade bei dieſem verachteten 
Manne Rat in allerlei Nöten und Strankheiten, weil ihm 
geheime Wiffenichaft zugetraut wurde. So hat fih ein 
Scharfridter von PBaffau durd den Zerfauf von Amuletten 
gegen Schuß, Hieb und Stich berühmt gemadt: mit frembd- 
artigen Schriftzeichen bedrudte Zettel, die auf dem bloßen 
Zeibe getragen werden mußten, da, „wo ba8 Herz an die 
Rippen podht!" Tieie „Paflauer Kunft“ war unter dem 
Soldatenvolf beionderß einträglid. Der Henker von Bilfen 
wiederum verftand Freilugeln zu gießen, die nie ihr Ziel 
berfehlten, während noch andere gegen Feuers: und Waffer?- 
gefahr „feit“ machen Eonnten. Auch mit dem Ausgraben der 
wunderbaren Epringmwurzel jollte fi) der Scharfrichter be⸗ 
faffen, die man Alraun oder Galgenmännlein nannte, weil 
fie nur unter dem Galgen vom Todesichweiße der Gerichteten 
wuhs und ihrem glüdlichen Befiger alle verborgenen Schäße 
über und unter der Erbe anzeigte. Wer dad warme Blut 
Enthaupteter trank, Eonnte fid daburd von ber „fallenden 
Sudt“ (Epilepfie) heilen, und nur der Henfer Eonnte diejes 
graufige Mittel beihaffen — der legte Tall diejer Art datiert 
vom Sabre 1812 (in Hejlisch-Neuftadt) — wohl bekomms! 
Bon den übrigen unehrlihen Leuten in einem anderen 
Artikel... 


A. Stanislas. 


Mädchens Klagelied. 


Das hätte ich nimmer gedacht, 

Daß Fluten des Sees, haſtig und heiß, 
Über Nacht 

Erſtarren könnten zu Eis. 


Das hätte ich nimmer gedacht, 

Daß Blätter des Baumes, ſaftig und grün, 
Uber Nacht 

Verdorren, welken, verblühn. 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗-Zeitung. 


574 


Das hätte ich nimmer gedacht, 

Daß Freuden der Jugend, heiter und hell, 
Über Nacht 

Erfterben könnten jo fchnell. 


Tas hätte ich nimmer gedadt, 

Daß Treue der Liebe, lieblidy und Lind, 
Über Nacht 

Verichwinden kann wie ein Winb. 


Das hätte ich nimmer gebadht, 

Daß Augen verftrömen Thränen fo viel 
Über Nadıt, 

En viel wie Frühtau fiel. 


Dermildtes. 


Eigenmädtige Iufli,. Im Jahre 1576 lebte zu Star 
gard an der Shna der Bürgermeilter Joahim Appelmann, 
al8 ftrenger, aber gerehter Mann geadhtet und verehrt. 
Reichtümer und Würden befaß er genügend, aber fein einziger 
Sohn madhte ihm von Kindesjahren an Kummer. Die Er⸗ 
ziehung des Stnaben war eine etwas lare geweien, das Kind 
war gewöhnt zu erhalten, wa8 e& forderte, und eventuell 
feinen Willen durd; Drohungen und ungebärdiges Betragen 
durchzuſetzen. 

Als der Sohn älter und ſein Lebenswandel ein immer 
ausſchweifenderer und wüſterer geworden war, ſagte ſich ſein 
Vater ganz von ihm los, und der Verſtoßene that einen für 
ſeine Verhältniſſe verzweifelten Schritt, indem er ſich als 
Soldat anwerben ließ. Bei ſeinem Hang zum Leichtſinn 
und zu übermäßigen Ausgaben war es kein Wunder, daß 
er wegen Diebſtahl, Schulden und anderer geſetzwidriger 
Handlungen verſchiedene militäriſche Haftſtrafen zu beſtehen 
hatte. Da erſchien er plötzlich in jenem Jahre 1576 zu 
Stargard bei ſeinem Vater und verlangte zum ſo und ſo 
vielten Male Geld. Der Vater weigerte ſich, dem Leichtſinn 
des Sohnes neue Summen zu opfern, und dieſer nahm ſeinen 
Aufenthalt in dem benachbarten Dorfe Brokhauſen. Von 
hier aus richtete er an ſeinen Vater einen Brief, in dem er die 
— für damalige Verhältniffe große — Summe von hundert 
Thalern forderte. Sollte der Vater nicht geneigt fein, ihm 
die Summe zu fenden, jo würde er die vor dem “Thore ges 
legenen väterlihen Scheunen und Schäfereien niederbrennen. 

Der ungeratene Sohn mag Sich wohl des weiteren feiner 
Drohung gerühmt haben; denn die Nachbarn jener bedrohten 
Schäfereien erfuhren davon, gerieten in unendliche Angft und 
wendeten fih fchließlid an den Magiftrat um Hilfe. Der 
Magiftrat wurde eiligft zu einer Sigung zufammenberufen, 
erkannte an, daß die Sicherheit jener Gehöfte gefährbet fei 
— und forderte den Bürgermeifter auf, für feinen Sohn 
und für den etwa dur ihn entftehenben Schaden die Bürgs 
Ichaft zu übernehmen. Der tief gefränkte Vater erklärte allen 
München gerecht werden und die Gefahr fofort befeitigen zu 
wollen. Saum war er vom Rathaufe zurüdgelehrt, jo endete 
er den Scarfridhter und den Stadtbüttel hinaus nad) Brot» 
haufen, wo der ungeratene Sohn nod immer der mit 
Drohungen erpreßten Gelbfumme harrte. Büttel und Scharf» 
richter bemädhtigten fich feiner, und bald erjchien fein Vater, 
der ihm mitteilte, daß er fterben müffe, und daß ihn ber 
mitgefommene Prediger auf den Tod vorbereiten würde, den 











575 


ber Scharfrichter fofort zu vollftreden habe. Der Sohn nahın 
natürlich diefes plögliche Todesurteil nicht ruhig Hin, er tobte, 
rafte, verlegte fih dann aufs Bitten, verijprahı Frieden zu 
halten und volftändige Befferung, aber der Vater ließ fid 
durch nicht8 erweihen, und der Sohn wurde noh an dem- 
felden Tage hingerichtet und fein enthaupteter Leihnam im 
Kirhturme bed Dorfes begraben. 


Bürgermeifter Appelmann wurde von feiner Seite wegen 
dieſes raſchen und eizenmächtigen Suftizaktes zur Berant- 
wortung gezogen, man bemwunderte fozar feine Hındlung®- 
weile und fand fie der des Brutus würdig. der feinen eigenen 
Sohn, der genen den Befehl fih mit dem Feinde in einen 
Kampf eingelafien, dem Liftor übergab, um ihn vor feinen 
Augen zu enthaupten. 

Und doh war die That des Bürgermeifterd eine durd- 
aus ungefeßliche, wenn fie auch heroifch außfehen mag. Die 
Stadt Stargard hatte zwar Ihon im Jahre 1409 vom Herzog 
Bogislam VII. da „freie Geriht an Hals und Hand“ er- 
halten, aber der Bürgermeifter allein Eonnte fein Todes 
urteil fällen, dazu war ein Gerichtöhof und eine Gerichts 
verhandlung notwendig. Aber felbft in einer folhen wäre 
ber ungeratene Sohn nie zum Tode, fondern nur zu einer 
TFreiheitäftrafe verurteilt worden, denn er hatte ja feine 
Drohung eben nody nicht ausgeführt, und vielleiht war e8 
ihn gar nicht fo ernft mit derjelben. 

Der nädjite, Hiftoriich feititehende ‘all ift noch viel 
trauriger und ungeredhter. Er fptelte in den erften Sahren 
bes fürdhterlichen breißigjährigen Krieges, nämlich 1623, alfo 
zu einer Zeit, wo NReht und Belek in Deutichland fchon 
ftellenweife ihre Wirkung verloren hatten. In Oftfriesland 
hauften Damals die Scharen ber beiden Abenteurer, des Grafen 
von Manzfeld und des Herzogs Chriftian von Braunſchweig. 
Erfterer Hatte fein Standquartier zu Leer und hatte dahin 
eine Anzahl feiner Offiziere mit deren Frauen zu einer Bes 
wirtung geladen. 


Die Frauen vergnügten fih untereinander in einem Ge- 
mache, neben dem ‘yeitiaal, in welchem nach der Tafel ein 
wüftes Zecdhgelage entitand und der Wein den Gäften gar 
zu fehr zu Kopfe ftieg. Im Raufche begann man mit Liebes- 
abenteuern zu prahlen, und einer ber betrunfenen Offiziere 
rühmte fich laut der Liebesgunft der Frau des anweſenden 
Dberften Joahim von Garpigo. Diefer geriet darüber außer 
fih, anftatt aber der Sache auf den Grund zu gehen, fchentte 
er ohne weiteres den Worten des Betrunfenen Glauben, rief 
feine rau aud dem Nebenzimmer ab unb erflärte ihr, fie 
müffe fofort mit ihm nach feinem Standquartier Jemgum 
aufbrechen. Die nihtsahnende Frau war über den plößlichen 
Aufbruch wohl erftaunt, befolgte aber den Befehl ihres Gatten 
und fuhr mit diefem ab Cr benahım fich auf der Fahrt ganz 
ruhig, nur blieb er ziemlich einfilbig. 

Zu Haufe angelommen, erklärte jeboh don Garpibo 
feiner Frau, daß fie ihn verraten und feine Ehre geichändet 
habe, und daß fie daher fterben müffe. Die Frau wollte 
ihren Ohren nicht trauen und glaubte wohl nicht redht an 
ben Ernft diefer Worte, zumal fie fih aud feiner Schuld be= 
wußt geweſen fein mag. Ihr Mann hatte fie eingeiperrt 
unb ihr erklärt, daß das Urteil am folgenden Tage vollftredt 
werden follte. In der That erichten aud) bald ein Prediger, 
ber die Verurteilte zum Tode vorbereiten follte An ihn 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


576 


wendete fie fih nun um Hilfe, und derfelbe Tieß fich herbei, 
den ZBermittler und dem rafenden Oberften Far zu machen, 
da& die vorhandenen Beweile, beftehend in der Auslage eines 
Betrunfenen, nicht genügten, um bie jofortige Hinrichtung 
der Frau zu rechtfertigen, daß diele? fid) unichuldig fühle 
und auf einer orbentlihen Geridhtsverhandlung beitände, 
bei welcher fie fidh verteidigen fönne, und bei welcher ihr 
derjenige, ber fie des Treubruch® befhuldige, gegenüber ge- 
ftellt werben möge. 

Indes der raſende Gatte war feinen Vernunftgründen 
mehr zugänglid. Er wies alleö zurüd, beharrte darauf, daß 
feine Frau fterben müffe, ließ einen Scharfrichter fonımen, 
der gar nicht mußte, um mas e8 fich handle, und richtete 
ein Zimmer für die Hinrihtung ein. Am anderen Tage, 
e3 war am 28. Suli 1623, wurde die „Verurteilte” herein- 
geführt und dem Henfer zur Urteilsvollitredung übergeben. 
Diefer erfuhr bald, daß er die Frau des Oberſten vor ſich 
habe und wollte nun das Schriftliche Urteil des Gerichtshofes 
fehen, durch welches die Frau zum Tode verurteilt fei. Alg 
der Oberft dies natürlich nicht vorzeigen fonnte, erflärte der 
Scharfridter dann auf feinen Tall feines Amtes walten zu 
fünnen. 


Hierüber geriet der Oberft in furchtbarite Wut, erklärte 
feine Frau für eine Schwere Verbrecyerin und Sünberin und 
Ichleppte fie felbit zum NRichtblof, um fie dort feitzubinden. 
Dann ergriff er das Hentkerbeil, um ihr den Todesftreich zu 
berjegen, und al8 ihm der Scharfrichter dasjelbe entriß, be= 
brohte er ihn mit dem fofortigen Tode, wenn er da3 Urtell 
nit vollftrede. Der Scharfrichter fügte fich darauf, und ber 
Kopf der Tsrau fiel. 


Auch Oberft von Sarpigo blieb wegen diejer eigenmächtigen 
Handlung unbehelligt, nur einige Zeit Ipäter verjuchte eine 
Anzahl von Matronen ihn in Holland für feinen Mord an 
der Gattin zu fteinigen. 


Kardinal Nikolaus von Gufa fchrieb 1452 ein Wert 
unter dem Titel: „Konjekturen* und verfünbigte darin, 1734 
würde die Erde dur eine zweite Sündflut untergeben. 

ALS Dies nicht eintraf, erichten bald darauf eine Brofchüre, 
in welcher zur Ehrenrettung des Kardinals bemwieien wurde, 
daß dieje zweite Sündflut niht aus Mangel an Sünden, 
jondern au Mangel an Waffer unterblieben fei. 


Inhalt der No. 47. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Forti. — 
Schwertflingen. Baterländiiher Roman von Hans 
Werder. Fort. — Beiblatt: Erinnerung. Von Erid 
Shwart. — Ein pädagogiiher Brief. Bon Adolf 
Wilhelm Ernft. — Morgenlied. Von Oscar Linke. — 
Achter die Lehrerin. Von M. Müller. — In Ruhe fingen. 
Bon Ropa. — Aphorismen. Bon Conrad Timm. — 
Die „unehrlihen” Leute des Mittelalters. Bon A. Sta- 
nislas. I. — Mädchens Klagelied. — Bermifchtes. 


Berantwortliher Leiter: Dito von 2eirner in Berlin, — Verlag von Dtte Jante in Berlin. — Drud ber Berliner Buchbruderels Aktien Befellichaft 
(Gegerinnen » Schule deß Leite» Vereins). 


4 
— — — ch PERS — 











Deutſche 


Roman-Zeitung. 


—1896. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 
beziehen. 


Erfheint mwöchentlid zum Preife von 3% A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 





Ne 48, 


Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober. 
m 


Art zu Art. 


Roman 


von 


HJ. Schobert. 


(Fortſetzung.) 


Maud war längſt verſöhnt, ſeine letzten Worte 
entwaffneten ſie vollſtändig, mit leiſem Lächeln ſtreckte 
ſie ihm die Hand entgegen. „Sie dürfen mir nie— 
mals böſe ſein, wenn ich Ihnen ſo etwas ſage,“ 
verſicherte ſie ihm mit beſtrickender Liebenswürdigkeit. 
„In nicht zu langer Zeit werden Sie ein großer 
Künſtler ſein, das heißt, Sie ſind es ſchon jetzt, ich 
meine alſo nach außen hin berühmt, da müſſen Sie 
auch in den geſellſchaftlichen Anforderungen erfahren 
= befannt genug fein, um feine Berftöße zu be: 
gehen.” 

Er faßte in die Brufttafhe und holte einen 
ganzen Pad Zeitungen, in denen die Kritilen über 
feine Gruppe ftanden, hervor und hielt fie ihr hin. 
Naive Freude, Stolz und Eitelkeit leuchteten aus 
Een Geliht. „Wollen Sie lefen? Hier fteh ich 
rin.“ 

Sie nahm die Zeitungen und legte fie in ihren 
Schoß. „Ih kenne das alles, jebes Wort. Mir ift 
es noch nicht genug. Eben darum möchte ich, daß 
Sie mir aud ein Heines Teil an fi gönnen, jei es 
nun erziehend oder belfend.” 

Er Iprang vollends auf und ftampfte ungeduldig 
mit dem Fuß. „Aber Sie find ja eine Frau.“ 

„Eben deshalb.” Wie fein fie Iächelte „Der 
Standpunkt, auf den Sie die Frau ftellen, ift mir 
längit Ear,“ immer noch jaß fie unbeweglih und 
fahb zu ihm auf; die Sonne fchimmerte in ihren 
goldbraunen Augen. „Aber er ift nicht der richtige. 
Bei der Frau aus dem Boll, aus dem Sie hervor: 
gegangen find, mögen Sie recht haben, fie fennt nur 
ihre Keine Aufgabe, bei uns ift das aber anders. 
Wir werden nicht zur Dienerin jonbern zur Gefährtin 
des Mannes erzogen, und es ift Unverftand, uns 
diefe Stellung jtreitig maden zu wollen.“ 

Er jah über fie hinweg auf die rotbraunen 
Kiefernjtämme, blies die Baden auf und jchwieg. 


Roman sZeltung 1896. Lief. 48. 


„Haben Sie eine Braut?” fragte Maud plöglid. 

„Rein!“ 

Das war Wahrheit. Sie feufzte erleichtert auf. 
„der ein Mädchen aus Shrem früheren Leben, das 
Sie zu heiraten gebenten ?” 

„Rein.“ 

„Seien Sie froh! Nichts ift für einen Künftler 
eine fchwerere Zaft, nichts zieht ihn To herab als eine 
unebenbürtige Gefährtin, Heinliche Allüren und An- 
Ihauungen im eigenen Haus. Ind nun helfen Sie 
mir auf, wir wollen nah Haufe gehen.” 

Sie jtredte ihm beide Hände entgegen, und 
er 30g fie mit einem Nud in die Höhe. Sie jhüttelte 
ihr Kleid, dennoch blieben einige Nadeln hängen. 

„Helfen Sie mir do,” fagte Maud, und er 
begann fie gewiflenhaft abzullopfen, etwa mit dem 
Ernft und dem Gewicht, wie er es vor zwanzig Jahren 
mit ber Kleinen Eva Leitner gemacht hatte, wenn fie 
fih im Heu gewälzt hatten. Maudb jpürte die Ey: 
klopenfauſt wohl, jagte aber nichts, fie blidte herunter 
auf ben geneigten dunklen Kopf, und dann löfte fie 
mit jpigen Fingern wortlos die Nadeln, die noch in 
dem welligen Haar gefangen jagen. Yhm Ihoß das 
Blut in das Gefiht — und völlig Ichweigend legten 
fie den Heimmweg zurüd. 

„Mein Gott, wie hr ausfjeht,” jagte Luzie, die 
ihnen auf dem SKorridor begegnete. „Kein Wunder 
bei der Bärenhite! Wer geht an jolhem Tag um 
die Mittagszeit Ipazieren!” | 

„Das gnädige Fräulein gerubten mich zu ver: 
geilen,” jagte Emil, der mit einer läjligen Verbeugung 
näber trat. „Ich Eonftatiere, daß, genau nach der 
Uhr, der Spaziergang ein und eine halbe Stunde 
gedauert hat.” 

Maud warf ein wenig den Kopf zurüd. „Hätte 
ih gewußt, daß Sie mit der Uhr vor fi Täßen, 
würde id noch eine Stunde zugegeben haben.” 


IV. 4 


579 Art zu Art. 
Heelen hatte fih gleich davongeichlihen, ohne 
ein Wort zu jagen. Er traf oben Fortunat mit 
Briefihreiben beichäftigt und warf ſich daher Jofort 
auf das Sofa, ohne ihn zu begrüßen. Ein jeltiames 
Gefühl quälte ihn, beunruhigend und unbehaglidh 
gleichzeitig, dennoch war auch etwas barin, das feine 
Sinne fitelte. Mauds Finger, als fie jein Haar be: 
rührten, hatten diefe Wirkung zuerft hervorgerufen, 
und nun wurbe er fie nicht los. Gleichzeitig fragte er 
fih, ob er ihr benn gefiele, daß fie fi jo mit ihm 
bejchäftigte, und das jchmeichelte feiner neuerwachten 
Eitelkeit. Bisher hatte er niemals fich neben Xer 
und Emil in Betracht gezogen. 

Endlih war Fortunat fertig; während er das 
Souvert jhloß, jagte er: „Du warft mit Mi Winter 
Ipazieren. Nun? Am Ende gefällt fie Dir jegt befjer.“ 

„Sie ift ein verrüdtes Frauenzimmer,” entgegnete 
er mürriſch. 

FSortunat late. „Weil fie Dich umjchmeichelt, 
liebenswürdig zu Dir ift? Ah, mein guter Martin, 
das wirft Du mit der Zeit jchon gewohnter werben, 
je berühmter Du wirft; darin find alle Frauen 
gleih. Sie jeten uns zuerft auf einen Altar und be: 
mweihräuchern uns, wenn es ihnen der Mühe wert 
ericheint, in der ftillen Hoffnung, daß wir hernach ber: 
abfteigen und uns ihnen gehorfam zu Füßen legen. 
Darauf find fie dann erft ftolz. Was aber Miß Winter 
anbelangt, jo it e8 bei ihr doch etwas anderes. Sie 
liebt die KRunft und fieht in Dir ihren berufenen 
Vertreter, deshalb braucht fich Deine PBerjon nicht 
allzuviel einzubilden.” 

Mit einer gewillen Scheu hielt fich Heelen troß: 
dem die nädhfte Zeit ferner von Maud, und es wurde 
ihm nicht jchwer gemadt, denn Emil drängte fidh 
auffallend an die Amerikanerin heran, entichloffen, 
niemand Gelegenheit zu geben, fich feiner erwählten 
Beute zu bemächtigen. Im flilen baßte er Heelen, 
jowohl um des Erfolges willen, den er mit feiner 
Schöpfung davongetragen, während man ihn von der 
Austellung zurüdgewieien, ald au um Mauds 
willen, die ihn jo offenbar bevorzugte; Furz, feine 
ganze Fleinliche, neidiihe Natur hatte fih auf biejen 
einen Menſchen verbiſſen. 

Dennoch konnte er ihm weder ſchaden noch aus 
dem Hauſe ſeines Vaters ausweiſen. Nur herabzu— 
ziehen vermochte er ihn, und das that er, wo ſich 
ihm Gelegenheit bot, ohne daß ſich Heeken der per— 
fiden Spitzfindigkeiten ſo recht bewußt wurde. 

Es hatte gewittert. Endlich, nach ewig langer 
Zeit war der Erde dieſe Erquickung geworden. Der 
Profeſſor ſaß in ſeinem Zimmer, die Jugend auf der 
überdachten Veranda, während der Regen, in leiſen 
Schleiern niederwallend, mehr und mehr ſich in Nebel 
auflöſte, um endlich ganz aufzuhören. 

Emil hatte vorgeleſen. Ein ſchönes, tief empfun— 
denes Gedicht aus einem der auf dem Tiſch liegenden 
Journale. Jetzt ſog er an ſeiner Cigarre weiter und 
ſagte: „Wenn nur nicht alles, an dem wir uns zu 
erbauen verſuchen, ſo unwahr wäre, dieſe ſchönen 
Gefühle hegt keiner von uns, es möchte ihm auf die 
Dauer auch wohl übel bekommen. Welch ein poe— 
tiſcher Vorwurf zum Beiſpiel, daß Heeken ſeine Mutter 


Roman von H. Schobert. 


580 


zu ſich berufen hat, nun es ihm gut geht; und in 
Wahrheit — wie proſaiſch; er will nur, daß ſie für 
ihn ſorgt, ſtatt bezahlter Hilfe.“ 

„Ich will auch, daß die alte Frau das Leben 
etwas leichter hat,“ ſagte Heeken gleichmütig, „Land— 
arbeit iſt ſchwer für alte Knochen.“ 

„Mein Lieber,“ fragte Emil, „trägt Ihre Mutter 
noch die Tracht der Bewohner Ihres Dorfes? — 
Kurze Röcke und Hauben mit Bändern, nicht wahr?“ 

„Ja, ſo ſehen ſie aus. Und meine Mutter na⸗ 
türlich auch.“ 

„Da werden die Städter aber Augen machen, 
wenn Sie mit Ihrer Mutter ſpazieren gehen!“ ſpottete 
Emil. „Der berühmte Künſtler, Martin Heeken — 
am Arm ein Dorfweiblein.“ 

„Erſtens bin ich gar kein ſo berühmter Künſtler, 
wie Sie ſpottweiſe ſagen, Quenſel, und dann mögen 
meinetwegen die Leute gucken, das geniert mich doch 
nicht,“ meinte Martin ruhig. 

„Uberhaupt, Emil,“ fuhr Fortunat auf, deſſen 
idealer Vorſtellung von Eltern- und Kindesliebe die 
Idee entſprungen war, und der ſich nun tief getroffen 
fühlte, „lege nicht an alles, was Gefühl heißt, Deine 
zeriegende Kritif, Du kennft dergleichen überhaupt 
nicht.” 

„D, doch,” antwortete der, mit einem ausdrude- 
vollen Blid auf Maud. — 

Und an biele wandte fidh jeßt au Fortunat. 

„Sagen Sie jelbit, Miß Winter, giebt es wohl 
etwas Erfreulicheres, als einen Sohn, der durdh jeine 
Kunft oder dur feiner Hände Arbeit eine alte 
Mutter ernährt, jo einen Teil von dem abzahlend, 
was er ihr feit feiner Geburt jhuldig geworben ift. 
Giebt es überhaupt etwas Erhabeneres als Eltern: 
liebe und Kindesdant? Kann Martin nicht glüdlich 
fein, daß er überhaupt no eine Mutter befigt? 
Würden Sie nicht genau ebenjo handeln?“ 

„Nein,“ jagte Maud kühl, und ihre Blide glitten 
von Heelen zu dem aufgeregt Spreddenden. — 

Emil lachte. 

„Rein? Wie fol ich das verftehen?” fragte 
Ler piliert. „Sie als Frau müßten do noch viel 
weicher fühlen wie ih als Mann.” 

„Das Verhältnis der Kinder zu den Eltern be- 
ruht zum größten Teil auf einem Zwang, dem fie 
lich fügen, weil bie Sitte es von ihnen verlangt,“ 
lagte Maud kühl. „Hätte mich Herr Heelen gefragt, 
ih würde ihm abgeredet haben.” 

„Spreden wir zuerft einmal im allgemeinen, Miß 
Winter. Was haben Sie gegen meine Anjidhauung, 
daß Eltern: und Kindesliebe das Sdealfte im Leben 
jei und erfi mit dem Tode aufhört.” Fortunat war 
jehr in Erregung, es that ihm ftets perfönlich weh, 
wenn jemand mit frivolem Finger an das Stüdchen 
Eden taflete, das er fich unverdroffen immer wieder 
in die Wirklichkeit bineintrug. 

„sn der Entwidelung des einzelnen Menichen,“ 
lagte Maud mit der ihr oft eigenen Schärfe und 
Kühle der Überlegenheit, „tritt der Moment ein, wo 
er ftillfieht. Er kann fi nicht mehr fortentwideln, 
nicht weiterbilden, er mwädhlt feft! Und von biefem 
feftgewadhjenen Standpuntt aus betrachtet er nun 


— — — — 


581 


alles. Die Fortentwidelung der Kinder, die er nicht 
mehr verftehen und mitempfinden kann, ift ihm zuerft 
unbegreiflih, dann erzürnt fie ihn, er ruft feine 
Autorität dem Jüngeren gegenüber zu Hilfe, unb 
erdrüdt ihn nun entweder, oder treibt ihn von fid. 
Das ift im allgemeinen meine Anficht der Sadje. Bei 
Herren Heelen aber noch im bejonderen hätte ich abge: 
raten. Er ift der ganzen Sphäre entwacdjlen, in der 
feine Mutter lebt, und er fann niemals wieder in 
biejelbe zurüd. Sie haben aljo Fein Berflänbnis 
mehr füreinander, find fih bemnadh beide ein 
Hindernis,” 

Shre Augen bligten, ein harter Zug lag um den 
bübjchen Mund. 

„D, mein Gott,” meinte Fortunat Kleinlaut. 
„rau Heelen macht gewiß nicht den Aniprud, Ein: 
Muß auf ihren Sohn zu gewinnen, nicht wahr, 
Martin?” 

„Die Mutter? Nein!” Er drehte nachdenklich 
an feinem Bart. „Sie wird Tochen, mwaichen, fliden 
— wie zu Haufe.” 

Maud zudte die Adhjeln. 

„Wäre ih Mann — hätte es Feine Art; ih 
wollte hinauf — hinauf.” Sie runzelte die Stirn. 
„Aber was reden wir denn; es ift geichehen, nicht 
wahr?” Sie lehnte fih über den Tiih und Jah 
Heelen an. 

„Montag kommt fie,” war feine Antwort. Es 
fam ibm nun vor, als dente audy er nicht mit allzu 
großem Behagen an diefe Ankunft. 

„Dann ift alles weitere Reden überflüffig.” 

Sie lehnte fich wieder in den Sefjel zurüd und 
Iprad mit Emil, während Luzie triumphierend zu 
Fortunat flüfterte: 

„Diesmal haben Sie aber einen Kapitalbod 
Maud gegenüber geichofien, Ler. Sa, die freien Ameri: 
fanerinnen räumen auch mit Traditionen auf.“ 

„Ste ift eine ganz herzloje Perjon,” fagte er 
wütend. „Wenn fie nur wüßte, wie häßlich jo etwas 
von Mäbdchenlippen Elingt.” — 

Ein paar Stunden jpäter fiel Yuzie ihrem Bruder 
um den Hals. 

„Emil, Du warit einig! Daß Du Heelens 
Mutter ins Treffen führteft, ift ein großartiger Er: 
folg gewejen. Jhm verzeiht fie feine Herkunft jeines 
Nuhmes wegen, aber fo ein altes Dorfweib — das 
geht doch über ihre Kraft. Hat fie jemals ernftlich 
an ihn gedadt, nun ift er abgethan.” 

„Was für eine dee, Luzie,” jagte er lachend. 

Sie wiegte den Kopf hin und ber. 

„Man jol jagen, was 'ne Sade ift,“ meinte fie 
dann, „aber nun ift es vorbei.” 


Zwölftes Rapitel. 


„Sol ih Sie auf den See fahren, Fräulein?” 
Martin Heelen war jchon von dem jchmalen Steg 
herab in ein Boot geiprungen, und auf das Ruder 
geftügt, das er ergriffen, ftand er nun da und jah 
zu ihr auf. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





582 


„Sa, wenn ein Schiffer zur Hand wäre, aber 
ich jehe niemand.” 

Sie jah Ipähend unter dem großen weißen eber: 
Hut herum, ob fich nicht jemand fände. 

„Das Tann ich felbfi, vertrauen Sie ih nur 
mir an, oder — haben Sie Furcht?” 

„Rein!“ 

Er ftredte ihr die Hand entgegen, und fie trat 
in das Boot. Dabei jah er wieder viel weiße Spißen, 
die Ihmalen Ladihuhe und atmete den Blumenbuft, 
der ihre Perfon umgab. Daß er das alles mit einer 
gewillen erregten Neugierde betrachtete, Tonftatierte 
er eritaunt bei fich jelbft. 

Maud fegte fih zuredt. Es war heiß, aber 
fein heller Sonnenidein, fo daß fie ihren Schirm 
nit aufzufpannen brauchte; dafür jah fie ihm zu, 
wie er die Kette löfte und das Boot abtreiben ließ. 
Nah den eriten paar Schlägen 309 er indes bie 
Nuder wieder ein, 308 die Manichetten aus, und mit 
einem Rud warf er dann aud Rod und Kragen ab. 

„S9,” lagte er, fi mwohlig dehnend, „da hat 
man L2uft und fanın auch die Arme regen.” PBlötlich 
fiel es ihm beflemmend ein, ob er das auch dürfe. 
„Es geniert Sie doch nicht, Fräulein?” 

Maud jhüttelte den Kopf. „Nein!” fagte fie 
wieder in ihrer furzen Manier, ohne zu lächeln. 

Nun flog das Boot dahin, er regierte es mit 
nervigem Arm; vom Ufer aus waren fie wohl nicht 
mehr zu erlennen. 

Maud jah anfcheinend ins Weite, in Wahrheit 
beobadhtete fie ihr Gegenüber. So vorteilhaft wie 
in diefem Augenblid hatte er fich ihr noch nie ge: 
zeigt. Die breite Bruft bob fih in tiefen, regel: 
mäßigen Atemzügen, auf der Stirn perlten Schweiß: 
tropfen; in dem janften Grau von Himmel und 
MWafler nahm fih fein eigenartiger Kopf ganz be- 
jonders gut aus. Und dabei entftrömte der ganzen 
Geftalt des Mannes eine Kraft, ein ruhiges Sich: 
bewußtjein biejer Kraft, das Maud imponierte. 

Sie hatte es jet gar fein Hehl mehr, dak ihre 
Augen an ihm bafteten, und er fühlte es endlich, 
obgleih er zu Anfang wenig an ihre PBerjon gedacht 
hatte. Nun fiel es ihm ein, daß fie zum eriten Mal 
wieder allein waren feit jenem Waldipaziergang, und 
mit der Erinnerung Tam ihm auch jenes jchmwüle 
Empfinden wieder, was ihn damals beherricht hatte, 

Sie 308 den Handihuh ab und taudte die 
Hand in das laue Wafler. Es lief ihr durch die 
Finger und ließ die jchmalen, zarten Glieder no 
viel jchlanker und jchmaler erjcheinen. Unmwillfürlich 
ah er ihrem Spiel zu. 

„Das kann ih au,” fagte er plöglich laut, 
„)o eine Hand formen.” 

Sie jahb auf. „Meine Hand? D, das wird 
Shnen gewiß nicht jchwer.” 

„Ich babe es nicht wieder gethan, jeit ich von 
der Afademie fort bin. Zu jo was Seinem, Zartem 
babe ich Feine Luft. Aber Jhre Hand, die ift Ichön, 
die möchte ich wohl modellieren.” 

Sie wurde rot vor Vergnügen. In ihrem 
ganzen Xeben hatte feine Schmeichelei einen ähnlichen 


583 








Eindrud auf fie gemadt. „Wenn Sie mich dazu 
nötig haben, ich bin jeden Augenblid bereit.” 

„Aber natürlih brauche ich Sie dazu — wenn 
e8 Shnen nicht leid wird, Fräulein.” 

Er hatte. die Ruder eingezogen, der Kahn jchien 
ftillzuliegen auf dem Klaren, ruhigen Wajler. 

Sie 309 die Hand in die Höhe, gligernde Tropfen 
hingen noch zwilchen den Fingern, und hielt fie ihm 
hin: „Sch gebe fie Zhnen darauf jchon jegt, in 
aller Form.“ 

Er ergriff fie beinahe jcheu. Syn feiner heißen, 
Cyflopenhand verihwand fie völlig. Und dabei 
war fie jo weich, jo fühl, jo ganz anders als 
die Hände, die er jonjt gewohnt war zu drüden. 
Es riejelte ihm jelbit ordentlih fühl den Naden 
herab, und dies Gefühl war ihm neu und angenehm. 
Anftatt loszulafien, hielt er nur immer fefter. 


Maud duldete es jchweigend eine ganze Weile. 
„Herr Heelen!” jagte fie endlih und machte eine 
befreiende Bewegung mit den Fingern, „ich babe 
eine große Bitte an Sie.” 

Er jah erftaunt auf. Was konnte er für fie tun? 

„sh möchte Shre Gruppe in Marmor ausge: 
führt haben, aber recht bald, denn wer weiß, wie 
lange ih no in Deutichland bleibe. Natürlich in 
feinen Dimenfionen, etwa einen halben Meter hoch. 
Das geht doch?” 

Er Jah fie jo fafjunglos an, daß er das Ant- 
worten vergaß. 

„Ss geht doch?” wiederholte fie noch einmal. 

„Ja — e8 geht — aber — aber, Fräulein, 
das wird ein teuerer Spaß für Sie.“ 

Sie jchüttelte den Kopf. „Das ift gleichgültig. 
Sch will es natürlihd nicht geichentt haben; Sie 
wijlen vielleicht nicht, daß ich reich genug bin, jolchen 
Liebhabereien nachzuhängen. — Hier fragt es id 
nur, ob Shnen die Arbeit paßt.” 

„sn Marmor!” jante er ganz verklärt. „Und 
ob mir das paßt? — D, Fräulein, ich freue mich 
darauf — ich danke Jhnen herzlih... in Marmor 
mein Model! Das war mein größter Wunjch.“ 

„Allo, abgemadt?“ 

„sa! Abgemadht!” 

Er hatte das Mädchen vergejlen, er dachte nur 
no an jeine Aufgabe. Am liebiten hätte er gleich 
heute angefangen, der Boden brannte ihm unter 
den Füßen. 

„Sie jollen nur jehen,” jagte er ganz aus fich 
jelbit heraus. „Wie anders das mirkt! Es giebt 
nichts Edleres ald Marmor.” 

„Weshalb arbeiten Sie dann nicht immer darin?” 

Er ladte.. „Weil es teuer ift, jehr teuer! 
Ein armer Teufel wie ih Tann fich foldden Lurus 
nicht leiſten.“ 

„Sie müßten eben ſehen, es möglich zu machen. 
Wenn Ihr Herz doch daran zu hängen ſcheint, giebt 
es auch Mittel und Wege dazu.“ 

„Nein, die giebt's nicht,“ ſagte er energiſch, 
„für einen anſtändigen Kerl nicht. Oder glauben 
Sie, ich kann mit einem Stipendium eine Arbeit in 
Marmor ausführen? Dazu reicht es nicht.“ 


Be \ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


584 





— — — — — — — — 


| 





Sie jah ihn ernithaft an. „Das dachte ich aud) 
nicht — es giebt andere Wege, jollte ich meinen.” 
D, wenn fie ihm jet ihre Kafje hätte zur 
Verfügung ftellen fönnen! Aber fie wagte es nicht, 
vielleicht verdarb fie mit einem Schlage alles. Da 
war jhon Fortunats Bermittlung das beite. — 

Inzwilhen warf er den Kopf rüdmwärts und 
ihüttelte das Haar. „Wenn etwas ganz unmöglich 
it, jol man feine Gedanken nicht daran hängen,” 
lagte er ruhig. „Es wird auch jo gehen, der erite 
Schritt ift wenigftens gethan.” 

Da neigte fie fi vornüber und jagte ihm mit 
gedämpfter Stimme wieder alles Begeifterte, was fie 
für jeine Schöpfung empfand, und er hörte zu, halb 
abgewandt, mit gierigem Ohr. Wie Feuer loderte 
e3 in ihm auf und jegte ihn ganz in Flammen. — 

Als fie hHeimfamen, begegnete ihnen der 
PBrofeflor in dem Gärten vor dem Hauje, es jah 
faft aus, als babe er auf fie gewartet. „Nun, Miß 
Winter,” jagte er und z0g väterlih ihre Hand dur 
jeinen Arm, „war es Ihön auf dem Waller? Hat 
Heelen gut gerubdert?” 

Während Maud bejahte, nidte er dem jungen 
Mann freundlih zu und wandte fih von ihm ab, 
ihm den Weg ins Haus freigebend. So ungelenf 
Martin au war, jo begriff er doch, daß er bier 
überflüjlig jei. 

„Meine liebe Miß,” jagte der Profefjor ein- 
dringli und drüdte ihre Hand, „ih muß einmal 
ein offenes Mort mit Ihnen reden. Syn Amerika 
mag das ja anders jein als bei uns, das Verkehrs: 
leben freier, ich weiß das nit, und Sie dürfen 
mich auch nicht mißverftehen, aber jedenfalls find 
Sie gegen Heelen entgegenfommender und liebens: 
mwürdiger, als es ein deutjches Mädchen für paljend 
halten würde. Jh weiß, es entipringt Ihrem guten 


| Herzen. Aber — er it jung, urwüdhlig im Empfinden, 


wie nun, wenn er fih da etwas in den Kopf jegt, 
etwas, das doh nie werden fann. Sie find 
reih, verwöhnt, er ift ein armer Teufel, dem 
Proletariat entjtammend. Machen Sie fi einmal 
flar, ob Shnen das genügen würde.” 

Maud Hatte fih ein wenig höher aufgerichtet 
und jah dem Profefjor jtarr in das Gefiht. „Ach 
verjtehe Sie doch nicht ganz,” fagte fie mit Fühler 
Herbheit. „Was ich je gethan, habe ich immer nod) 
jelbft verantworten können.“ 

Der Profellor jchüttelte den Kopf. „So meine 
ich es doch nit. ES liegt mir ja fern, Shnen Vor: 
baltungen zu maden, aber für den Heelen jcheint 
mir die Sade nit ganz jchwindellos, und ihm 
at etwas zu gewähren, daran denkt Doch Jhre Seele 
nicht.” 

„Was könnte das jein, zum Beilpiel,“ fragte 
fie tonlos, indem fie ihm feit in die Augen fah. 

„Run —, zum Beijpiel Yhre PBerfon — Shre 
Hand.” 

Maud neigte den Kopf. „Ach Habe daran aller: 
dings noch nicht gedacht; aber jagen Sie, Herr 
Profejlor, wäre e8 etwas Unmögliches?” 

„Unmöglihes? Aber, beftes Fräulein, ich bin 
boch der legte, der jo etwas behaupten wollte. Heeten 


585 Art zu Art. 
ift ein großer Künftler, er bat eine Zulunft. Was 
ihm an äußerer Bildung und Schliff fehlt, das 
würde ihm eine Kluge Frau bald anerziehen. Nichts 
wirkt fo veredelnd auf einen Mann, bejonders auf 
einen Künftler, als weiblicher Einfluß. Sa, wenn 
Sie jo etwas in Betracht gezogen hätten, dann bitte 
ih taujendmal um Entihuldigung, dann hätte ich 
mid nit bineingemifcht.” 

Er lächelte, ein gutmütiges, etwas Tpigbübijches 
Lächeln und fah fie von der Seite an. Aber Maud 
errötete nit und kam auch nicht in Verlegenbeit, 
ernft und nacddenklih fah fie geradeaus. Dann 
reichte fie, einem plößlichen Smpulje folgend, dem 
alten Herrn die Hand. „Ych dankte Ahnen, Herr 
Profeflor. ch danke Shnen jehr!” Und ging davon. 

Das war ihm nun eigentlich gar nicht redht. Er 
hätte fi dem hübjchen Mädchen gegenüber gern ein 
feines Bertrauenspöftchen erworben, ba er auf etwas 
anderes doch nicht mehr rechnen konnte, hätte fie gern 
errötend und verijchämt gejehen; ftatt beflen lief fie 
ihm davon. 

„Auch recht,“ dachte er in feiner kindlichen Seele. 
„Wenn das Samentorn Wurzeln fchlagen follte, habe 
ih nicht umfonft geiprochen.“ 

Er war jo zufrieden mit fih und dem, was er 
gethban, daß, als er feinen Sohn auf der Veranda 
fand, er fi zu ihm jeßte und jagte: „Baß nur auf, 
aus unjerer Amerikanerin und Heelen wirb am Enbe 
noch ein Paar.” 

Emil zudte gleihgültig die Achfeln. „Welche 
See, Papa.” 

„Run, etwas davon käme fchließlih auf meine 
Kappe,” jchmunzelte er zufrieden. „Ich bin zwar 
dazu gefommen, wie eine blinde Henne zum Korn, 
aber abwehrend hat fie fih nicht verhalten, als ich 
dann die Gelegenheit ergriff, Heelen herauszuftreichen. 
Das babe ich fein gemacht!” 

Emil war ganz blaß geworden, er warf feinem 
Bater mwütende Qlide zu. „Du?“ rief er mit 
bäßlihdem Aufladen. „Du?! Das haft Du wirklich 
gut gemadht, Papa! — Zh will ja Maud haben! 
Begreifit Du nun, was Du mir angethban haft?“ 
Und er ballte die Fauft und nagte an feinem 
Schnurrbart. 

„Um Gottes willen!” Der alte Mann war ganz 
zerfniriht. „Das wußte ich nit, davon ahnte id 
doch nichts! Luzie quälte mich, ihr über das Un- 
pafjende ihrer täglichen Promenaden mit Heelen ein 
paar Worte zu jagen. ch babe es getban, konnte 
ih dafür, daß es jo kam?“ 

„Wäreft Du wie alle anderen Menjhhen, Papa,” 
fagte Emil bitter, „dann hätte Dir das nterefle 
für die Zulunft Deiner Kinder längit joldhen ®e- 
danten nabegelegt. Du bift aber immer nur für 
andere bejorgt, dentit nie an Dich oder an uns.” 

Der Profellor jah jehr unglüdlid aus. „Ach 
weiß nit, ob Du recht haft, Emil, Selbfifüchtig 


und berechnend war ich wohl nie, dennoch find Deine 
Worte ein harter Vorwurf für mid. Ich kann Dir 
nur jagen, e8 thut mir leid, mein Sohn, daß id) 
Deine Pläne burdhlreuzt habe, aber wenn fie Di 
liebt . . .” 





Roman von H. Schobert. 


586 





„Mädchen wie Maudb lieben nicht,” unterbrach 
er ihn jchroff, „die fragen den Verſtand.“ 

Der Profellor feufzte, er fühlte fich jo über: 
flügelt, jo gebemütigt feinen Eugen Kindern gegen: 
über; und doch, faft fühlte er verjucht, fich zu freuen, 
daß feine Jugend in eine Zeit gefallen fei, in der 
man nit nur den WVerftand befragt hatte, in 
der e8 noch Liebe, Schwärmerei. und Seligfeit ge- 
geben. — Sie that ihm plößlich leid, Ddiefe ver: 
nünftige Generation. — — 

Maud hatte fih für den Reſt des Tages mit 
Kopfweh entichuldigen lafen und blieb auf ihrem 
Zimmer. Körperlich fehlte ihr freilich nichts, aber 
eine Ihredliche Unruhe beberrichte fie, und das immer 
mehr, je weniger fie zur Klarheit mit fich felber 
gelangen konnte. Sonft bedurfte es immer nur eines 
furzen ÜÜberlegens, und fie war im reinen darüber, wie 
fie zu banbeln hatte, diesmal ließ fie ihre gewohnte 
Selbftzudt völlig im Stid. Die Worte des 
Profellors hatten fie fteuerlos gemadt. 

Was wollte fie eigentlihd mit Heelen? Jhn 
heiraten? Wirklich heiraten, um dadurch fih das 
Neht zu erwerben, feinen Ruhm zu dem ihrigen zu 
machen, teilzuhaben an feinem Schaffen, an feinem 
GSeftalten? Es war bei feinem Charakter die einzige 
Möglichkeit, das fah fie Mar, und doch, obgleich er 
ihr gefiel, mochte fie den Gedanken nicht weiter aus: 
denfen. Warum nicht? 


War es, weil fie immer nur bie Gebende fein 
würde? Eigentlih Hatte ihr ja das als das 
MWünfchensmertefte vorgeichwebt, eine Ehe, die man 
vorher ganz genau abihäten fonnte, die deshalb 
feine Enttäufhungen bot. Bon der Liebe wollte fie 
nichts willen, die madte den Menihen zu einem 
richtigen Urteil unfähig, jolange fie dauert, und nad) 
ber mußte man die Folgen tragen. SHeelen bot ihr 
für die Zukunft einen glänzenden Namen, fie gab 
ibm dafür die Mittel zu einer jorgenlojen, ja 
glänzenden Eriftenz. Ein Taujh war’s, bei dem 
beide Teile ihre Rechnung fanden. 


Er gab ihrem Leben einen inhalt durch feine 
Kunft, fie erzog ihn mit geichidter Hand für Die 
Kreife, in denen er jpäter leben würde. Auch bier 
ein Taufch, gegen den fich nichts einwenden ließ. 

Er begehrte fie nit — nod nit! Das würde 
fommen, wenn er nur erft die Möglichkeit ihres 
Belites ſah. 

Sie trat vor den Spiegel und prüfte fich genau. 
Selbft ein Künftler durfte mit ihrer Srauenjchönbeit 
zufrieden jein. 

Und do — und do — jo genau die Rechnung 
ftimmte, ein Faktor war darin, den fie nicht auf: 
fand und der do wie eine Disharmonie durch das 
Zulunftsbild Hang, das ihr vorjchwebte. Raſtlos 
wanderte fie im Zimmer auf und ab, ftundenlang. — 
Wenn es Freundihaft, angriffslofe, ftarle Freund: 
Ihaft geben könnte zwiihden Mann und Weib, dann 
hätte fie das wohl vorgezogen, aber fie wußte, das 
war unmöglid, nur die Ehe bot Schuß und Schirm. 

Sie hatte niemand, mit dem fie fprechen konnte, 
ſelbſt Fortunat jchien ihr in dieſer Angelegenheit 





587 


fein kompetenter Richter, und je länger fie grübelte, 
je unrubiger wurde fie. 

Sie empfand es bitter, dies Unflarfein mit fich 
jelber, fie, die fich ftet8 auf die Harmonie ihrer 
Empfindungen etwas zu gute gethan hatte. — 

Am nädften Morgen in aller Frühe, als fie 
no niemand wach glaubte, ging fie in den Garten 
hinab, ihre übernädhtigen Augen etwas zu erfriichen. 
Mocte das Chaos in ihr au noch nicht gelichtet 
fein, die Menjhen, die fie umgaben, die ihr doc 
fremd waren, trogdem fie in ihrer Mitte lebte, 
brauchten nihts davon zu willen. Am Ende bes 
Gartens ftand eine zierliche Geißblattlaube, von der 
Morgenjonne überflutet, bahinein jeßte fie fih. — 
Dit daneben fand dichtes Gebüfh, von Sträuchern 
mit dunfelgrünen, lederartigen Blättern — und 
hinter diefer Schugwand jaß Martin Heelen jchon 
jeit einer Stunde und zeichnete. Er that das jeden 
Morgen, folange er bier draußen war, ohne daß 
jemand eine Ahnung davon Hatte, oder daß er je 
geftört worden wäre. 

Heute hörte er wohl die leichten Schritte auf 
dem Kies, war aber nicht neugierig genug fi um: 
zujeben; daß man ihn bier weder jah noch fand, 
wußte er, ebenjowenig wie er die Leute jehen konnte. 

Ein MWeilhen verging jo in tiefem, tiefem 
Schweigen, dann hörte er wieder Schritte, diesmal 
mußten fie von einem Manne herrühren. 

„st es denn jhon Spät?” dadte Heelen und 
jah nad dem Stand der Sonne, die feine einzige 
Uhr ausmacdte. Aber die ftand noch ziemlich niedrig 
und er jchüttelte verwundert den Kopf, benn bei 
Profeffors galt die Parole: Lange jchlafen. 

Die Luft war Mar und fiill, die Entfernung 
von der Yaube nicht groß, er hörte jett auch, hörte 
ganz deutlih, was man dort jprad. — Es mar 
Emils Stimme. 

„sb babe Sie dur den Garten gehen jehen, 
Miß Maud, darf ich Ihnen Geſellſchaft leiſten?“ 

„Bitte,“ ſagte ſie kühl. „Es wundert mich 
freilich, daß Sie ſo früh auf ſind, ſonſt pflegten 
Sie länger zu ſchlafen.“ 

„Ich habe dieſe Nacht überhaupt nicht geſchlafen,“ 
entgegnete er ſehr erregt. „Ich habe gebangt und 
gezagt und — gehofft. Ich kann nicht länger 
ſchweigen, Miß Maud, die jetzige Stunde ſoll denn 
in Gottes Namen über mein Schidjal enticheiden.” 

Heelen horchte hoch auf. Was Halte denn 
Emil? So kannte er den ruhigen, phlegmatijchen, 
immer etwas jpöttiihen Menihen ja gar nidt. 
Seine Neugierde regte fi und fein Feingefühl litt 
nicht darunter, bier den Laufcher zu fpielen. 

„Herr Quenfel . . .” fagte Maud raid. 

„Rein, ich lafle mir nit den Mund jchließen, 
id muß — ich will reden, und Sie follen mid an: 
hören, Maud. Zch liebe Sie! — Vielleiht habe ich 
es Shnen nicht gezeigt, vielleicht überrafcht Sie ba- 
ber mein Geltändnis; ih bin eben nicht jo fchnell 
mit Worten bei der Hand wie die andern, aber 
— ih liebe Sie wirtid — ehrlid — und id 
frage Sie, mollen Sie mein geliebtes, angebetetes 
Weib werden?“ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


588 


Heelen war aufgeftanden und leife Hinter Die 
Laube geichlichen, eine Kleine Züde im Gerant machte 
es ihm vielleiht möglih, den Raum zu überjeben. 
Sein Gefiht war heiß geworden, jein Atem ging 
unruhig, unwilltürlih 309 ihn die Ecene in Mit: 
leidenihaft. So alfo warb man in ben reifen, 
die ihm fernflanden, um ein Weib, jo zeigte man 
ihr, daß man fie begehrte. Es war fchwierig — 
jehr jchwierig! — Seine Augen bingen geipannt an 
Mauds dunklem Kopf; Emil jah er nur im Profil. 

„Konnten Sie uns beiden nicht dieje Frage er: 
iparen?” fragte fie nach einer PBaufe traurig. „An 
mir liegt es nicht, daß Sie fie doch gethan.” 

„Maud,“ jagte er flehend, „laflen Sie das nicht 
Hhre ganze Antwort fein. ch liebe Sie, ich Iiebe 
Sie wirllid. Es wäre zu bitter für mid. AU: 
mäblich hoffte ich, würden au Sie mich etwas lieb 
gewinnen, deshalb wartete ich auf die Zeit.“ 

„Emil ift es wahrhaftig Exrnit,“ dachte Heelen 
überrafdt. „Man fieht es ihm an, er fieht jo un- 
glüdlih aus.” 

„Mein lieber Herr Quenjel.“” Ihre Stimme 
zitterte mertlihd. „Es thut mir leid, aber ich kann 
Ihnen feine Hoffnung geben. Befler wäre es ge: 
weſen, diefe Sadhe wäre nicht zur Sprache gelommen, 
ih gab Zhnen feine Beranlafjung dazu.” 

Er erblaßte und errötete heftig in einem Atem. 

„Shr letles Wort, MiE Maud?” 

„zeider muß e8 mein leßtes jein. Lallen Sie 
uns auch nie — nie wieder auf diefen Punkt zurüd- 
fommen. €s ift für jedes Mädchen ein peinlicher 
Augenblid, einem Manne ‚Nein‘ jagen zu müfjen.” — 

Der Zorn und die Erregung nahmen ihm bie 
Überlegung. 

„Sie hätten es nicht gethan, wenn nicht Heelen 
— biefer Bauer — diejer PBroletarier — fi zwilchen 
uns gebrängt hätte, jagen Sie es mir offen, Miß 
Winter.” 

Sie hatte fih aufgerihtet und jahb auf ben 
Sigenden herab, aud ihre Stimme Elang nicht mehr 
ruhig, jondern zornig erregt. 

„SH gab Shnen kein Recht zu Dielen Be: 
hauptungen, die mindeſtens — kühn find und Ihnen 
meine Sympathie vollends nehmen, Herr Quenſel. 
Ob Heeken oder ein anderer, ich bin Ihnen keine 
Rechenſchaft über meine Perſon ſchuldig. Und nun 
laſſen Sie mich vorüber.“ 

Er ergriff ihre Hand und küßte ſie leidenſchaftlich. 

„Rein, Maud, nein! Im Zorn dürfen Sie 
nicht von mir gehen. Ich bin ja ſo troſtlos und 
ſo — eiferſüchtig. Haben Sie doch wenigſtens 
etwas Mitleid mit mir.“ 

„Suchen wir beide dieſen Augenblick zu ver: 
geſſen, das iſt alles, was ich wünſchen kann,“ ſagte 
ſie wieder in ihrem vorigen Ton. „Sie werden ſich 
hoffentlich bald tröſten, wenn Sie nur erſt einſehen 
wollen, daß wir nicht einmal für einander gepaßt 
hätten.“ 

Mit bitterem Auflachen entgegnete er: „Das 
iſt meiſt das letzte lindernde Wort der Frau, die 
einen Mann tödlich verwundet. Warum hätten wir 
nicht für einander gepaßt? Ich wäre Ihnen ein 


589 Art zu Art. 
guter, bequemer Gatte geworden, weil ich Sie lieb 
babe, aber Sie verjhmähen mich, irgend einer Idee, 
eines Phantoms wegen, von dem Sie nicht willen, 
ob es Ahnen das hält, was Sie fih davon ver- 
Ipreden. Darum nehmen Sie mir allen Lebensmut, 
alle Lebenshoffnung.” 

„Sagen Sie das nicht,” murmelte fie wider 
Willen doch etwas ergriffen. „Es ift Fein Phantom, 
dem ich nachhänge.” 

Emil hatte ihre Hand ergriffen, jo zwang er 
fie, vor ihm ftehen zu bleiben. „Alfo er! Doch er!“ 
Inirichte er zwilchen den Zähnen hervor. „Ach Tönnte 
ihn erwürgen.” Dann ließ er fie plöglich los, waıf 
beide Arme auf den Tifch und legte den Kopf darauf. 
€3 ging ihm wirklich nahe, das jah man. 

Maud blidte auf ihn nieder, zögerte — dann 
ging fie jchweigend aus der Laube hinaus. — 

Heelen verbarrte noch immer auf feinem Laujcher: 
poften, er war wie gebannt. Zum erften Mal in 
feinem Leben jchlug ihm eine Woge heißer Leiben- 
Ihaft entgegen. Er fah Emil leiden um ein Weib, 
und er begriff, daß, wenn er ftatt feiner dagemelen, 
die Antwort vielleicht anders gelautet haben würbe. 

Das Blut ShoB ihm zu Kopf und madte ihn 
beflommen, auch wagte er fich jet nicht fort, denn 
Emil hatte fich aufgerichtet, mit den Fingern glättend 
über feinen Scheitel geftrihen, und nahm nun Cigarre 
und Zündhölzer aus der Brufttafche, um zu rauchen, 
wie e83 jeine Gewohnheit war. Seine Bewegungen 
waren langjam und matt, das rötliche Geficht blaß. — 

Endlih ging auh er ins Haus, ıumnb Heelen 
ging nun in die Zaube, fegte fih auf Emils Plat 
und begann nadzudenten. 

Es fchien ihm aber jchwül bier, als ob die 
Liebesworte in dem grünen Gezweig hängen geblieben 
wären und ihn nun umjummten, ihm den Atem 
nahmen und die gejunde Vernunft. Hatte Emil 
nicht immer wieder von ihm gefprodhen? Bon ihm, 
Martin Heelen, der jebt bier jaß, und ber in einer 
Stunde der Bräutigam derjenigen fein fonnte, die 
den eingebildeten Emil verjhmäht hatte. Und fie 
war rei, fie war begehrt. — Wie ihn das Figelte. 
— 6&o mußte es erit fommen, damit ihm die Augen 
über das aufgingen, was er eigentlich bedeutete. 

Aber mit diefem regen Gefühl der Eitelkeit ging 
ein anderes Hand in Hand, das des Unbehagen®. 
immer bieje feine Dame zur Seite haben, ftets auf: 
merlen müſſen, was fie verlangte, wie jchredlich! 

Dennod chloß er die Augen und fonnte fid 
in dem Bemwußtjein, was er Ffönne, wenn er nur 
wolle. — 

Er trat bei Fortunat ein, als dieſer gerade 
aufftand. 

„Schon jo früh auggewejen?” fragte er gähnend. 
Dann fah er in Martins Geliht und fette fofort 
hinzu: „St Dir etwas begegnet?” 

„Mir nicht, aber Duenfel hat einen Korb von 
der Amerilanerin befommen.” 

„Woher weißt Du das?” 

Martin, der jein Zeichengerät inzwilchen weg: 
gelegt hatte, jeßte fi auf den Stuhl am Fenfter; er 
laß nadhläfjfig, vornüber gebeugt, die Füße verjchräntt. 


Roman von 9. Schobert. 


590 


„SH babe zugehört,” fagte er nach einer Kleinen 
Bauje. „Sedes Wort fann ih Dir jagen. Er war 
jehr unglüdlich.” 

„zuerft möchte ich willen, woher Du das weißt,“ 
fragte Fortunat etwas gereizt. Der Gedanle em- 
pörte ihn, daß dasjenige, was man doc in der Regel 
nur zu Zweien abmadt, einer Zeugen gehabt hatte. 
Er dachte ih an Emils Stelle. 

„Sie jaßen in ber Heinen Zaube, und ich jtand 
draußen und hörte zu.” 

„Das hat Dein Taltgefühl gelitten? Du bift 
nicht leife davongelchlihen, als Du merkteit, um was 
es fich handelte?“ 

„IH dachte nicht daran. Aufmerkiam zugehört 
babe ih. — Schwierig ift eg, Ler, jehr jchwierig.” 
Er fchüttelte den Kopf. Fortunat faßte ihn an die 


Schulter. 
„Das iſt unanſtändig, Martin! Das durfteſt 
Du nicht! Niemand hat die Berechtigung, in die 


Geheimniſſe anderer zu dringen. Wie würde es Dir 
ſein, wenn man Dich in einem Augenblick belauſchte, 
wo Du allein zu ſein glaubteſt, und ein Stück 
Deiner Seele, Deines Herzens offenbarteſt.“ 

Heeken runzelte die Stirn und befreite ſich mit 
einem heftigen Ruck. „Ich weiß ſchon ſelber, was ich 
thue,“ grollte er. 

In Fortunats Hirn blitzte ein Gedanke auf. 

„Du thateſt es Miß Mauds wegen — Du haſt 
ſie gern!“ 

Der andere drehte ſich um in trotzigem Schweigen 
und ſah zum Fenſter hinaus. 

„Martin!“ 

Keine Antwort. 

„Verſprich mir wenigſtens, daß Du zu keinem 
anderen etwas über den Vorfall ſprichſt.“ 

Wieder Schweigen. 

„Wir könnten ja ſonſt nicht mehr hierbleiben, 
das ſiehſt Du doch ein.“ 

Je dringlicher Fortunat wurde, je ſtarrer wurde 
Martin. Es kitzelte ihn innerlich, daß der Freund 
noch lange nicht alles wußte, daß er dann wahr: 
Iheinlid etwas anderes gejagt haben würde als 
jest. Nun aber gerade nidt — nun Jollte er 
nichts erfahren. 

Seine Sade war es ja fchließlih, zu thun 
was er wollte und ben Leuten bier, die ihn für jo 
dumm bielten, zu zeigen, daß er eigentlich ganz das 
Gegenteil war. — 

Ein paarmal in Lauf des Tages, dem legten, 
den die beiden Freunde einftweilen in dem gajtlichen 
Hauſe des Profefjors verbrachten, fiel es Fortunat 
auf, daß Martin die Geftalt ber Amerikanerin mit 
abichägenden Bliden von oben bis unten maß, 
und daß in feinen Augen etwas Gligerndes, Glimmen: 
des aufitieg, das ihm höchlihit mißfiel, es jchien ihm 
Mauds unwürdig. 

Sn folden Momenten flieg Martin jedesmal 
der Gedanke auf, daß, fobalb er nur wolle, er dies 
Weib haben könne, mit all ihrem Reichtum, al ihren 
Sumwelen. Und er jhätte fie ab wie ein Stüd Ware, 
das man ihm zum Kauf angeboten. — 

Emil hatte allein einen weiten Spaziergang 





591 


unternommen — bieß eg, — in ber That jaß er 
in feinem Zimmer und fucdhte fih mit feinem Korbe 
abzufinden. Es ging ihm nahe, näher als er ge- 
dbadt, und er Ffonftatierte mit einer gemwillen Be- 
friedigung, daß er aljo doch ein beflerer Menich fein 
müfle, als er jelbft von fidh geglaubt. 

Luzie war empört über Maud. Was machte 
fie denn für Anjprüde, wenn ihr Bruder ihr nicht 
einmal gut genug war. Erjhien ihr Heelen wirklich 
beachtenswerter? Das war einfach zum Lachen. 

Trogdem war fie flug genug, weder zu Maud, 
noh zu Forlunat ein Wort zu jagen, aber ihre 
üble Laune vermochte fie do nicht völlig zu be: 
zwingen, und da Maud blaß und fill war, Fortunat 
ein Gefühl von Schuld über jeine unbeabfichtigte 
Mitwifferfhaft nicht unterdrüden fonnte, jo war bie 
kleine Geſellſchaft ſchweigſam und gedrückt. 

„Wir wollen ein wenig ſpazierengehen,“ meinte 
Fortunat in gelinder Verzweiflung, nachdem der zehnte 
Verſuch ſeinerſeits, ein harmloſes Geſpräch zu be- 
ginnen, kläglich geſcheitert war. „Wenn das Dampf—⸗ 
ſchiff kommt, können wir die Leute beim Ausſteigen 
beobachten.“ 

„Vielleicht fahren wir ſelbſt bis an das andere 
Ufer,“ ſchlug Luzie vor. „Ehe Papa kommt, find 
wir zurück.“ 

Das geſchah, und nachdem man auf dem jen— 
ſeitigen Ufer einen kleinen Wald paſſiert hatte, ging 
es endlos weit über eine grüne Wieſe, auf der Rinder 
weideten. 

„Die wollen wir uns in der Nähe anſehen,“ 
kommandierte Luzie. „Gott, Lex, was ſind Sie 
heute langweilig, der junge Stier dort, kann dreiſt 
mit Ihnen in Konkurrenz treten.“ 

„Und Sie übellaunig.“ 

„Ich habe auch Grund,“ ſagte fſie ſeufzend 
und köpfte mit ihrem Schirme ein paar Diſteln am 
Wege. „Ein anderes Mal ſage ich es Ihnen.“ 

Sie gingen zu Zweien, die jungen Damen in 
weißen Kleidern und mit roten Schirmen, in nicht 
zu großen Abſtänden hintereinander auf dem ſchmalen 
Wieſenpfad. Die Sonne brannte glühend vom Himmel, 
kein Lüftchen rührte ſich. 

„Welch ein Wahnſinn, ſolch Herumlaufen,“ ſagte 
Luzie endlich, ſtehenbleibend und ſich zu den Nach— 
kommenden wendend, „ich denke, wir tragen unſere 
allſeitige üble Laune lieber nach Hauſe.“ Sie war 
erhitzt und durſtig, die Landſchaft hatte keinen großen 
Reiz für ſie. 

„Ich bin bereit.“ Auch Maud fühlte nicht viel 
für grüne Wieſen und weidende Herden. Ihr Be— 
gleiter war ftumm wie fie jelbft, nur manchmal be: 
gegnete fie feinen Augen, und dann trat ihr flets 
eine Blutwelle in das Gefiht, jo verwirrte, ja be: 
leidigte fie faft diefer Blid. 

Aber auch fie ah ihn jet mit anderen Augen 
an, und das raubte ihr den ruhigen, freunbichaftlichen 
Ton, in dem fie bisher mit ihm verehrt hatte. 

Während fie fih fo zum Umtehren fchlüffig 
wurden, hatte niemand beachtet, daß der Stier fi 
von der Herde getrennt, und zuerft langlam, banı 
immer eiliger auf die Gruppe zufam. Neizte fie 





Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


592 


nur jeine Neugierde, war es aljo eine Kleine harmlofe 
Eslapade, die er fich geflatte, oder reisten ihn bie 
roten Sonnenfdhirme im Ernft, genug als er ein 
dumpfes Brüllen ausftieß, war er jchon bedrohlich 
nabe. 

Mit einem Aufkfreifhen des Entjegens padte 
Zuzie Fortunats Arm und riß ihn mit fi in be: 
finnungslofer Flut, dem Walde zu. Sie dadle 
nit an Die anderen, jort ging es nur immerzu, 
über Stod und Stein, fih an Fortunat Hammernd 
und unauggejett Heine belle Verzweiflungsichreie aus- 
ftoßend. 

Auch Maud erſchrak tödlich, aber im Gegenſatz 
zu Luzie wäre es ihr unmöglich geweſen, davonzu— 
laufen. Wie Blei wurzelten ihre Füße am Boden. 
Mit weit aufgeriſſenen Augen ſtarrte ſie dem Tier 
entgegen, das direkt auf ſie zukam. Wenn es ſelbſt 
ihr Leben galt, ſie konnte ſich nicht rühren. 

Martin Heeken war ruhig neben ihr ſtehenge—⸗ 
blieben, jetzt ſchob er ſie etwas von ſich ab, und 
dann ging er dem Stier, der mit geſenkten Hörnern 
auf ihn zukam, ein paar Schritte entgegen, ballte 
die Hand zur Fauſt, und als das Tier, ſtutzend über 
das plötzliche Hindernis, den Kopf hob, ſchmetterte 
ihm ein ſo furchtbarer Schlag mitten auf die Stirn, 
daß es einen Krach gab wie von berftendem Mauer: 
werk. Der Stier blieb ftehen, betäubt und erjchroden, 
fiieß einen dumpfen Brüllton aus, fchüttelte ben 
Kopf, ale müffe er erit wieder zu fich fommen, wandte 
fih um und trottete langfam zu jeiner Herde zurüd,. 

„So!” jagte Heelen, die Yauft öffnend und die 
fünf Finger fpreizend. „Der kommt nicht wieder. 
Sie fünnen ganz ohne Sorge fein, Fräulein.” 

Aber Maud fand wie aus Stein, totenblaß mit 
weitgeöffneten Augen, volllommen entgeiftert. 

Er jah wohl, daß mit ihr nicht alles jo war, 
wie es jein jollte, aber was er nun zu thun hatte, 
das wußte er nit. SYhn Hatte die Gefahr, wenn 
es wirklih eine gemwejen, nicht eine Sefunde aus 
jeiner Gemütsruhe gebradt. 

„sräulein!” jagte er endlih und faßte fie am 
Arm. 

Ein fortgejegtes konvulſiviſches Zittern jchüttelte 
ihren Körper; ratlos jah er fih nach den anderen 
um, aber niemand war zu jehen. 

„sräulein!” fagte er noch einmal beflommen. 
Das Zittern verftärkte fi, das einzige Lebenszeichen, 
das fie von fih gab. Da legte er den einen Arm 
um fie, und dann, als es ihm jchien, ala müffe fie 
zujammenfinfen, in diefem Zuftand, auch den anderen, 
und dann bdrüdte er das zarte, jchlante Mädchen 
plöglih feft an fih, als wollte er fie zerprüden. 
Es war zueift rein inflinktiv geweien, gemwillermaßen 
als wolle er fie nur noch deutlicher jeines Schupes 
verfihern, dann aber, als der Duft aus Haar und 
Kleidern zu ihm aufftieg, als er ihr Herz fchlagen 
fühlte, die Wärme der Glieder, die durch den bünnen 
Stoff drang, da erfaßte ihn ein Taumel. 

Sie war ja das erfle Mädchen, das er jo im 
Arm hielt, und entitammte Kreifen, die er immer 
weit, weit über fich geftellt Hatte. Und die Erinnerung 
an Emils Werbung fam dazu, er verlor volllommen 


593 Art zu Art. 
ben Berftand. Er preßte fie immer heftiger an fih, ihr 
Hut fan in den Naden, und er füßte das duftende ge: 
träufelte Haar, ohne ein Wort, aber mit einer Gier, die 
Maud erichredt haben würde. Aber fie jah nicht in 
fein Geficht, das, duntel gerötet, einen häßlichen Aus: 
drud trug, die Spannung, in ber fie fich befand, Löfte 
ih in Thränen, jchluchzend und wehrlos lag fie an 
feiner Bruft. | 

Der Himmel hatte e8 gewollt, daß es jo kam, 
nun war fie zufrieden. 

Nah einem Weilden hob fie ben Kopf, die 
Thränen hingen no an ihren Wimpern. 

„So find wir alfo verlobt!” jagte fie mit tiefem 
Atemzug, um ihren Mund lag ein Lächeln, in den 
Augen do etwas wie geheime Furdt. 

Er ließ fie ganz plöglid los und trat einen 
Schritt zurüd. Hatte er es jo gemeint? Nein, 
eigentlich nit. Das Blut hatte ihm nur den Verftand 
genommen, das war alles. Faflungslos ftarrte er 
fie an, fie hielt es für unverhoffte Seligfeit. 

„Geben Sie mir Ihren Arm,” fagte fie endlich, 
da er gar nicht jprad. „Mir zittern von dem Echred 
noch die Knie. Dort fteht eine kleine Bank, einen 
Augenblid nur, daß wir raften, wir haben uns ja 
noch jo viel zu jagen.” Ihre Stimme zitterte ein wenig, 
ganz leife drüdte fie den Arm, ben fie genommen. — 
Zwilden den Stämmen des Waldes jahen fie jett 
Luzie und Ler auftaudhen, wintend, rufend. Die 
Entfernung zwilchen ihnen war nicht groß, immerhin 
blieben ein paar Minuten der Ausiprache. 

„Sie haben mir mein Leben gerettet,” jagte 
Maud eilig. „Auf den Hörnern des GStieres — 
o Gott — jchredliher Gedanke... . * 

„Sr meinte es wohl nidt einmal bös, und 
wenn auch, ich habe Kraft, bei mir braucht fich feiner 
zu fürdten.” Er redte den Arm aus und jah dar: 
auf Hin. Berzmweiflungsvoll blidte fie ihm in das 
Gefiht. Warum Tam er ihr nicht zu Hilfe? Mußte 
fie das Folgende ganz allein jagen? 

Ganz leije, ihn unverwandt anjehend, begann 
fie: „Herr Heelen — Martin — Sie haben mein 
Leben für fi erobert.” 

Er jah auf den Boden und ftieß mit der Stiefel: 
jpige in den Wiejengrund. 

„D Fräulein!” ftotterte er, ihm fiel fein Sterbens: 
wörthen mehr ein. 

Und die anderen famen immer näher! — 

„SG bin bereit es Shnen zu geben. — Shre 
Braut, Ihre Frau zu fein, mit Shnen zu ringen in 
Hhrer Kunft, — mit Ihnen zu leiden und mich zu 
freuen. ch weiß, ich werde ftolza auf Sie fein können, 
und dafür will ich Zhnen jeden Stein aus dem Weg 
räumen, der Sie hindern fünnte. Sch liebe Shre 
Kunft, ih will mich mit ihr verbinden, indem id) 
Shnen die Hand reiche.” 

Sie jpradh haftig, überhett. Gut lag auf ihren 
Wangen, unruhig jhlug das Herz. Ohne bie vorher: 
gegangene Erregung hätte fie Doch vielleicht nicht den 
Mut gehabt, oder eine andere Form gewählt. 

„Wir wollen einander tragen — und ertragen,” 
\hloß fie halb ohnmädtig, „und wenn Sie bereit 


RomansZeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 


594 





ſind, ſo ſagen Sie kein Wort, reichen Sie mir nur 
Ihre Hand.“ 

Und unter dem Bann ſeiner Sinne, die nicht 
ſo bald zur Ruhe kommen wollten, ſtreckte er ihr 
zögernd ſeine breite, große Hand entgegen. Er 
wußte ſelbſt nicht, was ihn dazu trieb, aber er 
wäre nicht imſtande geweſen, ſie zurückzuhalten. 

Sie ergriff ſie mit ihren beiden weißen, ſchmalen 
Händen, die fieberten und zuckten unter dem Druck 
dieſer Stunde. Nur dazu blieb ihr noch Zeit, denn 
ſchon kam Luzie auf ſie zugeſtürzt. 

„Warum ſeid Ihr uns nicht nachgekommen? 
Warum ſitzen Sie hier in der Sonne? Und Maud, 
wie ſehen Sie aus? War das ein Schrecken! Hat 
Herr Heeken den Stier verjagt?“ 

„Ja!“ ſagte Maud lächelnd und blickte von 
unten auf in Martins Geſicht. 

„Und —? Sie ſehen ja ſo feierlich aus, Maud!“ 

„Wir haben uns ſoeben verlobt, wünſchen Sie 
uns Glück,“ ſagte das junge Mädchen ſchnell und 
ſtreckte Fortunat mit einem bittenden Blick die Hand 
entgegen. 

Luzie ſchrie auf und warf die Arme in die 
Luft. „Welch ein Unſinn!“ ſagte ſie dann mit 
einer gewiſſen Geringſchätzung. 

Fortunat küßte die bebende Mädchenhand, er 
ſah blaß und niedergeſchlagen aus. 

„Ich wünſche Ihnen alles — alles Glück der 
Erde,“ ſagte er bewegt, „Ihnen und meinem Freund. 
Um dieſes Endes wegen vermag ich mir vielleicht 
etwas meine feige Flucht zu verzeihen.“ 

„Mein Himmel, in der Gefahr iſt ſich ſchließlich 
jeder ſelbſt der Nächſte.“ Luzie umging durch dieſe 
Bemerkung geſchickt jede Gratulation. Maud heftete 
ihre leuchtenden Augen auf ihren Bräutigam. 

„Martin hat anders gedacht, er ſchützte mich 
vor dem Stier.“ 

„Bei ſolcher Körperkraft iſt das kein Kunſt— 
ſtück,“ behauptete Luzie achſelzuckend. „Aber Lex, 
den hätte er ja gleich zu Brei getrampelt. Kommen 
Sie, Lexchen, legen wir einen gewiſſen Abſtand 
zwiſchen das girrende Brautpaar und uns.“ 

Sie wandte ſich um und nahm ſeinen Arm. 

„Bauernſchlauheit!“ murmelte ſie giftig zu ihm 
empor. „Nun kann ich es Ihnen ja ſagen, daß ſie 
Emil einen Korb gegeben hat. Unſerm Emil! Aber 
ihr werden noch die Augen aufgehen. Euer Heeken, 
das iſt kein Feiner. Verdient hat fie es freilich nicht 
anders für ihre Verrücktheit.“ 

Fortunat antwortete keine Silbe. Er fühlte ſich 
wie vor den Kopf geſchlagen, und ſo gedrückt. Nicht 
allein, daß er davongelaufen, quälte ihn, ſondern 
auch Mauds Verlobung. Würde ſie Heeken wirklich 
auf die Dauer ertragen können? Er kannte ihn, ſie 
aber nicht. — Ohne ein Wort ging er neben Luzie 
her, und nicht viel redſeliger war der Bräutigam 
hinter ihnen. 

Maud ſah ihm verſtohlen ein paarmal in das 
Geſicht. Sie hatte das Gefühl, als müſſe noch ſo 
viel, ſo unendlich viel geſagt werden, und Heeken 
that nicht einmal den Mund auf, ja, er ſah ſie gar 


IV. 42 





595 


niht an. War das Schüdhternheit? Blieb ihr denn 
diefem Manne gegenüber alles zu thun übrig? 

Aber die BVerftiimmung bei diefem Gedanken 
verflog ehr jchnel. Sie hatte es ja gewußt, daß 
fie ihn bilden, erziehen, modeln müfje, und es war 
eine Arbeit, nach der fie fich gejehnt, für die fie 
fih begeiftert hatte. Sie jollte der Anhalt ihres 
Lebens werden. Da galt es natürlich Heine Schwierig- 
feiten überwinden, aber dafür war der Lohn aud 
ein reicher, idealer. 

„Zino!” Tagte fie leile und drüdte jeinen Arm. 

Er fuhr zufammen. Galt ihm diejer Anruf? 
So hatte ihn doch noch niemand genannt. 

„Sie müflen mir jhon geftatten, daß ih Sie 
jo nenne,” jagte Maud mit lieblidem Erröten. 
„Martin Klingt häplih, jo vulgär. Nicht wahr, 
Tino zu heißen ijt Ihnen recht?“ 

„Barum nit, wenn Sie es wünjden. Ein 
Name ift wie der andere. Aber ich denke, wir find 
jet Braut und Bräutigam. Müflen wir denn da 
noh ‚Sie‘ zu einander jagen?” 

„Rein — natürlich nicht.” — Sie wurde wieder 
rot, „aber e& ift mir lieb, daß Sie — — daß Du 
davon angefangen haft. Wäre ich bie erjte gemelen, 
bätte es unmeiblih geklungen.” 

„Ih weiß doch nicht, wie es bei Euch Sitte ift.” 

Sie jah ihn nahdrüdlih an. 

„Ban; genau wie bei Eu; wir find alle 
Menichen.” 

Er atmete erleichtert auf. Das jchien ihm das 
erjte vernünftige Wort. 

„Der Quenjel wird wütend fein,” jagte er nad 
einer PBauije. 

„Wieſo. — Was weißt Du — ?” 

„Ich hörte, daß er Dich heute morgen fragte, 
ob Du jeine Frau werden wollteit.“ 

„D,“ Jagte fie und ein Schatten glitt über ihr 
Gefiht, „das hätte nicht fein dürfen! WBerjprich mir 
wenigitens, daß Du es niemand Jagjt.” 

„Hortunat weiß e8 auch.” 

Sie jeufzte. Es war ihr peinlich, ließ Jih nun 
aber nicht mehr ändern. 

„Wir werden bald heiraten, nicht wahr?” fragte 
fie. „Sch weiß nicht recht, wohin ald Braut. Bei 
Duenjels zu bleiben ift mir faft peinlid, und id 
bin heimat- und elternlos.” 

Er jah erihroden aus, jo jehr, daß fie es be- 
merfte und lachte. 

„IH werde Dir eine gute Jrau werden, fürchte 
nichts,” jagte fie ganz ernft. „Deine Kunft befommt 
in mir feine Rivalin, jondern eine Freundin und 
glühende Verehrerin, und auch Du jolft mir nur zu 
danken, nichts zu beklagen haben. Habe Du ebenfalls 
den beiten Willen für die Zukunft.“ 

Sie fragte mit feinem Wort: liebft Du mid — 
und jagte es ihm auch nit — Jo hatte fie es fi 
ja gerade ausgemalt, und deshalb hatte fie fein leiden: 
Ihaftliher Ausbruch vorher eigentlich ehr erichredt. 
Daß er nur ihr Gefchlecht in ihr gefehen und gefühlt, 
ahnte fie nicht. — 

„Wir haben uns noch fo viel zu jagen, Tino,” 
jagte fie mit einem Händedrud kurz vor der Ville, 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


596 
„und morgen abend geht Yhr fort! Das thut mir 
jo leid. Kommft Du nit bald wieder?” 

„Hoftentlih! — Wenn wir fönnen.” 

Das Eang Falt genug, aber er fühlte au) gar 
nicht das Bedürfnis, fi mit ihr auszujprecdhen, er 
hätte gar nicht gewußt, über was. — 

Als der Profeffjor von der Verlobung hörte, 
fühlte er fich peinlich berührt. Weldhen Ton jollte 
er dem jungen Baar gegenüber anjchlagen, das er 
jelbft vielleicht dur jein Eingreifen zujammen- 
gebracht hatte, um damit feinem Sohn einen Herzens: 
wunsch zu zerftören? Scheu jah er fih nah Emil 
um, und jein Glüdwunih Hang gebrüdt genug. 

Diejer jelbit hielt fi noch am beten; er ver: 
mied es zwar, Heelen nahe zu fommen, aber zu 
Maud jagte er: 

„Sie werden nicht glauben, Miß Winter, daß 
ih jo abgeijhmadt bin, Shnen die Rolle des ver: 
Ihmäphten, verzweifelten Freiers vorzufpielen. ch 
bitte Sie nur gütigft, nichts von meinem Fiasko zu 
erwähnen, auch nicht zu Zhrem Herrn Bräutigam. — 
Laflen Sie das ein Geheimnis zwilchen uns bleiben.” 

„Was an mir liegt... .” verficherte fie ihm, 
während es ihr jchwer auf der Seele lag, daß wohl 
niemand mehr im Haujle war, der nicht darum 
wußte. Sie fühlte die Beihämung für ihn mit, 
und es that ihr leid. 


Emil war denn auch derjenige, der aus dem 
nahen Rejtaurant den Wein holte, mit dem man 
die Verlobung feierte. Aber es bherrichte eine ge- 
drüdte Stimmung, die fih am unerquidlichften Maud 
fühlbar made. 

Seder war froh, als das Abenbefjen beendet 
und man fih unauffällig zerjtreuen Tonnte. 

Maud und Martin befanden fich jchließlich ganz 
allein auf der Veranda. Sie trat dicht an ihn heran 
und jagte mit bitterem Lächeln: 

„Unjere Verlobung bat, wie es jcheint, nirgends 
viel Freude erregt. Bei Duenjels ift es zu ent: 
Ihuldigen, daß aber auch Fortunat jo zurüdhaltend 
ift, Schmerzt mich.” 

Er zwirbelte an jeinem Bart. Dies Tete-a-tete 
bedrüdte ihn augenſcheinlich. 

„a, ih weiß nicht . . .” flotterte er. 

„Was liegt uns aber an den Menichen,” fuhr 


fie, noch immer etwas gereizt, fort, „wir braucden 


niemand! Wir haben jo viel miteinander zu teilen, 
Tino — jo viel! Nicht wahr? Du läßt mich einen 
Einblit in all Deine Gedanken, in Dein ganzes 
Schaffen haben, damit ich ein doppeltes Recht ge: 
winne, auf Dich ftolz zu fein. OD, wie ih mi auf 
diefe Stunden der Arbeit freue!” 

Gie hatte leije ihren Kopf an jeine Schulter 
gelehnt, faum fühlbar in der Berührung, aber un: 
endlich mweiblih und bHingebend. Niemals hatte fie 
jo wie in biefem Augenblid das Bedürfnis nad 
einer Bujammengehörigfeit gefühlt. Die andern 
waren und blieben ihr doh nur fremde Menjchen. 
Wenn er jegt den Arm um fie gelegt, fie ein wenig 
zärtlid an fich gezogen hätte, — wie fie wäre ihm 
dankbar gewejen! Aber er that das nicht; fleif und 


597 


regungslos fland er da und fah in den Garten hinab. 
Shre Nähe war ihm offenbar unbehaglid. 

Sie fah zu ihm auf. 

„Was dachteſt Du eben?” fragte fie. 

Sie hatte das Verlangen, ihn kennen zu lernen, 
ihn aus fich heraustreten zu jehen, jpredhen zu hören. 
Noch wußte fie ja gar nichts weiter von ihm als 
was fie jah, von Fortunat gehört hatte, und in ihn 
felbft Hineintrug. hre Augen jahen ihn in durftiger 
Neugier an. 

„Nichts!“ antwortete er lakoniſch. 

Dieſes Weib mit ihrem ewigen Spuüren und 
Fragen wurde ihm manchmal geradezu unheimlich. 
Und am meiſten berührte es ihn unangenehm, daß 
ſfie fich immer zwiſchen ihn und ſein Schaffen ſchob. — 
Sein Heiligſtes! — 

„Nichts?“ wiederholte ſie mit ungeduldigem 
Vorwurf. „Iſt das eine Antwort? Welch gebildeter 
Menſch denkt nichts? Ich erinnere mich nicht, das 
jemals gethan zu haben.“ 

Er runzelte ein wenig die Stirn. Seht jah fie, 
daß feine Krawatte chief Jaß und machte ihn darauf 
aufmerkſam. 

„Überhaupt,“ fuhr ſie fort, „wie kann man fo 
geſchmackloſe Krawatten tragen? Zu Deinem Teint 
mußt Du ganz helle wählen. Wenn ich in die 
Stadt komme, werde ich Dir ein Dutzend aus—⸗ 
wählen; wir Frauen haben beſſeren Geſchmack als 
die Männer.“ 

„Das glaube ich auch,“ gab er ihr bereitwillig 
zu und trat einen halben Schritt zurück, denn ihre 
Nähe bedrückte ihn. 

Sie hatte es wohl bemerkt. 

„Tino, fürchteſt Du Dich vor mir?“ fragte ſie 
mit leiſem Auflachen. 

Warum nahm er ſie jetzt nicht in den Arm 
und gab ihr die Antwort Auge in Auge? Sie ge 
fand es fich felbft nicht zu, daß fie etwas Ähnliches 
erwartete, aber es war ihr immer, als babe ihre 
Verlobung noch feine Weibe. 

„Manchmal — ja!” geftand er ehrlich. 

Sie legte ihre Hand auf die feine. 

„Das wird fih ändern. Du baft feine befjere 
Freundin, feinen ehrliheren Bewunderer, als mid, 
Tino. Das halte Dir nur immer vor Augen.” 

„Ich will es verfuchen,” murmelte er Heinlaut. 

Und dann fanden fie räumlich nahe, ihre 
Seelen fo weit getrennt, nebeneinander und fahen 
in die monbhelle Naht hinaus. Kein Flüftern, kein 
Küffen und Kojen — es war eben jo ganz anders! 

„Ich vermähle mich dem Genius,” dachte Maubd, 
und damit bradte fie all ihre Gedanken zur Rube, 
bie fie zumeilen mit ganz eigenen Augen anfahen. 
„Und ich werbe jhon meine Stelle ausfüllen.” — 


Dreizehntes Kapitel. 


„Sest wird es mir aber doch zu dumm,” fagte 
Seelen wütend, als Fortunat eben aus dem Bett 
berauslangte, um das Licht zu löfchen. „Kein Wort 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


598 


baft Du mit mir gejprochen feit meiner Verlobungs- 
geihichte. Bit Du etwa nicht zufrieden damit?“ 

Fortunat Teufzte. 

„Ab, Martin, das verfteht Du nit. Ich 
fomme mir beute vor wie ein armer, zerichlagener 
Sünder! Erftens war es nit jhön, daß ich vor 
dem Ochlen davonlief, und wenn ich fage, Lusie 
war fchuld daran, fo verfhlimmert es nur die 
Sade. Dann aber ift mir Eure Verlobung in bie 
lieder gefahren. Papt Zhr denn zufammen? 
Wird das gut enden? ch weiß ganz genau, baß 
ich die Veranlaffung bin, was mußte ih aud immer 
jo viel von Dir Thwaten.” 

„Hätteft fie wohl jelbft gern gehabt? Was?“ 

„Rein,“ beteuerte Fortunat elegiih. „ch 
wüßte zwar niemand, den ich ihr zur Seite ftellen 
fönnte, nicht einmal Nelly, aber zum Heiraten fühle 
ih mid doh noch zu jung Wirft Du fie denn 
auch recht glüdlih machen, Martin?” 

Keine Antwort. 

„3b babe doch gleich gedadt, der Schlag joll 
a treffen, als ih es hörte, und, Martin — 

u— — 

Er zögerte wieder — aus dem anderen Bett 
drangen Schnarchtöne, der Gegenſtand ſeiner be— 
kümmerten Zweifel war inzwiſchen in den Schlaf 
der Gerechten gefallen. 

„An ſeinem Verlobungsabend,“ dachte Fortunat 
indigniert. „Und kein Wort hat er mir von Glück 
und Liebe geſagt.“ — — 

Von Glück und Liebe ſagte er auch am nächſten 
Morgen nichts, aber es war doch, als wäre die 
Wolke, die geſtern über der Villa gelagert hatte, 
weitergezogen und hätte etwas mehr Befreiung zu: 
rüdgelaflen. 

„Heute abend geht es nad) Haufe,” jagte Martin 
beim Anlleiden ganz freudig. 

„Menſch, und Deine Braut bleibt hier! Du bift 
doch jeit geftern Bräutigam? ch dächte, Du mühteft 
unglüdlich jein.“ 

„SH habe das ewige Herumbummeln fatt! 
Arbeiten will ich, arbeiten muß ih.“ — 

„Sine Neuigkeit!” rief man ihnen auf ber 
Veranda entgegen, als fie herunterfamen. „Eine 
große Neuigkeit!” 

Der Profeflor hielt ein großes Schreiben in 
der Hand und trat damit auf Martin zu. 

„Mein lieber Heelen,” jagte er ganz ftrahlend 
vor Freude, „ich habe Ihnen mitzuteilen, daß das 
Mufeum mit uns wegen Shrer Gruppe in Ber: 
handlung getreten ift, fie joll in Bronze ausgeführt 
werden. Was verlangen Sie als Honorar dafür?” 

Martin Ihoß das Blut ins Gefiht, feine 
Augen flammten. Er Jah nicht, daß Maub neben 
ihn getreten war, Jah niemand, nur bas Papier und 
den alten Herrn. 

„D, Herr PBrofeflor!” ftammelte er. 

„3b babe nichts dazu gethan, das ijt hr 
Verbienft allein. Aber wenn ih hnen raten barf, 
ftelen Sie feine zu hohe Forderung. Adhttaufend 
2. etwa, die Direktion handelt doch no etwas 
herab.” 


599 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 600 


„Sa, ja! Ich bin mit allem einverftanden! 




















wirflih, dann sage Dir zugleih, daB Du Deiner 





ns Mujeum meine Gruppe! Die Freude! Aber 
die Freude!!!” Er griff fih an den Kopf. 

„sh gratuliere Dir,” jagte Maud und reichte 
ihm beide Hände. Er jah fie an, als fenne er fie 
faum, müfle fih erft auf fie befinnen. Dann 
Ichüttelte er ihre Hände, wie alle die, die ji ihm 
entgegenftredten, halb befinnungslos. Was galten 
ihm die Menjchen neben jeiner Arbeit, o, und wie 
er fih nad) der jehnte! 

„Jetzt kann ich Shnen auch hr Geld wieder: 
geben, Herr Profeflor,“ fjagte er endlid. „Gleich 
alles jollen Sie haben.” 

„Aber, lieber Heefen, das ift doch nicht der 
Rede wert.“ 

„Nicht der Nebe wert? Dreitaufend Markt? 
Srlauben Sie, Herr Profeffor! Aber es bat mich 
gebrüdt, es hat mich jehr gedrüdt.“ 

„Dreitaufend Mark?” fragte der Profeflor 
fafjungslos. 

Er bemerkte nicht die Zeichen, die ihm or: 
tunat und Maud madten, fondern bewies Heelen 
Mar und beutlid, daß er nicht der Geber ge: 
weſen ſei. 

Alſo Fortunat! — Heekens Augen ſuchten ihn, 
der kleine Künſtler biß ſich auf die Lippen und 
ſchwieg. 

„Nein — ich!“ ſagte da Maud, auf ihren Ver— 
lobten zutretend. „Ich! — Siehſt Du nicht, daß 
ich recht that?“ 

Sie lächelte ihm zu, aber er ſtrich ſich über die 
Stirn und gab das Lächeln nicht zurück. 

„Du?“ — ſagte er nur. 

Sie ſchob ihren Arm unter den ſeinen und 
zog ihn mit ſich, etwas abſeits von den anderen. 

„Es beleidigt Dein Ehrgefühl,“ ſagte ſie halb 
fragend. 

Er blieb ſtill und biß ſich die Lippen; ihm war 
es plötzlich, als habe er einen Strick um den Hals, 
an dem ihn dieſe ſchmalen Frauenhände von ſeinem 
Weg abzogen. 

„Was mein iſt, iſt jetzt Dein,“ fuhr ſie ein— 
dringlich fort. „Es giebt zwiſchen Mann und Weib 
keine Teilung, es giebt nur ein Ineinanderaufgehen. 
Als Du mich nicht kannteſt, hätteſt Du — vielleicht 
— meine helfende Hand abweiſen dürfen, jetzt nicht 
mehr. — Und auch damals nicht! Denn Deine Kunſt 
mußte Dir in erſter Linie ſtehen; ihr hatteſt Du 
jedes Opfer zu bringen, ſelbſt das Deines Ehr— 
gefühls. Nur nach ihr darfſt Du fragen, nach 
nichts ſonſt, und Du ſiehſt, daß ſie es Dir lohnt.“ 

Er ſchlang die Hände ineinander und drückte 
ſie zuſammen, ſein Geſicht trug den Stempel heftigen 
Empfindens. 

Sie wollte ihn nicht erſt zu Worte kommen 
laſſen, es war beſſer, wenn jede Abwehr unge— 
ſprochen blieb. 

„Du wirſt Deine Werke von jetzt ab in Mar: 
mor ausführen,“ ſagte ſie mit beſtrickender Sanft⸗ 
mut, „und nicht fragen, woher das kommt, denn 
Du — der Künſtler, biſt größer, als die kleinliche 
Miſere der Alltäglichkeit. Fragſt Du aber einmal 


Frau mit Deinem Namen, Deinen Werken das alles 
reichlich aufwiegſt.“ 

Er ſah ſie prüfend an. — 

Drang denn dies alles wirklich nicht an ſein 
Herz? Fand er für nichts ein herzliches Wort des 
Entgegenkommens? Sie wünſchte es ſo ſehr, aber 
er ſagte nur: 

„Die Gruppe kann ich Dir nun noch nicht 
machen, erſt muß ich für das Muſeum arbeiten.“ 

„Gewiß,“ antwortete ſie lachend. „Es hat 
gar keine Eile, Tino, da ich Dich ſelber behalte. 
Wer weiß, ob mir nicht das Nächſte, was Du 
ſchaffſt, noch beſſer gefällt? Haſt Du ſchon eine 
neue Idee?“ 

Er ſchüttelte haſtig den Kopf, ſein Geſicht hatte 
ſich verfinſtert. 

Selbſt wenn es der Fall war, ſollte er ſich 
dann hierherſtellen und mit jemand darüber ſprechen, 
der gar nichts davon verſtand? Er wollte ſich 
nichts von ſeinem Schaffen profanieren laſſen; das 
wenigſtens mußte ſtets ſein eigenſtes Eigentum 
bleiben, daran durfte auch ſie niemals rütteln. 

Wie gern hätte er ihr das alles in Worten ge- 
jagt, klar und beutlih, aber er fand fie nidt, 
es peinigte ihn nur, ohne daß er fich davon er: 
löjen fonnte.. Er warf einen verfiohlenen Blid 
auf die Uhr, noch ein paar Stunden, und er fonnte 
in die Stadt zurüdlehren, frei, allein fein. Mit 
brennender Sehnfudht wünſchte er den Zeitpunkt 
heran. Wenn er wieder arbeitete, fand er auch 
ſein Gleichgewicht, ſeine Zufriedenheit wieder, nur 
hier draußen, im Banne dieſes Mädchens, das jetzt 
ſeine Braut hieß, bedrückte ihn alles. — 

Als Heeken am Abend im Schnellzug ſaß, der zur 
Stadt fuhr, ſah ſein Geſicht zufriedener aus, als 
während der ganzen letzten Zeit. Er winkte noch einmal 
den Zurückbleibenden Grüße aus dem Fenſter zu, dann 
überließ er Fortunat den Platz und fank aufſeufzend 
in die Wagenpolſter. Zum erſten Mal in ſeinem 
Leben fuhr er zweiter Klaſſe. Wie weich das war! 
Er drückte den Kopf feſt an die Lehne, um es recht 
deutlich zu fühlen. — So würde es ja nun immer 


ein. — 

Als ſich Fortunat endlich umdrehte, ſah er mit 
Erſtaunen, daß Martin die Stirn gerunzelt hatte 
und vor ſich hinbrütete. Er ſetzte ſich ihm gegen— 
über, und eine Cigarette anzündend, ſagte er: 

„Jetzt ſollſt Du mir nicht entkommen, Freundchen, 
jetzt heißt es beichten. Was iſt Dir? Wie ein Glück— 
licher ſiehſt Du in dieſem Augenblick nicht aus, oder 
quält Dich Trennungsſchmerz?“ 

Da fuhr Heeken auf. 

„Zum Teufel, nein, ich bin nicht glücklich! 
Wie kann ich denn glücklich ſein, wenn ſie mich 
nicht in Frieden läßt, und ich nicht weiß, was ich 
ſagen ſoll. Es kommt mir immer vor, als hätte 
ich neben ihr auch gar nichts zu ſagen, nur hübſch 
ſtillzuſchweigen und zu thun, was ſie mir ſagt, wie 
ein Pudel oder ſonſt ein gelehriges Tier.“ 

„Du biſt eine undankbare Kreatur,“ ſagte 
Fortunat zornig und warf die Cigarette zum Fenſter 





601 Art zu At. 
hinaus, „das muß ih Dir jagen! Das Tiebfte, 
Ihönfte, reiäfte Mädchen Hat Dich erwählt, wahr: 
lich, ohne Dein Verdienft, denn was bift — was 
fannft Du Ichon, Martin Heelen? Ein Werk, ein 
Erfllingswer!! Nun ja! — aber weißt Du, wie bas 
zweite jein wird, das ihm folgt? Und wenn aud) 
— Du hättet ringen und kämpfen müflen, jeßt 
ebnet fie Dir den Weg, und Du bift noch nicht zus 
frieden.” 

„Ih will lieber ringen und kämpfen,” gab er 
eigenfinnig zurüd. „Aber dies Mädchen erdrüdt 
mid, macht mid jo Hein vor mir Selber. Ich 
Ihäme mid.“ 

Fortunat jah dem anderen geipannt in das 

t 


„Und warum haſt Du ſie denn genommen?“ 

„Habe ich es denn? Ich weiß es nicht! Ich 
denke, ſie nahm mich.“ 

„Du biſt ein Narr, Martin. Dein Brautſtand 
iſt Dir neu — unbequem — das giebt ſich. Wenn 
Du erſt den Charakter Deiner Braut kennen lernen 
wirſt — merke wohl auf, ich ſpreche gar nicht von 
ihrem Reichtum — wirſt Du ſehr — ſehr glücklich 
werden.“ 

„Ich bin nicht fein genug für ſie,“ beharrte 
er. Aufſpringend ging er jetzt im Coupee auf und 
ab, wie ein Löwe im Käfig. „Sie wird es bald 
genug einſehen, Lex. Und ſie will eine Puppe haben, 
ich bin aber keine Puppe.“ 

„Wie Du ihr unrecht thuſt.“ Fortunat war 
erzürnt. „Wenn je ein Menſch von edlen Motiven 
geleitet worden iſt, ſo iſt es Miß Maud Winter.“ 

„Dann iſt ſie eben zu gut für mich! Ich 
fühle das ja, ich fühle das alles, und das macht 
mich unglücklich.“ 

„Guter Tino,“ ſagte Fortunat und ergriff ihn 
am Rockſchoß, „ſetze Dir keine ſolchen Flauſen in 
den Kopf, ſondern Dich ſelbſt lieber in die Polſter. 
Miß Maud iſt eine ſo ſelbſtſichere Natur, daß Du 
der dreiſt vertrauen kannſt. Daß ſie Dich wählte, 
iſt mir die beſte Bürgſchaft für Eure Zukunft. Und, 
ſei einmal ehrlich — Du biſt doch verliebt in ſie, 
ſo recht von Herzen.“ 

Martin ſtrich ſich den Bart, er ſeufzte. 

„Das weiß ich nicht — ich kenne das nicht.“ 

„Nun, Du kommſt ſchon noch dahinter. Himmel, 
Tino, was wäre das Leben ohne die Weiber! Wir 
können ſie eigentlich gar nicht genug dafür lieben, 
daß ſie überhaupt auf der Welt ſind.“ — 

Und etwa zu derſelben Stunde ſagte Luzie bei— 
läufig zu Maud: 

„Sie haben ſich da eine große Aufgabe geſtellt, 
und Ihre Ehe mit Heeken ſcheint mir ein großes 
Wagnis zu werden. Ich hätte nicht den Mut dazu. 
Es giebt doch Dinge, die im täglichen Leben recht 
häßlich kratzen, während man zuerſt ganz leicht über 
ſie hinwegſieht.“ 

Maud lächelte ſiegesſicher. 

„Seien Sie um mich unbeſorgt, Luzie, ich werde 
meine Aufgabe ſchon zu löſen wiſſen.“ 

Aber ſo ganz im Gleichgewicht war ſie doch 
nicht, wie ſie ſich nach außen den Anſchein gab. 


Roman von H. Schobert. 


602 


Wenn ſie an den Augenblick zurückdachte, wo ſie 

ſich ihm für das Leben geſchenkt, und an die darauf 
folgenden Stunden, ſo überkam ſie doch ein die 
Bruſt zuſammenpreſſendes Gefühl. Er war mehr 
als abwehrend, faſt unfreundlich zu ihr geweſen. 
War das nur ein Ausdruck ſeiner Schüchternheit? 

Daß ſie ihm imponierte, fühlte ſie und freute 
ſich daran. Sobald er in allen anderen Dingen, 
außer in der Kunſt, ihr Übergewicht anerkannte, 
würde es ihr leichter werden, ihn zu beeinfluſſen. 
Daß es ihm ſchwer wurde, ſich ſo plötzlich in die 
nächſten Beziehungen zu ihr geſetzt zu ſehen, die 
gleichſam aus einer anderen Sphäre in ſein Leben 
hineingekommen war, das ſprach für ihn, weil es 
natürlich war. Mußte doch auch ſie ſich erſt daran 
gewöhnen, nun einem Manne anzugehören. — Er 
hatte beim Abſchied keinen Kuß von ihr verlangt, 
nur ein Händedruck war zwiſchen ihnen ausgetauſcht 
worden. Es gefiel ihr, aber ſtimmte ſo gar nicht 
zu dem Moment auf der Wieſe, wo er ſie wild und 
leidenſchaftlich geküßt hatte. Wo lag der wahre 
Ausfluß ſeiner Natur? 

Sie ſann und grübelte lange über alles, nur 
eines fiel ihr dabei nicht ein, das nämlich, daß er 
unglücklich ſein konnte über den geſchloſſenen Bund. 
Bot ſie ihm doch ſo viel. Die Zeit — die Zeit 
war notwendig, um ſie erſt vertrauter miteinander 
zu machen, dann würde es ihr ſchon gelingen, ſeinen 
Charakter richtig zu beurteilen. 

Und jetzt, wo er fort war, ſchien es ihr ſchon, 
als ſei er ihr wieder näher gerückt, und die Auf— 
gabe, die ſie ſich geſtellt, wuchs vor ihren eigenen 
Augen immer höher. — 


Vierzehntes Kapitel. 


Frau Heeken war nach der Stadt gekommen 
mit großem zur Schau getragenen Stolz und innerem 
Unbehagen. Am liebſten wäre ſie in ihrem Dorf 
unter den Verwandten und Freunden, in bekannten 
Lebensverhältniſſen geblieben, mit einem baren Zu⸗ 
ſchuß von ihrem Sohn, der ſie inſtand ſetzte, ohne 
Sorge zu leben. Aber der Zug ſtklaviſcher Unter— 
würfigkeit, der den Frauen aus dem Volk oft zu 
eigen iſt, hatte ſie verhindert, eine eigene Meinung 
auszuſprechen. Und dann ſchmeichelte ihr das Auf— 
ſehen, das ihre Überſiedlung nach der Stadt im 
Dorfe machte. — 

Als ihr Sohn ihr auf dem Bahnhof enigegen- 
trat, gut gekleidet, frifiert, jah fie ihn nur jcheu 
von ber Seite an, er fam ihr ganz fremd vor und 
fie fühlte inftinttiv, daß zmwifchen ihm und ihr ein 
Abgrund war, der fi nicht mehr überbrüden ließ. 

Da bereute fie ihr Kommen zum erften Mal. 

Sie wagte au gar nicht mit ihm zu reden, 
während fie im Omnibus ihrem Endziel zufuhren, 
denn er verhielt fi) fchweigend, und die Mitreifen- 
den flarrten ihr alle jo breift ins Gefiht, daß ihr 
unbeimlich wurde und fie Gott dankte, endlich hinaus⸗ 
zulommen. — 





603 


Das neue XÜtelier, auf das Stipendium bin 
gemietet, war immer noch ziemlich primitiv. Den 
Arbeitsraum hatte fich Heelen zu feiner Tpeciellen 
Benutzung vorbehalten, und man fahb, daß er fi 
bereits in berjelben Art darin eingerichtet, wie er 
es gewohnt war. Die große daranjtoßende Küche 
gehörte feiner Mutter. Sie war bel und Tabl und 
roh nad friihem Kalf. 

Die alte Frau jah fih mit jcheuem Blid um. 
Alles Gewohnte fehlte, und was fie bier fah, damit 
mußte fie nichts anzufangen. 

„Ra, Mutter,” fagte Heelen triumpbierend. 
„Habe ih nicht Wort gehalten? Einmal mußte es 
tommen, das wußte ich, und nun ift es da.” 

Sie nidte ftil vor fih Hin und fette fh an 
den weißgeicheuerten Tiih, ohne ihr Tuch abzulegen, 
als wäre fie bier Gaft. 

„Ihr leid bier nun zu Haufe, Mutter, könnt 
maden, was Shr wollt und braucht nicht mehr zu 
arbeiten.” 

„Sa! Ya!” fagte fie nur. 

„Seid Hr nicht froh, Mutter?” 

„Ja! Sal“ 

Er holte die Zeitungen mit den Kritifen über 
jein Wert und las ihr daraus vor. Sie hörte ihm 
bewegungslos zu. 

„Sit bier nicht wer, der audh vom Lande ift, 
mit dem man reden Tann?” fragte fie ganz ver: 
Ihüchtert, als er aufgehört. 

Er jhob ungeduldig die Blätter zufammen. 

„Das weiß ich nicht, Mutter, das wird fich 
Ihon alles finden. Ych bin ja bier.“ 

Sie ſah ihn wieder |heu an. „Ah Du — Du 
bift jo fein geworden.” 

Er redte fih in den Schultern. Dieler alten, 
gewöhnlien Frau gegenüber fühlte er feine Über: 
legenheit. 

„Das iſt nicht anders, Mutter. Und eine 
Schwiegertochter kriegt Ihr auch. So fein und ſo 
reich, daß Ihr Euer Staunen haben werdet.“ 

„Wer hätte das gedacht, Martin,“ ſie ſchüttelte 
den Kopf. „Aber wenn ſie Geld hat, dann nimm 
ſie Dir, das iſt das Beſte im Leben.“ 

Er ſah auf ſeine Mutter und dachte an Maud. 
Selbſt er begriff, daß es zwiſchen dieſen Frauen 
nichts Gemeinſames gab, daß auch er nicht aus— 
reichte, ein Bindeglied zu werden. — 

„Du mußt mich dabei ſein laſſen, wenn Du 
Deine Mutter in die Ausſtellung vor Dein Werk 
führſt, ich will einmal Zeuge eines naiven En—⸗ 
thuſiasmus ſein,“ hatte Fortunat gebeten. 

„Meine Mutter verſteht nichts von ſo etwas.“ 

„Sie ſoll gar nichts verſtehen, ſie ſoll nur ſehen 
und fühlen.“ 

Es war zum zweiten Mal, daß dies Geſpräch 
mit denſelben Worten zwiſchen den Freunden geführt 
wurde, und Heeken wurde ungeduldig. 

„In Gottes Namen; aber Du wirſt Dich täuſchen, 
mein Lieber. Du erwarteſt immer mehr von den 
Menſchen, als ſie leiſten können.“ 

„Habe ich das bei Dir bewieſen, und bei Deiner 
Braut?” 





Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


604 





„Bei mir vielleicht. — Bei MiE Winter — das 
fann ich nicht willen.” 

„Apropos, warn fährft Du hinaus zu Duenjels, 
Du mußt fie doch wiederjehen.” | 

Heelen wurde rot. „Ach kann do jest nicht, 
davon ift feine Rede. Sch muß bie Arbeit ein- 
leiten für das Mujeum, da kann ich nicht fort.” 

„And Du willft die erften Tage Deine Mutter 
nicht allein laffen, das begreife ich.” 

Seelen jah ihn ärgerlih von der Seite an. 
Manchmal dadte er, Fortunat triebe Spott mit ihm. 
Sn Wahrheit hatte er fi wenig um die alte Frau 
gekümmert, zu jpreden hatten fie nihts, und mit 
den Bebürfnillen des täglichen Lebens mußte fie fich 
allein abfinden; der Gedanke, ihr behilflich zu fein, 
fam ihm gar nidt. 

„Fährſt Du hinaus?” 

„Ja, Sonnabeund.“ 

„Dann grüße ...“ er zögerte etwas — „Maub 
von mir und entſchuldige mich mit meiner Arbeit. — 
Maud! — Was für ein abſcheulicher Name das iſt! 
Warum heißt ſie nicht Anna oder Marie.“ 

„Na wahrhaftig! Ich habe ſelten einen ſchöneren 
gehört. So weich — ſo eigenartig. Ganz zu ihr 
paſſend. Kommſt Du wirklich nicht mit? Sie wird 
es übelnehmen.“ 

„Nein!“ Er runzelte die Stirn, ſah aus, als 
ob er noch etwas ſagen wolle, ſchwieg dann aber. — 

Fortunat ging den Ankommenden entgegen. Es 
war noch ſtill auf den Straßen, und die Ausſtellung 
eben erſt im Begriff, ſich für den Tag zu rüſten, 
aber Heeken hatte dieſe Stunde gewählt, weil er 
behauptete, nicht anders Zeit zu haben. 

Daß die Alte in ihrer ländlichen Tracht war, 
fiel Fortunat nicht ſonderlich auf, die kannte er ja. 
Aber — beim Näherkommen — dieſe Mutter und 
dieſer Sohn! 

Wie war es nur möglich, daß die Natur in 
einen Sprößling dieſer Frau, der man Beſchränkt⸗ 
heit und Kleinlichkeit, Härte und Dummheit vom 
Geſicht las, ſo eine große Seele, ſolch gewaltiges 
Können gelegt hatte? Seine Blicke wanderten un— 
abläſſig von einem zum andern, während die Alte 
vor dem vornehmen Freund ihres Sohnes knickſte 
und das Taſchentuch zwiſchen die Handflächen drückte. 
Sie hatte ſich zurecht gemacht wie zum Kirchgang. 

Fortunat war ein phantaſiereicher Kopf und 
beſaß ein warmes Herz, daher paſſierte es ihm oft, 
daß er die Dinge anders ſah, als ſie in Wirklichkeit 
waren — ſein konnten, und die Entdeckung dieſer 
Täuſchung verſtimmte ihn dann gleich tiefer als 
nötig war. 

So ging es ihm jetzt. Als er der Alten an- 
ſichtig wurde, mußte er an Maud denken. Hatte 
ſie mit ihrer Weltanſchauung, die er für herzlos 
hielt, nicht öfter das Richtigere getroffen, als er? 
Wie würde ſie dieſe alte Frau auffaſſen? — 

Sie waren eingetreten und ſtanden vor Heekens 
Gruppe. Noch war die Sonne nicht da, ſie zu ver: 
golden, aber ſie hatte auch keinen äußeren Glanz 
nötig. 

Als die Alte die gewaltige weiße Maſſe ſo 


605 Art zu Art. 
bit vor fih jah, drängte fie fih erichroden an 
ihren Sohn. 


„Hier, Mutter, das babe ich gemacht. 
bat man mich belobt und gut bezahlt.” 

Sie drehte den Hals Hin und her, ohne etwas 
zu jagen. 

„Dadur hat er der Welt gezeigt, daß er ein 
großer Künftler ift,“ vollendete Fortunat. 

— ſchon ſein,“ ſagte die Alte nach einer 
auſe. 

„Gefällt es Ihnen?“ 

Sie ſah hilfeſuchend um ſich, all die weißen 
Gruppen ängſtigten ſie. Beklommen ſchüttelte ſie 
en Kopf. 

„Nicht?“ rief Fortunat entrüſtet. 

„Es iſt ſo groß und ſo weiß,“ ſtotterte ſie. 

Heeken lachte auf. 

„Gelt, Mutter, die Heiligen bei Euch draußen 
mit ihren hũbſchen Gewändern und roten Wangen 
ſind ſchöner.“ 

„Ja! Ja!“ ſagte ſie aufatmend. Und ſich an 
Fortunat wendend, ſetzte ſie aufgeregt hinzu: „Ach, 
Herr, der Martin ſagt's ſelber — wie kann denn 
das hier ſchön ſein! Wo giebt es denn einen Menſchen, 
der halb Tier iſt. Das iſt ja graulich.“ 

„Möchteſt Du nach Hauſe, Mutter?“ 

Sie nickte eifrig, und die beiden Freunde brachten 
fie zurüd in ihre Wohnung. Unterwegs fagte fie be- 
fümmert: 

„ner Verwalter will es nicht leiden, daß ich 
mein weißes Huhn in ber Küche behalte. Sage Du 
es ihm doch, Martin.” 

„Das geht natürlich nicht, 
do&h in der Stadt.” 

„Ss muß aber gehen, Martin.“ 

Er antwortete nicht mehr, jondern warf eine 
Frage an Fortunat bin über feine Arbeit, und bie 
Alte ging zwilhen ihnen, eifrig murmelnd und 
rälonnierend über ihr weißes Huhn, in dem fie fi 
perjönlich gefräntt glaubte. — 

Als fie wieder allein waren, atmete Fortunat 
auf. Er glaubte immer noch ben flidigen, modrigen 
Gerud, der den Kleidern ber alten Frau entftrömte, 
in der Nafe zu haben. 

Seelen jah ihn an und ladıte. 

„Da haft Du es. Das ift bei uns zu Haufe 
Kunitverftändnis.“ 

„Deſto mehr bift Du zu bewundern.” 

Er jagte das in allem Ernfl. Aus folder 
Umgebung beraus feinen Weg zu maden, bdeuchte 
ihm etwas Gemwaltiges. 

denfe, was in jedem ftedt, fommt heraus, 
ob im Schloß ober in der Hütte,“ meinte Heelen 
nachdenklich. „Darum werde ich wohl jo geworden 
jein wie ih bin.“ 

„Dante Gott, daß Du eine Frau bekommt, 
die Dich verftebt, Dich würdigt. Nun bin ich voll- 
ftändig um Eure Zukunft unbejorgt. 
Du die Gemeinjamkeit in der Ehe fchäßen lernen, 
nah der Trafien Verftänbnislofigkeit, die Du in 
Deiner Umgebung früher gefunden haft.“ 

Heelen jah aus, als ob er zweifle, aber da er 


Dafür 


Mutter, wir find 


Roman von 9. Schobert. 





Doppelt wirft 


606 





ih Ichleht auszudrüden wußte, wenn oe ih um 
feine Gedanten banbelte, jchwieg er. — 

Ale Fortunat am Sonnabend zu QDuenjels 
binausfuhr, war er noch ganz voll von diefen Ein: 
drüden und fuchte Maud allein zu finden. Vielleicht 
hatte fie dasjelbe Bebürfnis, denn trogdem Luzie den 
Saft jehr in Aniprud nahm, fanden fie fich doch zu 
einem gemeinjamen Spaziergang zufammen, den ihnen 
niemand jtörte. 

„Wie froh bin ich, Sie endlich allein zu Iprechen,” 
lagte Maud, ihren roten Sonnenfhirm aufipannenb 
und neben ihm hergehend. 

„Ich auch.“ 

"Sie haben jid) jeit meiner Verlobung jo ab» 
ſichtlich fern von mir gehalten, daß ich glaubte, Sie 
zürnten mir.“ 

„O nein, das nicht. Ich machte mir eher Vor⸗ 
würfe.“ 

„Weshalb?“ 

„O Miß Maud!“ ſagte er plötlich ſtehen⸗ 
bleibend und hoch aufatmend, „ich bin ſo froh, daß 
der Alp, der mich ein paar Tage bedrückt hat, nun 
von mir genommen iſt.“ 

Sie ſah ihn an und lächelte. 

„Sie ſind ein Kind, Fortunat.“ 

„Mag ſein! Aber ſehen Sie, als ich Sie ſo 
neben Heeken ſah, ſo — zuſammengehörig — da kam 
es mir vor, als paßten Sie doch gar nicht zu ihm, 
als könne ſolch eine Verbindung nicht zum Glück 
ausſchlagen, und als würden Sie mehr darunter 
leiden als er. Ich aber fühlte die Verantwortung 
auf mir, weil ich derjenige geweſen bin, der Ihnen 
ſtets von ihm ſprach, der Ihre Phantaſie angeregt 
und Sie vielleicht dadurch zu dem edlen Entſchluſſe 
gebracht hat, ſein guter Engel ſein zu wollen. O 
wie mich das gedrückt hat!“ 

Er nahm den Hut vom lockigen Haar und 
ſeufzte tief. 

„Wiſſen Sie, für den äußeren Menſchen da kann 
man ja vieles thun, und den kann man ja auch be— 
urteilen, aber den inneren — den inneren! Der 
iſt uns eben verborgen. Iſt der ſo, wie wir ihn 
uns denken?“ 

„Quälen Sie ſich nicht mit ſolchen Dingen, 
Fortunat,“ ſagte Maud lächelnd. „Ich bin kein 
Kind mehr und weiß, was ich will. Hätten Sie 
wirklich etwas dazu gethan, könnte ich Ihnen nur 
dankbar ſein. Wir werden eine Muſterehe führen.“ 

Fortunat blickte zu Boden und ſtieß mit dem 
Stock in den mooſigen Sandboden. 

Sein Schweigen irritierte ſie. 

„Glauben Sie nicht?“ fragte fie etwas heftig. 

„Gewiß,“ murmelte er verlegen. „Nur etwas 
mehr Wärme — etwas mehr Wärme, das wäre es, 
wonach ich Verlangen trüge.“ 

Sie runzelte die Stirn und ſchüttelte den Kopf. 
„Das iſt mir gerade recht ſo. Mehr Wärme trübt 
meiſt im Anfang den klaren Blick, und den braucht 
man nie mehr, als bei dem Entſchluß zur Ehe. 
Außerdem nehmen wir beide jetzt eine Zwitterſtellung 
ein, die ſehr unbehaglich iſt. Ich wünſchte, wir wären 
erſt Mann und Frau, dann weiß jeder, wohin er 





607 


gehört, und Tino wird fih um jo eher in die An: 
forderungen des neuen Xebens finden. Haben Sie 
feine Mutter gejehen?” 

„Sa. Und nahdem ich gejehen habe, wie er all 
dem Unglaublichen, Unkünſtleriſchen hat entwachſen 
können, um das zu werden, was er iſt, bin ich auch 
überzeugt, er wird ſchnell neben Ihnen emporwachſen, 
um das zu werden, was Sie aus ihm machen 
wollen.“ 

Eine ſchmale, niedrige Bank ſtand am Wald—⸗ 
rand. Sie lag im Schatten und Maud ſchloß den 
Schirm, um ſich zu ſetzen, dann machte ſie Platz 
neben ſich für ihren Begleiter. 

„Ich werde am Montag Morgen mit Ihnen 

in die Stadt fahren, um meine Schwiegermutter zu 
begrüßen,“ ſagte Maud. „Das bin ich ihr ſchuldig 
und werde es nicht verſäumen.“ 
„Spannen Sie Ihre Erwartungen nur ja nicht 
hoch.“ 
Sie ſah ihn an und lächelte wieder. So über: 
legen, jo jelbitbemußt. 

„Ih bin fein Mädchen mit irgend welden 
SHufionen. Einen Weg vor mir, den ich überjehen 
tann, und Klarheit aller Berhältniffe, mehr verlange 
ih nit, das übrige joll dann meine Sade jein. 
Hier babe ih das alles, warum fol es mir da 
fehlen.” | 

„Sie find jo jung und predhen wie eine ge- 
reifte Frau,” fagte er ganz entrüftet. „Klarheit, nun 
ja, Klarheit ift ja jehr Ichön, aber unter Imftänden 
auch vet nüchtern. Sie jollten lieben wollen und 
geliebt werden, das wäre natürlicher.” 

Sie ftieß mit der Spite ihres Sonnenidirms 
Heine Löcher in den Weg. 

„Das, was Sie Liebe nennen,” fagte fie nad) 
einem lleinen Zögern, „iit mir nicht ganz fremd. 
Es ift ein ungejundes Gefühl und jedenfalls ohne 
Dauer. Die nüchterne Vernunft bietet viel mehr 
die Chance zu einer dauernden YZufriedenheit, — 
mehr will man dodh nit. Sagen Sie jelbit, bat 
Shnen jemals eine Perfon, an der Sie Jhre Gefühle 
verjhwendeten, das gehalten, was Sie fich zuerit von 
ihr veriprahen? ZN auf den erften Taumel nicht 
meilt eine recht unerfreulihe Ernücdhterung gefolgt? 

Er jah fie erft an, dann auf den See hinaus, 
der vor ihnen lag. 

„Dielleicht war e8 jo. Aber der Anfang, der war 
dann meift jo Ihön geweien, daß er felbit das Ende 
noch mitverklärte. Ich bin ein jchredlich Tiebebe- 
dürftiges Menjhentind, ih fan einmal nicht leben 
ohne irgend ein Gefühl, das mir die Alltäglichkeit 
verllärt. Laden Sie mich nur dreift aus, es muß 
auh jolhe Käuze geben. Eine Ehe, wie Sie fie 
Ihildern und erjtreben, wäre mir jchredlih, ganz 
undenkbar. Sch jehne mich nad) Liebe.” 

Sie wandte ihm langjam ihr Gefiht zu und 
Jah ihn an, ihre Augen murzelten ineinander. 

„Sie find ein Kind,” fagte fie und blidte dann 
auch auf den See hinaus. 

E3 zudte etwas in ihr auf, al ob er redt 
haben Fönne, als ob das doch vielleicht das Bellere 
jei, aber dann fiel ihr ein, daß fie einmal eine 


ee ee Eee 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


608 


Enttäufdung erlebt und mit Dieler einen Cr: 
fahrung gerade genug babe. Leute, die noch nichts 
erlebt hatten, die mochten fi) an Gefühlen erfreuen, 
fie wollte nicht mehr als notwendig damit zu fchaffen 
haben; die Kunft ihres Mannes jollte der Anhalt 
ihres Lebens werden, und an diefen Gedanten an: 
Inüpfend fuhr fie fort: 

„IH glaube, ich fanın ehrgeizig fein, und ih 
werde es fein für Tino. Die Gelellihaft muß ihm 
erihloffen werden, der Hof; ich habe jhon allerlei 
Pläne. Aber vor allen Dingen, mich drüdt bier der 
Aufenthalt bei Duenfels, er wird mir von Tag zu 
Tag unerträglicher, obgleich mir direft niemand etwas 
zuleide thut. Wenn ih am Montag mit Ahnen in 
die Stadt fahre, logiere ich mich im Hotel ein, die 
Anihaffung meiner Ausfteuer, das Mieten einer 
Mohnung giebt mir genügenden Vorwand. Wenn 
Tino einverftanden ift, Tünnen wir am 3. Oktober 
beiraten. ch will Frau fein, damit ich mich freier 
bewegen Tann.” 

Sie nahm den Hut vom Kopf, legte ihn in 
ihren Schoß und fchüttelte das dunkle Haar. Es 
lag etwas Freigewordenes in dDiejfer Bewegung. 

„Der glüdlide Martin,“ dachte Fortunat, als 
er fie anfab. 

„Wenn Sie mid irgendwie brauchen fünnen, 
verfügen Sie ganz über mid, Miß Winter.” 

Sie reihte ihm die Hand. 

„Ih weiß es. Sie find mein Freund, obgleid 
Sie mid mandhmal im ftillen tadeln.” 

„Sie find jo anders, als ich,” entichuldigte er 

„Wenn ich diefe einfamen Bromenaden zu zweien 
riskieren würde, mein lieber Emil,” jagte Zuzie, Die 
joeben mit ihrem Bruder am Seeufer entlang kam 
und das Baar fofort mit ihren unruhigen Augen be- 
merkte, „dann würde mir aus allen Tonarten mein 
unpaljendes Benehmen vorgehalten werden. Nun, 
MiE Winter ift e8 ohne alle Bemerkungen geitattet. 
Das eine Mal Tapert fie fih dabei einen Bräutigam 
— gut — mas will fie nun aber noch mit Fortunat, 
den kann fie dod in Frieden lafjen.” 

„Mberwirf Dih nicht mit ihr,” warnte Emil, 
der die Gereiztheit feiner Schweiter falt veritand. 
„Diele junge Lady hat einen flarten Willen und 
wird, faute de mieux, ihre Rolle jpielen. — Stelle 
Did gut mit ihr.” 

Luzie ballte die Fauft und biß die Zähne feit 
aufeinander, dennoch beberriähte fie fich mufterhaft, 
als fie zu dem Paar trat. 

Sie war aud) diejenige, die am meijten Wider: 
ipruch gegen Mauds Überfiedelung erhob. Im Herzen 
war fie eiferjüchtig auf Fortunat, und ber Gedante, 
ihn täglih und ungeniert in Maubs Gejellichaft zu 
willen, bradte fie außer fich. 

„Sie hatten mir doch veriprochen, mich zu allem 
mitzunehmen,” fagte fie jchmollend. „Und nun 
Juden Sie mid auf bdieje Art Ioszumerden, Maud?” 

Maud blidte zum See hinaus. 

„gu den Dingen, bie Sie interejlieren, Xusie, 
werde ih um ihre Begleitung bitten, aber e& handelt 
fih vorläufig nur um eine Wohnung.“ 


609 Art zu Art. 
„Wird Fortunat Sie führen?“ 

„Ih Hoffe, Daß er fih uns anjchließt, wenn er 
Zeit hat.” 

Luzie lachte höhniſch auf. 

„Da er mehr Zeit hat, als Ihr Bräutigam, ſo 
wird er wohl mit aller Kraft denſelben zu vertreten 
bemüht ſein.“ 

Und zu Fortunat ſagte ſie nachher vertraulich: 

„Dieſe Maud iſt das koketteſte Frauenzimmer, 
das mir jemals vorgekommen iſt. Nun ſind Sie ihr 
gerade gut genug, um ihr die Langeweile zu ver— 
treiben. Hüten Sie ſich, Lexchen, ach hüten Sie ſich! 
Ihr Herz fängt ohnehin ſtets ſo ſchnell Feuer.“ 

Er wehrte ihr, harmlos lachend. Die Braut 
ſeines Freundes auch nur mit einem begehrlichen 
Gedanken ſtreifen, das lag für ihn außerhalb jeder 
Möglichkeit. Ihr zu Dienſten ſein — in jedem 
Augenblick; aber ſie mit verliebten Augen etwa au— 
ſehen, dazu hielt er ſich denn doch für einen zu an— 
ſtändigen und ehrenhaften Menſchen. 


Fünfzehntes Kapitel. 


Beim ſchönſten Sonnenſchein waren ſie am 
frühen Morgen in die Sadt hineingefahren, der 
Proſeſſor, Maud und Fortunat. 

Jetzt hatten ſich ihre Wege getrennt. 

Der Profeſſor war in die Akademie, Maud ins 
Hotel, Fortunat zu Heeken gegangen, um ihm die 
Ankunft ſeiner Braut mitzuteilen. Mit einem kaum 
unterdrückten Fluch nahm Heeken dieſe Botſchaft auf. 
Er hatte ſich ſo ſicher geglaubt, verſchanzt hinter 
ſeiner Arbeit, daß er ein Wiederſehen gar nicht in 
Betracht gezogen hatte, der ganze Sommer konnte 
darüber hingehen, und nun war ſie ihm nachgekommen 
und er ſaß wieder in der Zwickmühle drin. Einen 
Augenblick durchblitzte ihn der Entſchluß, um keinen 
Preis zu ihr zu gehen, ja die Verlobung mit einem 
Ruck zu zerreißen, aber dann ſtieg eine Viſion vor 
ihm auf, ein Atelier mit Marmorblöcken darin, deren 
Preis ihn nichts anging, und aus denen allmählich 
die Gebilde ſeiner Phantafie zauberhaft emporwuchſen. 
Um dieſes Marmors willen mußte er verſuchen, die 
Frau zu ertragen. 


Er kleidete ſich an und ging mit Fortunat in 
das Hotel. Friſch und lebhaft, hübſcher denn je 
kam ihnen Maud entgegen. 

„Wie geht Dir's, Tino?“ 

Als er ſie anſah, ſchmolz ſein Widerwille etwas. 
Sie war doch ſehr vornehm, und mancher würde 
ihn um ihren Beſitz beneiden. 


„Laß uns zuerſt zu Deiner Mutter fahren, 
drunten ſtehen Wagen,“ ſagte ſie, nach der Uhr 
ſehend. „Dann habe ich hier ein paar Wohnungen 
aufgeſchrieben, die ich mir anſehen will, ſchließlich 
dinieren wir, trinken Kaffee im Freien und gehen 
am Abend in irgend ein Konzert. Sie kommen doch 
mit, Fortunat?“ 


Roman⸗Zeltung 1898. 


Roman von H. Schobert. 


610 


Er bejahte, und ſie fuhren davon. Heeken 
ſchloß ein paarmal die Augen. Die wohlige Luft 
des Reichtums begann ihn zu umfangen, er wehrte 
ſich nicht mehr dagegen. — 

Frau Heeken war aufs furchtbarſte erſchrocken, 
als ihr Sohn die Thüre öffnete, den kommenden 
Beſuch zu melden. 

Sie ſaß gerade vor einem großen Bunzlauer 
Kaffeetopf, das weiße Huhn, die Contrebande aus 
ihrer Vergangenheit, im Schoß und ſtarrte im 
Sonnenſchein vor ſich hin. Sie ſprang auf, das 
Huhn flog ſchreiend und gackernd unter das Bett, 
und Martin ſchoß das Blut in das Geficht, als er 
dem Tier nachſah. Er vergaß, daß ſeine Braut 
und Fortunut dicht hinter ihm ſtanden. 

„Ihr habt das Vieh doch noch, Mutter? Haben 
wir es Euch nicht verboten?“ 

Er ſah rot und wütend aus, ſie blickte ihn 
ſcheu an. 

„Es thut doch niemand 
murmelte ſie eigenſinnig. 
Freude.“ 

Er war heftig eingetreten, nun erfaßte er das 
unglückliche Geſchöpf, das ſich wieder vorgewagt 
hatte, bei den Beinen und ſchlug es mit ſolcher 
Vehemenz gegen den Herd, daß dem Tier das 
gellende Geſchrei, das es zuerſt ausgeſtoßen, in der 
Kehle ſtecken blieb. Beim dritten Schlage zuckte es 
nicht mehr. Aus dem Schnabel quoll Blut, es 
war tot. — 

Maud lehnte blaß am Thürpfoſten. Ein 
Schauer überrann ſie. War dieſer Mann nicht 
doch ein anderer als der, für den ſie ihn anſah? 
Freilich hatte er in gewiſſer Beziehung recht, wenn 
er ſeinen Anordnungen Geltung verſchaffte. Welche 
Idee von dieſem alten Weibe, in ihrer Küche Getier 
halten zu wollen. Es roch abſcheulich danach. In—⸗ 
deſſen die Art und Weiſe war brutal geweſen. Sie 
konnte nicht darüber hinweg, ſo ſehr ſie ſich auch 
das alles ſagte. Es ſchüttelte ſie vor Ekel und 
Grauen. 

Ein Mann, der das vermochte, konnte auch noch 
mehr! Und ſie, ein ſchwaches, fein empfindendes 
Weib, wollte ſich dieſer Roheit verbinden? Einen 
Augenblick ſchien es ihr unmöglich. Sie ſah weder 
Heeken noch Fortunat an, ihre bebenden Finger 
griffen in das zarte, luxuriöſe Kleid, das ſie heute 
angelegt, und hoben es hoch, als fürchtete ſie mit 
irgend etwas in ihrer Umgebung in Berührung zu 
fonımen, als müfle fie fliehen, eilig fliehen, um nicht 
einem ähnlihen Schidjal zu verfallen. Ihr Gefiht 
war ganz weiß gemorden vor innerer Erregung, 
und die alte Frau vor ihr verihwand faft unter 
einem lichten Nebel, der fich vor ihre Augen ge: 
legt hatte. 

Todesichweigen herriähte für ein paar Minuten 
in der dürftigen Küche. 

Heelens Zorn war verflogen, er fühlte in- 
ftinftiv, daß etwas geidhehen fei, was in den Augen 
feiner Braut fchwer wog, ihm nur natürlid er- 
Schienen war; gern hätte er ihr ein Wort der Ent: 
Ichuldigung gejagt, aber er wagte es nicht, er ftanb 


etwas zuleibe,“ 
„&s ift meine einzige 


e ———————— — — —⏑⏑ — — 


IV, 43 


611 Art zu Art. 
nur da, die Hände verichräntt, demütig, reumütig 
wie ein Schuljunge, der feiner Strafe entgegenfteht, 
den Kopf gelentt. 

Mit Anftrengung wandte fie ihre Augen end: 
ih auf ihn. Etwas in feiner Haltung verjöhnte 
fie allmähli, die Schauer bes Efels und Schredens 
ließen nad). 

Sie ging auf die alte Frau zu und reichte ihr 
die behandihuhte Hand. 

„Sie willen, wer ih bin — die Braut Shres 
Sohnes — da war es do an mir, Shnen zuerft 
einen guten Tag zu jagen. Hier bin ih allo — 
geben Sie mir Yhre Hand.” 

Anfangs zitterte ihre Stimme, dann wurbe 
fie fefter. 

Die Alte hatte geftanden und mit dem Schürzen: 
zipfel in ihren Augenmwinleln berumgewildt. Der 
Tod des Tieres bedeutete ihr nicht viel weniger als 
der Tod des Mannes, war e8 doch das einzige, an 
dem augenblidlih ihr Herz hing. Erbitterung war 
in ihr aufgeftiegen, aber fie wagte ihr nicht Aus: 
drud zu geben, weder vor ihrem Sohne, noch vor 
der feinen Dame. 

Zum Tode erihroden ließ fie den Schürzen: 
zipfel fallen, ftarrte die Spredhende an, fnidite, 
murmelte etwas, wilchte die Hand an der Schürze 
ab und berührte damit faum die Fingeripigen ber 
jungen Dame. Cs lag etwas Scheues, Gebrüdtes 
in ihrem Benehmen. 


„Wir werden Jhnen einen Hund, eine Kaße, 
einen Bogel kaufen,” fagte Maud überredend, „Tagen 
Sie nur, was Sie wünihen, und — es thut mir 
leid — wirklich leid um das Huhn.” 

Mit einem gewiflen Schauer blidte fie wieder 
auf das tote Tier, das mit geipreizten Beinen und 
gefträubten Federn dalag. 

Die Alte murmelte etwas und fchüttelte heftig 
den Kopf. „Nichts will ih — nidhts!”“ verftand 
Maud, und dabei bemerkte fie wohl den gehälfigen 
Blid, der über fie alle drei hinfchweifte. 

‚Sie drehte fih ab und fah zu Martin Hin- 
über. Deflen Augen begegneten den ihrigen, und 
zum eriten Mal wandte er nicht den Blid ab. 

„Wilft Du nun mein Atelier jehen?” fragte er 
bereitwillig. 


Sie nidte und trat neben ihn. Er öffnete die 
Thüre in den großen, fahlen Raum, der nur bie 
verflaubten Torjen und Zeichnungen aufwies, denn 
gearbeitet hatte er noch nicht darin, nicht einmal 
etwas Thon lag da und zeigte feine Beftimmung an. 
Es enttäujchte fie ehr, aber fie gab dem nicht Aus- 
drud. Sie hatte Sehnjudht hinaus, nad Luft und 
Licht, ihr war es, als müfle fie hier erftiden. 

„Sieh,” Tagte er, auf fein Bett, ben Schemel 
und Krug bdeutend, dem fich jeßt noch eine Wald): 
IHüflel und der Spiegel zugefelt hatten, „für mich 
braudit Du nicht zu forgen, ich habe alles, was mir 
nötig ift.” 

Sie Jah mit unverftelltem Schreden auf das 
Mobiliar. 

„Um Gottes willen, Tino, das wilft Du mit 


Roman von H. Schobert. 


612 


nehmen? Sn unfer neues Heim? Aber das ift un- 
möglich.” 

Ganz traurig jah er jie an. 

„Du fol Dir keine Koften für mich machen, 
ib braude das alles nit. Was ich Hatte, ift jhon 
genug für mid, und es gehört mir.” 

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. 
Wie anjpruchelos er doch troß allem, was er leiftete, 
war, wie hart hatte er fich burdhringen müllen. 
Mas ihr vorhin NRoheit gedünft, war es nidt am 
Ende nur das unbeberrichte Aufwallen eines ver: 
zeihlichen Ärgers? Durfte fie das fo fehwer nehmen? 
Erziehung fehlte ihm doch ganz, das hatte fie ja ge: 
wußt. Und unter diefem verjöhnenben Empfinden 
lagte fie gütig: 

„Aber, lieber Tino, das geht wirklich nidt. 
Du bift ber Herr im Haufe, und für Dich ift nur 
das Belle gut genug.” 

„3% dachte nur,“ wandte er ein, „weil ich dann 
doh au etwas hätte, was mein wäre.“ 

„Alles ift Dein,” verficherte fie ihn Tebhaft. 
—— Dich doch nur von dieſer Vorſtellung 


„Du biſt mir alſo nicht mehr böſe?“ fragte er, 
plötzlich den Kopf hebend. 

„War ich es Dir denn?“ Sie errötete bei der 
Frage, Fortunats Gegenwart war ihr peinlich, und 
doch durfte ſie eine Ausſprache nicht umgehen, wenn 
Tino einmal dazu den Mund öffnete. 

„Ich weiß es wohl — wegen dem Huhn! 
Aber Du glaubſt nicht, was mich das ſchon ge— 
ärgert hat! Der Verwalter, das ganze Haus iſt 
aufſäſſig, und immer wenden fie ih an mid. IH 
mußte es umbringen, wollte ih Ruhe haben. Die 
Alte hatte es fonft immer unter ihrem Rod.” 

„Es war abjdheulih!” fagte fie, fi Tchüttelnd. 

Er jah fie verfländnislos an. 

— unvernünftiges Stück Vieh!“ entſchuldigte 
er ſich. 

„Ich mußte denken, als ich Dich ſo wütend 
63 ob Du auch einmal ſo gegen mich ſein könnteſt. 

So — — befinnungslos zornig.“ 

„Aber ich bin doch kein Mörder,“ ſagte er, 
ſtarr vor Staunen. „Ich würde Dich doch nicht 
umbringen wollen! $ortunat, fannit Du das denken?” 
Er war ganz außer fid. 

„MiE Maud bat das do nur bildlich ge: 
meint. a 

„IH Trage Dih, ob Du wirklih glaubft, daß 
ih einem Menihen etwas zuleide thun fönnte.” 

„Das — weiß ih nicht, Martin. Aber ich will 
es nicht hoffen.” 

Kopfihüttelnd flieg Heelen die Treppe binab. 
Daß man folde Schlüffe aus feiner einfachen 
Handlungsmweife zog, fränkte und beunrubigte ihn 
ſehr. Er hätte fich gern noch weiter verteidigt, aber 
Fortunat raunte ihm auf der Treppe zu: 

„Schweig jetzt davon.“ 

Sie gingen an der nun geſchloſſenen Küche 
vorüber, ohne daß jemand noch einmal die Thür 
geöffnet hätte. Die Alte hörte die ſich entfernenden 
Schritte und kroch aus dem Winkel hervor, in den 


613 


fie fi gehodt. Sebt erit ergriff fie das Huhn und 
fah es ein Weilden an. Es war tot, nichts Eonnte 
e8 wieber lebendig machen, da fiegte der praftifche 
Snftinkt in ihr. Sie fhnitt ihm den Hals ab und 
jeßte fi hin, es zu rupfen. Lebte e& doch nicht 
mehr, wollte fie fi menigftens den Genuß des 
Eſſens nicht entgehen laffen. Sie murmelte dabei 
leife vor fih Hin, auf den Sohn, die Schwieger: 
tochter, das Haus, die ganze Stadt jchimpfend, es 
erleichterte ihr das Herz und war ihre einzige Möglid- 
feit, fih zu rächen. — 

Der Tag verging ben breien im übrigen ans 
genehmer, als der Anfang ahnen ließ. Freilich 
trugen Maud und Fortunat allein die Koflen der 
Unterhaltung, aber es fiel ihnen nicht eigentlich auf, 
weil jede Stunde ihre Abwechſelung brachte, nur 
einmal, in ein paar Augenbliden des Alleinfeing, 
jagte Maud zu Fortunat, indem fie die Speifelarte 
beijeite ſchob: 

„Ih glaube, Hühner kann ich nie wieder eflen, 
ih fchaudere, wenn ih nur daran benfe.“ 

Er jah fie eindringlih an. 

„Und was jagen Sie zu der Mutter, Miß 
Winter?” 

Maud jhlug die Augen nieder und drehte an 
ihrem Weinglafe, 

„Nichts, vorläufig. Jh denke, ich will nichts 
überftürzen. Aber wenn man fidh einmal von irgend 
etwas nicht befreien fann, muß man es mit mög: 
lihfter Faflung ertragen, es geht dann leichter.” 

„Sie jeufzt nicht einmal,” dachte er. „Zu diefer 
Frau fann fie doch nicht berabfteigen wollen? Das 
wäre unmöglih! Aber vielleicht jchict Tino fie noch 
heim, vor der Hochzeit. ZH Eiel, daß ich mich da: 
mals überhaupt da bineinmilhte! Freilich, wer 
fonnte das ahnen.” 

Und da Maud es nicht gethan, jeufzte er nun jo 
eindringlich auf, daß fie ihn lächelnd anjah. 

„I freue mi nur, daß Sie bier find,” be: 
eilte er fich zu verfichern. 

Sie drohte ihm mit dem Finger. 

„Wenn Luzie das gehört hätte!“ 

„Luzie!” Er lachte in feiner kindlichfrohen Laune 
laut auf. „Die würde ergebenft für mich danken.” 

„Dielleicht Doch nicht.” 

„Beltimmt!” verficherte er und lachte wieder. 

Snbdem Tam Heelen zurüd. „Wie vergnügt fie 
find,“ dachte er voll Neid. „Warum fann ich nicht 
auch fo fein,” 


Sehzehntes Kapitel. 


Sie hatten zufammen Wohnungen angejehen, 
eine ganze Menge; aber feine genügte Mauds An- 
iprühen, und je länger die Suche dauerte, je mehr 
grolte Martin innerlich über die verjchwendete Zeit. 
hm wäre die erfte fhon die rechte gewejen, Tobald 
fie nur einen Raum befaß, der ihm zum Atelier paßte. 

Verdrießlich Iehnte er am Thürpfoften des erften 
leeren Zimmers, ftarrte fehweigend vor fih hin und 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


614 





ließ die andern durch die unzähligen Räume wandern, 
prüfen, vergleihen, verwerfen. Er zeigte gar fein 
Sintereffe daran, und feine Meinung fchien au 
wenig in Betracht zu fommen. Maud wählte, Maud 
batte Bedenken, fie allein war diejenige, um deren 
MWünjhe es fih handelte. Das verleßte fein Selbft- 
gefühl, jeinen Künftlerfiog. Er nahm fi vor, 
fortgeſetzt zu ſchweigen. 

Endlich war aber doch etwas gefunden, was ge—⸗ 
nügte, und er nahm es hin wie etwas, das ihn gar 
nicht weiter berührte, ohne Lob, ohne Tadel, anders 
wie Fortunat, der ſich mit Leib und Seele in den 
Dienſt der jungen Braut geſtellt hatte und einen 
Eifer entwickelte, ihr in allem behilflich zu ſein, daß 
dieſe behauptete, gar nicht ohne ihn fertig werden 
zu können. 

„Sieh nur dieſe Enfilade von Zimmern,“ rief 
Maud enthuſiaſtiſch ihrem Verlobten zu. „Sechs in 
einer Reihe, das habe ich noch nirgends gefunden.“ 

„Sieh nur die Ausſicht!“ fiel Fortunat ein und 
wies auf die breiten, hohen Fenſter. „Kein vis-à-vis, 
nur die Bäume des Stadtparkes, die Dir in die 
Fenſter ſehen.“ 

„Und wie geſchickt die großen und kleinen 
Räume verteilt.“ 

„Und wie entzückend das hohe, helle Studio, 
im Garten, mit dem Hauſe verbunden und dennoch 
für ſich abgeſchloſſen.“ 

„Die Wohnung nehmen wir.“ 

„Natürlich, gleich!“ rief Fortunat in hellem Eifer. 

Jetzt erſt bemerkten ſie, daß Heeken bisher fein 


Wort geſprochen, er ſchien kaum hinzuhören. Sie 
ſahen ſich verwundert an. 
„Biſt Du nicht einverſtanden, Tino? Komm, 


ſieh Dich doch auch einmal um.“ Sie ſchob ihren 
Arm unter den ſeinen, er entzog ſich ihr. 

„Ich glaube es Euch — natürlich! Jede 
Wohnung iſt mir recht, wenn nur dieſe ſchreckliche 
Suche endlich zu Ende geht.“ 

„Warum haſt Du ſo wenig Intereſſe für unſer 
Heim?“ fragte ſie vorwurfsvoll. „Hätte ich nicht 
Fortunat, könnte ich mit niemand prüfen und ſprechen.“ 

„Ich verſtehe nichts davon. Mir iſt jeder Ort 
gleich, ihm aber macht es Vergnügen, wie mir ſcheint.“ 

„Ja, wirklich, gab Fortunat aufrichtig zu. „So 
ein Neſt ſich zu bauen iſt das Reizvollſte, was ich 
bisher erlebt habe, obgleich es nicht einmal mein 
eigenes iſt.“ 

„Aber das Ihrer beſten Freunde,“ ſagte Maud 
und reichte ihm die Hand. „Sie müſſen oft kommen, 
Fortunat.“ 

„Ja, Du mußt oft kommen,“ wiederholte Heeken 
ſchnell, „ſchon meiner Frau wegen. Du verſtehſt 
von all dieſem Firlefanz mehr wie ich.“ 

Fortunat küßte Mauds Hand. „Mehr als 
gern,“ ſagte er mit Herzenswärme. — 

Auch in den Möbelmagazinen erſchienen ſie zu 
dreien. Maud hatte einen feinen, ganz außerordent— 
lichen wähleriſchen Geſchmack, der Fortunat entzückte 
und den er meiſt teilte. Geſchah das nicht, konnten 
ſie in einen ganz ernſtlichen Streit geraten. Heeken 


ſaß bei alledem wie ein Tauber und Blinder. 








615 Schwertklingen. Roman von Hans Werber. 616 





Zuerft hatte fie ihn um feine Meinung gefragt, „Aber lieber Tino, es geht Dich doch auch mit an.” 
ihre Wahl von ber feinen abhängig machen wollen, „Ih \ehe wirklich nicht ein, warum drei Menjchen 
aber er jhien wirklich nur gezwungen mit dabei zu | herumlaufen müfjen, um etwas zu faufen, was einer 
fein, wenig at zu geben, war mürriſch und ſchweigſam. ebenſogut kann. Glaubſt Du etwa, mir macht das 
So ließen fie ihn enblih in Ruhe, ohne nah den | Vergnügen?” fragte er achjelzudend. „Es ift ja dod) 
Gründen zu forichen. Dein — alles Dein!” — 

„Ich begreife es nicht,“ jagte Maud mandhmal Sie ließen ihn endlih ganz fort, und er jaß 
balblaut zu Fortunat. nun wieder in feinem Atelier — teils müßig, teils 

„Sum fehlt die Vorftelung der Wirtung im | zeichnend und formend — wie es ihm gerade in den 
eigenen Heim,” meinte biejfer, der fi) auch darüber | Kopf Fam, aber einen neuen Entwurf hatle er nod 
mwunderte. nicht, oder mwenigftens jchob er ein Beginnen hinaus 

Heelen trat zu ihnen. „Wozu fchleppt Yhr | bis nad der Hochzeit. | 
mich eigentlich mit,” fragte er. (Sortfegung folgt.) 





Schwertiklingen. 


Baterländifcher Roman 


bon 
Dans Werder. 


(Bortjegung.) 


ber Vertrauten möglihft vermieden, um fie nicht zu klar 

VI die Schweren Bekümmernille aus ihren Augen lejen zu 

lafien. Sebt fragte fie beflommen, ob Elije etwas von 

Wie ein Sturm ging es dur Berlin — auf: | Hallo wüßte, ob Schill von feinem Mitgehen ge- 
rüttelnd, erihütternd. Schill war fort mit feinem | fproden. „Sa natürlich!” ermiderte Elife ihr un: 
Regiment, mar ausgezogen gegen den Feind, den | befangen. „Und vor allen Dingen, Hallo war felber 
Krieg anzufhüren, das Land zur Befreiung auf: | bei mir, um mir Xebemohl zu jagen, am Vormittag 
zuweden. Was jollte nun werden? Würde der | ihres Ausmarjhes! Er war ja einer von ben dreien, 
König den Krieg erklären? Würde auch das | die um Ferbinande Plan mußten!” fuhr fie mit 
übrige Heer feinem zündenden Beilpiel folgen? Noch | einem Seufzer fort. „Ad, und er war jo voll 
war die Berliner Garnifon ruhig, do von Stunde | grimmiger Kampfesfreudigkeit! Auf meines Ferdinands 
zu Stunde erwartete man zu bören, daß auch die | Stimmung lag die Sorge ber Verantwortung wie 
zurüdgebliebenen Regimenter dem fühnen Partei: | ein trübender Schleier! Haffo aber war wie eine 
gänger gefolgt wären. Die Spannung und Unruhe | funfenihhlagende Stahlklinge!” Sie lächelte bei biejen 
war unbejchreiblid. Die Bejorgnis der Behörden, | Worten, obgleidy ihre Augen in Thränen fanden. 


weldhe fih für die Vorgänge verantwortlich fühlten, „Aber er wollte ja doh nit mit. Er be- 

ftieg aufs hödhftee Man jah den Vulkan und er: | kärnpfte Schills Speen bis zum letten Augenblid!” 

wartete jeden Augenblid jeinen Ausbrud. rief Renate ganz verzweifelt vor diefem Chaos von 
Seit Renate von Schille Auszug als einer be: | Wiberfprüchen. 

glaubigten Thatjadhe erfahren, wandelte fie umher „Sewiß befämpfte er fie,” entgegnete Elije mit 


wie im Fiebertraum. Und Hafjo jollte mitgegangen | leichter Verwunderung. „Ferdinand hatte ihn um 
fein! Belannte hatten ihn beim Ausmarjch an der | feine Anficht befragt und die wich leider von ber 
Spite feiner Schwabron gejehen und erzählten es | feinigen ab, das aber konnte do für Haflo Rodlig 
ihr völlig glaubhaft. Doc fie konnte es noch nicht | fein Grund fein, zurüdzubleiben, wenn fein Re: 
faflen, Furdt und Hoffnung lehnten fich dagegen | giment ins Feld zog!” 

auf: die Hoffnung, die beglüdende, daß fie fi „Aber warum bat er mir das nicht gejagt!” 
dennoch nit in ihm getäufht — und die Furcht | rief Renate jest, in Thränen ausbredhend, denn fie 
zugleich, ihm jo bitter unrecht gethan zu haben! Sie | jahb fi wie verraten und verfauft biefem Miß- 
bat den alten Klaus, fich zu erkundigen, ob es wirklich | verfländnig gegenüber. 

wahr fei. Doh der mußte ed ohnehin genau und Elifens Erftaunen wuchs. „Aber liebite Renate, 
bedurfte Feiner Erfundigung. Von tiefer Unruhe | was follte er Dir fagen? So wie Du Haflo Eennft, 
erfüllt, juchte fie ihre Freundin Elife auf. Noch | wie Du mit ihm ftehft, kannſt Du doch unmöglich 
hatte fie zu Diejer Fein Wort von ihrem Zerwürfnis | hieran gezweifelt haben!” 

mit Hallo erwähnt, es war ihr zu jchmerzlich und Da warf Renate fi vor ihr nieder, den Kopf 


beihämend und fie hatte deshalb ein Alleinfein mit | in ihren Schoß geichmiegt und rang in krampfhaftem 





617 Schweriklingen. 
Schluchzen die Hände über dem Scheitel. „Ach, 
Eliſe — ich habe nicht nur an ihm gezweifelt — 
ich habe ihn verachtet, beleidigt, bis in den Tod ge⸗ 
kränkt! Und ſo iſt er von mir gegangen — un— 
verſöhnt! Ach, ich war ſeiner Liebe nicht wert — 
und nun habe ich ihn verloren!“ 

Sanft ließ die Freundin dieſen Ausbruch des 
Jammers über ſich ergehen. „Du armes Kind!“ 
lagte fie endlich und ftreichelte lieblojend das braun: 
lodige Haar der vor ihr Knieenden. „Gott gebe, daß 
fie bald gejund und fiegreih zurüdlehren, damit Du 
Das Herzeleid wieder gut maden fannit, das Du 
ihm — und Dir jelber angethan!” 


* * 
* 


Die Hofgefelichaft fand fih auf einem Feft bei 
der alten Brinzejfin von Dranien zujammen. Alles 
eilte hin, — in der wideriprechendften Stimmung. 
Ein jeder wollte hören, was die andern etwa wußten, 
Meinungen austaufhen und über die aufregende 
Sachlage beraten. Auch Herr von Veldegg war dort 
mit feiner Tochter Renate. Er wollte anfänglich 
zurüdbleiben, aber das konnte er ihr nicht anthun. 
Hier endblih mußte ihr nähere Kunde über den Ver: 
bleib ihrer Freunde zu teil werden. Major von 
Bepelin, Rittmeifter von Blüder und andere Herren 
waren dem Regiment nachgejandt und wieder zurüd- 
gelehrt. Sie berichteten die interefjantejten Einzel: 
heiten. Schille Rede an fein Regiment war im 
Wortlaut befannt. Man erjah aus derjelben genau 
feine Stellung zur Sade und jeine Abfichten. 
Zweifel fonnten nicht mehr beftehen. Durftig tranf 
Renates Ohr al diefe Kunde, die fie mit glühenditem 
Sinterefle erfüllte. „Mein Gott, mein Gott, ich bin 
mit Schuld daran!” Höhnte es angiivoll in ihrer 
Seele. „Sder ift mit [huldig, der e8 aud nur 
gewünjht! D, und wie wird nun das Ende jein!?” 

Dem Nittmeilter von Blüdher verjuchte fie fi 
zu nähern. „Sagen Sie mir, Herr von Blücher,” 
redete fie ihn baftig an, „war Rodlig mit beim 
Negiment, haben Sie ihn gejehen?“ 

„Rohlig?” Er lachte. „Ya, NRodli ah ich! 
Er ift Feuer und Flamme, ber Tolliten einer! Das 
fönnen Sie wohl denfen, gnädiges Fräulein! Für 
den ift das fo recht etwas!“ 

Renate Ihwieg. Ja — fie Fonnte es fich denken! 
Ale andern fanden es jelbfiverftändlih und nur fie, 
die feinem Herzen nahe geitanden, die einzige auf 
der Welt — fie batte ihn verlannt und ihm fo 
Ihmäbhliches Unrecht angethban! — — 

Die Aufregung in der Gejellihaft wollte auch 
bier fein Ende nehmen. Schils That wurde in den 
Himmel erhoben und die Anhängerinnen des jo: 
genannten Tugendbundes, die Vertreterinnen der 
großen Freiheitsidee verjhmähten es nicht, über bie: 
jenigen wegwerfend die Achleln zu zuden und fie zu 
verurteilen, welche gehorfam es vorgezogen hatten, 
vorläufig bier zu bleiben, um erft den Befehl ihres 
Königs zum Ausmarjch abzuwarten. Was berechtigte 
diefe rauen zu ſolchem Gebaren, dachte Renate, 
welche mit Sorge und Angſt um das Schickſal der 


Roman von Hans Werder. 


618 


in den Kampf Gezogenen erfüllt war. Ihre Augen 
ſtreiften Herrn von Quiſtorp, den Führer des Schillſchen 
leichten Jägerbataillons, der in der Nähe ſtand, ein 
ſchöner, eleganter Menſch. Wie Pfeile ſchoſſen die 
höhniſchen Worte über ſein Haupt hin. Er wurde 
blaß bis in die Lippen und dann wieder ſtieg die 
Glut des Zornes und der Beſchämung ihm bis zur 
Stirn hinauf. In heißem innerem Kampf wandte 
er ſich ab, da trat Renate raſch auf ihn zu. 

„Herr von Quiſtorp, das Benehmen dieſer 
Damen finde ich empörend, unerhört.“ 

Er blickte Renate finſter entſchloſſen an. „Viel— 
leicht — gnädiges Fräulein, und der Erfolg wird 
es ja lehren, ſind die Anſichten dieſer Damen nicht 
ganz ungerechtfertigt. Ich bin Schillſcher Offizier, 
der Führer ſeiner berühmten Jäger, ich dürfte wohl 
nicht fehlen, wenn er zu Sieg und Ehre auszieht!“ 

„Das mag ja ſein,“ gab Renate lebhaft zurück. 
„Sie aber ſind niemand, am allerwenigſten dieſen 
unweiblichen Wortführerinnen, Rechenſchaft über Ihr 
Thun ſchuldig!“ Während ſie ſo ſprach, leuchtete 
es plötzlich in ihr auf wie ein Blitz. Es wurde 
ihr klar, warum Haſſo nur nach eigener Anſicht 
handeln konnte und jeden Einfluß zurückweiſen 
mußte, der an ſeine Auffaſſungen von Pflicht und 
Ehre zu rühren wagte! „Ganz beſonders den 
Ihrigen!“ Jetzt verſtand ſie ihn völlig! Auch in 
dieſem Worte, das ihr ſo beſonders kränkend er— 
ſchienen. Ach, warum war ihr nicht früher dieſe 
Klarheit gekommen? 

„Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte, 
gnädiges Fräulein,“ hatte Quiſtorp darauf erwidert. 
„Soll ich die Schillſchen von Ihnen grüßen, wenn 
ich ſie ſehe?“ 

„Ja, grüßen Sie den Major von mir, und 
Albert Wedel und — Rodhlig —* 

Damit war ihre Unterhaltung beendet. 

Am nächften Morgen hatte Duiftorp mit jeinem 
Bataillon und drei Difizieren Berlin verlafien, um 
Shil aufzufuhen und fein Schidjal mit dem jeinen 
ju vereinigen. 

Es war die lette frohe Stunde in dem Leben 
des tapferen Hufarenlommanbdeurs, als das Häuflein 
bei ihm eintraf. In flürmilcher Freude jchloß er 
Quiflorp in die Arme. Strahlenden Blides multerte 
er die Reihen der Tapfern, die gelommen waren, 
um fortan zu den Seinen zu zählen. Er ließ fie 
einen Kreis um fich ber jchließen und Iprach zu ihnen 
Worte des Willlommens in feurig zündender Rede. 
„Richt Ehrjudt, nicht Eigennuß, nicht Findifches Ge- 
lüften nach Abenteuern“ — fo Ihloß er — „hat mich 
zu biefem Schritt getrieben. Nur für die hödhiten 
und beiligften Güter erhob ich meinen Arm. Und 
das Ihmwöre ih Eu, mein Säbel fol nicht eher 
wieder in der Scheide rajten, als bis ich meinem 
Könige auch das legte Dorf der verlorenen Provinzen 
zurüderobert, oder ruhmvoll mein Grab gefunden 
habe. — Hat aber ber Himmel es anders beichloffen, 
jolen wir untergehen, ohne daß Deutichland frei 
wird — nun mohlan denn: Beller ein Ende mit 
Schreden ale Schreden ohne Ende!“ 

%a, dies war der lette frohe Tag. 





615 Schwertklingen. 


Zuerſt hatte ſie ihn um ſeine Meinung gefragt, 


ihre Wahl von der ſeinen abhängig machen wollen, 
aber er ſchien wirklich nur gezwungen mit dabei zu 
ſein, wenig acht zu geben, war mürriſch und ſchweigſam. 
So ließen ſie ihn endlich in Ruhe, ohne nach den 
Gründen zu forſchen. 

„Ich begreife es nicht,“ ſagte Maud manchmal 
halblaut zu Fortunat. 

„Ihm fehlt die Vorſtellung der Wirkung im 
eigenen Heim,“ meinte dieſer, der ſich auch darüber 
wunderte. 

Heeken trat zu ihnen. „Wozu ſchleppt Ihr 
mich eigentlich mit,“ fragte er. 


Roman von Hans Werder. 





616 





„Aber lieber Tino, es geht Dich doch auch mit an.“ 

„Ich ſehe wirklich nicht ein, warum drei Menſchen 
herumlaufen müſſen, um etwas zu kaufen, was einer 
ebenſogut kann. Glaubſt Du etwa, mir macht das 
Vergnügen?“ fragte er achſelzuckend. „Es iſt ja doch 
Dein — alles Dein!“ — 

Sie ließen ihn endlich ganz fort, und er ſaß 
nun wieder in ſeinem Atelier — teils müßig, teils 
zeichnend und formend — wie es ihm gerade in den 
Kopf kam, aber einen neuen Entwurf hatte er noch 
nicht, oder wenigſtens ſchob er ein Beginnen hinaus 
bis nach der Hochzeit. 

(Fortſetzung folgt.) 





Schwert 


Rlingen. 


Baterländifcher Roman 


bon 


Dans Werder. 
(Bortfegung.) 


VL 


Wie ein Sturm ging es duch Berlin — auf: 
rüttelnd, erfchütternd. Schill war fort mit feinem 
Regiment, mar ausgezogen gegen den Feind, ben 
Krieg anzufhüren, das Land zur Befreiung auf: 
zuweden. Was follte nun werden? Würde ber 
König den Krieg erllären? Würde aud Das 
übrige Heer jeinem zündenden Beilpiel folgen? Noch 
war bie Berliner Garnifon ruhig, do von Stunde 
zu Stunde erwartete man zu hören, daß auch die 
zurüdgebliebenen Negimenter dem tühnen ‘Partei: 
gänger gefolgt wären. Die Spannung und Unrube 
war unbefchreiblid. Die Bejorgnis der Behörden, 
welche fi für die Vorgänge verantwortlich Tühlten, 
flieg aufs bödfte. Man jah den Qullan und er- 
wartete jeden Augenblid feinen Ausbrud. 

Seit Renate von Shils Auszug als einer be: 
glaubigten Thatjache erfahren, wandelte fie umber 
wie im Fiebertraum. Und Haflo jollte mitgegangen 
fein! Belannte hatten ihn beim Ausmarjh an der 
Spite feiner Schwadron gejehen und erzählten es 
ihr völlig glaubhaft. Doc fie konnte es noch nicht 
faflen, Furt und Hoffnung lehnten fi) dagegen 
auf: die Hoffnung, die beglüdende, daß fie fich 
dennoh nicht in ihm getäufht — und die Furt 
zugleich, ihm jo bitter unrecht gethban zu haben! Sie 
bat den alten Klaus, fich zu erkundigen, ob es wirklich 
wahr fei. Dod der mußte es ohnehin genau und 
bedurfte feiner Erfundigung. Von tiefer Unruhe 
erfült, fuchte fie ihre Freundin Elife auf. Noch 
hatte fie zu diejer fein Wort von ihrem Zerwürfnis 
mit Haflo erwähnt, es war ihr zu jchmerzlih und 
beihämend und fie Hatte deshalb ein Alleinjein mit 


ber Vertrauten möglihft vermieden, um fie nicht zu Klar 
bie fchweren Bekümmerniffe aus ihren Augen lejen zu 
laflen. Seht fragte fie beflommen, ob Elife etwas von 
Hallo müßte, ob Schill von feinem Mitgehen ge: 
iproden. „Sa natürlih!” ermwiberte Elife ihr un- 
befangen. „Und vor allen Dingen, Haflo war jelber 
bei mir, um mir Lebewohl zu jagen, am Vormittag 
ihres Ausmarjhhes! Er war ja einer von den Dreien, 
die um Ferdinandse Plan mußten!” fuhr fie mit 
einem Seufzer fort. „Ad, und er war jo voll 
grimmiger Rampfesfreudigleit! Auf meines Serdinands 
Stimmung lag die Sorge der Verantwortung wie 
ein trübender Schleier! Hajo aber war mie eine 
juntenj&hlagende Stahlklinge!” Sie lächelte bei diejen 
Worten, obgleih ihre Augen in Thränen ftanden. 

„Aber er wollte ja doh nit mit. Er be: 
föınpfte Schills Speen bis zum legten Augenblid!” 
rief Renate ganz verzweifelt vor diefem Chaos von 
Widerſprüchen. 

„Gewiß bekämpfte er ſie,“ entgegnete Eliſe mit 
leichter Verwunderung. „Ferdinand hatte ihn um 
ſeine Anſicht befragt und die wich leider von der 
ſeinigen ab, das aber konnte doch für Haſſo Rochlitz 
fein Grund fein, zurückzubleiben, wenn ſein Re— 
giment ins Feld zog!“ 

„Aber warum hat er mir das nicht geſagt!“ 
rief Renate jetzt, in Thränen ausbrechend, denn ſie 
ſah ſich wie verraten und verkauft dieſem Miß— 
verſtändnis gegenüber. 

Eliſens Erſtaunen wuchs. „Aber liebſte Renate, 
was ſollte er Dir ſagen? So wie Du Haſſo kennſt, 
wie Du mit ihm ſtehſt, kannſt Du doch unmöglich 
hieran gezweifelt haben!“ 

Da warf Renate ſich vor ihr nieder, den Kopf 

| in ihren Schoß geichmiegt und rang in frampfhaften 





617 Schwertklingen. 
Schludzen die Hände über dem Scheitel. „AK, 
Eliie — ich babe nit nur an ihm gezweifelt — 
ich habe ihn veracdhtet, beleidigt, bis in den Tod ges 
fräntt! Und fo ift er von mir gegangen — un: 
verföhnt! Ach, ich war feiner Liebe nicht wert — 
und nun babe ich ihn verloren!” 

Sanft ließ die Freundin diefen Ausbruch des 
Sammers über fi ergeben. „Du armes Kind!” 
fagte fie endlich und ftreichelte lieblojend das braun: 
lodige Haar der vor ihr Knieenden. „Sott gebe, daß 
fie bald gefund und fiegreidh zurüdkehren, damit Du 
Das Herzeleid wieder gut maden fannft, das Du 
ihm — und Dir felber angethan!” 


* * 
ꝛe 


Die Hofgeſellſchaft fand ſich auf einem Feſt bei 
der alten Prinzeſſin von Oranien zuſammen. Alles 
eilte hin, — in der widerſprechendſten Stimmung. 
Ein jeder wollte hören, was die andern etwa wußten, 
Meinungen austauſchen und über die aufregende 
Sachlage beraten. Auch Herr von Veldegg war dort 
mit ſeiner Tochter Renate. Er wollte anfänglich 
zurückbleiben, aber das konnte er ihr nicht anthun. 
Hier endlich mußte ihr nähere Kunde über den Ver—⸗ 
bleib ihrer Freunde zu teil werden. Major von 
Zepelin, Rittmeiſter von Blücher und andere Herren 
waren dem Regiment nachgeſandt und wieder zurück 
gekehrt. Sie berichteten die intereſſanteſten Einzel— 
heiten. Schills Rede an ſein Regiment war im 
Wortlaut bekannt. Man erſah aus derſelben genau 
ſeine Stellung zur Sache und ſeine Abſichten. 
Zweifel konnten nicht mehr beſtehen. Durſtig trank 
Renates Ohr all dieſe Kunde, die ſie mit glühendſtem 
Intereſſe erfüllte. „Mein Gott, mein Gott, ich bin 
mit ſchuld daran!“ ſtöhnte es angſtvoll in ihrer 
Seele. „der ift mit ſchuldig, der es auch nur 
gewünſcht! O, und wie wird nun das Ende ſein!?“ 

Dem Rittmeiſter von Blücher verſuchte ſie ſich 
zu nähern. „Sagen Sie mir, Herr von Blücher,“ 
redete ſie ihn haſtig an, „war Rochlitz mit beim 
Regiment, haben Sie ihn geſehen?“ 

„Rochlitz?“ Er lachte. „Ja, Rochlitz ſah ich! 
Er iſt Feuer und Flamme, der Tollſten einer! Das 
können Sie wohl denken, gnädiges Fräulein! Für 
den iſt das ſo recht etwas!“ 

Renate ſchwieg. Ja — ſie konnte es ſich denken! 
Alle andern fanden es ſelbſtverſtändlich und nur ſie, 
die ſeinem Herzen nahe geſtanden, die einzige auf 
der Welt — ſie hatte ihn verkannt und ihm ſo 
ſchmähliches Unrecht angethan! — — 

Die Aufregung in der Geſellſchaft wollte auch 
hier kein Ende nehmen. Schills That wurde in den 
Himmel erhoben und die Anhängerinnen des ſo— 
genannten Tugendbundes, die Vertreterinnen der 
großen Freiheitsidee verſchmähten es nicht, über die— 
jenigen wegwerfend die Achſeln zu zucken und ſie zu 
verurteilen, welche gehorſam es vorgezogen hatten, 
vorläufig hier zu bleiben, um erſt den Befehl ihres 
Königs zum Ausmarſch abzuwarten. Was berechtigte 
dieſe Frauen zu ſolchem Gebaren, dachte Renate, 
welche mit Sorge und Angſt um das Schichſal der 


Roman von Hans Werder. 


618 


in den Kampf Gezogenen erfüllt war. Ihre Augen 
ſtreiften Herrn von Quiſtorp, den Führer des Schillſchen 
leichten Jägerbataillons, der in der Nähe ſtand, ein 
ſchöner, eleganter Menſch. Wie Pfeile ſchoſſen die 
höhniſchen Worte über ſein Haupt hin. Er wurde 
blaß bis in die Lippen und dann wieder ſtieg die 
Glut des Zornes und der Beſchämung ihm bis zur 
Stirn hinauf. In heißem innerem Kampf wandte 
er ſich ab, da trat Renate raſch auf ihn zu. 

„Herr von Quiſtorp, das Benehmen dieſer 
Damen finde ich empörend, unerhört.“ 

Er blickte Renate finſter entſchloſſen an. „Viel— 
leicht — gnädiges Fräulein, und der Erfolg wird 
es ja lehren, ſind die Anſichten dieſer Damen nicht 
ganz ungerechtfertigt. Ich bin Schillſcher Offizier, 
der Führer ſeiner berühmten Jäger, ich dürfte wohl 
nicht fehlen, wenn er zu Sieg und Ehre auszieht!“ 

„Das mag ja ſein,“ gab Renate lebhaft zurück. 
„Sie aber ſind niemand, am allerwenigſten dieſen 
unweiblichen Wortführerinnen, Rechenſchaft über Ihr 
Thun ſchuldig!“ Während ſie ſo ſprach, leuchtete 
es plötzlich in ihr auf wie ein Blitz. Es wurde 
ihr klar, warum Haſſo nur nach eigener Anſicht 
handeln konnte und jeden Einfluß zurückweiſen 
mußte, der an ſeine Auffaſſungen von Pflicht und 
Ehre zu rühren wagte! „Ganz beſonders den 
Ihrigen!“ Jetzt verſtand ſie ihn völlig! Auch in 
dieſem Worte, das ihr ſo beſonders kränkend er— 
ſchienen. Ach, warum war ihr nicht früher dieſe 
Klarheit gekommen? 

„Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte, 
gnädiges Fräulein,“ hatte Quiſtorp darauf erwidert. 
„Soll ich die Schillſchen von Ihnen grüßen, wenn 
ich ſie ſehe?“ 

„Ja, grüßen Sie den Major von mir, und 
Albert Wedell und — Rochlitz —“ 

Damit war ihre Unterhaltung beendet. 

Am nächſten Morgen hatte Quiſtorp mit ſeinem 
Bataillon und drei Offizieren Berlin verlaſſen, um 
Schill aufzuſuchen und ſein Schickſal mit dem ſeinen 
zu vereinigen. 

Es war die letzte frohe Stunde in dem Leben 
des tapferen Huſarenkommandeurs, als das Häuflein 
bei ihm eintraf. In ſtürmiſcher Freude ſchloß er 
Quiſtorp in die Arme. Strahlenden Blickes muſterte 
er die Reihen der Tapfern, die gekommen waren, 
um fortan zu den Seinen zu zählen. Er ließ ſie 
einen Kreis um ſich her ſchließen und ſprach zu ihnen 
Worte des Willkommens in feurig zündender Rede. 
„Nicht Ehrſucht, nicht Eigennutz, nicht kindiſches Ge⸗ 
lüſten nach Abenteuern“ — ſo ſchloß er — „hat mich 
zu dieſem Schritt getrieben. Nur für die höchſten 
und heiligſten Güter erhob ich meinen Arm. Und 
das ſchwöre ich Euch, mein Säbel ſoll nicht eher 
wieder in der Scheide raſten, als bis ich meinem 
Könige auch das letzte Dorf der verlorenen Provinzen 
zurückerobert, oder ruhmvoll mein Grab gefunden 
habe. — Hat aber der Himmel es anders beſchloſſen, 
ſollen wir untergehen, ohne daß Deutſchland frei 
wird — nun wohlan denn: Beſſer ein Ende mit 
Schrecken als Schrecken ohne Ende!“ 

Ja, dies war der letzte frohe Tag. 





619 Schwertklingen. 
Am folgenden Morgen, im Quartier zu Bern⸗ 
burg, traf eine Schreckensnachricht ein, die allem 
Hoffen auf Gelingen ein Ziel ſetzte. Der Aufſtand 
des Oberſten Dörnberg, mit dem ſich Schill ver— 
einigen wollte, war völlig und endgültig nieder: 
geichlagen, der edle Dörnberg jelber, nur um Leben 
und Freiheit zu retten, nach England entflohen. Und 
noch jchlimmer die zweite Botichaft, die balb darauf 
folgte. Die Nahriht von dem Siege des Erzherzogs 
Karl bei Hof erwies fih als falihd — Napoleon hatte 
ihn in einer Reihe von Gefechten völlig geichlagen 
und 309 aufs neue als Sieger gegen bie Mauern 
von Wien. 

Ein Unglück kommt ſelten allein, gewiß! Aber 
waren denn dies nicht fchon ihrer zwei, die auf des 
tühnen Parteigängerse Haupt bereingebroden, um 
ibm den Ilntergang zu verlünden? War es nicht 
genug damit? Nein — drei Naben waren es, bie 
über feinem Haupte freiften, und ber britte, ber 
dritte — ber brachte das Verderben, den Todesftoß 
al feiner Hoffnung, al feinem Ruhm — feiner 
Soldatenehre, dem Zwed und Snhalt feines Lebens! 

Ein Kurier aus Berlin erjhien und ließ fich 
bei dem Major melden. Diejer empfing ihn in 
feinem Onartier allein und nahm bie Schriftftüde 
entgegen, welche er ihm überbradte. Es war ein 
Kabinettsbefehl des Königs, in weldem Schill auf: 
gefordert wurde, ungeläumt zurüdzufehren und fie 
dem Kriegsgericht zu ftellen. Sein Vorgehen wurde 
als PVerleitung zur Defertion des ihm anvertrauten 
Regiments aufgefaßt — als Landfriedensbrug. Er 
jelbft follte wegen Defertion und Landesverrat an- 
gellagt werden, da er gegen den Willen bes Königs 
gehandelt und diefen, dem Kaifer von Frankreich 
gegenüber, in die peinlichfte Verlegenbeit gelett hätte. 

Die ganze Schale des Töniglichen Zornes war 
ausgejchüttet über fein Haupt. Und er hatte ge- 
glaubt -- — — 

SHill ftand in feinem Zimmer, auf den Tiih 
gelehnt, das verhängnisvolle Schreiben in der Hand. 
Die Hand Jant langfam immer tiefer herab. Er 
regte fih nit. Kaum daß die Bruft fih bob unter 
mühſamen Atemzügen. Auf feiner Stirn traten 
Schmweißtropfen hervor. 

Der wartende Kurier machte eine Bewegung. 
Da fchraf der Major auf. Er entließ ihn. 

Die Offiziere fanden draußen umher, gingen 
wartend auf und nieder. Sie mußten, daß der 
Kurier aus Berlin gelommen, do nicht, mas er 
gebradt. Nur daß es nichts Gutes jein fonnte, 
das wußten fie. Die beiden vorherigen Unglüde: 
botichaften hatten auch fie mit tiefer Niedergejchlagen- 
beit erfüllt. Nun fpürten fie den Ylügeljchlag des 
dritten der Raben verhängnisvoll über ihren Häuptern. 

Stunden vergingen. Sdill ließ fich nicht ſehen, 
nicht hören. Es war Nacht in feiner Seele und diefe 
Naht mußte er durdlämpfen, bis er feine Stirn 
dem Tageslicht und den Augen der Seinen wieder 
zeigen Fonnte. 

Er hatte geglaubt, in des Königs Namen, mit 
des Königs ftiljchweigender Bewilligung zu handeln. 
„sür meinen geliebten König, für meine angebetete 


Roman von Hans Werber. 


620 


Königin” — das war das Motto, mit dem er aus: 
gezogen war, Das legte Dorf der geraubten Provinzen 
feinem König wiedererobern — Sieg und Ehre dem 
Kriegsherrn zu Füßen zu legen, und fein Herzblut 
dazu — tropfenweife, glühbend, bingebend — unb 
jelig, wenn es nur rinnen durfte für diefen dreimal 
heiligen Zmed. 

Und nun — Defertion, 
Zandesverrat! 

Warum eigentlih nicht Hochverrat? 

Ferdinand von Schill brad in ein Laden aus. 
Er preßte die geballte Fauft vor feine Stirn und 
late wieder. Das erihien ihm wie eine Er: 
leihterung.. Es war als jei das Herz ihm aus der 
Bruft geriflen und diefen fürchterlichen, wahnſinnigen 
Schmerz übertäubte das Lachen. 

Und alle diefe Männer, die er mit fih geführt — 
zur Dejertion verlodt, in Schande oder Untergang — 
die treuen, ritterlihen Kameraden. Auf fein Haupt 
das alles! Auf jein Haupt die Laft fo furchtbarer 
DBerantwortung! 

„Do mein Gott, was hab’ ich gethan! Landes: 
verräter!” 

Mieder diejes Lachen! 

Sept hörte e8 draußen Major Kükow. Es war 
nicht länger zu ertragen. Lützow ftand ihm nah 
als Freund und Altersgenofle, im Range felbft ihm 
gleih, er konnte jchon einmal die Schranfe über: 
Ichreiten.. Nafch entihloffen Tlopfte er an die Thür 
und trat hinein. „Bitte um Verzeibung, wenn ic 
flöre, Herr Major!” 

Mühlem richtete Schill fih auf. „Du bilt es, 
Adolf — komm — ih habe mit Dir zu fpredhen!“ 
Er Iprad aber nit. Worte ftanden ihm nicht zu 
Gebote. Stumm reichte er dem Freunde die Fönig- 
lie Kabinettsordre hin. Lütomw war überwältigt von 
Entjeßen. 

„m Gottes willen, Schill, was wirft Du thun?” 

Mit matter Bewegung firih fih Schill das 
Ihmwarze, feucht gewordene Haar aus der Stirn. 
„Ich habe nicht zu entjcheiden, was wir thun wollen!” 
jagte er. „Ih babe Euer aller Schidjal mit dem 
meinen zugleich verwirft, und nicht ohne Eure Ent: 
Ichließungen zu befragen, kann ich weiter handeln!“ 
Sn Schwerer Aufregung begann er im Zimmer hin 
und ber zu gehen. „Es ift eine harte Wahl, vor 
die ich geftellt bin — entweder bei Napoleon oder 
bei unjferm Könige um einen Kerfer für mid) und 
Euch zu bitten! — Aber — e8 giebt noch ein Drittes!” 
Er blieb ftehen und hob wie in plößlicher Aufwallung 
beide Arme gen Himmel. „Gott jei Dant — e8 
giebt noch ein Drittes!” 

„a, Schill, es giebt no ein Drittes,” ſagte 
Lügßom mit vor Schmerz unfiherer Stimme. „Dahin 
wirft Du uns führen, und in unjerm Blute werden 
wir uns des Königs Vergebung und Gnade zurüd- 
erfaufen. Ych babe Dich noch nie verzagt gejehen — 
bedenke, Du darfft au ben jüngeren Kameraden 
feine Mutlofigleit zeigen! Auf Deiner perlönlichen 
Haltung ift jegt ihr aller Schidjal gegründet!“ 

„Die armen Sungens!” jagte Schill, und ein 
Lächeln, trauriger als Thränen der Verzweiflung, irrte 


Landfriedensbrud, 








621 


über fein Gefidt. „Ruf fie mir ber, Abolf,” er 
zog feinen nervigen Körper in feitere Haltung. „Ih 
will das Offizierkorps ſprechen!“ 

Das Dffizierforps verfammelte ih. Ruhig trat 
Major von Schill ihnen entgegen. Sein Gefidht 
erihien ihnen um Sabre gealtert. Sein Blid war 
matt, jein Ausdrud der eines gebrochenen Mannes. 
Felt und Mar aber redete er fie an. Er teilte ihnen 
den Snhalt der Kabinettsordre mit und ftellte ihnen 
feine verzweifelte Lage jo dar, wie fie in Wirklid: 
feit war. Seine mildernden Umftände fpiegelte er 
ihnen vor, keine lockenden Hoffnungen zeigte er 
ihnen als Ausweg. Mit feiner Silbe erinnerte er 
fie an ihre Verjprehungen, mit ihm fiegen oder 
untergeben zu wollen. Er gab ihnen das Wort 
wieder, das ihr Schidjal an das feine band, und 
bot ihnen an, fie zurüdzuführen. Zurüd nad Berlin, 
zur Armee, wo ihrer vielleicht die VBerzeihung und 
Gnade des Mlerhöhften Kriegsherrn warten würde. 

Ihrer vielleiht — doc ohne ihn — das fagte 
er nicht dabei. Seiner wartete dort Kerler, Kriegs: 
geriht und die fchwere Strafe für Defertion. Er 
bot ihnen jomit das fchwerfte Dpfer an, das Gott 
und Menjhen erfinnen mochten, ihm aufzuerlegen! 
Das fchwerite Opfer, mit dem ein Menjch feines 
Herzens Heiligtümer, feines Lebens Ziele hinmirft, 
um einen Schatten von dem zu retten, was dur 
feine Schuld zu Grunde gegangen ift. 

Sein ritterlides Difizierlorps aber verftand, 
was er ihnen anbot und was er ihnen opfern wollte. 
Sie veritanden ihn alle. 

„Überlegt e8 Euch, Kameraden — beratichlagt — 
und teilt mir Euren Entihluß mit!” fjagte er nody 
und trat fort an das Fenfter, auf deilen Sims er 
ſich ſtützte. 

„Da iſt nichts zu überlegen, nichts zu berat- 
ſchlagen!“ brauſte Rochlitz feurig auf. „Herr Major, 
wir wiſſen alle auch ohnedem, was wir Ihnen zu 
antworten haben!“ 

„Das iſt Ihre Anſicht, Rochlitz,“ ſagte Bärſch 
gemeſſen, „doch vielleicht nicht die aller Herren. Jeder 
von uns bat feine Meinung zu äußern, die Ent: 
Iheidung werden wir Danach gemeinjam treffen. Daß 
der Borihlag des Herrn Major ein hödit ver: 
nünftiger ift, wird wohl jedem von uns einleuchten 
müſſen!“ 

„Jawohl,“ murmelte Haſſo zwiſchen den Zähnen, 
„aber die Vernunft hat hier bisher eine ſehr geringe 
Rolle geſpielt — jetzt iſt am wenigſten der Moment, 
unſere Entſchließungen von ihr beherrſchen zu laſſen!“ 

Beſchwichtigend legte Lützow die Hand auf ſeinen 
Arm. „Rochlitz, wir ſind ja alle einer Anſicht, Bärſch 
nicht anders als Sie und ich! Was meinen Sie, 
meine Herren?“ Er wandte ſich bei dieſen Worten 
an Hagen, François, Brünnow und die übrigen. 
Ein Murmeln durchlief die Reihen. Die Beſtürzung 
der Offiziere war freilich groß, denn die meiſten 
waren mehr oder minder überzeugt geweſen, daß 
Schill wirklich den geheimen Wunſch oder Willen 
des Königs ausgeführt. Ganz klar über die Sad) 
lage ſahen nur Lützow, Rochlitz und Bärſch. Doch 
das beirrte ihre Entſchließung nicht. In unbedingter 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 





622 


Zuſtimmung fand dieſelbe ihren Ausdruck und richtete 


ſich alsbald in offenem Zuruf an ihren Führer. 
„Wir gehen alle mit Ihnen, Herr Major, wohin 
Sie uns führen! Sie haben unſer Wort! Ihre Sache 
iſt die unſerige! Nein, nein, nicht zurück — das 
bedeutet ſchmähliche Strafe und vorwärts einen Unter⸗ 
gang mit Ehren! — Wir ſtehen unverbrüchlich zu 
Ihnen, Herr Major!“ So ſchallte es ihm von allen 
Seiten entgegen. Sie umringten ihn und drückten 
ſeine Hände. Sie gelobten ihm aufs neue Waffen— 
brüderſchaft und Treue bis in den Tod. 


„Liebe Kameraden, ich dan Euch! Wollte 
Gott, ich könnt' es zum guten Ende führen!“ Seine 
heißen Augen ſchimmerten feucht im Übermaß tiefſter 
Empfindung. „Aber was wollen wir nun thun?“ 
fuhr er ſort. „Ich will unter dieſen Verhältniſſen 
nicht ohne Ihre Zuſtimmung weitere Pläne ent— 
werfen. Wir wollen jetzt Kriegsrat halten! Ich 
bitte um Ihre Meinungen, meine Herren!“ 


Es wurde lebhaft beraten, verſchiedene Pläne 
vorgetragen. Schill hörte fie alle mit an. Ge 
jenften Hauptes ftand er da, iır und unitet ging 
jein Blid hin und ber und haftete dann wieder am 
Boden. Wie über die zerriffenen Saiten einer Harfe 
ein gellender Mißklang — jo irrten über feine Seele 
nur immer zwei Worte bin, die all jein Denken und 
Fühlen vernichteten: Dejertion — Landesverrat! 


Set trug Major von Lütom Mar und in 
feuriger Rede feine Sdeen vor. Sie mußten wohl 
gut jein, denn fie fanden einftimmigen Beifall. Quer 
dur die Altmark und das Hannöverjhe über bie 
Wefer nah Dftfriesland. Dort fönnte und müßte 
man fi) halten, eine fichere Stüße finden in dem 
treu preußiich gefinnten, tapferen Friejenvolle, unter 
den denkbar günftigften Landesverhältnifen. Wenn 
fie dennodh dann das Unglüd verfolgen follte, fände 
man jchlimmftenfalls auf britiihden Schiffen oder in 
Helgoland fihere Zuflucht. 

Ale johienen die Zuftimmung des Kommanbeurs 
zu erwarten, doch diefer zögerte unentihloflen. „Sc 
behalte mir die Enticheidung no vor — die Sad: 
lage ift nicht jo Elar, als Sie denlen, meine Herren! 
Der Borihlag des Major von Lütow bat ja gewiß 
vieles für fih, do Fann ih ihm nicht fofort un: 
bedingt beitreten. Sch werde meine Enticheidung 
rechtzeitig Fundthun! Für jekt danle ih Ihnen, 
meine Herren!” 

Sie waren entlaffen und gingen — jeder einzige 
mit fcehwer befümmerter Seele. Das hatten fie nicht 
erwartet! Nein, von allem, was geihhehen fonnte, 
das nicht! Diefen jchweren Zorn des Königs — für 
eine That jo freudiger, patriotiiher Hingabe. Dod 
jhlimmer no als dies alles erjhien ihnen Der 
jeelifihe Zuftand ihres Kommandeurs. Nicht einer 
vermochte fi darüber zu täujhen, Daß es Ber: 
zweiflung war, bie in feinem irren, troftlojen Blid 
geglüht, ratlofe Unentjchloffenheit, weldhe aus jeinen 
zerftreuten Worten zu ihnen geredet. „Er wird fi) 
wieder finden! Er wird fich fallen!” tröfteten einige 
ber älteren, die ihn lange fannten. „Man bat ihn 
no nie verzagen jeben, er wird auch jeßt feinen 





623 





Mut zurüdgewinnen!” Damit trennten fie ih — 
bejchwert im Herzen wie mit Feljenlaft. 

Nein, noch halte ihn niemand verzagen jehen, 
aber wer ſah ihn denn aud je zuvor in fo furdt: 
barem BZmielpalt, fein Schiff geicheitert, zerichellt, 
auf morſcher Planfe in den Sturm hinausgetrieben? 
Wer jah ihn je zuvor — ein verlorener Mann, be: 
laftet mit einer Verantwortung, die lähmend jeden 
Reltungsgedanten in ihm niederihlug? Erbrüdt 
von des Königs Zorn, zum Verbrecher geftempelt, 
und damit feines ganzen inneren Haltes beraubt! 

So Stand Ferdinand von Schill an der Spite 
des bofinungslojen Unternehmens als Führer feiner 
todesmutigen Schar. Und fo führte er fie ins fichere 
Verderben. 





Achter Abſchnitt. 
StralfunDd. 


©o ziehet der tapfere, der mutige Shi, 
Der mit den ranzofen fih Ichlagen will, 
Ihn fendet Fein Kaifer, Fein König hinaus, 
Ihn ſendet die Freiheit, daß Waterland auß| 


D Schill, o Schill, Du tapferer Held, 

Maß fprengft Du nicht mit den Reitern ins feld? 
Was jhließeft in Mauern bie Tapferkeit ein ? 

In Stralfund, ba fol Du begraben fein! 


I, 


Bei Dodendorf ftand Schill dem Feinde zum erften 
Male in offenem Gefecht gegenüber. Die Garnifon 
von Magdeburg war ihm entgegengerüdt, teils fran: 
zöjiiche, teils weftfäliihe Truppen des Königs Jeröme. 
Die mweitfäliihen wollte Schill zunädhft verjuchen, 
an fi zu ziehen. Deutihe Krieger — es erichien 
ihm unglaublih, daß vdiefelben nicht freudig bereit 
jein follten, ihm zu folgen. Der Lieutenant Stod, 
ein weißes Taſchentuch ſchwenkend, ritt an da3 
nächſte Karree heran. „Kameraden,“ rief er mit 
kräftiger Stimme, „wir kommen nicht als Feinde, 
ſondern in der Abſicht, unſere deutſchen Brüder vom 
Joch der Fremdherrſchaft zu befreien. Ihr werdet 
der guten Sache Euren Beiſtand nicht verſagen! 
Kommt zu uns herüber und vereinigt Euch mit uns, 
dieſes Ziel zu erreichen!“ 

Der Kommandeur des Bataillons ritt ihm ent— 
gegen, mit dem Beſcheide, ſich zurückzuziehen, da ſeine 
Worte nicht die eines Parlamentärs, ſondern eines 
Verräters wären. Lieutenant Stock wandte ſein Pferd. 
Da krachte ein Schuß aus den feindlichen Reihen — 
er wankte im Sattel und ſtürzte entſeelt zu Boden. 

Ein Schrei der Wut erſcholl von preußiſcher 
Seite her. Doch das konnte ja nicht möglich — 
konnte keine Abſicht geweſen ſein. Lieutenant Bärſch 
unternahm einen zweiten Verſuch — ein Kugelregen 
empfing ihn ſchon von weitem. Wie durch ein Wunder 
entging er der Todesgefahr. Jetzt ließ Schill zum 
Angriff blaſen, und ſtürzte ſeiner racheſchnaubenden 
Schar voran auf den Feind. Ein kurzes, heißes 
Ringen entſtand. Von allen Seiten griffen die 
Schillſchen Schwadronen an. Es gelang ihnen, die 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


624 





Karrees zu ſprengen, den Feind zum Rückzug zu 
bewegen. 

Schill war jelber mit feinem Zuruf und Bei- 
jpiel überall zugleich. Stolz und behr, das ritterliche 
Bild eines fiegreihen Reiterführers, hielt er auf dem 
Schladtfelde — und nahm die Meldung entgegen, 
daß der Feind fih im vollen Rüdzuge nah Magbe- 
burg zu befände. Da gab er den Befehl zum Ab: 
mark. Mit Schmerz jah er, welche jchweren Ber: 
Iufte unter den Seinen diefer Sieg ihm gefoflet. 
Ein Viertel der Mannichaft fat war gefallen und 
verwundet, mehrere Offiziere darunter, au Major 
von Züßom, fein Freund, jchwer getroffen. Das war 
ein harter Schlag. 

Und wie fhmerzlih die Erfahrung, die er heut 
gemadt. Um bie deutihen Brüder zu befreien vom 
Yoche des fremden Komödiantenfönigs war er ein: 
gedrungen in diefes Land, ficher, als Erretter und 
Befreier von ihnen begrüßt zu werden. Mit einem 
Kugelregen hatten fie ihn empfangen, fein Befreiungs- 
angebot als Feindichaft und Verrat zurüdgemiejen! 
Bergebens — vergebens alfo auch dies! Er ver: 
mochte in feinem glänzenden Siege nicht viel anderes 
denn eine Niederlage zu jehen. 

In Wansleben bezog Schill für diefe Nacht 
Quartier. Der Amtsrat Küjon nahm ihn und ben 
größten Teil der Offiziere gaftfreundli auf. Seine 
Leute lagen im Dorfe. 

Müde von der jchweren Arbeit des Tages, er: 
mattet vom Kummer, der ihn quälte, flieg der Hu: 
larenfommandeur vom Pferde. Eine größere Anzahl 
der Offiziere war bereits bier verjammelt, als er: 
warteten fie ihn. Straff grüßend ftanden fie zur 
Seite. Als er an ihnen vorüberging, ftreifte fein 
Blid über fie hin und ein Lächeln ging über fein 
Gefiht. Wie müde gearbeitet, ftaubig und heiß fie 
alle ausjahen, viele verwundet und verbunden. Er 
bemmte feinen Schritt. „Sameraden, ich glaube, 
wir haben uns heute gut geichlagen!” fagte er. 

„Bu Beiehl, Herr Major!” Es war Rodlig, 
der geantwortet hatte, freudig, im Ton der Über: 
zeuaung. Der Major late, angenehm berührt. 

„Können die Herren mir jagen, wie es dem 
Major Lükomw geht?” fragte er dann. 

„sh war eben bei ihm,” berichtete Hagen, „jein 
Bruder ift noch dort und Doktor Werdermann. Keflel 
und Hellwig liegen im jelben Zimmer. Major Lüßoms 
Berwundung ift wohl am Ichwerften, doch hoffentlich 
nicht lebensgefährlich. Bis jegt aber ift er bemußtlos!“ 

Schill jeufzte. „Führen Sie mid zu ihm, lieber 
Hagen!” 

. Un der Abendtafel, die der Amtsrat mit Sorg: 
falt für feine tapferen Gäfte hergerichtet, fab ber 
Major feine Dffiziere wieder. „Wo ift Rodlig?“ 
fragte er, um fih blidend. Er Hatte auf Haflos 
unverwüftlihen Humor und belebende Unterhaltung 
gerechnet, darum vermißte er ihn jogleich. 

„Rohlig fteht draußen und unterhält fih mit 
irgend jemand, Herr Major!” berichtete Blomberg. 
„Es it ein Menih in Civil, ich Tenne ihn nicht, 
aber Rodlig trifft ja überall gute Freunde!“ 








625 


Schwertklingen. 


„Aud bier in Feindes Land?” fragte Schill mit 
Ihmerzlider Betonung. 

„Herr, e8 find nicht lauter Feinde bier!“ 

„Nein, wahrhajitig! Das empfinden wir mit 
Dant!” rief Schill, fein Glas gegen den freundlichen 
Wirt erhebend. 

Diefer dankte verbindlid. „Cs war übrigens 
einer meiner Beamten, mit dem ber Herr von Rodhlik 
Ipradh,” jagte er dann erläuternd. „Er ift heute von 
Kafjel angelommen; wahrjcheinlih brachte er Nach: 
richten, die den Herrn interelfierten !” 

Seht trat Haflo herein und fofort auf den 
Kommandeur zu. „Bitte um Berzeibung, Herr 
Major, ich bringe bier etwas, das für Sie und uns 
alle von Sinterefle fein dürfte!” Er legte ein Zeitungs: 
blatt vor ihn Hin, den „Weltfäliihen Moniteur”. 
E3 ftanden zwei Proflamationen darin, die waren 
freilich fehr intereffant. Schill flog mit den Augen 
darüber hin und ladte. Dann las er bie erfte den 
Herren vor. König SJeröme, entrüftet über den „Aus: 
reißer und Piraten“, der fi unterftanden, in fein 
Reich einzufallen, befahl all feinen Getreuen, Jagd 
auf denfelben zu maden und ihn tot oder lebendig 
abzuliefern. Ein Preis von zehntaufend Francs war 
auf feinen Kopf gefet. 

„Das ift eigentlich nicht viel,” bemerkte ber 
Major leihihin. „Solde Summen verjubelt der 
Herr ZJeröme mit feinen Maitreffen und Spießgefellen 
wohl Tag für Tag. Wenn mein Kopf ihm nit 
mehr wert ift, jo haben wir ihm noch nicht den ge- 
nügenden Eindrud gemadt!” 

„Will’s Gott, werden wir’s ihm bald noch deut: 
licher markieren!“ erwiderte Haflo, ber dann jeinen 
Plat an der andern Seite der Tafel einnahm. 

„Ih werde ihm antworten,” jagte Schill lächelnd, 
„und auf feinen Kopf einen Preis von fünf preußilchen 
Thalern fjegen, mehr ift er mir auch nicht wert!” 
Seine Augen blieben gejenkt auf das zweite Schrift- 
ftüd — ein Armee:-Bulletin von Napoleon: ‚Ein 
gewifler Schill, eine Art von Brigand, der in ber 
legten preußiihen Campagne Verbreden auf Ber: 
breden gehäuft und dafür den Grad eines Colonel 
erhalten, jei mit jeinem Regiment von Berlin befer: 
tiert‘, hieß es darin. Der König von Preußen habe 
ihn dur den Gouverneur von Berlin als Dejerteur 
erflären laflen. Seine Majeflät der SKaijer babe 
ein Objervationslorps von fechzigtaufend Mann gegen 
ihn entjendet — und fo fort. Das Bulletin enthielt 
faft jo viele Lügen ald Worte, und würde dem ftolzen 
Hufarenführer wohl dasjelbe Vergnügen bereitet haben, 
als das erfte Schriftftüd, wenn nit der eine Sat 
darin geitanden, daß ihn ber König als Dejerteur 
erklärt babe. Bonaparte, der Erzfeind, mußte es der 
Welt verfünden, daß jein König ihn von fi) ge- 
ftoßen in Ungnade und Zorn! E8 war wie ein 
glühendes Eiſen, das in die unaufhörlid blutende 
Wunde feines Herzens Hineingeftoßen ward. Dod 
wurbe fein Vergehen von dem großen Böllertyrannen 
wenigftens nicht dazu benußt, um gegen den geliebten 
König einen Kriegsvorwand zu jhmieden. Aud) das 
hatte Schill gefürchtet und diefe Belorgnis war nun 
von ihm genommen. Er bezahlte fie gern mit dem 


Reman⸗Zeitung 1896. 


Roman von Hans Werber. 


626 


bitteren Schmerz, jein Herzeleid dur Napoleon ver: 
fündet zu fehen. Auch biejes für ben König. Damit 
war ja erfüllt, was er als feines Lebens YZwed an- 
lab. Er batte aljo nicht darüber zu Klagen. 

Er hob das Zeitungsblatt in die Tafche feines 
Dolmans, erhob fi und ging hinaus, von Bärfch, 
jeinem Abjutanten, begleitet. Er ging, um zu fehen, 
wie feine Hujaren untergebradt waren, ob man gut 
für fie gejorgt, ob ihnen nichts mangelte nach des 
Tages heißer Arbeit. Die friihen, trogigen Lieber, 
die fie fangen, ber frohe Zuruf, mit dem fie den 
geliebten Kommandeur begrüßten — aus ber Ferne 
Ihon, das war ja die einzige, flüchtige Freube, bie 
ihm geblieben aus dem großen Schiffbrud, in dem 
fein Leben verjant. 


II. 


Die Kriegsgeichichte bezeichnet es als einen großen 
Fehler, daß Schill feinen Zug jet norböfllich richtete, 
ih mit Eroberung der bebeutungslojen Feſtung 
Dömig aufbielt und endlih, daß er Stralfund zu 
feinem Biele auserfah. Das ganze Medlenburger 
Land mußte er durchziehen, während von allen Seiten 
feindlihe Truppen gegen ihn beranrüdten. Außer 
den Franzofen noch Dänen und Holländer unter 
General Gratien. Lebtere beiden ftanden unter dem 
Drud Napoleons und befolgten deilen Befehle. Auf 
der vierten Seite aber hatte er die preußifche Grenze, 
und die vor allen andern durfte er nicht überfchreiten, 
auh dort ftanden Truppen gegen ihn zur Wehr. 
Dieje traurige Thatjahe war ein immer erneuter 
Schmerz für den mutigen Freiheitsfämpfer und eine 
unüberwindlide Demütigung.. In Stralfund jedoch, 
wo er in früherer Zeit rubmoolle Siegestage, An: 
jehben und Beliebtheit genofjen — hoffte er auf beiten 
Empfang! Die ftolzge „Perle der Dfifee” jollte fi 
an feiner Hand verteidigen, wie fie es einft gegen 
Wallenftein gethban, jo wie fih jett Saragolia gegen 
Napoleon gewehrt, zur Bewunderung von ganz Eu: 
ropa. Dur dergleichen phantaftiihe Vorftelungen 
und romantiſche Ideen wurde er abgezogen von dem 
Wege larer und Bluger Berehnung. Den Ein: 
wendungen und Vorjchlägen feiner Offiziere war er 
nicht mehr zugänglich. Der einzige, auf den er noch 
gehört hätte, Adolf Lükom, lag jchwer verwundet in 
Fieberphantafien danieder. Dur feine fchwierige 
Lage niedergedrüdt und mißtrauifch gemadıt, in frank: 
baft gereizter Stimmung, begann er in jedem Rat- 
Ihlag, jeder anders lautenden Meinung eine Auf: 
lehnung zu jehen, die er jchroff und unduldjam 
zurüdwies, völlig unähnlich feinem jonft jo gütig 
liebenswürdigen Wefen. 

Mit fieberhafter Raftlofigkeit ftrebte er nun feinem 
vorgeftedten Ziele zu. Herrn von Bothmer und den 
Nittmeifter von Bornftedt jandte er nah England, 
um fih von dort die Hilfe der englifhen Flotte zu 
fidern. Sie vermodhten e8 nicht mehr, den Auftrag 
auszuführen, jo lange er Rettung bringen Tonnte. 
Sn Dömig blieb der Lieutenant von Francois mit 
einer Tleinen Belagung zurüd. Später folgte er bem 


IV. 4 


627 Schwertklingen. 
Korps, wobei er fih Schritt für Schritt mit unver: 
gleichliher Tapferkeit den Weg erkämpft. Zu 
Kommandos aller Art, zu jeglidem Unternehmen, 
zu tobesmutiger Aufopferung fand Schill, wie die 
Gefhihhte berichtet, in jeinem Korps ftets fo viel 
Männer bereit, als es deren überhaupt zählte. Faft 
jeder einzige der jungen Offiziere, die ihm gefolgt 
waren, haben fi in diefer Heinen SKriegsgejchichte 
perlönlicy hervorgethban und ihre Namen für alle 
Zeiten mit dem Lorbeer des Heldenruhmes geziert. 

Bon Stralfund aus 309 der franzöfiihe General 
Gandras dem beranrüdenden Schillichen Korps ent: 
gegen. Bei Damgarten trafen am 24. Mai die 
Truppen aufeinander. Ein heißes Gefecht entwidelte 
ih, in weldem die Schillihen einen glänzenden 
und vollitändigen Sieg errangen. Am 25. früh 308 
Schill mit feiner tapferen Schar in Stralfund ein. 
Eine Eleine franzöfiihe Artillerie-Befagung trat ihm 
bier feindlih entgegen, wurde jedoch nach Furzer 
Gegenwehr aufgerieben, und Stralfund war in 
feiner Hand. 

Nun hatte er das Ziel erreiht, do bald 
mußte er jehen, daß aud bier die Zeiten fich jehr 
zu feinen Ungunjten geändert hatten. Die Ein: 
wohnerijhaft war feineswegs gewillt, die Unbilde 
einer Belagerung zu ertragen, wie die von „Sara: 
gofla”, oder gar fih mit dem ungebetenen Eroberer 
unter den Trümmern ihrer Häujer begraben zu 
loflen. Weshalb? Warum Tieß er fie nicht in 
Frieden? Diefe Frage trat ihm mehr oder minder 
beutlih von allen Seiten entgegen. Mit fieber: 
baftem Eifer warf er fi auf die Befeftigung der 
Wäle und Mauern, jo wie er’s von Kolberg ber 
fannte, und jeine Vorbereitungen zeugten von großen 
militäriihen Talenten. Doch auch hierbei traf er 
auf ungeahnte Schwierigkeiten. Die Einwohner 
weigerten fih, ihm behilflich zu fein — oft mußte 
er Gewaltmaßregeln anwenden. Und dabei hatte 
er feine Zeit zu verlieren, die feindlichen Heere 
rücdten mit beunrubigender Schnelligkeit gegen die 
Stadt heran. Seine Stimmung, die durd den 
raihen, ftolzen Sieg bei Damgarten und bie 
glänzende Einnahme von Straljund fi ein wenig 
gelichtet, jant bald wieder in umbüfterte Schwer: 
mut, unberehenbare Gereiztheit zurüd. Seinen 
Adjutanten Bärih hatte er fortgejandt mit dem 
Ichwierigen Auftrage, die Kranken, das Gepäd und 
die Kriegsfalle in NRoftod einzufchiffen und nad 
Rügen in Sicherheit zu bringen. Der war nun 
jort und jo die Verbindung zwilhen dem Komman- 
deur und feinen Offizieren noch bejonders erjchwert, 
denn im feiner jegigen Stimmung eridhien er ihnen 
allen unnahbar und unzugänglich, wie nie zuvor. 

Das außerordentlich Bedenklidhe ihrer Lage bier 
in der fchlecht befeftigten Stadt, unter bem Drude 
des Ausgeftoßenjeins vom PBaterlande und Heere, 
ward aud den Offizieren mit niederdbrüdender Deut: 
lichfeit bewußt. Daß der geliebte Führer, jonft ihr 
aller Freund und Berater, ihnen jo verändert gegen 
übertrat, entjrembete ihn der jungen Sriegerjhar 
mehr und mehr und verurjfadte auch unter derjelben 
eine unbehagliche und gereizte Stimmung, die bem 


Roman von Hans Werber. 


628 


lonft unvergleihliden Korpsgeift diefer Truppe nicht 
zuträglich war. 

Am 30. Mai traf die Nachricht ein, daß ein 
Heer von Holländern und Dänen gegen Straljund 
anrüdte und in Franzburg Kantonnements bezogen 
hätte. Es erihien den Offizieren durchaus geboten, 
ihnen dorthin entgegenzugehen und fie in offener 
Schlacht anzugreifen, nur die Infanterie, welde all- 
mählih auch zu einer ftattlichen Truppe herange- 
wachſen war, in der Stadt zurüdzulafien. Die Ab: 
fiht des Kommandeurs, den Feind hinter den 
Mauern zu erwarten, deuchte ihnen verwerflich und 
gefährlih von jedem Gefihtspunlte aus, und gar 
viele Gründe fpradhen unzweifelhaft für ihre Anfiht. 

Einige der Schwadrons- und KRompagnieführer 
nahmen fih Gelegenheit, dem Kommandeur ihre 
Vorſchläge zu unterbreiten, dringender und lebhafter 
jedenfalls, ala es unter preußilchen Offizieren ibrem 
Vorgefegten gegenüber üblich jein mag. Das traf 
die wundefte Stelle in dem an Mißtrauen und Ge- 
reiztheit ohnehin Ihon franktenden Herzen. Schroff 
und beftig wies der Major die Vorjchläge von ber 
Hand und verbat fi jede Einmilchung in feine Be: 
fimmungen. Die Offiziere aber Eonnten in biejem 
jo ganz befonderen Falle die Notwendigkeit diejer 
Zurüdhaltung nicht einjehen, freilih unerhört in 
einem preußiichen Regiment. Schill braufte auf in 
loderndem Zorne. Er kannte fi nicht mehr. Leo 
von Zütom,*) der am Fühnften bier geiprodhen und 
am empfindlichften zurüdgemwiejen worden, forderte 
tief verlegt feinen Abjchied und erhielt ihn fofort. 
Am felben Tage noch verließ er Straljund. 

Sn gedrüdter Stimmung, von widerjprechenden 
Empfindungen beherricht, entfernten fich die Difiziere. 
Der Zorn des Kommandeurs war aber nicht jobald 
verraudht, jondern forderte ein zweites Opfer in dem 
Lieutenant Bluhm, der fi in ungeziemenditer Weile 
laut tadelnd über die Mabnahmen des Majors ge: 
äußert. Diejer wies ihn vor verfammeltem Kriegs: 
Kan von der Front hinweg, als des Dienfles ents 
lafjen. 

Rochlitz Hatte diefen Auftritten nicht beigewohnt, 
da ber Dienft ihn zu biefer Stunde außerhalb be: 
Ihäftigt. Er hatte einen Teil von Bärjchs Quartier: 
meifterpflichten übernommen, und feine Zeit war 
reihlih damit ausgefüllt. Als er jebt zurüdtehrte 
und das Zimmer des Wirtshaufes am Marlt betrat, 
wo die Offiziere einzufehren pflegten, fand er einige 
berjelben hier vor, in lebhafter Unterhaltung über 
das Borgefallene begriffen. Sie ftürmten auf Haflo 
ein und erzählten ihm alle zugleich mit erhobener 
Stimme, was fich ereignet, ihren Empfindungen da: 
bei unverhohlenen Ausdrud verleihend. 

Haſſo war durch diefe Mitteilungen aufs pein- 
lihfte berührt. Er konnte fich Iebhaft denten, wie 
e8 zugegangen war — ab, nur zu genau! War . 
auch überzeugt, daß feine Kameraden in der Sade 
recht hatten. Er fannte Schill. Er fjah in ihm 
einen Helden an Charakter: und Seelengröße, den 


*) Ein Bruder des bei Dobdendorf verwunbeten fpäteren 
Sreifharenführers, Major Adolf von Lütom. 





629 


— — — — — —r — — — — — — — — — — — 


er hochſtellte und verehrte wie wenige Sterbliche. 
Aber er wußte zugleich: Dieſer Aufgabe war der— 
ſelbe nicht gewachſen, und noch weniger dem Un— 
glück, das ihn umbrandete, wie ein tobendes Meer 
den ſteuerloſen Nachen. Dennoch oder vielleicht 
gerade deshalb nahm er Partei für den Helden, den 
er unter dem Gewicht ſeiner tragiſchen Schuld zu— 
ſammenbrechen ſah. 

„Ich begreife nicht, wie es dahin hat kommen 
können,“ nahm er endlich zürnend das Wort. 
„Wie könnt Ihr ihn denn ſo ärgern und kränken, 
ſelbſt wenn Ihr im Recht ſeid! Nehmt es mir 
nicht übel, aber ich finde, Ihr habt Euch haar— 
ſträubend benommen!“ 

„Du haft gut reden!” brummte Hagen. „Hätteft 
nur hören follen, wie er mit uns abfuhr! Und daß 
wir im Recht find, beftreiteft Du jelber nicht!“ 

„Gewiß, Hagen, ih kann mir alles jo denfen, 
als hätt’ ich es mit angehört! Die Thatjadhe, daß 
Lützow wirklich gegangen ift, ſpricht Hinlänglich für 
fich felber! Über Bluhms Benehmen aber haben wir 
ale uns jchon genügend geärgert, um ficher zu fein, 
daß Schill ihm gegenüber im Nedht war! Lieben 
Kerls, nehmt doch Vernunft an,“ fuhr er mit warmer 
Beredfamteit fort, „er hat es uns frei geftellt, ihn 
zu verlafien, damals in Bernburg, und wir haben 
ihm verjprocden, bei ihm zu bleiben und ihm zu 
folgen bis in den Tod! Das hieß aber nicht nur, 
mit ihm weiter zu ziehen, jondern au ihm zu ge 
borchen, als preußiiche Soldaten ihrem Kommandeur! 
Menn wir das jekt nicht mehr thun, wo er im 
Unglüd ift, jo heißt das, ihn Ihmählih im Stich 
laſſen!“ 

„Haſſo, das iſt famos, daß Du ihnen das 
ſagſt!“ rief der warmherzige Blomberg aufſpringend. 
„Ich war nicht dabei, aber ich habe das alles ebenſo 
empfunden!“ 

„Sie waren nicht dabei und können es deshalb 
auch nicht beurteilen!“ ſagte Brünnow ärgerlich. „Wir 
Schwadronchefs ſtehen anders zur Sache, denn wir 
tragen immerhin auch eine Verantwortung, die nicht 
gering iſt. Jetzt rückt der Feind gegen die Stadt 
heran, und ich habe für mein Verhalten zwei ſich 
völlig widerſprechende Befehle des Majors in der 
Hand!“ 

„Ich auch!“ ſagte Fritz Blanckenburg und ſeine 
ſtahlfarbenen Augen blitzten in Unmut und Gereizt— 
heit! „Daher ſind wir eben gezwungen, nach eigenem 
Ermeſſen zu handeln, mag er's nachher auffaſſen wie 
er will!“ 

„Ich habe noch gar keinen,“ geſtand Haſſo zu. 
„Ich werde jetzt zu ihm gehen und ihn drum be— 
fragen, für mich und für Euch!“ 

„Gehen Sie nicht! Folgen Sie meinem Rat,“ 
bemerkte der Lieutenant von Blottnitz, der, beide 
Arme auf den Tiſch geſtützt, gemütlich bei ſeiner 
Mahlzeit ſaß. „Er wird Ihnen grob und wirft 
Sie zum Tempel hinaus, ehe Sie ſich's verſehen! 
Er iſt wie ein Raſender heute!“ 

Auch Haſſo hatte ſich durch einen Imbiß ſtärken 
wollen, doch der Appetit war ihm vergangen. Nur 
ein Glas Wein ſchenkte er ſich ein und während er 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


es austrank, heftete er einen kühlen, zugleich lächeln— 
den Blick auf den freundlichen Ratgeber. „Beun— 
ruhigen Sie ſich nicht!“ ſagte er leichthin. „So 
grob kann er gar nicht werden, wie ich's ver— 
tragen kann!“ Damit nahm er ſeine Mütze und 
ging hinaus. 

Bei dem Major ließ er ſich melden und wurde 
ſogleich angenommen. „Was wünſchen Sie?“ fragte 
dieſer ſchroff und unfreundlich. 

Haſſo ſah ihn an. Was für ein todesmüder 
Ausdruck lag auf dem kraftvollen Männerantlitz! 
Wie ſchmal und ſcharf war es geworden! Durch 
das rabenſchwarze Haar zogen ſich breite Silber— 
ſtreifen! Und in Zeit von drei Wochen all dieſe 
Veränderung, bei einem Manne von dreiunddreißig 
Jahren! Ja, was mußte er durchgemacht haben! — 

Straff und in vorſchriftsmäßigſter Form ſtattete 
Haſſo einige Meldungen ab und erbat dann die 
nötigen Befehle für ſich, Brünnow und Blancken— 
burg. Schill überlegte einige Sekunden, geſenkten 
Blickes, einen ſeltſam unentſchloſſenen Ausdruck im 
Geſicht. Dann aber raffte er ſich auf und erteilte 
kurz die geforderten Befehle. „Haben Sie ſonſt noch 
Wünſche?“ 

„Nein, Herr Major!“ 

„Dann dank' ich Ihnen!“ Es klang zögernd 
— und zögernd nur wandte ſich Haſſo zum 
Gehen. Der Major ſchien ſich beſonnen zu haben. 
— „Rochlitz!“ 

„Herr Major!“ 

Schill zögerte wieder. „Es iſt ſehr unangenehm 
für mich, daß Bärſch fort iſt,“ begann er ſchließ— 
lich. „Ich vermiſſe meinen Adjutanten auf Schritt 
und Tritt!“ 

„Ich glaubte, Herr Major hätten den Lieutenant 
Blottnitz zur Vertretung befohlen —“ 

„Jawohl!“ Eine dunkle Wolke ging über Schills 
Antlitz. „Und er hat dieſe Auszeichnung umgehend 
dazu benutzt, unverſchämt zu werden! Ich habe ihn 
ſofort ablöſen laſſen!“ 

Ah — daher alſo die verſtändnisinnige Warnung! 

„Geſtatten Herr Major, daß ich Ihnen Blomberg 
vorſchlage! Ich glaube, für ihn garantieren zu 
können!“ 
„Gut — ja! — Haſſo!“ Jetzt zum erſten Mal 
während ihrer Unterredung ſah Schill ihn an mit 
ſeinen treuherzigen Augen. Wie war die Feuersglut 
erloſchen, die ſonſt ſo hell darin geflammt! „Haſſo, 
haben Sie gehört, daß Leo Lützow fortgegangen iſt 
— und daß ich den Bluhm — —“ 

„Ja, Herr Major!“ 

„Ich weiß nicht, was man Ihnen darüber ge— 
ſagt haben mag,“ fuhr Schill fort. „Aber ich bin 
an Ihnen niemals irre geworden, ſo ſollen Sie 
meine Meinung wenigſtens auch erfahren! — Sehen 
Sie her — dieſen Parolebefehl gebe ich heute aus! 
Leſen Sie ihn!“ 

Haſſo trat an den Tiſch, auf welchem das be— 
zeichnete Schriftſtück lag, und mit einer Hand ſich 
aufſtützend, beugte er ſich darüber und las: 

„Es iſt der ſehr unglückliche Ton im Korps 
eingeriſſen, daß meine Befehle nach Willkür ab— 





631 Schwertklingen. 
geändert und oft gar nicht befolgt werden. Es 
muß eine größere Ordnung wieder zur Gewohnheit 
werden, wenn uns, nach ſo ſchönen Stunden, 
nicht dennoch ein Unglücksfall nach dem anderen 
treffen ſoll ... Es ſchmerzt mich nicht wenig, 
hier und da einen Mangel an dem Zutrauen zu 
bemerken, welches mir ſonſt, wo ich noch von 
lauter Freunden und keiner Oppoſition umgeben 
war, in der Campagne bei Kolberg, nicht fehlte. 
Allein ich genoß auch damals das Glück, daß ſich 
ein jeder blindlings überzeugt hielt, wie unaus—⸗ 
ſprechlich gut ich es mit allen meinte ... Es iſt 
kein Fall vorhanden, wo mich mit Recht ein Vor⸗ 
wurf träfe, und mit Fug und Recht kann ich 
daher, ſo wie bei Kolberg, auch jetzt, vorzüglich 
jetzt um ein ähnliches Zutrauen bitten. Strenge 
werde ich auf die Ordnung unter meine Befehle 
halten und es nie dulden, daß man mir öffentlich 
und in Gegenwart anderer widerſpricht... Der 
nächſte Vorfall dieſer Art würde mich ſogar be⸗ 
ſtimmen, ein Beiſpiel einziger Art aufzuſtellen ... 
Dringend bitte ich das Korps der Herren Offiziere, 
nur den Geiſt der Einigkeit unter ſich zu dulden, 
der, die Seele des Krieges, die Bahn zum Ruhme 
öffnet. Ebenſo bitte ich die Herren, mir ihr Zu— 
trauen und ihre Freundſchaft zu ſchenken, damit 
ich mit ihnen die Tage unſeres Seins gleichwie in 
einem Familienkreiſe verleben möge!“*) 

Als Haſſo zu Ende geleſen, blickte er auf. 
„Aber Herr Major! Haben wir uns denn ſo ſchwer 
vergangen, daß Sie uns ſo etwas ſagen müſſen?“ 

„Sie nicht, Rochlitz! Seit Sie mich gewarnt 
haben und dann doch mit mir gegangen ſind, habe 
ich noch keinen Moment über Sie zu klagen gehabt!“ 

Haſſo ſenkte wieder den Blick auf das ſeltſame 
Schriftſtück nieder. „Aber auch die anderen, Herr 
Major! Dies geht mir gegen Gefühl und Ehre! — 
Geben Sie uns noch härtere Worte als dieſe hier 
— beſtrafen Sie uns alle — das ſteht in Ihrer 
Hand! Nur thun Sie uns das nicht an, um unſer 
Zutrauen, unſere Freundſchaft zu bitten! Als ob 
Sie nicht wüßten, wie wir Sie lieben und verehren, 
alle, ohne Ausnahme! Dieſer ſchwere Zweifel an 
unſerer Geſinnung iſt nicht zu ertragen — und, 
trotz allem, Herr Major, den verdienen wir nicht!“ 

Die Stirn des Freikorpsführers faltete ſich ein 
wenig. Er ergriff das Schriftſtück und entzog es 
Haſſos Blick. Eine abweiſende Enſiſchloſſenheit lag 
in der Bewegung. „Es iſt ja vielleicht den Herren 
nicht ſo ſehr zu verargen,“ ſagte er mit Bitter⸗ 
keit. „Als ſie mit mir auszogen, war ich Chef und 
Kommandeur eines preußiſchen Regiments. Und 
jetzt — ein geächtete Mann! Von meinem Könige 
verſtoßen, angeklagt auf Deſertion und Landes— 
verrat!“ Er ſank nieder auf den Stuhl vor ſeinem 
ah und preßte die Stirn gegen die geballte 
Fauſt. 


y Worllich hiſtoriſch. 


Roman von Hans Werder. 


632 


Haſſo blickte auf ihn nieder von tiefem Mitleid 
erfüllt. „Herr Major —“ ſagte er halblaut, „das 
alles waren Sie ſchon, als wir zum zweiten Mal 
freiwillig Ihnen zu folgen gelobten! Mit unſerer 
Ehre und mit unſerem Herzen find wir Ihnen zu 
Treue und Gehorjam verpflichtet, genau jo wie vor: 
dem in Kolberg und in Berlin!” — Schill ant- 
wortete nit. Eine leihte Bewegung mit ben 
Schultern Ihien Hafjos Worte entlräften zu wollen. 
Nah FTurzer Baufe fuhr bdiefer fort: „Wenn wir 
Ahnen dbennoh Grund zur Unzufriedenheit gaben, 
fo ift das jehr bedauerlid! Sie haben uns ver: 
wöhnt durch Shre Güte und Liebenswürdigfeit! 
Steht find Sie — bitte um PVerzeihung, Herr Major, 
fehr viel unduldjamer geworden! Aber wir werben 
uns au darin zu fügen willen! Herr Major jollen 
feine Klagen mehr über uns zu führen haben!” 


Schill bob langfam den Blid und Tieß ihn 
gedantenvol auf dem Spreder ruhen. „Hallo,“ 
fagte er endlih, „Sie haben mich jo dringend ge 
warnt, ale e8 noch Zeit war! WVielleiht kannten 
Sie mid befler ale die anderen alle, bie den Be- 
freier des Baterlandes in mir fahen! Sie fennen 
mid jebt noch ebenjo, darum halten Sie zu mir! 
Zu Shnen Tann ich jpreden! Ad mein Gott — 
hätt’ ih mi warnen laflen! Hätt’ ih Euch alle 
nit ins PVerderben geführt, Yhr armen SYungens! 
Und mein jchönes, Ichönes Regiment!” Er jentte 
die Stirn in beide Hände. Glühende Tropfen, wie 
flüffiges Feuer, brannten ihm in den Augen. Doc 
föften fie fih nicht von der Wimper als linbernde 
Thränen: das brennende Meh im Herzen tranf fie 
auf. Nur ein Seufzer ging faum hörbar über feine 
Lippen: „Ab, wär’ ih erft tot!” — — — 

Endlih erhob fih Schill und firih mit fefter 
Hand über Stirn und Augen. „Nun dan’ id 
Shnen, mein lieber NRodhlig! Schiden Sie mir 
Blomberg ogleih ber, und nehmen Sie Felgentreu 
an feiner Stelle in Jhre Schwadron!” 

„Bu Befehl, Herr Major! Darf ich noch eine 
Bitte ausipredhen?” 

„Sewiß!” 

„Herr Major, kommen Sie heut abend in 
unjere Kneipe! Wir müflen Sie endlih einmal 
wieder unter uns haben! Dann findet fich alles von 
jelhft, was der heutige PBarolebefehl uns jagen fol!“ 

Sdill überlegte mit gelraufter Stirn. „Meinen 
Varolebefehl werdet hr dann fchon Haben! — 
Aber — weil Sie's find, Haflo! Ih will Shre 
Bitte nit abichlagen! Ins Wirtshaus Tann ich 
zwar nicht fommen, denn mein Freund Voß ift jo: 
eben bei mir eingetroffen, vom Kurfüriten von 
Heflen zu mir gefandt! Doch möchte ih Euch gern 
um mich sehen! Wollen Sie bei mir efien? Jh 
werde ed Brünnow und den anderen aud jagen! 
Wir wollen ung nad der jehweren Zeit einmal etwas 
zu gute thun!” 


(Hortjegung folgt.) 


633 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





634 








Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung. 


Krank. 


Was pocdht denn da? 

Du Holzwurm bift’z, 

Du nagit an meiner Truhe, 

Am Brautihag podft und bohrft und nagft 
Und läßt mir feine Nuhe. 


Was wedit Du mid? 

Ich träumte doch 

Von Glück und Licht und Lieben. 

Was weckſt Du mich, verjagſt den Traum, 
Wo iſt er nur geblieben? — 


Wer ruft mich da? 

Das iſt der Tod, 

Der will mein junges Leben. 

Ich kämpf mit ihm, ich ring mit ihm, 
Ich will es ihm nicht geben — 


Mein rotes Blut, 
Noch iſt es mein, 
Ich zwing ihn, ich will ſiegen — 
— O Gott, mein Gott, ich kann nicht mehr, 
Ich muß doch unterliegen. 
BR. Sommerfeld. 


Das goldene Hprüdlein. 
Bon Gertrud Vriepel. 


Ein ärmlihes Stübchen, vier Treppen hoc! 

Durd die ſchmalen Fenſterſcheiben fallen die blafien 
Strahlen der. Nahmittagsjonne, aber fie wärmen nicht und 
vermögen auch nicht, die Dürftigfeit der Möbel und des 
ganzen alten Haußrates zu vergolden. 

„Alfo Feine Hoffnung, Herr Rat?“ fragt eine fchluchzenbe, 
dünne Stimme, und zwei rotgemweinte Augen Tehen hilfe: 
heifchend in das Geficht des mweißbärtigen Herrn. 

„Keine, gute Frau; nah menihlihem Ermefjen keine! 
E3 fann vorausfidtlid nur no Tage dauern, bis der 
morfche Körper zufammenbricht.“ 

Da3 Schluhzen veritärkt fih und geht über in ein herz« 
zerreißendes, Trampfartiges Weinen, nachdem der Arzt bie 
Inarrende Thüre Hinter fi geichlofien Hat. 

Mit beiden Armen umfchlingt die Frau den Pfoften 
ber bürftigen Bettjtatt, die in einem Winkel des Kämmerdeng 
fteht, und preßt den jchmerzenden Sopf gegen die harte Sante. 

Nad) einer Weile aber richtet fie fi) empor, zieht einen 
Schemel herbei und finft wie gebrochen darauf nieder. Zange 
und mit gramvollen DBlide betrachtet fie daS eingefallene 
Antlig in den Kiffen, von dem fie fi fo bald fchon trennen 
fol. Und wie fie jo jchaut und grübelt, verwirren fich ihre 
Gedanken und bleierne Müdigkeit fchleiht ihr durch alle 
Glieder. 

Sn den endlojen, traurigen Nahtwadhen, da die Hoffnung 
fie nod) belebte, ift fie ftandhaft geblieben, nun aber au 
das legte Fünfchen verglommen ift, bricht fie zufammen. 


Auf harten Stuhle, die Hände feft ineinandergeichlungen, 
den Kopf auf die jchmweratmende Bruft gefenkt, fo überkommt 
die arme Mutter ber langentbehrte Schlaf. 

Aus den groben Kiffen aber hebt fich bei den tiefen 
Ntemzügen leife ein fpiges, fieberhaft gerötetes Mädchen: 
geliht, und große, fladernde Augen richten fi) forfchend auf 
bie Geftalt ber fchlummernden Mutter. 

Ein unmerkliher Seufzer der Erleichterung entftrömt 
den jchmalen, beißen Lippen der Franken. Gottlob, nun 
braucht fie fi nicht mehr fchlafend zu flellen, nım kann fie 
den mühjam zurüdgebrängten Thränen freien Lauf Iaffen. 

Und in fhweren, biden Tropfen quellen fie unter den 
bläulihen Lidern hervor und rollen Iangfam die eingefallenen 
Wangen herab. 

Alfo Feine Hoffnung mehr! 

Der Kranten Ohr hat bie Worte bes Arztes wohl ver» 
nommen, und unabläffig tönen fie nım in ihr wieder. 

Ud, und wie liebt fie die Welt, die fie verlaflen fol; 
die jchöne, fonnige Welt, wenngleich fie ihr nur ben herben 
Trank der Entjfagung geboten hat. Auf der Schattenfeite 
hat fie wandern müfjen ihr lebelang, aber fie hat gehofft 
auf die Zukunft! 

Und das ift bag Ende, ba8 Ziel, um bdefjentwillen fie 
gedarbt hat von Jugend auf. 

Hat e8 fih gelohnt — — ? 

Das Mäbchen fchließt die Augen wieder und überdentt 
ihr Veben: 

Da fieht fie eine feuchte Kellerfiube vor fih; an ben 
Tenftern ftehen bide Eisblumen unb ein wiberliher Dunft 
bon Seife und Lauge durchzieht den engen Raum. Neben 
dem Fleinen, rauchenden (GSifenöfchen jteht eine hagere Frau, 
Schweißtropfen auf ber Stirn und weißen Schaum an 
Armen und Händen. 

Und vor ihr türmen fi in großen Körben naſſe Wäſche⸗ 
ftüde, von denen e8 wie Wolken in die falte Stellerluft aufs 
fteigt. An den gefrorenen Scheiben aber fauert ein feines 
Mädchen, bie blauen Hände in die Schürze gewidelt, und 
berfucht mit unendlicher Geduld ein Zoch in die ftarre Eis— 
rinde zu hauchen. 

„Mutter,“ fragt es endlich, als es das Vergebliche 
ſeines Bemühens einſieht, mit dünnem, froſtbebendem 
Stimmchen, „darf ich nicht auch auf die Gaſſe gehen? Sieh 
doch, die Sonne ſcheint noch hell, und hör nur, wie luſtig 
ſie draußen ſpielen; hier friert mich fo fehr!“ 

Die Mutter ſieht nicht auf von ihrer Arbeit; „bleib nur 
unten, Hannchen,“ ſagt ſie müde; „oben würdeſt Du noch 
kälter, denn Du haſt nur ein dünnes Kleidchen an.“ 

Das Kind ſenkt traurig den Kopf. 

„Warum hab' ich denn keinen Mantel, wie Müllers 
Lieſe, oder ein dickes Tuch, wie Führigs Bertha? Dann 
könnt' ich auch hinaus, Mutter! Magſt mir keins kaufen?“ 

„Ich kann nicht, Kind; Du weißt's ja, wir ſind arm, 
bettelarm; und da muß ich den Pfennig ſparen, um nicht 
mit Dir zu verhungern. Siehſt's nicht ein, Hannchen?“ 

Das Kind muß wohl; aber ein Fünkchen Bitterkeit 
ſchleicht ſich doch in die kleine Seele, als es nun wieder 
trübfelig Hinter den Eiählumen hodt und haudt und haucht, 


635 


um endlid durch ein minzigeß oc die Eifenftäbe vor dem 
Senfter zu fehen unb burch bieje hindurch bie Kleinen, 
trippelnden Füße ihrer Kameraben, in beren blanfen fchiwarzen 
Schuhen fih die Winterfonne fpiegelt. — — 

Und wieder ift’3 diefelbe Kellerftube, die vor dem franfen 
Mädchen auftaudt; aber die warme Gottesluft zieht unge- 
hindert zu ben niederen Senftern herein, und bie liebe Sonne 
bemüht fit nach Kräften, die feuchten Wände zu trodnen 
und das bumpfe Gelaß wohlig und freundlich zu machen. 

Die Wäldherin figt hinterm Ofen auf einem Schemel 
und jhält die Kartoffeln zur Mittagsfuppe. Da wird Die 
Thüre aufgeriffen, und atemlos, mit glühenden Bäckhen 
ftürmt da8 Hannden herein. 

„Mutter, Mutter, rat mal, was morgen ift! Spaziers 
gang, dent’ nur, durch den Wald nad der Bufchmühle, und 
wir alle folen mit und braudyen nur ein faıuberes Kleid 
anziehen und drei Grofchen mitbringen zu Milch und Semmel. 
Gelt, Mutterle, die giebft Du mir?” 


Die Mutter fchweigt, mie e3 dem Stinbe fcheint, bes 
ängftigend lange, und mit erwartungspollen, großen Augen 
drängt e8 daher noch einmal: „Mutterle, Du läßt mich doch ?* 

„Das Ihon, dag Ihon!” fagt bie Frau mit Schwerer 
Zunge; „aber die drei Grofhen — -- morgen ift Miete zu 
zahlen und die Steuer ift fällig, und — ja, Du Lieber Gott, 
wo fol’8 da eine arme Witwe zum Überflüffigen hernehmen ?* 

Sie trodnet fi mit dem Schürzenzipfel die naffen 
Augen und ftreihelt zärtli mit ber Hand über das gefenkte, 
blonde Sinderköpfchen. 


Hannchens Geſicht aber bat fich jählings verwandelt; 
alle Freude ift daraus gewicen, fie weiß nun fchon, worauf 
e8 wieder hinausgeht. Unzählige Male hat ihr ja die 
Mutter das goldene Sprücel vorgefagt: „Spare in ber 
Zeit, fo Haft Du in der Not!" Gie wird auch diesmal 
wieder jparen müffen, und das geplante Vergnügen wird, 
wie jo manches andere, zu Waller werben. 

Stumm fchleiht fie mit ihren Büchern zum Tifche, um 
zu arbeiten; aber plöglich fintt der Lleine Kopf auf bie 
magern Ärmchen und ein bitterliches Schluchzen durchzittert 
den engen Kellerraum. 


Am anderen Morgen ſteht ſie harrend oben an der 
ſchmalen Treppe. Mit luſtigen Klängen, mit flatternden Fahnen 
ziehen die Gefährtinnen vorbei. Die runden Kindergeſichter 
glänzen vor Luſt; die hellen, ſteifgeſtärkten Schürzen raſcheln 
und knattern bei jedem Schritte, und in den blank gebürſteten, 
ſtraffen Haaren liegt hier und da ein dünnes Kränzlein. 

Rote und grüne Laternen ſchaukeln über den blonden 
und braunen Köpfen im friſchen Morgenwinde hin und her, 
der ganze Zug ſieht ſo frohgemut, jo bunt und feiertags⸗ 
mäßig aus, daß Hannchens kleines Herz ſich von neuem 
vor Schmerz und Groll zuſammenkrampft. 


Bleich und finſter drückt ſie ſich an die Mauerwand 
und ſieht den Kindern nach, ſo lange ſie nur noch ein 
Zipfelchen der Fahnen und Kleidchen erſpähen kann, dann 
ſteigt ſie ſchweratmend und mit geballten Händen die Treppe 
hinab. 

Aber wie angewurzelt bleibt ſie ſtehen; denn dort am 
Ofen lehnt ja die Mutter, bis zu der das Trappeln der 
Kinderfüße in der ſtillen Straße und die luſtige Muſik auch 
herabgedrungen ſind, und die nun die Schürze vor die 
Augen hält und leiſe vor ſich hinweint. Wie der Wind iſt 
das Kind an ihrer Seite; aller Groll iſt ihm aus der 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





636 


Seele gewichen und zärtlich umſchlingt es die Kniee der 
blaſſen Frau. 

„Mußt nicht, mußt nicht, Mutterle; ich bleib ja gern 
daheim bei Dir; und gelt, wenn wir nur recht ſparen, da 
giebt's dann ein Herrgottisleben für uns beide?“ — — 

Das Herrgottsleben ſieht aber hier unten gar ſonder⸗ 
bar aus! 

Das Hannchen iſt nach und nach herangewachſen; ein 
kümmerliches, blaſſes Ding, das mit begehrlichen Blicken 
die Schinken und Wurſtwaren in den Auslagefenſtern ſtreift; 
das — wenn zur lieben Weihnachtszeit die Pfefferkuchen⸗ 
herzen und Chofoladenringel zum Staufe loden — die Augen 
mit einem Seufzer abwenbet. reilich, in ber Hand Elimpern 
verführerifih ein paar Grofchen, felbftverdientes Geld für 
Botengänge und Heine Dienftleiftungen; aber feft, ganz feft 
umklammern die dünnen Singerhen den blanfen Schag, und 
ehrlich trägt das Kind der Armut ben fchwer errungenen 
Lohn in die Sparbüdjfe, die daheim auf dem alten Schranfe 
fteht und den Notgrofchen der Witwe enthält. Das goldene 
Sprüdlein fteht warnend vor des Mädchens Seele, und 
läßt e8, heute mutig, morgen Mmirfhend vor Grimm und 
dann wieder mit auffteigenden Thränen, aber doch unent—⸗ 
wegt den harten, bornigen Pfad der Entjagung gehen. 

„Spare in der Zeit!” fagt die Mutter mahnend, wenn 
Hanndens jugendliher Sinn nad) einem bunten DBanbe, 
nad) einem neuen Kleide fteht; und da8 Band bleibt unges 
tauft, das Nödhen aber wird nocd einmal gewendet und 
ausgeflidt. 

Sa, Hannchen lernt da3 Sparen aus bem Grunde! 

Aus der Kinderlehre ift fie entlaffen; nun figt fie Tag 
für Tag in der Hinterftube Fräulein Dörings und lernt 
zufchneiden und heften, nad und nad aud) einrichten und 
anpafjen, garnieren und umändern; dabei auch ba8 bittere 
Gefühl bes Neides Tennen. 

Was haben die anderen Mädchen vor ihr voraus, daß 
fie forglos ladhend und tändelnd in den Tag hineinleben 
dürfen, obgleich fie arm find wie fie felbft? 

„Kommen Sie mit, Hanndyen; wir gehen ing Theater,“ 
fagen fie aufmımnternd zu der einen, blafjen Gefährtin. 

Die Shüttelt Ichweigend den Kopf. 

„Aber warum denn nicht?“ fragen bie jungen Stimmen 
berwundert durdeinander. 

„Sch muß fparen!* Tommt eg Leife über Hanncdhens Lippen. 

Ein vielftimmiges, übermütige& Lachen antwortet ihr. 

„Sie find nicht geicheut, Mädel,“ ruft eine aus bem 
Chor; „wozu wollen Sie denn jett Ihon fparen und alles 
auf die hohe Kante legen? Das fonımt in ein paar Jahren 
auch noch zureht; erit dag Leben genießen, wiffen, mozu 
man überhaupt auf der Erde tft — und dann ft’ meinet- 
wegen Zeit, vernünftig zu werden!“ 

„Spare in der Zeit, jo Haft Du in der Not,” fagt 
Hannden, und «3 Elingt faft feierlih; aber die anderen 
wollen nicht? davon wiffen! Sie wollen glüdlicdh fein um 
jeden Preis, und jo gehen fie allein ins Theater, allein in bie 
Tanzänzdien; ziehen bed Sonntags in fröhlicher Gefellichaft 
hinaus in den Wald, und Hannden bleibt allein, anfcheinend 
ruhig und gefaßt. Schweigend Taujcht fie den begeifterten 
Schilderungen, den harmlojen Nedereien, bem Gelicyer unb 
Wichtigthun der anderen, aber innen, da gärt'8! immer 
finfterer wird der Blid, immer herber fchlteßt fih der junge 
Mund, immer tiefer frißt fich der Neid in ihr einft jo 
reiches, mwarnıes Herz hinein. 





637 





Endlih bat fie ausgelernt. Mit Eifer und Geidhid 
beginnt fie nun felbftändig zu Schaffen; erft einen Nod für 
die Wutter, dann gar ein Kleid für die Nachbarin. Und fie 
hat Glück! Nicht Iange, To darf ihre flinke Hand einen 
bübfchen, Heinen Sunbdenfreis verforgen! Die Nadel fliegt, 
die Ihmalen Mangen vöten fih vor Eifer, und mander 
Grofhen wandert am Wochenfhluß in die thönerne Büdhie 
auf dem alten Schrantfe. 

Und je mehr fich diefelbe füllt, defto Heller blickt da® 
HSannden wieder hinaus in die Welt; denn jebt Ichafft das 
Sparen ihr feine Bitterfeit mehr, jett ift e8 ihr eine Duelle 
unendlicher Yreuden, und die Zukunft, die das Genieken 
bringen foll, hebt fich immer rofiger ab von bem einförmigen 
Grau der Gegenwart. 

Und dann fommt ein Tag, ber eine große Wandlung 
in ihrem Beben bervorbringt. Oben, vier Treppen hody, tft 
ein Stübchen und eine Küche zu vermieten geweien; Hannden 
hat beides erftanden, und an einem fchönen Sommermorgen 
ziehen fie mit dem alten Hausrat hinauf au8 dem dumpfen 
Keller in das Helle, Iuftige Neid. 

„Het, wie gut fih’8 bier arbeiten läßt, dem Himmel fo 
nahe, hinter ben grünen Baummipfeln, baß ein Spaziergang 
juft zum Überfluffe wird.“ So denkt da8 Hannden und 
ftihelt unverbrofien Tag um Tag bis in den finkenden 
Abenb hinein. 

Der Kundentreis wäcft ftetig. Statt der Büdjfe liegt 
jegt ein Sparkafjenbuch im Schranfe drüben, benn die beiden 
anipruchalofen Menfchenkinder legen jeden Grofchen, den fie 
entbehren fönnen, gemwifjenhaft beifeite. 

„Nur fo ein zehn, fünfzehn Sahrenod, gelt, Mutterle?* 
jagt Hannden tröftend zu ber alternden Frau, „dann wollen 
wir uns aber pflegen und nichts mehr abgehen Tafjen!* 

Und die Mutter nit und darbt nach wie vor mit ihrem 
Hannden der lodenden Zukunft entgegen. 

Ste mwiffen’8 beide wohl, fie hätten’3 jett nicht mehr fo 
nötig; fie könnten fi fchon das und jenes gönnen! Sa, 
wenn nur da8 goldene Sprüdjlein nicht wäre! Das Läbt 
die Hand zurüdzuden, die fchon nad) dem Kucenftüde Iangte, 
und läßt fie dag altgewohnte, liebe, fchwarze Noggenbrot 
ergreifen; das erftidt alle Begicerden im Keim und alle 
Wünfche, ehe fie noch ben Weg bis zur Lippe gefunden haben. 

„Dann haft Du In der Not!” Welche köftliche Vers 
heißung — — 

Sa, unb die Not kommt wirklich! 
nah Sahr und Tag! 

Sie läßt fih nicht abjchreden burd) die hohen, fteilen 
Treppen; fie Elimmt fie langjam, aber fiher empor und Elopft 
mit hartem Finger an die niedere Kammerthir. Nicht die 
erfhrodenen Augen bes bleihen Mädchens, nicht die angit« 
vol zitternden Hände der alten Mutter können fie aufhalten. 
Schritt vor Schritt dringt fie vor in den hellen Sonnenfcein; 
fie nimmt die Nadel aus ben fleißigen Fingern, rührt bie 
pornübergebeugte Bruft an, baß ein pfeifender, hohler Huften 
daraus herborbringt, und fauert fi dann hinter den Ofen, 
um abzuwarten, was nun fommen wird. 

Ste braudıt nicht Tange zu harren. 

Ein paar Wochen nodh, dann Tiegt in den bunt ge= 
würfelten Kiffen eine elenbe, Kleine Geftalt mit fieberhaft 
glänzenden Augen und heißen, frampfhaft ineinanderges 
Ichlungenen Händen. 

„Schlehte Ernährung feit frühefter Jugend ber und 
Überarbeitung,“ fagt der alte Arzt kopffchüttelnd. 


Nicht gleid, aber 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





638 


Die Kranfe Hat e8 oft gehört, aber fie hoffte doc; inımer 
mit ganzer Seele auf Genefung; fie muß ja nod) genießen 
und bie jüßen, fhönen Früchte ernten von einem Leben voll 
Enibehrung und Kampf. 

Seit heute aber weiß fie, daß es für fie nicht3 mehr zu 
hoffen giebt! 

Alle die ungenugten Sabre fteigen vor ihren Bliden 
auf; alle die ungenofjenen Freuden gaufeln um ihr Lager 
her, unb das bittere Gefühl fteigt in ihrer Seele auf: Du 
mußt fterben, ehe Du noch recht gelebt haft! 

Mit verzehrender Sehnfuht hängt der Blid draußen 
an dem blauen Firmament, an dem lichte, weiße Herbit: 
wölfchen bahinziehen; dann faugt er fi feit an ben grünen 
Wipfeln der alten Linde, die mit ihren Aften Ieife an die 
hellen Scheiben KElopft und gleitet weiter mit einem ver: 
fpäteten Schmetterling , der braußen im Sonnenidein bin 
und ber taumelt. 

„Leben, o Gott, leben!“ ftammelt fie; „nur ein Sahr, 
nur ein paar Monde no, damit ih nachholen fann, was 
ih verfäumte!“ 

Die Kranke richtet fi mühlam auf; eine jähe Angft 
frampft ihr das Herz zufanımen und wieder tönt es in ihrem 
Innern: | 

„Keine Hoffnung — — feine — —" 

„D, hätte ih nur gewußt,“ murmelt fie mit trodenen 
Lippen, „wie bie Verhbeißung bes golbenen Sprücdjleins aus 
ftieht, ih hätte e8 nicht fo Hoch und heilig gehalten. Ich 
hätte gelebt gleich den anderen und wenigftens manchmal 
aus ben Becher der Freude getrunken in langen, durftigen 
Zügen. Waz nügt mir’s nun, daß ich gedarbt habe, fo 
lange idy denten fann ich habe gefpart, aber für wen — — ?“ 

Wieder gräbt fih der harte Zug von früher um bie 
ichmalen Lippen, und wieder hadert das Herz, bas alt ge= 
worden ift, bevor e8 no jung war, mit jenem graufamen 
Geihik, das die einen auf fonnige Höhe führt und die 
anderen zu Not und Entjagung verdammit. 

Langſam fchweiten die Augen dabei ab von dem lichten, 
flaren Himmelsblau, über die mageren Hände hin mit den 
armen, zerftohenen Fingeripigen und haften plöglih er- 
Shrocden an der zufammengefunfenen Frauengeftalt mit dem 
weißen Haar und den gramvollen, verwachten Zügen, die 
noch immer auf dem barlen Holzituhle fchläft. 

Wie ein Schauer burchriejelt e8 bes Mädchens Glieder — — 

Die Mutter! Sie hat mit gehungert und mit entbehrt 
auch fie hat Elaglos Opfer gebradht Jahr um Jahr und 
nit gefragt: für wen? 

Und je länger der Sranfen Bli auf dem alten, runzes 
ligen Gefiht, auf ben verarbeiteten Händen ihr gegenüber 
ruht, defto heller wird e8 auf ihren Untlig, bis es ſchließlich 
iwie ein großer, Heiliger Friebe darüber hinzieht. 

Für Did, Mutter,“ flüftert der heiße Mund, „für 
Dich habe ich fparen dürfen, damit Dein Bebensabend, aud) 
wenn ih nicht mehr bei Dir bin, forgenlos bdahinfliekt. 
Was ich mit Thränen fäete, Du, Gute, follft e8 ernten — —“ 

Und leife drüdt fih der fchmale Kopf in die Kiffen 
zurüd; die Hände falten fi Imbrünftig; die großen, glänzen» 
den Mädchenaugen umfafien zärtlich die Leidenzgeftalt der 
Mutter und fchauen dann wieder mit ftillem,, reinem Aus⸗ 
drud in den lieben blauen Himmel hinein, an dem bie 
weißen Herbftwölfhen mie filberne Stähne lautlos und 
fhimmernd dahinziehen! 


Te —————————————.— — — — — — — — —— — —— — 


639 


Die Dde. 
Kennft Du die Ode? 
Die Stille nah bem großen Schmerz, 
Schwer legt fie fih auf Bruſt und Herz, 
So bleiern fchwer, die Obe . 


Und alles, was Du heiß erjehnt, 

Und was das Leben Dir verfchönt, 
Und was Du je Dein Glüd genannt, 
Da3 ift wie Zunder ausgebrannt. 

Kein Hoffen mehr, fein Wünjchen mehr, 
Tot alles, tot und falt und leer 

Und öde... 


Und fein Entrinnen ift vor ihr, 
Wohin Du gehft, jie geht mit Dir... 
Und ob Du fchwelgft in Luft und Glanz, 
Und ob Du fliehft zu Spiel und Tanz, 
Und ob Du wanderft meilenweit, 
Sie giebt Dir immer das Geleit, 
Die Ode... 
Doroihee Goebeler. 


sine Tragödie aus der Großſtadt. 
Lebens- und Stimmungsbilder von He Gebhardt. 
T. 
heimkinder. 


Inmitten des lauten Getriebes der Weltſtadt, wo der 
Strom des Verkehrs am ſtärkſten und lebendigſten dahin— 
flutet, iſt es gelegen, das „Heim für unbeſcholtene junge 
Mädchen jeden Standes“, eine der Heimſtätten, hervor⸗ 
gerufen und begründet durch edelſinnige, warmherzige 
Menſchenliebe, um der alleinſtehenden weiblichen Jugend 
auf dem ſchlüpfrigen Boden des Großſtadtlebens einen Halt, 
einen feſten Grund zu verſchaffen. Dieſe Schöpfung entſprang 
offenbar einem idealen Grundgedanken, um ſo mehr, als 
weder auf einen Unterſchied des Standes, noch auf einen 
Unterſchied der Bildung und der Religion Rückſicht ge⸗ 
nommen wurde. Aus dem Nichts war es entſtanden, er⸗ 
richtet und ausgeſtattet, einzig durch Spenden, die von allen 
Seiten zu ſammeln ſeine Begründer nicht müde wurden. 
Und ſo dürftig und zuſammengeſtückelt infolgedeſſen ſeine 
Ausſtattung auch ausfiel, ſo wenig anmutend die ehemals 
Fabrikzwecken dienenden, jetzt durch Pappwände, verſchoſſene 
Vorhänge und aneinandergeſetzte Schränke in kleine, ab⸗ 
geſchloſſene Zimmerchen geteilten Räume für den erſten 
Augenblick auch erſcheinen mochten, es gab doch Zeiten, 
während welcher man dem Leben darin nicht eine gewiſſe 
Behaglichkeit und Gemütlichkeit abſprechen konnte. Und 
dann die Stadtgegend in der es lag! Die Leipziger⸗, die 
Friedrichſtraße in nächſter Nähe, die „Linden“ und das 
„Brandenburger Thor“ nicht allzu fern — was blieb da 
noch zu wünſchen übrig! Freilich, das Gebäude ſelbſt war 
nichts weniger als vornehm; im Kellergeſchoß des Vorder⸗ 
hauſes eine Bierſtube niederen Ranges; im Parterre gar ein 
Reſtaurant mit weiblicher Bedienung — dem Anſchein nach 
keine, die Sicherheit ſchutzloſer Frauen beſonders fördernde 
Zugabe, aber in Wirklichkeit durchaus unſchädlich und un⸗ 
gefährlich dem, der nicht gefährdet ſein wollte. Dazu in 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





640 








den Hintergebäuden Yabriken aller Art, und in einem Seitens 
flügel in den Hälften dreier, üibereinanderliegenden Stod- 
werke, zu beren unterftem man fhon zwei fteile Treppen 
fteigen mußte, da8 Heim felber. Aber bag Treppenfteigen 
gehört ja mit zu ben erften Fertigkeiten, die der fih in 
Berlin anfiedelnde Fremdling erlernen und an die er fi 
gewöhnen muß. Der gute Wille dazu fehlte ja den ns 
wohnerinnen des Heims felten, denn billiger mochte ſchwer 
ein Unterfommen zu finden fein, unb bie Billigfeit war 
allen wohl die Hauptfadhe. Die fi hier zufammenfanden, 
fämpften alle mit mehr ober weniger unzulänglichen Waffen 
den Kampf ums Dafein, oft in feiner härteften Yorm. Von 
der erwerbfuchenden Lehrerin herab bi8 zur Dienftmagd und 
Wäfcherin waren alle Stände vertreten. Darin ftimmte bie 
Wirklichleit mit dem Grundgedanken überein. Weiblichen 
Geihlehts waren die Bewohner natürlid jämtlich, aber jung 
durhaus nicht alle, und mie viele darunter wirklih „uns 
beicholten“ genannt zu werben verdienten, das mußte man 
babingeftellt bleiben lafjen. Eine Helms aber bedurften 
fie alle und gar mande unter ihnen nannte fein anderes 
Sonft auf Erben ihr eigen. 

So war e3 gewöhnlich eine jeltfam gemiichte Gefellichaft, 
die den neuen Antömmling empfing. Neben der elegant ges 
Heideten Verkäuferin, der Handelsfchülerin, ber ftellenfuchen= 
den „Stüße“ und Erzieherin und dem „Sinderfräulein“ jene 
fragwürdigen Erfcheinungen in ärnlidhen, ja oft unfauberen 
und zerfegten Kleidern, mit fchledt frifiertem Saar und 
heruntergetretenen Schuhen, ben Stempel leiblihen und 
geiftigen Elends auf den Zügen; die beflagenswerten Opfer 
des Lebenskampfes, wie er fid) nirgend gewaltiger und mehr 
unbarınherzig, ald auf dem Boden der Weltftadt abipielt. 
Arme Schiffbrühige des Dafeind, die, den Untergang bor 
Augen, mit verzweifelten Anjtrengungen ihrem Geihid nod) 
zu entrinnen ftreben! Wahrlih, wer noch daran zweifeln 
möchte, daß fidy unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens 
mehr der Tragit und Romantik verbirgt, als die glühendfte 
Dichterphantajie zu erfinnen vermag, bem hätte e3 hier nidjt 
an Gelegenheit gefehlt, einen Blid in jo manden Bebends 
roman zu thun. Schade freilih, daß die meiften davon nur 
Bruchjftüde geblieben wären und bleiben, daß meift der We= 
ginn bes Nomans und mehr noch fein Ende in Dunkel jich 
hüllt! — 

Arme Thereſe! Viel Teilnahme genoß ſie ſelbſt unter 
den Mitbewohnerinnen des Heims nicht. Freilich, ſie war 
nichts weniger als hübſch zu nennen, beſonders wenn ſie 
in ihrer Lieblingsſtellung, die Ellenbogen auf den Tiſch 
oder die Kniee geſtemmt und mit beiden Händen krampfhaft 
jedes Geräuſch der Außenwelt von ihrem Ohre abſperrend, 
über irgend etwas Lesbares gebeugt, daſaß, nur bei gar zu 
arg werdenden Neckereien der Heimgenoſſinnen emporfahrend 
und mit ihren großen, ſchwarzen Augen, die durch das 
gänzlich nach innen gerichtete Leben ihres Gemüts ſtets einen 
völlig verträumten Ausdruck zeigten, vorwurfsvoll nach den 
Störenden blickend, um dann mit einem mürriſchen, kurzen: 
„Ach, laßt mich doch in Ruhe!“ wieder in ihre Abgeſtorben⸗ 
heit gegen das Draußen zu verſinken. Ihr ſchwarzes Haar 
hing ihr dann gewöhnlich unordentlich um das gelblich-blaſſe 
Geſicht und verſtärkte noch den ſemitiſchen Charakter des⸗ 
ſelben. Denn ſie war die Tochter eines jüdiſchen Mannes, 
und das iſt, ſeltſam genug, ſozuſagen der Fluch ihres Daſeins 
geworden. 

Ihre Mutter, von Geburt Chriſtin, hatte in zweiter 





641 


Ehe einem ebenfall3 chriftlihen Arzt, ber in der Hauptitadt 
eine ziemlid) außgebreitete Proris fein eigen nannte, bie 
Hand gereiht. Ob fie fi nun der Tochter des Guden 
ihämte? Zum Unglüd Hatte diefe Tochter äußerlich nichts 
bon ihrer Shönen Mutter, defto mehr aber vom DBater ges 
erbt. Mutterliebe hatte Therefe jedenfalls nicht allzupviel 
genofjen, im Gegenſatz zu ihren jüngeren Stiefgeihwiltern. 
Die Thür des mütterlichen Helms war ihr früh verfchloffen 
worden. Die eriten Sinbheitsjahre abgeredynet, hatte fie 
ihr Leben meift in Penftonaten bed Auslands zugebradit, 
in Brüffel, in Baris — ja, noch nicht 16 Jahre alt, war 
fie nad) Nem York geihidt worden. Jahrelang hatte fie 
Berlin und da8 Elternhaus nicht wiebergefehen. Als es 
dann nicht gut mehr anders ging, mußte man fie heimfehren 
lafjer. Aber die unbrqueme ltefle, deren angeborener Hang 
zur Schwärmerei durd all die Verfehrtheiten der Penftonats- 
erziehung nur noch mehr genäht worden, und bie daher 
vielleicht zumeilen wirklich durd) ihr etwas eraltiertes Wefen 
und durd die ihr feit eingemwurzelten Badfiichgrillen pie 
Kritik einzelner hervorrufen mochte, war der Mutter fichtlich 
im Wege. Ind dody wäre es ein fo Leichtes geweien, das 
noch weiche und bei aller Graltation Eindliche Gemüt zu 
Ienten und an fi zu feileln. Wozu aber? 8 war ja jo 
biel einfacher, da Amt de3 Erzichens Fremden zu über: 
Iaffen! Und aud nah der angeblidhen Vollendung biefer 
Erziehung fand fid) bald der geiucdhte Ausweg, fi ber Ber: 
antwortung über die Handlungen ber mißliebigen Tochter 
zu entledigen. Man jorgte für einen Beruf, und Therefenz 
Leidenfhaft für da8 Nomanelefen gab den willfommenen 
Grund, fie in eine Druderet zu jchiden. Zugleich verfagte 
man e8 ihr — angeblib um fie an Ordnung und Selb- 
ftändigfeit zu gewöhnen und ihren Sinn mehr auf dag 
Praktiiche zu lenken — ferner im Ellernhaufe zu wohnen. 
Sie bezog einen Pla im „Heim“ und nur auf Stunden 
ward e8 ihr geftattet, die Shrigen zu beiuchen. Ob e8 ein 
Ergen für fie war, daß fie fidh gerade einem Berufe wibmen 
mußte, der ihre Leidenfchaft nur zu fehr unterftügte? Ihren 
Unterhalt erwarb fie fid) ja nun zum Teil allein, aber ihr 
Hang zur Romantik verftärkte fih, dank der günftigen Ges 
legenheiten, alle8 Gedrudte, Romane oder nicht, mit Gier 
und ebenjo mwahllos al& oft auch verftändnislos zu bers 
ihlingen, dab fie zulegt nur noch in Romanen Iebte, in al 
ihren Lebensauffaffungen und Anfchauungen auf foldhen 
fußend; eine verhängnispolle Mitgift für ein Mädchen, bag 
ih allein durdh8 Leben fchlagen fol. E83 hatte ja nie 
jemand neben thr geftanden, der ihren Wifjfensdrang, ihren 
leidenfchaftlihden Trieb nad) geiftiger Nahrung in vernünftige 
Bahnen leitete, e8 hatte ihr die mütterliche Hand gefehlt, die 
allein bie recht vermag. Und e3 war noch nienand da, 
der mit fefter Hand dies unfelbftändige Mädchen in feiner 
unbeihügten Lage auf der rechten Bahn zu erhalten ver- 
mochte. Wohl lag die elterlihe Wohnung nicht weit ent: 
fernt vom Heim, aber nur Sonntags Nachmittag, felten 
einmal abends in ber Woche betrat fie diefelbe. Sie fam 
iedesmal beglüdt und fhwärmend zurüd, denn fie hing mit 
einer leidenfchaftlihen Zärtlichkeit an ihren Gefchwiftern und 
der abgöttiih als der „Ihönften Fran Berlins“ verehrten 
Mutter — derjelben jo wenig gewifjenhaften Frau, die ihr 
Kind lieber allen Gefahren de8 Großftabtlebens und be3 
Verlehrs mit einer oft jehr gemifchten Gefelichaft preisgeben 
mochte, als fi ein wenig zu mühen, und fei’3 mit Strenge, 
die Fehler feines Charakters zu befiern. — So geidhah «8, 


Romansfeltung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


642 


daß Therefe, dank ihren Nomanideen, bald nahe baran 
war, auf Abivege zu geraten. — Eines Abends war Therefe 
früh aus der Druderei gelommen und blieb nad) längerer 
Paufe wieder einmal daheim. Sie hatte mehrere Male mit 
irgend einer Sreunbin, wer weiß welcher Art — denn um 
den Umgangsfreis der Heimgenoffinnen fih zu Lümmern, 
hatte die Hausmmuiter bei ihren überreichlicden Pflichten nid;t 
die Zeit und die Snwohnerinnen genofjen volle Sreiheit des 
Au2- und Eingehen? — den Abend auswärts verlebt. Die 
„Heimkinder* jaßen beim gemeinfamen Abenbefifen — da3 
fih ein jedes je nah Geihmad und augenblidlihem 2er: 
mögen aus fünf- oder gehn: Pfennig: Butterfchnitten und einer 
TZaffe Thee oder Kakao zufammenftellen konnte — im fo: 
genannten Konverſationszimmer. Diefen ftolzen Namen 
trug ein fehr mäßig großer Raum, möbliert außer mit den 
Scränten, bie eine feiner Wände barftellten, mit zwei an 
ben Wänden hinlaufenden Bänfen, den dazu gehörigen 
Tiihen und einigen Stühlen. Die den Hintergrund bildende 
Wand erfreute fi jogar bes großen Vorzugs, daß ein 
wirkliches, nur etwas verfchoffenes Sofa an ihr ftand. Die 
Wände bedecdten — benn von Shmüden konnte man wahrlid) 
nicht reden — große PBappicilder mit darauf gefchriebenen 
Sinnfprühen und einige Olfkizzen ohne Nahmen. Son 
berfiert ward genug. Nur Therefe Tag ihrer gewohnten 
Thätigfeit ob, fie lad. Der Sammielteller, der die Scherflein 
für den Abendimbik in Empfang zu nehmen hatte, machte 


eben die Runde, und melandoliid) Elapperndb fielen die Gelb: 


flüde aus ben Händen der bisherigen Beligerinnen auf ihn 
nieder. Da — borh — e8 Elingelte. Die Nadridt: „Der 
Briefträger!“ durhtönte den Raum und die ganze Gejells 
fchaft Iprang gleihfam elektrifiert in die Höhe. Denn der 
Briefbote, ber ja überall zu ben wenigen Slüdlihen unter 
den GSterblicdden zählt, die faft allzeit mit Jubel oder dod 
mit Spannung begrüßt werden, ward bier in Wahrheit oft 
zum Scidjalsboten für dieſe Stieffinder bes Glüds, bie 
aus feiner Hand Leben und Hoffnung oder Verzweiflung 
empfangen folten. Der mwadere Beamte war an ftürmilche 
Begrüßungsfcenen längft gewöhnt und verlad faltblütig 
die Namen der glüdlihden Empfängerinnen. 

Auch Thereje gehörte Heute zu diefen — da3 war etwas 
Wunderbare, denn um Stellen hatte fie fjich nicht zu be> 
mühen und ihre auswärtigen Korrefpondenzen gelangten, 
un den Ecein zu wahren, fonft immer direkt in die elter: 
liche Wohnung. Baher war’3 fehr natürli, wenn fich eine 
gemiffe Neugierde mandjer unter jenen teilnehmenden Seelen 
im Heim bemächtigte, die mit großer Vorliebe fih in bie 
Angelegenheiten der Genojfinnen zu miichen pflegten. Die 
unartifulierten, jeltfam Elingenden Laute, die Therefe beim 
Durdlefen de8 mit jeltener Lebendigleit ergriftenen An: 
tömmlings hören ließ — unverfennbar Ausdrüde lebhaften 
Behagend — da heimliche Kichern und die Nöte eines 
fihtlichen Vergnügen, die während des Lefenz mehr und 
mehr ihr Geliht überflammte, waren auch nicht geeignet, 
bie einmal erwadte Neugier der andern zu dämpfen. Und 
als Thereje zuletzt fih nit mehr Halten konnte, ſondern 
laut ladyend von ihrem Site aufiprang, war fie im Nu 
bon nedenden Fragerinnen umringt. Wergeblich hielt fie 
ihren Brief zerfnittert in der geballten Hand in die Höhe, 
ichrie und wehrte fih — die zu Boden gefallene Briefdede, 
die den Boftftempel Berlin und eine männlide Handfchrift 
zeigte, hatte bereitö zu viel verraten. Schließlich machte ein 
Wort der anweienden Hausmutter dem Tumult, aber aud) 


IV. 45 





643 


dem heftigen Sträuben Therefens ein Ende. Noch halb 
ihmollend, dody aud nicht ohne gefchmeichelte Eitelkeit, übers 
ließ fie ihren Schag ber Herricherin des Heims. Aber die 
erft gefünftelte Strenge derfelben verwandelte fi bald in 
ernftlihen Unwillen, denn nun zeigte e8 fi), daß der Brief 
tbatfächlih von der Hand eines fremden Mannes ftanımte 
und nur die Antwort auf einen aus Therejens Tseder war. 
Therefe geitand denn auch alles bereitwilligft zu, ohne ſich 
des Ernftes der mit ihr angeftellten Prüfung ganz bemußt 
zu werben, und erzählte vergnügt ben Eleinen Roman, ber 
fi) anipinnen wollte. Ein Heiratsgefuh in der „Boffiichen 
Zeitung“ hatte den Anftoß gegeben. MWULS Adreffe hatte 
darunter der Name eines Steuermanns bon jenen Dampfer, 
auf dem fie vormalg ihre Amerikafahrt zurücgelegt, geitanden. 
Und fofort war in ihr der Wunfh erwacht, bon einen da= 
maligen Maate desfelben Schiffes, den fie mit ganzer eriter 
Badfifchglut heimlich angebetet Hatte, burch feinen Berufs 
genofien etwas zu erfahren. Da der Wunid und dad Darım 
und Daran, das mit dem VBerfudh zur Erfüllung desjelben 
zujammenbhing, viel Nomantifches an fih Hatte, fand fie’3 
natürlih, an den fremden Menfchen über ihr heimliches 
Sinterefle für den Entfhmwundenen zu fchreiben und ihn zu 
fragen, ob er jenen fenne und von ihm mifje. Craltiert 
genug mochte ihr Brief geweien fein, darauf ließ die heutige 
Antwort Schließen. Aber ihre Erwartungen waren vollftändig 
erfülit, wie fie meinte. Da, ber Schreiber kannte Herrn M. 
fogar perfönlich und verfprad Therefen, die er mit „Mein 
liebes Fräulein!“ anrebete, al Ihre Fragen zu beantworten, 
wenn fie ihm eine Begegnung am britten Orte geitatten 
wollte; er freue fi befonberß baranf, jemandes Belannt« 
haft zu machen, der fi) für feinen „Lieben Freund M.“ jo 
lebhaft interefltere. 

„Ob fie die Abfiht bege, diefem Vorfhlag Folge zu 
leiften?* fragte die Hausmutter Thereien, und ganz naiv 
antmortete diefe mit einem: „Warum nit?" Sie dadte e8 
fih reizend und hielt das Geztfhel und Geliher um fie 
her für puren Neid, unbewußt des Unfhidlichen, ja Gefahr: 
bringenden ihrer Handlungswelfe. Und empört und tief ge- 
fränft verriegelte fie fih in ihrer Sabine, als ihr die 
Hausmutter eine fchriftlihe Antwort verbot, ja fogar den 
„himmlischen“ Brief vor ihren Augen verbrannt. — Ob 
Therefe nicht dennoch ihre SEorreipondenz fortiegte, nur jeßt 
heimlicher; ob fie fih in nähere Belanntichaft mit dem See- 
mann eingelaffen — wer weiß e8? Wenige Wochen darauf 
ward dag Heim nad einer weit entfernten Stabtgegend ver⸗ 
legt. Da Thereiens Druderei von diejer zu abgelegen war, 
309g fie einfah aus und mietete — mit Zuftimmung der 
Mutter! — ein Kleines, möbliertes Zimmer, wo fie von nun 


an ganz allein und völlig unbeichügt leben wollte. 


Nur no einmal, kurz nad dem Umzuge, traf eine 
frühere Heimgenoffin fie in Begleitung ihrer Kleinen Schweiter, 
und ftrahlend erjtattete Therefe Bericht, daß fie ganz ungeltört 
wohne und daß ihrer Wirtin e8 ganz gleich jei, waß fie treibe. 
Auf die ernfte Mahnung der andern, dody ihre Mutter fo 
lange zu bilten, bis ihr wieder die Wohnftatt unter ihrem 
Dad) vergönnt werde, hatte fie nur ein: „Ach, fie thut'3 ja 
dod) niht!* — Ob Therefe — dank dem Grundfag, dem ihr 
gegenüber alle folgten: „Wozu dem Schlummernden die 
MWetterwolfe zeigen?“ — ihrem Geihide jchon verfallen, 
davon hat nie wieder eine ihrer ehemaligen „Heimichweitern“ 
etwa3 erfahren. — (Schluß folgt.) 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


644 


Beethovens G-moll-Konzert. 


Tönet fort, ihr Himmelsklänge, 
Tragt wie heil’ger Eagelchor 

Aus dem wirren Weltgebränge 
Meinen Geift mit euch empor! 


Wie in allgewalt’gen Weifen 
Sich erfchließt die Zaubermelt, 
Die in ihren Märchenkretien 
Staunend mid gefangen hält! 


Sind’ de Waldes füße Düfte 
Glanzdurchwebt vom Sternenihein, 
Oder des Olympos Lüfte, 

Grüße aus Apollos Hain? 


Wie au8 taufend Quellen flutet 
Nun der Töne mädt’ger Schwall, 
Neißt mich fort, und unvermutet 
Donnert nah der Widerhall 


Mir im Herzen; aber baloe 
Stirbt er hin wie Abenbdftrahl, 
Der von Öder Bergeöhalde 
Rautlos fintt ins ftile Thal. 


Ach, Gefühle und Gedanten 
Treiben, mädtig aufgeregt, 
Auf der Töne Meer, dem Ichwanten, 
Wie magnetifch fortbemegt. 


Wie e8 perlt und mwogt ımb fchänmet, 
Sich melodifd jenft und hebt, 

Bis des Hörer Seele träumet, 

Tab die Flut ihn ganz begräbt. 


Nun verfinkt darin der Sorgen 
Und der Leidenjchaften Streit, 
Mie in Gotte® Schoß geborgen, 
Fühl' ich nichts als — Seligkeit. 
AM. Haußer 


Aus dem Feben für das Leben. 
Von O. v. LS. 


Was an der deutſchen Frauenbewegung am meiſten ab⸗ 
ſtößt, iſt die Lüge und Heuchelei, die bei den Führerinnen der 
„wilden Weiber“ herrſcht. Sie ſind atheiſtiſch und materia— 
liſtiſch, und ſprechen von Religion; ſie machen ſich unterein⸗ 
ander über Ehe und Mutterſchaft luſtig, und beginnen jetzt auf 
einmal die Mütterlichkeit zu betonen; manche bekennen ſich 
zum Grundſatz der „freien Liebe“ und behaupten, die Würde 
der Ehe zu ſchützen, wenn ſie die volle Gleichheit der Ge— 
ſchlechter verlangen; ſie ſprechen von Vaterland und deutſchem 
Volk — und ſind innerlich von beiden losgelöſt, Schleppen— 
trägerinnen der Socialdemokratie, oder Anarchiſtinnen. Mit 
teufliſchem Vergnügen reiben ſich die Bebeliſten, Singerianer 
und die Liebknechtſeligen die Hände, mit um ſo mehr Freude, 
je toller die Weiber werden. Jedes einzelne „wilde Weib“ 
gilt ihnen ja als ein Fuchs mit brennendem Schwanz, der 
die Schober der Bourgeoſie in Flammen ſetzen ſoll. Jenes 
Doppelſpiel aber ſoll die übrigen harmloſen Frauen, die es 
nicht durchſchauen, in das Lager des „modernen Gedankens“ 





645 


herüberloden. Wa8 ich vor Jahren vorausfah, entwicdelt 
fih: bie meilten Führerinnen werden leibenfhaftlicher, rabie 
faler von Tag zu Tag und fchädigen fo das Gute und 
Berechtigte, das in einzelnen Forderungen liegt, für lange. 
Und fie haben jchon heute in da3 Gemüt von Hunderten 
junger Mädchen giftigen Samen geftreut, der aud nur 
aiftige Früchte tragen kann, und, wie ih auß eigener Er- 
fahrung weiß, jchon getragen hat. Der Teufel läßt ge: 
Ichnittenes Korn nicht gern lange liegen. 
* 

Wo die Ichellenlaute Thorheit fpricht, dort rennt die 
Menge hin. Sehe id; heute irgendwo Maffen, dann fchließe 
ih auf die Rednerin. 


Den größten Lärm madyen foldhe Halbgedanfen, um 
die fi) Die überwältigende Mehrheit des Volkes, in dem 
do nod ein gejunder Kern ftedt, gar nicht befümmert. 

s 

Marche Überzeugung gleicht einer Blüte, die fich weigert 

Frucht zu werben, weil fie fich treu bleiben will. 


* 


Die Menihen glauben das Schiff der Gedichte zu 
Ienfen, aber fie rudern nur. Am Steuer fitt ein Höbherer, 
und er allein fennt das Ziel. 

Der jelbftgewiffe Thor wird nur von feinesgleihen 
übertrumpft; für Einwürfe eines Wetien hat er ftetß das 
hodymütige Lächeln bereit, das ihm meiften? die Zuftimmung 
aller Dummköpfe fihert. Wer fich über diefe Thatlache 


ärgert, ift auch einer. 
* 


Mit guten Vorſätzen ſoll der Weg zur Hölle gepflaſtert 
ſein. Das bezweifle ich; denn ſie ſind eine Liebhaberei 
ſolcher, die zu bequem ſind zum Gehen — und ſtehen bleiben, 
wo ſie ſind. 

Die Satire iſt ein ſcharfes Schwert ſowohl in der Hand 
des Edlen, wie des Gemeinen — es gehorcht beiden. Der 
echte Humor dient nur reinen Kämpfern als Waffe; die un⸗ 
reinen verſuchen umſonſt ſie zu erfaſſen. 

* 

Wenn fi) ein Geizhals über die Million freut, die er 
nit benüßgt und die darum eingebildeter Reichtum ift, To 
fann id mir einbilden, ein Geizhals zu fein, der eine Million 
befigt. Das Ergebnis ift das gleihe: wir haben beide nichts 
davon und freuen uns über eine Vorftellung. 

* 

Sn jeder Kunft giebt e8 Übergangözeiten, wo man ber 
alten Mittel müde tft und fi an ihren Wirkungen fatt ge- 
jehen hat. Dann beginnt man, meiften® aus dem Verlangen 
nad) Gegenfägen, neue Mittel zu fuhen und anzumenben. 
Da entjteht nun der Irrtum, dab diefe neue Mittel fchon 
die neue Kunft jeien. Die Heinen Talente fchließen fid) den 
Pfadfuhern an, um bemerkt zu werben und übertreiben. Das 
führt allmählich zur Erkenntnis, daß auch da Neue nur 
ein Mittel tft, wie e8 die alte Art auch war, beide in einem 
beftimmten Seretfe verwendbar und beredtigt. Die Kunft 
der legten Sahrzehnte, beionders die Malerei, zeigt bieje 
Entwidelung fo Har, wie e8 noch nie der Fall gemeien ift. 
E3 wird jet Zeit, daß man die Errungenfchaften für bie 
echte Kunft an richtiger Stelle verwenden lerne. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung. 


646 





Vermiſchtes. 


Soeben hat der allgemeine dentſche Sprachverein nach 
langen Vorarbeiten das Verdeutſchungsheft der Schul— 
ſprache erſcheinen laſſen. Der erſte Entwurf iſt ſchon im 
Jahre 1889 den ſämtlichen Zweigvereinen zur Begutachtung 
vorgelegt, und darauf hat der Geſamtvorſtand dem Ober⸗ 
lehrer Dr. Karl Scheffler in Braunſchweig die weitere 
Bearbeitung übertragen. Dieſer hat unter Berückſichtigung 
aller gemachten Vorſchläge, zugleich unter Heranziehung aller 
ihm zugänglichen Schriften und Aufſätze zunächſt einen zweiten 
Entwurf hergeſtellt, der einer Anzahl von Fachmännern, meiſt 
Mitgliedern des Geſamtvorſtandes, zur nochmaligen Begut— 
achtung vorgelegt iſt. Unter Verwertung auch dieſer Gut⸗ 
achten iſt dann von dem Bearbeiter die endgültige, jetzt vor⸗ 
liegende Faſſung hergeſtellt. So iſt dies Heft, wie die bisher 
erſchienenen Verdeutſchungshefte des Sprachvereins, als eine 
Arbeit anzuſehen, an der der ganze Verein mitgewirkt hat, 
die mithin eine gewiſſe Gewähr bietet, daß die naheliegende 
Gefahr perfönlichen Beliebens ferngehalten ilt. 

Berüdjichtigt find in dem Hefte in erfter Linie die Eın- 
rihtungen der Schule, bie Gebiete bes Unterricht? und der 
Schulzudt, alles, was die Thätigfeit ber Lehrer und der 
Schüler betrifft. Dabei find aus naheliegenden Gründen 
die Hodhjchulen ausgefchlofien. Sodann find aber aud) die 
Kunftausdrüde der Schulwifienihaften berüdfichtigt, alfo 
insbefondere die Yadhwörter der Spracdlehre, fowie die ber 
Mathematif, der Naturmwiffenihaften und ber Erdkunde. 
Dagegen fonnte das weite Gebiet des gefchichtlichen Unter: 
riht3 nicht in feinem ganzen Umfange herangezogen werden, 
zumal da ein großer Teil der Bezeihnungen geichichtlicher 
Vorgänge nahezu die Geltung unüberfegbarer Eigennamen 
erlangt bat: ähnliches gilt aud) von ber Religionslehre. 
Anderjetts ift einigen allgemeineren Ausdrüden, wie illu- 
strieren, interessant, speciell u. . w., die Aufnahme nicht 
berfagt, weil fie im Unterrichte eine große Nolle fpielen und 
ihre Erleßung bejonder® wünfchenswert und ausfichtsvoll 
ericheint. 

Für die Verdeutichungen jelber mußte der Grundjak 
des Spracdpvereins: fein Fremdwort für das, wa 
denutih gut außdgedbrüdt werden fann, maßgebend 
fein. Demgemäß fpricht der Herausgeber in ber Vorrede 
die Hoffnung aus, „im ganzen einen Weg eingefchlagen zu 
haben, der fih von fremdwortfreundlider Rüdfiht und von 
blinder Neinigungsmwut gleidy fernhält.” Titel oder titel- 
artige Bezeichnungen, wie Direktor, Gymnasium, find felbft» 
verftändlich nicht angetaftet. Auch viele andere völlig ein 
gebürgerte Ausdrüde, für die es ein brauchbares Erfagwort 
nicht oder noch nicht giebt, wie Elegie, Idylle, Krystall und 
Mineral, Figur und Natur, insbejondere die ganz beutich 
gewordenen Lehnmwörter find außgelchlofien. So ift kein 
Berfuh gemacht, die Wörter Ferien, Stil, Zone zu vers 
drängen; aber Ferialtag, Stilistik und stilistisch mit threr 
ganz undentihen Endung und Betonung find verbeutidt. 
Kap wird vielleiht mandyer für ein Qehnwort halten wollen; 
neben dem gut deutichen „Vorgebirge“ ift e8 troß feiner 
größeren Kürze als überflüffig erfchienen. 

Sogenannte „internationale* oder „Weltaußs 
drüde* find von dem Herausgeber nicht anerfannt. Wie 
der Deutiche „Breiten= und Längengrad, Wenbefreife* u. |. m. 
deutsch benennt, fo fann er auch Äquator bırd) „(Erd-)Gleicher“ 
und „Linie“ erfegen. 


647 


Snöbejondere find aud) die FZahmwörter ber Sprad: 
lehre, der Mathematik und Phyfif, fomweit e8 möglich 
war, verdeuticht; fo 3. 3. Casus —= (Biegung3-)Yall, Nomi- 
nativ — erfter Fall, Werfall u. |. w., Tempus -= Zeit(form), 
Präsens — Gegenwart u. j. w.; addieren -= zu(lammen)- 
zählen u. |. w., konvex —= erhaben, gewölbt, außgebogen; 
erhaben, ausfpringend, überftumpf (Winfel), Kohäsion -— 
Zufammenhang u. |. w. u. f. w. Bei ben beutfchen grantmatis 
Ihen Ausdrüden ift zur bedenken, daß fie vor allem für den 
deutichen Unterricht an den lateinlofen Schulen gelten follen. 
Der Lehrer der alten Spraden wird die lateinifchen Be— 
zeihnungen vieleiht zum Zeil noch nicht entbehren fönnen. 
So find aud) Augsdrüde, die nur für Latein oder Griedifch 
gelten, wie Ablativ und Aorist, nidjt angetaſtet. Ähnlich 
iit e8 bei den mathematischen Bezeichnungen; die Fremdwörter 
find für dag Nedinen der Volks: und Bürgerichule ein wert- 
loſer Ballaſt. Trogdem ift nidyt mit Gewalt alles verbeuticht; 
fo find für Tenuis, Media und Aspirata, für Quotient, für 
Abscisse und Ordinate troß vielfaher Vorſchläge feine 
brauchbaren Erjagwörter gefunden. 

Überall ift nad Möglichkeit das bereits Übliche be— 
vorzugt, wenn e8 auch vielleicht nicht einwandfrei tft, wie 
„Beichlehtsmwort“ für Artikel, „Zeitwort” für Verbum. Aud) 
ift faft durchweg für Die eigentlichen Stunftausdrüde nur eine 
deutſche Bezeichnung gewählt, weil bier eine allgemeine ilber- 
einftimmung durdaus wünidhenswert ericheint. Wo die Wahl 
zwilchen mehreren Ausdrüden war, ift der beutlidhere und 
bezeichnendere vorgezogen, auch wo etwa der andere fürzer 
fein follte. So ift Präposition mit „Verhältniswort*, nicht 
nit „Vorwort“, Adjektiv mit „Eigenihaftswort“, nicht init 
„Bei mort* wiedergegeben. 

Zum Scluffe feien einige Proben auß dem Hefte hervor: 
gehoben, die zugleich zeigen jollen, wie die verichtedenen Be- 
deutungen oder Anwendungen eines Wortes zu ihrem Rechte 
fommen. absolvieren — (eine Arbeit) vollenden, be= 
endigen, abfichließen; (einen Stoff) erledigen’ purcdhnehmen; 
(eine Prüfung) ablegen, beitehen; (dad Brobejahr) ablegen, 
(ab:)Jleijten, madyen; (eine Schule V) durdhmaden. Apparat 
-- Borridtung, Werkzeug (3. B. Sinnes-); Hilfe-, Lehr: 
mittel (3. B. für die Erdfunde); Gerät(jchaften) (3.8. Turn>). 
Basis — Grund(lage); (Säulen-, Pfeiler) Fuß; Grund» 
linte, =jeite, fläche, =ebene (Raumlage); Grundzahl (bei 
Botenzen); Bafe (Chem.) 

Das neuefte Verdeutichungöheft des allgemeinen beutfchen 
Epradpvereins Ichließt fih in würdiger Weile den früheren 
Arbeiten an, weldye die Fremdwörter der Kochkunft, bes 
Handels, des häuslichen und gejellichaftlichen Lebens, der 
Amtsjprache und des Berg: und Hüttenwejens verdeutichen. 
(53 wird in den Streifen der Schulmänner, die durd) Ver: 
ordnung ihrer Behörden auf die Vermeidung entbehrlicher 
Fremdwörter ausdrüdlid, hingemwielen find, mit Freuden be= 
grüßt merden. 


— 


Beiblatt der Deutihen Roman-Beitung. 





648 








DBriefkaflen, 


Der Leiter der R.-Ztg. ift wieder zu feinem Papierkorbe 
zurüdgefehrt. Die Erledigung der zahllofen Briefe, mit 
und ohne Lyrik, wird nah und nad erfolgen. Nicht ers 
wähnte Sendungen find ala abgelehnt zu betrachten. 


‚ SR M. in ®. Alles nod unreif. — Harn WM. 
in Sp. Gut, aber body nidyt fo eigenartig wie das von 
uns gebradte Gediht. — Herrn 2. E. in A. Soll gelegentlich 
fommen. — Herrn Furt ®. in 2. Sie find jedenfall nod 
fehr jung. Aber in „Natur“ ftedt ein Stern von echtem Gefühl. 
Thun Sie getreu Shre Pflicht, bilden Sie jih, indem Sie 
um fih und in fi jchauen. Sn freien Stunden mögen Sie 
auch dichten, aber lafien Sie fid) nicht zu früh in die Offent- 
lichkeit locken. — Herrn ©. 9. In Form und Ausdrud uns 
zureihend. — Frau Th. v. R. in M. Das Buch foll ges 
lefen und angezeigt werden. — 33. Herrn E.2. Sc). Leider 
nur Runftipielerei. Tiefes Eigenleben mangelt. — Erna. 
Seltjame Stage! Sie beweijt mir, daß Ihr Herz fih nicht 
entfchieden hat, fonjt wäre eö Ihnen gleidy), ob der Werber 
jähzornig if. Im allgemeinen find foldye Männer leichter 
zu lenfen, al& viele anders geartete. Lin Iiebevolles und 
Huges Mädden fchredt vor der Aufgabe, einen folchen 
Mann zu erziehen, nicht zurüd. Ich zweifle aber an Shrer 
Liebe. Dder find Sie au ein Braufefopf? Dann wäre 
ein Bund allerdings faum anzuraten. — Herm &. I. 
„geierabend“ enthält zu viel Iyriiche „liches“; „Mit Gold 
malen”, „Gütiger Engel, der fid) niederihwingt“ u. |. w., 
das ift alles zu fjehr abgebraudt. Beiten Gruß. — Fri. 
Hedwig NR. Sehr gute Gefinnung, aber tiefere Begabung 
fehlt. — Herrn Lehrer W. in Br. Das Verzeihniß der 
wegen Tierquälerei beftraften Snaben und Mädchen bietet 
ein trübes Bild; daß auch Iettere gerade bei den größten 
Graufamteiten fo ftarf vertreten waren, ift in ihm ba3 
Traurigfte. Wenn durd Nutenftreiche der Unfug allmählich 
ganz bejeitigt worden ift, will ich gegen fie weiter nicht viel 
einwenden; aber bet Mäddyen Halte idy dieje Züchtigung 
für verwerflid), weil fie das Schamgefügl für immer töten 
und zumeilen noch andere libel erzeugen fann. — Herrn 
G. FI. in 3. Prüfen Eie dag „Späte Lied“ recht ftreng 
und Sie werden jehen, daß die einzelnen Züge fehr ab- 
gebraucht find. DBeiten Gruß. — Herrn Verl. GI. in Dr. 
Aud ich beflage mit Shnen den frühen Tod von Aug. 
Ludorff, deflen edle Dichtung „der Meſſias“ unſeren Leſern 
bor einiger Zeit jo warm empfohlen worden ift. Der 2er: 
ftorbene war reich beanlagt und hätte fidher nocd ſchöne 
Werke geſchaffen. Aber Nacdjrufe bringen wir nit. — Herm 
9.©S. Sowohl „Hermanns Tod“ wie „Frühling im Herzen“ 
fprehen für reine, edle Denkweife und für warmes Fühlen, 
aber Sie fönnen den dichteriihen Gedanken noch nicht zu— 
fammenfaflen. Alles ergießt fi Ins Weite und Breite. 


Dnhalt der No. 48. 


Art zu Art. Roman von 9. Scobert. For. — 
Schwertklingen. PBaterländiidier Noman von Hans 
Werder Fortf. — Beiblatt: Krank. Bon W. Sommer: 
feld. — Das goldene Sprüdlein. Von Gertrud Triepel. 
— Die Ode. Bon Dorothee Goebeler. — Eine Tragödie 
and der Großftadt. Lebeng- und Stinmungsbilder von $. 
Gebhardt. I. -- Beethovens G-moll:flonzert. Von M. 
Haußer. — Aus dem Leben für da3 Leben. Bon ©. 
v. L — Vermiſchtes. — Briefkaſten 





Alle unverlangt an die Leitung oder den Verlag des Blattes eingeſendeten Manuſkripte — größere 
Romane ausſsgenommen — werden nur zurückgeſendet, wenn ein mit der Adreſſe verſehener, freigemachter 
Umſchlag einliegt. Irgendwelche Bürgſchaft für Zurückſendung wird nicht geleiſtet, Gedichte werden überhaupt 


nicht zurückgeſendet. 


Seitung und Berlag der Roman Zeitung. 


Berantworilicher Leiter: Otto von Leirner in Berlin. — Betlag von Otto Janke in Berlin — Drud der Berliner Buchdruckerei⸗VAktien⸗Geſellſchaft 
(Geperiunenfänle deB Leite» Bereinß). 








Deutſche 


Roman-Zeikung. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 


—1896. 


Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 A vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 49, 


Art zu Art. 


Roman 


bon 


3. Scyobert. 
(Fortfeg ung.) 


Die relative NRube, deren er fih nun erfreute, 
Ihat ihm wohl, und do war auch fie nicht frei von 
bem geheimen, nagenden Ärger, daß Maud ihn fo 
taltblütig entfernt hatte, nachdem er ihr läflig ge: 
worden war. So immer ftumm dabei ftehen hatte 
allerdings feinen Zwed, aber fonnte fie nicht mit 
einem Geihmad zufrieden fein? — Nein! Smmer 
nur Fortunat und Fortunat, während er doch ein 
viel größerer Künftler war als jener. Sie hatte 
freilih das Geld ... . aber er war fchon jekt feft 
entihloffen, nihts von al den Dingen hübjch zu 
finden, die fie auswählen würben. 

Wenn er dann allein im Hotelzimmer jaß und 
auf die beiden wartete, bis fie lachend, erhitt, voll 
Teuereifer von ihren Bejorgungen zurüdfamen, 
frampfte fi ihm das Herz zufammen. Nidht aus 
Eiferfucht, denn er war auf Maud nicht eiferjüchtig, 
aber aus einem Gefühl des Zurüdgefettfeins, des 
Nichtmitlönnens, das ihn verbitterte. 

Er wurde noch jchmweigfamer als bisher, aber 
feiner beachtete es. 

Wenn Fortunat aus ehrlihem Herzen gejagt, 
daß er nie eine nettere Zeit verlebt haite wie bie 
jetige, batte er jo vollauf die. Wahrheit geiprochen, 
daß er es faum merkte, wie jehr dadurch alle feine 
anderen Beziehungen erfalteten. Nelly war fchon 
längft beijeite gehoben; er fühlte eine moralijche 
Unmöglichkeit in fih, Maud unter die Maren Augen 
zu treten, wenn er fidd eben erit von jener getrennt, 


er fhämte fih dann vor fich felber, und gerabe | 


diefe halb unbewußte Reinheit feines jungen Herzens 
neben der jonnigen Fröhlichleit und Gutherzigteit 
feines Charakters machten ihn jo liebensmwürbig. 
„Wir müßten doch einmal zu Quenjels hinaus,” 
fagte der eine oder der andere faft jeden Abend, 
und dann jahen fie fih an, lacdhten, beruhigten fich 
aber dabei, die Thatjache konftatiert zu haben, und 


Romanseltung 1896. Lief. 49. 


Ihoben diefen Bejuh von einem Tage zum andern 
wieder auf. 

Auh Maud hatte fih jehr verwandelt. Die 
tägliche Thätigkeit, die all ihr Sinnen in Anſpruch 
nahm, das ungebundene Zufammenjein mit den jungen 
Leuten wirkten vorzüglid auf fie ein. Sie war 
jehr beiter, rofiger und frifcher geworden. 

„Schade, daß es ein Ende nimmt,” Tagte fie 
einmal mit leifem Seufzer zu Fortunat, als fie 
mitten unter Tapezierern und Delorateuren in ber 
neuen Wohnung fanden. „Dieje Zeit war wirklich 
vergnüglich.” 

„Sa, aber es kommt eine jchönere.” 

„Wer weiß! Sebenfalls eine ernftere. Glauben 
Sie ja nit, daß ich in bie Ehe gehe ohne den ge: 
nügenden fittlihen Ernft, ohne die beiten Vorjäße 
und das volltommenfte Bewußtlein meiner Pflichten.” 

Er jah fie enthufiaftiich an. 

„Daß ich nicht auch foldhe Frau gefunden habe!” 
dachte er feufzend. „Eine zweite wird wohl faum 
eriftieren.” 

An demjelben Abend berief ihn eine Depejche 
eines älteren Kollegen und Freundes auf zwei Tage 
in das Gebirge. Er konnte nit abjagen, mußte hin. 

„Mein Gott, was werde ich ohne Sie machen?” 
fragte Maud erichroden. „Bleiben Sie nur nicht 
zu lange fort.“ — 

Wirklich fühlte fih Maud unbehaglih und ver: 
einjamt, feit Fortunat weg war, fie hatte die Luft 
am Einkaufen verloren. 

„Es ift viel amüfanter zu zweien,” fagte fie 
auf eine Frage zu ihrem Bräutigam, „und wenn id 
Did auch mitnehmen wollte, Du veritehft das ja Doch 
nicht. Zaß uns lieber die Zeit anders einteilen.“ 

Nein, natürlich, er verftand nichts davon, aber 
er bemerkte do, dab Maub der Tag lang wurde, 
und ihm ging es nicht befier. 


IV. 46 


651 


nn 


Dazu waren ein paar Tage mit ganz unerträg: 
liher Hige gelommen. Feuchte fchwüle Luft bei be- 
bedtem Himmel und beißen, ermattenden Winden. 
Maud hatte Kopfichmerzgen und jchlug eine weite 
Spazierfahrt vor, die den ganzen Nachniiltag ein: 
nehmen jollte. Ä 

Heelen war es zufrieden, obgleich ihn die Tem: 
peratur nicht im geringften angriff, aber jein mo: 
mentanes Arbeiten befriedigte ihn auch nicht, das 
war nichts Halbes und nichts Ganzes. Er wunderte 
fih darüber, daß er nicht mehr fo ganz in Jeiner 
Kunft aufging, daß er überhaupt noch einen andern 
Gedanken daneben auflommen ließ, aber es war doch 
jo. Bor einem Jahr noch hätte er zu feinem Schaffen 
nichts anderes gebraucht, als einen Haufen Thon und 
Gottes freien Himmel; wenn es nicht anders fein 
fonnte, das hätte ihn nicht geitört. 

Aber das Gebundenjein an die Verabredungen, 
die er mit Maud getroffen, das Bewußtfein, in feiner 
jegigen Behaufung nur noch vorübergehend zu fein, 
fih nicht jeßhaft machen zu können, quälte ihn. 

Als fie dur die veritaubten langen Alleen 
fuhren, die von der Stadt aus ins Freie führten, 
bing er diefen Betrachtungen mit einem gewiflen be: 
bagliden Erftaunen nah, während er ab und zu 
einen Blid auf feine Begleiterin warf, bie mit ge: 
Ihlofjenen Augen jchweigend in ihrer Ede lag. Er 
wußte, daß fie fih nicht wohl befand, und dachte 
deshalb nicht daran, fie anzureben; was follte er ihr 
auch jagen? Nur fich jelbft fragte er, ob fie nicht 
daran jchuld jei, daß er fich jo verändert habe. 

Sie fuhren dur ein Dorf mit Fleinen, grünen 
Gärtchen vor einzelnen Häufern und einem Wafler: 
tümpel inmitten, auf dem Gänfe und Enten fhwammen. 

Dicht vor ihnen flürzten aus ein paar Gehöften 
zwei mächtige Hunde mit wütendem Bellen aufein- 
ander los, jprangen fich an, verbiflen fich ineinander, 
hoben fich auf die Hinterpfoten body) und kämpften 
erbittert, wie e8 Ichien auf Tod und Leben, eine alte 
Fehde austragend. Das Blut troff ihnen von ben 
Lefzen, aber fie gaben nidht nad; fi windend, 
behnend, aufipringend, verbiflen fie fi nur fefter 
ineinander. 

„ort, Kuticher!” rief Maud, die nervös zitternd 
auf die wütenden Beitien im Staube fah, und: 

„Halt! Halt!“ fchrie Heefen emporjchnellend, ben 
Hut auf den Rüdfig werfend, fein Skizzenbuch her: 
vorreißend, und nun, halb Inieend, halb ftehend, um 
die ganze Situation zu überjehen, zeichnete er mit 
fliegender Hand den Kampf, der fi vor feinen 
Augen abipielte. 

Ganz verwandelt war fein Gefiht, die Augen 
glühend, die Nafenflügel gejpreizt, dide Tropfen auf 
ber Stirn, nichts anderes jehend, hörend, fühlend als 
das, was ihn gerade intereffierte. 

„Spanne den Sonnenjdirm zu,” fagte er nur 
in fajt befehlendem Ton zu Maud, und dann ver: 
lanf alles um ihn. Fieberhaft glitt fein Stift über 
das Papier, eine Aufnahme, zwei, drei, er fonnte 
gar nicht genug davon befommen. Es war als ob 
etwas von der Wildheit der beiden Beitien auch in 
jeinen Adern lebte und zu Tage trat, 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


652 





Maud hatte den Schirm geichloflen und ihn aus 
umflorten Augen angejehen. Sie fühlte fi jehr 
elend, und bier mitten im Staub, in der Hiße, den 
häßlichen Gerücdhen ber Dorfftraße, verftärkte fich das 
big faft zur Unerträglichkeit. 

Dennod fagte fie fein Wort. Sie hatte nad 
dem Genie verlangt, bier bot fih ihr ein aufbligender 
Funke. Nur kam er anders zu Tage, als fie fih ge- 
dat. Nicht im ftillen, Fühlen, hübſch dekorierten 
Atelier, fondern auf offener Zandftraße, unter Un: 
bequemlichkeiten, die ihr zuviel waren. 

Leute aus dem Dorf famen binzu, e8 gab ein 
Sohlen, Pfeifen und Schreien; mit Knütteln und 
Dreichflegeln jchlugen fie auf die beiden Hunde ein, 
bis diefe endlih blutend, mit hängendem Schweif 
und UObren abzogen. Aber au da Hatte Heelen 
noch nit genug; die beiden lahmgelegten Feinde 
mußte er auch no mit nad Haufe nehmen, und 
Maudb hörte das Umblättern jeines Skizzenbuches, 
und obgleih fih allmählih alles verlaufen hatte, 
Kämpfer, Räder und Publiftum, zeichnete er Doc 
immer noch weiter, um alles bas feftzuhalten, was 
er gejeben. 

Ein tiefer Seufzer Mauds ließ ihn endlich 
auffehen. Wie eine halbe Leiche lehnte fie im Fond, 
mit zudenden Lippen und gejchloflenen Augen. Er 
erichrat heftig. 

„Was ift Dir?” fragte er ganz verichüchtert, 
„Sol ih Dir etwas holen?” 

„Rah Haufe!” ftöhnte fie, unfähig mehr zu 
agen. 

Sie fuhren zurüd. Er wie ein armer Sünder, 
mit den Händen auf den Sinieen, etwas gebüdt, als 
drüde ihn eine Laft, fie zwilchen ben gejchlofjenen 
Kidern mit Mühe die Tropfen zurüdhaltend, die fich 
vordrängen wollten und deren fie fih doch Ichänte. 

Was halte ihr denn Martin zuleide gethan? 
Daß er ihr Übelbefinden vergeffen im Dienfte ber 
Kunft, mußte fie ihm doch zuerft verzeihen, fie, die 
feiner Runft immer die erfte Stelle eingeräunit hatte 
in ihren Gedanken. Freuen hätte fie fich jollen über 
die Stärle und Ipontane Kraft feines Talents, das 
auch das Geringfte mil Künfileraugen anfieht und 
jeglihe Nüdficht auf feine Nebenmenfchen vergißt. 

Fortunat würde zweifellos zuerft nach ihr ge- 
fragt haben, fämpfende Hunde giebt es ja fchlieklich 
öfter, aber Fortunat war auch fein Heelen. 

Und je mehr fie fich das alles mit dem Berftand 
lagte, je zorniger fie auf fih wurbe, je höher jtiegen 
ihr die Thränen in den Hals, bis bie Lippen frampf- 
haft zitterten und fie heftig jchluden mußte. 

„Bir Du böje auf mich?” fragte Martin endlich 
ſtockend. 

Sie ſchüttelte heftig den Kopf. 

„Die Luft — die Hitze — der Staub,“ murmelte 
ſie, „ich muß mich niederlegen.“ 

Bor dem Hotel trennten fie fich mit einem flüch- 
tigen, faum merkbaren Abidied. Maud flieg in ihr 
Zimmer binauf, und Heelen ging in fein Xtelier. 
Arbeitsluft pridelte ihm in den Händen. Die mäd): 
tigen Tiere hatten zu prächtig ausgejehen; gab er 
das in Thon wieder, es könnte fich lohnen. 


653 


Und je weiter er fih von dem Hotel entfernte, 
defto mehr verlor fich der Alp, der ihn bebrüdi Hatte, 
er atmete freier, Lebensluft durchdrang ihn wieder, 
die ihn einjchnürende Unbehaglichkeit, die er meilt 
Maud gegenüber empfand, war verfhmwunden, er 
fühlte fih wieder der alte, — 

Und oben lag Maud in ihrem Zimmer und 
Ihluchzte faflungslos. Warum eigentlid, wußte fie 
jelbft nicht. 

„Ih bin krank,” wiederholte fie fich ganz laut 
und ftrih über die fieberhbeiße Stirn. „Wirklich 
frank. Freuen follte ih mich), und dabei liege ich 
bier und weine — weil ich Trank bin.“ 

Am nähften Tag war die Luft fühl und er: 
friidend; gejund und fröhlich wachte Maud auf. Sie 
Ichrieb ein paar herzliche Zeilen an Heelen, denn fie 
Ihämte fich des geflrigen Tages, fügte ein paar tau— 
friihde Rojen Hinzu und jchidte es ihm durch einen 
Dienitimann. Die Stunde des Rendezvous war von 
ihr etwas fpäter angelegt als fonft, fie wollte vorher 
in ihre Wohnung gehen und Schränfe und Käften 
einräumen, denn bie Lieferanten hatten geitern große 
Sendungen geihidt, die fie aber ihrer Kopfichmerzen 
wegen nicht geöffnet hatte. 

hr war jo recht heiter und lebensluftig zu Mut, 
wie jonft oft, wenn fie mit Fortunat ihre Einkäufe 
gemadt. Daß fie heute allein war, ftörte fie auch 
nicht, im Gegenteil, fie freute fih auf ihre Arbeit. 

Als fie die breite teppichbelegte Treppe hinauf: 
ging, gefiel ihr alles, und während fie durch die 
bereits eingerichteten Zimmer fehritt, empfand fie Die 
ganze Slüdjeligfeit eines feiten Beliges, eines Heims. 

Auch an Heelen dachte fie, und was ihr geitern 
Thränen erpreßt, heute erfüllte es fie mit einem ge: 
willen Stolz. 

Der Portier brachte die großen Kilten, Körbe 
und Ballen hinauf, und fie begann auszupaden. 
Das zierliche Totlettenzimmer war bald ganz debedt 
mit Leinenzeug, Spitzenwäſche, Matinees, Zurz all 
den taujenderlei Dingen, die eine elegante Frau für 
fih notwendig findet. Und Maud hatte an nichts 
geipart. Seidene Röde baufchten fich fofett neben 
folden, die wie aus Spinnengewebe jhhienen, deren 
reicher Spißenbeja wie ein Hauch berabbing, bereit, 
in jedem Luftzug zu zittern. 

Einen Augenblid lehnte fih Maud mit dem 
Rüden an den Schrank und jah in das licht: und 
farbenvolle Chaos vor fih. Sie date an die Zu: 
funft, die ihr diefe Berge bier repräfentierten, und 
ein Ausprud träumeriihen Nachdentens trat in ihr 
Geſicht. 

Würde fie alles das finden, was ſie erwartete? 
MWitrden Stunden ber Enttäufhung, ja, der Neue 
tommen? 3 fchauerte fie ein wenig, wenn fie daran 
dachte, daß niemand imftande fei, diejen verborgenen 
Vorhang zu lüften, der unmeigerlich jeden Tag vom 
andern jchied, und fie machte fich eilig an die Arbeit. 

Sn dem entfernteren Teil der Wohnung kamen 
und gingen die Handwerfer, die Portiersleute, Maud 
ah fih nicht einmal um, als Hinter ihr die Thür 
geöffnet wurde. Sie lag auf den Knieen vor dem 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


654 


unterſten Schubfach und wandte erſt den Kopf, als 
es hinter ihr ſo ſtill blieb. 

„Fortunat!“ rief ſie aufſpringend und ihm beide 
Hände entgegenſtreckend. „Wie gut, daß Sie wieder 
da ſind!“ 

„Ja, darf ich denn näherkommen?“ fragte er, 
etwas verſchüchtert um ſich ſehend. 

„Weshalb denn nicht? Ich freue mich fo ſehr, 
Sie wiederzuſehen.“ 

Ganz unbefangen war ſie, das machte auch ihn 
ſofort von jedem anderen Gefühl frei, eiligſt trat er 
auf ſie zu. 

„Ich dachte es mir doch, daß Sie hier wären, 
deshalb kam ich auf gut Glück her, ehe ich noch ins 
Hotel oder zu Martin ging. Wie reizend es hier 
ausſieht, Miß Winter.“ 

„Reizend? das können Sie wohl nicht behaupten. 
Wie in einem Trödlerladen! Aber ich bin ſchon ſehr 
fleißig geweſen. Warten Sie einen Augenblick. Ich 
zeige Ihnen dann, was in Ihrer Abweſenheit fertig 
geworden iſt. Setzen Sie ſich inzwiſchen, wo und 
wie Sie können.“ 

Sie fuhr fort die Wäſche wegzulegen und plau— 
derte von den Tagen ſeiner Abweſenheit. 

„Wie lange Sie übrigens geblieben ſind,“ fagte 
ſie innehaltend und ſich umſehend. 

Er hatte ſich zwiſchen die ſeidenen und Spitzen— 
röcke geſetzt, gerade als ſie ſich umdrehte ſein Geſicht 
tief in das duftige Gekräuſel des einen gedrückt, als 
wäre ihm die Berührung des feinen Stoffes ange: 
nehm, nur jein lodiges Haar war ihr nod fichtbar. 
Halb erihhroden, halb ärgerlich jah fie darauf hin. 
Da hob er den Kopf, fah ihre erflaunten Augen, 
late und errötete ein wenig. 

„Sie dürfen mich nicht auszanten, Miß Winter, 
id babe nun einmal eine Schwäche für derartige 
Dinge. Schon als Snabe madıte mich nichts glüd: 
liher, al über Sammet und Seide ftreihen zu 
fönnen und Spiten flattern zu jehben. Und jebt 
als Mann entzüdt mich nichts mehr als ähnlicher 
Lurus an einer Frau. Wie duftig und zart das 
bier alles if. Welde wundervollen Farben! Viel: 
leicht ift mein Künftlerauge jchuld an diefem Nerven: 
reiz. jedenfalls ift es nichts Böjes und darf Sie 
nicht beleidigen.” 

„Deleidigen? Natürlich nicht!” jagte fie Ichnell 
und nahm ein blau umbundenes Wäfchepafet zur 
Hand, büdte fih aber nicht wieder. „Ob Tino 
eine Ahnung hätte von dem, was er bier fähe?” 
fragte fie nachdenklich. „Ich glaube nicht, darin find 
ih die Künftler nicht gleih. Mir aber geht es wie 
Shnen, ich liebe den Luxus des Lebens und möchte 
mich nicht von ihm trennen. ch finde, er hat etwas 
Beredelndes an fich.” 

„Tino,“ entgegnete Fortunat baftig, „it ein 
größerer Künftler, aber die Feinfinnigfeit, die er als 
Menich entbehrt, die jollten Sie ihm anerzieben, Mip 
Winter. Wenn er au) anfangs nichts beachtet, die 
Zeit wird das bringen. Er Tann do nicht immer 
neben hnen binleben mit gefchlofenen Augen, er muß 
doch einmal jehen lernen.” 

„D, ex fieht, er flieht, wenn es fih um Dinge 





655 Art zu Art. 
handelt, die ihn interejfieren,” geftand fie ihm eifrig. 
„Bielleiht aber interejfiere ich ihn nicht.” 

Er lachte beluftigt. 

„Welche dee, MiE Winter! Wirklih, Sie thun 
ihm unredt. Bei ihm fitt es nur tiefer, innerlicher, 
als bei uns anderen. Unjere Sprade ift ihm no 
fremd, darum verftummt er jo oft. Das wird fi) 
ändern . . .” 

Sie hatte dazu genidt. Wie ernft es ihr mit 
ihrer Ehe war, das mußte ja Fortunat genügend, 
auch ohne, daß fie es noch einmal verficherte. Heftig 
erihroden aber fuhren beide herum, als jegt plöglich 
die Thür aufflog. Luzie ftand auf der Schwelle. 

„Wie reizend! — Sie beide hier zu finden, das 
hätten mir meine fühnften Träume nicht vorgefpiegelt,“ 
jagte fie mit Hohn, während das rebelliihe Blut 
ihr in bas Geficht ftieg. „Sie helfen wohl tüdhtig, 
Fortunat? Dann begreife ih, daß Sie den Weg zu 
uns heraus nicht mehr gefunden haben.” 

Die Feindfeligfeit in Blid und Ton war jo 
unverkennbar, daß bie beiden einander betroffen an- 
fahen, aber rein wie ihre Gedanken und Beziehungen 
ftets gewejen, glaubten fie auch an nichts anderes, 
als an eine momentane Verfiimmung Luziens. 

„Wollen Sie fi nicht ſetzen,“ ſagte Maud, 
mit vornehmer Großmut den Eindrud übergehend, 
den Luzies Benehmen auf fie gemadt. „Fortunat 
muß jeben, daß er Plab Ichafft.” 

Mit Ipigen Fingern legte der junge Mann alles 
beijeite, was auf der rofafeidenen Gaufeuje noch lag, 
aber die Freude an al den hübfchen Dingen, die er 
zuerft jo bewundert, war ihm vergangen. 

Zuzie blidte von einem zum andern. Sie fahen 
jo ruhig aus, aber das beruhigte ihr empörtes 
Blut nidt. 

„Sollte ih ftören,” fagte fie fpig, „jo bitte ich 
bie Herrfhaften nur um ein Wort, ich bin dann 
glei wieder draußen.” 

Maud jah fie an, ohne zu antworten. Gie er: 
riet die Eiferfuht und nahm fi vor, zu jchweigen, 
Fortunat aber jagte in grenzenlofem Erftaunen: 

„Stören? Weshalb denn? Miß Winter wird 
ruhig weiterpaden.” 

Luzie warf ihm einen zornigen, zugleich prüfenden 
Blid zu, aber feine ehrlide Harmlofigleit entwaffnete 
fie do. Etwas freundlicher begann fie fich über ihre 
Einſamkeit zu beklagen, zu fragen, umberzuichauen, 
furz, ihre liebenswürdigere Seite hberauszufehren. 
Sie fand alles entzüdend, war begeiflert, aber bei 
jedem neuen Stüd, das fie anjah, hieß es immer 
mit einem Seufjer: „Maud, Sie Glüdlihe! — Wer 
das doch auch haben könnte! — Wie glauben Sie, 
würde mir das ftehen!” — 

Zum Schluß ding fie fih an Fortunat. 

„zerchen, Sie müflen mich nach Haufe begleiten, 
das wenigiteng können Sie für eine alte Freundin 
tun. Nachher gebe ich Sie auch frei, Tobald ich 
apa babe.” 

Er jah erftaunt von einer zur andern. 

„Sa, bleiben denn die Damen nicht zufammen?” 

„Nachher, nachher! Erft muß ich Papa Ipredhen. 
Maud hat ja einftweilen ihren Bräutigam. — Sie 


Roman von H. Schobert. 





696 





abfcheulicher Ler, daß Sie feine Minute mehr für 
mich übrig haben wollen.” 

„Fahren wir zuerft Miß Winter ins Hotel, 
dann Sie nad) Haufe,“ jchlug er vor, denn e8 wider: 
ftrebte ihm, fi) plöglich jo ohne weiteres in Luziens 
Dienfte zu ftellen. 

„Ab, die jelbftändige Maub fürchtet fi Doch 
gewiß nicht,“ meinte Quzie mit einem Schmollmund. 

Diefe wehrte auch jehr energifh ab, und furze 
Zeit darauf verließen beide die Wohnung, in ber 
Maud allein zurüdblieb, recht verfiimmt über Luziens 
Benehmen. 

„So!“ fagte Zuzie jchon auf der Treppe, „nun 
habe ih Sie endlih da, wo ih wollte, nämlich zu 
einem XTete:a:tete mit mir. Sie haben es gejcheut, 
ih weiß es wohl, aber länger ging es nicht mehr, 
ih muß Sie jpreden.” 

„Warum fo feierlih?” fragte er ahmungslos. 

Sie blieb fiehen und ftampfte zornig mit dem Fuß. 

„Mein Gott, Zer, in welch einem Lande leben 
Sie denn, daß Sie mid au noch mit fo unfchuldigen 
Augen dabei anjehen! Ach babe ernit, ganz ernfi 
mit S$hnen zu reden.” 

Er ſchwieg und drehte fein Stödchen in der Luft 
berum, Luzies Ankündigung fand ihn ehr jleptiich. 

„Es it doch eigentlih unerhört,” fuhr fie in 
regem Eifer fort, daß ich Ihnen bas erit jagen muß, 
fo viel Verftand müßten Sie jelbit haben. Sie bringen 
ja dies ohnehin jeltiame Brautpaar in den Mund 
aller Leute.” 

„Ich?“ ſragte er vor Erftaunen ftille ftehend. 

„NRatürlih. Diefe Brautichaft zu dreien ift ja 
einfach unerhört! Alle Welt lacht, zerbricht fich die 
Köpfe und zudt die Achfeln. Wenn es fchon zu 
mir gedrungen ift, ba draußen, dann muß e8 dod 
toll fein. Danfen Sie Gott, daß die meiften jet 
in der Sommerfrifche find, Maub fünnte bas nachher 
ale Frau fehr zu entgelten haben.” 

„Aber mein Gott,” fragte er ganz perplexr, „was 
thun wir denn? An einer jo aufrichtigen Freundfchaft, 
wie fie uns drei verbindet, fan doch niemand etwas 
finden.” 

„Meinen Sie! — ch jage Ahnen das Gegen: 
teil. Freundihaft! Was heipt da Freundichaft! Sie 
fahren mit ihr herum, als gälte es Ahre eigene 
Häuslichkeit zu gründen, Sie holen fie des Morgens 
aus dem Hotel ab, Sie find in Cafes und Reftaurants 
mit ihr zu feben. Sa, glauben Sie denn, daß alle 
Welt blind ift, oder daß die traurige Rolle, die der 
Bräutigam dabei fpielt, niemand auffällt? Ich fage 
Shnen, Ler, Ihre Freundichaftsdienite haben ein ganz 
eigentümliches Ausjehen in den Augen der Welt!” 

„Und weil es der Welt beliebt, etwas in den 
Staub zu ziehen, was an fih harmlos, ja, mehr als 
das, Klug und gut ift, deshalb joll ich nun meiner 
FSteundichaft den Laufpaß geben und mid rüdmwärts 
fonzentrieren, nit wahr?” fragte er voll tiefiter 
Empörung. 

„3a, — wenn Sie Maud einen Dienit leiften 
wollen. Wir leben bier nicht in dem freien Amerila, 
wo die Mädchen, wie mir jcheint, thun und laffen 
fönnen, was fie wollen. Man muß fih bei uns nad) 





657 Art zu Art. 
dem richten, was jich Ichidt, oder vielmehr für fchiclich 
gilt. Man wird Frau Heelen fonft entgelten lafien, 
was Mif Winter gefündigt, und fagen Sie einmal 
jelbft, war e8 denn paflend, daß fie gleich nach ihrer 
Verlobung von uns fort in ein Hotel z0g, mit $hnen 
beiden fo ungeniert verkehrt, als wäre fie eine Frau 
von jechzig und nicht eine Braut von vierundzmanzig 
Sahren? Möchten Sie, daß fih Shre Schwelter jo 
emanzipieren würde, wenn Gie eine hätten?“ 

Er jeufzte beflommen auf. Unter Luziens Worten 
hatte er das Gefühl, als wäre er wirklich jchulbig. 

„Dem Neinen ift alles rein! Keiner von uns 
dreien bat ja auch nur einen zweifelnden Gedanken 
gehabt, das Ihwöre ich SXhnen!” 

Sie jah ihn Ipöttilh an. 

„Stehen Sie für fich jelbft ein, guter Xer, 
aber nicht für die anderen. Was mwiflen Sie von 
Heelen? Was jelbt von Maud? Und dieje rege 
Freundichaft glaubt Shnen doch niemand, jeder zieht 
den Schluß: Sie find in Maud verliebt.“ 

Er ladte auf, nahm den Hut ab und firih fi 
durh das lodige Haar, dann atmete er tief. 

„Daran ift gar kein Gedanke,” fagte er im Tone 
vollfter Überzeugung. „Dem Freunde Braut ober 
Frau nehmen, ift noch taufendmal gemeiner als 
filberne Löffel ftehlen. —- Daß man fo etwas von 
mir benten Tann!” 

Sie hatte ihn beobachtet, und in ihre geipannten 
Züge fam ein freudiges Aufleucdhten. Nein, wirklich, 
er war bejlen nicht fähig! 

„Lerchen,” Sagte fie zärtlih und legte ihm die 
Hand auf den Arm. „Ih weiß e8 ja, Sie find 
ein guter Junge und ein anftändiger Men dazu. 
Meiden Sie den Schein. — € ilt fo leicht, den 
Leuten die Mäuler aufzureißen. — Kommen Sie 
wieder öfter zu ung.” 

Er jah fie naddentlih an. 

„3a, aber Fräulein Luzie, mit SZhnen Tann 
mir dann doch dasjelbe pajlieren.” 

Sie Irhültelte heftig den Kopf. 

„3% babe einen Bater,” jagte fie. „Ein Vater 
oder eine Mutter jhügt in jolhen Fällen immer. 
Gott fei Tank, wird Maud ja au in drei Wochen 
verheiratet jein, dann hat fie wenigftens einen Mann, 
obgleih der — na, ich weiß noch nicht, ob fie der 
gerade fonderlich Ichügen wird.” 

hatte offenbar nicht recht zugehört, ganz in 
Gedanken drebte er fein Stödchen immerzu hin und 
ber zwilchen den Fingern. Es that ihm jo leid, daß 
er Maud vielleiht Schaden zugefügt, er war aud) 
immer jo unbejonnen und unbedadht; und noch mehr 
that es ihm leid, daß er fein tägliches Zufammen- 
leben mit dem Brautpaar nun am Ende aufgeben 
jollte. Heiße Erbitterung ftieg in feinem Herzen auf. 

„Ih wünfchte, ich hätte alle die einmal zwilchen 
den Fingern, die fih damit amüfieren, anderen 
Leuten die Ehre abzufchneiden,” jagte er FEnirichend. 
„3 dächte, es genügte, fi) als anftändiger Menjch 
zu fühlen.” 

Zuzie lachte. 

„Ein ſo ſanftes Ruhekiſſen das gute Gewillen 
auch ſein mag, der Schein iſt doch in allen Dingen 


Roman von H. Schobert. 


658 


die Hauptſache. Und nun, Lexchen, machen Sie 
kein ſo wütendes Geſicht,“ ſie beugte ſich vor und 
ſah ihm lächelnd in die Augen. „Ich habe es doch 
nur gut gemeint mit Ihnen und Maud. Kommen 
Sie jetzt dafür mit mir zu Papa und Emil.“ 

Er nahm den Hut ab und ſtrich über ſeine 
feuchte Stirn. 

„Ich bitte Sie, entſchuldigen Sie mich für 
diesmal. Was Sie mir ſagten, hat mich zu tief ge 
troffen, und vor allen Dingen, ich bin Martin eine 
Ausſprache ſchuldig.“ 

Luzie blieb ſtehen und fah ihn ganz entſetzt an. 

„Sie werden ſo dumm ſein! Was geht das 
Heeken an?“ 

„Ich denke, ihn am allermeiſten.“ 

„Aber der Mann verſteht doch nichts davon! 
Keine Ahnung hat er von den Geſetzen unſerer Ge—⸗ 
ſellſchaft! Ihre Sache allein iſt es, Ihre Handlungs— 
weiſe danach einzurichten, denn Sie ſind einer der 
Unſeren. — Und nun ſeien Sie vernünftig und 
kommen Sie mit hinauf.“ 

„Ich kann nicht,“ ſagte er verſtimmt. — Kurz 
— faſt unhöflich verabſchiedete er ſich. — 

Sie hatte ja ſo unrecht nicht mit dem, was ſie 
ſagte, und gerade, daß er das ſich ſelbſt zugeben 
mußte, das ärgerte ihn am meiſten. Mit geſenktem 
Kopf und langſamen Schritten ging er trotzdem ben 
Weg zu Heekens Atelier. 

Wie häßlich eingerichtet in dieſer Welt, daß 
jeder das Recht hatte, über den anderen zu Gericht 
zu ſitzen, ihn nach ſeinem eigenen, vielleicht ſehr 
minderwertigen Maßſtab zu meſſen, und dann ſein 
Urteil in die Welt hinauszuſchleudern, ohne für 
das verantwortlich zu ſein, was daraus entſtand. 

Sie waren ſo glücklich geweſen, harmlos wie 
die Kinder, wenigſtens er — Fortunat — nun kam 
auf einmal der häßliche Klatſch und warf ſeinen 
Rauhreif darauf. Natürlich hatte es nun ein Ende 
mit der Harmloſigkeit und der Fröhlichkeit, denn 
ſchaden durfte er Maud nicht. 

Wie kam es doch, daß er nur an ſie dachte, 
nicht an ſeinen Freund? 

Er blieb ſtehen und ſtarrte tiefſinnig in ein 
Schaufenſter. 

Waren ſeine Gefühle für ſie vielleicht doch 
nicht ganz ſo, wie er ſie ſich ſelber vorſpiegelte? 
Lief da noch etwas anderes mit unter, vor dem er 
abſichtlich die Augen ſchloß? 

Heftig ſchüttelte er den Kopf. Nein! Sie war 
die Braut ſeines Freundes, ihm alſo ein doppeltes 
Heiligtum. Aber das ſchloß nicht aus, daß er ſie 
lieb hatte wie eine Schweſter, daß er die Krone 
aller Frauen in ihr ſah, und Heeken glücklich pries. 
Würde ſie ein Opfer von ihm verlangen, ohne zu 
fragen oder ſich zu beſinnen, brächte er es; aber 
konnten die Menſchen denn wirklich an keine Freund— 
ſchaft ohne Nebengedanken glauben? War die Welt 
ſo ſchlecht? Traurig dann für ſie! Er — er wollte 
es ihr beweiſen, daß auch ehrliche Freundſchaft 
zwiſchen Mann und Weib möglich ſei! Dann mußte 
fie verftummen. 

Sn ziemlich Ichnelem Tempo legte er den Weg 


659 Art zu Art. 


—— 


zu Heeken zurück und ſtürmte in ſein Atelier, wie 
früher oft. 

Martin fand in feiner gewohnten Arbeilstracht, 
jeinem MWollhemd, und arbeitete eifrig. Schon in 
voller Plaftit boben fich die Fämpfenden Hunde faft 
in Lebensgröße aus dem Thon heraus. Es war 
der alte Heelen wieder, mit dem konzentrierten Blid, 
dem vor Arbeitsluft ftrahlenden Geficht, der abjolut 
armfeligen, ihm behagenden Umgebung. Der alte 
Seelen, der vor dem neuen, unbeholfenen, gebrüdten 
Menihen ihm falt ganz entihwunden war. Mit 
dem alten Reiz wirkte in diefem Augenblid bie 
PVerjönlichkeit des anderen auf Fortunat, und mit 
dem alten Entzüden jahb er auf die entjtehenbe 
Gruppe, während er den HZwed jeines Kommens 
vergaß. 

„Du bift ein großer Künftler, Martin,” jagte 
er ganz wie früher und blidte ihn mit leuchtenden 
Augen an. 

„Nicht wahr, es ift gelungen.” Ruhig wilchte 
er fih mit dem Arm ben Schweiß von der Stirn. 
„Ddber eigentlih — es wirb gelingen.” 

Sie ftanden ein Weilden zufammen und ftu: 
dierten das Kunftwerl, alles andere war vergefien, 
beide nur Künftler; dann plöglich jeßte fih Yortunat 
mit tiefem Auffeufzen auf den alten Schemel, den er 
noch genau von früher ber Fannte. 

Seelen fah ihn an. 

„Was haft Du?” fragte er, fich wieder feiner 
Arbeit zumendend. „Ich bin jehr froh, daß Du 
zurüd bift, jeher froh! Nun laßt Zhr mich wohl 
arbeiten und beforgt wieder alles zujanımen. 
Maud bat mehr Spaß an Deiner Begleitung als 
an meiner.” 

Sortunat hob den Kopf und fah feinen Freund 
prüfend an. 

„XTino!” Tagte er dann vorwurfsvoll. 

„Sei do jo gut und nenne mih Martin, 
wenn wir allein find. Gelt, ja! Ich kann den 
Namen nit ausftehen.” 

Er erhob ih langlam und trat dicht vor 
ihn bin. 

„Martin, fieh mir ins Gefiht — fag’ mir die 
Wahrheit. War es Dir auch zu viel, daß ich mich 
als ben Freund Deiner Braut fühlte und zeigte? 
Warft Du eiferfühtig! Ja, warum haft Du mir 
das nie gejagt?” 

Heelen warf jein Mobellierholz fort und ftedte 
die Hände in die Hojentajchen. 

„Bil Du verrüdt? Eiferfühtig?! Was ift denn 
das für ein Unfinn?” 

Fortunat atmete heftig. 

„Nun, Du folft alles willen. Dich gebt es ja 
am Ende auch etwas an. Auzie traf Deine Braut 
und mid in Eurer Wohnung; auf dem Heimmeg 
bat fie mir dann etwas die Leviten gelejen, uns» 
oefähr fo . ..” Und er erzählte ihm alles — 
„worauf ih nun beichloffen habe, mich genügend 
von Euch zurüdzuziehen, um den Leuten feinen 
Grund mehr zum Reden zu geben.” 

Mit einem Sab fait war SHeelen an feiner 
Seite und umfaßte feine Schulter. 


Roman von H. Schobert. 


660 





„Das wirft Du nicht thun, Lex, das kannft Du 
nicht,” ftieß er ganz atemlos heraus und Jah ihm 
flehend in das Geliht. „Was jol ih denn allein 
mit ihr? Ich bin ja jo glüdlih, daß Du wieder ba 
bift und die Laft der Unterhaltung haft. Nun willt 
Du mih im Stih laflen? Seht, wo ich arbeiten 
müßte?” 

Fortunat fah zaudernd in das erregte Geficht 
dicht vor fidh. 

„Bedenke aber — die Leute!” 

„Was gehen uns die Leute an! Du weißt 
nicht, wie gräßli lang uns biefe paar Tage ohne 
Dih geworden find, ihr auch, ich weiß es, und 
nun bift Du endlich da, Gott fei Dank, und mußt 
jegt wieder bei uns bleiben wie vorher. Verſprich 
mir das.” 

„Wenn ich es aljo jchon thue,” gab Fortunat 
zögernd zu, „Eure Hochzeit fleht vor der Thüre, 
nachher muß es doch ein Ende haben. Mit Deiner 
Frau wirt Du jhon allein fein wollen.” 

Heelen ftüßte den Kopf in die Hand. 

„Möglih, man gewöhnt’s. Das denle ich au 
immer. Aber warum wilit Du dann fort bleiben? 
Ale Tage jolft Du fommen, wenn — e8 Dir nicht 
langweilig ift,“ vollendete er zögernd. 

„Davon kann feine Rede fein. Aber jage mir, 
warum wiljt Du mid) denn haben, während man 
bob jonft mit der Frau, die man gern hat, am 
liebjten allein ift?” 

Heelen ftrih fich mit der Hand über das Ge: 
ficht, dann jagte er ftodend: 

„Du bit jo elwas wie ein Bindeglied zwilchen 
ihr und mir — wenn Du fehlft, it eine Kluft 
zwilhen uns. Wir find fo verjhieden. — Man ge: 
wöhnt's vielleicht mit der Zeit — aber jet — jept 
braude ih Dih no.” Und er fahb ihn fo 
bittend an, daß Fortunat nicht das Herz zu einem 
Nein fand. 

Warum auh? fragte er fich plöglich troßig. 
Einen Künftler wie Heelen, ein Mädchen wie Maub 
mußte man wirtlid mit anderem Maße meflen. 


Siebzehntes Kapitel. 


„Martin! Martin,” rief die alte Frau Heelen 
mit gedämpftem Tone in das Atelier hinein. „Komm 
bob mal einen Augenblid ber. Die Eva ijt da! 
Die Eva Leitner.” 

Er jchüttelte unmirich den Kopf. 

„Hab’ Teine Zeit!” 

„Sie mödte Dir einen Glüdwunid jagen zu 
Deiner Verlobung.” 

„Hab’ Teine Zeit!” 

Die Stirn feit in Falten gezogen, ftichelte und 
grub Heelen an jeiner Hundegruppe herum. Er 
war unzufrieden mit jeinem Werk, und fein guter 
Arbeitstag lag binter ihm. Hätte er nun nod 
beilern können, fortfahren in feiner Arbeit, aber bie 
Pflicht rief ihn zu feiner Braut und zwang ihm 
das Modellierholz aus der Hand. 





661 


„Die verwünjhten Weiber,” grolte er und 
madte jeufzend Anflalt, fi in die notwendige 
Toilette bineinzuzwängen, denn er fühlte fi immer 
no jchrediih unbehaglih in dem fleifen Kragen, 
den Manichetten, dem modernen Anzuge. 

Mipmutig und übelgelaunt, wie er war, dachte 
er au gar nicht mehr daran, Eva einen guten Tag 
zu bieten. Was ging ihn die Eva an! 

Als fih fein Schritt entfernte, bordhlen bie 
beiden Frauen in ber Küche ihm geipannt nad). 

„Er gebt fort, Mutter Heelen,” fagte bie 
jüngere, verichräntte die beiden Arme über den 
Kopf und lehnte fich jo gegen die Kühenwand. „Ich 
hätte ihn doch gar gern mal gejehben, den Martin, 
der ein jo berühmter Mann geworben ift.” 

„Ah geh,“ meinte die Alte wegwerfend. „Be 
rühmt! Das ift au was! Zum Graulen fieht 
das Zeug aus, was er madt. Aber bie Hauptjady’, 
Ev’, ift die Braut. Die ift ſchwer reih! Das trägt 
feiner fort. Weißt Du, Geld, Geld ift das befte im 
Leben. Sjmmer nur recht viel Geld, dann läßt es 
ih Ihon aushalten.” 

Eva jhüttelte den Kopf. 

„Ss läßt fih au mit mandem anderen aus: 
halten, Mutter Heelen. Mehr als fattefien kann 
fih feiner, und mehr als ein Kleid anziehen und 
in einem Bett jchlafen auch nit. Da müßte ich 
= noh mandes, was mir lieber wäre als vieles 

eld!“ 
of De Alte wilchle ih die Naje mit dem Schürzen- 
zipfel. 

„Du bift jung, Ev’, und ein hübjches Mädchen 
dazu, Du jpridit wie Du es verftehft. Ich ſage 
Dir aber, Geld, Geld und wieder Gelb, das ift die 
Hauptjadhe im Leben. Und nun wird der Kaffee ja 
wohl fertig fein.” 

Sie wollte fi erheben. Eva fam ihr zuvor. 
Während fie ten Topf und die Taflen auf den 
Tiih trug, bejah die Alte fie fich mit jchtefem Kopf. 

Freilih war fie Hübih, die Eva. Groß und 
jehr üppig gewadjen, mit didem Blondhaar und 
blauen Augen, die Farben friih, ländlihe Ab: 
fammung verratend. Auch Jonit Hatte fie nichts 
Feines oder Pilantes an fih, aber etwas Derbes, 
Gejundes und Herzensgutes. Shre Tracht war ein 
jehr einfaches, blau und weiß gewürfeltes Kattunfleib. 

„Halt Ihon einen Schag?” fragte die Alte 
blinzelnd. 

„Nein, das leidet meine Herrihaft nicht.” 

„Wirft die Herrihaft fragen!” — 

„Mir bat auch noch feiner gefallen. Sagt einmal, 
Mutter Heelen, wie fieht denn Martins Braut aus?” 

Sie blieb am Kaffeeliich ehen, bie Hände auf 
dem Rüden verfchränft. 

„Schön ift fie nit! Dürr wie ein Bohnen: 
fteden, die bunllen Haar’ bis in die Augen hängen, 
als hätte fie Feine Zeit, fich zu fämmen. Schlampige 
NRöde und all jo was, aber Geld, graufam viel 
Gelb!” 

„Hat er fie gern?” 

Die Alte jah fie verihmigt an. 

„Biel Geld bat man immer gern, Ev’!” 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





662 


Das Mädchen jchüttelte zweifelnd den Kopf, befto 
eifriger nidte die Alte. 

„Du bift noh jung, Dirn! 
weiß es befler.” 

„Was wird denn aus Euh, Mutter Heelen?” 
fragte Eva plöglid. „Geht hr wieder aufs Dorf 
zurüd?” 

„Rein, ich bleibe bei meinem Sohn,” fie redte 
fih ordentlich in die Höhe vor Stolz, „zieh mit in 
bie neue Wohnung — der Martin hat es gejagt.” 

„So, jo! Mit der jungen Frau zufammen?” 

Die Alte Ichneuzte fich verlegen in ihren Schürzen: 
zipfel, dann wurde fie vertraulich. 

„Weißt, Ev’, es ift doch viel ſchöner auf unſerm 
Dorfe als in der Stadt, ih ging am liebflen wieder 
zurüd, und die Tale dann reht voll Geld, daß 
ih nit mehr zu arbeiten braudt. Aber der Martin 
wil’s nicht, und auf die Hochzeit geh ich auch nicht, 
das ift dem Martin zu genierli unter all die vor: 
nehme Bagage.” 

Wieder die ftlaviihe Unterwürfigkeit der Frau 
aus dem Volk, die die Peitfche fürchtet, aber Eva 
merkte das nicht, Dagegen bligten ihre Augen zornig auf. 

„Das ift aber nicht bübjh von Martin, das 
bätte ich nicht gedaht! Seine Mutter bleibt eben 
jeine Mutter.“ 

Die Alte Ticherte Leife. 

„Et bat mir was bafür geichentt,” fagte fie ge: 
beimnisvoll und holte aus den Kiffen des Beltes ein 
altes Tuch, das fie forgfältig auseinanberihlug. „Da 
hau ber, Ev’!” 

Ein neuer blauer Hundertmarlichein lag barin, 
den die Alte liebevoll betrachtete. „Und das habe 
ih Ihon geipart,* fuhr fie fort, einen Zipfel öffnend, 
in dem fich eine Menge Tleiner Münzen befanden. 

„Seipart? Wozu?” Die Eva fahb aus ihren 
großen runden Augen ganz erftaunt auf Die Sprecherin. 
„3 denke, die Frau ift reich, der Martin verdient, 
wozu fpart hr da, Mutter?” 

Die Alte blidte fie verbußt an. 

„Es it meine Freud’!” jagte fie dann kurz und 
vergrub den Schat wieder im Bett. „Gehit mit in 
die Kirch’, Ev’, wenn fie getraut werben?” 

„Ich kann ja nicht. Das ift mir aber wirklich 
leid! Am Sonnabend geht meine Herrihaft an die 
Riviera für den Winter über, die Gräfin ift frant. 
Und da muß ih mit, weil die Kinder alle jo an mir 
hängen. Und dann hält die Frau Gräfin mas auf 
mich, ich bin do nun Ion im dritten Jahre da.” 

„Bit eben ein ordentliches Mädel, Ev’!” 

„a,“ entgegnete fie wie jelbftverftändlih, dann 
jügte fie nachdenklich Binzu: „Aber wiedergejehen 
hätte ich den Martin doch gern! Mein Gott, wer 
das gedadıt Hätte! Er war immer jo ein eigener 
Bub’; daß der zum großen Herrn faugte, hätte ich 
niemals geglaubt. Nun müßt ich wohl ‚Sie‘ und 
‚gnädiger Herr‘ zu ıhm jagen. Und er bat mir fo 
oft meine Schürze zerrifien.” 

Sie lachte fröhlich auf bei der Erinnerung, und 
dann begann fie weiter von der entichwundenen 
Sugendzeit zu jpredhen, während die Alte dazu nidte, 

„Jeſus, Gott! Hab’ ich mich verplaudert,” fagte 


Wer lange lebt, 





663 Art zu Akt. 
fie endlih aufipringend. „Ih muß ja heim. Na, 
und grüßt mir den Martin jhön, Mutter Heelen, 
wenn’s ihn nicht geniert, daß ihn jo eine wie ih 
grüßen läßt.” 

„Und in der neuen Wohnung fommit und be: 
jugft mid, Ev’, gelt ja? Wart noch ein wenig, ich 
geb’ Dir gleich den Zettel mit, wo fie drauf fteht.“ 

Aber troß allen vereinten Sudens fand fich der 
Bettel nicht, und Eva, über das ganze Geficht lachend, 
daß bie weißen Zähne nur jo leuchteten, nahm Ab: 
I&hied von ihrer alten Belannten mit dem Beriprecdhen, 
fie troß alledem aufzufinden, wenn fie zurüdtäme. 


„Und Glüd und Segen für das junge Paar,” 
rief fie no von ber Thüre aus zurüd, während fie 
das leichte Tuch feiter um die üppigen Schultern 309. 

Die Alte ah ihr nad. 

„Cine ftattlide Dirn,” murmelte fie vor fid 
hin, „und eine freuzbrave dazu. Schade, baß ber 
Martin fie nicht gejehen hat.“ — 

Der Martin jaß inbeflen in dem erften Hotel 
der Stadt in Mauds Salon und wartete auf feine 
Braut, die no immer nicht zurüdgelehrt war. 

Er that das mit einer gewillen ftumpfen Gleich: 
gültigleit, ohne Unruhe oder Ungeduld. Zuweilen 
bob er die Augen auf und ftreifte mit einem flüch: 
tigen Blid die fragmürdigen Kunftwerle in DL, die 
die Wände jchmüdten, dann wieder ftarrte er ges 
dankenlos auf das Mufter des Teppiche, ober ftrich 
mit dem Finger über den jammetnen Bezug des 
Sefjels, in den er fih notgedrungen feßen mußte. 

Er hate diefen Ranm. Die vielen blühenden 
Blumen, die ihn ftets erfüllten, die für ihn phäno- 
menale Pradt der Einrihtung, alles das wirkte be 
täubend und lähmend auf ihn ein, jo baß er fi 
immer nur widerftrebend darin aufpielt. 

Endlich kam Maud. 

„Biſt Du ſchon da, Tino?“ ſagte ſie eilig, in— 
dem ſie hinter ihm in das Toilettenzimmer huſchte. 
„Einen Augenblick, bitte!“ 

Und nach dieſem Augenblick, der der Sorge für 
ihren äußeren Menſchen gewidmet war, kam ſie zu—⸗ 
rück und reichte ihm die Hand. Eine andere Be— 
grüßung war unter den Verlobten nicht üblich. 

„Du fiehſt, es geht mir wieder gut,“ ſagte ſie, 
ſich ihm gegenüber ſetzend. „Geſtern war es faſt 
unerträglich. Ich hoffe, Du haſt Dir meinetwegen 
keine Vorwürfe gemacht.“ 

„Nein.“ 

Sie lächelte, ſogar etwas pikiert. „Du biſt ſehr 
ehrlich, Tino, faſt etwas zu ſehr.“ 

Er faßte in die Bruſttaſche und zog ein großes 
Couvert aus ſeinem Rock. 

„Hier bringe ich Dir etwas, Maud,“ ſagte er, 
„Du wirſt es brauchen können. Und ich bin ſo froh, 
daß ich nun auch etwas dazu geben kann. Sehr 
froh! Es hat mich recht gedrückt, daß Du immer 
alles für mich bezahlt haſt. Es ſollte nicht ſo ſein.“ 

Sie hatte das Couvert inzwiſchen geöffnet und 
mit erſtaunten Augen drei Tauſendmarkſcheine her— 
ausgezogen, die ſie in den Fingern behielt. 

„Eine Anzahlung vom Muſeumsdirektor für 


Roman von H. Schobert. 


664 
meine Gruppe,“ ſagte er ſtolz, und das Selbſtbe⸗ 
wußtſein hob ihm den Kopf und weitete ſeine Bruſt. 

„Und das willſt Du mir geben?“ 

„Natürlich, für unſere Einrichtung. Meine 
Sachen ſind Dir ja zu ſchlecht, und ich wohne nach—⸗ 
her doch auch bei Dir.“ 

Sie hatte das Geld in den Schoß ſinken laſſen 
und ſah ihn an. Es rührte ſie, daß er keinen Deut 
für ſich behalten, alles ihr geben wollte. War er auch 
in Geldſachen wie ein Kind, daß er glauben konnte, 
dieſe dreitauſend Mark hätten irgendwelche Bedeutung 
unter den Summen, die ſie aufgewandt, er gab eben 
rückhaltlos, was er hatte. — Der Wille allein gab bei 
ihr den Ausſchlag. 

Sie trat hinter ihn und legte den Arm um die 
Lehne des Seſſels, in dem er ſaß. 

„Lieber Tino,“ ſagte fie, fich zärtlich zu ihm 
herabbeugend, „Du biſt ſehr gut, daß Du mir das 
Geld giebſt, aber ich brauche es nicht, es iſt Dein 
Eigentum allein.“ 

„Dann kann ich auch nichts von Dir nehmen.“ 

„O doch, das iſt ganz etwas anderes.“ 

„Warum?“ 

„Weil ich mehr habe als Du.“ 

„Das iſt gleichgültig. Du mußt es nehmen.“ 

„Wenn Du es wünſcheſt, dann ſoll es geſchehen.“ 
Sie ahnte ſein Streben, ſich dadurch unabhängiger 
ihr gegenüber zu ſtellen, und wenn ſie es auch heim— 
lich belächelte, ſo gab ſie ihm nach. Aber weil es 
ihr gefiel, deshalb ließ ſie den Arm von der Lehne 
des Seſſels langſam herab und um ſeinen Hals 
gleiten, während ſie mit ihren Lippen ſeine Stirn 
berührte. 

Er atmete den friſchen Blumengeruch, der aus 
jeder Falte ihres Kleides drang, fühlte ihre Nähe, 
hörte das Kniſtern der Seide, die ſie umgab; in der 
ganzen Brautzeit waren ſie ſich noch nicht ſo nahe 
gekommen, und plötzlich bemerkte ſie, daß ein Er: 
ſchauern durch ſeinen Körper lief, daß er ſchwer und 
dumpf atmete, daß ſeine Hände zuckten. 

Da klopfte jemand raſch und energiſch an die 
Thür, ſie flog auf und Fortunat kam herein. 

Er ſah die zärtliche Stellung der Verlobten, 
und mit einem verwirrten: „Pardon, Pardon, daß 
ich ſtöre,“ wandte er ſich wieder zurück. 

Aber Maud kam ihm zuvor. 

„Was fällt Ihnen ein, Fortunat,“ ſagte ſie 
lächelnd, im Grunde froh der Unterbrechung. „Sie 
bleiben hier und beſehen ſich erſt einmal Tinos ver⸗ 
dientes Geld. Er hat es mir geſchenkt. Ein könig— 
liches Geſchenk, denn es iſt ſein ganzer Beſitz.“ 

Fortunat warf einen Blick auf ſeinen Freund, 
er kam ihm in dieſem Augenblick verändert vor, aber 
er gefiel ihm nicht. — 


Achtzehntes Kapitel. 


„Und ſomit zum Schluß ein Hoch auf das 
junge Paar!“ 

Profeſſor Quenſel war es, der den Toaſt auf 
die Neuvermählten ausgebracht und nun jedermann 


665 Art zu Art. 


Brautvater. rn feinem Haufe hatte die elternlofe 
Waile den Entihluß für das Leben gefaßt, und dem 
jungen Ehemann war er örderer und Leiter, ja, 
faft Entdeder auf dem Wege des NRuhmes gewejen. 
Deshalb freute ihn biefer Bund, und er hatte feinen 
Zweifel, daß er auch zum Guten ausfchlagen würde. 

„Wie naiv do Papa ift,“ flüfterte Luzie jpöt- 
tiich ihrem Bruder während des Anftoßens zu, „wahr: 
baftig, man Flönnte ihn beneiden.” 

‘m ftillen war fie verwundert, daß bieje Ehe 
wirktlih doch noch zu Stande gelommen war. Sie 
hatte gegründete Zweifel daran gehabt und Emil 
oft genug davon unterhalten. Aber nun war es ja 
entichieden. Aus MiE Maud Winter war endgültig 
Frau Seelen geworben. 

Die Hochzeitsgejelihaft war nur Hein, Braut 
und Bräutigam bejaßen ja feinen einzigen Familien: 
angehörigen dabei, deito heiterer wurde man gegen 
Ende des Diners. 

Nur Maub jaß fehr blaß und ernft neben dem 
Mann, den fie fih für das Leben erwählt hatte und 
der ihr doch jo fremd war, fo erichredend jremb. 
Ein Gefühl Hilflofer Angft, verzweifelter Berlaflen: 
beit hatte fich ihrer bemächtigt und flieg immer höher, 
je weiter der Abend vorfichritt. Wie SKtartenhäufer 
janten alle ihre Jdeen und Thejen in ben Staub, 
und nur eins mußte fie mit troftlofer Sicherheit, daß 
fie allein war, daß es feinen Pla gab, wo fie ihren 
Kopf hinlegen Tonnte, um ih die Angft von ber 
Seele zu weinen und ein Trofteswort dafür einzu: 
taufchen. 

Unter der weißen Schleierwolfe wanbte fie ihre 
Augen auf ihren Gatten. Er jah fehr rot aus von 
dem jchweren, felten genofienen Wein, aber aud 
außerordentlih unbehaglid. Ym übrigen präjentierte 
er fih in feinem rad fo gut, daB man die Wahl 
des reichen Mädchens wohl begreifen konnte, wenn 
- dazu bielt, was für eine Zulunft ihm bevor: 

and. 

MWenigitens befam Luzie dies Urteil mehrmals 
von ihren Freundinnen zu hören, und fie verfehlte 
fein einziges Mal zu antworten: 

„sa, wenn er fitt, fieht er ganz gut aus, aber 
laßt ihn nur erft aufitehen, um das Beinwerk herum 
bängt feine Abftammung.” 

Tortunat war außerordentlich heiter, er behaup: 
tete, dies jei bis jet der Ichönfle Tag feines Lebens, 
jo daß Luzie all ihre böfen Ahnungen fchwinden fühlte 
und ihm im ftiilen manches abbat. 

Dann ging der Profefjor zu dem jungen Ehe: 
mann, Zlopjte ihm freundjchaftlid auf die Schulter, 
lagte, daß e8 jeßt Zeit fei, die Tafel aufzuheben, und 
dann, nad) einer weiteren Weile, war das Ehepaar 
fortgefahren. Nicht auf die Hochzeitsreife, wie Maud 
zuerft geplant, jondern ing eigene Heim, da Heelen 
jeine Arbeit nit im Stih lafen wollte. Maud 
batte fih ihm wilfährig gefügt. 

„Wir lönnen ja jede Stunde reifen,” batte fie 
gejagt. 

Fortunat jah zufällig um fih und bemerfte, 
daß fih nur no die Bäfte im Speijejaal befanden, 


Roman-Zeitung 1896. 


Roman von 9. Schobert. 
berzlichit Beicheid that. Er fühlte fih heut faft als 


666 


und in demjelben Augenblid überfiel ihn eine plöß- 
lihe, tiefe Traurigkeit. Er wußte nicht, woher fie 
tam, nicht, was fie bedeutete, er wußte nur, daß fie 
da war, heiß und jchmerzlih, und ihm das Herz zu: 
Jammenpreßte. Er Tonnte nit mehr laden und 
Iherzen, er hatte nur den dringenden Wunjc, allem 
bier entrinnen zu fünnen, allein in feiner Wohnung 
jein, im Duntel und lautlojer Stille. 

Er preßte die Zähne in die Unterlippe und trat 
an eins der verhängten Feniter. 


Draußen rafte Oftoberfturm und die Flämmden 
fladerten in den Zaternen, er batte den Wunfch, der 
Sturm mödte audy über feine Stirn Fühlend fahren 
und ihn von ber Bellommenbeit befreien, die fidh 
jeiner bemädtigt hatte. 

Plöglih legte fi eine Kleine Hand auf feine 
Schulter. 

„Lexchen! So traurig! Hat der Kuppelpelz 
nicht gehalten, was Sie fih von ihm verjpraden?“ 

„Plui, Fräulein Luzie,” rief er in tieffter Ent: 
rüflung. 

Sie ladte unbändig. | 

„Nun ja, wahr ifl es doh. Sie haben Diele 
beiden zujammengebradt wie ein routinierter Heirats- 
vermittler. hr Wohl oder Wehe ift Jhr Werk.” 

Er Trampfte die Hand um das Feniterkreuz. 

„Sagen Sie das nicht,“ jagte er mit fliegendem 
Atem. „Nur das nit! Der Gedanke machte mid 
unglücklich.“ 

„Bah! Naturen wie Mauds kommen nicht ſo 
leicht aus dem Geleiſe. Sie wird alles zwingen mit 
ihrer Rückſichtsloſigkeit und ihrem Reichtum. Außer: 
dem wird ſie als Frau genug Anbeter haben.“ 

Er ſah ſie zornig an, ſagte aber nichts. 

„Und Sie werden natürlich der erſte ſein, Lex, 
nicht wahr? Es iſt abſcheulich, daß verheiratete 
Frauen nicht eingeſperrt werden und niemand mehr 
zu ſehen bekommen als ihren Mann, dann wäre es 
noch ein Vergnügen, Mädchen zu ſein. Statt deſſen 
machen ſie uns Konkurrenz, ja, ſie ſind uns eigent⸗ 
lich weit voraus, denn ſie ſind freier in allen Dingen 
und ſtellen uns dadurch in den Schatten.“ 

Sie lehnte ſich faſt herausfordernd feſt an ſeine 
Schulter und ſah ihn mit funkelnden Augen an. 
Der Druck auf ſeinem Herzen verſtärkte ſich. 

„Mir iſt nicht wohl,“ murmelte er plötzlich mit 
einer haſtigen Bewegung. „Draußen wird mir beſſer 
werden.“ 

Sie ſah ihm nach, und ihre Mundwinkel krümmten 
ſich höhniſch herab. — 

Der Oktoberſturm raſte und drang durch die 
Fugen der Fenſter und Thüren in den Wagen, in 
dem Martin und Maud nun als Mann und Frau 
nebeneinander in ihr Heim fuhren. 

Sie ſprachen beide kein Wort, es war ihnen 
ſchwül trotz der wehenden Luft, und Maud öffnete 
ſogar den Mantel und ließ ihn ein wenig von den 
Schultern gleiten. Sie ſah auf die vorüberfliehenden 
Häuſer und ſuchte nach einem guten, einem herzlichen 
Wort für ihren Mann, aber ihr fiel nichts ein, er 
war ihr ja ſo fremd — ſo fremd! — 





IV. 47 


667 


Was bedeutete fie ihm, was er ihr! Das jollte 
ja erft die Zeit mit fich bringen. 

Die weiße Brautichleppe wand fich Enifternd um 
ihre Füße, Schleier und Kranz aber hatte fie im 
Hotel Thon abgelegt, ein leichtes Spigentuh um: 
büllte ihren Kopf, ihr Gefiht war blaß und ihre 
Hände zitterten, denn das Gefühl der Bellemmung 
wollte nicht von ihr weichen, und mit Diefem fchnüren- 
den Drud im Herzen ftieg fie die Treppen zu ihrer 
Wohnung hinauf. 

Es war ſchon jpät, das Gas gelöjcht, und nur 
ihr eigenes Dienftperfonal verfammelt, die Herrichaft 
zu empfangen. Das gab ihr etwas Halt zurüd. 

„Sriedrih, helfen Sie dem Herrn in feinem 
Ankleidezimmer, und Ste, Nina, tommen Sie mit mir.” 

Sie jpra das jo ruhig als bewegte fih ihr 
Blut um fein Sota jchneller, und am liebften hätte 
fie fih doch bingefegt und bitterlich geichluchzt wie 
ein Kleines Kind. 

Während Nina die Sachen berbeitrug, trat 
Maud an das Fenfter und jah hinaus. 

Der Dftoberwind bog die Kronen der Bäume, 
riß und jchüttelte fie im Emporfchnellen, als gälte es 
einen Kampf auf Leben und Tod, und morgen war 
doc vielleicht Thon alles ruhig und die Sonne ladıte 
darüber hin. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben 
und ohne daß fie es felbft wußte, rannen heiße 
Thränen über ihr Gefiht. Bitterfchmerzlih, ver: 
zweifelt, ala babe fie ein Kleinod verloren, das nicht 
wiederzuerlangen war, als wäre das Glüd ihres 
Lebens für immer dahin. 

Mit einem Gefühl von Schauder wanbte fie fi 
von ihrem Brautkleid ab, das Nina auf einen Stuhl 
gelegt hatte, ihm verbankte fie diefe wunderliche, be: 
flemmende Erregung, und dann ging fie in das 
Nebenzimmer. Ahr Mann trat ihr entgegen, aud 
er Ihien bedrüdt und in einer jeltiamen Stimmung, 
und wieder fudhte fie nad einem Wort und fand 
teins und fchämte fi der Thränen, die ihr nod 
immer an den Wimpern bingen. Abgewandten Ge: 
fichts reichte fie ihm nur ftumm die Hand. 


Neunzehntes Kapitel. 


Die Kleine Uhr auf dem Kaminfims jhlug zehn. 
Hel und Mar wie aus einem filbernen Glödchen 
tönten die Schläge durch das noch im tiefften Dämmer 
liegende Zimmer. 

Maud öffnete die Augen und zählte Zehn 
Uhr! So fpät war fie nocdy niemals erwacht, aber 
trogdem drehte fie fih nur mit einem tiefen Seufzer 
A die Seite und vergrub den Kopf in die Spiten- 
iſſen. 

Sie fühlte ſich elend, die Glieder wie zerſchlagen, 
der Kopf ſchmerzend und dazu ein Widerwille in ihr 
gegen jede Bewegung, jeden Gedanken. Wenn ſie 
nur hätte fortſchlafen können immer und ewig, nie— 
mals erwachen. — 

Elf Uhr! 

Mit einem Seufzer richtete ſie ſich auf, ſtrich die 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


668 


Haare aus der Stirn und drückte auf den elektriſchen 
Klingelknopf neben ihrem Bett. Vielleicht wich der 
Luft, dem Licht, der Alp, der ſie bedrückte. 

Nina kam und zog die Vorhänge zurück. Maud 
ſah auf die windgepeitſchten Bäume, den grauen 
Himmel, noch war kein Frieden in der Natur 
und heute hätte ſie gern Sonnenſchein und Himmels— 
blau gehabt, das würde ſie etwas erheitert haben, 
dachte ſie. 

Als ſie vor dem Spiegel ſaß, um ihre häusliche 
Toilette zu machen, erſchrak ſie vor dem blaſſen, 
hohläugigen Geſchöpf, das ihr daraus entgegenſah, 
aber trotzdem blickte ſie aufmerkſam hinein, es paßte 
ſo gut zu ihrer Stimmung. Wie voll und ſchwer 
war ihr doch das Herz. 

„Der Herr, Nina?“ fragte ſie endlich nach langer 
Pauſe und zog das Tablett mit der Chokolade näher 
zu ſich. „Wo iſt er? Hat er ſchon gefrühſtückt?“ 

„Der Herr iſt ſchon ſeit ganz früh in ſeinem 
Atelier. Friedrich hat ihn bedient.“ 

Sie nickte. Gott ſei Dank, ſie war allein, er 
würde nicht im nächſten Augenblick zur Thür hinein— 
treten mit dem Recht des Gatten, des Hausherrn, 
das er jetzt beſaß, und das ſie plötzlich fürchtete. 

Ihre Augen glitten über die dekorierten Wände, 
den koſtbaren Toilettentiſch, an dem ſie viel Freude 
gehabt, den ſie ſo eifrig mit Fortunat bewundert 
hatte, jetzt war es ihr, als läge auf all der Pracht 
etwas Häßliches, das ſie bis in das tiefſte Herz er: 
ſchauern ließ. 

Warum hatte ſie auch keine Mutter gehabt, 
niemand, niemand, der ein offenes, liebevolles Wort 
zu ihr geſprochen, ehe es zu ſpät geweſen. Sie ſenkte 
den Kopf tief auf die Bruſt. Entwürdigt kam ſie ſich 
auf einmal durch dieſe Ehe vor, die ſie doch mit ſo 
viel Überlegung eingegangen war, herabgezogen — 
aber das alles mußte ſie lautlos in ſich verſchließen, 
ihren Stolz davor poſtieren, daß niemand ahnte, wie 
ihr eigentlich zu Mute war. 

Und dann hatte ſie ja auch eine Miſſion. — 
Sie wollte doch den Menſchen zum Künſtler hinauf— 
heben, wenn ihr das gelang, hatte ſie ſich genug ge: 
than, aber in dieſer Stunde der Niedergedrücktheit 
zweifelte ſie am Erfolg. Sie ſenkte den Kopf tief 
auf die Bruſt. Und ganz verſtohlen, als beginge 
ſie ein Unrecht, malte ſie ſich eine Ehe aus, die ſie 
aus Liebe geſchloſſen hätte — aber ſie kam nicht 
über den Verſuch hinaus, weil ſie keinen Partner 
dafür fand. — 

Endlich ſtand ſie auf und verſuchte den Bann 
abzuſchütteln, ſie war doch ein energiſcher Charakter 
und gewöhnt, mit dem Leben fertig zu werden, nun, 
niemals hatte ſie es nötiger gehabt als gerade jetzt. 

Sie ging durch die Zimmer, langfam und 
prüfend. O ja, es war alles ſehr ſchön, ſehr ge— 
diegen, aber einſam, todeseinſam. All das froͤhliche 
Leben, mit dem ſie es ſich geſchaffen, war erſtorben 
wie draußen die Sonne, und dieſe Einſamkeit ver—⸗ 
ſchärfte noch ihre trübſelige Stimmung. 

Dann fiel ihr ein, daß ſie der Schwiegermutter 
einen „Guten Morgen“ ſchuldig ſei, und ſie ging in 
den Seitenflügel, wo die Alte zwei Zimmer bewohnte. 


669 Art zu Art. 





Küchendunft und derjelbe häßliche, muffige Ge: 
ruh, den fie damals lange nicht vergeflen Fonnte, 
Ihlug ihr wieder entgegen, jo daß fie fchauderte. 
Sn der Ofenröhre jchmorte Kaffee, und zum Tobe 
erihroden jprang die Alte auf. Sie hatte fein reines 
Gemifjen, denn den geitrigen Tag hatte fie in Gejell- 
Ihaft des jämtlichen Hausperjonals gefeiert und fi 
zulegt heimlich eine Flache Wein über Seite gebracht, 
nun glaubte fie, daß fie über ihre Schandthaten zur 
NRehenihaft gezogen werden würde. Sie ftedte ver: 
legen den linfen Schürzenzipfel in den rechten Bund 
und jah ihre Schwiegertochter mit dem Ausdrud 
eines Hundes an, der geprügelt zu werden erwartet. 

Maud reichte ihr ftatt deijen die Hand. 

„Buten Morgen, Mutter. Ych hoffe, es geht 
Sshnen gut. Haben Sie noch irgendwelde Wünjche 
für fi?“ 

Die Alte Inidite und dienerte, ftotterte verlegen 
ein paar Worte, aber da fie recht wohl merfte, daß 
ihre Schwiegertochter weder die Flajhe Wein noch 
den widerrehtlich angeeigneten Kuchen Jah, jeßte fich 
in ihr von diefem NAugenblid an die Borftellung feft, 
Maud jei dumm. Mit ein paar jcharfen, tabelnden 
Morten hätte fie fih für immer bei ihr in Reſpekt 
gejeßt. 

Außerdem war fie jeit gejtern jehr vergnügt, 
da jie mit der Dienerichaft Freundichaft geichlojlen, 
das viele Alleinfein hatte aufgehört. Die Köchin 
hatte verjprodhen, jeden Nachmittag Kaffee bei ihr zu 
trinfen, die Nina, das Hausmäddhen, ja jelbit der 
Friedrih ſich zu ähnlichen ſchmeichelhaften Ber: 
ſprechungen herbeigelaſſen, die Schwiegertochter war 
ein Faktor, mit dem ſie gar nicht rechnete, der feind— 
ſelig gegenüberzutreten ihr näher lag, als irgend ein 
Zuſammengehörigkeitsgefühl. 

Mit ein paar gleichgültigen Worten verabſchiedete 
ſich dann Maud. Nein, zwiſchen ihr und dieſer 
Frau gab es keine Möglichkeit eines ſich Näher— 
tretens, jeder Verſuch wäre eine Lächerlichkeit ge— 
weſen. Sie raffte die lang ſchleppenden Spitzen 
ihres weißen Morgenkleides zuſammen und ging davon. 

„Als ob ſie ſich ſchmutzig machen würde, die 
Gnädige,“ grollte die Alte nachher der Köchin vor. 

Am Eingang zu dem breiten, hellen Korridor, 
der in Martins Studio führte, blieb Maud einen 
Augenblick ſtehen und blickte ihn hinunter. Sollte 
ſie gehen? Ihren Mann dort aufſuchen, wo ſie zu 
ihm emporſehen konnte? Würde das den häßlichen 
Eindruck verwiſchen, den ſie jetzt von ihm in der Er— 
innerung hatte? Aber etwas in ihr lehnte ſich gegen 
dieſe Abſicht auf, ſie ſchauderte und wandte ſich 
wieder ihren Zimmern zu. Im Speiſeſaal hörte ſie 
den Diener mit Geſchirr klappern, das rief ihr die 
Frühſtücksſtunde ins Gedächtnis zurück. Eilig machte 
ſie Toilette, ſo elegant und kokett wie ſie es für das 
Haus von jeher geliebt hatte. Dann ſchickte ſie den 
Diener, um den Hausherrn zu rufen. 

Er folgte ihm auf dem Zuß. Über fein Woll- 
hend hatte er eine alte Soppe gezogen, Kragen und 
Manichetten fehlten gänzlih, das wirre Haar zeigte 
die mangelhafte Beachtung, die e8 erfahren, und an 
feinen Händen hingen noch die Spuren des feuchten 





Roman von H. Schobert. 





670 


Thons. Maud jah ihn mit einem ungeheuchelten 
Entjegen an. 

„Du haft die Zimmer verweclelt,“ jagte fie, 
während ihr die Röte in das Geficht ftieg. „Friedrich 
lol Dih in Dein Ankleidezimmer führen, jo lange 
werden wir mit dem Efjen warten.” 

Er trat an den Tiih und fegte fi an ihre Seite. 

„sh bin hungrig,” jagte er und langte ohne 
weiteres nach dem Brotforb. 

Maud Iniff die Lippen zujammen und wandte 
ih an den Diener. 

„Sehen Sie hinaus, Friedrih, wir eilen erft 
in einer Biertelftunde.” 

hr Ton war Icharf, fie hatte das Lächeln, das 
über des Dieners Lippen zudte, wohl gejehen. 

„Aber ich fage Dir doch, daß ich hungrig bin,“ 
börte er noch Heefens Stimme, und bedauerte Jehr, 
die Thüre nun doch Ichließen zu müflen. 

Maud blidte jet zu ihrem Gatten. 

„Ih möchte Dich bitten, zuerft Deinen äußeren 
Menjhen in Ordnung zu bringen. Sn diefem Auf: 
zug jemand bei Tijch erjcheinen zu jehen, bin ich nicht 
gewöhnt, e8 würde mir allen Appetit nehmen.” 

Er jah fie erftaunt an, daß ihre Ruhe nur 
eine mit aller Macht erfämpfte war, ahnte er nicht. 

„sb dadte, wir wären zu Hauje, da braucht 
man fi doch, Gott jei Dank, nicht mehr zu ge: 
nieren.“ Er ftredte die Beine weit von fih und 
gähnte laut. „Da ift doch niemand, der einen fieht.”“ 

Sie. erhob fi halb vom Stuhl und jah ihn 
zornig an. 

„Du vergißt, daß ih da bin.” 

„Du? Du bift doch meine Frau.” 

„San; redt, aber in unjeren Kreilen pflegt 
man eben Rüdfiht auf feine Frau zu nehmen.” 

„gum Teufel,“ fuhr er auf, „dies ewige Rüd- 
fichtnehmen habe ich jatt. Meine Bequemlichkeit will 
ih zu Haufe, verftehftt Du?“ 

Der Ton war ihr neu, aber er verjchüchterte 
fte nicht, er empörte fie nur. 

„Möglih, daß Du nit gewöhnt bift, auf 
srauen Rüdfiht zu nehmen,“ jagte fie höhnend, 
denn fie dachte an jJeine Mutter. „Gut! Dann 
tue es wenigitens vor der Dienerjchaft. Sch ver: 
lange, hörft Du, ich verlange, daß Du Dich anders 
bei Tiich zeigft als in diefem Aufzug.” 

Er jah fie an und mit einem halblauten Fluch 
ftand er auf. Sollte er e8 denn niemals jo haben, 
wie es ihm gefiel? Sein ganzes Xeben lang nicht? 
Das wäre ja einfah unerträglich. 

„sn Deinem Ankleidezimmer findet Du alles,” 
lagte Maud möglihft gelaffen. „Das blaufeidene 
Hemd und der Sammetrod ift für die Vormittags: 
toilette beftimmt.” 

Er gab feine Antwort, die Thür jchlug dröhnend 
hinter ihm zu. 

Krampfbaft drehte hinter ihm die Zurüdbleibende 
Kugeln aus der zerbrödelten Semmel, um ihre Rube 
zu bewahren. 

Sie wartete und wartete, ihr erichien e8 eine 
Ewigkeit, endlich trat er wieder ein, gewalcdhen, ge: 
fänımt, umgelleidet, aber feine Stirn war gefaltet. 


667 


Was bedeutete fie ihm, was er ihr! Das follte 
ja erit die Zeit mit fih bringen. 

Die weiße Brautichleppe wand fidh Enifternd um 
ihre Füße, Schleier und Kranz aber Hatte fie im 
Hotel Ion abgelegt, ein leichtes Spigentudh) um: 
hüllte ihren Kopf, ihr Gefiht war blaß und ihre 
Hände zitterten, denn das Gefühl der Bellemmung 
wollte nicht vor ihr weichen, und mit diefem jchnüren- 
den Drud im Herzen ftieg fie die Treppen zu ihrer 
Wohnung hinauf. 

Es war Ion jpät, das Gas gelöjcht, und nur 
ihr eigenes Dienftperfonal verfammelt, die Herrichaft 
zu empfangen. Das gab ihr etwas Halt zurüd. 

„sriedrih, helfen Sie dem Herrn in jeinem 
Ankleidezimmer, und Sie, Nina, fommen Sie mit mir.” 

Sie Iprad) das jo ruhig als bewegte fi ihr 
Blut um fein Yota fohneller, und am liebften hätte 
fie fih doc hingejegt und bitterlich gejchluchzt wie 
ein Kleines Kind. 

Während Nina die Saden bHerbeitrug, trat 
Maud an das Fenfter und jah hinaus. 

Der Oftoberwind bog die Kronen der Bäume, 
riß und jhüttelte fie im Emporfchnellen, als gälte es 
einen Kampf auf Leben und Tod, und morgen war 
doch vielleicht jchon alles ruhig und die Sonne lachte 
darüber hin. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben 
und ohne daß fie es jelbit wußte, rannen heiße 
Thränen über ihr Gefiht. Bitterfchmerzlih, ver: 
zweifelt, als babe fie ein Kleinod verloren, das nicht 
wiederzuerlangen war, als wäre bas Glüd ihres 
Lebens für immer dahin. 

Mit einem Gefühl von Schauder mwanbte fie fich 
von ihrem Brautkleid ab, das Nina auf einen Stuhl 
gelegt hatte, ihm verbantte fie diefe wunderliche, be: 
flemmende Erregung, und dann ging fie in das 
Nebenzimmer. hr Mann trat ihr entgegen, aud 
er Ichien bedrüdt und in einer feltiamen Stimmung, 
und wieder fuchte fie nad einem Wort und fand 
feins und Ichämte fi der Thränen, die ihr nod 
immer an den Wimpern hingen. Abgewandten Ge: 
fihts reichte fie ihm nur ftumm die Hand. 


Neunzehntes Kapitel. 


Die Kleine Uhr auf dem Kaminfims flug zehn. 
Hel und Mar wie aus einem filbernen Glödchen 
tönten die Schläge dur) das noch im tiefiten Dämmer 
liegende Zimmer. 

Maud öffnete die Augen und zählte. Zehn 
Uhr! So fpät war fie noch niemals erwacht, aber 
trogdem drehte fie fih nur mit einem tiefen Seufzer 
9 die Seite und vergrub den Kopf in die Spitzen⸗ 

en. 

Sie fühlte ſich elend, die Glieder wie zerſchlagen, 
der Kopf ſchmerzend und dazu ein Widerwille in ihr 
gegen jede Bewegung, jeden Gedanken. Wenn ſie 
nur hätte fortſchlafen können immer und ewig, nie— 
mals erwachen. — 

Elf Uhr! 

Mit einem Seufzer richtete ſie ſich auf, ſtrich die 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


668 


Haare aus der Stirn und drückte auf den elektriſchen 
Klingelknopf neben ihrem Bett. Vielleicht wich der 
Luft, dem Licht, der Alp, der ſie bedrückte. 

Nina kam und zog die Vorhänge zurück. Maud 
ſah auf die windgepeitſchten Bäume, den grauen 
Himmel, noch war kein Frieden in der Natur 
und heute hätte fie gern Sonnenjdein und Himmels: 
blau gehabt, das würde fie etwas erbeitert haben, 
dachte fie. 

Als fie vor dem Spiegel jaß, un ihre häusliche 
Toilette zu maden, erihraf fie vor dem blaflen, 
hohläugigen Geichöpf, das ihr daraus entgegenlab, 
aber trogdem blidte fie aufmerlfam hinein, e8 paßte 
jo gut zu ihrer Stimmung. Wie voll und jchwer 
war ihr doch das Herz. - 

„Der Herr, Nina?” fragte fie endlich nach langer 
Baufe und 309 das Tablett mit der Chololade näher 
zu fih. „Wo ift er? Hat er Ihon gefrühflüdt?” 

„Der Herr ift Schon feit ganz früh in feinem 
Atelier. Friedrich Hat ihn bedient.” 

Sie nidte. Gott fei Dank, fie war allein, er 
würde nit im nädjften Augenblid zur Thür hinein: 
treten mit dem Recht des Batten, des Hausberrn, 
das er jett bejaß, und das fie plöglich Fürchtete. 

Shre Augen glitten über die deforierten Wände, 
den Eoftbaren Toilettentifh, an dem fie viel Freude 
gehabt, den fie fo eifrig mit Fortunat bewundert 
hatte, jet war es ihr, als läge auf all der Pradt 
etwas Häßliches, das fie bis in das tiefile Herz er: 
Ihauern ließ. 

Warum hatte fie auch Feine Mutter gehabt, 
niemand, niemand, ber ein offenes, liebevolles Wort 
zu ihr geiprochen, ehe e8 zu fpät gewejen. Sie jenfte 
den Kopf tief auf die Bruft. Entmwürdigt fam fie fi) 
auf einmal durch dieje Ehe vor, die fie doch mit jo 
viel Überlegung eingegangen war, berabgezogen — 
aber das alles mußte fie lautlos in fich verjchließen, 
ihren Stolz davor poftieren, daß niemand ahnte, wie 
ihr eigentlich zu Mute war. 

Und dann batte fie ja au eine Milfion. — 
Sie wollte doch den Menjhen zum Künftler hinauf: 
beben, wenn ihr das gelang, hatte fie fich genug ge: 
tban, aber in diefer Stunde der Niedergebrüdtheit 
zweifelte fie am Erfolg. Sie jentte den Kopf tief 
auf die Bruft. Und ganz verftohlen, als beginge 
fie ein Unrecht, malte fie fih eine Ehe aus, die fie 
aus Liebe geichloffen hätte — aber fie kam nidt 
über den Verfuh hinaus, weil fie feinen Partner 
dafür fand. — 

Endlih ftand fie auf und verjuchte den Bann 
abzufhütteln, fie mar doch ein energilcher Charakter 
und gewöhnt, mit dem Leben fertig zu werden, nun, 
niemals hatte fie es nötiger gehabt als gerade jeht. 

Sie ging durdh die Zimmer, langjfam und 
prüfend. D ja, e8 war alles jehr jchön, fehr ges 
biegen, aber einfam, todeseinfam. AU das fröhliche 
Leben, mit dem fie es fih geihaffen, war erftorben 
wie draußen die Sonne, und diefe Einfamfeit ver: 
Ihärfte noch ihre trübjelige Stimmung. 

Dann fiel ihr ein, daß fie der Schwiegermutter 
einen „Guten Morgen” jchuldig fei, und fie ging in 
den Seitenflügel, wo bie Alte zwei Zimmer bewohnte. 


669 Art zu Art. 
Küchendunſt und derfelbe bäßlicde, muffige Ge: 
ruh, den fie bamals lange nicht vergefien konnte, 
Ihlug ihr wieder entgegen, jo daß fie jchauderte. 
Sn der Ofenröhre jchmorte Kaffee, und zum Tobe 
erihroden Iprang die Alte auf. Sie hatte fein reines 
Gewiflen, denn den geftrigen Tag Hatte fie in Gejell: 
Ihaft des fämtliden Hausperjonals gefeiert und fi 
zulegt heimlich eine Flafde Wein über Seite gebradt, 
nun glaubte fie, daß fie über ihre Schandthaten zur 
Rehenihaft gezogen werden würde. Sie ftedte ver: 
legen ben linfen Schürzenzipfel in den rechten Bund 
und fah ihre Schwiegertochter mit dem Ausdrud 
eines Hundes an, der geprügelt zu werben erwartet. 

Maud reichte ihr ftatt deflen die Hand. 

„Buten Morgen, Mutter. ch hoffe, es geht 
Shnen gut. Haben Sie nod irgendwelde Wünjche 
für fi?“ 

Die Alte Inidite und dienerte, ftotterte verlegen 
ein paar Worte, aber da fie recht wohl merkte, daß 
ihre Schwiegertodhter weder die Flajde Wein nod 
den widerrechtlich angeeigneten Kuchen ah, jebte fich 
in ihr von diefem Augenblid an die Vorftellung feit, 
Maud fei dumm. Mit ein paar fcharfen, tabelnden 
oe hätte fie fi für immer bei ihr in Refpelt 
geſetzt. 

Außerdem war ſie ſeit geſtern ſehr vergnügt, 
da ſie mit der Dienerſchaft Freundſchaft geſchloſſen, 
das viele Alleinſein hatte aufgehört. Die Köchin 
hatte verſprochen, jeden Nachmittag Kaffee bei ihr zu 
trinken, die Nina, das Hausmädchen, ja ſelbſt der 
Friedrich ſich zu ähnlichen ſchmeichelhaften Ber: 
ſprechungen herbeigelaſſen, die Schwiegertochter war 
ein Faktor, mit dem ſie gar nicht rechnete, der feind⸗ 
ſelig gegenüberzutreten ihr näher lag, als irgend ein 
Zuſammengehörigkeitsgefühl. 

Mit ein paar gleichgültigen Worten verabſchiedete 
ſich dann Maud. Nein, zwifchen ihr und dieſer 
Frau gab es keine Möglichkeit eines ſich Näher— 
tretens, jeder Verſuch wäre eine Lächerlichkeit ge— 
weſen. Sie raffte die lang ſchleppenden Spitzen 
ihres weißen Morgenkleides zuſammen und ging davon. 

„Als ob ſie ſich ſchmutzig machen würde, die 
Gnädige,“ grollte die Alte nachher der Köchin vor. 

Am Eingang zu dem breiten, hellen Korridor, 
der in Martins Studio führte, blieb Maud einen 
Augenblick ſtehen und blickte ihn hinunter. Sollte 
ſie gehen? Ihren Mann dort aufſuchen, wo ſie zu 
ihm emporſehen konnte? Würde das den häßlichen 
Eindruck verwiſchen, den ſie jetzt von ihm in der Er— 
innerung hatte? Aber etwas in ihr lehnte ſich gegen 
dieſe Abſicht auf, ſie ſchauderte und wandte ſich 
wieder ihren Zimmern zu. Im Speiſeſaal hörte ſie 
den Diener mit Geſchirr klappern, das rief ihr die 
Frühſtücksſtunde ins Gedächtnis zurück. Eilig machte 
fie Toilette, jo elegant und kokett wie fie es für das 
Haus von jeher geliebt hatte. Dann jchidte fie den 
Diener, um den Hausherren zu rufen. 

Er folgte ihm auf bem Fuß. Über jein Woll— 
hemb batte er eine alte Joppe gezogen, Kragen und 
Manichetten fehlten gänzlid, das wirre Haar zeigte 
die mangelhafte Beadhtung, die es erfahren, und an 
feinen Händen hingen no die Spuren des feuchten 


Roman von H. Schobert. 


670 


Thons. Maud jah ihn mit einem ungeheucdhelten 
Entjegen an. 

„Du haft die Zimmer verwecdjelt,” fagte fie, 
während ihr die Nöte in das Geficht flieg. „Friedrich 
jol Dih in Dein Ankleidezimmer führen, jo lange 
werden wir mit dem Efjen warten.” 

Er trat an den Tifeh und feßte fih an ihre Seite. 

„sh bin hungrig,” Tagte er und langte ohne 
weiteres nad) dem Brotlorb. 

Maud Iniff die Lippen zujammen und wandte 
ih an den Diener. 

„Gehen Sie hinaus, Friedrih, mir ellen erft 
in einer Biertelftunde.” 

hr Ton war Icharf, fie hatte das Lächeln, das 
über des Dieners Lippen zudte, wohl gejehen. 

„Aber ich fage Dir doch, daß ich hungrig bin,“ 
börte er noch Heelens Stimme, und bedauerte jehr, 
die Thüre nun doch Ichließen zu müflen. 

Maud blidte jegt zu ihrem Gatten. 

„Ih möchte Dich bitten, zuerft Deinen äußeren 
Menihen in Ordnung zu bringen. Sn dielem Auf: 
zug jemand bei Zifch ericheinen zu jehen, bin ich nicht 
gewöhnt, e8 würde mir allen Appetit nehmen.” 

Er jah fie erflaunt an, daß ihre Rube nur 
eine mit aller Macht erfämpfte war, ahnte er nid. 

„SH dadte, wir wären zu Haufe, da braudt 
man fih do, Gott ſei Dank, nicht mehr zu ge: 
nieren.” Er ftredte die Beine weit von fih und 
gähnte laut. „Da ift doch niemand, der einen fieht.” 

Sie. erhob fi halb vom Stuhl und jah ihn 
zornig an. 

„Du vergißt, daß ich da bin.” 

„Du? Du bift Do meine Frau.” 

„Sanz reht, aber in unferen Kreilen pflegt 
man eben Rüdficht auf feine Frau zu nehmen.” 

„zum Teufel,” fuhr er auf, „dies ewige Rüd: 
lihtnehmen habe ich fatt. Meine Bequemlichkeit will 
ih zu Haufe, verftehft Du?” 

Der Ton war ihr neu, aber er verjichüchterte 
fie nicht, er empörte fie nur. 

„Möglih, daß Du nit gewöhnt bift, auf 
Frauen Rüdfiht zu nehmen,” jagte fie höhnend, 
denn fie dachte an feine Mutter. „Gut! Dann 
thue e8 wenigftens vor der Dienerihaft. ch ver: 
lange, hörft Du, ich verlange, daß Du Dich anders 
bei Tiich zeigft als in diefem Aufzug.” 

Er fah fie an und mit einem balblauten Fluch 
ftand er auf. Sollte er es denn niemals jo haben, 
wie e8 ihm gefiel? Sein ganzes Leben lang nicht? 
Das wäre ja einfach unerträglich. 

„sn Deinem Ankleidezimmer findeft Du alles,” 
lagte Maud möglihft gelaflen. „Das blaujeidene 
Hemd und der Sammetrod ift für die Vormittags- 
toilette beftimmt.” 

Er gab keine Antwort, die Thür jchlug dröhnend 
hinter ihm zu. 

Krampfhaft drehte Hinter ihm die Zurüdbleibende 
Kugeln aus der zerbrödelten Semmel, um ihre Rube 
zu bewahren. 

Sie wartete und wartete, ihr erichien e8 eine 
Ewigkeit, endlich trat er wieder ein, gewajcdhen, ge: 
fämmt, umogefleidet, aber jeine Stirn war gefaltet. 


671 Art zu Art. 
Schweigend feste er fih zu ihr, fchweigend begannen 
fie zu efien. 

Als ihm Hummer ferviert wurde, ftieß er ärger: 
lih den Teller beijeite. 

„Das Zeug eile ich nicht.” 

Sie gab dem Diener einen Wink, die übrigen 
Platten binzujegen und begann ihn jelber zu be: 
Dienen, auf ihren Wangen brannten rote lede. 

„Was darf ih Dir reihen?” 

Er überblidte den Tiih, der in Silber und 
Kryftall funtelte, auf dem manderlei Finefjen ftanden, 
bie ihn aber nicht reisten. 

„Kein ordentliches Stüd Fleiich, feine Kartoffeln,“ 
jagte er unzufrieden. 

„Dies ifi nur unfer Frühftüd, das Mittagefjen 
haben wir um halb fieben.” 

Er fah fie erftaunt an. 

„Das it Unfinn. Weldher vernünftige Menjch 
tbut das!” 

„Sn meiner Heimat thut man es, und im 
eigenen Haufe will ich meinen Gewohnheiten treu 
bleiben, Dir wird es mohl auch mit der Zeit recht 
werden.” 

Er jchob feinen Teller beijeite. 

„Du bift ja diejenige, der alles hier gehört.“ 

„D Tino.” Sie jah ihn an und in ihre Augen 
ſchoſſen Thränen. 

Er ſah es, aber wenn es ihm leid that, fand 
er doch kein verſöhnliches Wort. 

„Sieh, wie viel bejler Du jetzt ausſiehſt,“ ſagte 
ſie, in dem Beſtreben, nicht gleich am erſten Tag 
die Differenz zwiſchen ihnen zu ſcharf werden zu 
laſſen. 

„Das iſt wohl gleichgültig, wenn ich nur meine 
Arbeit vorwärtsbringe.“ 

Ohne aufzuſehen betrachtete er ſeine Fauſt, 
die neben dem Teller lag. 

„Gewiß nicht. Wie ſich der Menſch zeigt, ſo 
wird er beurteilt, und ich habe es nie begriffen, 
daß es Leute gab, die Unſauberkeit und Gleich— 
gültigkeit für das Zeichen des Genies halten konnten. 
Es iſt ſchlechte Gewohnheit, ſonſt nichts.“ 

Er lachte ärgerlich auf. 

„Wenn Du Zeit dazu haſt, ich ſtöre Dich nicht.“ 

„Du wirſt Dich doch drin finden müſſen, Tino,“ 
ſagte ſie ſehr entſchieden. „Ich verlange es als ein 
Zeichen Deiner Achtung für mich — und Deiner 
Stellung wegen, den Leuten gegenüber.“ 

Er murmelte etwas vor ſich hin, dann ſtand 
er auf. 

„Bitte, noch einen Augenblick, ich bin gleich 
fertig.“ 

Er ſetzte ſich wieder. Die Hände auf die Kniee 
geſtemmt, ſah er ihr zu. Daß ihr Eſſen nur ein 
Vorwand geweſen, ihn ſo lange bei Tiſch zu halten, 
bis ſie ſich mit ihm erhob, dämmerte ihm nebelhaft, 
denn in der That führte ſie keinen Biſſen mehr zum 
Munde. Nach ein paar Augenblicken ſah ſie zu ihm 
hinüber. 

„Sp, nun lünnen wir gemeinjam das Speile: 
zimmer verlaflen, Friedrih Tann abräumen. Gieb 


Roman von H. Schobert. 





672 





mir Deinen Arm, Tino, und dann fomm mit mir 
und fiehb Dir alles genau an, Du fennit ja Dein 
eigenes Heim noch nicht.” 

Sie gingen dur die Zimmer, die mit ebenjo: 
viel Luxus wie graziöem Gejhmad möbliert waren, 
er fand es jeßt jelber, aber nachdem er jchweigend 
drei ober vier paffiert hatte, blieb er in dem reizen- 
den Wohnzimmer ftehen und jah feine Frau ver: 
wundert an. 

„Wozu das nur alles! Mas brauden denn 
zwei Menjhhen foldde Unmenge Plag!” 

Sie feßte fih auf ein zierliches Edjofa unter 
Palmen und blühendem Flieder, zog ihr Kleid an 
fih und madte ihm dadurhd Raum an ihrer Seite, 
dann Jah fie lächelnd zu ihm auf. 

„Seße Dih zu mir, Tino, dann können wir 
in Ruhe über die Zukunft Iprechen, die ih Dir zu 
Ichaffen gedenke, fie wird nichts Abjchredendes für 
Dih haben.” 

Er blidte mißtrauish auf das jehr zierlicdhe 
Möbel. | 

„Hält es auch?“ 

Sie nidte und ftredte die Hand nad ihm aus, 
fo daß er ihrer Aufforderung folgen mußte. 

„Sieh,“ jagte fie eifrig, „eine jede Ehe ift ein 
KRompromiß, in dem beide Teile geben und nehmen. 
Sie ift aber auh ein Zufammenmwirken zu einem 
nemeinfamen Ziel. Dies Ziel ift Dein Ruhm! — 
Du wirft ihn Dir erringen, benn das L2osgelöftjein 
von allen materiellen Sorgen und Unbequemlidhkeiten, 
das Leben in einer reihen, angenehmen Umgebung 
wird feinen Einfluß auf Dip nicht verfehlen. Du 
merlit das vielleiht faum, aber andere werden an 
Deinen Werken fehen, wie Du Dich emporjchwingft. 
Und die Menjhen werden und jollen Dir buldigen, 
Di anerkennen, wie e8 Dir zulommt, und ich werde 
ftolz auf Dih fein. Dem Erfolg gehört aber au 
die Offentlichleit und deshalb mußt Du in der Ge: 
jelichaft Deine Rolle fpielen. Dazu mil ih Dir 
verhelfen. Wir werden Bäfte bei uns fehen und 
ausgehen, ein reiches Geiltesleben wird fih um uns 
entfalten, Du die Seele desfelben werden. Noch bift 
Du ungelenf und [hüdhtern, das verliert fi. Nichts 
lernt fi Ichneller, als Menfchen zu überjehen, wenn 
man fich innerlich größer fühlt als fie. Und das 
bit Du, Dein Genie hebt Dih turmhod über alle.” 

Sie hatte fih rot und heiß geiprodhen. So 

voll war fie von diefem Zufunftsbild, daß fie ihn 
erſt jetzt anſah. 
Er ſaß zuſammengeſunken, wie niedergeſchmettert 
von der Eröffnung, die ſie ihm gemacht. Wie ent: 
jeglih ihm das alles Hang! Menidhen, Menichen 
und wieder Menjhen! Und dabei die Sicherheit 
und Selbftveritändlichkeit, mit der feine Srau Ipradj, 
ale gäbe es feine Berufung gegen ihren Willen. — 
Als ob ihm jemand die Kehle mit einem Strid zu: 
Ichnüre, jo war ihm zu Mut. 

„Armer Tino,” Tagte fie mitleidig, „es erjchredt 
Dich, aber das ift nur jet, nachher wirft Du über 
Deine Menidenfurdt lachen.” Und fie jchob ihre 
feine, weiße Hand zwilchen bie feinen, al8 wolle fie 
ihn damit tröften. 





673 

Er jhmwieg. Und dann jah er feine Frau an. 
Sie wur zmweifeilos viel Elüger als er, und aud 
jehr bübich, wie fie da neben ihm jaß in der leichten 
blauen, jpigengefhmüdten Eeide, und Fortunat hatte 
fie gern, und Emil hatte fie zur Frau haben wollen... 
und fie war reih ... 

Er atmete tief auf. Dann firedte er den Arm 
aus, legte ihn um ihren Hals und z0g fie an fid. 

Der Arm war wie von Eijen, und obgleich fie 
ibm nadgab, jchmerzte fie die Berührung dod. Sie 
Ihloß die Augen, ein Zug von Bein, ja faft von 
MWiderwillen grub fi in ihr Gefiht. Seine derbe 
Mustlelkraft erichredte fie und that ihr meh, aber fie 
duldete fie ſchweigend. 


Zwanzigftes Kapitel. 


Den näditen Tag blieb Maud nicht mehr am 
Anfang des langen Ganges ftehen, der in Heefens 
Atelier führte, jondern fie ging ihn hinab und öffnete 
leile die Thür des Vorzimmers. 

Dieler Raum, ein, aber hell, war von ihr auf 
das prädtigite geihymüct worden. Fortunat hatte gar 
nicht genug alte Gobeling, feltfjame, aber fünjtlerifch ge: 
formte Möbel, Seidenflidereien, Teppiche und Bronzen 
auftreiben fünnen. 


Hier, To dadte fie, Tollte Heelen jeine neuen 
Entwürfe planen, bier follte er Anregung empfangen 
zu feinem Schaffen und dazu war nichts teuer und 
gut genug. 

Es war ein beraufchendes, faft geheimmisvolles 
TZusfulum geworden. 

Wenn fie geahnt hätte, mit welder Scheu ihr 
Gatte, ohne fih aufzuhalten, durh biefen Raum 
ging. Wie jorgfältig er die Thüren zu feinem wirt: 
lihen Arbeitsraum verjchloffen hielt, weil ihn Diele 
Pracht verwirrte, betäubte, und flatt Quflempfindung 
nur Unbehagen in ıym ermwedte! Nie — To dadte 
er, würde er fi in diefe Seflel und Diwans jeßen, 
nie diefe foftbaren Geräte benugen! Dagegen gefiel 
es ihm in feinem Atelier. Hier war es luftig und 
leer; bis auf einen Winkel, den fie ih nicht ab: 
ringen konnte, hatte Mauds Verjhönerungsluft bier 
Halt gemadt. Keine Teppide und Deden erftidten 
ihn bier, keine Vorhänge nahmen ihm Luft und Licht. 
Sn der Ede lagen jeine Torfen und Zeichnungen, 
mitten im Raum, vom Licht übergofjen, ftanden feine 
fämpfenden Hunde, und er jelbit im Wollhemd, das 
am Hals und auf der Bruft auseinanderllaffte, 
arbeitete eifrig. 


Aber er war nicht zufrieden mit ih. Das 
Leben jchien feiner Gruppe zu fehlen, die Muskeln 
ipielten nicht leiht und fiher genug unter dem 
glatten Fell, er verwarf und verbejlerte, ohne daß 
er etwas Erhebliches leiftete. Dielen Zuftand kannte 
er gar nit an fih. Auge und Hand hatten ihm 
ftet3 pariert, gelenkt von dem Genie, das Ichuf ohne 
fein Zuthun, und dies Heinlide Nörgeln an fi 
jelbit verdroß ihn jehr. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 





674 


Als Maud eintrat, leife, ohne anzuflopfen, fuhr 
er erichroden herum. 

„Laß Dich nicht ftören,” fagte fie halblaut, 
legte fih in die Ede, die mit Tiih, Bänklen und 
Stühlen aus ultitalienifher Holziehnigerei ausgefüllt 
war, und jah ihm zu. Er faltete die Stirn. Was 
er nach feiner Richtung hin vertragen fonnte, waren 
fremde Augen, die an jeiner unvollendeten Arbeit 
oder an den jchaffenden Händen hafteten; fie lähmten 
ihn Sofort. 

Und dazu war er beute überhaupt nicht in 
Stimmung. 

Dennoh hatte er das dumpfe Gefühl, ihr 
wenigftens eine Kleine Scheinarbeit jchuldig zu ein, 
obgleich er fich innerlich gegen den Zwang auflehnte. 

Er Enetete ein wenig mit den Fingern an den 
Augen der Hunde, fette hier und da das Mobellier: 
holz an, mit dem fiheren Bemwußtjein, nichts dadurd 
zu Ihaffen, und endlich warf er es gereizt beijeite, 
die Heuchelei drüdte ihn. 

„iur Du Icon aufhören?” fragte fie ver: 
wundert. Nach Fortunats Erzählungen damals hatte 
fie feine Arbeitskraft für titanenhaft gehalten. 

„Es will heute nicht gehen.” 

Er fäuberte fid die Hände am Handtuch und 
ging mit großen Schritten im Atelier auf und ab, 
Maud blidte auf feine Arbeit. 

„Sehr jhön. Pradtvoll!” fagte fie endlich. 
„Mir ift es, als müßten fie Inurren und brüllen, 
wie fie e8 damals thaten. Aber Tino, fiehit Du, 
dies ift do nur bie Darftellung einer wirklichen, 
gejehenen Begebenheit. Das fünftleriide Schaffen, 
das Schaffen nach einem Sdealbild dünkt mich viel 
höher und größer.” 

Er jchwieg, jenkte den Kopf und ging nur ftetig 
weiter auf und ab. AYhm mar es, als rifje fie ihm 
das Herz aus der Bruft, um es neugierig anzu: 
jehen, und märe er ein feingebildeter Menjch ge- 
weien, hätte er fie vielleicht auf das Bild von Sait 
verwiejen, an beilen Schleier fie mit leder Hand zu 
rühren verjuchte, aber da er das nicht verftand, er: 
bitterte er fih nur im geheimen und preßte Die 
Rippen feft zujammen. 

„Erſt dann,“ fagte fie nad einer längeren 
Pauje, „wenn ih Dich Jo Schaffen jehe, werde ich 
ganz befriedigt fein.” 

Er warf einen Blid auf fie, den fie nicht jab, 
einen angftvollen, faft furdtiamen Blid, und wan- 
derte weiter. 

„Walt Du nicht Deine nächte dee mit mir 
beiprechen?” fragte fie wieder. 

„IH fanıı nicht,” ftieß er kurz heraus. 

„Du bit e8 nur nicht gewöhnt. Allein haft 
Du bisher alles empfunden, alles tragen müllen, 
armer Tino, aber nun bin ih da, und Du wirft es 
Ihon merten, wie jeder Gedanklenaustaush fördert 
und anregt.” 

Er antwortete nicht, jfondern trat mit auf bein 
Nüden verihränktten Händen an das Fenfter, das 
die ganze Längswand einnahm, und ftarrte in den 
berbftliden, mwindzerzauften Garten hinab. Seine 
Gedanten waren nicht viel tröftlicher. 


671 Art zu Art. 
Schweigend fette er fi zu ihr, jchweigend begannen 
fie zu eflen. 

Als ihm Hummer jerviert wurde, ftieß er ärger: 
lih den Teller beifeite. 

„Das Zeug efle ich nicht.” 

Sie gab dem Diener einen Wink, die übrigen 
Platten binzujegen und begann ihn jelber zu be: 
dienen, auf ihren Wangen brannten rote lede. 

„Was darf ih Dir reihen?“ 

Er überblidte den Tiih, der in Silber und 
Kryftall funkelte, auf dem mancherlei Fineſſen ftanden, 
die ihn aber nicht reisten. 

„Kein ordentliches Stück Fleiſch, keine Kartoffeln,” 
lagte er unzufrieden. 

„Dies if nur unfer Frühftüd, das Mittageflen 
haben wir um balb fieben.” 

Er jah fie erftaunt an. 

„Das ift Unfinn. Welcher vernünftige Menfch 
thut das!” 

„Sn meiner Heimat thut man es, und im 
eigenen Haufe will ich meinen Gewohnheiten treu 
bleiben, Dir wird es wohl auch mit der Zeit recht 
werden.” 

Er fchob feinen Teller beifeite. 

„Du bift ja diejenige, der alles hier gehört.” 

„D Tino.” Gie jah ihn an und in ihre Augen 
ſchoſſen Thränen. 

Er ſah es, aber wenn es ihm leid that, fand 
er doch kein verſöhnliches Wort. 

„Sieh, wie viel befier Du jebt ausfiehlt,“ ſagte 
fie, in dem Beftreben, nicht gleih am eriten Tag 
die Differenz zmwilhen ihnen zu jcharf werden zu 
laſſen. 

„Das iſt wohl gleichgültig, wenn ich nur meine 
Arbeit vorwärtsbringe.“ 

Ohne aufzuſehen betrachtete er ſeine Fauſt, 
die neben dem Teller lag. 

„Gewiß nicht. Wie ſich der Menſch zeigt, ſo 
wird er beurteilt, und ich habe es nie begriffen, 
daß es Leute gab, die Unſauberkeit und Gleich— 
gültigkeit für das Zeichen des Genies halten konnten. 
Es iſt ſchlechte Gewohnheit, ſonſt nichts.“ 

Er lachte ärgerlich auf. 

„Wenn Du Zeit dazu haſt, ich ſtöre Dich nicht.“ 

„Du wirſt Dich doch drin finden müſſen, Tino,“ 
ſagte ſie ſehr entſchieden. „Ich verlange es als ein 
Zeichen Deiner Achtung für mich — und Deiner 
Stellung wegen, den Leuten gegenüber.“ 

Er murmelte etwas vor ſich hin, dann ſtand 
er auf. 

„Bitte, noch einen Augenblick, ich bin gleich 


Er ſetzte ſich wieder. Die Hände auf die Kniee 
geſtemmt, ſah er ihr zu. Daß ihr Eſſen nur ein 
Vorwand geweſen, ihn ſo lange bei Tiſch zu halten, 
bis ſie ſich mit ihm erhob, dämmerte ihm nebelhaft, 
denn in der That führte ſie keinen Biſſen mehr zum 
Munde. Nach ein paar Augenblicken ſah ſie zu ihm 
hinüber. 

„So, nun können wir gemeinſam das Speiſe— 
zimmer verlaſſen, Friedrich kann abräumen. Gieb 


ferti 


Roman von H. Schobert. 





672 


mir Deinen Arm, Tino, und dann komm mit mir 
und ſieh Dir alles genau an, Du kennſt ja Dein 
eigenes Heim noch nicht.“ 

Sie gingen durch die Zimmer, die mit ebenſo— 
viel Luxus wie graziöſem Geſchmack möbliert waren, 
er fand es jetzt ſelber, aber nachdem er ſchweigend 
drei oder vier paffiert hatte, blieb er in dem reizen— 
den Wohnzimmer ſtehen und ſah ſeine Frau ver—⸗ 
wundert an. 

„Wozu das nur alles! Was brauchen denn 
zwei Menſchen ſolche Unmenge Platz!“ 

Sie ſetzte ſich auf ein zierliches Eckſofa unter 
Palmen und blühendem Flieder, zog ihr Kleid an 
ſich und machte ihm dadurch Raum an ihrer Seite, 
dann ſah ſie lächelnd zu ihm auf. 

„Setze Dich zu mir, Tino, dann können wir 
in Ruhe über die Zukunft ſprechen, die ich Dir zu 
ſchaffen gedenke, ſie wird nichts Abſchreckendes für 
Dich haben.“ 

Er blickte mißtrauiſch auf das ſehr zierliche 
Möbel. 

„Hält es auch?“ 

Sie nickte und ſtreckte die Hand nach ihm aus, 
ſo daß er ihrer Aufforderung folgen mußte. 

„Sieh,“ ſagte ſie eifrig, „eine jede Ehe iſt ein 
Kompromiß, in dem beide Teile geben und nehmen. 
Sie iſt aber auch ein Zuſammenwirken zu einem 
gemeinſamen Ziel. Dies Ziel iſt Dein Ruhm! — 
Du wirſt ihn Dir erringen, denn das Losgelöſtſein 
von allen materiellen Sorgen und Unbequemlichkeiten, 
das Leben in einer reichen, angenehmen Umgebung 
wird ſeinen Einfluß auf Dich nicht verfehlen. Du 
merkſt das vielleicht kaum, aber andere werden an 
Deinen Werken ſehen, wie Du Dich emporſchwingſt. 
Und die Menſchen werden und ſollen Dir huldigen, 
Dich anerkennen, wie es Dir zukommt, und ich werde 
ſtolz auf Dich ſein. Dem Erfolg gehört aber auch 
die Offentlichfeit und deshalb mußt Du in der Ge: 
jelihaft Deine Rolle jpielen. Dazu will ih Dir 
verhelfen. Wir werden Gäfte bei ung jehen und 
ausgehen, ein reiches Geiltesleben wird fih um uns 
entfalten, Du die Seele desjelben werden. Noch bilt 
Du ungelen? und [hüchtern, das verliert fi. Nichts 
lernt fich fchneller, als Menichen zu überjehen, wenn 
man fi innerlich größer fühlt als fie. Und das 
bit Du, Dein Genie hebt Dich turmhodh über alle.” 

Sie hatte fih rot und heiß geiproden. So 

voll war fie von diefem Zulunftsbild, daß fie ihn 
erft jebt anjah. 
Er faß zufammengejunfen, wie niedergeichmettert 
von der Eröffnung, die fie ihm gemadt. Wie ent: 
jeglih ihm das alles Hang! Menihen, Menjchen 
und wieder Menjhen! Und dabei die Sicherheit 
und Selbftverftändlichkeit, mit der feine Frau ſprach, 
als gäbe es feine Berufung gegen ihren Willen. — 
Als ob ihm jemand die Kehle mit einem Strid zu: 
Iipnüre, jo war ihm zu Mut. 

„Armer Tino,” Tagte fie mitleidig, „es erichredt 
Di, aber das ift nur jet, nachher wirft Du über 
Deine Menihenfurdt laden.” Und fie fchob ihre 
feine, weiße Hand zwilhen bie jeinen, als wolle fie 
ihn damit tröften. 





673 Art zu Art 
Er Ihwieg. Und dann fjah er feine Frau an. 
Sie wur zmweifeilos viel Hlüger als er, und aud 
ſehr hübſch, wie fie da neben ihn faß in der leichten 
blauen, jpigengelhmüdten Eeide, und Fortunat a 
fie gern, und Emil hatte fie zur Srau haben wollen . 
und fie war reich . 

Er atmete tief auf. Dann firedte er den Arm 
aus, legte ihn um ihren Hals und 309 fie an fid. 

Der Arm war wie von Eifen, und obgleich fie 
ihm nadıgab, fchmerzte fie die Berührung do. Sie 
Ihloß die Augen, ein Zug von Bein, ja faft von 
Widerwillen grub fi in ihr Gefiht. Seine derbe 
Mustelkraft erichredte fie und that ihr weh, aber fie 
duldete fie ſchweigend. 


Zwanzigftes Kapitel. 


Den nädften Tag blieb Maud nicht mehr am 
Anfang des langen Ganges ftehen, der in Heelens 
Atelier führte, Tondern fie ging ihn hinab und öffnete 
leife die Thür des Vorzimmers. 

Diejer Raum, Klein, aber hell, war von ihr auf 
das prädtigite gef hmüct morden. Fortunat hatte gar 
nicht genug alte Gobeling, feltfame, aber fünftlerifch ge- 
formte Möbel, Seidenflidereien, Teppiche und Bronzen 
auftreiben fönnen. 


Hier, jo dachte fie, jollte Heelen feine neuen 
Entwürfe planen, bier jolte er Anregung empfangen 
zu feinem Schaffen und dazu war nichts teuer und 
gut genug. 

Es war ein beraufchendes, fat geheimnispolles 
Tusfulum geworden. 

Wenn fie geahnt hätte, mit welcher Scheu ihr 
Gatte, ohne ih aufzuhalten, dur diefen Raum 
ging. Wie forgfältig er die Thüren zu feinem wirt: 
lichen Arbeitsraum verſchloſſen hielt, weil ihn biefe 
Pracht verwirrte, betäubte, und ftatt Luftempfindung 
nur Unbehagen in ıym erwedte! Nie — fo dadte 
er, würde er fich in dieje Seflel und Diwans feßen, 
nie dieje koftbaren Geräte benugen! Dagegen gefiel 
es ihm in feinem Atelier. Hier war es [uftig und 
leer; bis auf einen Winkel, den fie fih nicht ab: 
ringen konnte, hatte Mauds Berihönerungsluft bier 
Halt gemadt. Keine Teppiche und Deden erfticten 
ihn bier, feine Vorhänge nahmen ihm Luft und Licht. 
Sn der Ede lagen jeine Toren und Zeichnungen, 
mitten im Raum, vom Licht übergoflen, ftanden jeine 
fämpfenden Hunde, und er jelbit im Wollhemd, das 
am Hals und auf der Bruft auseinanderklafite, 
arbeitete eifrig. 


Aber er war nicht zufrieden mit ih. Das 
Leben jchien feiner Gruppe zu fehlen, die Musfeln 
Ipielten nicht leicht und fiher genug unter dem 
glatten Sell, er verwarf und verbeflerte, ohne daß 
er etwas Erhebliches leiftete. Dielen Zuftand kannte 
er gar nit an fih. Auge und Hand hatten ihm 
ftets pariert, gelenkt von dem Genie, das jchuf ohne 
fein Zuthun, und dies Lleinlihe Nörgeln an fich 
jelbit verdroß ihn jehr. 


. Roman von 9. Schobert. 


674 


Als Maud eintrat, leife, ohne anzullopfen, fuhr 
er erihroden herum. 

„Laß Dih nicht ftören,” fagte fie halblaut, 
jegte fih in die Ede, die mit Tiih, Bänken und 

Stühlen aus altitalienifher Holzſchnitzerei ausgefüllt 
war, und fah ihm zu. Er faltete die Stirn. Was 
er nad) feiner Richtung hin vertragen fonnte, waren 
fremde Augen, die an jeiner unvollendeten Arbeit 
oder an den Ichaffenden Händen bafteten; fie lähmten 
ihn Sofort. 

Und dazu war er heute überhaupt nid in 
Stimmung. 

Dennoh hatte er das dumpfe Gefühl, ihr 
wenigftens eine kleine Scheinarbeit jchuldig zu fein, 
obgleich er fich innerlich gegen den Zwang auflehnte. 

Er Inetete ein wenig mit den Fingern an den 
Augen der Hunde, jeßte bier und da das Mobellier: 
bols an, mit dem ficheren Bemwußtjein, nichts dadurd) 
zu jchaffen, und endlich warf er es gereizt beifeite, 
die Heuchelei drüdte ihn. 

„Willſt Du ſchon aufhören?“ fragte fie ver: 
wundert. Nach Yortunats Erzählungen damals hatte 
fie feine Arbeitskraft für titanenhaft gehalten. 

„Es will heute nicht gehen.“ 

Er fäuberte fih die Hände am Handtuh und 
ging mit großen Schritten im Atelier auf und ab, 
Maud blidte auf jeine Arbeit. 

„Sehr Ihön. Prachtvol!” fagte fie endlich. 
„Mir ift e&8, als müßten fie Inurren und brüllen, 
wie fie es damals thaten. Aber Tino, fiehlit Du, 
dies ift do nur die Darftellung einer wirklichen, 
gejehenen Begebenheit. Das fünftleriihe Schaffen, 
das Schaffen nad einem Sdealbild dünkt mich viel 
höher und größer.” 

Er jchwieg, jenkte den Kopf und ging nur jtetig 
weiter auf und ab. AYhm war es, als rifje fie ihm 
das Her; aus der Bruft, um es neugierig anzus 
jehen, und wäre er ein feingebildeter Menjch ge: 
wejen, hätte er fie vielleicht auf das Bild von Sais 
verwiejen, an beflen Schleier fie mit feder Hand zu 
rühren verfuchte, aber da er das nicht verjtand, er: 
bitterte er fih nur im geheimen und preßte bie 
Rippen feit zujammen. 

„Erit dann,” fagte fie nach einer längeren 
Paufe, „wenn ih Dich jo jchaffen jehe, werde ich 
ganz befriedigt ein.” 

Er warf einen Blid auf fie, den fie nicht Jah, 
einen angftovollen, fait furdtfamen Blid, und wan- 
derte weiter. 

„Willſt Du nit Deine nädjite dee mit mir 
beiprehen?” fragte fie wieber. 

„IH Tann nicht,“ ftieß er Furz beraus. 

„Du bift es nur nicht gewöhnt. Allein baft 
Du bisher alles empfunden, alles tragen müllen, 
armer Tino, aber nun bin id da, und Du wirft es 
ſchon merken, wie jeder Gedankenaustauſch fördert 
und anregt.“ 

Er antwortete nicht, ſondern trat mit auf dem 
Rücken verſchränkten Händen an das Fenſter, das 
die ganze Längswand einnahm, und ſtarrte in den 
herbſtlichen, windzerzauſten Garten hinab. Seine 
Gedanken waren nicht viel tröſtlicher. 





675 


Maud betrachtete ihn, feine Toilette genierte fie, 
aber fie hatte fih vorgenommen, langfam vorzugehen, 
und deshalb vorläufig gelchwiegen. 

„Tino!“ 

Er drehte ſich um und ſah ſie an, in ſeinen 
Augen lag etwas Finſteres. 

„Ich habe Dir genau nach Fortunats Muſter 
Arbeitsbluſen beſtellt, ſie hängen im Vorzimmer im 
Schrank; gefallen ſie Dir nicht, weil Du ſie nicht 
trägſt, oder haſt Du ſie noch gar nicht geſehen?“ 

Geſehen hatte er ſie wohl, aber nicht für nötig 
gehalten, ſie anzuziehen. Warum ſollte er denn auf 
einmal von allen ſeinen Gewohnheiten laſſen? So 
hatte er früher gearbeitet, ſo wollte er es auch in 


Zukunft. 

„Sie ſind unbequem,“ ſagte er nach einer 
Pauſe. 

„Unmöglich!! Fortunat trägt ſie immer, jeder 


trägt ſie — verſuche es nur einmal.“ 

Er ging hin und zog die Bluſe über. Unbequem 
war ſie ihm nicht, nur ungewohnt, und danach fragte 
ſeine Frau ja nicht. 

Als er wiederkam, lächelte ſie ihm freund— 
lich zu. 
„Sp fieht Du aus wie ber Herr bes Ateliers, 
vorhin wie fein jalopper Diener.” 

Er jeßte fih auf die Ede des Tiiches; dann 
die hohe Lehne des Stuhles betrachtend, begann er: 

„Die Bildhauerarbeit daran ift gut, ich hätte 
fie auch nicht befjer madhen können. — Die Dinger 
find wohl fjehr teuer, nicht?” 

„a. Aber darauf kommt es weniger an, ale 
auf die Ausführung.” 

„Es ift jerviert,“ meldete Friedrich und öffnete 
die Thür des Ateliers. 

„Komm!“ fagte fie aufitehend und feinen Arm 
nehmend, denn es lag ihr daran, vor allen Dingen 
der Dienerihaft gegenüber die Dehors zu wahren. 

„Wenn Du mir nur ein Wort gejagt bätteft, 
würde ih Dir die ganze Geihichte felbjt gemacht 
haben. Hätteft mal hören jollen, wie mid mein 
Kunfttiichlermeifter ftets belobt hat. ‚Der Heelen, 
der fann was!" das mar feine Nedensart. Und 
Ihleht bat er mich auch nicht bezahlt, freilich nicht 
im Verhältnis zu dem, was er von feinen Kunden 
forderte. Gh möhte nur willen, was Du be: 
zahlt haft.” 

Sie gingen den langen SKorridor Hinunter, 
hinter fih den Diener, dem fein Wort entging. 
Wenn er nur jchweigen wollte! Brauchte Friedrich 
irgend etwas von der Vergangenheit feines Herrn 
zu willen? 

„zieber Tino,” Jagte fie halblaut und drüdte 
feinen Arm. Er nahm das für Teilnahme Daß 
man fidh einer ehrlichen Arbeit Shämen Tönnte, hatte 
er noch nicht gelernt. 

„SG babe oft mit Inurrendem Magen und 
blauroten Fingern bei meiner Arbeit gejeflen,” fuhr 
er, in der Erinnerung warm werdend, fort. „Aber 
Wort gehalten habe ich fiets, und tadellos war 
immer alles. Ein Handwerfer hat audh feinen 
Stolz.“ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





676 


„Wie fannft Du Did nur einen Handwerler 
nennen,” unterbrad fie ihn empört. 

Er ladte. „Damals ging das Handwerk vor, 
denn es brachte Brot. Haft Du denn nicht gewußt, 
daß ih zuerit Tiihler war?” 

„Friedrich,“ ſagte fie Iharf, „ich werbe 
fingeln, wenn wir Sie brauden. Der Herr madt 
erit Toilette.” 

Der Diener verbeugte fih. Ym Hinausgehen 
padte ihn Heelfens Fauft an der Schulter. 

„So gut wie diefem QTagedieb bier ifl es mir 
freilich nicht gegangen. He?! Der hat weder Hunger 
noch Kälte Tennen gelernt, wie ich!” 

Friedrich lächelte devot, jagte aber kein Wort. 
Dem Gefiht der Gnädigen war nicht zu trauen. — 

Während Heelen Toilette machte, ging Maub mit 
zujammengepreßten Händen im Zimmer auf und 
ab. Sie war außer fih. Dies Hineinziehen ber 
Dienfiboten in PBrivatgejpräde war ihr unbegreiflich; 
es untergrub die Autorität. Sie hatte aljo Urfache 
zu zittern, wenn ihr Mann aufgeräumt wurde. 

Als fie bei Tiihe jaßen, fie bediente ihn jelbft, 
lagte fie: 

„zieber Tino, vor den Dienftboten wollen wir 
uns jeden intimen Gejprädhes enthalten. Solche 
Leute find unberehenbar.” 

Er jah fie fehr verwundert an. 

„Was habe ich denn gejagt? Daß ih Tiichler 
war? Aber das ift fiherli jo, das willen ja alle.“ 

„Und wenn aud, e8 wird niemand einfallen, 
Did daran zu erinnern. Gebt bift Du Künftler, 
ein anerfannter Künftler noh dazu. Warum mwillft 
Du Dich felbft entwerten?” 

„Ehrlide Arbeit jchändet nicht,“ bebarrte er 
eigenfinnig. „Das fage ich dem Kaijer, wenn Du 
willſt.“ 

„Gut, ſo ſage es dem Kaiſer,“ fagte ſie in ge— 
linder Verzweiflung, „das heißt, wenn er Dich da⸗ 
nach fragt, aber nicht Deinen Dienſtboten, ſie fühlen 
ſich alsbald als Deinesgleichen, und die Konſequenzen 
bleiben nicht aus.“ 

Er ſtarrte ein Weilchen auf ſeinen Teller. 

„Es iſt alſo in Deinen Augen eine Schande, 
Dienfibote zu fein und chrlider Arbeiter — ja, 
warum haft Du mich denn geheiratet?“ 

„sh babe nicht den Tilchler, ich habe den 
Künftler geheiratet,” entgegnete fie nun auch erregt, 
„und neben dem SKünftler lebe ih. Diefer bat aber 
auh Pflichten gegen fih, gegen die Gejelihaft. 
Slaubit Du, ein Menih fragt nach Deiner Ver: 
gangenheit, wenn Dir die Zukunft gehört? Die 
meiften find nur zu froh, fie vergellen zu können, 
und ich rate Dir, laß fie ruhen.” 

Er jpielte mit Meffer und Gabel, dann jagte 
er einfad: 

„Ich paſſe doch nicht unter Euch.” 

„Du wirft Did aber anpaflen, das bift Du 
mir jhuldig.e Und vor allen Dingen, nie wieber 
etwas, das uns beide angeht, vor dem Diener.” 

„Wozu halt Du ihn überhaupt genommen,“ 
grolte er. „Was foll er uns, wir Drauden ihn 
nicht! Der Kerl fieht immer jo aus, als müßte 





677 Art zu Art. 





man ihn um Entihuldigung bitten, daß er nicht mit 
am Tiich fißt.” 

„Er fan aus einem fehr vornehmen Haufe, 
das bewog mid, ihn zu nehmen.“ 

„sa, Dih, mir ift er unbehaglih, fchon jeit 
dem erflen Tage. Warum lann die Mutter uns 
nit auftragen, die figt in ihrer Stube und lang: 
weilt ſich.“ 

Maud errötete heftig. 

„Tino, es iſt Deine Mutter.“ 

„Na ja, aber ſie iſt das gewöhnt. Was hat 
ſie denn jetzt davon, daß ſie nichts thut und immer 
allein ſitzt.“ 

Die junge Frau biß ſich heftig auf die Lippen, 
ihr Mann hatte mit ſeinem Vorwurf recht, was 
nützte es der Alten, ſorgenlos und faul bei ihrem 
Sohne zu leben — aus ſeiner Familie, von ſeinem 
Tiſch war ſie verbannt. 

„Hat ſie ſich beklagt?“ 
lich leiſe. 

Er wurde nachdenklich. 
ſagte er. 

Ganz fiher war er feiner Sade nidt. Alte 
Leute, wie feine Mutter, nörgeln immer, aber ob 
e8 ihr Ernit damit war? Bor der übergroßen Fein: 
beit jeines Haufe war er jeßt manchmal zu ihr 
geflüchtet, gerade, ald müfle er fih da Lebensluft 
holen. Sn feiner Brautzeit hatte er es nie gethan, 
aber nun gewährte es ihm einen Genuß, im Woll- 
bemd zu fißen, in die Stube zu jpuden und fein 
beimijches Spdiom zu reden. — Ein Gegengemwidt 
zu ber erzwungenen Vornehmheit bei feiner Frau. 

„sh werde mit Mutter jprehen, daß fie mit 
uns ißt,” jagte Maud endlich mit einem Seufzer. 
Der Entihluß war ihr furdtbar fchwer gemworben. 

Er fah fie ungewiß an. 

„ieber nicht.“ 

„Doch! Doc! 
Arbeit, Zino.” 

Er redte und ftredte fi und gähnte. 

„Roh einmal umziehen? Nein, das kann kein 
Menih verlangen. Nun bleibe ich fon wie ich 
bin und laß das Arbeiten fein.” — 

Drunten in der Küche jaßen inzwilhen die 
Dienftboten beim Frühftüd. 

„Anfer Herr ift aber mal ein pugiger Herr,” 
meinte Friedriid mit feiner gewohnten Würde. 
„Rühmt ih, daß er Tiichler gemweien it! Hätte 
ih das früher gewußt, wäre ich nicht in dies Haus 
gefommen, ich diene nur dem höcdhiten Adel und 
denke aud) ans Kündigen.“ 

„Was fol man denn zu einem Herrn Jagen, 
deilen Mutter uns immer zur Kaffeevifite einlädt. 
Und der Ködin ftridt fie Strümpfe,” Ficherte das 
Hausmädden, „das Baar dreißig Pfennige, billiger 
thut fie es nicht, denn der Schäfer im Dorf nimmt 
fünfundzmanzig, und fie ift doch die Mutter vom 
Herrn.” 

„Die arme gnädige Frau,” meinte Nina. „Die 
ift nun wirklich eine gnädige Frau au ohne Abel. 
— Erjiehung und Bildung madt’s. Wie fie zu 
dem Herrn gelommen ift, das ift ihre Sadje, aber 


fragte Maud enbd- 


„Kann Schon fein,“ 


Und nun geb wieder an die 


Roman von H. Schobert. 


678 





fie jolte die Alte einmal gehörig aufmilden. Biel: 
leicht ftede ih es ihr no, denn die Alte, das ift 
eine alte Klatihe, die läßt feinen guten Faden an 
der Frau.” 

„Ad, Nina, wer wird denn foldde Spaßver: 
derberin fein! Das ift ja zum Krankfladhen. Und 
wie die Gnädige ihn erziehen will, und er läuft 
dod immer wieder jo "rum, morgens! Sch habe 
Seitenftehen vor Lachen gehabt.” 

„Aber gefallen hut er mir bo, es ift ein 
Ihöner Mann,” fagte die Köchin und job den 
legten fetten Biffen in den Mund. — 


Einundzwanzigites Kapitel. 


„Wie lange Sie fih nicht haben jehen lalien, 
Fortunat.” 

Der Vorwurf lag nicht allein in den Worten, 
mehr no in Ton und Blid, während Maub dem 
Gaſte die Hand entgegenftredte. 

Er mar befangen und unruhig, faum daß er 
in ihr Geliht jah, ehe er fi) berabbeugte ihr die 
Hand zu füllen. 

„Ih wollte nicht flören!” murmelte er. 

Sie dadte flühtig nah, ob er wirklich geflört 
haben würde, und fam zu der Überzeugung, daß, 
wenn er den Maßftab der Flitterwochen an ihre 
Ehe gelegt, er jich gründlich geirrt hatte. 

„Wirtih, Sie hätten nicht geftört,” Tagte fie 
berzlih, „und ich bin froh, daß Sie wieder bier 
find.” Dann fah fie ihn erftaunt an, er kam ihr 
fremd vor, gezwungen, gar nicht wie fonft, und fofort 
lieh fie dem Ausdrud. „St Shnen in der Zwilchen: 
zeit irgend etwas palliert? Etwas Unangenehmes?“ 

„Richt das Geringite. Warum?” 

„Sie maden mir den Eindrud, befto befler, 
wenn id mich irre.” 

Sie hatte ihn zu einem FTleinen Kaminetablifie- 
ment geführt, vor ihnen brannte die Glut des 
Holzfeuers. 

„Wie hübſch, wie heimlich das hier iſt,“ ſagte 
er aufatmend. „Und nun, meine gnädige Frau, wie 
geht es Ihnen?“ 

„Danke, gut!“ Es klang ſehr ruhig, ohne irgend⸗ 
welche Sentimentalität. 

„Gott ſei Dank!“ ſeufzte er auf. 

„Wie feierlich Sie das ſagen, als ob Sie in 
Sorge um mich geweſen wären.“ Dabei ſah ſie 
ſeitwärts in die flammende Glut, nicht ihn an. 

„Das war ich auch!“ 

„Warum!“ 

„Das iſt ſchwer zu ſagen! Ich dachte alles 
mögliche. Sie hatten doch den wichtigſten Schritt 
im Leben einer Frau gethan ... und Sie ſelbſt 
nannten mich ja manchmal einen Phantaſten.“ 

„Ohne einen Kampf geht keine Veränderung 
um uns und in uns vor ſich,“ ſagte ſie ruhig. 
„Aber wo gäbe es wohl eine dankbarere Aufgabe, 
als einen Menſchen, der gottbegnadet iſt von vielen, 
zu ſeinem Heil auch äußerlich emporzuheben, be— 








679 
londere wenn er von gutem Charalter iſt. Tino 
ift nachgiebiger als ich anfangs dachte.” 

„Gott fei Dank!” fagte er aus tiefiter Bruft, 
und dennod that ihm Mauds Ruhe zu gleicher Zeit 
wehe. „Ih habe fo oft an Sie gedadt! Wo ift 
Tino?” 

„sn feinem Atelier. Unter uns gejagt, er bat 
no immer fein feites Vertrauen in die Haltbarkeit 
diefer Möbel, und jeder Toilettenmechjel ift ihm be: 
ſchwerlich. Ich bin froh, daß er es trotzdem thut. 
Wollen Sie hinübergehen und ihn begrüßen? Zum 
— alſo in einer Stunde, laſſe ich ihn ſonſt her— 
rufen.“ 

„Sagen Sie mir, was ich thun ſoll!“ 

Maud lachte. „Ganz ſo ſein wie früher. Ich 
denke, da wären Sie hier geblieben.“ 

Nun lachte er auch. „Sicher! Ach wie ſchön 
war doch dieſer Sommer! Nun iſt es Herbſt.“ 

„Ja, es iſt Herbſt,“ ſagte ſie und ſtrich ſich 
über die Augen. „Sie wiſſen nicht, wie man den 
Sturm hier pfeifen hört.“ 

Und nun ſprachen ſie zuſammen, die gleich— 
gültigſten Sachen; es war als ſtände eine geheime 
Scheidewand zwiſchen ihnen. Ganz verſtohlen ſahen 
ſie ſich zuweilen an, ob ſie auch noch die alten 
waren, beinahe überraſcht, ein äußeres Zeichen der 
Veränderung nicht zu entdecken. 

„Ich weiß nicht,“ ſagte Maud endlich, „es 
kommt mir vor, als wären Sie ein anderer ge— 
worden, und auf den alten Fortunat hatte ich doch 
ſo ſehr gerechnet.“ 

„Können Sie ihn brauchen?“ fragte er lebhaft. 

„O ſehr! Die Abende ſind lang, und ich bin 
viel allein.“ | 

hm ftieg das Blut in das Gelidt. 

„Befehlen Sie ganz ungeniert über mic), gnädige 
Trau. 3 Tenne fein größeres Glück, als Ihnen 
irgendwie nüßlich fein zu können.” 

„Und Ihre Arbeit?” 

„D, die verträgt fih jchon damit.“ 

„Sebdesmal, wenn id auf Yhr Hochzeitsgeichent 
lab, fragte ih mid, warum Sie uns wohl fo lange 
vernadläjfigten.” 

Und fie zeigte auf zwei reizende Marmorfigürdhen 
in idealer Gewandung, die ihre und Martins Züge 
trugen. 

Er feufzte. „Wenn ih darf, Tomme ich oft.” 
Gerade das Gegenteil hatte er fi) vorgenommen. 
Daran, wie jehr ihm Maud jehlte, war ihm Elar ge- 
worden, daß der Verkehr mit ihr ein Stüd feines 
Herzens berührt haben müfle, und er wollte der 
Berfudung ausweichen. 

„sh nehme Sie beim Wort.” 

Sein Herz jubelte auf. Sie hatte ihn vermißt, 
fie wollte ihn wiederhaben, ihr ein paar Stunden 
zu verkürzen, war jchon eines ftummen Kampfes 
wert, und diefer Frobfinn leuchtete plöglih aus 
feinen Augen und madte ihn dem alten Fortunat 
ähnlich. 

„est Tenne ih Sie erft wieder,” jagte Maud 
berzlih und reichte ihm die Hand. 

Heelen trat ein. Auch er begrüßte ihn fichtlic) 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


6-0 





erfreut, und Fortunat ftaunte über die günftige 
Veränderung, die äußerlich mit dem Manne, den 
er fih gewöhnt hatte Freund zu nennen, vor: 
gegangen war. 

Sie blieben zulammen, wie in der Brautzeit, 
plaudernd, lahend, anſcheinend ganz bie alten, 
dennoch blieb die unfichtbare Scheidewand zwiſchen 
ihnen, die Sortunat und Maud wenigftens deutlich 
empfanden, ohne fih Har zu maden, woher fie 
fam; der einzig Unbefangene war Heelen. 

Fortunat blieb zum Efjen da, und je heimijcher 
er in diefen Räumen wurde, die er hatte entitehen 
jehen, je mehr fjpannen fie einen Zauber um ihn, 
dem jeine Phantafie erlag. Nichts Hier war zu 
viel, nichts zu wenig. Sein fünftleriiches Empfinden, 
jo fein e8 organifiert war, fand nur Grund zu 
Ihwelgen. Er beneibete Heelen und Ihämte fich diejes 
Neides, entichuldigte ihn aber wieder mit dem Bemwußt- 
fein, daß diefer gar nicht Feinfühligleit genug bejaß, 
um das zu empfinden, was ihn entzüdıe, 

„Und nun,” fjagte der Hausherr gegen zehn 
Uhr, indem er fi erhob und herzhaft gähnte, 
„wollen wir zu Bett gehen. Weiß der Teufel, daß 
id) jegt immer jo müde bin! Die jchlaflofe Zeit 
der Arbeit muß nun mohl nachgeholt werden. 
Komm, Maud.” 


Sie ftand an dem hohen jhweren Bronzefuß 
der Zampe, dur deren Schirm grünmeißes Licht 
in das Zimmer drang; er trat zu ihr, legte den 
Arm um ihre Taille und 308 fie ziemlich gewaltfam 
an fid. 

Tiefe Nöte jchlug ihr in das Gefidht, fie machte 
ih baftig frei. Nichts war ihr verhaßter als das 
Zurihauftellen irgend einer Zärtlichkeit; vor Fortunat 
empfand fie e& doppelt peinlich. 

„Halt Du vergeflen, daß wir einen Gaft haben?” 
fragte fie ziemlich jchroff. 

„Ad, Fortunat! Das ift mir doch ein guter 
Freund! Vor dem werde ich mich genieren! -— Du 
liederlicher Kerl, wirft Dich freilich noch nicht zu Bett 
legen, das geht wohl noch die halbe Nacht durd). 
Was? Aber dafür bift Du auch nicht jung verheiratet.” 

Maud preßte die Lippen zufammen und warf 
ihrem Mann einen zornig funlelnden Blid zu. — 
Er jah ihn nidt. 

„Selbftverftändlihd entferne ih mich Jofort.” 
Fortunat war aufgeiprungen und näherte fih Maud 
abichiednehmend. 

„I bitte Sie, bleiben Sie noch etwas.” Shre 
Stimme zitterte. Es fam ihm vor, als |präde ver: 
ftechtes leben daraus. „Mein Mann fcherzt.“ 

„Das thue ich nicht, es ift mir Ernft. Halt 
Du Furht, Fortunat nimmt es übel? Er denkt 
nicht daran! So gut Freund wie wir find! Und 
dann wartet ficher irgendwo eine LXiebfte auf ihn. 
He! Der Menid ift ja ein toller Kerl! Ach weiß 
nette Gefhichten! Laß Dir nur von ihm erzählen! 
— As Du nod Mädchen warft, mußten wir ja 
vor Dir davon jchmweigen, als Frau ift die Sadıe 
nicht mehr jo gefährlich.” 

Tiefes Schweigen. — 





681 Art zu Art. 
„Du verleumdeft mich, Heelen!” fagte Kortunat 
endlid mit tonlojer Stimme. „Meine gnäbdige 
Frau . . .“ die Worte verfagten ihm. „Auf 
Miederfehen alfo,” jchloß er. 

Sie reite ihm ftumm die Hand. 

„Wiederhole es ihr nur, daß wir viel zu gute 
Freunde find, um uns zu genieren,” begann Martin 
noch einmal und fchlug ihm auf die Schulter. 

„Sa! Biel zu gute Freunde!” Iprah ihm 
Fortunat fat mehaniich nad). 

Dann ging er, aber nicht, wie Martin gemeint, 
zu irgend einem Amujement. Wie ein Wilder rannte 
er durch die dunklen, weiten Wege des Stadtgartens 
und Inirfchte mit den Zähnen und ballte die Fäufte. 

„Es ift Unnatur,” murmelte er immer vor fi 
bin. „Annatur! Und ih Elender bin jchuld 
daran! D die arme, arme Frau!!” 

C3 war ihm, ale habe er in Mauds Ceele 
deutlich gelejen, troß ihrer anicheinend heiteren Ruhe. 
Als gebe es darin uneingeltandene Verzweiflung, 
Neue, tiefes Unglüdlichlein, tiefe Sehnjudt, -aber 
darüber noch fieghaft mächtig der Wille, die Hoffnung, 
etwas Butes zu fliften, der Stolz, der nicht zugeben 
wollte, daß er fehl gegriffen. 

Diefe arme, nadte Frauenjeele Tam ihm zer: 
rillen und verwundet vor, jo mutvoll fie es aud 
niederfämpfte, und er blieb ftehen, jchlug fich mit 
der Fauft vor die Stirn und wütete gegen fich felbft. 
„Und was wird zulegt? -— Zu allerlegt?”“ fragte 
er fih dabei plöglic. 

Er fand keine Antwort. — Wie vermeflen ift 
e8 doc, einen Menjchen beurteilen zu wollen! Was 
weiß man denn von ihm? Bellen Falles haben 
wir ein lüdenbaftes Bild, nad dem wir fchließen 
und fonftruieren fönnen, aber nur aus der eigenen 
Geele heraus, nicht andere. — 

„Run komm!” jagte Heelen wieder und näherte 
fih nad Fortunats Fortgang feiner Frau. 

Sie wandte fih ab. „Ih bin no nidt 
müde — geh nur allein.” 

Er firedte die Hand nah ihr au8. 
madt nichts, es ift viel gemütlicher.” 

hm ausmweidhend, warf fie fi in das Kleine 
Sofa. „Zah will noch lejen.“ 

Er gähnte wieder. „Ya, dann bhättelt Du 
ebenjogut Fortunat no bier behalten fünnen,” 
meinte er. 

„Das wäre unpaflend gewejen.” 

Er lachte. 

„Ad, lei nicht fo närriſch! 
meine Frau!” 

Sie richtete fih ein wenig au und fah ihn 
mit eigentümlidhen Augen an. 

„Deinem Freunde haft Du ein fehr Tchlechtes 
Zeugnis ausgeitellt.“ 

Er pfiff vor fih hin. „Er bat immer Geld 
gehabt, bat fi nie mit dem Leben berumfchlagen 
braudhen, bübih ift er aud, was willft Du da? 
en er ift ein ehrlicher Freund, ein anjtändiger 

er u 

„Du haft recht,“ fagte fie, fich wieder zurück— 

lehnend, „und nun gute Nacht.” 


„Das 


Mein Freund und 





RomansZeltung 1806. 


Roman von H. Schobert. 


Er ging. Sie warf den Kopf rüdmwärtd, \chloß 


die Augen und lag ganz fill. 

hr war zu Mut, als fehlte e8 ihr an Luft 
zum Atmen, als fämpfe fie jeit Tagen mit dem 
Erftiiden. Was war daran Shuld? Sollte fid 
doh in das Nechenerempel, das fie fih von der 
Che gemadt, ein Fehler gejchlichen haben? Gie 
hatte ihre Ehe ohne Liebe, die doch nur verraufcht 
und Ernüdterung binterläßt, aber auf Achtung 
und Freundfchaft, vor allen Dingen auf ein gegen- 
feitiges Emportragen gründen wollen. Das Hang 
jo hübjch, Hatte eine jo ideale Grundlage. Gemiß; 
wenn fie fih nur vorber genau über das Wejen 
der Ehe Far gemwejen wäre! Aber fie hatte weder 
eine Mutter nodh eine weibliche ältere Verwandte 
zur Seite gehıbt, blind war fie zugetappt. — Wie 
anders war alles in Wirklichkeit gewejen als fie es 
ſich gedacht! Vielleicht hätte gerade bie Liebe fie 
über dies entjeßlihe Gefühl des Herabgeftiegenfeins 
getröftet. Vielleicht! Wer weiß es! Das Leben 
ergründet fich nicht jo jchnell. 

Mit Ehaudern geftand fie fih, daß fie vor 
der Berjon ihres Mannes ein gemwilles Grauen, ein 
Gefühl der Abneigung zu empfinden begann, jo jehr 
fie auch dagegen kämpfte. 

Uud Fortunat hatte das gemerkt; Jo jehr fie 
ih auch beherrihhte, fie fühlte, daß er gerade ihr 
gegenüber helljeheriih war. 

Sie fragte fih nicht wodurdh, ſie ſchämte ſich 
nur vor ihm. Und dann glitt es ihr plöglich durd 
den Kopf, ob fie wohl glüdlicher fein würde, wenn 
er ftatt Heelen mit ihr in diefen Räumen berrichte. 

Eine Antwort darauf gab fie fih nicht. Heftig, 
wie vor etwas fliehend, ftand fie auf, lölchte die Zampe 
und ging ins Schlafzimmer. Marlin Heelen jchlief, 
mit offenem Munde ſchnarchte er laut. Ganz leile, 
um ihn ja nicht zu weden, jchlüpfte fie in das 


Bett. — 


Zweiundzwanzigftes Kapitel. 


„Sie jehen aber jhleht aus, Maud; die Ehe 
befommt Ihnen nicht.“ Luzie fagte das mit einem 
prüfenden Blid in das Gefiht der jungen Frau, 
fi vol Wonne geftehend, daß fie jegt ihr gegenüber 
im Äußeren entſchieden im Vorteil fei. 

„Ih bin auch wirklich abgeipannt.” 

„St e8 eine große Arbeit, den Ziger zu 
zähmen?” fragte fie nediih. „Zrißt er Ion aus 
der Hand? Ih bin wirklich neugierig darauf, ihn 
zu fehen. — Fortunat war ja feines Xobes voll.” 

„Liebe Luzie,” fagte Maud fehr ernft, „ich muß 
Sie dringend bitten, berartige Scherze über meinen 
Gatten ein für allemal zu unterlafjen, wenigftens 
mir gegenüber, denn Shnen hinter meinem Rüden 
Reden und Spotten zu verbieten, dazu bin ich leider 
nicht in der Lage.” 

Zuzie firih eine Falte an ihrem neuen Kerbft- 
toftüm glatt. 


48 


652 


683 


„Wozu jo feierlidh, liebe Maub,” fagte fie dann, 
ohne daß do der jpöttiihe Zug ganz von ihren 
Lippen wid. „Sagen Sie do einfadh: Xiebe 
Luzie, balten Sie Zhren böfen Mund und machen 
Sie fih nicht jhledhter als Sie find. Ym Ernft bin 
ih nämlich gar nicht jo boshaft.” 

Maud Ihwieg darauf und badıte fi ihr Teil. 

„Sol id aber wirtlih Ihren Mann nidt ein: 
mal begrüßen dürfen? Ad, bitte, bitte, ich babe 
mid jo darauf gefreut.” Aus ihren dunklen Augen 
bligte die Neugier. 

„Er it im Atelier.“ 

„Deſto beſſer! — Uber ift Yhnen der Eintritt 
Dazu verboten! Sie wollten doch gerade feinem 
Schaffen nahe ftehen.” 

„Wenn Sie wirtlihd wollen, ‚Tünnen wir ihn 
auffuchen.” 

Es war ihr angenehm, ihn in feiner Arbeitsluft 
präjentieren zu lönnen, die fleidete ihn gut, und bie 
Eitelleit der Frau war doc) rege in ihr. Sie gingen 
in das Atelier. 

„Hier bringe ih Dir Befudh,” jagte Maub, die 
Thür öffnend. 

Martin Heelen ftand da im MWollhemd, mit 
nadter Bruft und nadtem Hals, ben Holenbund 
etwas heruntergeglitten, mit wirrem Haar, im Hußeren 
berjelbe, ber die berühmte Gruppe gejhaffen, nicht 
ber feine Herr der legten Tage. Die Arbeit ging 
ihm flint von den Händen. Bei der Störung fah 
er fih um und rungelte bie Stirn. 

Seine Frau errötete heftig und trat an ihn 
beran. „Aber Tino,“ fagte fie vorwurfevoll. 

Mit einem fleinen Aufichrei bebedte LZuzie bie 
—— mit der Hand, ließ ſie aber gleich wieder 

nken. 

„Einem Künſtler darf man nichts übel nehmen,“ 
fagte fie und bot ihm die Hand. 

Er warf heftig jein Modellierholz fort, fo daß 
es auf der Erde noch einmal emporhüpfte. 

„Wenn ich nur diefe paar Stunden meine Rube 
hätte,“ rief er unwirjch. 

„D, Sie werden do nicht böfe fein — am 
Ende ernftlih böfe — und auf Ihre Frau! Das 
tbäte mir zu leid! Wir wollen aud gleich wieder 
geben und Sie ungeftört laflen. Ich bin ſchuld! 
Ich ganz allein!” 

Diejes Hervorheben ihrer Perlon ärgerte Maubd, 
gerade wie fie vor Luzie doppelt die Nachläifigkeit 
in Martins Außerem empfand. Bei Fortunat hätte 
e8 am Ende hingehen können, aber Zuzie Tannte fie 
zu genau. 


„IH bitte Sie,” fiel fie ihr deshalb ins Wort 
und jtredte die Sand mit einer Tleinen gebieteriichen 
Bewegung aus, „Tino ift nur gereizt, daß wir ihn 
in biefer Noncdhalance antreffen, und allerdings — 
daß das geichehen fonnte, ift nicht angenehm, ob: 
glei es feine eigene Schuld if. Geb, Meide Dich 
um, wir erwarten Dich hier.” 

„Aber ih bitte Sie,” rief Zuzie naiv, „das 
finde ih ja gerade fo reigend! Dies völlige Ber: 
geflen und Ungeniertjein des arbeitenden Künftlers. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


684 





Außerdem Kleidet Herren Heelen diefe Toilette ale 
wilder Mann befier ala Frad und Glaces.” 

„Aber ih jchwärme nit dafür,” entgegnete 
Maud, und fie konnte nicht hindern, daß ihre Stimme 
Iharf Klang. 

Martin verihwand, Zuzie aber jagte inzwilchen: 
„Das ift ja rührend, wie Sie ihn fich gezogen haben, 
Hhren Gatten. Er pariert Drdre wie ein gelehriges 
Pudelchen.“ 

In Mauds Geſicht flammte es auf. 

„Bitte, vergeſſen Sie nicht, daß Sie von meinem 
Mann ſprechen,“ ſagte ſie hochfahrend. „Solche Scherz⸗ 
worte ſcheinen mir nicht paſſend.“ 

Dann kam Heeken tadellos zurück, wortkarg, ver⸗ 
ſtimmt, kaum zu einer Antwort zu bringen. 

‚Laſſen Sie ſich doch nicht ſtören,“ bettelte 
Luzie, „arbeiten Sie weiter. Bei Papa und Emil 
darf ich auch oft zuſehen, und bin ebenſo auch an 
N gewöhnt, das madt mir feine Schmerzen 
weiter.” 

Aber Heelen rührte nichts mehr an. Er jaß, 
den Kopf in bie Hand geflüßt, und flarıte auf den 
Boden; was fragte er nah Luzies Schmeicheleien! 
Wütend war er, daß man fi das Redht nahm, ihn 
jede beliebige Stunde zu überfallen. Und nun trat 
Maud zu ihm, legte ihre Hand auf feine Schulter 
und fagte herzlich: 

„Das ift nur vorübergehend, daß Dich der Ein: 
tritt anderer in Deinem Schaffen unterbridt, mit 
der Zeit gewöhnfl Du Di daran. Alle bedeutenden 
Männer machen ihr Atelier zum Sammelplag der 
Künfller und Kunftfreunde. Du fannfl do nicht 
‚nein‘ jagen, wenn Dich irgend jemand — vom Hof 
zum Beijpiel — bittet, bei Deiner Arbeit anwejend 
jein zu dürfen, und das wird auch noch kommen.” 

Er antwortete nicht, finfter ftarrte er weiter zu 
Boden; jo unliebenswürdig wie heute hatte er fich 
nod nie gezeigt, und gerade vor Zuzie! Aber wenn 
jeine $rau nur geahnt hätte, wie jehr er ihren Troft: 
„Du gewöhnfl Dich,” haßte, ficherlid würde fie Diefe 
Nedensart jorgfältig vermieden haben. Es ftieg heiß 
in ihm auf, wenn er fich überlegte, woran er fi 
alles gewöhnen jolltee Und während bie beiden 
Damen hinausgingen, böıten fie deutlih, wie mit 
voller Wudt drinnen im Atelier ein jchwerer Gegen: 
ftand zu Boden geichleudert wurde . . 

„Da bin ih!” rief Luzie, ganz atemlos von 
diefem Bejuch zurüdtehrend und in das Ezimmer 
ftürzend, in dem Vater und Bruder fon auf fie 
warteten. „Nein, aber zum Totlahhen diefe Ehe! — 
Sie mit den Airs einer Königin, die einen dreffierten 
Pudel am Bande hat, er eine Inurrende, zähne- 
fletidende Beflie, die fih unmillig unter Das Joch beugt, 
aber doc immer den vollen Teller vor Augen hat.“ 

„Möcteit Du Dich nicht etwas anders ausbrüden, 
liebes Kind,” fagte der Profeffor mit fanftem Tadel. 
„sn jeder Ehe müllen fih die Menfhen erft mit: 
einander einleben, ehe fie zur Harmonie kommen, 
diefe beiden natürlich noch viel mehr. Aber wenn 
man exit Heelens rauhe Schale überwunden hat, fo 
glaube ih fchon, daß der Kern die Mühe Lohnt.“ 

„Ich glaube dod, Maud bleibt mit den Zähnen 


685 Art zu Art. 
in der Schale fiten und verbittert fih nur das 
Leben für ein paar Jahre. Dauer kann das gar 
nicht haben.” 

„Wollen es nit Hoffen. Aber meine fluge 
Tochter fieht auch immer nur die Schattenfeite der 
Menfhen und Dinge, anftatt an die Lichtjeiten zu 
glauben.” 

„Deine Huge Tochter hat meiflenteils recht be: 
halten, Papa.” 

„Ah werde Dich aber tüchtig ausladhen, wenn aus 
Heelens ein abjolut glüdliches Paar geworden ift.” 

„Das thu, Bapa! Nun, meine brüderliche Liebe, 
Du jehweigit ja hartnädig?“ 

Emil madte eine abwehrende Kopfbewegung, 
als aber der Profefior feine Siefta hielt, die Ge- 
ſchwiſter allein waren, ließ er fih von feiner Schwefter 
Punkt für Punkt erzählen, was fie im Heelenjchen 
Haufe mit angelehen hatte. 

„Nun?“ fragte fie ihn am Schluß, „was jagit 
Du dazu?” 

Er qualmte wie ein Scornftein, dann kam 
das Nejultat feines Nachdentens: „Sin den nächften 
Tagen werde ich Heelen bejuchen.” 

„Shn?” Ruzie Sprang vor Erflaunen auf. 
„Was wilft Du bei ihm? Berjucde lieber, Maud 
zu tröften.” 

„Daß ih ein Narr wäre,” meinte er troden. 

Sie jeßte fih dicht zu ihm. „Dein Gedanten- 
gang ift mir unklar,” meinte fie nachdenklich. 

„Das thut nichts!“ 

„Walt Du mir nichts Jagen?” 

„Mein Gott, Kleine, wie wunderli Du bift! 
3h will ja gar nihts, nur einmal Seelen in 
diefer ungewohnten Pracht jehen.” 

„Du Tonnteft ihn doch nicht leiden.” 

„Das hat doch mit einem Beluch bei ihm nichts 
zu thun.” 

„Nein. Aber — ih dbadte . . . Wenn er nicht 
geweien wäre, jäßeft Du doch jegt ficher in dem 
goldenen Neft.” 

Er zudte die Achjeln. „Ehrlich geſtanden iſt es 
doch auch etwas ‚jehr Goldenes‘ um die Freiheit.” 

„Fir Did als Mann vielleiht, aber ich wäre 
jo frob, wenn Du bei Maud ben Tröfter jpielen 
und Fortunat etwas verdrängen wollteft. Du weißt, 
Gelegenheit macht Diebe.“ 

„Das möchte wohl vergebene Liebesmüh fein,” 
jagte er nah einer Paufe. „Laß die Dinge doc 
laufen, Luzie, Du baft ja gejehen, alles Pläne- 
maden ift unnüß.” 

Sie feufzte ein wenig und nahm das neueite 
Modejournal vor. E83 zudte ihr ordentlih in Kopf 
und Händen, etwas zu finden, um fich wieder zur 
sn. der Situation zu madhen, aber was? Aber 
wie 


Ein paar Tage fpäter faß Emil zur Vormittags: 


Roman von H. Schobert. 


686 


ftunde in Heelens Atelier. Er batte der gnädigen 
rau nur feine Karte hineingelidt, ohne abzuwarten, 
ob er angenommen würde, war dem meldenden Diener 
aber auf dem Fuß ins Atelier gefolgt. 

Heelen war anmelend, aber auf das elegantefte 
gekleidet, im blaufeidenen Hemd und Jchwarzem 
Eammetjadett. Die Hand im Haar vergraben, die 
Stirn gejentt, jaB er müßig da und ftarrte vor fich hin. 
Ale Schaffensluft war ihm dahin, feine fämpfenden 
Hunde mibderten ihn an, und boch, troß feiner Faul- 
beit fühlte er fih abgelpannt und ermattet. 

„Suten Morgen,” fagte Emil, mit einer ge: 
willen Nonchalance nähertretend und Heelen zwei 
Singer der rechten Hand entgegenftredend, denn in 
den übrigen hielt er die Cigarette und in ber Linken 
den Hut. Er war ausgefucht elegant gekleidet und 
lab jehr vorteilhaft aus. „Ach hörte, daß Sie un: 
beihäftigt waren, da wollte ich doch einmal bei 
Ihnen einſehen.“ 

Martin erhob ſich, indem er den Gruß erwiderte. 
Früher wäre ihm das nicht eingefallen, beſonders 
nicht bei Emil, den er niemals leiden mochte. 

„Ich darf doch weiterrauchen?“ 

„Bitte ſehr! War meine Frau nicht zu Hauſe?“ 

„Weiß wirklich nicht! Ich ſchickte nur meine 
Karte hinein. Die Hauptſache war mir, Sie zu treffen.“ 

„Mich?“ fragte Heeken ſehr erſtaunt. 

„Ja. Ich dachte mir: ſo eine Metamorphoſe, 
wie Sie durchgemacht, müſſe auf den Menſchen ein— 
wirken, aus Naturnotwendigkeit. Na, und da wollte 
ich ſehen, wie es mit Ihnen ſteht.“ 

Heeken machte ein kurioſes Geſicht. Er wußte 
nicht recht, wie er das auffaſſen ſollte. 

„Gut,“ ſagte er dann kurz. 

Emil lachte. 

„Nee, mein Lieber, ſo ſehen Sie gerade nicht 
aus! Aber es iſt ja möglich, daß die Flitterwochen 
eine faule Sache ſind, wenn man ſo verſchieden iſt 
wie Sie und Ihre Frau. — Ihre Arbeit da iſt 
übrigens prachtvoll. Sie ſind wirklich ein ganzer 
Kerl, Heeken. Was gäbe ich darum, das gemacht 
zu haben.“ 

Bis vor kurzer Zeit hatten Martin Lob und 
Tadel kalt gelaſſen; ſich ſelbſt ſeines Wertes bewußt, 
galt ihm das Urteil anderer nichts. Heut, in der 


| Berfallenheit, in der er fich befand, that es ihm wohl, 


ja, richtete feinen gejunfenen Mut etwas auf, denn 
gerade Emil war als Nörgler bekannt, der ftets 
verjuchte, alles herabzuſetzen. 

„st e8 wahr?” fragte er, auch ganz ehrlich 
jeine Befriedigung zeigend. „Wenn ich es fo anjebe, 
bin ich unzufrieden. Das mad... .” er jah fih um, 
„mir ift bier noch alles fo fremd, jo ungewohnt. Ych 
denfe immer, ih müßte erft wieber in mein altes 
Atelier zurüd am Stadtrand, wenn ich wieder etwas 
Butes Ihaffen wollte.” M 


(Fortfegung folgt.) 


——— De — 





687 Schwertllingen. 


Roman von Hans Werder. 


688 


Shwertklingen. 


Baterländifcher Roman 


von 


Hans Werder. 
(Sortfegung.) 


Il. 


Der PBarolebefehl Hatte unter den Offizieren 
eine große Aufregung hervorgerufen. Die wider: 
Iprehendften Meinungen wurden ausgelaufcht, welche 
Hallo zu Mären Juchte, indem er jorgfältig und zurüd: 
haltend aus feiner Unterredung mit Schill ben 
Kameraden mitteilte, was er für fie zu willen gut 
bielt.. Er fprad über defjen Stimmung und feine 
Außerungen in einer Beleuchtung, die jener felt: 
famen Kundgebung den Stadel nahm, ihren Ein: 
drud aber verftärfte. 

Die Einladung, bei ihm zu effen, heute gerade, 
berührte feine Getreuen fehr eigenartig. Er zeigte 
ihnen alfo, daß er wirklich wünfdhte, wie jein Parole: 
befehl e8 ausgeiprodhen, „als wie in einem $amilien- 
freile” mit ihnen zu leben! 

Sehzehn an der Zahl fanden fich zur feitge: 
jegten Stunde in feinem fchlihten Quartier am 
Neuen Markte ein. Mit Eifer und Sorgfalt war 
der Major für die gute Aufnahme feiner Gäjte be: 
mübt, genau jo wie einft in den guten, fröhlichen 
Tagen. 

Sein eingehendes Gelpräh mit dem Grafen 
Voß unterbrehend, ging er den Offizieren entgegen. 
Hans von Brünnom ftand vor ihm. Zum erften 
Mal im Leben waren fie — heute früh — im Zorn 
voneinander gegangen — und hatten doch jo oft 
Ihon füreinander das Leben eingelegt! Daran 
dachten beide jett, als ihre Blide fich trafen, und ein 
warmer Händedrud gab dem Gedanken einen ftumm 
beredten Ausdrud. 

Eine ritterliche Tafelrunde war es, die fich hier 
verfammelt, eine Schar vermwegener, todesmutiger 
Gejelen. Und für manden unter ihnen war e8 
die legte Mahlzeit, das legte Beifammenfein, das fie 
im Leben genießen follten. Laut und fröhlich ging 
e8 dabei zu. Die Thür ftand offen. Am Hausflur 
Ipielte die Mufilfapelle, von einer Zufchauermenge 
umgeben.*) 

Chill erhob fih und mit ihn der ganze Kreis. 
„Das erfte Glas Seiner Majeftät unferm Aller: 
gnädigften Könige —” er jprach es mit tiefer, be: 
wegter Stimme, do die gewohnte feurige Bered: 
lamfeit verjagte ihm, in feinen Augen ftanden 
Thränen. Die redeten ihre eigene Sprade bei diejem 
legten Trinkipruch, den Ferdinand von Schill jeinem 
Herrn und Könige gebradt! 


*) Alle diefe Einzelheiten gefchichtlich. 





Eine jähe Unterbredung fchnitt die feierliche 
Stimmung ab. Der Unteroffizier Sommerfeld trat 
herein. Schill hatte Fürzlid ertt — auf dem 
Schladtfelde von Dodendorf — den Tapferen zum 
Unteroffizier ernannt. Sekt fam er von einer 
Patrouile zurüd, bradte die Equipage eines 
boländiihen Generals nebft Pferden und Bedienten 
als Beute mit fih und ftattete mit Anftand und 
Gewandtheit ſeine Meldung ab. 

„Sie haben Ihre Sache gut gemadt,” rief Schill 
erfreut. „Das weiß ich Schon, mein braver Sommer: 
feld fehrt nie unverrichteter Sadhe und mit leeren 
Händen zurüd! — Unjer braver Sommerfeld joll 
leben!” jeßte er Hinzu, indem er ihm ein volles 
Glas hinreihte, um mit ihm anzuflogen. Don 
Sreude und Dankbarkeit ftrahlend nahm dann 
der NReitersmann den Pla an der Seite feines 
Kommandeurs ein, den diejer ihm anmies. Und 
bingeriffen von dem Glüd und der Ehre, erhob er 
jein abermals gefülltes Glas: „Lnfer Herr Major 
jo leben — hodh!“ Die Mufif blies den Tuch 
— und an ber Tafelrunde — auf dem Flur — auf 
dem Marktplag draußen tönte das Hoch mit lautem 
Subel nad. 

Gejenkten Hauptes hörte der Held das mit an. 
Für einen Moment jhloß er die Augen. E& war 
ihm, als fühlte er das Naujchen eines dunklen, un 
beilverfündenden Fittichs — im Augenblid, da bie 
Seinen ihm das Ießte jubelnde Lebehocdh zuriefen, 
ben Fittich des Todesengelde — um das todgemeihte 
Haupt! 

Eine Drdonnanz trat herein. Feindliche Streif— 
parteien zeigten fich nahe der Stadt, es |dien, als 
wäre noch heute ein Angriff zu erwarten. Rodlig 
und Blandenburg baten den Major, eine Refognos: 
cierung unternehmen zu dürfen, doc diejer jchlug 
es ab. „hr geht mir drauf [os wie ein Paar 
Saupader, hr beiden! %h fenne Eu! Laßt 
Euch woröglid in ein ernites Gefecht ein! Das 
aber will ih heute no nicht!” 

Er hob jedoch die Tafel auf, ließ Generalinarich 
Ihlagen und befahl, zur Vorforge die Wälle zu 
bejeben. 

Bis zum Abend blieben die Truppen bort ftehen. 
Dod) alles war ruhig. Schill befahl bei einbrechender 
Dunfelheit den Nüdmarih in die Quartiere. Nur 
eine Kompagnie Infanterie blieb ale Wache zurüd. 

Zu Ipäter Stunde noch verfammelte der Major 
feine Offiziere, um ihnen den PBerteidigungsplan 
für morgen darzulegen und feine Befehle zu erteilen. 
Die Verteidigung des Triebjeerthores war fein vor: 


689 Schwertklingen. 
züglichftes Augenmerl. „Wenn der Feind uns 
morgen angreifen jollte, jo wird er bort feine Haupt: 
fraft einjegen!”“ jchloß er. „Übrigens — ich hätte 
PVeterjon gern geiproden. Sind jeine Arbeiten am 
Knieperthor:Damm weit gediehen?“ 

„Samwohl, Herr Major, ih war vorhin bei 
ihm!“ berichtete Blandenburg. „Er meint, da das 
Triebfeer- und Frantenthor fo gut hergerichtet wären, 
möchte er gern auch das Knieperthor noch in Ver: 
teibigungszuftand jeten, ehe die Feinde fich zeigten!” 

„Das ift jehr Ihön,” fagte Schill, „aber ich 
hoffe, es wird nicht nötig fein! Bon dorther haben 
wir feinen Angriff zu erwarten!” 

„Bert Major —* nahm jett Haflo das Wort — 
„noch ift es Zeit, wir haben gelehen, die Feinde er- 
warten ung niht! — Wie mir hörten, liegen fie 
nah anftrengenden Märihen ermübdet in ihren 
Duartieren! Herr Major, Sie fennen Ihre Kavallerie 
von Dodenborf und Damgarten ber, — fie ift fieben- 
hunbertzweiundzwanzig Mann ftart — der Sieg 
wäre in unjerer Hand!“ 


Mit einem finfteren Blid fireifte ihn der 
Major. „Au Du, Brutus,” fchien diejer Blid 
zu fagen. — „Und unfere Sinfanterie und Ar: 
tillerie,” nahm er enblih das Wort, „möchte fie 
uns nicht au hier in Stralfund den Sieg gewähr: 
leiten? Wenn meine vierhundertadhtzig alten Papas 
auf den Wällen zu reden anfangen, wird, meine ich, 
den Ankömmlingen da draußen Hören und Sehen 
vergehen!” 

„Nah den fiheren Nachrichten ift der Feind 
dreimal jo ftard als unfere gejamte Belagung!” 
bemerkte einer der anderen Offiziere. i 

Schill zudte die Acjeln. „Sollte die Uber: 
macht wirklich jo bedeutend fein, fo fan das ben 
Ruhm unjeres Sieges nur erhöhen!” jagte er im 
Tone unbeugfamer Zuverfidt. 

„der vielmehr,” fette Brünnow ernit hinzu, 
„den unvermeidlihen Tod nur glorreiher machen!” *) 

Wieder ſchwoll die Zornader auf der Stirn des 
Kommandeurs. Aufbligend überlief fein Auge den 
um ihn verjammelten Kreis. „Wer mein Schidjal 
nit teilen will, fann Jofort jeine Entlafjung 
befommen!“ 

Schweigend ftanden fie um ihn ber. Felt und 
Har begegneten ihm alle die todesmutigen, fampfes- 
freudigen Blide. Nein — NRodhlik hatte wahr ge: 
Iproden: Solde Worte verdienten fie nicht von 
ihm! Und troß feiner Worte — mehr denn je — 
fühlte er fih eins mit ihnen auf Tod und Leben! 

„Shr Schweigen antwortet mir beutlich genug, 
Kameraden!” fagte er warm. „Wir haben uns nod 
nie in einander getäufcht! Gute Nacht denn! Auf 
ein frohes Wiederjehen morgen!” 

Und jo gingen fie, ftumm und ernft. Un: 
widerruflihd war das Schickſal entſchieden, deſſen 
Beſiegelung er in verhängnisvoller Verblendung 
über ſich heraufbeſchworen. 

„In Stralſund da ſollſt Du begraben ſein!“ 








*) Alles wörtlich hiſtoriſch. 


Roman von Hans Werder. 


690 


IV. 


Die Naht ging Ichweigend und bdunfel über 
Stralfund Hin. Ein einziges Fenfter am Neuen 
Markte war noch hell — dort wohnte der „komman- 
dDierende Offizier der hiefigen Provinz“, Major Schill. 
Er.jaß an jeinem mit Plänen und Schriftitüden 
überdedten Tiih und jchrieb. Einen Bericht und 
einen Hilferuf zugleid an den Erzherzog Karl 
arbeitete er aus, ben Graf Voß in aller Frühe 
morgen mit fi nehmen jollte. 

Die Stunden verrannen, der Morgen graute, 
die Sonne ging auf. Da endlih war jein Schreiben 
vollendet. Langgezogene Trompetentöne j&hlugen an 
fein Ohr. Schill fprang auf. Seine Hufaren bliefen 
die Reveille. 

Es war ber Morgen des 31. Mai 1809, Da 
rüdte General Gratien mit dem vereinigten Heere 
der Holländer und Dänen gegen die Stadt Straljund 
vor und leitete den Angriff ein. 

Major Schill wollte eben den Fuß in ben 
Steigbügel jegen, ala der Schall bes erften Kanonen: 
Ichuffes aus der Ferne fein Obr traf. Unwillkürlich 
entblößte er fein Haupt. „Gott Vater, in Deine 
Hände! Zum Sieg — oder in den Tod!” 

Dann jehwang er fih in ben Sattel und jagte 
dem Triebfeerthor zu, den Feind zu erwarten. 
Stolz trug er fein Haupt, wie einer, der dem ge- 
willen Siege entgegenreitet, und jein Auge blißte 
wieder in mannhaft fühnem Feuer, wie einft in der 
Kolberger Zeit. 

Gegen das NKnieperthor, das mangelhaft be: 
feftigte, gingen zwei farfe feindliche Kolonnen im 
Sturmidritt heran. Lieutenant PBeterfon empfing 
fie mit ftarfem Artilleriefeuer, doch drang der Feind 
mit großer Entichloffenheit vor. Die Wälle wurden 
erfiiegen, die Artilleriften niedergemadt, das Thor 
war gejprengt, der Feind drang in die Stadt. Die 
Schilihe Infanterie z0g fich fechtend bis auf den 
Marktplag zurüd. Hier hielten die Schwadronen 
Brünnom und NRodlig als NReferve Ein Gefecht 
mit dem herandringenden Feinde begann, das als: 
bald in wildes Handgemenge ausartete. 

Inzwiſchen waren die Angriffe auf das Trieb: 
feer: und Frankenthor glänzend zurüdgeichlagen. 
Schill war überall gegenwärtig, mit feinem Zuruf 
und Beilpiel feine Getreuen zur höchften Anipannung 
aller Kräfte anfeuernd. Seht vernahm er die Kunde 
vom Eindringen der Feinde. Sn geftredtem Galopp 
jagte er nah dem Marltplag, um perjönlich den 
Befehl über die Keferve zu übernehmen, fand fie 
jedoch fchon im beftigften Kampfe mit den fiegreidh 
vorrüdenben Feindestruppen. 

Cine Heine Schar Hujaren und reitender Jäger 
fammelte er um fi und Iprengte mit diejen dem 
Senteperthore zu, Tod und Schreden verbreitend, 
wo er den blutigen Säbel jchwang. In dichten 
Kolonnen zogen ihm die feindlichen Truppen ent- 
gegen, von Straße zu Straße wandte er fi. Bei 
diefem wilden, verzweifelten Reiten in den engen 
Gaflen aber warb er wieder von jeiner Schar getrennt. 





691 Schwertklingen. 
Sn einer Ede der Knieperitraße nahe der 
Sohannisfirhe hatte fich bie feindliche Generalität 
aufgeftellt, um die Truppen nah dem Marlte Hin 
defilieren zu fehen. Da rafte der einzelne Reiter, 
nur von wenigen Getreuen gefolgt, in geftredter 
Garriere auf fie zu. Mit einem Streich feines 
Säbels bieb er den General Carteret vom Sattel 
herunter, warf dann fein jhaumbededtes Pferd herum 
und fprengte in die Fährftraße ein. 

Ein todeswunder Hular, ein Tapferer aus der 
Kolberger Zeit, lag bier am Boden. Aus brechendem 
Auge jah er zu dem geliebten Führer auf. „Hurra, 
Sıill!” Hang es von den fterbenden Lippen. Das 
ward ber Todesruf für den Helden von Kolberg. Nun 
fannten die verfolgenden Feinde den todbringenden 
Reiter, Er wurde von allen Seiten umringt. Schüffe 
fradhten um ihn ber, doc fie hielten den jfagenum: 
wobenen Qufarenführer für fugelfeft und bieben mit 
ihren Säbeln auf ihn ein, bis er vom ferbe 
herunterſtürzte. 

Tot lag der Held am Boden! 


* * 
* 


Auf dem Alten Markte webrten fih noch bie 
beiden Schwadronen und verlauften ihr Leben um 
den hödhften Preis der Nahe. Ihre Säbel mähten 
die Feinde nieder. Sm der Wut des Kampfes war 
Haflo von den Seinen fortgedrängt, Lieutenant 
Telgentreu vor feinen Augen verwundet, vom Bferde 
geriflen, entwafinet; ob tot oder gefangen fonnte er 
nicht erfennen. Nur Albert Wedel fahb er no an 
feiner Seite. Plöglich ftürzte beflen Pferd, zu Tode 
getroffen und fiel auf jeinen jungen Reiter mit 
ganzer Wucht. 

„Halte Dich, Albert, ih komme!“ jchrie Haflo. 
Da traf ein Hieb feinen rechten Arm. Wie ge: 
brocdhen fiel derjelbe nieder. Haflo faßte den Säbel 
mit der Linlen. Wie ein Nafender Ichlug er fi 
Dur, von Albert trennte ihn ein feindlicher Knäuel 
— er mußte es aufgeben, ihm zu helfen. or: 
wärts: dort Jah er Blomberg im KHandgemenge. 
Schulter an Schulter bahnten fie fih den blut: 
triefenden Weg bis an Brünnows Seite, der einige 
Hundert Reiter um fich gefammelt. Troß hageldichten 
Kartätich: und Gemwehrfeuer ging es im Sturm durdje 
srankenthor ins Freie hinaus. Auch hier wurden 
fie von feindliher Übermadht umringt. Der Führer 
berfelben forderte fie zum Niederlegen der Waffen 
auf, Stralfund fei erobert, Schill gefallen, das Korps 
aufgelöft. „Das ift nit wahr!” jchrie Rodlig in 
Verzweiflung auf. 

„Nein!“ flimmte ihm Brünnow bei, „und wir 
ergeben uns nit — wir wehren uns bis auf den 
legten Mann. Gewißheit müflen wir haben über 
Schills Tod!“ 

Mit Bewilligung des feindlichen Führers wurden 
die Offiziere von Rudorff und von der Horſt in die 
Stadt geſandt, zwei holländiſche Geifeln blieben ihm 
dafür zurück. 





Roman von Hans Werder. 


692 


Reife berieten Brünnow und NRodlig, was danadı 
zu tbun fei. Shrer Hußerung entgegen war es 
ihnen doch faft zur traurigen Gewißheit, daß ihr 
Held dahingegangen im heiligen Opfertobde. 

„Rochlitz, auch Du biſt ſchwer mitgenommen,“ 
raunte Brünnow ihm zu. „Du ſchwankſt ja, armer 
Kerl! Halte Dich nur, bis wir hier heraus ſind!“ 

Haſſo nickte ſtumm. Sein rechter Arm verurſachte 
ihm heftige Schmerzen und aus der linken Schulter 
fühlte er einen heißen Duell unaufhaltſam hervor: 
a Schwarze Wollen umdunlelten ihm den 
Blick. 

Jetzt kamen die beiden Offiziere zurück — ſchmerz⸗ 
erfüllt, die traurige Botſchaft beſtätigend. 

„Und ſind Sie jetzt gewillt, ſich zu ergeben?“ er— 
kundigte ſich höflich der holländiſche Oberſt. 

„Unter keinen Umſtänden!“ war Brünnows Ant⸗ 
wort. „Ich verlange freien Abzug auf der Stelle, 
mit Waffen und Pferden, oder Kampf auf Leben 
und Tod!“ 

Unter dem Eindruck dieſer alles niederſchmettern— 
den Entſchloſſenheit ging der holländiſche Offizier auf 
Unterhandlung ein. Die Kapitulation kam zuſtande. 
Den Schillſchen Truppen ward „bewaffnete Rückkehr 
zur Gnade des Königs von Preußen“ bewilligt und 
Brünnomw führte ungehindert feine dreihundert Reiter 
nah Demmin. 

Mit einer Schar Jäger und Infanterie, die am 
Triebfeer Thor gefochten, hatte fi unterbeflen 
Blandenburg durch den Feind geihlagen, Schritt vor 
Schritt niederwerfend, was ihn entgegenftand. So 
erreichte er glüdlih den Hafen und jchiffte fi mit 
jeinem geretteten Häuflein nah Rügen ein. 

Auf dem Marktplag zu Straljund aber lag bie 
Leiche Ferdinande von Schill, den rohen Händen 
leiner Feinde preisgegeben, von Wunden bebedt, in 
den Hallen des Rathaujes auf einer Fleiihbanl aus: 
geftredt, zerfegt, entitellt bis zur Unfenntlichleit. Ob 
er das wirklich war, der fagenhafte Held? Sie zwei: 
felten daran. Sein Reitineht ward berbeigerufen. 
Ah, der erfannte ihn nur allzu gut. Schluchzend 
preßte er die alte Hand des geliebten Herrn an feine 
Lippen. Und jene beiden Dffiziere vom Franlenthore 
famen, fi von ihres Führers Tode zu überzeugen. 
Ja, es konnte fein Zweifel fein. Schon der DOrben 
an feinem Halfe, der pour le merite mit der Perlen: 
frone, die ihm die Königin geichentt und welche Fein 
Sterblier außer ihm trug, die war das Wahrzeichen 
für den Helden von Kolberg. 

%a — da lag er als Leihe — der berühmte 
Hular! 

„Die Stadt ift Ihnen fehr zu Dank verpflichtet, 
Herr General, daß Sie dielelbe von biefem Räuber 
befreit haben!“ verficherte jchmweifwebelnd ein ange— 
jehener Straljunder, der bisher Schills eifriger An: 
bänger gewejen. Da aber erwadhte in General Gra- 
tiensg Seele das Gefühl der Helden: Rameradichaft, 
und wie jhüßend ftredte er die Sand über den edlen 
Leihnam aus: „Schill war fein Räuber, er war 
ein Held!” 

Doch aber ftand der Verbrecherpreis auf dem 
Haupte diejes Helden. Es ward vom Rumpfe ge: 


693 


trennt und dem König Jeröme eingejandt. Nadı 

langen Sahren erjt fand es Ruhe in ehrlidem Grabe 

zu Braunfchweig, an der Seite feiner Getreuen. 
„Seinen Leihnam fol man verjharren wie 

einen Hund!” fo lautete der Befehl. 

Und das geichah. 


„Doch hat er aud feinen Chrenftein, 

Sein Name wird nimmer vergefjen fein! 
Denn zäumet ein Reiter fein jchnelles Pferd, 
Und fchwinget ein Reiter jein blanke Schwert, 
So ruft er inımer: Herr Schill, Herr Schill, 
Ich an den Franzofen Dich rächen will!“ 


Neunter Abfchhitt. 
Borm Sriegsgericht. 


„Euch ftiehn die Worte wie die Wunden fhün, 
Nah Ehre fehmeden beide“ 


I. 


Die belle AJunifonne drängte fi neugierig 
zwifchen dunfelblauen Vorhängen herein und zeid; 
nete Kleine, dunkle Glanzflede auf die weißgeicheuerten 
Dielen. Hinter diefen Vorhängen jummten tanzende 
Müden an den warm bejhhienenen Fenfterjcheiben. 
Aus dem Kebenzimmer börte man gedämpft das 
Tiden einer Schwarzwälder Uhr. Sonft berrichte 
Schweigen in dem Raume und weiche, bläuliche 
Dämmerung. 

Hallo öffnete die Augen und ließ fie migtrauiich 
umberwandern, über die weißgetündten Wände, den 
großen braunen Kachelofen, die Truhe an der Wand 
und den roßhaarüberzogenen Großvaterftuhl. 

Sn diefer Umgebung aljo hatten ihn die Kame- 
raben zurüdgelaflen mit dem tröftlidhen Veriprechen, 
Nachricht zu geben und ihn nicht zu vergeflen. 

Es war ein harter Ritt gewelen von Straljund 
bis hierher. Sein getreuer Frige hatte ihn im Arm 
gehalten, Schmerz und Blutverluft ihn aber endlich 
völlig übermannt und feine Sinne umbuntelt. Aus 
diejer Ohnmacht war er erwacht unter ben Händen des 
Regiments:Chirurgus Werdermann, ber ihn verbunden 
und auf diejes Lager gebettet. Die Kameraden hatten 
teilnahmooll um ihn geftanden, in bejagter Weite von 
ihm Abjchied genommen und waren nun fort, ber 
Arzt mit ihnen. Hallo blieb allein und ein trauriges 
Gefühl der Verlaflenheit überfam ihn mit dem Be: 
wußtfein tödliher Schwähe und Eridhöpfung. Er 
verjuchte, fich zu bewegen, doch fein rechter Arm war 
geichient und verbunden, auch die linfe Edulter in 
irgend einem AZuftande bes Gefefleltfeins, und der 
eine Fuß that ibm web, ehe noch der Bewegungs: 
verfuh vom Entihluß zur Ausführung gelangt war. 
„Die Teufelsbande fcheint mich ja lieblich zugerichtet 
zu haben!” meinte Hallo für fih. „Kein heiles Ge 
bein an mir, fo zu jagen!” 

Er dachte an feinen lieben Kommandeur und 
al die waderen Kameraden, die mit ihrem Herzblut 


Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 


694 


die graufige Walflatt getränft, und es überlam ihn 
ein grenzenlojes Bedauern, baß er nicht unter ihnen 
fein durfte. Warum nur hatte ihn gerade der falte 
Tod verihont? Keine Menfchenfeele auf der ganzen 
Welt hatte Freude an feinem Wohlergehen oder fragte 
nur danach, ob er lebte oder tot wäre. Und wenn 
er vielleicht gar als Snvalide, als Krüppel weiter: 
leben müßte, mit feinen fünfundzjwanzig Jahren! 
MWie viel — ah, wie viel beiler für ihn — wäre er 
gefallen als ein Held an der Seite Ferdinands von 
Schill! 

Als ein Held — ja freilich, dann hätte ihn ſelbſt 
Renate ſo genannt, das wußte er wohl! Und mit 
dieſem Gedanken ſchlief er ermattet ein. Doch es 
war ein unruhig fieberhafter Schlummer, voll wüſter 
Träume, in denen Blut und Pulverdampf ihn um: 
gaben. Geängſtet erwachte er hin und wieder und 
verlangte zu trinken. Dann ſah er den getreuen 
Fritze an ſeinem Lager, und das nächſte Mal eine 
fremde weibliche Perſönlichkeit, die er energiſch erſuchte, 
ihn zu verlaſſen. 

Gegen Morgen endlich wurde er ruhiger und 
ſchlief tief und feſt bis an den lichten Tag. 

Als er erwachte, waren keine Lichtflecke am Boden, 
doch bläuliche Tageshelle im Gemach, und dem Ge— 
räuſch der Mücken und der Schwarzwälder Uhr hatte 
ſich noch ein drittes beigeſellt, noch leiſer, wenn 
möglich, das Knittern emſig bewegter Stricknadeln. 
Auf einem Stuhl neben ſeinem Bett ſaß ein Frauen— 
zimmer, ſchlank und hübſch von Anſehen, mit weißem 
Häubchen auf dem zierlichen kleinen Kopf, ein Strick— 
zeug in Händen, und ſtrickte und ſtrickte. 

Haſſo lag ſtill und ſah ihr zu, lange Zeit. 
Endlich ſagte er: „Verehrteſte Dame!“ Da drehte 
ſie lebhaft den Kopf herum. Ein paar helle braune 
Augen ſchauten aus einem runden, roſigen Antlitz 
überraſcht und lachend in die ſeinen. 


„Herr Lieutenant — guten Morgen! — O, wie 
wach und verſtändig Sie mich anſehen! Kein Fieber 
mehr! Ich dachte es mir ſchon nach dem ſchönen 
tiefen Schlaf!“ Bei dieſen Worten, in ſtark vor—⸗ 
pommerſcher Mundart geſprochen, erhob ſie ſich, ſchlug 
den Vorhang zurück und öffnete das Fenſter. Würzig 
belebend drang die warme Sommerluft herein, mit 
dem Duft der Lindenblüte gemiſcht. Er ſah die 
grünen Lindenwipfel vom Bett aus. Sie rauſchten 
und dufteten ihm zu und ſprachen von Leben, Ge—⸗ 
neſung und Glück. — Er ſeufzte. 


„Darf ich fragen, mit wem ich eigentlich die 
Ehre habe — und wo ich mich befinde?“ ſetzte er dann 
die begonnene Unterhaltung fort. 

Sie kehrte zu ihm zurück, nahm ihren Platz an 
ſeinem Lager wieder ein, doch ſo, daß ihr Geſicht 
ihm zugekehrt war, und behielt das Strickzeug zwiſchen 
den zuſammengelegten Händen. 

„Nun, jedenfalls bin ich nicht Renate!“ ſagte 
ſie, und ein ſchalkhaftes Lächeln bildete Grübchen in 
Kinn und Wangen. „Verzeihen Sie mir, Herr Lieu— 
tenant, wer das auch ſein mag, ob Ihr Schweſterchen 
oder gar Ihr Fräulein Braut, Sie haben mich dieſe 
Nacht zweimal ſo genannt, und ich hörte es gern, 


695 Schwertklingen. 








obgleih Sie reht unwirsch thaten und mir erklärten, 
daß Sie ungeftört zu fein wünjchten!“ 

„Wie unhöflih — ich bitte um Entichuldigung!” 
Ihaltete Haflo ein. 

„D, das madht nihts! Es thut mir faft leid, 
daß Sie mih nun nicht mehr fo nennen werben, 
denn ich heiße Adline Kernholz! Frau Paflorin Kern: 
bolz in Mübhlenhof!“ 

„rau PBaftorin?” wiederholte Haflo lachend. 
„Mein Himmel, eine rau Baftorin hab’ ih mir aud 
. mein Xebtag anders vorgeftellt! Giebt es denn bier 
auch einen Herrn Paftor dazu?” 

„Aber gewiß doh! Sie find im Mühlenhofer 
Pfarrhaufe, feit geftern mittag jehon, mein lieber Herr 
Lieutenant. Wir befinden uns bier gerade zwilchen 
Stralfund und Demmin und mid) wundert nur, daß 
Sie jo weit gelommen waren, bei dem Blutverluft! 
Mein Gott, in weldem Zuftand waren Sie! Die 
armen Schillihen Herren machten bier beim Dorf: 
fruge Halt, einige famen zu uns, wir konnten ihnen 
eine Meine Erfriihung anbieten. Die meiften waren 
ja verwundet und alle jo müde, erhigt und nieber- 
geihlagen — zum Sterben! — Bis an mein Lebens: 
ende vergeß ich den Eindrud nicht, den biefe Männer 
auf mich madten — fampfesmüde unb fampfesburftig 
zugleich — voller Mut und doch fo tiefer Verzweiflung! 
Immerfort ſeh' ich biefe finfter verwogenen Gefichter 
im Geift um mi!” Sie hatte ernft, faft begeiftert 
geiproden und bielt dann inne. Nach einer Paue 
fuhr fie fort. „Und da fah ih Sie, Herr Lieutenant, 
totenblaß, halb verblutet! Ahr Bedienter hielt Sie 
in den Armen, von einem ber anderen Herren unter: 
ftügt! Diefe baten mid, Sie bier zu behalten, fonft 
wär’8 am Ende gar um Gie geihehen! Nun, und 
das jah ich ein, da hab’ ich mich denn nicht Tange 
bitten laſſen!“ 


* * 
* 


Haflo fing an, fih unter den forgiamen Händen 
der thatkräftigen jungen Frau PBaftorin zu erholen. 
Sein Frite war unentwegt getreu im Dienft und 
in der Pflege jeines Herrn. 

Den Baftor Kernholz Iernte Haffo nun aud 
fennen und hatte feinen Grund mehr, an jeinem 
Vorhandenlein zu zweifeln. Er war ein ebenfalls 
noch jugendlicher Herr, mit Eugen Augen und langer, 
Ipiter Nafe, auf welcher eine Brille jaß. Er ſprach 
langfam in gewählten Ausbrüden und böcdhft würbe- 
voller Haltung. Seltfam ftah feine lebensfrilche, 
junge Gattin mit ihrem findliden Frohfinn von ihm 
ab. Hallo vermochte nicht, ihn mit der gleihen Sym: 
pathie zu umfaflen, melde fie, bie liebliche Kleine 
Frau, ihm einflößte. Doch ergößte es ihn jehr, mit 
feinen unglaubliden Geſchichten und dramatiſch ge— 
färbten Vorträgen den geiſtlichen Herrn erſt in Er— 
ſtaunen, dann in wachſende Entrüſtung und zuletzt 
außer aller Faſſung zu bringen. Dabei aber ver— 
mochte dieſer ihm doch nie ernſtlich zu zürnen, und 
konnte kaum Einwendungen erheben, wenn ſeine 
Frau ihm wieder und wieder verſicherte: „Unſer 
Lieutenant iſt ein ſo ſeelensguter Menſch!“ 





Roman von Hans Werder. 


696 


Der roßhaarbezogene Großvaterſtuhl ſtand tags 
bei ſchönem Wetter draußen unter ben Linden und 
Hallo ruhte darin und atmete Genefung aus Sonnen- 
ihein und Blütenduft. Die Fleiihwunde in der 
Scdulter, die ihm fo großen Blutverluft bereitet, 
war leicht und gut geheilt, der Arm aber noch gänzlich 
fteif und fchmerzhaft und ber Fuß ebenfalls. Er 
fürdhtete Invalide zu werben, und die Frau Paftorin 
hatte Mühe genug, ihm diefen Gedanken auszureben. 
Wenn fie nur bei ihm faß mit ihrem Stridzeug 
und dem fröhlichen Geplauder, das wie ein heller, 
geihmwägiger Yah an feinem laufchenden Ohr Hin 
murmelte, dann war ihm ja auch freier und leichter 
ums Herz War fie aber fort, in ihrer Kleinen 
Häuslichleit thätig, dann famen die dunklen Stunden 
über ihn. Er war eben ein zur Gejelligfeit gefchaffener 
Menih. Das Alleinjein bevrüdte ihn. Darum war 
die gänzliche Einfamkeit feines Lebens ihm ein jo 
jchweres Kreuz, deflen Laft fih immer wieder fühlbar 
machte und ihm ben freubigen Herzichlag der Jugend 
lähmte. 

Er faß, den Kopf in die Hand geftügt, unter 
dem Lindenbaum und fehaute grübelnd in die Ferne. 
Die Blüten waren längft herabgefallen, des Kududs 
Ruf verftummt. Drüben auf den Feldern fuhr man 
das Korn herein — bocdhbeladene, goldene Fuder, 
von ber finfenden Sonne beleudtet. Die Harfen 
der Schnitterinnen blinkten wie ftählerne Speere in 
dem Wiederichein. Es war ein jo heimifches Bild — 
und machte ihm das Herz jchwer. Dazu das Qualen 
ber Fröjche in dem Kleinen, grün überwachlenen Weiher 
— genau wie im Wallgraben zu Redentin. Nur 
daß diefe nicht „Sunler Haffo“ nah ihm riefen. 
Es waren eben nicht die heimijchen Redentiner Fröjche! 
— Niemand rief ihn von der Heimat ber. Er war 
der Lehnserbe und war beimijch dort, unbeitreitbar 
vor Gott und Menjhen und dod ein Fremdling, 
nach dem feiner fragte. 

Er lehnte den Kopf zuüd und ein Seufzer 
zitterte über jeine Zippen. So blieb er lange. 

„Run, Herr Lieutenant, nun haben Sie wohl 
genug Trübjal geblajen!” wedte ihn die frifche 
Stimme feiner Pflegerin. „Nun fchauen Sie mal 
auf, ich babe bier Belleres für Sie!“ 

Lebhaft fuhr er empor und Jah mit nicht weg⸗ 
zuleugnendem Vergnügen, wie fie auf dem Garten: 
tiichchen vor ihm das verlodendfte Abendeflen von ber 
Welt berrichtete. Dide Mil und Träftiges Yandbrot, 
goldgelbe Butter und frifchgelochte Eier. Es ließ ſich 
in dem gejegneten Borpommern jelbit in der Sranzojen- 
zeit noch erträglich leben. 

„DVerehriefte Frau Paftorin, anmutige Seelen: 
hirtin, ich jehe bier nur einen Teller!” jagte Haflo. 
„Denken Sie, daß Sie hrer Wege gehen und mich 
mit diejer Göttermahlzeit allein laffen werben? Dann 
werfe ich den Tiih um und die ganze Beicherung 
liegt im Graje!” 

„Herr Lieutenant, um Himmels willen!” Sie 
ergriff die Tiichplatte Ichügend mit beiden Händen, 
denn fie traute ihm, mit einem Wort gejagt, alles 
zu. „Sch will mir einen Teller holen, will ja bier 
bleiben! Mein Dann ift nah Demmin gegangen —” 





697 

„Ra eben, das weiß ich doch!” 

„Run ja, darum fanı ih’s ja auch! Aber 
fonft — Sie müſſen doch auch nicht fo ungeftüm 
und gewaltthätig jein —” es folgte eine längere 
Ermahnung, bie Hallo mit Vergnügen über fich er: 
gehen ließ. 

„Wenn ich nur wüßte, wie ein Menjch jo ganz 
aus zweierlei Wejen beftehen Tann, wie Sie!” 
lagte fie dann, als die Stimmung wieder ernit 
und vernünftig geworden war. „Eben noch meint 
man, die Melandolie und Schwermut drüdt 
Shnen das Herz ab, jo daß man jchier mit Syhnen 
weinen möchte vor Kummer — und da im Hand: 
umdrehen jchlägt ein Übermut heraus, daß man 
nur Mühe bat, fich feines Lebens zu ermwehren. 
Sagen Sie’s mir doch, welches ift denn nun Shre 
wahre Geftalt?” 

Hallo Jah ihr nachdentlih, finnend ins Geficht 
und dann wieder fort in die jommerlihe Ferne. 
„Welches ift denn die wahre Geftalt Shres Gartens 
bier?” fragte er zurüd. „Der Eonnenidein und die 
Nojen — oder der Herbitfturm mit fliegenden Blättern 
und Negengüflen — oder der Schnee auf Bäumen 
und Wegen und Eis auf dem Meiher dort? Be: 
antworten fih meine Frage und Shre eigene damit 
zugleich!” 

Sie blidte ihn forfhend an. „Sie haben recht, 
meine Frage war thöriht! Man braucht Sie nur 
anzujehen — Shre merkwürdigen Augen! Stürme 
und Sonnenjdhein — und Sonnenglut — e8 fteht 
alles darin verzeichnet. Db au Schnee und Eis — 
das kann ih mir kaum vorftellen!“ 

„Sa, aubh Schnee und Eis!” fagte Haſſo und 
dachte an feinen Abjchied von Renate. 

„Das möchte ich nicht erleben!” meinte fie 
mit leichten Schauder. „Sie müfjen gar nicht wieder 
zu erfennen fein! und dob, ja — ja — ih kann 
mir’s denen!” 

„Ih bin auch nicht wieder zu erfennen! Für 
mich felber nicht, und bin dann fo unglüdlih, daß 
ih meinen Kopf zerichmettern möchte an den Eis: 
Ihollen im eigenen Herzen!” Er fagte e3 mit einer 
Art von Ingrimm, der deutlich zeigte, wie er aus 
lebendiger Erinnerung pradj! 

„Sie haben mir ja jhon oft von Zhrer Kindheit 
erzählt, von hrer Soufine Lotte und dem Pflege: 
bruder,” nahm fie wieder das Wort. „ch glaube, 
das Edhlimme dabei war, daß es Ahnen ftets an 
Liebe fehlte! Niemand hat Sie lieb gehabt, wie es 
Kinder bedürfen, und niemand war da, den Sie jo 
recht innig lieben konnten mit Jhrem ungeftümen 
Herzen! — Hat denn hr fpäteres Leben Yhnen 
nicht Erjat gebradht?” Aweifelnd überlegend jah fie 
ihn an — und etwas wie Neugier taudhte in ihren 
freundliden Augen auf. „Könnten Sie mir nidt 
einmal jagen, wer Renate ift?” jeßte fie zögernd 
fragend hinzu. 

Ein Lächeln glitt über fein Gefiht und darunter 
verbarg fih ein Seufzer, der leije feine Brujt bob. 
„Renate — ift, glaube ih, gar Fein menjchliches 
MWejen! Sie ift ein Traum, ein jo fonniger, ladender 
srühlingstraum, wie er wahrjcheinlich nie zur Wirklich: 


NReman-Leitung 1896. 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 


693 





feit werden kann! — Ach, die Wirklichkeit ift graufam!“ 
Er drüdte die Hand vor die Augen. 

„Wie fieht Renate aus?” forichte die Kleine 
Paſtorin weiter, mit unbezwinglicher Neugier an dies 
Thema gefejlelt. 

„So — wie jolde Lilie da —“ fagte er und 
deutete mit dem Daumen rüdwärts nach bem großen 
runden Blumenbeet hin, das vor den Fenftern des 
Pfarrhaufes in den Rafenplat hineingezeichnet lag. Es 
ftanden weiße, ſchlanke Lilien darauf in vollftem 
Blühben, und jedesmal, wenn er, auf jeinen Stod 
geftügt, daran vorbeiging, mußte er an Renate denken. 
Die Paftorin folgte feiner Weifung mit dem Blid. 

„And Augen bat fie wie ein Neb!“ jebte er 
nad Eurzer PBaufe hinzu. 

Die braunen Augen feiner Zubhörerin ftrahlten 
ihn an wie zwei große, runde Fragezeichen. Ihn 
noch weiter auszuforihen erihhien ihr gar zu auf: 
dringlih, aber Überwindung foftete fie die Zurüd: 
haltung. 

„Sie meinten vorhin,“ fprah er weiter, „ob 
e8 befler mit mir geworben, jeit ich ins Leben hin- 
austrat — ja und nein! — Ih will Ihnen erzählen, 
Frau Paftorin, ich fand mwenigftens zwei Menjchen, 
an die ich mein Herz ganz und gar verausgaben 
durfte, wenn ich auch nicht viel Erfreuliches dafür 
geerntet Habe. 

„Der eine war Prinz Louis. Ich hatte das 
Süd, ihm perjönlid näher zu ftehen, ich gehörte zu 
feiner Suite während des Krieges. Er war mein 
höchſtes deal! Sede Lebensfafer hätt’ ich für ihn 
bingegeben! Angebetet hab’ ich ihn! — Er wurde 
vor meinen Augen erjhhlagen, in der Saalfelder 
Schlacht! Ich hielt ihn in meinen Armen, als ob 
ih ihn mit meinem Herzblut noch einmal erwärmen 
fönnte! Aber nein — er war tot! — Das andere 
war ein Mäddhen. — Renate. — Gie gab mir 
harte, höhniiche Worte!” 

Er Ipradh nicht weiter. Seiner Zubörerin liefen 
die hellen Thränen über die Wangen auf ihren fleißig 
geförderten Striditrumpf hinab. 

Endlih richtete er fih auf. „Das Scidlal 
bleibt mir übrigens treu! Sch babe meinen lieben 
Kommandeur verehrt und lieb gehabt und ihm nabe 
geftanden, wie nur wenige unter uns! — Sc jah 
ihn zu Grunde gehen, Schritt für Schritt! Nun ift 
er gefallen und alles zu Ende!” — Seine Gedanlen 
zogen weiter zu Albert Wedel, den er ebenfalls lieb 
gehabt, den fie gefangen genommen, ohne baß er 
ihm zu belfen vermodht, und deilen Schidjal ihn oft 
mit jchwerer Sorge erfüllte. 

„Sie malen das alles mit jehr Ihwarzen Farben,” 
lagte die Kleine Paftorin, nachdem fie jchweigend ein 
Weilden feinen Worten nacdgejonnen. „So redt 
fann ih no gar nidht daran glauben! Wenn 
Renate wie eine Lilie ift und Augen bat wie ein 
Reh — wie Tann fie da falih und berzlos jein! 
Dder wenn fie’s wirklih war, vielleicht ohne es jo 
bös gemeint zu haben, jo bereut fie’s lange! Glauben 
Sie mir nur — id verfiehe mih auf Mädchen- 
herzen! ch bin überzeugt, Sie thun ihr unredt!“ 


IV. 49 


699 





Haſſo lächelte Ihwermütig.‘ „Das freilich er- 
jheint mir von allen VBorausjegungen als Die un- 
wahrjcheinlihfte, daß ich ihr follte unredht gethan 
haben! Denten Sie fi einen befjeren Troft aus, 
Frau Paftorin! An diefen fann ich nicht glauben! 
So wenig, wie Sie daran glauben, baß Zhre Lilien 
wieder aufblüben, wenn Shr Garten unter Schnee 
und Eis vergraben liegt!” 


I. 


„Herr Lieutenant von Rochlitz, es iſt ein Mann 
da, welcher Sie zu ſprechen wünſcht!“ ließ ſich die 
Stimme des Paſtor Kernholz würdevollen Klanges 
vernehmen. 

„Mich zu ſprechen?“ 

„Ja, er wartet Ihrer im Hausflur. Wünſchen 
Sie aber, ſo kann er auch hierher in den Garten 


beſchieden werden!“ 

„Gewiß nicht, Herr Paſtor! Danke verbind— 
lichſt! Ich gehe ſchon!““ 

„Es iſt ohnehin Zeit für Sie, daß Sie hinein: 
kommen! Es wird neblig und feucht hier draußen!“ 
Mit dieſen ausſchlaggebenden Worten war die rüſtige 
Frau ihrem Pflegling beim Aufſtehen behilflich. Er 
dankte ihr mit dem lachenden Blick, der oft viele 
Worte zwiſchen ihnen erſetzte, ſtützte ſich feſt auf 
ſeinen derben Knotenſtock und hinkte dem Hauſe zu. 

Im Hausflur trat der MWartende ihm freude: 
ftrablend entgegen. Es war ein Unteroffizier aus 
feiner Schwadron, der das lette Ringen der Schill 
Ihen am Franfenthore mitgefohten. Seht fland er 
da in ländlidem Anzuge, den linten Rodärmel 
Ihlaff herabhängend. Der Arm war ihm abge: 
nommen. 

„Krauſe — hr!“ 

„Herr Lieutenant!” 

Der Lieutenant firedte ihm die gejunde linke 
Hand entgegen. Der Unteroffizier ergriff fie mit 
ber rechten, einzigen. Bewegt ftanden fie fich gegen: 
über, einer den anderen gerührt betrachtend. „Dein 
guter Kraufe, wie kfommt hr denn hierher? Wie 
freu’ ih mid, Euch zu jehen!” jagte Hallo endlich. 

„Ih wollte doch jehen, was aus dem Herrn 
Lieutenant geworden ift!“ lautete die treuberzige 
Antwort. 

„Das ift brav von Euh! — Nun fommt mit 
mir herein! Müßt mir viel erzählen!” 

Kraufe jaß feinem Lieutenant gegenüber und 
erzählte. Er war, nachdem der zerichoflene Arm 
ibm abgenommen und die Wunde notdürftig im 
Lazarett geheilt, als Anvalide aus der Armee ent: 
lafien. Er wollte dann feine Heimat Prenzlau auf- 
juden, der Umweg über Mübhlenhof war nicht be: 
deutend, und die Herren Lieutenants Brünnom, 
Hagen und Blomberg hatten ihm Aufträge für 
jeinen Herrn Lieutenant mitgegeben. Diejelben be- 
ftanden in einem mwohlverfiegelten Päckchen, mit bem 
Vermerk verjehen, daß, falls Hafjo Mühlenhof ver- 
lafien, man es ihm nachjenden, wenn er aber tot 





Schwertflingen. Roman von Hans Werder. 





700 





fei, ver Paftor Kernholz dasjelbe öffnen möchte. Als 
Abfender fianden bie drei genannten Namen darauf 
verzeichnet. 

„Die guten Kerls!” fagte Hafjo mit Innigleit. 
„Aber vor allen Dingen, KRraufe, wo find bie 
Herren? Wo find alle die Unjrigen, die fi) be= 
waffnete NRüdkehr zur Gnabe des Königs ausbe: 


dungen?” 

„Sn Kolberg, Herr Lieutenant! Auf Der 
Feſtung!“ 

„Auf der Feſtung —?“ 

„Jawohl, in Unterſuchungshaft!“ Er erzählte 


nun, wie die Schillſchen auf preußiſchem Gebiet 
durch Offiziere in Empfang genommen worden, die 
Mannſchaften dem Weftpreußifchen Ulanen-Regiment 
in Konig zugeteilt, die Offiziere nach Kolberg ge= 
fandt wären. Sin ben näditen Tagen würde Kriegs: 
gericht abgehalten werben, das in Stargard zufammen- 
treten jollte. 

„Sn den nädhften Tagen — großer Gott — !” 
Haſſo ſann nad. „Sagt mir nur, Kraufe,” fuhr er 
dann Hafiig auf, „it ber Lieutenant Wedel von 
unjferer Schwabron darunter? Habt ZYhr irgend 
etwas von ihm gehört?” 

„Nein, Herr Lieutenant! Von unjerer Schwadron 
ift nur Herr von Blomberg da! Die Herren Lieus 
tenants Wedel und Felgentreu müflen tot oder in 
Gefangenjhaft geraten fein, es weiß niemand etwas 
von ihnen!” 

Die Hausfrau trat abermals herein, brachte 
Licht, als ahnte fie, daß Haſſo Briefe zu lejen 
hätte, und forderte den Fremden auf, einen Imbiß 
zu nehmen. Auf Hallos Geheiß folgte er ihr. Und 
biefer öffnete nun das Pädhen. Zunädjft fiel ein 
Furzes Schreiben feines Freundes Hagen heraus nebjt 
einer erfreuliden Summe Geldes. Er müfje an: 
nehmen, daß fein lieber Rodhlig einiger Barjchaft 
jehr benötigt, oder falls er feinen Wunden erlegen 
fein follte, der Paftor Kernbolz Untoften von jeiner 
Aufnahme gehabt habe. Sie hätten dem Bleflierten 
verſprochen, für diefen Fall einzuftehen, als fie ihn 
damals in feinem Haufe zurüdgelajjen. 

Haflo war gerührt durch des Freundes unver: 
brühlihe Treue, fein edles Herz und feine offene 
Hand. Er kannte dieje Eigenjhaften Tängit an ihm, 
fühlte fi” aber boppelt angenehm davon berührt, 
da fie ihm bier perjönlich entgegentraten und ihn 
bei dem augenblidlidh niedrigen Stande feiner Bar: 
Ihaft aus einer Art von Notlage befreiten. 

Weiter enthielt das Pädchhen Briefe von Brünnow 
und Blomberg. Mit erfterem hatte fi) Hafjo immer 
ferngeftanden. Doch auf dem blutgetränften Marlt- 
plage von Stralfund, wo fie Seite an Geite mit 
der tobbringenden Übermadht gerungen, war eine 
Art von Blutsbrüberihaft zwilhen ihnen auige- 
richtet, welche fie mit ganz eigener Sympathie für: 
einander erwärmte. Brünnoms Feilen waren kurz 
und Inapp, vol orthographifcher Fehler, doc auch 
vol guter Bemerkfungen und warmer Teilnahme für 
das Schidjal bes Empfängers. Alerander Blom- 
berg aber teilte ihm, febergewandt, in fließendem 
Stile mit, was er bereits durch ben Unteroffizier 


701 





erfahren, nur ausführlider und mit einigen Neben: 
bemerfungen verjehben, wie fie unter Kameraden 
üblih. „Sn drei Tagen verlaflen wir nun bies er: 
bauliche Lolal, um uns zum Verhör nah Stargard 
zu begeben. Ercellenz Blücher wird Vorfigender bes 
Kriegsgerihts fein. Wie es uns ergehen wird, 
mögen bie Götter wiffen!” Damit |hloß der Brief. 

„Gehgen unſern guden Komanndöhr ift der 
Deferfiohns: oder Konfisfafionsprojes Eingeleihdet!” 
nn in Brünnows Schreiben no an den Rand ge- 
ritzelt. 

Haſſo bebte vor Aufregung. Dieſe letzte Be— 
merkung beſonders traf ihn wie ein Stich ins Herz. 

Mühſam erhob er ſich und erſchien alsbald in 
der Thür des Wohnſtübchens, in welchem das Kern⸗ 
holzſche Ehepaar beiſammen ſaß. Der geiſtliche Herr 
hielt einen Vortrag, dem ſeine Gattin ausnahms— 
weife nur ein halbes Ohr lieh. Bei Haflos Eintritt 
iprang fie erihroden auf. Sie wußte, daß etwas 
Außerorbentliches Tommen würde. 

„Berzeihen Sie, verehrter Herr Baftor, wenn 
ih Ihre Güte nochmals in Anjprudh nehmen muß! 
Es giebt bier in Mühlenhof für Geld und gute 
Worte wohl ein Fuhrwert zu mieten! Können 
Sie mir dazu behilflih fein? Jh muß morgen 
ſchon Ihr gaftlides Haus verlafien, um mid in 
Stargard dem Kriegsgericht zu Stellen!“ 

Frau Aline that einen Schrei bes Entjeßens. 
Das Wort Kriegsgericht hatte in dunklem Ahnen für 
fie eine Bedeutung, die ben Schrednifjen des jüngften 
Gerichts gleihlam. Auch der Paftor murmelte etwas 
wie eine Beihmwörungsformel. 

Haflo gab ihnen eine kurze Erklärung jeines 
Vorhabens. Der Paftor konnte nit umhin, feine 
Gründe als richtig anzuerlennen, erinnerte aber 
daran, daß der Wagen jebt in der Erntezeit jehr 
teuer jein würde. 

„Das wäre ja gleichgültig,” rief die Paſtorin 
erregt, „aber Sie lünnen doch nicht reifen, Herr 
Lieutenant; faum hab’ ich Sie jo weit, daß Sie fid) 
mühſam am Stod bewegen, und nun joll alles 
wieder aufs Spiel gejebt werden!” Cs folgte eine 
Flut von Klagen und Bitten — beinah von Thränen. 

„Frau Paſtorin,“ ſagte Haſſo lächelnd, als ſie 
innehielt, „wenn es gälte, mein Leben durch dieſe 
Fahrt zu retten, ſo würden Sie mich nicht zurückzu— 
halten ſuchen! Hier aber gilt es nicht mein Leben, 
ſondern meine Ehre, und daß mir die ſehr viel mehr 
wert iſt, das wiſſen Sie doch auch nachgerade — bei 
unſerere langen Bekanntſchaft!“ 

Ja, ſie wußte es und verſtummte. Ihre Kennt— 
niſſe hatten ſich im Verkehr mit ihm bereichert, auch 
auf Gebieten, die ihrem weltfremden Anſchauungs-— 
freie bis bahin ferngelegen. 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 








102 





„Herr Lieutenant von Rohlig, ich wage nicht, 
Shnen zu widerjpreden!” fagte der Paftor. „Wenn 
Sie fühlen, daß die Pfliht Sie ruft, jo müflen alle 
anderen Bebenten dagegen verflummen! Gern hätte 
ih Sie, unferen verehrten Gaftfreund, noch länger 
unter unjerem Dad beherbergt, das willen Gie! 
Und ftets werden wir uns freuen, Sie wieder über 
unfere Schwelle treten zu jehen!” 

Frau Abline verichludte tapfer ihre Abjchiebs- 
thränen und war ihrem Pflegling behilflich, fein 
Bündel für bie Reife zu fchnüren. Am anderen 
Morgen hielt ein Leiterwagen vor der Thür, mit 
großen Strohbunden ausgepolitert, ein erntemübes, 
hochbetagtes Röflein davor. Das war Haflos Reife: 
gefährt. 

Vaftor Kernholz gab ihm wohlgemeinte Segens: 
wünjfhe mit auf den Weg, die Hallo voll warmen 
Dankes erwiderte. 

„Ich komme ganz gewiß einmal wieder her, 
um Ihnen noch beſonders zu danken für alles, 
was Sie an mir gethan haben! Ich weiß ja nicht, 
was aus mir wird, wie das Urteil des Kriegsgerichts 
ausfällt, aber wenn ich Leben und Freiheit behalte, 
—— bin ich plötzlich wieder da, ehe Sie ſich's ver⸗ 
ehen!“ 

Die Frau Paſtorin war aus dem Garten ge— 
kommen, mit rot geweinten Augen. Sie hielt einen 
der ſchlanken Lilienſtengel in ihrer Hand, die Haſſo 
mit ſo beſonderen Augen angeſehen, und den gab ſie 
ihm. Sprechen konnte ſie nicht, der ungehorſamen 
Thränen wegen. 

Haſſo nahm die Blume und küßte dabei die 
kleine, arbeitsharte Hand. Das war ihr noch nie 
geſchehen, aber ſie hinderte es nicht. „Frau Paſtorin, 
Sie find wie ein Engel zu mir geweſen! Gott 
ſegne es Ihnen! Auf Wiederſehen!“ 

Fort ging nun die Reiſe. Der getreue Fritze 
ſaß an des Fuhrmanns Seite, Haſſo aber lag auf 
ſeinem Strohbündel ausgeſtreckt, in trübes Sinnen 
verloren. Jeder Stoß ſeines unbarmherzigen Gefährtes 
verurſachte ihm Schmerzen, und die Stöße kamen 
zahllos, unerbittlich. 

In ſeiner Hand hielt er die Lilie, die Frau 
Adline ihm geſchenkt. Er blickte darauf nieder. 
Der Morgentau lag noch auf den ſchneeweißen 
Kelchblättern, wie ſchwere Thränen. — Ob Renate 
jemals Thränen vergoß? Konnte ſie überhaupt 
weinen? — Ach ja — damals vor Jahren, als er 
mit Prinz Louis in den Krieg zog — da hatte ſie 
bitterlich geweint! Um ſeinetwillen! Da war ſie 
noch ein Kind! Ach, wie lange war das her! Jetzt 
hatte ſie keine Thränen mehr für ihn — nur kalte, 
verächtliche Worte! 


(Fortfegung folgt.) 


699 Schwertllingen. 
Haffo lächelte ſchwermütig. „Das freilich er: 
jeint mir von allen Vorausfeßungen als die un: 
wahricheinlichfte, daß ich ihr follte unredht gethan 
haben! Denten Sie fi einen befjeren Troft aus, 
Frau Paftorin! An diefen kann ich nicht glauben! 
So wenig, wie Sie baran glauben, daß Shre Lilien 
wieder aufblühen, wenn Yhr Garten unter Schnee 
und Eis vergraben liegt!” 


I. 


„Herr Lieutenant von Rochlitz, es iſt ein Mann 
da, welcher Sie zu ſprechen wünſcht!“ ließ ſich Die 
Stimme des Paſtor Kernholz würdevollen Klanges 
vernehmen. 

„Mich zu ſprechen?“ 

„Ja, er wartet Ihrer im Hausflur. Wünſchen 
Sie aber, ſo kann er auch hierher in den Garten 
beſchieden werden!“ 

„Gewiß nicht, Herr Paſtor! Danke verbind— 
lichſt! Ich gehe ſchon!“ 

„Es iſt ohnehin Zeit für Sie, daß Sie hinein: 
fommen! Cs wird neblig und feucht bier draußen!“ 
Mit diefen ausichlaggebenden Worten war die rüftige 
Frau ihrem Pflegling beim Aufftehen behilflih. Er 
dankte ihr mit dem lachenden Blid, der oft viele 
Worte zwilchen ihnen erfeßte, ftüßte fich feft auf 
feinen derben Knotenftod und hinkte dem Haufe zu. 

Im Hausflur trat der MWartende ihm freude: 
ftrablend entgegen. Es war ein Unteroffizier aus 
feiner Schwabron, der das lette Ringen der Schill: 
Ihen am Franfenthore mitgefochten. Seht fland er 
da in ländlidem Anzuge, den linten Rodärmel 
Ihlaff herabhängend. Der Arm war ihm abge: 
nommen. 

„Kraufe — hr!“ 

„Herr Lieutenant!” 

Der Lieutenant ftredte ihn die gejunde linke 
Hand entgegen. Der Unteroffizier ergriff fie mit 
der rechten, einzigen. Bemwegt ftanden fie fih gegen: 
über, einer den anderen gerührt betrachtend. „Mein 
guter Krauje, wie fommt hr denn hierher? Wie 
freu’ ih mid, Euch zu fehen!” fagte Haflo endlich. 

„Ich mollte doch jehen, was aus dem Herrn 
Lieutenant geworden if!“ lautete die treuberzige 
Antwort. 

„Das ift brav von Euh! — Nun kommt mit 
mir herein! Müßt mir viel erzählen!” 

Kraufe jaß feinem Lieutenant gegenüber und 
erzählte. Er war, nahdem der zerichoflene Arm 
ibm abgenommen und die Wunde notbürftig im 
Lazarett geheilt, als Invalide aus der Armee ent: 
laflen. Er wollte dann jeine Heimat Prenzlau auf: 
juden, der Ummeg über Mühlenhof war nicht be- 
deutend, und die Herren Lieutenants Brünnom, 
Hagen und Blomberg hatten ihm Aufträge für 
jeinen Herrn Lieutenant mitgegeben. Diefelben be- 
ftanden in einem wohlverfiegelten Bädchen, mit dem 
Vermerk verjehen, daß, falls Haflo Mühlenhof ver- 
lafien, man es ihm nachlenden, wenn er aber tot 


Roman von Hans Werder. 





700 


fei, der Paftor Kernholz dasjelbe öffnen möchte. Als 
Adjender fianden bie drei genannten Namen darauf 
verzeichnet. 

„Die guten Kerls!” fagte Haflo mit Snnigfeit. 
„Aber vor allen Dingen, Rraufe, wo find bie 


Herren? Wo find alle die Unirigen, die fidh be: 
waffnete Rüdkehr zur Gnade des Königs ausbe- 
dungen?” 

„Sn Kolberg, Herr Lieutenant! Auf der 
Feſtung!“ 

„Auf der Feſtung —?“ 

„Jawohl, in Unterſuchungshaft!“ Er erzählte 


nun, wie die Schillſchen auf preußiſchem Gebiet 
durch Offiziere in Empfang genommen worden, die 
Mannſchaften dem Weſtpreußiſchen Ulanen-Regiment 
in Konitz zugeteilt, die Offiziere nach Kolberg ge⸗ 
ſandt wären. In den nächſten Tagen würde Kriegs— 
gericht abgehalten werden, das in Stargard zuſammen⸗ 
treten ſollte. 

„In den nächſten Tagen — großer Gott —!“ 
Haſſo ſann nach. „Sagt mir nur, Krauſe,“ fuhr er 
dann haſtig auf, „iſt der Lieutenant Wedell von 
unſerer Schwadron darunter? Habt Ihr irgend 
etwas von ihm gehört?” 

„Nein, Herr Kieutenant! Von unjerer Schwadron 
ift nur Herr von Blomberg da! Die Herren Lieus 
tenants Mebell und Felgentreu müflen tot oder in 
Gefangenihaft geraten fein, es weiß niemand etwas 
von ihnen!” 

Die Hausfrau trat abermals herein, brachte 
Licht, als ahnte fie, daß Hallo Briefe zu lejen 
hätte, und forderte den Fremden auf, einen Imbiß 
zu nehmen. Auf Hallos Geheiß folgte er ihr. Und 
biefer öffnete nun das Päddhen. Zunädft fiel ein 
kurzes Schreiben feines Freundes Hagen heraus nebit 
einer erfreulihen Summe Geldes. Er mülle an- 
nehmen, baß Sein lieber Rodhlig einiger Barſchaft 
jehr benötigt, ober falls er feinen Wunden erlegen 
fein follte, der Paftor Kernbolz Unfoften von feiner 
Aufnahme gehabt habe. Sie hätten dem Blellierten 
veriprodden, für diefen Fall einzuftehen, als fie ihn 
damals in feinem Hauje zurüdgelafien. 

Hallo war gerührt Durch des Freundes unver: 
brüchlihe Treue, jein edles Herz und jeine offene 
Hand. Er kannte diefe Eigenjhaften längft an ihm, 
fühlte fih aber doppelt angenehm davon berührt, 
dba fie ihm bier perjönlich entgegentraten und ihn 
bei dem augenblidlih niedrigen Stande feiner Bar: 
Ihaft aus einer Art von Notlage befreiten. 

Weiter enthielt das Pädchen Briefe von Brünnow 
und Blomberg. Mit eriterem hatte fi Haflo immer 
ferngeftanden. Do auf dem blutgetränkten Markt: 
plage von Stralfund, wo fie Seite an Seite mit 
der todbringenden Übermadht gerungen, war eine 
Art von Blutsbrüderfhaft zwiihen ihnen aufge- 
richtet, weldhe fie mit ganz eigener Sympathie für: 
einander erwärmte. Brünnows Beilen waren kurz 
und Inapp, vol orthographiicher Fehler, do auch) 
vol guter Bemerfungen und warmer Teilnahme für 
das Schidjal des Empfängers. Alerander Blom- 
berg aber teilte ihm, febergewandt, in fließendem 
Stile mit, was er bereits durch den Unteroffizier 


701 


erfahren, nur ausführliher und mit einigen Neben- 
bemerfungen verjehen, wie fie unter Stameraden 
üblih. „Sn drei Tagen verlafien wir nun bies er: 
bauliche Lolal, um uns zum Verhör nah Stargard 
zu begeben. Ercellenz Blüher wird Borfigendber bes 
Kriegsgerichts fein. Wie ed uns ergehen wird, 
mögen bie Götter willen!” Damit jchloß der Brief. 

„Sehgen unfern guden Komanndöhr ift der 
Deferfiohns- oder Konfisfafionsprojes Eingeleihdet!” 
nn in Brünnows Schreiben no an den Rand ge: 

ißelt. 

Haflo bebte vor Aufregung. Diele lebte Be: 
merlung bejonders traf ihn wie ein Stich ins Herz. 

Mühlam erhob er ih und erihhien alsbald in 
der Thür bes Mohnftübchens, in welchem das Kern- 
bolzide Ehepaar beifammen faß. Der geiftliche Herr 
bielt einen Vortrag, dem jeine Gattin ausnahms- 
weife nur ein halbes Ohr lieh. Bei Hallos Eintritt 
Iprang fie erfchroden auf. Sie wußte, daß etwas 
Außerorbentliches fommen würde. 

„Verzeiben Sie, verehrter Herr Paſtor, wenn 
ih Shre Güte nochmals in Anjprud nehmen muß! 
Es giebt hier in Mühlenhof für Geld und gute 
Worte wohl ein Fuhrwerl zu mieten! Können 
Sie mir dazu bebilflih jein? Ih muß morgen 
ihon Ihr gaftlihes Haus verlajien, um mid in 
Stargard dem Kriegsgeriht zu ftellen!“ 

Frau Adline that einen Schrei des Entjeßens. 
Das Wort Kriegsgericht hatte in dunklem Ahnen für 
fie eine Bedeutung, die den Schredniflen des jüngften 
Gerichts gleihlam. Auch der Paftor murmelte etwas 
wie eine Beihwörungsformel. 

Haſſo gab ihnen eine Furze Erklärung jeines 
Vorhabens. Der Paftor konnte nicht umbin, jeine 
Gründe als richtig anzuerkennen, erinnerte aber 
daran, daß der Wagen jet in der Erntezeit fehr 
teuer fein würde. 

„Das wäre ja gleichgültig,“ rief die Paftorin 
erregt, „aber Sie können doch nicht reijen, Herr 
Lieutenant; faum bab’ ich Sie jo weit, daß Sie fi 
mühlem am Stod bewegen, und nun joll alles 
wieder aufs Spiel gelebt werden!” Es folgte eine 
Flut von Klagen und Bitten — beinah von Thränen. 

„Frau Paſtorin,“ ſagte Haſſo lächelnd, als ſie 
innehielt, „wenn es gälte, mein Leben durch dieſe 
Fahrt zu retten, ſo würden Sie mich nicht zurückzu— 
halten ſuchen! Hier aber gilt es nicht mein Leben, 
Sondern meine Ehre, und daß mir bie jehr viel mehr 
wert ift, das willen Sie doh auch nachgerade — bei 
unferere langen Belanntihaft!” 

Sa, fie wußte es und verfiummte. Yhre Kennt: 
niffe hatten fi im Verfehr mit ihm bereichert, aud) 
auf Gebieten, die ihrem weltfremden Anihauungs: 
treife bis dahin ferngelegen. 





Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 








102 





„Herr Lieutenant von Rodlig, ich wage nicht, 
Shnen zu widerjpreden!” jagte der Paltor. „Wenn 
Sie fühlen, daß die Pflicht Sie ruft, jo müfjen alle 
anderen Bedenken dagegen verftummen! Gern bätte 
ih Sie, unjeren verehrten Gaftfreund, noch länger 
unter unjerem Dad beherbergt, das willen Sie! 
Und ftets werden wir uns freuen, Sie wieder über 
unfere Schwelle treten zu jehen!“ 

Frau Abline verihludte tapfer ihre Abjchieds- 
tbränen und war ihrem Pflegling behilflich, fein 
Bündel für die Reife zu fchnüren. Am anderen 
Morgen bielt ein Leiterwagen vor der Thür, mit 
großen Strobbunden ausgepolftert, ein erntemübdes, 
bochbetagtes Rößlein davor. Das war Hallos Reife: 
gefährt. 

Pastor Kernholz gab ihm wohlgemeinte Segens- 
wünjdhe mit auf den Weg, die Hallo voll warmen 
Dankes erwiderte. 

„Ich komme ganz gewiß einmal wieder her, 
um Ihnen noch beſonders zu danken für alles, 
was Sie an mir gethan haben! Ich weiß ja nicht, 
was aus mir wird, wie das Urteil des Kriegsgerichts 
ausfällt, aber wenn ich Leben und Freiheit behalte, 
— bin ich plötzlich wieder da, ehe Sie ſich's ver⸗ 
ehen!“ 

Die Frau Paſtorin war aus dem Garten ge—⸗ 
kommen, mit rot geweinten Augen. Sie hielt einen 
der ſchlanken Lilienſtengel in ihrer Hand, die Haſſo 
mit ſo beſonderen Augen angeſehen, und den gab ſie 
ihm. Sprechen konnte ſie nicht, der ungehorſamen 
Thränen wegen. 

Haſſo nahm die Blume und küßte dabei die 
kleine, arbeitsharte Hand. Das war ihr noch nie 
geſchehen, aber ſie hinderte es nicht. „Frau Paſtorin, 
Sie ſind wie ein Engel zu mir geweſen! Gott 
ſegne es Ihnen! Auf Wiederſehen!“ 

Fort ging nun die Reiſe. Der getreue Fritze 
ſaß an des Fuhrmanns Seite, Haſſo aber lag auf 
ſeinem Strohbündel ausgeſtreckt, in trübes Sinnen 
verloren. Jeder Stoß ſeines unbarmherzigen Gefährtes 
verurſachte ihm Schmerzen, und die Stöße kamen 
zahllos, unerbittlich. 

In ſeiner Hand hielt er die Lilie, die Frau 
Adline ihm geſchenkt. Er blickte darauf nieder. 
Der Morgentau lag noch auf den ſchneeweißen 
Kelchblättern, wie ſchwere Thränen. — Ob Renate 
jemals Thränen vergoß? Konnte ſie überhaupt 
weinen? — Ach ja — damals vor Jahren, als er 
mit Prinz Louis in den Krieg zog — da hatte ſie 
bitterlid geweint! Um jeinetwillen! Da war fie 
noch ein Kind! Ach, wie lange war das her! Sept 
batte fie keine Thränen mehr für ihn — nur lalte, 
verächtliche Worte! 


(Fortfegung folgt.) 





Beiblatt der Deutihen Noman-Zeitung. 





704 


Heiblatt der Dentihen Noman- Zeitung, 


Welkes Blatt. 


Sn Deiner ftill ruht meine Hand; 

O, laß uns fdyweigen — laß mic laufden, 
So fühl’ id Deines Lebens Strom, 

lInd höre ihn vorüberraufcen. 


Zum Ziele führt er fih’ren Laufg 

Ler Wogen Drang durd) Schidjald Lande; 
Ic flehe Teife: nimm e8 mit 

Das welfe Blatt am liferrandel 


Hanna Ehlen. 


sine Tragödie aus der Großfladt. 
Lebens: und Stimmungsbilder von H. Gedhardf. 
(Schluß.) 


Zu denen, die in der Zeit ihres Dortſeins die all⸗ 
gemeine Teilnahme der „feſten“ Heimbewohnerinnen er— 
regten, gehörte auch eine Beamtenwitwe aus Königsberg 
in Preußen mit ihrer jungen Tochter. Man ſah es beiden 
an, daß ſie einſt beſſere Zeiten gekannt, wiewohl ſie aller— 
dings nicht an übermäßiger geiſtiger Begabung litten. 
Haltung und Benehmen verrieten beſſere Herkunft, und wohl 
ſchienen ſie ſich im Heim nicht zu fühlen. Die Mutter machte 
häufige, aber meiſt mißglückende Verſuche, für ſich einen 
paſſenden Erwerbszweig zu finden. Bald ſtrickte ſie, bald 
ging ſie für einen Tag in fremde Häuſer zum „Ausbeſſern“, 
bald verſchafften die Hausmutter und die rührige Gründerin 
des Heims ihr irgend eine andere kleine Handarbeit, um ihr 
wenigſtens zum Anfang eines neuen Lebens zu verhelfen. 
Aber was die arme Frau, die ſchon über die beſſere Hälfte 
ihres Lebens hinaus, ſonſt aber noch ſehr kräftig und rüſtig 
war, auch probierte, es ſchlug nicht ein. War ſie wirklich 
nur zu ungeübt und zu ungeſchickt, oder fehlte es ihr an 
Willensſskraft? Sie blieb immer auf dem gleichen Fleck. 
Einige Male hatte ſie ſich um die Stellung einer Hausdame 
bemüht, aber ſtets vergebens. Denn es gab ſo viel jüngere, 
geſchicktere, mit einem mehr anfprehenden Außern begabte 
Frauen, die keine Tochter zu ernähren hatten und mit bloßer 
freier Station vorlieb nehmen wollten, ſo daß Frau K. in 
einer ſolchen Konkurrenz unmöglich den Sieg davontragen 
konnte. Ihr Töchterchen verſtand von Arbeiten nichts — 
ſelbſtverſtändlich, da die Mutter ſo unerfahren darin war 
und beide ehedem ſich zu gut gedünkt hatten, die Hände 
zu rühren. Ehedem — in ihrer Heimat und in ihrem Glücke! 
Sie mußten, wie gelegentliche Außerungen der Tochter ver: 
muten ließen, da ein großes Haus gemacht haben. Aber all 
die Verehrer und Tänzer von damals waren jetzt und hier 
nicht vorhanden, und all die Erinnerungen an glänzende 
Feſte und rauſchende Vergnügungen, an ſchöne Kleider und 
gleißenden Flittertand nützten nichts und konnten ihnen die 
Härte ihrer jetzigen Lage nur doppelt fühlbar machen. — 
Es ſchien dem jungen Mädchen denn auch außerordentlich 
ſchwer zu werden, ſich in die Stellung einer Verkäuferin, die 


En 


man ihr, für den Anfang nur als Lehrling, in einem Hand- 
Ihuhgeihäft verfchaffte, einzulebden. E83 war ja für Mutter 
und Tochter, die auf der Welt weiter niemand als einander 
hatten, eine fchier unerträglich fcheinende Prüfung, fid für 
den ganzen Tag zu trennen. Gin Eeines Schadenfener, da8 
wenige Wochen nad der Tochter Eintritt in das Geſchäft 
infolge einer Zampenerplofion dort ausbrad, dag Schließen 
des Ladens für einige Tage herbeiführend, gab bie vielleicht 
fehr willfonımene Gelegenheit, die Stellung wieder aufzugeben. 
Noch einmal, ein lektes Mal, boten die unermübdlidhen Be- 
ihüßerinnen der beiden ihren Einfluß auf und e8 gelang, 
auf lange Zeit für fie gemeinfame Arbeit in einer Wälche- 
fabrif zu finden. Mehrere Tage gingen fie diefer nah und 
fehrten pünktlich ind Heim zurüd. Danach aber hieß «8, 
fie würden in der Sabrif vermißt, und aud in ihrer Wohnung 
ließ fid) weder Mutter nod; Tochter bliden. Ste blieben von 
Stund’ an fpurloß verfchtwunden, und als einziges Zeugnis 
ihres vormaligen Dortjeing dienten die wertlofen Befigftüde, 
die fie in ihrem Zinmerchen zurücgelaffen hatten als Zahlung 
für die drei Monate, während berer fie, auf die Gutmütig— 
feit und das Mitleid der Hausmutter rechnend, den Schuß 
des Helms jamt allen, was in diefen Shut eingeichloffen 
war, in Anspruch genommen hatten, Wo fie ein Ende ge: 
nommen, ob fie Schon längft „verborben, geftorben“, blich 
in Dunfel gehült, wie ihr Lebensgang vor der Yeit ihres 
Aufenthalts im Heim aud. — 

Noch bei weitem rätjelhafter war das Wejen und Treiben 
einer jungen Frau, die, eine frühere Heimbewohnerin, dies 
Anl aus völligem Mangel an Geldmitteln Hatte aufgeben 
müffen und nun nod faft täglich zur Kaffeeftunde fich ein- 
fand, teil um den Vewohnerinnen einen Befuch abzuftatten, 
teil um nachzufragen, ob irgend ein für fie palfendes 
Stellenangebot eingelaufen fei. Die eigentlidhe Ilrjache 
ihres Kommen aber war hödftwahricheinlich einerjeitß die 
Tafle Kaffee, zu der fie alövann eingeladen ward, anderer: 
feitß die Gelegenheit, fi) in geheizten Näumen etwas durch— 
wärmen und ausruhen zu Fönnen. Denn e8 war winterlich 
zu jener Zeit. Wo fie haufte, verriet fie mit feiner Silbe, 
gab nur auf allzu dringendes Forjchen die Gegend an „der 
Staftanienallee”, alfo den hohen Norden, alß die ihrer gegen: 
wärtigen Wohnung an. Dod traf man fie häufig auf den 
Straßen de3 Centrums md in der Umgebung der „Linden“. 
Mit ihrer zweifellos diftinguierten Gricheinung, dem feinen, 
Fugen, durdgeiftigten Geficht fah fie keineswegs mie eine 
Fran aus, die nicht weiß, ob fie Heut etwas merde eflen 
fönnen. Der Plüjchmantel, den fie beftändig trug, verriet 
trog aller Abgetragenheit doh noch immer eine getwifle 
Eleganz, und ein noch gut außjchendes Pelzbarelt, da8 ihr 
jehr gut Stand, vollendete dag Damenhafte der Erjcheinung. 
Daß die Stiefel faft nirgend mehr zufammtenhalten wollten 
und daß der Plüfchmantel höhjtwahricheinlih die une 
heilbaren Schäden ihres Sleides verdecden mußte, Eonnte 
der flüchtige VBeichauer nicht merfen. Ind fo fam e8 wohl, 
daß ihr trog aller Leidendzüge nod; immer jhönes Gelidht 
und ihr ganzes von befferer Herkunft und feiner Bildung 
zeugendes Auftreten ihr immer und ewig ein Hindernis 
wurde, wenn fie fid) um irgend eine Stelle bemühte. Denn 





705 


bie fi ihr boten, waren meift untergeordnieter Art, oft mit 
grober Arbeit verbunden, und zu folder mochte fie, wo fie 
fih vorjtellte, nicht gemacht fcheinen. Die Leute urteilen ja 
meift nach der Oberfläche und jelten wird bedadht, daß ber 
bei dem Gebildeten meift ftärker entwidelte moralifche Wille 
oft mehr zu leiften imitande ift, als die bloße rohe förper: 
liche Kraft. 

Wie die Unglücliche in ihre gegenwärtige Yage geraten, 
war nicht Elar zu erjehen. Alles, wad man von ihr wußte, 
war, daß jie aus dem Medlenburgifchen ftammte und daß 
dort nod) ihre Mutter lebte, mit der fie fih ehemals über- 
worfen, weil fie gegen deren Willen einen mittellojen, un- 
befannten Mufifus geheiratet. Die nun Veriwitwete und 
Berlaffene fonnte fi) troß ihrer Notlage nicht entichließen, 
die Verzeihung der Mutter zu erflehen, jo oft und dringend 
ihr Dies auch von der Hausmutter geraten murde. Wopon 
Frau S., oder, wie fie fpottweife genannt wurbe, „die Tante 
mit der Velzmüge“ überhaupt noch ihr Leben friftete, war 
eigentlich ein NRätfel. Ob ihr die Karten, die fie faft täglid) 
mit leidenfchaftlicher, abergläubifcher Angft um ihre Zukunft 
befragte, zum Broterwerb helfen mußten? Oder ob fie, 
ihlieblih an den Nand ber Verzweiflung gebradht, einem 
noch viel traurigeren Gewerbe nadging? 

Auch fie verfchtvand feit Verlegung des Heims. Ob fie 
ein Mittel gefunden, ihrem Leben eine Wendung zum Befjern 
zu geben, ob fie dod) no in die Arme der Mutter zurüd- 
gefehrt tft, oder ob fie dem fie zuweilen überfommenden 
Gedanken an ein fchnelles, Eurzes® Ende Folge gegeben? 
Niemand weiß ed. — 

Eins der beflagenswerteften Geihöpfe im Hein war 
ein Mädchen Namens Helene, die, halb taub und halb blind, 
ihr Brot fich zeitweije durd) Wafchen verdiente. Doc, waren 
die Aufträge, die fie erhielt, ziemlich felten, denn jchließlich 
reiht auch das Gefühl des Mitleids auf die Dauer nidjt 
aus, jemand eine Arbeit anzudertrauen, der fie in feiner 
MWeife zu leiften imftande ift, wie e8 bei Helene jhon wegen 
ihrer Lörperlichen Mängel der Tal war. Dazu Fam nod), 
daf fie offenbar auch geiftig nicht ihre volle Zuredhnungs» 
fähigkeit befaß, obwohl fie eine nicht ganz unbedeutende 
poetifche Ader und jogar Kenntnis dichteriiher Kunftformen 
ihr eigen nannte. So lich fie feine bejondere Gelegenheit 
im Heim unbefungen durd) ihre Afroflichen vorüber. Aber 
die Dichterin war fi) ihres Talente durhaus bewußt und 
ruhte nicht cher, bis jedes neue Heimkind auch Kunde davon 
erlangte; ihr faft an Größenwahn ftreifender Dünfel machte 
fie für andere oft im höcdhften Grade abftogend. Dazu fam 
nody mandjyes an ihrer äußeren Erjcheinung, der ftarre, un- 
heimliche Blic und eine oft Schwerhörigen eigene, vorgeftredte 
Haltung des Stopfes, verbunden mit ihrer Gewohnheit, jeden, 
mit dem fie Sprad, an der Schulter feitzuhalten und ihr Ge- 
ficht dem feinen fo nahe al möglich zu bringen, weshalb 
man ihr außwid), two e8 anging. Auch gehörte fie zu den 
Strenggläubigen wenig angenehmer Art, ftetS bereit, 
Predigten zu halten und Belchrungsverjuhe zu machen. 
Diefe Gläubigfeit war übrigens bei der außerordentlicdhen 
Härte ihres Schidjal8 wunderbar zu nennen. 

ALS einziges Kind mwohlhabender Eltern früh verwaift, 
war fie durch einen gewifienlofen Vormund um ihr ganzes 
Vermögen gebracht worden, abgejchen davon, daß bdiejer dag 
noch ſchwache Kind zu allen möglichen Arbeiten außnıkte. 
Hr eigentliches Unglüd rührte von einem Sturz auf der 
Straße her, durch den fie unter die Näder cines fehmwer- 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


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belafteten Omnibus geriet. Dan hatte die anjcheinend Tote 
nad) der Charite gebradt. Dort warb fie aber ind Leben 
zurüdgerufen und, jo weit e8 ging, geheilt. Aber fie blieb 
verwachſen, ſchwerhörig und ſchwach, wahrſcheinlich hatte auch 
ihr Gehirn gelitten. Ihr Vormund, bei dem ſie bisher ge⸗ 
lebt, hatte ſich während Helenens Krankheit mit ihrem Gelde 
und mit Zurücklaſſung großer Schulden geflüchtet und war 
nicht mehr aufzufinden. 

Mitleidige Leute nahmen ſich nun des Mädchens an, 
bis es erwachſen und einigermaßen fähig war, ſich ſelbſt zu 
ernähren. Seitdem das Heim beſtand, hatte ſie dort Zus 
flucht gefunden. Aber die einzige Arbeit, die ihr bei der 
Schwächung ihrer edelſten Sinnesorgane noch einigermaßen 
gelingen wollte, das Waſchen, hielt auf die Dauer ihr Körper 
nicht aus, andererſeits befriedigte ſie die Auftraggeber wohl 
auch nicht — genug, es kam ſo weit, daß ſie zuletzt keinen 
Auftrag mehr erhielt. Nach langem Überlegen fand die 
Hausmutter für die laut Jammernde eine Abhilfe. Im 
Heim wurde ein anderes Dienſtmädchen an Stelle des bis— 
herigen geſucht, und mit Erlaubnis ſämtlicher Vorgeſetzten 
rückte Helene in den leeren Poſten ein. Nun war ſie obenauf 
und ihr Selbſtbewußtſein wuchs ins Unendliche, denn nächſt 
der Hausmutter und deren Stütze hielt ſie ſich für die erſte 
im Heim und verlangte Gehorſam und unbedingte Unter⸗ 
werfung von allen Bewohnerinnen desſelben. Da ihr dieſe 
aber meiſt verſagt ward und Klage auf Klage über ihre 
Anmaßung ſich erhob, erwachte in Helenen die oft geiſtig 
nicht ganz Zurechnungsfähigen eigene Bodheit und kehrte 
ſich ſogar gegen die Hausmutter, weil dieſe ihr Vorwürfe 
über ihr Betragen machte. Kurz, Helenens Herrſchaft im 
Heim hatte ſchnell ein Ende, aber nun ward durch ſie erſt 
recht der Frieden geſtört. Es mußte auf Mittel und Wege 
geſonnen werden, ſie zu entfernen. Endlich erklärte ſich der 
Vorſtand eines Blindeninſtituts bereit, die Halbblinde auf— 
zunehmen. 

Der Verein, der das Heim gegründet, trug die Koſten. 
Unb ſo wanderte Helene denn nach zweiwöchentlicher Probe— 
zeit, während der ſie in der Blindenanſtalt bereits einige 
der dort üblichen Arbeiten erlernte, gäazlich aus dem Heim, 
wo fie Teilnahme und Heimatsrecht verjcherzt hatte. — 

So kamen und gingen die Menjhen im Heim, ver: 
Ihieden an Alter, Gefinnung und Bildung Wohl faum 
nody eine der VBemwohnerinnen von damals ift heut nod) 
dort. Mancden ift e8 nad) langem Harren, Entbehren und 
Kämpfen noch ziemlich geglüdt. So der älteren von zwei 
Schweftern, die, von einer jungen Stiefmutter aus dem Bater- 
haufe getrieben, auf reiche Stenntniffe geftügt, fi Tange ehr: 
lih und rechtlidy ernährten, die ältere al3 WBuchhalterin bet 
einer großen FZirma, die jüngere ald Pukmaderin. Dod) 
geriet die Tettere, unbefhütt und allzaufrüh der Heimat ent- 
behrend, trog der Mahnungen und Borwürfe der Schweiter 
anf abihäffige Bahn, mußte aus dem Heim vermwiejen werden 
und ging wahrjcheinlihh zu Grunde. Die fleißige ältere, die 
nod) dazu, gleich einem ebenfal3 in Berlin lebenden wenig 
jingeren Bruder, den größten Teil des Verdienten dem 
leihtfinnig wirtichaftenden, ehemal2 reichen Vater ſandte, 
der fein Gut verjpielt hatte, verlor durd) eine fchwere Stranf: 
heit ihre jehr einträgliche Stelle und hatte eine Zeitlang jchwer 
zu fämpfen. Zuleßt gelang e3 ihr, nach ihrer Heimatspropinz 
in ein vornehmes Haus alß Erzieherin zu fonımen, zu welchem 
Beruf fie wegen ihrer großen Spracdfertigfeit fi ja fehr gut 
eigniete. Dort wirkt fie noch heute, niit ihrem Schidfal zufrieden. 





«03 


Beiblatt der Deutihen NRoman-Zeitung. 





704 


Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung. 


Welkes Blatt. 


An Deiner ftill ruht meine Hand; 

O, laß uns fdyweigen — laß mid laufchen, 
So fühl’ id Deines Lebens Strom, 

Und böre ihn vorüberraufchen. 


Zum Ziele führt er fih’ren Lauf 

Ter Wogen Drang durd) Schidfald Lande; 
Sc flehe leife: nimm e3 mit 

Das mwelfe Blatt am Uferrandel 


Hanna Ehlen. 


Sine Tragödie aus der Großſtadt. 
Lebends und Stimmungsbilder von H. Gebhardt. 
(Schluß.) 


Zu denen, die in der Zeit ihres Dortſeins die all⸗ 
gemeine Teilnahme der „feſten“ Heimbewohnerinnen er⸗ 
regten, gehörte auch eine Beamtenwitwe aus Königsberg 
in Preußen mit ihrer jungen Tochter. Man ſah es beiden 
an, daß ſie einſt beſſere Zeiten gekannt, wiewohl ſie aller— 
dings nicht an übermäßiger geiſtiger Begabung litten. 
Haltung und Benehmen verrieten beſſere Herkunft, und wohl 
ſchienen ſie ſich im Heim nicht zu fühlen. Die Mutter machte 
häufige, aber meiſt mißglückende Verſuche, für ſich einen 
paſſenden Erwerbszweig zu finden. Bald ſtrickte ſie, bald 
ging ſie für einen Tag in fremde Häuſer zum „Ausbeſſern“, 
bald verſchafften die Hausmutter und die rührige Gründerin 
des Heims ihr irgend eine andere kleine Handarbeit, um ihr 
wenigſtens zum Anfang eines neuen Lebens zu verhelfen. 
Aber was die arme Frau, die ſchon über die beſſere Hälfte 
ihres Lebens hinaus, ſonſt aber noch ſehr kräftig und rüſtig 
war, auch probierte, es ſchlug nicht ein. War ſie wirklich 
nur zu ungeübt und zu ungeſchickt, oder fehlte es ihr an 
Willenskraft? Sie blieb immer auf dem gleichen Fleck. 
Einige Male hatte ſie ſich um die Stellung einer Hausdame 
bemüht, aber ſtets vergebens. Denn es gab ſo viel jüngere, 
geſchicktere, mit einem mehr anſprechenden Äußern begabte 
Frauen, die keine Tochter zu ernähren hatten und mit bloßer 
freier Station vorlieb nehmen wollten, ſo daß Frau K. in 
einer ſolchen Konkurrenz unmöglich den Sieg davontragen 
konnte. Ihr Töchterchen verſtand von Arbeiten nichts — 
ſelbſtverſtändlich, da die Mutter ſo unerfahren darin war 
und beide ehedem ſich zu gut gedünkt hatten, die Hände 
zu rühren. Ehedem — in ihrer Heimat und in ihrem Glücke! 


Sie mußten, wie gelegentliche Außerungen der Tochter ver⸗ 
muten ließen, da ein großes Haus gemacht haben. Aber all 


die Verehrer und Tänzer von damals waren jetzt und hier 
nicht vorhanden, und all die Erinnerungen an glänzende 
Feſte und rauſchende Vergnügungen, an ſchöne Kleider und 
gleißenden Flittertand nützten nichts und konnten ihnen die 
Härte ihrer jetzigen Lage nur doppelt fühlbar machen. — 
Es ſchien dem jungen Mädchen denn auch außerordentlich 
ſchwer zu werden, ſich in die Stellung einer Verkäuferin, die 


— 


man ihr, für den Anfang nur als Lehrling, in einem Hand⸗ 
ſchuhgeſchäft verſchaffte, einzuleben. Es war ja für Mutter 
und Tochter, die auf der Welt weiter niemand als einander 
hatten, eine ſchier unerträglich ſcheinende Prüfung, ſich für 
den ganzen Tag zu trennen. Ein kleines Schadenfeuer, das 
wenige Wochen nach der Tochter Eintritt in das Geſchäft 
infolge einer Lampenexploſion dort ausbrach, das Schließen 
des Ladens für einige Tage herbeiführend, gab die vielleicht 
ſehr willkommene Gelegenheit, die Stellung wieder aufzugeben. 
Noch einmal, ein letztes Mal, boten die unermüdlichen Be— 
ſchützetinnen der beiden ihren Einfluß auf und es gelang, 
auf lange Zeit für ſie gemeinſame Arbeit in einer Wäſche— 
fabrik zu finden. Mehrere Tage gingen ſie dieſer nach und 
kehrten pünktlich ins Heim zurück. Danach aber hieß es, 
ſie würden in der Fabrik vermißt, und auch in ihrer Wohnung 
ließ ſich weder Mutter noch Tochter blicken. Sie blieben von 
Stund' an ſpurlos verſchwunden, und als einziges Zeugnis 
ihres vormaligen Dortſeins dienten die wertloſen Beſitzſtücke, 
die ſie in ihrem Zimmerchen zurückgelaſſen hatten als Zahlung 
für die drei Monate, während derer ſie, auf die Gutmütig— 
keit und das Mitleid der Hausmutter rechnend, den Schutz 
des Heims ſamt allem, was in dieſen Schutz eingeſchloſſen 
war, in Anſpruch genommen hatten. Wo fie ein Ende ge: 
nommen, ob ſie ſchon längſt „verdorben, geſtorben“, blieb 
in Dunkel gehüllt, wie ihr Lebensgang vor der Zeit ihres 
Aufenthalts im Heim auch. — 

Noch bei weitem rätſelhafter war das Weſen und Treiben 
einer jungen Frau, die, eine frühere Heimbewohnerin, dies 
Aſyl aus völligem Mangel an Geldmitteln hatte aufgeben 
müſſen und nun noch faſt täglich zur Kaffeeſtunde ſich ein— 
fand, teils um den Bewohnerinnen einen Beſuch abzuſtatten, 
teils um nachzufragen, ob irgend ein für ſie paſſendes 
Stellenangebot eingelaufen ſei. Die eigentliche Urſache 
ihres Kommens aber war höchſtwahrſcheinlich einerſeits die 
Taſſe Kaffee, zu der ſie alsdann eingeladen ward, anderer⸗ 
ſeits die Gelegenheit, ſich in geheizten Räumen etwas durch— 
wärmen und ausruhen zu können. Denn es war winterlich 
zu jener Zeit. Wo ſie hauſte, verriet ſie mit keiner Silbe, 
gab nur auf allzu dringendes Forſchen die Gegend an „der 
Kaſtanienallee“, alſo den hohen Norden, als die ihrer gegen— 
wärtigen Wohnung an. Doch traf man ſie häufig auf den 
Straßen des Centrums und in der Umgebung der „Linden“. 
Mit ihrer zweifellos diſtinguierten Erſcheinung, dem feinen, 
klugen, durchgeiſtigten Geſicht ſah ſie keineswegs wie eine 
Frau aus, die nicht weiß, ob ſie heut etwas werde eſſen 
können. Der Plüſchmantel, den ſie beſtändig trug, verriet 
trotz aller Abgetragenheit doch noch immer eine gewiſſe 
Eleganz, und ein noch gut ausſehendes Pelzbarett, das ihr 
ſehr gut ſtand, vollendete das Damenhafte der Erſcheinung. 
Daß die Stiefel faſt nirgend mehr zuſammenhalten wollten 
und daß der Plüſchmantel höchſtwaäahrſcheinlich die un— 
heilbaren Schäden ihres Kleides verdecken mußte, konnte 
der flüchtige Beſchauer nicht merken. Und ſo kam es wohl, 
daß ihr trotz aller Leidenszüge noch immer ſchönes Geſicht 
und ihr ganzes von beſſerer Herkunft und feiner Bildung 
zeugendes Auftreten ihr immer und ewig ein Hindernis 
wurde, wenn ſie ſich um irgend eine Stelle bemühte. Denn 


709 


bie fih ihr boten, waren meift untergeordneter Art, oft mit 
grober Arbeit verbunden, und zu folder mochte fie, mo fie 
fih vorftellte, nicht gemacht fcheinen. Die Leute urteilen ja 
meift nach der Oberfläche und felten wird bedaht, daß ber 
bei dem Gebildeten meift ftärfer entwidelte moraliihe Wille 
oft mehr zu leiften imftande ift, als die bloße rohe Förper: 
liche Straft. 

Wie die Unglücliche in ihre gegenwärtige Lage geraten, 
war nicht Far zu eriehen. Alles, was man von ihr wußte, 
war, daß fie aus dem Medlenburgiichen ftanımte und daß 
dort no) ihre Mutter lebte, mit der fie fih ehemals über: 
woırfen, weil fie gegen deren Willen einen mittellofen, un: 
bekannten Mufilus geheiratet Die nun Verwitmete und 
Verlaffene fonnte fih troß ihrer Notlage nicht entichlieken, 
bie Verzeihung der Mutter zu erflehen, fo oft und dringend 
ihr dieg auch don der Hausmutter geraten wurde. Wobon 
Frau S,, oder, wie fie Ipottmweife genannt wurde, „bie Tame 
mit der Velzmüge“ überhaupt noch ihr Leben friftete, war 
eigentlich ein Rätfel. Ch ihr die Karten, die fie faft täglich 
mit leidenfchaftlicher, abergläubifcher Angft um ihre Zufunft 
befragte, zum Broterwerb Helfen mußten? Oder ob fie, 
fchließlih an den Nand der Verzweiflung gebradt, einem 
noc viel traurigeren Gewerbe nachging ? 

Auch fie verihwand feit Verlegung des Heim. Ob fie 
ein Mittel gefunden, ihrem Leben eine Wendung zum Beffern 
zu geben, ob fie doch noch in die Arme der Diutter zurüd: 
gekehrt ift, oder ob fie dem fie zumeilen überlommenden 
Gedanken an ein Schnelles, kurzes Ende Folge gegeben? 
Niemand weiß ed. — 

Eind ber beflagensmerteften Geichöpfe im Heim war 
ein Mädchen Namens Helene, die, halb taub und halb blind, 
ihr Brot fi zeitweije dur Wachen verdiente. Dod) waren 
die Aufträge, die fie erhielt, ziemlich felten, denn jchließlich 
reiht aud) das Gefühl des Mitleid auf die Dauer nicht 
aus, jemand eine Arbeit anzuvertrauen, der fie in feiner 
MWeife zu leiften imftande tft, wie e8 bei Helene jchon wegen 
ihrer Lörperlihen Mängel der Zal war. Dazu fam nod, 
daß fie offenbar auch geiftig nicht ihre volle Zurechnungßs 
fähigfeit befaß, obwohl fie eine nidyt ganz unbedeutende 
poetifche der und fogar Kenntnis dichterifcher Stunftformen 
ihr eigen nannte. So lich fie feine bejondere Gelegenheit 
im Heim unbejungen durd ihre Akroftichen vorüber. Aber 
die Dichterin war fid) ihres Talentes durchaus bewußt und 
ruhte nicht eher, biß jedes neue Heimkind auch Kunde davon 
erlangte; ihr faft an Größenwahn ftreifender Dünkel machte 
fie für andere oft im hödjften Grade abftopend. Dazu fam 
nody mand)e3 an ihrer äußeren Erjcheinung, ber ftarre, un- 
heimliche Blid und eine oft Schwerhörigen eigene, vorgeftredte 
Haltung des Kopfes, verbunden mit ihrer Gewohnheit, jeden, 
mit dem fie jprad, an der Schulter feitzuhalten und ihr Ge- 
fiht dem feinen fo nahe al® möglich zu bringen, weshalb 
man ihr augwid), wo e8 anging. Auch gehörte fie zu den 
Strenggläubigen wenig angenehmer Urt, ftet3 bereit, 
Predigten zu Halten und Bekehrungsverſuche zu machen. 
Diefe Gläubigfeit var übrigens bei der außerordentlichen 
Härte ihres Shidfald wunderbar zu nennen. 

AS einziges Kind mwohlhabender Eltern früh verwaift, 
war fie durch einen gewiffenlofen Vormund um ihr ganzes 
Vermögen gebracht worden, abgefehen davon, dab diefer das 
noch ſchwache Kind zu allen möglichen Arbeiten ausnugte. 
SHr eigentliches Unglüd rührte von einem Sturz auf der 
Straße ber, durdy den fie unter die Näder eines jchiwer: 


Beiblatt der Deutjchen Roman-ZBeitung. 


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belajteten Omnibus geriet. Man hatte die anicheinend Tote 
nad) der Charite gebradt. Dort warb fie aber ins Leben 
zurüdgerufen und, jo weit e8 ging, geheilt. Aber jie blieb 
verwachſen, ſchwerhörig und ſchwach, wahrſcheinlich hatte auch 
ihr Gehirn gelitten. Ihr Vormund, bei dem ſie bisher ge⸗ 
lebt, hatte ſich während Helenens Krankheit mit ihrem Gelde 
und mit Zurücklaſſung großer Schulden geflüchtet und war 
nicht mehr aufzufinden. 

Mitleidige Leute nahmen ſich nun des Mädchens an, 
bis es erwachſen und einigermaßen fähig war, ſich ſelbſt zu 
ernähren. Seitdem das Heim beſtand, hatte ſie dort Zu— 
flucht gefunden. Aber die einzige Arbeit, die ihr bei der 
Schwächung ihrer edelſten Sinnesorgane noch einigermaßen 
gelingen wollte, das Waſchen, hielt auf die Dauer ihr Körper 
nicht aus, andererſeits befriedigte ſie die Auftraggeber wohl 
auch nicht — genug, es kam ſo weit, daß ſie zuletzt keinen 
Auftrag mehr erhielt. Nach langem Überlegen fand die 
Hausmutter für die laut Jammernde eine Abhilfe. Im 
Heim wurde ein anderes Dienſtmädchen an Stelle des bis— 
herigen geſucht, und mit Erlaubnis ſämtlicher Vorgeſetzten 
rückte Helene in den leeren Poſten ein. Nun war ſie obenauf 
und ihr Selbſtbewußtſein wuchs ins Unendliche, denn nächſt 
der Hausmutter und deren Stütze hielt ſie ſich für die erſte 
im Heim unb verlangte Gehorfam und unbedingte Unter: 
werfung von allen Bewohnerinnen desielben. Da ihr dieje 
aber meift verjagt ward und Stlage auf Stlage über ihre 
Anmaßung fi) erhob, erwadhte in Helenen bie oft geiftig 
nicht ganz Zurehnungsfähigen eigene Bosheit und Fehrte 
fih fogar gegen bie Haudmutter, weil bieje ihr Vorwürfe 
über ihr Betragen madte. Sturz, Helenens Herrihaft im 
Heim Hatte jchnel ein Ende, aber nun ward durd) fie erft 
recht der Frieden geftört. E83 mußte auf Mittel und Wege 
gefonnen werden, fie zu entfernen. Cndlic erklärte fich der 
VBorftand eines Blindeninftituts bereit, die Halbblinde auf- 
zunehmen. 

Der Verein, der dag Heim gegründet, trug die Kloften. 
Ind fo wanderte Helene denn nad) zweiwöchentlicher PBrobe- 
zeit, während ber fie in der Blinbenanjtalt bereits einige 
der dort üblichen Arbeiten erlernte, gänzlich aus dem Hein, 
wo fie Teilnahme und Heimatsrecht vericherzt hatte. — 

So famen und gingen die Menfchen im Heim, ber: 
fhieden an Alter, Sefinnung und Bildung. Wohl kaum 
noch eine der Bewohnerinnen von dantald ift heut nod 
dort. Manchen ift e8 nad) langem Barren, Entbehren und 
Kämpfen noc) zientid) geglüdt. So der älteren bon zwei 
Schweftern, die, von einer jungen Stiefmutter au8 dem Vater: 
hauje getrieben, auf reiche Stenntniffe geftügt, fid) lange ehr 
lih und rechtlid; ernährten, die ältere ala Buchhalterin bei 
einer großen Firma, die jüngere als Putzmacherin. Doch 
geriet die letztere, unbeſchützt und allzufrüh der Heimat ent—⸗ 
behrend, trotz der Mahnungen und Vorwürfe der Schweſter 
anf abſchüſſige Bahn, mußte aus dem Heim verwieſen werben 
und ging wahrſcheinlich zu Grunde. Die fleißige ältere, die 
noch dazu, gleich einem ebenfalls in Berlin lebenden wenig 
jüngeren Bruder, den größten Teil des Verdienten dem 
leichtſinnig wirtſchaftenden, ehemals reichen Vater ſandte. 
der ſein Gut verſpielt hatte, verlor durch eine ſchwere Krank— 
heit ihre ſehr einträgliche Stelle und hatte eine Zeitlang ſchwer 
zu kämpfen. Zuletzt gelang es ihr, nach ihrer Heimatsprovinz 
in ein vornehmes Haus als Erzieherin zu kommen, zu welchem 
Beruf ſie wegen ihrer großen Sprachfertigkeit ſich ja ſehr gut 
eignete. Dort wirkt ſie noch heute, mit ihrem Schickſal zufrieden. 





107 


Einer anderen jungen Buchhalterin wollte e8 troß der 
borzüglichften Zeugniffe und einer jehr fchönen Handfchrift 
durhaus nicht glüden, eine berufsgemäße Beichäftigung zu 
finden, weil ihr Außeres wenig anfprechend wirkte und ihr 
Auftreten, je öfter fie mit ihren Werfuchen jcheiterte, jener 
ruhigen Sicherheit mehr und mehr verluftig ging, die von 
den Bewerbern um eine Stellung bei perjünlicher Vorftellung 
durchaus verlangt wird. Wenn nur einmal diejenigen, weldje 
den Ichüchtern und jcheu auftretenden Bewerber achjelzucdend 
als offenbar ungeeignet abweiien, jelbft auch nur einen Teil 
al der Demütigungen und Enttäufhungen zu durdjkoften 
hätten, die fo ein unglüdliches Stieffind Fortuna zu tragen 
verurteilt wird, fie würden einfehen, wie [hwer, oft unmög- 
lich e8 ift, immer wieder mutig und mit frohem Geficht dem 
täglih fi erneuenden Kampfe enigegenzugehen. Hebmwig 
befaß jedenfalls dieje jchwere Kunft in nur geringem Maße, 
und [hon wollte fie, an jeden Gelingen verzweifelnd, Berlin, 
da3 auch ihr wie vielen Schidjalsgenoifinnen das Dorado 
für den Erwerbiuchenden geichienen, den Nüden fehren, als 
fie ihre Bemühungen doch nod) unerwarteterweife von Erfolg 
gekrönt jah. Freilih anf andere Art, als fie beabfichtigte. 
Sn einer Lihtihirmfabrif ward eine Arbeiterin zum Bemalen 
der für die Gegenftände zu verwenbenden Stoffteile gefucht, 
und da Hedwig ehedem in ihren Mußeftunden ein menig 
ben Pinjel geführt, fiel ihr ein, daß ihr dies vielleicht jett 
zu gute fommen Eönne. Denn wenig ift inmmerhin mehr als 
nichts und jo wanberte fie eine® Morgens nad) der Fabrif. 
Die Kleinen Probearbeiten, die fie ausführen mußte, geficlen, 
und von nun an faß die HandelSbefliffene mit dem Pinfel in 
ber Hand und ließ auf Eleinen Gazes und Atlasftüdchen flut- 
durchfegelnde Schwäne, dunkle Walblandichaften, Taufchenbe 
Nehe, tändelnde Amoretten oder buntfarbige Blumenftüde 
entftehen. Die Arbeit war amüfant, aber wenig lohnend, 
denn das BDugend bradjte 20 bis 40 Pfennig. Mit der 
Zeit aber ging ihr’8 ehr flott von der Hand, ihre Ein: 
nahme vergrößerte fih, und als man ihr jpäter einen Teil 
ber Buchführung mit anvertraute, fühlte fie all ihre Er: 
wartungen übertroffen und fi), den Verhältniffen angemeffen, 
ziemlich glücklich. 

Von al den andern Mädchen, die oft auß fernen 
Provinzen, vorzüglid) aus dem Norbdoften, nad) der Neich- 
hauptftabt gefommen, im Herzen einen goldenen Traum von 
dem reichen Glüde, das ihnen in Berlin erblühen müffe, find 
bie meiften, arm an Hoffnung, aber reiher um mande Er: 
fahrung, aus den Mauern ded Heims geichieden. Manche 
nahmen die Erkenntnis in ihre Heimat mit, daß man, um 
in der Hauptftadt fortzulommeen, alle Senntniffe und Fähig- 
feiten zugleich inne haben müfle; daß e& fih ganz gut ver: 
tragen müffe, die Wäfche zu waichen, die Zimmer zu bohnen, 
die Kühe zu veriehen und zugleih ben Kindern in Mufit 
und franzöfiiher Konverfation linterricht zu erteilen. Denn 
mehr alö einmal fam e3 vor, daß bon einer Dame jemand 
zur Überwahung und Erziehung der Kinder, zur Gefelichaft 
und Unterhaltung der Hausfrau, zugleid; aber für die gröbfte 
häusliche Arbeit gefucht wurde, gegen ein möglichſt winziges 
Gehalt natürlid. Hielt man ihr bagegen vor, daß von 
einem gebildeten Mädchen dody jchwerlih eine Arbeit wie 
Stubenbohnen verlangt werden fönne, jo klang es zurüd: 
„Nun, ih fuche eben fein ‚Sräulein‘, ich fuche mehr ein 
Hausmädchen!“ 

Von all den Vertreterinnen der verſchiedenen Arten 
weiblicher Thätigkeit waren die einzigen, die immer Glück 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


708 


hatten, nach denen ſtets Verlangen getragen ward und die 
die höchſten Gehälter erhielten — die Köchinnen! Von ſolchen 
war keine je länger als wenige Stunden außer Stellung. 
Kochen iſt ja leider diejenige Kunſt, von der ein guter Teil 
der jungen Berliner Hausfrauen, aller Kochſchulen ungeachtet, 
am wenigſten verſteht. 

Im Heim ward übrigens ſpäter, nachdem es verlegt 
war, auch eine „Kochſchule“ eingerichtet, ob mit Erfolg? 
Überhaupt geben viel neue und veränderte Einrichtungen, 
die ſich jetzt im Heim eingebürgert haben, dieſem ein früheren 
„Heimkindern“ fremdes Ausſehen; teils, nach außen hin, ein 
bedeutend verſchönertes, teils aber, nach innen, ein weniger 
behagliches, ſeit durch den eingeführten Mittagstiſch allzu— 
viel nicht „heimiſche“ Elemente eindringen. Nur in dem 
einen bleibt das Geſicht des Heims unverändert: in dem 
ſteten Kommen und Gehen friedloſer Daſeinskämpferinnen, 
die unter ſeinem Schutz wenigſtens für kurze Friſt das Ge— 
fühl der Sicherheit, das „Daheim“ ſuchen, das ihnen ein 
hartes Geſchick allzufrüh verſagt. Möchte es noch lange 
beſtehen als Aſyl für die verſtoßenen Kinder des Glücks! 


— a — — 


Derfäumt. 


In des Frühlings Dlütentagen 
Singen wir im Sonnenlidt, 
Gatten vieled uns zu jagen, 
Sagten nur das eine nicht. 


Viel zu traumhaft war da8 Leben, 
Biel zu leuchtend fchien der Tag, 
IInd e8 ging mit heißem Beben 
Viel zu bang des Herzens Scdjlag. 


Hab’ e8 ftil in mir getragen 
Dis die Blütenwelt verweht, — 
Gerne möchte jegt ih’3 fagen, 
Und nun ift c8 viel zu fpät. 
Hax Bireuke. 


Die „unehrlihen” Seute des Mittelalters, 


II. 


Das Vorurteil der Dienge in betreff der Unehrlichkeit über⸗ 
trug fih vom Henker natürlich aud) auf bie anderen Organe 
der Strafpollftredung, auf Gerichtö: und Polizeidiener. Der 
angeborene Widerwille des freien Mannes gegen alles 
Denunzieren und Dingfeftmadhen belegte jene, melde fic) 
fraft ihres Berufes damit befaffen mußten, jehr bald mit 
ähnlihem Ddium wie den zum Nachrichter herabgefunfenen, 
ehedem ehrbar gewejenen Fronboten. Gaffenfehrer und Yelb- 
hüter mögen anfänglich ihrer wenig fauberen Hantierung 
wegen mißadıtet worden fein, wozu bei den Yelbhütern nod 
der Umftand trat, daß fie meift auß verlommenen, ben Ges 
meinden zur Laft liegenden Subjelten beftanden. Und neben 
einem Zöllner bei Ziiche zu figen galt befanntlich fchon zu 
Chrifti Zeiten für Shimpflih, weil da8 Volt von alteröher 
den Zöllnern Unredlichleiten und ein weites Gewiffen zum 
Vorwurf machte, aud da3 mit diefem Stande nın einmal 





109 


berfnüpfte Spionieren und Anzeigen nicht dazıı geeignet war, 
ihren Leumund zu verbeffern. Ein natürliches Grauen vor 
Leihen und allem, was mit Sterben und Toten zufammen 
hängt, mag den Grund gegeben haben, auc) bie Totengräber 
bon den ehrbaren oder ehrlihen Ständen auszufdließen. 
Endlih find hierhergehörig nod) die Türmer, Bettelvögte 
und Nahtwächter — eritere vermutlih, weil der Türmer: 
bienft häufig zu den Obliegenheiten des Scharfrichters zählte, 
der ihn durd) feine Snechte verfehen ließ. Oder es lagen 
bie Sterfer in ben feiten Türmen, und die Turmmwädhter 
fungierten dann nebenbei auch als Schließer oder Gefangen- 
wärter, die, wie oben erwähnt, jämtlih für unehrlidy galten. 
Die Bettelvögte disfredierte ebenfalls ihr Verhältnis zur 
ftrafenden Juftiz, und die Nahtwächter desgleichen, weil fie 
teils mit zum Einfangen von Dieben und Bagabunden bes 
nut wurden, teils jonft einen für unehrlich erachteten Ncben- 
verdienft ausüben mußten. 

Bon diefen bisher aufgeführten Dienftarten unterfchieden 
id) dann die unehrlihen Gewerbe, weldye zwar nicht ganz 
„rechts und friedlo8* (d. H. vogelfrei) machten, dennoch aber 
bom DVolfe nicht geachtet waren und mit einem gewiffen 
Makel behaftet erfcheinen. E3 fallen unter diefe ARubrif: 
Bader und Bartfcherer, die Schäfer und Hirten, die Müller, 
fahrende Spielleute und Gaufler aller Art, endlich die 
Broftituierten. 

Nadı mittelalterliher Anihanung galt die Pflege und 
Berührung eined anderen als bes eigenen Körpers für ent- 
ehrend und unziemlich eines freien Mannes, was zur Folge 
hatte, daß in den zahlreichen öffentlichen Badeftuben nur 
liederlihes Dienftvolt Hantierte, und dieſe Anftalten 
überaus fittenlo8 waren. Chrbare Leute mieden des= 
halb jeden Umgang mit Badern, Heildienern und den auf 
gleicher Stufe ftehenden Bartfcherern, deren Gewerbe ja aud 
da Betaften fremder Gefihter 2c. notwendig madjte. Und 
da der Tsreigeborene nur Erbgefeflene, d. h. folde, die auf 
eigenem Grund und Boden hauften, zu feinesgleichen rechnete, 
jegte er aud) den befiglofen armen Hirten gejelichaftlich 
hintenan, welcher außerhalb des Dorfes im Gemeinbe- ober 
Hirtenhanfe mit den Ortsarmen, Krüppeln u. dgl. wohnen 
mußte. Aus ähnlicher Urfache wurde aud; der friebliche, 
unfriegeriijhe Schäfer, befonders wenn er kein Freigeborener 
war, über die Achjel angejehen. Seine Söhne durften nicht 
in ehrbare Zünfte eintreten, und troßdem Schäfer wie Hirten 
oft ald Wunderdoltoren und Herenmeifter viel Zulauf bes 
famen, fpottete da3 Volk doh: „Schäfer und Schinder — 
Geſchwiſterkinder!“ Zur geringen Wertihäßung der Müller 
fol die Unfitte des „Molternd* (heut „Megen“ genannt!) 
ein gutes Teil haben, und fon unter Saifer Karl d. Gr. 
waren Müllersfühne von allen geiftlihen Amtern und Würden 
ausgeihlofien. An manden Orten hatten die Müller fogar 
die Verpflichtung, die Galgenleitern zu Tiefern. 

Daß alles fahrende Bolt — fo genannt, weil fein ganzer 
Reichtum und Befig fi) gewöhnlich auf bie „Sahrhabe* bes 
Ihräntte, d. h. auf ba, waß fie an und bei fi trugen — 
felbft wenn e8 ein fonft geachtetes Handwerk betrieb, ber 
mittelalterlichen Seßhaftigfeit und Unduldfamkeit gegenüber 
immer zu kurz fam, bürfte nach dem bisher Gefagten nicht 
mehr befremden. Die Gefhloffenheit der Zünfte ließ eben 
Nihtortsangehörige nirgends emporlommen, und da man 
andererfeit3 derartige verhaßte Konkurrenz doch nicht gänz- 
lich hindern konnte, fo fuchte man ihnen wenigftend moralifc) 
etwad anzuhängen und fie in der öffentlihden Meinung 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 





710 





herabzufegen. Das Beiwort „fahrend“ hat beshalb bei 
mittelalterlichen Bezeichnungen aud) ftetS eine verächtliche 
Bedeutung. Konnte fi) eine Stadt oder ein Ort bed fahren 
ben Gefindel® nicht mehr erwehren, fo wurde kurzer Prozeß 
gemacht und jeneß ungefragt mit Gewalt über bie Grenzen 
des Weichbildes (Bannmeile) geihafft. Natürlich griff der 
Nachbar, der c8 jeßt aufgehalit befam, zu demfelben Radikals 
mittel, bi3 jchließlih die Hinundhergehesten wieder an 
Ausgangspunkte anlangten, falls fie nicht inzwifchen bie 
Nemefis erreicht hatte. Die öffentliche Sicherheit gegen Ende 
des Mittelalter8 ließ bern auch fehr viel zu wünfchen übrig, 
und der offen und ohne Scheu getriebenen Unfittlichleit ent- 
iprach eine Noheit und Brutalität des Pöbels, welche jeder 
Beichreibung ipotten. Bei foldhen Zuftänden mußten die 
„Hahrenden”, zumal ihnen ein beitimmter Wohnfig mangelte 
und fie infolgedeffen unzünftig waren, jenen Außsgeftoßenen 
angehören, die gleih nad) dem Henker rangierten. Eine 
alte Neich8polizeiorbnung Schreibt „denen Scallsnarren, 
Pfeifern, Landfahrern, Singern und Reimenfprehern“ (zu 
ben Landfahrern zählten außer Spielleuten und Bäntel- 
fängern, Fehtern und Ringkämpfern auch Tänzerinnen, 
Gaufler, Songleurs und Komddianten) eine bejondere, recht 
auffällige Kleidung vor, auf daß die „ehrlichen Leute fid) 
befto leichter vor Schaden hüten und von ihrer Gemeinihaft 
abfondern fönnten . . .* 


Zuerft von aflen fahrenden Spielleuten wurden die 
Trompeter und Pfeifer zünftig, die fich felbft ſtets für beffer 
gebünft hatten als die Paufer und Horniften. Ein Reiche: 
gefeß erklärte fie ansdrüdlicd für ehrlih, fie erhielten nun 
fefte Beflallungen im Heere, an landesherrlihen Höfen wie 
bei den reihsftädtifchen Magiftraten, auch durften fie Lehr: 
linge annehmen und ausbilden. Später, mit bem Aufblühen 
der Kirchenmufik, ging aus diefer Gilde ber Ratsmufilanten 
oder Kunftpfeifer gar mandher tüchtige Kantor und Organift 
hervor. Aud) das damals veradtete „Komödiantenvolt“, 
der Schaufpielerftand, erfreut fih Tängft volliter Gleichftellung 
mit den übrigen Gefelfchaftstlaffen, freilich nicht ohne harte 
und Tangwierige Kämpfe! 

Hoffentlid wird nad diejen in flüchtigen Stridhen ges 
zeichneten Bildern deuticher Vergangenheit der geneigte Lefer 
und beipflidhten, daB e8 unter Umftänden jein Mißliches 
haben Fönne, immer die „gute, alte Zeit“ im Munde zu 
führen und modernen Verhältniffen gegenüber ald Trumpf 
audzufpielen. Was damald großes Herzeleid und unfäg- 
lihhe8 Elend verfchuldete, das betradten wir heute als 
überwundenen Standpunft, wie beifpielsweife da Thema 
bon den „unehrlihen Leuten“. 


&. $lanislas. 


Jap mir... 


Laß mir die fühle, fefte Hand 
Nur eine Welle noch, 

Mir ift, als trüge leichter bann 
Mein Naden das [wer Jod); 
Laß ftill und feit in meinen Blid 
Dein ernfthaft Auge weilen, 
Verjuhe no, was Du vermagit 
An meiner Seele zu heilen. 


107 


Einer anderen jungen Buchhalterin wollte e8 troß ber 
borzüglichften Zeugniffe und einer jehr Schönen Handichrift 
durhaus nicht glüden, eine berufsgemäße Beihäftigung zu 
finden, weil ihr Äußeres wenig anfprehend wirkte und ihr 
Auftreten, je öfter fie mit ihren Verfuchen jcheiterte, jener 
ruhigen Sicherheit mehr und mehr verluftig ging, die bon 
ben Bewerbern um eine Stellung bei perfönlicher Vorftellung 
durchaus verlangt wird. Wenn nur einmal diejenigen, welche 
den Ichüchtern und fcheu auftretenden Bewerber adjjelzucdend 
als offenbar ungeeignet abwetjen, jelbft aud) nur einen Teil 
al der Demütigungen und Enttäufhungen zu burdjkoften 
hätten, die fo ein unglüdliches Stieftind Fortunas zu tragen 
verurteilt wird, fie würden einjehen, twie fChwer, oft unmög- 
lich e3 ift, immer wieder mutig und mit frohem Geficht dem 
täglih fi erneuenden Kampfe entgegenzugehen. Hedwig 
bejaß jedenfall diefe fchiwere Kunft in nur geringem Maße, 
und Son wollte fie, an jedem Gelingen verzweifelnd, Berlin, 
bad aud ihr wie vielen Scidfalsgenoffinnen dag Dorado 
für den Erwerbfuchenden geichienen, ven Rüden fehren, als 
fie ihre Bemühungen doc) noch unerwarteterweife von Erfolg 
gekrönt jah. Freilih auf andere Art, als fie beabfichtigte. 
In einer Lihtihirmfabrit warb eine Arbeiterin zum Bemalen 
der für die Gegenftände zu verwendenden Stoffteile gefucht, 
und da Hedwig ehedem in ihren Mußeftunden ein mertig 
ben PBinjel geführt, fiel ihr ein, daß ihr bieß vielleicht jegt 
zu gute fommen fönne. Denn wenig ift immerhin mehr als 
nichts und fo wanderte fie eines Morgens nad ber Fabrik. 
Die Heinen Probearbeiten, die fie ausführen mußte, gefielen, 
und von nun an jaß die Hanbelsbefliffene mit dem PBinjel in 
ber Hand und ließ auf Eleinen Gaze- und Atlasftüdchen fluts 
burchfegelnde Schwäne, dunkle Waldlandfchaften, Taufchende 
Nehe, tändelnde Amoreiten oder buntfarbige Blumenftüde 
entitehen. Die Arbeit war amüfant, aber wenig lohnend, 
denn das Dutend bradte 20 bis 40 Pfennig. Mit der 
Zeit aber ging ihr’ fehr flott von der Hand, ihre Ein- 
nahme vergrößerte fi, und als man ihr fpäter einen Teil 
ber Buchführung mit anvertraute, fühlte fie all ihre Er: 
wartungen übertroffen und fi, den Verhältniffen angemeffen, 
ziemlich glüdlich. 

Von al den andern Mädchen, die oft aus fernen 
Provinzen, vorzüglid aus dem Norboften, nad) der Neich- 
hauptftadt gefommen, im Herzen einen goldenen Traum von 
dem reichen Glüde, das ihnen in Berlin erblühen müffe, find 
die meilten, arm an Hoffnung, aber reiher um mande Gr: 
fahrung, aus den Mauern des Heims geichiedben. Dance 
nahmen die Erfenninis in ihre Heimat mit, baß man, um 
in der Hauptitadt fortzulommen, alle Kenntniffe und Fähig- 
fetten zugleich inne haben müffe; daß e& fi ganz gut ver: 
tragen müffe, die Wälche zu wachen, die Zimmer zu bohnen, 
bie Küche zu verjehen und zugleih den Kindern in Mufit 
und franzöfiiher Konverfation Unterricht zu erteilen. Denn 
mehr als einmal fam e8 vor, daß don einer Dame jemand 
zur Überwachung und Erziehung der Stinder, zur Gefellfhaft 
und Unterhaltung der Hausfrau, zugleich aber für die gröbfte 
häuslidye Arbeit gefucht wurde, gegen ein möglichft winziges 
Gehalt natürlih. Hielt man ihr dagegen vor, daß von 
einem gebildeten Mädchen doch jchwerlid eine Arbeit wie 
Stubenbohnen verlangt werben Eönne, fo Fang «8 zurüd: 
„Nun, ih fuche eben Fein ‚Fräulein‘, ich fuche mehr ein 
Hausmädchen!“ 

Von all den Vertreterinnen der verſchiedenen Arten 
weiblicher Thätigkeit waren die einzigen, die immer Glück 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


708 


hatten, nad) denen ftet3 Verlangen getragen ward und die 
bie höchften Gehälter erhielten — die Köchinnen! Bon folchen 
war feine je länger als wenige Stunden außer Stellung. 
Kochen ift ja leider diejenige Kunft, von der ein guter Teil 
ber jungen Berliner Hausfrauen, aller Kochichulen ungeachtet, 
am wenigften bverfteht. 

Sm Heim ward übrigens jpäter, nachdem e8 verlegt 
war, au eine „Kocjchule” eingerichtet, ob mit Erfolg? 
Überhaupt geben viel neue und veränderte Einrichtungen, 
die fich jett im Heim eingebürgert haben, diefem ein früheren 
„Heimlindern*“ fremdes Augfchen; teils, nad) außen Hin, ein 
bedeutend verfchönertes, teilß aber, nach innen, ein weniger 
behagliches, feit durd den eingeführten Mittagstiich allzu- 
viel nicht „heimifche* Elemente eindringen. Nur in dem 
einen bleibt das Gefiht des Heims unverändert: in dem 
fteten Kommen und Gehen friedlofer Dajeinstämpferinnen, 
die unter feinen Schuß wenigftens für kurze Srift das Ge: 
fühl der Sicherheit, da8 „Daheim“ fuchen, das ihnen ein 
hartes Geihil allzufrüh verjagt. Möchte es noch lange 
beftehen als Ajyl für die verftoßenen Stinder des Glüds ! 


Derfäumt. 


Sn des Frühlings Blütentagen 
Bingen wir im Sonnenlidt, 
Gatten viele8 ung zu jagen, 
Sagten nur das eine nicht. 


Viel zu traumbaft war das Leben, 
Biel zu leuchtend fchien der Tag, 
Und e8 ging mit heißem Beben 
Biel zu bang des Herzens Schlag. 


Hab’ e8 ftil in mir getragen 
Bis die Blütenwelt verweht, — 
Gerne möchte jegt ich’3 fagen, 
Und nun tft e8 viel zu jpät. 


Hax Bireuke. 


Die „unehrlihen Seute des Mittelalters, 


II. 


Das Borurteil der Menge in betrefi ber linehrlichkeit über: 
trug fi vom DHenfer natürlid) aud) auf die anderen Organe 
ber Strafpollitredung, auf Gerichts: und Volizetdiener. Der 
angeborene Widerwille des freien Mannes gegen alles 
Denunzieren und Dingfeftmahen belegte jene, welche fidh 
fraft ihre8 Berufes damit befaffen mußten, fehr bald mit 
ähnlihem Odium wie den zum Nachrichter herabgefunkenen, 
ehedem ehrbar geweienen Sronboten. Gafjenfehrer und Syelb- 
hüter mögen anfänglich ihrer wenig jauberen Hantierung 
wegen mißachtet worden fein, wozu bei den Yelbhütern noch 
der Umftand trat, daß fie meift aus verfommenen, den Ges 
meinden zur Laft liegenden Subjeften beitanden. Ind neben 
einem Zöllner bei Tifche zu fiten galt befanntlih fchon zu 
Chrifti Zeiten für ſchimpflich, weil das Volk von alteröher 
den Zöllnern Unredlichkeiten unb ein weites Gemwiffen zum 
Vorwurf machte, auch dag mit diefem Stande nun einmal 








709 


verknüpfte Spionieren md Anzeigen nicht dazı geeignet war, 
Ihren Leumunb zu verbeffern. Ein natürliche Grauen vor 
Leihen und allen, was mit Sterben und Toten zufammens 
hängt, mag ben Grund gegeben haben, aud) bie Totengräber 
bon ben ehrbaren oder ehrlichen Ständen auszufchließen. 
Endlib find hierhergehörig nod) die Türmer, Bettelvögte 
und Nadhtwächter — erjtere vermutlich, weil ber Türmer: 
dienft häufig zu den Obliegenheiten be3 Scharfrichter zählte, 
der ihn durch feine Snechte verfehen Tieß. Oder e8 Tagen 
die Sterfer in ben feiten QTürmen, und bie Turmmächter 
fungierten dann nebenbei aud) als Schließer oder Gefangen: 
wärter, bie, wie oben erwähnt, fämtlic für unehrlich galten. 
Die Bettelvögte disfrebierte ebenfalls ihr Verhältnis zur 
ftrafenden Juftiz, und die Nadjtwächter desgleichen, weil fie 
teils mit zum Einfangen von Dieben und Bagabunden bes 
nugt wurden, teils jonft einen für unehrlicd) erachteten Neben: 
verdienft ausüben mußten. 

Bon diefen bisher aufgeführten Dienftarten unterfchieden 
id) dann die unehrlihen Gewerbe, melde zwar nicht ganz 
„recht: und friedlo8* (d. b. vogelfrei) machten, dennoch aber 
bom Volle nicht geachtet waren unb mit einem gemwifjen 
Makel behaftet erfcheinen. E8 fallen unter diefe Nubrif: 
Bader und Bartidherer, die Schäfer und Hirten, die Müller, 
fahrende Spielleute und Gaufler aller Art, endlidy die 
PBroftituierten. 

Nach mittelalterlicher Anſchanung galt die Pflege und 
Berührung eines anderen als bes eigenen Körpers für ent- 
ehrend und unziemlich eine® freien Mannes, was zur Folge 
halte, daß in den zahlreichen öffentlihen Badeftuben nur 
liederliche8 Dienftvolt hHantierte, und dieje Anftalten 
überaus fittenlo® waren. Chrbare Leute mieben de8s 
halb jeden Umgang mit Badern, Heildienern und den auf 
gleiher Stufe ftehenden Barticherern, deren Gewerbe ja aud) 
das Betaften fremder Gefihter 2c. notwendig machte. 1nd 
ba der Freigeborene nur Erbgejeflene, db. h. ſolche, die auf 
eigenem Grund und Boden hauften, zu feinesgleichen rechnete, 
jegte er auch den befitlojen armen Hirten gefellichaftlich 
hintenan, welcher außerhalb des Dorfes im Gemeinde oder 
Hirtenhaufe mit den Ortsarmen, SKrüppeln u. dgl. wohnen 
mußte. Aug ähnlicher Urfahe mwurbe auch der friebliche, 
unfriegeriiche Schäfer, befonder8 wenn er kein Freigeborener 
war, über die Achfel angejehen. Seine Söhne durften nicht 
in ebhrbare Zünfte eintreten, und trogbem Schäfer wie Hirten 
oft ald Wunderdoftoren und Herenmeifter viel Zulauf bes 
famen, jpottete da3 Volk dod: „Schäfer und Scinder — 
Geſchwiſterkinder!“ Zur geringen Wertihägung der Müller 
fol die Unfitte des „Molterns* (heut „Megen” genannt!) 
ein gutes Teil haben, und fhon unter Kaijer Karl d. Gr. 
waren Müllersfühne von allen geiftlichen Iimtern und Würden 
auzgeihloffen. An manden Orten hatten die Müller fogar 
die Verpflihtung, die Galgenleitern zu liefern. 

Daß alles fahrende Volt — fo genannt, weil fein ganzer 
Reihtum und VBefig fi) gewöhnlich auf bie „Fahrhabe“ bes 
fhräntte, d. 5. auf da3, was fie an und bei fi trugen — 
jelbft wenn e8 ein fonft geachtetes Handwerk betrieb, ber 
mittelalterlihen Seßhafligfeit und Unbuldfamkelt gegenüber 
immer zu Zurz fam, dürfte nach) bem bisher Gefagten nidt 
mehr befremden. Die Geichloffenheit der Zünfte ließ eben 
Nichtortsangehörige nirgends emporlommen, und da man 
andererfeit3 derartige verhaßte Konkurrenz doc nicht gäntz- 
fi hindern konnte, fo fuchte man ihnen wenigftens moralifch 
etwad anzuhängen und fie in der öffentlihen Meinung 


Beiblatt der Deutiden Roman: Zeitung. 


710 





berabzufegen. Das Beimort „fahrend” Hat beshalb bei 
mittelalterlichen Bezeichnungen aud) ftetS eine verächtlidhe 
Bedeutung. Konnte fid) eine Stadt ober ein Ort be8 fahren: 
den Gefindels nicht mehr erwehren, fo wurbe kurzer Prozeß 
gemacht und jenes ungefragt mit Gewalt über bie Grenzen 
des MWeichbildes (Bannmeile) geihafftl. Natürlidy griff der 
Nachbar, der e8 jet aufgehalit belam, zu demielben Radilals 
mittel, bis fchließlid die Hinundhergehegten wieber anı 
Ausgangspunkte anlangten, falls fie nicht inzwilchen bie 
Nemefis erreicht hatte. Die öffentliche Sicherheit gegen Ende 
bes Mittelalters ließ denn aud) fehr viel zu wünfchen übrig, 
und der offen und ohne Scheu getriebenen Unfittlichkeit ent- 
iprad) eine Noheit und Brutalität bes Pöbels, welche jeder 
Beichreibung jpotten. Bet folden Zuftänden mußten Die 
„Fahrenden“, zumal ihnen ein beftimmter Wohnfig mangelte 
und fie infolgebeffen unzünftig waren, jenen Ausgeitoßenen 
angehören, die gleih nad) dem Henker rangierten. Eine 
alte Neichspolizetordnung fchreibt „denen Scallsnarren, 
Pfeifern, Landfahrern, Singern und Reimenfprehern“ (zu 
ben Landfahrern zählten außer Spiellenten und Bäntel: 
ſängern, Fechtern und Ringkämpfern auch Tänzerinnen, 
Gaukler, Jongleurs und Komödianten) eine beſondere, recht 
auffällige Kleidung vor, auf daß die „ehrlichen Leute ſich 
deſto leichter vor Schaden hüten und von ihrer Gemeinſchaft 
abſondern könnten ...“ 


Zuerſt von allen fahrenden Spielleuten wurden die 
Trompeter und Pfeifer zünftig, die ſich ſelbſt ſtets für beſſer 
gedünkt hatten als die Pauker und Horniſten. Ein Reichs⸗ 
geſetz erklärte ſie ausdrücklich für ehrlich, ſie erhielten nun 
feſte Beſtallungen im Heere, an landesherrlichen Höfen wie 
bei den reichsſtädtiſchen Magiſtraten, auch durften ſie Lehr⸗ 
linge annehmen und ausbilden. Später, mit dem Aufblühen 
der Kirchenmuſik, ging aus dieſer Gilde der Ratsmuſikanten 
oder Kunſtpfeifer gar mancher tüchtige Kantor und Organiſt 
hervor. Auch das damals verachtete „Komödiantenvolk“, 
der Schauſpielerſtand, erfreut ſich längſt vollſter Gleichſtellung 
mit den übrigen Geſellſchaftsklaſſen, freilich nicht ohne harte 
und langwierige Kämpfe! 

Hoffentlich wird nach dieſen in flüchtigen Strichen ge⸗ 
zeichneten Bildern deutſcher Vergangenheit der geneigte Leſer 
uns beipflichten, daß es unter Umſtänden ſein Mißliches 
haben könne, immer die „gute, alte Zeit“ im Munde zu 
führen und modernen Verhältniſſen gegenüber als Trumpf 
audzuſpielen. Was damals großes Herzeleid und unſäg— 
liches Elend verſchuldete, das betrachten wir heute als 
überwundenen Standpunkt, wie beiſpielsweiſe das Thema 
von den „unehrlichen Leuten“. 


a. $lanislas. 


Saß mir... 


Laß mir die fühle, fefte Hand 
Nur eine Weile noch, 

Mir ift, als trüge leichter dann 
Mein Naden ba8 fchwer Jod; 
Zap ftill und feit in meinen Bid 
Dein ernithaft Auge weilen, 
Verjuhe no, was Du vermagft 
An meiner Seele zu heilen. 





711 


Mit Dir erliſcht mein Stern und Troſt 
Du klares, reines Licht; 

Wie wird mir fehlen überall 

Dein herziges Angeſicht! 

Dann ſteh' ich wieder ganz allein 

Im rauhen Sturmestoſen; ... 

O gieb, was Du noch geben kannſt, 
Dem Liebe⸗ und Freudeloſen. 


Hans Biermann. 


Dermifdte Anzeigen. 


Bei Schmidt & Günther in Leipzig fit die Fort: 
jegung des mit fo großem Beifall aufgenonmenen Wertes 
über Napoleon I. von Armand Dayot erjchienen. Nicht 
weniger al 57 Tertilluftrationen und 7 Wolbilder und zivar 
„Dberftlieutenant Napoleon Bonaparte — Kailer Napoleon 1.” 
— „Marie Lonife und der König von Rom.“ (Verſailler 
Galerie.) — „Ein Barabetag zur Zeit Napoleons (1810).” — 
„Zotenmadle Napoleons.” — „Der lailer“ nad) David. — 
„Die große Krönungsprogeffion.“ — „Übergang über den 
Niemen am 12. Juni 1812 und Beginn des Krieges bon 
1812, 1813, 1814.” — zieren die 14 bi 17. Lieferung diefed 
eınpfehlengiverten Prachtwerfes, durd) das die Litteratur über 
den großen Croberer und fein Schidjal thatjädhlid) be: 
reihert wird. 

Das Waltharilied. Ein Heldenjang aus dem 10. Jahr: 
hundert im Verßmaße ber Urfchrift überfegt und erläutert von 
Prof. Dr. Hermann Althof. (G. D. Söfchen, Leipzig.) 

Auf Grund forgfältiger Durdficdt des Lateinifchen Ur- 
texte wird hier eine liberfegung bes altehrwürdigen Walthari- 
liedes geboten. Gegenüber den vorhandenen zahlreichen, aber 
meift lüdenhaften und vielfach, unrichtigen Übertragungen, 
von denen die Sceffelö die verbreitetfte fein dürfte, zeichnet 
fi) die gegenwärtige Wiedergabe aus, fowohl burd einen 
bedeutjamen Fortichritt im Verftändnis des Tertes als auch 
durd, tree Wahrung der äußeren Erfcheinung des Crigi— 
naleg. E8 ift nit nur die herametriiche Veröform bei: 
behalten, jondern aud) bem Augdrud etwas von der ur: 
wüdfigen Nauheit der Eprade des St. Galler Möndes 
Effehard geblieben. 

Freilid) auc; die treuefte und richtigfte Überfegung kann 
für fih ung noch nicht ein lücdkenlofes Verftändnis und damit 
den vollen Genuß der herrlichen Dichtung gewährleiften. Sit 
fie doch geradezu gefpict mit Beziehungen auf uralte beutjche 
Sitten und Verhältniffe. Hierüber wird ber Lefer unter: 
richtet dur die fortlaufenden und tiefgreifenden Crläute- 
rungen, die, für fich betrachtet, eine furzgefaßte deutfche 
Altertumsfunde in einer dem Terte folgenden Anordnung 
bilden. Möge dag inhaltgreiche, bei billigem Preis beftens 
auögeftattete Büchlein dazu beitragen, die Jugend für Art 
und Sitte unferer Vorfahren, für die Neinheit, die Straft und 
den hohen Adel altdeutichen Heldenfanges zu begeiftern. Der 
Preis, 80 Pf. geb., ermöglicht jedem die Anfchaffung. 

Das deutfde Drama in den litterarifden Bewegungen 
der Gegenwart. VBorlejungen, gehalten an der Uniperfität 
Bonn von Berthold Ligmann. Dritte erweiterte 
Auflage. (Hamburg und Leipzig 1896, Leopold Voß.) 

Wir freuen uns, daß diejem Buche, deffen erjte Auflage 
wir unferen Lejern warın empfehlen konnten, cin fo günftiger 


Beiblatt der Deutihen Roman:geitung. 


12 


Stern leudtet. Der Verf. hat einen „Nüdblid und Auss 
blid 1896“ angehängt, fonft aber alles unverändert gelaffen. 
Und mit Nedht, denn ein aus Vorlefungen entjtandbene® Buch 
wirkt in der urfprünglichen Faffung am beften. Den Leiern, 
die das Werk nicht kennen und die Entwidelung der deutichen 
Bühnendihiung mit Teilnahme verfolgen, jei e8 nochmals 
beitens empfohlen. 

Weldh” herborragenden Bla Robert Burns in ber 
englifchen nicht nur, jondern in der Weltlitteratur einnimmt, 
ift befannt. Mit Freuden darf man e8 begrüßen, daß ber 
Verlag von Dtto Hendel in Halle a. ©. die Lieder und 
Balladen nebft einer Auswahl der Gedichte ded großen 
Dichters in feine Zibliotheß der Grfamiliiteratur als 
Nr. 930-934 (geb. 1,25 ME., in Leinen geb. 1,50 ME, in 
eleg. Geichentband 3 ME.) aufgenommen hat. Gerade jegt, 
wo — anı 21. Juli — die Freier der Hunbertfien Wiederfehr von 
Nobert Burns’ Todestag ftattgefunden, hat erjcheint die fchöne 
Ausgabe doppelt willfommen. Die Heraußgeberin W. Prinz: 
horn, unfere Mitarbeiterin, hat nicht nur das VBefte aug den 
bisherigen Burnsüberfegungen hier vereint, fondern aud) eine 
ftattliche Neihe neuer Ülberiragungen auß ihrer eigenen Feder, 
ſowie von F. Dobbert und C. Cornelius beigefügt. Die 
folgenden Nummern bringen in zwei Bänden eine Biographie 
Sonja Kowalewskys, dieſer geiſtreichen und doch glück— 
loſen Frau, und zwar Band J Kindheitéerinnerungen, von ihr 
ſelbſt erzählt (Nr. 935, 936, geh. 50 Pf., geb. 75 Pf.); 
Band II „Was ich mit ihr zuſammen erlebt und was ſie 
mir von ſich erzählt hat“ von Charlotte Leffler (Nr. 937, 
938 geh. 50 Pf. geb. 75 Pf. Beide Teile in einem Bande 
1,25 Mk.) In vortrefflichen Übertragungen vorliegend, werden 
beide Bände in einer Zeit, die die Frauenfrage ſo lebhaft 
disſskutiert, beſondere Teilnahme finden. Der folgende Band 
vermittelt dem Leſer die Bekanntſchaft des bedeutendſten 
nordamerikaniſchen Schriftſtellers Edgar Allan Poe. Seine 
Erzählungen wunderbarer und unheimlicher Begebenheiten 
in Auswahl (Nr. 939- 942 geh. 1 Mk., geb. 1,25 Mk.) 
dürfen ala geradezu Elajfifhe Erzeugnijje in ihrer Art bes 
zeichnet werden. Das lebte Bändchen endlid bringt den 
vierten Teil der Argonautengeihichten von Bret Harte, 
überfegt von Sohannes Ho00p3 (Nr. 943, geh. 25 Pf., geb. 
50 Pf). Bret Hartes glänzendes Erzählertalent zeigt fid) aud) 
bier im beften Lichte. 

Bon der Allgemeinen Aunfigefdidte, in Verbindung 
mit andern herausgegeben von 9. Knadfuß, (Verlag von 
Belhagen & Klafing in Bielefeld und Leipzig) iſt ſo— 
eben die zweite Abteilung erjchienen, mit welcher der crite 
Band: „Kunftgeihichte des Altertums und des Mittelalters“ 
bon Prof. Dr. Mar Sg. Zimmermann fortgejegt wird. 
Der geichägte Verfaffer führt darin die beiden Höhepunfte 
der griehifchen Stunft, die Zeitalter des Phidiad und des 
PBroriteles vor. Außer den fünftleriichen Elementen werden 
auch die fufturgejchichtlichen betont, die nicht nur zu Anfang 
jedes Abjchnitts zu fehr beachtensmwerten, formpdollendet ges 
Schriebenen stulturbildern zufammengefaßt werden, fondern aud) 
den übrigen Tert durdfegen. Die Erläuterung der einzelnen 
Kunstwerke beweift nicht nırr große Tuellenkenntnis, fondern 
auch das Feingefühl, ohne deffen Beihilfe jede Eunftgeichicht- 
liche Arbeit im Kerne nüchtern bleibt. Prof. Zimmermann 
trägt in fi ein Gutteil nadfchaffender Einbildungsfraft, Die 
heute manchem gelehrten Kunfthiftorifer ganz abgeht. &8 ift 
lebhaft zu wiünjchen, daß die Yortleger des Werkes ihm darin 
gleihen. Wie aud) der Strom der fünftleriichen Entwicke— 


a 75 


113 


lung im ganzen verfolgt wird, und die Darftellung überall 
leicht verftänblich ift, fo entfteht ein feffelndes und lebendiges 
Gejamtbild, welches den Leer in beitändiger Spannung 
erhält. Der Tert wird erläutert dur eine große Tülle 
ihöner Abbildungen, die meifterhaft nach ben Urbildern 
wiedergegeben find, darunter ift eine Anzahl folcher, die zum 
erften Mal veröffentlicht werben. Das fchöne Werk ift nicht 
nur für fih eine bedeutjame Erjcheinung auf dem Gebiete 
ber Kunftgeichichte, für welche in immer weiteren Kreifen das 
lebhaftefte Intereffe erwacht, jondern e8 wird auch ben Bes 
figern der befannten Snadfußihen Künftlermonographien 
als Ergänzung willfommen jein. 

Bir Gebildeten. Nachdenkſame Geſchichten. Von Hans 
Schliepmann. Gerlin 1896, Schuſter und Loeffler.) 

Der hübſch ausgeſtattete Band enthält ſechs Geſchichten: 
„Nöhlers“; „Warum mein Schuſter trinkt“; „Wie ih mid 
als ‚Seele von Menſch entdeckte“; „Frei fein!“; „Marie 
Kunze“ und „Wenn man Maler zu Freunden hat“. Rein 
erzählend ſind nur die letzten zwei, beide in ihrer Art ge⸗ 
lungen. Aber der Hauptwert des Buches liegt in den anderen. 
Scheinbar harmlos enthalten ſie eindringliche Wahrheiten; die 
Ironie tritt nur leiſe hervor, aber iſt dennoch ſcharf und 
treffend; das Gefühl gehalten und doch kräftig. Dieſe vier 
Geſchichten enthalten mehr Belehrendes, als viele Predigten 
und erſchüttern ſtellenweiſe jeden, der Herz und Kopf an der 
richtigen Stelle trägt. Ich empfehle das Werk — 
Leſern angelegentlich. 

Jufcamara. Von Paul Garin. 
W. Wunderling.) 

„Süßbitteres" wie da8 Leben giebt diefes Bud. Dan 
braucht nicht dem Urheber ftetö beizuftimmen, Tann fogar in 
manchem entgegengejette Anfichten vertreten. Dennoch wird 
jeder tiefere Zejer ihm Achtung zollen müffen. Denn biejes 
Buch ift ein erlebtes; der Verf. hat das Treiben um fih mit 
Klugheit beobachtet, befitt weiten Blid, aber wa8 mir nod) 
mehr gilt, er hat ein warmes Gemüt, in dem allein jchließ- 
fih aud) der echte Geift wurzelt. Sin mandhem Abfchnitte — 
beionder8 dem 15., der die foctalen Fragen behandelt — Ift 
mandes zu allgemein gefaßt, und darum fchief, aber e3 findet 
fih eine Fülle von wahren und zum Teil bebeutenden Aus- 
fprüchen, die ernfter Überlegung wert find. Möge das Bud) 
recht viele Käufer und Nachdenter finden. Vielleicht bringe 
ih noch einen Abjchnitt in der Beilage. L. 

Dramalifde Sandwerksiehre. Von Avonianus. 
(Berlin 1895, W. Sleiftftr. 14, Hermann Walther.) 

Der Verf. ift ein gebildeter, Eluger Dann; das Wert 
ift au für die Schriftfteller, die für die Bühne arbeiten, 
bon Wert und enthält vortreffliche TFingerzeige.e Dennoch 
macht e3 einen zwielpältigen Eindrud. Der Urheber bat 
piel tiefere Einfihten in die wahre Kunft, al® man aus 
manchem Ratichlag entnehmen kann. Aber jo oft er aud 
auf biele hinweift, andernorts läßt er wieder für ben Durch: 
Ichnitt allzuweitherzige Duldung herrſchen. Indeſſen hat das 
ben Vorteil, baß fowohl die Handwerler, die feine Kopf: 
werker find, ald au Didter, die im Handiwerfe unficher 
find, mandes Gute auß dem Buche Ichöpfen können. Dabei 
ift der Vortrag lebendig und anregend. (5 ME.) L. 

Von den neuſten Heften der Sammlung gemein— 
verſtändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, heraus— 
gegeben von R.Virchow und Wilh. Wattenbach (Ham⸗ 
burg, Verlagsanſtalt vorm. J. F. Richter), heben wir 
als empfehlungswert folgende hervor: 


(Regensburg — 


RomansZeltung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





114 


Die fieden Schwaben und ifr Bervorragendfier Siflorie- 
erapß Ludwig Auerdader- Bon Mar Radlfofer in 
Augsburg. 

Der Wandel deutfhen Gefühlstedens. Bon Dr. Georg 
Steinhaufen (reih an feinen Bemerkungen). 

Bom deutfhen Sandwerk und feiner Voefle. 
Theodor Ebner, Karläruhe. 

Die Nöyflinisden Büder in Mom. Don Dr. Karl 
Schulteß. 

Bertda von Marenhols-Bülow. Ihr Leben und Wirken 
im Dienfte ber Erziehungdlehre Friedrihd Fröbeld. Bon 
Henriette Goldfhmidt. 

Die Bildung des Sarzgedirges. Bon Otto Lang. 
Mit 2 Tafeln in Farbendrud. 

Sofdatenlieder aus dem deutf- franzöflfen KArtege 
1870,71. Bon Martin Wagner. 

Wiiltons Iugendjadre und IZugendwerke. Bon Prof. Dr. 
Smmannel Shmibt (mit vorzüglich überfegten Proben), 

Die Sammlung bezieht man am beiten als fefter Be- 
fteller, dba dann das Heft nur 50 Pf. Eoftet. 

Drei EMaus. Bon Ralph Waldo Emerjon, Deutid 
bon Thora Weigand. (Münden 1896, Hermann Lula- 
ſchik, G. Franzſche Hofbuchhandlung.) 

Das Büchlein, von Wilh. Weigand eingeleitet, enthält 
drei der beſten Eſſays: Die Weltſeele; Natur; Ausgleichungen, 
überſetzt von der Gattin des bekannten Schriftſtellers. Es 
ſei gleich bemerkt, daß die Verdeutſchung ſich ſehr gut lieſt. 
Was bei Emerſon ſtets wirkt, iſt die Geſinnung; iſt er auch 
im ſtrengen Sinne kein thatſächlich ſelbſtändiger Denker, fo 
hat er Übernommenes doch eigenartig durchgefühlt und dann 
wieder perſoönlich dargeſtellt. Das, was er von Deutſchland 
erhielt, den Idealismus, hat er mit Liebe ergriffen, weil er 
einem Grundzuge ſeines Weſens entgegenkam. Er regt an, 
er erwärmt und darum kann er auf viele Leſer wirken und 
ihnen Anſtöße zum ſittlichen Handeln und Fühlen geben. 
Die ausgewählten Stücke kennzeichnen den Mann vortreff⸗ 
lich. Ich empfehle das Heft auch unſeren Leſerinnen beſtens. 

L. 


Von 


Dom Wege. 
Von Anna Behniid. 


Hinterlift und Bosheit, an ihnen begangen, können bie 
Menden vergeben; eins aber verzeihen fie nie: wenn man 
größer denkt als fie felber. 


Die Menihen mögen uns alles gönnen, was uns das 
Schidjal hentt an Slüd und Gunft, — was wir auß 
eigener Straft erringen, neiden fie ung body; denn das aus 
eigener Kraft Errungene hebt den Wert der Perjönlichkeit 
und den vertragen bie wenigften. 

%* 

DBetrüge den Menihen um feine Jugend und Du unter: 
gräbft ihm feine Lebensfähigkeit. Denn wie joll der Herbft 
Früchte bringen, wenn ber Frühling feine Blüten hat? 


Der Mani) mag vergeffen lernen, aud feine Leiden. 
Nur da Traumbild von Glüd vergißt er nie. Und darım 
findet er auf Erden feine Ruh! 





IV. 650 


711 


Mit Dir erliſcht mein Stern und Troſt 
Du klares, reines Licht; 

Wie wird mir fehlen überall 

Dein herziges Angeſicht! 

Dann ſteh' ich wieder ganz allein 

Im rauhen Sturmestoſen; ... 

O gieb, was Du noch geben kannſt, 
Dem Liebe: und Freudelofen. 


Hans Biermann. 


Dermildte Anzeigen. 


Bei Schmidt & Günther in Leipzig fit die Forl- 
fegung de8 mit fo großem Beifall aufgerrommenen Wertes 
über Napoleon I. von Armand Dayot erfchienen. Nicht 
weniger al8 57 Tertilluftrationen und 7 Volbilder und zivar 
„Dberjtlieutenant Napoleon Bonaparte — Kaifer Napoleon I.“ 
— „Marie Lonife und ber König von Nom.” (Verjailler 
Galerie.) — „Ein Baradetag zur Zeit Napoleons (1810).” — 
„Zotenmadle Napoleons.” — „Der Haijer“ nad) Tapid. — 
„Die große Kıönungsprogeffion.” — „Übergang über ben 
Niemen am 12. Juni 1812 und Beginn bes Krieges bon 
1812, 1813, 1814.” — zieren die 14 bi8 17. Lieferung diefeö 
empfehlenswerten Prachtwerkes, durch das die Litteratur über 
den großen Eroberer und ſein Schickſal thatſächlich be— 
reichert wird. 

Das Waltharilied. Ein Heldenſang aus dem 10. Jahr— 
hundert im Versmaße der Urſchrift überſetzt und erläutert von 
Prof. Dr. Hermann Althof. (G. D. Göſchen, Leipzig.) 

Auf Grund ſorgfältiger Durchſicht des lateiniſchen Ur— 
textes wird hier eine Überſetzung des altehrwürdigen Walthari— 
liedes geboten. Gegenüber den vorhandenen zahlreichen, aber 
meiſt lückenhaften und vielfach unrichtigen Übertragungen, 
von denen die Scheffels die verbreitetſte ſein dürfte, zeichnet 
ſich die gegenwärtige Wiedergabe aus, ſowohl durch einen 
bedeutſamen Fortſchritt im Verſtändnis des Textes als auch 
durch treue Wahrung der äußeren Erſcheinung des COrigi— 
nales. Es iſt nicht nur die hexametriſche Versform bei— 
behalten, ſondern auch dem Ausdruck etwas von der ur—⸗ 
wüchſigen Rauheit der Sprache des St. Galler Mönches 
Ekkehard geblieben. 

Freilich auch die treueſte und richtigſte Überſetzung kann 
für ſich uns noch nicht ein lückenloſes Verſtändnis und damit 
den vollen Genuß der herrlichen Dichtung gewährleiſten. Iſt 
ſie doch geradezu geſpickt mit Beziehungen auf uralte deutſche 
Sitten und Verhältniſſe. Hierüber wird der Leſer unter— 
richtet durch die fortlaufenden und tiefgreifenden Erläute⸗ 
rungen, die, für ſich betrachtet, eine kurzgefaßte deutſche 
Altertumskunde in einer dem Texte folgenden Anordnung 
bilden. Möge das inhaltsreiche, bei billigem Preis beſtens 
ausgeſtattete Büchlein dazu beitragen, die Jugend für Art 
und Sitte unſerer Vorfahren, für die Reinheit, die Kraft und 
den hohen Adel altdeutſchen Heldenſanges zu begeiſtern. Der 
Preis, 80 Pf. geb. ermoͤglicht jedem die Anſchaffung. 

Das deuntſche Drama in den litterariſchen Rewegungen 
der Gegenwart. Vorleſungen, gehalten an der Univerſität 
Bonn von Berthold Litzmann. Dritte erweiterte 
Auflage. (Hamburg und Leipzig 1896, Leopold Voß.) 

Wir freuen uns, daß dieſem Buche, deſſen erſte Auflage 
wir unſeren Leſern warm empfehlen konnten, ein ſo günſtiger 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


712 


Stern leuchtet. Der Verf. hat einen „Rückblick und Aus— 
blick 1896“ angehängt, ſonſt aber alles unverändert gelaſſen. 
Und mit Recht, denn ein aus Vorleſungen entſtandenes Buch 
wirkt in der urſprünglichen Faſſung am beſten. Den Leſern, 
die das Werk nicht kennen und die Entwickelung der deutſchen 
Bühnendichtung mit Teilnahme verfolgen, ſei es nochmals 
beſtens empfohlen. 

Welch' hervorragenden Platz Robert Burns in der 
engliſchen nicht nur, ſondern in der Weltlitteratur einnimmt, 
iſt bekannt. Mit Freuden darf man es begrüßen, daß der 
Verlag von Otto Hendel in Halle a. S. die Lieder und 
Balladen nebſt einer Auswahl der Gedichte des großen 
Dichters in ſeine Zibliothheß der Gefamilitteraiur als 
Nr. 930 - 934 (geh. 1,25 Mk., in Leinen geb. 1,50 ME, in 
eleg. Geſchenkband 3 Mk.) aufgenommen hat. Gerade jetzt, 
wo — am 21. Juli — die Feier der hundertſten Wiederkehr von 
Robert Burnd' Todestag ſtattgefunden, hat erſcheint die ſchöne 
Ausgabe doppelt will kommen. Die Herausgeberin W. Prinz— 
horn, unſere Mitarbeiterin, hat nicht nur das Beſte aus den 
bisherigen Burnsüberſetzungen hier vereint, ſondern auch eine 
ſtattliche Reihe neuer übertragungen aus ihrer eigenen Feder, 
ſowie von F. Dobbert und C. Cornelius beigefügt. Die 
folgenden Nummern bringen in zwei Bänden eine Biographie 
Sonja Kowalewskys, dieſer geiſtreichen und doch glück— 
loſen Frau, und zwar Band J Kindheitéerinnerungen, von ihr 
ſelbſt erzählt (Mnr. 935, 936, geh. 50 Pf., geb. 75 Pf.); 
Band 11 „Was ich mit ihr zuſammen erlebt und was ſie 
mir von ſich erzählt hat“ von Charlotte Leffler (Nr. 937, 
938 geh. 50 Pf., geb. 75 Pf. Beide Teile in einem Bande 
1,25 Mk.) In vortrefflichen Übertragungen vorliegend, werden 
beide Bände in einer Zeit, die die Frauenfrage ſo lebhaft 
disſskutiert, beſondere Teilnahme finden. Der folgende Band 
vermittelt dem Leſer die Bekanntſchaft des bedeutendſten 
nordamerikaniſchen Schriftſtellers Ebgar Allan Poe. Seine 
Erzählungen wunderbarer und unheimlicher Begebenheiten 
in Auswahl (Nr. 939 - 942 geh. 1 Mk., geb. 1,25 ME.) 
dürfen als geradezu klaſſiſche Erzeugniſſe in ihrer Art be— 
zeichnet werden. Das letzte Bändchen endlich bringt den 
vierten Teil der Argonautengeſchichten von Bret Harte, 
überſetzt on Johannes Hoops (Ar. 943, geh. 25 Pf., geb. 
50 Pf.). Bret Hartes glänzendes Erzählertalent zeigt ſich auch 
hier im beſten Lichte. 

Von der Allgemeinen Kuuſtgeſchichte, in Verbindung 
mit andern herausgegeben von H. Knackfuß, (Verlag von 
Velhagen & Klafing in Bielefeld und Leipzig) ift fo= 
eben die zweite Abteilung erjchienen, mit welcher der crfte 
Band: „Kunftgeihichte des Altertuns und des Mittelalters“ 
bon Prof. Dr. Mar Sg. Zimmermann fortgejegt wird. 
Der geihägte Verfaffer führt darin die beiden Höhepunfte 
der griediihen Kunft, die Zeitaller des Phidias und des 
Proritele3 vor. Außer den fünftlerifchen Elementen werden 
auch die fufturgeihichtlihen betont, die nicht nur zu Anfang 
jedes Abfchnitts zu fehr beachtenswerten, formvollendet ge= 
ihriebenen Nurlturbildern zufammengefaßt werden, fondern aud) 
ben übrigen Tert durdfegen. Die Erläuterung der einzelnen 
SKunftwerfe beweift nicht nur große Quellenfenntni3, fondern 
aud) das Teingefühl, ohne defjen Beihilfe jede Eunftgeicdhicht- 
liche Arbeit im Kerne nüchtern bleibt. Brof. Zimmermann 
trägt in fi ein Gutteil nadjschaffender Einbildungsfraft, die 
heute manchem gelehrten Kunfthiftorifer ganz abgeht. E38 tjt 
lebhaft zu wünjchen, daß die Fortfeger bes Werkes ihm darin 
gleihen. Wie aud) der Strom der fünftlerifchen Entmwides 


113 


fung im ganzen verfolgt wird, und bie Darftellung überall 
leicht verftändlich ift, fo entiteht ein feffelndes und lebendiges 
Gejamtbild, welches den Leer in bejtändiger Spannung 
erhält. Der Tert wird erläutert durch eine große Fülle 
ihöner Abbildungen, die meifterhaft nad den Urbilbern 
wiedergegeben find, darunter ift eine Anzahl folcher, die zum 
erften Mal veröffentlicht werben. Das jhöne Werk ift nicht 
nur für fih eine bedeutjame Erjheinung auf dem Gebiete 
ber Sunftgeichichte, für welche in immer weiteren reifen das 
lebhaftefte Sntereffe erwacht, jondern e3 wird auch den Bes 
figern der befannten Snadfupihen Künftlermonographien 
als Ergänzung willflommen fein. 

Wir Gebtldeten. Nachdenkſame Geihichten. Bon Han 
Schliepmann. (Berlin 1896, Schufter und Xoeffler.) 

Der hübfch ausgeftattete Band enthält jeh8 Geihichten: 
„Nöhlers*; „Warum mein Schufter trinkt“; „Wie ih mid 
ald ‚Seele von Menih“ entdedte”; „rei jein!“; „Marie 
Kunze“ und „Wenn man Maler zu renden hat“. Nein 
erzählend find nur die letten zwei, beide in ihrer Art ge= 
lungen. Aber der Hauptwert des Buches liegt in ben anderen. 
Scheinbar harmlos enthalten fie eindringlihe Wahrheiten; bie 
Sronie tritt nur leife hervor, aber ift dennoch fcharf und 
treffend; das Gefühl gehalten und doch Fräftig. Diele vier 
Geihichten enthalten mehr Velcehrendes, als viele Prebigten 
und erjchüttern ftellenweife jeden, der Herz und Kopf an ber 
richtigen Stelle trägt. Ich empfehle das Werk unieren 
Lefern angelegentlich. 8 

Dulcamara. Bon Paul Bartn. 
W. Wunderling.) 

„Süßbitteres* wie das Leben giebt biejes Bud. Man 
braucht nicht dem Urheber fteiß beizuftimmen, fann ſogar in 
manchem entgegengejegte Anfichten vertreten. Dennod wird 
jeder tiefere Lefer ihm Achtung zollen müffen. Denn diejes 
Bud ift ein erlebte8; der Verf. hat das Treiben um fi) mit 
Klugheit beobachtet, befigt weiten Blic, aber was mir nod 
mebr gilt, er hat ein warmes Gemüt, in dem allein fchließ- 
lich auch der echte Geift wurzelt. In mandem Abichnitte — 
beionders dem 15., der die joctalen ragen behandelt — ft 
mandjes zu allgemein gefaßt, und darum fchief, aber es findet 
fih eine Fülle von wahren und zum Teil bedeutenden Aus- 
fprüchen, die ermfter Überlegung wert find. Möge das Bud) 
recht viele Käufer und Nachdenker finden. Vielleicht bringe 
ih nod) einen Abfchnitt in der Beilage. L. 

Dramaliſche Handwerſislehre. Von Avonianus. 
(Berlin 1895, W. Kleiftftr. 14, Hermann Walther.) 

Der Verf. ift ein gebildeter, Eluger Mann; das Wert 
ift auch für bie Schriftfteller, die für die Bühne arbeiten, 
von Wert und enthält vortreffligde Yingerzeige.e Dennod 
macht e3 einen zwielpältigen ECindrud. Der lirheber hat 
viel tiefere Einfihten in die wahre Stunft, al man aus 
mandem Ratihlag entnehmen kann. Aber fo oft er aud) 
auf diefe hinweift, andernorts läht er wieder für den Durdh- 
Schnitt allzumeitherzige Duldung herrien. Snbeffen hat das 
den Vorteil, daß fowohl die Handwerker, die feine Kopf: 
werfer find, al8 au Dichter, die im Handwerke unſicher 
find, manches Gute aus dem Buche Ihöpfen können. Dabei 
ift der Vortrag lebendig und anregend. (5 ME.) L. 

Von den neuſten Heften der Sammlung gemein— 
verſtändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, heraus— 
gegeben von R. Virchow und Wilh. Wattenbach (Ham⸗ 
burg, Verlagsanſtalt vorm. J. F. Richter), heben wir 
als empfehlungswert folgende hervor: 


(Regensburg 1896, 


Reomanszeliung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





114 


Die ſteben Schwaben und ihr Bervorragendfier Siflorie- 
graph Audwig Auerbacher. Von Max Radlkofer in 
Augsburg. 

Der Wandel deutfhen Gefühlsießens. Bon Dr. Georg 
Steinhaufen (rei an feinen Bemerkungen). 

Yom deutfhen Sandwerk und feiner Poeſte. 
Theodor Ebner, Karlöruhe. 

Die fiöyflinishen HBüder in Mom. Bon Dr. Karl 
Sdulteß. 

Bertda von Narenfolg-ülow. Ihr Leben und Wirken 
im Dienſte der Erziehungslehre Friedrich Fröbels. Von 
Henriette Goldſchmidt. 

Die Bildung des Harzgebirges. Von Otto Lang. 
Mit 2 Tafeln in Farbendruck. 

Soſdatenſfieder aus dem deuntſch⸗ frauzoͤſtſchen Kriege 
1870,71. Bon Martin Wagner. 

Miltens Ingendjaßre und Iugendwerke. Von Prof. Dr. 
Smmanuel Shmibt (mit vorzüglich überjegten Proben), 

Die Sammlung bezieht man am beften als feiter Be⸗ 
fteler, da dann das Heft nur 50 Pf. Eoitet. 

Drei EMayus. Bon Ralph Waldo Emerjon, Deutih 
von Thora Weigand. (München 1896, Hermann Luflas 
ſchik, G. Franzſche Hofbuchhandlung.) 

Das Büchlein, von Wilh. Weigand eingeleitet, enthält 
drei der beſten Eſſays: Die Weltſeele; Natur; Ausgleichungen, 
überſetzt von der Gattin des bekannten Schriftſtellers. Es 
ſei gleich bemerkt, daß die Verdeutſchung ſich ſehr gut lieſt. 
Was bei Emerſon ſtets wirkt, iſt die Geſinnung; iſt er auch 
im ſtrengen Sinne kein thatſächlich ſelbſtändiger Denker, ſo 
hat er Übernommenes doch eigenartig durchgefühlt und dann 
wieder perſönlich dargeſtellt. Das, was er von Deutſchland 
erhielt, den Idealismus, hat er mit Liebe ergriffen, weil er 
einem Grundzuge ſeines Weſens entgegenkam. Er regt an, 
er erwärmt und darum kann er auf viele Leſer wirken und 
ihnen Anſtöße zum ſittlichen Handeln und Fühlen geben. 
Die ausgewählten Stücke kennzeichnen den Mann vortreff⸗ 
lich. Ich empfehle das Heft auch unſeren Leſerinnen beſtens. 

L. 


Von 


Dom Wege. 
Bon Anna Mehniid. 
Hinterlift und Bosheit, an ihnen begangen, können bie 
Menichen vergeben; eins aber verzeihen fie nie: wenn man 
größer dentt als fie jelber. 


Die Menihen mögen uns alles gönnen, was uns dag 
Schidjal jhentt an Glüd und Gunft, — was wir aus 
eigener Kraft erringen, neiden fie und doch; denn das aus 
eigener Kraft Errungene hebt den Wert der Perfönlichkeit 
und den vertragen die wenigjten. 

* 

Betrüge den Menihen um feine Jugend und Du unter: 
gräbft ihm feine Lebensfähigkeit. Denn wie joll der Herbft 
srüdte bringen, wenn der Frühling feine Blüten hat? 


Der Menih mag vergeffen Iernen, auch feine Leiden. 
Nur dag Traumbild von Glüd vergißt er nie. Und darım 
findet er auf Erden feine Ruh! 





IV. 50 


115 


Könnt Ihr einen Menjchen zum Glüdlichfein zwingen? 
Seht doc mit Euren Bemweifen und Yolgerungen, daß er 
eigentlich glüdlic fein müßte, wenn — ja, wenn er ebenio 


dädhte und fühlte wie Ihr. — Und ob er recht Hat oder nicht 


mit feinen Gründen zum Unglüdlichfein, genügt Euch nicht 
die Thatfache „er ift unglüdlih” zum Mitleid? 


Vermiſchtes. 


Vrofeſſor Auger von der Wiener Univerſität war wegen 
ſeines Witzes berühmt. Eines der Hauptobjekte von Ungers 
Witz war ein Abgeordneter, der durch ſeine Eitelkeit be— 
rühmter geworden, als durch ſeine ſonſtigen Leiſtungen. 
Als man in einer Geſellſchaft eine kleine Schwäche des 
Dr. *** beſprach, meinte Unger: „Das iſt eine von ſeinen 
vier Achillesferſen.“ Und ein andermal: „Diefer Dr. *** ift 
doch bewundernswert. Wenn heute ein neues inridifches 
Werk erfcheint, hat er ed morgen mißverjtanden und fchreibt 
übermorgen einen Artikel darüber.” ... Bon einem Staat3- 
manne, ber in jeiner geiftigen Entwidelung ein wenig zurüd: 
geblieben war, meinte Unger: „Welcher Unterjchied ift zwiichen 
Gincinnatus und Graf 9?" — Antwort: „ALS Cincinnaius 
fi) von den Staatsgeichäften zurüdzog, ging er hinter dem 
Pfluge; wenn Graf 2) dasjelbe thut, muß er vor dem Pfluge 
gehen.“ ..... Einen öfterreihifchen Yinanzminifter, der von 
matellofer Chrlidfeit, aber fonjt eben fein Genie war, 
Harakterifierte er mit den Worten: „Tiefer Dienih ift zu 
allem fähig, wenn e8 ihm nur nichts trägt.“ Und von ihm 
fol auch die Bemerkung über ein Minifterium ftammen: 
„Die eine Hälfte ift zu nichts fähig, die andere zu allem.“ 

Eines Tages wurde das Erydenkmat des großen Philo- 
fophen Kant in Königsberg durd ein Breiterhäuschen ums 
fleidet, um dasjelbe biß zur Vollendung eines benadbarten 
Baue3 vor Staub und anderweitiger Beihädigung zu jchügen. 

Gerade in den Tagen, da bieß geichehen war, langte 
ein Engländer aus Peteröburg an und mwünfchte dringend 
dad Denkmal des großen Weltweijen fennen zu lernen. 

Da diefeg nun eben nicht fidtbar war, fo flug der 
Hotelwirt dem Mylord vor, alle möglichen Herrlichkeiten, Die 
die Stadt fonft biete, erft in Augenfchein zu nehmen. 

Mylord verweigerte alles, ihm war nur an der Stant- 
ftatue gelegen. 

Um num nicht einzugeftehen, daß diefe, von dem renden 
als einzige betrachtete Sehenömwäürbigfeit gerade augenblidlic 
nicht in der Lage fei, Befuche zu empfangen, und dem Eng: 
länder jeinen Wunfd wenigftens jcheinbar zu erfüllen, erfand 
der Hotelwirt folgenden Ausweg. Er erbot fid), den Sremben 
felbft zu der Kantftatue zu begleiten, und führte ihn auf den 
Plat vor der Univerfität vor das Neiterftandbild Friedrich 
Wilhelm III von ip. 

Mit großem Syntereffe betrachtete der Engländer ben 
Pfeudo:Stant, äußerte jedoch jein Befremden, daß der große 
Weltweiſe in Uniform verewigt ei. 

„Sa, jehen Sie,” ertgegnete der gewandte Gicerone, 
ohne fich verblüffen zu laffen, „bei uns in Deutichland ift 
eben jeder Soldat. Zies Erzbild wurde gerade zu der Zeit 
angefertigt, al8 Sant fein Jahr abdiente.” 

Und befriedigt 30g der Sohn Albions von dannen. 


Beiblatt der Deutihen Roman-gBeitung. 


Der Adnig Friedrih ZWBlihelm I. jah ed nicht ungern, 
wenn ihm von feinen Untertanen Gejchenfe in die Hoffücdhe : 


716 


gemacht wurden. Er äußerte fich darüber mit treuherziger 
Gutmütigfeit, daB er folche Beweife der Zuneigung gar nicht 
übelnähme, da ohne Zweifel auf feine Tafel dadurch beijere 
Epeifen fümen, als die fein Küchenmeifter einfaufte Gin 
Kandidat der Gottergelahrtheit aus Wefifalen hatte hiervon 
gehört, und da eine Predigerftelle erledigt war, jo bat er 
unmittelbar den König um deren Verleihung und fanbdte 
ihm zugleich zwei geräucherte Schinken. Friedrih Wilhelm 
war jehr ungehalten darüber, die Schinken aber waren ganz 
nah feinem Gefhmad. Auf die Eingabe bes Kandidaten 
ließ er, indem er fie ber oberften geiftlihen Behörde zus 
fandte, die Verfügung jchreiben, dem Supplifanten die ers 
betene Sielle zu erteilen, fallß er in der Prüfung gehörig 
befunden wäre und fid) fonft dazu eigne. E8 fiel ihm aber 
nod ein, daß in diejer Eingabe be Gefchenfes der Schinten 
ansdrüdlih Erwähnung gethan jei, und deshalb fügte er 
als Nahichrift eigenhändig Hinzu: „Fressibilia non sunt 
Bestechia.“ 

GEBarles Gravier, Graf von Bergennes, war unter 
Ludwig dem Sechhzehnten Minifter des Auswärtigen, als 
welder er ben Allianzvertrag mit den um ihre Unab- 
hängigfeit von England Tämpfenden Bereinigten Staaten 
von Nordamerila abihloß. WDiehr aber als durch jeine 
Staatsaktionen hat er fein Gedädtnis in ter diplomatischen 
MWelt erhalten durch die von ihm erfundenen und nad ihm 
benannten Karten. BDiejelben dienten ala Bälle oder Em= 
pfehlungsbriefe, welche von ben diplomatischen Vertretern 
Tranfreihs im Auslande nad Franfreid) reifenden Fremden 
mitgegeben wurden. Anjcheinend von der größten Harm⸗ 
Iofigfeit und Liebenswürbigfeit, enthielten fie doch durch ihre 
Form, Barbe und äußere Ausftattung das eingehendfte 
Signalement bed Trägerd, ohne daß diejer eine Ahnung 
davon hatte, welche Mitteilungen über fich jelbit er mit der 
Karte übergab, auf welcher er nichts weiter laß alö feinen 
Namen und darunter in drei Zeilen, daß er von Herm ©o 
und So, Gefandten an dem unb dem Hofe, dem Herrn 
Grafen von Bergenned empfohlen werde. 

Die Zorın der Karte gab zunädft Aufihluß über das 
Alter des Überbringes; pieredig, länglich, fymal, breit, rund, 
breiedig u. j. mw. bezeichnete jedes einen Zeitabjchnitt wie 
zwifchen 25 und 30, zwiichen 30 und 40 u. |. w. Die Farbe 
der Karte nannte die Nationalität des Befiterd; der Eng: 
länder erhielt fie gelb, der Spanier rot, der Portugieje weiß, 
ber Deutihe grün, der Staliener rot und weiß, der Aufie 
grün und weiß u. j. wm. Die Interpunftion biente zur Bes 
zeihnung der Religion. Ein Bunkt hinter dem Namen ließ 
den Katholiken, ein Semifolon den Zutheraner, ein Komma 
den Nalpiniften, ein Gedantenftrid) den Sjuden erfenten; 
fehlie da8 Zeichen, To wußte der Diinifter, er habe «3 mit 
einem Aiheiften zu thun. Die Gemütsart fymbolifierte eine 
am ande der Karte befindliche Blume; eine Nofe erzählte 
von einem offenen, zugängliden Wejen, eine Tulpe von 
Stolz, ein VBeilhen von Beicyeidenheit, eine Mohnblume von 
Verichloffenheit.e. Die Breite eines ring® um die Karte 
laufenden Streifen verriet ihn ald unverheiratet, verheiratet 
oder Witwer; Arabesfen, die anfcheinend nur zum Schmud 
der Karte dienten, fegten den Minifter in Wahrheit davon 
in Kenntnis, ob er einen Naufbold oder einen friedliebenden 
Mann, einen Spieler und Berfchwender oder einen guten 
Haußhalter, einen Mann von Vermögen und Einfluß oder 
einen armen Schluder vor fid} habe und belehrten ihn ferner 
über den Beruf des Empfohlenen, über den Ywed jeiner 


717 


Reife nah Yranfreid und endlich darüber, ob er als un 
ruhiger Kopf zu überwachen jei, ober ob man ihn unbehelligt 
feine Straße ziehen lafjen könne. 

Herr von Vergennes hatte daB Üüberwachungsſyſtem 
über die Fremden zu einer großen Vollkommenheit gebracht; 
er vermochte die Ideen, welde in Tsranfreich felbft geboren 
und groß gezogen wurben, nicht zu unterbrüden; zwei Jahre 
nad) feinem Tode — er ftarb 1787 — schlugen fie empor 
zu einem Ylammenmeer, da man die franzöfiiche Revolution 
nennt; e3 gingen darin nod) ganz andere Dinge unter, ala 
die Karten bed Herrn von Vergennes. 


us dem Seben für das Seben. 
Von O. v. J. 


Ceſare Lombroſo und einige ſeiner Nachbeter halten alle 
Genies für verrückt. Da giebt es nur zwei Möglichkeiten: 
entweder iſt Lombroſo ein Genie und daher wahnſinnig. 
Da braucht man ſeine Kundgebungen nicht zu beachten. 
Oder er iſt „normal“ und daher kein Genie, ſondern ein 
Schwätzer. Da braucht man ſich um ſeine Weisheit noch 
weniger zu bekümmern. Warum aber hat er bei der Menge 
ſo großen Erfolg? Ich glaube, weil es den Leuten ſchmeichelt, 
ſich ſelbſt als „normal“ anſehen zu dürfen. 

* 


Je mehr wahrhaftig Du wirſt, deſto mehr Menſchen 
werden von Dir abfallen. Es giebt viele, die von uns 
Lügen verlangen, obwohl ſie wiſſen, daß es Lügen ſind. 
Aber ſchließlich iſt der Verluſt ſolcher ein Gewinn. Denn 
frei kann man nur im Kreiſe Wahrhafter leben. Jeder 
andere Umgang entadelt. 

* 


Wer fein Jcy vergdttert, wird einmal bemerfen, Daß er 
fih dem Teufel verjchrieben hat. 


* 


Glücklich ſind ſolche Menſchen, die jede Grenze ihrer 
Begabung erkennen und mit Liebe das Kleine ſchaffen, das 
ſie leiſten können. Und ſei ihre Gabe noch ſo beſchränkt, ſie 
beſitzen neben ihr ein Großes: unbewußte Lebensweisheit. 


x 


Die beiten Bücher find Wegiveijer in Dich felbft. Was 
Du braudft, fannft Du vollflommen nur in Dir finden. 
*% 


Die Natur betrügt und nie; wir aber betrügen uns 
dur) das, wa3 wir in fie hineinlegen und dann heraußlejen. 
Die Naturwiflenfhaft nennt diefen Selbftbeirug „erafte 
Methode“. 


* 


E3 ift unter Umftänden auf jedem Willensgebiete mehr 
verdienftreih, Fragen nen zu fallen, als einen Berg bon Ant: 
worten aufzulürmen. Wenn die materialiftiiche Naturwifjen- 
fhaft fih vor allem die Frage neu ftellte: „Inter weldyen Be: 
dingungen erkenne ich die Natur?” — fo würde fie fich jelbft 
am meiften nügen. Aber fie vermeidet cd. Denn die einzige 
Antwort: „unter geiftigen Bedingungen“ will fie no nidt 
hören. Uber einmal wird fie hören müffen. Und dann 
wird fie jelbft der materialijtiihen Weltauffaffung den 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


— — — — — —— — — — — 





718 








Gnadenſtoß geben. Obwohl dieſe ſchon vorher von der 
Philoſophie totgeſchlagen war. 

Ein weiſer Mann findet ſtets auch dem ſchlichteſten 
Menſchen gegenüber innere Anknüpfung. Nur hochmütige 
Halbbildung weiß nicht, „was man mit ſolchen Leuten 
ſprechen ſoll“. 

Die Berühmtheit iſt ein unſicherer Wechſel. 
nicht, ob ihn die Zukunft einlöſen werde. 


% 


Wer in den Honigmonden allen Honig verbraudt, darf 
fih nicht wundern, wenn ihm bie Ehe balb bitter jchmedt. 


* 


Was in der „Welt* eine Dame ift, fann zu Hauje ein 
Drade fein. Die edle Frau bleibt fi) Hier und dort gleich. 


Ein Sonnenblid fanıı mehr Glück in ih bergen, als 
ein Sonnentag. 


Dan weiß 


Im Entwidelungögange unferes Lebens wadlen wir 
aud) über mandes Speal hinaus und fchaffen ung auf höheren 
Stufen neue. Aber aud) die überwundenen follen wir nic- 
mal3 veripotten, jo thöricht fie der reiferen Einficht erfcheinen 
mögen. Wie im Eymbol ift in ihnen eingeichloffen das 
Streben und SIrren unjerer Werdezeit. Niemand aber foll 
folhe abgethane Speale fünftlich vergolden, er täufcht fich 
dann nur über feine eigene Entwidelung. 

* 


Dir ſelbſt mußt Du die Wahrheit auch dann ſagen, 
wenn ſie Tich zum Erröten zwingt. Wohl iſt das demütigend, 
aber die aufſteigende Scham belehrt Dich, daß Dein Innerſtes 
die Handlung verurteilt und das Leitbild edleren Thuns in 


ſich trägt. 


Briefkaſten. 

Frl. A. Gr. in B. Leider nicht verwendbar. — Hrn. Th. H. 
iun M. Angenommen. — Mignonne. „Etwas über die 
Liebe“ iſt im Vortrag leider zu geziert. — Frau S. B. in Sch. 
Warm empfunden, aber zu formlos. — Herrn Ref. Th. in. 
Gewiß kann uns jeder als „Erzieher“ dienen, aus deſſen 
Schriften wir für unſer Fühlen, Vorſtellen, Denken Anſtöße 
zu ſittlichem Wollen gewinnen können. Die Gefahr liegt 
aber darin, daß wir die Einflüffe nur „äiſthetiſch“ faſſen, 
d. 5. mit einem Wohlgefallen aufnehmen, in dem fich der 
Einfluß erfhöpft. Wir erzeugen dann, uns im Worbilde 
ipiegelnd, Scheingefühle, mit denen wir ein uns gefälliges 
Spiel treiben; da aber fann beftehen, ohne daß unjer 
Handeln fi im geringften ändert. Darum find auch Tichter 
als Erzieher am meiften gefährlich. Durch die Form wirken 
fie oft fo mädtig, daB fih in der Hingabe an deren Reiz 
unfere Seraft erichöpft. Der Dann foll den „Erzieher* in 
fih fuchen, in feinem „Selbjt“ den inneren Chriftus, den 
„Sottesiplitier“, den er in fih trägt. Nur was aus diejer 
Duelle fließt, Iebt in Wahrheit, nur darin wirkt tiefites 
Wollen, das zugleid) Freiheit in fi Ichließt. Iede „Maxime“, 
die wir von außen aufnehmen, wird al® Frembes gefühlt, 





715 


Könnt Shr einen Menjchen zum Glüdlichfein zwingen? 

Geht doc mit Euren Beweifen und Yolgerungen, daß er 
eigentlich glüdlich jein müßte, wenn — ja, wenn er ebenio 
dächhte und fühlte wie Shr. — Und ob er redjt Hat oder nicht 
mit feinen Gründen zum Unglüdlicjjein, genügt Euch nidjt 
die Thatfache „er ift unglüdlih“ zum Mitleid? 


Vermiſchtes. 


Vrofeſſor Auger von der Wiener Univerſität war wegen 
ſeines Witzes berühmt. Eines der Hauptobjekte von Ungers 
Witz war ein Abgeordneter, der durch ſeine Eitelkeit be— 
rühmter geworden, als durch ſeine ſonſtigen Leiſtungen. 
Als man in einer Geſellſchaft eine kleine Schwäche des 
Dr. *** heſprach, meinte Unger: „Das iſt eine von ſeinen 
vier Achillesferjen.” Und ein andermal: „Dieſer Dr. *** ift 
doch bewundernswert. Wenn heute ein neues juridiſches 
Werk erſcheint, hat er es morgen mißverſtanden und ſchreibt 
übermorgen einen Artifel darüber.” ... Von einem Staat3- 
manne, ber in feiner geiftigen Entwidelung ein wenig zurüds 
geblieben war, meinte Unger: „Welcher Unterfchied ift zwiichen 
Gincinnatus und Graf Y?* — Antwort: „ALS Cincinnatus 
fih von den Staatögeihäften zurüdzog, ging er hinter dem 
Pfluge; wenn Graf Y dasfelbe thut, muß er bor dem Pfluge 
geben.“ .... Einen öfterreihifchen Yinanzminifter, der von 
matellofer Ehrlichkeit, aber fonft eben fein Genie war, 
harakterifierte er mit den Worten: „Diefer Dienfh ift zu 
allem fähig, wenn e8 ihm nur nicht® trägt.“ Und von ihm 
fol auch die Bemerkung über ein Minifterium ftammen: 
„Lie eine Hälfte ift zu nichts fähig, die andere zu allem.“ 

Eines Tages wurde das Erzdenkmal bed großen Philo- 
fophen Kant in Königsberg dur ein Bretterhäuschen ume 
fleidet, um basfelbe bi8 zur Vollendung eines benachbarten 
Baues vor Staub und anderweitiger Beihädigung zu Ichügen. 

Gerabe in den Tagen, ba bieß gejdhehen war, langte 
ein Engländer auß Petersburg an und wünfchte dringend 
dag Denkmal bed großen Weltweifen fennen zu lernen. 

Da diefes nun eben nicht fihtbar war, fo Ichlug der 
Hotelwirt dem Mylorb vor, alle möglichen Herrlichleiten, die 
bie Stadt fonft biete, erft in Augenjchein zu nehmen. 

Mylord verweigerte alles, ihm war nur an der Kants 
ftatue gelegen. 

Um nun nit einzugeftehen, daß diefe, von dem Fremden 
als einzige betrachtete Sehenswürdigkeit gerade augenblicklich 
nicht in ber Lage fei, Beluche zu empfangen, und dem Eng: 
länder feinen Wunjch wenigftens Scheinbar zu erfüllen, erfand 
der Hotelwirt folgenden Ausweg. Er erbot fi, ben Fremden 
felbft zu der Kantftaiue zu begleiten, und führte ihn auf den 
PBlat bor der Univerfität vor da8 Neiterftandbild Triedrid) 
Wilhelm III von Kiß. 

Mit großem ntereffe betrachtete der Engländer den 
Pfeubo-Stant, äußerte jedoch fein Befremden, daß der große 
Weltweije in Uniform verewigt fei. 

„Sa, jehen Sie,“ ertgegnete der gewandte Gicerone, 
ohne fi verblüffen zu laffen, „bei uns in Deutichyland ift 
eben jeder Soldat. Dies Erzbild wurde gerade zu ber Zeit 
angefertigt, als Kant fein Jahr abdiente.* 

Und befriedigt 30g der Sohn Albions von dannen. 

der König Friedrih Wilhelm I. jah «3 nicht ungern, 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


wenn ihm von feinen Unterthanen Gejchenfe in die Hofküdje : 


716 


gemacht wurden. Er äußerte fi darüber mit treuherziger 
Gutmütigfeit, daß er jolche Beweife der Zuneigung gar nidt 
übelnähme, da ohne Zweifel auf feine Tafel Dadurd) befiere 
Epeijen fümen, als die fein Küchenmeifter einfaufte. Gin 
Kandidat der Gotteggelahriheit aus Wefifalen hatte hiervon 
gehört, und da eine Predigerftelle erledigt war, jo bat er 
unmittelbar den König um deren Verleihung und janbte 
ihm zugleich zwei geräudherte Schinken. Friedridh Wilhelm 
war fehr ungehalten darüber, die Schinten aber waren ganz 
nah jeinem Geihmad. Auf die Eingabe des Kandidaten 
ließ er, indem er fie der oberften geiftlihen Behörde zu⸗ 
fandte, die Verfügung fchreiben, dem Supplifanten die ers 
betene Stelle zu erteilen, fall8 er in der Prüfung gehörig 
befunden wäre und fi) font dazu eigne. E3 fiel ihm aber 
nody ein, daß in diefer Eingabe des Gefcdenfes der Schinken 
ausdrüdlih Erwähnung gethan fei, und deshalb fügte er 
als Nadjihrift eigenhändig Hinzu: „Fressibilia non sunt 
Bestechia.“ 

GBarles Gravier, Graf von PVergennes, war unter 
Ludwig dem Schhzehnten Diinifter de Auswärtigen, als 
welher er den Alliangverirag mit den um ihre linabs 
hängigfeit von England Tämpfenden Vereinigten Staaten 
bon Nordamerifa abfhloß. Wehr aber als burd feine 
Staatsaktionen hat er fein Gedächtnis in ter diplomatischen 
MWelt erhalten durd) die von ihm erfundenen und nah ihm 
benannten Karten. Diejelben dienten als Bälle oder Ems 
pfehlungsbriefe, welche von den diplomatischen Vertretern 
Frankreichs im Auslande nach Frankreich reifenden Fremden 
mitgegeben wurben. Anfcheinend von der größten Haruie 
lofigfeit und Liebenswürbdigfeit, enthielten fie doch durch ihre 
Form, Tarbe und äußere Ausflattung das eingehenbdite 
Signalement des Trägers, ohne daß diejer eine Ahnung 
davon hatte, welhe Mitteilungen über fich felbit er mit ber 
Karte übergab, auf welcher er nicht? weiter la® als feinen 
Namen und darunter in drei Zeilen, daß er von Herrn Eo 
und So, Gefandten un dem und dem Hofe, dem Herrn 
Grafen von Vergennes empfohlen werde. 

Die Form der Karte gab zunädft Aufichluß über das 
Alter des Überbringes; vieredig, länglich, [hmal, breit, rund, 
dreiedig u. j. mw. bezeichnete jedes einen Beitabfchnitt wie 
zwiichen 25 und 30, zwifchen 30 und 40 u. f. w. Die Farbe 
der Karte nannte die Nationalität de3 Befiterd; der Eng: 
länder erhielt jie gelb, der Spanier rot, der Portugiefe weiß, 
der Deutsche grün, der Staliener rot und weiß, der Auffe 
grün und weiß u. f. w. Die Interpunftion diente zur Bes 
zeihnung der Religion. Ein Punkt hinter dem Namen lieb 
den Katholifen, ein Semifolon ben Zuiheraner, ein Komma 
den Salpviniften, ein Gedankenftrih den Juden erkennen; 
fehlie da8 Zeichen, jo wußte der Minifter, er babe e3 mit 
einem Atheiften zu thun. Die Gemütdart iymbolifierte eine 
am Nande der Karte befindliche Blume; eine Nofe erzäplte 
bon einem offenen, zugänglihen Wejen, eine Tulpe von 
Stolz, ein Beilden von Beicyeidenheit, eine Mohnblume von 
Verichloffenheit.e. Die Breite eines ıings um Die Sarte 
laufenden Streifen® verriet ihn alö unverheiratet, verheiratet 
oder Witwer; Arabeöfen, die anfcheinend nur zum Schmud 
der Starte dienten, jeßtern den Minifter in Wahrheit davon 
in Kenntnis, ob er einen Raufbold oder einen friedliebenden 
Mann, einen Spieler und Verjchwender oder einen guten 
Haußhalter, einen Mann von Vermögen und Einfluß oder 
einen armen Schluder vor lid habe und belchrten ihn ferner 
über ben Beruf des Empfohlenen, über den Zwed jeiner 


717 


Reife nah Sranfreih und endlich darüber, ob er als un- 
rubiger Kopf zu überwachen fei, oder ob man ihn unbehelligt 
jeine Straße ziehen laffen könne. 

Hear don DVergennes hatte das Überwachungsſyſtem 
über bie Tsremden zu einer großen Vollfommenheit gebradit; 
er vermochte die Sdeen, welche in Frankreich jelbit geboren 
und groß gezogen wurden, nicht zu unterdrüden; zwei Jahre 
nah feinem Tode — er ftarb 17387 — ſchlugen fie empor 
zu einem Tlammenmeer, das man die franzöfifche Revolution 
nennt; e3 gingen darin nod) ganz andere Dinge unter, als 
die Karten des Herrn von Vergennes. 


us dem ‚Seben für das Sehen. 
Von ®@.v. LS 


Gejare Lombrofo und einige feiner Nachbeter Halten alle 
Genies für verrüdt. Da giebt e8 nur zwei Möglichkeiten: 
entweder ift Qombrofo ein Genie und daher wahnfinnig. 
Da dbrauht man feine Kundgebungen nicht zu beadıten. 
Dber er ift „normal” und daher fein Genie, fondern ein 
Schwäter. Da braudt man fi um feine Weisheit noch 
weniger zu befümmern. Warum aber hat er bei der Menge 
jo großen Erfolg? Ich glaube, weil es den Leuten jchmeichelt, 
fich jelbft ala „normal“ anjehen zu dürfen. 

x 


Se mehr wahrhaftig Du wirft, defto mehr Menfchen 
werben von Dir abfallen. E83 giebt viele, die von uns 
Lügen verlangen, obwohl fie wiflen, daß e8 Lügen find. 
Aber fchließlih ift der Verluft folcher ein Gewinn. Denn 
frei kann man nur im Sreife Wahrhafter leben. Seder 
andere Umgang entabelt. 

* 


Wer jein Sch vergöttert, wird einmal bemerken, daß er 
fih dem Teufel verjchrieben hat. 


* 


Glücklich ſind ſolche Menſchen, die jede Grenze ihrer 
Begabung erkennen und mit Liebe das Kleine ſchaffen, das 
ſie leiſten können. Und ſei ihre Gabe noch ſo beſchränkt, ſie 
beſitzen neben ihr ein Großes: unbewußte Lebensweisheit. 

x 


Die beiten Bücher find Wegweijer in Dich jelbit. Was 
Du dbraudit, fannit Du vollfommen nur in Dir finden. 
* 


Die Natur beirüigt und nie; wir aber betrügen ung 
durch bag, wa3 wir in fie hineinlegen und dann heraußlejen. 
Die Naturwiflenihaft nennt dieſen GSelbftbeirug „erafte 
Methode”. 


* 


E3 ift unter Umftänden auf jedem Wijlensgebiele mehr 
verdienjtreicdh, Fragen neu zu faffen, als einen Berg von Ant: 
worten aufzuiürmen. Wenn die materialiftiiche Naturwifjen- 
ihaft fih vor allem die Srage neu ftellte: „Unter welchen Be- 
dingungen erkenne ich die Natur?“ — fo würbe fie fich Selbft 
am meiften nügen. Aber fie vermeidet 3. Denn bie einzige 
Antwori: „unter geiftigen Bedingungen“ will fie noch nicht 
hören. Uber einmal wird fie hören müffen. Und dann 
wird fie felbjt der materialijtiichen Weltauffafiung den 


Beiblatt der Deutihen RomanzZeitung. 


nn — — 





718 








Gnadenſtoß geben. Obwohl dieſe ſchon vorher von der 
Philoſophie totgeſchlagen war. 

Ein weiſer Mann findet ſtets auch dem ſchlichteſten 
Menſchen gegenüber innere Anknüpfung. Nur hochmütige 
Halbbildung weiß nicht, „was man mit ſolchen Leuten 
ſprechen ſoll“. 

Die Berühmtheit iſt ein unſicherer Wechſel. 
nicht, ob ihn die Zukunft einlöſen werde. 

% 

Wer in den Honigmonden allen Honig verbraudjt, darf 
fih nit wundern, wenn ihm bie Ehe bald bitter jchmedt. 
* 

Was in der „Welt“ eine Dame ift, fanıı zu Hauje ein 
Drache fein. Die edle Frau bleibt fi hier und dort gleich). 


«* 


Ein Sonnenblid fann mehr Glüd in fih bergen, als 
ein Sonnentlag. 


Man weiß 


Im Entwidelungsgange unjeres Lebens mwadjjen wir 
auch über manches Ideal hinaus und fchaffen ung auf Höheren 
Stufen neue. Aber audy bie Überwundenen jollen wir nie= 
mal8 veripotten, jo 1höricht fie der reiferen Einficht erjcheinnen 
mögen. Wie im Eymbol ift in ihnen eingejchloffen das 
Streben und Sıren unferer Werdezeit. Niemand aber joll 
ſolche abgethane Ideale künſtlich vergolden, er täuſcht ſich 
dann nur über ſeine eigene Entwickelung. 

* 


Dir ſelbſt mußt Du die Wahrheit auch dann jagen, 
wenn ſie Tich zum Erröten zwingt. Wohl iſt das demütigend, 
aber die aufſteigende Scham belehrt Dich, daß Dein Innerſtes 
die Handlung verurteilt und das Leitbild edleren Thuns in 


ſich trägt. 


Briefkaſten. 

Frl. A. Gr. in B. Leider nicht verwendbar. — Hrn. Th. H. 
iu M. Angenommen. — Migıonne „Etwas über die 
Liebe“ ift im Vortrag leider zu geziert. — Frau S. B. in Sch. 
Warm empfunden, aber zu formlos. — Herrn Ref. Th. in. 
Gewiß fanın uns jeder als „Erzieher“ dienen, aus befjen 
Schriften wir für unjer Fühlen, Vorftellen, Denken Anftöße 
zu fittlihem Wollen gewinnen fönnen. Die Gefahr liegt 
aber darin, daß wir die Einflüffe nur „äfthetiich“ fallen, 
d. 5. mit einem Wohlgefallen aufnehmen, in dem fich ber 
Einfluß erfhöpft. Wir erzeugen dann, und im orbilde 
ipiegelnd, Scheingefühle, mit denen wir ein ung gefälliges 
Spiel treiben; da aber fann beftehen, ohne daß unjer 
Handeln fih im geringften ändert. Darum find au Tichter 
al8 Erzieher am meiften gefährlid. Durch die Form wirken 
fie oft jo mädtig, daß Sich in ber Hingabe an deren Reiz 
unfere Straft erichöpft. Der Mann Toll den „Erzieher“ in 
fih juchen, in jeinem „Selbft” den inneren Chriftus, den 
„Sottesiplitier”, den er in fi trägt. Nur was aus biejer 
Duelle fließt, lebt in Wahrheit, nur darin wirkt tiefjtes 
Wollen, das zugleid) Freiheit in fich jchließt. Sede „Maxime“, 
die wir von außen aufnehmen, wird ald Yrembes gefühlt, 





119 


fteht unverbunben in unferem geiftigen Schaufreis. Wir 
bedürfen dann ftet3 Lünftlicher Arbeit des Berftandes, um 
unfer Handeln mit ihr zu verfnüpfen. Wahrhaft ethifches 
Handeln aber fol aus dem Lebensgrunde bes Selbit frei 
herausfliegen. Alles Ssrembe fann daher nur dann „erziehen“, 
wenn wir e8 durd) eigenes Erleben beftätigen können. — 
Frl. U. W. in BD. Diefe Kindericherze find Fünftlich ges 
madt. — Frl. VB. BP. in 3. SInnig, aber hart im Ausdrud. 
Hoffentlich ift die Iekte Zeile bes Gebihts nicht auf Site zu=- 
treffend. Beften Gruß. — Frl. 2.9. Nicht verwendbar. — 
Frl. v. d. G. in Br. Freut mich! Glück für weitere Ver⸗ 
ſuche. — Frl. M. J. in Kappeln. Das eine der Gedichte 
Ihrer Bauernfrau „Klage der Mutter“ ſoll kommen. — 
Herrn Carl Br. in B. Die Liedchen ſind gefällig, das 
zweite nicht ohne Anmut. Vielleicht bringe ich es gelegent⸗ 
lich. — Magda. Ganz formlos. Aber Sie ſelbſt ſind 
mir ungemein angenehm, weil Sie das Gedicht ohne den 
kleinſten Begleitbrief geſendet haben. Beſten Dank und 
herzlichen Gruß. — Herrn A. V.1 (aus Hamburg). Ihr 
Wollen iſt ſicher ehrlich, aber noch ſind Sie zu unreif. Die 
„glühende Liebe zur Poeſie“ allein genügt nicht. Ob Ihre 
Begabung ſich noch vertiefen wird, kann ich jetzt noch nicht 
ſagen. — Herrn Hptl. G. M. in G. Sehr innig gefühlt, 
der Gedanke anmutend, aber Ausdruck und Form unzuläng⸗ 
lich. — Herrn H. W. in Elberfeld. Leider ungenügend. — 
Kränzchen in H. Ich kann den Streit nicht entſcheiden, 
weil ich die zwei Romane nicht geleſen habe. Ich werde 
dieſe Lücke meiner Bildung auch nicht ausfüllen. Es iſt mir 
geradezu eine Wonne, Romane zu kennen, die ich nicht ge⸗ 
leſen habe. Gönnen Sie mir dieſes beſcheidene Glück. — 
Käthe in N. „Große Mühe habe ich mir nicht gegeben“. 
Das kann ich, liebes Käthelein, beſtätigen. Sie ſollen die 
Sache aber nicht ſo ſpielend behandeln. Wollen Sie wieder 
etwas ſenden, dann geben Sie ſich Mühe. — Frl. Agn. G. 
in D. — Man kann die Naturwiſſenſchaft eine fröhliche 
Wiſſenſchaft nennen: ſie kann ſtets über die meiſten Anſichten 
der Vorgänger ſpottend ſich vergnügen. Nur vergißt ſie, 
daß ſie von den Enkeln eine gleiche Behandlung erfahren 
wird. Stützen Sie ſich alſo nicht zu ſehr auf ihre Sätze 
am wenigſten gegenüber Forderungen des Gemüts; dieſes 
läßt ſich mit den ſchönſten Sätzen des Verſtandes nicht ſatt 
machen. Und ſchließlich, wenn der Glaube an Gott Ihnen 
ſchwer fällt, weil er nur Glaube ſei, glauben Sie denn 
nicht auch an bie Sätze, die Ihnen die Naturwiſſenſchaft 
bietet, ohne ſie prüfen zu können? Für Ihr Leben iſt es 
beſſer und vernünftiger, den „Drang des Herzens“ nicht nur 
als „Reſt der Kindheitſserinnerungen“ zu betrachten, ſondern 
als unzerſtörbare Macht, die ſich allen Beweiſen gegenüber 
behauptet, weil ſie durch keinen entwurzelt werden kann. — 
Frl. S. Sch. in K. Sie irren. Das iſt nicht Humor, ſondern 
grobe Komik, die feineren Geſchmack abſtoßen muß. — Herrn 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





720 


Dr. ®. in 8. Natürlich war e8 ein Drudfehler. Es ſoll 
I. Mähly, niht Mählig heißen. (Siehe „Gedanken: 
fplitter über Mufil“ Heft 32 d.N..Btg.) — Frl. Luife M. 
in Br. „Pfingften in der Lehmbätte* ift fehr innig gefühlt, 
die Auffaffung lebendig. Aber die Behandlung be Verſes 
verbietet den Abdrud. Sie verwenden zu oft betonte Silben 
als kurz, z. B. „Heideland“, „Fachwerk“, und „Lehmwand“, 
„Birke weiß“, „Lufthauch“, „Feſttag ſie“. Hier ſind „land“, 
„werk“, „wand“, „weiß“, „hauch“, „tag ſie“ als unbetont 
und kurz gebraucht, obwohl es Stammſilben ſind. Das 
macht den Rhythmus ſchwerfällig. Sie können mir gelegentlich 
anderes ſenden. — Frl. Fanny v. Kr. Ich kenne das 
Buch nicht und kann alſo leider Ihre Anfrage nicht beant⸗ 
worten — Frl. Anka S. in K. Das ganz kurze Gedicht 
„Wir trafen uns“ iſt nicht übel. Die zwei anderen aber 
enthalten zu viel abgebrauchte Wendungen. Der Volkston 
beſonders iſt nicht getroffen. — Herrn C. v. A. in O. „Der 
Gelehrte“ kommt vielleicht gelegentlich — Frl.W. L. Garten. 
Alles zu herkömmlich geſehen und gefühlt. Die 10 Pf. für 
die Marke kommen in eine Sammelbüchſe für Kinderheil⸗ 
ſtätten. — Waldemar K. Noch alles zu jſung. Älter 
werden! — Frl. J. Br. in M. Wenn die Niederſchrift Ihrer 
Gedichte Ihnen „rieſige Freude“ gemacht, ſo iſt der Haupt⸗ 
zweck erreicht. Mir machten ſie Schmerz. Ich verzeihe Ihnen, 
aber ſchicken Sie keine mehr. — Herrn Verl. R. St. in H. 
Vielleicht kann ich „Stricken lernen“ gelegentlich bringen. — 
Frl. T. D. in R. Die Gedanken find gut, zuweilen ſchön, 
aber Sie mißhandeln das elegiſche Versmaß in einer Art, 
die mehr als grauſam iſt. Wer ſolche Formen verwendet, 
muß ſie beherrſchen. Sie machen (II.) „Wohlklang reizt“ zu 
einem Daktylus; laſſen Füße aus (I 4. III 2, 6 u. a.) und 
haben alle PBentameter falfh gebaut. — Herrn Dr. 2. in 
U. 3 wird nich freuen, Sie kennen zu lernen. Sc bitte 
nur, mir Ihren Befuh anzumelden. — Frau Th. W. in K. 
Das Buch wird angezeigt. — Herm B.N. 6. Magdeburg. 
Wir können die Preife der Bücher nur dort nennen, wo fie 
ung vom Verleger mitgeteilt werden. Das geichieht aber 
in fehr vielen Fällen nicht. Wir find aber nicht imftande, 
dann erit nachzufragen, weil uns dazu bie Zeit fehlt. 


Inhalt der Mo. 49. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Fort. — 
Schwertllingen. Baterländiiher Roman von Hans 
Werder. Yortf. — Beiblatt: Weltes Blatt. Bon Hanna 
Ehlen. — Eine Tragödie aus der Großftadt. Lebens 
und Stimmungsbilder von %. Gebhardt. IL. — Ber: 
faumt. Von Mar Brente. — Die „unehrlihen” Leute 
bes Mittelalters. Von U. Stanislas. Schluß. — Laß 
mir... Bon Hans Biermann. — Berniichte Anzeigen. 
— Vom Wege. Bon Anna Behntid. — Vermiidtes. — 
Aus dem Leben für das Leben. Von DO.0.2. — Brieffaften. 





WE Zur Beachtung! “Tu 


Alle unverlangt an bie Leitung oder ben Verlag bes Blattes eingejendeten Manujfripte — größere 
Romane ausgenommen — werben nur zurüdgejendet, wenn ein mit ber Adrefie verjehener, freigemachter 
Umſchlag einliegt. Irgendwelche Burgſchaft für Zurüdiendung wird nicht geleiftet, Gedichte werden überhaupt 


nicht zurüdgejendet. 


Verantwortlicher Leiter: Otto von Leirmer in Berlin. — Verlag von Dite 
(Segerinnen » Schule d 





Leitung und Verlag der Koman-Beifung. 


ante in Berlin. — Drud der Berliner Buchbrudereis Aktien Befellichaft 
Leite » Bereind). 


Deutſche 





ämter nehmen dafür Beſtellungen an. Durch 


—1896. 


Roman-Zeitung. 


Erfcheint wöchentlih zum Preile von 3% M vierteljährlih. Ale Buchhandlungen und Poſt⸗ 
ale Buchhandlungen auh in Wonatsheften zu 
beziehen. Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober. 


Ne 50, 





Art zu Art. 


Roman 
bon 


(Fortfegung.) 


Wie eine fehnlüchtige Klage klangen die letzten 
Worte. Emil klemmte ſein Monocle, die Errungenſchaft 
der letzten Zeit, ins Auge und ſah ihn forſchend an. 

„Unſinn! Das gewöhnt ſich. Sie müſſen fich 
nur Zeit gönnen, um im neuen Fahrwaſſer erſt 
heimiſch zu werden. Hilft Ihnen denn Ihr Freund 
Fortunat nicht etwas dabei?“ 

Heeken ſchüttelte den Kopf. Dieſer bisher ſo 
verſchwiegene, ſelbſtgenügſame Menſch fühlte auf ein— 
mal ein beinahe leidenſchaftliches Bedürfnis nach einer 
Menſchenſeele, gleichviel, wer das ſei. 

„Er bat doch bisher immer fo fehr für Sie ins 
Freundſchaftshorn geftoßen?” 

„a, das war vorher.” 

„Vorher?“ 

„Vordem er meine Frau kennen lernte. Jetzt 
iſt er in allen Dingen ganz einig mit ihr, ich gelte 
ihm nichts mehr. Er verehrt ſie ſehr.“ 

Emil lachte und ließ das Monocle fallen, dann 
bückte er ſich und putzte ein Stäubchen von ſeinem 
ſchwarzen Beinkleid. 

„Die Sache iſt ungefährlich, Heeken.“ 

„Natürlich iſt ſie das.“ Er vergrub die fünf 
Finger in ſein Haar, das ſofort zerſtört in die Luft 
ſtarrte. 

„Und wenn ſie es einmal nicht mehr ſein wurde? 
Nehmen wir es an, obgleich das bei Miß Winter 
a ausgeichloflen erfcheint, fie it eine kalte 

atur.” 

Der Bildhauer warf einen fheuen Blid auf den 
Spredenden. Wenn — wenn — dann batte er ein 
Recht fortzugehen, alles im Stich zu laflen, frei zu 
werden wie er e3 gewejen; arbeitfam und bebürfnis- 
los. Wie Freiheitsatem wehte es ihm entgegen. 

„ann .. .” Er fprang auf. 

„zaflen Sie die Dummbeiten — reden Sie fein 
Wort,” Emil faßte feinen Arm. „Sch bitte ehrlich 


Meman-Zeitung 1896. Tief. 50. 


um Entfehuldigung, Heelen, daß ich folden Blödfinn 
reden fonnte,. Seien Sie vernünftig, Mann, und 
feten Sie fih wieder.” 

Heelen that es. Auch Emil fette fih und ließ 
das Monocle fallen. 

„Zamoje Schnitarbeit,” fagte er, auf den alten 
hohen Kirhenftuhl deutend. „Ein fehr Ichönes Stüd!” 

„Das hätte ich auch gefonnt. Habe oft ähnliches 
gemacht.“ 

„Na ja, das wird Ihnen aber bald vergehen! 
Glauben Sie mir, Heeken, an nichts gewöhnt man 
ſich ſchneller als an eine luxuriöſe Lebensführung. 
Um ganz ehrlich gegen Sie zu ſein, ich trug mich 
einmal mit der Hoffnung, an Ihrer Stelle zu ſein.“ 

„Weiß ich!“ ſagte Martin mit leiſem Lachen. 
„Weiß ich genau.“ 

„Hat Ihnen Ihre Frau davon geſprochen?“ 
Emils Lackſtiefel klopfte den Boden. 

„Nein, aber ich habe zugehört, ich ſtand damals 
hinter der Laube.“ 

„So, ſo! Und deshalb ſtürzten Sie dann ſo 
eilig in die Breſche. Nun kann ich es mir erklären, 
eine Abart des Futterneides. Na, Heeken, nun kann 
ich es ja ſagen, innerlich war ich Ihnen deshalb eine 
Weile nicht grun. Aber nun — mit Thatſachen 
muß man rechnen — geben Sie mir Ihre Hand und 
laſſen Sie uns gut Freund ſein.“ 

Martin reichte ihm bereitwillig die Hand. Emil 
gefiel ihm heute ausgezeichnet. 

„Haben Sie fi denn fehon irgend eine Keine 
Zerftreuung geichaffen — irgend etwas unternommen?” 
fragte Emil wieder. „Vier Wochen verheiratet Elingt 
zwar furdhtbar poetifch, aber in Wahrheit befteht jede 
Woche aus fieben Tagen, jeder Tag aus vierund: 
zwanzig Stunden.” 

„Wir haben geftern Vifiten gemacht.“ 

Emil ſchüttelte ſich. 





IV. 51 


nn U ⸗s 


123 








„Bott im Himmel, rechnet der Menih das etwa 
zu angenehmen Beidhäftigungen?“ 

„Slüdlicherweife nahm uns niemand an.” 

„Das och fommt noch früh genug, amico mio. 
Nein, ih meine, geben Sie nit in der Woche ein 
paar Abende aus? Shre Frau kann ja dann äfthetifche 
Thees veranftalten zur Abwechlelung. Aber ein Mann 
muß bob audh einmal zwanglos unter Männern 
fein können. Ein bißchen Derbheit ift wie ein frifches 
Bad, jonft erftidt man ja unter all der Feinheit und 
Bartheit.” 

„Ih Tenne niemand,” geftand Martin nieder: 
geihlagen. Bor Monaten Hätte er auf foldden Vor: 
Ihlag faum bingehört, jett lodte er ihn mächtig. 

„Wollen Sie mit mir kommen?” fragte Emil 
nad einer Paufe des Nachdenken. „Sch übernehme 
zwar Shrer Frau gegenüber eine gewille Verant- 
wortung, aber ich denke, darüber brauche ich mir fein 
Gewifien zu madhen. Wir find fat ein Dubßenb 
junger Zeute, Künftler, Schriftfieller, ‚Verein der 
Zwanglojen‘ heißt er, und Bedingung ilt, ohne Kragen 
und Manichetten zu ericheinen.” 

Heelens Augen leuchteten auf. 

„hne Kragen und Manjhetten? Ohne gefteifte 
Wäſche? Das ift eine prächtige bee, Duenlel, da 
gehe ich mit! Gott im Himmel, wenn ich nur dies 
alles [08 fein könnte!” | 

Und er loderte mit der Rechten das jeidene Hemd 
und zerrte mit der Linlen an dem Sammetjadett. 

„Sol ih Sie heut abend abholen?” 

„Rein, heut geht es nicht. Heut muß ich mit 
meiner Frau ins Theater.” 

„Wohin?“ 

„sn die Oper!” 

„Wagner? Ach, lieber Gott, Sie armer Kerl! 
Die Meifterfinger find zum Einichlafen langweilig. 
Gott fei Dant, daß ih nit an Shrer Stelle bin. 
Alfo übermorgen?“ 

„Sa, übermorgen.” 

„sh warte anf Sie vor ber Thür — ober lieber 
an der Straßenede, Yhre Frau braudt mich nicht zu 
fehen. Au möchte ih Ihnen Schweigen anempfehlen.” 

„Aber wenn mid Maud nun fragt?” Er jah 
jo hilflos aus. — Emil lachte. 

„So Jagen Sie, daß Sie eine Verabredung 
hätten und damit Punktum; nennen Sie meinen 
er ber könnte fie mißtrauifh machen.” 

gu ut.“ 

"Allo auf Wiederjehen.” — 

„Wie nett Duenjel doch ift,“ dachte Martin ganz 
gerührt, „und zu mir gerade, der ich ihm doc die 
— genommen habe. Den habe ich wirklich ver⸗ 
annt.“ — — — 

„Es thut mir leid, Tino, Deine Mutter hat ſich 
ganz beſtimmt geweigert, mit uns zu eſſen,“ ſagte 
Maud bei nächſter Gelegenheit zu ihrem Mann. 

Sie war noch voll des Ärgers, den ſie bei dieſer 
Gelegenheit gehabt hatte. Sehr gegen ihr eigenes 
Empfinden hatte ſie den Wünſchen ihres Mannes 
Rechnung tragen wollen und war zu der Alten hin— 
eingegangen, um ihr den Vorſchlag zu machen. 


Auf der Schwelle begegnete ihr Lina, das Stuben: 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


1724 
mädchen, ſehr verlegen und ganz außer Faſſung bei 
dem unerwarteten Zuſammenſtoß mit der Herrin. 
Maud war ſehr erſtaunt. 

„Was thun Sie hier, Lina?“ fragte ſie mit 
einem gewiſſen ſcharfen Erſtaunen. 

„Frau Heeken wollte etwas warmes Waſſer, das 
habe ich gebracht,“ ſtotterte das Mädchen, blutrot 
im Geſicht. 

Maud blickte ſie an, die Unwahrheit ſtand ihr 
an der Stirn, aber wie ſollte fie ſie zwingen, etwas 
anderes zu ſagen; vielleicht daß ihr die Schwieger⸗ 
mutter Auskunft gab. 

Sie trat ein. Die Alte ließ im erſten Schreck 
den Strickſtrumpf, der zu einem Paar Strümpfe für 
die Köchin werden ſollte, fallen, dann verzog ſie ihr 
Geſicht. 

„Hatten Sie nach dem Hausmädchen gerufen, 
Mutter? Was ſollte ſie Ihnen?“ fragte Maud, noch 
ganz voll von Mißtrauen. 

„Ich — ich — es könnte ſchon ſein,“ ſtotterte die 
Alte; dann wiſchte ſie einen Stuhl mit dem Schürzen— 
sipfel ab und bot ihn der Schwiegertodhter an. 

„Dante!” jagte dieje, fich jegend, obgleich ihr 
die Luft auf die Lungen fiel. „Sie jollten einen 
Augenblid das Feniter aufmadhen, Mutter.” 

„Selus nein! Das fchadet einem, das ift einem 
nicht befömmlid. Draußen jchneit e8 ja,” zeterte 
die Alte tief erjchroden. 

„Ih bin hergelommen, um Sie zu fragen, ob 
Sie nit mit an unjerem Tiich eflen wollen,” begann 
Maud mit tiefen Aufatmen. „Es ilt wohl der Leute 
wegen befier.“ 

Die Alte machte ein böchft beleidigtes Gefidht. 
„3 halt Zhnen die Dienerihaft nit von der Ar: 
beit ab, ih mad) mir meine Sadıen jelber, und auf 
die paar Kohlen wird es wohl auch nicht anlommen, die 
ih mehr braude — und das fällt wohl nody in jo 
einem großen Haushalt jür ein einjchichtiges altes 
Weib ab.” 

„Aber Mutter,“ fjagte Maub ganz verblüfft, 
„ih meine es doch gut, Sie follen mit uns efjen, 
weil Sie zu uns gehören, und um den Rejpelt vor 
na or aufrecht zu erhalten, Tino will es 
aud jo . 

„Ih braudh feinen Reipelt, ih will feinen 
Reipelt,“ Inurrte die Alte, „und der Martin ver- 
fteht nicht® davon, was mir gut if. Wie kann 
denn mein armer Magen das neumodilde Zeug 
alles vertragen, was die feinen Herrichaften efjen! 
Umbringen tbäte es mid.” Und fie nahm den 
Schürzenzipfel vor das Gefiht und jchludhzte und 
ſchneuzte fich Hinein. 

„Wenn Sie nit wollen .. .” Maud erhob 
ih und zudte die Adhjeln .. . „zwingen werben 
wir Sie nit. Ich wiederhole Jhnen noch einmal, 
es war gut gemeint.“ 

Damit ging fie hinaus. Mit dem liftigen Aus- 
drud eines Fuchſes Jah ihr die Alte nad), dann holte 
fie die Apfel, die ihr Lina gebradt, aus ihrer Rod: 
tajhe hervor und verbarg fie im Bett. Diefer plößs 
lihe Befuh der Schwiegertochter hatte fie erfchredt 
und mißtrauiih gemadt. Sie glaubte au an 





125 








feine gute Abficht, fie glaubte nur, daß die Haus: 
frau einmal hatte nacjehen wollen, ob die Alte 
nicht zu viel befüme, und vergnügt Ficherte fie 
bei er Gedanken, doch jchlauer gewejen zu jein 
als fie. — 


Dreiundzmwanzigftes Kapitel. 


Heelen war fort und Maud jaß allein in 
ihrem Zinmer beim glimmenden Kamin. Troß des 
ipäten Efiens lag doch noch ein endlojer, einjamer 
Abend vor ihr, und es pajfierte ihr jet oft, daß 
fie Furcht vor dem Alleinjein hatte. Die Gedanken 
peinigten fie jo raftlos und quälend, je mehr fie fich 
ihnen bingab. 

Freilih, wenn ihr Mann neben ihr jaß, war 
e8 auch nicht viel anders, zuerft ein langjam hin- 
gequältes Gelpräh, das von Tag zu Tag mehr er: 
mattete, dann endlich ein janftes Schnarden. 

Sie hate diefe jeine Fähigkeit, immer, zu 
jeder Stunde, in jeder Lage zu jchlafen, fie fand es 
jo fIchauderhaft vulgär. Freilich” bedadhte fie nicht, 
wie ihn das Leben, die raftloje, aufreibende Arbeit 
auch dazu erzogen hatte. Jhr fiel es nur auf die 
Nerven. 

Auerft Hatte fie verfuht, ihn zu unterhalten, 
es mißlang; dann ihm vorgelejen, er jchlief; jelbit 
im Theater, während der Meifterfinger hatte fie jein 
Schnarden gehört und fich jeiner geihämt. — 

Nun ließ fie ihn gehen, ohne Widerftand, aber 
auch ohne Hoffnung, daß er angeregter zurüdfonmen 
würde. Sein ganzes geiftiges Leben Fonzentrierte 
ih ausschließlih in dem Talent, das ihm der 
Himmel verliehen, fie begann müde zu werben, es 
weiter zu erweden' und zu bejeelen. 

Anders hatte fie es fich freilich gedaht — aber 
was half es! — Niht ein einziges Mal kam ihr 
der Gedanke, daß fie zu Schroff, zu eilig in ihren 
Anforderungen jei, daß fie ihm mehr Zeit Lajjen 
müſſe. Seder Tag bradte ihr in jeinem Berlauf jo 
viel Unerträglichkeiten, daß fie mit wahrem Entjegen 
fie abzuftellen juchte, jomweit es anging. Sie fühlte 
es felbit, daß fie gereizt und nervös geworden war, 
weit entfernt von der janften Duldung, die fie für 
fih als felbftverftändlich vorausgejegt; und fie fühlte 
auch, daß ihr Mann darunter litt, daß er gedrüdkter 
war als im Anfang, aber fie fonnte fich nicht 
belfen. Der Zeitpunft war da, wo fie ihn der 
Öffentlichkeit vorftellen mußte, fie durfte nicht nad) 
fichtig fein. 

Es jchellte draußen; fie nahm das Buch auf, 
das auf ihren Knieen lag, niemand, wer es au 
fei, brauchte zu ahnen, wie fchmerzuoll fie grübelte, 
dann aber warf fie es beifeite und jagte mit einem 
Seufzer der Erleichterung: 

„Wie gut, daß Sie es find — wie gut, daß 
Sie fommen, Fortunat!“” 

„Ich höre, Martin ift ausgegangen!“ 

„Sa. Sch bin froh darüber, es wird ihm gut 
thun.“ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


726 

„Aber wohin?“ 

„Nun, wahrſcheinlich doch zu Kollegen. Ich 
habe nicht gefragt, aber er war die letzten Tage 
ſo verſtimmt, da iſt eine Abwechſelung oft ganz 
heilſam.“ 

Fortunat ſtarrte nachdenklich auf den Teppich. 
Niemand wußte beſſer als er, daß Heeken außer 
ihm keinen Menſchen beſaß, mit dem er auch nur 
oberflächlich bekannt war. Seine verſchloſſene Natur 
hatte ihn von allen fern gehalten. Mit wem, 
zu wem konnte er ſonſt gegangen ſein, wenn nicht 
zu ihm? 

„Wollte er mich aufſuchen?“ fragte er ſo 
nebenher. Er wollte um Gottes willen nicht Mauds 
Aufmerkſamkeit erregen, und ſeinem Freunde nicht 
unrecht thun. 

„Nein, ich denke nicht, er hatte wohl etwas 
anderes vor.“ 

„Geſchäftliches?“ 

„Möglich. Ich habe nicht gefragt. Meinem 
eigenen Selbſtändigkeitsgefühl iſt jedes Kontrollieren 
ein Greuel. Mag er hingehen, wohin er will.“ 

Fortunat wurde rot. 

„Sie haben ſehr recht, gnädige Frau. Aber es 
gab einmal eine Zeit, da war ich ſo ſtolz darauf, 
Martins Freund zu ſein — ſein einziger. Das 
letztere gerade war es, was mich glücklich machte. — 
Jetzt bin ich es nicht mehr!“ 

Maud ſchüttelte den Kopf. 

„Sie irren, Fortunat, er hält nach wie vor viel 
von Ihnen.“ 

Ein reſigniertes Lächeln huſchte einen Augenblick 
über ſein hübſches Geſicht. 

„Nein, das iſt nicht mehr wie früher! Und es 
iſt auch gut ſo!“ 

Sie ſah ihn fragend an, er wich ihren Blicken aus. 

„Hat er viel gearbeitet?“ fragte er. 

„Ich kann das nicht beurteilen. Waren Sie 
noch nicht in ſeinem Atelier?“ 

„Nein. Ich weiß, wie ſehr er das immer ge— 
haßt hat. Niemand durfte ihm zuſehen.“ 

„Mein Gott, früher vielleicht. Aber das kann 
doch nicht ſo bleiben. Ein berühmter Mann gehört 
ſchließlich der ffentlichkeit. Je eher er ſich daran 
gewöhnt, deſto beſſer iſt es. Wollen wir nicht einmal 
hinübergehen?“ 

Sie durchſchritten die ganze Zimmerflucht, den 
langen Korridor, immer den Diener vor ſich, der 
die elektriſchen Leitungen aufdrehte, ſo daß ſie in 
einem Lichtmeer gingen. Beſonders das helle, hohe 
Atelier war wie in Licht gebadet. 

Maud ſetzte ſich auf den geſchnitzten Kirchen— 
ſtuhl, Fortunat ging von allen Seiten um die 
kämpfenden Hunde herum. Als er zurückkam, leuch— 
teten ſeine Augen. 

„Das iſt mein alter Heeken wieder,“ ſagte er 


begeiſtert. „Wie das lebt und atmet! — Einfach 
prachtvoll! O, wie ich ihn bewundere!“ 

„Wirklich?“ fragte ſie und ſah ihn durch⸗ 
bohrend an. 


„Ja gewiß. Sind Sie anderer Meinung, gnä- 
dige Frau?” 


727 


„sh verftehe e8 wohl nicht jo genau, aber ein 
jo alltägliher Vorgang genügt meinem Cbrgeisz 
nicht ganz, jeine erite Schöpfung ftand mir be 
deutend höher.“ 

„Haben Sie ihm das gejagt?” 

„Ih glaube, ja.“ 

Sie jahb jo rein und hell und unnahbar aus 
in der Lichtflut ringsum, in dem hellen Kleibe, das 
fie trug, inmitten des dunklen Holzgeftelles, wie bie 
Göttin des Lichtes felbit; Fortunat jah fie mit ver: 
Härten Bliden an, dennod mußte er ihr das jagen, 
was er in diefem Augenblid empfand. 

„Sie jollten das nidt — es ift nicht Flug. 
Die Seele eines Künftlere ift jo zart, jo leicht ver- 
legt, wie fein anderer ahnt. Ein Wort oft nur, 
und das Gebilde feiner Phantafie zerftiebt, jein Mut 
fintt — er ift niedergedrüdt für lange.” 

„Aber dies ift feine Phantafie,” jagte fie, „ein 
Vorgang, wie ich ihn felbft mit angefehen. Das ift 
nicht die Kunft, die mich bezaubert, Und wenn er 
dann noch behauptet, eine Störung, ein fhummes 
Zufehen bräcdte ihm Schaden, jo begreife ich das 
einfah nit. — Hindert Sie die Gegenwart eines 
anderen am Schaffen?” 

„Nein!“ 

„Run, da jehen Sie es! Nur feine ein- 
fiedlerifchen Gewohnheiten find jchuld daran, er muß 
fie ablegen.” 

Fortunats Fünftleriiches Empfinden bäumte fid 
bob auf gegen dies apodiktiihe, harte Verlangen, 
das einer ftellte, der mit den Eigentümlichkeiten der 
individualität nicht zu rechnen gelernt hatte, obgleich 
diejer eine Maud Heelen war. 

„Sie find im Irrtum, gnädige Frau,” fagte er 
eindringlid. „Es läßt fih nichts erzwingen. Sie 
dürfen mid au nidt mit Martin vergleichen, 
er Steht turmhod über mir. Wielleicht gerade aus 
feiner herben Abgeſchloſſenheit, aus ſeiner künſtleriſchen 
Einſamkeit ſchöpft er die Kraft ſeines Genies. Zwingen 
Sie ihn nicht in neue Formen, Sie könnten es bitter 
bereuen. Jeder Menſch, beſonders jeder Kunſtler, wächſt 
und reift doch aus im ſtillen, was dann zu Tage tritt an 
Eigenheiten, iſt untrennbar mit ihm verwachſen, iſt 
ſeine Individualität. Täuſchen Sie ſich nicht, die läßt 
ſich nicht modeln! Geſchieht es doch, geht er viel⸗ 
leicht daran zu Grunde. Überlaſſen Sie ihn ſeinem 
einſamen Schaffen; ich allein weiß wohl nur, was 
Sie ihm mit Ihrem Verlangen anthun, denn ich 
kenne ihn.“ 

Sie hatte unter ſeinen Worten den Kopf ge— 
ſenkt, immer tiefer, und die Hände im Schoß ver: 
ſchränkt, immer feſter. Als er geendet, hingen zwei 
Thränen an ihren Wimpern, nun blickte ſie auf, die 
Thränen rannen langſam über ihre Wangen, und 
leiſe ſagte ſie: 

„Und ih? Was bleibt mir dann? Nicht ein: 
mal teilen dürfen joll ih fein Schaffen? Sa, wozu 
dann alles? — Wozu?” 

hr Ton erjchütterte ihn tief. Dies troftlofe 
Refignieren zeigte ihm deutlicher ala Worte, daß ihr 
alle Slufionen, die fie fi über ihre Ehe gemadıt, 
inzwilchen zerftört worden waren. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


128 


„Shnen bleibt der Erfolg, der Name, den Sie 
mit ihm teilen.” Es Tam ganz beiler heraus, er 
fürchtete fich zu jehr, feine Gefühle zu verraten. 

„Geben wir jet nah vorn,” fagte fie auf 
ftehend und ihr Kleid zujammenraffend. „Es ift 
falt bier, mich friert.” Sie zog die Schultern body, 
ale müfle fie etwas abmehren, und fchüttelte fich 
leiht. „Der Diener kann das Licht auslöfchen.” 

Sie gingen jchweigend, fait lautlos den langen 
Korridor hinunter, Fortunat einige Schritte hinter 
ihr. Er hatte das Gefühl, als müfle er ihr Zeit 
geben, erft mit fich fertig zu werben, als dürfe fein 
Auge, auch nicht mit der wärmften Teilnahme, jebt 
auf ihrem Gefiht ruhen. — 

Als fie ungefähr auf der Mitte des Meges 
waren, öffnete fich unbörbar die Thür, die in bie 
Zimmer der Alten führte, ein ftruppiger Kopf ftredte 
fih vorfichtig heraus und blinzelte ihnen nad). 

Sie hatte Ichon im Bett gelegen, aber die Neu: 
gier beim Aufflammen des Lichtes fie wieder heraus: 
getrieben. hr Sohn, das wußte fie durch Lina, 
war fortgegangen, und nun Tlam in nadhtichlafen- 
der Zeit fjeine Frau mit einem anderen baber, 
gerade, als müßte es fo fein, und fie jaßen allein 
eine lange Zeit in dem abgelegenen Atelier. — — 
Was Lonnten fie dort treiben? Die Phantafie der 
Frau aus dem Volle, bie feine geiftigen Syntereflen 
fennt, ging nicht jo weit, fih das erklären zu 
fönnen, ihr erregte es Mißtrauen. 

„Was die Vornehmfhen für Moden haben,” 
lagte fie laut vor fi Hin und jhüttelte mißbilligend 
den Kopf, als fie wieder in ihr Bett froh. — Hätte 
fie das in ihrem Leben thun wollen, eine tüchtige 
Tracht Prügel wäre ihr fiher geweien, obgleich ihr 
Seliger eine verträgliche Natur war. Die feinen 
Damen aber erlaubten fih das alles ungeftraft. 

Etwas wie ein nadhträglider Neid auf diefe Be: 
vorzugten erwachte in der Seele der Alten, die ihr 
Leben fo ganz anders genießen durften als fie — 
die Frau aus dem Dolte. 

Und diejfer lächerlihe Neid gebar den Entihluß, 
aufzupafien und dann Martin die Augen zu öffnen. 
Sie hätte ihrer Schwiegertochter zur Vergeltung al 
der Wohlthaten, die fie von ihr empfing, zu gern 
die derben Fäufte ihres Sohnes, wenigitens einmal, 
zu fühlen gegönnt. — 

Tortunat blieb nicht mehr lange, nachdem fie 
aus dem Atelier zurüdgelommen. So jehr Maud 
es auch zu verbergen fuchte, fie erfhien ihm ver: 
ftimmt, zerftreut. 

Und dann war er doc vorfichtig geworden jeit 
Luzies Warnung damals, er wollte fie auf keinen Fall 
fompromittieren, den Xeuten nicht Urfacdhe zu ge: 
gründetem Reden geben. So gut fein Vorjaß war, 
batte er doch den Faltor vergeflen, daß die Leute 
gar feine Gründe brauden, wenn fie etwas be: 
mängeln wollen, die Thatladhe allein, daß er fat 
täglich in Heelens Haufe aus und ein ging, genügte 
der VBerleumdung volllommen. — 

Davon hatte er natürlich keine Ahnung, als er 
in einem wahren Wirbelfturm der Gefühle nad 
Haufe ging. 





— — — — — 


129 Art zu Art. 
Maud war unglüdlih, fein Zweifel, und er 
trug die Schuld! — Zhre Thränen brannten ihm 
feurige Wunden. — Er fahb no, wie fie, an 
den Ichmalen Wangen berabrollend, jchließlih in den 
Falten des weißen SKleides verjhwanden. Und er 
ftand dabei und konnte nicht helfen, und hätte am 
liebften mitgeweint vor Sammer und Reue. 

Als er nah Haufe kam, löfchte er Tämtliche 
Lichter und warf fih angekleibet, im Dunleln auf 
bie Chaijelongue. Er war fo zerfallen mit fih, daß 
er fih nicht einmal im Spiegel anjehen mochte. 

Sm Halbichlaf kam es ihm dann vor, als ftände 
Maud neben ihm und weinte, über ihn gebeugt, 
bis fein Gefiht und Haar ganz na war, und 
Heelen kam in das Zimmer hinein und fragte ganz 
ruhig, was es ihn denn angehe, ob feine Frau 
glüdlich oder unglüdlich jei. Und da fchrie er ihm 
entgegen mit dem Mut der verzweifelten Leidenichaft: 
„Aber ich Liebe fie ja! ch Liebe fie bis zum Wahn: 
finn! Und babe fie Dir in die Arme getrieben!” — 

Er wadhte auf, mit einem Rud jaß er aufrecht. Das 
Herz hämmerte, die Augen brannten ihm, ein furdt: 
barer Schred fchüttelte jeine Glieder. 

„Sa, ich liebe fie!” fagte er dumpf vor ſich Hin. 
„Ich liebe fie bis zum Wahnfinn! Und habe fie 
ihm in die Arme getrieben!” 

Sedes Wort jpürte er wie einen Hammerſchlag 
in feinem Kopf, und dann jeßte er laut, fait wie 
einen Schwur hinzu: „Aber fie fol es nie er 
fahren!” 

Er madte Licht. Die Uhr zeigte auf drei, ihm 
war der Schlaf vergangen. Er flügte ben Kopf in 
bie Hand und grübelte. Wann hatte es begonnen? 
Ah fo unmerflihd — er wußte e8 gar nicht redt. 
Vielleicht war es immer gewejen, feit ihrer erjten 
Begegnung, und er hatte es nur nicht gemerft. 
Und dann war Nelly gewejen! Ahn fchaubderte jeßt, 
wenn er an all jeine früheren Beziehungen dadte. 
Wie freigebig ifl man doch in der Jugend mit dem 
Wort „Liebe“, bis man es endlich fennen lernt 
und dann vor all den Blasphemien erjchridt. 

Maud liebte er, — fo rein, jo wunichlos, daß 
er ordentlich fühlte, wie es ihn befier gemacht hatte. 
Er wollte ihr auch nad wie vor fein Leben weiben, 
fie jollte aber nie erfahren, was für Gefühle ihn be- 
ſeelten. 

Und dann fiel ihm ſeine Äußerung an Luzie 
ein. „Einem Freunde die Braut oder Gattin rauben, 
iſt noch tauſendmal gemeiner als ſilberne Löffel 
ſtehlen.“ — Nein, er ſtahl nichts! Nicht einmal ſilberne 
Löffel! Bei dem Gedanken mußte er doch lächeln. — 

Vielleicht um dieſelbe Zeit, da Fortunat ſo grübelte, 
kam Heeken nach Hauſe. Seine Kleider rochen nach 
Cigarrenqualm, und der Kopf war ihm wüſt und 
ſchwer. Das ſtarke Bier, das viele Sprechen, das 
Nachtwachen im überheizten Lokal war ihm ungewohnt, 
und daß es ihm beſonders gefiel, konnte er eigentlich 
nicht ſagen. Auch die Menſchen waren ihm alle 
fremd, und ungeſellig und ungelenk wie er war, 
fand er kein ſonderliches Vergnügen an ihrer Unter⸗ 
haltung, aber — er hatte dafitzen können wie es 
ihm bequem war, ohne Kragen und Manſchetten, ja 


Roman von H. Schobert. 


730 


ſelbſt ohne Rock. Niemand kümmerte ſich darum, 
wie er ſaß, ob ſein Haar auch tadellos blieb, oder 
ob er ſeine Hände darin vergrub, und dann hatten 
ſie ihm alle, ausnahmslos, viel Schönes und Rühmen⸗ 
des über ſeine Gruppe geſagt, hatten ihn als etwas 
Hervorragendes gefeiert, weil er gleich mit ſeinem 
Erſtlingswerk in das Muſeum gekommen war; kurz 
ſein niedergedrücktes Selbſtgefühl hatte ſich mächtig 
gehoben und geſtärkt gefühlt. Hier war er nicht der 
Mann ſeiner reichen Frau, hier war er der Künſtler 
von Gottes Gnaden, den man ehrte. So war er 
denn um die Mitgliedſchaft eingekommen, mit dem 
feſten Vorſatz, ſo oft wie möglich herzugehen. Alles 
Ihien ihm befler als fein Iururiöjes Haus, in bem 
er fih fo überflüffig, jo wenig am Plate fühlte. 
Maud würde nichts dagegen haben, ihn oft los zu 
werden, denn feit er an jenem unglüdlichen Theater: 
abend in den Meilterfingern eingefchlafen war, hatte 
er das unbeimlihe Gefühl, daß fie ihn gründlich 
verachtete. 

Wenn er aber hoffte, aus diefem Zujammenleben 
mit Kunftgenofien irgendwelche Arbeitsluft zu Ichöpfen, 
ſo täuſchte er ſich zunächſt gründlich. Unluſtiger war 
er niemals geweſen als an dem Morgen, der jenem 
erſten Verſuch folgte. Der Kopf war ihm wüſt, die 
Glieder wie zerſchlagen; wie höhnend ſahen ihn ſeine 
unvollendeten kämpfenden Hunde an. Ein Ekel vor 
ihnen, vor ſich ſelber folterte ihn. Mit Neid gedachte 
er der Vergangenheit. Hätte ſeine jetzige Frau nicht 
ſeinen Weg gekreuzt, wäre er nicht glücklicher ge⸗ 
blieben? Sein Weg lag ſo klar vor ihm, und die 
Steine, die er darauf fand, hielten ihn nicht auf. 
Jetzt aber kam es ihm vor, als ſei alles um ihn, 
vor allen Dingen aber er ſelbſt anders geworden, 
als wäre ihm der neue, haltloſe Menſch fremd wie 
ſeine Umgebung. 

Maud fragte ihn auch heut nicht, wo er geweſen. 
Sie wollte ihn ja gar nicht beeinfluſſen oder be—⸗ 
ſchränken und ſagte ſich mit Stolz, daß Fortunat 
doch im Unrecht ſei, wenn er ihr das vorwarf. — 

Heeken war froh darüber! 


Vierundzwanzigſtes Kapitel. 


Was Maud ſonſt noch angeſtrebt, war ihr 
wenigſtens vollgültig gelungen. Die Geſellſchaft hatte 
ſfich dem jungen Paare geöffnet. Man hatte ja ſo 
viel gehört, war ſo neugierig geworden und fand 
die Umſtände, die dieſer Ehe vorangegangen, ſo 
romantiſch. Das zertrümmerte Kunſtwerk hatte dieſem 
jungen Bauern faſt zu reichlich Zinſen getragen! 
Eine ſteinreiche Frau, noch dazu mit dem Nimbus 
einer Ausländerin, einen bekannten Namen und einen 
Ankauf des Werkes durch das Muſeum. Mit ſolch 
einem „Schwein“ ließ fich allerdings nicht konkurrieren, 
barüber waren jämtlide Kollegen einig. 

Sm geheimen freute man fih auf das erfte 
Auftreten diejes Bauern in der Gejellihaft. Es 
fonnte gar nicht ausbleiben, daß es pilante Scenen 
gab, und jo jah man allfeitig vergnüglich der Saijon 





131 


entgegen, nur daß Heelen jelbit leine Ahnung von 
dem batte, was ihm bevorftehen jolltee Er glaubte 
feinen gejelichaftlihen Pflichten längft Genüge ge- 
tban zu haben. Darum eritarrte er beinahe vor 
Schred, als ihm Maud eines Tages beim Frühflüd 
eine lithbograpbierte Einladungstarte binhielt, aus der 
er mit einer gewillen Schwierigkeit herausbucdhftabierte, 
daß ih Mr. und Mrs. Bath, Gefandter der Ber: 
einigten Staaten Amerilas, die Ehre gaben, Herrn 
und Frau Heelen zu ihrem am 25. Sanuar ftatt: 
findenden Souper mit darauffolgenbem Ball ergebenft 
einzuladen. 

Ohne ein Wort zu jagen, legte er die Karte 
wieder neben den Teller feiner Srau. Sie jah ihn 
an. Nach einer Weile, als er immer noch jchwieg, 
Iogte fie wie felbfiverftändlih: „Wir gehen body hin, 

ino!” 

Er legte Mefler und Gabel beijeite; in dem 
Augenblid hatte er das Gefühl, als würgte ihn 
etwas. 

„Du fannft es ja, — ih — was fol ih da?” 

„Was Du da jolft?” wiederholte fie verwundert. 
„Run, unter Menjchen gehen, befannt werden, Dich 


amüfteren.” 

„Ih will mid nit amüfieren! Sch braude 
er befannt zu werden — Menihen mag id 
nicht.“ 


„Aber Tino, es geht einmal nicht anders. Wir 
wollen doch ſelbſt ein Haus machen. Du mußt Dich 
ſchon entſchließen.“ 

Er ſah hilflos um ſich. 

„Wenn Du mit Fortunat gehen könnteſt,“ ſchlug 
er vor. 

Das Blut ſchoß ihr in das Geſicht. 

„Du biſt mein Mann, nicht er,“ erwiderte ſie 
ſchroff, „und Du mußt der Geſellſchaft das Opfer 
bringen.“ 

„Ich will aber nicht.“ 

„Nun alſo, wenn nicht der Geſellſchaft, dann 
mir, Du biſt mir auch etwas ſchuldig geworden, 
Tino, vergiß das nicht.“ Ihre Stimme zitterte; da 
ſie von vornherein auf Kampf vorbereitet geweſen, 
nahm ſie ihn gleich auf, ohne erſt eine friedliche 
Einigung zu verſuchen. 


Er biß ſich auf die Lippen, nur zu gut verſtand 


er ſie. Eine gewiſſe unbewußte Ritterlichkeit verhin- 
derte ihn trotzdem, das zu ſagen, was ihm auf die 
Zunge trat, und ſo ſtopfte er nur große Biſſen Brot 
in den Mund und ſchwieg. 

„Ich werde dem Geſandten alſo zuſchreiben,“ 
ſagte ſie nach einer langen Paufe, in der ſie ihn be— 
obachtet hatte. 

Er ſchwieg weiter und ſtarrte auf ſeinen Teller. 
Sie nahm es für eine Bejahung, innerlich doch da— 
von überraſcht, wie leicht er zu zwingen war, und 
dadurch ſelbſt nachgiebig geſtimmt. 

„Du ſollſt ſehen,“ ſagte ſie um vieles freund— 
licher, „es wird Dir ſchon gefallen; man ſcheut immer 
nur den Anfang, und dann dankſt Du mir noch 
meine Feſtigkeit.“ 

Sie bot ihm die Hand über den Tiſch, aber er 





Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


732 


mußte ſie wohl nicht ſehen, denn er ſtand wortlos 
auf, ſchob den Stuhl zurück und ging hinaus. 

Wie ſie dies Davonlaufen von Tiſch haßte! 
Wie plebejiſch es ihr vorkam! Es war doch alles 
weit, weit anders in Wirklichkeit, als wie ſie es ſich 
in ihren Träumen ausgemalt. Kein Wunder, daß 
ſie ſchwer aufſeufzte. — 

Als Heeken in ſein Atelier kam, ſetzte er ſich 
nieder und ſtützte den Kopf in die Hand. 

Hatte er ſich denn wirklich verkauft mit Leib und 
Seele? Gab es nichts, das ihn retten konnte? War 
dieſe erdrückende Laſt, unter der er ſeufzte, auch an 
ſeiner Künſtlerſeele zum Mörder geworden, weil er 
nicht mehr arbeiten konnte? Was hatte er denn ſeither 
geleiſtet? Er ſah um ſich, nichts, nichts, was von 
ſeiner Schöpferkraft ſprach, ſeitdem er verheiratet war. 
— Wie verzerrt ſah ihn plötzlich die unvollendete 
Gruppe ſeiner Hunde an, alles an ihr ſchien ihm 
unwahr — unnatürlich. Er ſchüttelte die drohend 
geballte Fauſt gegen ſie, knirſchte mit den Zähnen 
und holte zum Schlage aus, als wollte er ſie zer⸗ 
trümmern. — 

Und wenn er bedachte, wie es geworden wäre 
in ſeinem häßlichen, armſeligen Atelier da draußen, 
mit dem erſten Erfolge hinter ſich, mit dem Bewußt—⸗ 
ſein ſeiner Kraft, ſeines Könnens, was hätte er da 
geleiſtet! — 

Die Fauſt ſank ihm ſchlaff herab, der Kopf 
ſchwer auf die Ecke des Tiſches. — 

An dieſem Abend, obgleich er noch wortkarger 
und ungeſelliger als ſonſt in ſeinem Verein geweſen, 
in dem ſie ihn ſchon als wenig traitablen Menſchen 
kannten, betrank er ſich zum erſten Mal in ſeinem 
Leben bis zur Bewußtloſigkeit. Emil nahm ſich 
endlich ſeiner an und brachte ihn nach Hauſe. 

Als er die ſchwankende Geſtalt in der eleganten 
Hausthür verſchwinden ſah, zuckte ein höhniſches 
Lächeln um ſeinen Mund. 

„Ich wette, meine werte Miß Winter,“ ſagte 
er ganz laut vor ſich hin, „daß Ihnen dieſer An⸗ 
blick recht unangenehm ſein wird! Vielleicht denken 
Sie jetzt bald anders über den Korb, den Sie mir 
gegeben, weil ich Ihrem höheren Seelenflug nicht 
entſprach.“ — 

Maud fuhr wirklich mit einem nervöſen Schreck 
aus den Kiſſen auf, als ihr Mann eintrat, aber 
gleich darauf ſchloß ſie wieder die Augen und ſtellte 
ſich ſchlafend, während ihr Herz vor Abſcheu und 
Angſt heftig klopfte. 

Im Schein der Nachtlampe ſah ſie ihn hin und 
her ſchwanken, hörte gemurmelte Worte, atmete den 
Alkoholdunſt ein, der ihm entſtrömte, und nach kurzer 
Zeit tönte ſein lautes Schnarchen mißtönend durch 
den Raum. 

Sie ſetzte ſich endlich behutſam aufrecht und 
ſtrich die feuchten Locken aus der Stirn. Ihre Augen 
durchirrten das prunkende Zimmer und blieben dann 
endlich an dem Schläfer haften. Großer Gott, wie 
ordinär er ihr auf einmal erſchien! Ein Hohn auf 
ſein Umgebung. 

Wie empört ſie über ihn war, ohne daß die 
kleinſte Stimme in ihrem Innern zu ſeiner Ent—⸗ 


133 


\huldigung laut wurde. Sie hatte ihm ja niemals 
ein warmes, herzliches Gefühl ertgegengebradit ! 

Reife erhob fie fih, nahm ihre feidene Daunen: 
dede und fchlüpfte in das Toilettenzimmer. Auf der 
Chaifelongue madte fie es fih für den Reft ber 
Naht bequem. Aber fie Ichlief nit. Zur Dede 
ftarrend, überrechnete fie fortwährend, daß erft vier 
Monate ihrer Ehe verflofien waren, und ein ganzes, 
langes — endlos langes Xeben noch vor ihr lag — 
an feiner Seite. — 

Am nädhften Morgen jah Heelen manchmal feine 
Frau von der Seite an, mit dem Ausdrud, den ein 
böjes Gewiljen giebt; er war auf einen heftigen Aus- 
bruch ihres Zornes gefaßt. Aber fie jagte nichts; 
Efel und ein Gefühl von Selbitahtung jhloffen ihr 
den Mund. Nur fur; vor dem Schlafengehen fagte 
fie nebenber: 

„3 babe Dein Bett in Dein Totlettenzimmer 
tragen laflen, Tino, Du haft es dort mit Deinem 
Nachhaujefommen bequemer und ftörft mid nicht 

Er rieb unentichloflen einen Fuß an den andern, 
in diefer Pofition machte er eine unglüdliche Figur. 
Gern hätte er ein Wort der Entihuldigung gejagt, 
aber feine Frau war jo unnahbar, fie jchüchterte 
ihn ein. 

Er drehte fih ohne eine Wort um und ging 
hinaus, nur die Thür warf er beftig ins Schloß, 
um feinem gepreßten Herzen Luft zu machen. 

Sie blieb fiten, faltete die Hände im Schoß, 
und große Thränen rollten über ihre Wangen. — 

Bon Tag zu Tag wuchs inzwilchen der Alp, der 
ih auf Heelens Bruft gelegt hatte, und bdiejer Alp 
war die Gejellichaft beim amerifaniihen Gejandten. 
Shre Schreden wudjlen riefengroß in ihm empor. 

Was follte er unter jo vielen Leuten, von denen 
er niemand Tannte, mit der geheimen Furcht, bei allem, 
was er that, Verftöße zu begeben oder wenigitens 
linfiich zu erjcheinen und geheimen Spott berauszu: 
fordern. Sein Gelbitgefühl Iehnte fi dagegen auf, 
und er jann und grübelte vergeblich, wie er fidh im 
legten Augenblid biefen drohenden Gefahren entziehen 
fünnte. Er, der dem Stier ohne einen fchnelleren 
Pulsihhlag zu Leibe gegangen war, fühlte fi ſchwach 
und hilflos bei dem Gedanken an biefe Gelellichaft. 


Sobald er nur daran dachte, brah ihm der Angit: 


Ihweiß aus allen Poren. 

Hätte er nur einen Menjchen gehabt, dem er 
ih anvertrauen konnte, aber bei Maud war das aus: 
geichloflen, von Emils irdiihem Mitleid hielt ihn fein 
Snftinkt zurüd, und Fortunat.... ja, mit Fortunat 
war das fo ein eigenes Ding geworden! Einſtmals 
batte er ihm feine Freundihaft aufgedrängt in faft 
tnabenhafter Überfchwenglichleit, damals hatte ber 
bart mit dem Leben ringende Dann keinen rechten 
Sinn dafür gehabt, fi weder dagegen gemehrt noch 
fie feftgehalten, denn damals war er fich jelbit genug, 
nun aber, nun verwirrte ihn manchmal das Leben jo, 
daß er fih nit recht aus no ein wußte, feine 
Kunft hatte das Haupt verhült, und er hätte jegt 
mit ganzer Seele eine Freundeshband fallen und 
drüden mögen, aber nun war die fchlanfe, weiße 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


134 


Männerhand nit mehr da, er fand fie weniltens 
nit mehr, dent fie war viel zu jehr beichäftigt im 
Dienft jeiner Frau, und er mochte es fih faum felber 
zugefteben, daß ihn etwas wie eiferfüchtiger Neid dar: 
über erfüllte. Warum galt ihm biefe Frau mehr 
ale er? Wo war der Berührungspunft zwijchen 
ihnen, der jchwerer wog al& das gemeinfame Ringen 
im Dienfte der Kunft? 

Er jann und grübelte über alle diefe Fragen, 
aber jein Kopf war das Grübeln nicht gewöhnt, es 
Härte fih ihm nit, madte ihn nur immer ver: 
wirrter, jein Weg durfte nur einfach und gerade 
fein, fonft fand er fih zu feinem Ziel. 

Während Fortunat dem Freunde auswich, weil 
er fih ihm gegenüber nicht ganz frei fühlte, weil er 
ihm die Frau beneidete und leidenjchaftlid Partei 
in feinem Herzen gegen ihn nahm, jehnte fih Heelfen 
im ftilen nach ihm und war body äußerlich faft un- 
freundlih, damit er es nur ja nicht merfe. — 

Der Gejelihaftsabend war da. An Heefens 
äußerem Menfchen war nicht viel zu tabeln, als er 
aus Friedrichs Händen in den Salon trat, in dem 
Fortunat Ihon wartend jaß. Auf Mauds Wunſch 
jollte er das Ehepaar begleiten. Sie mufterten fi 
mit einem verftohlenen, flüchtigen Blid wie zwei Ri- 
valen, als fie einander anfichtig wurden, und bo 
fiel Heelen die zierlihe Grazie auf, das GSelbftver: 
ftändlide, mit dem der Jüngere und Kleinere das 
vorgejchriebene Koftüm trug, in dem er ih jo un: 
behaglich fühlte. 

Er fledte die Hände in die Tafchen und marfchierte 
unabläffig im Salon auf und ab, ihm war jchauber: 
baft zu Mute, aber er mochte e& nicht jagen. Endlich 
blieb er vor Fortunat ftehen. 

„Slaubft Du, daß die Duälerei lange dauern 
wird?” 

„SH hoffe bis gegen drei Uhr.” 

„Du hoffſt?“ 

„Gewiß. Wenn es ſich irgend machen läßt, 
bin ich der Tiſchnachbar Deiner Frau, ſie hat es mir 
verſprochen.“ 

„So — —“ ſagte Heeken nach einer Pauſe. 
„Und ich?“ 

„Nun, Du bekommſt irgend eine andere Dame.“ 

Heeken marſchierte wieder weiter. Auf einmal 
ſah er ein koſtbares Orchideenbouquet auf einem kleinen 
Tiſchchen liegen, er trat heran und beſah es. Fortunat 
errötete. 

en bringe ich Deiner Frau.” 

o!“ — 


„Haſt Du etwas dagegen?“ fragte er nach einer 
langen, peinlichen Pauſe. 

„Wogegen?” 

„Segen mein Bouquet, dann... .” 

Heelen trat ganz dicht zu ihm. „Gott bewahre,“ 
fagte er ungedulbig mit gepreßter Stimme. „Aber der 
Kragen drüdt mid jo, die Halsbinde — ich eritide 
fafl.” Und er griff mit beiden Händen zwifchen 
Hemd und Hals und loderte es. 

Fortunat ſah mit Befremden, daß ſein Geſicht 
rot war, ſeine Stirn feucht glänzte. Aber ehe er 
noch etwas ſagen konnte, öffnete ſich die Thüre und 


135 


Maud trat ein, gefolgt von Nina, die den weichen 
pelggefütterten Sammetmantel auf dem Arm trug. 

Die junge Frau war in großer Toilette. Das 
fchwere weiße Brofatkleid brach fih in tiefen Falten 
mit ftumpfen und glänzenden Xichtrefleren, Mohn: 
bouquets Ihmüdten Haar, Taille, Rod und bielten 
als breites Achfelband die Srmel auf den Schultern 
zulammen. Das Rot war jo fatt und voll, daß es 
logar neben den Brillanten zur Geltung fam, die 
den feinen Hals, Arm und Ohren jhmüdten. 

Fortunat verneigte fih ftumm, fo geblendet war 
er von Mauds Erſcheinung, e3 war ja das erfte Mal, 
daß er fie in großer Toilette Jah. Shre Augen 
leuchteten und die Wangen zeigten lebhaftere Sarbe 
wie fonft, denn fie freute fi über ben Effelt ihres 
Ausfehens. Bon feinen bewundernden Bliden weg, 
die fie mit Genugthuung wahrgenommen hatte, wandte 
fie fi endlich ihrem Manne zu. Auch er jah fie 
an, aber anders, ganz anders. 

„Run,“ fragte fie endlich lächelnd, „wollen die 
Derren einmal hr Urteil abgeben? Wie ehe ich 
aus?“ 

„Entzüdend!” rief Fortunat. 

„Schamlos!“ jagte Heelen und trat dicht an fie 
heran. „So wilft Du Dich fremden Leuten zeigen? 
So fol ih mit Dir gehen? — Sa, dann zieh Did 
nur erft einmal an!” 

„Lieber Tino,” jagte fie und griff nad der 
Schleppe ihres Kleides, denn fie wußte ja, daß Nina 
hinter ihr fand, „ich finde es ganz natürlih, daß 
Du Did das erfte Mal entiegeft, wenn Du unlere 
Geſellſchaftsmoden kennen lernft, darum aber ändern 
fie fih nicht. Beim Gejandten wirft Du feine Dame 
anders gefleidet jehen wie mid.” 

„Aber ich Shäme mich Deiner,“ beharrte er und 
tab fie mit zornigen Augen an, „Du bijt meine 


Frau.” 
„Eben deswegen!” Sie lachte, obgleich fie fi 
ärgerte. „Wäre ich eine Nonne, könntefl Du ein 


anderes Gewand verlangen. 
von Shnen, Fortunat?” 

Sie wandte fih von ihrem Mann, der daftand 
und an feinem Bart laute, ließ fi von Nina den 
Mantel umgeben und trieb dann zur Abfahrt. Eine 
Weile ftand Heelen noch trogig da, dann folgte er 
den Vorangebenden. 

„Ah!“ jagte Maud und janf in bie Kiffen mit 
einem Seufzer der Erleichterung. Martin ahnte nicht, 
daß diejer ihm: galt. Nun erfi war Maud feines 
Mitgehens fiher. — 

Als fie fih dur die firablende, jchimmernde 
Menge hindurdwanben, jagte Maudb zu ihrem Mann, 
indem fie auf die anmejenden Damen zeigte: 

„Du fiehft, Deine Bedenken vorhin waren un: 
gerechtfertigt und überflüffig.” 

Er antwortete nichts. Der einzige Gebante, 
ben er mit Bewußtlein hatte, war nur der: Hinaus! 
— Möglihft weit fort von diefem Treiben! 

Aber Maud hielt jeinen Arm und z0g ihn un- 
barmberzig immer weiter bis zu der Gejandtin, und 
dann Ipradden fie englilch miteinander, und die Ge- 
landtin winkte ihrer Tochter und machte fie mit 


Ah! Sind die Blumen 


Art zu Art. Roman von H. Scobert. 


736 


Maud bekannt ... . das jchwagte und jchwirrte und 
wirrte um Heeken herum, daß ihm ganz Ichwindlig 
wurde, und dann war Maud weg und au Fortunat, 
er fland auf einmal allein. So fhnell er konnte, 
zog er fih in einen Winkel des Saales zurüd und 
ftand dort, die Füße gekreuzt, den Bart in den 
Mund gefhoben, unbeacdhtet, aber auch außerordent: 
lih unbehaglich. 

„Welh ein Wahnfinn,* dachte er, „hierher zu 
gehen! Was joll ih bier?! Warum bin ich bier, 
wo ih doc jedem jo gleichgültig bin wie er mir.” 

Da Hopfte ihn Fortunat auf die Schulter. 
„Nah doch nit jolh ein Gefiht, Martin! Ih 
bin jeßt bereits zehnmal nah Dir gefragt worden.” 

Heelen hob den Kopf. „Nah mir? Ach Fenne 
keinen.“ 

„Aber die Leute Dein romantiſches Schickſal — 
und Deine ſchöne Frau macht Furore. Du biſt 
wahrhaftig ein glücklicher Menſch, Tino.“ 

Er ſah ihn mit großen Augen an und nickte 
mit dem Kopfe. Indem ging Maud vorüber am 
Arme des Geſandten, ihre Augen glänzten, ihre 
Lippen lächelten. Als ſie ſchon einige Schritte 
weiter gegangen, drehte ſie ſich um und nickte den 
beiden Herren zu. Fortunat ſeufzte verſtohlen, und 
Martin ſagte jetzt: „Wie paſſe ich nur zu ihr! 
Alle Leute hier werden es Dir ſagen — gar nicht! 
Gar nicht! Sie iſt viel zu klug, viel zu ſchade für 
mich.“ 

Es klang gar nicht bitter, nur als Konſtatierung 
einer einfachen Thatſache, dennoch erregte es Fortunat. 

„Das darfſt Du Dir wohl zugeſtehen, Tino, 
aber Du mußt ihr nur nachzukommen ſuchen, dann 
wird es auch mit der Zeit anders werden.“ 

Wieder ſah ihn der andere eigentümlich an, 
plötzlich hob er den Kopf. 

„Und warum ſoll ich es ſein, der ſich ändert — 
warum nicht ſie?“ fragte er und ſah dem Freund 
aufmerkſam in die Augen. „Ich bin der Mann, 
der Künſtler, der ſeinen Weg bisher gefunden hat 
und ihn auch allein weiter finden wird.“ 

Fortunat wurde etwas nervös, das machte, er 
ſah Mauds dunkles Köpfchen nicht mehr in der 
Menge und ſuchte es doch ſehnſüchtig. „Dieſe 
kleinen Außerlichkeiten haben wenig mit Deinem 
berechtigten Künſtlerſtolz zu thun, Tino, trotzdem 
ziehen ſie Dich hinauf, in eine andere Sphäre — 
Du ſollteſt Deiner Frau dankbar ſein. Hinauf kann 
jeder, aber daß ſie zu Dir hinab ſoll, das iſt 
unmöglich.“ 

„So — ſo!“ ſagte Heeken wieder ganz ruhig. 
Und dann wies er auf eine Dame, die vor ihnen 
ſtand, ſehr ſtark und ſehr tief dekolletiert. 

„Viel Speck bekommt man hier zu ſehen,“ ſagte 
er laut, „und ſie haben doch gar nicht nötig, das 
zur Schau zu ſtellen, denn ſchön iſt es nicht.“ 

Die Dame drehte ſich um und warf dem 
Sprecher einen wutſchnaubenden Blick zu, der un: 
beachtet von ihm abglitt; Fortunat wurde blutrot, 
ſeine Augen funkelten zornig. 

„Spare Dir ſolche Bemerkungen zu anderen 
Gelegenheiten auf, Tino, wir ſind hier in der Elite 





137 Art zu Art. 


der Gejellihaft, nicht Gott weiß wo, da heißt es 
Rüdfichten kennen und ausüben.” 

„Armer Kerl,” jagte Martin und jah mit einem 
gewilfen Balgenhumor blinzelnd zu ihm auf. „Gebe 
Ihleunigft an die andere Wand des Saales, damit 
ih Dih nicht in jchlehten Ruf bringe; ich nehme 
ed Dir nicht übel.” 

Und damit drehte er fih um und jchob fi 
weiter. Fortunat jahb ihm ganz eritaunt nad. — 

Während fih die Paare zum Souper orbneten, 
flüfterte Maud Fortunat zu: 

„Wiffen Sie, wohin man meinen Mann gejett 
hat? ch möchte ihn am liebiten in meiner Nähe 
baben, die Sade ilt mir unheimlihd. Achten Sie 
auch auf ihn, bitte!“ 

Der Ichnelle Drud ihrer fchmalen Hand jagte 
ihm das Blut heißer durh die Adern. Er wäre 
bereit geweien, alles für fie zu thun, aber jein ganzer 
Wagemut cheiterte an biejer geringfügigen geleljichaft: 
lihden Schranfe. Er konnte nidhts thun, um den 
Wünjchen der angebeteten rau nachzulommen, denn 
aub er war zum eriten Mal Gaft bei dem Ge: 
fandten, aljo nicht imftande, die geringfte Beein- 
fluffung auszuüben. 

Mit geipannter Aufmerkfamfeit verfolgte er 
nur SHeelens Gebaren, aber Gott jei Danl, es ließ 
fih ja alles gut an. Er fah ihn mit einer Dame 
den Epeijejaal betreten, jab ihn die Pläße finden, 
und jegt erit mibmete er fih aufatmend feiner 
Nachbarin. Er konnte von jeinem Pla aus Maud 
jehen und aud Heelen, aber e8 war zu weit, um 
im ſchlimmſten Sal ohne Aufiehen etwas zu ver: 
hindern. 

Seelen hatte fich inzwilhen jo gut e8 ging in 
den Zwang gefunden. Er fühlte fih nicht mehr 
niedergedrüdt, ganz im Gegenteil fam es ihm vor, 
ale wenn er doch eigentlich über diefer lachenben, 
Ihmwagenden Menge Stände Womit füllten fie denn 
ihr Leben aus, wenn fie zu Haufe waren? Sicher: 
lih nit mit dem angeftrengten Ningen, mit dem 
er bisher feine Kunft ummorben. Und mitten unter 
al diefen Leuten am eine tiefe, heilige Sehnfucdht 
nad jeiner Arbeit über ihn, wie er fie lange nicht 
empfunden. D, jett zu Haufe jein — jetzt ſchaffen 
tönnen! Diele Stunde, die ihm hier nußlos verrann, 
erihien ihm auf einmal jo inhaltreih, daß er ihren 
Verluft wie einen Raub empfand. 

Er hatte noch feine Ahnung davon, daß die 
Einjamteit mitten in der Gejelichaft diefe Sehnjudht 
erzeugt, al& Gegengewiht gegen ben Drud der 
äußeren Umgebung. 

Er hatte jeine Nachbarin noch gar nicht beachtet, 
jegt endlich hörte er auf das, was fie fagte. 

„Sie eilen feine Auftern, Herr Heelen?“ 

Er jah wie verachtend auf die filberne Platte 
mit den Schaltieren vor fih — eine ihm fremde 
Speile, denn Maud aß diejelben nit, und fo 
waren fie in jeinem Haufe noch nicht auf den Til 
gekommen. 

„Ich kenne ſie nicht,“ er blickte mißtrauiſch auf 
die Muſcheln. „Schmecken ſie gut, Fräulein?“ 

Die Dame lächelte. „ÜUber Geſchmachſachen 


Roman⸗Zeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 


——— 


135 





giebt es Tein generelles Urteil. ch denke ja. Darf 
ih Shnen den Berjudh erleichtern?” 

Sie nahm eine Mujchel und pußte fie ab; da 
fie den jungen Ruhm ihres Nachbarn fannte, machte 
e3 ihr Vergnügen, ihm gefällig zu fein. 

„Hier. Sie ift ausgezeichnet. Trinfen Sie fie 
getroft aus. An die Mythe, daß die Tieren noch 
lebendig find, glauben Sie do aud nicht.” 

Sie jah ihm ſorgſam zu, bis er fie im Munde 
hatte, bei ihren legten Worten aber, die mit dem 
eigentümlich jalzigen Geihmad dieler Meerbewohner 
zujammenfielen, war es ihm plößlih, als wüchle der 
Inhalt feines Mundes zu einem gewaltigen Berg, 
der ihn erftidte. 

Dbne fich zu befinnen, jpudte er die Aufter auf 
jeinen Teller zurüd. 

„Pfui Teufel,” fagte er und jchüttelte fich. 

Einen Augenblid entitand an dem Teil des Tifches 
in Heefens Nähe Todesichweigen; dann begann ein 
Laden, Kidhern, Schwagen, ein verftohlenes Hin: 
bliden zu ihm, kleine Entrüſtungsſchreie, kurz, eine 
Erregung, die fih immer weiter an dem Tiich fort: 
pflanzte. Die Dame neben Heelen war blutrot ge: 
worden und buftete in ihre Serviette, Maud aber, 
die in demfelben Augenblid herübergefehen, erblaßte 
bis in die Lippen. Sie fühlte ordentlich wie ihre 
Hände Falt wurden, wie das Lächeln, mit dem fie 
fih Tekfundenihnell an ihren Nachbar wandte, nur 
verzerrt war, mie ihr Herzichlag ftodte. Das war 
etwas Ulnerhörtes, etwas, das fie für immer der 
Lächerlichleit preisgab, und in diefem Augenblid 
hätte fie fih am liebften für immer von ihm los: 
gejagt. 

Mit einem jcheuen Blid überflog fie die Ge 
\elichaft. Seber achte und plauderte mit feinem 
Nachbar, aber fie meinte in aller Augen Bosheit, 
auf aller Lippen ein fpöttiiches Wort zu jehen. Vor 
ihrem Teller hwamm e8 wie in feurigen Streifen, 
fie war kaum fähig, einen Billen hHinabzuwürgen und 
ihrem Nachbar zu antworten, und Fortunat jaß viel 
zu weit, um ihn irgendwelchen Anteil an ihrer Ver: 
zweiflung nehmen zu lafjen. Endlich nahte fi aber 
auch dies Souper jeinem Ende. Heelen hatte es in 
vollftommener Gemütsruhe und mit gutem Appetit 
an fih vorübergehen lafjen, abnungslos, welchen 
Sturm er im Herzen feiner Frau heraufbeichworen. 
Auch die Mißahtung feiner Nachbarin, die ihn durd) 
völliges Überjehen ftrafte, bemerkte er nicht; er war 
froh, daß fie ihn in Ruhe ließ. 

Nah dem Souper trat Maud unauffällig an 
Heelens Seite. Zhre Wangen brannten, ihre Augen 
glübten. 

„Du haft uns in der Gelelihaft unmöglich ge: 
macht!” flüfterte fie ihm aufgeregt zu, „war Das 
Deine Abfiht?” Sie drüdte heftig feinen Arm. So 
erregt kannte er fie gar nidt. 

„Bas meinft Du?” fragte er mit einer gewillen 
Einfältigfeit in den Mienen, weil er fih gar nicht 
auf fein Verbreen bejann. 

Sie jah ihn an, preßte den Fächer an die Lippen 
und wandte fih ab. Die beleidigenden Worte, Die 
fie ihm jagen gewollt, blieben dadurch unausgeiprochen, 





IV. 52 


139 Art zu Art. 
aber der Bliß der Veradhtung aus ihren dunklen 
Augen traf ihn doc) und redete eine verftändliche 
Spradbe. Ahn überriefelte es plößlih, er biß Die 
Zähne in die Unterlippe, jah feiner Frau mit ge: 
furdter Stirn nah, und ohne jemand ein Wort zu 
jagen, verließ er das Haus des Gejandten und ging 
zu Fuß beim. Es war grimmig Talt, aber der 
koſtbare Pelz, ein Geſchenk Mauds, ſchützte ihn. 
Und indem er an ſich herunterſah, kam es ihm 
plötzlich mit ſchneidender Schärfe zum Bewußtſein, 
daß alles, was ihn umgab, von ihr kam. — Seine 
lumpigen paar tauſend Mark! Die hatten freilich 
keine Bedeutung bei dieſem Reichtum. Er war nichts 
anderes als der Mann ſeiner Frau, der es ſich ge— 
fallen laſſen mußte, heute gehätſchelt, morgen getreten 
zu werden; von dem ſie verlangen konnte, daß er 
ſeinen Namen zu Ehren brächte, daß er arbeitete in 
ihrem Intereſſe wie jeder, den ſie bezahlte. 

Es gab ja nichts, was zwiſchen ihnen aus—⸗ 
gleichend wirken konnte! Keine Liebe auf ſeiner, 
keine Liebe auf ihrer Seite, nur ein einfacher 
Kompromiß, den ſie zu halten hatten. 

Noch hatte er auf ſeinen Teil nichts geleiſtet, 
ſie war alſo im Recht, wenn ſie ihn verachtete. Und 
ſo gedemütigt, ſo entſetzlich erniedrigt kam er ſich in 
dieſem Augenblick vor, daß es ihm eine Wohlthat 
geweſen wäre, dieſe Demütigung auch körperlich zu 
empfinden. 

Er ſtürmte in ſein Atelier und verſuchte zu 
arbeiten, aber es ging nicht. Seine hohe, heilige 
Kunſt ließ ſich nicht zwingen; auch ſie ſetzte ihm den 
Fuß in den Nacken, denn er hatte ſie verraten. 

Dumpf ſtöhnend ſchlug er die Hände vor das 
Geſicht. — 

„Poor child!“ ſagte etwa in demſelben Augen: 
blick die Geſandtin zu derjenigen ihrer Bekannten, 
die ihr die Soupergeſchichte erzählte. „Das kommt 
von ſolchen Ehen! Aber wir werden uns ihrer an- 
nehmen — wir werden fie lancieren! Es ift wirklich 
Ihade um die reizende Frau. — Der Mann ift ein 
Tölpel und wird es ewig bleiben, mag er noch fo 
berühmt werden.” — 

Maud und Fortunat tanzten Francaije zufammen. 

„Mein Mann jcheint fort zu fein,” flüfterte fie 
ibm unter den Berfchlingungen des Tanzes zu. 
„Dder jehen Sie ihn?“ 

„Rein, nirgends —“ 

Und beim nädflen Mal: 

„Dieler Abend bringt mich no um. — ch weiß 
nicht, was ich ihm eher verziehen hätte als Diele 
Lächerlichkeit und feine jetige Rüdfihtslofigkeit!” 

Sie Iprah raid, mit fliegendem Atem, ihre 
Hand zitterte. 

Das Herz that ihm weh. 

„Berfügen Sie ganz über mich,” flüfterte er im 
Ton zärtlihfter Hingabe zurüd. 

Sie jah ihn dankbar an. Welh Glüd, daß fie 
Fortunat hatte! Eine Menjchenfeele, zu der fie Iprechen, 
vor ber fie fogar meinen konnte. Auf deilen Takt 
fie fiy verlaflen durfte wie auf fich felbit. 

„Wenn ih Sie nit hätte!” fagte fie auf: 
jeufzend, als der Tanz zu Ende war und fie jeinen 


Roman von H. Schobert. 


740 


Arm nahm. „Aber das Gefühl, daß Sie mid nicht 
verlafjen werben, ftärkt immer wieder meinen fintenden 
Mut.” 

Welch ein Egoift wäre er gewefen, wenn er fie 
wirflih allein gelaflen hätte, wie er es damals für 
jeine Pflicht hielt. Sie hatte reht, einen Freund 
mußte fie haben, und jo ziemlich betrachtete er fi 
ja ohnehin als die eigentlihe Urjfadhe ihrer unglüd- 
jeligen Ehe. Sie litt, aljo war e8 nur gerecht, daß 
er mit litt, doppelt allerdings unter feiner ausfichte: 
Iojen Liebe und feinen Gemillensbifien. Aber das 
war gleichgültig. er fam gar nicht in Betracht, wenn 
es ihm nur gelang, fie etwas zu tröften. — 

Am nädhften Morgen trat er Ion ganz früh 
in Heeleng Atelier. Es trieb ihn etwas dahin, was 
Närter war als fein Wille, und ihm jelbft dabei 
ziemlich unllar. 

„Du2!” jagte der Bildhauer jehr erftaunt und 
jahb dem Freund in das etwas verlegene Gefidht. 
„Alles andere hätte ich heut eher erwartet als Deinen 
Beſuch.“ 

„Das iſt ein trauriges Zeichen für unſere 
Freundfchaft, Martin.” 

„sit es das? Nun, dann ilt es ebenjogut ein 
Beihen für Deine Freundihaft mit meiner Frau. 
— Hat fie Did etwa geihidt?” jehte er mißtrauiich 
hinzu. 

„Rein. 
zu Dir.” 

„Du wilft mir aljo etwas Unangenehmes jagen, 
geniere Dih nit. Das habe ich alles in der Nacht 
Ihon felber beforgt.” Er legte ihm die Hand auf 
die Schulter und late jcharf auf. „Es ift zwar 
ihmwer in meinen Kopf bhineingegangen — id war 
erzpumm — aber nun fit es drin, feit und un: 
verrüdbar. Der Martin Heelen ift ein Zump, weil 
er fih von einer reihen Frau hat laufen lafjen, ber 
er nit nahlommen kann an Bildung und Schliff, 
denn er ilt ein einfacher Bauer gewejen und wird 
es bleiben Zeit feines Lebens.” 

Fortunat öffnete die Augen weit und Jah dem 
Freund erihroden in das Gelicht. 

„Wie bitter Du bill, Martin,” jagte er ganz 
faffungslos. 

Der andere fuhr mit der Hand über das Gelidht. 
„Es wird fi geben,” fagte er, die Blide For: 
tunats vermeidend. „ch werde mid) au) daran ges 
wöhnen, wenn nur meine Runft — meine Kunft 
mir nidt untreu wird.” 

Das Hang fo Elagend, fo herzzerreißend, daß in 
dieſem Augenblid jelbft Maud vergeflen war. 

„Was ift Dir, Martin?” fragte Fortunat in 
dem alten Ton und legte feine beiden Hände um 
die krampfhaft geballte Fauſt des Freundes. „Sprich 
Dich aus — zu mir ...“ 

Heeken ſchüttelte heftig den Kopf. 

„gu Dir? Nein! — Wir verfiehen uns nicht 
mehr. Du gehörft zu meiner Frau und jo fol es 
bleiben.” 

Fortunat ſchwieg einen Augenblid. Er hatte 
das Gefühl, Martin um den Hals zu fallen und ihm 
alles zu beichten, was ihn für und gegen ihn be: 


Mein eigenes Empfinden zwang mid 








141 Art zu Art. Roman von H. Schobert. 142 





mwegte. Aber die Mißachtung, die Maud für ihren 


Gatten empfand, hatte ſich auch ſchon unmerklich bei 
ihm eingeſchlichen, er zweifelte daran, daß ihn Heeken 
verſtehen würde, und dann konnte aus jedem Wort 
nur Unheil erwachſen. 

„Du verkennſt mich, Martin,“ ſagte er endlich 
ruhig, „Du verkennſt auch Deine Frau. Wenn es 
je einem Menſchen mit dem Glück eines anderen 
Ernſt geweſen iſt, ſo war ſie es. Was jetzt noch 
zwiſchen Euch ſteht, ſind Außerlichkeiten — die werden 
ſich geben. — Du mußt ihr nur etwas nachgiebig 
ſein — ſie iſt eine Frau, die es wirklich verdient — 
ein Engel an Güte, klug und von den höchſten, 
edelſten Abſichten beſeelt. Eine Frau, mit der zu 
leben das Paradies auf Erden ... was ſiehſt Du 
mich ſo an, Martin?“ 

Heeken warf ſich in den Stuhl und ſtreckte die 
Beine weit von ſich. 

„Fahre doch fort,“ ſagte er, ſeinen Bart ſtreichend, 
„das klingt mächtig hübſch.“ 

Aber Fortunat war verwirrt, er ſtützte den 
Kopf in die Hand. 

„Ich habe kein Recht, Dir von Deiner Frau 
zu ſprechen,“ ſagte er ſeufzend. „Verzeihe mir.“ 

„O, ich verzeihe Dir alles.“ 

„Du biſt ſonderbar, Martin. 
kehr wirkt nicht gut auf Dich.“ 

„Vielleicht nicht.“ 

„Nein, gewiß nicht. Aber wie er zu Dir auch 
ſein mag, bedenke, daß er der abgewieſene Freier 
Deiner Frau iſt. Wie würde er hohngelacht haben 
über Deine geſtrige Rückſichtsloſigkeit gegen Deine 
Frau. Ich habe ſie nach Hauſe gebracht, weil Du 
ſie einfach ohne irgend eine Mitteilung bei Fremden 
allein ließeſt. Wenn die Leute darüber reden, darfſt 
Du Dich nicht wundern.“ 

„Sie verachtet mich ja doch,“ ſagte er ruhig 
und zog mit dem Finger Kreiſe auf dem Tiſch. 

Fortunat ſprang auf und trat einen Schritt 
zurück, eine furchtbare Ahnung durchzuckte ihn. Liebte 
Heeken etwa ſeine Frau? Fühlte er ſich aus dieſem 
Grunde gekränkt, beleidigt, todestraurig durch ihr 
Benehmen? Er mußte erſt tief Atem holen, ehe er 
leiſe, faſt tonlos ſagte: 

„Du liebſt ſie ſehr, Martin?“ 

Der Bildhauer ſah in die Höhe, ein harter Zug 
grub ſich um ſeinen Mund. Aus ſeinen Augen 
ſprach alles andere eher als Liebe, aber ſeine Lippen 
blieben geſchloſſen. — 

„Nun iſt alles aus!“ dachte Fortunat, als er 
nach Hauſe ging, „alles!“ 

Er wußte nicht, ob und was er erwartet hatte 
von der Zukunft, er wußte nur, daß er ſich am 
liebſten ins Grab gelegt hätte, ſo öde und ſchrecklich 
kam ihm das Leben vor. — 


Quenſels Ver— 








Fünfundzwanzigſtes Kapitel. 


Luzie ſtand in heller Erregung vor ihrem Bruder. 

„Da hört ſich doch alles auf, Emil! Jetzt ſind 
Heekens zu Hof geladen zum Prinzen Elimar. Haſt 
Du dafür Worte?“ 

Er ſah intereſſiert auf. 

„Woher weißt Du das, Kleine?“ 

Bis an den hellen Morgen war er mit Martin 
zuſammen geweſen, ohne daß dieſer auch nur mit 
einem Wort der Einladung Erwähnung gethan; 
warum nicht? Erſchien ſie ihm ſo geringfügig 
oder ſo gleichgültig? Manchmal wußte man bei 
dieſem Bauerntölpel wirklich nicht, woran man war. 

„Woher? Nun, von wem anders als von 
Maud! Die Perſon platzt ja bald vor Hochmut, 
ſeitdem ſich die oberen Kreiſe ſo um ſie reißen. Und 
begreifſt Du, weshalb? Selbſt zugeſtanden, daß 
Heekens Gruppe ein Kunſtwerk geweſen iſt, aber 
Papa und Fortunat haben auch Kunſtwerke ge— 
ſchaffen, trotzdem iſt es keinem Prinzen eingefallen, 
ſich um ſie zu kümmern. Es iſt alſo um Mauds 
willen. Nun ja, ſie verſteht es, ſich aufs hohe 
Pferd zu ſetzen, wozu wäre ſie ſonſt Ausländerin. 
Aber denke Dir, es ärgert mich — es ärgert mich 
wütend.“ 

Emil warf den Cigarettenreſt fort und zündete 
eine neue an. 

„Gönne es ihr doch, Luzie,“ ſagte er zwiſchen— 
durch in ſeinem alten Phlegma. 

„Nein, ich gönne es ihr nicht! Ich gönne es 
ihr bei Gott nicht!“ ſchrie Luzie zornig. „Und daß 
Du ſo intim mit Heeken thuſt, nehme ich Dir auch 
übel. Wie kann ſich mein anſtändiger Bruder ſo 
mit ſeiner Freundſchaft fortwerfen!“ 

„Liebes Kind, nimm Deinen Mund nicht 
ſo voll!“ 

„Vergißt Du denn ganz, daß dieſer Menſch 
Dir Maud und ihren Reichtum fortgeſchnappt hat? 
Wie ein Prinz lebt er jetzt, dieſer Bauernbengel,“ 
ſagte ſie mit zorniger Verächtlichkeit. 

Emil zuckte die Achſeln und ſchwieg. 

„Du kennſt doch die famoſe Auſterngeſchichte,“ 
fuhr Luzie unbarmherzig fort. „Ein anderer wäre 
danach geſellſchaftlich unmöglich geweſen, Heekens 
— nun, Heekens gehen einige Wochen darauf 
zu Hofe.“ 

„Das kannſt Du wohl gar nicht verwinden, 
Luzie?“ 

„Ich glaube nicht,“ ſagte ſie betrübt und ſetzte 
ſich ihm um einen Stuhl näher. „Um ſo weniger, 
als doch eigentlich die ganze Stadt in einer ge— 
wiſſen Indignation gegen das Paar iſt. Weißt 
Du, ſolche Ehe zu dreien iſt ja auf der Bühne in 
einem franzöſiſchen Drama ſehr unterhaltend, aber 
im Leben — na, da hat man doch ſeine Grund— 
ſätze — ſeine Moral. Aber wo Maud iſt, iſt auch 
Sortunat! Er! überall er! Am Theater, im Kon: 
zert, in den Gefjellichaften. Und Heelen nicht einmal 
immer dabei. Ganz allein gehen fie aus, das ift 
doch ſkandalös.“ 


139 Art zu Art. 
aber der Bli der Veradhtung aus ihren dunklen 
Augen traf ihn do und redete eine verftändliche 
Sprade. SYhn überriejelte es plöglih, er biß die 
Zähne in die Unterlippe, fah jeiner Frau mit ge: 
furdter Stirn nad, und ohne jemand ein Wort zu 
jagen, verließ er das Haus des Gejandten und ging 
zu Fuß beim. Es mar grimmig kalt, aber der 
foftbare Pelz, ein Geſchenk Mauds, ſchützte ihn. 
Und indem er an ſich herunterſah, kam es ihm 
plötzlich mit ſchneidender Schärfe zum Bewußtſein, 
daß alles, was ihn umgab, von ihr kam. — Seine 
lumpigen paar tauſend Mark! Die hatten freilich 
keine Bedeutung bei dieſem Reichtum. Er war nichts 
anderes als der Mann ſeiner Frau, der es ſich ge— 
fallen laſſen mußte, heute gehätſchelt, morgen getreten 
zu werden; von dem ſie verlangen konnte, daß er 
ſeinen Namen zu Ehren brächte, daß er arbeitete in 
ihrem Intereſſe wie jeder, den ſie bezahlte. 

Es gab ja nichts, was zwiſchen ihnen aus—⸗ 
gleichend wirken konnte! Keine Liebe auf ſeiner, 
keine Liebe auf ihrer Seite, nur ein einfacher 
Kompromiß, den ſie zu halten hatten. 

Noch hatte er auf ſeinen Teil nichts geleiſtet, 
ſie war alſo im Recht, wenn ſie ihn verachtete. Und 
ſo gedemütigt, ſo entſetzlich erniedrigt kam er ſich in 
dieſem Augenblick vor, daß es ihm eine Wohlthat 
geweſen wäre, dieſe Demütigung auch körperlich zu 
empfinden. 

Er ſtürmte in ſein Atelier und verſuchte zu 
arbeiten, aber es ging nicht. Seine hohe, heilige 
Kunſt ließ ſich nicht zwingen; auch ſie ſetzte ihm den 
Fuß in den Nacken, denn er hatte ſie verraten. 

Dumpf ſtöhnend ſchlug er die Hände vor das 
Geſicht. — 

„Poor child!“ ſagte etwa in demſelben Augen— 
blick die Geſandtin zu derjenigen ihrer Bekannten, 
die ihr die Soupergeſchichte erzählte. „Das kommt 
von ſolchen Ehen! Aber wir werden uns ihrer an- 
nehmen — wir werben fie lancieren! Es ift wirklich 
Ihade um bie reizende Frau. — Der Mann ift ein 
Tölpel und wird es ewig bleiben, mag er nod jo 
berühmt werden.” — 

Maud und Fortunat tanzten Francaife zufammen. 

„Mein Mann fcheint fort zu fein,“ flüfterte fie 
ibm unter den Berihlingungen des Tanzes zu. 
„der jehen Sie ihn?” 

„Rein, nirgends —” 

Und beim nädften Mal: 

„Diejer Abend bringt mich no um. — Sch weiß 
nicht, was ich ihm eher verziehen hätte als diefe 
Lächerlichleit und feine jegige Rüdijichtslofigkeit!“ 

Sie Iprah rad, mit fliegendem Atem, ihre 
Hand zitterte. 

Das Herz that ihm meh. 

„Berfügen Sie ganz über mich,” flüfterte er im 
Ton zärtlihfter Hingabe zurüd. 

Sie fah ihn dankbar an. Welh Glüd, daß fie 
Sortunat hatte! Eine Menjchenjeele, zu der fie ſprechen, 
vor der fie fogar weinen fonnte. Auf deilen Talt 
fie fiy verlaflen durfte wie auf fich felbit. 

„Wenn ih Sie nit hätte!” fagte fie auf: 
jeufzend, als der Tanz zu Ende war und fie jeinen 


Roman von 9. Schobert. 


740 


Arm nahm. „Aber das Gefühl, daß Sie mi nicht 
N werben, ftärkt immer wieder meinen finfenden 
ut,” 

Welch ein Egoift wäre er gemwefen, wenn er fie 
wirklich allein gelaflen hätte, wie er es damals für 
jeine Pflicht hielt. Sie hatte vet, einen Freund 
mußte fie haben, und fo ziemlich betrachtete er fi 
ja ohnehin als die eigentlihe Urfacdhe ihrer unglüd- 
jeligen Ehe. Sie litt, aljo war es nur gerecht, daß 
er mit litt, doppelt allerdings unter feiner ausfichts- 
lojen Liebe und feinen Gemillensbiffen. Aber das 
war gleichgültig, er fam gar nit in Betradht, wenn 
e8 ihm nur gelang, fie etwas zu tröften. — 

Am nähften Morgen trat er jhon ganz früh 
in Heelens Xtelier. Es trieb ihn etwas dahin, was 
Närter war als jein Wille, und ihm jelbft dabei 
ziemlih unklar. 

„Du?!” fagte der Bildhauer jehr erftaunt und 
jahb dem Freund in das etwas verlegene Gefidt. 
„Alles andere hätte ich Heut eher erwartet als Deinen 
Beſuch.“ 

„Das iſt ein trauriges Zeichen für unſere 
Freundſchaft, Martin.“ 

„Iſt es das? Nun, dann iſt es ebenſogut ein 
Zeichen für Deine Freundſchaft mit meiner Frau. 
— Hat ſie Dich etwa geſchickt?“ ſetzte er mißtrauiſch 
hinzu. 

„Nein. 
zu Dir.“ 

„Du willſt mir alſo etwas Unangenehmes ſagen, 
geniere Dich nicht. Das habe ich alles in der Nacht 
ſchon ſelber beſorgt“ Er legte ihm die Hand auf 
die Schulter und ladte fcharf auf. „Es ift zwar 
Ihmwer in meinen Kopf bineingegangen — id) war 
erzdumm — aber nun fißt es drin, fefl unb un: 
verrüdbar. Der Martin Heelen ift ein Zump, weil 
er fih von einer reihen Frau hat laufen laflen, der 
er nicht nahlommen kann an Bildung und Schliff, 
denn er ift ein einfacher Bauer gewejen und wird 
e8 bleiben Zeit jeines Lebens.“ 

Fortunat öffnete die Augen weit und fjah dem 
Sreund erjhroden in das Geficht. 

„Wie bitter Du bill, Martin,” fagte er ganz 
faſſungslos. 

Der andere fuhr mit der Hand über das Geſicht. 
„Es wird ſich geben,“ ſagte er, die Blide For: 
tunats vermeidend. „Ich werde mich auch daran ges 
wöhnen, wenn nur meine Kunſt — meine Kunſt 
mir nicht untreu wird.“ 

Das klang ſo klagend, ſo herzzerreißend, daß in 
dieſem Augenblick ſelbſt Maud vergeſſen war. 

„Was iſt Dir, Martin?“ fragte Fortunat in 
dem alten Ton und legte ſeine beiden Hände um 
die krampfhaft geballte Fauſt des Freundes. „Sprich 
Dich aus — zumir.. .” 

Heeken ſchüttelte heftig den Kopf. 

„Zu Dir? Nein! — Wir verſtehen uns nicht 
mehr. Du gehörſt zu meiner Frau und ſo ſoll es 
bleiben.“ 

Fortunat ſchwieg einen Augenblick. Er hatte 
das Gefühl, Martin um den Hals zu fallen und ihm 
alles zu beichten, was ihn für und gegen ihn be— 


Mein eigenes Empfinden zwang mich 





141 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





wegte. Aber die Mißachtung, die Maud für ihren 


Gatten empfand, hatte ſich auch ſchon unmerklich bei 
ihm eingeſchlichen, er zweifelte daran, daß ihn Heeken 
verſtehen würde, und dann konnte aus jedem Wort 
nur Unheil erwachſen. 

„Du verkennſt mich, Martin,“ ſagte er endlich 
ruhig, „Du verkennſt auch Deine Frau. Wenn es 
je einem Menſchen mit dem Glück eines anderen 
Ernſt geweſen iſt, ſo war ſie es. Was jetzt noch 
zwiſchen Euch ſteht, ſind Außerlichkeiten — die werden 
ſich geben. — Du mußt ihr nur etwas nachgiebig 
ſein — ſie iſt eine Frau, die es wirklich verdient — 
ein Engel an Güte, klug und von den höchſten, 
edelſten Abſichten beſeelt. Eine Frau, mit der zu 
leben das Paradies auf Erden ... was ſiehſt Du 
mich ſo an, Martin?“ 

Heeken warf ſich in den Stuhl und ſtreckte die 
Beine weit von ſich. 

„Fahre doch fort,“ ſagte er, ſeinen Bart ſtreichend, 
„das klingt mächtig hübſch.“ 

Aber Fortunat war verwirrt, er ſtützte den 
Kopf in die Hand. 

„Ich habe kein Recht, Dir von Deiner Frau 
zu ſprechen,“ ſagte er ſeufzend. „Verzeihe mir.“ 

„O, ich verzeihe Dir alles.“ 

„Du biſt ſonderbar, Martin. 
kehr wirkt nicht gut auf Dich.“ 

„Vielleicht nicht.“ 

„Nein, gewiß nicht. Aber wie er zu Dir auch 
ſein mag, bedenke, daß er der abgewieſene Freier 
Deiner Frau iſt. Wie würde er hohngelacht haben 
über Deine geſtrige Rückſichtsloſigkeit gegen Deine 
Frau. Ich habe ſie nach Hauſe gebracht, weil Du 
ſie einfach ohne irgend eine Mitteilung bei Fremden 
allein ließeſt. Wenn die Leute darüber reden, darfſt 
Du Dich nicht wundern.“ 

„Sie verachtet mich ja doch,“ ſagte er ruhig 
und zog mit dem Finger Kreiſe auf dem Tiſch. 

Fortunat ſprang auf und trat einen Schritt 
zurück, eine furchtbare Ahnung durchzuckte ihn. Liebte 
Heeken etwa ſeine Frau? Fühlte er ſich aus dieſem 
Grunde gekränkt, beleidigt, todestraurig durch ihr 
Benehmen? Er mußte erſt tief Atem holen, ehe er 
leiſe, faſt tonlos ſagte: 

„Du liebſt ſie ſehr, Martin?“ 

Der Bildhauer ſah in die Höhe, ein harter Zug 
grub ſich um ſeinen Mund. Aus ſeinen Augen 
ſprach alles andere eher als Liebe, aber ſeine Lippen 
blieben geſchloſſen. — 

„Nun iſt alles aus!“ dachte Fortunat, als er 
nach Hauſe ging, „alles!“ 

Er wußte nicht, ob und was er erwartet hatte 
von der Zukunft, er wußte nur, daß er ſich am 
liebſten ins Grab gelegt hätte, ſo öde und ſchrecklich 
kam ihm das Leben vor. — 


Quenſels Ver— 


Fünfundzwanzigſtes Kapitel. 


Luzie ſtand in heller Erregung vor ihrem Bruder. 

„Da hört ſich doch alles auf, Emil! Jetzt ſind 
Heekens zu Hof geladen zum Prinzen Elimar. Haſt 
Du dafür Worte?“ 

Er ſah intereſſiert auf. 

„Woher weißt Du das, Kleine?“ 

Bis an den hellen Morgen war er mit Martin 
zuſammen geweſen, ohne daß dieſer auch nur mit 
einem Wort der Einladung Erwähnung gethan; 
warum nicht? Erſchien ſie ihm ſo geringfügig 
oder ſo gleichgültig? Manchmal wußte man bei 
dieſem Bauerntölpel wirklich nicht, woran man war. 

„Woher? Nun, von wem anders als von 
Maud! Die Perſon platzt ja bald vor Hochmut, 
ſeitdem ſich die oberen Kreiſe ſo um ſie reißen. Und 
begreiſſt Du, weshalb? Selbſt zugeſtanden, daß 
Heekens Gruppe ein Kunſtwerk geweſen iſt, aber 
Papa und Fortunat haben auch Kunſtwerke ge— 
ſchaffen, trotzdem iſt es keinem Prinzen eingefallen, 
ſich um ſie zu kümmern. Es iſt alſo um Mauds 
willen. Nun ja, ſie verſteht es, ſich aufs hohe 
Pferd zu ſetzen, wozu wäre ſie ſonſt Ausländerin. 
Aber denke Dir, es ärgert mich — es ärgert mich 
wütend.“ 

Emil warf den Cigarettenreſt fort und zündete 
eine neue an. 

„Gönne es ihr doch, Luzie,“ ſagte er zwiſchen— 
durch in ſeinem alten Phlegma. 

„Nein, ich gönne es ihr nicht! Ich gönne es 
ihr bei Gott nicht!“ ſchrie Luzie zornig. „Und daß 
Du ſo intim mit Heeken thuſt, nehme ich Dir auch 
übel. Wie kann ſich mein anſtändiger Bruder ſo 
mit ſeiner Freundſchaft fortwerfen!“ 

„Liebes Kind, nimm Deinen Mund nicht 
ſo voll!“ 

„Vergißt Du denn ganz, daß dieſer Menſch 
Dir Maud und ihren Reichtum fortgeſchnappt hat? 
Wie ein Prinz lebt er jetzt, dieſer Bauernbengel,“ 
ſagte ſie mit zorniger Verächtlichkeit. 

Emil zuckte die Achſeln und ſchwieg. 

„Du kennſt doch die famoſe Auſterngeſchichte,“ 
fuhr Luzie unbarmherzig fort. „Ein anderer wäre 
danach geſellſchaftlich unmöglich geweſen, Heekens 
— nun, Heekens gehen einige Wochen darauf 
zu Hofe.“ 

„Das kannſt Du wohl gar nicht verwinden, 
Luzie?“ 

„Ich glaube nicht,“ ſagte ſie betrübt und ſetzte 
ſich ihm um einen Stuhl näher. „Um ſo weniger, 
als doch eigentlich die ganze Stadt in einer ge— 
wiſſen Indignation gegen das Paar iſt. Weißt 
Du, ſolche Ehe zu dreien iſt ja auf der Bühne in 
einem franzöſiſchen Drama ſehr unterhaltend, aber 
im Leben — na, da hat man doch ſeine Grund— 
ſätze — ſeine Moral. Aber wo Maud iſt, iſt auch 
Fortunat! Er! überall er! Im Theater, im Kon: 
zert, in den Gejellihaften. Und Heelen nicht einmal 
immer dabei. Ganz allein gehen fie aus, das tft 
doch ſtandalös.“ 





743 Art zu Art. 
„Woher weißt Du denn das jo genau, Zuzie?“ 
„Run, man |pricht doch darüber, hört hier und 
da... Ad, Emil, thue doh nicht jo! Du weißt 
ganz gut, wie die LXeute find.” 

„Breilih weiß ich) das, und wahrhaftig, ich 
babe nichts dagegen.” 

„Wir erleben es no, daß es einen furdt: 
baren Skandal giebt,” fagte Zuzie vertraulich und 
rüdte ihrem Bruder näher. „Der Eleinfte Anftoß 
und Mauds thönerner Thron bridht zujammen. 
Das jage ich mir ja genug. Aber fie bei Hofe zu 
wiffen, während ihre Echwiegermutter do in 
muffigen, furzen Bauernröden berumläuft und ihr 
Mann Fäufte wie ein Cyflop hat, das ärgert mid) 
zu ſehr.“ 

„Du biſt ihr alſo neidiſch?“ 

„Ja —“ ſagte ſie nach kurzem Bedenken, „ich 
will es Dir gern zugeben, das bin ich!“ 

„Um Fortunats willen natürlich. Ihr Frauen 
ſeid alle ſo kleinlich.“ 

Thränen ſchoſſen 


„Kleinlich nennſt Du das?“ 
in ihre Augen. „Er iſt eine ſo gute Partie, und 
ich habe ihn doch lieb! Ich finde ihn ſogar hübſch, 
Emil; hübſcher als Dich.“ 

Er lachte. 

„Kleine Schweſter, mit unſeren Heiratspro— 
jekten haben wir kein Glüd gehabt. Weißt Du 


Hände ballend, „Maud wäre in ihrem Amerika ge— 
blieben, oder das Schiff wäre mit Mann und Maus 
untergegangen, ehe es hier gelandet wäre. Wahr— 
haftig, Emil, das wünſchte ich.“ 

Er ſah ſie lachend an, aber ſie kämpfte in 
Wahrheit mit ihren Thränen, und da that ſie ihm 
plötzlich leid. 

„Na, na, Kleine,“ ſagte er gutmütig, ihre Hand 
ſtreichelnd. „Noch iſt ja nicht aller Tage Abend.“ 

Sie ſchüttelte heftig den Kopf. 

„Er liebt ſie, ohne Frage. Wenn Du die 
Blicke ſehen würdeſt, mit denen er ſie anſieht. Der 
reinſte Toggenburg. UÜbrigens muß er denken, andere 
Leute haben keine Augen.“ 

„Ja, das paſſiert häufig.“ 

Luzie rang ihre Finger ineinander. 

„O, Emil,“ ſagte ſie kläglich, „ich haſſe ſie.“ 

„Dann verkehre nicht mehr bei ihr. Mir ſcheint 
aber, Du biſt recht häufig da.“ 

„Nun,“ rief ſie plötzlich voll Trotz „Ich weiß, 
daß ſie lieber mit Fortunat allein iſt, natürlich, aber 
eben deshalb thue ich es. Sie kann mich doch nicht 
gut abweiſen laſſen. Und ſchließlich muß ſie doch 
auch einmal eine Geſellſchaft geben, zu der ſie mich 
einlädt, und dann bin ich wenigſtens einmal mit all 
dieſen vornehmen Leuten zuſammen geweſen, Ge— 
ſandten und Hofmarſchällen, und kann ſehen, wie ſie 
ſich zu Maud benehmen. Nein, aufgeben kann ich 
den Verkehr nicht, das wäre dumm.“ 

Emil nickte, die Anſchauungsweiſe ſeiner Schweſter 
ſchien ihm nicht wunderbar. 


Roman von H. Schobert. 


744 


einer Pauſe vertraulich. „Papa iſt ſehr ſtolz auf 
Dich, er ſagt, daß jetzt endlich ſeine Prophezeiungen 
einträfen und ſich Dein Talent Bahn bräche. Deine 
letzten Arbeiten atmeten etwas Herbes, aber Geniales, 
etwas, das faſt an Heeken erinnere. Noch eine 
kurze Zeit ſo weiter, und Du bekämſt auch einen 
Preis. Nun? Biſt Du nicht ſtolz?“ 

Emil drehte ſich eine neue Cigarette, er ſah 
ſeine Schweſler nicht an. 

„Da ſiehſt Du, Umgang färbt ab.“ Dazu 
lachte er etwas ſpöttiſch. „Vielleicht atme ich etwas 
von Heekens Genie in ſeinem Atelier und ſeiner 
Geſellſchaft ein, und Du willſt mir beides ver— 
denken?“ 

„Ich wüßte kein Wort mit ihm zu reden, ich 
finde ihn einſach gräßlich,“ ſagte ſie nachdenklich. 
„Und daß Maud mit dem nicht glücklich ſein kann, 
das iſt ſchließlich mein Troſt. Alles läßt ſich nicht 
erkaufen.“ — 

An demſelben Tage war Fortunat zu Tiſch in 
der Heekenſchen Familie. Er ſuchte mit einer ge— 
wiſſen Befliſſenheit wieder Martins Gegenwart. 
Seitdem er den Gedanken nicht los werden konnte, 
dieſer liebe ſeine Frau trotz der äußerlichen Ent— 
fremdung, oder vielleicht gerade deshalb, hatte er 
ſtets den Wunſch, zu beobachten, jedes Wort, jeden 
Blick abzuwägen, um ſich ſelbſt damit zu quälen. 
Und ſchließlich fand er Momente, die ſeiner krank— 
haften Einbildung genug Nahrung gaben, obgleich 
ſie, außer ihm, ſich wohl niemand derart zurecht: 
konſtruiert hätte. 

Ganz im Gegenſatz zu Fortunat, hatte es 
Heeken doppelt eilig, aus der Geſellſchaft ſeiner 
Frau fortzukommen, ſobald ſein Freund da war. 
Fühlte er ſich dann noch überflüſſiger als gewöhn— 
lich, trieben ihn andere Motive, kurzum, er ver—⸗ 
ſchwand möglichſt ſchnell, und das war bei ſeiner 
Unkenntnis jeder Form derartig auffällig, daß For— 
tunat ſchon mehrmals Maud gefragt, ob ihr unter 
den Verhältniſſen ſeine Gegenwart auch erwünſcht ſei. 

Zwar hatte ſie ihn darauf nur angeſehen und 
ruhig erwidert: „Dieſe Frage brauche ich Ihnen 
wohl nicht zu beantworten.“ Aber der Stachel blieb 
doch in ihm ſitzen, und Maud fühlte das. 

Als Heeken deshalb auch heut mit dem letzten 
Biſſen im Munde aufbrach, trat ſie, freundlich wie 
lange nicht, zu ihm und bat ihn zu bleiben. 

Sie ſah ſehr hübſch aus in dem Augenblick, in 
ihrem weißen Kleide, das ſie gewöhnlich zum Eſſen 
trug, einen Strauß Veilchen vor der Bruſt, und 
ihr Mann ſah ſie mit einem Ausdruck an, als fände 
er heut etwas ganz Neues an ihr, oder als befremde 
ihn die Erkenntnis, daß dies Weſen eigentlich ihm 
gehöre vor Gott und den Menſchen, während ſie 
einander doch ſo fern waren wie Himmel und Erde. 

Die Schleppe ihres Kleides berührte ſeine Füße 
und die Blumen dufteten zu ihm empor; unwillfür: 
lih beugte er fich ihr entgegen. 

„Warum wilft Du das?” fragte er und jah fie 
jeltjam an, fo wei), jo — fait flehend. 

„Weil es unfern Gaft beleidigen Fönnte,” fagte 


„Weißt Du no) etwas, Emil?” jagte fie nach ; fie, fi zu diefem ummendend, halblaut. 





745 Art zu Art. 
Da fchleuderte er die Schleppe beileite und 
richtete fich auf, als wäre ihm plößlich der Blumen: 
duft läftig. 

„hr braudt mid nicht,” antwortete er kurz 
und jchroff und ging davon. 

Während er feinem Atelier zufchritt, fragte er 
ih grübelnd, was ihn eigentlih vorhin bei dem 
Anblid jeiner Frau, dem Duft der Blumen über: 
fommen hatte. E& war eine weiche, fat jchmerzliche 
NRegung gemwejen. Ein Gefühl der Sehnjfudht, der 
Berlafienheit, und der heftige Wunjch, irgend etwas 
an fein Herz zu Ichließen, das zu ihm gehörte, das 
ihn tröften und lieb haben würde. Aber war feine 
Frau dazu fähig? Er kannte fie nur Plug, felbftbe- 
mußt und kühl; die abwartend am Wege ftand, ob 
er denn nun endli das Seine thun und ein neues 
Kunftwert Ichaffen würde, wie fie e8 vorausgefeßt. 
Die Hunde waren verpfulht. Zu taftvoll, um ihn 
mit Worten zu mahnen, aber ein lebendiges Frage: 
zeihen auf alles, was ihn umgab. Nein, ihre 
Berfon Hatte mit feinem Empfinden nichts zu thun, 
es war nur das Gejhleht, dem er fih troftfuchend 
zugenetgt, dasjelbe Geichleht, das alle jeine Be- 
fannten beglüdte, bejeligte, fie zu taujend Thor: 
heiten trieb, glüdlih und unglüdlid machte, von 
dem allein Heil für den Mann kommen jollte. 

Er kannte bdiefes Geihleht in jeiner Macht 
nicht. Seine Frau war ihm fremd geblieben, feiner 
Mutter war er bhimmelmweit entwadhlen, zwilchen 
biefen beiden Polen batte fein anderes weibliches 
MWelen geftanden, und nun — war es zu fpät! — 

Er hatte fih auf den Diman geworfen und Die 
Augen gejchloflen. Sein kindlihes Gemüt fand 
feinen Weg, um die plögli erwadhte Sehnjudht mit 
dem Beftehenden zu vereinigen. Dieſer einen Frau 
hatte er Treue gejchworen, er mußte fie ihr aljo 
auch halten fein Iebelang. Daß es krumme Wege 
gab, oder daß er an eine Lölung jeiner unerquid- 
lihen Ehe je denten könnte, war für ihn ganz aus: 
geihloffen. So würde er aljo das, was die anderen 
das einzig Süße im Leben nannten, nie fennen 
lernen. ’ 
Er jeufzte tief. — Wie fam er denn nur auf 
diefe wunberlihden Gedanken? Nidtig, der Anblid 
feiner Frau, der Duft der Blumen war jhuld daran 
gewelen und die Erzählungen geftern abend in jeinem 
Verein. Er hatte fiillgejeflen und zugehört, was fie 
jo einander vertrauten, mit mehr Offenheit als Dis: 
fretion, und eigentlich war es ihm in dem Moment 
ziemlich gleichgültig gemwejen; erjt nachher hatte es 
in ihm gewirkt, jo daß er gar nit von dem 
Grübeln darüber lostommen konnte. Alfo ihm war 
das verjagt! Und neben einer Frau, die ihm Liebe 
gegeben und genommen, wäre vielleicht auch jeine 
Kunft bei ihm geblieben, denn feiner von den 
jungen Künftlern geftern hatte über verjagende 
Kraft geklagt, im Gegenteil, ihnen war Liebe und 
Kunft untrennbar. 

Er drehte fich auf die andere Seite und verjuchte, 
ih die Frau vorzuftellen, die er lieben könnte, die 
ihn wieder liebte. Nicht fo fein und gebildet mußte 
fie fein, und fraftfirogend in ihrer Perfönlichkeit, 


Roman von H. Schobert. 


146 


aber weiter fam er nit. Seine Phantafie verjagte, 
er Fannte ja die Frauen jo wenig. 

Um ihn mar es totenflill, nur der Schnee, der 
zu fallen begonnen, tidte an bie Scheiben. In dem 
bämmernden Duntel leudhteten die Hunde aus jeinem 
Atelier zu ihm berein und wieder empfand er den 
dumpfen Drud der Einfamleit, der Troftbedürftigfeit. 

Er Stand auf und ging zu feiner Mutter. Sie 
wenigftens gehörte doch zu ihm, war Blut von jeinem 
Blut, er der Gebende und fie die Empfangenbe. 


Als er öffnete, fuhren die drei Dienftmädchen 
mit hellen Schreien auf und zur Thür hinaus, fie 
hatten im Kreife um die Alte berumgehodt und ge: 
fatiht; das war doch fo verführeriih für fie, und 
Mutter Heelen jolh danktbares Publikum. 


Die Alte jhien über die Störung wenig erfreut. 
„Ra,"” jagte fie mit einem gemillen gedehnten Ton. 
„Was willft denn Du, Martin?“ 

„Nichts will ih, Mutter. Nur mal fehen, wie 
e8 Euch gebt.“ | 

„Wie jol es mir gehen! Schlecht geht cs mir! 
Den ganzen Tag bin ih allein. Keiner kümmert 
fih um mi! Sterben und verderben Eönnt ih 
Euretwegen — wenn die Mädchen nicht noch mand): 
mal nach mir fähen.“ 

Er jchmwieg. Seine Mutter hatte recht, niemand 
war da, der fih um fie fümmeerte. 

„Martin,“ jagte fie nach einem Weilden, ihm 
näher rüdend, in geheimnisvollem Flüfterton, „dent 
nur, Euer Friedrih wird die Lina heiraten. Freilich 
bat er fhon eine Braut in Berdtesbah, aber die 
läßt er figen, denn die Lina hat taufend Markt Ge- 
ipartes. Und der Köchin ihr Vater fäuft und bat 
fie mal totfchlagen wollen ohne Grund, und die 
Nina hat das Bild von einem feinen Herrn, einem 
Lieutenant oder Oberft ober Kapellmeilter in einem 
echt goldenen Medaillon. Und bei Euch in der Küche 
fehlen zwei filberne Löffel, und die Köchin bat geftern 
das ganze Filet verbrennen laflen, jhwarz wie Kohle, 
und dann fchnell Hin und ein anderes geholt, und 
Nina trinkt ale Morgen ein rohes Ei, und Friedrich) 
raucht Cigarren, das Stüd zu adt Pfennig. — Ya, 
das find jo Sachen, mein Sohn.” 

Sie Iprah triumphierend, als erzähle fie ihm 
das MWichtigfte der Erde. Er aber hatte gar nicht 
zugebört. 

„Mutter —” begann er gedrüdt. 

„Ia natürlih, Deiner Frau ift das ganz gleich, 
die kümmert fih um nichts, derentwegen kann es 
noch ganz anders zugehen. Wenn bie nur fiten und 
harmieren kann, mit dem feinen Herrchen, das immer 
um fie herum if. Aber warum leideft Du es, 
Martin? Schlag bo mit der Fauft drein, das ift 
Dein Redt. Was fteden fie immer zufammen und 
Du bift nicht dabei? Und . . .”“ fie kam ihm 
jo nahe, daß fein Ohr von ihren Xippen berührt 
wurde, „wenn Du bdahinterlommft, dann Tannft 
Du Dih jcheiden lajjen und Triegft die Hälfte von 
ihrem Geld, jagt Friedrich.” 

Nun hatte er doch zugehört, wider feinen Willen 
zuerft, aber allmählich batte das Geſchwätz ſeine 





147 


feineren Regungen verjagt, er vergaß, weshalb er 
gefommen, und daß er Steine ftatt Brot befommen. 

„Der Friedrich ift ein Ejel, dem ich bei nächfter 
Gelegenheit den Schädel einjchlagen werde,” jagte er 
zornig. 

„Haſt recht, Martinchen, haſt recht!“ ſie legte 
die Hand auf ſeinen Arm. „Warum die Hälfte 
nehmen, wenn man das Ganze behalten kann. Haſt 
ganz recht! Viel Geld iſt erſt was Schönes.“ 

Und dann ſaßen ſie eine Weile ſtill zuſammen, 
bis Heeken aufſtand. 

„Gute Nacht, Mutter.“ 

„Gute Nacht. Gute Nacht!“ Sie ſtreichelte 
ſeinen Ärmel, der feine Sammet gefiel ihr. Ihn 
berührte ihre Katzenfreundlichkeit unangenehm, er 
hatte ein häßliches Wort auf der Zunge. 

In ſeinem Atelier dehnte und reckte er die 
Arme, dann zog er ſich um und ging in ſeinen Verein. 

Auf der Straße ſah er zu den Fenſtern ſeiner 
Wohnung empor. Sie waren alle erleuchtet, Fortunat 
alfo noch oben. Er ſchüttelte den Kopf. Groll 
empfand er ja nicht, gegen niemand, aber ſie gefielen 
einander fſicherlich dort droben, waren gern zuſammen, 
und nur er allein, immer allein. — 

Als Heeken gegangen, hatte Fortunat Maud 
angeſehen. Ein gequälter Ausdruck lag auf ſeinen 
hübſchen Zügen. 

„Wäre es nicht am beſten, gnädige Frau, ich 
käme nicht mehr her?“ fragte er ſtockend. „Ein 
Freund bin ich Martin längſt nicht mehr, er duldet 
mich nur noch.“ 

„Sehen Sie keine Geſpenſter,“ antwortete ſie 
leihthin. „Zino ift ein Menfch, der keinerlei Sormen 
fennt, fih auch feine Mühe giebt, fie lennen zu 
lernen. Wollen Sie etwa irgend eine Zaune jo auf: 
baufchen, daß Sie eine Staatsaltion daraus maden? 
Papt ihm unfere Gejellihaft nicht, mag er gehen.” 
Sie ſetzte fih an einen niederen japanifhen Tiich 
und füllte aus der filbernen Kanne Mokla in die 
Sevrestaffen. „Kommen Sie her, Fortunat, madhen 
Sie fi das Leben nicht unnüß jchwer.” 

Er jegte fi ihr gegenüber und rührte mit dem 
goldenen Löffel den Zuder Hein. „Können Sie fi 
nicht denken, daß mich das brüdt?“ 

„Sa, deshalb wollte ih ihn zurüdhalten. Aber 
Sie find im Jrrtum, Fortunat, wenn Sie glauben, 
dem befonderen Wert beifegen zu müjlen. Tino iſt 
in marden Dingen der reinfle Wilde, was ihm be- 
bagt, thut er, was ihm unbequem ift, weit er von 
ih. Empfindungen ind nicht jeine Sade. Selbit: 
beberrihung wird er nie lernen! Wir thun ihm 
den größten Gefallen, wenn mir ihn gehen lafien, 
weiter verlangt er nichts. Fordern wir zum Über: 
fuß nicht noch Brutalitäten heraus.” 

Er legte Elirrend den Xöffel auf die Untertaffe. 
z „Das fürchten Sie?” fragte er mit ftodendem 

tem. 

„IH fürdte es nicht, aber — ih bin barauf 
vorbereitet,” fagte fie langjam und lehnte fih in den 
Seljel zurüd. „Ich bin ficher, daß er im geeigneten 
Moment deflen fähig ift, denn eine unerzogene, un: 
gebärdige Natur, wie bie feine, kennt feine Schranken. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


148 


Deshalb vermeide ich jedes Aufeinanderplagen ber 
Gemüter.” 

„Wie Ichredlich !” 
lagte er es. 

Sie zudte die Adieln. 

„Lieber Sreund, ich habe mir das alles Kar 
gemaht, Konfequenzen gezogen und mich mit dem 
Reſultat abgefunden — o gut es eben geht. — Sfeber 
Irrtum rächt fih an uns felber, und da ih einen 
begangen habe, muß ich eben ftillhalten.” 

Er nahm medhanijh einen Schlud von bem 
beißen Kaffee, ohne e8 zu wiſſen. 

„Snädige Frau,” ſagte er tief bewegt, „Sie 
reden jo ruhig, das täufcht mid nidt. Taufend 
Schmerzen lauern hinter diefen fühlen, überlegten 
Worten.” 

Ein wehmütiges Lächeln zudte um ihren Mund. 

„Warum jol ih es leugnen. Shnen gerade 
leugnen! a, ich babe bittere Stunden durchge: 
madht bis zu dieler Refignation. Niemand kommt 
die Vernunft im Schlaf. Und ich Hatte fo vieles 
vor! Und fo gutes! Ych glaubte an meine Milfion. 
Nach geiftiger Anregung fehnte ih mich jo. — Seht 
will ich nichts mehr, als nur möglidht in Frieden 
leben, aber — dazu braude ih Sie!” 

Er wurde rot vor jchmerzlicher Freude. . Sie 
ahnte nicht, wie e8 um ihn ftand, aber menigitens 
war er ihr unentbehrlich. 

„Sie werden mid immer finden, gnädige Frau.“ 
Sie nidte wie felbitverftändlid. 

„Wenn ich ihn liebte, müßte es ja unerträglich 
für mid) fein — aber jo —” jagte fie leife, ganz in 
Gedanken vor fich Hin. 

Da beugte fi Fortunat weit zu ihr hinüber, 
auch er ſprach leiſe. 

„Aber wenn er Sie nun liebt — es nur nicht 
zu zeigen weiß . 

Sie war — der leichte Stuhl hinter 
ihr ſchlug zu Boden, wie im Entſetzen ſtreckte ſie 
beide Hände von ſich. 

„Nein, nein! Sagen Sie das nicht!“ flehte ſie 
keuchend. „Ich kann nicht — das kann ich nicht 
mehr! — Mag er thun, was er will — er hat Frei— 
heit — er hat Geld! Ich verlange keine Treue — 
aber das nicht! Das nicht!“ 

Sie war immer weiter zurückgewichen unter den 
Schauern des Schreckens, die ſie überrieſelten. Mit 
Grauen gedachte ſie der erſten Zeit ihrer Ehe. 

„Und wenn er Sie doch liebt?“ wiederholte 
Fortunat, bleich, mit zuſammengepreßten Lippen. 
„Doch!! —“ 

Sie ſtand jetzt zwiſchen den Marmorfigürchen, 
ſeinem Hochzeitsgeſchenk; ob in der Erregung oder 
mit Abſicht faßte ſie die Säule, die Martins Eben: 
bild trug, es ſah mit zärtlichen Blicken zu ſeiner 
Genoſſin hinüber, und dieſer Blick mußte ſie an 
etwas erinnern, das ihr grauenhaft war — ein Ruck 
— ein Fall — die Marmorfigur lag am Boden 
mit losgetrenntem Kopf und zerſplitterter Naſe. — 
Maud nahm ihr Taſchentuch und fuhr ſich über das 
Dee Seit. Mit einem Schlag fam ihr ihre Ruhe 
zurüd, 


Mit einem tiefen Seufzer 


749 Art zu Akt. 
„Die jhade!” fagte fie zu Fortunat. 
werden Sie mir böle fein!” 

Aber fie erihrat do, als fie in fein Geficht 
ſah. So viel Seligkeit, jo viel Glüd lag in diefen 
offenen Zügen, denen Verftelung unmöglich war, daß 
es ihr plößlich heiß vom Herzen in die Wangen ftieg. 

Kein Zweifel, er liebte fi. Auf einmal war 
e3 ihr Mar geworden. Er liebte fie mit einer 
großen, heiligen, felbitlojen Liebe. — Wie war e8 
möglich, daß fie e& nicht längft gemerkt! 

Plöglih wurde ihr fo froh, fo leicht ums Herz, 
als gäbe es Feine Traurigkeit mehr in der Welt, 
denn neben ber Freude, eine joldhe Liebe eingeflößt 
zu haben, hatte fie die Sicherheit, daß er nie — 
nie ein Wort darüber jprechen, daß feine Woge hod- 
gehender Leidenjhaft feine Gefühle je verraten werde. 
Und mit dem Egoismus ber Frau freute fie fi 
biefer Liebe, ohne ihrer Schmerzen für ihn zu ge 
denten. — 

Er ging früher als gewöhnlid. Obgleih Maud 
ihre volle Unbefangenheit ihm gegenüber längft 
wiedergefunden, fühlte er fich body in einem wunber: 
lihen Sturm der Gefühle und fürdhtete, fich zu ver: 
raten. 

Sie würde Martin alfo niemals lieben! Wie 
unredt war es, daß ihm dies Bewußtſein ſolch Troſt 
war! Tief traurig müßte er darüber fein und zum 
Guten reden, aber das vermodhte er nit. Schweigen 
fonnte er wohl, bodh nicht beucheln. — 

Und als er gegangen, blieb Maub noch lange 
in dem Zimmer, die Arme über dem Kopf gefreugt 
und dadte an ihn. 

Wie lange liebte er fie? Bielleicht Schon immer, 
und fie hatten es nur felbft nicht verftanden und 
Sreundihaft genannt, was Liebe gewefen? Wenn 
es anders geflommen wäre? — Sie wurde flammend 
rot, denn plöglih kam es ihr zum Bemußtfein, daß 
auch fie mit ihm verwacdlen war, jedes Gefühl, jeder 
Gedanke fi halb unbewußt an dem feinen maß. — 

Aber das war ja jhredliih! Sie war eine ver: 
heiratete, anfländige Frau, und mochten bie Ver: 
hältniffe no jo unglüdlih liegen, das blieb fie 
bob — und rein dazu... 

„Ich bin närriſch!“ fagte fie laut vor fich Hin, 
„ich liebe ihn ja gar nicht! Er ift mir notwendig — 
ein Freund! Und er wird jchweigen .. .. Jh will 
gar nit mehr daran benlen.” Sie dadıte aud 
niht mehr daran, nur bas tiefinnere Frohgefühl 
blieb ihr, und dagegen kämpfte fie nidtt. 


„Run 


Sehsundzmwanzigftes Kapitel. 


Über Heelen mar eine gemifle troßige Gleich: 
gültigkeit gelommen, feitbem er eingefehen, daß er 
fih niemals diefer Gejelichaft accommodieren würde. 
Er blieb wer er war, mochten fie e8 nun mit ihm 
halten wie fie wollten. Zubden fie ihn nicht mehr ein, 
ftraften fie ihn mit volllommener Nichtbeachtuug, ihm 
war e3 tet. Verlangien fie nah ihm, mußten fie 
ihn nehmen wie er war. Er wollte fich feine Kopf: 


Koman von H. Schobert. 


750 


Ihmerzen mehr darüber maden, was jhidlih war und 
was nicht, feiner Frau madte er ja doch nichts recht. 

Mit diefem Endrefultat feines Nachdentens nahm 
er au die Einladung des Prinzen auf die leichte 
Adel. Herrgott, ein Prinz war dboh aud nur ein 
Menih, und diefer noch dazu einer, der in Thon 
Inetete, gerade jo gut wie er und feine Kollegen. 
Daß er nicht allzuviel los hatte, wußte Heelen ein: 
fimmig aus jeinem Verein, aber bafür war er ja 
Prinz, nur durfte er nicht verlangen, daß er als 
Künftler allzuviel bedeutete. 

Vieleiht war es gerade dies Bemwußtjein bes 
Künftlers, was Heefen nicht dazu kommen ließ, die 
ungebeure Auszeichnung, die ihm durch den Prinzen 
geworden, reht zu würdigen, Maud wenigftens war 
fafjungslos über die Ruhe des Gatten, die ihr diesmal 
recht reichlich fehlte. 

Zu Hof! — Der Traum ihrer Mädchenjahre 
jollte fich verwirklichen; einer von denjenigen auf ber 
Menichheit Höhen trat ihr menjhlih näher. Sie 
wußte redht gut, daß fie diefe Auszeihnung nur dem 
Genie ihres Mannes zu danken hatte. Prinz Elimar 
war von der Centaurengruppe derart begeiftert, daß 
er Heelens Belanntihaft verlangt hatte. Der miß: 
achtete, überjehene Gatte war plöglich in ihren Augen 
emporgejchnellt, und mit einem gemiflen Gefühl des 
Stolzes hielt fie fiy dicht an feiner Seite. Sie hatte 
Jogar unterlaflen, ihm Verhaltungsmaßregeln zu geben, 
denn ihren erften und einzigen VBerfuh in bieler 
Richtung hatte fie aufgegeben, als er ihr mit einem 
furzen Laden und Kopfichütteln gelagt: 

„Sieb Dir keine Mühe, Maud, id bin wie ich 
bin! Am Thon fann man fragen und modeln, am 
Menihen nicht.” 

Es hatte fie beinahe gefreut, dies Selbitbewußt:- 
jein, denn es fiel ja mit der erften Auszeichnung zu: 
jammen, die fie ihm dantte. 

Der Prinz war ausgeluht gnädig, als er auf 
Heelen nach ber Vorftelung zutrat und ihm ehr viel 
Schönes und Schmeichelhaftes über feine Arbeit jagte, 
Maud mußte fih geftehen, daß fie erft jehr in zweiter 
Linie kam, troß ihrer Toilettenpradht. 

„Und nun will ih dem Kollegen aud mein 
eben vollendetes Werk zeigen,” fagte er und bot der 
Brinzeifin den Arm. 

Das war das Signal zu einem allgemeinen 
Zuge in das Atelier Seiner Hoheit, denn außer dem 
Heelenihen Ehepaar Tannte jeder Anmwelende des 
Prinzen Shwache Seite, mit feinen Arbeiten gewiljer: 
maßen zu pofleren und joviel Weihrauch entgegenzu: 
nehmen, al8 man ihm nur barbieten wollte. 

Cs war dies Feine landesgefährliche Pallton, 
deshalb gönnte man fie dem guten Prinzen auch 
ungeihmaälert, und hödftens in Künftlerkreijen machte 
man fi laut darüber Luftig. 

Bor einer grünen Wand aus Dleander und 
Tarus ftand die faft lebensgroße Figur eines ge: 
fellelten Sklaven. Matt und müde hingen die mit 
Ketien beichwerten Arme herab, matt war das Haupt 
auf die Bruft gejunten, Kraftlofigfeit lag befonbers 
in der Stellung der Füße zu einander. Die Kom- 
pofition war hübjh erdadht, bie Ausführung elend. 


— — — nn a ————— —— — — 


751 Art zu Art. 
Da war nichts, was fih auh nur im entfernteiten 
über den blutigften Dilettantismus hinaushob. 

Ale Anwejenden drängten herzu und braden in 
ein Gemurmel des Beifalld aus. Heeken drehte ſich 
um und blidte die nädhjften der Reihe nah an; er 
jelbft ſchwieg. 

„Nun?” fragte Prinz Elimar läcelnd, „wie 
gefällt Ihnen das?” 

Der Blid des Bildhauers heftete fih auf das 
feine, aber unbedeutende Geficht des Prinzen. 

„sragen Hoheit den Kollegen? Den Künftler?” 

„Zen denn jonft?” Er wurde etwas nervös 
und trat von einem Fuß auf den andern, als wittere 
er etwa& Ungeheuerliches, Häßliches. 

„Dann fage ich, daß das Ding da ein Schmarren 
ift — nicht wert den Marmor und den Meißel, den 
man darum angejett bat.” 

Der Prinz griff einen Augenblid an feinen Hals, 
das Blut jhoß ihm in das Gefidt. 

„Ste haben ein jehr hartes Urteil, Herr Heelen.” 

„Richt mehr, als ih vor meinem Gewiflen ver: 
antworten fann. Sehen Sie, Hoheit, das ijt ja 
alles unridhtig, falihe Maße, feine Anatomie bes 
Körpers, niht Saft noch Kraft. Wenn das einer 
von uns gemadht hätte, es wäre ja eine Schande.” 
Er hatte fih ganz erregt geiprocdhen, feine Augen 
funfelten, der Künftler in ihm war erwadt. 

Defto fahler jah der Prinz aus, mit ihm die 
ganze Gelelihhaft, die in Todesjchweigen verharrte. 
Maud war halb ohnmädhtig. 

„hr Urteil fteht in Schreiendem Widerfpruch zu 
dem Shrer gleichwertigen und berühmteren Kollegen,” 
lagte Prinz Elimar endlih jharf. „Das ift doc 
wunberlich.” 

„Hoheit glauben am End’, id beneide Ihnen 
dies Machwerf,” meinte Heelen aufladhend. „Aber 
nein, davon bin ich weit entfernt. So was, wenn 
ih e& zumege gebradt hätte, das hätte nicht lange 
das Sonnenlicht gejehen. Fort damit! hätte ich mir 
gejagt! — Und warum es Yhnen die andern loben? 
a, Hoheit, ih bin eben ein ehrlicher Kerl, ich jage, 
was ich denke, die andern haben es vielleicht nicht 
gewagt. Aber die dee ift gut — wirklich jehr gut. 
Daraus hätte etwas werden Tönnen in anderen 
Fingern. Hoheit nehmen mir meine Freiheit dod 
nicht übel?” — 

Er jah jo treuherzig aus, als er das jagte, daß 
es manden entwaffnet hätte, den Prinzen nicht, 
dazu war er nicht großherzig und nicht talentvoll 
genug. Er hörte nur den Tadel vor der ver: 
fammelten Gelellihaft und fühlte die fehr ple: 
bejijhde Anwanblung, diefem unberufenen Spreder 
den Hals zuzudrüden. Mit dem Eälteflen Hochmut, 
beilen er fähig war, fah er auf ihn herab. 

„Sie können nicht verlangen, daß ich alle Au: 
toritäten Ihnen unterordne, Jhnen, dem eben erft 
Gemworbenen; obgleich ih durhaus nicht leugne, daß 
Shre Gruppe Vorzüge befitt — hm — mancdherlei 
frappierende Einzelheiten — hm — finde ih Gie 
A a vorjchnell im Urteil, worauf begründen 

ie das?” 


„Auf meine Augen, Hoheit, ih Tann jehen,” 





Roman von 9. Schobert. 752 


antwortete Heelen jchnell. „Und ich fan es auch befler 
maden, Hoheit! Sol ih Ahnen Shre Figur ba 
vormachen?” 

Seine Augen bligten vor Begierde, der Prinz 
— — ihn keiner Antwort, ſondern wandte 

ch ab. 

„Ein ganz unmöglicher Menſch!“ hörte Maud 
ihn zu ſeinem Hofmarſchall ſagen, und dann wurde 
es plötzlich leer um ſie beide, erſchreckend ſchnell und 
erſchreckend gleichmäßig. 

„Tino!“ flüſterte Maud totenblaß. „Was haſt 
Du gethan! Prinz Elimar kann nur Lob vertragen.“ 

„Warum hat er mich gefragt,“ ſagte er eigen— 
ſinnig, obgleich ihm anfing unheimlich zu werden 
inmitten der Leere, die ſie umgab. „Ich habe nur 
die Wahrheit geſagt.“ 

„Aber um die war es ihm nicht zu thun, er 
fragt doch nicht deshalb.“ 

„Dann ſoll er ſich einen andern ausſuchen als 
Martin Heeken.“ 

„Aber ich!“ ſagte ſie ganz troſtlos. „Ich!“ 

Da blickte er zu ihr nieder und ſah, daß ſie 
weinte. 

„Armes Weib,“ ſagte er in einer Anwandlung 
von Mitleid. „Haſt Dich arg verrechnet mit mir,“ 
— dann maß er den Abſtand, der ſie von den andern 
trennte. „Ich gehe nach Hauſe, ſie ſollen ſich nicht 
mehr über mich ärgern, ich will arbeiten, will ihnen 
zeigen, daß ich kann, was ich ſage. Kommſt Du mit?“ 

„Um Gottes willen, mache es nicht noch 
ſchlimmer,“ flehte ſie. „Eine Ungezogenheit durch 
die zweite gut machen geht nicht. Vielleicht findet 
ſich noch nachher ein Augenblick, wo Du Dich beim 
Prinzen entſchuldigen kannſt.“ 

Er richtete ſich hoch auf. 


„Ich mich entſchuldigen? Für meine ehrliche 


Meinung? Für die Wahrheit? Ja, bin ich denn 
ein Lakai? Ich will gewiß nichts von ihm und 
ich gehe.“ 


„Wenn Du durchaus willſt? Die Geſandtin 
nimmt mich wohl unter ihren Schutz,“ ſagte Maud, 
die Thränen trocknend. 

„Soll ich Dir Fortunat ſchicken?“ 

Sie ſchüttelte heftig den Kopf und jah ihm 
nad wie er eiligft davonging. 

„Poor child!“ fagte die Gejandtin und 309 
Mauds Arm dur den ihrigen. „Sie find ganz 
blaß, fein Wunder bei all den Aufregungen. Und 
nun ift er fort? Laſſen Sie ihn laufen, den Un— 
menſchen! Sie paſſen ja gar nicht zuſammen.“ 

Aber trotz alles Ärgers und aller Erregung war 
Maud nicht ſo empört über ihren Mann, wie ſie es 
eigentlich ſelbſt glaubte ſein zu müſſen. Er hatte ihr 
imponiert. Und dann nannte man ihn zwar einen 
Bauerntölpel, allein auch genial und eigenartig, das 
war Balſam auf ihre Wunden. — 

Als Maud früher, als ſie ſelbſt erwartet, aus 
dieſer Geſellſchaft nach Hauſe kam, zauderte ſie ein 
Weilchen auf dem Hausflur, bis ſie das erſtaunte 
Geſicht Friedrichs bemerkte, da winkte ſie haſtig mit 
der Hand. 

„Gehen Sie hinauf, ich komme nach.“ 


1753 Art zu Art. 
Dur die großen Fenfter der Hinterthür hatte 
fie Licht auf den Hof fallen jehen, das fonnte nur 
aus dem Atelier ihres Mannes Tommen, aljo mußte 
er arbeiten. Eine leidenfhaftliche Neugier, ihm un: 
gejeben zuzufehen, padte fie plößlich. 

Und das ging jo leicht. 

Bom Garten aus gelangte man über eine Treppe 
ebenfalls in das Atelier. Die Thüre hatte von außen 
feinen Drüder, jondern Eonnte nur mittelft eines 
kleinen Schlüffels geöffnet werden, den ein jeder des 
Ehepaars bejaf. 

Maud hatte ihn natürlich nicht bei fih, denn 
die Soireetoilette erlaubte dergleihen Befradhtung 
nit, aber von der Mitte der Treppe aus fonnte 
fie das Atelier überbliden und jehen, ob ihr Mann 
arbeitete, vorausgelegt, daß die Vorhänge nicht ge: 
Ichlofien waren. 

Schnell und geräujchlos ftieg fie in die Höhe. 
Eine Scheibe war unbededt, wie fie es bei dem 
hellen Lichtihein vorausgejegt, und er ftand vor 
einem balbhohen Blod und Inetete eifrig an einem 
großen Klumpen Thon, der darauf lag. 

Die Manfchetten hatte er zu Boden geworfen, 
Halstragen und Schlips ihnen zugejelt, aber den 
FSrad auszuziehen vergeflen. Er mußte es alfo nicht 
haben erwarten fönnen, bis er begann. 

Das elegante, auf Seide gearbeitete Kleidung: 
ftüd zeigte wüfte Fleden; es war mit derjelben Nicht: 
ahtung behandelt wie früher fein altes zerrifienes 
MWolhemd. Das jorgfältig frifierte Haar ftand zu 
Berge, das Gefiht war rot und heiß, die Bewe: 
gungen aber von ftraffer Eraltität, fiher und ziel: 
bewußt. 

Noch konnte Maud nichts aus dem Thonklumpen 
ertennen, aber fie jah, daß ihren Mann der Geilt 
trieb, daß er völlig aufging in dem, was er jchuf, 
daß Herz und Seele bis zur Selbitvergeilenheit dabei 
beteiligt waren. 

Er hob den Arm und wilchte den Schweiß von 
der Stirn. An diefem Augenblid ftörte fie die Be: 
wegung nicht. Nicht der Menich Stand vor ihr, jondern 
der jchaffende Künftler. 

Neid regte fih in ihrem Herzen. Es gab alio 
doh etwas auf Erden, was den Menjcdhen auszu: 
füllen vermodte bis in die tiefiten Tiefen, jo daß 
für nichts anderes Raum blieb; es gab etwas, das 
ihn hoch hinaus hob über das Srdiihe. Und mochten 
es felbit nur Stunden jein, ihr düntten fie jo Löftlich, 
daß es wert war, alles andere dafür zu opfern. 

Sie ftand auf der Falten, zugigen Treppe und 
fah ihm zu. Der Mantel jhüste fie zwar von oben, 
aber die Füße in den feidenen Strümpfen und Atlas: 
Ihuhen froren. Warum blieb fie denn auch bier 
ſtehen? Gehörte fie nicht zu ihm? War dies nicht 
die Stunde, um berentwillen fie das ganze Kreuz auf 
fih genommen? Hatte fie nicht ein Recht darauf, 
für alles, was fie ihm gegeben, neben ihm zu ftehen? 
— Gie flieg vollends hinauf und Flopfte mit dem 
Fächer gegen die Thür. Er hörte es nidt. Auch 
nicht das zweite Klopfen. Erft beim dritten Mal riß 
er mit einem Fluch die Thüre auf. 

„Du!” jagte er lang gedehnt und faßte ih an 


RomansZeltung 1896. 


Roman von 9. Schobert. 


154 


den Kopf, als müfle er fich erft überzeugen, daß er 
nicht träumte. 

Sie legte den Finger an die Xippen, deutete 
auf den Thonkloß und Ichlich fich Leife in den Winkel 
zu den Stühlen. 

„Laß Dich nicht ftören,” hieß das, aber ihr Er: 
Iheinen allein hatte ihn Ihon aus der Stimmung 
geriflen, er ftrich mehrmals ungeduldig das Haar zurüd. 

Dann begann er doch wieder zu arbeiten. Nicht 
mit jo glübender Hingabe wie vorhin, aber er ver: 
ſuchte es doch wenigſtens. 

Maud ſaß ganz ſtill in ihren Mantel gewickelt 
und ſah ihm zu. Mit großen Augen blickte ſie auf 
ſeine Hände, ihr war es, als höre ſie die Schwingen 
des Genius, der ihrem Mann die Stirn küßte. Es 
war kalt im Atelier, aber das focht ſie nicht an, ſie 
dachte auch, ob wohl Martin ſchon etwas gegeſſen 
haben möchte, aber unterbrochen hätte ſie ihn auf 
keinen Fall in ſeinem Schaffen, ja, ſie hielt faſt den 
Atem an. 

Alſo endlich kam die Erfüllung ihrer Sehnſucht, 
endlich! 

Aber ſeitdem Martin ſeine Frau hinter ſich 
wußte, hatte ſich zu der raſenden Schaffensfreude, 
die ihn zuerſt gepackt hatte, ein peinigendes Un— 
behagen geſellt, und das wuchs und wuchs, von 
Minute zu Minute. Wie gelähmt kam er ſich plötz— 
lich vor, und daß ſie ſich ſo ruhig verhielt, verſtärkte 
noch den Bann, der langſam auf ihn herabſank. 
Die alte Unmöglichkeit, zu arbeiten ſobald jemand 
um ihn war, kam wieder und quälte ihn. 

Er ſeufzte ungeduldig und ſah ſich nach ihr um. 
Ohne ihr Dazwiſchenkommen hätte er die ganze Nacht 
gearbeitet, nun dünkte es ihn plötzlich, als wären 
ihm die Glieder ſchwer, die Augen müde. 

Sie merkte ſeine Abſpannung und Unruhe, ſtand 
auf und ſtellte ſich neben ihn. 

„Was ſoll das werden?“ fragte ſie, mit einer 
gewiſſen Ehrfurcht auf den Thonklumpen ſehend. 
„Ich freue mich ja ſo, daß Du wieder arbeiteſt, 
Tino.“ Und dabei legte ſie ihre Hand auf ſeinen 
Arm und ſah ihn voll warmen Enthuſiasmus an. 
Jeder Gedanke an die Scene beim Prinzen war in 
dieſem Augenblick vergeſſen. 

Hätte er ſie nur verſtanden! Hätte er nur ein— 
mal in ihre Seele hineinfühlen können; vielleicht 
gab es dann doch irgendwo eine Brücke, die ſie 
beide zuſammengeführt hätte, denn wenn ſie auch in 
Äußerlichkeiten kleinlich war, im Empfinden kühl, in 
ihrem Willen ſchroff, ihre Liebe zur Kunſt war eine 
aufrichtige, ehrliche, begeiſterte. 

Er reckte die Arme aus. 

„Ich bin müde,“ ſagte er ſtatt aller Antwort. 

„Was ſoll das werden?“ fragte ſie noch einmal. 

Er riß an ſeinem Bart. Schon darüber zu 
ſprechen, war ihm unangenehm, dennoch wagte er 
nicht, es ihr abzuſchlagen. 

„Warum willſt Du das wiſſen?“ fragte er nur. 

„Weil ich Deine Schöpfung mit erleben will, 
Zug um Zug. Ihr folgen in jeder Linie, jedem 
Ausdruck. Lieber Tino, ich will eben teilnehmen an 
Deinem Schaffen.“ 


IV. 53 


155 Art zu Art. 
Er jeufzte tief auf. Vorbei war es mit feiner 
Kraft, feiner in allen Adern pridelnden Freude, als 
er vor Stunden bier bereingeflürmt, nur halb noch 
Menih und auf Erden, halb jhon in jenem Taumel 
der Sinne, die niemand begreift ale eben der 
Schaffende. Der jchwere, graue Zwang lag wieder 
atemraubend auf ihm. „Werde ich e8 nicht über: 
winden?” fragte er ſich beklommen. 

Sie jah ihn erwartungsvol an. Neben allem 
Zorn, den er empfand, dauerte fie ihn doch, weil er 
wohl fühlte, daß fie fih eben in allem, was ihn be 
traf, jo jehr verrechnet Hatte. 

„Ih mobdelliere die Statue von dem Prinzen.” 

„Dachte ich es doch,“ jagte fie traurig. 

Er jah fie erftaunt an. 

„Warum fagit Du das fo Jonderbar?” 

„Weil ich es nicht begreife, daß Du jekt nur 
Nahichaffer jein wilft, Du, der imftande war, aus 
ih jelbit heraus ein Kunſtwerk zu jchöpfen wie 
Deine Gruppe if. Und dann — mas hat es für 
einen Zwed? Man wird es Dir verargen und Dich 
no mehr beileite zu jchieben juchen als es nad 
Deinem heutigen Auftreten ohnehin geichehen wird. 
Rehabilitiere Di wieder; Tchaffe etwas Neues, 
Großes, das man nicht überfehen Fann, jelbft wenn 
man will. Zeige Dih als derjenige, als der Du 
uns erſchienen biſt.“ 

Sie hatte den warmen Mantel abgeworfen und 
ſtand vor ihm in dem hellen Seidenkleid, mit funkeln— 
den Brillanten und blühenden Blumen überdeckt; ihre 
Augen leuchteten, Begeiſterung klang aus jedem Wort. 
Unwillkürlich riß ſie ihn mit ſich. 

„Du haſt recht!“ ſagte er. 

Schwer ſauſte ſeine Fauſt herab und auf den 
Thon, der ſofort zu einer unförmlichen Maſſe zu— 
ſammenſank; jede Spur einer ſchaffenden Hand an 
ihm war vernichtet. Dann fuhr er ſich mit den 
Händen durch das Haar. 

„Und nun laß mich allein,“ ſagte er ſchwer 
atmend, „ganz allein!“ 

Sie umklammerte ſeinen Arm. 

„Nein, das ſoll nicht ſein! Ich bleibe bei Dir, 
Tino — ſprich! — ſage mir Deine Pläne, zeige mir 
den Weg, den Dein Genie einſchlagen will; laß mich 
nicht rechtlos und neidvoll daneben ſtehen . . .“ Ihr 
Kopf ſank gegen ſeine Schulter, Thränen ſtiegen in 
ihre Augen, ihr war es, als kämpfe ſie um ihr höchſtes 
Gut mit ihrer ganzen Kraft, ihrem ganzen Willen. 

Wie erwachend ſah er herab auf den geſenkten 
Kopf an ſeiner Schulter und alles Feuer erloſch in 
ſeinen Augen. Er hätte ihr ja gern jeden Gefallen 
gethan, nur dieſen einen — das konnte er nicht, es 
war ihm ja ganz unmöglich. Warum begriff ſie das 
nicht? Er zuckte ungeduldig mit der Schulter, und ſie 
hob den Kopf und ſah ihn an. Da wußte ſie ſchon, 
daß ihre Bitte vergeblich geweſen. 

„Ich weiß nicht,“ ſagte er unruhig, „wie Du 
Dir nur vorſtellen kannſt, daß das, was ich Dir ſage, 
zu irgend einer Verſtändigung dienen könnte — es 
entweiht mir nur das, was ich in Gedanken habe. — 
Nur im Schweigen gewinnt etwas Großes allmählich 
Geſtalt, um dann endlich an das Licht zu kommen, 


Roman von H. Schobert. 


756 


warum willſt Du mir durchaus das Schweigen 
nehmen, es iſt mir Naturnotwendigkeit.“ 

Sie ſah ihn an, mit maßloſem Staunen über 
das, was er ihr eben geſagt. Woher kamen dem 
ungebildeten Menſchen, auf den ſie manchmal ſo ſehr 
herabſah, ſolche Gedanken und Empfindungen? Trug 
ſie ihm das Genie auf ſeinen Schwingen zu? Hatte 
ſie nur die Möglichkeit, ſich demütig zu beugen? 
Schweigend ergriff ſie die Schleppe ihres Kleides, 
und mit einem leiſen „Gute Nacht“ ging ſie in ihre 
Zimmer. Verſtimmt blieb er zurück. Die Luſt am 
Arbeiten war ihm wieder einmal gründlich verdorben, 
und für lange Zeit, das fühlte er. Vielleicht war 
es auch heute abend nur ein Anlauf geweſen, der ſich 
bald im Sande verlaufen hätte, denn „Nachtreterei“, 
wie er es jetzt ſelbſt nannte, war doch nicht ſeine Sache. 

Er führte noch einen wuchtigen Hieb nach dem 
Thonklumpen, als wollte er damit ſein Herz er— 
leichtern, aber es blieb ſcwer. Auch daß ihm Maud 
zürnte, bedrückte ihn, und das mußte ſie ja wohl 
nach dem, was er ihr geſagt. Aber er konnte es 
nicht ändern, es lag in ſeiner Natur, obgleich ſie 
heute gut zu ihm geweſen war, trotzdem ſie ſich doch 
wohl ſehr geärgert hatte beim Prinzen. Er ſeufzte tief. 

Ach, nur heraus können! Heraus aus all dieſem! 
In eine einſame Gegend, in ein kleines Haus mit 
Sonnenſchein, viel Sonnenſchein auf dem Dach und 
einer einfachen Frau darin, die er lieb hatte und die 
ihn nicht quälte mit allem möglichen. — 

Ein Traum war es, und ein Traum blieb es — 
er mußte eben ſtill halten. — — — 

Aber die düſtere Stimmung, die ſich ſeiner be— 
mächtigt hatte, hielt ar. Seit Tagen hatte er feinen 
Blid mehr in jein Atelier geworfen, in zmwedlojer 
Müpigfeit brachte er die Stunden auf der Chaile: 
longue in jeinem VBorzimmer zu, und flarrte auf 
feine Gruppe, bie, in Heinem Maßltab, in Marmor 
ausgeführt, die eine Ede Ihmüdte. 

Dabei famen ihm jo allerlei Gedanken. — Hatte 
Fortunat nicht Damals, als er fie zuerft gejehen, von 
einer Allegorie gejprohen? Von der Macht des Weibes, 
die wei und unmerklich, daher unmiderjtehlidh, den 
Mann umfhlingt, ihn feiner" Kraft beraubt und zu 
Boden, ja in den Tod zwingt? War es ihm nicht 
auch To gegangen? — Das Weib mit ihrem Reichtum, 
das ihn ermwählt hatte, weil es ihr jo gefiel, batte 
auh feine Mannestraft mit immer feiteren und 
engeren Banden gelnebelt, hatte ihn zum Schwädling 
gemadt, und jo würde e8 nun weitergehen, immer 
weiter, fo lange fie wollte. — Und er hatte fich nicht 
wehren können, denn jeine trogige Energie war gar 
nicht herausgefordert worden. — Aber jein Künitler: 
ftolz, fein großes Talent .. . wo war das bin: 
gefommen? Einfadh geitorben? — Es fror ihn wie 
im Fieber, wenn er daran und an bie öde, entjegliche 
Zukunft dachte. 

Als er Maud zum erſten Mal geſehen, da hatte 
ſie ihn an die Schlange erinnert — warum ließ er 
ſich nicht warnen? 

Er ſprang auf und ſtellte ſich vor ſeine Gruppe, 
ſeine Blicke hingen an dem Schlangenkopf, dem ge: 
ſchmeidigen Leib und ſprühten Haß. 





157 Art zu Art. 
„Rilit Du mich verderben?” zijchte er leife und 
ballte die Saul. „Du — mid? — ch bin ja viel 
mehr als Du! — %h könnte Did ja erwürgen — 
und dann frei fein — frei!” — 

Er ftredte die geipreizten Finger nad) dem 

Schlangenhalse aus. MBlöglih hatte er Die idee, 
wenn er diejen bier zerbräde, dann würde aud 
gleichzeitig ein anderer damit getroffen und zeritört 
werden, ebenfo fein, ebenjo beweglih ... . 
Sn bdemielben Augenblid fiel im Itelier ein 
Stod zu Boden, entjegt, ganz veritört fuhr Heeken 
von feiner Gruppe zurüd und jah mit bebenden 
Gliedern auf die geichloffene Thür, die fih jekt 
öffnete — Emil ftand auf der Schwelle. 

„Bas monologifierit Du denn bier?“ fragte er 
mit einem forjhenden Blid dur den leeren Raum. 
„IH dachte Ion, Du mwärft nit allein.” 

Tief aufatmend jette id Martin nieder, Talter 
Schweiß ftand auf feiner Stirn. 

„Wie bift Du hereingelommen?” fragte er beiler. 

Emil lachte. 

„Du haft ein kurzes Gedächtnis, mein Lieber. 
Gabft Du mir nit vor ein paar Abenden jelber 
den Schlüffel zu Deinem Utelier, als ih Dich nad 
Haufe lotfen mußte? An demjelben Abend, an dem 
wir Brüderfchaft tranlten?” 

„Richtig.“ Heeken ſtrich fi über die Stirn. 
„Mir ift mandmal mein Gedädtnis etwas jhmwach 
jebt . . .“ 

„Du fiehft Ichledht aus,” beftätigte Emil nad 
prüfendem Aufblid, „das viele Grübeln bekommt 
Dir nit, Martin. Du brüteft wohl über neuen 
Entwürfen, denn daß Du noh nichts angefangen 
haft, fehe ih, der Thon ift fteinhart.“ 

Heefen jehüttelte den Kopf. 

„Unter uns gelagt,” fuhr Emil fort und blies 
eine volle Ladung Raub von fih, „Du haft ganz 
vet, ich madte es auch nicht anders. Wozu hat 
man denn eine reiche Frau, wenn man. fi nod 
weiter fchinden wil. Das ift gut genug für arme 
Teufel. Du — wenn Dir gerade mal was Be- 
fonderes auffteigt, dann mobdellierft Du, bis dahin 
ruht Du aus. — Daß Du was kannt, haft Du ja 
gezeigt — ber Teufel hole alle unnötige Schinderei!” 

Er fland auf, firedte erft das linke, dann das 
rechte Bein, damit die Holen in richtigen Sit Tamen, 
und jchlenberte in das Atelier; man hörte ihn darin 
rumoren. Endlid fam er mit ein paar Studien: 
blättern zurüd; Arme und Beine in verjchiedenen 
Stellungen, mit verjhhiedenen Mustelitraffungen. 

„Borg’ mir fie ein paar Tage, Martin, id 
glaube, ih Tann eine lumpige Kleinigleit davon 
brauchen, ich bin immer nod im Kampf mit meiner 
vertradten Figur. Vielleiht paßt es aud nid — 
jedenfalls fannft Du übermorgen alles wiederhaben.“ 

Heefen nidte. Er wußte ganz genau, daß ihn 
Emil auf diefe Weile auf das erbärmlidhfte aus: 
nußte, daß er ganz Shamlos ftahl, wo er nur Tonnte, 
und daß feit feiner Freundichaft mit ihm fi Duenjels 
Eünftlerifjcher Nuf bedeutend gehoben hatte, aber er 


Roman von H. Schobert. 


158 


war zu gleihgültig, fi) Dagegen aufzulehnen, und 
andererjeits hatte er ein unendlich empfindliches Ge: 
wiflen. Der Gedante, daß er die Braut genommen, 
die jener fich erwählt und vielleicht ohne jein Da: 
zwilhenfommen auch befommen hätte, ließ ihn manches 
unterdrüden, zu dem er jonft wohl nicht jo leicht Ya 
gejagt hätte. Der Heelen von ehemals wenigftens 
fiher nicht. — 

„Ich bin Deiner Frau vorhin begegnet — mit 
Fortunat,” fagte Emil, die Blätter zufammenrollend. 
„Sie jah großartig aus. Wo ift fie hin?” 

Seelen fah ihn erflaunt an. 

„Weiß ih denn das?” 

„So, fo, nit! Sch dachte. Fortunat ift Dir 
doch jehr bequem, Kerl, auf ben jchiebft Du alle 
ehemännlidhen Laften ab.” 

„Bott jei Dank!” jagte er aus tieflter Bruft. 
Und dann fügte er von felbit Hinzu: „Weißt Du, 
Emil, heiraten und heiraten, das ift am Ende zweierlei.” 

„Du meinft, der eine hat eine Frau, deren Sklave 
er tft, der andere eine, bie jeine Sklavin ift, nicht 
wahr?” 

„So ähnlih, das ift möglih!” Er ftrid fi 
über die Stirn und warf einen jchnellen Bid auf 
die Schlange. 

„Ja, mein Lieber, das kommt von ben reichen 
Heiraten. Aber Ichließlihd — Du haft es no be: 
quem, Du haft Fortunat.” 

Seelen jeufzte jchwer auf. Wäre er nur allein 
— nur frei — die andern mochten bleiben, wofie wollten. 

Emil deutete den Seufzer faljch. 

„Sa, Heeten,” jagte er vorfidhtig, „allzu beutlich 
darift Du es nicht werden lafen — der Welt gegen- 
über meine id — das geht dann nadher an die Ehre.“ 

Der Bildhauer Jah ihn einen Augenblid ver: 
ftändnislos an, dann fjchien ihm eine Ahnung zu 
dämmern, er ladte auf. 

„Du, nein, das ift nichts. Da Tann feine Ver⸗ 
leumdung beran. Das find andere Menfchen als 
Du, darum jchlafe ich ruhig.” 

Emil pfiff durd die Zähne. 

„Kommit Du heut abend?” 

„Rotürlid, was fol ich denn fonft maden — 
morgens bin id zwar danach) immer todmübe — kann 
gar nichts arbeiten, aber Du haft recht, das eilt ja 
audh nit — eilt gar nicht.” Und er warf fidh 
wieder auf die Chaifelongue zurüd und fchloß bie 
Augen. „Du, jolh eine reihe Frau ift eigentlich 
etwas jehr Bequemes — ehr Bequemes. Findeft Du 
niht? Man verliert ale Kraft zum Arbeiten und 
die Luft dazu. — Sa, die Luft babe ich gründlich 
verloren.” — 

„Und das jollte ein Genie fein,” dachte Emil 
verähtlih, als er nah Haufe ging. „Ein lahmes 
Genie — wahrhaftig. Das Geld hat ihm die Flügel 
recht bald gebrochen.” 

Er wußte nicht wie Heelen jeufzte, wie zerfallen 
er mit fih war, wie tief, tief unglüdlid. — Und 
hätte er es gewußt, er hätte doch nur Idhadenfroh 
gelacht. (Fortfegung folgt.) 


———an,— 


159 Schwertklingen. 








Roman von Hans Werber. 





760 


Schwertklingen. 


Baterländifher Noman 


bon 


Hans Werder. 
(Fortſetzung.) 


Ob Renate weinen konnte! 
ſehen können! — — 


In Berlin waren über die Schickſale des Schill⸗ 
ſchen Korps unzählige Nachrichten eingetroffen, erſt 
entſtellt bis ins Ungeheuerliche, dann immer zu— 
verſichtlicher der traurigen Gewißheit entſprechend. 
Der Schmerz, welchen Renate empfand um den 
ſchauervollen Tod des bewunderten Freiheitshelden, 
der ihr perſönlich ſo wert und lieb geworden war, 
der verzweiflungsvolle Jammer ſeiner unglücklichen 
Braut, den ſie in redlicher Freundſchaft mit ihr 
teilte, das war ein Gram, der ſich wie Bergeslaſt 
auf ihr bis dahin ſo glückliches Leben ſenkte! Und 
nicht genug an dieſer einen Totenklage! Wie viele 
der jungen, lebensfrohen Männer, mit denen ſie vor 
kurzer Zeit ſo heiter gelacht und getanzt — ſie 
waren gefallen an der Seite ihres Führers. Und 
ſchlimmer noch — ſie waren verſchollen, in der Ge— 
walt des Feindes, in den grauſamen Fängen des 
blutdürſtigſten aller Raubtiere! — Albert Wedell, 
der Knabe, der ſtolze, feurige Geſelle mit ben hell: 


Ja, hätte er ſie 


blauen Augen — was war aus ihm geworden? 
Verſchollen — gefangen! 
Und Haſſo! Als ſie's nur erſt über ſich ver: 


mocht, nach ihm zu fragen! Niemand wußte Genaues 
von ihm! Unter denen, die „zur Gnade des Königs“ 
zurückgekehrt, war er nicht! Irgend jemand aber 
hatte einen der Herren nach ihm gefragt, und nach 
deſſen Ausſage ſollte er die „Affaire am Franken— 
thor“ noch mitgekämpft haben, dann aber unterwegs 
zurückgeblieben ſein, ob tot, ob verwundet — niemand 
konnte es ſagen. 

Ach, gewiß war er tot! Und ſie hatte ihn ge— 
kränkt — ihm das bitterſte Unrecht angethan! Als 
er die Wahrheit geſprochen, das Rechte gewollt, ſeine 
Überzeugung verteidigt mit Mannesmut — da hatte 
ſie ihn der Feigheit beſchuldigt, an ſeiner Ritterehre 
gezweifelt! 

Und er hatte recht behalten, zehnfach recht, die 
blutige Geſchichte hatte es bewieſen! Und ihrem er— 
bärmlichen Mißtrauen zum Trotz war er ſtolz und 
freudig mit hinausgezogen, ſein Leben in die Schanze 
ſchlagend für eine Sache, die er von Anbeginn für 
verloren hielt! 

Und nun gewiß war er tot! Die martervolle 
Reue und Herzenspein bes verlafienen Mädchens, 
das ihn im Zorn, ohne einen Blid der Liebe, der 
Verlöhnung hatte hinausziehen laffen in Kampf und 
Tod — die ohnmädhtige, verzweifelnde Reue — bie 


raunte ihr die Gemwißheit ins Ohr und ins Herz 
hinein — bei Tag und Naht. Und nun dies ftete 
Anhörenmüflen al der Erörterungen über Schill, 
feine That und feinen Untergang! Das Tabdeln 
und Richten von allen denen, die ihn einft ermutigt 
und ihm zugejaudzt, das war eine Dual, bie über 
die Tragfähigkeit ihres warm empfindenden Herzens 
binausging. Herr von Veldegg befürchtete ernitlich 
ein MNervenfieber oder ähnlihe Gefahr für feine 
Tochter und jann darauf, fie den ftets erneuten Auf: 
regungen zu entziehen. Er wünjchte fie fortzubringen 
von Berlin, in andere Umgebung, zu neuen Ein: 
drüden, die fie beruhigen und von ihrem Gram ab: 
lenfen könnten. Renate wollte anfangs nichts davon 
hören, ihre Freundin Elife nicht verlaffen. Das war 
ja das legte, mas fie ihrem toten Freunde, dem 
ritterlihen Helden verfproden. Als aber nun aud 
Frau von Rüchel fih anjchidte, mit ihrer trauernden 
Tochter das heiße, unruhige Berlin zu verlaflen, um 
ein Verwandtenhaus in Pommern aufzufuhen — 
da folgte Renate gern dem Wunjche ihres Vaters. 


Zu ihrer Schweiter brachte er fie, auf das Con⸗ 
reuthihe Landgut Tiefenfee. Ein ftattliches, herr: 
Ihaftliches Wohnhaus, maleriih von Wäldern um: 
\hattet, am ftillen, grün umfränzten See gelegen, 
ber träumeriih das anmutige Spiegelbild zurüdwarf 
— das war Yuliens Herriherfiß, das Sommerbheim, 
in bem Renate Aufbeiterung und Erholung finden 
jollte. Ein Meines, behaglihes Gemah, mit dem 
Blid auf Wald und See hinaus, bewohnte fie für 
ih allein. Vater und Schwefter umgaben fie mit 
liebevoller Pflege, der ritterlihe Schwager verwöhnte 
lie auf jede erdenklihe Weile. Da mußte fie wohl 
genefen und wieder lernen, zu lächeln und dankbar 
zu jein. Shren Schmerz, ihre Angit und Reue grub 
fie tiefer in ihr Herz hinein und vertraute ben 
tillen, nagenden Kummer nur den filbernen Wellen 
bes Gees, den raufhenden Wipfeln des Waldes an. 
Und wie fie dort wandelte, aus der Nähe der Menfchen 
fort in die Waldeinfamkeit hinaus, fchlant und blaß, 
mit dem flunmen Xeid in den großen Augen — da 
glih fie freilih der weißen, betauten Xilie, auf 
melde Haljo mit jchmerzliher Frage nieberfchaute 
während jeiner einfamen, fummervollen Fahrt. 


—e— — — — — — — — — — —— — — 


761 Schwertllingen. 


DI. 


Sn Pommerjh:Stargarb trat unter dem BVorlit 
des Generals der Kavallerie, Ercellenz von Blücher, 
das Kriegsgericht zufammen, beftehend aus Offizieren 
aller Grade, achtzehn an der Zahl, und einem Re: 
giments⸗Auditeur. 

Hier wurde Gericht gehalten — zunächſt über den 
Major von Schill, wegen Verleitung königlicher 
Truppen zur Deſertion — und Landfriedensbruch. 
Er konnte nicht kommen, ſich zu verteidigen, auch 
nicht, um die Strafe auf ſich zu nehmen, die „ſo 
ſchwer ſein ſollte, wie ſein Verbrechen beiſpiellos 
war —“ denn er war tot! Mit Strömen Blutes, 
aus zahlloſen Wunden rinnend, hatte er die Schuld 
geſühnt, die er auf ſich geladen. Auch in den Augen 
ſeines Königs, denn dieſer milderte den Spruch des 
Kriegsgerichts dahin ab, daß der Deſertionsprozeß 
gegen ihn nicht ſtattzufinden habe. So blieb der 
geheiligte Name des gefallenen Helden davor be- 
wahrt, an den Galgen geichlagen zu werben. 

Seine Offiziere aber und treuen Kampfgenofjen 
hatten fich eingefunden, vollzählig, joweit fie noch 
am Leben und Herren ihrer jelbft waren, die meiften 
verwundet, manche noch mil verbundenen Köpfen oder 
Gliedern. Sie waren froh, der Ungemwißheit ihres 
Cdidjals endlich überhoben zu werden. 

Auf allen Gefichtern ftand grimmige Freudig» 
feit, die Strafe zu leiden, Die fie verwirlt, indem 
2 den heiligften Geboten ihres Herzens Folge ge: 
eiltet. 

Eine jeltlfjame Schar von Angeklagten war das, 
eine Schar junger lebensfriicher, todesfreudiger Reden, 
mehr denn fünfzig an der Zahl. Kein Wunder, daß 
Ferdinand von Schill geglaubt, mit ihnen die Burg 
des Höllenfürften jelber ftürmen zu können. Cs 
war eine jchwere Aufgabe, über fie Gericht zu 
halten. Denn, wie das Erkenntnis wörtlih jagt: 
„Ein ausbrüdliches Gejeß, welches ein joldhes De: 
jertions:Komplott beftraft, ift nicht befannt, da der 
Gejeßgeber fih den Fall, daß gerade Ehrgefühl und 
PBatriotismus ihn herbeiführen würden, nicht prä- 
mebditieren Tonnte!” 

Die Verantwortung für ihr Thun fiel mit 
wenigen Ausnahmen — auf das Haupt ihres toten 
Führers. 

Die Unterfuhung war bereits abgejchlofien, da 
lief die Meldung ein, es jei no) einer der Schillichen 
Offiziere eingetroffen, und zwar der Premierlieutenant 
von Rodhlit. Die Nachricht erichien den unter: 
judungsführenden Herren vom SKriegsgericht be: 
ſonders wichtig. Es hieß, Rochlitz fei ein verdienter 
Offizier ſchon von der Kolberger Campagne her, 
habe Schill perſönlich nahegeſtanden, um alle ſeine 
Pläne gewußt und ſich bis zuletzt ausgezeichnet. 

Haſſo war in Stargard eingetroffen nach mehr: 
tägiger, mühſeliger Reiſe. Es war ſpäter Abend, als 
ſein Fahrzeug vor dem Gaſthauſe ſtillhielt, das, dem 
Rathauſe ſchräg gegenübergelegen, ihm von früher 
her bekannt war. Ein Teil der unter Anklage ge— 
ſtellten Offiziere war darin einquartiert, und kaum 


Roman von Hans Werder. 


762 


hatte Haſſo den erleuchteten Hausflur betreten, als 
er von mehreren Seiten ſchon ſeinen Namen rufen 
hörte, in den Tönen lebhafteſter Freude. Wie einen 
vom Tode Auferſtandenen begrüßten und umringten 
ihn die Kameraden. 

„Aber Menſch, wie ſiehſt Du aus,“ rief Hagen, 
ihm ins Geſicht leuchtend. „Wie eine Leiche auf 
Urlaub!“ 

„Danach iſt mir auch gerade zu Mut!“ lachte 
Haſſo, die ſchmerzenden Glieder dehnend. „Ein 
Leichenwagen war es mindeſtens, auf dem ich die 
letzten drei Tage zugebracht habe — und ein lang— 
weiliger Spaß, das könnt Ihr mir glauben!“ 

„Na — ein Glück, daß Du da biſt, alter Knabe!“ 
rief ein anderer, ihm auf die Schulter ſchlagend und 
nicht wiſſend, wie weh er ihm damit that. 

„Ja, Hagen, Dir verdank ich's, daß ich da bin! 
Na, wir ſprechen noch darüber! Biſt ein famoſer 
Kerl!“ 

„Rochlitz!“ rief eine warme, kräftige Stimme 
hinter ihm. 

Er wandte ſich lebhaft um. „Brünnow!“ 

„Biſt Du wirklich am Leben geblieben! Ich 
dacht's kaum, als wir Deine Knochen da vor der 
Pfarrhausthür in Mühlenhof zuſammenſuchten!“ 

„So ganz ausgeflickt ſind ſie zwar noch nicht,“ 
ſagte Haſſo, „aber nun ich wieder unter Euch bin, 
wird bald alles in Ordnung ſein!“ Er drückte mit 
ſeiner Linken herzhaft die Hand des neugewonnenen 
Blutsfreundes. 

„Famos — meinem Zimmer gegenüber iſt noch 
ein anderes frei!“ rief Brünnow. „Wo iſt denn der 
Wirt, der Kunde! Er muß es ſogleich für Dich her— 
richten! Wirſt hölliſch müde ſein nach der Strapaze!“ 

Sehr froh war Haſſo, ſich endlich auf bequemem 
Lager ausſtrecken zu können und in wohnlichem Ge: 
mach ſein eigener Herr zu ſein. Die Freunde ſaßen 
bei ihm bis in die ſpäte Nacht, was dem müden 
Rekonvalescenten nicht gerade zuträglich ſein mochte, 
aber ſie hatten ſich gar zuviel zu erzählen! Es war 
ein Stück Weltgeſchichte, das ſie alle in ihren jungen 
Händen gehalten und welches nun weiter rollte und 
fie mit ſich fortzog, einem bis jetzt ungewiſſen Schick— 
ſal entgegen. 

Am andern Morgen meldete ſich Rochlitz und 
gab ſeinen Säbel ab. Tags darauf wurde er zur 
Vernehmung befohlen. 

Alle ihm vorgelegten Fragen beantwortete er 
klar und beſtimmt. Dann aber wurde er aufge— 
fordert, fich über die Art und Weile zu äußern, in 
weldher Major von Schill ihn zum Mitgehen veran- 
laßt, ferner darüber, ob und inwieweit ihm das 
Vorhaben besjelben befannt geweien. Db auch er 
unter dem Eindrud geftanden, daß das Scilliche 
Korps nur als eine Avantgarde der ausrüdenden 
preußiihen Armee anzujeben jei und Major Schill 
auf geheimen Befehl des Königs gehandelt hätte. 

Diefer Aufforderung entipredend, nahm Hafjo 
das Wort. Er berichtete, wie Major von Schill ihm 
jeine Pläne mitgeteilt, wie er anfangs nicht einver: 
ftanden gemwejen, jeine Bedenken jchließlich aber ber 
Autorität und Verantwortlichleit feines Kommandeurs 





163 Schwertflingen. 
untergeordnet hätte. Mit einer von Sat zu Satz 
fih fteigernden Wärme jpradh er von der bingebenden 
Opferfreudigleit, mit welder Schill die Milfion der 
Baterlandsbefreiung auf fih genommen! Berpfändete 
feine Ehre und Überzeugung dafür, daß Schill jelber 
den unausgeiprochenen Willen des Königs zu erfüllen 
geglaubt, daß er niemand etwas „vorgejpiegelt”, wo: 
von er nicht felbft dDurdhdrungen gewejen, daß viel: 
mehr die ehrenhafte Zauterkeit feines Charakters ihn 
gegen einen derartigen Verdadt von vornherein ficher: 
ftelen müßte. Mit leuchtenden Augen berichtete er 
weiter, wie bei der erften Nachricht von des Königs 
Ungnade, die fie bald nah ihrem Ausmarjdhe in 
Bernburg erreiht, der Major ihnen allen ihr Wort 
zurüdgegeben und freigeftelt habe, dem Befehl des 
Königs folgend, auf Gnade und IUngnade zurüdzu: 
fehren, wobei es für ihn unausbleiblih war, die 
Strafe und Verantwortung für fie ale allein auf jeine 
Schultern zu nehmen. 

„Und die Herren lehnten diejes Anerbieten ab?” 
Es war der Generalauditeur, welcher fein und jcharf 
dieje Frage dazwilchen jchob. 

„Über die Handlungsweife der anderen Herren 
vermag ich nichts auszulagen!” erwiderte Haflo jchnell. 
„Shre Beweggründe find mir gänzlih fremd. Jh 
jedenfall war der erfte, der das Anerbieten ablehnte 
und meinem NRegimentsflommandeur aufs neue frei: 
willig das Veriprehen gab, bis aufs äußerfte bei 
ihm auszuharren!” 

Mit diefen nicht mißzuverftehenden Worten war 
feine Ausfage beendet. Einen eigentümliden Eindrud 
machte diejer Angellagte, wie er daltand, ohne Säbel, 
ein Gefangener , den Arm in der Binde, die linke 
Hand jchwer auf den Knotenftod geftügt, und dennod 
ftols und frei. Das blafje, magere Gefiht mit dem 
verwegenen Ausdrud färbte fi tiefer und die großen 
Augen glühten in Begeifterung, während er mit feu: 
riger Berebjamteit Zeugnis ablegte für jeinen toten 
Kommandeur. 

Das Verhör war geichlofien, der Angeklagte 
entlaflen. 

Ercellenz Blücher hatte, aus befonderem Snterefje 
an der Sade, fonftigem Brauch entgegen, der Ber: 
nehmung beigemwohnt. Er erhob fidh jegt, blieb jedod) 
ftehen, als Hafjo das Zimmer verließ, und folgte ihm 
mit den Augen. Der junge Offizier bewegte fich 
langjam, mit fihtlicher Anftrengung, doc eigentüm- 
liher Elaflicität. Das lange Verhör hatte ihn an: 
gegriffen, jedoch feine Lebenggeifter nicht erichöpft. 

„Den Burjhen haben die Naders ordentlich in 
die Pfanne gehauen!” brummte der Feldherr, als 
die Thür fich hinter jenem gejhhloffen. „Sein Maul: 
wer? aber müßte ertra noch totgejählagen werden! 
Scheint ein aufgewedter, jchneidiger Junge zu fein!” 


* * 
* 


Es war eine Jchwere Wartezeit für die Schillichen 
Offiziere bei der niederbrüdenden Ungewißheit, bie 
nodh immer über ihnen lag. Endlid aber wurde 
das Urteil des Kriegsgerihts Iprucreif, von Des 


Roman von Hans Werder. 


164 


Königs Majeftät beftätigt und ihnen dasjelbe ver: 
fündigt. 

Es fiel milder aus, ald man im allgemeinen zu 
hoffen gewagt. Ungefähr zwanzig an der Zahl, welche 
zur Zeit des Ausmarjches dem „YZmweiten branden- 
burgiihden Hufarenregiment” angehört hatten, alfo 
nur dem Befehl ihres Regimentstommandeurs ge: 
folgt waren, wurden freigejprodhen. Die zwilhen - 
Brünnow und dem bollänbiichen General abgefähloflene 
Kapitulation vor Stralfund wurde dabei zu ihrem 
Vorteil geltend gemacht, indem fie fich durch diejelbe 
„Amneftie für ale im Wuslande begangene Ber: 
gehungen” erkämpft hätten. Bei wenigen nur, zu 
denen Rodhlig, Hagen, Blomberg und andere ge: 
börten, traten verjchärfende Umstände Hinzu, weshalb 
bei auf bdreimonatlidhe Feltungshaft erkannt 
wurde. 

Haflo wäre ficher freigeiprochen worden, wenn 
die eigenen NAusjagen ihn nicht belaftet hätten. 

Die Offiziere ftanden alle in einem Warteraum 
bei einander, halblaut die aufregenden Ergebnifle des 
Tages erörternd. Brünnom trat jet zu Hallo, der 
mit einigen, gleih ihm verurteilten Kameraden zu: 
fammenftand. „Ich bin auch freigeiprodhen,” begann 
er. „Liebe Kerls, es kommt mir falt wie ein Un: 
recht gegen Euch vor!” 

„Run, Du haft Dir’s reichlich verdient!” meinten 
die Kameraden. „Ohne Deine drahtige Haltung am 
Srankenthor — wo wären wir alle miteinander ge: 
blieben !” 

„Mir ift nicht bange drum!” wehrte er lachend 
ab. „Wer da gerade das große Wort führte, hielt 
die Sache aufrecht, ob ich oder fonft einer! Übrigens, 
Rochlitz, Du haft Dir Deine drei Monate jelber an 
ben Hals geredet, font hätten fie Dich freilprechen 
müflen, jo gut wie mich!” 

„Kann jein,” erwiderte Roclig, aber diefer — 
gemeinen Auffallung, ala habe Schill uns durch be: 
wußte Vorjpiegelungen bingehalten und betrogen — 
der mußte ich entgegentreten und wenn’s mir den 
Kopf Eoftete!” Er jpradh dies mit jcharfer Betonung, 
denn in feiner Nähe ftand jemand, der in folder 
Weile fein Verhalten zu rechtfertigen verjucht batte. 

„Dich würden diefe paar Monate Kolberg aud 
nicht gerade umbringen,” meinte Frik Blandenburg, 
„wenn ich nur nachher wieder zurüd Tönnte — ins 
Schilihde Hufarenregiment! Ah, unjer herrliches 
Regiment! — Es ift, um fih die Haare auszu: 
raufen!” 

„3a — mir waren eine folge Brüderichar, 
ohnegieichen!“ ſagte Haſſo traurig. „Und von 
heute ab ſind wir nichts mehr! Unſere Uniform 
ſogar dürfen wir nicht mehr tragen! Das iſt denn 
doch das ärgſte, was uns treffen konnte!“ 

„Schauderhaft, ja!“ ſtimmten die andern bei. 
„Und nun geht ein jeder feinen Weg! Wir Kol: 
berger Sträflinge freilich gehören noch ein Weilcdhen 
zujammen — das ift wenigftens ein Troft!” 

„Wo wirft Du jett bleiben, Brünnow, Du Frei: 
geiprochener?” fragte Haflo. 

„Borläufig gehe ich nach Haufe zu meinen Eltern! 
Und jpäter — werden ja, den?’ ich, die Franzmänner 





165 Schmertllingen. 
wieder für unfere Beihäftigung jorgen! Bis dahin 
wirst Du hoffentlich auch wieder flott werden, Rodlig. 
Soll ih auf Dich warten, dann gehen wir zufammen !” 

„sa, Brünnomw, warte auf mich!” 

Ein Abdjutant des kommandierenden Generals 
erihien in der Thür. „Sind die Herren NRodlig 
und Brünnow nodh hier? Excellenz wünſcht Sie 
beide zu ſprechen und läßt bitten!“ 

Sie folgten ihm. Brünnow hatte ſeinen Säbel 
wieder und trug ihn in der Hand, um das Klirren 
zu vermeiden, des Freundes wegen, der noch ein 
waffenloſer Gefangener. 

Nach kurzer Friſt ſtanden ſie vor Vater Blüchers 
eiſentrotzigem Angeſicht. Er befragte Brünnow noch 
um die ihn intereſſierenden Einzelheiten des Kampfes 
in Stralſund und die nachfolgende ehrenhafte Kapi— 
tulation, ebenſo auch um Schills Tod und ſeine 
letzten Lebenstage. Plötzlich richtete er ſein blitzendes 
Auge auf Haſſo. „Lieutenant Rochlitz — wo habe 
ich den Namen ſchon gehört? Sind Sie mir 'mal 
begegnet während der Campagne?“ 

„Zu Befehl, Excellenz — ich war Anno 1806 
in der Suite des Prinzen Louis, Königliche Hoheit!“ 

„Davon weiß ich nichts! Deſſen Suite hab' ich 
mir nicht beſehen!“ brummte der Feldherr unbe— 
friedigt. Seine Gedanken ſuchten ein beſtimmtes 
Ziel, und Haſſo kannte dasſelbe. 

„Rochlitz — Schockſchwerenot — mit dem war doch 
irgend eine beſondere Teufelei oder dergleichen —“ 

„Wollen mir Euer Excellenz eine Bemerkung 
geſtatten,“ nahm jetzt Brünnow das Wort. „vViel— 
leicht iſt es die Gefangennehmung des General Victor, 
welche Excellenz im Sinne haben —“ 

Der alte Blücher horchte auf. Durch General 
Victors Gefangennehmung hatte er damals, ſelbſt in 
Gefangenſchaft geraten, Auswechslung und Freiheit 
erlangt. 

„Bomben und Granaten, ſind Sie das geweſen, 
Rochlitz, der den Spitzbuben in Arnswalde dingfeſt 
gemacht hat? Von den Schillſchen war's einer — 
und Rochlitz, ja, wahrhaftig, fo hieß er!” 

„Zu Befehl, Excellenz!“ 

„J den Teufel auch, ſo erzählen Sie mich doch 
einmal die Geſchichte!“ 

Haſſo erſtattete einen knappen und trockenen 
Bericht, die Erwähnung ſeines eigenen Auftretens 
nach Möglichkeit vermeidend. Excellenz Blücher hatte 
noch ſehr wohl die ſeurige Beredſamkeit im Ge— 
dächtnis, mit der er neulich von ſeinem toten Kom— 
mandeur geſprochen und deſſen Thaten gerühmt. Das 
hatte merkwürdig anders geklungen. 

„Nun, mein lieber Lieutenant,“ ſagte er, als 
Haſſo geendigt, „mich haben Sie jedenfalls durch 
dieſen luſtigen Streich einen beſonderen Gefallen ge— 
than! Sagen Sie mal, iſt Ihnen nie eine Aus— 
zeichnung dafür zu teil geworden?“ 

„O gewiß, Excellenz! Ich wurde Schwadrons— 
führer im Schillſchen Korps.“ 

Der Ton, in dem er das ſagte, und das Auf— 
blitzen ſeiner Augen fiel dem Feldherrn auf. „Sie 
meinen, das war die größte Auszeichnung, die Ihnen 
werden konnte?“ 


Roman von Hans Werder. 


766 
„Zu Befehl, Euer Excellenz!“ 

Der eisgraue Schnurrbart ſträubte ſich empor, 
wie unter einem grimmigen Lächeln. 

„Lieutenant — und das ſagen Sie mich im 
Moment, wo ich mitgeholfen habe, Ihnen um eben 
dieſer Auffaſſung willen zu drei Monaten Feſtung 
zu verdonnern? Das iſt eine Unverſchämtheit, die 
gefällt mich! Ich will Ihnen ſagen, mein Sohn, 
Sie ſind — bei dem Verhör hier neulich — für 
Ihren Kommandeur ins Zeug gegangen, wie Pech 
und Schwefel! Jetzt, wo er tot iſt — und Ihnen nichts 
mehr nützen kann — Ihnen vielmehr hereingeritten 
hatte in dieſe Kemme — und das hab ich gern vom 
preußiſchen Offizier!“ 

„Bitte gehorſamſt um Verzeihung, Excellenz — 
ich habe dem Major von Schill viel zu verdanken, 
nur Güte von ihm genoſſen —“ er ſprach es mit 
fliegendem Atem, in flammender Erregung. 


Über das wetterharte Geſicht des alten Iſe— 
grimm ging ein milder Ausdruck. „Glaub's ſchon! 
Er war ein kapitaler Kerl, der Schill, hat mir bitter 
leid um ihn gethan! Gut hätten wir ihn gebrauchen 
können, wenn's wirkich losgeht gegen die Satans: 
kerle, die verdammten! Und es wird losgehen! 
Wenn einem nur die Zeit nicht ſo teufelmäßig lang 
würde bis dahin! Kurieren Sie ſich gut aus, Rochlitz! 
Humpeln barbariſch auf dem Fuß, aber mit dem 
Reiten wird's denn ja am erſten wieder gehn! Wollen 
Sie in Stolp bei meinen Huſaren eintreten? Für 
das Rittmeiſterpatent ſorge ich — bin Ihnen doch 
eine kleine Erkenntlichkeit ſchuldig für den Victor, 
den verfluchten Halunken!“ 


* % 
* 


War es Ironie des Schickſals oder war es eine 
Auszeichnung, daß die Offiziere des Schillſchen Korps 
ihre Strafe gerade in Kolberg abbüßen mußten? 
Sie ſelbſt waren geneigt, das letztere anzunehmen. 


Die Fenſter von Haſſos ödem Gemache lagen 
nach der Seeſeite und dort ſchweiften ſeine Blicke hin 
— der Maikuhle zu, wieder und wieder. Dort ſtand 
der Name Schill — wie in die Wolken geſchrieben, 
die darüber hinzogen — dort rauſchten ihn die Wellen, 
ſo oft ſie ihre ſchäumende Brandung an den zer— 
ſtörten Feſtungswerken hinaufwarfen. Alles, was da 
in Trümmern lag und was die Feſte vor dem Feinde 
geſchirmt, ſo lange Zeit hindurch — war ſein Werk, 
ſein Gedanke, trug den güldenen Stempel ſeines 
treuen, todesmutigen Herzens. 


Und doch — wie lautete der Parolebefehl: „Und 
ſeine Strafe würde ſo ſchwer ſein, wie ſein Verbrechen 
beiſpiellos iſt, wenn nicht der Tod ihn derſelben 
entzogen hätte.“ 

An dem Fenſter mit dem Blick auf die Mai— 
kuhle ſtand Haſſo, dieſen inhaltsſchweren Ausſpruch 
ſich wieder ins Gedächtnis zurückrufend. Ein töd— 
liches Weh durchzog ſein Herz. „Du Treuſter aller 
Treuen — dieſe Worte Dir! Du gerade hätteſt ſie 
nur gerecht gefunden. Und doch würden ſie Dir das 
Herz gebrochen haben!“ 





167 Schwertklingen. 


IV. 


Elf Offiziere, fünfhundert Unteroffiziere und 
Soldaten des Schillſchen Korps aber hatte ein härteres 
Los getroffen, als diejenigen, welche in Stralſund 
begraben lagen oder zur „Gnade des Königs“ zu—⸗ 
rückkehren durften. Sie waren gefangen in die 
Hände der Feinde gefallen, von General Gratien dem 
König Jérôme ausgeliefert und zu Braunſchweig wie 
Straßenräuber in Gefängniſſe geworfen. 

Es gelang den Offizieren, aus ihrer Bedrängnis 
heraus ein Bittgeſuch an ihren König zu richten, 
welches auch wirklich den Weg in die Hände des 
Monarchen fand. Ein Hilferuf der Verlorenen an 
ihr Vaterland. 

Er beginnt wie ein trauriger Accord, mit dem 
dieſe Fülle jungen, kraftvollen Lebens ausklingt, ehe 
ſie dem grauſamen Tode verfallen. 

„Allerdurchlauchtigſter, Großmächtigſter König, 

Allergnädigſter König und Herr! 

Euer Königlichen Majeſtät erhabenem Throne 
nahen wir uns Unglückliche, um Allerhöchſtdie— 
ſelben um Gnade in unſerer höchſt traurigen Lage 
anzuflehen. 

Haben wir gefehlt, ſo unterwerfen wir uns 
der Strafe Eurer Königlichen Majeſtät, die, wenn 
ſie auch höchſt ſtrenge ausfällt, weniger bitter für 
uns ſein wird, da wir ſie von der Hand unſeres 
teueren, allverehrten Königs und Landesherrn 
empfangen. 

Wir Unterzeichnete und fünfhundertfünfzig 
Mann des von Schillſchen Korps tragen das trau— 
rige Los der Gefangenſchaft. 

Wir flehen Eure Königliche Majeſtät demutsvoll, 
uns zur Beſtrafung in unſer Vaterland zurück⸗ 
zufordern. 

Unſere gegenwärtige Lage iſt die ſchreclichſte 
des Lebens, uns quält der Gedanke, gefehlt zu 
haben und uns nun aus unferem teueren Bater: 
lande verfloßen zu jehen. 

Haben Eure Königlihe Majeftät Erbarmen 
mit uns Unglüdlihen und erhören Allerhödftdie- 
jelben unfer leben. 

Die wir in tieffter Ehrfurcht erfterben 

Eurer Königliden Majeität 


allerunterthänigfte 

Lieutenant Jahn. 

5 Gabain. 

e Trachenberg. 

vi Wedell. 

Flemming. 

si Schmidt. 

— Felgentreu. 

> Wedell. 

— Keller. 

— Keffenbrinck. 
Volontär Galle. 


Braunſchweig, den 23. Juni 1809.“ 


Seine Majeſtät der König erhörte das Flehen 
ſeiner Unglücklichen. Er that durch ſeinen Geſandten 


Roman von Hans Werder. 





768 





in Kaſſel die nötigen Schritte — er that, was in 
ſeinen Kräften ſtand. Doch umſonſt. Die Macht 
des Königs von Preußen war zu jener Zeit des Un— 
glücks und der Schmach nur gering. Von dem Kaiſer 
Napoleon holte ſich König Jerome Verhaltungsbefehle 
ein. Und der Gewaltige beſtimmte, die Unteroffiziere 
und Gemeinen auf die Galeeren von Breft und Cher: 
bourg abzuführen, die Difiziere aber zu Wejel vor 
ein Kriegsgericht zu ftellen und dann binnen vier: 
undzwanzig Stunden erjhießen zu laflen. 

Don Braunfhmweig nah Wefel aljo jchleppte 
man die edlen Gefangenen. 

Am 16. September trat in der Citadelle zu 
Wefel das Blutgericht zufammen, beitehend aus fran: 
zöfifchen Offizieren unter dem Borfig des Bataillons: 
fommanbdeurs Grand. 

Da ftanden die elf jungen Reden vor ihren 
Anklägern und Rihtern. Das Urteil ftand feit wie 
die Sonne am Simmel, und Dod Hatten fie das 
Ihmadvolle, empörende Verhör zu beftehen. 

Auf Straßenraub waren fie angellagt, „als zu 
der Bande von Schill gehörig, mit bewaffneter Hand 
Kaflen im Königreih Weltfalen und andern Ländern 
geraubt und die Einwohner gezwungen zu haben, in 
der Schillihen Bande zu dienen.” 

Was half es, daß der Advolat Perwet uner: 
Ihroden für die Angellagten eintrat, in feuriger Be: 
redfamkeit darthuend, daß diefe Männer nicht ihren 
eigenen Vorteil gejucht, fondern im offenen Kampfe 
für ihres VBaterlandes höchfte Güter Blut und Leben 
eingejegt! 

Die franzöfiihen Schergen hörten feine Aus- 
führungen gleihmütig an, ohne ihnen jonberliches 
Sinterefie zuzgumenden. Sie mußten, was von ihnen 
gefordert wurde, und berubigten damit ihr richterliches 
Gewiſſen. 

Der Vorſitzende ſtellte die Frage, ob die Ange— 
klagten ſchuldig ſeien, zur Bande Schill gehört zu 
haben, ob ſie mit den Waffen in der Hand ergriffen 
worden — und einſtimmig wurden dieſe Fragen be— 
jaht. Darauf verlas der Prokurator den Geſetzartikel, 
welcher „Diebſtahl mit offener Gewalt auf öffentlichen 
Wegen und Straßen oder Einbruch in bewohnten 
Häuſern“ mit dem Tode beſtrafte. Der Urteilsſpruch 
lautete demnach, wie's Kaiſer Napoleon im vor: 
aus befohlen — auf Todesſtrafe und Vollſtreckung 
derſelben binnen vierundzwanzig Stunden. 

Das Urteil wurde ihnen verkündet und uner— 
ſchrockenen Mutes hörten ſie es an. Preußiſche 
Offiziere bis zum letzten Augenblick, treu ihrem 
Könige, treu ihrer heiligen Ehrenpflicht — das wollten 
ſie ſein und das waren ſie. Der Tod, auch in dieſer 
ſchmachvollen Gewaltſamkeit, bot ihnen keine Schrecken. 

An ihre Angehörigen in der fernen Heimat zu 
ſchreiben, ihre irdiſchen Angelegenheiten noch zu 
ordnen, erbaten ſie Gelegenheit und Ermöglichung. 
Sie wurde ihnen verweigert. — 

Dumpf dröhnten die Trommeln — ſchaurig ge— 
dämpft. Das Grablied franzöſiſcher Trommeln — 
den preußiſchen Offizieren. 

Da führte man ſie hinaus aus den Wällen der 
Feſtung, zu einer Wieſe am Ufer der Lippe, zu 


769 Schwertllingen. 
ir und zwei aneinandergefeflelt nach Verbrecher: 
weile. 

Über ihren Häuptern fehien golden die Sonne, 
unter ihren Füßen grünte das Gras, in ihren Adern 
podte das warme, vollfräftige Xeben, und hart vor 
ihren Augen ftand der mörderiihe Tod. 

Ein Kommando franzöfiiher Grenadiere er: 
wartete mit Scharfgeladenen Gewehren die edlen 
Opfer. Man nahm ihnen die Feffeln ab und wollte 
ihre Augen verbinden, do das wiejen fie zurüd. 
Oft Schon hatten fie dem Tod ins Angeficht gefehen 
— fie wollten es aud) bier. 

Eine legte brüderlide Umarmung, — dann 
warfen fie ihre Mügen in die Luft und riefen ihrem 
Herrn und König ein jubelndes Lebehodh! 

Sin gerader Linie ftellten fie fih auf, in zwölf 
Schritt Entfernung den Grenadieren gegenüber und 
blidten ar und feit den fchwargen Mündungen 
entgegen. 

„Feuer!“ erſcholl das lekte ftolze Kommando der 
todesmutigen Schar. 

Dumpf raten die Schüfle. Pulverdampf um: 
hüllte die graufige Scene, wie der Raud den Opfer: 
altar. Als ihn der Morgenwind zerteilte, lagen auf 
dem grünen Rajen zehn der ritterlichen Helden, im 
furzen, harten Todesfampf ringend. 

Der elfte ftand aufreht, nur am Arme ver: 
wundet. 

Es war Albert von Wedel. Er Ichaute nieder 
zu jeinem Bruder, der vor ihm am Boden lag. 
„Albert —” ächzten die erblaflenden Lippen. Dann 
braden ihm die Augen, er war tot. Albert jah es 
und Ichaute wieder auf. Die franzöfiihen Grena- 
diere ftellten das Gewehr bei Fuß — fie erwarteten 
die Gnade des Kommandeurs für den Überlebenden. 
Sie jhienen um Parbon zu bitten — die franzöfifchen 
Schergen für den preußiichen Difizier. 

Hohauf aber richtete fih der mit flammendem 
Blid. „Keinen Parbon! Bielt befier, Grenabiere! 
Hier —  Ichlägt das Herz für meinen König! — — 
Teuer!” — 

Abermals Inatterten die Schüfle. Auch der elfte 
lag tot am Boben. 


Zehnter Abfchnitt. 
GSiut unter der WUiche. 


„Auf zur Rahel Auf zur Rache! 
Erwache, edles Volk, erwache! 
Erhebe lauteß Kriegdgelchrei I 

Yak in Thälern, laß auf Höhen 
Der Freiheit ſtolze Fahnen wehen, 
Die Schandenketten brich entzwei. 


Zu den Waffen, zu den Waffen! 

als Männer bat und Gott geidhaffen, 
Auf! Männer, aufl und fhlaget brein, 
Laßt Hörner und Trompeten klingen, 
Laßt Sturm von allen Türmen dringen 
Die Freiheit fol die Lofung fein!* 


I. 


Tiefer Schnee bededte das Zand an der pommer— 
Ihen Küfte. In froftigem Hellblau behnte fich der 
nordiiche Himmel darüber. Eisklippen umftarrten den 


Roman-Feitung 1896. 


Roman von Hans Werder. 


770 


Meeresſtrand. Die Wogen der Oſtſee zerſchellten 
daran, ſpuülten lockere Eisſchollen los und riſſen ſie 
fort, in das wilde Spiel der Brandung hinein. 
Ernſt und ſchaurig iſt der Winterzorn des nordiſchen 
Meeres, voll drohender, begehrlicher Unruhe und 
grauſamem Ungeſtüm. Ach, daß es dieſen friede— 
ſtörenden Zorn auch über das Land gebreitet, das 
ſeine Wogen umbranden! Doch das lag ſtarr und 
ſtumm, wie unter der kalten weißen Schneehülle, ſo 
auch regungslos im furchtgeknechteten Frieden. 

Das Jahr 1810 begann mit neuen Kontribu— 
tionen des fremden Gewalthabers, mit Durchmärſchen 
franzöſiſcher Truppen, willkürlich abſeits von den 
vereinbarten Heerſtraßen. Die rückſichtsloſeſten Über⸗ 
griffe aller Art durfte der Eroberer ſich ungeſtraft 
erlauben, unter ſchweigender Duldung des ohn— 
mächtigen Preußens. 

An dem ſchäumenden, eisſplitternden Meeres: 
ſtrande ſtand Haſſo und nahm noch einmal Abſchied 
von dem zerſtörten Bilde der Maikuhle mit ihren 
herzbewegenden Erinnerungen. Seine Haftzeit war 
beendet. Er hatte ſich bei dem Kommandanten ge— 
meldet und ſeinen Säbel in Empfang genommen. 
Er war frei. Jetzt noch ein Beſuch bei ſeinem alten 
Gönner Nettelbeck. Das war ein trauriges Abſchied— 
nehmen. Der alte Kolberger Held beweinte Schill, 
ſeinen Liebling, als wäre es ſein eigener Sohn ge— 
weſen, denn er hatte gar große Hoffnungen für des 
Vaterlandes Erlöſung auf ihn geſetzt. Die waren 
nun hinweggeſpült wie die Eisſplitter in der Meeres— 
brandung. Das Vaterland, ganz Europa aber lag 
ſtill und ſtarr unter ſeiner Schneedecke und ungehört 
verhallte der zürnende Weckruf des ſturmgepeitſchten 
Meeres. 


Der Abſchied war vorbei, auch von den treuen 
Kameraden. Haſſo ſattelte ſein Roß und ritt in die 
Welt hinaus. 

Hinter ihm in weiter Ferne verhallte das Brauſen 
der See und vor ihm lag die ſchneeige Einöde. 
Was jollte er beginnen. Seine Eriftenz war unter: 
gegangen mit dem geliebten Schillihen Regiment. 
Wo follte er eine neue finden? 

Da, wo es Arbeit gab für feinen Säbel, ihn 
einzutauden in Franzofenblut, für Rade — für 
Freiheit — Vergeltung. Aber wo war ein Bolt, 
ein Heer, in defjen Reiben er fich ftellen konnte, zu 
diefer Zeit des lähmenden Friedens? 

Für jest wählte Hafjo Nedentin als Reifeziel. 
Diesmal kehrte er nicht im Pfarrhaufe ein, jondern 
ritt auf den neuen Hof, wo er hingehörte, ftieg vom 
Pferde und ging unangemeldet ins Haus. Es war 
jeine Abficht, fih das gute Net, welches er bier 
bejaß, fortan in keiner Weije mehr verkürzen zu lafen. 

Sn dem Wohnzimmer, dem altbelannten, traf 
er Lotte. Mit einem Freudenruf eilte fie ihm ent: 
gegen. Er füßte ihr die Hand und fie bog feinen 
Kopf herunter und drüdte einen herzlichen, falt 
mütterliden Kuß auf jeine Stirn. „Hallo, weld 
freudige Überrafhung! Und aus was für Gefahren 
und Drangjalen tommft Du ber! Lieber Junge, 
Gott jei Dank, daß Du am Leben geblieben!” 


IV. 54 





17 Schwertklingen. 





Roman von Hans Werder. 


772 





„Dank für den freundlichen Willkomm, Lottchen! 
Ich habe lange nicht dergleichen gehört! Bunt genug 
war das Leben, das ich führte, ſeit wir uns nicht 
geſehen!“ 

„Das glaub' ich Dir, Haſſo! Alle Welt war 
vol von Euren Erlebniſſen, groß und ſchreckich zu: 
gleich! Dich darunter zu wiſſen mit dem unglüd: 
lichen Schillſchen Korps, der Gedanke hat uns manche 
Sorge bereitet! Du mußt uns viel davon erzählen, 
was Du durchgemacht und wie es Dir ergangen!“ 

„Beſſer als ich verdiene, iſt es mir ergangen; 
Du fiehſt mich ja wohlbehalten vor Dir!“ entgegnete 
er mit Bitterkeit. „Männer wie Schill, auf die das 
Vaterland ſeine Hoffnung ſetzte, ſind zu Grunde ge— 
gangen. Andere, die das Glück der Ihrigen aus— 
machten, wie Hilmar, wie Albert Wedell, wurden 
vor meinen Augen hinweggemäht gleich reifen Halmen. 
Mein Leben aber, nach dem kein Hahn kräht, das 
niemand zur Freude gereicht, iſt zäh wie das einer 
Katze!“ 

Lotte ſah ihm forſchend nach den Augen. „Er 
hat Kummer gehabt,“ dachte ſie. „Er hat noch mehr 
durchgemacht als Todesnot, Gefahr und Feſtung. 
Haſſo,“ ſagte ſie ablenkend, „Du haſt noch nicht er⸗ 
fahren, daß unſere gute Tante aus dieſem Jammer— 
thal geſchieden iſt!“ 

Er ſchrak auf. „Was! — Nein, ich hört' es 
noch nicht! Wirklich — Lotte!“ 

„Ja — die arme Mutter! Sie hat eben doch 
das Leid nicht ertragen können. Ihr Herz iſt unter 
der Laſt gebrochen. Es konnte kaum anders ſein!“ 

„Arme Tante,“ ſagte Haſſo leiſe und ſenkte 
nachdenklich die ſchwere Wimper. Es that ihm weh, 
ſie war dahingegangen ohne ein Wort, einen Ge— 
danken des Segens für ihn. Vielleicht hätte ſie ihm 
jetzt vergeben, die unbegangenen Sünden, wenn ſie 
erfahren, daß auch er vor dem Kriegsgericht ge— 
ſtanden und verurteilt worden, alſo nichts mehr vor 
Hilmar voraus hatte! 

„Sie hat in ihren legten Lebenstagen nach Dir 
gefragt, Hallo,” nahm Lotte wieder das Wort, „und 
trug mir einen berzliden Gruß für Did auf!” 

„Wirklich! DO das freut mih! ch danke Dir, 
Lotte!” 

„3a, fie war jehr weich und milde jene legte 
Zeit! — Das Kind, weißt Du, glitt wie ein tröften- 
der Sonnenftrahl in die finfende Dämmerung ihres 
Lebensabends!“ 

Haſſo hob lebhaft den Kopf. „Das Kind — 
Lotte, wo iſt das Kind? Zeig' es mir!“ 

Sie öffnete die Thür zu dem Nebenzimmer. 
Dies war recht eigentlich ihr Reich und Aufenthalt, 
die Kinderſtube, ein warmes, trauliches Gemach. 
Hier ſaß das Kind auf einer wollenen Dede am uk: 
boden, in ein kurzes, weißes Röckchen gekleidet, den 
Kopf voll hellblonder Locken, warf Tannenzapfen in 
der Stube umher und trommelte mit den Füßchen 
vor Freude, wenn die Wurfgeſchoſſe knallend gegen 
irgend ein Möbelſtück anſchlugen. Unverzüglich 
richtete ſich jetzt das Bombardement auf die beiden 
Eintretenden, wobei das kleine Kehlchen laute Jubel: 
söne der Begrüßung ausitieß. 





Halto trat raid auf das luftige Geichöpichen zu, 
bob es auf den Arıı und füßte es zärtlid. Die 
Kleine verzog ein wenig das Mäulden, unmwillig 
über die Unterbredung ihres angenehmen Epielee. 
Tann aber erfannte fie in Hafjos vollem Schnurr— 
bart einen neuen Gegenitand der Unterhaltung und 
jaufte daran in jauchzender Fstöhlichkeit. 

Er Jette jih, nahm das Nihthen auf fein 
Knie und betrachtete es forihend. Das waren 
Hilmars Hlare blaue Augen, aud der reine, jaft 
zarte Gejichtsjchnitt, der ihm feines Pflegebruders 
Züge ins Gedädtnis rief.” Ein weider Ausdrud 
ging über jein Gefiht. „Wie beißt fie?” fragte er, 
zu Lotte aufblidend. 

„Hilma! — 53h glaube gern, daß Ti das 
jeltjam und willfürlid anhört! Aber der Klang 
dDiejes Namens bat mir den Sonnenicdhein meines 
Lebens bedeutet, und jo jol er mid, mwil’s Gott, 
begleiten bis an meinen Tod!“ 

„Hilma —“ wiederholte Hallo. „Lotte, beb’ 
mir Deine Zocdter gut auf — idy mödhte fie heiraten! 
In fünfzehn, jehzehn Jahren etwa! So lange hab’ 
ih no Zeit!” 

„Um alles in der Welt!” rief Lotte. Sie trat 
berzu und jtriy ihm ladend über das furzgebaltene, 
dunfelbraune Haar. „Bit Du denn nod immer 
derjelbe Kindskopf geblieben, Du Wildfang? Aber 
nein, etwas vernünftiger bijt Du dody wohl geworden! 
Einft durfi? ih es nit wagen, Dich mit meiner 
Kage oder Harfe einen Moment im Zimmer allein zu 
lafjen, wenn idy nicht Unheils gewärtig fein wollte, 
jegt jehe ich forg: und gefahrlos mein Kindchen auf 
Deinem Schoß, und jo gut bei Dir aufgehoben!“ 

Er 309 die lieblojende Hand an jeine Lippen. 
„a, Lotte, das Leben ift eine verdammt ernithafte 
Schule, ftreift alle die Tollheiten herunter — lehrt 
einen jogar mit Heinen Kındern und Katzen ſorg— 
fältig umgeben, damit fie einen nidt — — Au — 
hör! mal, Du kleiner Wurm, mein Schnurrbart ift 
aber niht dazu da, von Pir ausgerauft zu 
werden!” 

„aber Hilma, ilt es möglih, fol ein ftolzer 
Huſarenſchnurrbart flößt Dir nit einmal Achtung 
ein?“ wehrte ihr Xotte. „Nun, vıelleiht erwacht 
Dir jpater no das Berfländnis dafür!“ 

Eın Shwerer Schritt im Nebenzimmer unterbrad 
das Geplauder. Durch die halbgeöffnete Thür 
ihaute ein jchneeweißes Haupt herein. Hallo jprang 
auf, ließ die Kleine auf ihren früheren Spielplag 
zurüdgleiten und ging jeinem Obeim entgegen. 

Ah, wie war er gealtert! Nicht nur das weihe 
Haar, das welfe, faltıge Antlit gaben ihm den 
Stempel des Greiles -— mehr falt noch die gebrochene 
Haltung, der willenloje Ausdrud des Gelidhts. 

„IH höre, es ijt ein Bat gefommen?” fragte 
er zmweifelnd. 

„Nein, VBäterden, fein Saft,“ verbejjerte Lotte, 
„jondern einer, der wie Kleinen und ich bier Kindes: 
rechte hat!“ 

„Ad, Hallo — Tu! fei mir willfommen, lieber 
Zunge! ich freue mid) jehr, jehr!” Er drüdte ihm 


173 


berzlich die Hand, und mie jein Auge dem weichen, 
ausdrucksſchweren Blick begegnete, mit dem fein Neffe 
ihn anfchaute aus dem männlich haraktervollen Antlig 
heraus, da überlam ihn eine warme Rührung wie 
nie zuvor, und er Ichloß ihn in die Arme. „Lieber 


unge, ich bin jo froh, daß Du am Leben geblieben 


bit! Shr habt Eu — ja, weiß Gott — hr habt 
Eudh verteufelt geihlagen, Zhr Schillihen! Eure 
Schuld ift es nicht, daß die Hundsfötter no im 
Baterlande haufen. Hat mir Heillofen — Spaß 
gemadt, daß — daß ein Rodhlig drunter war!“ 
Seine Stimme wurde unfider, Thränen liefen über 
feine Wangen, gramvolle, troftloje Greijenthränen. 

Haffo brach das Thema ab und Iprad) dem Oheim 
in berzliden, beredten Morten jeine Teilnahme an 
dem Tode feiner Gattin aus. 

„Ja, die arme Marianne,” feufzte ber alte 
Herr, „fie bat es nicht überleben fönnen! Sch gönne 
ihr die Auhe! Nachdem man fein Herz begraben 
hat, lebt fih’s Schlecht weiter in diejem irdiichen 
Sammerthal! Ach hatte auch gehofft, unfer Herr: 
gott würde mir bald die Retraite blajen laflen, aber 
noh bat er mir Urlaub gegeben! And einen rechten 
Abendjegen in meiner guten Lotte und dem Eleinen 
Wit, der da herumfrabbelt!” Er nidte zärtlich 
dem Kleinen Abendjegen feines Icheidenden Lebens: 
tages zu und kehrte dann mit Hallo in das Mohn: 
zimmer zurüd. „So, nun jeß’ Dich zu mir, mein 
Sohn, und erzähle, wie man Dich eigentlich hat ver: 
donnern fönnen, da Du do nur Deinem Kom: 
mandeur, dieſem Prachtkerl, gehorcht haſt!“ — — — 

Nach einiger Zeit kam Lotte zurück, die nach 
dem Eintritt des alten Rochlitz ſich enftfernt. „Haſſo, 
ich habe Eure alten Zimmer oben für Dich heizen 
und herrichten laſſin — wenn Du's Dir bequem 
machen willſt! Hungern ſollſt Du auch nicht mehr 
lange, wir gehen gleich zu Tiſch!“ 

„Höchſt erfreuliche Ausſicht, liebe Lotte! Vor— 
trefflich alles, was Du ſagſt und thuſt!“ — Haſſo 
fühlte mit Behagen die Wärme, welche ſie um ſich 
verbreitete und die ihm zum erſten Male dieſes 
fremde Heimathaus heimiſch geſtalten ſollte. 

„Du bleibſt doch nun einige Zeit bei uns?“ 
fragte der alte Herr, ſichtlich beſorgt, eine abſchlägige 
Antwort zu erhalten. 

„Ja, lieber Onkel, wenn Sie geſtatten, ſo bleibe 
ich gern einige Monate hier und laſſe mir's wohl 
ſein unter Lottes Scepter!“ 

„Einige Monate, das iſt brav, 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


— und was 


774 


denkſt Du dann zu thun? Haſt wohl noch keinen 
Beſchluß gefaßt?“ 

„So ungefähr doch! Sobald es warm wird, 
gehe ich nach Teplitz — das habe ich unſerm guten 
Regimentschirurg verſprechen müſſen! Später hoffe 
ich noch einige Beſuche zu machen! Erſt in dem 
vorpommerſchen Pfarrhauſe, wo ich zwei Monate ge— 
legen habe, dann bei meinem Kameraden Brünnow!“ 

„Brünnow — das iſt der, der die Kapitulation 
mit Gratien abgeſchloſſen hat? — Ein prächtiger 
Burſche muß das ſein!“ 

„Iſt er auch!“ erwiderte Haſſo. „Wir ver— 
kehrten früher wenig miteinander. Da aber, unter 
Blut und Feuer haben wir uns gefunden!“ 

„Und wo willſt Du ihn beſuchen?“ 

„Er ſchrieb mir neulich, er ginge im Frühjahr 
nach Buggendorf zu ſeiner Schweſter, die dort an 
Herrn von Zarchow verheiratet iſt. Es liegt in der 
Mark, unweit meiner früheren Garniſon! Ich kenne 
Zarchow! Dort wollen wir uns ein Rendezvous 
geben!“ 

„Und dann kommſt Du wieder zu uns, lieber 
Junge, nicht wahr? Willſt Du Reckentin übernehmen? 
Brauchſt es nur zu ſagen! Ich ziehe dann mit 
Lotte auf den alten Hof und ſetze mich zur Ruhe! 
Nach Ruhe ſehnen ſich die alten Knochen — weiß 
der Kuckuck! Es war harte Arbeit, die das Leben 
mir gebracht hat!“ 

„So bald braucht das doch hoffentlich nicht zu 
ſein, lieber Onkel? Noch werde ich nicht kommen 
können! Sobald in einem der Länder Europas Krieg 
gegen die Franzoſen ausbricht, gehe ich mit! Der 
Säbel eines Schillſchen Huſaren darf nicht in der 
Scheide roſten, wenn es irgendwo auf der Welt für 
ihn Arbeit giebt! Findet er die vorläufig nicht, ſo 
hat mir Excellenz Blücher Anſtellung in ſeinem 
Huſarenregiment verſprochen!“ 

„So — der Blücher — das iſt ja brillant! — 
Haſſo — mir iſt doch jetzt ganz, wenn ich Dich ſo 
anſehe, als hätte ich Deinen Vater vor mir! War 
ein nobler, ſchneidiger Kerl, und Gott ſei Dank, das 
biſt Du auch! Ich hab' ihn wohl zuweilen einen 
Taugenichts genannt, aber das that er ſelber — halb 
im Scherz, halb im Ernſt. Ich wußte recht wohl, 
was ich an ihm hatte. Und auch an Dir jetzt, 
lieber Junge! Ja, Ihr beide — brave, ehrliche 
— und Huſaren, daß einem das Herz im Leibe 
acht!“ 


(Fortſetzung folgt.) 


m 


ſchaft. 


© 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





21 
—* 
© 





Peiblatt der Dentihen Noman-Feilung. 


Herbſtlieder. 
Von Alto Kiefer. 
I. 

Hörſt Du das Glödlein ftill im Abendmind, 
Fühlſt Tu des Herbites Kup gelind 
Auf feiner Braut, der jtolgen Erbe, brennen? 
Sie kann vor Wonneweh nicht nennen 
An Liederflang des Liebiten holden Namen, 
Sie füftert leis vergehend nur ein ıilles Amen! 


1. 
Nadı ew’ger Ruh, nah ewig ftillem Frieden 
Sehnt fih Natur; ein jedes Blatt Hinieden, 
Zm Serbft zum Boden gleitend, fHüftert „Ruh“! 
Der Sce, im Ei3 eritarrend, Ichlieket zu 
Sein glangvoll blaue Aug’, die Nebel jinfen, 
Gin Tuch anf ftile Bahr, und Geijter winten, 
Lab man zu Grabe trägt dic Lenzetblüten, 
Daß ſtill sie ruh'n; die diüjtern Berge brüten, 
Bald zaubern Teilen Schlaf die weißen ‚sloden 
Auf fie, Die jtolgen, und auf dbuft’gen Soden 
Herſchleichend, legt ſich ewo'ge Ruh und Frieden 
Auf all die Erdenkinder, all die Müden! 


III. 


Des Herbſtes heiße Blumenfarben 
Berauſchen noch mein trunk'nes Aug', 
Die einſt im Lenz mich ſanft umwarben, 
Erglüh'n im letzten, üpp'gen Hauch. 


Als wollte ſie noch einmal mahnen, 
Eindringlich wie vor nahem Tod 
An all des Lenzes Glückesahnen, 
Erbebt die Roſe purpurrot. 


„Auf ſteig' noch einmal zu den Höhen, 
In deren Äther tiefem Blau 

Dich frei umwebte Gottheitswehen!“ 
Umgaufeln mid die Lüfte lau. 


„Auf grüner Seen Lünmerwogen 
Alute dahin Tu nodı einmal, 

Ch Winterftürme aufgelogen 

Zu Eis das flüſſige Kryſtall!“ 


„Erklingen laß noch einmal Deine Leier,“ 

Jubelt die Lerche mir zum Abſchiedslied, 

„Ein heilig Lied zur heil'gen Abſchiedsfeier 

Dem ew'gen Lenz zum Preis, der nie entflieht!“ 


„Die liebe Bequemlichkeit. 


Aus dem Leben von Martha Sommer. 


Lieutenant Gebners geben heute abend ihre erjte Geiell: 
vür jede unerrahrene junge Hausfrau ijt to eine erite 
Geſellſchaft ein wichtiges Ereignis, 





aber wenn eine arme, 


das Avancement wartet, 


ijunge Lieutenantsfrau, die mit ihrem Manne ſehnſüchtig auf 
zum erſten Male die Vorgeſetzten 
des Herrn Lieutenant am eigenen Tiſche bewirtet, hat ſie das 
Gefühl, als hinge die Carriere ihres Mannes von dem Ein- 
druck ab, den der Herr Oberſt von dieſer erſten Geſellſchaft 
mit nach Hauſe nehmen wird. Und wenn auch wohl nicht 
jede Lieutenantsfrau ſo denkt, Lilli Geßner glaubt es und 
iſt ängſtlich bemüht, das Feſt ſo vollkommen wie möglich zu 
geſtalten. 

Schon ſeit dem frühen Morgen herrſcht im ganzen Hauſe 
eine fieberhafte Thätigkeit. In der Küche waltet eine behäbige 
Kochfrau ihres Amtes, von dem Mädchen des Hauſes in ihrer 
verantwortlichen Arbeit unterſtützt. Im Eßzimmer deckt der 
Burſche des Herrn Lieutenant unter Anleitung eines um— 
ſichtigen Lohndieners die Feſttafel, die Hausfrau ſelbſt lauft 


- im ganzen Hauie umber, hier nad) dem Nedyten fehend, dort 


etwas anordnend. 

„Sch beihmwöre ie, Frau Helbing,” wendet fie fih an 
die Kodhfrau, „lafien Sie da3 Tchienfilet nicht zu lange 
braten, ‚srtau Cherit ibt e5 gern recht rot. Ad, Sie glauben 
gar nit, wie viel oft von einem guten Penü abhängt,“ 
test fie Seufzend hinzu. Lie Kochkünftlerin lat und vers 
ipricht ihr beites zu leiiten. 

Tie Hausthürglode ertönt. 

„za flingelt es Ihon wieder!“ ruft die junge rau 
lebhaft aus, „das ift das zwölfte Mal heute morgen. Nein, 
lajien Sie, Toris, id) will wohl jelbit öffnen. Hoffentlich 
werden jest die Tiihbouquel3 gebracht.“ 


Sie eilt auf den ‚slur und öffnet die Hausthür. Ein 


 sinabe von etwa zehn Jahren fteht vor ihr, ein blajies, 


franf auzjehendes Kind in diinner Jade, an der die Wolle 
abgetragen tit. Ser Anzug tft ihm viel zu groß und ichlottert 
unordentlih um den mageren, fleinen Nörver. 

Lie durhlöcherten Stiefel find ebenfalls zu groß, die 
Epige hat fih nad) oben umgebogen. Zie Sojen find zer: 
riiien, jo daß die bloßen Sniee heraußguden. Aut dem 
Kopie trägt er einen ihmusgigen Strobhut, an dem der 
Dedel halb abgeirennt iit. Lie vom ‚sroit blau angelaufenen 
Hände jteden weit au8 den zerrijjenen irmeln heraus. 

Der Junge murmelt eine unverftändlidhe itte und ftarrt 
mit weit aufgerifienen Mugen an der Dame vorüber nadı der 
nüde hin. Die Thür jteht offen und würzige Tüfte ftrrömen 
auf den ;slır Hinaus. Tas Hungrige Sind atmet fie be- 
gierig ein. 

„Zu biit wohl jehr hungrig”* fragt ihn die Tame teils 
nahmsvoll. 

„Ich hab' all ſeit vorgeſtern nix Ordentliches mehr ge— 
geſſen.“ 

„Oh!“ Der jungen Frau treten die Thränen in die 
Augen, ſie will dem Kinde gern etwas Warmes zu eſſen 
geben, aber ſie hat nichts. Dort in der Küche wird für mehr 
als zwanzig Perſonen ein opulentes Mittageſſen hergerichtet, 
aber noch iſt nichts von den Speiſen fertig, ſie kann dem 
halb verhungerten Kinde nicht einmal einen Teller Suppe 
geben... Der Junge konnte ja warten, denkt fie, man 
fönnte ihm Gfien vom geitrigen Tage aufiwärnıen, aber ei 
ift feine Zeit dazu da! Eie jelbit mu Toilette maden und 


117 


die rauen in der Küche haben alle Hände voll zu thun, um 
rechtzeitig fertig zu werden, fie fann ihnen unmöglidy neue 
Arbeit aufbürden. Nun, fie wird dem Kinde Geld geben. 
Da fällt ihr ein, daß ihr einmal eine jehr wohlthätige alte 
Dame gelagt Hat, e3 fei ein umverantwortlier Leichtfinn, 
bettelnde Kinder mit Geld abzufinden und fie fonit in Ber: 
juhung zu führen. Wer wirflid helfen wolle, möge bie 
Inbequemlichfeit nicht fcheuen, die Eltern der Kinder auf: 
zufuhen, um Dielen direft die Wohlthaten zukommen zu 
laffen. Daran denkt Lilli plöglid, und ihr Entihluß jteht 
feft. Sie will den armen Leuten helfen, aber fie will au 
das Kind nicht hungrig fortihiden. 

„Doris,“ ruft fie, zur Küche hingewendet, „bringen Sie 
mal ein paar Semmeln ber, ftreihen Sie auch Butter darauf.” 
Und dann, fi) zum Sinaben niederbeugend, in defien Augen 
c3 glüdlih aufleudtet: „Wie heit Du, mein Junge?“ 

„Karl Mießner.” 

„Und wo wohnit Du?“ 

„NRabenftraße Nr. 10, fünfte Etage.” 

„Hat Dein Vater feine Arbeit?” 

„Der 18 all feit'n Sommer tot.“ 

„Und Deine Mutter?” 

„Die 18 immer franf.* 

„Halt Du nod Geihmiiter?“ 

„Noch fieben, aberft die fünd Tleiner als ich.“ 

Acht Heine Kinder und eine Witwe ohne Verdienft! 
denkt die junge rau fhaudernd. Das Mädchen bringt dag 
Brot, weldyes das Kind gierig in Empfang nimmt. 

„Adieu, Karlchen, Heute fann id Dir nicht mehr geben, 
aber morgen fol mein Mädchen Euch einen großen Storb voll 
Efien bringen.“ Tas Kind lauft ohne Dank, aber glüd: 
ftrahlend davon. 

Frau Lili geht in ihr Schlafzimmer, um fi} für ihre 
Gäſte umzukleiden. Sie hat fih fo auf den Abend gefreut, 
aber jegt ift ein Schatten auf ihre Freude gefallen. Gie 
muß daran denken, daß das Geld, welches dieje eine Gelell- 
ihaft foften wird, außsgereicht hätte, um eine arme Yanilie 
wochenlang zu ernähren. Sie empfindet e& plöglid als 
bittere8 Unrecht den armen Leuten gegenüber, ein bderarlig 
üppiges Felt zu veranftalten, während fie nicht einmal fo= 
viel haben, um fatt zu werden. „Aber,“ gelobt fie fich, „fie 
jollen ihren Anteil daran haben. {sch werde ihnen. von allen 
Speifen reichlich Ichicken, ic felbft gehe morgen hin und fuche 
die arme Frau auf, elwas von meinem Monatögeld fann 
ih für fie erübrigen, und zwifchen meiner Garderobe findet 
fi) wohl auch allerlei, das ich ihr geben fann!“ Ihr wird 
wieder leicht um8 Gerz, fie ift nicht geizig und hartherzig, 
nein, gewiß nicht, fie giebt gern, von Herzen gern! — — 

C3 ift am Abend. Das Felt hat feinen Höhepunft er- 
reiht. Die Gefelfchaft ift in befter Stimmung, der Wein 
hat feine Schuldigfeit gethan. — Die junge Hausfrau ift 
überglüdlih), noch eben Hat ihr die Sray Oberft ihre An- 
erfennung über ba3 reizend gelungene Felt außgeiprocen. 
Das traurige Intermezzo vom Nachmittag hat fie ganz ver- 
geifen. E8 ilt jehr heiß im Saal, fie eilt ans Fenſter und 
öffnet 8. Ein eifiger Windhauh jchlägt ihr entgegen, e8 
muß draußen bitter kalt fein. Plötlich fallt ihr da8 hungernde 
Stind ein. Wo e3 jett fein mag? Ob ed überhaupt ein 
Bett Hat? Etwa wie Scham überfällt fie, daß fie über die 
Genüffe und das Vergnügen der legten Stunden das arme 
Sind ganz vergefjen hat. „Friedrich,“ wendet fie fih an den 
vorübergehenden Diener, „Tagen Sie Doris, fie folle gleich 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


118 


heute abend von den übriggebliebenen Speilen etwas für 
eine arme Familie zurüdfegen, Sie können e8 den Leuten 
dann morgen hintragen * — — 

Der Tag nad einer Gejellichaft pflegt jelten gemütlich 
zu bverlanfen, am menigften für die Hausfrau. Man ift 
angegriffen vom Tage vorher und findet Doc, feine Zeit, fich 
audzuruhen, denn c8 giebt genug zu thun, um die Spuren, 
welche das elt zurüdgelaffen bat, zu bejeitigen. Dazu 
fonımt der rger über zerfragte Fußböden, zerfchlagenes 
Borzellan, verlegtes Silberzeug u. |. w. 

AN diefe Eleinen Haußfrauenleiden maht aud) Lilli nach 
ihrer erften Gefelichaft durh. Miüde und abgeipannt legt 
fie fih in der Dämmerftunde auf ihre Chaifelongue, um 
endlich auszuruhen. Sie fühlt fich recht unbehaglid; nad) 
dem Glanze de3 geftrigen Abend erjcheint ihr alles nüchtern, 
hal und langweilig, fie fühlt einen dumpfen Schmerz im 
Kopf und dazu diefe bleierne Müdigkeit! Aber fchlafen 
fann fie troßbem nit. Sie rafft fih auf und nimmt eine 
Handarbeit zur Hand, vielleicht thut ihr Beichäftigung wohl. 
Sie madt ein paar Stihe und legt die Stiderei wieder 
fort, fie hat dod) feine Luft zum Arbeiten. Sie fängt an zu 
lefen, aber fie Elappt da8 Buch wieder zu, audy dazu fehlt ihr 
bie Luft. Ste legt fih wieder nieder und verſucht zu ſchlafen. 
Nlöglih fährt fie auf. Ste wollte ja den armen Leuten 
Eſſen ſchicken und Hat e8 vergeifen! und für heute ift e8 zu 
ipät. Der Burihe Hat für ihren Mann in dienftlicher An= 
gelegenheit zu thun, und Doris feuert die Küche, die kann 
heute nicht mehr ausgehen. Wenn fie felbft ginge? .... Sie 
fieht hinaus. Braußen heult der Wind und wirft große 
Schneefloden gegen die Scheiben. E83 ift ein entjetliches 
Wetter, aber fie will troßbdem gehen, fie fan doch die armen 
Leute nicht hungern laffen! Mit einem leifen Seufzer ver- 
läßt fie ihr warmes Lager. Da tritt ihr Mann ein. Gie 
erzählt ihm, was fie vorhat. — 

„a8, bei dem Hundemetter willit Du ausgehen, Kind?! 
Auf keinen Fall, Du würdeft Dich jchön erfälten, Du bit 
jo wie fo nit ganz wohl.“ 

„Aber, Ernit, den Leuten muß doc, geholfen werden,” 
wendet fie ein. 

„Ah was, in einem Tage gehen die auch nicht zu 
Grunde! Deshalb Ffannft Du unmöglid) um diefe Stunde 
und bei dem Wetter nad) der Rabenftraße binauspilgern, 
denf nur an den weiten Weg. Du fannft ja morgen mittag 
gehen, morgen ift da8 Wetter ficher wieder gut. Und mid) 
vergißt Du jet wohl ganz?! Heute habe ich endlih mal 
einen bienftfreien Nachmittag und da wilft Dur ausgehen!“ 

„Schon gut, Brummbär, ich bleib’ zu Haufe,” Tagt fie 
lähelnd, im Grunde froh, daß ihr die Unbequemlichkeit er: 
fpart ift; dann zögert fie doch wieder: muß fie nicht troß 
alledem ihre Pflicht erfüllen? ... „Aber,“ Tagt fie fich gleid) 
darauf, in echt weiblicher Logik und mweibliher Schwachheit, 
„liegen Dir die Pflichten gegen Deinen Mann nicht weit 
näher als die gegen fremde Menichen? Ja gewiß, natürlich), 
fie thut ebenfowohl ihre Pflicht, wenn fie Heute nicht zu den 
Leuten geht, jondern fid) ihrem Manne widmet! Und in dem 
angenehmen Bewnßtfein, eine unbequeme Verpflichtung los⸗ 
geworben zu fein, ohne den Weg ber Pflicht zu verlaffen, 
bleibt fie zu Haufe. — — 

Der Sturm hat fi in der Nacht auögetobt, die Schnee- 
Hoden find zur Erde gefunten und am nädften Morgen ift 
die berrlichfte Schlittenbahn. Cine lang geplante, vom 
Kommandeur arrangierte Schlittenfahrt foll heute zur Auß« 


a nn — — — — — 


119 


führung gebradjt werden. Die Einladungen find am frühen 


Morgen ergangen, um zwei lihr tft die Abfahrt. 

Much Lieutenant Gebners find zur Teilnahme an ber 
Partie aufgefordert worden. Lili freut fih wie ein Kind. 
Sdlittenfahren ift ihr fchönftes Vergnügen; e8 wird reizend 
werden, denn alle Bekannten, die borgeftern auf der Gejell- 
Schaft waren, fahren audy mit, die Stimmung wird jehr fidel 
werden. Ind meld’ pracdıtvolle Gelegenheit, daß neue Tuch: 
tleid, das ihr fo entzüdend fteht, anzuziehen! Ach, es ift zu 
ihön! Cie führt wirklich ein herrliches Leben! Wenn e8 
doc alle Leute fo gut hätten wie fie! Sa, da wünſcht ſie 
wirffid) von Herzen... Plößlich geht e8 ihr wie ein Stid) 
durd)8 Herz: jene armen Leute! llber ihr Vergnügen hat 
fie fie wieder vergeffen! Eie fann auch heute nit hingehen. 
Eic [hämt ficd) ihres eigenen Sh’8. „Nun, Toris fol heute 
iedenfall8 Hingehen, ich gehe dann morgen,” jagt fie fi) 
zu ihrer eigenen Beruhigung. 

Sie ift zur Abfahrt bereit. Der Schlitten, ber fie und 
ihren Mann abholen fol, muß jeden Augenblid fommen. 
Sie eilt fchnell nod einmal in die Kühe: „Lorid, wenn 
Sie mit Jhrer Arbeit fertig find, paden Sie die Speiferefte 
bon vorgeftern in einen Korb und bringen fie nad) der 
Htabenftraße Nr. 10 zu einer Fran Miehner, in fünften 
Stod. Beitellen Sie nır einen jhönen Gruß von mir.“ 

„Ich, gnäd’ge FZrau,” winmert Doris, „ausgehen kann 
ih heute würklich bei ’n beiten Willen nid’, ich hab’ bei die 
gräßige Kälte wieder meinen Rhe'me’thisnms gefriegt und 
wenn ich mir nu’ nich’ warmbhalten thu’, werd’ id) furch’bar 
krank!“ 

Der Hausherr erſcheint im Rahmen der Küchenthür: 
„Lilli, wir müſſen uns beeilen, der Schlitten iſt da.“ 

„Ach, Ernſt, kann Friedrich nicht heute nachmittag etwas 
für mich beſorgen?“ 

„Das thut mir leid, Kind, es geht nicht, der Burſche 
muß heute bis zum Abend in der Kaſerne bleiben. Aber 
komm, es iſt wirklich die höchſte Zeit.“ 

Sie folgt ihm zögernd. Sie kann doch die Leute nicht 
noch länger warten laſſen! Aber was ſoll ſie thun, da ſie 
niemand zum Schicken hat? Soll ſie von der Partie zurück⸗ 
bleiben und ſelbſt gehen? ... Das iſt unmöglich! Was 
wird der Oberſt ſagen, wenn ſie ohne „ſtichhaltigen“ Grund 
ſeine Einladung ausſchlägt? Nein, ſie muß gehen, ſie iſt es 
ihrem Manne ſchuldig und — morgen iſt ja auch ein Tag! 

Cie gebt alfo wirklih. Anfangs fteht fie freilich unter 
dem Trucde eines unbehaglichen Gefühls verfäumter Pflicht, 
aber in der Iuftigen Gefellfchaft verfliegen ihre Sfrupel in 
furzer Zeit und bald hat fie die armen Leute vergeffen. 

Auh am nädften Tage findet fi) feine Zeit für die 
franfe Witwe, und in dem Trubel von Gefellichaften und 
Vergnügungen, in dem die junge Frau lebt, verblaßt die 
Erinnerung an jene arme Yamilie bald gänzlid). 

Einige Wochen find jeit den Gefellichaftötage vergangen. 
Lili figt eined Morgens, die Zeitung Iefend, am SKaffeetifch. 
Sie hat geftern wieder bis fpät in die Nacht hinein getanzt. 
Geit vierzehn Tagen ift fie mit ihrem Manne Abend für 
Abend in Gejelihaft geweien. 

„Wenn Sie diejed Leben und Treiben noch lange fort- 
führen, gnäbdige Srau, fo werden wir Sie demnädjft in eine 
Kaltwafferanftalt bringen müffen,” bat ihr der Haugarzt 
geftern gejagt, und fie fühlt, der Mann hat nicht ganz un- 
recht, ihre Nerven find in einem troftlofen Yuftand, fie er- 
Ihridt über das leifefte Geräufch, bei der geringfiten Er: 


Berblatt der Deutihen Noman-Zeitung. 





750 


regung bridt fie in Thränen aus, fie fchläft des Nadıts fo 


gut wie gar nicht mehr. So geht es nicht weiter, fie muß 
entichieden ruhiger leben. 

Sogar bie Zeitung zu leien ftrengt fie an, obwohl fie 
dieſes Blatt nur in ber oberflädlidhen Weijfe Lieft, wie die 
meisten Frauen, nur die Familienanzeigen und die Hof: 
berichte werden eingehend studiert, zumeilen erhält auch der 
lokale Teil einige Beachtung: 

„Las Opfer Shädlicher Kohlenausdünftungen,” Tieft fie, 
„wurde vor einigen Tagen cine, in der NRabenftraße wohn: 
hafte Zamilie Mießner. Tie Frau, eine Witwe, und adt 
Kinder find dabei ums Leben gefommen. E3 liegt Selbit- 
nord vor. Tas Motiv hierzu Joll fraijefte Armut gewejen 
fein. Wir fommen im Nbendblatte auf den Vorfall zurüd.“ 

2illi Hat gelefen. Gentnerjchwer legt es fi ihr auf die 
Bruft. Wenn fie nur weinen fönnte, aber fie fann nicht! 
Ein Efel vor fich felbit ergreift fie. Was Hat fie gethan! 
Sie lacht ſchrill und häßlich auf: 

„Die Bequemlichkeit, die liebe Bequemlichkeit!“ 

Es wäre ihr ein Leichtes geweſen, den Leuten zu helfen, 
ſie hat es verſäumt, weil es ihr unbequem war ... Ein 
Schauder durchrinnt ihren Körper: „Du haſt ſie gemordet!“ 
ruft ihr eine innere Stimme zu. „Du biſt eine Mörderin,“ 
wiederholt ſie, ohne es zu wollen, laut. Wie entſetzlich das 
klingt! Eine furchtbare Angſt überfällt ſie, ſie ſpringt auf, 
ſie will zu ihrem Manne eilen: Das Zimmer dreht ſich vor 
ihren Augen, es ſauſt und ziſcht ihr in den Ohren, Mörderin! 
Mörderin! klingt es wieder und wieder. Die Kreiſe werden 
enger, immer enger, ſie taſtet nach einem Halt, wankt und 
fällt zu Boden, noch einmal ſchreit ſie gepeinigt auf, dann 
verliert ſie das Bewußtſein. 


Auf der Heide. 


Auf der Heide trieft der Nebel, 

Trüb und öde iſt der Tag. 

Dort im alten Katenhauſe 

Einer driſcht mit müdem Schlag. 

Langſam ſchallt der Takt herüber. 

's iſt, als hörte ich die Uhr 

Traurig gehen im verhangnen 

Sterbezimmer der Natur. 

Müde ſchallt der Takt herüber. — 

Ob ein Greis den Flegel ſchwenkt, 

Ob ein Jüngling: in Gedanken 

Iſt er offenbar verſenkt. 

„Wär's erſt Abend! Wär's erſt Abend!“ 

Ruft der monotone Schall. — 

Müder Alter, Ruhe wird Dir 

Bald mohl hinterm Kirchhofswall. 

„Wär's erſt Abend! Wär's erſt Abend!“ 

Schallt des jungen Dreſchers Schlag. — 

Jüngling! nach der Liebſten Nähe 

Sich Dein Herz wohl ſehnen mag. — 

Einſam hier am Wanderſtabe 

Stehe ich und höre zu, 

Und mein Herz fängt an zu bluten, 

Seufzend auch nach Glück und Ruh. 
CEhr. Dietr. OQweſen. 





181 


Die Tilien auf Schloß Söborg. 
Von A. 5chilling. 


Woldemar Attertag, der König von Dänemark, ſtand 
in ernſte Gedanken vertieft an dem Ufer des rauſchenden 
Oreſund. Er war von ſeinem Pferde geſtiegen, lehnte, den 
Arm auf den Sattelkopf geſtützt, das ſinnende Haupt auf 
die flache Rechte und blidte mit den großen, feurigen, blauen 
Augen weit über das unruhige Gewäſſer hin, bis nach 
Schwedens lichtem Geſtade. Um ihn her ſtanden ſeine Ba: 
ſallen, ſuumm ihren König betrachtend. Zum fröhlichen 
Jagen waren ſie befohlen, Minute um Minute verſtrich; 
die Sonne ſtand ſchon hoch, aber der Fürſt konnte ſich nicht 
losreißen von feinem Sinnen, feinen fchmerzlihen Gedanten. 

Die Pferde wurden unruhig; fie wieherten und ftampften 
den weichen Boden. Woldemar bemerkte e8 nit. Schwere 
Zeiten lagen hinter dem tapferen Strieger. Das Glüd hatle 
id) von ihm gewandt. Ter Eriegeriiche Fürft, der ftolze, 
herridfücdjtige König hatte Schweden und Norwegen verloren 
und er Eonnte diefen Verluft nicht überwinden. 

Der Wind, der über daB WVaffer fuhr, machte fid) auf 
und fing fi in den Kronen der alten Birken, beugte ihre 
Wipfel und fpielte mit den langen, gelben Loden des fürft: 
lidien Hauptes. Der König ward e8 nicht gewahr und blidie 
unverwandt träumerifd; über ben Orefundb und Hatte jein 
Gefolge und die vorgenommene Sagdpartie volljtändig ver: 
geilen. 

Ta wagte e8 Ritter Tief, der junge Günftling Woldemars, 
an den Sinnenden heranzutreten. 

„Mein König und Herr!“ fragte er leiſe. „Was nimmt 
Deinen Einn gefangen, dab Du alfo in die Ferne blidfi? 
Wir barren ale hier Teines Befehls. Tie Eonne fteigt 
höher. Der Tag wird fi bald neigen!“ 

Ta warf der Fürft zornig das Haupt herum und ein 
bernichtender Blid traf den Lühnen Frager. 

„Bube, was wagit Tu!” rief Waldemar ftolz und herriid). 
„Zu haft jie verichendt meine Gedankın, mid) von ihnen 
gebradt. Fort, au8 meinen Augen! Nie wieder erfcheine 
vor mir; es jei denn, Tu wüßteſt mir Wort für Wort zu 
lagen, was id) in diefen legten Minuten gedadjt; aber genau, 
Wort für Wort. Bis dahin bleibft Tu von meinem An 
geliht verbannt, unmiderruflih, ohne Gnade! — Fort!" — 

Der König Ihwang fih auf jein Pferd, warf das feurige 
Zier herum und fjprengte in jaufendem Galopp in den nahen 
Wald, gefolgt von feinem Troß. 

Sejenkten Hauptes ftand der junge Olıf und ließ die 
bunten Geftalten der Hofgejelihaft an fid) vorüberfliegen. 
Er hielt mit fefter Hand die Zügel feines Roſſes, das 
mutig den anderen Gefährten zu folgen verfuchte. 

„Verbannt!” fagte er tranvig und lich jidy niederfinfen 
in den weiden Moosboden. 

„Verbannt auf ewig! Denn wie joll id) feine Sedanten 
wilien Wort für Wort?" — 

Und wie er jo verzweiflungsvoll vor fidh niederftarrte, 
da hörte er plöglic ein Leifes Naufchen in deu: Zaube neben 
fi), und als er die Augen erhob, jtand vor ihm die hohe 
Geftalt einer ernften, uralten Jrau. Ungebeugt tiug fie den 
Oberkörper, das runzelige, wettergebräunte Geſicht zeigte 
regelmäßige Züge und einen eigenartigen durchgeiſtigten 
Ausdruck. Die großen, tiefliegenden Augen blickten forſchend 
und ernſt den jungen Ritter an. Erſchreckt ſprang er auf. 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





782 





Er war abergläubiſch wie alle Nordländer und wußte ſoſort, 
daß die geheimnisvolle Erſcheinung einer jener Sibyllen ſei, 
die vereinzelt in den Wäldern und Felſen Nordlands hauſten. 
Man begegnete ihnen nicht gern, denn ſie brachten Unheil, 
und ihren Nat ſuchte man nur in ganz verzweifelten Fällen. 
Aber es ſtand feſt, ſie wußten mehr als andere Menſchen. 
Sie ſtrichen beſtändig im Lande umher, ſahen und hörten 
viel und galten dafür, alles durch Einflüſterung höherer 
Weſen zu wiſſen, oder ſogar durch göttliche Eingebung zu 
haben. Sie hielten ſich fern von den gewöhnlichen Sterblichen 
und für etwas Höheres, Beſſeres als die Menſchen im all—⸗ 
gemeinen. Selten gönnten ſie jemand das Wort. Der 
junge Ritter war daher höchſt verwundert, als die wunder: 
bare Alte näher zu ihm herantrat und, begütigend die Hand 
hebend, mit tiefer Stimme ſprach: 

„Was bekümmerſt Du Dich, junger Mann, und ſorgſt 
Dich? Nichts iſt leichte als Deine Aufgabe. Ehe die 
Sonne dort niederſinket in die brauſenden Fluten des Ore— 
ſund, wirſt Du dem Könige Wort für Wort ſeine Gedanken 
ſagen. Und an dieſe Gedanken knüpft ſich eine Prophezeiung, 
die ſein ſtolzes Herz erzittern laſſen wird: Komm folge mir. 
Ich will Dir verkünden, was mir bewußt!“ 

„Wer biſt Tu, kluge Frau?“ rief der junge Ritter, 
furchtſam einen Schritt zurücktretend und mit abergläubiſcher 
Scheu die gebietende Geſtalt der Greiſin betrachtend. „Wer 
biſt Du, daß Du ſolches wiſſen kannſt? Das gehet nicht 
mit rechten Dingen zu!“ 

„Thor!“ lachte die Alte, „fürchteſt Du Dich vor mir? 
Ich bin, wie die Leute ſagen, eine Spaargewende und ver⸗ 
lehre nur mit guten Geiſtern, die von Gott geſandt ſind. 
Ich will Dein Glück, und Dich mit dem Fürſten verſöhnen. 
Folgſt Du mir nicht, ſo wird ſich doch des Königs Geſchick 
erfüllen, Du aber bleibſt verbannt von ſeinem Angeſicht. 
Ehre und Ruhm ſteht auf Deiner Stirn, Du wirſt ſie er⸗ 
langen, wenn Du meinen Rat befolgſt. Komm, zögere nicht.“ 

Sie wandte ſich ſtolz um und ſchritt in das dichte Ge⸗ 
büſch hinein, aus dem ſie hervorgekommen. 

Einen Augenblick blieb Olef zögernd ſtehen, dann aber 
faßte er die Zügel ſeines Pferdes und es ſorgſam führend, 
folgte er der Voranſchreitenden in den Wald. — 

Der Abend begann hereinzubrechen. Die ſinkende Sonne 
warf ihre glühenden Strahlen über das ſchäumende Waſſer 
und ſeinen blühenden Uferrand. Da erklangen Hüfthörner, 
Rüdengebell, Pferdegetrappel und aus dem Dickicht brach 
die heimkehrende Jagdgeſellſchaft hervor. 

König Woldemar voran, ſtrahlend vor Luſt und Ver— 
gnügen, denn die Jagd war gut geweſen und reiche Beute 
wurde nachgeſchleppt, hielt einen Augenblick ſein feuriges 
Roß. Da trat plötzlich Ritter Olef entſchloſſen auf den 
Fürſten zu, und ſein Knie beugend, rief er bittend: 

„Mein König und Herr, nimm den Bann von Deinem 
treuſten Vaſallen! Ich will löſen, was Du geboten und 
Deine Gedanken ſagen Wort für Wort, die Du gehabt heute 
hier auf ſelbiger Stelle.“ 

„Gut, es ſei!“ ſagte der König und blickte mit Wohl— 
gefallen und Verwunderung auf den kühnen Sprecher. „Aber 
das ſage ich Dir, berichteſt Du mich falſch, iſt Dein Leben 
verwirkt. Nede, was dachte ich?“ 

Der junge Ritter erhob das Haupt und ſah ruhig in 
die flammenden Augen ſeines Gebieters und ſprach: 

„Du dachteſt, als Tu heute früh weit über den Oreſund 
blickteſt, bis hin nach der fernen Küſte Schwedens: Ob es 











Tapferkeit, Echweden und Norwegen wieder zu gewinnen 
und fo die drei Stönigreiche zu vereinen!“ 

„sa!" fagte der König überrafht, „Da8 waren meine 
Gedanken Wort für Wort!“ 

„Bernimm weiter, mein König und Herr, die Antwort 
bed Schidjals auf Deine Frage!“ 

„Wohlan, id) höre!“ 

„E8 wird niemals gefchehen; jo lange Du am Leben 
bift, wird Echweden, Norwegen und Dänemark getrennt von 
einander bleiben, aber was Dir und Deiner Tapferkeit nicht 
möglid) war, wird der Lift einer Eugen Jrau gelingen und 
diefe Grau wird Deine eigene Tochter fein; fie wird die drei 
Neiche wieder vereinen.” 

„Niemals!“ braufte der König leidenichaftlid) auf. „Das 
fol niemals geichehen. — Du aber, Dlef, bift in Gnaden 
wieder angenommen. Du follft mein tireuejter Vajalle jein 
und der Vollftreder eines ftrengen Befehls. Belteig Dein 
Pferd und begleit mid, wir haben Eile, denn heute nod 
will ih) mich von Margaret, meiner fürftlihen Gemahlin, 
trennen, und Du follft fie binführen in mein altes, feites 
Schloß Söborg. Du mubt voraneilen und alles zu ihrem 
Empfange bereiten, denn id) will die fhöne rau niemals 
wiederjehen!” 

Er jprady’3, riß fein Pferd herum und eilte das Ufer 
entlang nad) feinem Sonmerihloß, gefolgt von Dlef, den 
er zu ſich gerufen. 

Die Ritter und Bafallen feines Gefolges ritten langfam 
nad. Sie waren tief bewegt von des Königs harten Worte, 
denn jie liebten ihre junge, fchöne Königin und Fannten 
Woldemars unbeugfamen Willen. — Margaret war verloren. — 

Hoh oben auf waldiger Höhe lag einfan und welt: 
verlafien ein altergraues, ftattlihe8 Schloß. Die Könige 
bon Dänemark liebten Schloß CSöborg auf Selland; e8 war 
ein fehr romantisch gelegenes Fledchen Erde: hohe Bäume, 
dichte Waldungen, blühende Gefilde. Umfpült vom braufenden 
Gewäſſer, Iugte die alte Feite aus ihrem Verfte hervor 
wie ein Shüchternes Mädchenauge. 

Schloß Söborg war immer einfam gewejen, wenn die 
Fürften de Landes nad) kurzem Aufenthalt von ihm gezogen 
mit Noß und Troß, aber feitdem die alten grauen Mauern 
bor Sahresfrift eine Schöne, jugendliche Gefangene bargen, 
war e8 abgeichlofjener als je von jedem Verkehr. 

stönig Woldemar hatte fi Wort gehalten; feine Ge- 
mahlin Margaret ward verbannt von ihm und nad Schloß 
Söborg gebradt. Sie Hatte ihren Kleinen Hofftaat mit- 
genommen. Pracht und Reichtum ungab fie, aber für den 
König war fie tot. Nie durfte ihr Name genannt werben. 
Niemand wußte von ihr. Sie war für alle daheim ver: 
ſchollen. | 

Als ihr Gott nad wenigen Monaten ihrer Gefangen: 
Ihaft ein Zöchterchen fchenkte, weinte fie bei feinem Anblid 
bitterlich. 

„O!“ rief ſie ſchmerzlich, „es ſieht ſeiner Mutter ſo gleich, 
und die Töchter, die der Mutter gleichen, haben kein Glück!“ 

Königin Margaret ſah nämlich ganz anders aus als 
die Frauen Nordlands. Sie war ſchlank und zierlich von 
Geſtalt, ihr feines ſchmales Geſicht war von gelblicher Farbe, 
weich und durchſichtig wie Wachs, eingerahmt von tief— 
ſchwarzen glänzenden Haaren, und die ungewöhnlich großen 
dunklen Augen blickten wie durch einen Schleier unter den 
langen, ſeidenen Wimpern hervor. 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 784 





Die kleine Margaret ward das Ebenbild ihrer Mutter; 
ebenſo ernſt und ſtill wanderte ſie neben der trauernden 
Königin und ſpielte beſonders gern mit den bunten Blumen, 
die am Rande des Schloßhofes blühten. Vornehmlich waren 
es die ſchönen, gelben Oſterlilien, die in herrlicher Fülle 
duftend das Auge des Kindes erfreuten. 

Einſtmals wandelte die Königin mit der kleinen Margaret 
auch wieder über den Schloßhof, durch das alte, graue Portal 
in den nahen, dichten Wald, als plötzlich eine hohe Greiſen— 
geſtalt aus dem Dickicht hervortrat und vor der jungen 
Fürſtin ſtehen blieb. Sie ſtreckte den langen, dürren Arm 
wie beſchwörend aus und ſagte mit tiefer, ernſter Stimme. 

„Grüß Dich Gott, Königin Margaret Fliehe nicht vor 
mir und fürchte Dich nicht. Ich bin ein Weib wie Du 
und war auch einſtmals jung und ſchön wie Du, aber es 
iſt lange her. Dasſelbe Geſchlecht, das Dich gefangen hält 
und Dich ungerecht quält, hat auch mir das Herz gebrochen, 
aber vor Gram ſtirbt man nicht. Ich bin uralt geworden 
und durchſtreife Wald und Feld, Länder und Meere und 
kenne die Welt und die Menſchen; die Zukunft liegt vor 
meinen ſehenden Augen und viel iſt mir bewußt, was die 
Geiſter mir zutragen. Traure nicht, hohe Frau. Dein Leid 
hat bald ein Ende. Merk Dir: wenn ſechs Jahre verfloſſen 
ſind, ſeit Woldemar ſich von Dir gewandt, wird er Dich 
wieder zu ſich erheben; um die Zeit, wenn die Oſterlilien 
blühen, wird Dein Geſchick ſich wenden. Und Deine Tochter 
wird eine kluge, ſtrenge Regentin ſein und wird es dem 
trügeriſchen Geſchlecht heimzahlen mit grauſamer Härte, 
was es einſt gegen die Mutter verſchuldet!“ 

Die Alte ſtand wie ein Bild aus Stein vor der zittern— 
den jungen Fürſtin, die, ängſtlich ihr kleines Mädchen an 
ſich ziehend, fromm die Hände faltete. 

„Wer biſt Du, geheimnisvolle Frau, die mir ſolches 
verkündet?“ fragte ſie ſchüchtern. 

„Ich heiße Norne, wenn Du meinen Namen wiſſen 
willſt, und ſtehe mit guten Geiſtern im Bunde. Kehre heim 
in das Schloß und wart ruhig der Dinge. Gedenk der 
Oſterlilien; ſie ſind geſegnet und werden Dir Heil bringen!“ 

Damit neigte die Alte den hochgetragenen Kopf ein 
wenig, breitete noch einmal wie ſegnend die Hände über 
Mutter und Kind und war im nächſten Augenblick ver— 
ſchwunden. Königin Margaret aber ging ſinnend nach der 
Burg zurück und betrachtete ehrfurchtsvoll die blüheuden 
Lilien, als Vorboten ihres wiederkehrenden prophezeiten 
Glückes! — 

Jahre vergingen. Da war es wieder einmal ein ſonniger, 
herrlicher Frühlingstag und wieder tönten Iuftige Jagd— 
börner durch den dichten Wald und mutige Pferde ftamıpften 
den weichen, ungleihen Boden. Das gehetzte Wild brach 
fid) gewaltfam Bahn und fnifternd fielen dürre Ylfte und 
raufchten die Blätter der niederen Gebüice. 

Stönig Woldemar hielt große Jagd und verfolgte leiden- 
Ihaftlid ein edles Wild. Sn feinem Eifer hatte er fich von 
feinem Gefolge entfernt und fah fich plöglich allein in einer 
Gegend, die er feit Jahren ftreng gemieben. Dort oben 
lag ja in ſchweigender Einſamkeit Edjloß Söborg, befjen 
alterögraue feite Mauern auf jein Scheiß fein Schönes, junges 
Weib umfhloffen. — Sort, fort von hier! Welche unfidht- 
bare Macht hatte ihn bHierhergezogen? Er wandte trogig 
fein Pferd, da eilte ein Eleines, reizendes Mädchen ihm nad), 
die, die Örmchen um einen vollen Strauß buftender Ofter: 
filie geichlungen, mit bittender Stimme rief: 








785 


„Halt an Dein Pferd, Ritter, und nimm mich mil. 
Steh, ich gebe Dir al die fchönen Ofterlilien, aber Dlargaret 
will hin zu ihres Vaterd Hof und ihn fragen, warım er 
fo Hart zu ihrer Mutter ift umb fie gefangen hält auf 
Söborg viele Sahre!* 

Und dag Heine, fchöne Kind trat fühn vor das feurige 
Pferd und fah mit ihren leuchtenden, bunklen Augen uns 
erihroden den König an. — Da ward Wolbemarß Herz er- 
weiht. Er erkannte fein eigenes veritoßenes QTöchterchen. 
E3 waren die Züge der Mutter, bie ihn entgegenlächelten, 
der rau, die mit ftiller, buldender Liebe an ihm gehangen, 
an ber er fein Fehl fand. Gerührt nahm er die Lilien 
aus der Eleinen Hanb und hob das Stind zu fi auf das 
Pferd. Er ritt hinauf in den Schloßhof und erlöfte feine 
fronme Gemahlin von ihrer Gefangenihaft und z0g fie 
wieder zu fid) an jein Herz und fie lebten miteinander ftill 
und friedlich, bis ber Tod fie trennte. 

E83 verging aber fein Jahr, wenn der Frühling fam, 
daß Königin Dlargaret nicht hinaufwallfahrtete nah Schloß 
Söborg, um fid) jelbft die Heiligen Ofterlilien dort zu pflüden, 
bie einft ihr Glüd wieder gegründet. 

König MWolbemar ftarb, ohne Schweden und Norwegen 
wieder mit Dänemark vereint zu haben. Das blieb feiner 
Tochter Margaret aufbehalten, wie die Geichichte weiß. — 

Sahrhunderte find darüber vergangen. Das alte Schloß 
Söborg auf Selland ift längft zerfallen. Selbft die Ruinen 
find faum noch zu erfennen. Nur ein Eleineö morjches Gewölbe 
der Schloßhofmauer zeigt die Stelle, an der die alte Burg 
ber ftolzen Dänenfönige einft über die weiten Lande und 
Meere geblidt. 

Aljährlid aber blühen in herrlicher duftender Pracht, 
in unvergänglider Schönheit die zarten Ofterlilien. 

Die jungen Mädchen Dänemarks pflüdten gern bie 
heilige Blume im Frühlingsfonnenfchein, denn fie foll eine 
geheimnisvolle Kraft in fi) bergen und Frieden bringen. 


Morgendild. 


Schimmernde See, 

Endlos und friedlidy gebreitet — 
Über bie fhlunmernde gleitet 
Leiſe die Morgenfee. 


Zaubert im Glanz 
Goldener Sommertagsfrühe 
Glitzerndes Funkengeſprühe 
Über den Wellentanz, 


Himmel und Flut, 

Die ſich im Wonnerauſch küſſen 
Unter den flammenden Güſſen, 
Strahlen in Goldesglut. 
Schimmernde See, 

Endlos und friedlich gebreitet — 
Über die Waſſer hinſchreitet 
Leiſe die Morgenfee. 


Eliſabeth Kolbe. 


m— ———— r r r⸗— — — — — — — — — — — —— — —— 
Roman⸗Zeitung 1896. 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





786 





Ueue Cyrik. 
Beſprochen von Karl Storck. 


(aAnm. Bei den großen Büchereingängen an die Roman⸗ 
Zeitung haben ſich die Neuerſcheinungen, vor allem auf lyriſchem 
Gebiete, gehäuft. Es muß deshalb entſchuldigt werden, wenn 
auch Werke älteren Datums erſt jetzt ihre Beſprechung finden.) 


J. 


Es muß Leute geben, die es nicht nur nicht abwarten 
können, ſich gedruckt zu ſehen, ſondern die zugleich der Chr: 
geiz erfaßt hat, mit mehreren Schriften im Kürſchner zu 
prangen. Zu dieſen gehört offenbar 

A. Wehrmann, a) Aus meines Scbens Mai. (Ott⸗ 
mahan i/Schl., Alex. Boden.) b) Gedichte und Erzaͤhlungen. 
(Berlin, Wild. SBleib) 

Hür adtzehn Gedihtchen und vierzehn Seiten Brofa hat 
er zwei Bändchen gebraucht, das ift das einzige, maß Er« 
wähnung verdient. Da aber ber „große* Feliv Dahn ihn 
ermuntert hat, weiter zu dichten, wird mein entgegengejeßter 
Nat wohl wenig nuten. 

In hundert Kleinen Lievern, die, nebenbei bemerkt, aud) 
auf 40 Duodezjeiten Plat gefunden haben, nicht eine padenbe 
Strophe, nit einen tieferen Gedanken gefunden zu haben, 
it dad Charalteriftiton für C. Klings BIRIMENBE: 
(Leipzig, Robert Slaußner.) 


Julius Gersdorff ift fogar gleidy mit drei ale 
jammlungen vertreten: a) Natur und DBelt. b) Lauten- 
ſpielers SKieder. c) Ellana. Eine Symphonie. 


Sie find alle im gleihen Jahre und in demfelben Ver: 
lage (Dresden, Morig Näge) eridhienen. Die Sadıe iſt 
aber nit fo fhlimm, wie fie fidh anhört, denn die drei 
Hefte haben zufammen kaum 150 Seiten Kleinoktav. Warum 
brei Hefte, ift nicht einzufehen. Das hätte Doch nur Zwed, 
wenn der Preiß dadurd ein fehr geringer würde. Aber der 
Verleger jcheint ein feltenes Exemplar von Optimiften zu 
ſein, denn die Bändchen koſten zuſammen 6,50 Mk. Wenn 
er alſo die Verbreitung der Büchlein hindern wollte, dürfte 
es ihm wohl gelungen fein. Ein Schaden iſt es ja nicht. 
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich alles ſchon einmal 
ſonſtwo geleſen. Aber daß der ſangesfrohe Mann Talent 
zum Singen hat, ſei nicht abgeleugnet, und Komponiſten 
für Liedertafeln, die ja oberflächliche, aber gut klingende 
Texte bevorzugen, finden zahlreiche Ausbeute. 


Adolf Holſt feiert als Vorbild ſeiner lyriſchen Ge: 
dichte Träumen (Srfurt, Ed. Moos) Cmanuel Geibel. 
Die rauichende, voltönende Sprade feines Vorbildes eignet 
ihn ja zum Teil, wie aud) deffen Formgewandtheit, aber 
es fehlt die ftarf empfindende Seele. 

Das ift Überhaupt das Stennwort für fehr viele Ge: 
dihtfammlungen. Sprache und Versmaß find meift erträg- 
lich, das Iegtere jogar oft mit großer Gewandtheit behanbelt; 
aud fehlt e8 den Berfaffern meder an Phantafie, nod) an 
Geihmad fie anzuwenden. Was aber fehlt, ift die ftarfe 
Seele, die Innerlickeit, die fräftige Perfönlichkeit, die audı 
ben abgenusteften Stoff noch eigenartig und ergreifend ge- 
ftaltet. WUndererfeitö fehlt allerdings aud) die Phantafie, 
bie Neues zeigt, noch nicht Geihauteg fihtbar madjt, originell 
ft. SH meine unter Cigenart durdaus nicht Senfation, 
jene, ja jet wieder weniger als vor einigen Sahren hervor: 
tretende Sudıt, um jeden Preis Neues, Unerhörteß zu bringen. 


IV. 55 








Tapferkeit, Schweden und Norwegen wieder zu gewinnen 
und fo die drei Stönigreiche zu vereinen!“ 

„Ja!“ ſagte der König überrafht, „das waren. meine 
Gedanken Wort für Wort!” 

„Vernimm weiter, mein König und Herr, die Antwort 
be8 Schidfald auf Deine Trage!“ 

„Wohlan, ich höre!“ 

„E83 wird niemals geihehen; fo lange Du am Leben 
bift, wird Schweden, Norwegen und Dänemarf getrennt von 
einander bleiben, aber wa Dir und Deiner Tapferkeit nicht 
möglid; war, wirb der Lift einer Mugen Zrau gelingen und 
diefe Frau wird Deine eigene Tochter fein; fie wird bie brei 
Neiche wieder vereinen.“ 

„Niemals!* braufte der König leidenfchaftlid auf. „Das 
fol niemals gefchehen. — Du aber, Olef, bift in Gnaden 
wieber angenommen. Du foljt mein treuefter Vafalle fein 
und der Vollftreder eines ftrengen Befchls. DBefteig Dein 
Pferd und begleit mid, wir haben Eile, denn heute nod 
will id) mid) von Margaret, meiner fürftlihen Gemahlin, 
trennen, und Du follft fie Hinführen in mein altes, feites 
Schloß Söborg. Du mußt voraneilen und alles zu ihrem 
Empfange bereiten, benn id) will die jhöne rau niemals 
wicderjehen!” 

Er fprad’3, riß fein Pferd herum und eilte das Ufer 
entlang nad) feinem Sommerihloß, gefolgt von Olef, den 
er zu fid) gerufen. 

Die Ritter und Bajallen jeine® Gefolges ritten langjam 
nad. Sie waren tief bewegt von bes Königs hartenı Worte, 
denn jie liebten ihre junge, jchöne Königin und kannten 
Woldemars unbeugfamen Willen. — Margaret war verloren. — 

Hodh oben auf waldiger Höhe lag einfam und welt: 
verlafien ein altergraues, ftattlihhe® Schloß. Die tönige 
bon Dänemark liebten Schloß Söborg auf Selland; e8 war 
ein fehr romantijch gelegenes Fledchen Erde: hohe Bäume, 
dichte Waldungen, blühende Gefilde. Umjpült vom braujenden 
Gewäſſer, Iugte die alte Fefte aus ihrem Verſteck hervor 
wie ein Schüchternes Mädchenauge. 

Schloß Söborg war immer einfam gewejen, wenn bie 
Türften des Landes nad) kurzem Aufenthalt von ihm gezogen 
mit Noß und Troß, aber feitdem die alten grauen Mauern 
vor Sahresfrift eine Schöne, jugendliche Gefangene bargen, 
war e3 abgejchlofjener als je von jedem Verkehr. 

stönig Wolbemar Hatte fi Wort gehalten; feine Ge- 
mahlin Margaret ward verbannt von thm und nad) Schloß 
Söborg gebradt. Sie hatte ihren Kleinen Hofftaat mit- 
genommen. Bradt und Reihtum ungab fie, aber für den 
König war fie tot. Nie durfte ihr Name genannt werden. 
Niemand wußte von ihr. Sie war für alle daheim ver- 
ſchollen. 

Als ihr Gott nah wenigen Monaten ihrer Gefangen: 
Ichaft ein Zöchterchen fchenkte, weinte fie bet feinem Anblid 
bitterlich. 

„D!” rief fie fchmerzlich, „es fieht feiner Mutter jo gleich, 
und die Töchter, die der Mutter gleichen, haben fein Glüd!“ 

Königin Margaret jah nämlich ganz ander aus als 
die Frauen Nordblands. Sie war fchlanf und zierlid) von 
Geftalt, ihr feines fchmales Geliht war von gelblicher Yarbe, 
weid, und durdfihtig wie Wach, eingerahmt von tief: 
fhwarzen glänzenden Haaren, und die ungewöhnlich großen 
dunflen Augen blidten wie durd einen Schleier unter den 
langen, feidenen Wimpern hervor. 





134 


Die Heine Margaret ward dag Ebenbild ihrer Mutter; 
ebenso ernft und ftill wanderte fie neben der trauernden 
Königin und fpielte befonders gern mit den bunten YVlumen, 
bie am Rande des Schloßhofes blühten. Vornehmlich waren 
es die fchönen, gelben Ofterlilien, die in herrlicher “ülle 
duftend da Auge des Kindes erfreuten. 

Einftmals wandelte die Königin mit der Kleinen Margaret 
auch wicder über den Edjloßhof, durch das alte, graue Portal 
in den nahen, dichten Wald, als plöglich eine hohe Greifen: 
geftalt au8 dem Didicht hervortrat und vor der jungen 
Fürftin ftehen blieb. Sie ftredte den langen, dürren Arm 
wie beihwörend aus und fagte mit tiefer, ernfter Stimme: 

„Srüß Did Gott, Königin Margaret liche nicht vor 
mir und fürdte Dih nit. Sch bin ein Weib wie Du 
und war aud) einftmald jung und fhöon wie Du, aber e8 
ift Iange her. Dasjelbe Gefdleht, dag Dich gefangen hält 
und Dih ungerecht quält, hat auch mir das Herz gebroden, 
aber vor Gram ftirbt man nit. Ach bin uralt geworden 
und durchftreife Wald und Feld, Länder und Meere und 
fenne die Welt und die Menden; die Zukunft Liegt vor 
meinen fehenden Augen und viel ift mir bewußt, was bie 
Geifter mir zutragen. Traure nicht, hohe Frau. Dein Leid 
hat bald ein Ende. Merk Dir: wenn jeh8 Sahre verfloffen 
find, jeit Woldenar fid) von Tir gewandt, wird er Tid) 
wieder zu fi) erheben; um die Zeit, wenn die Ofterlilien 
blühen, wird Dein Gefchid fi) wenden. Ind Deine Tochter 
wird eine Huge, ftrenge Negentin fein und wird e8 dent 
trügerifhen Geichleht heimzahlen wit graufamer Härte, 
was e3 einft gegen die Mutter verjchuldet!“ 

Die Alte ftand wie ein Bild aus Stein vor der zittern 
den jungen Fürftin, die, ängftlih ihr eines Mädchen an 
fi) ziehend, fromm die Hände faltete. 

„Wer bift Du, geheimnisvolle Frau, bie mir folches 
verkündet?” fragte fie Schüchtern. 

„sh Heiße Norne, wenn Tu meinen Namen tiflen 
wilft, und ftehe mit guien Geiftern im Bunde, Stehre heim 
in dba3 Schloß und wart ruhig der Tinge. Gedent der 
Dfterlilien; fie find gefegnet und werden Dir Heil bringen!“ 

Damit neigte die Alte den Hochgetragenen Kopf ein 
wenig, breitete noch einmal wie jegnend die Hände über 
Mutter und Kind und war im nädjften Augenblid ver: 
ſchwunden. Königin Margaret aber ging finnend nad der 
Burg zurüd und betrachtete ehrfurchtspoll die blühenden 
Lilien, als Worboten ihres wiederkehrenden prophezeiten 
Glückes! — 

Jahre vergingen. Da war es wieder einmal ein ſonniger, 
herrlicher Frühlinggtag und wieder tönten luſtige Jagd— 
hörner durch den dichten Wald und mutige Pferde ſtampften 
den weichen, ungleichen Boden. Das gehetzte Wild brach 
ſich gewaltſam Bahn und kniſternd fielen dürre Äſte und 
rauſchten die Blätter der niederen Gebüſche. 

König Woldemar hielt große Jagd und verfolgte leiden⸗ 
ſchaftlich ein edles Wild. In ſeinem Eifer hatte er ſich von 
ſeinem Gefolge entfernt und ſah ſich plötzlich allein in einer 
Gegend, die er ſeit Jahren ſtreng gemieden. Dort oben 
lag ja in ſchweigender Einſamkeit Schloß Söborg, deſſen 
altersgraue feſte Mauern auf ſein Geheiß ſein ſchönes, junges 
Weib umſchloſſen. — Fort, fort von hier! Welche unſicht— 
bare Macht hatte ihn hierhergezogen? Er wandte trotzig 
ſein Pferd, da eilte ein kleines, reizendes Mädchen ihm nach, 
die, die Ärmchen um einen vollen Strauß duftender Oſter⸗ 
lilie geſchlungen, mit bittender Stimme rief: 





785 


„Halt an Dein Pferd, Nitter, und nimm mid mit. 
Sieb, ic) gebe Dir all die fhönen Ofterlilien, aber Margaret 
will hin zu ihres Vaters Hof und ihn fragen, warım er 
jo Hart zu ihrer Mutter ift und fie gefangen hält auf 
Söborg viele Jahre!“ 

Und daß Lleine, Schöne Kind trat kühn vor das feurige 
Pferd und jah mit ihren leuchtenden, dunklen Augen uns 
erihroden den König an. — Da warb Woldemarg Herz er- 
weiht. Er erkannte jein eigenes verfioßenes Töchterchen. 
E3 waren die Züge ber Mutter, die ihn entgegenlächelten, 
ber Frau, die mit ftiller, duldender Liebe an ihm gehangen, 
an ber er Fein Fehl fand. Gerührt nahm er die Lilien 
au8 der Fleinen Hand und hob das Kind zu fih auf das 
Pferd. Er ritt hinauf in den Schloßhof und erlöfte feine 
fronıme Gemahlin von ihrer Gefangenihaft und zog fie 
wieder zu fih an fein Herz und fie lebten miteinander ftill 
und friedlich, bis der Tod fie trennte. 

3 verging aber fein Zahr, wenn der Frühling kam, 
dag Königin Margaret nicht hinaufwallfahrtete nach Schloß 
Söborg, um fid) felbft die heiligen Ofterlilien dort zu pflüden, 
die einft ihr Glück wieder gegründet. 

König Wolbemar ftarb, ohne Schweden und Norwegen 
wieder mit Dänemark vereint zu haben. Bas blieb feiner 
Tochter Margaret aufbehalten, wie die Geihichte weiß. — 

Jahrhunderte find darüber vergangen. Das alte Schloß 
Söborg auf Selland ift längft zerfallen. Selbft die Ruinen 
find kaum nod) zu erfennen. Nur ein Kleines nıorfches Gewölbe 
der Scloßhofmaner zeigt die Stelle, an der die alte Burg 
der ftolzen Dänentönige einft über die weiten Lande und 
Meere geblidt. 

Aliährlid aber blühen in herrlicher duftender Pradt, 
in unvergänglider Schönheit die zarten Ofterlilien. 

Die jungen Mädchen Dänemarks pflüdten gern die 
heilige Blume im Srühlingsfonnenfcein, denn fie foll eine 
geheimnispolle Kraft in fich bergen und Frieden bringen. 


Worgenbild. 


Schimmernde See, 

Endlos und friedlich gebreitet — 
über die ſchlummernde gleitet 
Leiſe die Morgenfee. 


Zaubert im Glanz 
Goldener Sommertagsfrühe 
Glitzerndes Funkengeſprühe 
Über den Wellentanz, 


Himmel und Flut, 

Die ſich im Wonnerauſch küſſen 
Unter den flammenden Güſſen, 
Strahlen in Goldesglut. 
Schimmernde See, 

Endlos und friedlich gebreitet — 
Über die Waſſer hinſchreitet 
Leiſe die Morgenfee. 


Eliſabeth Kolbe. 


EHER EEIEEIE SIR EBEGERKEHEE EHRE SEN 
Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


186 








Heue Lyrik. 
Beiprohen bon Karl Stork. 


(Anm. Bei den großen Büdjereingängen an die Romans 
Zeitung haben fi) Die Neuerfcheinungen, vor allem auf I yriihem 
Gebiete, gehäuft. ES muß deshalb entfchuldigt werden, wenn 
aud) Werke älteren Datums erft jegt ihre Belprehung finden.) 


I. 


Es muß Leute geben, die e3 nicht nur nicht abwarten 
können, fid) gebrudt zu fehen, fondern bie zugleid) ber Ehr- 
geiz erfaßt hat, mit mehreren Schriften im Kürfchner zu 
prangen. Zu diefen gehört offenbar 

A. Wehrmann, a) Aus meines Lebens Mai. (Ott⸗ 
madan i/Schl., Alex. Boden.) b) Gedigte und Erzäßlungen. 
(Berlin, Wilh. SBleib) 

Für achtzehn Gedichtchen und vierzehn Seiten Brofa hat 
er zwei Bändchen gebraucht, das tft da einzige, waß Er— 
wähnung verdient. Da aber der „große* Felir Dahn ihn 
ermuntert hat, weiter zu dichten, wird mein entgegengejeßter 
Nat wohl wenig nugen. 

In hundert Heinen Liedern, die, nebenbei bemerkt, auch 
auf 40 Duodezſeiten Platz gefunden haben, nicht eine packende 
Strophe, nicht einen tieferen Gedanken gefunden zu haben, 
iſt das Charakteriſtikon für C. Klings Alebeswonne. 
(Leipzig, Robert Claußner.) 


Julius Gersdorff ift fogar gleich mit drei Gedicht 
fammlungen vertreten: a) Natur und Welt. b) LKauten- 
ſpielers SKieder. c) Ellana. Eine Symphonie. 


Sie find alle im gleihen Jahre und in demfelben Ver: 
lage (Dresden, Morig Näge) erfchienen. Die Sadıe tft 
aber nicht fo ihlimm, wie fie fit) anhört, denn die drei 
Hefte haben zufammen kaum 150 Seiten Kleinoftav. Warım 
brei Hefte, ift nicht einzufehen. Das hätte dody nur Zweck, 
wenn der Preis dadurch ein ſehr geringer würde. Aber der 
Verleger ſcheint ein ſeltenes Exemplar von Optimiſten zu 
ſein, denn die Bändchen koſten zuſammen 6,50 Mk. Wenn 
er alſo die Verbreitung der Büchlein hindern wollte, dürfte 
es ihm wohl gelungen ſein. Ein Schaden iſt es ja nicht. 
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich alles ſchon einmal 
ſonſtwo geleſen. Aber daß der ſangesfrohe Mann Talent 
zum Singen hat, ſei nicht abgeleugnet, und Komponiſten 
für Liedertafeln, die ja oberflächliche, aber gut klingende 
Texte bevorzugen, finden zahlreiche Ausbeute. 


Adolf Holſt feiert als Vorbild ſeiner lyriſchen Ge⸗ 
dichte Traͤumen (Erfurt, Ed. Moos) Emanuel Geibel. 
Die rauſchende, volltönende Sprache ſeines Vorbildes eignet 
ihm ja zum Teil, wie auch deſſen Formgewandtheit, aber 
es fehlt die ſtark empfindende Seele. 

Das iſt überhaupt das Kennwort für ſehr viele Ge— 
dichtſammlungen. Sprache und Versmaß ſind meiſt erträg⸗ 
lich, das letztere ſogar oft mit großer Gewandtheit behandelt; 
auch fehlt es den Verfaſſern weder an Phantaſie, noch an 
Geſchmack ſie anzuwenden. Was aber fehlt, iſt die ſtarke 
Seele, die Innerlichkeit, die kräftige Perſönlichkeit, die auch 
den abgenusteſten Stoff noch eigenartig und ergreifend ge⸗ 
ſtaltet. Andererſeits fehlt allerdings auch die Phantaſie, 
die Neues zeigt, noch nicht Geſchautes ſichtbar macht, originell 
iſt. Ich meine unter Eigenart durchaus nicht Senſation, 
jene, ja jetzt wieder weniger als vor einigen Jahren hervor⸗ 
tretende Sucht, um jeden Preis Neues, Unerhörtes zu bringen. 


Roman-geitung 1896. IV. 55 


187 


AYud unter ihr geht das zu Grunde, was im Gediht uns 
den Schöpfer besjelben naherüdt — bie Wahrheit. 

So ift Karl Stelter, der in feinem Nat fießen Iafr- 
zeßnten (Elberfeld, Baedeker) jchon die fiebente Sammlung 
feiner Gedichte bietet, gewiß ein jangeöfroher und fanges- 
fundiger Dann, dem fich leicht, nur allzuleicht, alles, was 
ihm begegnet, zum Liede geitaltet. Uber ed fehlt doc dem 
ganzen Starten Bande jene Leibenichaft, jene Gefühlsftärte, 
die und fagt, daß die Gedichte nicht um des Dichten willen 
entitanden, jondern aus einem unbezwinglichen Drange ges 
flojfen find. 

Gleihartig find die Gedichte, die Frig Nohrer unter 
dem Titel Aus Sadlauds Heim (Dresden, ©. Pierion) 
herauögegeben bat. Wie man, um die Heimat Gottfried 
Keller und Konrad Ferdinand Meyers zu bezeichnen, den 
alten PBhilifter und Weiberfneht Hadlaub auf den Titel 
ftellen fann, ift mir unbegreiflih. Auch find Nohrers Ge- 
dichte durchaus nicht fo IShwädhlih und ſüßlich, wie die 
Lieder des Nachtreterd 1llrih8 bon Liechtenftein. EB ift im 
Gegenteil ein biberber Schweizer, der bier jpriht und fingt, 
fo fingt, daß man den leinen Schweizer Männerdor fid 
unmiltürlidy gleih dazı denkt. Es ift Hausmannsfoft; fie 
Ihmedt aanz gut und man verdirbt fi den Magen nidt 
daran; für Feinjichmecer aber taugt fie nicht. 

Dasjelbe gilt von Franz Dittmars Balladen und 
poetifhen Erzäßfungen (Dresden, ©. Pierfon), wenn diefer 
auch Ion dadurd, daß er fid auf die erzählende Dichtung 
verlegt, zu anderen Tönen gezwungen wird, alß dem Sing: 
fang einer Alltagöliebe.e Mande Ballade erhebt fi zu 
höherem Schwunge, vor allem jene, wo der Tidhter in des 
eigenen Lebens Vergangenheit zu greifen fcheint, mie 3. 8. 
in Ulan und Noß bei Mart-la-Tour (S. 39), Der alte 
Schmidt (S. 27). Eonft aber ift die Wahl oft auf fehr 
Ihwade Stoffe gefallen, und bei manden ift die Schluß: 
pointe überbaftet. 

Garl Boll ift in den rein Iyrifchen Gedichten ftärfer 
als in den Siflorien, monad er fein Bud; genannt hat. 
(Wien, Wilhelm Frid.) Unter jenen war mir bejonderd 
interefjant, Baraphrajen eines Dichterwortes zu finden, wie 
fie die Romantit (Ludwig Tied; am genialften aber Clemens 
Brentano in den Variationen bed Goetheichen „Wer nie fein 
Brot mit Thränen aß“ im Rheinmärcen) mit VBorltebe pflegte. 

Die deutſchen Aichtungen des Aleſſandro Stradelli 
(Pſeudonym) zeichnen ſich aus durch kräftige, wohllautende 
Sprache und Abgeklärtheit der Empfindung. An Freiligrath 
erinnern ſtark die in exotiſchen Ländern ſpielenden Balladen, 
wo es nur zu grauſam hergeht, ſo daß man unwpillkürlich 
an die Schauermäre von den beiden Löwen, die ſich gegen⸗ 
ſeitig auffraßen, erinnert wird. 

(Das Schauſpiel in ſechs (1) Aufzügen „Das Ver— 
lobungsfeſt“, welches den zweiten Teil des Bandes füllt, iſt 
zwar ein Zeugnis für die Geſinnungstüchtigkeit des Ver⸗ 
faſſers, aber durchaus kein Bühnenwerk. Die Handlung iſt 
nicht ſtraff genug zuſammengefaßt, die Charaktere dagegen 
ſind zu ſchroff gezeichnet, ohne doch ins Heldenhafte, wirklich 
Große zu gehen. Die Perſonen eines Ifflandſchen Familien— 
ſtückes ſtelzen zum Teil auf dem Kothurn Schillerſcher Tragödie 
umher, zum Teil gleiten fie in den Ladjchuhen Sudermanns 
iher Salonmeniden.) 

Möchte man den Pichter der cben beiprodhenen Sanım= 
lung in ariftofratiichen Kreilen fuchen, 10 ift der Verfafler 
der JIungdenifhen Lieder (Leipzig, Armed Straud), 


Beiblatt der Deutihen Roman-FZeitung. 





188 


Friedrid Wegener, Landwirt. Das kleine Büchlein ift 
deöhalb intereflant, weil fein VBerfafler mit rüdficht3lofer 
Offenheit die Schaden der Zeit befämpft. Die Art, wie er 
dreinfchlägt, erinnert ja oft genug an den Drefchflegel, und 
e3 geht durchaus nicht immer fein zu. Aber ein gefunber 
Sinn ftedt in dem Dichter, und ein einfaches, braves Gemüt 
offenbart fich in feinen Iyriihen Gedichten. 

Mit dem erften Cyflus feiner Seitſonetle, den Immor⸗ 
telen von zwei Saiferfärgen, bat Th. Maurer (Worms, 
Kräuterfhe Buchhandlung) einen guten Griff gethan. 
Wir haben jet eine Zeit ftolzer Subilien gefeiert. Aber 
e8 tft Doch noch eine Frage, welde Tage für unfere Volfs- 
jeele von tieferer Bedeutung waren, jene Zeit triumphierender 
Straft, oder das Jahr, das zwei SKaijer fterben jah, deren 
einer den dem deutichen Wolfe fo heiligen Begriff „Pflicht“ 
in die Worte Heidete: „Sch habe feine Zeit, müde zu fein,“ 
der andere da® vanitatum vanitas irdiiher Herrlichkeit ung 
vorlebte; der aber auch zeigte, wie der Sammer diefer Herr: 
Iichfeit mit Größe zu tragen ift: „Lerne zu dulden, ohne zu 
Hagen.“ — Leider entiprehen die Gedihte durchaus nicht 
dem Stoff. Ob die im Deutihen immer etiwa8 gemachte 
Form bes Sonettes für bie fchlichte Größe des Gegenftandes 
paßte, bleibe dahingeftelt. Sedenfalls Hat Maurer die Form 
geradezu mißhandelt; und wo der Stoff al® folder nidt 
wirft, vermag der Bearbeiter Leinen tieferen Eindrud zu 
erzielen. 

Ein Zeitbuh find aud) Wilhelm Weigands Züge 
fteder. (Münden, Karl Merhboff) Kampf gegen die 
Hohlheit, Oberfläblidhkeit und unter Wohlanftändigfeit ich 
berbergende Verderbtheit unferer Zeit ift des Werfafiers 
Parole, der jhonungslos zufhlägt. Und Weigands Schwert 
ift Scharf von Wis und Geift und heiligem Zorn. Aber e8 
zeigt. fih doch auch wieder der Menichenfreund in Dielen 
zornmütigen Gedichten. E8 fommt bod) wieder eine beflere 
Zeit! Wann? Wer kann das jagen, aber die Anzeichen 
einer höher jtrebenden Zukunft fan nur der Blinde ver: 
fennen. 

Dem Problem bed modernen Lebens, und befonbers den 
ichroffen focialen Gegenfägen in demfelben, wendet fih mit 
Vorliebe aud Mar Hoffmann zu. Sn dem vorliegenden 
Bande WMorgenftimmen und anderes (München, Albert 
& &o.) nehmen biefe Weltitadtbilder allerdings nur einen 
beicheidenen Naum ein. Nicht zum Schaden ded Ganzen. 
Der Dichter zeigt fih hier ald phantalievollen, glänzenden 
Lyriker, der mit hinreißendem euer vom Siege der lichten 
Mächte über die dunfeln zu fingen weiß. Manch Ichlichtes 
Lied von Liebesglüd hat ihm Frau Minne eingegeben, und 
in beredten Worten ftrömen die lagen eincs Einfamen au®. 

Zu dem Geidtbuhe SHcKmetlerlinge (Göttingen, 
Dieterihihe Verlagshandlung), haben zwei fehr vers 
ichieden geartete Dichter beigefteuert. Carl von Arns— 
waldt und Albredt Mendelsfohn=-Bartholdy. De 
erite fit Gefühlslyrifer. Er fagt einmal: „Nur bag, was 
eine Seele hat, ift fchön.” Nun, fie eignet feinen innigen 
Liedern, die in einen Accord entjagender Wehmut zufanımens 
Hingen. liberdie aber eignet dem DVerfaffer große Form 
gewanbdtheit, die befonders in dem Abfchnitt „In romanifhen 
Formen“ zu Tage tritt, und eine vollflingende Sprade. Sit 
fo U. mehr ein Dichter des Herzens, fo herricht bei Mendeld- 
fohn=8. der Geift, der Verftand vor, der mit feharfem Auge 
dag gejellichaftliche Leben betrachtet. Aud) feine Liebeslieder 
haben einen mehr weltmänniſchen Ton, etwas Überlegenes, 


a a en a er ee Na nk ar Et En a uf I ram u nee 5—— 


189 


da® aber trogdem nicht unangenehm berührt. Die beiden 
Dichter find noch jung — beide wohl Göttinger Studenten — 
und ihr ernftes Streben und waderes Können verdienen volle 
Anerfennung, fo daß Eleiner Tadel negen einiges (3. 3. M.:B. 
Prolog am Telephon. 1.3 etwas cintönige Motive) gern der= 
Schwiegen fei. 

AUrnswaldt ift auch einer der SHauptmitarbeiter am 
Göttinger Mufen-Almanadı für 1896, herausgegeben von 
Göttinger Studenten. (Göttingen, Dieterihfche Ver— 
lagsbuhhandlung.) Die andern find 9. dv. Engel, €. 
Mönteberg, Graf Hardenberg, E. vd Sterferint und B. Wie: 
mann. Dem Wunfch, den das Motto audfpridht: 

„Rehmt nit den Zolitod glei) zur Hand 
Und fpredt von größer oder fleiner,” 


jei um jo lieber mwillfahren, al® alle mindeftend die Ans 
erfennung ihres Streben® verdienen. Soldhe Ericheinungen 
find um jo willlommener, wenn fie von Studenten aus 
geben, die fich ja leider zum großen Teil fo leidht von 
tdealem Sunftftreben abbringen lafjen; entweder büffelnde 
Streber oder „flotte* Burichen werden, bie das Lied: „In 
die Kneipen laufen, und fein Geld verjaufen, tft ein hober, 
herrlicher Beruf,“ nur zu getreu befolgen. 

Das Buch macht durchweg einen guten Eindrud. Hervor⸗ 
gehoben ſeien B. Wiemanns novelliſtiſche Skizzen und die 
fräftigen Balladen Serferints. Graf Hardenberg hätte ſein 
unverkennbares Überſetzertalent etwas anderem zuwenden 
können, als Byrons Gefangenem von Chillon, den uns der 
Überſetzergilde Meiſter Gildemeiſter ſo herrlich geſchenkt hat. 

Das ſchönſte Blatt füge ich dem Kranze zum Schluß 
ein: Ludwig Jacobowskys neue Gedichte Aus Tag und 
Traum. (Berlin, S. Calvpary & Co.) Das iſt ein ſchönes 
und reiches Buch; eines jener Bücher, die man auf ſeinem 
Tiſche liegen hat, es immer gleich bei der Hand zu haben. 
Es liegt über dem Ganzen jener Stimmungsduft, der ſich 
ſo ſchwer analyſieren läßt, oder beſſer, dem man nicht nach⸗ 
forſchen darf noch will, dem man ſich hingeben muß, wie 
dem Zauber eines Chopinſchen Nocturnos. — Hoffentlich 
thun es ſehr viele. Der Verfaſſer, deſſen Werke ein ſtetes 
Vorwärtsſtreben bekunden, verdient es. 


Verm iſchtes. 


Die zerriſſene Schleppe. (Aus dem Ruſſiſchen) Ein 
ſehr elegant gekleidetes Ehepaar paſſierte die Hauptſtraße 
einer ſüdruſſiſchen Stadt. 

Der Herr galt als einer der reichſten Kaufleute des 
Ortes, und ſeine Frau trug den Reichtum ihres Gatten 
gebührend zur Schau. 

Die Schleppe ihres Prachtkleides fegte den Fußſteig 
entlang. 

Da kommt ein junger Lieutenant von den Kaſaner⸗ 
Dragonern eilig aus ſeiner Wohnung und ſchlägt die Richtung 
nach der Kaſerne ein. 

Aus dem Fenſter des Hauſes gegenüber grüßt ein 
hübſcher Mädchenkopf; der Offizier ſalutiert, entzückt nach 
oben blickend — und im ſelben Augenblicke, ratſch: zerreißt 
einer ſeiner Sporen das Kleid der Kaufmannsfrau. 

„Ich bitte tauſendmal um Vergebung, meine Gnä— 
dige!“ rief beſtürzt der junge Mann. „Ich bin untröſtlich 
über den angerichteten Schaden; hoffentlich läßt er ſich 
wieder gut machen.“ 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





790 


„Nicht doch, mein Herr!“ ſchreit die Kaufmannsfrau. 
„Die Schleppe iſt vernichtet, das Kleid iſt ruiniert.“ 

„Sie müſſen den Schaden erſetzen,“ ruft der Gemahl hinzu. 

„Das werde ich,“ verſicherte der Lieutenant, „hier 
meine Adreſſe,“ und er zog ſein Kartentäſchchen; indeſſen 
das präparierte Blättchen ward von dem Kaufmanne zurück⸗ 
gewieſen, welcher ſagte: 

„Erſt bezahlen Sie, oder wir laſſen Sie nicht fort.“ 

„Aber ich bitte Sie, der Dienſt ruft mich. Wenn ich zu 
ſpät komme, trifft mich ſtrenge Strafe. Wieviel beträgt 
denn der Schaden?“ 

„Das Kleid iſt neu,“ ſprach die Dame ernſt, „ich trage 
es zum erſten Mal und muß daher ſeinen vollen Preis, zwei⸗ 
hundert Rubel, verlangen.“ 

„Zweihundert Rubel!“ rief entſetzt der Kriegsmann. 
„Mein Jahresgehalt beträgt kaum ſo viel.“ 

Schon hatte ſich ein Kreis von Umſtehenden gebildet, 
welche dem Geſpräche zuhörten. 

„So muß ich verlangen, daß Sie ſich mit uns zum 
Polizeirichter begeben,“ meinte die Dame. 

„Es findet gerade jetzt die Sitzung ſtatt,“ fügte der 
Ehegatte hinzu. 

„Aber Sie bringen mich in die peinlichſte Verlegenheit,“ 
flehte der unglückliche Dragoner. 

Man parlamentierte noch ein weniges, aber das Che: 
paar blieb unerbittlich und drohte mit Arrſtation durch 
einen bereits hinzugekommenen Poliziſten, der Lieutenant 
mußte endlich den Weg zum Gerichtsſaal antreten. 

Der Richter war unbeſchäftigt, ſchon nach wenigen 
Minuten hatte man ihm ben Fall vorgetragen. Er ent: 
fhied furz und bündig: 

„Der Herr Lieutenant muß zahlen oder in die Sculb- 
haft wandern.“ 

„Sofort zu zahlen ift mir unmöglich,“ verficherte der 
Herr Lieutenant, „und ift der Preis nicht ein jehr hoher?” 

„‚seder fann nadı Belieben feinen Preis für jein Eigentum 
ftellen,“ iprad) der Nichter; „übrigen® würde ich jelbft den 
Klägern raten, menichlicd zu handeln und den Offizier nicht 
unglüdlic zu machen.“ 

Ein Beifallggemurmel ertönte von den Bänken des 
zahlreich verfammelten Publikums. 

Der Kaufmann flüfterte einige Zeit mit feiner Frau; er 
Ihien zur Milde geneigt zu fein, aber fein Zureden warb 
mit energiihenm SKopfichütteln zurüdigemwieien. 

„Da8 Recht möge feinen Lauf nehmen,“ rief endlich 
ärgerlich die Zrau. „Herr Richter, ich bitte, Daß weitere zu 
veranlaſſen.“ 

„Einen Augenblick,“ klang eine tiefe Baßſtimme da— 
zwiſchen, und ein alter Herr, mit vielen Ordensbändern ge— 
ſchmückt, trat vor den Richtertiſch. 

„Ich bin der penſionierte General Miloradowitſch; Herr 
Lieutenant, wollen Sie die zweihundert Rubel als Darlehn 
von mir annehmen?“ 

„Wie dürfte ich das, Ercellenz,“ fagte der junge Mann, 
„id bin vielleicht in meinem ganzen Leben nicht imftanbe, 
das Geld zu beichaften.“ 

„Sie werden e3 mir bald wiebererjtatten können,“ meinte 
der General und jagte dem Dragoner einige Worte ins Ohr. 
Das Gefiht des Angeklagten hellte fih jchnell auf. 

„sh nehme da8 Darlehn an,“ ipradı er, die ihm 
bon dem alten Herrn bargereihten Staffenicheine an die 
Dame übergebend. 





791 


Diejelbe wollte, ihrem Gemahl den Arm gebend, den 
Gerichtsſaal verlaſſen. 

„Nur eine Kleinigkeit noch,“ rief der Offizier. „Ich 
bitte den Herrn Richter, mir zu meinem Eigentum zu verhelfen.“ 

„Wieſo?“ fragte der Polizeirichter. 

„Das Kleid gehört jetzt mir, ich habe es bezahlt“ 

„Es ſoll heute noch an Ihre Adreſſe abgeſandt werden,“ 
bemerkte wegwerfend die Frau, „da Ihnen an dem Fetzen 
zu liegen ſcheint.“ 

„Nicht doch, meine Gnädige, auch ich bin zu dem Ver⸗ 
langen berechtigt, daß die Sache ſofort abgemacht werde. 
Wollen Sie mir gefälligſt mein Eigentum übergeben? Ich 
habe Eile.“ 

Nur mit Mühe ward das im Zuhörerraum entſtehende 
Kichern unterdrückt. 

„Aber ich kann doch hier im Gerichtsſaal mein⸗Kleid 
nicht ausziehen!“ rief purpurrot vor Scham die Kaufmannsfrau. 

„O, es iſt jetzt mein Kleid,“ entgegnete kaltblütig der 
Offizier. 

Der Mann verſicherte nochmals verlegen, daß das Kleid 
ſofort zugeſandt werden ſolle, denn es könne doch nur ein 
kleiner Scherz ſein, daß ſeine Frau zur Entkleidung hier 
im Gerichtsſaal aufgefordert werde. 

„Ich ſcherze nicht im geringſten.“ verſicherte der Offizier, 
„und bitte den Herrn Richter jetzt meinerſeits, nunmehr das 
weitere zu veranlaſſen.“ 

Der Richter winkte dem Gerichtsdiener, einem bärbeißigen 
alten Schnauzbart, der mit militäriſchem Paradeſchritt auf 
die Dame losmarſchierte. Die Heiterkeit im Zuhörerraum wuchs. 

„Das Verlangen iſt berechtigt,“ ſprach der Richter 
trocken, „der Offizier kann die ſofortige Entgegennahme ſeines 
Eigentums beanſpruchen. Weigern Sie ſich deſſen?“ 

„Natürlich,“ knirſchte die Frau, „nie und nimmermehr 
werde ich hier mein Kleid ablegen.“ 

„Halt,“ rief der Kaufmann. „Ich kaufe das Kleid zu⸗ 
rück. Hier ſind zweihundert Rubel.“ 

„Das genügt nicht,“ antwortete der Dragoner, die ihm 
dargebotenen Scheine zurückweiſend. „Jeder kann nach ſeinem 
Belieben einen Preis für ſein Eigentum machen. Das Kleid 
koſtet mich wahrſcheinlich Arreſt wegen Dienſtverſäumnis, 
ſodann die Gerichtskoſten des ſoeben verlorenen Prozeſſes. 
Ich verlange tauſend Rubel.“ 

Die Zuhörer lachten laut, der Richter gebot energiſch 
Ruhe und erklärte: 

„Die Forderung iſt unverhältnismäßig hoch, indeſſen 
die beklagte Partei braucht ſie nicht anzunehmen. Die Dame 
kann ja auf den Zurückkauf des Kleides verzichten und das— 
ſelbe hier laſſen.“ 

„Tauſend Rubel — das iſt unverſchämt!“ ſchrie die 
Dame wütend. 

„Keineswegs,“ erwiderte höflich der Lieutenant, „auch 
gedenke ich nicht etwa einen Profit aus dem Geſchäfte zu 
machen. Der ganze Uberſchuß, welcher mir bleibt, ſoll den 
Militärwaiſen aus dem letzten Kriege zu gute kommen. 
Mit Rückſicht hierauf erhöhe ich den Preis für mein Kleid 
nunmehr auf zweitauſend Rubel!“ 

Der Kaufmann zog die Brieftaſche: „Sie werden das 
thun, was ich zu thun beabſichtigte, Herr Lieutenant; hier 
ſind zweitauſend Rubel. Die Lektion iſt teuer, aber ſie 
wird auch ihr Gutes haben.“ 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





792 


Und würdevoll ſprach der Richter: „Die Verhandlung 
iſt, nachdem ſich die Parteien gütlich geeinigt, geſchloſſen.“ 


Briefkaſten. 


Herrn W. On. in Cl Leider unverwendbar, wenn auch 
gut gemeint. — Herrn G. Sch in R. Warm gefühlt, aber 
die Eigenart fehlt. — Herrn stud. A. B.in St. III ſoll ge 
legentlih Eommen. — Herm H—l. in R. „Das Auge heil“ 
fol Zommen. Aber unter weldem Namen? — Herrn Th. 
N. in T. „Wandlung* und „Altes Leid“ angenommen. 
Beide würden noch beijer jein, wenn fie etwaß frapper ges 
halten wären. — Frau E. Pr. in & Warm gefühlt, aber 
künftleriih unzureichend. — Frl. 3. Sp. in. „Wenn Sie 
die Gedichte ablehnen, dann bin id) troftlos.” Die Gedichte 
find aber in Yorm,und Inhalt mehr als Eindlih: Alfo muß 
ich fie ablehnen. Übrigens: ich wünidye Ihnen, daß Sie im 
Leben ntemals über fchwerere Enttäufchungen troftlog zu fein 
brauchen. Die Ablehnung werden Sie überwinden Nur 
rate ich Shnen, nicht weiter zu dichten, damit Sie nicht allzu 
oft „teoftlos” fein müflen. Ihre Unbegabtheit ift faft 
genial. — Frau San.:R. D. ın Fr. Nein, Berichte über 
den Frauen-Kongreß werde ich nicht bringen. Ob einen 
„Epilog“, kann ich Heute nody nicht jagen. — Herrn vd. 2. 
auf 9.5. D. Gerne ftellte id) öfter die Beilage aus humoriiti- 
ihen und fomtihen Beiträgen zufammen. Xeider aber find 
folche fhwer aufzutreiben. Tas meifte, was fih „hHumoriftiich“ 
nennt, ift einfach) unbraudbar. Dennod) hoffe ich den oft Thon 
auh von anderen Leſern ausgeſprochenen Wunſch nächſtens 
erfüllen zu können. — Frl. M. V. Braunſchweig. Alles 
iſt aus beſter Herzensmeinung hervorgegangen. Das Schluß⸗ 
wort an die Mütter iſt vortrefflich. Aber trotzdem wirkt das 
Ganze zu empfindſam, zu zierlich. Auch die Gedichte, obwohl 
„nett“, erheben ſich nicht über den Durchſchnitt häuslicher 
Kunſtarbeit. Aber vielleicht gelingt Ihnen ein zweiter Ver: 
ſuch in Proſa. — Frau M. Th. in H. Das war 1884. Seit⸗ 
dem iſt die Zahl der Briefe und Sendungen mindeſtens um 
das Zehnfache geſtiegen, und darum iſt es mir unmöglich, 
ſchriftlich ein eingehendes Urteil abzugeben. — Frl. M. W. 
in R. Ich verkenne nicht, daß die Abſchrift von Gedichten 
Zeit koſtet, die verloren iſt, wenn der Papierkorb die Blätter 
verſchlingt. Aber trotz allem: es iſt unmöglich, dieſe Tauſende 
mißlungener Gedichte zurückzuſenden, denn auch das Schreiben 
der Adreſſen macht bei ſolchen Mengen Arbeit und die Koſten 
ſind im Jahre ſehr erheblich. — Herrn cand. jur. P. W. 
in H. Einige der „Mondlieder“ kommen. Beſten Gruß. — 
Frl. R. Fr. in Gr. Nur Kunſtſpielerei; tiefere Begabung 
fehlt. — Herrn G. Sch. Ich kann das Gedicht nicht bringen. 
Obwohl ſehr gut gemeint, ſchöpft es die Tiefe des Stoffs 
nicht aus. — Herrn Guſt. Wein M. Der Gedanke iſt doch 
etwas ſchief aufgefaßt. Aber Sie ſcheinen begabt und 
können mir gelegentlich neue Verſuche ſenden. — Frau A. Kr. 
in H. Sehr herzlich gemeint, aber dichteriſch unzulänglich. — 

Auf viele Anfragen: Wie die Verlagshandlung uns 
mitteilt, wird der Werderfhe Roman „Schwertflingen“ 
natürlih aud) in Buchform erfcheinen, und fowohl ungebunden 
* a durd) jede Buchhandlung zu beziehen fein. Preis 
etwa 1 


Dnhalt der No. 50. 


Art au Art. Roman von 9. Scobert. Fort. — 
Schwerttlingen. Baterländiicer Noman von Hand 
Werder Fortf. — Beiblatt: Herbftlieder. Bon Otto 


Kiefer. — Die liebe Bequemlichkeit. Aus dem Leben bon 
Martha Sommer. — Auf der Heide. Von Chr. Dietr. 
Oweien. — Die Lilien auf Schloß Cöborg. Bon N. 
Schilling. — Morgenbild. Ron Elifabeth Kolbe — 
Neue Lyrik. Beiprohen von Karl Stord. — Vermildte:. 
— Brieflaften. 


— ——— 


Berantwortliger Xeiter; Dito von Leirner in Berlin, ee Dtto Jante in Berlin — Drud der Berliner Buchdruckerei⸗Aktien⸗Geſellſchaft 


nenſchule des vette⸗Vereinß). 








Deutſche 





ämter nehmen dafür Beitelungen an. 
beziehen, 


18%, 


Roman-Beifung, 


Eridheint möcentlih zum Preife von 3% A vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Bolt. 
Durd) ale Buchhandlungen auh in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober. 





Ne 51. 





Art zu Art. 


Noman 
von 


3. Scyobert. 
(Fortjegung.) 


Siebenundzmwanzigftes Kapitel. 


Maud hatte die Abficht gehabt, ein paar längere 
Nachmittagsbefuche zu maden und dem Kutjcher ihre 
Befehle übermitteln lafjen, aber der pochende Kopf: 
ſchmerz, an dem fie oft litt, ftellte fih mit folcher 
Heftigkeit ein, während fie fuhr, daß ihr jchon der 
Gedanke, jpreen zu follen, im überbeizten Zimmer 
fiten zu müflen, phyfiihe Dual verurfadte. Kurz 
vor dem Ziel ließ fie umlehren und eine Stunde im 
Stadtpark jpazieren fahren. Sie hatte die Fenfter 
berabgelafien und die herbe, Talte Zuft, die eindrang, 
that ihr wohl, ebenjo das fait Tautloje Sichfortbe- 
wegen des Wagens auf den weihen Wegen. Nach 
einer Stunde fühlte fie fih jo erquidt, daß fie ihre 
Bejuche wieder ernftlih in Erwägung 3209. Es war 
allerdings inzwilchen ſpät geworden, vielleicht war es 
bejler, fie verfchob das auf den nädjften Tag und 
Ihonte ihre angegriffenen Nerven. Vielleicht fam am 
Abend au Fortunat — fie jagte fich noch „vielleicht“ 
und wußte doch ganz genau, daß er täglih Fam, 
aber wenn fie fich jelbft vorher Zweifel einrebete, 
batte fie mehr fich zu freuen, wenn er dann ba war. 

Sonft dadte fie möglihft wenig über ihre 
Empfindungen für ihn nad, jo weit wie möglich 
hielt fie alles von fi, was ihr ftörend werden konnte. 
Er gehörte in ihr Leben, das war Thatjache für fie, 
und mandmal zudte es bejorgt in ihr auf, baß fie 
e3 vielleicht auch gar nicht ertragen würde, ohne ihn 
zu fein, aber vor jedem weiteren Gedanten jchloß 
fie Augen und Geele, 

Troß allem und allem war fie ihrer jelbft ficher. 
Moraliihde Reinheit, Mangel an jeder Kofetterie 
waren ihr einmal angeboren, deshalb gab fie fich 
auch furdhtlos diefem Verkehr Hin. Und außerdem 
Fortunat! — Auf ihn konnte fie fih ebenjo verlaffen 
wie auf fich jelbft. 


Roman⸗Zeitung 1896. Xief. 51. 


Sie war wieder zu Haufe; aber obgleich fie ein:, 
auch zweimal Mlingelte, niemand öffnete ihr. Ärgerlich 
darüber, nicht gewohnt, zu warten, faßte fie in bie 
Taſche, kaum hoffend, den Sclüffel zu finden, aber 
er ftedte zufällig darin, jo daß fie öffnen und ein- 
treten konnte. 

Die ganze Dienerfhaft mußte das Haus ver: 
laſſen haben, im Korridor, in den Zimmern, ja jelbit 
in der Küche fand fie feine Menicyenfeele. Sehr ge: 
ärgert über bdieje Inverläßlichleit ging fie zurüd, 
überlegend, ob fie ihren Mann in feinem Atelier 
auffuchen follte. Vielleiht war au der nicht zu 
Haufe, oder hatte die Leute beurlaubt. Die Toten- 
ftile um fie, die fie nicht empfand, wenn fie Menjchen 
in ihrer Nähe wußte, jchien ihr unbehaglih, es 
fröftelte fie und fie verlangte nah ihrem Thee. 
Eigentlich beinahe ohne ihren Willen betrat fie endlich 
den langen Korribor, um Martin aufzujudhen. Aber 
fie hatte nur wenige Schritte gemadt, da blieb fie 
plöglih laufchend ftehen, gedämpftes Lachen und 
Reden Ihlug an ihr Ohr. — Kein Zweifel, es kam 
aus der Schwiegermutter Zimmer. — Maud pflegte 
ihre Gedanten fo wenig mit der Alten zu beichäftigen, 
daß erft immer ein äußerer Beweggrund da jein 
mußte, fie daran zu erinnern. Nun befann fie fi, 
ob ihre Schwiegermutter wohl Befuch haben könnte, 
und wen? Zuzie am Ende, die nachher ihren beißenden 
Spott daran Ichärfte? 

Vielleicht trat fie wirklich etwas leifer auf als 
gewöhnlih, als fie auf der Kolosmatte weiterging, 
jedenfalls hielt fie die raufchende Schleppe ihres 
Kleides in der Hand. Bielleiht war es aud ihr 
Mann, den fie dort fand, in Zuzies Gejellichaft. 

Ohne anzuflopfen öffnete fie die Thür. Drinnen 
hatte es einen feftlichen Anftrih. Dben am Tiih 
thronte Frau Heelen, einen Blumenftrauß vor fidh, 
Schüſſeln mit Kuchen, halbgeleerte Taflen ringsberum. 


IV. 56 


195 Art zu rt. 
und vor jeder Tale jaß eines der Mädchen, trintend 
und fhmaujend, felbft Friedrich fehlte nicht. 

Aber alle bannte ein plößliches, jchredhaftes 
Schweigen beim Anblid der Gnädigen, an die niemand 
gedadht, die man weit weg geglaubt, und die nun 
plöglih auf der Schwelle ftand mit zornig funtelnden 
Augen und fih rötendem Gefiht. Niemand wagte 
aufzufchreien, niemand zu fliehen wie beim Erjcheinen 
des Herrn. Der Reipelt bannte fie an den led, 
auf dem fie waren, des Strafgerihts gegenwärtig. 
Die Alte roch ganz in fi) zufammen wie ein Häufchen 
Unglüd, aber fie warf fchräge, haßerfüllte Blide auf 
die Schwiegertochter, die jegt langjam, aber mit allen 
Zeichen des Zorns in das Zimmer trat. 

„Ss it fein Wunder, daß ih vor der Thür 
warten muß, wenn meine Dienftboten bier Felte 
feiern! Gehen Sie Jofort auf Zhren Poften, Friedrich, 
und Gie, Lina und Anna, in die Kühe. Wo ift 
Nina?” 

„Nina ift ausgegangen, gnäbdige Frau,” ftotterte 
Lina endlid, „und wir haben bier nur Frau Heelens 
Geburtstag feiern wollen — wir... .“ 

„3 babe Sie nicht gefragt, wozu Sie bier 
find, e8 genügt mir, was ich jehe,” jagte Maudb mit 
zornigem Hohmut. „Geben Sie augenblidlich hinaus.” 

Obne ein Wort der Widerrede jchlichen die drei 
davon. 

„Sie wird uns kündigen,” feufzte Lina draußen. 

„Die Alte drinnen wird wohl no ihr Fett 
friegen,” meinte Friedrih und gab fih das Air 
völligen Gleihmuts. „Mein Himmel, fie fol nur 
nicht jold Gelchrei machen, wir find doh aud 
Menichen.” 

Aber troßdem fie anfingen zu Ichimpfen und 
zu bramarbafieren — wohl war ihnen augenblidlich 
nicht in ihrer Haut. 

Maud war, als die Leute das Zimmer ver: 
lafien batten, an den Tiich neben bie Mutter ihres 
Mannes getreten, die regungslos fiten geblieben war. 

„Was jol das beißen, Mutter,“ fragte fie, 
ziemlich beberricht zwar, aber doch jehr deutlich zornig. 
„Haben Sie fein Verftändnis dafür, daß Sie Martin 
und mir jhuldig find, keine Freundichaften mit unjeren 
eigenen Dienftboten zu halten?” 

Die Alte blidte in den Schoß und fchmieg 
ſtörriſch. Maud rückte ungeduldig an einem Stuhl. 

„Haben Sie kein Verftändbnis bafür,” fragte fie 
Ihärfer, „daß Sie fih und uns dadurch herabziehen? 
Es ift ja Ichredlih, daß dergleichen in einem vor: 
nehmen Haufe pajlieren fann! Meine Schwieger: 
mutter giebt meinen Dienftboten Kaffeegefelichaften!” 
Sie ladte Ihrill auf. Dann fagte fie verächtlid: 
„Standalös ift eg — aber . . .“ fie Eniff die Lippen 
zulammen und jchmwieg. 

Die Alte jah fie giftig an. 

„Die Frau Schwiegertochter ärgert fich,” meinte 
fie mit höhnifhem Groll, „jamohl! Aber wer kümmert 
ih denn bier in dem vornehmen Haufe um mid 
altes Weib? Die Lina und die Anna und mand): 
mal der Friedrid — die Gnäbdige ift doch zu fein 
dazu — und mein Sohn aud.“ 

Maud warf die Xippen auf. 


Roman von H. Schobert. 


796 


„gu fein! Darüber können Sie nicht urteilen. 
Wenn es aber fo ift, ift es Shre eigene Schuld. 
Ich bin anfangs freundlich genug zu Jhnen gemwejen, 
Sie aber thaten, als wenn Sie fi) vor mir fürdteten. 
Freilihd — irgend etwas fein hätten wir uns ja Doc 
nie fünnen.” 

Die Alte jpudte neben ihren Stuhl auf den 
Boden. E8 war der Ausdrud hödfter Galle bei ihr. 
Ohne daß fie die Schwiegertochter ganz verftand, 
fühlte fie doch die Mikächtlichleit Hindurh, die aus 
ihren Worten lam. 

„Wenn der Martin ein anderer Mann wäre,” 
fagte fie mit höhnifhem Grinfen, „dann möcht’ 
manches bier im Haufe anders fein. Aber die Gnäbdige 
bat ja das Geld, da muß fih ber Mann hübich 
duden. Hat es nötig — fehr nötig! Und die alte 
Mutter dazu Wozu ift die noch in der Welt. 
Schiden Sie mih nur wieder weg, gnädige Frau 
Scwiegertocdhter, nur wieder weg — it jo am beiten.” 

Sie kreiihte zulegt in ihrer Wut laut hinaus, 
wie gewöhnliche Leute tun. Maud, die längft ruhig 
geworden war, betrachtete fie halb mit Neugier, 
halb mit Widermillen. 

„sh möchte mir doch einen anderen Ton aus: 
bitten,“ fagte fie kalt. „Bor allen Dingen etwas 
ruhiger, leiſer.“ 

Sie begriff gar nicht, daß fie zu diefem Weibe 
jemals Mutter hatte jagen künnen, daß der Sohn 
ihr Gatte hieß, jo weltenmweit fühlte fie fih von ihnen 
getrennt. „Was ift Erziehung do für ein gutes 
Ding,“ dachte fie bei ih, „wie ift fie doch das 
einzige Band, das die heterogenften Elemente zu einem 
möglihen Zujammenleben binden kann. Erziehung 
und Selbitbeberrihung, das fehlt diefen beiden; der 
Mutter und au dem Sohn.” 

Die Alte hatte die beiden Hände auf ihren Schoß 
zu Fäuften geballt, ihre eingejunfenen Augen funtelten, 
fie Ichnappte nah Luft. An liebften wäre fie der 
gehaßten Schwiegertochter in die Haare gefahren, 
aber fie traute dem Frieden dod nicht redt. hr 
Sohn könnte fommen und man fie dann binaus: 
werfen ohne einen Pfennig Geld, daß fie wieder ums 
Leben arbeiten mußte wie früher. Das hätte ihr 
nicht mehr bebagt. 

„Aljo,” jagte Maud, das Kleid noch höher hin- 
aufraffend, „damit wir zu Ende fommen! Jh muß 
mir ein für allemal dieje Freundjchaft mit meinen 
Dienftleuten verbitten, Die haben nichts bei Shnen 
zu fuden.” — 

Da mahte Martin, ber das laute Gezänt feiner 
Mutter gehört hatte, die Thür auf und fah jehr 
überraſcht aus, als er feine Frau darinnen ftehen jah. 
Er hatte an alles andere eher als an dieje Möglich: 
feit gedacht. 

„Komm herein,” fagte feine Frau, fih zu ihm 
wendend. „Es ift mir fehr lieb, daß Du ge 
fommen bift.” 

Er fah unruhig von einer zur andern. Am 
liebften hätte er eiligft die Flucht ergriffen, aber dazu 
war e3 jeßt zu fpät. So kam er denn verdrofien 
näber. 

„Ih bin foeben überrafhend nach Haufe ge: 





197 


fommen und fand unfere fämtlihen Dienftboten zu 
einem SKaffeellatich bei Deiner Mutter verfammelt. 
Es ift jelbftverftändlih, daß ih das nicht dulbde. 
Dienftboten find für uns, da wir fie bezahlen, 
Maihhinen, aber nicht Leute, die wir mit uns auf 
biefelbe Stufe ftellen und freundichaftli bemwirten, 
das würde jchöne Unzuträglichleiten geben. Sage 
Deiner Mutter doch, daß Du in diefem Puntt ebenfo 
bentft wie ich.” 

Er fah auf feine Mutter, die wieder zujammen- 
gebudt, ganz apathiich dafaß, als ginge fie alles nichts 
an. Etwas wie Mitleid für die Alte erfaßte ihn. 

„Sie ift wohl jehr viel allein,“ fagte er be- 
‚gütigend. „Sehr viel! Nicht wahr, Mutter?“ 

Sie fah blinzelnd auf, überrafcht, daß der Sohn 
anfcheinend auf ihre Seite treten wollte, dann wilchte 
fie mit den Fingern etwas Feuchtigkeit aus ben 
Augenwinteln. 

„Sehr viel!” Sie nidte vor fih Hin. „Immer 
allein, Martin, wenn nicht einmal die Lina oder Anna 
hineinfähe. Bon Euch weiß ich nichts.” 

Es traf ihn wie ein Vorwurf, denn fie hatte 
ja recht, jeit Wochen fah er fie heut zum eriten Mal, 
troß der wenigen Schritte, die fie trennten. 

„Laß ihr doch das bißchen Vergnügen,” er ftric) 
fih unfiher durch die Haare. „Dienftboten find doch 
auch Menſchen.“ 

„In ihrer Sphäre gewiß, — nicht in der unſeren. 
Ich bitte Dich, Tino, bedenke doch einmal die Kon— 
ſequenzen.“ 

Er merkte, daß ſie ärgerlich war, trotzdem ſprach 
er weiter: 

„Mutter gehört aber auch nicht in Deine Sphäre. 
Denke nur, auf unſerem Dorf da war es eine Her— 
ablaſſung, wenn die Pfarrköchin mit unſereinem ſprach. 
Weißt Du noch, Mutter?“ 

Sie lachte ein bißchen vor ſich hin. 

„Da haben wir ſie fortgenommen und laſſen 
ſie nun hier allein. — Recht iſt es nicht, Maud.“ 

Sie klopfte mit der Fußſpitze den Boden. „So 
ſorge doch für angemeſſene Geſellſchaft, ich kann das 
nicht. Aber meine Dienſtboten bleiben aus dem 
Spiel. Mein Gott, daß Du nicht den Takt beſitzeſt, 
das einzuſehen.“ 

„Möchtet Ihr irgend einen Menſchen um Euch 
haben, Mutter?“ fragte Heeken nachdenklich, ohne 
auf die Worte ſeiner Frau zu achten. „Irgend 
einen Menſchen aus unſerem Dorf?“ 

„Ja, ja, ach ja!“ wimmerte ſie kläglich. 

„Aber wen? Wißt Ihr jemand?“ 

„Die Eva Leitner; wenn die ihre Stelle auf— 
geben wollt! — einen Menſchen muß man haben! 
Einen Menſchen! Man kann ſich doch nicht gleich 
umbringen, weil man ſo lange lebt und allen zur 
Laſt iſt.“ 

„Redet nicht ſo, Mutter, wir werden ſchon für 
Euch ſorgen, ſoweit es geht, meine Frau auch — und 
nun — ich komme nachher noch einmal wieder,“ 
ſetzte er haſtig hinzzu, denn Maud hatte ſich zum 
Gehen gewandt und er folgte ihr. Ein raſcher Blick 
überzeugte ihn, daß fie noch immer geärgert und er: 
regt war. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 





198 


„Du haft wohl einen Augenblid für mich Zeit,” 
lagte fie, auf dem SKorridor ftehenbleibend, „Es 
Iheint, wir haben miteinander zu reden.” 

Er öffnete die Thür zu feinem Vorzimmer, fie 
warf fih drinnen in ben erften beften Seflel und 
tüßte den Kopf in die Hand. Es fam ganz von 
jelbft, daß er fie betrachtete. Die Enifternde Seibe 
des Kleides, die unter dem Saum bervorquellenben 
Spigen, die ihn einftmals jo gelodt, ber feine Duft, 
der fie umgab, das kunftvoll frifierte Haar — freilich 
lagen Welten zwilchen ihr und feiner Mutter, dem 
Weib aus dem Volle, und jede von ihnen mußte 
naturgemäß unter der anderen leiden. Er begriff das 
plöglich. 

„Du haft den Gedanken angeregt, eine Gejellichaft 
für Deine Mutier zu haben. Iſt Dir das Ernft?“ 
lagte fie plöglich aufblidend. 

„Gewiß. Es Tönnte ihr boch mal etwas zu: 
oßen, und Du — Du mödteft fie dann mohl 
Ihmwerlich pflegen. Sie ift alt. Das dachte ich vor- 
bin, als ich fie anfah.” 

„Roh einen Menihen ins Haus,” Tagte fie un: 
mutig. Den Nahjat dachte fie nur. „Der Di und 
Deine Verhältnifie am Ende genau fennt — wie 
abſcheulich!“ 

„Ich will die Eva bezahlen, natürlich — aus 
meiner Taſche, Du ſollſt nichts damit zu thun haben,“ 
verſicherte er eilig. 

„Es iſt mir doch nicht des Geldes wegen, das 
iſt ja da,“ entgegnete ſie ſcharf, „Du weißt es, daß 
ich damit nicht ſpare. Es iſt mir nur um des 
Klatſches willen. Die ... Eva heißt fie ja wohl, — 
wird den ganzen Tag mit den Dienſtboten zuſammen⸗ 
ſtecken — und ich dulde einmal keine Familiaritäten 
in meinem Hauſe, ich müßte mich ja vor meines— 
gleichen ſchämen.“ 

Er hob den Kopf und ſah ſie aufmerkſam an. 
— meinſt, Du müßteſt Dich unſerer ſchämen, nicht 
wahr?“ 

„Nein,“ entgegnete fie heftig, denn der wieder: 
fehrende Kopfichmerz peinigte fie bis zur Raſerei 
und machte fie noch gereizter. „Das meine ich nicht! 
Dich Fennt man, und Deine Mutter tennt niemand. 
Was ich aber aus tiefiter Seele verabjcheue, ift das 
Hintertreppengeihwäß, unddas wird überhand nehmen, 
wenn noch jemand aus Eurem Dorf da if. Deine 
Mutter mit ihrer Vorliebe für meine Dienftboten 
macht mich ja unretibar lächerlich, wenn — e8 jemand 
ahnte!“ 

„Du möchteſt ſie am liebſten fort haben?“ 

Sie ſchwieg und blickte zu Boden. Wäre ſie 
ehrlich geweſen, hätte ſie ja geſagt. 

„Es iſt meine Mutter,“ ſagte er nach einer 
Pauſe und wiegte einen Bleiſtift auf der Fingerſpitze. 
„Ich habe ſie Dir nicht verheimlicht.“ 

„Aber entſinnſt Du Dich, was ich ſagte? Zu 
viel Pietät iſt thöricht und ſtraft ſich.“ 

Er ſchwieg, und bleiern laſtete die Stille auf 
beiden. 

„Alſo — wie ſoll es werden?“ fragte er nach 
einer ante und bob den Kopf. Er hatte die vage 
Vorftelung, daß, mwenn fie feine Mutter fortwies, 


199 Art zu Art. 
er auch geben mußte, obgleich ihm die alte Frau 
nichts war. 

Sie fprang plöglih auf. 

„Zhue, was Du willit; nur behalte ich mir die 
legte Enticheivung vor, wenn die Perjon nit in 
meinen Haushalt paßt. Ach werde nicht ungerecht 
jein, Zino, aber irgend etwas gefallen laß id) mir 
nit. Und nun gute Naht, ih muß mich nieder: 
legen, mein Kopf jcehmerzt zu jehr.“ 

Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern 
a und that wirklich, wie fie gejagt, fie legte fi 
nieder. 

Er nahm Hut und Stod und jchlenderte ins 
Freie, es wurde Shon Frühling. Am Abend faß er 
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum erften 
Mal das Sift und die Galle, die der Alten über die 
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die 
vornehme Schwiegertochter genährt, bradh fih unauf: 
baltiam Bahn. Martin fchüttelte abmehrend ben 
Kopf. Er begriff doch alle diefe Frauen jo gar nicht. 
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö: 
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne, 
und er war froh, als er wieder allein war. 

Maud ftand am nädften Tage gejund auf, 
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang 
liegen. That fie es aus Bosheit oder fehlte ihr 
wirklih etwas, niemand konnte dahinter kommen. 
Sedenfalle gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen 
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie endlich 
übellaunig wurden und den Dienft fündigten, aber 
die Alte ftand nit auf. Da war es Maud, bie 
ihren Mann an fein Vorhaben erinnerte, und er 
jegte fih hin und fchrieb an Zojeph Leitner, daß die 
Eva zu feiner Mutter fommen möchte. Nach langer 
Zeit erft befam er Antwort, daß die Eva bereit fei, 
ihren neuen Dienft bei ber alten Heelen in vier 
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge- 
ftorben ei. 

„Bott jei Dank,” jagte Maud. „Wenn ich ver: 
reift bin, können fie fih dann miteinander einleben 
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.“ 


Ahtundzwanzigites Kapitel. 


Der Sommer war |pät, aber mit aller Macht 
gefommen. Maud, die fi abgelpannt und nicht wohl 
fühlte, machte jehr energisch Reifepläne, fie wollte 
fort, fobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo 
ziemlich fertiggeitellt waren, fagte fie eines Abends 
zu ihrem Mann: 

„Du tommft doch mit, Tino?” 

Er hatte einen Kunftbericht gelefen und legte 
nun Die Zeitung beifeite, auch er jah bleich und hohl: 
äugig aus. 

„sh dente nicht,” erwiderte er. 

„Aber bedenfe, wir haben feine Hochzeitsreife 
gemadt; das läßt fi jet nachholen. Du arbeiteft 
ohnehin nicht.” 

Er Eniff das Blatt zufammen, ganz accurat 
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges. 


ann —— 


Roman von H. Schobert. 


800 


„Das mit der Hochzeitsreile,” ſagte er dabei, 
„das möchte jet doch wohl zu |pät fein.“ 

„Aber die Xeute werben fich wundern, wenn ich 
jo lange allein fortreife. Ych will doch drei Monate 
bleiben.” 

Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit 
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einfamleit, ohne Atelier, 
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute 
gejchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein, 
nein, das ging über fein Können hinaus. 

„zaß die LXeute doch reden,” fagte er. 

„3a, Dir ift das gleichgültig.“ 

„Sage, daß ich arbeiten wil. Im Winter bin 
ih To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mih —-: 
und biefe Menge Menihen! Wenn ich erft allein 
bin, wird das Arbeiten auch gehen.” 

Ein Fleines molantes Lächeln ftahl fih um 
ihren Mund. Sie dachte jeßt wie jeder, daß er nur 
bequem gemorden und das Lotterleben auszunußen 
jucde, das fie ihm gejchaffen. 

„IH will in die Schweiz,” fagte fie nach einer 
Pauje. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung 
gut, Du fiehft jchleht aus.“ 

„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, — 
zu Fuß. Laufe mid einmal tüdtig aus. Das giebt 
Lebensmut und Kraft.” 

Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf. 
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein, 
ohne Zwang, in feinem MWolldemde und dem älteften 
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne 
Manichetten, einen Knotenftod in der Hand — in 
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!! 

„Du Fannft ja Fortunat mitnehmen,” jehlug er 
vor, denn die Glüdjeligkeit, die ihn durdftrömte, 
machte ihn auch nachgiebig gegen feine Frau; aber 
Maud runzelte die Stirn. 

„Du jollteft das nicht immer jagen, Tino. Wir 
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine jo 
alte Frau, daß fich der Klatich nicht mehr an mid) 
heranwagt.“ 

Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund 
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber 
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig 
Jahren zukam. 

„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig. 
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“ 

Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging 
langſam zu ihm hin. 

„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie 
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird 
Dich nicht täuſchen.“ 

Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr 
in das Geſicht zu ſehen. 

„Wann willſt Du reiſen?“ 

„Ende der Woche iſt alles bereit.“ 

Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die 
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen, 
im letzten Moment beſann er ſich noch. 

„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort, 
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt 
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen 
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen. 


öV ç — — — ——t — —— — —————— —— —— — 


801 Art zu Art. 
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am 
nächſten Erſten ein.” 

„Ich gehe ja auch fort!“ ſagte er, und ihm 
wurde zu Mute wie einem kleinen Jungen, dem die 
Schulferien nahen, ſo ausgelaſſen luſtig. 

„Du wirſt es etwas ungemütlich haben,“ ſagte 
ſie bedauernd. „Aber dafür iſt Sommer.“ 

Da faßte er ſie mit beiden Armen, trug ſie 
hoch durch das ganze Zimmer und ſetzte ſie in ihren 
Stuhl, dann küßte er ſie derb und kräftig auf den 
Mund, ſeine Freude mußte ſich Luft machen. Darauf 
erſchraken ſie alle beide etwas, ſahen ſich unſicher an 
und lächelten. — 

Am letzten Tag vor ihrer Abreiſe kaufte Maud 
einen ganzen Arm voll Blumen und fuhr damit zu 
Fortunat. Er war ſeit längerer Zeit krank geweſen 
und hatte das Haus hüten müſſen, ſo daß ſie ſich 
eine lange Weile nicht geſehen; und daß ſie nun 
abreiſen ſollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl 
geſagt zu haben, erſchien ihr doch zu wenig freund— 
ſchaftlich. Sie meinte, ſie wäre ihm das nach ihrem 
faſt täglichen Verkehr ſchuldig. Daß ſie auch ihr 
Herz hinzog, hatte ſie ſich gegenüber nicht Wort. 

Pflichtfchuldigſt teilte ſie aber vorher ihrem Mann 
ihr Vorhaben mit; ſie war nicht die Frau der heimlichen, 
inkorrekten Handlungen. Er war fehr damit ein- 
veritanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß 
er in den näditen Tagen einmal vorjehen wollte. — 
Sie Ihidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob 
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb 
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als 
fie bejahenden Bejcheid erhalten, raffte fie alle zu: 
lammen und verihwand jeidenraufhend und duftend 
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und 
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen, 
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte. 

Fortunat empfing Maud in der geöffneten 
Thür. 

„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt. 
„Meine liebe gnädige Frau!“ 

Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach 
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß 
von der Krankheit und der augenblicklichen Be—⸗ 
wegung. 

„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und 
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud 
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn 
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir 
ſo gefehlt die letzte Zeit.“ 

Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr 
blaß jegt, fjondern rot überflammt, jein Puls ging 
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor gejagt haben. — 

Sie waren hineingegangen, und Maud begann 
die Blumen in eine jehr Schöne venetianifhe Kryftall- 
vafe zu ordnen, dabei warf fie ein paar Blide in 
dem Raum umber. Es war ba8 erite Mal, daß fie 
ihn wieder betrat jeit damals mit Quzie und 
Emil, nun faft ein Sahr ber. Sie dadıten beide 
daran, beide mit einer gewiflen ftilen Reue. 

„Wie fol ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß 
Sie zu mir gefommen find,” fagte Fortunat endlich 
mit halber Stimme. „Seden Tag fürchtete ich, Sie 


Roman von H. Schobert. 


802 





fönnten abreiien — es könnte Zhr legter bier jein — 
und ih würde Sie dann nicht wiederjehen vorher! 
Ale Tage peinigte ih den Doktor, und morgen 
wäre ih ohne feine Erlaubnis gelommen.“ 

„Morgen bin ich fort,” fagte fie und Elopfte 
die Handichuhe gegeneinander, um Blätter und Feucdhtig: 
feit zu entfernen, ehe fie fich nieberließ. „Aber ich 
wollte vorher doch einen herzlihden Händedrud mit 
Yhnen taujchen, ehe ich gehe. Drei Monate ift eine 
lange Zeit.” 

„Sa, die Stadt wird leer!” meinte er und ſah 
nachdenflih auf den Teppich. 

Site ſah ihn ſchalkhaft an. 

„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen— 
wärtige hat Rechte.“ 

„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige 
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu: 
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“ 

„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas 
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich 
bin eine geſellige Natur.“ 

„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“ 

„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das 
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht 
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht, 
und es wäre auch ſo geworden.“ 

„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog 
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn 
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn 
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn ich 
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?“ 

Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn 
flüchtig an. 

„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“ 

„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine 
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und 
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwider— 
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans 
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum 
den Mut zu einem Nein hatte. 

Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein, 
die ſie ſich näher zog. 

„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“ 
ſagte ſie mit hartem Ton. 

„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück⸗ 
ſelig auf. — Sie ſprang empor. 

„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ... 
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ... 
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre 
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten 
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied 
ſie ſeinen Blick. 

Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau, 
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft 
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗ 
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte 
weinen mögen. 

Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte 
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte 
ſich leicht gerötet. 

„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann 
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken— 


7199 Art zu Art. 
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau 
nichts war. 

Sie Iprang plöglih auf. 

„Thue, was Du willit; nur behalte ich mir die 
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in 
meinen Haushalt paßt. Ich werde nicht ungerecht 
fein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir 
nit. Und nun gute Naht, ich muß mid) nieder: 
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.“ 

Sie ging hinaus, ehe er no ein Wort erwidern 
u und that wirklich, wie fie gelagt, fie legte fi 
nieder. 

Er nahm Hut und Stod und fchlenderte ins 
Freie, e8 wurde jhon Frühling. Am Abend faß er 
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum eriten 
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die 
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die 
vornehme Schwiegertodhter genährt, brach fih unauf: 
haltfam Bahn. Martin jchüttelte abwehrend den 
Kopf. Er begriff doch alle diefe Frauen jo gar nicht. 
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö: 
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne, 
und er war frob, als er wieder allein war. 

Maud ftand am nädften Tage gejund auf, 
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang 
liegen. That fie e8 aus Bosheit oder fehlte ihr 
wirklich etwas, niemand konnte dahinter fommen. 
Sedenfalle gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen 
mußten pflegen und fochen und wachen, bis jie endlich 
übellaunig wurden und den Dienft fündigten, aber 
die Alte ftand nicht auf. Da war e8 Maud, bie 
ihren Mann au fein Vorhaben erinnerte, und er 
jegte fih Hin und fchrieb an Zofeph Leitner, daß die 
Eva zu jeiner Mutter fommen mödte. Nach langer 
Zeit erft befam er Antwort, daß die Eva bereit fei, 
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier 
Moden anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge: 
ftorben ſei. 

„Bott jei Dant,” jagte Maud. „Wenn ich ver: 
reift bin, können fie fih dann miteinander einleben 
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.” 


Ahtundzwanzigites Kapitel. 


Der Sommer war jpät, aber mit aller Macht 
gefommen. Maud, die fi abgejpannt und nicht wohl 
fühlte, machte jehr energifch Reifepläne, fie wollte 
fort, jobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo 
ziemlich fertiggeftellt waren, fagte fie eines Abends 
zu ihrem Mann: 

„Du fommit doch mit, Tino?” 

Er Hatte einen Kunftbericht gelejen und legte 
nun die Zeitung beijeite, auch er jah bleich und bohl- 
äugig aus. 

„sh denke nicht,” erwiberte er. 

„Aber bedenke, wir haben feine Hochzeitsreife 
gemadt; das läßt fi jekt nachholen. Du arbeiteft 
ohnehin nicht.” 

Er Eniff das Blatt zufammen, ganz accurat 
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges. 


en runs nu 


Roman von H. Schobert. 


800 


„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei, 
„das möchte jet Doch wohl zu fpät fein.“ 

„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich 
ſo lange allein fortreife. Jh will doch drei Monate 
bleiben.” 

Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit 
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einjamfeit, ohne Atelier, 
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute 
geichleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein, 
nein, das ging über fein Können hinaus. 

„xaß die Leute doch reden,” jagte er. 

„a, Dir ift das gleichgültig.” 

„Sage, daß ich arbeiten will. Am Winter bin 
ih jo nicht dazu gefommen. Alles fo neu um mid —- 
und diefe Menge Menſchen! Wenn ich erft allein 
bin, wird das Arbeiten au) gehen.” 

Ein fleines molantes Lächeln ftahl ih um 
ihren Mund. Sie dachte jeßt wie jeder, daß er nur 
bequem geworden und das Lotterleben auszunugen 
lude, das fie ihm geichaffen. 

„IH will in die Schweiz,” jagte fie nach einer 
Paufe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung 
gut, Du fiehft Ichleht aus.“ 

„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, — 
zu Fuß. Laufe mid einmal tüchtig aus. Das giebt 
Lebensmut und Kraft.“ 

Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf. 
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein, 
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem älteften 
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne 
Manichetten, einen Knotenftod in der Hand — in 
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann !! 

„Du kannft ja Fortunat mitnehmen,” jchlug er 
vor, denn die Slüdjeligkeit, die ihn durchitrömte, 
madte ihn auch nachgiebig gegen feine Frau; aber 
Maud runzelte die tim. 

„Du follteft das nicht immer jagen, Ting. Wir 
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine fo 
alte Frau, daß fih der Klatich nicht mehr an mich 
heranwagt.“ 

Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund 
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber 
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig 
Jahren zukam. 

„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig. 
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“ 

Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging 
langſam zu ihm hin. 

„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie 
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird 
Dich nicht täuſchen.“ 

Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr 
in das Geſicht zu ſehen. 

„Wann willſt Du reiſen?“ 

„Ende der Woche iſt alles bereit.“ 

Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die 
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen, 
im letzten Moment beſann er ſich noch. 

„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort, 
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt 
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen 
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen. 


801 Art zu Art. 
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am 
nädhlten Eriten ein.” 

„Sb gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm 
wurde zu Mute wie einem kleinen jungen, dem die 
Schulferien nahen, jo ausgelaflen luftig. 

„Du wirft e8 etwas ungemütlich haben,” Jagte 
fie bedauernd. „Aber dafür it Sommer.” 

Da faßte er fie mit beiden Armen, trug ie 
Hoch dur) das ganze Zimmer und jegte fie in ihren 
Stuhl, dann füßte er fie derb und Eräftig auf den 
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf 
erichrafen fie alle beide etwas, jahen fich unfider an 
und läcdelten. — 

Um legten Tag vor ihrer Abreife kaufte Maud 
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu 
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit frank gemwefen 
und hatte das Haus hüten müflen, jo daß fie fich 
eine lange Weile nicht gejehen; und daß fie nun 
abreifen jollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl 
gejagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund: 
Ihaftlid. Sie meinte, fie wäre ihm das nad ihrem 
faft täglichen Verkehr Ichuldig.e Daß fie aud ihr 
Herz binzog, hatte fie Sich gegenüber nicht Wort. 

Prlihtichuldigft teilte fie aber vorher ihrem Mann 
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen, 
intorrekten Handlungen. Er war jehr damit ein: 
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß 
er in den nädhlten Tagen einmal vorjehen wollte — 
Sie Ihidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob 
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb 
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als 
fie bejahenden Beicheid erhalten, raffte fie alle zu: 
lammen und verjhwand feidenraufchend und duftend 
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und 
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen, 
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte. 

Fortunat empfing Maud in der geöffneten 
Thür. 

„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt. 
„Meine liebe gnädige Frau!“ 

Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach 
ber anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß 
von der Krankheit und der augenblicklichen Be— 
wegung. 

„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und 
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud 
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn 
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir 
ſo gefehlt die letzte Zeit.“ 

Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr 
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging 
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. — 

Sie waren hineingegangen, und Maud begann 
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall—⸗ 
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in 
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie 
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und 
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide 
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue. 

„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß 
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich 
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie 


Roman von H. Schobert. 


802 





könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein — 
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher! 
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen 
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“ 

„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte 
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig— 
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich 
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit 
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine 
lange Zeit.“ 

„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah 
nachdenklich auf den Teppich. 

Site ſah ihn ſchalkhaft an. 

„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen: 
wärtige bat Rechte.” 

„Das dürfen Sie mir doch nicht jagen, gnädige 
Frau!” — Und nad einer Paufe feßte er hinzu: 
„Es ift alfo bei der Schweiz geblieben?” 

„Sa. — Offen geftanden, ich graufe mich etwas 
vor ber erften Zeit, jo unbelannt und allein. Ich 
bin eine gejellige Natur.” 

„Sie werben bald Gefelichaft finden.” 

„D verfteht fih, aber ob fie mir bebagt, das 
ift die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht 
mitlommen? Sch halte mir das jo nett gedacht, 
und es wäre auch jo geworben.” 

„Gnädige Frau,” jagte er etwas flotternd, z30g 
eine Roje aus dem Glaje und jpielte mit ihr. „Menn 
mid nun der Arzt auh auf Reifen jhidt! Wenn 
ih zufällig nah der Schweiz fäme.... wenn id) 
Sie aufjudte..... würden Sie das unpafjend finden?” 

Sie hob ganz langlam den Blid und jah ihn 
flüchtig an. 

„Ih weiß nit. Es ift wohl befjer nicht!” 

„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine 
einzige Keine Reifeunterbredung —” bettelte er; und 
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwiber: 
ftehlih, denn es lag dabei etwas jo Kindliches, ans 
Herz Sreifendes in Ton und Blid, daß man kaum 
den Mut zu einem Nein batte. 

Maudb jah von ihm fort in die Blumen hinein, 
die fie fih näher 309. 

„Tino hat es mir ja auch jchon vorgeihlagen,” 
fagte fie mit hartem Ton. 

„Nun alfo!! —” Seine Augen leudteten glüd- 
jelig auf. — Sie jprang empor. 

„Ia, aber begreifen Sie denn das nidt.... 
weil er es gethan, darum fann ih do nidt . . . 
es ift Doch im Grunde genommen unerhört!” Ihre 
Stimme, zuerft zornig, fenkte fi bei den lekten 
Worten, fie zitterte jogar etwas, und dabei vermied 
fie feinen Blid. 

Er hatte den Kopf gejentt. Die Nähe der Frau, 
die er liebte, in feiner Behaujung, der Blumenduft 
beraujähte ihn, und dabei frampfte do ein furdt- 
bares Web jein Herz zujammen, jo daß er hätte 
weinen mögen. 

Sie riß Haftig einen Handfhuh ab und zerbrüdte 
mit den Fingern das Batifttuhd. Ahr Geficht Hatte 
ih leicht gerötet. 

„Es ift ja eigentlih Unfinn,” jagte fie dann 
ruhig wie nad) dem Abjchluß einer langen Sedanlen: 


199 Art zu Art. 
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau 
nichts war. 

Sie Iprang plöglih auf. 

„zhue, was Du willit; nur behalte ich mir Die 
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in 
meinen Haushalt paßt. ch werde nicht ungerecht 
jein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir 
nit. Und nun gute Nacht, ich muß mich nieder: 
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.“ 

Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern 
a und that wirklid, wie fie gejagt, fie legte fich 
nieder. 

Er nahm Hut und Stod und fchlenderte ins 
Freie, es wurde jhon Frühling. Am Abend jaß er 
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum erften 
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die 
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen die 
vornehme Schwiegertocdhter genährt, brah fih unauf: 
baltiam Bahn. Martin fchüttelte abwehrend den 
Kopf. Er begriff doch alle dieje Frauen jo gar nid. 
Meder das Schimpfen feiner Mutter noch die Empö: 
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne, 
und er war frob, als er wieder allein war. 

Maud ftand am nädhften Tage gefund auf, 
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang 
liegen. That fie es aus Bosheit oder fehlte ihr 
wirklich etwas, niemand konnte dahinter kommen. 
Sedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen 
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie enblid) 
übellaunig wurden und den Dienft kündigten, aber 
die Alte ftand nit auf. Da war e8 Maud, bie 
ihren Mann an fein Vorhaben erinnerte, und er 
feßte fi hin und fehrieb an Sofeph Leitner, daß bie 
Eva zu jeiner Mutter fommen möchte. Nach langer 
Zeit erit befam er Antwort, daß die Eva bereit fei, 
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier 
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzmwilchen ge: 
ftorben jei. 

„Bott jei Dank,” jagte Maud. „Wenn ich ver: 
reift bin, können fie fih dann miteinander einleber 
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.” 


Ahtundzmwanzigftes Kapitel. 


Der Sommer war fpät, aber mit aller Macht 
gelommen. Maud, die fich abgelpannt und nicht wohl 
fühlte, machte jehr energifch Neifepläne, fie wollte 
fort, Tobald wie möglid. Als ihre Toiletten fo 
ziemlich fertiggeftellt waren, jagte fie eines Abends 
zu ihrem Mann: 

„Du Tommft doch mit, Tino?“ 

Er hatte einen Kunftbericht gelefen und legte 
nun die Zeitung beileite, auch er ſah bleich und hohl⸗ 
äugig aus. 

„3 dente nicht,“ erwiderte er. 

„Aber bedenfe, wir haben Feine Hochzeitsreife 
gemacht; das läßt fich jett nachholen. Du arbeiteft 
ohnehin nicht.” 

Er Mniff das Blatt zufammen, ganz accurat 
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges. 


Roman von H. Schobert. 





300 


„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei, 
„das möchte jegt doch wohl zu jpät fein.“ 

„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich 
jo lange allein fortreife. Ych will do drei Monate 
bleiben.” 

Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit 
jeiner Stau, irgendwo, ohne Einjamleit, ohne Atelier, 
ohne feinen Verein — von ihr unter fremde Leute 
geichleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein, 
nein, das ging über fein Können hinaus. 

„Laß die Leute doch reden,” fjagte er. 

„3a, Dir ift das gleichgültig.” 

„Sage, daß ich arbeiten wil. YIm Winter bin 
ich To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mid —- 
und diefe Menge Menden! Wenn ich erft allein 
bin, wird das Arbeiten auch gehen.” 

Ein Hleines molantes Lächeln Stahl ih um 
ihren Mund. Sie dachte jet wie jeder, daß er nur 
bequem geworden und das Lotterleben auszunuben 
udhe, das fie ihm geihaffen. 

„Ih will in die Schweiz,” jagte fie nach einer 
Pauſe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Quftveränderung 
gut, Du fiehlt Ichleht aus.” 

„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, — 
zu Fuß. Laufe mich einmal tüdtig aus. Das giebt 
Lebensmut und Kraft.” 

Eine jonnige Yata Morgana ftieg vor ihm auf. 
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein, 
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem ältelten 
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne 
Manicetten, einen Snotenftod in ber Hand — in 
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!! 

„Du fannft ja Fortunat mitnehmen,” jhlug er 
vor, denn die Glüdjeligkeit, die ihn Durchftrömte, 
machte ihn auch nachgiebig gegen jeine rau; aber 
Maud runzelte die Stirn. 

„Du Jollteft das nicht immer jagen, Tino. Wir 
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine fo 
alte rau, daß fich der Klatjch nicht mehr an mid 
heranwagt.“ 

Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund 
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber 
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig 
Jahren zukam. 

„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig. 
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“ 

Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging 
langſam zu ihm hin. 

„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie 
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird 
Dich nicht täuſchen.“ 

Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr 
in das Geſicht zu ſehen. 

„Wann willſt Du reiſen?“ 

„Ende der Woche iſt alles bereit.“ 

Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die 
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen, 
im letzten Moment beſann er ſich noch. 

„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort, 
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt 
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen 
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen. 


ö — — ——— — ———— — —— —— — — — — — —————— — — — 


801 Art zu Art. 
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am 
nädhlten Eriten ein.” 

„Ih gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm 
wurde zu Mute wie einem fleinen Jungen, dem die 
Schulferien nahen, To ausgelaflen luftig. 

„Du wirft es etwas ungemütlid haben,” jagte 
fie bedauernd. „Aber dafür ift Sommer.” 

Da faßte er fie mit beiden Armen, trug fie 
hoch durch das ganze Zimmer und jeßte fie in ihren 
Stuhl, dann füßte er fie derb und fräftig auf den 
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf 
erichrafen fie alle beide etwas, jahen fich unfider an 
und lächelten. — 

Am legten Tag vor ihrer Abreile kaufte Maud 
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu 
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit Trank gemelen 
und hatte das Haus hüten müflen, fo daß fie fi 
eine lange Weile nicht geliehen; und daß fie nun 
abreilen jollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl 
gejagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund: 
Ihaftlid. Sie meinte, fie wäre ihm das nach ihrem 
faft täglichen Verkehr Jchuldig.e Daß fie auch ihr 
Herz hinzog, hatte fie fich gegenüber nicht Wort. 

Vrlihtichuldigft teilte fie aber vorher ihrem Mann 
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen, 
inforreften Handlungen. Er war jehr damit ein: 
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß 
er in den nädjlten Tagen einmal vorjehen wollte. — 
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob 
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb 
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als 
fie bejahenden Beicheid erhalten, raffte fie alle zu— 
jammen und verjchwand jeidenraufchend und duftend 
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und 
wer fie vielleicht jah, oder fich noch über den Wagen, 
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte. 

Sortunat empfing Maudb in der geöffneten 
Thür. 

„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt. 
„Meine liebe gnädige Frau!“ 

Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach 

der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß 
von der Krankheit und der augenblicklichen Be— 
wegung. 
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und 
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud 
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn 
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir 
ſo gefehlt die letzte Zeit.“ 

Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr 
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging 
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. — 

Sie waren hineingegangen, und Maud begann 
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall⸗ 
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in 
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie 
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und 
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide 
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue. 

„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß 
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich 
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie 


Roman von H. Schobert. 


802 





könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein — 
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher! 
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen 
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“ 

„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte 
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig⸗— 
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich 
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit 
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine 
lange Zeit.“ 

„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah 
nachdenklich auf den Teppich. 

Sie ſah ihn ſchalkhaft an. 

„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen— 
wärtige hat Rechte.“ 

„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige 
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu: 
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“ 

„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas 
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich 
bin eine geſellige Natur.“ 

„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“ 

„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das 
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht 
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht, 
und es wäre auch ſo geworden.“ 

„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog 
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn 
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn 
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn ich 
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?“ 

Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn 
flüchtig an. 

„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“ 

„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine 
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und 
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwiber: 
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans 
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum 
den Mut zu einem Nein hatte. 

Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein, 
die ſie ſich näher zog. 

„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“ 
ſagte ſie mit hartem Ton. 

„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück— 
ſelig auf. — Sie ſprang empor. 

„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ... 
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ... 
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre 
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten 
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied 
ſie ſeinen Blick. 

Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau, 
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft 
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗ 
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte 
weinen mögen. 

Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte 
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte 
ſich leicht gerötet. 

„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann 
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken— 


799 Art zu Art. 
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau 
nichts war. 

Sie Iprang plöglih auf. 

„xhue, was Du willit; nur behalte ich mir die 
legte Enticheibung vor, wenn die Berjon nicht in 
meinen Haushalt paßt. ch werde nicht ungerecht 
fein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir 
nit. Und nun gute Nacht, ih muß mich nieder: 
legen, mein Kopf jchmerzt zu jehr.” 

Sie ging hinaus, ehe er no) ein Wort erwidern 
u und that wirklich, wie fie gelagt, fie legte fich 
nieder. 

Er nahm Hut und Stod und jchlenderte ins 
Freie, es wurde jhon Frühling. Am Abend ja er 
ein Stündchen bei feiner Mutter und hörte zum eriten 
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die 
Zunge rannen. Der ganze Haß, den fie gegen bie 
vornehme Schwiegertochter genährt, bradh fih unauf: 
baltiam Bahn. Martin jchüttelte abmwehrend den 
Kopf. Er begriff doch alle dieje Frauen jo gar nidt. 
Meder das Schimpfen jeiner Mutter noch die Empö: 
rung feiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne, 
und er war froh, als er wieder allein war. 

Maud ftand am nädften Tage gejund auf, 
aber die alte Heelen legte fih und blieb wochenlang 
liegen. That fie e8 aus Bosheit oder fehlte ihr 
wirklich etwas, niemand konnte dahinter fommen. 
Sedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen 
mußten pflegen und kochen und wachen, bis jie endlich 
übellaunig wurden und den Dienft kündigten, aber 
die Alte ftand nit auf. Da war e8 Maud, die 
ihren Mann au fein Borhaben erinnerte, und er 
fegte fich Hin und jchrieb an Kofeph Leitner, daß die 
Eva zu feiner Mutter fommen möchte. Nach langer 
Zeit erit befam er Antwort, daß die Eva bereit jei, 
ihren neuen Dienft bei der alten Heelen in vier 
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwilchen ge: 
ftorben ſei. 

„Bott fei Dan,” jagte Maud. „Wenn ich ver: 
reift bin, Fönnen fie fi dann miteinander einleber 
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.” 


Ahtundzwanzigites Kapitel. 


Der Sommer war jpät, aber mit aller Mad 
gefommen. Maud, die fich abgefpannt und nicht wohl 
fühlte, machte jehr energifch Neifepläne, fie wollte 
fort, jobald wie möglih. Als ihre Toiletten fo 
ziemlich fertiggeftellt waren, fjagte fie eines Abends 
zu ihrem Dann: 

„Du Eoımmft doch mit, Tino?” 

Er batte einen Kunftbericht gelejen und legte 
nun bie Zeitung beijeite, auch er jah bleih und hohl: 
äugig aus. 

„Ih denke nicht,” erwiderte er. 

„Aber bedenfe, wir haben feine Hochzeitsreife 
gemadht; das läßt fich jet nadhholen. Du arbeiteft 
ohnehin nicht.” 

Er Mniff das Blatt zufammen, ganz accurat 
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges. 


Roman von H. Schobert. 





300 


„Das mit der Hochzeitsreile,” jagte er dabei, 
„das möchte jegt Doch wohl zu fjpät jein.” 

„Aber die Leute werden fich wundern, wenn ich 
jo lange allein fortreife. Ych will Doch drei Monate 
bleiben.” 

Entjegen überfiel ihn. Drei Monate allein mit 
jeiner Frau, irgendwo, ohne Einjamteit, ohne Atelier, 
ohne jeinen Verein — von ihr unter fremde Leute 
gejchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung fein, 
nein, das ging über fein Können hinaus. 

„zaß die Leute doch reden,” fjagte er. 

„3a, Dir ift das gleichgültig.” 

„Sage, daß ich arbeiten will. Jm Winter bin 
ich To nicht dazu gelommen. Alles jo neu um mih —- 
und diefe Menge Menjdhen! Wenn ih erft allein 
bin, wird das Arbeiten auch) gehen.” 

Ein fleines molantes Lädeln ftahl fih um 
ihren Mund. Sie dachte jet wie jeder, daß er nur 
bequem geworden und das Lotterleben auszunußen 
Jude, das fie ihm geichaffen. 

„Ih will in die Schweiz,” fagte fie nad) einer 
Baufe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Yuftveränderung 
gut, Du fehlt Ichleht aus.” 

„Wenn Du fort bift, gehe ich ins Gebirge, — 
zu Fuß. Laufe mich einmal tüchtig aus. Das giebt 
Lebensmut und Kraft.” 

Eine jonnige Fata Morgana ftieg vor ihm auf. 
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein, 
ohne Zwang, in feinem Wollhemde und dem älteften 
Anzug, den er bejaß, in alten Stiefeln, ohne 
Manjcetten, einen Snotenftod in der Hand — in 
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!! 

„Du Fannft ja Fortunat mitnehmen,” jchlug er 
vor, denn die Glüdijeligkeit, die ihn durchitrömte, 
machte ihn auch nachgiebig gegen jeine rau; aber 
Maud runzelte die Stirm. 

„Du follteft das nicht immer jagen, Tino. Wir 
leben bier weder im Paradiefe noch bin ich eine jo 
alte Frau, daß fih der Klatjch nicht mehr an mich 
beranmwagt.” 

Er fah fie prüfend an, wie fie im Hintergrund 
des Zimmers jaß, zwar jehr fein und ätheriich, aber 
do jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig 
Sahren zulam. 

„Das meinte ich auch nicht,” jagte er haftig. 
„Aber fieh, Fortunat ift Dir notwendig, ich nicht.“ 

Sie errötete heftig, dann ftand fie auf und ging 
langſam zu ihm hin. 

„Ih weiß, daß Du mir vertrauft,” fagte fie 
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird 
DiH nicht täufchen.” 

Er nahm die Hand und Jchüttelte fie, ohne ihr 
in das Geficht zu jehen. 

„Bann willit Du reilen?“ 

„Ende der Woche ift alles bereit.” 

Er jprang auf, redte die Arme und behnte die 
Bruft. Faſt hätte er einen Yubelruf ausgeftoßen, 
im legten Moment bejann er fi nod). 

„gina und die Köchin gehen,” fuhr fie fort, 
„auch Friedrih hat vier Wochen Urlaub, Du mußt 
Did dann einrihten, Tino; außer dem Haufe eilen 
und Did fonft von irgend wen bedienen lajflen. 


En nn 


801 Art zu Art. 
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am 
nächſten Eriten ein.” 

„3 gehe ja auch fort!” fagte er, und ihm 
wurde zu Mute wie einem Fleinen Jungen, dem die 
Schulferien nahen, jo ausgelaflen Iuftig. 

„Du wirft es etwas ungemütlich haben,” jagte 
fie bedauernd. „Aber dafür ift Sommer.” 

Da faßte er fie mit beiden Armen, trug Tie 
hoch durch das ganze Zimmer und jegte fie in ihren 
Stuhl, dann Füßte er fie derb und Fräftig auf den 
- Mund, feine Freude mußte fih Luft machen. Darauf 
erichrafen fie alle beide etwas, ſahen ſich unficher an 
und lächelten. — 

Am legten Tag vor ihrer Abreile kaufte Maud 
einen ganzen Arm vol Blumen und fuhr damit zu 
Fortunat. Er war Seit längerer Zeit Trank gewelen 
und hatte das Haus hüten müflen, jo daß fie fi) 
eine lange Weile nicht gelehen; und daß fie nun 
abreifen follte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl 
gelagt zu haben, erichien ihr doch zu wenig freund: 
Ihaftlih. Sie meinte, fie wäre ihm das nach ihrem 
fat täglichen Verkehr jchuldig.e Daß fie auch ihr 
Herz binzog, hatte fie fich gegenüber nicht Wort. 

Prlihtichuldigkt teilte fie aber vorher ihrem Mann 
ihr Vorhaben mit; fie war nicht die Frau der heimlichen, 
intorretten Handlungen. Er war jehr damit ein- 
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß 
er in den näcdhjlten Tagen einmal vorjehen wollte. — 
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob 
Herr Fortunat fie empfangen könne, jo lange blieb 
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als 
fie bejahenden Beiheid erhalten, raffte fie alle zu= 
jammen und verjchwand jeidenraujchend und duftend 
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und 
wer fie vielleicht jah, oder fih noch über den Wagen, 
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunderte. 

Sortunat empfing Maudb in der geöffneten 
Thür. 
„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt. 
„Meine liebe gnädige Frau!“ 

Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach 

der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß 
von der Krankheit und der augenblicklichen Be— 
wegung. 
„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings: und 
Abichiedsgruß ins Haus, Sie Armer,” ſagte Maud 
lähelnd und bot ihm ihre duftige Lat. „Sit denn 
hr Hals immer noch nicht beifer? Sie haben mir 
jo gefehlt die lehte Zeit.” 

Er jah fie an. Sein Gefiht war nicht mehr 
blaß jet, jondern rot überflammt, fein Puls ging 
heftig. „Sieber!“ würde ber Doktor gejagt haben. — 

Sie waren bineingegangen, und Maud begann 
die Blumen in eine jehr jchöne venetianiihe Kryftall: 
vaje zu ordnen, dabei warf fie ein paar Blide in 
dem Raum umher. Es war das erite Mal, daß fie 
ihn wieder betrat feit damals mit Luzie und 
Emil, nun falt ein Jahr her. Sie dadten beide 
daran, beide mit einer gemwillen ftillen Reue. 

„Wie fol ih Ihnen danken, gnädige Frau, daß 
Sie zu mir gefommen find,” jagte Fortunat endlich 
mit halber Stimme. „jeden Tag fürchtete ich, Sie 


Roman von 9. Schobert. 


802 





fönnten abreiien — es könnte Ihr leßter bier fein — 
und id würde Sie dann nicht wiederjehen vorher! 
Ale Tage peinigte ich den Doltor, und morgen 
wäre ich ohne jeine Erlaubnis gefommen.” 

„Morgen bin ich fort,“ fagte fie und Elopfte 
die Handichuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig- 
feit zu entfernen, ehe fie fich nieberließ. „Aber ich 
wollte vorher doch einen herzlichen Händedrud mit 
Shnen taufchen, ehe ich gehe. Drei Monate ilt eine 
lange Zeit.” 

„sa, die Stadt wird leer!” meinte er und ja) 
nachdenklich auf den Teppich. 

Sie fah ihn jhalkhaft an. 

„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen: 
wärtige bat Rechte.” 

„Das bürfen Sie mir doch nicht jagen, gnädige 
Frau!” — Und nad einer Paufe jeßte er hinzu: 
„Es ift alfo bei der Schweiz geblieben?“ 

„Sa. — Offen geftanden, ich grauje mich etwas 
vor ber erften Zeit, jo unbefannt und allein. Ach 
bin eine gejellige Natur.” 

„Sie werden bald Gefellichaft finden.” 

„O verſteht fih, aber ob fie mir behagt, das 
ift die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht 
mitfommen? ch hatte mir das jo nett gedacht, 
und es wäre auch jo geworden.” 

„Snädige Frau,” fjagte er etwas flotternd, 30g 
eine Rofe aus bem Slaje und fpielte mit ihr. „Wenn 
mih nun ber Arzt audh auf Reifen Ihidt! Wenn 
ih zufällig nah der Schweiz Täme... . wenn id) 
Sie aufludte .. . würden Sie das unpafjend finden?” 

Sie hob ganz langlam den Blid und jah ihn 
flüchtig an. 

„Ih weiß nit. Es ijt wohl befjer nicht!” 

„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine 
einzige Heine Reifeunterbredung —” bettelte er; und 
wenn er das that, war er eigentlich ganz unmider: 
ftehlih , denn es lag babei etwas jo Kindliches, ans 
Herz Greifendes in Ton und Blid, daß man faum 
den Mut zu einem Nein batte. 

Maud jah von ihm fort in die Blumen hinein, 
die fie fich näher 309. 

„Zino hat es mir ja auch jchon vorgeihhlagen,” 
fagte fie mit hartem Ton. 

„Run alfo!! —” Seine Augen leucdhteten glüd- 
jelig auf. — Sie jprang empor. 

„Sa, aber begreifen Sie denn das nidt.... 
weil er es gethan, darum Tann ih do nicht ... 
es ift doch im Grunde genommen unerhört!” Shre 
Stimme, zuerft zornig, jenkte fich bei den lebten 
Worten, fie zitterte jogar etwas, und dabei vermied 
fie jeinen Blid. 

Er hatte den Kopf gejentt. Die Nähe der Frau, 
bie er liebte, in feiner Behaufung, der Blumenduft 
beraufchte ihn, und dabei frampfte doch ein furcht- 
bares Weh fein Herz zulammen, jo daß er hätte 
weinen mögen. 

Sie riß haftig einen Handihuh ab und zerdrüdte 
mit den Fingern das Batifttuh. hr Geficht hatte 
fih leicht gerötet. 

„Es ift ja eigentlid Unfinn,” jagte fie dann 
ruhig wie nach dem Abjehluß einer langen Gedanken: 


799 Art zu Art. 
er auch gehen mußte, obgleih ihm die alte Frau 
nichts war. 

Sie Iprang plöglih auf. 

„xhue, was Du willit; nur behalte ich mir die 
legte Entiheidung vor, wenn die Perjon nicht in 
meinen Haushalt paßt. Sch werde nicht ungerecht 
jein, Tino, aber irgend etwas gefallen laß ich mir 
nit. Und nun gute Naht, ich muß mich nieder: 
legen, mein Kopf fchmerzt zu ehr.“ 

Sie ging hinaus, ehe er noch ein Wort erwidern 
— und that wirklich, wie ſie geſagt, ſie legte ſich 
nieder. 

Er nahm Hut und Stock und ſchlenderte ins 
Freie, es wurde ſchon Frühling. Am Abend ſaß er 
ein Stündchen bei ſeiner Mutter und hörte zum erſten 
Mal das Gift und die Galle, die der Alten über die 
Zunge rannen. Der ganze Haß, den ſie gegen die 
vornehme Schwiegertochter genährt, brach ſich unauf— 
haltſam Bahn. Martin ſchüttelte abwehrend den 
Kopf. Er begriff doch alle dieſe Frauen ſo gar nicht. 
Weder das Schimpfen ſeiner Mutter noch die Empö— 
rung ſeiner Frau traf bei ihm auf verwandte Töne, 
und er war froh, als er wieder allein war. 

Maud ſtand am nächſten Tage geſund auf, 
aber die alte Heeken legte ſich und blieb wochenlang 
liegen. That ſie es aus Bosheit oder fehlte ihr 
wirklich etwas, niemand konnte dahinter kommen. 
Jedenfalls gab es Unruhe im Haushalt. Die Mädchen 
mußten pflegen und kochen und wachen, bis ſie endlich 
übellaunig wurden und den Dienſt kündigten, aber 
die Alte ſtand nicht auf. Da war es Maud, die 
ihren Mann an ſein Vorhaben erinnerte, und er 
ſetzte ſich hin und ſchrieb an Joſeph Leitner, daß die 
Eva zu ſeiner Mutter kommen möchte. Nach langer 
Zeit erſt bekam er Antwort, daß die Eva bereit ſei, 
ihren neuen Dienſt bei der alten Heeken in vier 
Wochen anzutreten, da ihre Gräfin inzwiſchen ge— 
ſtorben ſei. 

„Gott ſei Dank,“ ſagte Maud. „Wenn ich ver— 
reiſt bin, können ſie ſich dann miteinander einleben 
und Lina und die Köchin meinetwegen nun ziehen.“ 


Achtundzwanzigſtes Kapitel. 


Der Sommer war ſpät, aber mit aller Macht 
gekommen. Maud, die ſich abgeſpannt und nicht wohl 
fühlte, machte ſehr energiſch Reiſepläne, ſie wollte 
fort, ſobald wie möglich. Als ihre Toiletten ſo 
ziemlich fertiggeſtellt waren, ſagte ſie eines Abends 
zu ihrem Mann: 

„Du kommſt doch mit, Tino?“ 

Er hatte einen Kunſtbericht geleſen und legte 
nun die Zeitung beiſeite, auch er ſah bleich und hohl: 
äugig aus. 

„Ich denke nicht,“ erwiderte er. 

„Aber bedenke, wir haben keine Hochzeitsreiſe 
gemacht; das läßt ſich jetzt nachholen. Du arbeiteſt 
ohnehin nicht.“ 

Er kniff das Blatt zuſammen, ganz accurat 
und penibel, als thäte er etwas Wichtiges. 


Roman von H. Schobert. 





800 


„Das mit der Hochzeitsreiſe,“ ſagte er dabei, 
„das möchte jetzt doch wohl zu ſpät ſein.“ 

„Aber die Leute werden ſich wundern, wenn ich 
ſo lange allein fortreiſe. Ich will doch drei Monate 
bleiben.“ 

Entſetzen überfiel ihn. Drei Monate allein mit 
ſeiner Frau, irgendwo, ohne Einſamkeit, ohne Atelier, 
ohne ſeinen Verein — von ihr unter fremde Leute 
geſchleppt werden, immer zu ihrer Verfügung ſein, 
nein, das ging über ſein Können hinaus. 

„Laß die Leute doch reden,“ ſagte er. 

„Ja, Dir iſt das gleichgültig.“ 

„Sage, daß ich arbeiten will. Im Winter bin 
ich ſo nicht dazu gekommen. Alles ſo neu um mich — 
und dieſe Menge Menſchen! Wenn ich erſt allein 
bin, wird das Arbeiten auch gehen.“ 

Ein kleines mokantes Lächeln ſtahl ſich um 
ihren Mund. Sie dachte jetzt wie jeder, daß er nur 
bequem geworden und das Lotterleben auszunutzen 
ſuche, das ſie ihm geſchaffen. 

„Ich will in die Schweiz,“ ſagte ſie nach einer 
Pauſe. „Aber Dir, Tino, thäte auch Luftveränderung 
gut, Du ſiehſt ſchlecht aus.“ 

„Wenn Du fort biſt, gehe ich ins Gebirge, — 
zu Fuß. Laufe mich einmal tüchtig aus. Das giebt 
Lebensmut und Kraft.“ 

Eine ſonnige Fata Morgana ſtieg vor ihm auf. 
Seine Frau fort — lange! Er allein, ganz allein, 
ohne Zwang, in ſeinem Wollhemde und dem älteſten 
Anzug, den er beſaß, in alten Stiefeln, ohne 
Manſchetten, einen Knotenſtock in der Hand — in 
das Gebirge pilgernd. Ein freier Mann!! 

„Du kannſt ja Fortunat mitnehmen,“ ſchlug er 
vor, denn die Glückſeligkeit, die ihn durchſtrömte, 
machte ihn auch nachgiebig gegen ſeine Frau; aber 
Maud runzelte die Stirn. 

„Du ſollteſt das nicht immer ſagen, Tino. Wir 
leben hier weder im Paradieſe noch bin ich eine ſo 
alte Frau, daß ſich der Klatſch nicht mehr an mich 
heranwagt.“ 

Er ſah ſie prüfend an, wie ſie im Hintergrund 
des Zimmers ſaß, zwar ſehr fein und ätheriſch, aber 
doch jung und hübſch, wie es ihren fünfundzwanzig 
Jahren zukam. 

„Das meinte ich auch nicht,“ ſagte er haſtig. 
„Aber ſieh, Fortunat iſt Dir notwendig, ich nicht.“ 

Sie errötete heftig, dann ſtand ſie auf und ging 
langſam zu ihm hin. 

„Ich weiß, daß Du mir vertrauſt,“ ſagte ſie 
und bot ihm die Hand. „Dein Vertrauen wird 
Dich nicht täuſchen.“ 

Er nahm die Hand und ſchüttelte ſie, ohne ihr 
in das Geſicht zu ſehen. 

„Wann willſt Du reiſen?“ 

„Ende der Woche iſt alles bereit.“ 

Er ſprang auf, reckte die Arme und dehnte die 
Bruſt. Faſt hätte er einen Jubelruf ausgeſtoßen, 
im letzten Moment beſann er ſich noch. 

„Lina und die Köchin gehen,“ fuhr ſie fort, 
„auch Friedrich hat vier Wochen Urlaub, Du mußt 
Dich dann einrichten, Tino; außer dem Hauſe eſſen 
und Dich ſonſt von irgend wem bedienen laſſen. 


ö ——— —t — — —— ñ ñ ñ ñ rrr— —— — — — — — 


801 Art zu Art. 
Deine Mutter bleibt ja, und Eure Eva trifft am 
nächſten Erſten ein.“ 

„Ich gehe ja auch fort!“ ſagte er, und ihm 
wurde zu Mute wie einem kleinen Jungen, dem die 
Schulferien nahen, ſo ausgelaſſen luſtig. 

„Du wirſt es etwas ungemütlich haben,“ ſagte 
ſie bedauernd. „Aber dafür iſt Sommer.“ 

Da faßte er ſie mit beiden Armen, trug ſie 
hoch durch das ganze Zimmer und ſetzte ſie in ihren 
Stuhl, dann küßte er ſie derb und kräftig auf den 
Mund, ſeine Freude mußte ſich Luft machen. Darauf 
erſchraken ſie alle beide etwas, ſahen ſich unſicher an 
und lächelten. — 

Am letzten Tag vor ihrer Abreiſe kaufte Maud 
einen ganzen Arm voll Blumen und fuhr damit zu 
Fortunat. Er war ſeit längerer Zeit krank geweſen 
und hatte das Haus hüten müſſen, ſo daß ſie ſich 
eine lange Weile nicht geſehen; und daß ſie nun 
abreiſen ſollte, ohne ihm ein freundliches Lebewohl 
geſagt zu haben, erſchien ihr doch zu wenig freund— 
ſchaftlich. Sie meinte, ſie wäre ihm das nach ihrem 
faſt täglichen Verkehr ſchuldig. Daß ſie auch ihr 
Herz hinzog, hatte ſie ſich gegenüber nicht Wort. 

Pflichtſchuldigſt teilte ſie aber vorher ihrem Mann 
ihr Vorhaben mit; ſie war nicht die Frau der heimlichen, 
inkorrekten Handlungen. Er war jehr damit ein- 
verftanden, trug ihr Grüße auf und ließ jagen, daß 
er in den nädften Tagen einmal vorjehen wollte. — 
Sie jhidte den Diener hinauf und ließ fragen, ob 
Herr Fortunat fie empfangen könne, fo lange blieb 
fie im Wagen mitten unter ihren Blumen, und als 
fie bejahenden Beicheib erhalten, raffte fie alle zu: 
Jammen und verihwand jeidenraufchend und duftend 
im Hausflur, ohne adht darauf zu geben, ob und 
wer fie vielleicht jah, oder filh noch über den Wagen, 
der vor Fortunats Wohnung halten blieb, wunbderte. 

Fortunat empfing Maud in der geöffneten 
Thür. 

„Gnädige Frau,“ ſtammelte er, heiß erregt. 
„Meine liebe gnädige Frau!“ 

Dabei küßte er feierlich ihre Hände, eine nach 
der anderen. Sein hübſches Geſicht war ganz blaß 
von der Krankheit und der augenblicklichen Be— 
wegung. 

„Hier bringe ich Ihnen einen Frühlings- und 
Abſchiedsgruß ins Haus, Sie Armer,“ ſagte Maud 
lächelnd und bot ihm ihre duftige Laſt. „Iſt denn 
Ihr Hals immer noch nicht beſſer? Sie haben mir 
ſo gefehlt die letzte Zeit.“ 

Er ſah ſie an. Sein Geſicht war nicht mehr 
blaß jetzt, ſondern rot überflammt, ſein Puls ging 
heftig. „Fieber!“ würde der Doktor geſagt haben. — 

Sie waren hineingegangen, und Maud begann 
die Blumen in eine ſehr ſchöne venetianiſche Kryſtall— 
vaſe zu ordnen, dabei warf ſie ein paar Blicke in 
dem Raum umher. Es war das erſte Mal, daß ſie 
ihn wieder betrat ſeit damals mit Luzie und 
Emil, nun faſt ein Jahr her. Sie dachten beide 
daran, beide mit einer gewiſſen ſtillen Reue. 

„Wie ſoll ich Ihnen danken, gnädige Frau, daß 
Sie zu mir gekommen ſind,“ ſagte Fortunat endlich 
mit halber Stimme. „Jeden Tag fürchtete ich, Sie 


Roman von H. Schobert. 


802 





könnten abreiſen — es könnte Ihr letzter hier ſein — 
und ich würde Sie dann nicht wiederſehen vorher! 
Alle Tage peinigte ich den Doktor, und morgen 
wäre ich ohne ſeine Erlaubnis gekommen.“ 

„Morgen bin ich fort,“ ſagte ſie und klopfte 
die Handſchuhe gegeneinander, um Blätter und Feuchtig— 
keit zu entfernen, ehe ſie ſich niederließ. „Aber ich 
wollte vorher doch einen herzlichen Händedruck mit 
Ihnen tauſchen, ehe ich gehe. Drei Monate iſt eine 
lange Zeit.“ 

„Ja, die Stadt wird leer!“ meinte er und ſah 
nachdenklich auf den Teppich. 

Sie ſah ihn ſchalkhaft an. 

„Weil ich gehe? Ach, Fortunat, nur der Gegen— 
wärtige hat Rechte.“ 

„Das dürfen Sie mir doch nicht ſagen, gnädige 
Frau!“ — Und nach einer Pauſe ſetzte er hinzu: 
„Es iſt alſo bei der Schweiz geblieben?“ 

„Ja. — Offen geſtanden, ich grauſe mich etwas 
vor der erſten Zeit, ſo unbekannt und allein. Ich 
bin eine geſellige Natur.“ 

„Sie werden bald Geſellſchaft finden.“ 

„O verſteht ſich, aber ob ſie mir behagt, das 
iſt die Frage. Konnten nun Sie und Tino nicht 
mitkommen? Ich hatte mir das ſo nett gedacht, 
und es wäre auch ſo geworden.“ 

„Gnädige Frau,“ ſagte er etwas ſtotternd, zog 
eine Roſe aus dem Glaſe und ſpielte mit ihr. „Wenn 
mich nun der Arzt auch auf Reiſen ſchickt! Wenn 
ich zufällig nach der Schweiz käme ... wenn id) 
Sie aufſuchte ... würden Sie das unpaſſend finden?” 

Sie hob ganz langſam den Blick und ſah ihn 
flüchtig an. 

„Ich weiß nicht. Es iſt wohl beſſer nicht!“ 

„Aber nur zehn — vierzehn Tage! Nur eine 
einzige kleine Reiſeunterbrechung —“ bettelte er; und 
wenn er das that, war er eigentlich ganz unwider⸗ 
ſtehlich, denn es lag dabei etwas ſo Kindliches, ans 
Herz Greifendes in Ton und Blick, daß man kaum 
den Mut zu einem Nein hatte. 

Maud ſah von ihm fort in die Blumen hinein, 
die ſie ſich näher zog. 

„Tino hat es mir ja auch ſchon vorgeſchlagen,“ 
ſagte ſie mit hartem Ton. 

„Nun alſo!! —“ Seine Augen leuchteten glück— 
ſelig auf. — Sie ſprang empor. 

„Ja, aber begreifen Sie denn das nicht ... 
weil er es gethan, darum kann ich doch nicht ... 
es iſt doch im Grunde genommen unerhört!“ Ihre 
Stimme, zuerſt zornig, ſenkte ſich bei den letzten 
Worten, ſie zitterte ſogar etwas, und dabei vermied 
ſie ſeinen Blick. 

Er hatte den Kopf geſenkt. Die Nähe der Frau, 
die er liebte, in ſeiner Behauſung, der Blumenduft 
berauſchte ihn, und dabei krampfte doch ein furcht⸗ 
bares Weh ſein Herz zuſammen, ſo daß er hätte 
weinen mögen. 

Sie riß haſtig einen Handſchuh ab und zerdrückte 
mit den Fingern das Batiſttuch. Ihr Geſicht hatte 
ſich leicht gerötet. 

„Es iſt ja eigentlich Unſinn,“ ſagte ſie dann 
ruhig wie nach dem Abſchluß einer langen Gedanken— 


803 Art zu Art. 
reihe. „Sind wir in der Schweiz etma andere 
Menihen als bier? Doch gewiß nit! Wenn Sie 
alfo wollen, fommen Sie mir ruhig nad.” 

Er nahm ihre Hand und füßte fie, aber er jagte 
fein Wort. Die große Glüdieligleit, die ihn zuerft 
durchflutet, war fort. 

Sie begann zu plaudern, bald von diefem, bald 
von jenem, e& lag ihr daran, eine recht beitere, 
barmlofe Stimmung Herzuftellen und feitzubalten, 
als er das merkte, half er ihr mit feinem Tall. 

„Aber ehe ich gebe,” Tagte fie nad einem Blid 
auf die Kleine Gürteluhr, „möchte ich doch noch hr 
Atelier jeden. Sie verweigerten uns damals ben 
Eintritt. Dder wird es auch entmweiht dadurch wie 
bei ung?“ 

„gür Sie, gnädige Frau, ift es jederzeit offen.” 

Sie ftand Ihon auf der Schwelle, jett wandte 
fie ihr lachendes Gefiht über die Schulter zurüd 
ihm zu. 

„Allo au bei Ihnen Beſchränkung? Das iſt 
ja ſchrecklich.“ 

In einer Ecke ſtand, von einem Tuch verhüllt, 
etwas, dem man nicht anſehen konnte, was es war, 
darauf hefteten ſich Mauds neugierige Augen. 

„Darf ich?“ fragte ſie und machte ein paar 
Schritte darauf zu. 

Er bielt fie zurüd. „Nein! Das iſt in Wahr— 
beit mein Heiligtum, mein Altar, an dem ich bete, 
die einzige Stelle in der Welt, an der ich Iniee — 
laflen Sie mir mein Geheimnis.” 

Er hatte jehr erregt geiprodden, man jab, es war 
ihm Ernft, denn mit feinen Worten flehten jeine 
Augen heiß und leidenihaftlid. Eine Ahnung, was 
dahinter verborgen fein konnte, Tam ihr und durch: 
Ihauerte fie, fie holte tief Atem. 

„So zeigen Sie mir etwas anderes!” Ihre 
Stimme Hang gepregt, und ihr Herz jchlug, fie ver: 
mied fein Gefiht anzufehen. 

„sa. Hier!” 

Er zeigte auf eine Heine Gruppe. Benus, die 
dem beulenden Amor jeine Pfeile zerbricht. Die 
beiden Fäufthen in die Augenhöhlen gedrüdt, ftand 
der Kleine Bengel, ein Urbild zorniger Beihämung, 
da, und au Venus fchien böfe. 


Maud lachte laut auf. Welch föftlicher Humor 
in der Eleinen Gruppe, wie urdrollig alle Figürchen, 
und daneben welch eminente Kunft im Kleinen. 


„3 babe noch nie jo etwas Reizendes gefehen,” 
lagte fie und jchlug die Hände wie ein Kind zu: 
fammen. „OD, wie entzüdend das it! Fortunat, 
weshalb find Sie jo befcheiden?” 


Er ladte. „Ih tariere meinen Wert voll: 
fommen richtig — und deshalb, gnädige Frau — 
deshalb fanı ih auch nah der Schweiz kommen.” 

„30,” \agte fie und gab ihm die Hand. „Aber 
jagen Sie, würde es Sie auch ftören, wenn eine 
Frau — Shre Frau — um Sie wäre, während Sie 
arbeiteten?” 

Seine Augen nahmen einen jehnenden Aus: 
drud an. 

„Nein, gewiß nicht. ch denke, das Bewußtfein 


———————— — — 
Roman von H. Schobert. 


804 


würde mich beglücken, mich erheben — es käme 
freilich auf die Frau an.“ 

„Nun — Sie müßten ſie lieb haben.“ 

„Dann — ja dann —“ ſagte er leiſe. 

Sie wandte ſich raſch um. 

„Kommen Sie jetzt, lieber Freund, es wird 
ſpät, ich will nach Hauſe. Eine Blume ſchenken Sie 
mir, nicht wahr? Und nun auf Wiederſehen! Auf 
frohes Wiederſehen, wo es auch ſei, ob hier oder in 
der Schweiz.“ 

Er küßte ihre Hand, und ſie ging davon, nur 
ein kaum merkbarer, undefinierbarer Hauch ihrer 
Perſönlichkeit blieb in der Luft zurück. 

Fortunat warf ſich auf den Diwan und ver— 
barg das Geſicht in den Händen. 

Er war ja ſchwer, dieſer tägliche Kampf mit 
ſich ſelbſt, dennoch hätte er ihn kaum entbehren mögen, 
ſchloß er doch gleichzeitig die Nähe der Geliebten in 
ſich. Aber nun ging ſie fort — auf Monate ſogar! 
Eiferſucht und das Gefühl tödlicher Verlaſſenheit 
nahmen Beſitz von ihm und machten ihn ganz un— 
glücklich. — Aber ehe ſie ging, hatte ſie an ihn ge— 
dacht. Sie war bei ihm geweſen, ihre Roſen dufteten 
zu ihm herüber! — Er ſprang auf, nahm die Vaſe 
und fetzte ſie vor die Säule, die den verhüllten Gegen— 
ſtand trug, als opferte er mit den reizenden Kindern 
Floras. Dann zog er das Tuch herab. Mauds 
Büſte ſchaute ihm entgegen, ſprechend ähnlich, ſo wie 
er ſie immer vor ſich ſah, im Schlafen und Wachen, 
ſo wie er ſie liebte. — 

„Ich kann ihr ein Vierteljahr nicht fern bleiben, 
ich kann es nicht! Gott helfe mir!“ dachte er mit 
einem tiefen Seufzer. — 


Neunundzwanzigſtes Kapitel. 


Maud war abgereiſt! — In den Prunkzimmern 
waren die Möbel in weiße Stoffbezüge geſteckt und 
die Kronen verhangen; die Dienerzimmer und Küche 
lagen da wie ausgeſtorben, denn Nina hatte ihre 
Herrin begleitet und das andere Perſonal war teils 
beurlaubt, teils entlaſſen. 

Auf den Zehenſpitzen, als fürchte er Geſpenſter 
zu wecken, ſchlich Martin Heeken durch die ſtillen 
Räume und ſah ſie in ihrer Verzauberung mit einem 
Ausdruck ſtolzer Genugthuung an. Wie oft hatte er 
ſich in ihnen quälen müſſen, wie oft heimlich mit 
den Zähnen geknirſcht, nun lag eine Zeit goldener 
Freiheit vor ihm, die er ausnutzen wollte bis zum 
—2* ſie mochten hier gebannt zurückbleiben, 
und all der Luxus mit ihnen, den er ſo aus Herzens— 
grund verabſcheute. 

Morgen wollte auch er fort, zu Fuß in das 
Gebirge. Nichts mitnehmen als das Unentbehrlichſte 
und ſein eigenes Selbſt ſuchen, das ihm unter all 
dieſem Tand, dieſem Wuſt von Außerlichkeiten ganz 
verloren gegangen war. Er hatte ſo einen tief— 
innern Ekel vor allem, was er hier zurückließ, daß 
er ſich auch vor Emil verleugnete, als dieſer am 
Nachmittag gekommen war, wahrſcheinlich um ihn 


805 Art zu Art. 


— ⸗ — m — — — — — 
— —ñ— —ñ —⸗ — — — — — — —— 





wieder zu einer Abendkneiperei anzuregen und ihn 
dabei kalt lächelnd um ſeine Entwürfe zu beſtehlen. 
Er wollte keins von beiden mehr! Der alte Martin 
Heeken regte ſich wieder in ihm, und nur nach dem 
ſehnte er ſich. 

Seiner Mutter ſagte er nur ein flüchtiges Lebe— 
wohl, morgen kam ja die Ev', da war für ſie gut 
geſorgt. Außerdem wollte er ia nicht lange bleiben. 
Nur erft einmal die Seele rein baden und dann 
arbeiten — dann würde er es können, allein und 
frei wie er war, das fühlte er. 

Es dämmerte Taum, als er fchon fein prächtiges 
Haus verließ, dur) das Atelier die Hintertreppe hin- 
unter, im MWollhbemd und dem älteften Anzug, ohne 
Kragen und Manfcetten, mit derben Schuhen und 
Stod, möglichft aller Kulturanforberungen ledig; und 
fo glüdlid war er dabei, daß er faft einen lauten 
Sauczer getban hätte. — — 

Acht Tage wollte er fortbleiben — vier Wochen 
waren jchon vergangen. Den Arbeitseifer, der ihn 
wieder gepadt hatte nach der langen Zeit der Muße, 
zügelte er wie ein raffinierter Sybarit den Appetit, 
um ihn immer gemaltiger in fich emporwadlen zu 
fühlen, aber nun ging es nicht länger, er mußte nad) 
Haufe, um jeden Preis. 

Beltaubt, jonnenverbrannt, einem Fechtbruder 
im Ausfehen ähnlicher als dem Mann einer reichen 
Frau, langte er eines Abends an. Er hatte fi 
tüchtig ausgelaufen, fein fräftiger Körper fühlte fich 
geftärft, leichter Freifte das Blut in feinen Adern. 

Todbmüde warf er fi auf fein Bett und jchlief 
traumlos und jriedlih. Als er am nädjiten Morgen 
früh aufftand und fi, Talopp gekleidet, wie jeit 
feiner Verheiratung niemals, in fein Atelier begeben 
wollte, fah er, nachdem er leile die Thür geöffnet, 
in dem Vorraum die Geftalt eines weiblichen Wejens 
ftehen, iym den Rüden fehrend und eifrig Staub 
wiſchend. Sie trug ein kleingewürfeltes Kattunkleid 
ohne Beſatz, kurze Ärmel und eine weiße Schürze, die 
faſt den ganzen Leib bedeckte. Ihre Bewegungen 
waren von auffallender Plaſtik; die runden, weichen 
Formen der Hüften und Schultern traten bei jeder 
Drehung und Wendung des Oberkörpers prächtig 
hervor. Sie hatte blondes, glattgeſcheiteltes Haar 
und im Nacken aus dicken Zöpfen ein Neſt geſteckt. 

Martin Heelen blieb lautlos ſtehen und be— 
trachtete das lebende Bild vor fih. Seine Augen, 
bejonders geihärft durh al das fchöne Natürliche, 
das er gejehen, erfreuten fi daran. Dabei fragte 
er fih gar nicht, wer es fein fünne, der zu jo früher 
Stunde jhon auf und fleißig war, aber allmählich 
erwadhte ihm eine Erinnerung, zuerit verihmommen, 
dann deutliher — immer deutlicher. 

„Sva!“ rief er laut aus. 

Sie fhrie auf und ließ bas Bronzegefäß, das 
fie in den Händen hielt, fallen. Vor Schred zitternd, 
ftüßte fie fih auf den näditen Stuhl und wandte 
ihm ihr erblaßtes Geficht zu. 

„Selus — der Martin!” fagte fie tonlos. 

Er kam näber. 

„Ev, Ev’, was it benn aus Dir geworden! 
So ein Ichönes, friiches Mädel!” Seine Augen 


Roman von H. Schobert. 














leuchteten ordentlih. „Ich babe Die ja gar nicht 
erkannt im erften Augenblid.” 

Sie lädhelte etwas unficher. 

„Aber Du weißt doch, daß ich bier bin — bei 
der Mutter.” 

„reilich weiß ich's. Aber in jo einem Getriebe 
den ganzen Tag, da vergißt man’s.” 

Sie war jegt dunfelrot geworden, man jah es 
deutlich auf ihrem Gefiht, daß fie etwas bebrüdte, To 
daß fie gar nicht acht gab auf das, was er jagte. 

„Aber was haft Du denn, Eva?” fragte er, 
faßte fie unter das Kinn und bob ihr Geficht in die 
Höhe. „Wie fiehft Du denn auf einmal aus?“ 

Sie Ihlug Icheu die Augen nieder. 

„Der Schhred —” murmelte fie — „ich hab’ e8 
vergeflen — — Du mußt nicht böfe fein... .” Sie 
— ſich erſchrocken den Mund zu und ſah ihn hilf⸗ 
os an. 

„Was haſt Du, Eva? Jetzt will ich es wiſſen!“ 

Den kurzen, kommandierenden Ton kannte ſie 
noch genau aus ihrer gemeinſamen Jugendzeit, ſie 
hatte ſich ihm immer gebeugt; daß er ihn inzwiſchen 
völlig verlernt, konnte ſie nicht wiſſen, aber ihr gegen— 
über fand er ihn auch jofort wieder. 

Shre Augen füllten fih mit Thränen. 

„Einem feinen Herrn mit einer Frau und jo 
viel Geld kann ich doch nicht mehr ‚Du‘ jagen — 
ih bin ja nur ein armes Dienfimädel geblieben,” 
fagte fie endlich refolut und wilchte fih die feuchten 
Wimpern. 

Er lachte auf. 

„Närriſch biſt Du, Ev'!“ Er jah an fich ber: 
unter. „Sehe ich denn aus wie ein feiner Herr? 
Wil ich ein feiner Herr fein? Möcteft wohl gar 
‚Snädiger‘ zu mir jagen?” 

Sie lahte nun aud. 

„Ah, Martin... .“ dabei betrachtete fie ihn 
von Kopf bis zu Fuß, „was bift Du doch anders ge: 
worden! So fein — und fo — jo — —” fie hatte 
hübih jagen wollen, verichludte es aber im legten 
Augenblid, „Na, Halt ein Herr,” jhloß fie. 

Er lachte wieder. 

„Du, Ev’, das ift nicht wahr! Aber nun jag 
mal, wie gefällt es Dir denn hier? Macht Dir die 
Alte nicht das Leben fauer?” 

Sie jah fehr entrüftet aus. 

„Seh, Marlin, wie magft Du fo reden? Es 
it doch Deine Mutter. Aber wir vertragen uns 
ganz gut zufammen. Und ein Glüd war's, daß ich 
gleich die Stelle fand, als meine Gräfin geitorben 
war. Dent nur, bie Eltern können body nicht jo ein 
großes Ding mitfüttern, wie ich bin, und zu allen 
Leuten mag ich nicht, und mein Sparkaſſenbuch doch 
auch nicht angreifen. — Warum ſollt es mir bei 
Euch nicht gefallen? Höchſtens ein bißchen mehr 
Arbeit wünſche ich mir.“ 

Sie wandte ſich wieder ihrer Beſchäftigung zu, 
und er warf ſich auf die Chaiſelongue und ſah ihr 
zu. Auf einmal lachte ſie laut auf. 

„Gelt — Martin, das iſt doch mal ſpaßig! 
Wir zwei hier in dieſem feinen Zimmer, und Du 
der Herr drin, liegſt auf dem Sofa, brauchſt gar 


(EEE re EEG ern re ER —— —— —— REES EHER GEBE —————————— BER, 


— —— — — — 


— 


807 Art zu At. 
nichts zu thun, wenn Du nicht willft — und ehemals 
batteft Du oft feinen Biffen Brot, und ich teilte 
mit Dir.” 

Er jah fie an wie fie leifer vor fich Hinlachte, 
lo daß fi die Grübdhen nody immer in ihren Wangen 
vertieften, über die er früher fo viel geipottet hatte, 
und die er jeßt entzüdend fand. Etwas ganz Neues, 
Unbelanntes jchwellte ihm das Herz. Er glaubte es 
wäre die Sehnjuht nach der Yugend, der zügellofen, 
forglojen Freiheit, weil es jo füß war, darum feufzte 
er etwas und fagte: 

„Es war do Ihön, Eva, nicht?“ 

Sie ftellte fih neben ihn und ftemmte einen Arm 
in die Seite; feine feine Boje, aber fie Eleibete es. 

„3 weiß nicht, Martin. Sch meine jeder neue 
Tag ift fchöner als der vergangene! Ich bin gar fo 
glüdlih! Alle Leute mögen mich gern und find gut 
zu mir — ih freue mid, daß bie Sonne fcheint, 
daß es regnet, daß ich gelund bin. Es ift ein fo 
viel herrliches Leben.“ 

Er jah fie immerfort an, wie fie fprad, wie 
fih in ihrer gefundheitsftrogenden Erjcheinung jo recht 
die barmloje Lebensfreube verkörperte, von ber fie 
jprrah, und ein Funle davon jprang aud auf ihn 
über, der Beltätigung fuchte in ber fo lange vernad) 
läffigten Arbeit. Er richtete fih auf. 

„Warft Du fon da drinnen, Ev’?” fragte er, 
auf die Thür des Ateliers zeigen. 

Sie nidte. „Du wirft fein Stäublein finden, 
Martin.” 

„So meine ih es nit. Wie gefällt es Dir?“ 

Sie madte ein ganz erjchrodenes Gefidt. 

„Was verfteh ich denn bavon! So ein dummes 
Ding wie ih bin! Aber wenn ich jo lange brauf 
binfhau, dann wird mir eigen zu Mut. Halb fromm, 
halb traurig, und einen Reipelt habe ich davor, das 
fann ih Dir gar nicht jagen, und barum auch vor 
Dir, der Du das alles zu machen verftehft . . .” 

Sie Hatte zum Schluß leifer geiprodden und 
Ihwieg jegt ganz, denn offenbar hörte er nicht mehr 
zu; mit ftarlen Schritten ging er in fein Atelier, 
aber er machte die Thür nicht feit zu, noch weniger 
verjchloß er fie wie jonfl. Daß Eva nebenan war 
ftörte ihn nicht, im Gegenteil, wenn es ihm zum 
Bemußtlein fam, empfand er es nur wohlthuend. 

Halb fromm, halb traurig hatte fie gejagt. 
Das gefiel ihm, und nun wollte er wieder etwas 
Ihaffen, was das auch verdiente, ober noch mehr, 
und dann wollte er fie fragen, wie ihr bei dem 
Anblid zu Mute war. 

Merkwürdig, wie ihm auf einmal die Arbeit 
von der Hand ging! Freude und Befreiung mar 
fie für ihn. — 

Um Mittag Hopfte es leije an feinejAtelierthür, 
und Eoa rief ihn zum Ejlen. 

Wie früher trodnete er nur die Hände an dem 
groben Handtuh, und in feinem Wollhemd, unfriftert 
und unrafiert ging er bin zu jeiner Mutter, 
den Kopf voll von feiner begonnenen Arbeit, mit 
eigentümlich leuchtenbem, verinnerlihtem Ausdrud in 
den Augen. Schweigend aß er, was man ihm 
vorjegte, ohne darauf zu achten, was es war, 


Roman von H. Schobert. 


808 


— ging er, denn niemand wagte ihn zu 
ören. 

Erſt am Abend kam er wieder, heiß, ſalopp, 
überarbeitet, aber er kam mit einem Gefühl von 
friedlicher Glückſeligkeit, wie er es noch nie in ſeinem 
Leben kennen gelernt hatte. 

Es regnete draußen, leiſe und lind, als bereite 
der Himmel ſeinen Geſchöpfen liebevoll ein laues 
Bad, in Frau Heekens Stube ſtanden die Fenſter 
weit auf, das hatte Eva durchgeſetzt, und die beiden 
Frauen ſaßen am Tiſch mit der Lampe, grobe 
ſchwere Strichzeuge in der Hand. Als Heeken ein— 
trat, erhob ſich Eva geſchwind. 

„Gelt, Du biſt hungrig, Martin, ich hab' Dir 
aufgehoben. Da ſetz Dich her und iß.“ 

Sie deckte geſchwind den halben Tiſch mit 
einem weißen Tuch, dann holte ſie das Eſſen, ein⸗ 
fache Hausmannskoſt, Gemüſe, Kartoffeln und Fleiſch 
in einem Topf gekocht, aber Heeken glaubte, noch 
nichts Delikateres gegeſſen zu haben. Er aß wie 
ein Wolf. Die Alte ſah ihm zu und ſchmunzelte. 

„Ja, die Eva kocht gut,“ ſagte ſie dann, mit 
den Lippen ſchmatzend. „Was ſie bei Euch immer 
zurecht machten, das konnte ja kein Chriſtenmenſch 
eſſen! Die Köchin brachte mir manchmal ein Töpfchen 
voll, aber dabei wäre ich verhungert.“ 

Auch ihrem Sohn ſchien es, als habe er ſeit 
langer, langer, undenklich langer Zeit zum erſten 
Mal wieder nach ſeinem Geſchmack gegeſſen, und er 
nickte der Eva zu. 

„Was Du für ſchöne Arme haſt!“ ſagte er auf 
einmal unvermittelt und blickte darauf hin, die, 
ſchön geformt, weiß und voll ſich aus den kurzen 
Armeln heraushoben. „Wirklich, Eva, ſchöne Arme!“ 

Sie runzelte die Stirn. 

„Mußt mich nicht ſagte ſie 
ärgerlich. 

Er ſtand auf und ſetzte ſich auf die Tiſchecke 
neben ſie. 

„Ich ſpotte nicht! Ich als Bildhauer muß das 
doch wiſſen! Schöne Arme!“ Und er ſtrich mit dem 
Finger über das weiche, warme Fleiſch. 

Eva ſtand auf und machte ſich am Herd zu 
thun, die Alte griente und rief ihr nad: „Bijt ein 
dummes Ping, Du! Der Martin ift ja ein ver: 
beirateter Mann.” 

Sie freute fih im fiilen, daß das Mädchen 
dem Sohn gefiel, das würde jeine Frau, Dies 
bäplide, magere Geihöpf in ihren Augen, Eränten 
müffen, und fie nahm fih vor, die Eva auf Koften 
dieſer gehaßten Schwiegertohter herauszuftreichen 
wie ed nur ging. 

Sie follte fih grün und gelb ärgern diejes 
Weib, das nicht einmal geftatten wollte, daß die 
Dienjtboten des Haufes für fie jorgten und fih um 
fie fümmerten. Grün und gelb! Darin gipfelte ihre 
Rachſucht. 

Stecken würde ihr das ſchon jemand. — Und 
wenn dann die junge Frau zornig und unglücklich 
ſein würde, dann wollte ſich die Alte heimlich ins 
Fäuſtchen lachen. 


Weitere Kombinationen ließ ihr enger Verſtand 


verſpotten,“ 





809 Art zu Art. 
nicht zu. Daß fie vielleicht auf diefe Weile den Alit 
ablägte, auf dem fie jaß und es fich wohl fein ließ, 
fiel ihr gar nicht im Traum ein. Daß Maud fort: 
gehen und ihr Geld mitnehmen fönne, daran dachte 
fie gar nit, fie hatte nur den einen Wunjch, fie zu 
ärgern mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote ftanden. 

Draußen hatte es mittlerweile aufgehört zu 
regnen. Eine wundervolle weihe, dunkle Sommer: 
naht blieb zurüd. An die eine Seite des Ateliers 
ftieß der Part, den Maub mitgemietet, aber faum 
jemals benugt hatte. Es war auch eigentlich eine 
etwas euphemiftiiche Bezeichnung, denn der Raum 
war nur flein, mit einer Laube, einem paar 
Blumenrabatten und einigen alten Bäumen, aber 
e8 war doch wenigitens grün und [uftig da braußen. 

„il Du mit hinunter fommen, Eo’?” fragte 
Martin auffpringend, indem er fih redte und 
dehnte. „Hier ift es heiß.” 

„Rein, dankte jchön.” 

„Sehft gleich mit?” zeterte die Alte „Was 
bit Du für ein elliges Ding! Wenn bo der 
Martin noch jo gut fein will und Dir alles zeigen.” 

Sie jah ihn zweifelnd an, er lächelte ruhig. 
„Kannft breift mitlommen,” fagte er. 

Sie gingen nebeneinander durch den Garten, 
immer auf und ab, jchweigend. Die Eva hielt ihre 
Arme mit den Händen umklammert. 

„Brauchlt mir nicht böje fein,” fagte Martin 
endlih, „das ift feine Schand, wenn man jemand 
fagt, daß er etwas Schönes hat.” 

„sb höre e8 aber lieber nicht.” 

„Meine Frau, fiehft Du, bat mid wohl nur 
genommen, weil ich ihre Hand Ichön fand.” 

Eva blidte auf bie ihrigen und verftedte fie 
haſtig. 

„Deine Frau,“ ſagte ſie kurz, „daß iſt etwas 
anderes. Solche feinen Damen können viel anhören, 
aber ſo ein armes Dienſtmädel, das brav bleiben 
will, nicht.“ 

„Ich ſage es nicht wieder,“ verſprach er. 

Sie ſah ihn freundlich, faſt zärtlich an. 

„Erzähle mir nun von Deiner Frau, Martin, 
ich fürchte mich beinahe vor ihr.“ 

Er zog die Stirn in Falten. 

„Meine Frau, — ja, das iſt ſo — ich weiß 
nicht, was ich Dir von der erzählen ſoll — wirſt 
ja ſelber ſehen, Eva.“ 

Sie ſeufzte. „Ich habe grauſame Furcht — 
meine Gräfin war immer ſo gut zu mir. — Haſt 
Du ſie denn lieb, Martin?“ 

Sie ſah mit ſo ehrlichen Augen zu ihm empor, 
er wußte auf einmal deutlich, daß er ſeine Frau 
nie lieb gehabt hatte, nie lieb haben würde. 

„Weiß nicht!“ ſagte er kurz. 

Da lachte ſie unbändig. 

„Du Narr, Du! Ob man jemand lieb hat, 
das weiß man ſchon — ich würde es ſchon wiſſen.“ 
Es verſchlug ihm ſekundenlang den Atem. 

„Haſt Du jemand lieb, Ev'?“ 

„Nein!“ ſagte ſie geſchwind, und die ehrlichen 
Augen ſahen ihn wieder an. „Nein — gewiß 
nicht, Martin.“ — — — 


Roman⸗Zeitung 1886. 


Roman von H. Schobert. 


— di - 1 
Wen [OA er — — m eg — ZA = Bene — — — —— 
F — - — 


810 


Was für eine munderlide Zeit begann jebt 
für Heelen! Er begriff nicht, woran es lag, baß ihm 
die Arbeit plößlih fo gewaltig von Händen ging, 
daß ihm alles gelang, was er nur anrührte! Und 
dabei body nicht ein jo völliges Konzentriertjein auf 
feine Gedanten, wie im vorigen Jahre bei jeiner 
Gruppe, vielmehr eine ftile, innere Glüdjeligkeit, 
ein ausruhendes Behagen troß alledem. 

Dft Stand er in Nachdenken und Prüfen ver- 
funfen vor feinem neuen Wert, aber jedesmal 
jagte er fih, baß es gut war, gut werben würde. 

Ein lebensgroßer nadter Mann mit gefellelten 
Armen zwar, aber eben im Begriff, dieje Felleln 
zu zerijprengen. Man fjahb es an den bis zum 
Berreißen geipannten Musteln, den ftraffen Adern, 
daß er fein Leben an feine Freiheit jeßte, man 
wußte aber auch, daß es ihm gelingen werde. Aus 
den weit aufgeriffenen Augen zudte Ichon ein erfter 
Strahl des Sieges, aus den geblähten Nüftern 
ipradh die troßige, unzerftörbare Kraft des Ringenden. 

Schon jest, obgleih noch lange nicht fertig, 
jab man, daß es ein Meiflerwerf war, was er da 
geftaltete, und machmal bob er den heißen Kopf 
und blidte von diefer Arbeit auf die Schlange und 
drohte ihr mit ber Fauft, als wäre fie jhuld an 
der Dual der ganzen letten Zeit. 

Und dann, wenn er müde war, ging er hin- 
über zu feiner Mutter, um auszuruben. Nicht etwa, 
daß er plöglid Genüge an dem unaufbörlichen Ge: 
Eatjche gefunden hätte, mit dem fie ihn neuerdings 
empfing, er achtete meift gar nicht auf fie, aber — 
da war Eva — — CS gab Tage, an denen er 
fein Wort mit ihr jprah, nur allein ihre Nähe 
brachte ihm ein Gefühl von Friihe und Frieden. 
Und fie war immer gleich freundlih, gleich Beiter 
und lebensfrob, ob die Alte auch mandmal, ihrem 
Charakter gemäß, mit ihr zanlte, oder Tag um 
Tag verging, ohne daß fie herauslam zu irgend 
einer Unterbrehung ihres einförmigen Xebens, wie 
e8 body ihrer Jugend zulam. Sie jhien gar feine 
Sehnfuht danah zu haben. Und umforgt fühlte 
fih Martin, ohne daß er jo recht wußte wie oder 
wo, wie noch nie in feinem Leben, obgleich er 
Gattin und Diener fonft befaß und jetzt das ganze 
Haus wie ausgeſtorben dalag, als wäre es Dorn- 
röschens Schloß. — 

An einem Montag, morgens als er aufſtand 
und keine beſondere Schaffensluſt fühlte, denn es 
war ſehr heiß, wandelte ihn einmal die Luſt an, 
ſich in ſeinen eleganten Sachen zu zeigen. Nicht 
etwa, daß er Eva damit imponieren wollte, es war 
vielleicht nur das heimliche Behagen dabei, ſich alles 
deſſen wieder nach Luſt und Laune entledigen zu 
können. 

Im blauſeidenen Hemd und Sammetjadett trat 
er bei jeiner Mutter ein. 

„Ielles der Martin!” jagte Ev’ ganz erihroden, 
ftand auf und fjchüttete das junge Gemüje, das fie 
pußte, unadtiam auf ben Boden. Er fam ihr fo 
fremd vor, auf einmal berausgerüdt aus ihrer 
Sphäre, ein anderer geworden, und das that ihr 
ordentlid am Herzen weh. 





IV. 57 


811 Art zu Akt. 


„Sa, das gefällt Dir!“ meinte « er x lächelnd d und 


ſetzte fiq auf den Stuhl am Fenſter. 

„Nein, das gefällt mir nicht!” Shre Stimme 
Hang traurig, fie mußte es vielleicht gar nicht. 

„Aber warum denn nidt, in Gottesnamen? 
Ich denke alle Weiber find für Puß und Staat.” 

Sie ſammelte am Boden ihr Grünzeug und 
das Meer zufammen, im Gefiht flammenbdrot. 

„Kann jchon fein, aber ich nit. Weißt Du, 
jo bift Du mir eben nicht der Martin, den ich kenne 
und gern gehabt babe jeit meiner Kindheit.“ 

„Sp? Gern haft Du mich gehabt?” wiederholte 
er nachdenklich und trommelte mit den Fingern auf 
dem Fenfterbrett. 

Sie pußte eifrig. „Sa, warum benn nicht,” 
jagte fie jo nebenhin. Eine Weile jchwiegen fie, dann 
fing Eva wieder an. „Man meint manchmal, in 
jolden Kleidern ftede ein eigenes Leben. Sch hab’ 
audh eins von meiner Gräfin geichenkt befommen, 
das ift mordsfein! So viel Spiten unb Bänder, 
und der Stoff jo zart. Ih babe mich aud fehr ge: 
freut, aber am liebften fehe ich es doch im Scranf 
an; wenn ich es einmal anziehe, dann ift es, als ob 
mir die Gräfin mit in die Glieder gefahren ift, ich 
bin gar nicht wie font, fan mich faum trauen zu 
rühren — aber hierin —” fie hielt einen Zipfel ihres 
einfahen Wajchkleibes Hoch, „hierin bin ich die echte 
Eva, die arbeiten kann und fich freuen kann beim 
Geringften. a 

„Haft vecht,” meinte er, blidte an fich herunter 
und ſchämte fi beinahe. „Wir find nicht bahinein 
geboren; für die mag cs anders fein.” Dann ging 
er in fein Zimmer und 309 jeine alten Kleider wieder 
an, ganz verächtlich jchleuderte er das jeidene Hemd 
beifeite. Eva nidte ihm freundlich zu, ale er zum 
Efien kam, jo war er ihr wieder ber alte. 

Aber die Hiße draußen madte fi) belonbers 
unangenehm in den Zimmern der alten Frau geltend, 
fie jelber jaß nidend auf ihrem Stuhl und Eva blies 
mit vollen Baden Luft von fi und frih fich träge 
über das erhigte Geficht. 

„Was figelt Du au bier ben ganzen Tag,“ 
jagte Martin endlich gähnend, „fomm mit ins Freie, 
tennft jo wie jo no nichts von allem, was Ichön ift, 
armes Ding Du.” 

Sie jah ihn mit aufleuchtenden Augen an. „Ach 
Du, das wäre aber einmal Ihön! Wo denn hin?” 

„Sanz egal. Wo man einen Atemzug frijcher 
Luft hat und womöglich Wafler dazu.” 

„Derrgott, wär dad — aber Du wirft nicht 
dürfen — Deine Frau... .“ 

Er late. „Hat meine Frau nicht basjelbe auf 
ihre eigene Hand? Darum, Ev’, braudft Du Did 
nicht grämen. Willft Du?” 

„Sb ih will,“ lächelte fie mit ftrahlenden 
Augen. 

Die erwadhte Alte Feifte vor fi bin, fie wollte 
nicht allein bleiben, aber Martin wehrte fie ab. 

„Seid nicht fo närriih, Mutter! Und Du zieh 
Dich — — aber fix, fix.“ 

—V mid fein mahen? Das Gräfinnen: 
Heid?“ one ſie ſchelmiſch. 


Roman von H. — 


812 
ich nehm lieber die Ev mit, bie ich 


Rein; 
fenne.” 

Sie lahte. „So geb ich auch lieber mit Dir, 
Martin. Wir zwei paflen doch eigentlich jehr gut 


zu einander.” Sie erjchrat wohl etwas, und in dem 
Sedanten, er fünne eg am Ende übel nehmen, daß 
fie jo oft die große Kluft zwilchen ihnen vergaß, 
legte fie jchnel hinzu: „Natürlich weiß ich es recht 
gut, Du thuft nur mir zu Gefallen jo, Martin, ba: 
mit ih mich nicht vor Dir genieren fol, aber gut 
ift’8 darum do von Dir, jehr gut.“ 

Er fah ihr ganz verdugt nach. Bildete fih Eva 
wirtlih ein, er könne fih aus dem ganzen Krempel 
etwas madyen? Das erihien ihm lächerlih. Abjolut 
läherlih! Er wollte es iyr auch jagen. Aber als fie 
jo nebeneinander den ganzen Nachmittag und Abend 
im Grünen umberjchlenderten, nebeneinander zwar, 
aber ohne fidh zu berühren, da war er fo glüdlich, 
batte jo abjolut alles vergeflen, was ihn zu Hauje 
je bedbrüdte, daß er mit feinem Gebanten baran 
dachte. 

Es war ein ſehr primitives Vergnügen, das ſie 
genoſſen. Jede nur etwas verwöhnte Frau würde 
ſich dafür bedankt haben. Martin hatte ſich das 
Bewußtſein, daß er Geld, viel Geld beſaß, noch gar 
nicht zu eigen gemacht, er hielt an ſeinen Gewohn— 
heiten feſt, die ihn immer Knappheit und Sparſam— 
keit gelehrt hatten. Daß er einen Wagen nehmen 
konnte und fahren, wo die Mittelloſigkeit zu Fuß lief, 
daß er teuren Wein trinken und ſich das Leben leicht 
machen konnte, daran dachte er nicht. Er lief zu 
Fuß und trank billiges Bier wie die andern. Eva 
war es zufrieden, ſie kannte es nicht anders, und 
zudem kam ſie heute zum erſten Mal ſeit all ihren 
Dienſtjahren in das Freie. Sie hatte keine Be— 
kannte beſeſſen, die ſie etwa mitgenommen, und allein 
wagte fie feinen größeren Ausflug. Ihr Herz quoll 
über vor Dankbarkeit gegen Martin. 

Und dann war es fo jhön hier am Waller 
unter den alten Bäumen, jo friedlich und fill in 
ber finlenden Dämmerung, daß Eva ganz veritummt 
war, obgleich fie jonft in ihrer munteren Art genug 
geplaudert und gelacht hatte, ohne das viele Schweigen 
ihres Nachbarn befremdlich oder beleidigend zu finden. 
Sp war er ja immer gemwejen, |hon als Kind. 

Sie jaßen abjeits von den andern, im Wintel 
verftedt, und Eva überlam es plößli mie heiße 
Rührung, ganz leije fahl fie ihre Hand in diejenige 
Martins. 

„IH danke Dir auch viel taufendmal, daß Du 
mich mit bergenommen haft, und daß Shr alle jo 
freundlich gegen mich jeid, Du und die Mutter.” 

Er gab feine Antwort, aber er hielt ihre Hand 
feft, und obgleich) fie weder jchmal no weiß und 
weih, mie biejenige feiner Frau war, durdftrömte 
ihn ein ungelanntes, jeliges Gefühl von Wohl: 
behagen. 

„Mein Himmel, Heelen! So wahr ich lebe, 
Heeken!“ fagte in biefem Augenblid die näfelnde 
Stimme Emil Duenfels, und der Engel des Glüde, 
der einen Augenblid über den beiden gejchwebt, entfloh 
Ihleunigft. „Du bift alto Thon zurüd? — Aber 





813 


nicht allein, wie ich jehe — Pardon — ftören wollte 
ih nicht.” 

Er warf einen unverichämten, prüfenden Blid, 
deilen Bedeutung Heelen glüdlicherweife nicht verftand, 
auf Eva, die ihre Hand fchnell aus derjenigen Martins 
gezogen und rot und verlegen dajaß. 

„Warum jolteft Du denn ftören?” fragte bieler 
zubig, „Wir fiten bier ja frei — offen vor aller 
Welt.“ 

Emil räuſperte ſich, gerade das fand er ja ſo 
bodenlos unverſchämt. 

„Willſt Du mich dann der Dame vorſtellen?“ 
ſagte er ſehr ſeriös. 

„Ach, vorſtellen! Hat ſich was!“ brummte 
Martin. „Das iſt die Eva Leitner aus meinem 
Dorf, mit der ich groß geworden bin, und Du, na, 
Du biſt halt auch ſo ein Bildhauer.“ 

„Außerordentlich formvoll und ſchmeichelhaft,“ 
lachte Emil. „Das muß ich ſagen! Aber Du biſt 
nun einmal ein Original. Geſtatten Sie mir, mich 
zu ſetzen, Fräulein Eva?“ Er lüftete den kleinen 
grauen Filz mit der Grandezza eines alten Nobile. 
Sie nickte ſtumm, aber auf ihrem Geſicht war deutlich 
zu leſen, daß es ihr nicht angenehm war. Der 
Fremde hatte eine ſo zudringliche Art, ſie anzuſehen. 

Emil war ganz entzückt von der friſchen, kraft⸗ 
ſtrotzenden Schönheit Evas. — „Der Heimlichthuer 
— der Leiſetreter,“ dachte er unabläſſig. „Kaum 
dreht die Frau den Rücken, holt er ſich ſeine Liebſte 
her, zeigt ſich mit der öffentlich. So eine Frechheit! 
— So eine beiſpielloſe Frechheit! Ja, der Bauern— 
bengel hat es in ſich! Viel zu ſchade iſt das Mädel 
für ihn, viel zu ſchade, wie auch die Frau!“ Und 
er beſchloß, da er bei Maud keine Ausſicht ſah, hier 
wenigſtens zu verſuchen, ihn aus dem Sattel zu 
heben — „Ich begreife gar nicht, was die Weiber 
an dem ungeſchlachten Kerl haben?“ dachte er. 

Demzufolge war er ſehr liebenswürdig gegen 
Eva, aber ſie ſchien wie auf den Mund geſchlagen, 
er hatte nur geringes Glück mit ihr. Trotzdem reizte 
ſie ihn auf das äußerſte. Als er einen Augenblick 
das Paar verließ, ſah das Mädchen beklommen zu 
ihrem Begleiter auf, er verſtand den Blick. 

„Gefällt Dir nicht ſehr, mein Freund, nicht 
wahr?“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Ach, Martin, wären 
wir doch allein geblieben!“ ſeufzte ſie aus innerſtem 
Herzen. 

„Wäre mir auch lieber geweſen! Aber ſieh, 
Ev’, er iſt doch ein hübſcher, feſcher Kerl!“ 

„Aber kein guter!“ behauptete ſie mit unumſtöß⸗ 
licher Beſtimmtheit. 

Dann kam Emil zurück. Er hatte unterwegs 
ein paar Freunde getroffen und ihnen in aller Eile 
von Heekens Liebelei und phänomenaler Frechheit er⸗ 
zählt. Einer nach dem andern ſchlängelte ſich neu— 
gierig an dem Paar vorbei, und Emil ſaß als dritter 
im Bunde mit am Tiſch, trank viel Bier, rauchte 
und ſprach, ohne beſondere Erwiderung zu finden. 

„Was macht Deine Frau, Heeken?“ fragte er 
endlich, mit einem Seitenblick auf Evas Geſicht. Die 
Erwähnung der legitimen Rivalin konnte ſie doch 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


814 





unmöglich ganz kalt laſſen. Aber Eva zuckte mit 
keiner Miene. 

„Verſtellung!“ dachte er, „ſo jung, ſo dumm, 
und doch als mütterliches Erbteil halb unbewußt die 
Fähigkeit dazu.“ 

„Ich glaube, es geht ihr gut.“ 

„Iſt ſie noch immer in der Schweiz?“ 


„Ja. 

„Und Fortunat?“ 

„Iſt auch da, er hat es mir geſchrieben.“ 

Emil klopfte ihn auf die Schulter. 

„Beneidenswerter Ehemann,“ ſagte er nur. 

Da ſah ihn Eva mit funkelnden Augen an. 

„Es ſcheint, der Herr hat den Glauben an alle 
Anſtändigkeit verloren, ſchlimm genug für ihn,“ ſagte 
ſie kampfesluſtig, denn ihr, dem natürlichen Weibe, 
wurde recht gut die Niederträchtigkeit bewußt, die die 
wenigen Worte ausdrückten, die Martin harmlos 
hinnahm, weil er ſie gar nicht verſtanden hatte. 

„Na, Ev'!“ ſagte er denn auch ganz verblüfft. 

Emil aber lächelte nachſichtig. 

„Du haſt ja einen warmen Verteidiger in dem 
Fräulein.“ 

„Als ob er einen brauchte,“ meinte fie gering- 
Ihätend, und dann ging fie tumm neben ben beiden 
Männern ber, im ftillen traurig, daß der jchöne 
Abend jo ein Ende nehmen mußte! Wären fie doc 
allein geblieben! Und dem Martin, dem mußte fie 
es morgen gewiß fteden, was für ein binterliftiger 
Menſch fein fogenannter Freund war. Er hatte ja 
nicht einmal etwas gemerft, obgleich fie jofort gewußt 
batte, wo er hinaus gewollt mit jeinen Bemerkungen. 
Freilih, die Mutter hatte ihr ja von der Schwieger: 
tochter genug erzählt, mehr als fie ihr glaubte, denn 
fie kannte die Vornehmen befler, von ihrer Gräfin 
ber, und mehr als der Martin jedenfalls mußte. 
Ein tiefes Mitleiden mit ihm überfam fie, aber fie 
wagte nicht, es ihm zu zeigen. 

„So!“ Sagte Emil, als fie vor der Thüre des 
Haufes ftanden. „Nun ift das Fräulein ficher heim: 
geleitet, jett fommft Du mit in den Verein. Lang: 
mann geht nad Düfleldorf, dem gilt der heutige 
Abſchiedsſchoppen.“ 

Martin ſah unbehaglich aus. Er hatte jede Luſt 
an dieſen Kneipabenden verloren ſeitdem er wieder 
arbeitete und es dann zum Feierabend ſo gemütlich 
wurde, wenn Eva das Abendeſſen auftrug. Er hatte 
ſich auch vorgenommen, nicht wieder in dieſe alten 
Sünden zurückzufallen, denn der nächſte Morgen hatte 
ihn immer untauglich zur Arbeit, matt und wirr im 
Kopf gefunden. 

„Ich möchte lieber zu Hauſe bleiben,“ ſagte er, 
den Schlüſſel einſteckend, „ich bin müde.“ 

„Aber das wäre höchſt unkollegialiſch! Fräulein 
Eva, machen Sie doch einmal Ihren Einfluß geltend, 
Ihnen wird er kaum widerſtehen.“ 

Martin runzelte die Stirn. „Was geht das 
die Ev' an? Laß mir die Ev' aus dem Spiel. Ich 
komme mit.“ 

All ihrer frohen Stimmung bar, ſtieg Eva die 
Treppen hinauf, froh, daß die Alte ſchlief und nichts 
mehr fragte. Zum erſten Mal, ſeit ſie hier war, 





815 Art zu Art. 
fühlte fie fih traurig und beflommen, und lange floh 
fie der Schlaf. 

Die beiden Kollegen gingen ihrem Bereinslofal 
zu, es war eine Föftlihe Nacht und fie beeilten jich 
nicht. Buerft fchwiegen fie, dann jagte Emil: 

„Das war ein reizendes Mädel, Deartin,” er 
tauchte heftiger. „Nicht von jener untadelhaften ba: 
nalen Schönheit wie unfere Damen, die ihre Reize 
vom Frifeur und der Schneiberin erborgen, fondern 
von jener ländliden Schönheit, deren Haut durch 
die Sonne gebräunt und deren Leib in jeiner na: 
türlichen Sormenpradt das Entzüden der Künitler 
it... an denen fein Mann vorübergeht, ohne daß 
fein Auge flammt und fein Blut rebelliih wird — 
Du bift ein glüdlicher Menſch.“ 

Heelen blieb jäh ftehen; troß bes nächtlichen 
Dunkels ſchien Emil jein Gefidht erblaßt. 

„Was hat das mit mir zu thun?” fragte er, 
und ein jchwerer Atemzug bob jeine Bruft. 

„Sie gehört doch Dir, mit allem, was fie beligt. 
Und wenn es noch nicht der Fall ift, wird es nur 
eine Frage der Zeit fein. Sie liebt Dich!” 

„Was Du Mug bift!” Er lachte Ihrill auf. 
„Sie weiß ja, daß ich verheiratet bin. Weißt Du, 
mein Lieber, in unjerm Stand, da ift die Ehe noch 
etwas Heiliges, etwas, um das man fidh nicht herum: 
ftiehlt, wenn man gerade das Gelüft dazu bat.” 

Emils Hand im perlgrauen Handidhuh legte 
fih vertraulih auf Heelens Arm. 

„Wenn's alſo jo käme, wärft Du ein beneidens- 
werter Sterblicder — und wenn e8 nicht jo fäme — — 
läßt Du dann jedem andern freie Bahn?” Es lag 
etwas XZauerndes in der legten Frage. 

An Martins Gefiht Ihoß plöglih heiße Glut, 
er ballte die Fäufte und jchüttelte fie in die Luft 
hinaus. 

„Wer mir dem Mädel etwas anthät, dem braven 
Mädel, der befäme es mit mir zu thbun! Seiliges 
Kreuz! Die Kanoden im Leibe thät ich ihm zer: 
Ihlagen — noch habe ih Fäuftle — Fäufte.. . .!” 
Er atmete heftig. 

„Rege Did doh nicht jo unnüß auf,” jagte 
Emil und brannte eine neue Cigarette an, „Du bilt 
ja in der Borhand.” 

Heelen war jehr fill an dielem Abend unter 
den jungen Künftlern. Er trant aud nur wenig, 
obgleich ihn eine Glut durdhfieberte, wie er fie bisher 
no niemals gefannt. Mocdte er nun in fein Glas 
oder geradeaus fehen, inımer ftand Evas Bild vor 
ihm; nit wie er gewohnt war, fie anzujehen als 
jeine Sugendgeipielin, jondern fo wie fie ihm Emils 
Worte gemalt hatte, als das begehrenswerte Weib, 
deſſen Schönheit ihn reizte, deffen Herz ihm gehörte. 

Und er wußte doch, daß das ein Unreht war! — 
Schweißtropfen perlten ihm auf der Stirn, als er, 
ziemlich unbemerkt, fi erhob, um nah Haufe zu 
gehen. Er mußte mit fich allein fein, mit fich ins 
reine fommen, ob er Eva wirklich liebe, oder nur 
eine augenblidliche Erregtheit ber Sinne ihn narrte. 
Sol einen Zuftand fannte er ja gar nicht. — Zange 
irtte er durch den Stadtpark, bis der erite Morgen: 
jonnenflrahl aufzudte, dann eilte er heim und warf 


Roman von 9. Schobert. 





816 


ih erichöpft auf fein Bett. Snmer noch wußte er 
nicht genau, was ihn eigentlih fo quälte. Gefühle 
und Empfindungen diefer Art waren ihm jo unbe- 
fannte Dinge, aber während er im Halbichlaf dalag, 
war es ihm, als beugte fih Eva an jein Ohr und 
flüfterte ihm zu: 

„Aber Martin, was wehrft Du Did jo! Das 
it die Liebe, die Du Dir jo jehr gewünjdht haft — 
und die Liebe fann nichts Unrechtes jein, wenn nur 
die Menfchen dabei brav bleiben.” 

Aljo war es die Liebe! — Aber vor der fürchtete 
er ich feit heute nacht gerade. — — 

Als Heelen den Verein verlaflen, gab Emil eine 
abiheulide Schilderung des heutigen Abends zum 
beften, und allen galt ausgemadht, was fi das 
feujhe Gefühl des Mannes nicht einmal im Dunfel 
der jchmeigenden Sommernadt zu geftehen wagte. 

Sie wißelten und fpöttelten und lachten auf 
feine Koften, und freuten fid auf den Skandal, ber 
bei „joldher Frechheit” ficher nicht ausbleiben würde, 
denn „die Frau mit all ihrem Gelde wäre ja närrilch, 
wenn fie fich foldhe Liebichaft im eigenen Haufe ge 
fallen laflen würde.” 

„Macht fie es denn beiler?” fragte Emil. „Bei 
einem jolhen Mann! Solhem Ejel von Mann zwar 
entiäulbbar.” — 

Als fie an diefem Abend, oder vielmehr Morgen, 
auseinandergingen, da war fein guter Sehen mehr 
an dem Heelenjchen Ehepaar, jo brav hatten fie es 
zerpflückt. 


Dreißigſtes Kapitel. 


Am nächſten Morgen fand Eva die Thüre zu 
Heekens Atelier verſchloſſen, auf ihr leiſes Klopfen 
kam keine Antwort. Einen Augenblick blieb ſie 
lauſchend ſtehen, da ſie ihn aber herumgehen hörte, 
wußte ſie, daß er bei der Arbeit war und nicht ge— 
ſtört ſein wollte. Vor ſeinem Genie, das ſie nicht 
zu beurteilen vermochte, vor den großen, ſtillen, 
weißen Geſtalten ſeiner Phantaſie hatte ſie aber einen 
ſo tiefen Reſpekt, eine ſo große, faſt heilige Scheu, 
daß ſie ihn um keinen Preis der Welt rückſichtslos 
unterbrochen haben würde. Brauchte er etwas, würde 
er ſchon von ſelbſt kommen; und ohne einen Ruf 
entfernte ſie ſich wieder. 

Hinter der verſchloſſenen Thür ſtand Heeken und 
zitterte; er wagte ſich nicht hervor, er wagte nicht, 
Eva in die Augen zu ſehen, aus Furcht, ſie könnte 
ihm all ſeine häßlichen Gedanken aus dem Geſicht 
leſen, und dann hätte er ſich vor ihr in Grund und 
Boden geſchämt. 

Die Hände zitterten ihm immer wieder, ſie 
wollten dem Arbeitswillen nicht gehorchen, aber er 
fühlte recht gut, wenn er ſie nicht zwang, würde er 
auch nicht Herr über ſich und ſein Blut, dann ... 
er dachte nicht weiter, mit aller Kraft warf er ſich 
wieder auf die Arbeit und ſiehe da, es gelang! 
Alles, was ihn ſo ſchrecklich gepeinigt, ließ endlich 
ab von ihm, ſein Denken wurde ganz klar und ruhig. 





817 Art zu Art. 
Unter eifrigem Schaffen verging ihm die Zeit, unb 
ale er erit abends abgeipannt und bungrig bei 
den Frauen eintrat, lag die Naht und ber Tag wie 
ein mwülter Traum hinter ihm. 

„Du fiehft aber chledt aus, Martin,” fagte 
Eva mitleidig und rüdte ihm das Elfen zuredt. 
„Hätteſt Dich nicht jo anftrengen jollen! Es ift ein 
Gewitter in der Luft, das fühlt man im Körper 
lange vorher.” 

Er nidte nur, aber feine Schweigjamteit fiel 
ihr nicht weiter auf. — — 

Emil Hatte fein bejonderes Glüd mehr mit 
feinen häufigen Befuhen im Heelenihen Haufe. 
Modte er kommen, wann er wollte, Eva jah er 
nirgends, jo ſehr er auch juchte und fpähte. Auf 
jeine darauf bezüglihen jcherzhaften Bemerkungen 
Ihwieg Martin bebarrlid; ja almählih kam es 
immer häufiger vor, daß er trog allem Klopfen und 
Aufen Schon vor der geichlojlenen Atelierthür um: 
fehren mußte. Er ärgerte fih und ahnte nicht, daß 
ihn Heelen, wohlverjtedt, erft wieber abziehen ließ, 
ehe er ih hervorwagte, denn Emil war ihm wieder 
ein Greuel geworden jeit jener leßten Kneipnadit. 
Er fürdtete ihn geradezu, und Quenfel jah auch zu 
feinem unangenehmen Erftaunen, daß die Stkiszen- 
bücher aus ihrer Ede verfhwunden waren, und daß 
Heeken feinem Anfinnen um Nachzeichnung jet ftets 
Widerftand entgegenjegte. Er empfand das falt als 
perjönliche Beleidigung und tröftete fich mit ber Hoff: 
nung, Martin dafür auch einmal einen Poflen Ipielen 
zu fönnen. -— 

Das Gewitter, das Eva prophezeit hatte, war 
berabgegangen und hatte das Ihöne Wetter mit: 
genommen. 8 wurde kühl und regneriich und blieb 
au für die Folge jo; vielleiht war das der Grund, 
daß es auf Eva wie Trübfeligfeit lag, einen anderen 
hätte fie menigitens nicht anzugeben vermodht. Freilich 
war Martin verändert feit jenem Abend, den er nad) 
ihrem Ausflug mit feinen Freunden zugebradt, 
furzer, tauber in feinem Ton, oft aud) nad) ganz 
furzem Aufenthalt wieder bavonlaufend, aber fo viel 
fie au jann und grübelte, fie fühlte fih in ihrem 
Gewillen vollflommen rein, ihr Verhalten hatte ihm 
feinen Grund gegeben. 

Fines Tages, als der Regen in jaufenden 
Schwaben gegen bie Fenfter praffelte, fam ein Brief 
Mauds an ihren Gatten, daß fie es bei dem Ichlechten 
Wetter vorziehe, in den nädhlten Tagen zurüdzufehren, 
er möge fie erwarten. Martin ftarrte auf das Blatt, 
auf die feinen gleihmäßigen Schriftzüge, und wie 
Bergeslaft fiel es ihm auf die Bruft. 

Seine Frau zurüd! 

Das bedeutete wieder all die Unbequemlichkeiten, 
die ihm das Leben und die Arbeit vergällt hatten, 
das bedeutete wieder ein Aufgeben feiner ganzen 
PVerjönlichkeit, ein Gefefleltfein in unerträglichen 
Banden, die fich nicht abjchütteln Tießen, das be- 
deutete endlich den Tod feiner jungen Liebe. 

Martin Heelen ftand auf, firih das Haar von 
der feuchten Stirn und atmete jchwer. Yhm war 
es, als müfle er fih zur Wehr jegen, als müfje er 
Hilfe fuchen, und er ging in fein Atelier. Aber 


Roman von H. Schobert. 





818 








drinnen fand er nichts als den fich befreienden 
Sklaven, zu dem er mit bitterem Lächeln auffah. 

„Armer Kerl, ift e8 au wahr, daß Du bie 
Sreiheit erringft? St es nicht nur ein Wahn? Bit 
Du ftarl genug, die jhredliche Kette zu jprengen? 
Sinft Du nit wieder mutlos hinab in die Ab- 
bängigleit?” murmelte er vor fich hin. — Und dann 
jah er auf die Schlange und brobte ihr wieder mit 
der Fauftl. „DO, Du! Du! Seht verftehe ich Dich 
und Deine mordende Kraft!“ 

Niedergedrüdt, halb FTranf fam er am Abend, 
aber er durfte doch nichts jagen, mochte es ihn 
noch fo jehr bebrüden. Die Alte bemerkte aud 
nichts, wohl aber Eva, und ihre fragenden Blide 
zwangen ihn endlih, die Ankunft jeiner Frau zu 
erwähnen. 

Das Mädchen Jagte nichts mehr, fie war fill 
und jchweigiam den ganzen Abend und hielt Die 
Augen auf ihre Arbeit gejentt. Als er binausging, 
folgte fie ihm auf den dunklen Korridor. 

„Martin,“ jagte fie, die Thüre jo weit auf: 
laflend, daß das Licht aus dem Zimmer fie voll be- 
Ihien. „Sch babe Dir’s angemerkt die ganze lebte 
Zeit, Di drüdt etwas. Nun weiß ich auch wohl 
was. Deiner Frau wird’s nicht recht fein, daß ich 
bier bin. — So will ich denn lieber gehen und 
mir einen anderen Dienft Juchen.” 

Er padte raub ihren Arm. 

„Dun geben, Eva? — Nein!! — Was fällt Dir 
denn ein? ft Dir die Alte eine Laft geworden? — 
Möchteſt Du’s befier haben?” 

„Red’ nicht jo dumm,” fagte fie, und in al 
ihrer Traurigfeit mußte fie doch lächeln. „Du weißt 
es ja befler. ch habe nichts auszufegen hier, aber 
aufdrängen will ih mich nicht.” 

Als Eva vom Fortgehen jprah, war es ihm 
gewejen, als drüde ihm etwas die Kehle zu. nd 
wenn fie ging, jollte er wohl gar bleiben? Zum Laden 
fam ihm das vor. Darum ließ er ihren Arm aud 
nicht los, wie in großer Angit, fie könne ihm 
plöglich entwilchen. 

„Du gehft nicht, Eva — Du darfft nicht gehen!” 
fagte er eindringlid, „Du mußt es mir fefl ver: 
Ipreden. Ev’ — meine Frau hat Dih ja gerabe 
gewollt.“ 

„Wenn’s wahr ift . . .” meinte fie zögernd. 

„Heilig wahr!” 

„Dann —” fie atmete heftig, „dann bleib’ ich 
ja gern. 3 bin Euch bo jo anhänglih, Deiner 
Mutter und — Pir.” 

Sie trodnete fih mit dem Schürzenzipfel bie 
Augen. XTroß jeiner Worte — e& war do nod 
etwas da, was fie nicht begriff, was fie aber drückte 
und traurig madte. 

„Ev’!" Tagte er und beugte fih ihr ganz 
nabe, fie fühlte feinen beißen Atem, jah in dem 
Lichtipalt die glühenden Augen, ein Schauer über: 
rann fie plöglich. 

„Bit Du krant, Martin?” fragte fie ftammelnd. 

„Ev’!” rief die Alte da von drinnen, und ebe 
er no antworten konnte, war fie mit einem leilen 


819 


„Sute Naht” hineingejchlüpft und Hatte die Thüre 
verſchloſſen. 

Wie ein Verdammter ſtand er in dem dunklen 
Korridor, ſeine Bruſt keuchte, als wollte ſich ein 
Schrei aus ihr heraufringen, aber es kam nichts. 
Totenſtill blieb es — und dann ging er in ſein 
Atelier. 

Dort ſaß er lange, den Kopf in die Hand ge: 
tüßt und 309 das Facit feines Lebens. Wie glücklich 
hätte er fein können mit einem Weibe wie Eva 
an jeiner Seite, in bejcheidenen Verbältniffen, in 
Liebe und Frieden, beglüdt durch feine Arbeit, der 
er das Nötige für Weib und Kind verbantte, denn 
mit Eva dadte er auh an Kinder; und wie elend 
war er jeßt! 

Was hatten denn feine Frau und er miteinander 
mehr gemein als nur den Namen? Weld ein Gefühl 
verband fie? So viel er auch fuchte, er fand feins, 
fie waren nit von einer Art! 


Er Hatte fih verkauft. Weshalb aber? Aus 
Eitelfeit? Die befaß er ja nit. Aus Geldgier? 
Des Wohllebens etwa wegen? Sn feinem Charafter 
fand fi feine einzige Leidenjhaft, ber er irgend 
ein Opfer bätte bringen brauden. Er war fo be 
Iheiden, jo anfprudslos. Das Einfadhite genügte 
ihm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! — 
Warum alfo! — Warum?! — Er faß und fann — 
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn diefe 
Heirat fein Lebensglüd geloftet, daß fie ihn elend 
gemacht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen. 

Und mit berjelben fchmerzlihen Melancholie, bie 
ihn jeit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er 
aud einige Tage jpäter feine Frau. Sie hatte rofige, 
volle Wangen befommen und fam ihm jehr liebens- 
würdig entgegen. 

„Ich hoffe, Du Haft Dih nah mir gejehnt!“ 
jagte fie jcherzend und blidte ihn prüfend an, zu: 
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernachläffigt 
vor ihr erihien, wie fie gefürchtet. Aber er Hatte 
ja ein Ichlechtes Gemwiflen und deshalb an alles ge: 
dacht, nichts verjäumt; fih faum bewußt, wie jehr 
fih in diefen Handlungen Liebe und fchlechtes Ge: 
willen ähnlich jcheinen. 

Er ah fie ernfl an, es widerftrebte ihm zu lügen. 
„Nein,“ ſagte er, „ich habe gearbeitet.“ 

Sie ladte. 

„Tino, Tino, Du bift erichredend ehrlih! Laß 
mich Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.” 

Er jchültelte heftig den Kopf. 

„Diele gehört mir; meine Thür ift verichloffen.” 

„Audh recht!” entgegnete fie gleihmütig und 
lehnte fih in den Stuhl zurüd. 

Er fürdtete, fie würde nad Eva fragen, gleich 
am erjten Abend. Dann hätte er fich ficher verraten. 
Sein Herz Mopfte fon, wenn er nur daran badıte, 
aber fie vergaß es. Wie gleichgültig waren ihr im 
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten unb 
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren 
Reifeerlebniffen, von Fortunat und madte Pläne für 
ven Winter; auf einmal unterbradh fie fih und 
wandte fih ihm direkt zu. 


Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 





820 





„Sindeit Du, daß ich mich erholt habe? Finbeft 
Du, daß ich flärfer geworden bin? Befler ausjehe?“ 

Seine Augen prüften fie. Ihre Wangen waren 
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor: 
züglih aus. Aber ihm war fie eben fein Schönbeits- 
ideal. Der Reiz des Vornehmen, Ungelannten 
längft dahin. 

„D ja!“ gab er zögernd zu. 

Sie zudte die Achleln und jchwieg von da an. 
Mel einen jchwerfälligen, Tangmeiligen Gatten fie 
Doch hatte! AN fein Genie half nicht über bie öden 
Stunden eines Turzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel 
leichter ließ es fih mit dem andern doch leben! — 

Und was fie im Lauf der nädlten Tage aud 
nod) ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier 
vor ihr verjchloffen hielt. Sie legte To häufig die 
Hand auf das Schloß, freilih ohne fich zu melden, 
aber immer vergebens. 

Stroh war fie, daß die Anfchaffung ihrer Herbft: 
garberobe wenigitens einen Teil ihrer Zeit in An: 
iprudh) nahın; ebenjo die Biliten, die fie zum Beginn 
der neuen Sailon überall erneuerte, mit Martin 
war zu wenig anzufangen. Sie fah ihn kaum mehr, 
jelbft zum Diner ließ er fich meiltens entichulbigen 
und aß dann heinlich, verftohlen wie ein Verbrecher 
bei feiner Mutter, wo es ihm fchmedte, und wo er 
fi bingehörig fühlte, nach wie vor. 

Aber eines Tages Stand fein Atelier doch offen, 
die Statue war fertig. Nun hatte es feine Not 
mehr mit dem Berbergen. Was aller Welt gegeben 
wurde, mochte feine Frau auch teilen, nur ging er 
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie es, 
was ihn angeipornt hatte, gerade bdieje Geftalt zu 
ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fidy erft nod) 
mehr überlegen, was er ihr jagen jollte. 

Während er die einfamflen Wege im Stabtparf 
aufiuchte, faß Maud in der That vor feinem fich be: 
freienden Sklaven. Sie flaunte, fie war ergriffen, 
erjhüttert! Sa, ihr Mann war ein gottbegnadeter 
Künftler, nur ein folder konnte das fchaffen. 

Menn er dagemeien wäre, würde fie ihm ftumm 
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeciftertes 
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; daß er 
nit ba war, trübte ihr etwas diefen ftolzen Augen: 
blid, aber eine Ahnung von dem, was die Statue 
jagte und klagte, kam ihr nit. Sie Jah ein Kunft: 
werf, nichts weiter. Läffig wandte fie den Kopf, als 
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fi aud 
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. hr 
erftaunter Blid traf auf die vornehme junge Dame 
im bunflen Seibenkleidb, die, die Füße von fi ge 
firedt, in dem geichnigten Stuhl lehnte und fie 
prüfend mufterte. Wie ein eleltriiher Schlag durd- 
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau! 

Sie hatte fie noch nicht gejehen, troßdem jeit 
Mauds Rüdkehr falt eine Woche verfloffen war, und 
fih au nicht dazu gedrängt, fait hatte fie Furdt 
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit 
einem jhüchternen Gruß vor der fie mufternden 
Gnädigen ftehen. 

„Wer find Sie?” fragte Maudb in ihrer etwas 





821 


bodmütigen Art, obgleih die friihe, hübjche Er: 
Iheinung des Mädchens ihr MWohlgefallen erregt hatte. 

„Soa Leitner, gnädige Frau.“ 

„Ad ja — rihtig! Sie pflegen Frau Heelen.” 

„samwohl, gnädige Frau.” 

„IH hoffe, Eva,” fagte Maud und fpielte mit 
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen laflen, 
Sie bhergenommen zu haben. Bor allen Dingen 
feinen Klatih mit den andern Dienfiboten — Teine 
Freundſchaften. Ich liebe das nidt. Mein Mann 
hat es Ahnen wohl gejagt.” 

„Jawohl, gnädige Frau.“ 

„Shren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Shnen 
zufrieden bin, darauf kommt es mir nit an; finde 
ih aber irgendweldhe Unzuträglichleiten, dann bin 
ich unnachſichtig. Es ift mir lieb, daß ih SJhnen 
das jagen konnte.” 

Eva Stand vor ihr, den Kopf gejentt, jchweigend. 

„Sie können jeßt geben,“ jagte Maud mit 
einigem Beiremden. „Dper vielmehr — Judten 
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?” 

„a, gnädige Frau.” 

„Sr ift nicht hier — jagen Sie dag — meiner 
— Schwiegermutter.“ 

Ungeduld Hang aus ihrem Ton; Eva Ihlich 
davon. „Armer Martin,” dachte fie mit Thränen, 
„das ilt Deine Frau? Die hat Di nicht lieb! — 
Nein — die hat Di nicht lieb!” — 

Und in eiliger Haft floffen ihr die hellen 
Thränen über die Wangen. Sie mwildte fie er: 
Ihroden fort, aber als fie eine Stunde jpäter an 
dem breiten Korriborfenfter ftand, das auf den Hof 
ging, nur um einmal einen Augenblid den neu: 
gierigen Bliden und Fragen der Alten zu entgehen, 
da floflen fie von neuem. 

Sie verjudte es, fih mit Troß zu wappnen. 

„Was geht das mich eigentlich an, ob er glüdlidh 
ift, ob fie ihn lieb hat! Dafür ift er ja reich und 
vornehm geworden ... .“ ber das Herz wollte 
nichts mit diefem Nailonnement des Verftandes zu 
thbun haben, es Elopfte jo ſchmerzlich, und endlich 
faltete ſie die Hände. 

„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitiernden Lippen, 
„ich iann nichts dafür — Du weißt es — daß id 
ihn jo lieb habe — lieber ale mein Xeben! — Aber 
wenn’s jhon ein Unredt ift — eine Sünde joll es 
nie werden.” 

Sie blidte zu dem grauen Hinmel auf, an 
dem fi die Regenwollen jagten; etwas wie Troft 
fam über fie. Wenn es Tleine Sünde wurde, hatte 
fie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu jcheuen. — 

Als Martin nad Haufe fam, empfing ihn jeine 
Frau mit einem Widerfchein jener Begeifterung, die 
fie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine 
Arbeit hatte fie entzücdt. Aber diesmal fand ihr 
glühendes Lob fein Echo in jeinem Herzen, er wartete 
nur beflommen, ob es nun nicht endlid — endlich 
fommen werde; die Fragen, die er erwartete, die Vor: 
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als 
nichts kam, begriff er die Blindheit feiner Frau nicht. 

„Und noch eins, Zino, ih habe die Eva ge: 
jehen! Ein neltes Mädchen — jogar hübjch für den, 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





822 


der Geihmad an Derbbeit und Kraft findet. Seden: 
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie 
meinen Erwartungen entipridht, die ich ihr dringend 
ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine 
Mutter einmal ftirbt, für meine perjönlichen Dienfte 
anlernen . . .” 

Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, jebte 
fih aber gleih darauf in feine alte Pofitur, die ge: 
falteten Hände zwilchen die Knie, vornübergebeugt, 
mit gelenttem Kopf. 

Sie jah ihn erfiaunt an. „Was haft Du denn, 
Tino? Weil ich den Tod Deiner Mutter erwähnte? 
Aber das ift jentimental. Alles, was lebt, ift doch 
unweigerlid dem Tode verfallen. — Ic glaubte, Dir 
würde e8 angenehm jein, daß mir die Eva ganz 
gut gefiel.“ 

„Ja! Sal” fagte er. „Aber Du wirft fie nicht 
viel ſehen!“ 

- Sie zudte die Adhleln. 

„Daran liegt mir allerdings nidis. Ich muß 
ja auch erit jehen, ob fich der gute Eindrud beftätigt.“ 

Es klopfte. 

„Herein!“ rief die Frau des Hauſes und ſah 
ſich ziemlich erſtaunt um, denn es war hier nicht 
Sitte, daß jemand unaufgefordert bei der Herrſchaft 
eintrat. 

Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann 
fagte fie mit bebender, leifer Stimme: „Es ift Be: 
fuhb da... bei der Mutter... ih folt den 
gnädigen Herrn rufen.” 

Mit einem Sabß Iprang Heelen auf. 

„Bit Du närriih, Ev’? Der gnädige Herr? 
Was fol das heißen? Der Martin bin ich und 
bleib ih für Did. Daß Du mir nicht noch einmal 
mit jolden Dummbeiten fommft!” 

Er ftürmte hinaus, rot vor Zorn im Gelidt. 
Maud wandte fih an das Mädchen, fie jah fie nicht 
ohne eine gewille Freundlichkeit an. „Ahr Taltge- 
fühl hat Sie ganz richtig geleitet, Eva,” jagte fie 
nidend. „Und troß des Herrn Abwehr wünjdhe ich 
doch dergleichen Bertraulichleiten nit in meiner 
Gegenwart. — Wiflen Sie übrigens, wer diejer 
Beſuch iſt?“ 

„Herr Quenſel!“ 

„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher, 
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt. 

Eva errötete heftig. Dieſer feinen Dame konnte 
ſie doch nicht ſagen, daß er augenſcheinlich nur ihret— 
wegen gekommen, daß es all ihrer Liſt bedurft hatte, 
um ihm jedesmal zu entſchlüpfen, daß ſie auch heute 
geflohen war. 

„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau 
ſchon zu Haufe find,” jagte fie endlich mit nieder: 
geichlagenen Augen. 

Maud trat ihr näher. Etwas in dem Wejen 
diefes Mädchens interejlierte fie. 

„Wahriheinlid. Aber warum find Sie fo ver: 
legen, Eva; fürdten Sie fih vor mir?“ 

Gie blidte bligfchnell auf, ihre Augen landen 
vol Thränen; vor diefer Frau fühlte fie fih ſchuldig 
bis in den tiefiten Höllenabgrund, denn fie liebte 
ihren Mann. 











819 Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 820 
„Bute Nacht” hineingefhlüpft und hatte die Thüre „Sindeflt Du, daß ich mich erholt habe? Findeft 
verſchloſſen. Du, daß ich ſtärker geworden bin? Beſſer ausſehe?“ 


Wie ein Verdammter ſtand er in dem dunklen 
Korridor, ſeine Bruſt keuchte, als wollte ſich ein 
Schrei aus ihr heraufringen, aber es kam nichts. 
Totenſtill blieb es — und dann ging er in ſein 
Atelier. 

Dort ſaß er lange, ben Kopf in die Hand ge— 
ſtützt und zog das Facit ſeines Lebens. Wie glücklich 
hätte er ſein können mit einem Weibe wie Eva 
an ſeiner Seite, in beſcheidenen Verhältniſſen, in 
Liebe und Frieden, beglückt durch ſeine Arbeit, der 
er das Nötige für Weib und Kind verdankte, denn 
mit Eva dachte er auch an Kinder; und wie elend 
war er jetzt! 

Was hatten denn ſeine Frau und er miteinander 
mehr gemein als nur den Namen? Welch ein Gefühl 
verband ſie? So viel er auch ſuchte, er fand keins, 
ſie waren nicht von einer Art! 


Er hatte fi verkauft. Weshalb aber? Aus 
Eitelleit? Die befaß er ja nit. Aus Geldgier? 
Des Wohllebens etwa wegen? Sn feinem Charafter 
fand fi feine einzige Leidenjchaft, der er irgend 
ein Opfer bätte bringen brauden. Er war jo be: 
Iheiden, jo anjprudslos. Das Einfahhlte genügte 
ibm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! — 
Warum alfo! — Warum?! — Er faß und fann — 
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn dieje 
Heirat jein Lebensglüd gekoftet, daß fie ihn elend 
gemadht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen. 

Und mit derjelben jhmerzlihen Melandyolie, bie 
ihn feit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er 
auch einige Tage Ipäter jeine Frau. Sie hatte rolige, 
volle Wangen befommen und kam ihm fehr liebens: 
würdig entgegen. 

„IH hoffe, Du haft Di nach mir gejehnt!“ 
lagte fie jcherzend und blidte ihn prüfend an, zu: 
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernadjläffigt 
vor ihr eridien, wie fie gefürchtet. Aber er hatte 
ja ein fchlechtes Gewillen und deshalb an alles ge: 
dacht, nichts verfäumt; fi kaum bewußt, wie fehr 
ih in diefen Handlungen Liebe und fchledhtes Ge: 
wiflen ähnlich fheinen. 

Er fab fie ernft an, es wiberftrebte ihm zu lügen. 
„Nein,” fagte er, „ieh habe gearbeitet.” 

Sie ladte. 

„zino, Tino, Du bift erihredend ehrlih! Laß 
mich Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.” 

Er jchüttelte heftig den Kopf. 

„Diele gehört mir; meine Thür ift verfchloffen.” 

„Aud recht!” entgegnete fie gleihmütig und 
lehnte fi in den Stuhl zurüd. 

Er fürdtete, fie würde nah Eva fragen, gleich 
am eriten Abend. Dann hätte er fich fiher verraten. 
Sein Herz Elopfte jchon, wenn er nur daran dachte, 
aber fie vergaß es. Wie gleichgültig waren ihr im 
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten und 
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren 
Reifeerlebnifjen, von Fortunat und madte Pläne für 
ven Winter; auf einmal unterbrah fie fi und 
wandte fi ihm direkt zu. 


Seine Augen prüften fie. Ihre Wangen waren 
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor- 
züglih aus. Aber ihm war fie eben fein Schönbheits- 
ideal. Der Reiz des Vornehmen, Ungelannten 
längft dahin. 

„> ja!” gab er zögernd zu. 

Sie zudte die Achjeln und ſchwieg von da an. 
Welch einen jchwerfälligen, langweiligen Gatten fie 
doch hatte! AN fein Genie half nicht über die öden 
Stunden eines furzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel 
leichter ließ es fih mit dem andern doch leben! — 

Und was fie im Lauf der nädhften Tage auch 
noch ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier 
vor ihr verfchloffen hielt. Sie legte jo häufig die 
Hand auf bas Schloß, freilih ohne fi zu melden, 
aber immer vergebens. 

Srob war fie, daß die Anjhaffung ihrer Herbft: 
garderobe wenigftens einen Teil ihrer Zeit in An: 
jpru nahm; ebenjo die Vifiten, die fie zum Beginn 
der neuen Saijon überall erneuerte, mit Martin 
war zu wenig anzufangen. Sie jah ihn kaum mehr, 
lelbft zum Diner ließ er fich meiltens entjchuldigen 
und aß dann heimlich, verjtohlen wie ein Verbrecher 
bei feiner Mutter, wo es ihm jchmedte, und wo er 
fi bingehörig fühlte, nady wie vor. 

Aber eines Tages Stand fein Atelier doch offen, 
die Statue war fertig. Nun hatte es feine Not 
mehr mit dem BVerbergen. Was aller Welt gegeben 
wurde, mochte feine Frau auch teilen, nur ging er 
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie e®, 
was ihn angeipornt hatte, gerade diefe Geftalt zu 
Ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fich erft nod 
mehr überlegen, was er ihr jagen folle. 

Während er die einfamilen Wege im Stadtpart 
aufjuchte, jaß Maud in der That vor feinem fich be: 
freienden Sklaven. Sie ftaunte, fie war ergriffen, 
erfchüttert! Sa, ihr Wann war ein gottbegnadeter 
Künftler, nur ein folder fonnte das fchaffen. 

Wenn er dagewejen wäre, würde fie ihm fltumm 
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeiltertes 
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; daß er 
nit da war, trübte ihr etwas diejen ftolzen Augen 
blid, aber eine Ahnung von dem, was die Statue 
jagte und Klagte, fam ihr nicht. Sie jah ein Kunft: 
werk, nichts weiter. Lälfig wandte fie den Kopf, als 
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fih aud 
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. hr 
erftaunter Blid traf auf die vornehme junge Dame 
im dunflen Seidenkleid, die, die Füße von fich ge 
ftredt, in dem geichnigten Stuhl lehnte und fie 
prüfend mufterte. Wie ein eleftriiher Schlag durdj- 
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau! 

Gie hatte fie noch nicht gefehen, troßdem jeit 
Mauds Rückkehr fait eine Woche verfloffen war, und 
ih auch nicht dazu gedrängt, falt hatte fie Furcht 
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit 
einem fjchüchternen Gruß vor ber fie mufternden 
Gnädigen ftehen. 

„Ber find Sie?” fragte Maud in ihrer etwas 





A e — 


821 


hochmütigen Art, obgleih die friihe, hübjche Er: 
I&einung des Mädchens ihr Wohlgefallen erregt hatte. 

„Spa Leitner, gnädige Frau.” 

„Ad ja — rihtig! Sie pflegen Frau Heelen.” 

„Jamwohl, gnädige Frau.” 

„Ih hoffe, Eva,” fagte Maub und fpielte mit 
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen lajien, 
Sie hergenommen zu haben. Bor allen Dingen 
feinen Klatih mit den andern Dienfiboten — feine 
Freundſchaften. Ych liebe das nit. Mein Mann 
hat es “shnen wohl gejagt.“ 

„Jawohl, gnädige Frau.“ 

„Ihren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Ihnen 
zufrieden bin, darauf kommt es mir nicht an; finde 
ich aber irgendwelche Unzuträglichkeiten, dann bin 
ich unnachſichtig. Es iſt mir lieb, daß ich Ihnen 
das ſagen konnte.“ 

Eva ſtand vor ihr, den Kopf geſenkt, ſchweigend. 

„Sie können jetzt gehen,“ ſagte Maud mit 
einigem Befremden. „Oder vielmehr — ſuchten 
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?“ 

„Ja, gnädige Frau.“ 

„Er iſt nicht hier — ſagen Sie das — meiner 
— Schwiegermutter.“ 

Ungeduld klang aus ihrem Ton; Evoa ſchlich 
davon. „Armer Martin,“ dachte ſie mit Thränen, 
„das iſt Deine Frau? Die hat Dich nicht lieb! — 
Nein — die hat Dich nicht lieb!“ — 

Und in eiliger Haſt floſſen ihr die hellen 
Thränen über die Wangen. Sie wiſchte ſie er—⸗ 
ſchrocken fort, aber als ſie eine Stunde ſpäter an 
dem breiten Korridorfenſter ſtand, das auf den Hof 
ging, nur um einmal einen Augenblick den neu: 
gierigen Blicken und Fragen der Alten zu entgehen, 
da floſſen ſie von neuem. 

Sie verſuchte es, ſich mit Trotz zu wappnen. 

„Was geht das mich eigentlich an, ob er glücklich 
iſt, ob ſie ihn lieb hat! Dafür iſt er ja reich und 
vornehm geworden ...“ Aber das Herz wollte 
nichts mit dieſem Raiſonnement des Verſtandes zu 
thun haben, es klopfte ſo ſchmerzlich, und endlich 
faltete ſie die Hände. 

„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitternden Lippen, 
„id Tann nichts dafür — Du weißt e& — daß id 
ihn jo lieb habe — lieber ale mein Leben! — Aber 
wenn's ſchon ein Unredt ift — eine Sünde joll es 
nie werben.” 

Gie blidte zu dem grauen Himmel auf, an 
dem fi die Regenwolfen jagten; etwas wie Troft 
fam über fie. Wenn es feine Sünde wurde, hatte 
fie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu fcheuen. — 

Als Martin nad Haufe fam, empfing ihn jeine 
Frau mit einem Widerjchein jener Begeifterung, Die 
fie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine 
Arbeit Hatte fie entzüdt. Aber diesmal fand ihr 
glühendes Xob kein Echo in feinem Herzen; er wartete 
nur beflommen, ob es nun nicht endlid — endlid) 
fommen werde; die ragen, die er erwartete, die Bor: 
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als 
nichts fam, begriff er die Blindheit feiner Frau nicht. 

„Und no eins, Zino, ih babe die Eva ge: 
jehen! Ein nettes Mädchen — jogar hübjcdh für den, 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





822 


der Geihmad an Derbheit und Kraft findet. Jeden— 
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie 


‚meinen Erwartungen entipricht, die ich ihr dringend 


ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine 
Mutter einmal ftirbt, für meine perfönlichen Dienfte 
anlernen . . .” 

Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, jeßte 
fih aber gleih darauf in feine alte Pofitur, die ge: 
falteten Hände zwilhen die Knie, vornübergebeugt, 
mit gelenttem Kopf. 

Sie jah ihn erftaunt an. „Was haft Du denn, 
Tino? Weil ih den Tod Deiner Mutter erwähnte? 
Aber das ift fentimental. Alles, was lebt, ift doch 
unmeigerlidh dem Tode verfallen. — Jh glaubte, Dir 
würde e8 angenehm fein, daß mir die Eva ganz 
gut gefiel.“ 

„Ja! Ja!“ fagte er. „Aber Du wirft fie nicht 
viel jehen!” 

- Sie zudte die Adhfeln. 

„Daran liegt mir allerdings nidhie. Jh muß 
ja aud) erit jehen, ob fidh der gute Eindrud beftätigt.” 

Es Hopfte. 

„Herein!” rief die Frau des Haufes und Jah 
fiy ziemlidy erftaunt um, denn es war bier nicht 
Sitte, daB jemand unaufgefordert bei ber Herriähaft 
eintrat. | 

Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann 
fagte fie mit bebender, leijer Stimme: „Es ift Be 
lub da... bei der Mutter... ich jollt den 
gnädigen Herrn rufen.” 

Mit einem Sag fprang Heelen auf. 

„Bit Du närriih, Ev’? Der gnädige Herr? 
Was fol das heißen? Der Martin bin ich und 
bleib ih für Did. Daß Du mir nit nody einmal 
mit folden Dummbeiten fommit!” 

Er ftürmte hinaus, rot vor Zorn im Gelidt. 
Maud wandte fid) an das Mädchen, fie jah fie nicht 
ohne eine gewille Freundlichleit an. „hr Taltge- 
fühl bat Sie ganz richtig geleitet, Eva,” fagte fie 
nidend. „Und troß des Herren Abwehr mwünjche ich 
doch dergleihen Dertraulichkeiten nicht in meiner 
Gegenwart. — MWiffen Sie übrigens, wer Diejer 
Beſuch iſt?“ 

„Herr Quenſel!“ 

„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher, 
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt. 

Eda errötete heftig. Dieſer feinen Dame konnte 
ſie doch nicht ſagen, daß er augenſcheinlich nur ihret— 
wegen gekommen, daß es all ihrer Liſt bedurft hatte, 
um ihm jedesmal zu entſchlüpfen, daß ſie auch heute 
geflohen war. 

„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau 
ſchon zu Hauſe ſind,“ ſagte ſie endlich mit nieder— 
geſchlagenen Augen. 

Maud trat ihr näher. Etwas in dem Weſen 
dieſes Mädchens intereſſierte ſie. 

„Wahrſcheinlich. Aber warum ſind Sie ſo ver—⸗ 
legen, Eva; fürchten Sie ſich vor mir?“ 

Sie blickte blitzſchnell auf, ihre Augen ſtanden 
voll Thränen; vor dieſer Frau fühlte ſie ſich ſchuldig 
bis in den tiefſten Höllenabgrund, denn ſie liebte 
ihren Mann. 


819 Art zu Akt. 
„Bute Naht” Hineingefhlüpft und Hatte die Thüre 
verichloflen. 

MWie ein Verdammter fland er in dem dunflen 
Korridor, feine Bruft leuchte, als wollte fi ein 
Scärei aus ihr beraufringen, aber e8 fam nichts. 
Totenftil blieb e& — und dann ging er in fein 
Atelier. 

Dort jaß er lange, den Kopf in die Hand ge: 
tüßt und 309 das Facit feines Lebens. Wie glücklich 
hätte er fein können mit einem Weibe wie Eva 
an jeiner Seite, in beicheidenen Verhältniffen, in 
Liebe und Frieden, beglüdt durch feine Arbeit, ber 
er das Nötige für Weib und Kind verbanfte, denn 
mit Eva dadte er auch an Kinder; und wie elend 
war er jeßt! 

Was hatten denn feine Frau und er miteinander 
mehr gemein als nur den Namen? Welch ein Gefühl 
verband fie? So viel er auch jucdhte, er fand feing, 
fie waren nit von einer Art! 


Er Hatte fi verkauft. Weshalb aber? Aus 
Eitelleit? Die bejaß er ja nit. Aus Geldgier? 
Des MWohllebens etwa wegen? Syn feinem Charafter 
fand Sich Feine einzige Leibenfchaft, der er irgend 
ein Opfer bätte bringen braudhen. Er war fo be: 
Icheiden, jo anjprucdheslos. Das Einfahlte genügte 
ibm. Mit wie wenigem war er ausgelommen! — 
Warum aljo! — Warum?! — Er faß und fann — 
vergeblich, er fand feine Antwort, nur daß ihn dieje 
Heirat fein Lebensglüd gefoftet, daß fie ihn elend 
gemadht hatte, das blieb unverrüdbar beftehen. 

Und mit derjelben jhmerzlihen Melandyolie, die 
ihn jeit diefer Erkenntnis bebrüdt hielt, empfing er 
auch einige Tage Ipäter feine Frau. Sie hatte rolige, 
vole Wangen befommen und fam ihm jehr lieben: 
würdig entgegen. 

„Ich hoffe, Du Haft Did nad mir gefehnt!“ 
ſagte fie jchergend und blidte ihn prüfend an, zu: 
frieden, daß er in feinem Außern nicht vernadläffigt 
vor ihr erihien, wie fie gefürdhtet. Aber er hatte 
ja ein jchledhtes Gewillen und deshalb an alles ge: 
dacht, nichts verfäumt; fich kaum bewußt, wie jehr 
ih in diefen Handlungen Liebe und Jdhlechtes Ge: 
willen ähnlich jheinen. 

Er jah fie ernft an, es widerftrebte ihm zu lügen. 
„Nein,“ jagte er, „ich habe gearbeitet.” 

Sie ladte. 

„zino, Tino, Du bift erichredend ehrlih! Laß 
mic) Deine Arbeit jehen, ich bin neugierig darauf.” 

Er jchüttelte heftig den Kopf. 

„Diele gehört mir; meine Thür ift verjchloflen.” 

„Aud recht!” entgegnete fie gleihmütig und 
lehnte fi in den Stuhl zurüd. 

Er fürdtete, fie würde nah Eva fragen, gleich 
am eriten Abend. Dann hätte er fich ficher verraten. 
Sein Herz EHopfte fchon, wenn er nur daran dachte, 
aber fie vergaß es. Wie gleihgültig waren ihr im 
Grunde genommen alle Dinge, die Gatten und 
Schwiegermutter betrafen. Sie erzählte von ihren 
Reifeerlebnifjen, von Fortunat und madıte Pläne für 
ven Winter; auf einmal unterbrah fie fi und 
wandte fi ihm direkt zu. 


Roman von 9. Schobert. 





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„Sindefit Du, daß ich mich erholt habe? Findet 
Du, daß ich färker geworden bin? Beſſer ausſehe?“ 

Seine Augen prüften fie. Yhre Wangen waren 
voller, die Haut gebräunter geworden, fie jah vor: 
zügli aus. Aber ihm war fie eben fein Schönheits- 
ideal. Der Reiz des Bornehmen, Ungelannten 
längft dahin. 

„> ja!” gab er zögernd zu. 

Sie zudte die Achleln und jchwieg von da an. 
Mel einen jchwerfälligen, Tangweiligen Gatten fie 
do Hatte! AN fein Genie half nicht über die öden 
Stunden eines furzen Tete:a-tete hinweg. Wie viel 
leichter ließ es fih mit dem andern doc leben! — 

Und was fie im Lauf der nädhlten Tage aud) 
noch ärgerte, war, daß Martin wirklich fein Atelier 
vor ihr verichlofen hielt. Sie legte jo häufig die 
Hand auf das Schloß, freili ohne filh zu melden, 
aber immer vergeben®. 

Srob war fie, daß die Anihaffung ihrer Herbft: 
garderobe wenigftens einen Teil ihrer Zeit in An: 
ipru nahm; ebenjo die Viliten, die fie zum Beginn 
der neuen Gaifon überall erneuerte, mit Martin 
war zu wenig anzufangen. Sie Jah ihn faum mehr, 
jelbft zum Diner ließ er fich meiltens entfchuldigen 
und aß dann heimlich, verftohlen wie ein Verbrecher 
bei feiner Mutter, wo es ihm jchmedte, und wo er 
fih hingehörig fühlte, nach wie vor. 

Aber eines Tages ftand jein Atelier doch offen, 
bie Statue war fertig. Nun hatte es feine Not 
mehr mit dem Verbergen. Was aller Welt gegeben 
wurde, mochte feine Frau aud teilen, nur ging er 
fort, um nicht Zeuge zu fein; vielleicht begriff fie es, 
was ihn angeipornt hatte, gerade bdiefe Geltalt zu 
Ihaffen, fragte ihn, und er mußte es fi erft nod 
mehr überlegen, was er ihr jagen jollte. 

Während er die einfamilen Wege im Stabtpart 
aufiuchte, jaß Maud in der That vor feinem fidh be: 
freienden Sklaven. Sie ftaunte, fie war ergriffen, 
erfhüttert! Sa, ihr Mann war ein gottbegnadeter 
Künftler, nur ein folder konnte bas fchaffen. 

Menn er dagewejen wäre, würde fie ihm flumm 
die Hand gereicht haben, ihm vielleicht ein begeiltertes 
Wort gejagt haben, genau wie fie empfand; baß er 
nit da war, trübte ihr etwas diefen ftolzen Augen: 
blid, aber eine Ahnung von dem, was bie Statue 
fagte und Hlagte, fam ihr nicht. Sie Jah ein Kunft: 
werk, nichts weiter. Läffig wandte fie den Kopf, als 
fie nebenan Schritte hörte, dann öffnete fi aud 
die Portiere an dem Atelier und Eva trat ein. Ahr 
erftaunter Bli traf auf die vornehme junge Dame 
im dunklen Seidenkleid, die, die Füße von fich ge= 
firedt, in dem geihnigten Stuhl lehnte und fie 
prüfend mufterte. Wie ein eleftriijder Schlag durd- 
fuhr es das Mädchen. — Das war Martins Frau! 

Sie hatte fie noch nicht gejehen, troßdem jeit 
Mauds NRüdkehr faft eine Woche verfloffen war, und 
ih auch nicht dazu gedrängt, faft hatte fie Furcht 
davor; nun errötete fie heftig und blieb verlegen mit 
einem jchüchternen Gruß vor der fie mufternden 
Gnäbdigen ftehen. 

„Wer find Sie?” fragte Maud in ihrer etwas 





— — — — — —— 


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Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


bodhmütigen Art, obgleih die frifhe, hübjhe Er: 
Iheinung des Mädchens ihr Wohlgefallen erregt hatte. 

„Eva Leitner, gnädige Frau.” 

„Ah ja — richtig! Sie pflegen Frau Heelen.” 

„Jamwohl, gnädige Frau.” 

„Ih hoffe, Eva,” jagte Maud und fpielte mit 
ihren Ringen, „daß Sie mich nicht bereuen lajjen, 
Sie hergenommen zu haben. Bor allen Dingen 
feinen Klatjch mit den andern Dienfiboten — feine 
FSreundichaften. ch liebe das nidt. Mein Mann 
hat es Shnen wohl gejagt.” 

„Jamwohl, gnädige Frau.” 

„Shren Lohn zu erhöhen wenn ich mit Ihnen 
zufrieden bin, darauf kommt es mir nicht an; finde 
ich aber irgendwelche Unzuträglichkeiten, dann bin 
ich unnachſichtig. Es iſt mir lieb, daß ih Shnen 
das ſagen konnte.“ 

Eva ſtand vor ihr, den Kopf geſenkt, ſchweigend. 

„Sie können jetzt gehen,“ ſagte Maud mit 
einigem Befremden. „Oder vielmehr — ſuchten 
Sie jemand? Den Herrn vielleicht?“ 

„Ja, gnädige Frau.“ 

„Er iſt nicht hier — ſagen Sie dase — meiner 
— Schwiegermutter.“ 

Ungeduld klang aus ihrem Ton; Eva ſchlich 
davon. „Armer Martin,“ dachte ſie mit Thränen, 
„das iſt Deine Frau? Die hat Dich nicht lieb! — 
Nein — die hat Dich nicht lieb!“ — 

Und in eiliger Haſt floſſen ihr die hellen 
Thränen über die Wangen. Sie wiſchte ſie er—⸗ 
ſchrocken fort, aber als ſie eine Stunde ſpäter an 
dem breiten Korridorfenſter ſtand, das auf den Hof 
ging, nur um einmal einen Augenblick den neu: 
gierigen Blicken und Fragen der Alten zu entgehen, 
da floſſen ſie von neuem. 

Sie verſuchte es, ſich mit Trotz zu wappnen. 

„Was geht das mich eigentlich an, ob er glücklich 
iſt, ob ſie ihn lieb hat! Dafür iſt er ja reich und 
vornehm geworden ...“ Aber das Herz wollte 
nichts mit dieſem Raiſonnement des Verſtandes zu 
thun haben, es klopfte ſo ſchmerzlich, und endlich 
faltete ſie die Hände. 

„Lieber Gott,“ flüſterte ſie mit zitternden Lippen, 
„ich kann nichts daſir — Du weißt es — daß ich 
ihn ſo lieb habe — lieber als mein Leben! — Aber 
wenn's ſchon ein Unrecht iſt — eine Sünde ſoll es 
nie werden.“ 

Sie blickte zu dem grauen Himmel auf, an 
dem ſich die Regenwolken jagten; etwas wie Troſt 
kam über ſie. Wenn es keine Sünde wurde, hatte 
ſie ihr ehrliches, tiefes Gefühl auch nicht zu ſcheuen. — 

Als Martin nach Hauſe kam, empfing ihn ſeine 
Frau mit einem Widerſchein jener Begeiſterung, die 
ſie ihm damals in die Arme getrieben hatte. Seine 
Arbeit hatte ſie entzückt. Aber diesmal fand ihr 
glühendes Xob Fein Echo in feinem Herzen; er wartete 
nur beflommen, ob es nun nit endlid — endlich 
fommen werde; bie Fragen, die er erwartete, die Vor: 
würfe, die er beinahe verdient zu haben glaubte. Als 
nichts fam, begriff er die Blindheit jeiner Frau nicht. 

„And noch eins, XZino, ich habe die Eva ge: 
jeben! Ein nettes Mädchen — jogar hübjch für den, 


822 


der Geijhämad an Derbheit und Kraft findet. Syeden- 
falls ift fie mir nicht unfympathifh. Und wenn fie 
meinen Erwartungen entipriht, die ich ihr dringend 
ans Herz gelegt habe, würde ich fie mir, wenn Deine 
Mutter einmal ftirbt, für meine perjönliden Dienfte 
anlernen . . .” 

Er fuhr auf, als wollte er etwas jagen, Tebte 
fih aber gleich darauf in feine alte Pofitur, die ge: 
falteten Hände zwilchen die Knie, vornübergebeugt, 
mit gejenttem Kopf. 

Sie fah ihn erftaunt an. „Was haft Du denn, 
Tino? Weil ih den Tod Deiner Mutter erwähnte? 
Aber das ift fentimental. Alles, was lebt, ift dod 
unweigerlid) dem Tode verfallen. — Ycd glaubte, Dir 
würde e8 angenehm fein, daß mir die Eva ganz 
gut gefiel.” 

„Ja! Za!” jagte er. „Aber Du wirft fie nit 
viel jehen!“ 

- Sie zudte die Achieln. 

„Daran liegt mir allerdings nichts. Ih muß 
ja auch erft jehen, ob fich der gute Eindrud beflätigt.“ 

Es Hopfte. 

„Herein!” rief die Frau des Haufes und ah 
fiy ziemlich erfiaunt um, denn es mar bier nicht 
Sitte, daß jemand unaufgefordert bei ber Herrichaft 
eintrat. | 

Eva öffnete die Thür. Sie grüßte höflich, dann 
fagte fie mit bebender, leifer Stimme: „Es ift Be: 
juh da... bei der Mutter... ih follt den 
gnädigen Herrn rufen.“ 

Mit einem Sat jprang Heelen auf. 

„Bil Du närrifsh, Evo’? Der gnädige Herr? 
Was fol das heißen? Der Martin bin ih und 
bleib ih für Did. Daß Du mir nicht noch einmal 
mit ſolchen Dummheiten kommſt!“ 

Er ſtürmte hinaus, rot vor Zorn im Geſicht. 
Maud wandte ſich an das Mädchen, ſie ſah ſie nicht 
ohne eine gewiſſe Freundlichkeit an. „Ihr Taktge⸗ 
fühl hat Sie ganz richtig geleitet, Eva,“ ſagte ſie 
nickend. „Und trotz des Herrn Abwehr wünſche ich 
doch dergleichen Vertraulichkeiten nicht in meiner 
Gegenwart. — Wiſſen Sie übrigens, wer dieſer 
Beſuch iſt?“ 

„Herr Quenſel!“ 

„Warum kommt denn der nicht ſelber hierher, 
ſtatt Ihrer?“ fragte Maud ſehr erſtaunt. 

Eon errötete heftig. Diejer feinen Dame konnte 
fie doch nicht jagen, daß er augenjcheinlih nur ihret: 
wegen gelommen, daß es all ihrer Lilt bedurft hatte, 
um ihm jedesmal zu entichlüpfen, daß fie aud) heute 
geflohen war. 

„Der Herr weiß gewiß nicht, daß gnädige Frau 
ihon zu Haufe find,” jagte fie endlich mit nieder: 
geichlagenen Augen. 

Maud trat ihr näher. Etwas in dem Wejen 
diefes Mädchens intereffierte fie. 

„Wahricheinlid. Aber warum find Sie fo ver: 
legen, Eva; fürdten Sie fid vor mir?“ 

Sie blidte bligfchnell auf, ihre Augen ftanden 
vol Thränen; vor diefer Frau fühlte fie fi) Ichuldig 
bis in den tiefften Höllenabgrund, denn fie liebte 
ihren Mann. 





—— 


823 





„Wenn man mid hnen gegenüber verläftert 
bat,” fuhr Maud gütiger als jemals zu einem Dienft- 
boten fort, „jo glauben Sie es nit, Eva. Ich bin 
zwar fireng, aber auch gerecht; und Sie gefallen mir.” 

Schweigend griff das Mädchen nach der Hand 
der Frau und Füßte fie Maub jah ihr überrafcht 
nad. Diejes Dorjlind hatte fie fich anders gedacht. 

Nah FTurzer Überlegung beihloß fie in das 
Atelier binüberzugehen. Emil würde die Statue 
bewundern. Daran mollte fie teilhaben. Und 
dann ließ man fie auch jo viel allein, das wurde 
auf die Dauer langweilig. 

Als fie eintrat, jprang Emil faft outriert 
böflih auf. 

„Da der Berg nicht zu Mohammed fommt —” 
fagte fie jcherzend und fegte fih .. . „Nun — wie 
gefällt Ihnen die vollendete Arbeit meines Gatten?” 

„Vollendet! — Aber gnädige Frau jehen vor: 
züglih aus.” 

„D ja. ch finde nur, baß es inzwilcdhen bier 
recht langweilig geworden ijt, und Dabei ift Doc 
Ihon alles zurüd; überall die Saloufien aufgezogen. 
Warum ift Luzie nicht mit Zhnen gelommen? Ich 
war doh don vor ein paar Tagen bei SYhnen?” 

„Meine Schweiter wußte nicht, daß ich herging.” 

„Dann Ihiden Sie fie mir morgen beftimmt, 
nit wahr?” 

Emil jhnippte bedädhtig mit dem Heinen Finger 
die Alche von feiner Cigarette, er jah Maud nicht an. 

„SH kann e3 Shnen nicht verjprecdhen, gnädige 
rau. Kuzie ift feit diefem Sommer Mitglied ver: 
Ihiedener Wohlthätigkeits:Vereine, das nimmt ihre 
Beit jehr in Aniprud.” 

Maud late auf. 
jehr gedehnt. 

„Damen aus den allerhödjiten SKreilen der Ge 
jelichaft präfidieren da. Ihres Humors wegen er: 
freut jih meine Schweiter bejonderer Beliebtheit!” 

Maud wurde immer erjtaunter, etwas Feindfeliges 
wehte fie an, ohne daß fie begriff, woher es fam. 

„Ih zweifle ja gar nicht daran, Herr Quenſel, 
aber gerade Zuzie . . . mein Erftaunen ift am Ende 
gerechtfertigt — beucheln that fie doch mir gegenüber 
wenigftens nie, und Vergnügen fann ihr das nicht 
maden.” 

„Meine gnädige Frau, ein mutterlojes Mädchen 
bat auch etwas auf feinen Ruf zu achten. Linfere 
Reſidenz ift ein gejegnetes Klatjchneft.” 

Maud [chüttelte den Kopf, kein Zweifel, daß 
Zuzie irgendwelche Berechnung zu diejer Handlungs: 
weile trieb, fie fannte fie — und halb lachend er: 
widerte fie: „Ich bin wirklich neugierig, Zuzie nach 
dem Gebörten zu fprehen. Frauen find unterein- 
ander meift offener als den Herren gegenüber; ich 
erwarte fie morgen aljo beitimmt.” 

„IH fürdte, morgen ift fie verjagt.”“ 

„Run dann, übermorgen.” 

„Donnerstag auf keinen Fall.” 

Maud Iprang auf. 

„Run, dann werde ich fie ein zweites Mal auf: 
Juden, um fie fiher zu treffen.” 

Emil verbeugte ih ftumm. 


„Aber —” jagte fie nur 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


524 


„Sinftweilen viele Grüße. Und leben Sie 
wohl!” 

Sie reichte ihm nicht die Hand, fondern nidte 
ibm nur zu, er batte fie beleidigt, und wenn er 
das abfichtslos gethan haben Jollte, fühlen wollte fie 
es ihn doc laſſen. 

Aber es war eine unerflärlide Unruhe, die fie 
in ihren Zimmern auf und ab trieb, ein Unbehagen, 
bem fie feine Worte leihen konnte. 

Es war heute ihr Empfangsabend, und da 
war die gemütlide Plauderftunde, die fie jonft um 
diefe Zeit mit Fortunat bielt, verbannt, er durfte 
dann erft fpäter kommen, wenn fehon alle Gäfte 
verjammelt waren. 

Es würde heut noch leer bleiben, darauf war 
fie gefaßt. In ihrer Schale lagen erft jehr wenig 
Karten als Erwiderung auf all die unzähligen Be- 
fuhe, die fie gemadht, und auh nur von Leuten, 
die ihr ziemlich gleichgültig waren. 

Sie trat an die Onyricdhale und ließ die 
weißen Blätthen durch ihre Finger laufen, fein 
einziger von den Namen war darunter, die ihr im 
vergangenen Winter jo geläufig gewefen, mit defjen 
Trägerinnen fie mande beitere Stunde verplaudert 
hatte. — Sn vier Wochen würde das anders jein. 
Jedes Interregnum bat etwas Froftiges, Ernüchtern: 
des, und der Herbit gehört dazu vor allen Dingen; 
man bat die Sommerfreuden binter fih und die 
Wintercampagne noch nicht begonnen. 

Maud blidte auf die Uhr, es war jchon ziem- 
li jpät und fein einziger Bejucdh bis jeßt gemeldet. 
Sie langmweilte fih. Das Modejournal hatte fie 
durchgelehen, ein paar Bücher warf fie wieder bei- 
feite, zum Xelen batte fie keine Luft. Endlich 309 
fie die feidenen Gardinen zurüd und blidte in das 
Duntel hinaus. 

Ein ftarker Wind raujhte in den erft ball ent: 
laubten Bäumen und jagte die Afte wie fid 
wehrende Gefpenfter durdeinanderr. Maud dachte 
an das nun bald vollendete Sahr ihrer Ehe und 
was es ihr alles gebradjt. 

Die Ydeale, die fie zuerft in ihrem Herzen ge: 
tragen, waren erftorben, mit denen hatte fie ein für 
allemal gebroden und wünjdhte audh nidt, fie 
wieder zu erweden. Sie war eine andere geworben in 
ihrem Denken und Fühlen. Heute würde fie 
mandes mit andern Augen anjehen, in mandem 
anders handeln. Aber das war num zu jpät, und 
zu frucdtlojen Trauern war Maud zu prafiiih und 
zu vernünftig. Es hieß nun, fi) mit dem Bor: 
bandenen abfinden jo gut es ging, und fo lange 
Fortunat an ihrer Seite blieb, jchien ihr das nicht 
einmal jhwer. Audh die Gejellihaft, nach ber fie 
ih immer gejehnt, in deren Mitte fie jegt land, 
balf ihr genügend über die Leere ihres Daſeins 
hinweg. 

Alles in allem ftand ihre Rechnung nicht ein- 
mal Ihlimm, nur an jolden Abenden wie dem 
heutigen, einjan, mindumraufdt, da Tamen ihr 
thörichte Gedanken. 

Sie ließ den Vorhang fallen und ſetzte ſich in 
die Nähe des Kamins, in dem ſchon täglich Feuer 





— — — — — — — 
—— = 


825 Art zu Art. 
brannte. Da jchellte ee. Gut, daß nun die 
dummen Gedanken entgültig verbannt wurben, eine 
Seele um fih zn haben, genügte dazu fchon, und 
wenn es jelbit LZuzie war. Sie 309 die Munb- 
winkel jpöttiich herab, als fie an Emils Benehmen 
date. Wie hatte fi Luzie doch im vorigen Jahr 
um fie gedrängt, immer wieder und wieder. Mandy: 
mal war es ihr ordentlih auf die Nerven gefallen. 
Nun verfudte fie jedenfalls in den SKreifen zu 
angeln, was fi angeln ließ. 

Fortunat rat ein, fein bübjches Geficht ah 
verftört aus; Maud merkte das in dem Halbduntel 
der verfchleierten Lampen nidt. 

„Sie finden mich ganz allein, e8 muß nod 
niemand zurüdgefehrt fein,” fagte fie und ftredte 
ihm die Hand entgegen. 

Er feßte fi ihr gegenüber. 

„Birtid — allein —!“ 
bebte etwas. 

„Sind Sie deshalb jehr traurig?” fragte fie 
ſchalkhaft. 

Was hätte er ihr ſonſt wohl geantwortet? 
Heute ſchwieg er beklommen. Das fiel ihr ſchließ— 
lich doch auf. 

„Sie machen ein Geſicht, als ob Ihnen irgend 
etwas Unangenehmes paſſiert wäre.“ 

Er legte die Hand über die Augen. 

„Etwas Unangenehmes? — O Gott, gnädige 
Frau, das iſt nicht der richtige Ausdruck.“ 

Sie beugte ſich ihm entgegen. 

„Was es auch iſt, Fortunat, ſagen Sie mir 
alles, was Sie drückt.“ Ihre Stimme klang ſo 
weich, ſo zärtlich. Heeken hatte ſie nie ſo gehört. 

„Ich weiß nicht, ob ich es darf — das iſt mir 
die größte Qual,“ ſagte er bedrückt. 

„Gewiß dürfen Sie.“ 

„Auch — wenn es ſich um — um Sie dabei 
handelt, gnädige Frau?“ 

Sie fuhr zurück. „UUm mich? — Was kann 
ich dabei zu ſchaffen haben?“ 

Er ſeufzte tief auf. 

„Haben Sie viel Beſuche gehabt als Erwiderung 
der Ihrigen?“ fragte er geſpannt. 

„Nein — kaum nenneswert. Aber wie. ge: 
hört das hierher?“ fragte ſie ungeduldig. 

„Vielleicht doch. Man hat — man hat Sie 
hier offenbar verleumdet, gnädige Frau — und ich 
bin ſchuld daran.“ 

Er ſaß ganz gebrochen vor ihr, das lockige 
Haupt wie ein Sünder geſenkt. 

„Ich verſtehe Sie nicht“, ſagte ſie hart. 
Sie deutlicher.“ 

Er zog einen Brief aus der Taſche und reichte 
ihn ihr ſtumm. Es war ein anonymes Schreiben, 
angefüllt mit Beſchuldigungen gegen ihn und Frau 
Heeken. Man betonte ihren Beſuch bei ihm, ihr 
Zuſammentreffen während der Reiſe, und kündigte 
ihr an, daß die Geſellſchaft ſie in Bann und Acht 
gethan, daß man künftig ihre Schwelle meiden würde. 

Maud war ſehr blaß geworden, als ſie ihm den 
a zurüdgab; jchweigend jahen fie fih in bie 

ugen. 


Seine Stimme 


„Reden 


RomansZeitung 1896. 


Roman von H. Schobert. 


826 


„Allo darum,” jagte fie langfam und jentte 
den Kopf, ihre Stimme Hang tonlos. Auf einmal 
verftand fie alles. Cmils Benehmen, die Leere um 
fie — „Shr anonyner Freund bat alfo recht mit 
dem, was er jagt.” — Dann fprang fie heftig auf 
und flampfte mit dem Fuß. „Aber es ift bod 
nichts Böles! — Es ift nichts Böfes! Elende Ber: 
dädtigung der id mich nie — nie beugen werbe!” 

„Betehlen Sie über mich, gnädige Frau,” fagte 
er. „Was kann ih thun?” 

„Mein Gott, aller Welt entgegen mit dem 
Bewußtſein unjeres guten Gewifjens.” 

„Wird man mir glauben?” 

„Unb wenn es jo gewejen wäre, wie ber Brief 
behauptet, traut man mir die Niedrigleit zu, dann 
wieder zurüdzulehren? Rraut man es meinem 
Manne zu, mich wieder aufzunehmen?“ 

Er jeufzte tief. 

Sie umllammerte feinen Arm. 

„Reden Sie, Fortunat, — jpreden Sie ein 
Wort — jagen Sie, dab es Zhnen gelingen wird, 
diefe Lüge zu zeritreuen.” 

„But! Sch werde alles thun! Wird man 
mir aber glauben? ch bin ja Partei in der Sade,” 
ſagte er außer fid. 

Sie runzelte die Stirn und biß die Zähne zu- 
jammen. 

„Diele ſchlechten Menſchen! O dieſe ſchlechten 
Menſchen!“ ſagte ſie. „Ich kann mir doch meine 
Ehre nicht ſo ohne weiteres nehmen laſſen!“ 

„Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen etwas 
ſagen ſollte,“ geſtand er. „Ich fürchtete die Auf— 
regung für Sie, aber ſchließlich ging es Sie doch 
auch an — ich fand mich nicht berechtigt, Ihnen 
gegenüber zu ſchweigen.“ 

„Sie thaten recht!“ — Sie lief im Zimmer 
auf und ab, in höchſter Erregung, kaum ihrer ſelbſt 
mehr mächtig. Endlich begann ſie zu ſchluchzen 
und weinte, ſich in einen Seſſel werfend, faſſungs⸗ 
los. In ratloſer Verzweiflung ſah er auf ſie 
nieder. Da blickte ſie auf. Ein heißer, inniger 
Strahl zitterte durch ihre Thränen hindurch. 

„Und zu wiſſen wie wir gekämpft haben“, 
ſagte ſie leiſe. 

„Maud!!“ — Er warf ſich vor ihr auf die 
Knie und küßte ihre Hände. „Maud — geliebte 
Maud — noch einmal, — o, noch einmal will ich 
das hören!“ 

Sie legte beide Hände auf ſein Haar. 

„Iſt es nicht ſo?“ fragte ſie leiſe. 

„Ja! — Tauſendmal ja! — Aber in dieſem 
Augenblick, in dieſem einen nur, will ich Dir 
wenigſtens ſagen, daß ich Dich liebe — bis zum 
Wahnſinn, — und einmal will ich es hören — 
wenn Du es kannſt!“ — 

Sie beugte ſich über ihn; leiſe, ganz leiſe, ſo 
daß er es kaum verſtehen konnte, flüſterte ſie: „Ich 
liebe Dich, Alexander.“ — 

Und dann küßten ſie ſich — einmal, nur ein 
einziges Mal. 

„Die Gemeinheit der Welt hat uns zuſammen⸗ 
geführt,“ ſagte Maud bitter und ſtrich das Haar 


IV. 58 


827 Art zu Art. 
aus der glühenden Stirn. „Aber nur einen Augen: 
blid durften wir uns vergeflen. Der Alltag tritt 
wieder in feine Nedte. — Aber vergeilen werden 
wir den Augenblid nicht.“ 

Sie reichte ihm die Hand; ohne ein Wort 
drüdte er fie an jein Herz. Und dann faßen fie, 
voneinander abgewandt, eine ganze Weile ftumm 
da, um das Gleichgewicht ihrer Seelen miederzu: 
finden. 

„Was können wir nun thun?” fragte Maud 
nach einer Weile bedrüdt. 

Sn Fortunats Augen ftand ein helles Licht. 

„3b weiß es!” jagte er mit voller Stimme. 
„Dan wird Sie nicht mehr verbädhtigen von heute an.” 

Sie ftand auf und trat auf ihn zu. 

„Ia, mein Freund,” fagte fie mit jchwanlender 
Stimme „Legen wir etwas zwildhen uns, das 
trennender ift als das Meer. Was wir gethan, 
durfte nicht fein, aber viclleiht war es heute nod 
entihulbbar, morgen ift e& ein erbreden. — Und 
wir find do alle Menſchen!“ 

Er hatte fi auch erhoben und ftand ihr gegen: 
über, Auge in Auge; in ben feinen lag etwas von 
der elftatiihen Glut eines Märtyrers. 

„zeben Sie wohl!” jagte er langjam. „Sch 
bitte nur um eins: verhärten Sie niemals ihr Herz 
gegen mid, wie e8& auch fommen mag. Bewahren 
Sie mir ftet3 ein freundliches Andenken, und glauben 
Sie, daß Sie das einzige Weib find, das ich jemals 
in meinem Leben geliebt babe und lieben werde. 
Wollen Sie das?“ 

„Ja!“ fagte fie und reichte ihm die Hand. 

Er füßte fie — dann ging er fort. 

Kaum hatte er die Thür hinter fich geichloffen, 
überlam fie eine furdhtbare Angf. Was wollte er 
tdun? Hatte er nicht Abjcdhied von ihr genommen, 
als wäre er ein Sterbender? 

Sie lief gegen die Thür. 

„gortunat!” jährie fie laut, dann preßte fie die 
Hand an die Lippen. Draußen lungerte der Diener 
herum, was jollte er benten, wenn er fie rufen 
börte, oder ihre Erregung jah. 

Sie flüchtete in die bunfelfte Ede des Zimmers 
und preßte das Gefiht in bie feidenen Kiffen, ein 
Schluchzen erſchütterte ihre Geftalt. 


Roman von H. Schobert. 


828 


Wie wenig hatte fie bisher Thränen gelannt, 
fie oft als Zeichen eines jchwachen Charakters ver- 
ächtlich belächelt, nun gab ihr das Leben Grund 
genug zum Weinen. 

Sie war allein. Kein teilnehmendes Herz, in 
das fie das ihrige ausfchütten konnte, kein Troſtes⸗ 
wort in der furdtbaren Angit, die fie marterte. 

„Er wirb fih töten!” Tagte fie zwilchen den 
zufammengepreßten Zähnen bindurd. „Er wird fidh 
töten — und id bin Ihuld daran!” 

Dann ftrih fie das Haar aus der heißen Stirn 
und fühlte die brennenden Augen mit den Händen. 
Die ruhige Überlegung kam ihr allmählich zurüd. 

Nein, das leßte, das Schredliche that er gewiß 
niht! Er würde daran denken, daß fie ja nicht 
weiterleben fonnte unter diefer Verantwortung — 
den Tod eines Menichen wie er war aud die Welt 
nicht wert mit ihrem birnlojen, gemeinen Gellatich. 


- Aber er würde gehen — reilen — fie nicht wieder: 


Das war das beite, das ein- 
Damit mußte fie zu: 


jehen vor Jahren! 
ige, wa8 er thun Ffonnte. 
frieden fein. 

Vol Schauer dachte fie an die kommende freud— 
Ioje, einjante Zeit, und weil ihr die jo jchredlich er: 
Ihien, deshalb eilten ihre Gedanken weiter, bis in 
die fernfte Zukunft; bis fie fih nah Yahrzehnten 
mit ihrem Manne eingelebt, ihr Haar vielleicht 
grau, ihre Jugend dahin war. Wenn er dann zu: 
rückkam — dann konnten fie ruhig und friedlich mit- 
einander leben, ohne der Welt Grund zu böfer Nadı- 
rede zu geben, dann fonnten fie lächelnd ihrer heißen, 
entjagenden Liebe gedenken, ohne daß es ihnen zur 
Sünde gerechnet wurde. 

Wenn do diefe Zeit erft da wäre! Maud 
haßte in diefem Augenblid ihre Jugend, ihr hübiches 
Äußere, denn nur deshalb mußte fie jegt demjenigen 
entjagen, von dem fich zu trennen ihr das Herzblut 
foftete. Mit al ihrem Reihtum konnte fie fidh doch 
nicht das erlaufen, was ihr Herz in diefem Augen: 
blick am beftigften begehrte: Fortunats treues 
Herz. — 

Einftmals hatte fie die Liebe aus ihren An: 
forderungen an das Leben geflrichen, nun war bie 


| Liebe gelommen, um fi an ihr zu räden. 


(Schluß folgt.) 


829 


Schwertllingen. Roman von Hans Werber. 





830 





Schweriklingen. 


Baterländiiher Roman 


von 


Dans Werder. 
(Bortfegung.) 


I. 


„Rohlig — Donnermwetter, bit Du’s wahr: 
baftig? Zaufendmal willlommen!” 

„Sa, ich bin es! Ad, Brünnow, Deine PVifage 
erkenn' ich wieder, fonft aber ift von dem Schillichen 
Hufaren nichts weiter übrig geblieben als ein 
PBhilifter in Frad und Stulpftiefeln!” 

„Se, it Dir’s denn nicht ebenfo ergangen, Du 
dummer Kerl?” Sie umarmten ih. — „Seit wir 
unfere fhöne Uniform nicht mehr tragen dürfen, er: 
Icheint uns jedes Habit, das wir an uns jehen, wie 
eine Affenjade!” 

Es war vor der Thür des Buggenbdorfer Wohn: 
baufes, wo bieje Begrüßung ftattfand, zur Früh: 
fommerzeit, ein Jahr nach dem Untergange Scille 
und feines Korps. 

Brünnom nahm den Arm feines Gaftes und 
führte ihn ins Haus hinein. „Na, höre, alter Freund, 
Deinen linfen Hinterlauf jhonft Du aber immer 
nod) ein wenig?“ bemerkte er dabei, Hafjo von ber 
Seite betrachtend. 

„Ja, das haben mir die Satanskerle, die ver⸗ 
dammten, um mit Excellenz Blücher zu reden, gründlich 
beſorgt! Werdermann wollte mir ſogar eine kleine 
Steifheit im Knöchel als ewiges Andenken prophezeien. 
Nun, mir ſoll's recht ſein, am Reiten wird es mich 
nicht hindern, und das iſt die trautſte Hauptſache! 
Aber wohin reiten wir, Hans? Dieſe Frage iſt 
ebenfalls wichtig! Die ganze Welt liegt in tödlichem 
Frieden!“ 

„Nun, vor allen Dingen bleiben Sie zunächſt 
gemütlich hier und ſprechen nicht bei der Ankunft 
ſchon vom Fortreiten,“ miſchte ſich eine weibliche 
Stimme ins Geſpräch. Sie ſtanden vor der Buggen: 
dorfer Hausfrau. Brünnows Schweſter — unver— 
kennbar, dasſelbe kräftig runde und doch weich ge— 
ſchnittene Antlitz, mit dem flachsblonden Haar und 
den energiſchen, blauen Augen. Sie ſchüttelte Haſſo 
herzlich die Hand. „Charmant, daß Sie da ſind, 
Herr von Rochlitz! Mein Bruder hat ſchon ſehn— 
ſüchtig nach Ihnen ausgeſchaut. Nun ſollen Sie 
mir ihn noch ein Weilchen feſthalten in Buggendorf, 
nicht wahr? Lockere Vögel ſeid Ihr Schillſchen 
allerdings. Hoffentlich beweiſt Ihr Euch nicht als 
Zugvögel außerdem! Ich muß rechtzeitig zuſehen, 
wie ich das verhindere!“ 

„Gnädige Frau, das ſollten Sie nicht zu früh 
verrufen,“ erwiderte Haſſo. „Sobald die Schillſchen 
Huſaren ins Quartier rückten, haben ſie ſich ſtets von 


einer höchſt traitablen Seite gezeigt, zuweilen ſogar 
ſchwer wieder los zu werden — das heißt, nur wo 
es ihnen gefiel! Darin alſo könnten auch Sie jetzt 
Erfahrungen ſammeln, ehe Sie ſich's verſehen!“ 

„Dann bitte, probieren Sie erſt, wie es Ihnen 
bei uns gefällt, ehe Sie ſich in Permanenz erklären!“ 
gab Frau von Zarchow zurück, friſch und lebhaft auf 
ſeinen Ton eingehend. „Mir ſoll es erwünſcht ſein, 
und mein lieber Bruder Hans wird hoffentlich im 
Intereſſe von Buggendorf Ihre Entſcheidung zu be— 
einfluſſen wiſſen!“ 

Haſſo aber war ſeiner Sache bereits gewiß. 
Solch ein Umgangston und dieſe warm und natürlich 
aus dem Herzen quellende Freundlichkeit ſchufen 
allemal um ihn die Lebensluft, in der er gern und 
mit Behagen atmete. Ein wenig derb und kräftig 
erſchienen ihm zuweilen die Formen, in denen ſich 
Frau von Zarchow bewegte und worin ihr Gemahl 
ſie reichlich unterſtützte. Ihr Bruder that desgleichen. 
In früheren Zeiten hatte ſich Haſſo oft durch dieſe 
Art ſeines Kriegskameraden Brünnow abgeſtoßen ge— 
fühlt, da er dieſelbe für den Verkehrston innerhalb 
bes Offizierkorps als nachteilig erkannte. Jetzt er: 
götzte ſie ihn, ohne ſein Mißfallen zu erregen. 
Brünnow dagegen ordnete ſich willig ſeinem Einfluß 
unter, was er nie gethan zur Zeit, da jener ihm den 
Vorrang abgewann in der Freundſchaft des Komman—⸗ 
deurs und in der führenden Stellung dem Offizier⸗ 
korps gegenüber. 

„Sag' mir nur, Hans,“ meinte Haſſo einmal, 
„warum haben wir eigentlich ſo wenig miteinander 
verkehrt, die ganze Zeit von der Maikuhle bie zum 
Frankenthor? Ich halte immer das Gefühl, als 
gingeſt Du mir aus dem Wege?“ 

„That ich auch, mein guter Haſſo, das kann 
ich Dir ganz genau ſagen!“ war Brünnows Ent— 
gegnung. „Wer nicht nach Deiner Pfeife tanzen 
wollte, war ſchlecht bei Dir angeſchrieben, das wirſt 
Du wohl ſelber noch wiſſen! Nun, und dazu ver⸗ 
ſpürte ich keine Luſt! Du wollteſt immer einen ſo 
höfiſchen, feinen Ton um Dich haben und nur ſelber 
Skandal machen, wenn es Dir paßte! Und ich ſprach 
lieber gerad' heraus, wenn es mir gefiel! Ein kerniges 
Deutſch, wie mir der Schnabel gewachſen war. Und 
wenn Du dann ſo mißbilligend über mich weg ſahſt, 
das ärgerte mich! Komiſch, jetzt ärgerſt Du mich 
nie mehr! Gefall' ich Dir nun beſſer, oder Du mir?“ 

„Du gefällſt mir mächtig, Hans, wenn auch 
nur ſelten!“ erwiderte Haſſo lachend. „UUnd Du 
magſt recht haben, wir gefallen uns gegenſeitig, ſo⸗ 
bald wir nur beide allein miteinander zu thun haben 





831 Schwertllingen. 
und feine Nebenintereflen unjer Einvernehmen flören! 
Mir fol’s recht fein, wenn es jo bleibt zwifchen uns!” 

Borläufig war bierzu gute Ausfiht. Die 
Sommertage vergingen in ungeltörter Behaglichkeit. 

„Wir müflen aber do endlih für unjeres 
Gaftes Amufement fjorgen!” erklärte eines Tages 
Herr von Zardhom, der jelber ftets für alle Arten 
von „Amufements” zu haben war, „Wollen Sie 
nicht ben alten Penzlower Veldegg bejuhen, Rodlig? 
Den fogenannten Onkel Augufll? Er war ja immer 
hr bejonderer Gönner?” | 

„Jawohl, mein Gönner und Gaftfreund! Un: 
vergegih! Wollen Sie mid hHinbringen nad) 
Penzlom, ih würde Ihnen jehr dankbar fein!” Hafjo 
feufzte leicht bei diefen Worten. Die Penzlower 
Atmofphäre war für ihn von Erinnerungen jchwer! 
Saft graute ihm vor dem Wiederjehen. 

„Inwiefern ber fchrullige Alte zu unferes 
Gaftes Erheiterung beitragen joll,* meinte Frau von 
Zarchow, „ſehe ich zwar nicht recht ein! Da wär’ 
e3 doch praktischer, wir brächten ihn zu Gonreuths 
nah Tiefenfee! Die jchöne Julie wird ihm mehr 
zufagen als ihr griesgrämiger Onfel, der Penzlower!” 

„Da madhen Sie fih ein ganz faljches Bild 
von mir, Gnäbdigfte!” entgegnete Haflo in leichtem 
Tone, do mit einem Drud auf dem Herzen. „IK 
fehne mid vorläufig nur nah Onkel Auguft und 
möchte mit Tiefenlee verichont bleiben!“ 

„Unfinn, folde Geihmadsverirrungen bulde ich 
nicht!” eiferte die Hausfrau. „Sch jelber habe Sulie 
lange nicht gejehen und werde nädhftens hinüber: 
fahren! Da kommen Sie mit, ob Sie wollen oder 
nicht! — Übrigens — im vorigen Sommer war ihr 
Vater, der Oberftlieutenant von Beldegg, bei ihr 
zum Beſuch. SZ das ein charmanter Her! Mit 
feiner jüngeren Tochter! Kennen Sie die jdhon?” 

„Ja!“ ſagte Haſſo. 

„Er hat in Berlin bei Veldeggs verkehrt!“ 
ſetzte Brünnow erläuternd hinzu. 

„Und dieſen Sommer iſt der Oberſtlieutenant 
nicht in Tiefenſee?“ fragte Haſſo beklommen. 

„Nein, ſoviel ich weiß, nicht. Im vorigen 
Jahr war ſeine Tochter leidend und ſollte ſich in der 
Landluft erholen. Man ſagt, ſie hätte einen der 
Schillſchen Offiziere geliebt und fih jo vor Gram 
und Sorge um ihn verzehrt. Wielleiht mwißt hr 
beide Näheres darüber?” 

„Keine Ahnung!” meinte Hans Brünnomw gleich: 
gültig. „Wer fol!’ es denn fein? Weißt Du’s, 
Hallo? ZN vielleicht nur ein leeres Gerede!” 

Haſſo ſchwieg. 

Die Fahrt nach Tiefenſee wurde wirklich unter⸗ 
nommen. Haſſo konnte ſich nicht ausſchließen, da 
ſeine Weigerung das größte Befremden verurſacht 
haben würde. Er war in ſeltſam erregter Stimmung 
und dieſe äußerte ſich wie gewöhnlich in lautem Über— 
mut, welcher bis zur größeſten Heiterkeit anſteckend 
auf ſeine drei Gefährten wirkte. Dann plötzlich 
wurde er ſtill und ernſt. Er kannte den Weg gar 
wohl — ſie näherten ſich dem Ziele, und es war 
als würde ſein Herzſchlag mühſamer, ſchwerer. 

Da lag Tiefenſee, ſtill und träumeriſch in tiefes 


Roman von Hans Werder. 


832 


Grün gebettet, ſich widerſpiegelnd in dem glatten 
See, eine Flut von Sonnenglanz darüber ausgegoſſen. 
Und dennoch war es ein ſchwermütiges Bild. 

„Ich hätte nicht herfahren ſollen,“ ging es Haſſo 
durch den Sinn. Schon aber hielten ſie vor der 
ſtattlichen Einfahrt und Herr von Conreuth empfing 
ſeine Gäſte mit Herzlichkeit. Haſſos unerwartetes Er—⸗ 
ſcheinen rief lebhafte Freude hervor, beſonders bei 
der Herrin des Hauſes. Wie gewöhnlich ſagte ſie 
ihm allerlei Artigkeiten über ſein Ausſehen, und daß 
er als Schillſcher Held die Welt aus ihren Angeln 
heben könnte. „Schade, daß Papa nicht mehr hier 
iſt,“ meinte ſie. „Wie hätte er ſich gefreut, Sie 
wiederzuſehen! Hoffentlich bleiben Sie noch in der 
Gegend, bis er zurückkehrt, dann werde ich Sie es 
wiſſen laſſen!“ 

„Und ich betrachte mich als miteingeladen,“ rief 
Frau von Zarchow dazwiſchen. „Es iſt ein uner—⸗ 
hörtes Pech, daß ich ihn verfehlen mußte! Sie 
wiſſen, Julie, ich ſchwärme für Ihren Papa!“ 

„Sehr ſchmeichelhaft! Papa wird es zu würdigen 
wiſſen! Hoffentlich hält Berlin ihn nicht allzulange 
feſt! Die Politik und alle die großen Sorgen füllen 
jetzt gar zu ſehr ſein ganzes Leben aus!“ 

„Und Ihr ſchönes, melancholiſches Schweſterlein?“ 
fragte Herr von Zarchow. „Hat ſie ihren Vater nach 
Berlin begleitet?“ 

„Nein, für ſie hat glücklicherweiſe die Politik 
an Reiz verloren und ſo zog ſie es vor, bei uns 
zurückzubleiben! — Im Walde iſt ſie, am See, 
weiß der Himmel wo —“ 

„Hier!“ ſagte eine weiche Altſtimme und die 
Glasthür klang, die auf eine roſenumrankte Veranda 
hinausführte. Einen Schritt hörte man nicht — wie 
eine Feengeſtalt glitt es durchs Zimmer. 

Haſſo hatte ſich nicht umgewandt — der Herz— 

ſchlag ſtockte ihm und jeder Puls und jede Lebens— 
thätigkeit. Es war eine Starrheit, die ſekundenlang 
währte. Dann löſte ſie ſich mit einem Gefühl körper: 
lichen Schmerzes. Er erhob ſich langſam und ſtand 
Renate gegenüber. 
„Sie war ebenfalls wie verſteinert in ſtaunender 
Überraihung. Schneeweiß ihr Geficht und die Augen 
unnatürlich vergrößert. Sie wußte ja lange, daß 
er am Leben geblieben war, fjchwer verwundet und 
wieder genefen. Auch wie er vor dem Kriegsgericht 
geftanden und Zeugnis abgelegt für feinen toten 
Kommandeur, und drei Monate Feltungshaft dafür 
erhalten — das alles wußte fie aus fiherften Quellen. 
Und dennod hatte fie die Hoffnung faft aufgegeben, 
ihm je wieder zu begegnen, weil das die Erfüllung 
ihres beißeiten, qualvollen Sehnens bedeutete. Und 
jest plöglih, jo unerwartet, jah fie ihn vor fi 
jteben. 

Hallo verneigte fih tief und fall. Sie machte 
eine zagbafte Bewegung, ihm die Hand zu reichen, 
doh er ah fie nidt. Stumm trat er zur Seite, 
und Renate, mit der gejelihaftlichen Sicherheit, Die 
oft eine zuverläffigere Stüße ift als die großen Ge- 
fühle der Willenskraft und Selbftüberwindung, be: 
grüßte die Arnmwejenden ruhig und unbefangen. Sie 
nahm in dem Kreije Blab, Brünnow an ihrer Seite. 





833 


Er erkundigte fich lebhaft nach Elife von Rücdhel und 
aus diefem Thema folgten andere, bie fie beide gleich 
interejfierten im Angedenten an die Ichöne Ber: 
liner Zeit. 

Haſſo ſaß ſtumm und ſprach Fein Wort. „Herr 
von Rochlitz, was iſt Ihnen eigentlich?“ rief Frau 
von Zarchow ihm plötzlich über den Tiſch her zu. 
„Was bedeutet dieſe finſtere Schweigſamkeit? Ich 
erkenne Sie gar nicht wieder!“ 

Haſſo lehnte ſich in den Stuhl zurück und zog an 
ſeinem langen Schnurrbart. „Gnädige Frau, wenn Sie 
mich hier angreifen, ſo wehre ich mich meiner Haut! 
Während der Fahrt noch drohten Sie, mich aus dem 
Wagen hinauszubefördern, wenn ich nicht den Mund 
hielte! Jetzt führe ich Ihren Befehl aus — und nun 
ſind Sie dennoch nicht zufrieden!“ 

„So kennen Sie ihn nicht, Selma?“ neckte 
Julie. „Dann währt wohl Ihre Bekanntſchaft noch 
nicht lange? Für mich iſt er ſo erſt der rechte 
Haſſo: luſtig bis zum Übermut oder ernſt und herb 
bis zur Schroffheit! Das habe ich ſogar den guten 
Major Schill an ihm tadeln hören!“ 

Jetzt ſchaute Renate auf, ihre Unterhaltung mit 
Brünnow unterbrechend, und wendete ſich ihrer 
Schweſter zu. „Bärſch war es, der das tadelte — 
nicht Schill!“ 

Dieſe Erklärung, lebhaft und im beſtimmteſten 
Tone gegeben, wirkte überraſchend. Für wen hatte 
ſie eigentlich das Wort ergriffen? — 

„Gehorſamſten Dank für dieſe Richtigſtellung, 
mein gnädiges Fräulein, ſie iſt immerhin von Inter⸗ 
eſſe für mich!“ ſagte Haſſo. 

Herr von Conreuth aber lächelte beluſtigt. „Alles 
kann meine kleine Schwägerin vertragen, nur daß 
der geheiligte Name Schill in einer Verbindung ge— 
braucht wird, die ihr nicht zuſagt, das duldet ſie 
nimmermehr!“ 

„Nimmermehr!“ wiederholte Renate und ihre 
Stimme nahm einen tieferen Klang an. 

Haſſo ließ einen forſchenden Blick auf ihr ruhen. 
Sie erſchien ihm verändert, zarter, lieblicher geworden, 
nicht mehr die kriegbegeiſterte Walküre, welche die 
Helden zur Schlacht rief. Die Helden! Das Wort 
enthielt einen Stachel für ihn ſeit jener bitteren 
Stunde! 

Die Unterhaltung wurde eine allgemeine und 
behandelte die erneuten, unberechtigten Durchzüge 
franzöſiſcher Truppen, von denen man fürchtete, daß 
ſie ſich auf dieſe Gegend werfen würden. Renate 
äußerte ihren Abſcheu vor franzöſiſcher Einquartierung, 
die 9 von Berlin her in ſchrecklichſter Erinnerung 
ſtand. 

Haſſo mochte ſich an dem Geſpräch nicht be— 
teiligen. Er erhob ſich und trat auf die Veranda 
hinaus. Der Garten erſtreckte ſich bis zum Seeufer 
hinab. Drüben ſtiegen in ſchwellenden Linien die 
Wälder auf, vom Schimmer der ſinkenden Sonne 
wie mit Goldſchaum überſtreut. Der Spiegel des 
Sees gab das Bild in traumhafter Verklärung wieder. 
Haſſo ſtützte ſich auf das grünumrankte Geländer und 
ließ den Blick darüber hinſchweifen. Vom Walde 
her rief der Kuckuck und er horchte darauf. 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


834 


Plötzlich ſchrak er auf, Renate ſtand neben ihm. 
Sie war ihm mit den Augen gefolgt, und dann 
hatte ſie's ſelber nachgezogen mit unſichtbaren Ketten. 

„Haſſo —“ ſtammelte fie in mühjam nieberge- 
fämpfter Erregung — „ich habe Ahnen jo viel ab: 
zubitten —” 

„Ia?” fragte er zurüd und ein Läcdheln ging 
über fein Gefiht. Sie jah es und es entmutigte 
ſie unbeſchreiblich. Ihre Hand umſchlang krampfhaft 
den leichten Holzpfeiler. 

„Ja, Haſſo, ich habe Ihnen bitter Unrecht ge— 
than! Ich habe Sie fo gänzlich mißverſtanden! — 
Wie Sie ihn warnten, glaubte ich nur, Sie wollten 
zurückbleiben! — Ach und Sie haltten recht mit 
Ihrer Warnung, tauſendmal recht! Wenn wir ihr 
gefolgt wären, mein Gott, dann lebte er noch, der 
Held — und all ſeine Getreuen, die mit ihm ins 
Verderben gingen! Albert Wedell —“ ſie hielt inne, 
von ſchmerzlicher Erinnerung bewegt. Dann ſprach 
ſie weiter. „Sie — hielten die Sache für ver— 
loren von Anfang an und ſetzten dennoch Ihr Leben 
und Ihre Ehre für dieſelbe ein! — Und ich — ich 
zweifelte an Ihnen!“ 

Haſſo ſah ſie an. Ein faſt nervöſes Mienen— 
ſpiel zuckte auf ſeinem ausdrucksfähigen Geſicht. 

„Aber Haſſo,“ fuhr ſie wieder fort, als er noch 
immer ſchwieg, „warum ſagten Sie mir nicht, daß 
Sie dennoch mitgehen wollten! Wie konnte ich es 
wiſſen! Ein einziges Wort von Ihnen hätte das 
Mißverſtehen aufgeklärt! War ich Ihnen ſo viel 
nicht einmal wert?“ 

Da richtete ſich Haſſo auf. Ein kaltes Licht 
blitzte in ſeinen Augen. „Ja, meinen Sie denn, 
Fräulein Renate, daß die tödliche Beleidigung 
Ihres Zweifels dadurch gut gemacht wurde, daß 
ich denſelben aufklärte? — Sie hielten mich für ein 
altes Weib, das hinterm Ofen ſitzen bleibt, während 
mein Regiment ins Feld rückte — iſt das keine Be— 
leidigung? Schafft es mir Genugthuung, wenn ich 
Ihnen erzähle, nein, Sie irren ſich, ich reite mit?“ 
Er lachte bei dieſen Worten. 

Renate ſtarrte ihn an, von Schreck und Schmerz 
überwältigt. Er nahm dieſen Blick ſekundenlang mit 
Bewußtſein in ſich auf. 

„Fräulein Renate,“ begann er halblaut, „er⸗ 
innern Sie ſich noch, was ich Ihnen geboten an 
jenem Tage? Die nie zuvor verausgabte Liebe eines 
ganzen Menſchenlebens — vor Ihnen hingeſchüttet 
— Sie konnten mit Händen darin wühlen! Wiſſen 
Sie es noch? Sie traten mit Füßen darauf! — 
Und wenn Sie mich nicht lieben konnten — ſo 
viel Vertrauen und Achtung durfte ich doch wohl 
verlangen, daß Sie mich für einen anſtändigen 
Menſchen hielten. Ein kleines Bruchteil von dem, 
was ich Ihnen in anbetender Hingebung entgegen— 
brachte — und ein Mißverſtehen zwiſchen uns wäre 
unmöglich geweſen! Ich hätte nie an Ihnen zweifeln, 
nie an Ihnen irre werden können! — Und nun 
ſoll ich Ihnen verzeihen, was Sie mir da angethan 
haben? Sie wiſſen nicht, was Sie fordern!“ 

„Aber Haſſo,“ flehte ſie mit trockener Kehle, 
trockenen Lippen. „Wenn ich mein Unrecht einſehe, 


835 


beflen Tragweite ich jelber nicht begriff, Ihre Ver: 
geihung erbitte — was fan id denn noch mehr 
thun?“ 

Haſſo fühlte die Eisſchollen in ſeinem Herzen, 
von denen er früher einmal geſprochen — und der 
Schmerz der troſtloſen Erſtarrung ward ihm ſelber 
zur unerträglichen Qual. 

Als er keine Antwort gab, regte ſich der Stolz 
in dem tapferen Mädchenherzen. „Haſſo, Sie ſind 
grauſam und ungerecht gegen mich!“ ſagte ſie mit 
zitternder Stimme. 

„Meinen Sie, Fräulein Renate?“ fragte er 
weicher. „Ich glaube es kaum! Ich erkenne Ihr 
gütiges Entgegenkommen an und bin Ihnen dank— 
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden 
heut ſo wenig Verſtändnis als vor einem Jahre — 
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf 
einzugehen vermag!“ 

Renate ſchwieg. Ihre Hände zerrten in beben- 
der Erregung an den Ranken und zerpflückten die 
Blätter. Ein Dorn ſtach ſie in den Finger, ſo daß 
ſie zuckend losließ. Sie legte die Hand vor die 
Augen. 

„Ihre Frau Schweſter ſcheint Sie zu ſuchen,“ 
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonloſer 
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors 
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen 
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“ 

Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war 
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch 
und ſchickte ſie fort! — 

Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen, 
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen 
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald— 
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen— 
ſee geriet faſt in Aufregung darüber. 

„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie 
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener 
Stimme. „Hoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund, 
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“ 

„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an 
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen 
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt 
feindſeligen Blick auf den Neffen. 

„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute 
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De— 
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“ 

„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von 
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher 
wiſſen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu? 
Aber ich hab' welche!“ Er ſchlug auf ſeine Bruſt, 
daß die Papiere in der Taſche ſeines Rockes raſchelten. 
„Verdammte, niederträchtige Nachrichten! Hat die 
Satansmwirtichaft nicht bald ein Ende, jo holt ung 
alle miteinander der Teufel!” 

„Durhbohren Sie mich nicht mit Ihren Bliden, 
verehrter Dheim! Ah Fanıı nichts dafür und bin 
ganz Zhrer Anficht! Kommen Sie nur, werden Sie 
erft gemütlih!” Er 309 ihn Hin zu dem Garten: 
zimmer, wo die Gejellihaft beifammen jaß, doch der 
Einfiedler blieb zornig auf der Schwelle ftehen. 

„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da 


Schwertllingen. 


Roman von Hans Werber. 





836 





jol ich hinein? Neveu, wie können Sie fidh unter- 
ftehen, mir das zuzumuten!” 

„Es find ja Shre beiden Nihten, Julie und 
Renate — und Frau von Harhom! Weiter kein 
MWeibsbild! Und zwei Schillihe Offiziere — Brünnow 
und Rodlig! Alte Bekannte von Zhnen!” 

Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende 
Handbewegung, trat danıı aber zögernd näher, er: 
wiberte die Begrüßungen von weiten und nahm 
ftumm in einem Wintel Plab. 

Herr von Conreuth ließ eine Flafhe Rheinwein 
holen und die erwärmte jeltiam das Herz des ver: 
trodneten Alten. Zunädhft Eranıte er feine Nachricht 
aus, die ihn bergeführt, und die allerdings einige 
Aufregung bervorrief! Drei franzöfiihe Divifionen, 
auf dem Durhmarich nach Danzig begriffen, jollten 
in ben nädften Tagen dieje Gegend palfieren, und 
davon einige Regimenter Ruhetag haben. Die ftets 
heitere Laune verfhwand von des Hausherren Klarer 
Stirn. Was waren Froft und Kagelihaden, Über: 
Ihmwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen jolcher 
frangöftiden Einquartierung — mit Ruhetag nod 
dazu! — 

Onkel Auguft, jobald er den Eindrud diefer 
Hiobspoft gewahrte, lenkte jein Intereſſe von derfelben 
ab, um es den beiden Schillihen Offizieren zuzu: 
wenden. Das NRheinmweinglas warb abermals ge: 
füllt — ſchon fchüttelte er den beiden jungen Männern 
die Hand. 

„Heute bat der Satanas, Gottjeibeiuns, ber 
Obermeifter aller Henter, jeine Fauft über uns und 
läßt feinen gejunden Gedanken auffommen in einer 
Menſchenbruſt, Fein vernünftiges Wort in einer 
Zeitung. Aber die Geihichte — die wird darüber 
urteilen, was Schill gemwejen ift, was Ihr geweſen 
jeid, hr Teufelsferls, die Yhr mit ihm geritten feid! 
MWenn meine Knochen nicht jo alt und morjch wären 
— aber die Gedichte, die wird es enticheiden!” — 
Er leerte wieder jein Glas. 

„Warum waret SJhr no nicht bei mir, hr 
Malefizterle! Penzlow liegt eine halbe Stunde von 
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarchom? 
Und Sie haben zwei Schillihe Offiziere im Haufe — 
den von Rohlig nod) dazu — und noch Feiner ift bei 
mir gewejen!” 

Zarchow ſchwor beim Barte des Propheten, daß 
er morgen mit den beiden hiniüberreiten würde, und 
fie nahmen den Schwur befräftigend auf. 

Als die Buggendorfer fich zur Heimfahrt rüfteten, 
war Renate verihwunden. Frau von Zarhomw zer: 
brah Sich über diefen Mangel an guter Form bei 
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf 
faft während der ganzen Rüdjahrt, tadelte auch ſonſt 
ihr eigentümliches Benehmen. Zarhow und Brünnom 
verteidigten fie und Shwärmten für das Schöne Mädchen. 
Stau Selma geriet in Zorn. 

„Sie jollen mir beiftehen, Herr von Rodlig,” 
Ichalt fie, „was figen Sie da wie ein Ölgöge!“ 

„sh Itehe Shnen ja immer bei, feien Sie dod 
nicht gleich fo böle!” verteidigte er fih. „Diesmal 
aber fann ich nichts jagen! Denn, ob ich Ihnen 
beiftimme oder Ahnen widerjpreche, beides wäre un: 





837 


Schwerttlingen. 


galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl: 
ſpruch!“ 

Dabei kam ihm das Gefühl, heute gegen Renate 
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern 
auch unverſöhnlich, ungerecht, unritterlich! Und 
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter 
leben zu ſollen. 


II. 


Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute- 
nants und zweihundert Pferde meldete der fran- 
zöftiche Fourieroffizier. Mit großer Grünblichkeit 
befitigte er die Quartiere in Tiefenjee und gab 
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere. 
Das Haus war nicht allzu groß und jo blieb für 
Herrn von GConreuth und feine Familie nur jehr 
wenig Raum übrig. 

„In zwei Stunden lünnen fie bier jein, id) er: 
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit 
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe 
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herren von 
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie: 
mand wunderte fich darüber. Jedermann im ganzen 
Lande wußte nun feit bald vier Yahren, was e8 
auf fi hatte mit franzöjiiher Einquartierung. 

„Solonel Daricot — AYulie, ob das nicht jener 
Daricot fein mag, der mit General Bonfanti in 
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate ſprach 
es finnend vor fih hin, während fie, auf dem Belt: 
ranbe figend, ihr lodiges, duntelbraunes Haar fämmte 
und zum Haffiihen, griechiichen Knoten aufwand. 
Sie teilte mit ihrer Schwefter eine Dadylammer, als 
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite 
nebenan bewohnte der Hausherr. Hier war man 
wenigftens der lärmenden Nähe diefer ungebetenen 
nn entrüdt und das konnte als größter Vorzug 
gelten. 


„Sa, das wäre jhon möglich,” erwiderte Julie. 
„Die Herren avancieren jchnell in der großen Armee! 
So viel ich mich entfinne, war diejer Adjutant Daricot 
ein hübjcher, eleganter Menſch!“ 

Renate hauderte — wie unter dem Eindrud 
einer widerwärtigen Erinnerung. Do Tchwieg fie. 
Sa, ein hübjcher, eleganter Menich mochte er gewejen 
fein, der Adjutant bes Generals Bonfanti! Einmal 
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was 
bis dahin niemals gejchehen. Sie jaß allein darin 
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche 
Worte und wollte fie füllen. Sie chlug ihm ins 
Gefiht mit ihrer Kinderhand und ftürzte hinaus. 
Es war ber verhaßtefte Augenblid ihres Lebens, 
und er flieg mit erjchredender Deutlichkeit vor ihr 


or. 

Jetzt ertönte Lärm und Waffengetöſe vom Hofe 
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung 
in Empfang zu nehmen, obſchon ſie ſeiner nicht be— 
durften. Sie waren jetzt die Herren des Hauſes. 

Julie und Renate verblieben in ihrem Dach— 
kämmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit, 


Roman von Hans Werder. 


838 








dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen: 
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als: 
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit 
tabellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat 
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an 
erihienen alle andern wie in ben Schatten geitellt. 
Er war freilihd eine föne Erfcheinung, glänzend 
gehoben durch die prächtige Uniform mit Sternen 
und Drdensbändern. 

Sa, er war ed, Renate erlannte ihn auf den 
erften Blid. Und als er fich jeßt, von der Hausfrau 
fort, ihr zumandte, blißte es in feinen jchwarzen 
Augen auf — erft wie fuchende Erinnerung, dann 
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver: 
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflichen Wen: 
dungen, ob er noch die Ehre habe, von ihr gelannt 
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in 
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen. 

„Ich ſpreche nicht franzöfiih!” war ihre eifige 
Antwort. 

Er lächelte. „Aber Sie verftehen es, Mabe: 
moifele! Und ich verftehe volllommen beutich, da 
ich jeit über drei Sahren in diefem rauhen Lande 
umberziehe. Wir werden uns bemnad aufs trefi: 
lichfte verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus: 
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate ja 
ihm gegenüber und faft unausgejegt rubten jeine 
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin 
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre 
Haltung verriet nichts als Falte Nichtachtung. 

Er jprad eingehend von jener Berliner Zeit, 
wo er fi mit feinem General auf dem Durdhmarich 
nad Kolberg befunden habe, und weldhe harte Arbeit 
die Belagerung diejer trogigen Seite gemwefen ſei. Er 
erinnerte daran, mit welcher hohen Bewunderung 
General Bonfanti ftet® von Gneifenaus unvergleid:- 
lihem Feldherrngenie und Schils tolfühner Tapfer: 
feit geiprodhen — biejer feiner fchlimmften Gegner, 
melde Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung 
jo jhwer gemadt. „Schade,“ jeßte er dann leicht 
hinzu, „damals jah man in diefem Schill einen 
Helden, und fohließlih bat er fih als Brigand de- 
coupriert!” 

„Sie verzeihen — er war ein preußilcher Dffi: 
zier!” bemerkte Herr von Conreuth mit jcharfer Be: 
tonung. 

Der Franzofe lachte, und die Seinen ftimmten be- 
reitwilligft ein. „Tant pis pour l’armee prussienne!“ 
damit bob er fein friichgefülltes Weinglas gegen den 
Hausberrn. Ein wütender Zorn Tochte in biefem auf. 
Doch ehe er noch ein Wort gefunden, bog fi) Renate 
vor — totenblaß, mit fhwarzglühenden Augen. 

„DMonfieur, Ste willen,“ fagte fie mit zorn- 
bebender Stimme, „baß Sie als Gaft am Tiiche 
eines preußiichen Dffiziers fiten! Sie willen, daß 
jener Mann, defien Namen Sie ausipraden, ein Held 
war und kein Räuber! Niemand weiß es befler 
als Sie, der die Ehre gehabt, gegen ihn zu kämpfen!“ 

Spradlos ftarrte der Franzoje fie an. Syhre 
Schönheit hatte in diefem Augenblid etwas Dämo- 
nilches, das ihn überwältigte. Er verneigte fi vor 
ihr. „Mademoijele — ich weiß es jet, denn Sie 


835 Schwertllingen. 


beflen Tragweite ich jelber nicht begriff, Ihre Ver: 
—— erbitte — was kann ich denn noch mehr 
thun?“ 

Haſſo fühlte die Eisſchollen in ſeinem Herzen, 
von denen er früher einmal geſprochen — und der 
Schmerz der troſtloſen Erſtarrung ward ihm ſelber 
zur unerträglichen Qual. 

Als er keine Antwort gab, regte ſich der Stolz 
in dem tapferen Mädchenherzen. „Haſſo, Sie ſind 
grauſam und ungerecht gegen mich!“ ſagte ſie mit 
zitternder Stimme. 

„Meinen Sie, Fräulein Renate?“ fragte er 
weicher. „Ich glaube es kaum! Ich erkenne Ihr 
gütiges Entgegenkommen an und bin Ihnen dank— 
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden 
heut ſo wenig Verſtändnis als vor einem Jahre — 
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf 
einzugehen vermag!“ 

Renate ſchwieg. Ihre Hände zerrten in beben— 
der Erregung an den Ranken und zerpflückten die 
Blätter. Ein Dorn ſtach ſie in den Finger, ſo daß 
ſie zuckend losließ. Sie legte die Hand vor die 
Augen. 

„Ihre Frau Schweſter ſcheint Sie zu ſuchen,“ 
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonloſer 
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors 
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen 
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“ 

Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war 
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch 
und ſchickte ſie fort! — 

Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen, 
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen 
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald— 
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen— 
ſee geriet faſt in Aufregung darüber. 

„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie 
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener 
Stimme „vHoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund, 
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“ 

„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an 
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen 
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt 
feindſeligen Blick auf den Neffen. 

„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute 
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De— 
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“ 

„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von 
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher 
wiſſen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu? 
Aber ich hab' welche!“ Er ſchlug auf ſeine Bruſt, 
daß die Papiere in der Taſche ſeines Rockes raſchelten. 
„Verdammte, niederträchtige Nachrichten! Hat die 
Satanswirtſchaft nicht bald ein Ende, ſo holt une 
alle miteinander der Teufel!“ 

„Durchbohren Sie mich nicht mit Ihren Blicken, 
verehrter Oheim! Ich kann nichts dafür und bin 
ganz Ihrer Anſicht! Kommen Sie nur, werden Sie 
erſt gemütlich!“ Er zog ihn hin zu dem Garten— 
zimmer, wo die Geſellſchaft beiſammen ſaß, doch der 
Einſiedler blieb zornig auf der Schwelle ſtehen. 
„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da 





Roman von Hans Werder. 





836 


ſoll ich hinein? Neveu, wie können Sie ſich unter⸗ 
ſtehen, mir das zuzumuten!“ 

„Es ſind ja Ihre beiden Nichten, Julie und 
Renate — und Frau von Zarchow! Weiter kein 
Weibsbild! Und zwei Schillſche Offiziere — Brünnow 
und Rochlitz! Alte Bekannte von Ihnen!“ 

Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende 
Handbewegung, trat dann aber zögernd näher, er— 
widerte die Begrüßungen von weitem und nahm 
ſtumm in einem Winkel Platz. 

Herr von Conreuth ließ eine Flaſche Rheinwein 
holen und die erwärmte ſeltſam das Herz des ver—⸗ 
trockneten Alten. Zunächſt kramte er ſeine Nachricht 
aus, die ihn hergeführt, und die allerdings einige 
Aufregung hervorrief! Drei franzöſiſche Divifionen, 
auf dem Durchmarſch nach Danzig begriffen, ſollten 
in den nächſten Tagen dieſe Gegend paſſieren, und 
davon einige Regimenter Ruhetag haben. Die ſtets 
heitere Laune verſchwand von des Hausherrn klarer 
Stirn. Was waren Froft und Kagelihaden, Über: 
Ihwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen folcher 
franzöfifden Einquartierung — mit Ruhetag nod 
dazu! — 

Dnfel Auguft, jobalb er den Eindrud Dieler 
Hiobspoft gewahrte, Tenkte fein Sinterefje von derielben 
ab, um es den beiden Schillihen Offizieren zuzu: 
wenden. Das Nheinweinglas warb abermals ge: 
fült — Ion jhüttelte er den beiden jungen Männern 
die Hand. 

„Heute bat der Satanas, Gottjeibeiuns, der 
Dbermeifter aller Henter, feine Fauft über uns und 
läßt feinen gejunden Gedanlen auflommen in einer 
Menſchenbruſt, fein vernünftiges Wort in einer 
Zeitung. Aber die Geichichte — die wird darüber 
urteilen, was Schill gewefen ift, was hr gewejen 
jeid, Zhr Teufelsferls, die Zhr mit ihm geritten jeid ! 
Wenn meine Knochen nicht fo alt und morjch wären 
— aber die Gedichte, die wird es entiheiden!” — 
Er leerte wieder jein ®las. 

„Warum mwaret hr noch nidht bei mir, Ahr 
Malefizterle! Penzlow liegt eine halbe Stunde von 
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarhom? 
Und Sie haben zwei Schilliehe Offiziere im Haufe — 
den von Rodhlig no) dazu — und nodh Feiner ift bei 
mir gewejen!” 

Zarhow jhwor beim Barte des Propheten, daß 
er morgen mit den beiden hinüberreiten würde, und 
fie nahmen den Schwur befräftigend auf. 

Als die Buggendorfer fih zur Heimfahrt rüfteten, 
war Renate verhmunden. Frau von Zardom zer: 
brabh fi über diefen Mangel an guter Form bei 
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf 
faft während der ganzen Rüdfahrt, tadelte auch jonft 
ihr eigentümliches Benehmen. Zardhomw und Brünnow 
verteidigten fie und Ichwärmten für das jchöne Mädchen. 
Frau Selma geriet in Zorn. 

„Sie jollen mir beiftehen, Herr von Rodlig,” 
Ihalt fie, „was fiten Sie da wie ein Dlgöße!” 

„Ih ftehe Ihnen ja immer bei, jeien Sie doc 
nicht gleich jo böfe!” verteidigte er fih. „Diesmal 
aber kann ich nichts jagen! Denn, ob id Ahnen 
beiftimme oder Ahnen widerjpredhe, beides wäre un: 


837 Schwertilingen. 
galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl: 
ſpruch!“ 

Dabei kam ihm das Geſühl, heute gegen Renate 
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern 
auch unverföhnlih, ungerecht, unritterlich! Und 
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter 
leben zu ſollen. 


II. 


Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute— 
nants und zweihundert Pferde meldete der fran— 
zöſiſche Fourieroffizier. Mit großer Gründlichkeit 
befihtigte er die Quartiere in Tiefenlee und gab 
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere. 
Das Haus war nit allzu groß und fo blieb für 
Herrn von Gonreuth und jeine Familie nur jehr 
wenig Raum übrig. 

„In zwei Stunden fünnen fie bier fein, ich er: 
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit 
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe 
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herrn von 
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie: 
mand wunderte fich darüber. Sedermann im ganzen 
Lande wußte nun feit bald vier SYahren, was es 
auf fi hatte mit franzöfiiher Einquartierung. 

„Solonel Daricot — Aulie, ob das nicht jener 
Daricot jein mag, der mit General Bonfanti in 
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate ſprach 
es finnend vor fi hin, während fie, auf dem Bett: 
rande figend, ihr lodiges, dunfelbraunes Haar fämmte 
und zum Klaffiihen, griechiichen Knoten aufwand. 
Sie teilte mit ihrer Schwefter eine Dachlammer, als 
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite 
nebenan bewohnte der Hausbherr. Hier war man 
wenigftens der lärmenden Nähe diefer ungebetenen 
a entrüdt und das konnte als größter Vorzug 
gelten. 


„3a, das wäre Schon möglich,” erwiderte Sulie. 
„Die Herren avancieren fchnell in der großen Armee! 
So viel ih mich entfinne, war diefer Adjutant Daricot 
ein bübjcher, eleganter Menich!” 

Renate jchauderte — wie unter dem Eindrud 
einer widerwärtigen Erinnerung. Doch fchwieg fie. 
Ya, ein hübjcher, eleganter Menih mochte er gewejen 
jein, der Adjutant des Generals Bonfanti! Einmal 
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was 
bis dahin niemals geihehen. Sie jaß allein darin 
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche 
Worte und wollte fie füflen. Sie jhlug ihm ins 
Gefiht mit ihrer Kinderhand und flürzte hinaus. 
Es war der verhaßteite Augenblid ihres Lebens, 
und er flieg mit erjchredender Deutlichkeit vor ihr 
empor. 

Segt ertönte Lärm und Waffengetöfe vom Hofe 
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung 
in Empfang zu nehmen, obidhon fie feiner nicht be: 
durften. Sie waren jeßt die Herren bes Haujes. 

Sulie und Renate verblieben in ihrem Dad}: 
fämmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit, 


Roman von Hans Werber. 


838 


dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen: 
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als: 
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit 
tadellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat 
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an 
erihienen alle andern wie in ben Schatten geitellt. 
Er war freilid eine jchöne Eriheinung, glänzend 
gehoben dur die prächtige Uniform mit Sternen 
und Drdensbändern. 

Sa, er war e8, Renate erfannte ihn auf den 
erften Blid. Und als er fi jeßt, von der Hausfrau 
fort, ihr zumandte, bligte es in feinen ſchwarzen 
Augen auf — erft wie juchhende Erinnerung, dann 
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver: 
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflihen Wen: 
dungen, ob er noch) die Ehre habe, von ihr gelannt 
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in 
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen. 

„SH Ipreche nicht franzöfiih!” war ihre eifige 
Antwort. 

Er lächelte. „Aber Sie verftehen eg, Made: 
moifele! Und ich verftehe volllommen deutih, da 
ich jeit über drei Sahren in diefem rauhen Lande 
umberziehe. Wir werben uns demnadh aufs treff: 
lichfte verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus: 
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate jaß 
ihm gegenüber und faft unausgefegt rubten jeine 
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin 
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre 
Haltung verriet nichts als Falte Nichtachtung. 

Er jprad eingehend von jener Berliner Zeit, 
wo er fi mit feinem General auf dem Durhmar|ch 
nad Kolberg befunden habe, und melde harte Arbeit 
die Belagerung biejer troßigen Felte gewefen jei. Er 
erinnerte daran, mit welder hoben Bewunderung 
General Bonfanti ftet8 von Gneijenaus unvergleidh: 
lidem Feldherrngenie und Schills tollfühner Tapfer- 
keit geſprochen — dieſer ſeiner jchlimmften Gegner, 
welche Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung 
ſo ſchwer gemacht. „Schade,“ ſetzte er dann leicht 
hinzu, „damals ſah man in dieſem Schill einen 
Helden, und ſchließlich hat er ſich als Brigand de— 
couvriert!“ 

„Sie verzeihen — er war ein preußiſcher Offi⸗ 
zier!“ bemerkte Herr von Conreuth mit ſcharfer Be— 
tonung. 

Der Franzoſe lachte, und die Seinen ftimmten be- 
reitwilligſt ein. „Tant pis pour l'armée prussienne!“ 
damit hob er ſein friſchgefülltes Weinglas gegen den 
Hausherrn. Ein wütender Zorn kochte in dieſem auf. 
Doch ehe er noch ein Wort gefunden, bog ſich Renate 
vor — totenblaß, mit ſchwarzglühenden Augen. 

„Monſieur, Sie wiſſen,“ ſagte ſie mit zorn⸗ 
bebender Stimme, „daß Sie als Gaſt am Tiſche 
eines preußiſchen Offiziers ſitzen! Sie wiſſen, daß 
jener Mann, deſſen Namen Sie ausſprachen, ein Held 
war und kein Räuber! Niemand weiß es beſſer 
als Sie, der die Ehre gehabt, gegen ihn zu kämpfen!“ 

Sprachlos ſtarrte der Franzoſe ſie an. Ihre 
Schönheit hatte in dieſem Augenblid etwas Dämo: 
nijches, das ihn überwältigte. Er verneigte fi vor 
ihr. „Mademoifele — ich weiß es jett, benn Sie 


835 


defien Tragweite ich jelber nicht begriff, Yhre Ver: 
geibung erbitte — was fann ich denn noch mehr 
tun?” 

Haflo fühlte die Eisjchollen in feinem Herzen, 
von denen er früher einmal gejproden — und ber 
Schmerz der troftlofen Erftarrung ward ihm jelber 
zur unerträglihen Qual. 

Als er keine Antwort gab, regte fih der Stolz 
in dem tapferen Mäbchenberzen. „Haflo, Sie find 
graufam und ungereht gegen mich!” Tagte fie mit 
zitternder Stimme. 

„Meinen Sie, Fräulein Renate?” fragte er 
weicher. „Ach glaube es kaum! Ih erkenne hr 
gütiges Entgegenfommen an und bin Shnen danl: 
bar dafür! Aber Sie haben für mein Empfinden 
heut fo wenig Berftändnis als vor einem Jahre — 
darum verzeihen Sie mir, wenn ich nicht näher darauf 
einzugeben vermag!” 

Renate [wiege Ahre Hände zerrten in beben: 
der Erregung an den Ranten und zerpflüdten die 
Blätter. Ein Dorn flad fie in den Finger, jo daß 
fie zudend losließ. Sie legte die Hand vor die 
Augen. 

„Ihre Frau Schweiter jcheint Sie zu juchen,” 
brach Haſſo das kurze Stillſchweigen mit tonlojer 
Stimme. „Oder auch mich, es fuhr ein Wagen vors 
Haus — vielleicht der unſerige! Wenn es Ihnen 
recht iſt, kehren wir zur Geſellſchaft zurück!“ 

Renate wandte ſich kurz ab und ging. Sie war 
ihm nachgegangen — und er beendete das Geſpräch 
und ſchickte ſie fort! — 

Es war keineswegs der Buggendorfer Wagen, 
ſondern der Penzlower. Und dem halsbrecheriſchen 
Vehikel entſtieg in höchſteigener Perſon der Wald— 
einſiedler „Onkel Auguſt“, ein ſeltener Gaſt! Tiefen— 
ſee geriet faſt in Aufregung darüber. 

„Onkel Auguſt, welche hohe Ehre erweiſen Sie 
uns,“ ſcherzte Herr von Conreuth mit erhobener 
Stimme „Hoffentlich iſt es ein erfreulicher Grund, 
der Sie aus Ihrer Klauſe herausgelockt!“ 

„Wie?“ rief der alte, taube Herr, die Hand an 
die Ohrmuſchel legend, und heftete dabei aus ſeinen 
überbuſchten, hellblauen Augen einen ſtechenden, faſt 
feindſeligen Blick auf den Neffen. 

„Ich meine, Sie bringen uns hoffentlich gute 
Nachrichten mit? Die neueſten Zeitungen und De— 
peſchen finden ja immer den Weg nach Penzlow!“ 

„Nachrichten?“ wiederholte Herr Auguſt von 
Veldegg das einzige Wort, das er verſtanden. „Woher 
willen Sie, ob ich Nachrichten bringe, Herr neveu? 
Aber ich hab’ welde!” Er flug auf feine Bruft, 
daß die Papiere in der Tajche feines Nodes ralchelten. 
„Derdammte, niederträhtige Nachrichten! Hat die 
Satanswirtichaft nicht bald ein Ende, jo holt ung 
alle miteinander der Teufel!” 

„Durhbohren Sie mih nicht mit S$hren Bliden, 
verehrter Dheim! Ach kann nichts dafür und bin 
ganz Shrer Anficht! Kommen Sie nur, werden Sie 
erft gemütlih!” Er 309 ihn Hin zu dem Garten: 
zimmer, wo die Gejellihaft beifammen jaß, doch der 
Einfiedler blieb zornig auf der Schwelle ftehen. 

„Die ganze Stube voller Weibsbilder und da 


Schwertklingen. 


Roman von Hans Werder. 





836 


jol ich hinein? Neveu, wie fünnen Sie fi unter: 
ftehen, mir das zuzumuten!” 

„Es find ja Hhre beiden Nichten, Yulie und 
Renate — und Frau von Zarhom! Meiter kein 
Meibsbild! Und zwei Schillihe Offiziere — Brünnomw 
und Rodlig! Alte Belannte von Ihnen!“ 

Der alte Herr machte eine verächtlich abwehrende 
Handbewegung, trat danır aber zögernd näher, er: 
widerte die Begrüßungen von weiten und nahm 
flumm in einen Wintel Plab. 

Herr von Conreuth ließ eine Flafche Rheinwein 
holen und bie erwärmte jeltiam das Herz des ver: 
trodneten Alten. Zunähft franıte er jeine Nachricht 
aus, die ihn bergeführt, und die allerdings einige 
Aufregung bervorrief! Drei franzöfiihe Divifionen, 
auf dem Durhmarih nah Danzig begriffen, jollten 
in den nädhjften Tagen diefe Gegend palfieren, und 
davon einige NRegimenter Ruhetag haben. Die ftets 
beitere Laune verfhwand von des Hausherren Tlarer 
Stirn. Was waren Froft und Hagelfchaden, Über: 
Ihwemmung und Feuer felbft, gegen die Folgen folcher 
franzöfiihen Einquartierung — mit Rubetag nod) 
dazu! — 

Onfel Auguft, jobaldb er den Eindrud Diejer 
Hiobspoft gewahrte, Ienkte fein Sinterefje von derſelben 
ab, um es ben beiden Schillihen Offizieren zuzu- 
wenden. Das Nheinweingla® ward abermals ge: 
füllt — ſchon jchüttelte er den beiden jungen Männern 
die Hand. 

„Heute bat der Satanas, Gottleibeiuns, der 
Obermeifter aller Henker, feine Fauft über uns und 
läßt keinen gefunden Gedanten auflommen in einer 
Menſchenbruſt, fein vernünftiges Wort in einer 
Beitung. Aber die Geihihte — die wird darüber 
urteilen, was Schill gewejen ilt, was Ihr geweſen 
jeid, hr Teufelskerls, die Yhr mit ihm geritten feid ! 
Menn meine Knoden nicht jo alt und morjch wären 
— aber die Geichichte, die wird es enticheiden!" — 
Er leerte wieder fein Glas. 

„Warum waret Yhr noch nit bei mir, Jhr 
Malefizterle! Penzlom liegt eine halbe Stunde von 
Buggendorf entfernt — hab’ ich nicht recht, Zarchow? 
Und Sie haben zwei Schilljehe Offiziere im Haufe — 
den von Rodhlig noch) dazu — und noch Feiner ift bei 
mir gewejen!” 

Zarhow jchwor beim Barte des Propheten, daß 
er morgen mit den beiden hinüberreiten würde, und 
fie nahmen den Schwur befräftigend auf. 

Als die Buggendorfer fih zur Heimfahrt rüfteten, 
war Renate verhwunden. Frau von Zarhom zer: 
brah fi über diefen Mangel an guter Yorm bei 
einem jo weltgewandten jungen Mädchen den Kopf 
faft während der ganzen Rüdfahrt, tadelte auch fonft 
ihr eigentümliches Benehmen. Zarhom und Brünnow 
verteidigten fie und Schwärmten für das Ichöne Mädchen. 
Srau Selma geriet in Horn. 

„Sie jolen mir beiftehen, Herr von Rodlig,” 
Ichalt fie, „was figen Sie da wie ein Olgöge!“ 

„Ich ftehbe Shnen ja immer bei, jeien Sie do 
nicht gleich jo böfe!” verteidigte er fih. „Diesmal 
aber kann ich nichts jagen! Denn, ob ih Ahnen 
beiftimme oder Ahnen widerjpreche, beides wäre un: 


837 Schwerttlingen. 
galant! Und lieber tot als ungalant ift mein Wahl: 
ſpruch!“ 

Dabei kam ihm das Gefühl, heute gegen Renate 
— nicht nur ungalant geweſen zu ſein — ſondern 
auch unverſöhnlich, ungerecht, unritterlich! Und 
bitter erſchien es ihm, mit dem Bewußtſein weiter 
leben zu ſollen. 


II. 


Colonel Daricot, zwei Kapitäns, zehn Lieute- 
nants und zweihundert Pferde meldete der fran: 
zöfifche Fourieroffizier. Mit großer Grünblichkeit 
befichtigte er die Quartiere in Tiefenjee und gab 
Anordnungen wegen der Unterkunft der Offiziere. 
Das Haus war nicht allzu groß und jo blieb für 
Herrn von Conreuth und jeine Familie nur jehr 
wenig Raum übrig. 

„Sn zwei Stunden können fie bier fein, ih er: 
warte, daß dann alles zu ihrem Empfange bereit 
fein wird!" Mit den Worten jchloß der Franzofe 
feine Anordnungen und ritt fort, ohne Herrn von 
Conreuths kalt gemefjene Antwort anzuhören. Nie: 
mand mwunderte fi) darüber. jedermann im ganzen 
Lande wußte nun feit bald vier Kahren, was es 
auf fich Hatte mit franzöjiicher Einquartierung. 

„Solonel Daricot — Aulie, ob das nicht jener 
Daricot jein mag, der mit General Bonfanti in 
Berlin bei uns einquartiert war?” Renate |prad) 
e8 finnend vor fi hin, während fie, auf dem Bett: 
rande fitend, ihr lodiges, dunfelbraunes Haar fämmte 
und zum Elafliihen, griechifchen Knoten aufwand. 
Sie teilte mit ihrer Schweiter eine Dachlammer, als 
einzigen Raum, der ihnen verblieben. Eine zweite 
nebenan bewohnte der Hausherr. Hier war man 
wenigftens der lärmenden Nähe diejer ungebetenen 
a entrüdt und das konnte als größter Vorzug 
gelten. 


„3a, das wäre jhon möglich,” erwiderte Julie. 
„Die Herren avancieren Ichnell in der großen Armee! 
So viel ich mid) entjinne, war diejer Adjutant Daricot 
ein bübjcher, eleganter Menſch!“ 

Renate Schauderte — wie unter dem Eindrud 
einer widermärtigen Erinnerung. Doch Ichwieg fie. 
Sa, ein hübjcher, eleganter Menih modte er gewejen 
jein, der Adjutant des Generals Bonfanti! Einmal 
war er in das Zimmer ihres Vaters getreten, was 
bis dahin niemals gejchehen. Sie jaß allein darin 
— und er näherte fi ihr, flüfterte unverftändliche 
Worte und wollte fie küflen. Sie Ihlug ihm ins 
Gefiht mit ihrer Kinderhband und flürzte hinaus. 
Cs war ber verhaßtefte Augenblid ihres Lebens, 
und er flieg mit erfchredender Deutlichkeit vor ihr 
empor. 

est ertönte Lärm und Waffengetöfe vom Hofe 
herauf, Conreuth ging hinunter, die Einquartierung 
in Empfang zu nehmen, objchon fie feiner nicht be: 
durften. Sie waren jeßt die Herren des Hauſes. 

Sulie und Renate verblieben in ihrem Dad): 
fümmerlein bis zur Stunde der Mittagsmahlzeit, 


Roman von Hans Werder. 





838 








dann gingen fie ins Wohnzimmer, den Hausfrauen: 
pflihten zu genügen. Die Herren ftellten fi als: 
bald vollzählig ein und begrüßten die Damen mit 
tabellojer Höflichkeit. Als einer der lebten trat 
Colonel Daricot herein, und von dem Augenblid an 
erfchienen alle andern wie in den Schatten geitellt. 
Er war freilid eine fehöne Ericheinung, glänzend 
gehoben durch die prächtige Uniform mit Sternen 
und Ordensbändern. 

‘a, er war es, Renate erlannte ihn auf den 
erften Blid. Und als er fich jebt, von der Hausfrau 
fort, ihr zumandte, blitte es in feinen jchwarzen 
Augen auf — erft wie juhende Erinnerung, dann 
Überrafhung und triumphierende Freude. Er ver: 
neigte fich tief vor ihr und fragte in höflichen Wen: 
dungen, ob er noch die Ehre habe, von ihr gekannt 
zu fein, da er das Glüd genofjen, längere Zeit in 
ihrem Elternhaufe als Gaft zu weilen. 

„Ih Ipredhe nicht franzöfiih!” war ihre eilige 
Antwort. 

Er lädelte. „Aber Sie verftehen es, Made: 
moifele! Und ich verftehe vollkommen deutſch, da 
ich feit über drei Jahren in diefem rauhen Lande 
umberziehe. Wir werden uns demnadh aufs treff: 
lichite verftändigen!” Er trat zurüd, reichte der Haus: 
frau den Arm und führte fie zu Tiih. Renate jaß 
ihm gegenüber und falt unausgefegt ruhten jeine 
Blide auf ihr. Die dreifte Bewunderung, die darin 
lag, erfüllte fie mit unbegrenztem Abjcheu, doch ihre 
Haltung verriet nichts als Falte Nichtadhtung. 

Er fprah eingehend von jener Berliner Zeit, 
wo er fi) mit feinem General auf dem Durchmarjch 
nach Kolberg befunden habe, und welche harte Arbeit 
die Belagerung diefer trogigen Felte gemwejen jei. Er 
erinnerte daran, mit welder hohen Bewunderung 
General Bonfanti ftets von Gneilenaus unvergleidh: 
lihem Feldherrngenie und Schills tollfühner Tapfer: 
feit geiprohen — diejer feiner chlimmften Gegner, 
welche Kolberg verteidigt und ihm die Belagerung 
jo jhwer gemadt. „Schade,” jeßte er dann leicht 
hinzu, „bamals jahb man in diefem Schill einen 
Helden, und jchließlih hat er fih als Brigand de- 
couvriert!” 

„Sie verzeihen — er war ein preußijcher Dffi: 
zier!” bemerkte Herr von Conreuth mit jcharfer Be: 
fonung. 

Der Franzofe lachte, und die Seinen ftimmten be- 
reitwilligft ein. „Tant pis pour l’armde prussienne!“ 
damit bob er fein friichgefülltes MWeinglas gegen den 
Hausherren. Ein wütender Zorn fochte in diefem auf. 
Do ehe er nod ein Wort gefunden, bog fid) Renate 
vor — totenblaß, mit Ihwarzglühenden Augen. 

„Monfieur, Sie willen,“ jagte fie mit zorn- 
bebender Stimme, „daß Sie als Saft am Tiihe 
eines preußiſchen DOffiziers fiten! Sie willen, daß 
jener Mann, defien Namen Sie ausipraden, ein Held 
war und fein Räuber! Niemand weiß es befler 
als Sie, ber die Ehre gehabt, gegen ihn zu fämpfen!” 

Sprahlos ftarrte der Franzofe fie an. Ihre 
Schönheit hatte in diefem Augenblid etwas Dämo- 
nifches, das ihn übermwältigte. Er verneigte fidh vor 
ihr. „Mademoijele — ich weiß es jegt, denn Sie 


839 


jagen e8 mir! Zhr Wort ift mir ein Evangelium! 
Nichts wäre mir jchredliher, als Shren Zorn auf 
mich zu laden! ergeben Sie mir, ich bitte darum !” 
Er wollte mit ihr anftoßen, Dod ihr Glas war leer 
und unberührt. 

„sh vergebe Ihnen!“ jagte fie im Tone weg: 
werfender Geringihägung und mit bochmütigfter 
Kopfneigung. 

3 ließ fih darauf nichts weiter jagen, und ber 
FSranzofe mußte fih geftehen, daß er eine Niederlage 
erlitten, er, der Sohn der großen Armee. Ein Race: 
gelüft flieg in feinem Herzen auf, das fich mit jeiner 
Bewunderung für das flolge, deutihe Mädchen gar 
wohl vereinigte. 

Sehr bald nad aufgehobener Tafel z0g fich 
Renate in ihre Dachlammer zurüd. Sie beichloß 
nady reiflicher Überlegung, nicht wieder bie feindlichen 
Gäfte dur) ihren Zorn zu reizen, den Colonel be 
fonders nicht mehr zu beadhten. Um fich diefe Ab: 
ficht zu erleichtern, bat fie ihren Schwager am nädjiten 
Tage um einen Pla an der anderen Seite bes 
Tiihes, der fie von dem läftigen Gegenüber befreite. 
Sonreutb fand diefen Wunih jehr gerechtfertigt. 
„Ihre zornigen Blide fallen bei ihm wie Feuerfunken 
auf Zunder, meine liebe Schwägerin,” jagte er 
ladend. „Es wird entichieden gemütlicher fein, wenn 
der Kerl erft wieder über alle Berge ift!” 

Colonel Daricot empfand es wie eine Kränkung, 
als er feine jchöne Feindin heute auf der anderen 
Seite der Tafel Plat nehmen jah. Doch ließ er 
fih’s nicht merlen und unterhielt Die Hausfrau aufs 
verbindlihite. Das Regiment follte am folgenden 
Tage weiterrüden, in PBenzlom Raft madhen, und 
Sulie erzählte ihm, daß dies die Befitung ihres 
Obeims fei. Mit lebhaften Snterefie griff er die 
Nahridt auf. — „Ein Bruder Jhres Herrn Vaters, 
der in Berlin meinem General und mir ein jo 
liebenswürdiger Gaftfreund war, den ih jo auf: 
ridhtig verehren gelernt!" Er Ipradh dies mit er: 
bobener Stimme. „Gewiß würde ih für feinen 
Bruder dasjelbe empfinden können! Wie jchade, daß 
id nur wenige Stunden dort bin! Unjer Maridh 
führt mich fogleich viele Meilen weiter! Doch werde 
ih wenigitens Grüße der jchönen Nichte an ihren 
Obeim mitnehmen bürfen?” 

Julie geftattete dies, erklärte aber zugleich, daß 
der alte Penzlower Herr ihrem Vater jehr unähnlich 
wäre, eber ein Sonberling, mit dem man Mübe 
hätte auszulommen, und der Colonel fand dies ehr 
‚beluftigend. 

Renate entfernte fi beute nicht jogleich nad) 
Tiih, jondern blieb im Salon, um ihrer Schweiter 
bei der Unterhaltung der Fremden behilflich zu fein. 
Ein ganz junger Offizier, Lieutenant Gumont, der 
bei Zifch neben Renate gejeflen und ihr in feiner 
faft Eindlih harmlojen Weije eine mildere Stimmung 
abgewonnen, juchhte auch jebt wieder ihre Nähe auf. 
Er bewunderte den Blid, welden man vom Fenfter 
aus auf See und Wald genoß, und Renate trat 
mit ihm an die offene Glasthür, um ihm einige 
bejondere Schönheiten der Ausficht zu zeigen. 

Tlöglih rief Colonel Daricot den Lieutenant, 





Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 


8410 





Ihicte ihn mit einem Auftrage kurz und bündig aus 
dem Zimmer und trat jelber an Renates Seite. In 
feinen ſchwarzen Augen fladerte ein jonderbares 
Lit. Es jhien, als wenn bie Bevorzugung, die 
feinem Untergebenen zu teil geworden, unter all 
den auf diefen Bunter gefallenen Feuerfunten der 
gefährlichite geweien wäre. 

„Mademoijele, Sie find graufam in Shren 
Strafen!” jagte er balblaut. „Meine geftrige 
Äußerung über Herrn von Schill war unbedadit! 
Habe ich nicht gleich deshalb um Berzeihung gebeten?“ 

„Sewiß,” entgegnete fie jehr fühl, „und id 
ging Sofort auf Hhren Wunjh ein! Sch verftehe 
nicht, weshalb Sie darüber noch weiter Worte ver: 
lieren!” Sie wollte fi forlmenden, do er vertrat 
ihr den Weg. 

„Weil Sie mich dennod Shre Ungnade fühlen 
laflen! — Mabemoijele — oder reicht diefelbe viel- 
leiht noch in frühere Zeit zurüd? Weil ich mid 
einft dem jchönen Rinde zu ungeflüm zu nahen ge 
wagt? Auch damals war ih im Srrtum! Gie 
waren nidt mehr jo ganz Kind als ich geglaubt, 
und ich empfing meine Strafe jofort! E& war ber 
einzige Schlag, glaube ich, den ich in meinem Leben 
erhalten! Er that weh und war doc füß zugleich! 
Mein Vergehen war aber gejühnt, Sie dürfen mir 
nicht mehr darum zürnen!” 

Renate jahb ihm mit dem eifig ftolzen Blid 
gerade in die Augen. „ch zürne Ihnen ja gar 
niht! Was wollen Sie denn eigentlih? Sie find 
mir ein völlig Fremder, nichts weiter!” 

„Mademoijelle, einem völlig Fremden würden 
Sie verbindlider entgegentommen! Shre Haltung 
mir gegenüber verrät jeden Augenblid berbe Zurüd- 
weilung!” 

Renate ließ den Blid gleichgültig an ihm vor: 
übergleiten. „Sie find ein Franzoje!” jagte fie dabei 
erklärend. 

Er fuhr auf. „Ja, das bin ich! Und das iſt 
mein höchſter Ruhm, mein größter Stolz!“ 

„Gewiß, und mit vollem Recht!“ entgegnete ſie. 
„Mit demſelben Stolz aber nenne ich mich eine 
Preußin, eine Deutſche!“ 

Ein höhniſches Lächeln ging über des Franzoſen 
Geſicht. „Auch dieſer Stolz iſt berechtigt, Mademoiſelle! 
Die deutſchen Männer — wir haben ſie kennen ge— 
lernt bei Jena und Auerſtädt — und ich kann nicht 
ſagen, daß ſie uns eine allzu übertriebene Hochachtung 
abgewonnen, ſie hätten kein Recht zu ſolchem Stolz! 
Die deutſchen Frauen aber — Madame — ſind ado- 
rable!“ 

Die Purpurwelle des Zornes ſtieg ihr unter der 
perlweißen Haut bis zu den Schläfen hinauf. „Mich 
bitte ic von diejer Allgemeinheit auszunehmen! Ich 
wünjde den Feinden meines Vaterlandes nicht ado: 
tabel zu ericheinen!” 

Er bog Sich näher zu ihr hin. Seine Augen 
flammten. „Und doch willen Sie, daß Sie es jind! 
Daß Sie Freunde und Feinde um den Verftand 
bringen können durch dieſe hochmütige Sprödigkeit! 
Sie wiſſen das! Es iſt die Koketterie einer Königin, 





841 Schwertllingen. 
welde ihre Sklaven nicht nur in Ketten, jondern auch 
in die Fefleln der Leidenſchaft geichmiedet jehen will!” 

Renate bog fich jett zurüd und ging entihlofien 
an ihm vorbei. „Monfteur, Sie entihuldigen mid) 
wohl! Diefe Art der Unterhaltung bat keinerlei Reiz 
für mi!“ bemerkte fie leichthin und ging zu ihrer 
Schweſter zurüd, ruhigen Schritte, obgleih das 
Herz ihr wie mit Hammerichlägen podhte. Der Ab: 
ſcheu gegen den Zudringlichen durchſchüttelte fie wie 
Fieberfroſt. Schon war ihr Herr von Conreuth 
entgegen gekommen, um ſie von dem Zwiegeſpräch 
zu befreien. Nun wollte er ſich dem Franzoſen 
nähern, doch dieſer ſah ihn nicht. Eine wahre Wut 
durchloderte ihn, rachedürſtender Haß und heißhungrige 
Leidenſchaft. Es war ihm, als könnte er lachend 
ſein Leben von ſich werfen, um nur einmal dieſes 
ſchöne, trotzige Geſchöpf an fich reißen und in ſeinen 
Armen halten zu dürfen, ſich zu rächen und ſie zu 
lieben! 

Er ſtürzte hinaus ins Freie, als verſengte die 
Luft ihm das Hirn — die Luft, in welcher ſeine 
Feindin, die heiß bewunderte, atmete und über ihn 
hinwegſah, und ihn zu verachten wagte! 


IV. 


Sie waren fort! D, welche Erleichterung! — 
Zwar hatte man bereits reichlichen Erſatz angemeldet 
und es mochte noch lange dauern, bis der ganze 
Schwarm vorbeigezogen war, der ſich nach der ruſfi⸗ 
ſchen Grenze hin zuſammendrängen ſollte, aber man 
konnte dazwiſchen doch aufatmen! — Und wenn die 
neuen Ankömmlinge erſchienen, Daricot war nicht 
darunter! Dies allein galt für Renate als Erlöſung. 
Die ganze große Armee wollte ſie lieber an ſich 
vorbeiziehen jehen, als ihm nur einmal wieder be- 
gegnen! 

„Kind, Du gehlt zu weit in Deiner Entrüftung 
über ihn!“ meinte Frau Julie, weldhe nichts als 
Höflichleiten von dem Colonel erfahren. „Ganz To 
arg war er denn doc nicht!” 

„Na, laß nur gut fein!” meinte Herr von Con: 
reuth. „Ein gefährlider Satan ift er immerhin! 
Mit folder brutalen Leidenjchaftlichkeit ift niemals 
zu ſpaßen!“ 

Renate ſah ihn nachdenklich an und ihre Stirn 
zog fich in Falten. „Müſſen Sie wirklich morgen 
zur Stadt, Schwager Paul, ſo nehmen Sie mich 


mit!“ bat ſie. „Ich möchte nicht hierbleiben! Ich 
wollte, Papa wäre erſt wieder zurück! So lange 
beabſichtigte er ja gar nicht fort zu ſein! Es quält 


und beunruhigt mich alles ſo!“ 

Der liebevolle Schwager ſtreichelte beruhigend 
ihre Hand. „Laſſen Sie nicht das Köpfchen hängen, 
liebe kleine Schwägerin, das paßt gar nicht zu Ihnen! 
Wie tapfer ſind Sie gegen den Franzoſen zu Felde 
gezogen und nun wollen Sie die Flucht ergreifen? 
Nach der Stadt können Sie mich unmöglich begleiten, 
dort ſind mehr franzöſiſche Soldaten als Ziegel auf 
den Dächern!“ 


Ramansfeitung 1896. 


Roman von Hans Werder. 


8412 


„Run, und Papa können wir ja täglid zurüd- 
erwarten,” feßte Julie hinzu, „möglicherweije fährft 
Du ihm aus dem Wege, wenn Du jett fortgehlt!” 

Renate feufzte und ergab fi) ins Unvermeidliche. 

Paul Conreuth war fort, die beiden trafen Vor: 
bereitungen für die Ankunft ber neuen Einquartierung. 
Da fahen fie vom Feniter aus einen Wagen in den 
Hof fahren. „Das wird Papa fein!” rief Renate 
freudig. 

„Nein — wie merkwürdig!” meinte Frau Julie 
gedehnt — „das ift ja der alte Rumpellaften aus 
Benzlow! Db uns Onkel Auguft bejuden will? 
Aber der pflegt doch feinen Meinen Pirfchwagen zu 
benugen! Seltiam!“ 

hr Staunen wuchs, als fich aus der Penzlower 
Glastutihe ein franzöfiicher Offizier entwidelte, der 
fih alsbald den Damen melden ließ. Ein fremder 
Name, ein fremdes Geficdht, aber ein jugendliches und 
wenig aufregendes. Der junge Mann verbeugte fich 
artig und erzählte, daß er von dem Penzlower Haus: 
herrn ein Schreiben an eine der Damen abzugeben 
babe! Es fei heute früh ber Bruder des Monfieur 
de Veldegg angelommen, er babe aber ein Unglüd 
mit dem Wagen gehabt, Arm und Bein gebrochen, 
läge im Penzlower Haufe jchwer Frank bdanieber 
und eine der Damen möchte fommen, ihn zu pflegen! 

Renate that einen Schrei des Entjegens. So 
batte fie es alfo ahnend gewußt und gefühlt, daß 
ber geliebte Vater fih in Gefahr befunden! 

Der junge Offizier 309 einen Brief hervor und 
überreichte ihn. Er war von Onkel Augufts Hand 
verfaßt und feiner Cigentümlichleit entiprechend 
„on des Fräulein Renate von Veldegg Gnaden zu 
Tiefenjee“ überjchrieben. 

„Liebe Nichte,” hieß es3 im Tert, „bier ift ein 
Malheur paffiert! Der gütige Überbringer teilt 
Dir das Nähere mit und ridtet Dir den Wunfch 
Deines Vaters aus. Wir erwarten Dich mit Un: 
geduld. Dein Obeim 

garıy gehorjamit 
von Veldegg⸗Penzlow.“ 

Renates Augen ſtanden voller Thränen. „Wie 
ſchrecklich iſt dies!“ rief ſie angſtvoll. „Mein armer 
Papa! Ich muß ſchnell hin — natürlich!“ 

Julie betrachtete den ſeltſamen Brief von allen 
Seiten. Stil und Handſchrift des Onkels waren 
über jeden Zweifel erhaben. „Pardon, Monſieur,“ 
lagte fie aufblidend, „wie geht es zu, daß Sie ſich 
zum Überbringer dieſer Votſchaft hergaben? Es iſt 
ſehr gütig von Ihnen, aber aus welcher Veranlaſſung 
geſchieht es?“ 

Der Franzoſe ließ ſeine kühlen, gleichgültigen 
Augen von einer zur andern ſchweifen. „Monſieur 
Veldegg bat mich darum! Unſere Truppen durch—⸗ 
ziehen die Gegend überall — man würde ſchwerlich 
eine allein reiſende junge Dame unbehelligt paſſieren 
laſſen! Sitzt aber ein franzöſiſcher Offizier im Wagen, 
ſo iſt ſie vor jeder Unbequemlichkeit geſichert! Ich 
habe ſeit einer Reihe von Tagen die Gaſtfreundſchaft 
des alten Herrn genoſſen, der Unfall ſeines Bruders 
hat uns alle mit Bedauern erfüllt, warum ſollte ich 
den beiden Herren nicht die Gefälligkeit erzeigen!“ 


IV, 59 


Sonnen 


fagen es mir! Ihr Wort iſt mir ein Evangelium! 
Nichts wäre mir ſchrecklicher, als Ihren Zorn auf 
mich zu laden! Vergeben Sie mir, ich bitte darum!“ 
Er wollte mit ihr anſtoßen, doch ihr Glas war leer 
und unberührt. 

„Ich vergebe Ihnen!“ ſagte ſie im Tone weg— 
werfender Geringſchätzung und mit hochmütigſter 
Kopfneigung. 

Es ließ ſich darauf nichts weiter ſagen, und der 
Franzoſe mußte ſich geſtehen, daß er eine Niederlage 
erlitten, er, der Sohn der großen Armee. Ein Rache⸗ 
gelüſt ſtieg in ſeinem Herzen auf, das ſich mit ſeiner 
Bewunderung für das ſtolze, deutſche Mädchen gar 
wohl vereinigte. 

Sehr bald nach aufgehobener Tafel zog ſich 
Renate in ihre Dachkammer zurück. Sie beſchloß 
nach reiflicher Überlegung, nicht wieder die feindlichen 
Gäſte durch ihren Zorn zu reizen, ben Colonel be 
fonders nicht mehr zu beachten. Um fidh diefe Ab: 
ficht zu erleichtern, bat fie ihren Schwager am nädjiten 
Tage um einen Pla an der anderen Seite bes 
Tiiches, der fie von dem läftigen Gegenüber befreite. 
Sonreuthb fand bdiefen Wunih jehr gerechtfertigt. 
„Ihre zornigen Blide fallen bei ihm wie Feuerfunten 
auf Zunder, meine liebe Schwägerin,” jagte er 
ladend. „Es wird entihieden gemütlicher fein, wenn 
der Kerl exit wieder über alle Berge ift!” 

Colonel Daricot empfand es wie eine Kränkung, 
als er feine jchöne Feindin heute auf der anderen 
Seite der Tafel Plat nehmen jah. Doch ließ er 
fih’s nicht merken und unterhielt die Hausfrau aufs 
verbindlichfte. Das Regiment follte am folgenden 
Tage weiterrüden, in Benzlomw Raft maden, und 
Ssulie erzählte ihm, daß dies die Belißung ihres 
Dbeims fei. Mit Iebhaftem Sinterefie griff er Die 
Nahriht auf. — „Ein Bruder Shres Herren Vaters, 
der in Berlin meinem General und mir ein jo 
liebenswürbdiger Gaftfreund war, den ih jo auf: 
richtig verehren gelernt!" Er Ipradh Dies mit er: 
bobener Stimme. „Gewiß würde ich für feinen 
Bruder dasjelbe empfinden können! Wie jchade, daß 
id nur wenige Stunden dort bin! Unjer Mari 
führt mich fogleich viele Meilen weiter! Doch werde 
ih wenigftens Grüße der jchönen Nichte an ihren 
Dbeim mitnehmen dürfen?“ 

Julie geitattete dies, erklärte aber zugleih, daß 
der alte PBenzlower Herr ihrem Vater fehr unähnlich 
wäre, eber ein Sonderling, mit dem man Mühe 
hätte auszufommen, und der Colonel fand dies jehr 
‚beluftigend. 

Renate entfernte fih heute nicht jogleih nad 
Tiih, fondern blieb im Salon, um ihrer Schweiter 
bei der Unterhaltung der Fremden behilflich zu fein. 
Ein ganz junger Offizier, Lieutenant Gumont, der 
bei Tisch neben Renate geſeſſen und ihr in feiner 
faft Findlih harmlojen Weije eine mildere Stimmung 
abgewonnen, juchte auch jett wieder ihre Nähe auf. 
Er bewunderte den Blid, welhen man vom Fenfter 
aus auf See und Wald genoß, und Renate trat 
mit ihm an die offene Glasthür, un ihm einige 
bejondere Schönheiten der Ausficht zu zeigen. 

Plöglih rief Colonel Daricot den Lieutenant, 


Roman von Hans Werder. 


—— — ö— — — — m rn en ———————— 


840 











ſchickte ihn mit einem Auftrage turz und bündig aus 
dem Zimmer und trat ſelber an Renates Seite. In 
ſeinen ſchwarzen Augen fladerte ein ſonderbares 
Licht. Es ſchien, als wenn die Bevorzugung, die 
ſeinem Untergebenen zu teil geworden, unter all 
den auf dieſen Zunder gefallenen Feuerfunken der 
gefährlichſte geweſen wäre. 

„Mademoiſelle, Sie ſind grauſam in Ihren 
Strafen!“ lage er Halblaut. „Meine geftrige 
Äußerung über Herrn von Schill war unbebadit! 
Habe ich nicht gleich deshalb um Verzeihung gebeten?“ 

„Gewiß,“ entgegnete fie jehr fühl, „und ih 
ging fofort auf Zhren Wunfh ein! Sch verftehe 
nicht, weshalb Sie darüber noch weiter Worte ver- 
lieren!” Sie wollte fi forimenden, doc er vertrat 
ihr den Weg. 

„Weil Sie mid dennodh Ahre Ungnabe fühlen 
laffen! — Mademoijelle — oder reicht diejelbe viel- 
leiht nod in frühere Zeit zurüd? Weil ich mid 
einft dem jchönen Finde zu ungeftüm zu nahen ge- 
wagt? Audh damals war ih im Irrtum! Sie 
waren nidt mehr jo ganz Kind als ich geglaubt, 
und ich empfing meine Strafe fofort! Es war ber 
einzige Schlag, glaube ich, den ich in meinem Leben 
erhalten! Er that weh und war dod fü zugleich! 
Mein Vergehen war aber gejühnt, Sie dürfen mir 
nit mehr darum zürnen!” 

Renate jah ihm mit dem eifig ftolzen Blid 
gerade in die Augen. „Sch zürne Shnen ja gar 
niht! Was wollen Sie denn eigentlih? Sie find 
mir ein völlig Fremder, nichts weiter!” 


„Mademoijelle, einem völlig Fremden würden 
Sie verbindlider entgegenlommen! Ihre Haltung 
mir gegenüber verrät jeden Augenblid berbe Zurüd: 
weilung!” 

Renate ließ den Blid gleihgültig an ihm vor- 
übergleiten. „Sie find ein Sranzoje!” fagte fie dabei 
erklärend. 

Er fuhr auf. „Sa, das bin ih! Und das ift 
mein bödfter Ruhm, mein größter Stolz!“ 

„Sewiß, und mit vollem Recht!” entgegnete fie. 
„Mit demjelben Stolz aber nenne ich mich eine 
Preußin, eine Deutiche!” 

Ein böhnifches Lächeln ging über bes Franzofen 
Gefidt. „Auch diefer Stolz ift berechtigt, Mademoifelle! 
Die deutihen Männer — wir haben fie kennen ge 
lernt bei Jena und Auerfläbt — und id Tann nicht 
lagen, daß fie uns eine allzu übertriebene Hodhadhtung 
abgewonnen, fie hätten fein Recht zu joldem Stolz! 
Die deutihen Frauen aber — Madame — find ado- 
rable!“ 

Die Purpurmelle des Zornes ftieg ihr unter der 
perlweißen Haut bis zu den Schläfen hinauf. „Mid 
bitte ih von diejer Allgemeinheit auszunehmen! Ich 
wünjde den Feinden meines Vaterlandes nicht ado- 
rabel zu erſcheinen!“ 

Er bog ſich näher zu ihr hin. Seine Augen 
flammten. „Und doch wiſſen Sie, daß Sie es ſind! 
Daß Sie Freunde und Feinde um den Verſtand 
bringen können durch dieſe hochmütige Sprödigkeit! 
Sie wiſſen das! Es iſt die Koketterie einer Königin, 


841 Schwertklingen. 
welche ihre Sklaven nicht nur in Ketten, ſondern auch 
in die Feſſeln der Leidenſchaft geſchmiedet ſehen will!“ 

Renate bog ſich jetzt zurück und ging entſchloſſen 
an ihm vorbei. „Monſieur, Sie entſchuldigen mich 
wohl! Dieſe Art der Unterhaltung hat keinerlei Reiz 
für mich!“ bemerkte ſie leichthin und ging zu ihrer 
Schweſter zurück, ruhigen Schrittes, obgleich das 
Herz ihr wie mit Hammerſchlägen pochte. Der Ab: 
ſcheu gegen den Zudringlichen durchſchüttelte ſie wie 
Fieberfroſt. Schon war ihr Herr von Conreuth 
entgegen gekommen, um ſie von dem Zwiegeſpräch 
zu befreien. Nun wollte er ſich dem Franzoſen 
nähern, doch dieſer ſah ihn nicht. Eine wahre Wut 
durchloderte ihn, rachedürſtender Haß und heißhungrige 
Leidenſchaft. Es war ihm, als könnte er lachend 
ſein Leben von fich werfen, um nur einmal dieſes 
ſchöne, trotzige Geſchöpf an ſich reißen und in ſeinen 
Armen halten zu dürfen, fich zu rächen und ſie zu 
lieben! 

Er ſtürzte hinaus ins Freie, als verſengte die 
Luft ihm das Hirn — die Luft, in welcher ſeine 
Feindin, die heiß bewunderte, atmete und über ihn 
hinwegſah, und ihn zu verachten wagte! 


IV. 


Sie waren fort! O, welche Erleichterung! — 
Zwar hatte man bereits reichlichen Erſatz angemeldet 
und es mochte noch lange dauern, bis der ganze 
Schwarm vorbeigezogen war, der ſich nach der ruſſi⸗ 
ſchen Grenze hin zuſammendrängen ſollte, aber man 
konnte dazwiſchen doch aufatmen! — Und wenn die 
neuen Ankömmlinge erſchienen, Daricot war nicht 
darunter! Dies allein galt für Renate als Erlöſung. 
Die ganze große Armee wollte ſie lieber an ſich 
vorbeiziehen ſehen, als ihm nur einmal wieber be- 
gegnen! 

„Kind, Du gehſt zu weit in Deiner Entrüſtung 
über ihn!“ meinte Frau Julie, welche nichts als 
Höflichkeiten von dem Colonel erfahren. „Ganz ſo 
arg war er denn doch nicht!“ 

„Na, laß nur gut ſein!“ meinte Herr von Con⸗ 
reuth. „Ein gefährlicher Satan iſt er immerhin! 
Mit ſolcher brutalen Leidenſchaftlichkeit iſt niemals 
zu ſpaßen!“ 

Renate ſah ihn nachdenklich an und ihre Stirn 
zog fich in Falten. „Müſſen Sie wirklich morgen 
zur Stadt, Schwager Paul, ſo nehmen Sie mich 
mit!” bat ſie. „Ich möchte nicht hierbleiben! Ich 
wollte, Papa wäre erſt wieder zurück! So lange 
beabſichtigte er ja gar nicht fort zu ſein! Es quält 
und beunruhigt mich alles ſo!“ 

Der liebevolle Schwager ſtreichelte beruhigend 
ihre Hand. „Laſſen Sie nicht das Köpfchen hängen, 
liebe kleine Schwägerin, das paßt gar nicht zu Ihnen! 
Wie tapfer ſind Sie gegen den Franzoſen zu Felde 
gezogen und nun wollen Sie die Flucht ergreifen? 
Nach der Stadt können Sie mich unmöglich begleiten, 
dort ſind mehr franzöſiſche Soldaten als Ziegel auf 
den Dächern!“ 


Reman⸗Zeltung 1806. 


Roman von Hans Werder. 


5 — — ze re u — — 
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842 


„Run, und Papa können wir ja täglich zurüd- 
erwarten,” jegte Julie Hinzu, „möglicherweije fährit 
Du ihm aus dem Wege, wenn Du jebt fortgehit!” 

Renate jeufzte und ergab fich ins Unvermeidliche. 

Paul Conreuth war fort, die beiden trafen Vor: 
bereitungen für die Ankunft der neuen Einquartierung. 
Da jahen fie vom Fenfter aus einen Wagen in den 
Hof fahren. „Das wird Papa fein!” rief Renate 
freudig. 

„Nein — wie merkwürdig!” meinte Frau Julie 
aedehnt — „das ift ja der alte Rumpellaften aus 
Benzlow! Db uns Dntel Auguft befuden will? 
Aber der pflegt doch feinen Meinen Pirfchwagen zu 
benugen! Seltjam!“ 

hr Staunen wudhe, als fi aus der Penzlower 
Glaskutſche ein franzöſiſcher Offizier entwidelte, ber 
fih alsbald den Damen melden ließ. Ein fremder 
Name, ein fremdes Geficht, aber ein jugendliches und 
wenig aufregendes. Der junge Mann verbeugte fich 
artig und erzählte, daß er von dem Penzlower Haus: 
beren ein Schreiben an eine der Damen abzugeben 
babe! E38 fei heute früh der Bruder des Monfieur 
be Veldegg angelommen, er babe aber ein Unglüd 
mit dem Wagen gehabt, Arm und Bein gebrochen, 
läge im Penzlower Haufe jchwer krank danieder 
und eine der Damen möchte fommen, ihn zu pflegen! 

Renate that einen Schrei des Entjegens. So 
batte fie es aljo ahnend gewußt und gefühlt, daß 
der geliebte Vater fih in Gefahr befunden! 

Der junge Offizier 30g einen Brief hervor und 
überreidte ihn. Er war von UOntel Augufts Hand 
verfaßt und feiner Cigentümlichleit entiprecdhend 
„an des Fräulein Renate von Veldegg Gnaden zu 
Tiefenſee“ überichrieben. 

„Liebe Nichte,“ hieß es im Text, „bier ift ein 
Malheur paffiert! Der gütige Überbringer teilt 
Dir das Nähere mit und richtet Dir den Wunfch 
Deines Vaters aus. Wir erwarten Dich mit Un: 
geduld. Dein Obeim 

ganz gehorjamft 
von BVeldegg-Penzlom.” 

Renates Augen ftanden voller Thränen. „Wie 
Ichredlich ift dies!” rief fie angfitvol. „Mein armer 
Papa! Ich muß ſchnell Hin — natürlich!“ 

Julie betrachtete den ſeltſamen Brief von allen 
Seiten. Stil und Handſchrift des Onkels waren 
über jeden Zweifel erhaben. „Pardon, Monſieur,“ 
ſagte fie aufblickend, „wie geht es zu, daß Sie ſich 
zum Überbringer dieſer Botſchaft hergaben? Es iſt 
ſehr gütig von Ihnen, aber aus welcher Veranlaſſung 
geſchieht es?“ 

Der Franzoſe ließ ſeine kühlen, gleichgültigen 
Augen von einer zur andern ſchweifen. „Monfieur 
Veldegg bat mich darum! Unſere Truppen durch— 
ziehen die Gegend überall — man würde ſchwerlich 
eine allein reiſende junge Dame unbehelligt paſſieren 
laſſen! Sitzt aber ein franzöſiſcher Offizier im Wagen, 
ſo iſt ſie vor jeder Unbequemlichkeit geſichert! Ich 
habe ſeit einer Reihe von Tagen die Gaſtfreundſchaft 
des alten Herrn genoſſen, der Unfall ſeines Bruders 
hat uns alle mit Bedauern erfüllt, warum ſollte ich 
den beiden Herren nicht die Gefälligkeit erzeigen!“ 


IV. 59 


843 Schmwertllingen. Roman von Hans Werber. 844 
„Bewiß, es ift jehr liebenswürdig von Shnen! | fangenmwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn 
Mollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!” | fie fein ſpähendes Geſicht wieder erblicte, erſchien 


Damit verließ Renate das Zimmer. AYulie folgte ihr. 

„Kind — Du denfft doch nicht im Ernit daran, 
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“ 

„Gewiß nit! SKannft Du mich nicht begleiten, 
liebe Sulie, jo nehme ich Mademoijelle mit mir als 
Schuß! Hin muß ich elbftverftändlich!” 

„Leider, leider Tann ih nicht mit!” feufzte 
Julie. „OD, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen 
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der 
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten 
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und 
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“ 

Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge— 
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht, 
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten 
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine 
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel, 
— ihn darum bitten!“ 

„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be— 
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo 
ſchreibe ich an Hans Bruünnow, der thut es fiber 
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede, 
Du Heiner Duerlopf!” Damit ging fie, ihre Abficht 
auszuführen. Nenate mußte fi fügen, obſchon fie 
es unverantwortlid fand, daß man ben Franken 
Vater ftundenlang jollte warten laflen. 

Der Franzofe nahm die Nachricht diejer Ber: 
zögerung gleihmütig entgegen. Er feßte fich vor die 
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen 
Smbiß, raudhte und wartete geduldig. Der Kuticher 
mußte die Pferde losfträngen und füttern — vor ber 
Hausthür. Entfernen durfte er fih nit. „Monfleur 
Veldegn bat es jo beitimmt,“ erklärte der Franzoſe. 

„Endlih fam der Bote aus Buggendorf zurüd. 
Herr von Brünnow war nicht zu Haufe. — 

„Run, jo fahre ich allein!” erklärte Renate. 
„3% Tenne denn doch jchlieglich meine Pflichten als 
Tochter, und nichts wird mich länger von bdenjelben 
zurüdhalten!” 

„sh gebe e8 furchtbar ungern zu!” feufzte 
Julie. „Nun, Daricot wenigftens ift nicht mehr 
dort, injofern kann ich beruhigt fein!“ 

„a, völlig! Ah Ichide Dir nod heute Nadı- 
richt, wie es Papa geht und was aus mir geworden 
it!” verjpradh Renate, indem fie das Gefährt beftieg. 
Mademoifelle nahm an ihrer Seite Pla. Der 
Sranzoje jette fih auf den Bod, da fein Rauden 
die Damen genieren würbe, und fort ging die Fahrt 
in größter Geichwindigfeit. Wie der alte Klapper: 
taften ftieß und fchüttelte! Mademoijelle ftöhnte 
jämmerlih, do Renate bemerkte es faum. Eine 
dumpfe Angft laftete auf ihrer Seele. Sie galt dem 
Bater und einzig nur ihm! 

Ab und zu Ichaute der Franzoje zurüdgebeugt 
durch die Glasjcheibe in den Wagen. Weshalb nur? 
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder ®e: 


dasjelbe ihr widerwärtiger, unbeimlicher. 

„Mein Gott — wäre ih doch nicht mitgefahren!” 
brah es endlich in Herzensangft von ihren Lippen. 
Mademoijelle begann zu fchlucdhgen und wirkte da— 
durh um jo beunrubigender. 

immer eiliger, ungeftümer ging die $ahrt, immer 
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger Ichaute 
das Spiongelicht herein. Endlich bog der Wagen in 
den Venzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen, 
waldunmtaufhten Herrenhaufe. Ein franzöfticher 
Dffizier trat heraus, riß den Wagenjhlag auf und 
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er. 

„a, ja, die bin ih, wie geht es meinem 
Bater?” 

„Schlecht — denn er verzehrt fih vor Sehn: 
Juht nah Ihnen! Mein Name ift Rovaint! Darf 
ich die Ehre haben, Mademoifelle hinauf zu begleiten?“ 
Er 30g fie bei diefen Worten mit fanfter Beſtimmt⸗ 
beit aus dem Wagen. 

Renate zögerte. „Wo ift denn mein Ontel? 
3b möchte ihn wenigftens gern erft jehen!“ 

„Monfieur Veldegg ift oben — fommen Sie 
nur, man erwartet Sie jehnlidfi!” Er nahm ihren 
Arm feit in den feinen und 309 fie ins Haus. Ale 
die Thür binter ihr zufiel, jchraf fie auf mit 
leihtem Schrei. Mabdemoifelle blieb ihr zur Seite. 

„Sie find nervös, Madame!“ lächelte der 
Stanzofe. Er führte fie die Treppe hinauf und be- 
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel 
abzunehmen. 

Seht öffnete er eine Thür. „Entrez, ma- 
demoiselle! hr Vater ift bier!” Es war ein halb: 
dunflee Gemah, die Feniter fjorgiam verhüllt. 
Eiligft überjchritt Renate die Schwelle. 

Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat 
zurüd und jchlug die Thür zu. Sie hörte, wie 
er den Schlüffel herumbdrebte und abzog — hörte, 
wie die Franzöfin fi zur Wehr fegte, ihr Lands: 
mann auf fie einfprad — Tritte und Stimmen fi 
dann rafch entfernten. 

Nenate Stand allein. 

Mit ftarren Augen blidte fie umber, mit 
Augen, welde fich jchnel an das Dämmerlicht ge: 
wöhnten und ihre Umgebung zu erlennen ver: 
mochten. 

hr Vater befand fich nit bier — das jah fie 
zunächſt. 

Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer. 
Uniformftüde, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran: 
zöffihe Dragoneruniform, mie fie Daricot getragen. 
Ein jüßlihes Parfüm wehte ihr entgegen, das fie 
aufdringlich deutlih an jenen verhaßten Moment in 
Berlin erinnerte, welches fie wieder gejpürt, als ihr 
türzlid an der Ballonthür in Tiefenjee Daricot den 
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! — 


(Schluß folgt.) 


845 


Beiblatt ber Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





846 








Beiblatt der Dentſchen Roman-geitung. 


Seſam. 


Es liegt an heimlich, verſchwieg'nem Ort 
Im Wald verborgen ein ſeltner Hort, 
Den Zugang wehrt ein eiſernes Thor, 
Es wuchert rankend Geſtrüpp davor. 


Den Riegel öffnet nicht Zwinggewalt, 
Der Arthieb dröhnend daran verhallt, 
Die roſt'gen Angeln erbeben nicht, 

Kein ſprengend Eiſen den Bann zerbricht. 


Doch wer da findet das Zauberwort, 
Der ſtehet harrend nicht lange dort, 
Dem öffnet lautlos ſich Thür und Schloß, 
Er blickt hinein in der Tiefe Schoß. 


Ihm dringt entgegen ein Glimmerſchein 
Von flammenſprühendem Edelſtein, 

Ein leuchtend Glühen von rotem Gold 

Als ob's die Augen ihm blenden wollt'. 


So geht die Sage, — ich fand das Wort, 
Das mir erſchloſſen den Zauberhort: 

Was edleren Wertes als ſchimmernd Erz, 
Mein eigen ward es — ein Menſchenherz. 


A. Hiuckeldeyn. 


Das freudige Teſtament. 
Bon Karl Pröll. 
I. 


Graues, zerraufteg Gewölf hing vom Morgenhimmel 
herab und verfing fi in den blaudunflen Wäldern und in 
den alten Sirchentürmen. Über die ftaubigen Landwege 
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nadj= 
eilten 

Auch die Vögel blieben als Langfiger in ihren Zweigen 
und Büjchen fteden, piepften nur mandmal gedanfenlos 
einen Ton vor fih hin. Do die Fıöide in dem vers 
fumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelsmufif an mit 
unbegrenzter Hingabe an den Mißklang. 

An diefe Krüppelwelt der Farben und verdrießlicdhen 
Raute marfchierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll 
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in 
denen man ben Streiß feiner Spaziergänge und Zufallds 
befanntichaften ausdehnt, während das höhere Menjchenalter 
fie immer mehr einengt. Noch jpürte er feine Sorgennerven 
und fühlte fi nicht von dem ftarfen Duft der Linden be- 
ichwert, der von verfallenen Gräbern weiterzog. Inter der 
MWefte trug er die nie fich verjpätende Uhr gefunden Hungers 
und Durftes, die das Zifferblatt verichmäht. 


zumeift gefochte, gebadene und gefchmalzene Wahrheiten nad) | 


angenehmer Ermüdung. Am feine Ohren jummten bie 
MWeipen wie lauter Glüdöverheißungen. 


— 


Hugo Wieperl, der fhulfreie Sekundaner, unternahm 
die Entdedungsreife zu dem Meierhofe, der die Apothefers 
familie mit Mil zu verforgen pflegte. 

Die Pächtersfrau, bie unverwäflerte Mil ablieferte, 
hatte Hugo befonders in ihr Gemüt gefchloffen, weil er fo 
freundlich zu neden verftand. Sie hatte ihn vor einigen 
Zagen zum Befuh ihrer Wirtfhaft eingeladen und ihm 
hmadhaftee Schwarzbrot und gute Butter verfprocen. 
Solden triftigen Gründen Eonnte der GSefundaner, der 
fihtlih an Länge und Appetit zunahm, nicht widerftehen. 
Die Seele dem Butterbrotibeal zugewendet, lachte er die 
griesgrämige Morgenlandichaft aus und empfand dag Vor: 
behagen de3 erwarteten Genuffes. 

Die Kornfelder waren bereit abgemäht, zwifdhen den 
Stoppeln weideten Gänfe und fchoppten fi mit den Itegen- 
gebliebenen hren. Sie vergaßen in ber emfigen Arbeit 
faft das Echnattern. Dafür fang die barfüßige Hirtin im 
roten Rödlein defto falfcher beliebte Wolfgweifen. Weil 
Hugo fi in Disharmonien ihr mindefteng ebenbürtig mußte, 
entipann ji) bald ein Wettgefang, der die Stimmen in 
tollfter Weife überpurzeln ließ. Der unerhörte Lärm ärgerte 
die Sonne hervor, die einen Augenblick zwifchen zwei Wolfen: 
fegen durdblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer: 
felder neigten fid) ergebenft vor der Herrin und flüfterten 
nad) Höflingsweife: „Ein ganz verrüdtes Volk, Durd: 
lauchtigfte !* 

Zögernd hielt Hugo ftil. Er wollte die gänfehütende 
Sangeöfreundin etwas beffer fennen lernen. Anderſeits 
wintte unter dem fernen Rauchipiel über Ziegel: und Stroh: 
dädhern der Morgenimbiß. Endlich entichieb fih der Se- 
fundaner in feiner Griedenart: „Das Butterbrot läuft mir 
nit fort. Auch fönnte ih ja den Weg verfehlt haben. 
Nachfrage jchabet niemals.” 

Alſo lief er querfeld», mitten unter die Gänfe hinein, 
die zornig ihre Schnäbel öffneten und fchwerfällig tapften 
und zeterten. Auch die hellblonde, jommerjproffige Hirtin 
erfchraf und ftredte unmwillfürlidy beide Hände und Die Gerte 
vor. Hugo jedody fragte unbefümmert: „Geht Hier der 
Weg nah dem Breleuthnner Meierhofe?” 

„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie 
gelommen,“ antwortete das halbwüchfige Dorfmädchen, die 
den ftädtijch gefleideten jungen Mann neugierig mufterte. 

„Schön, dag wollte ih nur willen,“ fagte Hugo und 
ftieß rüdwärts mit dem Tuße, um eine tapfere Gans weg⸗ 
zufcheuchen, die fih zum Angriff rüftete. „Sch will mich 
ein wenig ausruhen und wir wollen nod) etwas zufammen 
fingen. Wie beißt Du, blonde Here?“ 

„sh bin Sohanna getauft und Hanni genannt, bin 
aber feine Hexe,” gab fie halb zürnend zurüd. 

„Das meinte ih nicht übel. Auch meine Schwefter 
Marie rufe id Here. 8 Klingt ein bißchen Iuftig und man 
weiß nody nit, ob die Weiber in den Hinmel oder in bie 


Er begehrte | Hölle fahren.“ 


„SH will in ben Himmel kommen. sreilih muß ich 
dann nod) braver werden. Sagt alfo lieber zu mir Hanni. 
Und fchlagt mir nicht die Gänje.* 


843 Schwertklingen. 


— — — 


„Gewiß, es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen! 
Wollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!“ 
Damit verließ Renate das Zimmer. Julie folgte ihr. 

„Kind — Du denkſt doch nicht im Ernſt daran, 
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“ 

„Gewiß nicht! Kannſt Du mich nicht begleiten, 
liebe Julie, ſo nehme ich Mademoiſelle mit mir als 
Schutz! Hin muß ich ſelbſtverſtändlich!“ 

„Leider, leider kann ich nicht mit!“ ſeufzte 
Julie. „O, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen 
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der 
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten 
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und 
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“ 

Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge— 
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht, 
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten 
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine 
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel, 
— ihn darum bitten!“ 

„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be— 
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo 
ſchreibe ich an Hans Brünnow, der thut es ſicher 
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede, 
Du kleiner Querkopf!“ Damit ging ſie, ihre Abficht 
auszuführen. Renate mußte ſich fügen, obſchon ſie 
es unverantwortlich fand, daß man den kranken 
Vater ſtundenlang ſollte warten laſſen. | 

Der Franzofe nahm die Nachricht diefer Ber: 
zögerung gleichmütig entgegen. Er febte ſich vor die 
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen 
Smbiß, raudte und wartete geduldig. Der Kutfcher 
mußte die Pferde losfträngen und füttern — vor ber 


Hausthür. Entfernen durfte er fi nit. „Monfleur | 


Veldegg bat es jo beftimmt,” erklärte der Franzofe. 

„Endlich kam der Bote aus Buggendorf zurüd. 
Herr von Brünnow war nicht zu Haufe. — 

„Run, jo fahre ich allein!” erklärte Renate. 
„3% Tenne denn doc jchlieglich meine Pflichten als 
Tochter, und nichts wird mich länger von bdenfelben 
zurüdhalten!” 

„Sh gebe es furchtbar ungern zu!” feufzte 
Sulie. „Nun, Daricot wenigftens ift nicht mehr 
dort, injofern kann ich beruhigt fein!“ 

„a, völlig! Ach Ichide Dir noch heute Nach: 
richt, wie e8 Papa geht und was aus mir geworden 
it!” veriprad) Renate, indem fie das Gefährt beftieg. 
Mademoifele nahm an ihrer Seite Plat. Der 
Sranzoje fette fih auf den Bod, da fein Rauden 
die Damen genieren würde, und fort ging die Fahrt 
in größter Gejchwindigkeit. Wie der alte Klapper: 
faften ftieß und fchüttelte! Mabemoijelle ftöhnte 
jämmerlih, doch Renate bemerkte es kaum. Eine 
dumpfe Angft laftete auf ihrer Seele. Sie galt dem 
Bater und einzig nur ihm! 

Ab und zu fchaute der Franzofe zurüdgebeugt 
dur die Glasjcheibe in den Wagen. Weshalb nur? 
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder Ge: 


Roman von Hans Werder. 


844 


fangenwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn 
fie fein Ipäbendes Geficht wieder erblidte, erichien 
dasjelbe ihr widerwärtiger, unheimlicher. 

„Mein Gott — wäre ich doch nicht mitgefahren!” 
brah es endlich in Herzensangft von ihren Lippen. 
Mademoifelle begann zu Ihludzen und wirkte ba- 
dur um jo beunrubigender. 

S$mmer eiliger, ungeftümer ging die Fahrt, immer 
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger Ichaute 
das Spiongefiht herein. Endlich bog der Wagen in 
den Penzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen, 
waldumraufhten SHerrenhaufe. Ein franzöftiicher 
Dffizier trat heraus, riß den MWagenfchlag auf und 
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er. 

„Sa, ja, die bin id, wie geht es meinem 
Vater?” 

„Schlecht — denn er verzehrt fih vor Sehn⸗ 
judt nah Ihnen! Mein Name ift Rovaint! Darf 
ich die Ehre haben, Mademoijelle hinauf zu begleiten?” 
Er 308 fie bei diefen Worten mit janfter Beftimmt- 
beit aus dem Wagen. 

Renate zögerte. „Mo ift denn mein Ontel? 
Ich möchte ihn wenigftens gern erft jehen!” 

„Monfieur Veldegg it oben — kommen Sie 
nur, man erwartet Sie jehnlihft!" Er nahm ihren 
Arm feit in den feinen und 308 fie ins Haus. Als 
die Thür Hinter ihr zufiel, Schraf fie auf mit 
leihtem Schrei. Mademoifelle blieb ihr zur Seite. 

„Sie find nervös, Madame!” lächelte der 
Sranzofe. Er führte fie die Treppe hinauf und be- 
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel 
abzunehmen. 

Seht öffnete er eine Thür. „Entrez, ma- 
demoiselle! Ahr Vater ift bier!” Es war ein halb: 
dunkles Gemach, die Fenfter jorgam verhüllt. 
Eiligt überjchritt Renate die Schwelle. 

Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat 
zurüd und Ihlug die Thür zu. Sie hörte, wie 
er den Schlüffel herumdrehte und abzog — hörte, 
wie die Franzölin fih zur Wehr fegte, ihr Lands: 
mann auf fie einiprahd — Tritte und Stimmen fid 
dann rajch entfernten. 

Renate ftand allein. 

Mit flarren Augen blidte fie umber, mit 
Augen, welde fich jchnell an das Dämmerlicht ge: 
wöhnten und ihre Umgebung zu erfennen ver: 
mochten. 

Yhr Vater befand fich nicht bier — das fah fie 
zunächſt. 

Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer. 
Uniformſtücke, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran: 
zöfiſche Dragoneruniform, wie ſie Daricot getragen. 
Ein ſüßliches Parfüm wehte ihr entgegen, das fie 
aufdringlich deutlich an jenen verhaßten Moment in 
Berlin erinnerte, welches ſie wieder geſpürt, als ihr 
kürzlich an der Balkonthür in Tiefenſee Daricot den 
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! — 


(Schluß folgt.) 


— — — — 


845 


Beiblatt ber Deutichen Roman-Zeitung. 








846 





Beiblatt der Dentihen Noman-Zeitung, 


SHefam. 


Es liegt an heimlich, verihwieg’'nem Ort 
Sm Wald verborgen ein feltner Hort, 
Den Zugang wehrt ein eifernes Thor, 
E3 wucdert ranfend Geftrüpp davor. 


Den Riegel öffnet nit Zwinggemwalt, 
Der Arthieb dröhnend daran verhallt, 
Die roft’gen Angeln erbeben nicht, 

Kein Sprengend Eifen den Bann zerbridt. 


Dodh wer ba findet dad Zauberwort, 
Der ftehet harrend nicht lange dort, 
Dem öffnet lautlos fit Thür und Schloß, 
Er blidt hinein in der Tiefe Schoß. 


Shm dringt entgegen ein Glimmerjchein 
Bon flammenfprühendem Edelftein, 

Ein leuchtend Glühen von rotem Gold 

Als 0b’8 die Augen ihm blenden wollt. 


Sp gebt die Sage, — id fand das Wort, 
Das mir erichloffen den Zauberhort: 
Was edleren Wertes als fhimmernd Erz, 
Mein eigen ward e8 — ein Menfchenherz. 
A: Hinckeldeyn. 


Das freudige Vefament. 
Bon Karl Pröll. 
I. 


Graued, zerrauftes Gemwölt hing vom Morgenhimmel 
herab und verfing fid in den blaudunflen Wäldern und in 
den alten SKirchentürmen. Uber die ftaubigen Qandwege 
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nad): 
eilten. 

Auch die Vögel blieben als Langfiger in ihren Zweigen 
und Büjchen fteden, piepften nur manchmal gedanfenlos 
einen Ton vor fih hin. Dod die Fıöihe in dem vers 
fumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelamufif an mit 
unbegrenzter Hingabe an den Mibklang. 

An diefe Krüppelwelt der Yarben und verdrießlichen 
Laute marfchierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll 
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in 
denen man ben Sreiß feiner Spaziergänge und Zufallds 
befanntihaften ausdehnt, während dag höhere Menfchenalter 
fie immer mehr einengt. Nod) jpürte er Leine Sorgennerven 
und fühlte fi) nicht von dem ftarfen Duft der Linden be= 
ichwert, ber von verfallenen Gräbern weiterzog. Unter der 
Wefte trug er die nie fich verfpätende Ihr gefunden Hungers 
und Durftes, die dag Zifferblatt verfhmäht. Er begehrte 
zumeift gelochte, gebadene und geichmalzene Wahrheiten nad 
angenehmer Ermüdung. Um feine Ohren jummten bie 
Wefipen wie lauter Glüdsverheißungen. 


— — — 


Hugo Wieperl, der ſchulfreie Sekundaner, unternahm 
die Entdeckungsreiſe zu dem Meierhofe, der die Apotheker⸗ 
familie mit Milch zu verſorgen pflegte. 

Die Pächtersfrau, die unverwäſſerte Milch ablieferte, 
hatte Hugo beſonders in ihr Gemüt geſchloſſen, weil er ſo 
freundlich zu necken verſtand. Sie hatte ihn vor einigen 
Tagen zum Beſuch ihrer Wirtſchaft eingeladen und ihm 
ſchmackhaftes Schwarzbrot und gute Butter verſprochen. 
Solchen triftigen Gründen konnte der Sekundaner, der 
ſichtlich an Länge und Appetit zunahm, nicht widerſtehen. 
Die Seele dem Butterbrotideal zugewendet, lachte er die 
griesgrämige Morgenlandſchaft aus und empfand das Bor: 
behagen des erwarteten Genuſſes. 

Die Kornfelder waren bereits abgemäht, zwiſchen den 
Stoppeln weideten Gänſe und ſchoppten ſich mit den liegen⸗ 
gebliebenen Ähren. Sie vergaßen in der emſigen Arbeit 
faſt das Schnattern. Dafür ſang die barfüßige Hirtin im 
roten Röcklein deſto falſcher beliebte Volksweiſen. Weil 
Hugo ſich in Disharmonien ihr mindeſtens ebenbürtig wußte, 
entſpann ſich bald ein Wettgeſang, der die Stimmen in 
tollſter Weiſe überpurzeln ließ. Der unerhörte Lärm ärgerte 
die Sonne hervor, die einen Augenblick zwiſchen zwei Wolken— 
fetzen durchblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer—⸗ 
felder neigten ſich ergebenſt vor der Herrin und flüſterten 
nach Höflingsweiſe: „Ein ganz verrücktes Volk, Durd; 
lauchtigſte!“ 

Zögernd hielt Hugo ſtill. Er wollte die gänſehütende 
Sangesfreundin etwas beſſer kennen lernen. Anderſeits 
winkte unter dem fernen Rauchſpiel über Ziegel- und Stroh⸗ 
dächern der Morgenimbiß. Endlich entſchied ſich der Se— 
kundaner in feiner Griechenart: „Das Butterbrot läuft mir 
nicht fort. Auch könnte ich ja den Weg verfehlt haben. 
Nachfrage ſchadet niemals.“ 

Alſo lief er querfelde, mitten unter die Gänſe hinein, 
die zornig ihre Schnäbel öffneten und jchwerfälig tapften 
und zeterten. Auch die bellblonde, fommerfproffige Hirtin 
erihraf und ftredte unwilllürli beide Hände und die Gerte 
vor. Hugo jedod fragte unbefümmert: „Geht bier der 
Weg nad) dem PBreleuthnner Meierhofe?“ 

„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie 
gelommen,“ antwortete das halbwüchfige Dorfmäddhen, Die 
den ftädtijch gefleideten jungen Mann neugierig mufterte. 

„Schön, dad wollte ih nur willen,“ jagte Hugo und 
ftieß rüdwärts mit dem Yuße, um eine tapfere Gans weg: 
zufheuchen, die fih zum Angriff rüftete „Ich will mid 
ein wenig ausruhen und wir wollen nod) etwas zujammen 
fingen. Wie heißt Du, blonde Here?“ 

„sh bin Johanna getauft und Hanni genannt, bin 
aber teine Hexe,“ gab fie Halb zürmend zurüd. 

„Das meinte ih nicht übel. Auch meine Schwefter 
Marie rufe ich Here. E8 Elingt ein bißchen luftig und man 
weiß noch nicht, ob die Weiber in den Hinmel ober in die 
Hölle fahren.” 

„SH will in den Himmel kommen. Freilih muß ich 
dann nod; braver werden. Sagt aljo lieber zu mir Hanni. 
Und fchlagt mir nicht die Gänfe.” 


843 Schwertklingen. 


— — 


„Gewiß, es iſt ſehr liebenswürdig von Ihnen! 
Wollen Sie, bitte, warten — ich werde mich beeilen!“ 
Damit verließ Renate das Zimmer. Julie folgte ihr. 

„Kind — Du denkſt doch nicht im Ernſt daran, 
mit dieſem Menſchen davonfahren zu wollen?“ 

„Gewiß nicht! Kannſt Du mich nicht begleiten, 
liebe Julie, ſo nehme ich Mademoiſelle mit mir als 
Schutz! Hin muß ich ſelbſtverſtändlich!“ 

„Leider, leider kann ich nicht mit!“ ſeufzte 
Julie. „O, daß dies in Pauls Abweſenheit geſchehen 
muß! Wie entſetzlich! — Weißt Du, Renate, der 
Wagen ſoll warten! Ich ſchicke ſchnell einen Boten 
nach Buggendorf, Haſſo Rochlitz muß kommen und 
Dich chaperonnieren, dann biſt Du geſichert!“ 

Renate ſchrak auf, als hätte ein Pfeil fie ge— 
troffen. „Haſſo Rochlitz! O, Julie, Du weißt nicht, 
was Du mir anbieteſt! Ich möchte Haſſo am liebſten 
nie wiederſehen! Jedenfalls will ich niemals eine 
Gefälligkeit von ihm annehmen oder gar, o Himmel, 
— ihn darum bitten!“ 

„O — ſo ſtehen die Sachen!“ rief Julie be—⸗ 
dauernd, „das hätte ich nicht gedacht. Nun, ſo 
ſchreibe ich an Hans Brünnow, der thut es ſicher 
gern! Und nun verbitte ich mir jede Widerrede, 
Du kleiner Querkopf!“ Damit ging ſie, ihre Abficht 
auszuführen. Renate mußte ſich fügen, obſchon ſie 
es unverantwortlich fand, daß man den kranken 
Vater ſtundenlang ſollte warten laſſin. 

Der Franzoſe nahm die Nachricht dieſer Ver—⸗ 
zögerung gleichmütig entgegen. Er ſetzte ſich vor die 
Thür auf eine Bank, genoß den ihm gebotenen 
Imbiß, rauchte und wartete geduldig. Der Kutſcher 
mußte die Pferde losſträngen und füttern — vor der 
Hausthür. Entfernen durfte er ſich nicht. „Monſieur 
Veldegg hat es ſo beſtimmt,“ erklärte der Franzoſe. 

„Endlich kam der Bote aus Buggendorf zurück. 
Herr von Brünnow war nicht zu Hauſe. — 

„Nun, ſo fahre ich allein!“ erklärte Renate. 
„Ich kenne denn doch ſchließlich meine Pflichten als 
Tochter, und nichts wird mich länger von denſelben 
zurückhalten!“ 

„Ich gebe es furchtbar ungern zu!“ ſeufzte 
Julie. „Nun, Daricot wenigſtens iſt nicht mehr 
dort, inſofern kann ich beruhigt ſein!“ 

„Ja, völlig! Ich ſchicke Dir noch heute Nach— 
richt, wie es Papa geht und was aus mir geworden 
iſt!“ verſprach Renate, indem ſie das Gefährt beſtieg. 
Mademoiſelle nahm an ihrer Seite Platz. Der 
Franzoſe ſetzte ſich auf den Bock, da ſein Rauchen 
die Damen genieren würde, und fort ging die Fahrt 
in größter Geſchwindigkeit. Wie der alte Klapper—⸗ 
kaſten ſtieß und ſchüttelte! Mademoiſelle ſtöhnte 
jämmerlich, doch Renate bemerkte es kaum. Eine 
dumpfe Angſt laſtete auf ihrer Seele. Sie galt dem 
Vater und einzig nur ihm! 

Ab und zu ſchaute der Franzoſe zurückgebeugt 
durch die Glasſcheibe in den Wagen. Weshalb nur? 
Renate fing an, etwas wie einen Spion oder Ge: 


Roman von Hans Werber. 


844 


fangenwärter in ihm zu jehen, und jedesmal, wenn 
fie fein Ipäbendes Geficht wieder erblidte, erjchien 
dasjelbe ihr widerwärtiger, unbeimlicher. 

„Mein Gott — wäre ih doch nicht mitgefahren!” 
brabh es endlich in Herzensangft von ihren Lippen. 
Mademoijelle begann zu Ihludzen und wirkte ba- 
durh um jo beunrubigenber. 

Immer eiliger, ungeftümer ging die $ahrt, immer 
beftiger polterte die „Bombe“, immer häufiger fchaute 
das Spiongefidht herein. Endlich bog der Wagen in 
den Penzlower Hof und hielt vor dem hochgiebeligen, 
waldumraufhten SHerrenhaufe. Ein franzöfiicher 
Dffizier trat heraus, riß den Wagenichlag auf und 
Ihaute hinein. „Mademoijelle Veldegg?” fragte er. 

„3a, ja, die bin ich, wie gebt es meinem 
Vater?” 

„Schledt — denn er verzehrt fih vor Sehn— 
juht nah Zhnen! Mein Name ift Rovaint! Darf 
ich die Ehre haben, Mademoijelle hinauf zu begleiten?” 
Er z30g fie bei diefen Worten mit janfter Beftimmt- 
beit aus dem Wagen. 

Renate zögerte. „Wo ift denn mein Ontel? 
Ich möchte ihn wenigftens gern erft jehen!“ 

„Monfieur Beldegg ift oben — kommen Sie 
nur, man erwartet Sie jehnlihft!” Er nahm ihren 
Arm feit in den feinen und z30g fie ins Haus. Als 
die Thür hinter ihr zufiel, jchraft fie auf mit 
leihtem Schrei. Dademoijelle blieb ihr zur Seite. 

„Sie find nervös, Madame!” Tächelte ber 
Sranzoje. Er führte fie die Treppe hinauf und be: 
deutete die Begleiterin, ihrer Herrin Hut und Mantel 
abzunehmen. 

Sebt öffnete er eine Thür. „Entrez, ma- 
demoiselle! hr Vater ift Hier!” Es war ein halb: 
dunkles Gemach, die Fenſter ſorgſam verhüllt. 
Eiligſt überſchritt Renate die Schwelle. 

Da ließ der Begleiter ihren Arm fahren, trat 
zurück und ſchlug die Thür zu. Sie hörte, wie 
er den Schlüſſel herumdrehte und abzog — hörte, 
wie die Franzöſin fich zur Wehr ſetzte, ihr Lands— 
mann auf ſie einſprach — Tritte und Stimmen ſich 
dann raſch entfernten. 

Renate ſtand allein. 

Mit ſtarren Augen blickte ſie umher, mit 
Augen, welche ſich ſchnell an das Dämmerlicht ge⸗ 
wöhnten und ihre Umgebung zu erkennen ver—⸗ 
mochten. 

Ihr Vater befand ſich nicht hier — das ſah ſie 
zunächſt. 

Es war ein wohleingerichtetes Fremdenzimmer. 
Uniformſtücke, Waffen, Stiefel lagen umher. Fran⸗ 
zöfifche Dragoneruniform, wie fie Daricot getragen. 
Ein füglihes Parfüm wehte ihr entgegen, das fie 
aufdringlich deutlich an jenen verhaßten Moment in 
Berlin erinnerte, welches fie wieder geipürt, als ihr 
fürzlih an der Baltonthür in Ziefenjee Daricot den 
Weg vertreten. Sein Quartier war dies! — 


(Schluß folgt.) 


845 


Beiblatt ber Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





846 








Beiblatt der Dentſchen Roman-gZeitung. 


Seſam. 


Es liegt an heimlich, verſchwieg'nem Ort 
Im Wald verborgen ein ſeltner Hort, 
Den Zugang wehrt ein eiſernes Thor, 
Es wuchert rankend Geſtrüpp davor. 


Den Riegel öffnet nicht Zwinggewalt, 
Der Axthieb dröhnend daran verhallt, 
Die roſt'gen Angeln erbeben nicht, 

Kein ſprengend Eiſen den Bann zerbricht. 


Doch wer da findet das Zauberwort, 
Der ſtehet harrend nicht lange dort, 
Dem öffnet lautlos ſich Thür und Schloß, 
Er blickt hinein in der Tiefe Schoß. 


Ihm dringt entgegen ein Glimmerſchein 
Von flammenſprühendem Edelſtein, 

Ein leuchtend Glühen von rotem Gold 

Als ob's die Augen ihm blenden wollt'. 


So geht die Sage, — ich fand das Wort, 
Das mir erſchloſſen den Zauberhort: 
Was edleren Wertes als ſchimmernd Erz, 
Mein eigen ward es — ein Menſchenherz. 
A. Hinckeldeyn. 


Das freudige Teſtament. 
Bon Karl Yıöf. 
I. 


Graues, zerrauftes Gewölt hing vom Morgenhimmel 
herab und verfing fich in den blaudunklen Wäldern und in 
den alten Sirchentürmen. Über die ftaubigen Landivege 
glitten fahle Lichtftreifen, denen weitgedehnte Schatten nad)= 
eilten. 

Auch die Vögel blieben als Zangfiger in ihren Zweigen 
und Büfchen fteden, piepften nur mandmal gedantenlos 
einen Ton vor fih Hin. Dod die Fröldhe in dem vers 
jumpften Grenzgraben ftimmten ihre Teufelamufit an mit 
unbegrenzter Hingabe an den Mißklang. 

In diefe Krüppelwelt der Yarben und verdrießlichen 
Raute marfhierte ein junger Burfch hinein, die Seele voll 
frohen Müßigganges. Er befand fi in den Jahren, in 
denen man ben SFreis feiner Spaziergänge und Zufalld- 
befanntichaften ausdehnt, während das höhere Menjchenalter 
fie immer mehr einengt. Nod) jpürte er feine Sorgennerven 
und fühlte fih nicht von dem ftarken Duft der Linden be- 


ichwert, der von verfallenen Gräbern meiterzog. Unter der 


Weite trug er die nie fich verfpätende hr gefunden Hungers 
und Durftes, dic das Zifferblatt verihmäht. Er begehrte 


zumeift gekochte, gebadene und gefhmalzene Wahrheiten nad) | 
Um feine Ohren fummten bie 


angenehmer Crmüdung. 
Welpen wie lauter Glüdsverheißungen. 





Hugo Wieperl, der fhulfreie Sekundaner, unternahm 
die Entdedungßreife zu dem Meierhofe, der die Apotheker: 
familie mit Mil zu verforgen pflegte. 

Die Päclersfrau, die unverwäflerte Milch ablieferte, 
hatte Hugo befonders in ihr Gemüt gefchloffen, weil er fo 
freundlidy zu neden verftand. Sie hatte ihn vor einigen 
Zagen zum Befuh ihrer Wirtfchaft eingeladen und ihm 
Ihmadhaftee Schwarzbrot und gute Butter verfprochen. 
Solden triftigen Gründen Eonnte der Sefundaner, der 
fihtlid an Länge und Appetit zunahm, nicht widerfteben. 
Die Seele dem YButterbrotideal zugemwendet, lachte er bie 
griesgrämige Morgenlandfchaft aus und empfand das Vor: 
behagen des erwarteten Genuffes. 

Die Kornfelder waren bereit abgemäht, zwifchen den 
Stoppeln weideten Gänje und jchoppten fi mit ben Liegen: 
gebliebenen hren. Sie vergaßen in der emfigen Arbeit 
faft das Echnattern. Dafür fang die barfüßige Hirtin im 
roten NRödlein defto falfcher beliebte Wolfgweilen. Weil 
Hugo fi in Disharmonien ihr mindeftens ebenbürtig wußte, 
entipann ji bald ein Wettgefang, der die Stimmen in 
tollfter Weije überpurzeln Tieß. Der unerhörte Lärm ärgerte 
die Sonne hervor, die einen Augenblid zwifchen zwei Wolfen- 
fegen durchblinzelte. Weiße Weizenfelder und grüne Hafer: 
felder neigten fich ergebenft vor ber Herrin und flüfterten 
nad Höflingsweife: „Ein ganz verrüdtes Volt, Durd- 
lauchtigſte!“ 

Zögernd hielt Hugo ſtill. Er wollte die gänſehütende 
Sangesfreundin etwas beſſer kennen lernen. Anderſeits 
winkte unter dem fernen Rauchſpiel über Ziegel- und Stroh⸗ 
dächern der Morgenimbiß. Endlich entſchied ſich der Se— 
kundaner in feiner Griechenart: „Das Butterbrot läuft mir 
nicht fort. Auch könnte ich ja den Weg verfehlt haben. 
Nachfrage ſchadet niemals.“ 

Alſo lief er querfelde, mitten unter die Gänſe hinein, 
die zornig ihre Schnäbel öffneten und ſchwerfällig tapften 
und zeterten. Auch die hellblonde, ſommerſproſſige Hirtin 
erſchrak und ſtreckte unwillkürlich beide Hände und die Gerte 
vor. Hugo jedoch fragte unbekümmert: „Geht hier der 
Weg nach dem Preleuthner Meierhofe?“ 

„Nein, nicht durch die Felder. Da weiter, woher Sie 
gekommen,“ antwortete das halbwüchſige Dorfmädchen, die 
den ſtädtiſch gekleideten jungen Mann neugierig muſterte. 

„Schön, das wollte ich nur wiſſen,“ ſagte Hugo und 
ſtieß rückwärts mit dem Fuße, um eine tapfere Gans weg— 
zuſcheuchen, die ſich zum Angriff rüſtete. „Ich will mich 
ein wenig ausruhen und wir wollen noch etwas zuſammen 
fingen. Wie heißt Du, blonde Here?“ 

„SH bin Johanna getauft und Hanni genannt, bin 
aber eine Here,“ gab fie halb zürnend zurüd. 

„Das meinte ich nicht übel. Auch meine Schweiter 
Marie rufe id Here. E8 Elingt ein bißchen Iuftig und man 
weiß nod) nicht, ob die Weiber in den Himmel oder in die 
Hölle fahren.“ 

„Ich will in den Himmel fommen. Freilihd muß id) 
dann noch braver werden. Sagt aljo lieber zu mir Hanni. 
Und jchlagt mir nicht die Gänje.” 


847 


„E8 geichieht den dummen Viehchern nichts, wenn fie mich 
in Frieden laſſen. Doch was fingen wir?“ 

Hanni warf übermütig die Oberlippe empor, die Kehle, 
welche allein nicht verbrannt von der Sonne war, kam in 
ſchwingende Bewegung und in den höchſten Tönen drang 
das Spottlied heraus: 

„Wiedehopf, Wiedehopf! 
Haſt einen garſtigen Schopf, 
Gehſt zu dem Entenpfuhl 
Lieber als in die Schul'. 
Haha! Haha!“ 

Das ſilberne Gelächter verſtummte. Hugo ſah ihr ver⸗ 
blüfft in die braunen, ſchalkhaften Augen. Ein Sekundaner 
darf aber nicht mehr blöde ſein. Und er entgegnete mit dem 
raſch improviſierten Trutzvers: 

„Hanni, haft feinen Hahn, 
Fangſt mit den Gänjen an. 
Erft wenn Du lieb und brav, 
Kriegft Du ein frommes Schaf. 
Haba! Haha!“ 

Er wollte fie bei der Hand faflen, doch fie entwijchte 
ihm und lief im Kreis herum. WBergeben? fuchte er die 
biegiame Geftalt zu erhafhen. So nahe er ihr auch manch⸗ 
mal kam, immer wieder bradte eine rajhe Wendung fie in 
Sicherheit. Erichöpft ftellte Hugo die Jagd ein, legte fich in 
eine Furdhe des Stoppelfeldes und wijchte mit feinem Tafchen: 
tuhe den Schweiß von ber Etirne. Hanni feste fi jetzt 
neben ihn, dod) jo, daß er fie nicht ergreifen konnte. „Grs 
zählen Sie mir bie Geihihte von dem Fuchfe und den 
Trauben. Doch wie heißen Sie eigentlich?“ 

Er verbiß den Heinen rger. „Hugo Wieperl. Der 
Apothefer- Hugo aus Hildesitadt.“ 

Wieder fang der Kobold, indem er ein treuherziges Bes 
dauern in feine Züge zu legen fucdhte: 

„Lieber Herr Wieperl! 
Schmerzt Sie da3 Yipperl? 
In Ihrer Apothet’ 
Ausfuriert man’s vom Fled.” 

So mwunderlih meldet fi der Verfalltag ber eriten 
Sugenbliebe an. Hugo fand Fein Truglied mehr und blidte 
etwa® jcheu nad der Kleinen QDuälerin bin. Er bemerkte, 
daß bdiefe ein verrofteteg Erzitüd, da einem Pfeil glich, 
in da8 braune Blufenhemd Hineingeitedt Hatte. Das bot 
ihm Gelegenheit, abzulenken. Er deutete auf den Bettel- 
Ihmud hin und fragte: „Von wen haft Du diejen Pfeil?* 

„Ah, den haben die Maurer ausgegraben, als fie den 
Anbaı bei der Zandmühle madten. Da ich gerade vorbei: 
ging, Ichenkten fie mir da8 unnüge Ding.“ 

„Laß e3 mich näher anjchauen.* 

Zögernd neftelte Hanni das roftige Gefchmeide [os und 
reichte diefes etwas mibtrauiih Hin. Dod Hugo machte 
feinen jchlehten Scherz, betrachtete vielmehr aufmertfam bie 
feine Arbeit. Dann fagte er: 

„Dag ijt eine fibula, Fibel, wie wir bdeutjch fagen 
würden. Die hat einft eine Nömerfrau oder ein Römer: 
mädchen getragen und fie wurde mit ihm in daß Grab ges 
ientt, das nach mehr als taufend Jahren Deine Maurer aufs 
ihlofien. Dafür giebt man Dir im ftädtifchen Antiken— 
Mufeum ein gutes Stüd Geld. So, nimm e8 zurüd.“ 

Begierig griff Hanni danad), fprang aber jogleidy auf 
und rief: „ottes willen, ba fommt der Herr Naplan. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





848 


Wenn und der beifammen findet! Sputen Sie fid) raid) 
fort! Das ift ein fo ftrenger Herr, der feinen in den 
Himmel hineintommen läßt. Denn einmal bat doch jeder 
eine Stirfche geftohlen und dafür giebt e8 bei ihm nicht Ab- 
folution. Zeigt er mid) der Mutter an, fo muß mir Diele 
die jchönjten Haue geben, ob fie will oder nicht will.“ 

Erftaunt blidte Hugo das aufgeregte Mädchen an, defien 
Übermut plöglich in haltlofe Angft umgefhlagen war. Num 
befam er wieder die Oberhand. Gelbftgefällig ftredte fich 
Hugo aus und bemerkte faltblütig: „Ih fürdite mich vor 
feinem SRaplan. Die fchlechteften Gymnafialfchüler werden 
meiften® Theologen. Und ich bin zweimal Primus gemweien. 
Raffe den Schwarzrod nur heranfommen, ich will mit ihm 
lateiniſch ſprechen.“ 

Hanni ſtarrte nur nach dem dunklen Fleck hin, der ſich 
am Rande der Weizenfelder bewegte. Nun verſchwand der 
Fleck auf einem ſich ſenkenden grünen Raine im weißen 
Halmenmeer. Hanni klatſchte in die Hände, machte einige 
tolle Sprünge und wiederholte mechaniſch die Worte: „Er 
hat uns nicht geſehen! Er hatte uns nicht geſehen! Er 
wird uns nicht ſehen! Er wird uns nicht geſehen haben!“ 
Schließlich beendete ſie die Schullitanei, während Hugo den 
Mund verzog, was zu einem Schmunzeln im Verhältnis 
ſtand, wie ſeine ſechs Härchen an den Mundecken zu einem 
ausgewachſenen Barte. 

Nun kauerte ſich Hanni ungeſcheut neben dem Zufalls— 
genoſſen hin, kreuzte die Hände über die Kniee und ſchüttelte 
mit dem Kopfe, ſo daß der kurze Zopf wie ein Peitſchenſtiel 
auf und ab ſchwang. Ihre Seelenvergnügtheit ſteckte Hugo 
an und er pfiff die Weiſe des „Fürſten von Thoren“. 

„Noch ein bißchen ſtill,“ mahnte Hanni. „So ein 
Beichtiger hat ein gar feines Gehör. Iſt er weit genug, 
dann wollen wir ein frommes Lied wegen glücklicher Er— 
rettung aus der Gefahr beginnen.“ Sie lachte in ihren 
Schoß hinein und fing an, ſachte einige Ackerkrumen abzu⸗ 
ſtreifen, die ſich an ihren nackten Füßen feſtgeklebt hatten. 
Dann erhob Hanni die Stimme: 

„Heilige Maria, Mutter der Gnaden, 
Seele und Leib auch behüte vor Schaden.“ 


Wohlgefällig beobachtete Hugo die liſtige Paradies⸗ 
werberin, die der himmliſchen Frau huldigte, um dem 
irdiſchen Kaplan einen Poſſen zu ſpielen. Mit halbem Tone 
begleitete er das ihm fremde Bitt- und Preiſslied. Ein Se— 
kundaner iſt zwar bereits ſehr aufgeklärt, allein er bleibt 
edel genug, fromme Gefühle anderer zu würdigen. Nur als 
eine Lerche in der Luft mittirilierte, ſtrich des werdenden 
Mannes Schmunzeln wieder über ſein Geſicht. 


Hanni jedoch bekam einen Großmutsanfall. Sie neſtelte 
nochmals die Fibel los, bohrte ſie durch den dichten braunen 
Buſch über Hugos Stirn und ſagte feierlich wie eine Mutter 
am Namenstag: „Weil Sie ſo hübſch abgewartet und be— 
ſcheidentlich geſungen haben, ſchenke ich Ihnen dies Erbſtück 
des Römermädchens, von dem Sie allein etwas Geſcheites 
wußten. Ich habe noch eine Neuſilberbroſche zu Hauſe.“ 


Hugo war gerührt von Wort und Sinn der Spenderin, 
deren braune Augen weich ſchimmerten. Allein ein Gym⸗ 
naſiaſt in den höheren Klaſſen nimmt ſolche Geſchenke nicht 
an, die ihm überdies Schweſter Marie wieder entführt hätte. 
Er zog den Pfeil aus ſeinen Haaren, betonte, daß ein ſolches 
Amulett nur demjenigen Glück bringe, der es zuerſt beſeſſen, 
und ſteckte die Fibel Hanni wieder an die Bruſt. Sie hielt 








849 


ftil und zitterte nur ein wenig. Ob die unvollzogene Groß» 
that, die Glücsverheikung oder nod) andere ihr Blut 
beeilte, läßt fih nicht enticheiden. Etwas mußte durch den 
Mund heraus, und fo Sang fle, als er im Sigen einen fteifen 
Büdling verfuchte, der favaliermäßig fein follte: 

„Der Pfeil fliegt hin, 

Der Pfeil fliegt her, 

Wo bleibt er fchließlid) jteden? 

Ein Bogelfinn 

Berlangt nicht mehr 

Als Echmaufen nad) dem Neden." 

Die Schlußworte wedten Hugo ein öbes Gefühl in der 
Magengegend, das bei der Morgentändelei eingelchlummert 
war. Sich aufrüttelnd, fprad er: „Nun muß ich fort zum 
Preleuthnerſchen Meierhofe, ſonſt komme ich zu fpät. Und 
Hunger habe ih, Hunger... .* 

Mitleidig fah ihn Hanni an. „Meine Taufpatin, das 
ift die Preleuthnerin, nimmt e8 nicht übel, wenn Sie aud) 
nah dem Yrühftüd kommen. Sie weiß, daß Stabdtleute 
nicht zu zeitig aufftehen. Sie haben noch eine halbe Stunde 
bis zum Hofe. Wenn Ste jhon jet hungrig find, fo wollen 
wir teilen.“ 

Sie begab fich zu einem Feldftein, unter dem etwas 
Helle fchimmerte, hob jenen auf und widelte ein reines, 
geblümtes Tuch — da8 vielleicht beim Steigen der Sonne 
als Kopftuch diente — außeinander. 8 enthüllte fich eine 
tüchtige Butterfchnitte, die fie Hugo bradıte und fagte: „Faßt 
an, wir wollen da8 Brot brechen, wie der Herr e3 geheißen.“ 

(Schluß folgt.) 


Das Fnde, 


Und alfo war’8 zum legten Mal, 
Daß unfre Hände fih umfangen, — 
Dann bin ih ftumm, wie Hagar einft, 
In Naht und Not hinausgegangen. 


An meines Leben? Himmel war 
Der lebte lichte Stern gejunten, 
Die heil’ge Glut in meiner Bruft 
Grlojhen bis zum Afchenfunfen. 


Was jett no kommt, ift Schmerz und Schmad), 
Sft todesruhiges Entjagen: 

Sc) werbe meines Dafeinz Laft 

Mit ungebeugtem Haupte tragen. 


Und fagt’ ih’3 Euch, Ihr glaubtet’s nicht, 
Selbft nicht den früh gebleihten Haaren: 
Wie riefenftarl das Dienichenherz, 
Muß jeder an fih felbft erfahren. 
Glara Müller. 


Xlerlei zur Frauenfrage. 
Von M. Müller. 

Es wird in unferer Stadt während des Winterd immer 
eine große Zahl gelehrter und ungelehrter Vorträge ges 
halten. Audy in diefem Jahre ift daran kein Mangel, doc 
hat e3 den Anfdein, als würden wir ganz bejonders von 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


————— — — — —— — ——— — — —— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —— —— — — — 


850 


redegewandten Damen heimgeſucht. Gewiß wird es keinem 
Menſchen einfallen, zu beſtreiten, daß die Frauen zum Reden 
vorzüglich beanlagt ſind. Im Gegenteil! Dieſe Gabe iſt 
ihnen zu allen Zeiten bedingungslos zuerkannt worden. 

Wenn aber Frauen öffentlich redend auftreten, ſo be⸗ 
mächtigt ſich der Zuhörer unwillkürlich das Gefühl, als ob 
die Betreffenden unter allen Umſtänden eine Predigt an den 
Mann im allgemeinen bringen wollten, da das Glück, eine 
Gardinenpredigt einem einzelnen, dem eigenen, im beſonderen 
zu halten, für ſie ausgeſchloſſen iſt. Ich hoffe, die Damen, 
welche ſich hier getroffen fühlen könnten, werden mir dieſe 
Bemerkung nicht nachtragen. Was ſo ein ungelehrtes 
Menſchenkind, wie ich eins bin, ſagt, wird denſelben Eins 
druck machen, wie Hundegebell auf den glänzenden Mond. 
Iſt dieſer Vergleich nicht höchſt ſchmeichelhaft? 

Ich ſagte alſo, die Reden pflegen an Gardinenpredigten 
zu erinnern. Und iſt es in der That nicht ſo? 

Hier wie dort werden übelſtände an das Tageslicht — 
o nein! an das Lampenlicht, gezogen, und es wird eine 
Beſſerung des ausgeſcholtenen Teiles angeſtrebt. Hier wie 
dort, ob Mann, ob Publikum, gähnt der Zuhörer, ſchläft 
ein und — begeht morgen dasſelbe himmelſchreiende Unrecht. 

Du glaubſt mir nicht, liebe Leſerin? Soll ich Dir er: 
zählen, was ich nach einem der letzten Vorträge hörte? — 

Das verehrte Publikum, überwiegend natürlich dem 
weiblichen Geſchlecht angehörend, ſtrömte dem Ausgange zu, 
mit Drängen und Stoßen, wie das bei wohlerzogenen 
Damen im allgemeinen ſo Sitte zu ſein ſcheint. Ich flüchtete 
deshalb in den Schutz einer Säule und ließ die Augen nach—⸗ 
denklich über die an mir vorüberhaſtende Menge ſchweifen. 
Allen dieſen Frauen und Mädchen, vom Backfiſch bis zur 
Matrone, war heute klar und deutlich vor die Seele geführt 
worden, welch' ein nutzloſes, gedankenleeres Daſein ſie zu⸗ 
meiſt führten. Dagegen waren ihnen ihre Pflichten gewieſen 
worden, d. h. was die Rednerin unter Pflichten verſtand, 
wie ſie ſich einen Beruf erwählen müßten, um die geiſtige 
Ode ihres Lebens und ihres Herzens auszufüllen, alles in 
ſchönen, logiſchen Sätzen, ſehr weiſe, ſehr richtig und doch! — 
und doch! — 

Da gehen ſie hin, die beiden Damen, bekannt bei alt 
und jung als unermüdlich thätig in allerhand Vereinen, wo 
ſie Zeit und Geld verſchwenden. Sie finden nicht Worte 
genug, den Vortrag in überſchwenglichſter Weiſe zu loben, 
und auf ihren Geſichtern ſteht abſchreckend deutlich das: 
„Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene,“ zu leſen. 
Doch erſt geſtern klagte ihre Waſchfrau, daß eben dieſe 
Damen ſich regelmäßig weigerten, die zehn Pfennige für 
die Verſicherungsmarke zu zahlen. Auf meine Frage, warum 
ſie ſie nicht anzeige, erwiderte die Frau, ſie fürchte alsdann 
nicht allein dort ihre Stelle zu verlieren, ſondern anuch 
andere, da die Damen viel Einfluß in ihrer ausgedehnten 
Belanntichaft hätten. So bezahle fie Tieber die ganze 
Marle allein. 

Zwei, kaum den Sinderfhuben entwadiene Mädchen 
ftehen jegt vor mir. Sie nafchen aus einer Tüte, um fi 
bon der ermüdenden Gedankenarbeit des angeftrengten Zus 
hörens zu erholen. 

„Da hätte man ja nun erfahren, wie abgrundtief 
Ichleht unjereing ift,“ jagt die eine etwas nachdenklich. 

„Ei, bange maden gilt nit, Elfe,” entgegnet die 
andere lachend, „das alles betraf dod) uns nicht. Die Hatte 
gut reden, fie fieht mir gerade aus wie eine, die fich zeit» 





847 


„Es geichieht den dDunmen Vichhern nichts, wenn fie mid) 
in Frieden lafien. Doch was fingen wir?“ 

Hanni warf übermütig die Oberlippe empor, die Stehle, 
welche allein nicht verbrannt von der Sonne war, fam in 
fhwingende Bewegung und in den höchiten Tönen drang 
dag Spottlied heraus: 

„Wiedehopf, Wiedehopf! 
Haft einen garitigen Schopf, 
Gehſt zu dem Entenpfuhl 
Lieber als in die Schul’. 
Haha! Haha!“ 

Das filberne Gelächter verftunmte. Hugo fah ihr ver- 
plüfft in die braunen, fchalkhaften Augen. Ein Sekundaner 
darf aber nicht mehr blöde fein. Und er entgegnete mit dem 
raſch improviſierten Trutzvers: 

„Hanni, haſt keinen Hahn, 
Fangſt mit den Gänſen an. 
Erſt wenn Du lieb und brav, 
Kriegſt Du ein frommes Schaf. 
Haha! Haha!“ 

Er wollte ſie bei der Hand faſſen, doch ſie entwiſchte 
ihm und lief im Kreis herum. Vergebens ſuchte er die 
biegſame Geſtalt zu erhaſchen. So nahe er ihr auch manch⸗ 
mal kam, immer wieder brachte eine raſche Wendung ſie in 
Sicherheit. Erſchöpft ſtellte Hugo die Jagd ein, legte ſich in 
eine Furche des Stoppelfeldes und wiſchte mit ſeinem Taſchen⸗ 
tuche den Schweiß von der Stirne. Hanni ſetzte ſich jetzt 
neben ihn, doch fo, daß er ſie nicht ergreifen konnte. „Er⸗ 
zählen Sie mir die Geſchichte von dem Fuchſe und den 
Trauben. Doch wie heißen Sie eigentlich?“ 

Er verbiß den kleinen Arger. Hugo Wieperl. Der 
Apotheker⸗Hugo aus Hildesſtadt.“ 

Wieder ſang der Kobold, indem er ein treuherziges Be⸗ 
dauern in feine Züge zu legen fuchte: 

„Lieber Herr Wieperl! 
Echmerzt Sie das Zipperl? 
In Ihrer Apothet’ 
Ausfuriert man’d vom led.” 

Sp munderlid”) meldet fih der Verfalltag der eriten 
Sugendliebe an. Hugo fand fein Trußlied mehr und blidte 
etwas jchen nad der Eleinen Ouälerin bin. Er bemerfte, 
daß bieje ein verroftetes Erzitüd, das einem Pfeil glich, 
in da8 braune Blufenhemd hHineingeftedt Hatte. Das bot 
ihm Gelegenheit, abzulenten. Er deutete auf den Bettel« 
Ihmud Hin und fragte: „Von wen haft Du diejen Pfeil?“ 

„Ah, den haben die Maurer ausgegraben, als fie den 
Anbaı bei der Yandmühle madten. Da ich gerade vorbeis 
ging, jchentten fie mir das unnüge Ding.“ 

„Zaß e8 mich näher anjdhauen.* 

Zögernd neftelte Hanni das roftige Gefchmeide [log und 
reichte diejes eimas mißtrauiid) hin. Dod Hugo machte 
feinen jchlechten Scherz, betrachtete vielmehr aufmertfam bie 
feine Arbeit. Dann fagte er: 

„Das ijt eine fibula, Fibel, wie wir deutich fagen 
würden. Die hat einft eine NRömerfrau oder ein Römer: 
mädchen getragen und fie wurde mit ihm in daß Grab ges 
jentt, das nad mehr als taujend Jahren Deine Maurer aufs 
Ihlofjen. Dafür giebt man Dir im ftädtifchen Antiken— 
Mufeum ein gutes Stüd Geld. So, nimm e3 zurüd.“ 

Degterig griff Hanni danad, fprang aber jogleich auf 
und rief: „Gottes willen, da fommt der Herr Sapları. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





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Wenn uns der beifammen findet! Sputen Sie fi raid 
fort! Das ift ein jo ftrenger Herr, der feinen in den 
Himmel hineintommen läßt. Denn einmal bat Doch jeder 
eine Stirfche geftohlen und dafür giebt e8 bei ihm nicht Ab- 
folution. Zeigt er mich der Mutter an, fo muß mir biefe 
die jchönjten Haue geben, ob fie will oder nicht will.“ 

Erftaunt blidte Hugo das aufgeregte Mädchen an, deilen 
Übermut plögli in haltlofe Angft umgeichlagen war. Nun 
befam er wieder die Oberhand. Selbftgefällig ftredte fich 
Hugo aus und bemerkte faltblütig: „Ich fürchte mich vor 
feinem Saplan. Die jchlechteiten Gymnafialichüler werden 
meiftens Theologen. Und ich bin zweimal Primus geweien. 
Zaffe den Schwarzrod nur heranfonmen, id will mit ihm 
lateiniſch ſprechen.“ 

Hanni ſtarrte nur nach dem dunklen Fleck hin, der ſich 
am Rande der Weizenfelder bewegte. Nun verſchwand der 
Fleck auf einem ſich ſenkenden grünen Raine im weißen 
Halmenmeer. Hanni klatſchte in die Hände, machte einige 
tolle Sprünge und wiederholte mechaniſch die Worte: „Er 
hat uns nicht geſehen! Er hatte uns nicht geſehen! Er 
wird uns nicht ſehen! Er wird uns nicht geſehen haben!“ 
Schließlich beendete ſie die Schullitanei, während Hugo den 
Mund verzog, was zu einem Schmunzeln im Verhältnis 
ſtand, wie ſeine ſechs Härchen an den Mundecken zu einem 
ausgewachſenen Barte. 

Nun kauerte ſich Hanni ungeſcheut neben dem Zufalls⸗ 
genoſſen hin, kreuzte die Hände über die Kniee und ſchüttelte 
mit dem Kopfe, ſo daß der kurze Zopf wie ein Peitſchenſtiel 
auf und ab ſchwang. Ihre Seelenvergnügtheit ſteckte Hugo 
an und er pfiff die Weiſe des „Fürſten von Thoren“. 

„Noch ein bißchen ſtill,“ mahnte Hanni. „So ein 
Beichtiger hat ein gar feines Gehör. Iſt er weit genug, 
dann wollen wir ein frommes Lied wegen glücklicher Er—⸗ 
rettung aus der Gefahr beginnen.“ Sie lachte in ihren 
Schoß hinein und fing an, ſachte einige Ackerkrumen abzu⸗ 
ſtreifen, die ſich an ihren nackten Füßen feſtgeklebt hatten. 
Dann erhob Hanni die Stimme: 

„Heilige Maria, Mutter der Gnaden, 
Seele und Leib auch behüte vor Schaden.“ 


Wohlgefällig beobadjtete Hugo die liftige Paradies- 
werberin, die der bimmliihen Yrau Huldigte, um dem 
irdifchen Kaplan einen Boffen zu fpielen. Mit halbem Tone 
begleitete er das ihm fremde Bitt: und Preislied. Ein Se: 
tundaner tft zwar bereit$ fehr aufgeklärt, allein er bleibt 
edel genug, fromme Gefühle anderer zu würdigen. Nur als 
eine Lerhe in der Luft mittirilierte, ftrich des werdenden 
Mannes Schmunzeln wieder über fein Geftcht. 


Hanni jedod befam einen Großmutsanfall. Sie neftelte 
nohmals die yibel 108, bohrte fie durch ben dichten braunen 
Bufc über Hugos Stirn und fagte feierlid) wie eine Mutter 
am Namenstag: „Weil Sie fo hübfch abgemwartet und be= 
fheidentlicd) gefungen haben, fchenke ich Shen dies Erbftüd 
deö Nömermäddens, von dem Sie allein etwas Gejcheites 
wußten. Sch habe noch eine Neufilberbrofche zu Haufe.“ 


Hugo war gerührt von Wort und Sinn ber Spenberin, 
deren braune Augen weich fchimmerten. Allein ein Gym: 
nafiaft in den höheren Klaffen nimmt folche Geichenfe nicht 
an, die ihm überdies Schweiter Marie wieder entführt hätte. 
Er z0g den Pfeil aus feinen Haaren, betonte, daß ein folches 
Amulett nur demjenigen Glüd bringe, der e8 auerft befeffen, 
und ftedte die TFibel Hanni wieder an die Bruft. Sie hielt 





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ftil und zitterte nur ein wenig. Ob die unvollgogene Groß» 
that, die Glüdsverheißung oder nod) anderes ihr Blut 
beeilte, läßt fich nicht entjcheiden. Etwas mußte durch ben 
Mund heraus, und fo ang fie, als er im Sigen einen fteifen 
Büdling verfuchte, der Tavaliermäßig fein follte: 

„Der Pfeil fliegt Hin, 

Der Pfeil fliegt her, 

Wo bleibt er fchlieglid) fteden? 

Ein Bogelfinn 

Berlangt nicht mehr 

Als Echmaufen nad) dem Neden." 

Die Schlußworte wedten Hugo ein öbes Gefühl in der 
Magengegend, das bei der Morgentänbelei eingeichlummert 
war. Sid aufrüttelnd, fprah er: „Nun muß ich fort zum 
Preleuthnerſchen Meierhofe, ſonſt komme ich zu fpät. Ind 
Ounger babe ih, Hunger... .* 

Mitleidig fah ihn Hanni an. „Meine Taufpatin, bas 
ift die Preleuthnerin, nimmt e8 nicht übel, wenn Sie aud) 
nah dem Yrübftüd Lommen. Sie weiß, bak Stabtleute 
nicht zu zeitig aufftehen. Sie haben nody eine halbe Stunde 
bi8 zum Hofe. Wenn Ste Ihon jet hungrig find, fo wollen 
wir teilen.“ 

Sie begab fi zu einem Yeldftein, unter dem etwas 
Helles Ichimmerte, Hob jenen auf und widelte ein reines, 
geblümtes Tuch — das vielleicht beim Steigen der Sonne 
als Kopftuch diente — auseinander. E8 enthüllte fich eine 
tüchtige Butterfchnitte, die fie Hugo bradıte und fagte: „Faßt 
an, wir wollen das Brot brechen, wie der Herr e8 geheißen.* 

(Schluß folgt.) 


Das Funde, 


Und alfo war’3 zum legten Mal, 
Daß unjre Hände fidh umfangen, — 
Dann bin ih ftumm, wie Hagar einft, 
In Naht und Not hinandgegangen. 


An meines Lebens Himmel war 
Der legte lichte Stern gejunten, 
Die heil’ge Gut in meiner Bruft 
Erlofhen bis zum Ajchenfunfen. 


Was jegt noch kommt, ift Schmerz und Schmad, 
ft todesruhiges Entjagen: 
Sch werde meines Dafein Laft 
Mit ungebeugtem Haupte tragen. 
Und fagt’ ih’3 Euch), Ihr glaubtet’3 nicht, 
Selbſt nicht den früh gebleichten Haaren: 
Wie riefenftark das Menjchenherz, 
Muß jeder an fich felbit erfahren. 
Glara Müller. 


Xlerlei zur Zirauenfrage. 
Bon M. Müller. 

Es wird in unferer Stabt während des Winters immer 
eine große Zahl gelehrter und ungelehrier Vorträge ges 
halten. Auch in diefem Sabre ift daran fein Mangel, dod) 
hat e3 den Anicdein, als würden wir ganz bejonder8 von 


Beiblatt der Deutiden Roman-geitung. 


ee, ne, En — — — — 


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redegewandten Damen heimgeſucht. Gewiß wird es keinem 
Menſchen einfallen, zu beſtreiten, daß die Frauen zum Reden 
vorzüglich beanlagt ſind. Im Gegenteil! Dieſe Gabe iſt 
ihnen zu allen Zeiten bedingungslos zuerkannt worden. 

Wenn aber Frauen öffentlich redend auftreten, ſo be⸗ 
mächtigt ſich der Zuhörer unwillkürlich das Gefühl, als ob 
die Betreffenden unter allen Umſtänden eine Predigt an den 
Mann im allgemeinen bringen wollten, da das Glück, eine 
Gardinenpredigt einem einzelnen, dem eigenen, im beſonderen 
zu halten, für ſie ausgeſchloſſen iſt. Ich hoffe, die Damen, 
welche ſich hier getroffen fühlen könnten, werden mir dieſe 
Bemerkung nicht nachtragen. Was ſo ein ungelehrtes 
Menſchenkind, wie ich eins bin, ſagt, wird denſelben Ein⸗ 
druck machen, wie Hundegebell auf den glänzenden Mond. 
Iſt dieſer Vergleich nicht höchſt ſchmeichelhaft? 

Ich ſagte alſo, die Reden pflegen an Gardinenpredigten 
zu erinnern. Und iſt es in der That nicht ſo? 

Hier wie dort werden übelſtände an das Tageslicht — 
o nein! an das Lampenlicht, gezogen, und es wird eine 
Beſſerung des ausgeſcholtenen Teiles angeſtrebt. Hier wie 
dort, ob Mann, ob Publikum, gähnt der Zuhörer, ſchläft 
ein und — begeht morgen dasſelbe himmelſchreiende Unrecht. 

Du glaubſt mir nicht, liebe Leſerin? Soll ich Dir er— 
zählen, was ich nach einem der letzten Vorträge hörte? — 

Das verehrte Publikum, überwiegend natürlich dem 
weiblichen Geſchlecht angehörend, ſtrömte dem Ausgange zu, 
mit Drängen und Stoßen, wie das bei wohlerzogenen 
Damen im allgemeinen ſo Sitte zu ſein ſcheint. Ich flüchtete 
deshalb in den Schutz einer Säule und ließ die Augen nach⸗ 
denklich über die an mir vorüberhaſtende Menge ſchweifen. 
Allen dieſen Frauen und Mädchen, vom Backfiſch bis zur 
Matrone, war heute klar und deutlich vor die Seele geführt 
worden, welch' ein nutzloſes, gedankenleeres Daſein ſie zu⸗ 
meiſt führten. Dagegen waren ihnen ihre Pflichten gewieſen 
worden, d. h. was die Rednerin unter Pflichten verſtand, 
wie ſie ſich einen Beruf erwählen müßten, um die geiſtige 
Ode ihres Lebens und ihres Herzens auszufüllen, alles in 
ſchönen, logiſchen Sätzen, ſehr weiſe, ſehr richtig und doch! — 
und doch! — 

Da gehen ſie hin, die beiden Damen, bekannt bei alt 
und jung als unermüdlich thätig in allerhand Vereinen, wo 
ſie Zeit und Geld verſchwenden. Sie finden nicht Worte 
genug, den Vortrag in überſchwenglichſter Weiſe zu loben, 
und auf ihren Geſichtern ſteht abſchreckend deutlich das: 
„Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene,“ zu leſen. 
Doch erſt geſtern klagte ihre Waſchfrau, daß eben dieſe 
Damen ſich regelmäßig weigerten, die zehn Pfennige für 
die Verſicherungsmarke zu zahlen. Auf meine Frage, warum 
ſie ſie nicht anzeige, erwiderte die Frau, ſie fürchte alsdann 
nicht allein dort ihre Stelle zu verlieren, ſondern auch 
andere, da die Damen viel Einfluß in ihrer ausgedehnten 
Bekanntſchaft hätten. So bezahle ſie lieber die ganze 
Marke allein. 

Zwei, kaum den Kinderſchuhen entwachſene Mädchen 
ſtehen jetzt vor mir. Sie naſchen aus einer Tüte, um ſich 
von der ermüdenden Gedankenarbeit des angeſtrengten Zu⸗ 
hörens zu erholen. 

„Da hätte man ja nun erfahren, wie abgrunbtief 
Ichleht unfereins ift,“ fagt die eine etwas nachdenklich. 

„Si, bange machen gilt nit, Elfe,” entgegnet die 
andere lahend, „das alles betraf doch uns nicht. Die hatte 
gut reden, fie fieht mir gerade aus wie eine, die fich zeit- 





851 


lebens plagen mußte. Entweder ſie weiß überhaupt nicht, 
was es heißt, ſich ſo recht göttlich zu amüſieren oder ſie iſt 
bloß neidiſch auf uns. Auf jieden Fall thut ſie mir leid, 
ich aber tanze, brenne und ſchnitze ruhig weiter.“ 

„Ja, wirklich? Iſt das Deine Meinung?“ und Elſe 
ſeufzt erleichtert auf, „nun, dann will ich mir auch weiter 
keine Sorgen machen. Lieber wollen wir vom nächſten Tanz⸗ 
kränzchen reden. Was wirſt Du dazu anziehen?“ 

Ein drittes, wenig älteres Mädchen drängt ſich zu den 
beiden: „Die Rednerin hat mir zu gut gefallen,“ ſprudelt 
ſie lebhaft hervor, „ſo ganz glatt ſchwarz angezogen! Famos! 
Schneidig!“ 

„Nun, wie eine Konzertſängerin konnte ſie ſich doch 
nicht vorſtellen, es hätte auch nicht mehr bei ihr gelohnt,“ 
brummte ihre Nachbarin. 

Arme Rednerin, das iſt Dein Erfolg bei dem jungen 
Nachwuchſe! 

Eine runde Geſtalt, ein rotes, erhitztes Geſicht taucht 
neben mir auf: die Frau eines Schuhmachers. Sie ſcheint 
ſehr unzufrieden zu ſein und murrt, laut genug, daß die 
Umſtehenden fie hören können: „Na, erzähle ich heute abend 
meinem Danne, daß bie ledigen Weibsperſonen auch Schufter 
und Schreiner werden jollen, dann geht er ficher noch heute 
abend ing Wirtshaus und trinkt fih einen an. Die Kon 
furrenz tft fhon fo groß und Arbeit giebt e8 wenig, jagt 
er ja immer.” 

Eine ältere Dame, von der ich weiß, daß fie Mutter 
mehrerer erwachfener Söhne ift, die trog guter Beanlagung 
und Fleiß vergeblih in ihren erwählten Berufen ein ge- 
nügendes Ausfommen fjudhen, nidt mit forgenvolem Ans 
gefiht der fhlichten Handwerferfrau beftätigend zu. 

„Wenn nun aber die Mädchen kein Talent zu einem 
gelehrten Beruf, keinen Trieb oder feine Anlage zur Sranten> 
und Armenpflege haben, wa8 follen fie dann ergreifen?“ fragt 
angftvoll eine töchterreihe Mutter, erichredt von dem Ges 
banten eines drohenden, wirtfhaftlihen Umfturzes. 

„Dann laflen Sie fie brave Dienftmäbchen werben!” 
ruft eine junge Frau dazwiſchen, die ſchon manche trübe 
Erfahrung in diefer Beziehung gemadt zu haben jcheint. 

Ein niederfchmetternder Bi trifft fie, und Worte wie 
„empörend“, „unverfhämt*, werden in da8 Obr der Nachbarin 
geflüftert. Doc dieje zudt die Achjeln. 

„So ganz unredt kann ich der jungen Frau nicht geben; 
an guten, anftändigen Dienftmädchen ift zu jeder Zeit großer 
Mangel. Mande, die Näherin, Ladenfränlein (Qadenmädcen 
darf nicht mehr gefagt werden), fogar Volksfchullehrerin ge- 
worden, würde befler gethban haben, einen befcheideneren 
Plat zu wählen, aber den aud vollftändig und gut aus 
zufüllen. &8 ann ja vorlommen, daß unjere Mädchen eins 
mal mittellos daftehen, doch darım forge ich mich nidyt. Die 
meinen Lönnen ordentlih fochen; und efjen wollen, und zivar 
etwas Gutes efjen, werden die Menfchen immer. Sie können 
ftriden, fliden und nähen — und bekleidet wollen die Leute 
immer fein. Bor allem aber haben fie gelernt, fi vor 
feiner Arbeit zu fcheuen, fi) in andere Menfchen zu fügen. 
Da müßte e8 doch gelungen zugehen, wenn fie unter bie 
Räder kämen, voransgeiegt, fie bleiben gefund — nun, und 
dag müfjen wir einer anderen Madjt überlafien.“ 

Die energiihe Dame gefiel mir, fie hatte in vielem 
recht, dennoch mußte ich den Kopf Ichütteln. 

Gewiß, e8 kommt bei Mädchen, wenn feine zwingende 
Notwendigkeit oder wirkliches Talent vorhanden ijt, weniger 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


852 


darauf an, für einen beftimmten Beruf vorbereitet zu fein, 
als überhaupt arbeiten zu wollen und zu können, db. h. eine 
einmal vorgenommene ober verlangte Arbeit mit Stetigfeit, 
Pflihttreue und TFreudigfeit auszuführen. Sm befonderen 
jolten fie jegliche häusliche Arbeit verftehen, e8 wird ihnen, 
mögen fie auch einen Beruf ergreifen, welchen fie mollen, 
nur bon Nuten fein. Ich Tenne Damen, bie jahrelang 
da3 Amt einer Lehrerin ausfüllten, dann burh Stranfheit 
oder aus anderen Gründen geziwungen wurben, diejer Thätig» 
feit zu entfagen. Gerne hätten fie eine Stelle al3 Bor: 
fteherin eines Haushaltes angenommen, welde ihnen aud 
angeboten wurde. Die Bedingungen waren für beide Teile 
zufriedenftellend, doh alle Hoffnungen mußten jcheitern an 
ber einfahen Thatjadye, daß die Betreffenden nicht bie 
Führung eines Haußhaltes verftanden. Wie fief bedauerten 
fie, in ihrer Jugend verfäumt zu haben, bie erforderlichen 
Stenntniffe zu erwerben. 

Die vielen, vielen Reden zu Gunften eines öffentlichen 
Berufes der Mädchen find nicht ohne Gefahr. Die Sehn- 
fuht nah einem folden ift oft nichts anderes, al3 eine 
bequeme Audflucht, den beengenden Schranfen des Eltern 
haufes zu entrinnen, „frei“ zu fein, d. h. feine Nüdfichten 
mehr nehmen zu müffen. 

Als ob auf Erden überhaupt ein gebeihliches Zus 
fammenmirlen der Menjhen möglich wäre, ohne gegenjeitige 
Rüdfihtnahme! 

Der Freier ftelt fi eben nicht mehr fo häufig ein, 
ber bie erträumte Gelbftändigkeit und ‘yreiheit bringen 
fönnte. Da fol nun.al® Erfag ein öffentlicher Beruf her: 
halten. 

So las ich neulid in einer Zeitung eine Anzeige, bie 
mir im Herzen mwebe that: 

„Eine Dame, die fid) einen Pflichtenfreis zu fchaffen 
wünfdt, fuht Stelle als NRepräfentantin und Erzieherin 
mutterlofer Kinder. Gehalt nidit beaniprudht, da e8 der 
Betreffenden nur un fegenbringende Arbeit zu thun ift.* 


Ich zweifle nicht, daß fich der Wunfh der Dame erfüllt 
hat, im Gegenteil, fie hatte gewiß die Wahl unter Hundert 
Stellen. 

Wie Ihön Klingt e8, nur um der Arbeit willen! Groß 
fteht fie da in ihren eigenen Augen und groß in denen einer 
verblendeten Menge. Wer aber zählt die Verwünfchungen, 
wer fieht die Thränen in den Augen folder, die um des 
täglihen Brotes willen eine derartige Stelle anzunehmen 
gezwungen find? Sie müfjen zurüctreten gegen jene, bie ja 
die Arbeit thun will, nur der Arbeit wegen. 

Die fo oft und mit Necht verjpottete und gefchmähte, 
für Gefchäfte ftidende Gebeimeratstochter wird bald ihr 
würbiges Seitenftüd gefunden haben in der PBrivatftunden 
erteilenden Tochter bes verabichiedeten, höheren Offizier2. 
Sie beide, eine wie die andere, nehmen ihren ärmeren Mit: 
ichweftern da8 Brot vom Munde weg, nur weil fie nicht fo 
erzogen find, fih in ihre ausfönmmnlichen, wenn auch be: 
jcheidenen Verhältniffe zu finden. 

Sie fehnen fih nad einen ausgebehnteren Pflichten- 
freife, fie fucchen ihn fid) durch ihrer Hände ober durd; geiftige 
Arbeit zu erwerben. Shre Augen find nicht geichärft worden 
zur Entdedung des einen, der fi allen gleicherweife bietet, 
des PBflihtenfreifes der Liebe. 

Liebe zu üben, fich felbft vergefjen, nichts zu verlangen, 
furz, nur zu leben für andere und in anderen, da3 ift die 





853 








erite, die heiligite yrauenpflicht, und um fie zu erfüllen, ift 
e8 nicht nötig, in die Weite zu jchweifen. 

Uber diefe hberrlidhfte Predigt des Chriftentums wird 
unferen Sindern nur zu wenig gelehrt. 

Sein „Sch“ immer in den Vordergrund zu ftellen, dag 
ift die Qehre, melde Eltern und Erzieher mit Wort und 
Betiptel meift ihren Kindern zu geben pflegen: TQönenbe 
PBhrafen vom „fi ausleben”, „feine Eigenart bewahren“, 
vom „Übermenfchen“ u. f. w., beftärken die jungen Gemüter 
nur no mehr in der Schlucht. 

Die Welt und das Gefchid aber erlauben den wenigften 
Menichen, fich in ihrer Eigenart außzuleben und die Folge 
diefes unftilbaren Verlangens ift Überdruß, lnzufrieben- 
heit und Langeweile. Dagegen wird nun die Arbeit in 
einem öffentlichen Berufe als Allheilmittel angepriefen. Sie 
hebt jedoh nur für kurze Zeit die Wirkung auf, nicht die 
Urſache. E38 ift, als wollte man eine bösartige Auzichlag?- 
franfheit mit äußeren Mitteln vertreiben, die, ohne ba ur: 
fähliche Übel zu heben, für kurze Zeit die roten Fleden 
berichwinden lafjen, damit fie defto fchneller und fchlimmer 
wieder hervortreten. 

Sm allgemeinen tft e8 an fich ziemlich glei, ob die 
Mädchen fi durch verichiedene Nichtigkeiten oder mit Hilfe 
eines angelernten Berufes über die linbefriedigtheit ihres 
Daſeins hinmwegzutäufhen verfuchen. Senes wird fie nicht 
unglüdlicher, biejeg aber aud) nicht viel glüdlicher machen. 
Denn eine Thätigkeit, bie nur den Zwed bat, über bie 
Langeweile einfamer Stunden fortzuhelfen, oder nur zur 
Stillung ihfühtiger Wünfihe dienen fol, wird fein Frauen- 
herz auf die Dauer wahrhaft befriedigen. Das tritt erft 
dann ein, wenn da8 Mädchen gelernt hat, ihre Arbeit zum 
Segen anderer werben zu lafien. 

Betrachten aber die jungen Mädchen von diefem Ge: 
fihtspunfte aus bag weite Arbeitäfeld des Lebens, fo werben 
fie in ihrer nächften Umgebung Gelegenheit genug zur Thätig- 
feit finden, und nicht mehr den Wunfch hegen, einen beftimmten 
Berufszweig zu ergreifen. 

Diele Mädchen, die inmitten einer reichen Thätigkeit 
ftehen, find nicht glüdlih), und wieder andere haben feinen 
Beruf und find doch zufrieden, weil fie gelernt haben, ben 
großen Scha& ihres Herzens zu heben und in Eleine Münze 
umzujegen. Dabei haben fie weder Zeit noch Neigung, 
über taufenderlet Unverftanbenes nadhzugrübeln. Und wer, 
Hand aufs Herz, mer fteht fo einfam in der Welt, daß er 
nicht Gelegenheit fände, Liebe zu üben? 

Zuerft aber tft e8 nötig, an fich felbft anzufangen, feine 
ihjüchtigen Wünfche zu erftiden, feine Aniprühe aufzugeben. 
Dann wird der Blick fich Ihärfen für die Wünfhe und An 
fprüdhe der engeren oder weiteren Umgebung unb ba3 Herz 
wird deren Beredhtigung anerkennen. 

Zur Pfliterfüllung, zur Arbeitfamfeit, vor allem zur 
Selbftverleugnung und zur Nächftenliebe follten unfere Kinder 
erzogen werden. Das dem lebenden Geichlechte zum Bewußt- 
jein zu bringen, wäre ein würdiger Zwed der gefamten os 
genannten: Frauenbildungdreform. 

Um zu diejer Erfenntnis zu kommen, bebarf e3 wahrlid) 
nit erft de8 Studium? der Philojophie, wie und Frauen 
in legter Zeit mit fo befonderer Vorliebe dargethan mwirb. 

Die Philofophie und die Frau — beiler die beiden 
bleiben auseinander. Das Gehirn der Frau mag vielleicht 
den hoben Anforderungen entipreden, die gerade bdiejes 
Studium ftellt. Ihr Verftand mag imftande fein, in bie 


Beiblatt der Deutihen Roman-gZeitung. 


854 


unergründlichen Tiefen der Weltweisheit zu tauchen, deren 
Offenbarungen fogar nicht immer der Mann gewacjen ift: 
Dennod Steht die Frau in ihrer Geifteseigenart der Philo- 
fophie eher feindlich gegenüber. 

Welche Beweife werden nicht hervorgeholt, um das Gegen= 
teil nachzumeifen und auf wie Shwaden Füßen ftehen fie! 

Was die alten Deutfhen an den Frauen Geheimni?- 
volles und Heiliges verehrten, galt wahrlich nicht einer uns 
bewußt geabnten, philojophiihen Anlage des Weibes, fondern 
der heiligen, geheimnispollen Menjchwerbung, deren Träger 
nun einnal die Frau if. Das dürfte aud) die Veranlaffung 
gewejen fein, die im Verborgenen webenden Schidjalgmächte 
in Trauengeftalten zu verkörpern. 

Die Frau fteht weder über noch unter dem Manne, 
fondern neben ihm, und jebem Zeile tft eine, feiner 
natürlihen Beitimmung entiprehende Geifteßeigenart und 
Denkungsweife gegeben. 

Wohl verchrten die Griechen eine Göttin ber Weisheit, 
3eu8’ blauäugige Tochter Athene. Die Sage erzählt ung, 
fie wäre unmittelbar dem Haupte des Vater8 entiprungen. 
Gie ftclt alfo vor allem die Verförperung des plöglich ent- 
ftandenen Gedantens dar, der weder gewillt, noch imſtande 
ift, einen Grund oder eine Urfadhe feiner Entftehung an 
zugeben, folglid) mit Philojophie nichts gemein hat. 

Aus den bomeriihen Gefängen tritt ung Athene in 
ihrer hervorragend weiblichen Geiftesrihtung Har vor Augen. 
Shre Weisheit befteht in großer Kenntnis der Dienfchen, be: 
fonder8 von deren Schwächen, fobann in einer geichictten Be: 
nugung der Zeit, des Ortes und der gegebenen Verbältniffe, 
endlih in dem aufrichtigen, herzinnigen Verlangen, unter 
allen Umftänden ihrem Schüglinge zu helfen. Um diefes zu 
erreichen, nimmt fie gegebenen Falls zur Lift, zur Verftellung, 
ja jogar zur offenbaren Lüge ihre Zufludt. 

DOdnfiens gehordt den, ihn oft gewaltig in Erftaunen 
jegenden NRatidlägen Athenes, ohne nad Gründen zu 
forfjhen; er weiß, e8 ift gut, e8 ijt zweddienlich, gerade fo 
wie fie befiehlt. Er folgt unbemußten Eingebungen, beren 
Urfprung die Griehen, da fie befonders weibliche Geiftes- 
äußerungen find, der Einwirkung einer. Göttin, und nidt 
eines Gottc3, zufchrieben. 

Wo aber die eigenen Entichließungen bes Helden in 
Stage kommen, da durhbdenkt und überlegt er mit nadj- 
finnendem Berftande bis in das Eleinfte das Für und Wider, 
und mwägt die möglicherweife daraus entftehenden Wirkungen 
und Folgen. 

Aus diejer naiven Gegenüberftellung der ratenden Göttin 
und des dentenden Mannes treten uns die Gegenjäße zwiſchen 
feiner Geiftesanlage und der der Frau deutlich entgegen. 

Die Fran, befonders wenn fie Takt und Herzensgüte in 
jid) vereinigt, wird noch einen Nat und Ausweg bort ent: 
beden, wo dem Beritande bes Mannes alles verichlofien er: 
fheint. Sie wird Lebenswahrheiten ausfprechen fönnen, bie 
der Mann trog allen Grübeln®, oder vielleiht gerade be@- 
wegen, nicht zu finden vermag. Einen einmal gefaßten 
Gedanken wird fie möglihft fchnel in Handlung umfegen. 
Kurz gefagt, bei der Frau bildet die Erfennints des Wahren 
und des Redten nicht den Echluß einer langen, mühfam ent- 
widelten Gebantenreihe, wie e8 bei dem Dianne der Yal zu 
fein pflegt — alfo fehlt der Frau jegliche philofophiiche Anlage. 

Einem jedem Teile, fei e8 Mann, fei e8 Weib, ift ein 
feiner Denkungsart entfprechender Wirfungsfreis im Leben 
borgezeichnet. 








851 


lebens plagen mußte. Entweder ſie weiß überhaupt nicht, 
was es heißt, ſich ſo recht göttlich zu amüſieren oder ſie iſt 
bloß neidiſch auf uns. Auf jeden Fall thut ſie mir leid, 
ich aber tanze, brenne und ſchnitze ruhig weiter.“ 

„Ja, wirklich? Iſt das Deine Meinung?“ und Elſe 
ſeufzt erleichtert auf, „nun, dann will ich mir auch weiter 
keine Sorgen machen. Lieber wollen wir vom nächſten Tanz⸗ 
kränzchen reden. Was wirſt Du dazu anziehen?“ 

Ein drittes, wenig älteres Mädchen drängt ſich zu den 
beiden: „Die Rednerin hat mir zu gut gefallen,“ ſprudelt 
ſie lebhaft hervor, „ſo ganz glatt ſchwarz angezogen! Famos! 
Schneidig!“ 

„Nun, wie eine Konzertſängerin konnte ſie ſich doch 
nicht vorſtellen, es hätte auch nicht mehr bei ihr gelohnt,“ 
brummte ihre Nachbarin. 

Arme Rednerin, das iſt Dein Erfolg bei dem jungen 
Nachwuchſe! 

Eine runde Geſtalt, ein rotes, erhitztes Geſicht taucht 
neben mir auf: die Frau eines Schuhmachers. Sie ſcheint 
ſehr unzufrieden zu ſein und murrt, laut genug, daß die 
Umſtehenden ſie hören können: „Na, erzähle ich heute abend 
meinem Manne, daß die ledigen Weibsperſonen auch Schuſter 
und Schreiner werden ſollen, dann geht er ſicher noch heute 
abend ins Wirtshaus und trinkt ſich einen an. Die Kon⸗ 
kurrenz iſt ſchon ſo groß und Arbeit giebt es wenig, ſagt 
er ja immer.“ 

Eine ältere Dame, von der ich weiß, daß ſie Mutter 
mehrerer erwachſener Söhne iſt, die trotz guter Beanlagung 
und Fleiß vergeblich in ihren erwählten Berufen ein ge⸗ 
nügendes Auskommen ſuchen, nickt mit ſorgenvollem An⸗ 
geſicht der ſchlichten Handwerkerfrau beſtätigend zu. 

„Wenn nun aber die Mädchen kein Talent zu einem 
gelehrten Beruf, keinen Trieb oder keine Anlage zur Kranken⸗ 
und Armenpflege haben, was ſollen ſie dann ergreifen?“ fragt 
angſtvoll eine töchterreiche Mutter, erſchreckt von dem Ge⸗ 
danken eines drohenden, wirtſchaftlichen Umſturzes. 

„Dann laſſen Sie ſie brave Dienſtmädchen werden!“ 
ruft eine junge Frau dazwiſchen, die ſchon manche trübe 
Erfahrung in dieſer Beziehung gemacht zu haben ſcheint. 

Ein niederſchmetternder Blick trifft ſie, und Worte wie 
„empörend“, „unverſchämt“, werden in das Ohr der Nachbarin 
geflüſtert. Doch dieſe zuckt die Achſeln. 

„So ganz unrecht kann ich der jungen Frau nicht geben; 
an guten, anſtändigen Dienſtmädchen iſt zu jeder Zeit großer 
Mangel. Manche, die Näherin, Ladenfräulein (Ladenmädchen 
darf nicht mehr geſagt werden), ſogar Volksſchullehrerin ge⸗ 
worden, würde beſſer gethan haben, einen beſcheideneren 
Platz zu wählen, aber den auch vollſtändig und gut aus⸗ 
zufüllen. Es kann ja vorkommen, daß unſere Mädchen ein⸗ 
mal mittellos daſtehen, doch darum ſorge ich mich nicht. Die 
meinen können ordentlich kochen; und eſſen wollen, und zwar 
etwas Gutes eſſen, werden die Menſchen immer. Sie können 
ſtricken, flicken und nähen — und bekleidet wollen die Leute 
immer ſein. Vor allem aber haben ſie gelernt, ſich vor 
keiner Arbeit zu ſcheuen, ſich in andere Menſchen zu fügen. 
Da müßte es doch gelungen zugehen, wenn ſie unter die 
Räder kämen, vorausgeſetzt, ſie bleiben geſund — nun, und 
das müſſen wir einer anderen Macht überlaſſen.“ 

Die energiſche Dame gefiel mir, ſie hatte in vielem 
recht, dennoch mußte ich den Kopf ſchütteln. 

Gewiß, es kommt bei Mädchen, wenn keine zwingende 
Notwendigkeit oder wirkliches Talent vorhanden iſt, weniger 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 


852 


darauf an, für einen beſtimmten Beruf vorbereitet zu ſein, 
als überhaupt arbeiten zu wollen und zu können, d. h. eine 
einmal vorgenommene oder verlangte Arbeit mit Stetigkeit, 
Pflichttreue und Freudigkeit auszuführen. Im beſonderen 
ſollten ſie jegliche häusliche Arbeit verſtehen, es wird ihnen, 
mögen ſie auch einen Beruf ergreifen, welchen ſie wollen, 
nur von Nutzen ſein. Ich kenne Damen, die jahrelang 
das Amt einer Lehrerin ausfüllten, dann durch Krankheit 
oder aus anderen Gründen gezwungen wurden, dieſer Thätig⸗ 
keit zu entſagen. Gerne hätten ſie eine Stelle als Vor— 
ſteherin eines Haushaltes angenommen, welche ihnen auch 
angeboten wurde. Die Bedingungen waren für beide Teile 
zufriedenſtellend, doch alle Hoffnungen mußten ſcheitern an 
der einfachen Thatſache, daß die Betreffenden nicht die 
Führung eines Haushaltes verſtanden. Wie kief bedauerten 
ſie, in ihrer Jugend verſäumt zu haben, die erforderlichen 
Kenntniſſe zu erwerben. 

Die vielen, vielen Reden zu Gunſten eines öffentlichen 
Berufes der Mädchen ſind nicht ohne Gefahr. Die Sehn— 
ſucht nach einem ſolchen iſt oft nichts anderes, als eine 
bequeme Ausflucht, den beengenden Schranken des Eltern⸗ 
hauſes zu entrinnen, „frei“ zu ſein, d. h. keine Rückſichten 
mehr nehmen zu müſſen. 

Als ob auf Erden überhaupt ein gedeihliches Zu— 
ſammenwirken der Menſchen möglich wäre, ohne gegenſeitige 
Rückſichtnahme! 

Der Freier ſtellt ſich eben nicht mehr ſo häufig ein, 
der die erträumte Selbſtändigkeit und Freiheit bringen 
könnte. Da ſoll nun als Erſatz ein öffentlicher Beruf her⸗ 
halten. 

So las ich neulich in einer Zeitung eine Anzeige, die 
mir im Herzen wehe that: 

„Eine Dame, die ſich einen Pflichtenkreis zu ſchaffen 
wünſcht, ſucht Stelle als Repräſentantin und Erzieherin 
mutterloſer Kinder. Gehalt nicht beanſprucht, da es der 
Betreffenden nur um ſegenbringende Arbeit zu thun iſt.“ 


Ich zweifle nicht, daß ſich der Wunſch der Dame erfüllt 
hat, im Gegenteil, ſie hatte gewiß die Wahl unter hundert 
Stellen. 

Wie ſchön klingt es, nur um der Arbeit willen! Groß 
ſteht ſie da in ihren eigenen Augen und groß in denen einer 
verblendeten Menge. Wer aber zählt die Verwünſchungen, 
wer ſieht die Thränen in den Augen ſolcher, die um des 
täglichen Brotes willen eine derartige Stelle anzunehmen 
gezwungen ſind? Sie müſſen zurücktreten gegen jene, die ja 
die Arbeit thun will, nur der Arbeit wegen. 

Die ſo oft und mit Recht verſpottete und geſchmähte, 
für Geſchäfte ſtickende Geheimeratstochter wird bald ihr 
würdiges Seitenſtück gefunden haben in der Privatſtunden 
erteilenden Tochter des verabſchiedeten, höheren Offiziers. 
Ste beide, eine wie die andere, nehmen ihren ärmeren Mit: 
Ichweftern dag Brot vom Munde weg, nur mweil fie nicht fo 
erzogen find, fi in ihre ausfömmlichen, wenn aud be: 
fcheibenen Verhältnifje zu finden. 

Sie fehnen fih nad einen auSgedehnteren Pflichten: 
freije, fte fuchen ihn fid) durch ihrer Hände oder burdh geiftige 
Arbeit zu erwerben. Ihre Augen find nicht geichärft worben 
zur Entdedung de3 einen, der fich allen gleichermweife bietet, 
bes PBflichtenfreifes der Liebe. 


xiebe zu üben, fich felbft vergeffen, nichts zu verlangen, 
furz, nur zu leben für andere und in anderen, daß tft bie 





853 





erfte, die heiligfte rauenpflicht, und um fie zu erfüllen, tft 
e3 nicht nötig, in die Weite zu fchweifen. 

Über diefe herrlichfte Predigt des Chrifientums wird 
unjeren Stindern nur zu wenig gelehrt. 

Gein „SH“ immer in den Vordergrund zu ftellen, das 
ift die Lehre, mweldhe Eltern und Erzieher mit Wort und 
Beifpiel meift ihren Kindern zu geben pflegen: TQönenbe 
Phrafen vom „fi ausleben“, „feine Eigenart bewahren“, 
vom „Übermenfhen* u. f. w., beftärfen bie jungen Gemüter 
nur nody mehr in der Zchfudt. 

Die Welt und das Geihid aber erlauben ben wenigiten 
Menihen, fi in ihrer Eigenart auszuleben und die Folge 
diefes unftilbaren Verlangens ift Überdruß, lUnzufrieben= 
heit und Langeweile. Dagegen wird nun die Arbeit in 
einem öffentlichen Berufe ala Allheilmittel angepriefen. Sie 
hebt jedody nur für kurze Zeit die Wirkung auf, nicht die 
Urfade. E8 ift, ala wollte man eine bösartige Ausichlag?- 
frankheit mit äußeren Mitteln vertreiben, die, ohne das ur: 
fählihe Übel zu heben, für kurze Zeit die roten Fleden 
verichwinden laffen, damit fie befto fchneller und fchlimmer 
wieder hervortreten. 

Im allgemeinen tft e8 an fich ziemlich glei, ob die 
Mädchen fih durch verichhiedene Nichtigkeiten oder mit Hilfe 
eined angelernten Berufes über die Linbefriedigtheit ihres 
Dafeind hinmwegzutänfhen verfuchen. Senes wird fie nicht 
unglüdlicher, biefes8 aber auch nicht viel glüdlicdher madıen. 
Denn eine Thätigkeit, die nur ben Zwed bat, über bie 
Langeweile einfamer Stunden fortzuhelfen, ober nur zur 
Stilung ichfüchtiger Wünfche dienen fol, wird fein Frauen 
herz auf die Dauer wahrhaft befriedigen. Das tritt erft 
dann ein, wenn da8 Mädchen gelernt hat, ihre Arbeit zum 
Segen anderer werben zu lafien. 

Betrachten aber die jungen Mädchen von biefem Ge: 
fihtspunfte aus das weite Arbeit2feld des Lebens, fo werben 
fie in ihrer nädhften UImgebung Gelegenheit genug zur Thätig- 
feit finden, und nicht mehr den Wunfch hegen, einen beftimmten 
Berufsziweig zu ergreifen. 

Diele Mädchen, die inmitten einer reichen Thätigfeit 
ftehen, find nicht glüdlih, und wieder andere haben feinen 
Beruf und find Doc zufrieden, weil fie gelernt haben, ben 
großen Schaß ihres Herzens zu heben und in Eleine Münze 
umzujegen. Dabei haben fie weder Zeit noch Neigung, 
über taufenderlei Unverftanbenes nachzugrübeln. lind mer, 
Hand aufs Herz, mer fteht fo einfam in der Welt, daß er 
nicht Gelegenheit fände, Liebe zu üben? 

Zuerft aber tft e3 nötig, an fich felbft anzufangen, feine 
ihjüchtigen Wünfche zu erftiden, feine Ansprüche aufzugeben. 
Dann wird der Blick fid Shärfen für die Wünfche und An- 
fprüdhe der engeren oder weiteren lmgebung und das Herz 
wird deren Berechtigung anerkennen. 

Zur Pflihterfüllung, zur Arbeitfamteit, vor allem zur 
Selbftverleugnung und zur Nächftenliebe folten unfere Sfinder 
erzogen werden. Das dem lebenden Gefchlechte zum Bewußt- 
fein zu bringen, wäre ein würbiger Zwed ber gefamten fo> 
genannten: Frauenbildungsreform. 

Um zu diefer Erkenntnis zu fommen, bedarf e8 wahrlid) 
nicht erft des Studiums ber Philofophie, wie uns Frauen 
in legter Zeit mit fo befonderer Vorliebe dargethan wird. 

Die Philojophie und die Grau — befler die beiden 
bleiben auseinander. Das Gehirn der rau mag vielleicht 
den hohen Anforderungen entipreden, die gerade biejes 
Studium ftellt. Ihr Verftand mag imftande jein, in bie 


Beiblatt der Deutihen Roman-gZeitung. 


unergründlichen Tiefen der Weltweißheit zu tauchen, deren 
Offenbarungen fogar nicht immer der Mann gemwadjen ift: 
Dennod fteht die Frau in ihrer Geiftegeigenart ber Philos 
fophie eher feindlich gegenüber. 

Welche Beweife werden nicht hervorgeholt, um dag Gegen 
teil nadhjzumeijen und auf wie Shwadhen Füßen ftehen fie! 

Wa8 die alten Deutfhen an den Frauen Geheimni?- 
bolle® und Heiliges verehrten, galt wahrlich nicht einer uns 
bewußt geahnten, philojophiihen Anlage des Weibes, fondern 
der heiligen, geheimnisvollen Menfchwerbung, deren Träger 
num einmal bie Fran tft. Das dürfte audy die Veranlafjung 
gewejen fein, die im Verborgenen webenden Schickſalsmächte 
in Frauengeftalten zu verkörpern. 

Die Frau fteht weder über noch unter bem Manne, 
jondern neben ihm, und jedem Teile ift eine, feiner 
natürlihen Beftimmung entiprehende Geifteßeigenart und 
Denktungsweife gegeben. 

Wohl verchrten die Griechen eine Göttin ber Weisheit, 
Zeus’ blauäugige Tochter Athene. Die Sage erzählt ung, 
fie wäre unmittelbar dem Haupte de8 Vaterd entiprungen. 
Sie ftelt alfo vor allem die Verförperung des plößlidy ent- 
ftandenen Gebantens dar, der weder gewillt, nody imftande 
ift, einen Grund oder eine Urjache feiner Entftehung an 
zugeben, folglih mit Philofophie nichtS gemein hat. 

Aus den Homerifhen Gefängen tritt uns Athene in 
ihrer hervorragend weiblichen Geiſtesrichtung Elar vor Augen. 
Shre Weisheit befteht in großer Kenntnis der Mienfchen, be= 
fonder8 von deren Schwächen, fobann in einer gefchidten Be 
nugung der Zeit, des Ortes und der gegebenen Verhältniffe, 
endlich in dem aufrichtigen, herzinnigen Verlangen, unter 
allen Umftänden ihrem Schüglinge zu helfen. Um diefes zu 
erreichen, nimmt fie gegebenen Falls zur Lift, zur Verftellung, 
ja fogar zur offenbaren Lüge ihre Zuflucht. 

Ddyfjens gehordt den, ihn oft gewaltig in Erftaunen 
jegenden NRatihlägen Athenes, ohne nah Gründen zu 
forfhen; er weiß, e8 ift gut, e8 ijt zweddienlidh, gerade fo 
wie fie befiehlt. Er folgt unbewußten Eingebungen, beren 
Urfprung die Griehen, ba fie befonders weibliche Geiftes- 
äußerungen find, der Einwirkung einer. Göttin, und nidt 
eines Gottc3, zufchrieben. 

Wo aber die eigenen Entichließungen be Helden in 
Srage kommen, da durhdentt und überlegt er mit nad) 
finnendem Berftande bis in das Heinfte das Für und Wider, 
und mwägt die möglicherweife daraus entftehenden Wirkungen 
und Folgen. 

Aus diefer naiven Gegenüberftellung ber ratenden Göttin 
und des denkenden Mannes treten uns die Gegenfäte zwilchen 
feiner Geiftesanlage und der der rau deutlich entgegen. 

Die rau, befonders wenn fie Takt und Herzensgüte in 
fid) vereinigt, wird noch einen Nat und Ausweg bort ent: 
deden, wo dem Verftande bes Mannes alles verfchlofien er: 
jheint. Sie wird Lebenswahrheiten ausfprechen können, bie 
der Mann trog allen Grübelns, oder vielleicht gerade be#- 
wegen, nicht zu finden vermag. Einen einmal gefaßten 
Gedanken wird fie möglichft jchnell in Handlung umifegen. 
Kurz gelagt, bei der Srau bildet die Erkenntnis des Wahren 
und des Rechten nicht den Echluß einer langen, mühlam ent: 
widelten Gedantenreihe, wie eö bei dem Dianne ber Zall zu 
fein pflegt — alfo fehlt der Fran jegliche philofophiiche Anlage. 

Einem jedem Teile, jei e8 Mann, fei e& Weib, ift ein 
jeiner Denkungsart entiprechender Wirfungsfreis im Leben 
borgezeichnet. 








855 


Dem Manne mit ſeinem grübelnden, nachſinnenden 
Verſtande die weiten Gebiete der geiſtigen Forſchung und 
der Kampf mit dem äußeren Leben. Hier kann jede falſche 
oder unterlaſſene Berechnung, jede unüberlegte That von 
ſchweren Folgen begleitet ſein. 


Dem Weibe die Erziehung und Pflege des werdenden 
Menſchen, die Verwaltung des Hauſes. Hier kommt es auf 
ſchnelles Eingreifen, raſches Erfaſſen des Augenblickes ohne 
erwägendes Zaudern, auf leichtes Fortgleiten über tauſend 
kleine Unannehmlichkeiten an. Ein Übergriff in den Wirkungs⸗ 
kreis des einen oder des andern wird ſich immer bitter rächen, 
und kann nur mit Aufgabe des beſten und weſentlichſten 
Teiles des urſprünglichen Seins von Erfolg begleitet werden. 


Schlimm genug, daß die Not der Zeit die Frau zwingt, 
ihrem natürlichen Wirkungskreiſe untreu zu werden. Schlimm 
genug, daß ſie viele Gebiete des Erwerbes dem Manne ſtreitig 
machen muß. Sie ſollte ſich an der Erreichung des Not⸗ 
wendigſten genügen laſſen und ſich, von falſchem Ehrgeize 
getrieben, nicht auch noch auf ein Feld wagen, deſſen Anbau 
nicht einmal großen, praktiſchen Erfolg verſpricht. 

Wenn wieder Zeiten kommen, in denen die Frau ihrer 
eigentlichen Beſtimmung unbeirrt folgen darf, wird ſie die 
erſtrittenen Gebiete raſch und freudig wieder aufgeben. 
Tauſend Beiſpiele einzelner beweiſen es, die ihre Thätigkeit 
und ihren Beruf ohne Bedauern fallen laſſen, wenn ſich 
ihnen die Pforten eines eigenen Heims öffnen. Einige wenige, 
hervorragende Talente können vielleicht ausgenommen werden. 

Jeder Beruf, der die Frau aus den Grenzen des Hauſes 
führt, muß und ſoll als das gezeichnet bleiben, was er iſt — 
ein Notbehelf. 


Alles Ungeſunde und Unnatürliche trägt den Keim des 
Unterganges in ſich ſelbſt, darum werden jene Zeiten wieder 
kommen, und ſie werden keinen Rückſchritt, ſondern einen 
Fortſchritt in der Geſchichte der Frau bezeichnen. 


* * * 


„Du jchiltft über Garbinenpredigten, und haft uns felbft 
eine gehalten,” wirft Du Tagen, liebe Leierin. Du Haft recht 
und ic) zweifele nicht, daß meiner Rede auch berfelbe Erfolg 
beichieden if. Du wirft gähnen und die Augen fchließen, 
um nichts zu fehben und zu hören. Du wirit Deine Stinder 
in ber Schlucht großziehen, Du wirft Deine Töchter zu einem 
Berufe zwingen und vielleicht felber zu Schopenhauer und 
Ntegihe greifen. Die Welt wird ihren Weg weitergehen 
und wer recht behält, Du ober ih, wir werben e8 mohl 
beide nicht erleben. 


„So kann,” erwiderft Du, „nur ein eingebildeter Dann 
ichreiben, der ung weiter nechten, unterdbrüden — —“ 


Halt — Du irrft: ich bin Deine Gefchlechtögenoffin, 
und eben darum hab’ id} das geichrieben; nicht als bloßen 
Widerhall deflen, wa8 Männer jagen, fondern aus bem 
Drange bes Herzens. Denn ih — und mit mir Taufende 
und Taufende von deutihen Mädchen und Frauen fehen mit 
Schmerz, wohin die Übertreibung einiger Hunderte von Ge: 
Ihlechtögenoifinnen führt. 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 





856 





Wiegenlied. 


Sumſum, ſumſum, ganz leiſe, 

Der Sandmann geht einher, 

Er ſtreuet Sand im Kreiſe, 
Das macht die Äuglein ſchwer. 


Sumſum, ſumſum, mein Schätzchen 
Schließ Deine Äuglein zu, 

Die Täubchen und die Spätzchen 
Die gingen längſt zur Ruh. 


Sumſum, ſumſum, die Sterne 
Die halten draußen Wacht, 
Und drinn' die Englein gerne 
Am Bett die ganze Nacht. 


Sumiſum, nun iſt die Weiſe 
Zu End' eh ich's geglaubt. — 
Der liebe Gott legt leiſe, 
Den Segen auf Dein Haupt. 


*. 4. Wentel. 


Lin Meiſterwerk der vervielfältigenden 
Kunſt. 


Unter den Arten der Vervielfältigung von Kunſtwerken 
hat ſich im Laufe weniger Jahrzehnte die ſogen. Photogravüre 
eine bedeutende Stellung erworben. So große Schwierig: 
feiten fih auch geboten haben, man rajftete nicht und heute 
lafien fid) mit dem Verfahren Blätter herftellen, die felbft 
den jchiwer zu befriedigenden Stunftfenner entzüden können. 

Unter den deutfchen Anftalten, die mit dDiefem Verfahren 
arbeiten, nimmt die Photographbiidhe Gejellihaft in 
Berlin (Dönhofsplag) eine der erften Stellen ein. Eben 
beginnt fie mit der Herausgabe eines Werkes, dag ihrer 
Leiftungsfähigkeit ein glängendes Zeugnis ausſtellt: Kaiſer⸗ 
lihe GemäldesGalerie der Eremitage in St. 
Petersſsburg.“ 

Die Sammlung der Eremitage gehört zu den reichſten 
der Welt. Beſonders zahlreich ſind in ihr die Niederländer, 
Rembrandt, Rubens, van Dyck, Ruysdael u. ſ. w. vertreten 
und zwar mit Arbeiten, die zu ihren beſten gehören. Wenn 
nun auch manches dieſer Gemälde durch Kupferſtiche und 
Lithographien, auch durch ziemlich ſchwache Stahlftidhe be- 
kannt iſt, ſo hat doch bis jetzt ein Sammelwerk gefehlt, das 
die meiſt bedeutenden Bilder der Eremitage in würdiger 
Wiedergabe vereint. Dieſe Aufgabe hat die genannte Geſell⸗ 
ſchaft übernommen und in glänzender Weiſe gelöſt. 

Die zwei erſten Lieferungen (in ſieben zu 12 Blatt 
wird das Werk vollendet ſein) habe ich eingehend betrachten 
können. Sie enthalten neben anderen folgende Bilder: von 
Rembrandt „Pallas Athene“, „Opfer Abrahams“, 
„Abraham empfängt die drei Erzengel“ u. „Der ungläubige 
Thomas“ — von Rubens „Helene Fourment“, „Venus 
und Adonis“, „Kammerfrau der Erzherzogin Iſabella“ — 
von van Dyck „Wilhelm II. von Naſſau“ u. „Jugendliches 
Selbſtbildnis“ — von Murillo „Himmelfahrt Marias“ 
„Verkündigung“, „Ruhe auf der Flucht nach Agypten“ — 
bon Raffael „Heil. Georg“ u. „Madonna mit dem Buch“ 
— von Titian „Danaë“ u. „Toilette der Venus“. Außer⸗ 





857 


dem fei noch Botticellis berühmte „Anbetung der Weijen“ 
genannt. 

Über die einzelnen Ylätter zu berichten ift unmöglid. 
ALS Leiftungen des Kunftdruds find fie durchweg bortrefflid, 
einige aber erheben fi) noch darüber, denn man fann fie 
als unübertrefflid) bezeichnen. 

MWie wunderbar diefe Technik den Gejamteindrud bes 
Urbilds zu geben vermag, lehrt der eingehende Vergleich 
von Naffaele „Madonna mit dem Buch“ — ich kann mid) 
für fie fonft nicht begeiftern, mit ber „Helene Kourment“ 
von Ruben? und etwa Nembrandts herrlicher „Pallas 
Athene*. Die Tonart der Farben und beren Auftrag Elingt 
aus den Photograpüren beutlih hervor. Man fieht die 
ruhigen Flähen und Haren Töne Naffael®, die breite 
lebensfreudige Art ded Nubens und Nembrandts ver: 
geiftigtes Licht. 

Der Preis des ganzen Werks fchließt uns gewöhnliche 
Erdenkinder von den Befige aus. Die Lieferung Eojtet 125MRE., 
das Ganze 875 ME. Aber nad) ber Vollendung werden aud) 
bie einzelnen Blätter zu kaufen fein, je nad Bildgröße zu 
25, 15, 10 ME Die Blatigröße ift bei allen gleich, 
51x69 cm. So können aud) die weniger bemittelten Sunft- 
freunde ein folches Blatt erwerben. Unb ich kann verfichern, 
daß fie damit eine dauernde Freude ins Haus bringen. 

Dem vollendeten Werke wird ein Tert von Bıf. Dr. 
v. Tihudi beigegeben, der die Geihidhte und Beichreibung 
jedes einzelnen Blattes enthalten fol. 

O. v. L. 


Das Lied vom Schmerz. 
Vom Schmerz ein Lied! Wie milde Düfte ſteigen 
Auch aus bedornter Blumen Kelch empor, 
Wie oft vom dürft'gen Halm Prachtblumen neigen, 
Wie friſches Grün aus Gräbern ſproßt hervor: 
So ſoll vom Schmerz ein Lied, mein Lied erklingen, 
So haucht's auf ſeinen Dornen aus mein Herz, 
Und leiſe weht es von des Liedes Schwingen: 
Des Lebens guter Engel iſt der Schmerz! 


Ein freundlich Wort vom Schmerz, dem wohlbewährten, 
Stets gegenwärt'gen nahen Freund, ein Wort! 

Er blieb, als all die heiteren Gefährten 

Des Lebens floh'n mit ihrem Glanze fort, 

Er blieb. Ich fühlt's, er ward mir Arzt, er löſte 

Mit Thränen, was die Bruſt umſpann wie Erz, 

Die er als Balſam in die Wunden flößte, 

Da fühlt' ich's wohl, ein Engel ſei der Schmerz. 


Vom Schmerz ein Lied! Dem Wecker in der Wüſte 
Des Lebens, wo Morgana treibt ihr Spiel 

Mit Träumen, die der Arme bitter büßte, 

Den ſchlafberückt ſie lockten von dem Ziel. 

Wenn in die Nacht wie Irrlicht ſchwand ſein Hoffen, 
Fällt in das Grau'n ein Lichtſchein niederwärts, 
Woher er kam, ließ er ein Pförtlein offen, 

Vom Himmel kam der Engel, kam der Schmerz 


So tritt der Schmerz auch in die Nacht der Sünder, 
Tränkt mit der Reue bittrer Arzenei, 

Da werden ſie aufs neue Gottes Kinder, 

Geneſung ſchafft der herbe Trank herbei. 


Noman-⸗Zeitung 1896 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





858 


Mag ihn Verzweiflung, hoffnungsloſe, rufen, 
Und wer ſonſt; da iſt Rettung noch fürs Herz, 
Iſt eine Bahn noch zu des Heiles Stufen, 

Ein Engel ſchreitet ihm voran — der Schmerz! 


Sei denn gebenedeit mir, ſei geſegnet, 

Du treuſter Freund auf unſerm Lebenspfad! 
Schon längſt kein Groll, ſo oft Du mir begegnet, 
Kein Harm, Du Ernſter, Dir entgegentrat. 

Mit heißen Thränen tilgeſt Du die Mängel, 

Ich weiß auch, bricht einſt das gequälte Herz, 
Weiß, daß an meiner Gruft nicht fehlt der Engel, 
Mein Liebesengel fehlt dann nicht: der Schmerz! 


Zul. Thomſen. 


Vermiſchtes. 


Unter Pennalismus verſtand man früher auf den 
Univerſitäten das ſogenannte Fuchsrecht, welches in der 
ſchimpflichen Behandlung und Mißhandlung der Ankömmlinge 
auf hohen Schulen durch ihre älteren Kommilitonen gipfelte. 
Dieſer Unfug hatte ſolche Tragweite erlangt, daß er ſchließ⸗ 
lich durch ein Reichsgeſetz, 1662, verboten werden mußte. 
Wie es bei der Pennalputzerei in Leipzig zuging, davon 
erzählt uns ein Bericht aus dem Jahre 1660, den O. Moſer 
kürzlich in einer Zeitung wiedergab. „Man kann es hier 
gar nicht mehr erdulden,“ wird geſagt. „Denn wenn ein 
junger Studioſus hier ankommt, muß er die erſten vier 
Wochen ein Fuchs heißen und darf nicht zu ehrlichen 
Studenten kommen. Er muß auch in der Kirche ſeine Stelle 
in der ſogenannten Fuchsecke nehmen, darf keine hübſchen 
Kleider tragen, den Degen nicht anlegen und Mantel, Hut 
und Kleid muß alt, zerriſſen und geflickt ſein, und darf man 
an ihm kein Band ſehen. Je lumpenhafter er einhertritt, 
für ein deſto ehrlicheres Pennal wird er angeſehen. Wenn 
die alten Studenten ſpeiſen, müſſen die Pennäler aufwarten 
und fragen, ob ſie etwas zu befehlen haben. Kommen die 
alten Studenten zu ihnen, ſo müſſen die Pennäler ſpendieren, 
was ſie verlangen, dürfen aber nicht mittrinken. Man zwingt 
ſie unter die Tiſche zu kriechen, zu heulen wie ein Hund, 
oder zu ſchreien wie eine Katze, zu krähen wie ein Hahn, zu 
grunzen wie ein Schwein und zu wiehern wie ein Roß. 
Wenn ſie überſtanden haben, werden ſie mit einer Scheuer— 
bürſte mit Wagenſchmiere eingeſeift und mit einem alten 
Degen raſiert, auf einem Schleifſteine geſchliffen, mit einem 
Beſen abgekehrt, mit einem Neibeilen abgehobelt und mit 
einer Pferdeftriegel audgefänmt. Dann fegt fi da® Er=- 
pennal zu den alten Burfchen, und num geht e8 and Saufen.“ 
Werkzeuge, welche bei ſolchen Pennalpugereien gebraudt 
wurden, verwahren nod die Sammlungen ber altertumss 
forihenden Gejelihaft in Leipzig. Ta e8 aber doch vielen 
Studenten, namentlid; Söhnen adliger oder fonftiger vor- 
nehmen Samilien, nicht paßte, fi einer jolhen jchimpflichen 
Behandlung zu unterwerfen, fo mieteten fie dafür Pennäler, 
bie dann eine doppelte Portion zu ertragen hatten, ober fie 
gaben ihre Diener, damals Jungen genannt, zu den Bußereien 
her. Proteft gegen diejed Gebaren gab e8 nicht; was dem 
Neuangefommenen von alten Ykademicis anbefohlen wurde, 
mußten fie ohne Widerrede thun. Eine folde konnte nur 
bie überlriebenfte Hudelei und Mißhandlung nad) fich ziehen. 
Wegen einer im WBennaljahr angethanen Schmad; oder 


IV 60 


855 


Dem Manne mit ſeinem grübelnden, nachſinnenden 
Verſtande die weiten Gebiete der geiſtigen Forſchung und 
der Kampf mit dem äußeren Leben. Hier kann jede falſche 
oder unterlaſſene Berechnung, jede unüberlegte That von 
ſchweren Folgen begleitet ſein. 


Dem Weibe die Erziehung und Pflege des werdenden 
Menſchen, die Verwaltung des Hauſes. Hier kommt es auf 
ſchnelles Eingreifen, raſches Erfaſſen des Augenblickes ohne 
erwägendes Zaudern, auf leichtes Fortgleiten über tauſend 
kleine Unannehmlichkeiten an. Ein Übergriff in den Wirkungs⸗ 
kreis des einen oder des andern wird ſich immer bitter rächen, 
und kann nur mit Aufgabe des beſten und weſentlichſten 
Teiles des urſprünglichen Seins von Erfolg begleitet werden. 


Schlimm genug, daß die Not der Zeit die Frau zwingt, 
ihrem natürlichen Wirkungskreiſe untreu zu werden. Schlimm 
genug, daß ſie viele Gebiete des Erwerbes dem Manne ſtreitig 
machen muß. Sie ſollte fih an ber Erreihung des Not⸗ 
wendigſten genügen laſſen und ſich, von falſchem Ehrgeize 
getrieben, nicht auch noch auf ein Feld wagen, deſſen Anbau 
nicht einmal großen, praktiſchen Erfolg verſpricht. 

Wenn wieder Zeiten kommen, in denen die Frau ihrer 
eigentlichen Beſtimmung unbeirrt folgen darf, wird ſie die 
erſtrittenen Gebiete raſch und freudig wieder aufgeben. 
Tauſend Beiſpiele einzelner beweiſen es, die ihre Thätigkeit 
und ihren Beruf ohne Bedauern fallen laſſen, wenn ſich 
ihnen die Pforten eines eigenen Heims öffnen. Einige wenige, 
hervorragende Talente können vielleicht ausgenommen werden. 

Jeder Beruf, der die Frau aus den Grenzen des Hauſes 
führt, muß und ſoll als das gezeichnet bleiben, was er iſt — 
ein Notbehelf. 


Alles Ungeſunde und Unnatürliche trägt den Keim des 
Unterganges in ſich ſelbſt, darum werden jene Zeiten wieder 
kommen, und ſie werden keinen Rückſchritt, ſondern einen 
Fortſchritt in der Geſchichte der Frau bezeichnen. 


* 
, ® 


„Du Ichiltft über Garbinenpredigten, und haft uns felbft 
eine gehalten,“ wirft Du fagen, liebe Leferin. Du haft recht 
und ich zweifele nicht, baß meiner Nebe auch berjelbe Erfolg 
beichieden if. Du wirft gähnen und die Augen fchließen, 
um nichts zu fehen und zu hören. Du wirft Deine Kinder 
in der Schfucht großziehen, Du wirft Deine Töchter zu einem 
Berufe zwingen und vielleicht jelber zu Schopenhauer und 
Niegihe greifen. Die Welt wird ihren Weg weitergehen 
und wer recht behält, Du ober ih, wir werben e8 wohl 
beide nicht erleben. 


„Sp kann,” erwiderft Du, „nur ein eingebilbeter Mann 
Ichreiben, der uns weiter nechten, unterbrüden — —* 

Halt — Du imft: ih bin Deine Geſchlechtsgenoſſin, 
und eben darım hab’ ich das geichrieben; nicht als bloßen 
Widerhall defien, wag Männer fagen, fondern auß den 
Drange des Herzend. Denn ih — und mit mir Taufende 
und Taufende von deutihen Mäbchen und Frauen fehen mit 
Schmerz, wohin bie Übertreibung einiger Hunderte von Ges 
Ihlehtsgenoffinnen führt. 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 








Wiegenlied. 


Sumfum, fumfunm, ganz leiie, 

Der Sandmann geht einher, 

Er ftreuet Sand im Sreife, 
Das macht die Äuglein ſchwer. 


Sumſum, ſumſum, mein Schätzchen 
Schließ Deine Äuglein zu, 

Die Täubchen und die Spätzchen 
Die gingen längſt zur Ruh. 


Sumſum, ſumſum, die Sterne 
Die halten draußen Wacht, 
Und drinn' die Englein gerne 
Am Bett die ganze Nacht. 


Sumſum, nun iſt die Weiſe 
Zu End' eh ich's geglaubt. — 
Der liebe Gott legt leiſe, 
Den Segen auf Dein Haupt. 


5. 4. Beutel. 


sin WMeiflerwerk der vervielfältigenden 
Kunſt. 


Unter den Arten der Vervielfältigung von Kunſtwerken 
hat ſich im Laufe weniger Jahrzehnte die ſogen. Photogravüre 
eine bedeutende Stellung erworben. So große Schwierig⸗ 
keiten ſich auch geboten haben, man raſtete nicht und heute 
laſſen ſich mit dem Verfahren Blätter herſtellen, die ſelbſt 
den ſchwer zu befriedigenden Kunſtkenner entzücken können. 

Unter den deutſchen Anſtalten, die mit dieſem Verfahren 
arbeiten, nimmt die Photographiſche Geſellſchaft in 
Berlin (Dönhofsplatz) eine der erſten Stellen ein. Eben 
beginnt ſie mit der Herausgabe eines Werkes, das ihrer 
Leiſtungsfähigkeit ein glänzendes Zeugnis ausſtellt: Kaiſer⸗ 
liche Gemälde-Galerie der Eremitage in St. 
Petersburg.“ 

Die Sammlung der Eremitage gehört zu den reichften 
der Welt. Belonders zahlreich find in ihr die Niederländer, 
Rembrandt, Rubens, van Dyd, Nuyzdael u. f. w. vertreten 
und zwar mit Arbeiten, bie zu ihren beften gehören. Wenn 
nun aud mandes diefer Gemälde durch Kupferftihe und 
Lithographien, aud duch ziemlih fhwache Stahlftiche be: 
fannt ift, jo hat body big fett ein Sammelmwert gefehlt, das 
die meift bedeutenden Bilder der Eremitage in würbiger 
Wiedergabe vereint. Dieje Aufgabe Hat die genannte Gejell: 
Ihaft übernommen und in glänzender Weife gelöft. 

Die zwei erften Lieferungen (in fieben zu 12 Blatt 
wird da8 Merk vollendet fein) habe ich eingehend betrachten 
fönnen. Ste enthalten neben anderen folgende Bilder: von 
Rembrandt „Palas Athene“, „Cpfer Abrahanıs“, 
„Abraham empfängt die drei Erzengel“ u. „Der ungläubige 
Thomas“ — von Rubens „Helene Fourment“, „Venus 
und Adonis“, „Kammerfrau der Erzherzogin Sfabella" — 
bon van Dyd „Wilhelm II. von Naffau* u. „Sugendliches 
Selbftbildnis? — von Murillo „Himmelfahrt Marias“ 
„Verkündigung“, „Nube auf der Flucht nad) Ägypten“ — 
bon Raffael „Heil. Georg“ u. „Madonna mit dem Buch“ 
— don Titian „Dana“ u. „Toilette der Venus“. Wußer: 





857 


dem fei noch Botticellig berühmte „Anbetung der Weilen“ 
genannt. 

über die einzelnen Blätter zu berichten ift unmöglid. 
Als Leiftungen des Kunftdruds find fie durchweg bortrefflic, 
einige aber erheben fid; nod darüber, denn man fann fie 
als unübertrefflicd) bezeichnen. 

Wie wunderbar diefe Technik den Gefamteindrud de 
Urbilds zu geben vermag, lehrt der eingehende Vergleich 
von Naffael® „Madonna mit dem Buch“ — id fan mid) 
für fie fonft nicht begeiftern, mit der „Helene Tourment“ 
von Nubens und etwa Rembrandt berrlider „Pallas 
Athene”. Die Tonart der Farben und deren Auftrag Llingt 
aus den Photogravüren deutlih hervor. Man ficht die 
ruhigen Flädyen und Zaren Töne Naffael®, die breite 
lebenöfreudige Art des Nubens und Nembrandiß ber- 
getitigtes Licht. 

Der Preis des ganzen Werks fchließt und gewöhnliche 
Erdentinder von den Befige aus. Die Lieferung Eoftet 125ME,, 
das Ganze 875 Mt. Aber nad) der Vollendung werden aud) 
die einzelnen Blätter zu faufen fein, je nad Bildgröße zu 
25, 15, 10 ME. Die Blattgröße ift bei allen gleich, 
51x69 cm. So können aud) die weniger bemittelten Kunft= 
freunde ein folche® Blatt erwerben. Und id) kann verfichern, 
baß fie damit eine dauernde Freude ins Haus bringen. 

Dem vollendeten Werte wird ein Tert von Bıf. Dr. 
v. Tihudi beigegeben, der die Geihichte und Beichreibung 
jedes einzelnen Blattes enthalten fol. 

O. v. L. 


Das Lied vom Schmerz. 
Vom Schmerz ein Lied! Wie milde Düfte ſteigen 
Auch aus bedornter Blumen Kelch empor, 
Wie oft vom dürft'gen Halm Prachtblumen neigen, 
Wie friſches Grün aus Gräbern ſproßt hervor: 
So ſoll vom Schmerz ein Lied, mein Lied erklingen, 
So haucht's auf ſeinen Dornen aus mein Herz, 
Und leiſe weht es von des Liedes Schwingen: 
Des Lebens guter Engel iſt der Schmerz! 


Ein freundlich Wort vom Schmerz, dem wohlbewährten, 
Stets gegenwärt'gen nahen Freund, ein Wort! 

Er blieb, als all die heiteren Gefährten 

Des Lebens floh'n mit ihrem Glanze fort, 

Er blieb. Ich fühlt's, er ward mir Arzt, er löſte 

Mit Thränen, was die Bruſt umſpann wie Erz, 

Die er als Balſam in die Wunden flößte, 

Da fühlt' ich's wohl, ein Engel ſei der Schmerz. 


Vom Schmerz ein Lied! Dem Wecker in der Wüſte 
Des Lebens, wo Morgana treibt ihr Spiel 

Mit Träumen, die der Arme bitter büßte, 

Den fchlafberüdt fie lodten vor dem Ziel. 

Wenn in die Naht wie Srrliht Ichwand fein Hoffen, 
Fält in das Srau’n ein Lichlihein niederwärtg, 
Woher er fam, ließ er ein Pförtlein often, 

Vom Himmel fam der Engel, fam der Schmerz. 

So tritt der Schmerz aud) in die Nacht der Sünder, 
Tränft mit der Neue bittrer Arzenei, 

Da werden fie aufs neue Gottes Stinder, 

Genefung jchafft der herbe Trank herbei. 


RomansFeitung 1896. 


EEE iR 


Beiblatt ber Deutihen Roman-Zeitung. 


858 


Mag ihn Verzweiflung, Hoffnungaloje, rufen, 
Und wer fonft; da ift Rettung nodh fürd Herz, 
Sft eine Bahn nad zu des Heiles Stufen, 

Ein Engel fdpreitet ihm voran — der Schmerz! 


Sei denn gebenedeit mir, fei gejegnet, 

Du treufter Yreund auf unferm Lebenspfab! 
Schon längft fein Groll, fo oft Du mir begegnet, 
Sein Harm, Tu Erniter, Dir entgegentrat. 

Mit heißen Thränen tilgeft Du die Dlängel, 

Sch weiß aud), bricht einft das gequälte Herz, 
Weiß, daß an meiner Gruft nicht fehlt der Engel, 
Mein Liebesengel fehlt dann nidt: der Schmerz! 


Zul. Thomſen. 


Vermiſchtes. 


Unter Pennalismus verſtand man früher auf den 
Univerſitäten das ſogenannte Fuchsrecht, welches in der 
ſchimpflichen Behandlung und Mißhandlung der Ankömmlinge 
auf hohen Schulen durch ihre älteren Kommilitonen gipfelte. 
Dieſer Unfug hatte ſolche Tragweite erlangt, daß er ſchließ— 
lich durch ein Reichsgeſetz, 1662, verboten werden mußte. 
Wie es bei der Pennalputzerei in Leipzig zuging, davon 
erzählt uns ein Bericht aus dem Jahre 1660, den O. Moſer 
kürzlich in einer Zeitung wiedergab. „Man kann es hier 
gar nicht mehr erdulden,“ wird geſagt. „Denn wenn ein 
junger Studioſus hier ankommt, muß er die erſten vier 
Wochen ein Fuchs heißen und darf nicht zu ehrlichen 
Studenten kommen. Er muß auch in der Kirche ſeine Stelle 
in der ſogenannten Fuchsecke nehmen, darf keine hübſchen 
Kleider tragen, den Degen nicht anlegen und Mantel, Hut 
und Kleid muß alt, zerriſſen und geflickt ſein, und darf man 
an ihm kein Band ſehen. Je lumpenhafter er einhertritt, 
für ein deſto ehrlicheres Pennal wird er angeſehen. Wenn 
die alten Studenten ſpeiſen, müſſen die Pennäler aufwarten 
und fragen, ob ſie etwas zu befehlen haben. Kommen die 
alten Studenten zu ihnen, ſo müſſen die Pennäler ſpendieren, 
was ſie verlangen, dürfen aber nicht mittrinken. Man zwingt 
ſie unter die Tiſche zu kriechen, zu heulen wie ein Hund, 
oder zu ſchreien wie eine Katze, zu krähen wie ein Hahn, zu 
grunzen wie ein Schwein und zu wiehern wie ein Roß. 
Wenn ſie überſtanden haben, werden ſie mit einer Scheuer— 
bürſte mit Wagenſchmiere eingeſeift und mit einem alten 
Degen raſiert, auf einem Schleifſteine geſchliffen, mit einem 
Beſen abgekehrt, mit einem Neibeiſen abgehobelt und mit 
einer Pferdeſtriegel ausgekämmt. Dann ſetzt ſich das Ex—⸗ 
pennal zu den alten Burſchen, und nun geht es ans Saufen.“ 
Werkzeuge, welche bei ſolchen Pennalputzereien gebraucht 
wurden, verwahren noch die Sammlungen der altertums—⸗ 
forfchenden Gejellichaft in Leipzig. Da e8 aber doch vielen 
Studenten, namentlid) Söhnen adliger oder fonftiger vor- 
nehmen Yyamilien, nicht paßte, fi) einer jolchen Ihimpflichen 
Behandlung zu unterwerfen, fo mieteten fie dafür Pennäler, 
die dann eine doppelte Bortion zu ertragen hatten, oder fie 
gaben ihre Diener, damals Jungen genannt, zu den Bußereien 
her. Proteft gegen diejed Gebaren gab es nicht; wad dem 
Neuangelommenen von alten Ykademicis anbefohlen wurde, 
mußten fie ohne Widerrede thun. Eine folde Fonnte nur 
bie überlriebenfte Hudelei und Mikßhandlung nach fich ziehen. 
Megen einer im Bennaljahr angethanen Schmad) oder 


IV 60 


859 


Snjurie fid) Später zu. rächen, wäre al8 SKapitalverbrechen ers 
achtet worden. Als das Geſetz gegen dielen Unfug auftrat 
und das Furfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite” an: 
geihlagen wurde, waren e8 gerade die Pennäler, welde 
mit Feuer und Flammen gegen diefe „Beichränfung der 
akademiſchen Freiheit“ proteftierten. 8 verjammelten fi) 
derer über zweihundert vor dem Großen Yürftenfollegium 
und verihmworen jid) zufammen, an dem Pennalwejen feit- 
zubalten, was auch geichehen möge. Sie bejannen fid) jedoch 
bald eines Beeren und fügten fid) ins lInvermeidlihe. Nur 
ein Bennal konnte jeinen Grimm nicht bändigen, jo daß er 
den Rektor Johann Sttig in feinem Haufe infultierte und 
beim ‘yorigehen ihm ein yenfter einwarf. Er wurde gefaßt 
und anf feh® Jahre zur Relegation und Räumung der 
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nad) zwanzig Wochen 
fi wieder in Leipzig blicken ließ, fam er abermals in Haft, 
und am 13. Tezeniber 1662 erfolgte feine Relegation auf 
ewige Zeiten! 

In Wiener SHindentenkreifen erzählt man fid einige 
heitere Geihichten über drei PBrofefforen, melde zur Br= 
fümpfung der überaus läfıigen Folgen ihrer figenden Lebent: 
weile eined Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu 
nehmen. So lange tie würdigen Herren innerhalb der ver- 
ihwirgenen NReitichulmände dem edlen Reitiport oblagen, 
madıte fih die Sadye ganz gut; denn die fpottluftige Tugend 
erfuhr nichts von den fchlimmen Abftürzen, welden die 
Männer der Wiflenfchaft mitunter außgejegt waren. Allein, 
als fie in der Reitfunft bereit fo weit borgeichritten waren, 
um am frühen Morgen hoch zu No& felbftändige Ausflüge 
in den Brater zu wadhen, da gab ed gar bald Anlaß zu 
ichnurrigen Eızählungen. Profeſſor U. pflegte feine Bors 
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die 
Rednergabe voljtändig verfagt hatte. Er bediente fich ftetö 
feines SKollegienhiftes und war ohne dasjelbe jchledyterdings 
nicht imftande, der wiffensdurftigen Jugend den Born feiner 
Gelehriamteit zu erichließen. Eines Morgens fuchte cr, im 
Hörjaale angelangt, vergebens nad) dem bedeutungßbollen 
Hefte. E83 befand fi nicht in feinen Tafchen und aud) nidjt 
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entjendet halte. 
Mehr als Hundert Sörer mußten unverrichteter Dinge den 
Hörjaal verlaffen — eine Notwendigkeit, welcher jich die 
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei folcher 
Gelegenheit ftet3 ausgezeichnet, mährend der PBrofefior fidh 
Ihweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Kollegium 
in einer abgelegenen PBratergegend mehrere Galoppverjuche 
gemacht habe, bei weldien das Heft offenbar feiner Tafche 
entglitten und nun unmiederbringlich verloren fei. Welche 
Freude für ihn, ala ihm am nädften Doorgen der Reitfnedht 
das Heft unverjehrt überreichte. „Wo haben Eie'ö denn ge: 
funden?” fragte er leuchtenden Antliges. — „Sm Futterfad’! 
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der NReitknedyt. — „Im 
Futterſack'l,“ dehnte der Profellor, „ja, wie fann es denn 
dorihin gekommen fein?" — „Hab’ i mir a denkt,“ meinte 
der Neitfnedt, „der Herr Profelfor werd’'n Ihna Halt ver: 
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft 
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht 
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches 
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor 
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen 
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch 
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt. 
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be⸗ 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 


860 





geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte 
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in ben Prater unter- 
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein 
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater nad. Sn der 
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗ 
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor, 
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗ 
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen 
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die 
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter 
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu— 
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasſelbe 
gelingt vollſtändig, und Lehrer wie Schüler haben danach 
alle Urſache, mit ihrem Morgenritte zufrieden zu ſein — 


Sinnſprüche. 
Ein reicher Geiſt iſt wie der Flamme Licht, 
Die um ſich ſchart des Hauſes trauten Kreis, 
Die lebenſpendend durch das Dunkel bricht, 
Und fröhlich Schaffen weckt und Kraft und Fleiß. 


* 
Kehre Dich nicht in der Welt Gedränge 
An das käufliche Urteil der Menge, 
Halte Zwieſprach in Leid und Luſt 
Mit der Stimme in Deiner Bruſt. 
Was quälſt Du Dich mit Sorgen, 
Dein Herz iſt krank und wund, 
Am Abend wie am Morgen, 
Das macht Dich nicht geſund — 
Nimm's auf mit Streit und Plage, 
Schau nimmer müßig zu — 
Nach heißem Kampfestage 
Folgt eine Nacht voll Ruh! 
% 
Glüd, Liebe und Freundfchaft, die Löjtlichen dret, 
Dem einen die Märdenbrillanten der Fey, 
Glasperlen dem andern — fie brachen entzwei! 
x 
Nicht die Fülle ift e8 allein, 
Die der Gabe den Wert verleiht, 
Aber die Abficht gut und rein, 
Ind die Hilfe zu rechter Zeit! 
* 
Der „Wig”, ein leder Gauffer, ber im Sold 
Der Menge [hwakt und ladt, — 
„Semüt”, ber jchlichte Bergmann, der dag Gold 
Holt aus der Erde Schadt. 
* 
Mand Lebensgärtlein, bunt und auserwählt 
Prangt dufterfüllt im Ylor von Blüt’ und Rantle, 
Vollfommen wär's, nur daß der Wildling fehlt, 
Der unter Dornen wudert — ber Gebante! 
* 
Die felige Erwartung, die Dich blind 
Ina farbenfriihe LZeben lodt hinein, 
Die buntbemalte Etikette, Kind, 
Auf einer Flaiche tft’ mit — herbem Wein! 
Si» + 





861 


Betradhtungen. 
Von 6. Aruoldi. 


Mitleid haben, „mit leiden“ iſt die edelſte Blüte des 
reinen und guten Herzens. Aus ihr entſpringt den Müh— 
ſeligen und Beladenen tauſendfacher Segen, doch die koſtbare 
Pflanze gedeiht nur, wenn ſie mit Herzblut genährt wird. 

* 


Die Philoſophen ſtreiten ſich darüber, ob das Leid, der 
Schmerz notwendige Zuchtmeiſter der Menſchenkinder ſeien. 
Dieſe bejahen die Frage, andere treten für Glück und Freude 
als gleichwertige Erzieher ein. Lehrt aber nicht die Erfahrung, 
daß die da Leid tragen, der Menſchheit am meiſten und beſten 
dienten? 

* 


Leben heißt fih befcheiden lernen. 


———, © _— — 


Splitter. 
Bon ©. 


er feines Steuers fundig ift, des Scdifflein wird im 
Sturm niht wanten. 
Der Blumen ftilles Blühen fommt jenem DMenjchen gleich, 
Der treu und ftetig fuchet den Weg zum Himmelreich. 
* 
Als Höchfte Menichenleiftung gilt mir: zu entjagen, 
Und dennoch pflichtgetreu fein Leben weitertragen. 


% 


Wenn Du zum Freunde erft Vertrauen haft, 
Bedarf es nicht mehr der Vertraulichkeit, 
Um Dir zu fagen, daß Tu ihn bejigeft. 


%* 


Kiebe fordert als Ihr Necht „bie Liebofung*. In der 
Freundſchaft aber Liegt ihr Wert darin, baß fie nit zur 
Gewohnheit wird, Jondern al Ausdrud des Heiligften 
Empfindens herbortritt, wenn außergewöhnlihe Stunden 
unfer Innerftes bewegen. 


% 


Befängen wir no al& Demant den Tau, 
Kenn er die Noje immer fhmücen würde? 


Briefkaflen. 


Grifa. Berlin C. Die Eprade gewandt; das Gefühl 
warm, aber das hüpfende Versmap entipricht dem Stoffe 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





862 


gar nicht. In „Frage“ ſprachliche Fehler; z. B. das 
„weinend“ in der letzten Zeile: worauf ſoll ſich das be— 
ziehen? Auch in „Letzte Roſe“ ſind fehlerhafte Wendungen. 
Doch können Sie mir neue Verſuche ſenden. — Herrn C. 
v. A. in O. bei G. Nicht ſo viel, junger Freund! Viel— 
leicht kommen die „Scherben“. — Herrn Th. K. in N. Sie 
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für 
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten 
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G. 
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern 
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn 
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über 
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber“ 
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache. 
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D. 
„Mein Hochzeitstag“ zum Teil ergreifend, aber leider in der 
Form etwas unſicher. Ich wünſche, Sie mögen den Stoff 
nicht aus eigener Erfahrung geſchöpft haben. Sie können 
Neues ſenden. — Frau E. Pr. in K. Warmes Gefühl, 
aber nicht zureichende Begabung. — Frl. X. Y. in Z. So 
lange Sie ſo lehrhaft predigen, wird Ihnen nie ein Gedicht 
gelingen. Gedanken ganz in dichteriſches Schauen aufzu⸗ 
löſen, dazu gehört eine ſehr große Begabung; dieſe haben 
Sie nicht. Darum wäre es beſſer, wenn Sie ſich anderen 








Stoffen zuwendeten oder für die Ihrigen andere Formen 


ſuchten. — Herrn cand. Pf. in W. Der Hauptgedanke 
Ihrer Elegie iſt Schön, aber bie Ausführung mangelhaft. 
Sie beginnt mit dem Vergleich zwiichen GeiftesIeben und 
Duelle. Im dritten YJmeizeiler „blüht nun im Lenz der 
Geiſt“; dann ſprechen Sie wie ein Gefhichtäbud bis Zeile 24; 
hier wird ber Allgeift der Himmel, die Einzelgeifter Sterne, 
und „fe nahen der Mündung“. Alfo Hier jpringt wieder 
das erſte Gleichnis hervor. Ein Bild foll innerlid in 
feiner ganzen Breite geichant fein, jo daß die Hauptmerf- 
male mit dem Verglichenen ftimmen. Dann erft entwidelt 
fi) der große Zug in da8 „Plaftiihe”. So aber zerbrödelt 
dad Ganze. — Herrn Dr. Sr. St. in9. Duma tit bie 
ruffifche Bezeichnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat. 


Inhalt der Wo. 51. 


Art zu Art. Roman von 9 Schobert. Fort. — 
Schwertflingen. Baterländiiher Roman von Hang 
Werder. Fortj. — Beiblatt: Sejam. Bon U. Hin deldbeyn. 
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Da3 
Ende Bon Clara Müller. — Üllerlet zur Frauenfrage. 
Bon M. Müller — Wiegenlid. Von ©. 2. Wenjel. — 
Ein Meifteriwerf der vervielfältigenden Kunft. Bon O.v.%. 
— Tas Lied dom Schmerz. Bon Zul. Thomjen — 
Bermifchtes. — Siunfprühe. Bon 9.9. — Betrachtungen. 
Bon E. Arnoldi. — Eplitter. Von G. — Brieffaiten. 





An unfere Leſer! 


Pit dem mächiten Hefte (Nr. 52) Ichließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Wir 


bitten unjere Abnehmer, ihre Beitellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und PBoitämtern rechtzeitig 
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitichrift eintritt. 
Aus umjftehender Anzeige wollen unjere Yeler Kenntnis von dem vorausfichtlihen Inhalte des 


neuen ahrganges nehmen. 


859 


Snijurie fi Ipäter zu. rächen, wäre al3 Stapitalverbrechen ers 
achtet worden. Al® das Gefeß gegen dielen Unfug auftrat 
und da3 kurfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite” an- 
geihlagen tourde, waren ed gerade die Pennäler, welde 
mit euer und Flammen gegen diefe „Beichränfung ber 
akademiſchen Freiheit“ protefticrten. &8 verfammelten fi 
derer über zmweihundert vor dem Großen Fürftenfollegium 
und verfchworen fid) zufammen, an dem PBennalmwejen feft- 
zubalten, wa8 auch geichehen möge. Sie bejannen fid) jedoch, 
bald eines Befjeren und fügten fi ins Unvermeidlidhe.. Nur 
ein Bennal fonnte feinen Grimm nicht bändigen, To daß er 
den Rektor Iohann Zttig in feinem Haufe injultierte und 
beim Fortgehen ihm ein TFenfter einwarf. Er wurde gefaßt 
und auf fehs Jahre zur Relegation und Räumung der 
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nach zwanzig Wochen 
fi wieder in Leipzig bliden ließ, fam er abermals in Haft, 
und am 13. Dezember 1662 erfolgte feine Nelegation auf 
ewige Zeiten! 

In Wiener Sindentenkreifen erzählt man fid) einige 
heitere Gefhichten über drei Profefforen, welde zur Br: 
fümpfung der überaus läfıigen Folgen ihrer figenden Lebent: 
weile eined Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu 
nehmen. So lange tie würdigen Herren innerhalb der ver- 
Ihwiegenen Reitihulmwände dem edlen NReitiport oblagen, 
madıte fich die Sadje ganz gut; denn bie fpottluftige Jugend 
erfuhr niht3 don den fchlimmen Abftürzen, welden bie 
Männer der Wiffenfhaft mitunter ausgelegt waren. Allein, 
al® fie in der Reitfunft bereits jo weit borgelchritten waren, 
um am frühen Morgen hoch zu Noß jelbftändige Augflüge 
in den Prater zu wadhen, da gab ed gar bald Anlaß zu 
Ihnurrigen Eızählungen. Profeffor U. pflegte feine DBors 
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die 
Nednergabe volftändig verfagt hatte. Er bediente fi ftets 
feines Kollegienhiftes und war ohne dasjelbe fchledterbings 
nicht imftande, der mwiffensdburftigen Jugend den Born feiner 
Gelchriamkeit zu erichließen. Eine8 Morgens fudjte er, im 
Hörjaale angelangt, vergeben? nadı dem bedeutungspollen 
Hefte. E38 befand fih nicht in feinen Tafchen und aud nidht 
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entjendet hatte. 
Mehr als Hundert Hörer mußten unverridhteter Dinge den 
Höriaal verlaffen — eine Notwendigkeit, mwelder jich die 
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei folcher 
Gelegenheit ftet3 ausgezeichnet, während der Brofeflor fich 
jchweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Kollegium 
in einer abgelegenen Pratergegend mehrere Galoppverjuche 
gemacht habe, bei weldhen das Heft offenbar feiner Talche 
entglitten und nun unmieberbringlich verloren je. Welche 
Freude für ihn, al8 ihm am nädften Morgen ber Reitfnedht 
das Heft unverfehrt überreihte. „Wo haben Eie'8 denn ge- 
funden?* fragte er leuchtenden Antligcd. — „Im Futterfad’I 
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der Neitfneht. — „Sn 
Futterfad’l," dehnte der Profeilor, „ja, wie kann e3 benn 
dorthin gefommen fein?" — „SHab’ i mir a denkt,“ meinte 
der Neitfnedht, „der Herr Profelfor werd’n Ihna Halt ver: 
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft 
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht 
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches 
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor 
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen 
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch 
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt. 
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be⸗ 


— — —— 


Beiblatt der Deutſchen Roman⸗Zeitung. 





860 
geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte 
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in den Prater unters 
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein 
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater näch. In der 
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗ 
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor, 
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗ 
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen 
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die 
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter 
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu— 
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasfelbe 
gelingt vollftändig, md Lehrer wie Echüler haben danadı 
alle Urfache, mit ihren Morgenritte zufrieden zu fein — 


Sinnfprüde. 
Ein reicher Geift ift wie der Slanıme Licht, 
Die um fih jchart des Haufes trauten reis, 
Die Tebenipendend burd) das Dunkel bridt, 
Und fröhlih Schaffen wedt und Straft und Fleiß. 


* 
Kehre Dich nit in der Welt Gedränge 
An das fänfliche Urteil der Menge, 
Halte Zivieiprach in Leid und Luft 
Mit der Stimme in Deiner Bruft. 
* 
Was quält Du Did) mit Sorgen, 
Dein Herz ift frank und wund, 
Am Abend wie am Morgen, 
Das madt Tih nicht gefund — 
Nimm’s auf mit Streit und Plage, 
Schau nimmer müßig zu — 
Nach heißem Kampfestage 
Folgt eine Nacht voll Ruh! 
* 
Glück, Liebe und Freundſchaft, die köſtlichen drei, 
Dem einen die Märchenbrillanten der Fty, 
Glasperlen dem andern — ſie brachen entzwei! 
* 
Nicht die Fülle iſt es allein, 
Die der Gabe den Wert verleiht, 
Aber die Abſicht gut und rein, 
Und die Hilfe zu rechter Zeit! 
* 
Der „Wiß”, ein keder Gaufler, der im Solb 
Der Menge Ihwatt und ladt, — 
„Semüt”, der jchlihte Bergmann, der das Gold 
Holt au8 der Erde Schadit. 
* 
Mand) Lebensgärtlein, bunt und auserwählt 
PBrangt dufterfült im Flor von Blüt’ und NRante, 
Volllommen wär's, nır daß ber Wildling fehlt, 
Ter unter Dornen wudert — der Gebante) 
* 
Die felige Erwartung, die Dich blind 
Sn8 farbenfrifhe Leben lodt hinein, 
Die buntbemalte Gtifette, Kind, 
Auf einer Flafche ift’3 mit — herbem Wein! 
S. 


Betrahtungen. 
Von 6. Arnoldl. 


Mitleid haben, „mit leiden“ ift die edelfte Blüte des 
reinen und guten Herzend. Aus ihr entipringt den Müh- 
feligen und Beladenen taufendfaher Segen, doc die foftbare 
Pflanze gedeiht nur, wenn fie mit Herzblut genährt wird. 

* 


Die Bhilofophen ftreiten fi) darüber, ob das Leid, der 
Schmerz notwendige Zuchtmeifter der Menfchenkinder feien. 
Diefe beiahen die Frage, andere treten für Glüd und Freude 
als gleichwertige Erzieher ein. ehrt aber nicht die Erfahrung, 
daß die da Leid tragen, ber Menfchheit am meiften und beiten 


dienten? 
* 


Leben heißt fich beicheiden lernen. 


— in m — 


Splitter. 
Bon ©. 


er jeines Steuers fundig ift, des Scifflein wird im 
Sturm nicht warten. 
Der Blumen ftiles Blühen kommt jenem Menicden gleich, 
Der treu und ftetig fuchet den Weg zum Himmelreich. 
* 
Als höchfte Menichenleiftung gilt mir: zu entfagen, 
Und dennoch pflichtgetreu fein Leben weitertragen. 


% 


Wenn Du zum Freunde erjt Vertrauen haft, 
Bedarf e8 nicht mehr der Vertraulichkeit, 
Um Dir zu jagen, daß Tu ihn beligeft. 


%* 


Kiebe fordert als ihr Net „bie Liebfofung*“. In ber 
SFreundichaft aber Liegt ihr Wert darin, daß fie nicht zur 
Gewohnheit wird, Sondern al Ausdrud des Heiligiten 
Empfinden® hervortritt, wenn außergewöhnlide Stunden 
unfer Innerftes bewegen. 


Belängen wir noch ald® Demant den Tau, 
Wenn er die Noje immer jchmücden würde? 


DBriefkaflen. 


Erila. Berlin C. Die Sprache gewandt; das Gefühl 
warm, aber ba8 hüpfende Vergmaß entipricht dem Stoffe 


Beiblatt ber Deutihen Roman-Beitung. 





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gar nidt. Im „Trage“ Tpradhlihe Fehler; 3. 3. da8 
„weinend* in der legten Zeile: worauf fol fi das be— 
ziehen? Auch in „Legte Noise” find fehlerhafte Wendungen. 
Doh können Eie mir neue VBerfuhe fenden. — Herrn ©. 
v.A. ind. bei ® Nicht fo viel, junger Freund! Viel— 
leicht fommen die „Scherben“. — Herrn Th. E. in N. Eie 
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für 
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten 
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G. 
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern 
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn 
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über 
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber” 
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache. 
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D. 
„Mein Hochzeitstag” zum Teil ergreifend, aber leider in ber 
sorm etwad unfider. Ich wünfhe, Sie mögen den Etoff 
niht aus eigener Erfahrung geihöpft haben. Sie können 
Neues jenden. — Frau E. Br. in 8. Warmes Gefühl, 
aber nicht zureihende Begabung. — Frl. X. 9. in 3. © 
lange Sie jo lehrhaft prebigen, wird Shnen nie ein Gedicht 
gelingen. Gedanken ganz in bichterifches Schauen aufzus= 
löjen, dazu gehört eine fehr große Begabung; diefe haben 
Sie nidit. Darum wäre e8 beffer, wenn Sie fih anderen 








i Stoffen zumwenbeten oder für bie hrigen andere Formen 


judten. — Herm cand. Pf. in W. Der Hauptgebante 
Ihrer Elegie ift Schön, aber die Ausführung mangelhaft. 
Sie beginnt mit dem Vergleich zwifchen Geiftesleben und 
Duelle. Im dritten Zmweizeiler „blüht nun im Lenz der 
Geiſt“; dann Ipredhen Sie wie ein Geihichtshud) bis Zeile 245 
hier wird der Allgeift der Himmel, die Einzelgeifter Sterne, 
und „fie nahen der Mündung“. Alfo hier fpringt wieder 
das erfte Gleihnis hervor. Ein Bild fol innerlich in 
feiner ganzen Breite geihaut fein, fo daß die Hauptmerf: 
male mit dem Verglichenen ftinnmen. Dann erft entwidelt 
fih der große Zug in da „Plaftiihe”. So aber zerbrödelt 
da8 Ganze. — Herrn Dr. Fr. St. ind. BDuma ift bie 
ruflische Bezeihnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat. 


Inhalt der Wo. 51. 


Art zu Art. Roman von 9 Schobert. Fortl. — 
Schwertllingen. VBaterländiiher Roman von Hang 
Werder. Yorti. — Beiblatt: Scjam. Bon U. Hin deldeyn. 
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Das 
Ende. Bon Clara Müller. — Allerlei zur Yrauenfrage. 
Bon M. Müller. — Wirgenlid. Bon ©. 2. Wenfel. — 
Ein Meifterwerf der vervielfältigenden Kunft. Von O.v.R. 
— Tas Lied vom Schmez. Bon Jul. Thomjen — 
Bermifchtes. — Sinufprüde Bon 9.9. — Betrachtungen. 
Bon E. Arnoldi. — Splitter. Von G. — Brieffaften. 





—— — — — — — — — — 


An unſere Leſer! 


Mit dem nächſten Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Wir 


bitten unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig 
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitichrift eintritt. 
Aus umiftehender Anzeige wollen unjere Yejer Kenntnis von dem vorausiichtlihen halte des 


neuen Jahrganges nehmen. 


859 Beiblatt der Deutihen Romanzgeitung. 


Snijurie fi fpäter zu. rächen, wäre als Klapitalverbrechen ers 
achtet worten. Ald das Gefeß gegen diejen Unfug auftrat 
und das Furfürftlihe Mandat am „Schwarzen Breite“ an: 
geihlagen twurde, waren ed gerade bie Bennäler, welche 
mit Teuer und Ylammen gegen diefe „Beichränfung ber 
akademiſchen Yreiheit” protefticrten. E8 verfammelten fid) 
derer über zmweihundert dor dem Großen Yürftenfollegium 
und verihworen jid) zufammen, an dem PBennalwejen feit- 
zubalten, ma8 auch geichehen möge. Sie bejannen jid) jedod) 
bald eines Befjeren und fügten fi) in& Unvermeidlide.. Nur 
ein Bennal konnte feinen Grimm nicht bändigen, lo daß er 
den Rektor Johann Yttig in feinem Haufe infultierte und 
beim ‘Fortgehen ihm ein TFenfter einwarf. Er wurde gefaßt 
und auf feh3 Sabre zur Relegation und Räumung der 
Stadt verurteilt. Weil er aber fchon nad zwanzig Wochen 
fi) wieder in Leipzig blicken ließ, kam er abermals in Haft, 
und am 13. Tezember 1662 erfolgte feine Nelegation auf 
ewige Zeiten! 

In Diener Sindentenkreifen erzählt man fid einige 
heitere Geihichten über drei Brofefforen, weldhe zur Be— 
fümpfung der überaus läftigen Folgen ihrer figenden Qebent= 
weile eine® Tages den Entihluß faßten, Neitleftionen zu 
nehmen. So lange fie würdigen Herren innerhalb der ver- 
ihwirgenen Neitihulmwände dem edlen Reitiport oblagen, 
madıte fi die Sadhe ganz gut; denn die fpottlufiige Jugend 
erfuhr nichts don den jchlimmen Abftürzen, welchen die 
Männer der Wiffenichaft mitunter außgejett waren. Ylllein, 
als fie in der Reitfunft bercit® fo weit borgeichritten waren, 
um am frühen Morgen Hoch zu Noß felbitändige Ausflüge 
in den Prater zu maden, da gab e8 gar bald Anlaß zu 
Ichnurrigen Eızählungen. Profefior U. pflegte ſeine Vor—⸗ 
träge niemals frei zu halten, da ihm die Natur leider die 
Nebnergabe volftändig verfagt hatte. Er bediente fich ftets 
feines Kollegienhiftes und war ohne dasjelbe jchledhterdings 
nicht imftande, der wiffensdurftigen Jugend ben Born feiner 
Gelehriamkeit zu erichließen. Gine® Morgens fudhte er, im 
Hörjaale angelangt, vergebens nadı dem bedeutungdvollen 
Hefte. E8& befand fih nicht in feinen Tajchen und auch nicht 
in feiner Wohnung, wohin er einen Eilboten entiendet hatte. 
Mehr als Hundert Hörer mußten unverridhtetir Dinge den 
Höriaal verlaffen — eine Notwendigkeit, welcher jich die 
Studenten mit dem Gleihmute fügten, der fie bei foldher 
Gelegenpeit ftet3 ausgezeichnet, während der Profeffor fich 
fhmweren Herzens daran erinnerte, daß er vor dem Stollegium 
in einer abgelegenen PBratergegend mehrere Galoppverjuche 
gemadt habe, bei welden das Heft offenbar feiner Tafche 
entglitten und nun unmiederbringlich verloren jet. Welche 
Freude für ihn, ald ihm am näditen Morgen der Reittnecht 
das Heft unverfehrt überreichte. „Wo haben Eie'3 denn ge- 
funden?* fragte er leuchtenden Antliges. — „Im Futterfad’( 
war’3 d’rin,“ antwortete gleihmütig der Neitfneht. — „Sn 
Futterfad’I,* dehnte der Profellor, „ja, wie kann e3 benn 
dorthin gekommen fein?" — „SHab’ i mir a denkt,“ meinte 
der Neitfneht, „der Herr Profeffor werd’'n Ihna halt ver= 
griff'n hab'n in der G'ſchwindigkeit.“ — Das Kollegienheft 
im Futterſack'l! ... Dieſer unliebſame Vorfall durfte nicht 
ausgeplaudert werden. Der Reitknecht bekam ein reichliches 
Trinkgeld. Aber natürlich plauderte er doch. — Profeſſor 
B. wird von einem Studenten, der eines Stipendiums wegen 
eiligſt kolloquieren muß, in ſeiner Wohnung aufgeſucht, doch 
nicht mehr angetroffen, trotzdem es noch früh am Tage iſt. 
Man ſagt ihm, daß ſich der Profeſſor nach der Reitſchule be— 





860 





geben habe; er eilt dahin, doch auch dort iſt der Geſuchte 
nicht mehr; er hat einen Spazierritt in den Prater unter 
nommen. Raſch entſchloſſen, mietet auch der Student ein 
Pferd und jagt dem Profeſſor in den Prater näch. In der 
Nähe des Luſthauſes erreicht er ihn und, ſtaub- und ſchweiß⸗ 
bedeckt, pariert er ſein Pferd. „Entſchuldigen, Herr Profeſſor, 
die eigentümlichen Umſtände ... habe die Ehre, mich vor⸗ 
zuſtellen ... muß heute noch kollequieren ... aus dieſen 
und dieſen Gründen.“ Lächelnd geht der Profeſſor auf die 
Situation ein, winkt dem Studenten, an ſeiner Seite weiter 
zu reiten und hält, um die koſtbare Zeit vollſtändig auszu— 
nützen, das verlangte Kollequium — zu Pferde ab. Dasſelbe 
gelingt vollſtändig, und Lehrer wie Schüler haben danach 
alle Urſache, mit ihrem Morgenritte zufrieden zu ſein — 


Sinnfprüde. 
Ein reicher Gelft ift wie der Flamme Licht, 
Die um fi jchart des Haufes trauten Kreis, 
Die Iebenfpendend durdy das Dunkel bricht, 
Und fröhlih Schaffen wedt und Kraft und Fleiß. 
* 
Kehre Dich nicht in ber Welt Gedränge 
An das fänfliche Urteil der Menge, 
Halte Zwieſprach In Leid und Luft 
Mit der Stimme in Deiner Bruft. 
* 
Was quälft Du Did) mit Sorgen, 
Dein Herz ift frank und wund, 
Am Abend wie am Morgen, 
Das macht Dich nicht geſund — 
Nimm's auf mit Streit und Plage, 
Schau nimmer müßig zu — 
Nach heißem Kampfestage 
Folgt eine Nacht voll Ruh! 
* 
Glück, Liebe und Freundſchaft, die köſtlichen drei, 
Dem einen die Märchenbrillanten der ey, 
Glasperlen den andern — fie brachen entzwei! 
x 
Nicht die Fülle ift es allein, 
Die der Gabe den Wert verleiht, 
Aber die Ablicht gut und rein, 
Und die Hilfe zu rechter Zeit! 
*ᷣ 
Der „Witz“, ein kecker Gaukler, der im Sold 
Der Menge ſchwatzt und lacht, — 
„Gemüt“, der ſchlichte Bergmann, der das Gold 
Holt aus der Erde Schacht. 
* 
Mandy Lebendgärtlein, bunt und auserwählt 
Prangt dufterfült im Flor von Blüf und Nante, 
VBolllommen wär's, nur baß der Wilbling fehlt, 
Der unter Dornen wuchert — der Gedantel 
%* 
Die felige Erwartung, die Dich blind 
Ins farbenfriſche Leben lodt hinein, 
Die buntbemalte Etikette, Sind, 
Auf einer Flaiche ift’3 mit — erben Wein! 
Ss & 


— — — = 


Betrahtungen. 


Von 6. Arnold. 


Mitleid Haben, „mit leiden” ift die ebelfte Blüte des 
reinen und guten Herzend. Aus ihr entipringt den Müh: 
jeligen und Belabenen taufenbfaher Eegen, doch die Loftbare 
Pflanze gedeiht nur, wenn fie mit Herzblut genährt wird. 

* 


Die Bhilojophen ftreiten fi) darüber, ob da8 Leid, ber 
Schmerz notwendige Zuchtmeifter der Menfchentinder feien. 
Diefe beiahen die Trage, andere treten für Glüf und Sreude 
als gleichwertige Erzieher ein. Lehrt aber nicht die Erfahrung, 
daß die da Leid tragen, ber Menjchheit am meiften und beiten 
dienten? 

* 


Leben heißt fich beicheiden lernen. 


— — —— — — 


Splitter. 
Bon ©. 


er feines Steuers kundig ift, bes Scifflein wird tm 
Sturm nicht wantlen. 
Der Blumen ftilles Blühen kommt jenem Menichen gleich, 
Der treu und ftetig juchet den Meg zum Himmelreid. 
* 
Als höchite Menichenleiftung gilt mir: zu entjagen, 
Und dennod) pilichtgetreu fein Leben mweitertragen. 


% 


Wenn Du zum Freunde erjt Vertrauen haft, 
Bedarf es nicht mehr der Vertraulichkeit, 
Um Dir zu jagen, daß Tu ihn befigeft. 


Kiebe fordert als ihr Necht „bie Lieblojung“. In der 
Sreundfchaft aber liegt ihr Wert darin, daß fie nicht zur 
Gewohnheit wird, jondern al Ausdrud des Heiligiten 
Empfindens hervortritt, wenn außergewöhnlide Stunden 
unſer Innerſtes bewegen. 


Beſängen wir noch als Demant den Tau, 
Wenn er die Roſe immer ſchmücken würde? 


Vriefkaſten. 


Erika. Berlin C. Die Sprache gewandt; das Gefühl 
warm, aber das hüpfende Versmaß entſpricht dem Stoffe 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





862 


gar nicht. In „Frage“ ſprachliche Fehler; z. B. das 
„weinend“ in der letzten Zeile: worauf ſoll ſich das be— 
ziehen? Auch in „Letzte Roſe“ ſind fehlerhafte Wendungen. 
Doch können Sie mir neue Verſuche ſenden. — Herrn C. 
v. A. in O. bei G. Nicht ſo viel, junger Freund! Viel— 
feiht fommen die „Scherben“. — Herrn Th. K. in N. Sie 
können mir das Epos zuſenden laſſen. Beſten Wunſch für 
Ihre fernere Laufbahn! — Herrn E. v. W. in C. Beſten 
Dank für den freundlichen Gruß! — Frau G. H. in G. 
Ihre Freundin muß ein Backfiſchchen mit kurzen Kleidern 
ſein. Gedanken und Form ſind auch unzulänglich. — Herrn 
Wilh. Sch. Sie fühlen dichteriſch, aber die Herrſchaft über 
den Ausdruck beſitzen Sie noch immer nicht. „Einſ. Gräber“ 
iſt das beſte, aber auch hier fehlt Klarheit der Sprache. 
„'rab“ für „herab“ iſt mehr als hart. — Frl. W. D. 
„Mein Hochzeitstag“ zum Teil ergreifend, aber leider in der 
Form etwas unſicher. Ich wünſche, Sie mögen den Stoff 
nicht aus eigener Erfahrung geſchöpft haben. Sie können 
Neues ſenden. — Frau E. Pr. in K. Warmes Gefühl, 
aber nicht zureichende Begabung. — Frl. X. Y. in Z. So 
lange Sie ſo lehrhaft predigen, wird Ihnen nie ein Gedicht 
gelingen. Gedanken ganz in dichteriſches Schauen aufzu⸗ 
löſen, dazu gehört eine ſehr große Begabung; dieſe haben 
Sie nicht. Darum wäre es beſſer, wenn Sie ſich anderen 








ı Stoffen zuwendeten oder für die Ihrigen andere Formen 


ſuchten. — Herrn cand. Pf. in W. Der Hauptgedanke 
Ihrer Elegie iſt ſchön, aber die Ausführung mangelhaft. 
Sie beginnt mit dem Vergleich zwiſchen Geiſtesleben und 
Quelle. Im dritten Zweizeiler „blüht nun im Lenz der 
Geiſt“; dann ſprechen Sie wie ein Geſchichtsbuch bis Zeile 24; 
hier wird der Allgeiſt der Himmel, die Einzelgeiſter Sterne, 
und „ſie nahen der Mündung“. Alſo hier ſpringt wieder 
das erſte Gleichnis hervor. Ein Bild ſoll innerlich in 
ſeiner ganzen Breite geſchaut ſein, ſo daß die Hauptmerk— 
male mit dem Verglichenen ſtimmen. Dann erſt entwickelt 
ſich der große Zug in das „Plaſtiſche“. So aber zerbröckelt 
das Ganze. — Herrn Dr. Fr. St. in H. Duma iſt die 
ruſſiſche Bezeichnung für Stadtvertretung oder Gemeinderat. 


Inhalt der No. 51. 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. Fortſ. — 
Schwertklingen. Vaterländiſche Roman von Hans 
Werder. Fortſ. — Beiblatt: Seſam. Von A. Hinckeldeyn. 
— Das freudige Teftament. Bon Karl Pröll. I. — Das 
Ende. Bon Clara Müller. — Ullerlei zur YJrauenfrage. 
Bon M. Müller. — Wiegenlid. Bon ©. 2. Wenjel. — 
Ein Meiftertwerf der vervielfältigenden Kunft. Von O.v.%. 
— Tas Lied vom Schmerz Bon Zul. Thomfen — 
Bermiihtes. — Sinufprüde. Bon 9.9. — Betraditungen. 
Bon E. Arnoldi. — Splitter. Von G. — Brieffaften. 





ml — — 


An unſere Leſer! 


Mit dem nächſten Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Wir 


bitten unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig 
zu erneuern, damit feine Störung im Bezuge der Zeitſchrift eintritt. 
Aus umſtehender Anzeige wollen unſere Leſer Kenntnis von dem vorausſichtlichen Inhalte des 


neuen Jahrganges nehmen. 





Ter nee Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten: 





Ein doppeltes Ich. { Unter den Borsgia. 
Roman Roman 


Hermann Heiberg. 


Richard Bob. 


— —— TA ALLA EU AG ANSL A EURER INNE A — — —— — —— — —— ————— —— 
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — ee —— —— — — — — — — — — — —— — —— — — — — — — — — — — — — — 


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Snfriganten. Die Fremde. 


Hiftorifcher Roman Roman 


von 


Fedor von Zobeltih. 


von 


Dans Warhenhufen. 


Am Ende von Alt-Berlin. 


Hiſtoriſcher Roman 


Ohne Liebe. 


Roman 


von 


ED Wald-Zedtwitz. 


Wendepunkte. 


Roman 


von 


Bruno Garlepp. 


Schloß Geisberg. 


Roman 


von 


A. Norden. 
(A. Hinnius.) 


von 


Joſefine Gräfin Schwerin. 





Romane von H. Schobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, ſo daß wir unſeren Leſern eine Ab— 
wechslung bieten, die von feiner anderen Zeitichrift erreicht wird. 
Das BVeiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer 

Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen 
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialismus 
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſähe bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren 
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen, 
9 


Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeitung. 
Berlin, Anhaltſtr. 11 


Verantwortlicher veiter: Otto von veixner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei-Altien-Geſellſchaft 
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗-Vereins). 


— — it — 2.2 — —* 








Deutſche 





ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 
beziehen. 


—1896. 


Roman-Zeitung., 


Erſcheint wöchentlich zum Preiſe von 35 vierteljährlich. Alle Buchhandlungen und Poſt⸗ 
Durch alle Buchhandlungen auch in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Oktober zu Oktober. 


Ne 5. 


Art zu Art. 


Roman 


von 


H. Schobert. 
(Schluß.) 


Einunddreißigſtes Kapitel. 


Wie lang iſt eine ſchlaflofe Nacht! 

Es iſt, als wäre ſie allen Geiſtern der Finfter: 
nis preisgegeben, die ſich hohnlachend beeilen, ihre 
Beute zu peinigen. Maud freute ſich faſt, als das 
erſte Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber. 
Aber auch der Tag dehnte ſich ſo endlos lang und 
monoton, trotzdem ſie ſich fieberhaft bemühte, die 
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. Es ge— 
lang ihr nicht. 

Von Fortunat kam keine Nachricht. 

Trotzdem war ſie ruhiger geworden, ſie fühlte 
beſtimmt, er würde nichts thun, was ihr das Leben 
noch erſchweren könnte, und Trennung hatte ſie ja 
ſelbſt gewollt. Nun es aber entſchieden war, fehlte 
er ihr überall. Daß ſie ihn ſo vermiſſen könnte, 
hätte ſie niemals gedacht. — Beſuche machte ſie 
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriſch, daß 
ſie ſich von allen zurückhielt, bis — nun, bis man 
entweder ihr wieder entgegenkam, oder bis Fortunat 
imſtande war, ſie auf irgend eine Art zu rehabili— 
tieren. Freilich war ſie weltklug genug, um zu 
willen, daß es nichts Schwereres giebt, als eine ver— 
lorene Poſition wiederzugewinnen, daß ſich ſelbſt die— 
jenigen Menſchen, die ſich für großherzig oder chriſt— 
lich geſinnt halten, ſcheuen, die erſten zu ſein, die 
einen Irrtum bekennen und wieder gutmachen. 

Aber trotz ihrer Einſamkeit, trotz ihrer trüben 
Gedanken verging auch der Tag, und der folgende 
brachte ihr Nachricht von Fortunat. 

Sie fühlte ſchon durch das Couvert hindurch 
eine dicke Karte, und ungeduldig riß ſie den Um— 
ſchlag auf. 

Luzie Quenſel 
Alexander Fortunat 
Verlobte. 


Roman⸗ZJeitung 1890. Llef. 52. 


ſtand darauf; und auf der Rückſeite in ſeiner faſt 
weiblich zarten Handſchrift: „Ich habe mein Wort 
gehalten; Sie ſind jetzt entſündigt.“ — 

Maud ſtieß einen Schrei aus. 

„Das habe ich nicht gewollt,“ ſagte ſie heftig, 
mit dem Fuß aufſtampfend, in emporwallendem Ärger. 
„Das iſt thöricht! Er hat ſein ganzes Leben mit 
dieſer Handlung zerſtört.“ 

Dann ſetzte ſie ſich, die Karte in ihrem Schoß, 
und verſuchte ſich alles möglichſt klarzumachen. 

Standen ihre Chancen dadurch beſſer? Sie 
glaubte es kaum. Jedenfalls mußte er ſein ganzes 
Leben hindurch für den Heroismus büßen, der ihn 
zu dieſem Opfer getrieben. Mochte Luzie ſein wie 
ſie wollte, für Fortunat paßte ſie nicht. 

„Armer Freund!“ flüſterte ſie ſehr traurig vor 
ſich hin; denn daß ſie ihn ſicher und auf immer 
verloren hatte, das wußte ſie genügend. 

Als Heeken zum Frühſtück kam — er that es 
in letzter Zeit wieder pünktlicher, denn Eva mahnte 
ihn daran — legte ſie ſchweigend die Karte neben 
ſeinen Teller. Er griff danach und warf ſie dann 
mit einem ſonderbaren Laut zur Seite. 


„Der iſt ja ganz verrückt geworden!“ ſagte er 
dann, und ſtrich ſich über das Haar und das Geſicht 
wie in großer Aufregung. „Was willſt Du denn 
nun machen?“ 

Sie ſah ihn befremdet an. „Ich? — Ja, gegen 
mich hat er doch keine Verpflichtungen.“ 

Er ſah ſie an. 

„Der Leute wegen hat er es gethan,“ ſagte er 
dann ſcharf. „Das iſt unrecht! Man ſoll nicht aus 
irgend welchen Rückſichten etwas thun, was einen 
nachher reuen könnte, und er hat ſich nie etwas aus 
Luzie gemacht.“ 

Maud ſah ihren Mann mit grenzenloſem Er⸗ 
ſtaunen an. 


IV. 6ı 





Ter neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten: 


Ein doppeltes Ich. 


Roman 


Unter den Borsia. 


Roman 


Richard Boß. 


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S Mohenfroſt, roman son Carl Wille. = 


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Intriganten. Die Fremde. 


Hiſtoriſcher Roman Roman 


von 


Hermann Heiberg. 








von 


Hans Wachenhuſen. 


von 


Fedor von Zobeltitz. 


Am Ende von Alt-Berlin. 


Hiſtoriſcher Roman 


Ohne Liebe. 


Roman 


von 


Bruno Garlepp. 


von 


E. v Wald-Zedtwitz 


._—— Lohn 


Wendepunkte, 


Roman 


Schloß Geisberg. 


Roman 





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> 


von 


A. Horden. 
(AR. Dinnius.) 


von 


Iofefine Sräfn Schwerin. 


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Romane von H. Schobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, ſo daß wir unſeren Leſern eine Ab— 
wechslung bieten, die von keiner anderen Zeitſchrift erreicht wird. 


Das B eiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer 
rt : ine jp W 3 


Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen 
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialiſsmus 
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren 
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen. 


Leitung und Verlag der Deutſchen Roman: Zeitung. 


Berlin, Mubalttr. 11. 


Verantwortlicher deiter: Dito von Xeirner in Berlin, — Berlag von Dtto Janke in Berlin. — Drud der Berliner Buchdruderei⸗-Altien-Geſellſchaft 
(Seperinnen =» Schule bed Fette» Verein). 


— EEE EEE ————— — — — — — — — — — ——— —— — 


Deutſche 


Roman-Zeifung. 


18%. 


ämter nehmen dafür Beitellungen an. 
beziehen. 


Erjheint mwödjentlih zum Preife von 3% M vierteljährlih. Alle Buchhandlungen und Boft 
Durd) ale Buchhandlungen audy) in Monatsheiten zu 
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dfiober. 


Ne 5. 





Art zu Art. 


Roman 


bon 


3. Schobert. 
(Schluß.) 


Einunddreißigſtes Kapitel. 


Wie lang iſt eine ſchlafloſe Nacht! 

Es iſt, als wäre ſie allen Geiſtern der Finſter⸗ 
nis preisgegeben, die ſich hohnlachend beeilen, ihre 
Beute zu peinigen. Maud freute ſich faſt, als das 
erſte Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber. 
Aber auch der Tag dehnte ſich ſo endlos lang und 
monoton, trotzdem ſie ſich fieberhaft bemühte, die 
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. Es ge— 
lang ihr nicht. 

Von Fortunat kam keine Nachricht. 

Trotzdem war ſie ruhiger geworden, ſie fühlte 
beſtimmt, er würde nichts thun, was ihr das Leben 
noch erſchweren könnte, und Trennung hatte ſie ja 
ſelbſt gewollt. Nun es aber entſchieden war, fehlte 
er ihr überall. Daß ſie ihn ſo vermiſſen könnte, 
hätte ſie niemals gedacht. — Beſuche machte ſie 
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriſch, daß 
ſie ſich von allen zurückhielt, bis — nun, bis man 
entweder ihr wieder entgegenkam, oder bis Fortunat 
imſtande war, ſie auf irgend eine Art zu rehabili— 
tieren. Freilich war ſie weltklug genug, um zu 
wiſſen, daß es nichts Schwereres giebt, als eine ver—⸗ 
lorene Poſition wiederzugewinnen, daß ſich ſelbſt die— 
jenigen Menſchen, die ſich für großherzig oder chriſt— 
lich geſinnt halten, ſcheuen, die erſten zu ſein, die 
einen Irrtum bekennen und wieder gutmachen. 

Aber trotz ihrer Einſamkeit, trotz ihrer trüben 
Gedanken verging auch der Tag, und der folgende 
brachte ihr Nachricht von Fortunat. 

Sie fühlte ſchon durch das Couvert hindurch 
eine dicke Karte, und ungeduldig riß ſie den Um— 
ſchlag auf. 

Luzie Quenſel 
Alexander Fortunat 
Verlobte. 





Romau⸗Zeitung 1890. Lief. 62. 


ftand darauf; und auf der Nüdfeite in feiner fait 
weiblih zarten Handichrift: „Ich babe mein Wort 
gehalten; Sie find jegt entjündigt.” — 

Maud ftieß einen Schrei aus. 

„Das habe ich nicht gewollt,“ jagte fie heftig, 
mit dem Fuß aufftampfend, in emporwallendem Ärger. 
„Das ift thöriht! Er hat fein ganzes Leben mit 
diefer Handlung zerftört.” 

Dann fette fie fi, die Karte in ihrem Schoß, 
und verfuchte fi alles möglichft Harzumadhen. 

Standen ihre Chancen badurh beiler? Sie 
glaubte es kaum. Sedenfalls mußte er jein ganzes 
Leben hindurh für den Heroismus büßen, der ihn 
zu biefem Opfer getrieben. Mochte Luzie jein wie 
fie wollte, für Fortunat paßte fie nicht. 

„Armer Freund!” flüfterte fie jehr traurig vor 
ih bin; denn daß fie ihn fiher und auf immer 
verloren hatte, das wußte fie genügend. 

Als Heelen zum Frühfltüd fam — er that es 
in legter Zeit wieder pünftliher, denn Eva mahnte 
ihn daran — legte fie jhweigend bie Karte neben 
feinen Teller. Er griff danad und warf fie dann 
mit einem jonderbaren Laut zur Seite. 

„Der ift ja ganz verrüdt geworden!” jagte er 
dann, und ftrich fih über das Haar und das Gelicht 
wie in großer Aufregung. „Was wilft Du denn 
nun machen ?” 

Sie fah ihn befremdet an. „Ah? — a, gegen 
mich bat er doch Feine Verpflichtungen.” 

Er jah fie an. 

„Der Leute wegen hat er es gethan,” jagte er 
dann jharf. „Das ift unredht! Man fol nit aus 
irgend welchen NRüdfjichten etwas thun, mas einen 
nachher reuen könnte, und er bat ich nie etwas aus 
Luzie gemacht.“ 

Maud ſah ihren Mann mit grenzenloſem Er⸗ 
ſtaunen an. 


IV. 61 





Ter neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten: 


Ein doppeltes Ich. 


Roman 


Unter den Borsia. 


Roman 


Richard Boh. 


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Intriganten. Die Fremde. 


Hiſtoriſcher Roman Roman 


von 


Hermann Heiberg. 











von 


Hans Wachenhuſen. 


: Am Ende von Alt:-Berlin. 


Diftoriicher Noman 


von 


Fedor von Zobeltitz. 


— — — — — 


Ohne Liebe. 


Roman 





von 


Bruno Garlepp. 


von 


E. od Wald-Zedtwitz 


“ 


Schloß Geisberg. 


Roman 


Wendepunkte, 


Roman 


von 


A. Horden. 
(R. Hinnius.) 


von 


Iofefine Gräfin Hdwerin. 


USA. IEN 
EUGENE! 


Nomane von H. Scobert, E. Karl, L. Glaß werden folgen, jo day wir unferen Yelern eine Ab- 
werhslung bieten, die von feiner anderen Zeitichrift erreicht wird. 
Das B eiblatt wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unſerer 
Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen 
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialisſsmus 
zum Ziele genommen. Otto von Leirners Grundſähe bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren 
Yelern Defamm, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen. 


Leitung und Verlag der Deutſchen Roman-Zeitung. 
Berlin, Anhaliſtr. 11. 





Verantwertliger deiter: Otto von Leixner in Berlin. — Verlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckrei-Aktien⸗-Geſellſchaft 
(Setzerinnen⸗Schule des Lette⸗Vereinß). 


Deutſche 





—1896. 


ämter nehmen dafür Beſtellungen an. 
beziehen. 


Roman-Zeitung. 


Erjcheint wöcentlih zum Preife von 3% M vierteljährlih. Alle Buhhandlungen und Bolt 
Durd) alle Buchhandlungen aud) in Monatsheften zu 
Der Jahrgang läuft von Dftober zu Dftober. 


Ne 52. 





Art zu Art. 


Roman 


von 


H. Schobert. 
(Schluß.) 


Einunddreißigſtes Kapitel. 


Wie lang iſt eine ſchlafloſe Nacht! 

Es ift, al& wäre fie allen Geiftern der Finfter: 
nis preisgegeben, die fih hohnladhend beeilen, ihre 
Beute zu peinigen. Maud freute fi faft, als das 
erite Tagesgrauen ihr zeigte, daß die Nacht vorüber. 
Aber auch der Tag behnte fi jo endlos lang und 
monoton, troßdem fie fich fieberhaft bemühte, bie 
Stunden etwas eiliger entfliehen zu machen. €& ge 
lang ihr nidt. 

Bon Fortunat fam feine Nachricht. 

Trogdem war fie ruhiger geworden, fie fühlte 
beitimmt, er würbe nichts thun, was ihr das Leben 
noch erihmweren Tönnte, und Trennung hatte fie ja 
jelbft gewollt. Nun es aber entjchieben war, fehlte 
er ihr überall. Daß fie ihn jo vermillen könnte, 
hätte fie niemals gedadht. — Bejuhe made fie 
nirgends mehr, ihr Stolz verlangte gebieteriih, daß 
fie ih von allen zurüdhielt, bis — nun, bis man 
entweder ihr wieder entgegenfam, oder bis Fortunat 
imftande war, fie auf irgend eine Art zu rehabili- 
tieren. Freilid war fie weltllug genug, um zu 
wiflen, daß es nichts Schwereres giebt, ala eine ver: 
Iorene Bofition mwiederzugewinnen, daß fich felbit die- 
jenigen Menfchen, die fich für großherzig oder drift- 
lich gefinnt halten, jcheuen, die erften zu fein, bie 
einen Srrtum befennen und wieder gutmaden. 

Aber troß ihrer Einjamleit, troß ihrer trüben 
Gedanken verging au der Tag, und ber folgende 
bradte ihr Nadhridht von Fortunat. 

Sie fühlte jhon durh das Couvert hindurch 
eine Ddide Starte, und ungeduldig riß fie den Um: 
Ihlag auf. 

Luzie Quenjel 
Alerander Fortunat 
erlobte. 


Roman-geltung 1896. Liel. 52. 


ftand darauf; und auf der Nüdfeite in feiner fait 
weiblich zarten Handicrift: „Ich babe mein Wort 
gehalten; Sie find jegt entjündigt.” — 

Maud ftieß einen Schrei aus. 

„Das babe ich nicht gewollt,” jagte fie heftig, 
mit dem Fuß aufftampfend, in emporwallendem Ärger. 
„Das ift thöriht! Er hat fein ganzes Leben mit 
diefer Handlung zerftört.” 

Dann fegte fie fi, die Karte in ihrem Schoß, 
und verfuchte fi alles möglihft Harzumaden. 

Standen ihre Chancen dbadurdh befjer? Sie 
glaubte es faum. ebenfalls mußte er jein ganzes 
Leben hindurch für den Heroismus büßen, der ihn 
zu biefem Opfer getrieben. Mochte Luzie jein wie 
fie wollte, für Fortunat paßte fie nicht. 

„Armer Freund!” flüfterte fie jehr traurig vor 
ih Hin; denn daß fie ihn ficher und auf immer 
verloren hatte, das wußte fie genügend. 

Als Heelen zum Frühltüd Tam — er that es 
in leßter Zeit wieder pünktliher, denn Eva mahnte 
ihn daran — legte fie jchweigend die Karte neben 
feinen Teller. Er griff danad und warf fie dann 
mit einem jonderbaren Laut zur Seite. 

„Der ift ja ganz verrüdt geworden!” jagte er 
dann, und ftrih fi) über das Haar und das Gelicht 
wie in großer Aufregung. „Was willit Du denn 
nun machen ?” 

Sie jah ihn befremdet an. „Ah? — Ya, gegen 
mich bat er doch feine Verpflichtungen.” 

Er jah fie an. 

„Der Leute wegen bat er es gethan,” jagte er 
dann jcharf. „Das ift unredht! Pan fol nit aus 
irgend weldhen Rüdfichten etwas thun, mas einen 
nachher reuen fönnte, und er bat fich nie etwas aus 
Luzie gemacht.“ 

Maud jah ihren Mann mit grenzenlojem Er: 
ftaunen an. 





iv. 61 


— 


867 Art zu Art. 


„Meintt Du?” fragte fie wie abweiend. Und 
dann fih befinnend, „Du jollit die Wahrheit hören, 
zino. Er bat einen anonymen Brief befommen, 
der feinen Verkehr mit mir verbädtigte — in ben 
Staub 309. — Durd diejen Schritt bat er meine 
Ehre wiederberitellen wollen.” — 

Sie hatte zulegt jehr erregt geiprochen. SYhre 
Wangen brannten. 

„Das war jehr überflüffig,” jagte Heelen und 
balancierte ein Mefjer auf feiner Fingeripige. Diefe 
Ruhe empörte fie. 

„Wenn Du den Brief nur gelejen bätteft!” 
„St nicht nötig; ich Tenne feinen Inhalt.” 
Sie Jah ihn maßlos erftaunt an. 

„Was joll das heißen, Tino!“ 

„Man bat mir wohl denjelben zugejhidt.” 
„Dirt?!" Sie jprang auf und trat Dicht neben 

„Und Du haft nichts gejagt?“ 

„Wozu? fragte er, ohne fie anzufehen. „Ach 
babe ihn verbrannt.” 

Einen Augenblid drüdte fie die Hände gegen 
die Augen. 

„zino!” jagte fie leife, 
dem Gehörten. 


Er lächelte, ein ganz Klein wenig. Dann ent: 
gegnete er: 


„Sa, fiehit Du, der Bauer hat feine eigene 
Moral! ZH bin Euch mit feinem Gedanken zu 
nahe getreten. E3 Lonnte ja gar nicht anders 
fommen, als wie ed nun aud gelommen ift.” 

Sie war ganz verwirrt, betroffen, außer fid. 
Etwas wie Scham durdhaudte fie und wie eine Ab: 
bitte lag in ihrem Blid. Xeije legte fie ihren Arm 
um feinen Hals. 

„Tino!“ 

Er ſchob ſie nicht unfreundlich, aber unwider— 
ſtehlich von ſich. 

„Laß es gut ſein, Maud,“ ſagte er in ſeiner 
ruhigen Art. „Das taugt uns nicht.“ 

Beſchämt ging ſie von ihm und ſetzte ſich in 
ihren mit Blumen dekorierten Erker. 

Noch an demſelben Nachmittag wurde ihr das 
Brautpaar gemeldet. Luzie kannte ſich gar nicht in 
ihrer triumphierenden Freude. Trotzdem glitten ihre 
Blicke unabläſſig ſuchend, ſpürend von einem zum 
anderen. Und jedesmal, wenn ſie glaubte, daß über 
Mauds Geſicht ein Schatten flog, fand ſie Ge— 
legenheit zu irgend einer demonſtrativen Zärtlichkeit 
für ihren Bräutigam, der ſtill und blaß daneben 
ſaß, kaum ein Schatten des luſtigen Fortunat von 
ehemals. 

Luzie war klug genug, die Gründe, die ihn in 
ihre Arme getrieben, zu durchſchauen, aber das 
„Warum“ war ihr, bei ihrem Charakter, ziemlich 
gleichgültig; ſie würde ihn ſich ſchon ziehen, reſü— 
mierte ſie. 

Nicht ein einziges Mal bot ſich Maud Gelegen— 
heit, ihm von Martins verblüffender Mitwiſſenſchaft 
zu ſprechen, nicht ein einziges Mal gelang es ihm, 
ihr Einverſtändnis wenigſtens durch einen Blick zu 
erhaſchen. — 


ihn. 


ganz überwältigt von 


Roman von H. Schobert. 


868 





a fie gegangen, fuhr fi Maub mit dem 
Taſchentuch über das Geſicht. 

„Welh eine Dual,” fagte fie laut. „Weld 
eine namenlofe Dual!” 

Sie fühlte genau, daß fie ihn lieber an jede 
andere verloren hätte, als an diefes Mädchen, Die 
fih zwilhen jedes Wort, jeden Gedanken drängen 
würde, die ihn fich jchließlich ganz zu eigen maden 
würde . Das Ungelannte wäre barmberziger 
geweien, e8 lieh dem Kernen noch einen Nimbus — 
ließ dem Zurüdbleibenden noch eine Hoffnung .. . 
diefer Brautitand aber tötete alles. 

Sie riß und zerrte an ihrem Spißentuch, während 
fie im Zimmer auf und ab lief. Das Herz 309 ich 
ihr zufammen in richtiger, echter Eiferfudt. Was 
hätte fie darum gegeben, dies Verhältnis ungejchehen 
zu maden! — 

Am nädhften Tage fuhr die amerifaniihe Ge: 
fanbdtin vor. 

Als fie gegangen, lächelte Maud eigen vor jich 
hin. hr jchien es, als hätte fie etwas zu hoch ge: 
ſchätzt, weit über ſeinen Wert bezahlt, das ſich nun, 
im Grunde genommen, als etwas recht Gering— 
fügiges erwies. 

Was galten ihr auſ einmal alle dieſe Leute, 
nun ſie Fortunat verloren! 


Zweiunddreißigſtes Kapitel. 
Ein paar klare, ſonnige Tage noch, ehe der 
Winter kam. 

In dem Gärtchen, das Heekens gehörte, ging 
Eva zwiſchen den ſterbenben Blumen, den welkenden 
Blättern. Sie war die einzige, die oft hierher kam, 
die im Sommer gepflanzt und gegoſſen hatte und ſich 
im ſtillen ihrer Lieblinge freute. 

Auf dieſem Fleckchen Erde fühlte ſie ſich jetzt 
am heimiſchſten, denn droben lag eine ſo drückende 
Schwüle über allen Bewohnern des Hauſes, daß es 
Eoa manchmal den Atem nahm. 

Oder ging das nur von ihr aus? 

So lange ſie lebte, hatte ſie wohl noch nicht ſo 
viel gegrübelt wie jetzt, der Kopf that ihr ordentlich 
weh davon, aber das Reſultat blieb immer dasſelbe, 
ſo ſehr ſich ihr Herz auch dagegen wehrte. Es war 
eine Sünde, einen verheirateten Mann zu lieben, 
und ſie mußte dieſes Gefühl ausrotten mit Stumpf 
und Stiel, wollte ſie ein rechtſchaffenes Mädchen 
bleiben. 

Daß es der Martin war, that nichts zur Sache. 
— Wenn nur wenigſtens ein Kind dageweſen wäre, 
ein kleines, unſchuldiges Geſchöpfchen, an das ſie ihr 
Herz hätte hängen können, das dem Vater geglichen, 
und auf das ſie allmählich ihre tiefe Liebe hätte 
übertragen können, aber ſo blieb ihr nichts. — Seine 
Mutter, das war doch etwas ganz anderes, und ſeine 
Frau — vor der fürchtete ſie ſich von Tag zu Tag 
mehr, um ſo mehr, je erfolgloſer ſie bisher gegen 
ihre Liebe gekämpft hatte. 


In ihre Gedanken verſenkt, ſtand ſie vor dem 


869 Art zu Art. 





Georginenbeet und jah auf die hängenden Köpfe der 
Blumen, ohne doch etwas zu fehen. Sie hörte aud 
nicht, daß jemand den jchmalen Weg binter ihr ber: 
fam, angelodt durch das helle Kleid, das er hatte 
von weiten fchimmern jehen. 

Dicht Hinter ihr Ichlang er plöglich einen Arın 
um ihre Taille, die eine Hand dedte er auf ihre Augen. 

Mit einem Schredensiärei fuhr fie zufammen. 

„Martin!” fagte fie dann zitternd, bemüht, bie 
Hände fortzufchieben. 

Es gelang ihr nicht, vielmehr bog er ihr faft 
gewaltiam den Kopf bHintenüber und fuchte ihre 
Lippen zu erreichen. 

Ein Geruh von Cigaretten und Parfün ftieg 
ihr in die Nafe. Das war nit Martin, und in 
demjelben Augenblid hatte fie ihre Körperfräfte, bie 
vorher zu verlagen drohten, wieder. 

Mit einem Rud rviß fie die Hand von ben 
Augen und jah in Emil Quenjels rotes, gieriges 
Geſicht. 

„Nicht ſchreien, ſchöne Eva!“ flüſterte er ihr 
heiſer in das Ohr. „Nur einen Kuß — einen ganz 
kleinen Kuß.“ 

Zornige Röte überflammte ihr Geſicht. 

„Gehen Sie weg, Herr — laſſen Sie mich in 
Ruhe,“ gebot ſie mit blitzenden Augen. 

„Das glaubſt Du doch ſelbſt nicht, daß ich ſo 
dumm ſein werde,“ gab er brutal zurück. „Ich bin 
froh, den ſcheuen Vogel einmal gefangen zu haben.“ 

Und er drückte ſie an ſich mit aller Kraft. 

Eva biß die Zähne zuſammen und ſetzte ſich 


zur Wehr. 
Sie rangen miteinander, lautlos; immer 
heftiger, immer leidenfchaftliher. Das Mädchen im 


Zorn, der Mann in heißen Begehren. Mit einer 
Hand fjtemmte fie jich gegen feine Bruft, aus ihren 
Augen bligte es, halb verädhtlih, halb höhnilch. 

„zallen Sie mid in Ruh’, Herr,“ fagte fie 
etwas undeutlih von dem Schred, „oder... .“ 

„Dder Du rufit Deinen Liebften — den Martin,” 
vollendete cr böhniih, denn ihr Widerftand er: 
bitterte ihn. 

„Und wenn ih es thäte!“ 

Die bligenden Augen, die wogende Brujt Iprachen 


deutlicher von ihrer Erregung als die Stimme, aber: 


fie madten Emil noch viel unvorfichtiger. 

„hu es nicht,” jagte er höhniih. „Der Martin, 
der bat eine Frau — das Fönnte Dir jchlecht 
bekommen.“ 

Statt aller Antwort bog fie fih in feinem 
Arm zurüd. 

„Martin!“ rief fie bel und laut. „Martin!“ 
— Diefer da jollte nicht glauben, daß fie irgend 
etwas zu Icheuen hätte. 

Beinahe hätte Emil „dummes Frauenzimmer” 
gerufen, aber er befann ji noch zur rechten Zeit; 
nur ohne einen Kuß follte fie ihm icht erit recht nicht 
davon kommen, ehrenhalber nidt. Und er riß fie, 
die fih jet geborgen wähnte, an fih und drüdte 
jeine Lippen auf ihren purpurnen Mund. 

Auf einmal fühlte jih Emil Duenfel am Kragen 
gepadt, und ehe er noch mußte wie ihm geidhah, lag 


Roman von 9. Schobert. 





870 





er mitten im Georginenbeet. „Zump — elendiger!” 
jagte Martin verähhtlid. „Läßt Du mir gleich das 
Mädel in Ruh!“ 

sn diefem Augenblid late Eva laut auf, als 
fie ihren Gegner mitten unter den Blumen am 
Boden liegen jah, fte konnte fich nicht helfen, und 
Emil hatte jelbit das Gefühl, als ob er diejen beiden 
Naturkindern gegenüber feine glänzende Rolle fpiele. 
Auh Martin lachte, aber er lachte grimmig und 
verädhtlih, jo als wäre es nicht ratiam, ihm nod 
lange vor Augen zu bleiben. „Daß Du Di nit 
unterfiehft und mein Haus noch mal betrittft,” fagte 
er. „Wir zwei find fertig miteinander.“ 

Und Emil mußte vor diefen beiden Menden, 
die ihn verächtlich wie einen Hund behandelten, auf: 
fteben, die Erde von feinem Rod abflopfen und den 
Garten verlafien. Seine Eitelfeit krümmte ſich, er 
biß die Zähne zufammen, daß fie Inirihten. Wut 
und Race lebten in ihm. 

Wie konnten fich diefe beiden erfrechen, ihn fo 
zu behandeln! Dieje beiden Schulbigen, die er 
\hließlih in der Hand hatte! 

Und al® er nun aus dem Garten ging, da 
hörte er noch einmal Evas Lachen hinter fid. 

O, fie jollte no blutige Thränen weinen, ba: 
für wollte er fchon jorgen! — 

Aber Evas Lachen verftummte bald, als ber 
Berhaßte verlhwunden war, jcheu jah fie auf. 

„Gott, Martin — er ift ein jchlechter Kerl, das 
verzeiht er Dir nicht.” 

Heelen lachte. 

„Er fol eg aud gar nicht, Ev’! Den bin ich 
boffentlih los. ch habe genug von der Sorte! O, 
ih wünfchte, ich Fönnte jo alles loswerden. Alles!” — 

Aber Evas befümmertes Geficht hellte fich nicht 
auf. „Mir ift angft, Martin!” — Und plößlich 
die Hände ineinanderfaltend, flehte fie mit feuchten 
Augen: „Laß mih gehen — nah Haufe — in 
einen andern Dienft — mir ift, als wenn ich mit 
Gewalt fort müßte!” 

Er ja) jie traurig an. 

„IH Tann Dich ja nicht halten, Ev’! — Daß, 
wenn Du geht, fein Menjch mehr da ift, der für 
mich forgt, Feiner, der mir zur Freude ift, das braucht 
Dich ja nicht weiter fümmern. Alfo geh nur.” Er 
wandte fih ab, fie verjhludte ihre Thränen mit 
aller Kraft. 

„Nein,“ Yagte fie baflig, „das Jolft Du nicht 
lagen können, Martin, daß ich jo undankbar wäre — 


— ich Dir von Nutzen bin — dann bleibe ich 
gewiß ...“ 
Sie ſtanden im Atelier. Heeken ſah zum 


Fenſter hinaus und drehte ihr den Rücken, er wandte 
ſich auch jetzt nicht zu ihr. 

„Wenn es Dir aber ein Opfer wäre — das 
will ich auch nicht, Ev'.“ 

Trotz ihres Kummers, ihres Schreckens vorhin, 
mußte ſie wieder lachen. 

„Ein Opfer, daß ich bei Bir bleibe, Martin? 
Rede doch nicht foldhen Unfinn — wo Fönnte es mir 
wohl befjer gefallen als hier bei Dir — aber —” fie 
ftotterte ... . was fie jet ausfprechen wollte, blieb 


871 Urt zu Art. 
doch wohl lieber verjhwiegen — wie jollte er es 
deuten, daß fie vor ihm floh, wenn er nicht ber 
Wahrheit nahe kam. 

„Ih wollte Dir au noch danken für vorhin,“ 
fagte fie haftig, wijchte die Hand an der Schürze ab 
und reichte fie ihm. „Wenn Du nicht Ddazuge: 
fommen wärft — lange hätte ih mich nicht mehr 
wehren können.” 

Sr berührte ihre Hand nur flüdhtig, jein Ge: 
fiht war finfter. 

„Keine Urfahe!” erwiberte er kurz. 

Sie ging hinaus, über feine plögliche Unfreund: 
lichleit grübelnd; und er fah fie wieder vor ji) in 
Emils Arm, fie, die er fich nicht einmal zu berühren 
traute, und ber Born ftieg ihm nod einmal bod). 
Er ballte die Fäufte und ftieß halblaute Ber: 
wünjhungen aus. 


Dreiundbreißigftes Kapitel. 


Daß der Brautftand zwifchen Fortunat und Quzie 
große Freuden für erfleren barg, Tonnte niemand, 
ber tiefer hineinjah, behaupten. E8 gab wohl feinen 
zerftreuteren, niebergebrüdteren Bräutigam als Xer, 
und alle Zärtlichleiten feiner Braut waren nicht 
imftande, ihn aufzubeitern, im Gegenteil machten 
fie gerade ihn immer zurüdhaltender. 

Sm geheimen meinte Xuzie viele zornige 
Thränen, fie zermarterte ich den Kopf, auf welde 
Weile es ihr gelingen werde, das Herz desjenigen, 
der ihr nun bald auf der Welt am nächften ftehen 
follte, auch für fich zu gewinnen, allein es blieb alles 
fruchtlos. Fortunat merkte gar nicht, daß fi) Luzie 
neben ihm faft verzehrte, nur eins fam ihm täglich 
deutlicher zum Bemwußtjein, daß fie fih mit aller 
Kraft jeder Annäherung an das Heelenihe Haus 
wiberfegte. Bald fcherzhaft, bald piliert wußte fie 
jeden ferneren Befuch zu vereiteln, denn fie empfand 
in Maub das eigentlihe Hindernis ihres Glüdes. 
Eo fah denn Fortunat mehr und mehr die Hoffnungen 
Ihmwinden, die er fih auf ein allmähliches freund: 
Ihaftliches Zujammenleben gemadt hatte, nun er 
der Welt den Stein des Anftoßes in jeiner unge- 
bundenen Berfon aus dem Wege geräumt hatte. 

Se Harer er fi darüber wurde, daß Himmel 
und Erde nicht jo trennend zwilchen fie treten fonnten 
als Luzies zierliche Geftalt, je unglüdlicher fühlte er 
ih, je mehr drüdten ihn die Fefieln, die er fih in 
falfh angewandtem Heroismus felbft angelegt. 

Und wie feit ihn Luzie hielt! Da gab es fein 
Entrinnen! WMandmal hatte er das unheimliche 
Gefühl, als ftänden fogar feine Gedanken unter ihrer 
Kontrolle. 

Gelegentlih einer Hingeworfenen Bemerkung 
ihrerfeits fiel ihm einmal das Prahlen ein, mit 
dem fie vor einem Sahr von ihrer Toleranz geiprocdhen; 
damals hatte er es ihr geglaubt, und vielleicht wirkte 
die Erinnerung noch halb unbewußt nad), als er fie 
jett gebeten, feine Srau zu werden. Nun mußte er 
längft, daß es fich in Wirklichfeit ganz anders verhielt, 


Roman von H. Schobert. 


872 


und er madhte fie bei einer abermaligen Weigerung, 
Maud zu befuhhen, darauf aufmerkjam. 

„Du folft ja allein gehen — id) verlange ja 
gar nicht mitgenommen zu werden,” jagte er, und 
boffelte da irgend etwas aus Brotlrume zujammen, 
um nit aufjehen zu müflen. „Frau Heelen ift 
ficher viel allein und wird es Dir danken.” 

Sie jah ihn mit funkelnden Augen an. 

„Halt Du Sehnfudht nah ihr? Möchtelt Du 
etwas von ihr hören? Dann jude Dir nur einen 
andern Boftillon db’amour,” fagte fie jharf. „Oder 
glaubft Du etwa, ich gebe meinen Auf einer Frau 
willen preis, die die Welt jo in Bann und Adt 
gethban hat wie Maud?“ 

„Mm meinetwillen,” jegte er bitter hinzu, denn 
meiftens,, wenn zwildhen ihnen das Gelpräh auf 
Maud kam, fpielte Zuzie diefe Bemerkung als 
Trumpf aus. 

„Sei froh, daß ich das vergeilen will.” 

„Du haft nichts zu vergefien,“ braufte er auf, 
denn fie hatte ihn die legten Tage unerhört mit 
ihrer Eiferfucht gepeinigt, fprang auf, warf den 
Stuhl um und ftürmte hinaus. 

„Das haft Du ja möglidft dumm gemacht,” 
fagte Emil, der im Nebenyimmer gejellen hatte, hinein: 
fommend zu feiner weinenden Schwelter. 

„Slaubft Du, daß Ler darauf brennt, fi) von 
Dir täglih ein Sündenregifter vorhalten zu laflen? 
Er wird bald ergebenft danken. Papa bei jeiner 
tindliden Naivität ift es jchon aufgefallen, was für 
ein jonberbares Brautpaar Ahr jeid, und das will 
viel jagen.“ 

„Ich kann es mir doch nicht gefallen Lafjen,“ 
ſchluchzte Luzie, „daß fein drittes Wort immer 
Maud — Maud — Maud — iftl md wahr: 
iheinlich fein einziger Gedanfe.” 

„Wahricheinlih!” gab er zu. „Uber dagegen 
giebt es kein Mittel. Geheul und Grobheit vertreibt 
ihn wohl am ficheriten.“ 

„Du haft eben Fein Herz!” jeufzte Zuzie, aber 
fie weinte nit weiter. Daß Emil redt batle, 
wußte fie genau, nur konnte fie ihr Temperament 
nicht immer zügeln, wenn fie fih auch nachher über 
ih jelbft ärgerte. 

„Übrigens hielt heute der Wagen des ameri- 
taniihden Gelanbten vor Heelens Haus. Sch er: 
fannte die Livree. Frau Maud jcheint fich wieder 
in die Höhe zu Frabbeln.” 

„D Gott, ich bafe fie!” jchrie Zuzie aus tieffter 
Brufl. Was half es ihr, Fortunats Braut zu fein, 
wenn fein Herz an Maud hängen blieb. Was half 
ihr ihre feingelponnene Spntrigue, ihr Ehüren und 
Klatihen den langen Sommer bindurdh, wenn der 
Beluh der Gelandtin das mit einem Schlage ver: 
nichtete. 

Sie hätte in ohnmädtigem Zorn rajen können, 
nahm fich aber mit allem Ernft vor, duldfamer gegen 
Fortunat zu fein. Emile Worte hatten fie tödlich 
erihredt, denn nichts lag ihr ferner als der Gedante, 
ihren Bräutigam aufzugeben. 

Nah einem Tag der Dual, des Ningens mit 
fih jelber, fam er denn auch wieder, der arme 








573 





Fortunat, gedrüdt bei Luzies Zärtlichleiten, noch 
gedrüdter bei den freundliden Worten des von ihm 
hochverehrten Profelliors. Emil lag im Bett und 
ließ fich nicht jehen, er wäre gefallen, hieß es. 

Als einen Augenblid Zuzie das Zimmer ver: 
ließ, rüdte der alte Herr jeinem jungen Schüler 
ganz nahe, dann jah er ih vorfihtig um, ob aud 
niemand laujche. 

„Fortunat,“ ſagte er endlich eindringlid. „Es 
Icheint mir, als fehlt Ihnen etwas. Sie find jo anders 
als jonft — jo gebiüdt! Wenn es etwa hr Ver: 
hältnis zu meiner Luzie ift, lieber Junge, was Sie 
drüdt — ich wollte Jhnen nur jagen, meinetwegen 
brauden Sie fi da feinen Zwang anzuthun — die 
Ehe ijt nämlich etwas jehr Ernites — Schweres mit: 
unter — wer fie einem tragen hilft — das will 
gründlid erwogen jein. Seder paßt nicht zu 
jedem ... und es it ein ganzes langes Xeben, 
das man vor fich hat in Shrem Alter. — So, das 
wollte ih Shnen nur jagen.” — 

Er nidte ihm freundlih zu und ging hinaus, 
Seinem großen, guten Herzen hatte er genug gethan. 
Er wollte jeinem langjährigen Lieblingsichüler feine 
moraliihe Feflel anlegen und das jollte er willen. 

Fortunat dedte die Hand über die Augen. 

Alfo ed gab noch eine Freiheit für ihn! Darauf 
hatte er gar nicht mehr gerechnet, obgleich ihn Die 
Bande, die er fich jelbit angelegt, wund bdrüdten. 
Es gab noch eine Freiheit! 

Aber was jollte er mit der? Sein Leben war 
ja doch, jo oder jo, in jeinen Grundfeiten erjchüttert, 
zerbrodhen meinte er jogar. 

Und was für edle Motive ihm diejer alte 
Mann, der ihm immer ein Freund und ein Vater 
geweien war, unterlegte! Er jeßle voraus, daß es 
Dankbarkeit gewejen, Anhänglichleit an ihn — 
mußte er fi nicht eigentlich jchämen, daß es jo 
ganz, ganz anders lag? 

Fortunat fühlte fich bedrüdt, daß er gerade 
hier zu hoch tariert worden war, wo er fich eigentlich 
Ihuldig fand. Echuldig? Nein, das war e8 aud 
nicht! Zuzie Hatte genau gewußt, wie e8 um ihn 
ftand, aud) ohne große Erklärungen jeinerjeits. Sie 
hatte ihn doch genommen. — Nun war er wohl 
verpflichtet, ihr Treue zu halten, obgleich er ein ver: 
fehltes Leben vor fi jah, und der Lodruf der 
Freiheit durfte nicht meiter dringen als bis an 
jein Ohr. 

Ob fih Maud nah ihm jehnte, jo wie er id 
nah ihr, oder ob fie mit ihrem etwas berben, 
jelbftbeherrichten Charakter Schon mit fich fertig war? 
Wer ihm das doch beantwortet hätte! 

Daß ih ihr die Gejelichaft wieder näherte, 
hatte er erfahren; aljo war fein Opfer nicht um: 
lonft gebracht worden, jagte er fih. Was er aber 
nicht erfuhr, war, daß fih Maud aus diejfer Gejell: 
Ihaft gar nichts mehr madte. Sie empfand ihren Be: 
judern gegenüber faft ein Gefühl von Feindjeligfeit, 
denn Nüdficht auf diefe war es ja gemwejen, die fie 
veranlaßt hatte, den einzigen Freund von fich zu 
weilen, den fie je bejeflen. Dhne ihn jchlichen die 
Tage langjam und freudlos hin; es gab jebt Feine 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


3 | 











Stunde mehr, auf die fie fich freute, feine, die fie 

entijhädigte für die Snhaltslofigkeit und Einjamteit 
der andern. Warum hatte fie das gethban? Fühlte 
fie ih wirklid nicht mutig genug zu dem Kampf 
mit den Vorurteilen, jelbjt wenn man ihr jchließlich 
eine Niederlage bereitet hätte? Was lag ihr eigent: 
ih an al diejfen Menjchen? Sie begann ihren 
Verkehr daraufhin zu prüfen und wurde immer 
mutlojer. Da war niemand, von dem fie je hätte 
einen Freundjchaftsdienft fordern dürfen, und der 
einzige, bdefjen fie fiher war, den hatte fie jelbit 
verbannt, und in eine unglüdjelige Zukunft gebegt. 

Sie vergaß ganz, daß fie fich liebten. Es war 
bisher alles unausgeiproden und rein zwilchen ihnen 
geblieben, jo hätte es in alle Ewigfeit bleiben 
fönnen. Eine Gewähr dafür waren ihre beiderjeitigen 
Charaftere. 

An Luzie durfte fie nun jehon gar nicht denten, 
dann froh ihr etwas durch die Adern, das ihr den 
Atem nahm. 

Sie hatte den Wagen beftellt und war in eine 
Kunftausftellung gefahren. Mehr um die Zeit tot- 
zujhlagen, etwaigen Beluhen zu entgehen, als um 
fih zu erbauen. Die Kunft hatte ihr, zum Dant 
für ihre Begeifterung, übel mitgelpielt. Auf einem 
der roten Sammetjofas fitend, jah fie auf die 
Bilder an den Wänden, etwas gedanfenlos, denn 
ihr fiel es unmillfürli ein, wo wohl Fortunat jeßt 
jein fünne — da hörte fie fich plößlich angeredet. 

„Meine gnädige Frau! ... Weld ein Zufall, 
Sie hier zu Jehen!” 

Sie wandte fih dem Spredhenden zu. Emil 
ftand vor ihr. 

„Ah, Herr Quenfel.”“ 

Khre Worte langen nicht jehr enthufiajtiich, 
aber Emil war von Mauds Seite nie bejondere Be: 
handlung zu teil geworden, er durfte es daher 
dreift ignorieren. Und das that er denn aud. 

„Sie geflatten do, daß ih mid zu Shnen 
lege. Ein fo jeltenes Glüd muß man fefthalten. — 
Und wirklih, ich bin dem Scidjal ganz bejonders 
danfbar für diejes Zufammentreffen.” 

Che fie etwas erwidern konnte, jaß er Jchon, 
Ihlug ein Bein über das andere und ftarıte tief: 
finnig auf die Bilder ringsum. 

Maud Hatte ihn mit einem flüchtigen, erjftaunten 
Blid geftreift, dann fich gleichgültig zurüdgelehnt, 
Emil war ihr ja zur Genüge befannt. 

„sh möchte Shnen etwas jagen, gnädige Frau, 
und finde den Anfang nit,“ begann er nad) einer 
fleinen Pauje. 

Sie zwang ein fonventionelles Lächeln auf ihre 
Lippen. Sm Grunde war es ihr unfäglich gleich: 
gültig, was ihr Quenjel anzuvertrauen hatte. „Was 
betrifft e8 denn?” fragte fie mit böfliher Kühle. 

„Ras? Fragen Sie lieber wen, gnädige Frau, 
und wir fommen der Sade erheblich näher.” 

„Run aljo, wen!” 

„Sie und meinen guten Freund Martin. Ya! 
— Geftatten Sie mir, daß ih aus Freundihaft für 
Gie beide ganz deutlich werde.“ 

„D, gewiß; wenn Sie das für nötig halten?“ 





„gür nötig in Ihrem Sntereije.” 

Sie jah ihn nun doch etwas gejpannt an. Als 
er noh ein Weilden jeinen Ladihuh nachdenklich 
hin und ber tanzen ließ, fragte fie: 

„Run?“ 

„Sie haben ein junges Mädchen in Shrem 
Haufe, Eva heißt fie, nicht wahr? Sit fie zu Shren 
jpeciellen Dienften da?“ 

„Rein; für meine Schwiegermutter, aber wirf: 
lid, Herr Duenjel, ich begreife nit . . .“ 

„Was mich das angeht? — Natürlich nichts, 
aber Sie dejto mehr, meine gnädige Frau.” 

Maud Hatte fih zu ihm herumgedreht. 

„Wollen Eie nicht diefe geheimnisvollen An: 
deutungen laſſen und ehrlih reden?” fragte fie 
beinahe ungeduldig. „Sie haben doh einen Zwed 
Dabei.” 

„a. Seit Wochen jhon quält es mich, ob 
ih Jehweigen oder jprehen jol. Da gab Fürzlich 
ein Borfal in Ihrem Garten den Ausihlag. Sind 
Sie blind aus Gefinnungsvornehmheit, bin ich es 
Shnen Shuldig, zu jchweigen, find Sie es aus Klug: 
heit, können Sie meine Worte vergeflen.” 

Maud runzelte die Stirn. 

„Was heißt das?“ 

„Das beißt, daß Zhr Mann und dies Mädchen 
in den zärtlichften Beziehungen zu einander ftehen, 
daß ihnen weder hr Haus noch Ihre Perſon 
heilig ift.” 

Mauds Augen blikten. 

„Unerhört!“ ſagte fie und preßte das Tajchen- 
tuch zuſammen. 

„Das ſage ich auch!“ Emil beugte ſich jetzt 
ganz nahe zu ihr. Wie wohl ihm in dieſem Augen— 
blick war, wo er Rache nehmen konnte an allen 
dreien. „Aber Sie müſſen bedenken, gnädige Frau, 
Art läßt nicht von Art. Als Sie Heeken damals 
mit Ihrer Hand beglückten, war er im Herzen, trotz 
ſeiner Künſtlerſchaft, ein Bauer. Das iſt er heute 
noch. Das wird er bleiben ſein Leben lang. Sie, 
Ihre Erſcheinung, Ihr Weſen waren gar nicht im— 
ſtande, auf ſeine robuſten Inſtinkte einzuwirken, er 
verhielt ſich immer ablehnend gegen Sie, und nur 
Ihr Reichtum lockte ihn. Jetzt tritt eine Schöne 
aus ſeinen Kreiſen ihm entgegen, derb, geſund, robuſt 
wie er, natürlich, daß ſie leichtes Spiel mit ihm hat. 
Um ſo mehr, da ſich alte Beziehungen von früher 
hineinmiſchen. Den Menſchenkenner wundert es nicht. 
Nur daß man Ihr Haus nicht rein hält, iſt der 
Vorwurf, den ich ihm mache; ſo viel Ehrerbietung 
muß er vor Ihnen haben. Mag er doch die Perſon 
wo anders hinbringen. Hindern werden Sie nichts 


können, aber auf ihre Entfernung müſſen Sie 
dringen. — Das war es, was ich Ihnen ſagen 
wollte.“ 


Sie hatte die Zähne in die Unterlippe gegraben, 
ihre Bruſt wogte. Alſo betrogen —, von dem 
Mann, dem ſie alles gegeben, was ſie beſaß. Uner— 
hört betrogen! 

Ihr Stolz wand und krümmte ſich bei dieſem 
Gedanken, denn es war ein Dienſtmädchen, von ihr 
bezahlt, das ſich rühmen konnte, die Liebe ihres 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





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876 





Mannes zu befigen. Mel eine Demütigung! Und 


daß es ihr Quenfel jagen mußte! Gerade der! 

Mit Aligesichnelle fiel ihr alles wieder ein. 
Heefens Drängen um Evas Kommen, jein verändertes 
Weſen — Evas Schüchternheit, ja Demut ihr 
gegenüber! So benimmt fi nur ein jchlechtes Ge: 
wiljen. — War fie denn bisher mit Blindheit ge: 
ihlagen, daß fie nichts bemerkt hatte? Mie mochte 
man in ihrem eigenen Haufe über fie jpotten und 
lahen! Und zu denfen, daß Fortunat .. . 

„Snädige Frau,“ Jjagte Emil wieder mit 
beugpleriicher Teilnahme, „ih bedaure wirklih, daß 
Shnen meine Mitteilungen jo tief gegangen find. 
Bei dem Eindrud, den Jhre Ehe machte, fonnte ich 
das nicht vorausjegen, vielleicht hätte ich fonft doch 
geſchwiegen . ..“ 

Sie unterbrach ihn heftig. 

„Laſſen wir das, bitte! Ihre Anſchuldigungen 
müſſen ſich aber doch im weſentlichen auf irgend 
etwas Thalſächliches ſtützen. Darf ich darum bitten? 
Da Sie ſich nun doch einmal zum Hinterbringer 
ſolcher Dinge hergegeben haben, werden Sie auch 
davor nicht zurückſcheuen, denke ich.“ 

Emil war rot geworden, ihre Worte trafen ihn 
doch wie ein Peitſchenhieb, mehr noch der Ton. 
Gedrückt erhob er ſich. 

„Gnädige Frau, ich bedaure, daß meine Teil— 
nahme für Sie mich ſo weit hingeriſſen hat — ge— 
ſtatten Sie mir, mich Ihnen zu empfehlen.“ 

Aber Maud war aufgeſprungen. 

„Nein, ſo entkommen Sie mir nicht,“ ſagte 
ſie hart. „Thatſachen! Thatſachen!“ — 

Sie gingen anſcheinend von einem Bild zum 
andern, in Wahrheit aber erzählte Emil ſeine ſommer— 
liche Begegnung mit dem Paar als Rendezvous im 
Garten, das er ahnungslos geſtört hätte . .. Maud 
hörte zu. — Es klang alles ſo natürlich, ſo gar nicht 
zu bezweifeln, ihre Bruſt fühlte ſie immer gepreßter, 
ihr Herz immer ſchwerer werden. — Nicht den Ver— 
luſt ihres Mannes beklagte ſie, daß ſie ihn immer 
nur äußerlich beſeſſen, wußte ſie genau, aber daß 
ihr das geſchehen konnte! Ihr! Und um einer ſolchen 
untergeordneten Perſon willen, das empörte ſie. 

Sie hatte ihm Reichtum, Bildung, Schönheit, 
gebracht, er hatte keins von allen gewürdigt, das 
Mädchen aus dem Volk mußte kommen und ihn 
lehren, was Liebe ſei — ihn — den Künſtler! 

Daß Emil immer noch geſprochen, hatte ſie gar 
nicht mehr gehört, erſt allmählich kamen ihr wieder 
ſeine Worte zum Bewußtſein. 

„So iſt es einmal im Leben, meine gnädige 
Frau, wo Sie auch hinſehen mögen, und erſcheint 
es anders, trügt eben nur die Oberfläche. — Art 
zu Art. — Auch die Seelen haben ihre Sprache 
und wollen verſtanden ſein.“ 

Sie trat ungeduldig mit dem Fuße auf. 

„Art zu Art, ganz recht. Aber ein Künſtler 
iſt doch wohl hinausgewachſen über beſchränkte Ver— 
hältniſſe, will und kann höher hinaus, über ſich 
ſelber, durch die Kraft ſeines Genies.“ 

Emil lächelte. 


„Warum gerade ein Künſtler? Die Erziehung 


— —— 


877 


-madht den Menihen, nicht das Genie. Wir beibe, 
gnädige Frau, troß Ihrer Abneigung gegen mich, 
wären ein befjeres Ehepaar geworden als Sie mit 
Heelen, davon bin ich überzeugt. Diejelbe Lebens: 
atmofphäre, das ift die Grundbedingung einer Ehe.” 

Sie jhüttelte den Kopf. Nidht an ihn dachte 
fie, aber an Fortunat. Das wäre der NRedte ge: 
weſen — gewiß. Aber blind waren fie aneinander 
vorübergegangen. 

„Ih will nah Haufe,” jagte fie plötlich, aber 
diesmal bielt er fie zurüd. 

„Rein, gnädige Frau, no nit. Geben Sie 
erft der Überlegung Raum. Seht würden Sie die 
Sähuldigen rufen laflen und richten wollen, das 
wäre verfehlt. Alle beide leugnen natürlid, denn 
fie find auf eine Entdedung vorbereitet. Warten 
Sie die Gelegenheit ab, überrajchen Sie fie, wenn 
fie glauben, Sie find fort. Rache ijt ein Gericht, 
das am beiten kalt genofjen wird.“ 

Er ipradh die legten Worte jo hämifch, daß ihn 
Maud erjtaunt anfah. 

„War dies aud 
fragte fie dann. 

„Ehrlich geftanden, ja!” Er zögerte nicht ein: 
mal bei bdiefem Belenntnie. „Sch habe es Heelen 
nie verziehen, daß er fih zwildhen Sie und mid 
gedrängt hat.” 

Sie zudte die Achjeln. — Und dann endlich 
aß fie allein in ihrem Wagen und gab dem Kutfcher 
Befehl, eine Stunde Ipazieren zu fahren. Sie wollte 
ih erft fammeln. — Warum hatte fie das Gehörte 
jo erfhüttert? War e8 nur Zorn und Demütigung, 
oder noch etwas anderes, das fie quälte® mmer 
wieder taudte der Gedanke an Fortunat in ihr auf, 
an fein zerftörtes Leben, denn daß er fie noch liebte, 
daran fam ihr fein Zweifel. Wie glüdlich hätte fid) 
alles fügen können, wenn fie nicht eigenmächtig das 
Sdidjal gelenkt hätte. 

Nun es aber einmal gejchehen war, Eonnte fie 
ih Teinen Vorwurf machen, mit aller Selbftver: 
leugnung hatte fie die Verfuhung zurüdgemwielen — 
ihr Mann dagegen . . . Eigentlich durfte es fie nicht 
wundern bei jeiner nie geübten Selbftbeherrichung, 
der geringen Schulung feiner Snftinkte, deshalb hatte 
fie ja doch immer innerlihd auf ihn berabgejehen, 
\o wenig fie fih auch davon merken ließ. Es mar 
nur natürlich, daß er unterlag. 

Aber da biß fie fchon wieder die Zähne auf die 
Lippen, und ihr Stolz erbitterte fih, daß es gerade 
jo ein unbedeutendes Mädchen fein mußte, dem fie 
unterlag. 

Sie begann zu überlegen, was jollte fie thun? 
Shren Mann gerade heraus fragen? Er würde leugnen 
— nelürlid. — Das Mädhen aus dem Haufe 
weiſen? Gleih? Noch heute? Nein, Emil hatte 
recht, zuerft mußte fie Gemwißheit haben. Aber die- 
jelbe erlauern, eritehlen, das ging gegen ihr Empfinden, 
würdigte fie vor fich felbft herab. 

Wenn fie fih nur einem Menjchen hätte an: 
vertrauen können, aber fie hatte niemand. — 

Notdürftig ruhig kam fie endlih nad Haufe, 
und eigentlich halb gegen ihren Willen ging fie in 


ein Racheakt Ihrerſeits?“ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


878 


das Atelier. Wenn ihr Mann da war, gab es 
vielleicht doch einen Anhaltspunkt. Ihr wollte es 
jetzt ſcheinen, als ſei ſeine Handlungsweiſe mit dem 
anonymen Brief, die ihr zuerſt faſt imponiert hatte, 
nur ein Zeichen ſeines böſen Gewiſſens, wenn — 
dieſe Sorte, wie ſie ſich verächtlich zu ſich ſelbſt 
ausdrückte, überhaupt ein Gewiſſen hatte! 

Aber er war ausgegangen. — Aus Frau 
Heekens Stube hörte ſie Evas Stimme und blieb 
zögernd einen Augenblick an der Thür ſtehen. 

Wenn ſie mit Eva ſprach? — 

Aber die Mädchen dieſes Standes kennen ja 
keine Verſchwiegenheit. Sie würde es der Diener— 
ſchaft erzählen, der Alten, deren boshaft höhniſches 
Grinſen ſie ordentlich vor ſich zu ſehen meinte, und 
die der verhaßten Schwiegertochter ſicher den Ärger 
gönnte. 


Nein, das ging alles nicht. Sie mußte die Be— 


weiſe in Händen haben und bis dahin ſchweigen. 


Aber obgleich nur Eitelkeit und Stolz in ihr litt, es 
war doch recht ſchwer zu tragen, ſo allein! — Wie 
oft hatte ſie ſchon begonnen an Fortunat zu ſchreiben 
und doch die Briefbogen jedesmal zerriſſen, nachdem 
ſie ſich mit Schmerzen bewußt geworden, daß ſie 
kein Anrecht mehr an ihn beſaß, daß ſie ihn nur 
in Kolliſion mit ſeiner Pflicht bringen würde. — 

Recht müde und matt, recht abgeſpannt und nieder⸗ 
gedrückt vom vielen Grübeln fuhr ſie eines Abends 
ins Theater. Sie wollte ſich amüſieren und zerſtreuen. 

Heroiſch hatte ſie bisher jedem Spionieren, jedem 
Horchen widerſtanden, ſie fand es ihrer unwürdig. 
Ein Zufall ſollte ihr zu Hilfe kommen, hoffte ſie, 
ohne daß ſie ſich dabei erniedrigte. Heut abend war 
das Stück langweilig, und im zweiten Akt meldete 
ſich ihr altes Kopfleiden. War es nicht am beſten, ſie 
fuhr nach Hauſe, gönnte ſich Ruhe und ging zu Bett? 

Sie nahm einen Wagen; Nina mochte dem 
Kutſcher Beſcheid bringen. Es fröſtelte ſie und zu— 
weilen befiel ſie eine Beklemmung, daß ſie laut 
atmen mußte. 

„Wie elend mir doch iſt,“ ſagte ſie vor ſich 
hin und deckte mit der Hand die Augen. 

Endlich war ſie zu Hauſe. Seit einiger Zeit 
öffnete ſie ſich meiſt die Thüre ſelbſt, es ſchien ihr 
bequemer; fo auch heut. Und nun trat ſie wieder 
ein in dieſe prunkvolle Einſamkeit, in der kein bißchen 
Liebe, kein bißchen Gemeinſamkeit mit wohnte, und 
ging haſtig, auf den dicken Teppichen unhörbar, durch 
all die erhellten Zimmer bis in ihren Ankleideraum. 

Er war einſam wie die übrigen. Es kam Maud 
vor, als herrſche trotz aller Wärme eine froſtige 
Temperatur darin, und den Mantel abwerfend, ſetzte 
ſie ſich auf die Chaiſelongue. Das Gas ſurrte über 
ihrem Haupt, die Uhr tickte und ihr Herz ſchlug un— 
ruhig, als ginge ſie einer Entſcheidung entgegen. — 

Kurze Zeit vorher, ehe Maud aus dem Theater 
ungeſehen und unerwartet zurückkehrte, rief Heeken 
mit lauter Stimme aus ſeinem Atelier nach Eva. 

Sie ſahen ſich jetzt felten; es hatte beinahe den 
Anſchein, als vermeide einer den andern, trotzdem 
folgte ſie ſofort ſeinem Ruf. Es wäre ihr gar nicht 


879 


eingefallen, ihn warten zu lajlen oder etwa Bedenken 
zu tragen. Er war eben der Herr. 

Als fie eintrat, ftredte er ihr den Arm entgegen. 

„Schau, Ev’, vom Hemdbärmel ift mir der Knopf 
abgeiprungen, das hindert nun in der Arbeit. Willft 
Du es in Drdnung bringen?” 

„Ben Schaden werden wir glei Furieren,” 
fagte fie, mit den prachtvollen Zähnen lächelnd, denn 
der Untergrund ihrer Natur war jonnige, Jchalthaftige 
Tröhlichleit, die immer fofort zum Durhbrud Fam. 

Sie nahm eine Nähnadel mit langem, weißem 
Faden aus dem hellen Kleid und bemädhtigte fich des 
Armes. Dabei trat fie ihm ganz nahe, jo nahe, 
daß das helle Blond des Haares vor ihm aufflimmerte 
und ihre Schulter ihn faft berührt. Stumm unb 
til ftanden fie alle beide, Eva eifrig beichäftigt, 
Martin die Augen auf das Haar und ben fjchmalen 
Streifen feiten, rofigen Fleijches gerichtet, der zwifchen 
Kragen und Haar beraustrat, bis ihm jchwinbelte. 

„So!” jagte fie und biß mit den blanten Zähnen 
den Faden dur. „Der hält, Martin.” — Sn dem: 
jelben Augenblid fühlte fie fih leidenichaftlich umfaßt 
und an ein Elopfendes Männerberz gepreßt. 

„So’!” flüfterte er nur. Und dann trafen ji 
ihre Augen, ihr Kopf jant in den Naden, und ohne 
Bedenten, ohne ein Zurüdweichen ihrerjeits, füßten 
fie fih heiß und fchweigend. Nur das Gefühl hatte 
in diefem Augenblid Macht über beide, Was Füimmerte 
es fie, daß es ein Unredht, daß er verheiratet war, 
fie dachten nichts, fie fühlten nihts ale nur ihre 
gegenfeitige Nähe, ihre Liebe. 

„So’!” — Und wieder und wieder preßten fid) 
jeine Lippen auf die ihrigen, umflammerten feine 
Arme ihren blühenden Leib, der fih ihm nicht entzog. 

Er jeßte fi in den fofibaren, geichnigten Stuhl 
und riß das Mädchen auf feine Kniee, immer nod) 
Ihmweigend, und ebenfo legte fie beide Arme um feinen 
Hals und jah ihm tief in die Augen. Was brauchten 
fie zu reden! Daß fie fich liebten, wußten fie ja. 

Und die marmornen und gipjernen Geftalten, 
die er geihaffen, jahen ebenfo jchweigend auf fie 
herab, und das belle Arbeitslicht überftrahlte alles 
gleihmäßig, als gäbe es Fein Dunkel und feine 
Schuld. 

„Sieh, Martin,” jagte Eva nach einer langen 
Weile, „daß es jo fommen würde, wußte ih, ich 
habe Dich ja viel zu lieb dazu gehabt, al mein 
Lebtag, und Du mid aud. Gelt?“ 

Er prebte ihren Kopf feit, feft gegen feine 
Bruft, ein dumpfes Stöhnen rang fich hervor. 

„Wir hätten jo glüdlich fein Tönnen, Eva! 
Das verfluhte Gold hat mich geblendet! So fehr 
glüdlih, Eva!” 

Und wieder umfchloffen feine Hände ihren Kopf, 
und wieder Füßte er fie, als könne er nit genug 
befommen. 

„Wäre ih Dir nicht zu gering gewejen, Martin?” 

„Du!“ ſagte er, mit einem Ton fo zärtlicher 
Snnigfeit, wie er ihm no niemals über die Lippen 
getreten war. „Arm wollt’ ih jein — und von 
allen veradhtet, wenn ih Di haben könnt’, Eva, 
mein Scha.” 





Art zu Art. Roman von 9. Schobert. 


880 








Shre Augen füllten fih mit Thränen. 


„Reb’ nicht jo was, Martin. AU meine ganze 
große Lieb’ zu Dir reichte ja nit aus, um Dir 
das zu vergelten! . Aber vergeflen, daß Du mir das 
gejagt haft, will ich nie, fo alt ich auch werde.” 

„Ih will es Dir täglich fagen — jede Stunde,“ 
flüfterte er leidenfchaftlih in ihr Ohr. 

Sie jhüttelte den Kopf, die Thränen perlten 
über ihre Wangen. Hinter feinem Naden faltete fie 
die Hände. 

„sh wußte daß diefe Stunde käme, Martin, 
wenn ich bierblieb, und ich weiß, daß alles jo 
fommen wird, wie Du es willft — weil id Did) 
eben allzu lieb babe — aber darum muß idy fort, 
ganz fort — denn jchledt, fiehit Du, jchledht will 
ich nicht werden.“ 

Sie Hammerte fi noch feiter an ihn an und 
ſchluchzte laut auf. 

„Aber ich lalle Dich nicht!” fchrie er. 

„Du wirft es jelbft nicht wollen, daß ich Ichlecht 
werde,” jagte fie ganz demütig.e „Du gewiß nidt, 
Martin. Den? an meinen Bater und an meine 
Mutter — und wenn wir aud beide den beiten 
Willen hätten — kommen thät es doch, darum laß 
mid gehen!” — 

Er ftieß einen Laut aus, als litte er Lörperliche, 
unerträglihe Dualen und bohrte feinen Kopf fait in 
ihren Arm. Sie hatte vet, er wußte e8 nur zu 
genau, aber fie gehen zu lafen, überftieg doch feine 
Kräfte. Die ganze leidenjchaftlihe Sehniudht nad 
Liebe, die ihn gequält, fein heißes Blut, alles Tehnte 
ih dagegen auf. 

„Du bleibft, Ev’!” fagte er beifer und padte 
raub ihren Arm. 

Aber fie Ichüttelte den Kopf. 

„3b bin Dir viel zu gut, um Dich unglüdlich 
zu maden — wenn ich auch jegt nicht einmal an 
mi denke. — Du fönnteft ja Deiner Frau nicht 
mehr in die Augen jehen. Für Leute wie uns, 
Martin, giebt es nur gut oder jchlecht, mehr Fennen 
wir nicht.” 

„SH Tenne doch noch mehr — ich Tenne Dich!” 
preßte er hervor. „Und ih will Dich haben.” 

Gie lächelte. 

„Säledt werben läßt Du mich doch nicht,” jagte 
fie zuverfihtlih. „Ich Fenne Dich.“ 

Und wieder riß er fie an fi, und wieder Füßte 
er fie leidenfchaftlih. Ihr Kopf jfank in den Naden, 
fie dachte nicht mehr und fragte nit mehr, nur 
der Augenblid hatte Rechte an fie. — 

Auf einmal war es ihr, als durchzittere fie etwas 
eisfalt; fie riß ihren Mund von dem feinen und drehte 
ih um. 

Unter der Portiere ftand Maub blaß und ftarr. 

Nicht ein Laut Fam über Evas Lippen, wie ge: 
bannt ftarrte fie nur auf die Frau, in deren Hand 
e3 jegt lag, fie zu vernichten. 

Auch Heelen drehte fich haftig um. 

„Du!“ fagte er. 

Ihre Blicke wurzelten ineinander und freuzten 
fih wie zwei jcharfe Klingen. 

„3a, ih!” fagte Maud langſam näherkomniend. 


— — 


881 Art zu Art. 
„Es iſt alſo wahr, was man mir fchon lange erzählt 

bat, daß Du nit Scheu trägft, mein Haus zu be: 
Ihmugen. — Ich traute Dir zu viel Anftand zu — 
Du haft mid) eines Beflern belehrt.” — Und fie lachte 
bart auf. 

Eva war vor ihr auf die Knie gejunfen, heiße 
Thränen überfluteten ihr Geficht 

„Snädige Frau,” ftammelte fie, und griff nad 
ber jchleppenden Seibe des Kleides, die neben ihr 
am Boden bing. 

Mit einer Gebärde des Abicheus entriß fie ihr 
Maud. 

„Schaffe die Dirne hinaus,” berrichte fie ihrem 
Manne zu. 

Eva Iprang jäh auf. 

„Eine Dirne bin ich nicht,” rief fie mit funleln- 
den Augen. „Die Ehre Tann ih mir von feinem 
nehmen laflen.” 

Maud maß fie von Kopf bis Fuß. 

„Schaffe die Dirne hinaus!” wiederholte jie 
nod einmal gebieteriich. 

Heelen trat zu Eva und umjchlang das zitternde, 
ſchluchzende Mädchen, deren Mut jchon wieder 
dahin war. 

„Die Eva ift anftändig, ich leide es nicht, daß 
man ihr etwas Böjes nadhlagt,” grollte er mit ge: 
runzelter Stirn. 

Maud lachte nervös. 

„Köſtlich! Verlangſt Du wirklich diejen Kinder: 
glauben von mir? Dazu bin ich allerdings nicht 
imſtande. Und ich verlange — verſtehſt Du wohl, 
ich verlange als Frau des Hauſes, daß morgen mit 
dem frühſten dieſes — Frauenzimmer mein Haus 
verläßt.“ 

Ihre Augen ſprühten, ein maßloſer, aber kalter 
Zorn hielt ſie gepackt. Er trat ihr ganz nahe: 

„Sprichſt Du von Eva Leitner? Ich wiederhole 
Dir noch einmal, ſie iſt ein anſtändiges Mädchen.“ 

Maud ftampfte heftig mit dem Fuß auf. 

„Renne Du fie wie Du mwillit, in meinen Augen 
it die Geliebte meines Mannes ein verächtliches Ge: 
Ihöpf, das ich hinausmwerfe.“ 

Zwei Schreie ertönten gleichzeitig. Der eine 
fam von Evas erblaßten Lippen, den andern ftieß 
Heelen aus, indem er die Fauft ballte und gegen 
feine Frau zum Schlage ausholte. Aber zwei zitternde 
Hände umklammerten feinen Arm. 

„Um SZeju willen! Thu’ es nit, Martin! 
Was weiß denn die vornehme Dame davon, wie e8 
uns beiden zu Mute ift! Sch geh’ ja, wie fie be 
fohlen bat.” 

„Und wahrhaftig, am beiten wäre es jchon,“ 
fuhr Maud fchneidend fort, „wenn Deine Mutter 
gleich mitginge. hr verdanfe ich dieje Stunde, das 
weiß ih wohl — fie haft mid, und rädt fi für 
. Wohlthaten, die ich ihr erwielen habe, in ihrer 

11.“ 

„Und weifelt Du mir nicht auch gleich die Thür, 
wie diefen beiden?” fragte Heelen mit zujammen: 
geprebten Zähnen. „Das ift zwar jehr rüdjichtsvoll 
von Dir, aber ich verzichte auf jede Rückſicht! Zu 
diefen gehöre ih — mit bdiefen gehe ih! — Haft 


Roman: Zeitung 1896. 


Roman von 9. Schobert. 


852 


Du jemals etwas anderes in mir gelehen, als den 
Bauern, den Du um feines jungen Ruhmes willen 
duldeteft, ohne ihm als Menjch gerecht zu werben? 
Wenn wir uns die Ntechnung aufmaden, dann glaube 
ja nicht, daß ich allein nur der Schuldner bin.“ 

„Du haft mein Haus entehrt mit Deiner Liebelei, 
genügt Dir das noch nicht?” fragte fie unverjöhnlich. 

Er öffnete die Lippen, jchloß fie aber wieder. 

„Seh’, Ev',“ feine Stimme Hang jo weich, jo 
zärtlih, Maud überraichte diefer Laut. „Sag’ der 
Mutter heut abend fein Wort, morgen paden wir 
und gehen fort. Weine nicht, Mädel; Du bift braver 
BR die fi vornehmer dünft als Du; ich 
we 

Er ftredte ihr die Hand entgegen, fie ergriff fie 
laut Ihluchzend. 

„O, Martin — die Shand — die Schand!” 

Dann, mit einem jammervollen Blid auf Maub, 
den dieje damit beantwortete, daß fie ihr den Rüden 
kehrte, jchlich fie hinaus. Die Gatten waren allein. — 

Maub hob den Kopf und fah ihn aufmerklfam an. 

„Du wilft alfo morgen mit denen fort?” 

14 


„Weißt Du, was das bedeutet?” 

„Ja. Scheidung. — 

„Wegen der da! Der Eoa —!“ ſagte ſie mit 
verächtlichem Hochmut. 

Er ſah ſie an, von Kopf bis Fuß, als müſſe 
er ſich jede Einzelheit an ihr gründlich einprägen. 

„Ich habe ſie lieb!“ ſagte er dann einfach nach 
ſeiner langen Prüfung. „Aber das iſt es nicht; wir 
wären ſtill auseinandergegangen, ohne unſer Gewiſſen 
zu beſchweren. So hatten wir es heut abend be— 
ſchloſſen. Gegen die Liebe kann man nicht an, aber 
gegen das Unrecht. — Ich wäre dann hiergeblieben 
und Du hätteſt nichts erfahren. Aber Gott wollte es 
nicht. — Ich wäre zu Grunde gegangen neben Dir — 
warum, weiß ich nicht, aber es iſt ſo. — Siehſt Du 
da den Centaur? So iſt es mir immer zu Mut 
geweſen dies ganze Jahr, bis die Eva kam, da gab 
es denn manchmal helle Stunden. So haſt Du mich 
zuſammengepreßt und mir Luft und Freiheit ge— 
nommen.“ 

Sie war ihm näher getreten und ſah ihn inter⸗ 
eſſiert an, ihr Zorn war verraucht. 

„Was that ich Dir denn?“ fragte ſie erſtaunt. 
„Gab ich Dir nicht alles, was Du brauchteſt, hielt 
Dir die Sorgen fern, bradte Di in die Gejell- 
\chaft, bildete Did — und Du fagit, ih nahm Dir 
die Freiheit?” 

Er atmete tief auf. „Wielleiht war es gerade 
das!” Seine Hand ftrih das Haar von der Stirn, 
immer aufwärts, ganz gebanfenlos. „ch weiß es 
nicht, ich bin nicht gebildet genug dazu. Aber Du 
hättet mid an Seele und Leib gemordet! — Sn 
Ihlechte Gejelihaft fam ich, ins Trinten — Du haft 
mih drum veradhtet, wenn Du au nichts fagtelt. 
Aber wie mir zu Mut war, das weißt Du nit. — 
Art gehört eben zu Art. Ein Mädel wie die Eva, 
und ih will arm fein und arbeiten wie früher, Tag 
und Naht, und doch glüdlich dabei.” 

Sie nidte ein wenig vor fidh hin. 





IV. 62 


883 Art zu Art. 
„Art zu Art,” jagte fie mit ihrer alten Über- 
legenheit.. „Du magft redht haben.“ 
Er redte die Arme weit von fih in die Luft 
hinaus. 

„Frei muß ich fein! Frei! Frei!” 

Sie nahm die jchillernde Seidenjhhleppe zujammen. 

„Allo: der Centaur bat fi der Schlange ent: 
ledigt, jo lange es noch Zeit war. Lebewohl, Tino; 
morgen reden wir weiter,” fagte fie mit einem jelt- 
amen Lächeln, und ging an ihm vorüber zur Thüre 
hinaus. Zwilchen den Portieren wandte fie fi) nod) 
einmal um. 

„Wer hätte an fol ein Ende gedacht!“ ſagte 
fie faft Ihwermütig. — Dann war fie fort. 


Vierundbreißigftes Kapitel. 


Raftlos ging Maud in ihrem Zimmer auf und 
ab. Das Erlebte ließ ihr feine Ruhe. Aber je 
weiter die Nacht vorjchritt, je mehr jchwand ihr Zorn, 
alle empörten Gedanken. 

„Art zu Art,” ang es ihr immer wieder in 
den Ohren. Er hatte redht damit, als er es Jagte. 
Es giebt Feine Brüden über die Abgründe, die ver: 
chiedene Erziehung zwilhen den Menichen aufreißt. 
Sie lönnen eine lange Zeit unbeadhtet bleiben, dann 
plöglich Haffen fie wieder auf, nur durd ein Wort, 
eine Anihauung aufgeriffen, die an fich vielleicht be: 
langlos, doch mit greller Deutlichleit zeigt, daB es 
niemals eine wahre Gemeinjamleit gegeben. 

Auch ale Künftlerihaft ift machtlos dagegen. 
— Vielleicht hilft LXiebe überwinden, echte, ehrliche 
Liebe, wenn der eine Teil nur geben wollte, immer 
nur geben... . Dieje Liebe hatte fie nicht bejellen — 
aber ob fie auf die Dauer au aushalten würde, 
dieje Liebe? 

Maud fügte den Kopf in die Hand als fie fi 
auf die Chaifelongue niederjegte. " Das ganze Leben 
fam ihr auf einmal vor wie ein Labyrinth, das zu 
überjehen fiy der einzelne niemals vermellen tonnte. 

Wie gut hatte fie alles zu machen geglaubt! 
Wie fiher war fie ihren Weg gegangen. — Und nun? 
Cs war do ein Gefühl der Bitterleit, das in ihr 
aufwallte, wenn fie daran zurüddadte, daß fie mit 
allem, was fie gab, ihrem Manne nicht mehr gemwejen 
war, als die mordende Schlange, aus deren würgen: 
ber Umarmung er fich befreien oder zu Grunde gehen 
mußte. Dagegen war ihm dies einfache Mädchen 
aus dem Boll alles, was ihm Glüd bedeutete. 

So gab es denn wirklih nur noch eins, was 
ihr zu thun übrig blieb, ihn freigeben! — 

Woran fie niemals gedacht hatte, als jich ihr 
Herz Fortunat zumwendete, verlangte er jegt kategoriſch, 
und fie fühlte, fie Hatte nicht das Recht, ihm zu 
wiberitehen. 

Sie fette fih Hin und jchrieb Heelen einen 
langen Brief, in dem fie ihn bat, fo lange Inhaber 
der Wohnung zu bleiben, bis der Kontrakt erlojchen, 
ohne Scham ein Zahrgeld von ihr anzunehmen, bis 
er in der Lage jei, für jeine Familie ausgiebig zu 
jorgen, die Scheidung aber jogleich einzuleiten. 


Roman von H. Schobert. 





684 


„Du wirft,“ Tchloß der Brief, „mir bei reif- 
licher Überlegung recht geben, daß Du gezwungen 
bit, meine Vorichläge anzunehmen. cd babe 
Did eigenmädhtig aus dem Boden geriljen, in 
dem Du murzelteft, und Di in Üppigleit ver: 
pflanzt, die Dir ein Greuel war. Jh wußte nicht, 
was ih Dir damit anthat, fondern babe es gut 
gemeint. Zu verzeihen haben wir uns beide nichts, 
denn Srren ift unjer menfchliches Erbteil. Gehen 
wir aljo auseinander ohne Grol, und wünjchen 
wir einer dem andern das Belte. ch werde mich 
nad) wie vor an den Früchten Deiner Arbeit erfreuen. 

Maud.“ 

Sie ruhte ein wenig nad biefem Brief und 
ihloß die Augen, aber jhon in aller Morgenfrühe 
war fie wieder auf und jchellte Nina, der fie einen 
Heinen Koffer mit dem Notwendigiten zu paden befahl. 
Sm Laufe des Tages jollte dann die übrige Garde- 
robe in die großen Koffer weiter untergebracht werben. 

Nina flugte, aber fie fragte nichts, vielleicht 
ahnte fie genug, um Schweigen bewahren zu fönnen. 

„Und dann Ichiden Sie mir Eva in das Wohn: 
zimmer,” fagte Maud, jchon fertig angekleidet in 
dunkler Reijetoilette. 

Shrem blafen, überwadten Geficht Jah man es 
deutlih an, daß fie nicht ohne Erjchütterung zu dem 
Entfhluß gelommen war, während Martin Heelen 
gerade in diefer Nacht tief und feit, ohne irgend- 
welde Erregung Ihlief. Seiner robufteren Natur 
waren die feineren Geelenvibrationen fremd, der 
Augenblid bradte ihm den Entihluß, und jeder Ent- 
IHluß die Kraft, ihn durchzuführen. Für ihn war 
feine Che bereits eine abgethbane Sade, und wie 
Maud und er auseinandergingen, erihien ihm ohne 
Belang. — 

Eva fam. hre Augen waren rot und ver: 
Ihwollen vom Weinen. Sn letter Stunde hatte die 
Alte zu keifen und zanten begonnen, denn die Angit 
um ihr Wohlleben hatte fie gepadt. Eva brummte 
der Kopf von all den Vorwürfen, die fie nun plößlich 
zu hören befam. Im Grunde ließ fie das alles 
ziemlich gleihgültig. — Was konnte man ihr nun 
noch zuleide tun? Shre Ehre war ihr genommen, 
ihre Xiebe zertreten, denn nie, das ftand in ihr feit, 
durften die Gatten ihretwegen auseinandergeben. 
Die Sünde durfte fie nicht auf fi) nehmen. 

Die ganze Nacht lag fie grübelnd und weinenbd 
wach, wie fie der jungen Frau Herz wenden fönnte, 
was fie jagen jollte, um diefen unbeilvollen Entichluß 
zu ändern, denn das ftand in ihr feit, fie mußte 
Maud noch einmal jehen, ehe fie ging. Shre Bot: 
Ihaft erichredte fie troßdem. Wie weh würde fie ihr 
jegt wieder mit harten, falten Worten thun, wie 
bitter weh! 

Aber Mauds Gelicht jah zwar ernft, doch nicht 
zornig aus. 

„Kommen Sie ber, Eva,” jagte fie faft freund: 
lich. „Ich habe mit Ihnen zu Iprechen.” 

Das Mädchen Iehlih näher, ihr Herz war ihr 
wie zerriflen. 

„Sn einer Stunde habe ich dies Haus für immer 
verlaflen,” fuhr Maud fort, „und Sie follen mir, 


885 


ehe ich gehe, das Veriprecdhen geben, bier zu bleiben 
und nad dem Rechten zu fehen. Herr Heelen hat 
Sie jehr lieb, ich weiß das, und in nicht zu langer 
Zeit werden Sie glüdlih und zufrieden als feine 
Frau mit ihm leben. Darum lege ich jebt jchon 
alles Notwendige in hre Hand.“ 

Eva warf fi Ichluchgend vor ihr auf die Knie. 
„Snädige Frau, Sie halten mid für ein jchlechtes 
Geihöpf, wenn Sie es auch nicht jagen, ich fühle es 
boh! — Mit dem Vorwurf fann ich aber nicht leben. 
— Nichts Böfes hab ich gethan all mein lebelang — 
und werde es aud nit — 0, gnädige Frau, um 
meinetwillen brauchen Sie nicht von dem Martin zu 
gehen! — Wir haben uns wohl lieb — aber das 
fann feine Sünd’ jein, der Herrgott bat’s uns ja 
felbft ins Herz gelegt — aber das ift au alles. — 
Und nun geb ih — und feiner foll mehr von mir 
hören... .“ 

Sie preßte das thränennaffe Gefiht gegen ben 
Teppich; wie zerbroden lag fie da, und Wahrheit 
Iprad aus jedem Wort, jeder Bewegung. Maud 
wurde ftußig. Wer war denn ihr Gewährsmann 
gewefen? Emil Quenfel! Der freilih ... von dem 
war e8 fein Wunder, daß er alles mit feinen Augen 
anfah. Plöglih that ihr das Mädchen leid. 

„IH glaube Yhnen, Eva,” jagte fie eilig, fait 
ohne Überlegung, und legte ihre Hand auf ben 
blonden Kopf am Woden. 

Eva fuhr auf. 

„Sie glauben mir, gnädige Frau! — Sie glauben 
mir!” — Aus ihren Augen brad) ein Zeudhten, und 
impulfiv brüdte fie Maubs feine weiße Hand an 
ihre Lippen. 

„Und Sie bleiben nun bier?” febte fie zögernd, 
hoffenb hinzu. „Ih will ja gehen — und nie — 
nie — wiederlommen.” 

Maub jchüttelte den Kopf. 

„Setzen Sie fi her, Eva, und hören Sie mir 
zu,” fagte fie ruhig. „Ih will zu Ihnen ſprechen 
wie zu einer jüngeren Freundin, hoffentlich werden 
Sie mid verftehen. — Eine joldhe Ehe wie zwijchen 
Martin und mir, in der die Herzen nichts mitein- 
ander zu thbun haben, fondern nur ein gegenjeitiger 
Taufh flattfindet, kann kein Glüd in fidh bergen. 
Wir beide haben es an uns erfahren. — Sch gebe 
ohne Schmerz, und er läßt mich ohne Kummer geben. 
Nun treten Sie an meine Stelle — und — maden 
Sie es beſſer!“ 

Da drückte Eva beide Hände auf die Bruſt und 
mit felig leuchtenden Augen jagte fie nur: „ch hab’ 
ihn fo lieb — fo fehr — Jehr lieb!“ 

Maud nidte. 

„Werden Sie glüdlih!” jagte fie noch kurz, 
und bann ging fie fchnell hinaus, denn etwas wie 
Neid wollte fie anwandeln, wenn fie an den Reid) 
tum von Gefühlen dachte, den jebt die Bruft des 
einfachen Mädchens barg. — — 

Sn ihrem Hotelzimmer angelangt, jchidte fie 
Nina mit einem turzen Billet an Fortunat. 

„I bin bier; erwarte Sie in einer halben 
Stunde — aber allein — denn diesmal braude 
ih Freundesrat. Maud.“ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


886 


Fortunat flürzte jo eilig und aufgeregt aus 
feinem Atelier fort, daß er eine fojtbare Kleine 
Figur zertrümmerte, ohne barauf zu achten. 

Maud im Hotel — fie rief ihn — was fonnte 
nur vorgegangen jein! 

Bla, außer Atem langte er endlich bei ihr an 
und erfuhr das Gejchehene. 

„Ih reife nun, mein lieber Freund,” jagte fie, 
„bon ber morgende Tag fieht mi auf dem Wege 
nad Stalien. Shre Sorge muß es fein, Martin zu 
bewegen, das ausgejehte SJahrgehalt einjtweilen von 
mir anzunehmen. Er tft jebt doch ein anderes Leben 
gewöhnt, und ih will nidt, daß er Urlache hat, 
meinen willfürlichen Eingriff in feine Eriftenz noch 
nachträglich zu verwünjchen. Übrigens verfichere ich 
Sie, daß er mit Eva jehr glüdlich fein wird.“ 

Er war im Zimmer auf und ab gelaufen, nun 
blieb er plöglich ftehen und Tehrte fih ihr Haftig zu. 

„Snäbdige Frau!” rief er vorwurfsvoll. 

hr altes Lächeln glitt über das blafle, hübfche 
Geſicht. 

„Art zu Art!“ ſagte ſie faſt ſcherzend. 

Da ſchlug er die Hände vor das Geſicht und 
warf ſich in einen Seſſel; ſie wußte, was in dieſem 
Augenblick in ihm vorging, er dachte an Luzie! 

„Und Liebe zu Liebe!“ fügte er faſt flüſternd 
hinzu. — 

Ein beſchwerlicher Tag war's noch für beide, denn 
Fortunat begleitete Maud überall hin, wo es noch 
etwas zu ordnen gab. Zum Rechtsanwalt — zum 
Bankier — er war ihre rechte Hand. 

„Wenn ich Sie nicht hätte!“ ſagte ſie ganz ge: 
rührt, und keiner von ihnen dachte an die wartende 
Braut. Sie waren ſelig eines neben dem andern 
nach der langen Trennung, und begehrten vom Augen: 
blick nichts mehr. — 

Luzie hatte gerade Geburtstag an dem Tage, der 
Maud von ber Seite ihres Gatten trieb. Ihr Bräu—⸗ 
tigam hätte wohl daran benten können, aber neben 
Maud hatte ihr Bild feinen Pla mehr. 

So ging der Vormittag hin ohne eine Gratulation, 
ein Seien! von ihm zu bringen, jo jehr fie aud 
wartete. 

„Es ift etwas palfiert,“ dachte fie und rang in 
ohnmäcdhtiger Verzweiflung die Hände, obgleih Emil 
late und behauptete, Fortunat babe es einfach 
vergeflen. | 

Am Nachmittag hatten fi) die Freundinnen zum 
Kaffee angefagt und waren aufs äußerfte erftaunt, 
weber den Bräutigam noch eine Gabe von ihm vorzu- 
finden, fo unbefangen Zuzie au in ihrem Born 
und Kummer that. 

„Künftler,” fagte fie ladhend, „Künftler find 
eben anbers als andere Menihen und man muß fie 
mit anderem Maß meflen. Sch wette, er fit tief 
vergraben in einem neuen Entwurf und weiß weder, 
ob bie Sonne Icheint no ob es regnet.“ 

Man hatte bie Höflichkeit, zu thun, als glaube 
man ihr das; im flillen dachte fich jede ihr Teil. 
Und als nun gar ber legte und jüngfte Gaft eintraf 
und Quzien zwilchen ben berrlichfien Gratulationen 
die Verfiherung gab, joeben fei fie ihrem Bräutigam 





887 


mit Frau Heelen in einer Drojchle begegnet... 
„denke Dir nur, in einer Droihle — nit im 
Heelenihen Wagen!" da war es jo ziemlih um 
Ruziens Selbftbeherrihung geichehen. 

Sie fonnte nicht fort, die lieben Freundinnen 
laßen ja da und beobachteten jedes Wort, jede Miene, 
aber fie beihwor Emil, zu Fortunat zu fahren und 
Aufflärung zu holen. 

„Ih werde den Teufel thun,” antwortete er ihr, 
ben Rauch Jeiner Cigarette jeelenruhig von fich blajend. 
„Nachher verjöhnt Yhr Euch wieder und ich bin dann 
der Geleimte, denn ein Zerwürfnis zwilchen Männern 
ift immer noch ein anderes Ding als ein zanlendes 
Brautpaar.” 

So mußte fie denn aushalten — den ganzen 
Nachmittag bis gegen Abend, Jeeliich und körperlich 
auf die Folter geipannt dur ihr unausgelettes 
Horhen auf irgendweldhe Nachricht zwiichen dem Ge- 
Ihwäß der Freundinnen. Manchmal glaubte fie es 
nicht länger ertragen zu fünnen, laut hinausjchreien 
zu müflen; und die Haft, mit ber fie allen in ihre 
Garderobe half, wurde jpäterhin mit manchem lachen: 
ben Kommentar verleben. 

Endlih war fie allein! Endlid! — Sie nahm 
fih nur noch Zeit, einen Mantel umzumwerfen, dann 
fuhr fie in Fortunats Atelier. 

Alles til — alles duntel! — 

Nah langem Warten fam die Haushälterin 
endli von einem Befuh beim und ließ die vor 
Furdt und Aufregung zitternde Braut, die fie ja 
gut kannte, eintreten, aber auch fie hatte feine Ahnung, 
wo fich ihr Herr den ganzen Tag aufgehalten, Zuzies 
Fragen blieben erfolglos. Und nun faß fie hier — 
wieder fiundenlang — fiebernd, halb finnlos vor Zorn 
— und er fam nidt. — 

Das Licht erlofch in den Häufern und Korridoren 
— da endlid — endlich hörte fie feinen Schritt! — 
Zujammengelnäult wie eine Kae, regungslos, blickte 
fie ihm nur mit funtelnden Augen entgegen. 

Er hatte keine Ahnung von ihrer Anwejenheit, 
ganz in Gedanken verloren zündete er Licht an, 
dann fchraf er heftig zufammen. 

„zuge — Du —! Verzeib — ih hatte gar 
nicht an Dich gedadt.” — 

Sie jprang auf und trat dicht vor ihn. 

„Das glaube ih! — Du warft ja bei ihr, die 
Du liebt! — Was konnte ih Dir da gelten!“ 

„Ja!“ ſagte er nad) kurzem Befinnen. „Es ift 
etwas Unerwartetes geſchehen. Heekens trennen fih — 
ich begleitete Frau Heeken zum Rechtsanwalt und 
ſorgte für alles Nötige. Sie verläßt morgen früh 
die Stadt für immer. Das entſchuldigt mich wohl 
heute bei Dir.“ 

Sie ſtampfte leidenſchaftlich mit dem Fuß. 

„Nein — das entſchuldigt Dich nicht! Was 
geht Dich Maud an! Zu mir gehörſt Du. — Vor 
allen meinen Freundinnen haſt Du mich heut mit 
Deiner Rückſichtsloſigkeit lächerlich gemacht.“ 

Sie begann wild und unbändig zu ſchluchzen, 
er verſuchte ſie zu tröſten, obgleich ſein Herz, ſeine 
Gedanken ganz wo anders waren. 

„Luzie,“ ſagte er eindringlich, „glaubſt Du 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


888 


denn nicht, daß ſolch ein ernſter Schritt, wie die 
Trennung einer Ehe, eine Geburtstagsfeier wert iſt?“ 

„Was geht ſie Dich an?“ fragte ſie mit funkeln⸗ 
den Augen. 

„Ich war ihm und ihr einmal Freund,“ ſagte 
er mit bedeckter Stimme. 

„Und biſt es noch! Und liebſt ſie noch, wie Du 
es ſtets gethan! Ich war Dir nur Mittel zum Zweck, 
um ihren Ruf wiederherzuſtellen!“ ſchrie ſie außer 
ſich. „Leugne es doch, wenn Du es kannſt!“ 

Er ſenkte den Kopf und ſchwieg. 

„Und jetzt wird ſie Dich kaufen, wie ſie ſich 
damals Heeken gekauft hat,“ fuhr Luzie fort, „und 
Du wirſt ebenſo bereit dazu ſein wie er.“ 

Da fuhr er auf mit flammenden Augen. 

„Beſchimpfe die Frau nicht, die mir am höchſten 
ſteht auf der Welt! Glaubſt Du, Du mit Deiner 
kleinlichen, engherzigen Auffaſſung verſtehſt ſie zu 
würdigen? Der Neid hat Dich immer gegen ſie blind 
gemacht.“ 

Luzie warf ſich auf die Chaiſelongue und brach 
in ſchneidendes Lachen aus. 

„Der Neid? Worauf denn? — Auf ihr Geld? 
Pah! Auf ihren Bauernbengel von Mann? Oder 
auf Deine blöde Anbetung? Das alles habe ich ihr 
nicht zu beneiden.“ 

„Luzie!“ ſagte er warnend, denn er ſah, daß 
ſie die Herrſchaft über ſich ſelbſt verlor. Aber da 
half nichts mehr. 

„Manchmal glaube ich ſogar, ich haſſe Dich,“ 
ſagte ſie und biß die Zähne ſo feſt zuſammen, daß man 
kaum ihre Worte verſtand, „denn ich weiß genau 
genug, daß ich Deinen Beſitz mit meiner größten 
Feindin zu teilen habe, und ich bin zu ſtolz dazu.“ 

„Luzie!“ ſagte er noch einmal. 

O, wie er dieſe Scenen haßte, ihrer überdrüſſig 
war! Faſt kein Tag verging ohne ſie. 

„Ich ſehe nicht ein, warum ich mir das alles 
gefallen laſſen ſoll,“ fuhr das Mädchen in demfelben 
Ton fort. „Da! Du biſt frei!“ 

Und ſie riß den Verlobungsring vom Finger 
und ſchleuderte ihn zu Boden. 

Auge in Auge, ſchweigend und blaß ſtanden ſie 
ſich dann eine Weile gegenüber. 

„Du haſt es gewollt!“ ſagte er endlich tonlos 
und zog auch den ſeinen vom Finger. 

Als ſie das Funkeln des Metalls ſah, ſtürzte 
ſie auf ihn zu, umſchlang ihn und preßte ihn an ſich. 

„Fortunat — nein — nein! — Es war mein 
Ernſt nicht!“ 

Er ſchob ſie langſam, aber entſchloſſen von ſich. 

„Es geht ſo nicht weiter, Luzie. Ich kann das 
nicht ertragen und gehe daran zu Grunde. Ein 
Leben mit Dir würde geiſtiger Tod für mich werden. 
Auch die Seelen müſſen von gleicher Art ſein, wenn 
es Harmonie geben ſoll, und ohne ſolche iſt kein 
Schaffen denkbar. Um meinetwillen muß ich mich 
ſchon von Dir trennen.“ 

„Das iſt nicht wahr!“ Sie wiſchte Thränen 
und zerzauſte Locken aus ihrem glühenden Geſicht. 
„Du thuſt es um Mauds willen.“ 

Er ſah ſie groß und voll an. 


ö ñ—ñ— —ñ—o e ú — — —— — — tt — — —h — 


889 Art zu Akt. 
„Und wäre es jelbft jo; wir gehören nicht zu 
einander.” 

Ein Zittern überlief fie und jchüttelte fie wie 
einen jungen Baum der Sturmwind. 

„Allo lebewohl!” | 

„zebewohl! Und wenn Du es vermagft, verzeih 
mir. Befler ein Eurzer Schmerz als ein langes, 
gualvolles Zufammenleben.” 

Sie ladte Thrill auf. An diefenm Augenblid 
hätte fie ihn töten fönnen. — — 

Eine Stunde Ipäter war Zuzie zu Haule und 
lag in ihrem Bett. Was hatte fih nicht alles in 
ben vergangenen vierundzwanzig Stunden abgefpielt! 
Sie war außer fih. Gelfräntte Eitelkeit, Furt vor 
bem Gerede der Leute, wütender Zorn erfüllten ihre 
Seele jo jehr, daß das Füntchen echter, wahrer 
Liebe, die fie einft für Fortunat gehegt, jämmerlich 
darin erlojdh. 


* * 
* 


Am nädten Morgen, als Maud die Stabt ver- 
ließ, ftand auf dem Perron, in einen dunflen Mantel 
gewidelt, Fortunat. Er war fehr blaß, aber jeine 
Bruft atmete fo frei, jo leicht war ihm zu Mute, 
daß es ihm unmwillentlihd aus den Augen ftrablte. 

„Sie freuen fi wohl, daß Sie mich loswerden?” 
meinte Maud jcherzend, fich aus dem Soups beugend. 

Er jah fie an. — Was lag nicht alles in dem 
einen Blid! Faft drängten fi ihr die Thränen in 
die Augen, wenn fie bedadte, daß es doch nie — 
nie, fein konnte. 

„Ih bin frei — jeit geitern abend!” jagte er 
baftig flüfternd. — „Wann darf ih Shnen folgen, 
Maud?” 

Ein heißes Rot ftieg in ihr Gefiht. Sie reichte 
ibm die Hand. 

„Mit dem Scheidungsdelret in der Tajche,“ gab 
fie ebenjo leile zurüd. 

„Und dann?” 

„Dann . . .” Die Lofomstive pfilf, der Zug 
legte fih in Bewegung. Maud fuhr davon, und er 
blieb zurüd, aber er Jah noch ihr Lächeln, jah, daß 
fie die Hand an die Lippen bob und ihm einen 
Kuß zumwarf. 

Wie von Engelsflügeln getragen, lehrte er in 
fein Atelier zurüd. — 


* * 
* 


Aber das alltägliche Leben machte bald feine 
Rechte geltend... Schon am nädjften Tage kam Emil, 
um eine Verfühnung zwilhen dem Brautpaar herbei: 
zuführen. Er hatte fih das jo leicht gedacht, da er 
Fortunats Charakter, der im allgemeinen jehr zur 
Nachgiebigkeit neigte, genau Tannte, fcheiterte mit 
feiner Million aber völlig. 

Das „Art zu Art”, das er Maud gegenüber 
jelbft ing Treffen geführt, richtete fich bier als eherne 
Mauer gegen ihn auf, gegen die es feinen Anjturm 
gab. LUnverrichteter Sache kehrte er nach Haufe zurüd, 
wo Luzie rafte und tobte wie eine Wahnfinnige. 

Am Abend ging dann Fortunat in aller Heimlidh- 
feit zu dem alten Brofellor Duenjel, dem er nad 


Roman von H. Schobert. 





890 


Unterrihtsihluß auflauerte. hm war das Herz fo 
voll, aber der Mund Jeltiam verjchloflen. 

Diefem alten, graubaarigen Manne gegenüber 
fühlte er feine Handlungsmweife wie eine Schuld, weil 
diefer bei jedem Menichen immer bie ebelften Motive 
in Berehnung 309, ahnungslos, wie oft er fich täufchte. 
Und Emil, der feinen Vater einen „unverbeflerlicen 
Sspealiften” zu nennen pflegte, hatte nicht jo unrecht 
mit feinem Ausiprud. 

Cr fand ihn zwar ein wenig niedergeichlagen 
durh den Kummer, ben jeine Tochter ohne jede 
Selbftbeherrihung zur Schau trug, aber von der: 
jelben ehrlihden Freundlichkeit gegen ihn — ben Ur: 
beber; gerecht und mild, wie er immer zu fein pflegte. 

„Wenn man alt geworden ift, fieht man das 
Leben mit jo ganz andern Augen an,“ fagte er zu 
Fortunat, „und bedauert nur jede Stunde, die man 
ih vom Glüd nicht erobert hat. — Sch mußte es 
ja längft, lieber Sohn — entihuldigen Sie, daß ich 
Sie no einmal jo nenne — daß Ghnen in der 
Verbindung mit meiner Luzie nicht das werben 
würde, was Sie zu Ihrem Frohfinn, Ihrer Schaffens: 
fraft braudden. Da ift es denn gut, wenn man |o: 
bald wie möglich einen Stridy) madht und fich heraus: 
rettet, Zuzies Kummer ift viel zu ungebärbdig, als daß 
er jehr nachhaltig fein wird, bas tröftet mich. — Aber 
nun jagen Sie mir einmal — Heelens! Wer hätte 
das gedacht!” 

„Sie paßten gar nicht zufammen, Herr Profeflor.” 

Er fchüttelte den weißen Kopf. 

„Mag ja fein — mag gewiß jein! Aber willen 
Gie, lieber Sohn, ich denke, die heutige Generation 
rechnet mit zu vielen Faktoren, und erit, wenn bie 
ganze Summe flimmt, dann fafjen fie nach ihrem fo: 
genannten Glüd. Ich meine aber nad) meiner alten 
Erfahrung, al der vielen Faktoren braudt es nicht, 
Liebe muß nur da fein, die alles ausgleicht, und 
eine Gleichheit der Seele, die äußere Mängel über- 
jehen läßt. Aber wer fragt heute noch nach Xiebe, 
und wer bört auf die jo unendlih feine Sprache 
der Seelen zu einander! — Ych bin manchmal recht 
froh, daß ich jo alt bin und bald aus dem Leben 
berausgehe, das, was noch fommt, gefällt mir recht 
wenig.” 

„Und Sie find mir nicht böje, Herr Profeflor?” 
fragte Fortunat bewegt. 

Er lächelte fein. 

„Slauben Sie, meine Theorie ift nur für die 
Allgemeinheit? Im befondern Fall aber, der mid) 
angeht, denke ich anders? Nein, jo ift es nit. Und 
weil zwilhen hnen und Quzie feine Liebe war, wie 
ich fie meine, darum ift es bejler, Yhr habt das Band 
zerrifien! — Sollte Shnen aber einmal doch die echte, 
wahre Liebe begegnen, mein junger Freund, jollte 
Shnen eine begegnen, die der Yhrigen gleichwertig 
ift, danıı rechnen und fragen Sie nicht lange, dann 
öffnen Sie ihr weit die Arme, denn Sie werben 
das Slüd feithalten, und fommt e8 au im Kattun: 
Heid mit einem Stüd trodnen Brot in der Hand. 
Srgendwo haben wir Menihhen doch alle eine weiche, 
tingende Stelle, die ihr Recht verlangt — oder. uns 
lonft mande qualvolle Stunde bereitet.” 








891 


Fortunat Ichüttelte die Hand des Greijes heftig. 

„Ih werde Khre Worte nie — nie vergeflen, 
Herr Profefjor.” 

* * 
* 

Nun blieb ihm no übrig, Heelen aufzufuchen. 
Er hatte eg Maud veriproden, und fonderbar, jeit: 
dem er fie fern mußte, für immer von SHeelen ge: 
trennt, lebte auch das alte, freundichaftliche Gefühl 
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem 
Herzen auf. 

Wie aber würde er ihn empfangen nad der 
langen Entfremdung? 

Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor, 
Elingelte und betrat bie ihm jo wohlbelannten Räume. 
Ein Hauh von Vergangenheit jchien ihm über allem 
zu liegen, von Moder und Ode, benn fie, die ihm 
damals alles belebt hatte, war ja fortgegangen und 
hatte auch den Leinften Teil ihres MWelens mit hinweg- 
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und ale er 
den langen Korridor durdichritt, da hörte er pfeifen 
drinnen. MWirkliches, vergnügtes Pfeifen! 

Er blieb einen- Augenblid laufend ftehen — 
das war wahrhaftig Martin felber! 

Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals, 
als feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er 
in Todesangft fam, den DVerzmweifelten zu tröften. 

Er fand ihn pfeifend; — und heute pfilff er 
wieder. — Die Erinnerung an die Bergangenbeit 
übermannte ihn plöglih, und eintretend ftredte er 
ibm beide Arme entgegen. 

„Martin! Mein alter Martin!” 

Wie e8 dann plöglic fam, daß fie fi umarmt 
hielten, wußte nachher feiner. 

Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und 
Fortunat mußte lachen. 

Da war e8 ja wieder das aniprudslofe Woll- 
bemd, wenn aud in erneuter Geltalt, und Iuftig 
ftarrte ihm Kopf- und Barthaar rund um das Ge- 
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu modellieren 
pflegte, da bob fich wieder in den erften Anfängen 
ein maffiges® Etwas empor, von dem man gleich 
wußte, es müfle etwas Gewaltiges, Rielengroßes 
werden. 

Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie 
ih etwas verlegen in die Augen. 

„sh bin lange nicht hiergeweſen,“ fagte er 
dann, nur um zu beginnen. 

„Recht lange nicht.” 

„Und Du bift wieder fleißig an der Arbeit?“ 

Martins Augen leuchteten. 

„Und wie! Sch bin ja frei! — frei! — frei!” 
Und er redte feine gewaltigen Arme in die Luft und 
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?“ 

„Deine Frau bat mir nichts verhehlt; mit meinem 
Beiftand hat fie die nötigften Schritte gethan.” 

„sh dankte Dir! Du bift wirklich ein redlicher 
Sreund gemwejen all die Zeit. Und wenn ih Di 
mal jchledht behandelt habe... nichts für ungut, 
Ler, ih war ein todunglüdlider Menich!“ 

„And nun?” 

„Run bin ih glüdlih! Selig! Und das Leben 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


892 





liegt vor mir — jo hell, daß ich mit feinem Kaifer 
tauchen möchte.“ 

„Aber Martin, Du haft Die jegt an jchranten: 
lofen Reihtum gewöhnt . 

„Semwöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebradt bat er 
mich beinahe. Meine Kunft hätte er mich gekoftet, 
wenn ich ihn immer hätte ertragen müfjen! Mich 
mich felbft hätte er zu einem liederlicden Kerl gemacht 
und alles niedergetreten, was doch einmal in mir 
ftedt. Der Reichtum, mein Lieber, ift ein verflucht 
zweifchneidig Ding.” 

„Wenn Du wüßteft, wie es mir ein ftet$ leben: 
biger Vorwurf gemwejen ift, daß Du nicht glüdlich 
warft!” fagte Fortunat mit gelenktem Kopf. 

Martin legte ihm die Hand auf die Schulter 
und rüttelte ihn ein wenig. 

„Bas Tannft denn Du dafür? Yh — ich hätte 
mid nicht in etwas bineinzwingen lafjen jollen, was 
mir fo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte, 
man gewöhnt’s vielleicht mit der Zeit! Und fie aud), 
fie date: Du gewöhnft ihn dir! Was aber ein 
rechter Mann ift, der bleibt bei jeiner Art — oder — 
er geht zu Grunde.” Dann dem Freunde näher 
rüdend, fette er im vertraulichen Flüfterton hinzu: 
„Sie bat fih wohl mandmal über mich beklagt, 
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mid für einen 
rohen, eigenfinnigen Burjchen ..... ich weiß nicht, ob 
ih es bin — ih weiß nur, daß man auf die Dauer 
nicht gegen fi an fann. Den Zwang babe ich fo 


gehaßt, mit dem babe ich Krieg geführt, gar nicht 
mit ihr, und — Gott fei Dank, id babe ihn ab- 
geſchüttelt.“ 


„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“ 

Martin atmete tief auf. 

„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und 
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich 
jelbft geworden. Die Welt, denk ich, ſoll noch mit 
mir zufrieden ſein.“ 

„Wie konnten wir nur ſo auseinanderkommen?“ 
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt⸗ 
fein bes Freundes, das Fluidum, das die herum: 
ftehenden Arbeiten ausftrömten, hatten wieder die alte 
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als jei bie 
ganze legte Zeit nicht gemwelen. 

„Die Frau fland zwilden uns,” fagte Heelen 
ganz felbitverfländlid. „An der maßeft Du es erft 
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an der 
maß auch ich mid — und hätte mich bald felbft auf: 
gegeben, wenn nidt —“ er lächelte und jchwieg ein 
Meilen. „Du weißt natürlich alles,“ jagte er dann. 

„Ales, Martin.” 

„Und mödteft nun aud die Ev’ jehen?” 

Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte, 
ging er zur Thür und öffnete fie weit. 

„Everl, wilft Du jo gut jein und ein paar 
Flajhen Bier für uns beide bringen? Denn weiter 
langt es jegt nicht,” jeßte er lachend Hinzu, fich zu 
Fortunat wendend. „Aber ih will arbeiten — ar: 
beiten! Ich kann ja wieder arbeiten!” 

Eva fam und bradte das Bier. Ihre Wangen 
waren rot, und fie lachte mit all den bligblanten, 
wundervollen Zähnen, während fie dem Gaft das 


893 


Bier eingoß. Sn ihrem Ichlichten, gewürfelten Kattun- 
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber 
wie eine pallende Lebensgefährtin für den Mann, 
der jegt in jelbftvergejlener Zärtlichkeit den Arm um 
ihre Hüfte legte. 

Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen 
hatte, der Sreund, der mit offenen Augen Dabei: 
geitanden und zugejehen, wie wenig eins für das 
andere getaugt, damals, als die feingliederige, fein: 
nervige Maud an feiner Seite geitanden! 

Eva jchob feinen Arm fort und fah ihn vor: 
wurfspol an; noch war ihr bänglich und verwundert 
zu Sinn, wenn fie das Geichehene überbadhte. Und 
Martin fam ihr jo hoch vor, jo bimmelhodh neben 
ihrer Leinen, beicheidenen Eriitenz. 

Als fie gegangen war, fagte Heelen fchnell: 
„Du braudft mir fein Wort über fie zu jagen, lein 
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie 
if. Weibt Du, alles jchict fich nicht für jeden... 
ih glaube, ich brauche es, baß die Frau zu mir in 
die Höhe fieht, nicht auf mich herab.“ 

Und Fortunot jchwieg aud. Die Eva in all 
ihrer friihen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen 
Schönheit konnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es 
vor, als habe der Freund einen Edelftein fortgeworfen, 
um einen fompalten Kiejel aufzuheben. Da er aber 
den Edelftein gefunden, braudte er nicht böfe bar- 
über zu jein. 

Heelen fragte mit feinem Wort nah) ben Be 
jiehungen, die zwilchen dem Freunde und feiner Frau 
beitanden. Entweder interefjierten fie ihn nicht mehr, 
da cr mit der Vergangenheit fo endgültig gebrochen, 
oder er war zu taftvol dazu. Auch Fortunat er: 
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum jeines Herzens 
vermochte er nicht preiszugeben. 

Dagegen madte Martin das Glüd mitteiljamer. 

„Ih werde rüftig Ichaffen,” jagte er und ftraffte 
das Haar rüdwärts, „niemand flört mich mehr, und 
die Eva jorgt für mein Törperliches Behagen. Sieht 
Du, mein Lieber, das ift doch etwas anderes als 
mein damaliges Haufen in dem armjeligen Atelier, 
als ih meine Gentaurengruppe Ihuf! — Nun geht 
es vielleicht nicht ganz jo flink, aber mit gefräftigtem 
Leib und frober Seele.“ 

„Du wilft das Mädchen, das Du nachher zu 
heiraten gedentit, bei Dir behalten bis Du gefchieden 
bit?“ jagte Fortunat erjchroden. „Aber das geht 
doch gar nicht, Martin! — Die Menichen .. .” 

Er ladıte auf. 

„Die Menjhen!” wiederholte er in gutmütigem 
Spott. „Sa, die fönnen mir fonft was! — 
braudhe fie niht — ih will fie nidt — ich bin ein 
freier, unabhängiger Mann. Sie Icheren mich ben 
Teufel! Niemand foll meine Schwelle betreten außer 
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” — 

Und wieder umarmten fie fich herzlih wie in 
früherer Zeit. 


Schluß-Kapitel. 


Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der 
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von 
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge⸗ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 





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ſchiedenen Frau Heeken ehelich verbunden habe, und 
manche Nachricht fand ſpäter auch noch den Weg in 
die Stadt, die Heeken nicht verlaſſen hatte. 

Fortunat blieb mit ſeiner Frau im Suüden. Sein 
humorvolles, trotz alledem etwas weiches Talent fand 
dort den beſten Boden. Das liebenswürdige, reiche 
junge Paar ſpielte dort eine große Rolle und ſehnte 
ſich nicht in das kalte Nebelland zurück, nur ab und zu 
fand eine der feinſinnigen Schöpfungen des Künſtlers 
ihren Weg dahin, und dann konnte Heeken ſtunden⸗ 
lang ſchmunzelnd davor ſtehen und ſich an dem Ge— 
botenen erfreuen. 

Fortunats Ruf wuchs mit Recht, und ſeine 
Frau hatte teil an ſeinem Schaffen, wie ſie es ſich 
einſt erſehnte. 


* * 
% 


Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in 
aller Stille fi mit feiner zweiten Frau trauen ließ, 
da rümpfte die Gejellichaft gewaltig die Nafe. — Ein 
Dienſtmädchen! Eine Perſon, die ihm ganz ſchamlos 
den Hausſtand geführt, als er mit ſeiner Frau in 
Scheidung lag. Dieſe Leute waren ja einfach un— 
möglich! — 

Aber in den ſeltenen Fällen, wo man ihn 
wirklich einmal zu Geſichte bekam, ſah der Mann 
gar nicht aus, als ob er ſich etwas daraus machte. 
Für ſeine früheren Bekannten hatte er ein ſchlechtes 
Gedächtnis, er kannte ſie alle nicht mehr, und nie— 
mand kannte ihn. 

Aber er ſah ſo anders aus! Sein Außeres 
wohl etwas vernachläſſigt, wenn auch niemals wieder 
ſo wie zu Anfang ſeiner Carriere, dafür aber den 
Kopf ſtolz getragen, in den Augen das Leuchten ab— 
ſoluter Zufriedenheit und Selbſtgenügſamkeit. 

Es gab eine Zeit, da munkelte man, daß es 
ihm pekuniär nicht glänzend gehen ſollte, denn das 
war eine Thatſache, wenn auch eine merkwürdige. 
Als Mauds Gatte mußte man ſich immer erſt auf 
den Künſtler beſinnen, der er doch immer geweſen, 
jetzt war es der Künſtler allein, der das Intereſſe 
jo wad hielt, daß man fih auch um feine Privat: 
verhältnifje kümmerte. 

Er mußte von alledem nichts. 

Draußen vor dem Thore bejaß er ein Kleines 
Haus, jehr beicheiden, nach feinen Angaben gebaut, 
darin lebte er jchliht und einfach mit feinem Weibe 
und drei ftrammen Buben, die in feinen Mußeftunden 
um ihn berumtollen, ohne ihn zu ftören. 

Aber jein Atelier ift geheiligt! — Selbfi Eva 
bat nie den ehrfürdtigen NReipelt überwunden, ben 
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die 
dort herumſtehen. 

Sjede vollendete Arbeit wird ihm ein neues Lor- 
beerblatt. Er bat alles gehalten, was er veriprocdhen! 
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Treu und 
Slauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein 
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben, 
wenn plögli diejes Genie entfliehen und ihr nur 
den einfahen Gatten zurüdlaflen würbe. Seit zehn 
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf 
und den Kindern. 

Die alte Frau Heelen ift längit tot. — 





891 


Fortunat jchüttelte die Hand des Greifes heftig. 

„Ih werde Khre Worte nie — nie vergeflen, 
Herr Profellor.” 

* * 
* 

Nun blieb ihm noch übrig, Heelen aufzujuchen. 
Er hatte es Maud verfproden, und fonderbar, jeit: 
dem er fie fern mußte, für immer von Heelen ge: 
trennt, lebte auch das alte, freundfchaftlide Gefühl 
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem 
Herzen auf. 

Wie aber würde er ihn empfangen nad der 
langen Entfremdung? 

Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor, 
fingelte und betrat die ihm jo wohlbelannten Räume. 
Ein Haud von Vergangenheit Ichien ihm über allem 
zu liegen, von Moder und Ode, denn fie, bie ihm 
damals alles belebt hatte, war ja fortgegangen und 
hatte auch den Kleinften Teil ihres Welens mit hinweg: 
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und als er 
den langen Korridor durdichritt, da hörte er pfeifen 
drinnen. Wirkliches, vergnügtes Pfeifen! 

Er blieb einen- Augenblid laufchend ftehen — 
das war wahrhaftig Martin felber! 

Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals, 
ol3 feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er 
in Todesangft fam, den Verzweifelten zu tröften. 

Er fand ihn pfeifend; — und beute pfilf er 
wieder. — Die Erinnerung an die Vergangenbeit 
übermannte ihn plöglih, und eintretend firedte er 
ihm beide Arme entgegen. 

„Martin! Mein alter Martin!” 

Wie es dann plößlich fam, daß fie fi umarmt 
hielten, wußte nachher feiner. 

Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und 
Zortunat mußte laden. 

Da war es ja wieder das anipruchslofe Woll- 
hbemd, wenn aud in erneuter Geftalt, und Iuftig 
flarrte ihm Kopf: und Barthaar rund um das Ge: 
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu mobellieren 
pflegte, ba bob fich wieder in ben erften Anfängen 
ein malfiges Etwas empor, von dem man gleich 
wußte, es müffe etwas Gewaltiges, NRielengroßes 
werden. 

Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie 
fih etwas verlegen in die Augen. 

„Ih bin lange nicht hiergewelen,” jagte er 
dann, nur um zu beginnen. 

„Recht lange nicht.” 

„Und Du bift wieder fleißig an der Arbeit?” 

Martins Augen leudhteten. 

„Und wie! Ich bin ja frei! — frei! — frei!” 
Und er redte feine gewaltigen Arme in bie Quft und 
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?“ 

„Deine Frau bat mir nichts verhehlt; mit meinem 
Beiftand hat fie die nötigften Schritte gethan.” 

„IH danke Dir! Du bift wirklich ein reblicher 
Freund gewejen all die Zeit. Und wenn ich Dich 
mal j&hledht behandelt habe... nichts für ungut, 
Ler, ih war ein tobunglüdlicher Menſch!“ 

„Und nun?“ 

„Nun bin ich glücklich! Seligl Und das Leben 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


892 





liegt vor mir — ſo hell, daß ich mit keinem Kaiſer 
tauſchen möchte.“ 

„Aber Martin, Du haſt Dich jetzt an ſchranken⸗ 
loſen Reichtum gewöhnt. 

„Gewöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebracht hat er 
mich beinahe. Meine Kunſt hätte er mich gekoſtet, 
wenn ich ihn immer hätte ertragen müſſen! Mich — 
mich ſelbſt hätte er zu einem liederlichen Kerl gemacht 
und alles niedergetreten, was doch einmal in mir 
ſteckt. Der Reichtum, mein Lieber, iſt ein verflucht 
zweiſchneidig Ding.“ 

„Wenn Du wüßteſt, wie es mir ein ſtets leben⸗ 
diger Vorwurf geweſen iſt, daß Du nicht glücklich 
warſt!“ ſagte Fortunat mit geſenktem Kopf. 

Martin legte ihm die Hand auf die Schulter 
und rüttelte ihn ein wenig. 

„Was kannſt denn Du dafür? Ich — ich hätte 
mich nicht in etwas hineinzwingen laſſen ſollen, was 
mir ſo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte, 
man gewöhnt's vielleicht mit der Zeit! Und ſie auch, 
ſie dachte: Du gewöhnſt ihn dir! Was aber ein 
rechter Mann iſt, der bleibt bei ſeiner Art — oder — 
er geht zu Grunde.“ Dann dem Freunde näher 
rückend, ſetzte er im vertraulichen Flüſterton hinzu: 
„Sie hat ſich wohl manchmal über mich beklagt, 
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mich für einen 
rohen, eigenſinnigen Burſchen ... ich weiß nicht, ob 
ich es bin — ich weiß nur, daß man auf die Dauer 
nicht gegen ſich an kann. Den Zwang habe ich ſo 


gehaßt, mit dem habe ich Krieg geführt, gar nicht 
mit ihr, und — Gott ſei Dank, ich habe ihn ab— 
geſchüttelt.“ 


„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“ 

Martin atmete tief auf. 

„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und 
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich 
jelbft geworden. Die Welt, denk ih, jol noch mit 
mir zufrieden fein.” 

„Wie konnten wir nur jo auseinanderlommen?” 
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt: 
fein des Freundes, das Fluidum, das die herum: 
ftehenden Arbeiten ausftrömten, hatten wieder die alte 
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als jei die 
ganze leßte Zeit nicht gewejen. 

„Die Frau ftand zwilhen uns,” fagte Heelen 
ganz felbftverftändlid. „An der maßeit Du es erit 
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an ber 
maß auch ich mich — und hätte mich bald jelbft auf: 
gegeben, wenn nit —” er lächelte und jchwieg ein 
Meilen. „Du weißt natürlich alles,“ fagte er dann. 

„Alles, Martin.” 

„Und mödteft nun aud die Ev’ jehen?” 

Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte, 
ging er zur Thür und öffnete fie weit. 

„Everl, wilft Du jo gut fein und ein paar 
Flafhen Bier für uns beide bringen? Denn weiter 
langt es jegt nicht,” fjeßte er lachend hinzu, fich zu 
Fortunat wendend. „Aber ih will arbeiten — ar: 
beiten! ch Tann ja wieder arbeiten!“ 

Eva fam und bradte das Bier. Ihre Wangen 
waren rot, und fie late mit all den bligblanten, 
wundervollen Zähnen, während fie dem Gaft das 





893 


Bier eingoß. An ihrem jchlichten, gewürfelten Kattun- 
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber 
wie eine paflende Lebensgefährtin für den Mann, 
der jegt in jelbitvergeljener Zärtlichkeit den Arm um 
ihre Hüfte legte. 

Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen 
hatte, der Freund, der mit offenen Augen dabei- 
geftanden und zugejehben, wie wenig eins für das 
andere getaugt, bamals, als die feinglieberige, fein: 
nervige Maud an feiner Seite geitanden! 

Eva job feinen Arm fort und jah ihn vor: 
wurfsvoll an; noch war ihr bänglich und verwundert 
zu Sinn, wenn fie das Gejchehene überbadte. Und 
Martin fam ihr jo hoch vor, jo bimmelhodh neben 
ihrer Lleinen, beicheidenen Erilten;. 

Als fie gegangen war, jagte Heelen jchnell: 
„Du braudft mir fein Wort über fie zu jagen, fein 
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie 
iſt. MWeibt Du, alles jchict fi nicht für jeden... 
ih glaube, ich braudhe es, daß bie Frau zu mir in 
die Höhe fieht, nicht auf mich herab.“ 

Und Fortunat fhwieg aud. Die Eva in all 
ihrer frifhen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen 
Schönheit Tonnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es 
vor, als habe der Freund einen Ebdelftein fortgeworfen, 
um einen lfompaften Kiejel aufzuheben. Da er aber 
den Edeljtein gefunden, braudte er nicht böje bar: 
über zu fein. 

Heelen fragte mit feinem Wort nah den Be 
ziehungen, die zwilchen dem Freunde und feiner Frau 
beitanden. Entweder interellierten fie ihn nicht mehr, 
da er mit der Vergangenheit jo endgültig gebrochen, 
oder er mar zu taltvol dazu. Auch Fortunat er: 
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum feines Herzens 
vermochte er nicht preiszugeben. 

Dagegen madhte Martin das Glüd mitteilfamer. 

„Ih werde rüftig jchaffen,“ jagte er und ftraffte 
das Haar rüdwärts, „niemand flört mic) mehr, und 
die Eva jorgt für mein Zörperliches Behagen. Siehit 
Du, mein Lieber, das it doch etwas anderes als 
mein dbamaliges Haufen in dem armijeligen Atelier, 
als ic meine Centaurengruppe jhuf! — Nun gebt 
es vielleicht nicht ganz jo flink, aber mit gefräftigtem 
Leib und frober Seele.“ 

„Du wilit das Mädchen, das Du nachher zu 
heiraten gedentit, bei Dir behalten bis Du gejchieden 
bit?“ jagte Fortunat erjchroden. „Aber das geht 
do gar nicht, Martin! — Die Menichen... .” 

Er ladıte auf. 

„Die Menjchen!” wiederholte er in gutmütigem 
Spott. „Sa, die fönnen mir fonft was! — 
braude fie nidt — ih will fie nicht — ich bin ein 
freier, unabhängiger Mann. Sie Iicheren mich den 
Teufel! Niemand fol meine Schwelle betreten außer 
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” — 

Und wieder umarmten fie fih berzlid wie in 
früherer Zeit. 


Schluß-Kapitel. 


Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der 
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von 
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge⸗ 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


894 


ſchiedenen Frau Heeken ehelich verbunden habe, und 
manche Nachricht fand ſpäter auch noch den Weg in 
die Stadt, die Heeken nicht verlaſſen hatte. 

Fortunat blieb mit ſeiner Frau im Suüden. Sein 
humorvolles, trotz alledem etwas weiches Talent fand 
dort den beſten Boden. Das liebenswürdige, reiche 
junge Paar ſpielte dort eine große Rolle und ſehnte 
ſich nicht in das kalte Nebelland zurück, nur ab und zu 
fand eine der feinſinnigen Schöpfungen des Künſtlers 
ihren Weg dahin, und dann konnte Heelen ſtunden⸗ 
lang ſchmunzelnd davor ſtehen und fih an bem Ge: 
botenen erfreuen. 

Fortunats Ruf wuchs mit Recht, und ſeine 
Frau hatte teil an ſeinem Schaffen, wie ſie es ſich 
einſt erſehnte. 


* * 
* 


Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in 
aller Stille fih mit feiner zweiten Frau trauen ließ, 
da rümpfte die Gejelichaft gewaltig die Nafe. — Ein 
Dienitmädchen! Eine Berjon, bie ihm ganz jchamlos 
ben Hausitand geführt, als er mit jeiner Frau in 
Scheidung lag. Dieje Leute waren ja einfah un: 
möglih! — 

Aber in den jeltenen Fällen, wo man ihn 
wirtlih einmal zu Gefichte befam, fah der Mann 
gar nicht aus, als ob er fi etwas daraus machte. 
Für feine früheren Bekannten hatte er ein fchlechtes 
Gedädtnis, er Fannte fie alle nicht mehr, und nie- 
mand kannte ihn. 

Aber er ſah jo anders aus! Sein Außeres 
wohl etwas vernadjläffigt, wenn auch niemals wieder 
jo wie zu Anfang feiner Carriere, dafür aber den 
Kopf ftolz getragen, in den Augen das Leuchten ab: 
joluter Zufriedenheit und Selbftgenügjamteit. 

C8 gab eine Zeit, da munlelte man, daß es 
ihm peluniär nicht glänzend gehen follte, denn das 
war eine Thatjahe, wenn aud eine merkwürdige. 
Als Mauds Gatte mußte man fih immer erft auf 
den Künftler befinnen, der er doch immer gewelen, 
jest war es der Künftler allein, der das Intereſſe 
jo wa hielt, daß man fi auch um feine ‘Brivat- 
verhältniſſe kümmerte. 

Er wußte von alledem nichts. 

Draußen vor dem Thore beſaß er ein kleines 
Haus, ſehr beſcheiden, nach ſeinen Angaben gebaut, 
darin lebte er ſchlicht und einfach mit ſeinem Weibe 
und drei ſtrammen Buben, die in ſeinen Mußeſtunden 
um ihn herumtollen, ohne ihn zu ſtören. 

Aber ſein Atelier iſt geheiligt! — Selbſt Eva 
hat nie den ehrfürchtigen Reſpekt überwunden, den 
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die 
dort herumflehen. 

jede vollendete Arbeit wirb ihm ein neues Lor: 
beerblatt. Er hat alles gehalten, was er veriprochen! 
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Treu und 
Glauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein 
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben, 
wenn plöglih Ddiefes Genie entfliehen und ihr nur 
den einfahen Gatten zurüdlaflen würde. Seit zehn 
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf 
und den Kindern. 

Die alte Frau Heelen ift längit tot. — 





891 


Fortunat jchüttelte die Hand des Greijes heftig. 

„Ih werde Ahre Worte nie — nie vergeflen, 
Herr Profeflor.” 

* * 
* 

Nun blieb ihm noch übrig, Heelen aufzufuchen. 
Er hatte e8 Maub veriproden, und fonderbar, feit- 
dem er fie fern wußte, für immer von Heelen ge: 
trennt, lebte auch das alte, freunbfchaftliche Gefühl 
für ihn auf einmal wieder ganz ungeflört in feinem 
Herzen auf. 

Wie aber würde er ihn empfangen nad) ber 
langen Entfremdung? 

Schritt für Schritt flieg er die Stufen empor, 
Iingelte und betrat bie ihm jo wohlbefannten Räume. 
Ein Hauch von Vergangenheit jchien ihm über allem 
zu liegen, von Mobder und Ode, denn fie, bie ihm 
damals alles belebt Hatte, war ja fortgegangen und 
hatte auch den Heinften Teil ihres Wefens mit hinweg: 
genommen. Man führte ihn ins Atelier, und als er 
den langen Korridor durchichritt, da hörte er pfeifen 
drinnen. Wirkliches, vergnügtes Pfeifen! 

Er blieb einen. Augenblid laujchend ftehen — 
bas war wahrhaftig Martin felber! 

Er hatte ihn nur einmal pfeifen hören, damals, 
als feine erfte Gruppe zufammengeflürzt war, und er 
in Todesangft fam, den Berzmweifelten zu tröften. 

Cr fand ihn pfeifend; — und heute pfiff er 
wieder. — Die Erinnerung an die Vergangenheit 
übermannte ihn plöglih, und eintretend firedte er 
ihm beide Arme entgegen. 

„Martin! Mein alter Martin!“ 

Wie e8 dann plöglih Tam, daß fie fi umarmt 
hielten, wußte nachher feiner. 

Und dann ein Blid auf Heelens Geftalt und 
Fortunat mußte laden. 

Da war es ja wieder das anipruchslofe Woll- 
bemdb, wenn au in erneuter Geftalt, und Iuftig 
ftarrte ihm Kopf: und Barthaar rund um das Ge- 
fiht. Auf dem Blod aber, auf dem er zu modellieren 
pflegte, da bob fich wieder in den erften Anfängen 
ein majfige® Etwas empor, von dem man gleich 
wußte, es miüfle etwas Gemaltiges, Rielengroßes 
werden. 

Fortunat atmete tief auf, und dann jahen fie 
fih etwas verlegen in die Augen. 

„Ih bin lange nicht hiergeweſen,“ ſagte er 
dann, nur um zu beginnen. 

„Recht lange nicht.” 

„And Du bift wieder fleißig an der Arbeit?“ 

Martins Augen leuchteten. 

„Und wie! Sch bin ja frei! — frei! — frei!” 
Und er redte feine gewaltigen Arme in die Luft und 
ballte die Fäufte. „Du weißt doch alles, nicht wahr?” 

„Deine Frau hat mir nichts verheblt; mit meinem 
Beiftand bat fie die nötigften Schritte gethan.” 

„SH dante Dir! Du bift wirklich ein redlicher 
Freund gewejen all die Zeit. Und wenn ich Dich 
mal jchledht behandelt habe... nichts für ungut, 
Ler, ih war ein todunglüdlider Menſch!“ 

„And nun?” 

„Run bin ich glüdlih! Selig! Und das Leben 


Art zu Art. Roman von H. Schobert. 


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liegt vor mir — fo Hell, daß ich mit feinem Kailer 
taujhen möchte.“ 

„Aber Martin, Du haft Dich jegt an jchranken- 
Iojen Reichtum gewöhnt . . .* 

„Sewöhnt?“ fuhr er auf. „Umgebradht bat er 
mich beinahe. Meine Kunft hätte er mich geloftet, 
wenn ih ihn immer hätte ertragen müflen! Mid — 
mich jelbft hätte er zu einem liederlichen Kerl gemacht 
unb alles niedergetreten, was do einmal in mir 
ftedt. Der Reichtum, mein Lieber, ift ein verflucht 
zweilchneidig Ding.” 

„Wenn Du wüßtelt, wie es mir ein ftets leben- 
dDiger Vorwurf gemwejen ift, daß Du nicht glüdlich 
warft!” fagte Fortunat mit gejenkttem Kopf. 

Martin legte ihm die Hand auf die Schulter 
und rüttelte ihn ein wenig. 

„Was Tannft denn Du dafür? Zch — ich hätte 
mich nicht in etwas bineinzwingen laflen jollen, was 
mir jo ganz gegen meine Natur ging. Aber ich dachte, 
man gewöhnt’s vielleicht mit der Zeit! Und fie aud), 
fie dadte: Du gewöhnft ihn dir! Was aber ein 
rechter Dann ift, der bleibt bei feiner Art — oder — 
er gebt zu Grunde.” Dann dem Freunde näher 
rüdend, jeßte er im vertraulichen Flüfterton hinzu: 
„Sie hat fih wohl mandmal über mich beklagt, 
Fortunat, meine Frau! — Sie hielt mid für einen 
toben, eigenfinnigen Burjen ..... ich weiß nicht, ob 
ih es bin — ih weiß nur, daß man auf die Dauer 
nicht gegen fih an kann. Den Zwang habe ich fo 
gehaßt, mit dem babe ich Krieg geführt, gar nicht 
mit ihr, und — Gott fei Dank, ih babe ihn ab: 
geſchüttelt.“ 

„Alſo biſt Du zufrieden, wie es gekommen iſt?“ 

Martin atmete tief auf. 

„Von Herzen! Ich werde wieder arbeiten und 
ſchaffen können wie früher, denn ich bin wieder ich 
jelbft geworben. Die Welt, denk ich, ſoll noch mit 
mir zufrieden ſein.“ 

„Wie konnten wir nur ſo auseinanderlommen?“ 
fragte Fortunat nachdenklich, denn das Kraftbewußt— 
ſein des Freundes, das Fluidum, das die herum⸗ 
ſtehenden Arbeiten ausſtrömten, hatten wieder die alte 
Anziehungskraft für ihn. Es war ihm, als ſei die 
ganze letzte Zeit nicht geweſen. 

„Die Frau ſtand zwiſchen uns,“ ſagte Heeken 
ganz ſelbſtverſtändlich. „An der maßeſt Du es erſt 
ab, daß wir doch nicht zu einander gehörten, an der 
maß auch ich mich — und hätte mich bald ſelbſt auf— 
gegeben, wenn nicht —“ er lächelte und ſchwieg ein 
Weilchen. „Du weißt natürlich alles,“ ſagte er dann. 

„Alles, Martin.“ 

„Und möchteſt nun auch die Ev' ſehen?“ 

Und ehe der andere ein Wort erwidern konnte, 
ging er zur Thür und öffnete ſie weit. 

„Everl, willſt Du ſo gut ſein und ein paar 
Flaſchen Bier für uns beide bringen? Denn weiter 
langt es jetzt nicht,“ ſetzte er lachend hinzu, ſich zu 
Fortunat wendend. „Aber ich will arbeiten — ar- 
beiten! Ich kann ja wieder arbeiten!“ 

Eva kam und brachte das Bier. Ihre Wangen 
waren rot, und ſie lachte mit all den blitzblanken, 
wundervollen Zähnen, während ſie dem Gaſt das 





893 Art zu Akt. 
Bier eingoß. Sin ihrem jchlichten, gewürfelten Kattun: 
Heid jah fie zwar nicht aus wie eine Fürftin, aber 
wie eine paflende Lebensgefährtin für den Mann, 
der jegt in jelbftvergeljener Zärtlichkeit den Arm um 
ihre Hüfte legte. 

Mein Gott, daß er das nicht früher begriffen 
hatte, der Freund, der mit offenen Augen dabei: 
geftanden und zugejehen, wie wenig eins für das 
andere getaugt, damals, als die feinglieberige, fein: 
nervige Maub an feiner Seite geitanben! 

Eva Ichob feinen Arm fort und jah ihn vor: 
wurfsvol an; noch) war ihr bänglich und verwundert 
zu Sinn, wenn fie das Gejichhehene überdadte. Und 
Martin fam ihr jo bo vor, jo bimmelhoh neben 
ihrer kleinen, bejcheidenen Eriften;z. 

Als fie gegangen war, fagte Heelen jchnell: 
„Du braudft mir tein Wort über fie zu jagen, fein 
Sterbenswörthen! Mir ift fie gerade jo recht wie fie 
it. Weißt Du, alles jchict fich nicht für jeden... 
ih glaube, ih braude es, daß die Frau zu mir in 
die Höbe fieht, nicht auf mich herab.“ 

Und Fortunat jhwieg aud. Die Eva in all 
ihrer friihen Natürlichkeit, Gefundheit und ländlichen 
Schönheit konnte ihn nicht begeiftern. Ihm kam es 
vor, als habe der Freund einen Edelftein fortgeworfen, 
um einen lompalten Kiefel aufzuheben. Da er aber 
ben Edeljtein gefunden, braudte er nicht böje dar: 
über zu ſein. 

Heelen fragte mit keinem Wort nad den Be: 
ziehbungen, die zwilhen dem Sreunde und Jeiner Frau 
beftanden. Entweder interejlierten fie ihn nicht mehr, 
da cr mit der Vergangenheit jo endgültig gebrochen, 
oder er war zu taftvoll dazu. Auch Fortunat er: 
wähnte feine Silbe. Das Heiligtum jeines Herzens 
vermochte er nicht preiszugeben. 

Dagegen machte Martin das Glüd mitteiljamer. 

„Sch werde rüftig jchaffen,” fagte er und ftraffte 
das Haar rüdwärts, „niemand flört mic) mehr, und 
die Eva fjorgt für mein körperliches Behagen. Sieht 
Du, mein Xieber, das ift doch etwas anderes als 
mein bamaliges Haufen in dem armjeligen Atelier, 
als ich meine Gentaurengruppe Ihuf! — Nun gebt 
es vielleicht nicht ganz jo flint, aber mit gefräftigtem 
Leib und frober Seele.“ 

„Du willt das Mädchen, das Du nachher zu 
heiraten gedentjt, bei Dir behalten bis Du gejchieden 
bit?” fjagte Fortunat erichroden. „Aber das geht 
bob gar nicht, Martin! — Die Menihen .. .” 

Er ladıte auf. 

„Die Menihen!” wiederholte er in gutmütigem 
Spott. „Sa, die können mir jonft was! — 
braude fie nidt — ih will fie niht — ich bin ein 
freier, unabhängiger Manıı. Sie jcheren mich den 
Teufel! Niemand fol meine Schwelle betreten außer 
Dir — Du wirft mir immer willlommen fein!” — 

Und wieder umarmten fie fi berzlid wie in 
früherer Zeit. 


Schluß-Kapitel. 


Kaum ein Jahr ſpäter reiſte Fortunat mit der 
Scheidungsakte in der Taſche nach Italien. — Von 
Sorrent kam die Nachricht, daß er ſich mit der ge— 


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Roman von H. Schobert. 


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Ihiedenen Frau Heelen ehelich verbunden babe, und 
manche Nachricht fand jpäter auch noch den Weg in 
die Stadt, die Heelen nicht verlajlen hatte. 

Fortunat blieb mit feiner Frau im Süden. Sein 
humorvolles, troß alledem etwas weiches Talent fand 
bort den beiten Boden. Das liebenswürdige, reiche 
junge Baar Ipielte dort eine große Rolle und ſehnte 
ih nicht in das Talte Nebelland zurüd, nur ab und zu 
fand eine ber feinfinnigen Schöpfungen des Künitlers 
ihren Weg dahin, und dann konnte Heelen fjtunden: 
lang jchmunzelnd davor ftehen und fih an dem Ge: 
botenen erfreuen. 

Fortunats Ruf wuhs mit Nedht, und feine 
Frau hatte teil an feinem Schaffen, wie fie es fid 
einft erjehnte. 


* * 
* 


Als der geniale Bildhauer Martin Heelen in 
aller Stille fih mit feiner zweiten Frau trauen ließ, 
da rümpfte die Gejellihaft gewaltig die Nafe. — Ein 
Dienftmäddhen! Eine Berfon, die ihm ganz Ihamlos 
den Hausftand geführt, als er mit feiner Frau in 
Scheidung lag. Diele Leute waren ja einfadh un: 
möglid! — 

Aber in den jfeltenen Fällen, wo man ihn 
wirtlih einmal zu Gefidhte befam, jah der Mann 
gar nicht aus, als ob er fih etwas daraus madhte. 
Für feine früheren Belannten hatte er ein jchlechtes 
Gedächtnis, er kannte fie alle nicht mehr, und nie- 
mand kannte ihn. 

Aber er jah jo anders aus! Sein Äußeres 
wohl etwas vernadhläjfigt, wenn auch niemals wieder 
jo wie zu Anfang feiner Carriere, dafür aber ben 
Kopf Stolz getragen, in den Augen das Leuchten ab: 
joluter Zufriedenheit und Selbftgenüglamleit. 

Cs gab eine Zeit, da munlelte man, daß es 
ihm peluniär nicht glänzend gehen follte, denn das 
war eine Thatjahe, wenn auch eine merkwürdige. 
Als Mauds Gatte mußte man fih immer erft auf 
den Künftler befinnen, der er doch immer gemwejen, 
jegt war es der Künftler allein, der das Intereſſe 
jo mad hielt, daß man fi aud um feine Privat- 
verhältnifie kümmerte. 

Er wußte von alledem nichts. 

Draußen vor dem Thore bejaß er ein Meines 
Haus, jehr beicheiden, nad feinen Angaben gebaut, 
darin lebte er jchliht und einfach mit feinem Weibe 
und drei jtrammen Buben, bie in feinen Mußeftunden 
um ihn berumtollen, ohne ihn zu ftören. 

Aber jein Atelier ift geheiligt! — Selbit Eva 
bat nie den ehrfürdtigen Reipelt überwunden, den 
ihr die gewaltigen weißen Skulpturen einflößen, die 
dort herumfiehen. 

Ssede vollendete Arbeit wirb ihm ein neues Lor: 
beerblatt. Er hat alles gehalten, was er verjprodhen! 
— Seine Frau verfteht wenig davon. Auf Zreu und 
Glauben nimmt fie es bin, daß ihr Martin eben ein 
Genie ift, aber fie würde ihn nicht weniger lieben, 
wenn plöglih Ddiejes Genie entfliehen und ihr nur 
den einfadhen Gatten zurüdlaflen würde. Seit zehn 
Sahren geht fie mit jedem Gedanken in ihm auf 
und den Kindern. 

Die alte Frau Heelen ift längit tot. — 


ie —⸗— mn.” 


895 Schwertllingen. 
Und dann fam ein ftolzer Tag. Martin wurde 
als Profeflor an das Kunftinftitut berufen, dem bisher 
der alte Duenfel vorgeftanden. — 

Die Frau Profeflorin geht zwar immer noch in 
Heingewürfelten SKattunkleibern mit blenbend weißen 
Schürzen in ihrem Gärthen umber, aber die Gefell: 
Ihaft fängt allmählid an mit dem berühmten Mann, 
zu liebäugeln, freilich ohne auf Gegenliebe zu ftoßen. 
Man findet jeine Vergangenheit „riefig intereflant“, 


Roman von Hans Werber. 





896 


ſein Äußeres bedeutend, ſeine Frau friſch wie Alpen— 
luft. Als aber das erſte Einladungsſchreiben an das 
Ehepaar auf den Schreibtiſch des Herrn Profeſſors 
flog, legte er es kopfſchüttelnd beiſeite. Es kam aus 
ziemlich hohen Regionen. 

„Nein, Ev'!“ ſagte er, „das laſſen wir hübſch 
bleiben; wir ſind uns ſelbſt genug, nicht wahr? Art 
zu Art!“ 

Ende. 





Schweriklingen. 


Baterländifher Roman 


bon 


Hans Werder. 
(Schluß.) 


Renate preßte beide Hände an die Schläfen. 
„Daß ih nur nicht den Verfiand verliere!” dachte 
fie halblaut. „Ich Habe ihn noch nie jo notwendig 
gebraudt!" Sie bob die gerungenen Hände gen 
Himmel in einem ftummen Angftgebet, das aus ber 
Tiefe um Hilfe und Errettung fchrie. Kalte Schweiß 
tropfen feuchteten ihre Schläfen. Zunge und Lippen 
waren wie ausgedörrt in diefen wenigen Selunden. 
Wanlenden Schrittes ging fie vorwärts — Licht — 
Luft! Sie Ihlug den Vorhang des Fenfters zurüd, 
öffnete dasjelbe mit zitternden Händen und fchaute 
hinaus. Der Wald trat bier dicht heran und das 
Haus war body. Unten lag Steingeröl. Ein Sprung 
bier hinab — gut! Sie faltete die Hände und betete 


wieder — inbrünitig, heiß, wie Todesnot beten lehrt. 


Da wurde leile der Schlüffel umgedreht, Die 
Thür geöffnet, wieder geichloffen. Renate fuhr herum. 

Ein franzölifher Offizier war bereingetreten, 
groß und fchlant. est wandte er ihr fein Geficht 
zu. Daricot! 

Es war feine Überrafhung — nur eine Gewißheit. 

Er verneigte fi tief. „Mademoifelle, ich bin 
entzüdt von der Ehre, Sie hier in meiner Wohnung 
begrüßen zu dürfen!” 

Renate trat unmwilllürli ein paar Schritte auf 
ihn zu. „Sch bin gelommen, meinen Vater zu fehen! 
Er liegt jchwer verlegt hier im Haufe! Wo ift er? 
Wo ift mein Obeim?“ 

„She Herr Obeim ift auf der Jagd mit meinen 
Kameraden! hr Vater — parbleu, der ift wahr: 
Iheinli in Berlin — jedenfalls weit von bier! 
Und follte er frank fein — wir willen nichts da: 
von! Mein Abgejandter hat Yhnen, wie’3 jcheint, 
ein Märchen aufgebunden, um meine Einladung zu 
unterjtüßen!” 

„Aber der Brief meines Oheims!” rief Renate 
mit fiodendem Atem. 

„Ad, Mabemoilelle! Zhr Ontel ift ein Narr! 
Und ein Zruntenbold obenein! Werzeihen Sie bie 
unhöflihe Sprade! Wir madten ihn betrunken mit 
dem Inhalt feines eigenen wohlgefüllten Weintellers, 


und da fjchrieb er den Brief, den ih von ihm ver: 
langte. Sebt weiß feine Seele nichts mehr davon, 
und Shre Vorwürfe würden verjchwenbet fein!” 

Kenate blicdte den Spreder an, mit ben geilter: 
baft großen Augen, aus marmornem Antlig. Als er 
Ihmwieg, öffnete fie langfam die Lippen. „Sie er: 
bärmliher Zump!” jagte fie Mar und vernehmlidh. 

Daricot zudte zulammen. Eine flammende Röte 
ging über jein Gefiht. „Mademoijelle —- die Zeiten 
find vorbei, wo Sie mich ungeftraft beleidigen durften! 
Biel zu oft Schon haben Sie es gethban! — Sekt 
werden Sie um Verzeihung bitten — in meinen 
Armen, an meinem Herzen!” 

Ein Blid grenzenlojer Beratung ftreifte über 
ihn hin. Sie trat an das Fenfter zurüd und Ipäbte 
raid und forjchend hinaus. 

„Geben Sie fih feine Mühe!” Lächelte ber 
Stanzoje. „Es ift niemand in der Nähe, der Shnen 
helfen Llönnte. Nur meine Kameraden und Unter: 
gebenen, weit und breit. Sie find jo völlig in 
meiner Gewalt, daß feine Macht ber Welt Sie 
daraus befreien kann! hr einziger Belchüger, den 
Sie fortan haben werden, Mademoijelle, bin ih!” — 
Er trat mit diefem Wort auf fie zu. 

Renate jchlang ihren Arm feit um das Feniter: 
freuz und bog fi rüdlings hinaus. 

„Sowie Sie mid anrühren, ftürze ih mich 
hinunter!” jagte fie jehr feft und ruhig. 

Er ladte. „Aber Mademoijelle, Sie werben 
doh nit! Wie fönnen Ahre Schönen Lippen mid 
Io erjchreden wollen!” 

„Srihreden joll es Sie gewiß nicht!” rief Renate. 
„Es wird niemand danad fragen, ob hr Hentere: 
Inechte ein deutjches Landeskind mehr oder weniger 
umgebradt habt! Yh jage Shnen nur, was ih 
thDun werde, falls Sie fi unterftehen jollten, mir zu 
nabe zu treten!” 

Daricot trat zögernd zurüd, Flücdtig fam ihm 
der Gedanke, daß Güte und Freundlichkeit ihn viel- 
leicht feiner ftolzen Gefangenen näher zu bringen ver: 
mödten. Er warf fih in einen Sefjel und ftarrte 





897 Schwertklingen. 
grübelnd, unmutig vor ſich hin. Renate ſtand regungs— 
los am Fenſterkreuz. 

Endlich erhob er ſich und verließ das Zimmer, 
die Thür ſorgſam verſchließend. 

Renate ſetzte ſich auf das niedrige Fenſterbrett, 
lehnte die Stirn an das Holzkreuz, welches hier ihre 
einzige Stütze und Halt war, und verſuchte ihre 
fürchterliche Lage zu überdenken. 

Ob wohl Mademoiſelle nach Tiefenſee entkommen 
war, den Ihrigen Mitteilung zu machen? Schwer— 
lich! Vielleicht hatte man auch ihr ein „ritterlich 
Gefängnis“ bereitet unter ihren Landsleuten. 

Renate ſah an den beleuchteten Waldwipfeln 
draußen, daß die Sonne im Untergehen war. Weiche 
Schatten lagerten ſich unter Baum und Geſträuch. 
Das Sonnenlicht auf den Wipfeln erloſch — der 
bläuliche Schleier der Dämmerung ſank hernieder. 
Kühl zog die Abendluft herein. Renate trug ein 
leichtes Sommerkleid. Sie hatte keinen Mantel, der 
ſie ſchützte und ihre einzige Zuflucht war das offene 
Fenſter, das Kreuz, daran ſie ſich klammerte! „Wenn 
es Haſſo wüßte — er würde mich befreien! Aus 
Ritterlichkeit, wenn auch nicht mehr aus Liebe! Von 
ihm wollte ich keine Hilfe, keine Dienſtleiſtung — 
und dieſem Werwolf lieferte ich mich in die Hände!“ 

Jetzt trat Daricot wieder herein, gefolgt von 
ſeinem Diener, welcher Speiſen und Wein auf dem 
Tiſch zurechtſtellte, die Lichter anzündete und ſich 
dann geräuſchlos entfernte. 

Daricot vertauſchte ſeinen goldbetreßten Waffen⸗ 
rock mit einem weichen, leichten Jackett, von deſſen 
Kleidſamkeit er ſelbſtgefällig durchdrungen ſchien, und 
näherte ſich Renate ein wenig. 

„Mademoiſelle, wollen Sie mich nicht das Fenſter 
ur lafien? Die Abendkühle wird Ihnen Schaden!“ 

„Rein!“ 

„Darf ich Shnen meinen Mantel umlegen? Sie 
werden frieren!” 

„Rein!“ Dabei entging ihm nidt die leichte 
Bewegung des Abjcheus, der fie überriejelte Eine 
furze PBaufe entitand. 

„Sie müflen etwas genießen, Mademoifelle!“ 
begann er aufs neue. „Wenigftens ein Glas Wein 
trinten! Sch jerviere es Ahnen hier auf Jhrem un: 
nabbaren Feljenfig!“ 

„Danke! Bemühen Sie fi nicht!” 

Unshlüffig ftand er vor ihr. „Mademoijelle — 
es ift thöricht von Shnen, fi) auf diejen feindlichen 
Fuß mit mir zu ftelen! Sn meiner Madht find 
Sie — daran ändern Sie dur Zhre Ihroffe Haltung 
nichts! Die Macht würde aber fofort in Shre Hände 
übergehen — Sie würden mid als Sklaven zu Jhren 
Füßen jehen, wenn Sie mir nur einen Schatten von 
Hoffnung geben wollten!” Seine Blide ruhten durch— 
bohrend auf ihr. Er jchien einen tiefen Eindrud 
jeiner Worte zu erwarten. „Mademoijelle, hören Sie 
auf mid! Gönnen Sie mir einen freundliden Blid, 
lafien Sie mid den Saum Shres Kleides Füffen, 
zum Zeichen, daß Sie mir vergeben wollen, daß ich 
hoffen darf, Zhr Vertrauen zu gewinnen! D, und 
Sie jollten jehen, wie Nves Daricot zu lieben ver: 
Neht! Befehlen Sie über mich, Stellen Sie mich auf die 
Probe — ich will alles, alles thun, was Sie verlangen!” 


Noman von Hans Werber. 


898 


Renate hob die dunklen Wimpern auf und ah 
ihn an. „Sp verjuhen Sie ein einziges Mal wie 
ein Ehrenmann zu banbeln, und Ilaflen Sie mid 
meiner Wege gehen!" Bei diefen Morten aber 
leudhtete aus den großen, angftvollen Rehaugen ein 
Hoffnungsſchimmer, der ihnen zugleih einen hin: 
reißenden Ausdrud verlieh, nur allzu geeignet, den 
heigblütigen Sranzofen um den Reit feiner Be 
finnung zu bringen. Er warf fih vor ihr nieder. 

„Alles, allee — ma belle — nur daß ih Sie 
freigeben fol — verlangen Sie nit! Das kann 
ih nit! Unmöglihd! Wenn ih Sie jegt gehen 
lafje, jo jehe ih Sie niemals wieder, und das er» 
trage ich nicht! Sie find das Schidjal, dem ich ver- 
fallen bin! Haben Sie Erbarmen mit mir!” Er 
ftredte die Hände nad ihr aus. 

„Rühren Sie mid nit an!“ es Tlang wie ein 
Ihaudernder Angitruf. 

Da fprang er auf, wilde Glut fladerte in feinen 
Augen. „Und Sie werden dennodh mir angehören 
und mein eigen jein! Sie jollen und müflen! Meine 
Liebe ftoßen Sie mit Veradhtung von fi) — ich werde 
Sie lehren, zu betteln um meine Gnade, mein Mit: 
leid! Haben wir nicht ganz Preußen unterjodht, ganz 
Deutichland gelnechtet, und ein einziges Weib, ein 
thörichtes Mädchen jollte uns Troß bieten können? 
— Nein, Mademoifelle, Sie werden Yves Daricot 
kennen lernen! — Sa, ftehen Sie nur da mit diefen 
Augen, als ob Sie mich ungeftraft verachten dürften! 
Wir wollen doch jehen, wer es länger aushalten 
fann — Sie oder ih!” — 

Wie ein blutdürftiges Raubtier ftand er vor 
ihr. Renate meinte nah Minuten oder Selunden 
berechnen zu lönnen, wie lange jeine Vernunft ihn 
noh im Zaum zu halten vermödhte. Und dann jah 
fie hinab in die Tiefe, wo das Steingeröll in ber 
Dämmerung verfhdwamm und fih zu glätten Tchien. 
War denn der Sprung au tief genug, um ihr 
wirklich — Rettung zu bringen? 


V. 


In Buggendorf war keine neue Einquartierung 
angemeldet. Es lag ein wenig abſeits von der Heer⸗ 
ſtraße und wurde daher ſchonender behandelt. Dies 
war ein Glück, denn die letzten Eindringlinge hatten 
faſt mit allen Vorräten in Scheune und Keller ge⸗ 
räumt. Es mußte Geld beſorgt und danach neue Vor: 
räte angeſchafft werden. Erſteres war ſehr ſchwierig! 
Herr von Zarchow begab ſich in dieſer Abſicht zur 
Stadt, an demſelben Tage wie ſein Nachbar Paul 
Conreuth. Schwager Hans Brünnow begleitete ihn. 

Frau Selma von Zarchow ſtand auf dem Raſen— 
platz, ſonnte die Betten und ließ ſie ausklopfen, be— 
ſonders die, in welchen die franzöſiſchen Gäſte geruht. 
Da ward ihr von dem Diener ein Brieflein aus 
Tiefenſee überbracht, zwar an ihren Bruder, Herrn 
Lieutenant von Brünnow, gerichtet, doch öffnete ſie 
es und ſah hinein. Eine Aufforderung von Julie 
Conreuth an ihn, ſchleunigſt hinüber zu kommen. 
Ja, das konnte er nun leider nicht! Sie ſandte 


einen ſchönen Gruß mit der Nachricht, daß ihr 


Roman⸗Zeltung 1696. 


IV. 63 


895 Schwertllingen. 
Und dann lam ein ftolzer Tag. Martin wurde 
als Profefior an das Kunftinflitut berufen, dem bisher 
der alte Duenfel vorgejtanden. — 

Die Frau Profefjorin geht zwar immer noch in 
Heingemwürfelten Kattunkleidern mit blendend weißen 
Schürzen in ihrem Gärten umber, aber die Gejell- 


Ihaft fängt allmählih an mit dem berühmten Mann, 


zu liebäugeln, freilich ohne auf Gegenliebe zu ftoßen. 
Man findet feine Vergangenheit „riefig intereflant”, 


Roman von Hans Werber. 





S96 





jein Hußeres bedeutend, feine Frau frifeh wie Alpen: 
luft. Als aber das erfte Einladungsichreiben an das 
Ehepaar auf den Screibtiih des Herrin Profefiors 
flog, legte er es Topfichüttelnd beifeite. Es fam aus 
ziemlich hohen Regionen. 

„Nein, Eo’!* jagte er, „das lafjen wir hübich 
bleiben; wir find uns felbft genug, nicht wahr? Art 
zu Art!” 

Ende. 





5chwertklingen. 


Vaterländiſcher Roman 


bon 
Dans Werder. 
(Schluß.) 


Renate preßte beide Hände an die Schläfen. 
„Daoß ih nur nicht den Verftand verliere!” dachte 
fie halblaut. „Sch babe ihn noch nie jo notwendig 
gebraudt!” Sie hob die gerungenen Hände gen 
Himmel in einem ftummen Angfigebet, das aus der 
Tiefe um Hilfe und Errettung Ichrie. Kalte Schweiß: 
tropfen feuchteten ihre Schläfen. Zunge und Lippen 
waren wie ausgedörrt in diefen wenigen Sekunden. 
Wankfenden Schrittes ging fie vorwärts — Licht — 
Luft! Sie jhhlug den Vorhang des Fenfters zurüd, 
öffnete dasjelbe mit zitternden Händen und jchaute 
hinaus. Der Wald trat bier dicht heran und das 
Haus war body. Unten lag Steingeröl. Ein Sprung 
bier hinab — gut! Sie faltete die Hände und betete 


wieder — inbrünftig, heiß, wie Tobesnot beten lehrt. 


Da wurde leile der Schlüflel umgedreht, Die 
Thür geöffnet, wieder geichloffen. Renate fuhr herum. 

Ein franzöfifher Dffisier war hereingetreten, 
groß und ſchlank. Sekt wandte er ihr fein Geficht 
zu. Dario! 

Es war feine Überraſchung — nur eine Gewißbeit. 

Er verneigte fich tief. „Mademoifelle, ich bin 
entzüdt von der Ehre, Sie hier in meiner Wohnung 
begrüßen zu dürfen!“ 

Renate trat unwilllürlih ein paar Schritte auf 
ihn zu. „Ich bin gelommen, meinen Bater zu jehen! 
Er liegt jchwer verlegt Bier im Haufe! Wo ift er? 
Wo ift mein Obeim?” 

„Ihr Herr Oheim iſt auf der Jagd mit meinen 
Kameraden! Ihr Vater — parbleu, der ift wahr: 
Iheinliy in Berlin — jedenfalls weit von bier! 
Und jollte er krank fein — wir willen nichts ba: 
von! Mein Abgejandter hat Zhnen, wie’s jcheint, 
ein Märchen aufgebunden, um meine Einladung zu 
unterftügen!” 

„Aber der Brief meines Obeims!“ rief Renate 
mit ftodendem Atem. 

„Ad, Mademoijele! Ahr Onkel ift ein Narr! 
Und ein Trunfenbold obenein! Verzeihen Sie die 
unböflihe Sprade! Wir machten ihn betrunfen mit 
dem Inhalt jeines eigenen wohlgefülten Weintellers, 


und da fchrieb er ben Brief, den id von ihm ver: 
langte. Sept weiß feine Seele nichts mehr davon, 
und Shre Vorwürfe würden verjchwendet fein!“ 

Renate blidte den Sprecher an, mit den geilter- 
baft großen Augen, aus marmornem Antlig. Als er 
Ihwieg, öffnete fie langjam die Lippen. „Sie er- 
bärmliher Zump!” fagte fie Har und vernehmlid. 

Daricot zudte zufammen. Eine flammende Röte 
ging über fein Gefiht. „Mademoijelle —- die Zeiten 
find vorbei, wo Sie mich ungejtraft beleidigen durften! 
Viel zu oft Shon haben Sie es gethan! — Sekt 
werden Sie um Verzeihung bitten — in meinen 
Armen, an meinem Herzen!” 

Ein Blid grenzenlojer Verachtung ftreifte über 
ihn hin. Sie trat an das Fenfter zurüd und jpäbte 
traf und forjhend hinaus. 

„Seben Sie fih teine Mühe!” Tächelte der 
FStanzofe. „Es ift niemand in der Nähe, der Ihnen 
belfen Tönnte. Nur meine Kameraden und Unter: 
gebenen, weit und breit. Sie find jo völlig in 
meiner Gewalt, daß keine Macht der Welt Sie 
daraus befreien fan! hr einziger Beihüger, den 
Sie fortan haben werden, Mademoijelle, bin ih!” — 
Er trat mit diefem Wort auf fie zu. 

Renate fchlang ihren Arm feit um das Fenfter: 
freuz und bog fich rüdlings hinaus. 

„Sowie Sie mid anrühren, flürze ich mid 
hinunter!” jagte fie jehr feit und ruhig. 

Er lachte. „Aber Mademoijele, Sie werden 
doh nit! Wie können Ihre ſchönen Lippen mid) 
jo erfchreden wollen!” 

„Srichreden fol es Sie gewiß nicht!” rief Renate. 
„Es wird niemand danad) fragen, ob hr Henfers: 
tnechte ein deutiches Landesfind mehr oder weniger 
umgebracht habt! Ich jage Jhnen nur, was id) 
thbun werde, falls Sie fih unterftehen jollten, mir zu 
nahe zu treten!” 

Daricot trat zögernd zurüd, Flüdhtig fam ihm 
der Gedanke, daß Güte und Freundlichkeit ihn viel- 
leicht jeiner ftolzen Gefangenen näher zu bringen ver: 
möchten, Er warf fi in einen Seffel und ftarrte 





897 Schwertklingen. 
grübelnd, unmutig vor ſich hin. Renate ſtand regungs- 
los am Fenſterkreuz. 

Endlich erhob er ſich und verließ das Zimmer, 
die Thür ſorgſam verſchließend. 

Renate ſetzte ſich auf das niedrige Fenſterbrett, 
lehnte die Stirn an das Holzkreuz, welches hier ihre 
einzige Stütze und Halt war, und verſuchte ihre 
fürchterliche Lage zu überdenken. 

Ob wohl Mademoiſelle nach Tiefenſee entkommen 
war, den Ihrigen Mitteilung zu machen? Schwer— 
lich! Vielleicht hatte man auch ihr ein „ritterlich 
Gefängnis“ bereitet unter ihren Landsleuten. 

Renate ſah an den beleuchteten Waldwipfeln 
draußen, daß die Sonne im Untergehen war. Weiche 
Schatten lagerten ſich unter Baum und Geſträuch. 
Das Sonnenlicht auf den Wipfeln erloſch — der 
bläuliche Schleier der Dämmerung ſank hernieder. 
Kühl zog die Abendluft herein. Renate trug ein 
leichtes Sommerkleid. Sie hatte feinen Mantel, der 
fie jhüßte und ihre einzige Zuflucht war das offene 
Senfter, das Kreuz, daran fie fich Hammerte! „Wenn 
e8 Hafjo wüßte — er würde mich befreien! Aus 
Ritterlichleit, wenn auch nicht mehr aus Liebe! Von 
ihm mollte ich feine Hilfe, Teine Dienftleiftung — 
und diefem Wermwolf lieferte ich mich in die Hände!” 

Seht trat Daricot wieder herein, gefolgt von 
feinem Diener, weldder Speifen und Wein auf dem 
Th zurectitellte, die Lichter anzündete und fidh 
dann geräufchlos entfernte. 

Daricot vertaujchte feinen golbbetreßten Waffen: 
rod mit einem weichen, leichten AJadett, von befjen 
Kleidſamkeit er ſelbſtgefällig durchdrungen ſchien, und 
näherte ſich Renate ein wenig. 

„Mademoiſelle, wollen Sie mich nicht das Fenſter 
DI lafien? Die Abendfühle wird Shnen fchaden!“ 

„Rein !” 

„Darf ich Zhnen meinen Mantel umlegen? Sie 
werden frieren!” 

„Nein!“ Dabei entging ihm nidht die leichte 
Bewegung des Abjcheus, der fie überriejelte. Eine 
kurze Pauſe entſtand. 

„Sie müſſen etwas genießen, Mademoiſelle!“ 
begann er aufs neue. „Wenigſtens ein Glas Wein 
trinken! Ich ſerviere es Ihnen hier auf Ihrem un— 
nahbaren Felſenſitz!“ 

„Danke! Bemühen Sie ſich nicht!“ 

Unſchlüſſig ſtand er vor ihr. „Mademoiſelle — 
es iſt thöricht von Ihnen, ſich auf dieſen feindlichen 
Fuß mit mir zu ſtellen! In meiner Macht ſind 
Sie — daran ändern Sie durch Ihre ſchroffe Haltung 
nichts! Die Macht würde aber ſofort in Ihre Hände 
übergehen — Sie würden mich als Sklaven zu Ihren 
Füßen ſehen, wenn Sie mir nur einen Schatten von 
Hoffnung geben wollten!“ Seine Blicke ruhten durch— 
bohrend auf ihr. Er ſchien einen tiefen Eindruck 
ſeiner Worte zu erwarten. „Mademoiſelle, hören Sie 
auf mich! Gönnen Sie mir einen freundlichen Blick, 
laſſen Sie mich den Saum Ihres Kleides küſſen, 
zum Zeichen, daß Sie mir vergeben wollen, daß ich 
hoffen darf, Ihr Vertrauen zu gewinnen! O, und 
Sie ſollten ſehen, wie Yves Daricot zu lieben ver— 
ſteht! Befehlen Sie über mich, ſtellen Sie mich auf die 
Probe — ich will alles, alles thun, was Sie verlangen!“ 


Roman von Hans Werder. 


898 


Renate hob die dunklen Wimpern auf und ſah 
ihn an. „So verſuchen Sie ein einziges Mal wie 
ein Ehrenmann zu handeln, und laſſen Sie mich 
meiner Wege gehen!“ Bei dieſen Worten aber 
leuchtete aus den großen, angſtvollen Rehaugen ein 
Hoffnungsihimmer, der ihnen zugleich einen bin: 
reißenden Ausdrud verlieh, nur allzu geeignet, den 
beißblütigen Franzofen um den Neft jeiner Be: 
finnung zu bringen. Er warf fih vor ihr nieder. 

„Alles, allee — ma belle — nur daß ih Sie 
freigeben jol — verlangen Sie nit! Das kann 
ih nit! Unmöglid! Wenn ih Sie jebt geben 
lafje, To jehe ih Sie niemals wieder, und bas er» 
trage ih nicht! Sie find das Scidial, dem ich ver: 
fallen bin! Haben Sie Erbarmen mit mir!” Er 
ftredte die Hände nad ihr aus. 

„Rühren Sie mid nicht an!” es lang wie ein 
Ihaudernder Angitruf. 

Da fprang er auf, wilde Glut fladerte in feinen 
Augen. „Und Sie werden dennoch mir angehören 
und mein eigen fein! Sie jollen und müflen! Meine 
Liebe ftoßen Sie mit VBeradjtung von fi — ich werbe 
Sie lehren, zu betteln um meine Önabde, mein Mit: 
leid! Haben wir nicht ganz Preußen unterjodht, ganz 
Deutihland gefnedhtet, und ein einziges Weib, ein 
thörichtes Mädchen jollte uns Troß bieten können? 
— Nein, Mademoifele, Sie werden Yves Daricot 
fennen lernen! — Sa, ftehen Sie nur da mit diefen 
Augen, als ob Sie mich ungeitraft verachten dürften! 
Wir wollen do jehen, wer e8 länger aushalten 
fann — Gie oder ih!” — 

Wie ein blutdürftiges Raubtier ftand er vor 
ihr. Renate meinte nah Minuten oder Selunden 
beredänen zu können, wie lange feine Vernunft ihn 
nodh in Zaum zu halten vermödte. Und dann jah 
fie hinab in die Tiefe, wo das GSteingeröll in ber 
Dämmerung verihwamm und fi zu glätten jchien. 
War denn der Sprung au tief genug, um ihr 
wirtllid — Rettung zu bringen? 


V. 


In Buggendorf war keine neue Einquartierung 
angemeldet. Es lag ein wenig abſeits von der Heer⸗ 
ſtraße und wurde daher ſchonender behandelt. Dies 
war ein Glück, denn die letzten Eindringlinge hatten 
faſt mit allen Vorräten in Scheune und Keller ge: 
räumt. Es mußte Geld beſorgt und danach neue Vor: 
räte angeſchafft werden. Erſteres war ſehr ſchwierig! 
Herr von Zarchow begab ſich in dieſer Abſicht zur 
Stadt, an demſelben Tage wie ſein Nachbar Paul 
Conreuth. Schwager Hans Brünnow begleitete ihn. 

Frau Selma von Zarchow ſtand auf dem Raſen— 
platz, ſonnte die Betten und ließ ſie ausklopfen, be— 
ſonders die, in welchen die franzöſiſchen Gäſte geruht. 
Da ward ihr von dem Diener ein Brieflein aus 
Tiefenſee überbracht, zwar an ihren Bruder, Herrn 
Lieutenant von Brünnow, gerichtet, doch öffnete ſie 
es und ſah hinein. Eine Aufforderung von Julie 
Conreuth an ihn, ſchleunigſt hinüber zu kommen. 
Ja, das konnte er nun leider nicht! Sie ſandte 


einen ſchönen Gruß mit der Nachricht, daß ihr 


Roman⸗Zeitung 1896. 


IV. 63 


899 Schwertklingen. 
Bruder nicht zu Hauſe, und wandte ihr Intereſſe den 
ſich ſonnenden Betten wieder zu. 

Ihr lieber Gaſtfreund Haſſo kam des Weges daher, 
im Reitanzuge mit hohen Stiefeln. So ſoh ſie ihn 
am liebſten und ergötzie ſich damit, ihm dies mitzu— 
teilen. Er freute ſich zwar pflichtſchuldigſt, verab⸗ 
ſchiedete ſich dann aber bald. Als ſie den Hufſchlag 
ſeines Pferdes in der Ferne verhallen hörte, fiel ihr 
ein, daß er ja vielleicht anſtatt ihres Bruders nach 
Tiefenſee hätte reiten können. Wie ſchade, daß ſie 
ihm nichts davon geſagt, Juliens Bitte ſchien eigent⸗ 
lich ſo dringend zu ſein! 

Haſſo ritt ahnungslos in den Wald hinein, in 
den rauſchenden, ſommerlichen Wald. Buggendorfer 
Grund und Boden hatte er bereits verlaſſen. Tief— 
ſchattendes Dickicht umgab ihn. Er kannte es wohl, 
es war Penzlower Gebiet. Er hatte bald nach dem 
Zuſammentreffen in Tiefenſee dem alten weltfremden 
Sonderling, der ihm einſt ſo treue Gaſtfreundſchaft 
ecwieſen, ſeinen Beſuch abgeſtattet. Näheres Wieder— 
ſehen mit dem lieben alten Jagdrevier aber hatte er 
noch nicht gefeiert. 

Jetzt hielt er vor dem Nixenteich. Glatt und 
Ihwarz lag der Wafleripiegel, wie an jenem SHerbit: 
abend, als er die Lleine Renate darauf umberge: 
rudert. Die weißen Mummeln blühten. An tiefem 
Schweigen ftanden die Ihwarzen Fichten umher. Der 
Kahn lag noh im Scilf, zerbroden, mit Moos 
überzogen. 

Ach, jener holde Abend, da fih das Kind jo 
fiher und wohl gefühlt in feinem Schuge, und ihn 
angeladht aus den jonnigen Augen. Wie lange war 
e8 ber. Wie war die Welt jo anders geworden, 
wie leer und wie graujam. 

„Weidmannsheil, Yunler!” rief eine Stimme 
ihn an, gedämpft nach Sägerweife. 

„Ad, Hinte, Weidmanns Dank!” Er reichte ihn 
herzlich die Hand vom Sattel herab. Sie hatten jhon 
neulich eingehendes und rührendes Wiederjehen gefeiert. 

„Ra, Junker, wann pirichen wir wieder auf den 
Nehbod oder den Kapitalhirich?” 

Hallo zudte die Achjeln. „Es ift jchlechte Zeit 
jegt, mein Freund! Mir jcheint, die Franzojen be: 
forgen alleweile das Pirihen! Ich hörte zwei Schüfle 
in Eurem Revier!” 

„Sawohl, die Satansbrut! Alles Inallen fie 
herunter und frank, NRiden und Mutterwild — das 
Herz Nößt’s einem ab! Aber was joll man dabei thun! 
Auch der gnädige Herr Tann’s nit ändern!” — — 

Als Haflo wieder in Buggendorf anlangte, jaß 
Frau Selma vor der Thür, mit ihrem blondlöpfigen 
Knaben auf dem Schoß, und Hafjo fegte fich zu ihr. 
Er erzählte von feiner Begegnung mit Dinge, einer 
aud ihr befannten Perfönlichkeit. Doch plöglich unter: 
brah fie ihn lebhaft. Die Botfchaft aus Xiefenjee 
fiel ihr ein. Sie 309g den Brief an ihren Bruder 
aus der Tajhe und gab ihn Hallo zu lefen. 

Eine Veränderung ging auf feinem Gefidht vor. 
„Einen Ritterbienft? — Was Tann da vorgefallen 
fein? Das beunruhigt mid! Warum gaben Sie 
mir den Brief nicht vorhin Son! Ich muß ſofort 
nad Xiefenjee!“ 


Roman von Hans Werder. 





900 

„Sie waren jo eilig vorhin, ich vergaß es leiber! 
Aber hr Pferd wird müde fein —” 

„Kein, nein, das ift andere Strapazen gewöhnt!” 
rief er |hon aus der Ferne. 

Ein einziger Galopp trug ihn nad Tiefenfee 
hinüber. Julie war allein, fie jah verängftigt und 
verfiört aus. „Ach, Hallo, wären Sie doch vor drei 
Stunden gefommen !” 

Seine Hand Elammerte fih um ben Knauf der 
Reitpeitihe. „Was ift gefchehen?” fragte er mit 
beiferer Stimme. 

Sie berichtete ihm möglihit kurz und genau. 

„Beigen Sie mir den Brief Jhres Dheims!“ 
Mit fieberhaft geichärften Sinnen durdforfchte er ihn. 
„Der Alte ift betrunken gewejen! ch babe feine 
Handſchrift ſonſt ſchon geſehen — die Buchſtaben hier 
tanzen! Die Geſchichte iſt erlogen! Ich habe vorhin 
den alten Hintze im Walde geſprochen — das hätte 
er mir erzählt! Sie haben ſich düpieren laſſen, 
Gnädigſte! — Herr Gott — wie konnten Sie in 
Conreuths Abweſenheit das Kind fortlaſſen! Mit 
einem Franzoſen! — Warum riefen Sie denn nicht 
mich, anſtatt Brünnow!“ 

„Ja, daran ſind Sie ſchuld, Haſſo!“ rief Julie, 
durch ſeine Vorwürfe gereizt. „Sie müſſen Renate 
ſchlecht behandelt haben, denn ſie lehnte mit Beſtimmt— 
heit ab, von Ihnen irgend einen Dienſt anzunehmen!“ 


Er wurde totenblaß bei ihren Worten und nagte 
nervös an den langen Spitzen ſeines Schnurrbarts. 
„Können Sie ſich hier irgend einen vernünftigen 
Zuſammenhang denken, ſo ſagen Sie ihn mir, bitte, 
ſchnell!“ drängte er. 

„Nein, ich weiß keinen! — Wenn Daricot noch 
dort im Quartier läge —“ 

„Wer iſt Daricot?“ 

Mit Schnelligkeit entwarf ihm Julie ein genaues 
Bild von Daricots Perſönlichkeit, Stellung, den Be—⸗ 
ziehungen aus der Berliner Zeit und ſeiner zudring— 
lichen Bewunderung für Renate. Auch der aufreizenden 
Verachtung, mit der dieſe ihn von ſich gewieſen, 
erwähnte ſie. 

Haſſo ſtand und hörte ihr zu, als ſei der ganze 
Menſch nur Ohr und Verſtändnis. Ab und zu warf 
er eine ſcharf betonte Frage dazwiſchen. „Adieu,“ 
ſagte er dann kurz, „ich reite hin!“ Ein Griff nach 
ſeinem Weidmeſſer — es ſtak feſt im Gürtel. Sein 
Plan war gefaßt. Vorwärts denn mit Gott. 

„Haſſo, Sie können doch nicht allein in das von 
Franzoſen überfüllte Haus? Was wollen Sie da 
ausrichten?“ 

Er warf einen einzigen Blick nach ihr zurück — 
aufblitzend wie Stahl und Feuerſtein — und fort war er. 

Die Dämmerung ſank bereits. Nach Verlauf 
einer guten Viertelſtunde parierte er ſeinen dampfen⸗ 
den Renner mitten im Penzlower Walde, vor dem 
einſam gelegenen Förſtergehöft. Der alte Hintze trat 
ſogleich heraus, von ſeinem Hühnerhunde begleitet. 

„Hintze —“ Haſſo bog ſich tief aus dem Sattel 
zu ihm nieder. „Sagt mir, alter Freund, iſt der 
Bruder des gnädigen Herrn jetzt bei Euch? Liegt 
er im Penzlower Schloß?“ 





901 


„Der Herr Oberftlieutenant? % wo! Der war 
fhon lange nicht bier!” 

„Er fol aber krank in Penzlow liegen, mit ges 
brochenem Fuß!” 

„Ne, Sunler, das ift nicht wahr, Fein Sterbens: 
wort!” 

„St denn das junge Fräulein heut in Penzlow 
angelommen, des Oberftlieutenants Tochter?” 

„Donnerſchlag! — Die Glasfutihe fuhr weg, ein 
jranzöfifcher Lieutenant jaß drin, und wie fie gegen 
Abend wiederkam, ſaß der Franzofe auf dem Bod 
und zwei Frauenzimmer jollen am Schloß ausge: 
ftiegen fein! ch hab’ fie nicht gejehen, aber bie 
Leute jagten es! Die Franzofen haben den Wagen 
umftanden und die beiden gleich ins Haus geführt! 
Schodihwerenot! Menn das das gnäbd’g Tsrölen wäre!” 

Hallo ftieg vom Pferde. „Es ift jo! Die Canaillen 
haben das Fräulein bingelodt! Stellt mein Pferd 
bier ein, Alter! Hölle und Teufel, da ift ein Ber: 
breden im Gange! Wenn das der Satansbrut ge- 
lingen dürfte — hier mitten in preußiichen Landen!” 

„Sol Ion nicht, Junker! ch denke, wir legen 
ihr das Handwert! Wäre nicht der erfte Pirfchgang, 
den wir beide miteinander ausgeführt!“ 

„Nein — und nit der erfte Fuchs, den wir 
ins Eijen legten, aber der Ihlaufte — nichtswürdigfte!” 
ſagte Haſſo zähneknirſchend. 

Sie gingen zuſammen dem Waldſchloſſe zu. Und 
leiſe, eingehend beſprachen ſie alles miteinander 
und verſtändigten ſich genau und ſicher in kurzen, 
knappen Worten, nach Art erprobter Jäger und 
Weidgenoſſen. In der Nähe des Hauſes trennten 
ſie ſich. Hintze verſchwand im Wirtſchaftsflügel, den 
Räumen der Dienerſchaft. Haſſo ging mit zielbe— 
wußten Schritten über den Hof, dem Eingange zu. 
Franzoſen ſchlenderten umher und folgten ihm miß— 
trauiſch mit den Blicken, als er den Hausflur betrat, 
deſſen Wände mit Hirſchgeweihen und Rehkronen be— 
dedt waren. 

Mehrere franzöfiihe Offiziere ftanden bier bei: 
fammen. Er grüßte wohlwollend und vertraulich zu- 
gleid. „Bon soir, Messieurs! Kann id) vielleicht 
den Colonel Daricot Iprechen?” 

Die Herren jahen fih an und ladhten. „Heute 
abend? a unmöglid! Mit wen haben wir die Ehre?“ 

„Ih Tomme im Auftrage des General Bonfanti 
mit geheimer Orbre, melde burhaus feinen Auf: 
ſchub duldet!“ berichtete Hallo in mehr gewandtem 
als korrektem Franzöſiſch. 

„Aber Colonel Daricot iſt krank!“ wandten die 
Herren ein. „Er ſtürzte vor einigen Tagen mit dem 
Pferde, hat ſich den Fuß verletzt und kuriert ihn 
hier aus! Sein Regiment iſt ſchon vor mehreren 
Tagen vorausmarſchiert!“ 

„Mais mon cher camarade, das weiß ich doch 
alles!“ lächelte Haſſo, dem Franzoſen vertraulich die 
Hand auf den Arm legend. „Meine Ordre iſt an 
ihn perſönlich! Sie wiſſen, er war früher Adjutant 
bei Bonfanti und ſteht ihm perſönlich nahe! Wollen 
Sie die große Güte haben, mich zu ihm zu führen!“ 

„Kamerad, das iſt unmöglich! Sie müſſen ſich 
bis morgen früh gedulden! Der Colonel hat Beſuch! 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 





902 


Ah — tout ce qu'il y à de plus charmant! Er 
würde uns eine Störung niemals verzeihen! — Er: 
zeigen Sie uns bis dahin die Ehre, unjer Gaft zu jein!“ 

Haflo fühlte auf feiner Stirn einen feudtlalten 
Tau, wie ihn die Dual des Unerträgliden aus: 
preßt. Dabei lachte er verbindlih. „ch werde von 
diefer Liebenswürdigkeit mit Vergnügen Gebraud 
maden! Mein Name ift Meinhard, ich bin Weftfale, 
Unterthan des glorreihen Königs Jeröme! Sch habe 
als Kapitän die Campagne in Spanien mitgemadt, 
bin noch nicht wieder felddienftfähig —” er beutete 
auf feinen Reifen Fuß — und jchwaßte weiter auf 
die Herren ein, gewandt und gefällig, ohne fie zu 
Wort oder auch nur zur Überlegung kommen zu 
lafjen. Dabei war er fih völlig bewußt, daß ein 
einziges unzutreffendes Wort ihn verraten, daß nur 
die unverihämtefte Sicherheit ihn in feiner Rolle 
halten und zum Ziele führen lönnte. Nun — daran 
lollte e8 nicht fehlen! — 

Die „liebenswürdigen Kameraden” zogen ihn 
mit fich fort zu ber geöffneten Thür des Speijejaals, 
aus weldhem Becherllang und die Stimmen wein: 
jeliger Zecher ihm verheißungsvoll entgegentönten. 

„Sharmant!” rief Haflo, „nicht einen Augen: 
bli länger als nötig werde ih mich diefem frohen 
Kreife entziehen. Aber meine Pflicht geht jelbit diejem 
augerlejenen Vergnügen vor! Zeigt mir nur den Weg 
zu dem Zimmer des Colonels, Kameraden, die VBerant: 
wortung für die Störung nehme ih auf mich allein!” 

„Run — wenn’s denn gar Jo eilig ift, fo ver: 
ſuchen Sie Ihr Heil! Die Treppe hinauf und oben 
den Gang zu Ende, links die letzte Thür! Ich ſelber 
habe den ſchönen Gaſt da hineingeführt, voller Selbſt⸗ 
verleugnung!“ erzählte ein Lieutenant. 

Haſſos Hand ſuchte taſtend nach dem Weidmeſſer. 
Ja, es war da! Prinz Louis hatte es ihm geſchenkt, 
dadurch war es geweiht zum Ritter- und Minnedienſt. 

„Vielen Dank, Meſſieurs! Auf Wiederſehen in 
wenigen Minuten!“ damit drückte er die Thür des 
Speiſezimmers hinter ſich zu. 

Mit wenigen Sprüngen flog er die Treppe bin- 
auf. Aus einem dunklen Wintel des Hausflurs trat 
ihm ber alte Hinge entgegen und deutete mit jtummem 
Blie des Einverftänbniffes auf jene Thür am Ende 
Des Ganges links. 

Hallo pohte an mit dem metallnen ER der 
NReitpeitihe. „Qui viver“ tönte es ärgerlich heraus. 

„ffnen Sie, mon colonel,* rief Hafjo mit ver: 
ttelter Stimme. „Eilige Ordre von General Bonfanti! 
Verfönlid an Sie allein!” Der baftig dringende 
Ton verfehlte feine Wirkung nit. Der Colonel 
öffnete neugierig die Thür, um Fingersbreite nur. 
m nämlichen Augenblid aber ward fie aufgeftoßen, 
ſo daß er jelber zurücprallte, und ein Fremder ftand 
vor ihm. 

Mit einem Blid umfaßte Hallo die Sadlaae. 
Dort am offenen Fenfter ftand Renate, blaß, mit 
dem Ausdrud tobbereiter, beldenhafter Gegenwehr, 
den Arm feft um das Kreuz gefchlungen, dem Bilde 
einer Märtyrerin gleich. 

„Monfteur, wer find Sie, was unterftehen Sie 
ih?“ rief der Franzofe. 





899 Schwertllingen. 
Bruder nicht zu Haufe, und wandte ihr Jnterefje den 
fih jonnenden Betten wieder zu. 

Shr lieber Gaftfreund Haflo fam des Weges daher, 
im Reitanzuge mit hohen Stiefeln. So jeh fie ihn 
am liebften und ergößie fi damit, ihm dies mitzu: 
teilen. Er freute fih zwar pflihtichuldigft, verab- 
Ichiedete fih dann aber bald. Als fie den Hufichlag 
jeines Pferdes in der Ferne verhallen hörte, fiel ihr 
ein, daß er ja vielleiht anftatt ihres Bruders nad 
Tiefenjee hätte reiten können. Wie fchade, daß fie 
ihm nichts davon gejagt, Yuliens Bitte jchien eigent- 
li jo dringend zu Jein! 

Haflo ritt ahnungslos in den Wald hinein, in 
den raufchenden, jommerliden Wald. Buggendorfer 
Grund und Boden hatte er bereits verlafien. Tief: 
Ichattendes Didiht umgab ihn. Er kannte es wohl, 
ed war Benzlower Gebiet. Er hatte bald nad dem 
Bufammentreffen in Tiefenjee dem alten meltfremden 
Sonderling, der ihm einft jo treue Gaftfreundichaft 
ecwiejen, jeinen Bejuch abgeltattet. Näheres Wieder: 
jehen mit dem lieben alten Sagdrevier aber hatte er 
noch nicht gefeiert. 

Segt bielt er vor dem Nirenteih. Glatt und 
Ihwarz lag der Wafleripiegel, wie an jenem SHerbit: 
abend, als er die Tleine Renate darauf umberge: 
rudert. Die weißen Mummeln blühten. Sn tiefen 
Schweigen ftanden die hwarzen Fichten umher. Der 
Kahn lag noh im Schilf, zerbrodhen, mit Moos 
überzogen. 

Ad, jener holde Abend, da fih das Rind fo 
fiher und wohl gefühlt in jeinem Schuge, und ihn 
angeladht aus den fonnigen Augen. Wie lange war 
e8 ber. Wie war die Welt jo anders geworden, 
wie leer und wie graujam. 

„Weidmannsheil, unter!” rief eine Stimme 
ihn an, gedämpft nad Sgägermeile. 

„Ad, Hinge, Weidmanns Dank!” Er reichte ihm 
herzlich die Hand vom Sattel herab. Sie hatten jchon 
neulich eingehendes und rührendes Wiederjehen gefeiert. 

„Ra, Junker, wann pirjchen wir wieder auf den 
Rehbock oder den Kapitalhirſch?“ 

Haſſo zuckte die Achſeln. „Es iſt ſchlechte Zeit 
jegt, mein Freund! Mir ſcheint, die Franzoſen be— 
ſorgen alleweile das Pirſchen! Ich hörte zwei Schüſſe 
in Eurem Revier!“ 

„Jawohl, die Satansbrut! Alles knallen ſie 
herunter und krank, Ricken und Mutterwild — das 
Herz ſtößt's einem ab! Aber was ſoll man dabei thun! 
Auch der gnädige Herr kann's nicht ändern!“ — — 

Als Haſſo wieder in Buggendorf anlangte, ſaß 
Frau Selma vor der Thür, mit ihrem blondköpfigen 
Knaben auf dem Schoß, und Haſſo ſetzte ſich zu ihr. 
Er erzählte von ſeiner Begegnung mit Hintze, einer 
auch ihr bekannten Perſönlichkeit. Doch plötzlich unter⸗ 
brach ſie ihn lebhaft. Die Botſchaft aus Tiefenſee 
fiel ihr ein. Sie zog den Brief an ihren Bruder 
aus der Taſche und gab ihn Haſſo zu leſen. 

Eine Veränderung ging auf ſeinem Geſicht vor. 
„Einen Ritterdienſt? — Was kann da vorgefallen 
ſein? Das beunruhigt mich! Warum gaben Sie 
mir den Brief nicht vorhin ſchon! Ich muß ſofort 
nach Tiefenſee!“ 


Roman von Hans Werder. 





900 

„Sie waren ſo eilig vorhin, ich vergaß es leider! 
Aber Ihr Pferd wird müde ſein —“ 

„Nein, nein, das iſt andere Strapazen gewöhnt!“ 
rief er ſchon aus der Ferne. 

Ein einziger Galopp trug ihn nach Tiefenſee 
hinüber. Julie war allein, ſie ſah verängſtigt und 
verſtört aus. „Ach, Haſſo, wären Sie doch vor drei 
Stunden gekommen!“ 

Seine Hand klammerte ſich um den Knauf der 
Reitpeitſche. „Was iſt geſchehen?“ fragte er mit 
heiſerer Stimme. 

Sie berichtete ihm möglichſt kurz und genau. 

„Zeigen Sie mir den Brief Ihres Oheims!“ 
Mit fieberhaft geſchärften Sinnen durchforſchte er ihn. 
„Der Alte iſt betrunken geweſen! Ich habe ſeine 
Handſchrift ſonſt ſchon geſehen — die Buchſtaben hier 
tanzen! Die Geſchichte iſt erlogen! Ich habe vorhin 
den alten Hintze im Walde geſprochen — das hätte 
er mir erzählt! Sie haben ſich düpieren laſſen, 
Gnädigſte! — Herr Gott — wie konnten Sie in 
Conreuths Abweſenheit das Kind fortlaſſen! Mit 
einem Franzoſen! — Warum riefen Sie denn nicht 
mich, anſtatt Brünnow!“ 

„Ja, daran ſind Sie ſchuld, Haſſo!“ rief Julie, 
durch ſeine Vorwürfe gereizt. „Sie müſſen Renate 
ſchlecht behandelt haben, denn ſie lehnte mit Beſtimmt⸗ 
heit ab, von Ihnen irgend einen Dienſt anzunehmen!“ 


Er wurde totenblaß bei ihren Worten und nagte 
nervös an den langen Spitzen ſeines Schnurrbarts. 
„Können Sie ſich hier irgend einen vernünftigen 
Zuſammenhang denken, ſo ſagen Sie ihn mir, bitte, 
ſchnell!“ drängte er. 

„Nein, ich weiß keinen! — Wenn Daricot noch 
dort im Quartier läge —“ 

„Wer iſt Daricot?“ 

Mit Schnelligkeit entwarf ihm Julie ein genaues 
Bild von Daricots Perſönlichkeit, Stellung, den Be⸗ 
ziehungen aus der Berliner Zeit und ſeiner zudring— 
lichen Bewunderung für Renate. Auch der aufreizenden 
Verachtung, mit der dieſe ihn von ſich gewieſen, 
erwähnte ſie. 

Haſſo ſtand und hörte ihr zu, als ſei der ganze 
Menſch nur Ohr und Verſtändnis. Ab und zu warf 
er eine ſcharf betonte Frage dazwiſchen. „Adieu,“ 
ſagte er dann kurz, „ich reite hin!“ Ein Griff nach 
ſeinem Weidmeſſer — es ſtak feſt im Gürtel. Sein 
Plan war gefaßt. Vorwärts denn mit Gott. 


„Haſſo, Sie können doch nicht allein in das von 
Franzoſen überfüllte Haus? Was wollen Sie da 
ausrichten?“ 

Er warf einen einzigen Blick nach ihr zurück — 
aufblitzend wie Stahl und Feuerſtein — und fort war er. 

Die Dämmerung ſank bereits. Nach Verlauf 
einer guten Viertelſtunde parierte er ſeinen dampfen— 
den Renner mitten im Penzlower Walde, vor dem 
einſam gelegenen Förſtergehöft. Der alte Hintze trat 
ſogleich heraus, von ſeinem Hühnerhunde begleitet. 

„Hintze —“ Haſſo bog ſich tief aus dem Sattel 
zu ihm nieder. „Sagt mir, alter Freund, iſt der 
Bruder des gnädigen Herrn jetzt bei Euch? Liegt 
er im Penzlower Schloß?“ 





901 Schwertklingen. 


„Der Herr Oberſtlieutenant? J wo! Der war 
ſchon lange nicht hier!“ 

„Er ſoll aber krank in Penzlow liegen, mit ge⸗ 
brochenem Fuß!“ 

„Ne, Junker, das ift nit wahr, fein Sterbens- 
wort!” 

„SR denn das junge Fräulein heut in Penzlow 
angekommen, des Oberſtlieutenants Tochter?“ 

„Donnerſchlag! — Die Glaskutſche fuhr weg, ein 
franzöſiſcher Lieutenant ſaß drin, und wie ſie gegen 
Abend wiederkam, ſaß der Franzoſe auf dem Bock 
und zwei Frauenzimmer folen am Schloß ausge- 
ftiegen fein! Ich hab’ fie nicht gejehen, aber bie 
Leute jagten es! Die Franzojen haben den Wagen 
umftanden und bie beiden glei ins Haus geführt! 
Schodihwerenot! Menn das das gnäd’g Frölen wäre!” 

Hafjo ftieg vom Pferde. „Es ift fo! Die Canaillen 
haben das Fräulein bingelodt! Stellt mein Pferd 
bier ein, Alter! Hölle und Teufel, da ift ein Ber: 
breden im Gange! Wenn das der Satansbrut ge- 
lingen bürfte — bier mitten in preußijhen Landen!” 

„Sol Ion nit, Zunter! ch denke, wir legen 
ihr das Handwert! Wäre nicht der erfte Pirſchgang, 
den wir beide miteinander ausgeführt!“ 

„Nein — und nicht der erſte Fuchs, den wir 
ins Eiſen legten, aber der ſchlauſte — nichtswürdigſte!“ 
ſagte Haſſo zähneknirſchend. 

Sie gingen zuſammen dem Waldſchloſſe zu. Und 
leiſe, eingehend beſprachen ſie alles miteinander 
und verſtändigten ſich genau und ſicher in kurzen, 
knappen Worten, nach Art erprobter Jäger und 
Weidgenoſſen. In der Nähe des Hauſes trennten 
ſie ſich. Hintze verſchwand im Wirtſchaftsflügel, den 
Räumen der Dienerſchaft. Haſſo ging mit zielbe— 
wußten Schritten über den Hof, dem Eingange zu. 
Franzoſen ſchlenderten umher und folgten ihm miß— 
trauiſch mit den Blicken, als er den Hausflur betrat, 
deſſen Wände mit Hirſchgeweihen und Rehkronen be— 
deckt waren. 

Mehrere franzöſiſche Offiziere ſtanden hier bei— 
ſammen. Er grüßte wohlwollend und vertraulich zu: 
gleich. „Bon soir, Messieurs! Kann ich vielleicht 
den Colonel Daricot ſprechen?“ 

Die Herren ſahen ſich an und lachten. „Heute 
abend? Nein, unmöglich! Mit wem haben wir die Ehre?“ 

„Ich komme im Auftrage des General Bonfanti 
mit geheimer Ordre, welche durchaus keinen Auf: 
ſchub duldet!“ berichtete Haſſo in mehr gewandtem 
als korrektem Franzöſiſch. 

„Aber Colonel Daricot iſt krank!“ wandten die 
Herren ein. „Er ſtürzte vor einigen Tagen mit dem 
Pferde, hat ſich den Fuß verletzt und kuriert ihn 
hier aus! Sein Regiment iſt ſchon vor mehreren 
Tagen vorausmarſchiert!“ 

„Mais mon cher camarade, das weiß ich doch 
alles!“ lächelte Haſſo, dem Franzoſen vertraulich die 
Hand auf den Arm legend. „Meine Ordre iſt an 
ihn perſönlich! Sie wiſſen, er war früher Adjutant 
bei Bonfanti und ſteht ihm perſönlich nahe! Wollen 
Sie die große Güte haben, mich zu ihm zu führen!“ 

„Kamerad, das iſt unmöglich! Sie müſſen ſich 
bis morgen früh gedulden! Der Colonel hat Beſuch! 





Roman von Hans Werder. 902 


Ah — tout ce qu'il y à de plus charmant! Er 
würde uns eine Störung niemals verzeihen! — Er— 
zeigen Sie uns bis dahin die Ehre, unſer Gaſt zu ſein!“ 

Haſſo fühlte auf ſeiner Stirn einen feuchtkalten 
Tau, wie ihn die Qual des Unerträglichen aus: 
preßt. Dabei lachte er verbindlich. „Ich werde von 
dieſer Liebenswürdigkeit mit Vergnügen Gebrauch 
machen! Mein Name iſt Meinhard, ich bin Weſtfale, 
Unterthan des glorreichen Königs Jeͤrome! Ich babe 
als Kapitän die Campagne in Spanien mitgemacht, 
bin noch nicht wieder felddienſtfähig —“ er deutete 
auf ſeinen ſteifen Fuß — und ſchwatzte weiter auf 
die Herren ein, gewandt und gefällig, ohne ſie zu 
Wort oder auch nur zur Überlegung kommen zu 
laſſen. Dabei war er ſich völlig bewußt, daß ein 
einziges unzutreffendes Wort ihn verraten, daß nur 
die unverſchämteſte Sicherheit ihn in ſeiner Rolle 
halten und zum Ziele führen könnte. Nun — daran 
ſollte es nicht fehlen! — 

Die „liebenswürdigen Kameraden“ zogen ihn 
mit ſich fort zu der geöffneten Thür des Speiſeſaals, 
aus welchem Becherklang und die Stimmen wein— 
ſeliger Zecher ihm verheißungsvoll entgegentönten. 

„Charmant!“ rief Haſſo, „nicht einen Augen— 
blick länger als nötig werde ich mich dieſem frohen 
Kreiſe entziehen. Aber meine Pflicht geht ſelbſt dieſem 
auserleſenen Vergnügen vor! Zeigt mir nur den Weg 
zu dem Zimmer des Colonels, Kameraden, die Verant⸗ 
wortung für die Störung nehme ich auf mich allein!“ 

„Nun — wenn's denn gar ſo eilig iſt, ſo ver: 
ſuchen Sie Ihr Heil! Die Treppe hinauf und oben 
den Gang zu Ende, links die letzte Thür! Ich ſelber 
habe den ſchönen Gaſt da hineingeführt, voller Selbſt⸗ 
verleugnung!“ erzählte ein Lieutenant. 

Haſſos Hand ſuchte taſtend nach dem Weidmeſſer. 
Ja, es war da! Prinz Louis hatte es ihm geſchenkt, 
dadurch war es geweiht zum Ritter- und Minnedienſt. 

„Vielen Dank, Meſſieurs! Auf Wiederſehen in 
wenigen Minuten!“ damit drückte er die Thür des 
Speiſezimmers hinter ſich zu. 

Mit wenigen Sprüngen flog er die Treppe hin⸗ 
auf. Aus einem dunklen Winkel des Hausflurs trat 
ihm der alte Hintze entgegen und deutete mit ſtummem 
Blick des Einverſtändniſſes auf jene Thür am Ende 
des Ganges links. 

Haſſo pochte an mit dem metallnen Quauf der 
Reitpeitſche. „Qui vivo?“ tönte es ärgerlich heraus. 

„Offnen Sie, mon colonel,“ rief Haſſo mit ver— 
ſtellter Stimme. „Eilige Ordre von General Bonfanti! 
Perſönlich an Sie allein!“ Der haſtig dringende 
Ton verfehlte ſeine Wirkung nicht. Der Colonel 
öffnete neugierig die Thür, um Fingersbreite nur. 
Im nämlichen Augenblick aber ward ſie aufgeſtoßen, 
ſo daß er ſelber zurückprallte, und ein Fremder ſtand 
vor ihm. 

Mit einem Blick umfaßte Haſſo die Sachlage. 
Dort am offenen Fenſter ſtand Renate, blaß, mit 
dem Ausdruck todbereiter, heldenhaſter Gegenwehr, 
den Arm feſt um das Kreuz geſchlungen, dem Bilde 
einer Märtyrerin gleich. 

„Monſieur, wer ſind Sie, was unterſtehen Sie 
ſich?“ rief der Franzoſe. 





903 


„Hafo!” Ichrie Renate auf. Es war der herz: 
erſchütternde Jubelklang der Erlöſung — ber Selig: 
keit. Sie flog auf ihn zu, an ſeine Bruſt. Mit einem 
wilden Griff preßte Haſſo ſie an ſich — einen Augenblick. 

„Sacre mille tonnerre —“ fluchte der Franzoſe 
und warf ſich wie ein Raſender auf die beiden. Haſſo 
ſchlug ihn mit der Reitpeitſche zurück. Ein Pfiff — 
der alte Hintze ſtand neben ihm und zog Renate mit 
ſich fort. Es war das Werk einer Sekunde. Die 
beiden Männer ſtanden ſich allein gegenüber. 

Langſam, vor den Augen des Colonel, zog Haſſo 
ſein Weidmeſſer — Daricot wollte nach ſeiner Piſtole 
ſtürzen. Doch zu ſpät. An der Kehle packte ihn Haſſo 
mit eiſernem Griff und ſetzte ihm das blanke Meſſer 
auf die Bruſt. 

„Verfluchter Hund, Du biſt des Todes, auf mein 
Ehrenwort, wenn Du Dich rührſt oder um Hilfe 
rufſt! — Die Dame iſt jetzt in Sicherheit! Auch ich 
werde mich ſogleich entfernen! Sollten Sie es wagen, 
mir auf den Flur zu folgen, oder einen Laut aus— 
zuſtoßen, ſo ſind Sie nicht mehr! Dort ſteht mein 
Jäger poſtiert, deſſen Kugel noch niemals gefehlt hat. 
Auf Hilfe brauchen Sie nicht zu rechnen. Ihre 
Kameraden lärmen da unten im Weinrauſch, und 
hören und ſehen nichts!“ 

Seine Hand gab die Kehle des Franzoſen frei. 
Dieſer ſtarrte mit gläſernen Augen auf ihn und auf 
die blanke Klinge in ſeiner Hand. 

Mit feſtem Schritt verließ Haſſo das Zimmer, 
verſchloß die Thür und zog den Schlüſſel ab. Starr 
wie eine Bildſäule ſtand Colonel Daricot da — ein 
Gefangener in ſeinem eigenen Zimmer. 

„Nun vorwärts, Junker, die Hintertreppe runter 
— ich führ' Euch!“ raunte Hintze. Er hielt das 
Fräulein am Arm und fort ging es, einen dunklen 
Gang, eine halsbrechende Stiege hinunter, an der 
Küche vorbei, aus welcher wüſtes Schreien und Lachen 
ertönte — durch die offen ſtehende Thür ins Freie 
hinaus. Ein paar Schritte hart an den Fenſtern und 
am Altan entlang — dann in das dichte Flieder— 
geſträuch hinein — Tannendunkel — und in den 
geheimnisvollen Schatten des nächtlichen Waldes 
waren die drei Flüchtlinge verſchwunden. 


VI. 


„So, gnädig Frölen, hier verpuſten Sie ſich ein 
bißchen,“ ſagte der alte Jäger. „Wenn uns die 
Satansbrut auf den Hacken wäre, hätte ſie uns in 
der Wieſenlichtung gefaßt, hier nicht!“ 

„Nein, nein, nur weiter!“ war Renates haſtige 
Antwort. Sie hatte kaum noch das Bewußtſein, wo 
ſie war, und wohin ſie eilte. Nur weiter — fort 
von dem fürchterlichen Kerker, aus dem ihr der Tod 
Errettung bedeutet, nur immer fort aus der Nähe 
jenes entſetzlichſten aller Menſchen! Daß ſie frei war, 
beſchützt und geſichert, dieſe Gewißheit vermochte ſich 
in ihrer angſtbetäubten Seele noch nicht zu befeſtigen. 

Ihr Pfad führte ſchmal, verwuchert durch jungen 
Buchenaufſchlag und wildes Geſtrüpp. Feucht vom 
Tau war das Gezweig, der Nebel lag gleich weißen 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


904 


Streifen in den Gründen, aus benen die Baum: 
gruppen auftaudhten wie Shmwarze Ichattenhafte Inſeln. 
Darüber breitete fih die opalfarbene Helle der Früh: 
Tommernadt. 

Flüchtigen Fußes eilte Renate dahin. An ihrer 
Seite der alte Waldläufer, rüflig ausfchreitend. Haflo 
ging hinter ihr, und nicht ein einziges Mal fchaute 
fie zurüd. Seine Blide aber hingen an ihr und 
folgten jeder ihrer Bewegungen. 

Täufhte ihn denn ein Rraumgebilde feiner 
Phantafie, oder war fie das mwirkflihd — fie, die ihn 
einft von fi gewiefen und ihm fo bitter weh ge: 
than? Syn feinem Ohr tönte jegt der bejeligte Jubel: 
ihrei, mit dem fie fih an feine Bruft geworfen. 
Das war doch Wirklichkeit, und fie brach einen Riß 
in bie Eijesrinde, die jo lange fein Fühlen in grau: 
famer Fefjel gehalten. Wie eine heiße Flut quoll es 
darunter auf, befreiend, ungeftüm. Was jollte Daraus 
werden? Er jah wohl, jo wie dort auf der Rojen: 
veranba, als fie ihm nachgegangen, und er fie zu- 
rüdgemwiefen, konnte er Renate nicht wieder gegenüber: 
ftehen. Es war ihm, als jchlügen die Wellen höher und 
raubten ihm Atem und Belinnung. Mit einem tiefen 
Atemzuge, einem kurzen Rud blieb er plöglich ftehen. 

„hut dem Sunler der zerichoflene Fuß weh?” 
fragte Hinge in feinem Enurrenden Ton. „Wär’ fein 
Wunder! Sole Fußpiriche taugt noch nicht für Sie!” 

Wie ein Stih ging Renate diefeg Wort durchs 
Herz, mwedte fie aus ihrer Angftbetäubung und gab 
ihrem Empfinden eine andere Richtung. Auch fie 
blieb jegt ftehen, den Kopf wie in Beihämung gejenft. 

Das niedrige Didiht lag Hinter ihnen. Sie 
ftanden wie in der Eingangshalle des Hochwaldes, 
Ihmarze Nacht vor ihnen. Gleih einem weißen 
Nebelbilde hob fich die helle Mädchengeftalt daraus ab. 

Keines von beiden jpradh ein Wort. 

„Ein feiner Pirfhgang war das aber!” jeßte 
der alte MWeidmann feine Rede fort und lachte leife, 
daß es wie das Knarren eines Eichenaftes Klang. 
„Und was für ein Fangftoß wär’ das geworben, 
wenn Sie zufließen, Junter! Ych fenn’ Ihre Hand! 
Schade drum — feinen Mud hätt’? der Franzofe 
mehr gejagt!” 

„Sa, freilih war e8 fjchabe!” Haſſo zog ſein 
Fangmefjer heraus. Der geihliffene Stahl bligte in 
der Dämmerung. „Hinte, ih hab’ einmal einen 
groben Keiler abgefangen, zum Andenken daran be: 


fam ih dies Mefler geihentt. — Prinz Ludmig, 
mein Held — daß dieje Klinge mir helfen würde 
gegen den Erzfeind — im Dienite einer Dame — 


das gefhah nah Deinem ritterliden Sinn!“ 

Sept endlich wandte fi Renate ihm zu. Sie 
ah ihn vor fich ftehen, in dunklen Linien gezeichitet, 
männlich und feit — leibhaftig jo, wie er Tag und 
Nacht in ihrer Erinnerung gelebt. Er hatte fie ge: 
jucht, gerettet mit ritterlihdem Mut und ftarlem Arm. 
Ah und fie wußte es ja — in feinem Schuß war 
fie vor der ganzen Hölle fiher. „Haflo, was haben 
Sie für mid gethan!” rief fie aus. 

Hallo antwortete nicht. Er wollte feinen Dant. 
Sein Auge ruhte auf ihr wie mit qualvoller Frage. 

„Befehlen Sie weiter zu gehen, Nenate?” fagte 





905 


er. „So geben Sie mir bitte den Arm. Unfer 


Weg ift uneben und dunkel. Diejes Kleine Vorrecht 
darf ich mir heute wohl erbitten.“ 

Gehoram folgte fie ihm. Ihr Herz klopfte 
zum Zerfpringen. War er denn das wirklich, der 
jo heiß Erjehnte, verloren Geglaubte, unverjöhnlich 
Zürnende, und fie lehnte Jhugjudhend, vertrauend an 
feinem Arm? — 

Stumm jhhritten fie nebeneinander ber. Vor 
ihnen ging mwegkundig, aufmerffam und doch fchein- 
bar ohne zu jehen und zu hören, der alte Waldläufer. 

Totenitile war um fie ber. Nur zumeilen 
Inadte ein Aft unter ihren Füßen. Hin und wieder 
ftrich froftig kühl der Atemzug der Nacht durch die 
Baumfronen, jo daß fie jeufzend erichauerten. Dann 
wieder das tiefe Schweigen. 

Lang war der Weg. 

„Sind Sie no nit müde, Renate?” fragte 
Hallo endlich. 

Sie Iehüttelte den Kopf. „Ich bin nicht mübe! 
Ich könnte ſtundenlang ſo weitergehen! Aber Sie, 
Haſſo — Ihr verwundeter Fuß —“ ſie zögerte, doch 
er wies mit abwehrender Handbewegung die Fürſorge 
zurück und zog ſie weiter mit ſich fort. 

„Jetzt noch zehn Minuten, dann ſind wir in 
Tiefenſee!“ tröſtete Hintze mitleidig brummend. 
„Gnädig' Frölen wird ſich auch ſchon die kleinen 
Füßchens wundgelaufen haben!“ 

Eine Anhöhe ging es hinauf, da lichtete ſich 
der Wald. 

Vor ihnen tief unten lag der See — wie 
mattes Silber zwiſchen den ſchwarzen Baumwipfeln 
heraufſchimmernd. Jenſeits das Herrenhaus von 
Tiefenſee, mit den erhellten Fenſtern in der dunklen 
Umrahmung. 

„Da ſind wir,“ erklärte der Alte. „Jetzt wiſſen 
die Herrſchaften Beſcheid. Ich werde vorausgehen 
und ſichern. Ein Wagen kommt nämlich die Land— 
ſtraße herauf — zu dieſer Stunde — das muß 
etwas zu bedeuten haben!“ Fort war er. 

Haſſo und Renate blieben ſtehen. Sie löſte 
ihren Arm aus dem ſeinen und hob ſchüchtern den 
Blick zu ihm auf. „Haſſo — Sie wollen es nicht 
— doch muß ich davon reden!“ begann ſie ſtockend. 
„Wie kamen Sie ſo plötzlich dorthin, unter die 
Feinde? Wie ein Engel Gottes erſchienen Sie mir!“ 

„Aber ich kam ſo ſpät, Renate! Sie mußten 
ſo lange ausharren! Hat er Sie nicht faſt zu Tode 
geängſtigt, der Schurke?“ 

„Ja, es war die höchſte Not! Aber die Hilfe 
mußte kommen! Ich klammerte mich an das Kreuz 
— und das hat mich geſchützt und gehalten, bis Sie 
kamen! Ehe ich die letzte Rettung durch den ent—⸗ 
ſetzlichen Sprung aus dem Fenſter ſuchte!“ 

„Renate — das — wollten Sie thun?“ 

Ihr Kopf war tief geſenkt. „Es wäre mir keine 
Wahl geblieben!“ — 

Er ſah auf ſie nieder. Seine Pulſe begannen 
zu fiebern. „Kenate — — warum haben Sie nicht 
mich gerufen, ſtatt Brünnow! Ich war da, ich hätte 
kommen können! So erfuhr ich es erſt zwei, drei 
Stunden nachdem Sie ſich hatten fortlocken laſſen in 
dieſe Mordgrube.“ 


Schwertklingen. Roman von Hans Werder. 


906 


Sein Vorwurf traf ſie unerwartet. „Aber Haſſo 
— das konnten Sie doch nicht von mir verlangen! 
Ich habe Sie gebeten, mir zu verzeihen, was ich 
Ihnen einſt zuleide gethan. Sie ſchlugen es ab! 
Konnte ich danach jemals noch mit irgend einer 
Bitte zu Ihnen kommen?“ 

„Herr Gott!“ rief er ſchaudernd. „Welche 
Verantwortung wälzen Sie auf mich! Durch meine 
Schuld alſo! — a haben mid) gebeten, und ih — 
Ihlug es Shnen ab — —’ 

Ah, Hallo, das ift jegt nicht mehr das 
Schlimmfte!“ rief fie leidenfchaftlih auffchluchzend. 
„Kun haben Sie mi auch noch zu jo tiefem, un 
enblihem Dank verpflichtet, und ih kann ihn nicht 
abtragen. hr Herz ift verhärtet gegen mid, id 
weiß es wohl, jeit ich Ihnen jo bitteres Unrecht ge: 
than! Nicht einmal verzeihen fonnten Sie mir, als 
ih Sie bat! Was fol Yhnen da mein Dank! Eine 
läftige Bürbe, die auf mich jelbft wieder zurüdfält —” 
fie konnte nicht weiter. 

Hallo ergriff ihre beiden Hände und zog fie an 
fein Rürmifch pochendes Herz. „Meine Süße, Heiß: 
geliebte, können Sie denn das nicht verftehen? Ein 
Wort nur fan es zwilhen uns geben, ein Entweder 
— Dder! Als Sie mir fagten, daß Sie mid für 
einen feigen, jammervollen Kerl hielten und mid 
niemals lieben Tönnten — nur einen Helden — 
nidt mid —“” noch einmal zitterte der grollende 
Schmerz; nahllingend in feiner Stimme — „ia, da 
verhärtete ih mid gegen Sie! — Was Jol mir 
Reue, Berzeihen und Dank! Lieben jollen Sie mid! 
Nichts weiter verlange ich auf der ganzen Welt!” 

„Ah, Hallo!” Es Hang wie jubelndes Er- 
jchreden. Sie fah ihn an mit wirrem, aufleudhtend 
judendem Blid. Dann beugte fie fich nieder und 
drüdte ihr Antlig auf feine Hände. „Hallo — ih 
will e8 gut maden, was ih Ahnen zuleide gethan! 
Menn Sie fein Held find, wer ift es dann? Mein 
Held find Sie, der einzige — einzige!” 

Hallo Hielt ihre Hände feft, mit eilernem Griff. 
Die feinen erzitterten dabei. „Renate, ift das wahr?” 

Er bob ihr Haupt zu fih empor. Wie in einen 
tiefen Born Schaute er in ihre Augen. Was ihm 
daraus entgegenleuchtete, war Liebe, Hingebung, Selig- 
feit. Da kam es über ihn wie die große wogende 
Flut, die nun nichts mehr zurüddämmte — über: 
mädtig, überwältigend. — — 

Renate hatte beide Arme un feinen Naden ge 
Ihlungen, ihr Haupt anf an feine Bruft. „Hallo, 
Du wollteft einen Menjchen haben, dem Du alles in 
der Welt jein kannit! Das bit Du mir, mein 
Alles in der Welt!“ 


VD. 


Sehr langjam gingen fie den Abhang hinunter, 
durch den Garten, der wie fchlummernd dalag, 
eingehüllt in die weißen Nebel der Sommernadt, 
dem Wohnhauje zu. 

Aus dem Gartenzinmer über die Veranda ber, 
famen ihnen dunfle Geftalten entgegen, wintend und 
rufend. Der alte Hinge hatte Hafjos und Renates 





903 Schwertklingen. 
„Haſſo!“ ſchrie Renate auf. Es war der herz⸗ 
erſchütternde Jubelklang der Erlöſung — der Selig— 
keit. Sie flog auf ihn zu, an ſeine Bruſt. Mit einem 
wilden Griff preßte Haſſo ſie an ſich — einen Augenblick. 

„Sacre mille tonnerre —“ fluchte der Franzoſe 
und warf ſich wie ein Raſender auf die beiden. Haſſo 
ſchlug ihn mit der Reitpeitſche zurück. Ein Pfiff — 
der alte Hintze ſtand neben ihm und zog Renate mit 
ſich fort. Es war das Werk einer Sekunde. Die 
beiden Männer ſtanden ſich allein gegenüber. 

Langſam, vor den Augen des Colonel, zog Haſſo 
ſein Weidmeſſer — Daricot wollte nach ſeiner Piſtole 
ſtürzen. Doch zu ſpät. An der Kehle packte ihn Haſſo 
mit eiſernem Griff und fetzte ihm das blanke Meſſer 
auf die Bruſt. 

„Verfluchter Hund, Du biſt des Todes, auf mein 
Ehrenwort, wenn Du Dich rührſt oder um Hilfe 
rufſt! — Die Dame iſt jetzt in Sicherheit! Auch ich 
werde mich ſogleich entfernen! Sollten Sie es wagen, 
mir auf den Flur zu folgen, oder einen Laut aus— 
zuſtoßen, ſo ſind Sie nicht mehr! Dort ſteht mein 
Jäger poſtiert, deſſen Kugel noch niemals gefehlt hat. 
Auf Hilfe brauchen Sie nicht zu rechnen. Ihre 
Kameraden lärmen da unten im Weinrauſch, und 
hören und ſehen nichts!“ 

Seine Hand gab die Kehle des Franzoſen frei. 
Dieſer ſtarrte mit gläſernen Augen auf ihn und auf 
die blanke Klinge in ſeiner Hand. 

Mit feſtem Schritt verließ Haſſo das Zimmer, 
verſchloß die Thür und zog den Schlüſſel ab. Starr 
wie eine Bildſäule ſtand Colonel Daricot da — ein 
Gefangener in ſeinem eigenen Zimmer. 

„Nun vorwärts, Junker, die Hintertreppe runter 
— ich führ' Euch!“ raunte Hintze. Er hielt das 
Fräulein am Arm und fort ging es, einen dunklen 
Gang, eine halsbrechende Stiege hinunter, an der 
Küche vorbei, aus welcher wüſtes Schreien und Lachen 
ertönte — durch die offen ſtehende Thür ins Freie 
hinaus. Ein paar Schritte hart an den Fenſtern und 
am Altan entlang — dann in das dichte Flieder— 
geſträuch hinein — Tannendunkel — und in den 
geheimnisvollen Schatten des nächtlichen Waldes 
waren die drei Flüchtlinge verſchwunden. 


VI. 


„So, gnädig Frölen, hier verpuſten Sie ſich ein 
bißchen,” ſagte der alte Jäger. „Wenn uns die 
Satansbrut auf den Hacken wäre, hätte ſie uns in 
der Wieſenlichtung gefaßt, hier nicht!“ 

„Nein, nein, nur weiter!“ war Renates haſtige 
Antwort. Sie hatte kaum noch das Bewußtſein, wo 
ſie war, und wohin ſie eilte. Nur weiter — fort 
von dem fürchterlichen Kerker, aus dem ihr der Tod 
Errettung bedeutet, nur immer fort aus der Nähe 
jenes entſetzlichſten aller Menſchen! Daß ſie frei war, 
beſchützt und geſichert, dieſe Gewißheit vermochte ſich 
in ihrer angſtbetäubten Seele noch nicht zu befeſtigen. 

Ihr Pfad führte ſchmal, verwuchert durch jungen 
Buchenaufſchlag und wildes Geſtrüpp. Feucht vom 
Tau war das Gezweig, der Nebel lag gleich weißen 


Roman von Hans Werder. 


904 


Streifen in den Gründen, aus denen die Baum: 
gruppen auftauchten wie Schwarze jchattenhafte Sinieln. 
Darüber breitete fich die opalfarbene Helle der Früh: 
jommernadt. 

Flüchligen Fußes eilte Renate dahin. An ihrer 
Seite der alte Waldläufer, rüflig ausfchreitend. Hafio 
ging hinter ihr, und nicht ein einziges Mal jchaute 
fie zurüd. Seine Blide aber hingen an ihr und 
folgten jeder ihrer Bewegungen. 

Täufhte ihn denn ein Traumgebilde jeiner 
Vhantafie, oder war fie das wirklid — fie, die ihn 
einft von fich gemwielen und ihm jo bitter weh ge: 
than? Sn feinem Ohr tönte jet der bejeligte Jubel— 
ihrei, mit dem fie fih an feine Bruft geworfen. 
Das war doh Wirklichkeit, und fie brad einen Riß 
in die Eilesrinde, die jo lange fein Fühlen in grau: 
famer Feflel gehalten. Wie eine heiße Flut quoll e8 
darunter auf, befreiend, ungeftüm. Was jollte daraus 
werden? Er jab wohl, fo wie dort auf der Rojen: 
veranda, als fie ihm nadgegangen, und er fie zu: 
rüdgemwiejen, konnte er Renate nicht wieder gegenüber: 
fteben. Es war ihm, als Ichlügen die Wellen höher und 
raubten ibm Atem und Befinnung. Mit einem tiefen 
Atemzuge, einem kurzen Rud blieb er plöglich ftehen. 

„Thut dem Sunter der zerichoflene Fuß weh?” 
fragte Hinge in feinem Inurrenden Ton. „Wär’ fein 
Wunder! Solche Fußpiriche taugt noch nicht für Sie!” 

Wie ein Stich ging Renate diejes Wort durchs 
Herz, mwedte fie aus ihrer Angftbetäubung und gab 
ihren Empfinden eine andere Richtung. Auch fie 
blieb jegt ftehen, den Kopf wie in Beihämung gejentt. 

Das niedrige Didiht lag Hinter ihnen. Sie 
ftanden wie in der Eingangshalle des KHochwaldes, 
Ihmarze Naht vor ihnen. Gleih einem weißen 
Nebelbilde hob fi) die helle Mädchengeltalt daraus ab. 

RKeines von beiden jprad) ein Wort. 

„Ein feiner Pirfhgang war das aber!” jeßte 
der alte Weidmann feine Rede fort und lade leile, 
daß e8 mie das Knarren eines Eichenaftes Tlang. 
„Und was für ein Fangltoß wär’ das gemorden, 
wenn Sie zuftießen, Junker! Ich kenn' Ihre Hand! 
Schade drum — feinen Mud hätt’ der Franzofe 
mehr gejagt!” 

„Sa, freilih war es habe!” Hafjo zog fein 
Fangmeſſer heraus. Der geihliffene Stahl bligte in 
der Dämmerung. „Hinte, ih hab’ einmal einen 
groben Keiler abgefangen, zum Andenken daran be: 
fam ich dies Mefler geichentt.e — Prinz Ludwig, 
mein Held — daß diefe Klinge mir helfen würde 
gegen den Ersfeind? — im Dienite einer Dame — 
das geihah nad Deinem ritterlicden Sinn!” 

Set endlich wandte fih Renate ihm zu. Sie 
ah ihn vor fich ftehen, in dunklen Linien gezeichiret, 
männlich und feft — leibhaftig jo, wie er Tag und 
Nacht in ihrer Erinnerung gelebt. Er hatte fie ge- 
jucht, gerettet mit ritterlihdem Mut und ftarlem Arm. 
Ah und fie wußte e8 ja — in feinem Schuß mar 
fie vor der ganzen Hölle fiher. „Haflo, was haben 
Sie für mid gethan!” rief fie aus. 

Haffo antwortete nicht. Er wollte feinen Dant., 
Sein Auge ruhte auf ihr wie mit qualvoller Frage. 

„Befehlen Eie weiter zu gehen, Nenate?” jagte 





— —— — — 


905 


er. „So geben Sie mir bitte den Arm. Unſer 
Weg iſt uneben und dunkel. Dieſes kleine Vorrecht 
darf ich mir heute wohl erbitten.“ 

Gehorſam folgte ſie ihm. Ihr Herz klopfte 
zum Zerſpringen. War er denn das wirklich, der 
ſo heiß Erſehnte, verloren Geglaubte, unverſöhnlich 
Zürnende, und ſie lehnte ſchutzſuchend, vertrauend an 
ſeinem Arm? — 

Stumm ſchritten ſie nebeneinander her. Vor 
ihnen ging wegkundig, aufmerkſam und doch ſchein— 
bar ohne zu ſehen und zu hören, der alte Waldläufer. 

Totenftile war um fie her. Nur zuweilen 
fnadte ein Aft unter ihren Füßen. Hin und wieder 
ftrih froftig fühl der Atemzug der Naht durch Die 
Baumfronen, jo daß fie feufzend erihauerten. Dann 
wieder das tiefe Schweigen. 

Lang war der Weg. 

„Sind Sie nodh nicht müde, Renate?” fragte 
Haflo endlich. 

Sie fhüttelte den Kopf. „Ich bin nicht müde! 
Ich Tönnte ftundenlang fo weitergehen! Aber Sie, 
Haflo — Zhr verwundeter Fuß —” fie zögerte, doc) 
er wies mit abmehrender Handbewegung die Fürjorge 
zurüd und 30g fie weiter mit fidh fort. 

„segt noch zehn Minuten, dann find wir in 
Tiefenjee!” tröftete Hinge mitleidig brummend, 
„Bnädig’ Frölen wird fih audh ſchon die Kleinen 
Füßchens mundgelaufen haben!“ 

Eine Anhöhe ging es hinauf, da Lichtete fi 
der Wald. 

Bor ihnen tief unten lag der See — mie 
mattes Silber zwilhen den jchwarzen Baummwipfeln 
beraufichimmernd. Senfeit8 das Herrenhaus von 
Tiefenfee, mit den erhellten Fenftern in der dunklen 
Umrahmung. 

„Da find wir,” erklärte der Alte. „Sebt willen 
die Herrichaften Beihheid. Ach werde vorausgeben 
und fihern. Ein Wagen kommt nämlich die Land: 
ftraße herauf — zu diefer Stunde — das muß 
etwas zu bedeuten haben!” Wort war er. 

Hafjo und Renate blieben ftehen. Sie löfte 
ihren Arm aus dem feinen und bob fchüchtern den 
Ylid zu ihm auf, „Halo — Sie wollen es nidt 
— doh muß ich davon reden!” begann fie ftodend. 
„Wie famen Sie jo plöglich dorthin, unter Die 
Feinde? Wie ein Engel Gottes erjchienen Sie mir!” 

„Aber ih kam jo jpät, Renate! Sie mußten 
jo lange ausharren! Hat er Sie nicht fait zu Tode 
geängftigt, der Schurke?” 

„Sa, es war bie hödjite Not! Aber die Hilfe 
mußte fommen! Ich Hammerte mi an das Kreuz 
— und das hat mich gefchügt und gehalten, bis Sie 
kamen! Ehe ih die legte Rettung durd den ent: 
leglihen Sprung aus dem Fenfter Juchte!” 

„Renate — das — wollten Sie thun?” 

hr Kopf war tief gejentt. „Es wäre mir feine 
Wahl geblieben!” — 

Er jah auf fie nieder. Seine Pulfe begannen 
zu fiebern. „Renate — — warum haben Sie nicht 
mich gerufen, ftatt Brünnow! Ich war da, ich hätte 
fommen können! So erfuhr ich es erft zwei, Drei 
Stunden nahdem Sie fi hatten fortloden laflen in 
dieje Mordgrube.” 


Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 


906 


Sein Vorwurf traf fie unerwartet. „Aber Haflo 
— das konnten Sie do nit von mir verlangen! 
Ich babe Sie gebeten, mir zu verzeihen, was ich 
hnen einft zuleide gethan. Sie Ihlugen es ab! 
Konnte ih danadh jemals noch mit irgend einer 
Bitte zu Ihnen fommen?“ 

„Herr Gott!“ rief er jchaubernd. „Welche 
Verantwortung wählen Sie auf mih! Durch meine 
Schuld alfo! — Sie haben mid gebeten, und ih — 
\hlug es Shnen ab — —' 

„Ad, Hallo, das ift jeßt nicht mehr das 
Schlimmfte!” rief fie leidenschaftlich aufichluchzend. 
„Run haben Sie mid au noch zu fo tiefem, un- 
endlihdem Dank verpflichtet, und ich kann ihn nicht 
abtragen. Shr Herz ift verbärtet gegen mi, id) 
weiß e3 wohl, jeit ich Ihnen jo bitteres Unrecht ge- 
than! Nicht einmal verzeihen konnten Sie mir, als 
ih Sie bat! Was fol Ahnen da mein Dank! Eine 
läftige Bürde, die auf mich jelbft wieder zurüdfällt —” 
fie fonnte nicht weiter. 

Hafjo ergriff ihre beiden Hände und zog fie an 
fein ftürmifch pocdhendes Herz. „Meine Süße, Heiß: 
geliebte, Tönnen Sie denn das nicht verjtehen? Ein 
Wort nur kann es zwilchen uns geben, ein Entweder 
— Dder! Als Sie mir fagten, daß Sie mid für 
einen feigen, jammervollen Kerl bielten und mid 
niemals lieben fünnten — nur einen Helden — 
nit mid —” nodh einmal zitterte der grollende 
Schmerz nadllingend in feiner Stimme — „ja, da 
verhärtete ih mich gegen Sie! — Was joll mir 
Reue, Verzeihen und Dank! Lieben jolen Sie mid! 
Nichts weiter verlange ich auf der ganzen Welt!” 

„Ad, Haflo!“ Es Mang wie jubelndes Er- 
ichreden. Sie fah ihn an mit wirrem, aufleuchtend 
juhendem Ylid. Dann beugte fie fich nieder und 
drüdte ihr Antlig auf feine Hände. „Haflo — ich 
will e8 gut machen, was ich Syhnen zuleide gethan! 
Wenn Ste kein Held find, wer ift es dann? Mein 
Held find Sie, der einzige — einzige!” 

Haflo hielt ihre Hände feft, mit eijernem Griff. 
Die feinen erzitterten dabei. „Renate, ift das wahr?” 

Er bob ihr Haupt zu fih empor. Wie in einen 
tiefen Born jchaute er in ihre Augen. Was ihm 
daraus entgegenleuchtete, war Liebe, Hingebung, Selig- 
teit. Da kam e8 über ihn wie die große wogende 
Flut, die nun nichts mehr zurüddämmte — über: 
mädtig, überwältigend. — — 

Renate hatte beide Arme um feinen Naden ge: 
Ihlungen, ihr Haupt lan an feine Bruft. „Haflo, 
Du mwollteft einen Menjchen haben, dem Du alles in 
der Welt fein Tannit! Das bit Du mir, mein 
Alles in der Welt!” 


VL. 


Sehr langfam gingen fie den Abhang hinunter, 
durch den Garten, der wie jchlummernd balag, 
eingehült in die weißen Nebel der Sommernadt, 
dem Mohnbhaufe zu. 

Aus dem Gartenzimmer über die Veranda ber, 
famen ihnen dunfle Geftalten entgegen, wintend und 
rufend. Der alte Hinte hatte Hafjos und Renates 





907 


Ankunft Schon verkündet. 
furzem des alten Jägers Verdacht erregt hatte, jaßen, 
von Buggendorf fommend, das Zarhomwihe Ehepaar 
und Hans Brünnomw. Lebterer hatte zu eiligem Auf: 
bruh nad Tiefenjee getrieben, denn Frau Yulies 
Botihaft an ihn, die er abends bei feiner Rüdkehr 
aus der Stadt vorgefunden, und Haflos unerflär: 
lies Ausbleiben flößte den treuen Freunden Angft 
und Belorgnis ein. Kurz vor ihnen war Paul Con: 
reuthb zu Hauſe eingetroffen. Ihn hatte Renates 
verhängnisvolle Fahrt nach Penzlow mit maßloſem 
Entſetzen erfüllt, welches kaum gemildert wurde durch 
die Kunde, daß Rochlitz ihrer Spur gefolgt war. 
Was ſollte dieſer allein helfen können? Sie ſchwebten 
nun beide in größter Gefahr. Die unerwartete An— 
kunft der Buggendorfer Freunde erſchien als un— 
endliche Erleichterung. Alsbald beſchloſſen die drei 
Männer einen ſofortigen Aufbruch nach Penzlow. 
Doch jetzt erſchien der alte Hintze mit ſeiner erlöſen— 
den Meldung. Und gleich darauf erblickte man in der 
nebligen Dämmerung die Geſtalten der beiden Ge: 
retteten, ſich langſam dem Hauſe nähernd. Warum 
nur ſo langſam? Sie eilten ihnen mit fliegendem 
Atem entgegen. Renate löſte ſich von dem Arm ihres 
Kavaliers und flog wie ein Vogel herbei, in die Arme 
ihrer Schweſter, die ſie laut weinend an ſich preßte. 
Welche Qualen der Angſt und Selbſtvorwürfe hatte 
ſie in dieſen Stunden durchlebt, die AÄrmſte. Sie 
meinte, ſich in ihrem ganzen Leben nicht wieder 
davon erholen zu können. 

Unter lautem Jubel, Lamentieren, Händeringen 
wurden die beiden hineingezogen in das warme, helle 
Zimmer. Und nun ging es ans Fragen, —* 
und Beſtürmen. Frau Selma Zarchow ſchalt in 
Kraftausdrücken über ihre eigene Thorheit. Schweſter 
Julie zerfloß noch immer in Thränen. Die Herren 
aber waren ungalant genug, einſtimmig feſtzuſtellen, 
daß ihre drei verehrten Damen ſich untereinander 
überboten hätten in Befolgung falſcher Maßnahmen. 

„Abſcheuliche Geſellſchaft, Ihr vier!“ rief Selma. 
„Das iſt nun wieder Waſſer auf Eure Mühle! — 
Aber beſte Julie, wahr iſt es beinah! Nun kommen 
Sie endlich wieder zu ſich! Das Kind iſt faſt er— 
ſtarrt in ſeinem dünnen Sommerfähnchen, in der 
kalten, feuchten Nachtluft! Kommen Sie, Renate, 
kommt, wir ziehen die Kleine um! Am beſten wäre 
es ſchon, wir ſteckten ſie gleich ins Bett, doch wenn 
ich dieſe ſtrahlenden Augen anſehe, wage ich kaum 
davon zu reden!“ 

Die drei Damen verließen das Gemach. 

Haſſo ſolgte ihnen mit den Augen. Dann warf 
er ſich in einen tiefen Seſſel, zog den ſchmerzenden, 
übermüdeten Fuß auf ſein Knie und ſchloß die Augen. 

Hans Brünnom heftete einen aufmerkſamen Blick 
auf ihn. Seine Hohadhtung für den Kriegsgefährten 
war jo groß, daß er fich unmwillfürlich verpflichtet 
bielt, die Nube zu behüten, deren jener augenfchein- 
liö bedurfte. 

„Ssühren Sie Zhre gute Abficht aus, Conreuth, 
und beforgen Sie ein Glas beißen Punich ober 
Grog,” mahnte Brünnow. „Unferen beiden Aben: 
teurern wird die Stärfung gewiß nit unmill- 
kommen ſein!“ 


Schwertklingen. 


Roman von Hans Werder. 


In dem Wagen, der vor 


908 


Der Hausherr befolgte ſofort dieſen einleuchten— 
den Wink. Leiſe berieten die Herren miteinander 
über die Möglichkeit eines Racheunternehmens ſeitens 
der Franzoſen. Brünnow hielt ein ſolches für un— 
wahrſcheinlich. 

„Was wollen ſie denn machen, es ſind ja ſo— 
genannte Friedenszeiten,“ meinte er. „Schwerlich 
wird der Colonel die Geſchichte an die große Glocke 
hängen, dazu iſt die Rolle denn doch zu erbärmlich, 
die er dabei geſpielt hat!“ 

Der kluge Brünnow ſollte mit ſeiner Zuverſicht 
recht behalten. Der Name des Colonel Daricot drang 
nicht wieder zu den Ohren Haſſos und ſeiner Freunde. 

Jetzt kehrten die drei Frauen zurück. Mit 
elaſtiſcher Bewegung ſprang Haſſo auf die Füße. 

Renate trug ein warmes, dunkelfarbiges Kleid. 
Ihr Haar fiel in lockiger Wildnis frei über den 
Naden hinab. hr Gefiht war weiß wie Lilien: 
blätter, doch die Tippen rot und bie Augen mehr 
benn je den bunflen Lichtern des fcheuen, ftolzen 
Nehes vergleichbar. 

Mit fragendem Blid gingen diefe Augen dDurd) 
das Zimmer und blieben auf Hallo ruhen. Sie ging 
auf ihn zu, beide Hände ihm entgegenftredend. 

„Hallo!“ — 

Er ergriff dieſe Hände, beugte ſich tief darüber 
und bedeckte ſie mit Küſſen. 

„Aber Renate!“ rief Julie faſt erſchreckt. Sie 
fühlte wohl, welchen großen Dank Renate ihm ſchul⸗ 
dete, aber dies machte doch einen zu merkwürdigen 
Eindruck! 

Renate wandte lächelnd den Kopf zu ihr hin, 
ihre Hände feſt in die ſeinen geſchmiegt. 

„Sie gehören ihm, Julie, es läßt ſich nichts 
mehr daran ändern!“ ſagte ſie und ihr Ton klang 
ſtolz und innig. „Er hat ſich ſeine Braut aus der 
Hölle herausgeholt! Wenn er ſie behalten will — 
ſie gehört ihm!“ 

„Donner — wetter!“ rief Brünnow, denn das 
Erſtaunen machte ihn bis auf dieſen ihm zu geläufigen 
Ausruf ſprachlos. Freudig überraſcht, ſtimmten die 
übrigen mit ihren Äußerungen ein. Nur Schweſter 
Julie begann ihr Händeringen aufs neue. 

„Um Himmels willen, Renate, auch das noch! 
Wie kannſt Du denn ſo etwas thun, ohne mich oder 
Papa zu fragen!“ 

„Gnädigſte Frau Julie, ich weiß, was Papa 
dazu ſagen wird!“ nahm jetzt Haſſo das Wort. „Un⸗ 
mögliches kann er nicht fordern, und was die Hammer⸗ 
ſchläge des Schickſals in eins geſchmiedet, das wird 
er nicht mehr trennen wollen! — Gegen meine Perſon 
kann er, denke ich, nichts einwenden, da ſich Renate 
an derſelben genügen laſſen will! — Eine Stellung 
aber werde ich ihr, ſo Gott will, bieten können, die 
ihrer einigermaßen würdig iſt!“ 

„Eine kühne Behauptung!“ murmelte Paul 
Conreuth mit bewunderndem Blick auf ſeine Schwä— 
gerin. Wie ſie zu ihm aufſah, ſtolze Hingebung aus 
den Augen ſtrahlend, wahrlich, beneidenswert vor 
anderen Sterblichen erſchien ihm dieſer Mann, und 
ungewöhnlicher Auszeichnung mußte er würdig ſein. 

„Gewiß, die Behauptung mag kühn ſein, da 
haben Sie recht!“ beſtätigte Haſſo die halblaute Be: 





909 Schwertklingen. 
merkung. „Brünnow, auf Abenteuer ins Aus— 
land zieh ich nun nicht mehr, das iſt vorbei. Aber 
die Frau eines preußiſchen Rittmeiſters zu werden, 
bei den Blücherſchen Huſaren — vielleicht läßt ſich 
meine Gebieterin das gefallen?“ Er küßte abermals 
ihre Hand. „Und ſagt ihr dieſe Stellung nicht mehr 
zu, ſo ſteht es mir jeden Augenblick frei, ſie als 
Herrin nach Reckentin zu führen! Sie hat nur zu 
befehlen! — Damit freilich ſind dann die Schätze 
erſchöpft, die ich ihr zu bieten habe!“ 

„Ich bin damit zufrieden!“ ſagte Renate. „Aber 
ich glaube faſt, doch noch mehr der Schätze zu kennen, 
die mir ein Haſſo Rochlitz zu bieten vermag!“ 


VIII. 


„Na, Rochlitz, ſind Sie endlich da!“ rief 
Excellenz Blücher. „Dachte ſchon, Sie wären mich 
durchgebrannt, irgendwo ins Ausland, wie ſo viele 
von die Feuerköppe, die es nicht abwarten können, 
bis es bei uns losgeht!“ 

Der kommandierende General war ſoeben von 
einem Beſichtigungsritt zurückgekehrt und ſtand noch 
mit Pelzmütze und Säbel, als er die Meldung des 
Lieutenants von Rochlitz entgegennahm. Dieſer trug 
jetzt die Armeeuniform der Kavallerie, die den 
Schillſchen geſtattet war, bis ſie verabſchiedet oder 
anderen Regimentern zugeteilt wurden. 

„Wo haben Sie ſich denn ſo lange rumgetrieben? 
Erzählen Sie mich das doch!“ 

Rochlitz berichtete kurz, wo er ſich ſeit Beendigung 
ſeiner Feſtungshaft aufgehalten und ſchließlich auch, 
daß er ſich mit der Tochter des Oberſtlieutenants von 
Veldegg verlobt hätte. 

General Blücher, der ſich des letzteren aus 
ſeiner Huſarenzeit als guten Bekannten erinnerte, 
nahm die Nachricht wohlwollend auf, freute ſich auch 
über die angelegentliche Empfehlung, welche Rochlitz 
von ſeinem künftigen Schwiegervater an den Feld— 
herrn ausrichtete. 

„Das war ein recht geſcheiter Einfall, mein 
Sohn! Die Veldeggs — gute Familie, der Alte 
ſelber ein Ehrenmann! Iſt ein gutes Zeugnis für 
Ihnen, daß Sie das Mädel kriegen! Jedem erſten 
beſten wird der ſeine Tochter nicht geben! Ich habe 
mir auch ſonſt nach Ihnen erkundigt, bei dem von 
Lützow, der Eure Campagne da mitgeritten iſt, und 
bei dem von Kleiſt, der auch beim Prinzen Louis 
Adjutant war. Beide ſagen mich dasſelbe von Ihnen! 
Danach müſſen Sie Pech und Schwefel im Kopf, 
und ſozuſagen ein gutes Stück Satan im Leibe haben! 
Beſonders wenn es auf dem Feinde druffgeht! Daß 
Sie dabei einen rechtſchaffenen Sinn haben, der gerade— 
durch geht und keine verfluchten Winkelzüge macht, 
das habe ich mich ſchon ſelber überführt! Eine 
Schwadron in Stolp iſt frei, hab' Sie Ihnen offen 
gehalten, — und Ihre Ernennung zum Rittmeiſter 
muß auch bald herauskommen!“ 

Haſſo ſprach mit warmer Betonung ſeinen ganz 
gehorſamſten Dank aus. 

„Is ſchon gut!“ ſagte Blücher. „Ein kleines 


Roman von Hans Werder. 





910 


Douceur mußten Sie doch noch von mich haben für 
die Arnswalder Affaire mit dem Victor, dem Halunken! 
Heute zu Mittag können Sie bei mich eſſen — wir 
wollen mal zuſammen ein Glas trinken auf den 
baldigen neuen Rittmeiſter, und auf gute Kriegs— 
kameradſchaft, wenn es nun endlich losgehen wird 
auf die Satanskerle, die verdammten!“ 

Er brach plötzlich ab. Ein Ausdruck ging über 
ſein Geſicht, der den jungen Offizier erſchreckte, wie 
das zurückkehrende Bewußtſein eines erſchütternden 
Schmerzes, der ſich durch den friſchen Eindruck nur 
flüchtig hatte zurückdrängen laſſen und nun doppelt 
ſein Recht geltend machte. 

„Ja — jetzt iſt's aber doch, als wollte unſer 
Herrgott droben uns ganz und gar in der Patſche 
ſitzen laſſen und den Satanshöllenmächten allen Vor—⸗ 
rang über uns einräumen! Das Beſte, was wir 
überhaupt noch hatten in der weiten Gotteswelt — 
Rodhlig, willen Sie e8 denn nod nit?” 

„Nein, ih weiß nicht, wovon Eure Ercellenz 
Iprehen, welder neue Schlag uns getroffen hat?” 

Blüder fah ihn an mit den blauen, feuer: 
bligenden Augen. — „Die Königin ift tot!” 

Königin Zuife von Preußen. Rot! 

War es denn nicht genug, daß Preußen in 
Schmad und Elend zertreten im Staube lag — mußte 
ihm auch nod) das Herz aus der Bruft gerillen werben 
und das Licht jeiner Augen ihm genommen? 

Wie war es möglich, das Ungeheure, Entjegliche 
zu fallen? Zn al ihrer Jugend und Schönheit — 
„\hön unter Taujenden” — Segen und Wonne 
jpendend, wo fie vorüberging, die holdefte aller 
Frauen, die behrite aller Königinnen! — Gie war 
tot! Berwailt war Preußens Land und Volk und 
zerichmetterndb vor allen traf diejer Schlag das Haupt 
des unglüdlichen Königs. 

„Die Königin tot!“ 

NRodhlig prallte zurüd, wortlosg — verfteinert 
von Entjegen. Wie betäubt legte er die Hand vor 
die Augen. Der Stoß, der Preußen ins Herz traf 
— jeder Preuße fühlte ihn fo im Herzensgrunde. 
Eine Pauje jchmerzerfüllten Schweigens folgte. 

„Wann haben es Eure Ercellenz erfahren?” 
fragte Hafjo endlich leife. 

„Heute früh durch eine Stafette aus Berlin! — 
Borgeftern, am 19. Yuli — in Hohen:Zierig! Seine 
Majeftät war da! — Ya — hol’ mich der Teufel — 
nun ift es zu Ende mit uns!” Und der alte Rede 
ftieß im Grimm feines Schmerzes mit dem Säbel 
auf den Fußboden, daß es dröhnte. 

NRohlig hob mit lebhafter Bewegung den Kopf 
ER Sn feinen dunklen Augen flammte eine heilige 
Glut. 

„Verzeihen Eure Excellenz, nein, es iſt nicht zu 
Ende! Königin Luiſe iſt von uns gegangen, nicht 
um ihr Volk im Elend verſinken zu laſſen, ſondern 
um es emporzuziehen! — Hat ſie unſere Erhebung 
auf Erden nicht mehr erleben können, ſo wird ſie 
vom Himmel darauf niederſchauen, als der Stern, 
der uns voranleuchtet, als der Genius unſeres Sieges 
und unſerer Freiheit!“ 

General Blücher zog die eisgrauen buſchigen 


907 


Ankunft Ion verkündet. In dem Wagen, ber vor 
furzem des alten Jägers Verdacht erregt hatte, jaßen, 
von Buggendorf kommend, das BZarhomwidhe Ehepaar 
und Hans Brünnow. Lebterer hatte zu eiligem Auf: 
bruh nah Tiefenjee getrieben, denn Frau Julies 
Botichaft an ihn, die er abends bei jeiner Rüdkehr 
aus der Stadt vorgefunden, und Haflos unerflär: 
liches Ausbleiben flößte den treuen Freunden Angft 
und Bejorgnis ein. Kurz vor ihnen war Paul Con: 
veutb zu Haufe eingetroffen. Ihn hatte Renates 
verhängnispolle Fahrt nah Penzlom mit maßlojem 
Entjegen erfüllt, welches kaum gemildert wurde burdh 
die Runde, daß Rodhlig ihrer Spur gefolgt war. 
Was follte diefer allein helfen können? Sie jchwebten 
nun beide in größter Gefahr. Die unerwartete An: 
funft der Buggendorfer Freunde erjchien als un: 
endliche Erleichterung. Alabald beichloffen die drei 
Männer einen Jofortigen Aufbruhd nah Penzlom. 
Doch jeht erihien der alte Hinte mit feiner erlöjen- 
den Meldung. Und gleich darauf erblidte man in ber 
nebligen Dämmerung die Geftalten der beiden Ge: 
retteten, fi langjam dem Haufe nähernd. Warum 
nur jo langjam? Sie eilten ihnen mit fliegendem 
Atem entgegen. Renate löfte fich von dem Arm ihres 
Kavaliers und flog wie ein Vogel herbei, in die Arme 
ihrer Schweiter, die fie laut weinend an fich preßte. 
Welche Qualen der Angſt und Selbſtvorwürfe hatte 
ſie in dieſen Stunden durchlebt, die Ärmſte. Sie 
meinte, ſich in ihrem ganzen Leben nicht wieder 
davon erholen zu können. 

Unter lautem Jubel, Lamentieren, Händeringen 
wurden die beiden hineingezogen in das warme, helle 
Zimmer. Und nun ging es ans Fragen, Srrählen 
und Bellürmen. Frau Selma Zarhom fchalt in 
Kraftausdrüden über ihre eigene Thorbeit. Schweiter 
sulie zerfloß noch immer in Thränen. Die Herren 
aber waren ungalant genug, einftimmig feltzuftellen, 
daß ihre drei verehrten Damen fich untereinander 
überboten hätten in Befolgung faliher Maßnahmen. 

„Abſcheuliche Gefelihhaft, Ahr vier!” rief Selma. 
„Das ift nun wieder Waller auf Eure Mühle! — 
Aber befte Julie, wahr ift es beinah! Nun fommen 
Sie endlich wieder zu fih! Das Kind ift fat er: 
ftarrt in feinem dünnen Sommerfähnden, in ber 
falten, feuchten Nactluft! Kommen Sie, Renate, 
fonımt, wir ziehen die Kleine um! Am beften wäre 
es ſchon, wir ftedten fie gleich ins Bett, Doch wenn 
ich dieje ftrahlenden Augen anjehe, wage ih Taum 
davon zn reden!” 

Die drei Damen verließen das Gemad. 

Hallo folgte ihnen mit den Augen. Dann warf 
er fih in einen tiefen Sellel, 309 den fehmerzenden, 
übermüdeten Fuß auf fein Knie und fchloß die Augen. 

Hans Brünnom beftete einen aufmerlfamen Blid 
auf ihn. Seine Hohadtung für den Kriegsgefährten 
war jo groß, daß er fih unwillfürlich verpflichtet 
hielt, die Nuhe zu behüten, deren jener augenjchein: 
li bedurfte. 

„szühren Sie KJhre gute Abfiht aus, Conreuth, 
und bejorgen Sie ein Glas heißen Punih oder 
Grog,” mahnte Brünnow. „Unjeren beiden Aben- 
teurern wird die Stärkung gewiß nidt unmill- 
fommen fein!“ 


Schwertllingen. Roman von Hans Werder. 


908 


Der Hausherr befolgte fofort diefen einleuchten- 
den Wink. Leife berieten die Herren miteinander 
über die Möglichkeit eines Rucheunternehmens feitens 
der Srangofen. Brünnom bielt ein joldhes für un: 
wahrſcheinlich. 

„Was wollen ſie denn machen, es ſind ja ſo— 
genannte Friedenszeiten,“ meinte er. „Schwerlich 
wird der Colonel die Geſchichte an die große Glocke 
hängen, dazu iſt die Rolle denn doch zu erbärmlich, 
die er dabei geſpielt hat!“ 

Der kluge Brünnow ſollte mit ſeiner Zuverſicht 
recht behalten. Der Name des Colonel Daricot drang 
nicht wieder zu den Ohren Haſſos und ſeiner Freunde. 

Jetzt kehrten die drei Frauen zurück. Mit 
elaſtiſcher Bewegung ſprang Haſſo auf die Füße. 

Renate trug ein warmes, dunkelfarbiges Kleid. 
Ihr Haar fiel in lockiger Wildnis frei über den 
Nacken hinab. Ihr Geſicht war weiß wie Lilien— 
blätter, doch die Lippen rot und die Augen mehr 
denn je den dunklen Lichtern des ſcheuen, ſtolzen 
Rehes vergleichbar. 

Mit fragendem Blick gingen dieſe Augen durch 
das Zimmer und blieben auf Haſſo ruhen. Sie ging 
auf ihn zu, beide Hände ihm entgegenſtreckend. 

„Haſſo!“ — 

Er ergriff dieſe Hände, beugte ſich tief darüber 
und bedeckte ſie mit Küſſen. 

„Aber Renate!“ rief Julie faſt erſchreckt. Sie 
fühlte wohl, welchen großen Dank Renate ihm ſchul⸗ 
dete, aber dies machte doch einen zu merkwürdigen 
Eindruck! 

Renate wandte lächelnd den Kopf zu ihr hin, 
ihre Hände feſt in die ſeinen geſchmiegt. 

„Sie gehören ihm, Julie, es läßt ſich nichts 
mehr daran ändern!“ ſagte ſie und ihr Ton klang 
ſtolz und innig. „Er hat ſich ſeine Braut aus der 
Hölle herausgeholt! Wenn er ſie behalten will — 
ſie gehört ihm!“ 

„Donner — wetter!“ rief Brünnow, denn das 
Erſtaunen machte ihn bis auf dieſen ihm zu geläufigen 
Ausruf ſprachlos. Freudig überraſcht, ſtimmten die 
übrigen mit ihren Äußerungen ein. Nur Schweſter 
Julie begann ihr Händeringen aufs neue. 

„Um Himmels willen, Renate, auch das noch! 
Wie kannſt Du denn ſo etwas thun, ohne mich oder 
Papa zu fragen!“ 

„Gnädigſte Frau Julie, ich weiß, was Papa 
dazu ſagen wird!“ nahm jetzt Haſſo das Wort. „Un—⸗ 
mögliches kann er nicht fordern, und was die Hammer: 
\hläge des Schidjals in eins gejhmiedet, das wird 
er nicht mehr trennen wollen! — Gegen meine Berjon 
fann er, denfe ich, nichts einwenden, da fih Renate 
an berjelben genügen lafjen will! — Eine Stellung 
aber werde ich ihr, jo Gott will, bieten fönnen, bie 
ihrer einigermaßen würdig ift!” 

„Eine fühne Behauptung!” murmelte Paul 
Gonreuth mit bewunderndem Blid auf Jeine Schwä- 
gerin. Wie fie zu ihm aufjab, ftolze Hingebung aus 
den Augen firahlend, wahrlich, benmeidenswert vor 
anderen Sterblihen erichien ihm diefer Mann, md 
ungewöhnlicher Auszeichnung mußte er würdig fein. 

„Sewiß, die Behauptung mag fühn jein, da 
haben Sie recht!” beftätigte Haflo die halblaute Be- 





909 


merlung. „Brünnow, auf Abenteuer ins Aus- 
land zieh ih nun nicht mehr, das ift vorbei. Aber 
die Frau eines preußilchen Rittmeifter® zu werben, 
bei den Blücherijhen Hufaren — vielleidht läßt fi 
meine Gebieterin das gefallen?” Er küßte abermals 
ihre Hand. „Und jagt ihr dieje Stellung nicht mehr 
zu, jo fleht e8 mir jeden Augenblid frei, fie als 
Herrin nah Nedentin zu führen! Sie hat nur zu 
befeblen! — Damit freilih find dann die Schäße 
erichöpft, die ich ihr zu bieten habe!” 

„Ich bin damit zufrieden!” jagte Renate. „Aber 
id glaube faft, doch noch) mehr der Schäge zu kennen, 
die mir ein Hafjo Rodlig zu bieten vermag!” 


VIII. 


„Na, Rochlitz, ſind Sie endlich da!“ rief 
Excellenz Blücher. „Dachte ſchon, Sie wären mich 
durchgebrannt, irgendwo ins Ausland, wie ſo viele 
von die Feuerköppe, die es nicht abwarten können, 
bis es bei uns losgeht!“ 

Der kommandierende General war ſoeben von 
einem Beſichtigungsritt zurückgekehrt und ſtand noch 
mit Pelzmütze und Säbel, als er die Meldung des 
Lieutenants von Rochlitz entgegennahm. Dieſer trug 
jetzt die Armeeuniform der Kavallerie, die den 
Schillſchen geſtattet war, bis ſie verabſchiedet oder 
anderen Regimentern zugeteilt wurden. 

„Wo haben Sie ſich denn ſo lange rumgetrieben? 
Erzählen Sie mich das doch!“ 

Rochlitz berichtete kurz, wo er ſich ſeit Beendigung 
ſeiner Feſtungshaft aufgehalten und ſchließlich auch, 
daß er ſich mit der Tochter des Oberſtlieutenants von 
Veldegg verlobt hätte. 

General Blücher, der ſich des letzteren aus 
ſeiner Huſarenzeit als guten Bekannten erinnerte, 
nahm die Nachricht wohlwollend auf, freute ſich auch 
über die angelegentliche Empfehlung, welche Rochlitz 
von ſeinem künftigen Schwiegervater an den Feld— 
herrn ausrichtete. | 

„Das war ein recht geicheiter Einfall, mein 
Sohn! Die Veldeggg — gute Familie, der Alte 
jelber ein Ehrenmann! Sit ein gutes Zeugnis für 
Shnen, daß Sie das Mädel kriegen! Sedem eriten 
beiten wird der feine Tochter nicht geben! Sch habe 
mir auch fonft nah Ihnen erkundigt, bei dem von 
Lüßom, der Eure Campagne da mitgeritten ift, und 
bei dem von Kleift, der auch beim Prinzen Louis 
Adiutant war. Beide jagen mich dasjelbe von Jhnen! 
Danahd müllen Sie Beh und Schwefel im Kopf, 
und fozufagen ein gutes Stüd Satan im Leibe haben! 
Beionders wenn e8 auf dem Feinde druffgehbt! Daß 
Sie dabei einen rehtichaffenen Sinn haben, der gerade: 
dur geht und feine verfluhten Winfelzüge macht, 
das babe ih mich jchon jelber überführt! Eine 
Schwadron in Stolp ift frei, hab’ Sie Shnen offen 
gehalten, — und Shre Ernennung zum Rittmeifter 
muß auch bald berausfommen!” 

Hallo Iprah mit warmer Betonung jeinen ganz 
gehorfamften Dank aus. 


„Is ſchon gut!” fagte Blüher. „Ein lleines 


Schmertllingen. Roman von Hans Werber. 





910 


Douceur mußten Sie bo noch von mich haben für 
die Arnswalder Affaire mit dem Victor, dem Halunfen! 
Heute zu Mittag können Sie bei mid eſſen — wir 
wollen mal zufanmen ein Glas trinfen auf den 
baldigen neuen Rittmeifter, und auf gute Kriegs- 
fameradfchaft, wenn es nun endlich losgehen wird 
auf die Satanglerle, die verdammten!” 

Er brach plöglih ab. Ein Ausdrud ging über 
fein Gefiht, der den jungen Offizier erjchredte, wie 
das zurüdkehrende Bewußtjein eines erjchütternden 
Schmerzes, ber fih durch den frifhen Eindrud nur 
flüchtig Hatte zurüddrängen lafen und num doppelt 
fein Recht geltend machte. 

„Ja — jetzt ift’s aber doch, als wollte unfer 
Herrgott droben uns ganz und gar in der Patjche 
figen laffen und den Satanshöllenmädten allen Bor: 
rang über uns einräumen! Das Belle, was wir 
überhaupt noch hatten in der weiten Gotteswelt — 
Rodlig, willen Sie es denn no niit?” 

„Nein, ich weiß nit, wovon Eure Ercellenz 
ipredhen, welder neue Schlag uns getroffen bat?” 

Blüder jah ihn an mit den blauen, feuer: 
bligenden Augen. — „Die Königin ift tot!” 

Königin Luife von Preußen. Tot! 

War es denn nidht genug, daß Preußen in 
Schmad und Elend zertreten im Staube lag — mußte 
ibm au no) das Herz aus der Bruft gerillen werden 
und das Licht jeiner Augen ihm genommen? 

Wie war es möglich, das Ungeheure, Entjegliche 
zu faflen? Sn al ihrer Jugend und Schönheit — 
„\hön unter Taufenden” — Segen und Wonıe 
ipendend, wo fie vorüberging, die holdeite aller 
Frauen, die hehrite aller Königinnen! — Sie war 
tot! Vermwaift war Preußens Land und Boll und 
zerichmetternd vor allen traf diefer Schlag das Haupt 
des unglüdlihen Königs. 

„Die Königin tot!“ 

Rodlik prallte zurüd, mortlos — verfteinert 
von Entjegen. Wie betäubt legte er die Hand vor 
die Augen. Der Stoß, der Preußen ins Herz traf 
— jeder Preuße fühlte ihn jo im Herzensgrunde. 
Eine Baufe jhmerzerfüllten Schweigens folgte. 

„Wann haben es Eure Erceellenz erfahren?” 
fragte Hafio endlich leife. 

„Heute früh duch eine Stafette aus Berlin! — 
Vorgeftern, am 19. Zuli — in Hohen:Zierig! Seine 
Majeftät war da! — Ya — hol’ mich der Teufel — 
nun ift e8 zu Ende mit uns!” Und der alte Nede 
ftieß im Grimm feines Schmerzes mit dem Säbel 
auf den Fußboden, daB es dröhnte. 

NRochlig hob mit lebhafter Bewegung den Kopf 
u Sn feinen dunklen Augen flammte eine heilige 
Blut. 

„Verzeihen Eure Excellenz, nein, es ift nicht zu 
Ende! Königin Zuile ift von uns gegangen, nidt 
um ihr Volk im Elend verfinten zu laflen, jondern 
um es emporzuziehen! — Hat fie unjere Erhebung 
auf Erden nicht mehr erleben können, jo wird fie 
vom Himmel darauf niederijhauen, als der Stern, 
ber uns voranleucdhtet, als der Genius unjeres Sieges 
und unjerer Freiheit!” 

General Blüher 309g die eisgrauen bufdigen 





911 


Brauen zufammen, baß feine Augen darunter funtelten, 
wie ein Paar ftählerne Klingen. 

„Gott's Blitz vom Himmel, Junge, ja, Sie 
haben vet! Dazu haben wir zu viel an unjerer 
Königin gehabt, als daß wir fie jemals ganz ver: 
lieren könnten, wenn fie auch leider Gottes gejtorben 
it! Aus Sram über das verdammte Elend ift fie 
geftorben, aljo auch ihren Tod verdanten wir ber 
Höllenbande! Und wir wollen es ihr entgelten 
laffen! — Ein Dentmal fol unjere gute Königin 
haben — von Blut joll es flarren! Und von 
preußiihen Schwertllingen wird es aufgebaut!” 
Und er riß feinen Säbel aus der Scheide mit 
flirrendem Rud. 

„Und ‚Preußens Freiheit‘ wird es beißen!” 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


912 


legte Rochlit Hinzu, die Hand an den GSäbelgriff 
legend. Er Ijpracdh es dem Felbherrn nach wie einen 
heiligen Schwur. 

Und was die Männer geihmworen, auf ihre 
Schwertllingen, dem heiligen Angedenten ihrer 
Königin, das haben fie gehalten — und Taufende 
mit ihnen. Unter Strömen freudig vergoflenen Herz: 
blutes richteten fie jenes Denkmal auf, dem verklärten 
Siegesgenius geweiht — Preußens Befreiung und 
Auferftehung. 

No lag das Vaterland unter dem eilernen “och 
der Schmah und Knedhtihaft faft drei Jahre lang. 
Dann aber ging das Morgenrot auf und leuchtete 
ihm zu Freiheit, Sieg und Größe! 

Ende. 





Heiblatt der PDentihen Noman: Zeitung. 


Sommernadt. 


D Sommernadt, jo reid) an Wonnen, 
So friedbevoll und büftefchwer: | 
Sehnfüdhtig raufcht e8 in den Bronnen, 
Und filbern leuchten Bufh und Wehr. 
Nur leife atmet’3 in den Fluten, 

Die träumerifh den Naden wiegen 
Und fih wie müdgefpielte Kinder 

Ans Ihilfunfäumte Ufer fchmiegen. 


Sie mögen mid) von dannen tragen — 
Wohin der Weg? Ach frage nicht! 
Nod grüßt mid) fernher Zitherichlagen 
Und froher Menichen trautes Licht. 

D, fünnt’ ih doc) der ewigen Stille 
Die Arme jegt entgegenbreiten 

Und in dem lieben, Kleinen Nachen 

So lautlos in das Senjeits gleiten. 


Gertrud TVriepel. 


Das freudige Veflament. 
Bon Karl Pröll. 
Schluß.) 

Er zauderte ein wenig, doch der egoiſtiſche Magen 
flüſterte ſo dringend zu: „Nimm! Nimm!“ Da hatte er 
das runde Ende in der Hand. Und es war ſicher nicht die 
Ungeſchicklichkeit Hannis, daß beim Brechen das weitaus 
größere Stück Hugo verblieb. Er wollte es austauſchen, ſie 
aber wies das zurück: „Jedem das Seine! Und nun im 
Takt hineingebiſſen. Eins, zwei, drei!“ 

Wirklich, Hugo biß an und wieder an, und ſo hatte es 
ihm noch nie geſchmeckt im Leben. Hanni, die langſamer 
aß, gelangte mit ihm gleichzeitig zum Schluß. 

Dem letzten Kauen folgte überſtrömender Dank Hugos, 
ein Beweis, daß die Liebesfreude und Lebensfreude unver⸗ 


Hugo verlangte, daß Hanni ihn Du nennen und auf—⸗ 
ſuchen müſſe, wenn ſie an einem Sonn⸗ oder Feiertage in 
die Stadt komme. 

Sie wollte ausweichen und ſagte, das „Du“ werde ihr 
zu ſchwer und was ſollte ſie in der Stadt und bei ihm machen. 
Die Mutter wünſche, daß ſie in der Sonntagszeit im Alten 
oder Neuen Teſtamente leſe und höchſtens im Garten der Nach⸗ 
barin zuhorche, wie in der Schenke zum Tanze gefiedelt werde. 

Hugo ſchlug alle dieſe Einwände ſiegreich nieder. Das 
„Du“ ſei ſo kurz wie das „Sie“ und viel natürlicher. Weigere 
ſie ſich, ſo würde er Hanni auch „ſietzen“, was er erſt lernen 
müſſe. Das Alte oder Neue Teſtament könne ſeine Brot⸗ 
ſchweſter von heute bei ihm auch leſen und ſein Vater habe 
gar nichts dagegen. Dann führe er Hanni zu einem 
Karuſſell oder in einen wirklichen Tanzſaal, wo ſogar 
Bäckermeiſterstöchter ſich herumdrehten und Zigeuner auf» 
ſpielten. So öffnete er Hanni eine neue, bunte Märchenwelt, 
deren Verlockungen ſie nicht widerſtehen konnte. Namentlich 
das Tanzen bei Zigeunermuſik kam ihr wie der Vorhof des 
Himmels vor, von dem aus nur noch einige Treppenſtufen 
bis zum wirklichen Himmel waren. 

Hanni errötete und erblaßte voll innerer Luſt und liſtete 
bereits nach einem gangbaren Weg zu dieſen Herrlichkeiten. 
Sie verriet gleich ihren Eva⸗Plan: „Da die Mutter doch etwas 
ſchwach wird und das Garn für die Strümpfe ſich meiſtens 
durch den Landſchlächtergeſellen aus der Stadt mitbringen 
läßt, will ich der lieben Frau einreden, daß man durch Eigen— 
kauf vielleicht billiger dazu kommen könne. Auch wird ſie 
mir geſtatten, daß ich beim Apotheker nachfrage, ob dieſer 
nichts Heilſames für ihren ſchwachen Atem wiſſe. So machen 
wir es, wenn — Du damit einverſtanden biſt?“ 

Hugo hörte vergnügt dem Plaudermäulchen zu, das ſo 
kluge Anſchläge bekundete, wie dies kaum ein Sekundaner 
zuwege brächte. Er lobte Hanni und ihre holde Verſchmitzt⸗ 
heit, drückte ihr die Hand, die ſie ihm willig ließ, während 
ihre Augen ſich ſeinen noch mehr näherten. Dann trabte er 
munter nach dem Preleuthnerſchen Meierhofe hin. 

Als er zu dem grünen Rain kam, den der Kaplan be— 
treten und der zu Hugos Hauptweg führte, faßte ihn das 





dorbener Menſchen, ſeien ſie Studenten oder Soldaten, durch | Gefühl, er hätte irgend etwas vergefien. Sollte da8 vom 
ben Magen gebt. ı nadjgappelnden Gewiffen herrühren? DO nein! Plöglid) fiel 





913 


ihn: bei, daß er Hannt feinen Kuß gegeben, obidon ihr 
Mund fi feine zwei Zoll von dem feinigen befunden hatte. 
Alle Liebesgeihihhten fangen body mit einem Fuß an und 
ganz zweifellos ftedte er jegt mitten in feiner erften Liebes 
geihichte.e Hugo Ichlug fih an die Stirne und feufzte: „O! 
ih Scafsfopfl Sch denfe aud nur an Butter und Brot. 
Was nügt mir jet dag Yrühftüd bei der Preleuthnerin, 
da th) mit durftigen Lippen hinfomme und mid; meiner 
eigenen Dummheit fhämen muß. Sa, die wichtigften Sadıen 
werden einem im Gumnafium nicht gelehrt. Doch id) werde 
das Berfäumte in der Stadt nadhholen.“ Und er hob die 
langen Schülerbeine und wirbelte den Staub des Weges auf. 


* * 
* 


Der Regen ftrömte nieder, ald Hugo nad) reichlicher 
Bewirtung der Preleutgnerfhen Cheleute fih zum Nücd: 
marſch entichloß. Auf dem Stoppelfeld, wo vor drei Stunden 
fit Hanni mit ihren Gänfen befunden hatte, lag ticfgrauer 
Nebel. „Eigentlich hätte fie warten oder mir entgegengehen 
fönnen,” murmelte er ungehalten, wideriprah fich jebodı 
jelbft: „So bumm ift bie nicht. Aber lieb und nett tros 
der vielen Sommerfproffen.“ 

Hanni fchlief an diefem Tage Später ein. Immer wieder 
tauchte vor ihr das Bild Hugos auf, fie hätte in feinem 
dichten Haarbufh mühlen und ihn fo lange neden mögen, 
bi3 —. Endlih lachte fie fih in den Schlaf. 

Am Sonntag wußte fie e& bei ber Mutter durdjzufegen, 
daß fie in die Stabt gehen durfte. Das war eine Sreis- 
ftabt von beicheidenem Umfange, bie noch immer Raum 
genug für Hausgärten, grüne Straßenallen und nicht 
ängftlid” abgeichlofjene Kinderfpielpläge enthielt Das uns 
ebene Straßenpflafter aus Wellfteinen und die Eleinbürgerliche 
Solidität der Bewohner paßten zu einander und die Laternen 
waren nicht zahlreicher als die gewohnheitsmäßigen Nacht: 
fhwärmer. Hanni Elopfte da8 Herz ftärfer, als fie das ge- 
malte Einhorn ſah, das Wahrzeihen der einzigen Ortd- 
apothele. Ste zögerte in ben Laden einzutreten, in dem ein 
älterer Herr mit blauer Brille irgend etwas in einer Porzellan 
Thale verrieb. Durch die geöffnete Thür drang ein geheimni?- 
voller, kräftiger Miſchgeruch heraus. 

Auf einmal hörte ſie von rückwärts rufen: „Hanni!“ 
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Als ſie ſich umdrehte, 
ſah ſie niemand. Aber der Ruf wiederholte ſich und ſchien 
von der dickſtämmigen Linde zu kommen, die ſich breitäſtig 
über einen offenen Röhrbrunnen ſpannte. Sie wandte ſich 
der Richtung zu, und dann flogen ihr einige Waſſertropfen 
in das Geſicht. Jetzt entdeckte Hanni Hugo, der halbverſteckt 
unter der Linde ſtand. Er winkte ihr, und ſie kam und 
faßte die dargereichte Hand. 

„Ich habe Dich erlauert vom Fenſter aus und wollte 
Dich hier treffen, damit Du keine Umſtände haſt. Meine 
Schweſter Marie iſt noch zu Hauſe und die thut gewöhnlich 
hochmütig und neugierig. Der Vater will in ſeiner Be⸗ 
ſchäftigung nicht geſtört werden. Da bleibt es das Beſte, 
wir machen gleich zuſammen unſern Spaziergang. Du biſt 
früh gekommen und nun wollen wir uns den Tag fröhlich 
vertreiben.“ 

Hanni merkte ſeine Verlegenheit, war jedoch zus 
frieden, daß er ihr den heiklen Weg in ſein Haus und das 
viele Fragen und Gefragtwerden erſpart hatte. Doch eine 
Schelmerei flog ihr durch den Sinn: „Wie wird es denn 
mit dem Leſen des Alten oder Neuen Teſtamentes, das Du 





Remanszeitung 1896. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


914. 


mir zugejagt haft? Ganz ohne Sottesfurdt Toll man den 
Sonntag nicht verbringen.“ 

Hugo prüfte noch immer ihre Erfheinung: „Wie hübich 
Du Ti gemacht Haft. Tas helle leid, die Heinen Stiefelhen 
und der Strohhut: Du darfit Di mit jedem Bürgermädchen 
vergleichen. Nur die Fibel fehlt, die ift wertvoller ala Deine 
Brofche. Und wegen de Bibellefend braudhft Du Dich nicht 
zu grämen. Sch will Dir dafür von dem freudigen Teftas 
ment zmeier junger Leute erzählen, die fi in wahrer 
Nächftenliebe zufanımenfinden.” 

Hanni errötete leiht. „Sch Fürdte mid, mit Dir fo 
allein zu gehen. Und die anderen, denen wir begegnen, find 
mir unbefannte Menfchen.” 

„Auf dem freien Felde, mo uns feiner fah, Haft Du 
Dih nicht gefürditet.* 

„Da war ih die Königin — über die Gänfe Die 
hätten mich ſchon verteidigt, und jelbft wenn ih Schuhe 
habe, holft Du mich doch nicht ein.“ 

„Will ich denn Schlimmes?* fragte Hugo ehrlich betrübt. 

„Nein,“ antwortete Hanni treuherzig, Dir traue id). 
Aber man fürdtet fih vor dem Glüd, wenn es auf 
der Landftraße kommt und nicht uns zu Haufe auffudt.“ 

„Ad, zu was foldhe Gebanten! Vorwärts! Dort um 
die Ecke zeigt fi) fchon der gelehrte Iltis, mein Lehrer im 
Griehifhen. Der nimmt e8 mir übel, daß ich nicht daheim 
büffele.* 

„Du Ihamft Dih wohl meiner?” 

„Aber Hanni, hätte ich Dich) fonft gebeten, mid aufzu- 
ſuchen?“ 

„Nein, nein!“ erwiderte Hanni. 
als Dich ſehen.“ 

Sie eilte ihm, der bereits einige Schritte gethan, nach. 
Er führte ſie durch eine ſtille, menſchenleere Straße dem 
Ufer des Flüßchens zu, das die Stadt nach Weſten abgrenzte. 
Mehrere Laſtbote waren da verankert, alte Stumpfweiden 
wiegten läſſig ihre grünen Gerten. Ein ſchmaler Pfad führte 
daneben und im Hintergrund dehnte ſich dichteres Gehölz aus. 

„Du bringſt mich in den Wald. Von dem habe ich ja 
in meiner Gegend genug.“ 

„Fällt mir nicht ein. Wir wollen eine Waſſerpartie 
machen und gleich um den Bug iſt unſer Kahn befeſtigt. 
Auf der Stadtpromenade trifft man vor der Kirchenzeit zu 
viel Bekannte. Wir frühſtücken im Tannenwald, wo es gute 
Milch und Butterbrote giebt. Das hält bis Nachmittag aus. 
Dann bringe ich Dich in ein Tanzlokal, in dem die Geſellen 
mit ihren Schätzen walzen. Und haben wir uns ebenſo ver⸗ 
gnügt, ſo gehſt Du abends wieder heim. Ich habe dem 
Vater geſagt, daß ich mit Schulkollegen einen Ausflug mache. 
Man erwartet mich nicht zum Mittageſſen und in Rückſicht 
auf den Ausflug hat mir der Vater auch einiges Geld ge⸗ 
geben.“ 

„O, wie ſchlau Du biſt! Doch es gefällt mir, was Du 
vorſchlägſt. So gut kann es mir ja im ganzen Leben nicht 
mehr gehen.“ 

„Warum nicht, es wird immer ſchöner werden, je länger 
wir uns kennen“ 

Hanni ſah ihn ernſthaft an: „Glaubſt Du? Ich nicht. 
Den Armen wird ſo ſelten etwas Gutes zu teil.“ 

Hugo hatte die Kette des Kahnes gelöſt, Hanni ſprang 
auf ſeinen Wink leichtfüßig in dieſen hinein. 

„Jetzt mußt Du aber recht ruhig ſitzen,“ mahnte Hugo. 
Er ergriff die Ruder und fuhr längs des Ufers dahin, unter 


„Ich will ja nichts, 


IV. 64 


Brauen zufammen, daß feine Augen darunter funtelten, 
wie ein Paar ftählerne Klingen. 

„Bots Blig vom Himmel, Junge, ja, Sie 
haben reht! Dazu haben wir zu viel an unjerer 
Königin gehabt, al® daß wir fie jemals ganz ver: 
lieren Lönnten, wenn fie aud) leider Gottes geftorben 
it! Aus Sram über das verdammte Elend ilt fie 
geftorben, alfo auch ihren Tod verdanten wir ber 
Höllenbande! Und wir wollen es ihr entgelten 
laflen! — Ein Dentmal fol unfere gute Königin 
haben — von Blut fol es ftarren! Und von 
preußiihen Schwertllingen wird es aufgebaut!” 
Und er riß feinen Säbel aus der Scheide mit 
klirrendem Ruck. 

„Und ‚Preußens Freiheit‘ wird es heißen!” 


911 Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 912 


ſetzte Rochlitz hinzu, die Hand an den Sädbelgriff 
legend. Er ſprach es dem Feldherrn nach wie einen 
heiligen Schwur. 

Und was die Männer geſchworen, auf ihre 
Schwertklingen, dem heiligen Angedenken ihrer 
Königin, das haben ſie gehalten — und Tauſende 
mit ihnen. Unter Strömen freudig vergoſſenen Herz: 
blutes richteten ſie jenes Denkmal auf, dem verklärten 
Siegesgenius geweiht — Preußens Befreiung und 
Auferſtehung. 

Noch lag das Vaterland unter dem eiſernen Joch 
der Schmach und Knechtſchaft faſt drei Jahre lang. 
Dann aber ging das Morgenrot auf und leuchtete 
ihm zu Freiheit, Sieg und Größe! 

Ende. 





Heiblatt der PDentihen Noman:Zeilung. 


Sommernadt. 


D Sommeradt, jo reih an Wonnen, 
So friedevoll und büftefhwer: 
Sehnfühtig raufcht e& in den Bronnen, 
Und filbern leuchten Bufh und Wehr. 
Nur leife atmet’3 in den Fluten, 

Die träumerifch den Nachen wiegen 
Und fi wie müdgelpielte Kinder 

Ans Ichilfumfäumte Ufer fchmiegen. 


Sie mögen mid) von dannen tragen — 
Wohin der Weg? Ich frage nicht! 
Noh grüßt mich fernher Zitherichlagen 
Und frober Menihen trautes Licht. 

D, fönnt’ ich doch der ewigen Stille 
Die Arme jegt enigegenbreiten 

Und in dem lieben, Eleinen Nachen 

©o lautlos in dag Ienjeits gleiten. 


Gertrud Vriepel- 


Das freudige Veflament. 
Von Karl Yröf. 
(Schluß.) 

Er zauderte ein wenig, doch der egoiſtiſche Magen 
flüſterte ſo dringend zu: „Nimm! Nimm!“ Da hatte er 
das runde Ende in der Hand. Und es war ſicher nicht die 
Ungeſchicklichkeit Hannis, daß beim Brechen das weitaus 
größere Stück Hugo verblieb. Er wollte es austauſchen, ſie 
aber wies das zurück: „Jedem das Seine! Und nun im 
Takt hineingebiſſen. Eins, zwei, drei!“ 

Wirklich, Hugo biß an und wieder an, und ſo hatte es 
ihm noch nie geſchmeckt im Leben. Hanni, die langſamer 
aß, gelangte mit ihm gleichzeitig zum Schluß. 

Dem letzten Kauen folgte überſtrömender Dank Hugos, 
ein Beweis, daß die Liebesfreude und Lebensfreude unver⸗ 


dorbener Menſchen, ſeien ſie Studenten oder Soldaten, durch | 


den Magen gebt. 


Hugo verlangte, daß Hannt ihn Du nennen und auf: 
fuhen müfje, wenn fie an einem Sonn oder Feiertage in 
die Stabt komme. 

Sie wollte ausweichen und fagte, bad „Du* werbe ihr 
zu fchwer und maß follte fie in der Stadt und bei ihn machen. 
Die Mutter wünjche, daß fie in der Sonntagszeit im Alten 
oder Neuen Teftamente Iefe und höchfteng im Garten der Nad)- 
barin zuborche, wie in der Schenke zum Tanze gefiedelt werde. 

Hugo Ichlug alle diefe Einwände fiegreidh nieder. Das 
„Du“ fei fo kurz wie das „Ste“ und viel natürlicher. Weigere 
fie fi, jo würde er Hanni aud) „fiegen”, was er erft lernen 
müffe. Das Alte ober Neue Teftament könne feine Brot» 
ihwefter von heute bet ihm auch lefen und fein Vater habe 
gar nichts dagegen. Dann führe er Hanni zu einem 
Karufjel oder in einen wirklihen Tanzfaal, wo jogar 
Bädermeifterstöchter fi herumdrehten und Zigeuner aufs 
jpielten. So öffnete er Hanni eine neue, bunte Märchenmelt, 
deren Berlodungen fie nicht widerftehen konnte. Namentlich 
da8 Tanzen bei Zigeunermufil fam ihr wie der Vorhof des 
Himmels vor, bon dem aus nur noch einige Treppenftufen 
bi8 zum wirklichen Himmel waren. 

Hanni errötete und erblaßte vol innerer Quft und liftete 
bereitö nad einem gangbaren Weg zu diefen Herrlichkeiten. 
Sie verriet gleich ihren Eva» Plan: „Da die Diutter dod) etwas 
Ihwad wird und da Garn für die Strümpfe fich meiftens 
durdy den Landichlächtergejellen aus der Stadt mitbringen 
läßt, will ich der lieben Frau einreben, daß man durch Eigen: 
fauf vielleicht billiger dazu fommen könne. Auch wird fie 
mir geftatten, daß ich beim Apotheler nadıjfrage, ob biejer 
niht8 Heilfames für ihren Ihwadhen Atem wiffe. So madıen 
wir e8, wenn — Du damit einverftanden bift?*“ 

Hugo hörte vergnügt dem Plaubermäulchen zu, das jo 
fluge Anichläge befunbete, wie bie kaum ein Selunbaner 
zuwege brächte. Gr lobte Hanni unb ihre holbe Berjcymißt: 
beit, drüdte ihr die Hand, die fie ihm willig lich, während 
ihre Augen fi) feinen noch mehr näherten. Dann trabte er 
munter nach dem Preleuthnerichen Meierhofe Hin. 

Al er zu dem grünen Rain kam, ben ber Saplan bes 
‚ treten und der zu Hugos Hauptweg führte, faßte ihn das 
Gefühl, er hätte irgend etwas vergefien. Sollte da8 bom 
nachzappelnden Gewiſſen herrühren? DO nein! Plötlidh fiel 





913 


ihn bei, daß er Hannt feinen Kuß gegeben, obihon ihr 
Mund fidh feine zwei Zoll von dem feinigen befunden hatte. 
Alle Liebesgeihichten fangen doch mit einem Kuß an und 
ganz zweifellos ftedte er jegt mitten in feiner erften Liebes» 
geihichte.e. Hugo Ihlug fi an die Stirne und feufzte: „O! 
ich Schafskopf! Sch denke audh nur an Butter und Brot. 
Was nügt mir jeßt das Yrühftüd bei der Preleuthnerin, 
da id) mit durftigen Lippen hinfomme und mid) meiner 
eigenen Dummiheit Shämen muß. Sa, bie wichtigften Saden 
werden einem im Gumnafium nicht gelehrt. Doch ich werde 
da8 Verfäumte in der Stadt nachholen.” Unb er hob bie 
langen Schülerbeine und wirbelte den Staub des Weges auf. 


* * 
* 


Der Regen ſtrömte nieder, als Hugo nach reichlicher 
Bewirtung der Preleuthnerſchen Eheleute ſich zum Rück—⸗ 
marſch entſchloß. Auf dem Stoppelfeld, wo vor drei Stunden 
ſich Hanni mit ihren Gänſen befunden hatte, lag tiefgrauer 
Nebel. „Eigentlich hätte ſie warten oder mir entgegengehen 
können,“ murmelte er ungehalten, widerſprach ſich jedoch 
ſelbſt: „So dumm iſt die nicht. Aber lieb und nett trotz 
der vielen Sommerſproſſen.“ 

Hanni ſchlief an dieſem Tage ſpäter ein. Immer wieder 
tauchte vor ihr das Bild Hugos auf, ſie hätte in ſeinem 
dichten Haarbuſch wühlen und ihn ſo lange necken mögen, 
bis —. Endlich lachte ſie ſich in den Schlaf. 

Am Sonntag wußte ſie es bei der Mutter durchzuſetzen, 
daß fie in die Stadt gehen burfte. Das war eine Sreiß: 
ftadbt von beicheidenem lUmfange, die noch immer Raum 
genug für Haußgärten, grüne Straßenallcen und nicht 
ängftlid” abgejchloffene Kinderfpielpläge enthielt Das un: 
ebene Straßenpflafter aus Wellfteinen und die Heinbürgerliche 
Solidität der Bewohner paßten zu einander und die Laternen 
waren nicht zahlreicher als die gewohnheitsmäßigen Nacht: 
fhwärmer. Hanni Elopfte da8 Herz ftärfer, alö fie das ge- 
malte Einhorn ſah, das Wahrzeichen der einzigen Ort3- 
apothefe. Sie zögerte in ben Laden einzutreten, in dem ein 
älterer Herr mit blauer Brille irgend etwas in einer Porzellan 
fchale verrieb. Durch die geöffnete Thür drang ein geheimnis- 
voller, fräftiger Mifchgeruch berauß. 

Auf einmal hörte fie von rüdwärts rufen: „Hanni!“ 
Die Stimme fam ihr befannt vor. ALS fie fich umbdrehte, 
fah fie niemand. Uber der Auf wiederholte fid) und jchien 
von ber didftänmigen Linde zu fommen, die fich breitäftig 
über einen offenen Röhrbrunnen fpannte. Sie wandte fid) 
der Richtung zu, und dann flogen ihr einige Waflertropfen 
in das Gefiht. Sett entdedte Hanni Hugo, der halbverftedt 
unter der Linde ftand. Er winkte ihr, und fie fam und 
faßte die dargereichte Hand. 

„Sch habe Did; erlauert vom Fenfter aus und mollte 
Dih bier treffen, damit Du feine Umftände haft. Meine 
Schhweiter Marie ift noch zu Haufe und die thut gewöhnlid) 
hodmütig und neugierig. Der Vater will in feiner Bes 
ihäftigung nicht geftört werden. Da bleibt e8 da& DBelte, 
wir maden gleicd) zufammen unfern Spaziergang. Du bift 
früh gefommen und nın wollen wir ung den Tag fröhlich 
vertreiben.“ 

Hanni merkte feine WBerlegenheit, war jiedod) zu: 
frieden, daß er ihr den heilen Weg in fein Haus und das 
biele Fragen und Gefragtwerden erfpart hatte. Doc eine 
Schelmerei flog ihr durd) den Sinn: „Wie wird e8 denn 
mit dem Lefen des Alten ober Neuen Teftamentes, da8 Du 


Reman-Zeitung 1896. 


Beiblatt der Deutihen NRoman:Zeitung. 


914 


mir zugeiagt haft? Ganz ohne Bottesfurdht fol man den 
Sonntag nicht verbringen.” 

Hugo9 prüfte noch immer ihre Erſcheinung: „Wie hübſch 
Du Ti gemadt haft. Das helle Kleid, die Heinen Stiefeldhen 
und der Strohhut: Du darfit Dich mit jedem Bürgermäbden 
vergleichen. Nur bie Fibel fehlt, die ift wertvoller als Deine 
Brofche. Und wegen des Bibellefens braudhft Du Dich nicht 
zu gränen. Ich will Dir dafür von dem freudigen Teftas 
ment ameier junger Leute erzählen, die fih in wahrer 
Näcjitenliebe zufammenfinden.” 

Hanni errötete leiht. „Sch fürdte mid, mit Dir fo 
allein zu gehen. Und die anderen, denen wir begegnen, find 
mir unbefannte Menfchen.” 

„Auf bem freien Felde, wo un feiner jab, haft Du 
Dich nicht gefürchtet.“ 

„Da war id die Königin — über die Gänfe. Die 
hätten mich fchon verteidigt, und jelbit wenn ih Schuhe 
habe, holft Du mich doch nicht ein.” 

„Will ich denn Schlimmes ?“ fragte Hugo ehrlid) betrübt. 

„Nein, antwortete Hanni treuherzig, Dir traue ich. 
Uber man fürdtet fih vor dem Glüd, wenn e3 auf 
der Landftraße kommt und nicht uns zu Haufe aufjucdht.“ 

„Ad, zu was folde Gebdanten! Vorwärts! Dort um 
die Ede zeigt fi) fehon der gelehrte Qltis, mein Lehrer im 
Griedifhen. Der nimmt e8 mir übel, daß id) nicht daheim 
büffele.* 

„Du Ihamit Dih wohl meiner?” 

„Aber Hanni, hätte ich Dich fonft gebeten, mid) aufzu= 
ſuchen?“ 

„Nein, nein!“ erwiderte Hanni. 
als Dich ſehen.“ 

Sie eilte ihm, der bereits einige Schritte gethan, nach. 
Er führte ſie durch eine ſtille, menſchenleere Straße dem 
Ufer des Flüßchens zu, das die Stadt nach Weſten abgrenzte. 
Mehrere Laſtbote waren da verankert, alte Stumpfweiden 
wiegten läſſig ihre grünen Gerten. Ein ſchmaler Pfad führte 
daneben und im Hintergrund dehnte ſich dichteres Gehölz aus. 

„Du bringſt mich in den Wald. Von dem habe ich ja 
in meiner Gegend genug.“ 

„Fällt mir nicht ein. Wir wollen eine Waſſerpartie 
machen und gleich um den Bug iſt unſer Kahn befeſtigt. 
Auf der Stadtpromenade trifft man vor der Kirchenzeit zu 
viel Bekannte. Wir frühſtücken im Tannenwald, wo es gute 
Milch und Butterbrote giebt. Das hält bis Nachmittag aus. 
Dann bringe ich Dich in ein Tanzlokal, in dem die Geſellen 
mit ihren Schätzen walzen. Und haben wir uns ebenſo ver⸗ 
gnügt, ſo gehſt Du abends wieder heim. Ich habe dem 
Vater geſagt, daß ich mit Schulkollegen einen Ausflug mache. 
Man erwartet mich nicht zum Mittageſſen und in Rückſicht 
auf den Ausflug hat mir der Vater auch einiges Geld ge⸗ 
geben.“ 

„O, wie ſchlau Du biſt! Doch es gefällt mir, was Du 
vorſchlägſt. So gut kann es mir ja im ganzen Leben nicht 
mehr gehen.“ 

„Warum nicht, es wird immer ſchöner werden, je länger 
wir uns kennen“ 

Hanni ſah ihn ernſthaft an: „Glaubſt Du? Ich nicht. 
Den Armen wird ſo ſelten etwas Gutes zu teil.“ 

Hugo hatte die Kette des Kahnes gelöſt, Hanni ſprang 
auf ſeinen Wink leichtfüßig in dieſen hinein. 

„Jetzt mußt Du aber recht ruhig ſitzen,“ mahnte Hugo. 
Er ergriff die Ruder und fuhr längs des Ufers dahin, unter 


„Ich will ja nichts, 


IV. 64 


915 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


916 


duftigen Büfchen, die manchmal Blätter auf das junge Paar 


ftreuten. 

Hanni war völlig traumperfunten. Shre braunen 
Augen leuchteten und ein unenbliches Wohlgefühl zog durch 
ihre Bruft. Die Wellen Eräufelten fi, farbige Schmetter- 
linge flatterten über die Wiefen und jet begannen die 
Gloden ihr feierliches Geläute. Hugo ließ die Ruder in ber 
Nähe einer kleinen Infel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß. 

„Weißt Du,Hannt, baß Du mir nod) etwas jchuldig bift?“ 

Erichroden fuhr fie aus ihrem feligen Dahinbrüten auf: 
„a3 denn? Ach babe kein Gelb bei mir.“ 

Er ladte: „Du bift doc meine Brotichweiter und Haft 
mir noch nicht einen Kuß gegeben. In allen Liebesbüchern 
fteht aber, daß, wenn zwei fi gerne haben, fie fi aud) 
füffen müffen.“ 

hr wurde wieder bange zu Mute. Als fie ihm in die 
guten Augen blidte, fühlte fie fih zu Ihwah, dem Hugo 
etwa zu verfagen. Ihr leichtherziger Übermut war ver- 
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Sie 
flüfterte nur: „Wenn e8 fein muß, fo nimm den Ruß! Ich 
traue mid nicht, anzufangen.” 

Hugo ließ einen Juchzer erichallen, jprang auf, um fi 
Hanni zu nähern. Doch die Erregung madıte ihn ungefchidt, 
er ftolperte über dba3 mittlere Querbreitt und ber Slahn 
fippte um. 

Ein Schrei des Entiegens entfuhr Hanni und don 
war aud) fie von den Wellen herabgezogen. Sie fpürte nur 
feine Nähe und klammerte ſich unbewußt an Hugo an. 
Mit aller Kraft Hob diejer feinen Kopf nochmals über die 
Wafjerfläche, fuchte vergebens den Kahn zu erhajchen, der 
borbeigeruticht war, und rief verzweifelnd: „Yaß 108, Hanni, 
fonft find wir beide verloren. Ich Ihmwimme und falle Dich 
bet den Haaren.“ 

Dod) Hanni ließ nicht mehr Io8, weil fie nimmer fonnte 
oder wollte. Hugo drang das Wafler in den Mund, er fanf 
mit ihr. Die Wellen ftrudelten nod) furze Zeit, und dann 
war e8 ftile — ganz ftille! 

Gie follten dag „Freudige Teftament“ der reinen, jungen 
Liebe nicht Iefen. 


SHtiergefedt. 


on Dom Alfredo Sau Mismo. 


Seht Ihr da8 Volk gedrängt zu hödjften Stufen, 
Erwartungsbang geht durd die NReih’'n ein Zittern, 
Schwül, wie's vorangeht heißen Lenzgewittern — 
Dann kommt ein Donner von den Beifallgrufen. 
Die Maja oben, die Mardefa unten, 

Sie beben in der Seide, in den bunten 
Mantillen bei den MWechjel des Gefedhtes. 

Nun regnet Früchte e3, Eigarren, Blumen! 

Die Nelten aus des jchwarzen Haargefledhtes 
Mühfamen Bau, fie grüßen rot den Sieger — 
Herzlofer Hohn umichallt den Unterlieger! 

Kin Toreador ftirbt unter Stiere&hufen, 

Und während alle neuen Blutquell wittern, 

Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern — 
Der Tod hat aud) des Toten Lieb’ gerufen... . 


(Deutih von Alfe. Frtedmann.) 


A. los Toros.*) 
Bon Max Tilke 


Die bunten Anichlagezettet haben in den Straßen 
Madrivs fon vor einigen Tagen eine große „Gorrida be 
Toros* angekündigt, in der ſechs oder acht ſchöne Stiere 
aus den renommierteſten Züchtereien von dem berühmten 
Guerrita, von Fuentes und Bombita bekämpft und getötet 
werden ſollen. Scharenweiſe drängte ſich das Publikum 
ſchon drei bis vier Tage vorher um die kleine Bretterbude 
in der breiten und ſchönen „Calle Sevilla“, in der Billets 
zum Stiergefechte verkauft werden. Billethändler haben 
bereits die beſten Plätze in ihre Hände gebracht und ver⸗ 
kaufen nun die Billets mit großem Nutzen, denn faſt niemand 
möchte ſich dieſe ſchöne „Corrida“ entgehen laſſen. In ganz 
Madrid ſpricht man von dem bevorſtehenden Stierkampfe, 
jung und alt iſt in Erwartung der Dinge, die da kommen 
ſollen, aufgeregt, in den Cafés wird heftig disputiert und 
gewettet und in den Familien läßt man das Abendeſſen 
unter begeiſterten Geſprächen kalt werden. Ja, es kommt 
ſogar vor, daß viele der „Aficionados“ zwei Nächte vor⸗ 
her nicht ſchlafen können. An dem Tage des Feſtes kennt 
nun die Begeiſterung keine Grenzen mehr, die Straßen 
gleichen wimmelnden Ameiſenhaufen, ſo dicht gedrängt 
wandern die Einwohner Madrids dem ziemlich weit im 
Oſten vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nach dem 
eine lange Allee hinführt. Von der „Puerto de Sol“, dem 
größten Platze Madrids, aus ergießt ſich der lärmende 
Menſchenſtrom durch die breiten Straßen. In dieſen 
wimmelt es von dicht beſetzten Omnibuſſen, die mit bunt 
betroddelten Maultieren beſpannt ſind, von Droſchken, 
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen ſogar die ſeitlichen 
Trittbretter beſetzt ſind. Es gleicht einer wilden Jagd. 
Die Peitſchen der Kutſcher und ihr Geſchrei und Zungen⸗ 
ſchnalzen treiben die dahinraſenden Tiere zu noch größerer 
Eile an, ſo daß der auch oben beſetzte Wagen gefährlich 
wankend über den unebenen Erdboden dahinſpringt, einen 
ungeheuren Staub aufwirbelnd, der das heitere Farben⸗ 
gewimmel in ein leichtes Graubraun hüllt. Die Sonne 
brennt heiß hernieder und hat bereits die Stehlen ber fchau- 
Iuftigen Menge ausgetrodnet, die fi aber zur Fürſorge 
„Vino tinto“ in Schläuchen und Stürbisflafchen mitgenommen 
hat. Dazu fehlen aud nicht die Wafferverfäuferinnen, bie 
mit gellender Stimme ihr „agua fresca“, falt wie Schnee, 
feilbieten. iiberhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufenbe 
und abertaufende von Stimmen wogen durcheinander. Da: 
zwijchen hört man die fingenden Töne der Auörufer an ben 
Upfelfinenwagen, der Yyacherhändler oder Sonnenihirmden- 
verfäufer und vieler anderer Eleiner Gefchäftsleutchen mehr. 
Dem Theater zu wird das Gefchrei immer wüfter und das 
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen, 
Pferdbebahnen und Omnibuffe, d. h. fobald fie auf ber 
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber 
diejer Zeilen benußten paifierte. 

Über die Toreros in ihrer reihen Tracht kommen eben 
in einigen Drojdten an, ebenfo die Picadores zu Pferde 
mit dem Burfchen hinter jih, überall jubelnd begrüßt und 
angeftaunt: Das ift das Zeichen, daß die Gorriba bald bes 
ginnen wird, und wirklid hört man drinnen in der Arena 


*) Aus Stangens Iſluſtrierter Reiſe⸗ und Verkehrß-Zeitung“, bie wir 
unſern Leſern ſchon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenitt.) 


— ————————————— 


917 


Ihon die Militärmufif die echt Ipanifchen zerhadten Dielodien 
iptelen. Alfo hinein! 

Die „Plaza de Torog* ift ein jchönes, großes Amphi- 
theater im maurijchen Stile mit einem gewaltigen hufeifen- 
bogigen Cingangsportale und zierlihen Fenftern. Sie ift 
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20000 Berjonen. 
Bon einem Aundgange au8 gelangt man auf die Sigpläke, 
auf die GSteinftufen mit Nummern und in Die oberen 
Galerien. Man unterjcheidet hauptlfählich zwei Arten von 
Blägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit 
NRedt, denn es ift wirflid ein linterfhied, ob man bei 
45 Grad Hite in der Sonne oder im Schatten figt. Natürlich 
ift die Sonnenjeite viel billiger al& die andere, aber es ift 
auch im Schatten, wenigftens für einen Nordländer, kaum 
auszuhalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanıe 
figt, ohne daß der erfriihende Wind Hinzutreten Lönnte. 
Snfolgedeflen fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das 
ganze Publikum madht den Eindrud einer farbig wogenden 
See, und daß beionderd auf der Sonttenjeite, wo man fidh 
mit runden, bunten PBapierfähern al® Sonnenfdirmen ver: 
jehen hat oder fi die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben 
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier fiten 
auch die rothofigen Soldaten und die Landleute in Iumpiger 
Nationaltradht und Ihmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem 
Stinn und den breiten „Sombrero* auf dem Stopfe; ferner 
die Mäddyen und Frauen in den buntbejtidten und lang: 
befranzten Umjchlagetühern oder in bunten Blufen und 
mit Blumen in den jhön und Eunftvoll frifierten fhwarzen 
Haaren. Ein bienengleihes Sunmen erfüllt das ganze 
Theater, dag jchon beinahe überfüllt ift; die unvermeidlichen 
Wafjferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der 
Schulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen aud bier 
nit und quälen fih mühlam durd) das dichtgebrüngte 
Publikum hindurch. Unten in der Arena ift eben der au3- 
getrodinete Sand beiprengt worden, und das Yublifum fängt 
ihon an ungeduldig zu werden, wa® bald zu einem er: 
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen ausartet, obwohl dag 
Stiergefeht immer auf die feitgelegte Diinute anfängt — 
übrigens das einzige, was in Spanien pünftlid ift —, big 
endlich die beiden Ihwarz gekleideten Reiter in altipanijcher 
Tracht und Feberhut in der Arena erjheinen, die bon dem 
Präfidenten, der oben in jeiner Loge, den Kopf mit dem 
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbeftidtem 
Sanımet bekleidete Brüftung lehnt, den Sclüffel zu den 
Pforten befommen haben. 

Gleich) darauf öffnen fih die Barrieren, und während 
die Mufit den raufchenden Stierfehtermarih fpielt, findet 
unter ihrem Voranritte der malerijche Aufzug der „Torerog“ 
ftatt. &8 ift dies einer der Ichönften Momente der Eorrida. 
Die helle Sonne läßt die jchweren Gold: und GSilberver- 
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen 
grell aufbligen, und die jichönen Atlasmäntel, die fi) die 
Stierfechter elegant um Schulter und Hüften geichlungen 
haben, glänzen farbig in dem Lichtmeere. Ein ungeheurer 
Qubel begrüßt die Aufmarjchierenden, ein gewaltiges Durd)- 
einander von Stimmen und Brapvorufen durdhbrauft Die 
Arena. Zuerft kommen bie drei Espada3 oder Matadores, 
die im vollen Bewußtfein ihres Wertes erhobenen Hauptes 
den nachfolgenden Banderilleros voranjdreiten. Diejen 
folgen wiederum die Capeadores und denen die Picadores 
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Filzhüten 
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Gefichter 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


918 





hervorlugen. Den Schluß bilden die „Mionojabios“ (meijen 
Affen), die Scnechte der Picadores und die „Araftreg“, Dreis 
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und 
Fahnen gefhmücdten Maultieren. 

Der pradtvolle Zug bewegt fi dem Präfidenten ent- 
gegen, der nah ber Zoge hinauf von den Toreros durd 
Schwenfen der Hüte feierlih begrüßt wird. Ein helles 
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergejpanne verjchwinden 
wieder aus der Arena, die Stierfechter vertaujchen ihre Eoft- 
baren Vtäntel mit Ichlechten, bereit arg geflidten und blutigen 
„Sapotes*, die Shon von manchem heißem Kampfe zeugen. 
Die beiden jchwarzen Neiter galoppieren aus der Arena, 
nadden ein alter Schließer in dunklem Torerofoftün ben 
vergoldeten, mit bunten Bändern geihmücdten Schlüffel zum 
„Toril“ (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille 
tritt jegt ein, während der Alte die fchwere, dicke, mit Eiſen be- 
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... . Eine Kleine 
Baufe, und der wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen 
Sonne geblendet auf den Kampfplag; er bat die fogenannte 
„Devife“ bereit? im Naden. E8 ift dies ein Widerhafen, 
an dem bunte, feidene Bänder in den Tarben der Züchterei 
befeftigt find, und der ihm, während er fi) nod) eingefchloffen 
befindet, durch eine Öffnung hindurch vermittelft einer langen 
Stange zwiidhen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt- 
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig 
verwirrt und fann faft nichts unterfheiden als einige fich be= 
wegende rote Tücher, die Gapoten der Toreroß. 

MWütend raft er diefen nad, über den gelben, noch, reinen 
Sand hinweg, aber der Zorero tjt flinf auf den Beinen und 
verjchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere. 
Verdutzt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf 
eine andere fliegende Capote aufmerljam gemadt und raft 
num dDiefer nad, den ihn bereitö erwartenden Picabores ent: 
gegen. Diefe haben fic) jeitlich aufgeftellt, nahe ber Barriere, 
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden 
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Füße in arabiſchen 
Kaftenfteigbügeln, deren Eden zugleid ala Sporen dienen. 
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben jie eiferne Bein 
ichienen, gleich denen der alten Ritter, die fie vor den ge- 
fährlichen Hornftößen des Stiereg fhügen. Eine fchöne furze 
Sammetjade nıit Gold= oder Silberfticereien, die ungefähr 
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenfolde 
Mefte und eine feidene Zeibbinde vervollftändigen den Anzug. 
Die lange Lanze, die oben in einer feiten Holzbirne endigt, 
aus ber eine dreifantige, ungefähr drei Gentimeter lange 
Stahlipige herborlugt, halten fie, feit unter den Arm einge: 
fiemmt, dem anrafenden Stiere mit der halb mit Leder ge: 
Ihüsten Yauft entgegen. 

Der Stier, der bis dahin dem flinfen Gapeadore nadıe 
eilte, fieht fich plöglih vor dem Pferde eines Picadore und 
geht auf den vermeintlichen Urheber der Nedereien mit ges 
ienkten Hörnern 108. In demfelben Momente aber bohrt 
fih ihm die Lanze in den Naden, die der Picador mit 
eiferner Kraft angejegt hat. Von Schmerzen gefoltert, fehrt 
der Stier um und wird von den Gapoten der Toreros zu 
einem anderen Pferde dirigiert. Laute Braporufen erfreut 
den geichickten Picador. Da raft der Stier bem zweiten 
Picabore entgegen und bohrt mit furdhtbarer Kraft eines 
feiner fpigen Hörner dem jhwanfenden Pferde in den Leib, 
fo daß aus dem geöffneten Magen be armen Stlepperö der 
balbverdbaute Hädjel über den breiten Kopf des Stieres fällt 
und ihn mit häßlichem Gelb und Blut bejudelt. Der 


915 


duftigen Büfchen, die manchmal Blätter auf das junge Paar 
ftreuten. 

Hanni war völlig traumberfunfen. Shre braunen 
Augen leuchteten und ein unendliche Wohlgefühl 30g durd 
ihre Bruft. Die Wellen kräufelten fi, farbige Schmetter: 
linge flatterten über die Wiefen und jekt begannen Die 
Gloden ihr feierliches Geläute. Hugo ließ die Ruder in ber 
Nähe einer Heinen Snjel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß. 

„Weißt Du, Hanni, daß Du mir nod) etwas fchuldig bift?“ 

Erihroden fuhr fie aus ihrem jeligen Dahinbrüten auf: 
„Was denn? Ich babe fein Geld bei mir.“ 

Er ladte: „Du bift doc meine Brotichwefter und haft 
mir nod nicht einen Kuß gegeben. In allen Liebesbücern 
fteht aber, daß, wenn zwei fi gerne haben, fie fih aud 
füffen müfjen.” 

Ihr wurde wieder bange zu Mute. ALS fie ihm in bie 
guten YUugen blidte, fühlte fie fi zu Ihwadh, dem Hugo 
etwc8 zu verfagen. Ihr leichtherziger Übermut war ver: 
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Gie 
flüfterte nur: „Wenn e8 fein muß, jo nimm den Fuß! Ih 
traue mich nicht, anzufangen.” 

Hugo ließ einen Juchzer erihallen, fprang auf, um fi 
Hanni zu nähern. Doc die Erregung machte ihn ungeldhidt, 
er ftolperte über das mittlere Querbreitt und ber Stahn 
fippte um. 

Ein Schrei des Entiegen® entfuhr Hanni und jon 
war aud) fie von den Wellen herabgezogen. Sie |pürte nur 
feine Nähe und Elammerte fih unbewußt an Hugo an. 
Mit aller Kraft Hob diefer feinen Kopf nochmals über die 
Wafjerfläche, juchte vergebens den Kahn zu erhafhen, der 
borbeigerutfcht war, und rief verzweifelnd: „Qaß los, Hanni, 
fonft find wir beide verloren. Ich Ihwimme und fafle Dich 
bei den Haaren.” 

Dod) Hanni ließ nicht mehr 108, weil fie nimmer fonnte 
oder wollte. Hugo drang daB Wafler in den Mund, er jant 
mit ihr. Die Wellen ftrudelten nod kurze Zeit, und dann 
war e8 ftille — ganz ftille! 

Sie jollten das „freudige Teftament” der reinen, jungen 
Liebe nicht lefen. 


Stiergefedt. 


Bon Dom Alfredo Sau Mismo. 


Geht Ihr das Volk gedrängt zu hödjiten Stufen, 
Erwartungsbang geht dur die Reih’n ein Zittern, 
Schwül, wie's vorangeht heißen Lenzgewittern — 
Dann fommt ein Donner von ben Beifallgrufen. 
Die Maja oben, die Marchefa unten, 

Gie beben in ber Seide, in den bunten 
Mantillen bei dem Wechſel des Gefechtes. 

Nun regnet Früchte e3, Gigarren, Blumen! 

Die Nelken aus des fchwarzen Haargefledtes 
Mühjamem Bau, fie grüßen rot den Sieger — 
Herzlojer Hohn umjhallt den Unterlieger! 

Ein Toreador jtirbt unter Stiereshufen, 

Und während alle neuen Blutquell wittern, 

Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern — 
Der Tod Hat aud des Toten Lieb’ gerufen... . 


(Deutih von Alfe. Irtedmann.) 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 


916 


A los Toros.*) 
Don Max Vilke. 


Die bunten Anjchlagezettet haben in den Straßen 
Madrids jhon vor einigen Tagen eine große „Gorrida de 
Toros“ angefünbigt, in der feh8 oder act Ichöne Stiere 
au8 den renommierteften Züchtereien von dem berühmten 
Guerrita, von Fuentes und Bombita befämpft und getötet 
werden jollen. Scharenweije drängte fit) dag Publikum 
Ihon drei bis vier Tage vorher um die Heine Bretterbude 
in ber breiten und jchönen „Galle Sevilla”, in der Villet3 
zum GStiergefechte verkauft werben. Billethändler haben 
bereit8 die beiten Pläge in ihre Hände gebradt und ver- 
faufen nun die Billet3 mit großem Nugen, denn faft niemand 
möchte jich dieje jhöne „Sorrida” entgehen lafien. In ganz 
Madrid jpriht man von dem bevorftehenden Stierfampfe, 
jung und alt tft in Erwartung der Dinge, die da fommen 
follen, aufgeregt, in den Cafes wird heftig bisputiert und 
gemettet und in den Familien läßt man da® Mbendefjen 
unter begeifterten Geiprähen kalt werden. Sa, e3 fommt 
fogar vor, daß viele der „Aficionado®“ zwei Nächte vor- 
her nit jchlafen können. An dem Tage des Feites kennt 
nun die VBegeifterung feine Grenzen mehr, die Straßen 
gleihen mimmelnden Ameijenhaufen, jo dicht gedrängt 
wandern die Einwohner Madrids dem ziemlich weit im 
Often vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nad dem 
eine lange Allee hinführt. Won der „Puerto de Sol*, dem 
größten Plage Madrivs, aus ergießt fih der lärmende 
Menfchenitrom durh die breiten Straßen. In dieſen 
wimmelt e8 von dicht bejegten Omnibuffen, die mit bunt 
betrobdelten DMaultieren beipannt find, von Drofden, 
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen jogar die jeitlichen 
Trittbretter bejegt find. E83 gleicht einer wilden Sagd. 
Die Peitihen der Kutiher und ihr Gejchrei und Zungen 
ihnalzen treiben die dahınrajenden Tiere zu nod) größerer 
Eile an, fo daß der auch oben bejegte Wagen gefährlid) 
wanfend über den unchbenen Erdboden dahinipringt, einen 
ungeheuren Staub aufmwirbelnd, der das heitere Farben 
gewimmel in ein leichte® Graubraun hült. Die Sonne 
brennt heiß hernieber und hat bereits die Stehlen der jchau= 
Iuftigen Menge außgetrodnet, die fid) aber zur Fürſorge 
„Vino tinto“ in Schläuden und Kürbisflajhen mitgenommen 
hat. Dazu fehlen aud) nicht die Wafferverfäuferinnen, Die 
mit gellender Stimme ihr „agua fresca*, kalt wie Schnee, 
feilbieten. liberhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufende 
und abertaufende von Stimmen wogen durcheinander. Da- 
zwiichen hört man die fingenden Töne der Ausrufer an den 
Apfelfinenwagen, ber Fäcerhändler oder Sonnenſchirmchen⸗ 
verfäufer und vieler anderer fleiner Gejchäftsleutchen mehr. 
Dem Theater zu wird da Geichrei immer wüfter und das 
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen, 
Pferdebahnen und Ommnibuffe, d. 5. jobald fie auf der 
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber 
diejer Zeilen benugten paifierte. 

Aber die Toreros in ihrer reihen Tracht fommen eben 
in einigen Drofchfen an, ebenjo die Picadores zu Pferde 
mit dem Burfchen Hinter jih, überall jubelnd begrüßt und 
angeftaunt: Das ift da8 Zeichen, daß die GCorrida bald be- 
ginnen wird, und mirklid hört man drinnen in der Arena 


unfern 2Lefern fon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenitr.) 





917 


Ihon die Militärmufik die echt Spanischen zerhadtten Dielodien 
ipielen. Alfo hinein! 

Die „Plaza de Toros* ift ein fchönes, großes Amphi- 
theater im maurijchen Stile mit einem gewaltigen Hufeiien- 
bogigen Eingangsportale und zierliden Fenftern. Sie ift 
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20000 Berjonen. 
Bon einem Rundgange au8 gelangt man auf die Sitpläge, 
auf die GSteinftufen mit Nummern und in Die oberen 
Galerien. Man unterjcheidet bauptlählich zwei Arten von 
Blägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit 
Nedjt, denn es ift wirklich ein linterfchied, ob man bei 
45 Grad Hige in der Sonne oder im Schatten fitt. Natürlich 
ift die Sonnenjeite viel billiger al® die andere, aber e8 ift 
auch im Schatten, wenigjtens für einen Nordlänber, kaum 
auszuhalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanıe 
jigt, ohne daß ber erfriihende Wind Hinzutreten könnte. 
Snfolgedefien fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das 
ganze Publikum madht den Eindrud einer farbig wogenden 
See, und das bejonderd auf der Sonttenfeite, wo man fi 
mit runden, bunten PBapierfähern ald Sonnenjhirmen ver- 
jehen hat oder fi die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben 
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier fien 
aud) die rothofigen Soldaten und die Landleute in Iumpiger 
Nationaltraht und Shmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem 
Sinn und den breiten „Sombrero“ auf bem Stopfe; ferner 
die Mädchen und Frauen in den buntbeftidten und lang 
befranzten Umjchlagetüdern oder in bunten Blufen und 
mit Blumen in den jhön und kunftpoll frifierten fchwarzen 
Haaren. Ein bienengleihes Summen erfüllt das ganze 
Theater, dag fchon beinahe überfüllt ift; die unvermeiblichen 
Woafferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der 
Edulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen aud bier 
niht und quälen fih mühlam durch das dichtgedbrüngte 
Publikum hindurd. Unten in der Arena ift eben ber aus: 
getrodnete Sand beiprengt worden, und dag Publikum fängt 
ihon an ungebuldig zu werden, waß bald zu einem er- 
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen ausartet, obwohl dag 
Stiergefeht immer auf die feftgelegte Minute anfängt — 
übrigens das einzige, wa3 in Spanien pünftlid ift —, bis 
endlicdy die beiden jchwarz gekleideten Reiter in altipanifcher 
Tradt und Tseberhut in der Arena eriheinen, die bon bem 
Präfidenten, der oben in jeiner Loge, den Kopf mit dem 
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbeftictem 
Sanımet bekleidete Brüftung lehnt, den Sclüffel zu den 
Pforten befommen haben. 

Gleich darauf öffnen fih die Barrieren, und während 
die Mufit den raufchenden Stierfechtermarjch fpielt, findet 
unter ihrem Voranritte der maleriiche Aufzug der „Toreroz“ 
ftatt. € ift dies einer der jhönften Momente der Gorriba. 
Die helle Sonne läßt die [chweren Gold» und GSilberver- 
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen 
grell aufbligen, und die jchönen Allasmäntel, Die fi) die 
Stierfechter elegant um Schulter und Hüften gefchlungen 
haben, glänzen farbig in dem Licdhtmeere. Ein ungeheurer 
Jubel begrüßt die Aufmarfchierenden, ein gewaltiges Durd)- 
einander von Stimmen und DBravorufen durcdhbrauft Die 
Arena. Zuerft fommen die drei E3padas oder Matadorcs, 
die im vollen Bewußtjein ihres Wertes erhobenen Hauptes 
den nachfolgenden Banberiflerog voranjchreiten. Dielen 
folgen wiederum die GCapeadores und denen die Picadores 
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Filzhüten 
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Gefichter 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


918 


hervorlugen. Den Schluß bilden die „Monofabiog“ (meifen 
Affen), die Sinechte der Picadores und die „Araftreg“, Drei: 
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und 
Fahnen gefhmücten Mantltieren. 

Der pradtvolle Zug bewegt fi dem Präfidenten ent- 
gegen, der nah der Zoge hinauf von den Toreros durd) 
Schwenfen der Hüte feierlich begrüßt wird. Ein helles 
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergeipanne verichwinden 
wieder auß der Arena, die Stierfedhter vertaufchen ihre Eoft- 
baren Däntel mit Ichlechten, bereit3 arg geflidten und blutigen 
„Gapotes“, die Son von mandhem heißem Kampfe zeugen. 
Die beiden fchwarzen Neiter galoppieren aus der Urena, 
nadhdem ein alter Schließer in dunklem Torerofoftüm den 
vergoldeten, niit bunten Bändern geihmüdten Schlüffel zum 
„Toril“ (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille 
tritt jegt ein, während der Alte die fchwere, dicke, mit Eiien be= 
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... Eine Kleine 
Baufe, und ber wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen 
Sonne geblendet auf den Kampfplaß; er hat die fogenannte 
„Devije* bereit? im Naden. 3 ift dies ein Widerhaken, 
an dem bunte, feidene Bänder in den Farben der Züchterei 
befeftigt find, und der ihm, während er fidy nod) eingefchloffen 
befindet, durch eine Öffnung hindurch vermittelft einer langen 
Stange zwiichen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt- 
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig 
verwirrt und fann faft nichts unterfcheiden als einige fich be— 
wegende rote Tücher, die Gapoten der Toreros. 

Wütend raft er biefen nach, über den gelben, noch reinen 
Sand hinweg, aber der Zorero ift flinf auf den Beinen und 
verfchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere. 
Verdutzt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf 
eine andere fliegende Capote aufmerkjam gemadt und raft 
nun diejer nad, den ihn bereit erwartenden Bicadored ent- 
gegen. Diele Haben fich feitlic) aufgeftellt, nahe der Barriere, 
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden 
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Füße in arabijdhen 
Kaftenfteigbügeln, deren Eden zugleih als Sporen dienen. 
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben fie cijerne Bein- 
ihienen, gleich denen der alten Ritter, die fie dor den ge- 
fährlihen Hornftößen des Stieres |hügen. Eine jchöne kurze 
Sammetjade niit Gold- oder Silberftidereien, die ungefähr 
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenjolche 
Weite und eine feidene Leibbinde vervollftändigen den Anzug. 
Die lange Lanze, die oben in einer feften Holzbirne endigt, 
aus der eine dreifantige, ungefähr drei Sentimeter lange 
Stahlipige herborlugt, Halten fie, feit unter den Arnı einge- 
fiemmt, dem anrajenden Stiere mit der halb mit Leber ge- 
ſchützten Fauſt entgegen. 

Der Stier, der bis dahin dem flinken Capeadore nach— 
eilte, ſieht ſich plötzlich vor dem Pferde eines Picadore und 
geht auf den vermeintlichen Urheber der Neckereien mit ge— 
ſenkten Hörnern los. In demſelben Momente aber bohrt 
ſich ihm die Lanze in den Nacken, die der Picador mit 
eiſerner Kraft angeſetzt hat. Von Schmerzen gefoltert, kehrt 
der Stier um und wird von den Capoten der Toreros zu 
einem anderen Pferde dirigiert. Lautes Bravorufen erfreut 
den geſchickten Picador. Da raſt der Stier dem zweiten 
Picadore entgegen und bohrt mit furchtbarer Kraft eines 
ſeiner ſpitzen Hörner dem ſchwankenden Pferde in den Leib, 
ſo daß aus dem geöffneten Magen des armen Kleppers der 
halbberdaute Häckſel über den breiten Kopf des Stieres fällt 
und ihn mit häßlichem Gelb und Blut beſudelt. Der 


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Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


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duftigen Büfchen, bie manchmal Blätter auf das junge Paar 


ftreuten. 

Hanni war böllig traumverfunfen. Shre braunen 
Augen leuchteten und ein unenbliches Wohlgefühl zog durch 
ihre Bruft. Die Wellen träufelten fih, farbige Schmetter- 
linge flatterten über die Wiejen und jest begannen Die 
Gloden ihr feterlihes Geläute. Hugo ließ die Ruder in der 
Nähe einer Kleinen Snfel ruhen. Die Sonne brannte zu heiß. 

„Weißt Du, Sanni, daß Du mir noch etwas fcyuldig bift?“ 

Erichroden fuhr fie aus ihrem feligen Dahinbrüten auf: 
„Was denn? Ic habe fein Geld bei mir.“ 

Er ladte: „Du bift doch meine Brotfchweiter und Haft 
mir nod nicht einen Kup gegeben. In allen Liebesbüchern 
fteht aber, daß, wenn zwei fich gerne haben, fie fih aud 
küſſen müſſen.“ 

Ihr wurde wieder bange zu Mute. Als ſie ihm in die 
guten Augen blickte, fühlte fie fih zu Ihwadh, dem Hugo 
etwa zu verfagen. Shr leichtherziger Übermut war ver- 
Ihwunden, ein unbeftimmtes Sehnen in ihr erwadt. Sie 
flüfterte nur: „Wenn e3 fein muß, jo nimm den Kuß! Ich 
traue mich nicht, anzufangen.” 

Hugo ließ einen Suchzer erichallen, fprang auf, um fi 
Hanni zu nähern. Doch die Erregung madte ihn ungeichidt, 
er jtolperte über das mittlere Querbreitt und der Kahn 
fippte um. 

Ein Schrei des Entiegens entfuhr Hanni und jhon 
war au fie von den Wellen herabgezogen. Sie jpürte nur 
feine Nähe und Lanmerte fih unbewußt an Hugo an. 
Mit aller Kraft hob diefer feinen Kopf nochmals über die 
Wafferfläche, juchte vergebens den Kahn zu erhafchen, der 
vorbeigerutfcht war, und rief verzweifelnd: „Laß 1o3, Hanni, 
fonft find wir beide verloren. Sch fhwimme und falle Dich 
bei den Haaren.“ 

Dod Hanni ließ nicht mehr log, weil fie nimmer fonnte 
oder wollte. Hugo drang das Waffer in den Mund, er janf 
mit ihr. Die Wellen ftrudelten noch furze Zeit, und dann 
war e8 ftille — ganz jtille! 

Sie follten ba3 „freudige Teftament” der reinen, jungen 
Liebe nicht Tejen. 


Stiergefedt. 


Bon Dom Alfredo Sau Mismo. 


Seht hr das Volk gedrängt zu hödhjiten Stufen, 
Grwartungsbang geht dur die Reih’'n ein Yittern, 
Schmwül, wic’3 vorangeht heißen Lenzgewittern — 
Dann fommt ein Donner von den Beifallärufen. 
Die Maja oben, die Marchela unten, 

Gie beben in der Seide, in den bunten 
Mantillen bei dem Mechiel des Gefedtes. 

Nun regnet Früchte es, Gigarren, Blumen! 

Die Nelten aus des Ihwarzen Haargeflechtes 
Mühjamenm Bau, fie grüßen rot den Sieger — 
Herzlofer Hohn umfchallt den Unterlieger! 

Sin ZToreador ftirbt unter Stiereshufen, 

Und während alle neuen Blutquell wittern, 

Hört einen Fächer man im Strampf zerfnittern — 
Der Tod hat aud des Toten Lieb’ gerufen... . 


(Deutih von Alfe. Ariedmann.) 


A los Toros.*) 
Bon Max Tilke. 


Die bunten Anfchlagezettet haben in den Straßen 
Madrids fon vor einigen Tagen eine große „Eorrida de 
Zoro8" angefündigt, in der jeh8 oder acht ſchöne Stiere 
aus den renommierteften Züchtereien von dem berühmten 
Guerrita, von Fuente® und Bombita befämpft und getötet 
werden jollen. Scharenweife drängte id} da8 Publikum 
ihon drei bis vier Tage vorher um die Eleine Bretterbude 
in der breiten und jchönen „Galle Sevilla”, in der Billets 
zum Stiergefehte verkauft werben. Billethändler haben 
bereit8 die beiten Pläge in ihre Hände gebradt und ver 
taufen nun die Billet3 mit großem Nugen, denn faft niemand 
möchte fich dieje jchöne „Sorrida“ entgehen Lajjen. In ganz 
Madrid fpriht man von dem bevorftehenden Stierfampfe, 
jung und alt ift in Erwartung der Dinge, die da fommen 
jollen, aufgeregt, in den Gafes wird heftig bisputiert und 
gemwettet und in den Familien läßt man das Abendeſſen 
unter begeifterten Geiprächen Zalt werden. Sa, ed kommt 
fogar vor, daß viele der „Aficionabog“ zwei Nächte vor- 
her nicht fjchlafen können. An dem Tage des Seited fennt 
nun die DBegelfterung feine Grenzen mehr, die Straßen 
gleihen wimmelnden WUmeifenhaufen, fo dicht gedrängt 
wandern die Einwohner Mabrivs dem ziemlid weit im 
Often vor der Stadt gelegenen Amphitheater zu, nach dem 
eine lange Allee binführt. Won der „Puerto de Sol”, dem 
größten Plage Mabrivs, aus ergießt fit) der lärmende 
Menichenftrom durch die breiten Straßen. In diefen 
wimmelt e8 von dicht bejegten Omnibuffen, die mit bunt 
betroddelten Maultieren beipannt find, von Drofchlen, 
Equipagen und Pferdebahnen, bei denen jogar die jeitlihen 
Trittbretter befegt find. E38 gleiht einer wilden Sagd. 
Die Beitihen der Kuticher umd ihr Gejchrei und Zungen: 
ihnalzen treiben die dahinrajenden Ziere zu nod größerer 
Eile an, fo daß der auch oben bejegte Wagen gefährlid) 
wantend über den unebenen Erdboden dahinipringt, einen 
ungeheuren Staub aufwirbelnd, der da8 heitere Karben 
gewimmel in ein leichtes Graubraun hült. Die Sonne 
brennt heiß hernieder und hat bereits die Stehlen der hau: 
Iuftigen Dienge ausgetrodnet, die fi aber zur Türforge 
„Vino tinto“ in Schläuchen und Kürbisflafchen mitgenommen 
hat. Dazu fehlen aud nicht die Wafferverfäuferinnen, bie 
mit gellender Stimnie ihr „agua fresca“, kalt wie Schnee, 
feilbieten. Überhaupt herricht ein furchtbarer Lärm, taufende 
und abertaujende von Stimmen wogen durdeinander. Da: 
zwilcyen hört man die fingenden Töne der Ausrufer an den 
Apfelfinenwagen, der Yäderhändler oder Sonnenihirmden« 
verfäufer und vieler anderer fleiner Gejchäftsleutchen mehr. 
Dem Theater zu wird das Gejidrei immer wüfter und das 
Gewimmel immer dichter, denn dort halten alle Wagen, 
Pferdebahnen und Omnibuffe, d. . Sobald fie auf ber 
Fahrt fein Rad verloren haben, wie e3 dem vom Schreiber 
diefer Zeilen benugten pajfterte. 

Uber die Torerog in ihrer reihen Tracht kommen eben 
in einigen Drojdhfen an, ebenjo die Picadores zu Pferde 
mit dem Vurfchen hinter jih, überall jubelnd begrüßt und 
angeftaunt: Das ift daß Yeichen, daß die Gorriba bald bes 
ginnen wird, und wirkli hört man drinnen in der Arena 


2) Aus Stangend „Ilujtrierter Reife und Verkehrb⸗-Zeitung“, bie wir 
unfern Lejern fhon mehrmals empfohlen haben. (Stangen, Berlin, Mobrenjtr.) 





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ihon die Milttärmufif die echt jpanifchen zerhadten Vielodien 
ipielen. Alfo hinein! 

Die „Plaza de Toros* ift ein fhönes, großes Amphi- 
theater im manurijchen Stile mit einem gewaltigen Hufeijen- 
bogigen Eingangsportale und zierliden FSenftern. Sie ift 
die größte in Spanien und faßt ungefähr 20 000 ‘Berjonen. 
Bon einem Rundgange aus gelangt man auf die Sigpläße, 
auf die Steinftufen mit Nummern und in die oberen 
Galerien. Dan unterjcheidet hauptfächlich zwei Arten von 
PBlägen: „Sol“ (Sonne) „Sombra“ (Schatten), und mit 
Nedt, denn e8 ift mwirklid ein linterihied, ob man bei 
45 Grad Hige in der Sonne oder im Schatten figt. Natürlich) 
ift die Sonnenfeite viel billiger al& die andere, aber es ift 
auch im Schatten, wenigftens für einen Norbländer, faum 
anszubalten vor Hite, da man wie in einer Bratpfanne 
jigt, ohne daß der erfriichende Wind Hinzutreten Eönnte. 
AInfolgedefien fäheln fih alle, Männer wie Frauen. Das 
ganze Publilum maht den Eindrud einer farbig wogenden 
See, und daß bejonder? auf der Sonttienfeite, wo man fi 
mit runden, bunten Bapierfähern al® Sonnenfdhirmen ver- 
jehen hat oder fih die Köpfe mit den rofafarbenen, gelben 
oder orange gefärbten Programmen bededt. Hier figen 
auch die rothofigen Soldaten und die 2andleute in Iumpiger 
Nationaltraht und Shmugigen Hemdsärmeln, mit unrafiertem 
Sinn und den breiten „Sombrero“ auf dem Stopfe; ferner 
die Mädchen und Frauen in den buntbeitidten und lang> 
befranzten Umfchlagetüchern oder in bunten Blufen und 
mit Blumen in den jhön und funftvoll frifierten Schwarzen 
Haaren. Ein bierengleiheg Summen erfüllt das ganze 
Theater, das fon beinahe überfüllt ift; die unvermeidlichen 
Wafferverfäufer mit den pordjen Thonfrügen auf der 
Schulter, die Apfellinenhändler u. j. w. fehlen auch bier 
nit und quälen fih mühfam dur; daS didhtgebrängte 
Bublifum hindurd. Unten in der Arena ift eben der aus: 
getrodinete Sand beiprengt worden, und das Rublikun fängt 
ihon an ungebuldig zu werden, wa3 bald zu einem er: 
wartungsvollen Gejohle und Pfeifen außartet, obwohl das 
Stiergefeht immer auf die feitgejete Dlinte anfängt — 
übrigens das einzige, was in Spanien pünfktlid ift —, big 
endlich die beiden jchwarz gefleideten Reiter in altipanijcher 
Tracht und Federhut in der Arena ericheinen, die von bem 
PBräfidenten, der oben in feiner Loge, den Kopf mit dem 
Gylinder bebedt, fih auf die mit rotem, goldbefticdtem 
Sammet bekleidete Brüftung lehnt, den Schlüffel zu den 
Pforten befommen haben. 

Gleich darauf öffnen fih die Barrieren, und mährend 
die Mufit den raufchenden Stierfehtermarih fpielt, findet 
unter ihrem Voranritte der malerifche Aufzug der „Torerog“ 
ftatt. E83 ift dies einer der fhönften Momente der Gorrida. 
Die helle Sonne läßt die jchweren Gold: und Silberver- 
zierungen und Troddeln auf den bunten, jeidenen Anzügen 
grell aufbligen, und die fhönen Atlagmäntel, die fich die 
Stierfehhter elegant um Schulter und Hüften geichlungen 
haben, glänzen farbig in dem Lichtmeere. Ein ungeheurer 
Subel begrüßt die Aufmarjchierenden, ein gewaltiges Durd- 
einander bon Stimmen und Braborufen durdhbrauft Die 
Arena. Zuerit kommen die drei E3pada3 oder Matadores, 
die im vollen Bewußtjein ihres Wertes erhobenen Hauptes 
den nachfolgenden Banderillero® vboranfchreiten. Dielen 
folgen wiederum die Capeadores und denen die Picadored 
auf ihren alten Pferden, mit den breiten grauen Yilzhüten 
auf dem Kopfe, unter denen die finfteren, rohen Sefichter 


Beiblatt der Deutihen Roman:Zeitung. 


918 





hervorlugen. Den Schluß bilden die „Monojabios” (meijen 
Affen), die Snechte der Picadores und die „Arafireg*, Dreis 
geipanne von buntgetroddelten, mit Schellen-Sätteln und 
Fahnen geihmücdten Maultieren. 

Der pradtvolle Zug bewegt fih dem Präfidenten ent- 
gegen, der nad der Zoge hinauf von den Toreros durch 
Schwenfen ber Hüte feterlih begrüßt wird. in helles 
Trompetenfignal ertönt, die Maultiergejpanne verichmwinden 
wieder auß der Arena, die Stierfechter vertaujchen ihre Foit- 
baren Mäntel mit jchlechten, bereit3 arg geflicten und blutigen 
„Sapotes*, die fhon von mandem heißem Stampfe zeugen. 
Die beiden fchwarzen Reiter galoppieren au8 der Arena, 
nadden ein alter Schließer in dunklen ZTorerofoftüm den 
bergoldeten, mit bunten Bändern geihmüdten Schlüffel zum 
„Zoril” (Stierfäfig) empfangen hat. Eine Tautloje Stille 
tritt jegt ein, während der Alte Die fchwere, dide, mit Eijen be- 
ichlagene Thür des tiefdunklen Käfige öffnet... .. Eine Heine 
Baufe, und der wilde Stier ftürzt wütend und von der grellen 
Sonne geblendet auf den Kampfplag; er hat die jogenannte 
„Deviſe“ bereit? im Naden. 8 ift dies ein Widerhalfen, 
an dem bunte, feidene Bänder in den Farben ber Züchterei 
befeftigt find, und der ihm, während er fi) nod) eingeichloffen 
befindet, durch eine Öffnung hindurd) vermittelt einer langen 
Stange zwijchen die Schulterblätter geftedt wird. Ein furdt- 
bares Gejohle und Pfeifen empfängt ihn, er ift vollftändig 
verwirrt und Iann faft nichts unterfcheiden als einige fich be= 
wegende rote Tücher, die Sapoten der Toreroß. 

MWütend raft er diefen nach, über den gelben, roch reinen 
Sand hinweg, aber der Torero ift flint auf den Beinen und 
verfchwindet mit einem eleganten Sate über die Barriere. 
Berbugt bleibt der Stier ftehen, wird aber wiederum auf 
eine andere fliegende Capote aufmerffam gemadht und raft 
num diejfer nach, den ihn bereit3 erwartenden Picadores ent- 
gegen. Diele Haben fic) feitlic) aufgeftellt, nahe der Barriere, 
figen auf alten, elenden Kleppern, denen ein Auge verbunden 
ift, in hohen, arabiihen Sätteln, die Jüße in arabifchen 
Ktaftenfteigbügeln, deren Eden zugleih al8 Sporen dienen. 
Unter ihren gelben langen Lederhojen haben fie eiferne Bein: 
fhienen, gleih denen der alten Ritter, die fic vor den ge- 
fährlichen Hornftößen des Stieres hügen. Eine jchöne furze 
Sammetjade mit Gold- oder Silberitidereien, die ungefähr 
10 Kilo wiegt und beinahe einen Panzer abgiebt, ebenjolche 
MWefte und eine feidene Zeibbinde verbollftändigen den Anzug. 
Die lange Lanze, die oben in einer feiten Holzbirne endigt, 
aus ber eine dreifantige, ungefähr drei Gentimeter lange 
Stahlipige hervorlugt, halten fie, feit unter den Arm einge: 
fiemmt, dem anrafenden Stiere mit der halb mit Leder ge- 
Ihügten Fauft entgegen. 

Der Stier, der bis dahin dem flinfen Gapeadore nachs 
eilte, fiebt jich plöglid vor dem Pferde eine Picadore und 
geht auf den vermeintlichen Urheber der Nedereien mit ge= 
fenkten Hörnern 108. In demjelben Momente aber bohrt 
fi) ihm die Lanze in den Naden, die der Picador mit 
eiferner Kraft angefegt hat. Bon Schmerzen gefoltert, fehrt 
der Stier um und wird bon den Gapoten der Torerog zu 
einem anderen Pferde dirigiert. Lautes Bravorufen erfreut 
den geichikten Picador. Da raft der Stier dem zweiten 
Picadore entgegen und bohrt mit furcdtbarer Kraft eines 
jeiner fpigen Hörner dem jchwanfenden Pferde in ben Leib, 
jo daß aus dem geöffneten Magen des armen Stleppers der 
halbverbaute Hädjel über den breiten Kopf des Stieres fällt 
und ihn mit häßlihem Gelb und Blut bejudelt. Der 


919 


Picabor, der dem furcdtbaren Anfturme nicht widerftehen 
fonnte, fliegt über bie Barriere, und der Stier wühlt in 
dem Leibe des Pferdes mit den Hörmern herum, auf denen 
er da8 unglüdlihe Tier eine Strede fortichleift. Cndlid) 
haben die Gapeadores den Wütenden von feinem Opfer abs» 
gelenft. Der Stier ftößt nah allen Seiten um fih und 
bleibt einen Augenblid, fi verichnaufend, ftehen. 

Aber da reitet fhon der dritte Picador heran und hebt 
die gefenkte Lanze, wie zum Stampfe herausfordernd, dem 
Stiere entgegen. Aber audy diefer gepanzerte Reiter kann 
die gewaltige Beitie nicht hindern, daß fie ihn mit jamt 
feinem Pferde ummirft. Hilflos liegt dann der NReiter 
unter dem blutenden Pferde, an dem der Stier feinen Zorn 
auszulafjen Scheint, und kann fich wegen ber jchweren Bein- 
rüftung und dem baraufliegenden Pferdeleibe nicht bewegen. 
Aber e8 war fein jchlimmer Jal, fondern nur eine fo- 
genannte „Caida cubierta*, ein gededter Fall, denn er liegt 
ja durd den Leib ded Pferdes gededt. Die Pflicht der 
Toreros ift e& nun, dur fogenannte „Quites“ (von quitar 
„wegnehmen”), Scwenfungen mit dem „Gapoted“, den am 
Boden Liegenden zu befreien, der fih umfonft bemüht hatte, 
fih mit dem VBauche platt auf den Erdboden zu legen, um 
fih jo vor dem GStiere befler zu fihern. Nacd einer Weile 
läßt diefer auch wirklih von feinem Opfer ab und verfolgt 
einen neuen Neder; e3 ift „Suerrita* felbft. Er ſchwenkt 
feine Gapote in jchhlangenähnlichen Windungen, während der 
Stier ihr immer mit den Hörnern folgt, bi8 „Guerrita”“ 
plöglic eine jchnelle Wendung macht, fi in die Gapote 
hüflt oder fie über die Schulter auf den Rüden wirft, und 
langfamen Scrittes, ohne fidh jcheinbar weiter um den 
Stier zu befümmern, durd die Arena fchreitet. Der Stier 
bleibt erft verdugt ftehen und folgt dann ebenjo langjam 
dem fih Entfernenden. Jubelnder Applaus belohnt das 
großartige Kunftftüd. Hüte und Gigarren fliegen bereit?, 
von dem begeifterten Publikum hinabgetworfen, in die Arena. 
Dankend und lachend wirft der Begünitigte jeinen Gönnern 
die Hüte in fühnem Bogen mit großer Sicherheit wieder 
zu, mährend feine Burihen die Gigarren auflefen. Es iſt 
diejes Manöver eines der jchiwierigften, die e8 überhaupt in 
der Stierfechterkunft giebt, und fegt, ganz abgejehen von ber 
größten Staltblütigfeit, eine Stenntnis des Etiercharalterg 
voraus, bie fich nur durdy jahrelanges liben und Studieren 
erreihen lüßt. E83 giebt Stierfedhter, die als Stiertöter jehr 
wenig leijten, aber trogden mit „echar tela“ (Leinwand 
werfen), wie fi die Torero jelbit ausdrüden, die Gunft des 
Publikums ebenfo errungen haben. 

Snzwiihen wurde der Stier wieder von einem Picador 
angegriffen, aber audy hier hob er dag Pferd hoc auf feine 
Hörner, jo daß der Picador auf den Rüden des GStieres 
niederfällt und fo von diejen Fräftig mit den Hörnern be= 
arbeitet und wohl aud) einige Meter in die Luft geworfen 
wird. Schon äußert fi der Unmwille des Publifumg gegen 
die „Zuchwerfer* in lauten Verwünfcdhungen und Slüchen, 
als e3 enblid, gelingt, den rajenden Stier am Schwanze 
bon feinem gepanzerten Epielball zu enifernen. Witz 
ichnaubend erhebt jich der Picador mit blutenden Kinn und 
Wangen und bejteigt unter der Bilfeleiftung ber Burichen 
zun zweiten Male das zitternde Noß, dem die Gedärme be= 
reit3 weit zum aufgeichligten Leibe hberaushängen. Aber 
das arme Tier will trog verbundener Augen nidyt vorwärts 
und bleibt jogar gegen die erbarmungslojen Stodijdjläge 
unempfindlid. Ter Bicador, der feine Ehre wiederherftellen 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





920 


möchte, Tchlägt ihm die Eden der jchweren Steigbügel in 
den Leib und fluht und Ichimpft wie ein Yuhrlnecht, aber 
alles Hilft nichts. Sobald der Stier herantommt, fehrt das 
geängftigte, gemarterte Pferd um und befommt jo bie 
Hörer in jein Hinterteil, jo daß der Reiter bornüber:- 
fliegt. Von neuem verfucht der Picador wieder aufzuiteigen, 
aber nun empört fih da Publikum doch endlich gegen die 
rohen Gefellen und man ruft von verjcdiedenen Geiten: 
„mata le“ (töte e&), wotauf dann aud wirklich die Kerle 
dem armen, zitternden Tier die Nuntilla vier oder jeh&mal 
ins Genid zwiihen die Ohren jagen, bis «8 enblidh, Die 
Beine weit und ftarr von fid) ftredend, gräßlich zudend 
berendet. 

Sp geht «8 weiter. Pferde und Picadores fallen, und 
ein Schimmel mit vom Blut rot gefärbten Beinen und lang 
nadhjichleifenden Särmen raft vor Schmerz in der Arena ums 
her, während er fih die eigenen Eingeweide abtritt; ein 
anderes Pferd befam eben ein Horn tief in die Bruft, jo 
daß ein didfer Blutftrabl, gleich einer Notweinpumpe, auf den 
blutdurchtränften Erdboden herniederplätichert. Endlich er: 
tönt ein neues jchmetterndes Trompetenfignal. Die halb= 
toten Pferde führt man ab, um ihnen die Gebärme wieder 
hineinzuftopfen und das Sell zuzunähen, damit fie dann 
zum nädjften Schaufpiel noch einmal gebraucht werben 
fönnen. Aber noch immer wird der Stier durd die fliegen 
den Lappen der Torero® hin und her gehegt, biß ihn aber» 
mals eine neue Dual erwartet. Die Banderilleroß treten 
auf. Seder hat ein paar Im lange Stäbe (Banberillas) 
in den Härden, die oben fcharfe ftählerne Widerhafen auf: 
weilen und deren Holzihäfte von bunten, gerollten oder ges 
federten Papierihnigeln umhült find. Diele Stäbe follen 
dem Stier von vorn her auf beide Seiten ded Naden? ges 
ftedt werden; e3 ift dies cine fehr fchmwierige Aufgabe und 
eine große Geichiclichfeit dazu erforderlich, um fo mehr, als 
die Hömer de8 Stieres beim Seten biefer Harpunen ben 
Leib des Banderillero faft jtreifen müffen. Die Art und Weife 
dieje® „echar palo“ (Stodwerfens) gefchieht fo, daß fich ber 
Banderillero ungefähr in die Mitte des Plages ftellt und ben 
Etier mit den erhobenen bunten Stäben heranzuloden fudht. 
Konmt diefer dann heran, jo läuft ihm der Kämpfer einige 
Edritte weit entgegen und biegt fi, wenn er dicht neben 
bem Stier ift, geichmeidig zur Seite, während er ihm die 
Stäbe in den Naden ftößt. Will der Stier nicht auf den 
Mann jelbft Iosftürneen, jo jtellt fid) der Banderilfero ihn: im 
Rücken auf, ein Scpeador dreht ihn vermittelft einer elegant 
ausgeführten Cuite herum, dem Wartenden zu, und Diefer 
ftößt dem ahnungslojen Stiere die Hölzer in den Naden, 
wo fie dann Iuftig zufammenklappern. Der Stier jpringt 
nun wie bejeffen umher und jucht fich diefe unbequemen 
Plageitöde abzufhütteln, aber fie dringen mit jeder Be- 
wegung nur tiefer in fein Fleifh hinein. Seine Wut fennt 
feine Grenzen, er fühlt jeinen Nachedurft an den herum: 
liegenden PBferdeleichen, in denen er mit den Hörnern herum— 
wühlt. Aber immer und immer wieder loden ihn bie 
„Gapotes*“, immer wieder befommt er neue Banberillaß, 
aber fein Quäler muß fich jehr vorjehen, denn beim Hineins 
fteden der Hölzer ftreifte ihn das linke Horn des Stieres 
und riß ihm die engen Seidentricothojen in der Leiften= 
gegend auf. Aber aud; die Mäntelwerfer haben fich zu 
hüten, denn als einer von ihnen, bom Stiere verfolgt, fi 
über die Barriere jchwingt, erreichen ihn nod die Hörner 
und dringen tief von hinten in den Unterleib hinein, fo daß 





921 


er ohnmädtig in den Gang, der Zufchauer und Arena von: 
einander trennt und für die Toreros beftimmt ift, niederfällt 
und von einigen Gehilfen in dag Sranfenzimmer getragen 
werden muß, wo immer ein Arzt fi) während der Gorrida 
aufhält. Aber das ftört nicht die Yortiegung des Kampfes. 
Zorero® und Zufchauer haben fofort wieder joldye Zwifchens 
fälle vergefien. 

Tas Publifum ruft nad den „Matadbores“. Dieje er: 
fcheinen dann aud), und da e8 berühmte Stierfämpfer find, 
machen fie ihre Eadhe fehr gut. Sie ftellen fi kurz vor 
ben Stier auf und fteden ihm mit famojer Grazie die 
Steden in da® Yel. Man nennt das „pareando en 
corto“. Außerdem hat man noch Ffurze Banderilla von 
ungefähr 50 cm Länge. Diefe dem Stiere beizubringen, ift 
natürlich jehr jchwer und gefahrvoll, und machen dies aud) 
nur wenige Torerod. Natürlich fennt das Bublitum mit 
feinem Applaus feine Grenzen, wenn die Banberillag gut 
geitedt werden. Aber ebenjo fjaynell wie zum Lobe ift es 
aud zum Pfeifen und Aushöhnen bereit. 

Doh wiederum ein Trompetenftoß. Sie fündigt den 
Hauptalt der ganzen Corrida an. Stolz, hochaufgerichtet 
und gemefjenen Schrittes erjcheint der Held des Tages, der 
Espada. E38 ift eine fchöne männliche Erfcheinung, bie die 
reihe Tracht zu befter Geltung bringt. Sein Anzug befteht 
aus einer grünfeidenen furzen Jade, die über und über von 
vergoldeten Eleinen Ylitterplättchen und Trobdeln befät ift, 
ebenfo die Weite und die ganz eng fih an ben Körper an- 
ihmiegenden Sniehofen. Er trägt eine rojajeidene Faja 
(Leibbinde), ebenfolde Strümpfe und an den Füßen leichte 
niedrige Schuhe. Ein reich gezierteß, fehneeweißes Vorhemd 
verbolfiändigt den Anzug. Die „Montera“, eine oben 
fhräg vieredige und unten runde Müte, die mit einer uns 
zähligen Menge von jchwarzen Seidenfügelchen verziert ift, 
hat er auf feinem Haupte. Die jchwarzen, furzen Haare 
find nah vorn und Eofett in die Schläfen gelämmt, und am 
Scheitel hinten trägt er einen Fleinen Zopf (da8 Zunftzeichen 
der ZToreroß), an dem eine fchwarze Nofette befeftigt ift, an 
der wiederum ein größerer, ungefähr 15 cm langer falicher 
Zopf hängt. Wie alle Toreros, ift er vollftändig rafiert; 
ed wäre ein lInding, fich einen Torero mit Schnurrbart vor- 
ftellen zu wollen. In der Hand Hält er feinen ftarfen 
geraden Degen, der oben einen ganz Fleinen Griff bat, fo 
daß nur drei Finger in die Rundung paflen, und bie 
„Muleta“, da8 rote Tuch, das an einem Stabe außges 
breitet hängt. Vor ber Loge bes BPräfidenten fpricht er 
einen impropifterten NReimfprud, der bejagt, daß er den 
Stier töten werde, follte er jelbft auch dabei zu Grunde 
gehen. Hierauf wirft er, fi auf den Ferien umdrehend, 
jeine Kappe in weiten Bogen ind Publikum, das fi 
darum reißt, als fei e8 ein Heiligtum. Selten, ficheren 
Scrittes geht er nun dem Stiere entgegen, ben Degen in 
der Rechten, mit der Spige nah unten gejenft. Sekt 
fommt da nterefjantefte für den Kenner, denn c8 bes 
ginnen nun die Feinheiten des Stampfes zwiichen dem 
Stiere und dem faltblütigen Torero , die fogen. pases de 
muleta. Da Entzüden beö Bublitums Tennt jegt feine 
Grenzen mehr, und lautes Bravogebrüll ertönt im Amphi: 
theater. Der mutige Kämpfer weicht fiher und elegant den 
täppifhen Stößen des jhon mit breiten Blutſtreifen be⸗ 
dedten Stiere8 aus, jchwenkt ihm die Muleta von unten 
herauf über den Stopf hinauf, dreht ben Stier durch raffi= 
nierte Schwenfungen der „Muleta“ um fich herum und be= 


Beiblatt der Deutihden Roman-Zeitung. 





922 


wirkt, daß diejer mit den Hörmern in die Luft ftößt. ing 
der größten Kunftftüde tft das Wedleln der Muleta von 
einer Hand in die andere vor dem Körper vorüber, da da 
bei der Torero in Gefahr fchwebt, von der Beitie in dem: 
jelben Momente, in dem fi) das rote Tuch, dem der Stier 
immer folgt, vor jeinem Störper befindet, angerannt zu 
werden. Auf diefe Weile bat jet der Eöpada den Chas 
ralter des Stieres erlannt umd ift feiner Sache fidher ge- 
worden, er weiß, wie er da8 Tuch zu bewegen bat, um ihn 
zum Todesftoß zuredizuplacteren. Der Stier ift durd) das 
erfolglofe Hin- und Herftoßen bereit müde geworden und 
bleibt einige Augenblide ruhig, da® Tuch beobachtend, 
ftehen. Aber da Hat fi der Espada jchon mit ftaunener- 
regender Kaltblütigfeit und Nuhe in die Bofition zum 
Todesftoße geftelt. Die Füße geichlofien zufanımen, die 
Nechte mit dem „espada“ (Degen) bis in bie Augenhöhe 
erhoben, die Spige auf den blutigen, banderillapverzierten 
Naden de8 Stiereß gerichtet, die andere Hand mit der 
Muleta an feinem Körper vorüber nach reht3 unten zu 
borftredend, jo wendet er feine linke Seite dem Stiere ent: 
gegen. Der hat das Tuch beobadıtet, glaubt, da e3 fih 
nicht mehr bewegt, e& jett fafjen zu fönnen und ftürzt Haftig 
mit geientten Hörnern darauf 108. In diefem Moment aber 
ftredt der Edpada die Muleta noch weiter nach rechts und 
bohrt, fih etwas Links zur Seite biegend, den Degen mit 
eijerner Kraft dem Stier bis ans Heft zwilhen die Schultern. 
Das tödlid in die Qunge getroffene Tier ftredit den Kopf 
mit hängender Zunge weit vor, zudt einige Male zus 
fammen; dann bricht rudweile da® Blut aus Maul und 
Nüftern hervor. Das Publikum toft, Beifall Elatichend, und 
der Stier fchreitet, gebrochen, mit wanfenden Beinen, wie 
ein Betruntener der Barriere zu, wo er fi zum Sterben 
niederlegt. Nun befomnt er noh den Gnadenftoß bes 
„PBuntilleros*, der ihn mit der „PBuntilla“, einem fcharfen 
Ihweren Dolde, zwiichen Kopf und Hals flößt, worauf er 
fofort, die Beine ftarr von fid) ftredend, verenbet. Sekt 
fchreitet der glüdlide Matador rund um die Arena, fich für 
den ftürmilchen Beifall bedanfend, während feine Begleiter 
die herabgeworfenen Cigarren einfteden und fih an den in 
mächtigem Bogen herabgeflogenen Weinſchläuchen mit „Vino 
tinto Valdepenas“ ftärfen, indem fie den Schlau mit 
beiden Händen hocdheben und aus ber Heinen Offnung 
den dünnen Weinftrabl in den geöffneten Mund fchiehen 
laffen (bie jpanifche Art des Trinkens). 
die bunten, Elingelnden Maultiergefpanne, welche die efels 
haft verftümmelten Pferbeleihen und ben toten Stier in 
laufendem Galopp aus der Arena fchleifen. Kaum ift der 
Stier hinaus, fo ertönt fchon wieder ein Trompetenfignal, 
durch welches der zweite von den jech® Stieren angemeldet 
wird. Auch er ift ein jhönes Tier, ein Pracditeremplar, 
vollſtändig ſchwarz und ſchlank gewachſen. Wie ein König 
ſteht er in der Mitte der Arena mit aufmerkſam erhobenem 
Kopfe, aber auch er geht, wie alle anderen, die die Arena 
betraten, dem ſicheren Tode entgegen, wenn er nicht etwa 
wegen Feigheit ausgepfiffen wird und das Publikum ſeine 
Entfernung verlangt. 

Mag man über dieſe rohen Schauſpiele ſagen, was man 
will, der Spanier hängt doch mit Begeiſterung an ſeinem 
Nationalfeſte, verhöhnt alle Fremden, die das Theater 
während der Vorſtellung der Scheußlichkeiten wegen ver—⸗ 
laffen, nennt fie „corazones de Manteca“ (Butterherzen) 
und beläcelt fie mitleidig. Spanien ift eben ohne GStier- 





Inzwiſchen kamen 


919 


Picabor, der dem furdtbaren Anfturme nicht widerftehen 
fonnte, fliegt über die Barriere, und der Stier wühlt in 
dem Leibe ded Rferdes mit den Hömern herum, auf denen 
er da8 unglüdlihe Tier eine Strede fortichleifl. Endlich 
haben die Gapeabores den Wütenden von feinem Opfer abs 
gelenft. Der Stier ftößt nah allen Seiten um fi und 
pleibt einen Augenblid, fi verfchnaufend, ftehen. 

Aber da reitet fon der dritte Picador heran und hebt 
die geienkte Lanze, wie zum Kampfe herausfordernd, dem 
Stiere entgegen. Aber auch diefer gepanzerte Reiter kann 
die gewaltige Beitie nicht hindern, daß fie ihn mit jamt 
feinem Pferde ummirft. Hilflos Iiegt dann der Reiter 
unter dem biutenden Pferde, an bem der Stier feinen Zorn 
außzulaffen jcheint, und kann fich wegen der jchweren Bein: 
rüftung und dem daraufliegenden Pferbeleibe nicht beiwegen. 
Aber e8 war fein fchlimmer al, fondern nur eine fo- 
genannte „Caida cubierta“, ein gededter Tall, denn er liegt 
ja dur den Leib des Pferdes gededt. Die Pflicht der 
Toreros ift e8 nun, durd fogenannte „Quites“ (don quitar 
„wegnehmen”), Schwentungen mit dem „Sapoted“, den am 
Boden Liegenden zu befreien, der fi) umjonft bemüht hatte, 
fih mit dem Bauche platt auf den Erdboden zu legen, um 
fih fo vor dem Stiere beffer zu fihern. Nach einer Weile 
läßt biejer audy wirklich von jeinem Opfer ab unb verfolgt 
eiten neuen Neder; es iſt „Guerrita“ ſelbſt. Er jchwenft 
feine Sapote in Ichlangenähnlichen Windungen, während der 
Stier ihr immer mit den Hömern folgt, bi® „uerrita“ 
plöglih eine jchnelle Wendung madıt, fi in die Gapote 
hült oder fie über die Schulter auf den Rüden wirft, und 
langiamen Schrittes, ohne fidy jcheinbar weiter um ben 
Stier zu befümmern, durch die Arena Ichreitet. Der Stier 
bleibt erft verdugt ftehen und folgt dann ebenjo langjam 
dem fit) Entfernenden. Subelnder Applaus belohnt das 
greßartige Kunftftüd. Hüte und Gigarren fliegen bereit?, 
von dem begeifterten Bublifum hinabgeworfen, in die Arena. 
Dantend und lahend wirft ber Begünftigte feinen Gönnern 
die Hüte in fühnem Bogen mit großer Sicherheit wieder 
zu, während jeine Burihen die Cigarren auflefen. Es iſt 
dDiefeg Manöver eines der jchwierigiten, die e3 überhaupt in 
der Stierfechterfunft giebt, und jegt, ganz abgejehen von der 
größten Staltblütigfeit, eine Kenntnis des Etierhharalters 
borauß, die fid) nur durdy jahrelanges llben und Studieren 
erreichen läßt. E83 giebt Stierfechter, die ala Stiertöter jehr 
wenig leiften, aber trogdem mit „echar tela* (Beinwand 
werfen), wie fidh die Torero jelbit ausdrüden, die Gunjt des 
Publikums ebenjo errungen haben. 

Snzwiichen wurde der Stier wieder von einem Picabor 
angegriffen, aber aud) hier hob er das Pferd hoch auf feine 
Hömer, fo daß der Picador auf ben Rüden des Stieres 
niederfällt und jo von diefem kräftig mit ben Hörnern be= 
arbeitet und mwohl auch einige Meter in die Luft geworfen 
wird. Schon äußert fi der Unwille des Publikums gegen 
die „Zuchwerfer* in lauten VBerwünihungen ınd Flüchen, 
als e8 endlid, gelingt, den rafenden Stier am Schwarze 
bon jeinem gepanzerten Spielball zu entfernen. Wit: 
ichnaubend erhebt fich der Picador mit blutendem Kinn und 
Wangen und bejteigt unter der Hilfeleiftung der Burfchen 
zum zweiten Dale das zitternde Noß, dem die Gedärme be- 
reit8 weit zum aufgeichligten Leibe heraushängen. Aber 
da8 arme Tier will troß verbundener Augen nidt vorwärts 
und bleibt jogar gegen die erbarmungslofen Stodidläge 
unempfindlid. Ber Picador, der feine Ehre wiederherftellen 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 





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möchte, Schlägt ihm die Eden der jchweren Steigbügel in 
den Leib und fluht und Ihimpft wie ein Yuhrfneht, aber 
alles Hilft nichts. Sobald der Stier heranfommt, fehrt das 
geängftigte, gemarterte Pferd um und befommt fo bie 
Hörner in fein Hinterteil, fo daß der Reiter bornüber: 
fliegt. Von neuem verjucht der Picador wieder aufzufteigen, 
aber nun empört fid dag Publilum doch endlich gegen die 
rohen Gejelen und man ruft von verichiedenen Seiten: 
„mata le“ (töte ed), wotauf dann auch wirklich die Kerle 
dem armen, zitternden Tier die Puntilla vier= oder ſechſsmal 
ins Genid zmwilhen die Ohren jagen, bis e8 endlich, die 
Beine weit und ftarr von fich ftredend, gräßlich zudend 
berendet. 

Sp geht e3 weiter. Pferde und Picadores fallen, und 
ein Schimmel mit vom Blut rot gefärbten Beinen und lang 
nachſchleifenden Därmen raft vor Schmerz in der Arena ums 
her, während er fi die eigenen Eingemweide abtritt; ein 
anderes Pferd befam eben ein Horn tief in die Bruft, jo 
daß ein Didler Blutftrahl, gleich einer Rotweinpumpe, auf den 
blutdurchtränften Erdboden herniederplätidert. Endlih er: 
tönt ein neues jchmetternded Trompetenfignal. Die halb» 
toten Bferde führt man ab, um ihnen die Gebärme wieder 
hineinzuftopfen und das Zell zuzunähen, damit fie dann 
zum nädften Schaufjpiel noh einmal gebraudht werben 
fönnen. Aber nod immer wird der Stier durch die fliegen- 
den Lappen der Tooreros hin und her gehest, bis ihn aber» 
mald eine neue Qual erwartet. Die Banderillerog treten 
auf. Seder hat ein paar I m lange Stäbe (Banberillag) 
in ben Härden, die oben jcharfe ftählerne Widerhafen auf: 
weijen und deren Holzihäfte von bunten, gerollten oder ges 
federten Papierichnigeln umhüllt find. Diefe Stäbe follen 
dem Stier von vorn her auf beide Seiten bed Nadens ge= 
ſteckt werden; es iſt dies eine jehr fchwierige Aufgabe und 
eine große Geichidlichkeit dazu erforberlid, um fo mehr, als 
die Hörner bes Stieres beim Segen diejer Harpunen den 
Leib des Banberillero faft Streifen nrüflen. Die Art und Weile 
dieje® „echar palo“ (Stodmwerfens) geichieht jo, daß fich der 
Banberillero ungefähr in die Mitte des Plaßes ftellt und den 
Etier mit den erhobenen bunten Stäben heranzuloden fudht. 
Konmt diefer dann heran, jo läuft ihm der Kämpfer einige 
Cdritte weit entgegen und biegt jih, wenn er dicht neben 
dem Stier ift, geichmeidig zur Seite, während er ihm die 
Stäbe in den Naden ftiößt. Will der Stier nidyt auf den 
Mann jelbit losftürmen, fo ftellt fi der Banderillero ihn: im 
Rücken auf, ein Ecpeador dreht ihn vermittelft einer elegant 
ausgeführten Uuite herum, dem Wartenden zu, und diefer 
ftößt dem ahnungslojen Stiere die Hölzer in den Naden, 
wo fie dann luftig zujammenkflappern. Der Stier jpringt 
nın wie bejeffen umher und jucht fich Diefe unbequemen 
Plageitöde abzujhütteln, aber fie dringen mit jeder Be: 
wegung nur tiefer in fein Yleiich hinein. Seine Wut fennt 
feine Grenzen, er Eühlt jeinen NRachedurft an den herum:= 
liegenden PBferdeleidyen, in denen er mit den Hörnern herum: 
wühlt. Aber immer und immer wieder Ioden ihn bie 
„Sapotes“, immer wieder befommt er neue Banberillas, 
aber jein Quäler muß fi) jehr vorjehen, denn beim Hineine 
fteden der Hölzer ftreifte ihn das linke Horn bes Stieres 
und riß ihm die engen Seidentricothofen in der Zeiften- 
gegend auf. Aber aud) die Mäntelwerfer haben fich zu 
hüten, denn als einer von ihnen, vom Stiere verfolgt, fi 
über die Barriere jhwingt, erreihen ihn nod die Hörner 
und dringen tief von hinten in den lnterleib hinein, fo daß 





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er ohnmädtig in den Gang, der Zujchauer und Arena von 
einander trennt und für bie Toreroß beftimmt ift, nieberfält 
und von einigen Gehilfen in das Strankenzimmer getragen 
werden muß, wo immer ein Arzt fi während der Corrida 
aufhält. Aber das ftört nicht die Fortiegung des Kampfes. 
Zorero® und Zufchauer haben fofort wieder foldje Zwifchens 
fälle vergejien. 

Tas Publitum ruft nad) den „DMatadores“. Diefe er: 
icheinen dann aud), und da e8 berühmte Stierfämpfer find, 
machen fie ihre Eadhe fehr gut. Sie ftellen fi) kurz vor 
bem Stier auf und fteden ihm mit famofer Grazie bie 
Steden in das Fell. Man nennt das „pareando en 
corto“, Außerdem hat man nod furze Banderillad von 
ungefähr 50 cm Länge. Diefe dem Stiere beizubringen, ift 
natürlich jehr Ichwer und gefahrvoll, und machen dies aud 
nur wenige Torerod. Natürlich fennt bag Publiktum mit 
jeinem Applaus feine Grenzen, wenn die Banderilag gut 
geftekt werden. Aber ebenjo fchnel wie zum Lobe ift e3 
auch zum Pfeifen und Aushöhnen bereit. 

Doch wiederum ein Trompetenftoß. Sie fündigt den 
Hauptaft der ganzen Corrida an. Stolz, hodhaufgerichtet 
und gemefjenen Schritte erjcheint der Held des Tages, ber 
Espada. E38 ift eine Ichöne männliche Erfcheinung, die Die 
reihe Tracht zu beiter Geltung bringt. Sein Anzug bejteht 
aus einer grünfeidenen furzen Jade, die über und über bon 
vergoldeten Eleinen Ylitterplätthen und Trobdeln bejät ift, 
ebenjo die Weite und die ganz eng fi) an den Körper an 
ihmiegenden SKniehojen. Er trägt eine rofafeidene Faja 
(Leibbinde), ebenjolde Strümpfe und an ben Füßen leichte 
niedrige Schuhe. Ein reich geziertes, ſchneeweißes Vorhemd 
vervollſtändigt den Anzug. Die „Montera“, eine oben 
ſchräg viereckige und unten runde Mütze, die mit einer un⸗ 
zähligen Menge von ſchwarzen Seidenkügelchen verziert iſt, 
hat er auf ſeinem Haupte. Die ſchwarzen, kurzen Haare 
ſind nach vorn und kokett in die Schläfen gekämmt, und am 
Scheitel hinten trägt er einen kleinen Zopf (das Zunftzeichen 
der Toreros), an dem eine ſchwarze Roſette befeſtigt iſt, an 
der wiederum ein größerer, ungefähr 15 em langer falſcher 
Zopf hängt. Wie alle Toreros, iſt er vollſtändig raſiert; 
es wäre ein Unding, ſich einen Torero mit Schnurrbart vor⸗ 
ſtellen zu wollen. In der Hand hält er ſeinen ſtarken 
geraden Degen, der oben einen ganz kleinen Griff hat, ſo 
daß nur drei Finger in die Rundung paſſen, und die 
„Muleta“, das rote Tuch, das an einem Stabe ausge⸗ 
breitet hängt. Vor der Loge des Präſidenten ſpricht er 
einen improviſterten Reimſpruch, der beſagt, daß er den 
Stier töten werde, ſollte er ſelbſt auch dabei zu Grunde 
gehen. Hierauf wirft er, ſich auf den Ferſen umdrehend, 
ſeine Kappe in weitem Bogen ins Publikum, das ſich 
darum reißt, als ſei es ein Heiligtum. Feſten, ſicheren 
Schrittes geht er nun dem Stiere entgegen, den Degen in 
der Rechten, mit der Spitze nach unten geſenkt Jetzt 
kommt das Intereſſanteſte für den Kenner, denn es be⸗ 
ginnen nun die Feinheiten des Kampfes zwiſchen dem 
Stiere und dem kaltblütigen Torero, die ſogen. pases de 
muleta. Das Entzücken des Publikums kennt jetzt keine 
Grenzen mehr, und lautes Bravogebrüll ertönt im Amphi⸗ 
theater. Der mutige Kämpfer weicht ſicher und elegant den 
täppiſchen Stößen des ſchon mit breiten Blutſtreifen be: 
deckten Stieres aus, ſchwenkt ihm die Muleta von unten 
herauf über den Kopf hinauf, dreht den Stier durch raffi⸗ 
nierte Schwenkungen der „Muleta“ um ſich herum und be— 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





922 


wirkt, daß dieſer mit den Hörnern in die Luft ſtößt. Eins 
der größten Kunſtſtücke iſt das Wechſeln der Muleta von 
einer Hand in die andere vor dem Körper vorüber, da da⸗ 
bei der Torero in Gefahr ſchwebt, von der Beſtie in dem⸗ 
ſelben Momente, in dem ſich das rote Tuch, dem der Stier 
immer folgt, vor ſeinem Körper befindet, angerannt zu 
werden. Auf dieſe Weiſe hat jetzt der Espada den Cha⸗ 
rakter des Stieres erkannt und iſt ſeiner Sache ſicher ge⸗ 
worden, er weiß, wie er das Tuch zu bewegen hat, um ihn 
zum Todesſtoß zurechtzuplacieren. Der Stier iſt durch das 
erfolgloſe Hin- und Herſtoßen bereits müde geworden und 
bleibt einige Augenblicke ruhig, das Tuch beobachtend, 
ſtehen. Aber da hat ſich der Espada ſchon mit ſtaunener⸗ 
regender Kaltblütigkeit und Ruhe in die Poſition zum 
Todesſtoße geſtellt. Die Füße geſchloſſen zuſammen, die 
Rechte mit dem „espada“ (Degen) bis in die Augenhöhe 
erhoben, die Spitze auf den blutigen, banderillaverzierten 
Nacken des Stieres gerichtet, die andere Hand mit der 
Muleta an ſeinem Körper vorüber nach rechts unten zu 
vorſtreckend, ſo wendet er ſeine linke Seite dem Stiere ent⸗ 
gegen. Der hat das Tuch beobachtet, glaubt, da es ſich 
nicht mehr bewegt, es jetzt faſſen zu können und ſtürzt haſtig 
mit geſentten Hörnern darauf los. In dieſem Moment aber 
ſtreckt der Espada die Muleta noch weiter nach rechts und 
bohrt, ſich etwas links zur Seite biegend, den Degen mit 
eiſerner Kraft dem Stier bis ans Heft zwiſchen die Schultern. 
Das tödlich in die Lunge getroffene Tier ſtreckt den Kopf 
mit hängender Zunge weit vor, zuckt einige Male zus 
ſammen; dann bricht ruckweiſe das Blut aus Maul und 
Nüſtern hervor. Das Publikum toſt, Beifall klatſchend, und 
der Stier ſchreitet, gebrochen, mit wankenden Beinen, wie 
ein Betrunkener der Barriere zu, wo er ſich zum Sterben 
niederlegt. Nun bekommt er noch den Gnadenſtoß des 
„Puntilleros“, der ihn mit der „Puntilla“, einem ſcharfen 
ſchweren Dolche, zwiſchen Kopf und Hals ſtößt, worauf er 
ſofort, die Beine ſtarr von ſich ſtreckend, verendet. Jetzt 
ſchreitet der glückliche Matador rund um die Arena, ſich für 
den ſtürmiſchen Beifall bedankend, während ſeine Begleiter 
die herabgeworfenen Cigarren einſtecken und ſich an den in 
mächtigem Bogen herabgeflogenen Weinfhläudhen mit „Vino 
tinto Valdepeñas“ ſtärken, indem ſie den Schlauch mit 
beiden Händen hochheben und aus der kleinen Offnung 
den dünnen Weinſtrahl in den geöffneten Mund ſchießen 
laſſen (die ſpaniſche Art des Trinkens). 
die bunten, klingelnden Maultiergeſpanne, welche die ekel⸗ 
haft verſtümmelten Pferdeleichen und den toten Stier in 
ſauſendem Galopp aus der Arena ſchleifen. Kaum iſt der 
Stier hinaus, ſo ertönt ſchon wieder ein Trompetenſignal, 
durch welches der zweite von den ſechs Stieren angemeldet 
wird. Auch er iſt ein ſchönes Tier, ein Prachtexemplar, 
vollſtändig ſchwarz und ſchlank gewachſen. Wie ein König 
ſteht er in der Mitte der Arena mit aufmerkſam erhobenem 
Kopfe, aber auch er geht, wie alle anderen, die die Arena 
betraten, dem ſicheren Tode entgegen, wenn er nicht etwa 
wegen Feigheit ausgepfiffen wird und das Publikum ſeine 
Entfernung verlangt. 

Mag man über diefe rohen Schaufpiele jagen, was man 
will, der Spanier hängt doch mit Begeifterung an feinem 
Nationalfefte, verhöhnt alle renden, die das Theater 
während der DBorftelung ber Scheußlichkeiten wegen ver- 
laffen, nennt fie „corazones de Manteca“ (Butterherzen) 
und belädelt fie mitletdig. Spanien ift eben ohne Stier- 





AInzwilhen famen 


y23 


gefechte nicht zu benfen, und bie Beichöniger behaupten, 


daß dieje Schaufpiele der Bevölkerung ben unerfhrodenen, 
mutigen, feften Charalter bewahrten, den fie 3. B. bei den 
napoleonihen Eroberungsverjuchen bezeugt haben. 

Die Hauptfige der Stierfechterjchule find Sevilla und 
Kordoba. Bort werden ZTorerod unter Leitung guter 
Lehrer zunädjft theoretiich ausgebildet, worauf fie dann Die 
Prari® an den fogenannten „Novillo8* (jungen ziveis bis 
dreijährigen tieren) üben, von denen fie allerdings mand) 
mal fhlimm genug behandelt werben, biß fie durd) jahre: 
lange Übung die nötige Geichidlichkeit errungen haben. 
Teer größte und befanntefte Stierfehhter der Segtzett fft 
Rafael Guerra (Guerrita), der bi8 zu 10000 Frc2. für eine 
Borftelung erhält. Er unternimmt mit feiner „Tuadrilla* 
Gaftipiele in allen Provinzen Spaniens, und der Wunfd, 
die Höhe feiner Kunft zu erreichen, bejeelt alle angehenden 
Toreros. Sein Nebenbuhler Manuel Garcia (Eöpartero) 
der beliebter war alß er, verunglückte bei dem Töten eines 
Gtiered in der „Plaza de Madrid“ am 27. Mai 1894, wad 
beinahe eine Nationaltrauer herborrief. Die bunten Lithos 
graphien ber befannteiten Stierfehhter ficht mar in allen 
Tavernen und Eleineren Geihäftsläden ald Wandihmud, 
und unzählige Zeitungen mit Tabellen, in denen die „Saidag“ 
der Picadores,, die toten Pferde, die Pafes de Muleta 
u. f. w. genau und rubrifmäßig aufgezählt find, erjcheinen 
gleid;, am Abend nad dem Stiergefedht. 

Die Stiergefechte finden an allen Sonntagen, aud an 


einigen Donnerdtagen ftatt, nur während der Wintermonate . 


wird Paufe gemadt. Man zählt jährlih ungefähr 500 
Eorridas de Toros, in den gegen 3000 Stiere und vielleicht 
5000 Bferde getötet werben, in einem Werte von 2 000 000 
Neietas. Die Stiere, die zu ben Stierfämpfen verwendet 
werben, beziehen die Unternehmer au8 ben Züchtereien zu 
hohen Preifen; man bezahlt für einen Stier 7502000 
Peſetas. Ein Aufhören diefer Kämpfe in Epanien darf 
man wohl vorläufig faum erwarten, denn felbjt der ärmite 
Spanter hängt mit wilder Leidenihaft daran und verjegt 
lieber feine Wertfadhen, darbt und bungert, che er eine große 
Corrida verſäumt. 


Naͤchtliche Wanderung. 


Auf düſt'rem Pfade düſt'res Schweigen; 
Zu rieſenhafter Höhe ſteigen 

Der Eichenkronen ſchwarze Reih'n. 

Sie reichen oben ſich die Hände, 

Und von dem Himmel blickt am Ende 
Ein ſchmaler Streifen noch herein. 


Und endlich iſt es völlig düſter; 

Nur noch ein zitterndes Geflüſter, 
Wenn ſich das Laub im Winde regt. 
Der Wandrer ſpürt mit leiſem Beben, 
Wie auch des Waldes Wonneleben 
Ein ſtilles Grauen in ſich trägt. 


Tilia Guignon. 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 





924 


Vermiſchtes. 


Yon Mommſens Zerſtrentheit oder, beſſer geſagt, Ver⸗ 
tiefung in ſeine Arbeit erzählt man folgendes Erlebnis von 
älterem Datum: Eines Tages bringt der Diener in das 
Arbeitszimmer des Herrn Profeſſors das Mittageſſen und 
bittet ſeinen Herrn zu Tiſche. Dieſer aber, in ſeine Arbeit 
vertieft, nimmt davon keine Notiz. Es wird bereits der 
zweite Gang aufgetragen, und noch ſteht der erſte unberührt. 
Beim Anblick der köſtlichen Speiſen kommt dem Diener ein 
„philoſophiſcher“ Gedanke, der aber nirgends aufgezeichnet 
ſteht, in den Sinn. Schnell ſtellt er den zweiten Gang hin, 
nimmt den erſten Teller weg und verſpeiſt ſeinen Inhalt. 
So erging es auch dem zweiten, dritten. Nach einigen Stunden 
verſpürt der Gelehrte eine gewiſſe Leere im Magen, er be⸗ 
giebt ſich ſelbſt in die Küche und fragt ärgerlich: „Bekomme 
ich denn heute kein Mittagbrot?“ Worauf der Diener er: 
widerte: „Der Herr Profeſſor haben ja ſchon gegeſſen.“ 
Und Mommſen ſetzt ſich wieder an ſeinen Arbeitstiſch und 
murmelt: „Wie konnte ich nur ſo vergeßlich ſein?“ 

Zemand beſuchte Kürzlich die Weſtminſterabtei und fand 
eine Perſon, die im Schiff der Kirche auf den Knieen lag 
und eifrig betete. Doch bald erſchien ein Nirchendiener, 
klopfte dem ſtillen Beter auf die Schultern und teilte ihm 
mit, er dürfe dort nicht beten. „Wenn wir dies erlauben,“ 
ſagte der Diener mit einem verächtlichen Seitenblick, „haben 
wir bald das ganze Gebäude voll von Leuten, die beten 
wollen.“ Beſſer läßt ſich die verknöcherte engliſche Eng⸗ 
herzigkeit und der Buchſtabengeiſt wohl nicht illuſtrieren. 

Eine Zueignung. Im Jahre 1824 erſchien: „Chriſtlicher 
Tempel des Herrn, der häuslichen Andacht geweiht, Dünkels⸗ 
bühl und Leipzig, bei Walther“, mit folgender Zueignung: 

„Dir, König aller Könige und Herr aller Herren! Drei- 
einiger Gott, Bater, Sohn und Heiliger Geift, geweiht vom 
Verleger.” 

Die reifenden Sundwerksdurfgen haben für jedes Ge: 
werbe einen bejonderen Epignanıen. Die Müller heißen 
„Roler*, die Bäder „Lehmer*; Schmiede „Tylammer“; 
Schneider „Stihler”; Barbiere „Wegichmeißer‘; Schuhs 
madher „Pflanzer”; Klempner „Sonnenichmiede*; Tleiicher 
„Katzhof“; Tiſchler „Hobeloffiziere“; Schloſſer „Katzenkopf“. 


Das iſt ein luſtiges Stexben ... 


Die Schnitter lachen und ſcherzen, 
Die Lerche jubelt laut; 

Es rauſchen die Halme zur Erde, 
Von Thränen licht betaut. 


Aufküßt der Himmel die Thränen, 
Hell klingt die Sichel drein: 
Das iſt ein luſtiges Sterben 
Im goldenen Frührotſchein! 
Ein Mägdlein hält wohl die Ähren 
In ihrem braunen Arm: 
Das iſt ein luſtiges Sterben 
So lebensſonnenwarm! 
Falentin Traudt. 





925 


Sprüche. 


Zerſchellte auf Pfaden irr und ſteil 
Dein Lebensfahrzeug auch in Stücken, 
Du kannſt daraus zu anderer Heil 
Noch einen Wegweiſer zuſammenflicken. 
2. 
Grundfäge braucht, Vorfäge nicht 
Ein feiter Mann, ein ganzer: 
Wer underwundbar von innen ift, 
Der jhleppt auch feinen Panzer. 


3. 
Wenn Du Dir nod fo weife fchienit, 
Dein Raten bringt Dir feine Hulbd: 
Stet3 nimmt der Frager das Berbienft 
Ind giebt dem Nater ftet3 die Schuld. 


4. 


Und trugft Du geftern centnerjdjiver, 
Heut’ drüdt das Lot von heute mehr. 


9. 


Gelbfttadel prüfft am beften Du, 

Stimmt Du ihm, leicht entichuld’gend, zu: 
Demütige Erkenntnis zeigt 

Sid) nie verlegt; fie nit und fchmweigt. 
Jedoch verfappte Eitelfeit 

Sit zur Verteid’gung leicht bereit. 


Haus Rordeck. 


Briefkaſten. 

Herrn S. KK. in E. Leider in der Form durchaus 
ungenügend. — Frl. G. L. in H. „Herbſt“ iſt mir doch 
etwas zu düſter. Auch ſind im erſten Abſatz einige 
Wendungen etwas zu ſehr abgebraucht. Nichts für ungut! — 
Herrn Spr. in Str. Bedeutend beſſer. „Am Strande“ 
werde ich wohl bringen können. In „Hafenſtille“ wieder: 
holen Sie den Reim ‚Köpfen“, was nicht gut wirkt. — 
Harn Fr. G. v. O. in C. „Im Münſter zu Worms“ iſt 
in Form unſicher, im Ausdruck etwas ſchrullig. Aber Sie 
können neue Verſuche ſenden. — Frl. Luiſe M. Gedanke 
wäre an ſich nicht übel, aber die Ausführung iſt mißlungen. 
— Frl. H. St. in B. über Kant „plaudert“ man nicht. 
Mit einer Nußſchale befährt man das Meer nicht. Wo 
wohnen Sie? Wenn Sie wollen, können Sie ſich das 
Schriftſtück in unſerem Verlage abholen. Aber ein ander— 
mal plaudern Sie über alles, nur nicht über Philoſophie. 








An unſere Leſer! 
Mit dieſem Hefte (Nr. 52) ſchließt der 33. Jahrgang der Deutſchen Roman-Zeitung. 


Beiblatt der Deutihen Roman-Zeitung. 
— FB. Din. Sie find ia ein „Weib des Säredens*! 


Bfliht von Ihnen fett unabweisbar forbert. 


926 


Sn den zwei Balladen fliegen die Köpfe umher wie Schwalben 
im Sommer. 

„Aufgehäuft wie hölzerne Kloben 

Zagen fie jegt Rumpf an Rumpf. 

Und grimmmverzerret gehet der Sultan 

Lächelnd durd) den blut’gen Sumpf. 


Die abgehadten Köpfe fchauen 

Radeichnaubend hinter ihn 

Und fie beten zum Chriftengotte: 

‚Strafe, Herrgott, jtrafe ihn.‘ 

In das Blut er taudt den Turban 

Und prejjet ihn dann an die Bruft. 

TZamerlar, Du Sceufal, Satan, 

So wa madt Dir aud no Luft!” 
Wie können Sie „jo wa8* fchreiben! — Herrn ©. W. in 
W—r „Kann’8 ander fein?“ wird wohl gelegentlidy 
fommen. — Herrn PR. in PB. Obwohl das Gedicht 
feinen Sormjinn und gewandte Sprache zeigt, fanıı ic) e8 nicht 
bringen, da der Teil von Zeile 25-32 unklar ift. Aber 
Sie dürfen mir anderes jenden. — Ungenannt aus Mostaı. 
Sn folder Lage giebt e8 nach meiner tiefften Überzeugung 
nur ein3, wa3 die Seele retten kann: Wahrheit. Und dann 
nehmen Sie mit ruhiger Kraft die Buße auf fid. So 
weiterzuleben, hieße fi für immer entwürdigen. Möge 
Gott Ihnen die Kraft geben, zu thun, wa8 die fittlidhe 
Für Ihr 
Bertrauen Dank. Der Brief ift Ihrem Wunfche gemäß 
vernichtet. — Herrn Gurt 9. in B. Angenommen — Frau 
©. Th. in®. Das 1.Bud ift mir nicht zugefendet worden, 
2. u. 3. werden gelegentlich beiprodhen. — Nr. 2. X. Leider 
fann ich Ihre Trage nicht beantworten. „Nacht“ etwas un- 
far; „Zaufftaat“ Tomımt. Beften Gruß. — Herrn und Frau 
b. 9. in 2. Beiten Dank für die freundlihe Gefinnung! 
— Frau D. A. in 9. 1) Nein. 2) Sa. 3) Lebt in Wien. 
— Han M. Th. in R. Wenden Ste fid an Brof. Sof. 
Kürfchner in Eifenacdh, der Ihnen darüber die beite Auskunft 
geben fann. 


Inhalt der No. 3. 

Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Schluß. — 
Schwerttlingen. Baterländifher Roman von Hans 
Werder Schluß. — Beiblatt: Sommernadt. Bon Gertrud 
Triepel. — Das freudige Teftament. on Karl Pröll. 
Schluß. — Stiergefeht. Yon Dom Alfredo Saö Mismo. 
(Deutih von Alfr. Friedmann.) — A los Toros. Bon 
Mar Tilte — Nädhtlide Wanderung. Bon Tilia 


Gutignon. — Vermifcdtes. — Das ift ein Iuftiges Sterben... 
Bon Balentin Traudt. — Sprüde. Von Hang Norded. 
— Briefkaſten. 











— 


Wir bitten 


unſere Abnehmer, ihre Beſtellungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poſtämtern rechtzeitig 
zu Jerneuern, damit keine Störung im Bezuge der Zeitſchrift eintritt. 
Aus umſtehender Anzeige wollen unſere Leſer Kenntnis von dem vorausſichtlichen Inhalte des 


neuen Jahrganges nehmen. 





y23 


daß dieſe Schauſpiele der Bevölkerung den unerfchrodenen, 
mutigen, feſten Charakter bewahrten, den ſie z. B. bei den 
napoleoniſchen Eroberungsverſuchen bezeugt haben. 

Die Hauptiſitze der Stierfechterſchule ſind Sevilla und 
Cordoba. Dort werden Toreros unter Leitung guter 
Lehrer zunächſt theoretiſch ausgebildet, worauf ſie dann die 
Praxis an den ſogenannten „Novillos“ (jungen zwei⸗ bis 
dreijährigen Stieren) üben, von denen ſie allerdings manch⸗ 
mal ſchlimm genug behandelt werden, bis ſie durch jahre⸗ 
lange übung die nötige Geſchicklichkeit errungen haben. 
Der größte und bekannteſte Stierfechter der Jetztzeit iſt 
Rafael Guerra (Guerrita), der bis zu 10 000 Fres. für eine 
Vorſtellung erhält. Er unternimmt mit ſeiner „Ouadrilla“ 
Gaſtſpiele in allen Provinzen Spaniens, und der Wunſch, 
die Höhe ſeiner Kunſt zu erreichen, beſeelt alle angehenden 
Toreros. Sein Nebenbuhler Manuel Garcia (Espartero) 
der beliebter war als er, verunglückte bei dem Töten eines 
Stieres in der „Plaza de Madrid“ am 27. Mai 1894, was 
beinahe eine Nationaltrauer hervorrief. Die bunten Litho— 
graphien der bekannteſten Stierfechter ſieht man in allen 
Tavernen und kleineren Geſchäftsläden als Wandſchmuck, 
und unzählige Zeitungen mit Tabellen, in denen die „Caidas“ 
der Picadores, die toten Pferde, die Paſes de Muleta 
u. ſ. w. genau und rubrikmäßig aufgezählt ſind, erſcheinen 
gleich am Abend nach dem Stiergefecht. 

Die Stiergefechte finden an allen Sonntagen, auch an 


einigen Donnerstagen ftatt, nur während der Wintermonate . 


wird Paufe gemadt. Man zählt jährlid ungefähr 500 
KSorridad de Torog, in den gegen 3000 Stiere und vielleicht 
5000 Pferde getötet werden, in einem Werte von 2 000 000 
Vefetas. Die Stiere, die zu den Stierfämpfen verwendet 
werden, beziehen die Unternehmer aus den Züchtereien zu 
hohen Preifen; man bezahlt für einen Stier 7502000 
Peſetas. Ein Aufhören biefer Kämpfe in Spanien barf 
man wohl vorläufig faum erwarten, denn jelbjt der ärmite 
Spanier hängt mit wilder Leidenfhaft daran und verjegt 
lieber feine Wertfachen, darbt und Hungert, che er eine große 
Gorrida verfäumt. 


Nähtlihe Wanderung. 


Auf düft’rem Pfade düft’reg Schweigen; 
Zu riefenhafter Höhe fteigen 

Der Eichenkronen Ihwarze Reih'n. 

Sie reihen oben fi) die Hände, 

Und von dem Himmel blidt am Ende 
Ein Shmaler Streifen noch herein. 


Und endlich ift e8 völlig büfter; 

Nur no ein zitterndes Geflüfter, 
Wenn fi dad Laub im Winde regt. 
Der Wandrer fpürt mit leifem Beben, 
Wie aud des Waldes Wonneleben 
Ein ftilleg Grauen in fi trägt. 


Tilte Gulguen. 


Beiblatt der Deutihen Roman:geitung. 
gefechte nicht zu denken, und die Beichöniger behaupten, 





924 





Vermiſchtes. 


Bon Aommſens Zerſtrentheit oder, beſſer geſagt, Ver: 
tiefung in ſeine Arbeit erzählt man folgendes Erlebnis von 
älterem Datum: Eines Tages bringt der Diener in das 
Arbeitszimmer des Herrn Profeſſors das Mittageſſen und 
bittet ſeinen Herrn zu Tiſche. Dieſer aber, in ſeine Arbeit 
vertieft, nimmt davon keine Notiz. Es wird bereits der 
zweite Gang aufgetragen, und noch ſteht der erſte unberührt. 
Beim Anblick der köſtlichen Speiſen kommt dem Diener ein 
„philoſophiſcher“ Gedanke, der aber nirgends aufgezeichnet 
ſteht, in den Sinn. Schnell ſtellt er den zweiten Gang hin, 
nimmt den erſten Teller weg und verſpeiſt ſeinen Inhalt. 
So erging es auch dem zweiten, dritten. Nach einigen Stunden 
verſpürt der Gelehrte eine gewiſſe Leere im Magen, er be⸗ 
giebt ſich ſelbſt in die Küche und fragt ärgerlich: „Bekomme 
ich denn heute kein Mittagbrot?“ Worauf der Diener er⸗ 
widerte: „Der Herr Profeſſor haben ja ſchon gegeſſen.“ 
Und Mommſen ſetzt ſich wieder an ſeinen Arbeitstiſch und 
murmelt: „Wie konnte ich nur ſo vergeßlich ſein?“ 

Zemand beſuchte Kürzlich die Weſtminſterabtei und fand 
eine Perſon, die im Schiff der Kirche auf den Knieen lag 
und eifrig betete. Doch bald erſchien ein Kirchendiener, 
klopfte dem ſtillen Beter auſ die Schultern und teilte ihm 
mit, er dürfe dort nicht beten. „Wenn wir dies erlauben,“ 
ſagte der Diener mit einem verächtlichen Seitenblick, „haben 
wir bald das ganze Gebäude voll von Leuten, die beten 
wollen.“ Beſſer läßt ſich die verknöcherte engliſche Eng⸗ 
herzigkeit und der Buchſtabengeiſt wohl nicht illuſtrieren. 

Eine Zueignung. Im Jahre 1824 erſchien: „Chriſtlicher 
Tempel des Herrn, der häuslichen Andacht geweiht, Dünkels⸗ 
bühl und Leipzig, bei Walther“, mit folgender Zueignung: 

„Dir, König aller Könige und Herr aller Herren! Drei⸗ 
einiger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geiſt, geweiht vom 
Verleger.“ 

Die reifenden Sandwerksdurfgen haben für jedes Ge⸗ 
werbe einen bejonderen Epignanen. Die Müller heißen 
„Roler*, die Bäder „Lehmer*; Schmiede „Tylammer“; 
Schneider „Stihler*; Barbiere „Wegichmeißer‘; Schuh 
mader „Pflanzer*; Klempner „Sonnenichmiede*; Fleifcher 
„Katzhof“; Tiſchler „Hobeloffiziere“; Schloffer „Ratenkopf“. 


Das iſt ein luſtiges Sterben .. 


Die Schnilter lachen und ſcherzen, 
Die Lerche jubelt laut; 

Es rauſchen die Halme zur Erde, 
Von Thränen licht betaut. 


Aufküßt der Himmel die Thränen, 
Hell klingt die Sichel drein: 
Das iſt ein luſtiges Sterben 
Im goldenen Frührotſchein! 
Ein Mägdlein hält wohl die Ähren 
In ihrem braunen Arm: 
Das iſt ein luſtiges Sterben 
So lebensjonnenwarm! 
Balentin Traudt. 





925 
Sprüde. 
1. 


Zerfchellte auf Pfaden irr und fteil 
Dein Lebenzfahrzeug aud in Stüden, 
Du kannt daraus zu anderer Heil 
Noch einen Wegweijer zujammenfliden. 
2. 
Grundfäße braucht, Vorfäte nicht 
Ein fefter Mann, ein ganzer: 
Wer unverwundbar von innen ift, 
Der jhleppt auch feinen Panzer. 


3. 
Wenn Du Dir noch fo weile fchienit, 
Dein Raten bringt Dir feine Hulb: 
Stet? nimmt der Frager das Berbienit 
Und giebt dem Nater ftet3 die Schuld. 


4. 


Und trugft Du geftern centnerjchiver, 
Heut’ drüdt das Lot von heute mehr. 


9. 


GSelbittadel prüfft am beften Du, 

Stimmft Du ihm, leicht entjchuld’gend, zu: 
Demütige Erkenntnis zeigt 

Sid nie verlegt; fie nit und fchweigt. 
Sedo verfappte Eitelkeit 

Sit zur Verteid’gung leicht bereit. 


Haus Rordeck. 


Briefkaſten. 


Ham ©. 8. in E. Leider in der Form durchaus 
ungenügend. — Frl. G. L. in H. „Herbſt“ iſt mir doch 
etwas zu düſter. Auch ſind im erſten Abſatz einige 
Wendungen etwas zu ſehr abgebraucht. Nichts für ungut! — 
Herrn Spr. in Str. Bedeutend beſſer. „Am Strande“ 
werde ich wohl bringen können. In „Hafenſtille“ wieder— 
holen Sie den Reim ‚Köpfen“, was nicht gut wirkt. — 
Herrn Fr. G. v. O. in C. „Im Münſter zu Worms“ iſt 
in Form unſicher, im Ausdruck etwas ſchrullig. Aber Sie 
können neue Verſuche ſenden. — Frl. Luiſe M. Gedanke 
wäre an ſich nicht übel, aber die Ausführung iſt mißlungen. 
— Frl. H. St. in B. über Kant „plaudert“ man nicht. 
Mit einer Nußſchale befährt man das Meer nicht. Wo 
wohnen Sie? Wenn Sie wollen, können Sie ſich das 
Schriftſtück in unſerem Verlage abholen. Aber ein ander— 
mal plaudern Sie über alles, nur nicht über Philoſophie. 


Beiblatt der Deutſchen Roman-Zeitung. 
gel. W.D.in B. Sie ſiind ja ein Weib des Shredens"! 


Pflicht von Ihnen jetzt unabweisbar fordert. 


926 


In den zwei Balladen fliegen die Köpfe umher wie Schwalben 
im Sommer. 

„Aufgehäuft wie hölzerne Kloben 

Lagen ſie jetzt Rumpf an Rumpf. 

Und grimmverzerret gehet der Sultan 

Lächelnd durch den blut'gen Sumpf. 


Die abgehackten Köpfe ſchauen 

Racheſchnaubend hinter ihn 

Und ſie beten zum Chriſtengotte: 

„Strafe, Herrgott, ſtrafe ihn.“ 

In das Blut er taucht den Turban 

Und preſſet ihn dann an die Bruſt. 

Tamerlan, Du Scheuſal, Satan, 

So was macht Dir auch noch Luſt!“ 
Wie können Sie „ſo was“ ſchreiben! — Herrn G. W. in 
W—r „Kann's anders ſein?“ wird wohl gelegentlich 
kommen. — Herrn P. R. in P. Obwohl das Gedicht 
feinen Formſinn und gewandte Sprache zeigt, kann ich es nicht 
bringen, da der Teil von Zeile 25-32 unklar iſt. Aber 
Sie dürfen mir anderes jenden. — Ingenanntaus Mostau. 
In folder Lage giebt e8 nach meiner tiefften Überzeugung 
nur eins, wa3 die Seele reiten kann: Wahrheit. Und dann 
nehmen Sie mit ruhiger Sraft die Buße auf fi. So 
weiterzuleben, hieße fich für immer entwürdigen. Möge 
Gott Ihnen die Kraft geben, zu thun, was die fittliche 
Für Ihr 
Vertrauen Dank. Der Brief ift Shrem Wunde gemäß 
vernichtet. — Herrn Gurt 9. in B. Angenommen — Frau 
©. Th. in®. Das 1.Bud ift mir nicht zugejendet worden, 
2. u. 3. werden gelegentlich beiprochen. — Nr. 2. &. Leider 
fann ih Ihre Frage nicht beantworten. „Nacht“ etwas un- 
Har; „Zaufftaat“ kommt. Beiten Gruß. — Herrn und Frau 
v.9. in 2. Beiten Dank für die freundliche Gefinnung! 
— Frau D. A in 9. 1) Nein. 2) 3a. 3) Lebt in Wien. 
— Herrn M. Th. in R. Wenden Sie fid an Brof. Sof. 
Kürfchner in Eifenadh, der Ihnen darüber die beite Auskunft 
geben fann. 


Dnhalt der No. 52. 

Art zu Art. Roman von 9. Schobert. Schluß. — 
Schwertilingen. Baterländifher Roman von Han 
Werder. Schluß. — Beiblatt: Sommernadt. Von Gertrud 
Triepel. — Das freudige Teftament. Von Karl Pröll. 
Schluß. — Stiergefeht. Bon Dom Alfredo Saö Mismo. 
(Deutih von Alfr. Friedmann.) — A los Toros. Bon 
Mar Tilte — Nädtlihde Wanderung. Bon Tilia 
Guignon. — Vermifchtes. — Das ift ein Inftiges Sterben... 
Bon Valentin Traudt. — Sprüde. Von HanzNorded. 
— Brieflaften. 





An unlere Befer! 


Mit diefem Hefte Nr. 52) fchließt der 33. Jahrgang dev Deutfchen Noman-Zeitung. 


Wir bitten 


unfere Abnehmer, ihre Beftelungen bei den betreffenden Buchhandlungen und Poftämtern rechtzeitig 
zu erneuern, damit feine Störung int VBezuge der Seitjchrift eintritt. 
Aus umjtehender Anzeige wollen unjere Lejer Kenntnis von dem vorausfichtlichen Synhalte des 


neuen SYahrganges nehmen. 





Der neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten: 


Ein doppeltes Ich. 


Roman 


Unter den Borgia. 


Roman 
von 


Sermann Seiberg. 


von 


Rihard Boß. 








BL ARE TE BE FELL AR A En ENDE FRI DE BEE EB FR RE BE 


5 Söheufrofk, roman von Cart Bulle. = 





— — ———— ——— EREREBETRT TREE EB RER EHER RI BNETN 


Die Fremde. 


Roman 





* 


Intriganten. 


Hiſtoriſcher Roman 


von 


Hans Wachenhuſen. 


Am Ende von Alt-Berlin. 


Hiftorischer Roman 


von 


Sedor von Bobeltik. 


Ohne Liebe. 


Roman 
von 


Bruno Garlepp. 


von 


E. v. Wald-Zedtwitz. 


Schloß Geisberg. 


Roman 


Wendepunktre. 


Roman 


von 


MA. Horden. 
(R. Binnius.) 


von 


Iofefine Gräfin Schwerin. 





Romane von H. Schobert, &. Karl, 2. Glaß werden folgen, jo daß wir unferen Yelern eine Ab— 
wecdjslung bieten, die von feiner anderen Zeitjchrift erreicht wird. 


al wird im unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil unferer 
Das WVeib latt Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen 
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialismus 
zum Ziele genommen. Dtto von Leixners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren 
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen. 
Leitung und Verlag der Deutſchen Zoman⸗-Zeitung. 
Berlin, Anhaltſtr. 11. 


Berantwortlicher Leiter: Otto von Leixner in Berlin, — Berlag von Otto Jauke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdruckerei⸗ Aktien⸗ Geſell ſchaft 
(Setzeriimen⸗Schule des Lette⸗Bereinß). 





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Der neue Jahrgang wird u. a. folgende Beiträge enthalten: 


Ein doppeltes Ich. 


Roman 


Unter den Borgia. 


Roman 


von 


Rihard Bob. 


von 


Sermann Seiberg. 





UT LAN FEN ir —— — — — — ————— — — — — 


—F SHöohenfroſt. Moman ven Garſ Wuſſe. =. 





— —— ———— ——— — — ———— SE — — — EEE AN AR Su E 


Die Iremde. 


Roman 








önfriganten. 


Hiftorischer Roman 


von 


Dans Wachenhufen. 


Am Ende von Alt-Berlin. 


Hiftorifcher Roman 


von 


Sedor von Bobeltik. 


Ohne Liebe. 


Roman 


von 


Bruno ©arlepp. 


von 


&. v. Wald-Bedtmiß. 


Shlof Geisherg. 


Roman 


Wendenunkte, 


Roman 
von 


A. Horden. 
(A. Binnius.) 


von 


Iofefine Eräfin Schwerin. 





Romane von H. Schobert, €. Karl, &. Glaf werden folgen, jo daß wir unjeren Yelern eine Ib- 
wechslung bieten, die von feiner anderen Zeitjchrift erreicht wird. 


cf wird in unveränderter Richtung fortgeführt. Wie im Hauptteil umnjerer 
Das Veib lat Zeitung im allgemeinen, ſo wird hier im beſonderen 
die Pflege deutſcher Geſinnung, die Bekämpfung der Fremdſucht und des Materialis mus 
zum Ziele genommen. Dtto von Leixners Grundſätze bei der Auswahl der Beiträge ſind unſeren 
Leſern bekannt, er wird dieſem Teile des Blattes nach wie vor ſeine beſondere Sorgfalt widmen. 
Leitung und Verlag der Deutſchen Roman⸗-Zeitung. 
Berlin, Anbaltjtr. 11. 


f- — — — — — ——— — ————— ——— —— —————— nn re ad, 
Berantwortlicher Leiter: Otto von Leixnet in Berlin, — Berlag von Otto Janke in Berlin. — Druck der Berliner Buchdrucerei⸗ Aktien⸗ Geſell ſchaft 
(Gegeriuunen » Schule deB vette⸗Bereinß). 





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