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Full text of "Deutsche Dichter seit Heinrich Heine; ein Streifzug durch fünfzig Jahre Lyrik"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/deutschedichtersOOIienc 


M  ,^1 


\vx 


DIE     LI TERATUR 

SAMMLUNG  ILLUSTRIERTER 

EINZELDARSTELLUNGEN 

HERAUSGEGEBEN  VON 

GEORG   BRANDES 


SIEBENUNDDREISSIGSTER    BIS 
ACHTUNDDREISSIGSTER  BAND 


--3F 


^^-^ 


NACH  DEM  GEMÄLDE  VON  ARNOLD  BÖCKLIN 


VerlaiJ  Jer  Phoioi 


Published  Decemher  /j.  j^o6. 
Privilege  of  Copyright  in  the 
Tlnihd  States  reserved  under  the 
act  approved  March  5.  J^o^  hy 
Bard,  Marquardtcr  Co.  in  Berlin. 


PT 

1115 


J^lESBTi  STJ^EirZUG  DU7{CH  D7E 
J^^  deutsche  lyrische  "Dichtung  des  letzten  Jialbjahr- 
hunderts  ist  die  Erweiterung  eines  Vortrages,  den  ich 
zuerst  in  der  Lesegesellschaft  zu  \ö'ln  vor  einem 
literarischen  Publikum  und  dann  im  'Bürgersaale  des 
Berliner  T(athauses  vor  den  Zuhörern  der  ,,  Treien  Hoch- 
schule'* hielt.  Tür  den  vorliegenden  Druck  'd^ß  ich  die 
Tortragsform  unverändert,  um  den  ursprünglichen  Cha- 
rakter nicht  unnötig  zu  verwischen. 

Eine  ergänzende  Darstellung  behalte  ich  mir  einmal 
für  später  vor. 


J{J17{L  HEJ\XJ(ELL 


h 

ON  SEHR   ALTEN  VERGANGEN- 

heiten  bis  zum  gegenwärtigen  Tage  be- 
gleitet die  Kunst  der  Lyrik  das  mensch- 
liche Geschlecht  auf  seinen  wunderbaren 
Pfaden.  Unausrottbar,  unermüdlich  rege 
bleibt  der  Reiz,  in  rhythmisch  vollendet 
gegliederter  Sprache,  mit  feinfühlig 
lauschendem  inneren  Ohr  das  Wesen  der 
"Welt,  ihre  Offenbarungen  und  Geheim- 
nisse, klangvoll  und  bildkräftig  dichterisch  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Die  Lyrik  lebt  und  webt  mit  dem  Leben 
und  Weben  der  Menschheit;  es  gibt  eine  ewige  Wieder- 
geburt der  Welt  im  Lied.  Wir  haben  erfahren,  daß  der 
einfachste  wie  der  zusammengesetzteste  Typus  Mensch 
seine  Selbsterlösung  im  Lied  gefunden  oder  doch  nach 
ihr  gesucht  hat.  Mit  der  zunehmenden  Verzweigung  der 
Empfindungen  mußten  sich  die  Mittel  des  lyrischen  Aus- 
drucks naturgemäß  auch  immer  mehr  verfeinern,  worauf 
aller  sogenannte  Fortschritt  in  der  lyrischen  Technik  be- 
ruht —  Wurzel,  Stamm  und  Hauptäste  des  menschlichen 
Welt-  und  Lebensgefühls  rufen  dagegen  in  ihrem  dauernd 
gleichen  Grundbestande  stets  von  neuem  nach  gleichen 
Gesetzen  ihr  lyrisches  Lautbild  hervor.  Wenn  wir  die 
echten  Bücher  der  Lyrik  öfFnen,  so  schlagen  wir  damit 
eigentlich  nur  rhythmisch  gesteigertellrkundendesMenschen- 
herzens  auf.  Gleichnisse  der  Seele  entdecken  wir,  die  in 
urvertrautem  Laut  uns  mehr  oder  weniger  geheimnisvoll 
umschweben.  Je  größer  ein  Dichter,  um  so  stärker  zieht 
er  unser  Tiefstes,  Verborgenstes  in  Mitleidenschaft  und 
führt  uns,  wo  er  am  köstlichsten  ist,  liebend  zum  dunklen 
Mutterschoße  der  Natur  zurück. 

Wir  Deutschen  leben  nun,  wie  Sie  wissen,  des  frohen 
Glaubens,  das  wahrhaft  auserwählte  Lyrikervolk  zu  sein. 
Und  wir  dürfen  uns  auch  auf  unsere  lyrischen  Schatz- 
kammern   etwas    zugute    tun.      Sie   sind    gefüllt    mit    Gold 


VOJ^  DEUTSCTfETj  mCHTUJVG  ^ 

und  Edelgestein,  mit  leuchtenden  reinen  Kristallen,  die 
wie  verzaubert  ein  seltsames  Klingen  hören  lassen,  daß  man 
gebannt  zu  jeder  hohen  Stunde,  die  das  drängende  Leben 
freigibt,  darin  wandeln  und  nur  immer  schauen  und  lauschen 
mag,  was  das  Herz  begehrt  —  es  findet  sich  bestimmt  für 
jeden,  der  nicht  ein  armer  blinder  und  tauber  Barbar  ist, 
ein  Kleinod,  tief  leuchtend  in  stillem,  ruhigem  Glanz  oder 
aufflammend  in  stolzem  Schein,  dem  er  seine  innige  Liebe, 
seine  glühende  Bewunderung  hingeben  muß.  w\e  haben 
sich  nicht  allein  im  Laufe  der  letzten  hundertfünfzig  Jahre 
die  alterworbenen  Reichtümer  gemehrt  und  gehäuft,  daß 
es  eine  Lust  und  "\X^eide  ist,  sie  zu  überschauen!  Sie  kennen 
Alle  die  Reihe  ragender  Mehrer  dieses  unseres  lyrischen 
Nationalreichtums  vom  gefühlsselig  schwärmenden  Klop- 
stock,  vom  freimännlich  urwüchsigen  Bürger  und  groß- 
menschlich dithyrambischen  Schiller  zum  hellenenfrommen 
Hölderlin  und  johanneszarten  Novalis;  vom  innig- 
schlichten Waldsänger  Eichendorff  über  den  Jungbrunnen 
des  Brentanoschen  Wunderhorns  zum  maihauchenden, 
wortknappen  und  doch  so  überquellenden  treuen  Kame- 
raden U  hl  and;  vom  erdumsegelnd  tiefsinnigen  Salas  Y 
Gomez-Sänger  und  dabei  doch  so  heimseligen  Frauenlieb- 
und  -Lebenverklärer  Adelbert  von  Chamisso  zum 
liebesfrühlingkündenden  und  makamen-weisheittriefenden 
Rückert  —  über  ihnen  allen  von  Generation  zu  Genera- 
tion gewaltig  emporwachsend  der  allmenschliche,  in  Leben 
und  Lied  weltumspannende  Goethe. 

Freudebrausend  rollte  mit  ihm  der  Strom  der  deutschen 
l^rrik  im  breitgegrabenen  Bette  dahin.  Und  immer  neue 
Flußgötter  und  Waldfaune  der  Dichtung  tauchten  auf  und 
bliesen  eigentönig  ihr  Instrument,  Muschelhorn  oder  Flöte. 
Wie  kaum  eine  andere  Periode  —  höchstens  die  heutige  — 
bezeugte  die  erste  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts,  wel- 
cher Gefühls-  und  Geistespole  die  Kunst  der  Lyrik  fähig 
ist,  wie  sie  zum  gleich  glücklichen  und  gleich  notwendigen 
Ausdrucksmittel  wird  der  verschiedenartigsten  Weltan- 
schauungen, der  entgegengesetztesten  Persönlichkeiten. 


J{jn{L  HEJMCJ^ELL 


Das  romantische  Gefühlshelldunkel  wurde  überflutet  von 
Strahlenbündeln  moderner  Kulturideale,  der  Zug  zum  Volks- 
eigentümlichen fand  sein  psychologisches  Ergänzungs-  oder 
auch  Gegenstreben  in  der  human -kosmopolitischen,  mehr 
rationalistischen  Geistesart.  Graf  Platen  trug  feierlich  in 
strengen  Maßen  sein  Verlangen  nach  schöneren,  freieren 
Menschheitsformen  vor,  während  sich  unter  den  stolzen 
Falten  seines  Mantels  ein  tiefunbefriedigtes  Herz  verbarg, 
ein  zehrender  Lebensschmerz,  dem  er  vergeblich  in  sonnige 
Gefilde  zu  entfliehen  suchte;  ich  erinnere  Sie  nur,  abge- 
sehen von  seinen  Tagebüchern,  an  das  für  Platen  vielleicht 
aufschlußreichste  Gedicht: 

LEBENSSTIMMUNG. 

"Wem   dein   wachsender    Schmerz    Busen   und    Geist    be- 
klemmt. 
Als  Vorbote  des  Tods,  bitterer  Menschenhaß, 
Dem  blüh'n  der  Gesang,  die  Tänze, 
Die  Gelage  der  Jugend  nicht. 

Sein  Zeitalter  und  er  scheiden  sich  feindlich  ab. 
Ihm  mißfällt,  was  erfreut  Tausende,  während  er 
Scharfsichtige,  finstre  Blicke 
In  die  Seele  der  Toren  wirft. 

'Weh  ihm,  wenn  die  Natur  zarteren  Bau  vielleicht. 
Bildungsreicheren  lieh  seinem  Gehör,  um  durch 
Kunstvolle  Musik  der  Worte 
Zu  verewigen  jede  Pein! 

Wenn  unreifes  Geschwätz  oder  Verleumdung  ihn 
Kleinlichst  foltert,  und  er,  welchen  der  Pöbel  höhnt. 
Nicht  ohne  geheimes  Knirschen 
Unerträgliche  Qual   erträgt: 

Wenn    Wahrheiten    er  denkt,    die    er   verschweigen  muß. 
Wenn  Wahnsinn  dem  Verstand  schmiedet  ein  ehern  Joch, 
Wenn  Schwäche  des  Starken  Geißel 
Wie  ein  heiliges  Zepter  küßt: 


VOJ^  DEUTSCTfETi  DJCJiTUJ^G  5 

Ja,  dann  wird  er  gemach  müde  des  bunten  Spiels, 
Freiheitatmender  wehn  Lüfte  des  Heils  um  ihn. 
Wieg  legt  er  der  Täuschung  Mantel 
Und  der  Sinne  ,, gesticktes  Kleid". 

Ob  zwei  Seelen  es  gibt,  welche  sich  ganz  verstehn? 
Wer   antwortet?     Der  Mensch  forsche  dem  Rätsel  nach, 
Gleichstimmige  Menschen  suchend, 
Bis  er  stirbt,  bis  er  sucht  und  stirbt  .  .  . 

Von  welcher  großen,  im  tiefsten  Grunde  und  besten 
Sinne  modernen'  Auffassung  des  Dichterberufes  zeugt  nicht 
ein  kurzes  Gedicht  wie  das  folgende,  in  der  von  ihm  ge- 
liebten, orientalischen  Ghaselcnform! 

GHASELE. 

"Was  gibt  dem  Freund,  was  gibt  dem  Dichter  seine  Weihe? 
Daß  ohne  Rückhalt  er  sein  ganzes  Selbst  verleihe; 
Erleuchten  soll  er  klar  der  Seele  tiefste  Winkel, 
Ob  auch  ein  Tadler  ihn  verlor'ner  Würde  zeihe. 
Ihr  Halben  hofft  umsonst,  mit  enger  Furcht  im  Herzen, 
Daß  euer  Lied  man  einst  zu  großen  Liedern  reihe: 
Stumpfsinnige,    was   wähnt  ihr  rein  zu  sein?     Ich  hörte, 
Daß  keine  Schuld  so  sehr,   als  solch  ein  Sinn  entweihe: 
Ich  fühlte,    daß   die   Schuld,   die   uns    aus  Eden  bannte, 
Schwungfedern  uns  zum  Flug  nach  höhern  Himmeln  leihe: 
Noch   bin    ich    nicht    so    bleich,    daß    ich  der  Schminke 

brauchte. 
Es  kenne  mich  die  Welt,  auf  daß  sie  mir  verzeihe! 

"  Den  formvollendeten  Dichter  des  „Grabes  am  Busento" 
kennen  wir  alle  von  der  Schulbank  her,  vergessen  wir  da- 
rüber nicht  des  eigentlichen  Menschen,  wie  er  aus  solchen 
Bekenntnisversen  spricht.  August  Graf  von  Platen  war  ein 
Sohn  der  Einsamkeit  und  des  Schmerzes,  Junker  der  Frei- 
heit und  Schwertträger  der  Schönheit.  Er  war  der  Sprache 
feierlich  schJeppentragender  Page. 


\AT{L  HEJ\JCJ{ELL 


Platens  bestumstrittener  Zeitgenosse  Heinrich  Heine 
pflanzte  seine  poetischen  Wimpel  auch  auf  zerrissenem 
Lebensgemäuer  auf,  nur  ohne  die  feierliche  Gebärde, 
die  ihn  an  dem  Dichtergrafen  so  ärgerte;  Heine  war  ein 
so  großer  Künstler  des  deutschen  Verses,  daß  er,  im  feineren 
kunstgemäßen  Sinne  zweifellos  heldisch,  mit  schmerzendem 
Fuß  und  Rückgrat  —  beides  hier  nur  bildlich  im  seelischen 
Sinne  gebraucht  —  einen  wahren  Märtyrer-  und  Sieger- 
tanz auf  Ruinen  ausführte,  in  der  einen  Hand  die  pras- 
selnde Fackel  eines  nach  Freiheit  verschmachtenden  Geistes, 
in  der  andern  die  bald  betörend  süße,  bald  grell  ausklirrende 
Lyra  der  närrischsten   Herzenssehnsucht  schwingend. 

Heine  mußte  fortwährend  seines  Herzens  eigene  Kinder 
töten:  der  Dichter  der  ,, "Wallfahrt  nach  Kevlaar"  und  der 
„Loreley"  war  gewiß  mit  romantischem  Weihwasser  be- 
sprengt, und  doch  mußte  er,  der  satanische  „Intellektuelle" 
lachen,  lachen  über  den  frommen,  seligen  Spuk,  der  in 
ihm  rumorte,  und  helle  Geistesfeuer  anzünden,  um  die 
lieben  Sehnsüchte  seines  Gemüts  auflodernd  darin  zu  ver- 
brennen. Und  dann  gelang  es  ihm  noch,  mit  scheinbar 
leichter  Grazie  über  den  rauchenden  Scheiterhaufen  zu 
springen  und  zu  singen:  Ecce  Heine!  indem  er  sich  in 
glänzenden  Trochäen  ganz  unübertrefflich  selber  charak- 
terisierte: 

Aus:    BlMINl. 
Bimini  1  bei  deines  Namens 
Holdem  Klang,  in  meiner  Brust 
Bebt  das  Herz,  und  die  verstorb'nen 
Jugendträume,  sie  erwachen. 

Auf  den  Häuptern  welke  Kränze, 
Schauen  sie  mich  an  wehmütig; 
Tote  Nachtigallen  flöten, 
Schluchzen  zärtlich,  wie  verblutend. 

Und  ich  fahre  auf,  erschrocken. 
Meine  kranken  Glieder  schüttelnd 


K)7V  BEKTSCJiBlj  BlCJiTUlMG  J 

Also  heftig,  daß  die  Nähte 
Meiner  Narrenjacke  platzen  — 

Doch  am  Ende  muß  ich  lachen. 
Denn  mich  dünket,  Papageien 
Kreischten  drollig  und  zugleich 
Melancholisch:    Bimini. 

Hilf  mir,  Muse,  kluge  Bergfee 
Des  Parnasses,  Gottestochter, 
Steh'  mir  bei  jetzt  und  bewähre 
Die  Magie  der  edlen  Dichtkunst  — 

Zeige,   das  du  dichten  kannst. 
Und  verwandle  flugs  mein  Lied 
In  ein  Schiff,  ein  Zauberschiff, 
Das  mich  bringt  nach  Bimini! 

Kaum  hab'  ich  das  Wort  gesprochen. 
Geht  mein  Wunsch  schon  in  Erfüllung, 
Und  vom  Stapel  des  Gedankens 
Läuft  herab  das  Zauberschiff. 

"Wer  will  mit  nach  Bimini? 
Steiget  ein,  ihr  Herrn  und  Damen! 
Wind  und  Wetter  dienend,  bringt 
Euch  mein  Schiff  nach  Bimini. 

Leidet  ihr  am  Zipperlein, 
Edle  Herren?  Schöne  Damen, 
Habt  ihr  auf  der  weißen  Stirn 
Schon  ein  Rünzelchen  entdeckt? 

Folget  mir  nach  Bimini, 
Dorten  werdet  ihr  genesen 
Von  den  schändlichen  Gebresten; 
Hydropathisch  ist  die  Kur! 

Fürchtet  nichts,  ihr  Herrn  und  Damen, 
Sehr  solide  ist  mein  Schiff; 
Aus  Trochäen,  stark  wie  Eichen, 
Sind  gezimmert  Kiel  und  Planken. 


8 J^J[J{L  JiEJ^C\ELL 

Phantasie  sitzt  an  dem  Steuer, 
Gute  Laune  bläht  die  Segel, 
Schiffsjung  ist  der  "Witz,  der  flinke; 
Ob  Verstand  an  Bord?     Ich  weiß  nicht! 

Meine  Raen  sind  Metaphern, 
Die  Hyperbel  ist  mein  Mastbaum, 
Schwarz-rot-gold  ist  meine  Flagge, 
Fabelfarben  der  Romantik  — 

Trikolore  Barbarossas, 
Wie  ich  weiland  sie  gesehen 
Im  Kyffhäuser  und  zu  Frankfurt 
In  dem  Dome  von  Sankt  Paul.  — 

Durch  das  Meer  der  Märchenwelt, 
Durch  das  blaue  Märchenweltmcer, 
Zieht  mein  Schiff,  mein  Zauberschiff, 
Seine  träumerischen  Furchen. 

Funkenstäubend  mir  voran. 
In  dem  wogenden  Azur 
Plätschert,  tummelt  sich  ein  Heer 
Von  großköpfigen  Delphinen  — 

Und  auf  ihrem  Rücken  reiten 
Meine  Wasserpostillone, 
Amoretten,  die  bausbäckig 
Auf  bizarren  Muschelhörnern 

Schallende  Fanfaren  blasen.  — 
Aber  horch!  da  unten  klingt 
Aus  der  Meerestiefe  plötzlich 
Ein  Gekicher  und  Gelächter. 

Ach,  ich  kenne  diese  Laute, 
Diese  süßmoquanten  Stimmen  — 
Das  sind  schnippische  Undinen, 
Nixen,  welche  skeptisch  spötteln 


i 


HEINRICH  HEIXE  1829. 


VOJ^  DEUTSCHE7{  BlCTiTUJ^G  9 

Über  mich,  mein  Narrenschiff, 
Meine  Narrenpassagiere, 
Über  meine  Narrenfahrt 
Nach  der  Insel  Bimini. 

Nach  einer  so  meisterlichen  lyrischen  Selbstporträtierung 
müssen  wir  uns  doch  vorsehen,  einer  im  guten  und  gefähr- 
lichen außerordentlichen  Genialität  gegenüber,  uns  mit  an- 
maßlicher  Schulmeistercharakteristik  vor  Apoll  und  den 
neun  Musen  zu  blamieren,  um  vielleicht  bei  irgend  einem 
selbstgerechten  Teutomanen  einen  Stein  im  Brett  zu  be- 
kommen. Halten  wir  uns  an  das  Geniale  und  lassen  wir 
die  schwachen  Schimpflinge  laufen!..  Wer  hat  den  zarten 
Gedanken  und  Liedern  der  Liebe,  wie  sie  unvergänglich  seit 
Jahrtausenden  auf  dem  Felde  der  Menschheit  erblühen,  je 
ein  innigeres  und  schlichteres  Motto  gedichtet  als  Heine 
in  seinem  freirhythmischen 

EPILOG. 
Wie  auf  dem  Felde  die  Weizenhalmen, 
So  wachsen  und  wogen  im  Menschengeist 
Die  Gedanken. 

Aber  die  zarten  Gedanken  der  Liebe 
Sind  wie  lustig  dazwischenblühende 
Rot'  und  blaue  Blumen. 

Rot'  und  blaue  Blumen! 

Der  mürrische  Schnitter  verwirft  euch  als  nutzlos. 

Hölzerne  Flegel  zerdreschen  euch  höhnend. 

Sogar  der  hablose  Wandrer, 

Den  eu'r  Anblick  ergötzt  und  erquickt. 

Schüttelt  das  Haupt 

Und  nennt  euch  schönes   Unkraut. 

Aber  die  ländliche  Jungfrau, 

Die  Kränzewinderin, 

Verehrt  euch  und  pflückt  euch. 

Und  schmückt  mit  euch  die  schönen  Locken, 

BJiJlJSrDES:  DIE  UTET{JlTini.  BJIJMV  XXXVII l XXXVIII  B 


lO  J{AT{L  ?{EMCJ{ELL 

Und  also  geziert  eilt  sie  zum  Tanzplatz, 

Wo  Pfeifen  und  Geigen  lieblich  ertönen, 

Oder  zur  stillen  Buche, 

Wo  die  Stimme  des  Liebsten  noch  lieblicher  tönt 

Als  Pfeifen  und  Geigen. 

Und  wer  wiederum  hat  so  schlagend  schalkhaft  im  lyri- 
schen Epigramm  den  deutschen  Dichter  zur  gehörigen 
Vorsicht  ermahnt,  als  eben  Heine  in  seiner 


WARNUNG. 

Solche  Bücher  lässt  du  drucken! 
Teurer  Freund,  du  bist  verloren! 
Willst  du  Geld  und  Ehre  haben, 
Mußt  du  dich  gehörig  ducken. 

Nimmer  hätt  ich  dir  geraten. 
So  zu  sprechen  vor  dem  Volke, 
So  zu  sprechen  von  den  Pfaffen 
Und  \on  hohen  Potentaten. 

Teurer  Freund,  du  bist  verloren! 
Fürsten  haben  lange  Arme, 
Pfaffen  haben  lange  Zungen, 
Und  das  Volk  hat  lange  Ohren. 

So  hatte  die  deutsche  Lyrik  ihren  auserwählten  Prinzen 
Karneval  mit  dem  kostbaren  Scharlachgewand,  der  vergol- 
deten Pritsche,  auch  ein  wenig  Flittergold  im  Haar  und 
dem  mehr  gequälten  als  fröhlichen  Herzen.  Blitzende 
Geisteslaune,  neptunische  Nordseebildsouveränetät  hatte 
dem  Vers  eine  vorher  kaum  gekannte  Geschmeidigkeit  und 
schöne  Willkürlichkeit  verliehen,  überlegenes  stilistisches 
Satirspiel  aber  der  allzu  simpeln,  romantisierenden  Naive- 
tätsmanie,  ohne  sich  selber  dabei  im  geringsten  zu  schonen, 
den  Todesstoß  versetzt. 


VOJ\}  DEUTSCHER  DJCTfTVJ^G  IJ 

In  den  bald  übermütigen,  bald  katzenjämmerlichen  Sang 
der  verhexten  rheinischen  Spottdrossel,  über  die  sich 
heute  noch  die  Wächter  des  deutschen  Schrifttums  in  Für 
und  "Wider  weidlich  erregen,  tönte  vom  Südosten  herüber 
die  herzergreifend  melodische  Lebens-  und  Zeitklage  der 
einsamen,  melancholischen  Nachtigall:  Nikolaus  Lenaus 
unglückliche  Seele  suchte  Trost  und  Erlösung  in  wehevollen 
Weisen  von  ebensolcher  Feinheit  wie  Tiefe  des  Gefühls. 
Hier  war  nirgends  ein  unheimlicher  Satyr  versteckt,  der 
plötzlich  gräuliche  Gesichter  schneidend  hervorbrach  —  das 
tat  merkwürdigerweise  nur  der  wirkliche  Lenau  manchmal 
zum  Entsetzen  seiner  Freunde  —  hier  war  stiller,  aber 
mächtiger  Ausdruck  der  Trauer  oder  erschütternder  Auf- 
schrei der  wildesten  Verzweiflung.  Keine  Kraft,  kein  Mut 
zum  Glücklichsein,  Versagen  des  sehnsüchtig  der  Braut  ent- 
gegenziehenden Freiers  unmittelbar  an  der  Schwelle  des 
H  ochzeitgemachs : 

OHNE  WUNSCH. 

Ja,  mich  rührt  dein  Angesicht 
Und  dein  Herz,  das  liebevolle. 
Aber,  Mädchen,  glaube  nicht. 
Daß  ich  dich  besitzen  wolle. 

Kamst  mir  durch  die  Seele  wie 
Ein  süßholdes  Lied  gedrungen. 
Aber  wie  die  Melodie 
Mußt  du  wieder  sein  verklungen. 

Meine  Freuden  starben  mir 
In  der  Brust,  bestürmt,  gespalten. 
An  den  Bahren  könnten  wir 
Nur  mit  Grauen  Hochzeit  halten. 

Ein  zu  trüber  Lebensgang 
Führte  mich  an  steile  Ränder. 
Kind,  mir  würde  um  dich  bang. 
Flieh,  es  krachen  die  Geländer! 


12  T{A1{L  T{EJ^CJ(ELL 


Schaudert  man  nicht  wie  vor  einem  schwindelnden  Ab- 
grund, bei  dem  schicksalsmächtigen  Schlußverse  des  Ge- 
dichts? .  .  .  Diesem  hin  und  her  gehetzten  Zigeuneraristo- 
kraten, diesem  elementaren  Schwermutsgenie  der  deutschen 
Dichtung  war  Macht  verliehen,  mit  seelenbannendem  Wort 
den  Schleier  des  Lebensschmerzes  über  die  ganze  Natur 
zu  breiten  —  wenn  er  geigte,  war  er  ein  wunderbarer 
Meisterspieler  der  Melancholie: 

HIMMELSTRAUER. 

Am  Himmelsantlitz  wandelt  ein  Gedanke, 

Die  düst're  Wolke  dort,  so  bang,  so  schwer; 
Wie  auf  dem  Lager  sich  der  Seelenkranke, 
Wirft  sich  der  Strauch  im  Winde  hin  und  her. 

Vom  Himmel  tönt  ein  schwermutmattes  Grollen, 
Die  dunkle  Wimper  blitzet  manches  Mal  — 
So  blinzen  Augen,  wenn  sie  weinen  wollen  — 
Und  aus  der  Wimper  zuckt  ein  schwacher  Strahl. 

Nun  streichen  aus  dem  Moore  kühle  Schauer 
Und  leise  Nebel  übers  Haideland; 
Der  Himmel  ließ,  nachsinnend  seiner  Trauer, 
Die  Sonne  lässig  fallen  aus  der  Hand. 

Nur  schon  die  beiden  letzten  Zeilen  mit  ihrer  feinen 
Seelenzeichnung  und  Natursymbolik  würden  Lenau  zum 
reichsunmittelbaren  Fürsten  der  melancholischen  Lyrik 
krönen. 

Lenau  spricht  einmal  von  der  „Einsamkeit,  dem  Schatten 
Gottes".  Er  selbst  war  der  klingende  Baum,  der  in  diesem 
Schatten  wuchs.  Der  Blitz  hatte  eingeschlagen.  Sein  ge- 
dankenvolles und  freiheitkühnes  Haupt  senkte  sich  immer 
tiefer  zu  Boden.  Das  Unglück  und  die  Liebe  gaben  sich 
an  der  blitzgeweihten  Stätte,  dem  „Enelysion",  wie  es 
die  ehrfürchtigen  Griechen  nannten,  ihr  zartes  Stelldich- 
ein.    Dann    klang    der   Baum    unsäglich    traurig,    und    mit 


NIKOLAUS  LENAU. 


VOJ^  DEUTSCTiEJj  DJCTiTUJ^G         I^ 

ihm    tönte,    von  Schmerz    durchbebt,    der    dunkelsausende 
Föhren  wald. 

Aber  der  arme  Niembsch  von  Strehlenau,  leis  wehklagend 
wie  Säuseln  des  Schilfes,  konnte  auch  mit  Feuerzungen 
dichten,  wenn  ihn  der  Gedanke  der  Emanzipation  der 
Menschheit  aus  den  Fesseln  politischen  und  kirchlichen 
Wahnes  erfüllte  —  dann  richtete  er  in  kühner  Leidenschaft 
das  Haupt  empor  und  schleuderte  den  von  diesem  Wahne 
profitierenden  Dunkelmännern  der  „Heiligen  Allianz" 
glühende  "Worte  der  Empörung  ins  Gesicht: 

DIE  SCHLIMME  JAGD. 

Das  edle  Wild  der  Freiheit  scharf  zu  hetzen. 
Durchstöbert  eine  finst're  Jägerbande 
Mit  Blutgewehren,  stillen  Meuchelnetzen 
Der  Völker  Heiligtum  im  deutschen  Lande. 

Das  Wild  mag  über  Ström'  und  Klüfte  setzen. 
Und  klettern  mag's  am  steilen  Klippenrande, 
Der  Waidruf  schallt  durch  Felsen,  Ström'  und  Klüfte, 
Empört  verschleudern  ihn  die  deutschen  Lüfte. 

Lenau,  dessen  individuelles  Seelenleben  sich  als  Wechsel 
lebensgläubiger  Momente  mit  immer  zunehmender  Ver- 
stimmung und  schließlicher  Umnachtung  abspielte,  sah  auch 
um  sich  im  Völkerleben  die  Nebel  der  Nacht  noch  den 
Sonnenaufgang  trübe  verhängen;  Dämmerung  umhüllte  den 
Propheten  der  Freiheit.  Auch  hier  resignierende  Klage  als 
Schluß: 

„Woher  der  düstre  Unmut  unsrer  Zeit, 

Der  Groll,  die  Eile,  die  Zerissenheit?  — 

Das  Sterben  in  der  Dämmerung  ist  schuld 

An  dieser  freudenarmen  Ungeduld. 

Herb  ist's,  das  langersehnte  Licht  nicht  schauen. 

Zu  Grabe  gehn  in  seinem  Morgengrauen. 

Und  müssen  wir  vor  Tag  zu  Asche  sinken. 


14  \Jn{L  TiEJ^CT{BZL 

Mit  heißen  Wünschen,  unvergoltnen  Qualen, 
So  wird  doch  in  der  Freiheit  goldnen  Strahlen 
Erinnerung  an  uns  als  Träne  blinken.", 

Ein  späterer  Dichter,  der  edle  Berner  Byronide  Dran- 
mor,  (Ferdinand  von  Schnnid)  verwob  diese  Verse  Lenaus  be- 
zeichnenderweise in  sein  großartiges  Schmerzgedicht:  Re- 
quiem. Sie  waren  ihm  aus  der  Seele  geschrieben.  So 
grüßen  sich  verwandte  Geister  über  Zeiten  hinweg. 

Lenau  war  auch  als  Freiheitsdichter  ursprünglicher  und 
tiefer  als  die  eigentlichen  Herolde  des  sogenannten  Völker- 
märzes, Freiligrath  und  besonders  Herwegh.  "Wie  der 
kühne  und  von  der  Zensur  konfiszierte  Lenau  übrigens  das 
Verhältnis  der  unantastbaren  dichterischen  Freiheit  zu  jed- 
wedem poetischen  Programmzwang  auffaßte,  davon  zeugt 
sein  auch  heute  noch  vollgültiges,  abwehrendes  Gedicht, 
das  sich  ganz  anzuführen  lohnt: 

DIE  POESIE  UND  IHRE  STÖRER. 

Jm  tiefen  "Walde  ging  die  Poesie 

Die  Pfade  heil'ger  Abgeschiedenheit, 

Da  bricht  ein  lauter  Schwärm  herein  und  schreit 

Der  Selbstversunknen  zu:  „"Was  suchst  du  hie? 

Laß  doch  die  Blumen  blühn,  die  Bäume  rauschen 

Und  schwärme  nicht  unpraktisch  weiche  Klage, 

Denn  mannhaft  —  wehrhaft  sind  nunmehr  die  Tage, 

Du  wirst  dem  "Wald  kein  wirksam  Lied  entlauschen. 

Komm,  komm  mit  uns,  verding  uns  deine  Kräfte; 

"Wir  wollen  reich  dir  jeden  Schritt  bezahlen 

Mit  blankgemünztem  Lobe  in  Journalen, 

Heb  dich  zum  weltbeglückenden  Geschäfte! 

Laß  nicht  dein  Herz  in  Einsamkeit  verdumpfen. 

Erwach  aus  Träumen,  werde  sozial, 

"Weih  dich  dem  Tatendrange  zum  Gemahl, 

Zur  alten  Jungfer  wirst  du  sonst  verschrumpfen!" 

Die  Poesie  dem  Schwärm  antwortend  spricht: 

,,Laßt  mich!  verdächtig  ist  mir  euer  Streben. 

Befreien  wollt  ihr  das  gejochte  Leben 


yOJ^  DEUTSCTiEJi  DJCTiTUJMG  I^ 

Und  gönnt  sogar  der  Kunst  die  Freiheit  nicht? 

Euch  sank  zu  tief  ins  Aug  die  Nebelkappe, 

Wenn  euer  Blick  nicht  straßenüber  sieht, 

Und  wenn  ihr  heischt  vom  freigebornen  Lied, 

Daß  es  dienstbar  nur  eure  Gleise  tappe. 

Ein  Blumenantlitz  hat  noch  nie  gelogen. 

Und  sichrer  blüht  es  mir  ins  Herz  die  Kunde, 

Daß  heilen  wird  der  Menschheit  tiefe  "Wu n d e , 

Als  euer  wirres  Antlitz,  wutverzogen. 

Prophetisch  rauscht  der  Wald:  Die  Welt  wird  frei! 

Er  rauscht  es  lauter  mir  als  eure  Blätter 

Mit  all  dem  seelenlosen  Wortgeschmetter, 

Mit  all  der  matten  Eisenfresserei. 

Wenn  mir's  beliebt,  werd  ich  hier  Blumen  pflücken. 

Wenn  mir's  beliebt,  werd  ich  von  Freiheit  singen; 

Doch  nimmermehr  laß  ich  von  euch  mich  dingen!" 

Sie  spricht's  und  kehrt  dem  rohen  Schwärm  den  Rücken. 

Doch  das  ist  natürlich  unbestreitbar,  daß  die  politische 
und  frühsoziale  Lyrik  gerade  durch  Freiligrath,  Herwegh 
und  ein  paar  andere  Männer  wie  Anastasi us  Grün, 
Karl  Beck  einen  wenn  auch  nicht  durchweg  hoch  künstle- 
risch, so  doch  vielfach  kulturell  bedeutsamen  Zug  erhielt. 
Die  kämpfende  Muse  spielte  damals  eine  große  Rolle,  sie 
ließ  in  streitbar  herausfordernder  Haltung  so  wirkungsvoll 
die  Lanze  in  der  Sonne  blitzen  und  schlug  so  klingend  an 
den  ehernen  Freiheitsschild,  daß  aller  Augen  und  Ohren 
an  ihr  hingen  und  sich  fast  nach  jenen  tieferen  Dichtern 
umzusehen  und  umzuhören  vergaßen,  die  fern  der  Schlacht- 
reihe im  Schatten  uralter  Haine  und  im  stillen  Gehege 
friedlicher  Dörfer  unbekümmert  ihren  zeitlosen  Weisen 
nachhingen.  Doch  auch  Herwegh  und  Freiligrath  waren 
wesentlich  im  Vordergrund,  in  der  Arena  Kampf-  und  Zeit- 
dichter. Da  hatte  der  kecke  Schwabe  seinen  wuchtigen 
Kehrreim   geschmettert: 

„Wir  haben  lang  genug  geliebt 
Und  wollen  endlich  hassen". 


ib  J{jn{L  TfEMCJ(ELL 

da  hatte  der  einst  farbenprunkende  WÜistenritt- Dichter 
und  exotische  Westfale  im  furor  teutonicus  sein  drohendes 
Revolutionslied  geblasen  —  als  dann  die  Tage  des  Kampfes 
vorbei  waren  und  die  großen  Enttäuschungen  kamen  für 
die  ungeduldigen  Rufer  im  Streite,  die  schwere,  drückende 
Wartezeit  für  alle  ungestüm  vorwärts  drängenden  Patrioten, 
da  entrang  sich  auch  diesen  mutig  vorschauenden  Fanfaren- 
bläsern der  Freiheit  manch  stiller,  inniger  Ton.  So  Her- 
wegh  das  resigniert  nachdenksame  Sonett: 

riEF.   TIEF   IM    MEERE 

Tief,  tief  im  Meere  sprach  einst  eine  "Welle: 
"Wie  glücklich  müssen  meine  Schwestern  leben, 
Die  droben  strahlend  auf  und  nieder  schweben; 
O,  dürft'  ich  einmal  an  des  Tages  Helle! 

"Wie  sie  gebeten,  so  geschah  ihr  schnelle, 
Sie  durfte  aus  dem  dunkeln  Schoß  sich  heben; 
Doch  kaum  war  ihr  Ein  Sonnenstrahl  gegeben. 
Lag  sie  schon  sterbend  an  des  Ufers  Schwelle. 

O,  mögen  alle  doch  ihr  Schicksal  loben. 

Die  still  geheim  des  Lebens  Kreis  beschreiben 

Und  nie  die  "Wut  der  ofFnen  See  erproben. 

O,  mögen  sie  in  tiefer  Nacht  verbleiben. 

Und  ihrer  keiner  streben  je  nach  oben, 

Um  mit  den  "Winden  auf  den  Sand  zu  treiben. 

Derlei  elegische  Untertöne  der  Seele  überhörte  man  wohl 
vor  den  lauteren  Trompetenklängen.  —  Auch  bei  Ferdinand 
Freiligrath  kam  in  Gedichten,  wie  „Die  Tanne"  ein  schlicht 
realistischer  Naturton  zum  "Vorschein,  der,  fast  vom  geisti- 
en  Gegenpol  aus,  durch  seine  Hinwendung  zum  Einfach- 
oetischen  eine  Brücke  zu  des  Dichters  großer  Lands- 
männin Annette  Droste- H  ül  shof  f  schlägt.  Zur  un- 
mittelbaren "Vergegenwärtigung  —  was  hat  alles  literarische 
Räsonnement  sonst  für  einen  Sinn?  —  finde  hier  das  Frei- 
ligrathsche  Gedicht  Platz: 


f 


W7V  DEUTSCTiETi  mCHTUJSIG  IJ 

DIE  TANNE. 
Auf  des  Berges  höchster  Spitze 
Steht  die  Tanne,  schlank  und  grün. 
Durch  der  Felswand  tiefste  Ritze 
Läßt  sie  ihre  "Wurzeln  ziehn. 

Nach  den  höchsten  Wblkenbällen 
Läßt  sie  ihre  Wipfel  schweifen. 
Als  ob  sie  die  vogelschnellen 
Mit  den  Armen  wollte  greifen. 

Ja,  der  Wolken  vielgestaltge 
Streifen,  flatternd  und  zerrissen. 
Sind  der  Edeltann'  gewaltge. 
Regenschwangre  Nadelkissen. 

Tief  in  ihren  Wurzelknollen, 
In  den  faserigen  braunen. 
Winzig  klein  und  reich  an  tollen 
Launen,  wohnen  die  Alraunen. 

Die  des  Berges  Grund  befahren 
Ohne  Eimer,  ohne  Leitern, 
Und  in  seinen  wunderbaren 
Schachten  die  Metalle  läutern. 

Wirr  läßt  sie  hinunterhangen 
Ihre  Wurzeln  ins  Gewölbe; 
Diamanten  sieht  sie  prangen 
Und  des  Goldes  Glut,  die  gelbe. 

Aber  oben  mit  den  dunkeln 
Ästen  sieht  sie  schönres  Leben; 
Sieht  durch  Laub  die  Sonne  funkeln 
Und  belauscht  des  Geistes  Weben, 

Der  in  diesen  stillen  Bergen 
Regiment  und  Ordnung  hält 
Und  mit  seinen  klugen  Zwergen 
Alles  leitet  und  bestellt; 


l8  \ATiL  TfEJ^Cl^ELL 

Oft  zur  Zeit  der  Sonnenwenden 
Nächtlich  ihr  vorübersaust, 
Eine  Wildschur  um  die  Lenden, 
Eine  Kiefer  in  der  Faust. 

Sie  vernimmt  mit  leisen  Ohren, 
"Wie  die  Vögel  sich  besprechen; 
Keine  Silbe  geht  verloren 
Des  Gemurmels  in  den  Bächen. 

Offen  liegt  vor  ihr  der  stille 
Haushalt  da  der  wilden  Tiere. 
Welcher  Friede,  welche  Fülle 
In  dem  schattigen  Reviere! 

Menschen  fern;  —  nur  Rotwildstapfen 
Auf  dem  moosbewachsnen  Boden.  — 
O,  wohl  magst  du  deine  Zapfen 
Freudig  schütteln  in  die  Loden! 

O,  wohl  magst  du  gelben  Harzes 
Duft'ge  Tropfen  niedersprengen 
Und  dein  straffes,  grünlichschwarzes 
Haar  mit  Morgentau  behängen! 

O,  wohl  magst  du  lieblich  wehen! 
O,  wohl  magst  du  trotzig  rauschen! 
Einsam  auf  des  Berges  Höhen 
Stark  und  immergrün  zu  stehen  — 
Tanne,  könnt  ich  mit  dir  tauschen! 

Zu  einer  außerordentlich  gelungenen  Durchdringung 
heimatlicher  Landschafts-  und  Naturrealistik,  die  einen 
noch  stärkeren  Vorgeschmack  auf  Annette  Droste  gibt,  mit 
kühner  Bildschau  eines  gewaltigen  westeuropäischen  Frei- 
heitringens gegen  barbarisches  Kosakentum,  erhebt  sich 
Freiligrath  in  dem  jedenfalls  großzügigen  Gedicht:  Am 
Birkenbaum,  das  in  der  Tat  allein  genügt  hätte,  sei- 
nen Schöpfer  zu  einem  markigen  dichterischen  Charakter- 


VOT^  DEUTSCT{E7{  DJCTiTUJVG         K) 

köpf  zu  stempeln.  Leider  kann  ich  hier  nur  wenige,  für 
die  Stimmungskraft  besonders  bezeichnende  Strophen  des 
längeren  Gedichtes  herausheben,  ich  bitte  jedoch  das 
Ganze  im  Zusammenhange  bei  Freih'grath  wieder  einmal 
nachzulesen. 

Der  junge  Jäger  und  Dichter  sieht  vom  Waldrand  in  die 
Ebene  hinaus,  nach  der  fernen  „grauen  Stadt"  hinüber, 
der  er  entronnen  ist. 

,,Da  liegt  sie  —  herbstlicher  Duft  ihr  Kleid  — 

In  der  Abendsonne  Brand! 

Und  hinter  ihr,  endlos,  meilenweit. 

Das  leuchtende  Münsterland! 

Ein  Blitz,  wie  Silber  —  das  ist  die  Lippe! 

Links  hier  des  Hellwegs  goldene  Au! 

Und  dort  zur  Rechten,  überm  Gestrüppe, 

Das  ist  meines  Osnings  dämmerndes  Blau! 

Eine  Fläche  das!  so  denk  ich  mir,  war 

Die  Flur,  die  Mazeppa  durchsprengt! 

Oder  jene,  drauf  der  russische  Zar 

Den  schwedischen  Karl  gedrängt! 

Zwar  —  milder  und  üppiger  ist  die  Börde, 

Doch  wir  haben  auch  Haidegrund  und  Moor 

Und  wilden  Busch  auf  der  roten  Erde  — 

Ob  auch  hier  schon  wer  eine  Schlacht  verlor?" 

—  So  denkt  er  und  hat  es  wohl  laut  gesagt; 

Da  tritt  ein  Mann  auf  ihn  zu: 

Ein  Bauer  —  und  wenn  ihr  mehr  noch  fragt: 

Der  Hüter  einer  Kuh. 

Die  langen  Glieder  umhüllt  ein  schlichter 

Leinrock,  das  bläuliche  Auge  sticht. 

Die  Lippe  zuckt  —  so  tritt  er  zum  Dichter, 

So  lächelt  er  seltsamlich  und  spricht: 

Guten  Abend,  Herr,  ob  man  Schlachten  schlug 

In  der  Ebene  dort  —  fürwahr. 

Ich  hab's  nicht  erfahren!     Lest  nach  im  Buch! 


20  JiÄ1{L  T{E?JC7(ELL 

Mich  kümmert  wenig,  was  war. 

Ich  schaue  nur  aus  nach  den  künftigen  Tagen  — 
So  spricht  vom  Haarstrang  der  alte  Hirt: 
Eine  Schlacht  wohl  sah  ich  dort  unten  schlagen. 
Doch  eine,  die  man  erst  schlagen  wird. 

Ich  habe  sie  dreimal  mit  angesehn! 

O,  öd  ist  die  Haar  bei   Nacht! 

Ich  aber  muß  auf  vom  Bette  stehn  — 

Dann  hat  es  mich  hergebracht. 

Just,  Herr,  wo  ihr  steht,  —  just  hier  auf  dem  Felsen, 

Da  hat  es  mich  Sträubenden  hingestellt! 

Und  hätt  ich  gewandt  mich  mit  hundert  Hälsen, 

Doch  hätt  ich  hinabschaun  müssen  ins  Feld! 

Und  ich  sah  hinab  und  ich  sah  genau  — 

Da  schwammen  die^  Äcker  in  Blut, 

Da  hing's  an  den  Ähren  wie  roter  Tau, 

Und  der  Himmel  war  eine  Glut! 

Um  die  Höfe  sah  ich  die  Flamme  wehen, 

Und  die  Dörfer  brannten  wie  dürres  Gras; 

Es  war  als  hätt  ich  die  "^elt  gesehen 

Durch  Höhrauch  oder  durch  farbig  Glas. 

Und  zwei  Heere,  zahllos  wie  Blätter  im  Busch, 

Hieben  wild  aufeinander  ein  .  .  .  ." 


Wenn  ich  auch  eigentlich  vorhatte,  nur  von  der  deut- 
schen Lyrik  seit  Heine  zu  Ihnen  zu  sprechen,  ein 
goldener  Vorsatz,  dem  ich  schon  längst  durch  ein 
ziemlich  unchronologisches  Rückgreifen  untreu  geworden 
bin,  was  mir  als  geborenem  Freischärler  die  Regulären 
der  deutschen  Literaturgeschichte  allergnädigst  verzeihen 
mögen,  so  bringe  ich  es  doch  nicht  übers  Herz,  auf  eine  so 
wundervolle  und  mit  dem  späteren  Wachstum  der  deutschen 
Lyrik  fortwirkend  verknüpfte  Erscheinung  wie  Annette 
Droste-Hülshoff  nicht  wenigstens  mit  einigen  Worten 
einzugehen.     Es    kommt    uns    ja    hier   von  Anfang  bis  zu 


Sach  einer  Dagiierroiypie  aus  dem  Jahre  1S44 
AN^'ETTE  VON  DROSTE  HÜLSHOFF. 


101^  DEUTSCTfEHj  BlCJiTUJ^G         21 

Ende  mehr  auf  die  große  Linie  in  der  lyrischen  Kunst 
Deutschlands  und  nicht  auf  Betonung  von  Todesjahr-  und  Da- 
tun^  an.  Das  stille,  zurückgezogene  westfälische  Freifräulein, 
das  —  in  ihrem  ganzen  Auftreten  himmelweit  verschieden 
\or\  so  manchen  allerneusten  lyrischen  Modedamen  —  mit 
40  Jahren  nur  widerwillig  von  der  Mutter  die  Erlaubnis  er- 
hielt, anonym  ein  Bändchen  Gedichte  erscheinen  zu  lassen,  ist 
eine  gar  hoheitsvolle  Kronenträgerin  im  Reiche  der  deut- 
schen Dichtung.  Ihre  sehr  seltenen,  für  die  deutsche  Lyrik  in 
gewisser  Hinsicht  geradezu  vorbildlichen  Qualitäten  ließen 
sie  lange  einsam  thronen,  von  wenigen  nur  in  ihrem  tiefen 
Werte  erkannt,  und  zu  ausgebreiteter  Würdigung  scheint 
sie,  in  Übereinstimmung  mit  ihrer  eigenen  Prophezeihung, 
erst  ganz  allmählich,  mehr  als  50  Jahre  nach  ihrem  Tode, 
sich  durchgerungen  zu  haben. 

Woher  kommt  das?  Weil  ihre  Schätze  sich  nur  dem  er- 
schliessen,  der  selbst  mit  der  Natur  auf  innerlichst  ver- 
trautem Fuße  lebt,  und  der  ein  Werk  der  Kunst  nach  der 
Echtheit  und  Energie  des  darin  aufgespeicherten  und 
ebenbürtig  ausgedrückten  Lebens  bemißt.  Annette  Droste 
ist  eine  Künstlerin  von  wahrhafter  Feinheit  des  Wesens, 
jeder  Vers  zeigt  die  besondere,  unverwischliche  Farbe  ihrer 
im  Grunde  treuer  Natur-,  Menschen-  und  Gottesliebe 
wurzelnden,  leidenschaftlichen,  aber  völlig  unsentimentalen 
Persönlichkeit.  Eine  germanische  Vestalin  am  Hirtenfeuer 
der  heimischen  „roten  Erde",  hütete  sie  die  Heiligtümer 
eines  Herzens  ohne  Falsch  und  flocht  liebevoll  die  dichten, 
hie  und  da  krausen  Sträuße  ihrer  eigensten,  ebenso  zarten 
wie  markigen  Kunst.  Ihres  Liedes  Lippe  blieb  unentweiht 
von  der  Phrase,  ihre  Sprache  ist  der  gedrängte  Ausdruck 
sorgfältiger  Naturbetrachtung,  traumhaften,  höchst  sensibeln 
Klarsehens  und  einer  in  ihr  wieder  lebendig  gewordenen 
Frömmigkeit. 

Die  Schilderung  des  erwachenden  Morgens  auf  der  Haide 
in  dem  Gedicht  „Die  Lerche"  möge  unmittelbar  \on  der 
an  Shakespeare  oder  Burns  gemahnenden  Naturvertrautheit, 
dem   charakteristischen  Humor   der  genialen  Frau   zeugen. 


22 TjA^L  -HEJ^CJiBLt 

die  in  den  feinen  Maschen  ihres  großen  lyrischen  Fang- 
netzes die  seltensten  poetischen  Falter  Deutschlands  fing 
und  in  den  Feinheiten  dieser  Kunst  noch  jeden  Augenblick 
den  besten  lebenden  Dichtern  n\ütterliche  Fingerzeige 
geben  könnte. 

DIE  LERCHE. 

Hörst  du  der  Nacht  gespornten  Wächter  nicht? 
Sein  Schrei  verzittert  mit  dem  Dämmerlicht, 
Und  schlummertrunken  hebt  aus  Purpurdecken 
Ihr  Haupt  die  Sonne;  in  das  Ätherbecken 
Taucht  sie  die  Stirn,  man  sieht  es  nicht  genau, 
Ob  Licht  sie  zünde,  oder  trink'  im  Blau. 
Glührote  Pfeile  zucken  auf  und  nieder 
Und  wecken  Taues  Blitze,  wenn  im  Flug 
Sie  streifen  durch  der  Haide  braunen  Zug. 
Da  schüttelt  auch  die  Lerche  ihr  Gefieder, 
Des  Tages  Herold  seine  Liverei; 
Ihr  Köpfchen  streckt  sie  aus  dem  Ginster  scheu, 
Blinzt  nun  mit  diesem,  nun  mit  jenem  Aug; 
Dann  leise  schwankt,  es  spaltet  sich  der  Strauch, 
Und  wirbelnd  des  Mandates  erste  Note, 
Schießt  in  das  feuchte  Blau  des  Tages  Bote. 

,,Auf!  auf!  Die  junge  Fürstin  ist  erwacht! 
„Schlaftrunkne  Kämmrer,  habt  des  Amtes  acht; 
„Du  mit  dem  Saphirbecken,  Genziane, 
„Zwergweide  du  mit  deiner  Seidenfahne, 
„Das  Amt,  das  Amt,  ihr  Blumen  allzumal, 
„Die  Fürstin  wacht,  bald  tritt  sie  in  den  Saal!" 

Da  regen  tausend  "Wimpern  sich  zugleich, 
Masliebchen  hält  das  klare  Auge  offen. 
Die  Wasserlilie  sieht  ein  wenig  bleich. 
Erschrocken,  daß  im  Bade  sie  betroffen; 
Wie  steht  der  Zitterhalm  verschämt  und  zage! 
Die  kleine  Weide  pudert  sich  geschwind 
Und  reicht  dem  West  ihr  Seidentüchlein  lind. 


VOM  DEUTSCTiEJi  DICH  TUM G         2^ 

Daß  zu  der  Hoheit  Händen  er  es  trage. 
Ehrfürchtig  beut  den  tauigen  Pokal 
Das  Genzian,  und  nieder  langt  der  Strahl; 
Prinz  von  Geblüte,  hat  die  erste  Stätte 
Er,  immer  dienend  an  der  Fürstin  Bette. 

Der  Purpur  lischt  gemach  im  Rosenlicht, 
Am  Horizont  ein  zuckend  Leuchten  bricht 
Des  Vorhangs  Falten,  und  aufs  neue  singt 
Die  Lerche,  daß  es  durch  den  Äther  klingt: 

„Die  Fürstin  kommt,  die  Fürstin  steht  am  Tor! 
,, Frischauf,  ihr  Musikanten  in  den  Hallen, 
„Laßt  euer  zartes  Saitenspiel  erschallen, 
,,lJnd,  florbeflügelt  Volk,  heb  an  den  Chor, 
„Die  Fürstin  kommt,  die  Fürstin  steht  am  Tor!" 

Da  krimmelt,  wimmelt  es  im  Haidgezweige, 
Die  Grille  dreht  geschwind  das  Beinchen  um. 
Streicht  an  des  Taues  Kolophonium 
Und  spielt  so  schäferlich  die  Liebesgeige. 
Ein  tüchtiger  Hornist,  der  Käfer,  schnurrt; 
Die  Mücke  schleift  behend  die  Silberschwingen, 
Daß  heller  der  Triangel  möge  klingen; 
Diskant  und  auch  Tenor  die  Fliege  surrt; 
Und,  immer  mehrend  ihren  werten  Gurt, 
Die  reiche  Katze  um  des  Leibes  Mitten, 
Ist  als  Bassist  die  Biene  eingeschritten: 
Schwerfällig  hockend  in  der  Blüte,  rummeln 
Das  Kontraviolon  die  trägen  Hummeln. 
So  tausendarmig  ward  noch  nie  gebaut 
Des  Münsters  Halle,  wie  im  Haidekraut 
Gewölbe  an  Gewölben  sich  erschließen. 
Gleich  Labyrinthen  ineinander  schießen; 
So  tausendstimmig  stieg  noch  nie  ein  Chor, 
Wic's  musiziert  aus  grünem  Haid  hervor. 

Jetzt  sitzt  die  Königin  auf  ihrem  Throne, 
Die  Silberwolke  Teppich  ihrem  Fuß, 


2^  J{jn{L  JIEMCT^ELL 

Am   Haupte  flammt  und  quillt  die  Strahl cnkrone, 
Und  lauter,  lauter  schallt  des  Herolds  Gruß: 

„Bergleute,  auf,  herauf  aus  eurem  Schacht, 
„Bringt  eure  Schätze,  und  du,   Fabrikant, 
„Breit  vor  der  Fürstin  des  Gewandes  Pracht, 
„Kaufherrn,  enthüllt  den  Saphir,  den  Demant!" 

Schau,  wie  es  wimmelt  aus  der  Erde  Schoß, 
Wie  sich  die  schwarzen  Knappen  drängen,  streifen 
Und  mühsam  stemmend  aus  den  Stollen  schleifen 
Gewalt'ge  Stufen,  wie  der  Träger  groß; 
Ameisenvolk,  du  machst  es  dir  zu  schwer! 
Dein  roh  Gestein  lockt  keiner  Fürstin  Gnaden. 
Doch  sieh  die  Spinne,  rutschend  hin  und  her. 
Schon  zieht  sie  des  Gewebes  letzten  Faden, 
"Wie  Perlen  klar,  ein  duftig  Elfenkleid; 
Viel  edle  Funken  sind  darin  entglommen; 
Da  kommt  der  Wind  und  häkelt  es  vom  Haid, 
Es  steigt,  es  flattert,  und  es  ist  verschwommen.  — 

Die  Wolke  dehnte  sich,  scharf  strich  der  Hauch, 
Die  Lerche  schwieg  und  sank  zum  Ginsterstrauch. 

Steigerung  ist  die  Lebensform  der  Kunst",  sagt  Hebbel 
einmal  treffend  in  seinen  Tagebüchern,  dieser  bis  un- 
ters Dach  gefüllten  Kornkammer  psychologischer  und 
ästhetischer  Gedankenfrucht;  gerade  bei  Annette  Droste- 
Hülshoff  kann  man  spüren,  daß  Kunst  , gesteigerte  Natur' 
bedeutet.  Der  so  kompliziert  veranlagte  Dithmarsische 
Dichtergrübler  Friedrich  Hebbel,  dem  wir  übrigens 
grade  die  merkwürdigsten,  tiefsinnigsten  Aufzeichnungen 
zur  Psychologie  der  Lyrik  verdanken,  ist  von  der  durch- 
aus naiv  und  unmittelbar  wirkenden  Westfälin  natürlich  auch 
in  seinen  Gedichten  himmelweit  verschieden.  Aber  ein 
großer  Lyriker  von  schöpferischer  Originalität  war  auch 
er,  und  auch  als  solcher,  nicht  nur  durch  seine  geistige 
Gesamtpersönlichkeit,  so  manchem  gefeierten  Lyriker  seiner 


VOJ^  BBVTSCJiETi  BlCTiTlUSG         2j 


Tage  weit  überlegen.  Freilich  kein  Uhland  war  Hebbel, 
so  unendlich  er  gerade  diesen  Dichter  —  die  Gegensätze 
ziehen  sich  an  —  liebte  und  verehrte,  dazu  war  seine  Seele 
eben  nicht  einfach  genug,  aber  es  ist  eine  alte,  bei  uns 
Deutschen  weitverbreitete  Grundtorheit,  einen  echten  Dich- 
ter am  andern  messen,  die  knorrigwurzelnde  und  doch 
zart  wellenspielende  Uferweide  etwa  mit  dem  blühenden 
Apfelbaum  vergleichen  zu  wollen.  Der  vollends  hat  den 
Vogel  nicht  abgeschossen,  der  je  Hebbels  Lyrik  mit 
dem  bloßen  Ausdruck  Reflexionslyrik  gänzlich  abtun  zu 
können  vermeinte,  vielleicht  weil  sie  gerade  keine  Ge- 
dankenlosigkeitslyrik ist,  die  ja  oft  bei  jungen  und  alten 
Backfischen  im  höchsten  Kurse  steht.  Hebbels  Gedichte 
verläugnen  natürlich  die  hohe  Denkerdichterstirn  ihres 
Schöpfers  nicht,  die  Weite  des  geistigen  Horizontes  ver- 
rät sich  im  kürzesten  Epigramm,  deren  Hebbel  ganz  be- 
deutende gedichtet  hat,  aber  durch  die  Tiefe  der  seeli- 
schen Perspektive,  durch  die  Blutwärme  des  Herzens  wie 
durch  die  Bildkraft  seiner  Kunst  erhebt  er  sich  wie  nur 
einer  zum  echten  Lyriker,  der  auch  gerade  als  solcher 
im  Bewußtsein  des  deutschen  Volkes  weit  minderwertige 
lyrische  Geschmackslieblinge  allmählich  in  den  Hintergrund 
drängen  sollte.  Sogar  für  einige  Liebeslieder  Hebbels  gebe 
ich  ganze  Bände  hundertfach'aufgelegter  begabter  Epigonen- 
lyrik mit  Freuden  dahin;  da  ist  doch  zarte  künstlerische 
Keuschheit  des  vielsagenden,  gefühlskräftigen  Wortbildes. 
Die  Neigung  zum  Grausig-Unheimlichen  bricht  mehr  in 
einigen  Balladen  durch,  sie  ist  verknüpft  mit  dem  nordisch- 
schweren Zuge  zur  Sphäre  des  Todesrätsels.  Hebbels  Lyrik 
ist  wie  seine  ganze  Persönlichkeit  im  geheimnisvollen  Meeres- 
abgrunde der  tiefsten  Lebensprobleme  verankert. 

LEBEN. 
Seele,  die  du  unergründlich 
Tief  versenkt,  dich  ätherwärts 
Schwingen  möchtest,  und  allstündlich 
Dich  gehemmt  wähnst  durch  den  Schmerz  — 

BJiATiDES:  DTE  UTEJiJlTVTi.  BJIJ\D  XXXVIJl  XXXVIII  C 


2G  T{AT{L  HEJ\JCJ{ELL 

An  den  Taucher,  an  den  stillen. 
Denke,  der  in  finstrer  See 
Fischt  nach  eines  Höhern  "Willen: 
Nur  vom  Athmen  kommt  sein  W^eh. 
Ist  die  Perle  erst  gefunden 
In  der  öden  Wellengruft, 
Wird  er  schnell  emporgewunden, 
Daß  ihn  heilen  Licht  und  Luft; 
Was  sich  lange  ihm  verhehlte, 
Wird  ihm  dann  auf  einmal  klar: 
Daß,  was  ihn  im  Abgrund  quälte. 
Eben  nur  sein  Leben  war. 

Wie  Hebbels  Lyrik  das  leiseste  Vibrieren  des  seelischen 
Atemzuges  meisterlich  im  Wort  wiederzittern  lässt,  wie  er 
das  Landschaftsbild  zum  gewaltigen  Symbol  verdichtet,  das 
spüren  Sie  sicher  mit  unauslöschlichem  Eindruck,  wenn  ich 
Ihnen  die  beiden  Gedichte  „Sommerbild"  und  „Winterland- 
schaft" hier  gegenüberstelle. 

SOMMERBILD. 

Ich  sah  des  Sommers  letzte  Rose  stehn, 
Sie  war,  als  ob  sie  bluten  könne,  rot; 
Da  sprach  ich  schauernd  im  Vorübergehn: 
So  weit  im  Leben  ist  zu  nah  am  Tod! 

Es  regte  sich  kein  Hauch  am  heißen  Tag, 
Nur  leise  strich  ein  weisser  Schmetterling; 
Doch,  ob  auch  kaum  die  Luft  sein  Flügelschlag 
Bewegte,  sie  empfand  es  und  verging. 

WINTERLANDSCHAFT 
Unendlich  dehnt  sie  sich,  die  weisse  Fläche, 

Bis  auf  den  letzten  Hauch  von  Leben  leer: 
Die  muntern  Pulse  stockten  längst,  die  Bäche, 
Es  regt  sich  selbst  der  kalte  "^nd  nicht  mehr. 


VOM  DEUTSCHB7{  mCHTUJMG        2y 

Der  Rabe  dort,  im  Berg  von  Schnee  und  Eise, 
Erstarrt  und  hungrig,  gräbt  sich  tief  hinab, 
Und  gräbt  er  nicht  heraus  den  Bissen  Speise, 
So  gräbt  er,  glaub  ich,  sich  hinein  ins  Grab. 

Die  Sonne,  einmal  noch  durch  Wolken  blitzend. 
Wirft  einen  letzten  Blick  aufs  öde  Land, 
Doch,  gähnend  auf  dem  Thron  des  Lebens  sitzend. 
Trotzt  ihr  der  Tod  im  weissen  Festgewand. 


Zu  jenen  Dichtern,  die  wie  Annette  Droste  und  Hebbel 
unabhängig  von  den  geräuschvollen  nationalen  unct'pöir- 
tischen  Zeitströmungen  ihre  Werke  schufen  und  deshalb 
im  Laufe  des  Jahrhunderts  eine  um  so  nachhaltigere,  tiefer 
wirkende  Bedeutung  gewannen,  gehört  auch  vor  allem  der 
feinbeschauliche  Schwabe  EduAX-dMörike,  dessen  langes 
Leben  äußerlich  so  bescheiden  zwischen  Ludwigsburg  und 
Stuttgart  dahinfloß.  Der  sah  sich  lieber  recht  sorgfältig 
liebevoll  in  der  Pfarrstube  den  alten,  auf  dem  Ofen  noch 
zu  warmen  Altersehren  gelangten  Turmhahn  zu  Clever- 
sulzbach im  Unterland  an  und  führte  mit  ihm  ein  behag- 
lich trautes  Zwiegespräch  über  das  ganze  Wochendasein 
im  Heimatdörfle,  als  daß  er  sonderlich  auf  das  gegenseitige 
Ankrähen  der  alleweil  den  Hals  ziemlich  aufreißenden 
Streithähne  gehorcht  oder  gar  versucht  hätte,  es  ihnen 
nachzugackern.  Ein  Mörike  ging  anderem  nach  —  der 
konnte  ruhig  auf  leise  Grundstimmen  des  Lebens,  wie  es 
immer  war  und  immer  sein  wird,  lauschen  und  in  voll- 
kommener Harmonie  mit  der  umgebenden  Natur  sein  herz- 
inniges, gemütstiefes  Weltgefühl  in  glockenrein  abge- 
stimmten Lauten  dem  Liede  anvertrauen.  Mörikes  Seele 
war  ein  bedeutendes  Idyll  mit  tieferen  Durchblicken,  die 
auch  das  sogenannte  Kleinleben  zu  erhöhtem  Dasein  stei- 
gern. Seine  erquickliche  Lyrik  gemahnt  wohl  an  einen 
süddeutschen  Pfarrgarten  im  Frühlingstau.  Goldregen  und 
Akazien  duften  und  blühen;  anmutig  und  frisch  durch- 
schreitet ihn  ein  junges,  liebereifes  Mädchen,  bald  ahnungs- 


28 J(Jn{L  ?iEJ\JC7(ELL 

voll  vor  sich  hinsinnend,  bald  schelmisch  lächelnd  ob  keck 
geträumten  Küssen  —  leise  zieht  ein  verliebtes  Lüftchen 
durch  die  Lauben,  und  am  blauen  Veilchenhimmel  schwim- 
men auf  schneeweißen  "Wolklein  die  singenden  Engels- 
bübchen der  Ewigkeit  vorüber  .  .  . 

Der  dichterische  "Wein,  mit  dem  der  prächtige  Herr^ 
Pfarrer  Mörike  seinen  dankbaren  Gästen,  am  liebsten  ganz 
bei  Gelegenheit,  ohne  großes  Getue,  aufwartet,  ist  durch- 
aus bestes  Eigengewächs,  nicht  mit  Phrasenwasser  gepantscht, 
und  hat  eine  lieblich -kräftige,  allen  guten  "Weltkindern 
wohlgefällige  Blume.  Seine  Naivetät  ist  nie  täppisch,  wie 
sie  ja  im  Handumdrehn  bei  Dichtern  einer  hochgebildeten 
poetischen  Kultur  werden  kann,  sobald  sie  nur  im  gering- 
sten gewollt  auftritt,  sondern  sie  ist  von  zarter  Grazie  und 
entzückender  Ungezwungenheit  des  "Wesens.  Darum  ist 
Mörike  auch  ein  wirklicher  Märchenpoet.  Die  Ausfüh- 
rung seiner  künstlerischen  Arbeit  ist  bis  ins  Kleinste  von 
wesenstreuer  Gediegenheit  —  kein  sogenannter  Mantel  der 
Form,  sondern  innere  Form,  organischer  rhythmischer  Aus- 
druck des  erlebten  Eindrucks.  Seine  "Weltanschauung  ist  im 
tiefsten  Grunde  eine  versöhnte,  trotz  Angst  und  Schrecken 
der  Dinge  im  Ewigen  ruhend  wie  das  spielende  Jesus- 
kind—  eine  Lieblingsvorstellung  des  Dichters  —  im  Schoß 
der  Mutter.  Unbedingte  Harmlosigkeit  einer  weit-  und 
gottvertrauenden  Sonnennatur —  Mörike  ist  ein  langsamer 
Feinschmecker  des  lyrischen  Empfindungsausdrucks  —  die 
sprachliche  Form  klassisch- deutsch  mit  schwäbischem  und 
antikeliebendem  Einschlag  —  und  in  seinen  besondern 
Eigentümlichkeiten  auch  Kost  für  Feinschmecker. 

VERSUCHUNG. 

"Wenn    sie    in   silberner  Schale    mit  "Wein    uns    würzet    die 

Erdbeern, 

Dicht  mit  Zucker  noch  erst  streuet  die  Kinder  des  "Walds: 

O  wie  schmacht   ich  hinauf  zu  den  duftigem  Lippen,   wie 

dürstet 

Nach  des  gebogenen  Arms  schimmernder  "Weiße  mein  Mund! 


^ 


;^:2:p.^^^ 


VOJ^  DEUTSCHEJj  -plCJiTUl^G        2g 

Ist  das  nicht  lyrische  Sinnlichkeit  von  allerholdester 
Anmut?  —  Wer  sich  von  der  unendlich  zarten  Abtönung 
und  Abschattung  des  Ausdrucks  bei  Mörike  und  zugleich 
von  der  schier  pflanzlichen  Zusammenziehung,  Sammlung 
und  Andachtsruhe  seiner  lyrischen  Seele  einen  Begriff  machen 
will,  atme  nur  einmal  das  Gedicht:  „Die  schöne  Buche"  in 
sich  ein. 

DIE  SCHÖNE   BUCHE. 

Ganz  verborgen  im  "Wiald  kenn  ich  ein  Plätzchen,  da  stehet 
Eine  Buche,  man  sieht  schöner  im  Bilde  sie  nicht. 
Rein  und  glatt,  in  gediegenem  Wuchs  erhebt  sie  sich  einzeln. 
Keiner  der  Nachbarn  rührt  ihr  an  den  seidenen  Schmuck. 
Rings,  soweit  sein  Gezweig  der  stattliche  Baum  ausbreitet, 
Grünet  der  Rasen,  das  Aug  still  zu  erquicken,  umher; 
Gleich  nach  allen  Seiten  umzirkt  er  den  Stamm  in  der  Mitte; 
Kunstlos  schuf  die  Natur  selber  dies  liebliche  Rund. 
Zartes  Gebüsch   umkränzet  es   erst;    hochstämmige  Bäume, 
Folgend  in  dichtem  Gedräng,  wehren  dem  himmlischen  Blau. 
Neben  der  dunkleren  Fülle  des  Eichbaums  wieget  die  Birke 
Ihr  jungfräuliches  Haupt  schüchtern  im  goldenen  Licht. 
Nur  wo,  verdeckt  vom  Felsen,  der  Fußsteig  jäh  sich  hinab- 
schlingt, 
Lässet  die  Hellung  mich  ahnen  das  offene  Feld. 
—  Als  ich  unlängst  einsam,  von  neuen  Gestalten  des  Sommers 
Ab  dem  Pfade  gelockt,  dort  im  Gebüsch  mich  verlor. 
Führt    ein    freundlicher   Geist,    des    Hains    auflauschende 

Gottheit, 
Hier  mich  zum  erstenmal,  plötzlich,  den  Staunenden,  ein. 
Welch    Entzücken!     Es    war    um    die    hohe    Stunde    des 

Mittags, 
Lautlos  alles,  es  schwieg  selber  der  Vogel  im  Laub.' 
Und  ich  zauderte  noch,  auf  den  zierlichen  Teppich  zu  treten; 
Festlich  empfing  er  den  Fuß,  leise  beschritt  ich  ihn  nur.' 
Jetzo,  gelehnt  an  den  Stamm  (er  trägt  sein  breites  Gewölbe 
Nicht  zu  hoch),  ließ  ich  rundum  die  Augen  ergehn, 
Wo  den  beschatteten  Kreis  die  feurig  strahlende  Sonne, 


Fast  gleich  messend  umher,  säumte  mit  blendendem  Rand. 
Aber  ich  stand  und  rührte  mich  nicht;    dämonischer  Stille 
Unergründlicher  Ruh  lauschte  mein  innerer  Sinn. 
Eingeschlossen  mit  dir  in  diesem  sonnigen  Zauber- 
Gürtel,  o   Einsamkeit,  fühlt  ich  und  dachte  nur  dich! 

An  einem  schönen  ,, Kunstgebilde  der  echten  Art"  hat 
Mörike  einmal  sein  lyrisches  Gedicht  mit  den  ihm  zugehöri- 
gen Eigenschaften  unbewußt- symbolisch  selbst  auf's  treff- 
lichste wiedergespiegelt,  in  dem  Gedicht: 

AUF  EINE   LAMPE. 

Noch  unverrückt,  o  schöne  Lampe,  schmückest  du, 
An  leichten  Ketten  zierlich  aufgehangen  hier. 
Die  Decke  des  nun  fast  vergessnen  Lustgemachs. 
Auf  deiner  weißen  Marmorschale,  deren  Rand 
Der  Efeukranz  von  goldengrünem  Erz  umflicht. 
Schlingt  fröhlich  eine  Kinderschar  den  Ringelreihn. 
W^ie  reizend  alles!  lachend,  und  ein  sanfter  Geist 
Des  Ernstes  doch  ergossen  um  die  ganze  Form  — 
Ein  Kunstgebild  der  echten  Art.     Wer  achtet  sein? 
Was  aber  schön  ist,  selig  scheint  es  in  ihm  selb^t^^  -^ 

Der  lautern  Schönheit  von  Mörikes  Lyrik  kann  ich  im 
Nachgenuß  stets  nur  mit  inniger  Freude  gedenken  —  eben 
darum  wahrscheinlich,  weil  sie  so  ganz  „selig  scheint  in 
sich  selbst." 

Als  kräftiger  Mensch  besaß  Mörike  auch  eine  ganze 
Portion  satirischer  Laune  und  ironischen  Humors;  man 
erinnert  sich  dabei  wohl  gleich  an  das  entzückende,  von 
Hugo  Wolf  kongenial  komponierte  ,, Abschiedsgedicht",  in 
dem  der  Dichter  einen  splitterrichtenden  Rezensenten  so 
ungemein  liebenswürdig  zum  Hause  hinauskomplimentiert: 

,,Wie  wir  nun  an  der  Treppe  sind. 
Da  geb  ich  ihm,  ganz  froh  gesinnt, 
Einen  kleinen  Tritt, 
Nur  so  von  hinten,  aufs  Gesäße,  mit  — 


I 


VOM  DEUTSCJiETi  BlCTiTUlNG  ^I 

Alle  Hagel,  ward  das  ein  Gerumpel! 

Ein  Gepurzel,  ein  Gehumpel! 

Dergleichen  hab  ich  nie  gesehn. 

All  mein  Lebtage  nicht  gesehn. 

Einen  Menschen  so  rasch  die  Trepp  hinabgehn." 

Und   wie   ein  Mörike   über  allerhand  Lavendellyrik  und 
Versezuckerkand  dachte,  steht  in  der 

RESTAURATION 

nach    Durchlesung    eines  Manuskripts    mit   Gedichten     ge- 
schrieben: 

Das  süße  Zeug  ohne  Saft  und  Kraft! 

Es  hat  mir  all  mein  Gedärm  erschlafft. 

Es  roch,  ich  will  des  Henkei's  sein, 

"W^ie  lauter  welke  Rosen  und  Kamilleblümlein, 

Mir  ward  ganz  übel,  mauserig,  dumm. 

Ich  sah  mich  schnell  nach  was  Tüchtigem  um. 

Lief  in  den  Garten  hinterm  Haus, 

Zog  einen  herzhaften  Rettig  aus. 

Fraß  ihn  auch  auf  bis  auf  den  Schwanz, 

Da  war  ich  wieder  frisch  und  genesen  ganz. 

Um  von  besagtem  Rettigschwanz  wieder  auf  „feineres" 
lyrisches  Gemüse  zurückzukommen,  —  nicht  mit  sol- 
chem ursprünglichen  Behagen  wie  Mörike  und  nicht 
so  völlig  warmwerdend  —  was  kann  das  arme  Herz  dafür?  — 
besuchen  wir  jetzt  in  der  Erinnerung  einen  Augenblick  die 
Münchener  Tafelrunde  der  wohlerzogenen  Ritter  vom 
schönen  "Wohllaut.  "Wir  machen  unsere  gewiß  nicht  gering- 
schätzige Verneigung  vor  jenen  mit  vielseitiger  Form- 
virtuosität und  höchst  geschultem  Geschmack  ausgestatteten 
Dichtern,  die,  in  allen  Sätteln  Uhlands,  Eichendorffs, 
Heines  usw.  gerecht,  die  Lyra  mit  großer  Fertigkeit  hand- 
haben und  den  Faltenwurf  des  Verses  sehr  hübsch  und 
wirksam  zu  arrangieren  wissen;   die  auch  nicht  ohne  eige- 


^2  \jn{L  TtEßJCJ^ELL 

nes  Gefühl ,  nicht  ohne  getragene  Begeisterung  für  die 
Würde  des  Dichtertums  und  für  nationale  Vordergrunds- 
ideale den  Ton  zu  treffen  verstehen,  der  schnell  seine  Re- 
sonanz in  breiten  Schichten  des  Publikums  findet;  die  aber 
auch  unleugbar  durch  eine  schon  ziemlich  ausgedehnte  Bei- 
mischung halb  erotischer  Empfindelei  und  konventionellen 
Gefühlsels  den  Sinn  für  echte  ganze  Leidenschaft  und  Natur- 
wahrheit in  der  Dichtung  bedenklich  einzubüßen  beginnen. 
Deutschland  durchlebte  während  einer  Epoche  politischer 
Verdrossenheit  und  resignierter  Teilnahmslosigkeit  wenig- 
stens weiterer  Kreise  am  öffentlichen  Leben  damals  eine 
nicht  künstlerisch- schöpferische,  aber  ästhetisierend-nach- 
schafferisch  angehauchte  Phase.  J 

Manches  schöne  Gedicht  von  tadelloser  Geschmacksrein- 
heit und  feinsinniger  Kultur  grüßt  uns  aus  jener  Zeit,  und 
wenn  speziell  die  Münchener  Gruppe  und  was  drum  und 
dran  hängt,  der  eigentlichen  urwüchsigen  Naturen  er- 
mangelt, so  weist  sie  doch  immerhin  bei  viel  Gemeinsam- 
keit des  Typus  eine  Reihe  von  Lyrikern  auf,  die  auch  ein- 
zeln für  sich  eine   gewisse  Physiognomie  verraten. 

Zwar  überall  der  gleiche  Fluch,  für  den  sie  ja  nichts 
konnten,  da  sie  nicht  stark  genug  waren,  ihn  zu  über- 
winden. Wenn  der  schwanensaubere,  lilienweiche  Emanuel 
Geibel  zu  Wald  und  Quelle  wollte,  stand  überall  deut- 
scher Dichterwald  —  und  nach  seinem  Rauschen  stimmte 
sich  sein  Lied. 

Was  frommte  es  da,  wenigstens  im  Sinne  dichterischer 
Werte,  daß  man  mit  seinem  Pfund  wucherte,  wenn  dieses 
Pfund  nun  mal  die  Wage  echter  Natur  und  starker  Kunst 
nicht  vertrug?  Und  das  war  denn  doch  in  erschreckendem 
Maße  bei  Geibel  und  denen,  die  ihm  glichen,  der  Fall.  Wo 
war  da  Leidenschaft  und  Sprachgewalt,  eigenster  Rhythmus 
und  neue  Bildkraft  zu  finden?  Alles  schon  längst  abge- 
kocht, nur  jetzt  in  tausendfach  verdünntem  Aufguß  dem 
für  solche  Surrogate  stets  dankbaren  deutschen  Publikum 
wieder  serviert.  Was  der  Schwan  von  Lübeck  in  einem 
seiner    besten    Gedichte,    dem    „Bildhauer    des    Hadrian", 


WJ^  DEUTSCNEJi  BlCTiTUMG         ^^ 

diesen  schmerzerfüllt  ausrufen  läßt  als  Fluch  des  Eklektikers 
und  Epigonen,  das  traf  mutatis  mutandis  in  vollem  Maße 
auf  ihn   und  andere  poetische  Lieblinge  jener  Epoche  zu: 

„Wohl  bändgen  wir  den  Stein  und  küren. 

Bewußt  berechnend,  jede  Zier, 

Doch  wie  wir  glatt  den  Meißel  führen. 

Nur  vom  Vergangnen  zehren  wir. 

O  trostlos  kluges  Auserlesen! 

Dabei  kein  Blitz  die  Brust  durchzückt! 

"W^as  schön  wird,    ist  schon   dagewesen. 

Und  nachgeahmt  ist,  was  uns  glückt." 

Sehr  richtig  heißt  es  auch  in  einem  Geibelschen  Di- 
stichon: 

„War  es  das  trefflichste  gleich,    kalt  läßt  uns,   was  du  ge- 
lernt hast. 
Gib  dich  selber,    Poet,  und   du  bezwingst  uns  das  Herz." 

Selbsterkenntnis  schützt  leider  vor  Ohnmacht  nicht. 

Es  war  kein  Selbst  zu  geben,  daran  gehen  die  in  ange- 
wöhnter Technik  und  gefälliger  Empfindungssphäre  für- 
trefflichsten Gedichte  zu  gründe. 

Geibel  war  gewiß  ein  von  der  priesterlichen  Würde  des 
Dichtertums,  ein  \on  seiner  nationalen  Heroldsmission  er- 
füllter „Sänger"  und  hat  auch  wohl  mit  dieser  aller- 
dings bei  ihm  mehr  romantisierend  verklärten  als  in  Wahr- 
heit neu  hervorgebrachten  Skaldenauffassung  einem  noch 
sehr  jugendlichen,  sonst  ganz  anders  gearteten  Poetenge- 
schlecht eine  Zeitlang  vorgeschwebt,  aber  selbst  um  als  Cha- 
rakter auf  die  Dauer  vorbildlich  einzuwirken,  ließ  er  es  denn 
doch  zu  sehr  an  der  tieferen  Wesensgewalt  fehlen,  die  in 
wirklichem  Kampf  und  Kräftespiel  sich  selbst  menschlich 
steigert  und  allmählich  zur  Persönlichkeit  ausprägt.  Es  gibt 
eben  wohlfeile  und  teure  Charaktere  —  nur  die  letzteren 
haben  auch  im  Himmel  der  Kunst  guten  Kurs  und  Klang. 
Rein  dichterisch  vollends  drohte  durch  Geibel  die  deutsche 
Lyrik  sich  musikalisch  zwitterhaft  in  allgemeinen  Wohllaut 


i£ 


J{AT{L  TiEMCJ(JELL 


und   damit   schließlich    in    allgemeines   "Wohlgefallen    aufzu- 
lösen. 

Und  Paul  Heyse?  Der  war  doch  gewiß  mit  hellen 
Künstleraugen  und  feingeistigen  Dichtersinnen  auf  die 
Welt  gekommen.  Er,  der  mit  dem  sanguinischen  Lächeln 
der  heitern  Lebensbejahung  auf  den  schöngeschwungenen 
Lippen  für  Lust  und  Schmerz  die  leichten,  flüssigen  Har- 
monien fand.  Ich  habe  immer  die  Empfindung,  als  hätte 
es  gerade  Paul  Heyse  mit  seinen  glücklich  ofFnen  Or- 
ganen eigentlich  nicht  nötig  gehabt,  der  Tragik  des  Epi- 
gonentums zu  verfallen,  als  hätte  er  sein  Dichterprofil  in 
der  Totalität  schärfer  und  weniger  angreifbar  ausprägen 
können  und  müssen.  Aber  wenn  bei  einem,  so  wurde  bei 
Heyse  das  Übergewicht  formalen  Reizes  und  mit  der  Mutter- 
milch aufgesogener  „Schönheits"pflege  für  die  „Haut" 
und  dann  auch  für  das  „Mark"  des  Dichters  mit  der  Zeit 
verhängnisvoll.  In  der  Kunst  steht  die  Epidermis  mit  dem 
Blut  in  einer  unendlich  nahen  und  feinen  Wechselwirkung. 
Und  Heyses  künstlerische  Epidermis  weist  leider  schon  längst 
jene  weichblassen  Merkmale  der  Verschwommenheit  auf,  die 
allmählich  und  unaufhaltsam  die  anfängliche  Schönheitslinie 
verwischen.  Trotzalledem  wird  natürlich  kein  Mensch,  der 
geschmackvolle  Sicherheit  der  Formgebung  auch  bei  einem 
geistvollen  und  begabten  Nachfahren  großer  Ahnen  zu 
schätzen  weiß,  verkennen,  daß  wir  \on  Heyse  manches 
Poem  besitzen,  das,  ohne  den  Stempel  der  Notwendigkeit 
zu  tragen,  doch  durch  die  vornehme,  gebildete  Eleganz 
seines  Daseins  erfreut.  Heyse  ist  der  richtige  Italiano  der 
deutschen  Poesie.  Die  Leuchtkraft  eines  Böcklin,  an  den 
er  übrigens  eins  seiner  feinsinnigsten  Terzinengedichte  ge- 
richtet hat,  sucht  man  aber  doch  wohl  vergebens. 

NACH  DER  NATUR. 

Pinsel,  Griffel  und  Meißel,  und  was  irgend 
Macht  hat,  schwankende  Formen  festzubannen. 
Euch  beneidet  der  Kiel  des  armen  Dichters. 
Denn  er  bemüht  sich  vergebens,  nachzukritzeln. 


VOl^  DEUTSCIiEJi  BICHTUJMG         ^5 

\C^as  soeben  geschaut  die  sel'gen  Augen. 
Weiß  denn  einer,  wie  reizend  keck  das  Dirnchen 
Auf  dem  Eselchen  thronte,  wenn  ich  n\elde. 
Daß  sie  zwischen  den  Körben  saß,  das  eine 
Beinchen  über  des  Tiers  geduld'gen  Rücken, 
Frei  das  andere  baumelnd,  daß  ihr  rotes 
Röcklein  über  die  Wade  sich  hinaufzog? 
Und  so  saß  sie  mit  vorgeneigten  Schultern, 
In  die  Rechte  geschmiegt  das  Kinn,  am  kleinen 
Finger  saugend,  verträumt  und  aus  der  Wimpern 
Schwarzer  Seidengardine  Blitze  sprühend; 
Und  so  ritt  sie  dahin,  die  windge  Gasse. 
Daß  am  Busen  das  Tuch  sich  löst  und  flatternd 
Halb  den  kräftig  gewölbten  Nacken  freigab. 
Jenen  Nacken  der  Mädchen  von  Albano, 
Drüber  üppig  geringelt  hängt  die  Flechte, 
Wie  ein  Drache,  den  stolzen  Schatz  zu  hüten  — 
Kommt  und  seht  und  verzweifelt,  arme  Dichter! 

Die  übermächtigen  Vorbilder  wirken  allmählich  immer 
stärker  alles  ausgleichend  und  abplattend;  die  Formen- 
glätte erreicht  auf  Kosten  der  charaktergebenden  Form 
eine  unheimliche  Vollendung.  Selbst  der  entschieden  viel 
kraftvollere,  geistig  und  künstlerisch  weit  energischer  ge- 
furchte Hermann  Lingg  hatte  an  dem  Leidwesen  eines 
verwirrenden  und  verwischenden  Epigonenstils  ebenfalls 
mitzutragen,  ermangelt  aber  sonst  keineswegs  der  selb- 
ständigen lyrischen  Struktur  und  des  packenden  Wahr- 
heitszuges. Ein  antiker  Tempel  —  so  könnte  man  von 
seiner  Gesamterscheinung  bildlich  sagen  —  steht  am  welt- 
weiten Meere;  die  ernste  Muse  erinnert  sich  der  Völker- 
geschicke, auf  ihrem  edlen  Antlitz  wechselt  der  schwer- 
mütige Schatten  der  Nichtigkeit  mit  dem  verklärenden 
Aufleuchten  der  großgelungenen  Werke  und  Taten;  kaum 
achtet  sie  des  eignen  Wehs,  während  sie  Spenden  der  Liebe, 
der  Freiheit  und  der  schönen  Menschlichkeit  in  das  hei- 
lige Opferbecken  träufelt. 


^6 


J(jn{L  HEJ\JCJ(ELL 


PÄSTUM. 

Brütend  liegt  der  Mittag  über 
Pästums  öder  Fiebergegend, 
Schwüle  Nebel  niederlegend, 
Selbst  die  Sonne  schimmert  trüber, 
Und  die  alte  Stadt  Poseidons 
Stumm  und  einsam  liegt  sie  da. 
Ein  zerstörtes  Sodoma. 

Auf  zerbrochnen  Steinkolossen 
Umgestürzter  Architrave 
Blühen  Kaktus  und  Agave, 
Um  die  alten  Mauern  sprossen 
Rote  Blumen  und  Akanthus; 
Duftig  wuchern  drüberhin 
Thymian  und  Rosmarin. 

Nur  ein  gelber  Tempelriese 
Trägt  noch  seine  Quaderbalken, 
Um  den  Gipfel  fliegen  Falken, 
Epheu  rankt  sich  um  die  Friese; 
Und  die  Natter  und  die  Eidechs 
Sonnt  sich  an  der  Tempelwand, 
Wo  geflammt  der  Opferbrand. 

Ungebrochen  stehn  die  schlanken 
Dorersäulen;  ein  Jahrtausend 
Sahen  sie  vorüberbrausend; 
Throne  stürzten,  Völker  sanken; 
Über  ihre  Marmorhäupter 
"Wie  durch's  Meer,  dem  sie  geweiht, 
Weht  ein  Hauch  der  Ewigkeit. 

Man  spürt,  hier  lebt  sich  eine  bestimmte  Phantasie  aus 
und  schafft  ihre  Atmosphäre,  wie  in  den  folgenden  Versen 
ein  ,, schattenhafter"  Lebensgram  sich  ergreifend  kundgibt: 


HERMANN  LINGG 

NACH  DEM  GEMÄLDE  VON  FRANZ  LENBACH 

Photographie  Bruckmann,  Alünchen. 


VOJ^  t>EUTSCTiEJ{  mCBTUJMG         J7 

STANZEN. 

Wem  nach  langer  Kerkernacht, 
Wem  nach  heißen  Fieber wochen 
Wieder  neu  das  Leben  lacht. 
Frühlingsfrisch  die  Pulse  pochen, 
Selig  wie  das  Sonnenlicht 
Ist  sein  Herz  und  weiß  es  nicht. 

Aber  Dich,  o  Dich  zernagt 

Eine  Wunde,  die  nicht  blutet. 

Dich  ein  Schmerz  unausgeklagt. 

Dessen  Quell  wie  Lethe  flutet. 

Dessen  Heilung  nie  gelingt. 

Den  kein  Lied  in  Schlummer  singt. 

Eines  Grams  nur  leiser  Duft, 

Nur  der  Schatten  eines  Kummers 

Stockt  in  Deiner  Lebensluft, 

Stört  den  Frieden  Deines  Schlummers; 

Namenlos  und  schattenhaft 

Saugt  er  Deine  beste  Kraft. 

Nie  zu  rasten,  nie  zu  ruhn. 

Und  doch  nie  ins  volle  Leben 

Einen  festen  Schritt  zu  tun; 

Zu  erglühen  im  Bestreben, 

Zu  erliegen  im  Versuch, 

Weh  Dir,  Herz,  das  ist  Dein  Fluch. 

Als  eine  merkwürdig  vereinzelte  Yorpostcnerscheinung 
kommender  lyrischer  Avantreiter  in  ein  zu  eroberndes 
dichterisches  Neuland  ragt  aus  jenen  Münchener  Tagen 
der  heute  über  achtzigjährige  Feldartillerieoberst  a.D.  Ritter, 
Maler  und  Dichter  H  ei  nri  ch  v.  Reder,  zu  einem  späteren 
Dichtergeschlecht  herüber.  Ich  sollte  wegen  seiner  ganzen 
eigenständigen  Art  also  von  Rechtswegen  erst  nachher 
über  ihn  sprechen,  ziehe  es  aber  doch  vor,  gerade  im  ver- 
blüffenden Gegensatz  zum  Geibel- Heysekreis,  mit  dem  er 


?8 


J{J{J{L  JiEJ^CJ{ELL 


sich  doch  zeitlich  und  äußerlich  berührt,  diesen  knorrig 
zähen  ,,Rodensteiner"  der  deutschen  Lyrik  Ihnen  hier  mit 
heller  Freude  vor  die  Augen  zu  rücken.  Der  „alte  Reder", 
wie  ich  ihn  auch  schlechtweg  nennen  möchte,  ist  eine  ur- 
wüchsige Natur,  die  aus  erster  Hand  vom  Quell  Jugend- 
kraft und  Kunst  geschöpft  hat,  während  den  meisten  an- 
dern das  kastalische  Gewässer  durch  ziemlich  viel  Röhren 
zufloß.  Ursprüngliche  Wettertannenkraft  und  —  jawohl!  — 
wunderliebliche  Blumenzartheit  leben  und  weben  in  Reders 
besten  und  eigentümlichsten  Gedichten.  Er  hat  freilich 
auch  manchen  schwachen  Vers  geschrieben.  Man  spricht  so 
viel,  bei  allen  möglichen  passenden  und  unpassenden  Ge- 
legenheiten, vom  sogenannten  „Volkston".  Nun,  hier  ist 
nicht  selten  wahrer  germanischer  Volkston,  notabene  mit 
edler,  tüchtiger  Kunst  vermählt.  Wenn  man  Reders  Hochland-, 
Wald-  und  Zigeunergedichte  genau  kennt  und  liebt,  er- 
scheint einem  so  vieles,  was  unter  diesen  Marken  in  zahl- 
losen Auflagen  den  Büchermarkt  beherrschte,  als  geleckte, 
unwahre  Dekorationsmalerei.  Quellenklare  Augen,  das 
Herz  auf  dem  rechten  Fleck  und  den  Stift  mit  knappem 
Strich  energisch  und  sicher  geführt!  Kurz  und  bündig, 
dabei  schlagend  und  erschöpfend  zu  sein  —  es  ist  wohl 
eine  prächtige  Kunst,  die  dem  Dichter  Reder  zuweilen  er- 
staunlich gelingt.  Bald  ist  der  Sturm  des  wilden  Jägers 
in  Reders  Versen,  bald  der  zarte,  wie  Silberblättlein  klin- 
gende Lichtschimmer  des  stillen  Buchenhains,  bald  die 
leidenschaftliche  Tokaierglut  des  echten,  vogelfreien  Zi- 
geuners und  Pußtasohnes,  bald  das  scharfspähende  Geier- 
auge des  Künstlers,  das  mit  einem  Schlagschatten  eine 
Landschaftsskizze  hinwirft,  eine  Menschenseele  beleuchtet. 
Zuerst  eine  unscheinbare  Federzeichnung,  ein  Bild  von 
der  Heide. 

DER  WÄCHTER. 
^  Stiller  Abendfrieden  lag 

Auf  der  öden  Heide, 

Dünste  woben  drüber  hin 

Schleier,  weiß  wie  Seide. 


i 


VOJ^  DEUTSCTiEJi  BlCJiTUJNG        ^9 

Barfuß  schritt  durchs  Rispengras 
Mit  gerafftem  Kleide 
Eine  sonngebräunte  Maid, 
Schlank  wie  eine  Weide. 

Ihren  Schottlandschäferhund 
Wachsam  an  der  Seite, 
Gaben  Mut  und  scharf  Gebiß 
Ihr  ein  treu  Geleite. 

Dann,  mit  fortstürmender  Leidenschaft,  ein  Ritt  auf  jagen- 
dem Roß 


DURCH  DIE  PUSSTA. 

Scharf  in  die  Flanken  die  Sporen  gedrückt. 
Nicht  in  dem  Sattel  gewankt  und  gerückt. 
Fest  mit  der  Linken  die  Zügel  gefaßt, 
Spreng'  ich  dahin  und  gönn'  mir  nicht  Rast. 

Flatternd  die  Mähne  und  knirschend  im  Zaum, 
Dampfend  die  Nüstern,  Gebiß  voller  Schaum, 
Streckt  sich  mein  Renner  und  fliegt  wie  der  Wind, 
Eh  noch  im  Dämmer  die  Pußta  verrinnt. 

Trockene  Halme  stäuben  vom  Huf, 
Flügelbeschwingt  durch  munteren  Ruf, 
Birken  und  Weiden  verlassen  die  Stell', 
Laufen  bezaubert  entgegen  mir  schnell. 

Weiter  und  weiter  im  schnaubenden  Lauf, 
Mulden  hinunter  und  Hügel  hinauf, 
Fern  in  der  Csärda,  wo  Feuer  noch  brennt, 
Dorten,  mein  Fuchs,  hat  das  Jagen  ein  End'. 

Schließlich  das   volkstümlich   wuchtige   Bauernkriegslied, 
das  wie  ein  Stück  HodlerschesSchweizermannenfresko  wirkt: 


40  J^JlJiL  JiEJMCJ^ELL 

DER  ARME  KUNRAD. 

Ich  bin  der  arme  Kunrad 
Und  komm  von  nah  und  fern, 
Vom  H artematt,  vom  Hungerrain 
Mit  Spieß  und  Morgenstern. 
Ich  will  nicht  länger  sein  der  Knecht, 
Leibeigen,  fröhnig,  ohne  Recht. 
Ein  gleich  Gesetz,  das  v/ill  ich  han. 
Vom  Fürsten  bis  zum  Bauersmann. 

Ich  bin  der  arme  Kunrad, 

Spieß  voran, 

Drauf  und  dran! 

Ich  bin  der  arme  Kunrad, 

In  Aberacht  und  Bann, 

Den  Bundschuh  trag'  ich  auf  der  Stang, 

Hab'  Helm  und  Harnisch  an. 

Der  Papst  und  Kaiser  hört  mich  nicht. 

Ich  halt'  nun  selber  das  Gericht, 

Es  geht  an  Schloß,  Abtei  und  Stift, 

Nichts  gilt  als  wie  die  heil'ge  Schrift. 

Ich  bin  der  arme  Kunrad, 

Spieß  voran. 

Drauf  und  dran! 

Ich  bin  der  arme  Kunrad, 

Trag'  Pech  in  meiner  Pfann'; 

Heijoh!     Nun  geht's  mit  Sens'  und  Axt 

An  Pfaff'  und  Edelmann. 

Sie  schlugen  mich  mit  Prügeln  platt 

Und  machten  mich  mit  Hunger  satt, 

Sie  zogen  mir  die  Haut  vom  Leib 

Und  taten  Schand'  an  Kind  und  Weib. 

Ich  bin  der  arme  Kunrad, 

Spieß  voran. 

Drauf  und  dran! 


VOJ^  BEUTSCHETj  DJCJiTUJ^G          4I 

Nicht  aus  so  kernigem  Holz  geschnitzt  wie  der  einstige 
Artillerieoberst,  der  im  Pulverrauch  von  zwanzig  Schlachten 
gestanden,  war  ein  anderer  unstäter  Gast  der  Münchener 
Tafelrunde,  der,  im  selben  Jahrzehnt  geboren,  schon  längst, 
ja  schon  zu  eigenen  Lebzeiten  ins  Reich  der  Schatten  hin- 
unter schwankte. 

Schmerzzerrissen,  in  selbstverliebter  Schönheit,  hebt  es 
sich  ab  von  dem  Kreise  der  im  allgemeinen  nicht  gerade 
..dämonischen"  Gestalten  des  sogenannten  Münchener  „Kro- 
kodils", das  Bild  des  unglücklichen  Schweizers  Heinrich 
Leuthold,  der  in  der  Heilanstalt  Burghölzli  bei  Zürich 
sein  frühes  und  trübes  Ende  fand.  Ein  nachgeborener 
Souverän  der  schönen  Form  thront  er  im  Purpurmantel  der 
Melodie  auf  den  Trümmern  und  toten  Hoffnungen  seines 
haltlosen,  schicksalschweren  Lebens. 

Er  lächelt  ein  bitteres  Epigramm,  er  sinnt  dem  Wohllaut 
seines  Grames  nach,  er  greift  nach  dem  Thyrsusstab,  schwingt 
den  Becher  und  schwelgt  in  hellenischem  Traumrausch,  aber 
das  üppige  "Weinlaub  blättert  hin,  welk  und  windverweht, 
und  das  Szepter  des  Dionysos  hat  sich  jäh  in  den  Dornen- 
stab  des  schwermütigen  Sohnes  der  Finsternis  verwandelt. 

SCHWERMUT. 

Fraget  nicht,  was  mich  so  eigen 

Oft  —  selbst  im  Genuß  des  Schönen  — 

Aufschreckt,  was  bei  frohen  Tönen, 

Tanz  und  Reigen, 

Mich  versenkt  in  jähes  Schweigen! 

Wie  vor  schweren  Ungewittern 
Bange  Ahnung  lähmt  das  Leben, 
Fühl  ich  mit  geheimem  Beben 
Diesen  bittern 
Schmerz  durch  meine  Seele  zittern. 

Jenen  Gram,  den  nimmersatten, 
Sucht'  ich  oft  mit  sanftem  Streicheln 
Einzuschläfern,  wegzuschmeicheln, 

BJiJljSDES:  DIE  UTETiJlTUT{.  HJlTiB  XXXVJIl XXXVIII  D 


42 \jniL  HE?JCJ{ELL 

Zu  bestatten; 

Doch  er  folgt  mir  wie  mein  Schatten. 

Selbst  bei  holder  Rosenmunde 
Sanftem  Lächeln,  süssem  Plaudern 
Überfällt's  mich  oft  mit  Schaudern  — 
Tief  im  Grunde 
Meines  Herzens  klafFt  die  Wunde. 

Mag  mich  aufwärts  das  Gefieder 
Angebornen  Wohllauts  tragen. 
Immer  kehrt  in  sanften  Klagen 
Meiner  Lieder 
Jener  Ton  der  Wehmut  wieder. 

Laßt  den  Trost!     Er  ist  vergebens. 
Denn  ich  fürchte,  was  so  bange 
Mich  beschleicht,  sogar  im  Drange 
Meines  Strebens, 
Ist  der  Schmerz  verlornen  Lebens. 

Ein  reines  Bild  tiefer  Natureinsamkeit  mit  sinnvoller  Be- 
ziehung auf  ein  Menschenleben  hat  Leuthold  gestaltet 
in  dem  elegischen  Gedicht 

^YAALDSEE. 
Wie  bist  du  schön,  du  tiefer  blauer  See! 
Es  zagt  der  laue  West,  dich  anzuhauchen. 
Und  nur  der  Wasserlilie  reiner  Schnee 
Wagt  schüchtern  aus  der  stillen  Flut  zu  tauchen. 

Hier  wirft  kein  Fischer  seine  Angelschnur, 
Kein  Nachen  wird  auf  deinem  Spiegel  gleiten; 
Wie  Chorgesang  der  feiernden  Natur 
Rauscht  nur  der  Wald  durch  diese  Einsamkeiten. 

Waldrosen  streun  dir  ihren  Weihrauch  aus 
Und  würz'ge  Tannen,  die  dich  rings  umragen. 
Und  die  wie  Säulen  eines  Tempelbaus 
Das  wolkenlose  Blau  des  Himmels  tragen. 


rOJ\l  DEUTSCTfEJi  DJCKTUJ^G        4^ 

Einst  kannt  ich  eine  Seele,  ernst,  voll  Ruh, 
Die  sich  der  Welt  verschloss  mit  sieben  Siegeln; 
Die,  rein  und  tief,  geschaffen  schien  wie  du. 
Nur  um  den  Himmel  in  sich  abzuspiegeln. 

Bezeichnend  für  Leuthold  ist  auch  ein  wohltuender, 
muckerfeindlicher  Zug,  wie  in  folgenden,  durch  die  Form 
für  seine  rhythmisch  pointierende  Art  ebenfalls  charakter- 
istischen Versen: 

WIR  UND  SIE. 
Zwar  meinen  die  Heuchler  und  Frommen 
Und  ziehen  ein  scheel  Gesicht, 
Daß  sie  in  den  Himmel  kommen 
Wir  aber  nicht. 

Wir  sind  mit  dem  Diesseits  zufrieden. 
Ich  und  mein  reizend  Kind, 
Und  freun  uns,  daß  wir  hienieden 
Schon  selig  sind. 

Denn  möchten  wir  einst  erhalten 
Im  Himmel  den  besten  Ort, 
Und  erschienen  die  Frömmlergestalten, 
Wir  zögen  fort. 

Und  sprächen:  „Geruh  uns  beide, 
O  Petrus,  dahin  zu  tun. 
Wo  Anakreon  der  Heide 
Und  Sappho  ruhn! 

Und  führte  der  Weg  zu  diesen 
Durchs  schwärzeste  Höllentor, 
Wir  ziehn  ihn  den  Paradiesen 
Der  Mucker  vor." 

Mit  Recht  konnte  ein  größerer  dichterischer  Lands- 
mann Heinrich  Leutholds  von  dessen  Gedichten  bei 
ihrem  schon  zur  Zeit  seines  seelischen  Todes  er- 
folgten Erscheinen  öffentlich  sagen:  „Dem  Ausbruche  glühen- 

D* 


44  TiJn{L  UEJMCJ^ELL 

der  Lebenslust  und  Leidenschaft  folgen  Klage  und  Reue  auf 
dem  Fuße.  Unmut  und  Spott  lösen  sich  in  Töne  weicher 
"Wehmut,  deren  Wohllaut  schon  an  sich  eine  Versöhnung 
ist-  Kurz,  das  Buch  hat  nicht  nur  ein  Schicksal,  sondern 
es  stellt  ein  Schicksal  dar." 

Der  größere  Landsmann,  der  als  bald  Siebzigjähriger  in 
den ,, heimeligen"  Plauderstündchen,  die  ich  dann  und  wann 
zur  Dämmerungszeit  am  Zeltweg  in  Zürich  bei  ihm  zu- 
brachte, mitunter  auch  persönliche  Erinnerungen  auffrischte, 
nannte  Heinrich  Leuthold  in  seiner  drastischen  Art  gelegent- 
lich mal  ein  „verrücktes  Instrument"  und  erzählte  launig 
von  seinen  tollen  Streichen  und  Einfällen.  Ja,  wenn  der 
arme  Heinrich  nur  etwas  von  der  grundfesten  Geisteskon- 
stitution und  "Wesensveranlagung  seines  kräftigeren  kanto- 
nalen Mitbürgers  besessen  hätte!  Der  bildet  übrigens  eine 
höchst  bedeutsame  Sphäre  für  sich  allein  und  ist  eine  Natur 
\on  hervorragender  schöpferischer  Eigenart.  "Wenn  Gott- 
fried Keller  mir  in  den  dicken  Band  seiner  „Gesammelten 
Gedichte",  die  ich  in  liebevoll  verehrendem  Andenken  an  den 
mit  sorgfältiger  und  sachlicher  "Würdigung  meines  eigenen 
Jugendschaffens  auch  gar  nicht  kargenden  Alt-Staatsschreiber 
\on  Zürich  schatzfreudig  bewahre,  die  schlichte  "Widmung 
schrieb  ,,Zur  freundlichen  Erinnerung  an  den  Täter",  so 
brauchte  er  das  "Wort  , .Täter",  wie  er  mündlich  dazu  an- 
deutete, selbst  wohl  mit  der  ihm  eigentümlichen  etwas 
schalkhaften  Nuance,  aber  das  Buch  Gedichte  stellt  auch 
die  wahrhaftige  lyrische  Lebenstat  eines  prächtigen  Meisters 
dar,  der  in  seinen  Gedichten  natürlich  die  gleichen  mensch- 
lich-künstlerischen Grundzüge  und  Grundvorzüge  aufweist 
wie  in  seinen  mehr  gekannten  und  gerühmten  Erzählungen 
und  Romanen.  Gottfried  Keller  hat  einmal  in  einem  Briefe 
an  Ferdinand  Freiligrath  folgendes  Bekenntniswort  über 
die  Kunst  der  Lyrik  niedergelegt:  ,,Es  ist  mit  der  Lyrik 
eine  eigene  Sache:  sie  duldet  nur  selten  eine  rivalisierende 
Tätigkeit  neben  sich  und  erfordert  ein  ganzes  und  ungeteiltes 
Leben,  um  aus  dessen  edelstem  Blut  als  unvergängliche  Blüte 
hervorgehen    zu    können.     Jedes    gute    Lied    kostet    einen 


HEINRICH  LEUTHOLD 

NACH  DEM  GEMÄLDE  VON  FRANZ  LENBACH 

Photographie  Br uckmann  in  München. 


VOM  -DEHTSCTiETj  mCHTUJ^G        45 

schrecklichen  Aufwand  an  konsumierten  Viktualien,  Nerven- 
verbrauch und  manchmal  Tränen,  vom  Lachen  oder  vom 
Weinen,  gleichviel,  und  dann  vi'ird  es  einem  bogenweise 
berechnet!  Und  die  sechs  Strophen  füllen  nicht  einmal 
zwei  Seiten  —  da  geh  einer  hin  und  werde  Lyriker  ...!" 
Ja,  Meister  Gottfried,  Ihr  habt's  gewußt.  .  .  Wenn  es  auch 
von  wegen  der  „Berechnung"  heute  ein  klein  bißchen  besser 
geworden  sein  mag. 

Gar  nicht  einschmeichelnd  tritt  die  Lyrik  Gottfried 
Kellers  auf,  alles  auf  den  ersten  Blick  Blendende  und  Ver- 
führerische geht  ihr  ab,  sie  ist  wohl  manchmal  eine  etwas 
spröde  Schöne,  aber  wenn  man  sich  nicht  allzu  flüchtig  von 
ein  paar  vereinzelten  hart  und  trocken  klingenden  Wen- 
dungen und  Versen  abschrecken  läßt  und  ein  Auge  für  den 
unerschöpflichen,  bis  auf  das  winzigste  Tröpfchen  echten 
Naturreichtum  dieser  Gedichte  besitzt,  so  sieht  man  Seite 
für  Seite  herrliche,  für  uns  Deutsche  besonders  wertvolle 
Gaben  vor  sich  ausgebreitet.  Vollhängend  und  schv/er,  wie 
ein  breitstämmig  gewachsener  Apfelbaum  feinster  Sorte,  so 
prangt  Kellers  Lyrik  von  den  reifen  Früchten  eines  mar- 
kigen, wohlgediehenen  Lebens. 

Eines  ist  sicher:  lyrisches  Flitter-  und  Flunkergold 
gibt  es  bei  Keller  nicht,  hinter  jedem  Worte,  jedem  Bilde 
steht  der  ganze  knorrigzarte  Mann  mit  dem  großen  Haupte, 
ein  tieffühlender,  aller  Gefühlsduselei  abholder  stiller  Ver- 
trauter der  Natur,  der  er  sich  in  treuer,  dankbarer  und 
blickklarer  Liebe  hingibt.  Ausserordentlich  gediegene  Kunst 
eines  nur  auf  innerste  Bewältigung  des  Lebensgefühls, 
nicht  auf  berauschende  Formeffekte  bedachten  Dichter- 
sinnes. Ein  paar  sichere,  auf  ihrem  Punkte  ruhig  ver- 
weilende Augen,  deren  liebeweites,  stetes  Leuchten  dauernd 
rein  oder  andächtig  stimmt,  schauen  aus  Kellers  Gedichten 
hervor . 

UNTER  STERNEN. 

Wende  dich,  du  kleiner  Stern, 
Erde!  wo  ich  lebe. 


4i 


K^Tj-L  TiEJ^CJ^ELL 


Daß  mein  Aug.  der  Sonne  fern, 
Sternenwärts  sich  hebe! 

Heilig  ist  die  Sternenzeit, 
Öffnet  alle  Grüfte; 
Strahlende  Unsterblichkeit 
Wandelt  durch  die  Lüfte. 

Mag  die  Sonne  nun  bislang 
Andern  Zonen  scheinen, 
Hier  fühl  ich  Zusammenhang 
Mit  dem  All  und  Einen. 

Hohe  Lust,  im  dunklen  Tal, 
Selber  ungesehen. 
Durch  den  majestätschen  Saal 
Atmend  mitzugehen! 

Schwinge  dich,  o  grünes  Rund, 

In  die  Morgenröte! 

Scheidend  rückwärts  singt  mein  Mund 

Jubelnde  Gebete. 

WINTERNACHT 

Nicht  ein  Flügelschlag  ging  durch  die  Welt, 
Still  und  blendend  lag  der  weiße  Schnee, 
Nicht  ein  Wölkchen  hing  am  Sternenzelt, 
Keine  Welle  schlug  im  starren  See. 

Aus  der  Tiefe  stieg  der  Seebaum  auf. 
Bis  sein  Wipfel  in  dem  Eis  gefror. 
An  den  Ästen  klomm  die  Nix  herauf. 
Schaute  durch  das  grüne  Eis  empor. 

Auf  dem  dünnen  Glase  stand  ich  da. 
Das  die  schwarze  Tiefe  von  mir  schied; 
Dicht  ich  unter  meinen  Füßen  sah 
Ihre  weiße  Schönheit,  Glied  um  Glied. 


VOl^  DEUTSCHET^  DICH  TV  IMG         4J 

Mit  ersticktem  Jammer  tastet  sie 
An  der  harten  Decke  her  und  hin. 
Ich  vergeß  das  dunkle  Antlitz  nie. 
Immer,  immer  liegt  es  mir  im  Sinn, 

Gerade  bei  Dichtern  wie  Gottfried  Keller,  deren  strö- 
mende Lebensfülle  eigentlich  mit  jedem  Gedicht  einen  neuen 
Zug  offenbart,  ist  es  natürlich  ganz  ausgeschlossen,  in  ein 
paar  sogenannten  „Perlen"  ihr  Wesen  und  ihre  Art  nur 
andeuten,  geschweige  aufzeigen  zu  wollen.  Das  machen 
uns  solche  Herren  glücklicherweise  völlig  unmöglich.  Sie 
spotten  ja  auch  unbarmherzig  jedes  ehrenwerten  antholo- 
gischen  Bemühens,  Darum  lassen  Sie  mich  nur  noch  das 
eine  goldtraubensüsse  Gedicht  von  der  „Winzerin"  lesen, 
das  ich  unsäglich  liebe,  und  nachher  zum  Schluß  eine  ent- 
zückende, auch  echt  Kellersche  Schnurre. 

DIE  WINZERIN. 
Am  sonnig  weißen  Gartenhaus, 
Da  reifet  Traub  an  Traube, 
Die  sanfte  Schöne  tritt  heraus 
Und  prüft  die  schwere  Laube; 
Dem  blauen  Blick  des  Weibes  gleicht 
Der  Beeren  dunkle  Menge; 
Wohin  ihr  freundlich  Auge  reicht. 
Lacht  freundliches  Gedränge. 

Rings  lockt  das  noch  gefangne  Blut 

Zu  Raupten  und  zu  Füßen, 

Und  sie  beginnt  mit  stillem  Mut 

Zu  schneiden  all  die  süßen. 

Und  wie  sie  mit  der  lieben  Hand 

Die  grünen  Blätter  teilet. 

Hin  schweifet  über  See  und  Land 

Im  Flug  der  Blick  und  weilet. 

Gleich  einer  reifen  Beere  glänzt 
Ihr  feuchtes  Aug  herüber, 


48 


\jn{L  IiE7\lCJ(ELL 


Wb's  blaut  und  leuchtet  unbegrenzt. 

So  fern,  so  fern  herüber. 

Sie  lasset  still  und  ahnungsvoll 

Die  vollen  Trauben  sinken. 

Bis  es  in  Körben  reizend  schwoll 

Mit  tausendfachem  Blinken. 

Und  auf  der  Laube  Marmeltisch 
Zu  keltern  sie  beginnet, 
Daß  aus  der  Kelter  duftig  frisch 
Das  Blut  der  Traube  rinnet; 
Wie  muß  der  weißen  Arme  Zier 
Mit  holder  Kraft  sich  mühen! 
Sie  keltert  bis  die  Wangen  ihr 
Gleich  jungen  Rosen  blühen. 

Sie  keltert,  daß  der  Busen  fliegt 
Und  woget  ungemessen; 
Umsonst,  was  ihr  im  Sinne  liegt, 
Sie  kann  es  nicht  vergessen! 
Umsonst  —  wie  oft  die  Krüge  sie 
Mit  starkem  Moste  füllet, 
Sie  selber  hat  den  Durst  noch  nie. 
Das  Sehnen  nie  gestillet. 

Sie  läßt  den  heißen  Rebensaft 

Mit  treuer  Sorge  gähren, 

In  kühler  Nacht  zu  milder  Kraft, 

Zum  seltnen  Wein  sich  klären. 

Den  trägt  sie  zu  den  Hütten  hin 

Auf  Höhen  und  im  Tale. 

Sie  reicht  der  armen  Wöchnerin, 

Dem  kranken  Greis  die  Schale. 

So  keltert   sie  den  Edelwein 
Im  Herbste  schon  seit  Jahren.  — 
Ein  Segel  kommt  im  gold'nen  Schein 
Das  Abends  fern  gefahren; 


GOTTFRIED  KELLER  VON  CARL  STAUFFER-BERS 

MIT  GENEHMIGUNG  VON  AMSLER  d-  RUTHARDT  IN  BERLIN. 


VOM  DEUTSCHE7{  DICH  TUM G        4Q 

Im  Hafen  legt  das  Schiff  sich  an, 
Sie  hört  die  Schiffer  singen. 
Und  einen  hochgemuten  Mann 
Sieht  sie  ans   Ufer  springen. 

Sie  kennt  ihn  und  sie  kennt  ihn  nicht, 
Sie  starrt  hinaus  ins  Weite, 
Als  er  mit  trauter  Stimme  spricht 
Und  grüßt  schon  ihr  zur  Seite. 
Die  frohen  Klänge  mischen  sich. 
Das  "Wort  hier,  dort  die  Lieder: 
„Ratlos  verließ  der  Knabe  dich. 
Nun  kehrt  ein  Mann  dir  wieder!" 

„O  schau,  wie  leuchtet's  weit  und  breit. 

Wie  klar  der  Tag,  die  Stunde! 

Und  reif  die  schönste  Lebenszeit 

Küßt  mich  von  deinem  Munde!" 

Da  ist  in  seine  Arme  hin 

Sie  wonnevoll  gesunken. 

Und  weinend  hat  die  Winzerin 

Zum  erstenmal  getrunken. 

Zum  Abschied  von  dem  unvergleichlichen  Schweizermann 
ein  schalkisch  gelungenes  „Wanderbild"  aus  der  Zeit  seines 
Aufenthaltes  in  Berlin: 


BERLINER  PFINGSTEN. 
Heute  sah  ich  ein  Gesicht, 
Freudevoll  zu  deuten: 
In  dem  frühen  Pfingstenlicht 
Und  beim  Glockenläuten 
Schritten  Weiber  drei  einher. 
Feierlich  im  Gange, 
Wäscherinnen  fest  und  schwer. 
Jede  trug  'ne  Stange. 


so  J{jn{Z  TiEJ\JCJ(ELL 

Mädchensommerkleider  drei 
Flaggten  von  den  Stangen, 
Schön're  Fahnen,  stolz  und  frei, 
Als  je  Krieger  schwangen. 
Frisch  gewaschen  und  gesteift, 
Tadellos  gebügelt, 
Blau  und  weiß  und  rot  gestreift, 
Wunderbar  geflügelt! 

Lustig  blies  der  "Wind,  der  Schuft, 

Falbeln  auf  und  Büste, 

Und  n:\it  frischer  Morgenluft 

Füllten  sich  die  Brüste; 

Und  ich  sang,  als  ich  gesehn 

Ferne  sie  entschweben: 

Auf  und  laßt  die  Fahnen  wehn. 

Lustig  ist  das  Leben! 

Als  im  Jahre  1889  Gottfried  Keller  seinen  josten  Ge- 
burtstag feierte  und  sich  allen  offiziellen  Veranstaltungen 
nach  Seelisberg  entzog,  sandte  ich  ihm  —  ich  war  Mitte 
zwanzig  —  ein  Rosenkörbchen  mit  folgenden  Begleitversen, 
die  hier  wohl  ihren  natürlichen  Platz  finden: 

GOTTFRIED  KELLER  ZUM  70.  GEBURTSTAGE. 
(Mit  einem  Rosenstrauß.) 

Nimm  diesen  Gruß  von  Rosen,  Gottfried  Keller, 
Des  Sommers  vollen  Segen  nimm  von  mir! 
Noch  an  den  Kelchen  weint  ein  freudeheller 
Tautropfen  in  des  Morgenglanzes  Zier. 

Die  frische  Glut  der  sonngeküßten  Fülle, 
Des  sammtnen  Schoßes  duftgetränkte  Truh, 
Sie  atme  dir,  als  zarte  Liebeshülle, 
Den  satten  Hauch  der  süßen  Schönheit  zu! 

Köstlich  und  keusch,  schelmisch  und  fein  am  Mieder 
Der  deutschen  Dichtung  bist  du  aufgeblüht, 


VOM  DEUTSCTfE7{  -DlCTiTVJMG        J/ 

Dir  rankt  sich  durch  Legenden,  Mären,  Lieder 
Der  Reiz  der  Anmut  um  ein  Goldgemüt. 

Glück  auf  dir,  Alter  mit  der  Jugendfrische, 
Dich  grüßt  ein  Junger,  den  der  Sturm  umweht. 
Stell  auf  mein  Sträußchen  am  Geburtstagstische, 
Du  lieber,  rosengläubiger  Poet! 

Händedruck  und  herzenswarmes  Wort,  als  wir  uns  kurz 
darauf  in  Zürich  wiedersahen  —  wer  könnte  das  von  so 
Einem  je  vergessen! 


Von  der  Schweiz  nach  Schleswig,  von  Zürich  nach  Husum 
ist  nicht  so  weit,  wenn  man  von  Gottfried  Keller  zu 
Theodor  Storm  will.  Von  Dichter  zu  Dichtergehen 
schon  längst  blitzschnelle  seelische  Sphärenzüge,  Süd  und 
Nord  berühren  sich  da  im  Augenblick.  Storm  teilte  mit  Keller 
nicht  nur  fast  die  gleiche  Spanne  des  Lebens  (Keller  von 
1819 — 90,  Storm  von  1817 — 88),  sondern  auch  die  schlichte 
Wahrhaftigkeit  und  vornehme  Gediegenheit  der  Kunst. 
Storm  mag  in  bestimmtem  Sinne  „lyrischer"  als  Keller  ge- 
nannt werden  wegen  eines  gewissen  Mehr  an  runder  Eu- 
rhythmie  des  Liedverses,  aber  treue  Sorgfalt  in  der  Natur- 
erfassung, Mangel  an  falschen  Farben  und  schwindlerisch 
nachgemachten  Klängen  ist  beiden  Freunden  und  viel- 
jährigen Korrespondenten  erquicklich  gemeinsam.  Storms 
schweigsame,  von  Gehalt  und  Stimmung  überquellende  Verse 
lassen  die  tiefsten  Herztöne,  die  Laute  zartester  Mensch- 
lichkeit vernehmen.  Ein  feiner,  herzenskundiger  Knecht 
Ruprecht  der  Poesie,  so  könnte  man  Storms  lyrische 
Silhouette  zeichnen,  teilt  er  in  süßverwirrender  Dämmer- 
stunde, „wenn't  Schummern  in  de  Ecken  liggt"  und  ,,wenn's 
munkelt"  die  Päcklein  seines  geheimnisvollen  Zaubersackes 
aus,  den  zarten  Frauen,  den  aufrechten  Männern,  die  das 
traumhafte  Ineinanderweben  von  Wirklichkeit  und  Dichtung 
ahnen  und  verstehn  ,  .  . 


5£ TjATiL  HEMCJJELL 

„Es  sinkt  auf  meine  Augenlider 
Ein  goldner  Kindertraum  hernieder." 

Oder,  mit  verwandelter  Jahreszeit:  ein  helläugiger, 
lebensstarker  Mensch  zugleich  und  ein  echtes  Sonntags- 
kind mit  der  "VC^ünschelrute  des  Schätzefinders,  führt  dich 
der  leiderfahrene  Poet  gern  gedankenvoll  deutend  zu 
den  weltfernen  Klosterplätzchen  sonnengoldner  Gartenein- 
samkeit. 

Storm  geht  wie  ein  weiser,  sehr  wohlhabender,  aber 
sparsamer  Hausvater  mit  seinem  lyrischen  "Wortschatz  um, 
er  scheint  wenig  auszugeben  und  schenkt  um  so  mehr. 
Denn  alles,  was  er  zurückhält,  spürt  man  gleichwohl  im 
stillen  mitgegeben  —  und  auf  einmal  überquillt  es  uns  dann 
wie  seltener,  überraschender  Reichtum. 

Die  "Wortkargen  sind  nicht  die  schlechtesten  unter  den 
Dichtern  —  wir  werden  bald  noch  ein  stärkeres  Exem- 
plar dieser  Gattung  zu  betrachten  haben. 

KÄUZLEIN. 

Da  sitzt  der  Kauz  im   Ulmenbaum, 
Und  heult  und  heult  im   Ulmenbaum. 
Die  "Welt  hat  für  uns  beide  Raum! 
"Was  heult  der  Kauz  im  Ulmenbaum 
"Von  Sterben  und  von  Sterben? 

Und  übern  ^eg  die  Nachtigall, 
Genüber  pfeift  die  Nachtigall. 
O  weh,  die  Lieb  ist  gangen  all! 
"Was  pfeift  so  süß  die  Nachtigall 
"Von  Liebe  und  von  Liebe? 

Zur  Rechten  hell  ein  Liebeslied, 

Zur  Linken  grell  ein  Sterbelied! 

Ach,  bleibt  denn  nichts,  wenn  Liebe  schied. 

Denn  nichts  als  nur  ein  Sterbelied 

Kaum  wegbreit  noch  hinüber? 


VOM  BEUTSCTtETi  DICTiTUMG        SS 

Das  ist  das  uralte  Lied  vom  Scheiden  der  Liebe,  wie 
es  so  todestraurig  auch  manche  Novelle  durchzittert.  — 
Storm  liebt,  ob  ihm  schon  die  schärfsten  und  wuchtigsten 
Töne  zu  Gebote  standen,  wenn  es  um  Vaterland  und  Heimat- 
erde ging,  doch  im  allgemeinen  mehr  die  stillen  Weisen  der 
Natur: 

Wir  können  auch  die  Trompete  blasen 

Und  schmettern  weithin  durch  das  Land; 

Doch  schreiten  wir  lieber  in  Maientagen, 

Wenn  die  Primeln  blühn  und  die  Drosseln  schlagen. 

Still  sinnend  an  des  Baches  Rand. 

Sonnenstrahl  und  Mondenlicht,  Leben  und  Tod  gleiten 
wechselnd  über  sein  melodisches  Saitenspiel. 


IM  WALDE. 
Hier  an  der  Bergeshalde 
Verstummet  ganz  der  Wind; 
Die  Zweige  hängen  nieder, 
Darunter  sitzt  das  Kind. 

Sie  sitzt  in  Thymiane, 
Sie  sitzt  in  lauter  Duft; 
Die  blauen  Fliegen  summen 
Und  blitzen  durch  die  Luft. 

Es  steht  der  Wald  so  schweigend, 
Sie  schaut  so  klug  darein; 
Um  ihre  braunen  Locken 
Hinfließt  der  Sonnenschein. 

Der  Kuckuck  lacht  von  ferne. 
Es  geht  mir  durch  den  Sinn : 
Sie  hat  die  goldnen  Augen 
Der  Waldeskönigin. 


^4  \A'HJL  ?iEJ^CJ{BLL 

TIEFE  SCHATTEN. 

So  komme,  was  da  kommen  magl 

So  lang  du  lebest,  ist  es  Tag; 

Und  geht  es  in  di:  Welt  hinaus, 

Wo  du  mir  bist,  bin  ich  zu  Haus. 

Ich  seh  dein  liebes  Angesicht, 

Ich  sehe  die  Schatten  der  Zukunft  nicht. 

In  der  Gruft  bei  den  alten  Särgen 
Steht  nun  ein  neuer  Sarg, 
Darin  vor  meiner  Liebe 
Sich  das  süßeste  Antlitz  barg. 

Den  schwarzen  Deckel  der  Truhe 
Verhängen  die  Kränze  ganz; 
Ein  Kranz  von  Myrthenreisern, 
Ein  weißer  Syringenkranz. 

"^as  noch  vor  wenig  Tagen 
Im  Wald  die  Sonne  beschien. 
Das  duftet  nun  hier  unten: 
Maililien  und  Buchengrun. 

Geschlossen  sind  die  Steine, 
Nur  oben  ein  Gitterlein; 
Es  liegt  die  geliebte  Tote 
Verlassen  und  allein. 

Vielleicht  im  Mondenlichte, 
Wenn  die  Welt  zur  Ruhe  ging, 
Summt  noch  um  die  weißen  Blüten 
Ein  dunkler  Schmetterling. 

Storms  Lyrik  berührt  mich  oft  wie  der  unmerkliche 
Flügelschlag  eines  Dämmerungsfalters,  wenn  abendwürziger 
Resedaduft  durch  den  Garten  weht  .  .  . 

Bei  Theodor  Storm  in  Gedanken  „am  grauen  Strand, 
am  grauen  Meer"  verweilend,  wie  könnte  man  da  des  be- 
glückend frischen  und  schlichten  Quickborndichters,  unseres 
wurzelstarken  Dithmarschen  Klaus  Groth  Yergessenl   Man 


VOM  DEUTSCTiETi  DJCNTUMG       SS 

schwätzte  eine  Zeitlang  —  es  scheint  das  nun  auch  schon 
wieder  „überwunden"  zu  sein  —  sehr  viel  von  sogenannter 
Heimatkunst  in  Berh'n  und  h'terarischen  Vororten  —  nun, 
Klaus  Groth  ist  ein  Heimatdichter,  und  zwar  einer  echten 
Kalibers,  in  dessen  plattdeutschen  Versen  die  wasser-  und 
moorreiche  Landschaft  um  Heide  und  Meldorf,  die  Atmo- 
sphäre von  Land  und  Leuten  unmittelbar  lebendig  wird 
und  zum  selbstverständlichen  Hintergrund  eines  kraftvoll- 
zarten Empfindungslebens  dient.  Klaus  Groth  ist  auch  der 
norddeutsche  Poet  der  ländlich -realistischen  Idylle  mit 
natürlichem  Humor  —  da  braucht  man  nur  seine  längeren  Ge- 
dichte zu  lesen.  Hätte  er  aber  lediglich  sein  Lied  von 
„Min  Modersprak"  gedichtet,  so  müßte  ich  ihn  immer  lieb 
behalten. 

Min  Modersprak,  wa  klingst  du  schön! 
Wa  büst  du  mi  vertrutl 
Weer  ok  min  Hart  as  Stahl  un  Steen, 
Du  drevst  den  Stolt  herut. 

Du  bögst  min  stiwe  Nack  so  licht 
As  Moder  mit  ern  Arm, 
Du  fichelst  mi  umts  Angesicht 
Un  still  is  alle  Lärm. 


So  herrli  klingt  mi  keen  Musik 
Un  singt  keen  Nachtigal; 
Mi  lopt  je  glik  in  Ogenblick 
De  hellen  Tran  hendal. 


Die  treuherzigen  Verse  gehen  einem  immer  wieder  nahe 
ans  Herz,  dieses  seltsame  Organ,  das  unbeschadet  alles  "Welt- 
bürgertums es  sich  nicht  nehmen  lässt,  auf  seine  besondere 
Art  Heimat  und  Stammesart  zu  lieben. 

Ich  sagte  schon,  daß  Klaus  Groth  himmelweit  davon  ent- 
fernt ist,  Heimatdichter  im  kleinlich  beschränkten  oder  gar 
literarisch  zugeschnittenen  Sinn  des  Wortes  zu  sein  —  so 
aufgefasst  würde  man  sein  Wesen  völlig  verkennen.   O  nein. 


56 


\JIJ{L  n-E7^C\ELL 


er  ist  eher  eine  Art  deutscher  Robert  Burns,  dem  er  sich  selbst 
auch  gewiß  verwandt  fühlte;  die  ergreifend  innige  Natür- 
lichkeit seiner  Herzenssprache,  die  tiefen  Grundbeziehungen 
seiner  so  köstlich  unzünftigen  Kunst  zum  Großen  und  Ganzen, 
zum  Typischen  des  Menschenlebens  schützen  ihn  vor  jeder 
litterarischen  Zaunpfahlankoppelung.  Man  sieht  wohl  deut- 
lich das  dörfliche  Storchennest  und  die  Kirchturmspitze, 
man  hört  aber  auch  das  unendliche  Meer  rauschen  und  den 
ewigen  Brausewind  über  den  Deich  dahinwehen. 

DAT  DÖRP  IN  SNEE. 

Still  as  ünnern  warme  Dek 
Liggt  dat  Dörp  in  witten  Snee, 
Mank  de  Ellern  slöppt  de  Bek\ 
Ünnert  Is  de  blanke  See. 

"Wichein  "^  stat  in  witte  Haar, 
Spegelt  slapri^  all  de  Kopp, 
All   is  ruhi,  kold  und  klar, 
As  de  Dod,  de  ewi  slöppt. 

"Wit,  so  wit  de  Ogen  reckt, 
Nich  en  Leben,  nich  en  Lut; 
Blau  na'n  blauen  Heben  treckt 
Sach  de  Rok*  nan  Snee  herut. 

Ik  much^  slapen,  as  de  Bom, 
Sünner  "Weh  un  sünner  Lust, 
Doch  dar  treckt  mi  as  in  Drom 
Still  de  Rok  to  Hus. 

"Wie  viel  im  besten  Sinn  bewußte  Kunst  in  so  vielen 
seiner  scheinbar  höchst  simpeln  plattdeutschen  Lieder  aus 
Natur  und  Menschenleben  steckt,  ist  dem  "Verstehenden 
ohne  weiteres  klar.  Ihr  "Wert  wird  dadurch  nur  erhöht, 
daß  man  es  so  gar  nicht  merkt.  Es  ist  in  trauriger  "Weise 
bezeichnend,  daß  die  wesentlichen  "Vorzüge,  das  eigentlich 

1  Bach,  2  Weiden,  3  schläfrig,  *  Rauch,  ^  möchte. 


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VOl^  DEUTSCHET^  BICHTIUMG         ^J 

Ausschlaggebende  in  Klaus  Groths  dichterischem  Lebens- 
werk lange  Zeit  gerade  bei  den  engern  Landsleuten  des 
Dichters  eine  geringschätzige  und  falsche  Aufnahme  fand, 
so  daß  er  einmal  in  dem  ergreifenden  Klagesonett  „In  Thule" 
in  die  Worte  ausbrach: 

„Ich  wandre  unverstanden  unter  Horden 
Von  kalten  Stummen,  die  mich  nicht  begreifen. 
Die  mir  den  Duft  von  meinem  Fühlen  streifen 
Und  mir  das  Wort  schon  im  Entstehen  morden  . ." 

Dem  wehmütigen  winterlichen  Abendbild  mit  seiner  tiefen 
Ruhesehnsucht  folge  wenigstens  noch  eines  seiner  hoch- 
deutschen Gedichte,  aus  den  „Hundert  Blättern".  Ich  glaube, 
mancher  wird  auch  heute  noch  staunen,  bei  Klaus  Groth 
ein  so  die  zartesten  Schwingungen  und  Schattierungen  der 
Luft  und  der  Seele  wieder  ausatmendes  Gebilde  zu  ent- 
decken: 

SOMMERSCHWÜLE. 

Brennende  Luft,  — 

Glühender  Strahl 

Schießt  herab  wie  fließendes  Gold; 

Und  in  der  Ferne 

Zittert  in  Wellen, 

Wie  in  Pulsen,  die  Umgebung.  — 

Und  welcher  Schatten! 

Greiflich  dicht,  in  scharf  geschnittene  Formen 

Fließt  er  vom  Baum  herunter, 

Vom  Dach  herab, 

Wie  ein  kühlender  Strom  um  die  Brust. 

Schläfernder  Blumenduft, 

Vogelgezwitscher  wie  Flüstern  — 

Über  die  Träumer  gießt 

In  vollen  Schalen 

Heiige  Natur, 

Allliebende  Mutter, 

Gießt  ver?;chwenderisch  mild  ihren  Segen  aus. 

BJiAJSDES:  DIE  UTETiATHTi.  BJlTiB  XXXVIII XXXVIII  E 


58 


\jn{Z  IiEJ\JCJ{ELL 


Auch  über  mich?  — 

Ach,  meine  Seele  dürstet! 

Kann  ich  es  hindern, 

Wenn  sie  erzittert 

Leis  wie  der  Horizont? 

Und  im  Herzen  die  \^e]Ien  steigen, 

Und  in  hohen  brausenden  "Wogen 

Über  das  Haupt  mir 

Glühender  Wunsch  und  Sehnsucht  steigen? 

Befriedigt  saugen  die  Saaten 

Den  Sonnenglanz, 

Ahnen  Vögel 

Den  duftigen  Schatten. 

O  ich  möchte  zerfließen 
Mit  dem  fließenden  Golde! 
Möchte  sterben  und  schweben 
Mit  dem  sterbenden  Laute!   — 
Auf  zum  off^enen  Himmel 
Wallet  der  Rosenduft. 

Aber  o  Herz! 

Dort  im  dichtesten  Schatten, 

Tief  im  Laub  versteckt, 

Unter  dem  niedrigen   Ulmenbaum, 

Wer  isfs? 

Leise  wiegt  das  liebliche  Haupt, 
Leise  haucht  die  vertraute  Stimme 
Seelenfrieden  in  süßen  Tönen  aus! 
Sei  still  und  atme! 
Du  bist  ein  Mensch  —  und  liebst. 

Ja,  es  gab  glücklicherweise  über  den  in  aller  Kuckucks 
Munde  befindlichen  Modedichtern,  die  so  um  die  sieb- 
ziger Jahre  herum  den  Rahm  des  äusserlichen  Erfolges  ab- 
schöpften und  die  längst  ihren  Lohn  dahin  haben  —  es  gab 
glücklicherweise  im  deutschen  Sprachgebiet  auch  schon  da- 


VOJSl  DBUTSCTtETi  DJCTiTyj\G         ^^ 

mals  ruhig  ihren  Weg  gehende,  unbekümmert  aus  sich  heraus 
schaffende  Poeten,  denen  die  Tage  einer  gerechtwerdenden 
"Würdigung  erst  langsam  heranreifen  sollten.  Die  "Weltan- 
schauung dieser  Dichter  trägt  nicht  das  sich  im  Zusammenhang 
mit  kulturellen  Umbildungen  bald  darauf  entwickelnde  Ge- 
präge einer  Jüngeren  Generation,  der  eine  neue  Sehnsucht  im 
Blute  lag,  aber  ihre  lebenswahre,  seelisch  und  sprachlich  ganz 
selbständige  Gestaltungsweise  schlägt  im  besten  Sinn  eine 
Brücke  zur  Gegenwart,  geht  ihr  oft  sogar  rein  künstlerisch 
bedeutsam  wegweisend  voraus.  Der  selbstgesteckte  Rah- 
men meiner  Ausführungen  zwingt  mich,  hier  wie  auch  später 
es  auf  manchen  "Verzicht  ankommen  zu  lassen,  der  ja  natür- 
lich ganz  und  gar  kein  "Vergessen  und  keine  Ausschließung 
bedeutet.  Ich  gebe  hier  nicht  Literaturgeschichte  noch 
fühle  ich  anthologische  "Verbindlichkeiten  —  ich  bitte  das 
recht  sehr  im  Auge  zu  behalten. 

Es  muß  an  dieser  Stelle,  wo  nur  von  besonders  stark  sich 
abhebenden  Erscheinungen  der  neueren  deutschen  Lyrik  die 
Rede  ist,  des  Bayern  Martin  Greif  gedacht  werden,  der, 
seit  Jahrzehnten  in  München  ansässig,  gegenüber  den  früher 
gestreiften  mehr  oder  weniger  weichlichen  Parnaßschönheiten 
des  Heysekreises  in  tiefer  Naturnähe  und  hoher,  ungeleckter 
Einfalt  dasteht.  Ich  möchte  ihn  den  „erinnerungsvollen"  und 
„ahnungsreichen"  Martin  Greif  nennen,  ohne  damit  mehr 
als  das  wolkenhaft  Auftauchende  und  Vorüberziehende  seines 
Wesens,  den  traumartigen  Zug  und  die  seltsam  ätherschwe- 
bende Formation  vieler  seiner  Gedichte  andeuten  zu  wollen. 

"Wie  ein  Kind,  halb  träumend  und  halb  im  ^Wachen,  mit 
duftigen  Blüten  spielt,  die  ihm  der  "Wind  in  den  Schoß 
weht,  Kränzlein  flicht  und  löst  und  wieder  von  neuem  flicht, 
so  der  Lyriker  Martin  Greif.  Er  weint  und  lacht  mit 
seiner  Mutter,  der  Natur,  die  ihm  ihre  "Wiegenlieder,  ,, all- 
bekannte herzliche  Lieder"  mit  trauter  Stimme  ins  Ohr 
flüstert,  greift  schier  verwundert  nach  Sonne,  Mond  und 
Sternen,  als  sah  er  sie  zum  ersten  Mal,  und  zieht  mit  sehn- 
suchtstammelnden "Weisen  die  Dinge  an  sein  altes  thörichtes 
Menschenherz. 


5Ö  7{J!7{L  TfEJ^CJ(ELL 

Ich  weiß  nicht,  warum  sich  der  ursprünglich  Hermann 
Frey  heißende  Dichter  just  Martin  Greif  genannt  hat,  aber 
ich  habe  ihn  im  Verdacht,  daß  er  —  und  es  wäre  das  für 
seinen  glücklichen  Tastsinn  nur  bezeichnend  —  seinem 
Dichternamen  eine  Art  dunkler  Symbolik  zugrunde  legte. 
Nomina  sunt  ja  mitunter  wirklich  omina.  Martin  Greif 
hat  z.B.  mit  Martin  Luther  den  schlichten  schöpferischen 
Sprachsinn  gemein,  der  die  Worte,  also  das  Ausdrucksmittel 
des  Dichters,  in  ihrem  vollen  Ursprungswert  empfindet. 
Ferner  greift  er  sozusagen  nach  den  Wort-  und  Welt- 
gebilden wie  der  Märchenvogel  nach  seinem  kindlichen 
Opfer,  um  sie  aus  dem  unendlichen  Fluß  der  Dinge  heraus- 
zuholen und  durch  die  Lüfte  zu  dauerndem  Besitz  nach 
seinem  Horst  davonzutragen.  Bei  wenigen  Lyrikern  habe 
ich  so  das  Gefühl  des  Immerwiederkehrenden  der  Erschei- 
nungen und  Vorgänge  in  Natur  und  Menschenleben  wie 
gerade  bei   ihm. 

Wenn  man  gegenüber  einem  Dichter,  der  den  Lebens- 
wald auf  mannigfaltigen  Pfaden  durchstreift,  und  der  ein 
mit  allem  Menschlichen  weit  umher  fühlendes  Herz  in 
der  Brust  trägt,  von  einer  vorherrschenden  und  charak- 
teristischen Grundstimmung  überhaupt  sprechen  kann,  so 
fühlt  sich  Matin  Greif  im  ganzen  jedenfalls  eher  zur  Weh- 
muts- und  Resignationssphäre  hingezogen.  Aber  auch  auf 
dieser  elegischen  Gefühlswelle  steuert  er  sein  SchiPFlein 
ohne  Sentimentalität  an  uns  vorbei  in  die  Dämmerferne, 
und  seine  Resignation  ist  die  des  gefaßten  Menschen,  der 
mancherlei  hinter  und  unter  sich  gebracht  und  trotzdem 
das  Mitzuleiden,  Mitzulieben  und  sich  Mitzufreuen  nicht 
verlernt  hat.  So  wirkt  er  anhaltend  warm  und  wohltuend 
dadurch,  daß  Phantasie  und  Herz  bei  ihm  treue  Kamerad- 
schaft halten.  Und  dann  ist  es  seine  ganz  besondere  Gabe, 
das,  was  hinter  dem  Ausdruck  schlummert,  leise  anrührend 
mitzittern  zu  lassen  und  so  das  deutliche  Wortbild  geheim- 
nisvoll zu  unterdunkeln.  Seine  Rhythmik  und  Strophik 
sucht  zudem  im  stärksten  Gegensatz  zum  Geibelschen  Fal- 
tenwurf alias  Bemäntelung  das  innerliche  Wertverhältnis  der 


THEODOR  STORM 
Photographie  Konstabel  in  Hanerau 


VOM  DEUTSCTiETj  DICJJTKJ^G         6l 

"Worte  und  Sätze  feinfühlig  und  angemessen  zu  ordnen  und 
zu  gliedern.  Und  nun  von  dem  Dichter,  der  mit  weit 
größerem  Recht  und  in  viel  tieferem  Sinn  als  etwa  ein 
Geibel  wahrhaft  „fromm"  genannt  zu  werden  verdient, 
fromm  in  seiner  andächtigen  reinen  Lebensstimmung,  we- 
nigstens ein  paar  bezeichnende  Gedichte  aus  dem  über- 
quellenden Füllhorn  seiner  Lieder.  Daß  bei  einem  so  naiven 
Dichter  manches  Ungleichwertige  mitunterläuft,  ist  kaum 
anders  zu  erwarten,  man  hat  aber  gleichwohl  bei  Martin 
Greif  die  angenehme  Empfindung,  daß  selbst  die  unschein- 
barsten Grashälmchen  seiner  Lyrik  niemals  dürr  oder  gar 
unecht  sind.  Zuerst  die  seltsam  erdenbangen  Rhythmen 
c'es  aus  der  Heimat  nächtlich  in  die  „fremde  Ferne  Ent- 
führten": 

AUF  DER  REISE. 

Noch  schlafen  sie  alle 

Auf  bergendem  Lager, 

Alle  die  Lieben, 

Die  ich  leise  dort  verließ 

Rückwärts  in  der  trauten  Heimat, 

Und  träumen  die  Nacht  zu  Ende. 

Ich  aber  bin  indes  geeilt 

An  Flüssen  dahin  und  vielen  Bergen, 

Weit  voran  in  die  fremde  Ferne. 

Der  Mond  am  Himmel  allein. 

Der  erbleichende. 

Folgte  mir  nach 

Mit  teilnehmendem  Blick, 

Und  er  sah  des  Entführten 

Irdische  Eile. 

Dann  die  wie  ein  unversehens  heraufziehendes  Gewitter 
wirkenden  lebensschv/cren  Strophen: 

AUF  DER  WIESE. 
Als  ich  auf  der  Wiese  lag 
Und  nach  Wand'rers  Weise 


Gl  T^JlTiL  HE?JCJ(ELL 

Süßen  Selbstvergessene  pflag. 
Hört'  ich's  donnern  leise 
Droben   in  den  Höh'n. 

Als  das  Aug'  ich  aufgetan, 
Siehe,  Wolken  zogen 
Dunkel  überall  heran, 
Und  die  Vöglein  flogen 
Angstlich  über  mir. 

So  voll  Glück  und  Sonnenschein 
War  mein  Jugendmorgen; 
Doch  es  zog  Gewölk  herein 
Und  es  kam  der  Sorgen 
Dichtgedrängtes  Heer. 

Und  schließlich  noch  den  zarten  und  so  schlichten  Acht- 
zeiler: 

VOR  DER  ERNTE. 

Nun  störet  die  Ähren  im  Felde 
Ein  leiser  Hauch, 
Wenn  eine  sich  beugt,  so  bebet 
Die  andre  auch. 

Es  ist,  als  ahnten  sie  alle 

Der  Sichel  Schnitt  — 

Die  Blumen  und  fremden   Halme 

Erzittern  mit. 

Martin  Greif  lebt  als  nun  bald  Siebzigjähriger  in  Mün- 
chen mit  der  freilich  etwas  späten  Genugtuung,  sein  Lied 
immer  mehr  gelesen  und  gewürdigt  zu  sehen,  von  einem 
Jüngern  Dichtergeschlecht  nur  soweit  es  rohem  Strebertum 
fröhnt,  unehrerbietig  beiseite  geschoben.  Lediglich  Neu- 
lingsbeschränktheit oder  literarischesTotschlägersystem  wirft 
das  Echte,  mag  es  auch  momentan  unmodern  anmuten,  zum 
alten  Eisen.  Das  tut  man  rechtmäßig  wohl  mit  Mode- 
dichtern, die  zu  unnatürlicher  Wertschätzung   aufgebauscht 


W7V  DEUTSCTiElj  DJCTiTUJ^G         6^ 

sind,  wie  ich  es  bei  der  sogenannten  Lyrikerrevolution  anno 
85  ebenfalls  tat  —  zu  keiner  Stunde  meines  Lebens  jedoch 
möchte  ich  einem,  der  wirklich  was  Echtes  und  Eigenes 
leisten  kann,  und  käme  er  hundertmal  aus  der  Sphäre  einer 
ganz  andern  Kunstauffassung,  wider  besseres  Fühlen  und 
Wissen  den  freudigen  Zoll  der  Anerkennung  schuldig  ge- 
blieben sein. 


Reine  Bewunderung  zumal  erfüllt  mich  gegenüber  einem 
nun  schon  seit  bald  zehn  Jahren  dahingegangenen  Dich- 
ter, der,  je  öfter  ich  zu  ihm  zurückkehre,  um  so  höher 
bei  mir  wächst.  Wie  die  Gedichte  Gottfried  Kellers,  so  be- 
wahre ich  auch  den  mit  den  energisch  kühnen  Schriftzügen 
ihres  Urhebers  versehenen  Band  Gedichte  von  Conrad 
Ferdinand  Meyer  als  teueren  Schatz.  Es  ist  unverkenn- 
bar, daß  Conrad  Ferdinand  Meyers  dichterisches  Wesen 
einen  Zug  ins  Große  aufweist.  Er  hat  zweifellos  — 
dieses  Gefühl  verstärkt  sich  immer  mehr  bei  mir  —  etwas 
Machtvolles,  etwas,  das  wie  Pfeiler  und  Säule  emporsteigt. 
Seine  Lyrik  und  Balladendichtung  besitzt  ebenso  wie  seine 
Prosa  Eigenschaften,  die  in  der  deutschen  Dichtung  über- 
haupt recht  isoliert  sich  ausnehmen.  Die  Gedichte  stellen 
das  letzte  künstlerische  Ergebnis  eines  in  seiner  besondern 
Art  vielleicht  einzigen,  langwierigen  Vorgangs  innerlicher 
Lebensbewältigung  dar.  Ich  kenne  kaum  einen  andern 
deutschen  Dichter,  der  in  der  Ausscheidung  des  Beiläufigen, 
Zufällig- Nebensächlichen  und  Kleinlich-Unbedeutenden  so 
weit  gegangen  wäre  wie  gerade  Meyer.  Dadurch  wird 
die  große  Linie  seiner  Schöpfungen  gewahrt,  die  sie  so 
edel  auszeichnet. 

Die  Art,  wie  starkes  Gefühl,  tiefe  Leidenschaft  und 
Phantasiefülle  —  ohne  Einbuße  an  Erregungsfrische  durch 
den  langen  Schmelzprozeß  —  zur  festen,  dauernden  Form 
gebändigt  und  geprägt  wird,  ist  bei  diesem  Dichter  staunens- 
wert. Meyer  ist  —  neben  dem  Dramatiker  Kleist  —  viel- 
leicht der  lakonischste  deutsche  Dichter.     Er  feiert  form- 


64 


J{jn{L  HEJ^CJ(ELL 


liehe  Orgien  darin,  einen  Gegenstand  der  Empfindung  oder 

Einbildung  auf  die  denkbar  knappste  und  zugleich  bedeut- 
samste poetische  Formel  zu  bringen.  Größte  Kraft  wird 
im  kürzesten  Ausdruck  zusammengeschlossen.  Der  Stil 
erscheint  als  höchster  Triumpf  künstlerischer  Energie  und 
Enthaltsamkeit  über  das  Element,  über  die  Natur.  Meyers 
Seele  ist  in  ihren  Hauptzügen  eine  Mischung  von  ver- 
stehender Liebe  zum  Heroisch-Genialen,  von  später,  aber 
um  so  milderer  Goldtraubenreife  des  Lebensgefühls  und 
von  innig  religiöser  Schickung  in  einen  unerforschlichen 
"Willen.  Diese  Seele  ist  so  bedeutend,  daß  sie  es  unge- 
fährdet wagen  darf,  sich  feierlich  zu  äußern,  ohne  je  mit 
ihrer  großen  Gebärde  unverhältnismäßig  zu  erscheinen. 

Nicht  wenige  Gedichte  gibt  es  bei  Meyer,  die  durch 
Sinn  und  Form  wie  stille,  hohe  Lebensweihe  wirken  — 
man  tritt  wirklich  in  einen  wunderschönen,  aus  seltenem 
Marmor  erbauten  Andachtsraum,  um  lange  darin  zu  ver- 
weilen und  ergriffen,  ja  erlöst  wieder  hinauszugehn.  Meyer 
ist  überhaupt  kein  Dichter  für  Schnellleser  und  Literatur- 
nipplinge.  Dazu  ist  er  viel  zu  gehaltreich  und  im  besten 
Sinne  anspruchsvoll.  Gebieterisch  fordert  er  gesammelte 
Aufmerksamkeit  und  eine  nicht  karge  Hingebung  der  seeli- 
schen Einbildungskraft  an  jede  Zeile  seines  Versgebildes. 
Es  ist  wie  wenn  er  sagen  wollte: 

,,Laß  draußen,  was  entbehrlich  ist. 
Doch  deine  Seele  heisch  ich  ganz!" 

Der  „Pilgerim  und  Wandersmann"  von  Kilchberg  ist  ein 
Dichter  des  Lebensproblems  und  des  schicksalvollen  Er- 
lebnisses bis  zur  Sphäre  des  Dämonisch-Unheimlichen  hin- 
unter. Den  Versdokumenten  hierfür  spüre  Jeder  selber 
nach.  Der  von  Karl  Stauffer-Bern  unübertrefflich  mit  dem 
sonnigen,  behaglich  schmunzelnden  Gesichtsausdruck  unterm 
schattenlegenden  Breitrand  wiedergegebene  Alte  lacht  in 
der  Tat  sieghaft  durch  einen  seltsamen  Schicksalschleier 
hindurch.  Das  Gedicht  „Gespenster"  kommt  einem  in 
den  Sinn: 


VOM  DEyTSCTiE7{  DICNTliJMG        6^ 

Am  Horizonte  glomm  des  Abends  Feuer; 
Ich  stieg,  indeß  die  Purpurglut  verblich. 
Zum  Römerturm  empor  und  lehnte  mich 
Randüber  auf  das  dunkelnde  Gemäuer  — 

Und  sah,  wie  sich  am  Hange  scheu  und  scheuer 

Die  Beerenleserin  vorüberschlich. 

Das  arme  Weibchen  drückt'  und  duckte  sich 

Und  schlug  ein  Kreuz:  ihr  war  es  nicht  geheuer  .  .  . 

Mich  flog  ein  Lächeln  an.     Im  Eppich  neben 
Der  Brüstung  flüsterts:  ,, Freund,  in  deinem  Leben 
Ist  auch  ein  Ort,  wo  die  Gespenster  schweben! 

Führt  dich  Erinnrung  dem  zerstörten  Ort 
Vorbei,  du  huschest  noch  geschwinder  fort. 
Als  das  von  Graun  gepackte  Weibchen  dort." 

Persönlichste  Erfahrung  ist  oft  merkwürdig  mittelbar 
oder,  besser,  gegenübergestellt  zum  plastischen  Symbol 
herausgemeißelt  und  verdichtet.  Von  Meyer  könnte  man 
in  ganz  besonderem  Maße  sagen:  Seine  Blutstropfen  rinnen 
unverwischlich  wie  dunkelrotes  Geäder  durch  das  kostbare 
Gestein  seiner  Dichtung. 

Ich  kann  mir  nicht  versagen,  eigentlich  in  den  Mittel- 
punkt dieses  kleinen  Rundganges  durch  die  deutsche  Lyrik 
ein  großartiges  Gedicht  von  C.  F.  Meyer  zu  stellen,  das 
den  kühnen  Meister  in  seiner  ganzen  Besonderheit,  soweit 
das  in  einem  Einzelgebilde  möglich,  vielleicht  am  blitz- 
artigsten beleuchtet  und  zugleich  den  weiten  Gestaltungs- 
kreis aller  Dichtung  überhaupt  mit  wunderbar  seelentiefer 
Symbolik  umschreibt: 

DER  MUSENSAAL. 
Jüngst  trug  ein  Traum  auf  dunkler  Schwinge  mich 
Nach  Rom,  der  ew'gen  Stadt.     Den  Vatikan 
Betrat  ich.     Ich  betrat  den  Musensaal 
Verwundert,  denn  er  war  ein  andrer  heut. 


66 J{JIJ{L  HEJNC\BLL 

Als  ich  geschaut  mit  jungen  Augen  ihn. 

Da  Pio  Nono  höchster  Priester  war. 

Verschwunden  aus  dem  edeln  Oktogon, 

Dem  kuppelhellen,  war  der  Musaget, 

Apollo,  der  die  Zither  zierlich  schlug, 

Voranzugehn  dem  Chor  tanzmeisterlich. 

Die  Neune  saßen  oder  standen  nicht 

Umher,  verteilt  in  schönen  Stellungen  — 

In  wilder  Gruppe  schritten  eilig  sie. 

Wie  Schnitterinnen,  die  auf  blachem  Feld 

Ein  flammendes  Gewitter  überrascht: 

Voran  die  blutige  Melpomene, 

Die  an  den  Söhnen  rächt  der  Väter  Schuld. 

Sie  trägt   das  Schwert   und  auch   den  Kranz  von  Wein. 

"Wer  schreitet,  schlicht  gewandet,  neben  ihr? 

Kalliope,  die  keusch  und  kindlich  blickt, 

Die  den  erblindeten  Homer  geführt. 

Die  tapfre  Helden  liebt  und  Schildgetos 

Und  Roßgestampf  und  dann  abseits  der  Schlacht 

In  jugendzartem  Busen  Lose  wägt  — 

Weithallend  redet  dort  ein  mächtig  Paar, 

Terpsichore  und  Polyhymnia: 

,,Der  Tag  ist  fern  und  er  erfüllt  sich  doch: 

Die  Völker  schreiten  einen  Reigen  einst. 

Sich  an  den  Händen  haltend,  freigesellt. 

Vieltausendstimmig  dröhnt  der  Chorgesang!" 

—  ,,Dann  weicht  das  Leid!     Nicht  alles,  aber  doch 
Das  meiste  Leid!"     Euterpe  flötet  es, 

Das  liebliche  Geschöpf,  die  Schmeichlerin! 

—  ,,Dann  füllt,"  Erato  lacht's  mit  blühndem  Mund, 
Die  schöne  Schelmin,  die  das  Liebeslied, 

Das  Zechlied,  für  allein  unsterblich  hält, 

..Dann  füllt  ein  Jeder  seine  Schale  sich 

Mit  duft'gem  Wein  und  schlürft  und  Keiner  darbt!" 

—  „Thörinnen!"  gellt  ein  scharfgeschnittner  Mund, 
„Verspotte  sie,  mein  Aristophanes!  .  .  . 

Doch  eure  Kampfgesellin  bin  ich  auch! 


VOM  DEUTSCJiE7{  DICNTUMG        6y 

Ich  morde  lachend,  was  nicht  sterben  kann, 

In  trunkner  Lust,  wie  die  Bacchante  jach 

Ein  Zicklein  oder  Reh  in  Stücke  reißt. 

Mordlust'ger  bin  ich  noch  und  tragischer 

Als  du,  mein  Schwesterchen  Melpomene, 

Denn  du  erhellest  unter  Zähren  dich, 

Doch  mein  Gelächter,  Tränen  schluchzen  drin!" 

Thalia  rief's  und  unterm  Efeukranz 

Verlarvte  mit  der  Satyrmaske  sie 

Die  wehmutvoll  ergriffnen  Züge  sich 

Und  hob  mit  nerv'gem  Arm  das  Tympanum. 

Die  letzte  wandelt  nach  Urania, 

Die  Gläubige  mit  dem  gehobnen  Blick 

(Die  Andern  heißen  sie  die  Schwärmerin), 

Doch  trennt  sie  sich  von  den  Geschwistern  nicht. 

Sie  sieht  den  Sturm  der  Erdendinge  ruhn 

In  friedevollen  Händen  immerdar  — 

Aufflattert  das  Gewand!     Die  Locken  wehn! 

Die  Kuppel  weicht!     In  leuchtend  tiefem  Blau 

Entfesselt  schwebt  der  Musenchor  einher. 

Das  ist  das  'Weltdialektische  und  Dramatische  in  Meyers 
lyrischem  Stil.     Nun  ein  kurzes  heroisches: 

SCHILLERS   BESTATTUNG. 

Ein  ärmlich  düster  brennend  Fackelpaar,  das  Sturm 
Und  Regen  jeden  Augenblick  zu  löschen  droht. 
Ein  flatternd  Bahrtuch.     Ein  gemeiner  Tannensarg 
Mit  keinem  Kranz,  dem  kärgsten  nicht,  und  kein  Geleit! 
Als  brächte  eilig  einen  Frevel  man  zu  Grab. 
Die  Träger  hasteten.     Ein  Unbekannter  nur. 
Von  eines  weiten  Mantels  kühnem  Schwung  umweht. 
Schritt  dieser  Bahre  nach.   Der  Menschheit  Genius  war's. 

Für  seine  gewaltige  Kraft,  wesentlich  gültiges  Lebensgefühl 
im  einheitlich  geschlossenen  Bilde  wachsen  zu  lassen  und 
mit  herrischer  Lyrik  zu  bewältigen,  zeuge: 


68  J^JIJ{L  TiEJ\lCJ{ELL 

DAS  HEUTE. 

Das  Heut  ist  einem  jungen  Weibe  gleich. 
Schlag  Mitternacht  wird  ihm  die  Wange  bleich. 
Es  schaudert.     Einen  vollen  Becher  faßt 
Es  gierig  noch  und  schlürft  in  toller  Hast. 
Der  üpp'ge  Mund,  indem  er  lechzt  und  trinkt. 
Entfärbt  sich  und  verwelkt.     Der  Becher  sinkt. 
Langsam  zieht  es  den  Kranz  sich  aus  dem  Haar. 
Das  Haar  ergraut,  das  eben  braun  noch  war. 
Tief  runzelt  sich  das  schöne,  schuld'ge  Haupt. 
Zusammenbricht  das  Knie,  der  Kraft  beraubt. 
Die  Hören  kleiden  dicht  in  Schleier  ein 
Und  führen  weg  ein  greises  Mütterlein. 

Manchmal  ist  mir's  bei  Conrad  Ferdinand  Meyer,  als  ob 
er  brennende  Eisblöcke  dichtet.  So  stark  ist  die  aufge- 
speicherte Spannung  und  der  Luftdruck,  unter  dem  der 
harte  Kristall  aufzulodern  scheint.  Und  in  andern  Gedich- 
ten wieder  ein  so  tiefer,  schlichter  Ton  des  menschlichen 
Herzens,  seiner  Lust  und  seines  Leides,  wie  in  den  unsag- 
bar schönen,  ans  Innerste  rührenden  Versen: 


AM   H1A4MELSTOR. 
Mir  träumt,  ich  komm  ans  Himmelstor 
Und  finde  dich,  du  Süße! 
Du  saßest  bei  dem  Quell  davor 
Und  wuschest  dir  die  Füße. 

Du  wuschest,  wuschest  ohne  Rast 
Den  blendend  weißen  Schimmer, 
Begannst  mit  wunderlicher  Hast 
Dein  Werk  von  neuem  immer. 

Ich  frug:  „Was  badest  du  dich  hier 
Mit  tränennassen  Wangen?" 
Du  sprachst;  ,,Weil  ich  im  Staub  mit  dir, 
So  tief  im  Staub  gegangen". 


KLAUS  GROTH. 


f^--^ 


VOT^  DEUTSCüETi  DJCIiTKJ^G       Z§ 

Es  war  an  einem  herrlichen  Sommernachmittage  gegen 
Ende  der  achtziger  Jahre,  als  ich  mit  einem  jungen  Mai- 
länder, Pacifico  Valabrega,  der  die  „Hochzeit  des  Mönchs" 
ins  Italienische  übersetzt  hatte,  den  Dichter  zuerst  besuchte 
und  in  frischer,  lebendiger  Heiterkeit  traf.  Unvergeßlich 
bleibt  mir,  wie  Konrad  Ferdinand  Meyer,  mit  uns  den 
großen,  früchteprangenden  Garten  seiner  seebeherrschen- 
den Besitzung  auf-  und  abschreitend,  in  überraschend  glück- 
lichem, wie  selbstverständlichem  Wechsel,  das  Gespräch  bald 
deutsch,  bald  italienisch,  auch  französisch  führte  und  mit 
natürlichem  Behagen  sich  je  nach  dem  Angeredeten  der 
freien  Wahl  der  Sprache  überließ.  Das  ganze  Wesen  des 
Dichters  strahlte  Kraft  und  Wohlgefühl  aus,  von  seiner 
wahrhaft  entzückenden  Liebenswürdigkeit  und  weltmänni- 
scher Anmut  der  Gebärde  nicht  zu  reden.  Dazu  der 
schon  südlich  blaue  Himmel  und  der  weite  Blick  auf  den 
drunten  lang  hingestreckten  See  und  das  „große,  stille 
Leuchten"  der  Schneegebirge  in  der  Ferne!  —  Dann  kamen 
bald  für  ihn  die  schlimmen  Tage,  wo  ihn  „die  Kraft  verriet" 
und  altverhängnisvolle  Krankheit  dämonisch  überfiel.  Und 
ungefähr  zehn  Jahre  nach  jener  Begegnung  schrieb  ich  fol- 
gende Strophen,  die  dem  vor  dem  Heimgang  noch  zur 
letzten  Klarheit  wieder  Genesenen  galten: 

DER  STERBENDE  DICHTER. 
Das  durch  Purpurflut  des  Abends  gleitet. 
Einen  müden  Dichter  birgt  das  Boot, 
Letztes  Feuer  noch  sein  Haupt  umloht. 
Eh  der  heilige  Schatten  näher  schreitet. 
„Fährmann,  führe  mich  zur  stillen  Klause,"  — 
Mit  dem  großen  Blick  der  Meister  spricht  — 
„Meine  Seele  trinkt  des  Friedens  Licht, 
Wo  mir  Ruh  winkt,  ist  mein  Herz  zu  Hause." 
„Wo  dir  Ruh  winkt,  will  ich  gern  dich  führen. 
Deine  Freunde  folgen  dir  von  fern. 
Noch  ein  Weilchen,  und  der  Abendstern 
Läßt  den  milden  Glanz  der  Welt  dich  spüren." 


22 J(JlJiL  7iEMCJ(ELL 

Leises  \C^arten,  wie  nach  innen  Lauschen; 
Sieh!     Der  Leuchtende  lehnt  sich  zurück. 
Silberlocken  streift  ein  goldig  Glück, 
Und  von  reinem  Ruhme  geht  ein  Rauschen  . 


Dem  bis  ins  späte  Alter  unablässig  und  vorbildlich  nach 
künstlerischer  Vervollkommnung  ringenden  Dichter 
von  Kilchberg  am  Züricher  See  hat  ein  norddeutscher 
Poet,  zu  dessen  sympathischsten  menschlichen  Zügen  allzeit 
der  freudige  Ausdruck  der  Bewunderung  fremden  Schaffens 
gehört,  folgenden  feinen  Gruß  vom  Meer  zu  den  Schweizer 
Bergen  gesandt: 

AN  CONRAD  FERDINAND  MEYER. 

Ein  goldner  Helm  in  wundervoller  Arbeit  — 
In  einer  Waffenhalle  fand  ich  ihn 
Als  höchste  Zier. 

Und  immer  liegt  der  Helm  mir  in  Gedanken, 
Des  Meisters  muß  ich  denken,  der  ihn  schuf. 
Bin  ich  bei  Dir. 

Das  war  aber  der  Gruß  eines  Meisters  an  den  andern, 
denn  der  Spruchvers  kam  von  Detlev  von  Liliencron 
aus  Holstein. 

Ach,  wie  gerne  möchte  ich  Ihnen  jetzt  mein  ganzes  Herz 
ausschütten  über  unsern  lebensmächtigen,  reichgesegneten 
Liliencron,  der  in  staunenswerter  Vollkraft  mitten  unter  uns 
Werk  für  Werk  schafft! 

Wenn  ich  Liliencron  aufschlage,  mag  es  sein  wo  es  will, 
so  überkommt  mich  dieses  weltfrische  Lustgefühl,  wie  es 
eben  nur  die  ursprüngliche,  unverwässerte  Natur,  mensch- 
liche und  künstlerische  Freiart  und  das  doch  meist  durch 
Humor  und  Takt  gemilderte  Sichgehenlassen  eines  in  sich  \on 
vornherein  fertigen,  übersprudelnden  Temperamentes  zu  er- 
zeugen   vermögen.      Der    holsteinische   Dichterfreiherr    ist 


VOl^  BBUTSCJiBTi  DJCNTUJ\JG         7/ 

wahrlich  eine  Spezies  Wundertier  in  diesen  Zeitläuften. 
Und  ich  will  Ihnen  auch  sagen,  warum.  Er  hat  als  deut- 
scher, um  die  Wende  das  XX.  Jahrhunderts  lebender  Staats- 
bürger das  Rätsel  gelöst,  für  sich  eine  völlig  naive  Potenz 
zu  bilden  und  sich  dichterisch,  ohne  von  des  Gedankens 
Blässe  angekränkelt  zu  sein,  mit  verblüffender  Natursicher- 
heit auszuleben.  Das  ist  an  sich  ein  Fall  und  eine  Tat  zum 
Himmelhochjauchzen  und  läßt  mir  wenigstens  keine  Ruhe, 
dafür  dem  Dichter  immer  von  neuem  mit  warmen  Händen 
den  purpurnen  Trank  der  Begeisterung  auszugießen.  Ja- 
wohl, schön  war  es  vor  Jahren  für  diesen  Prachtdichter 
Lanzen  zu  brechen,  als  eine  verhutzelte  Literaturhistorie 
und  faule  Tageskritik  zu  solch  enthusiastischem  Beginnen 
noch  schauderhaft  scheel  sah  —  und  schön  ist  es  auch 
heute,  seine  alte  Liebe  ungeschmälert  zu  bekennen,  trotz 
der  gem.achten  Blätter,  die  sich,  dem  Sinne  der  Erfolganbeter 
gemäß,  bereits  in  den  wohlverdienten  Lorbeer  Liliencrons 
mischen  möchten.  Sie  sind  ganz  überflüßig,  denn  der  Kranz 
ist  auch  so  reich  und  voll. 

Wie  war  es  doch?  Als  unsere  liebe  deutsche  Frau  Dicht- 
kunst der  matten  Umarmungen  so  mancher  schönredneri- 
schen Ritter  vom  Pegasus  einmal  wieder  gründlich  satt  war, 
ergab  sie  sich  in  durstiger  Minne  dem  flotten  Maler  und 
Bildhauer  Jucundus  Urgesundus  Quodlibet  und  gebar  da- 
nach auf  der  Reise  zwischen  Holstein  und  dem  Aldebaran 
einen  Sohn,  der  hieß  Detlev  Freiherr  von  Liliencron  und 
war  längere  Zeit  berittener  Adujutant  und  Hauptmann,  ehe 
er  zum  Dichter  seiner  ,, Adjutantenritte"  avancierte.  Dich- 
ter war  er  freilich  schon  von  Kindesbeinen  an  gewesen, 
aber  daß  er  zu  seinem  Gedicht  erst  kam  im  Alter  ausge- 
reifter Männlichkeit,  ähnlich  wie  Conrad  Ferdinand  Meyer, 
das  war  wirklich  ein  Glücksfall  für  ihn  und  uns  alle.  Er 
erschien  sogleich  als  ganzer  Künstler,  der  mit  großem  Er- 
fahrungs-  und  Anschauungsreichtum  aus  dem  Vollen  wirt- 
schaften und  die  künstlerischwenigstens  bei  manchem  zweifel- 
haften Flugschrauben  jugendlicher  Rhetorik  leicht  entbehren 
konnte. 


22 J^ATjL  HBMCTjBL'L 

Liliencron  ist  im  Goetheschen  Sinne  ein  Dichter  der 
sinnlichen  und  imaginären  Eindrücke,  ich  glaube  er  weili 
gar  nicht,  was  Theorie  und  Abstraktion  ist.  Jedenfalls  steht 
er  mit  diesen  schemenhaften  Wesen  als  Künstler  auf  ge- 
spanntestem Kriegsfuß.  Und  so  hat  Alles  Hand  und  Fuß, 
Umriss,  Farbe  und  Fülle  bei  ihm  —  und  mit  blassen  Wort- 
phantomen wird  nicht  genebelt  und  gequirlt.  Die  lyrischen 
Bücher  Liliencrons  setzen  in  Erstaunen  ebenso  durch  die 
strömende  Mannigfaltigkeit  der  Stoffe  und  Motive  wie 
durch  die  erquickende  Kraft  und  Frische  der   Darstellung. 

,,Er  tastet  mit  dem  Herzen,"  sagt  der  geisteskühne  Dichter 
und  Dichterpsychologe  Kurt  Piper,  ein  jüngerer  Freund  des 
,, nicht  umzubringenden"  Lebenskämpfers,  in  seiner  durch- 
dringenden Abgrenzungsstudie  „Goethe  und  Liliencron"  von 
letzterem,  ,,er  tastet  mit  dem  Herzen,  mit  instinktivem  Ge- 
fühl mit  beispielloser  Sicherheit  und  Unbestechlichkeit  zu 
seinen  Erkenntnissen,  und  die  tiefsten  und  größten  Offen- 
barungen seiner  Kunst  sind  ausschließliche  und  deshalb  so 
stolze  Offenbarungen  rein  künstlerischer  Herzenssehnsucht. 
Die  Genialität  des  Künstlerherzens  hat  vielleicht  nie  einen 
größeren,  liebenswerteren  Vertreter  gefunden.  Wer  den  herr- 
lichen Menschen  kennt,  weiß,  was  ich  meine.  Nie  kommt 
bei  ihm  der  suchende,  forschende,  erkennende,  analytische 
Verstand  Goethes  zu  Wort.  Logik,  Wissenschaft,  überhaupt 
alles  an  sich  nicht  Poetische  liegt  ihm  fern.  Er  denkt  mit 
dem  Herzen  und  fühlt  mit  dem  Gehirn,  während  Goethes 
Künstlerheiz  jederzeit  in  wechselseitiger  Kontrolle  mit  einem 
gleich  großen  Verstände  steht.  In  ihm  ergänzen  sich  beide 
zu  jener  überlegenen  Harmonie,  die  in  dieser  Vollkommen- 
heit einzig  dasteht.     Es  ist  die  „Goethische  Harmonie"". 

Wenn  einer,  so  denkt  Liliencron  bei  seinem  gesamten 
Schaffen  an  alles  andere  eher  als  an  ein  verehrliches  Publi- 
kum oder  irgend  eine  den  Geschmack  der  Zeit  modisch 
beeinflussende  ,, Richtung",  er  macht  es  wie  die  Ursprüng- 
lichen und  wahrhaft  Unbeirrbaren  überhaupt:  vielleicht 
einige  wenige  nächste  Menschenkinder  läßt  er  sich  über  der 
Schulter   aufs   Manuskript   schauen,    aber  sonst:    der  reine 


Phoiographie  Eugen  Kegel  in  Kossei. 


VOJ^  DEUTSCTiE7{  DICHTUJ^JG         7^ 

Akt  einer  im  letzten  Grunde  ganz  einsamen  Selbstbefreiung 
und  Selbsterfüllung. 

In  seinem  „Mäzen",  diesem  höchst  merkwürdigen  Prosa- 
mischprodukt aus  wundervollen  Erzählungen,  Skizzen  und 
beichtenden  Temperamentsausbrüchen  über  Literatur  und 
Leben  in  Deutschland,  in  denen  er  sich  mit  der  drastisch 
elementaren  Stilfrische  des  geborenen  Antiphilisters  seinen 
Haß  und  seine  Liebe  in  Dingen  des  künstlerischen  Gewissens 
von  der  Leber  weg  schreibt,  ein  Brief-  und  Tagebuch- 
bismarck  der  Dichtung,  in  diesem  „Mäzen"  ^sagt  Liliencron 
an  einer  Stelle  die  bezeichnenden  "Worte;  ,,liber  das  tiefste 
"Wesen  eines  echten  Dichters  ist  eine  Erklärung  nie  mög- 
lich. Goethe  schrieb  das  unerreichbarste  Deutsch,  die  Ge- 
dichte seiner  Jugendjahre  werden  von  keinem  Dichter  je 
nachgemacht  werden  können.  Diese  Freude,  dieser  Puls, 
dies  Jauchzen,  diese  überquellende  Dankbarkeit,  wenn  er 
glückliche  Stunden  durch  die  Gunst  eines  "Weibes  genossen, 
dies  Entzücken  dann.  Shakespeare  und  Kleist  gaben  uns 
den  Vergleich,  das  Bild.  Daran  namentlich  ist  auch  ein 
wirklicher  Dichter  zu  erkennen.  Das  gewöhnliche  Publi- 
kum achtet  nicht  auf  die  Schönheit  eines  "Vergleiches,  des 
Bildes,  es  kann  diese  Schönheit  nicht  verstehen,  es  fehlt 
ihm  der  feine  Sinn  dafür." 

"Wie  soll  man  nun  Liliencrons  wesentliche  Eigentümlich- 
keit in  der  künstlerischen  Lebensbewältigung  kurz  aus- 
drücken? "Vielleicht  annäherungsweise  in  bestimmter  Hin- 
sicht so:  Fast  überall  ein  fein  geschautes  und  sicher  ge- 
wahrtes "Verhältnis  des  besonderen  Gegenstandes  zum  Ge- 
samtdasein; keine  Spur  von  dekorativer  Aufbauschtechnik, 
wie  sie  das  Merkmal  künstlerischer  Klexvirtuosen  ist,  die 
sich  gar  nicht  genugtun  können,  um  das  bißchen  Höhepunkt 
ihres  Sujets  mit  Pauken  und  Trompeten  parademäßig  schmet- 
ternd herauszustreichen.  Manchmal  sind  die  Gedichte 
Liliencrons  —  die  mächtigsten,  keineswegs  die  „beliebte- 
sten" —  wie  seine  Erzählungen  erschütternd  schlichte  Tra- 
gödien, die  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  leise,  fast  un- 
merklich aufkeimen  und  plötzlich  aus  der  alltäglich  gepflügten 

BJiJ[J\DES:  -DTE  UTET{ATWi.  BJIJ\D  XXXVII l  XXXVIII  ^ 


ZI 


\jn{L  JiEJ\!CJ{ELL 


Scholle  emporschießen  wie  Drachensaat  eines  ungeheuren 
Schicksals.  Liliencron  läßt  uns  etwa  Empfindungen  erleben, 
wie  wenn  unversehens  aus  blauer  Luft  eine  Granate  in  ge- 
mütlichem Bogen  zur  Erde  fällt,  platzt  und  grauenvolle 
Verwüstung  anrichtet.  Gleich  darauf  glüht  aber  die  ewige 
Sonne  wieder  aufs  friedliche  Feld,  und  alles  ist  wie  vorher. 
Liliencron  birgt  Welten  von  Gefühl,  wird  aber  nie  senti- 
mental. Der  lebensstarke  Wirklichkeitsmensch  in  diesem 
oft  engelszarten  Siriusträumer  gibt  der  Gefühlslinie  stets 
das  richtige  und  darum  so  rein  wirkende  Maß.  Das  gleiche 
Komplement  und  Korrektiv,  das  ihn  vor  zerfließender  Phan- 
tastik  schützt,  trägt  seine  kolossale  Phantasie  in  sich. 

Eine  bis  ins  einzelne  gehende  Charakteristik  seiner  eigen- 
tümlichen Phantasiebildungen  und  bevorzugten  individuellen 
Lebensfühlungen  kann  ich,  so  verlockend  es  wäre,  hier  nicht 
geben  —  erwähnen  will  ich  nur,  daß  zum  Beispiel  „Amor 
und  der  Tod"  kein  so  unpassendes  Sujet  für  einen  Liliencron- 
grabstein  abgeben  würde.  Sie  sehen,  bei  möglichst  und 
hoffentlich  noch  sehr  lange  lebenden  deutschen  Dichtern 
denkt  man  unwillkürlich  gleich  an  den  Grabstein.  Eine 
Folge  unseres  entarteten  literarhistorischen  Vorstellungs- 
vermögens. „Amor  und  der  Tod"  —  auf  allen  "Wegen  und 
Stegen  huscht  und  flitzt  ihm  der  nackte  kleine  Kerl  mit 
Pfeil  und  Bogen  vor  und  zwischen  den  Beinen  durch  — 
im  Kornfeld  wie  im  Ballsaal,  im  Cafe  wie  in  der  Bauern- 
schänke,  im  vornehm  stillen  Park  wie  im  lauten  Strich  und 
Trubel  der  Straße  .  .  .  lachend  und  weinend,  träumerisch 
und  toll,  ist  er  sein  geflügelter  Adjutant,  und  der  Tod  in 
allen  möglichen  Garnituren  ist,  glaub'  ich,  Stubenbursch 
beim  Hauptmann  Liliencron  —  wenn  der  „Herre  Haupt- 
mann" befiehlt,  steht  er  schon  in  der  Tür  kerzengerad,  ent- 
weder einfach  trostlos  oder  er  schneidet  ein  schreckliches 
Gesicht,  führt  eine  schauerliche  Kapriole  auf  und  läßt  im 
Nu  eine  ganze  Kompagnie  hoch-  und  niedriggeborener 
Erdenbürger  als  gemeine  Gerippe  vor  seinem  im  dich- 
terischen Dienst  vorgesetzten  Befehlshaber  antreten  .  .  . 
Aber   nicht   nur   so,    er    wandelt   sich   auf  einmal    in   einen 


VOJ^  DEUTSCüEJi  BJCHTUJ^G         75 

Genius,  eine  blasse  junge  Frau,  und  stützt  das  müde  Haupt 
tieftraurig  auf  die  Schulter  des  Dichters.  Liliencron  gibt 
in  der  Tat  eine  ganze  Reihe  ergreifender  oder  grotesker 
moderner  Totentanzbilder  und  drüber  und  drunter  und 
zwischenhinein  diesen  nicht  endenwollenden  Gestaltenzug 
von  Liebesgöttern  und  -Göttinnen,  als  da  sind:  schlanke 
Prinzessinnen,  dralle  Melkmägde,  lustige  Kellnerinnen,  trau- 
rige Komtessen  und  umgekehrt,  wie  es  gerade  kommt  im 
Leben  und  Dichten  eines  Mannes,  bei  dem  die  Kunst  zu 
lieben  mit  der  Liebe  zur  Kunst  von  jeher  einen  so  an- 
regenden und  frisch  pulsierenden  Verkehr  unterhielt.  Der 
Erotiker  Liliencron  —  es  ist  das  natürlich  nur  eine  Seite 
des  sehr  vielseitigen  Dichters  —  überschüttet  uns  mit  einer 
solchen  Flut  wilder  Feldblumen  und  feiner  Edelrosen  aus 
den  Fluren  der  Fauna  und  den  Gärten  der  Aphrodite,  daß 
wir  duft-  und  farbenberauscht  ein  Hosiannah  anstimmen 
der  Liebeskraft,  die  sich  derart  in  entzückenden  Liedern 
auszuschwelgen  und  die  Welt  mit  künstlerischen  Wonne- 
taten zu  bereichern  vermochte. 

Das  an  Menschenkenntnis  meist  unglaublich  vor  den  Kopf 
geschlagene  literarische  Sittenrichtertum  wollen  wir  bei  dieser 
Gedichtgruppe  ein  für  allemal  den  strebsamen  Herren  Pha- 
risäern, braven  Schriftgelehrten  und  Mitgliedern  des  Männer- 
bundes für  „moralische  Musterlyrik"  überlassen. 

Ich  stehe  hier  nicht  zu  rechten  und  zu  richten  —  ich 
stehe  da  zu  reichen  von  dem,  was  Liliencrons  gabenhäufende 
offene  Dichterhand  uns  geschenkt  hat  in  entzückend  natür- 
licher Menschlichkeit.  Und  ich  versuche  noch  einmal  im 
Gleichnis  anzudeuten,  wie  die  dichterische  Physiognomie 
unseres  ragenden  Zeit-  und  Kunstgenossen  mir  einst  er- 
schienen ist:  Ein  Wort,  ein  Bild!  Der  Acker  der  Dich- 
tung dampft,  wohin  der  Poet  tritt;  an  dichter  blühender 
Hecke  lehnt  morgenfrisch  ein  kräftig-schönes  Weib  —  hat 
Rubens  es  gemalt?  Der  nackte  Fant,  der  die  rotgespitzten 
Pfeile  im  Köcher  führt,  ist  das  der  Liliencronprinz  Cupido? 
Und  der  Herr  des  Feldes,  von  den  Teckeln  der  Laune 
umtänzelt,    der  mit  Waidmannsheil    das   üppig -stolze  Weib 


26 T{jn{L  JiEJ^CTjELL 

grüßt,  lächelt  er  aus  wonniger  Lust  des  Lebens  oder  sieht 
er  etwa  schon  den  Herrn  der  großen  Hasenhetze,  Meister 
Tod,  um  den  Knick  biegen?  Gleichviel  —  die  Flur  blitzt 
auf,  und  ein  hell  Jubilieren  bricht  an: 

,, Freut  euch,  ihr  Vögel  auf  offenem  Feld! 
Uns  ist  allhier  erschienen  ein  echter  Dichterheld. 
Ach  war'  er  nur  ein  Finke  wie  wir  so  frei. 
Ihm  wäre  noch  zehntausendmal  wohler  dabei." 

"Wenn  auch  nicht  wie  ein  Finke  —  wir  wohnen  in  Stein- 
häusern —  eine  freie  Natur  köstlichsten  Kalibers  ist  der 
Dichter.  Wie  unser  Kurt  Piper  in  seinem  Gedicht  an  Detlev 
V.  Liliencron  so  knapp  und  wahr  sagt: 

,, Einsam  steht  im  Marktgewimmel 
Wohl  dein  freies  Leben. 
"Was  ihm  vorenthält  der  Himmel, 
Muß  der  Boden  geben." 

Ich  lese  Ihnen  —  es  ist  ja  ganz  gleich,  wo  man  bei  dem 
fabelhaften  Reichtum  das  lyrische  Stück  Gold  gerade  her- 
ausnimmt —  zunächst  den  wikingerhaft  sehnsuchtwilden 

SCHREI. 

O  war'  es  doch!     Hinaus  in  dunkle  "Wälder, 
In  denen  die  Novemberwetter  fegen! 

Der  Keiler  kracht  —  Schaum  flockt  ihm  vom  Gebreche  — 
Aus  schwarzem  Tannenharnisch  mir  entgegen. 
O  war'  es  doch! 

O  war'  es  doch!     Im  Raubschiff  der  Korsaren, 
Vorn  halt'  ich  Wache  durch  die  Abendwellen. 
Klar  zum  Gefecht,  die  Enterhaken  schielen, 
Und  lauernd  kauern  meine  Mordgesellen. 
O  war'  es  doch! 


CONRAD  FERDINAND  MEYER  VON  CARL  STAUFFER-BERLIN 
MIT  GENEHMIGUNG  VON  AMSLER  cf-  RUTHARDT  IN  BERLIN. 


VOJ^  DEUTSCHEJj  DJCTJTUJ^G         77 

O  war'  es  doch!     Ich  saß'  auf  nassem  Gaule, 
In  meiner  Rechten  schwang'  ich  hoch  die  Fahne, 
Daß  ich,  buhlt'  auch  die  Kugel  schon  im  Herzen, 
Dem  Vaterlande  Siegestore  bahne! 

O  war'  es  doch! 
O  war'  es  doch!     Denn  den  Philisterseelen, 
Den  kleinen,  engen,  bin  ich  satt  zu  singen. 
Zum  Himmel  steuert  jubelnd  auf  die  Lerche, 
Den  Dichter  mag  die  tiefste  Gruft  verschlingen. 

O  war'  es  doch! 

Dann  das  traumschöne  Tagelied  mit  dem  fernsüßen 
Nachtigall abgesang  und  der  unvergleichlich  milden,  reinen 
Weltfrieden  atmenden  letzten  Strophe: 

SCHÖNE  JUNJTAGE. 
Mitternacht,  die  Gärten  lauschen, 
Flüsterwort  und  Liebeskuß, 
Bis  der  letzte  Klang  verklungen, 
Weil  nun  alles  schlafen  muß  — 
Flußüberwärts  singt  eine  Nachtigall. 

Sonnengrüner  Rosengarten, 
Sonnenweiße  Stromesflut, 
Sonnenstiller  Morgenfriede, 
Der  auf  Baum  und  Beeten  ruht  — 
Flußüberwärts  singt  eine  Nachtigall. 

Straßentreiben,  fern,  verworren. 
Reicher  Mann  und  Bettelkind, 
Myrtenkränze,  Leichenzüge, 
Tausendfältig  Leben  rinnt  — 
Flußüberwärts  singt  eine  Nachtigall. 

Langsam  graut  der  Abend  nieder, 
Milde  wird  die  harte  Welt, 
Und  das  Herz  macht  seinen  Frieden, 
Und  zum  Kinde  wird  der  Held  — 
Flußüberwärts  singt  eine  Nachtigall. 


ß 


J{AT{L  TiEJMCJ^ELL 


Und  nun  noch  ein  feierlich  Meeresrauschen  der  Lilien- 
cronschen  Dichtung,  ein  wunderbares,  künstlerisches  Zeug- 
nis tiefen  Herzschlages  und  geheimnisvollen  urgermanischen 
Naturgeistes!  Ein  Gedicht,  bei  dem  ich  das  Haupt  neige 
und  die  Hände  zu  Dank  und  Andacht  still  übereinander- 
lege: 

ÜBER    EINEN    TOTEN    GEBEUGT. 
Nun  will  ich  Abschied  von  dir  nehmen,  Freund. 
Wir  tragen  morgen  dich  von  diesem  Felsen, 
Der  weit  hinausragt  in  die  offne  See, 
Hinab  ans   Ufer.     Über  Kies  und  Muscheln, 
Die  knirschend  unter  den  Sandalen  bröckeln. 
Auf  unsern  Schultern,  sorglich,  tragen  wir 
Dich  in  den  rosenkranzumhangnen  Kahn, 
Und  in  die  Mitte  auf  den  Scheiterhaufen, 
Den  Räucherwerk  und  feuertrockne  Reiser, 
Hoch  über  Bank  und  Bord,  umdichtet  haben. 
Im  Schlepptau  meiner  kleinen  Dampf barkasse 
Machst  du  die  letzte  Fahrt,  aufs  hohe   Meer. 
Und  wenn  die  Sonne  dann  die  heiße  Stirn 
Abkühlend  eintaucht  in  die  kalte  Welle, 
Verläßt  du  mich:  Der  Knoten  wird  gelöst; 
Die  Flammen  fressen  gierig  deinen  Leib; 
Ein  dicker  Qualm  steigt  auf,   das  Taggestirn 
Verdunkelnd,  das  in  diesem  Augenblick, 
Wie  du,  den  Augen  schwindet  .  .  . 
So  war's  dein  Wunsch,  und  heilig  ist  er  mir. 

Der  griechische  Tempel,  seine  dorischen  Säulen, 

—  Sechs  sind  es  nur,  in  hoheitsvoller  Strenge  — 

Die  kühle  Halle  hält  dich  heute  hier. 

Ein  sonderbar  Gelüsten  deiner  Seele: 

Auf  Nordlands  Klippen,  zwischen  Nordlands  Tannen, 

Wo  sich  im  Dämmertag  des  langen  Winters 

Der  weiße  Fuchs  umhertreibt  und  mißtrauisch 

Das  bronzene  Opferbeckenpaar  beschnüffelt. 


W7V  DEUTSCJiEJi  DJCTiTUMG         yc} 

Aus  dem  du  Zeus  in  Odins  Flockensaal 

Den  Rauch  gesandt  —  ein  sonderbar  Gelüst: 

Die  Äsen  zu  begrüßen  im  Olymp. 

Dein  heitres  Herz  doch  suchte  heitern  W^eg, 

In  finstrer  Heimat  dich  zurechtzufinden 

Und  unter  Menschen,  die,  hausbacken,  nüchtern, 

Verständnislos  dem  Frohsinn  gegenüber 

Die  Stirn  zusammenzogen,  wenn  du  lachtest. 

Kaum  merklich  kraust  den  Ozean  ein  Lüftchen. 

Die  Brandung  hör  ich  spielend  unten  klatschen. 

Sonst  unterbricht  selbst  einer  Möwe  Schrei 

Die  große  Stille  nicht  —  wir  sind  allein. 

"Wir  sind  allein  —  ich  beuge  mich  zu  dir: 

Du  glaubtest  nicht  an  Gott,  nicht  an  den  Himmel, 

Nicht  an  Unsterblichkeit  und  "Wiedersehn. 

Gib  mir  ein  Zeichen:  Hast  du  dich  getäuscht? 

Hat  eines  Engels  lichtvolle  Gestalt 

Den  Arm  dir  traut  gelegt  um  deinen  Nacken 

Und  führt  dich,  selig  lächelnd,  aufwärts  zeigend. 

Zum  frohen  Palmenwald  des  Paradieses? 

Und  wandeln  deine  Freunde  dir  entgegen. 

Zum  "Willkommgruß  die  lieben  Hände  streckend? 

Gib  mir  ein  Zeichen:    Hast  du  dich  getäuscht? 

Ach,  wie  der  ausgelöschte  Käfer  liegst  du, 

Mensch  —  Käfer  —  den  der  plumpe  Schuh  des  Todes 

Erbarmungslos  zertrat  im  "Weiterschreiten, 

Im  "Weiterschreiten,  das  kein  Hemmnis  aufhält. 

Die  Brandung  hör  ich  nur  und  keine  Antwort. 
Doch  .  .  .  aus  der  Brandung  ...  ist   es  deine  Stimme, 
Die  mühevoll  .  .  .  nein,  nein,  die  Brandung  nur  .  -  . 
Ich  richte  mich  empor  und  ratlos  fragt 
Mein  Blick  die  unbegrenzte  "Wasserbahn, 
Die  unter  wolkenloser  Bläue  glitzert. 
Kein  Segel,  keine  Schwinge  —  alles  leer; 
In  ihrer  Urkraft  droht  mir  die  Natur. 


EÖ  7{Jn{L  HEMCJ^ELL 


Mich  an  die  Säule  lehnend,  eine  Stunde 
Wohl  stand  ich  so,  dann  wieder  bog  ich  mich, 
Zum  letzten  Abschiedskuß,  auf  meinen  Freund; 
Und  während  ich  die  bleiche  Stirn  berührte. 
Flog  über  uns,  den  Marmelstein  beschattend. 
Ein  wilder  Schwan  in  trotziger  Lebenskraft. 

Seit  ich  Liliencrons  Gedichte  in  der  zweiten  Hälfte  der 
achtziger  Jahre  zuerst  kennen  lernte,  liebe  und  bewundere 
ich  sie.  Ich  werde  diesen  Gefühlen  treu  bleiben,  solange 
ich  selbst  Natur  und  Poesie  in  den  Adern  habe.  Wenn 
ich  erst  einmal  einen  wundervollen  Blütenstrauß  mürrisch 
beiseite  schiebe  oder  eine  großartige  Wald-  und  Wiesen- 
wanderung nicht  mehr  zu  würdigen  weiß,  also  ein  elender 
Stubenhocker  und  Griesgram  geworden  bin,  dann  werde 
ich  auch  Liliencron  „überwunden"  haben  und  von  meiner 
„Überschätzung  zurückgekommen"  sein.  Bis  dahin  hat's 
gute  Weile.  Und  der  Teufel  soll  mich  holen,  wenn  der 
herrliche  Dichtersmann  für  mich  je  ein  „verflossener  Stand- 
punkt" sein  wird.  Haben  wir  denn  etwa  heute,  unter  den 
vielen  feinen  und  aparten  Talenten,  Überproduktion  an  so 
genialen  Rackern  der  Natur?  Ich  wüßte  nicht  und  habe 
doch  so  „schrecklich  viel  gelesen".  Ich  halte  Sie  nun  vor 
allem  —  andernfalls  hätte  ich  Ihnen  meine  Begeisterung 
nicht  brühwarm  dahingegeben  —  für  so  gescheit,  daß  Sie 
rückhaltlose  Verehrung  und  ungetrübte  Genußfähigkeit  nicht 
zum  literarischen  Abhängigkeitsverhältnis  degradieren.  Sonst 
soll  Sie  der  Teufel  holen!  Vielleicht  entzückt  mich  Lilien- 
cron nicht  zum  wenigsten  so  sehr,  weil  Gott  mir  ein  eige- 
nes Auge  und  einen  eigenen  Ton  gab.  Und  daß  ich  in 
menschheitlichen,  volklichen  und  kulturellen  Dingen  viel- 
fach wesentlich  anders  fühle  und  denke  als  Liliencron,  das 
trübt  meine  künstlerische  Freude  nun  einmal  nicht.  Bleibt 
ein  besonderes  Geistessehnen  ungestillt,  so  ist  das  eine  im 
Verhältnis  zum  Dichter  exterritoriale  Empfindung  und 
schwingt  über  die  gegebene  Sphäre  hinaus.  Liliencron  ist 
Liliencron    und   —  Jen    bin    Ich.     Auf    diese    Weise    kann 


Brief  Conrad  Ferdinand  Meyers  an  Karl  Henckell  nach  Übersendung     /Ä2^ 
seines  Jue*ndwerkes  „Strophen" . 


■dg^—  J^^^t^ 


-i^k^ 


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K)7V  DBlfTSCHWi  DJCHTUJ^G         57 

man  von  Zeit  zu  Zeit  überraschend  schön  Dichterzwie- 
sprache halten.  —  Liliencron,  oder  das  morgenleuchtende 
Meer:    in  beiden  sich  frisch  zu  baden,  welche  Lustl 


Indeß  der  Haideprinz  der  deutschen  Poesie,  für  das  liebe 
Publikum  damals  noch  mit  der  Tarnkappe  versehen,  mit 
seinen  sicheren  Naturinstinkten  ganz  aus  sich  heraus  eine 
eigene  Welt  dichterisch  gestaltete,  himmelweit  entfernt  von 
der  an  allzuschöner  „Schönheit"  verblichenen  Welt  —  in- 
dessen war  es  auch  wie  von  selbst  geschehen,  daß  an  ver- 
schiedenen Ecken  und  Enden  deutscher  Lande  ein  neuer 
Dichtergeist  seltsam  zu  rumoren  begann.  Das  war  so  um 
die  Mitte  der  achtziger  Jahre.  Ich  persönlich  war  —  ich 
hatte  gerade  die  ,, klassische"  Reifsprechung  hinter  mir  — 
einerseits  zu  sehr  Rädelsführer  und  mit  von  der  Partie  und 
fühle  mich  andererseits  noch  nicht  literarischer  Mummelgreis 
oder  eingeschachteltes  und  eingesargtes  Dichtergerippe  ge- 
nug, um  bereits  heute  vor  Ihnen  den  gravitätisch  gespreiz- 
ten Schulmeister  jener  lyrischen  Brauseperiode  spielen  zu 
mögen.  Auch  brenne  ich  keineswegs  darauf,  den  kriti- 
schen Bakelschwinger  meiner  mitlebenden  und  —  schaffen- 
den Brüder  im  Herrn  Apollo  hier  herauszubeißen.  Sie 
werden  das  hoffentlich  mitfühlend  verstehen  und  mir  gütigst 
in  der  Folge  eine  von  der  eigenen  Zeitgenossenschaft  durch- 
schimmerte Art  und  Form  der  Schilderung  einräumen. 
Es  gibt  ja  zudem  schon  ein  Dutzend  Literaturgeschichten 
und  anderthalb  Dutzend  Anthologieeinführungen  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Da  kann  männiglich,  beziehungsweise 
weibiglich  sein  Bildungsbedürfnis  genugsam  befriedigen. 
Ich  will  mich  als  im  Lichte  schaffenden  Menschen  und  Mit- 
menschen, nicht  als  Sklaven  einer  öden  Registrier-  und 
Rezensierschablone  empfinden. 

Genug  —  eine  werdende  Welt  rief  neuen  Dichtern  und 
neue  Dichter  riefen  einer  werdenden  Welt.  Es  war  eine 
lyrisch -kulturelle  Schwangerschafts-  und  Gebärperiode  im 
neuen   deutschen  Reich.     Einige  dichterische   Draufgänger 


F: 


J(jn{L  »ET^CT^LZ 


gab  es,    mit    durchbrechender  Kraft,    und  viele  Mitläufer, 
die  der  Flugsand  der  Zeit  wieder  verwehte. 

Ich  glaube,  drei  Hauptströn\ungen  wirkten  so  mächtig 
aufwühlend  im  Bewußtsein  der  damaligen  Dichterjugend. 
Einmal  das  hochgesteigerte,  mit  dem  errungenen  nationalen 
Einheitsgefühl  verwobene  Volksgemeinschaftsgefühl,  das  sich 
zum  umfassenden  neuen  Gesellschaftsgefühl  erweiterte  — 
dann,  scheinbar,  aber  nur  scheinbar  im  größten  Gegensatz 
dazu  das  mit  neuem  Allgeist  getränkte  Ichgefühl  der  Persön- 
lichkeit, und  ferner  der  ebenfalls  hochgesteigerte  "Wahrheits- 
drang des  natürlichen  Lebenswillens,  der  aus  der  kiesel- 
schleifenden Konvention  immer  wieder  zur  kantenbildenden 
Natur  sich  hinkehrt.  Diese  Grundwogen,  die  wild  durch- 
einanderschäumten und  bald  aufeinander  prallten,  bald  sich 
vermischten,  trugen  das  neue  Leben  empor.  War  einer 
nun  zum  Dichter  geboren,  so  spürte  er  wonneschmerzlich, 
wie  das  alles  in  ihm  wort-  und  bildsuchend  zusammen- 
wirbelte und  -gohr.  Literarische  Einflüsse  von  außen 
traten  diesem  elementaren  Vorgang  gegenüber  entschieden 
zurück,  und  selbst  die  herrlich-frischen  ästhetischen  Mahn- 
rufe einer  reformatorischen  Kritik,  wie  sie  unvergeßlich 
von  Heinrich  und  Julius  Hart  in  Berlin,  von  Michael 
Georg  Conrad  in  München  an  das  junge,  sich  durch- 
tastende Geschlecht  ergingen,  konnten  die  innere  Stimme  doch 
nur  ermuntern,  bestärken  und  bestätigen.  —  Teure  Vorkämpfer 
fielen  als  Opfer  in  der  Schlacht,  Morgengesänge  einer 
schöneren  Zukunft  auf  den  Lippen.  Hermann  Conrad i 
vor  allem,  unser  Mitbevorworter  der  ,,  Modernen 
Dichtercharaktere",  jenes  ersten  lyrischen  Sammelwerks 
der  neuen  Zeit,  in  dem  die  ganze  schwüle  Herzenssehn- 
sucht einer  wahrheits-  und  freiheitsdurstigen  Jungmann- 
schaft sich  in  lodernden  Flammen  und  schwelenden  Rauch- 
wolken offenbarte.  Von  W^ilhelm  Arent,  dem  Heraus- 
geber des  merkwürdigen,  gemeinschaftlichen  Bekenntnis- 
buches, steht  auf  einer  der  ersten  Seiten  das  ergreifend 
schöne  Gedicht: 


DAS  ZIEL. 

Schon   als    ich   noch   ein  Knabe   war,    zog   es   mich  hin  zu 

anderm  Stern, 

Tief  heißes  Sehnen  faßte  mich,  doch  blieb  mir  die  Erfül- 
lung fern. 

Ich   fieberte   all    meine   Tag'!     Oft   stürmt   ich   in  das  Feld 

hinaus  .  .  . 

Der    brünstige  Leib    verkühlte    sich   in   Regenschaum    und 

Sturmgebraus. 

Der  Seele  Schrei:  Ich  hörte  ihn  in  tausendstimmigen  Me- 
lodien, 

Ich  sah  auf  dunklen  Fittichen  die  toten  Leidgenossen  ziehn. 

Die    ewige  Dämmerung    zerstob:    Die   Nebel    teilten    sich 

zu  Häuf, 

Lichtfremde  Welten  taten  sich  vor  meinen  Geistesaugen  auf. 

Nicht  Lust  noch  Schmerz  barg  mehr  die  Brust:    Zu  Ende 

war  gekämpft  die  Schlacht. 

Das  All  war  ich,  ich  war  das  All:   so  ward  mir  Friede  in 

der  Nacht. 

"Wilhelm  Arent,  echtes  überreifes  Berliner  "Weltstadtkind, 
wilder  Irrstern,  in  Nacht  und  Dämmerung  erloschen!  Mit 
so  feinen  stimmungslyrischen  Organen,  mit  der  Gabe  blitz- 
schneller Empfängnis  beschenkt,  aber  zerfließend  und  zer- 
stiebend in  nebelhaftem,  wahnsinnigem  Versrausch,  der  auch 
die  zarten,  schwermütigen  Blüten  seiner  Poesie  in  dem 
Strudel  trüber  "Vergessenheit  mit  untersinken  ließ.  Hier 
zwei  ganz  kurze  See-  und  Meeresstimmungen  von  ihm: 

MÜRITZ-SEE. 

Gelb  flimmern  die  "Wasser 
In  violettem  Dunst; 
"Wie  stygische  Schatten 
Breitet  die  Dämmerung 
Ihre  blauen  Flügel  .  .  . 
"Wie  das  Auge  der  Hölle 


8^ J{JIJ^L  TJEJ^CJjELL 

Glüht  gespenstisch 
Des  Riesenmeilers 
Rötliche  Lohe; 
Uferlos  wogt 
Der  Hauch  der  Nacht, 
Und  der  Seele  Fittige 
Streifen  träumerisch 
Die  ewigen  Sterne. 

STRANDBILD. 
]n  stolzer  Empörung  braust  das  Meer  .  .  , 
Über  der  Bäume  "Wipfel  her 
Kommen  Norwegs  Möven  geflogen, 
Als  käme  der  weiße  Tod  gezogen. 

Gespenstisch  dämmern  die  grauen  Lande, 
Über  dem  aschfahlen  Dünensande 
Liegt  der  Vernichtung  düsterer  Traum, 
Als  schluchzte  der  weinende  Himmelsraum. 

Das  Bild  des  armen,  kranken  Halbgenies  gab  mir  ein- 
mal die  Verse  ein: 

Die  Hetzpeitsche  in  der  fiebernden  Hand, 

Im  Haar  die  zerflatternde  Rose, 

Rast  die  irrende,  ruhelose 

Muse  vom  Quell  zum  Wüstensand 

Und  wirft  vor  der  Sphinx  sich  in  Pose. 

Hermann  Conradi,  der  mit  28  Jahren  Dahingeraff^te, 
war  ein  von  den  elementarsten  Lebensgewalten  geschüttelter 
und  erhobener  Sachsenjüngling  aus  Magdeburg,  dessen 
Erscheinung  sein  Landsmann  Johannes  Schlaf  in  einer 
prachtvoll  lebendigen  Erinnerungsvision  so  schildert: 

,,]ch  sehe  seine  untersetzte. 

Breitschultrige  Gestalt, 

Den   Hals  mit  einem  Seidentuch  umschlungen. 

Und  unter  dem  schwarzen  Kalabreser  hervor. 


VOJ^  DEUTSCnEJi  DICHTUJ^G        8^ 

Einen  rechten  Anarchistenstürmet  und  Wblkenschieber, 

Kaum  gebändigt. 

Diese  wunderbare  Fülle  und  Gloriole 

Der  seidenfeinsten  üppigsten  Rotgoldlocken. 

Diese  rotgolden  bübische  Pracht 

Um  das  marmorblasse  Gesicht 

Mit  dem  rosenroten,  dicklippigen,  moquant  aufgeschürzten 

Mund, 
Zwischen  seinen  beiden  tiefen,  bitteren  Furchen, 
Mit  seiner  frechen  Stumpfnase, 
Zwicker  vor  lichtblauen,  hellen,  scharfen  Augen; 
Und  der  skelettierte  Knotenstock! 
Wetter!    "Wie  war  er  häßlich  und  interessant! 
Nein:  schön! 

Wie  edel  und  stolz  er  den  Kopf  zurücktrug! 
Wie  das  und  wie  seine  spöttische,  so  kalte  Miene 
Da  irgend  etwas,  so  stolz,  so  herbe  zu  maskieren  suchte ! 
Wie  mich  das  durchzuckte ! 

Was  jeden  Anderen  von  ihm  zurückgeschreckt  hat! 
Wie  ich  ihn  liebte! 
Ja,  ich  weiß:  alles  war  dies; 
Einer! 
Alles  diese  unaussprechliche  Magie." 

Conradi  hinterließ  die  von  Fruchtbarkeitskeimen  nur  so 
strotzenden  ,, Lieder  eines  Sünders."  Die  Jugendtragödie 
eines  außerordentlichen,  in  das  Vordertreffen  des  Kampfes 
um  eine  höhere  Menschheitsform  hineingestellten  und  un- 
barmherzig zerschmetterten  Menschen  lebt  sich  in  diesen 
durch  und  durch  aufrichtigen,  nicht  selten  großatmigen 
Rhythmen  aus.  Eine  mächtige  hölderlinische,  nur  viel  blut- 
vollere Sehnsucht  strömen  die  reifsten  Gedichte  aus.  Con- 
radi war  eben  kein  Figurant  und  kein  Artist,  sondern  eine 
künstlerische  Persönlichkeit;  er  wollte  die  Pfützen  und 
Moräste  des  Daseins  nicht  mit  dem  Rosenöl  flacher  Schön- 
geisterei überschütten,  ein  Feind  der  billigen  Vertuschung 
auch   um   den   Preis   des   beleidigten    ästhetischen  Wohlge- 


E6  7{JlJiL  TiEJ\CJ(ELL 

fallens.  „Jedes  einzelne  Gedicht,  sofern  es  wahr,  nicht  ge- 
macht ist,  illustriert  eine  gewisse  Art  des  geistigen  Seins, 
erschließt  mehr  oder  minder  klar  bestimmte,  individuelle 
Wesensmomente  . . .  Durch  alle  Höhen  und  Tiefen,  Verir- 
rungen  und  Fährnisse,  Errungenschaften  und  Niederlagen 
führt  der  Weg."  Und  „Ich  kann  mir  nicht  denken,  daß  ein 
Mensch  —  ich  spreche  dieses  Eigenlob,  das  darum  nicht 
„stinkt",  weil  es  in  dieser  Verbindung  zugleich  einen  Vor- 
wurf gegen  mich  enthält,  scheulos  aus  —  leidenschaftlicher 
mit  dem  Höchsten  und  Tiefsten  gerungen  hat,  denn  ich., 
und  damit  Gott  befohlen!"  So  steht  es  in  dem  pfeiler- 
starken Vorwort  der  „Lieder  eines  Sünders",  und  so  dich- 
tete Conradi. 

„Aus  sumpfigem  Frühlingsanger",  —  so  erscheint  mir 
sein  Geistesbild  —  schießen  die  Keime  und  lichtgrünen 
Sprossen  nur  so  in  die  Höh,  „des  Frühlings  Blut"  quillt  aus 
allen  Poren,  der  junge  Morgenwind  singt  das  Lied  von 
der  schwarzen  Nacht  —  ein  Jüngling  trabt  durch  die  feuchte 
Schollenwelt  und  sinkt  auch  wohl  bis  über  die  Knöchel  in 
Morast,  wehklagend  und  frohlockend,  ein  stürmischer  Säug- 
ling neuer  "Welten  . .  .  warum  beschleichen  ihn  die  Schatten 
der  Nacht,  da  es  doch  Morgen  ward?  Warum  verschlang 
ihn  das  widrige  Moor,  da  er  doch  Baidur  erblickte? 

Ostara,  die  heilige  Lenzgöttin,  wand  ihm  mitleidig  weiße 
Glöckchen  und  gelbe  Himmelsschlüssel  ums  Haupt.... 

Ich  lese  wenigstens  zwei  Gedichte,  um  Ihnen  doch  eine 
Vorstellung  von  dem  poetischen  Gepräge  eines  verstorbenen 
Dichters  der  umwälzenden  Generation  zu  verschaffen,  dessen 
Würdigung  durch  das  unaufhaltsam  vorwärtseilende  Schaffen 
der  Überlebenden  für  eine  größere  Öffentlichkeit  allzusehr 
zurückgedrängt  worden  ist.  Zuerst  die  süße,  neutönende 
Strophik  erfüllungsuchenden,  wunderbar  keuschen  Liebes- 
verlangens. 

FRÜHLINGSSEHNSUCHT. 

Da  nun  die  Nächte  kamen. 
Die  Nächte  wundersüß. 


VOJ^  DEUTSCTJETj  DJCTiTUJ^G        8j 


Wo  letzter  Nachtigallenschlag 

Die  Stunden  feiert  früh  vor  Tag 

Und  erstes  Rosendüften: 

Sehnt  sich  mein  Herz  nach  Liebe, 

Nach  Glück  — 

Nach  dem  verlornen  Paradies 

Zurück  .  .  . 

Mir  ist's,  als  klopften  Geister 
An  meine  braune  Tür! 
Als  trat  zu  mir  mit  Glorienschein 
Der  König  Frühling  selber  ein 
Und  brächte  mir  ein  Mägdlein 
Und  spräche:  Heil  sei  dir! 

Ich  bring  dir  eine  feine  Magd  — 
Soll  fürder  bei  dir  gasten ! 
Am  Tage  sei  ihr  Kavalier, 
Geleit  sie  durch  das  Waldrevier, 
Wo  auf  verschollne  Pfade 
Der  Bilder,  der  verblaßten. 
Kaum  noch  ein  Schatten  fällt  — 
Wo  holder  Götter  Gnade 
Vergessen  ließ  die  Welt!   .  .  . 

Der  Vögel   Klang, 

Der  Fluren  Duft 

Und  eurer  Seelen  Feuerdrang 

Beflügele  den  Hochgesang, 

Den  eure  Liebe  tönt ! 

Nun  gürte  dich  mit  milder  Kraft, 

Und  von  den  Göttern  hingerafft 

Sei  mit  der  Welt  versöhnt. 

Da  dich  ein  Gott  gekrönt  I 

Hebt's  aber  an  zu  nachten. 
Dann  zäumt  das  Wandertrachten 
Und  kehrt,  der  Sehnsucht  reich. 
In  diese  enge  Kammer  ein. 


88  T{jn{L  JiEJ^CJ{ELL 

Und  bei  kristallnem  Sternenschein 

Enthüllt  ihr  das  Geheimnis, 

Drin  alle  Wesen  gleich  .  .  . 

Draus  alles  Sein  entsprießt. 

Drin  alles  Sein  sich  schließt. 

Es  liegt  die  "Welt  in  Schlummer  tief, 

Euch  ist's,  als  ob  sie  ewig  schlief  — 

Noch  ferne  weilt  der  junge  Tag  — 

Da  letzter  Nachtigallenschlag! 

Ihr  aber  habt's  begriffen, 

Das  Evangelium, 

Das  dieses   Frühlings  Wundermund 

Den  Kreaturen  tuet  kund  — 

Ihr  aber  habt's  begriffen 

Und  seid  in  "Wonne  stumm!" 

Da  nun  die  Nächte  kamen, 

Die  Nächte  wundersüß, 

Wo  letzter  Nachtigallenschlag 

Die  Stunden  feiert  früh  vor  Tag 

Und  erstes  Rosendüften  — 

Sehnt  sich  mein  Herz  nach  Liebe, 

Nach  Glück  — 

Nach  eines  Mägdleins  weißem  Leib 

Zurück. 

Doch  ach!     Die  Rosen  duften  — 
Es  schluchzt  die  Nachtigall 
Nicht  mehr  zu  meiner  Liebe  Preis, 
"Verdorret  ist  das  "Wunderreis  — 
Und  ob  sich  ungezügelt 
Die  Sehnsuchtsflamme  flügelt 
Und  um  Erhörung  wirbt: 
Die  Pforte  ist  geschlossen, 
Ich  hab  mein  Glück  genossen, 
Der  Gott  hat  sich  verhüllt  — 
Und  meine  Sehnsucht  stirbt 
Ach !   unerfüllt  .  .  . 


Für  mich    eins    der  liebeheiligsten   und    gefühlszartesten 

Gedichte,  das  ich  überhaupt  kenne. 

Und  nun  die  beiden  Strophen  aus  den  „Schwarzen  Blät- 
tern", in  denen  sich  der  junge  Dichter  eine  dunkle  Blüte  in 
gewisser  Vorahnung  seines  Geschickes  selbst  auf  den  Grabes- 
hügel legte: 

SCHWARZES  BLATT 

Ich  weiß  —  ich  weiß:  Nur  wie  ein  Meteor, 
Der  flammend  kam,  jach  sich  in  Nacht  verlor, 
"Werd  ich  durch  unsre  Dichtung  streifen! 
Die  Laute  rauscht.     Es  jauchzt  wie  Sturmgesang  — 
Wie  Südwind  kost  —  es  gellt  wie  Trommelklang 
Mein  Lied  und  wird  in  alle  Herzen  greifen  .  .  . 

Dann  bebts  jäh  aus  in  schriller  Dissonanz  .  .  . 
Die  Blüten  sind  verdorrt,  versprüht  der  Glanz  — 
Es  streicht  der  Abendwind  durch  die  Cypressen  .  .  . 
Nur  Wenige  weinen  .  .  .    Sie  verstummen  bald. 
Was  ich  geträumt:  sie  geben  ihm  Gestalt  — 
Ich  aber  werde  bald  vergessen  .  .  . 

Nein,  Hermann  Conradi,  du  wirst  nicht  vergessen! 


Andere  aus  jenem  Jugendkreise  der  die  weitere  Ent- 
wicklung der  deutschen  Dichtung  so  stark  beeinflussen- 
den „Modernen  Dichtercharaktere"  hielten  es  besser 
aus,  Vater  und  Mutter,  Nervensubstanz  und  Herzmuskel  ent- 
scheiden da  oft.  Die  es  überstanden —  eine  Kleinigkeit  war  es 
gerade  nicht,  denn  allzuviel  raste  entweder  auf  uns  ein  oder 
drückte  mit  brutaler  Faust  zu  Boden  —  die  es  überstanden, 
gingen  bald  jeder  nach  seiner  Fasson  den  menschlichen  und 
künsterischen  Weg,  der  ihrer  Veranlagung  und  Neigung 
am  meisten  entsprach. 

Arno  Holz  hatte  uns  damals  sein  fanfarenklingendes 
und  einschlagendes  „Buch  der  Zeit"  beschert,  das  mit  meinen, 
Hartlebens  und  Mackays  ersten  Büchern  beim  alten  Scha- 

BJiJfJSBES:  DTE  UTEJiATini.  BJIJ\D  XXXVII j  XXXVIII  G 


90  T{jn{'L  UEJ^CJiBLL 

belitz    in   Zürich  erschien    und    das   trotz  der  epigonischen 

Eierschalen,  die  ihm  gerade  da,  wo  es  am  reimseligsten 
ist,  ankleben,  durch  den  lauten  Herzschlag  seines  freiheit- 
lichen Enthusiasmus  und  durch  die  virtuose  Formfertig- 
keit einen  starken  "Wiederhall  weckte.  Der  junge  radikale  Ost- 
preuße ließ  ein  wahres  lyrisches  Aprilwetter  los,  epigram- 
matisch-polemische Schloßenschauer,  in  denen  die  Zucker- 
wasserpoeten derb  abgekanzelt  werden,  neben  Mailüfterln 
inniger,  sonniger  Liebesschwärmerei  und  rauhen  Nächten 
hungerpfeifender  Armeleutpoesie  . .  .  Ein  neuerungsüchtiger 
Singvogel,  der  im  alten  dichterischen  Waldrevier  gar  wohl- 
geschult zu  schmettern  verstand,  flog  eines  Tages,  nach 
andern  Horizonten  ausschauend,  über  einen  Wald  von  Fabrik- 
schornsteinen mitten  in  den  Lärm  der  Weltstadt,  wo  er 
sich  auf  himmelhoher  Zinne  einer  Mietskaserne  niederließ. 
Ein  graugekleidetes  Geschwisterpaar  stieg  zu  ihm  empor 
und  hörte  in  seinem  Elend  dem  kecken  Singschnabel  gerne 
zu;  da  sang  er  denn  drohende  und  spottende,  klagende 
und  jubelnde  Weisen  der  neuen  Zeit  und  ihres  sozialen 
und  politischen  Evangeliums: 

,,]ns  schwarze  Schuldbuch  unsrer  Zeit 
Sind  meine  Verse  rote  Glossen" 

sagte  Arno  Holz  darin  von  seinem  dichterischen  Ankläger- 
tum,  und  wie  er  seinen  Neuererwillen  kennzeichnete  durch 
den  Vierzeiler: 

,,Kein  rückwärtsschauender  Prophet, 
Geblendet  durch  unfaßliche  Idole, 
Modern  sei  der  Poet, 
Modern  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle!" 

so  wies  er  doch  mit  Stolz  auf  die  zeitlos  dauernde  Legie- 
rung aller  echten  Dichtung  hin  mit  den  Worten: 

,,  .  .  .  Auch  durch  das  junge  Lied  noch  flutet 
Das  alte  Nibelungengold". 


VOJ^  DEUTSCHET^  BICHTUMG         C}l 

Ich  möchte  Ihnen  aus  dem  „Buch  der  Zeit"  eines  der 
später  hinzugekommenen  Gedichte  vorlesen,  das  im  guten 
Sinne  modern  charakteristisch  erscheint  und  durch  seine 
seelische  Athmosphäre  bezeugt,  wie  auch  unsere  soge- 
nannten sozialen  Lyriker  keine  simpeln  Rechenexempel  und 
billigen  Fundgruben  für  literarkritische  Schablonenweisheit 
abgeben. 

TAGEBUCHBLATT. 

Die  letzten  Sterne  flimmerten  noch  matt. 
Ein  Spatz  versuchte  früh  schon  seine  Kehle, 
Da  schritt  ich  müde  durch  die  Friedrichstadt, 
Bespritzt  \on.  ihrem  Schmutz  bis  in  die  Seele. 
Kein  Quentchen  Ekel  war  in  mir  erwacht, 
Wenn  mich  die  Dirnen  schamlos  angelacht, 
Kaum  daß  ich  stumpf  davon  Notiz  genommen. 
Wenn  mir  ein  Trunkner  in  den  Weg  gekommen. 
Und  doch,  ich  spürte  dumpf:  mir  war  nichts  recht. 
Selbst  die  Zigarre  schmeckte  schlecht. 

Halb  zwei.     Mechanisch  sah  ich  nach  der  Uhr, 
An  was  ich  dachte,   weiß  der  Kuckuck  nur; 
Vielleicht  an  meinen  Affenpinscher  Fips, 
An  ein  Bonmot,  an  einen  neuen  Schlips, 
Vielleicht  an  ein  zerbolztes  Ideal, 
Vielleicht  auch  nur  —  ans  Cafe  National. 

Da,  plötzlich  —  wie?   ich  wüßt  es  selber  nicht. 
Fuhr  mir  durchs  Hirn  phantastisch  ein  Gesicht, 
Ein  Traum,  den  ich  vor  Jahren  mal  geträumt. 
Ein  Glück,  das  zu  genießen  ich  versäumt. 
Ich  fühlte  seinen  Atem  mich  umstreifen. 
Ich  könnt  es  förmlich  mit  den  Händen  greifen! 

Ein  verwehender  Sommertag,  ich  war  allein. 
Auf  einem  grünen  Hügel  hielt  ich  im  Abendschein 
Und  still  war  mein  Herz  und  fröhlich  und  ruhte. 
Leise  imter  mir  schnupperte  meine  Stute, 

G* 


92 TjjnjL  T{EJMCJ(ELL 

Die  Zügel  locker,  lang  und  laß, 

Und  rupfte  büschelweise  das  Gras. 

Es  ging  ihr  fast  kniehoch  und  stand  voller  Blumen. 

Dazwischen  roch  es  nach  Ackerkrumen 

Und  hinten,  die  Flügel  noch  grade  besonnt, 

Mahlten  drei  Mühlen  am  Horizont; 

Drei  alte  Dinger,   fuchsrot  beschienen 

Und  schon  halb  begraben  hinter  einem  Feld  Lupinen. 

Sonst  nichts,  so  weit  der  Blick  auch  schweifte. 

Als  mannshohes  Korn,  das  rauschend  reifte; 

Dazu  drüber  ein  ganz,  ganz  blaßblauer  Himmel 

Voll  Grillengezirp  und  Lerchengewimmel. 

Das  war  das  Ganze.     Doch  ich  sah  die  Farben 
Und  hörte  den  Wind  wehn  und  roch  die  Garben. 
Ein  Sonnenblitz,  drei  helle  Sekunden, 
Gekommen  —  verschwunden  1 

Die  Friedrichstraße.     Krumm  an  seiner  Krücke 
Ein  Bettler  auf  der  "Weidendammer  Brücke. 
,, Kauft  Wachs-streich-hölzer, 

Schwedische  Storm-  und  W^achs-streich-hölzer  . ." 
Mich  fröstelte I 

Arno  Holz  —  ich  spreche  hier  ausschließlich  von  dem 
selbstschaffenden  Künstler,  nicht  von  dem  doktrinären  Kunst- 
theoretiker und  rabulistischen  Polemiker,  den  er  uns  gern 
schenken  könnte  —  wandelte  sich  mehr  und  mehr  aus  dem 
schneidigen  Zeitdicher,  der  einst  Gedichte  wie  ,,Den  Fran- 
zosenfressern", ,,Noch  eins!"  ,,An  einen  Glacedemokraten" 
und  den  schönen,  allbekannten  Phantasuscyklus  \on  dem 
verhungernden  Träumer  geschrieben,  in  den  originellen, 
mitunter  leider  auch  nur  originalitätsüchtigen  (hat  er's  denn 
nötig?)  Feinkünstler  oder  lyrischen  Tausendsasa  des  neuen 
„Phantasus".  Er  spürte  im  erstem  Fall,  um  Wort  und  Vor- 
stellung möglichst  unverblaßt  wirken  zu  lassen,  einer  Art  Ver- 
kürzungsstil nach  und  reihte  mit  radikaler  Ausscheidung 
schönklingender  Entbehrlichkeiten  —  was  an  sich  durchaus 


DETLEV  VOX  LILIKSCRON 
Photographie  Dührkopp,  Berlin. 


VOJ^  DEUTSCHE7{  DlCTiTUJMG         9^ 

wertvoll  ist  —  nur  die  eigentlichen  Hauptfaktoren  eines  Stim- 
mungskomplexes an  seiner  typographischen  Mittelachse  auf. 
Lediglich  mit  der  treffend  individuellen  Wahl  der  Worte  und 
ihrer  denkbar  einfachsten  Verbindung  suchte  er  Anschauung 
und  innere  Vibration  zu  erzeugen,  mit  Verzicht  auf  jeden 
Reim.  Daß  ihm  dies  nicht  selten  ganz  vorzüglich  gelungen  ist, 
besonders  wenn  er  schlicht  unverzerrte  Natur  und  eben- 
solches Gefühl  zum  lyrischen  Idyll  formt,  sehen  Sie  z.  B 
aus  folgender  abendlichen  Gartenstimmung: 

In  einem  Garten 

unter    dunklen  Bäumen 

erwarten  wir  die  Frühlingsnacht. 

Noch  glänzt  kein  Stern. 

Aus  einem  Fenster, 

schwellend, 

die  Töne  einer  Geige  .  .  . 

Der  Goldregen  blinkt, 

der  Flieder  duftet, 

in  unsern  Herzen  geht  der  Mond  auf. 

Man  denkt  unwillkürlich  an  Thoma.  Aber  das  eigent- 
liche Gedicht  steckt  in  der  letzten  Zeile.  Vielleicht  legt 
man  auch  in  solche  Kurzschriftlyrik  vieles  erst  selbst  hinein. 

Ein  Erzeugnis  von  kostbarlichem  Reiz  und  gewiegtem 
Kunstgeschmack  ist  auch  die  Phantasie  über  die  korin- 
thische Marmorstatue: 

Meine  weißen  Marmorfinger 

tasten  über  meine  Brüste. 

Mich  schuf  Korinth;   ich  sah  das  Meer. 

Tausend  Jahre 

unter  Schutt  und  Tempeltrümmern 

lag  ich  in  schwarzer  Erde. 

Zwischen   roten  Disteln    im  Abendschein  weideten  Ziegen, 

über  mein  blühendes  Gab   bliesen  Hirten. 

Tausend  Jahre  war  ich  tot. 


94  J(J!7iL  JiEJSJCJ{ELL 


Jetzt  scheint  die  Sonne,  der  Himmel  lacht,  ich  lebe. 
Auf  meine  Schultern,  durch  gezacktes  Laub 
fallen  zitternde  Tupfen. 
Meine  Augen 
weit  geöffnet, 
starren  auf  ein  grünes  Wasser. 
In  breiten,  überhängenden  Kastanienblättern 
spiegelt  sich  und  spielt 
sein  Licht. 
Darin  steckt  unleugbar  viel  lyrische  Verfeinerungskultur. 
In    anderen    wieder    viel    Koketterie    und  Verblüffungslust. 
Arno  Holz    spielt    dann    mit    poetischen    Kugeln    wie    der 
raffinierteste  Jongleur   oder   er   läßt    mit  kurioser  Geberde 
buntschillernde  Seifenblasen  durch  die  Luft  tanzen  und  zer- 
platzen—  ein  so  sehr  bewußtes  Dichter-Kind.  Wird  man  denn 
deutscher  Dichter  ausgerechnet  für  den  Berliner  Literatur- 
snob und  Geschmäckler  bei  künstlicher  Rampcnbeleuchtung? 
"Was  mein  Sinn  bei  Arno  Holz  sehnlich  sucht,  ist  eine  starke, 
ausgeprägte   Mittelaxe   unspielerischen  Dichter-Menschen- 
tums, ein  Strom  einheitlicher  Kunst-Natur,  der  sich  durch 
all  sein  Schaffen  hindurchzöge.    Aber  was  geht  Arno  Holz 
und    Sie    meine    Sehnsucht    an?      "Will    er   doch   vor    allen 
Dingen  ein  ewig  —  Überraschender   sein.     Nur  muß  man 
gerade   das  nicht  wollen.     Raketen  und  Feuerräder  wollen 
es,  die  stillen  Sterne,  die  ruhig  wirkende  Sonne  nimmermehr. 

Wer  war    denn   noch   unter  jenen   lyrischen  Frühauf- 
stehern der  achtziger  Jahre   da   von    fortzeugender 
und   -schwingender    Kraft?      Natürlich    Heinrich 
und  Julius,  die  Brüder  Hart. 

Heinrich,  der  nun  auch  schon  im  besten  Majinesalter 
als  eine  zum  tragischen  Lebenshumor  ausreifende  Ähre  von 
dem  plötzlich  hinter  dem  Hügel  auftauchenden  Schnitter 
Tod  dahingemäht  wurde,  Heinrich  Hart  weihte  dem  zwan- 
zigsten Jahrhundert  als  der  erfüllungbringenden  Zeit 
seinen  großzügig  dithyrambischen  Morgenhymnus: 


voj^  deutscubjj  djctjtuj^g      95 

"V^jrf  die  Tore  auf,  Jahrhundeit, 
Komm  herab  begrüßt,  bewundert, 
Sonnenleuchtend,  morgenkJarl 
Keine  Krone  trägst  du  golden. 
Doch  ein  Kranz  von  duftigholden 
Frühlingsblüten  schmückt  dein  Haar. 


Wie  zwei  Bettler,  frech  verhöhnet. 
Die  wir  einst  so  stolz  gekrönet, 
Irren  Freiheit  hin  und  Recht. 
,,Heil  den  Ketten,  die  uns  binden. 
Die  uns  ziehn  und  niederwinden, 
Gold'ne  Ketten!"  jauchzt  der  Knecht. 


Wo  du  gehst,  da  bricht  in  Flammen 
Tausendjähriger  Grund  zusammen. 
Drauf  die  Knechtschaft  wuchernd  stand. 
Und  der  Hoffahrt  morsche  Götter 
Treiben  hin  wie  Spreu  im  "fetter. 
Auf  vom  Schlafe  fährt  das  Land. 


Wo  du  gehst,  da  öffnen  alle 
Tiefen  sich  mit  heißeni  Schwalle 
Und  des  Abgrunds  Nacht  wird  Tag. 
Glühend  braust's  in  tausend  Seelen, 
Erd'  und  Himmel  zu  vermählen. 
Dringt  der  Geist  zum  Sternenhag. 


Schlagt  die  Cymbeln,  spielt  die  Geigen, 
Süße  A\ädchen,  schlingt  den  Reigen, 
Kränzt  mit  Grün  den  Maienbaum. 
Auf,  ihr  Männer,  Opfergluten 
Laßt  von  allen  Bergen  fluten, 
Auf,  vorbei  ist  Nacht  und  Traum. 


96 


T{jn{L  HEMCJ^ELL 


Wie  ein  Tempel  sei  die  Erde, 
Daß  der  Mensch  zum  Gotte  werde 
Todesmächtig,  Jicht  und  hehr. 
Daß  nicht  Wasser  und  nicht  Lüfte, 
Nicht  der  Zwietracht  düstre  KJüfte 
Trennen  unsre  Herzen  mehr. 


Wirf  die  Tore  auf,  Jahrhundert, 
Komm  herab  begrüßt,  bewundert. 
Sonnenleuchtend,  morgenklar. 
Keine  Krone  trägst  du  golden, 
Doch  ein  Kranz  von  duftigholden 
Frühlingsblüten  schmückt  dein  Haar. 

Heinrich  Harts  Dichtungen  sind  vom  Atem  neuen  Lebens, 
neuen  Alleinheitsgefühls  durchweht,  das  die  Menschheit 
wie  einen  Leib  umfassen  möchte,  von  jenem  tiefen  pro- 
phetischen Werdehauch,  der  auch  Conrad  Ferdinand  Meyers 
wunderbares  Gedicht  „In  einer  Sturmnacht"  erfüllt,  wo  es 
in  der  letzten  Strophe  lautet: 

„Es  sprach  der  Friedestifter,  den  du  weißt. 
In  einer  solchen  wilden  Nacht  wie  heut: 
„Hörst,  Nikodeme,  du  den  Schöpfergeist, 
Der  mächtig  weht  und  seine  Welt  erneut?" 

Ja,  es  waren  wilde  dichterische  Sturmnächte,  die  wir 
durchschritten,  und  auch  Heinrich  Hart  horchte  voraus, 
wie  der  ,,Föhn  in  seine  gellen  Pfeifen  blies"  und  sang  den 
Dichter-  und  Kampfgenossen  helle  Zuversicht  ins  Herz. 

Auf  stillen  Wegen  aber  erblühten  diesem  früh  in  die 
Weltstadt  verpflanzten  Sohn  der  ,, roten  Erde"  damals  auch 
einige  andachtschlichte,  innigschöne  Liebeslieder,  wie  das 
ruhevoll  schwebende: 

ABENDGANG  ZUR  GELIEBTEN. 

Nun  ist  der  Abend  kommen. 
Die  Sterne  sind  entglommen. 


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VOJSl  DEUTSCTfETi  DJCJiTliJ^G        C)y 

Die  Straßen  schlummern  mählich  ein. 

Abwerf'  ich  all  mein  Mühen 

Und  lass'  in  mir  erblühen 

Der  Liebe  Sehnsucht  ganz  allein. 

Rings  grüßen  von  den  Zweigen 

Die  Vögel  und  es  neigen 

Sich  flüsternd  Busch  und  Blume  mir; 

So  festlich  ist  mein  Wiesen, 

Sie  mögen  leicht  es  lesen, 

Wie  meine  Seele  fliegt  zu  dir. 

Die  Kinder,  die  am  Wege 

Sich  tummeln  durchs  Gehege, 

Sie  reichen  lächelnd  mir  die  Hand. 

Die  "Winde  die  da  wehen, 

Die  Wolken  die  da  gehen, 

Sie  knüpfen  mir  ein  rosig  Band. 

Wie  weit  seid  ihr  entschwunden, 

Ihr  sorgenschweren  Stunden, 

Wie  fern,  wie  fern  liegt  Kampf  und  Streit; 

Die  Welt  ist  so  voll   Frieden, 

Als  lag'  sie  abgeschieden  — 

Ein  See  in  grüner  Einsamkeit. 

Nun  steh'  ich  an  dem  Hause, 

Vor  meines  Glückes  Klause, 

Und  meiner  Freuden  Inbrunst  wird  Gebet; 

Laß  jedes  Herz  hienieden 

Durch  Liebe  finden  Frieden, 

Du  göttlich  Feuer,  das  die  Welt  durchweht. 

In  dem  wipfelrauschenden  Vorgesang  zu  seinem  kühnen, 
in  den  vorhandenen  Teilen  oft  außerordentlich  schönen 
„Lied  der  Menschheit"  stehen  die  unvergeßlichen  Vers- 
paare: 


2l 


7{jn{L  7fEMCJ(ELL 


„Die  Menschen  sind  wie  Blumen  auf  dem  Rain, 
Ich  winde  sie  dem  Kranz  der  Menschheit  ein, 
Der  Alenschen  Tun  spinnt  Fäden  wirr  und  kraus, 
Ich  webe  sie  zum  Bild  der  Menschheit   aus, 
Der  Menschen  Herz  freut  sich  an  Schein  und  Spiel, 
Ich  halt'  das  Steuer  auf  der  Menschheit  Ziel" 

und  ein  mächtiges  Finale  schließt  den  Vorgesang  ab,  um 
dessentwillen  das  deutsche  Volk  seinen  Heinrich  Hart  hätte 
kränzen  sollen,  als  es  noch  Tag  für  ihn  war: 

„Volk  das  ich  liebe,  Volk,  an  dessen  Kraft 

Ich  glaube,  du  der  Menschheit  Blut  und  Saft, 

Du  grüne  Eiche,  schwellend  \on  Geäst, 

Dein  Haupt  trinkt  Himmelsglanz,  gen  Ost  und  West 

Streckst  du  die  Arme,  erzgeschmiedet  drückt 

Dein  Fuß  des  Erdreichs  Kern,  kein  Sturmwind  rückt 

Zur  Seite  dich  um  einer  Spanne  Raum, 

Durch  deine  Blätter  rauscht  ein  Frühlingstraum, 

Aus  deinem  "Wipfel  klingt  es  wie  Geläut: 

Es  kommt  ein  Morgen,  der  die  Welt  erneut. 

Volk  das  ich  liebe,  alles  was  ich  bin. 

Bin  ich  durch  dich,  so  nimm  als  Opfer  hin 

Mein  armes  Lied,  vielleicht  mit  tausend  Reben 

Wird  es  in  Deiner  Seele  aufwärts  streben. 

Ihr  aber.  Freunde,  reicht  mir  her  ein  Glas 

Taufrischen  Rieslings!     Welch  ein  Trunk  ist  das! 

Das  Aug'  wird  hell,  die  Finsternis  zieht  fort 

Und  auf  die  Lippen  drängt  sich  Wort  um  Wort." 

Das  deutsche  Volk  kümmerte  sich  um  das  Opfer  wenig, 
und  Heinrich  Harts  Lebenslinie  sollte  tragisch  verlaufen. 
Wenn  ich  vorhin  von  seinem  letzten  Lebenshumor  sprach, 
so  meinte  ich  die  geistig  übe-rlegene  Weltironie  des 
doch  in  seinem  Besten  vorzeitig  geknickten  dichterischen 
Idealisten,  in  einem  witzigen  Lachen  hervorbrechend,  das 
für  mich  mehr  erschütternd  als  befreiend  klang.  Es  v/ar 
das    eben    der  Humor   von   der  Tragödie.     Vielleicht  wäre 


VOJ^  DEUTSCTiETj  DJCNTUTVG        99 

er  doch  noch  zum  eigentlich  erlösenden  Lacher  empor- 
gewachsen? Man  spurte  auch  dazu  tiefere  Ansätze,  aber 
v/er  kann  es  wissen?  So  war  er  eine  schon  früh  herr- 
lich himmelanstrebende  junge  Eiche,  die  das  großblättrige 
Schlingkraut  der  Tagespresse  zu  zäh  umklammerte  und  gierig 
aussog. 

Heinrich  Hart  würde  seinem  Bruder  Julius  als  Lyriker 
jedenfalls  den  Vortritt  gelassen  haben  —  ich  wollte  ihn  hier 
dem  Altern  und  Toten  geben.  Julius  Hart  teilt  mit 
Heinrich  die  feiertägliche  Auffassung  vom  dichterischen- 
Schaffen,  und  so  bildet  seine  vorwiegend  hymnisch-diony- 
sische Lyrik  für  ihn  wirklich  ein  Fest  des  Aufschwungs 
und  einen  , .Triumph  des  Lebens".  ]n  seinen  dithyram- 
bischen Versen  steigert  sich  ein  Mensch  mit  dunkelglutiger 
Leidenschaftlichkeit  selbst  in  sein  Erregungsstadium  hinein 
und  umarmt  gleichsam  mit  visionärer  Ekstase  seinen  eigenen 
Gefühlsrausch.  Er  versetzt  dann  alles,  Natur  und  Leben, 
in  das  schwüle  Treibhaus  seiner  Empfindungsinbrunst,  so 
daß  bei  ihm  selbst  die  bescheidenen  ersten  Veilchen  unter 
solcher  Gluthitze  sich  in  eine  Art  „trunken  buhlender" 
Orchideeen  verwandeln.  Leider  erstickt  auf  diese  Weise  der 
Dichter  nicht  selten  die  um  Rettung  ihrer  einfachen  Un- 
schuld flehende  Natur  aus  lauter  Gewaltsamkeit  mit  dem 
Schwall  seiner  Gefühlswollust,  und  so  sehr  ich  als  Auch- 
germane  mit  Julius  Hart  „gerade  das  trunkenste  und  höchste 
Seligkeitsempfinden,  die  Liebesglut  des  Künstlers"  für  ein 
wesentliches  neuschöpferisches  Element  halte,  ebensosehr 
glaube  ich,  daß  auch  für  den  Dichter  als  gestaltenden 
Künstler  das  kurze,  freilich  „romanische"  Sprichwort  recht 
behält:  Qui  trop  embrasse,  mal  etreint.  Und  v^enn  der 
egozentrische  Standpunkt  schon  gelten  soll,  daß  für  den 
Dichter,  und  besonders  für  den  Lyriker,  sein  Gefühl  das 
Maß  aller  Dinge  ist,  so  kann  man  es  schlechterdings  den 
schlechten  Dingen  —  und  wäre  es  auch  nur  in  der  Seele 
des  liebenden  Lesers  —  nicht  verübeln,  wenn  sie  sich  ihrer- 
seits gegen  jede  allzu  überschwängliche  Gefühls— anmaßung 
bescheiden,  aber  entschieden,  wie  Dinge  nun  einmal  sind, 


wo  J{jn{L  TiEJ^CJ^ELL 

zur  Wehr  setzen,  um  nicht  vor  lauter  Dichtergefühl  ihre 
eigene  arme  Dingseele  auszuhauchen. 

Nach  diesem  kleinen  Plaidoyer  für  das  Ding  und  gegen 
das  Ubergefühl,  das  zugleich  ein  Plaidoyer  für  den  Kunst 
empfangenden  Menschen  ist,  kann  ich  nun  mit  doppelter 
Freude  hervorheben,  daß  Julius  Hart  in  erster  Reihe  mit 
zu  jenem  Vortrupp  geisteskämpferischer  Poeten  gehört, 
deren  Dichtung  von  einem  erneuernden  und  befreienden 
Menschheitssinn  erfüllt  ist.  Auch  er  hat  den  Atem  des 
Werdesturmes  verspürt,  der  in  diesen  Jahrzehnten  beson- 
ders stark  über  die  Erde  geht,  und  sein  Flügelroß  wittert, 
schnaubend  und  nüsternblähend,  Morgenlüfte  des  Lebens. 
Julius  Hart  hat  zudem  als  der  erste,  mit  jungen  Jahren, 
aus  "^'''estfalen  kommend,  Berlin  und  das  Bild  der  modernen 
Weltstadt  in  seiner  "Wirkung  auf  den  wagenden  und  käm- 
pfenden Geistesmenschen  für  die  deutsche  Lyrik  eigentlich 
erobert,  durch  mehrere  äußerst  charakteristische,  kraftvolle 
Gedichte,  von  denen  das  früheste  ,,Auf  der  Fahrt  nach 
Berlin"  schon    1882  entstanden  ist. 

Ich  lese  Ihnen  aus  diesem  die  ersten  und  letzten  Stro- 
phen und  nachher  das  spätere  eigentliche  Gedicht  „Ber- 
lin" ganz. 

Vom  Westen  kam  ich,  schwerer  Haideduft 
Umfloß  mich  noch,  vor  meinen  Augen  hoben 
Sich  weiße  Birken  in  die  klare  Luft, 
Von  lauten  Schwärmen  Krähenvolks  umstoben. 
Weit  —  weit  die  Heide,  Hügel  gelben  Sands 
Und  binsenüberwachsne  Wasserkolke, 
Fern  zog  ein  Schäfer  durch  Westfalenlands 
Buschwerk  und  Ginsterkraut  mit  seinem  Volke. 

Vom  Westen  kam  ich  und  mein  Geist  umspann 
Weichmütig  rasch  entschwundne  Jugendtage, 
War's  eine  Träne,  die  vom  Aug  mir  rann,  — 
Klang's  von  dem  Mund  wie  sehnsuchtsbange  Klage? 
Vom  Westen  kam  ich  und  mein  Geist  entflog 
Voran  und  weit  in  dunkle  Zukunftsstunden, 


jil/^  /älf  1M^  ^^m^  1^  -Ä^  /i^/ 


//^ 


v^i^  ^i^t^  /^.e^  ^^  ^^  ^//^a^  . . . 

J*/  :t/^  /J^tVl-  /^4^    ^rx^^A^/f*^ 

Aus  den  „Ludern  eines  Sunders"  von  Hermann  Conradi. 


VOJ^  DEUTSCTiE7{  DlCTiTUJMG        lOI 

Wohl  hub  er  mächtig  sich,  sein  Flug  war  hoch. 
Und  Schlachten  sah  er,  Drang  und  Heldenwunden. 

Die  letzte  Strecke  der  Reise  wird  geschildert,  Fahrt  über 
die  Havel,  erster  Anblick  der  Stadt  beim  grauenden  Sep- 
tembermorgen, Ankunft  in  der  Halle  und 

Berlin!    Berlin!    die  Menge  drängt  und  wallt 

Und  wälzt  sich  tosend  durch  die  staub'gen  Gassen, 

Vorüber  brandet  sie  stumpf,  tot  und  kalt. 

Und  jedes  Ich  ertrinkt  in  dunklen  Massen. 

Du  aber  suchst  in  dieser  bleichen  Flut 

Nach  Rosen  und  nach  grünen  Lorbeerkronen  .  .  . 

Schau  dort  hinaus!  .  .  .  Die  Luft  durchquillt's  wie  Blut, 

Es  brennt  die  Schlacht,  und  Niemand  wird  dich  schonen. 

Schon  braust  die  wilde  Flut  um  meine  Brust, 
Schon  reißt  es  mich  hinfort  in  wirren  Schäumen, 
Und  zwischen  Tod  und  trunkener  Lebenslust 
Treib   ich  dahin,  gleichwie  in  dumpfen  Träumen. 
Wohin?  Wohin?  die  dunkle  Nacht  verschlingt 
Und  hüllt  die  Ferne  tief  mit  Finsternissen, 
Und  schattenhaft  im  Nebel  stumm  versinkt 
Dort  Boot  um.  Boot,  jählings  hinabgerissen. 

Ein  jahrelanges  Kämpfen  mit  den  Wogen  der  Weltstadt, 
bis  zum  schließlichen  Sieg  über  das  Ungeheuer  mit  dem 
Geist  der  Kraft: 

BERLIN. 

Endlos  ausbreitest  du,  dem  grauen  Ozean  gleich. 

Den  Riesenleib;  in  dunkler  F'erne  stoßen 

Die  Zinnen  deiner  Mauern  ins  Gewölk,  und  bleich 

Und  schattenhaft  verschwimmen  in  der  großen 

Und  letzten  Weite  deine  steinigen  Matten. 

Weltstadt,  zu  Füßen  mir,  dich  grüßt  mein  Geist 

Zehntausendmal;  und  wie  ein  Sperber  kreist 

Mein  Lied  wirr  über  dich  hin,  berauscht  vom  Rauch 

Und  Atem  deines  Mundes:  Sei  gegrüßt  du,  sei  gegrüßt 


I02 J{J17{L  7iEJyJCJ{ELL 

's  ist  Sommermittagszeit,  und  leuchtende  Sonnenflut 

Strömt  aus  den  Himmeln  über  dich;  rings  blitzen 

Und  flammen  deine  Mauern,  und  in  weißer  Glut 

Erglühen  deine  Dächer  und  der  Türme  Spitzen, 

Und  helle  Wolken  Staubs,  die  aus  den  Tiefen  steigen. 

Gleich  einem  glühenden  Riesenkessel  liegst  du,  —  Brand 

Dein  Atem,   Feuer  dein  weitfließendes  Gewand, 

Starr,  unbewegt,  gleich  wie  ein  Felsenmeer, 

Das  nackt  mit  weißen  Rippen  aus  der  Wüste  steigt. 

Erstorben  scheinst  du,  doch  du  bist  es  nicht; 

Erzittert  nicht  die  Luft  vom  dumpfen  Toben 

Des  Meeres,  das  in  deinen  Schlünden  bricht 

Und  wühlt  und  brandet,  wie  vom  Sturm  durchstoben, 

Und  donnernd  tausend  Schiffe  zusammenschleudert? 

Wild  gellt  der  Schrei  der  Schiffer  Tag  und  Nacht 

Durch  Licht  und  Nebeldunst,  und  ewig  tost  die  Schlacht 

In  deinen  Tiefen:  trümmerübersät 

Von  bleichen  Knochen  starrt  ringsum  dein  dunkler  Grund. 

Schäum  auf,  du  wilde  Flut  und  tose  an! 

Die  du  zerreißend  hinfegst  und  mit  gier'gem  Maule 

Zehntausende  verschlingst:  ein  Schrei  und  dann 

In  dunklen  Wirbeln  schwemmst  du  alles  Faule 

Und  Schwache  tief  hinab  in  deinen  Abgrund  .  .  . 

Dich  rührt  kein  Weinen  und  kein  heiß  Gebet, 

Der  Klagenden  Geschrei  lautlos  und  stumm  verweht 

In  deiner  Brandung  Donnern,  aber  sanft 

Und  weich  umschmeichelst  zärtlich  du  des  Starken  Fuß. 

Du  ström  in  meinen  Busen  deinen  Geist, 

Gieß  deine  rauhe  Kraft  in  meine  Glieder  .  .  . 

Gewaltig  faßt's  in  meine  Seele,  reißt 

In  deiner  Schlachten  wirr  Gedräng  mich  nieder. 

Wo  Schwert  und  Lanze  auf  die  Brust  mir  fahren. 

Erstick  die  Träne  und  den   Klagelaut, 

Der  feig  von  meinen   Lippen  sonst  getaut. 

Den  Becher  trüben  Weins,  der  nur  zu  lang 

Die  Zeit  berauscht,   werf  ich  in   Deine  Flut. 


VOJM  DEUTSCTIE^  DJCHTUJ^JG       lO^ 

Grämliche  "Weisheit,  die  in  unsre  Brust 

Den  Giftpfeil  stößt  und  uns  als  Schuldgeborne, 

Ewig  Verdammte  zeichnet,  unsere  Lust 

Und  Schaffen  mordet,  und  gleichwie  Verlorne 

Verachtet  macht,  hier  will  ich  ihrer  lachen. 

Aus  deinen  düstern  Mauern,  Weltstadt,  reckt 

Ein  Geist  sich  mächtig  auf  und  streckt 

Die  Hand  gewaltig  aus,  und  deiner  Flut 

Gesang  stürmt  mir  ins  Ohr  ein  besser  Lied. 

Dich  fühl  ich,  Menschengeist,  dein  Schatten  steht 

Gewaltig  über  der  Stadt  lichtglühenden  Mauern, 

Ich  fühl  es,  wie  dein  Odem  mich  umweht 

Und  mich  durchrinnt  gleich  heiligen  Liebesschauern  .  .  . 

Gewitter  rollen  auf,  die  Sinne  dunkeln: 

Schlachtruf  durchgellt  die  Luft,  der  Himmel  bricht, 

Durch  schwarze  Wolken  fährt  ein  feurig  Licht, 

Und  bleiche  Schatten  fliehn,  ein  Antlitz  blutbeströmt 

Und  dort  ein  anderes  versinkt  in  Nacht. 

Dich,   Kraft,  besing  ich,  die  Natur  du  zwingst 
In  deinen  Dienst,  und  dumpfen  Sinnesträumen, 
Des  Fleisches  totem  Kerker  uns  entringst  — 
Du  Kraft,  laß  alle  meine  Adern  schäumen 
Von  deinem  warmen  Blut  .  .  .  Euch  alle  sing  ich, 
Arbeiter,  Krieger,  die  der  Menschheit  Baum 
Mit  ihrem  Schweiß  und  mit  dem  heil 'gen  Schaum 
Des  Blutes  düngen  .  .  .  Singen  will  ich  den  Kampf 
Mit  dir,  Natur,  Fleisch,  Staub  und  Tod. 

Das  ist  Julius  Hart,  der  machtvolle  Denkerdichter  im 
Angesicht  des  modernen  Lebenskampfes,  aber  er  ist  auch 
ein  Dichter  all  dessen,  was  über  der  Weltstadt  ist: 

Ihm  wurden  ringende  Flügel  des  inbrünstigen  Auf- 
schwungs zum  Ewigen,  schwärmende  Augen  sonntäglicher 
Schönheitssehnsucht,  grüblerische  Leidenschaft  eines  ge- 
prüften    Herzens.     Aus    Wirbel     und    grauem    Dunst    der 


I04  \Jn{L  TiEJMCJ^ELL 

"Weltstadt,  aus  "Wähnen  und  Irren  schwankender  Gemein- 
schaft geht  er  mit  seiner  Dichtung  den  stillen  Höhen  eines 
in  sich  geeinigten,  starken  Daseins  entgegen  .  .  . 

Eine  keimschwangere,  aber  unerfüllte,  schon  heute  in 
dämmernde  Legende  gehüllte  Erscheinung  kann  ich  hier 
nicht  vergessen,  die  es  von  früh  her  und  immer  wieder 
zur  Lebenssphäre  der  Brüder  Hart  hinzog,  ohne  daß  ihre 
dichterische  "Wesensart  irgendwelche  Abhängigkeit  von  jenen 
Stammes-  und  Schulgenossen  aufweist.  Ich  meine  unsern 
wundersamen  toten  Peter  Hille,  den  geheimnisumwitter- 
ten fahrenden  und  —  ach!  —  verfahrenen  Schüler  der 
Neuzeit,  der  raunend  und  pilgernd,  pilgernd  und  raunend 
die  seltsamen  Spuren  seines  unstäten  Genius  den  Schwellen 
seiner  verschiedenen  dichterischen  Freunde  und  Zeitge- 
nossen einprägte. 

Peter  Hille  war  im  Grunde  seines  \C^esens  ein  tiefer 
"Waldmärchengeist  und  ins  Moderne  verschlagener  Merlin, 
ein  unendlich  feinspüriger.  Dichter-,  Kinder-  und  vogel- 
sprachekundiger  Mensch,  der  das  an  die  Dinge  ganz  nah 
heranzitternde  "Wort,  leider  oft  bis  zur  verschwimmenden 
Unklarheit,  über  alles  liebte  und  eher  Hunger  und  Frost 
litt  als  seiner  Seele  besonderen  Ausdruck  platt  schlug.  Es 
war  sein  "Verhängnis,  ein  Peter  in  der  Fremde  der  "Welt 
zu  sein  und  zu  bleiben.  Denn  Hilles  Seele  stammte  auch 
aus  HiJligenlei,  und  seine  Züge  glichen  denen  eines  aller- 
dings verwahrlosten  germanischen  Heiligen.  Das  weiß,  wer 
ihm  tiefer  in  Auge  und  Herz  gesehn.  Darin  lag  vor  allem 
eine  besondere  Spielart  des  ,,  Lasset  die  Kindlein  zu  mir 
kommen!" 

Die  letzten  Jahre  seines  Lebens  wurde  der  wunderliche 
"Vagant  am  blutigsten  gekreuzigt.  Er  fiel  der  literarischen 
Sensationslüsternheit  von  meist  snobistischen  Berliner  Dal- 
bellyrikern  zum  Opfer,  (Dalbelli  hieß  ein  italienisches  "Wein- 
restaurant an  der  Potsdamer  Brücke,  wo  das  „Cabaret  Peter 
Hille"  nächtigte),  und  der  dort  unter  geldersammelnden 
Männlein  und  "Weiblein  aus  seinen  unergründlichen  Papier- 
konglomeraten   vornuschelnde    deutsche    Poet    wirkte    wie 


Atelier  l'eriuis,  Miiinhrn 


cyf^-yupffi^^  . 


VOJ^  DEUTSCTiE7{  BlCJiTUJ^G       10^ 

die  traurige  Karrikatur   einer   fernverlorenen  Urwald-  und 
Weltharfen  weise. 

Ich  lese  Ihnen  das  wie  dunkles  Orgelbrausen  erklingende 
Gedicht: 

WALDESSTIMME. 

Wie  deine  grüngoldnen  Augen  funkeln, 

Wald,  du  mosiger  Träumer! 

Wie  deine  Gedanken  dunkeln. 

Einsiede],  schwer  von  Leben, 

Saftseufzender  Tagesversäumer! 

Über  der  Wipfel-  Hin-  und  Wiederschweben 

Wie's  Atem  holt  und  stärker  wird  und  näher  braust 

Und  weiter  wächst  und  stiller  v/ird  und  saust.  — 

Über  der  Wipfel   Hin-  und  Wiederschweben 

Hoch  droben  steht  ein  ernster  Ton, 

Dem  lauschten  tausend  Jahre  schon 

Und  werden  tausend  Jahre  lauschen. 

Und  immer  dieses  starke,  donnerdunkle  Rauschen. 

Und  dann  die  wie  Mädchenlachen  im  lichten  Frühlings- 
flor vorbeischwebenden  Verse  vom 

MAIENWIND. 

Mutwillige  Mädchenwünsche 

Haben  Flieder 

Niedergebogen, 

Blauen  und  weißen. 

Wie  Tauben  sind  sie  weiter  geflogen. 

Mit  Wangen  wilden  und  heißen. 

Hoch  in  warmen,  schelmischen  Händen 

Haschender  Sonne 

Geschwungene  Strahlen. 

Hellbebende  Wonne 

Weißer  Kleider 

Weht. 

BJiJJTJDES:  UTE  UTET{ATliT\.  BJlTiD  XXXyiJl XXXVIII         W 


lö^  J{JlJiL  BEJMCJ^ELL 

Mutwillige  Mädchen  wünsche 
Haben  sich  Flieder 
Niedergebogen, 
Blauen  und  weißen  — 
Sind  weiter  gezogen  .  .  . 

Die  versonnen- verlorene  Gestalt  Peter  Hilles  verklärte 
sich  mir  nach  seinem  jähen  Ende  in  einem  längeren  Ge- 
dicht, aus  dem  nur  ein  paar  Verse  hier  wiedergegeben  seien: 

,,Bist  doch  ein  Seher  und  Germane 

Uralter  Art,  ein  Runenahne, 

Brausenden  Elementen  vertraut 

Wie  der  Sehnsuchtseele  der  Menschenbraut. 

Feinere  Schwingung  des  Weltalls  zu  fühlen 

Bist  du  begnadet,  wirkender  spülen 

Wellen  des  Ozeans  um  deine  Stirn, 

Wahrer  prägt  sich  die  Welt  in  dein  Hirn, 

Ja,  wir  sahen  dich  manchesmal 

Waldesdämmer  im  Abendstrahl 

Mit  lärmscheuem  Schritt  durchschweifen 

Und  nach  tanzenden  Sonnen  greifen. 

Die  du  mit  rascher  Zauberhand 

In  dein  witterndes  Wort  gebannt. 

Ließest  triefen  auf  v/eiße  Fetzen 

Purpurgoldenes  Lichtergötzen, 

Schreiber  im  Scharlachmantel  du  — 

Und  das  Einhorn  staunte  dir  zu  .  .  . 


Ein  völlig  anderes  Bild  gewährt  die  klarbewußte  lyrische 
Kunst  eines  auch  auf  der  Höhe  seines  Lebens  von  uns 
■  genommenen  Jugendgenossen,  den  ich  einst  als  Abitu- 
rienten mit  ein  paar  andern  Hannoverschen  Dicht,, vettern" 
dem  Kreise  der  ,, Modernen  Dichtercharaktere"  zuführte. 
Otto  Erich  Hartleben  war  ein  fein  ziselierender  Gold- 
schmied des  Verses,  der  mit  überlegener  Ruhe,  Sorgfalt  und 


VOM  DEKTSCTiEJi  DJCJiTUjyJG       lOJ 

Geschmack  seine  Lebensstimmungen  zu  rhythmischen  Bil- 
dern formte.  Hartleben  ging  vom  Platenidentum  aus  und 
hatte  auch  seine  hochrhetorische  Periode,  bis  er  sich  völlig 
auf  seine  im  Innersten  unpathetische  Natur  besann  und  dann 
unbeirrt  mit  einer  ihm  eigentümlichen  Grazie  und  maßvollen 
Sicherheit  der  Geberde  in  dem  Stil  dichtete,  der  just  sein 
'Wesen  harmonisch  ausdrückte.  So  bildete  er  sich  vom  zwan- 
zigsten bis  vierzigsten  Jahre  seines  nur  allzukurzen  Lebens 
zum  in  sich  vollendeten  lyrischen  Künstler  aus  und  konnte 
noch  die  reifen,  goldigen  Früchte  von  den  dunkelüppigen 
Büschen  pflücken,  die  seine  schönheitsfreudige  Seele  als 
Lohn  erträumte.  Auch  Hartleben  war  einer,  der  erst 
hoffnungskühn  mit  großen  sehnsüchtigen  Augen  der  Zu- 
kunft Sternenwacht  hielt  und  in  der  schweren  Nacht,  die 
für  gerechtigkeitliebende  Geister  auf  Volk  und  Zeit  lastete, 
seinen  Schwertgesang  anstimmte.  Aber  auch  der  Zweifel 
ward  früh  in  ihm  lebendig,  und  der  glühend  enthusiastische 
Fackelschwinger  ließ  nach  und  nach  die  müde  Hand  herab- 
sinken. Er  fühlte  so  bald  aufs  schmei'zlichste  den  lähmend 
mißtrauischen  Blick  gerade  jener  auf  sich  gerichtet,  denen 
er  rückhaltlos  sein  Herz,  sein  Lied  und  ein  gut  Stück 
Leben  in  die  Urne  gelegt  hatte,  und  sein  Glauben,  die  Masse 
schon  heute  zu  edler  Freiheit  zu  wecken,  wurde  schwach 
und  schwächer.  Die  ,, Mücken  in  dem  roten  Glanz,  die 
Eintagsfliegen,  die  sich  flatternd  in  den  Schein  gedrängt", 
in  dürrer  Prosa  ausgedrückt  die  kleinen  journalistischen 
Gernegroße  der  Partei,  der  er  sich  —  als  kgl.  preußischer 
Referendar  von  damals!  —  angeschlossen,  trugen  das  übrige 
dazu  bei,  seine  jugendwarme  Begeisterung  in  wehmütigen 
Skeptizismus  abzukühlen.  Seine  Verehrung  für  die  echt 
revolutionäre  Persönlichkeit  blieb  sich  natürlich  stets  gleich, 
und  man  mußte  schon  ein  Scheuklappentierchen  oder  Gift- 
krötlein sein,  um  einen  Menschen  wie  Hartleben  zum 
„Renegaten"  stempeln  zu  wollen,  wie  tatsächlich  von  ge- 
wissen Seiten  versucht  wurde. 

„"Wir  sind  die  Opfer  einer  fernen  schonen  Zeit",  so  heißt 
es  in  einem  damaligen  Gedicht, 

H* 


TÖ8  J(J{JiL  7iEJ\JCJ{ELL 

,, —  —  O  mögen  goldne  Ähren  einst 

Wogend  verhüllen  dunkler  Erde  vergessenen  Grund! 

Mögen  der  rote  Mohn  und  der  Cyane  Blau 

Als  Edelsteine  leuchten  aus  dem  Goldgeschmeid! 

Dann  flattern  die  Falter  freudig  in  der  Sonne  Strahl, 

Und  Bienen  summen  früchtetriefend  überall." 

Und  schon  aus  derselben  Zeit  stammt  das  schöne  Gleich- 
nis von  der  Taube,  zu  dessen  vollem  Lebensverstehen  in 
die  Seele  des  Dichters  hinein  die  eben  gesprochenen 
Worte  ein  wenig  vorbereiten  wollten,  unbeschadet  seiner 
unmittelbaren  Bildklarheit,  die  selbstverständlich  keiner 
weiteren  ,, Interpretation"  bedarf. 

DIE  TAUBE. 
Es  gleicht  das  Herz  der  Taube,  die  entsendet  ward, 
Zu  spähen,  ob  die  Wasser  sich  verlaufen  schon.  — 

In  mutiger  Jugendfreude  flatterte  sie  davon 

Und  traute:  eine  Welt  entsteige  dieser  Flut. 

In  jedem  tiefen  Wogenschlage  wähnte  sie 

Zu  schauen  schon  die  langersehnte  Erdenflur! 

Der  milde,  volle  Mond,  der  Sonne  reiches  Gold, 

Mit  Hoffnung  färbten  beide  sie  der  Woge  Schaum.  — 

Doch  immer  wieder  glättete  der  Spiegel  sich 

Und  sah  empor,  ein  stumpfes,  blödes  Auge  stets; 

Die  Taube  zitterte  vor  diesem  kalten  Blick, 

Und  schlaffer  stets  und  müder  ward  der  Fittiche  Schwung. 

Der  Regen  troff  vom  sonnenblinden  Firmament, 

Und  höher  stieg  das  unverändert  dunkle  Meer. 

Und  höher  stieg  es,  bis  der  Flügel   Kraft  erlahmt. 

Der  letzte  Hoffnungsblick  im  brechenden  Auge  starb: 

Und  höher  stieg  es  noch,  als,  eine  Beute  schon, 

Der  tote  Leib  der  Taube  auf  den  Wassern  trieb. 

In  Hartlebens  Liebesgedichten  weht  meistens  der  Hauch 
einer  anmutig- schelmischen  Sinnenfreude,  die  frei  von 
„lyrischem  Dusel"    der  natürlichen  Lieblichkeit  und  Leib- 


ÖiU)  l\l  d,^  7  t '  ^'^^  <^'^Vai^^ 


OTTO  ERICH  HARTLEBEN. 


VOJM  DEUTSC7iE7{  DICH  TUM G       IOC) 

lichkeit  des  Weibwesens  ihr  holdes  Recht  gibt,  ohne  je 
auf  geringe  Art  mit  versteckter  Lüsternheit  hinten  herum 
zu  reizen.  Mit  einer  aus  Wahlverwandtschaft  zur  Art  des 
liebedichtenden  Goethe  neigenden,  wie  selbstvcrständh'chen 
Aufrichtigkeit,  die  wohltut  und  entzückt,  gibt  er  sich  fröh- 
lich und  munter,  wie  er  leibt  und  lebt. 

KINDERKÖPFCHEN. 
In  scheuer  Lust  —  doch  nimmermehr  verschämt  — 
Hobst  du  die  runden,  v/eißen  Arme  auf 
Und  dehntest  sie  empor  und  suchtest  blinzelnd 
Dein  Bild  im  Spiegel  .  .  . 

Ich  aber  stand  entfesselt  hinter  dir 

Und  sah  in  deinen  vollen  blanken  Schultern 

Die  beiden  Grübchen  .  .  . 

Da  beugt  ich  mich  auf  diesen  Nacken  nieder 
Zum  Kuß  .  ,  . 

Es  ward  mir  klar,  wie  du  den  Göttern  still 
Vertraut,  gar  innig  wohl  befreundet  bist. 

Wenn  sie  dir  nahen,  tupfen  sie  dir  leise 
Mit  leichtem  Finger  auf  dies  schwellende  Rund  — 
Und  also  lieblich,  Menschensinn  verwirrend, 
Blieb  ihres  Grußes  Spur  in  deinem  Fleisch. 

Welch  tiefen,  schlichtergreifenden  Herzenstones  dieser 
ungenierte  Spötter  und  lachende  Sackermenter  der  deut- 
schen Literatur  fähig  war,  verraten  Gedichte  wie 

IM    LANDE    DER   TORHEIT. 

Im  Lande  der  Torheit  küßt  ich  die  Hände  schöner  Fraun, 
Sie  waren  schmeichelnd  und  weiß,   mit   blitzenden  Ringen 

geschmückt. 
Ich  lachte   wohl    auch  beim  lieblich   klingenden,   lockenden 

Wort, 


HO  J{jn{Z  HEJMC\ELL 

Und  eitel  genoß  ich  des  eigenen  spielenden  Übermuts. 
Doch  immer  wieder  irrte  mein  Blick  ins  Leere  ab: 
Ich  sah  und  fühlte  die  Hände  meiner  lieben  Frau, 
Die  weich  und  still   in  ruhender  Güte  sich  nach  mir 
Hersehnen  aus  der  Ferne  —  deine  Hände,  die 
Allein  die  "Wirrnis  dumpfen  Wollens  je  gebannt  — 
Und  ich  gedachte  jener  Stunde,  da  mir  einst 
Im  Tode  diese  Hände  stummen  Trost  verleihn. 

Die  nach  dem  Sinn  gewählten  Gedichte  sind,  wie  Sie 
gemerkt  haben  werden,  in  einer  ähnlichen  für  Hartleben 
charakteristischen  Form  gehalten:  gelassen  schwebende, 
reimlose  Streckzeilen  mit  fein  abgestimmter  rhythmischer 
Gliederung,  die  sich  aus  der  ganz  natürlich  hingleitenden 
Wortfolge  wie  von  selbst  zu  ergeben  scheint. 

Ein  apartes  Geschenk  hat  Otto  Erich  lyrischen  Fein- 
schmeckern gemacht  mit  seiner  kongenialen  Verdeutschung 
des  Pierrot  Lunaire  von  dem  belgischen  Parnassien 
Albert  Giraud.  Leider  war  der  feine  und  liebenswürdige 
Originalpoet  nicht  in  der  Lage,  selbst  im  Deutschen  nachzu- 
spüren, welch  entzückenden  Dichterdolmetsch  er  da  eigent- 
lich gefunden,  freute  sich  aber  umsomehr,  als  ich  ihm  ein- 
mal in  ^Brüssel  die  seltenen  Vorzüge  der  Hartlebenschen 
freien  Übersetzung  rühmte.  Pierrot  Lunaire  ist  ein  Buch 
phantastischer  Mondstrahllyrik  voll  grotesken  Humors  und 
bald  drolliger,  bald  schauerlicher  Gefühlsbizarrerieen.  Doch 
sind  auch  reine,  zarte  Stimmungsbilder  darunter.  Jedes 
der  durchweg  dreistrophigen  und  vermittelst  bestimmter 
Verswiederkehr  zu  geschlossenster  Architektonik  geformten 
Gedichte  ist  ein  Bild  für  sich,  meist  in  seltsam  scharfen 
Grundfarben  mit  gespenstisch  zitternder  Beleuchtung  aus- 
geführt. Hartlebens  geschmackvolle,  dem  Gewohnlichen 
ausweichende  sprachliche  Technik  bewährt  sich  hier  in 
einschmeichelnder  "Weise.  Einmal  wird  der  Mondesstrahl 
zum  Fiedelbogen  bei  einer  im  offenen  Gehäuse  ruhenden 
Geige: 


VOJ^  DEUTSCTJETj  DICHTUJ^G       III 

VIOLON  DE  LUNE. 

L'äme  du  violon  tremblant, 
Plein  de  silence  et  d'harmonie, 
Reve  dans  sa  boite  vernie 
Un  reve  languide  et  troublant. 

Qui  donc  fera  d'un  bras  dolent 
Vibrer  dans  la  nuit  infinie 
L'äme  du  violon  tremblant, 
Plein  de  silence  et  d'harmonie? 

La  Lune,  d'un  rais  mince  et  lent, 
Avec  des  douceurs  d'agonie, 
Caresse  de  son  ironie, 
Comme  un  lumineux  archet  blanc, 
L'äme  du  violon  tremblant. 

DIE  VIOLINE. 

Der  Violine  zarte  Seele, 
Voll  schweigend  reger  Harmonien, 
Träumt  nun  im  offenen  Gehäuse 
Nachzitternder  Erregung  Träume. 

Wer  wird  aus  solcher  Ruh  sie  rühren 
Aufs  neu  mit  schmerzensmächt'gem  Arm, 
Der  Violine  zarte  Seele 
Voll  schweigend  reger  Harmonien? 

Ein  feiner  zager  Strahl  des  Mondes, 
Mit  letzten  Schmerzen  süßer  Qual 
Ironisch  tändelnd  —  reizt  und  reget 
Leis  mit  dem  silberhellen  Bogen 
Der  Violine  zarte  Seele. 

In  Hartlebens  Gedichten  steht  ein  kleines  poetisches 
Genrebild  von  einem  nackten  Kinde,  das  sich  mit  einem 
„defekten  Globus-'  auf  einem  weißen  Tierfell  kugelt,  jauch- 
zend mit  den  Beinen  strampelt  und  des  Spieles  gar  nicht 
müde  wird: 


IJ2 J(J!J{L  HEMCJ(ELL 

„Es  ist  ganz  außer  sich  vor  heller  Freude, 

Daß  Gott  der  Herr  die  Welt  so  rund  geschaffen  — 

Wie  herrlich  läßt  mit  dieser  Welt  sich  spielen!" 

Er,  Otto  Erich,  wahrte  sich  immer  diesen  kindlich  freien 
Spieltrieb  des  Dichters,  der  schalkisch  ungezogen,  feind 
jeder  Pedanterie,  seiner  eigenen  Würde  naiv  am  Zöpfchen 
zieht.  Wer  ein  lachender  Meister  im  Spiel  ist,  darf  getrost 
Welt  und  Wellen,  ja  auch  dem  Photographen  seine  nackte, 
reingebadete  Brust  bieten  —  nur  der  ewig  korrekte,  eng- 
brüstige Sittling  wird  einen  freien  Sohn  der  Natur  darum 
der  Unanständigkeit  zeihen.  Wir  haben  alle  Ursache,  diesen 
selbstüberlegenen  Zug,  wo  immer  wir  ihn  finden,  zu  hegen 
und  zu  liebkosen  in  deutscher  Kunst  und  Dichtung,  denn 
wir  Dichtersöhne  Teuts  sind  im  großen  ganzen  schrecklich 
ernsthafte  Leute,  die  sich  selber  am  liebsten  vor  feierlicher 
Würde  umbrächten.  Ich  spreche  natürlich  nur  von  kosmisch 
und  weitgeistig  veranlagten  Naturen,  die  überhaupt  vom 
„Spiel  mit  der  W^elt"  eine  Ahnung  haben,  —  nicht  etwa 
von  lyrischen  Komikern  mit  dem  schiefen  Zylinder  auf 
dem  Kopf,  die  sich  schweißtriefend  eine  witzig  anzügliche 
Verspointe  aus  der  steifschmierigen  Hemdenbrust  ziehen 
respektive  aus  den  Fingern  saugen.  Solche  selbstherrliche 
und  ihr  Selbst  unbekümmert  ausspielende  Menschenskinder 
und  Poeten  meine  ich,  die  über  ihre  Haustür  auch  das 
Motto  setzen  könnten: 

,,]ch  wohne  in  meinem  eignen  Haus, 
Hab'  niemandem  nie  nichts  nachgemacht 
Und  —  lachte  noch  jeden  Meister  aus, 
Der  nicht  sich  selber  ausgelacht." 


Der  das  nämlich  im  Epigramm,  als  Motto  zur  neuen  Aus- 
gabe der  ,, Fröhlichen  Wissenschaft^',  tat,  war  kein  an- 
derer als  Friedrich  Nietzsche,  der  große  Ratten- 
fänger von  Naumburg,  der  die  sehnsüchtigen  Kinder  der  Zeit 
mit  dem  verführerisch-berückenden  Spiel  seiner  philosophi- 


VOJ^  DEUTSCNETj  -PlCTJTyJMG        11^ 

sehen  Tanzflötc  in  den  dunkeln  Bauch  des  ungeheuren  Zu- 
kunftsberges lockte.  Der  tanzlustige  Zauberpfeifer  und 
Denkerheld  ist  ein  genialer  Lyriker  nicht  nur  in  der  kunst- 
voll gegliederten  Wiederholungsdithyrambik  und  in  dem  hym- 
nischen Stilparallelismus  seines  „Also  sprach  Zarathustra", 
wo  sich  grandioser  W^ogenschlag  mit  graziösem  Schaumge- 
kräusel  der  Sprache  vermählt,  sondern  auch  in  den  Reim- 
strophen und  freien  Rhythmen  seiner  eigentlichen  „Gedichte 
und  Sprüche".  Hören  Sie  aus  dem  „Zarathustra"  nur  noch 
einmal  das  sechste  und  siebente  Stück  der  ,, Sieben  Siegel" 
(oder  des  Ja-  und  Amen-Liedes): 

„Wenn  meine  Tugend  eines  Tänzers  Tugend  ist,  und 
ich  oft  mit  beiden  Füßen  in  gold-smaragdenes  Entzücken 
sprang: 

Wenn  meine  Bosheit  eine  lachende  Bosheit  ist,  heimisch 
unter  Rosenhängen  und  Lilienhecken: 

—  im  Lachen  nämlich  ist  alles  Böse  beieinander,  aber 
heilig- und  losgesprochen  durch  seine  eigene  Seligkeit:  — 

Und  wenn  das  mein  A  und  O  ist,  daß  alles  Schwere 
leicht,  aller  Leib  Tänzer,  aller  Geist  Vogel  werde:  und 
wahrlich,  Das  ist  mein  A  und  Ol  — 

Oh  wie  sollte  ich  nicht  nach  der  Ewigkeit  brünstig 
sein  und  nach  dem  hochzeitlichen  Ring  der  Ringe  — 
dem  Ring  der  Wiederkunft! 

Nie  noch  fand  ich  das  Weib,  von  dem  ich  Kinder 
mochte,  es  sei  denn  dieses  Weib,  das  ich  liebe:  denn 
ich  liebe  dich,  oh  Ewigkeit! 

Denn  ich  liebe  dich,  oh  Ewigkeit! 

Wenn  ich  je  stille  Himmel  über  mir  ausspannte  und 
mit  eignen  Flügeln  in  eigne  Himmel  flog: 

Wenn  ich  spielend  in  tiefen  Lichtfernen  schwamm,  und 
meiner  Freiheit  Vogel -Weisheit  kam:  — 

—  so  aber  spricht  Vogel -Weisheit:  „Siehe,  es  gibt 
kein  Oben,  kein  Unten!  Wirf  dich  umher,  hinaus,  zu- 
rück, du  Leichter!     Singe,  sprich  nicht  mehr! 

—  „sind   alle  Worte   nicht   für  die  Schwere   gemacht? 


IL^ J(JlJiL  JiEJ\lCJ{EL'L 

Lügen  dem  Leichten  nicht  alle  Worte?  Singe,  sprich 
nicht  mehr!"  — 

Oh  wie  sollte  ich  nicht  nach  der  Ewigkeit  brünstig 
sein  und  nach  dem  hochzeitlichen  Ring  der  Ringe  — 
dem  Ring  der  Wiederkunft? 

Nie  noch  fand  ich  das  Weib,  von  dem  ich  Kinder 
mochte,  es  sei  denn  dieses  Weib,  das  ich  liebe:  denn  ich 
liebe  dich,  oh  Ewigkeit I 

Denn  ich  liebe  dich,  oh  Ewigkeit!" 

Bei  einem  so  von  feuchtem  Geist  phosphoreszierenden, 
sich  selbst  immerfort  auf  der  Lauer  liegenden  Dichter- 
denker wie  Friedrich  Nietzsche  ist  es  natürlich  ungemein 
reizvoll,  auch  seinen  gelegentlichen  Apercus  über  Poesie, 
ihr  Verhältnis  zur  Prosa  und  sein  eigenes  Verhältnis  zum 
Dichten  ein  wenig  zu  lauschen.  So  finden  sich  in  der 
,, Fröhlichen  Wissenschaft"  folgende  feinen,  bezeichnenden 
Bemerkungen  darüber.  Sie  sind  gewiß  in  diesen  Ausfüh- 
rungen besonders  am  Platze,  wo  vielfach  der  Lyrik  solcher 
Geister  gedacht  ist,  die  außerdem  eine  im  vorliegenden 
Zusammenhange  einfach  als  bekannt  vorausgesetzte  künst- 
lerische Prosa  pflegten.  —  „Man  beachte  doch,  daß  die 
großen  Meister  der  Prosa  fast  immer  auch  Dichter  ge- 
wesen sind,  sei  es  öffentlich  oder  auch  nur  im  Geheimen 
und  für  das  „Kämmerlein",  und  fürwahr,  man  schreibt 
nur  im  Angesichte  der  Poesie  gute  Prosa!  Denn 
diese  ist  ein  ununterbrochener  artiger  Krieg  mit  der  Poesie; 
alle  ihre  Reize  bestehen  darin,  daß  beständig  der  Poesie 
ausgewichen  oder  ihr  widersprochen  wird:  jedes  Abstrac- 
tum  will  als  Schalkheit  gegen  diese  und  wie  mit  spöttischer 
Stimme  vorgetragen  sein;  jede  Trockenheit  und  Kühle  soll 
die  liebliche  Göttin  in  eine  liebliche  Verzweiflung  bringen; 
oft  gibt  es  Annäherungen,  Versöhnungen  des  Augenblicks 
und  dann  ein  plötzliches  Zurückspringen  und  Auslachen; 
oft  wird  der  Vorhang  aufgezogen  und  grelles  Licht  herein- 
gelassen, während  gerade  die  Göttin  ihre  Dämmerungen 
und  dumpfen  Farben  genießt;    oft  wird  ihr  das  Wort   aus 


VOJ^  DEyrSCTfEJl  DJCTiTUMG        11^ 

dem  Munde  genommen  und  nach  einer  Melodie  abgesun- 
gen, bei  der  sie  die  feinen  Hände  vor  die  feinen  Ohrchen 
hält  —  und  so  gibt  es  tausend  Vergnügungen  des  Krieges, 
die  Niederlagen  mitgezählt,  von  denen  die  Unpoetischen,  die 
sogenannten  Prosa -Menschen,  gar  nichts  wissen:  —  diese 
schreiben  und  sprechen  denn  auch  nur  schlechte  Prosa! .. ." 
In  Nietzsches  Gedichten  zittert  und  zuckt  natürlich  die 
gleiche  in  Tiefenschmerz  und  Höhenlust  einsame  Seele  wie 
in  seinen  Prosawerken,  nur  vom  feinsten,  verräterischsten 
Stimmungsspiegel  aufgefangen  und  umrahmt.  Am  ergrei- 
fendsten, hinreißendsten  und  entzückendsten  ist  da  in  ein 
paar  \on  heimlicher  Musik  erfüllte  Verse  gehaucht  das 
ganze  Entfremdungs-  und  W^üstenweh  seines  Lebens,  Ver- 
lust und  Sehnsucht  nach  Freunden,  schwangere  und  melan- 
cholische Sommermittagsschwüle,  Nachtgewitter  und  eisige 
Gletscherkälte  auf  Gebirgeshöhen,  fegende  Mistral-  und 
Freiheitswonnen  an  provencalischen  Felsgestaden,  farben- 
trunkenes, abendliches  Gondelschaukeln  und  vormittägliches 
Taubenschwärmen  unter  dem  seidenweichen  H  immel  Venedigs! 

VENEDIG. 
An  der  Brücke  stand 
Jüngst  ich  in  brauner  Nacht. 
Fernher  kam  Gesang: 
Goldener  Tropfen  quoll's 
Über  die  zitternde  Fläche  weg. 
Gondeln,  Lichter,  Musik  — 
Trunken  schwamm's  in  die  Dämm'rung  hinaus  .  . . 

Meine  Seele,  ein  Saitenspiel, 
Sang  sich,  unsichtbar  berührt, 
Heimlich  ein  Gondellied  dazu, 
Zitternd  vor  bunter  Seligkeit 
Hörte  jemand  ihr  zu?  .  .  . 

Dionysos,  der  lebenstrunkene  Gottessohn  des  blauäugigen 
Himmels-Zeus  und  der  blitzgetöteten  Semele,  möge  den 
Dichter  umkränzen  für  sein  schwellendes  Tanzlied: 


Il6  J(J17{L  TiEMCJ^ELL 

AN  DEN  MISTRAL. 

(Ein  Tanzlied.) 

Mistral -"Wind,  du  Wolken-Jäger, 
Trübsal-Mörder,  Himmels-Feger, 
Brausender,  wie  lieb'  ich  dich! 
Sind  wir  Zwei  nicht  Eines  Schoßes 
Erstlingsgabe,  Eines  Loses 
Vorbestimmte  ewiglich? 

Hier  auf  glatten  Felsenwegen 
Lauf  ich  tanzend  dir  entgegen, 
Tanzend,  wie  du  pfeifst  und  singst: 
Der  du  ohne  Schiff  und  Ruder 
Als  der  Freiheit  frei'ster  Bruder 
Über  wilde  Meere  springst. 

Kaum  erwacht,  hört'  ich  dein  Rufen, 
Stürmte  zu  den  Felsenstufen, 
Hin  zur  gelben  Wand  am  Meer. 
Heil!  Da  kamst  du  schon  gleich  hellen 
Diamant'nen  Stromesschnellen 
Sieghaft  von  den  Bergen  her. 

Auf  den  ebnen  Himmels-Tennen 
Sah  ich  deine  Rosse  rennen, 
Sah  den  Wagen,  der  dich  trägt. 
Sah  die  Hand  dir  selber  zücken, 
"Wenn  sie  auf  der  Rosse  Rücken 
Blitzesgleich  die  Geißel  schlägt,  — 

Sah  dich  aus  dem  Wagen  springen. 
Schneller  dich  hinabzuschwingen. 
Sah  dich  wie  zum  Pfeil  verkürzt 
Senkrecht  in  die  Tiefe  stoßen,  — 
Wie  ein  Goldstrahl  durch  die  Rosen 
Erster  Morgenröten  stürzt. 


FRIEDRICH  NIETZSCHE 

Nach  dem  Gemälde  von  Curt  Stoeving. 


VOJy  DEUTSCHETi  DlCJiTliMG         IIJ 

Tanze  nun  auf  tausend  Rücken, 
Wellen- Rücken,  Wellen -Tücken  — 
Heil,  wer  neue  Tänze  schafft! 
Tanzen  wir  in  tausend  "Weisen, 
Frei  —  sei  uns're  Kunst  geheißen. 
Fröhlich  —  uns're  Wissenschaft! 

Raffen  wir  von  jeder  Blume 
Eine  Blüte  uns  zunn  Ruhme 
Und  zwei   Blätter  noch  zum  Kranz! 
Tanzen  wir  gleich  Troubadouren 
Zwischen  Heiligen  und  Huren, 
Zwischen  Gott  und  Welt  den  Tanz! 

Wer  nicht  tanzen  kann  mit  Winden, 
Wer  sich  wickeln  muss  mit  Binden, 
Angebunden,  Krüppel-Greis, 
Wer  da  gleicht  den  Heuchel-Hänsen, 
Ehren-Tölpeln,  Tugend-Gänsen, 
Fort  aus  unser'm  Paradeis! 

Wirbeln  wir  den  Staub  der  Straßen 
Allen  Kranken  in  die  Nasen, 
Scheuchen  wir  die  Kranken-Brut! 
Lösen  wir  die  ganze  Küste 
Von  dem  Odem  dürrer  Brüste', 
Von  den  Augen  ohne  Mut! 

Jagen  wir  die  Himmels -Trüber, 

Welten-Schvv'ärzer,  Wolken-Schieber, 

Hellen  wir  das  Himmelreich! 

Brausen  wir  . . .  oh,  aller  freien 

Geister  Geist,  mit  dir  zu  zweien 

Braust  mein  Glück  dem  Sturme  gleich.   — 

—  Und  daß  ewig  das  Gedächtnis 
Solchen  Glücks,  nimm  sein  Vermächtnis, 
Nimm  den  Kranz   hier  mit  hinauf! 


Il8  \jn{L  7iEJS}CJ{ELL 

Wirf  ihn  höher,  ferner,  weiter. 
Stürm'  empor  die  Himmelsleiter, 
Häng'  ihn  —  an  den  Sternen  auf! 

Ein    furchtbares  Frösteln   durchschauert,    nur    von    hel- 
discher Zurückhaltung  beherrscht,  das  Gedicht: 

VEREINSAMT. 

Die  Krähen  schrein 

Und  ziehen  schwirren  Flugs  zur  Stadt: 

Bald  wird  es  schnein  — 

Wohl  dem,  der  jetzt  noch  —   Heimat  hat! 

Nun  stehst  du  starr. 

Schaust  rückwärts,  ach!  wie  lange  schon! 

Was  bist  du  Narr 

Vor  Winters  in  die  Welt  entflohn? 

Die  Welt  —  ein  Tor 

Zu  tausend  Wüsten  stumm  und  kalt! 

Wer  Das  verlor. 

Was  Du  verlorst,  macht  nirgends  Halt. 

Nun  stehst  du  bleich. 

Zur  Winter- Wanderschaft  verflucht. 

Dem   Rauche  gleich. 

Der  stets  nach  kältern  Himmeln  sucht. 

Flieg,  Vogel,  schnarr 

Dein  Lied  im  Wüsten- Vogel-Ton!  — 

Versteck,  du  Narr, 

Dein  blutend  Herz  in  Eis  und  Hohn! 

Die  Krähen  schrein 

Und  ziehen  schwirren   Flugs  zur  Stadt: 

Bald  wird  es  schnein, 

Weh  dem.  der  keine  Heimat  hat! 

Nach  solchen  Gedichten  versteht  man  doppelt  und  drei- 
fach die  persönlichen  Bekenntnisworte,  die  Nietzsche  kurz 


VOJSl  DEUTSCüEJi  DJCHTliJMG       HC) 

vor  seiner  Erkrankung  speziell  über  den  „  Zarathustra " 
schrieb  und  die  Frau  Elisabeth  Förster -Nietzsche  in  der 
vortrefflichen  Einleitung  zu  den  Gedichten  ihres  großen, 
unglücklichen  Bruders  mitteilt:  „Wenn  ich  einen  Blick  in 
meinen  Zarathustra  geworfen  habe,  gehe  ich  eine  halbe 
Stunde  im  Zimmer  auf  und  ab,  unfähig,  über  einen  uner- 
träglichen Krampf  von  Schluchzen  Herr  zu  werden."  Ein- 
mal mußte  die  heroische  Anspannung  sich  in  den  Jammer 
des  elenden  hilflosen  Menschenkindes  auflösen  .  .  .  Aber 
Nietzsche  bleibt  für  uns  der  schöpferische  Nietzsche:  ein 
Taucher  in  Meeresgründen  und  Korallenwäldern  der  Seele, 
ein  Fechter  auf  der  Arena  des  Ge  istes,  ein  feuriger  Renner 
auf  den  Bahnen  olympischen  Denker-  und  Dichterspiels. 
Mit  einer  Abwehr  seiner  übrigens  auch  aus  äußerster 
Selbstbewahrung  erwachsenen,  im  Gesamtkomplex  Nietzsche 
wohl  verständlichen,  aber  nichtsdestoweniger  antithetisch 
paradoxen  Lehre  vom  Mitleid  richtete  ich  nach  seiner  un- 
heilbaren Erkrankung  an  den  Dichterphilosophen  diese 
Verse : 

AN    FRIEDRICH    NIETZSCHE. 

Nietzsche,  du  Dichter  unter  den  Weisen, 
Großer  Einsamer  unter  den  Winzigen, 
Wortgewaltiger  unter  den  Schwätzern!  .  .  . 
Deine  Lehre  vom  Mitleid  klag  ich. 
Mitleid  kann  die  Tugend  der  Schv^achen, 
Leidenschaft  kann  es  der  Starken  sein. 
Das  heroische  Mitleid  preis  ich. 
Seine  Taten  und  seinen  Adel, 
Deine  Lehre  sät  Irrtums  Saat. 
O  du  Tanzender  unter  den  Denkern, 
Denkerkünstler  unter  den  Plumpfüßern 
Schwerhinkeuchender  Philosophie ! 
Der  du  leuchtende  Lyriktafeln 
Mit  erhabenen  Rhythmen  beschrieben, 
Wortblitzschwingender,  lachender  Held! 
Schlug  der  fittich-düstere  Wahnsinn 


120 J{JIJ{L  ?iEJ\CJ{ELL 

Schaueilich  schattend  über  dein  Haupt? 

Armer  König,  du  birgst  an  der  Mutter 

Treuer  Brust  dein  zerrüttetes  Haupt?  .  .  . 

Siehe,  ich  sah  einen  kranken  Löwen, 

Der  an  speerscharfen  Stangen  des  Kerkers 

Brüllend  zerrissen  sein  herrliches  Haupt  .  .  . 

Röchelnd  lag  er  im  Dämmer  des  Wahns  .  .  . 

Uberlöwen  warteten  fern. 

Aber  die  Unterläuse  der  Schreiber 

Wimmelten  juckend  in  seinem  goldnen 

Majestätisch-mähnigen  Fell  .  .  . 

Wandle,  wandle  zu  Oberwelten, 

Wage  sehnenspielend  ins  Licht 

Deiner  Ewigkeiten  den  leidlosen  Sprung! 

Ungefähr  zur  selben  Zeit,  als  der  fünfundzwanzigjährige 
Nietzsche  in  Basel  Professor  wurde,  muß  es  dort  ge- 
schehen sein,  daß  sicheine  junge,  feineSchweizerDich- 
terraupe  im  Dunkeln  von  den  dürren  Ästen  der  Theologie  zu 
saftigeren  Lebensblättern  fortbev/egte,  aus  der  sich  freilich 
erst  später  einer  der  seltensten  Schmetterlinge  der  neueren 
deutschen  Poesie  entpuppen  sollte. 

Der  aus  Liestal  bei  Basel  gebürtige  Dichter  Carl  Spit- 
teler  hat  auch  sonst  mit  Nietzsche  etliche  Berührungs- 
punkte, aber  wenn  sie  auch  nur  ein  halbes  Jahr  Geburtstags- 
abstand aufweisen,  so  sind  sie  doch  gerade  in  ihrer  „Vitali- 
tät", in  der  Linie  und  dem  ,, Gesetz,  nach  dem  sie  ange- 
treten" unendlich  verschieden. 

Spittelers  wegen  kann  man  nur  sagen:  glücklicherweise. 
Er  hat  sich  im  geheimen  Gefühl  seiner  gesunden  Natur 
Zeit  gelassen  und  gleicht  darin  anderen  kernfesten  Dich- 
tern schweizerischer  Herkunft.  Ich  spreche  Ihnen  in  die- 
sem selbstgesteckten  Rahmen  ausschließlich  von  dem  Lyriker 
und  balladenartigen  Gleichnisdichter,  nicht  von  dem  Epiker 
des  „Olympischen  Frühlings",  noch  von  dem  Prosaerzähler, 
der    ,, Gustav",    „Friedli    der    Kolderi"    und    „Conrad    der 


VOJ^  BEUTSCBETi  DJCHTUMG       121 

Leutenant"  geschrieben  hat,  oder  von  dem  Essayisten  der 
„Lachenden  "Wahrheiten",  die  natürlich  besonders  zu  „be- 
handeln" wären,  wie  die  scheußliche  Rezensenten-  und 
Literaturhistorikerphrase  lautet.  Einen  Dichter  ,, behandeln" 
—  es  ist  zu  putzig.  Als  ob  sich  solch  nichtswürdig  un- 
berechenbare Größen  je  „behandeln"  ließen  im  Leben 
und  in  der  Kunst,  wie  die  Köchin  ein  Huhn  rupft,  in 
die  Pfanne  tut  und  je  nachdem  mit  Sauce  oder  Reis  zu- 
richtet -  .  . 

Carl  Spittelers  Gedichte  verraten  übrigens  ausgeprägt 
den  epischen  Grundzug  seines  "Wesens,  er  gibt  zahlreiche 
Erzählungen  äußerer  Lebensvorgänge  und  Fabulierungen, 
die  nur  die  wertvolle  Eigentümlichkeit  besitzen,  daß  sie 
die  Verlebendigung  irgend  einer  tieferen,  bedeutsamen  oder 
merkwürdigen  Wahrheit  bilden.  Einer  "Wahrheit,  die  schon 
durch  ihre  heraushebende  "Wahl  fast  immer  den  Dichter  in 
seiner  "Weltanschauung  scharf  charakterisiert,  was  in  diesem 
Fall  so  viel  bedeutet,  daß  es  kaum  je  eine  wie  Kiesel  vom 
gemeinen  Platze  aufgelesene  "Wahrheit  sein  kann.  Denn 
Spitteler  ist  ein  Dichter  und  Mensch,  der  in  jeder  Hin- 
sicht seine  eigenen  Wege  geht,  und  dessen  "Wege  zu  ein- 
sam-freien, oft  ganz  entlegenen,  eine  ungeahnte  Tiefenschau 
erschließenden  Höhen  führen.  Ein  Mensch  und  Dichter, 
der  auf  Grund  seiner  starken,  reichen  und  —  hier  paßt 
das  in  unserer  vieles  verpöbelnden  Zeit  leider  grauenhaft 
mißbrauchte  und  schier  heruntergekommene  Wort  einmal  — 
vornehmen  Persönlichkeit  wie  auch  auf  Grund  seiner  außer- 
gewöhnlich selbständigen  Kunstweise  mit  vollem  Recht  be- 
anspruchen kann,  daß  man  seinen  "Wesenszügen,  so  wie  sie 
sind,  liebevoll  nachgeht  und  seiner  dichterischen  Ausdrucks- 
art, die  ein  Phänomen  für  sich  ist,  immer  näher  zu  kommen 
sucht,  bis  man  sie  als  in  ihrer  Art  schön  und  notwendig, 
in  ihrer  Sphäre  selbstverständlich  zu  erkennen  und  zu  ge- 
nießen überhaupt  fähig  ist. 

Als  ich  Spittelers  Gedichte  vor  Jahren  zuerst  kennen 
lernte,  tat  mir  ein  in  manchen  Versen  angesammeltes  Maß 
ingrimmiger  Menschenabschätzung  so  ätzend  weh,  daß  ich 

BTiJIJVDES:  DIE  UTET{ATltTi.  BJlTiD  XXXyill  XXXVIII  1 


122  \AT^  ?tEJ^C\BLL 

die  Bücher  oft  aus  der  Hand  legte,  wahrscheinlich  um 
mich  aus  den  weichen  Liebkosungen  meiner  zweifelfreien 
Menschenliebe  nicht  so  unsanft  aufschrecken  zu  lassen. 
Heute  lege  ich  sie  deshalb  nicht  mehr  aus  der  Hand  .  .  . 
Anfänglich  störte  mich  auch  eine  gewisse  Schnörkellust 
und  Barockheit  des  Stils  an  verschiedenen  Stellen  emp- 
findlich, während  sich  diese  Eigentümlichkeiten  heute  schon 
für  mich  in  seinem  ganzen  lyrischen  Kunstbau  „enharmo- 
nisch"  verschlingen.  Eine  Reihe  unbegreiflicher  Geschmack- 
losigkeiten und  Banalitäten,  die  in  die  großartigsten  Par- 
tien verschiedener  längerer  ,, Balladen"  (aus  dem  ersten  Teil) 
verfahren  sind,  kann  ich  aber  auch  jetzt  noch  nicht  schön 
oder  neu  finden.  Das  nebenbei.  Aber  sonst  —  im  Ganzen 
—  ein  poetisches  Phänomen  originellster  und  bedeutsamster 
Mischung.  Carl  Spitteler  ist  so  ziemlich  das  gerade  Gegen- 
teil sor\  dem,  was  man  gemeiniglich  einen  ,, schwärmerischen 
Lyriker"  nennt,  wie  sie  ja  massenweise  mit  oft  recht  garstig 
hinterhältigen  Herzklappen  herumlaufen,  und  wie  sie  der 
Dichter  gelegentlich  in  seiner  ,,  Ballade  vom  lyrischen 
Wolf"  so  zum  Anbeißen  lieblich  abkonterfeit  hat: 

„Davor  mög  uns  Gott  der  Herr  bewahren: 
Nachtigallenseufzer  ließ  er  fahren. 
Eine  Rose  hielt  er  in  den  Knöcheln, 
Schwanenlieder  in  den  Kelch  zu  röcheln. 
Und  mit  honiglächelndem  Gemäul 
Flötet  er  ein  schmachtendes  Geheul"  usw. 

Spitteler  wird  deshalb,  wenn  er  auch  selber  mal  vor 
Zeiten  Mädchenlehrer  war,  noch  nicht  so  bald  Aussicht 
haben,  als  Dichter  wenigstens  der  erklärte  Liebling  sämt- 
licher Backfische  zu  werden,  worüber  er  sich  ja  gewiß  zu 
trösten  weiß.  —  In  Spittelers  Gedichten  steckt  ein  gutes 
Quantum  psychologischer  Weltwitz,  der  sich  in  mytho- 
logischen, historischen,  zoologischen,  botanischen,  literari- 
schen Legenden,  Anekdoten,  Fabeln,  Gleichnissen  balladen- 
haft  oder  mit  symbolischer  Epigrammatik  dichterisch  ver- 
bildlicht.     Das    ist    seine    ganz    besondere    „Note",    wie 


VOJ^  BEVTSCTiETi  BICHTVISIG       12^ 

Rezensions-Musikalinskj  sagen  würde,  doch  weiß  er  auch 
der  Natur  als  Landschaft,  dem  persönlichen  Stimmungs- 
leben und  der  individuellen  Temperamentsregung  einen 
seiner,  Spittelers,  Art  entsprechenden,  lyrisch  jedenfalls 
ungewöhnlichen  Ausdruck  zu  verleihen.  Wenn  ich  Ihnen 
jetzt  z.  B.  aus  den  „Literarischen  Gleichnissen"  nur  den 
zehnten  Teil  dessen  vorlesen  könnte,  was  ich  für  mich  per- 
sönlich mit  dicken  Kreuzen  eigenster  Genußfreude  versehen 
habe,  so  wäre  ich  glücklich  —  aber  Raum  und  Zeit,  dies 
geizig- mißgünstige  Polizistenpaar,  nimmt  mich  mir  nichts 
dir  nichts  am  Schlafittchen  und  kommt  sich  wer  weiß  wie 
gnädig  vor,  wenn  es  mich  dreimal  den  Mund  auftun  läßt, 
um  meine  Lust  an  Spitteler  unmittelbar  durch  Vortrag 
seiner  Gedichte  selbst  auf  andre  zu  übertragen.  Ich  be- 
schränke mich  aus  dem  genannten  Buch  schweren  Herzens 
auf  „Nur  ein  König"  und  „Der  Wunsch  des  Herakles". 

NUR  EIN   KÖNIG. 

Konsul  Cornelius  Clemens  sprach:  „Ich  will. 
Daß  jeder  meiner  Sklaven  seine  Arbeit 
Erhalte  zugeteilt  nach  Wunsch  und  Neigung. 
Nur  was  man  gerne  tut,  das  tut  man  recht. 
Ein  Mann  am  falschen  Platz  ist  halb  ein  Mann; 
Der  beste  Töpfer  pfuscht  im  Gärtnerhandwerk." 

Doch  als  er  nun  zu  mustern  kam  sein  Landgut, 
Bemerkt  er  einen  Sklaven,  der,  verhöhnt 
Vom  großen  Haufen,  ungeschickt  und  hilflos 
Arbeitete  am  Weg,  mit  seines  Hammers 
Unsicherm  Schlag  verwundend  seinen  Finger. 

Unwillig  zu  dem  Major  Domus  wandte 

Sich  nun  der  Konsul  und  sein  Auge  forschte. 

„Verzeiht,"  versetzte  jener,  „jeglich  Handwerk 

Vom  Walker  bis  zum  Weber  hab  ich  schon 

Mit  ihm  versucht.     Zu  keinem  einzigen  taugt  er." 

1* 


124  T{Jn{L  7iEMCJ{ELL 

jetzt  ungeduldig  von  dem  Stümper  heischte 
Cornelius  Clemens:  „Was  denn  warst  du  nur 
In  deiner  Heimat  von  Beruf  und  Handwerk?" 
Sein  gramumwölktes  Antlitz  hob  der  Sklave 
Mit  finsterm  Stolz  empor:  „Herr,  nur  ein  König." 
Da  schwieg,  von  Mitleid  übermannt,  der  Konsul, 
Und  sein  Gedanke  wog  des  Menschen  Schicksal. 
Dann  gnädig  zu  den  Dienern:  , .Tötet  den!" 
Weder    im  Gegenwarts-   noch   im  Zukunftsstaate  möchte 
ich  für  die  echten  Könige  mit  oder  ohne  Krone  den  milden 
Konsul  missen  —   es  wäre  zu  grausam.  .  .    Nun    das    viel- 
leicht menschlich  noch  tiefere: 

DER  WUNSCH    DES   HERAKLES. 
„Ich  will  dir  einen  Wunsch  gestatten",  sprach 
Zu  seinem  Lieblingssohne  Herakles 
Der  Fürst  der  Götter.     Herakles  begann: 

,.lch  wünsche  mir  ein  unzugänglich  Schloß 
Auf  steilem  Berge;  unten  um  den  Berg 
Dreifache  Mauern;  auf  den  Mauern  Wächter 
Und  vor  den  Mauern  einen  tiefen  Graben. 
Nämlich  mein  Herz  ist  stolz  und  spröd  und  einsam; 
Und  vor  Gemeinem  fliehn  ist  meine  Wollust. 
Doch  unterirdisch  aus  des  Schlosses  Keller 
Soll  ein  geheimer,  festgewölbter  Gang 
Führen  ins  Menschenland,  damit  des  Abends, 
Nach  wackrer  Tagesarbeit,  sieben  schöne 
Erlesne  Gäste  teilen  meine  Mahlzeit. 
Nämlich  des  Glückes  Garten  pflügt  die  Arbeit; 
Doch  edle  Gäste  schmücken  ihn  mit  Blumen." 

Die  Lider  schließend  lauschte  Jupiter. 

Dann  sprach  er  zu  den  Parzen:  , .Stoßt  mir  diesen 

In  Nacht  und  Sklaverei!  und  schüttelt  ihm 

Auf  seinen  Weg  ein  wohlgerüttelt  Maß 

Lernäischen  Geziefers:  Vipern,  Eber, 

Stinkvögel,  heilige  Ochsen  und  Skorpionen!" 


Photographie  R.  Ganz  in  Zürich. 


cZ^  ^/-//^^ 


VOJ^  BBUTSCBBTi  DJCHTUMG         12^ 

Und  als  nun  finstern  Grolls  den  falschen  Vater 
Verklagte  Herakles  im  Rat  der  Götter, 
,,Mein  lieber  Sohn",  lächelte  Jupiter, 
..Halbgöttisch  auf  den  Pharaonenschenkeln 
Im  Thron  sich  wiegen  und  die  niedre  Welt 
Sich  ferne  halten,  kann  ein  jeder  Krönling. 
Allein  im  Knechtsgewand  in  Augias'  Stall, 
Unter'm  Gesind,  verlacht,  beschmutzt,  mißachtet. 
Dennoch  die  Heldenstirne  hart  und  rein 
Mit  ungebeugtem  Haupte  hoch  erheben  — 
Das  können  Andre  nicht;  drum  spart  ich's  dir." 

In  Spittelers  Dichtung  drückt  sich  die  Liebe  für  die  reine 
Herrschaft  der  Besten  ebenso  sehr  aus,  wie  die  für  die 
selbstbewußte  Treue  der  Tüchtigen  zum  Ganzen. 

Gedichte  wie  z.B.  „Die  beiden  Züge"  oder  ,, Die  jodeln- 
den Schildwachen"  sind  für  seine  wahrhaft  freiheitsadlige 
Gesinnung  ungemein  bezeichnend.  Ich  kann  weder  sie 
hier  vorlesen  noch  das  wunderbar  ergreifende,  von  fein- 
stem Blut  überrieselte  Poem  echter  Künstlertragik  auf 
dem  Pferde-  und  Pfennigmarkt  des  Lebens,  das  den  Titel 
führt:  „Die  traurige  Geschichte  vom  goldenen 
Goldschmied".  Ich  hätte  es  den  beiden  andern  als  Drittes 
im  Bunde  zu  gern  angeschlossen.  Lesen  Sie  es  selber  nach! 
So  viel  Liebe  müssen  Sie  für  die  eigentlichen  Schatzspen- 
der unter  den  zeitgenössischen  Dichtern  schon  übrig  haben, 
daß  Sie  ihre  Bücher  kaufen.  Sonst  halte  ich  Ihnen  keinen 
Vortrag  mehr  und  sage  Allerhöchst  Seiner  Majestät  Publi- 
kum mein  freies  Mittleramt  auf.  Hingegen  ,, gestatte  ich  mir", 
Ihnen  zur  andeutenden  Beleuchtung  einer  andern  Spitteler- 
sphäre  noch  ein  gottseliges  Gedicht  aus  den  „Balladen" 
und  ein  herzinniges  Stück  aus  den  letzten  „Glockenliedern" 
zu  lesen: 

DAS  GESCHENK. 

Mir  träumt',  ich  schlummert'  unterm  Weidenbusch 
Am  Bachesufer,  auf  der  Himmelswiese. 


126  \Jn{Z  HEJ^CJ{ELL 

Und  mit  dem  "Wiasser  kam  ein  schöner  Mann 
Im  Boot  dahergefahren.    Längs  der  Fahrt 
Bog  er  die  Büsche  auseinander,  spähte 
In  das  Versteck  und  reichte  links  und  rechts 
Geschenke,  welche  er  dem  Boot  enthob. 

Wie  er  vorbeizog,  scholl  ein  Dankesschluchzen. 
Und  aus  den  Wellen  sang's  wie  Orgelstimme: 
„Kleingläubige  Zweifler,  habt  ihr's  nicht  gespürt? 
Ihr  mußtet  leiden,  daß  ihr  lerntet  wünschen, 
Ihr  mußtet  wünschen,  daß  ich's  euch  gewähre. 
Was  jeder  im  verschwiegnen   Seelengrund 
Erschaut,  die  Träume,  die  dem  eignen  Herzen 
Er  nicht  verriet,  ich  habe  sie  gebucht. 
Nehmt  hin,  ich  kenne  jedes  Menschenherz; 
Nehmt  hin,  ich  kenne  jeder  Seele  Sehnsucht!" 

Allmählich  kam  er  auch  zu  mir.     Neugierig 
Schärft'  ich  den  Blick,  denn  keines  Wunsches  war 
Ich  mir  geständig.     Da  entstieg  dem  Nachen 
Ein  strahlend  Frauenbild,  vertraulich  winkend, 
Eilt  auf  mich  zu  und  lachte  mir  ins  Auge: 
..Kleingläubiger  Zweifler,  hast  Du's  nicht  gespürt?' 

Dann  nahm  sie  meine  Hand  und  führte  mich 

Durch  blumige  Triften  nach  den  blauen  Bergen. 

Viel  Fenster  lugten  auf  den  Weg,  dahinter 

Gesichter,  deren  Grüße  uns  vermählten. 

Wir  aber  zogen  miteinander  weiter 

Und  immer  weiter  über  Berg  und  Tal, 

Ohne  Verdruß  und  ohne  Müdigkeit, 

Bis  wir  verschwanden  in  gottinniger  Ferne. 

Das  goldherzige  Glockenlied  aber  lautet: 

EIN  GRUSS. 

Glöcklein,  was  bringt  mir  dein  goldig  Gesumm? 
Ein  Grüßlein  von  ferne?     Hum, 
Sie  sind  dünn  gesät. 


VOJ^  DEUTSCHETj  BlCHTllJ^G        I2J 

Die  einem  ein  Angedenken 

Von  selber  schenken. 

Gut,  daß  es  in  meiner  Nähe  besser  steht. 

Weißt  du,  wir  drehen's  um: 

Ich  hab  da  in  meinem  Herzgänsespiel 

Noch  zwei  WeltvoU   Liebe  zu  viel. 

Weiß  nicht,  wohin  damit. 

Nicht  links,  nicht  rechts  auf  Erden, 

Wo  nicht  bestraft  dafür  zu  werden. 

Nimm,  du  das  mit. 

Sing  mit  landaus, 

Sing  um  jedes  Haus, 

Guck  durch  jedes   Fensterlein, 

Guck  in  jedes  Herz  hinein. 

Und  wo  du  hörst,  daß  eine  Seele  spricht: 

„Ach  Gott,  an  mich  denkt  niemand  nicht," 

Sag:  „Doch! 

"s  ist  jemand  noch." 

Und  ertränk  sie  auf  einen  Guß 

Mit  meinem  ganzen  Liebesüberfluß. 

Aber  ums  Himmelswillen,  worum  ich  bitt: 

Verrat  meinen  Namen  nit! 

Denn  weißt. 

Daß  mich  der  Dank  nicht  beißt." 

Auch  in  Spittelers  Dichterseele  wohnen  über  aller  skep- 
tisch-sarkastischen Philosophie  Heldensinn,  Kindlichkeit  und 
hohe  Künstlerfreude.     Denn: 

„In  jedem  Werk  der  Kunst  will  Glück  und  Sonne  sein" 
und 

„Den  zwingt  kein  Schutt,  wer  tief  und  wüchsig  ist." 

Ich  scheide  von  Spitteler  mit  dem  frohlockenden  Aus- 
ruf der  Gutsherrnkinder  in  dem  Gedicht  „Der  Kirsch- 
baum": „Wie   groß,  wie  süß,  wie  viel!" 


VOT^  DEUTSCTfETj  DTCJiTUJ^G       I2C) 

possierlich  keck,  bald  patriarchalisch  würdevoll  spielen  zu 
lassen.  Ich  wähle  aufs  Geratewohl  aus  ,, Frühling",  er  ist 
von  der  ersten  bis  letzten  Zeile  aus  einem  Gusse  rein. 


Aus:  FRÜHLING. 

,, Meiner  Einsamkeit  entgegen  —  So  lustig  bin  ich,  so 
still-fröhlich,  so  zutäppisch-liebevoll  wie  ein  Kind.  Mit 
jedem  Pulsschlag,  jedem  Beben  meines  Körpers,  mit  jeder 
Bewegung  liebkose  ich  die  weit  und  lustig  gebreitete  Welt. 
Und  mich  liebkosen  die  Käfer,  die  Blumen  und  Bäume,  mit 
Summen  und  Blüten  und  Laub,  mit  Farben  und  Düften 
und  hundert  sanften  Berührungen.  Der  leise,  leise  Wind 
durch  Blätter  und  Gezweig  liebkost  mich,  kühle  Schatten 
und  helle,  warme  Lichter,  blaue  Fernen  und  heitere  Nähen, 
ziehende  Wolken  und  Wellen. 

Zwischen  einem  Getreidefeld  und  dem  Erlengebüsch  eines 
Grabens  schlendr  ich  hin. 

Hoch  ragt  es  über  mich  hinauf,  hinein  in  endlose,  tiefe, 
klare  Bläue.  Lichtglänzendes  Laub  und  wogende  wellende 
Halme  biegen  sich  zu  mir  her,  vor  mir,  hinter  mir,  zu 
beiden  Seiten.  Ganz,  ganz  versunken  bin  ich  in  jungem, 
duftenden  Grün;  über  und  über  voll  gelben  Samenstaubes 
und  feinen  Blütengeriesels. 

Kühles,  wogendes,  anschmiegendes  Schmeicheln.  Weite, 
weite  jubelnde  Bläue.  Mückenspiel  vor  mir  her,  und  auf 
blinkendem  Gekräusel  stille,  weiße  Blumen  .  .  . 


Der  Länge  nach  lieg  ich  auf  dem  Rücken  und  lächele 
mit  halbgeschlossenen  Augen  in  das  tiefe,  tiefe,  blendende 
Blau  hinein. 

Nah  und  fern  hör  ich  eine  Musik. 

Durch  das  Gesumme  der  Bienen  und  Hummeln,  durch 
das  Wispern  der  Gräser  und  Binsen,  durch  das  heimliche, 
verlorene  Plätschern  blinkenden  Gekräuseis,  aus  den  tausend 
Stimmen  der  Vögel,  zwischen  den  rauschenden  Büschen. 

Sie   lebt   in   dem    Gebrüll    der  Kühe,    in   den   prächtigen 


1^0  J(jniL  HEJSC\BLL 

Schwunglinien  glänzender  Pferdeleiber,  wie  sie  grasen;  in 
dem  Muskelspiele  ihrer  stolzen  Formen,  wie  sie  dort  ge- 
mächlich schreiten  oder  schnell,  mutwillig  hingaloppieren 
durch  das  hohe,  blumenüberragte  Gras.  Sie  flirrt  und 
flimmert  und  wellt  in  zierlichen  Schwingungen  durch  die 
blauen  Lüfte,  wogt  und  schwirrt  und  schwingt  wie  mit 
feinen  Metallsaiten  in  dem  Spiel  der  Insekten. 

In  unendlichen  Farben,  Formen.  Tönen  ein  einziges  Lied, 
ein  einziger,  einender  Rhythmus,  ein  gewaltiger  Einklang. 

Jauchzt,  jubelt,  flötet,  klagt,  singt,  braust. 

Kommt  aus  lichtdämmernden,  gleißenden  Weiten,  wird 
offenbar,  süß-schaurig,  freundlich  in  den  Nähen,  verklingt 
in  den  Fernen.  Und  ich:  hingenommen  in  ihn,  sein  "Wieder- 
klang, ganz,  ganz  sein  Wiederklang  für  eine  Minute  der 
Verlorenheit. 

Suchen,  Haben  und  Verlieren,  und  wieder  Suchen,  Hal- 
ten und  Verlieren.  Immer  wieder,  und  wieder,  und  immer 
von  neuem. 

Das  ist  das  Leben.  Das  ist  alles  Schicksal,  und  aus  diesem 
einem  werden  alle  Leiden  und  Lieder  .  .  . 


Eine  Musik  hör  ich,  nah  und  fern.  Einen  einzigen 
millionenstimmigen  Akkord:  das  ist  das  Lied  der  Kraft. 
Das  ist  die  Kraft. 

Wer  versteht  es?  Wer  kann  es  wiedertönen  lassen  aus 
einer  reinen  unverzagten  Seele? 

Ich  will  nichts  als  liegen  und  lauschen  und  immer  lauschen, 
und  lauschen  und  stammeln  wie  ein  Kind,  hingegeben  in 
Ehrfurcht,  in  Lust  und  Jubel,  in  Schreck  und  Furcht  und 
Grauen,  und  mit  kindlichem  Vertrauen  wiederkehren  und 
immer,  immer  wiederkehren  .  .  . 

Sonne!     Sonne!     Sonne! 

Meine  Blicke  haften  in  dem  weiten  Blau,  mit  Sehn- 
sucht, mit  Sehnsucht  ...  —  Und  nun  —  nun  bin  ich  ein 
goldlichtes  Wesen.    Breites  Silbergefieder  sprießt  aus  meinen 


7^  07V  DEUTSCTiETi  BJCNTUJ^G        I^I 

schimmernden  Schultern  und  heißes,  goldenes  Sonnenblut 
braust  durch  meine  Adern,  und  ich  rausche  empor,  empor, 
empor  .  .  . 

Mein  Kopf  liegt  an  deiner  Brust. 

Und  du,  goldig,  licht,  jung,  beugst  dich  über  mich. 

Mit  deiner  linden  Hand  träufelst  du  mir  Heliotrop  auf 
die  Stirn.  Ich  atme  den  süßen  Duft  und  deinen  Atem, 
der  süßer  ist  als  er. 

Mein  Gesicht  fühlt  deinen  Herzschlag,  deinen  ruhigen, 
ruhigen  Herzschlag. 

Und  Auge  in  Auge,  tiefer  immer,  versinkender. 

Leise,  leise  du  hernieder  zu  mir,  und  leise,  leise  ich 
hinauf  zu  dir. 

Du  lächelst,  biegst  den  Kopf  hintüber,  und  deine  Hände 
drücken  sich  schwach  gegen  meine  Brust  mit  schelmischem 
Drängen. 

Und  nun:  Lippe  an  Lippe.  Lange  .  .  .  Zwischen  halb- 
geschlossenen Lidern  dunkelt  dein  Blick.  Und  nichts  ist 
als  sein  Glanz  und  eine  süße  Wärme  von   dir   zu   mir  .  .  . 

Frieden.  Und  aus  ihm  Kraft,  Gedanken,  Entschlüsse, 
lichter  immer  und  lichter,  kühner  und  kühner,  und  Er- 
kenntnisse .  .  . 

Ein  Jubel  ist  in  m.ir,  ein  ungeduldiger  Jubel;  der  hinauf 
will,  hinauf,  bis  in  den  siebenten  Himmel  hinauf  .  .  ." 

In  diesem  schlankweg  bezaubernden  und  berauschenden 
Werklein  ist  Johannes  Schlaf  der  neue  Idylliker,  der  von 
Naturrausch  und  Allempfinden  gleichsam  seiner  individuellen 
Beschränkung  entrückt,  sich  in  die  allerverschiedensten  For- 
men des  Daseins  verwandelt  und  diese  Wandlungsformen 
aufsaugend  darstellt.  Dazu  ein  Lauschen  auf  das  Lispeln 
und  Raunen  der  Ewigkeit,  ein  vergessendes,  hinwegfüh- 
rendes Gleiten  über  das  große  Leid  des  Lebens  .  .  .  Tiefe 
Naturmystik  mit  besonderer  Neigung  zum  künstlerischen 
Filigran.  Auch  in  seinen  Versen  ist  er  im  Grunde  stets 
dasselbe  sumsende,  honigsammelnde  Weltbienchen  und,  wenn 


1^2  JiAT{L  JiEJ^C7{ELL 

er  ganz  sich  in  der  ihm  wesenseigenen  Rhythmik  und 
Sprache  bewegt,  eine  fröhlich  drauflosschaffende  Natur.  Er 
hätte  es  nicht  nötig,  sich  von  andern  Dichtern,  und  wäre 
es  auch  von  dem  großen  amerikanischen  Original  Wah  Whit- 
man,  tyrannisieren  zu  lassen,  was  ich  nicht  mag,  so  sehr  ich 
Whitman  selbst  in  seiner  oft  meergewaltig  hinrollenden  Art 
bewundere.  .  .  .  Hören  Sie  indessen  noch  einen  urechten 
Johannes  Schlaf-Juchzer  aus  „Helldunkel"  und  ein  kleines 
Gedicht  aus  dem  jüngsten  Band  ,, Sommerlied",  in  dem 
mich  sonst  die  vielfach  fremde  Stilsuggestion  und  kritik- 
lose Aufnahme  bloßer  gereimter  und  ungereimter  Schrullen 
stört.  Übrigens  —  ich  will  ja  hier  nicht  kritisieren  — 
das   ist  anderswo  besser  am  Platz. 

URGERMANISCH. 

Lacht  und  singt  der  Sonnenheld, 

Einsam,  eine  einsame  Stimme, 

Durch  die  dunkle  Urnachtwelt, 

Knabe,  der  über  den  Friedhof  pfeift  .  .  . 

Aber  ist  niemand  so  allein: 

Harrt  des  Mannes 

Die  Jungfrau  auf  dem  Drachenstein. 

Schmeißt  der  Held  den  Drachen  vom  Stein  in  den  "Wiald; 

Lacht  das  Fräulein,  daß  der  Himmel  schallt. 

Lachen  die  erlösten  Wunder  der  Nacht  .  .  . 

Lenz!     Tag!  — 

Johannes  Schlaf  kann  aber  auch  recht  kräftig  werden, 
und  im  grollenden  Wetterzorne  über  all  den  kleinlichen 
Zank  und  Kram  des  Tages  dahinfahren: 

SCHWÜLE. 

Harre  aus! 

Dumpf  lastet  die  Schwüle  des  reifen  Tages. 

Kühlte  ein  Lüftchen! 

Gäb's  eine  Rast! 

Rüste  dich!  — 


VOJ^  DEUTSCHEJ{  DJCHTUJ^G        I^^ 

Durch  Gluten  und  Staubgewoge 

Vorwärts!     Vorwärts!     Vorwärts! 

Eine  schwere  Last  ist  die  Welt; 

Haften,  Zwang  und  drückende  Gebundenheit. 

Oder,  endloser  Kleinkrieg  mit  tausend  Geschmeiß! 

Die  Kleinen  toll  geworden  von  der  Sonne, 

Die  gütig  über  Gerecht  und   Ungerecht,  Schlecht 

und  Edel  scheint. 
Wollen  Raum  für  ihren  Übermut. 

Fliegen,  Mücken,  Bremsen, 
Tausenderlei  Wegungeziefer. 
Täglicher  Kleinkrieg, 
Schmählichster  von  allen, 
Der  die  Stärksten  mürbe  macht.  — 

Doch  schon  naht  die  Kraft. 

Murrend  grollt  sie  auf  in  schwarzen  Hochwäldern, 

Unmutig  dunkeln  ihre  Riesenbrauen 

Über  das  bedrückte  Gelände. 

Heil!     Ein  wirbelndes  Brausen 

Frisch  über  die  stöhnenden  Breiten! 

Heil !    Schon  schmettert  die  flammende  Kraft 

Ihres  erlösten  Zornes! 

Ihre  Riesenstimme  jauchzt! 

Erlösung! 
Ich  habe  das  bestimmte  Gefühl,  als  hätten  sich  die  mo- 
dischen Ziseleure  und  geschickten  lyrischen  Drapierkünstler 
des  Tages  \on  dem  tiefen,  feinzitternden,  doch  zäh-festen 
Dichter  des  „Frühlings",  der  jetzt  allem  polemischen  Wirr- 
sal  und  Unrat  entrückt  in  Weimar  rüstig  Werk  an  Werk 
reiht,  noch  der  schönsten  Überraschungen  zu  versehen. 
Denn  eine  große  Kraft  gibt 

„Dies  Wort,  dieser  Besitz  und  dies  Lachen; 
„Alles  ist  eins!" 

und  dieses  nicht  minder: 


1^4  JiJn{L  T1EJMCJ(ELL 

,,Ja,  ja,  ich  weiß:  einer  neuen  Sonne  Strahl 

Leuchtet  über  einem  Land  von  Toren. 

Wer  hindurchkommt,  geschoren-ungeschoren, 

Ist  neu  geboren; 

Der  ist  gekommen 

Von  den  Neunmalklugen   zu   den  Freien   und  Fröhlich- 

Amen  und  Ja!"  .  [Frommen. 

Nur  sich  nicht  irre  machen  lassen  —  das  ist  das  Ge- 
heimnis und  Amulet  des  Starken,  das  auch  Johannes  Schlaf 
sein  eigen  nennen  möge! 

Ein  wahrhaft  Lebendiger,  der  unbeirrt  von  allem  blasen- 
treibenden Literaturgeschäume,  wie  es  ja  in  der  Reichs- 
hauptstadt alle  paar  Monate  anders  „oben  auf  ist"  und 
mit  der  Saison  kommt  und  schwindet,  ein  Lebendiger,  sage 
ich,  der  unbeirrt  lange  Jahre  hindurch  den  stolzen,  schweren, 
oft  müde  machenden  Gang  seiner  innersten  Begabung  zu- 
rückgelegt hat,  um  schließlich  zu  dauerndem  Sieg  und 
Segen,  zur  rechten  Ernte  des  schaffenden  Lebens  zu  ge- 
langen, ist  der  wetterharte  und  doch  so  gemütsweiche 
Schwabe  Cäsar  Fl ai  schien.  Er  ist  ein  wahrer  dich- 
terischer Oasenmensch  innerhalb  der  Berliner  Literaten- 
literatur, darin  es  natürlich  von  spuckenden  Lamas  und  ge- 
fleckt langhalsigen  Giraffen  wimmelt,  während  Löwen  und 
Adler  entschieden  ziemlich  dünn  gesät  sind.  Vielleicht  ist 
das  ja  überall  so,  ich  möchte  Berlin  nicht  unrecht  tun.  Es 
hat  auch  seine  heiligen  Kreuzberge  des  Genies  und  einen 
ganzen  Tiergarten  von  poetischen  und  proteischen  Talenten 
in  jeder  Farbe,  Größe  und  Preislage,  einzeln  und  pro 
Dutzend  notiert.  Cäsar  Flaischlen  ist  aber  mehr  als  nur 
ein,  wenn  auch  besonderes  dichterisches  Talent,  er  ist  eine 
dichterische  Persönlichkeit  von  gediegenem  Gehalt  und 
Lebenswert.  Diese  Verbindung  von  eigengearteter  Dichter- 
schaft und  einem  hohen  Menschentum,  das  kämpfend  sei- 
nen reinsten  Jugendzielen,  der  angeborenen  Idealität  seines 
Wesens  die  Treue  hält,    durch  alle  Fährnisse  und  Sirenen- 


VOJ^  DEUTSCTiEJi  DlCTiTUJyJG        /^5 

lockungen  des  heutigen  literarischen  Lebens  hindurch,  ge- 
hört in  der  Tat  zu  den  Ausnahmeerscheinungen  und  ver- 
leiht den  Schöpfungen  eines  solchen  Mannes  ein  Schwer- 
gewicht, wie  es  weit  verblüffenderen,  blendenden  Begabungen 
trotz  alles  Aufsehens,  das  sie  erregen,  in  letzter  Linie  versagt 
bleibt.  Cäsar  Flaischlen  hat  gerade  das,  was  ich  bei  man- 
chem glänzenden  Könner  und  poetischen  Virtuosen  unserer 
Tage  so  schmerzlich  vermisse:  Mark  und  Kern  der  Seele. 
Er  gleicht  einem  knorrigen  Baumstamm,  der  jeden  Früh- 
ling seine  eigenen  Blätter  wieder  hervortreibt,  sie  grünen, 
welken  und  abfallen  läßt,  der  von  Wind  und  Wetter  ganz 
gehörig  durchgeschüttelt  ist,  so  daß  er  manchen  Tag  schon 
müde  die  Krone  neigte  und  die  Zweige  bedenklich  nieder- 
senkte, der  sich  aber  stets  von  neuem  trutzig  emporrichtet 
und  dauernd  Ring  um  Ring  ansetzt.  Ein  derartiger  Dichter- 
stamm wächst  nicht  nur  in  die  eigenen  Wurzeln  und  Wipfel, 
er  wächst  auch  allmählich  den  wahren  Lebenswanderern 
schattenspendend  ins  Herz  hinein.  Und  ein  Vöglein  sitzt 
zur  Sommer-  und  Winterszeit,  mag's  auch  donnern,  hageln 
und  schneien,  an-  der  Spitze  des  obersten  Astes,  das 
singt  in  abwechselnd  wiederkehrenden  Weisen  von  „Auch 
Einem",  der  sich  die  Sonne  nicht  verhängen  lassen  wollte 
\on  den  Millionen  Nebelwichtlein  des  Alltags,  die  Sonne 
des  Seins  in  Schönheit  und  Wahrheit.  Singt  mit  weh- 
mütigem Laut  von  Einem,  in  dessen  Brust  sich  ein  langer, 
quälender,  geräuschloser  Kampf  auskämpfte  zwischen  dem 
selten  zarten  Lichtseelchen  des  Künstlers  und  den  staub- 
grauen  Götzen  der  Gewöhnlichkeit.  Und  singt  am  frohsten, 
wenn  sich  das  feine  Lichtseelchen  sorgenledig  und  gelassen 
auf  den  blühenden  Rosen  des  gewonnenen  Lebens  wiegt... 
Erquicken  Sie  sich  mit  mir  zuerst  an  einigen  ,, Gedichten 
in  Prosa",  in  denen  Flaischlen  seine  künstlerisch  gewähl- 
testen Wirkungen  erzielt: 

IM  KAHN. 

Schaukelt  weiter  mich,  ihr  Wellen!  .  .  schaukelt  weiter  mich, 
ihr  Winde  .  .   durch   die   wunderbare    Ruhe   dieser   lichten 


7^6 


\jn{L  BBJ^C\ELL 


Einsamkeit  .  .  leise,  leise  wiegt  mich  weiter 

in  die  Ferne 

zu  den  stillen,  weißen  Wolken,  die  den  Horizont  um- 
klimmen .  . 
Tragt  mich  fort,  wohin  ihr  wollt! 

Immer   mehr  versinkt   die  Küste   mit   dem  Strand  und  mit 

den  Bergen  .  . 
Alles  wird  zu  blauem  Glanz  .  . 

Selig  lieg'  ich  auf  dem  Rücken,  horche  auf  die  Ammen- 
lieder, die  mir  "Wind  und  Wellen  singen  .  .  falte  langsam 
meine  Hände  .  .  schließe  lächelnd  meine  Augen  und  ver- 
träume in  den  Himmel, 

wie  ein  Kind  in  stiller  Wiege  .  . 

Meine  Mutter  ist  die  Sonne  — 


meine  Mutter  ist  die  Sonne 
und  ich  weiß,  sie  hat  mich  lieb! 

Nach  dem  Meerlied  das  schlichte  Waldidyll: 

SONNENTAGE. 

Einzig  schöne  Tage, 

Sonnentage  der  Seele  .  . 

da  sie  stille  liegt  in  wunschlosem  Traum,  wie  der  Mär- 
chensee hoch  oben  in  stiller  Schwarz  waldberge  grüner 
Einsamkeit! 

Keine  Welle  kräuselt  seinen  klaren  Spiegel  .  .  nur  wenn 
eine  weiße  Wasserrose  in  froher  Sonnensehnsucht  sich  aus 
seiner  Tiefe  hebt 

oder  wenn  ein  kleiner  Vogel,  ein  Liedchen  zwitschernd, 
über  ihn  streift,  mit  leichtem  Flügel 

oder 
ein  braunes  Reh  aus  den  Tannen  tritt,  an  ihm  zu  trinken. 

Dann  das  sonnensatte  Bild  der  Mühle  im  Abendrot: 


(QjT[mH^. 


VOT^  DBUTSCBEJi  DICIiTUMG       l^J 

DIE  MÜHLE. 
Steigende  Abendwolken  .  .  blei-grau-blau-schwer  .  .  wie 
ferne  Alpen  sich  auftürmend  .  . 

die  sinkende  Sonne  dahinter,    die  Ränder   mit  blendendem 
Gold  umkantend  .  . 

auf  der  Hügelhöhe  mitten  im  glühenden  Feuer  des  Abend- 
rots eine  Mühle,  langsam  die  Flügel  drehend, 

als  schaufle  sie  der  Sonne  rinnend  Gold  in  ihre  Tenne. 

Aus  den  Versgedichten,  die  vielfach  kräftige,  aufrichtige 
Abrechnungen  mit  sich  und  der  Welt  und  Selbstermuti- 
gungen (nur  hier  und  da  in  etwas  trockenem  Ton)  enthalten, 
das  kleine  charakteristische  Lied 

JENSEITS  DER  STRASSE. 

Es  ist  nur  Schein  und  ist  nur  Phrase, 
Drauf  dünkelstolz  der  Alltag  stelzt  .  .  . 
Das  Beste  liegt  jenseits  der  Straße, 
Da  sich  der  große  Haufe  wälzt. 

Jung  und  mit  Leichtsinn  nur  zu  finden, 
Jenseits  der  Straße,  ein  Versteck, 
in  quelldurchrauschten  Rosengründen 
Und  üppig  wildem  Dorngeheck. 

Und  zuguterletzt  aus  den  schwäbischen  Dialektgedichten 
„Vom  Haselnußroi'"  noch  das  schalkhafte 

WIE  S  ALS  GÖHT 
1   han  koi   Rueh  meh 
Ond  fend  koin  Friede, 
Seit  i  di  küßt  han 
Ond  „du"  zue  d'r  gsagt; 

1  ka  nemme  schlöfe-n, 
Ond  ka  nemme  schaffe, 
S  isch  grad  als  wann  me 
Sonst  woiß  was  hätt  packt  — 

BTiJlTiBES :  DJE  U TEJiJiTliJi.  BJiJ^D  XXX VII i  XXXVIII  j^ 


1^8 


J(JIJ{L  HEJ\}CJ(ELL 


Des  oi  no  jetzt  bitt  e: 
Mach  gscheidt  me  wieder. 
Mach  me  vernönftig, 
Ond  löß  den  Danz. 
Gib  m'r  de-n  Abschied 
Ond  löß  me  laufe! 
Oder,  Schatz,  gib  de  — 
Gib  de  m'r  ganz! 

Ja,  es  gibt  auch  heute  noch,  wie  Cäsar  Flaischlen  be- 
weist, Dichtergeister,  die  als  Mensch  und  Künstler  eine 
unlösliche  Einheit  bilden,  und  die  den  vornehmen,  beharr- 
lichen Mut  haben,  ihr  Publikum  zu  sich  emporzuziehn,  um 
es  in  seinem  besten  Bestand  dann  nicht  wieder  zu  verlieren. 


Zu  diesen  verläßlichen  Trägern  wahrhaftigen  dichte- 
rischen Lebens  gehört  auch  ein  tiefer,  norddeutscher 
Naturpoet,  aus  dessen  aufsteigenden  Schöpfungen  ein 
im  ewigen  Grunde  des  Lebens  verankertes  Menschentum  und 
in  stets  harmonischerer  Verbindung  eine  mit  Gras,  Baum, 
Wolke,  Lerche  wirklich  verschwisterte  Naturseele  atmet 
und  lauscht.  Es  unterliegt  nicht  dem  geringsten  Zweifel, 
daß  Dichter  von  solchem  naturgegebenen  Dauergepräge 
und  von  solchem  menschlichen  Selbsterhöhungsdrange  ihre 
Fühler  in  fernere  Zukunft  ausstrecken  als  sämtliche  irrlichte- 
rierende  Schaumschläger  und  Formfexe,  die  eine  Weile 
und  für  viele  Leute  die  seltensten  Meteore  der  zeitge- 
nössischen Poesie  bedeuten.  Es  soll  Sterne  geben,  die 
von  der  günstigen  Schaufensterbeleuchtung  ihren  haupt- 
sächlichen, wenn  nicht  gar  ihren  ganzen  Glanz  beziehen. 
Bruno  Wille  ist  ein  stiller  und  echter  Stern  am  Himmel 
deutscher  Dichtung  und  bleibt,  in  immer  reinerem  Lichte 
zitternd,  ruhig  und  friedlich  über  dem  Feuerwerkstrubel, 
der  unten  sein  lustiges  PiffpafFpuff  macht,  stehen.  Dem 
wirren,  oft  sentimentalen  Tappen  und  Tasten  seiner  lyri- 
schen Jugendperiode  längst  entrückt,  hat  er  sich  das  nur 
ihm    eigene    Reich    künstlerischer  Naturbeherrschung    und 


VOM  DEUTSCTiEJi  DJCJiTlißJG       I^C) 

überlegener  Selbstschau  zu  sicherem  Besitz  erobert.  Mit 
seiner  menschlichen  Entwicklung  vom  hin-  und  herschwan- 
kenden „Einsiedler"  und  ,, Genossen"  zum  freien  Menschen, 
der  den  weltflüchtigen  Klausner  wie  den  allzu  begeisterten 
Massenfreund  in  ihrer  Einseitigkeit  überwunden  und  zum 
lebensstarken  Charakter  gehärtet  hat,  mit  dieser  mensch- 
lichen Entwickelung  ging  diejenige  vom  dunkel  verschwom- 
menen und  verstiegenen  Überschwang  zum  treffenden  und 
doch  neuen  dichterischen  Ausdruck  Hand  in  Hand.  So  ist  es 
jetzt  ein  wahrer  Genuß,  dem  außerordentlich  feinen  Auge  des 
Poeten  vom  Gewölk  des  Himmels  oder  Spiegel  des  Sees 
bis  zum  zartesten  Fläumchen  kleiner  Knospen  zu  folgen, 
und  ein  frisches  seelisches  Quellengefühl  überkommt  einen, 
wenn  man  sein  weitblättriges  Wesen  im  Gedicht  sich  zu 
sternenhafter  Blütenschönheit  entfalten  sieht.  Ich  kann 
leider  nur  weniges  mitteilen  —  wer  künstlerische  Men- 
schen unter  den  heutigen  Dichtern  sucht,  wird  auch  ihre 
Bücher  zu  finden  wissen. 


ABENDDÄMMERUNG. 
Säulengleich  an  des  Hügels  Saum 
Träumt  ein  düstrer  Wiachholderbaum. 

Drunten  umflort  sich  die  Kiefernhaide 
Nächtlich  schon  mit  dem  Dämmerkleide. 

Droben  der  Himmel  leuchtet  noch  matt. 
Grünlich  blau  wie  ein  See  und  glatt. 

Keusch  wie  Wasserrosenschnee 
Blüht  ein  Funkelstern  im  See. 

Sturmgewölke  kommen  geflogen. 
Finster  hüllend  den  Himmelsbogen  .  .  . 

Säulengleich  in  Sturm  und  Dunkel 
Träumt  der  Wacholder  vom  Sterngefunkel. 


IAO J{J17{L  uejmcj^ell 

Das  nächste  Gedicht,  in  dem  der  ganze,  tiefste  "Wille 
steckt,  gebe  ich  mit  dem  zugehörigen  Motto  des  Mysti- 
kers, oder  einfach  deutsch  gesprochen,  des  geweihten 
Natursinnierers  Jacob  Boehme: 

BLUTBRUDERSCHAFT. 

Was  aber  da  für  ein  Triumphieren  im  Geiste  gewesen, 
kam  ich  ni:ht  schreiben  oder  reden;  es  läßt  sich  auch 
mit  nichts  vergleichen,  als  nur  mit  dem,  wo  mitten  im 
Tode  das  Leben  geboren  wird,  und  vergleicht  sich  mit 
der  Auferstehung  der  Toten.  In  diesem  Licht  hat  mein 
Geist  alsbald  durch  alles  gesehn  und  an  allen  Krea- 
turen, selbst  an  Kraut  und  Gras,  Gott  erkannt,  wer  er 
sei,  wie  er  sei  und  was  sein  Wille  ist. 

Jacob  Boehme. 

Hier  bei  der  Eichengruppe  war's. 

Der  greisen  Bäume  knorrige  Reckenglieder 

Umsproß  das  bronzegelbe  Frühlingslaub 

"Wie  Kinderlocken  zart. 

Die  schwarze  Drossel  schlüpfte  durch  die  Aste. 

Dem  Liebchen  flötend  und  ihr  Nestlein  planend. 

Ein  holdes  "Wunder,  sprang  aus  violettem 

Schlehdorn  der  mandelduftige  Blütenschnee. 

Und  weich  wie  Mädchenkosen  schmiegte  sich 

Der  Rasen,  mit  Ranunkelgold  verbrämt, 

Um  Torfmoor,  dürres  Schilf  und  Sumpfgelände. 

Dort,  wo  noch  jüngst  des  Todes  Schauer  hausten, 

Erscholl  der  Fröschlein  breites  Lenzbehagen. 

Und  sieh!  gespreizten  Fittigs,  lüstern  nahte 

Der  erste  Storch. 

"Vom  Horizonte  hob  sich  ein  Gebirg 

"Von  "Wetterdunst,  im  veilchendunklen  Schoß 

Ein  Tropfenmeer  bereitend. 

Und  wie  ein  Jauchzen  brach  die  Abendsonne 

Hervor,  purpuren  das  Gewölk  benetzend. 

Und  schaute  einmal   noch  mit  Feuerblick 

Tief  ihren   Frühling  an  .  .  . 

Da  war's,  da  rührte  mich  der  selige  Tod: 


VOJ^  DEyTSCTiE7{  DJCTITUNG       I41 

Aus  diesen  Adern  blutete  die  Seele 

Und  rann  erschauernd 

Durch  Eichen,  Wolke,  Wiese,  Sumpf  und  Sonne. 

Aus  diesen  Adern  blutete  die  Seele, 

Blutbrüderschaft  zu  schließen  mit  dem  All  .  .  . 

Und  alles  war  nun  mein  —  und  ich  war  sein. 

Heimlich  gehegt,  ein  süßer  Herzensschatz. 

Und  nach  diesem  säfteschwangern  Gedicht  neureligiöser 
Naturvermählung  noch  das  köstlich  liebesinnige: 

HERBSTFÄDEN 

In  Fieberröte  träumt  der  Baum 

Den  letzten  goldnen  Sonnentraum. 

Der  blaue  Himmel  lächelt 

Wie  sanftes  Leid. 

Horch,  seltsam  schnarrende  Weisen! 

Die  Wandergänse  reisen. 

Zum  Keil  gereiht. 

Am  Webestuhl  die  Spinne  lauscht. 

Wie  droben  das  Geschwader  rauscht. 

Ihr  wird  so  fernesüchtig, 

So  bang  zu  Sinn. 

,,0  hätt  ich  schwirrende  Flügel! 

Weit  über  blaue  Hügel 

Flog  ich  dahin." 

Und  wie  sie  grübelt,  wird  ihr  klar 

Ein  Flugmaschinchen  wunderbar. 

,,Mein  Werk  soll   mich  erlösen  1 

Drum  frisch  gewebt. 

Bis  ob  der  braunen  Haide 

Ein  Segel  aus  weißer  Seide 

Im  Lufthauch  schwebt!" 

Da  segelt  hin  das  kleine  Ding. 
Wie  Faust  am  Zaubermantel  hing. 


1^2  J{jn{L  TiEJ^CJ{ELL 

„So  fand  mein  Spintisieren 
Nun  doch  den  Pfad! 
A-lich  trägt,  v/as  ich  gesponnen. 
Zu  Gärten  neuer  Wonnen. 
Heil  meiner  Tat!" 

Daß  Bruno  "Wille  die  märkische  Landschaft  so  recht 
eigentlich  für  die  deutsche  Lyrik  gewonnen  hat,  —  selbst 
bei  Theodor  Fontane  finden  sich  doch  nur  einige  und  da- 
zu mehr  dörflich-genrehafte  Ansätze  —  bleibt  sein  beson- 
deres dichterisches  Verdienst.  In  des  heiligen  römischen 
Reiches  ,,  Streusandbüchse"  müssen  heimliche  Quellen  der 
Poesie  gerieselt  haben,  die  jetzt  hei-vorbrechen  und  die 
feuchten  W^iesen  mit  Blütenwundern  bedecken. 


Es  ist  doch  wirklich  heute  eine  Lust  zu  leben,  zu  schaffen 
und  sich  weidlich  an  dem  zu  laben,  was  in  bunter, 
'  strotzender  Fülle  von  trefflichen  Kunstgenossen  rings 
im  Lande  hervorgebracht  wird.  Das  müßte  ein  blinder,  arm- 
seliger Geselle  sein,  der  nicht  sähe  und  jubelte,  wie  das 
deutsche  Lied  und  Gedicht  der  Gegenwart  mehr  wie  je  in 
üppigem,  leuchtendem  Flor  steht.  Ob  einem  nun  diese  oder 
jene  Blüte,  dieser  oder  jener  Busch  mal  nicht  so  über  die 
Maßen  gefällt,  ob  man  sich  diesen  oder  jenen  Strauch  an- 
ders gewachsen  wünscht,  als  er  nun  vielleicht  auseinander- 
gegangen ist,  oder  ob  man  auch  mitunter  zum  eigenen  Ver- 
druß an  lieben  gesunden  Stämmen  schwächliche  Sprossen 
und  gefährliche  "Wucherungen  entdeckt,  deren  Kräftigung 
und  Ausheilung  man  der  guten  Natur  des  betreffenden 
"Wuchses  überlassen  muß  —  was  verschlägt  das  denn, 
sage  ich,  gegenüber  dem  gar  nicht  umzubringenden,  immer 
von  neuem  bestätigten  Gefühl  eines  reichen,  herrlichen 
Liedersommers,  den  wir  in  diesen  Jahrzehnten,  von  allen 
Seiten  beschenkt,  durchschreiten?  Nähern  wir  uns  z.  B. 
jetzt  dem  ausgedehnten  Lyrikgarten,  wie  ihn  sich  Otto 
Julius  Bierbaum  im  Laufe  der  Jahre  angelegt  und  ge- 
züchtet   hat   —    wie    gar    manche   schöne   und   tauperlendc 


VOl^  DEUTSCTIE7{  DJCHTUJ^G       14^ 

Liederrose  winkt  uns  im  lachenden  Sonnenschein  voll  er- 
blüht und  glückstrahlend  zu!  Und  wenn  zwischenhinein, 
zu  nah  daran,  die  Malven  und  künstlichen  Tulipanen  etwas 
zu  dicke  tun,  so  daß  man  vermeint,  sie  möchten  den  ed- 
leren Rosen  schaden  —  je  nun,  es  ist  auch  in  Bierbaums 
Garten  noch  nicht  aller  Tage  Abend,  und  der  in  frisch- 
fröhlicher Kraft  seines  Berufes  waltende  dichterische  Garten- 
künstler wird  schon  selber  schauen,  was  dauernder  Pflege 
verlohnt,  was  nicht. 

Otto  Julius  Bierbaum  hat,  wie  Sie  alle  wissen,  zuerst  ein 
entzückend  loses,  verliebtes  Lachen  in  den  heiligen  Dichter- 
hain gejuchzt  und  gejodelt;  sofort  kommen  Ihnen  die  kecken 
und  flotten  Jeannetten-  und  Josephinenverse  auf  die  Lippen: 

„W^as  ist  mein  Schatz?  —  Eine  Plättmamsell. 
Wo  wohnt  sie?  —  Unten  am  Gries. 
"Wo  die  Isar  rauscht,  wo  die  Brücke  steht. 
Wo  die  Wiese  \on  flatternden  Hemden  weht. 
Da  liegt  mein  Paradies." 

oder  das  famose  mit  den  Frühlingsfregatten,  dem  schwarzen 
Würdebär  von  Leibrock: 

„Der  Himmel  ist  blau,  das  Wetter  ist  schön, 
Madame,  v/ir  wollen  spazieren  gehn!" 

Wir  sangen  als  kleine  Schüler  das  gleiche  mit:  „Herr 
Lehrer,  wir  wollen  spazieren  gehn",  wenn  wir  frei  haben 
wollten.  Mit  Madame  gehts  aber  entschieden  schöner.  Oder 
das  an  Knappheit  nichts  zu  wünschen  übrig  lassende: 

Bauernmädel  rundes, 
Bauernmädel  gesundes, 
Bauernmädel  schenkelstramm 
Haut  die  ganze  Welt  zusamm. 
Juhu! 

Item,  das  war  der  kreuzfidele  burschikose  lyrische  Kose- 
bursch  Bierbaum,  der  uns  solche  Flattersträuße  klingen- 
den Übermutes  zuwarf.     Kling  klang  glorial     Dann  kamen 


I44  \Jn{L  T{EMCJ{ELL 

die  zarter  schwebenden,    feiner  duftenden   Gedichte,    wie 

, .Traum  durch  die  Dämmerung",  ,,Freundh*che  Vision",  das 
schlichte,  claudiushafte  „Abendlied",  oder  das  durch  und 
durch  Bierbaumsche,  liebeskavalleristische  ,,Sitz  im  Sattel, 
reite,  reite  auf  die  Freite"  —  Lieder,  die  Ihnen  samt  und 
sonders  aus  dem  Buch  oder  Konzertsaal  vertraut  sind.  Und 
es  kamen  all  seine  Panmelodieen  und  Flötentöne  von  düfte- 
schweren Roseninseln  und  weißen  Marmorsäulen,  all  diese 
Lieder  heißer  sommerlicher  Schönheitssehnsucht  und  para- 
diesischer Evaslust.  Dazu  merkwürdige  Stimmen  tieferen, 
aufrichtigen  Eigenlebens  wie  die  schönen  Gedichte:  „Me- 
tamorphosen" oder  ,. Alexandriner".  Und  zwischenhinein 
jene  wie  Erdbeeren  frisch  von  der  Staude  gepflückten  Verse 
eines  munteren  natürlichen  Lebenssinnes,  der  sich  nichts 
Gutes  und  Schönes  entgehen  läßt,  wie  das 

FÜR  BEERENSUCHER. 

Gingen  zwei  in  einen  Beeren wald; 
Fand  der  Eine  süße  Beeren  bald; 
Hat  sich  fleißig  gebückt 
Und  emsig  gepflückt; 
Tat  nichts  als  essen. 

Der  Andre  indessen 

Trug  immer  die  Nase  gen  Himmel  gericht. 

Sah  den  lieben  Herrgott  oder  macht  ein  Gedicht, 

Aber  die  süßen  Beeren,  die  sah  er  nicht. 

Tun  mir  leid  alle  Beide. 

Ich  liebe  die  Beeren-  und  Himmelsweide. 

Ich  hätte  mir  Beeren  gesucht  im  Kraut 

Und  essend  zum  blauen  Himmel  geschaut. 

Mir  hätte  keins  das  andre  geniert. 

Hätte  Himmel  und  Beeren  in  eins  skandiert. 

Später  tritt  nach  einschneidenden  Erlebnissen  ein  ganz 
anderer  Ton  und  Stil  hervor,  der  einen  neuen,  an  Lebens- 
gehalt  und   Wesensschwere   bedeutend   gewachsenen   Bier- 


OTTO  JULIUS  BIERBAUM. 


VOM  DEUTSC7iE7{  DJCHTUJ^G      l^^ 

bäum  zeigt.  Aus  dieser  Sphäre  möchte  ich  Ihnen  etwas 
lesen.  Das  meisterliche,  hochinteressante  Beichtgedicht 
„Bilanz"  darf  es  leider  nicht  sein,  es  wäre  hier  zu  lang, 
ich  beschränke  mich  auf  ein  Stück  aus  der  ,, Sentimentalen 
Reise": 

„Nun  ist  viel  tot  in  mir.     Ich  weiß  nun,  jene  Qual, 

Die  mich  ins  Fremde  trieb  und  immer  rückwärts  doch 

Den  Blick  der  Sehnsucht  wajidte,  war  nicht  mehr 

Als  einer  Krankheit  letzter  Überfall. 

Sieh,  auf  dem  Schnee  hier  steht  ein  Sarg,  —  hinein 

Die  leere  Puppe  jenes  faulen  Grams! 

Lemuren,  kommt  und  schaufelt  mir  ein  Grab 

Für  diese  böse  Puppe,  —  Schnee,  Schnee,  Schnee 

Darauf  und  schwere  Blöcke  Eis.     Macht  schnell  I 

Tief,  tief  das  Grab,  in  Eis  und  Schnee  tief,  tief! 

Ich  will  nicht  wissen,  wo  der  Popanz  liegt. 

Ah,  daß  ich  frei  bin!     "Wintersonne,  sieh. 

Hier  steh  ich  fröhlich  zwischen  Eis  und  Schnee, 

Und  niemals  wüßt  ich  mehr,  was  Frühling  ist. 

Ich  war  ins  Grau,  ins  Neblige  verrannt. 

Ich  hing  am  Gram  wie  in  der  Spinne  Netz 

Die  arme  Fliege,  und  schon  fuhr  auf  mich 

Die  große  Spinne  los,  die  alles  frißt. 

Da  sprach  was  über  meinem  Leben  wacht: 

Noch  nicht,  noch  nicht!    Und  wie  ein  Märchen  war's: 

]ch  stand  verwandelt  und  erlöst  und  frei 

Im  allerschönsten  Schlosse  von  Kristall. 

Oh  schöner  "Winter,  kalr  und  sonnenklar, 

Dein  Frost  hat  mich  gesund  gemacht  und  hart. 

Mir  ist,  als  ruhte  jetzt  in  meiner  Hand 

Ein  wohlgehämmert  Schwert.    Und  ich  bin  stark, 

Mir  alle  "Wege  frei  damit  zu  haun. 

In  Niederungen  geh  ich  nun  nicht  mehr. 

Und  zum  Schlüsse  die  schönen  "Widmungsstrophen  weich 
wie  Flötenton: 


1^6 


J{jn{L  TlEJSJCT^LL 


NACHTS  AN  DIE  NACHTIGALL. 
(Herrn  Hugo  von  Hofmannsthal  zugeeignet.) 

Oh  du  Nachtigall  mit  süßem  Sang, 
Liebesruferin  in  dunkler  Nacht, 
Kleine  Brust,  \on  Seligkeiten  bang, 
Seele,  die  in  Sehnsucht  schluchzt  und  lacht, 

Flöterin  aus  dunkeltiefem  Grund, 
"Warum  macht  dein  Lied  das  Herz  mir  schwer? 
Ach,  ich  fühl's,  noch  immer  ist  es  wund. 
Dieses  Herz,  und  duldet  viel  zu  sehr. 

Schlägt  noch  nicht  im  eigenen  Genuß, 
Liegt  noch  immer  in  der  Sklaverei, 
Daß  es  allem  Leide  frohnden  muß. 
Bebend  lauschen  jedem  Weheschrei. 

Wär's  wie  du  und  fühlte  nur  die  Lust 
Und  die  Schönheit  dieses  Lebensdrangs, 
Seiner  Sehnsucht  stürmisch  nur  bewußt 
Und  der  Fülle  eigenen  Gesangs, 

"War's  wie  du  oh  süße  Nachtigall, 
Glücklich  war  dies  Herz,  und  all  sein  Schlag 
"Wäre  wie  Gebet  und  Glockenschall 
Zu  der  Sonne  und  dem  lichten  Tag. 

Bierbaum  hatte  mit  seinem  ,, Irrgarten  der  Liebe",  der  für 
billiges  Geld  eine  Unmenge  "Vei-se  bot,  einen  Erfolg,  wie 
er  gerade  heute  einem  Lyriker,  der  überhaupt  was  kann,  wohl 
zu  gönnen  ist.  Mag  der  Erfolg  auch  in  erster  Linie  dem 
zeitgemäßen  Brettl genre,  den  flotten  Rampenschlagern  ge- 
golten haben  —  Bierbaum  selbst  wird  heute  der  letzte  sein, 
dies  selbst  nicht  richtig  einzuschätzen,  und  man  braucht 
ihm  deshalb  keine  gutgemeinten  Lehren  zu  verabreichen.  — 
"Was  ich  dem  Dichter  des  „Irrgartens"  wünsche,  das  ist  bei 
seiner  ungemein  stilsuggestiblen,  für  charakteristische  Form 
Anderer   aufsaugend   empfänglichen  Natur   die   gesteigerte 


VOJ^  DEUTSCNETj  DJC7iTU?JG       I47 

Selbstkontrolle  seiner  eigenen  di cht ei-i sehen  "Wesensäuße- 
rungen. "Wer  irgend  ein  Leben  zu  dichten  hat,  braucht 
nicht  Literatur  zu  dichten.  Ein  frisches,  leicht-lebendiges 
Talent  wie  Otto  Julius  Bierbaum  sollte  nie  nötig  haben, 
zur  bequemen  Krücke  des  Eklektizismus  zu  greifen. 


Es  hat  zu  allen  Zeiten  meist  von  der  Nachwelt  rasch  ver- 
gessene Dichter  gegeben,  die  einen  Zug  \on.  Schieß- 
budenschönheit aufwiesen  und  zeit  ihrer  kurzen  Gloria 
auf  allen  Märkten  mit  ihren  kecken  Tiroler  Jägerhütchen 
dem  Publikum  zufederten:  ,, Kommt  her  zu  mir  alle,  die  ihr 
schießlustig  und  lockere  "Vögel  seid!"  "Wenn  auch  nur 
Sauertöpfe  solchen  Trallera  piff-paff-puff-beautes  gram  sein 
können,  so  sind  sie  eben  weil  sie  nach  Jedermanns  Ge- 
schmack sein  möchten,  just  nicht  Jedermanns  Geschmack. 
Die  Linie  der  Baumbache  stirbt  nicht  aus.  Aber  Sympa- 
thien sind  unterschiedlich. 

Ein  Dichter,  der  jedem  literarischen  Jahrmarktstrubel 
fern  steht  und  durch  die  seltene  Großzügigkeit  seines 
Dichtertums  vor  dem  flüchtigen  Renomme  bloßer  ,,  Be- 
liebtheit", aber  auch  vor  dem  allzuraschen  "Verrinnen  des 
Ruhms  dauernd  geschützt  bleibt,  ist  unser  kühner,  phan- 
tasiemächtiger John  Henry  Mackay.  Ich  streifte  vor- 
hin gelegentlich  den  zoolyrischen  Garten  der  Reichshaupt- 
stadt. Nun,  der  seit  Jahren  in  Berlin  lebende  deutsche 
Dichter  mit  dem  schottischen  Namen  gehört  —  ich  spreche 
von  seiner  künstlerischen  Ausnahmenatur  —  jedenfalls  zu 
den  einsam  schweifenden  "Wüstenkönigen  des  Berliner 
Straßenpflasters.  Und  ich  denke  dabei  nicht  einmal  zu- 
erst an  das  dumpf  grollende  Brüllen  seiner  1887  in  Zürich 
erschienenen  ,,Sturm"gesänge,  die  allerdings  auch  —  trotz 
ihrer  oft  lehrhaften  Rhetorik  —  den  durch  seine  ganze 
"Wesensgewalt  hoch  über  sämtlichen  lyrischen  Ästhetiklern 
stehenden  dichterischen  Lucifergeist  ihres  Schöpfers  ver- 
rieten, und  in  denen  Mackay  mit  zuweilen  ja  recht  ab- 
strakten,   aber  dann  auch  wieder  hinreißenden  "Versen  den 


148 


\J{T{L  JiEJ^CJ^ELL 


Einzelnen  die  Fackel  voranträgt,  voranträgt  im  Kampfe  jenes 
Freiheitswillens,  der  die  Fesseln  tausendjähriger  Vorurteile 
und  >X^ahntyranneien  abzustreifen  sucht.  Besonders  in  dem 
Cyklus  ,. Am  Ausgange  des  Jahrhunderts"  ziehen  die  fahlen, 
drohenden  Schatten  einer  dem  Untergange  geweihten  Welt, 
von  starker  dichterischer  Stimmungskraft  heraufbeschwo- 
ren, in  langhinwallenden  Verszügen  der  Seele  vorüber.  Bei 
ganzen  Abschnitten  steigt  uns  heute  das  Schreckensbild  der 
russischen  Revolution  empor,  und  wir  denken  daran,  daß 
den  Alten  Dichter  und  Seher  nur  Eines  war:  Vates! 

,,Es  ist  ein  Geruch  in  den  Lüften,  wie  aus  Toten- 
welten herauf, 

Sie  kennen  die  Stunde  nicht  mehr,  den  Sternen-  und 

Sonnenlauf  — 

Sie  sehen  nur  ringsum  gehäuft  mit  stieren  Blicken 

die  Leichen. 

Und  sie  stehen  und  warten  auf  Etwas,  das  dennoch 

nicht  kommen  will. 

Und  langsam  kriecht  über  die  Erde  ein  Schweigen, 

furchtbar  und  still, 

Und  sie  fühlen  sich  langsam  hinab  in  die  Tiefe 

des  Todes  weichen  — 

Und  die  Erde  liegt  schweigend  und  leer,  bis 


Bis  jede  Hand  verdon-te,  die  Andrer  Arbeit  stahl; 
Bis  jede  Lust  verstummte,  gezeugt  aus  Andrer  Qual; 
Bis  jedes  Schwert  verrostet;  bis  jeder  Schild  zersprang! 
Bis  jede  Stadt  gefallen,  wo  Schmach  und  Weh  gewohnt. 
Bis  sich  entleert  die  Hallen,  wo  Schmach  und  Lust  gethront; 
Bis  in  der  Mittaghöhe  dasteht  der  neue  Tag!"    usw. 

Nein,  wenn  ich  mir  Mackays  dichterische  Gestalt  in  ihrer 
eigentlichen  Grundanlage  vergegenwärtige,  so  sehe  ich 
vor  allem  eine  Fülle  \on  Dichtungen,  die  zu  ermessen  kein 
Lot  irgend  einer  Zeittendenz  oder  begrenzten  Weltanschau- 


Photographie  ,,Elvira"  in  München. 


^r  0u.^_  ^^ 


VOJ^  DEUTSCT{E7{  DICHTUJMG      I4C} 

ung,  mag  sie  noch  so  kühn  und  beziehungsweise  frei  sein, 
ausreicht.  Ich  sehe  die  Gedichte  vor  mir,  welche  aus  dem 
geheimnisvollen  Urgrund  des  individuellen  und  kosmischen 
Seins  heraufquellen,  eigentlich  unerklärlich  in  ihrem  "Warum 
und  Wozu,  von  Tiefen  eines  persönlichen  Lebens  und  eines 
ursprünglichen  Weltgefühls  zeugend,  wie  es  in  dieser  be- 
sonderen Art  und  Macht  des  Ausdrucks  seinesgleichen 
sucht  —  und  zwar  nicht  nur  unter  den  zeitgenössischen 
Dichtern.  In  Mackays  ,, Gesammelten  Dichtungen"  kommen 
zuerst  hundert  und  etliche  Seiten  frühester  Jugendreime, 
die  ich  —  mit  ganz  vereinzelten  Ausnahmen  —  ohne  Schmerz 
entbehren  würde.  (Warum  sind  sie  nicht  in  jenem  ver- 
hängnisvollen amerikanischen  Koffer  abhanden  gekommen, 
von  dem  Mackay  in  seinem  letzten  Gedichtband  „Wieder- 
geburt" berichtet,  daß  er  ihm  mit  unersetzlichen  Manu- 
skripten drüben  verloren  gegangen  sei?)  Dann  abersetzen 
allmählich  jene  Mackay  durch  und  durch  eigentümlichen, 
Himmel  und  Erde  umfassenden  Phantasiestücke  ein,  die 
von  da  an  seine  ganze  weitere  Entwicklung  als  fernhin 
sichtbare  Höhepunkte  seines  dichterischen  Genius  durch- 
ziehn.  Seines  Genius  oder  auch  seines  Dämons,  denn  wie 
unendliche  Sehnsucht  und  Schwingenlust  den  Dichter 
sternenschwebend  zu  silberhellen  Lichtgefilden  führt,  so 
tragen  ihn  die  schwarzen  Fittiche  des  Schmerzes  in  sausen- 
dem Fluge  niederwärts  zu  den  Abgründen  des  Todes  und 
der  eisigen  Weltennacht.  Selige  Gesänge  kosmischen 
Sphärenreigens  und  furchtbare,  grausige,  selbst  gräßliche 
Vernichtungsschreie  durchzittern  und  durchgellen  diese 
Schöpfungen  einer  vom  Lichtfreudigen  bis  zum  Unheim- 
lichen ausgedehnten  Einbildungskraft.  Man  muß  Gedichte 
wie  das  weltenfern  dahingleitende,  erlösende  ,, Vorbei"  und 
das  satanische  ,,Krähengekrächz"  hintereinander  lesen,  um 
—  in  einer  Richtung  wenigstens  —  die  polarischen  Ent- 
fernungen in  dieser  Dichternatur  zu  ahnen,  die  so  gut 
aufs  Erhabene  wie  aufs  Entsetzliche  eingestellt  ist.  Der 
lebens-  und  todesmächtige  Gesang  ,,Am  Meer",  das  äonen- 
umwitterte Gedicht  „Der  gefallene  Stern",   die  grandiosen, 


I^O  J{jn{L  7iEJ\ICJ(BLL 

weltüberschauenden  Seelen, .Wandlungen":  „Ein  Tag"  und 
..Eine  Nacht",  der  vom  leisen  "Wiegen  bis  zum  rasenden 
Zerschellen  anschwellende  .."Weltgang  der  Seele",  der  wie 
mit  riesenhaften  Schattenflügeln  dahinrauschende  ,,Flug  des 
Todes",  wie  der  unendlich  wehmütige  und  doch  trostvolle 
Licht-  und  Nachthymnus  ,,Der  Stern",  die  quellendürstende 
"Wüstenphantasie  ,,Die  Oase"  aus  ,, "Wiedergeburt"  —  es  ist 
das  eine  Kette  \on  Poesieen.  die  allein  genügen  würde, 
Mackays  Dichtererscheinung  auf  den  hohen  Platz  zu  rücken, 
der  ihr  gebührt.  Sind  doch  diese  "Weltenträume  nicht  etwa 
kalte  Ausgeburten  eines  phantastischen  Gehirns,  die  nur 
durch  Absonderlichkeit  und  rhythmische  "Virtuosität  Stau- 
nen erregen  —  ich  würde  sie  dann  nie  so  bewundern  — 
nein,  sie  vibrieren  und  pulsieren  von  einer  Leidenschaft, 
die  einem  sehr  starken,  ins  Unendliche  sich  ausweitenden 
Lebensgefühl  entspringt.  Und  der  Dichter  hat  gewiß  ein 
Recht,  am  Schlüsse  des  erwähnten  Gedichts  ,,Die  Oase" 
von  sich  zu  sagen: 

,,Denn  meine  Worte   sind  Tropfen,    sie  fallen   von  meinem 

Gefieder, 

"Welches    dem    Bad    des    Lebens    entstieg   —   o  Ihr,    meine 

Lieder, 

Nur  ein  erhabenes  Herz  kann  Eure  Sprache  verstehn." 

Mackays  Muse  ist  die  Tochter  des  vor  keinen  Folge- 
rungen zurückweichenden  Gedankens,  der  sich  auf  die 
scharfe  Schaufel  der  Erkenntnis  stützt,  und  der  flügel- 
spannenden, alle  "Weiten  der  "Welt  durchfliegenden  Phan- 
tasie, deren  perlgraue  Schwingen  vom  roten  Blute  glühend- 
menschlichen Empfindens  tropfen.  —  Aber  ich  habe  hier- 
mit nur  einige  Seiten  seines  Wesens  angedeutet:  das  volle 
Leben  hat  diesem  Dichter,  der  von  jeher  seinen  Beruf  als 
einen  wahrhaft  konfessionellen  auffaßte,  und  dessen  Lyrik 
vielfach  in  poetisch  gesteigerten  Tagebuchblättern  besteht, 
eine  Menge  farbig  leuchtender  oder  schwarzglänzender 
Edelsteine  zur  künstlerischen  Schleifung  und  Fassung  vor 
die  Füße  gerollt.    Mackays  schönheitatmende  Seele  ist  wie 


VOJM  DEUTSCTiEJj  BlCJiTUJ^G        I^yl 

bei  den  meisten  von  uns,  die  sich  über  den  tiefen  Kon- 
flikt zwischen  ihrer  feineren  und  freieren  Organisation  und 
der  oft  rohen  Umwelt  nicht  leicht  hinwegzusetzen  ver- 
mögen, von  der  grausamen  Häßlichkeit  zahlloser  Lebens- 
realitäten der  Gegenwartskultur  im  besonderen  und  mensch- 
licher Trostlosigkeiten  im  allgemeinen  tief  verwundet  wor- 
den und  gebraucht  sein  heiliges  Dichterrecht,  in  bald 
schmerzerfüllter,  bald  hohnlachender  Sprache  das  Leid 
dieser  Zwiespaltsempfindung  zu  klagen  .  .  .  Ein  echt  lyri- 
sches Temperament,  läßt  er  die  Töne  finsterster  Schwermut 
mit  den  sonnigsten  Freudegesängen  des  Lebens  und  der 
Liebe  jäh  wechseln.  W^enn  ein  Winzerfest  am  Genfersee 
ihn  dionysisch  stimmt,  schwimmt  er  nur  so  auf  den  schim- 
mernden Wellen  seiner  Rhythmen  dahin,  und  wenn  er  in 
der  Einsamkeit  der  Nacht,  von  Qualen  gefoltert,  um  Fallen 
oder  Siegen  den  entscheidenden  Kampf  nur  mit  sich  aus- 
kämpft, so  fühlt  man  förmlich,  wie  seine  Rhythmen  zur 
Anspannung  der  letzten  Überwindung  stoßweise  Atem 
holen-  Wie  viel  hochinteressante  Dinge  wären  zu  Tage 
zu  fördern,  wollte  man  —  und  es  verlohnte  sich  schon I  — 
John  Henry  Mackays  Dichtungen  psychologisch  analy- 
sieren! Das  ist  mir  hier  natürlich  nicht  möglich,  und  so 
hören  Sie  denn  nur  noch  von  diesem  außerordentlichen 
Dichter,  der  mehr  wie  ein  Talent  und  gar  ein  bloß  ge- 
fälliges ist,  und  der  in  Leben  und  Dichten  so  ganz  seine 
eigenen  Wege  geht,  ein  paar  Gedichte,  wie  man  sie  eben 
aus  den  Schätzen  eines  Poeten,  der  durch  Reichtum  der 
Motive  und  Formen  gegen  die  anthologische  Charakteristik 
gefeit  ist,  nach  dem  Impuls  der  Stunde  auswählt. 
Zunächst  das  sphärengleitende: 


VORBEI. 


Vorbei!     Im  Sternenglanze, 
Hoch  über  dieser  Welt, 
Schwebst  du  im  Reigentanze, 
Die  Flügel  luftgeschwellt. 


IS2  JiJlTiL  TiBJ^CjgBLL 

Die  klaren  Augen  tauchen 

Tief  in  die  stille  Nacht, 

Und  deine  Lippen  hauchen 

Gedanken,  nie  gedacht. 

Vorbei!     Du  siehst  die  Sterne 

An  dir  vorüberziehn, 

Du  aber  suchst  die  Ferne, 

Um  zu  ihr  hin  zu  fliehn. 

Die  Nacht  versinkt  dem  Tage, 

Du  aber  schwankst  und  schwebst 

Vorüber  jeder  Frage 

Und  weißt  nicht,  daß  du  lebst. 

Vorbei!     Dich  trug  dein  Sehnen, 

Hoch  über  allem  Weh, 

Vorbei  dem  Tal  der  Tränen, 

Vorbei  dem  Totensee. 

Wunschlos  und  wahnlos  gleitest 

Du  weiter  deine  Bahn, 

Und  deine  Flügel  breitest 

Du  über  den  Orkan. 

Vorbei !     Dem  Reigentanze 

Entzog  sich  deine  Macht, 

Einsam  im  Weltenglanze 

Gleitest  du  durch  die  Nacht. 

Im  Osten  glüht  der  Morgen, 

Du  aber  siehst  ihn  nicht. 

Du  schwebst  —  vor  Leid  geborgen  — 

Hin  durch  ein  Meer  von  Licht. 

Vorbei!     Am  Weltenende 

Stehst  du  und  wartest  still. 

Ob  sich  ein  Wandrer  fände. 

Der  dir  noch  folgen  will. 

Du  wartest  .  .  .    Keiner!  —  Nieder 

Beugst  du  dich  zu  der  Flut 

Und  trinkst  .  .  .  noch  einmal!  —  Wieder 

Beseelt  dich  alte  Glut. 

Vorbei !     Mit  starkem  Brausen, 


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VOJ^  DEUTSCJiE7{  DJCTiTUJ^G       I^^ 

Die  Flügel  ausgespannt, 

Trägt  dich  des  Windes  Sausen 

Zurück  zum  Heimatland. 

Du  siehst  die  Fluren  schimmern. 

Wo  deine  Hütte  lag, 

Wo  dir  in  Tagen,  schlimmem, 

Dein  Leben  hart  zerbrach. 

Hernieder!  —  doch  hernieder 

Kannst  du  nicht  mehr  fortan! 

Nie  kehrt  zur  Heimat  wieder, 

Wer  sie  verlassen  kann. 

Da  packt  dich  banges  Grausen, 

Du  schlägst  die  Flügel  wild 

Und  fährst  mit  starkem  Brausen 

Wider  des  Himmels  Schild. 

Vorbei!  —  im  Sternenglanze, 

Der  herrlich  dich  umhellt. 

Schwebst  du  im  Reigentanze 

Hoch  über  dieser  Welt. 

Und  du  durchmißt  die  Weiten, 

Die  einmal  du  begehrt. 

Und  ruhlos  wird  du  gleiten. 

Bis  du  dich  selbst  verzehrt. 

Dann    das   tiefe    Lied   wehevoller   Erkenntnis,    das    auch 
nur  Mackay  so  schreiben  konnte: 


DIE  GEWOHNHEIT. 

Ich  bin  ein  Morgentraum,  der  schwer 
Auf  deinem  Herzen  liegt; 
Ich  bin  ein  Kuß,  der  liebeleer 
An  deinen  Mund  sich  schmiegt. 
Ich  bin  die  Stimme  deiner  Zeit, 
Und  wie  du  dich   empörst: 
Ich  bin's,  auf  die  in  Lust  und  Leid 
Du  stets  als  erste  hörst. 

BT{JIJ\DES:  DIE  UTETiJlTini.  BJIJW  XXXVII l  XXXVIII 


754  7{J17{L  liEJSlCT^ELL 

Ich  lenke  dich  mit  leiser  Hand. 

Du  ahnst  nicht,  wer  ich  bin. 

Ich  bin  d\v,  die  du  nie  gekannt, 

Treueste  Begleiterin. 

Du  kennst  die  Wahrheit,  doch  du  lügst. 

Und  dein   ist  meine  Schuld; 

Du  liebst  die  Freiheit  und  du  fügst 

Dich  feig  —  ich  sprach:  Geduld. 

Ich  bin  der  Trägheit  dumpfer  Hauch, 

Dein  "Wille  liegt  erschlafft; 

Ich  sorge,  daß  aus  altem  Brauch 

Kein  neuer  Ton  dich  rafft. 

Ich  nehme  dich  an  meine  Brust, 

Wenn  schmerzlich  auf  du  schreist  — 

Ich  bin  es,  der  du  unbewußt 

Dein  bestes  Leben  weihst. 

Und  schließlich  die  armeausbreitenden,  von  neuem  Leben 
und  Wagen  des  unermüdlichen  Schwimmers  kündenden  Stro- 
phen aus  „Wiedergeburt": 

ICH   MUSS  WIEDER  FT.1EGEN. 

Ich  muß  wieder  fliegen!  —  Ich  muß  wieder  fliegen! 

ich  trag's  nicht  mehr!  — 
Süß  redet  die  Ferne  von  Kämpfen  und  Siegen  — 

Mein  Herz  schlägt  schwer. 

Ich  darf  meine  Tage  nicht  mehr  verhüllen 

In  diesen  Staub. 
Ich  muß  in  die  Ferne,  um  sie  zu  füllen 

Mit  neuem  Raub. 

Es  rief  mit  der  Stimme  der  Kraft  ein  Rufer 

Mich  lang  und  laut: 
Ich  sehe  neue  und  herrliche  Ufer, 

Von  Licht  betaut; 


VOJ^  BEHTSCfCETj  BICHTUJ^G       755 

Ich  sehe  Gebirge,  groß,  gewaltig. 

Der  Adler  Hort, 
Und  Städte  seh'  ich:  wie  fremdgestaltig 

Die  Menschen  dort! 

Schon  bin  ich  der  jugendkräftige  Schwimmer, 

Der  sie  beschritt. 
Schon  bin  ich  der  Kühnen  kühner  Erklimmer, 

Der  sie  erstritt. 

Schon  in  die  gaukelnden,  schwirrenden  Massen 

Hineingetaucht, 
Hab'  ohne  Lieben  und  ohne  Hassen 

Ich  sie  verbraucht!  .  .  . 

Ich  fliege  wieder!  —  Ich  fliege  wieder!  — 

Die  Ferne  fällt! 
Mein  sind  unzählige  neue  Lieder! 

Mein  ist  die  Welt! 


Heim  schwankt  im  Herbste  der  Wagen,  beladen 

Mit  neuer  Frucht. 
So  kehre  ich  heim  zu  meinen  Gestaden, 

In  diese  Bucht, 
Wo  ich  nun  still  vor  Anker  legen 

Die  Frachten  will  .  .  . 
Befreit  von  Last,  beschwert  von  Segen 
Seh'  ich  der  Winternacht  entgegen. 

Mein  Herz  schlägt  still. 

Gerade  Mackays  letztes  Lyrikbuch  ,, Wiedergeburt"  mit 
seinem  sonnig-gesunden  Lebensmut  und  seinen  schwellen- 
den Formen  beweist,  daß  er  über  das  ihm  sonst  in  mancher 
Hinsicht  verwandte  dämonische  Nachtfalterreich  eines  Baude- 
laire weit  hinausreicht  —  aber  wir  Deutschen  sind  ein  nicht 
übermäßig  dankbares  Volk  und  reichen  tausendmal  eher 
einem  französischen  als  einem  deutschen  Dichter  von  tief 
ausgeprägter  Eigentümlichkeit  den  Lorbeer. 

L* 


IJb_ 


■K^TjL  »EMCJ^Lh 


Zumal  um  das  breitere  öffentliche  Interesse  für  einen 
bedeutenden,  lebenden  Dichter  zu  wecken  oder  wach 
zu  erhalten,  braucht  es  bei  uns  zumeist  etlicher  per- 
sonlicher Sensatiönchen,  am  liebsten  verblüffender  ,,Skandäl- 
chen",  oder  irgend  einer  Sammlung,  Stiftung,  nachträglichen 
Ehrenspende  und  was  dergleichen  schöne  Memorialien 
mehr  sind.  So  ist  auch  Gustav  Falke  eigentlich  erst  durch 
den  längst  verdienten  Ehrengehalt  der  reichen  Republik 
Hammonia  in  den  Augen  des  großen  Publikums  ,,auf  die 
vorderste  Bank"  gerückt.  (In  uns  Deutschen  steckt  ein 
Stück  Schulmeister,  wir  teilen  den  Dichtern  Zensuren  aus 
und  versetzen  sie,  wenn  sie  hübsch  artig  sind,  nicht  ohne 
ein  bedeutsames  Zeigefingerheben,  in  die  höhere  Klasse.) 
Und  doch  hatte  Gustav  Falke  schon  durch  sein  1892  er- 
schienenes erstes  Buch  „Mynheer  der  Tod"  und  in  noch 
höherem  Grade  durch  das  zwei  Jahre  darauf  folgende  ,,Tanz 
und  Andacht"  der  \C^elt  unverkennbar  gezeigt,  welch  ein 
trefflicher  und  feiner  dichterischer  Künstler  mit  ihm  auf  den 
Plan  getreten  war. 

In  ,, Mynheer  der  Tod"  mußten,  abgesehen  von 'den  wohl 
noch  Liliencron  zuneigend  v^ahlverwandten,  aber  doch  auch 
wieder  in  Phantasie  und  Sprachfrische  selbständigen  mo- 
dernen Totentänzen  wie  ,,Die  Equipage",  sofort  durch  den 
zarten  Tiefton  ihrer  Herzensstimmung  und  durch  die  aus- 
geglichene Reinheit  ihrer  innern  Form  jeden  Hörenden  auf- 
horchen lassen  solche  Gedichte  wie 

NACHTGANG. 

Lautlos  am  umbuschten  "Reiher 
"Wandelt  durch  das  Gras  die  Nacht, 
Hinter  ihr,  ein  feuchter  Schleier, 
Heben  sich  die  Nebel  sacht. 

Weite,  weite  stille  Strecken 
Mag  sie  wie  im  Fluge  gehn. 
Zwischen  Felder,  zwischen  Hecken 
Seh'  ich  ihren  Schleier  wehn. 


GUSTAV  FALKE 

Photographie  Müller-Brauel  in  Zeve. 


VOM  beutschetj  djchtujmg     757 

Wälder,  Gärten,  Dorfgelände 
Streift  ihr  leiser,  steter  Gang. 
Nur  am  Friedhof  ist's  als  stände 
Sinnend  sie  sekundenlang. 

Warf  sie  jene  schwarze  Rose 
In  des  Todes  still  Geheg? 
Taufeucht  fand  die  heinnatlose 
Ich  früh  morgens  dort  im  Weg. 

In  demselben  Buche  stand  auch  ein  kleines  Wunschgedicht: 

O  BITT    EUCH  LIEBE  VÖGELEIN. 

Liebessingsang,  Trinkgejuchze, 
Läppische  Poeterei! 
Nicht  dies  Nachtigallgeschluchze  — 
O,  nur  einen  Adlerschrei! 

O  nur  einen  vollen,  wahren 
Ton  aus  tiefster  Brust,  davor 
Wir  erschreckt  zusammenfahren. 
Nicht  den  zahmen  Gimpelchor. 

Doch  das  zwitschert  wie  im  Bauer 
Blöde  Dompfaffmelodei: 
Holde  Wehmut,  süße  Trauer,  — 
O,  nur  einen  Adlerschrei! 

O  nur  einen  Adlerschrei!  Wie  gab  mit  dieser  Zeile 
Gustav  Falke  unser  aller  Sehnsucht  so  einfachen  kernigen 
Ausdruck!  Und  wie  wußte  er  gleich  durch  sein  nächstes 
Buch  diesem  Sehnsuchtsruf  selbst  mit  in  erster  Reihe  Er- 
füllung zu  leihen!  Kühnheit  der  Empfindung,  der  Er- 
findung und  der  Sprache  war  das  entschiedene  Merkmal 
seines  lyrischen  Künstlertums,  wie  es  sich  in  „Tanz  und  An- 
dacht" reich  und  vollsaftig  offenbarte.  In  den  „Phantasie- 
stücken" dieses  Bandes  lebt  sich  eine  wunderbar  berau- 
schende Einbildungskraft  aus,  die  sich  zu  ihrer  Darstellung 
einer  farbenschwelgenden  Sprache  von  ganz  neuer  Leucht- 


158 


J{jn{L  ?iEJSC\ELL 


kraft  bedient.     Das   ist    ja   überhaupt  ein   Grundzug,    der 

wohl  am  deutlichsten  den  Gegensatz  zu  allem  Epigonen- 
tum, auch  zu  den  besseren  seiner  Vertreter,  bezeichnet:  die 
Auffrischung  der  Sprache  und  "Wiedergeburt  des  Wortes 
als  unmittelbaren  Lebens-,  Gefühls-  und  Bildträgers  der 
"Welt.  In  Dichtern  wie  Falke  hebt  wirklich  die  Welt  an 
von  neuem  zu  leuchten  und  zu  klingen.  Seine  reife  Kunst 
—  ich  sehe  im  Augenblick  von  der  Echtheit  und  Tiefe  des 
Lebensgehaltes,  die  ihn  allerdings  auch,  und  \on  Buch  zu 
Buch  mehr,  auszeichnet,  ganz  ab  —  seine  reife  Künstler- 
schaft besteht  in  einer  ungemein  glücklichen  Verbindung 
und  Durchdringung  anschaulicher  und  rhythmischer  Ele- 
mente. Neu,  klar  und  einheitlich  im  Bild,  verfügt  er  über 
das  sicherste  rhythmische  Taktgefühl,  das  man  sich  denken 
kann.  Man  höre  bloß  ein  Gedicht  wie  dieses  hier  aus 
„Zwischen  den  Nächten": 

AUF  DER  JAGD. 

Schmale  Wege  gingen  wir 

Hand  in  Hand, 

Schmetterlinge  fingen  wir 

Hart  an  eines  Abgrunds  Rand. 

Und  mit  jedem   Falter  glaubten  wir 

Gleich  das  Glück,  das  Glück  gefangen, 

Doch  die  Finger  nur  bestaubten  wir 

Und  der  schöne  Schimmer  war  vergangen. 

Aber  nie  genug. 

Immer  reizt  der  Flug 

Dieser  bunten  Gaukler  uns  zum  Fang. 

Dort,  den  Weg  entlang. 

Quer  jetzt.    Wie  er  lacht. 

Pfauenaugenpracht. 

Hasch  ihn.     Da.     Das  Glück. 

Über  Tiefen.     Halt!     Zurück! 

Hoch  im  Sonnenglanz 

Faltertaumeltanz, 

Aber  unten  droht  die  schwarze  Nacht. 


VOJ^  DEUTSCBEJi  BlCJiTVJ^G       759 

Doch  ich  wollte  noch  ein  Wort  von  den  „Adlerschreien", 

den  kühnen  Würfen  Gustav  Falkes  sagen,  die  manche  vor 
den  leise  gedämpften  Lauten  seiner  zartbesaiteten  Viola 
d'amour  und  seiner  innigen  Herddämmerglückslyrik  zu  über- 
sehen scheinen.  Ein  Dichter,  der  Verse  wie  ,,Ein  böser 
Tag",  ,, Wahnsinn",  „Der  Schritt  der  Stunde",  ,, Rechtferti- 
gung", ,, Gebet",  ,, Wohin?",  ,,Die  Peitsche  Euch"!!,  ,,Das 
neue  Lied"  in  „Tanz  und  Andacht"  oder  ,, Sankt  Jürgen", 
„Gral",  „Vaterland"  und  andere  mehr  in  „Neue  Fahrt"  ge- 
schrieben, ist  ein  dichterischer  Lebenskämpfer  kraftvollen 
Wuchses,  von  all  jenen  Gedichten,  in  denen  sich  dieser 
ringende  Zug  mehr  mittelbar  und  in  symbolischer  Weise 
ausdrückt,  gar  nicht  zu  reden.  Unsere  Anthologieen,  die 
vielfach  gewisse,  einmal  übereingekommene  Züge  eines 
Dichters  immer  und  immer  wiederkehren  lassen,  erwecken 
so  oft  falsche  und  einseitige  Vorstellungen  von  umfassen- 
deren Dichternaturen  und  dienen  gemeiniglich  mehr  der  Ge- 
schmacksträgheit als  der  dem  Künstler  nachspürenden  Liebe. 
Mir  sind  Gedichte  wie  die  oben  nur  beispielsweise  ge- 
nannten wesentlich  zur  Ermessung  der  seelischen  Spann- 
kräfte in  einer  schaffenden  Persönlichkeit,  mögen  sie  auch 
hierund  da  an  künstlerischer  Vollkommenheit  hinter  andern 
zurückbleiben.  Wenn  man  Kunst  und  Dichtung  nicht  nur 
aus  der  ästhetisierenden  Maulwurfsperspektive,  sondern 
vom  Standpunkt  eines  in  Schönheit  und  Kraft  gesteigerten 
Menschentums  betrachtet,  so  neigt  sich  manche  Schale  stark 
beschwert,  die  in  den  Augen  der  Geschmäcklcr  leicht  empor- 
schnellen mag. 

DER  SCHRITT  DER  STUNDE 

Der  Schritt  der  Stunde,  wenn  du  schlaflos  liegst. 
Und  die  Gedanken  sich  wie  Schwalben  jagen, 
Wenn  sehnend  du  bis  an  die  Sterne  fliegst 
Und  leer  zurückkehrst,  flügellahm,  zerschlagen. 
Der  Schritt  der  Stunde,  wenn  du  schlaflos  liegst. 
Und  aus  dem  Dunkel  starren  stumme  Klagen, 


TSÖ  \AT{L  IiEJyCJ(ELL 

Daß  du  dich  schluchzend  in  die  Kissen  schmiegst 
Und  weißt  nicht  ein  und  aus.     Schon  wird  es  tagen. 
Das  Leben  jauchzt  auf  tausend  hellen  Geigen, 
Du  aber  hörst  nur  durch  den  muntern  Reigen, 
Nachzitternd,  dumpf,  wohin  du  fliehen  magst, 
Den  Schritt  der  Stunde,  da  du  schlaflos  lagst. 
Und  rangst,  und  fühltest  in  fruchtlosem  Klopfen 
An  Gottes  Pforten  deine  Kraft  vertropfen. 

In  der  „Neuen  Fahrt"  vollends  hat  Gustav  Falke  eine 
reine  Höhe  der  Künstlerschaft  erreicht,  die  mit  seelischer 
Vertiefung  und  zu  edler  Macht  gediehenem  Menschenwert 
Hand  in  Hand  geht,  daß  mich  vor  der  Lebensstimme  man- 
ches Gedichtes  das  beglückende  Gefühl  liebender  Andacht 
überkommt.  Wer  da,  wo  er  mit  so  sanfter,  ruhiger  und 
starker  Dichterhand  zu  Tempeln  wahrer  Lebensschönheit 
geleitet  wird,  nicht  still  und  hingebend  sein  Haupt  neigt, 
ist  arm  und  beklagenswert.  Bei  Gedichten  wie  „Morgen- 
lied", „Ein  Harfenklang",  „Der  törichte  Jäger",  dem  schon 
einmal  erwähnten  „Sankt  Jürgen",  „Gesang  der  Muscheln", 
„Das  Birkenbäumchen",  „Alt  und  Jung",  „Ewige  Sehn- 
sucht", „Mysterium",  „Die  Schlummerkerze",  „Späte 
Rosen",  „Weltflucht",  „Winter",  „Grab",  „An  einem  Grabe", 
„Leben"  und  so  gut  wie  allen  in  dem  Buche  folgenden  — 
bei  solchen  selten  klaren  Lebensklängen  und  linden  Himmels- 
tönen wird  einem  wunderbar  feierlich  und  eigriffen  zu 
Mute.  Ich  schäme  mich  nicht,  zu  bekennen,  daß  ich,  wenn 
ich  „Schutzheilige",  „Erscheinung",  „So  komm  doch"  lese, 
jenes  innere  Zittern  verspüre,  das  von  dem  geheimen, 
schamhaft  gehüteten  Heiligtum  des  Herzens  ausgeht.  Es 
ist  wohl  doch  etwas  um  die  alte  Sage,  daß  die  Dichter 
zuerst  zu  Herzenskündigern  berufen  sind,  und  daß  alle 
„Kunst  der  wohlgesetzten  Worte"  eitel,  eitel  und  dreimal 
eitel  ist,  wenn  sie  nicht  von  dem  tiefen  Strom  durchzogen 
wird,  der  Menschenherz  und  Menschenherz  aufs  innigste 
verbindet. 

Das   hat   mit  Sentimentalität  nichts,  aber  auch  nicht  so- 


^yi^'y     .     C/a^^^       fit-t^t^       Jd^  a-J-^y^^^rJ^ 
'Ti'-^        -^Cs^-iy/i     ^^^-^    ^&--^^^, 

-^^  '•'-i  ^    /^^y   cu-Y  «-(W /*-^    &6u/) 

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i>      Mi'f^t-   <J-^    a^i-t-r"  Ji-i-^-.      9-*^ 


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VOJ^  DEVTSCBEJi  BlCftTVJ^G      l6l 

viel  zu  tun,  wohl  aber  mit  dem  starken  Gefühl  als  dem 
schönsten  Bronnen  feinerer  menschlicher  Lebensgewalt. 
Daß  der  Herzenskündiger  ein  Kundiger  aller  Wortkunst 
sein  muß,  versteht  sich  ohnehin  für  mich  von  selbst.  Das 
hat  völlig  eins  zu  sein!  Sonst  —  wenn  es  da  hapert  — 
kann  man  allerdings,  im  Reich  der  Kunst,  auf  die  schön- 
sten Gefühle  der  Menschheit  ,, pfeifen".     Ich  lese 


DAS  BIRKENBÄUMCHEN. 

Ich  weiß  den  Tag,  es  war  wie  heute. 
Ein  erster  Maitag,  weich  und  mild. 
Und  die  erwachten  Augen  freute 
Das  übersonnte  Morgenbild. 

Der  frohe  Blick  lief  hin  und  wieder, 
"Wie  sammelt  er  die  Schätze  bloß? 
So  pflückt  ein  Kind  im  auf  und  nieder 
Sich  seine  Blumen  in  den  Schoß. 

Da  sah  ich  dicht  am  Wegessaume 
Ein  Birkenbäumchen  einsam  stehn. 
Rührend  im  ersten  Frühlingsflaume, 
Kennt  nicht  daran  vorübergehn. 

In  seinem  Schatten  stand  ich  lange, 
Hielt  seinen  schlanken  Stamm  umfaßt 
Und  legte  leise  meine  Wange 
An  seinen  kühlen  Silberbast. 

Ein  Wind  flog  her,  ganz  sacht,  und  wühlte 
Im  zarten  Laub  wie  Schmeichelhand. 
Ein  Zittern  lief  herab,  als  fühlte 
Das  Bäumchen,  daß  es  Liebe  fand. 

Und  war  vorher  die  Sehnsucht  rege. 
Hier  war  sie  still,  in  sich  erfüllt; 
Es  war,  als  hätte  hier  am  Wege 
Sich  eine  Seele  mir  enthüllt. 


l62 J^JUjL  JJEMCJ^ELL 

Daß  in  dem  tieffühlenden  und  kunstvollendeten  Gustav 
Falke  außerdem  ein  lebendiger  Quell  glücklichen,  schalk- 
haften Humors  sprudelt,  habe  ich  noch  gar  nicht  erwähnt. 
Lesen  Sie  die  Gedichte:  ,,Die  Teufelsbraut",  ,, Konfirman- 
dinnen", ,, Ständchen",  ,, Schutzengel",  ,,  Nachtwandler  ", 
,,  Kleine  Geschichte",  „Närrische  Träume"  und  ähnliche 
mehr,  so  werden  Sie's  spüren.  Ich  will  Ihnen  nur  noch 
mit  ein  paar  aus  Gedichten  herausgepflückten  Lebensversen 
durch  Gustav  Falke  seine  eigene  Silhouette  zeichnen  lassen: 
echte  Dichter  tun  das  immer  weit  besser  selbst  als  sämt- 
liche Darsteller  ihrer  Wesensart. 

„Ob  mit  Tanz  wir  oder  Beten 
Hin  vor  unsre  Gottheit  treten. 
Gestern  Schelme,  heut  Propheten, 
Immer  fromm  sind  wir  Poeten." 


„Dichternächte,  sanft  erhellt, 
Dichtertage,  reich  an  Sonnen  — 
Heißt  das  nicht  im  Spiel  der  Welt 
Einen  ersten  Platz  gewonnen?" 

„Und  ist's  nur  einen  Sonnenblitz, 
Daß  uns  ein  Glück  bereitet. 
Nur  einen  kurzen  Sattelsitz, 
Daß  Freude  uns  begleitet." 

„Bei  Tagesanbruch  singt  das  Herz  und  lacht: 
Heut  wird  dein  Segen  unter  Dach  gebracht. 
Der  Abend  kommt,  zu  sehen,  was  es  sei: 
In  hohler  Hand  ein  Körnchen  oder  zwei." 

,.Das  ist  mein  Leben:  Kronenglanz 
Und  Licht  und  Lied  und  Friedefülle. 
Und  ist  mein  Leben:  Dornenkranz 
Und  Blut  und  Staub  und  härene  Hülle." 


VOJ^  BBUTSCTCETj  DJCJiTUJMG       l6^ 

„Die  Peitsche  euch! 

Die  ihr  vom  Blut  des  Genius  lebt 

Und  ans  Kreuz  des  Gemordeten 

Eure  grabschänderischen  Kreuze  hängt: 

Seht,  welch  ein  Gott!" 

Gib  leichten  Fuß  zu  Spiel  und  Tanz, 
Flugkraft  in  goldne  Ferne, 
Und  häng  den  Kranz,  den  vollen  Kranz 
Mir  höher  in  die  Sterne! 

Nennst  du  ein  heilig  Feuer  dein, 
Sei  treu  und  halt  die  Flamme  rein. 
Lohnt  auch  die  \v^elt  den  Hüter  nicht. 
Dich  krönt  ein  Kranz:  Du  bist  im  Licht. 

So  will  ich  neue  Inseln  suchen, 
Schon  bleibt  der  düstre  Strand  zurück. 
Blast  Winde,  daß  die  Masten  klingen, 
O  Sturm!     O  Tanz!     O  Meeresglück! 

In  Hamburg,  das  sich  nachgerade  —  was  würde  Hein- 
rich Heine  dazu  sagen!  —  aus  einer  Stadt,  in  der  man 
vorzüglich  essen  und  trinken  soll,  zu  einer  Stadt  aufzu- 
schwingen scheint,  in  der  man  noch  vorzüglicher  dichtet, 
in  Hamburg  lebt  und  schafft  außer  Liliencron  und  Falke 
gegenwärtig,  im  Zenith  der  Mannestage,  ein  markent- 
sprossener Zeitgenosse,  der  durch  rastloses  Wachstum  und 
unablässige  Auswirkung  seiner  menschlichen  Persönlichkeit 
wie  durch  bewußte,  energische  Höherzüchtung  einer  merk- 
würdig verästelten  künstlerischen  Instinktnatur  eine  ein- 
dringliche, volle  Machterscheinung  dichterischen  Lebens  dar 
stellt.  Es  ist  mir  nicht  möglich,  Ihnen  in  diesem  all 
gemeinen  Zusammenhange  den  Kreis  dichterischer  Weit- 
erraffung und  — Erschaffung  ringsherum  nachzuziehen,  den 
Name  und  Begriff  Richard  Dehmel  ausdrücken.    Ich  muß 


164 


7(jn{L  HEßJCJ{ELL 


mir  das  vielmehr  für  eine  besondere  psychologische  Ent- 
wicklungs-Schilderung und  Deutung  der  lyrischen  Grund- 
elemente unserer  gegenwärtigen  Dichtung  vorbehalten. 
Hier  nur  ein  paar  Schlaglichter  auf  eines  der  eigentümlich- 
sten und  bedeutsamsten  lyrischen  Phänomene  unserer  und 
nicht  nur  unserer  Tage.  Vor  allem:  Richard  Dehme]  will 
als  ganze,  in  all  ihren  noch  so  verschiedenartigen  Äuße- 
rungen zu  Eins  werdende,  im  tiefsten  Unbewußten  des 
Lebens  wurzelnde,  zum  höchsten  Bewußtsein  der  Erkennt- 
nis sich  erhebende  Dichterkraft  erfaßt  sein.  Wenn  ich 
sage  „erfaßt"  sein,  so  meine  ich  damit  eigentlich  —  erlebt 
sein.  Denn  an  den  eigentlichen  Dehmel  kommt  man  weder 
mit  bloß  ästhetischen  noch  gar  mit  den  Maßstäben  der 
historischen  Schriftgelehrten  heran.  Man  muß  vom  Men- 
schen und  Künstler,  beides  im  ursprünglichen  Sinn  ge- 
nommen, ausgehen,  und  dazu  muß  man  sich  der  herkömm- 
lichen ethisch-ästhetischen  Bewertungen  m.öglichst  entäußern. 
Dies  geschieht  am  besten  durch  Zurückgehen  auf  die  letz- 
ten, verschwiegensten  Wahrheiten  des  eigenen  Erlebens  und 
in  der  vollen  Aufrichtigkeit  des  nackten:  Das  bist  du.  Ja, 
es  ist  so:  In  Richard  Dehmels  Dichtungen  dürstet  wieder 
einmal  eine  ganze  Menschenseele  danach,  sich  in  ihrer  un- 
verschleierten  Gestalt  und  in  all  ihren  Wandlungen  rückhaltlos 
zu  offenbaren.  Daß  dies  ,, suggestiv"  geschieht,  dafür  sorgt 
der  seiner  Ausdrucksmittel  bewußt  und  mit  hoher  Kultur 
mächtige  Künstler  des  neuschöpferischen  Worts.  Richard 
Dehmel  besitzt  die  aller  gesellschaftlichen  und  literarischen 
Konvention  entrückte  Mut-  und  Willensgewalt,  wirklich 
künstlerisch  Leben  zu  beichten.  Das  ist  ein  großer  Zug. 
Und  von  dem  reinen  künstlerischen  Bekenntnisdrang  der 
erlauschten  Wahrheit  abgesehen  —  welche  Kraft  hoch- 
wertigen Lebens  steckt  in  der  bewußten  menschlichen  Auf- 
wärtszüchtung und  Selbstvervollkommnung,  wie  sie  alle 
Bücher  Dehmels  von  den  ,, Erlösungen"  bis  zu  den  ,,Zwei 
Menschen"  ergreifend  und  hinreißend  verraten!  Nicht 
oft  lag  in  einem  Dichter  soviel  vom  Tierischen  her  und 
soviel    zum    Göttlichen  hin    unmittelbar  zusammengedrängt. 


J\i^(4Mcime£<^      P^ 


Nach  dem  Gemälde  von  Julie  W'oljthoni. 


y01\l  DEUTSCBETj  DJCJiTUJMG      l6§ 

und   zahllose  zerreißende  Gegensätze  der  Triebe,   Gefühle 

und  Gedanken  sind  zu  beherrschen,  bis  das  selige  Zu- 
sammenspiel die  stürmische  Sehnsucht  der  Einzelakkorde 
erlöst.     Von  Carl  Spitteler  stammt  das  "Wort: 

,,Die  stärksten  Seelen  gehen  am  längsten  fehl",  und 
Richard  Dehmel  drückt  eine  verwandte  Wahrheit  aus  in 
dem  Verse: 

„Noch  hat  keiner  Gott  erflogen, 
Der  vor  Gottes  Teufeln  flüchtet." 

Es  ist  die  Moral  der  mutigen  Wagekraft,  die  sich  alles 
zutrauen  kann,  ja  muß,  vor  dem  Mittelmaß  und  Halbheit 
zurückschreckt,  um  „selig"  zu  werden  d.  h.  im  innersten 
Ausgleich  zu  ruhn. 

Daß  ich  nur  eine  Seite  der  Welt,  allerdings  eine  wesent- 
liche, berühre:  Ich  kenne  keinen  zweiten  Dichter,  in  dem 
Hölle  und  Himmel  der  geschlechtlichen  Leidenschaft  und 
der  Liebe  von  Mann  und  Weib  mit  prasselnder  Glut  und 
weißen  Lilienflammen  so  brünstig  und  so  sehnlich  sich  läu- 
ternd ineinanderkreisen  wie  bei  Richard  Dehmel.  Auch  hier 
und  gerade  hier  am  meisten  darf  der  Dichter  verlangen,  daß 
man  seinen  Satans-  und  Engelsreigen  von  Anfang  bis  zu 
Ende  verfolgt  und  nicht  nach  unzuchtschnuppernder  Spitzel- 
art mit  seinem,  ach  so  säubern  Naschen  in  irgend  einem 
höllischen  Hexenspältchen  verhängnisvoll  kleben  bleibt  — 
wer  nicht  durch  die  wütendsten  Venusstrophen  schon  in 
der  Ferne  das  leise  Singen  der  aufsteigenden  Selbsterlösung 
vernimmt,  für  den  ist  Dehmels  lyrische  Menschwerdung 
überhaupt  ein  verschlossener  Zaubergarten.  Solche  Leute 
mit  einer  Moral,  schnellgebacken  und  wohlfeil  wie  Eier- 
kuchen, werden  nie  Fühlung  gewinnen  mit  Versen  wie 

,,Aber  im  Zaubermantel  der  Liebe 
Trägt  der  lachende  Sturm  der  Triebe 
Auf  vom  Staube  zum  Himmelstor" 
oder 

„Nur  nicht  gewaltsam 

Abgewehrt, 


l66 -KATjL  TiEMCJ^ELL 

Was  unaufhaltsam 
Leben  begehrt. 

Die  in  euch  wühlen, 
Alle  die  Geister, 
Müssen  einst  fühlen: 
Ich  bin  ihr  Meister." 

oder 

,,Was  den  Menschen  entzückt,  entsetzt,  empört, 

das  erhöht  ihn, 
Weil's  ihn  außer  sich  bringt,  weil 's  ihn  mit  Leben 

erfüllt". 

In  Dehmels  Werken  findet  sich  eine  Fülle  von  Versen, 
die  dieses  sein  A  und  O  schöpferischer  Weisheit  immer 
anders  ausdrücken,  ich  führe  nur  noch  zwei  oder  drei  an: 

„Ward  ich  durch  frommer  Lippen  Macht 
Und  zahmer  Küsse  Tausch? 
Ich  wurde  Mensch  in  wilder  Nacht 
Und  großem.  Wollustrausch." 

..Ich  will  mich  lauter  blühn,  lauter  und  los 
Aus  dieser  Brünstigkeit  zu  Frucht  und  Fülle". 

Wer  sich  durch  eine  Hölle  hat  gerungen, 
Den  fragt,  welch  Paradies  ihm  endlich  tagte! 
Doch  wer  an  seinem  Leben  nie  verzagte, 
Hat  um  des  Lebens  Deutung  nie  gerungen." 

,,Aus  dumpfer  Sucht  zu  lichter  Glut." 

,,Von  deinen  heil'gen  Seelenblicken 
Glänzt  meiner  Sinne  dumpfe  Flur, 
Mir  löst  ein  menschliches  Entzücken 
Die  rohen  Ketten  der  Natur. 


VOT^  B-EUTSCJiETi  BJCHTlfJ^G      1^ 

In  Tränen  steht  mein  irres  Bangen, 
Ob  ich  berufen  sei  zum  Glück; 
Sieh  mein  verröchelndes  Verlangen, 
Die  Klarheit  gabst  du  mir  zurück!" 

und  viele  ähnliche  mehr.  —  Um  wenigstens  in  aller  Kürze 
noch  einen  Hauptzug  hervorzuheben:  Für  Richard  Dehmel 
ist  das  dichterische  "Wort  nicht  nur  Ausdrucksmittel  indi- 
vidueller Selbsterlösung,  sondern  es  ist  ihm  auch  ein  ver- 
liehenes edles  "Werkzeug  des  Menschheitswillens  zur  Höher- 
bildung der  Gattung.  Er  fühlt  sich  in  seinen  bedeutend- 
sten Gedichten  als  Lichtbringer,  der  neue  Geistessaat  aus- 
sät, im  Sinne  prometheischer  Dichter  der  Vergangenheit, 
er  will  wahrhaft  befruchten  und  den  W^ert  des  Lebens,  der 
"Welt  in  schöpferischer  Lust  und  Menschenfreudigkeit  stei- 
gern .  .  .  "Wie  das  nun  alles  in  Verbindung  mit  einem  wit- 
ternden, stimmungsschwangern  Naturgefühl,  farbensaugen- 
der Augenfeinheit,  und  einem  urwüchsigen,  welthumori- 
schen  Lebenssinn,  der  auch  für  das  Kindliche  gar  köstliche 
"NX^orte  findet,  zu  einem  seltenen  dichterischen  Gewebe  zu- 
sammenrinnt, dem  müssen  Sie  eben  selbst  im  Ganzen  seiner 
Gedichte  liebevoll  nachgehen.  Von  manchen  Absonderlich- 
keiten des  Stils,  besonders  auch  in  den  „Zwei  Menschen", 
will  ich  hier  nicht  weiter  sprechen,  sintemal  ich  ja  nit  aus 
Nörgelheim  bin  und  hier  geflissentlich  nur  das  schöpferisch 
Fortwirkende  betone.  Ich  glaube  und  wünsche,  daß  sich 
für  Richard  Dehmels  gesamtes  Schaffen  sein  eigenes  "Wunsch- 
wort  bewahrheiten  möge: 

Schrankenlos  schaltend. 
Rastlos  gestaltend. 
Heilsam  waltend. 
Friedsam  erhaltend. 
Ich  lese 

STROMÜBER. 

Der  Abend  war  so  dunkelschwer 

Und  schwer  durchs  Dunkel  schnitt  der  Kahn; 


l68  J^jn{L  BEJMCTiELL 

Die  Andern  lachten  um  uns  her, 
Als  fühlten  sie  den  Frühling  nahn. 

Der  weite  Strom  lag  stumm  und  fahl. 
Ans  Ufer  floß  ein  schwankend  Licht, 
Die  "Weiden  standen  starr  und  kahl. 
Ich  aber  sah  dir  ins  Gesicht. 

Und  fühlte  deinen  Atem  wehn 

Und  deine  Augen  nach  mir  schrein 

Und  —  eine  Andre  vor  mir  stehn 

Und  heiß  aufschluchzen:  Ich  bin  dein! 

Das  Licht  erglänzte  nah  und  mild; 

Im  grauen  Wasser,  schwarz,  verschwand 

Der  starren  Weiden  zitternd  Bild. 

Und  knirschend  stieß  der  Kahn  ans  Land. 

Dann 

MASKEN. 

Du  bist  es  nicht,  du  grauer  Tempelritter 
Im  Panzerkleid,  auf  das  die  Kerzenstrahlen 
Des  bunten  Saals  mit  täuschendem  Gezitter 
Geheimnisvolle  Charaktere  malen;- 
Dein  Blick  ist  schwarz,  laß  das  Visir  nur  zu! 
Du  bist  es  nicht  —  doch  Ich  bin  Du. 

Du  bist  es  nicht,  Zigeuner  mit  der  Geige, 
Der  wild  sein  Lied  läßt  in  die  Zukunft  bluten; 
Dein  roter  Bart  ist  kraus  wie  Urwaldzweige, 
Um  die  rauchprasselnde  Frühfeuer  gluten; 
Dein  Blick  ist  grau,  laß  nur  die  Maske  zu! 
Du  bist  es  nicht  —  doch  Ich  bin  Du. 

Du  bist  es  nicht,  Traumkönigin;  Seerosen 
Trägst  du  im  wolkenschwarzen  Haargeflechte 
Und  bleichen  Asphodelos  und  Skabiosen, 


S>L  -^^  *v.^  «2^  y^  -*>  ^^^^ßu,,-.^^. 


X 


^^  '/f^/r^^^.^ 


Facsimile  des  zuerst  in  der  „Gesellschaft"  erschienenen  Gedichtes 
„Mein  Ideal"  ans  Karl  Henckells  „Zwischenspiel". 


/oja4^  <iuUe^^  X^W^  Jcu^    ^/Zxc^    lA  ^&*<vfe^ 
/pWj  ^tH^eJiY^ jr%i€^  v-i>h^  zyCczM/  d^^u-ey^  ^^-^-«^ 


Ente  Form  des  DehmeP sehen  Gedichtes  „Das  Ideal\J 
aas  „AberjÜeZUebe". 


VOM  DEUTSCHER  Bicnruj^G     l6q 

Die  dunkler  sind  als  purpurdunkle  Nächte; 
Dein  Blick  ist  braun,  laß  deinen  Schleier  zu! 
Du  bist  es  nicht  —  doch  Ich  bin  Du. 

Du  bist  es  nicht,  mein  blonder  Puck;  dein  Röckchen 

Ist  viel  zu  kurz  für  deine  Mädchenbeine, 

Man  sieht  es  doch,  daß  dein  hell   Klingelstöckchen 

Ein  Totenköpfchen  krönt,  du  freche  Kleine; 

Dein  Blick  ist  blau,  o  laß  dein  Lärvchen  zu! 

Du  bist  es  nicht  —  doch  Ich  bin  Du. 

Und  Du,  bist  Du's,  du  Domino  im  Spiegel, 
In  dessen  Blick  die  Farben  meerhaft  schwanken. 
Du  maskenlos  Gesicht?     Zeig  her  das  Siegel, 
Das  mir  ausdrückt  den  Grund  deiner  Gedanken ! 
Bist  du  es  selbst?     Ausdruck,  du  nickst  mir  zu; 
Grundsiegel  —  Maske.  —  Bist  Ich  Du? 

Und  schließlich 

STÖRUNG. 

Und  wir  gingen  still  im  tiefen  Schnee, 
Still  mit  unserm  tiefen  Glück, 
Gingen  wie  auf  Blüten, 
Als  die  arme  Alte 
Uns  anbettelte. 

Und  du  sahst  wohl  nicht. 

Als  du  ihr  die  Hände  drücktest 

Und  dich  liebreich  zu  ihr  bücktest, 

"Wie  durch  ihr  zerrissenes  Schuhzeug 

Ihre  aufgeborstnen 

Blauen  Füße  glühten. 

Ja,  ein  Mensch  geht  barfuß 

Im  eignen  Blut  durch  Gottes  Schnee, 

Und  wir  gehen  auf  Blüten. 

BJiJfJSDES:  DIE  UTETiJlTVJi.  BJl?iD  XXXVIII XX XVIJI  M 


/yo  \AJiL  HEMC\ELL 

Ist  der  kiefernknorrige,  sturmdurchwühlte  Märker  Dehmel, 
dessen  Äste  sich  bald  unheimlich  drohend  und  stöhnend  in 
Nacht  und  Nebel  recken,  bald  wieder,  nach  jedem  Hauche 
lüstern,  sich  als  Harfe  lichtflutenden  Lebens  ausspannen,  ist 
Richard  Dehmel  eine  erstaunliche,  zuweilen  bis  zur  schrullen- 
haften Manier  groteske  Mischung  urwüchsiger  Instinkte 
und  bewußtester  Kulturverfeinerung,  ein  seltener  Dichter,  in 
dem  Entfesselung  und  Selbstzucht  aufeinanderprallen  wie 
Wettringer,  denen  es,  manchmal  mit  einem  Schuß  Pose, 
wirklich  um  Leben  und  Kunst  geht,  —  so  ist  der  jüngere, 
in  "Wien  lebende  Österreicher  Richard  Schaukai  eine 
nicht  minder  zusammengesetzte  Erscheinung  von  beson- 
derem und  fesselndem  Gepräge,  mit  der  ich  meinen  ge- 
nußfrohen Beutezug  und  -Flug  durch  die  Gefilde  der  deut- 
schen Lyrik  für  diesmal  wenigstens  beenden  will — ,  at  last 
not  at  least,  wie  die  Engländer  in  einem  solchen  Fall  ebenso 
kurz  wie  treffend  zu  bemerken  pflegen. 

Richard  Schaukai,  der  in  rascher  Folge  eine  ganze  Reihe 
von  interessanten  Versbänden  veröffentlichte,  aus  denen  die 
1904  im  Inselverlag  erschienenen  „Ausgewählten  Gedichte" 
nur  einen  kleinen,  sehr  fein,  aber  natürlich  mit  starker  Be- 
grenzung ausgesuchten  Teil  bilden,  ist  ein  Dichter,  dessen 
vielseitiges  Wesen  eine  Mischung  von  —  ich  gebrauche 
sonst  das  Wort  nicht  gern,  aber  hier  paßt  es  —  modernen 
Renaissanceträumen  mit  romantischer  Lebensironie  und 
großer  beherrschender  Kunstsehnsucht  darstellt.  Das  sollen 
selbstverständlich  nur  ungefähre  weltanschaulich-psycholo- 
gische Vorstell ungs werte  und  Annäherungsbrücken  sein, 
denn  Richard  Schaukai  ist  weder  ein  ums  Jahr  1900  in 
Wien  lebender  Dichter  des  Cinquecento,  wenn  er  einen 
solchen  auch  in  einer  bezeichnenden  Phantasie  dichterischen 
Lebens-  und  Schönheitsrausches  heraufbeschwört,  noch  ein 
dreißigjähriger  alter  Goethe,  wenn  er  auch  wie  dieser  mit 
der  Kunst  sich  g'^gzn  das  Leben  zur  Wehr  setzt,  noch  ein 
frommer,  weltentrückter  Novalis,  wenn  er  diesem  Dichter 
auch  innigverstehende  und  kostbare  Strophen  weiht  —  er 
ist  auch  nicht  ein  Dichter  des  Rokoko   im  Übergang   zum 


VOJ^  DEUTSCHETi  DJCTiTUJ^G       lyi 

Empire,  wenn  er  auch  die  galante  Grazie  und  reiche  FülJ- 
hornüppigkeit  jener  Zeiten  in  den  Gärten  seines  Herzens- 
oenius  wieder  aufsprudeln  und  aufquellen  fühlt  —  nein, 
Richard  Schaukai  ist  zwar  im  Sinne  der  poetischen  Meta- 
morphose dies  und  noch  manches  andere,  was  ich  nicht  mehr 
anführen  kann,  aber  er  ist  doch  vor  allem  und  in  allem,  mit 
den  entsprechenden  Zutaten  des  Phantasiespiels,  Richard 
Schaukai,  und  das  erst  stempelt  ihn  zu  der  dichterischen 
Persönlichkeit,  die  für  heikle  Stilspielerei  zu  gut  und  über 
sie  erhaben  ist.  Ich  würde  ihn  sonst  niemals  so  hochstellen, 
wie  ich  es  wirklich  tue,  denn  ich  hasse  alle  Kostümlyrik 
aufs  äußerste,  wo  die  kulturhistorische  Drapierung  und 
Frisur  um  einen  rückenmarklosen  Perrückenstock  herum- 
schlottert. Bei  Schaukai  ist  das  etwas  anderes,  er  atmet 
selbst  unter  Wams,  Panzer,  Spitzenjabot  oder  was  es  für  ein 
Kleidungsstück  sein  mag,  in  das  er  Herz,  Seele  und  Sinne 
dichterisch  hüllt. 

Es    steckt  eben  ein  gut   Stück  Schaukai    darin,  wenn   er 
jenen  Dichter  sagen  läßt: 

„Ich  bin  von  perikleischem  Geblüt. 
Kein  wüstenbleicher  kranker  Nazarener. 
Schönheitberauscht  als  letzter  der  Athener 
Lieb'  ich  was  nur  berückend  strahlt  und  sprüht." 

Ja,  er  ist  schönheitberauscht  und  sinnenselig  wie  ein  edler 
Athener  jener  Kultur,  und  ebenso  steckt  ein  gut  Stück  vom 
deutsch-romantischen  Schaukai  darin,  wenn  es  im  gleichen 
Gedicht  heißt: 

„Mein  Märchenreich  ist  nicht  von  dieser  "Welt^ 
Der  ekel  nüchternen  Alltäglichkeit. 
Die  Dichtung  ist  mein  purpurrotes  Kleid. 
Der  Sternenhimmel  ist  mein  Königszelt." 

was  wieder  recht  unperikleisch  und  unklassisch,  aber  ganz 
germanoromantisch  ist.  Und  vorher  und  nachher  im  glei- 
chen  Gedicht   das   auf  den   Starken   und  Tatmenschen   wie 

M* 


qi  JiAT{L  liEJMCJ^ELL 

ein    Kraftbad    wirkende   Vollgenießen    und   raffinierte   Ge- 
schmackauskosten des  Schaukalcinquecentisten: 

,,lch  steh  geschmeidigt  wie  nach  einem  Bad. 
Ihr  Griechenkörper  aber  reift  mir  Verse 
So  kostbar  wie  dein  Schmuck.     "Wie  deine  Ferse 
Beschwingt  und  farbig  wie  ein  Pfauenrad." 

Glückh'cherweise  kann  man  bei  dieser  ganzen  Gruppe 
Schaukalscher  Gedichte,  in  denen  seine  Seele  sich  künstle- 
risch in  Menschen,  Gestalten,  Welten  der  Vergangenheit 
auslebt,  von  blutvoller  Einbildungskraft  und  dem  „Stoff" 
meist  kongenialer  Empfindungskraft  sprechen,  worauf  es  ja 
einzig  und  allein  ankommt,  um  den  originellen  Dichter 
vom  lyrischen  Dekorateur  zu  scheiden.  Und  darum  sind 
diese  Gedichte  auch  so  lebendig,  v/eil  in  ihnen  der  stolze, 
herrische,  leidenschaftliche,  sehnsuchtheftige  Puls  des  Dich- 
ters selber  hörbar  klopft.  Was  sagen  Sie  zu  einem  Ge- 
dicht wie 


GOYA. 
Ich  habe  die  lange  schwüle  Nacht 
Bei  einer  jungen  Dame  verbracht: 
Sie  liegt  nun  und  träumt  mit  offenen  Lippen  von 

meinem  Nacken  .  . 
Jetzt  werd  ich  malen.     Wollt  ihr  euch  packen? 
Steht  nicht  herum  und  gafft  so  ledern! 
Sonst  zerr  ich  euch  an  euren  Agraffenfedern 
Oder  kitzle  diese  dünnen  Waden 
Mit  meinem  Degen.     Ich  bin  von  Gottesgnaden. 
Ein  Grande  bin  ich  im  offenen  Hemd. 
Ich  liebe  das  Licht,  das  die  Welt  überschwemmt. 
Ich  liebe  ein  Pferd, 

Das  bäumend  sich  gegen  den  Zügel  wehrt. 
Den  Juden  lieb  ich,  den  keiner  bekehrt! 
Dem  König  laß  ich  sagen:  er  solle 
Klopfen  v/enn  er  mich  stören  wolle. 


RICHARD  SCHAUKAL 
Photographie  Eugen  Schäfer  in  Wien. 


rOl^  DEliTSCT{E7{  DJCTfTVJyJG       ly^ 

Das  ist  Atmosphäre  Goya  und  Sehnsucht,  Temperament 
Schaukai.  Daher  diese  Frische,  Wahrheit  und  Natürlich- 
keit des  Stils.     Herrlich! 

Die  überflutende  Lebens-  und  Freiheitssehnsucht  einer 
hochgearteten  Seele,  die  nur  unter  schweren  Leiden  zuerst 
ermattenden  Verzichtes  ihr  stolzes  "Wähnen  und  "Wünschen 
der  grausamen  "Welteinsicht  unterordnet,  schafft  sich  ihre 
künstlerischen  "Ventile.  Hier  ist  die  Kunst  geradezu  das 
eigentliche  höchste  und  stärkste  Leben,  gegenüber  der  All- 
tagskleinheit. 

DER  GROSSEN  KUNST 

Der  ich  mit  entbrannten  Blicken 
Und  mit  Scheu  doch  näher  trete, 
Große  Kunst,  zu  der  ich  bete. 
Laß  mich  nicht  im  Tag  ersticken; 

Segne  den  dir  still  Geweihten, 
Des  Geschehens  Niederungen 
Bleiben  unter  ihm,  begleiten 
Schwebend  ihn  die  Feuerzungen. 

Die  Feuerzungen  begleiten  und  führen  ihn  zu  immer 
vollendeteren  Gestalten  seiner  "Weltgefühle.  Schicksals- 
stimmungen, Lebensdurchblicke  werden  im  Gleichnis  ge- 
bannt wie  in  den  ergreifenden  Versen 


DIE  JUNGE  SEHNSUCHT. 
O  junge  Sehnsucht,  die  sich  einen  Heerzug  träumt 
Und  einen  kampfbereiten  Kiel,  an  den  die  Meerf^ut 

schäumt. 
Der  ungeduldig  an  der  Kette  zerrepd  sich  im  Hafen 

wiegt. 
Und  einen   Mast,  an  den  sich  eine  Scharlachflagge 

schmiegt! 


774  7C>f7?L  BEJ^CT^LL 

O  junge  Sehnsucht,  die  der  Gott  des  Traums  befruchtet, 

Wenn  über  "Wald  und  Wegen  schwer  die  dunkle  Wolke 

wuchtet, 
O  Sehnsucht,  die  in  Qualen  sich  auf  lichtgemied'nem 

Lager  windet,  — 
Einst  kommt  der  Tag,  der  dich  verhungert  und 

verdurstet  findet! 

oder  in  dem  ahnungsschweren  Gedicht 

DAS  GROSSE  SCHIFF. 

Den  schweren  Anker  hat  das  große  Schiff 
Versenkt  auf  hoher  Flut  und  liegt  und  wacht 
Mit  schwarzen  Augen  horchend  in  die  Nacht  — 
Und  ihm  zu  Seiten  wartet  stumm  das  Riff. 

Und  morgen,  wenn  die  rote  Sonne  kaum 
Am   Himmel   steht  und  buhlend  Winde  werben, 
Wird  es  sich  rühren  aus  dem  dumpfen  Traum 
Und  —  an  das  Riff  getrieben  scheiternd  sterben. 

Das  ungestüm  drängende  Herz,  dieser  Gischt-  und  Geyser- 
quell  kochender  Unbefriedigtheiten,  das  in  so  vielen  Glut- 
und  Qualversen  und  ,Tristien"  —  in  Schaukai  sind  Ovi- 
dische  Züge  —  aufzischte,  hat  aber  bei  Richard  Schaukai 
nicht  nur  in  der  großen  Kunst,  sondern  auch  in  der  starken 
Liebe  seine  Erlösung  gefunden.  In  aufrichtigen  und  wahr- 
haft wertvollen  Bekenntnisversen  wie  in  dem  Gedicht: 
,, Seelenabgründe"  oder  in  freien  Rhythmen  völliger  Hin- 
gabe an  das  Du  drücken  sich  tief  menschliche  Ausgleichs- 
vorgänge in  der  Seele  dieses  zum  glänzendsten  Verskünstler 
veranlagten,  aber  zum  Nur- Virtuosen  viel  zu  bedeutenden 
deutschen  Dichters  aus. 

DU. 

Wie  aus  tiefen  Wäldern  bist  du. 

Wo  keine  schweren  Menschen  gehen. 

Wie  in  der  Waldquelle 


VOJ^  DEUrSCHEJj  DICHTUNG       775 

Seh  ich  mich  rein  und  wahr  in  dir. 

Ich  bin  ein  heißer  unzufriedener  Mensch 

Mit  einem  herrischen   Kinderherzen. 

Tau  liegt  auf  meinen  Haaren  aus  den  Nächten  der  Sehnsucht. 

Meine  Hände  zittern  nach  Glück. 

Und  meine  Seele  kann  fliegen 

Hoch  über  den  Tagen: 

Ich  seh  ihr  nach  und  staune, 

Lächle  und  weine. 

Manchmal  aber  bin  ich  wie'ein  König  .  .  . 

Und  alles  ist  dein. 

Dein  ward  es  ohne  Schenken. 

Du  kamst  und  es  war  dein. 

Ich  bin  so  sicher  dein  zu  sein  mit  allem. 

Wüßte  man  es  nicht  zur  Genüge  aus  seinen  eigenen 
Gedichten,  so  würden  es  uns  seine  Nachdichtungen  un- 
widerleglich bezeugen,  wie  sicher,  geschmeidig,  stolz  und 
gebieterisch  Richard  Schaukai  die  Sprache  des  Verses 
meistert.  All  diese  Worte  drängen  sich  mir  in  unein- 
geschränkter Bewunderung  auf  die  Lippen,  wenn  ich 
mit  wachsendem  Entzücken  langsam  durchkostend  seine 
Verlaine  -  H  eredia  -  Nachdichtungen  genieße.  Be- 
sonders der  beherrschendere  Jose  Maria  de  Heredi a 
in  seinen  vollendeten  Gestaltungen,  symbolischen  Verleben- 
digungen und  lyrischen  Plastiken  menschlicher  Grundzüge 
und  Großzügigkeiten,  dieser  macht-  und  prachtvolle  Sonet- 
tist der  heroischen  Legende  —  er  hat  in  Richard  Schaukai 
einen  im  ganzen  schier  unübertrefflichen  Umbildner  ge- 
funden. Mit  einer  solchen  künstlerischen  SchafFenshuldi- 
gung  deutscher  Einfühlungs-  und  Wiederformungskraft  an 
den  französischen  Sprach-  und  Dichtergenius  will  ich 
meine  Lese  aus  unserer  Lyrik  seit  Heinrich  Heine  be- 
schließen. 


ijG_ 


\AJ^  HBJ^CJjELL 


DER  LÄUFER. 

Auf  eine  Statue  des  Myron. 
So  sah  ihn  Delphi  damals,  jubelbrausend. 
Vor  Thymos  fliehn  durchs  Ziel:    Den  Rumpf  so  schlank 
Gedehnt,  das  Auge  starr,  die  Arme  lang 
Gestreckt,  auf  Hermes  Flügelfüßen  sausend. 
Und  er,  der's  bildete  vor  zweimaltausend 
Jahren  und  mehr,  das  Werk,  das  ihm  gelang 
So  lebentäuschend,  schuf  er's,  oder  sprang 
Der  Läufer  aus  der  Form,  und  stand  er  grausend? 
Fiebernde  Hoffnung  macht  die  Lippen  beben, 
Erz  perlt  von  der  Stirn,  die  Muskeln  schwellen. 
Die  Palmen  sieht  er  sich  entgegenheben: 
Kaum  noch  am  Sockel  haften  diese  schnellen 
Federnden  Sohlen,  ja,  nun  schwebt  er,  fliegt 
Beschwingt  durchs  Stadion,  hält  und  hat  gesiegt. 

Der  Genius  der  deutschen  Lyrik  ist  wie  der  Läufer  des 
Myron.  Unermüdlich  schwellt  sein  sieghafter  Drang 
neuen  Zielen  und  Kränzen  zu,  er  stürmt,  er  schwebt, 
er  hält  wie  jener. 

Lassen  Sie  mich  ein  andermal,  wenn  Lust  und  Liebe 
rufen,  von  neuem  Schwellen  und  Schwingen,  Sausen  und 
Siegen  künden,  es  soll  dann  gleichfalls  der  echten  Dichte- 
rinnen unserer  Tage  gedacht  werden,  deren  Lied  von  tiefe- 
rem Leben  glüht,  und  noch  auf  manch  einen  kräftig  und  edel 
Dahingetragenen,  der  die  heilige  Säule  seines  eigenen  künst- 
lerischen Sehnens  sucht,  möchte  ich  dann  Ihre  Blicke  richten. 

Es  ist  eine  Freude,  jeden  jungen  Keimfrühling  mitzuer- 
leben, wenn  man  selbst  das  wurzelstarke  Steigen  der  Säfte 
im  frischen  Wachstum  der  Lebensringe  verspürt.  Denn  auch 
wir  wollen  die  Früchte  voll  ausreifen  lassen,  die  sich  unter 
Schloßen  und  Schauern  kernfest  und  an  zähen  Stielen  ge- 
bildet haben,  und  wollen  den  Tagen  einer  schönen  Ernte 
schaffend  und  zukunftgrüßend  entgegenschreiten. 


VOJ^  DEUTSCHETj  DJCNTUJ^G  I77 


DICHTERTAFEL.*) 

August  von  Platen 4 — 6 

Heinrich  Heine 6 — lo 

Nikolaus  Lenau i  i  — 15 

Georg  Herwegh 15 — 16 

Ferdinand  Freiligrath 17 — 20 

Annette  v.  Droste-Hülshoff 20 — 24 

Friedrich  Hebbel 24 — 27 

Eduard  Mörikc 27 — 311^ 

Emanuel  Geibel 32 — 33 

Paul  Heyse 34 — 35 

Hermann  Lingg 35 — 37 

Heinrich  v.  Reder 37 — 40 

Heinrich  Leuthold 41 — 43 

Gottfried  Keller 44 — 51 

Theodor  Storm 51  — 54 

Klaus  Groth 54—58 

Martin  Greif 59 — 63 

Conrad  Ferdinand  Meyer 63 — 70 

Detlev  von  Liliencron 70  —  81 

\C^ilhelm  Arent 82—84 

Hermann  Conradi 84 — 89 

Arno  Holz 89 — 94 


*)  Glosse  für  Pedanten: 

Die    Zahl    der    Seiten   bezeichnet    nicht   die   Wertschätzung    des 
Einzelnen. 


ij8_ 


VON  DEUTSCHER  DICHTUNG 


Heinrich  und  Julius  Hart 94—104 

Peter  Hille 104— 106 

Otto  Erich  Hartleben 106—112 

Friedrich  Nietzsche 112 — 120 

Carl  Spitteler 120—127 

Johannes  Schlaf 128—134 

Cäsar  Flaischlen 134—138 

Bruno  Wille 138—142 

Otto  Julius  Bierbaum 142  — 147 

John  Henry  Mackay 147—155 

Gustav  Falke 156—163 

Richard  Dehmel 163—169 

Richard  Schaukai 170—176 


Dichhingen  von  Karl  HenckelL 

SCHWINGUNGEN.  Neue  Gedichte  igo6.  Mit  Buch- 
sclunuck  von  Fidiis,  elegant  broschiert  Mk.  j. — .  in 
Pergament  geb.   M.  4. — . 

MEIN  LIED.  Ausgewählte  Gedichte  igo^.  Liebhaber- 
ausgabe. Mit  Beiträgen  von  Rieh.  Strauss  und  Buch- 
schmuck  von  Fidus,   in  Leder  geb.  Mk.  5. — . 

STROPHEN.  1887.  Mk.  1.60. 

AMSELRUFE.  1888.  Mk.  2.—. 

DIORAMA.  i88g.  Mk.  3.60. 

TRUTZNACHTIGALL  i8go.  Mk.  i.so. 

ZWISCHENSPIEL  i8g4.  Mk.  1.60. 

BOECKLIN-  WIDMUNG.  i8g7.  Auf  Bütten  Mk.  _>.— 

GEDICHTE.  Grosse  Ausgabe  mit  Buchschmuck  von 
Fidus  i8g8,   broschiert  Mk.  5. — ,  geb.   Mk.  6. — . 

NEUES  LEBEN  Dichtungen  i8gg\igoo,  broschiert 
Mk.  2.50,  geb.  Mk.  4. — . 

GIPFEL  UND  GRÜNDE.  Dichtungen  igoi  bis 
igo4,   broschiert  Mk.  2.^0,  geb.   Mk.  4. — . 

MEIN  LIEDERBUCH.  Auswahl,  Taschenausgabe, 
broschiert  Mk.  i. — ,  geb.  Mk.  2. — . 

NEULAND.  Atiszüahl,  Taschenausgabe,  broschiert 
Mk.  I. — ,  geb.  Mk.  2. — . 

SONNENBLUMEN  Herausgegeben  von  Karl  He n- 
ckell,  i8g5\i8gg.  100  Blätter,  jedes  Blatt  10  Pf.,  in 
4  Mappen  ä  Mk.  3, — ,  in  einer  Mappe  ä  Mk.  10. — . 


DIE  LJTERATUR 

Sammlung  illustrierter  Einzeldarstellungen 
Herausgegeben  von 

GEORG  BRANDES 

Bisher  erschienen: 

B&nd  1  UNTERHALTUNGEN      ÜBER      LITERARISCHE 

GEGENSTÄNDE  von  HUGO  VON  HOFMANNS- 
THAL 
Band  II  ARISTOTELES  von  FRITZ  MAUTHNER 

Band        111   DIE    GALANTE    ZEIT  UND    IHR    ENDE   (Piron, 
Abbe  Galiani,   Rctif  de  la  Brctonnc,   Grimod  de  la  Rey- 
ni^re,   Choderlos  de  Laclos)  von  FRANZ  BLEI 
Band        IV  MAXIM  GORKJ  von  HANS  OSTWALD 
Band         V  DIE      JAPANISCHE      DICHTUNG      von      OTTO 

HAUSER 
Band        VI   NOVALIS  von  FRANZ  BLEI 
Band     VII   SELMA  LAGERLÖF  von  OSCAR  LEVERTIN 
Band    Vin   DIE     KUNST    DER     ERZAHLUNG     von    JAKOB 

WASSERMANN 
Band        IX  SCHAUSPIELKUNST  von  ALFRED  KERR 
Band         X  GOTTFRIED  KELLER  von  OTTO  STOESSL 
Band        XI   NORDISCHE   PORTRÄTE    AUS   VIER  REICHEN 
(Bang,      Hamsun,     Obstfelder,     Geycrstam,     Aho)    von 
FELIX  POPPENBERG 
Band      XII   CHARLES  BAUDELAIRE  von   ARTHUR  HOLIT- 

SCHER 
Band    Xlll   FQNFSILHOUETTEN  IN  EINEM  RAHMEN  (Bod- 
rr.er.Widand.  Heinse,  Sturz.  Moritz)  von  FRANZ  BLEI 

"Fortsetzung  auf  nächster  Seite 


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DIE  LITERATUR 

Sammlung  illustrierter  Einzeldarstellungen 
Herausgegeben  von 

GEORG  BRANDES 

Terner  erschienen: 

Band        XIV  RICHARD  WAGNER  ALS  DICHTER  von  WOLF- 
GANG GOLTHER 
DAS  B  \LLET  von  OSCAR  BIE 
HEINRICH  V    KLEIST  V.  ARTHUR  FLOESSER 
DIE  GRIECHISCHE  TRAGÖDIE  v.  HERMANN 
UBELL 

THEODOR  FONTANE  von  JOSEF  ETTLINGER 
ANNETTE  V.  DROSTE-HÜLSHOFF  v.  GABRI- 
ELE REUTER 

ANATOLE  FRANCE   von   GEORGE  BRANDES 
SCHILLER  von  SAMUEL  LUBLINSKI 
MAETERLINCK  von  JOH.  SCHLAF 
DIDEROT  von  RUD.  KASSNER 
MAUPASSA  nT  von  FELIX  HOLLAENDER 
CONRAD  FERDIN.  MEYER  v.  OTTO  STOESSL 
DAS    NIBELUNGENLIED    von  MAX   BURCK- 
HARD 

RAINER  MARIA  RILKE  von  ELLEN  KEY 
EMILE  ZOLA  v.  MICHAEL  GEORG  CONRAD 
ARIOSTO  von  GEORG  JACOB  WOLF 
FRITZ  REUTER  von  F.  DÜSEL 
HANNS  SACHS  von  HANNS  HOLZSCHUHER 
XXXJ]]  HENRIK  IBSEN  von  GEORG  BRANDES 

Weitere  "Bände  in  Vorbereitung 

Jeder  "Band  in  künstlerischer  Ausstattung  mit  J^unsthe Hagen 

Taksimiles  und  Porträts,  kartoniert    Mk-  J-^o 

ganz  in  eckt  Pergament  gebunden     ßfk-  3- — 


Band 

XV  I 

Band 

XVI  ] 

Band 

XVII 

Band 

XVIll 

Band 

XIX 

Band 

XX 

Band 

XXI 

Band 

XXII 

Band 

xxin 

Band 

XXIV 

Band 

XXV 

Band 

XXVI 

Band 

XX  VII 

BandXXVlIl 

Band 

XXIX 

Band 

XXX 

Band 

XXXI  ] 

Band 

XXXII- 

BARD.   MARQUARDT  &   CO.,    BERLIN    W.  50 


MEIN  LIED 

GEDICHTE    VON 
KARL  HENCKELL 

Mit    Kompositionen    von    Richard   Sirauss    und    Buch- 
schmuck von  Fidus.      Jjiebhdberhand  M  5. — . 

Drei  der  würdigsten  Repräse?iia?ifen  deutscher  Kunst 

haben  sich  hier  zu?n  Werke  vereinigt:  ein    urdeutscher 

Poet,   der  melodienreichste   Tondichter  und  der  kühne 

Zeichner  eines  echten  germanischen   Stils. 

BARD,  MARQUARDTofCO.,   BERLIN  W.50 


O 


FT  Henckell,  Karl  Friedrich 
1173  Deutsche  Dichter  seit 
H4-     Heinrich  Heine 


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