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University of Toronto
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M ,^1
\vx
DIE LI TERATUR
SAMMLUNG ILLUSTRIERTER
EINZELDARSTELLUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON
GEORG BRANDES
SIEBENUNDDREISSIGSTER BIS
ACHTUNDDREISSIGSTER BAND
--3F
^^-^
NACH DEM GEMÄLDE VON ARNOLD BÖCKLIN
VerlaiJ Jer Phoioi
Published Decemher /j. j^o6.
Privilege of Copyright in the
Tlnihd States reserved under the
act approved March 5. J^o^ hy
Bard, Marquardtcr Co. in Berlin.
PT
1115
J^lESBTi STJ^EirZUG DU7{CH D7E
J^^ deutsche lyrische "Dichtung des letzten Jialbjahr-
hunderts ist die Erweiterung eines Vortrages, den ich
zuerst in der Lesegesellschaft zu \ö'ln vor einem
literarischen Publikum und dann im 'Bürgersaale des
Berliner T(athauses vor den Zuhörern der ,, Treien Hoch-
schule'* hielt. Tür den vorliegenden Druck 'd^ß ich die
Tortragsform unverändert, um den ursprünglichen Cha-
rakter nicht unnötig zu verwischen.
Eine ergänzende Darstellung behalte ich mir einmal
für später vor.
J{J17{L HEJ\XJ(ELL
h
ON SEHR ALTEN VERGANGEN-
heiten bis zum gegenwärtigen Tage be-
gleitet die Kunst der Lyrik das mensch-
liche Geschlecht auf seinen wunderbaren
Pfaden. Unausrottbar, unermüdlich rege
bleibt der Reiz, in rhythmisch vollendet
gegliederter Sprache, mit feinfühlig
lauschendem inneren Ohr das Wesen der
"Welt, ihre Offenbarungen und Geheim-
nisse, klangvoll und bildkräftig dichterisch zum Ausdruck
zu bringen. Die Lyrik lebt und webt mit dem Leben
und Weben der Menschheit; es gibt eine ewige Wieder-
geburt der Welt im Lied. Wir haben erfahren, daß der
einfachste wie der zusammengesetzteste Typus Mensch
seine Selbsterlösung im Lied gefunden oder doch nach
ihr gesucht hat. Mit der zunehmenden Verzweigung der
Empfindungen mußten sich die Mittel des lyrischen Aus-
drucks naturgemäß auch immer mehr verfeinern, worauf
aller sogenannte Fortschritt in der lyrischen Technik be-
ruht — Wurzel, Stamm und Hauptäste des menschlichen
Welt- und Lebensgefühls rufen dagegen in ihrem dauernd
gleichen Grundbestande stets von neuem nach gleichen
Gesetzen ihr lyrisches Lautbild hervor. Wenn wir die
echten Bücher der Lyrik öfFnen, so schlagen wir damit
eigentlich nur rhythmisch gesteigertellrkundendesMenschen-
herzens auf. Gleichnisse der Seele entdecken wir, die in
urvertrautem Laut uns mehr oder weniger geheimnisvoll
umschweben. Je größer ein Dichter, um so stärker zieht
er unser Tiefstes, Verborgenstes in Mitleidenschaft und
führt uns, wo er am köstlichsten ist, liebend zum dunklen
Mutterschoße der Natur zurück.
Wir Deutschen leben nun, wie Sie wissen, des frohen
Glaubens, das wahrhaft auserwählte Lyrikervolk zu sein.
Und wir dürfen uns auch auf unsere lyrischen Schatz-
kammern etwas zugute tun. Sie sind gefüllt mit Gold
VOJ^ DEUTSCTfETj mCHTUJVG ^
und Edelgestein, mit leuchtenden reinen Kristallen, die
wie verzaubert ein seltsames Klingen hören lassen, daß man
gebannt zu jeder hohen Stunde, die das drängende Leben
freigibt, darin wandeln und nur immer schauen und lauschen
mag, was das Herz begehrt — es findet sich bestimmt für
jeden, der nicht ein armer blinder und tauber Barbar ist,
ein Kleinod, tief leuchtend in stillem, ruhigem Glanz oder
aufflammend in stolzem Schein, dem er seine innige Liebe,
seine glühende Bewunderung hingeben muß. w\e haben
sich nicht allein im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre
die alterworbenen Reichtümer gemehrt und gehäuft, daß
es eine Lust und "\X^eide ist, sie zu überschauen! Sie kennen
Alle die Reihe ragender Mehrer dieses unseres lyrischen
Nationalreichtums vom gefühlsselig schwärmenden Klop-
stock, vom freimännlich urwüchsigen Bürger und groß-
menschlich dithyrambischen Schiller zum hellenenfrommen
Hölderlin und johanneszarten Novalis; vom innig-
schlichten Waldsänger Eichendorff über den Jungbrunnen
des Brentanoschen Wunderhorns zum maihauchenden,
wortknappen und doch so überquellenden treuen Kame-
raden U hl and; vom erdumsegelnd tiefsinnigen Salas Y
Gomez-Sänger und dabei doch so heimseligen Frauenlieb-
und -Lebenverklärer Adelbert von Chamisso zum
liebesfrühlingkündenden und makamen-weisheittriefenden
Rückert — über ihnen allen von Generation zu Genera-
tion gewaltig emporwachsend der allmenschliche, in Leben
und Lied weltumspannende Goethe.
Freudebrausend rollte mit ihm der Strom der deutschen
l^rrik im breitgegrabenen Bette dahin. Und immer neue
Flußgötter und Waldfaune der Dichtung tauchten auf und
bliesen eigentönig ihr Instrument, Muschelhorn oder Flöte.
Wie kaum eine andere Periode — höchstens die heutige —
bezeugte die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wel-
cher Gefühls- und Geistespole die Kunst der Lyrik fähig
ist, wie sie zum gleich glücklichen und gleich notwendigen
Ausdrucksmittel wird der verschiedenartigsten Weltan-
schauungen, der entgegengesetztesten Persönlichkeiten.
J{jn{L HEJMCJ^ELL
Das romantische Gefühlshelldunkel wurde überflutet von
Strahlenbündeln moderner Kulturideale, der Zug zum Volks-
eigentümlichen fand sein psychologisches Ergänzungs- oder
auch Gegenstreben in der human -kosmopolitischen, mehr
rationalistischen Geistesart. Graf Platen trug feierlich in
strengen Maßen sein Verlangen nach schöneren, freieren
Menschheitsformen vor, während sich unter den stolzen
Falten seines Mantels ein tiefunbefriedigtes Herz verbarg,
ein zehrender Lebensschmerz, dem er vergeblich in sonnige
Gefilde zu entfliehen suchte; ich erinnere Sie nur, abge-
sehen von seinen Tagebüchern, an das für Platen vielleicht
aufschlußreichste Gedicht:
LEBENSSTIMMUNG.
"Wem dein wachsender Schmerz Busen und Geist be-
klemmt.
Als Vorbote des Tods, bitterer Menschenhaß,
Dem blüh'n der Gesang, die Tänze,
Die Gelage der Jugend nicht.
Sein Zeitalter und er scheiden sich feindlich ab.
Ihm mißfällt, was erfreut Tausende, während er
Scharfsichtige, finstre Blicke
In die Seele der Toren wirft.
'Weh ihm, wenn die Natur zarteren Bau vielleicht.
Bildungsreicheren lieh seinem Gehör, um durch
Kunstvolle Musik der Worte
Zu verewigen jede Pein!
Wenn unreifes Geschwätz oder Verleumdung ihn
Kleinlichst foltert, und er, welchen der Pöbel höhnt.
Nicht ohne geheimes Knirschen
Unerträgliche Qual erträgt:
Wenn Wahrheiten er denkt, die er verschweigen muß.
Wenn Wahnsinn dem Verstand schmiedet ein ehern Joch,
Wenn Schwäche des Starken Geißel
Wie ein heiliges Zepter küßt:
VOJ^ DEUTSCTfETi DJCJiTUJ^G 5
Ja, dann wird er gemach müde des bunten Spiels,
Freiheitatmender wehn Lüfte des Heils um ihn.
Wieg legt er der Täuschung Mantel
Und der Sinne ,, gesticktes Kleid".
Ob zwei Seelen es gibt, welche sich ganz verstehn?
Wer antwortet? Der Mensch forsche dem Rätsel nach,
Gleichstimmige Menschen suchend,
Bis er stirbt, bis er sucht und stirbt . . .
Von welcher großen, im tiefsten Grunde und besten
Sinne modernen' Auffassung des Dichterberufes zeugt nicht
ein kurzes Gedicht wie das folgende, in der von ihm ge-
liebten, orientalischen Ghaselcnform!
GHASELE.
"Was gibt dem Freund, was gibt dem Dichter seine Weihe?
Daß ohne Rückhalt er sein ganzes Selbst verleihe;
Erleuchten soll er klar der Seele tiefste Winkel,
Ob auch ein Tadler ihn verlor'ner Würde zeihe.
Ihr Halben hofft umsonst, mit enger Furcht im Herzen,
Daß euer Lied man einst zu großen Liedern reihe:
Stumpfsinnige, was wähnt ihr rein zu sein? Ich hörte,
Daß keine Schuld so sehr, als solch ein Sinn entweihe:
Ich fühlte, daß die Schuld, die uns aus Eden bannte,
Schwungfedern uns zum Flug nach höhern Himmeln leihe:
Noch bin ich nicht so bleich, daß ich der Schminke
brauchte.
Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!
" Den formvollendeten Dichter des „Grabes am Busento"
kennen wir alle von der Schulbank her, vergessen wir da-
rüber nicht des eigentlichen Menschen, wie er aus solchen
Bekenntnisversen spricht. August Graf von Platen war ein
Sohn der Einsamkeit und des Schmerzes, Junker der Frei-
heit und Schwertträger der Schönheit. Er war der Sprache
feierlich schJeppentragender Page.
\AT{L HEJ\JCJ{ELL
Platens bestumstrittener Zeitgenosse Heinrich Heine
pflanzte seine poetischen Wimpel auch auf zerrissenem
Lebensgemäuer auf, nur ohne die feierliche Gebärde,
die ihn an dem Dichtergrafen so ärgerte; Heine war ein
so großer Künstler des deutschen Verses, daß er, im feineren
kunstgemäßen Sinne zweifellos heldisch, mit schmerzendem
Fuß und Rückgrat — beides hier nur bildlich im seelischen
Sinne gebraucht — einen wahren Märtyrer- und Sieger-
tanz auf Ruinen ausführte, in der einen Hand die pras-
selnde Fackel eines nach Freiheit verschmachtenden Geistes,
in der andern die bald betörend süße, bald grell ausklirrende
Lyra der närrischsten Herzenssehnsucht schwingend.
Heine mußte fortwährend seines Herzens eigene Kinder
töten: der Dichter der ,, "Wallfahrt nach Kevlaar" und der
„Loreley" war gewiß mit romantischem Weihwasser be-
sprengt, und doch mußte er, der satanische „Intellektuelle"
lachen, lachen über den frommen, seligen Spuk, der in
ihm rumorte, und helle Geistesfeuer anzünden, um die
lieben Sehnsüchte seines Gemüts auflodernd darin zu ver-
brennen. Und dann gelang es ihm noch, mit scheinbar
leichter Grazie über den rauchenden Scheiterhaufen zu
springen und zu singen: Ecce Heine! indem er sich in
glänzenden Trochäen ganz unübertrefflich selber charak-
terisierte:
Aus: BlMINl.
Bimini 1 bei deines Namens
Holdem Klang, in meiner Brust
Bebt das Herz, und die verstorb'nen
Jugendträume, sie erwachen.
Auf den Häuptern welke Kränze,
Schauen sie mich an wehmütig;
Tote Nachtigallen flöten,
Schluchzen zärtlich, wie verblutend.
Und ich fahre auf, erschrocken.
Meine kranken Glieder schüttelnd
K)7V BEKTSCJiBlj BlCJiTUlMG J
Also heftig, daß die Nähte
Meiner Narrenjacke platzen —
Doch am Ende muß ich lachen.
Denn mich dünket, Papageien
Kreischten drollig und zugleich
Melancholisch: Bimini.
Hilf mir, Muse, kluge Bergfee
Des Parnasses, Gottestochter,
Steh' mir bei jetzt und bewähre
Die Magie der edlen Dichtkunst —
Zeige, das du dichten kannst.
Und verwandle flugs mein Lied
In ein Schiff, ein Zauberschiff,
Das mich bringt nach Bimini!
Kaum hab' ich das Wort gesprochen.
Geht mein Wunsch schon in Erfüllung,
Und vom Stapel des Gedankens
Läuft herab das Zauberschiff.
"Wer will mit nach Bimini?
Steiget ein, ihr Herrn und Damen!
Wind und Wetter dienend, bringt
Euch mein Schiff nach Bimini.
Leidet ihr am Zipperlein,
Edle Herren? Schöne Damen,
Habt ihr auf der weißen Stirn
Schon ein Rünzelchen entdeckt?
Folget mir nach Bimini,
Dorten werdet ihr genesen
Von den schändlichen Gebresten;
Hydropathisch ist die Kur!
Fürchtet nichts, ihr Herrn und Damen,
Sehr solide ist mein Schiff;
Aus Trochäen, stark wie Eichen,
Sind gezimmert Kiel und Planken.
8 J^J[J{L JiEJ^C\ELL
Phantasie sitzt an dem Steuer,
Gute Laune bläht die Segel,
Schiffsjung ist der "Witz, der flinke;
Ob Verstand an Bord? Ich weiß nicht!
Meine Raen sind Metaphern,
Die Hyperbel ist mein Mastbaum,
Schwarz-rot-gold ist meine Flagge,
Fabelfarben der Romantik —
Trikolore Barbarossas,
Wie ich weiland sie gesehen
Im Kyffhäuser und zu Frankfurt
In dem Dome von Sankt Paul. —
Durch das Meer der Märchenwelt,
Durch das blaue Märchenweltmcer,
Zieht mein Schiff, mein Zauberschiff,
Seine träumerischen Furchen.
Funkenstäubend mir voran.
In dem wogenden Azur
Plätschert, tummelt sich ein Heer
Von großköpfigen Delphinen —
Und auf ihrem Rücken reiten
Meine Wasserpostillone,
Amoretten, die bausbäckig
Auf bizarren Muschelhörnern
Schallende Fanfaren blasen. —
Aber horch! da unten klingt
Aus der Meerestiefe plötzlich
Ein Gekicher und Gelächter.
Ach, ich kenne diese Laute,
Diese süßmoquanten Stimmen —
Das sind schnippische Undinen,
Nixen, welche skeptisch spötteln
i
HEINRICH HEIXE 1829.
VOJ^ DEUTSCHE7{ BlCTiTUJ^G 9
Über mich, mein Narrenschiff,
Meine Narrenpassagiere,
Über meine Narrenfahrt
Nach der Insel Bimini.
Nach einer so meisterlichen lyrischen Selbstporträtierung
müssen wir uns doch vorsehen, einer im guten und gefähr-
lichen außerordentlichen Genialität gegenüber, uns mit an-
maßlicher Schulmeistercharakteristik vor Apoll und den
neun Musen zu blamieren, um vielleicht bei irgend einem
selbstgerechten Teutomanen einen Stein im Brett zu be-
kommen. Halten wir uns an das Geniale und lassen wir
die schwachen Schimpflinge laufen!.. Wer hat den zarten
Gedanken und Liedern der Liebe, wie sie unvergänglich seit
Jahrtausenden auf dem Felde der Menschheit erblühen, je
ein innigeres und schlichteres Motto gedichtet als Heine
in seinem freirhythmischen
EPILOG.
Wie auf dem Felde die Weizenhalmen,
So wachsen und wogen im Menschengeist
Die Gedanken.
Aber die zarten Gedanken der Liebe
Sind wie lustig dazwischenblühende
Rot' und blaue Blumen.
Rot' und blaue Blumen!
Der mürrische Schnitter verwirft euch als nutzlos.
Hölzerne Flegel zerdreschen euch höhnend.
Sogar der hablose Wandrer,
Den eu'r Anblick ergötzt und erquickt.
Schüttelt das Haupt
Und nennt euch schönes Unkraut.
Aber die ländliche Jungfrau,
Die Kränzewinderin,
Verehrt euch und pflückt euch.
Und schmückt mit euch die schönen Locken,
BJiJlJSrDES: DIE UTET{JlTini. BJIJMV XXXVII l XXXVIII B
lO J{AT{L ?{EMCJ{ELL
Und also geziert eilt sie zum Tanzplatz,
Wo Pfeifen und Geigen lieblich ertönen,
Oder zur stillen Buche,
Wo die Stimme des Liebsten noch lieblicher tönt
Als Pfeifen und Geigen.
Und wer wiederum hat so schlagend schalkhaft im lyri-
schen Epigramm den deutschen Dichter zur gehörigen
Vorsicht ermahnt, als eben Heine in seiner
WARNUNG.
Solche Bücher lässt du drucken!
Teurer Freund, du bist verloren!
Willst du Geld und Ehre haben,
Mußt du dich gehörig ducken.
Nimmer hätt ich dir geraten.
So zu sprechen vor dem Volke,
So zu sprechen von den Pfaffen
Und \on hohen Potentaten.
Teurer Freund, du bist verloren!
Fürsten haben lange Arme,
Pfaffen haben lange Zungen,
Und das Volk hat lange Ohren.
So hatte die deutsche Lyrik ihren auserwählten Prinzen
Karneval mit dem kostbaren Scharlachgewand, der vergol-
deten Pritsche, auch ein wenig Flittergold im Haar und
dem mehr gequälten als fröhlichen Herzen. Blitzende
Geisteslaune, neptunische Nordseebildsouveränetät hatte
dem Vers eine vorher kaum gekannte Geschmeidigkeit und
schöne Willkürlichkeit verliehen, überlegenes stilistisches
Satirspiel aber der allzu simpeln, romantisierenden Naive-
tätsmanie, ohne sich selber dabei im geringsten zu schonen,
den Todesstoß versetzt.
VOJ\} DEUTSCHER DJCTfTVJ^G IJ
In den bald übermütigen, bald katzenjämmerlichen Sang
der verhexten rheinischen Spottdrossel, über die sich
heute noch die Wächter des deutschen Schrifttums in Für
und "Wider weidlich erregen, tönte vom Südosten herüber
die herzergreifend melodische Lebens- und Zeitklage der
einsamen, melancholischen Nachtigall: Nikolaus Lenaus
unglückliche Seele suchte Trost und Erlösung in wehevollen
Weisen von ebensolcher Feinheit wie Tiefe des Gefühls.
Hier war nirgends ein unheimlicher Satyr versteckt, der
plötzlich gräuliche Gesichter schneidend hervorbrach — das
tat merkwürdigerweise nur der wirkliche Lenau manchmal
zum Entsetzen seiner Freunde — hier war stiller, aber
mächtiger Ausdruck der Trauer oder erschütternder Auf-
schrei der wildesten Verzweiflung. Keine Kraft, kein Mut
zum Glücklichsein, Versagen des sehnsüchtig der Braut ent-
gegenziehenden Freiers unmittelbar an der Schwelle des
H ochzeitgemachs :
OHNE WUNSCH.
Ja, mich rührt dein Angesicht
Und dein Herz, das liebevolle.
Aber, Mädchen, glaube nicht.
Daß ich dich besitzen wolle.
Kamst mir durch die Seele wie
Ein süßholdes Lied gedrungen.
Aber wie die Melodie
Mußt du wieder sein verklungen.
Meine Freuden starben mir
In der Brust, bestürmt, gespalten.
An den Bahren könnten wir
Nur mit Grauen Hochzeit halten.
Ein zu trüber Lebensgang
Führte mich an steile Ränder.
Kind, mir würde um dich bang.
Flieh, es krachen die Geländer!
12 T{A1{L T{EJ^CJ(ELL
Schaudert man nicht wie vor einem schwindelnden Ab-
grund, bei dem schicksalsmächtigen Schlußverse des Ge-
dichts? . . . Diesem hin und her gehetzten Zigeuneraristo-
kraten, diesem elementaren Schwermutsgenie der deutschen
Dichtung war Macht verliehen, mit seelenbannendem Wort
den Schleier des Lebensschmerzes über die ganze Natur
zu breiten — wenn er geigte, war er ein wunderbarer
Meisterspieler der Melancholie:
HIMMELSTRAUER.
Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke,
Die düst're Wolke dort, so bang, so schwer;
Wie auf dem Lager sich der Seelenkranke,
Wirft sich der Strauch im Winde hin und her.
Vom Himmel tönt ein schwermutmattes Grollen,
Die dunkle Wimper blitzet manches Mal —
So blinzen Augen, wenn sie weinen wollen —
Und aus der Wimper zuckt ein schwacher Strahl.
Nun streichen aus dem Moore kühle Schauer
Und leise Nebel übers Haideland;
Der Himmel ließ, nachsinnend seiner Trauer,
Die Sonne lässig fallen aus der Hand.
Nur schon die beiden letzten Zeilen mit ihrer feinen
Seelenzeichnung und Natursymbolik würden Lenau zum
reichsunmittelbaren Fürsten der melancholischen Lyrik
krönen.
Lenau spricht einmal von der „Einsamkeit, dem Schatten
Gottes". Er selbst war der klingende Baum, der in diesem
Schatten wuchs. Der Blitz hatte eingeschlagen. Sein ge-
dankenvolles und freiheitkühnes Haupt senkte sich immer
tiefer zu Boden. Das Unglück und die Liebe gaben sich
an der blitzgeweihten Stätte, dem „Enelysion", wie es
die ehrfürchtigen Griechen nannten, ihr zartes Stelldich-
ein. Dann klang der Baum unsäglich traurig, und mit
NIKOLAUS LENAU.
VOJ^ DEUTSCTiEJj DJCTiTUJ^G I^
ihm tönte, von Schmerz durchbebt, der dunkelsausende
Föhren wald.
Aber der arme Niembsch von Strehlenau, leis wehklagend
wie Säuseln des Schilfes, konnte auch mit Feuerzungen
dichten, wenn ihn der Gedanke der Emanzipation der
Menschheit aus den Fesseln politischen und kirchlichen
Wahnes erfüllte — dann richtete er in kühner Leidenschaft
das Haupt empor und schleuderte den von diesem Wahne
profitierenden Dunkelmännern der „Heiligen Allianz"
glühende "Worte der Empörung ins Gesicht:
DIE SCHLIMME JAGD.
Das edle Wild der Freiheit scharf zu hetzen.
Durchstöbert eine finst're Jägerbande
Mit Blutgewehren, stillen Meuchelnetzen
Der Völker Heiligtum im deutschen Lande.
Das Wild mag über Ström' und Klüfte setzen.
Und klettern mag's am steilen Klippenrande,
Der Waidruf schallt durch Felsen, Ström' und Klüfte,
Empört verschleudern ihn die deutschen Lüfte.
Lenau, dessen individuelles Seelenleben sich als Wechsel
lebensgläubiger Momente mit immer zunehmender Ver-
stimmung und schließlicher Umnachtung abspielte, sah auch
um sich im Völkerleben die Nebel der Nacht noch den
Sonnenaufgang trübe verhängen; Dämmerung umhüllte den
Propheten der Freiheit. Auch hier resignierende Klage als
Schluß:
„Woher der düstre Unmut unsrer Zeit,
Der Groll, die Eile, die Zerissenheit? —
Das Sterben in der Dämmerung ist schuld
An dieser freudenarmen Ungeduld.
Herb ist's, das langersehnte Licht nicht schauen.
Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen.
Und müssen wir vor Tag zu Asche sinken.
14 \Jn{L TiEJ^CT{BZL
Mit heißen Wünschen, unvergoltnen Qualen,
So wird doch in der Freiheit goldnen Strahlen
Erinnerung an uns als Träne blinken.",
Ein späterer Dichter, der edle Berner Byronide Dran-
mor, (Ferdinand von Schnnid) verwob diese Verse Lenaus be-
zeichnenderweise in sein großartiges Schmerzgedicht: Re-
quiem. Sie waren ihm aus der Seele geschrieben. So
grüßen sich verwandte Geister über Zeiten hinweg.
Lenau war auch als Freiheitsdichter ursprünglicher und
tiefer als die eigentlichen Herolde des sogenannten Völker-
märzes, Freiligrath und besonders Herwegh. "Wie der
kühne und von der Zensur konfiszierte Lenau übrigens das
Verhältnis der unantastbaren dichterischen Freiheit zu jed-
wedem poetischen Programmzwang auffaßte, davon zeugt
sein auch heute noch vollgültiges, abwehrendes Gedicht,
das sich ganz anzuführen lohnt:
DIE POESIE UND IHRE STÖRER.
Jm tiefen "Walde ging die Poesie
Die Pfade heil'ger Abgeschiedenheit,
Da bricht ein lauter Schwärm herein und schreit
Der Selbstversunknen zu: „"Was suchst du hie?
Laß doch die Blumen blühn, die Bäume rauschen
Und schwärme nicht unpraktisch weiche Klage,
Denn mannhaft — wehrhaft sind nunmehr die Tage,
Du wirst dem "Wald kein wirksam Lied entlauschen.
Komm, komm mit uns, verding uns deine Kräfte;
"Wir wollen reich dir jeden Schritt bezahlen
Mit blankgemünztem Lobe in Journalen,
Heb dich zum weltbeglückenden Geschäfte!
Laß nicht dein Herz in Einsamkeit verdumpfen.
Erwach aus Träumen, werde sozial,
"Weih dich dem Tatendrange zum Gemahl,
Zur alten Jungfer wirst du sonst verschrumpfen!"
Die Poesie dem Schwärm antwortend spricht:
,,Laßt mich! verdächtig ist mir euer Streben.
Befreien wollt ihr das gejochte Leben
yOJ^ DEUTSCTiEJi DJCTiTUJMG I^
Und gönnt sogar der Kunst die Freiheit nicht?
Euch sank zu tief ins Aug die Nebelkappe,
Wenn euer Blick nicht straßenüber sieht,
Und wenn ihr heischt vom freigebornen Lied,
Daß es dienstbar nur eure Gleise tappe.
Ein Blumenantlitz hat noch nie gelogen.
Und sichrer blüht es mir ins Herz die Kunde,
Daß heilen wird der Menschheit tiefe "Wu n d e ,
Als euer wirres Antlitz, wutverzogen.
Prophetisch rauscht der Wald: Die Welt wird frei!
Er rauscht es lauter mir als eure Blätter
Mit all dem seelenlosen Wortgeschmetter,
Mit all der matten Eisenfresserei.
Wenn mir's beliebt, werd ich hier Blumen pflücken.
Wenn mir's beliebt, werd ich von Freiheit singen;
Doch nimmermehr laß ich von euch mich dingen!"
Sie spricht's und kehrt dem rohen Schwärm den Rücken.
Doch das ist natürlich unbestreitbar, daß die politische
und frühsoziale Lyrik gerade durch Freiligrath, Herwegh
und ein paar andere Männer wie Anastasi us Grün,
Karl Beck einen wenn auch nicht durchweg hoch künstle-
risch, so doch vielfach kulturell bedeutsamen Zug erhielt.
Die kämpfende Muse spielte damals eine große Rolle, sie
ließ in streitbar herausfordernder Haltung so wirkungsvoll
die Lanze in der Sonne blitzen und schlug so klingend an
den ehernen Freiheitsschild, daß aller Augen und Ohren
an ihr hingen und sich fast nach jenen tieferen Dichtern
umzusehen und umzuhören vergaßen, die fern der Schlacht-
reihe im Schatten uralter Haine und im stillen Gehege
friedlicher Dörfer unbekümmert ihren zeitlosen Weisen
nachhingen. Doch auch Herwegh und Freiligrath waren
wesentlich im Vordergrund, in der Arena Kampf- und Zeit-
dichter. Da hatte der kecke Schwabe seinen wuchtigen
Kehrreim geschmettert:
„Wir haben lang genug geliebt
Und wollen endlich hassen".
ib J{jn{L TfEMCJ(ELL
da hatte der einst farbenprunkende WÜistenritt- Dichter
und exotische Westfale im furor teutonicus sein drohendes
Revolutionslied geblasen — als dann die Tage des Kampfes
vorbei waren und die großen Enttäuschungen kamen für
die ungeduldigen Rufer im Streite, die schwere, drückende
Wartezeit für alle ungestüm vorwärts drängenden Patrioten,
da entrang sich auch diesen mutig vorschauenden Fanfaren-
bläsern der Freiheit manch stiller, inniger Ton. So Her-
wegh das resigniert nachdenksame Sonett:
riEF. TIEF IM MEERE
Tief, tief im Meere sprach einst eine "Welle:
"Wie glücklich müssen meine Schwestern leben,
Die droben strahlend auf und nieder schweben;
O, dürft' ich einmal an des Tages Helle!
"Wie sie gebeten, so geschah ihr schnelle,
Sie durfte aus dem dunkeln Schoß sich heben;
Doch kaum war ihr Ein Sonnenstrahl gegeben.
Lag sie schon sterbend an des Ufers Schwelle.
O, mögen alle doch ihr Schicksal loben.
Die still geheim des Lebens Kreis beschreiben
Und nie die "Wut der ofFnen See erproben.
O, mögen sie in tiefer Nacht verbleiben.
Und ihrer keiner streben je nach oben,
Um mit den "Winden auf den Sand zu treiben.
Derlei elegische Untertöne der Seele überhörte man wohl
vor den lauteren Trompetenklängen. — Auch bei Ferdinand
Freiligrath kam in Gedichten, wie „Die Tanne" ein schlicht
realistischer Naturton zum "Vorschein, der, fast vom geisti-
en Gegenpol aus, durch seine Hinwendung zum Einfach-
oetischen eine Brücke zu des Dichters großer Lands-
männin Annette Droste- H ül shof f schlägt. Zur un-
mittelbaren "Vergegenwärtigung — was hat alles literarische
Räsonnement sonst für einen Sinn? — finde hier das Frei-
ligrathsche Gedicht Platz:
f
W7V DEUTSCTiETi mCHTUJSIG IJ
DIE TANNE.
Auf des Berges höchster Spitze
Steht die Tanne, schlank und grün.
Durch der Felswand tiefste Ritze
Läßt sie ihre "Wurzeln ziehn.
Nach den höchsten Wblkenbällen
Läßt sie ihre Wipfel schweifen.
Als ob sie die vogelschnellen
Mit den Armen wollte greifen.
Ja, der Wolken vielgestaltge
Streifen, flatternd und zerrissen.
Sind der Edeltann' gewaltge.
Regenschwangre Nadelkissen.
Tief in ihren Wurzelknollen,
In den faserigen braunen.
Winzig klein und reich an tollen
Launen, wohnen die Alraunen.
Die des Berges Grund befahren
Ohne Eimer, ohne Leitern,
Und in seinen wunderbaren
Schachten die Metalle läutern.
Wirr läßt sie hinunterhangen
Ihre Wurzeln ins Gewölbe;
Diamanten sieht sie prangen
Und des Goldes Glut, die gelbe.
Aber oben mit den dunkeln
Ästen sieht sie schönres Leben;
Sieht durch Laub die Sonne funkeln
Und belauscht des Geistes Weben,
Der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält
Und mit seinen klugen Zwergen
Alles leitet und bestellt;
l8 \ATiL TfEJ^Cl^ELL
Oft zur Zeit der Sonnenwenden
Nächtlich ihr vorübersaust,
Eine Wildschur um die Lenden,
Eine Kiefer in der Faust.
Sie vernimmt mit leisen Ohren,
"Wie die Vögel sich besprechen;
Keine Silbe geht verloren
Des Gemurmels in den Bächen.
Offen liegt vor ihr der stille
Haushalt da der wilden Tiere.
Welcher Friede, welche Fülle
In dem schattigen Reviere!
Menschen fern; — nur Rotwildstapfen
Auf dem moosbewachsnen Boden. —
O, wohl magst du deine Zapfen
Freudig schütteln in die Loden!
O, wohl magst du gelben Harzes
Duft'ge Tropfen niedersprengen
Und dein straffes, grünlichschwarzes
Haar mit Morgentau behängen!
O, wohl magst du lieblich wehen!
O, wohl magst du trotzig rauschen!
Einsam auf des Berges Höhen
Stark und immergrün zu stehen —
Tanne, könnt ich mit dir tauschen!
Zu einer außerordentlich gelungenen Durchdringung
heimatlicher Landschafts- und Naturrealistik, die einen
noch stärkeren Vorgeschmack auf Annette Droste gibt, mit
kühner Bildschau eines gewaltigen westeuropäischen Frei-
heitringens gegen barbarisches Kosakentum, erhebt sich
Freiligrath in dem jedenfalls großzügigen Gedicht: Am
Birkenbaum, das in der Tat allein genügt hätte, sei-
nen Schöpfer zu einem markigen dichterischen Charakter-
VOT^ DEUTSCT{E7{ DJCTiTUJVG K)
köpf zu stempeln. Leider kann ich hier nur wenige, für
die Stimmungskraft besonders bezeichnende Strophen des
längeren Gedichtes herausheben, ich bitte jedoch das
Ganze im Zusammenhange bei Freih'grath wieder einmal
nachzulesen.
Der junge Jäger und Dichter sieht vom Waldrand in die
Ebene hinaus, nach der fernen „grauen Stadt" hinüber,
der er entronnen ist.
,,Da liegt sie — herbstlicher Duft ihr Kleid —
In der Abendsonne Brand!
Und hinter ihr, endlos, meilenweit.
Das leuchtende Münsterland!
Ein Blitz, wie Silber — das ist die Lippe!
Links hier des Hellwegs goldene Au!
Und dort zur Rechten, überm Gestrüppe,
Das ist meines Osnings dämmerndes Blau!
Eine Fläche das! so denk ich mir, war
Die Flur, die Mazeppa durchsprengt!
Oder jene, drauf der russische Zar
Den schwedischen Karl gedrängt!
Zwar — milder und üppiger ist die Börde,
Doch wir haben auch Haidegrund und Moor
Und wilden Busch auf der roten Erde —
Ob auch hier schon wer eine Schlacht verlor?"
— So denkt er und hat es wohl laut gesagt;
Da tritt ein Mann auf ihn zu:
Ein Bauer — und wenn ihr mehr noch fragt:
Der Hüter einer Kuh.
Die langen Glieder umhüllt ein schlichter
Leinrock, das bläuliche Auge sticht.
Die Lippe zuckt — so tritt er zum Dichter,
So lächelt er seltsamlich und spricht:
Guten Abend, Herr, ob man Schlachten schlug
In der Ebene dort — fürwahr.
Ich hab's nicht erfahren! Lest nach im Buch!
20 JiÄ1{L T{E?JC7(ELL
Mich kümmert wenig, was war.
Ich schaue nur aus nach den künftigen Tagen —
So spricht vom Haarstrang der alte Hirt:
Eine Schlacht wohl sah ich dort unten schlagen.
Doch eine, die man erst schlagen wird.
Ich habe sie dreimal mit angesehn!
O, öd ist die Haar bei Nacht!
Ich aber muß auf vom Bette stehn —
Dann hat es mich hergebracht.
Just, Herr, wo ihr steht, — just hier auf dem Felsen,
Da hat es mich Sträubenden hingestellt!
Und hätt ich gewandt mich mit hundert Hälsen,
Doch hätt ich hinabschaun müssen ins Feld!
Und ich sah hinab und ich sah genau —
Da schwammen die^ Äcker in Blut,
Da hing's an den Ähren wie roter Tau,
Und der Himmel war eine Glut!
Um die Höfe sah ich die Flamme wehen,
Und die Dörfer brannten wie dürres Gras;
Es war als hätt ich die "^elt gesehen
Durch Höhrauch oder durch farbig Glas.
Und zwei Heere, zahllos wie Blätter im Busch,
Hieben wild aufeinander ein . . . ."
Wenn ich auch eigentlich vorhatte, nur von der deut-
schen Lyrik seit Heine zu Ihnen zu sprechen, ein
goldener Vorsatz, dem ich schon längst durch ein
ziemlich unchronologisches Rückgreifen untreu geworden
bin, was mir als geborenem Freischärler die Regulären
der deutschen Literaturgeschichte allergnädigst verzeihen
mögen, so bringe ich es doch nicht übers Herz, auf eine so
wundervolle und mit dem späteren Wachstum der deutschen
Lyrik fortwirkend verknüpfte Erscheinung wie Annette
Droste-Hülshoff nicht wenigstens mit einigen Worten
einzugehen. Es kommt uns ja hier von Anfang bis zu
Sach einer Dagiierroiypie aus dem Jahre 1S44
AN^'ETTE VON DROSTE HÜLSHOFF.
101^ DEUTSCTfEHj BlCJiTUJ^G 21
Ende mehr auf die große Linie in der lyrischen Kunst
Deutschlands und nicht auf Betonung von Todesjahr- und Da-
tun^ an. Das stille, zurückgezogene westfälische Freifräulein,
das — in ihrem ganzen Auftreten himmelweit verschieden
\or\ so manchen allerneusten lyrischen Modedamen — mit
40 Jahren nur widerwillig von der Mutter die Erlaubnis er-
hielt, anonym ein Bändchen Gedichte erscheinen zu lassen, ist
eine gar hoheitsvolle Kronenträgerin im Reiche der deut-
schen Dichtung. Ihre sehr seltenen, für die deutsche Lyrik in
gewisser Hinsicht geradezu vorbildlichen Qualitäten ließen
sie lange einsam thronen, von wenigen nur in ihrem tiefen
Werte erkannt, und zu ausgebreiteter Würdigung scheint
sie, in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Prophezeihung,
erst ganz allmählich, mehr als 50 Jahre nach ihrem Tode,
sich durchgerungen zu haben.
Woher kommt das? Weil ihre Schätze sich nur dem er-
schliessen, der selbst mit der Natur auf innerlichst ver-
trautem Fuße lebt, und der ein Werk der Kunst nach der
Echtheit und Energie des darin aufgespeicherten und
ebenbürtig ausgedrückten Lebens bemißt. Annette Droste
ist eine Künstlerin von wahrhafter Feinheit des Wesens,
jeder Vers zeigt die besondere, unverwischliche Farbe ihrer
im Grunde treuer Natur-, Menschen- und Gottesliebe
wurzelnden, leidenschaftlichen, aber völlig unsentimentalen
Persönlichkeit. Eine germanische Vestalin am Hirtenfeuer
der heimischen „roten Erde", hütete sie die Heiligtümer
eines Herzens ohne Falsch und flocht liebevoll die dichten,
hie und da krausen Sträuße ihrer eigensten, ebenso zarten
wie markigen Kunst. Ihres Liedes Lippe blieb unentweiht
von der Phrase, ihre Sprache ist der gedrängte Ausdruck
sorgfältiger Naturbetrachtung, traumhaften, höchst sensibeln
Klarsehens und einer in ihr wieder lebendig gewordenen
Frömmigkeit.
Die Schilderung des erwachenden Morgens auf der Haide
in dem Gedicht „Die Lerche" möge unmittelbar \on der
an Shakespeare oder Burns gemahnenden Naturvertrautheit,
dem charakteristischen Humor der genialen Frau zeugen.
22 TjA^L -HEJ^CJiBLt
die in den feinen Maschen ihres großen lyrischen Fang-
netzes die seltensten poetischen Falter Deutschlands fing
und in den Feinheiten dieser Kunst noch jeden Augenblick
den besten lebenden Dichtern n\ütterliche Fingerzeige
geben könnte.
DIE LERCHE.
Hörst du der Nacht gespornten Wächter nicht?
Sein Schrei verzittert mit dem Dämmerlicht,
Und schlummertrunken hebt aus Purpurdecken
Ihr Haupt die Sonne; in das Ätherbecken
Taucht sie die Stirn, man sieht es nicht genau,
Ob Licht sie zünde, oder trink' im Blau.
Glührote Pfeile zucken auf und nieder
Und wecken Taues Blitze, wenn im Flug
Sie streifen durch der Haide braunen Zug.
Da schüttelt auch die Lerche ihr Gefieder,
Des Tages Herold seine Liverei;
Ihr Köpfchen streckt sie aus dem Ginster scheu,
Blinzt nun mit diesem, nun mit jenem Aug;
Dann leise schwankt, es spaltet sich der Strauch,
Und wirbelnd des Mandates erste Note,
Schießt in das feuchte Blau des Tages Bote.
,,Auf! auf! Die junge Fürstin ist erwacht!
„Schlaftrunkne Kämmrer, habt des Amtes acht;
„Du mit dem Saphirbecken, Genziane,
„Zwergweide du mit deiner Seidenfahne,
„Das Amt, das Amt, ihr Blumen allzumal,
„Die Fürstin wacht, bald tritt sie in den Saal!"
Da regen tausend "Wimpern sich zugleich,
Masliebchen hält das klare Auge offen.
Die Wasserlilie sieht ein wenig bleich.
Erschrocken, daß im Bade sie betroffen;
Wie steht der Zitterhalm verschämt und zage!
Die kleine Weide pudert sich geschwind
Und reicht dem West ihr Seidentüchlein lind.
VOM DEUTSCTiEJi DICH TUM G 2^
Daß zu der Hoheit Händen er es trage.
Ehrfürchtig beut den tauigen Pokal
Das Genzian, und nieder langt der Strahl;
Prinz von Geblüte, hat die erste Stätte
Er, immer dienend an der Fürstin Bette.
Der Purpur lischt gemach im Rosenlicht,
Am Horizont ein zuckend Leuchten bricht
Des Vorhangs Falten, und aufs neue singt
Die Lerche, daß es durch den Äther klingt:
„Die Fürstin kommt, die Fürstin steht am Tor!
,, Frischauf, ihr Musikanten in den Hallen,
„Laßt euer zartes Saitenspiel erschallen,
,,lJnd, florbeflügelt Volk, heb an den Chor,
„Die Fürstin kommt, die Fürstin steht am Tor!"
Da krimmelt, wimmelt es im Haidgezweige,
Die Grille dreht geschwind das Beinchen um.
Streicht an des Taues Kolophonium
Und spielt so schäferlich die Liebesgeige.
Ein tüchtiger Hornist, der Käfer, schnurrt;
Die Mücke schleift behend die Silberschwingen,
Daß heller der Triangel möge klingen;
Diskant und auch Tenor die Fliege surrt;
Und, immer mehrend ihren werten Gurt,
Die reiche Katze um des Leibes Mitten,
Ist als Bassist die Biene eingeschritten:
Schwerfällig hockend in der Blüte, rummeln
Das Kontraviolon die trägen Hummeln.
So tausendarmig ward noch nie gebaut
Des Münsters Halle, wie im Haidekraut
Gewölbe an Gewölben sich erschließen.
Gleich Labyrinthen ineinander schießen;
So tausendstimmig stieg noch nie ein Chor,
Wic's musiziert aus grünem Haid hervor.
Jetzt sitzt die Königin auf ihrem Throne,
Die Silberwolke Teppich ihrem Fuß,
2^ J{jn{L JIEMCT^ELL
Am Haupte flammt und quillt die Strahl cnkrone,
Und lauter, lauter schallt des Herolds Gruß:
„Bergleute, auf, herauf aus eurem Schacht,
„Bringt eure Schätze, und du, Fabrikant,
„Breit vor der Fürstin des Gewandes Pracht,
„Kaufherrn, enthüllt den Saphir, den Demant!"
Schau, wie es wimmelt aus der Erde Schoß,
Wie sich die schwarzen Knappen drängen, streifen
Und mühsam stemmend aus den Stollen schleifen
Gewalt'ge Stufen, wie der Träger groß;
Ameisenvolk, du machst es dir zu schwer!
Dein roh Gestein lockt keiner Fürstin Gnaden.
Doch sieh die Spinne, rutschend hin und her.
Schon zieht sie des Gewebes letzten Faden,
"Wie Perlen klar, ein duftig Elfenkleid;
Viel edle Funken sind darin entglommen;
Da kommt der Wind und häkelt es vom Haid,
Es steigt, es flattert, und es ist verschwommen. —
Die Wolke dehnte sich, scharf strich der Hauch,
Die Lerche schwieg und sank zum Ginsterstrauch.
Steigerung ist die Lebensform der Kunst", sagt Hebbel
einmal treffend in seinen Tagebüchern, dieser bis un-
ters Dach gefüllten Kornkammer psychologischer und
ästhetischer Gedankenfrucht; gerade bei Annette Droste-
Hülshoff kann man spüren, daß Kunst , gesteigerte Natur'
bedeutet. Der so kompliziert veranlagte Dithmarsische
Dichtergrübler Friedrich Hebbel, dem wir übrigens
grade die merkwürdigsten, tiefsinnigsten Aufzeichnungen
zur Psychologie der Lyrik verdanken, ist von der durch-
aus naiv und unmittelbar wirkenden Westfälin natürlich auch
in seinen Gedichten himmelweit verschieden. Aber ein
großer Lyriker von schöpferischer Originalität war auch
er, und auch als solcher, nicht nur durch seine geistige
Gesamtpersönlichkeit, so manchem gefeierten Lyriker seiner
VOJ^ BBVTSCJiETi BlCTiTlUSG 2j
Tage weit überlegen. Freilich kein Uhland war Hebbel,
so unendlich er gerade diesen Dichter — die Gegensätze
ziehen sich an — liebte und verehrte, dazu war seine Seele
eben nicht einfach genug, aber es ist eine alte, bei uns
Deutschen weitverbreitete Grundtorheit, einen echten Dich-
ter am andern messen, die knorrigwurzelnde und doch
zart wellenspielende Uferweide etwa mit dem blühenden
Apfelbaum vergleichen zu wollen. Der vollends hat den
Vogel nicht abgeschossen, der je Hebbels Lyrik mit
dem bloßen Ausdruck Reflexionslyrik gänzlich abtun zu
können vermeinte, vielleicht weil sie gerade keine Ge-
dankenlosigkeitslyrik ist, die ja oft bei jungen und alten
Backfischen im höchsten Kurse steht. Hebbels Gedichte
verläugnen natürlich die hohe Denkerdichterstirn ihres
Schöpfers nicht, die Weite des geistigen Horizontes ver-
rät sich im kürzesten Epigramm, deren Hebbel ganz be-
deutende gedichtet hat, aber durch die Tiefe der seeli-
schen Perspektive, durch die Blutwärme des Herzens wie
durch die Bildkraft seiner Kunst erhebt er sich wie nur
einer zum echten Lyriker, der auch gerade als solcher
im Bewußtsein des deutschen Volkes weit minderwertige
lyrische Geschmackslieblinge allmählich in den Hintergrund
drängen sollte. Sogar für einige Liebeslieder Hebbels gebe
ich ganze Bände hundertfach'aufgelegter begabter Epigonen-
lyrik mit Freuden dahin; da ist doch zarte künstlerische
Keuschheit des vielsagenden, gefühlskräftigen Wortbildes.
Die Neigung zum Grausig-Unheimlichen bricht mehr in
einigen Balladen durch, sie ist verknüpft mit dem nordisch-
schweren Zuge zur Sphäre des Todesrätsels. Hebbels Lyrik
ist wie seine ganze Persönlichkeit im geheimnisvollen Meeres-
abgrunde der tiefsten Lebensprobleme verankert.
LEBEN.
Seele, die du unergründlich
Tief versenkt, dich ätherwärts
Schwingen möchtest, und allstündlich
Dich gehemmt wähnst durch den Schmerz —
BJiATiDES: DTE UTEJiJlTVTi. BJIJ\D XXXVIJl XXXVIII C
2G T{AT{L HEJ\JCJ{ELL
An den Taucher, an den stillen.
Denke, der in finstrer See
Fischt nach eines Höhern "Willen:
Nur vom Athmen kommt sein W^eh.
Ist die Perle erst gefunden
In der öden Wellengruft,
Wird er schnell emporgewunden,
Daß ihn heilen Licht und Luft;
Was sich lange ihm verhehlte,
Wird ihm dann auf einmal klar:
Daß, was ihn im Abgrund quälte.
Eben nur sein Leben war.
Wie Hebbels Lyrik das leiseste Vibrieren des seelischen
Atemzuges meisterlich im Wort wiederzittern lässt, wie er
das Landschaftsbild zum gewaltigen Symbol verdichtet, das
spüren Sie sicher mit unauslöschlichem Eindruck, wenn ich
Ihnen die beiden Gedichte „Sommerbild" und „Winterland-
schaft" hier gegenüberstelle.
SOMMERBILD.
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
So weit im Leben ist zu nah am Tod!
Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
Nur leise strich ein weisser Schmetterling;
Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
Bewegte, sie empfand es und verging.
WINTERLANDSCHAFT
Unendlich dehnt sie sich, die weisse Fläche,
Bis auf den letzten Hauch von Leben leer:
Die muntern Pulse stockten längst, die Bäche,
Es regt sich selbst der kalte "^nd nicht mehr.
VOM DEUTSCHB7{ mCHTUJMG 2y
Der Rabe dort, im Berg von Schnee und Eise,
Erstarrt und hungrig, gräbt sich tief hinab,
Und gräbt er nicht heraus den Bissen Speise,
So gräbt er, glaub ich, sich hinein ins Grab.
Die Sonne, einmal noch durch Wolken blitzend.
Wirft einen letzten Blick aufs öde Land,
Doch, gähnend auf dem Thron des Lebens sitzend.
Trotzt ihr der Tod im weissen Festgewand.
Zu jenen Dichtern, die wie Annette Droste und Hebbel
unabhängig von den geräuschvollen nationalen unct'pöir-
tischen Zeitströmungen ihre Werke schufen und deshalb
im Laufe des Jahrhunderts eine um so nachhaltigere, tiefer
wirkende Bedeutung gewannen, gehört auch vor allem der
feinbeschauliche Schwabe EduAX-dMörike, dessen langes
Leben äußerlich so bescheiden zwischen Ludwigsburg und
Stuttgart dahinfloß. Der sah sich lieber recht sorgfältig
liebevoll in der Pfarrstube den alten, auf dem Ofen noch
zu warmen Altersehren gelangten Turmhahn zu Clever-
sulzbach im Unterland an und führte mit ihm ein behag-
lich trautes Zwiegespräch über das ganze Wochendasein
im Heimatdörfle, als daß er sonderlich auf das gegenseitige
Ankrähen der alleweil den Hals ziemlich aufreißenden
Streithähne gehorcht oder gar versucht hätte, es ihnen
nachzugackern. Ein Mörike ging anderem nach — der
konnte ruhig auf leise Grundstimmen des Lebens, wie es
immer war und immer sein wird, lauschen und in voll-
kommener Harmonie mit der umgebenden Natur sein herz-
inniges, gemütstiefes Weltgefühl in glockenrein abge-
stimmten Lauten dem Liede anvertrauen. Mörikes Seele
war ein bedeutendes Idyll mit tieferen Durchblicken, die
auch das sogenannte Kleinleben zu erhöhtem Dasein stei-
gern. Seine erquickliche Lyrik gemahnt wohl an einen
süddeutschen Pfarrgarten im Frühlingstau. Goldregen und
Akazien duften und blühen; anmutig und frisch durch-
schreitet ihn ein junges, liebereifes Mädchen, bald ahnungs-
28 J(Jn{L ?iEJ\JC7(ELL
voll vor sich hinsinnend, bald schelmisch lächelnd ob keck
geträumten Küssen — leise zieht ein verliebtes Lüftchen
durch die Lauben, und am blauen Veilchenhimmel schwim-
men auf schneeweißen "Wolklein die singenden Engels-
bübchen der Ewigkeit vorüber . . .
Der dichterische "Wein, mit dem der prächtige Herr^
Pfarrer Mörike seinen dankbaren Gästen, am liebsten ganz
bei Gelegenheit, ohne großes Getue, aufwartet, ist durch-
aus bestes Eigengewächs, nicht mit Phrasenwasser gepantscht,
und hat eine lieblich -kräftige, allen guten "Weltkindern
wohlgefällige Blume. Seine Naivetät ist nie täppisch, wie
sie ja im Handumdrehn bei Dichtern einer hochgebildeten
poetischen Kultur werden kann, sobald sie nur im gering-
sten gewollt auftritt, sondern sie ist von zarter Grazie und
entzückender Ungezwungenheit des "Wesens. Darum ist
Mörike auch ein wirklicher Märchenpoet. Die Ausfüh-
rung seiner künstlerischen Arbeit ist bis ins Kleinste von
wesenstreuer Gediegenheit — kein sogenannter Mantel der
Form, sondern innere Form, organischer rhythmischer Aus-
druck des erlebten Eindrucks. Seine "Weltanschauung ist im
tiefsten Grunde eine versöhnte, trotz Angst und Schrecken
der Dinge im Ewigen ruhend wie das spielende Jesus-
kind— eine Lieblingsvorstellung des Dichters — im Schoß
der Mutter. Unbedingte Harmlosigkeit einer weit- und
gottvertrauenden Sonnennatur — Mörike ist ein langsamer
Feinschmecker des lyrischen Empfindungsausdrucks — die
sprachliche Form klassisch- deutsch mit schwäbischem und
antikeliebendem Einschlag — und in seinen besondern
Eigentümlichkeiten auch Kost für Feinschmecker.
VERSUCHUNG.
"Wenn sie in silberner Schale mit "Wein uns würzet die
Erdbeern,
Dicht mit Zucker noch erst streuet die Kinder des "Walds:
O wie schmacht ich hinauf zu den duftigem Lippen, wie
dürstet
Nach des gebogenen Arms schimmernder "Weiße mein Mund!
^
;^:2:p.^^^
VOJ^ DEUTSCHEJj -plCJiTUl^G 2g
Ist das nicht lyrische Sinnlichkeit von allerholdester
Anmut? — Wer sich von der unendlich zarten Abtönung
und Abschattung des Ausdrucks bei Mörike und zugleich
von der schier pflanzlichen Zusammenziehung, Sammlung
und Andachtsruhe seiner lyrischen Seele einen Begriff machen
will, atme nur einmal das Gedicht: „Die schöne Buche" in
sich ein.
DIE SCHÖNE BUCHE.
Ganz verborgen im "Wiald kenn ich ein Plätzchen, da stehet
Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie nicht.
Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie sich einzeln.
Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen Schmuck.
Rings, soweit sein Gezweig der stattliche Baum ausbreitet,
Grünet der Rasen, das Aug still zu erquicken, umher;
Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in der Mitte;
Kunstlos schuf die Natur selber dies liebliche Rund.
Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige Bäume,
Folgend in dichtem Gedräng, wehren dem himmlischen Blau.
Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget die Birke
Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im goldenen Licht.
Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh sich hinab-
schlingt,
Lässet die Hellung mich ahnen das offene Feld.
— Als ich unlängst einsam, von neuen Gestalten des Sommers
Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich verlor.
Führt ein freundlicher Geist, des Hains auflauschende
Gottheit,
Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den Staunenden, ein.
Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des
Mittags,
Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im Laub.'
Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten;
Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt ich ihn nur.'
Jetzo, gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites Gewölbe
Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn,
Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne,
Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem Rand.
Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille
Unergründlicher Ruh lauschte mein innerer Sinn.
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber-
Gürtel, o Einsamkeit, fühlt ich und dachte nur dich!
An einem schönen ,, Kunstgebilde der echten Art" hat
Mörike einmal sein lyrisches Gedicht mit den ihm zugehöri-
gen Eigenschaften unbewußt- symbolisch selbst auf's treff-
lichste wiedergespiegelt, in dem Gedicht:
AUF EINE LAMPE.
Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier.
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht.
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
W^ie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form —
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selb^t^^ -^
Der lautern Schönheit von Mörikes Lyrik kann ich im
Nachgenuß stets nur mit inniger Freude gedenken — eben
darum wahrscheinlich, weil sie so ganz „selig scheint in
sich selbst."
Als kräftiger Mensch besaß Mörike auch eine ganze
Portion satirischer Laune und ironischen Humors; man
erinnert sich dabei wohl gleich an das entzückende, von
Hugo Wolf kongenial komponierte ,, Abschiedsgedicht", in
dem der Dichter einen splitterrichtenden Rezensenten so
ungemein liebenswürdig zum Hause hinauskomplimentiert:
,,Wie wir nun an der Treppe sind.
Da geb ich ihm, ganz froh gesinnt,
Einen kleinen Tritt,
Nur so von hinten, aufs Gesäße, mit —
I
VOM DEUTSCJiETi BlCTiTUlNG ^I
Alle Hagel, ward das ein Gerumpel!
Ein Gepurzel, ein Gehumpel!
Dergleichen hab ich nie gesehn.
All mein Lebtage nicht gesehn.
Einen Menschen so rasch die Trepp hinabgehn."
Und wie ein Mörike über allerhand Lavendellyrik und
Versezuckerkand dachte, steht in der
RESTAURATION
nach Durchlesung eines Manuskripts mit Gedichten ge-
schrieben:
Das süße Zeug ohne Saft und Kraft!
Es hat mir all mein Gedärm erschlafft.
Es roch, ich will des Henkei's sein,
"W^ie lauter welke Rosen und Kamilleblümlein,
Mir ward ganz übel, mauserig, dumm.
Ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um.
Lief in den Garten hinterm Haus,
Zog einen herzhaften Rettig aus.
Fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz,
Da war ich wieder frisch und genesen ganz.
Um von besagtem Rettigschwanz wieder auf „feineres"
lyrisches Gemüse zurückzukommen, — nicht mit sol-
chem ursprünglichen Behagen wie Mörike und nicht
so völlig warmwerdend — was kann das arme Herz dafür? —
besuchen wir jetzt in der Erinnerung einen Augenblick die
Münchener Tafelrunde der wohlerzogenen Ritter vom
schönen "Wohllaut. "Wir machen unsere gewiß nicht gering-
schätzige Verneigung vor jenen mit vielseitiger Form-
virtuosität und höchst geschultem Geschmack ausgestatteten
Dichtern, die, in allen Sätteln Uhlands, Eichendorffs,
Heines usw. gerecht, die Lyra mit großer Fertigkeit hand-
haben und den Faltenwurf des Verses sehr hübsch und
wirksam zu arrangieren wissen; die auch nicht ohne eige-
^2 \jn{L TtEßJCJ^ELL
nes Gefühl , nicht ohne getragene Begeisterung für die
Würde des Dichtertums und für nationale Vordergrunds-
ideale den Ton zu treffen verstehen, der schnell seine Re-
sonanz in breiten Schichten des Publikums findet; die aber
auch unleugbar durch eine schon ziemlich ausgedehnte Bei-
mischung halb erotischer Empfindelei und konventionellen
Gefühlsels den Sinn für echte ganze Leidenschaft und Natur-
wahrheit in der Dichtung bedenklich einzubüßen beginnen.
Deutschland durchlebte während einer Epoche politischer
Verdrossenheit und resignierter Teilnahmslosigkeit wenig-
stens weiterer Kreise am öffentlichen Leben damals eine
nicht künstlerisch- schöpferische, aber ästhetisierend-nach-
schafferisch angehauchte Phase. J
Manches schöne Gedicht von tadelloser Geschmacksrein-
heit und feinsinniger Kultur grüßt uns aus jener Zeit, und
wenn speziell die Münchener Gruppe und was drum und
dran hängt, der eigentlichen urwüchsigen Naturen er-
mangelt, so weist sie doch immerhin bei viel Gemeinsam-
keit des Typus eine Reihe von Lyrikern auf, die auch ein-
zeln für sich eine gewisse Physiognomie verraten.
Zwar überall der gleiche Fluch, für den sie ja nichts
konnten, da sie nicht stark genug waren, ihn zu über-
winden. Wenn der schwanensaubere, lilienweiche Emanuel
Geibel zu Wald und Quelle wollte, stand überall deut-
scher Dichterwald — und nach seinem Rauschen stimmte
sich sein Lied.
Was frommte es da, wenigstens im Sinne dichterischer
Werte, daß man mit seinem Pfund wucherte, wenn dieses
Pfund nun mal die Wage echter Natur und starker Kunst
nicht vertrug? Und das war denn doch in erschreckendem
Maße bei Geibel und denen, die ihm glichen, der Fall. Wo
war da Leidenschaft und Sprachgewalt, eigenster Rhythmus
und neue Bildkraft zu finden? Alles schon längst abge-
kocht, nur jetzt in tausendfach verdünntem Aufguß dem
für solche Surrogate stets dankbaren deutschen Publikum
wieder serviert. Was der Schwan von Lübeck in einem
seiner besten Gedichte, dem „Bildhauer des Hadrian",
WJ^ DEUTSCNEJi BlCTiTUMG ^^
diesen schmerzerfüllt ausrufen läßt als Fluch des Eklektikers
und Epigonen, das traf mutatis mutandis in vollem Maße
auf ihn und andere poetische Lieblinge jener Epoche zu:
„Wohl bändgen wir den Stein und küren.
Bewußt berechnend, jede Zier,
Doch wie wir glatt den Meißel führen.
Nur vom Vergangnen zehren wir.
O trostlos kluges Auserlesen!
Dabei kein Blitz die Brust durchzückt!
"W^as schön wird, ist schon dagewesen.
Und nachgeahmt ist, was uns glückt."
Sehr richtig heißt es auch in einem Geibelschen Di-
stichon:
„War es das trefflichste gleich, kalt läßt uns, was du ge-
lernt hast.
Gib dich selber, Poet, und du bezwingst uns das Herz."
Selbsterkenntnis schützt leider vor Ohnmacht nicht.
Es war kein Selbst zu geben, daran gehen die in ange-
wöhnter Technik und gefälliger Empfindungssphäre für-
trefflichsten Gedichte zu gründe.
Geibel war gewiß ein von der priesterlichen Würde des
Dichtertums, ein \on seiner nationalen Heroldsmission er-
füllter „Sänger" und hat auch wohl mit dieser aller-
dings bei ihm mehr romantisierend verklärten als in Wahr-
heit neu hervorgebrachten Skaldenauffassung einem noch
sehr jugendlichen, sonst ganz anders gearteten Poetenge-
schlecht eine Zeitlang vorgeschwebt, aber selbst um als Cha-
rakter auf die Dauer vorbildlich einzuwirken, ließ er es denn
doch zu sehr an der tieferen Wesensgewalt fehlen, die in
wirklichem Kampf und Kräftespiel sich selbst menschlich
steigert und allmählich zur Persönlichkeit ausprägt. Es gibt
eben wohlfeile und teure Charaktere — nur die letzteren
haben auch im Himmel der Kunst guten Kurs und Klang.
Rein dichterisch vollends drohte durch Geibel die deutsche
Lyrik sich musikalisch zwitterhaft in allgemeinen Wohllaut
i£
J{AT{L TiEMCJ(JELL
und damit schließlich in allgemeines "Wohlgefallen aufzu-
lösen.
Und Paul Heyse? Der war doch gewiß mit hellen
Künstleraugen und feingeistigen Dichtersinnen auf die
Welt gekommen. Er, der mit dem sanguinischen Lächeln
der heitern Lebensbejahung auf den schöngeschwungenen
Lippen für Lust und Schmerz die leichten, flüssigen Har-
monien fand. Ich habe immer die Empfindung, als hätte
es gerade Paul Heyse mit seinen glücklich ofFnen Or-
ganen eigentlich nicht nötig gehabt, der Tragik des Epi-
gonentums zu verfallen, als hätte er sein Dichterprofil in
der Totalität schärfer und weniger angreifbar ausprägen
können und müssen. Aber wenn bei einem, so wurde bei
Heyse das Übergewicht formalen Reizes und mit der Mutter-
milch aufgesogener „Schönheits"pflege für die „Haut"
und dann auch für das „Mark" des Dichters mit der Zeit
verhängnisvoll. In der Kunst steht die Epidermis mit dem
Blut in einer unendlich nahen und feinen Wechselwirkung.
Und Heyses künstlerische Epidermis weist leider schon längst
jene weichblassen Merkmale der Verschwommenheit auf, die
allmählich und unaufhaltsam die anfängliche Schönheitslinie
verwischen. Trotzalledem wird natürlich kein Mensch, der
geschmackvolle Sicherheit der Formgebung auch bei einem
geistvollen und begabten Nachfahren großer Ahnen zu
schätzen weiß, verkennen, daß wir \on Heyse manches
Poem besitzen, das, ohne den Stempel der Notwendigkeit
zu tragen, doch durch die vornehme, gebildete Eleganz
seines Daseins erfreut. Heyse ist der richtige Italiano der
deutschen Poesie. Die Leuchtkraft eines Böcklin, an den
er übrigens eins seiner feinsinnigsten Terzinengedichte ge-
richtet hat, sucht man aber doch wohl vergebens.
NACH DER NATUR.
Pinsel, Griffel und Meißel, und was irgend
Macht hat, schwankende Formen festzubannen.
Euch beneidet der Kiel des armen Dichters.
Denn er bemüht sich vergebens, nachzukritzeln.
VOl^ DEUTSCIiEJi BICHTUJMG ^5
\C^as soeben geschaut die sel'gen Augen.
Weiß denn einer, wie reizend keck das Dirnchen
Auf dem Eselchen thronte, wenn ich n\elde.
Daß sie zwischen den Körben saß, das eine
Beinchen über des Tiers geduld'gen Rücken,
Frei das andere baumelnd, daß ihr rotes
Röcklein über die Wade sich hinaufzog?
Und so saß sie mit vorgeneigten Schultern,
In die Rechte geschmiegt das Kinn, am kleinen
Finger saugend, verträumt und aus der Wimpern
Schwarzer Seidengardine Blitze sprühend;
Und so ritt sie dahin, die windge Gasse.
Daß am Busen das Tuch sich löst und flatternd
Halb den kräftig gewölbten Nacken freigab.
Jenen Nacken der Mädchen von Albano,
Drüber üppig geringelt hängt die Flechte,
Wie ein Drache, den stolzen Schatz zu hüten —
Kommt und seht und verzweifelt, arme Dichter!
Die übermächtigen Vorbilder wirken allmählich immer
stärker alles ausgleichend und abplattend; die Formen-
glätte erreicht auf Kosten der charaktergebenden Form
eine unheimliche Vollendung. Selbst der entschieden viel
kraftvollere, geistig und künstlerisch weit energischer ge-
furchte Hermann Lingg hatte an dem Leidwesen eines
verwirrenden und verwischenden Epigonenstils ebenfalls
mitzutragen, ermangelt aber sonst keineswegs der selb-
ständigen lyrischen Struktur und des packenden Wahr-
heitszuges. Ein antiker Tempel — so könnte man von
seiner Gesamterscheinung bildlich sagen — steht am welt-
weiten Meere; die ernste Muse erinnert sich der Völker-
geschicke, auf ihrem edlen Antlitz wechselt der schwer-
mütige Schatten der Nichtigkeit mit dem verklärenden
Aufleuchten der großgelungenen Werke und Taten; kaum
achtet sie des eignen Wehs, während sie Spenden der Liebe,
der Freiheit und der schönen Menschlichkeit in das hei-
lige Opferbecken träufelt.
^6
J(jn{L HEJ\JCJ(ELL
PÄSTUM.
Brütend liegt der Mittag über
Pästums öder Fiebergegend,
Schwüle Nebel niederlegend,
Selbst die Sonne schimmert trüber,
Und die alte Stadt Poseidons
Stumm und einsam liegt sie da.
Ein zerstörtes Sodoma.
Auf zerbrochnen Steinkolossen
Umgestürzter Architrave
Blühen Kaktus und Agave,
Um die alten Mauern sprossen
Rote Blumen und Akanthus;
Duftig wuchern drüberhin
Thymian und Rosmarin.
Nur ein gelber Tempelriese
Trägt noch seine Quaderbalken,
Um den Gipfel fliegen Falken,
Epheu rankt sich um die Friese;
Und die Natter und die Eidechs
Sonnt sich an der Tempelwand,
Wo geflammt der Opferbrand.
Ungebrochen stehn die schlanken
Dorersäulen; ein Jahrtausend
Sahen sie vorüberbrausend;
Throne stürzten, Völker sanken;
Über ihre Marmorhäupter
"Wie durch's Meer, dem sie geweiht,
Weht ein Hauch der Ewigkeit.
Man spürt, hier lebt sich eine bestimmte Phantasie aus
und schafft ihre Atmosphäre, wie in den folgenden Versen
ein ,, schattenhafter" Lebensgram sich ergreifend kundgibt:
HERMANN LINGG
NACH DEM GEMÄLDE VON FRANZ LENBACH
Photographie Bruckmann, Alünchen.
VOJ^ t>EUTSCTiEJ{ mCBTUJMG J7
STANZEN.
Wem nach langer Kerkernacht,
Wem nach heißen Fieber wochen
Wieder neu das Leben lacht.
Frühlingsfrisch die Pulse pochen,
Selig wie das Sonnenlicht
Ist sein Herz und weiß es nicht.
Aber Dich, o Dich zernagt
Eine Wunde, die nicht blutet.
Dich ein Schmerz unausgeklagt.
Dessen Quell wie Lethe flutet.
Dessen Heilung nie gelingt.
Den kein Lied in Schlummer singt.
Eines Grams nur leiser Duft,
Nur der Schatten eines Kummers
Stockt in Deiner Lebensluft,
Stört den Frieden Deines Schlummers;
Namenlos und schattenhaft
Saugt er Deine beste Kraft.
Nie zu rasten, nie zu ruhn.
Und doch nie ins volle Leben
Einen festen Schritt zu tun;
Zu erglühen im Bestreben,
Zu erliegen im Versuch,
Weh Dir, Herz, das ist Dein Fluch.
Als eine merkwürdig vereinzelte Yorpostcnerscheinung
kommender lyrischer Avantreiter in ein zu eroberndes
dichterisches Neuland ragt aus jenen Münchener Tagen
der heute über achtzigjährige Feldartillerieoberst a.D. Ritter,
Maler und Dichter H ei nri ch v. Reder, zu einem späteren
Dichtergeschlecht herüber. Ich sollte wegen seiner ganzen
eigenständigen Art also von Rechtswegen erst nachher
über ihn sprechen, ziehe es aber doch vor, gerade im ver-
blüffenden Gegensatz zum Geibel- Heysekreis, mit dem er
?8
J{J{J{L JiEJ^CJ{ELL
sich doch zeitlich und äußerlich berührt, diesen knorrig
zähen ,,Rodensteiner" der deutschen Lyrik Ihnen hier mit
heller Freude vor die Augen zu rücken. Der „alte Reder",
wie ich ihn auch schlechtweg nennen möchte, ist eine ur-
wüchsige Natur, die aus erster Hand vom Quell Jugend-
kraft und Kunst geschöpft hat, während den meisten an-
dern das kastalische Gewässer durch ziemlich viel Röhren
zufloß. Ursprüngliche Wettertannenkraft und — jawohl! —
wunderliebliche Blumenzartheit leben und weben in Reders
besten und eigentümlichsten Gedichten. Er hat freilich
auch manchen schwachen Vers geschrieben. Man spricht so
viel, bei allen möglichen passenden und unpassenden Ge-
legenheiten, vom sogenannten „Volkston". Nun, hier ist
nicht selten wahrer germanischer Volkston, notabene mit
edler, tüchtiger Kunst vermählt. Wenn man Reders Hochland-,
Wald- und Zigeunergedichte genau kennt und liebt, er-
scheint einem so vieles, was unter diesen Marken in zahl-
losen Auflagen den Büchermarkt beherrschte, als geleckte,
unwahre Dekorationsmalerei. Quellenklare Augen, das
Herz auf dem rechten Fleck und den Stift mit knappem
Strich energisch und sicher geführt! Kurz und bündig,
dabei schlagend und erschöpfend zu sein — es ist wohl
eine prächtige Kunst, die dem Dichter Reder zuweilen er-
staunlich gelingt. Bald ist der Sturm des wilden Jägers
in Reders Versen, bald der zarte, wie Silberblättlein klin-
gende Lichtschimmer des stillen Buchenhains, bald die
leidenschaftliche Tokaierglut des echten, vogelfreien Zi-
geuners und Pußtasohnes, bald das scharfspähende Geier-
auge des Künstlers, das mit einem Schlagschatten eine
Landschaftsskizze hinwirft, eine Menschenseele beleuchtet.
Zuerst eine unscheinbare Federzeichnung, ein Bild von
der Heide.
DER WÄCHTER.
^ Stiller Abendfrieden lag
Auf der öden Heide,
Dünste woben drüber hin
Schleier, weiß wie Seide.
i
VOJ^ DEUTSCTiEJi BlCJiTUJNG ^9
Barfuß schritt durchs Rispengras
Mit gerafftem Kleide
Eine sonngebräunte Maid,
Schlank wie eine Weide.
Ihren Schottlandschäferhund
Wachsam an der Seite,
Gaben Mut und scharf Gebiß
Ihr ein treu Geleite.
Dann, mit fortstürmender Leidenschaft, ein Ritt auf jagen-
dem Roß
DURCH DIE PUSSTA.
Scharf in die Flanken die Sporen gedrückt.
Nicht in dem Sattel gewankt und gerückt.
Fest mit der Linken die Zügel gefaßt,
Spreng' ich dahin und gönn' mir nicht Rast.
Flatternd die Mähne und knirschend im Zaum,
Dampfend die Nüstern, Gebiß voller Schaum,
Streckt sich mein Renner und fliegt wie der Wind,
Eh noch im Dämmer die Pußta verrinnt.
Trockene Halme stäuben vom Huf,
Flügelbeschwingt durch munteren Ruf,
Birken und Weiden verlassen die Stell',
Laufen bezaubert entgegen mir schnell.
Weiter und weiter im schnaubenden Lauf,
Mulden hinunter und Hügel hinauf,
Fern in der Csärda, wo Feuer noch brennt,
Dorten, mein Fuchs, hat das Jagen ein End'.
Schließlich das volkstümlich wuchtige Bauernkriegslied,
das wie ein Stück HodlerschesSchweizermannenfresko wirkt:
40 J^JlJiL JiEJMCJ^ELL
DER ARME KUNRAD.
Ich bin der arme Kunrad
Und komm von nah und fern,
Vom H artematt, vom Hungerrain
Mit Spieß und Morgenstern.
Ich will nicht länger sein der Knecht,
Leibeigen, fröhnig, ohne Recht.
Ein gleich Gesetz, das v/ill ich han.
Vom Fürsten bis zum Bauersmann.
Ich bin der arme Kunrad,
Spieß voran,
Drauf und dran!
Ich bin der arme Kunrad,
In Aberacht und Bann,
Den Bundschuh trag' ich auf der Stang,
Hab' Helm und Harnisch an.
Der Papst und Kaiser hört mich nicht.
Ich halt' nun selber das Gericht,
Es geht an Schloß, Abtei und Stift,
Nichts gilt als wie die heil'ge Schrift.
Ich bin der arme Kunrad,
Spieß voran.
Drauf und dran!
Ich bin der arme Kunrad,
Trag' Pech in meiner Pfann';
Heijoh! Nun geht's mit Sens' und Axt
An Pfaff' und Edelmann.
Sie schlugen mich mit Prügeln platt
Und machten mich mit Hunger satt,
Sie zogen mir die Haut vom Leib
Und taten Schand' an Kind und Weib.
Ich bin der arme Kunrad,
Spieß voran.
Drauf und dran!
VOJ^ BEUTSCHETj DJCJiTUJ^G 4I
Nicht aus so kernigem Holz geschnitzt wie der einstige
Artillerieoberst, der im Pulverrauch von zwanzig Schlachten
gestanden, war ein anderer unstäter Gast der Münchener
Tafelrunde, der, im selben Jahrzehnt geboren, schon längst,
ja schon zu eigenen Lebzeiten ins Reich der Schatten hin-
unter schwankte.
Schmerzzerrissen, in selbstverliebter Schönheit, hebt es
sich ab von dem Kreise der im allgemeinen nicht gerade
..dämonischen" Gestalten des sogenannten Münchener „Kro-
kodils", das Bild des unglücklichen Schweizers Heinrich
Leuthold, der in der Heilanstalt Burghölzli bei Zürich
sein frühes und trübes Ende fand. Ein nachgeborener
Souverän der schönen Form thront er im Purpurmantel der
Melodie auf den Trümmern und toten Hoffnungen seines
haltlosen, schicksalschweren Lebens.
Er lächelt ein bitteres Epigramm, er sinnt dem Wohllaut
seines Grames nach, er greift nach dem Thyrsusstab, schwingt
den Becher und schwelgt in hellenischem Traumrausch, aber
das üppige "Weinlaub blättert hin, welk und windverweht,
und das Szepter des Dionysos hat sich jäh in den Dornen-
stab des schwermütigen Sohnes der Finsternis verwandelt.
SCHWERMUT.
Fraget nicht, was mich so eigen
Oft — selbst im Genuß des Schönen —
Aufschreckt, was bei frohen Tönen,
Tanz und Reigen,
Mich versenkt in jähes Schweigen!
Wie vor schweren Ungewittern
Bange Ahnung lähmt das Leben,
Fühl ich mit geheimem Beben
Diesen bittern
Schmerz durch meine Seele zittern.
Jenen Gram, den nimmersatten,
Sucht' ich oft mit sanftem Streicheln
Einzuschläfern, wegzuschmeicheln,
BJiJljSDES: DIE UTETiJlTUT{. HJlTiB XXXVJIl XXXVIII D
42 \jniL HE?JCJ{ELL
Zu bestatten;
Doch er folgt mir wie mein Schatten.
Selbst bei holder Rosenmunde
Sanftem Lächeln, süssem Plaudern
Überfällt's mich oft mit Schaudern —
Tief im Grunde
Meines Herzens klafFt die Wunde.
Mag mich aufwärts das Gefieder
Angebornen Wohllauts tragen.
Immer kehrt in sanften Klagen
Meiner Lieder
Jener Ton der Wehmut wieder.
Laßt den Trost! Er ist vergebens.
Denn ich fürchte, was so bange
Mich beschleicht, sogar im Drange
Meines Strebens,
Ist der Schmerz verlornen Lebens.
Ein reines Bild tiefer Natureinsamkeit mit sinnvoller Be-
ziehung auf ein Menschenleben hat Leuthold gestaltet
in dem elegischen Gedicht
^YAALDSEE.
Wie bist du schön, du tiefer blauer See!
Es zagt der laue West, dich anzuhauchen.
Und nur der Wasserlilie reiner Schnee
Wagt schüchtern aus der stillen Flut zu tauchen.
Hier wirft kein Fischer seine Angelschnur,
Kein Nachen wird auf deinem Spiegel gleiten;
Wie Chorgesang der feiernden Natur
Rauscht nur der Wald durch diese Einsamkeiten.
Waldrosen streun dir ihren Weihrauch aus
Und würz'ge Tannen, die dich rings umragen.
Und die wie Säulen eines Tempelbaus
Das wolkenlose Blau des Himmels tragen.
rOJ\l DEUTSCTfEJi DJCKTUJ^G 4^
Einst kannt ich eine Seele, ernst, voll Ruh,
Die sich der Welt verschloss mit sieben Siegeln;
Die, rein und tief, geschaffen schien wie du.
Nur um den Himmel in sich abzuspiegeln.
Bezeichnend für Leuthold ist auch ein wohltuender,
muckerfeindlicher Zug, wie in folgenden, durch die Form
für seine rhythmisch pointierende Art ebenfalls charakter-
istischen Versen:
WIR UND SIE.
Zwar meinen die Heuchler und Frommen
Und ziehen ein scheel Gesicht,
Daß sie in den Himmel kommen
Wir aber nicht.
Wir sind mit dem Diesseits zufrieden.
Ich und mein reizend Kind,
Und freun uns, daß wir hienieden
Schon selig sind.
Denn möchten wir einst erhalten
Im Himmel den besten Ort,
Und erschienen die Frömmlergestalten,
Wir zögen fort.
Und sprächen: „Geruh uns beide,
O Petrus, dahin zu tun.
Wo Anakreon der Heide
Und Sappho ruhn!
Und führte der Weg zu diesen
Durchs schwärzeste Höllentor,
Wir ziehn ihn den Paradiesen
Der Mucker vor."
Mit Recht konnte ein größerer dichterischer Lands-
mann Heinrich Leutholds von dessen Gedichten bei
ihrem schon zur Zeit seines seelischen Todes er-
folgten Erscheinen öffentlich sagen: „Dem Ausbruche glühen-
D*
44 TiJn{L UEJMCJ^ELL
der Lebenslust und Leidenschaft folgen Klage und Reue auf
dem Fuße. Unmut und Spott lösen sich in Töne weicher
"Wehmut, deren Wohllaut schon an sich eine Versöhnung
ist- Kurz, das Buch hat nicht nur ein Schicksal, sondern
es stellt ein Schicksal dar."
Der größere Landsmann, der als bald Siebzigjähriger in
den ,, heimeligen" Plauderstündchen, die ich dann und wann
zur Dämmerungszeit am Zeltweg in Zürich bei ihm zu-
brachte, mitunter auch persönliche Erinnerungen auffrischte,
nannte Heinrich Leuthold in seiner drastischen Art gelegent-
lich mal ein „verrücktes Instrument" und erzählte launig
von seinen tollen Streichen und Einfällen. Ja, wenn der
arme Heinrich nur etwas von der grundfesten Geisteskon-
stitution und "Wesensveranlagung seines kräftigeren kanto-
nalen Mitbürgers besessen hätte! Der bildet übrigens eine
höchst bedeutsame Sphäre für sich allein und ist eine Natur
\on hervorragender schöpferischer Eigenart. "Wenn Gott-
fried Keller mir in den dicken Band seiner „Gesammelten
Gedichte", die ich in liebevoll verehrendem Andenken an den
mit sorgfältiger und sachlicher "Würdigung meines eigenen
Jugendschaffens auch gar nicht kargenden Alt-Staatsschreiber
\on Zürich schatzfreudig bewahre, die schlichte "Widmung
schrieb ,,Zur freundlichen Erinnerung an den Täter", so
brauchte er das "Wort , .Täter", wie er mündlich dazu an-
deutete, selbst wohl mit der ihm eigentümlichen etwas
schalkhaften Nuance, aber das Buch Gedichte stellt auch
die wahrhaftige lyrische Lebenstat eines prächtigen Meisters
dar, der in seinen Gedichten natürlich die gleichen mensch-
lich-künstlerischen Grundzüge und Grundvorzüge aufweist
wie in seinen mehr gekannten und gerühmten Erzählungen
und Romanen. Gottfried Keller hat einmal in einem Briefe
an Ferdinand Freiligrath folgendes Bekenntniswort über
die Kunst der Lyrik niedergelegt: ,,Es ist mit der Lyrik
eine eigene Sache: sie duldet nur selten eine rivalisierende
Tätigkeit neben sich und erfordert ein ganzes und ungeteiltes
Leben, um aus dessen edelstem Blut als unvergängliche Blüte
hervorgehen zu können. Jedes gute Lied kostet einen
HEINRICH LEUTHOLD
NACH DEM GEMÄLDE VON FRANZ LENBACH
Photographie Br uckmann in München.
VOM -DEHTSCTiETj mCHTUJ^G 45
schrecklichen Aufwand an konsumierten Viktualien, Nerven-
verbrauch und manchmal Tränen, vom Lachen oder vom
Weinen, gleichviel, und dann vi'ird es einem bogenweise
berechnet! Und die sechs Strophen füllen nicht einmal
zwei Seiten — da geh einer hin und werde Lyriker ...!"
Ja, Meister Gottfried, Ihr habt's gewußt. . . Wenn es auch
von wegen der „Berechnung" heute ein klein bißchen besser
geworden sein mag.
Gar nicht einschmeichelnd tritt die Lyrik Gottfried
Kellers auf, alles auf den ersten Blick Blendende und Ver-
führerische geht ihr ab, sie ist wohl manchmal eine etwas
spröde Schöne, aber wenn man sich nicht allzu flüchtig von
ein paar vereinzelten hart und trocken klingenden Wen-
dungen und Versen abschrecken läßt und ein Auge für den
unerschöpflichen, bis auf das winzigste Tröpfchen echten
Naturreichtum dieser Gedichte besitzt, so sieht man Seite
für Seite herrliche, für uns Deutsche besonders wertvolle
Gaben vor sich ausgebreitet. Vollhängend und schv/er, wie
ein breitstämmig gewachsener Apfelbaum feinster Sorte, so
prangt Kellers Lyrik von den reifen Früchten eines mar-
kigen, wohlgediehenen Lebens.
Eines ist sicher: lyrisches Flitter- und Flunkergold
gibt es bei Keller nicht, hinter jedem Worte, jedem Bilde
steht der ganze knorrigzarte Mann mit dem großen Haupte,
ein tieffühlender, aller Gefühlsduselei abholder stiller Ver-
trauter der Natur, der er sich in treuer, dankbarer und
blickklarer Liebe hingibt. Ausserordentlich gediegene Kunst
eines nur auf innerste Bewältigung des Lebensgefühls,
nicht auf berauschende Formeffekte bedachten Dichter-
sinnes. Ein paar sichere, auf ihrem Punkte ruhig ver-
weilende Augen, deren liebeweites, stetes Leuchten dauernd
rein oder andächtig stimmt, schauen aus Kellers Gedichten
hervor .
UNTER STERNEN.
Wende dich, du kleiner Stern,
Erde! wo ich lebe.
4i
K^Tj-L TiEJ^CJ^ELL
Daß mein Aug. der Sonne fern,
Sternenwärts sich hebe!
Heilig ist die Sternenzeit,
Öffnet alle Grüfte;
Strahlende Unsterblichkeit
Wandelt durch die Lüfte.
Mag die Sonne nun bislang
Andern Zonen scheinen,
Hier fühl ich Zusammenhang
Mit dem All und Einen.
Hohe Lust, im dunklen Tal,
Selber ungesehen.
Durch den majestätschen Saal
Atmend mitzugehen!
Schwinge dich, o grünes Rund,
In die Morgenröte!
Scheidend rückwärts singt mein Mund
Jubelnde Gebete.
WINTERNACHT
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee,
Nicht ein Wölkchen hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.
Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf.
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror.
An den Ästen klomm die Nix herauf.
Schaute durch das grüne Eis empor.
Auf dem dünnen Glase stand ich da.
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit, Glied um Glied.
VOl^ DEUTSCHET^ DICH TV IMG 4J
Mit ersticktem Jammer tastet sie
An der harten Decke her und hin.
Ich vergeß das dunkle Antlitz nie.
Immer, immer liegt es mir im Sinn,
Gerade bei Dichtern wie Gottfried Keller, deren strö-
mende Lebensfülle eigentlich mit jedem Gedicht einen neuen
Zug offenbart, ist es natürlich ganz ausgeschlossen, in ein
paar sogenannten „Perlen" ihr Wesen und ihre Art nur
andeuten, geschweige aufzeigen zu wollen. Das machen
uns solche Herren glücklicherweise völlig unmöglich. Sie
spotten ja auch unbarmherzig jedes ehrenwerten antholo-
gischen Bemühens, Darum lassen Sie mich nur noch das
eine goldtraubensüsse Gedicht von der „Winzerin" lesen,
das ich unsäglich liebe, und nachher zum Schluß eine ent-
zückende, auch echt Kellersche Schnurre.
DIE WINZERIN.
Am sonnig weißen Gartenhaus,
Da reifet Traub an Traube,
Die sanfte Schöne tritt heraus
Und prüft die schwere Laube;
Dem blauen Blick des Weibes gleicht
Der Beeren dunkle Menge;
Wohin ihr freundlich Auge reicht.
Lacht freundliches Gedränge.
Rings lockt das noch gefangne Blut
Zu Raupten und zu Füßen,
Und sie beginnt mit stillem Mut
Zu schneiden all die süßen.
Und wie sie mit der lieben Hand
Die grünen Blätter teilet.
Hin schweifet über See und Land
Im Flug der Blick und weilet.
Gleich einer reifen Beere glänzt
Ihr feuchtes Aug herüber,
48
\jn{L IiE7\lCJ(ELL
Wb's blaut und leuchtet unbegrenzt.
So fern, so fern herüber.
Sie lasset still und ahnungsvoll
Die vollen Trauben sinken.
Bis es in Körben reizend schwoll
Mit tausendfachem Blinken.
Und auf der Laube Marmeltisch
Zu keltern sie beginnet,
Daß aus der Kelter duftig frisch
Das Blut der Traube rinnet;
Wie muß der weißen Arme Zier
Mit holder Kraft sich mühen!
Sie keltert bis die Wangen ihr
Gleich jungen Rosen blühen.
Sie keltert, daß der Busen fliegt
Und woget ungemessen;
Umsonst, was ihr im Sinne liegt,
Sie kann es nicht vergessen!
Umsonst — wie oft die Krüge sie
Mit starkem Moste füllet,
Sie selber hat den Durst noch nie.
Das Sehnen nie gestillet.
Sie läßt den heißen Rebensaft
Mit treuer Sorge gähren,
In kühler Nacht zu milder Kraft,
Zum seltnen Wein sich klären.
Den trägt sie zu den Hütten hin
Auf Höhen und im Tale.
Sie reicht der armen Wöchnerin,
Dem kranken Greis die Schale.
So keltert sie den Edelwein
Im Herbste schon seit Jahren. —
Ein Segel kommt im gold'nen Schein
Das Abends fern gefahren;
GOTTFRIED KELLER VON CARL STAUFFER-BERS
MIT GENEHMIGUNG VON AMSLER d- RUTHARDT IN BERLIN.
VOM DEUTSCHE7{ DICH TUM G 4Q
Im Hafen legt das Schiff sich an,
Sie hört die Schiffer singen.
Und einen hochgemuten Mann
Sieht sie ans Ufer springen.
Sie kennt ihn und sie kennt ihn nicht,
Sie starrt hinaus ins Weite,
Als er mit trauter Stimme spricht
Und grüßt schon ihr zur Seite.
Die frohen Klänge mischen sich.
Das "Wort hier, dort die Lieder:
„Ratlos verließ der Knabe dich.
Nun kehrt ein Mann dir wieder!"
„O schau, wie leuchtet's weit und breit.
Wie klar der Tag, die Stunde!
Und reif die schönste Lebenszeit
Küßt mich von deinem Munde!"
Da ist in seine Arme hin
Sie wonnevoll gesunken.
Und weinend hat die Winzerin
Zum erstenmal getrunken.
Zum Abschied von dem unvergleichlichen Schweizermann
ein schalkisch gelungenes „Wanderbild" aus der Zeit seines
Aufenthaltes in Berlin:
BERLINER PFINGSTEN.
Heute sah ich ein Gesicht,
Freudevoll zu deuten:
In dem frühen Pfingstenlicht
Und beim Glockenläuten
Schritten Weiber drei einher.
Feierlich im Gange,
Wäscherinnen fest und schwer.
Jede trug 'ne Stange.
so J{jn{Z TiEJ\JCJ(ELL
Mädchensommerkleider drei
Flaggten von den Stangen,
Schön're Fahnen, stolz und frei,
Als je Krieger schwangen.
Frisch gewaschen und gesteift,
Tadellos gebügelt,
Blau und weiß und rot gestreift,
Wunderbar geflügelt!
Lustig blies der "Wind, der Schuft,
Falbeln auf und Büste,
Und n:\it frischer Morgenluft
Füllten sich die Brüste;
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und laßt die Fahnen wehn.
Lustig ist das Leben!
Als im Jahre 1889 Gottfried Keller seinen josten Ge-
burtstag feierte und sich allen offiziellen Veranstaltungen
nach Seelisberg entzog, sandte ich ihm — ich war Mitte
zwanzig — ein Rosenkörbchen mit folgenden Begleitversen,
die hier wohl ihren natürlichen Platz finden:
GOTTFRIED KELLER ZUM 70. GEBURTSTAGE.
(Mit einem Rosenstrauß.)
Nimm diesen Gruß von Rosen, Gottfried Keller,
Des Sommers vollen Segen nimm von mir!
Noch an den Kelchen weint ein freudeheller
Tautropfen in des Morgenglanzes Zier.
Die frische Glut der sonngeküßten Fülle,
Des sammtnen Schoßes duftgetränkte Truh,
Sie atme dir, als zarte Liebeshülle,
Den satten Hauch der süßen Schönheit zu!
Köstlich und keusch, schelmisch und fein am Mieder
Der deutschen Dichtung bist du aufgeblüht,
VOM DEUTSCTfE7{ -DlCTiTVJMG J/
Dir rankt sich durch Legenden, Mären, Lieder
Der Reiz der Anmut um ein Goldgemüt.
Glück auf dir, Alter mit der Jugendfrische,
Dich grüßt ein Junger, den der Sturm umweht.
Stell auf mein Sträußchen am Geburtstagstische,
Du lieber, rosengläubiger Poet!
Händedruck und herzenswarmes Wort, als wir uns kurz
darauf in Zürich wiedersahen — wer könnte das von so
Einem je vergessen!
Von der Schweiz nach Schleswig, von Zürich nach Husum
ist nicht so weit, wenn man von Gottfried Keller zu
Theodor Storm will. Von Dichter zu Dichtergehen
schon längst blitzschnelle seelische Sphärenzüge, Süd und
Nord berühren sich da im Augenblick. Storm teilte mit Keller
nicht nur fast die gleiche Spanne des Lebens (Keller von
1819 — 90, Storm von 1817 — 88), sondern auch die schlichte
Wahrhaftigkeit und vornehme Gediegenheit der Kunst.
Storm mag in bestimmtem Sinne „lyrischer" als Keller ge-
nannt werden wegen eines gewissen Mehr an runder Eu-
rhythmie des Liedverses, aber treue Sorgfalt in der Natur-
erfassung, Mangel an falschen Farben und schwindlerisch
nachgemachten Klängen ist beiden Freunden und viel-
jährigen Korrespondenten erquicklich gemeinsam. Storms
schweigsame, von Gehalt und Stimmung überquellende Verse
lassen die tiefsten Herztöne, die Laute zartester Mensch-
lichkeit vernehmen. Ein feiner, herzenskundiger Knecht
Ruprecht der Poesie, so könnte man Storms lyrische
Silhouette zeichnen, teilt er in süßverwirrender Dämmer-
stunde, „wenn't Schummern in de Ecken liggt" und ,,wenn's
munkelt" die Päcklein seines geheimnisvollen Zaubersackes
aus, den zarten Frauen, den aufrechten Männern, die das
traumhafte Ineinanderweben von Wirklichkeit und Dichtung
ahnen und verstehn , . .
5£ TjATiL HEMCJJELL
„Es sinkt auf meine Augenlider
Ein goldner Kindertraum hernieder."
Oder, mit verwandelter Jahreszeit: ein helläugiger,
lebensstarker Mensch zugleich und ein echtes Sonntags-
kind mit der "VC^ünschelrute des Schätzefinders, führt dich
der leiderfahrene Poet gern gedankenvoll deutend zu
den weltfernen Klosterplätzchen sonnengoldner Gartenein-
samkeit.
Storm geht wie ein weiser, sehr wohlhabender, aber
sparsamer Hausvater mit seinem lyrischen "Wortschatz um,
er scheint wenig auszugeben und schenkt um so mehr.
Denn alles, was er zurückhält, spürt man gleichwohl im
stillen mitgegeben — und auf einmal überquillt es uns dann
wie seltener, überraschender Reichtum.
Die "Wortkargen sind nicht die schlechtesten unter den
Dichtern — wir werden bald noch ein stärkeres Exem-
plar dieser Gattung zu betrachten haben.
KÄUZLEIN.
Da sitzt der Kauz im Ulmenbaum,
Und heult und heult im Ulmenbaum.
Die "Welt hat für uns beide Raum!
"Was heult der Kauz im Ulmenbaum
"Von Sterben und von Sterben?
Und übern ^eg die Nachtigall,
Genüber pfeift die Nachtigall.
O weh, die Lieb ist gangen all!
"Was pfeift so süß die Nachtigall
"Von Liebe und von Liebe?
Zur Rechten hell ein Liebeslied,
Zur Linken grell ein Sterbelied!
Ach, bleibt denn nichts, wenn Liebe schied.
Denn nichts als nur ein Sterbelied
Kaum wegbreit noch hinüber?
VOM BEUTSCTtETi DICTiTUMG SS
Das ist das uralte Lied vom Scheiden der Liebe, wie
es so todestraurig auch manche Novelle durchzittert. —
Storm liebt, ob ihm schon die schärfsten und wuchtigsten
Töne zu Gebote standen, wenn es um Vaterland und Heimat-
erde ging, doch im allgemeinen mehr die stillen Weisen der
Natur:
Wir können auch die Trompete blasen
Und schmettern weithin durch das Land;
Doch schreiten wir lieber in Maientagen,
Wenn die Primeln blühn und die Drosseln schlagen.
Still sinnend an des Baches Rand.
Sonnenstrahl und Mondenlicht, Leben und Tod gleiten
wechselnd über sein melodisches Saitenspiel.
IM WALDE.
Hier an der Bergeshalde
Verstummet ganz der Wind;
Die Zweige hängen nieder,
Darunter sitzt das Kind.
Sie sitzt in Thymiane,
Sie sitzt in lauter Duft;
Die blauen Fliegen summen
Und blitzen durch die Luft.
Es steht der Wald so schweigend,
Sie schaut so klug darein;
Um ihre braunen Locken
Hinfließt der Sonnenschein.
Der Kuckuck lacht von ferne.
Es geht mir durch den Sinn :
Sie hat die goldnen Augen
Der Waldeskönigin.
^4 \A'HJL ?iEJ^CJ{BLL
TIEFE SCHATTEN.
So komme, was da kommen magl
So lang du lebest, ist es Tag;
Und geht es in di: Welt hinaus,
Wo du mir bist, bin ich zu Haus.
Ich seh dein liebes Angesicht,
Ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.
In der Gruft bei den alten Särgen
Steht nun ein neuer Sarg,
Darin vor meiner Liebe
Sich das süßeste Antlitz barg.
Den schwarzen Deckel der Truhe
Verhängen die Kränze ganz;
Ein Kranz von Myrthenreisern,
Ein weißer Syringenkranz.
"^as noch vor wenig Tagen
Im Wald die Sonne beschien.
Das duftet nun hier unten:
Maililien und Buchengrun.
Geschlossen sind die Steine,
Nur oben ein Gitterlein;
Es liegt die geliebte Tote
Verlassen und allein.
Vielleicht im Mondenlichte,
Wenn die Welt zur Ruhe ging,
Summt noch um die weißen Blüten
Ein dunkler Schmetterling.
Storms Lyrik berührt mich oft wie der unmerkliche
Flügelschlag eines Dämmerungsfalters, wenn abendwürziger
Resedaduft durch den Garten weht . . .
Bei Theodor Storm in Gedanken „am grauen Strand,
am grauen Meer" verweilend, wie könnte man da des be-
glückend frischen und schlichten Quickborndichters, unseres
wurzelstarken Dithmarschen Klaus Groth Yergessenl Man
VOM DEUTSCTiETi DJCNTUMG SS
schwätzte eine Zeitlang — es scheint das nun auch schon
wieder „überwunden" zu sein — sehr viel von sogenannter
Heimatkunst in Berh'n und h'terarischen Vororten — nun,
Klaus Groth ist ein Heimatdichter, und zwar einer echten
Kalibers, in dessen plattdeutschen Versen die wasser- und
moorreiche Landschaft um Heide und Meldorf, die Atmo-
sphäre von Land und Leuten unmittelbar lebendig wird
und zum selbstverständlichen Hintergrund eines kraftvoll-
zarten Empfindungslebens dient. Klaus Groth ist auch der
norddeutsche Poet der ländlich -realistischen Idylle mit
natürlichem Humor — da braucht man nur seine längeren Ge-
dichte zu lesen. Hätte er aber lediglich sein Lied von
„Min Modersprak" gedichtet, so müßte ich ihn immer lieb
behalten.
Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrutl
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
Du drevst den Stolt herut.
Du bögst min stiwe Nack so licht
As Moder mit ern Arm,
Du fichelst mi umts Angesicht
Un still is alle Lärm.
So herrli klingt mi keen Musik
Un singt keen Nachtigal;
Mi lopt je glik in Ogenblick
De hellen Tran hendal.
Die treuherzigen Verse gehen einem immer wieder nahe
ans Herz, dieses seltsame Organ, das unbeschadet alles "Welt-
bürgertums es sich nicht nehmen lässt, auf seine besondere
Art Heimat und Stammesart zu lieben.
Ich sagte schon, daß Klaus Groth himmelweit davon ent-
fernt ist, Heimatdichter im kleinlich beschränkten oder gar
literarisch zugeschnittenen Sinn des Wortes zu sein — so
aufgefasst würde man sein Wesen völlig verkennen. O nein.
56
\JIJ{L n-E7^C\ELL
er ist eher eine Art deutscher Robert Burns, dem er sich selbst
auch gewiß verwandt fühlte; die ergreifend innige Natür-
lichkeit seiner Herzenssprache, die tiefen Grundbeziehungen
seiner so köstlich unzünftigen Kunst zum Großen und Ganzen,
zum Typischen des Menschenlebens schützen ihn vor jeder
litterarischen Zaunpfahlankoppelung. Man sieht wohl deut-
lich das dörfliche Storchennest und die Kirchturmspitze,
man hört aber auch das unendliche Meer rauschen und den
ewigen Brausewind über den Deich dahinwehen.
DAT DÖRP IN SNEE.
Still as ünnern warme Dek
Liggt dat Dörp in witten Snee,
Mank de Ellern slöppt de Bek\
Ünnert Is de blanke See.
"Wichein "^ stat in witte Haar,
Spegelt slapri^ all de Kopp,
All is ruhi, kold und klar,
As de Dod, de ewi slöppt.
"Wit, so wit de Ogen reckt,
Nich en Leben, nich en Lut;
Blau na'n blauen Heben treckt
Sach de Rok* nan Snee herut.
Ik much^ slapen, as de Bom,
Sünner "Weh un sünner Lust,
Doch dar treckt mi as in Drom
Still de Rok to Hus.
"Wie viel im besten Sinn bewußte Kunst in so vielen
seiner scheinbar höchst simpeln plattdeutschen Lieder aus
Natur und Menschenleben steckt, ist dem "Verstehenden
ohne weiteres klar. Ihr "Wert wird dadurch nur erhöht,
daß man es so gar nicht merkt. Es ist in trauriger "Weise
bezeichnend, daß die wesentlichen "Vorzüge, das eigentlich
1 Bach, 2 Weiden, 3 schläfrig, * Rauch, ^ möchte.
,^-^ ^^^^.^-^^ ^^\
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VOl^ DEUTSCHET^ BICHTIUMG ^J
Ausschlaggebende in Klaus Groths dichterischem Lebens-
werk lange Zeit gerade bei den engern Landsleuten des
Dichters eine geringschätzige und falsche Aufnahme fand,
so daß er einmal in dem ergreifenden Klagesonett „In Thule"
in die Worte ausbrach:
„Ich wandre unverstanden unter Horden
Von kalten Stummen, die mich nicht begreifen.
Die mir den Duft von meinem Fühlen streifen
Und mir das Wort schon im Entstehen morden . ."
Dem wehmütigen winterlichen Abendbild mit seiner tiefen
Ruhesehnsucht folge wenigstens noch eines seiner hoch-
deutschen Gedichte, aus den „Hundert Blättern". Ich glaube,
mancher wird auch heute noch staunen, bei Klaus Groth
ein so die zartesten Schwingungen und Schattierungen der
Luft und der Seele wieder ausatmendes Gebilde zu ent-
decken:
SOMMERSCHWÜLE.
Brennende Luft, —
Glühender Strahl
Schießt herab wie fließendes Gold;
Und in der Ferne
Zittert in Wellen,
Wie in Pulsen, die Umgebung. —
Und welcher Schatten!
Greiflich dicht, in scharf geschnittene Formen
Fließt er vom Baum herunter,
Vom Dach herab,
Wie ein kühlender Strom um die Brust.
Schläfernder Blumenduft,
Vogelgezwitscher wie Flüstern —
Über die Träumer gießt
In vollen Schalen
Heiige Natur,
Allliebende Mutter,
Gießt ver?;chwenderisch mild ihren Segen aus.
BJiAJSDES: DIE UTETiATHTi. BJlTiB XXXVIII XXXVIII E
58
\jn{Z IiEJ\JCJ{ELL
Auch über mich? —
Ach, meine Seele dürstet!
Kann ich es hindern,
Wenn sie erzittert
Leis wie der Horizont?
Und im Herzen die \^e]Ien steigen,
Und in hohen brausenden "Wogen
Über das Haupt mir
Glühender Wunsch und Sehnsucht steigen?
Befriedigt saugen die Saaten
Den Sonnenglanz,
Ahnen Vögel
Den duftigen Schatten.
O ich möchte zerfließen
Mit dem fließenden Golde!
Möchte sterben und schweben
Mit dem sterbenden Laute! —
Auf zum off^enen Himmel
Wallet der Rosenduft.
Aber o Herz!
Dort im dichtesten Schatten,
Tief im Laub versteckt,
Unter dem niedrigen Ulmenbaum,
Wer isfs?
Leise wiegt das liebliche Haupt,
Leise haucht die vertraute Stimme
Seelenfrieden in süßen Tönen aus!
Sei still und atme!
Du bist ein Mensch — und liebst.
Ja, es gab glücklicherweise über den in aller Kuckucks
Munde befindlichen Modedichtern, die so um die sieb-
ziger Jahre herum den Rahm des äusserlichen Erfolges ab-
schöpften und die längst ihren Lohn dahin haben — es gab
glücklicherweise im deutschen Sprachgebiet auch schon da-
VOJSl DBUTSCTtETi DJCTiTyj\G ^^
mals ruhig ihren Weg gehende, unbekümmert aus sich heraus
schaffende Poeten, denen die Tage einer gerechtwerdenden
"Würdigung erst langsam heranreifen sollten. Die "Weltan-
schauung dieser Dichter trägt nicht das sich im Zusammenhang
mit kulturellen Umbildungen bald darauf entwickelnde Ge-
präge einer Jüngeren Generation, der eine neue Sehnsucht im
Blute lag, aber ihre lebenswahre, seelisch und sprachlich ganz
selbständige Gestaltungsweise schlägt im besten Sinn eine
Brücke zur Gegenwart, geht ihr oft sogar rein künstlerisch
bedeutsam wegweisend voraus. Der selbstgesteckte Rah-
men meiner Ausführungen zwingt mich, hier wie auch später
es auf manchen "Verzicht ankommen zu lassen, der ja natür-
lich ganz und gar kein "Vergessen und keine Ausschließung
bedeutet. Ich gebe hier nicht Literaturgeschichte noch
fühle ich anthologische "Verbindlichkeiten — ich bitte das
recht sehr im Auge zu behalten.
Es muß an dieser Stelle, wo nur von besonders stark sich
abhebenden Erscheinungen der neueren deutschen Lyrik die
Rede ist, des Bayern Martin Greif gedacht werden, der,
seit Jahrzehnten in München ansässig, gegenüber den früher
gestreiften mehr oder weniger weichlichen Parnaßschönheiten
des Heysekreises in tiefer Naturnähe und hoher, ungeleckter
Einfalt dasteht. Ich möchte ihn den „erinnerungsvollen" und
„ahnungsreichen" Martin Greif nennen, ohne damit mehr
als das wolkenhaft Auftauchende und Vorüberziehende seines
Wesens, den traumartigen Zug und die seltsam ätherschwe-
bende Formation vieler seiner Gedichte andeuten zu wollen.
"Wie ein Kind, halb träumend und halb im ^Wachen, mit
duftigen Blüten spielt, die ihm der "Wind in den Schoß
weht, Kränzlein flicht und löst und wieder von neuem flicht,
so der Lyriker Martin Greif. Er weint und lacht mit
seiner Mutter, der Natur, die ihm ihre "Wiegenlieder, ,, all-
bekannte herzliche Lieder" mit trauter Stimme ins Ohr
flüstert, greift schier verwundert nach Sonne, Mond und
Sternen, als sah er sie zum ersten Mal, und zieht mit sehn-
suchtstammelnden "Weisen die Dinge an sein altes thörichtes
Menschenherz.
5Ö 7{J!7{L TfEJ^CJ(ELL
Ich weiß nicht, warum sich der ursprünglich Hermann
Frey heißende Dichter just Martin Greif genannt hat, aber
ich habe ihn im Verdacht, daß er — und es wäre das für
seinen glücklichen Tastsinn nur bezeichnend — seinem
Dichternamen eine Art dunkler Symbolik zugrunde legte.
Nomina sunt ja mitunter wirklich omina. Martin Greif
hat z.B. mit Martin Luther den schlichten schöpferischen
Sprachsinn gemein, der die Worte, also das Ausdrucksmittel
des Dichters, in ihrem vollen Ursprungswert empfindet.
Ferner greift er sozusagen nach den Wort- und Welt-
gebilden wie der Märchenvogel nach seinem kindlichen
Opfer, um sie aus dem unendlichen Fluß der Dinge heraus-
zuholen und durch die Lüfte zu dauerndem Besitz nach
seinem Horst davonzutragen. Bei wenigen Lyrikern habe
ich so das Gefühl des Immerwiederkehrenden der Erschei-
nungen und Vorgänge in Natur und Menschenleben wie
gerade bei ihm.
Wenn man gegenüber einem Dichter, der den Lebens-
wald auf mannigfaltigen Pfaden durchstreift, und der ein
mit allem Menschlichen weit umher fühlendes Herz in
der Brust trägt, von einer vorherrschenden und charak-
teristischen Grundstimmung überhaupt sprechen kann, so
fühlt sich Matin Greif im ganzen jedenfalls eher zur Weh-
muts- und Resignationssphäre hingezogen. Aber auch auf
dieser elegischen Gefühlswelle steuert er sein SchiPFlein
ohne Sentimentalität an uns vorbei in die Dämmerferne,
und seine Resignation ist die des gefaßten Menschen, der
mancherlei hinter und unter sich gebracht und trotzdem
das Mitzuleiden, Mitzulieben und sich Mitzufreuen nicht
verlernt hat. So wirkt er anhaltend warm und wohltuend
dadurch, daß Phantasie und Herz bei ihm treue Kamerad-
schaft halten. Und dann ist es seine ganz besondere Gabe,
das, was hinter dem Ausdruck schlummert, leise anrührend
mitzittern zu lassen und so das deutliche Wortbild geheim-
nisvoll zu unterdunkeln. Seine Rhythmik und Strophik
sucht zudem im stärksten Gegensatz zum Geibelschen Fal-
tenwurf alias Bemäntelung das innerliche Wertverhältnis der
THEODOR STORM
Photographie Konstabel in Hanerau
VOM DEUTSCTiETj DICJJTKJ^G 6l
"Worte und Sätze feinfühlig und angemessen zu ordnen und
zu gliedern. Und nun von dem Dichter, der mit weit
größerem Recht und in viel tieferem Sinn als etwa ein
Geibel wahrhaft „fromm" genannt zu werden verdient,
fromm in seiner andächtigen reinen Lebensstimmung, we-
nigstens ein paar bezeichnende Gedichte aus dem über-
quellenden Füllhorn seiner Lieder. Daß bei einem so naiven
Dichter manches Ungleichwertige mitunterläuft, ist kaum
anders zu erwarten, man hat aber gleichwohl bei Martin
Greif die angenehme Empfindung, daß selbst die unschein-
barsten Grashälmchen seiner Lyrik niemals dürr oder gar
unecht sind. Zuerst die seltsam erdenbangen Rhythmen
c'es aus der Heimat nächtlich in die „fremde Ferne Ent-
führten":
AUF DER REISE.
Noch schlafen sie alle
Auf bergendem Lager,
Alle die Lieben,
Die ich leise dort verließ
Rückwärts in der trauten Heimat,
Und träumen die Nacht zu Ende.
Ich aber bin indes geeilt
An Flüssen dahin und vielen Bergen,
Weit voran in die fremde Ferne.
Der Mond am Himmel allein.
Der erbleichende.
Folgte mir nach
Mit teilnehmendem Blick,
Und er sah des Entführten
Irdische Eile.
Dann die wie ein unversehens heraufziehendes Gewitter
wirkenden lebensschv/cren Strophen:
AUF DER WIESE.
Als ich auf der Wiese lag
Und nach Wand'rers Weise
Gl T^JlTiL HE?JCJ(ELL
Süßen Selbstvergessene pflag.
Hört' ich's donnern leise
Droben in den Höh'n.
Als das Aug' ich aufgetan,
Siehe, Wolken zogen
Dunkel überall heran,
Und die Vöglein flogen
Angstlich über mir.
So voll Glück und Sonnenschein
War mein Jugendmorgen;
Doch es zog Gewölk herein
Und es kam der Sorgen
Dichtgedrängtes Heer.
Und schließlich noch den zarten und so schlichten Acht-
zeiler:
VOR DER ERNTE.
Nun störet die Ähren im Felde
Ein leiser Hauch,
Wenn eine sich beugt, so bebet
Die andre auch.
Es ist, als ahnten sie alle
Der Sichel Schnitt —
Die Blumen und fremden Halme
Erzittern mit.
Martin Greif lebt als nun bald Siebzigjähriger in Mün-
chen mit der freilich etwas späten Genugtuung, sein Lied
immer mehr gelesen und gewürdigt zu sehen, von einem
Jüngern Dichtergeschlecht nur soweit es rohem Strebertum
fröhnt, unehrerbietig beiseite geschoben. Lediglich Neu-
lingsbeschränktheit oder literarischesTotschlägersystem wirft
das Echte, mag es auch momentan unmodern anmuten, zum
alten Eisen. Das tut man rechtmäßig wohl mit Mode-
dichtern, die zu unnatürlicher Wertschätzung aufgebauscht
W7V DEUTSCTiElj DJCTiTUJ^G 6^
sind, wie ich es bei der sogenannten Lyrikerrevolution anno
85 ebenfalls tat — zu keiner Stunde meines Lebens jedoch
möchte ich einem, der wirklich was Echtes und Eigenes
leisten kann, und käme er hundertmal aus der Sphäre einer
ganz andern Kunstauffassung, wider besseres Fühlen und
Wissen den freudigen Zoll der Anerkennung schuldig ge-
blieben sein.
Reine Bewunderung zumal erfüllt mich gegenüber einem
nun schon seit bald zehn Jahren dahingegangenen Dich-
ter, der, je öfter ich zu ihm zurückkehre, um so höher
bei mir wächst. Wie die Gedichte Gottfried Kellers, so be-
wahre ich auch den mit den energisch kühnen Schriftzügen
ihres Urhebers versehenen Band Gedichte von Conrad
Ferdinand Meyer als teueren Schatz. Es ist unverkenn-
bar, daß Conrad Ferdinand Meyers dichterisches Wesen
einen Zug ins Große aufweist. Er hat zweifellos —
dieses Gefühl verstärkt sich immer mehr bei mir — etwas
Machtvolles, etwas, das wie Pfeiler und Säule emporsteigt.
Seine Lyrik und Balladendichtung besitzt ebenso wie seine
Prosa Eigenschaften, die in der deutschen Dichtung über-
haupt recht isoliert sich ausnehmen. Die Gedichte stellen
das letzte künstlerische Ergebnis eines in seiner besondern
Art vielleicht einzigen, langwierigen Vorgangs innerlicher
Lebensbewältigung dar. Ich kenne kaum einen andern
deutschen Dichter, der in der Ausscheidung des Beiläufigen,
Zufällig- Nebensächlichen und Kleinlich-Unbedeutenden so
weit gegangen wäre wie gerade Meyer. Dadurch wird
die große Linie seiner Schöpfungen gewahrt, die sie so
edel auszeichnet.
Die Art, wie starkes Gefühl, tiefe Leidenschaft und
Phantasiefülle — ohne Einbuße an Erregungsfrische durch
den langen Schmelzprozeß — zur festen, dauernden Form
gebändigt und geprägt wird, ist bei diesem Dichter staunens-
wert. Meyer ist — neben dem Dramatiker Kleist — viel-
leicht der lakonischste deutsche Dichter. Er feiert form-
64
J{jn{L HEJ^CJ(ELL
liehe Orgien darin, einen Gegenstand der Empfindung oder
Einbildung auf die denkbar knappste und zugleich bedeut-
samste poetische Formel zu bringen. Größte Kraft wird
im kürzesten Ausdruck zusammengeschlossen. Der Stil
erscheint als höchster Triumpf künstlerischer Energie und
Enthaltsamkeit über das Element, über die Natur. Meyers
Seele ist in ihren Hauptzügen eine Mischung von ver-
stehender Liebe zum Heroisch-Genialen, von später, aber
um so milderer Goldtraubenreife des Lebensgefühls und
von innig religiöser Schickung in einen unerforschlichen
"Willen. Diese Seele ist so bedeutend, daß sie es unge-
fährdet wagen darf, sich feierlich zu äußern, ohne je mit
ihrer großen Gebärde unverhältnismäßig zu erscheinen.
Nicht wenige Gedichte gibt es bei Meyer, die durch
Sinn und Form wie stille, hohe Lebensweihe wirken —
man tritt wirklich in einen wunderschönen, aus seltenem
Marmor erbauten Andachtsraum, um lange darin zu ver-
weilen und ergriffen, ja erlöst wieder hinauszugehn. Meyer
ist überhaupt kein Dichter für Schnellleser und Literatur-
nipplinge. Dazu ist er viel zu gehaltreich und im besten
Sinne anspruchsvoll. Gebieterisch fordert er gesammelte
Aufmerksamkeit und eine nicht karge Hingebung der seeli-
schen Einbildungskraft an jede Zeile seines Versgebildes.
Es ist wie wenn er sagen wollte:
,,Laß draußen, was entbehrlich ist.
Doch deine Seele heisch ich ganz!"
Der „Pilgerim und Wandersmann" von Kilchberg ist ein
Dichter des Lebensproblems und des schicksalvollen Er-
lebnisses bis zur Sphäre des Dämonisch-Unheimlichen hin-
unter. Den Versdokumenten hierfür spüre Jeder selber
nach. Der von Karl Stauffer-Bern unübertrefflich mit dem
sonnigen, behaglich schmunzelnden Gesichtsausdruck unterm
schattenlegenden Breitrand wiedergegebene Alte lacht in
der Tat sieghaft durch einen seltsamen Schicksalschleier
hindurch. Das Gedicht „Gespenster" kommt einem in
den Sinn:
VOM DEyTSCTiE7{ DICNTliJMG 6^
Am Horizonte glomm des Abends Feuer;
Ich stieg, indeß die Purpurglut verblich.
Zum Römerturm empor und lehnte mich
Randüber auf das dunkelnde Gemäuer —
Und sah, wie sich am Hange scheu und scheuer
Die Beerenleserin vorüberschlich.
Das arme Weibchen drückt' und duckte sich
Und schlug ein Kreuz: ihr war es nicht geheuer . . .
Mich flog ein Lächeln an. Im Eppich neben
Der Brüstung flüsterts: ,, Freund, in deinem Leben
Ist auch ein Ort, wo die Gespenster schweben!
Führt dich Erinnrung dem zerstörten Ort
Vorbei, du huschest noch geschwinder fort.
Als das von Graun gepackte Weibchen dort."
Persönlichste Erfahrung ist oft merkwürdig mittelbar
oder, besser, gegenübergestellt zum plastischen Symbol
herausgemeißelt und verdichtet. Von Meyer könnte man
in ganz besonderem Maße sagen: Seine Blutstropfen rinnen
unverwischlich wie dunkelrotes Geäder durch das kostbare
Gestein seiner Dichtung.
Ich kann mir nicht versagen, eigentlich in den Mittel-
punkt dieses kleinen Rundganges durch die deutsche Lyrik
ein großartiges Gedicht von C. F. Meyer zu stellen, das
den kühnen Meister in seiner ganzen Besonderheit, soweit
das in einem Einzelgebilde möglich, vielleicht am blitz-
artigsten beleuchtet und zugleich den weiten Gestaltungs-
kreis aller Dichtung überhaupt mit wunderbar seelentiefer
Symbolik umschreibt:
DER MUSENSAAL.
Jüngst trug ein Traum auf dunkler Schwinge mich
Nach Rom, der ew'gen Stadt. Den Vatikan
Betrat ich. Ich betrat den Musensaal
Verwundert, denn er war ein andrer heut.
66 J{JIJ{L HEJNC\BLL
Als ich geschaut mit jungen Augen ihn.
Da Pio Nono höchster Priester war.
Verschwunden aus dem edeln Oktogon,
Dem kuppelhellen, war der Musaget,
Apollo, der die Zither zierlich schlug,
Voranzugehn dem Chor tanzmeisterlich.
Die Neune saßen oder standen nicht
Umher, verteilt in schönen Stellungen —
In wilder Gruppe schritten eilig sie.
Wie Schnitterinnen, die auf blachem Feld
Ein flammendes Gewitter überrascht:
Voran die blutige Melpomene,
Die an den Söhnen rächt der Väter Schuld.
Sie trägt das Schwert und auch den Kranz von Wein.
"Wer schreitet, schlicht gewandet, neben ihr?
Kalliope, die keusch und kindlich blickt,
Die den erblindeten Homer geführt.
Die tapfre Helden liebt und Schildgetos
Und Roßgestampf und dann abseits der Schlacht
In jugendzartem Busen Lose wägt —
Weithallend redet dort ein mächtig Paar,
Terpsichore und Polyhymnia:
,,Der Tag ist fern und er erfüllt sich doch:
Die Völker schreiten einen Reigen einst.
Sich an den Händen haltend, freigesellt.
Vieltausendstimmig dröhnt der Chorgesang!"
— ,,Dann weicht das Leid! Nicht alles, aber doch
Das meiste Leid!" Euterpe flötet es,
Das liebliche Geschöpf, die Schmeichlerin!
— ,,Dann füllt," Erato lacht's mit blühndem Mund,
Die schöne Schelmin, die das Liebeslied,
Das Zechlied, für allein unsterblich hält,
..Dann füllt ein Jeder seine Schale sich
Mit duft'gem Wein und schlürft und Keiner darbt!"
— „Thörinnen!" gellt ein scharfgeschnittner Mund,
„Verspotte sie, mein Aristophanes! . . .
Doch eure Kampfgesellin bin ich auch!
VOM DEUTSCJiE7{ DICNTUMG 6y
Ich morde lachend, was nicht sterben kann,
In trunkner Lust, wie die Bacchante jach
Ein Zicklein oder Reh in Stücke reißt.
Mordlust'ger bin ich noch und tragischer
Als du, mein Schwesterchen Melpomene,
Denn du erhellest unter Zähren dich,
Doch mein Gelächter, Tränen schluchzen drin!"
Thalia rief's und unterm Efeukranz
Verlarvte mit der Satyrmaske sie
Die wehmutvoll ergriffnen Züge sich
Und hob mit nerv'gem Arm das Tympanum.
Die letzte wandelt nach Urania,
Die Gläubige mit dem gehobnen Blick
(Die Andern heißen sie die Schwärmerin),
Doch trennt sie sich von den Geschwistern nicht.
Sie sieht den Sturm der Erdendinge ruhn
In friedevollen Händen immerdar —
Aufflattert das Gewand! Die Locken wehn!
Die Kuppel weicht! In leuchtend tiefem Blau
Entfesselt schwebt der Musenchor einher.
Das ist das 'Weltdialektische und Dramatische in Meyers
lyrischem Stil. Nun ein kurzes heroisches:
SCHILLERS BESTATTUNG.
Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kärgsten nicht, und kein Geleit!
Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur.
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht.
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war's.
Für seine gewaltige Kraft, wesentlich gültiges Lebensgefühl
im einheitlich geschlossenen Bilde wachsen zu lassen und
mit herrischer Lyrik zu bewältigen, zeuge:
68 J^JIJ{L TiEJ\lCJ{ELL
DAS HEUTE.
Das Heut ist einem jungen Weibe gleich.
Schlag Mitternacht wird ihm die Wange bleich.
Es schaudert. Einen vollen Becher faßt
Es gierig noch und schlürft in toller Hast.
Der üpp'ge Mund, indem er lechzt und trinkt.
Entfärbt sich und verwelkt. Der Becher sinkt.
Langsam zieht es den Kranz sich aus dem Haar.
Das Haar ergraut, das eben braun noch war.
Tief runzelt sich das schöne, schuld'ge Haupt.
Zusammenbricht das Knie, der Kraft beraubt.
Die Hören kleiden dicht in Schleier ein
Und führen weg ein greises Mütterlein.
Manchmal ist mir's bei Conrad Ferdinand Meyer, als ob
er brennende Eisblöcke dichtet. So stark ist die aufge-
speicherte Spannung und der Luftdruck, unter dem der
harte Kristall aufzulodern scheint. Und in andern Gedich-
ten wieder ein so tiefer, schlichter Ton des menschlichen
Herzens, seiner Lust und seines Leides, wie in den unsag-
bar schönen, ans Innerste rührenden Versen:
AM H1A4MELSTOR.
Mir träumt, ich komm ans Himmelstor
Und finde dich, du Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße.
Du wuschest, wuschest ohne Rast
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von neuem immer.
Ich frug: „Was badest du dich hier
Mit tränennassen Wangen?"
Du sprachst; ,,Weil ich im Staub mit dir,
So tief im Staub gegangen".
KLAUS GROTH.
f^--^
VOT^ DEUTSCüETi DJCIiTKJ^G Z§
Es war an einem herrlichen Sommernachmittage gegen
Ende der achtziger Jahre, als ich mit einem jungen Mai-
länder, Pacifico Valabrega, der die „Hochzeit des Mönchs"
ins Italienische übersetzt hatte, den Dichter zuerst besuchte
und in frischer, lebendiger Heiterkeit traf. Unvergeßlich
bleibt mir, wie Konrad Ferdinand Meyer, mit uns den
großen, früchteprangenden Garten seiner seebeherrschen-
den Besitzung auf- und abschreitend, in überraschend glück-
lichem, wie selbstverständlichem Wechsel, das Gespräch bald
deutsch, bald italienisch, auch französisch führte und mit
natürlichem Behagen sich je nach dem Angeredeten der
freien Wahl der Sprache überließ. Das ganze Wesen des
Dichters strahlte Kraft und Wohlgefühl aus, von seiner
wahrhaft entzückenden Liebenswürdigkeit und weltmänni-
scher Anmut der Gebärde nicht zu reden. Dazu der
schon südlich blaue Himmel und der weite Blick auf den
drunten lang hingestreckten See und das „große, stille
Leuchten" der Schneegebirge in der Ferne! — Dann kamen
bald für ihn die schlimmen Tage, wo ihn „die Kraft verriet"
und altverhängnisvolle Krankheit dämonisch überfiel. Und
ungefähr zehn Jahre nach jener Begegnung schrieb ich fol-
gende Strophen, die dem vor dem Heimgang noch zur
letzten Klarheit wieder Genesenen galten:
DER STERBENDE DICHTER.
Das durch Purpurflut des Abends gleitet.
Einen müden Dichter birgt das Boot,
Letztes Feuer noch sein Haupt umloht.
Eh der heilige Schatten näher schreitet.
„Fährmann, führe mich zur stillen Klause," —
Mit dem großen Blick der Meister spricht —
„Meine Seele trinkt des Friedens Licht,
Wo mir Ruh winkt, ist mein Herz zu Hause."
„Wo dir Ruh winkt, will ich gern dich führen.
Deine Freunde folgen dir von fern.
Noch ein Weilchen, und der Abendstern
Läßt den milden Glanz der Welt dich spüren."
22 J(JlJiL 7iEMCJ(ELL
Leises \C^arten, wie nach innen Lauschen;
Sieh! Der Leuchtende lehnt sich zurück.
Silberlocken streift ein goldig Glück,
Und von reinem Ruhme geht ein Rauschen .
Dem bis ins späte Alter unablässig und vorbildlich nach
künstlerischer Vervollkommnung ringenden Dichter
von Kilchberg am Züricher See hat ein norddeutscher
Poet, zu dessen sympathischsten menschlichen Zügen allzeit
der freudige Ausdruck der Bewunderung fremden Schaffens
gehört, folgenden feinen Gruß vom Meer zu den Schweizer
Bergen gesandt:
AN CONRAD FERDINAND MEYER.
Ein goldner Helm in wundervoller Arbeit —
In einer Waffenhalle fand ich ihn
Als höchste Zier.
Und immer liegt der Helm mir in Gedanken,
Des Meisters muß ich denken, der ihn schuf.
Bin ich bei Dir.
Das war aber der Gruß eines Meisters an den andern,
denn der Spruchvers kam von Detlev von Liliencron
aus Holstein.
Ach, wie gerne möchte ich Ihnen jetzt mein ganzes Herz
ausschütten über unsern lebensmächtigen, reichgesegneten
Liliencron, der in staunenswerter Vollkraft mitten unter uns
Werk für Werk schafft!
Wenn ich Liliencron aufschlage, mag es sein wo es will,
so überkommt mich dieses weltfrische Lustgefühl, wie es
eben nur die ursprüngliche, unverwässerte Natur, mensch-
liche und künstlerische Freiart und das doch meist durch
Humor und Takt gemilderte Sichgehenlassen eines in sich \on
vornherein fertigen, übersprudelnden Temperamentes zu er-
zeugen vermögen. Der holsteinische Dichterfreiherr ist
VOl^ BBUTSCJiBTi DJCNTUJ\JG 7/
wahrlich eine Spezies Wundertier in diesen Zeitläuften.
Und ich will Ihnen auch sagen, warum. Er hat als deut-
scher, um die Wende das XX. Jahrhunderts lebender Staats-
bürger das Rätsel gelöst, für sich eine völlig naive Potenz
zu bilden und sich dichterisch, ohne von des Gedankens
Blässe angekränkelt zu sein, mit verblüffender Natursicher-
heit auszuleben. Das ist an sich ein Fall und eine Tat zum
Himmelhochjauchzen und läßt mir wenigstens keine Ruhe,
dafür dem Dichter immer von neuem mit warmen Händen
den purpurnen Trank der Begeisterung auszugießen. Ja-
wohl, schön war es vor Jahren für diesen Prachtdichter
Lanzen zu brechen, als eine verhutzelte Literaturhistorie
und faule Tageskritik zu solch enthusiastischem Beginnen
noch schauderhaft scheel sah — und schön ist es auch
heute, seine alte Liebe ungeschmälert zu bekennen, trotz
der gem.achten Blätter, die sich, dem Sinne der Erfolganbeter
gemäß, bereits in den wohlverdienten Lorbeer Liliencrons
mischen möchten. Sie sind ganz überflüßig, denn der Kranz
ist auch so reich und voll.
Wie war es doch? Als unsere liebe deutsche Frau Dicht-
kunst der matten Umarmungen so mancher schönredneri-
schen Ritter vom Pegasus einmal wieder gründlich satt war,
ergab sie sich in durstiger Minne dem flotten Maler und
Bildhauer Jucundus Urgesundus Quodlibet und gebar da-
nach auf der Reise zwischen Holstein und dem Aldebaran
einen Sohn, der hieß Detlev Freiherr von Liliencron und
war längere Zeit berittener Adujutant und Hauptmann, ehe
er zum Dichter seiner ,, Adjutantenritte" avancierte. Dich-
ter war er freilich schon von Kindesbeinen an gewesen,
aber daß er zu seinem Gedicht erst kam im Alter ausge-
reifter Männlichkeit, ähnlich wie Conrad Ferdinand Meyer,
das war wirklich ein Glücksfall für ihn und uns alle. Er
erschien sogleich als ganzer Künstler, der mit großem Er-
fahrungs- und Anschauungsreichtum aus dem Vollen wirt-
schaften und die künstlerischwenigstens bei manchem zweifel-
haften Flugschrauben jugendlicher Rhetorik leicht entbehren
konnte.
22 J^ATjL HBMCTjBL'L
Liliencron ist im Goetheschen Sinne ein Dichter der
sinnlichen und imaginären Eindrücke, ich glaube er weili
gar nicht, was Theorie und Abstraktion ist. Jedenfalls steht
er mit diesen schemenhaften Wesen als Künstler auf ge-
spanntestem Kriegsfuß. Und so hat Alles Hand und Fuß,
Umriss, Farbe und Fülle bei ihm — und mit blassen Wort-
phantomen wird nicht genebelt und gequirlt. Die lyrischen
Bücher Liliencrons setzen in Erstaunen ebenso durch die
strömende Mannigfaltigkeit der Stoffe und Motive wie
durch die erquickende Kraft und Frische der Darstellung.
,,Er tastet mit dem Herzen," sagt der geisteskühne Dichter
und Dichterpsychologe Kurt Piper, ein jüngerer Freund des
,, nicht umzubringenden" Lebenskämpfers, in seiner durch-
dringenden Abgrenzungsstudie „Goethe und Liliencron" von
letzterem, ,,er tastet mit dem Herzen, mit instinktivem Ge-
fühl mit beispielloser Sicherheit und Unbestechlichkeit zu
seinen Erkenntnissen, und die tiefsten und größten Offen-
barungen seiner Kunst sind ausschließliche und deshalb so
stolze Offenbarungen rein künstlerischer Herzenssehnsucht.
Die Genialität des Künstlerherzens hat vielleicht nie einen
größeren, liebenswerteren Vertreter gefunden. Wer den herr-
lichen Menschen kennt, weiß, was ich meine. Nie kommt
bei ihm der suchende, forschende, erkennende, analytische
Verstand Goethes zu Wort. Logik, Wissenschaft, überhaupt
alles an sich nicht Poetische liegt ihm fern. Er denkt mit
dem Herzen und fühlt mit dem Gehirn, während Goethes
Künstlerheiz jederzeit in wechselseitiger Kontrolle mit einem
gleich großen Verstände steht. In ihm ergänzen sich beide
zu jener überlegenen Harmonie, die in dieser Vollkommen-
heit einzig dasteht. Es ist die „Goethische Harmonie"".
Wenn einer, so denkt Liliencron bei seinem gesamten
Schaffen an alles andere eher als an ein verehrliches Publi-
kum oder irgend eine den Geschmack der Zeit modisch
beeinflussende ,, Richtung", er macht es wie die Ursprüng-
lichen und wahrhaft Unbeirrbaren überhaupt: vielleicht
einige wenige nächste Menschenkinder läßt er sich über der
Schulter aufs Manuskript schauen, aber sonst: der reine
Phoiographie Eugen Kegel in Kossei.
VOJ^ DEUTSCTiE7{ DICHTUJ^JG 7^
Akt einer im letzten Grunde ganz einsamen Selbstbefreiung
und Selbsterfüllung.
In seinem „Mäzen", diesem höchst merkwürdigen Prosa-
mischprodukt aus wundervollen Erzählungen, Skizzen und
beichtenden Temperamentsausbrüchen über Literatur und
Leben in Deutschland, in denen er sich mit der drastisch
elementaren Stilfrische des geborenen Antiphilisters seinen
Haß und seine Liebe in Dingen des künstlerischen Gewissens
von der Leber weg schreibt, ein Brief- und Tagebuch-
bismarck der Dichtung, in diesem „Mäzen" ^sagt Liliencron
an einer Stelle die bezeichnenden "Worte; ,,liber das tiefste
"Wesen eines echten Dichters ist eine Erklärung nie mög-
lich. Goethe schrieb das unerreichbarste Deutsch, die Ge-
dichte seiner Jugendjahre werden von keinem Dichter je
nachgemacht werden können. Diese Freude, dieser Puls,
dies Jauchzen, diese überquellende Dankbarkeit, wenn er
glückliche Stunden durch die Gunst eines "Weibes genossen,
dies Entzücken dann. Shakespeare und Kleist gaben uns
den Vergleich, das Bild. Daran namentlich ist auch ein
wirklicher Dichter zu erkennen. Das gewöhnliche Publi-
kum achtet nicht auf die Schönheit eines "Vergleiches, des
Bildes, es kann diese Schönheit nicht verstehen, es fehlt
ihm der feine Sinn dafür."
"Wie soll man nun Liliencrons wesentliche Eigentümlich-
keit in der künstlerischen Lebensbewältigung kurz aus-
drücken? "Vielleicht annäherungsweise in bestimmter Hin-
sicht so: Fast überall ein fein geschautes und sicher ge-
wahrtes "Verhältnis des besonderen Gegenstandes zum Ge-
samtdasein; keine Spur von dekorativer Aufbauschtechnik,
wie sie das Merkmal künstlerischer Klexvirtuosen ist, die
sich gar nicht genugtun können, um das bißchen Höhepunkt
ihres Sujets mit Pauken und Trompeten parademäßig schmet-
ternd herauszustreichen. Manchmal sind die Gedichte
Liliencrons — die mächtigsten, keineswegs die „beliebte-
sten" — wie seine Erzählungen erschütternd schlichte Tra-
gödien, die aus dem gewöhnlichen Leben leise, fast un-
merklich aufkeimen und plötzlich aus der alltäglich gepflügten
BJiJ[J\DES: -DTE UTET{ATWi. BJIJ\D XXXVII l XXXVIII ^
ZI
\jn{L JiEJ\!CJ{ELL
Scholle emporschießen wie Drachensaat eines ungeheuren
Schicksals. Liliencron läßt uns etwa Empfindungen erleben,
wie wenn unversehens aus blauer Luft eine Granate in ge-
mütlichem Bogen zur Erde fällt, platzt und grauenvolle
Verwüstung anrichtet. Gleich darauf glüht aber die ewige
Sonne wieder aufs friedliche Feld, und alles ist wie vorher.
Liliencron birgt Welten von Gefühl, wird aber nie senti-
mental. Der lebensstarke Wirklichkeitsmensch in diesem
oft engelszarten Siriusträumer gibt der Gefühlslinie stets
das richtige und darum so rein wirkende Maß. Das gleiche
Komplement und Korrektiv, das ihn vor zerfließender Phan-
tastik schützt, trägt seine kolossale Phantasie in sich.
Eine bis ins einzelne gehende Charakteristik seiner eigen-
tümlichen Phantasiebildungen und bevorzugten individuellen
Lebensfühlungen kann ich, so verlockend es wäre, hier nicht
geben — erwähnen will ich nur, daß zum Beispiel „Amor
und der Tod" kein so unpassendes Sujet für einen Liliencron-
grabstein abgeben würde. Sie sehen, bei möglichst und
hoffentlich noch sehr lange lebenden deutschen Dichtern
denkt man unwillkürlich gleich an den Grabstein. Eine
Folge unseres entarteten literarhistorischen Vorstellungs-
vermögens. „Amor und der Tod" — auf allen "Wegen und
Stegen huscht und flitzt ihm der nackte kleine Kerl mit
Pfeil und Bogen vor und zwischen den Beinen durch —
im Kornfeld wie im Ballsaal, im Cafe wie in der Bauern-
schänke, im vornehm stillen Park wie im lauten Strich und
Trubel der Straße . . . lachend und weinend, träumerisch
und toll, ist er sein geflügelter Adjutant, und der Tod in
allen möglichen Garnituren ist, glaub' ich, Stubenbursch
beim Hauptmann Liliencron — wenn der „Herre Haupt-
mann" befiehlt, steht er schon in der Tür kerzengerad, ent-
weder einfach trostlos oder er schneidet ein schreckliches
Gesicht, führt eine schauerliche Kapriole auf und läßt im
Nu eine ganze Kompagnie hoch- und niedriggeborener
Erdenbürger als gemeine Gerippe vor seinem im dich-
terischen Dienst vorgesetzten Befehlshaber antreten . . .
Aber nicht nur so, er wandelt sich auf einmal in einen
VOJ^ DEUTSCüEJi BJCHTUJ^G 75
Genius, eine blasse junge Frau, und stützt das müde Haupt
tieftraurig auf die Schulter des Dichters. Liliencron gibt
in der Tat eine ganze Reihe ergreifender oder grotesker
moderner Totentanzbilder und drüber und drunter und
zwischenhinein diesen nicht endenwollenden Gestaltenzug
von Liebesgöttern und -Göttinnen, als da sind: schlanke
Prinzessinnen, dralle Melkmägde, lustige Kellnerinnen, trau-
rige Komtessen und umgekehrt, wie es gerade kommt im
Leben und Dichten eines Mannes, bei dem die Kunst zu
lieben mit der Liebe zur Kunst von jeher einen so an-
regenden und frisch pulsierenden Verkehr unterhielt. Der
Erotiker Liliencron — es ist das natürlich nur eine Seite
des sehr vielseitigen Dichters — überschüttet uns mit einer
solchen Flut wilder Feldblumen und feiner Edelrosen aus
den Fluren der Fauna und den Gärten der Aphrodite, daß
wir duft- und farbenberauscht ein Hosiannah anstimmen
der Liebeskraft, die sich derart in entzückenden Liedern
auszuschwelgen und die Welt mit künstlerischen Wonne-
taten zu bereichern vermochte.
Das an Menschenkenntnis meist unglaublich vor den Kopf
geschlagene literarische Sittenrichtertum wollen wir bei dieser
Gedichtgruppe ein für allemal den strebsamen Herren Pha-
risäern, braven Schriftgelehrten und Mitgliedern des Männer-
bundes für „moralische Musterlyrik" überlassen.
Ich stehe hier nicht zu rechten und zu richten — ich
stehe da zu reichen von dem, was Liliencrons gabenhäufende
offene Dichterhand uns geschenkt hat in entzückend natür-
licher Menschlichkeit. Und ich versuche noch einmal im
Gleichnis anzudeuten, wie die dichterische Physiognomie
unseres ragenden Zeit- und Kunstgenossen mir einst er-
schienen ist: Ein Wort, ein Bild! Der Acker der Dich-
tung dampft, wohin der Poet tritt; an dichter blühender
Hecke lehnt morgenfrisch ein kräftig-schönes Weib — hat
Rubens es gemalt? Der nackte Fant, der die rotgespitzten
Pfeile im Köcher führt, ist das der Liliencronprinz Cupido?
Und der Herr des Feldes, von den Teckeln der Laune
umtänzelt, der mit Waidmannsheil das üppig -stolze Weib
26 T{jn{L JiEJ^CTjELL
grüßt, lächelt er aus wonniger Lust des Lebens oder sieht
er etwa schon den Herrn der großen Hasenhetze, Meister
Tod, um den Knick biegen? Gleichviel — die Flur blitzt
auf, und ein hell Jubilieren bricht an:
,, Freut euch, ihr Vögel auf offenem Feld!
Uns ist allhier erschienen ein echter Dichterheld.
Ach war' er nur ein Finke wie wir so frei.
Ihm wäre noch zehntausendmal wohler dabei."
"Wenn auch nicht wie ein Finke — wir wohnen in Stein-
häusern — eine freie Natur köstlichsten Kalibers ist der
Dichter. Wie unser Kurt Piper in seinem Gedicht an Detlev
V. Liliencron so knapp und wahr sagt:
,, Einsam steht im Marktgewimmel
Wohl dein freies Leben.
"Was ihm vorenthält der Himmel,
Muß der Boden geben."
Ich lese Ihnen — es ist ja ganz gleich, wo man bei dem
fabelhaften Reichtum das lyrische Stück Gold gerade her-
ausnimmt — zunächst den wikingerhaft sehnsuchtwilden
SCHREI.
O war' es doch! Hinaus in dunkle "Wälder,
In denen die Novemberwetter fegen!
Der Keiler kracht — Schaum flockt ihm vom Gebreche —
Aus schwarzem Tannenharnisch mir entgegen.
O war' es doch!
O war' es doch! Im Raubschiff der Korsaren,
Vorn halt' ich Wache durch die Abendwellen.
Klar zum Gefecht, die Enterhaken schielen,
Und lauernd kauern meine Mordgesellen.
O war' es doch!
CONRAD FERDINAND MEYER VON CARL STAUFFER-BERLIN
MIT GENEHMIGUNG VON AMSLER cf- RUTHARDT IN BERLIN.
VOJ^ DEUTSCHEJj DJCTJTUJ^G 77
O war' es doch! Ich saß' auf nassem Gaule,
In meiner Rechten schwang' ich hoch die Fahne,
Daß ich, buhlt' auch die Kugel schon im Herzen,
Dem Vaterlande Siegestore bahne!
O war' es doch!
O war' es doch! Denn den Philisterseelen,
Den kleinen, engen, bin ich satt zu singen.
Zum Himmel steuert jubelnd auf die Lerche,
Den Dichter mag die tiefste Gruft verschlingen.
O war' es doch!
Dann das traumschöne Tagelied mit dem fernsüßen
Nachtigall abgesang und der unvergleichlich milden, reinen
Weltfrieden atmenden letzten Strophe:
SCHÖNE JUNJTAGE.
Mitternacht, die Gärten lauschen,
Flüsterwort und Liebeskuß,
Bis der letzte Klang verklungen,
Weil nun alles schlafen muß —
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.
Sonnengrüner Rosengarten,
Sonnenweiße Stromesflut,
Sonnenstiller Morgenfriede,
Der auf Baum und Beeten ruht —
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.
Straßentreiben, fern, verworren.
Reicher Mann und Bettelkind,
Myrtenkränze, Leichenzüge,
Tausendfältig Leben rinnt —
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.
Langsam graut der Abend nieder,
Milde wird die harte Welt,
Und das Herz macht seinen Frieden,
Und zum Kinde wird der Held —
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.
ß
J{AT{L TiEJMCJ^ELL
Und nun noch ein feierlich Meeresrauschen der Lilien-
cronschen Dichtung, ein wunderbares, künstlerisches Zeug-
nis tiefen Herzschlages und geheimnisvollen urgermanischen
Naturgeistes! Ein Gedicht, bei dem ich das Haupt neige
und die Hände zu Dank und Andacht still übereinander-
lege:
ÜBER EINEN TOTEN GEBEUGT.
Nun will ich Abschied von dir nehmen, Freund.
Wir tragen morgen dich von diesem Felsen,
Der weit hinausragt in die offne See,
Hinab ans Ufer. Über Kies und Muscheln,
Die knirschend unter den Sandalen bröckeln.
Auf unsern Schultern, sorglich, tragen wir
Dich in den rosenkranzumhangnen Kahn,
Und in die Mitte auf den Scheiterhaufen,
Den Räucherwerk und feuertrockne Reiser,
Hoch über Bank und Bord, umdichtet haben.
Im Schlepptau meiner kleinen Dampf barkasse
Machst du die letzte Fahrt, aufs hohe Meer.
Und wenn die Sonne dann die heiße Stirn
Abkühlend eintaucht in die kalte Welle,
Verläßt du mich: Der Knoten wird gelöst;
Die Flammen fressen gierig deinen Leib;
Ein dicker Qualm steigt auf, das Taggestirn
Verdunkelnd, das in diesem Augenblick,
Wie du, den Augen schwindet . . .
So war's dein Wunsch, und heilig ist er mir.
Der griechische Tempel, seine dorischen Säulen,
— Sechs sind es nur, in hoheitsvoller Strenge —
Die kühle Halle hält dich heute hier.
Ein sonderbar Gelüsten deiner Seele:
Auf Nordlands Klippen, zwischen Nordlands Tannen,
Wo sich im Dämmertag des langen Winters
Der weiße Fuchs umhertreibt und mißtrauisch
Das bronzene Opferbeckenpaar beschnüffelt.
W7V DEUTSCJiEJi DJCTiTUMG yc}
Aus dem du Zeus in Odins Flockensaal
Den Rauch gesandt — ein sonderbar Gelüst:
Die Äsen zu begrüßen im Olymp.
Dein heitres Herz doch suchte heitern W^eg,
In finstrer Heimat dich zurechtzufinden
Und unter Menschen, die, hausbacken, nüchtern,
Verständnislos dem Frohsinn gegenüber
Die Stirn zusammenzogen, wenn du lachtest.
Kaum merklich kraust den Ozean ein Lüftchen.
Die Brandung hör ich spielend unten klatschen.
Sonst unterbricht selbst einer Möwe Schrei
Die große Stille nicht — wir sind allein.
"Wir sind allein — ich beuge mich zu dir:
Du glaubtest nicht an Gott, nicht an den Himmel,
Nicht an Unsterblichkeit und "Wiedersehn.
Gib mir ein Zeichen: Hast du dich getäuscht?
Hat eines Engels lichtvolle Gestalt
Den Arm dir traut gelegt um deinen Nacken
Und führt dich, selig lächelnd, aufwärts zeigend.
Zum frohen Palmenwald des Paradieses?
Und wandeln deine Freunde dir entgegen.
Zum "Willkommgruß die lieben Hände streckend?
Gib mir ein Zeichen: Hast du dich getäuscht?
Ach, wie der ausgelöschte Käfer liegst du,
Mensch — Käfer — den der plumpe Schuh des Todes
Erbarmungslos zertrat im "Weiterschreiten,
Im "Weiterschreiten, das kein Hemmnis aufhält.
Die Brandung hör ich nur und keine Antwort.
Doch . . . aus der Brandung ... ist es deine Stimme,
Die mühevoll . . . nein, nein, die Brandung nur . - .
Ich richte mich empor und ratlos fragt
Mein Blick die unbegrenzte "Wasserbahn,
Die unter wolkenloser Bläue glitzert.
Kein Segel, keine Schwinge — alles leer;
In ihrer Urkraft droht mir die Natur.
EÖ 7{Jn{L HEMCJ^ELL
Mich an die Säule lehnend, eine Stunde
Wohl stand ich so, dann wieder bog ich mich,
Zum letzten Abschiedskuß, auf meinen Freund;
Und während ich die bleiche Stirn berührte.
Flog über uns, den Marmelstein beschattend.
Ein wilder Schwan in trotziger Lebenskraft.
Seit ich Liliencrons Gedichte in der zweiten Hälfte der
achtziger Jahre zuerst kennen lernte, liebe und bewundere
ich sie. Ich werde diesen Gefühlen treu bleiben, solange
ich selbst Natur und Poesie in den Adern habe. Wenn
ich erst einmal einen wundervollen Blütenstrauß mürrisch
beiseite schiebe oder eine großartige Wald- und Wiesen-
wanderung nicht mehr zu würdigen weiß, also ein elender
Stubenhocker und Griesgram geworden bin, dann werde
ich auch Liliencron „überwunden" haben und von meiner
„Überschätzung zurückgekommen" sein. Bis dahin hat's
gute Weile. Und der Teufel soll mich holen, wenn der
herrliche Dichtersmann für mich je ein „verflossener Stand-
punkt" sein wird. Haben wir denn etwa heute, unter den
vielen feinen und aparten Talenten, Überproduktion an so
genialen Rackern der Natur? Ich wüßte nicht und habe
doch so „schrecklich viel gelesen". Ich halte Sie nun vor
allem — andernfalls hätte ich Ihnen meine Begeisterung
nicht brühwarm dahingegeben — für so gescheit, daß Sie
rückhaltlose Verehrung und ungetrübte Genußfähigkeit nicht
zum literarischen Abhängigkeitsverhältnis degradieren. Sonst
soll Sie der Teufel holen! Vielleicht entzückt mich Lilien-
cron nicht zum wenigsten so sehr, weil Gott mir ein eige-
nes Auge und einen eigenen Ton gab. Und daß ich in
menschheitlichen, volklichen und kulturellen Dingen viel-
fach wesentlich anders fühle und denke als Liliencron, das
trübt meine künstlerische Freude nun einmal nicht. Bleibt
ein besonderes Geistessehnen ungestillt, so ist das eine im
Verhältnis zum Dichter exterritoriale Empfindung und
schwingt über die gegebene Sphäre hinaus. Liliencron ist
Liliencron und — Jen bin Ich. Auf diese Weise kann
Brief Conrad Ferdinand Meyers an Karl Henckell nach Übersendung /Ä2^
seines Jue*ndwerkes „Strophen" .
■dg^— J^^^t^
-i^k^
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K)7V DBlfTSCHWi DJCHTUJ^G 57
man von Zeit zu Zeit überraschend schön Dichterzwie-
sprache halten. — Liliencron, oder das morgenleuchtende
Meer: in beiden sich frisch zu baden, welche Lustl
Indeß der Haideprinz der deutschen Poesie, für das liebe
Publikum damals noch mit der Tarnkappe versehen, mit
seinen sicheren Naturinstinkten ganz aus sich heraus eine
eigene Welt dichterisch gestaltete, himmelweit entfernt von
der an allzuschöner „Schönheit" verblichenen Welt — in-
dessen war es auch wie von selbst geschehen, daß an ver-
schiedenen Ecken und Enden deutscher Lande ein neuer
Dichtergeist seltsam zu rumoren begann. Das war so um
die Mitte der achtziger Jahre. Ich persönlich war — ich
hatte gerade die ,, klassische" Reifsprechung hinter mir —
einerseits zu sehr Rädelsführer und mit von der Partie und
fühle mich andererseits noch nicht literarischer Mummelgreis
oder eingeschachteltes und eingesargtes Dichtergerippe ge-
nug, um bereits heute vor Ihnen den gravitätisch gespreiz-
ten Schulmeister jener lyrischen Brauseperiode spielen zu
mögen. Auch brenne ich keineswegs darauf, den kriti-
schen Bakelschwinger meiner mitlebenden und — schaffen-
den Brüder im Herrn Apollo hier herauszubeißen. Sie
werden das hoffentlich mitfühlend verstehen und mir gütigst
in der Folge eine von der eigenen Zeitgenossenschaft durch-
schimmerte Art und Form der Schilderung einräumen.
Es gibt ja zudem schon ein Dutzend Literaturgeschichten
und anderthalb Dutzend Anthologieeinführungen bis auf
den heutigen Tag. Da kann männiglich, beziehungsweise
weibiglich sein Bildungsbedürfnis genugsam befriedigen.
Ich will mich als im Lichte schaffenden Menschen und Mit-
menschen, nicht als Sklaven einer öden Registrier- und
Rezensierschablone empfinden.
Genug — eine werdende Welt rief neuen Dichtern und
neue Dichter riefen einer werdenden Welt. Es war eine
lyrisch -kulturelle Schwangerschafts- und Gebärperiode im
neuen deutschen Reich. Einige dichterische Draufgänger
F:
J(jn{L »ET^CT^LZ
gab es, mit durchbrechender Kraft, und viele Mitläufer,
die der Flugsand der Zeit wieder verwehte.
Ich glaube, drei Hauptströn\ungen wirkten so mächtig
aufwühlend im Bewußtsein der damaligen Dichterjugend.
Einmal das hochgesteigerte, mit dem errungenen nationalen
Einheitsgefühl verwobene Volksgemeinschaftsgefühl, das sich
zum umfassenden neuen Gesellschaftsgefühl erweiterte —
dann, scheinbar, aber nur scheinbar im größten Gegensatz
dazu das mit neuem Allgeist getränkte Ichgefühl der Persön-
lichkeit, und ferner der ebenfalls hochgesteigerte "Wahrheits-
drang des natürlichen Lebenswillens, der aus der kiesel-
schleifenden Konvention immer wieder zur kantenbildenden
Natur sich hinkehrt. Diese Grundwogen, die wild durch-
einanderschäumten und bald aufeinander prallten, bald sich
vermischten, trugen das neue Leben empor. War einer
nun zum Dichter geboren, so spürte er wonneschmerzlich,
wie das alles in ihm wort- und bildsuchend zusammen-
wirbelte und -gohr. Literarische Einflüsse von außen
traten diesem elementaren Vorgang gegenüber entschieden
zurück, und selbst die herrlich-frischen ästhetischen Mahn-
rufe einer reformatorischen Kritik, wie sie unvergeßlich
von Heinrich und Julius Hart in Berlin, von Michael
Georg Conrad in München an das junge, sich durch-
tastende Geschlecht ergingen, konnten die innere Stimme doch
nur ermuntern, bestärken und bestätigen. — Teure Vorkämpfer
fielen als Opfer in der Schlacht, Morgengesänge einer
schöneren Zukunft auf den Lippen. Hermann Conrad i
vor allem, unser Mitbevorworter der ,, Modernen
Dichtercharaktere", jenes ersten lyrischen Sammelwerks
der neuen Zeit, in dem die ganze schwüle Herzenssehn-
sucht einer wahrheits- und freiheitsdurstigen Jungmann-
schaft sich in lodernden Flammen und schwelenden Rauch-
wolken offenbarte. Von W^ilhelm Arent, dem Heraus-
geber des merkwürdigen, gemeinschaftlichen Bekenntnis-
buches, steht auf einer der ersten Seiten das ergreifend
schöne Gedicht:
DAS ZIEL.
Schon als ich noch ein Knabe war, zog es mich hin zu
anderm Stern,
Tief heißes Sehnen faßte mich, doch blieb mir die Erfül-
lung fern.
Ich fieberte all meine Tag'! Oft stürmt ich in das Feld
hinaus . . .
Der brünstige Leib verkühlte sich in Regenschaum und
Sturmgebraus.
Der Seele Schrei: Ich hörte ihn in tausendstimmigen Me-
lodien,
Ich sah auf dunklen Fittichen die toten Leidgenossen ziehn.
Die ewige Dämmerung zerstob: Die Nebel teilten sich
zu Häuf,
Lichtfremde Welten taten sich vor meinen Geistesaugen auf.
Nicht Lust noch Schmerz barg mehr die Brust: Zu Ende
war gekämpft die Schlacht.
Das All war ich, ich war das All: so ward mir Friede in
der Nacht.
"Wilhelm Arent, echtes überreifes Berliner "Weltstadtkind,
wilder Irrstern, in Nacht und Dämmerung erloschen! Mit
so feinen stimmungslyrischen Organen, mit der Gabe blitz-
schneller Empfängnis beschenkt, aber zerfließend und zer-
stiebend in nebelhaftem, wahnsinnigem Versrausch, der auch
die zarten, schwermütigen Blüten seiner Poesie in dem
Strudel trüber "Vergessenheit mit untersinken ließ. Hier
zwei ganz kurze See- und Meeresstimmungen von ihm:
MÜRITZ-SEE.
Gelb flimmern die "Wasser
In violettem Dunst;
"Wie stygische Schatten
Breitet die Dämmerung
Ihre blauen Flügel . . .
"Wie das Auge der Hölle
8^ J{JIJ^L TJEJ^CJjELL
Glüht gespenstisch
Des Riesenmeilers
Rötliche Lohe;
Uferlos wogt
Der Hauch der Nacht,
Und der Seele Fittige
Streifen träumerisch
Die ewigen Sterne.
STRANDBILD.
]n stolzer Empörung braust das Meer . . ,
Über der Bäume "Wipfel her
Kommen Norwegs Möven geflogen,
Als käme der weiße Tod gezogen.
Gespenstisch dämmern die grauen Lande,
Über dem aschfahlen Dünensande
Liegt der Vernichtung düsterer Traum,
Als schluchzte der weinende Himmelsraum.
Das Bild des armen, kranken Halbgenies gab mir ein-
mal die Verse ein:
Die Hetzpeitsche in der fiebernden Hand,
Im Haar die zerflatternde Rose,
Rast die irrende, ruhelose
Muse vom Quell zum Wüstensand
Und wirft vor der Sphinx sich in Pose.
Hermann Conradi, der mit 28 Jahren Dahingeraff^te,
war ein von den elementarsten Lebensgewalten geschüttelter
und erhobener Sachsenjüngling aus Magdeburg, dessen
Erscheinung sein Landsmann Johannes Schlaf in einer
prachtvoll lebendigen Erinnerungsvision so schildert:
,,]ch sehe seine untersetzte.
Breitschultrige Gestalt,
Den Hals mit einem Seidentuch umschlungen.
Und unter dem schwarzen Kalabreser hervor.
VOJ^ DEUTSCnEJi DICHTUJ^G 8^
Einen rechten Anarchistenstürmet und Wblkenschieber,
Kaum gebändigt.
Diese wunderbare Fülle und Gloriole
Der seidenfeinsten üppigsten Rotgoldlocken.
Diese rotgolden bübische Pracht
Um das marmorblasse Gesicht
Mit dem rosenroten, dicklippigen, moquant aufgeschürzten
Mund,
Zwischen seinen beiden tiefen, bitteren Furchen,
Mit seiner frechen Stumpfnase,
Zwicker vor lichtblauen, hellen, scharfen Augen;
Und der skelettierte Knotenstock!
Wetter! "Wie war er häßlich und interessant!
Nein: schön!
Wie edel und stolz er den Kopf zurücktrug!
Wie das und wie seine spöttische, so kalte Miene
Da irgend etwas, so stolz, so herbe zu maskieren suchte !
Wie mich das durchzuckte !
Was jeden Anderen von ihm zurückgeschreckt hat!
Wie ich ihn liebte!
Ja, ich weiß: alles war dies;
Einer!
Alles diese unaussprechliche Magie."
Conradi hinterließ die von Fruchtbarkeitskeimen nur so
strotzenden ,, Lieder eines Sünders." Die Jugendtragödie
eines außerordentlichen, in das Vordertreffen des Kampfes
um eine höhere Menschheitsform hineingestellten und un-
barmherzig zerschmetterten Menschen lebt sich in diesen
durch und durch aufrichtigen, nicht selten großatmigen
Rhythmen aus. Eine mächtige hölderlinische, nur viel blut-
vollere Sehnsucht strömen die reifsten Gedichte aus. Con-
radi war eben kein Figurant und kein Artist, sondern eine
künstlerische Persönlichkeit; er wollte die Pfützen und
Moräste des Daseins nicht mit dem Rosenöl flacher Schön-
geisterei überschütten, ein Feind der billigen Vertuschung
auch um den Preis des beleidigten ästhetischen Wohlge-
E6 7{JlJiL TiEJ\CJ(ELL
fallens. „Jedes einzelne Gedicht, sofern es wahr, nicht ge-
macht ist, illustriert eine gewisse Art des geistigen Seins,
erschließt mehr oder minder klar bestimmte, individuelle
Wesensmomente . . . Durch alle Höhen und Tiefen, Verir-
rungen und Fährnisse, Errungenschaften und Niederlagen
führt der Weg." Und „Ich kann mir nicht denken, daß ein
Mensch — ich spreche dieses Eigenlob, das darum nicht
„stinkt", weil es in dieser Verbindung zugleich einen Vor-
wurf gegen mich enthält, scheulos aus — leidenschaftlicher
mit dem Höchsten und Tiefsten gerungen hat, denn ich.,
und damit Gott befohlen!" So steht es in dem pfeiler-
starken Vorwort der „Lieder eines Sünders", und so dich-
tete Conradi.
„Aus sumpfigem Frühlingsanger", — so erscheint mir
sein Geistesbild — schießen die Keime und lichtgrünen
Sprossen nur so in die Höh, „des Frühlings Blut" quillt aus
allen Poren, der junge Morgenwind singt das Lied von
der schwarzen Nacht — ein Jüngling trabt durch die feuchte
Schollenwelt und sinkt auch wohl bis über die Knöchel in
Morast, wehklagend und frohlockend, ein stürmischer Säug-
ling neuer "Welten . . . warum beschleichen ihn die Schatten
der Nacht, da es doch Morgen ward? Warum verschlang
ihn das widrige Moor, da er doch Baidur erblickte?
Ostara, die heilige Lenzgöttin, wand ihm mitleidig weiße
Glöckchen und gelbe Himmelsschlüssel ums Haupt....
Ich lese wenigstens zwei Gedichte, um Ihnen doch eine
Vorstellung von dem poetischen Gepräge eines verstorbenen
Dichters der umwälzenden Generation zu verschaffen, dessen
Würdigung durch das unaufhaltsam vorwärtseilende Schaffen
der Überlebenden für eine größere Öffentlichkeit allzusehr
zurückgedrängt worden ist. Zuerst die süße, neutönende
Strophik erfüllungsuchenden, wunderbar keuschen Liebes-
verlangens.
FRÜHLINGSSEHNSUCHT.
Da nun die Nächte kamen.
Die Nächte wundersüß.
VOJ^ DEUTSCTJETj DJCTiTUJ^G 8j
Wo letzter Nachtigallenschlag
Die Stunden feiert früh vor Tag
Und erstes Rosendüften:
Sehnt sich mein Herz nach Liebe,
Nach Glück —
Nach dem verlornen Paradies
Zurück . . .
Mir ist's, als klopften Geister
An meine braune Tür!
Als trat zu mir mit Glorienschein
Der König Frühling selber ein
Und brächte mir ein Mägdlein
Und spräche: Heil sei dir!
Ich bring dir eine feine Magd —
Soll fürder bei dir gasten !
Am Tage sei ihr Kavalier,
Geleit sie durch das Waldrevier,
Wo auf verschollne Pfade
Der Bilder, der verblaßten.
Kaum noch ein Schatten fällt —
Wo holder Götter Gnade
Vergessen ließ die Welt! . . .
Der Vögel Klang,
Der Fluren Duft
Und eurer Seelen Feuerdrang
Beflügele den Hochgesang,
Den eure Liebe tönt !
Nun gürte dich mit milder Kraft,
Und von den Göttern hingerafft
Sei mit der Welt versöhnt.
Da dich ein Gott gekrönt I
Hebt's aber an zu nachten.
Dann zäumt das Wandertrachten
Und kehrt, der Sehnsucht reich.
In diese enge Kammer ein.
88 T{jn{L JiEJ^CJ{ELL
Und bei kristallnem Sternenschein
Enthüllt ihr das Geheimnis,
Drin alle Wesen gleich . . .
Draus alles Sein entsprießt.
Drin alles Sein sich schließt.
Es liegt die "Welt in Schlummer tief,
Euch ist's, als ob sie ewig schlief —
Noch ferne weilt der junge Tag —
Da letzter Nachtigallenschlag!
Ihr aber habt's begriffen,
Das Evangelium,
Das dieses Frühlings Wundermund
Den Kreaturen tuet kund —
Ihr aber habt's begriffen
Und seid in "Wonne stumm!"
Da nun die Nächte kamen,
Die Nächte wundersüß,
Wo letzter Nachtigallenschlag
Die Stunden feiert früh vor Tag
Und erstes Rosendüften —
Sehnt sich mein Herz nach Liebe,
Nach Glück —
Nach eines Mägdleins weißem Leib
Zurück.
Doch ach! Die Rosen duften —
Es schluchzt die Nachtigall
Nicht mehr zu meiner Liebe Preis,
"Verdorret ist das "Wunderreis —
Und ob sich ungezügelt
Die Sehnsuchtsflamme flügelt
Und um Erhörung wirbt:
Die Pforte ist geschlossen,
Ich hab mein Glück genossen,
Der Gott hat sich verhüllt —
Und meine Sehnsucht stirbt
Ach ! unerfüllt . . .
Für mich eins der liebeheiligsten und gefühlszartesten
Gedichte, das ich überhaupt kenne.
Und nun die beiden Strophen aus den „Schwarzen Blät-
tern", in denen sich der junge Dichter eine dunkle Blüte in
gewisser Vorahnung seines Geschickes selbst auf den Grabes-
hügel legte:
SCHWARZES BLATT
Ich weiß — ich weiß: Nur wie ein Meteor,
Der flammend kam, jach sich in Nacht verlor,
"Werd ich durch unsre Dichtung streifen!
Die Laute rauscht. Es jauchzt wie Sturmgesang —
Wie Südwind kost — es gellt wie Trommelklang
Mein Lied und wird in alle Herzen greifen . . .
Dann bebts jäh aus in schriller Dissonanz . . .
Die Blüten sind verdorrt, versprüht der Glanz —
Es streicht der Abendwind durch die Cypressen . . .
Nur Wenige weinen . . . Sie verstummen bald.
Was ich geträumt: sie geben ihm Gestalt —
Ich aber werde bald vergessen . . .
Nein, Hermann Conradi, du wirst nicht vergessen!
Andere aus jenem Jugendkreise der die weitere Ent-
wicklung der deutschen Dichtung so stark beeinflussen-
den „Modernen Dichtercharaktere" hielten es besser
aus, Vater und Mutter, Nervensubstanz und Herzmuskel ent-
scheiden da oft. Die es überstanden — eine Kleinigkeit war es
gerade nicht, denn allzuviel raste entweder auf uns ein oder
drückte mit brutaler Faust zu Boden — die es überstanden,
gingen bald jeder nach seiner Fasson den menschlichen und
künsterischen Weg, der ihrer Veranlagung und Neigung
am meisten entsprach.
Arno Holz hatte uns damals sein fanfarenklingendes
und einschlagendes „Buch der Zeit" beschert, das mit meinen,
Hartlebens und Mackays ersten Büchern beim alten Scha-
BJiJfJSBES: DTE UTEJiATini. BJIJ\D XXXVII j XXXVIII G
90 T{jn{'L UEJ^CJiBLL
belitz in Zürich erschien und das trotz der epigonischen
Eierschalen, die ihm gerade da, wo es am reimseligsten
ist, ankleben, durch den lauten Herzschlag seines freiheit-
lichen Enthusiasmus und durch die virtuose Formfertig-
keit einen starken "Wiederhall weckte. Der junge radikale Ost-
preuße ließ ein wahres lyrisches Aprilwetter los, epigram-
matisch-polemische Schloßenschauer, in denen die Zucker-
wasserpoeten derb abgekanzelt werden, neben Mailüfterln
inniger, sonniger Liebesschwärmerei und rauhen Nächten
hungerpfeifender Armeleutpoesie . . . Ein neuerungsüchtiger
Singvogel, der im alten dichterischen Waldrevier gar wohl-
geschult zu schmettern verstand, flog eines Tages, nach
andern Horizonten ausschauend, über einen Wald von Fabrik-
schornsteinen mitten in den Lärm der Weltstadt, wo er
sich auf himmelhoher Zinne einer Mietskaserne niederließ.
Ein graugekleidetes Geschwisterpaar stieg zu ihm empor
und hörte in seinem Elend dem kecken Singschnabel gerne
zu; da sang er denn drohende und spottende, klagende
und jubelnde Weisen der neuen Zeit und ihres sozialen
und politischen Evangeliums:
,,]ns schwarze Schuldbuch unsrer Zeit
Sind meine Verse rote Glossen"
sagte Arno Holz darin von seinem dichterischen Ankläger-
tum, und wie er seinen Neuererwillen kennzeichnete durch
den Vierzeiler:
,,Kein rückwärtsschauender Prophet,
Geblendet durch unfaßliche Idole,
Modern sei der Poet,
Modern vom Scheitel bis zur Sohle!"
so wies er doch mit Stolz auf die zeitlos dauernde Legie-
rung aller echten Dichtung hin mit den Worten:
,, . . . Auch durch das junge Lied noch flutet
Das alte Nibelungengold".
VOJ^ DEUTSCHET^ BICHTUMG C}l
Ich möchte Ihnen aus dem „Buch der Zeit" eines der
später hinzugekommenen Gedichte vorlesen, das im guten
Sinne modern charakteristisch erscheint und durch seine
seelische Athmosphäre bezeugt, wie auch unsere soge-
nannten sozialen Lyriker keine simpeln Rechenexempel und
billigen Fundgruben für literarkritische Schablonenweisheit
abgeben.
TAGEBUCHBLATT.
Die letzten Sterne flimmerten noch matt.
Ein Spatz versuchte früh schon seine Kehle,
Da schritt ich müde durch die Friedrichstadt,
Bespritzt \on. ihrem Schmutz bis in die Seele.
Kein Quentchen Ekel war in mir erwacht,
Wenn mich die Dirnen schamlos angelacht,
Kaum daß ich stumpf davon Notiz genommen.
Wenn mir ein Trunkner in den Weg gekommen.
Und doch, ich spürte dumpf: mir war nichts recht.
Selbst die Zigarre schmeckte schlecht.
Halb zwei. Mechanisch sah ich nach der Uhr,
An was ich dachte, weiß der Kuckuck nur;
Vielleicht an meinen Affenpinscher Fips,
An ein Bonmot, an einen neuen Schlips,
Vielleicht an ein zerbolztes Ideal,
Vielleicht auch nur — ans Cafe National.
Da, plötzlich — wie? ich wüßt es selber nicht.
Fuhr mir durchs Hirn phantastisch ein Gesicht,
Ein Traum, den ich vor Jahren mal geträumt.
Ein Glück, das zu genießen ich versäumt.
Ich fühlte seinen Atem mich umstreifen.
Ich könnt es förmlich mit den Händen greifen!
Ein verwehender Sommertag, ich war allein.
Auf einem grünen Hügel hielt ich im Abendschein
Und still war mein Herz und fröhlich und ruhte.
Leise imter mir schnupperte meine Stute,
G*
92 TjjnjL T{EJMCJ(ELL
Die Zügel locker, lang und laß,
Und rupfte büschelweise das Gras.
Es ging ihr fast kniehoch und stand voller Blumen.
Dazwischen roch es nach Ackerkrumen
Und hinten, die Flügel noch grade besonnt,
Mahlten drei Mühlen am Horizont;
Drei alte Dinger, fuchsrot beschienen
Und schon halb begraben hinter einem Feld Lupinen.
Sonst nichts, so weit der Blick auch schweifte.
Als mannshohes Korn, das rauschend reifte;
Dazu drüber ein ganz, ganz blaßblauer Himmel
Voll Grillengezirp und Lerchengewimmel.
Das war das Ganze. Doch ich sah die Farben
Und hörte den Wind wehn und roch die Garben.
Ein Sonnenblitz, drei helle Sekunden,
Gekommen — verschwunden 1
Die Friedrichstraße. Krumm an seiner Krücke
Ein Bettler auf der "Weidendammer Brücke.
,, Kauft Wachs-streich-hölzer,
Schwedische Storm- und W^achs-streich-hölzer . ."
Mich fröstelte I
Arno Holz — ich spreche hier ausschließlich von dem
selbstschaffenden Künstler, nicht von dem doktrinären Kunst-
theoretiker und rabulistischen Polemiker, den er uns gern
schenken könnte — wandelte sich mehr und mehr aus dem
schneidigen Zeitdicher, der einst Gedichte wie ,,Den Fran-
zosenfressern", ,,Noch eins!" ,,An einen Glacedemokraten"
und den schönen, allbekannten Phantasuscyklus \on dem
verhungernden Träumer geschrieben, in den originellen,
mitunter leider auch nur originalitätsüchtigen (hat er's denn
nötig?) Feinkünstler oder lyrischen Tausendsasa des neuen
„Phantasus". Er spürte im erstem Fall, um Wort und Vor-
stellung möglichst unverblaßt wirken zu lassen, einer Art Ver-
kürzungsstil nach und reihte mit radikaler Ausscheidung
schönklingender Entbehrlichkeiten — was an sich durchaus
DETLEV VOX LILIKSCRON
Photographie Dührkopp, Berlin.
VOJ^ DEUTSCHE7{ DlCTiTUJMG 9^
wertvoll ist — nur die eigentlichen Hauptfaktoren eines Stim-
mungskomplexes an seiner typographischen Mittelachse auf.
Lediglich mit der treffend individuellen Wahl der Worte und
ihrer denkbar einfachsten Verbindung suchte er Anschauung
und innere Vibration zu erzeugen, mit Verzicht auf jeden
Reim. Daß ihm dies nicht selten ganz vorzüglich gelungen ist,
besonders wenn er schlicht unverzerrte Natur und eben-
solches Gefühl zum lyrischen Idyll formt, sehen Sie z. B
aus folgender abendlichen Gartenstimmung:
In einem Garten
unter dunklen Bäumen
erwarten wir die Frühlingsnacht.
Noch glänzt kein Stern.
Aus einem Fenster,
schwellend,
die Töne einer Geige . . .
Der Goldregen blinkt,
der Flieder duftet,
in unsern Herzen geht der Mond auf.
Man denkt unwillkürlich an Thoma. Aber das eigent-
liche Gedicht steckt in der letzten Zeile. Vielleicht legt
man auch in solche Kurzschriftlyrik vieles erst selbst hinein.
Ein Erzeugnis von kostbarlichem Reiz und gewiegtem
Kunstgeschmack ist auch die Phantasie über die korin-
thische Marmorstatue:
Meine weißen Marmorfinger
tasten über meine Brüste.
Mich schuf Korinth; ich sah das Meer.
Tausend Jahre
unter Schutt und Tempeltrümmern
lag ich in schwarzer Erde.
Zwischen roten Disteln im Abendschein weideten Ziegen,
über mein blühendes Gab bliesen Hirten.
Tausend Jahre war ich tot.
94 J(J!7iL JiEJSJCJ{ELL
Jetzt scheint die Sonne, der Himmel lacht, ich lebe.
Auf meine Schultern, durch gezacktes Laub
fallen zitternde Tupfen.
Meine Augen
weit geöffnet,
starren auf ein grünes Wasser.
In breiten, überhängenden Kastanienblättern
spiegelt sich und spielt
sein Licht.
Darin steckt unleugbar viel lyrische Verfeinerungskultur.
In anderen wieder viel Koketterie und Verblüffungslust.
Arno Holz spielt dann mit poetischen Kugeln wie der
raffinierteste Jongleur oder er läßt mit kurioser Geberde
buntschillernde Seifenblasen durch die Luft tanzen und zer-
platzen— ein so sehr bewußtes Dichter-Kind. Wird man denn
deutscher Dichter ausgerechnet für den Berliner Literatur-
snob und Geschmäckler bei künstlicher Rampcnbeleuchtung?
"Was mein Sinn bei Arno Holz sehnlich sucht, ist eine starke,
ausgeprägte Mittelaxe unspielerischen Dichter-Menschen-
tums, ein Strom einheitlicher Kunst-Natur, der sich durch
all sein Schaffen hindurchzöge. Aber was geht Arno Holz
und Sie meine Sehnsucht an? "Will er doch vor allen
Dingen ein ewig — Überraschender sein. Nur muß man
gerade das nicht wollen. Raketen und Feuerräder wollen
es, die stillen Sterne, die ruhig wirkende Sonne nimmermehr.
Wer war denn noch unter jenen lyrischen Frühauf-
stehern der achtziger Jahre da von fortzeugender
und -schwingender Kraft? Natürlich Heinrich
und Julius, die Brüder Hart.
Heinrich, der nun auch schon im besten Majinesalter
als eine zum tragischen Lebenshumor ausreifende Ähre von
dem plötzlich hinter dem Hügel auftauchenden Schnitter
Tod dahingemäht wurde, Heinrich Hart weihte dem zwan-
zigsten Jahrhundert als der erfüllungbringenden Zeit
seinen großzügig dithyrambischen Morgenhymnus:
voj^ deutscubjj djctjtuj^g 95
"V^jrf die Tore auf, Jahrhundeit,
Komm herab begrüßt, bewundert,
Sonnenleuchtend, morgenkJarl
Keine Krone trägst du golden.
Doch ein Kranz von duftigholden
Frühlingsblüten schmückt dein Haar.
Wie zwei Bettler, frech verhöhnet.
Die wir einst so stolz gekrönet,
Irren Freiheit hin und Recht.
,,Heil den Ketten, die uns binden.
Die uns ziehn und niederwinden,
Gold'ne Ketten!" jauchzt der Knecht.
Wo du gehst, da bricht in Flammen
Tausendjähriger Grund zusammen.
Drauf die Knechtschaft wuchernd stand.
Und der Hoffahrt morsche Götter
Treiben hin wie Spreu im "fetter.
Auf vom Schlafe fährt das Land.
Wo du gehst, da öffnen alle
Tiefen sich mit heißeni Schwalle
Und des Abgrunds Nacht wird Tag.
Glühend braust's in tausend Seelen,
Erd' und Himmel zu vermählen.
Dringt der Geist zum Sternenhag.
Schlagt die Cymbeln, spielt die Geigen,
Süße A\ädchen, schlingt den Reigen,
Kränzt mit Grün den Maienbaum.
Auf, ihr Männer, Opfergluten
Laßt von allen Bergen fluten,
Auf, vorbei ist Nacht und Traum.
96
T{jn{L HEMCJ^ELL
Wie ein Tempel sei die Erde,
Daß der Mensch zum Gotte werde
Todesmächtig, Jicht und hehr.
Daß nicht Wasser und nicht Lüfte,
Nicht der Zwietracht düstre KJüfte
Trennen unsre Herzen mehr.
Wirf die Tore auf, Jahrhundert,
Komm herab begrüßt, bewundert.
Sonnenleuchtend, morgenklar.
Keine Krone trägst du golden,
Doch ein Kranz von duftigholden
Frühlingsblüten schmückt dein Haar.
Heinrich Harts Dichtungen sind vom Atem neuen Lebens,
neuen Alleinheitsgefühls durchweht, das die Menschheit
wie einen Leib umfassen möchte, von jenem tiefen pro-
phetischen Werdehauch, der auch Conrad Ferdinand Meyers
wunderbares Gedicht „In einer Sturmnacht" erfüllt, wo es
in der letzten Strophe lautet:
„Es sprach der Friedestifter, den du weißt.
In einer solchen wilden Nacht wie heut:
„Hörst, Nikodeme, du den Schöpfergeist,
Der mächtig weht und seine Welt erneut?"
Ja, es waren wilde dichterische Sturmnächte, die wir
durchschritten, und auch Heinrich Hart horchte voraus,
wie der ,,Föhn in seine gellen Pfeifen blies" und sang den
Dichter- und Kampfgenossen helle Zuversicht ins Herz.
Auf stillen Wegen aber erblühten diesem früh in die
Weltstadt verpflanzten Sohn der ,, roten Erde" damals auch
einige andachtschlichte, innigschöne Liebeslieder, wie das
ruhevoll schwebende:
ABENDGANG ZUR GELIEBTEN.
Nun ist der Abend kommen.
Die Sterne sind entglommen.
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Die Straßen schlummern mählich ein.
Abwerf' ich all mein Mühen
Und lass' in mir erblühen
Der Liebe Sehnsucht ganz allein.
Rings grüßen von den Zweigen
Die Vögel und es neigen
Sich flüsternd Busch und Blume mir;
So festlich ist mein Wiesen,
Sie mögen leicht es lesen,
Wie meine Seele fliegt zu dir.
Die Kinder, die am Wege
Sich tummeln durchs Gehege,
Sie reichen lächelnd mir die Hand.
Die "Winde die da wehen,
Die Wolken die da gehen,
Sie knüpfen mir ein rosig Band.
Wie weit seid ihr entschwunden,
Ihr sorgenschweren Stunden,
Wie fern, wie fern liegt Kampf und Streit;
Die Welt ist so voll Frieden,
Als lag' sie abgeschieden —
Ein See in grüner Einsamkeit.
Nun steh' ich an dem Hause,
Vor meines Glückes Klause,
Und meiner Freuden Inbrunst wird Gebet;
Laß jedes Herz hienieden
Durch Liebe finden Frieden,
Du göttlich Feuer, das die Welt durchweht.
In dem wipfelrauschenden Vorgesang zu seinem kühnen,
in den vorhandenen Teilen oft außerordentlich schönen
„Lied der Menschheit" stehen die unvergeßlichen Vers-
paare:
2l
7{jn{L 7fEMCJ(ELL
„Die Menschen sind wie Blumen auf dem Rain,
Ich winde sie dem Kranz der Menschheit ein,
Der Alenschen Tun spinnt Fäden wirr und kraus,
Ich webe sie zum Bild der Menschheit aus,
Der Menschen Herz freut sich an Schein und Spiel,
Ich halt' das Steuer auf der Menschheit Ziel"
und ein mächtiges Finale schließt den Vorgesang ab, um
dessentwillen das deutsche Volk seinen Heinrich Hart hätte
kränzen sollen, als es noch Tag für ihn war:
„Volk das ich liebe, Volk, an dessen Kraft
Ich glaube, du der Menschheit Blut und Saft,
Du grüne Eiche, schwellend \on Geäst,
Dein Haupt trinkt Himmelsglanz, gen Ost und West
Streckst du die Arme, erzgeschmiedet drückt
Dein Fuß des Erdreichs Kern, kein Sturmwind rückt
Zur Seite dich um einer Spanne Raum,
Durch deine Blätter rauscht ein Frühlingstraum,
Aus deinem "Wipfel klingt es wie Geläut:
Es kommt ein Morgen, der die Welt erneut.
Volk das ich liebe, alles was ich bin.
Bin ich durch dich, so nimm als Opfer hin
Mein armes Lied, vielleicht mit tausend Reben
Wird es in Deiner Seele aufwärts streben.
Ihr aber. Freunde, reicht mir her ein Glas
Taufrischen Rieslings! Welch ein Trunk ist das!
Das Aug' wird hell, die Finsternis zieht fort
Und auf die Lippen drängt sich Wort um Wort."
Das deutsche Volk kümmerte sich um das Opfer wenig,
und Heinrich Harts Lebenslinie sollte tragisch verlaufen.
Wenn ich vorhin von seinem letzten Lebenshumor sprach,
so meinte ich die geistig übe-rlegene Weltironie des
doch in seinem Besten vorzeitig geknickten dichterischen
Idealisten, in einem witzigen Lachen hervorbrechend, das
für mich mehr erschütternd als befreiend klang. Es v/ar
das eben der Humor von der Tragödie. Vielleicht wäre
VOJ^ DEUTSCTiETj DJCNTUTVG 99
er doch noch zum eigentlich erlösenden Lacher empor-
gewachsen? Man spurte auch dazu tiefere Ansätze, aber
v/er kann es wissen? So war er eine schon früh herr-
lich himmelanstrebende junge Eiche, die das großblättrige
Schlingkraut der Tagespresse zu zäh umklammerte und gierig
aussog.
Heinrich Hart würde seinem Bruder Julius als Lyriker
jedenfalls den Vortritt gelassen haben — ich wollte ihn hier
dem Altern und Toten geben. Julius Hart teilt mit
Heinrich die feiertägliche Auffassung vom dichterischen-
Schaffen, und so bildet seine vorwiegend hymnisch-diony-
sische Lyrik für ihn wirklich ein Fest des Aufschwungs
und einen , .Triumph des Lebens". ]n seinen dithyram-
bischen Versen steigert sich ein Mensch mit dunkelglutiger
Leidenschaftlichkeit selbst in sein Erregungsstadium hinein
und umarmt gleichsam mit visionärer Ekstase seinen eigenen
Gefühlsrausch. Er versetzt dann alles, Natur und Leben,
in das schwüle Treibhaus seiner Empfindungsinbrunst, so
daß bei ihm selbst die bescheidenen ersten Veilchen unter
solcher Gluthitze sich in eine Art „trunken buhlender"
Orchideeen verwandeln. Leider erstickt auf diese Weise der
Dichter nicht selten die um Rettung ihrer einfachen Un-
schuld flehende Natur aus lauter Gewaltsamkeit mit dem
Schwall seiner Gefühlswollust, und so sehr ich als Auch-
germane mit Julius Hart „gerade das trunkenste und höchste
Seligkeitsempfinden, die Liebesglut des Künstlers" für ein
wesentliches neuschöpferisches Element halte, ebensosehr
glaube ich, daß auch für den Dichter als gestaltenden
Künstler das kurze, freilich „romanische" Sprichwort recht
behält: Qui trop embrasse, mal etreint. Und v^enn der
egozentrische Standpunkt schon gelten soll, daß für den
Dichter, und besonders für den Lyriker, sein Gefühl das
Maß aller Dinge ist, so kann man es schlechterdings den
schlechten Dingen — und wäre es auch nur in der Seele
des liebenden Lesers — nicht verübeln, wenn sie sich ihrer-
seits gegen jede allzu überschwängliche Gefühls— anmaßung
bescheiden, aber entschieden, wie Dinge nun einmal sind,
wo J{jn{L TiEJ^CJ^ELL
zur Wehr setzen, um nicht vor lauter Dichtergefühl ihre
eigene arme Dingseele auszuhauchen.
Nach diesem kleinen Plaidoyer für das Ding und gegen
das Ubergefühl, das zugleich ein Plaidoyer für den Kunst
empfangenden Menschen ist, kann ich nun mit doppelter
Freude hervorheben, daß Julius Hart in erster Reihe mit
zu jenem Vortrupp geisteskämpferischer Poeten gehört,
deren Dichtung von einem erneuernden und befreienden
Menschheitssinn erfüllt ist. Auch er hat den Atem des
Werdesturmes verspürt, der in diesen Jahrzehnten beson-
ders stark über die Erde geht, und sein Flügelroß wittert,
schnaubend und nüsternblähend, Morgenlüfte des Lebens.
Julius Hart hat zudem als der erste, mit jungen Jahren,
aus "^'''estfalen kommend, Berlin und das Bild der modernen
Weltstadt in seiner "Wirkung auf den wagenden und käm-
pfenden Geistesmenschen für die deutsche Lyrik eigentlich
erobert, durch mehrere äußerst charakteristische, kraftvolle
Gedichte, von denen das früheste ,,Auf der Fahrt nach
Berlin" schon 1882 entstanden ist.
Ich lese Ihnen aus diesem die ersten und letzten Stro-
phen und nachher das spätere eigentliche Gedicht „Ber-
lin" ganz.
Vom Westen kam ich, schwerer Haideduft
Umfloß mich noch, vor meinen Augen hoben
Sich weiße Birken in die klare Luft,
Von lauten Schwärmen Krähenvolks umstoben.
Weit — weit die Heide, Hügel gelben Sands
Und binsenüberwachsne Wasserkolke,
Fern zog ein Schäfer durch Westfalenlands
Buschwerk und Ginsterkraut mit seinem Volke.
Vom Westen kam ich und mein Geist umspann
Weichmütig rasch entschwundne Jugendtage,
War's eine Träne, die vom Aug mir rann, —
Klang's von dem Mund wie sehnsuchtsbange Klage?
Vom Westen kam ich und mein Geist entflog
Voran und weit in dunkle Zukunftsstunden,
jil/^ /älf 1M^ ^^m^ 1^ -Ä^ /i^/
//^
v^i^ ^i^t^ /^.e^ ^^ ^^ ^//^a^ . . .
J*/ :t/^ /J^tVl- /^4^ ^rx^^A^/f*^
Aus den „Ludern eines Sunders" von Hermann Conradi.
VOJ^ DEUTSCTiE7{ DlCTiTUJMG lOI
Wohl hub er mächtig sich, sein Flug war hoch.
Und Schlachten sah er, Drang und Heldenwunden.
Die letzte Strecke der Reise wird geschildert, Fahrt über
die Havel, erster Anblick der Stadt beim grauenden Sep-
tembermorgen, Ankunft in der Halle und
Berlin! Berlin! die Menge drängt und wallt
Und wälzt sich tosend durch die staub'gen Gassen,
Vorüber brandet sie stumpf, tot und kalt.
Und jedes Ich ertrinkt in dunklen Massen.
Du aber suchst in dieser bleichen Flut
Nach Rosen und nach grünen Lorbeerkronen . . .
Schau dort hinaus! . . . Die Luft durchquillt's wie Blut,
Es brennt die Schlacht, und Niemand wird dich schonen.
Schon braust die wilde Flut um meine Brust,
Schon reißt es mich hinfort in wirren Schäumen,
Und zwischen Tod und trunkener Lebenslust
Treib ich dahin, gleichwie in dumpfen Träumen.
Wohin? Wohin? die dunkle Nacht verschlingt
Und hüllt die Ferne tief mit Finsternissen,
Und schattenhaft im Nebel stumm versinkt
Dort Boot um. Boot, jählings hinabgerissen.
Ein jahrelanges Kämpfen mit den Wogen der Weltstadt,
bis zum schließlichen Sieg über das Ungeheuer mit dem
Geist der Kraft:
BERLIN.
Endlos ausbreitest du, dem grauen Ozean gleich.
Den Riesenleib; in dunkler F'erne stoßen
Die Zinnen deiner Mauern ins Gewölk, und bleich
Und schattenhaft verschwimmen in der großen
Und letzten Weite deine steinigen Matten.
Weltstadt, zu Füßen mir, dich grüßt mein Geist
Zehntausendmal; und wie ein Sperber kreist
Mein Lied wirr über dich hin, berauscht vom Rauch
Und Atem deines Mundes: Sei gegrüßt du, sei gegrüßt
I02 J{J17{L 7iEJyJCJ{ELL
's ist Sommermittagszeit, und leuchtende Sonnenflut
Strömt aus den Himmeln über dich; rings blitzen
Und flammen deine Mauern, und in weißer Glut
Erglühen deine Dächer und der Türme Spitzen,
Und helle Wolken Staubs, die aus den Tiefen steigen.
Gleich einem glühenden Riesenkessel liegst du, — Brand
Dein Atem, Feuer dein weitfließendes Gewand,
Starr, unbewegt, gleich wie ein Felsenmeer,
Das nackt mit weißen Rippen aus der Wüste steigt.
Erstorben scheinst du, doch du bist es nicht;
Erzittert nicht die Luft vom dumpfen Toben
Des Meeres, das in deinen Schlünden bricht
Und wühlt und brandet, wie vom Sturm durchstoben,
Und donnernd tausend Schiffe zusammenschleudert?
Wild gellt der Schrei der Schiffer Tag und Nacht
Durch Licht und Nebeldunst, und ewig tost die Schlacht
In deinen Tiefen: trümmerübersät
Von bleichen Knochen starrt ringsum dein dunkler Grund.
Schäum auf, du wilde Flut und tose an!
Die du zerreißend hinfegst und mit gier'gem Maule
Zehntausende verschlingst: ein Schrei und dann
In dunklen Wirbeln schwemmst du alles Faule
Und Schwache tief hinab in deinen Abgrund . . .
Dich rührt kein Weinen und kein heiß Gebet,
Der Klagenden Geschrei lautlos und stumm verweht
In deiner Brandung Donnern, aber sanft
Und weich umschmeichelst zärtlich du des Starken Fuß.
Du ström in meinen Busen deinen Geist,
Gieß deine rauhe Kraft in meine Glieder . . .
Gewaltig faßt's in meine Seele, reißt
In deiner Schlachten wirr Gedräng mich nieder.
Wo Schwert und Lanze auf die Brust mir fahren.
Erstick die Träne und den Klagelaut,
Der feig von meinen Lippen sonst getaut.
Den Becher trüben Weins, der nur zu lang
Die Zeit berauscht, werf ich in Deine Flut.
VOJM DEUTSCTIE^ DJCHTUJ^JG lO^
Grämliche "Weisheit, die in unsre Brust
Den Giftpfeil stößt und uns als Schuldgeborne,
Ewig Verdammte zeichnet, unsere Lust
Und Schaffen mordet, und gleichwie Verlorne
Verachtet macht, hier will ich ihrer lachen.
Aus deinen düstern Mauern, Weltstadt, reckt
Ein Geist sich mächtig auf und streckt
Die Hand gewaltig aus, und deiner Flut
Gesang stürmt mir ins Ohr ein besser Lied.
Dich fühl ich, Menschengeist, dein Schatten steht
Gewaltig über der Stadt lichtglühenden Mauern,
Ich fühl es, wie dein Odem mich umweht
Und mich durchrinnt gleich heiligen Liebesschauern . . .
Gewitter rollen auf, die Sinne dunkeln:
Schlachtruf durchgellt die Luft, der Himmel bricht,
Durch schwarze Wolken fährt ein feurig Licht,
Und bleiche Schatten fliehn, ein Antlitz blutbeströmt
Und dort ein anderes versinkt in Nacht.
Dich, Kraft, besing ich, die Natur du zwingst
In deinen Dienst, und dumpfen Sinnesträumen,
Des Fleisches totem Kerker uns entringst —
Du Kraft, laß alle meine Adern schäumen
Von deinem warmen Blut . . . Euch alle sing ich,
Arbeiter, Krieger, die der Menschheit Baum
Mit ihrem Schweiß und mit dem heil 'gen Schaum
Des Blutes düngen . . . Singen will ich den Kampf
Mit dir, Natur, Fleisch, Staub und Tod.
Das ist Julius Hart, der machtvolle Denkerdichter im
Angesicht des modernen Lebenskampfes, aber er ist auch
ein Dichter all dessen, was über der Weltstadt ist:
Ihm wurden ringende Flügel des inbrünstigen Auf-
schwungs zum Ewigen, schwärmende Augen sonntäglicher
Schönheitssehnsucht, grüblerische Leidenschaft eines ge-
prüften Herzens. Aus Wirbel und grauem Dunst der
I04 \Jn{L TiEJMCJ^ELL
"Weltstadt, aus "Wähnen und Irren schwankender Gemein-
schaft geht er mit seiner Dichtung den stillen Höhen eines
in sich geeinigten, starken Daseins entgegen . . .
Eine keimschwangere, aber unerfüllte, schon heute in
dämmernde Legende gehüllte Erscheinung kann ich hier
nicht vergessen, die es von früh her und immer wieder
zur Lebenssphäre der Brüder Hart hinzog, ohne daß ihre
dichterische "Wesensart irgendwelche Abhängigkeit von jenen
Stammes- und Schulgenossen aufweist. Ich meine unsern
wundersamen toten Peter Hille, den geheimnisumwitter-
ten fahrenden und — ach! — verfahrenen Schüler der
Neuzeit, der raunend und pilgernd, pilgernd und raunend
die seltsamen Spuren seines unstäten Genius den Schwellen
seiner verschiedenen dichterischen Freunde und Zeitge-
nossen einprägte.
Peter Hille war im Grunde seines \C^esens ein tiefer
"Waldmärchengeist und ins Moderne verschlagener Merlin,
ein unendlich feinspüriger. Dichter-, Kinder- und vogel-
sprachekundiger Mensch, der das an die Dinge ganz nah
heranzitternde "Wort, leider oft bis zur verschwimmenden
Unklarheit, über alles liebte und eher Hunger und Frost
litt als seiner Seele besonderen Ausdruck platt schlug. Es
war sein "Verhängnis, ein Peter in der Fremde der "Welt
zu sein und zu bleiben. Denn Hilles Seele stammte auch
aus HiJligenlei, und seine Züge glichen denen eines aller-
dings verwahrlosten germanischen Heiligen. Das weiß, wer
ihm tiefer in Auge und Herz gesehn. Darin lag vor allem
eine besondere Spielart des ,, Lasset die Kindlein zu mir
kommen!"
Die letzten Jahre seines Lebens wurde der wunderliche
"Vagant am blutigsten gekreuzigt. Er fiel der literarischen
Sensationslüsternheit von meist snobistischen Berliner Dal-
bellyrikern zum Opfer, (Dalbelli hieß ein italienisches "Wein-
restaurant an der Potsdamer Brücke, wo das „Cabaret Peter
Hille" nächtigte), und der dort unter geldersammelnden
Männlein und "Weiblein aus seinen unergründlichen Papier-
konglomeraten vornuschelnde deutsche Poet wirkte wie
Atelier l'eriuis, Miiinhrn
cyf^-yupffi^^ .
VOJ^ DEUTSCTiE7{ BlCJiTUJ^G 10^
die traurige Karrikatur einer fernverlorenen Urwald- und
Weltharfen weise.
Ich lese Ihnen das wie dunkles Orgelbrausen erklingende
Gedicht:
WALDESSTIMME.
Wie deine grüngoldnen Augen funkeln,
Wald, du mosiger Träumer!
Wie deine Gedanken dunkeln.
Einsiede], schwer von Leben,
Saftseufzender Tagesversäumer!
Über der Wipfel- Hin- und Wiederschweben
Wie's Atem holt und stärker wird und näher braust
Und weiter wächst und stiller v/ird und saust. —
Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen.
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.
Und dann die wie Mädchenlachen im lichten Frühlings-
flor vorbeischwebenden Verse vom
MAIENWIND.
Mutwillige Mädchenwünsche
Haben Flieder
Niedergebogen,
Blauen und weißen.
Wie Tauben sind sie weiter geflogen.
Mit Wangen wilden und heißen.
Hoch in warmen, schelmischen Händen
Haschender Sonne
Geschwungene Strahlen.
Hellbebende Wonne
Weißer Kleider
Weht.
BJiJJTJDES: UTE UTET{ATliT\. BJlTiD XXXyiJl XXXVIII W
lö^ J{JlJiL BEJMCJ^ELL
Mutwillige Mädchen wünsche
Haben sich Flieder
Niedergebogen,
Blauen und weißen —
Sind weiter gezogen . . .
Die versonnen- verlorene Gestalt Peter Hilles verklärte
sich mir nach seinem jähen Ende in einem längeren Ge-
dicht, aus dem nur ein paar Verse hier wiedergegeben seien:
,,Bist doch ein Seher und Germane
Uralter Art, ein Runenahne,
Brausenden Elementen vertraut
Wie der Sehnsuchtseele der Menschenbraut.
Feinere Schwingung des Weltalls zu fühlen
Bist du begnadet, wirkender spülen
Wellen des Ozeans um deine Stirn,
Wahrer prägt sich die Welt in dein Hirn,
Ja, wir sahen dich manchesmal
Waldesdämmer im Abendstrahl
Mit lärmscheuem Schritt durchschweifen
Und nach tanzenden Sonnen greifen.
Die du mit rascher Zauberhand
In dein witterndes Wort gebannt.
Ließest triefen auf v/eiße Fetzen
Purpurgoldenes Lichtergötzen,
Schreiber im Scharlachmantel du —
Und das Einhorn staunte dir zu . . .
Ein völlig anderes Bild gewährt die klarbewußte lyrische
Kunst eines auch auf der Höhe seines Lebens von uns
■ genommenen Jugendgenossen, den ich einst als Abitu-
rienten mit ein paar andern Hannoverschen Dicht,, vettern"
dem Kreise der ,, Modernen Dichtercharaktere" zuführte.
Otto Erich Hartleben war ein fein ziselierender Gold-
schmied des Verses, der mit überlegener Ruhe, Sorgfalt und
VOM DEKTSCTiEJi DJCJiTUjyJG lOJ
Geschmack seine Lebensstimmungen zu rhythmischen Bil-
dern formte. Hartleben ging vom Platenidentum aus und
hatte auch seine hochrhetorische Periode, bis er sich völlig
auf seine im Innersten unpathetische Natur besann und dann
unbeirrt mit einer ihm eigentümlichen Grazie und maßvollen
Sicherheit der Geberde in dem Stil dichtete, der just sein
'Wesen harmonisch ausdrückte. So bildete er sich vom zwan-
zigsten bis vierzigsten Jahre seines nur allzukurzen Lebens
zum in sich vollendeten lyrischen Künstler aus und konnte
noch die reifen, goldigen Früchte von den dunkelüppigen
Büschen pflücken, die seine schönheitsfreudige Seele als
Lohn erträumte. Auch Hartleben war einer, der erst
hoffnungskühn mit großen sehnsüchtigen Augen der Zu-
kunft Sternenwacht hielt und in der schweren Nacht, die
für gerechtigkeitliebende Geister auf Volk und Zeit lastete,
seinen Schwertgesang anstimmte. Aber auch der Zweifel
ward früh in ihm lebendig, und der glühend enthusiastische
Fackelschwinger ließ nach und nach die müde Hand herab-
sinken. Er fühlte so bald aufs schmei'zlichste den lähmend
mißtrauischen Blick gerade jener auf sich gerichtet, denen
er rückhaltlos sein Herz, sein Lied und ein gut Stück
Leben in die Urne gelegt hatte, und sein Glauben, die Masse
schon heute zu edler Freiheit zu wecken, wurde schwach
und schwächer. Die ,, Mücken in dem roten Glanz, die
Eintagsfliegen, die sich flatternd in den Schein gedrängt",
in dürrer Prosa ausgedrückt die kleinen journalistischen
Gernegroße der Partei, der er sich — als kgl. preußischer
Referendar von damals! — angeschlossen, trugen das übrige
dazu bei, seine jugendwarme Begeisterung in wehmütigen
Skeptizismus abzukühlen. Seine Verehrung für die echt
revolutionäre Persönlichkeit blieb sich natürlich stets gleich,
und man mußte schon ein Scheuklappentierchen oder Gift-
krötlein sein, um einen Menschen wie Hartleben zum
„Renegaten" stempeln zu wollen, wie tatsächlich von ge-
wissen Seiten versucht wurde.
„"Wir sind die Opfer einer fernen schonen Zeit", so heißt
es in einem damaligen Gedicht,
H*
TÖ8 J(J{JiL 7iEJ\JCJ{ELL
,, — — O mögen goldne Ähren einst
Wogend verhüllen dunkler Erde vergessenen Grund!
Mögen der rote Mohn und der Cyane Blau
Als Edelsteine leuchten aus dem Goldgeschmeid!
Dann flattern die Falter freudig in der Sonne Strahl,
Und Bienen summen früchtetriefend überall."
Und schon aus derselben Zeit stammt das schöne Gleich-
nis von der Taube, zu dessen vollem Lebensverstehen in
die Seele des Dichters hinein die eben gesprochenen
Worte ein wenig vorbereiten wollten, unbeschadet seiner
unmittelbaren Bildklarheit, die selbstverständlich keiner
weiteren ,, Interpretation" bedarf.
DIE TAUBE.
Es gleicht das Herz der Taube, die entsendet ward,
Zu spähen, ob die Wasser sich verlaufen schon. —
In mutiger Jugendfreude flatterte sie davon
Und traute: eine Welt entsteige dieser Flut.
In jedem tiefen Wogenschlage wähnte sie
Zu schauen schon die langersehnte Erdenflur!
Der milde, volle Mond, der Sonne reiches Gold,
Mit Hoffnung färbten beide sie der Woge Schaum. —
Doch immer wieder glättete der Spiegel sich
Und sah empor, ein stumpfes, blödes Auge stets;
Die Taube zitterte vor diesem kalten Blick,
Und schlaffer stets und müder ward der Fittiche Schwung.
Der Regen troff vom sonnenblinden Firmament,
Und höher stieg das unverändert dunkle Meer.
Und höher stieg es, bis der Flügel Kraft erlahmt.
Der letzte Hoffnungsblick im brechenden Auge starb:
Und höher stieg es noch, als, eine Beute schon,
Der tote Leib der Taube auf den Wassern trieb.
In Hartlebens Liebesgedichten weht meistens der Hauch
einer anmutig- schelmischen Sinnenfreude, die frei von
„lyrischem Dusel" der natürlichen Lieblichkeit und Leib-
ÖiU) l\l d,^ 7 t ' ^'^^ <^'^Vai^^
OTTO ERICH HARTLEBEN.
VOJM DEUTSC7iE7{ DICH TUM G IOC)
lichkeit des Weibwesens ihr holdes Recht gibt, ohne je
auf geringe Art mit versteckter Lüsternheit hinten herum
zu reizen. Mit einer aus Wahlverwandtschaft zur Art des
liebedichtenden Goethe neigenden, wie selbstvcrständh'chen
Aufrichtigkeit, die wohltut und entzückt, gibt er sich fröh-
lich und munter, wie er leibt und lebt.
KINDERKÖPFCHEN.
In scheuer Lust — doch nimmermehr verschämt —
Hobst du die runden, v/eißen Arme auf
Und dehntest sie empor und suchtest blinzelnd
Dein Bild im Spiegel . . .
Ich aber stand entfesselt hinter dir
Und sah in deinen vollen blanken Schultern
Die beiden Grübchen . . .
Da beugt ich mich auf diesen Nacken nieder
Zum Kuß . , .
Es ward mir klar, wie du den Göttern still
Vertraut, gar innig wohl befreundet bist.
Wenn sie dir nahen, tupfen sie dir leise
Mit leichtem Finger auf dies schwellende Rund —
Und also lieblich, Menschensinn verwirrend,
Blieb ihres Grußes Spur in deinem Fleisch.
Welch tiefen, schlichtergreifenden Herzenstones dieser
ungenierte Spötter und lachende Sackermenter der deut-
schen Literatur fähig war, verraten Gedichte wie
IM LANDE DER TORHEIT.
Im Lande der Torheit küßt ich die Hände schöner Fraun,
Sie waren schmeichelnd und weiß, mit blitzenden Ringen
geschmückt.
Ich lachte wohl auch beim lieblich klingenden, lockenden
Wort,
HO J{jn{Z HEJMC\ELL
Und eitel genoß ich des eigenen spielenden Übermuts.
Doch immer wieder irrte mein Blick ins Leere ab:
Ich sah und fühlte die Hände meiner lieben Frau,
Die weich und still in ruhender Güte sich nach mir
Hersehnen aus der Ferne — deine Hände, die
Allein die "Wirrnis dumpfen Wollens je gebannt —
Und ich gedachte jener Stunde, da mir einst
Im Tode diese Hände stummen Trost verleihn.
Die nach dem Sinn gewählten Gedichte sind, wie Sie
gemerkt haben werden, in einer ähnlichen für Hartleben
charakteristischen Form gehalten: gelassen schwebende,
reimlose Streckzeilen mit fein abgestimmter rhythmischer
Gliederung, die sich aus der ganz natürlich hingleitenden
Wortfolge wie von selbst zu ergeben scheint.
Ein apartes Geschenk hat Otto Erich lyrischen Fein-
schmeckern gemacht mit seiner kongenialen Verdeutschung
des Pierrot Lunaire von dem belgischen Parnassien
Albert Giraud. Leider war der feine und liebenswürdige
Originalpoet nicht in der Lage, selbst im Deutschen nachzu-
spüren, welch entzückenden Dichterdolmetsch er da eigent-
lich gefunden, freute sich aber umsomehr, als ich ihm ein-
mal in ^Brüssel die seltenen Vorzüge der Hartlebenschen
freien Übersetzung rühmte. Pierrot Lunaire ist ein Buch
phantastischer Mondstrahllyrik voll grotesken Humors und
bald drolliger, bald schauerlicher Gefühlsbizarrerieen. Doch
sind auch reine, zarte Stimmungsbilder darunter. Jedes
der durchweg dreistrophigen und vermittelst bestimmter
Verswiederkehr zu geschlossenster Architektonik geformten
Gedichte ist ein Bild für sich, meist in seltsam scharfen
Grundfarben mit gespenstisch zitternder Beleuchtung aus-
geführt. Hartlebens geschmackvolle, dem Gewohnlichen
ausweichende sprachliche Technik bewährt sich hier in
einschmeichelnder "Weise. Einmal wird der Mondesstrahl
zum Fiedelbogen bei einer im offenen Gehäuse ruhenden
Geige:
VOJ^ DEUTSCTJETj DICHTUJ^G III
VIOLON DE LUNE.
L'äme du violon tremblant,
Plein de silence et d'harmonie,
Reve dans sa boite vernie
Un reve languide et troublant.
Qui donc fera d'un bras dolent
Vibrer dans la nuit infinie
L'äme du violon tremblant,
Plein de silence et d'harmonie?
La Lune, d'un rais mince et lent,
Avec des douceurs d'agonie,
Caresse de son ironie,
Comme un lumineux archet blanc,
L'äme du violon tremblant.
DIE VIOLINE.
Der Violine zarte Seele,
Voll schweigend reger Harmonien,
Träumt nun im offenen Gehäuse
Nachzitternder Erregung Träume.
Wer wird aus solcher Ruh sie rühren
Aufs neu mit schmerzensmächt'gem Arm,
Der Violine zarte Seele
Voll schweigend reger Harmonien?
Ein feiner zager Strahl des Mondes,
Mit letzten Schmerzen süßer Qual
Ironisch tändelnd — reizt und reget
Leis mit dem silberhellen Bogen
Der Violine zarte Seele.
In Hartlebens Gedichten steht ein kleines poetisches
Genrebild von einem nackten Kinde, das sich mit einem
„defekten Globus-' auf einem weißen Tierfell kugelt, jauch-
zend mit den Beinen strampelt und des Spieles gar nicht
müde wird:
IJ2 J(J!J{L HEMCJ(ELL
„Es ist ganz außer sich vor heller Freude,
Daß Gott der Herr die Welt so rund geschaffen —
Wie herrlich läßt mit dieser Welt sich spielen!"
Er, Otto Erich, wahrte sich immer diesen kindlich freien
Spieltrieb des Dichters, der schalkisch ungezogen, feind
jeder Pedanterie, seiner eigenen Würde naiv am Zöpfchen
zieht. Wer ein lachender Meister im Spiel ist, darf getrost
Welt und Wellen, ja auch dem Photographen seine nackte,
reingebadete Brust bieten — nur der ewig korrekte, eng-
brüstige Sittling wird einen freien Sohn der Natur darum
der Unanständigkeit zeihen. Wir haben alle Ursache, diesen
selbstüberlegenen Zug, wo immer wir ihn finden, zu hegen
und zu liebkosen in deutscher Kunst und Dichtung, denn
wir Dichtersöhne Teuts sind im großen ganzen schrecklich
ernsthafte Leute, die sich selber am liebsten vor feierlicher
Würde umbrächten. Ich spreche natürlich nur von kosmisch
und weitgeistig veranlagten Naturen, die überhaupt vom
„Spiel mit der W^elt" eine Ahnung haben, — nicht etwa
von lyrischen Komikern mit dem schiefen Zylinder auf
dem Kopf, die sich schweißtriefend eine witzig anzügliche
Verspointe aus der steifschmierigen Hemdenbrust ziehen
respektive aus den Fingern saugen. Solche selbstherrliche
und ihr Selbst unbekümmert ausspielende Menschenskinder
und Poeten meine ich, die über ihre Haustür auch das
Motto setzen könnten:
,,]ch wohne in meinem eignen Haus,
Hab' niemandem nie nichts nachgemacht
Und — lachte noch jeden Meister aus,
Der nicht sich selber ausgelacht."
Der das nämlich im Epigramm, als Motto zur neuen Aus-
gabe der ,, Fröhlichen Wissenschaft^', tat, war kein an-
derer als Friedrich Nietzsche, der große Ratten-
fänger von Naumburg, der die sehnsüchtigen Kinder der Zeit
mit dem verführerisch-berückenden Spiel seiner philosophi-
VOJ^ DEUTSCNETj -PlCTJTyJMG 11^
sehen Tanzflötc in den dunkeln Bauch des ungeheuren Zu-
kunftsberges lockte. Der tanzlustige Zauberpfeifer und
Denkerheld ist ein genialer Lyriker nicht nur in der kunst-
voll gegliederten Wiederholungsdithyrambik und in dem hym-
nischen Stilparallelismus seines „Also sprach Zarathustra",
wo sich grandioser W^ogenschlag mit graziösem Schaumge-
kräusel der Sprache vermählt, sondern auch in den Reim-
strophen und freien Rhythmen seiner eigentlichen „Gedichte
und Sprüche". Hören Sie aus dem „Zarathustra" nur noch
einmal das sechste und siebente Stück der ,, Sieben Siegel"
(oder des Ja- und Amen-Liedes):
„Wenn meine Tugend eines Tänzers Tugend ist, und
ich oft mit beiden Füßen in gold-smaragdenes Entzücken
sprang:
Wenn meine Bosheit eine lachende Bosheit ist, heimisch
unter Rosenhängen und Lilienhecken:
— im Lachen nämlich ist alles Böse beieinander, aber
heilig- und losgesprochen durch seine eigene Seligkeit: —
Und wenn das mein A und O ist, daß alles Schwere
leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und
wahrlich, Das ist mein A und Ol —
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig
sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe —
dem Ring der Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder
mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn
ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und
mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog:
Wenn ich spielend in tiefen Lichtfernen schwamm, und
meiner Freiheit Vogel -Weisheit kam: —
— so aber spricht Vogel -Weisheit: „Siehe, es gibt
kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zu-
rück, du Leichter! Singe, sprich nicht mehr!
— „sind alle Worte nicht für die Schwere gemacht?
IL^ J(JlJiL JiEJ\lCJ{EL'L
Lügen dem Leichten nicht alle Worte? Singe, sprich
nicht mehr!" —
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig
sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe —
dem Ring der Wiederkunft?
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder
mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich
liebe dich, oh Ewigkeit I
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!"
Bei einem so von feuchtem Geist phosphoreszierenden,
sich selbst immerfort auf der Lauer liegenden Dichter-
denker wie Friedrich Nietzsche ist es natürlich ungemein
reizvoll, auch seinen gelegentlichen Apercus über Poesie,
ihr Verhältnis zur Prosa und sein eigenes Verhältnis zum
Dichten ein wenig zu lauschen. So finden sich in der
,, Fröhlichen Wissenschaft" folgende feinen, bezeichnenden
Bemerkungen darüber. Sie sind gewiß in diesen Ausfüh-
rungen besonders am Platze, wo vielfach der Lyrik solcher
Geister gedacht ist, die außerdem eine im vorliegenden
Zusammenhange einfach als bekannt vorausgesetzte künst-
lerische Prosa pflegten. — „Man beachte doch, daß die
großen Meister der Prosa fast immer auch Dichter ge-
wesen sind, sei es öffentlich oder auch nur im Geheimen
und für das „Kämmerlein", und fürwahr, man schreibt
nur im Angesichte der Poesie gute Prosa! Denn
diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie;
alle ihre Reize bestehen darin, daß beständig der Poesie
ausgewichen oder ihr widersprochen wird: jedes Abstrac-
tum will als Schalkheit gegen diese und wie mit spöttischer
Stimme vorgetragen sein; jede Trockenheit und Kühle soll
die liebliche Göttin in eine liebliche Verzweiflung bringen;
oft gibt es Annäherungen, Versöhnungen des Augenblicks
und dann ein plötzliches Zurückspringen und Auslachen;
oft wird der Vorhang aufgezogen und grelles Licht herein-
gelassen, während gerade die Göttin ihre Dämmerungen
und dumpfen Farben genießt; oft wird ihr das Wort aus
VOJ^ DEyrSCTfEJl DJCTiTUMG 11^
dem Munde genommen und nach einer Melodie abgesun-
gen, bei der sie die feinen Hände vor die feinen Ohrchen
hält — und so gibt es tausend Vergnügungen des Krieges,
die Niederlagen mitgezählt, von denen die Unpoetischen, die
sogenannten Prosa -Menschen, gar nichts wissen: — diese
schreiben und sprechen denn auch nur schlechte Prosa! .. ."
In Nietzsches Gedichten zittert und zuckt natürlich die
gleiche in Tiefenschmerz und Höhenlust einsame Seele wie
in seinen Prosawerken, nur vom feinsten, verräterischsten
Stimmungsspiegel aufgefangen und umrahmt. Am ergrei-
fendsten, hinreißendsten und entzückendsten ist da in ein
paar \on heimlicher Musik erfüllte Verse gehaucht das
ganze Entfremdungs- und W^üstenweh seines Lebens, Ver-
lust und Sehnsucht nach Freunden, schwangere und melan-
cholische Sommermittagsschwüle, Nachtgewitter und eisige
Gletscherkälte auf Gebirgeshöhen, fegende Mistral- und
Freiheitswonnen an provencalischen Felsgestaden, farben-
trunkenes, abendliches Gondelschaukeln und vormittägliches
Taubenschwärmen unter dem seidenweichen H immel Venedigs!
VENEDIG.
An der Brücke stand
Jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
Goldener Tropfen quoll's
Über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik —
Trunken schwamm's in die Dämm'rung hinaus . . .
Meine Seele, ein Saitenspiel,
Sang sich, unsichtbar berührt,
Heimlich ein Gondellied dazu,
Zitternd vor bunter Seligkeit
Hörte jemand ihr zu? . . .
Dionysos, der lebenstrunkene Gottessohn des blauäugigen
Himmels-Zeus und der blitzgetöteten Semele, möge den
Dichter umkränzen für sein schwellendes Tanzlied:
Il6 J(J17{L TiEMCJ^ELL
AN DEN MISTRAL.
(Ein Tanzlied.)
Mistral -"Wind, du Wolken-Jäger,
Trübsal-Mörder, Himmels-Feger,
Brausender, wie lieb' ich dich!
Sind wir Zwei nicht Eines Schoßes
Erstlingsgabe, Eines Loses
Vorbestimmte ewiglich?
Hier auf glatten Felsenwegen
Lauf ich tanzend dir entgegen,
Tanzend, wie du pfeifst und singst:
Der du ohne Schiff und Ruder
Als der Freiheit frei'ster Bruder
Über wilde Meere springst.
Kaum erwacht, hört' ich dein Rufen,
Stürmte zu den Felsenstufen,
Hin zur gelben Wand am Meer.
Heil! Da kamst du schon gleich hellen
Diamant'nen Stromesschnellen
Sieghaft von den Bergen her.
Auf den ebnen Himmels-Tennen
Sah ich deine Rosse rennen,
Sah den Wagen, der dich trägt.
Sah die Hand dir selber zücken,
"Wenn sie auf der Rosse Rücken
Blitzesgleich die Geißel schlägt, —
Sah dich aus dem Wagen springen.
Schneller dich hinabzuschwingen.
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Senkrecht in die Tiefe stoßen, —
Wie ein Goldstrahl durch die Rosen
Erster Morgenröten stürzt.
FRIEDRICH NIETZSCHE
Nach dem Gemälde von Curt Stoeving.
VOJy DEUTSCHETi DlCJiTliMG IIJ
Tanze nun auf tausend Rücken,
Wellen- Rücken, Wellen -Tücken —
Heil, wer neue Tänze schafft!
Tanzen wir in tausend "Weisen,
Frei — sei uns're Kunst geheißen.
Fröhlich — uns're Wissenschaft!
Raffen wir von jeder Blume
Eine Blüte uns zunn Ruhme
Und zwei Blätter noch zum Kranz!
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz!
Wer nicht tanzen kann mit Winden,
Wer sich wickeln muss mit Binden,
Angebunden, Krüppel-Greis,
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen,
Fort aus unser'm Paradeis!
Wirbeln wir den Staub der Straßen
Allen Kranken in die Nasen,
Scheuchen wir die Kranken-Brut!
Lösen wir die ganze Küste
Von dem Odem dürrer Brüste',
Von den Augen ohne Mut!
Jagen wir die Himmels -Trüber,
Welten-Schvv'ärzer, Wolken-Schieber,
Hellen wir das Himmelreich!
Brausen wir . . . oh, aller freien
Geister Geist, mit dir zu zweien
Braust mein Glück dem Sturme gleich. —
— Und daß ewig das Gedächtnis
Solchen Glücks, nimm sein Vermächtnis,
Nimm den Kranz hier mit hinauf!
Il8 \jn{L 7iEJS}CJ{ELL
Wirf ihn höher, ferner, weiter.
Stürm' empor die Himmelsleiter,
Häng' ihn — an den Sternen auf!
Ein furchtbares Frösteln durchschauert, nur von hel-
discher Zurückhaltung beherrscht, das Gedicht:
VEREINSAMT.
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein —
Wohl dem, der jetzt noch — Heimat hat!
Nun stehst du starr.
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt — ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor.
Was Du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich.
Zur Winter- Wanderschaft verflucht.
Dem Rauche gleich.
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten- Vogel-Ton! —
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein,
Weh dem. der keine Heimat hat!
Nach solchen Gedichten versteht man doppelt und drei-
fach die persönlichen Bekenntnisworte, die Nietzsche kurz
VOJSl DEUTSCüEJi DJCHTliJMG HC)
vor seiner Erkrankung speziell über den „ Zarathustra "
schrieb und die Frau Elisabeth Förster -Nietzsche in der
vortrefflichen Einleitung zu den Gedichten ihres großen,
unglücklichen Bruders mitteilt: „Wenn ich einen Blick in
meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe
Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen uner-
träglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden." Ein-
mal mußte die heroische Anspannung sich in den Jammer
des elenden hilflosen Menschenkindes auflösen . . . Aber
Nietzsche bleibt für uns der schöpferische Nietzsche: ein
Taucher in Meeresgründen und Korallenwäldern der Seele,
ein Fechter auf der Arena des Ge istes, ein feuriger Renner
auf den Bahnen olympischen Denker- und Dichterspiels.
Mit einer Abwehr seiner übrigens auch aus äußerster
Selbstbewahrung erwachsenen, im Gesamtkomplex Nietzsche
wohl verständlichen, aber nichtsdestoweniger antithetisch
paradoxen Lehre vom Mitleid richtete ich nach seiner un-
heilbaren Erkrankung an den Dichterphilosophen diese
Verse :
AN FRIEDRICH NIETZSCHE.
Nietzsche, du Dichter unter den Weisen,
Großer Einsamer unter den Winzigen,
Wortgewaltiger unter den Schwätzern! . . .
Deine Lehre vom Mitleid klag ich.
Mitleid kann die Tugend der Schv^achen,
Leidenschaft kann es der Starken sein.
Das heroische Mitleid preis ich.
Seine Taten und seinen Adel,
Deine Lehre sät Irrtums Saat.
O du Tanzender unter den Denkern,
Denkerkünstler unter den Plumpfüßern
Schwerhinkeuchender Philosophie !
Der du leuchtende Lyriktafeln
Mit erhabenen Rhythmen beschrieben,
Wortblitzschwingender, lachender Held!
Schlug der fittich-düstere Wahnsinn
120 J{JIJ{L ?iEJ\CJ{ELL
Schaueilich schattend über dein Haupt?
Armer König, du birgst an der Mutter
Treuer Brust dein zerrüttetes Haupt? . . .
Siehe, ich sah einen kranken Löwen,
Der an speerscharfen Stangen des Kerkers
Brüllend zerrissen sein herrliches Haupt . . .
Röchelnd lag er im Dämmer des Wahns . . .
Uberlöwen warteten fern.
Aber die Unterläuse der Schreiber
Wimmelten juckend in seinem goldnen
Majestätisch-mähnigen Fell . . .
Wandle, wandle zu Oberwelten,
Wage sehnenspielend ins Licht
Deiner Ewigkeiten den leidlosen Sprung!
Ungefähr zur selben Zeit, als der fünfundzwanzigjährige
Nietzsche in Basel Professor wurde, muß es dort ge-
schehen sein, daß sicheine junge, feineSchweizerDich-
terraupe im Dunkeln von den dürren Ästen der Theologie zu
saftigeren Lebensblättern fortbev/egte, aus der sich freilich
erst später einer der seltensten Schmetterlinge der neueren
deutschen Poesie entpuppen sollte.
Der aus Liestal bei Basel gebürtige Dichter Carl Spit-
teler hat auch sonst mit Nietzsche etliche Berührungs-
punkte, aber wenn sie auch nur ein halbes Jahr Geburtstags-
abstand aufweisen, so sind sie doch gerade in ihrer „Vitali-
tät", in der Linie und dem ,, Gesetz, nach dem sie ange-
treten" unendlich verschieden.
Spittelers wegen kann man nur sagen: glücklicherweise.
Er hat sich im geheimen Gefühl seiner gesunden Natur
Zeit gelassen und gleicht darin anderen kernfesten Dich-
tern schweizerischer Herkunft. Ich spreche Ihnen in die-
sem selbstgesteckten Rahmen ausschließlich von dem Lyriker
und balladenartigen Gleichnisdichter, nicht von dem Epiker
des „Olympischen Frühlings", noch von dem Prosaerzähler,
der ,, Gustav", „Friedli der Kolderi" und „Conrad der
VOJ^ BEUTSCBETi DJCHTUMG 121
Leutenant" geschrieben hat, oder von dem Essayisten der
„Lachenden "Wahrheiten", die natürlich besonders zu „be-
handeln" wären, wie die scheußliche Rezensenten- und
Literaturhistorikerphrase lautet. Einen Dichter ,, behandeln"
— es ist zu putzig. Als ob sich solch nichtswürdig un-
berechenbare Größen je „behandeln" ließen im Leben
und in der Kunst, wie die Köchin ein Huhn rupft, in
die Pfanne tut und je nachdem mit Sauce oder Reis zu-
richtet - . .
Carl Spittelers Gedichte verraten übrigens ausgeprägt
den epischen Grundzug seines "Wesens, er gibt zahlreiche
Erzählungen äußerer Lebensvorgänge und Fabulierungen,
die nur die wertvolle Eigentümlichkeit besitzen, daß sie
die Verlebendigung irgend einer tieferen, bedeutsamen oder
merkwürdigen Wahrheit bilden. Einer "Wahrheit, die schon
durch ihre heraushebende "Wahl fast immer den Dichter in
seiner "Weltanschauung scharf charakterisiert, was in diesem
Fall so viel bedeutet, daß es kaum je eine wie Kiesel vom
gemeinen Platze aufgelesene "Wahrheit sein kann. Denn
Spitteler ist ein Dichter und Mensch, der in jeder Hin-
sicht seine eigenen Wege geht, und dessen "Wege zu ein-
sam-freien, oft ganz entlegenen, eine ungeahnte Tiefenschau
erschließenden Höhen führen. Ein Mensch und Dichter,
der auf Grund seiner starken, reichen und — hier paßt
das in unserer vieles verpöbelnden Zeit leider grauenhaft
mißbrauchte und schier heruntergekommene Wort einmal —
vornehmen Persönlichkeit wie auch auf Grund seiner außer-
gewöhnlich selbständigen Kunstweise mit vollem Recht be-
anspruchen kann, daß man seinen "Wesenszügen, so wie sie
sind, liebevoll nachgeht und seiner dichterischen Ausdrucks-
art, die ein Phänomen für sich ist, immer näher zu kommen
sucht, bis man sie als in ihrer Art schön und notwendig,
in ihrer Sphäre selbstverständlich zu erkennen und zu ge-
nießen überhaupt fähig ist.
Als ich Spittelers Gedichte vor Jahren zuerst kennen
lernte, tat mir ein in manchen Versen angesammeltes Maß
ingrimmiger Menschenabschätzung so ätzend weh, daß ich
BTiJIJVDES: DIE UTET{ATltTi. BJlTiD XXXyill XXXVIII 1
122 \AT^ ?tEJ^C\BLL
die Bücher oft aus der Hand legte, wahrscheinlich um
mich aus den weichen Liebkosungen meiner zweifelfreien
Menschenliebe nicht so unsanft aufschrecken zu lassen.
Heute lege ich sie deshalb nicht mehr aus der Hand . . .
Anfänglich störte mich auch eine gewisse Schnörkellust
und Barockheit des Stils an verschiedenen Stellen emp-
findlich, während sich diese Eigentümlichkeiten heute schon
für mich in seinem ganzen lyrischen Kunstbau „enharmo-
nisch" verschlingen. Eine Reihe unbegreiflicher Geschmack-
losigkeiten und Banalitäten, die in die großartigsten Par-
tien verschiedener längerer ,, Balladen" (aus dem ersten Teil)
verfahren sind, kann ich aber auch jetzt noch nicht schön
oder neu finden. Das nebenbei. Aber sonst — im Ganzen
— ein poetisches Phänomen originellster und bedeutsamster
Mischung. Carl Spitteler ist so ziemlich das gerade Gegen-
teil sor\ dem, was man gemeiniglich einen ,, schwärmerischen
Lyriker" nennt, wie sie ja massenweise mit oft recht garstig
hinterhältigen Herzklappen herumlaufen, und wie sie der
Dichter gelegentlich in seiner ,, Ballade vom lyrischen
Wolf" so zum Anbeißen lieblich abkonterfeit hat:
„Davor mög uns Gott der Herr bewahren:
Nachtigallenseufzer ließ er fahren.
Eine Rose hielt er in den Knöcheln,
Schwanenlieder in den Kelch zu röcheln.
Und mit honiglächelndem Gemäul
Flötet er ein schmachtendes Geheul" usw.
Spitteler wird deshalb, wenn er auch selber mal vor
Zeiten Mädchenlehrer war, noch nicht so bald Aussicht
haben, als Dichter wenigstens der erklärte Liebling sämt-
licher Backfische zu werden, worüber er sich ja gewiß zu
trösten weiß. — In Spittelers Gedichten steckt ein gutes
Quantum psychologischer Weltwitz, der sich in mytho-
logischen, historischen, zoologischen, botanischen, literari-
schen Legenden, Anekdoten, Fabeln, Gleichnissen balladen-
haft oder mit symbolischer Epigrammatik dichterisch ver-
bildlicht. Das ist seine ganz besondere „Note", wie
VOJ^ BEVTSCTiETi BICHTVISIG 12^
Rezensions-Musikalinskj sagen würde, doch weiß er auch
der Natur als Landschaft, dem persönlichen Stimmungs-
leben und der individuellen Temperamentsregung einen
seiner, Spittelers, Art entsprechenden, lyrisch jedenfalls
ungewöhnlichen Ausdruck zu verleihen. Wenn ich Ihnen
jetzt z. B. aus den „Literarischen Gleichnissen" nur den
zehnten Teil dessen vorlesen könnte, was ich für mich per-
sönlich mit dicken Kreuzen eigenster Genußfreude versehen
habe, so wäre ich glücklich — aber Raum und Zeit, dies
geizig- mißgünstige Polizistenpaar, nimmt mich mir nichts
dir nichts am Schlafittchen und kommt sich wer weiß wie
gnädig vor, wenn es mich dreimal den Mund auftun läßt,
um meine Lust an Spitteler unmittelbar durch Vortrag
seiner Gedichte selbst auf andre zu übertragen. Ich be-
schränke mich aus dem genannten Buch schweren Herzens
auf „Nur ein König" und „Der Wunsch des Herakles".
NUR EIN KÖNIG.
Konsul Cornelius Clemens sprach: „Ich will.
Daß jeder meiner Sklaven seine Arbeit
Erhalte zugeteilt nach Wunsch und Neigung.
Nur was man gerne tut, das tut man recht.
Ein Mann am falschen Platz ist halb ein Mann;
Der beste Töpfer pfuscht im Gärtnerhandwerk."
Doch als er nun zu mustern kam sein Landgut,
Bemerkt er einen Sklaven, der, verhöhnt
Vom großen Haufen, ungeschickt und hilflos
Arbeitete am Weg, mit seines Hammers
Unsicherm Schlag verwundend seinen Finger.
Unwillig zu dem Major Domus wandte
Sich nun der Konsul und sein Auge forschte.
„Verzeiht," versetzte jener, „jeglich Handwerk
Vom Walker bis zum Weber hab ich schon
Mit ihm versucht. Zu keinem einzigen taugt er."
1*
124 T{Jn{L 7iEMCJ{ELL
jetzt ungeduldig von dem Stümper heischte
Cornelius Clemens: „Was denn warst du nur
In deiner Heimat von Beruf und Handwerk?"
Sein gramumwölktes Antlitz hob der Sklave
Mit finsterm Stolz empor: „Herr, nur ein König."
Da schwieg, von Mitleid übermannt, der Konsul,
Und sein Gedanke wog des Menschen Schicksal.
Dann gnädig zu den Dienern: , .Tötet den!"
Weder im Gegenwarts- noch im Zukunftsstaate möchte
ich für die echten Könige mit oder ohne Krone den milden
Konsul missen — es wäre zu grausam. . . Nun das viel-
leicht menschlich noch tiefere:
DER WUNSCH DES HERAKLES.
„Ich will dir einen Wunsch gestatten", sprach
Zu seinem Lieblingssohne Herakles
Der Fürst der Götter. Herakles begann:
,.lch wünsche mir ein unzugänglich Schloß
Auf steilem Berge; unten um den Berg
Dreifache Mauern; auf den Mauern Wächter
Und vor den Mauern einen tiefen Graben.
Nämlich mein Herz ist stolz und spröd und einsam;
Und vor Gemeinem fliehn ist meine Wollust.
Doch unterirdisch aus des Schlosses Keller
Soll ein geheimer, festgewölbter Gang
Führen ins Menschenland, damit des Abends,
Nach wackrer Tagesarbeit, sieben schöne
Erlesne Gäste teilen meine Mahlzeit.
Nämlich des Glückes Garten pflügt die Arbeit;
Doch edle Gäste schmücken ihn mit Blumen."
Die Lider schließend lauschte Jupiter.
Dann sprach er zu den Parzen: , .Stoßt mir diesen
In Nacht und Sklaverei! und schüttelt ihm
Auf seinen Weg ein wohlgerüttelt Maß
Lernäischen Geziefers: Vipern, Eber,
Stinkvögel, heilige Ochsen und Skorpionen!"
Photographie R. Ganz in Zürich.
cZ^ ^/-//^^
VOJ^ BBUTSCBBTi DJCHTUMG 12^
Und als nun finstern Grolls den falschen Vater
Verklagte Herakles im Rat der Götter,
,,Mein lieber Sohn", lächelte Jupiter,
..Halbgöttisch auf den Pharaonenschenkeln
Im Thron sich wiegen und die niedre Welt
Sich ferne halten, kann ein jeder Krönling.
Allein im Knechtsgewand in Augias' Stall,
Unter'm Gesind, verlacht, beschmutzt, mißachtet.
Dennoch die Heldenstirne hart und rein
Mit ungebeugtem Haupte hoch erheben —
Das können Andre nicht; drum spart ich's dir."
In Spittelers Dichtung drückt sich die Liebe für die reine
Herrschaft der Besten ebenso sehr aus, wie die für die
selbstbewußte Treue der Tüchtigen zum Ganzen.
Gedichte wie z.B. „Die beiden Züge" oder ,, Die jodeln-
den Schildwachen" sind für seine wahrhaft freiheitsadlige
Gesinnung ungemein bezeichnend. Ich kann weder sie
hier vorlesen noch das wunderbar ergreifende, von fein-
stem Blut überrieselte Poem echter Künstlertragik auf
dem Pferde- und Pfennigmarkt des Lebens, das den Titel
führt: „Die traurige Geschichte vom goldenen
Goldschmied". Ich hätte es den beiden andern als Drittes
im Bunde zu gern angeschlossen. Lesen Sie es selber nach!
So viel Liebe müssen Sie für die eigentlichen Schatzspen-
der unter den zeitgenössischen Dichtern schon übrig haben,
daß Sie ihre Bücher kaufen. Sonst halte ich Ihnen keinen
Vortrag mehr und sage Allerhöchst Seiner Majestät Publi-
kum mein freies Mittleramt auf. Hingegen ,, gestatte ich mir",
Ihnen zur andeutenden Beleuchtung einer andern Spitteler-
sphäre noch ein gottseliges Gedicht aus den „Balladen"
und ein herzinniges Stück aus den letzten „Glockenliedern"
zu lesen:
DAS GESCHENK.
Mir träumt', ich schlummert' unterm Weidenbusch
Am Bachesufer, auf der Himmelswiese.
126 \Jn{Z HEJ^CJ{ELL
Und mit dem "Wiasser kam ein schöner Mann
Im Boot dahergefahren. Längs der Fahrt
Bog er die Büsche auseinander, spähte
In das Versteck und reichte links und rechts
Geschenke, welche er dem Boot enthob.
Wie er vorbeizog, scholl ein Dankesschluchzen.
Und aus den Wellen sang's wie Orgelstimme:
„Kleingläubige Zweifler, habt ihr's nicht gespürt?
Ihr mußtet leiden, daß ihr lerntet wünschen,
Ihr mußtet wünschen, daß ich's euch gewähre.
Was jeder im verschwiegnen Seelengrund
Erschaut, die Träume, die dem eignen Herzen
Er nicht verriet, ich habe sie gebucht.
Nehmt hin, ich kenne jedes Menschenherz;
Nehmt hin, ich kenne jeder Seele Sehnsucht!"
Allmählich kam er auch zu mir. Neugierig
Schärft' ich den Blick, denn keines Wunsches war
Ich mir geständig. Da entstieg dem Nachen
Ein strahlend Frauenbild, vertraulich winkend,
Eilt auf mich zu und lachte mir ins Auge:
..Kleingläubiger Zweifler, hast Du's nicht gespürt?'
Dann nahm sie meine Hand und führte mich
Durch blumige Triften nach den blauen Bergen.
Viel Fenster lugten auf den Weg, dahinter
Gesichter, deren Grüße uns vermählten.
Wir aber zogen miteinander weiter
Und immer weiter über Berg und Tal,
Ohne Verdruß und ohne Müdigkeit,
Bis wir verschwanden in gottinniger Ferne.
Das goldherzige Glockenlied aber lautet:
EIN GRUSS.
Glöcklein, was bringt mir dein goldig Gesumm?
Ein Grüßlein von ferne? Hum,
Sie sind dünn gesät.
VOJ^ DEUTSCHETj BlCHTllJ^G I2J
Die einem ein Angedenken
Von selber schenken.
Gut, daß es in meiner Nähe besser steht.
Weißt du, wir drehen's um:
Ich hab da in meinem Herzgänsespiel
Noch zwei WeltvoU Liebe zu viel.
Weiß nicht, wohin damit.
Nicht links, nicht rechts auf Erden,
Wo nicht bestraft dafür zu werden.
Nimm, du das mit.
Sing mit landaus,
Sing um jedes Haus,
Guck durch jedes Fensterlein,
Guck in jedes Herz hinein.
Und wo du hörst, daß eine Seele spricht:
„Ach Gott, an mich denkt niemand nicht,"
Sag: „Doch!
"s ist jemand noch."
Und ertränk sie auf einen Guß
Mit meinem ganzen Liebesüberfluß.
Aber ums Himmelswillen, worum ich bitt:
Verrat meinen Namen nit!
Denn weißt.
Daß mich der Dank nicht beißt."
Auch in Spittelers Dichterseele wohnen über aller skep-
tisch-sarkastischen Philosophie Heldensinn, Kindlichkeit und
hohe Künstlerfreude. Denn:
„In jedem Werk der Kunst will Glück und Sonne sein"
und
„Den zwingt kein Schutt, wer tief und wüchsig ist."
Ich scheide von Spitteler mit dem frohlockenden Aus-
ruf der Gutsherrnkinder in dem Gedicht „Der Kirsch-
baum": „Wie groß, wie süß, wie viel!"
VOT^ DEUTSCTfETj DTCJiTUJ^G I2C)
possierlich keck, bald patriarchalisch würdevoll spielen zu
lassen. Ich wähle aufs Geratewohl aus ,, Frühling", er ist
von der ersten bis letzten Zeile aus einem Gusse rein.
Aus: FRÜHLING.
,, Meiner Einsamkeit entgegen — So lustig bin ich, so
still-fröhlich, so zutäppisch-liebevoll wie ein Kind. Mit
jedem Pulsschlag, jedem Beben meines Körpers, mit jeder
Bewegung liebkose ich die weit und lustig gebreitete Welt.
Und mich liebkosen die Käfer, die Blumen und Bäume, mit
Summen und Blüten und Laub, mit Farben und Düften
und hundert sanften Berührungen. Der leise, leise Wind
durch Blätter und Gezweig liebkost mich, kühle Schatten
und helle, warme Lichter, blaue Fernen und heitere Nähen,
ziehende Wolken und Wellen.
Zwischen einem Getreidefeld und dem Erlengebüsch eines
Grabens schlendr ich hin.
Hoch ragt es über mich hinauf, hinein in endlose, tiefe,
klare Bläue. Lichtglänzendes Laub und wogende wellende
Halme biegen sich zu mir her, vor mir, hinter mir, zu
beiden Seiten. Ganz, ganz versunken bin ich in jungem,
duftenden Grün; über und über voll gelben Samenstaubes
und feinen Blütengeriesels.
Kühles, wogendes, anschmiegendes Schmeicheln. Weite,
weite jubelnde Bläue. Mückenspiel vor mir her, und auf
blinkendem Gekräusel stille, weiße Blumen . . .
Der Länge nach lieg ich auf dem Rücken und lächele
mit halbgeschlossenen Augen in das tiefe, tiefe, blendende
Blau hinein.
Nah und fern hör ich eine Musik.
Durch das Gesumme der Bienen und Hummeln, durch
das Wispern der Gräser und Binsen, durch das heimliche,
verlorene Plätschern blinkenden Gekräuseis, aus den tausend
Stimmen der Vögel, zwischen den rauschenden Büschen.
Sie lebt in dem Gebrüll der Kühe, in den prächtigen
1^0 J(jniL HEJSC\BLL
Schwunglinien glänzender Pferdeleiber, wie sie grasen; in
dem Muskelspiele ihrer stolzen Formen, wie sie dort ge-
mächlich schreiten oder schnell, mutwillig hingaloppieren
durch das hohe, blumenüberragte Gras. Sie flirrt und
flimmert und wellt in zierlichen Schwingungen durch die
blauen Lüfte, wogt und schwirrt und schwingt wie mit
feinen Metallsaiten in dem Spiel der Insekten.
In unendlichen Farben, Formen. Tönen ein einziges Lied,
ein einziger, einender Rhythmus, ein gewaltiger Einklang.
Jauchzt, jubelt, flötet, klagt, singt, braust.
Kommt aus lichtdämmernden, gleißenden Weiten, wird
offenbar, süß-schaurig, freundlich in den Nähen, verklingt
in den Fernen. Und ich: hingenommen in ihn, sein "Wieder-
klang, ganz, ganz sein Wiederklang für eine Minute der
Verlorenheit.
Suchen, Haben und Verlieren, und wieder Suchen, Hal-
ten und Verlieren. Immer wieder, und wieder, und immer
von neuem.
Das ist das Leben. Das ist alles Schicksal, und aus diesem
einem werden alle Leiden und Lieder . . .
Eine Musik hör ich, nah und fern. Einen einzigen
millionenstimmigen Akkord: das ist das Lied der Kraft.
Das ist die Kraft.
Wer versteht es? Wer kann es wiedertönen lassen aus
einer reinen unverzagten Seele?
Ich will nichts als liegen und lauschen und immer lauschen,
und lauschen und stammeln wie ein Kind, hingegeben in
Ehrfurcht, in Lust und Jubel, in Schreck und Furcht und
Grauen, und mit kindlichem Vertrauen wiederkehren und
immer, immer wiederkehren . . .
Sonne! Sonne! Sonne!
Meine Blicke haften in dem weiten Blau, mit Sehn-
sucht, mit Sehnsucht ... — Und nun — nun bin ich ein
goldlichtes Wesen. Breites Silbergefieder sprießt aus meinen
7^ 07V DEUTSCTiETi BJCNTUJ^G I^I
schimmernden Schultern und heißes, goldenes Sonnenblut
braust durch meine Adern, und ich rausche empor, empor,
empor . . .
Mein Kopf liegt an deiner Brust.
Und du, goldig, licht, jung, beugst dich über mich.
Mit deiner linden Hand träufelst du mir Heliotrop auf
die Stirn. Ich atme den süßen Duft und deinen Atem,
der süßer ist als er.
Mein Gesicht fühlt deinen Herzschlag, deinen ruhigen,
ruhigen Herzschlag.
Und Auge in Auge, tiefer immer, versinkender.
Leise, leise du hernieder zu mir, und leise, leise ich
hinauf zu dir.
Du lächelst, biegst den Kopf hintüber, und deine Hände
drücken sich schwach gegen meine Brust mit schelmischem
Drängen.
Und nun: Lippe an Lippe. Lange . . . Zwischen halb-
geschlossenen Lidern dunkelt dein Blick. Und nichts ist
als sein Glanz und eine süße Wärme von dir zu mir . . .
Frieden. Und aus ihm Kraft, Gedanken, Entschlüsse,
lichter immer und lichter, kühner und kühner, und Er-
kenntnisse . . .
Ein Jubel ist in m.ir, ein ungeduldiger Jubel; der hinauf
will, hinauf, bis in den siebenten Himmel hinauf . . ."
In diesem schlankweg bezaubernden und berauschenden
Werklein ist Johannes Schlaf der neue Idylliker, der von
Naturrausch und Allempfinden gleichsam seiner individuellen
Beschränkung entrückt, sich in die allerverschiedensten For-
men des Daseins verwandelt und diese Wandlungsformen
aufsaugend darstellt. Dazu ein Lauschen auf das Lispeln
und Raunen der Ewigkeit, ein vergessendes, hinwegfüh-
rendes Gleiten über das große Leid des Lebens . . . Tiefe
Naturmystik mit besonderer Neigung zum künstlerischen
Filigran. Auch in seinen Versen ist er im Grunde stets
dasselbe sumsende, honigsammelnde Weltbienchen und, wenn
1^2 JiAT{L JiEJ^C7{ELL
er ganz sich in der ihm wesenseigenen Rhythmik und
Sprache bewegt, eine fröhlich drauflosschaffende Natur. Er
hätte es nicht nötig, sich von andern Dichtern, und wäre
es auch von dem großen amerikanischen Original Wah Whit-
man, tyrannisieren zu lassen, was ich nicht mag, so sehr ich
Whitman selbst in seiner oft meergewaltig hinrollenden Art
bewundere. . . . Hören Sie indessen noch einen urechten
Johannes Schlaf-Juchzer aus „Helldunkel" und ein kleines
Gedicht aus dem jüngsten Band ,, Sommerlied", in dem
mich sonst die vielfach fremde Stilsuggestion und kritik-
lose Aufnahme bloßer gereimter und ungereimter Schrullen
stört. Übrigens — ich will ja hier nicht kritisieren —
das ist anderswo besser am Platz.
URGERMANISCH.
Lacht und singt der Sonnenheld,
Einsam, eine einsame Stimme,
Durch die dunkle Urnachtwelt,
Knabe, der über den Friedhof pfeift . . .
Aber ist niemand so allein:
Harrt des Mannes
Die Jungfrau auf dem Drachenstein.
Schmeißt der Held den Drachen vom Stein in den "Wiald;
Lacht das Fräulein, daß der Himmel schallt.
Lachen die erlösten Wunder der Nacht . . .
Lenz! Tag! —
Johannes Schlaf kann aber auch recht kräftig werden,
und im grollenden Wetterzorne über all den kleinlichen
Zank und Kram des Tages dahinfahren:
SCHWÜLE.
Harre aus!
Dumpf lastet die Schwüle des reifen Tages.
Kühlte ein Lüftchen!
Gäb's eine Rast!
Rüste dich! —
VOJ^ DEUTSCHEJ{ DJCHTUJ^G I^^
Durch Gluten und Staubgewoge
Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!
Eine schwere Last ist die Welt;
Haften, Zwang und drückende Gebundenheit.
Oder, endloser Kleinkrieg mit tausend Geschmeiß!
Die Kleinen toll geworden von der Sonne,
Die gütig über Gerecht und Ungerecht, Schlecht
und Edel scheint.
Wollen Raum für ihren Übermut.
Fliegen, Mücken, Bremsen,
Tausenderlei Wegungeziefer.
Täglicher Kleinkrieg,
Schmählichster von allen,
Der die Stärksten mürbe macht. —
Doch schon naht die Kraft.
Murrend grollt sie auf in schwarzen Hochwäldern,
Unmutig dunkeln ihre Riesenbrauen
Über das bedrückte Gelände.
Heil! Ein wirbelndes Brausen
Frisch über die stöhnenden Breiten!
Heil ! Schon schmettert die flammende Kraft
Ihres erlösten Zornes!
Ihre Riesenstimme jauchzt!
Erlösung!
Ich habe das bestimmte Gefühl, als hätten sich die mo-
dischen Ziseleure und geschickten lyrischen Drapierkünstler
des Tages \on dem tiefen, feinzitternden, doch zäh-festen
Dichter des „Frühlings", der jetzt allem polemischen Wirr-
sal und Unrat entrückt in Weimar rüstig Werk an Werk
reiht, noch der schönsten Überraschungen zu versehen.
Denn eine große Kraft gibt
„Dies Wort, dieser Besitz und dies Lachen;
„Alles ist eins!"
und dieses nicht minder:
1^4 JiJn{L T1EJMCJ(ELL
,,Ja, ja, ich weiß: einer neuen Sonne Strahl
Leuchtet über einem Land von Toren.
Wer hindurchkommt, geschoren-ungeschoren,
Ist neu geboren;
Der ist gekommen
Von den Neunmalklugen zu den Freien und Fröhlich-
Amen und Ja!" . [Frommen.
Nur sich nicht irre machen lassen — das ist das Ge-
heimnis und Amulet des Starken, das auch Johannes Schlaf
sein eigen nennen möge!
Ein wahrhaft Lebendiger, der unbeirrt von allem blasen-
treibenden Literaturgeschäume, wie es ja in der Reichs-
hauptstadt alle paar Monate anders „oben auf ist" und
mit der Saison kommt und schwindet, ein Lebendiger, sage
ich, der unbeirrt lange Jahre hindurch den stolzen, schweren,
oft müde machenden Gang seiner innersten Begabung zu-
rückgelegt hat, um schließlich zu dauerndem Sieg und
Segen, zur rechten Ernte des schaffenden Lebens zu ge-
langen, ist der wetterharte und doch so gemütsweiche
Schwabe Cäsar Fl ai schien. Er ist ein wahrer dich-
terischer Oasenmensch innerhalb der Berliner Literaten-
literatur, darin es natürlich von spuckenden Lamas und ge-
fleckt langhalsigen Giraffen wimmelt, während Löwen und
Adler entschieden ziemlich dünn gesät sind. Vielleicht ist
das ja überall so, ich möchte Berlin nicht unrecht tun. Es
hat auch seine heiligen Kreuzberge des Genies und einen
ganzen Tiergarten von poetischen und proteischen Talenten
in jeder Farbe, Größe und Preislage, einzeln und pro
Dutzend notiert. Cäsar Flaischlen ist aber mehr als nur
ein, wenn auch besonderes dichterisches Talent, er ist eine
dichterische Persönlichkeit von gediegenem Gehalt und
Lebenswert. Diese Verbindung von eigengearteter Dichter-
schaft und einem hohen Menschentum, das kämpfend sei-
nen reinsten Jugendzielen, der angeborenen Idealität seines
Wesens die Treue hält, durch alle Fährnisse und Sirenen-
VOJ^ DEUTSCTiEJi DlCTiTUJyJG /^5
lockungen des heutigen literarischen Lebens hindurch, ge-
hört in der Tat zu den Ausnahmeerscheinungen und ver-
leiht den Schöpfungen eines solchen Mannes ein Schwer-
gewicht, wie es weit verblüffenderen, blendenden Begabungen
trotz alles Aufsehens, das sie erregen, in letzter Linie versagt
bleibt. Cäsar Flaischlen hat gerade das, was ich bei man-
chem glänzenden Könner und poetischen Virtuosen unserer
Tage so schmerzlich vermisse: Mark und Kern der Seele.
Er gleicht einem knorrigen Baumstamm, der jeden Früh-
ling seine eigenen Blätter wieder hervortreibt, sie grünen,
welken und abfallen läßt, der von Wind und Wetter ganz
gehörig durchgeschüttelt ist, so daß er manchen Tag schon
müde die Krone neigte und die Zweige bedenklich nieder-
senkte, der sich aber stets von neuem trutzig emporrichtet
und dauernd Ring um Ring ansetzt. Ein derartiger Dichter-
stamm wächst nicht nur in die eigenen Wurzeln und Wipfel,
er wächst auch allmählich den wahren Lebenswanderern
schattenspendend ins Herz hinein. Und ein Vöglein sitzt
zur Sommer- und Winterszeit, mag's auch donnern, hageln
und schneien, an- der Spitze des obersten Astes, das
singt in abwechselnd wiederkehrenden Weisen von „Auch
Einem", der sich die Sonne nicht verhängen lassen wollte
\on den Millionen Nebelwichtlein des Alltags, die Sonne
des Seins in Schönheit und Wahrheit. Singt mit weh-
mütigem Laut von Einem, in dessen Brust sich ein langer,
quälender, geräuschloser Kampf auskämpfte zwischen dem
selten zarten Lichtseelchen des Künstlers und den staub-
grauen Götzen der Gewöhnlichkeit. Und singt am frohsten,
wenn sich das feine Lichtseelchen sorgenledig und gelassen
auf den blühenden Rosen des gewonnenen Lebens wiegt...
Erquicken Sie sich mit mir zuerst an einigen ,, Gedichten
in Prosa", in denen Flaischlen seine künstlerisch gewähl-
testen Wirkungen erzielt:
IM KAHN.
Schaukelt weiter mich, ihr Wellen! . . schaukelt weiter mich,
ihr Winde . . durch die wunderbare Ruhe dieser lichten
7^6
\jn{L BBJ^C\ELL
Einsamkeit . . leise, leise wiegt mich weiter
in die Ferne
zu den stillen, weißen Wolken, die den Horizont um-
klimmen . .
Tragt mich fort, wohin ihr wollt!
Immer mehr versinkt die Küste mit dem Strand und mit
den Bergen . .
Alles wird zu blauem Glanz . .
Selig lieg' ich auf dem Rücken, horche auf die Ammen-
lieder, die mir "Wind und Wellen singen . . falte langsam
meine Hände . . schließe lächelnd meine Augen und ver-
träume in den Himmel,
wie ein Kind in stiller Wiege . .
Meine Mutter ist die Sonne —
meine Mutter ist die Sonne
und ich weiß, sie hat mich lieb!
Nach dem Meerlied das schlichte Waldidyll:
SONNENTAGE.
Einzig schöne Tage,
Sonnentage der Seele . .
da sie stille liegt in wunschlosem Traum, wie der Mär-
chensee hoch oben in stiller Schwarz waldberge grüner
Einsamkeit!
Keine Welle kräuselt seinen klaren Spiegel . . nur wenn
eine weiße Wasserrose in froher Sonnensehnsucht sich aus
seiner Tiefe hebt
oder wenn ein kleiner Vogel, ein Liedchen zwitschernd,
über ihn streift, mit leichtem Flügel
oder
ein braunes Reh aus den Tannen tritt, an ihm zu trinken.
Dann das sonnensatte Bild der Mühle im Abendrot:
(QjT[mH^.
VOT^ DBUTSCBEJi DICIiTUMG l^J
DIE MÜHLE.
Steigende Abendwolken . . blei-grau-blau-schwer . . wie
ferne Alpen sich auftürmend . .
die sinkende Sonne dahinter, die Ränder mit blendendem
Gold umkantend . .
auf der Hügelhöhe mitten im glühenden Feuer des Abend-
rots eine Mühle, langsam die Flügel drehend,
als schaufle sie der Sonne rinnend Gold in ihre Tenne.
Aus den Versgedichten, die vielfach kräftige, aufrichtige
Abrechnungen mit sich und der Welt und Selbstermuti-
gungen (nur hier und da in etwas trockenem Ton) enthalten,
das kleine charakteristische Lied
JENSEITS DER STRASSE.
Es ist nur Schein und ist nur Phrase,
Drauf dünkelstolz der Alltag stelzt . . .
Das Beste liegt jenseits der Straße,
Da sich der große Haufe wälzt.
Jung und mit Leichtsinn nur zu finden,
Jenseits der Straße, ein Versteck,
in quelldurchrauschten Rosengründen
Und üppig wildem Dorngeheck.
Und zuguterletzt aus den schwäbischen Dialektgedichten
„Vom Haselnußroi'" noch das schalkhafte
WIE S ALS GÖHT
1 han koi Rueh meh
Ond fend koin Friede,
Seit i di küßt han
Ond „du" zue d'r gsagt;
1 ka nemme schlöfe-n,
Ond ka nemme schaffe,
S isch grad als wann me
Sonst woiß was hätt packt —
BTiJlTiBES : DJE U TEJiJiTliJi. BJiJ^D XXX VII i XXXVIII j^
1^8
J(JIJ{L HEJ\}CJ(ELL
Des oi no jetzt bitt e:
Mach gscheidt me wieder.
Mach me vernönftig,
Ond löß den Danz.
Gib m'r de-n Abschied
Ond löß me laufe!
Oder, Schatz, gib de —
Gib de m'r ganz!
Ja, es gibt auch heute noch, wie Cäsar Flaischlen be-
weist, Dichtergeister, die als Mensch und Künstler eine
unlösliche Einheit bilden, und die den vornehmen, beharr-
lichen Mut haben, ihr Publikum zu sich emporzuziehn, um
es in seinem besten Bestand dann nicht wieder zu verlieren.
Zu diesen verläßlichen Trägern wahrhaftigen dichte-
rischen Lebens gehört auch ein tiefer, norddeutscher
Naturpoet, aus dessen aufsteigenden Schöpfungen ein
im ewigen Grunde des Lebens verankertes Menschentum und
in stets harmonischerer Verbindung eine mit Gras, Baum,
Wolke, Lerche wirklich verschwisterte Naturseele atmet
und lauscht. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel,
daß Dichter von solchem naturgegebenen Dauergepräge
und von solchem menschlichen Selbsterhöhungsdrange ihre
Fühler in fernere Zukunft ausstrecken als sämtliche irrlichte-
rierende Schaumschläger und Formfexe, die eine Weile
und für viele Leute die seltensten Meteore der zeitge-
nössischen Poesie bedeuten. Es soll Sterne geben, die
von der günstigen Schaufensterbeleuchtung ihren haupt-
sächlichen, wenn nicht gar ihren ganzen Glanz beziehen.
Bruno Wille ist ein stiller und echter Stern am Himmel
deutscher Dichtung und bleibt, in immer reinerem Lichte
zitternd, ruhig und friedlich über dem Feuerwerkstrubel,
der unten sein lustiges PiffpafFpuff macht, stehen. Dem
wirren, oft sentimentalen Tappen und Tasten seiner lyri-
schen Jugendperiode längst entrückt, hat er sich das nur
ihm eigene Reich künstlerischer Naturbeherrschung und
VOM DEUTSCTiEJi DJCJiTlißJG I^C)
überlegener Selbstschau zu sicherem Besitz erobert. Mit
seiner menschlichen Entwicklung vom hin- und herschwan-
kenden „Einsiedler" und ,, Genossen" zum freien Menschen,
der den weltflüchtigen Klausner wie den allzu begeisterten
Massenfreund in ihrer Einseitigkeit überwunden und zum
lebensstarken Charakter gehärtet hat, mit dieser mensch-
lichen Entwickelung ging diejenige vom dunkel verschwom-
menen und verstiegenen Überschwang zum treffenden und
doch neuen dichterischen Ausdruck Hand in Hand. So ist es
jetzt ein wahrer Genuß, dem außerordentlich feinen Auge des
Poeten vom Gewölk des Himmels oder Spiegel des Sees
bis zum zartesten Fläumchen kleiner Knospen zu folgen,
und ein frisches seelisches Quellengefühl überkommt einen,
wenn man sein weitblättriges Wesen im Gedicht sich zu
sternenhafter Blütenschönheit entfalten sieht. Ich kann
leider nur weniges mitteilen — wer künstlerische Men-
schen unter den heutigen Dichtern sucht, wird auch ihre
Bücher zu finden wissen.
ABENDDÄMMERUNG.
Säulengleich an des Hügels Saum
Träumt ein düstrer Wiachholderbaum.
Drunten umflort sich die Kiefernhaide
Nächtlich schon mit dem Dämmerkleide.
Droben der Himmel leuchtet noch matt.
Grünlich blau wie ein See und glatt.
Keusch wie Wasserrosenschnee
Blüht ein Funkelstern im See.
Sturmgewölke kommen geflogen.
Finster hüllend den Himmelsbogen . . .
Säulengleich in Sturm und Dunkel
Träumt der Wacholder vom Sterngefunkel.
IAO J{J17{L uejmcj^ell
Das nächste Gedicht, in dem der ganze, tiefste "Wille
steckt, gebe ich mit dem zugehörigen Motto des Mysti-
kers, oder einfach deutsch gesprochen, des geweihten
Natursinnierers Jacob Boehme:
BLUTBRUDERSCHAFT.
Was aber da für ein Triumphieren im Geiste gewesen,
kam ich ni:ht schreiben oder reden; es läßt sich auch
mit nichts vergleichen, als nur mit dem, wo mitten im
Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich mit
der Auferstehung der Toten. In diesem Licht hat mein
Geist alsbald durch alles gesehn und an allen Krea-
turen, selbst an Kraut und Gras, Gott erkannt, wer er
sei, wie er sei und was sein Wille ist.
Jacob Boehme.
Hier bei der Eichengruppe war's.
Der greisen Bäume knorrige Reckenglieder
Umsproß das bronzegelbe Frühlingslaub
"Wie Kinderlocken zart.
Die schwarze Drossel schlüpfte durch die Aste.
Dem Liebchen flötend und ihr Nestlein planend.
Ein holdes "Wunder, sprang aus violettem
Schlehdorn der mandelduftige Blütenschnee.
Und weich wie Mädchenkosen schmiegte sich
Der Rasen, mit Ranunkelgold verbrämt,
Um Torfmoor, dürres Schilf und Sumpfgelände.
Dort, wo noch jüngst des Todes Schauer hausten,
Erscholl der Fröschlein breites Lenzbehagen.
Und sieh! gespreizten Fittigs, lüstern nahte
Der erste Storch.
"Vom Horizonte hob sich ein Gebirg
"Von "Wetterdunst, im veilchendunklen Schoß
Ein Tropfenmeer bereitend.
Und wie ein Jauchzen brach die Abendsonne
Hervor, purpuren das Gewölk benetzend.
Und schaute einmal noch mit Feuerblick
Tief ihren Frühling an . . .
Da war's, da rührte mich der selige Tod:
VOJ^ DEyTSCTiE7{ DJCTITUNG I41
Aus diesen Adern blutete die Seele
Und rann erschauernd
Durch Eichen, Wolke, Wiese, Sumpf und Sonne.
Aus diesen Adern blutete die Seele,
Blutbrüderschaft zu schließen mit dem All . . .
Und alles war nun mein — und ich war sein.
Heimlich gehegt, ein süßer Herzensschatz.
Und nach diesem säfteschwangern Gedicht neureligiöser
Naturvermählung noch das köstlich liebesinnige:
HERBSTFÄDEN
In Fieberröte träumt der Baum
Den letzten goldnen Sonnentraum.
Der blaue Himmel lächelt
Wie sanftes Leid.
Horch, seltsam schnarrende Weisen!
Die Wandergänse reisen.
Zum Keil gereiht.
Am Webestuhl die Spinne lauscht.
Wie droben das Geschwader rauscht.
Ihr wird so fernesüchtig,
So bang zu Sinn.
,,0 hätt ich schwirrende Flügel!
Weit über blaue Hügel
Flog ich dahin."
Und wie sie grübelt, wird ihr klar
Ein Flugmaschinchen wunderbar.
,,Mein Werk soll mich erlösen 1
Drum frisch gewebt.
Bis ob der braunen Haide
Ein Segel aus weißer Seide
Im Lufthauch schwebt!"
Da segelt hin das kleine Ding.
Wie Faust am Zaubermantel hing.
1^2 J{jn{L TiEJ^CJ{ELL
„So fand mein Spintisieren
Nun doch den Pfad!
A-lich trägt, v/as ich gesponnen.
Zu Gärten neuer Wonnen.
Heil meiner Tat!"
Daß Bruno "Wille die märkische Landschaft so recht
eigentlich für die deutsche Lyrik gewonnen hat, — selbst
bei Theodor Fontane finden sich doch nur einige und da-
zu mehr dörflich-genrehafte Ansätze — bleibt sein beson-
deres dichterisches Verdienst. In des heiligen römischen
Reiches ,, Streusandbüchse" müssen heimliche Quellen der
Poesie gerieselt haben, die jetzt hei-vorbrechen und die
feuchten W^iesen mit Blütenwundern bedecken.
Es ist doch wirklich heute eine Lust zu leben, zu schaffen
und sich weidlich an dem zu laben, was in bunter,
' strotzender Fülle von trefflichen Kunstgenossen rings
im Lande hervorgebracht wird. Das müßte ein blinder, arm-
seliger Geselle sein, der nicht sähe und jubelte, wie das
deutsche Lied und Gedicht der Gegenwart mehr wie je in
üppigem, leuchtendem Flor steht. Ob einem nun diese oder
jene Blüte, dieser oder jener Busch mal nicht so über die
Maßen gefällt, ob man sich diesen oder jenen Strauch an-
ders gewachsen wünscht, als er nun vielleicht auseinander-
gegangen ist, oder ob man auch mitunter zum eigenen Ver-
druß an lieben gesunden Stämmen schwächliche Sprossen
und gefährliche "Wucherungen entdeckt, deren Kräftigung
und Ausheilung man der guten Natur des betreffenden
"Wuchses überlassen muß — was verschlägt das denn,
sage ich, gegenüber dem gar nicht umzubringenden, immer
von neuem bestätigten Gefühl eines reichen, herrlichen
Liedersommers, den wir in diesen Jahrzehnten, von allen
Seiten beschenkt, durchschreiten? Nähern wir uns z. B.
jetzt dem ausgedehnten Lyrikgarten, wie ihn sich Otto
Julius Bierbaum im Laufe der Jahre angelegt und ge-
züchtet hat — wie gar manche schöne und tauperlendc
VOl^ DEUTSCTIE7{ DJCHTUJ^G 14^
Liederrose winkt uns im lachenden Sonnenschein voll er-
blüht und glückstrahlend zu! Und wenn zwischenhinein,
zu nah daran, die Malven und künstlichen Tulipanen etwas
zu dicke tun, so daß man vermeint, sie möchten den ed-
leren Rosen schaden — je nun, es ist auch in Bierbaums
Garten noch nicht aller Tage Abend, und der in frisch-
fröhlicher Kraft seines Berufes waltende dichterische Garten-
künstler wird schon selber schauen, was dauernder Pflege
verlohnt, was nicht.
Otto Julius Bierbaum hat, wie Sie alle wissen, zuerst ein
entzückend loses, verliebtes Lachen in den heiligen Dichter-
hain gejuchzt und gejodelt; sofort kommen Ihnen die kecken
und flotten Jeannetten- und Josephinenverse auf die Lippen:
„W^as ist mein Schatz? — Eine Plättmamsell.
Wo wohnt sie? — Unten am Gries.
"Wo die Isar rauscht, wo die Brücke steht.
Wo die Wiese \on flatternden Hemden weht.
Da liegt mein Paradies."
oder das famose mit den Frühlingsfregatten, dem schwarzen
Würdebär von Leibrock:
„Der Himmel ist blau, das Wetter ist schön,
Madame, v/ir wollen spazieren gehn!"
Wir sangen als kleine Schüler das gleiche mit: „Herr
Lehrer, wir wollen spazieren gehn", wenn wir frei haben
wollten. Mit Madame gehts aber entschieden schöner. Oder
das an Knappheit nichts zu wünschen übrig lassende:
Bauernmädel rundes,
Bauernmädel gesundes,
Bauernmädel schenkelstramm
Haut die ganze Welt zusamm.
Juhu!
Item, das war der kreuzfidele burschikose lyrische Kose-
bursch Bierbaum, der uns solche Flattersträuße klingen-
den Übermutes zuwarf. Kling klang glorial Dann kamen
I44 \Jn{L T{EMCJ{ELL
die zarter schwebenden, feiner duftenden Gedichte, wie
, .Traum durch die Dämmerung", ,,Freundh*che Vision", das
schlichte, claudiushafte „Abendlied", oder das durch und
durch Bierbaumsche, liebeskavalleristische ,,Sitz im Sattel,
reite, reite auf die Freite" — Lieder, die Ihnen samt und
sonders aus dem Buch oder Konzertsaal vertraut sind. Und
es kamen all seine Panmelodieen und Flötentöne von düfte-
schweren Roseninseln und weißen Marmorsäulen, all diese
Lieder heißer sommerlicher Schönheitssehnsucht und para-
diesischer Evaslust. Dazu merkwürdige Stimmen tieferen,
aufrichtigen Eigenlebens wie die schönen Gedichte: „Me-
tamorphosen" oder ,. Alexandriner". Und zwischenhinein
jene wie Erdbeeren frisch von der Staude gepflückten Verse
eines munteren natürlichen Lebenssinnes, der sich nichts
Gutes und Schönes entgehen läßt, wie das
FÜR BEERENSUCHER.
Gingen zwei in einen Beeren wald;
Fand der Eine süße Beeren bald;
Hat sich fleißig gebückt
Und emsig gepflückt;
Tat nichts als essen.
Der Andre indessen
Trug immer die Nase gen Himmel gericht.
Sah den lieben Herrgott oder macht ein Gedicht,
Aber die süßen Beeren, die sah er nicht.
Tun mir leid alle Beide.
Ich liebe die Beeren- und Himmelsweide.
Ich hätte mir Beeren gesucht im Kraut
Und essend zum blauen Himmel geschaut.
Mir hätte keins das andre geniert.
Hätte Himmel und Beeren in eins skandiert.
Später tritt nach einschneidenden Erlebnissen ein ganz
anderer Ton und Stil hervor, der einen neuen, an Lebens-
gehalt und Wesensschwere bedeutend gewachsenen Bier-
OTTO JULIUS BIERBAUM.
VOM DEUTSC7iE7{ DJCHTUJ^G l^^
bäum zeigt. Aus dieser Sphäre möchte ich Ihnen etwas
lesen. Das meisterliche, hochinteressante Beichtgedicht
„Bilanz" darf es leider nicht sein, es wäre hier zu lang,
ich beschränke mich auf ein Stück aus der ,, Sentimentalen
Reise":
„Nun ist viel tot in mir. Ich weiß nun, jene Qual,
Die mich ins Fremde trieb und immer rückwärts doch
Den Blick der Sehnsucht wajidte, war nicht mehr
Als einer Krankheit letzter Überfall.
Sieh, auf dem Schnee hier steht ein Sarg, — hinein
Die leere Puppe jenes faulen Grams!
Lemuren, kommt und schaufelt mir ein Grab
Für diese böse Puppe, — Schnee, Schnee, Schnee
Darauf und schwere Blöcke Eis. Macht schnell I
Tief, tief das Grab, in Eis und Schnee tief, tief!
Ich will nicht wissen, wo der Popanz liegt.
Ah, daß ich frei bin! "Wintersonne, sieh.
Hier steh ich fröhlich zwischen Eis und Schnee,
Und niemals wüßt ich mehr, was Frühling ist.
Ich war ins Grau, ins Neblige verrannt.
Ich hing am Gram wie in der Spinne Netz
Die arme Fliege, und schon fuhr auf mich
Die große Spinne los, die alles frißt.
Da sprach was über meinem Leben wacht:
Noch nicht, noch nicht! Und wie ein Märchen war's:
]ch stand verwandelt und erlöst und frei
Im allerschönsten Schlosse von Kristall.
Oh schöner "Winter, kalr und sonnenklar,
Dein Frost hat mich gesund gemacht und hart.
Mir ist, als ruhte jetzt in meiner Hand
Ein wohlgehämmert Schwert. Und ich bin stark,
Mir alle "Wege frei damit zu haun.
In Niederungen geh ich nun nicht mehr.
Und zum Schlüsse die schönen "Widmungsstrophen weich
wie Flötenton:
1^6
J{jn{L TlEJSJCT^LL
NACHTS AN DIE NACHTIGALL.
(Herrn Hugo von Hofmannsthal zugeeignet.)
Oh du Nachtigall mit süßem Sang,
Liebesruferin in dunkler Nacht,
Kleine Brust, \on Seligkeiten bang,
Seele, die in Sehnsucht schluchzt und lacht,
Flöterin aus dunkeltiefem Grund,
"Warum macht dein Lied das Herz mir schwer?
Ach, ich fühl's, noch immer ist es wund.
Dieses Herz, und duldet viel zu sehr.
Schlägt noch nicht im eigenen Genuß,
Liegt noch immer in der Sklaverei,
Daß es allem Leide frohnden muß.
Bebend lauschen jedem Weheschrei.
Wär's wie du und fühlte nur die Lust
Und die Schönheit dieses Lebensdrangs,
Seiner Sehnsucht stürmisch nur bewußt
Und der Fülle eigenen Gesangs,
"War's wie du oh süße Nachtigall,
Glücklich war dies Herz, und all sein Schlag
"Wäre wie Gebet und Glockenschall
Zu der Sonne und dem lichten Tag.
Bierbaum hatte mit seinem ,, Irrgarten der Liebe", der für
billiges Geld eine Unmenge "Vei-se bot, einen Erfolg, wie
er gerade heute einem Lyriker, der überhaupt was kann, wohl
zu gönnen ist. Mag der Erfolg auch in erster Linie dem
zeitgemäßen Brettl genre, den flotten Rampenschlagern ge-
golten haben — Bierbaum selbst wird heute der letzte sein,
dies selbst nicht richtig einzuschätzen, und man braucht
ihm deshalb keine gutgemeinten Lehren zu verabreichen. —
"Was ich dem Dichter des „Irrgartens" wünsche, das ist bei
seiner ungemein stilsuggestiblen, für charakteristische Form
Anderer aufsaugend empfänglichen Natur die gesteigerte
VOJ^ DEUTSCNETj DJC7iTU?JG I47
Selbstkontrolle seiner eigenen di cht ei-i sehen "Wesensäuße-
rungen. "Wer irgend ein Leben zu dichten hat, braucht
nicht Literatur zu dichten. Ein frisches, leicht-lebendiges
Talent wie Otto Julius Bierbaum sollte nie nötig haben,
zur bequemen Krücke des Eklektizismus zu greifen.
Es hat zu allen Zeiten meist von der Nachwelt rasch ver-
gessene Dichter gegeben, die einen Zug \on. Schieß-
budenschönheit aufwiesen und zeit ihrer kurzen Gloria
auf allen Märkten mit ihren kecken Tiroler Jägerhütchen
dem Publikum zufederten: ,, Kommt her zu mir alle, die ihr
schießlustig und lockere "Vögel seid!" "Wenn auch nur
Sauertöpfe solchen Trallera piff-paff-puff-beautes gram sein
können, so sind sie eben weil sie nach Jedermanns Ge-
schmack sein möchten, just nicht Jedermanns Geschmack.
Die Linie der Baumbache stirbt nicht aus. Aber Sympa-
thien sind unterschiedlich.
Ein Dichter, der jedem literarischen Jahrmarktstrubel
fern steht und durch die seltene Großzügigkeit seines
Dichtertums vor dem flüchtigen Renomme bloßer ,, Be-
liebtheit", aber auch vor dem allzuraschen "Verrinnen des
Ruhms dauernd geschützt bleibt, ist unser kühner, phan-
tasiemächtiger John Henry Mackay. Ich streifte vor-
hin gelegentlich den zoolyrischen Garten der Reichshaupt-
stadt. Nun, der seit Jahren in Berlin lebende deutsche
Dichter mit dem schottischen Namen gehört — ich spreche
von seiner künstlerischen Ausnahmenatur — jedenfalls zu
den einsam schweifenden "Wüstenkönigen des Berliner
Straßenpflasters. Und ich denke dabei nicht einmal zu-
erst an das dumpf grollende Brüllen seiner 1887 in Zürich
erschienenen ,,Sturm"gesänge, die allerdings auch — trotz
ihrer oft lehrhaften Rhetorik — den durch seine ganze
"Wesensgewalt hoch über sämtlichen lyrischen Ästhetiklern
stehenden dichterischen Lucifergeist ihres Schöpfers ver-
rieten, und in denen Mackay mit zuweilen ja recht ab-
strakten, aber dann auch wieder hinreißenden "Versen den
148
\J{T{L JiEJ^CJ^ELL
Einzelnen die Fackel voranträgt, voranträgt im Kampfe jenes
Freiheitswillens, der die Fesseln tausendjähriger Vorurteile
und >X^ahntyranneien abzustreifen sucht. Besonders in dem
Cyklus ,. Am Ausgange des Jahrhunderts" ziehen die fahlen,
drohenden Schatten einer dem Untergange geweihten Welt,
von starker dichterischer Stimmungskraft heraufbeschwo-
ren, in langhinwallenden Verszügen der Seele vorüber. Bei
ganzen Abschnitten steigt uns heute das Schreckensbild der
russischen Revolution empor, und wir denken daran, daß
den Alten Dichter und Seher nur Eines war: Vates!
,,Es ist ein Geruch in den Lüften, wie aus Toten-
welten herauf,
Sie kennen die Stunde nicht mehr, den Sternen- und
Sonnenlauf —
Sie sehen nur ringsum gehäuft mit stieren Blicken
die Leichen.
Und sie stehen und warten auf Etwas, das dennoch
nicht kommen will.
Und langsam kriecht über die Erde ein Schweigen,
furchtbar und still,
Und sie fühlen sich langsam hinab in die Tiefe
des Todes weichen —
Und die Erde liegt schweigend und leer, bis
Bis jede Hand verdon-te, die Andrer Arbeit stahl;
Bis jede Lust verstummte, gezeugt aus Andrer Qual;
Bis jedes Schwert verrostet; bis jeder Schild zersprang!
Bis jede Stadt gefallen, wo Schmach und Weh gewohnt.
Bis sich entleert die Hallen, wo Schmach und Lust gethront;
Bis in der Mittaghöhe dasteht der neue Tag!" usw.
Nein, wenn ich mir Mackays dichterische Gestalt in ihrer
eigentlichen Grundanlage vergegenwärtige, so sehe ich
vor allem eine Fülle \on Dichtungen, die zu ermessen kein
Lot irgend einer Zeittendenz oder begrenzten Weltanschau-
Photographie ,,Elvira" in München.
^r 0u.^_ ^^
VOJ^ DEUTSCT{E7{ DICHTUJMG I4C}
ung, mag sie noch so kühn und beziehungsweise frei sein,
ausreicht. Ich sehe die Gedichte vor mir, welche aus dem
geheimnisvollen Urgrund des individuellen und kosmischen
Seins heraufquellen, eigentlich unerklärlich in ihrem "Warum
und Wozu, von Tiefen eines persönlichen Lebens und eines
ursprünglichen Weltgefühls zeugend, wie es in dieser be-
sonderen Art und Macht des Ausdrucks seinesgleichen
sucht — und zwar nicht nur unter den zeitgenössischen
Dichtern. In Mackays ,, Gesammelten Dichtungen" kommen
zuerst hundert und etliche Seiten frühester Jugendreime,
die ich — mit ganz vereinzelten Ausnahmen — ohne Schmerz
entbehren würde. (Warum sind sie nicht in jenem ver-
hängnisvollen amerikanischen Koffer abhanden gekommen,
von dem Mackay in seinem letzten Gedichtband „Wieder-
geburt" berichtet, daß er ihm mit unersetzlichen Manu-
skripten drüben verloren gegangen sei?) Dann abersetzen
allmählich jene Mackay durch und durch eigentümlichen,
Himmel und Erde umfassenden Phantasiestücke ein, die
von da an seine ganze weitere Entwicklung als fernhin
sichtbare Höhepunkte seines dichterischen Genius durch-
ziehn. Seines Genius oder auch seines Dämons, denn wie
unendliche Sehnsucht und Schwingenlust den Dichter
sternenschwebend zu silberhellen Lichtgefilden führt, so
tragen ihn die schwarzen Fittiche des Schmerzes in sausen-
dem Fluge niederwärts zu den Abgründen des Todes und
der eisigen Weltennacht. Selige Gesänge kosmischen
Sphärenreigens und furchtbare, grausige, selbst gräßliche
Vernichtungsschreie durchzittern und durchgellen diese
Schöpfungen einer vom Lichtfreudigen bis zum Unheim-
lichen ausgedehnten Einbildungskraft. Man muß Gedichte
wie das weltenfern dahingleitende, erlösende ,, Vorbei" und
das satanische ,,Krähengekrächz" hintereinander lesen, um
— in einer Richtung wenigstens — die polarischen Ent-
fernungen in dieser Dichternatur zu ahnen, die so gut
aufs Erhabene wie aufs Entsetzliche eingestellt ist. Der
lebens- und todesmächtige Gesang ,,Am Meer", das äonen-
umwitterte Gedicht „Der gefallene Stern", die grandiosen,
I^O J{jn{L 7iEJ\ICJ(BLL
weltüberschauenden Seelen, .Wandlungen": „Ein Tag" und
..Eine Nacht", der vom leisen "Wiegen bis zum rasenden
Zerschellen anschwellende .."Weltgang der Seele", der wie
mit riesenhaften Schattenflügeln dahinrauschende ,,Flug des
Todes", wie der unendlich wehmütige und doch trostvolle
Licht- und Nachthymnus ,,Der Stern", die quellendürstende
"Wüstenphantasie ,,Die Oase" aus ,, "Wiedergeburt" — es ist
das eine Kette \on Poesieen. die allein genügen würde,
Mackays Dichtererscheinung auf den hohen Platz zu rücken,
der ihr gebührt. Sind doch diese "Weltenträume nicht etwa
kalte Ausgeburten eines phantastischen Gehirns, die nur
durch Absonderlichkeit und rhythmische "Virtuosität Stau-
nen erregen — ich würde sie dann nie so bewundern —
nein, sie vibrieren und pulsieren von einer Leidenschaft,
die einem sehr starken, ins Unendliche sich ausweitenden
Lebensgefühl entspringt. Und der Dichter hat gewiß ein
Recht, am Schlüsse des erwähnten Gedichts ,,Die Oase"
von sich zu sagen:
,,Denn meine Worte sind Tropfen, sie fallen von meinem
Gefieder,
"Welches dem Bad des Lebens entstieg — o Ihr, meine
Lieder,
Nur ein erhabenes Herz kann Eure Sprache verstehn."
Mackays Muse ist die Tochter des vor keinen Folge-
rungen zurückweichenden Gedankens, der sich auf die
scharfe Schaufel der Erkenntnis stützt, und der flügel-
spannenden, alle "Weiten der "Welt durchfliegenden Phan-
tasie, deren perlgraue Schwingen vom roten Blute glühend-
menschlichen Empfindens tropfen. — Aber ich habe hier-
mit nur einige Seiten seines Wesens angedeutet: das volle
Leben hat diesem Dichter, der von jeher seinen Beruf als
einen wahrhaft konfessionellen auffaßte, und dessen Lyrik
vielfach in poetisch gesteigerten Tagebuchblättern besteht,
eine Menge farbig leuchtender oder schwarzglänzender
Edelsteine zur künstlerischen Schleifung und Fassung vor
die Füße gerollt. Mackays schönheitatmende Seele ist wie
VOJM DEUTSCTiEJj BlCJiTUJ^G I^yl
bei den meisten von uns, die sich über den tiefen Kon-
flikt zwischen ihrer feineren und freieren Organisation und
der oft rohen Umwelt nicht leicht hinwegzusetzen ver-
mögen, von der grausamen Häßlichkeit zahlloser Lebens-
realitäten der Gegenwartskultur im besonderen und mensch-
licher Trostlosigkeiten im allgemeinen tief verwundet wor-
den und gebraucht sein heiliges Dichterrecht, in bald
schmerzerfüllter, bald hohnlachender Sprache das Leid
dieser Zwiespaltsempfindung zu klagen . . . Ein echt lyri-
sches Temperament, läßt er die Töne finsterster Schwermut
mit den sonnigsten Freudegesängen des Lebens und der
Liebe jäh wechseln. W^enn ein Winzerfest am Genfersee
ihn dionysisch stimmt, schwimmt er nur so auf den schim-
mernden Wellen seiner Rhythmen dahin, und wenn er in
der Einsamkeit der Nacht, von Qualen gefoltert, um Fallen
oder Siegen den entscheidenden Kampf nur mit sich aus-
kämpft, so fühlt man förmlich, wie seine Rhythmen zur
Anspannung der letzten Überwindung stoßweise Atem
holen- Wie viel hochinteressante Dinge wären zu Tage
zu fördern, wollte man — und es verlohnte sich schon I —
John Henry Mackays Dichtungen psychologisch analy-
sieren! Das ist mir hier natürlich nicht möglich, und so
hören Sie denn nur noch von diesem außerordentlichen
Dichter, der mehr wie ein Talent und gar ein bloß ge-
fälliges ist, und der in Leben und Dichten so ganz seine
eigenen Wege geht, ein paar Gedichte, wie man sie eben
aus den Schätzen eines Poeten, der durch Reichtum der
Motive und Formen gegen die anthologische Charakteristik
gefeit ist, nach dem Impuls der Stunde auswählt.
Zunächst das sphärengleitende:
VORBEI.
Vorbei! Im Sternenglanze,
Hoch über dieser Welt,
Schwebst du im Reigentanze,
Die Flügel luftgeschwellt.
IS2 JiJlTiL TiBJ^CjgBLL
Die klaren Augen tauchen
Tief in die stille Nacht,
Und deine Lippen hauchen
Gedanken, nie gedacht.
Vorbei! Du siehst die Sterne
An dir vorüberziehn,
Du aber suchst die Ferne,
Um zu ihr hin zu fliehn.
Die Nacht versinkt dem Tage,
Du aber schwankst und schwebst
Vorüber jeder Frage
Und weißt nicht, daß du lebst.
Vorbei! Dich trug dein Sehnen,
Hoch über allem Weh,
Vorbei dem Tal der Tränen,
Vorbei dem Totensee.
Wunschlos und wahnlos gleitest
Du weiter deine Bahn,
Und deine Flügel breitest
Du über den Orkan.
Vorbei ! Dem Reigentanze
Entzog sich deine Macht,
Einsam im Weltenglanze
Gleitest du durch die Nacht.
Im Osten glüht der Morgen,
Du aber siehst ihn nicht.
Du schwebst — vor Leid geborgen —
Hin durch ein Meer von Licht.
Vorbei! Am Weltenende
Stehst du und wartest still.
Ob sich ein Wandrer fände.
Der dir noch folgen will.
Du wartest . . . Keiner! — Nieder
Beugst du dich zu der Flut
Und trinkst . . . noch einmal! — Wieder
Beseelt dich alte Glut.
Vorbei ! Mit starkem Brausen,
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VOJ^ DEUTSCJiE7{ DJCTiTUJ^G I^^
Die Flügel ausgespannt,
Trägt dich des Windes Sausen
Zurück zum Heimatland.
Du siehst die Fluren schimmern.
Wo deine Hütte lag,
Wo dir in Tagen, schlimmem,
Dein Leben hart zerbrach.
Hernieder! — doch hernieder
Kannst du nicht mehr fortan!
Nie kehrt zur Heimat wieder,
Wer sie verlassen kann.
Da packt dich banges Grausen,
Du schlägst die Flügel wild
Und fährst mit starkem Brausen
Wider des Himmels Schild.
Vorbei! — im Sternenglanze,
Der herrlich dich umhellt.
Schwebst du im Reigentanze
Hoch über dieser Welt.
Und du durchmißt die Weiten,
Die einmal du begehrt.
Und ruhlos wird du gleiten.
Bis du dich selbst verzehrt.
Dann das tiefe Lied wehevoller Erkenntnis, das auch
nur Mackay so schreiben konnte:
DIE GEWOHNHEIT.
Ich bin ein Morgentraum, der schwer
Auf deinem Herzen liegt;
Ich bin ein Kuß, der liebeleer
An deinen Mund sich schmiegt.
Ich bin die Stimme deiner Zeit,
Und wie du dich empörst:
Ich bin's, auf die in Lust und Leid
Du stets als erste hörst.
BT{JIJ\DES: DIE UTETiJlTini. BJIJW XXXVII l XXXVIII
754 7{J17{L liEJSlCT^ELL
Ich lenke dich mit leiser Hand.
Du ahnst nicht, wer ich bin.
Ich bin d\v, die du nie gekannt,
Treueste Begleiterin.
Du kennst die Wahrheit, doch du lügst.
Und dein ist meine Schuld;
Du liebst die Freiheit und du fügst
Dich feig — ich sprach: Geduld.
Ich bin der Trägheit dumpfer Hauch,
Dein "Wille liegt erschlafft;
Ich sorge, daß aus altem Brauch
Kein neuer Ton dich rafft.
Ich nehme dich an meine Brust,
Wenn schmerzlich auf du schreist —
Ich bin es, der du unbewußt
Dein bestes Leben weihst.
Und schließlich die armeausbreitenden, von neuem Leben
und Wagen des unermüdlichen Schwimmers kündenden Stro-
phen aus „Wiedergeburt":
ICH MUSS WIEDER FT.1EGEN.
Ich muß wieder fliegen! — Ich muß wieder fliegen!
ich trag's nicht mehr! —
Süß redet die Ferne von Kämpfen und Siegen —
Mein Herz schlägt schwer.
Ich darf meine Tage nicht mehr verhüllen
In diesen Staub.
Ich muß in die Ferne, um sie zu füllen
Mit neuem Raub.
Es rief mit der Stimme der Kraft ein Rufer
Mich lang und laut:
Ich sehe neue und herrliche Ufer,
Von Licht betaut;
VOJ^ BEHTSCfCETj BICHTUJ^G 755
Ich sehe Gebirge, groß, gewaltig.
Der Adler Hort,
Und Städte seh' ich: wie fremdgestaltig
Die Menschen dort!
Schon bin ich der jugendkräftige Schwimmer,
Der sie beschritt.
Schon bin ich der Kühnen kühner Erklimmer,
Der sie erstritt.
Schon in die gaukelnden, schwirrenden Massen
Hineingetaucht,
Hab' ohne Lieben und ohne Hassen
Ich sie verbraucht! . . .
Ich fliege wieder! — Ich fliege wieder! —
Die Ferne fällt!
Mein sind unzählige neue Lieder!
Mein ist die Welt!
Heim schwankt im Herbste der Wagen, beladen
Mit neuer Frucht.
So kehre ich heim zu meinen Gestaden,
In diese Bucht,
Wo ich nun still vor Anker legen
Die Frachten will . . .
Befreit von Last, beschwert von Segen
Seh' ich der Winternacht entgegen.
Mein Herz schlägt still.
Gerade Mackays letztes Lyrikbuch ,, Wiedergeburt" mit
seinem sonnig-gesunden Lebensmut und seinen schwellen-
den Formen beweist, daß er über das ihm sonst in mancher
Hinsicht verwandte dämonische Nachtfalterreich eines Baude-
laire weit hinausreicht — aber wir Deutschen sind ein nicht
übermäßig dankbares Volk und reichen tausendmal eher
einem französischen als einem deutschen Dichter von tief
ausgeprägter Eigentümlichkeit den Lorbeer.
L*
IJb_
■K^TjL »EMCJ^Lh
Zumal um das breitere öffentliche Interesse für einen
bedeutenden, lebenden Dichter zu wecken oder wach
zu erhalten, braucht es bei uns zumeist etlicher per-
sonlicher Sensatiönchen, am liebsten verblüffender ,,Skandäl-
chen", oder irgend einer Sammlung, Stiftung, nachträglichen
Ehrenspende und was dergleichen schöne Memorialien
mehr sind. So ist auch Gustav Falke eigentlich erst durch
den längst verdienten Ehrengehalt der reichen Republik
Hammonia in den Augen des großen Publikums ,,auf die
vorderste Bank" gerückt. (In uns Deutschen steckt ein
Stück Schulmeister, wir teilen den Dichtern Zensuren aus
und versetzen sie, wenn sie hübsch artig sind, nicht ohne
ein bedeutsames Zeigefingerheben, in die höhere Klasse.)
Und doch hatte Gustav Falke schon durch sein 1892 er-
schienenes erstes Buch „Mynheer der Tod" und in noch
höherem Grade durch das zwei Jahre darauf folgende ,,Tanz
und Andacht" der \C^elt unverkennbar gezeigt, welch ein
trefflicher und feiner dichterischer Künstler mit ihm auf den
Plan getreten war.
In ,, Mynheer der Tod" mußten, abgesehen von 'den wohl
noch Liliencron zuneigend v^ahlverwandten, aber doch auch
wieder in Phantasie und Sprachfrische selbständigen mo-
dernen Totentänzen wie ,,Die Equipage", sofort durch den
zarten Tiefton ihrer Herzensstimmung und durch die aus-
geglichene Reinheit ihrer innern Form jeden Hörenden auf-
horchen lassen solche Gedichte wie
NACHTGANG.
Lautlos am umbuschten "Reiher
"Wandelt durch das Gras die Nacht,
Hinter ihr, ein feuchter Schleier,
Heben sich die Nebel sacht.
Weite, weite stille Strecken
Mag sie wie im Fluge gehn.
Zwischen Felder, zwischen Hecken
Seh' ich ihren Schleier wehn.
GUSTAV FALKE
Photographie Müller-Brauel in Zeve.
VOM beutschetj djchtujmg 757
Wälder, Gärten, Dorfgelände
Streift ihr leiser, steter Gang.
Nur am Friedhof ist's als stände
Sinnend sie sekundenlang.
Warf sie jene schwarze Rose
In des Todes still Geheg?
Taufeucht fand die heinnatlose
Ich früh morgens dort im Weg.
In demselben Buche stand auch ein kleines Wunschgedicht:
O BITT EUCH LIEBE VÖGELEIN.
Liebessingsang, Trinkgejuchze,
Läppische Poeterei!
Nicht dies Nachtigallgeschluchze —
O, nur einen Adlerschrei!
O nur einen vollen, wahren
Ton aus tiefster Brust, davor
Wir erschreckt zusammenfahren.
Nicht den zahmen Gimpelchor.
Doch das zwitschert wie im Bauer
Blöde Dompfaffmelodei:
Holde Wehmut, süße Trauer, —
O, nur einen Adlerschrei!
O nur einen Adlerschrei! Wie gab mit dieser Zeile
Gustav Falke unser aller Sehnsucht so einfachen kernigen
Ausdruck! Und wie wußte er gleich durch sein nächstes
Buch diesem Sehnsuchtsruf selbst mit in erster Reihe Er-
füllung zu leihen! Kühnheit der Empfindung, der Er-
findung und der Sprache war das entschiedene Merkmal
seines lyrischen Künstlertums, wie es sich in „Tanz und An-
dacht" reich und vollsaftig offenbarte. In den „Phantasie-
stücken" dieses Bandes lebt sich eine wunderbar berau-
schende Einbildungskraft aus, die sich zu ihrer Darstellung
einer farbenschwelgenden Sprache von ganz neuer Leucht-
158
J{jn{L ?iEJSC\ELL
kraft bedient. Das ist ja überhaupt ein Grundzug, der
wohl am deutlichsten den Gegensatz zu allem Epigonen-
tum, auch zu den besseren seiner Vertreter, bezeichnet: die
Auffrischung der Sprache und "Wiedergeburt des Wortes
als unmittelbaren Lebens-, Gefühls- und Bildträgers der
"Welt. In Dichtern wie Falke hebt wirklich die Welt an
von neuem zu leuchten und zu klingen. Seine reife Kunst
— ich sehe im Augenblick von der Echtheit und Tiefe des
Lebensgehaltes, die ihn allerdings auch, und \on Buch zu
Buch mehr, auszeichnet, ganz ab — seine reife Künstler-
schaft besteht in einer ungemein glücklichen Verbindung
und Durchdringung anschaulicher und rhythmischer Ele-
mente. Neu, klar und einheitlich im Bild, verfügt er über
das sicherste rhythmische Taktgefühl, das man sich denken
kann. Man höre bloß ein Gedicht wie dieses hier aus
„Zwischen den Nächten":
AUF DER JAGD.
Schmale Wege gingen wir
Hand in Hand,
Schmetterlinge fingen wir
Hart an eines Abgrunds Rand.
Und mit jedem Falter glaubten wir
Gleich das Glück, das Glück gefangen,
Doch die Finger nur bestaubten wir
Und der schöne Schimmer war vergangen.
Aber nie genug.
Immer reizt der Flug
Dieser bunten Gaukler uns zum Fang.
Dort, den Weg entlang.
Quer jetzt. Wie er lacht.
Pfauenaugenpracht.
Hasch ihn. Da. Das Glück.
Über Tiefen. Halt! Zurück!
Hoch im Sonnenglanz
Faltertaumeltanz,
Aber unten droht die schwarze Nacht.
VOJ^ DEUTSCBEJi BlCJiTVJ^G 759
Doch ich wollte noch ein Wort von den „Adlerschreien",
den kühnen Würfen Gustav Falkes sagen, die manche vor
den leise gedämpften Lauten seiner zartbesaiteten Viola
d'amour und seiner innigen Herddämmerglückslyrik zu über-
sehen scheinen. Ein Dichter, der Verse wie ,,Ein böser
Tag", ,, Wahnsinn", „Der Schritt der Stunde", ,, Rechtferti-
gung", ,, Gebet", ,, Wohin?", ,,Die Peitsche Euch"!!, ,,Das
neue Lied" in „Tanz und Andacht" oder ,, Sankt Jürgen",
„Gral", „Vaterland" und andere mehr in „Neue Fahrt" ge-
schrieben, ist ein dichterischer Lebenskämpfer kraftvollen
Wuchses, von all jenen Gedichten, in denen sich dieser
ringende Zug mehr mittelbar und in symbolischer Weise
ausdrückt, gar nicht zu reden. Unsere Anthologieen, die
vielfach gewisse, einmal übereingekommene Züge eines
Dichters immer und immer wiederkehren lassen, erwecken
so oft falsche und einseitige Vorstellungen von umfassen-
deren Dichternaturen und dienen gemeiniglich mehr der Ge-
schmacksträgheit als der dem Künstler nachspürenden Liebe.
Mir sind Gedichte wie die oben nur beispielsweise ge-
nannten wesentlich zur Ermessung der seelischen Spann-
kräfte in einer schaffenden Persönlichkeit, mögen sie auch
hierund da an künstlerischer Vollkommenheit hinter andern
zurückbleiben. Wenn man Kunst und Dichtung nicht nur
aus der ästhetisierenden Maulwurfsperspektive, sondern
vom Standpunkt eines in Schönheit und Kraft gesteigerten
Menschentums betrachtet, so neigt sich manche Schale stark
beschwert, die in den Augen der Geschmäcklcr leicht empor-
schnellen mag.
DER SCHRITT DER STUNDE
Der Schritt der Stunde, wenn du schlaflos liegst.
Und die Gedanken sich wie Schwalben jagen,
Wenn sehnend du bis an die Sterne fliegst
Und leer zurückkehrst, flügellahm, zerschlagen.
Der Schritt der Stunde, wenn du schlaflos liegst.
Und aus dem Dunkel starren stumme Klagen,
TSÖ \AT{L IiEJyCJ(ELL
Daß du dich schluchzend in die Kissen schmiegst
Und weißt nicht ein und aus. Schon wird es tagen.
Das Leben jauchzt auf tausend hellen Geigen,
Du aber hörst nur durch den muntern Reigen,
Nachzitternd, dumpf, wohin du fliehen magst,
Den Schritt der Stunde, da du schlaflos lagst.
Und rangst, und fühltest in fruchtlosem Klopfen
An Gottes Pforten deine Kraft vertropfen.
In der „Neuen Fahrt" vollends hat Gustav Falke eine
reine Höhe der Künstlerschaft erreicht, die mit seelischer
Vertiefung und zu edler Macht gediehenem Menschenwert
Hand in Hand geht, daß mich vor der Lebensstimme man-
ches Gedichtes das beglückende Gefühl liebender Andacht
überkommt. Wer da, wo er mit so sanfter, ruhiger und
starker Dichterhand zu Tempeln wahrer Lebensschönheit
geleitet wird, nicht still und hingebend sein Haupt neigt,
ist arm und beklagenswert. Bei Gedichten wie „Morgen-
lied", „Ein Harfenklang", „Der törichte Jäger", dem schon
einmal erwähnten „Sankt Jürgen", „Gesang der Muscheln",
„Das Birkenbäumchen", „Alt und Jung", „Ewige Sehn-
sucht", „Mysterium", „Die Schlummerkerze", „Späte
Rosen", „Weltflucht", „Winter", „Grab", „An einem Grabe",
„Leben" und so gut wie allen in dem Buche folgenden —
bei solchen selten klaren Lebensklängen und linden Himmels-
tönen wird einem wunderbar feierlich und eigriffen zu
Mute. Ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß ich, wenn
ich „Schutzheilige", „Erscheinung", „So komm doch" lese,
jenes innere Zittern verspüre, das von dem geheimen,
schamhaft gehüteten Heiligtum des Herzens ausgeht. Es
ist wohl doch etwas um die alte Sage, daß die Dichter
zuerst zu Herzenskündigern berufen sind, und daß alle
„Kunst der wohlgesetzten Worte" eitel, eitel und dreimal
eitel ist, wenn sie nicht von dem tiefen Strom durchzogen
wird, der Menschenherz und Menschenherz aufs innigste
verbindet.
Das hat mit Sentimentalität nichts, aber auch nicht so-
^yi^'y . C/a^^^ fit-t^t^ Jd^ a-J-^y^^^rJ^
'Ti'-^ -^Cs^-iy/i ^^^-^ ^&--^^^,
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i> Mi'f^t- <J-^ a^i-t-r" Ji-i-^-. 9-*^
Wft-^
VOJ^ DEVTSCBEJi BlCftTVJ^G l6l
viel zu tun, wohl aber mit dem starken Gefühl als dem
schönsten Bronnen feinerer menschlicher Lebensgewalt.
Daß der Herzenskündiger ein Kundiger aller Wortkunst
sein muß, versteht sich ohnehin für mich von selbst. Das
hat völlig eins zu sein! Sonst — wenn es da hapert —
kann man allerdings, im Reich der Kunst, auf die schön-
sten Gefühle der Menschheit ,, pfeifen". Ich lese
DAS BIRKENBÄUMCHEN.
Ich weiß den Tag, es war wie heute.
Ein erster Maitag, weich und mild.
Und die erwachten Augen freute
Das übersonnte Morgenbild.
Der frohe Blick lief hin und wieder,
"Wie sammelt er die Schätze bloß?
So pflückt ein Kind im auf und nieder
Sich seine Blumen in den Schoß.
Da sah ich dicht am Wegessaume
Ein Birkenbäumchen einsam stehn.
Rührend im ersten Frühlingsflaume,
Kennt nicht daran vorübergehn.
In seinem Schatten stand ich lange,
Hielt seinen schlanken Stamm umfaßt
Und legte leise meine Wange
An seinen kühlen Silberbast.
Ein Wind flog her, ganz sacht, und wühlte
Im zarten Laub wie Schmeichelhand.
Ein Zittern lief herab, als fühlte
Das Bäumchen, daß es Liebe fand.
Und war vorher die Sehnsucht rege.
Hier war sie still, in sich erfüllt;
Es war, als hätte hier am Wege
Sich eine Seele mir enthüllt.
l62 J^JUjL JJEMCJ^ELL
Daß in dem tieffühlenden und kunstvollendeten Gustav
Falke außerdem ein lebendiger Quell glücklichen, schalk-
haften Humors sprudelt, habe ich noch gar nicht erwähnt.
Lesen Sie die Gedichte: ,,Die Teufelsbraut", ,, Konfirman-
dinnen", ,, Ständchen", ,, Schutzengel", ,, Nachtwandler ",
,, Kleine Geschichte", „Närrische Träume" und ähnliche
mehr, so werden Sie's spüren. Ich will Ihnen nur noch
mit ein paar aus Gedichten herausgepflückten Lebensversen
durch Gustav Falke seine eigene Silhouette zeichnen lassen:
echte Dichter tun das immer weit besser selbst als sämt-
liche Darsteller ihrer Wesensart.
„Ob mit Tanz wir oder Beten
Hin vor unsre Gottheit treten.
Gestern Schelme, heut Propheten,
Immer fromm sind wir Poeten."
„Dichternächte, sanft erhellt,
Dichtertage, reich an Sonnen —
Heißt das nicht im Spiel der Welt
Einen ersten Platz gewonnen?"
„Und ist's nur einen Sonnenblitz,
Daß uns ein Glück bereitet.
Nur einen kurzen Sattelsitz,
Daß Freude uns begleitet."
„Bei Tagesanbruch singt das Herz und lacht:
Heut wird dein Segen unter Dach gebracht.
Der Abend kommt, zu sehen, was es sei:
In hohler Hand ein Körnchen oder zwei."
,.Das ist mein Leben: Kronenglanz
Und Licht und Lied und Friedefülle.
Und ist mein Leben: Dornenkranz
Und Blut und Staub und härene Hülle."
VOJ^ BBUTSCTCETj DJCJiTUJMG l6^
„Die Peitsche euch!
Die ihr vom Blut des Genius lebt
Und ans Kreuz des Gemordeten
Eure grabschänderischen Kreuze hängt:
Seht, welch ein Gott!"
Gib leichten Fuß zu Spiel und Tanz,
Flugkraft in goldne Ferne,
Und häng den Kranz, den vollen Kranz
Mir höher in die Sterne!
Nennst du ein heilig Feuer dein,
Sei treu und halt die Flamme rein.
Lohnt auch die \v^elt den Hüter nicht.
Dich krönt ein Kranz: Du bist im Licht.
So will ich neue Inseln suchen,
Schon bleibt der düstre Strand zurück.
Blast Winde, daß die Masten klingen,
O Sturm! O Tanz! O Meeresglück!
In Hamburg, das sich nachgerade — was würde Hein-
rich Heine dazu sagen! — aus einer Stadt, in der man
vorzüglich essen und trinken soll, zu einer Stadt aufzu-
schwingen scheint, in der man noch vorzüglicher dichtet,
in Hamburg lebt und schafft außer Liliencron und Falke
gegenwärtig, im Zenith der Mannestage, ein markent-
sprossener Zeitgenosse, der durch rastloses Wachstum und
unablässige Auswirkung seiner menschlichen Persönlichkeit
wie durch bewußte, energische Höherzüchtung einer merk-
würdig verästelten künstlerischen Instinktnatur eine ein-
dringliche, volle Machterscheinung dichterischen Lebens dar
stellt. Es ist mir nicht möglich, Ihnen in diesem all
gemeinen Zusammenhange den Kreis dichterischer Weit-
erraffung und — Erschaffung ringsherum nachzuziehen, den
Name und Begriff Richard Dehmel ausdrücken. Ich muß
164
7(jn{L HEßJCJ{ELL
mir das vielmehr für eine besondere psychologische Ent-
wicklungs-Schilderung und Deutung der lyrischen Grund-
elemente unserer gegenwärtigen Dichtung vorbehalten.
Hier nur ein paar Schlaglichter auf eines der eigentümlich-
sten und bedeutsamsten lyrischen Phänomene unserer und
nicht nur unserer Tage. Vor allem: Richard Dehme] will
als ganze, in all ihren noch so verschiedenartigen Äuße-
rungen zu Eins werdende, im tiefsten Unbewußten des
Lebens wurzelnde, zum höchsten Bewußtsein der Erkennt-
nis sich erhebende Dichterkraft erfaßt sein. Wenn ich
sage „erfaßt" sein, so meine ich damit eigentlich — erlebt
sein. Denn an den eigentlichen Dehmel kommt man weder
mit bloß ästhetischen noch gar mit den Maßstäben der
historischen Schriftgelehrten heran. Man muß vom Men-
schen und Künstler, beides im ursprünglichen Sinn ge-
nommen, ausgehen, und dazu muß man sich der herkömm-
lichen ethisch-ästhetischen Bewertungen m.öglichst entäußern.
Dies geschieht am besten durch Zurückgehen auf die letz-
ten, verschwiegensten Wahrheiten des eigenen Erlebens und
in der vollen Aufrichtigkeit des nackten: Das bist du. Ja,
es ist so: In Richard Dehmels Dichtungen dürstet wieder
einmal eine ganze Menschenseele danach, sich in ihrer un-
verschleierten Gestalt und in all ihren Wandlungen rückhaltlos
zu offenbaren. Daß dies ,, suggestiv" geschieht, dafür sorgt
der seiner Ausdrucksmittel bewußt und mit hoher Kultur
mächtige Künstler des neuschöpferischen Worts. Richard
Dehmel besitzt die aller gesellschaftlichen und literarischen
Konvention entrückte Mut- und Willensgewalt, wirklich
künstlerisch Leben zu beichten. Das ist ein großer Zug.
Und von dem reinen künstlerischen Bekenntnisdrang der
erlauschten Wahrheit abgesehen — welche Kraft hoch-
wertigen Lebens steckt in der bewußten menschlichen Auf-
wärtszüchtung und Selbstvervollkommnung, wie sie alle
Bücher Dehmels von den ,, Erlösungen" bis zu den ,,Zwei
Menschen" ergreifend und hinreißend verraten! Nicht
oft lag in einem Dichter soviel vom Tierischen her und
soviel zum Göttlichen hin unmittelbar zusammengedrängt.
J\i^(4Mcime£<^ P^
Nach dem Gemälde von Julie W'oljthoni.
y01\l DEUTSCBETj DJCJiTUJMG l6§
und zahllose zerreißende Gegensätze der Triebe, Gefühle
und Gedanken sind zu beherrschen, bis das selige Zu-
sammenspiel die stürmische Sehnsucht der Einzelakkorde
erlöst. Von Carl Spitteler stammt das "Wort:
,,Die stärksten Seelen gehen am längsten fehl", und
Richard Dehmel drückt eine verwandte Wahrheit aus in
dem Verse:
„Noch hat keiner Gott erflogen,
Der vor Gottes Teufeln flüchtet."
Es ist die Moral der mutigen Wagekraft, die sich alles
zutrauen kann, ja muß, vor dem Mittelmaß und Halbheit
zurückschreckt, um „selig" zu werden d. h. im innersten
Ausgleich zu ruhn.
Daß ich nur eine Seite der Welt, allerdings eine wesent-
liche, berühre: Ich kenne keinen zweiten Dichter, in dem
Hölle und Himmel der geschlechtlichen Leidenschaft und
der Liebe von Mann und Weib mit prasselnder Glut und
weißen Lilienflammen so brünstig und so sehnlich sich läu-
ternd ineinanderkreisen wie bei Richard Dehmel. Auch hier
und gerade hier am meisten darf der Dichter verlangen, daß
man seinen Satans- und Engelsreigen von Anfang bis zu
Ende verfolgt und nicht nach unzuchtschnuppernder Spitzel-
art mit seinem, ach so säubern Naschen in irgend einem
höllischen Hexenspältchen verhängnisvoll kleben bleibt —
wer nicht durch die wütendsten Venusstrophen schon in
der Ferne das leise Singen der aufsteigenden Selbsterlösung
vernimmt, für den ist Dehmels lyrische Menschwerdung
überhaupt ein verschlossener Zaubergarten. Solche Leute
mit einer Moral, schnellgebacken und wohlfeil wie Eier-
kuchen, werden nie Fühlung gewinnen mit Versen wie
,,Aber im Zaubermantel der Liebe
Trägt der lachende Sturm der Triebe
Auf vom Staube zum Himmelstor"
oder
„Nur nicht gewaltsam
Abgewehrt,
l66 -KATjL TiEMCJ^ELL
Was unaufhaltsam
Leben begehrt.
Die in euch wühlen,
Alle die Geister,
Müssen einst fühlen:
Ich bin ihr Meister."
oder
,,Was den Menschen entzückt, entsetzt, empört,
das erhöht ihn,
Weil's ihn außer sich bringt, weil 's ihn mit Leben
erfüllt".
In Dehmels Werken findet sich eine Fülle von Versen,
die dieses sein A und O schöpferischer Weisheit immer
anders ausdrücken, ich führe nur noch zwei oder drei an:
„Ward ich durch frommer Lippen Macht
Und zahmer Küsse Tausch?
Ich wurde Mensch in wilder Nacht
Und großem. Wollustrausch."
..Ich will mich lauter blühn, lauter und los
Aus dieser Brünstigkeit zu Frucht und Fülle".
Wer sich durch eine Hölle hat gerungen,
Den fragt, welch Paradies ihm endlich tagte!
Doch wer an seinem Leben nie verzagte,
Hat um des Lebens Deutung nie gerungen."
,,Aus dumpfer Sucht zu lichter Glut."
,,Von deinen heil'gen Seelenblicken
Glänzt meiner Sinne dumpfe Flur,
Mir löst ein menschliches Entzücken
Die rohen Ketten der Natur.
VOT^ B-EUTSCJiETi BJCHTlfJ^G 1^
In Tränen steht mein irres Bangen,
Ob ich berufen sei zum Glück;
Sieh mein verröchelndes Verlangen,
Die Klarheit gabst du mir zurück!"
und viele ähnliche mehr. — Um wenigstens in aller Kürze
noch einen Hauptzug hervorzuheben: Für Richard Dehmel
ist das dichterische "Wort nicht nur Ausdrucksmittel indi-
vidueller Selbsterlösung, sondern es ist ihm auch ein ver-
liehenes edles "Werkzeug des Menschheitswillens zur Höher-
bildung der Gattung. Er fühlt sich in seinen bedeutend-
sten Gedichten als Lichtbringer, der neue Geistessaat aus-
sät, im Sinne prometheischer Dichter der Vergangenheit,
er will wahrhaft befruchten und den W^ert des Lebens, der
"Welt in schöpferischer Lust und Menschenfreudigkeit stei-
gern . . . "Wie das nun alles in Verbindung mit einem wit-
ternden, stimmungsschwangern Naturgefühl, farbensaugen-
der Augenfeinheit, und einem urwüchsigen, welthumori-
schen Lebenssinn, der auch für das Kindliche gar köstliche
"NX^orte findet, zu einem seltenen dichterischen Gewebe zu-
sammenrinnt, dem müssen Sie eben selbst im Ganzen seiner
Gedichte liebevoll nachgehen. Von manchen Absonderlich-
keiten des Stils, besonders auch in den „Zwei Menschen",
will ich hier nicht weiter sprechen, sintemal ich ja nit aus
Nörgelheim bin und hier geflissentlich nur das schöpferisch
Fortwirkende betone. Ich glaube und wünsche, daß sich
für Richard Dehmels gesamtes Schaffen sein eigenes "Wunsch-
wort bewahrheiten möge:
Schrankenlos schaltend.
Rastlos gestaltend.
Heilsam waltend.
Friedsam erhaltend.
Ich lese
STROMÜBER.
Der Abend war so dunkelschwer
Und schwer durchs Dunkel schnitt der Kahn;
l68 J^jn{L BEJMCTiELL
Die Andern lachten um uns her,
Als fühlten sie den Frühling nahn.
Der weite Strom lag stumm und fahl.
Ans Ufer floß ein schwankend Licht,
Die "Weiden standen starr und kahl.
Ich aber sah dir ins Gesicht.
Und fühlte deinen Atem wehn
Und deine Augen nach mir schrein
Und — eine Andre vor mir stehn
Und heiß aufschluchzen: Ich bin dein!
Das Licht erglänzte nah und mild;
Im grauen Wasser, schwarz, verschwand
Der starren Weiden zitternd Bild.
Und knirschend stieß der Kahn ans Land.
Dann
MASKEN.
Du bist es nicht, du grauer Tempelritter
Im Panzerkleid, auf das die Kerzenstrahlen
Des bunten Saals mit täuschendem Gezitter
Geheimnisvolle Charaktere malen;-
Dein Blick ist schwarz, laß das Visir nur zu!
Du bist es nicht — doch Ich bin Du.
Du bist es nicht, Zigeuner mit der Geige,
Der wild sein Lied läßt in die Zukunft bluten;
Dein roter Bart ist kraus wie Urwaldzweige,
Um die rauchprasselnde Frühfeuer gluten;
Dein Blick ist grau, laß nur die Maske zu!
Du bist es nicht — doch Ich bin Du.
Du bist es nicht, Traumkönigin; Seerosen
Trägst du im wolkenschwarzen Haargeflechte
Und bleichen Asphodelos und Skabiosen,
S>L -^^ *v.^ «2^ y^ -*> ^^^^ßu,,-.^^.
X
^^ '/f^/r^^^.^
Facsimile des zuerst in der „Gesellschaft" erschienenen Gedichtes
„Mein Ideal" ans Karl Henckells „Zwischenspiel".
/oja4^ <iuUe^^ X^W^ Jcu^ ^/Zxc^ lA ^&*<vfe^
/pWj ^tH^eJiY^ jr%i€^ v-i>h^ zyCczM/ d^^u-ey^ ^^-^-«^
Ente Form des DehmeP sehen Gedichtes „Das Ideal\J
aas „AberjÜeZUebe".
VOM DEUTSCHER Bicnruj^G l6q
Die dunkler sind als purpurdunkle Nächte;
Dein Blick ist braun, laß deinen Schleier zu!
Du bist es nicht — doch Ich bin Du.
Du bist es nicht, mein blonder Puck; dein Röckchen
Ist viel zu kurz für deine Mädchenbeine,
Man sieht es doch, daß dein hell Klingelstöckchen
Ein Totenköpfchen krönt, du freche Kleine;
Dein Blick ist blau, o laß dein Lärvchen zu!
Du bist es nicht — doch Ich bin Du.
Und Du, bist Du's, du Domino im Spiegel,
In dessen Blick die Farben meerhaft schwanken.
Du maskenlos Gesicht? Zeig her das Siegel,
Das mir ausdrückt den Grund deiner Gedanken !
Bist du es selbst? Ausdruck, du nickst mir zu;
Grundsiegel — Maske. — Bist Ich Du?
Und schließlich
STÖRUNG.
Und wir gingen still im tiefen Schnee,
Still mit unserm tiefen Glück,
Gingen wie auf Blüten,
Als die arme Alte
Uns anbettelte.
Und du sahst wohl nicht.
Als du ihr die Hände drücktest
Und dich liebreich zu ihr bücktest,
"Wie durch ihr zerrissenes Schuhzeug
Ihre aufgeborstnen
Blauen Füße glühten.
Ja, ein Mensch geht barfuß
Im eignen Blut durch Gottes Schnee,
Und wir gehen auf Blüten.
BJiJfJSDES: DIE UTETiJlTVJi. BJl?iD XXXVIII XX XVIJI M
/yo \AJiL HEMC\ELL
Ist der kiefernknorrige, sturmdurchwühlte Märker Dehmel,
dessen Äste sich bald unheimlich drohend und stöhnend in
Nacht und Nebel recken, bald wieder, nach jedem Hauche
lüstern, sich als Harfe lichtflutenden Lebens ausspannen, ist
Richard Dehmel eine erstaunliche, zuweilen bis zur schrullen-
haften Manier groteske Mischung urwüchsiger Instinkte
und bewußtester Kulturverfeinerung, ein seltener Dichter, in
dem Entfesselung und Selbstzucht aufeinanderprallen wie
Wettringer, denen es, manchmal mit einem Schuß Pose,
wirklich um Leben und Kunst geht, — so ist der jüngere,
in "Wien lebende Österreicher Richard Schaukai eine
nicht minder zusammengesetzte Erscheinung von beson-
derem und fesselndem Gepräge, mit der ich meinen ge-
nußfrohen Beutezug und -Flug durch die Gefilde der deut-
schen Lyrik für diesmal wenigstens beenden will — , at last
not at least, wie die Engländer in einem solchen Fall ebenso
kurz wie treffend zu bemerken pflegen.
Richard Schaukai, der in rascher Folge eine ganze Reihe
von interessanten Versbänden veröffentlichte, aus denen die
1904 im Inselverlag erschienenen „Ausgewählten Gedichte"
nur einen kleinen, sehr fein, aber natürlich mit starker Be-
grenzung ausgesuchten Teil bilden, ist ein Dichter, dessen
vielseitiges Wesen eine Mischung von — ich gebrauche
sonst das Wort nicht gern, aber hier paßt es — modernen
Renaissanceträumen mit romantischer Lebensironie und
großer beherrschender Kunstsehnsucht darstellt. Das sollen
selbstverständlich nur ungefähre weltanschaulich-psycholo-
gische Vorstell ungs werte und Annäherungsbrücken sein,
denn Richard Schaukai ist weder ein ums Jahr 1900 in
Wien lebender Dichter des Cinquecento, wenn er einen
solchen auch in einer bezeichnenden Phantasie dichterischen
Lebens- und Schönheitsrausches heraufbeschwört, noch ein
dreißigjähriger alter Goethe, wenn er auch wie dieser mit
der Kunst sich g'^gzn das Leben zur Wehr setzt, noch ein
frommer, weltentrückter Novalis, wenn er diesem Dichter
auch innigverstehende und kostbare Strophen weiht — er
ist auch nicht ein Dichter des Rokoko im Übergang zum
VOJ^ DEUTSCHETi DJCTiTUJ^G lyi
Empire, wenn er auch die galante Grazie und reiche FülJ-
hornüppigkeit jener Zeiten in den Gärten seines Herzens-
oenius wieder aufsprudeln und aufquellen fühlt — nein,
Richard Schaukai ist zwar im Sinne der poetischen Meta-
morphose dies und noch manches andere, was ich nicht mehr
anführen kann, aber er ist doch vor allem und in allem, mit
den entsprechenden Zutaten des Phantasiespiels, Richard
Schaukai, und das erst stempelt ihn zu der dichterischen
Persönlichkeit, die für heikle Stilspielerei zu gut und über
sie erhaben ist. Ich würde ihn sonst niemals so hochstellen,
wie ich es wirklich tue, denn ich hasse alle Kostümlyrik
aufs äußerste, wo die kulturhistorische Drapierung und
Frisur um einen rückenmarklosen Perrückenstock herum-
schlottert. Bei Schaukai ist das etwas anderes, er atmet
selbst unter Wams, Panzer, Spitzenjabot oder was es für ein
Kleidungsstück sein mag, in das er Herz, Seele und Sinne
dichterisch hüllt.
Es steckt eben ein gut Stück Schaukai darin, wenn er
jenen Dichter sagen läßt:
„Ich bin von perikleischem Geblüt.
Kein wüstenbleicher kranker Nazarener.
Schönheitberauscht als letzter der Athener
Lieb' ich was nur berückend strahlt und sprüht."
Ja, er ist schönheitberauscht und sinnenselig wie ein edler
Athener jener Kultur, und ebenso steckt ein gut Stück vom
deutsch-romantischen Schaukai darin, wenn es im gleichen
Gedicht heißt:
„Mein Märchenreich ist nicht von dieser "Welt^
Der ekel nüchternen Alltäglichkeit.
Die Dichtung ist mein purpurrotes Kleid.
Der Sternenhimmel ist mein Königszelt."
was wieder recht unperikleisch und unklassisch, aber ganz
germanoromantisch ist. Und vorher und nachher im glei-
chen Gedicht das auf den Starken und Tatmenschen wie
M*
qi JiAT{L liEJMCJ^ELL
ein Kraftbad wirkende Vollgenießen und raffinierte Ge-
schmackauskosten des Schaukalcinquecentisten:
,,lch steh geschmeidigt wie nach einem Bad.
Ihr Griechenkörper aber reift mir Verse
So kostbar wie dein Schmuck. "Wie deine Ferse
Beschwingt und farbig wie ein Pfauenrad."
Glückh'cherweise kann man bei dieser ganzen Gruppe
Schaukalscher Gedichte, in denen seine Seele sich künstle-
risch in Menschen, Gestalten, Welten der Vergangenheit
auslebt, von blutvoller Einbildungskraft und dem „Stoff"
meist kongenialer Empfindungskraft sprechen, worauf es ja
einzig und allein ankommt, um den originellen Dichter
vom lyrischen Dekorateur zu scheiden. Und darum sind
diese Gedichte auch so lebendig, v/eil in ihnen der stolze,
herrische, leidenschaftliche, sehnsuchtheftige Puls des Dich-
ters selber hörbar klopft. Was sagen Sie zu einem Ge-
dicht wie
GOYA.
Ich habe die lange schwüle Nacht
Bei einer jungen Dame verbracht:
Sie liegt nun und träumt mit offenen Lippen von
meinem Nacken . .
Jetzt werd ich malen. Wollt ihr euch packen?
Steht nicht herum und gafft so ledern!
Sonst zerr ich euch an euren Agraffenfedern
Oder kitzle diese dünnen Waden
Mit meinem Degen. Ich bin von Gottesgnaden.
Ein Grande bin ich im offenen Hemd.
Ich liebe das Licht, das die Welt überschwemmt.
Ich liebe ein Pferd,
Das bäumend sich gegen den Zügel wehrt.
Den Juden lieb ich, den keiner bekehrt!
Dem König laß ich sagen: er solle
Klopfen v/enn er mich stören wolle.
RICHARD SCHAUKAL
Photographie Eugen Schäfer in Wien.
rOl^ DEliTSCT{E7{ DJCTfTVJyJG ly^
Das ist Atmosphäre Goya und Sehnsucht, Temperament
Schaukai. Daher diese Frische, Wahrheit und Natürlich-
keit des Stils. Herrlich!
Die überflutende Lebens- und Freiheitssehnsucht einer
hochgearteten Seele, die nur unter schweren Leiden zuerst
ermattenden Verzichtes ihr stolzes "Wähnen und "Wünschen
der grausamen "Welteinsicht unterordnet, schafft sich ihre
künstlerischen "Ventile. Hier ist die Kunst geradezu das
eigentliche höchste und stärkste Leben, gegenüber der All-
tagskleinheit.
DER GROSSEN KUNST
Der ich mit entbrannten Blicken
Und mit Scheu doch näher trete,
Große Kunst, zu der ich bete.
Laß mich nicht im Tag ersticken;
Segne den dir still Geweihten,
Des Geschehens Niederungen
Bleiben unter ihm, begleiten
Schwebend ihn die Feuerzungen.
Die Feuerzungen begleiten und führen ihn zu immer
vollendeteren Gestalten seiner "Weltgefühle. Schicksals-
stimmungen, Lebensdurchblicke werden im Gleichnis ge-
bannt wie in den ergreifenden Versen
DIE JUNGE SEHNSUCHT.
O junge Sehnsucht, die sich einen Heerzug träumt
Und einen kampfbereiten Kiel, an den die Meerf^ut
schäumt.
Der ungeduldig an der Kette zerrepd sich im Hafen
wiegt.
Und einen Mast, an den sich eine Scharlachflagge
schmiegt!
774 7C>f7?L BEJ^CT^LL
O junge Sehnsucht, die der Gott des Traums befruchtet,
Wenn über "Wald und Wegen schwer die dunkle Wolke
wuchtet,
O Sehnsucht, die in Qualen sich auf lichtgemied'nem
Lager windet, —
Einst kommt der Tag, der dich verhungert und
verdurstet findet!
oder in dem ahnungsschweren Gedicht
DAS GROSSE SCHIFF.
Den schweren Anker hat das große Schiff
Versenkt auf hoher Flut und liegt und wacht
Mit schwarzen Augen horchend in die Nacht —
Und ihm zu Seiten wartet stumm das Riff.
Und morgen, wenn die rote Sonne kaum
Am Himmel steht und buhlend Winde werben,
Wird es sich rühren aus dem dumpfen Traum
Und — an das Riff getrieben scheiternd sterben.
Das ungestüm drängende Herz, dieser Gischt- und Geyser-
quell kochender Unbefriedigtheiten, das in so vielen Glut-
und Qualversen und ,Tristien" — in Schaukai sind Ovi-
dische Züge — aufzischte, hat aber bei Richard Schaukai
nicht nur in der großen Kunst, sondern auch in der starken
Liebe seine Erlösung gefunden. In aufrichtigen und wahr-
haft wertvollen Bekenntnisversen wie in dem Gedicht:
,, Seelenabgründe" oder in freien Rhythmen völliger Hin-
gabe an das Du drücken sich tief menschliche Ausgleichs-
vorgänge in der Seele dieses zum glänzendsten Verskünstler
veranlagten, aber zum Nur- Virtuosen viel zu bedeutenden
deutschen Dichters aus.
DU.
Wie aus tiefen Wäldern bist du.
Wo keine schweren Menschen gehen.
Wie in der Waldquelle
VOJ^ DEUrSCHEJj DICHTUNG 775
Seh ich mich rein und wahr in dir.
Ich bin ein heißer unzufriedener Mensch
Mit einem herrischen Kinderherzen.
Tau liegt auf meinen Haaren aus den Nächten der Sehnsucht.
Meine Hände zittern nach Glück.
Und meine Seele kann fliegen
Hoch über den Tagen:
Ich seh ihr nach und staune,
Lächle und weine.
Manchmal aber bin ich wie'ein König . . .
Und alles ist dein.
Dein ward es ohne Schenken.
Du kamst und es war dein.
Ich bin so sicher dein zu sein mit allem.
Wüßte man es nicht zur Genüge aus seinen eigenen
Gedichten, so würden es uns seine Nachdichtungen un-
widerleglich bezeugen, wie sicher, geschmeidig, stolz und
gebieterisch Richard Schaukai die Sprache des Verses
meistert. All diese Worte drängen sich mir in unein-
geschränkter Bewunderung auf die Lippen, wenn ich
mit wachsendem Entzücken langsam durchkostend seine
Verlaine - H eredia - Nachdichtungen genieße. Be-
sonders der beherrschendere Jose Maria de Heredi a
in seinen vollendeten Gestaltungen, symbolischen Verleben-
digungen und lyrischen Plastiken menschlicher Grundzüge
und Großzügigkeiten, dieser macht- und prachtvolle Sonet-
tist der heroischen Legende — er hat in Richard Schaukai
einen im ganzen schier unübertrefflichen Umbildner ge-
funden. Mit einer solchen künstlerischen SchafFenshuldi-
gung deutscher Einfühlungs- und Wiederformungskraft an
den französischen Sprach- und Dichtergenius will ich
meine Lese aus unserer Lyrik seit Heinrich Heine be-
schließen.
ijG_
\AJ^ HBJ^CJjELL
DER LÄUFER.
Auf eine Statue des Myron.
So sah ihn Delphi damals, jubelbrausend.
Vor Thymos fliehn durchs Ziel: Den Rumpf so schlank
Gedehnt, das Auge starr, die Arme lang
Gestreckt, auf Hermes Flügelfüßen sausend.
Und er, der's bildete vor zweimaltausend
Jahren und mehr, das Werk, das ihm gelang
So lebentäuschend, schuf er's, oder sprang
Der Läufer aus der Form, und stand er grausend?
Fiebernde Hoffnung macht die Lippen beben,
Erz perlt von der Stirn, die Muskeln schwellen.
Die Palmen sieht er sich entgegenheben:
Kaum noch am Sockel haften diese schnellen
Federnden Sohlen, ja, nun schwebt er, fliegt
Beschwingt durchs Stadion, hält und hat gesiegt.
Der Genius der deutschen Lyrik ist wie der Läufer des
Myron. Unermüdlich schwellt sein sieghafter Drang
neuen Zielen und Kränzen zu, er stürmt, er schwebt,
er hält wie jener.
Lassen Sie mich ein andermal, wenn Lust und Liebe
rufen, von neuem Schwellen und Schwingen, Sausen und
Siegen künden, es soll dann gleichfalls der echten Dichte-
rinnen unserer Tage gedacht werden, deren Lied von tiefe-
rem Leben glüht, und noch auf manch einen kräftig und edel
Dahingetragenen, der die heilige Säule seines eigenen künst-
lerischen Sehnens sucht, möchte ich dann Ihre Blicke richten.
Es ist eine Freude, jeden jungen Keimfrühling mitzuer-
leben, wenn man selbst das wurzelstarke Steigen der Säfte
im frischen Wachstum der Lebensringe verspürt. Denn auch
wir wollen die Früchte voll ausreifen lassen, die sich unter
Schloßen und Schauern kernfest und an zähen Stielen ge-
bildet haben, und wollen den Tagen einer schönen Ernte
schaffend und zukunftgrüßend entgegenschreiten.
VOJ^ DEUTSCHETj DJCNTUJ^G I77
DICHTERTAFEL.*)
August von Platen 4 — 6
Heinrich Heine 6 — lo
Nikolaus Lenau i i — 15
Georg Herwegh 15 — 16
Ferdinand Freiligrath 17 — 20
Annette v. Droste-Hülshoff 20 — 24
Friedrich Hebbel 24 — 27
Eduard Mörikc 27 — 311^
Emanuel Geibel 32 — 33
Paul Heyse 34 — 35
Hermann Lingg 35 — 37
Heinrich v. Reder 37 — 40
Heinrich Leuthold 41 — 43
Gottfried Keller 44 — 51
Theodor Storm 51 — 54
Klaus Groth 54—58
Martin Greif 59 — 63
Conrad Ferdinand Meyer 63 — 70
Detlev von Liliencron 70 — 81
\C^ilhelm Arent 82—84
Hermann Conradi 84 — 89
Arno Holz 89 — 94
*) Glosse für Pedanten:
Die Zahl der Seiten bezeichnet nicht die Wertschätzung des
Einzelnen.
ij8_
VON DEUTSCHER DICHTUNG
Heinrich und Julius Hart 94—104
Peter Hille 104— 106
Otto Erich Hartleben 106—112
Friedrich Nietzsche 112 — 120
Carl Spitteler 120—127
Johannes Schlaf 128—134
Cäsar Flaischlen 134—138
Bruno Wille 138—142
Otto Julius Bierbaum 142 — 147
John Henry Mackay 147—155
Gustav Falke 156—163
Richard Dehmel 163—169
Richard Schaukai 170—176
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Abbe Galiani, Rctif de la Brctonnc, Grimod de la Rey-
ni^re, Choderlos de Laclos) von FRANZ BLEI
Band IV MAXIM GORKJ von HANS OSTWALD
Band V DIE JAPANISCHE DICHTUNG von OTTO
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Band VI NOVALIS von FRANZ BLEI
Band VII SELMA LAGERLÖF von OSCAR LEVERTIN
Band Vin DIE KUNST DER ERZAHLUNG von JAKOB
WASSERMANN
Band IX SCHAUSPIELKUNST von ALFRED KERR
Band X GOTTFRIED KELLER von OTTO STOESSL
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(Bang, Hamsun, Obstfelder, Geycrstam, Aho) von
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Band XII CHARLES BAUDELAIRE von ARTHUR HOLIT-
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FT Henckell, Karl Friedrich
1173 Deutsche Dichter seit
H4- Heinrich Heine
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