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Deutsche GescMchtsblätter
Monatsschrift
zur
f öFdevung der landesgesohiGhtliohen fopsohung
unter Mitwirkung von
Prof. Bachmann-Prae, Prof. BreTBig-Bcrlin, Prof. Krler-Königiberg,
Prof. Flnke-Frdbnrg i. B., Arcliiin Prof. Huiseii-K»ln, Prof. v. Helgel- München,
Prof. Hejrck-Manchen, Sectianschef v. InAma-Slemegg-Wien,
Gjnmasialdirelitor O. Jlgar-Köln, Gynuiuialrektor O. KJtmmel-Leiptie,
BibliotbckiT Prof. KoBBinnk-Berlin, Prof. Lamprecht-Leipzig, ArchiTar Mera-Osnabrtlck,
Prof. Ilühlbacher-Wien, Prof. t. Ottenthal-Innibrack, Prof. Obw. RedUch-Wieo,
ProC V. d. Ropp-Marbn^, Prof. A. Schalte-Brealan, ArduTTat SeUo-OIdenbnrK,
Geh. Archiirat StUin-Stiitt^rt, GrmDutalrektor Vogt-Nürnberg, Prof. WebefPrtg,
Prof. W«iick-Mvbiir£, Arcfaivral Wintei-Stettin, Archivar Witte-Schwerin,
Prof. T. ZwiedlDcck-Sndeiihont-Gntt
faenusgegeben von
Dr. Armin Tille
V
Z. BaacL
Goüia
Friedricli Andreas Perthes
1900
BTANFDRD UNlVffRSlTV
STANFqjißiHUWttinaiTv
7 1970
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Dbl-
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Inhalt.
Aufsatze: ~' sete
Breysig» Kort (Berlin): Terriiorialgeschichte i — 12
Bronner, Karl (Karlsruhe): Fünf zig Jahre oberrheinischer Geschichtsforschung 229 — 239
Forst» Hennann (Coblcnz): Der Reichskrieg gegen die Türken im Jahre
1664 76—80 u. 176
Frankfurter, S. (Wien): Limesforschung in Österreich 195 — 199
Qmelin» Julius (Grofealtdorf): Die Verwertung der Kirchenbücher . . . 157—170
Hansen, R. (Oldesloe): Zur landesgeschichtlichen Forschung in Schleswig-
Holstein . 211 — 214
Hantssch, Viktor (Dresden): Die landeskundliche Litteraiur Deutschlands
im Refortnationsaeitalter 18 — 22 u. 41 — 47
KOtsschke, Rudolf (Leipzig): Die Technik der Grundkarteneinzeichnung . 113 — 131
Lamprecht, Karl (Leiprig): Zur Organisation der Grundkartenforschung . 33 — 41
Liebe, Oeorg (Magdeburg): Das Kriegswesen mittelalterlicher Städte . . 12 — 17
Polacsek, Ernst (Strafsburg): Die Denkmäler - Inventarisation in Deutsch-
land 270 290
Redlich, Oswald (Wien): Über Traditionsbücher 89—98
Schuhe, Aloys (Breslau) : Wer war um 1430 der reichste Bürger in Schwaben
und in der Schweiz f 205 — 210
Tille, Armin (Leipzig): Stadtrechnungen 65 — 75
„ „ „ Die Historikertage 137 — 145
WSschke, Hermann (Dessau): Ortsnamenforschung 253 — 370
Wehrmann, Martin (Stettin) : Die landesgeschichtliche Forschung in Pommern
während des letzten Jahrzehnts 98 — 104 u. 132 — 133
Weller, Karl (Stuttgart): Der gegenwärtige Stand der landesgeschichtlichen
Forschung in Württemberg 47 — 55
Witte, Hans (Schwerin): Studien zur Geschichte der deutsch • romanischen
Sprachgrenze 145 — 157
V^nttmann, Pius (München): Archivbenutzungsordnungen 181 — 194 n. 243
Mitteilungen:
Archive : Allgemeiner Arehivtag 25, 56 — 61, 291; Thüringer Archivtag 25,
247 — 248; Archiv zu Mühlhausen i. Th. 26, 109, 247, Detmold
26, Hennebergisches in Meiningen 85, Lüneburg 108, Bonn 108,
Hamburg 175, 243 — 244, Karlsruhe 175, der Universität Frei-
burg i. B. 175, Danzig 227 — 228, Landesarchiv in Sondershausen
248 ; Archivwesen im Königreich Bayern 245—247 ; Inventarisation
kleinerer Archive 26, 85 — 86; Mitteilungen der königl. preufs.
Archiwerwaltung 86 — 87, 171 — 172 ; Mitteilungen aus dem Archiv
von Köln 172 — 175; Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Breslau Seite
292 — 293 ; Inventare des Frankfurter Stadtarchivs 293 - 295 ;
Revaler Stadtarchiv 295 — 296 ; Inventar des Staatsarchivs Zürich
296; Stadtarchiv Pforzheim 297; Egerer Stadtarchiv 297 — 298.
Ausgrabungen iio
Berichtigungen 64, 112
Bibliographie 136
„ der Reiselitteratur 302
Denkmalspflege 109, 291
Eingegangene BUcher 32, 63, 88, 111, 136, 177—180, 204, 228, 250—252, 303—304
Oeeamtverein der deutschen Oeschichts- und Altertumsvereine 22 — 24, 81 — 85, 291
Hansischer Oeschichtsverein 204, 239 — 240
Historikertag in Halle ^33^134) ^99 — 204
Historische Kommissionen : H. K. fUr Hessen und Waldeck 26, 298 ; Steier-
mark 27; K. zur Herausgabe von Akten und Korrespondenzen
zur neueren Geschichte Österreichs 27, 200; Reichskommission
fUr römisch-germanische Altertumsforschung 27; H. K. bei der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften 104 — 105; ThOringi-
sehe H. K. 105 — 106; Badische H. K. 106; Königl. sächs. K.
für Geschichte 107; H. K. und Altertumskommssion der Provinz
Westfalen 107 — 108; Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 298 — 299
Historischer Atlas der österreichischen Alpenlttnder 28
Museen 87, 175 — 176; Frankfurt 214 — 217; Köln 217—218; Leipzig 218 bis
221; Breslau 221 — 223; Stade 248; Arnstadt 248—249; des
Vereins „Carnuntum" in Deutsch -Altenburg (Österreich) 249.
Vgl. „Vereine".
Nekrologe: H, v. Zet/sberg (von Oswald Redlich) 28 — 31 ; G. v, Mevüsen
(H. Keussen) 31; 7%. Flathe (W. Lippcrt) 223 — 227.
Personalien 31, 88, 1 10, 176—177, 249—250, 302—303
Politische Korrespondens Karls V 200, 241 — 243
Reiseberichte und Tagebücher 299 — 302
Vereine: Rügisch • Pommerscher Geschichtsverein 87; Verein fUr Sächsische
Volkskunde 87—88; Verein für Historische Waffenkunde 134
bis 135; Mannheimer Altertumsverein 135; Oberländischer Ge-
schichtsverein 135; Vereine in Mühlhausen i. Th. 135, Prenzlau,
Alsfeld, Delitzsch, Reichenhall, Harburg, Detmold 176, Leipaig
218—221, Stade 248, Arnstadt 248 — 249, Deutsch -Altenburg
249. VgL „Museen".
Versammlung deutscher Philologen und Schulminner in Br«men 24 — 25, 61—63
Zeitschriften: Trierisches Archiv 31—32; Nassovia ixo; Oberländische
Geschichtsblätter 135; Mühlhäuser Geschichtsblätter 135.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
tur
f ördenmg der landesgeschichtlichen Forschung
I. Band Oktober 1899 i. Heft
Territorialgesehiehte
Von
Kurt Breysig
In der Geschichte der deutschen Historiographie spielt die Terri-
torialgesehiehte durchaus keine unbedeutende Rolle. Hätte Wegele
in seinem so ungemein fleifsigen und so ungemein unübersichtlich an-
-gelegten Buche statt des einzig möglichen Einteilungsprinzips des me-
thodischen Fortschrittes nicht wunderlicherweise allgemeine, deutsche
Axnd territoriale Geschichtsschreibung getrennt behandelt, so würde dieser
Umstand auch in seiner Darstellung viel stärker hervortreten. Das
deutsche Geschichtswerk, in dem auf dem Gebiet der politisch-sozialen
Historie der Entwicklungsgedanke zum erstenmal praktisch verwirklicht
Tund im grofeen Sinne verwirklicht worden ist, ist einem deutschen Terri-
torium gewidmet. Justus Mosers Osnabrückische Geschichte, die
1768 erschien, macht in der Entwicklung der deutschen, ja der europäi-
schen Staats- <und Sozialgeschichte fast in demselben Ma(se Epoche,
wie das vier Jalwie zuvor erschienene gewaltige Werk Winckelmanns,
rund Moser hat sich im mindesten nicht überhoben, wenn er in dem
Vorwort zu -seinem Buche ein allgemeines Programm der Geschichts-
schreibung aufrollte. Was er dabei gegen Voltaire vorbrachte, mag in
^mehr als einem Betracht einseitig und ungerecht gewesen sein, aber
der Syndikus in der entlegenen niedersächsischen Bischofsstadt über-
schritt nicht im kleinsten seine geistigen Kompetenzen, wenn er sich
mit dem Haupte der europäischen Aufklärung auseinandersetzte, denn
•in ihm fand er den einzigen ebenbürtigen Vorgänger seiner neuen
Methode. Und was er am heftigsten an Voltaire angriff, das macht
ihn auch wieder zum ahnenden Vorläufer der Niebuhr- Rankeschen
«Periode: er tadelte alles Arbeiten aus zweiter Hand und hatte damit
«freilich am letzten Ende ebenso viel und ebenso wenig recht wie
Voltaire, .da er mit seinem Essay Sur les mceurs zum erstenmal eine
weite und grofee P^crspektive über die Universalgeschichte eröffnete.
1
— 2 —
Es ist der alte Streit zwischen spezieller und allgemeiner Forschung^
der da in seiner fruchtbaren Unfruchtbarkeit wieder entbrannte; aber
was die beiden, im übrigen gewifs in jedem Zoll ihres Wesens verschie-
denen Männer einigte, war wichtiger ; das Verständnis für das organische
Werden, das pflanzenhaft langsame und stetige Wachsen menschlicher
Einrichtungen und Meinungen. Und es gereicht der deutschen Terri-
torialgeschichtsschreibung zum Ruhme, dafs ihr neuer Aufschwung
gegeben wurde durch ein Buch, das mit einem so fruchtbaren Ge-
danken zum erstenmal Elmst machte und das denn auch auf seinem
begrenzten Gebiete die methodisch bedeutsamsten Einzelerfolge in
Hinsicht auf Verfassungs- , Klassen- und Wirtschaftsgeschichte auf-
zuweisen hat.
Die Göttinger Schule hat um die Wende des Jahrhunderts den-
selben Ideen weit extensivere Wirksamkeit gegeben, aber sie hat sich
in der Hauptsache ganz allgemeinen, am öftesten universalgeschicht-
lichen Aufgaben zugewandt. Nur ein sehr bedeutendes territorial-
historisches Werk ist aus diesem Kreise hervorgegangen, aber es
ist nicht das schlechteste, ja es ist dasjenige, das auch heute
sicher am häufigsten von allen Werken der Schule benutzt wird:
Spittlers „Geschichte von Hannover**. Sie verdankt diese ihre Dauer-
haftigkeit sicher dem Umstände, dafs sie, recht im Sinne Mosers
und 40 Jahre vor Ranke, zu den ursprünglichen Quellen herabstieg
und umfassendes archivalisches Material benutzte. Spittler zeichnete
sich selbst dadurch aus, dafs er ganz in göttingischem Geiste um-
fassende und generelle Angaben aufzusuchen liebte, und dieser Drang
zum allgemeinen hat doch auch dem ganz speziellen Thema, das er
hiermit zu bearbeiten unternahm, Nutzen gebracht. Er bewirkte,,
dafs Spittler sich von aller einseitigen Bevorzugung der Haupt- und
Staatsaktionen, der Kriegs- und Diplomatiegeschichte freihielt, dafs er
vielmehr von neuem den Weg zu den Feldern der Territorial-
geschichte fand, in dem die starken Wurzeln ihrer Kraft liegen, zur
Verfassungs- und Verwaltimgsgeschichte , hier und da auch zur Wirt-
schafts- und Klassengeschichte.
Von Seitenstücken zu diesem Werke ist in ganz Deutschland in
diesen Jahrzehnten vielleicht nur eins zu nennen: Baczkos umfassende
„Geschichte von Preufeen**, ein Buch, das durch seine archivalischen
Nachrichten noch heute über lange Strecken der ostpreu(sischen Ge-
schichte allein authentische Kunde giebt, die sonst ganz unaufgehellt
geblieben sind. Aber trotzdem wird man sagen müssen, dafe die
herrschende Strömung der Epoche von 1770 bis 1820 sicherlich ia
— 8 —
kürzerer oder längerer 2^it kraft ihrer kulturhistorischen Ziele zu einer viel
breiteren und tieferen Verfolgung territorialgeschichtlicher Probleme
geführt haben würde, wenn sie sich hätte auswirken können. Doch
das hat sie nicht ganz gekonnt, denn die Neuerungen der Niebuhr-
Rankeschen Periode, die, formaler Natur wie sie waren, im Grunde
sehr wohl in ihren Dienst hätten gestellt werden können, gewannen
doch auch materielle Bedeutung, insofern sich zwar noch nicht Niebuhr,
wohl aber Ranke mit angesprochener Vorliebe der Geschichte der
europäischen Staatskonfiikte und der zu ihnen hinleitenden diplomatischen
Beziehungen widmete. Eine Geschichtsschreibung aber, die eine so aus-
gesprochene Neigung für Diplomatie- und Kriegsgeschichte hatte, konnte
natur^emäis für die innere Entwicklung der Völker nicht allzu viel
Interesse mehr übrig haben. Eben dieser Umstand aber mufete wiederum
auf das Verhältnis zwischen Historie und Territorien Einfiuis üben; er
konnte der Entwicklung dieser lokal spezialisierten Geschichts-
schreibung nicht günstig sein, so spezialistisch auch zwar nicht Ranke
selbst, wohl aber seine Schule allmählich wurde.
Nicht als ob nun die Arbeit an diesen Au%aben jahrzehntelang
geruht hätte: das hat sie weder damals noch früher gethan. Sie ist
in der Hauptsache erst seit dem XVII. Jahrhundert, aber von da ab
ununterbrochen ruhig ihres Weges dahin geschritten und hat im Ver-
ein mit der verwandten Stadt- und der sehr viel spärlicher vertretenen
Geschichte ländlicher Bezirke viel stille und flei&ige Arbeit vollbracht.
Aber es war doch für sie wichtig, über alles wichtig, in welchem
Verhältnis sie zur grolsen, allgemeinen Historie stand. Und da ist
aufMUg, dafis so mächtige Querriegel zwischen beiden Entwicklungs-
reihen, wie sie Mosers und SpitÜers Bücher darstellen, den 60 Jahren
nach 1820 fast ganz abgehen. Aus dem Rankeschen Kreise ist
eigentlich nur einer als Territorialhistoriker greisen Stiles hervor-
getreten: bezeichnenderweise der, der mit der stofflichen Grund-
richtung der Schtile zuerst brach, der zuerst ganz andere Gebiete als
der Meister aufsuchte, Waitz, mit seiner Schleswig-Holsteinischen Ge-
schichte (185 1).
Im übrigen sind abseits der generellen Geschichtsschreibung eine
Anzahl bedeutender Territorialgeschichten entstanden: namentlich die
Stämme, die von jeher eng zusammengehalten hatten, haben sich
henroigethan. Treitschke pflegte als so selbstbewulste Stämme immer
vier zusammen zu nennen : Schleswig-Holsteiner und Schwaben, Preutsen
und Schlesier, und bei ihnen allen hat sich ein besonders intensives
Interesse für die eigene Stammesgeschichte geregt. Es mag auch
1*
— 4 —
kein ZuCall sein, dafe der einzige, Waitz, der zugleich unter den Ver-
tretern der allgemeinen und nationalen Geschichtsschreibung gewirkt hat,
einem und zwar dem vielleicht am zähesten zusammenhaltenden unter
diesen deutschen Stämmen angehörte. Doch auch sonst kam es zu
liebevoller Pflege der Territorialgeschichte. Schliephakes nassauische
Rommels hessische, Walters kurkölnische und manche andere Provinzial-
geschichte sind de(s Zeuge.
Trotzdem ist für beide Parteien wichtig und für beide vermutlich
sehr wenig erspriefslich gewesen, dafs in der Hauptsache jede von
ihnen für sich vorwärts schritt. Gewifs die methodischen Errungen-
schaften der Rankeschen Schule sind allmählich auch der Territorial-
und Lokalgeschichte zugeflossen und hier und da hat auch die all-
gemeine Geschichte von den Ergebnissen der speziellen Akt genom-
men, im ganzen aber lebt diese ihr eigenes Leben. So sehr sich auch
im Laufe der Zeit in ganz naturgemäfser Fortbildung der ursprünglich
deskriptiven Grundsätze, die von Ranke ausgehende Richtung dem Spe-
zialismus zuwandte, sich auf territoriale oder gar auf lokale Aufgaben
einzulassen, hatte man wenig Neigung. Und auf ganz verwunderliche
Unternehmungen ist andererseits die Tenitorialhistorie da gekommen»
wo sie sich, in völliger Verkennung ihrer eigentlichen frucht-
bringenden Aufgaben, nach Art der allgemeinen Geschichtsschreibung
auf die hohe Politik warf. Ein Vertreter der grofsen Historie gab
dann wohl mit herablassendem Lächeln zu verstehen, es sei sehr
interessant, die europäische Politik, die man sonst — in wunderlicher
Caprice — von den Zentren der Grofsstaaten aus zu betrachten pflege,
einmal von einem abgelegenen Winkel aus zu erforschen; im Grunde
aber wurde dem nun ganz beglückten Lokalforscher doch mit solcher
halben Aufmunterung ein übler Dienst erwiesen. Auf diesem Wege
sind bis zur Absurdität imfruchtbare Bücher geschrieben worden : giebt
es doch Arbeiten von mehreren hundert Seiten, in denen Kriegs-
operationen im Kreise X oder im Fürstentum Y während einiger Mo-
nate im dreifisigjährigen Kriege geschildert werden.
Inzwischen haben sich neue Kräfte geregt: die benachbarten
systematischen Geisteswissenschaften waren seit dem Verfall der äl-
teren von der Ranke-Schule fast ganz beiseite geschobenen Kultur-
geschichte genötigt gewesen, die ihren Fächern analogen historischen
Disziplinen selbst auszubilden. Rechts- imd Wirtschaftsgeschichte waren
durch Juristen und Nationalökonomen ins Leben gerufen, Verfassungs-
und Verwaltungsgeschichte waren von ihnen weit nachdrücklicher
als von den Historikern gefördert worden, und diese Bewegung hat
— 5 —
allmählich das Bild völlig verändert. Nitzscbs groises Verdienst ist
es, diese Anregungen von rechts und links zuerst für die gro(se natio-
nale Forschung fruktifiziert zu haben ; aber er hat den Historikern, die
ihm folgten, auch, wie seine Arbeiten über städtische Verfkssungs-
und Klassengeschichte und seine Abhandlimg über die oberrheinische
Tiefebene bezeugen, den Weg zur Territorial- und Lokalgeschichte
gewiesen. In Hinsicht auf die mittelalterliche Stadtgeschichte, die am
ehesten diese Bahn betreten hat, haben neben Nitzsch und Hegel
doch auch noch die Juristen Arnold, Heusler und Maurer in dieser
Richtung wirken müssen, ehe die eigentliche Historie dazu vermocht
wurde, ihnen nachzufolgen.
In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten ist dann auf diesem
Sondergebiet zuerst die Schranke durchbrochen worden, und es ist
sehr interessant, festzustellen, wie sich die allgemeine Forschung hier
nur allmählich dem Standpunkt der Lokalgeschichte genähert hat.
Man verfuhr nämlich offenbar in den ersten Stadien der fast allein
mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung zu allgemein; man strebte
ganz entsprechend dem systematisch -juristischen Ursprung dieser
Untersuchungen und ganz berechtigterweise danach, Typen aufzu-
finden, aber man griff noch allzu sehr ins Weite. Allmählich ent-
schloß man sich, die Städte nach Gattungen oder territorial zu
beschreiben, und zuletzt ist man bei sehr genauen Forschungen über
einzelne Orte angelangt. Der im raschen Tempo um sich greifenden
mittelalterlichen Stadtgeschichte ist dann die vorwiegend neuere oder
doch spätmittelalterliche Territorialforschung langsam nachgekommen:
eine Anzahl namentlich verfassungs- und agrargeschichtlicher Einzel-
untersuchungen hat hier wenigstens den Grund zu weiterem Ausbau
gelegt.
Die Konsequenz dieser Wandlung ist klar. Denn — wenn ich die
Worte zweier 1891 und 1892 veröffentlichter Rezensionen, mit denen ich
eine bezirks- und eine stadtgeschichtliche Arbeit anzeigte *) , hier
wiederholen darf — „Je mehr die historische Forschung sich der inneren
Entwicklung der Staaten und Völker zuwendet, desto gründlicher
wird sie sich mit deren Teilen, Territorien, Städten und Landbezirken
beschäftigen müssen." Und „sobald einmal die Anschauung durch-
gedrungen sein wird, dafe die Geschichte in demselben Mafse der
materiellen und geistigen Entwicklung jedes Landes, jeder Stadt,
I) Harlefs (Amt Hückeswagen) uud Hertzberg (Halle), LiUerarisches Zentral-
blttt 31. Oktober 1891, 16. Januar 1892.
— 6 —
jedes Territoriums, deren Verg^angenheit sie darzustellen unternimmt,
gerecht werden mu(s, wie der politischen, werden Aufgaben dieser
Art zu Ehren kommen. Denn um feste Fundamente für die Geschichte
der gTofeen Komplexe von Land und Leuten zu gewinnen, wird man
auf die der kleineren zurückgehen müssen". Mit anderen Worten
hier ist das Terrain gegeben, auf dem allgemeine und lokale Ge-
schichtsforschung zusammentreffen müssen, wo sie beide einander
nötig haben und wo sie deshalb gut thun werden, in stetem Kontakt
zu bleiben. Die eine wird dabei methodische Schulung gewinnen —
und wenn einem Beteiligten hier erlaubt ist, einen Wunsch auszu-
sprechen, so ist es der, dafs die thätigen Liebhaber, denen die Ge-
schichtsforschung auf diesem Gebiete mit offenen Armen entgegen-
zukommen alle Ursache hat, auch in höheren Jahren die Mühe nicht
scheuen mögen, sich das Handwerkszeug der Forschung, falls es ihnen
noch fehlen sollte, etwa auf der nächsten Provinzialuniversität in kurzen
Kursen, die ja nicht ein Semester zu dauern brauchen, zu verschaffen.
Denn fast auf jedem Fleck deutscher EIrde bietet sich Gelegenheit,
historische Studien verfassungs- oder wirtschaflsgeschichtlicher Art
anzustellen, aber die Mühe, die zu solchem Zweck aufgewandt wird,
kann leicht halb oder ganz verschwendet sein, wenn sie nicht sach-
gemäfs aufgewandt wird.
Doch nicht von dem Interesse dieser lokalen Partei der Geschicht-
schreibung wollte ich auf diesen Blättern handeln, sondern von dem
der anderen, der allgemeinen, der Fachforschung. Ich möchte an
einem mir besonders vertrauten Beispiel erweisen, wie unendlich reich
wenigstens in günstigen Fällen schon heute der allgemein zugängliche,
gedruckt vorliegende Schatz von Nachrichten und Einzelarbeiten ist,
über den die Territorialgeschichte verfügt — ein Reichtum, den sich
anzueignen die allgemeine, d. h. deutsche Geschichtsschreibung bisher
freUich fast völlig verschmäht hat, wenigstens soweit die neuere Zeit
in Betracht kommt.
Um fiir einige territorialgeschichtliche Pläne die ersten Grundlagen
zu gewinnen, habe ich in den Jahren 1889 und 1890 umfangreiche
bibliographische Nachforschungen zur Geschichte Ostpreufsens
im XVI. und XVII. Jahrhundert angestellt. Ich kann mich durchaus
nicht rühmen, Vollständigkeit erstrebt, geschweige denn erreicht zu
haben, um so mehr wird vielleicht mancher auch unter den sach-
kundigen Lesern dieser Zeilen erstaunen, dafs ich 55 Oktavseiten mit
Buch- und Abhandlungstiteln füllen könnte, deren Zahl ich auf un-
gefähr 700 schätze und die durch die seither erschienene Litteratur
— 7 —
und ^DMge noch ausstehende VervoUständiguiigen ^) leicht auf 900 bis
1000 zu biingen sem wird. Freilich haben die Ostpreulsen, die jähr-
fauKlätelang' fast ganz getrennt vom Mntteriande, harte Zeiten für
sich dnrchkampfen molsten, durch diese besonderen Schicksale einen
der ausgeprägtesten deutschen Stammescharaktere ausgebildet, und
eiiie natürliche Folge davon war, da& sie von jeher für die Partikular-
g^schichte ihres Landes eine vielleicht ebenso exzeptionell starke
Teilnahme bewiesen haben. Von dem Erläuterten Preu/sen, das
1723 zu erscheinen begann und bis 1742 erschien, reicht bis auf den
heutigen Tag eine nur zeitweise unterbrochene und von 1829 ab, seit
dem eisten Hefl des Vaterländischen Archivs, mit dem bekannteren
Nebentitel der Preu/sichen Provinzialblätter , eine ununterbrochene
Reihe von historischen Zeitschriften oder zeitschriflenähnlichen Samm-
lung^. Und es ist charakteristisch, dafs noch wahrend die erste von
ihnen nicht abgeschlossen vorlag, schon eine zweite, freilich viel
kurzlebigere, die der Acta Borussica, zu erscheinen begann. Mit
einigen Pausen sind dann die Preu/sischen Merkwürdigkeiten, die
Preu/sische Sammlung, die Preu/sische Lieferung, der Preufsische
Sammler, die Preu/sischen Nationalblätter , die von Baczko und
Schmalz 1792/93 herausgegebenen Annalen des Königreichs Preu/sen,
die Notizen von Preu/sen, das Preu/sische Archiv, die Beiträge
zur Kunde Preußens gefolgt. In den Jahren 1829 bis 1845 ^^^^ ^^
Preu/sischen Provinzialblätter, 1846 bis 1866 die Neuen Preu/sischen
Provinzialblätter ausgegeben; heute besteht die Altpreu/sische Monats^
Schrift, die 1864 zu erscheinen b^ann. Daneben giebt noch die
Kön^berger Altertumsgesellschaft ihre Sitzungsberichte heraus.
Eher noch als dieser allmählich immer breiter werdende Strom
der 2^t8chriften setzt eine sehr gründliche Einzelforschung ein. Von
aller früheren stillen Chronistenarbeit abgesehen, fallt Hartknochs ge-
wissenhafte und ausgebreitete Sammlerthätigkeit schon in das Ende
des XVII. Jahrhunderts; im XVIII. folgen Amoldt als Kirchen- und
Pisanski als Litterarhistoriker mit umfassenden Werken der Spur
dieses Vorgängers. Gegen die Wende des Jahrhimderts erscheint
Baczkos „Geschichte von Preulsen*', von deren mehr als territorialer
Bedeutung schon die Rede war. Voigts grofses Werk (1827), Töppens
umfassende Editions- und Sammelthätigkeit und in letzter Zeit Lohmeyers
i) Auch die nun folgenden Angaben sind Welleicht hier und da der VervoUständigong
«od also der Korrektor bedürftig. Ihnen liegen im wesentlichen die Bestände der
KAnigüchen Bibliothek in BerUn zu Grande, zu deren Eigftnznng ich fUr meine Kollek-
taneen die Königsberger Universitätsbibliothek nur an einigen Stellen herangezogen habe.
— 8 —
präzise und tüchtige Geschichte der Ordenszeit (1880) beschliefeen die
Reihe. Doch sie sind umgeben von einem Schwärm von Einzelarbeiten,
der in den letzten fünfzig Jahren besonders dicht wird, aber schon im
vorigen Jahrhundert wertvolle Beiträge aufzuweisen hat.
Ordnet man den Schatz dieser an Art und Bedeutung freilich
sehr verschiedenartigen Arbeiten, so ist man doch an mehr als einer
Stelle erstaunt über die Summe an gut beglaubigtem und vielfach treff*
lieh gesichtetem Nachrichtenmaterial, das sie darbieten. Um bei der
historischen Geographie zu beginnen, so kann sich wohl kaum ein anderes
deutsches Territorium einer so trefTlichen Arbeit rühmen, wie sie das
Buch Töppens darstellt. Aber auch er hat Vorgänger bis rückwärts
zu Hennenbergers Landesbeschreibung aus dem Jahre 1584; Lydicius
im XVII., Goldbeck im XVIII. Jahrhundert stellen die Bindeglieder dar.
In neuerer Zeit hat Hoppe zwei umfassende Monographieen über die
Ortsnamen, Selasinski eine sehr bemerkenswerte Arbeit über Stadt- und
Landkarten geliefert. Über die preufsischen Littauer und ihr Schicksal
in neuerer Zeit ist viel geschrieben, eine Fülle ethnographisch-
historischer Forschungen ist angestellt worden.
Das sonst so übel vernachlässigte platte Land hat eine merk-
würdige grofse Zahl geschichtlicher Darsteller gefunden. Der un-
ermüdliche Toppen hat allein eine ganze Reihe von Monographieen
über kleine ländliche Bezirke abgefa&t: über die Weichsel-Niederung^
bei Marienwerder, über das Kirchspiel Heidekrug*), über die frische
Nehrung und den grofeen Werder, über das Amt Hohenstein tmd
schliefslich über einen ganzen Bezirk Ostpreuüsens, über Masuren. Er
hat über die Domänenverwaltung und über die Pferdezucht des Ordens
gearbeitet. Rogfge, ein auch sonst sehr verdienter Spezialforscher, hat
für ein einziges Amt (Balga) eine sehr ausführliche Geschichte ge-
schrieben *) , eine Anzahl Kreis- und Amtsgeschichten sind gefolgt.
Mangelsdorff hat in seinen Nationalblättem schon 1787 ein Ver-
zeichnis der preufeischen Mühlen aufgestellt, und er eröffnet auch die
Reihe der Forscher, die sich der Geschichte des befestigten Grund-
besitzes angenommen haben. Denn im selben Jahre veröffentlichte
er ein Verzeichnis der adligen und bäuerlichen Lehensgüter *). Neuer-
dmgs hat sich Mülverstedt durch eine sicherlich sehr mühevolle Zu-
1) „Altprcufs. MonaUschr." X (1873), S. 219 ff., 307 ff. „Neue Prov.- Blätter " X
(1858), S. 193 ff. Ich gedenke einige der wichtigeren in Zeitschriften Tersteckten Ar-
beiten (keine Bücher) za eitleren.
2) „Altprenfs. MonaUschr." V (1868), S. iisff. bis XV (1878), S. 289ff.
3) „Prenfs. Nationalblätter" Ii (1787), S. ij ff.
— 9 —
saxmnenstellung der in dem Zeitraum von 1740 bis 1840 „nach lang-
jährigem Grundbesitz'^ ausgestorbenen Geschlechter verdient gemacht ^)^
und Meckelburg ist ihm mit dem Entwurf einer prcufsischen Adels-
matrikel gefolgt '). Von Geschichten der Adelsfamilien seien wenigstens-
die beiden wichtigsten und umfassendsten erwähnt, die der Eulenburgs,
die Mülverstedt, und die der Grafen Dohna, die ein Mitglied der FamiUe
selbst bearbeitet hat, beides sehr ausfiihrUche mit reichen Urkunden-
anhängen ausgestattete Werke. Der Agrargeschichte , zu der sie in
ihren Aktenbeilagen öfters Beiträge bringen, haben mit eigenen
Forschungen ehemals Haxthausen und neuerdings Brünneck die wert-
vollsten Dienste geleistet, ersterer mit seinem Buch über die länd-
liche Verfassung, letzterer mit seinen Studien zur Geschichte der Leib-
eig^enschaft ') und namentlich mit seinen in der neuen deutschen
Rechtsgeschichte ganz vereinzelt dastehenden Arbeiten zur Geschichte
des Grundeigentums.
Die stadtgeschichtliche Litteratur ist vielleicht nicht im selben
Verhältnis reicher als anderwärts, doch haben für Königsberger Bürger-
familien Beckherm, Meckelburg und neuerdings Gallandi reiche Ma-
terialien gesammelt, die Studien von Conrad über die Finanz-, Ge-
richts- und Verfassungsgeschichte von Königsberg im XVIII. Jahr-
hundert *) haben in der übrigen, bekanntlich sehr spärlich angebauten
neueren Stadtgeschichte Deutschlands leider wenig Seitenstücke, und
die sehr übersichtlich angeordneten Untersuchungen Meiers zur Handels-
geschichte Königsbergs sind vollends ungewöhnlich wertvoll. Die
kleinen Städte Ostpreufsens haben neuerdings auch hier und da sach-
kundige Bearbeiter gefunden.
Von den verschiedenen, das ganze Land angehenden Entwick-
lungsreihen ist für die Verfassungsgeschichte ganz ungewöhnlich früh
eine treffliche Grundlage geschaffen worden in der Sammlung der
Privilcgia der Stände des Herzogthutns Preu/sen, die schon 1616
in Braunsberg erschienen ist. Mit dem ihren Ursprung sehr deutlich
offenbarenden Motto: turpe est homini praesertim nobili ignorare
jus, in quo ipse nahis sit geschmückt, sind sie ein Erzeugnis eines
historischen Sinns von sehr praktischen Zielen. Die preußischen
Stände, unter dem Schutze des polnischen Lehensherrn, mit dessen
Privileg das Werk erschien, wollten sich dadurch ein Bollwerk gegen
1) „Nene ProviDzialbl." IX (1850), S. 92 ff. bis And. Folg. II (1852/53), S. 73 ff.
2) „Neue ProvinzialbL", And. Folg. FV (1853), S. 45 ff. bis XI (1857), S. 44 ff.
3) „ZeiUchrift f. Rechtsgesch.«, Genn. Abt XXI (1887).
4) „Altpreuft. MonatSÄchr." XXV (1888), S. 63ff., XXIV (1887), S. 193 ff.
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alle absolutistischen Angriffe ihrer neuen brandenbuigischen Herzoge
aufrichten, wie denn überhaupt in ihren Verhandlungen mit grofser
Hartnäckigkeit immer wieder auf uralte Rechtsdokumente rekurriert
wurde. Wenn heute noch im englischen Unterhause auch wohl ein
Gesetz Eduards I. als gültig zitiert wird, so findet sich in der Epoche
des älteren deutschen Parlamentarismus vielleicht nirgends ein Landtag,
der so zähen historischen Sinn bekundet hätte wie der preuisische. Er
hat noch dem Grofsen Kurfürsten mit nichts das Leben so sauer ge-
macht, als durch diese ihm sehr unbequeme Gedächtniskraft. Für uns
Nachlebende aber ist damit ein vortrefflicher Ausgangspunkt für alte
verfassungsgeschichtliche Studien gegeben worden; Toppen hat dann
nachträglich für diese Sammlung durch sein ausgezeichnetes Quellen-
werk die Fundamente in die Ordenszeit hinein rückwärts geführt, und
durch eine lange Reihe editionsartiger Zusammenstellungen für die Ge-
schichte der Landtage bis ins XVIL Jahrhundert wenigstens die Grund-
lage geschaffen. Dort schliefst sich der betreffende Band der Akten-
publikation zur Geschichte des Grofsen Kurfürsten mit einer auch die
Vergangenheit nochmals neu beleuchtenden Einleitung an. Eine
Arbeit über die nicht allzu rühmlichen Ausgänge des ostpreufsischen
Ständetums vom Jahre 1688 ab wird demnächst erscheinen.
Die Verwaltungsgeschichte pflegt sonst ein übel verwahrlostes
Stiefkind der Historie früherer Zeiten zu sein, aber auch für sie sind
wenigstens fragmentarische Beiträge schon sehr alten Datums vor-
handen. Das Erläuterte Preu/sen hat bereits 1724 eine Geschichte
der preufsischen Regierung, 1725 eine des samländischen Konsistoriums
gebracht. Die Preufsischen Merkwürdigkeiten haben jene dann noch
ei^^änzt *), und Mangelsdorff hat gegen Ende des Jahrhunderts dasselbe
Thema noch einmal aufgenommen *). Toppen hat in seiner historisch-
comparativen Geographie sehr mühselige Forschungen über die Ge-
schichte der administrativen Bezirksteilung niedergelegt. Mülverstedt
hat ein Verzeichnis der Amtshauptleute und ihrer landrätlichen Nach-
folger geliefert, das von 1526 bis 1806 reicht*), Lohmeyer neuestens
eine treffliche kommentierte Quellenarbeit zur Finanzgeschichte des
XVI. Jahrhunderts.
Selbst die neuere Rechtsgeschichte, sonst ein Schmerzenskind der
inneren Geschichte und leider bis auf den heutigen Tag von Histo-
rikern und Juristen gleich sehr vernachlässigt, ist von den Tagen
1) 1741, S. 347.
2) „Preufs. Nttionalblättcr" I, 2 (1787), S. 86 ff.
3) „Nene ProvinzialbL", And. Folg. X (1855), S. 32 ff., 182 ft, 364«.
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Hartknochs ab nicht ganz leer ansgeg'ang'en , Kurella und Sahme im
XVIII., Leman, Voigt, Brünneck*), Steffenhagen, Güterbock haben
sich ihrer angenommen.
Am aufjfalligsten ist vielleicht, wie reich die geistige Entwicklung
des Landes mit freilich meist monographischer Behandlung bedacht ist;
sie nimmt in meinen bibliographischen Kollektaneen einen sehr umfäng-
lichen Platz ein. Nicht die eigentliche Litteratur und die Kunst-
geschichte zwar sind viel vertreten; diese seltenen Blumen sind in
dem hyperboräischen Lande nicht so oft aufgesprossen, dafs der
Historiker von ihnen allzu viel zu erzählen gehabt hätte, selbst wenn
er — was namentlich in der Kunstgeschichte zu sagen ist — seine
Pflicht sehr eifrig erfüllte. Die Baukunst der Ordenszeit und der
gute Simon Dach sind eigentlich doch die einzigen Besitztümer der
Provinz, denn Herder ist ihr zu schnell entfremdet worden. Aber
wie viel ist für Kirchen- und Unterrichtsgeschichte geschehen seit
Hartknochs und Amoldts Tagen. Die Universität Königsberg hat
durch letzteren frühzeitig eine stattliche Urkundengeschichte erhalten,
Tschackert ist neuerdings der Reformationshistoriker des Landes ge-
worden, und es giebt wenig bedeutende Kirchen und Schulen, die
nicht ihren Chronisten gefunden hätten. Und auch die Geschichte der
Wissenschaften als solche hat, ganz abgesehen von der nicht eigentlich
Ostpreufsen angehenden Kantlitteratur , merkwürdig eifrige Pflege ge-
funden. Pisanski namentlich, der gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts
schrieb, war ein unerhört erfolgreicher Sammler. Er hat eine preulsi-
sche Litteraturgeschichte der älteren Zeit geschrieben, und für das
XVII. Jahrhundert sind dann noch lange nach seinem Tode immer
neue Beiträge veröffentlicht worden.
Man sieht, unsere altpreufsischen Landsleutc haben das Wort
ihres alten Chronisten nicht umsonst gesagt sein lassen: kunt mich
darinnen nicht müde lesen, den mir ist also zcu mut, nicht weis
tch, wie ander lewt gesinnt: je mehr ich von meinem lieben vater-
land höre ader lese , je lenger, je lustiger ich werd davon czu
hören und lesen.
Und wäre es auch thörichte Verblendung, zu glauben, dafe nicht
auch auf diesem einen abgegrenzten Felde der deutschen Territorial-
geschichte noch unendlich viel gearbeitet und nicht nutzlos gearbeitet
werden könnte, hier liegt doch unzweifelhaft ein gutes Beispiel vor,
I) „Zur Geschichte des ehelichen Güterrechts "(,, Altpreufs. Monatsschr.** Xu [1875]),
S. 21 7 ff.
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das die jetzigen Ostpreufsen stolz machen, das andere Stämme zur
Nacheiferung anspornen und das schliefslich die Pfleger der neueren all-
gemeinen Geschichte mahnen kann, nicht mehr so achtlos wie bisher
an diesen bereits gehobenen Nachrichtenschätzen vorüberzugehen.
Das KHegsw^esen mittelalterlicher Städte
Von
Georg Liebe (Magdeburg)
Der einst von Arnold *) ausgesprochenen Aufforderung zu regerer
Bearbeitung des städtischen Kriegswesens ist nicht die wünschenswerte
Beachtung zuteil geworden. Nur in allgemeineren Werken über das
Kriegswesen oder solchen über die Gesamtgeschichte einer Stadt fanden
die mUitärischen Zustände der Stadtgemeinden lange Zeit einzig Be-
achtung. Die ersten Werke, die sich ihre Erforschung allein zum Ziel
setzten, konnten bei ihrer allgemeinen Fassung die verschiedenen Seiten
des Themas nur streifen '). Allmählich begann man einzusehen, dafs wie
auf dem vielumstrittenen Felde der städtischen Verfassungsgeschichte
auch hier eine gründliche Einzelforschung den Boden bereiten müsse.
In der That ist kaum ein Gebiet lohnender für den Anbau selbst einer
kleinen Strecke. Denn das Material liegt bei der in alle Zweige
städtischen Lebens einschneidenden Bedeutung des Kriegswesens in
den Archiven bequem zu Tage, keineswegs nur in den eigentlichen
Kriegssachen , den Musterrollen , Geschützinventaren , Soldquittungen,
sondern vor allem in den Rechnungen *). Aber dieser vielfach in den
verschiedensten Richtungen verlaufende Einflufs läfet es nützlich er-
1) „VerfMsangftgeschichte der deutschen Freistädte *^, II. S. 232.
2) Moj ean. Städtische Kriegseinrichtungen im XIV. und XV. Jahrhundert, Progr. 1876;
von der Nahmer, Wehrverfassungen der deutschen Städte in der zwieiten Hälfte des
XW. Jahrhundert», Disß. 88.
3) lUltzcr, Zur Geschichte des Danziger Kriegswesens im XIV. und XV. Jahr-
hundert, Progr. 1893; Otto, Die Wehrverfassung einer kleinen deutschen Stadt im späterer»
Mittelalter („Zeitschrift für Kulturgeschichte", Bd. IV, S. 54. 155), 1897. Verzeichnisse
itei HUri^or, welche Harnische halten müssen, sind aus dem XV. Jahrhundert erhalten in
Wftttt), Vgl. R « i n h o 1 d , Verfassungsgeschichte der Stadt Wesel (Gierke, Untersuchungen^
lHH8), S. 53.
— 13 —
scheinen, wenigstens das Kriegswesen der gröiseren Städte mehr als
bisher im Verlaufe ihres gesamten historischen Lebens zu betrachten *).
Denn nicht nur ist die Bethätigung im Kampfe eine der höchsten
Lebensthätigkeiten für ein Gemeinwesen wie fiir den einzelnen: hier
liegt eins der Gebiete vor, auf denen die straffe Konzentration der
städtischen Verwaltung dem modernen Staat vorgearbeitet hat: in
dreifacher Hinsicht hat sie die Entwickelung gefordert, in rechtlicher,
organisatorischer und technischer.
Der wehrhafte Charakter der mittelalterlichen Stadt bedingte stete
Kampfbereitschaft der Einwohner; Schossen und Wachen erscheinen
in den Quellen als Grundlagen der Bürgerpflicht. Es sind die un-
erlälslichen Forderungen moderner Staatsanschauung, direkte Besteue-
rung und allgemeine Wehrpflicht, die sich hier zuerst durchgebildet
finden. Aber die Pflicht bedeutete im Anfange auch ein Recht; wie
der Mauerring den von ihm Umschlossenen eine neue Freiheit schuf
anabhängig von den früheren Standesverhältnissen, so machte seine
Verteidigung sie alle teUhaftig der Waffenehre. Die ersten städtischen
PrivUegien, Worms imd Speier von Heinrich IV. verliehen, sind durch
kaisertreue WafTenhUfe verdient worden trotz gegnerischen Hohnes
über die kriegerischen Kaufleute. Dies Waffenrecht den Städten zu
bestreiten, wie es den Bauern geschah, ist keinem Stadtherrn je ein-
^fallen. Wie die Reichsstädte dem Kaiser Zuzug leisteten, so boten
die Landesherren ihre Städte auf, und bis in das XVII. Jahrhundert
stellen für die neben dem Lehndienst bestehende Landfolge, den
letzten Rest des alten Heerbanns, die Bürger das wertvollste Kon-
tingent *). Wohl aber boten die immer gesteigerten fürstlichen An-
sprüche den Städten dauernd Anlafs zu Beschwerden. Denn nur bei
•gemeiner Landesnot wurde die Verpflichtung unbedingt anerkannt, der
Ausnutzung zu gunsten dynastischer Politik suchten die Städte durch
Beschränkung in 2^hl imd Dauer des Auszugs zu begegnen. That-
sächliche Befreiung erlangten allerdings nur die mächtigeren.
War die Verteidigung der Stadt bedingungslose Pflicht jedes In-
wohners, so unterlag die Organisation des Auszugs, sei es im Dienste
des Stadtherm oder in eigner Fehde, wechselnden Änderungen. Hier
lag, den Forderungen zeitgenössischer Taktik entsprechend, das Haupt-
gewicht bis ins XTV. Jahrhundert bei der schwergerüsteten Reiterei.
i) Liebe, Das Kriegswesen der Stadt Erfurt von Anbeginn bis zam Anfall an
Preofsen, 1896.
2) „Aufgebote der Stadt Sangerhausen durch ihre sächsischen Herren im XV. Jahr-
hundert". Bei Schmidt, Sangerhausen als Festung II, 1896.
— 14 —
Im Anschlufs an die erste städtische Besatzung, die Ministerialen des
Stadtherm, pflegten daher auch später die Patrizier, in denen jene
häufig aufg^angen waren, die Tradition des Rofsdienstes. Aristo-
kratische Genossenschaften wie die Zirkelbrüderschaft in Lübeck, die
Lilienvente in Braunschweig, die Artushöfe der preufsischen Städte
wahrten streng ritterliche Sitte. In Strasburg wie in Magdeburg er-
wuchs aus dieser Ehrenpflicht der Name Konstabel für die Patrizier,
die 1280 in letzterer Stadt ein Turnier in den höfischen Formen des
Grals feierten. Der wachsende Einflufs der Zünfte aber zeitigte in der
ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts eine Demokratisierung wie der
Verfassung, so auch der Heeresmacht, die mit der durch Schweizer-
und Hussitenkriege erwiesenen Überlegenheit des Fufsvolks den Platz
behauptete. Die Masse der Bürgerschaft, bisher hauptsächlich defensiv
oder bei Belagerungen verwendet, lernte jetzt, unterstützt von den ent-
wickelten Femwafien, offensiv im Felde aufzutreten und erwies sich in
den Kämpfen mit den vorwärts drängenden Territorialgewalten am
Elnde des XIV. Jahrhunderts als achtungswerter Gegner. Die Ein-
teilimg der bürgerlichen Streitmacht blieb auch jetzt noch häufig die
althe^ebrachte in Viertel *), deren Zahl freilich nicht immer dieser Be-
nennung entsprach, mit ebenfalls lokalen Unterabteilungen wie die
Gassenhauptmannschaften in Nürnberg, die Pfarren in Erfurt. Häufig
aber imd vermutlich da, wo der Sieg der Zünfte ein entschiedener
war, wurden diese wie auf politischem, so auf militärischem Gebiete zur
neuen Grundlage. Auch jetzt blieb schärfste Beobachtung der Dienst-
pflicht Regel; schon in Friedenszeiten wurde jedem Bürger auf Mauer
und Turm , wie in der Schlachtordnung sein Platz angewiesen *) , und
immer wiederholte Musterungen wachten über die Bereitschaft von
Mann tmd Rüstung. Bei letzterer wurde ein gewisses timokratisches
Prinzip beobachtet, indem das Mafs der Rüstung nach dem Vermögen
bemessen und so die gesamte Mannschaft in mehrere Klassen geteilt
wurde.
So kemhaft tüchtig die bürgerliche Streitmacht war, ihren Lei-
stungen war eins hinderlich : jede kriegerische Aktion schädigte daheim
die gewerbliche Existenz des Abwesenden. So war ihre gesammelte
Kraft wohl gewaltiger Schläge fähig, aber unfähig zu dem aufreibenden
i) So in Dresden, vgl. O. Richter, Verfassangsgeschichte der Stadt Dresden (1885),
S. 283.
2) „Verzeichnisse ans dem XV. Jahrhundert". Bei Meyer, Die Reichsstadt Nord-
hausen (Zeitschrift des Harzvereins 21), 1888.
— 16 —
„täglichen Kriege" *), wie Um das Bürgertum des Mittelalters vor allem
der Ritterschaft gegenüber fuhren muüste, der das Städtewesen als
Vertreter einer neuen Wirtschaftsordnung rettungslos die Lebensadern
unterband. Diesem Gegner war nur eine ständig gerüstete Truppe
gewachsen, ihr Material konnte sich nur aus den feindlichen Reihen
rekrutieren. Der Beweglichkeit des Angriffs muiste eine gleiche Ab-
wehr begegnen, darum sehen wir bei den städtischen Söldnern die
Reiterei noch im Übergewicht, als dies bei der Bürgerwehr längst be-
seitigt war ^). Stehendes Militär allerdings hielten auch bedeutende
Städte nur in geringem Mafse; aufser den Thorwächtem war in der
Regel nur eine Anzahl reisiger Knechte zu Polizei- und Botendiensten
vorhanden. Vielmehr sicherten sich die Städte eine stets bereite ge-
übte Mannschaft, indem sie durch Verträge auf Grund einer Geldrente
benachbarte Edelleute verpflichteten, auf das Gebot der Stadt in den
Stegreif zu treten. Es ist die Stellung des Gleven-, Edel-, Aus-
bürgers, in der wir den Fürsten wie den Edelknecht finden, ver-
gleichbar der dauernden Bestalltmg späterer Landsknechtshauptleute,
die sie auch in Friedenszeiten einzelnen Fürsten verband. In Kriegs-
läuften wurden aufserdem Reisige fiir den besonderen Fall angeworben
als Gleven oder Helme, wobei auf den Ritter ein bis zwei Knechte
gerechnet wurden, oder als Einspänniger. An Zuzug fehlte es einer
zahlimgskräftigen Stadt nie, denn die Überzahl der erbelosen Schild-
geborenen fand hier den einzigen standesgemäfsen Nahrungszweig. In
typisch geschäftsmäfsiger Form bestimmen die zahlreich vorhandenen
Soldbriefe die Bedingungen, durch die sich beide Teile vor Schaden
zu wahren suchen. Die Stadt behält sich Musterung von Mann und
Rofe und Verfugung über Beute und Gefangene vor, der ritterliche
Söldner sucht möglichst viel an Verpflegung und Schadenersatz neben
dem Solde herauszuschlagen. Ende des XIIL Jahrhunderts beginnend
hat das Soldrittertum im folgenden geblüht, um an dessen Ende in
das Soldreitertum überzugehen. Es bildete sich ein militärisches Unter-
nehmertum aus, Condotderen, die beständig eine Schar Reisiger unter
i) Eine recht deutliche Definition dieses im Mittelalter Üblichen Wortes giebt eine
Urkunde von 1369, Okt. 18., mittels der sich Wilhelm v. Jülich and die Stadt Köln
gegen den Kölner Erzbischof verbünden, (Lacomblet, Urkondenbuch für die Geschichte
des Niederrheins III. Bd. Nr. 693). Beide Teile verpflichten sich dort zur Stellung von
100 glaygen zu degelichem kriege, van dage zu dage zu schedigen dat
gestichte van Colne.
2) Mendheim, Das reichsstädtische, besonders Nürnberger Söldnerheer im XlV.
and XV. Jahrhundert Diss. 89.
— le-
iden Waffen hielten und sie jedem zur Verfügung' stellten; das adelige
Privileg des Rofsdienstes wurde dabei immer weniger gewahrt. Fu(s-
•söldner treten erst hundert Jahre später auf, zuerst in Nachahmung
-der Schweizer in Süddeutschland; für sie bürgert sich vom Ordens-
lande her der Name Trabanten ein. Über die Kosten des Söldner-
-wesens geben die Stadtrechnungen ausgiebigen Aufischlufs ^).
Auf technischem Gebiete haben die Städte es allezeit verstanden,
sich jeden Fortschritt auf das Schnellste zu nutze zu machen. Das
galt vor allem der Entwicklung der Fernwaffen. Die aus den Kreuz-
zügen heimgebrachte Armbrust wurde, vielfach verbessert, die bürger-
liche Lieblingswaffe, erst bei der Verteidigung der Mauern, dann auch
-im Felde, wo sie in Anlehnung an den gewohnten Gebrauch hinter
SetzschUden (Pavesen) Anwendung fand. Oft wertvoll gehörten sie meist
nicht dem einzelnen sondern einer Gesamtheit. Die Aufnahme in eine
Zunft bedingt zuweilen einen Beitrag für die Armbrüste, und die In-
ventare der städtischen Zeughäuser führen sie mit mancherlei anderen
Waffen in stattlicher Zahl an. Der Übung dienten die Schützenbrüder-
-schaften, die meist nur nach ihrer späteren Gestalt von der geselligen
Seite gewürdigt worden sind, früher aber Vorbereitung für den Krieg
•waren*). Denn sie, die bis in den Anfang des XIV. Jahrhunderts
-zurück reichen, stellten nicht nur der Stadt eine stets geübte Mann-
schaft, sondern aus ihnen rekrutierten sich zum Teil die städtischen
Söldner, die schon früh überwiegend mit Schufswaffen gerüstet sind •).
Die Armbrust blieb auch noch lange nach Einführung der Feuer-
waffen in Brauch, deren Schwerfälligkeit die Handhabtmg erschwerte.
-Stahl- imd Büchsenschützen sind getrennt. Bis weit in das XV. Jahr-
hundert hat die ältere Waffe das Übergewicht. Früher gelangten
die Geschütze im Festungskriege zur Bedeutung, zuerst 1326 in
Metz, schon 1348 fiel die Rudelsburg durch eine Naumburger Büchse,
und um 1400 besitzen gröfsere Städte schon eine stattliche Artillerie,
für die ebenfalls schon in Friedenszeiten die Plätze auf den Festungs-
werken bestimmt waren. An Stelle des Blidenmeisters erscheint im
städtischen Dienst der Büchsenmeister. Die für Infanterie und Artillerie
1) „Deutsche Städtechroniken'*, NOrnbergl; Knipping, Ein mittelalterlicher Jahres-
liaoshalt der Stadt Köln (1379) („Beitr. z. Gesch. Kölns u. d. Rheinlande<< 1895).
2) Gehrke, Danzigs Schfitzenbrttderschaften in alter und neuer Zeit, 1895; Neu-
bauer, Geschichte der Zerbster Schützengesellschaft, 1897; Schoop, Geschichte der
Ewaldns-SchÜtzengilde in Düren, 1896.
3) Vgl. die Notiz aus dem Archive von Wipperfürth, bei Tille, Übersicht über den
Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz I, S. 282, Nr. 3 (1456).
— 17 —
flötigen Transportmittel führten früh ztir Ausbildung eines starken
Wagentrosses ^)^ den die Bürger ftir die in Nachahmung der Hussiten
geübte Taktik der Wagenburg nutzbar zu machen wulsten. Bei den
städtischen Kontingenten zuerst findet sich eine Einrichtung, die uns
tmtrennbar von soldatischem Wesen erscheint, bis ins XVII. Jahr-
hundert aber nur in Verbindung mit der allgemeinen Wehrpflicht auf-
tritt, die Uniform *).
Mit dem XVI. Jahrhundert geht wie die poUtische auch die mUi-
tärische Blüte der Städte zur Rüste gegenüber dem machtvollen Auf-
streben der Territorien. Das herrschende Kampfmittel, die Lands-
knechte, sind sie bei dem Rückgang ihrer finanziellen Bedeutung nicht
mehr im stände, für sich zu gewinnen, und die Bürgerwehr war dem
kriegsgeübten Söldner nicht mehr gewachsen. Nur die Geschütz-
bedienung, das Konstablerwesen, blieb bei der Kostbarkeit des Ma-
terials in den Händen der Bürger. Der grofse Krieg brach völlig die
kriegerische Kraft des Bürgertums; zwischen Nähr- imd Wehrstand
war eine unheilvolle Kluft geöffnet. Die Stadtsoldaten werden nicht
mit Unrecht ein Gegenstand der Satire, als Kontingente der Reichs-
armee «teilen sie verkümmerte Reste veralteter Zustände gegenüber
<iem modernsten Staatswesen dar, dem preu&ischen.
Dankbarste Aufgaben bieten sich hier der Lokalforschung; viel-
fach liegt das Material schon im Drucke vor*) und bedarf nur noch
xler systematischen Bearbeitung, aber auf Grund archivalischen Ma-
terials läfst sich noch manches Neue über die städtische Wehrver-
fassung beibringen.
i) Neben den GeschüUen waren auch zahlreiche Kriegsmaschinen zu transportieren.
In Strafsbnsg wurden 1359 neben schlangen- und steinbüchsen die katzen (Wurfgeschütze),
«benhöher (bretteme Schutzdächer zum Mauerstürmen), dumbler (Schleudermaschinen),
iiürden (Stofswerke) genannt. VgL Schmoller, Strafsburg zur Zeit der Znnftkämpfe
^1875), s. 34.
2) Liebe, Zur Geschichte der Uniform in Deutschland („Zeitschrift fUr Kultnr-
jgcschichte" II, 1895).
3) Z. B. Döbner, Hildesheimer Urkundenbuch V, Stadtrechnungen.
18 —
Üie landeskundliche Iiitteratur
Deutschlands im t^eformationszeitalter
Von
Viktor Hantzsch (Dresden)
Während des Mittelalters gab es in Deutschland keine landeskund-
liche Litteratur im geographischen Sinne, also weder topographische Be-
schreibungen noch gesonderte kartographische Darstellungen des ge-
samten Reichsgebietes oder einzelner Teile desselben. Zwar finden
sich in den zahlreichen Chroniken und anderen Geschichtsquellen, so-
wie in den Erzeugnissen der poetischen Litteratur hier und da zer-
streut nicht wenige vereinzelte Notizen landeskundlichen Inhalts, die
ein gründlicher Kenner der Monumenta Germaniae imd der mittel-
alterlichen Dichtungen sicherlich mosaikartig zu einem Ganzen ver-
einigen könnte, aber eine zusammenhängende Schilderung, die den
Namen einer Landeskunde von Deutschland verdienen würde, fehlt.
Auch nach einer mittelalterlichen Karte von Deutschland sehen wir
uns vergebens um. Auf den uns erhaltenen Weltkarten jener Zeit^
die in den grofsen Reproduktionswerken von Lelewel, Jomard,
Santarem, Kretschmer und Nordenskiöld vorliegen, selbst
auf denen deutschen Ursprungs, wie auf der von Andreas Wals-
perger *) 1448 gezeichneten, ist Deutschland ganz imbestimmt und
ungenügend abgebildet und zeigt nur eine sehr geringe Zahl von
Namen.
Ein Umschwung in diesen Verhältnissen trat erst durch die Re-
naissance ein. Dieser verdankt gleich den übrigen Wissenschaften
und Künsten auch die Geographie, insbesondere die Landeskunde, eine
wesentliche Förderung. Das neu erwachende Studium der antiken
Geographen veranlafete die deutschen Gelehrten, deren Notizen über
das alte Germanien zu sammeln und mit den Zuständen der Gegen-
wart zu vergleichen. Da die letzteren den meisten nur ungenügend
bekannt waren, mufsten sie untersucht werden, und die Widersprüche,,
die sich aus dem Vergleiche der antiken und modernen Verhältnisse
ergaben, regten zu neuen, immer tiefer eindringenden Studien an.
Auch die Kunde von den wunderbaren neuen Entdeckungen der Spa-
nier und Portugiesen im westlichen und östlichen Indien mag manchen
1) Kretschmer, Eine mittelalterliche Weltkarte der Vatikanischen Bibliothek toh
Andreas Walsperger (Zeitschrift der Gesellschaft fiir Erdkunde zu Berlin 1891).
\
i
— 19 —
deutschen Forscher angeregt haben, auf Entdeckungen im eigenen
Lande auszugehen und diese den Facbgenossen und dem gro&en
Publikum durch landeskundliche Schriften mitzuteilen. Es kann natür-
lich nicht die Aufgabe der vorliegenden kurzen Skizze sein, die
Enzeugnisse dieser neu auftretenden landeskundlichen Litteratur in
vollständiger Reihe aufisuzählen *). Vielmehr wird es genügen, die be-
deutendsten selbständigen und in irgend einer Hinsicht besonders merk-
würdigen Werke dieser Litteraturgattung, die Deutschland während
des Reformationszeitalters, also vom Ende des XV. bis um die Mitte
des XVII. Jahrhunderts hervorgebracht hat, zu erwähnen und im Zu-
sanmienhange kurz zu charakterisieren. Bemerkt sei, dafs der Begriff
Deutschland hier im modernen Sinne zu verstehen ist, so daCs also
die Schweiz, Österreich und die Niederlande, die eine verhältnismäisig
reiche Zahl hierher gehöriger Schriften aufweisen, unberücksichtigt ge-
blieben sind. Auch wurden die aufserhalb Deutschlands erschienenen
Werke übergangen.
Die älteste landeskundliche Arbeit über Deutschland, De situ, ritu,
moribus et condittone Teutoniae descriptto, rührt von dem als Papst
Pius II. bekannten Enea Silvio Piccolomini her imd ist 1496 zu
Leipzig gedruckt. Weniger zusammenhängend, jedoch reich an indi-
viduellen Zügen sind die geographischen Notizen, die der humanistische
Dichter Conrad Celtis in seinen Amores (1502), seinen Oden und
Epigrammen als Ergebnis mehrjähriger Reisen niedergelegt hat und
die er zu einer groisen Germania illustrata vereinigt hätte, wenn er
nicht allzu früh gestorben wäre ^). Systematischer in der Anlage und
die modernen Verhältnisse zu den antiken in Beziehimg setzend, wenn
auch das historische Moment gegenüber dem geographischen vorzugs-
weise betonend, waren die Germaniae exegesis des Franz Irenicus
(1518), die SchoUen zur Germania des Tacitus von Andreas Alt-
hamer (1529), die Germaniae descriptio des Kosmographen Se-
bastian Münster (1530) und die Germaniae explicatio des Wili-
bald Pirckheimer (1571). Volkstümlich gehalten und von nationaler
B^eisterung durchweht ist Matthias Quads Deutscher Nation
Herrlichkeit (1609). Umfangreiche SchUderungen Deutschlands ent-
halten auch die groisen, einst vielgelesenen kosmpgraphischen Werke
Sebastian Münsters (1544), Georg Frenzeis (1592) imd Jo-
1) Reichliche Litteratamachweise bietet P. E. Richter, Bibliotheca geographica
Gcrmsoiae, 1896.
2) Geiger, Conrad Celtis in seinen Beziehungen zur Geographie. München 1896.
2*
— 20 —
hann Rauws (1597). Den Höhepunkt und Schlufestein der landes-
kundlichen Litteratur jener Zeit aber bildet die grofse Zeill ersehe
Topographie, die seit 1642 in 33 Bänden erschien und noch heute
w^en ihres historischen Wertes und ihrer prächtigen, von Matthäus
Merian gestochenen Kupfer und Karten geschätzt wird. Ein Auszug
aus diesem groCsen Werke, „Verzeichnis der Kurfürsten, Fürsten und
Stände des heiligen römischen Reiches deutscher Nation" blieb bis
tief ins XVIII. Jahrhundert hinein das beliebteste und verbreitetste
Lehrbuch der Geographie von Deutschland.
Neben diesen allgemeinen Werken gab es noch eine grofse Zahl
von Spezialarbeiten über einzelne Landschaften. Da dieselben jedoch
vorzugsweise historisches und nur gelegentlich geographisches Material
darbieten, sind sie im allgemeinen den Lokal- und Territorialchroniken
beizuzählen und deshalb hier nüt Stillschweigen zu übei^ehen. Nur einige
von ihnen, wie die Streitschriften Jakob Wimphelings und Thomas
Murners über die Westgrenze Deutschlands und über die Zugehörig-
keit des Eisais zu Deutschland oder Frankreich (1501 und 1502), die
Vandalta und Saxonia des Albert Krantz (1519), die Beschreibung
des Fichtelgcbirges von Kaspar Brusch (1542), der in Distichen
geschriebene Rhenus des Bernhard Moller (1570) und die trotz
ihres geschichtlichen Kernes auch vieles Geographische bietenden
Res Fristae des Ubbo Emmius (161 6) verdienen als brauchbare
landeskundliche Werke im geographischen Sinne hervorgehoben zu
werden.
Wichtiger als diese wenigen Spezialwerke sind für die Landes-
kunde jener Zeit die Rcisebücher imd zwar sowohl Beschreibungen
von ausgeführten als Anweisungen für vorzunehmende Reisen durch
Deutschland. Zu den ersteren gehören beispielsweise das Hodoeporicon
des Humanisten Eobanus Hessus (1518), des Micyllus (1527),
des Melchior Lorichius (1541), des David Chyträus (1575)
und des Peter Lindeberg (1586), Beyrlins Reise durch Deutsch-
land {i6o6)y die Itinerare des Cuselius (1607) und des Paul Hentzner
(1617), sowie das Iter saxonicum des Michael Barth (1563), zu den
letzteren Wintzenbergers Reisebüchlein von Dresden aus durch
ganz Deutschland (1577), die Deliciae Germaniae des Matthias
Quad (i6oo), des Cyprian Eichovius (1602) und des Kaspar
Ens (1609), die Germaniae perlustratio des Heinrich von Stange
(1607), sowie das Itinerarium Germaniae des Matthias Quad
(1602), Martin Zeillers (1632) und der beiden Brüder Georg Kon-
rad und Johann Georg Jung (1641). Alle diese Reisewerke, die
— 21 —
für die Kenntnis der älteren Topographie von hohem Interesse sind,
aber bisher (lir landeskundliche und ortsgeschichtliche Zwecke nur
wenig" ausgenutzt wurden, beschäftigen sich weniger mit den einzelnen
Territorien im allgemeinen und deren geographischen Eigentümlich-
keiten, als vielmehr vorzugsweise mit den gröfeeren Städten. Dafe
diese überhaupt damals im Vordergrunde des geographischen Interesses
standen, beweisen nicht nur die trefflich ausgeführten Städte-Ansichten
in den späteren Ausgaben von Sebastian Münsters Kosmographie
seit 1550 und in der grofsen Topographie vonMerian und Zeiller,
sondern auch mehrere Werke, die sich ausschliefslich mit der Dar-
stellung von deutschen und ausländischen Städten in Wort und Bild
befassen, so die in mehreren Ausgaben verbreiteten, wegen ihrer schönen
Kupfer noch heute sehr gesuchten Civitates orbis terrarum von Georg
Braun und Franz Hogenberg (1572), das Städtebuch des Abra-
ham Säur (1593) und das Theatrum urbtum des Romanus (1595),
die Urbes imperiales des Nikolaus Reusnex (1602) und Mat-
thäus Dressers Buch Von den fürnehmsten Städten Deutsch-
lands (1607).
Dies wären in Kürze die wichtigsten landeskundlichen Werke, die
Deutschland im Reformationszeitalter hervorgebracht hat. Überblicken
wir an der Hand derselben den Entwicklungsgang, den die landes-
kundliche Litteratur in jenen beiden Jahrhunderten zurückgelegt hat,
so ergeben sich etwa folgende Gesichtspunkte. Am Beginn des Zeit-
raumes war das landeskundliche Wissen äufserst mangelhaft und sehr
wenig verbreitet. Wohl nur vereinzelte deutsche Gelehrte besaisen
damals eine so allgemeine Kenntnis ihres Vaterlandes, wie sie heute
jeder einigermafsen befähigte Mittelschüler sein Eigen nennt. Noch
im Anfang des XVI. Jahrhunderts wimmeln selbst die besten landes-
kundlichen Schriften von groben Fehlem. Auch spricht aus ihnen
fast durchgängig ein blinder Autoritätsglaube, namentlich gegenüber
der Bibel und den alten Klassikern, der sie veranlafst, die wider-
sinnigsten und abgeschmacktesten Fabeln für unumstöfsliche Wahrheit
auszugeben, ferner eine bemerkenswerte Kritiklosigkeit, eine weitgehende
Leichtfertigkeit in der Behandlung der Quellen, die nicht selten ohne
jede Rücksicht auf handgreifliche Irrtümer und ofTenbare Widersprüche
einfach wörtlich aneinander gereiht werden, endlich ein oft lächerlich
wirkendes heifses Bemühen, durch Zitate und gelehrte Spezialunter-
suchungen mit reichem philologischem und antiquarischem Wissen zu
prunken. Aufserdem ermüden manche dieser Schriften den modernen
Leser durch übermäfsige Weitschweifigkeit der Darstellung, durch
— 22 —
langatmige, oft gar nicht zur Sache gehörige Exkurse, durch unglück-
liche Versuche, die vorkommenden geographischen Eigennamen ety-
mologisch zu erklären, und vor allem durch jene innere Ungleich-
mäfsigkeit, die das Wesentliche nicht vom Unbedeutenden zu scheiden
versteht und darum beides mit gleicher Liebe und Umständlichkeit
oder aber auch mit gleicher Kürze und Dürftigkeit behandelt. Je
weiter wir zeitlich vorangehen, desto mehr verschwinden diese
Übelstände. Die Kenntnis der geographischen Thatsachen nimmt
rasch zu, die Kritik beginnt sich hier und da zu regen, der gesunde
Menschenverstand kommt nicht selten zum Durchbruch. Ein lang-
samer, doch sicherer Fortschritt ist trotz aller gelegentlichen Rück-
falle unverkennbar. Am Schlüsse der Epoche, also um die Mitte des
XVn. Jahrhunderts, zeigen die landeskundlichen Schriften achtungs-
werte Gelehrsamkeit, namentlich diejenigen Zeillers sind wahre Fund-
gruben poly historischen Wissens. Aber sie sind mit wenigen Aus-
nahmen nicht im lebendigen vorurteilslosen Anschauen der Wirklich-
keit entstanden, sondern vorwiegend in der Studierstube mühselig aus-
geklügelt und aus himdert anderen Büchern abgeleitet. Nirgends weht
uns aus ihnen der gesunde Erdgeruch des Heimatbodens an. Eins fehlt
ihnen vor allem : der Geist. Selten findet sich eine glückliche und
originelle Idee, selten ein Versuch, aus vielen gleichartigen Erschei-
nungen ein allgemein gültiges geographisches Gesetz abzuleiten, fast
niemals ein Schimmer von der Erkenntnis der Wechselwirkung zwi-
schen Land und Volk, von der Abhängigkeit des Kulturlebens von
Boden, Klima und Natiuprodukten. Hierin Wandel geschaffen und das
tote geographische Wissen durch geistreiche, Ideen fördernde, Ver-
gleiche anregende und Probleme aufstellende Behandlung belebt zu
haben, ist das unvergängliche Verdienst des genialen Bernhard
Varenius, dessen Geographta generalis von 1650 eine neue Epoche
auch für die Landeskunde einleitete. (ScMufs folgt.)
Mitteilungen
Tersanuillungeil« — Der „Gesammtverein der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvercine", welcher seit 1852 besteht, hielt
in den Tagen vom 2. bis 5. Oktober 1898 seine Generalversammlung zu
Münster i. W. ab. Die Verhandlungen, deren Protokolle in Buchform (BerÜa,
— 28 —
Mittler & Sohn, 1899) veröfifentlicht sind, beschäftigen sich, abgesehen Ton
den Vorträgen allgemeineren Inhalts, mit verschiedenen Fragen der lokalen
Geschichtsforschimg und ihrer Organisation, imd zwar wurde über Aus«
grabungen, Denkmalspflege, Gnmdkartenarbeit , Ortsnamenforschung und
Archhrinyentarisation gehandelt Die Ausgrabungen des Museiunsdirigenten
fiaum (Dortmund) an der Lippe, von denen ein grofser Teil zur Erläuterung
des Vortrags ausgestellt war, geben wichtige Aufschlüsse über die Vergangen-
hdt Westfalens und zwar aus ganz verschiedenen Kulturepochen, deren
genauere gegenseitige Abgrenzimg eine der wichtigsten Aufgaben der Forschung
überhaupt sein dürfte. Bedeutsam sind sie aber auch in methodischer Hinsicht
deshalb, weil genaue Beschreibungen der Fundstätten vorgenommen worden
sind tmd durchgängig die Fundstücke, Bronze oder Eisen, bei d e r Urne ge-
blieben sind, bei der sie gefunden wurden. Nur bei allgemeiner Anwendung
dieser Prinzipien ist es möglich, aus den Ausgrabungen wirklich Nutzen fUr
die Kenntnis der Vergangenheit zu ziehen. Die Mitteilungen über vorgeschicht-
liche Kultusstätten, namentlich bei lindenfels im Odenwald, im Vogtlande
und anderwärts (Anthes, Florschütz) zeigten jedem Unbe&ngenen deudich,
da& die Forschimgen auf diesem Gebiete noch in den Kinderschuhen stecken«
dais jedenfalls von gesicherten allgemeinen Ergebnissen, die Gemeingut der
gebildeten Welt werden könnten, heute noch nicht die Rede sein kann. Das-
selbe gut für die grundlegenden Unterschiede zwischen den Lebensgewohnheiten
der deutschen Stämme, deren Besprechung durch eine These des Dr. Flor-
schütz (Welche durchgreifende Unterschiede bestehen zwischen den Funden
aus alemannischen und aus fränkischen Reihengräbem ?) angeregt wurde: es
fehlte auch hier an genügenden Unterlagen für eine tiefere Erörterung; nur
das eine liefs sich feststellen, dafs die Unterschiede zwischen den Funden
von Schierstein und Sindlingen sich durch neuere Entdeckungen geringer er-
wiesen haben, als es anfangs schien. Wie sehr es gerade auf dem Gebiete
der deutschen Vorzeit, Urzeit imd Stammeszeit noch gründlicher Forschung
und Verbreitung der wenigen gesicherten Resultate bedarf, ergiebt sich auch
aus dem rein objektiven Bericht über die Vermehrung der Sammlungen des
„Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz ^': denn die Gegenstände
germanischer Herkimft verschwinden an Zahl völlig gegenüber den römbchen,
und imter letzteren handelt es sich auch durchaus nicht nur lun Gegenstände
aus spätrömischer Zeit, welche tms die auf die Germanen wirkenden Kultur-
einflüsse au&udecken geeignet sind, sondern auch eine Menge an sich sicher
interessante cyprische Altertümer, NachbUdungen von Bronzen aus Olympia,
phrygischer Grefli£se und altägyptischer Geräte haben die Sammlungen vermehrt
Man sollte an dieser Stelle — der vorgeschichtlichen AbteUung des römisch-
germanischen Zentralmuseiuns — doch am ehesten Fimde vorgeschichtlicher
Zeit aus den Gegenden erwarten, wo später Römer und Germanen auf einander
stieisen tmd eine eigentümliche Kultur entwickelten, denn diese Dinge sollten
doch eigentlich im Mittdptmkte der deutsch-nationalen prähistorischen Forschung
stehen. • — Der Denkmalpflege dienten eingehende Erörterungen über
den Entwurf eines Denkmalschutzgesetzes, während über die Herstellung
eines praktischen Leitfadens für die Denkmalpflege aus Zeitmangel nicht
weiter beraten wm-de. Der Bericht über die Lage des Denkmalschutzes
(Wall^ belehrte ausführlich über den gegenwärtigen Stand der Denkmal-
— 24 —
ioventarisation in allen Teilen Deutschlands und unterrichtete zugleich über
verschiedene Erfolge, welche Einsprüche seitens Kunstverständiger bei ge-
planten Beeinträchtigungen historischer Denkmäler durch andere Bauten auf-
zuweisen gehabt haben. — Über den Stand der Grundkartenarbeiten
berichtete Professor Thudichum (Tübingen), indem er auf die Wichtigkeit der
historischen Karten überhaupt und — als unbedingt nötiges Hilfsmittel dazu —
auf die Herstellung von Kartenblättem im Maüsstabe i : 100000, in denen
nur die Flufsläufe, Ortsnamen und Gemarkungsgrenzen eingetragen sind, hin-
wies. Mitteilimgen über den Fortschritt dieser Arbeiten in den verschiedenen
Landesteilen sowie über die Technik der Herstellung dieser Karten imd ihrer
Vervielfältigungen schlössen sich an. Auf Antrag von Ermisch (Dresden)
wurde femer beschlossen, i. landschaftliche Sammelstellen für die Auf-
bewahnmg von Grundkartenformularen und Blättern mit Eintragungen zu be-
gründen, sowie 2. den Vorstand zu beauftragen, wegen Begründung einer
Hauptsammelstelle für diese Karten in Verbindung mit dem historisch-
geographischen Seminar an der Universität Leipzig mit der Universität in
Verhandlungen zutreten. (Diesem Antrag ist mitüerweile entsprochen
worden, und die entsprechenden Einrichtungen sollen soeben getrofifen
werden.) — Die Forschungen auf dem Gebiete der Orts- und Flur-
namen behandelte Sanitätsrat Weifs (Bückeburg) imd stellte dabei die
Fordenmg auf, sich nicht mit Feststellung der ältesten Namensform zu be-
gnügen, sondern zur Gewinnung einer Erklärung für einen Namen, der meist
auf einfache sinnliche Wahrnehmungen zurückzuführen sein wird, alle ver-
wandten Benennungen im ganzen deutschen Sprachgebiet heranzuziehen. —
Die Inventarisation der kleineren Archive in allen Gauen ist als
Grundlage für eine umfassende Geschichtsforschung schon längst als not-
wendig anerkannt worden, und die historischen Vereine werden diese Arbeit
ab Nächstinteressierte am besten in die Hand nehmen. Über die Fort-
schritte der Inventarisation in Tirol, Steiermark, Oberösterreich, Baden imd
der Rheinprovinz berichtete Armin Tille (Bonn) und fafste seine Forde-
rungen in drei Thesen zusammen, die allgemeinen Anklang fanden. Wie
auf gewissen Gebieten naturgemäfs nur die Privatarchive Aufschlufs geben
können, erläuterte an einem Beispiel der Vereinsvorsitzende Archivrat Bailleu
in seinem Vortrag über die Rosenkreuzer im XVIII. Jahrhundert — Unter den
geschäfdichen Fragen, die Erledigung fanden, verdient der vom Archivdirektor
Wolfram (Metz) gestellte Antrag, am Tage vor der nächsten Generalversamm-
lung einen allgemeinen Archivtag abzuhalten, Beachtung, auf Grund dessen
für den 25. September 1899 der erste allgemeine deutsche Archiv-
tag nach Straüsburg einberufen worden ist. Am 26. bis 28. September wird
ebendort die diesjährige „ Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- imd Altertumsvereine" stattfinden. Unter den Fragen, die dort
behandelt werden sollen, seien hier genannt: Die deutschen Siedelungsfragen
(Henning), Fortgang der Grundkartenarbeit (Thudichum, Lamprecht), Die Sprach-
karte des Elsafs (Lienhart), Aufgaben der Westdeutschen Geschichtsvereine
nach Auflösung der Reichs-Limes-Kommission (Wolflf), Wie können Vereine
und Archive beitragen zur Förderung der mittelalterlichen Kalender- imd
Festkunde? (Grotefend).
Die 45. Versammlung deutscher Philologen und Schul-
— 25 —
mann er findet in den Tagen vom 36. bis 30. September in Bremen statt.
Das reiche Programm berücksichtigt sowohl bei den Vorträgen in den Plenar-
sitzungen als auch bei denen der Sektionen — es besteht auch eine historische
Sektion unter dem Vorsitz von Dietrich Schäfer (Heidelberg) und v. Bippen
(Bremen) — die allgemeine und lokale Geschichtsforschung. Von einschlägigen
Fragen wird behandelt werden : Die germanisch-römische Forschung im nordwest-
lichen Deutschland (Schuchardt-Hannover) ; Die Ortsnamenforschung als Hilfs-
mittel der Geschichtsforschung (Rohde-Cuxhaven) ; Über die Deutung der Völker-
namen (Hirt-Leipzig) ; Außerdem sind Air den Historiker die das Bibliothekswesen
betreffenden Besprechungen von hohem Interesse : Beziehungen des Bibliotheks-
wesens zur Philologie imd zum Schulwesen (Dziatzko-Göttingen) ; Über Ziele imd
Grenzen des Leihverkehrs der Bibliotheken nach auswärts (Gerhard-Halle).
ArchiTe. — Gelegentlich des ersten allgemeinen deutschen
Archivtages in Straisburg (s. o.) sollen folgende archivalische Fragen be-
handelt werden : Über Archivinventare und deren Veröfifenthchimg (v. Weech) ;
Über die wissenschaftliche Vorbildung des Archivars (Wiegand) ; Über Archiv-
benutzungsordnimgen (VVittmann); Über die Beziehungen der Staatsarchive
zu den Registraturen und Archiven der Verwaltungs- und Justizbehörden
(Ennisch); Ausgabe von Strafsburger Handschiftenproben des XVL Jahr-
hunderts (Ficker, Winckelmann). Aufserdem sind Besichtigungen des Bezirks-
archivs und Stadtarchivs unter Führung ihrer Vorsteher geplant
Thüringer Archivtag. Die territoriale Vielgestaltigkeit Thüringens
bat auch in der Menge der vorhandenen historischen Archive Ausdruck ge-
funden. Jedes der thüringischen Länder besitzt ein oder zwei Staatsarchive,,
desgleichen die ehemaligen Reichsstädte Mühlhausen imd Nordhausen sowie
Erfurt Dazu kommen einige ganz ansehnliche Archive von anderen Städten,
geistlichen Körperschaften und einstigen Standesherren. Durch das Bedür&is,,
zwischen den Verwaltungsbeamten aller dieser Anstalten eine regelmäfsige
persönliche Berührung und Aussprache herbeizuführen und dadurch auch
weitere Anregungen zu geben, ist die Gründung eines „Thüringer Archiv-
tages'^ veranlafst worden. Auf Einladimg des Archivrates Mitzschke (Weimar)
traten am 14. Juni 1896 in Erfurt Vertreter der hauptsächHchsten Archive
Thüringens zusammen und stifteten die Vereinigung, welche die Vorsteher
und wissenschaftlichen Beamten der historischen Archive Thüringens umfassen
soll tmd den Zweck hat, „ die persönliche Bekanntschaft und Aussprache der
KoUegen anzuregen, wechselseitigen Rat und Beistand in Fachangelegenheiten
zu vermitteln und die gemeinsamen Literessen zu wahren und zu fördern.'*
Die erste Jahresversanmilung in Weimar am 20. Juni 1897 beschäftigte sich
noch vornehmlich mit der Organisation des Archivtages, auf der zweiten
Versanmilung zu Gotha am 19. Juni 1898 wurde über die Versendung von
Archivalien nach auswärts, auf der dritten Versammlung zu Arnstadt am
4. Juni 1899 über die Ansprüche der Benutzer an die Archivbeamten ge-
sprochen. Sein nächstes Augenmerk hat der Thüringer Archivtag auf Herbei-
führung besserer Ordnung und geregelter Verwaltung der kleineren Stadt-
archive Thüringens gerichtet Femer ist die Herausgabe eines Wegweisers
durch die historischen Archive Thüringens beschlossen und bereits in An-
griff genommen worden. Durch Besuch der Versammlungen und Zahlung
— 26 —
der Jahresbeiträge haben ihre Beteiligung am Thüringer Archivtage bisher
kundgethan die Beamten der Staatsarchive zu Arnstadt, Gotha, Coburg,
Meiningen, Rudolstadt, Schleiz, Sondershausen und Weimar, der städtischen
Archive zu Arnstadt, Erfurt, Langensalza, Mühlhausen und Nordhausen sowie
des Domarchivs zu Naumburg a. S. Die nächste Versammlung soll in Rudol-
stadt am i8. Jimi 1900 stattfinden. Obmann des Thüringer Archivtages ist zur
Zeit Archivrat P. Mitzschke in Weimar. Mit der verwandte Ziele verfolgenden
Vereinigimg südwestdeutscher Archivare steht der Thüringer Archivtag in
gelegentlicher Verbindung.
Das städtische Archiv zu Mü hl hausen i. Th. ist seit Ende des Jahres
1898 von Archivar Dr. v. Bulmerincq (Göttingen) zu ordnen begonnen worden,
jedoch hat genannter Herr nur die Ordnimg der Urkunden vollendet, während
die Fortführung der Ordnungsarbeiten Professor Dr. Heydenreich (Marburg)
tibertragen worden ist.
Der bisherige Assistent am Staatsarchiv zu Königsberg, Dr. Kiewning,
welcher mit der kommissarischen Verwaltung des Detmolder Staatsarchivs
beauftragt war, ist jetzt als Leiter dieses Archivs mit dem Titel Archivrat
in Fürstl. Lippesche Dienste getreten.
Die Inventarisation der kleineren Archive macht immer weitere
Fortschritte. Die „Historische Kommission für Nassau" hat sie in ihi
Arbeitsprogramm aufgenommen, ebenso die für Westfalen und Thüringen. —
Der XXXV. Jahresbericht des Vorarlberger Museumsvereins über das Jahr
1896 (Bregenz, Teutsch) enthält den Anfang von „Archivberichten aus Vor-
arlberg" von G. Fischer, die nach dem trefiflichen Muster der Tiroler Archiv-
berichte von V. Ottenthai und Redlich gearbeitet sind. Es liegt bis jetzt das
Archivalienverzeichnis der Orte Altach, Altenstadt, Düns, Dünserberg und
Feldkirch aus dem Gerichtsbezirke Feldkirch vor. Dasselbe Heft bietet auch
den Schlufs der „Mitteilungen aus den Akten des Archives zu Hohenems
über Bludens und Montafon" von H. W. Graf v. Walderdorff, k. u. k.
Kämmerer. — Von der „Übersicht über den Inhalt der kleineren Archive
der Rheinprovinz" ist der erste Band, bearbeitet von Dr. Armin Tille, als
XDC. Publikation der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde (Bonn,
Hermann Behrendt, 1899) erschienen. Der Band enthält die Übersicht über
die Archivalien in 16 Kreisen nebst Nachträgen sowie Namen- und Sach-
register. Über die Fortfuhrung dieser Inventarisationsarbeiten ist Näheres
noch nicht bestimmt
Kommissionen. — Die „Historische Kommission für Hessen
und Wal deck", welche seit dem 10. Juli 1897 besteht, hat im Mai 1899
ihren zweiten Jahresbericht ausgegeben. Es liegen gegenwärtig sorgfaltig aus-
gearbeitete „Editionsgrundsätze der Historischen Kommission für Hessen und
Waldeck** vor, welche neben anderen ähnlichen Bestimmungen (vgl. des ver-
dienstlichen t Felix Stieve „Grundsätze, welche bei der Herausgabe von
Aktenstücken zur neueren Geschichte zu befolgen sind**) die Gleichartigkeit
der Edition fördern und die Verwertung anderwärts gemachter Erfahrungen
erleichtem werden. Der erste Band des Fuldaer Urkundenbuchs (Professor Tangl)
soll bereits bald zum Drucke gehen, ebenso der erste Band der Landtagsakten,
zu welchen gewissermafsen als Einleitung eine selbständige Schrift „ Anna von
— 27 —
Hessen. Eine deutsche Fürstin als Vorkämpferin landesherrlicher Macht ^' von
Dr. Glagau druckfertig vorliegt. Die hessischen Chroniken wird ein erster Band
eröffiien« welcher die Chronik von Konrad Klüppel, den Gatalogtis abbaium
Fleekdorpensium (um 1500) und die lateinische Familienchronik des Jonas
Trygophorus (152 1 — 1563) enthalten soll. An den Landgrafenregesten, dem
historischen Ortslexikon, dem Urkundenbuch der Wetterauer Reichsstädte
und dem Hessischen Trachtenbuch ist mit Erfolg gearbeitet worden, dock
ist ein Abschlufs dieser Arbeiten noch aufserhalb der Berechnung.
Der VI. Bericht der „Historischen Landeskommission für
Steiermark" umfefst die Zeit von Juli 1897 bis Ende März 1899. Die
Arbeiten dieser Kommission, welche sich namentlich auf gründliche Archiv-
forschungen erstrecken, nehmen ihren Fortgang, in Wiener und Münchener
Archiven wurde mit Erfolg nach steirischen Geschichtsquellen gesucht, deren
sachliche Ergebnisse in Anhang II und lU veröffentlicht werden. Die
„Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
der Steiermark** werden ab Band III eme „Geschichte des Landes-
wappens** (Anthony v. Siegenfeld) und als Band IV „ Landesfiirst, Behörde«
und Stände des Herzogtums Steier 1283 — 1411** (Krones v. Marchland)
enthalten. Studien von Dr. Kapper über die Sprachgrenze gehen ihrem Ab-
schlüsse entgegen und sollen nebst Kartenbeilagen von der Konmiission ver-
öffentlicht werden.
Eine „Kommission zur Herausgabe von Akten und Korre-
spondenzen zur neueren Geschichte Österreichs** ist 1897 noch
unter dem Vorsitze A. v. Ameths begründet worden. Arbeitsgebiet ist die
Geschichte Österreichs von 1526 bis ins XIX. Jahrhundert, eine umfassende
Materialsammlung hat bereits begonnen, welche zugleich die Arbeiten in den
einzelnen Kronländern unterstützen und ergänzen soll, wie auch letztere ihre
Sammlungen der „Wiener Kommission**, wie die erstere kurz genannt wird, zur.
VerfUguhg stellen. Die Organisation lehnt sich an das an der Universität
Wien bestehende „Institut für österreichische Geschichtsforschung** an.
Die Gründung einer „Reichskommission für römisch-germani-
sche Altertumsforschung*' wurde von der Spitze des Reiches her im
Laufe des verflossenen Sommers veriangt, und zwar sollte von der Dotation
des Archäologischen Instituts ein gewisser Betrag gestrichen und dem Reichs-
amt des Innern als besonderer Fonds fiir diese Kommission überwiesen
werden. Der deutsche Reichstag hat diese Forderung in erster Lesung ab-
gelehnt, aber dafür den Zuschufs für das Archäologische Institut erhöht, um
demselben damit die Mittel zur Errichtung eines dritten Sekretariats neben
den beiden bestehenden in Rom und Athen zu geben, welches seinen Sitz
in Deutschland haben und dem germanischen Altertum seine Thätigkeit zu-
wenden soll. Näheres darüber, wie sich die Reichsbehörden den Ort und
die Wirksamkeit des Sekretariates denken, ist bisher noch nicht bekannt ge-
worden, die Aufgaben aber, welche einer solchen Zentralstelle für römisch-
germanische Altertumsforschung erwachsen, umschreibt in zutreffender Weise
ein Aufsatz der Kölnischen Zeitung in Nr. 450 (11. Juni 1899). Hoffentlich
zieht die deutsche Altertumswissenschaft aus der Neugründung den erwünschten
Nutzen.
— 28 —
Historischer Atlas der österreichischen Alpenländer. — Die
„Historische Kommission bei der Kaiserlichen Akademie der
WissenschafteninWien** hat beschlossen, dem Problem eines geschicht-
lichen Atlasses der österreichischen Alpenländer nach dem von Prof. E. Richter
bei mehreren (Gelegenheiten entwickelten Programme näher zu treten^). Es
wurden nicht unbeträchtliche Geldmittel dafür in Aussicht genommen imd
eine Spezial - Kommission bestehend aus den Akademie -Mitgliedern Prof.
Mühlbacher, Prof. Constantin Jireöek und Hofrat Winter eingesetzte
Diese ernannte Prof. Richter zum Leiter des Unternehmens. Mit der
Arbeit wurde in Steiermark und Kämthen begonnen. Der Privatdozent der
Grazer Universität und Adjunkt am steiermärkischen Landes- Archiv Dr. A. M e 1 1
hat in den letzten Jahren, schon im Hinblick auf den historischen Atlas, die
Grenzbeschreibungen der einzelnen Landgerichte, Burgfriede, Hofinarken
u. s. w. gesammelt, wobei ihm der vortreffliche Zustand des Steiermark.
Landes-Archivs zu statten kam. Ein als Hilfsarbeiter für den historischen
Atlas bestellter Schüler Prof. Richters, Dr. H. Pirch egger, ist nun damit
beschäftigt, aus diesem Materiale die einzelnen Landgerichte u. s. w. zu rekon-
struieren und ihre Grenzen auf der „Übersichtskarte der Katastralgemeinden
j : 115200'^ die als Arbeitskarte dient, einzutragen. Man kann hofifen, auf
diese Weise nicht blofs den Stand der Gerichtseinteilung am Schlüsse der
feudalen Periode (für Ino erÖsterreich 1849), sondern die Geschichte der
judiziellen und administrativen Einteüungen für die letzten drei bis vier Jahr-
hunderte in erschöpfender Weise zu erfahren. Text und Karte sollen in
dieser Richtung zusammenwirken. Über Mafsstab und Zahl der Karten sind
die Beschlüsse noch vorbehalten; ebenso über die Verwertimg der „Land-
gerichtskarte" zu weiteren historischen Karten früherer Geschichtsperioden.
Was die Organisation der Arbeit betrifil, so sind 3 gesonderte Arbeitsgebiete
in Aussicht genommen: das innerösterreichische (Steiermark, Kämthen und
Krain), das österreichische (Land Ob und Unter der Enns) und das tirolische.
Von den Lokal-Kommissionen, die dem Leiter der Unternehung in jedem
Gebiete an der Seite stehen, ist vorläufig nur die innerösterreichische kon-
stituiert Im ganzen soll das Prinzip herrschen, dafs womöglich allen an
der Sache interessierten Forschern und Fachmännern Gelegenheit gegeben
sein soll, ihren Rat und ihre Erfahrung dem Unternehmen zu gute kommen
zu lassen, dafs aber die Arbeiten selbst von jüngeren, honorierten Kräften
ausgeführt werden. In Tirol und den österreichischen Herzogtümern werden
die Arbeiten und deren Organisierung erst dann in Angriff genommen werden,
wenn in Innerösterreich einige Erfahrungen gesammelt sind.
Personal feil* — Ein halbes Jahr nach dem plötzlichen Tode Alfons
Hubers ist am 27. Mai 1899 Heinrich v. Zeifsberg ebenso unerwartet
unserer Wissenschaft entrissen worden, abermals ein schwerer Verlust im
besondem für die österreichische Geschichtsforschung. Wie Huber an terri-
torialhistorischen Arbeiten emporgewachsen ist zu den umfassenden Werken
seiner späteren Zeit, so wurde auch Zeifsberg wirksam beeinflufst von den
Fragen, die sich an die geschichtliche Entwicklung der Stätten seiner
*) S. Festschrift zam 60. Geburtstage F. v. Krones, Historiker-Tag in Innsbruck 1896.
— 29 —
WiriLsamkeit und seiner engeren niederösterreichischen Heimat knüpften.
Zdisberg hat seine ausgezeichnete historische Schulung und seine hohe Be-
gabung lange Jahre in den Dienst solcher Arbeiten gestellt und hat bis in
seine letzte Zeit ab und zu immer wieder gerne diese Forschungen verfolgt
Auch er wurde ja dann zu weit ausgreifenden Themen geführt, und so er-
scheint ims sein Wirken ab ein glückliches Beispiel fruchtbarer Wechsel-
wirkung streng wissenschaftlich betriebener territorialer und allgemeiner histo-
rischer Forschimg.
Zeifsberg, am 8. Juli 1839 ^^ Wien geboren, erwuchs in der Schule
Albert Jägers und Theodor Sickels im Institut für österreichische Geschichts-
forschung; er hat aber auch Philologie bei Vahlen betrieben. Noch Student,
hatte er sich schon erstaunliche Kenntnisse erworben, welche die Aufmerk-
samkeit seiner Lehrer auf ihn lenkten. In den Jahren 1863 und 1864
erschienen seine ersten Arbeiten über Erzbischof Arno von Salzburg, über
Thomas Ebendorfer, über österreichische Geschichte im Zeitalter der Baben-
berger, ausgezeichnet durch feine und sorgfaltige kritische Forschung und
durch anziehende Darstellung. Mit 24 Jahren schon wurde Zeifsberg zum
Supplenten der Lehrkanzel für allgemeine und österreichische Geschichte an
der Universität Lemberg bestellt, und 1865 bereits erfolgte seine Ernennimg
zum ord. Professor.
Diese Stellung wurde von bestimmendem Einflufs für die Richtung seiner
weiteren wissenschaftlichen Thätigkeit. Er eignete sich die Kenntnis des
Polnischen an und wandte sich der polnischen Geschichte zu. Nach einigen
Arbeiten über die Beziehungen Deutschlands zu Polen im X. und XI. Jahr-
hundert (1867, 1868) griff er in das Gebiet der Historiographie, das ihm
immer besonders sympathisch und kongenial blieb, behandelte Vincenz Kadlu-
bek den polnischen Historiker des XUI. Jahrhunderts (1869) und schlofs mit
einer umfangreichen und sehr wertvollen Arbeit diese seine polnische Periode
im wesentlichen ab. Dies ist sein von der Jablonowskischen Gesellschaft
preisgekröntes Werk Die polnische Geschichischreibung des MitiekUters
(1873). ^ sorgsamster Kritik und Darstellung wird die polnisch-schlesische
Historiographie behandelt, von der Passio Adalberti und den Krakauer Annalen
des X. bis Xu. Jahrhunderts angefangen bis zu den Quellen des XV. Jahr-
hunderts, dem grofsen Geschichtswerke des Johannes Dlugosz und den pol-
nischen Humanisten. Es ist ein grundlegendes, auch von den polnischen
Historikern warm anerkanntes Werk.
Von Lemberg kam Zeifsberg 187 1 an die Universität Innsbruck, um
aber schon 1872 einem Ruf nach Wien zu folgen. Auch diese kurze tiro-
lische Episode blieb nicht ohne ein paar Früchte. In einer kritischen Studie
über die Vita Hartmanni wies er Neustifb bei Brixen als Entstehtmgsort nach
(1878) und edierte eine Aufzeichnung über die Gründung des Klosters
Stams (1880).
In Wien war Zeifsbergs akademische Thätigkeit zum Teil an das Institut
für österreichische Geschichtsforschung geknüpft, dem er von 1874 an als
Dozent für österreichische Geschichte angehörte und nach dem Abgange
Sickels von 1891 bis 1896 als Direktor vorstand. Aus den Bedürfiiissen des
Instituts entsprang sein KoUeg über österreichische Geschichtsquellen, und
dies führte Zeifsberg zu einer Reihe von Arbeiteu, die sich romehmlich mit
— 30 —
nekrologischen Quellen beschäftigeiu Die bedeutendste ist das im 41. Band
der Fontes rerum Äustriacarum edierte Totenbuch des ELlosters Lilienfeld (1879),
worin Zeifsberg scharfsinnig eine Reihe von Fälschungen Hanthalers nach-
gewiesen hat Auch das darf Zeifsberg nicht vergessen werden, dafs er
gerade auf diesem Gebiete verschiedene Arbeiten seiner Schüler angeregt hat,
so jene über Ebendorfer, Hinderbach und Wolfgang Lazius. Nebenher gingen
ganz vortreflTliche Abhandlungen aus der mittelalterlichen Geschichte Öster-
reichs, wie über den österreichischen Erbfolgestreit von 1457 — 1458 (1879),
Rudolf von Habsburg imd der österreichische Staatsgedanke (1882), das
Rechtsverfahren Rudolfs gegen Ottokar (1887) und seine allerletzten Arbeiten
zur Geschichte Friedrichs d. Seh. (1897, 1898), auf wertvolles unbenutztes
Material in Barcelona gestützt
Seit den ersten achtziger Jahren aber hatte sich Zeifsberg im ganzen mehr
der neueren Geschichte Österreichs zugewandt, indem er die Fortführung
des Werkes von Vivenot übernahm und die stoffreichen Bände III — V der
Quellen zur Geschichte der deutschen Kaiserpolitik Österreichs wäfirend der
Französischen Revolutionskriege von 1790 — 1801 (1882 ff.) herausgab. Das
Werk jedoch, welches Zeifsberg seit Jahren ganz in Anspruch nahm, war
eine grofs angelegte Biographie Erzherzog Karls. Seit 1889 erschien eine
Reihe ungemein eingehender Vorarbeiten, und 1896 kamen die ersten zwei
Bände heraus, welche in freilich etwas breit angelegter Darstellung die Früh-
zeit Erzherzog Karls umfassen.
Aber noch einer Seite von Zeilsbergs Wirksamkeit müssen wir gerade
an dieser Stelle gedenken. Seit 1890 war er mit der Redaktion des grofsen
Werkes Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild betraut,
eines Werkes, das bei all dem begreiflichen Wertunterschied seiner einzelnen
Teile im ganzen doch ein monmnentales genannt werden darf. Zeifsberg
war der Geschichtslehrer des verstorbenen Kronprinzen Rudolf gewesen,
der ja jenes Werk ins Leben gerufen hat Zeifsberg selbst hatte schon
früher einen Einleitungsband dazu geschrieben, die Geschichtliche Über-
sicht der österreichisch - ungarischen Monarchie. Wenn man sonst Zeifsberg
vor allem als den Historiker kannte, der sich mit liebevoller Sorgfalt ins
Detail einzelner Fragen und engerer Gebiete versenkte, so zeigt diese
meisterhafte, schön geschriebene Darstellimg, dafs er gar wohl im stände
war, in grofsen imd klaren Zügen auch weite geschichtliche Entwicklimgen
zusammenzufassen. Und wenn man sonst gewohnt war, in Zeifsberg, seinem
ganzen Wesen und all seinen Äufsenmgen einen imgemein reservierten Mann
zu finden, so erkennt man in diesem Buche, wie nicht minder in seinem
wirklich schönen Festvortrag über Kaiser Franz Joseph (1888) mit wahr-
hafter Befriedigung, dafs hinter Zeifsbergs feinen und inmier liebenswürdigen
Formen auch eine feste Überzeugung des Mannes und Historikers stak, die
er mit Würde und Freimut zu äufsem verstand.
Im Jahre 1896 wurde Zeilsberg an Stelle W. v. Harteis zum Direktor
der Wiener Hotbibliothek ernannt Infolge dessen schied er zuerst von der
Direktion des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, dann über-
haupt von seinem Lehramt an der Universität Allein nur kurze Zeit war
ihm noch vergönnt, der plötzliche Anfall eines Herzleidens machte seinem
arbeits- und erfolgreichen Leben in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai
— 31 —
1899 ^ erschütternd schnelles Ende. Wer hätte nicht mit den Worten
des Redners am ofifenen Grabe gefühlt: have jna anima!
Osw. Redlich.
Am 13. August starb zu Godesberg der Geh. Kommerzienrat Dr. iur. et
phiL Gast v. Mevissen in dem hohen Alter von 84 Jahren. Von den
zahlreichen Verdiensten dieses hochbedeutenden Mannes kann an dieser Stelle
nur die Förderung erwähnt werden, welche die rheinische Geschichte ihm
zu verdanken hat Seit etwa 20 Jahren ist ihr sein Interesse und seine
tfaatkräftige Unterstützung in hervorragendem Mafse zu Gute gekommen. An
der Gründung der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde i. J. 1881
hatte er im Verein mit Lamprecht den Hauptanteil. Mit einer Stiftung von
3000 Mark und mit einem jährlichen Patronatsbeitrage von 300 Mark
Heb er der jungen Gründung eine erste finanzielle Stütze. In seiner Be-
scheidenheit lehnte er stets eine Wahl in den Vorstand ab, nahm da-
gegen regelmäfsig an den Hauptversammlungen der Gesellschaft teil, bis
ihm die Beschwerden des Alters das Fembleiben vom öftendichen Leben
geboten. Bedeutende Summen bestimmte er alljährlich ftlr Stipendien, die
in festerer oder loserer Anknüpftmg an das Historische Archiv der Stadt Köln
jüngeren Kräften es ermöglichten, ihre Arbeit der kölnischen und rheinischen
Geschichte zu widmen. Die Ordnung und Benutzung des Kölner Archivs
wurde dadurch ganz aufserordendich gehoben, mehrere verdienstvolle Publi-
kationen der Gesellschaft (die Kölner Schreinsurkunden von Höniger, die
Akten der Kölner Verfassung und Verwaltung von Stein, die Kölner Stadt-
rechnungen von Knipping) aufs wirksamste unterstützt. Mit freudiger per-
sönlicher Anteilnahme verfolgte M. alle diese Arbeiten und ihre Verwertung
ftir die wissenschaftliche Forschung. Im Jahre 1890 krönte er seine auf
die Förderung der rheinischen Geschichte gerichteten Bestrebungen durch
die Begründung einer Preisstiftung. £r erlebte auch die Freude, dafs die
erste Preisschrift, welche die Gesellschaft mit dem Bildnisse des Stifters
schmücken konnte. Die Enitvickelung der kommunalen Verfassung und Ver-
Wallung von Köln bis xwn Jahre 1396 von Fr. Lau, von der Kritik ein-
stinmiig als eine grundlegende und des Preises in vollstem Mafse werte Arbeit
bezeichnet wurde. Der Tod dieses hochherzigen Gönners ist für die ge-
schichdichen Arbeiten in Köln und im Rheinlande ein unersetzüicher Verlust.
H. Keussen.
Im Laufe der letzten zwei Semester haben sich an den deutschen Uni-
versitäten für Geschichte habilitiert: Alexander Cartellieri in Heidelberg,
Ludwig Schmitz in Münster i. W., Viktor Ernst in Tübingen, Rudolph Kötzschke
in Leipzig, Georg Küntzel in Bonn, Ludwig MoUwo in Göttingen, Schäfer
io Rostock, Hans Glagau in Marburg.
Zeitschriften. — Die Mehrzahl der lokal- und provinzialgeschicht-
Kchen Veröfifendichungen Deutschlands werden von Vereinen oder ähnlichen
Korporationen herausgegeben. Deshalb ist es bemerkenswert, dais neuer-
dings als buchhändlerische Unternehmung im Verlage von Fr. Lintz in Trier,
in welchem auch die „Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kimsf
— 32 —
«erscheint, — unabhäogig von irgend welchem Verein wie einst (i 832 — 1870) das
von Lacomblet herausgegebene „Archiv für die Geschichte des Niederrheins —
-eine periodische Publikation für Stadt und Land Trier herausgegeben wird,
das Trierische Archiv. Herausgeber ist der Bibliothekar und Archivar
der Stadt Trier, Dr. Max Keuffer; erschienen sind bisher zwei Hefte (1898
imd 1899). Der Inhalt des Archivs ist mannigfaltig, Darstellungen und
Quellenveröffentlichungen stehen neben einander imd bereichem unsere Kennt-
nis von Triers Vergangenheit. Für weitere Kreise ist neben der „ Geschichte
-des Trierer Schöffengerichtes" (H. Isay) von Wichtigkeit in Heft i die vom
Domkapitular Dr. Lager veröffentlichte „ Dienstordnimg für die Beamten und
Diener des trierischen Domkapitels aus der zweiten Hälfte des XIIL Jahr-
hunderts", eine wirtschaftsgeschichtlich recht bedeutende Quelle, welche in-
haltlich in vielen Stücken dem Ministerialenstatut eines weltiichen Herrn (des
von Blankenheim) aus dem XV. Jahrhundert entspricht (gedruckt in „ Annalen
<les Historischen Vereins für den Niederrhein", Heft 9/10 [1861], S. 122 — 126).
In Heft 2 beginnt eme kritische Darstellung der Geschichte des Trierer Erz-
bischofs und Kurfiirsten Jakob von Sirk (seit 1439) von Lager, deren Fort-
setzung noch zu erwarten ist, und eine Abhandlung über den Ursprung des
Archidiakonates bezw. Klosters Tholey (J. Marx) ftihrt auf die Probleme der
älteren Klostergeschichte überhaupt. Von grofsem Werte ist ein Anhang
^, Verzeichnis der Handschriften des historischen Archivs der Stadt Trier",
von welchem der erste Bogen mit selbständiger Seitenzählung vorliegt. Jedes
künftige Heft soll einen weiteren Bogen enthalten, so dafs allmählich ein
Katalog der Handschriften des Trierer Stadtarchivs entsteht.
Eingegangene BBcher.
ßorchling, C. : Mittelniederdeutsche Handschriften in Norddeutschland tmd
den Niederlanden. Aus den Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen (1898), Heft 2, S. 79
bis 316. 40.
Breitner, Anton: luvaviae rudera. Römische Fundstätten im Salzburger
Flachgau. Mit Tafeln, gezeichnet von Franz Kulstrunk. Leipzig-Reudnitz,
Verlag von Robert Baum, 1898. 17 S. 8<>.
Bruchmüller, W. : Der Kobaltbergbau und die Blaufarbenwerke in Sachsen
bis zum Jahre 1653. Crossen a. O., Druck und Verlag von Richard
Zeidler, 1897. 78 S. 8«.
Derselbe: Die Folgen der Reformation und des 30jährigen Krieges fiir
die ländliche Verfassung und die Lage des Bauernstandes im östlichen
Deutschland, besonders in Brandenburg und Pommern. Crossen a. O.,
Vertag von Richard Zeidler, 1897. 37 S. 8®.
Gramer, Julius: Die Geschichte der Alamannen ab Gaugeschichte. Breslau,
Verlag von M. & H. Marcus, 1899. 579 S. 8®. [Untersuchungen zur
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Dr. Otto
Gierite. 57. Heft.] Ji 15.
Dobenecker, R. : Aus der Vergangenheit von Stadt und Pflege Ronne-
burg. Ronnebuig, Kommissionsvertag von Leopold Brandes, 1899.
136 S. 80.
Herausgeber £>r. Armin Tille in Leiptig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Forderung der landesgeschicMchen Forschung
=e
I. Band November 1899 2. Heft
Zur Organisation der Grundkartenforsehung
Von
Karl Lamprecht
Gmndkarten sind bekanntlich Karten, welche je zwei Sektionen
der Generalstabskarte des Deutschen Reiches im Maisstabe von
1 : 100 000 umfassen, von den Einzeichnungen der Generalstabskarte aber
nichts wiedergeben als das hydrographische Netz und die Eintragungen
der Gemeindeorte. Hinzugefugt sind diesen Einzeichnungen dann noch
die Ge£neinde-(Gemarkungs-)Grenzen, die sich in der Gener^tabskarte
nicht finden. Auf diese Weise entstehen Karten mit einem Netz von
Einzeichnungen, dem an sich schon ein hoher Wert innewohnt, das
aber für historische Zwecke doch vor allem die Bedeutung einer Grmid-
Jage (eines „Canevas **) hat, welcher weitere Eintragungen einverleibt wer-
den sollen. Derartige weitere Eintragungen sind dann teils singulärer
Natur: Einzeichnungen z. B. von politischen Grenzen, teils und haupt-
sächlich aber typischer (vergleichender) Art: Angaben administrativer
Grenzen z. B. und namentlich Einzeichnungen historisch -statistischen
Charakters : über die Verbreitung gewisser Flurverfassungsformen z. B.
oder gewisser Arten der Industrie, über die lokale Geltung gewisser
Rechtssätze, gewisser Erscheinungen in Sprache und Sitte u. s. w.
Ganz kurz wird man sagen können, dafis die Grundkarten einen
überall gleichmäisigen , weil auf identischen Eänzeichnungen beruhen-
den Kartencanevas zur Eintragung historischer Daten jeder Art bieten ;
und die allgemeineste Bedeutung der Grundkarten wird man daher
zunächst darin zu suchen haben, dafs sie das geographische Moment
in jedem Sinne in die historische Forschung einfuhren ^).
x) Genaner aaf das Wesen der Gnmdkarten braucht hier nach der Tendenx dieses
AnfMtzes nicht, und im aUgemeinen um so weniger eingegangen za werden, weil sich das
in dieser Richtung Notwendige neuerdings ausgezeichnet zusammengestellt findet in dem
Ideincn Schriftchen Yon H. Ermiscb, Erlfiutemngen zur historisch-statistischen Grund-
3
— 34 —
•
Die Grundkarten sind ein Elrzeugnis der immer mächtiger an-
schwellenden landesgeschichtlichen Bewegung, die auf deutschem Bo-
den mit der Gründung des Reiches und der Wendung der historischen
Studien ins Zuständliche eingesetzt hat. Namentlich Studien, die auf
verfassungs-, oder rechts- oder wirtschaftsgeschichtlichem Gebiete
intensiv bis in das lokale und landesgeschichtliche Detail hinabstiegen,
mufsten ohne weiteres auf den Gedanken führen, ein HUfsmittel in der
Art der Grundkarten zu entwickeln, um die bei näherer Betrachtung^
einerseits fast stets so verwickelten, andrerseits immer mit Momenten
identischer Entwicklungstendenzen versehenen Thatsachen klar über-
schauen und das Besondere wie Gemeinsame in ihnen abgrenzen
zu können. Hat sich doch selbst für städtegeschichtliche Unter-
suchungen neuerdings ein solches Bedürfnis herausgestellt ^).
So sind Versuche und Bestrebungen zur Entwicklung der Grund-
karten an verschiedenen Orten unter denselben oder verwandten Ver-
anlassungen seit den achtziger Jahren aufgetaucht. Am frühesten fer-
tig war man in gewissem Sinne in der Rheinprovinz, wo die Begrün-
dung der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde den landes-
geschichtlichen Studien seit i88i einen besonders kräftigen Anstofs
zu geben begonnen hatte. Hier ergab sich, nachdem man imter dem
Einflufe Nissens den Gedanken eines grofeen Geschichtsatlas der Pro-
vinz gefafst hatte, mit zwar anfangs verkannter, bald aber gebieterisch
wirkender Notwendigkeit der Gedanke der Grundkarten; und die Rhein-
provinz ist noch heute das einzige Land, dessen Grundkarten ganz,
vollständig abgeschlossen vorliegen. Aber freilich waren diese Grund-
karten doch wieder nur als internes Hilfsmittel für die Herstellung des Atlas
gedacht; die Absicht, sie auch nur der landesgeschichtlichen Forschung^
allgemein zugänglich zu machen, hat anfangs nicht bestanden; und
noch weniger war der Gedanke gefafst worden, dafs die rheinischen
Karten Teil eines allgemeinen deutschen Gnmdkartenimtemehmens seia
könnten; der gewählte Mafsstab (i : 80000) entsprach dem lokalen Be-
dürfnis des Anschlusses an die besonderen rheinischen Kartenverhält-
nisse (Licbenowsche Karte) und nicht einem allgemeinen deutschen Be-
dürfnis, das sofort auf den Mafsstab i : 100 000 (Generalstabskarte) hätte
führen müssen.
karte für Deatschland im Mafsstabe von i : 100 000 (Königreich Sachsen); heraasg. voa
der k. sächs. Kommission f. Geschichte, 1899; Druck von B. G. Tenbner in Leipzig;.
16 SS.
i) S. Hnnd, Verfassungsgeschichte von Colmar; 1899.
— 35 —
Das Verdienst, die allgemeine Bedeutung der Sache erkannt und
g^en die zahlreichen anfangs auftauchenden Bedenken energisch ver-
fochten zu haben, gebührt Thudichum. Er ist es auch gewesen, der,
aus seinen wetterauischen Studien heraus aufs innigste von der Not-
wendigkeit des Grundkartenwesens überzeugt, dieses dem Interesse der
zunächst in Betracht kommenden Instanz, des Gesamtvereins deutscher
Geschichtsvereine nahelegte: viele Jahre hindurch hat er in den Ver-
sammlungen des Gesamtvereins für die Sache gewirkt.
Damit war denn gegenüber den lokalen Anfangen die erste all*
gemeine Aussicht auf die Dm-chfiihrung der Grundkarten gewonnen.
Ein zweites Moment dieser Art kam hinzu, als sich die 1894 begründete
Konferenz deutscher Publikationsinstitute seit dem Innsbrucker Histo-
rikertag (1896) der Frage annahm und auf dem Nürnberger Historiker-
tag (1898) Beschlüsse fafste, welche der weiteren Verbreitung des
Grundkartenuntemehmens, namentlich auch über die deutschen Grenzen
hinaus, sehr zu Gute gekommen sind.
Heute kann die Grundkartensache als über allen Zweifel hinaus
gehoben und thatsächlich vollkommen fundiert gelten. Als Mafsstab der
Grundkarten steht jetzt i : 100 000 fest; auch die Rheinprovinz wird
sich ihm bei einer neuen Bearbeitung ihrer Grundkarten voraussichtlich
anschliefsen ; und er ist schon über die Grenzen des Reiches hinaus
von Holland angenommen worden. Beschlossen ist weiterhin die Her-
stellung von Grundkarten für ganz Süddeutschland und für Norddeutsch-
land links der Elbe mit Ausnahme von Hessen, Braunschweig, Han-
nover und Oldenburg ; für Thüringen sind die Verhandlungen im Zuge.
Der deutsche Nordosten (rechts der Elbe) ist freilich noch im Rück-
stand, nur Schleswig-Holstein, wenn wir dies hierher rechnen wollen,
Mecklenburg, Brandenburg und teU weise Posen sind an der Arbeit;
Pommern, die beiden Preuisen und Schlesien scheinen einstweilen ver-
sagen zu wollen. Doch ist zu bedenken, dafs hier bei dem besonderen
Charakter der Gemeindegrenzen infolge der Entwicklung der Guts-
bezirke in der That noch manche Bedenken zu heben sind, ehe man
in eine Arbeit eintritt, der man sich freilich nach Lage der allge-
meinen Verhältnisse auf die Dauer nicht mehr wird entziehen können.
Aufserhalb des Reiches ermöglichen femer in Osterreich die schon
seit langem bestehenden Katastralgemeindekarten die Entwicklung
aller der Forschungen, welchen im Reich die Grundkarten dienen
sollen ; es bedarf also keiner besonderen Grundkarten , und nur eine
angemessene Preisermäfsigung der Katastralgemeindekarten für den
Fall ihrer gelehrt-historischen Verwertung wäre zu wünschen; Schritte, um
3*
— 36 ~
dies zu erreichen, sind seitens der letzten Versammlung des Gesamt-
vereins deutscher Geschichtsvereine beschlossen worden. In Holland
und Belgien endlich ist in sehr dankenswerter Weise die Herstellung
von Grundkarten nach deutschem Muster beschlossen worden; Reichs-
archivar Muller in Utrecht und Professor Pirenne in Gent haben sich
in dieser Hinsicht grofee Verdienste erworben. In der Schweiz ist
ein erstmaliger, von der Konferenz deutscher Publikationsinstitute im
Einverständnis mit der Allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft
der Schweiz an den Bund gestellter Antrag auf Unterstützung eid-
genössischer Grundkarten ohne Erfolg geblieben; doch ist die Allge-
meine geschichtsforschende Gesellschaft nach wie vor bereit, die
Grundkarten herzustellen, falls sie die nötige Unterstützung erhält, und
es steht zu hoffen, dais der Bund sie ihr gewähren werde, sobald er
von der Brauchbarkeit der Grundkarten auch für die Zwecke der
Gegenwart und insbesondere staatliche und militärische Zwecke ^) mehr
als bisher überzeugt werden kann. Mit Frankreich schweben Ver-
handlungen wegen Übertragung der Grundkartenidee; auch mit den
skandinavischen Ländern ist ein Ideenaustausch eröffnet. Zahlreicher
fertig liegen Grundkarten schon an so vielen Stellen vor (Elsafs-
Lothringen, Württemberg, Grofsherzogtum Hessen, Rheinland, Nassau,
Königreich Sachsen, Schleswig -Holstein, Mecklenburg, Brandenbui^,
Posen), dafe jetzt die Fragen nach ihrer Verwertung allmählich die
Sorgen der blolsen Herstellung abzulösen beginnen.
Die Probleme in dieser Hinsicht sind nun doppelter Natur : da es
sich bei der Benutztmg der Grundkarten — sollen grofse Resultate er-
reicht werden, sollen z. B. landesgeschichtliche Atlanten der politischen
und Kulturgeschichte und schliefslich ein nationaler deutscher Atlas
dieser Art Ziele sein — ganz zweifelsohne um Kollektivarbeit vieler
handelt, so mu(s einmal die Arbeit dieser vielen in ihrem äußer-
lichen Ineinandergreifen organisiert werden, und mufs weiter ein inneres
System der Au£zeichnung , eine Technik der Eintragung geschaffen
werden, die diesen vielen gemeinsam ist. Dabei hängen diese beiden
Aufgaben in der Weise miteinander zusammen, da(s Vorschläge zur
Einrichtung der Eintragungstechnik am einfachsten von der Stelle aus-
gehen werden, in welche als obersten TeU die äuCsere Organisation ausläuft.
Hieraus folgt dann wieder, dafs zuerst die äulsere Organisation zu ent-
wickeln ist, ehe an der Durchbildung der inneren Organisation, der
Technik, mit dauerndem Erfolg gearbeitet werden kann.
i) Im Königreich Sachsen werden die Gmndkarten von den Militär- wie den Zivil*
befaörden fttr Aoixeichnangen der verschiedensten Art in Ansprach genommen.
— 37 —
Im Gebiete der äufseren Organisation versteht es sich von selbst,
dais jedes Land, für welches Grundkarten hergestellt werden, auch
bestrebt sein wird, diese Grundkarten dadurch als Ganzes nutzbar zu
machen, dafs es in urgend einer Weise die auf Grundkarten eingetragenen
Notizen der verschiedenen Forscher an einer Stelle zusammenbringen,
ordnen und für den allgemeinen Gebrauch sachverständiger Kreise offen
l^en lälst Je nach dem Landesinstitut, das die Herstellung der
Grundkarten übernommen hat, kann das natürlich in sehr verschiedener
Weise geschehen. Um den Voi^[ang an irgend einer Stelle konkret
zu schildern, so sei die schon funktionierende Einrichtung im König-
reich Sachsen angeführt. Hier werden von zwei Stellen im Lande,
nämlich von dem Geschäftszimmer der historischen Kommission im
historischen Seminar der Universität zu Leipzig und von dem Haupt-
staatsarchiv zu Dresden, Grundkarten an Forscher zu dem sehr billigen,
noch unter den Herstellungskosten stehenden Preis von 30 Pfennig
für die Karte verkauft, doch unter der Bedingung, dafs diese eine
Kopie der von ihnen zu Eintragungen benutzten Grundkarte nebst
einem Beweisheft für die eingetragenen Thatsachen dem Hauptstaats-
archiv in Dresden übermitteln. Das für diese Kopie notwendige zweite
Exemplar der Grundkarte wird zusammen mit dem ersten unentgeltlich
überiassen. Auf diese Weise wird es möglich gemacht, alle Forschungs-
e^ebnisse, zu deren Erreichung sächsische Grundkarten in Anspruch ge-
nommen werden, auf dem Dresdner Hauptstaatsarchiv zu konzentrieren
und damit einen stetig wachsenden Grundstock zu gewinnen für die
Bearbeitung eines historisch-politischen und historisch-statistischen Atlas
des Königreichs. Es ist ein Ziel, dem man anderswo mit andern, im
ganzen aber doch wohl verwandten Mitteln wird zustreben müssen.
Indes liegt auf der Hand, da(s mit dieser landesgeschichtlichen
Ordnung^ die Organisation des Grundkartenwesens nicht abgeschlossen
ist. Über die Landesoiganisationen hinaus bedarf es eines Zentral-
organs, das in irgendeiner Weise den allgemeinsten deutsch-nationalen,
ja mitteleuropäischen Anforderungen an die Grundkarten gerecht wird.
Das Bedürfnis einer solchen Zentralstelle liegt so nahe, dafs es schon
verhältnismäisig früh empfunden und ausgesprochen worden ist, und
dafs schon die Münstersche Versammlung des Gesamtvereins deutscher
Geschichtsvereine im Herbst 1898 in dieser Hinsicht einen eingehenden
Beschluiis gefafst hat. Dieser Beschlufe lief darauf hinaus, bei der
Universität Leipzig, als derjenigen Universität, die sich einer historisch-
geographischen Professur erfreue, wegen Aufnahme der Zentralstelle
vorstellig zu werden. Eine dementsprechende Bitte ist dann in der
- 38 —
That im Laufe der ersten Monate des Jahres 1899 bei der Universität
eingelaufen und hat bei dieser und den in Betracht kommenden Fach-
männern sowie bei der könig-lich sächsischen Regierung entgegen-
kommende Aufnahme gefunden. Der weitere Verlauf des Jahres
hat darauf die Organisation der Zentralstelle gebracht, und diese ist
jetzt, dank der opferbereiten und wohlwollenden Haltung des sächsischen
Kultusministeriums, das auch bedeutendere Ausgaben iiir dies im besten
Sinne allgemein-nationale Werk nicht gescheut hat, soweit vollendet, dafs
alle jetzt zu übersehenden dringlichen Bedürihisse befriedigt sind. Das
historisch-geographische Seminar, bisher ein Annex des geographischen
Seminars, ist von diesem abgetrennt worden und hat, nunmehr als
Historisch-geographisches Institut, eigene schöne Räume erhalten,
die derart gelegen sind, dafs sie leicht mit den Räumen des Seminars
für mittlere und neuere Geschichte verbunden werden können. Diese
Verbindung, welche die ungehinderte Benutzung der grofsen Bibliothek
dieses Seminars durch diejenigen ermöglichen wird, welche im Histo-
risch-geographischen Institut arbeiten, soll während der nächsten Oster-
ferien hergestellt werden. Das Institut selbst ist zwei Direktoren unter-
stellt, deren einem das Gebiet der antiken Geographie, deren anderm
das der mittleren und neueren Geographie zugewiesen ist, während
beiden das Gebiet der Geschichte der Geographie gemeinsam bleibt.
Beiden Direktoren ist ein Bibliothekar zur Verwaltung der Bibliothek
und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Institutsräumen unter-
geordnet. Mit diesem Ausbau des Instituts ist zunächst ein möglichst
allseitiger Lehrbetrieb auf allen Feldern der historischen Geographie
gewährleistet: und damit die unentbehrliche Grundlage für eine wahr-
haft wissenschaftliche Entwicklung auch der Grundkartenforschung ge-
wonnen. Die Zentralstelle für Grundkarten selbst ist dann der Ab-
teilung für mittlere und neuere Geographie angegliedert, und dem
Direktor dieser Abteilung in dem Privatdozenten Dr. Kötzschke ein
Assistent beigegeben worden, dessen Name aufs Engste mit der jüngsten
Förderung des Grundkarten wesens verknüpft ist; Herr Dr. Kötzschke wird
speziell auch der Grundkartenstelle vorstehen. Für die Zentralstelle
selbst ist weiterhin ein besonderer Raum hergestellt, in dem vor allem
ein Schrank mit hunderten von Fächern zur Aufnahme des Grundkarten-
materials Platz gefunden hat.
Was soll nun aber die Zentrabtelle in diesem Zusammenhang und
in dieser Ausstattung leisten? Eine ihrer ersten Aufgaben, die teilweis
schon gelöst ist, besteht darin, als Depot für alle Grundkarten zu
dienen. Die Grundkarten sind in den verschiedenen Ländern bekannt-
— 39 —
lieh von sehr verschiedenen Instituten unternommen worden, hier und
da, wie z. B. in Holland, verdanken sie auch dem gesellschaftlichen
Zusammentreten sehr verschiedener Kräfte ihr Dasein : und demgemäß
ist es für den einzelnen Forscher nur unter g^ofeem Zeitverlust, wenn
überhaupt, möglich, ihre Bezugsstellen und Bezugsart im einzelnen
Falle festzustellen. Hier soll nun die Zentralstelle vermittelnd ein«
treten. Sie soll durch Verhandlungen mit den einzelnen Instituten
dafür soigen, dais von jeder Karte eine Anzahl von Exemplaren in
Leipzig deponiert sind, die jeder Forscher jederzeit zu den Original-
preisen und Originalbedingungen beziehen kann. Zugleich ist damit
erreicht, dafs jeder Forscher alle Karten in den Räumen des Instituts
zusammen vorfindet und — damit kommen wir zu einer zweiten Auf-
gabe — mit ihrer Hilfe in jedem Gebiet der Grundkartenforschung an
Ort und Stelle arbeiten kann. Denn nicht blofs Depot soll die Zentral«
stelle sein, sie soll auch alle Mittel zur Grundkartenforschung in ihren
Räumen in möglichster Vollkommenheit vereinigen. Da sind denn
freilich neben den Grundkarten selbst noch eine grofse Anzahl littera-
rischer Hilfsmittel nötig: die Generalstabskarten, aus denen heraus die
Grundkarten bearbeitet sind, als deren für viele Forschungen unumr
gängliche Ergänzung; die Reihe der wichtigsten in Deutschland seit
dem i6 Jh. erschienenen Karten und Atlanten, soweit sie fiir die
deutsche historische Geographie von Bedeutung sind; eine gröisere
Anzahl der wichtigsten Ortslexika u. dergl. der letzten Jahrhunderte;
endlich eine ausgewählte Bibliothek von Werken zur historischen Geo-
graphie und Landeskunde Deutschlands wie zur Geschichte der Geo-
graphie. Das alles muls also die Zentralstelle und das Historisch-geo-
graphische Institut der Universität Leipzig, mit welchem die Zentral-
stelle verbunden ist, dem sie aufsuchenden Benutzer bieten: und die
unerläfslichen Kredite, die zur Beschaffung dieser Hilfsmittel nötig sind,
sind von der sächsischen Regfierung schon mit so viel Wohlwollen gewährt
worden, daCs die nötigen Anschaffungen binnen spätestens zwei Jahren ge-
macht werden können. Zu alledem aber mufs, soll die Zentralstelle ihre
vollste denkbare Bedeutung erhalten, noch ein drittes kommen: es
mtt& möglich sein, in ihr die gesamte Grundkartenforschung, auch so-
weit sie nur handschriftlich vorliegt, zu übersehen; oder mit andern
Worten : es mufs dafür gesorgt werden, dafs in Leipzig Kopieen aller
der Eintragungen auf Grundkarten vorhanden sind, welche den einzelnen
Landesstellcn zugehen. Gewifs wird damit eine schwer zu verwirklichende
Forderung aufgestellt Allein die Forderung trägt nichts Unmi^Uches
hk sich; und es bedarf nicht erst der Ausführung, dafs ihre Durch-
— 40 —
führung' einen aufserordentlichen Fortschritt der historischen Forschung-
überhaupt bedeuten würde. Freilich: verwirklichen läfet sich die Sache
nur bei entschiedener und zwar auch opferwilliger Bereitschaft der
Landesstellen und darüber hinaus der einzelnen Forscher. Die Zentral-
stelle kann wohl von sich aus für gewissenhafte Unterbringung des
einlaufenden Materials sorgen, und in dieser Hinsicht ist schon alles
bereit. Sie kann femer auch allenfalls hier und da die Herstellung^
ihr zu überweisender Kopieen erleichtem. Aber sie kann nicht gmnd-
sätzlich und durchaus die Verpflichtung zur Beibringung aller dieser
Kopieen übernehmen : das übersteigt die Mittel, die ein einzelnes Land
im Interesse der Sache aufwenden kann. Hier werden also die einzelnen
Landesstellen und vielleicht auch das Reich einmal mit einsteheii
müssen. Vorläufig aber ist ein Anfang auch mit diesem Archiv
der Grundkartenzentralstelle schon gemacht: Thudichum hat ihm
eine grofse Anzahl der von ihm bearbeiteten Karten aufs Bereitwilligste
überwiesen.
Freilich wird nun das Archiv, ja man kann sagen die ganze
Zentralstelle erst dann zu ihrer wahren Bedeutung gelangen, wenn
auch den Forderungen der inneren Organisation des Gmndkarten-
Wesens voll Genüge geleistet ist. In erster Linie handelt es sich hier
um die Ausbildung der Eintragungstechnik; es müssen gemeinsame
und schlechthin bindende Siglen und Normen für die symbolische
und abgekürzte Bezeichnung gewisser Daten u. dergl. entwickelt
werden: hier vor allen liegen die nächsten organisatorischen Auf-
gaben. Natürlich können solche Aufgaben nicht von einem Einzelnen
gelöst werden; es bedarf hier kollektiver Arbeit, um allgemeine Zu-
stimmung herbeizuführen. Immerhin hat aber auch hier irgend eine
Stelle die Initiative zu ergreifen und vorzuschlagen und vorzuarbeiten,
wenn das Ganze vom Flecke kommen soll. Und da liegt es denn
— wie schon oben einmal bemerkt — in der Natur der Sache, dafe
auch auf diesem Gebiete die Zentralstelle eine gewisse Bedeutung er-
hält; denn die Arbeit an ihr giebt zu fortwährendem Nachdenken über
die Eintragungstechnik Anlafs, die einlaufenden Karten führen zu
reicher Erfahmng aus dem Bereiche des Geleisteten, und die im
Historisch-geographischen Institut schon jetzt stattfindenden Übungen an
Gmndkarten bedingen ständig fortgesetzte Experimente an Aufgaben,
deren Bewältigung erst noch zu leisten ist So ist denn kaum zu ver-
kennen, dafs die Zentralstelle derjenige Ort sein wird, von dem auch
Vorschläge über die innere Organisation des Gmndkartenwesens , zu-
nächst und vor allem über die Eintragungstechnik am besten ausgehen
— 41 —
werden: ja gerade auf diesem Gebiete kann im jetzigen Stadium der
ganzen Entwicklung zunächst ein wesentlicher Teil der Bedeutung der
Zentralstelle gesucht werden ^).
Die landeskundliche liitteratur
Deutsehlands im t^eformationszeitalter
Von
Viktor Hantzsch (Dresden)
(Schlafs) S)
Eine Übersicht über die landeskundliche Litteratur Deutschlands
während des Reformationszeitalters würde sehr einseitig und unvoll-
ständig sein, wenn sie neben den Druckschriften nicht auch die da-
mals erschienenen Karten berücksichtigen wollte. Die Zahl derselben
ist eine überaus grofse, doch würde es zu weit führen, wenn man alle
autzählen wollte, die bis ums Jahr 1650 von zahlreichen ausländischen,
anfangs meist italienischen, später auch holländischen und französi-
schen Zeichnern, Kupferstechern und Verlegern teils als Einzelblätter^
teils in Atlanten eingeschaltet herausgegeben wurden. Wer sich mit
diesen Karten beschäftigen wUl, findet sie, wenn auch nicht lückenlos,
so doch verhältnismäisig am vollständigsten in dem gedruckten Karten-
katalog des Britischen Museums aufgezählt ^). Hier möge es genügen,
die wichtigsten im Inlande erschienenen und von Deutschen herge-
stellten Karten Deutschlands und seiner einzelnen Landschaften kurz
zo erwähnen ^).
1) Eines der nächsten Hefte wird eiDeo Aufsatz von Herrn Dr. Kötzschke
fiber die Technik der Eintragung in Grundkarten bringen. D. Red.
2) Vgl. Heft I Seite 18 bis 22.
3) Catalogne of the prioted Maps, Plans and Charts in the British Museum. Lon-
don 1885.
4) Die Karten Österreichs, der Schweiz und der Niederlande sind des beschränktem
Raumes halber ausgeschlossen worden. Sie werden aufgezählt bei Haradauer, Eot-
wicklnsg der Kartographie von Osterreich • Ungarn (Verhandlungen des Deutschen Geo-
graphentaga 1891, 259), in der Bibliographie der Schweizerischen Landeskunde, 2. Teil,
Bern 1892, und bei Niermeyer, Zur Geschichte der Kartographie Hollands. Rotter-
dam 1893.
- 42 —
vervielfältigen und in einem grofeen Sammelwerke herauszugeben.
Diese Karten stellen teils ganz Deutschland, teils einzelne deutsche
Landschaften und Territorien dar. Die älteste gedruckte Karte von
ganz Deutschland, die zugleich grofse Teile der Nachbarländer mit
umfafst, ist die Germania des Kardinals Nicolaus Cusanus. Sie ist
wohl als eine Frucht seines Verkehrs mit Toscanelli anzusehen und
stammt etwa aus dem Jahre 1460. Erst nach dem Tode ihres Ur-
hebers kam sie 1491 zu Eichstädt als Kupferstich heraus ^). Einige
Jahre später erschien eine weniger bedeutende Karte in Hartmann
Schedels Weltchronik (1493) und eine Strafsenkarte des heiligen rö-
mischen Reiches deutscher Nation, herausgegeben von Georg Glocken-
don in Nürnberg (1501). Nach längerer Pause gab Sebastian Mün-
ster 1530 eine Nachbildung der Karte des Cusaners in Holzschnitt
heraus, die auch der Tafel des deutschen Landes von Tilemann
Stella (1560) und einer gleichartigen kleineren Karte des Kölner
Kupferstechers Franz Hogenberg (1594) zum VorbUd diente. Der
ersten Hälfte des XVIL Jahrhunderts gehören an die ohne Jahres-
angabe erschienene Karte von Heinrich Zell, die des Christoph
Hurter (1625), des Peter Overrat (1630) und des Matthäus
Merian (1633), endlich die Reisekarte der Brüder Jung (1641).
Während alle diese Übersichtskarten infolge ihres kleinen Mafs-
stabes ein ziemlich armseliges und oft recht fehlerhaftes Detail auf-
weisen, zeigen die in gröfeerem Mafsstabe entworfenen Landschafts-
«nd Territorialkarten nicht selten eine reiche Fülle von Einzelheiten •).
Allerdings ist das Erdbüd, das sie bieten, nur von relativer Treue, da
sie auf wenig genauen Vermessungen beruhen, deren Methoden bei-
spielsweise in Sebastian Münsters Schrift über das neue Instrument
der Sonnen (1528) und ein Jahrhundert später in Wilhelm Schick-
hart s Kurzer Anweisung, künstliche Landtafeln zu machen (1629)
auseinandergesetzt werden. Die erste nachhaltige Anregung zur Her-
stellung solcher Spezialkarten verdankt man hauptsächlich dem ver-
dienten Sebastian Münster, der 1528 eine Aufforderung an alle
Liebhaber des deutschen Vaterlandes ergehen liefs, die Umgegend
1) Reproduziert von Rage im Globus, Band LX (1891), S. 4, sowie von Norden-
•kiöld im Bidrag üll Nordens äldsta Kartografi 1892, Tafel 4 und im Periplos 1897,
Tafel 35.
2) Die Angaben Über die einzelnen Karten habe ich teils den Kartenbeständen der
Dresdener Bibliothek, teils dem gedruckten Kartenkatalog des Britischen Museums, Rieh*
ters Bibliotheca geographica Germaniae und dem Autorenrerzeichnis im Theatrum des
Ort el ins von 1570 entnommen.
— 43 —
von Strafsbtug heraus. Die Kurpfalz fand um 1600 an Johann Busse-
mecher, das Bistum Speier 1618 in Georg Keller, Kurköln in
Cornelius Adger 1583 und Elias Hofmann 1588, der Rhein in
Theodor de Bry 1597 und Jakob von Heyden 1630 einen Kar-
tographen. Über Franken erschien 1533 eine Landtafel von Seba-
stian von Rotenhan, 1547 eine solche von David Zeltzlin und
1641 eine neue Delineation von den Brüdern Konrad und Georg
Jung. Eine Karte von Hessen hatte schon vor 1540 der Marbui^er
Arzt Johann Dryander entworfen, die 1575 durch eine von Julius
Jasolinus gezeichnete ersetzt wurde. Das Bistum Fulda stellte 1574
Wolfgang Regrwill, die Wetterau um 1630 Matthäus Merian
dar. Eine rege kartographische Thätigkeit herrschte im westfälischen
und niedersächsischen Kreise. Das Herzogtum Westfalen wurde 1572
durch Christian Schrot gezeichnet, der einige Jahre später auch
Karten von Niedersachsen und JüUch-Cleve-Berg entwarf, dann 1590
durch Heinrich Nagel und 1620 durch Johann Gigas. Das Bis-
tum Münster bearbeitete 1558 Gottfried Mascopius, das Bistum
Hildesheim und das Herzogtum Braunschweig 1593 Matthias Quad
und um 1620 David Custos, die Grafschaft Waldeck 1575 Justus
Mors und die Grafschaft Oldenburg 1579 Lorenz Michaelis. Ein
Entwurf des Weserstromes von einem Ungenannten erschien 1633,^
Eine schöne Karte von Ostfriesland, gezeichnet von David Fabri-
cius *), kam seit 1592 in zahlreichen, allerdings meist holländischen
Ausgaben, eine andere von Ubbo Emmius 1616 heraus. Gleich
tüchtige Leistimgen waren die ausführlichen Karten, die Johann Meier
seit 1648 von Schleswig-Holstein, Dithmarschen , der Insel Helgoland
und den benachbarten Teilen Niedersachsens entwarf. Eine ältere
Karte von Dithmarschen hatte bereits 1559 Peter Böckel heraus-
gegeben. Den Lauf der Elbe veranschaulichte 1568 Melchior Lo-
rich imd 1628 Christian Moller durch eine Landtafel. Der älteste
Kartograph von Meifsen und Thüringen *) war Hiob Magdeburg
1566. Ihm folgte bereits 1568 Johann Criginger, in demselben
Jahre auch für Thüringen Johann Mellinger und für Meifsen und
die Lausitz Bartholomäus Scultetus. 1586 begann die grofse kur-
sächsische Landvermessung durch Matthias öder, deren Ergebnisse
allerdings drei Jahrhunderte lang unveröffentlicht blieben '). Der
i) Sello, Die Karte des David Fabricios. Norden 1896.
2) Rage, Geschichte der sächsischen Geographie im XVI. Jahrh. (Zeitschr. Hir
Wissenschaft!. Geogr. Bd. II).
3) Rage, M. Oders Landvermessong von Korsachsen. Dresden 1889.
— 44 —
•
Die ältesten deutschen Atlanten enthalten nur sehr wenige Karten
Deutschlands und seiner Territorien, so der Ulmer Ptolemäus von
1482 und i486 keine einzige und der Strafsburger von 1513, 1520,
1522 und 1525 nur drei (Germania, Provincia Rheni superioris und
Lotharingia). Einen erheblichen Fortschritt zeigt der Basler Ptole-
mäus Sebastian Münsters, denn er bringt 1540 und 1542 neun
deutsche Karten (Germania, V Rheni tabulae, Suevia et Bavaria, Fran-
conia und Lacus Constantinus), 1545 ebenso viele (die 5 Tafeln des
Rheines sind in 3 zusammengezogen, neu dagegen Nigra Sylva und
Slesia) und 1552 zehn (neu Pomerania). Überhaupt hat sich Münster
um die Kartographie Deutschlands wesentliche Verdienste erworben.
Von seinen 142 Karten *), die sich aufser im Ptolemäus hauptsächlich
in den verschiedenen Ausgaben der grofsen Kosmographie finden,
stellen 39 deutsche Landschaften dar. Einen Rückschritt bedeutet der
von Gerhard Mercator gezeichnete Atlas zum Kölner Ptolemäus
von 1578 und 1584, der keine deutschen Karten enthält, sowie der
von 1597 und 1608, der nur eine (Germania) bietet, die überdies ita-
lienischen Ursprungs ist. Dagegen umfafet der grofse weltberühmte
Atlas Mercators von 1595 nicht weniger als 20 deutsche Karten,
die sich überdies in den folgenden, nicht mehr in Deutschland
erschienenen Ausgaben noch vermehrten, hauptsächlich im Wett-
bewerb mit dem Theatrum orbis terrarum des Abraham Ortelius,
das schon bei seinem ersten Erscheinen 1570 dreizehn deutsche Karten,
fast durchgängig Kopieen wichtiger, in Deutschland entstandener Ori-
ginale aufwies. Um die Wende des XVI. Jahrhunderts machte sich
hauptsächlich Matthias Quad um die Kartographie Deutschlands ver-
dient. Seine Atlanten Europae descriptio (1594), Enchtridion cos-
tnographüum [i^gg). Geographisch Handbuch [1600) Mnd Fctsctculus
geographicus (1608) boten zwar fast nur Nachstiche, verbreiteten je-
doch die Kartenkenntnis in weiten Kreisen des Volkes, denen die Ori-
ginale infolge ihrer Seltenheit imd Kostspieligkeit unzugänglich waren.
Diese Originalkarten, die in der Regel als Einzelblattdrucke ver-
öffentlicht wurden, verdienen wegen ihrer hohen landeskundlichen
imd geschichtlichen Bedeutung wenigstens eine kurze Erwähnung.
Leider sind sie äufeerst selten, dazu nirgends vollständig vereinigt,
am besten noch im Britischen Museum. Es würde eine sehr dan-
kenswerte Aufgabe sein, ihre ersten Drucke zu ermitteln, diese
mit den vollkommenen Mitteln der modernen Reproduktionskunst zu
i) Aufgezählt bei Hantzsch, Seb. Münster. Leipzig 189S, S. 72 ff.
~ 45 —
ihres Wohnortes kartograpbfach aufzunehmen. Zuerst kamen nur ein-
zelne Gelehrte dieser Anregung nach, allmählich jedoch entschlossen
sich auch viele Fürsten und Regierungen, ihre Länder mappieren zu
lassen, und so finden wir um die Mitte des XVII. Jahrhunderts kaum
ein gröfseres deutsches Territorium, das nicht seine gedruckte oder
wenigstens handschriftlich in den Archiven liegende Spezialkarte be-
sessen hätte. Selbst ganz unbedeutende Herrschaften wurden von
Lokalpatrioten kartographisch dargestellt, so die Amter Lichtenau in
Franken und Hersbruck in Hessen durch Paul Pfintzing 1592 und
1596 und die Grafschaft Wertheim durch Bernhard Cantzler 1603.
Den Anfang machte man in Bayern'). Bereits 1523 liels Jo-
hann Aventin in Landshut seine Landtafel von Ober- und Nieder-
bayem drucken, zu der sich später Philipp Apians Chorographia
Bavartae (1568), das gleichbetitelte Werk Peter Weiners (1579)
und die DelmeaÜo Bavartae des Raphael Custos (1632) gesellten.
Dieser letztere gab auch 16 19 eine Karte des Flusses Hier heraus,
wahrend sein Verwandter David Custos 162 1 eine Landtafel der
Oberpfsdz veröfTentlichte , die auch Erhard Reych schon 1540 dar-
gestellt hatte. Später als in Bayern begann die kartographische Thä-
tigkeit in Schwaben. Zwar hatte hier Sebastian Münster schon
einige Vorarbeiten geliefert, aber erst 1561 erschien Wolfgang La-
zios' Karte der vorderösterreichischen Besitzungen und im folgenden
Jahre die Karte des schwäbischen Kreises von David Zeltzlin, end-
lich 1625 die des Christoph Hurter. Eine Karte von Württemberg
war schon 1558 ohne Angabe eines Autors in Tübingen herausgekom-
men. Bereits 1575 aber wurde sie durch Georg Gadner überholt.
Eine sehr eingehende Aufnahme Württembergs, die 11 Jahre in An-
8i»iich nahm, begann 1624 Wilhelm Schickhart*). Den Boden-
see hatten vor 1540 zwei Konstanzer Bürger, Johann Zwick und
Thomas Blaurer gezeichnet, deren Arbeit Sebastian Münster ver-
öffentlichte. Später mappierten ihn noch Johann Georg Schinbain
(1578) imd Altmannshausen (1647). Die oberrheinischen Land-
schaften wurden zuerst von Münster bearbeitet. 1576 gab Daniel
Speckel eine Karte des Elsafs, um 1595 eine solche der Umgegend
i) Walteoberger, LiUermtar der Karten tod Bayern (8. Jahre«bericht der geogr.
Gesellsdiaft in München). — Luts, Zur Geschichte der Kartographie in Bayern (ebend.
Bd. XI). — Ein Verzeichnis der vom Mosenm in Speyer erworbenen Karten der Pfalz
ßUeste 1585) siehe in „Mitteilongen des Historischen Vereins d. Pfalz" XVI (1892), S. 216.
2) Regelmann, Die Schickhartsche Landesaufnahme Württembergs (Württ Jahr-
bmch 1893).
— 46 —
Vater der schlesischen Kartographie wurde Martin Helwig 1561 ').
Um die Darstellung Brandenburgs machten sich vor 1570 Elias Ca-
merarius und Leonhard Thurneysser, um diejenige Pommerns
vor 1550 Peter Artopöus, später Eilhard Lubin, um das Her-
zogtum Preufeen endlich Heinrich Zell imd 1576 Kaspar Henne-
berger verdient.
Auch einige Bemerkimgen über das Aussehen dieser Karten, ihre
Eigentümlichkeiten und den Fortschritt in ihrer Entwicklimg dürften
von Interesse sein. Mit Ausnahme der Germania des Nikolaus Cusanus
sind die meisten älteren Karten, insbesondere alle von Münster heraus-
gegebenen, in Holzschnitt ausgeführt. Da die Formschneiderei da-
mals noch vielfach von künstlerisch wenig durchgebildeten Handwer-
kern ausgeübt wurde, so sind sie ziemlich roh ausgefallen, so dafe bei-
spielsweise die Feinheiten der Küstengliederung und der Flufsläufe in
ihnen nicht zum Ausdruck kommen und dafs sie hinsichtlich der Tech-
nik weit hinter den gleichzeitigen italienischen Kupferstichkarten zurück-
stehen. Erst nach 1550 kam der Kupferstich auch in Deutschland
und zwar besonders durch das Beispiel des Abraham Ortelius und des
Gerhard Mercator in steigendem Mafse in Aufaahme. Eine Projektion
lag wohl nur den wenigsten deutschen Territorialkarten zu Grunde.
Bei den meisten begnügte man sich, die abzubildenden Gegenden ein-
fach in ein viereckiges Feld einzuzeichnen. Ein ausgezogenes Grad-
netz fehlt meist. Mehrfach findet sich eine Längen- und Breitenskala
am Rande. Indessen weichen die Breitenangaben in der Regel min-
destens um mehrere Minuten, die Längenangaben namentlich in Nord-
und Ostdeutschland häufig um mehrere Grade von den wahren ab,
da zuverlässige astronomische Ortsbestimmungen für viele Gegenden
überhaupt nicht vorhanden waren. Zur Feststellung des Mafsstabes
ist meist am Rande ein Meilenzeiger angebracht, doch ist es bei der
Verschiedenheit der damab üblichen Meilen fast unmöglich, mit seiner
Hilfe die Entfernungen annähernd genau zu ermitteln. Die Terrain-
zeichnung ist in der Regel eine sehr mangelhafte. Die Gebirge er-
scheinen als Felsen, als Reihen von Maulwurfshügeln oder als raupen-
förmige Gebilde. Die Wälder werden je nach ihrer Beschaffenheit
meist durch einzelne Laub- oder Nadelbäume, untermischt mit Busch-
werk, die Sümpfe mehrfach durch Schraffierung angedeutet. Die
Flüsse erblickt man als ziemlich willkürlich gewundene, allmählich di-
1) Heyer, Die kartographischen Darstellungen Schlesiens bis 1720 (Zeitschrift
d. V. f. Gesch. u. Altertümer Schlesiens, Bd. XXffl).
— 47 —
vergierende Doppellinien. Die Grenzen der Länder sind teils gar
nicht, teils durch punktierte Linien bezeichnet. Die Ortschaften wer-
den durch Kreise, Kreuze oder einzelne Bauwerke dargestellt. Leere
Stellen findet man zuweilen durch erklärende Inschriften ausgeiullt»
Die Orientierung ist namentlich in der älteren Zeit eine durchaus will-
kürliche. Norden liegt bald rechts oder links, bald oben oder unten.
Die Richtigkeit der Karten ist in den ersten Stadien der Entwickelung
eine sehr geringe. Allmählich aber zeigen zuerst die auf wirklichem
Vermessungen beruhenden und in grofsem Ma&stabe gezeichneten
Spezialkarten und dann auch die nach ihnen bearbeiteten Übersichts-
blätter unverkennbare Fortschritte, so dafe man um die Mitte des
XVII. Jahrhunderts eine Reihe von kartographischen Bildern des deut-
schen Landes besafs, die eine wenigstens für jene Zeit genügende
Genauigkeit aufwiesen.
Die Seltenheit dieser älteren Karten und Landesbeschreibungett
ist der Grund, weshalb sie bei landesgeschichtlichen Studien verhältnis-
mäisig wenig benutzt werden, doch ist es zweifellos, dafs sie wohl
geeignet sind, die übrigen Quellen wesentlich zu ergänzen, und des-
halb sollte der Forscher es nicht unterlassen, auch sie von Fall zu
Fall einer gründlichen Durchsicht zu unterziehen.
Der gegenvy^ärtige Stand
der landesgeschichtlichen Forsehung in
Württemberg
Von
Karl Weller (Stuttgart)
Es ist ganz unverkennbar, dafs in den letzten 30 Jahren die Kennt-
nis der Landesgeschichte imter den Gebildeten Württembergs ziemlich
zurückgegangen ist; die Eingliederung unseres Landes in das neue
Deutsche Reich liefs natürlicherweise das Interesse für die Vergangen-
heit des gesamten deutschen Vaterlandes stärker hervortreten; eine
Betonung der besonderen Geschichte des Landes konnte beinahe als
ein Zeichen unnationalen, partikularistischen Sinnes gelten. In der
That hatte auch die einheimische Forschung meist einen ganz beson-
— 48 —
ders provinziellen Standpunkt eingenommen; es fehlte in der Regel
der Blick nach aufsen, das Be\¥ulstsein , da(s Württemberg nur der
Teil eines Ganzen, seine Geschichte nur ein Ausschnitt aus der des
deutschen Volkes war. Eme allgemeinere Betrachtungsweise war nur
langsam und nur von wenigen gewonnen worden. Für die ältere Zeit
bis zur zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hat hier die Wirtem"
bergische Geschichte von Christoph Friedrich Stalin, ein fiir
eine deutsche Spezialgeschichte lange vorbildliches Werk, die Bahn
gebrochen (1841 — 1870), und seine Resultate sind in der von seinem
Sohne Paul Friedrich Stalin verfafeten, überaus sorgfaltigen Ge^
schichte Württembergs (1882 und 1887) auf den Stand der neueren
Forschung ergänzt worden ; für die späteren Jahrhunderte der württem-
bergischen Herzogszeit hatte schon L. Th. Spittler vor über 100
Jahren einen breiteren Grund zu legen gesucht, und Gustav Rümelin
in seiner fruchtbaren Abhandlung Aliwürttemberg im Spiegel /rem-
der Beobachtung (Württembergische Jahrbücher 1864) hat die neue
weitere Auffassung der früheren Enge der Betrachtung gegenüber
in geistvoller Weise durchgeführt, übrigens nicht ohne eine zum
Teil überscharfe Kritik der altwürttembergischen Verfassung und des
altwürttembergischen Wesens. Diesen universaleren Charakter hat auch
die neueste gute Darstellung der württembergischen Geschichte von
dem Stuttgarter Archivrat Eugen Schneider (1896); sie ist dadurch
besonders ausgezeichnet, dafs in ihr zum erstenmal die wichtige Ge-
schichte des XIX. Jahrhunders in ausführlicher Weise zusammenfassend
behandelt ist. Leider beschränkt sie sich fast ganz auf die politische
Entwicklung. Es war seinerzeit ein grofser Fortschritt, als man von einem
niedrigeren Standpunkt der Betrachtung zu einer Darstellung mit höheren
politischen Gesichtspunkten gelangte, wie sie Spittler zuerst gegeben
hat, und es ist gewifs wohlbegründet, dafe auf die politisch ungemein
bedeutende und wandlungsreiche Zeit des Königs Friedrich in der For-
schung gegenwärtig ein besonderes Gewicht gelegt wird, vor allem
mit den gehaltreichen Schriften des Generals Albert P fister (König
Friedrich und seine Zeit, 1888; Atis den Tagen des Rheinbundes
1812 und jSij, 1896; At^ dem Lager der Verbündeten 18 14 und
181$, 1897^. Das wirtschaftliche und geistige Leben in eine Ge-
samtdarstellung hereinzuziehen und seine stete Wechselwirkung mit
der politischen Geschichte aufzuzeigen ist bis jetzt nicht versucht
worden; hier liegt eine Aufgabe der Zukunft. Denn der Bedeutung
Württembei^ im Rahmen des gesamten deutschen Vaterlandes wird
man nicht gerecht, wenn man nur die politischen Zustände und Ge-
— 49 —
schehnisse behandelt; zum g-röfseren Teil liegt sie auf dem kulturellen
Gebiet, und hier wird eine genauere Erforschung auch für die all-
gemeine deutsche Geschichte reiche Früchte tragen. Wie in der
deutschen Dichtung oft die besten Schöpfungen aus dem engeren
Heimatboden hervoi^ewachsen sind, wie recht aus der Eigenart des
einzelnen Landes heraus das Geistesleben des deutschen Volkes zu
so reicher und vielseitiger Entfaltung sich auszugestalten vermochte,
so hat auch die schwäbische Kultur in Wirtschaft und Recht, in Kunst
und Litterattur, im kirchlichen wie im sittlichen Leben eine kraftvolle
Selbständigkeit bis in die neuere Zeit behauptet, die dem gesamten
Deutschland zugute gekommen ist imd gegenüber den nivellierenden
Tendenzen der Gegenwart noch weiter von Nutzen sein mag. Der
Stoff, den der Forscher bearbeitet, kann räumlich und zeitlich be-
schränkt sein, tmd bei gründlichen Untersuchungen ist eine solche
Begrenzung oft geradezu notwendig; der Sinn, in dem geforscht wird,
die Gesamtauffassung muis freilich eine grofse und weite bleiben und
darf das Leben der ganzen Nation nicht aus den Augen verlieren.
Nur langsam ist in Württemberg die Herausgabe der geschicht-
lichen Quellen in Flufis gekommen. Das von Kau s 1er begonnene,
von dem Geheimen Archivrat P. F. Stalin fortgesetzte, in seiner Art
musterhafte Württembergtsche Urkundenbuch bildete lange Zeit fast
die einzige wichtige Quellenedition ; es ist nun bis zum 7. Bande fort-
geschritten, der heuer noch erscheint imd die Jahre 1269 — 1276 um-
faist Für die Fortsetzung des Urkundenbuches ist dem Herausgeber
seit einigen Jahren von der Württembergischen Kommission
für Landesgeschichte ein HUfsarbeiter in der Person des treff-
lichen Gebhardt Mehring zur Verfügung gestellt worden. Denn
gerade in der Sammlung und Veröffentlichung der Quellen hat die
Arbeit der im Jahr 1891 gegründeten Kommission eingesetzt. Die
treibende und . organisierende Kraft in den ersten Jahren war der da-
malige Tübinger Professor Dietrich Schäfer, dessen energische und
allenthalben Mitarbeiter aufmunternde imd gewinnende Thätigkeit auch
nach seiner Übersiedelung ins badische Nachbarland noch bei uns er-
folgreich fortwirkt. Von den Württembergtschen Geschichtsquellen,
die er anger^ hat, sind bis jetzt 4 Bände erschienen (Bd. I: Kolb,
Geschichtsquellen der Stadt Hall. Bd. II: Bessert, Aus dem
Codex Laureshamensis , den Traditiones Fuldenses, aus Wei/sen-
burger Quellen, Schneider und Käser, Württembergisches aus
römischen Archiven. Bd. III: Günter, Urkundenbuch der Stadt
Rottweil. Bd. IV: Diehl, Urkundenbuch der Stadt E/slingen);
4
— 50 —
ein fünfter Band, die Urkimden der Stadt Heilbronn enthaltend, ist
in Vorbereitung. Ein bedeutendes Unternehmen der Kommission ist
die früher schon von Rümelin mit Nachdruck geforderte Herausgabe
der umfangreichen Korrespondenz des Herzogs Christoph, der eine
über die Bedeutung seines Landes weit hinausreichende Stellung in
den politischen und kirchlichen Fragen seiner Zeit eingenommen hat;
die Bearbeitung der Briefe ist dem Tübinger Privatdozenten Victor
Ernst übertragen, der heuer den ersten Band hat erscheinen lassen.
Die von der Kommission früher in Angriff genommene Herausgabe
der Briefe des Herzogs Ulrich, die für die Reichsgeschichte ebenso
wertvoll wäre, mufste leider vorderhand wieder auf gegeben werden.
Von den geschtchtliehen Liedern und Sprüchen Württembergs,
die der Stuttgarter Bibliothekar Professor Karl Steiff im Auftrag
der Kommission sammelt und herausgiebt , ist heuer die erste
Lieferung veröffentlicht worden. Möchten alle diese schönen Anfänge
eines nachhaltigen Fortschreitens , der Fortsetzung durch weitere
Quellenwerke sich erfreuen dürfen ; wie dankenswert für die Aufhellung
der Reichsgeschichte wäre z. B. die Sammlung der Urkunden der
schwäbischen Städtebünde, wie fruchtbringend fiir die Kenntnis der
engeren Landesgeschichte die Herausgabe von Regesten der Grafen
von Wirtemberg, der Akten des altwürttembergischen Landtages. Eine
gewichtige Veröffentlichung der Kommission ist die zweibändige Biblio-
graphie der württembergischen Geschichte , die der frühere Direktor
der kgl. öffentl. Bibliothek, Wilhelm Heyd, bearbeitet hat. Aber
dieses Werk wie alle die genannten Quelleneditionen können eben
nur Vorarbeiten sein, die noch ausgeschöpft werden müssen, und nur
ein weit vorausschauender Blick vermöchte frohgemut mit Goethe zu
sprechen: „Nein, es sind nicht leere Träume, Jetzt nur Stangen, diese
Bäume Geben einst noch Frucht und Schatten." Darstellende Werke
sind bis jetzt recht wenige unterstützt und, wie es scheint, gar keine
angeregt worden. Wenn man die Thätigkeit der Kommission mit der
erfolgreichen Wirksamkeit der badischen vergleicht, die allerdings auch
schon länger besteht, so mufs man offen sagen, dafs die württem-
bergische Kommission nach der Fülle ihrer Leistungen bis jetzt ent-
schieden zurückgeblieben ist. Der Grund ist wesentlich der, dafs die
verwilligten Geldmittel viel zu gering sind; in Baden ist der staatliche
Beitrag ein weit höherer. Es ist ein dringendes Erfordernis, dafs an-
statt der vom Landtag genehmigten iiooo Mark etwa die doppelte
Summe in den Etat eingesetzt wird, wenn Württemberg die seiner
Bedeutung angemessene Thätigkeit auch hier entfalten soll.
— 51 —
Es ist mit Freude zu begrüfsen, da{s nun als Mitglieder der histo-
rischen Kommission die Dozenten für Geschichte an der Landesuniver-
sität Tübingen auch zur Teilnahme an der landesgeschichtlichen For-
schung herbeigezogen worden sind, und es ist weiter sehr erfreulich,
dals Historiker, die lange Zeit der Erkundung der heimischen Ge-
schichte sich ferne hielten, wie Gottlob Egelhaaf, der Rektor
des Karlsgymnasiums in Stuttgart, in den letzten Jahren mit derselben
sich eingehender befalst haben. Gesammelt werden die einzelnen
Untersuchungen in den von der Kommission herausgegebenen und
von Oberstudienrat Julius Hartmann redigierten Württetnhergtschen
Vierteljahrsheften für Landesgeschichte, die jetzt in halbjähriger
Ausgabe erscheinen. Die gröfeeren Vereine, die meistens das erste
halbe Jahrhundert ihres Bestehens hinter sich haben, der Württem-
bergische Altertumsverein, der Verein für Kunst und Altertum in Ulm
und Oberschwaben, der Historische Verein für das württembergische
Franken, der Sülchgauer Altertumsverein entfalten je nach den vor-
handenen Arbeitskräften eine gröfeere oder geringere Thätigkeit; die
Vereine, welche durch Verfügung über bedeutendere Mittel besonders
leistungskräftig sind, haben auch wertvolle Publikationen unternommen,
der Württembergische Altertumsverein z. B. das Württembergische
Adels- und Wappenbuch des Archivrats Otto v. Alberti, das nun
zur Hälfte vollendet ist und ein unentbehrliches Hilfismittel besonders
für die Erforscher unserer Kunst- und Altertumsdenkmale bildet. Es
ist immer von Wert, wenn die Organisation der Vereine auch durch
Zeiten geringerer Beteiligung und mattere Jahre hindurch erhalten
bleibt So lange noch die romantische Stimmung in der Betrachtung
der Vergangenheit vorherrschte, als Gemüt und Phantasie noch stär-
keren Anteil nahmen, war natürlich die Begeisterung der einzelnen
Mitglieder gröfeer; es liegt in der Natur der Sache, dafs die lebendige
Hingabe, die persönliche Wärme sich um so mehr zurückzieht, je
wissenschaftlicher die Lokalforschung wird, je mehr an die Stelle der
Freude am Altertümlichen eine wirklich historische Auffassimg treten
soll. Immerhin leistet auch heute noch die begeisterte Thätigkeit
einzelner, wie z. B. des unermüdlich fieifsigen Pfarrers Gustav Bossert
in Nahem Bedeutendes auf den verschiedensten Grebieten. Leider fehlt
häufig selbst da, wo der beste Wille und die Begabung vorhanden
wäre, die methodische Vorbereitung zu historischer Forschung, und
es ist sehr zu beklagen, dais besonders in der evangelisch-theolog^'
VorbQdungsanstalt unserer Universität, dem für das geisüp^
Württembergs seit Jahrhunderten so unendlich einfluCsr«'*
V
— 52 —
Stift, die Schulung zu wissenschaftlich produktiver Arbeit ungebühr-
lich vernachlässigt wird.
Betrachten wir die einzelnen Felder, auf denen die Forschung
thätig ist, so sind einige in wirklich schöner Weise angebaut, vor allen
die Kirchen- und die Litteraturgeschichte ; hier reizt der Stoff durch
die verhältnismäßig bedeutende Stellung, die das Land auf diesen
Gebieten in der deutschen Kulturgeschichte eingenommen hat; auch
die wissenschaftliche Vorbildung ist hier bei Theologen und Philologen
noch am ehesten vorhanden. Seit langer Zeit vielfach in Angriff
genommen ist die Geschichte der Römerherrschaft auf dem
jetzt württembergischen Boden, die durch die Gründung der Reichs-
limeskommission neue Anregung und in den vom Württembergischen
Anthropologischen Verein unter der Leitung von Professor G. Sixt
in Stuttgart herausgegebenen Fundberichten aus Schwaben seit 1893
eine eigene Zeitschrift erhalten hat. Auch die württembergische
Kirchengeschichte hat seit längerer Zeit ein eigenes Oj^an in den
jetzt alle Vierteljahre unter der Redaktion des Pfarrers Friedrich Keidel
in Degerloch erscheinenden Blättern für württembergische Kirchen-^
gesc/iichte, die sich tüchtiger Mitarbeiter, wie des Dekans R. Günther
in Langenburg, erfreuen dürfen; eine solide Grundlage für alle wei-
teren Untersuchungen ist in der 1893 vom Calwer Verlagsverein
herausgegebenen Württembergischen Kirchengeschichte vorhanden,
zu deren Abfassung sich die bereits genannten Gustav Bossert, Friedrich
Keidel, Julius Hartmann und der Stuttgarter Stadtpfarrer Christoph
Kolb verbunden haben. Die katholische Geistlichkeit besitzt eine
kirchengeschichtliche Zeitschrift im Diözesanarchiv aus Schweden.
Die württembergische Litteraturgeschichte hat in dem Stutt-
garter Archivassessor Rudolf Kraufs einen Bearbeiter gefunden, der
1897 ^^Q ersten Band einer Schwäbischen Litteraturgeschichte der
Öffentlichkeit übergeben hat und in Bälde den zweiten folgen lassen
will. Leider fehlt es an einem besonderen württembergischen Organ
fiir Utterargeschichtliche Studien; so werden die einzelnen Abhand-
lungen in alle möglichen Blätter verstreut und recht verzettelt. Zu
bedauern ist, dafs die in Schwaben sonst so rtigt Pflege des Andenkens
seiner bedeutenderen Dichter fast gar keine g^ölseren biographischen
Arbeiten hervorruft; es fehlt noch an ausführlichen Lebensbeschrei-
bungen von Justinus Kemer, von Edtiard Mörike, und selbst das Ge-
dächtnis Ludwig Uhlands hat alle die Jahrzehnte seit seinem Tode
keine wissenschaftliche Biographie gezeitigt, bis endlich aniserhalb
Württembergs das Bedürfius erkannt worden ist und man nun von
— 53 —
Erich Schmidt ein Leben Uhlands erwarten darf. Um die Samm-
Inng* und Erhaltung von handschriftlichen Aufzeichnungen und inte-
ressanten Briefwechseln ist die Verwaltung der kgl. öflFentl. Bibliothek
in Stuttgart und der Schillerverein in Marbach mit schönem Erfolge
bemüht. Für die Geschichte der schwäbischen Mundart sind die Tü-
binger Professoren Hermann Fischer und Karl Bohnenberger
thätig und haben zum Teil recht überraschende Resultate gewonnen.
Die ältere württembergische Kunstgeschichte hat durch Eduard
Paulus und Eugen Gradmann, den früheren und jetzigen Landes-
konservator, und einige weitere Forscher treue Pflege gefunden; auch
die neuere Kunstgeschichte ward wenigstens durch ein inhaltreiches Buch
in Anbau genommen, das den jetzigen Vorstand der kgl. öflFentl. Bib-
liothek, Oberstudienrat August Wintterlin, zum Verfasser hat: es
sind die im Jahre 1895 erschienenen Württembergtschen Künstler in
Lebensbildern, Im argen aber liegt die württembergische Rechts-
und Verfassungsgeschichte die früher in so glänzender Weise von
den beiden Moser, von Spittler, von Wächter, Reyscher, Mohl
u. a. behandelt worden ist Die Juristen versagen seit der Gründung des
neuen deutschen Reiches für solche Studien gänzlich ; von dem Archiv-
sekretär Friedrich Wintterlin ist jedoch eine Geschichte derwürttem-
be^ischen Verwaltung zu erwarten. Fast ebenso schlimm steht es mit
der Wirtschaftsgeschichte, von der noch kaum die rohesten äufseren
Umrisse gezeichnet sind ; doch ist für die Besiedlungsgeschichte neuer-
dings ein reges Interesse erwacht, und zur Behandlung der württem-
bergischen Finanz- und Gewerbegeschichte hat in dankenswerter Weise
der Tübinger Nationalökonom Professor Neu mann seine Schüler auf-
zumuntern gesucht; aus seiner Anregung heraus hat die Geschichte
der Calwer Zeughandlungscompagnie und ihrer Arbeiter durch Walter
Tröltsch 1897 ^^^^ erschöpfende Bearbeitung gefunden. Beinahe
ganz unbehandelt ist die Geschichte der Ackerwirtschafl; ein 1898
erschienenes Werk über das Pflanzenleben der Alb von Stadt-
p£arrer Robert Gradmann in Forchtenberg konnte in einigen merk-
würdigen geschichtlichen Ergebnissen zeigen, wie ausgiebig hier eine
eindringende Untersuchung wäre. Für die wirtschaftliche Entwicklung
Württembei^s im XIX. Jahrhundert ist wenigstens in den vom Stati-
stisch-topographischen Landesamt herausgegebenen Württembergischen
Jahrbüchern ein reichhaltiges statistisches Material gesammelt; es wirkt
hier die epochemachende Thätigkeit, die Gustav Rümelin in den
sechziger Jahren entfaltet hat, fruchtbringend nach. Für die
hmg der Volksüberlieferungen ist seit dem Tode c
— 54 —
listen Ernst Meyer und des Germanisten Birlinger sehr wenig ge-
schehen ; nun aber ist eben durch das rührige Vorgehen des Professors
Bohnenberger in Tübingen eine Vereinigung für Volkskunde entstanden
und hat mit dem Statistischen Landesamt eine Übereinkunft geschlossen,
nach der beide die Verarbeitung der volkstümlichen Überlieferungen
gemeinschaftlich veranstalten wollen. Mit der Anhänglichkeit der
Schwaben an ihr schönes Heimatland hängt es zusammen, dafs allent-
halben ein reges Interesse für die Lokalgeschichte vorhanden ist.
Es bestehen in den bedeutenderen Städten rührige Lokalvereine, so in
Heilbronn, in Reutlingen, in Cannstatt und Ludwigsburg. Stadt- und
Ortschroniken werden da und dort bearbeitet; so sind in den letzten
Jahren schöne Arbeiten von Meifsner [Das Dorf Kleinbottwar, 1896)
\MA\a2,n%{Hatü)ersbronn an der Wieslauf, 1899) herausgekommen;
die Geschichte der Reichsstadt Schwäbisch-Hall ist von Julius Gmelin
dargestellt worden (Hällische Geschichte, 1896 — 1899^. Einzig in
ihrer Art ist aber die eingehende Bearbeitung der Orts- und Bezirks-
geschichte in den 64 vom statistisch-topographischen Landesamt heraus-
gegebenen Oberamtsbeschreibungen, von denen nun die ältesten unter
der sachkundigen Redaktion von Julius Hartmann bereits in zweiter
Auflage erscheinen; eine kurze Zusammenfassung haben sie erfahren
in dem dreibändigen sehr zuverlässigen Werk Das Königreich
Württemberg, das ebenfalls in zweiter Auflage vorliegt. Unsere
Übersicht mag mit einem Blick auf den Stand der Geschlechter-
geschichte geschlossen werden. Dem Interesse, das die Familien
unseres hohen Adels an der Geschichte ihrer Ahnen nehmen und das
sie die sehr bedeutenden Kosten nicht scheuen läfst, um die Quellen
sammeln und sie in systematischen Darstellungen bearbeiten zu lassen,
verdanken einige in der jüngsten Zeit begonnene Publikationen ihre
Entstehung; so die Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg von
Pfarrer Vochezer in Hofis, deren zweiter Band bald erscheinen soll,
ferner das von dem Verfasser dieser Übersicht bearbeitete Hohen-
lohischc Urkundenbuch , dem eine Geschichte des Hauses Hohenlohe
noch folgen wird.
Verhältnismäfsig viel geschieht für die Popularisierung des ge-
schichtlichen StoflFes, was durch den hohen Stand unserer allgemeinen
VolksbUdung imd die allenthalben verbreitete Lust, mit der Vergangen-
heit der Heimat bekannt zu werden, hervorgenifen ist. Die Tages-
zeitungen, besonders der „Schwäbische Merkur*' mit seiner Schwä-
bischen Chronik und der „Staatsanzeiger'* mit seiner besonderen
Beilage, widmen der Landesgeschichte verhältnismäfsig viel Raum, und
~ 66 —
die Blätter des Schwäbischen Albvereins , des Württembergischen
Schwarzwaldvereins, femer das „ Schwabenland **, ersetzen weiten Volks-
kreisen die früher beliebteren Darbietungen der Altertumsvereine, die
vielen jetzt zu wissenschaftlich gehalten sind. Eine dem populären
Bedürfriis dienende Publikation sind die von Julius Hartmann nach
Schweizerischem Vorbild im Jahre 1884 ins Leben gerufenen Würt-
tembergtschen Neujahrsblätter. Im allgemeinen ist es nur zu bil-
ligen, dais die früher übliche Art, auch rein wissenschaftliche Unter-
suchungen durch populären Stil zugleich einem gröfeeren Publikum
mundgerecht zu machen, ein Bestreben, das notwendig zu Halbheiten
iuhren mu(s, neuerdings mehr und mehr einer Scheidung der rein
wissenschaftlichen und der rein populären Darstellung weicht, womit
aber nicht gesagt sein wUl, dafs nicht auch die wissenschaftlichen
Werke und Abhandlungen in sorgfältig ausgearbeiteter und schöner
Form vor ihre Leser treten sollen. Dem regen Interesse an dem
populär gefaxten Geschichtsstoff entspricht in Württemberg die wissen-
schaftliche Durcharbeitung wohl zu wenig; es ist jedoch kein Zweifel,
dafe, wie die Forschung leidet, wo ihr nicht die Teilnahme lebendig inter-
essierter Kreise entgegenkommt, so auch die populäre Geschichtsdarstel-
long verkümmern muis, wenn sie nicht immer an der fortschreitenden
Wissenschaft sich erfrischen und orientieren kann. Die geringere Be-
teiligung an der wissenschaftlichen Erforschung ist auch der Grund,
dais die arbeitenden Kräfte fast gänzlich in der noch viel zu wenig
tief ausg-eschöpften Landesgeschichte aufgehen, dafe diese so selten
den Ausgangspunkt für umfassendere Untersuchungen bUdet, auch da,
wo wie in der Geschichte der Alamannenzeit , der hohenstaufischen
Periode, der Minnesänger, des Schwäbischen Städtebundes, des Bauern-
krieges sich die Landes- und Reichsgeschichte besonders nahe be-
rühren, dafe infolge davon verhältnismäfeig wenig neue Anregungen
für die Forschung aus Württemberg in die anderen deutschen Länder
kommen. Es bleibt doch der Eindruck, dafs die reichen Begabungen
nicht voll ausgenützt sind. Die hoch angesehene Stellung, die unser
Land im deutschen Geistesleben über die ganze erste Hälfte unseres
Jahrhunders eingenommen hat, erscheint heute vielfach verloren; das
gut für die Wissenschaft wie für die schöne Litteratur. Es können
aber die Vorbedingungen, unter denen die Talente sich zu entfalten
im Stande sind, mit weiser Einsicht geschafTen, die Hemmnisse ent-
fernt, die Aufgaben klar erkannt werden; dann wird ein neues Auf-
blühen auch nicht ausbleiben.
1
56
Mitteilungen
Yersaniinllingeil. — Die Konferenz deutscher Archivare
in Dresden und der erste deutsche Archivtag in Strafsburg.
Am i8. und 19. September d. J. trat in Dresden die vom Kgl. Sächsischen
Kriegsministerium einberufene Konferenz deutscher Archivare zusammen^
welche das vom Oberstabsarzt Dr. Schill im dortigen hygienisch-chemischen
Laboratorium erprobte Ver^ihren, zerfallende Archivalien durch Imprägnierung
mit Zapon zu fixieren und zu konservieren, prüfen sollte. Dr. Schill hat
das Zapon, eine Lösung völlig farblosen Celluloids in ebenso rasch wie spur-
los verdunstendem Amylacetat oder verwandten Lösungsmitteln, zuerst und
zwar seit etwa 9 Jahren mii Erfolg benutzt, um Manöverkarten wasser- und wetter-
beständig zu machen; noch überraschender war die Wirkung des Mittels
auf die modernden Schreibstofife , deren Erhaltung für die Archivare bisher
eine endlose Sorge war. Systematisch angestellte und hinreichend lange
fortgesetzte Versuche haben gezeigt, dafe die Zapon-Imprägnierung dem Fort-
wuchem der Schimmelpilze Einhalt thut, und die mit ihm behandelten Stofife
gegen die Einwirkung von Wasser und Säuren schützt. Am bedeutsamsten
für die Praxis ist aber die Thatsache, dafs selbst das mürbste Papier, welches
schon bei leichter Berührung sich in Staub auflösen möchte, durch die
Zaponienmg gewissennafsen seine alte Natur, d. h. Konsistenz und Biegsam-
keit, wieder erhält, und dafs zugleich bei der in der Regel erwünschten
Festigung und Egalisierung der zerfetzten Ränder, am zweckmäfsigsten mittels
japanischen Pfianzenpapiers , das Zapon selbst das Bindemittel abgiebt, das
lästige, unsaubere und stets mit einem gewissen Risiko verbundene Hantieren
mit anderen Klebstoffen also ganz fortfällt.
Ja bei einzelnen Blättern, welche durch Modem schon in Bruchstücke
zerfallen sind, die der leiseste Hauch durcheinander zu werfen droht, lassen
sich diese in ihrer gegenseitigen Lage durch Übergiefsen einer hinreichenden
Menge Zapons fixieren, welches die Fragmente durch Celluloidhäutchen an-
einanderheftet, die zwar äufserst fein sind, aber doch genügende Sicherheit
bis zu demnächstiger gründlicher Behandlung mit Überfiamgpapier bieten.
Gewisse Schwierigkeiten können nur bei dickeren Aktenheften oder Manu-
skripten entstehen. Das Auseinandernehmen derselben, tun die einzelnen
Bogen getrennt zu behandeln, wird selten ratsam erscheinen, vielfach dagegen
durch den Zustand des Materials sich direkt verbieten. Eine befriedigende
Methode zur „Zaponienmg im Ganzen'* ist noch nicht ermittelt; z. Z. ist
allein bedächtiges, wenn auch langwieriges, allmähliches Fortschreiten an-
zuraten, indem man nicht mehr als je zwei einander gegenüberstehende Blätter
gleichzeitig präpariert; zur Isolierung der in Behandlung befindlichen Blätter
von den übrigen empfehle ich Paraffin-Papier. Die in Dresden zu
diesem Zwecke vorgeführten Drahtnetze sind bei gleichzeitiger Inangriff-
nahme einer gröfseren Anzahl von Blättern nicht zu entbehren, weil sie die
zum Verdunsten des Lösungsmittels notwendige Luftzirkulation gestatten ; ich
halte jedoch ein solches Engros -Verfahren aus verschiedenen Gründen nicht
für zweckmäisig, zumal die Drahtnetze die Operation, insbesondere für kleinere
Archive, umständlicher und kostspieliger machen. Das Verfahren ist sonst
— 57 —
das denkbar einfachste ; eines gröfseren Apparates von Tauchcylindem, Tauch-
schalen, Trockengestellen und dergleichen bedarf es nicht. Da ich unter
allen Umständen das Übergiefsen empfehle, genügen einige Bogen immer
wieder zu verwendenden Paraffinpapiers, eine mit Ausgufs versehene Schale^
ein Pinsel zum Verteilen und eventuell einige Streifen dicken Glases von ver-
schiedener Länge, tun sich zu möglichst ökonomischer Verwendung des Zapons
auf dem zu präparierenden Objekt selbst eine Art von Schale herstellen zu
können.
Mit der bisher besprochenen, allerdings bedeutsamsten Verwertung des
Zapons ist aber seine Anwendung in der archivalischen Praxis durchaus nicht
erschöpft, es scheint dasselbe vielmehr berufen, eine Art von archivalischem
Universalmittel zu werden. Proben von der Fixierung modernder Wachssiegel
durch Zapon habe ich in Dresden und Strafsburg vorlegen können; für iüle
Alten von Metallsiegeln liegt der Vorteil der Zaponierung auf der Hand ; da
das Zapon weder Tinten noch Farben angreift, andrerseits aber auf zaponierten
Unterlagen geschrieben und gemalt werden kann, so eignet sich das Mittel
zum Fixieren von Zeichnungen und Handschriftengemalden sowie zum Festigen
der Wasserfarben bei der Bearbeitung von Karten, wenn es sich darum
handelt, mit neuen Farben über Schrift oder Kolorit hinwegzugehen ; Signaturen
an Schränken, auf Manuskripten tmd Akten werden vor der allmählichen
Zerstörung durch Luft und Staub, blanke Metallteile vor dem Rosten ge-
schützt (die in meinem Archive vielfache Anwendung findenden eisernen
Lmeale habe ich auf das wirksamste so behandelt) u. s. w. u. s. w.
Was die gegen das Zaponverfahren erhobenen Bedenken anlangt, so
vermag ich denselben für die Praxis keine Bedeutung beizulegen. Sollte die
Brennbarkeit eines zaponierten Papiers wirklich etwas gröfser sein als die
eines unzaponierten, was übrigens nicht der Fall zu sein scheint — bei von
mir angestellten, anscheinend das Gegenteil bekundenden Versuchen konnte
noch nicbt das von Dr. Schill ausschliefslich empfohlene tadellose Präparat
der Fabrik von Dr. Perl & Co. in Berlin benutzt werden — , so ist dem
g^enüber hervorzuheben, dafs es doch eine der Hauptbestrebungen der
modernen Archivtechnik ist, die Archive überhaupt gegen Feuer zu sichern.
Da es femer niemand einfallen wird, ganze Archive zu zaponieren, so kann
es sich immer nur um einzelne, verhältnismäfsig sehr kleine Gruppen handeln,
die mehr gefährdet wären. Aber auch da schwindet alle Sorge gegenüber
der Thatsache, dafs man immer mehr und mehr sich angelegen sein läfst,
auch den Akten eine feste Umhüllung durch Mappen, Kartons, Enveloppen
zu geben, deren schwer entflammbares Material einen nicht zu verachtenden
Schutz gegen das erfehrungsmäfsig bei Feuersgefahr meistens nur an den
Rändern stattfindenden Verkohlen von Aktenpacketen bietet. Gebe man
also, wenn man ängsdich ist, zunächst allen zaponierten Stücken eine solche
besondere Schutzhülle!
Es wurde weiter, an sich mit Recht, eingewendet, dafs nach der Zapon-
imprägniemng die Anwendimg von Reagentien, resp. die von der Chemie
zu erhoffende Beseitigung der durch unverständiges Wüten mit Reagentien
angerichteten Schäden unmöglich sei. Solche Fälle bilden aber in der Archiv-
wie in der Bibliothekspraxis doch nur Ausnahmen; die Entscheidung über
die Anwendung des Zapons soll nicht von den alles nach einem Schema
— 58 —
behandelnden Subaltemorganen , sondern von dem seiner Verantwortung be-
wufsten Fachmanne abhängen, der es sich zur Pflicht machen wird, alle
Schriftstücke, über deren Inhalt aus schreibtechnischen Gründen, wie die er-
örterten, Zweifel bestehen oder entstehen können, vorläufig von der Im-
prägnierung auszuschliefsen. Er wird auch in diesen Fällen stets in der
Lage sein, einen provisorischen Schutz durch feste Bettung zwischen durch-
sichtigen, biegsamen Celluloidplatten , schlinmisten Falles durch Überlegen
von Glas zu schaffen. Feste Regeln lassen sich hier nicht geben, der Findig-
keit und technischen Geschicklichkeit der Beamten mufs alles überlassen
bleiben.
In der überwiegenden Mehrzahl praktischer Fälle wird aber das Zapon
sich als ein überaus segensreiches Mittel in den Händen derer erweisen,
welchen die Hut und die Pflege der schriftlichen Denkmäler der Vergangen-
heit anvertraut ist Aus den in Dresden stattgehabten Erörterungen und Vor-
flihnmgen hat sich denn auch diese Perspektive für alle Teilnehmer an der
Konferenz sichtlich ergeben. Es mufste daher einigermafsen überraschen,
dafs als Ergebnis der Verhandlungen beschlossen wurde, die auf der Kon-
ferenz vertretenen Regienmgen pp. zu ersuchen, „durch ihre Archivare
Versuche mit der Zaponimprägnierung anstellen lassen zu
wollen".
Der Archivar ist gar nicht in der Lage, die von Dr. Schill systematisch
im Laboratorium angestellten Versuche experimentell nachzuprüfen. Der
chemische Teil der Frage ist für ihn durch Schills Untersuchungen erledigt,
die praktische Anwendbarkeit steht aufser Frage; es bleibt ihm nur übrig,
durch eigene Versuche sich mit der, übrigens spielend leichten, Technik ver-
traut zu machen. Ihrer Anerkennung der überraschenden Zweckmäßigkeit
des Verfahrens und zugleich ihrem Dank für die Bemühungen der Dresdener
Gelehrten tun dasselbe hätte die Versammlung entsprechenderen Ausdruck
geben können, indem sie den Regienmgen pp. die Zaponmethode empfahl
mit dem Ersuchen, durch ihre Archivare praktische Versuche zu möglichster
Vereinfachung und Verallgemeinerung der Methode anstellen zu lassen, fUr
welche der von Dr. Schill im Auftrage des Sächsischen Kriegsministeriimis
bearbeitete Leitfaden (Dresden 1899, Verlag des „Apollo", Franz Hoflönann)
als Grundlage zu dienen habe.
Immerhin ist durch den Schlufssatz der Resolution, wonach um Mit-
teilung der Resultate der bezüglichen Erhebungen an das Sächsische Haupt-
staatsarchiv gebeten wird, dafür gesorgt, dafs die Angelegenheit in Fluüs
bleibt. Freilich wäre es erwünscht gewesen, wenn zugleich der Hoffiiimg
Ausdruck gegeben worden wäre, die beteiligten Regierungen möchten ihre
Geneigtheit zu weiterer wirksamer Mitarbeit dadurch bekunden, dafs sie ihre
Archivare in die Lage setzen, auf einer neuen, von Amts wegen zu berufenden
Konferenz die gemachten Erfahrtmgen zu diskutieren.
Die Konferenz beschlofs weiter, die beteiligten Regierungen zu ersuchen,
über die Ergebnisse, welche fUr die Liefenmg und Prüfung von Papier zu amt-
lichen Zwecken, bezw. fUr Verwendung von guten, das Papier nicht gefähr-
denden Tinten u. s. w. etwa erlassene Vorschriften gehabt haben, Erhebtmgen
anzustellen, dieselben bekannt zu geben, und ebenfalls dem Sächsischen Haupt-
staatsarchiv mitzuteilen.
— 59 —
Stand dieser, schon in dem einleitenden Referat des Oberregierungsrats
Dr. Posse ausführlich behandelte Gegenstand mit dem Programm der Kon-
ferenz nur in losem Zusammenhange, so hätte dagegen die im Laufe der
Verhandlung auf den Plan getretene wichtige Frage nach dem Wesen und
der Anwendung der Tintenreagentien es wohl verdient, durch ausdrückliche
Aufioahme in die Resolution der amtlichen Fürsorge der beteiligten Regie-
mngen u. s. w. empfohlen zu werden. Statt dessen wurden Oberregierungsrat
Dr. Posse und Corpsstabsarzt Dr. Schneider (welcher durch Vorführung der
bisher üblichen Reagentien sich ein grofses Verdienst imi die Versammlung
erwarb) gewissermafsen privatim gebeten, die Reagentienfrage wissenschaftlich
zu prüfen. Die Benutzung des Laboratoriums des Sächsischen Kriegs-
ministeriums wurde dafür in Aussicht gestellt, und damit scheint wenigstens
die chemisch - fachmännische Behandlung dieses bisher wildem Empirismus
anheim gefallenen Schmerzenskindes der Handschrif^enkunde gesichert.
Von den gesellschaftlichen Genüssen, welche nach des Tages Arbeit in
vornehmster Form der Versammlung geboten wurden, soll hier nicht die
Rede sein, zu gedenken ist aber der Besichtigung des bei reichen Mitteln
mit Verwertung aller modernen technischen Erfahrungen neuerbauten Kriegs- ^
archivs. Eines vielleicht altmodischen Gedankens vermochte ich mich bei
der Betrachtung des schönen Bauwerks nicht zu erwehren. Während in den
Arbeitszimmern alles für eine praktische und zugleich vornehm -behagliche
Einrichtung geschehen ist, machen die Aufbewahrungsräume der Archivalien,
wie sie hier imd bei anderen archivalischen Neubauten überhaupt angeordnet
sind, mit den nackten Eisenkonstruktionen, den erdrückend-niedrigen eisernen
Gitterfuisböden den Eindruck eines Gefängnisses, nicht einer Rüstkanmier
freier Forschimg. Der Archivar kann hier nicht mehr unter seinen Archivalien
leben; sie sind so lange tote Ntunmem, bis die Hand des Dieners sie heraus,
ans Licht im eigentlichen Sinne befördert — gerade die Beleuchtungsfrage
schien mir in dem Magazin des Dresdener Kriegsarchivs nicht überall glück-
lich gelöst. Die Fachgenossen seien übrigens auf die sinnreich und einfach
konstmierten zusammenschiebbaren Fenstergitter in den dortigen Arbeitsräumen
besonders aufmerksam gemacht.
An die Dresdener Versammlung schlofs sich bald der erste Deutsche
Archivtag, welcher am 25. September inStrafsburg eröfl&iet wurde. Den
Angelpunkt der dortigen Verhandlungen bildete der nachträglich auf die
Tagesordnung gesetzte Vortrag des vom Sächsischen Kriegsministerium ent-
sandten Dr. Schill in dem prächtigen Lesesaale der neuen Universitätsbibliothek,
wiederum über das 2^ponverfahren. Der Eindruck, den derselbe auf die
ungemein zahlreich versanmielten Fachgenossen machte, wird für die Ein-
führung und Ausbildung der ausgezeichneten Konservierungsmethode förder-
samer sein als die diplomatisch gefafste Resolution der Dresdener Konferenz.
Die übrige Tagesordnimg mufste sich wegen dieser nicht vorhergesehenen
willkommenen Erweiterung starke Einschränkungen gefallen lassen. Die geist-
reichen, scharf und klar die Zustände darlegenden und das Notwendige
formulierenden Vorträge des Archivdirektors Prof. Dr. Wiegand- Strafsburg
über die wissenschaftliche Vorbildung des Archivars, und des Regierungsrats
Dr. Ermisch -Dresden über die Beziehungen der Staatsarchive zu den Re*
gistraturen und Archiven der Verwaltungs- und Justizbehörden, bei denen
— 60 —
auch die vielfach noch so unzulängliche Fürsorge der deutschen Staaten fiir
standesgemäfse Dotierung ihrer Archivbeamten gewürdigt wurde, werden ihren
Eindruck auf den Einzelnen nicht verfehlt haben. Da sie sich aber lediglich
als akademische Erörterungen de lege ferenda gaben und bezügliche Reso-
lutionen nicht gefafst wurden, dürften ihre Anregimgen leicht verfliegen, wenn
nicht der zweite Archivtag, welcher im Herbst 1900 in Dresden tagen soll,
die Fragen von der praktischen Seite anfafst. Reichsarchivrat Dr. Wittmann-
München schränkte seinen Vortrag über Archivbenutzungsordnungen dahin
ein, dafs er die Fortschritte schilderte, welche die jüngste Bayrische Archiv-
benutzungsordnung bietet; im übrigen verhiefs er Mitteilung seines Vortrages
durch den Druck.
Eine solche wäre überaus erwünscht. Um das Bewufstsein organischer
Zusammengehörigkeit unter den deutschen Archiven und Archivaren zu
fördern, um nicht zu sagen: zu wecken, ist es von Bedeutung, dafs ein
jeder xpm anderen wisse, nach welchen Regeln sich ihm der Verkehr mit
dem wissenschaftlichen Publikum gestaltet. Aber noch anderes ist von
nöten. Wir bedürfen einer Statistik der deutschen Archive und ihrer Be-
amten. Das Burkhardtsche Adressbuch (1887) ist veraltet; das Jahr 1900
bildet einen so prägnanten Markstein unserer Zeitgeschichte, dafs es zur Neu-
aufstellung eines solchen Verzeichnisses geradezu herausfordert; in bestimmter
Wiederkehr wären Neuredaktionen vorzunehmen; die inzwischen stattfindenden
Personalverändenmgen hätten etwa die Deutschen Geschichtsblätter zu re-
gistrieren. In das Detail der Repertorien eindringende Inhaltsübersichten der
Archive — nicht Inventare — nach gemeinsamem Plane wären zu veröffent-
lichen ; nicht minder aber Berichte über die technischen Einrichtungen jedes
Archivs.
Die Vertrautheit mit allen üblichen Methoden der Archivtechnik ist die
beste Gewähr für eine gesunde Entwicklung des Archivwesens. Der Strafs-
burger Archivtag schien diesem Zwecke förderlich werden zu sollen, da mit
ihm eine Ausstellung von Archivutensilien verbunden wurde. Der Erfolg war
jedoch kläglich. Von Archiven hatten sich das Oberösterreichische Landes-
archiv in Linz, das GrofsherzogUch Oldenburgische Haus- und Zentralarchiv
und das Gräflich Erbachsche Archiv beteiligt. Die Überfülle der Tages-
ordnung des Archivtages und der Umstand, dafs die meisten der anwesenden
Archivare auch als Delegierte der zugleich ihre Generalversammlung abhalten-
den Geschichtsvereine fungierten, dadurch aber übermäfsig in Anspruch ge-
nommen waren, wurde Veranlassung, dafs die wenn auch kleine, so doch immer-
hin lehrreiche Ausstellung im Gebäude des Bezirksarchivs so gut wie vergessen
wurde. Aufser den Vertretern zweier beteiligter Archive habe ich während
der nachträglich zur Besichtigung angesetzten Stunde drei Archivare nebst
einem Universitätsprofessor als Besucher registriert Und doch verzeichnete
die Präsenzliste des Archivtages 81 Namen!
Soll den vorgetragenen Wünschen, mit denen ich sicherlich nicht allein
stehe, Rechnung getragen werden, so ist es notwendig, dafs aus den Archiv-
tagen sich bald eine Zentralvertretung für die wissenschaftlichen und praktischen
Aufgaben und Interessen des deutschen Archivstandes entwickele, wie andere
wissenschaftiiche Berufsstände sie bereits besitzen.
Aus den Verhandlungen der Generalversammlung der deutschen Alter-
— 61 —
tums- und Geschichtsvereine hebe ich hier nur den Bericht über das erfreuliche
Fortschreit^i der Grundkarten — über den gegenwärtigen Stand dieser Frage
unterrichtet Lamprechts Aufsatz oben S. 33 — hervor, um die Bemerkung an-
zuknüpfen, dafs ich den Eindruck empfangen habe, als stünden die deutschen
Archiwerwaltungen im allgemeinen diesem überaus wichtigen Unternehmen noch
zu kalt, ja teilweise sogar ablehnend gegenüber. Wo Archivare dabei thätig
sind, erscheinen sie wohl stets als Vertreter intelligenter imd leistungsfähiger Ge-
schichtsvereine. Und doch läfst sich eine wirklich erfolgreiche Arbeit auf
vielen Gebieten der archivalischen Thätigkeit ohne begleitendes, die Grenzen
der modernen Staatsverbände oft genug überschreitendes Kartenzeichnen gar
nicht denken; dieses wird aber ungemein erleichtert, oft genug erst ermög-
licht werden, vor allen Dingen aber wird es der Geschichtswissenschaft im
allgemeinen in Wahrheit erst dann zu gute konmien können, wenn der
Archivar bei dieser Arbeit sich für das eigene Land wie für die Nachbar-
territorien der auf einheitlichen Mafsstäben beruhenden Grundkarten be-
dienen kann.
£^e schöne Aufgabe wäre es für die deutschen Archiwerwaltungen
gewesen, die Leitung der Grundkarten-Bewegung gemeinsam in die Hand zu
nehmen; so, wie die Dinge jetzt liegen, mögen sie es sich wenigstens an-
gelegen sein lassen, mit allem Nachdruck für ihre Förderung einzutreten.
G. Seile - Oldenburg.
Von den Vorträgen, welche die 45. Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner während ihrer Tagung in Bremen vom
26. bis 30. September gebracht hat, seien hier drei besonders erwähnt, die
in engerer Beziehung zur landesgeschichtlichen Forschung stehen, während
wir im übrigen auf die in Vorbereitung befindlichen und bei B. G. Teubner
in Leipzig erscheinenden offiziellen Verhandlungsberichte verweisen. Prof.
Hirt (Leipzig) behandelte die Herkunft der indogermanischen
Völkern-amen und führte etwa aus: Die Völkemamen der Indogermanen
bieten ein sprachlich wie geschichtlich wertvolles Material, aber die vielen
jüngeren Erklänmgsversuche verdienen kein allzu grofses Vertrauen, weü ihre
sprachhche Behandlung grofse Mängel aufweist Will man den Sinn von
Worten feststeUen, deren Bedeutung nicht überliefert ist, so gilt es zuerst die
Suffixe zu betrachten, weÜ wir deren Bedeutung am ehesten bestimmen können.
Für die Völkemamen ergiebt sich so zweierlei: erstens finden wir Suffixe,
die deutlich patronymisch sind, wie germ. -ing, -ung (Thuringi, Mero-
^j^gi)» -aeon (Ingwaeones, Frisaeones), -jo (Frisii, vgl. gr.
Aia^ TtXufidviog) ^ ital. -Inus, die Zugehörigkeit bezeichnend, u. a., imd
zweitens finden wir solche, die in Kosenamen verwendet werden. Fürs Indo-
germanische gilt aber die Regel, dafs der Dual und Plural eines Wortes
zwei oder mehrere zusammengehörige Wesen bezeichnete. So heifst hom.
AufLPx^ eigentlich die beiden Ajas, in Wirklichkeit aber Ajas und sein
Bruder Teukros; lat Castores bedeutet Castor und Pollux. Der
Plural konnte den Geschlechtsherm und das ganze Geschlecht bezeichnen,
lat Cornelii, imd dann das Geschlecht allein.
Das Prinzip der indogermanischen Namengebung ist längst erkannt (vgl.
Fick, Oriechisäie Personennamen). Alle Namen waren zweistämmip" -^^
— 62 —
Sigifrid, Sigimund, Qf^iaxo-xXrig u. s. w. Daher bedeutet Ermun-
duri das Geschlecht, die Sippe des Ermundurus, oder Sugambri,
die Sippe des Sugambros. Zu diesen VoUnamen werden aber gern Kose-
namen gebildet So ist Wolfo die Koseform zu einem zweistämmigen
Wolf-hart, Wolfgör u. s. w. Ebenso kann Teuto zu Dietrich,
Diethart gehören. Teutones bedeutet also nichts anderes als die Sippe
eines Teuto (Teutobodus); Irminones ist der Plural zu Irmino,
der Koseform etwa zu Ermundurus oder anderen mit Ermun zusammen-
gesetzten Worten. Auch -jo bildet Kosenamen, namentlich im Italischen,
Lucius zu ^vxo-x, lat. Cassius zu gall. Cassi-velaunus. Unser
Name Hessen, urgerm. ;(fassioi ist also mit Cassius vollständig iden-
tisch. Wenn nun auch die Wiu-zel kad, die dem Namen zu Gnmde liegt,
„glänzen" bedeutet, so darf doch in dem Völkernamen diese Bedeutung
nicht mehr gesucht werden. Hessen bedeutet nichts anderes als die Nach-
kommen eines Cassius. Mit diesem Prinzip lassen sich sehr viele, ja die
meisten Völkemamen erklären, wenn auch nicht alle. Jedenfalls hat auch
eine Erklärung des Restes von Suffixen auszugehen. Was die Betrachtung
der Sprachform mit zwingender Notwendigkeit nahelegt, wird durch die
Heranziehung der kulturhistorischen Thatsachen auf das beste bestätigt Die
Bedeutung der Sippe ist allbekannt und wurde nur kurz angedeutet Zum
Schlufs wurde darauf hingewiesen, dafs die Alten selbst und auch die nord-
europäischen Völker ihre Stämme fast stets von einem gemeinsamen Stamm-
vater herleiten, und dafs gar kein Grund vorliegt, diese Überlieferung bei-
seite zu schieben. Der Vortragende gedenkt, das ganze Völkernamenmaterial
der indogermanischen Völker systematisch zu bearbeiten, weil nur durch die
vergleichende Betrachtung der Grund festgelegt werden kann. — Direktor
Schuchardt (Hannover) sprach über die germanisch-römische
Forschung im nordwestlichen Deutschland und zog darin die
Folgerungen aus den seit Jahren von ihm vorgenommenen Ausgrabungen.
Infolge der Untersuchungen Schuchardts sind die sog. Moorbrücken d. h.
schwinmiende Wege im Moor, die bisher allgemein für eine Erfindung der
Römer galten, nicht in einem einzigen Falle als römisch erwiesen worden,
wohl aber als germanisch, und zwar gehören sie nach Mafsgabe der dabei
gemachten Funde z. T. in karolingische Zeit, z. T. ins zweite und dritte
Jahrhundert vor Christus, also in die Zeit vor der Berührung der Germanen
mit den Römern. Auch die Grenzwälle, und mithin auch im Prinzip den
Limes beansprucht Redner als eine Einrichtung der Germanen. Die bisher
ebenfalls als römisch betrachteten Kastelle an Lippe und Ems, welche in
ihrer Bauart sich grundsätzlich von den bekannten und als solche erwiesenen
Sachsenburgen unterscheiden, zeigen merkwürdigerweise engste Verwandtschaft
mit den nachgewiesenermafsen von Karl dem Grofsen während der Sachsen-
kriege angelegten Kastellen, werden mithin als fränkisch zu betrachten sein,
so dafs auch hier der römische Einfiufs sich geringer erweist, als gemeinhin
angenommen wird. Die Ausfuhrungen klangen aus in dem Wunsche, sich
mit dem germanischen Altertum ebenso lebhaft zu beschäftigen wie mit dem
römischen, und nicht nur das Römische auf deutschem Boden zu suchen,
wie auch in einem Aufsatze Eömisch- germanische Altertumsforschung von
Alexander Tille (Deutsche Stimmen, Köln, Nr. ii vom i. Sept 1899) *^"
— 63 —
gefuhrt wurde. — Der Vortrag von Direktor Rohde (Cuxhaven) über die
Ortsnamenforschung als Hilfsmittel der Geschichtsforschung
brachte eine Fülle von Material bei, jedoch ohne die Methode der Orts-
namenforschung zu behandeln. Diesem Mangel suchte Dr. Armin Tille (Leipzig)
durch einige Bemerkungen abzuhelfen, indem er namendich auf die Ver-
bindung mit der Besiedlungsgeschichte hinwies und die im Volksmunde
übliche Aussprache des Ortsnamens, phonetisch genau wiedergegeben, ab
Grundlage für Untersuchungen empfahl und nicht die offiziellen Namen-
schreibungen; alle erreichbaren älteren Namensformen und auch der nicht
seltene völlige Namenswechsel seien dabei zu berücksichtigen. Jedenfalls zeigte
sich auch hier, dafs die Methode der Ortsnamenforschung noch wenig ent-
wickelt ist und dafs sie wohl einmal gründliche Behandlung durch emen Mann
verdient, der als Philolog und Historiker gleich tiefe Kenntnisse besitzt.
£io gegangene BQcher.
Gmelin, Julius: Hällische Geschichte. Geschichte der Reichsstadt Hall
und ihres Gebietes nebst einem Überblick über die Nachbargebiete.
Schw. Hall, Verlag von Ferd. Staib (W. Stöver) 1897. 830 S. 80.
Hengstenberg, Hermann: Das ehemalige Herzogtum Berg und seine nächste
Umgebung, beschreibende und geschichtliche Übersicht Zweite durch-
gesehene und vermehrte Autlage. £lberfeld,B. Hartmann, 1897. 137S. 8<>.
XXXV. Jahrcs-Bericht des Vorarlberger Museums- Vereins über das Jahr
1896. Bregenz, im Selbstverlage. 97 S. 40.
Käser, Kurt: Politische und soziale Bewegung im deutschen Bürgertum zu
Beginn des 16. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf den Speyerer
Aufstand im Jahre 15 12. Stuttgart, Druck und Verlag von W. Kohl-
hammer, 1899. 270 S. 8<>. J^ 5.
Köberlin, Dr. Alfred: Der Obermain als Handelsstrafse im späteren Mittel-
alter. Erlangen und Leipzig, A. Deichertsche Verlagsbuchhaöidlung Nachf.
(Georg Böhme), 1899. 70 S. 8<>. Ji 1.80. [Wirtschafts- und Ver-
waltongsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. Herausgegeben
von Georg Schanz IV.]
Kötting, G. : Etymologische Studien über deutsche Flufsnamen. 24 S. 40.
[Beilage zu dem Programm des Königl. Gymnasiums zu Kreuznach.
Ostern 1899.]
Kraaz, Albert: Bauerngut und Frohndienste in Anhalt, vom 16. bis zum
19. Jahrhundert Jena, Verlag von Gustav Fischer 1898. 273 S. 8®.
M 7. 50.
Levec, Wladimir: Pettauer Studien. Untersuchungen zur älteren Flur-
verfassrmg. I. Abteilung. Mit einer Karte. Wien 1898, S. 171 — 189. 4<>.
[Separatabdnick aus Band XXVm (der neuen Folge Band XVIIl) der
Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien.]
Meister, Dr. AI.: Akten zum Schisma im Strafsburger Domkapitel 1583
bis 1592. Strafsburg, vorm. R. Schultz & Co., 1898. 81 S. 8<>. [Se-
paratabdruck aus den Mittheilungen der Gesellschaft fUr Erhaltung der
geschichtlichen Denkmäler im Elsafs, Band XDC, I. Lieferung.]
Müller-Mann, Gustav: Die auswärtige Politik Kaiser Ottos II. ^^ '
Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde
— G4 —
der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität BaseL Lörrach^
Verlag von C. R. Hutsch, 1898. 68 S. 8®.
Petersen, Adolf: Maximilian von Baiem und die Kurwürde, mit Berück-
sichtigung der bayerischen Flugschrift „die Anhaltische Kanzlei, 162 1".
27 S. 4^. [Beilage zum Programm des Kgl. Gymnasiums zu Luckau
1898/99].
Petry, Joh. : Die Hausordnung der Fraterherren und der Tabemakelstiftung
zu Emmerich. Ein Beitrag zur Geschichte der Intematserziehung. 19 S.
40. [Beilage zum Programm des städtischen Progymnasiiuns zu Steele
1898/99.]
P i r e n n e , Henri : Note sur un passage de van Velthem relatif a la bataiUe
de Courtrai. Bruxelles, Hayez, imprimeur de Tacaddmie royale de
Belgique, 1899. 23 S. 8^
Pyl, Dr. Theodor: Nachträge zur Geschichte der Greifewalder Kirchen und
Klöster. Heft 3: Geschichte des Georghospitals. Greifswald, Kommis-
sions-Verlag von Julius Abel, 1900. 125 S. 8®. [Vereinsschrift der
Rügisch Pommerischen Abtheilung der Gesellschaft für Pommerische
Geschichte und Alterthumskunde.]
Ribbeck, Dr. Konrad: Geschichte des Essener Gymnasiums. I. Teil bis
1564. Essen 1896. 11. Teil: Die lutherische Stadtschule 1564 — 161 1.
Essen 1898. [Beitr. zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, herausgeg.
von dem Historischen Verein für Stadt und Stift Essen. 16. u. 19. Heft]
Schafstaedt, Heinrich: Die Festung Mühlheim am Rhein zu Ende des
16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. 33 S. 4®. [Beilage zum
Programm des Gymnasiums zu Mühlheim am Rhein 1899.]
Schaube, Adolf: Proxenie im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des
Konsularwesens. 21 S. 4 0. [Abhandlung, beigegeben dem Bericht über
das Schuljahr 1898/99 am Königl. Gymnasium zu Brieg.]
Derselbe : Die Wechselbriefe König Ludwigs des Heiligen von seinem ersten
Kreuzzuge imd ihre Rolle auf dem Geldmarkte von Genua. [Sonder-
abdnick aus den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik*' Band
70, S. 603 flf. und Band 71, S. 145 ff.]
Strna dt, Julius: Felix Stieve, der Geschichtschreiber des oberösterreichischeo
Bauernkrieges. [Sonderabdruck aus dem 3. Hefte des „Kyffhäuser*^
Deutsche Monatshefte für Kunst imd Leben. Linz a. d. D.]
Thoma, Prof. D. Albrecht: Geschichte des Klosters Frauenalb, ein Beitrag
zur Kulturgeschichte von 7 Jahrhunderten. Freiburg L Breisgau, Verlag
von Paul Waetzel, 1898. 104 S. 8<>. Jt 1.60.
Tille, Alexander: Yule and Christmas, their place in the Germanic year.
London, David Nutt, 1899. 218 S. 4<>. Ji 2\.
BerichtigriUlg« Durch Schuld der Redaktion ist io dem Nekrolog fiir Gustav v. Mevisseo
aus der Feder von Hermann Keussen (Köln) — Heft i. S. 31 — dort, wo von der
Gründung der „Gesellschaft fiir Rheinische Geschichtskunde" die Rede ist, der Name
Höhlbaums nicht genannt worden. In Keussens Manuskript lauteten die Worte:
„... hatte er im Verein mit Höhlbaum und Lamprecht den Hauptanteil".
Die Redaktion.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
zur
Förderung der landesgeschiclitliclieii Forschung
I. Band Dezember 1899 3. Heft
Stadtreehnungen
Von
Armin TUle (Leipzig)
Die verschiedenen Quellengattungen besitzen bereits ihrer Natur
nach eine verschiedene Glaubwürdigkeit und damit einen verschiedenen
Wert für die Geschichtsforschung. Bei jedem Chronisten ist sein
Stand und seine Parteistellimg zu berücksichtigen, bei Urkunden gilt
es, abgesehen von der nackten Thatsache des Rechtsgeschäfts, in der
Regel allen Nebenbemerkungen und besonders dem Inhalte der
Arengen mit Vorsicht zu begegnen, Prozefsakten neben Zeugen-
verhören und Rechtsgutachten nehmen in den meisten Fällen bereits
Partei, kurz überall hat der Benutzer die Pflicht, umsichtig und kritisch
ans Werk zu gehen. Erheblich besser ist er daran, wenn ihm Papiere
zur Verfugung stehen, die für den Tag geschrieben waren, bei denen
niemand daran dachte, dafs sie Zeitgenossen der Nachlebenden als
Unterlage bei der Beurteilung des Falles jemals dienen würden. Hierzu
sind Briefe, Verhandlungsprotokolle oder Bittschriften zu rechnen,
kurz alle solche Aufzeichnungen, die ihrer Natur nach nur für eine
beschränkte Zahl von Personen und nicht für die Öffentlichkeit be-
stimmt waren. In diese Kategorie von Quellen gehören auch die
alten Rechnungen, die naturgemäfs sehr verschiedener Art sein
können, je nachdem sie über die Einnahmen und Ausgaben einer
Privatperson, einer Korporation oder einer Gemeinde Rechenschaft
ablegen, sei es für einen näher bestimmten Zeitraum Verschieden-
artiges umfassend, sei es für einen näher bezeichneten Zweck. ') Zu
i) Unter den Ansgaberechnnngen fUr bestimmte Zwecke sind neben Reise«
rechnongen eine Reihe Banrechniingen bekannt geworden, so Der KohUnter Mauerhau^
Rtcknungen 1276 — J28g, bearbeitet Ton Max Bär, Leipzig 1888; Neawirth, Die
WocheHrechnungen und der Beirieb des Prager Dombaues 1372 — 1378 t Prag 1890;
St. Beissel, Die Baugeschichte der Kirche des h. Viktor zu Xanten (Stimmen aus
5
— Bö-
den ersteren wären z. B. die Ausgabe- und Einoahmerechnungen
für den Haushalt der Herren vom Drachenfels aus der Zeit 1395 bis
1398 *) zu zählen oder auch die ähnlichen Rechnungen der Tiroler
Herren von Schiandersberg *), zu den zweiten etwa Kirch- und Bruder-
schaftsrechnimgen, deren wenigstens aus dem XV. Jahrhundert eine
ganz beträchtliche Zahl bekannt ist '), und zu den letzteren die Stadt-
rechnungen, welche an Alter und Bedeutung wohl zu den wichtigsten
älteren Rechnungen überhaupt gehören. Auf Grund des in alten
Rechnungsbüchern überlieferten Materials ist der mo-
derne Forscher in der Lage, für vergangene Zeiten,
denen eine Vorstellung von Massenerscheinungen und
eineKenntnis des Mittels sie zu bewältigen, der Statistik,
noch nicht eigen sind, mit Hilfe der von der modernen
Statistik entwickelten Methoden thatsächlich statistische
Übersichten zu liefern, welche mehr bieten, als die Zeit-
genossen zu begreifen vermochten. Wenn die Ergebnisse
solcher Untersuchungen auch nicht vollständig denen der modernen
Statistik entsprechen können, so sind sie 'doch in hohem Ma(se
geeignet, unsere Kenntnis in der Vergangenheit zu vervollständigen
Maria-Laach, Ergänzungsheft 23); Vancsa, Die Baureparaturen der Burg Loa im
XVL Jahrhundert und ihre Kosten (Berichte und MiUeiloDgen des Altertmnsvereins in
Wien 1899); Rechnungen über den seit 1559 ausgeführten Ausbau des Hauses Horst in
Westfalen siehe TiUe, Übersicht über den Inhalt der kl. Archive der RheinproTins, i. Bd.^
(1899), S. 122, Nr. I.
i) Armin Tille, Übersicht Ober den Inhalt der kleineren Archive der Rhein^
Provinz^ I. Bd. (1899), S. 52, Nr. 2, teilweise veröffentlicht von Korth in den Annalen
des historischen Vereins für den Niederrhein^ 54. Hefl (1892), S. i ff.
2) v. Ottenthai und Redlich, Archivberichte aus Tirols 2. Bd. (1896), S. 4 — 5
teilweise veröffentlicht in den Mitteilungen des Instituts für österreichische GeschichU'-
forschung, 2. Bd. (1881), S. 551 — 614 (1366—67).
3) Vgl. Armin Tille, Übersicht über den Inhalt der kl, Archive der Rhein^
Provinz j wo Kirchrechnungen 1465 ff. aas Wipperfürth S. 283, Nr. 15; 1478 £L ans
Wickrath S. 77, Nr. 25 ; 1483 ff. aus Siegburg S. 329, Nr. 5 ; 1490 ff. aus Lindlar
S. 276, Nr. I verzeichnet sind. Hospitalsrechnungen aus Mttnstereifel 1456 ff. siehe
S. 192, Nr. 12; Bruderschaftsrechnnngen XVI. Jahrhunderts (1504, 1536, 1578) ebenda.
S. 192, Nr. 13; S. 86, Nr. i; S. 198, Nr. 5. — In Tirol sind wesentlich ältere Kirch-
rechnungen vorhanden, so in Hötting 1366 ff., Göflan 1435 ff., Schlanders 1476 ff., KU
drans 1482 ff., vgl. Archivberichte aus Tirols 2. Bd., S. 235. 34. 48 und 225. — Eine
ganze Sammlung von Rechnungen, worunter sich auch solche der Bürgermebter befinden^
ist als Band l der „QueUen zur Geschichte Siebenbürgens ans sächsischen Archiven'* 1881
veröffentlicht worden mit dem Titel Rechnungen aus den Archiven der Stadt Hermann--
Stadt und der sächsischen Nation J380 — 1516, Vgl. die Anzeige in „Mitteilungen des.
Instituts fUr österreichische Geschichtsforschung'*, 2. Bd. (1881), S. 650 — 53.
— 67 —
und direkt unrichtige Angaben der übrigen Quellen als solche zu
erweisen ').
Was die Stadtrechnungen betrifft, so ist von vornherein klar, dafe
Einträgen in derartigen Büchern eine Zuverlässigkeit innewohnt wie
wenigen anderen Aufzeichnungen, wenn man nicht gerade der Mög-
lichkeit einer bewuisten Fälschung ein übergrofses Gewicht beilegen
will. Diesen Erwägungen hat sich die Forschung nie verschlossen
und deshalb die sonstige Überlieferung gern und mit gutem Erfolg
durch die Angaben der Rechnungsbücher ergänzt: es seien hier nur
Gemeiners R^ensburgische Chronik *) und Kriegks Frankfurter Bürger-
zwiste *) als solche Werke genannt. So wichtige Nachrichten aber auch
im einzelnen aus den Rechnungen gewonnen werden mögen, an eine
Ausbeutung des überreich darin dargebotenen StofTes ist doch nur
bei einer systematischen und womöglich statistischen Durcharbeitung
zu denken; auf diesem Wege wird es dann möglich vor allem
vom Finanzwesen einer mittelalterlichen Stadt in allen seinen Zweigen,
dann aber auch von allen möglichen anderen Zuständen ein der Wahr-
heit sich näherndes Gesamtbild zu gewinnen, und gerade daran muiste
der Forschung in den letzten Jahrzehnten unendlich viel gelegen sein,
^ne solche intensive Bearbeitung ist zwar auf Grund der Original-
rechnungen in einer Darstellung wohl möglich, aber die grofseMühe,
welche einmal darauf verwendet werden muis, würde teilweise veig'eudet
sein, wenn der Bearbeiter nicht zugleich einen modernen Editionsgrund-
sätzen entsprechenden Abdruck wenigstens der ältesten vollständigen
Rechnungen besorgen wollte. Denn es ist nicht zu vergessen, dafs
gerade in den Rechnungen für so aufserordentlich verschiedene Gebiete
neuer Quellenstofi' erschlossen wird, dais eine allseitig genügende Be-
arbeitung durch eine einzelne Person fast ausgeschlossen erscheint.
Andrerseits ist klar, dafe die Veröffentlichung vollständiger Jahres-
rechnungen stets von einem erläuternden Texte begleitet sein mufe, welche
über die rein örtlichen Zustände, namentlich über die vorkommenden
1) Am meisten aasgebildet auf Girmd Terscbiedenartigsten Materials ist die Beröl-
kenmgs- and Sozialstaüstik, Tgl. z. B. A. Doren, Nettere Arbeiten nur BevSlkerungS'
und Sonalstatisiik des XV, und XVI. Jahrhunderts in der Deutschen Zeitschrift ftlr
Getdiicbtswissenschaft, Neae Folge. L Jahrgang (i 896/1897) Monatsblfitter, S. 97—112.
2) Carl Theodor Gemeiner, Reichsstadt Regensburgische Chronik, Regens-
bvg'PiSoo. Vom zweiten Bande an lautet der Titel Der Regensburgischen Chronik
rweiterZu. jTw. Band. Der dritte (1820) and vierte Band (1824) haben noch den be-^
sonderen Titel Stadt Regensburgische /ahrbOcher.
3) Georg Ludwig Kriegk, Frankfurter Bürgertwiste und Zustäf
MäUlaiter, i86a.
I
i
— 68 —
Münzen, Mafse und Gewichte sowie über die Hauptpunkte der Ver-
fassung so unterrichtet, dafs jeder Benutzer den Wortlaut der Ver-
öffentlichung vollständig zu verstehen vermag.
Dieser Einsicht hat man sich nie ganz verschlossen, aber die
Wege, auf denen man der gestellten Anforderung gerecht zu werden
versuchte, sind verschieden gewesen. Die älteste der mir bekannt
gewordenen Veröffentlichungen deutscher *) Stadtrechnungen ist die
des Henriciis Pauper genannten lateinisch geschriebenen Breslaner
Rechnungbuches (1299 bis 1358), welche Grünhagen besoi^ hat*).
Der Herausgeber hat den Text mustergültig gestaltet, zahlreiche er-
klärende Anmerkungen sowie ein gutes Personen-, Orts- und Sach-
register, aber leider keine systematische Darstellung des Finanzwesens
beigegeben. Im Sachregister sind auch nur im Texte vorkommende
Worte als Stichworte verwendet, während moderne Sammelbegriffe
wie etwa Accise oder Kriegswesen fehlen. Der Text giebt übrigens
keine ausfuhrlichen Rechnungen, sondern vielmehr Übersichten über
die Stadtfinanzen ohne viel Details : wir haben es hier wohl überhaupt
nicht mit den Rechnungen selbst zu thun, sondern mit einer sach-
gemäfsen zeitgenössischen Bearbeitung '), die für uns um so wertvoller
ist, weil sie zeigt, dafs ein tüchtiger Finanzbeamter des beginnenden
XIV. Jahrhunderts bereits im stände war, das ganze Rechnungswesen
zu bemeistem und wenigstens in seinem Kopfe die Grundlage für
einen auf Erfahrung gegründeten Haushaltplan, den das Mittelalter
sonst nicht kennt, zu gewinnen. — Eine recht ausführliche Einleitung,
die erste ihrer Art, die über die verschiedensten Dinge handelt —
u. a. über Geldwert, Weinkultur, Tagelohn und Preise der Lebens-
mittel, Armenpflege, Besoldimgen, Faustkämpfe, Kirchenfeste, Ge-
schenke, Flagellanten, Pest, Juden, Krönung König Wenzels, Land-
friedensbund von 135 1, Pulvergeschosse — , dabei aber auch eine
Übersicht über die städtischen Einnahmen, nach Materien geordnet,
giebt, besitzen wir für Aachen in den von J. Laurent herausgegebenen
i) Die aoiserordentlich wichtigen VeröffenÜichangen aas niederlfindischen und belgi-
schen Städten soUen hier nicht mit behandelt werden, es sei nor knrs aof die wichtigsten
dieser edierten Rechnungen hingewiesen, die Ton Dordrecht, bearb. von Dozj; Kampeo,
bearb. ron Uitterdijk 1875; G^nt, bearb. ron Vnylsteke; Deventer, bearb. von van Door-
ninck; Groningen, bearb. von Blök 1896; Rotterdam, bearb. von Unger imdBezemer 1899.
3) Codex diplomaücns SUesiae, 3. Band (1860).
3) Etwas Ähnliches mögen die Dresdener „Wachstafelrechnongen^* sein, die für
»437 «ind 1456 erhalten sind mid nach O. Richter, Verfassungsgeschichte der Stadt
Dresden (1885), S. 155 die Hauptergebnisse der Jahresrechnnng darbieten.
Aachener Stadtrechnungeft aus dem XIV. Jahrhundert nach den
Stadtarchiv-Urhunden mit Einleitung, Register und Glossar (Aachen
iS66). EsistnureinkleinesBäiidchen, welches neben denEinaatiinenuDd
Au^aben auch einige Urkunden und Briefe mitteilt und dadurch alle
Zweige städtischen Lebens in einer wichtigen Reichsstadt beleuchtet.
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde hat längere Zeit die
Vervollständigung von Laurents Edition namentlich durch die Rech-
umgen des XV. Jahrhunderts geplant, doch bisher noch nicht wesent-
lich gefördert: hoffentlich wird auch dieser Plan in absehbarer Zeit
einmal ausgeführt.
Die umfangreichste von allen bisherigen Stadtrechnungs-Publi-
kationen ist die der Stadt Hainl>nrg, die in sieben Bänden (18Ö9 bis
1894). von Koppmann bearbeitet, vorlief] und die Stadtfinanzen in
ihrer Entwicklui^ von 1350 bis 1562 behandelt. Welche Fülle von
Material darin geboten wird, lälät schon der Umfang ahnen, und ihr
ei&igstes Studium kann dem Kulturhistoriker nicht genug empfohlen
werden. Bereits dem ersten Bande (1S69) hatte der Herausgeber eine
umfassende Einleitui^ beig^eben, welche die stadtische Finanzwirt-.
Schaft charakterisiert, aber auch Abschnitte über Stadtverfassung,
Wesen des Kämmereramtes, Zünfte (hier Amter genaimt), Biirgeigeld
und Steuern, Vogtei und Münze enthält. Das beim Fortschritt der
Arbeit neu angehäufte Material liegt im dritten Bande (1878} ver-
arbeitet vor: von besonderer Bedeutung ist hier die Gesamtübersicbt
über Einnahmen und Au^aben fürs XV. Jahrhundert, die fiir das
vorbeigehende nicht beizubringen war. Der siebente (SchlufB-)Band
(1894.) enthält abermals eine umfangreiche Verarbeitung des Stoffes
(278 Seiten) und zwar aus dem XVI. Jahrhundert, und es finden sich
darin Dinge, die der Forscher schwerlich gerade hier suchen wird,
z. B. ein Überblick über die Kosten , welche der Stadt durch ihre
Teilnahme am Schmalkaldiscben Bunde erwachsen sind *).
Der Herausgeber der Hildeslielmer Rechnuncren ■), Doebner, hat
leider nicht in dieser trefflichen Arbeit Koppmanns sein Vorbild ge-
sehen und nur dem zweiten Bande eine knappe Übersicht von 54 Seiten
vorangestellt, die natuigemäfs grölscre Zusammenstellungen des im
■ ) Kämmereirtchnunge« der Sladt Hamburg, hiratugtgtbt.
Hamburgäche Gttckühle.
a) S. CCLXXIL
3) ÜrktttuUnbtuk der Sladt Hildakäm. Im Außragt des M
keim kertaagtgtbtH von Dr. Richard Doebner. 5. Teil: Stadirechi
(1893); 6. Teil: 1416—1450 (1896).
— 70 —
Text gebotenen Zahlenmaterials oder vergleichbare Budgets für mehrere
Jahre, wie sie unerläßlich sind, nicht bieten kann. Dafe der Heraus-
geber eine solche Bearbeitung unterlassen hat, ist sehr zu bedauern,
denn auch der fleüsigste Benutzer kann schwerlich so tief in den
Stoff eindringen wie der Herausgeber, dem jeder Eintrag mehrmals
zu Gesicht kommt und dem noch eine Fülle ergänzendes Material
zur Verfügung steht. Das Register, welches allerdings recht erheb-
lichen Umfang hat, kann eine Darstellung nicht ersetzen, da unter
manchem Stichwort dreiisig und mehr Stellen aufzusuchen sind, die
sich bei der Druckart auf der entsprechenden Seite durchaus nicht
mit besonderer Leichtigkeit finden lassen. Die Rechnungen werden
überdies nur bis 1450 geboten, sind aber im letzten Vierteljahrhundert
schon gekürzt, um den Band nicht allzu sehr anschwellen zu lassen.
Mir kann dies nicht als das richtige Verfahren erscheinen, wenn schon
vielleicht aus sonstigen Gründen von einer vollständigen Veröfientlichung-
abgesehen werden muiste. Dann mag man in der Hauptsache von der
Zeit an, wo sich ein ganz bestimmtes Rechnimgsschema entwickelt
hat, in gröfeerer oder geringerer Ausführlichkeit die Abschlu&summen
in tabellarischer Übersicht, etwa auch einzelne Kapitel, wie Kriegs-
wesen, in moderner und damit kürzerer Umschreibung vollständig
imd höchstens aller zehn Jahre eine vollständige Rechnung drucken.
Wichtig ist aber vor allem eine Fortführung bis ins XVI. Jahrhundert und
am liebsten darüber hinaus, denn gerade die Periode des Niederganges
im Städteleben Deutschlands ist noch recht wenig durchforscht. Jeden-
falls Gesichtspunkte wie der, dafs das Urkundenbuch, deren TeUe die
Stadtrechnungen bUden, nur bis 1450 geführt wird, dürfen niemalt
für derartige wichtige wirtschaftsgeschichtliche Publikationen mab-
gebend werden.
Kurze Zeit, nachdem Koppmanns und Doebners Arbeiten zum
Abschluls gelangten, hat eine der wichtigsten deutschen Städte, K5111,
eine Publikation ihrer ältesten Stadtrechnungen in zwei stattlichen
Quartbänden, bearbeitet von Richard Knipping*), gesehen. Ein-
mütig hat bei dieser Veröffentlichung die Kritik die Mustergültigkeit
und den Fortschritt der Edition gegenüber den älteren Werken an-
erkannt. Die Darstellung der Finanzverwaltung in übersichtlicher.
i) Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters mit einer Darstellung der
Finanverwaltung [XV. Publikation der Gesellschaft fUr rheinische GetchichUkande],
I. Band (1897): Die Einnahmen und die Entwicklung der Staatsschuld. 2. Band (1898):
Die Ausgaben.
— 71 —
aber Ittterarischer Form *) , die Trennung von Einnahmen und Aus-
l^^aben, das ausführliche Register, in solches für Orte und Personen
und solches für Sachen gegliedert, der technisch vollendete Druck,
das Herausrücken der Einnahme- und Ausgabebeträge, die sämtlich
in eine Währung umgerechnet sind, erleichtem die Benutzung so und
geben dem Forscher so reichen und raschen Aufschlufs, dafe diese
Edition in jeder Hinsicht geeignet erscheint, künftigen ähnlichen Ar-
beiten zum VorbUd zu dienen. Aber auch für Köln wäre es wün-
schenswert, dafe aus dem XV., XVI. und XVII. Jahrhundert ebenfalls
(ur ein Jahrzehnt, oder wenigstens für drei aufeinander folgende Jahre
eine Veröffentlichung ähnlicher Art, wenn auch nur in tabellarischen
Übersichten bestehend, geboten würde, denn nur so wäre ein Über-
blick über die städtische Wirtschaft durch Jahrhunderte hindurch zu
gewinnen.
Neben den monumentalen Werken, wie sie für Hamburg und
Köln vorliegen und natui^emäfe nur in grofeen und reichen Gemein-
wesen möglich sind, giebt es noch eine ganze Reihe kleinere aber
trotzdem nicht weniger beachtenswerte Stadtrechnungspublikationen
von verschiedenem Umfang und verschiedener Behandlungsart, denn
merkwürdigerweise ist jeder Herausgeber seine eigenen Wege gegangen,
und keiner hat sich, wie es so nahe gelegen hätte, ältere Arbeiten
zum anfeuernden oder warnenden Beispiele genommen. Unter diesen
kleineren Veröffentlichungen ist an erster Stelle die Stüves aus Osna-
brBek *) zu nennen , welche , so weit ich sehe , überhaupt die älteste
unter den bisher in Deutschland bekannten Stadtrechnungen darbietet,
nämlich die von 1285. Die knappe Fassung und die noch wenig ent-
wickelte Gliedenmg der Positionen sind recht lehrreich für die Ge-
schichte des Rechnungswesens überhaupt, denn hier sehen wir an
einem konkreten Beispiel, welche Fülle von Geschäftserfahrung in einer
dem modernen Denken ganz selbstverständlichen Rechnungseinrichtung
niedergelegt ist, wie sie etwa die älteste der in Köln erhaltenen Rehnungen
(1370) zeigt, welche sicherlich eine gröfsere Reihe Vorläuferinnen besessen
i) Bereits 1895 ^*^^^ der Heraasgeber einen Aufsatz Ein mittelalterlicher Jahrei-
Maushait der Stadt KSln (1379) veröffentlicht and dadarch seine Darstellung nach dieser
Seite hin entlastet Vgl. „Beiträge zor Geschichte Toraehmlich Kölns and der Rhein-
lande. Zam 80. Geburtstag Gustav v. Mevissens dargebracht von dem Archiv der Stadt
Köln«'. (Köln, Da Mont-Schanberg 1895.)
a) Dr. C Stttve, Stadtrechnungen von Osnabrück aus dem 13, und 14, Jahr-
hundert in „ MitteHnngen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück *%
14. Bd. (1889), S. 9^ — 135 und 1$. Bd. (1890), S. 75—164.
— 72 —
hat. Eine eingehende Veigieichung mit den Breslauer Rechnungen und
späteren Rechnungszusammenfiassungen würde gewifs lehrreiche Etgeb*
nisse bieten, wie unter dem Gesichtspunkte der Vei^leichung auch
die jüngeren Osnabrücker Rechnimgen von 1358 und 1383 erhöhte
Bedeutung gewinnen, denn hier ist deutlich erkennbar, wie sich
innerhalb des für die städtische Entwicklung so bedeutenden Jahr-
hunderts das städtische Finanzwesen und die Rechnungstechnik aus*
gestaltet haben. Letztere ist bisher ganz unberücksichtigt geblieben^
etsteres immer nur für einen Ort ') höchstens mit gelegentlichen Seiten-
blicken auf andere behandelt worden; in jeder der vielen Stadt-
geschichten *) nimmt es einen mehr oder weniger breiten Raum ein^
aber es fehlt noch an einer gröfseren Zusammenfassung dessen, was
in den Einzeluntersuchungen notwendigerweise mit lokalem Kolorit aus-
gestattet niedergelegt ist, sowie an der Feststellung, was davon als
typisch bezeichnet werden muis. Wenn man eine gröfsere Reihe von
Städten überblickt und in jedem Falle feststellt, aus welchem Jahre
die älteste jetzt noch vorhandene Stadtrechnung stammt'), so drängt
i) Ohne etwms Vollständiges bieten so wollen, seien hier genannt: für Nttrn*
berg — Hegel, Chroniken der deutschen Städte, i. Bd., S. 363—296, Beilage XII:
Nürnbergs StadthaushaU und Ftnanzverwaltung ; für Mainz — Hegel, ebenda
Bd. XVin, 2, S. 91 — 115, Beilage Xffl: Der StadthaushaU und die Finansverwaltung ;
ür Aagsbarg — Frcnsdorff, ebenda IV. Bd., S. 157 — 165: Das Ungeld in Augs-
burgs sowie R. Hoffmann, Die Augsburger Baumeisterrechnungen 1320 — 1331 in
der „Zeitschrift des historischen Vereins fUr Schwaben and Neubnrg''. 5. Jahrg. (1878)»
S. I — 220; für Brannschweig — H. Mack, Die Finanwerwaltung B^ bis 1374
(G i e r k e , Untersuchungen , Nr. 32,1 889) , sowie A. v. Kostanecki, Der öffentliche
Kredit im Mittelalter (Schmoll er, Forschungen, IX, i, 1889), S. 44—55 ; für Basel —
Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt B, im 14, und 1$. Jahrhundert, S. 79ff. ;
fttrDresden — Richter, Verfassungsgeschichte der Stadt D,, S. I52ff. ; für Wesel —
Reinhold, Verfassungsgeschichte der Stadt W. (Gierke, Untersuchungen 1888), S. 29.
2) So behandelt Gemlin, Geschichte der Reichsstadt I^all und ihres Gebietes
(Schw. Hall 1897), S. 617 ff. wenigstens die direkte Steuer ausführlich. Ähnlich ist es
bei V. Gramich, Verfassung und Verwaltung der Stadt Würzburg vom /j. bis
J 5. Jahrhundert in „Festgabe zur dritten Säkularfeier der Julius -Maximilians -Universität
in Würeburg" (W. 1882).
3) Um ein vorläufiges Bild davon zu geben, seien hier von den Städten, über die
mir gerade die Angaben mrHand sind, die entsprechenden Jahre genannt: Dordrechtia84;
Osnabrück 1285; Breslau 1299; Aachen 1328 ß); Regensbuig 1338 (Gemeiner II, S. 14);
Wesel 1342 (Reinhold, S. loi); Frankfurt a. M. 1348 (Kriegk, S. 213); Hamburg ijSo;
Duisburg etwa 1360 (Annalen d. hist Vereins f. d. Niederrhein, 59. Heft, S. 171);
Brannschweig 1354, ein Weichbild (Mack, S. 13); Basel 1361 (Schönberg, S. 79);
Köln X370; Nürnberg 1377 (älteste bei Hegel erwähnte); Hildesheim 1379; Dresden Ende
IV. Jahrh. (Richter, S. 155); Mainz 1410 (Hegel, S. 91); Goch 1428 (Annalen d. hist.
— 75 —
sich vohl jedem vad auch demjenigen, der sich die Vertuste von
Aichhralien eriiebüch grofiser voistelit, als sie in der That geweaen
sein mögen, die Uberzeiignng auf, da£s erst seit der Mitte des XIV. Jahr-
hunderts sdbst in bedentenderen Städten von einem geordneten Rech-
nongswescn die Rede sein kann. In wie weit dies eine natürliche
Folge der VerCissimgsentwickiang *) sein mag, ist hier nicht zu untere
suchen, aber das eine steht ohne weiteres fest, dals ein derartig-
schwieriges Geschäft wie die dauernde Rechnungsluhrung nur einiger^
mafeen r^reimafiag und ordentlich besorgt werden konnte, wenn einem
Beamten die Rechnungsführung zum wenigsten im Hauptamt, besser
noch als alleiniges Amt auf die Dauer und nicht nur für ein Jahr über-
tr^en war. Der Name des Beamten ist bisweilen Baumeister, Rentmeister
oder Rechenmeister — so in Frankfurt a. M. — , häufiger aber Kämmerer,
wie schon der Titel der Hamburger Rechnungen ericennen läfst In
Dresden ist das Amt eines Kämmerers erst 1409 bezeugt ^), wenn es wohl
anch schon einige Jahre früher vorhanden war, aber in Kassel ist thatsäch-
lieh erst 1468 eine Kämmerei als oberste Finanzbehörde eingerichtet
worden, denn die erste der von Stölzel herausgegebenen Kasseler
Stadtrechnungen ') ist als „erste Kämmereirechnung** bezeichnet. Unter
Berücksichtigung dieser bestimmten Angaben werden in vielen der
genannten Städte die erhaltenen Rechnungen als die ersten regulär
und sorgfaltig geführten betrachtet werden dürfen, wenn sie natürlich
auch weniger gut au^earbeitete und mehr für den Tag geschriebene
Vorläuferinnen gehabt haben werden.
Vereins f. d. Niederrhein, 64. Heft, S. 93); Bamberg 1437 (Köberlin, Fränkische Mttnt-
Terhältnisse , S. 34. Eine RechnuDg von 1435 [soll verschollen sein, ebenda S. 47);
Kempen 1446 (Annalen d. hist. Vereins f. d. Niederrhein, 64. Heft, S. 80); Siegburg 145t
(Tille, Arcbirübersicht, S. 329, Nr. 6); Lins a. Rh. 1461 (Annalen 59, S. 258); Rees 14S4
(Annalen 64, S. 206); Kalbe 1465 ; Kassel 1468; Bingen 1483 (Zeitschr. f. Knltar-
geschicbte, 1897, S. 452}; Neols 1493 (Annalen 64, S. 244); Andernach 1496 (Annale»
59, S. 168); Kaikar i5o4 (Annalen 64, S. 148); St. Goar 1S39 (Tille, ArchivUbersicht»
S. 43, Nr. 4); DOren 1544 (Annalen 64, S. 349); Münstereifel 1550 (Tille, Archivttber-
siebt, S. 191, Nr. 3).
i) In Strafsborg herrschte noch grofse Unordnung in der Rechnangslegong uns
1400, erst nach der Reformation von 1405 wnrde es besser, als die Dreier vom Pfennig*
ihurm als Finanzbebörde auftreten. Vgl. Schmoller, Strassburg »ur Zeit der Zun/t»
kämpfe und die Reform seiner Verfassung und Vervfaltung im XV, Jahrhundert
(1875), S. 47 ttnd 59.
2) O. Richter, Verfassungsgeschichte der Stadt Dresden (1885), S. 122.
3) StöUel, Casseler Stadtrechnungen aus der Zeit von 1468 bis tsS3 i» «i***
„Zeitschrift des Vereins ftir hessische Geschichte und Landeskunde'*, Nene Folge. Dritte»
Supplement, Kassel 187 1.
— 74 —
Den Kasseler Rechnungen hat der Herausgeber eine kurze, aber
inhaltsreiche Einleitung und ein bei einer so kleinen Veröffentlichung
doppelt willkommenes, ausführliches Sachregister beigegeben, während
Stüve den Osnabrücker Rechnungen eine ganz vortreffliche wirtschafts-
geschichtliche Studie beifügt, die für alle Fälle, wo es sich nicht um
massenhafte, sondern einzelne Rechnungen handelt, als mustergültig
empfohlen werden kann. In Kalbe a. 8. hat die älteste Rechnung
fast dasselbe Alter wie in Kassel (1465), und das Gesamtbudget dieser
Stadt lernen wir aus einer recht belehrenden Übersicht für das Jahr
1478 kennen '), welcher der Bearbeiter — der Überlieferung folgend —
recht zweckentsprechend die wichtigeren Ausgabeposten für die Jahre
1480 und 1488 gegenüberstellt.
Überall, bei den gröfeeren wie bei den kleineren Veröffentlichungen,
haben sich die Herausgeber bedauerlicherweise auf die älteren Rech-
nungen beschränkt, ohne auch nur flüchtig die jüngeren zu charak-
terisieren oder eine davon zur Vei^leichung heranzuziehen. Um so
wichtiger erscheint daher eine Arbeit von Georg Conrad, welche
den ersten (1724) Kämmerei- und Salarienetat der Stadt Königsberg ')
behandelt. Es wird darin die Reorganisation der städtischen Finanzen,
die auf die unmittelbare Anregung Königs Friedrich Wilhelm I. zurück-
geführt wird, geschildert und so ein Beispiel für einen wirklichen Vor-
anschlag gegeben, während wir auf Grund der erhaltenen Rechnungen
aur nachträglich für bestimmte Zeiten einen solchen zu bearbeiten in
der Lage sind. Nur als auf ein abschreckendes Beispiel einer Ver-
öffentlichung aus den wichtigen Jahren des Dreifsigjährigen Krieges
sei hier auf die Auszüge aus dem Stadtrechenbuche von M,- Glad-
bach^) von Noever hingewiesen, in denen aus den Jahren 161 7 bis
1645 einige Kuriosa mitgeteilt werden. Die einzig richtige Art der
Veröffentlichung wäre in diesem Falle eine auch noch so kurze sta-
tistische Bearbeitung gewesen, die Einnahmen und Ausgaben, wena
i) G. Hertel, Einnahmen und Ausgaben der Stadt Kalbe a. S, 1478 in „Ge-
schichtsblätter fUr Stadt und Land Magdeburg", 17. Jahrgang (1882), S. 128^149.
2) In der „ Altpreofsischen Monatsschrift'*, 25. Bd. (der „ Prenfsischen Provinzial-
blätter'S 91. Bd.), 1888, S. 62—108. Ein anderer Aufisatz Conrads Die Rats- und Ge-
richtsverfassung von Königsberg um das Jahr 1722 ergänzt die erste Arbeit und bietet
teilweise eine Bearbeitung des Etats. Dieselbe Zeitschrift, 24. Bd. (1887), b^^* S* 3i~~3^*
3) „Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein", 9./ 10. Hefl (1861),
S. 127 — 134. Gegen die Editionsmethode, einzelne Items als Kuriosa herauszuheben und
■icht das Ganze zu bearbeiten, wendet sich mit Recht die scharfe Kritik, die Koppmana
schon 1875 ^^ ^^^ Ausgabe der Kampener Rentmeisterrechnnngen von Uitterdijk übte.
VgL „Hansische Geschichtsblätter", Jahrgang 1875, S. 252.
- 76 —
auch nur je in zehn Kapitel gegliedert, und dann die Gesamtsummen
hätte erkennen lassen. Ein Jahr hätte man vielleicht auch ausfuhr-
lich behandeln und im übrigen durch Heraushebung einzelner Items
dem Lokalinteresse entsprechen können. So wie sie vorliegt ist die
Veröffentlichung wissenschaftlich wertlos, zumal nicht einmal fest-
zustellen ist, wo sich heute das Stadtrechenbuch j aus dem geschöpft •
wurde, befindet — im Stadtarchiv zu M.-Gladbach jedenfalls nicht. *)
Gerade aus den bewegten 2^iten des XVII. Jahrhunderts würden
derartige zusammenfassende Bearbeitungen von Rechnungen ^) von
hohem Werte sein, zumal wenn einem als normal zu betrachtendem
Wirtschaftsjahre ein solches, wo die Kriegsfurie in der betreffenden
Gegend besonders gewütet hat, gegenüber gestelll werden kann.
Zu thun ist in Bezug auf die Bearbeitung von Stadtrechnungen
noch unendlich viel , denn noch längst nicht für jeden Städtetypus
und für jede Landschaft liegt eine Publikation vor, wenn mir vielleicht
auch manches in Zeitschriften Vergrabene entgangen sein mag, ja es
besteht die Möglichkeit, dafs sich in den Archiven noch ältere als die
Osnabrücker Rechnungen finden. An jedem Orte sollte deshalb dieses
Rechnungsmaterial einer Prüfung unterzc^en und der archivalische Be-
fund auch in Fällen, wo an eine Veröffentlichung vorläufig noch nicht
zu denken ist, in den Vereinszeitschriften kurz mitgeteUt werden und
zwar bis heran an die Zeit, wo eine strengere staatliche Kontrolle der
Stadtfinanzen eintritt und das Budget an Wichtigkeit die Rechnung
übertrifft. Überall da, wo eine Publikation auch von nur bescheidenem
Umfange bewerkstelligt werden kann , sollte sie bald in Angriff ge-
nommen werden: begleitender Text, der über die Verfassung der
Stadt wie über die der Finanzen im besonderen, über das Münzwesen, das
oft wechselnde Rechnungsjahr ') und einzelne sonst besonders wichtige
Materien Auskunft giebt, darf natürlich nie fehlen, im übrigen aber wird
wenigstens eine oder die andere der hier genannten Veröffentlichungen
für jeden Fall, der in Frage kommt, ein brauchbares Muster abgeben.
1) Vgl. Armin Tille, Übersicht über den Inhalt der klettteren Archive der
Rheinpruvinz^ l. Bd. (1899), S. 45.
2) Es sei hier noch auf ein Bmchsttick der Rechnungen ans dem Dorfe Königs-
Winter von 1645 hingewiesen, a. a. O. S. 171, Nr. 38.
3) Der (Ur die Chronologie im allgemeinen recht wichtige Anfang der Geschäfts-
jahre, dem zufolge oft ein Jahr viel länger ist als das andere, ist bisher recht wenig be-
achtet worden. In Aachen u B. worden die Bürgermeister am 25. Mai vereidigt, mit
dem 36. Mai b^[ann das nene Rechnungsjahr, welches in 13 Monate zu je 4 Wochen
eingeteilt wurde, so dafs es in den Rechnungen z. B. heilst: ditz dat uissgeven des ydu
mointz.
— Te-
uer Heiohskrieg gegen die Türken im Jahre
1664
Von
Hermann Forst (Coblenz)
Bevor Ludwig XIV. seine Raubkriege begann, galten die Türken
als der gefährlichste Feind des deutschen Reiches. Im Jahre 1529
war ihr Heer zum erstenmale vor den Mauern von Wien erschienen;
seitdem erkannte man in Deutschland es für notwendig, das Haus
Habsburg-Osterreich in seinem Kampfe um den Besitz von Ungarn zu
unterstützen und damit eine Schutzwehr für die südöstliche Reichsgrenze
zu schaffen. Doch muiste man nach langem Ringen den Türken die
ungarische Tiefebene überlassen; die Hauptstadt Ofen selbst wurde
der Sitz eines Paschas ; nur Ober-Ungarn und ein schmaler Landstrich
im Westen sowie Kroatien verblieben dem Kaiser. Dieses Verhältnis
wurde durch den im Jahre 1606 geschlossenen Frieden rechtlich fest-
gestellt und blieb im wesentlichen unverändert bis über die Mitte des
Jahrhimderts hinaus. Da versuchte im Jahre 1660 der Fürst von Sieben-
bürgen sich der türkischen Oberherrschaft zu entziehen; er unterlag
im Kampfe, und seine Anhänger suchten Hülfe bei Kaiser Leopold I.
Dieser sandte in der That ein Heer nach Siebenbürgen ; es war nicht
stark genug, um die Türken zu vertreiben; aber die Pforte erblickte
darin einen Friedensbruch und erklärte ihrerseits dem Kaiser den Krieg.
Leopold sah sich nun genötigt, das Reich um Unterstützung anzugehen
und zu diesem Zwecke den Reichstag nach Regensburg zu berufen.
Über den Verlauf des so ausgebrochenen Krieges können wir zur
Orientierung zunächst auf den diese Dinge behandelnden Abschnitt
bei Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen
Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs d, Gr., Bd. I (Berlin,
1892), S. 354 — 372, verweisen. Die zwischen dem Kaiser und der
Pforte vom Jahre 1653 bis 1664 geführten Verhandlungen sind neuer-
dings von Huber im 85. Bande des Archivs für österreichische
Geschichte genauer dargelegt worden *). Die einschlägigen älteren
Werke über die Geschichte Österreichs, Ungarns und der Türkei in
jenem Zeitraum zählt W. Nottebohm in seiner Abhandlung : Monte*
cuccoli und die Legende von St. Gotthard {Berlin, 1887, wissen-
schaftliche Beilage zum Programm des Friedrichs-Werderschen Gym-
1) Notiz in Sybcls „Historischer ZciUchrift", Bd. LXXXll, S. 371.
— 77 —
nasiums), S. 4, auf. Während wir aber über den Gang der Ereigfnisse
im allgemeinen sowie über die österreichische Politik im besonderen
gnt unterrichtet sind, erheben sich für den Forscher eine Reihe noch
nicht genügend beantworteter Fragen in Bezug auf die Teilnahme des
Reichs an dem Kriege. Wir wissen, dafs der Reichstag die Leistung
der Hülfe von der Bewilligung gewisser Forderungen abhängig machte,
da(s er nicht nur eine dauernde Ordnung des Reichskriegswesens,
sondern auch eine alle künftigen Kaiser bindende Wahlkapitulation,
also eine Verfassungsurkunde, schaffen wollte, dafe endlich eine Menge
einzelner Streitigkeiten zu schlichten waren. Sehr gegen den Willen
des Kaisers wurden diese Fragen mit derjenigen der „Türkenhülfe" in
Verbindung gesetzt; das Jahr 1663 verlief unter wenig ergiebigen Ver-
handlungen. Die Beschlüsse des Reichstags und die Erklärungen der
kaiserlichen Vertreter liegen in den älteren Sammelwerken, vor allem
in Londorps Acta publica, im Theatrum Europaeum und in der
bei Koch in Frankfurt a. M. 1 747 erschienenen Neuen und vollstän-
digen Sammlung der Reichsabschiede vor; dagegen fehlt es noch
an Material zu einer genügenden Kenntnis der unter den Reichsständen
selbst gepflogenen Beratungen und der Stellung, welche die einzelnen
gröfeeren und kleineren Staatswesen zu den schwebenden Fragen ein-
nahmen. Eingehende Arbeiten besitzen wir über die Politik Kiu--
Brandenburgs in dem bekannten Werke von J. G. Droysen sowie
in den Urkunden und Aktenstücken zur Geschichte des Grofsen
Kurfürsten, ferner über die Politik der weifischen Fürsten in
K. Köchers Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648
bis 17 14, Bd. I (Publikationen aus den Preufsischen Staatsarchiven,
Bd. XX, Leipzig 1884), endlich über diejenige von Kur-Mainz indem
Buche von G. Mentz, Johann Philipp von Schönborn, Kurfürst
von Mainz, 2 Bände, Jena 1896 — 98. Eine dankenswerte Aufgabe
dürfte es sein, in gleicher Weise die Politik der andern Kurfürsten und
bedeutenderen Fürsten zu untersuchen. Kur-Köln und Kur-Trier ge-
hörten allerdings zu dem unter dem Namen der „Rheinischen Allianz**
bekannten Sonderbunde, der unter der Leitung des Kurfürsten von
Mainz stand ; es finden sich aber Andeutungen, dafs sie daneben eigene
Zwecke verfolgten und selbständig mit dem Kaiser unterhandelten.
Noch weniger wissen wir über die Politik der Reichsstädte und die
Art, wie die bei Londorp mitgeteflten Beschlüsse des städtischen
Kollegiums zu stände kamen.
Während der Reichstag noch über Vorfragen beriet, drang im
Sommer 1663 ein türkisches Heer, von dem Grofevezir gefuhrt, in
— 78 —
Ungarn ein und eroberte nach langer Belagerung die Festung Neu-
häusel. Die kaiserlichen Truppen waren zu schwach, um dem Feinde
im offenen Felde entgegenzutreten; sie mufsten sich begnügen, Prefe-
burg zu decken. Tataren, die sich beim türkischen Heere befanden,
durchstreiften Ober- Ungarn plündernd und brennend und fielen in
Mähren ein. Die Kunde davon rief in manchen Gegenden Deutsch-
lands einen panischen Schrecken hervor. So verbreitete sich im Sep-
tember in Schwaben und der Pfalz das Gerücht, die Tataren seien
bereits durch Böhmen nach Franken vorgedrungen und bei Nürnberg
erschienen. Die pfalzischen Beamten zu Mosbach boten deswegen
schon die Landmiliz auf (v. Weech, Der Türkenschrecken in der
Pfalz, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins, Bd. XXII, S. 3 80 ff.).
Auch in Niedersachsen herrschte gleiche Furcht (Köcher, a. a. O.,
S. 325). Nun entschlossen sich zunächst die Kurfürsten von Branden-
burg, Sachsen und Bayern, dem Kaiser Hülfstruppen zu senden. Ihrem
Beispiele folgte die rheinische Allianz ; sie stellte ein Korps von 7000
Mann auf, welches im Dezember nach der ungarischen Grenze zog.
Über die Zusammensetzung desselben sind wir ziemlich genau unter-
richtet durch die Liste, welche das Theatrum Europaeum in dem
Berichte über die Schlacht bei St. Gotthard giebt. Danach bestand
das „allüerte" Korps aus Kontingenten der Kurfürsten von Köln, Trier
und Mainz, der Bischöfe von Münster, Strafsbui^ und Basel, der Krone
Schweden (für die Herzogtümer Bremen und Pommern), der Herzöge
von Braunschweig und von Württemberg, der Landgrafen von Hessen
und der Pfalzgrafen von Neuburg (für Jülich-Berg) und Zweibrücken.
Was aber die Leistungen und Schicksale der einzelnen Kontingente
betrifft, so wissen wir Genaueres nur über dicbraunschweig-lüneburg^chen
Truppen (v. d. Decken im Vaterländischen Archiv des Historischen
Vereins für Nieder Sachsen 183g ; v. Sichart, Geschichte der han-
noverschen Armee, Bd. I). Aulserdem hat der Führer des kurköhii*
sehen Regiments, der spätere hannoversche General Andreas Melvill,
Denkwürdigkeiten hinterlassen, in denen er Jauch über diesen Krieg
berichtet {M^moires de M. le Chevalier de Melvill, g^n^al- major
des troupes de S. A. E. monseigneur le duc de Cell, Amsterdam,
1704).
Im Januar 1664 endlich bewilligte^auch der Reichstag dem Kaiser
eine Hülfe von 20000 Mann, die von den Reichskreisen nach der au»
dem XVI. Jahrhundert stammenden Matrikel aufgebracht werden und von»
eigenen, dem Reiche verpflichteten Offizieren gefuhrt werden sollten
In Wirklichkeit ist dieses Heer jedoch nicht vollzählig zusammengetreten
— 79 —
Die Truppen des burgundischen Kreises blieben ganz aus; die des
obersächsischen hätten hauptsächlich von Brandenburg und Sachsen
gestellt werden müssen; die Streitkräfte beider Kurfürsten aber waren
schon längst in Ungarn. In den anderen Kreisen gingen die Rüstungen
nicht gleichmäfsig vorwärts; da nun die Türken im Frühjahre wieder
vordrangen, so mufsten die einzelnen Kreiskontingente, sobald sie for-
miert waren, nach Ungarn gesandt werden. Darum konnte der Reichs-
Feldmarschall, Markgraf Leopold Wilhelm von Baden, nur die Truppen
des bayrischen, schwäbischen, fränkischen, westfälischen und nieder-
sächsischen Kreises unter seinem Befehl vereinigen. Jeder dieser
Kreise, mit Ausnahme des schwäbischen, hatte ein Infanterie- und
ein Kavallerie-Regiment gestellt, der schwäbische dagegen anstatt der
Reiter ein zweites Infanterie-Regiment, welches als das württembergische
bezeichnet wird. Mit diesen Truppen stiefs der Markgraf zu der kaiser-
lichen Hauptarmee, die unter dem Befehl des Grafen Montecuccoli an
der Mur kämpfte; hier befand sich bereits das von Graf Hohenlohe
kommandierte Korps der rheinischen Allianz. Die Brandenburger,
Sachsen und Kurpfalzer aber verstärkten die zweite kaiserliche Armee,
welche unter Führung des Generals de Souches Ober-Ungarn deckte.
Der Ehrentag dieser Truppen wurde der 19. Juli 1664: an diesem
Tage zersprengten sie bei dem Schlosse Lewenz den abgesondert vor-
gehenden rechten Flügel des türkischen Heeres. Inzwischen zog der
Gro&vezir mit seiner Hauptmacht von der Mur nach der Raab und
versuchte am i. August diesen Flu(s beim Kloster St. Gotthard zu
überschreiten. Hier trat ihm Montecuccoli, dessen Streitkräfte noch
durch ein französisches Hilfscorps einen wertvollen Zuwachs erhalten
hatte, entg^en. Die Kreistruppen, die der erste Stofs der Türken
traf, hielten sich schlecht; aber Kaiserliche, AUüerte und Franzosen
griffen rechtzeitig an und trieben den Feind über den Flufs zurück.
Die über diese Schlacht vorhandenen älteren Darstellungen sind
von M. Nottebohm in seiner oben angeführten Schrift einer ein-
schneidenden Kritik unterzogen und durch Heranziehung einer tür-
kischen Quelle ergänzt worden. Gegen Nottebohms Auffassung wandte
sich H. V. Zwiedinek-Südenhorst [Die Schlacht bei St Gott-
hardt, Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung, Bd. X, S. 443 ff.). Beide Forscher haben aber den von
V. Mülverstedt (Die Magdeburger in der Schlacht bei St, Gott-
hard, Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 2. Jahr-
gang 1867, S. 142 ff.) veröffentlichten Originalbericht des magde-
buxgischen Leutnants Joachim Huldreich übersehen. Dieses Schrift-
— 80 —
stück enthält gerade über den ersten Teil der Schlacht wertvolle Nach-
richten. Mülverstedt hat demselben noch eingehende aus den Akten
des Archivs geschöpfte Mitteilungen über das magdeburgische Kon-
tingent hinzugefugt. Leider fehlen uns bis jetzt ähnliche Arbeiten über
die anderen Kreisregimenter, welche an der Schlacht teilgenommen
haben. Hier kann die lokale Geschichtsforschung einsetzen und aus
den Archiven der Territorien, Reichsstädte und Adelsfamilien neue
Aufschlüsse zutage fördern; auch Notizen, die für sich allein unbedeu-
tend scheinen, können doch im Zusammenhange mit anderen dazu
dienen, das GesamtbUd zu berichtigen und zu vertiefen. Eine der-
artige Untersuchung hat Referent selbst über die Reiterei des ober-
rheinischen Kreises angestellt (in den Annalen des Vereins für
Nassauische Alterthumskunde und Geschichtsforschung, Bd. XX,
S. 112 ff., und Bd. XXIX, S. 225 fr.); die Truppen dieses Kreises haben
freilich den Kriegsschauplatz erst nach der Schlacht eireicht. Immer-
hin zeigt jene Arbeit, wie lohnend es ist, nach Korrespondenzen der
Generale und StabsofOziere zu suchen. In der von J. J. v. Rauch bar
verfafsten Biographie des Fürsten Georg Friedrich von Waldeck,
der als Generalleutnant bei der Reichsarmee stand, finden sich zwar
interessante Einzelheiten über den Marsch von der Mur bis nach
St. Gotthard; aber unmittelbar vor der Schlacht bricht die Erzählung
ab {Leben und Thaten des Fürsten Georg von Waldeck, von
J. J. V. Rauch bar, herausgegeben von L. Curtze und A. Hahn,
Arolsen 1867 — 187 1, Bd. I, S. 219 — 229). Eine Ergänzung dieser
Lücke wäre sehr erwünscht.
Die Schlacht bei St. Gotthard bietet endlich auch ein Beispiel
dafür, dafs an historisch bedeutende Ereignisse sich Sagen knüpfen.
Eine solche Sage ist es, dafs die Entscheidung durch einen Reiter-
angriff des Generals Johann Sporck herbeigeführt worden sei {AU-
gemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXV, S. 266). Der whrkliche
Sachverhalt ergiebt sich aus dem kaiserlichen Diplom, durch welches
Sporck für seine Verdienste in den Grafenstand erhoben wurde (bei
Rosenkranz, Graf Johann von Sporck, 2. Aufl., Paderborn 1877,
S. 171). Eine andere Sage, die noch im Jahre 1854 in einem Ge-
dichte von O. F. Gruppe ihren Ausdruck gefunden hat, schreibt
jenes Verdienst den Brandenburgern zu. Und doch haben diese nicht
bei St. Gotthard, sondern bei Lewenz gefochten. Um solche Sagen
endgültig zu beseitigen, wird man sie stets bis zu ihrem Ursprünge
verfolgen müssen.
— bl —
TerBaMMlllllgeB« — Die Tagung des „Gesamtvereins der deut-
sehen Geschichts- und Altertumsvereine'* zu Strafsburg i. E. in
der Zeit vom 25. bis 28. September zeigte wiederum, mit welchem Eifer
überall die landschaftliche Geschichte gepflegt wird. Die Zahl der Tdl-
nehmer bdief sidi auf 216, während 55 Vereine durch Abgeordnete ver-
treten waren« Wer das überreiche Programm sah, dem muiste Ton vornherein
klar werden, dafs an eine Erledigung alles dessen, was versprochen wurde,
nicht zu denken war, und so sind denn einige Punkte, und es möchte von
unserem Standpunkte aus scheinen gerade die wichtigsten, gar nicht zur
Verhandlung gdcommen: das gilt namentlich von dem Referat über die
deutschen Siedelungsfragen (Prof. Heiming), über den Stand der
Forschungen auf dem Gebiete der deutschen Stadtverfassung (Prof.
ßrefslau) und über die Kolonisation des Ostens (Prof. Meitzen). Aber
auch im übrigen ist zu beklagen, dafs einerseits die an sich schon zu zahl-
reichen Vorträge allzu viel Einzelheiten bringen, welche sich nur bei aufinerk-
samem Lesen voQständig geniefsen lassen, während andrerseits eine eingehende
Erörterung der einschlägigen Fragen durch Vertreter aus allen Landesgebieten
aus 'Zeitmangel &st ganz unterbleibt oder nur in gröfster Eile und Kürze
besorgt wird. Dem sollte in der Folge mehr Rechnung getragen und na-
mendich Zeit für eine Debatte reichlich vorgesehen werden! Vielleicht wäre
es auch zeitgemäfser, die Sektionen ganz zu beseitigen und die wissenschaft-
lichen Fragen nur vor dem Plenum zu verhandeln, denn gerade die Teil-
nehmer, -die der Sache das gröfste Interesse entgegen bringen, sehen sich,
da in den Sektionen gleichzeitig beraten wird, nur zu oft um den einen oder
anderen Vortrag betrogen. Die Erörterungen auf der Generalversammlung
des Gesamtvereins sollen gerade der Anregung dienen, und dieser Zweck
wird sich nicht besser erreichen lassen als gerade dadiu-ch, dafs der
einer bestimmten Frage bisher femer stehende Forscher gerade durch die
Erörterung den besonderen Problemen näher gebracht wird.
Auf den Inhalt der Vorträge selbst näher einzugehen, ist unnötig, da
die offiziellen Berichte bereits bald erscheinen werden ; es seien hier nur die
Themen genannt, über die gesprochen wurde, wobei unberücksichtigt bleibt,
ob die Vorträge in Hauptversammlungen oder vor den Sektionen stattfanden :
Strafsburgs Einwirkung auf Goethes historische Anschau-
ungen (Prot Varrentrapp) ; Die Schlettstadter Stadtrechtc (Abb^
GÄiy); Burggraf Friedrich III. von Nürnberg und der alt-
zollernsche Besitz in Österreich (Prof. Wittc-Hagenau) ; Der Hortus
deliciarum der Herrad v. Landsperg (Domherr Keller); Aus der
Vorgeschichte des Elsafs (Prof. Henning); Die geschichtliche
Einheit des Elsafs (Privatdozent Bloch); Die deutsche Nation in
Padua (Prof. Knod). In allen diesen Vorträgen wurden Forschtmgsergcb-
nisse mitgeteilt, die abgesehen von den unmittelbar in die geschichtliche
Vergangenheit des Landes einführenden wohl jeder Teibchmer lieber lesend
zu sich genommen hätte, während eine Reihe anderer Erörterungen zur Be-
6
— 82 —
lebung und besseren Organisation künftiger Forschung anregen sollten, und
darin müssen wir den fruchtbarsten Teil der Verhandlungen erblicken. Über
die Herstellung der Grundkarten und die Einrichtung einer Zentralstelle
für Grundkartenforschung, worüber Prof. Thudichum und Lamprecht berich-
teten, ist bereits in Nr. 2 dieser Zeitschrift Näheres mitgeteilt worden, hier
können wir uns auf die Resolutionen beschränken, die in dieser Frage ge-
fafst worden sind, nämlich: I. Die Generalversammlung nimmt mit Freuden
Kenntnis davon, dafe der im vorigen Jahr in Münster geäufserte Wunsch auf
Schaffimg einer Zentralstelle zur Sammlung der Grundkarten und historischen
Karten aus ganz Deutschland mit dem Sitz in Leipzig bereits erledigt ist
und fühlt sich gedrungen, sowohl der Universität Leipzig als der kgL säch-
sischen Regierung für diese wichtige Förderung des nationalen Kartenplans
den lebhaftesten Dank auszusprechen. IL Die Generalversanmilung giebt ihrer
Freude darüber Ausdruck, dafs die Niederlande und Belgien beschlossen
haben, auch für ihre Gebiete Grundkarten und historische Karten nach über-
einstimmenden Grundsätzen herzustellen, und sie hegt die Hoffnung, dafs
die Vorteile des Unternehmens bald auch in der Schweiz und anderen Nach-
barländern Deutschlands zu allgemeiner Annahme gelangen werden. III. Die
Versammlung spricht die Bitte aus: die k. k. österreichische Regierung möge
die in Wien erschienenen, die Gemarkungsgrenzen enthaltenden sogen. Ka-
tastralgemeindekarten zum Herstellungspreise für den Zweck der geschichtlich-
geographischen Forschung abgeben und der in Leipzig bestehenden Zentral-
stelle für die Grundkarten eine gröfsere Anzahl dieser Karten zum Verkauf
an Forscher zur Verfügung stellen.
Über eine Sprachkarte des Elsafs handelte Realschuldirektor Lien-
hart (Markirch) und legte als Ergebnis seiner Untersuchungen einige zwanzig
Karten vor, deren jede die Verbreitung der Aussprache bei bestimmten
Wörtern (ding, Kind, Kirche, Kirsche, gewesen bezw. gesin u. s. w.) ver-
anschaulicht. Es ergeben sich dabei vier bis fünf gleich den Flüssen von
Südwesten nach Nordosten verlaufende Unterabteüungen, von denen drei auf
Oberelsafs fallen, während Niederelsafs von Schlettstadt an bis zum Hagenauer
Wald, jenseit dessen überhaupt bereits fränkisches Idiom einsetzt, eine ziem-
lich geschlossene Einheit, wenn auch mit Inseln durchsetzt, darstellt. Auch
der Vortrag Blochs (Geschichtliche Einheit des Elsafs) streifte die hier be-
handelten Fragen und zeigte, welche Ergebnisse die Einzelforschung, nament-
lich bei systematischer Behandlung der Ortsnamen erzielen kann. Lienharts
Sprachkarten verdienen für alle ähnlichen Untersuchungen als Vorbüder die
gröfste Beachtung. — In der hier angegebenen Richtung weiterzuarbeiten,
wird als allgemeines Bedürfnis empfunden; um aber auch praktisch etwas
zu leisten, wurde der von Archivdirektor Wolfram (Metz) gestellte Antrag,
der sich mit einem ähnlichen des Amstadter Museumsvereins deckt, unter
allgemeiner Zustinmiung angenommen. Der Antrag selbst lautete: „Die
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine wollen die An-
fertigung historischer Ortsverzeichnisse in Angriff nehmen
und einen einheitlichen Plan über die Abgrenzung dör Be-
zirke entwerfen." Die Aufstellung eines speziellen Schemas für diese
Arbeiten wurde einer viergliedrigen Kommission (Wolfram, Bloch, Reimer,
Brefslau) übertragen: es sollen die jetzigen Wüstungen natürlich eben&Us auf-
— 83 —
genommen, fernerhin nicht nur die ältesten, sondern möglichst viele Wort-
formen angeführt werden, auch die territoriale Zugehörigkeit mufs bei-
gefügt sein, kurz es sollen dem Forscher Mittel an die Hand gegeben wer-
den, um die Identifizierung heutiger Ortsnamen mit historischen alten Formen
zu erleichtem. Ein brauchbares Vorbild liegt bereits im Dictionnaire topo-
graphique de la France vor, aber auch für kleine Gebiete giebt es bereits in
Deutschland Vorarbeiten, unter denen hier namentlich, was die tiber-
lieferte Schreibung der Ortsnamen betrifft, auf eine kleine Arbeit von Prof.
Heilig in Kenzingen, Die Ortsnamen des Kaiserstuhls (Festschrift zur Feier
der Eröffnung des Real- imd Volksschulgebäudes in K. 1899) hingewiesen
sein mag. Im Alpengebiet hat sich der deutsch-österreichische Alpenverein
bereits mit ähnlichen Fragen beschäftigt, und in Passau sind auch schon
Geldmittel für entsprechende Arbeiten bewilligt worden. — Eine Lösung aller
bisher gestellten Aufgaben ist nur möglich, wenn alles zu Gebote stehende Ma-
terial auch wirklich benutzt wird. Deshalb ist es eine der wichtigsten Aufgaben,
neben den staatlichen und kommunalen auch die Privat archive, die ihrer
Natur nach schwerer zugänglich sind, zu durchforschen. Was in dieser Hin-
sicht in Österreich geschehen ist, darüber berichtete Prof. v. Zwiedineck-
Südenhorst (Graz) und konnte von ganz erstaunlichen Funden in den vier-
undvierzig bisher in Cisleithanien untersuchten Archiven (darunter die der
Adelsgeschlechter Wurmbrandt, Windischgrätz, Liechtenstein, Schwartzenberg,
Lobkowitz, Caunitz) erzählen. Die namentlich von Prof. Finke (Freiburg i. Br.)
lebhaft unterstützte Anregung führte zu dem Ergebnis, dafs der Vorstand des
Gesamtvereins beauftragt wnrde, für die nächste Versammlung Berichte von
den zuständigen Stellen über die Inventarisation der Privatarchive einzuholen
und die für ihre Einrichtung geltenden Grundsätze festzustellen. — Auch die
Ausgrabungen und die aus ihnen zu gewinnenden Aufschlüsse kamen nicht
zu kurz weg: so erläuterte Dr. Anthes-Darmstadt an der Hand von !Zeich-
nungen und Plänen das Wesen einer Anzahl von Bauwerken militärischen
Charakters, kleiner, zur Zeit des Antoninus Pius erbauter Türme, die am
Limesgebiet ausgegraben wurden. Aus einem Sandsteinunterbau tmd Ober-
geschofs in Holz bestehend, dienten sie als Stützpunkte für die Grenzwache,
die ihre Zuflucht zu ihnen auf Leitern genommen haben mufs, denn Thüren
finden sich nicht vor. Prof. Mehlis gab eine Zusammenstellung seiner bis-
her an der nordelsäfsischen Grenze und in der Pfalz gemachten Ausgrabungen.
Prof. Riese-Frankfurt legte eine Anzahl von interessanten aus Rom stam-
menden terra sigillata-Scherben vor, während Prof. Thr am er über die Lage
des römischen Strafsburg und Dr. Kohl (Worms) über neolithische Keramik
mit Unterscheidung von drei Perioden mittelrheinischer neolithischer Band-
omamentik handelte. Für die künftige Organisation der Ausgrabungsarbeiten
und sonstiger dahin gehöriger Thätigkeit ist die Stellung von grofser Be-
deutung, welche die westdeutschen Altertumsvereine zu der neu zu begrün-
denden Reichskommission für römisch -germanische Altertumsforschung (vgl.
oben S. 27) einnehmen werden. Prof. Wolf (Frankfurt) stellte deshalb unter
Hinweis darauf, dafs 1891 bei der Gründung der ReichsUmeskommission die
Altertumsvereine nicht gebührenderweise berücksichtigt worden sind, die
Forderung auf: i. Die Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine spricht die Erwartung aus, dafs bei der
— 84 -
endgültigen Organisation der Reichskommission für römisch-germanische
Altertumsforschung die Geschichtsvereine imter voller Wahrung ihrer Selb-
ständigkeit durch eine Anzahl von ihnen selbst gewählter Mitglieder ver-
treten sein werden. 2. Die Generalversammlung erklärt es für wünschens-
wert, dafs auch bei den mit Unterstützung der Reichskommission
imtemommenen Nachforschungen bezw. Ausgrabungen die zu Tage ge-
förderten Fundstücke — einschliefslich der auf fiskalischen, kirchlichen und
Gemeindegrundstücken erhobenen — prinzipiell den Provinzial- und Lo-
kalmuseen tiberwiesen werden, in deren Forschungsgebieten sie gefunden
sind. Zur allgemeinen lebhaften Befriedigung fanden die von dem bewähr-
ten Forscher ausgesprochenen Forderungen bei den anwesenden Mitgliedern
des archäologischen Instituts, Generalsekretär Prof. Conze und Prof. Mi-
chaelis bereitwillige Zustimmung. Ersterer erklärte ausdrticklich , dafs für
ihn die Lokalvereine die festgewurzelten Organisationen für die Fortentwicke-
lung der römischen Forschung seien, und dafs er sich eine erspriefsliche
Arbeit des neuen Reichsmstituts nur in Zusammenhang mit denselben denken
könne. Auch in der Museenfrage war er einverstanden, wünschte allerdings
Zentralisiertmg des auf den Funden beruhenden wissenschaftlichen Apparates
an einer Stelle, als welche zunächst Mainz in Aussicht genommen sei, da
dort schon ein Gnmdstock vorhanden ist Hier soll denn auch jüngeren
Kräften Gelegenheit zur Ausbildung gegeben werden. — Die seit Jahren vom
Gesamtverein so lebhaft geforderte Erhöhung des Denkmalsschutzes behandelten
zwei Berichte von Architekt Wall d (Berlin) und Geh.-Rat Loersch (Bonn).
Ersterer begrüfste freudig neue Bauordnungen, wie sie für Nürnberg und
Hildesheim jüngst ergangen seien, und forderte die Umwandelung des Kon-
servatoramtes in ein Hauptamt, letzterer konnte mitteilen, dafs von dem im
vorigen Jahre in Münster eingesetzten Ausschufs eine an die deutschen Re-
gienmgen gerichtete Denkschrift ausgearbeitet worden sei, die diesen die
Sache des Denkmalsschutzes ans Herz legen soll. — Über die Art, wie
kulturgeschichtliche Publikationen zu bewerkstelligen seien, ver-
breitete sich schliefslich Prof. Lamprecht (Leipzig) und führte aus, dafs
solche Veröffentlichungen, welche „Quellen der Zustände" genannt werden
dürfen, äufserst notwendig aber nicht weniger schwierig seien. Zunächst
haben die meisten solchen Quellen lokalen Charakter und werden demgemäfs
am besten von lokalen Organisationen veröffenüicht. Aber darüber hinaus
giebt es auch solche Quellen allgemeinen Charakters, nur ist, um einiger-
mafsen festzustellen, was an solchen vorhanden ist, eine systematische Durch-
arbeitung der vorhandenen Quellenmasse notwendig. Wenn aber Quellen, in
lokale und allgemeine gegliedert, thatsächlich veröffentlicht werden sollen, so
ist in erster Linie Geld notwendig, denn die ausführenden Kräfte sind heute
meist vorhanden. Um Geld zu beschaffen, empfiehlt der Redner Heranziehung
der reichen Leute als Subskribenten, wie sie bei der „Kgl. Sächsischen Kom-
mission für Geschichte " vorhanden sind. Diese erhalten bis zum Jahresbetrag
von 50 Mark sämüiche Publikationen der Kommission zum halben Laden-
preis, und 300 solcher Leute geben jährlich 15000 Mark für Publikations-
zwecke in die Hand. Um diese Subskribenten leichter zu gewinnen und
festzuhalten, empfehlen sich wieder besonders illustrierte Quellen, die er-
fahrungsgemäfs stets gröfseren Absatz finden. Vielleicht sind auch diese
— 85 —
Gedanken hier oder da auf günstigen Boden ge&Uen und regen zu lebhafter
finanziell gut fundierter Publikationsthätigkeit an.
Ein fUr die Organisation des Gesamtvereins höchst wichtiger Punkt wurde
in der dazu berufenen Deligierten-Sitzung erörtert Bisher herrschte das Vor-
ortsystem, welches sich heute fast bei allen gröfseren Verbänden als nicht
mehr zweckdienlich erwiesen hat, und der Verein für die Geschichte Beriins
ist fünfzehn Jahre lang Vorortsverein gewesen. Gegenwärtig hat nach dem Tode
des Geh. Archivrats Reuter dieser Verein die Leitung des Gesamtvereins
angegeben, und eine siebengliedrige Kommission (Ermisch, Wolfram, Anthes,
Grotefend, v. Pfister, Prümers, Bezold), die sich beliebige Mitglieder zuwählen
kann, soll über die Schafiung einer neuen Organisation beraten. Vorläufig
führt Archivrat Bailleu die Geschäfte weiter. Die Kassenverhältnisse des Ge-
samtvereins sind gut zu nennen, die Zahl der Abnehmer des „ Korrespondenz-
blattes** ist gewachsen, und hundertvierundzwanzig Vereine gehören der Or-
ganisation an. Eine Annäherung an die seit 1893 tagenden Historiker-
versammlungen ist insofern erfolgt, als Prof. v. Zwiedineck über diese be-
richten und unter allgemeiner Zustimmung eine gemeinsame Tagung und gegen-
seitige Förderung empfehlen konnte. Fürs Jahr 1900 ist allerdings an eine
solche Vereinigung nicht zu denken, da beide Versammlungen bereits vor-
bereitet sind: der Historikertag wird Ostern zu Halle a. S. und die Ver-
sammlung des Gesamtvereins deutscher Geschichts- und Altertumsvereine im
September in Dresden stattfinden.
ArchlTe» — Bei der Teilung der gefürsteten Grafschaft Henneberg im
Jahre 1660 wurde bestinmit, dafs diejenigen Archivalien, die für die Ge-
samterben des Landes wichtig seien, von der Verteilung ausgeschlossen imd
in Meiningen als gemeinschafdicher Besitz bleiben sollten. Dieses „Ge-
meinschaftliche Hennebergische Archiv*' gehört gegenwärtig zu
7/48 dem Grofsherzogtum Sachsen-Weimar, zu «»/^g dem Königreich Preufsen
und zu 8^/48 den Herzogtümern Sachsen - Meiningen und Sachsen - Coburg-
Gotha. Die bestehende Ordnung des Archivs rührt von dem Archivrat
Ludwig Bechstein (1847 — 1860) her, genügt aber jetzt nicht mehr, da sich
namentlich herausgestellt hat, dafs mindestens 1500 Originalurkunden noch
gar nicht bearbeitet sind und viele andere nur ungenau. Auf Anregung des
gegenwärtigen Archivars Prof. E. Koch, dem bisher die Verwaltung dieses
Archivs nur im Nebenamt übertragen war, hat die Regierung von Sachsen-
Meidngen bei den Besitzern des Hennebergschen Archivs den Antrag ge-
stellt, dafs vorläufig auf fünf Jahre gröfsere Mittel ausgeworfen werden, um
den gemeinschaftlichen Archivar die Durchführung der Ordnung in vollem
Dienste aufzutragen. Die Angelegenheit ist zuerst vor den Landtag von
Sachsen-Weimar gekommen, und dieser hat in der Sitzung vom 6. November
dem Meiningenschen Antrage zugestimmt
Inventare der nichtstaatlichen Archive der Provinz West-
falen haben soeben in den „Veröffentlichungen der Historischen Kommission
der Provinz Westfalen** zu erscheinen begonnen, und zwar liegt das i. Heft
des ersten Bandes (Regierungsbezirk Münster) vor, welches die Archive des
Kreises Ahaus in der Bearbeitung von Dr. Ludwig Schmitz enthält (Mün-
ster i. W., Verlag der Aschendorffschen Buchhandlung, 1899, 56 S. 8**).
— 86 —
Ein neuer Landesteil beginnt hiermit die systematische Abgrasung der nicht-
staatlichen Archive in dem Sinne, wie v. Zwiedineck es noch vor kurzem
in Strafsburg forderte (vgl. oben S. 83). Die Erfahrungen, welche in Tirol,
Baden und Rheinland gemacht worden sind, haben gewissenhafte Berück-
sichtigung gefunden, und die vorliegende Veröffentlichung bedeutet deshalb
technisch zweifellos einen Fortschritt gegenüber den älteren Arbeiten, nament-
lich in Bezug auf Übersichtlichkeit in der Anordnung und Druckweise. Für
den Benutzer ist das Heft viel mehr eine Quellenveröffentlichung als ein la-
konisches Inventar, ein ganz gewaltiger Vorzug ! Man hat sich deshalb auch
nicht gescheut, einige alte Stücke (so S. 4 eine Urkunde von 12 12 oder
S. 43 eine von 1231, ebenso S. 15 und 26) sofort im vollen Wortlaut ein-
zufügen, wo streng nach der Theorie lediglich ein Regest zulässig gewesen
wäre. Ob sich für die genau nach dem Originale wiedergegebenen deutschen
Worte nicht doch Antiqua besser geeignet hätte, mufs dahin gestellt bleiben.
Der Ausdruck „Kirchenbücher" für Tauf-, Trau- und Sterberegister, so all-
gemein er jetzt verwendet wird, eignet sich für die Inventarisation nicht, da
nun einmal das Wort „Kirchenbuch" in etwas abweichendem Sinne ge-
braucht wird. Der Bearbeiter mufs bei seiner Terminologie S. 7 in Nr. 3
und Nr. 7 zweimal dasselbe Wort in verschiedenem Sinne verwenden, und
das ist nicht vorteilhaft. Die dem Hefte vorausgeschickte „Anweisung zur
Fertigung der Inhaltsangaben (Regesten) von Urkunden " wird sicher in wei-
teren Kreisen, die gelegentlich bei der Inventarisation behüflich sind, freudig
begrüfst werden und manchen anspornen, Regesten abzufassen, der sich bis-
her für nicht dazu fähig hielt Die ebenfalls beigefügte Denkschrift, welche im
allgemeinen die Bearbeitung von Archivinventaren behandelt, erregt hingegen
in einigen Punkten Bedenken. So werden nach 1500 nur „übersichtliche
Nachweise" gewünscht, wonach es fast scheinen könnte, als ob man vor-
wiegend mittelalterliche QueUen kennen lernen wollte , während doch unter
den jüngeren Akten oft recht wichtige Stücke zu finden sind, die gerade aus
der Masse herausgehoben werden müssen. Die Praxis der Bearbeitung zeigt
auch ein ganz anderes Büd: es sind in der That in reichem Mafse jüngere
Akten mit verzeichnet, wenn auch die inhalüich mit der Zeit immer weniger
wichtig werdenden Urkunden nicht mehr berücksichtigt sind. Trotzdem wäre
es z. B. doch ganz interessant, wenn man S. 26 über die etwa 25 Urkunden
des 15. bis 17. Jahrhunderts im Pfarrarchiv zu Legden etwas erführe! Ob
es bei kleineren Archiven grundsätzlich zweckmäfsig ist, Urkunden und Akten
zu trennen, wie es S. VI, Anm. 2 empfohlen wird, mufs auch fraglich er-
scheinen. Namentlich ältere Adelsarchive, die im XVIII. Jahrhundert geordnet
worden sind, kennen diese Trennung nicht, u. E. mit gutem Grund, da sie
die Archivalien über jedes Gut zusammen lassen. Für den Benutzer ist es
heute viel bequemer, wenn er Urkunden und Akten, so wie sie sich inhalt-
lich ergänzen, beisammen findet, und um der archivalischen Theorie wiUen
soU man die Benutzung der Bestände nicht erschweren. Für die Publikation
der Inventare selbst sind diese Fragen von geringerer Wichtigkeit, die ge-
schichtsforschende Welt hat vielmehr allen Grund, das neue westfälische
Unternehmen freudig zu begrüfsen und auf das recht baldige Nachfolgen
weiterer Hefte zu rechnen.
Von Beginn des Jahres 1 900 an werden im Verlag Ton Hirzel (Leipzig)
— 87 —
Mittheilungen der Kgl. Preufsischen Archivverwaltung in zwang-
losen Heften erscheinen.
Vereine. — Die bisherige „Rtigisch-Pommersche Abteilung
der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertums-
kunde*' hat sich am 28. Oktober imter dem Namen ,yRUgisch-Pom-
merscher Geschichtsverein" zu Grei£swald und Stralsund als selb-
ständiger Verein konstituiert Nach dem S i der Satzungen bezweckt der
Verein, die Geschichte und Altertumskunde Pommerns, insbesondere Neu-
Vorpommerns und Rügens, zu erforschen und die Teilnahme daran zu för-
dern und zu verbreiten. Unter den sechs Vorstandsmitgliedern finden sich
erfreulicherweise zwei akademische Lehrer der Universität Greifswald, Prof.
Bernheim und Prof. Frommhold sowie der Stralsunder Ratsarchivar
V. Baensch.
In Sachsen, wo seit Anfeng 1897 ein „Verein für sächsische
Volkskunde" thätig ist, das Interesse für die Altertümer und Eigenart
der Heimat zu wecken, haben kurz nacheinander in den Städten Pegau,
Würzen imd Döbeln kleine Altertumsausstellungen stattgefunden, die ein
Bild davon abgeben, was noch von älteren Gegenständen im Besitz der Be-
völkrung ist Sind es auch zum weitaus gröfsten Teile keine Kostbarkeiten
und Seltenheiten, so zeigen doch gerade diese Dinge, wie man noch vor
einem Jahrhundert und später in der eigenen Gegend lebte. Die Erhaltung
einer solchen Sammlung, wie sie bei Ausstellungen zustande konunt, bt
natürlich oft nicht möglich, da die einzelnen Eigentümer naturgemäfs an ihren
Stücken hängen, aber ein Teil der dargebrachten Sachen wird stets gern
hingegeben werden — und der Grundstock zu einem Lokalmuseum ist da.
Viele Geschichtsvereine haben ein solches leider nur oft recht schlecht zu-
gän^ch au^estellt, so dafs es mit Ausschlufs der Öffentlichkeit sein Dasein
fristet — , das Interesse fUr eine Ausstellung führt aber auf der andren Seite
auch oft zur Entstehung eines Vereines, wie er kürzlich in Delitzsch ins Leben
getreten ist, denn nur ein Verein ist ja in der Lage, auf die Dauer eine
Sammlung zu unterhalten, zu vermehren und auszugestalten. Die Bewegimg,
wie sie in Sachsen entstanden ist, verdient als Mittel zur Belebung des histo-
rischen Verständnisses in weiteren Kreisen und zugleich als Anregung für
gelegentlichen Besuch gröfserer Museen, allgemeine Beachtung, sie bietet aber
zugleich die einzige Handhabe, um einzelne hervorragende Stücke für die
Wissenschaft „zu entdecken". Der Katalog der Döbelner „Altertums-
Ausstellung", die vom 29. Oktober bis 5. November währte, liegt uns vor.
Er führt nacheinander auf vorgeschichtliche Funde, Bücher und Gegenstände
zur Stadtgeschichte, kirchliche Altertümer, Urkunden, Bücher und Schriften,
Gläser, Porzellan und Thongefäfse, Zinn und Silber, Schmucksachen, Münzen,
Putzgegenstände, Web- und Nadelarbeiten, eine Schulgruppe, Einzelgegen-
stände, Bilder, eine Spinnstube, Uhren, eine Gildestube und Kriegserinnerungen.
Die von den Einheimischen fleifsig besuchte Ausstellung wurde auch im Auf-
trage des Kgl. Sächsischen Ministeriums von Prof. Gurlitt- Dresden sowie
im Auftrage des Kgl. Sächsischen Altertumsvereins von Regierungsrat Ermisch-
Dresden nut Befriedigung besichtigt, und in dem Gelingen dieser Veranstaltung
wird man anderwärts einen Anlafs zur Nacheiferung finden. Der Fortbestand
— 88 —
und Ausbau des Döbelner Altertumsmuseums ist gesichert, und zwar nimmt
dasselbe geschenkte Gegenstände an, stellt aber auch gegen Verwahrungs-
schein solche Gegenstände aus, deren Eigentum die bisherigen Besitzer sich
vorbehalten.
Personalien. — Der frühere Innsbrucker Professor Josef Hirn,
zuletzt im Unterrichtsministerium thätig, ist an Stelle Alfons Hubers zum
ordentlichen Professor der österreichischen Geschichte an der Universität
Wien ernannt worden. — Der bisherige Professor der Geschichte an der
deutschen Universität in Prag, AugustFournier, wurde in gleicher Eigen-
schaft an die Technische Hochschule in Wien versetzt. — Der bisherige
aufserordentliche Professor der Geschichte in Erlangen, Richard Fester
wurde zum Ordinarius befördert. — Der bisherige aufserordentliche Professor
für österreichische Reichsgeschichte in Wien, Sigmund Adler, wurde
zum Ordinarius befördert. — Der bisherige Privatdozent in Bonn, Alois
Meister, wurde zum aufserordentlichen Professor an der Akademie Münster
ernannt. Die Redaktion der „Annalen des Historischen Vereins für den
Niederrhein" wird Prof. Meister vorläufig noch weiter besorgen. — Die
Privatdozenten an der Universität Berlin Richard Stern feld und O. Hintze
wurden zu aufserordentlichen Professoren ernannt. — Als Privatdozenten für
Geschichte habilitierten sich Dr. Karl Heldmann an der Universität Halle,
Dr. Sigmund Hellmann an der Universität München und Dr. Karl
Weller, an der Technischen Hochschule Stuttgart, Dr. Gustav Wolf in
Freiburg i. B., Dr. Johannes Häne in Zürich.
Prof. Arthur Kleinschmidt in Heidelberg siedelt zu archivalischen
Studien nach Marburg über, behält aber seine Stellung als akademischer
Lehrer in Heidelberg.
Der bisherige etatsmäfsige Hilfsarbeiter am Grofsherzogl. Mecklen-
burgischen Geheimen und Hauptarchiv zu Schwerin, Dr. Hans Witte,
wurde zum Archivar befordert.
Eingegangene Bfleher.
Angst, H. : Schweizerisches Landesmuseum in Zürich. Sechster Jahres-
bericht 1897. Dem Departement des Innern der schweizerischen Eid-
genossenschaft erstattet im Namen der eidgenössischen Landesmuseums-
Kommission. Zürich, Druck: Art Institut Orell Füfsli 1898. lOi S.
und Anhang (Katalog der von Direktor H. Angst dem Schw. Landes-
museum geschenkten keramischen Sanmilung, verfafst von W. H. Doer)
77 S. S^.
„Anzeiger für Schweizerische Altertumsktmde 'S amtliches Organ des Schwei-
zerischen Landesmuseums, des Verbandes der Schweizerischen Altertums-
museen und der Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler.
Neue Folge I. 1899. Zürich, Verlag des Schweizerischen Landesmuseums.
1899. 8®.
Baasch, Ernst: Beiträge zur Geschichte des deutschen Seeschiffbaues und
der Schiff baupolitik. Hamburg, Lucas Gräfe & Sillem 1899. 351 S. 8^
Ji IG.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag Yon Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschiclitliclieii Forscbung
I. Band Januar 1900 4. Heft
Über
Von
Oswald RedUch (Wien)
Einige Erscheinungen der jüngsten Zeit sind geeignet, neuerdings
vrieder einmal die Aufmerksamkeit auf Traditionsbücher und ver-
wandte Quellen hinzulenken. Im Jahre 1898 erschien eine Abhand-
lung von Josef §usta Zur Geschichte und Kritik der Urbaruzlau/-
Dehnungen ^), in welcher vom wirtschaftsgeschichtlichen Standpunkte
aus Entstehen und Bedeutung auch der Traditionsbücher treffend
charakterisiert werden. Seit 1898 begann dann femer die hochwill-
kommene Publikation des Salzbuiger Urkundenbuches durch P. Willi-
bald Hauthaler. Der erste Band, von dem nunmehr vier Hefte vor-
li^en, ist ausschlie&Iich den Salzburgischen Traditionscodices gewid-
met. Auch einer andern wichtigen Gruppe soll eine Neuherausgabe
zugedacht werden, indem die Münchener historische Kommission in
ihrer letzten Plenarversammlung beschlossen hat, das älteste Freisinger
Traditionsbuch aus dem IX. Jahrhundert zu edieren und damit eine
Fortsetzung der Quellen und Erörterungen in AngriflF zu nehmen.
In allerjüngster 2^it ist endlich eine Arbeit von Ed. Heydenreich
über das älteste Fuldaer Cartular erschienen, welche diese kostbare
Überlieferung der Fuldaer Traditionen einer ausführlichen Erörterung
unterzieht.
Mancherlei alte und neue Gedanken wurden mir dabei rege, und
die freundliche Aufforderung der Redaktion dieser 2^it8chrift, einiges
über Traditionsbücher zu sagen, giebt mir den Anlafs, dieselben aus-
zusprechen.
Traditionsbücher sind eine Erscheinung des früheren deutschen
Mittelalters *). Ihr Aufkommen und ihre Führung hängt aufs innigste
i) Sitzangsber. der Wiener Akad. 138. Bd.
a) Vgl. flir das Folgende meine Abhandlung über bayrische TraditionsbUchcr and
Traditionen in Mitteil, des Instituts fUr Österreich. Geschichtsforschnng, 5. Bd.
7
— 90 —
zusammen mit dem ganzen Urkundenwesen und den Recbtsanschau-
ungen jener Zeit sowie andrerseits mit dem Gange der wirtschaftlichen
Entwicklung. Die ältesten derartigen Bücher stammen aus dem
IX. Jahrhundert. Es sind Bücher, in welche die Schenkungs- und
Tauschurkunden abgeschrieben wurden, mittelst derer die Rechts-
geschäfte abgeschlossen worden waren und die zum Beweise für die-
selben dienten. Diese ältesten Traditionsbücher sind also in gewissem
Sinne Kopialbücher der Besitzurkunden, gehen aber doch schon über
das Wesen des reinen Kopialbuches hinaus, indem die Sammlung der
Erwerbstitel in ein Buch deren Sicherung und stete Bereitschaft
für rechtliche Zwecke zum Ziele hatte. Denn der ganze Beweiswert
der Urkunde, mochte sie nun Carta oder Notitia sein, beruhte doch
auf den in ihr genannten Zeugen. Das war die der geringeren Kultur-
höhe der Stämme des ostfränkischen, dann deutschen Reiches ent-
sprechende Rechtsanschauung; sie erblickte im lebendigen Zeugen
das eigentliche Beweismittel für die geschehene Rechtshandlung, in
der Urkunde nur eine Erleichternng des Zeugenbeweises. Das brachte
nun ein rasches Abnehmen der Urkundenfertig^ng im X. Jahrhundert
mit sich. Nicht Ausstellung wirklicher Urkunden, sondern Aufzeich-
nung blofser Akte, also einfacher, mehr oder weniger formloser No-
tizen über das Wesentliche der Rechtshandlung und ihre Zeugen^
begann die Regel zu werden. Man schrieb diese Akte auf Einzel-
blätter und Blättchen, oft auch mehrere zeitlich oder sachlich zusam-
menhängende auf ein Blatt; da und dort trug man die Akte gleich
direkt in Hefte oder in ein Buch ein, so dafs dieses Buch dann die un-
mittelbare und einzige Aufzeichnung über die Rechtshandlung war
imd blieb und selbst einen fortgesetzten Akt bildete. Oder man
schrieb häufig nachträglich die Einzelakte in Bücher ab; und da man
dann auf die Einzelakte weiter keinen Wert legte und diese verloren
gingen, wurde wieder jenes Buch die einzige Aufzeichnung. So ent-
standen die Traditionsbücher seit dem X. Jahrhundert. Diese Tra-
ditionsbücher des X., XI. und XII. Jahrhunderts sind also keine blofsen
Kopialbücher mehr, sie sind die einzigen Aufzeichnungen über Rechts-
handlungen, sie übernehmen selber gewissermaisen urkundliche, ja
rechtliche Funktionen. Diese ihre eigentümliche Stellung mufete aber
verschwinden, als im XII. Jahrhundert mehr und mehr wieder die
eigentliche Urkimde Boden gewann, welche nunmehr vermittels ihres
allgemein aufkommenden Beweismittels, des Siegels, eine wirkliche
Beweiskraft errang. Zwar dauert noch durch das ganze XII. Jahr-
hundert Fortführung und Neuanlage von Traditionsbüchem, also auch
— 91 —
Aktaufzeichnung fort. Allein bis gegen Mitte des XIII. Jahrhunderts ist
dann dieses Nebeneinander der Übergangszeit vorüber, die Urkunde
hat allenthalben gesiegt, das Traditionsbuch wird wieder abgelöst vom
reinen Kopialbuch.
Als Aufzeichnungen über die anwachsenden Erwerbungen einer
Grundherrschaft an Gütern und Rechten, Hörigen und Censualen sind
die Traditionsbücher aber auch ein charakteristisches Merkmal der
wirtschaftlichen Entwicklung jener Zeiten *). Für Süd- und Südost-
deutschländ, die hauptsächliche Heimat dieser Quellen, waren die nächsten
Jahrhunderte nach der Zurückdrängimg der Ungarnstürme die Zeit der
Wieder- und Neukolonisierung, die Zeit der rasch erblühenden grofsen
Grundherrschaften. In diesen weiten Gebieten breiteten sich die geist-
lichen und weltlichen Besitzer mit reichen Erwerbungen und gewaltigen
Rodungen aus und haben im X. und XI., aber auch noch im XII. Jahr-
hundert im ganzen grolsartige, im einzelnen ungeheuer zerstückelte
Grundherrschaften geschaffen. Diese rasch anschwellenden Wirtschafts-
komplexe hätten wohl, so möchte man meinen, das Bedürfnis nach
Inventarisierung und Übersicht nahe legen sollen, wie man es in den
Inventarien und Polyptychen der karolingischen Zeit befriedigt hatte.
Allein solche Nachwirkungen spätrömischen Wesens hatten höchstens
noch die Rheingegenden ergriffen und ein Zwang von sozialpolitisch
thätigen Herrschern war im deutschen Reiche nicht mehr vorhanden.
Und in diesen kulturell tiefer stehenden östlichen Gegenden war, wie
schon angedeutet, überhaupt alles, was mit Schrifttum und Urkunden-
wesen zusammenhing, in rasche Abnahme geraten. Endlich war es
das schnelle Anwachsen der Schenkungen, Erwerbungen und Rodungen
selbst, welches an sich eine Übersicht erschwerte und jede schriftliche
Zusammenfassung in kürzester Zeit veralten liefs. Für das rechtliche
Bedürfnis aber,, den Nachweis des Besitzes hatten ohnehin nicht Ur-
bare, nicht Urkunden einzustehen, sondern die lebendigen Zeugen
der Handlung oder der Gewere. Die kurze Aktaufzeichnung genügte.
Aber wo man nur einigermafsen auf Ordnung hielt, wo etwa nach
Zeiten des Niederganges eines Klosters wieder ein Aufschwung folgte
— und sittlich-geistiger und wirtschaftlicher Aufischwung gingen regel-
mäisig Hand in Hand — , da soi^e man auch für die Sicherung dieser
einzigen Aufzeichnungen über Erwerb ,'und Rechte. Man sammelte
sie und schrieb sie in Bücher ab, trug sie auch direkt in diese Bücher
i) Vgl. für das folgende Mitteil. d. Instituts 5, 53 ff. nnd die AosfUhningen von Sosta
a. a. O., S. 43 ff.
— 92 —
ein, kurz man sorgte für Anlage und Führung von Traditionsbüchern.
Die Traditionsbücher waren so das einzige dauernde schriftliche Hilfs-
mittel der grofeen Grundherrschaften in ihrer rasch aufstrebenden
Blütezeit vom X. bis in das XII. Jahrhundert.
Die Traditionsbücher bilden wirtschaftsgeschichtlich das Mittelglied
zwischen Polyptychon und spätmittelalterlichem Urbar, wie sie diplo-
matisch das Mittelglied sind zwischen der Urkunde der Karolingerzeit
und der besiegelten Urkunde seit dem Xll. und XIII. Jahrhundert.
Die richtige Erkenntnis vom Wesen der Traditionsbücher gewährte
nun auch erst die notwendige Grundlage, um diese Quellen richtig
bearbeiten und überhaupt historisch verwerten zu können. Mit der
genauesten Feststellung des palaeographischen Bestandes hat sich die
tiefere Frage nach der Entstehungsart der im Codex erhaltenen Auf-
zeichnungen selbst zu verbinden. Und dies wird wieder die erste
Grundlage abgeben zur Herstellung der Chronologie innerhalb der ja
meistens undatierten Traditionsakte. Die möglichst gesicherte zeitliche
Fixienmg aber ist die conditio sine qua non für jede weitere Be-
nutzung solchen Materials. Neben diesen neu oder schärfer formu-
lierten Forderungen versteht sich für eine Ausgabe von selber die
volle Zuverlässigkeit der Textherstellung , die Erklärung der Ortsnamen
sowie die Beigabe alles dessen, was man heute von einer Urkunden-
edition zu verlangen hat. Namentlich sollte auch eine Karte nicht
fehlen.
Auch das ei^ab sich unmittelbar aus dem eigentümlichen Wesen
der Traditionsbücher, dais das in den einzelnen jCodices oder Gruppen
erhaltene Material als geschlossenes Ganzes zusammenbelassen und
veröflFentlicht werden müfste; dafs eine AufteUung der einzelnen Tra-
ditionen unter die Masse anderen urkundlichen Stoffes eben jenen
Charakter gänzlich verwischen würde**).
Diesen Anforderungen, denen ich in der Ausgabe der Brbcener
Traditionsbücher gerecht zu werden suchte, entspricht nun auch die
neue Gesamtausgabe der Salzburger Traditionscodices durch P. Willi-
bald Hauthaler im allgemeinen durchaus. Jetzt erst überblickt man
die gewaltige Masse dieser mehr als I2CX) Traditionen der Erzbischöfe,
des Klosters St. Peter und des Domkapitels, die sich vom Anfang
des X. Jahrhunderts bis zur Mitte des XIII. Jahrhunderts in fast un-
unterbrochener Folge erstrecken. Durch die soigfältigen Beschreibungen
der Codices, durch die 2^it- und Ortsbestimmungen des mit seinem
I) Vgl. AcU Tirolcnsia i Einl. S. VIU.
— 93 —
Stoffe aufs innigste vertrauten Herausgebers ist dieses reiche Material
erst benutzbar gemacht, während man irüher auch den Editionen Chmels
im Notizenblatt der Wiener Akademie ratlos gegenübergestanden
ist Nur in zwei Punkten möchte man etwas mehr und etwas anders
wünschen, und der verehrte Herausgeber wird es gewifs nur gleich
mir im Interesse der Sache und künftiger Bearbeitungen von Tra-
ditionsbüchem finden, wenn diese prinzipiellen Fragen hier berührt
werden.
Der eine Pimkt betrifft die diplomatische Seite. Nicht so sehr
bei den Vorbemerkungen zu den erzbischöflichen Traditionsbüchern
des X. und XI. Jahrhunderts, wo im ganzen alles Notwendige gesagt ist,
wohl aber bei den Codices des Klosters St. Peter und denen des Dom-
kapitels wäre in dieser Hinsicht ein genaueres Eingehen erwünscht ge-
wesen. Es handelt sich ja bei jeder Traditionengruppe immer wieder von
neuem um folgende Fragen. Hat überhaupt und inwieweit unmittel-
bare Eintragung der Traditionsakte in den Codex stattgefunden? So-
weit dies nicht der Fall war, herrschte also nachträgliche Sammlung
und Aufzeichnung; wann geschah nun dieselbe und in welcher Weise ?
Wie waren bei nachträglicher Aufzeichnung die Vorlagen beschaffen,
waren es vielleicht protokollarisch geführte Traditionshefte oder waren
es Einzelakte? Und femer: entspricht die uns heute im Codex erhal-
tene Fassung den Vorlagen, oder ist sie vom KompUator des Codex
mehr oder minder beeinflufst?
Diese Fragen zu beantworten ist vor allem der Herausgeber be-
fähigt, und diese Fragen sind keineswegs müssige und nicht blofs diplo-
matisch von Interesse. Ihre richtige Beantwortung kann vielmehr einer-
seits die unmittelbaren und wichtigen Anhaltspunkte bieten, um in dem
datenlosen Gewirre von Akten einen chronologischen Faden zu fin-
den '), und kann andrerseits oft von Bedeutung werden für die kritische
Verwertung dieses Materials überhaupt. So hat Erben in einer scharf-
sinnigen Arbeit *) über den Traditionscodex des Erzbischofs Odalbert
von Salzburg (923 — 935) interessante Ergebnisse über die Zusammen-
setzung der Zeugenreihen gewonnen und ist auf Grund der chrono-
logischen Fixierung zu unerwarteten Einblicken in die Beziehungen
des Erzbischofs zum Herzog' von Bayern und in die Art der Erwer-
bung der Grafechaftsrechte durch die Kirche von Salzburg gelangt.
Ahnlich hat Bretholz bei einer Untersuchung der ganzen Reihe der
i) Vgl. i. B. Acta Tirolensia i Einl. S. XXH und XXXl.
2) Mitteil, der GeseUsch. f. Salzburg. Landeskonde 29. Bd. (1890).
-- 94 —
St. Emmeramer Traditionsbücher *) merkwürdige Resultate über Doppel-
ausfertigungen , über die Behandlung der Vorlagen durch die Zu-
sammensteller des Codex und die formelle Fassung der Akte erzielt.
Wie bedeutsam gerade dieser letzte Punkt werden kann, zeigt eine
Kontroverse der jüngsten Zeit. In der Frage nach der Abstammung
der Grafen von Tirol spielt ein in den Brixener Traditionsbüchem zu
Ende des XI. und Anfang des XII. Jahrhunderts vorkommender Graf
Adalbert eine Rolle. Huber und auch Egger betrachteten ihn als
Stammvater der Grafen von Tirol. Neuestens hat dies Michael Mayr *)
bestritten und unter anderm die in den Brixener Traditionen von Adal-
bert gebrauchte Bezeichnimg nobüttate sortttus dagegen angeführt,
die er als „frei und adelig geworden**, „Emporkömmling" auffafet.
Allein wie schon in Acta Tirol. I, Einl. S. LVIII bemerkt ist, sind
diese und analoge, gerade den Brixener Traditionen jener Zeit eigen-
tümliche Wendungen ganz zweifellos nur Umschreibungen für nobilis
(liber, ingenuus), was ein aufmerksames Studium des Diktates und der
Formeln ergiebt. Daher haben sich dann auch Huber •) und Egger
dieser Auffassung angeschlossen, und Mayr polemisiert in dieser Hin-
sicht ganz mit Unrecht.
Der zweite Punkt, der mü- von grundsätzlicher Bedeutung erscheint,
betrifft die chronologische Anordnung der Traditionen in der Ausgabe.
Hauthaler hat mit erfolgreicher und dankenswerter Bemühung die zeit-
liche Bestimmung der Salzburger Traditionen durchgeführt, hat speziell
die Traditionen des Erzbischofs Odalbert in tabellarischer Übersicht
chronologisch zusammengestellt. Allein im Abdruck behielt er den-
noch eben bei diesen ältesten Traditionen die Reihenfolge der Codices
bei, welche durchaus nicht der zeitlichen Reihenfolge entspricht. Die
Traditionen des Klosters St. Peter und des Domkapitels sind im all-
gemeinen wohl in chronologischem Fortgang gegeben, aber nicht ohne
mannigfache Schwankungen im einzelnen, welche eben durch die zeit-
lich ungenauen Folgen in den Codices bedingt wurden. Warum
dies? Warum soll der Herausgeber solcher Traditionsbücher, wenn
er mit vieler Mühe in das Chaos hunderter von undatierten Akten
eine leidliche zeitliche Ordnung gebracht hat, dieselbe nicht auch in
der Anordnung der Edition zum Ausdruck bringen? Warum sollte
er sich an die Reihenfolge im Codex halten, von der er eben be-
wiesen hat, dafs sie z. B. nachträgliche Zusammenstellung von Einzel-
1) Mitteil, des Instituts 12. Bd. (1891).
2) Zeitschr. des Ferdinandeums 3. Folge 43. Heft {1899), S. 219 ff.
3) Littcrar. Ccntralblatt 1886, Dez. 4, Spalte 17 16 f.
— 95 —
akten war, bei welcher man, wenn es gut ging, höchstens die Tra-
ditionen unter einem Bischof, einem Abte zusammengenommen hat,
ohne jedoch im einzelnen irgend eine zeitliche Ordnung herstellen zu
können. Nur dort, wo unmittelbare Führung eines Traditionsbuches
nachzuweisen ist, mufs man sich natüriich an die Ordnung des Codex
halten, welche dann zugleich auch die zeitliche Aufeinanderfolge repräsen-
tiert. Und dort, wo bei einzelnen Gruppen gar keine Anhaltspunkte
zu einer näheren zeitlichen Begrenzung vorhanden sind, kann man
sich fuglich an die Reihenfolge der Handschrift halten, wie das Hau-
thaler ganz mit Recht bei den Traditionen unter den Erzbischöfen
Hartwig und Thietmar gethan hat. Sonst aber möchte ich es doch
als Forderung für die Edition von Traditionsbüchem hinstellen,
dafe nicht blofe die chronologische Reihenfolge mit allen Hilfsmitteln,
welche die Handschrift, die Traditionen, ihre Entstehung, ihre Form
and ihr Inhalt gewähren, erforscht, sondern auch in der Anordnung
der Edition zum Ausdruck gebracht werde. In der Einleittmg und in
Vorbemerkungen ist genaue Rechenschaft über dies Verfahren zu-
geben, allenfalls läfst sich ja auch eine Konkordanztabelle der Codex-
und Editionsnummern beifügen.
Auf der strengen Erfüllung der allerdings hochgespannten Forde-
rungen an Herausgeber von Traditionsbüchem mufs bestanden werden,
will man anders Neuausgaben wirklich nutzbringend für die ja auch
viel höher gewordenen Anforderungen der Geschichtswissenschaft ge-
stalten.
Die Traditionsbücher haben uns ja den gröfseren Teü des urkund-
lichen QuellenstofTes vom VIII. bis zum XII. Jahrhundert überliefert. Was
das für jene in Deutschland teilweise so urkundenarmen Saecula bedeutet,
braucht nicht des breitern auseinandergesetzt zu werden. Die genea-
logischen Forschungen z. B., denen sich jetzt wieder ein lebhafterer
Eifer zuwendet, finden in den Traditionen eine ihrer ergiebigsten
Quellen — aber es ist klar, dafe gerade für solche Untersuchungen
die schärfste Akribie und sachlichste Fürsorge der Edition eine unbe-
dingt notwendige Voraussetzung bildet. Der Hauptquellenwert der
Traditionsbücher beruht aber doch in dem, was sie für die Geschichte
der Zustände, für Rechts- und Wirtschaftsgeschichte bieten.
Wir sind ja nun über die Entwicklung der grofsen Grundherr-
schaft und über die Wandlungen der rechtlich -sozialen Verhältnisse
des früheren Mittelalters im allgemeinen genügend orientiert. Weit
weniger jedoch im einzelnen. Es fehlt gar vielfach an einer anschau-
lichen, eindringlicheren Erkenntnis der Siedlungs- und Kolonisattons-
— 96 —
geschichte, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung jener Jahr-
hunderte, namentlich auch für den Süden und Südosten Deutschlands.
Das kommt wesentlich davon her, da(s das wichtigste Quellenmaterial, die
Traditionsbücher, zum allergröfsten Teile in ungenügenden Publikationen
vorliegt, deren indigesta moles auch die zähesten Urkundenmenschen
abzuschrecken im stände ist. Und über diesen sehr wunden Punkt im
Zustand unserer Quellenpublikationen möchte ich hier noch ein nach-
drückliches Wort anbringen. Die Herstellung vollständiger
und guter Editionen von Traditionsbüchern ist das
dringende; haben wir sie erst, dann stehen Rechts- und
Wirtschaftsgeschichte mit ihren bestimmten Zielen und
Methoden schon bereit, um den reichen Stoff zu be-
arbeiten und zu bemeistern.
Im bayerischen Süden und Südosten Deutschlands lassen sich
weit über ein halbes Hundert Traditionsgruppen zählen *). Von diesen
sind bisher zwei Gruppen einer wirklich modernen Edition unterzogen
worden, Brixen und Salzbui^, ein halbes Dutzend anderer li^en in
leidlichen Drucken vor. Bei allen übrigen aber müisen wir uns mit
den elenden Ausgaben der alten Bände der Monumenta Boica, mit
den alten Drucken bei Meichelbeck und Pez, mit den unzureichen-
den Editionen im Oberösterreichischen Urkundenbuch, in den älteren
Bänden der Fontes rerum Austrtacarum u. s. w. b^[iiügen und be-
helfen. Selbst bei einzelnen der wichtigsten Gruppen, wie etwa bei
Freising und St. Emmeram steckt noch ungedrucktes Material in den
Handschriften.
So schlimm steht es im Grunde mit der Bearbeitung dieses ganzen
Quellenbestandes. Es wäre daher mit Freuden zu begrüfsen, wenn
die historische Kommission in München bei der beabsichtigten Neu-
au^iabe des Kozroh nicht stehen bleiben, sondern gleich auch die
Edition der übrigen Freisinger Codices ins Auge fassen würde. Gerade
das auf Kozrohs Arbeit nächstfolgende Traditionsbuch, der sog. Codex
commutationum, fafst das Material von der Mitte des IX. bis ins XII.
Jahrhunderts in sich, ist nicht minder wichtig und wertvoll als wie Koz-
roh, ja der Bearbeittmg insofern noch dringender bedürftig, weil er
sich über drei Jahrhunderte erstreckt und heute noch nicht einmal
l) Eine kurze Übersicht der wichtigsten bei Waitz, Deutsche Verfassaogsgesch. 5%
Vorbemerkungen S. XIV; ein Verzeichnis der auf dem Boden des heutigen Bayern er-
haltenen Traditionscodices von Klöstern bei Gengier, Beiträge z. bayer. Rechtsgesch.
1,230 ff. Eine knappe Zusammenstellung aller mir bekannten bayrisch-österreichichischen
Traditionsgruppen mit kurzer Angabe der Drucke gebe ich im Anhange.
— 97 —
inhaltlich voUständig bekannt gemacht ist '). Ja wir können den Wunsch
nicht veihehlen, da(s überhaupt eine systematische Bearbeitung
der ganzen bayerischen Traditionsbücher in Angriff genommen werden
möge. Denn gerade gegenüber so massenhaft vorhandenem und auch
von der Forschung in Masse zu benutzendem Material hat das Heraus-
greifen dieser oder jener einzelnen Gruppe geringeren Wert Die
Arbeit würde sich ja verteilen: träfe auch das heutige Bayern der
LöwenanteU, so hätten doch auch Ober- und Niederösterreich das
ihrige zu thun; für Salzburg ist ja gesorgt, imd die vereinzelten Tra-
ditionsbücher in Steiermark, Kärnten und Tirol sind bereits ein Teil
der neueren Landesurkimdenwerke oder werden einen Teil derselben
bUden. Genug, an den Traditionsbüchem und ihren Nachfolgern, den
Urbaren, sind noch Schätze zu heben mit zielbewufster, gemeinsamer
Arbeit. Man sucht nach Quellen zur deutschen Kultui^eschichte, um
sie zu publizieren — hier sind sie!
Yerzelehnls der bayrisch-Ssterrelehisehen Traditlonsbfloher.
Admont (Zahn, Steiermark. ÜB. i, Wichner Gesch. von Admont). —
Aldersbach (Mon. Boica 5). — Altaich, Nieder- (MB. ri). — Altaich, Ober-
(MB. r2). — Aspach (MB. 5). — Au am Inn (Drei bayer. Traditions-
bticher).
Baumburg (MB. 3). — Beiharting (MB. 5, Deutinger Beyträge 4). —
Benedictbeuem (MB. 7). — Berchtesgaden (Quellen u. Erört. i). — Bi-
burg (Oefele in Sitzungsber. d. bayer. Akad. 1896). — Brixen (Acta Tiro-
knsia i).
St. Castulus in Moosburg (Oberbayer. Archiv 2). — Chiemsee (Herm-
wörth, MB. 2).
Diessen (MB. 8).
Ebersberg (Hundt in Abhandl. der bayer. Akad. 14). — St Emmeram
in Regensburg (Pez Thesaurus i, Quellen u. Erört. r, Bretholz in Mitteil. d.
Instituts r2). — Ensdorf (Freyberg Sammlung histor. Schriften 2).
Falkenstein (Grafen von, Drei bayer. Traditionsbticher). — St. Florian
(Sttilz Gesch. von St. Florian). — Formbach (Oberösterr. ÜB. i). — Frei-
sing (Bischöfe imd Domkapitel, Meichelbeck Hist. Frisingensis, K. Roths
Schriften über Kozroh (1853 — 1857), Hundt in Abhandl. der bayer. Akad.
12, 13, 14 und im Oberbayer. Archiv 34, Zahn in Fontes rer. Austr. II 31).
Gars (Drey bayer. Traditionsbücher). — Garsten (Oberösterr. ÜB. i).
Geisenfeld (MB. 14). — St Georgen a. d. Traysen (Herzogenburg, Ar-
chiv ftir österr. Gesch. 9, Notizenblatt d. Wiener Akad. 185 1). — St Ge-
oigenberg (Ficcht, Chronik von Georgenberg nun Fiecht). — Göttweih
(Fontes rer. Austr. II 8).
Indersdorf (Hundt im Oberbayer. Archiv 24). — Innichen (Marian
Fidler, Oesterr. Klerisey II 4, 295).
1) Vgl. Miüeil. des Instituts 5, 12 ff.
— 98 .—
KJostemeuburg (Fontes rer. Austr. II 4), — Kühbach (Öfele in Sitzungs*
ber. d. bayer. Akad. 1894).
Mallersdorf (MB. 15). — Mattsee (vgl. Erben in Fontes rer. Austr.
II 49, S. 100). — Melk (Holzer, Die geschichtl. Handschriften der Melker Biblio-
thek). — Metten (MB. 11). — Michaelbeuem (Filz Gesch. von Michel-
beuem). — Mondsee (Oberösterr. ÜB. i). — Münchsmtinster (Cod. Mün-
chen Reichsarchiv, ungedruckt).
Neustift bei Brixen (Fontes rer. Austr. II 34). — Neustift bei Freisiug
(MB. 9). — St. Nicolaus bei Passau (Oberösterr. ÜB. i).
Obermünster in Regensburg (Quellen u. Frört, i).
Passau (Bischöfe und Domkapitel, MB. 28** und 29^). — St. Paul
(Fontes rer. Austr. II 39). — PoÜing (MB. 10). — Priefling (Prüfening,
MB. 13).
Raitenhaslach (MB 3 und 6). — Ranshofen (MB. 3 und Oberösterr.
ÜB. x). — Reichenbach (MB. 14). — Reichersberg (Oberösterr. ÜB. i). —
Rohr (Verhandl. d. histor. Vereins f. Niederbayern 19).
Salzburg (Erzbischöfe, Domkapitel, Kloster St. Peter, Hauthaler Salz-
burger ÜB. i). — Schefüam (MB. 8). — - Scheyem (MB. 10). — Schleh-
dorf (MB. 9). — Suben (Oberösterr. ÜB. i).
Tegemsee (MB. 6).
Victring (vgl. Ankershofen im Archiv f. österr. Gesch. 5, 226).
Weihenstephan (MB. 9). — Weltenburg (MB. 13, ungedrucktes in Cod.
1234 der Wiener Hofbibl.) — Wessobrunn (MB. 7). — Windberg (Braun-
müller in Verhandl. des histor. Vereins f. Niederbayem 23).
Zwettl (Fontes rer. Austr. II 3).
Die landesgesehiehtliehe Forschung in Pom^
mern während des letzten Jahrzehnts
Von
Martin Wehrmann (Stettin)
Den engen Zusammenhang* der allgemeinen und der Territorial-
geschichte nicht aus dem Auge zu verlieren, ist eine Forderung, die
vor allem immer wieder zu betonen ist für die Lokalforschung in den
Ländern, welche äufserlich von dem Gange der grofsen Ereignisse
wenig berührt worden sind und räumlich dem Schauplatze derselben ferne
liegen. Gerade hier ist naturgemäfs die Gefahr nahe, über dem Ein-
zelnen und Kleinen das Grofse und Ganze zu vergessen und die feinen
Fäden unbeachtet zu lassen, durch welche die Entwicklung auch
dieser Territorien verknüpft ist mit dem Fortschreiten des grofsen
Vaterlandes und der benachbarten Gebiete. Diesen Einflüssen nach-
zugehen, bietet aber auch wieder besonderes Interesse, eben weil
es gilt, nicht an der äufeeren Geschichte zu haften, sondern tiefer in
das Innere der Entwicklung einzudringen. Andrerseits trägt aber auch
— 99 —
für die allgemeine Forschung die Untersuchung, wie die grofeen Er-
eignisse auf ein solches Land gewirkt haben, nicht wenig zur tieferen
Erkenntnis derselben bei. Zu den deutschen Territorien, die schein-
bar der allgemeinen Geschichte Deutschlands ganz fem stehen, gehört
in erster Linie wohl Pommern, das Land am Meere, das lange 2^tt
teils deutschen, teils slavischen, teils nordgermanischen Charakter trug.
Mit diesem Lande , das von den grofeen Geschehnissen kaum je berührt
worden ist, hat sich die allgemeine Geschichtsforschung eigentlich nie be-
schäftigt, und umgekehrt haben die pommerschen Territorialforscher,
an denen es niemals gefehlt hat, ihre Blicke oft nicht über die Grenzen
des Territoriums hinaus gerichtet, sehr zum Nachteile ihrei flei&igen
und mühseligen Arbeiten. Dafs es aber auch nicht an Versuchen ge-
fehlt hat, die pommersche Geschichte in weiterem Sinne aufzufassen,
ist zwar nicht zu leugnen, jedoch haben diese Versuche, wie z. B. die
für ihre 2feit recht tüchtige Geschichte von Pommern und Rügen
von F. W. Barthold (Hamburg 1839 — 1845), an dem Mangel würk-
Hch brauchbarer Vorarbeiten zu leiden gehabt. Daher hat Barthold
mit dem Stoffe noch so zu kämpfen, dafs darüber die Form zu kurz
kommt. Trotzdem man in den seitdem verflossenen mehr als fünzig
Jahren flei&ig, wenn auch nicht immer methodisch an der Erschlieisimg
weiterer Quellen gearbeitet hat, ist eine zusammenfassende Geschichte
des Landes noch nicht zu stände gekommen, und auch die populären
Darstellungen (z. B. von K. Mafs, Stettin 1899, oder die Geschichts-
büder von R. Hanncke, Stettin 1899) können nicht als gelungen
bezeichnet werden. Es giebt eben überall noch zu viele offene Fragen,
und es fehlt vor allem noch gar sehr an Quellenpublikationen.
Für die mittelalterliche Geschichte Pommerns sind wir abgesehen
von einigen sehr dürftigen Anfangen einer heimischen Chronistik und
den wenigen Nachrichten bei auswärtigen Chronisten fast ganz auf die
Urkunden angewiesen. Das von R. Klempin begonnene und von
R. Prümers dann weitergeführte Pommersche Urkundenbuch ist in
drei Bänden bis zum Jahre 1300 (Stettin 1868 — 1891) gelang^. Seit
dem Jahre 1891 hat die Arbeit lange geruht, bis sie vor kurzem im
Stettiner Staatsarchive wieder aufgenommen worden ist, so dafs in
einigen Jahren eine Fortsetzung zu erhoffen ist. Bis dahin müssen die
Urkundenbücher Mecklenburgs und der Hansa, die einen schnelleren
Fortgang genommen haben, einigermafsen aushelfen, wenn sie auch
gerade für die interessanteste Seite der Territorialforschung, die innere
Entwicklung des neu gewonnenen deutschen Koionialgebietes , natur-
gemäfs fast nichts bieten. Einigen Ersatz dagegen finden wir in ein-
— 100 .—
zelnen fleilsigen Urkundensammlungen zur Geschichte pommerscher
Geschlechter, wie sie neuerdings die Familien v. Wedel oder v, Züze-
witz u. a. haben erscheinen lassen. Eine dringende Forderung gerade
. für Pommern ist eine Inventarisierung der kleineren Archive, die noch
nicht in das Staatsarchiv zu Stettin gekommen sind. Ein kleiner
Anfang in dieser Richtung ist durch das Verzeichnis der erhaltenen
mittelalterlichen Stadtbücher (Baltische Studien XL VI, 45^^-102) und
die Zusammenstellung der Kirchenbücher (Balt. Studien XLII,
201 — 280) gemacht worden. Für die Entwicklung der deutschen
Städte im Kolonialgebiet ist von besonderer Bedeutung das Archiv
der Stadt Stralsund , die ja im Mittelalter die führende Rolle unter
den pommerschen Städten spielte. Aus demselben ist nach dem
ersten von Fabricius herausgegebenen Stadtbuche nun auch das
zweite, die Jahre 13 10 — 1342 umfassende Buch, zunächst wenigstens
zum Teil veröffentlicht (von Reuter, Lietz und Wehner, Stralsund
1896). Eine Quelle für die Erkenntnis des geistigen Lebens nicht nur
Pommerns ist die Matrikel der Universität Greifswald (Publikationen
aus den K. Preufe. Staatsarchiven, Bd. LH. LVII, Leipzig 1893. 1894),
deren Einflufe ja allerdings früher nie sehr weit gegangen ist.
Der Aufgabe, nach Möglichkeit Quellen zu publizieren, hat sich
weder die Gesellschaft für Pommersche Geschichte und
Altertumskunde, die trotz mancherseits ihr bewiesener Gleichgültig-
keit oder gar Abneigung den Mittelpunkt der pommerschen Territorial-
geschichtsforschung seit nunmehr 75 Jahren bildet, noch der viel jüngere
Verein für die Geschichte der Neumark (Landsberg a. W,),
zu dessen Arbeitsgebieten einige Kreise der heutigen Provinz Pommern
gehören, entzogen. Urkunden und Kopiar des Klosters Neuenkamp
sind von F. Fabricius, und da^ Rügische Landrecht von Matthäus
Normann von G.Frommhold( Quellen zur Pommerschen Geschichte,
Bd. II und III, Stettin 1891, 1896) veröfTentlicht, und E.Joachim und
P. V. Niefsen haben ein Repertorium der im KönigL Staatsarchive
zu Königsberg i, Pr. befindlichen Urkunden zur Geschichte der Neu-
mark [Schriften des Vereins für die Geschichte der Neumark III,
Landsberg a. W. 1895) herausgegeben. Den beiden Vereinen einen
Vor-wurf zu machen, dafs sie nicht mehr Quellenpublikationen aufzuweisen
haben, wäre ungerecht, da mit den hierfür vorhandenen Mitteln und
einer Rücksichtnahme auf die Mitglieder zu rechnen ist, die andere
Veröffentlichungen gewöhnlich vorziehen. Die Gesellschaft für pom-
mersche Geschichte ist trotzdem in letzter Zeit dieser Au%abe
wieder näher getreten und hat eine neue Ausgabe der ältesten pom-
— 101 —
merschen Chronik, der Pomerania des Johannes Bugenhagen,
in Angriff und eine Sammlung der geringen chronikalischen Reste des
Mittelalters in Aussicht genommen. Im ganzen weniger als historische
Quelle, sondern mehr als eine ganz vortreffliche Darstellung der pom-
merschen Geschichte aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ist
die Chronik des Thomas Kantzow aufzufassen, deren zweite und
dritte Bearbeitung endlich eine würdige Ausgabe gefunden hat (von
G. Gabel, Stettin 1897, 1898). Hier ist auch namentlich für die Zeit,
in welcher der Chronist lebte, ein reicher Stoff geboten, den sich die
allgemeine Geschichte des Reformationszeitalters nicht entgehen lassen
sollte. Ebenso ist kulturgeschichtlich sehr wertvoll das Reisebuch des
Lupoid V. Wedel aus den Jahren 1561 — 1606 (herausgegeben von
M. Bär, Balt. Studien XLV).
Die wirklich wissenschaftliche Thätigkeit auf dem Gebiete der
pommerschen Geschichtsforschung ist in den letzten Jahren recht
rege und intensiv gewesen, namentlich sind die Bestände des Stettiner
Staatsarchivs wohl mehr als früher benutzt worden. Es sind dadurch
einerseits Arbeiten mehr lokalgeschichtlichen Charakters entstanden,
die zumeist in den beiden Zeitschriften der Gesellschaft für pommersche
Geschichte und Altertumskunde, den „Baltischen Studien" und den
„Monatsblättem", erschienen sind. Diese Beiträge zur pommerschen
Geschichte haben schon manchen bisher dunklen Punkt aufgehellt und
auch in ihrem bescheidenen Teile einiges zur Kenntnis der Vergangenheit
beigetragen. Für die allgemeine Geschichte mag vieles davon gleich-
gültig und nichtig erscheinen, in Wirklichkeit ist es schliefslich doch nicht
der Fall. Es sollen an dieser Stelle solche kleinen Arbeiten nicht in
Menge aufgezählt werden; wenn sie aber, wie es leider immer noch
geschieht, von späteren Forschem gar nicht beachtet werden, so ist
das sicher zu bedauern. Auf Grund der herausgegebenen Quellen
oder archivalischer Studien sind aber auch umfangreichere Arbeiten
erschienen , die direkt für die allgemeine Geschichte von Bedeutung
sind. Ein zusammenfassendes, wenn auch nicht vollständiges Bild
der Germanisation des Slavenlandes hat W. v. Sommerfeld [Ge-
schichte der Germanisirung des Herzogthums Pommern, Leipzig 1896)
gegeben, indem er allerdings mehr die historische Entwicklung dieser
Kolonisation, als die wirtschaftliche Bedeutung ins Auge geüaCst hat.
Auch andere Arbeiten, die sich mit dieser grofeen That des deutschen
Volkes beschäftigen, haben mancherlei zur Klärung der ältesten
Geschichte unseres Landes beigetragen, indem teils mehr die Chris-
tianisierung und Organisation der Kirche, teils mehr die Germani-
— 102 —
saüon des Landes betont ist. An Wieseners treflFliche Darstellung-
der Geschichte der christlichen Kirche Pommerns zur Wendenzeit
(Berlin 1889) schlielsen sich ergänzend und weiterführend der Aufsatz
Iflands [Geschichte des Bisthums Camin unter Conrad II L, Stettin
1896) und meine mannigfachen Beiträge zur Geschichte des Caminer
Bistums an. Noch gar nicht behandelt ist aber die zweite Periode der
Germanisierung des Landes, die Zeit, in welcher die neue deutsche
Bevölkrung wirklich feste Wurzel fadste und in ruhiger steter Arbeit
das Gebiet kultivierte. Hierbei ist namentlich die Thätigkeit der grofeen
Cisterzienserklöster in Betracht zu ziehen, für die wenigstens zum Teil
urkundliches Material zur Genüge vorliegt. Aus solchen Spezialunter-
suchungen wird auch die allgemeine deutsche Wirtschaftsgeschichte
Nutzen ziehen können.
Staatsrechtlich von Bedeutung ist die Frage nach der Stellung
der neu eroberten imd gewonnenen Kolonialgebiete zu den alten Marken
des Reiches imd dem Reiche selbst, imd für Pommern ist sie beson-
ders wichtig, da mit derselben der langjährige Kampf gegen Branden-
burg eng zusammenhängt und in seinem Ursprung auf dieses Ver-
hältnis zurückgeht. Von der ältesten Zeit an zieht sich die branden-
burgische Frage durch Pommerns Geschichte bis zu dem Jahre, in
dem das Land seine politische Selbständigkeit verlor (1637). Über
das Lehnsverhältnis zwischen Brandenburg und Pommern im XIII.
und XIV, Jahrhundert giebt F. Zickermann (Forschungen zur
Brandenb. und Preufs. Geschichte IV, i — 120) eine sorgfaltige Unter-
suchung, die aber in ihrer grundlegenden Auffassung bei F. Räch fahl
(Forschungen zur Brandenb. und Preufis. Gesch. V, 403 — 436) auf Wider-
spruch gestofsen ist. Eine zweite Periode dieses grofsen Streites hat in
ausführlicher imd trefflicher Weise Räch fahl selbst behandelt (Der
Stettiner Erbfolgestreit 1464 — 1472, Breslau 1890), während P. Gäht-
gens gleichzeitig die Beziehungen zwischen Brandenburg und Pom-
mern unter Kurfürst Friedrich II (Giefisen 1890) dargestellt hat.
Durch die zum Teil verschiedene Behandlimg desselben Stoffes sind
viele Punkte einer der zahlreichen Territorialstreitigkeiten im XV. Jahr-
hundert aufgehellt imd die Beziehungen des Kaiser Friedrich III.
zum Norden Deutschlands in schärferes Licht gestellt worden.
Rachfahl hat seine Auffassung gegenüber Gähtgens verteidigt und klar-
gel^ (Balt. Studien XLI, 261—279). Fortgesetzt ist die Darstellung
des Kampfes von W. Brandt, der auf Grund der von F. Priebatsch
herausg^ebenen Politischen Correspondenz des Albreeht Achilles
den Krieg dieses Kurfürsten gegen Sagan und Pommern 1476 — 1479
— 103 —
(Greiüswald 1898) schildert. la 'gewissem Sinne hängen mit diesem
Streite auch noch die Kämpfe, die im dreifsigjährigen Kriege um
Pommern geführt wurden, und die Kriege zusammen, welche Kurfürst
Friedrich Wilhelm zur Erwerbung des ihm gewaltsam vorenthaltenen
Erbes unternahm. Die passive Rolle, die das umstrittene Gebiet und
sein letzter selbständiger Herzog spielten, und die Pläne Gustav Adolfs
sind von M. Bär auf Grund neu herangezogener Akten klar dargestellt
worden in seiner Schrift Die Politik Pommerns während des Dreifsig-
jährigen Krieges. (Publikationen aus den K. Preufeischen Staats-
archiven, Bd. LXrV, Leipzig 1896), und für die Kriege des Grofsen
Kurfürsten auf pommerschem Boden haben E. Müsebeck {Die
Feldzüge des Grofsen Kurfürsten in Pommern, Balt. Studien
N. F. I, I — 142), Täglichsbeck {Die Belagerung der Stadt Anklam,
Balt. Studien XLIII, i — 60) und H. Prutz (z. B. Die Eroberung
Stralsunds durch den Grofsen Kurfürsten, Balt Studien N. F.
II, I — 20) Arbeiten von weitergehendem Interesse geliefert. Weniger
klar li^t bisher unsere Kenntnis von der ersten Einrichtung der schwe-
dischen und der brandenburgisch-preufsischen Regierung in dem ge-
teilten Lande, obwohl O. Malmström (Bidrag tili svenska Pom-^
merns historia 1630 — 1653, Lund 1892, und Bidrag tili svenska
Pommerns historia 1653 — 1660, Helsingborg 1894) aus schwedischen
Quellen wertvolles Material mitgeteilt hat. Für die innere Regierung
Friedrichs des Grofsen bringt in Bezug auf Pommern mancherlei
Neues P. Wehrmann [Friedrieh d, Gr. als Colonisator in Pommern,
Pyritz 1897, 1898), während C. F. Fuchs den Untergang des Bauern-
Standes in Schwedisch-Pommern (Strafisburg 1888 und Balt. Studien
XLI, 204 — 222) behandelt hat.
Die innere Entwicklung des Herzogtums Pommern mag in seinen
Einzelheiten für die allgemeine Geschichte weniger wichtig sein, inte-
ressant bleibt aber immerhin auch die Betrachtung, wie in diesem neu
gewonnenen Kolonialgebiete, dessen östliche Teile immer noch vor-
wi^end slavisch blieben und unter polnischem Einflüsse standen, die
neu eingeführten deutschen Einrichtungen und auf diesem Boden der
Territorialstaat sich entwickelten. Kam in den Städten, namentlich im
westlichen Teile Pommerns das Deutschtum zum vollen Siege und
fand in dem Anschlüsse derselben an den Hansabund seinen deutlichen
Ausdruck (R. Daenell, Geschichte der deutschen Hansa in der
zweiten Hälfte des XIV. fahr hunder ts, Leipzig 1897), so schwankte die
Politik der Herzoge durchaus hin und her zwischen Polen, Deutschland
und Dänemark. Erst in der Zeit der Reformation kam das
— 104 —
Gefühl der Zug-ehörigkeit des Landes zum Reiche zum
vollen Durchbruche, wenn auch die politische Stellung-
der Herzoge eine sehr unsichere blieb. Im Innern aber kam
um die Wende des XV. Jahrhunderts in Verfassung und wirtschaftlicher
Gestaltung eine neue Ordnung auf, und die Anfange des modernen
Staates wurden in dem zerrütteten und verkommenen staatlichen Gebilde
das damals bestand, gelegt, wie M. Spahn in seiner fleifsigen,
aber nicht genügend durchgearbeiteten Abhandlung ( Verfassungs- und
Wirtschaftsgeschichte des Herzogthums Pommern von 14^8 — 162^,
Berlin 1896) zeigt. Durch dieselbe ist die Anregung gegeben, das
in grofsenund daher nicht immer zu treffenden Zügen geschilderte
Bild weiter auszumalen und im einzelnen zu verbessern. Namentlich
auch die Einfuhrung der Reformation, für welche Arbeiten von
O. Vogt [Bugenhagens Briefwechsel, Balt. Studien XXXVIII),
M. Wehrmann [Die pommersche Kirchenordnung von 1^35»
Balt. Studien XLIII, 128 — 210) und F. Bah low (Johann Knips tro,
Halle 1898) vorliegen, bedarf es noch eingehender Untersuchungen,
nm solchen tendenziösen Darstellungen entgegenzutreten, wie sie
E. Görig k [Erasmus Manteuffel, der letzte katholische Bischof
von Camin, Braunsberg 1899) gegeben hat. Die Stellung Pom-
merns in den späteren Streitigkeiten und Kämpfen ist wenig her-
vorragend und von geringerer Bedeutung für die allgemeine Geschichte
(M. V. S\o]^n\.\VL, Jakob von Zitzewitz, ein Pomm^rscher Staatsmann
aus dem Reformations- Zeitalter, Balt. Studien N. F. I, 143 — 288);
auch im weiteren Verlaufe des XVI. Jahrhunderts ist eigentlich nur ein
Herzog in engere Beziehung zum Kaiser getreten (J. Mueller, Herzog
Johann Friedrich und die Reichshoffahne i.J. i$66', Balt. Studien XLII,
49 — 200) und in den nordischen Streitigkeiten thätig gewesen
(O. Blümcke, Pommern während des nordischen siebenjährigen
Krieges, Balt. Studien XL, 134 — 480 ; XLI, i — 98).
(Schlafs folgt.)
Mitteilungen
Kommissionen. — Aus dem Berichte über die vierzigste Plenar-
Versammlung der historischen Kommission bei der kgl. baye-
rischen Akademie der Wissenschaften, die vom 25. bis 27. Mai 1899
in München stattCsuid, ist über den Fortgang der unternommenen Arbeiten
— 105 —
folgendes zu ersehen: Von den Deutschen Reichstagsakten älterer Serie
ist der ii. Band, bearbeitet von G. Beckmann, ausgq;eben worden,
während die Bände lo und 12 fiaist druckfertig sind. Mit Bd. 12 wird die
Publikation bis 1437 geführt sein, während es ron dem Beschlüsse der
nächsten Ptenanrersammlung abhängt, wie das Unternehmen fortgesetzt wird.
Die von Adolf Wrede in Göttbgen geleitete Ausgabe der Reichstagsakten
jüngerer Serie ist bis zum dritten im Druck befindlichen Bande fort-
geschritten. Von den deutschen Städtechroniken ist der 26. Band, ent-
haltend den gröfsten Teil der von Koppmann bearbeiteten Lübecker Chro-
niken, vollendet, der 27. Band, enthaltend den zweiten Teil der Magde-
burger Chroniken in der Bearbeitung von Prof. Hertel, ist ebenfiüls ab-
geschlossen, und die noch fehlenden Chroniken von Bremen und Rostock
sollen demnächst in Bearbeitung genommen werden. Die durch den Tod
FeHx Stieves schwer geschädigten Editionen der jüngeren Bayrisch-
Pfälzischen Abteilung der Witteisbacher Korrespondenzen
ist durch Kari Mayr, Sekretär der kgl. Akademie d. W., und Prof Chroust
für die Zeit von 1609 ^^ 1613 und durch Dr. Altmann für die Jahre 1629
bis 1630 in Bezug auf die Materialsammlung als abgeschlossen zu betrachten.
Die von Prof. v. Bezold geplante Herausgabe von Briefen von Huma-
nisten ist im Laufe des Jahres gut vorbereitet worden und der Plan so
festgestellt, dafs in drei Bänden, welche den Kreisen um Conrad Celtis,
Pirkheimer und Peutinger gewidmet sind, der Stofif bewältigt werden kaim.
Eine zeitliche Grenze, bis zu der Briefe Aufnahme finden sollen, kann
nicht mechanisch festgestellt werden, aber im allgemeinen soll die Generation,
die nach 1500 geboren ist, nicht mit in Betracht kommen. Als neue Auf-
gabe wurde femer die seit 1863 sistierte Herausgabe der Quellen und
Erörterungen zur bayeriscJien und detäschen Geschihte beschlossen, welche
eine geeignete Ergänzung der in den Monumenta Germaniae imd Monumenta
Boica niedergelegten Veröfifentlichungen bilden sollen. Die Jahrbücher des
Deutschen Reiches imter Otto IL bis Friedrich IL und die Allgemeine Deutsche
Biographie, welche ihrem Abschliifs entgegengeht, haben auch im Berichts-
jahre wesentliche Fördenmg erfahren.
Die Thüringische Historische Kommission tagte am 14. Ok-
tober unter dem Vorsitz von Prof. Rosenthal zu Jena. Für die vom Archiv-
direktor Burkhardt vorbereitete Ausgabe der Land tagsakten der Emestiner
zunächst im Zeitraum von i486 bis 1547 ist das Material gesammelt, da
aber der Stoff zu reich ist, so soll mit dem Jahre 1532 ein Einschnitt ge-
macht und das Ganze auf zwei Bände verteilt werden. Die Publikation der
Stadt rechte ist bereits so [weit vorbereitet dafs für 1900 die Drucklegung
der Stadtrechte von Eisenach (Prof. Kühn) und Saalfeld (Prof. Koch) ins
Auge ge&fst werden kann. Ohrdruf und Gotha sollen darauf folgen. Die
Inventarisation der kleineren thüringischen Archive ist in gutem
Fortgang begriffen, aber dennoch wird ein etwas beschleunigtes Tempo em-
pfohlen. Die Drucklegung soll so erfolgen, dafs der Zcitschi-ift des Vereins
für thüringische Geschichte und Altertumskunde jährlich zehn Bogen Archiv-
inventare mit besonderer Seitenzählung beigegeten werden. Femer soll eine
Nachforschung nach Materialien zur thüringischen Geschichte im Germanischen
Museum zu Nürnberg in die Wege geleitet werden. Zur Belebung der For-
8
— 106 —
-schung auf dem Gebiete der Schulgeschichte ThtinDgens sind die Pfleger
besonders angewiesen worden ^ einschlägiges Material zu sammeln. Für
Eisenach und Arnstadt ist dies bereits geschehen, und fUr Anfang 1900 ist
das Erscheinen eines speziell thüringischen Heftes der MUteüungen der
Gesellschaft für deutsche Erxiehungs- und Schulgeschichie in Aussicht genommen»
Behufs des Grundkartenunternehmens (vgl. obenS. 35) ist zunächst für
jeden der thüringischen Staaten festzustellen, ob bei den Behörden eine das
ganze Staatsgebiet umfassende Karte mit den Rurgrenzen vorhanden ist und
ob "Kräfte für die Bearbeitung der Grundkarten zur Verfügung stehen würden.
Ein Verzeichnis der thüringischen Wüstungen nebst Karte wurde dem
Antrage Dobeneckers entsprechend als wünschenswert bezeichnet, aber
zunächst zu genauerer Beratung auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung
gesetzt. In ähnlicher Weise wurde die Publikation der Matrikel der
Universität Jena angeregt, aber die Beschlufsfassung darüber ausgesetzt.
Publikationen zur neueren Geschichte aus thüringischen Ar-
chiven zu veranstalten, bezweckte ein Antrag von Dr. Stoy; unter den ver-
schiedenen in Vorschlag gebrachten Stoffen befindet sich auch eine Geschichte
der Universität Jena. Über die Reihenfolge dieser Publikationen soll der
Ausschufs der Kommission Näheres bestimmen.
In Karlsruhe fand am 20. und 21. Oktober die XVIII. Plenarsitzung
der Badischen historischen Kommission statt. Während die Re-
gesten zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz und der Mark-
grafen von Baden und Hachberg wesendich fortgeschritten sind, ist die
Fortführung der Regesten der Pfalzgrafen bei Rhein vorläufig ausgesetzt
worden, dafür aber vrird Prof. Wille eine darstellende Pfälzische Geschichte
in Angriff nehmen. Von den oberrheinischen Stadtrechten wird bereits bald
das fünfte und sechste Heft der fränkischen Abteilung erscheinen, wäh-
rend von der schwäbischen Abteüung die Stadtrechte von Überlingen,
Konstanz und Freiburg i. B. sich in Vorbereitung befinden. Prof. Schulte
hat seine Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen
Westdeutschland und Italien unter Ausschlufs Venedigs vollendet, das Werk
befindet sich im Druck; ebenso ist der von Archivrat Obser bearbeitete
fünfte (Schlufs-)Band der Politischen Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden
unter der Presse. Vom Oberbadischen Geschlechierbuch ist die erste liefe-
rung des zweiten Bandes erschienen. In Vorbereitung findet sich die Her-
ausgabe der Korrespondefiz des Fürstabtes Martin Gerbert von St. Blasien^
die Geschichte des schwäbischen Kreises vom Westfälischen Frieden bis xu
seiner Auflösung und eine Geschichte der badischen Verwaltung; ebenso ist
der zweite Band der Wirtschaftsgeschichte des Schwarxvxildes wid der an-
grenzenden Landschaften, bearbeitet von Prof. Gothein, in nicht allzu
femer Zeit zu erwarten. Die Inventarisation der kleineren Archive, die in
Baden von den Pflegern besorgt wird, ist nahezu vollendet, die Sammlung
und Zeichnung der Siegel und Wappen der badischen Gemeinden schreitet
rüstig voran. Die Ausführung der ftir das badische Gebiet von der Kom-
mission beschlossenen Gruridkarten wird das Grofsh. Statistische Landes-
amt übernehmen. Zu Mitgliedern der Konmiission wurden emaimt Prof.
Finke und Prof. Fuchs in Freiburg i. B. und Dr. Tumbült, Vorstand
des Fürstlich Fürstenbergischen Archivs in Donaueschingen.
— 107 —
Die Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte hielt am
i6. Dezember ihre rierte ordentliche Jahresversammlung zu Leipzig unter
dem Vorsitze des Kultusministers v. Seydewitz ab. An Publikationen
wurden im laufenden Jahre ausgegeben zwei weitere Doppelsektionen der
Grundkarte des Königreichs Sachsen nebst den ErlätUerungen zur hi-
.ntarisek'SUUisiiscken Orundkarte für Deutschland von Hubert Ermisch
und Berichte des Kurfürstlichen BcUes Hans von der Planitx in der Be^
arbeitung von Wülcker und Virck. Im Druck vollendet ist die Korrespon-
denz des Herzogs und Kurfürsten Moritz, bearbeitet von Prof. Branden-
burg, sowie ein Teil der Tafeln des von Flechsig herausgegebenen Werkes
über Lukas Cranach. Der Druck der Akten und Briefe Herzog Georgs,
des Jjcftnbuchs Friedrichs des Strengen von 1349 sowie des Briefwechsels
der Kurßirstin Maria Antonia mit der Kaiserin Maria Theresia wird sicher
im Jahre 1900 begonnen und vielleicht ganz vollendet werden. Eine grofse
Anzahl anderer Veröffentlichungen ist in Angriff genommen und bereits
wesentlich fortgeschritten, wenn auch über die Zeit der Vollendung nichts
Bestimmtes angegeben werden kann, so die Instruktion eines Vorwerksver-
Walters 1570 und die Sächsische Steuergeschiclite , beide bearbeitet von
Dr. Wuttke, Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland
von Archivar Merx (Magdeburg), die Geschichte des Heilbronner Bundes
(1632) und des Prager Friedens (1635) von Archivar Kretzschmar (Han-
nover), die Dresdener Illustrierte Sadisenspiegelhandschrift und die Geschichte
des geistigen Ijebens der Stadt Leipzig. Die Zahl der Subskribenten auf
die Veröffentlichungen der Kommission ist erfreulicherweise auf 230 ge-
stiegen.
In der Historischen Kommission der Provinz Westfalen
ist an Stelle des nach Freiburg i. B. berufenen Prof. Finke Archivrat
Philippi zum Vorsitzenden ernannt worden. Mitglieder der Kommission
wurden Archivar Krumbholtz und Privatdozent Ludwig Schmitz,
beide in Münster.
Vor vier Jahren, zu Beginn des Jahres 1896, hat der Verein fUr Ge-
schichte und Altertumskunde Westfalens eine besondere Altertums-Kom-
mission eingesetzt, „um die Forschungen an den stummen Zeugen der
Vergangenheit systematischer anzuregen, einheitlicher zu fördern". Das erste
Heft der Müteüungen der Altertumskommission für Westfalen (Münster,
W. Aschendorffsche Buchhandlung, 1899. 124 S. S^' und 9 Tafeln. ^ 8,00)
liegt gegenwärtig vor und bringt an erster Stelle aus der Feder von W o r m -
stall eine Übersicht über die vor- und frühgeschichtlichen Wallburgen, Lager
und Schanzen in Westfalen, Lippe-Detmold und Waldeck. Es ist dies eine
(Ur die weitere Forschung aufserordentlich wichtige Zusammenstellung, da
aus ihr jeder Lokalforscher mit Leichtigkeit feststellen kann, welche dieser
Anlagen bekannt und wo sie in der Litteratur beschrieben sind. Die For-
schung würde eine unvergleichlich fruchtbarere sein können , wenn die zu-
ständigen Stellen in allen Teilen Deutschlands solche Verzeichnisse anlegen
und darin eine Übersicht über das bisher Bekannte geben wollten! An
zweiter Stelle finden wir Untersuchungen römischer oder für römisch gehal-
tener Befestigungen in Westfalen, und zwar ist dies ein Brief über das „Varus-
lager im Habichtswalde'' von F. Jostes und ein Bericht des Museums-
8*
— 108 —
direktors Schuchhardt (Hannover) über seine Ausgrabungen und Auf-
nahmen an der Lippe, deren Ergebnisse bereits zum Teil in dem Vortrage
des Verfassers in Bremen (vgl. oben S. 62) mitgeteilt wurden: ein grofser
Teil der Funde ist hier abgebildet und der Befund der Ausgrabungen genau
beschrieben. Über Nachgrabimgen am alten Kreuzthor in Münster, die über
die vormalige Befestigung der Stadt Auskunft geben, berichtet Max Gais-
berg, über prähistorische Funde und namentlich Urnenfriedhöfe in der Nähe
von Borken W. Conrads. Den Schlufe des Heftes bildet eme Abhand-
lung von F. Biermann über die Wallburg bei Gellinghatisen, die er sorg-
fältig beschreibt, deren Entstehimgszeit er jedoch mangels irgend welcher
Fundstücke nicht genauer anzugeben vermag. — Die neue Publikation ist
von hoher Bedeutung, da sie fiir das westfälische Land die Möglichkeit einer
mit der Geschichtsforschung Hand in Hand gehenden Altertumswissenschaft
erweist und dadurch wohl geeignet ist, auch anderwärts befruchtend und
anregend zu wirken. Aufserordentlich freudig zu begrüfsen ist die That-
sache, dafs die Kommission bei ihren Arbeiten durch Geldmittel des Kaiser-
lichen Archäologischen Instituts unterstützt wird, namentlich um die
Untersuchungen in Dolberg und in der Nähe von Haltern weiterzuführen.
Archlre. — In Lüneburg, wo seit 1895 eine Neuordnung und
Durchforschung des städtischen Archivs beschlossen und seit 1897 in der
Person des Dr. W. Rein ecke ein Stadtarchivar auf Lebenszeit angestellt
worden ist, haben die Archivalien in neuster Zeit auch ein würdiges und
dauerndes Heim gefunden. Ursprünglich hatte man den Plan, die alte „ Rats-
küche" durch einen Umbau zum Archiv umzuwandeln, aber beim Fortgang
der Arbeit ist daraus fast ein vollständiger Neubau geworden, der mit einem
Kostenaufwand von 30 000 Mark einschliefslich der inneren Ausstattung auf-
geführt worden ist. Eine genaue Beschreibung des Äufseren und Inneren
des neuen Archives aus der Feder des Archivars enthalten die Hannoverschen
Oeschichtshlätter 2. Jahrgang Nr. 6 vom 12. Nov. 1899. S. 366/367 Über
die Geschichte des Archivs und seine wertvollen Bestände berichtet derselbe
in den Jahresberichten des Museums-Verems für das Fürstentum Lüneburg
1896/98, S. 29 — 92.
In Bonn sind im Laufe des Jahres 1898 die städtischen Archivalien,
deren Hauptmasse allerdings erst aus der Zeit nach dem Bombardement von
1689 stanmit, bis dahin in den verschiedenen Zimmern des Rathauses auf-
bewahrt, in einen eigenen dazu hergerichteten Archivraum im Erdgeschofs
des Rathauses übergeführt worden. Die wüste Masse einzelner Aktenbündel
und Blätter, unter denen eine ältere Ordnung nicht mehr zu erkennen war»
wurde seit Beginn des Jahres 1899 zunächst von Armin Tille gesichtet,
in drei Hauptabteüungen (Kurkölnische, Französische, Preufsische Zeit) ge-
schieden und innerhalb der letzteren in sachliche Unterabteilungen gebracht
Seit Sommer 1899 ist in der Person des Oberlehrers am städtischen Gym-
nasium Dr. Knickenberg ein Archivar angestellt, dem zugleich die Ver-
waltung der in Verbindung mit dem Archiv aufgestellten Stadtbibliothek an-
vertraut ist. Eine Vergröfsenmg der Räumlichkeiten tmi ein besonderes
Arbeitszimmer für den Archivar steht bevor, eine Übersicht über die Bestände
des Archivs enthält die Bonner Zeitung Nr. 246 vom 15. Oktober 1899.
— 109 —
In Mfihlhausen L Th. wird, um das aOgcmein« Interesse für das
Aichnr zn bckbcn, eine ständige Archivausstellung geplant Magistrat
und Stadtrerordnete haben die dazu eifbrderlichen Kosten bewilligt, und es
ist bcgnindetc Hoffiiung vorhanden, dals diese Ausstellung, welche bei dem
grolsen Reichtum des ehemals reichsstädtischen und jetzigen StadtarchiTS
von M. an uneditieiten Quellen zur Geschichte Thüringens und des Deutschen
Reichs (V^ darüber Heydenreich, Archivwesen und Geschichtswissenschatt,
Marbiug, Elwert, 1900, S. IV fL) sehr interessant zu werden verspricht, noch
im Sonmier 1900 eröffiiet werden kann.
Bemkmalspflege. — Die Eii^be, welche der Gesamtverein der
deutschen Geschichts> und Altertumsvereine (vgL oben S. 84)
zwecks HerbeÜiihrung eines gröfseren Schutzes für historische Baudenkmäler
an die verbündeten Regierungen gerichtet hat, hat folgenden Wortlaut:
Der Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine er-
kennt dankbar an, dafs die deutschen Staaten in richtiger Würdigung der
auiserordentUchen Bedeutung und des unschätzbaren Wertes der geschicht-
lichen und kunstgeschichtlichen Denkmäler in den letzten Jahren sich deren
Erhaltung und Pflege in fortschreitendem Mafse angenommen haben; er
richtet aber wiederholt an sie die dringende Bitte, diesen Bestrebungen, welche
für die geschichtlichen Wissenschaften und für die Erhaltung des nationalen
Sinnes eine Lebensfrage darstellen, weitere Förderung durch gesetzliche Re-
gelung, Ausbildung und Erweiterung der ihnen gewidmeten Organisation und
Aufwendung gröfserer Geldmittel angedeihen zu lassen.
Der Gesamtverein erachtet es für notwendig, dafs die zu erlassenden
gesetzlichen Vorschriften den folgenden Grundgedanken entsprechen:
1. Ein unbewegliches Denkmal von kimstgeschichtlicher oder gesehicht-
lieber Bedeutung, das sich im Eigentum des Staates oder einer Körperschaft
im Sinne des öffentlichen Rechtes befindet, darf ohne Genehmigung der
Aufsichtsbehörde nicht zerstört und nicht wieder hergestellt, wesentlich aus-
gebessert oder verändert noch wissentlich dem Verfall überliefert werden.
2. Ein beweglicher Gegenstand von kunstgeschichtlicher oder geschicht-
licher Bedeutung, der sich im Eigentum des Staates oder einer Körperschaft
im Sinne des öffentlichen Rechtes befindet, darf ohne Genehmigung der
Aufisichtsbehörde nicht zerstört oder veräufsert und nicht wieder hergestellt,
wesentlich ausgebessert oder verändert werden.
3. Archäologische Ausgrabungen oder Nachforschungen irgend welcher
Art dürfen auf Grund und Boden, der im Eigentum des Staats oder einer
Körperschaft im Sinne des öffentlichen Rechtes steht, nicht unternommen
werden ohne Genehmigung der Aufsichtsbehörde.
4. Im Eigentum von Privaten stehende, unter ihren derzeitigen Eigen-
tümern gefährdete, unbewegliche Denkmäler von kunstgeschichtlicher oder
geschichtlicher Bedeutung sowie im Eigentum von Privaten befindlicher Grund
und Boden, der archäologisch wertvoUe unbewegliche oder bewegliche Denk-
mäler birgt, können enteignet werden.
Auf gesetzliche, dem letzten Punkt entsprechende Bestimmungen glaubt
der Gesamtverein im Einverständnis mit allen Kunst- und Geschichtsfreunden
des Vaterlands den gröfsten Wert legen zu sollen, weil durch sie allein zahl-
— 110 —
lose, bisher des Schutzes völlig entbehrende Denkmäler und Gegenstände
der Zerstörung, der Verunstaltung und der Verschleuderung entzogen werden
können.
Als wichtiges Hilfsmittel, insbesondere für die in der Denkmalpflege
thädgen Behörden und für die Aufklärung weiterer Kreise, empfiehlt der
Gesamtverein die zuletzt in den Gesetzgebungen von England, Frankreich und
Rumänien mit gutem ErTolg zur Anwendung gekommene Klassierung der
Denkmäler, ohne jedoch den staatlichen Schutz irgendwie einseitig auf die
klassierten Gegenstände beschränkt wissen zu wollen.
Der Gesamtverein weist hin auf die Ergänzung der behördlichen Organi-
sation durch die in verschiedenen Staaten mit bestem Erfolg thätigen frei-
willigen Mitarbeiter (Pfleger, Korrespondenten) sowie auf die bedeutende
Unterstützung, welche der gesamten Denkmalpflege durch die Heranziehung
der überall vorhandenen Geschichts- und Altertumsvereine erwachsen kann.
Der Gesamtverein erachtet es endlich für unerläfslich , dafs in jedem
Staate bei weitem gröfsere Mittel flir die Erhaltung und Wiederherstellung
der Denkmäler, als bisher geschehen, aufgewendet werden, und dafs thun-
liehst überall feststehende, hierfUr bestimmte Summen alljährlich in den Etat
eingesetzt werden.
Aus^rabungeil. — Im Dorfe Kirchheim (Kreis Molsheim im Elsals),
in dessen Nähe sich auf Winklers archäologischer Karte des Elsasses (Strafs-
burg, Noiriel 1896) zwei Keltenwege schneiden, hat Dr. Plath alte Baureste
aufgedeckt und daselbst einen römischen Villenbau nachgewiesen. Im
VI. und VII. Jahrhundert sind darüber merowingische Bauten entstanden
— vielleicht handelt es sich um einen Königshof der Könige Childebcrt
oder Dagobert — und im X. bis XII. Jahrhundert sind neue, allerdings
nachlässiger ausgeführte spätromanische Bauwerke hinzugekommen, die
zum Teil der Technik des gut erhaltenen dortigen Kirchturmes entsprechen.
Vgl. die näheren Ausfuhrungen in der Slrafsburger Post vom 5. Dez. 1899,
Nr. 1038.
Zeitschriften. — Vom i. Januar 1900 ab wird in Wiesbaden im Verlage
von P. Flaum eine Halbmonatsschrift Nassovia, Zeitschrifl fürnassauische Oe-
achichte wid Heimatkunde, herausgegeben von Dr. C. Spiehnann zum Preise
von I. 20 Uf vierteljährlich erscheinen. Das erste bereits vorliegende Heft,
16 Seiten 4^ bringt u. a. einen Aufsatz des Herausgebers „Der Werde-
gang des Herzogtums Nassau*', eine „Kurze Geschichte der Herzoglich
Nassauischen Artillerie** von R. Kolb und ist dazu angethan, das Interesse
für die heimische Geschichte in weiteren Kreisen zu wecken.
Der Anzeiger für Schweizer QeschictUe wird von jetzt ab von Prof.
Wolfgang Friedrich v. Mülinen in Bern redigiert.
Personalien. — Prof. Walter Judeich in Marburg ist als Professor
der alten Geschichte an die Universität Czemowitz berufen worden. — Der
bisherige aufserordentliche Professor Ludwig Finkel in Freiburg (Schweiz)
wurde zum Ordinarius für österreichische Geschichte in Lemberg ernannt. —
Der aufserordentliche Prof. der Geschichte in Kiel K. Rodenberg wurde
- 111 —
zum Ordinarius befördert. — In Breslau starb am 28. Nov. 40 Jahre alt
der Staatsarchivar Walter Ribbeck, in Zürich am 30. Okt. Rudolf
Maag, Lehrer der Geschichte am Obergymnasium. — Archivrat Paul
Mitzschke in Weimar scheidet soeben aus dem Dienste am grofsherzogl.
Staatsarchiv und zugleich aus der Reihe der an dieser Zeitschrift mitwirken-
den Herren aus. An seiner Stelle ist der bisherige Assistent an der Leipziger
Universitätsbibliothek Johannes Trefftz zum Archivar am grofsherzogl.
Staatsarchiv ernannt worden.
Eingegangene Bücher.
Bartsch, L. : Kirchliche und schulische Verhältnisse der Stadt Buchholz
während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Buchholz in Sachsen,
Verlag von Albert Handreka, 1899. 192 S. 8^ [Sonderabdruck aus
Heft III und IV der Beiträge zur Geschichte der Stadt Buchholz.]
Beyerle, Konrad: Konstanz im Dreifsigjährigen Kriege. Schicksale der
Stadt bis zur Aulhebung der Belagerung durch die Schweden 1628 — 1633.
Heidelberg, Karl Winter 1 900. 84 S. 8 ®. [Neujahrsblätter der Badischen
Historischen Kommission, Neue Folge 3.]
Bilfinger, Gustav: Untersuchungen über die Zeitrechnimg der alten Ger-
manen. I. Das altnordische Jahr. Stuttgart, W. Kohlhammer, 1899.
99 S. 4^.
Brumme, Franz: Das Dorf und Kirchspiel Friedrichswerth (ehemals Erffa
genannt) im Herzogtum Sachsen-Gotha, mit besonderer Berücksichtigung
der Freiherrlichen Familie von ErfiGsu Gotha, Kommissionsverlag von
C. F. Windaus, 1899. 393 S. 8^
Hansen, R.: Über Wanderungen germanischer Stämme auf der Cimbrischen
Halbinsel. 5 S. 4® "[Sonderabdruck aus Band LXX, Nr. 9 des Globus.]
Hübbe, H. W. C.: Zur topographischen Entwicklung der Stadt Parchim.
Parchim, H. Wehdemann 1899. 34 S. 8^ und em Plan von P. und
Umgegend.
K ob erlin, Alfred: Fränkische Münzverhältnisse zu Ausgang des Mittel-
alters. Bamberg 1899. 52 S. 8^. [Programm des neuen Gymnasiimis
in Bamberg für 1 898/1 899.]
Mendel, Albrecht : Die römischen Altertümer im Gymnasialunterricht Posen
1899. 23 S. 4^ [Beilage zum 65. Programm des Königlichen Friedrich-
Wilhekns-Gymnasiums zu Posen.]
„Monatsblätter", herausgegeben von der Gesellschaft für Pommersche Ge-
schichte und Altertumskunde, 1899, Nr. 11. S. 161 — 176, 8^.
Platen, Paul: Zur Frage nach dem Ursprung der Rolandssäulen. Dresden
1899. 51 S. 8^. [Beilage zum Programm des Vitzthumschen Gym-
nasiums 1 898/1 899.]
Posse, Dr. Otto: Haiidschriften-Konservirung nach den Verhandlungen der
St. Gallener Internationalen Konferenz zur Erhaltung und Ausbesserung
alter Handschriften von 1898 sowie der Dresdener Konferenz Deutscher
Archivare von 1899. Dresden, Verlag des „Apollo'* (Franz Hoftinann)
1899. 52 S. 8^ mit 4 photographischen Kupferdrucktafeln.
Tille, Alexander: Die Geschichte der Deutschen Weihnacht Leipzig, Ernst
Keils Nachfolger. 355 S. 8®. Jt 4,00.
— 112 —
Toeppen, R.: Des Bürgermeisters Samuel Wilhelmi Marienburgische Chro-
nik 1696 — 1726. 236 S. 8^. Drei Teile. [Beilagen zu den Pro-
grammen des Königlichen Gymnasiums zu Marienburg 1897, 1898 und
1899.]
Vancsa, Max: Die Grundbücher der Tirna- oder St. Morandus-Kapelle zu
St Stephan in Wien. 15 S. [Sonderabdruck aus den Blättern dps
Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 1898.]
Derselbe: Bibliographische Beiträge zur Landeskunde von Niederösterreich
im Jahre 1898. 32 S. [Sonderabdruck aus den Blättern des Vereines
für Landeskunde von Niederösterreich 1899.]
Derselbe: Die Baureparaturen der Burg Laa im XVL Jahrhundert und
ihre Kosten. 12 S. 4®. [Sonderabdruck aus den Berichten und Mit-
teilungen des Altertumsvereins in Wien 1899.]
Virmond, Eugen: Geschichte des Kreises Schieiden. Schieiden (Eifel)
1898. Druck und Verlag von F. W. Braselmann, 318 S. 8^
Volkmer, Schulrat: Geschichte der Stadt Habelschwerdt in der Grafschaft
Glatz. Habelschwerdt, Frankes Buchhandlung (J. Wolf), 1897. 310 S. 8®.
M 2,50.
eller, Karl: Die Ansiedelungsgeschichte des württembergischen Frankens
rechts am Neckar. 93 S. 8®. [Sonderabdruck aus den Württembergischen
Vierteljahrsheften für Landesgeschichte. Neue Folge. III. Jahrgang 1894,
S. iff.]
Derselbe: Die Besiedelung des Alamannenlandes. 52 S. 8^ [Sonder-
abdruck aus den Württembergischen Vierteljahrsheften ftir Landesgeschichte.
Neue Folge. VIL Jahrgang 1898.]
•" Derselbe: Hohenlohisches Urkundenbuch, im Auftrage des Gesamthauses
der Fürsten zu Hohenlohe herausgegeben. Band I: 1153 — 131 o. Stutt-
gart, W. Kohlhammer, 1899. 632 S. 8**.
Wieg and, Wilhelm: Bezirks- und Gemeinde- Archive im Elsafs. Ein Vor-
trag. Strafsburg, Druck von J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel), 1898.
31 S. 8^
Wolff, Emil: Grundrifs der preufsisch-deutschen sozialpolitischen und Volks-
wirtschaftsgeschichte vom Ende des Dreifsigjährigen Krieges bis zur
Gegenwart (1640 — 1898). Berlin, Weidmann, 1899. ^3^ S* ^^*
tM 3,60.
Wuttke, Robert: Die Probationsregister des obersächsischen Kreises. [Son-
derabdruck aus der Wiener Numismatischen Zeitschrift, XXDC. Band,
S. 237—302.]
Zeller-Werdmüller, H.: Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahr-
hunderts, auf Veranlassung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich her-
ausgegeben. L Band Leipzig, Hirzel, 1899. 404 S. 8^. Jl. 12.
Bericht Igangr. In dem Aufsatze von Hantzsch, „Die landeskundliche Litteratar
Deutschlands im Reformaüonszeitalter " ist die durch ein Versehen des Dracker^ fehler-
haft "gestaltete Aufeinanderfolge der Seiten so zu berichtigen, dafs nach Seite
41 Seite 44 und hierauf S. 42, 45 und 43 zu lesen sind, um die richtige Textfolge
zu gewinnen. — Seite 72 Anmerkung 2 lies Gmelin statt Gern I in.
Herausgeber Dr. Armin Tille ia Leipzig. — Dmck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
xur
Fördeniug der landesgeschichtlicheu Forschung
I. Band Februar 1900 5. Heft
Die Technik der Gf undkarteneinzeichnung ^)
Von
Rudolf Kötzschke
Die Aufforderung-, über Fragen der Zeichentechnik nachzudenken,
ist für weite Kreise der Historiker eine neue Erscheinung". Allerdings
ist die Beigabe von Karten und Skizzen in Werken der Geschichts-
wissenschaft längst nichts Ungewöhnliches mehr. Staatsgebiete, kirch-
liche wie staatliche Verwaltungsbezirke sind schon vielfach gezeichnet
worden, und hier und da liegen auch Versuche vor, über Besiedelung
und Bevölkerungsverhältnisse, über Grundbesitz und Wirtschaftszustände
der Vergangenheit durch bildliche Darstellung aufzuklären. Indes erst
in jüngster Zeit, seit der Betrieb kritischer landesgeschichtlicher Stu-
dien immer lebhafter geworden ist, geht man mit regerem Eifer daran,
die Forderung des Höchstmafses wissenschaftlicher Gründlichkeit in
der Feststellung geschichtlicher Vorgänge und Zustände auch für deren
i) Folgende von fremder Hand ausgeführten Gmndkarten haben mir bei Abfassung
dieses Aufsatzes vorgelegen: eine Reihe verschiedenartiger Karten Professor v. Thu-
dichums in Tübingen (politische und kirchliche Gebiete, Gaue, Markgenossenschaften,
Stadtgründungen, Rechtszug von Städten, Waldgebiete, Schulen), eine DarsteUung kur-
sächsischer Ämter im Jahre 1800, sowie eine Darstellung des Dohninschen Besitzes im
13. — 14. Jahrhundert von Herrn Mörtzsch in Dresden, eine Karte der slavischen Be-
siedelung Mittelsachsens von Professor Hey in Döbeln. — Wichtige Aufschlüsse über
die Veränderlichkeit der Gemeindegrenzen bis in die neuesten Zeiten hinein verdanke ich
mündlichen Mitteilungen des Herrn Professors Seeliger (vgl. dessen demnächst erschei-
nenden Aufsatz in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung, „Die historischen Grund-
karten. Kritische Betrachtungen."), vielerlei Anregung in den hier behandelten Fragen dem
Direktor der mittelalterlich-neuzeitlichen Abteilung des Historisch-Geographischen Insütuts
an der Universität Leipzig, Herrn Professor Lamprecht, sowie auch den Teilnehmern
an meinen in diesem Institut abgehaltenen Übungen mit Grundkarten zur deutschen Ver-
fassungs- und Wirtschaftsgeschichte. Die Veröffentlichung dieses Aufsatzes erfolgt im
gegenwärtigen Augenblick darum, weil er dazu bestimmt ist, als Grundlage fUr Verhand-
lungen zu dienen, die auf der Anfang April dieses Jahres in Leipzig tagenden Konferenz
deutscher Publikationsinstitute Über die Grundkartenfrage gepflogen werden sollen.
9
— 114 —
Festiegung auf dem Erdboden zu verwirklichen; erst jetzt findet der
Gedanke, die Karte zur Darstellung von Ergebnissen historischer For-
schung zu benutzen, unter den Fachgenossen weit über das bisher
übliche Mafs hinaus die ihm gebührende, allgemeinere Beachtung.
Eine Schwierigkeit für die reichliche Anfertigung kartographischer
Skizzen zur Geschichte bestand bisher darin, dafe auch die einfachsten
Linien der Situationszeichnung, Flufsnetz und Ortschaftseintragung, von
dem Zeichner selbst dargestellt werden mufsten, — eine mühevolle,
höchst zeitraubende Arbeit, wenn nur einige Genauigkeit dabei erzielt
werden sollte. Für eine Gruppe historischer Karten, für solche, die
nach dem Mafsstab i : looooo angelegt werden können, wird nun
diesem Mangel jetzt abgeholfen, indem für immer gröfeere Teile
Deutschlands, ja Mitteleuropas in den historisch-statistischen Grundkarten
ein eigenartiges Mittel geschaffen wird, von dem zu erhoffen ist, dafs
es die Möglichkeit bisher unerreichter Genauigkeit in der räumlichen
Darstellung historischer Probleme gewährt. Heute ist es daher schon
eine Frage, der die Aufmerksamkeit vieler Historiker sich zuwendet:
wie bewirken wir die Eintragung historischer Forschungsergebnisse in
die Grundkarten?
Der kartographischen Wiedergabe von Erdräumen ist es eigen,
nicht ein volles, wenn auch verkleinertes Abbild der Wirklichkeit zu
bieten, sondern deren Gegenstände durch Zeichen zu versinnbildlichen.
Auch die historische Kartographie ist demnach auf die Verwendung
leicht verständlicher Symbole angewiesen, und dies um so mehr, als
ihr ja nach der Natur ihrer Quellen die volle und genaue räumliche
Erfassung der Beobachtungsgegenstände nur selten möglich sein wird.
Und so drängt sich das Bedürfnis auf, soweit möglich, eine Verein-
barung über die Wahl der Zeichen und Darstellungsweisen zu erzielen.
Besonders aber gilt dies von der Eintragung in die Grundkarten ; sind
doch diese bestimmt, zwar nicht unmittelbar veröffentlicht, wohl aber
möglichst vielen Forschem benutzbar gemacht zu werden, um so durch
Vergleichen und Zusammenarbeiten dereinst die Herstellung histo-
rischer Atlanten, die allen Ansprüchen der Wissenschaft an Kritik und
Genauigkeit genügen, erleichtem zu helfen. Denn gerade dies ist eine
Eigentümlichkeit der Gmndkarte als eines billigen Blankos für karto-
graphische Darstellung historischer Daten, daCs sie für die Schaffung
künftiger historischer Karten und Atlanten eine Arbeitsorganisation
durchführbar macht, die neben der natürlich notwendigen Thätigkeit
spezieller historischer Kartographen auf der Kollektivarbeit der histo-
rischen Forscher bemht. Und darum ist das Bedürfnis einer Ver-
— 115 —
ständigling unter den Fachgenossen über die Technik der Grundkarten-
einzeichnung dringlich — ja dringlicher noch als z. B. bei den Fragen
der Editionstechnik : denn bei den Karten wird die Ungleichmäfsigkeit
in der Wahl der Symbole viel leichter Verwirrung stiften, zu falschem
Lesen der Eintragungen verfuhren oder doch unnötigen Aufwand an
Arbeitszeit und Mühe verursachen, das wünschenswerte Mafs von
Gleichartigkeit aber wird bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der
Möglichkeiten ohne eine solche Verständigung viel schwerer sich von
selbst herstellen.
Nachdem nun auf den Antrag des Gesamtvereins der deutschen
Geschichtsvereine eine Centralstelle für Grundkarten am Historisch-
Geographischen Institut der Universität Leipzig begründet worden ist,
darf es als ihre Aufgabe angesehen werden, eine solche Vereinbarung
anzubahnen. Es gut jetzt, wo eine gröfsere Anzahl von Grundkarten aus
verschiedenen Landesteilen fertig vorliegt und darum mit den Einzeich-
nungen in West und Süd und Ost Versuche angestellt werden können,
die Frage nach der Technik der Grundkarteneinzeichnung aufzuwerfen,
den Austausch von Erfahrungen darin, sei es auf dem Wege der
öffentlichen Erörterung oder auf dem der privaten Mitteilung in Gang
zu bringen, kurz von vornherein ein gewisses Zusammenwirken derer,
die an diesen Versuchen sich beteüigen, eine Arbeitsgemeinschaft für
den Anbau des neuen Gebiets geschichtswissenschaftlicher Forschung
herzustellen. Später, nach längerer Erfahrung, wird, soweit überhaupt
ein gemeinsames Vorgehen in der Grundkarteneinzeichnung geboten
erschemt, die endgültige Aufstellung gemeinsamer Regeln und Zeichen
in einer Beratung von Sachverständigen in Aussicht zu nehmen sein.
Der gegebene Ort für eine solche Besprechung ist einmal die Jahres-
versammlung des Gesamtvereins der Deutschen Geschichtsvereine,
und zum andern die im Verein mit der Deutschen Historikerversamm-
limg tagende Konferenz der deutschen Publikationsinstitute.
Als Grundlage für eine Erörterung der Einzeichnung in Grund-
karten, die auf der unmittelbar bevorstehenden Tagung der Konferenz
Anfang April in Leipzig gepflogen werden soll, ist dieser Aufsatz in
erster Linie zu dienen bestimmt. Indes erscheint es bei dem gegen-
wärtigen Stande der Grundkartenveröffentlichung wünschenswert, auch
weitere Kreise der deutschen Historiker anzuregen, sich einmal mit
den technischen Fragen der Grundkarteneintragung zu beschäftigen.
Und zwar sind zuerst wenige Bemerkungen zur Methode der histo-
rischen Kartographie überhaupt vorauszuschicken; sodann wäre von
einigen allgemeinen Grundsätzen zu reden, die für das Verfahren der
9*
— 116 —
Eintragung in die Grundkarten mafsgebend sein müssen; und endlich
wird an ein paar Beispielen darzulegen sein, welcher Mittel des Zeich-
nens man sich für einige der wichtigsten Aufgaben der Grundkarten-
eintragung bedienen mag.
I.
Die kartographische Aufnahme eines Erdraumes mit dem jeweils
erforderten und erreichbaren Grade wissenschaftlicher Genauigkeit ist
im Grunde nur in Anschauung der Beobachtungsgegenstände selbst
oder mit Benutzung bildlicher Vorlagen ausführbar ; blofse Nachrichten
werden stets zu den mannigfachsten Zweifeln Anlafe geben.
Eine möglichst vollendete Darstellung vergangener Zustände im
Kartenbild, zumal für weiter zurückliegende Zeiten, weist daher grofee
imd eigenartige Schwierigkeiten auf. Die Kartographie des modernen
Mitteleuropa vermag beim Mafsstabe i : looooo die Lage eines Ge-
höftes, eines Feldstücks bis auf wenige Hektar genau zu verzeichnen;
der historische Kartograph wird die Möglichkeit, die Lage auf ein
paar Quadratkilometer genau zu bestimmen, wenigstens für die älteren
Zeiten, als glückliche Ausnahme ansehen müssen. Die moderne Karto-
graphie vermag eine poHtische Grenze, eine Strafse in lückenlosem
Zusammenhange darzustellen, so dafs der Benutzer sie Kilometer für
Kilometer bequem mit dem Zirkel nachmessen kann; der historische
Kartograph wird hier und da ein Stück nach Quellenzeugnissen oder
noch vorhandenen Überresten gesichert einzeichnen können; die Ver-
bindung der Stücke bleibt der Vermutung überlassen. Die moderne
Kartographie beruht auf gleichmäfsiger Kenntnis aller Teile eines Ge-
bietsausschnittes ; der historische Kartograph kennt wohl einzelne Teile,
aber deren Verhältnis zum Ganzen einer umgrenzten Fläche bleibt
eine unbekannte Gröfse. Und — was das Wichtigste ist — der mo-
derne Kartograph arbeitet mit den klar geprägten Raumbegriffen der
Gegenwart ; die Raumvorstellungen des deutschen Volkes aber von den
Tagen seines Altertums bis hinein in die neueren Zeiten sind noch
wenig erforscht, und gewifs sind sie in der Frühzeit mehr ein Gebilde
phantasievoller Anschauung als begrifflich scharf ausgestaltet und fähig
zu zahlenmäfsigem Ausdruck.
Der Unterschied der historischen und der modernen Kartographie
besteht nun aber nicht allein in einem verschiedenen Grade erreich-
barer wissenschaftlicher Genauigkeit; er beruht tiefer in einem wesen-
haften Gegensatze historischer und kartographischer Forschungsweise.
Der Historiker wird aus den Angaben seiner Quellenzeugnisse ur-
— 117 —
sprünglichster Art nie zur genauen Bestimmung auch nur der Lage
eines Ortes auf dem Erdball, geschweige denn zur Darstellung eines
Erdraums für einen vergangenen Zeitpimkt gelangen : nur die Benutzung
der kartographischen Aufnahmen der Gegenwart oder wenig weit zu-
rückliegender Zeiten bietet dazu überhaupt erst die Möglichkeit.
All dies gilt mm von dem Entwerfen historischer KartenbUder
mit Hilfe der Grundkarten in besonderem Malse, weil ja der groise
Mafsstab i : looooo an sich einen hohen Grad von Genauigkeit er-
forderlich macht. Für den Grundkartenhistoriker, wenn ich ihn einmal
so nennen darf, erhebt sich die Frage: widerspricht nicht diese un-
mittelbare Verwendung einer Darstellung von Zuständen der Gegen-
wart, wie sie die Grundkarte enthält, für die Erkenntnis der Vergangen-
heit, diese, ich möchte sagen, handgreifliche Vereinigung von Zuständen
verschiedener Zeitalter auf demselben Blatte Papier, widerspricht dies
nicht den elementarsten Grundsätzen historischer Forschung? Gewisse
Zweifel könnten schon auftauchen, was die Flufsläufc und Ortschaften
betrifft. Sind nicht auch sie wandelbar, etwas historisch Gewordenes,
in ihrer heutigen Form und Lage für die Darstellung vergangener Zu-
stände unbrauchbar? Namentlich aber richten sich starke Bedenken
gegen die mit genauester Wahrung gegenwärtiger Verhältnisse einge-
tragenen, roten Gemarkungsgrenzen — also gerade das Eigenartigste
der Grundkarten, was auf anderen leicht zugänglichen Karten meist
fehlt. Haben diese Grenzen wirklichen Wert für den Historiker,
der Grenzverhältnisse früherer Jahrhunderte eintragen will? Verführt
nicht deren Benutzung geradezu zu Fehlem, die doch nicht so un-
erheblich sind, dafs sie bei der für eine spätere Veröffentlichung etwa in
Betracht kommenden Reduktion auf einen kleineren Mafsstab (i : 500000)
völlig verschwinden?
Wer Eintragungen in die Grundkarten vornehmen will, wird gut
thim, Zweifel dieser und ähnlicher Art sich durch den Kopf gehen zu
lassen — aber doch Zweifel, die ihn nicht veranlassen, den Zeichen-
stift wegzulegen, sondern nur sorgsam mit sich zu Rate zu gehen, wie
er drohende Fehler vermeiden wird, zu denen unbedachtsame Benutzimg
des in der Grundkarte gebotenen Stoffes verleiten kann.
Nicht jedes Ergebnis historischer Forschung ist der Eintragung in
Grundkarten fähig: umsichtigster Erwägung bedarf es, ob die Bedin-
gungen für die Einzeichnung in Grundkarten erfüllt sind.
Ganz selbstverständlich liegt schon heute die Möglichkeit wissen-
schaftlich gerechtfertigter Eintragung in Grundkarten vor, wo es sich
um Beobachtungsgegenstände aus der Gegenwart oder einer dieser
— 118 —
sehr nahen Zeit handelt, die zur Aufstellung" der Vergangenheit ver-
wendet werden; denn hierfür sind ja gerade die jetzt bestehenden
Gemarkungen das Beobachtungsfeld. So z. B. bei den Funden ver-
schiedenster Art, bei Angaben aus Flurkarten vor der Zusammen-
legung der Grundstücke, bei Daten der Volkskunde, die historischen
Wert haben u. dergi. m. Wieviel Aufklärung für die Geschichte der
ländlichen Bevölkerung werden wir z. B. gewinnen, wenn Bauart und
Alter der Dorfkirchen und Bauernhäuser, die Anlage der bäuerlichen
Gehöfte und Ähnliches in Grundkarten verzeichnet werden!
Ebenso wenig walten wissenschaftliche Bedenken ob bei histo-
rischen Daten, die einfach bei dem Ortsnamen eingetragen werden
können ohne Rücksicht auf die Flächenausdehnung, also ohne Ein-
zeichnung von Grenzen; die Grundkarte ist in diesem Falle weiter
nichts als eine Art geographisch angeordneter Tabelle, die die Lage
irgendwelcher historischer Begebenheiten über den Erdboden hin dem
Auge verständlich macht — ein Darstellungsmittel, dem um so gröfeere
Bedeutung zukommt, da der menschliche Geist diese Verstreuung im
Raum bei blofeer Wortbeschreibung erfahrungsgemäfe nicht klar zu
erfassen pflegt.
Schwieriger gestaltet sich die Frage bei der Darstellung um-
grenzter Gebiete : erst bei dergleichen Aufgaben werden ja die Zweifel
an der Verwendbarkeit der Gemarkungsgrenzen des XIX. Jahrhunderts
wirksam. — Jede Zeichnung einer historischen Grenze ohne Karten-
vorlage ist hypothetischer Art und wird mehr oder minder belang-
reiche Fehler aufweisen; diese auf das erreichbare und je nach dem
Mafsstabe der Karte zulässige Mindestmafs mit aller kritischen Umsicht
zu beschränken, ist unerläfsliche Aufgabe einer wissenschaftlichen An-
forderungen genügenden historischen Kartographie. Es bleibt dem-
nach gar keine Wahl, ob man Karten mit den Gemarkungsgrenzen
der allerjüngsten Zeit als Unterlage für das Bild der Vergangenheit
verwerten will oder nicht. Der historische Kartograph mufs diese
gegenwärtigen Grenzen kennen, von der Gegenwart mufe ausgegangen
werden. Historische Kartographie des XIX. Jahrhunderts, das ist also
die erste und dringlichste Aufgabe, die der Lösung harrt: von hier
aus ist dann allmählich unter sorgsamster Erforschung der jeweiligen
Grenzverhältnisse in frühere Zeiten vorzudringen. So viel läfst sich
indes schon heute übersehen: eine Möglichkeit, die vollkommen ge-
nauen Gemarkungsgrenzen auch nur des XVII. oder XVI. Jahrhunderts
zu zeichnen, besteht — von vereinzelten Fällen abgesehen — durchaus
nicht; nur ein allgemeines Urteil über das Mafs der Veränderungen
— 119 —
wird zu gewinnen sein. Bevor diese Arbeit geleistet ist, wird die
Darstellung umgrenzter Gebiete nach dem Höchstmafs der bei der
Beschaffenheit unserer Quellen überhaupt erreichbaren Genauigkeit
ausgeschlossen sein. Erinnert sei hierbei daran, dafs dieser Weg der
rückwärtsschreitenden Forschung überhaupt bei Untersuchungen zur
Geschichte der Wirtschaft , des sozialen Lebens , der Verfassung und
Verwaltung so oft allein zum Ziele fuhrt.
In dieser Hinsicht ist also der Weg gewiesen. Fraglich hingegen
könnte es sein, ob man unter klarbewufstem Verzicht auf jenes Höchst-
mafs von Genauigkeit rohere Skizzen wagen darf, die unter Benutzung
der heutigen Gemarkungsgrenzen freilich nicht die historische Wirk-
lichkeit genau wiedergeben, wohl aber uns helfen, die Zustände der
Vergangenheit im Räume uns anschaulich vorzustellen — Skizzen, bei
denen es auf das entstehende Gesamtbild ankommt, nicht darauf, ob
überall die lo oder selbst einmal loo ha genau der historischen Wkk-
lichkeit gemäfs mit Farbe oder Schraffierung bedeckt sind. Nun sind
ja die Grundkarten Arbeitskarten, nicht unmittelbar zur Veröffent-
lichung bestimmt, und darum als Hilfsmittel blofeer Veranschaulichung
für den Forscher verwertbar, der die vorhandenen Fehler seiner Skizze
zu bedenken und bei den Schlüssen, die er daraus zieht, auszuschei-
den versteht. Die Belehrung, die dergleichen Entwürfe über unsere
bisherige Kenntnis hinaus gewähren können, ist immerhin so reich,
dafe die dagegen obwaltenden Bedenken unterdrückt werden dürfen,
natürlich unter der Voraussetzung, dafe der Zeichner die unsicheren
TeUe seines Kartenbildes durch geeignete Darstellungsmittel kenntlich
macht. Und der Gewinn, den solche Vorarbeiten bieten , darf um so
eher eingeheimst werden, als die dabei unvermeidlichen Fehler in der
Mehrzahl der Fälle verhältnismäfsig unerheblich sein werden und über-
dies bei der Zeichnung eines gröfeeren Ganzen sich zumeist unter
einander aufheben.
Brauchbar sind demnach die Grundkarten für die verschiedensten
historischen Zwecke sehr wohl. Soviel aber ist klar : bei jeder Einzeich-
nung mufs der Eintragende bedenken, dafs das, was auf seinem Blatte
gedruckt steht und das hineinzuzeichnende und zu malende der Regel
nach zwei verschiedenen Daseinsperioden angehört. Das historisch
wirkliche auf einer ausgeführten Grundkarte ist nur das gezeichnete,
keine Linie, kein Buchstabe des gedruckten : was die rohe Grundkarte
bietet, ist nichts weiter als ein Symbol des Erdbodens, das ermög-
lichen soll , den Platz eines historischen Forschungsergebnisses auf
einem oder mehreren unter der Million von QuadratkUometern Mittel-
— 120 —
europas emigermafsen genau zu bestimmen. Hält man sich aber dies
gegenwärtig', und hütet man sich, die Gebilde von Menschenhand auf
dem Erdraum, die die Grundkarte aufweist, ohne weiteres auch für die
Vorzeit als bestehend vorauszusetzen, dann vermag man sehr wohU
sich dieses Hilfsmittels für die Darstellung der Vergangenheit me-
thodisch unanfechtbar zu bedienen.
I Bedarf es somit für den Grundkartenhistoriker gewissenhaftester
Umsicht, um die Gefahren zu meiden, die in der Verwendung einer
Karte des XIX. Jahrhunderts als Zeichenunterlage beruhen, so gehen
Schwierigkeiten anderer Art aus der Natur der historischen Daten
selbst hervor. Der Boden, auf dem ein Ereignis sich vollzieht, ein
Zustand besteht, ist etwas Singuläres. Mag immerhin der Grundkarten-
benutzer später seine allgemeinen Schlüsse ziehen können — wie der
Statistiker nach der Aufnahme der Einzelfalle — , für den Grundkarten-
zeicbner, der mit dem Stift in der Hand beim Anschauen seiner Karte
die lebensvolle Wirklichkeit bis auf die Feldraine und Grenzsteine sich
im Geiste vergegenwärtigt, wird sich immer das Streben aufdrängen,
den darzustellenden Gegenstand räumlich bis ins einzelnste zu er-
kennen. Hier aber versagt je älter, je mehr die historische Über-
lieferung. Das räumlich Individuelle, dem Auge mit allen Feinheiten
erfafsbar, ist mit den sprachlichen Ausdrucksmitteln selbst bei hoch-
entwickelter Kultur, bei begrifflich geschärften Raumvorstellungen, nur
ungenau wiederzugeben; die Überbleibsel der Vergangenheit, aus
deren Beobachtung der Historiker seine Daten gewinnt, erschweren
die Erfassung des im Räume wirklichen Singulären erst recht. Nicht
allein, dafs die dem historischen Forschungsergebnis so oft anhaftende
Unsicherheit der kartographischen Fixierung widerstrebt, wie oft zeigt
das Nebeneinander dessen, was als sicher in die Karte eingetragen ist,
grofse Lückenhaftigkeit des historisch Erkannten im ganz wörtlichen
räumlichen Sinn! So entsteht für den Grundkartenzeichner die Not-
wendigkeit, durch Vermutung zu ergänzen, was ihm die Überlieferung
vorenthält; und wie es schon bei der Wiedergabe von handschrift-
lichem Text gilt, Konjekturen des Herausgebers im Druck augenfällig
zu machen, so bedarf es auch, wenn ich so sagen darf, für die Grund-
^artenkonjektur , einer besonderen 2^ichensprache , die dem Benutzer
sofort verrät, dafs es sich nur um Mutmafsung des Zeichners handelt.
Ich möchte darum hier z. B. das Folgende vorschlagen. Bei Wörtern
und Zahlzeichen wird es genügen , das Ungewisse durch [ ] und ?
kenntlich zu machen; wo es angeht, mag man andere (heilere) Tinte
oder blofsc Bleistifteintragung anwenden. Soll die Verbindung zweier
— 121 —
Punkte vermutungsweise angegeben werden, so empfiehlt es sich, gleich-
viel welche Strichelung sonst gebraucht wird, die gebrochene Linie
anzuwenden (Striche von der Gröfse eines 1/4 cm mit entsprechen-
dem Zwischenraum; also zum Beispiel: oder
). Bei der Darstellung von Flächen wird
Wechsel der Farbe und Schraffierung zu wählen sein (wenn möglich,
ein ganz lichter Ton), für die Umgrenzung ein (hellgraues) Randkolorit
in gebrochener Ausführung. Ist eine Vermutung nur sehr unsicher
b^ründet, so ist von der Einzeichnimg in die Grundkarte völlig ab-
zusehen, und nur auf einem beiliegenden oder angehefteten Blatt Papier
ist sie in Worten oder auch bildlich zum Ausdruck zu bringen ; auf der
Karte selbst kann dann ein deutliches [!!] oder eine helle Schraffierung
zwischen farbiger Umgebung die Aufmerksamkeit des Benutzers err^en.
II.
So haben wir eine Reihe von allgemeinen Grundsätzen gewonnen,
die für die Eintragung in Grundkarten zu beobachten sind, und es ist
nunmehr möglich, in die Erörterung der technischen Fragen selbst
einzutreten.
Zunächst erhebt sich die Vorfrage, auf welchen 2^itpunkt eine
Grundkartenzeichnung einzustellen ist. Man hat gefordert, dafis eigent-
lich jede historisch-kartographische Darstellung die Zustände eines be-
stimmten Jahres wiedergeben solle. Gewife ist dies recht oft die voll-
kommenste Form der Darstellimg ; und gerade die Grundkarten gestatten
bei ihrem billigen Preise die kartographische Aufnahme für möglichst
viele einzelne Jahre und damit eine weitgehende Annäherung an jenes
Ziel. Aber zumal für die Darstellung von Zuständen aus den ver-
schiedensten Gebieten des Volkslebens ist die Erfüllung jener Forde-
rung unmöglich und auch unnötig. .Ja, es wird sich bisweilen das
entgegengesetzte Bedürfnis einstellen, nämlich, wenn man auf die
kartog^phische Darstellung und damit auf die Veranschaulichung der
Entwicklung selbst nicht verzichten will, geradezu aufeinanderfolgende
Entwicklungsperioden in einem Kartenbilde, natürlich durch Farbe
und Form der 2^ichen geschieden, zu vereinigen; z. B. Zuwachs des
Grundbesitzes durch Rodung und Schenkung oder auch Anwachsen
des Staatsgebietes, Aufteilung von Klostergut unter die Hauptstellen
der Verwaltung, Verlehnung ursprünglich selbstverwalteten Besitzes
u. s. w. Kurz, die möglichst genaue zeitliche Bestimmung jedes ein-
zelnen einzuzeichnenden historischen Datums ist allerdings anzustreben,
und jeder zeitliche Unterschied ist mit äufserster Sorgfalt bei der Ein-
— 122 —
trag-ung" zu beachten. Aber für die Wahl eines bestimmten Jahres
oder eines mehr oder minder abgegrenzten Zeitraums läfst sich eine
bündige Regel nicht aufstellen.
Welcher Darstellungsmittel wird sich nun aber der Grundkarten-
Zeichner bedienen? Die junge historische Kartographie wird gut thun,
soweit dies nicht durch die Eigenart ihrer Probleme ausgeschlossen
ist, bei den Wissenschaften in die Schule zu gehen, die schon über
ausgebildete Methoden graphischer Darstellung verfügen, insbesondere
bei Geographie und Statistik: nicht allein deshalb, weil hier eine hohe
Vollkommenheit genauester Wiedergabe der Wirklichkeit im Verein
mit Anschaulichkeit, ja selbst mit künstlerischer Wirkung allmählich
erreicht worden ist, sondern schon darum, weil es überhaupt geboten
erscheint, möglichst an Bekanntes anzuknüpfen. Auf den geographi-
schen Spezial- und Generalkarten sind in der Darstellung der Situation
wie des Terrains eine Reihe von Bezeichnungen für Gegenstände der
Landesnatur, wie für Schöpfungen des Menschen auf den Erdräumen
eingeführt, von denen manche recht wohl auch für die Eintragung in
Grundkarten verwertbar sind, z. B. nach dem Vorbild der deutschen
Generalstabskarten die Zeichen für Strafsen, Wege und Brücken, für
Laub- und Nadelwald, für Feld, Wiese, Sumpf und Ähnliches mehr.
Und wiederum die Statistik lehrt mit ihren Punkt-, Linien- und Flächen-
diagrammen und noch mehr mit ihren Kartogrammen die Wiedergabe
von Zuständen der Bevölkrung, die auch für den Historiker verwend-
bar und einer weiteren Ausbildung recht wohl fähig ist. Wo also
eine schon bei Geographen oder Statistikern übliche Darstellungsweise
— zumal auf den Karten im Mafsstabe i : looooo — für die Ein-
tragung in die Grundkarten nicht durch wesentlich Besseres oder we-
nigstens leichter Zeichenbares zu ersetzen ist, wird der Historiker am
besten sich ihrer für seine Zwecke bedienen. Und aufser der An-
nahme einzelner passender Zeichen wird er den Grundsatz sich an-
eignen, bei der Wahl der Symbole die Grundform der natürlichen
Gegenstände , des Hauses und Hofes , des Dorfes , des Marktes , der
Burg, der Stadt mit wenig Linien nachzubilden sowie das Wesen ihrer
Lage im Raum, Geschlossenheit und Zusammenhang oder Zerstreuung
über eine Fläche hin möglichst anzudeuten oder wenigstens durch
Gröfse und Form, durch helleren und dunkleren Ton, durch Striche-
lung oder Farbe ein verständliches Sinnbild des natürlichen Gegenstandes
zu schaffen und so die gedächtnismäfsige Erfassung der gewählten Zeichen
zu erleichtern, sowie überhaupt aus einfachen — immer wiederkehrenden
Elementen — das Zusammengesetztere sinnreich zu entwickeln.
— 123 —
Die Formen der Eiatragung in Gnmdkarten lassen sich in folgfende
vier Gruppen scheiden:
i) Einfaches Einschreiben von Zahlen und Namen u. s. w., auch
blo&es Unterstreichen des Ortsnamens. Dabei empfiehlt sich die An-
wendung bunter Tinten (rot, blau, grün).
2) Einzeichnen von allerhand Symbolen in schwarzer oder farbiger
Ausführung.
(In beiden Fällen ist natürlich die Eintragung aus rein äufserlichen
Gründen innerhalb der Gemarkungsgrenzen zu bewirken ohne Rück-
sicht darauf, ob diese zur Zeit bestanden oder nicht; die Lage ist
nach Möglichkeit genau anzudeuten, z. B. eine Wassermühle am Bache
oder Flusse.)
3) Lineare Darstellungen : gebrochene und laufende Linien, Striche-
lungen der verschiedensten Art, bänderartige Einzeichnungen , auch
Randkolorit.
4) Darstellungen mit Flächenbedeckung: Schraffierung, Flächen-
(Streifen-)kolorit.
Die Wahl des Darstellungsmittels wird sich aus der Natur des
einzutragenden Gegenstandes meist mit Leichtigkeit ergeben; zu be-
achten ist allerdings, dais es oft wünschenswert, ja notwendig sein
wird, auf ein schon benutztes Blatt später Ergebnisse andrer, ver-
wandter Forschung einzutragen, z. B. auf eine Karte, die eine Grund-
herrschaft darstellt, den Besitz andrer Grundherren. Hier sei nur
bemerkt, dafs die farbige Ausführung, als die sinnfälligste, für die
Darstellung der wichtigsten Unterschiede vorbehalten bleiben mufs;
solche von mindrer Bedeutung können dann durch angebrachte
Strichelung oder Schraffierung bezeichnet werden. Flächenkolorit ist
dem Randkolorit überall vorzuziehen, wo innerhalb umschlossener Ge-
biete besondre Unterschiede nicht zum Ausdruck gebracht werden
sollen. Der Farbenton darf nicht so dunkel sein, dafs der Grundkarten-
druck schwer lesbar werden könnte.
Mit der Vollendung der Zeichnung auf der Grundkarte ist indes
die Arbeit des Grundkartenhistorikers noch nicht gethan. So mancherlei
kritische Vorarbeiten waren ja vor der Ausfuhrung mit Pinsel und Stift
anzustellen , von denen der wissenschaftliche Wert des Kartenbildes
abhängt. Der Benutzer mufs daher klaren Aufschlufs darüber erhalten,
und so erweist es sich als unumgänglich notwendig, für eine jede
Grundkartendarstellung eine ,, Erläuterungsschrift** zu verfassen, die
der an die betreffende Landesstelle einzuliefernden Kopie beizugeben
— 124 —
oder auf der Rückseite der Grundkarte anzuheften ist. Diese Erläute-
rungsschrift mufs das Folgende enthalten:
i) genaue Angaben über die Quellen, denen die auf der Grund-
karte eingezeichneten historischen Daten entnommen sind, wenn nötig
unter Skizzierung der kritischen Erwägungen, die für die Einzeichnung
mafsgebend waren.
2) eine Angabe über Jahr oder Zeitraum, wofür die Grundkarten-
zeichnung gilt, wenn nötig, unter ausführlicher Begründung des ge-
wählten Zeitansatzes.
3) Anmerkungen über alles Besondere, nicht ohne weiteres Ver-
ständliche, vor allem über die unsicheren Bestandteile der Zeichnung,
die Ergänzung der Lücken, überhaupt Mitteilungen jeder Art, die den
Benutzer über Wesen und Wert der Grundkarteneinzeichnung aufzu-
klären geeignet sind. Bisweilen mag es sich auch empfehlen, den
gesamten Stoff der Zeichnung mit Worten oder etwa in einer Tabelle
in die Erläuterungsschrift aufzunehmen.
Endlich sei noch auf eine Begleitarbeit hingewiesen, die wenig-
stens für viele Eintragungen in Grundkarten sich als nötig erweist : den
Vergleich der rohen Grundkarte mit dem entsprechenden Blatte der
Generalstabskarte. Lebendige, klare Vorstellung des Erdraums, in den
ein historisches Datum hineingestellt werden soll, ist erstes Erfordernis
für den Grundkartenhistoriker ; dazu aber bedarf er genügender Kenntnis
der Terrainverhältnisse. Die Grundkarte selbst vermag sie ihm aus
technischen Gründen nicht zu bieten; so mufs er vor und bei der
Einzeichnung die Generalstabskarte zur Hand haben und einsehen.
III.
Eine Reihe allgemeiner Fragen der Einzeichnungstcchnik sind
bisher zur Besprechung gekommen, und es erübrigt nunmehr, einige
besondere Beispiele für die wichtigsten Probleme der Grundkarten-
eintragung vorzuführen und daran zu zeigen, wie die oben dargelegten
Grundsätze in der Zeichenpraxis zu bewähren sind.
An Vorbemerkungen zunächst — ohne strengen Zusammen-
hang — die folgenden.
Sind alle Vorarbeiten erledigt, dann beginne man in der Regel
die Einzeichnung nicht sogleich mit Tinte oder Tusche; auch die
Bleistiftskizze mag zunächst nur leicht hingeworfen werden. Erst wenn
Inhalt und Form der Eintragung völlig feststeht, ist es ratsam, die
Striche mit Tinte auszuziehen, oder zur farbigen Ausführung zu schreiten.
— 125 —
Bei der Kolorierung gröCserer Flächen empfiehlt es sich , Gemarkung
für Gemarkung mit der Farbe zu bedecken.
Die Namensformen der örtlichkeiten sind in liegender Schrift mit
sogen, lateinischen Buchstaben deutlich einzuschreiben, nahe dem für
die örtlichkeit eingetragenen Zeichen; günstig wirkt hierbei die Ver-
wendung von blauer Tinte. Namen ganzer Gebiete sind am besten
in (grolsen) der Druckform nachgebildeten lateinischen Buchstaben
mit roter Tinte über die Fläche hin einzuschreiben. Bei Flufsläufen
oder eingezeichneten Linien und Bändern ist die Namensform oder die
erklärende Bezeichnung in Anpassung an deren Verlauf einzuschreiben ;
doch mufs die volle Wortform deutlich ins Auge fallen. Es wird sich
dabei empfehlen, die Buchstaben zu trennen und die Druckschrift
nachzuahmen.
Jahreszahlen werden unter dem Namen mit andrer (roter) Tinte
beigefügt.
Sind gleichzeitig Verhältnisse der Landesnatur (Wald, Wiese u. s. w.)
und Beziehungen des Erdraums zum Menschen darzustellen, so sind
für jene, soweit möglich, die Signaturen der Generalstabskarte, für
diese hingegen Farbenunterschiede anzuwenden.
I. Darstellung von Örtlichkeiten
a) Einfache Ortsangabe.
4- Bezeichnung der Örtlichkeit schlechthin (dem an sich besten
Symbol dafür, dem Punkt, vorzuziehen, weil dieser leicht zu
Verwechselung Anlafs bietet).
X Fundstätte (xPr : prähistorischer Fund; x R : Römerfund ; xSl: sla-
vischer Fund ; x den : Fund von Denaren ; genauere Angaben
über die Fundgegenstände können in Worten daneben ein-
geschrieben werden).
• JL . Gerichtsstätte ( . .2* • //c/ Hochgericht;
• • • • . •
X . NG Niedergericht; . -L . ^^ Dorfgericht).
iT Zollstätte.
lOOl Münzstätte.
j, Turm.
— 126 —
b) Einzelsiedelung:
• Einzelnes Haus.
■ Gehöfte. /■7 Gut.
äI Wassermühle. T Windmühle.
r Rittersitz. nV Biu-g. ^ Schlofs.
{ Kapelle. rt Kirche. rl Stiftskirche, fi Pfarrkirche.
Kloster.
c) Zusammengesetzte Siedelung.
(^ Dorf. (\ Dorf mit Rittersitz. ^?^ Kirchdorf.
Q Markt (z. B. bei Vergleichung von Marktprivilegien nebst Zeit-
angabe).
^1 Stadt. ^Dh f^^s^^?-
Das Ortszeichen, das sich im Druck der Grundkarte vorfindet, ist
in der Regel durch das Symbol zu ersetzen, beziehentlich dieses ams
jenem z. B. durch Verstärkung der Umrifslinien herauszugestalten. Die
Zugehörigkeit zu einem Herrn der Siedelung u. s. w. ist durch Farben
zu bezeichnen.
2. Wege
Soweit dies — in der jüngsten Vergangenheit — möglich ist, ist
die Form der Wirkhchkeit genau entsprechend zu gestalten; in die-
sem Falle sind die Zeichen der Generalstabskarte für Fufe- und Feldwege,
Strafsen u. s. w. anzuwenden. Andernfalls ist in rein schematisch er
Darstellung die Gerade oder Kurve als Verbindung von zwei gege-
benen Punkten zu wählen.
Gemeindeweg.
Strafse.
— — Hauptstrafse.
— 127 —
Um die Anlage der Verkehrswege verständlich zu machen, ist
auf Karten, die nur diese selbst darstellen, Einzeichnung des Terrains,
durch das sie führen, nötig; und zwar kommt es vor allem auf die
Böschungsverhältnisse an, weniger auf die absolute Höhe. Am besten
bedient man sich dazu der mit Braunstift ausgeführten Schummerung.
3, Verwaltungsbezirke
Für die Darstellung weltlicher und kirchlicher Verwaltungsbezirke
empfiehlt sich im allgemeinen Flächenkolorit; steht ein Gebiet unter
geteilter Verwaltung, so ist Streifenkolorit zu wählen ; Randkolorit dann,
wenn irgendwelche Zustände innerhalb des Bezirks gleichzeitig zum
Ausdruck gebracht werden sollen.
Oft wird es geboten erscheinen, die Art der Grenze durch die
Verschiedenheit der Strichelung anzugeben. So für die kirchliche
Einteilung :
+ + + -»- + -»- + + + Grenze der Pfarrbezirke.
+ . + . + . + . + . -1- ,, „ Archidiakonate.
— + -■ + -■ + -■-»--■ „ „ Bistümer.
Für die weltliche z. B. :
Gemeindegrenzen (in schwarz oder anderer Farbe
auf bzw. neben die gedruckte rote Gemar-
kungsgrenze einzutragen).
— • — • — • — o — o— Ämter der fürstlichen Landesverwaltung.
— X — X — X — X— Hochgerichtsbezirke.
Niedeigerichtsbezirke.
^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ WeichbUdgrenze.
■1 ■§ ■§ ■§ ■§ Landesgrenzen.
Lücken in der Feststellung der Grenzen sind nach dem oben dar-
gelegten durch — « _ zu bezeichnen; dabei kann das farbige Band
voll ausgeführt werden, doch wird dies bei minderer Sicherheit besser
unterDieiDen : also z. iJ. p,i!i*i||ffi|ii!5i!i(TO',ii*i;iiH lüHiü'iiiiii'iroPiiiüIiiiiiffl'
4. Gebiete mit ungewissen Grenzen
Die Eigenart der historischen Quellen stellt dem Grundkarten-
zeichner bisweilen die Aufgabe, Gebiete darzustellen, von denen er
nicht die Umgrenzung, sondern nur einige darin gelegene Örtlichkeiten
kennt. Dies ist z. B. der Fall bei der Kartographie der Gaue, auch
der landesfürstlichen Ämter in älterer Zeit u. s. w. Die bekannten
Örtlichkeiten sind dann zuerst mit farbiger Unterstreichung der ge-
druckten Ortsnamen oder mit (farbigem) Einschreiben der Namensform
— 128 —
der Quelle einzutragen. Unter ungünstigen Umständen mufs es dann
bei dieser Darstellungsweise sein Bewenden haben. Ergiebt sich aber
die Zugehörigkeit zu dem darzustellenden Gebiete für ein gröfeeres
oder einige kleinere Stücke Landes mit der nötigen Sicherheit, so
sind diese mit Flächenkolorit zu bedecken; bei unsicheren Gebiets-
teilen kann Streifenkolorit angewendet werden (schmale farbige Streifen
mit breiten Streifen freigelassenen Raumes) ; und endlich wird es in
günstigen Fällen möglich sein, eine Vermutung über den Grenzsaum
durch Randkolorit (........ ^ anzudeuten.
5. Grundbesitz
Als Einheit für die Darstellung von Grundbesitzverhältnissen wird
es sich meist empfehlen, die Hufe anzunehmen. Darzustellen ist sie
mit einem Quadrat, dessen Gröfse überall da, wo man die Hufengröfse
der Gemarkung oder wenigstens der Gegend kennt, dieser in ziemlich
genauer Berechnung angepafet werden kann, da ja i qcm der Grund-
karte einer Fläche von i qkm entspricht. Als Durchschnittsmafs (in
schematischer Darstellung) wäre ein Quadrat mit der Seitenlänge von
reichlich 3 mm einzuführen (die Hufe = 10 ha). Halbe Hufen sind
dann durch ein entsprechendes Rechteck darzustellen.
Die Arten der Hufe sind mit Deckweife durch Signaturen zu be-
zeichnen.
pl Hufe ohne nähere Angabe.
s. w.
fo] Freienhufe; '0 Laetenhufe; ^ Sklarenhufe u.
Bei Salhufen ist ein Kreis in der Mitte freizulassen.
Die Gröfse des Fronhofes (curtis, curia . . .) wird, wenn nach-
weislich, genau, sonst schätzungsweise als Vielfaches des Hufenquadrats
zu zeichnen sein.
Um den Gesamtbesitz an Hufen innerhalb einer Gemarkung dar-
zustellen, sind Figuren einzuzeichnen, die aus der jeweiligen Zahl von
Quadraten bestehen. Als einfachste Form ist das Rechteck zu wählen;
doch werden die räumlichen Bedingungen zu mannigfachen zusammen-
gesetzten Formen nötigen.
Z. B.
18 mansi.
9 mansi lediles.
K^K^>^
>^>^K^
+ (o o
lo" o
— 129 —
15 maosi serviles
+
4 später erworbene mansi ingenuUes.
10 mansi ingenuiles.
ff
serviles.
Er±
curtis (zu 5 Hufen) + i2'/i mansi + 2 mansi
Rirchland.
Die Hufenquadrate sind mit Flächenkolorit zu bedecken, um die
Zugehörigkeit zu einer Grundherrschaft auszudrücken; für Verlehnung
kann Randkolorit als passendes Darstellungsmittel verwendet werden
oder auch Verstärkung der Linien innerhalb der Diagramme.
Gesamtbesitz: 28 Hufen (20 ma. ing. 8 serv.).
0000000
0000000
000 xyixx
Davon verlehnt: 8 Hufen (6 ma. ing. 2 serv.).
Besitz weniger Morgen ist durch Striche zu bezeichnen 1 1 : bei
gröfseren Zahlen : /ss u>,/. Für Salland von unbekannter Gröfee wähle
man:
Gilt es die BeschaiTenheit des Bodens zum Aus-
. . • .•«/
druck zu bringen, so sind die unten unter 7 anzuführenden Signaturen
zu verwenden. Blofsen Besitz eines Hauses (und Höfchens) bezeichne
man: •; kleinere Grundstücke: Q.
6. Plurverfassong
Die Grundkarten erlauben es, eine Übersicht über die Arten der
FiurverCassung herzustellen. Als schematische Formen könnten dienen :
Block.
Gewann
gemischt.
u. 8. w. Doch wird sich die Verwendung von willkürlich gewählten
Farbenbezeichnungen (z. B. verschiedenen Tönen von Braun) besser
empfehlen.
10
— 130 —
7. Wirtschaftszustände
a) Nachweis angebauter Fruchtgattungen:
^ Ackerfeld in der Gemeinde nachweisbar : mit eingeschrie-
P^PIf benem R = Roggenfeld; W = Weizenfeld; G =
iJMili'l Gerstenfcld ; H = Haferfeld u. s. w. — Oder es
sind des anschaulicheren Vergleiches wegen Weizen :
gelb; Roggen: braun; Gerste: grau; Hafer: grün darzustellen.
b) Bodenarten:
i
l=z
y
. • • • •
V » «' «<
V V V *■
V V ^ *
I I I I
I I I I •
I f I I
• III
Ackerland
Wiese
Weide
Weingarten
(Weinberg)
Oder man wähle Ackerboden : braun ; Wald : dunkelgrün ; Wiese : hell-
grün; Weide: gelb; Sumpf und Moor: schwärzlich; Weingärten: röt-
lich; Gewässer: blau.
c) Feldsysteme:
o • •
• • •
Winterfeld Sommerfeld Brache teilweise besömmerte Brache
Demgemäfe (ohne Wahrung der quadratischen Form in schematischer
Darstellung) :
^■■«H
Feldgraswirtschaft Zweifelderwirtschaft Dreifelderwirtschaft
™
M
m
V
Fruchtwechselwirtschaft
8. Volksdichte
Mit wenigen, nach helleren und dunkleren Tönen abgestuften
Farben ist die Volksdichtigkeit der ganzen Gemeindeeinwohnerschaft
oder ihrer einzelnen Teile auf i qkm berechnet zu veranschaulichen.
— 131 —
Die genaue Volkszahl ist in die Grundkarte hineinzuschreiben. Für
die Abtönung der Farben verwende man die Karten im Statistischen
Jahrbuch des Deutschen Reiches als Vorbild.
9. Soziale Gliederung
Die vollkommenste Art der Darstellimg wäre die, das Gesamtgebiet
der Gemarkung mit farbigem Kolorit zu bedecken, das den verhältnis-
mäfsigen Anteil der (ländlichen) Bevölkerung^klassen veranschaulichte.
Sonst kann man sich mit der Einzeichnung von Diagrammen (in
Rechtecksform . . .) innerhalb der Gemarkungsgrenzen begnügen.
Als Farbenunterschiede dienen etwa: Bauern, Hüfher, Pferdner
u. s. w. braun (Voll-, Halb-, Viertelhüfher durch heller werdenden Ton
unterscheidbar); Gärtner, Anbauer rotbraun; Häusler und Einlieger grau ;
Handwerker graugrün; Rittergutsbesitzer gelb ; hoher Adel zinnoberrot;
freie Berufe blau.
Dies sind die Vorschläge für Gnmdkartenzeichnung , die ich zu-
nächst einmal den Fachgenossen zur Prüfung auf ihre Brauchbarkeit
vorlegen möchte. Manche davon werden bei längerer Erfahrung durch
bessere zu ersetzen sein; andere werden hinzukommen müssen, um
viele noch offene Lücken auszufüllen. Eins wird aber schon heute
fest ins Auge zu fassen sein: Sobald erst etwas reichere und viel-
seitigere Erfahrungen in der Grundkartenzeichnung vorliegen, wird man
an die Schaffung eines Werkchens herantreten müssen, in dem die für
die Eintragung mafsgebenden Grundsätze dargelegt werden, sowie auf
einer Zeichentafel die vereinbarten Symbole enthalten sind. Dies
Werkchen, den Kommissionen, Vereinen und Gesellschaften, die sich
mit der Herausgabe von Grundkarten befassen, zur Genehmigung vor-
gelegt, wird dann den Historikern, welche Grundkarten benutzen, in die
Hand zu geben sein: nicht nur als ein Führer, der ihnen raten will,
sondern als ein Büchlein, das Vorschriften bietet, von deren Befolgung
ein guter TeU des Gelingens des grofs angelegten Grundkartenuater-
nehmens abhängen wird. Ist dies Ziel erst einmal erreicht, dann wird
neben der Organisation das Wichtigste geschaffen sein, was die Durch-
führung des ganzen Unternehmens verbürgt: eine gewifs noch ver-
besserungs- und ergäozungsfUhige , aber zunächst einmal den wissen-
schaftlichen Ansprüchen genügende, auf allgemein anerkannten Grund-
sätzen beruhende Technik der Grundkarteneinzeichnung.
10*
— 132 —
Die landesgesehiehtliehe Forschung in Pom^
mern w^ährend des letzten Jahrzehnts
Von
Martin Wehrmann (Stettin)
(Schlafs) 1)
Durch alle diese Arbeiten ist auch für die allgemeine Geschichte man-
cherlei gewonnen, und sie verdienen zumeist mehr Beachtung, als ihnen
leider zuteil geworden ist. Aber auch nicht wenige der sozusagen aus-
schlielslich lokalgeschichtlichen Arbeiten, wie die von P. vanNiefsen
bearbeiteten Geschichte der Städte Woldenberg in der Neumark (1893)
und Drambuig (1897), gehen über das, was zumeist in solchen Ab-
handlungen geleistet wird, erheblich hinaus. Kurz hingewiesen mag
noch werden auf die intensive Behandlung der pommerschen Volks-
kunde, die in den von A. Haas und O. Knoop 1893 begründeten
Blättern für pommersche Volkskunde ein eigenes Organ gefunden
hat. Auch für die Geschichtsforscher ist hier manch kleiner wertvoller
Beitrag zu finden, da Pommern gerade für die Volkskimde ein beson-
ders günstiges Gebiet zu sein scheint. Ärmer ist die Ausbeute für
die Kunstgeschichte, aber nicht so arm, wie man gemeinhin glaubt.
Das beweist das von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und
Altertumskunde herausgegebene Inventar der Baudenkmäler PofH'
merns, das, bearbeitet von E. v. Haselberg, L. Böttger und
H. Lemcke, bisher für zwölf Kreise vorliegt (Stettin 1881 — 1900)
und in weiterer Bearbeitung ist. Daneben hat H. Lutsch in seinen
sorgfältigen Arbeiten [Die Backsteinbauten Mittelpommerns , Berlin
1890) die Ergebnisse langjähriger Thätigkeit veröffentlicht. Für die
Münzgeschichte haben in zahlreichen Einzeluntersuchungen und in zu-
sammenfassenden Darstellungen H. Dannenberg [Münzgeschichte
Pommerns im Mittelalter, Berlin 1893) und E. Bahrf el dt (Zwr mittel-
alterlichen Münzkunde Pommerns, Berlin 1893) ihre Untersuchungen
niedergelegt.
Ist für die Geschichte Pommerns auch noch viel zu wünschen
übrig — und wann werden alle Wünsche erfüllt werden? — , so kann
noch kein bUlig Urteilender leugnen, dafs die Thätigkeit im letzten
Jahrzehnt lebhaft gewesen ist. Es sind auch die Anregungen, die von
aufscn her seitens des Gesamtvereins oder der Konferenz der Publi-
i) VgL Heft 4 S. 98 bis 104.
— 133 —
katioDsinstitute gegeben wurden, nicht unbeachtet geblieben. Eine
Zusammenstellung der erhaltenen Kirchenbücher und Stadtbücher ist
erfolgt, die Herstellung der Grundkarten — wie hier gegenüber der
Bemerkung auf S. 35 dieser Blätter mitgeteilt werden mag — und die
Abfassung einer historisch -geographischen Beschreibung der Diözese
Camin sind in Angriff genommen. Dais nicht alles so, wie wohl ge-
wünscht wird, sofort zu stände kommt, liegt nicht zum mindesten am
Mangel der Arbeitskräfte und der Geldmittel, aber als 2^ichen des
Fortschritts ist auch die in neuerer Zeit regere Anteilnahme der
Universität Greifiswald an der Territorialgeschichtsforschung mit Freude
zu begrüüsen.
Mitteilungen
Historikertag« — In den Tagen vom 4. bis 7. April 1900 fmdet
in Halle a. S. die sechste Versammlung deutscher Historiker
statt, imd zwar in der Aula der Universität und dem Auditoritun maximiun.
Das Programm, welches der derzeitige Vorsitzende des Verbandes deutscher
Historiker, Prof. G. Kaufmann (Breslau) im Vereine mit dem Ortsausschufs,
an dessen Spitze Prof. Eduard Meyer steht, angestellt hat, sieht folgende
Vorträge vor, tmd zwar a) mit anschliefsender Debatte: Prof. L. Mitteis
(Leipzig): Die neueren Ergebnisse der Papyrasforschung. — Prof. H. ül-
mann (Greifswald): Zur Würdigung der napoleonischen Frage. — Prof.
H. Geizer (Jena): Das Verhältnis von Staat und Kirche in Byzanz. —
Prof. Ph. Heck (Halle): Stadtbürger und Stadtgericht im Sachsenspiegel. —
Prof H. Prutz (Königsberg): Die Entwicklung der historischen Professur
in Königsberg. — Prof. F. Räch fahl (Halle): Der niederländische Aufstand
tmd das deutsche Reich, b) ohne Debatte (öffentliche Vorträge): Prof.
Dietrich Schäfer (Heidelberg): Das Eintreten der nordischen Mächte
in den Dreißigjährigen Krieg. — H. Friedjung (Wien): Das Angebot der
deutschen Kaiseriu-one an Österreich im Jahr 18 14. — Femer sind Aus-
flüge ins Saalethal und nach Merseburg beabsichtigt, sowie eine Reihe ge-
selliger Zusammenkünfte.
Zur Teilnahme am Histoiikertage sind alle Fachgenossen tmd
Fachverwandten sowie alle Freunde geschichtlicher Forschung
freundlichst geladen. Von denjenigen Teilnehmern, die nicht Mitglieder des
Verbandes sind, wird ein Beitrag von 5 Mk. erhoben. — Anträge, die
auf dem Historikertage erörtert werden sollen, können nur von Verbands-
mitgb'edem gestellt werden und sind vor dem 31. März 1900 schrift-
lich bei dem Vorsitzenden des Verbandes deutscher Historiker, Prof. Dr.
G. Kaufmann, Breslau, Rosenthalerstr. Id, anzumelden. Über die Ein-
reibung in die Tagesordnung beschlielst der Verbandsausschufs am 4. ApriL -^
— 134 —
Anmeldungen zum Eintritt in den Verband (Jahresbeitrag 5 Mk.) sind
an dessen Schatzmeister, Prof. Dr. Hansen, Stadtarchivar zu Köln, zu
richten. — Zu den beiden öffentlichen Vorträgen hat jedermann Zu-
tritt. — Das Empfangsbureau, dessen Leitung die Herren Oberlehrer
Dr. Fr. Neubauer und Privatdocent Dr. Th. Sommerlad freundlichst
übernommen haben, befindet sich in der „Tulpe" und wird die Teil-
nehmerbeiträge in Empfang nehmen, die Mitgliedskarten und Programme
sowie die Karten für das Festessen (Preis des Couverts 3,50 Mk.) ausgeben
und jede sonstige Ausktmft erteilen. Das Bureau wird am Mittwoch, dem
4. April, von 2 Uhr an, an den folgenden Tagen Vormittags von \g bis
2 Uhr geöffiiet sein. — Zu weiterer Auskunft sind der Vorsitzende und der
Schriftführer des Ortsausschusses in Halle, Prof. Eduard Meyer (Gie-
bichenstein, Reilstr. 88) und Privatdocent Dr. Th. Sommerlad (Bem-
burgerstrafse 15) erbötig.
Gleichzeitig mit dem Historikertage wird die Vierte Konferenz deut-
scher Publikationsinstitute stattfinden. Die erste Sitzung soll bereits
am Vormittag des 4. April im Historisch-Geographischen Institut der Uni-
versität Leipzig abgehalten werden. Das Arbeitsprogramm der Konferenz
umfafst folgende Punkte: i. Konstituierung, Bericht über Lage und Bestand
der Konferenz. 2. Zur historischen Geographie Deutschlands. A) Grund-
karten, a. Bericht von Lamp recht über den allgemeinen Stand und die
jetzige Verbreitung der Gnmdkartenforschung. (Hierzu der Aufisatz: „Zur
Organisation der Grundkartenforschung" in den „Deutschen Geschichts-
blättem", Heft 2, Seite 33 — 41.) b. Erörterung wichtiger Fragen der Grund-
kartentechnik. (Hierzu der Aufsatz von Kötzschke in den „Deutschen
Geschichtsblättern ", Heft 5 , S. 1 1 3 — 131.) B) Historisch-kirchliche Geographie
Deutschlands, a. Bericht von Meinecke über den Stand der Verhandlungen,
b. Erörterung weiterer Schritte. 3. Beratung über den Antrag Dr. Stein-
hausens aus Jena auf Unterstützung der von ihm herausgegebenen „Denk-
mäler der deutschen Kulturgeschichte". 4 Beratung über die Ausgaben
von Ertragsregistern und Weistümem. (Hierzu die frühern Denkschriften von
Loersch, Thudichum, Grotefend und Darpe, Lamprecht, Schulte.)
5. Abgrenzung des Stoffes von Urkundenbüchem. (Hierzu die frühere Denk-
schrift von Do benecke r und Pi renne.) 6. Beratung über etwa weiter ge-
stellte Anträge.
Vereine. — Seit Ende des Jahres 1896 besteht ein „Verein für
historische Waffenkunde" mit dem Sitze in Dresden als juristische
Person. Der Zweck des Vereins ist, das Studium der Geschichte des Waffen-
wesens zu fördern, insbesondere im Hinblick auf die technische HersteUung,
die künstlerische Ausstattung und die kriegerische Verwendung der alten
Waffen. Mitglieder — gegenwärtig 334 — können nicht nur einzelne Per-
sonen, sondern auch Ortschaften, Behörden, Korporationen, Sammlungen und
Bibliotheken werden, der Jahresbeitrag beträgt 10 Mk., wofür das Vereins-
organ, die Zeitschrift für historische Waffetikunde unentgeltlich geliefert wird.
Oberstleutnant Dr. Max Jahns, der verdienstliche Verfasser des Hafidbuchs
einer Geschichte des Kriegswesens von der Urzeii bis zur Renaiesatire
(1880) ist der erste Schriftführer des Vereins, die Redaktion der Zeitschrift
— 135 -
besoi'gte im ersten Jahrgang Wendelin Boeheim (Wien), aus dessen Feder
wir ein Handbuch des Waffenwesens in seiner historischen Entwicklung (1890)
besitzen. Von Beginn des zweiten jetzt laufenden Bandes an ist die Re-
daktion an Dr. Karl Koetschau, Direktor der herzoglichen Kunst- und
Altertümersamnüung der Veste Koburg übergegangen. Die historischen For-
scher seien auf diese Publikation aufinerksam gemacht, in der sie sich ge-
gebenenfalls sowohl über Art und Aussehen gewisser Waffen, als auch über
die Deutung von Fachausdrücken der älteren Militärsprache oft werden Rats
erholen können.
Der seit 1859 bestehende Mannheimer Altertumsverein erfreut
sich einer vergleichsweise recht hohen Unterstützung seitens der Stadt Mann-
heim (erhält doch selbst der Aachener Geschichtsverein nur einen städtischen
Beitrag von 1000 Mk.), denn der 187 1 sich auf 200 Gulden belaufende
Zuschufs wurde wiederholt erhöht, 1893 auf 2000 Mk. und beträgt seit Be-
gbn des latifenden Jahres sogar 3000 Mk. Dem entsprechend ist die be-
reits recht stattliche Zahl der Vereinsveröffentlichungen seit Januar 1900 um
eine neue vermehrt worden, die sich Mannheimer Oesehiehtsblätter, Monats-
schrift für die Geschichte, Altertums- und Volkskunde Mann-
heims und der Pfalz, nennt und monatlich im Umfange von ein bis
anderthalb Bogen unter Redaktion von Dr. Friedrich Walter in Mann-
heim erscheint
In der Provinz Ostpreufsen hat sich Ende 1898 ein Verein zur Erfor-
schung der Geschichte des alten „ Oberlandes ", insbesondere der Kreise Preu-
fsisch-HoUand, Mohrungen, Osterode-Neidenburg und Ortebburg, tmter dem
Namen „Oberländischer Geschichtsverein** und dem Vorsitze des
Amtsrichters Georg Conrad zu Mühlhausen in Ostpreufsen konstituiert
Das erste Heft der Vereinszeitschrift, die den Titel Oherländische Oesehiehts-
blätter (Königsberg, in Kommission bei Ferd. Beyers Buchhandlung) führt,
liegt gegenwärtig vor und enthält eine Reihe auch für weitere Kreise in-
teressante Beiträge. Eine Mitteilung über die Anbringung einer Gedenktafel
für Ferdinand Gregorovius in dessen Vaterstadt Neidenburg (S. 14) giebt
Gelegenheit zum Abdrucke eines liebenswürdigen Briefes Gregorovius' vom
2. Febr. 1891, die Veröffentlichung von Aktenstücken aus dem gräflich
Dohnaschen Archive und dem der gräflich Dönhofifschen Familienstiftung
zeigt wieder einmal den Wert derartiger Privatarchive tmd die Beschreibung
der „Vorgeschichtlichen Wandtafelnfür Westpreufsen**, welche
auf sechs Blättern die Ftmde der jüngeren Steinzeit, Bronzezeit, jüngsten
Bronzezeit, vorrömischen Zeit, römischen Zeit und arabisch-nordischen Zeit
nach den Angaben des Museumsdirektors Prof. Conwentz darstellen, kann
für andere Gegenden die Anregung zu ähnlichen Arbeiten geben.
Em „Altertumsverein fürMühlhausen i. Th. und Umgegend**
wurde im November 1899 gegründet und konnte sofort über die stattliche
Zahl von 183 Mitgliedern verfügen. Eine Vereinszeitschrift mit dem Titel
Mühlhäuser Oescliichtsblätter soll vornehmlich der wissenschaftlichen Ausbeu-
tung des vormals reichsstädtischen und jetzigen Stadtarchivs von Mühlhausen
dienen.
— 136 —
Bibliographie. — Oie stetig anwachsende Litteratur der Orts-
geschichte hat schon längst das Bedürfnis nach Bibliogn^phieen für ein-
zehie Landesteile gezeitigt Zum Teil ist demselben durch Veröffentlichung
von Bibliothekskatalogen (z. B. ist vom Katalog der Kölner Stadtbibliothek,
Abteilimg ,, Geschichte tmd Landeskunde der Rheinprovinz" wenigstens ein
Band [1894] erschienen, aber leider ist die Abteiltmg auch nicht annähernd
vollständig) entsprochen worden, zum Teil hat man eigene Bibliographieen
geschaffen, wie sie z. B. für die Württembergische Geschichte in zwei Bän-
den Wilhelm Heyd bearbeitet hat Für die meisten Gebiete fehlt es aber
noch an entsprechenden Veröffentlichtmgen, und die Interessenten sind des-
halb auf allgemeine Hilfsmittel angewiesen. Ein solches liegt gegenwärtig
in einem fast 9000 Nummern umfassenden Antiquariatskataloge von Franz
Teubner in Düsseldorf vor, welcher Geschichte und Topographie
der Städte, Ortschaften, Burgen und Klöster umfaist und die
Ortsnamen in alphabetischer Reihenfolge giebt, so dafs eventuell Gesuchtes
mit Leichtigkeit zu finden ist. Ja es ist der Wert solcher Kataloge nicht
zu tmterschätzen, wenn für ein bestimmtes Gebiet die ersten Sammelarbeiten
für eine Bibliogn^hie zur Landesgeschichte vorgenommen werden sollen.
Mancher Lokalforscher wird mit Freude die Gelegenheit wahrnehmen, sich
ältere Schriften aus seinem engeren Arbeitsgebiete gegen mäfsigen Preis zu
erwerben.
Eingegangene Bfleher.
Brettschneider, Harry: Hilfsbuch für den Unterricht in der Geschichte
auf höheren Lehranstalten. VI. Teil: Vom Beginne christlicher Kultur
bis zum Westfmischen Frieden (Lehraufgabe der Unterprima). 2, Aufl.
Halle a. S., Waisenhaus, 1900. 194 S. 8<^. ^ 1,80.
Bruchmüller, W.: Zur Wirtschaftsgeschichte eines rheinischen Klosters
im XV. Jahrhundert Nach einem Rechntmgsbuch des Klosters Walber-
berg aus dem Jahre 141 5. [Westdeutsche 2^itschrifl für Geschichte und
Kunst Jahrg. 1899. S. 266 — 308.]
Deppe, August: Kriegszüge des Tiberius in Deutschland 4 und 5 nach Chr.
Bielefeld, Hebnich, 1886. 42 S. 8^. Jl 1,25.
Jürgens, Dr. G.: Em Amtsbuch des Klosters Walsrode. Hannover, Schaper,
1899. 61 S. 8<^. [Veröffentlichungen zur niedersächsischen Geschichte,
2. Heft]
Priebatsch, Felix: Der märkische Handel am Au^ange des Mittelalters.
[Aus „Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins", Heft XXXVI
(1899), S. I— 54.]
Schill, Dr. £•: Anleitung zur Erhaltung tmd Ausbesserung von Handschriften
durch Zapon-Imprägnierung. Dresden, Verlag des „ ApoUo " (Franz Hoff-
mann) 1899. 17 S. 8^.
BemerknBg« — Das Märzheft der „Deutschen Geschichtsblätter"
(Nr. 6) wird gemeinsam mit dem für April (Nr. 7) als Doppelheft in den
ersten Tagen des Monats April ausgegeben werden.
HOTaiatg«b«r Dr. Amin Tille in Leiptif. — Druck und Verlng von FH«drich Andr«M PertliM in Gotlin.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
war
Förderung der landesgescbicbtlicben Forschung
I. Band März/April 1900 6.//. Heft
Die Historikertage
Von
Armin Tille
Zum sechsten Male versammeln sich die deutschen Historiker und
2war diesmal so weit im nördlichen Deutschland, wie noch nie zuvor,
denn von München über Leipzig, Frankfurt, Innsbruck und Nürnberg
hat sie der Weg nach Halle geführt, zum vierten Male in eine Uni-
versitätsstadt. In diesen wenigen Angaben ist bereits ein Stück Ge-
Bchichte der Historikertage, wie landläufig die „Versammlungen
deutscher Historiker" genannt worden sind, enthalten, und einer
Geschichte dieser Versammlungen sollen, nachdem bereits ihrer fünf
hinter uns liegen, die folgenden Zeilen dienen.
Im Herbst 1891 trafen sich zufallig einige Historiker in München
•und zwar waren dies August von Druffel (f), K. Th. von Heigel,
MaxLossend-), FelixStieve('['),LudwigQuidde und Hans von
Zwiedineck-Südenhorst. Von letzterem wurde damals den Fach-
genossen der Gedanke nahegelegt, ob sich nicht auch die Historiker,
wie andere Beru&genossen, zur Beratung über gemeinsame Angelegen-
heiten zusammenschliefsen und auf periodisch wiederkehrenden Ver-
sammlungen sich aussprechen sollten. In weiterer Verfolgung dieser
Anr^^ung scharten die genannten Herren noch weitere namhafte Ver-
treter der Geschichtswissenschaft um sich und erlieisen gemeinsam im
Sommer 1892 einen Aufruf, welcher für September dieses Jahres zu
einer allgemeinen Versammlung nach München einlud zu dem Zwecke,
„persönliche Fühlung untereinander zu gewinnen und
gemeinsame Angelegenheiten zu erörtern'*. Die im Sommer
1892 herrschende Besoignis vor weiterer Verbreitung der Cholera und
dadurch verursachte Verkehrshemmtmgen liefsen es schliefslich an-
gezeigt erscheinen, die Versammlung auf die Osterwoche 1893 zu ver-
^ legen, und in der That hat sie in den Tagen vom 5. bis 7. April in
\ München stattgefunden. Nicht weniger als 109 Fachgenossen waren
11
— 140 —
berechtigting' aller Teilnehmer — wie dies von Zwiedineck in Innsbruck
(Bericht S. 6) treffend hervorhob — sollten womöglich die einschlägigen
Fragen von zwei oder mehr in ihrer Meinung voneinander abweichenden
Referenten erörtert werden, um dann der allgemeinen Meinimgsäufserung
<jelegenheit zu geben, sich geltend zu machen. Eine auf solcher
Grundlage gewonnene Formel für Wünsche und Forderungen in Fragen
der Organisation geschichtlicher Thätigkeit kann ja allein den zustän-
digen Behörden als beachtenswerter Hinweis bei Fassung ihrer Ent-
schlüsse dienen. Wenn nun auch bei der Vielgestaltigkeit der Berufe
derer, die historisch arbeiten, — nur die Hoch- und Mittelschul-
lehrer für Geschichte und die Archivare stellen gröfsere Gruppen mit
gleichartiger Thätigkeit dar — die gemeinsamen Angelegen-
heiten nicht so zahlreich sind wie bei Vertretern anderer Wissen-
schaften, so sind sie dennoch zahlreich genug, um den Versammlungen
reichlichen Verhandlungsstoff zu geben, aber ganz abgesehen davon
rechtfertigte auch das gesunde Bedürfnis nach persönlicher Annäherung
unter den Historikern, welchem in den oft recht ausg^ehnten und
lebhaften gemütlichen Sitzungen entsprochen worden ist, genügend
die Einrichtung regelmäfsiger Zusammenkünfte.
Als allgemeine Angelegenheit ersten Ranges bezeichnete bereits
der erste Aufruf die Frage nach der Gestaltung des geschicht-
lichen Unterrichts, die in den Lehrplänen verschiedener Staaten
eine Neuregelung erfahren hatte, ohne dafs die Fachhistoriker über-
haupt darüber gehört worden wären. Als Referent über diesen Gegen-
stand (der im Aufruf in die zwei Fragen gegliedert worden war : a) In-
wieweit hat der Geschichtsunterricht zu dienen als Vorbereitung zur
Teilnahme an den Aufgaben, welche das öffentliche Leben der Gegen-
wart an jeden GebUdeten stellt? b) Wie ist demgemäfs der Geschichts-
unterricht zu erteilen?) wurde der inzwischen verstorbene Gynmasial-
direktor Martens in Elbing gewonnen, dessen Buch „Die Neu-
gestaltung des Geschichtsimterrichts auf höheren Lehranstalten " damals
kurze 2^it erschienen war, und als Korreferenten traten Professor Do ve
und Kaufmann auf Alle drei präzisierten ihren Standpunkt kurz in einigen
Leitsätzen, die bereits am Vorabend der Versammlung den Teilnehmern
eingehändigt werden konnten ^). Sachlich handelte es sich darin vor
allem um die Frage: welche Aufgaben hat der Geschichtsunterricht
in den Mittelschulen gegenüber dem Staate zu erfüllen, inwiefern soll
der Schüler für seine künftige Teilnahme am öffentlichen Leben vor-
i) Sie sind im Bericht über die Tagung ab Anhang I (S. 26 — 29) im Wortlaut mitgeteilt.
— 141 —
gebildet werden? Fast alle Redner wandten sich gegen Martens, in-
sofern er die Erziehung des Schülers zu künftigen Staatsbürgern all-
zusehr betone und damit die Gefahr herauffuhre den Geschichtsunterricht
in den Dienst der Politik zu stellen, das Verhältnis von Geschichts-
unterricht und Bürgerkunde sowie die VerteUung des Lehrpensums auf
die einzelnen Klassen in verschiedenen Staaten wurde berührt. Die
Mehrheit der Anwesenden einigte sich auf eine von Stieve entworfene
Resolution, welche die Aufgabe des Geschichtsunterrichts darin erblickt,
„diejenigen geschichtlichen Kenntnisse zu übermitteln, welche zur
späteren Teilnahme am öffentlichen Leben befähigen und die Neigung
zu dieser TeUnahme entwickeln**. — Eine Fortführung dieser Erörte-
rungen bUdete die Leipziger Besprechung über die Stellung der
alten Geschichte im gelehrten Unterricht, wofür Gymnasial-
direktor Jäger (Köln), Professor H an nak (Wien) und Rektor Kämmel
(Leipzig) als Berichterstatter gewonnen waren. Es kamen also drei
selbst im Gymnasialunterricht thätige Herren aus drei verschiedenen
Staaten, in denen verschiedene gesetzliche Bestimmungen den Unter-
richt regeln, zu Worte, die wiederum in Thesen ihre Anschauungen
kurz niedergelegt hatten. Der Schlufs der auiserordentlich lebhaften
Debatte führte hier zu dem Ergebnis, dafs man mit überwiegender
Mehrheit der Ansicht Ausdruck gab, die Beschränkung des griechischen
und lateinischen Unterrichts, wie sie der preufisische Lehrplan von
1892 eingeführt habe, schädige den Geschichtsunterricht.
Die Frage nach der Gestaltung des Geschichtsunter-
richts auf der Universität hatte schon die Münchener Erörterung
über die Einrichtung historischer Seminare berührt. WUhelm Arndt (f)
hatte die Entwicklung der Seminare kurz skizziert und namentlich über
das Leipziger berichtet, die Diskussion aber führte zu lebhaften Aus-
einandersetzungen darüber, ob in erster Linie Forscher oder Lehrer zu
erziehen seien. Dem allgemeinen Wunsche entsprechend wurde die Frage
der Lehrerausbildung in Frankfurt wiederum erörtert und zwar durch die
zwei Berichterstatter von Zwiedineck (Graz) und Vogt (Augsbuj^,
jetzt Nürnberg); der letztere legte seine Anschauungen in zwei Thesen
(Bericht S. 9) nieder, über (üe jedoch nicht abgestimmt werden solle. Im
Verlaufe der Debatte wurde wiederholt auf die „Ratschläge für das
Studium der mittleren und neueren Geschichte ", die für die Zwecke der
Universität Leipzig ausgearbeitet sind (gedruckt als Anhang I, S. 37 — 41),
hingewiesen. Einen weiteren Beitrag zu diesem für die Historiker wohl
wichtigsten Gegenstand lieferten die Nürnberger Ausführungen Oskar
Jägers „Wie sind die Vorbildung tmd die Prüfung der Geschichts-
— 142 —
lehrer an den Mittelschulen zu gestalten?'^ Zehn Leitsätze von ihm
stellen fest, welche Anforderungen er an die Geschichtslehrer stellt
(S. 54 u. 55), während der Korreferent Vogt in Kritik besonders der
bayerischen Prüfungsordnung die Erteilung des Geschichtsunterrichts
durch Fachlehrer in Lostrennung von anderen Lehrfächern fordert.
Die eingehende Besprechung der Referate, die namentlich auf Bayern
wirken sollen, gipfelt in der allgemeinen Anerkennung des Satzes, dafs
nur Leute, die eine volle Ausbildung als Historiker erfahren haben,
zur Erteilung von Geschichtsunterricht befähigt erscheinen, während die
von Jäger befürwortete engere Verbindung mit der klassischen Philologie
weniger Zustimmung findet.
Als zweite für die Forscher höchst wichtige Angelegenheit,
die ebenfalls bereits in dem ersten Aufrufe berührt war, mufste die
Benutzung von Archiven und Handschriftensammlungen
gelten. In München berichtete darüber K. Th. von Heigel (Seine Thesen
S. 30 des Berichts) unter allgemeiner Zustimmung namentlich auch
der Archivare. Nachdem in einem Antrage von Dobenecker (Jena) in
Frankfurt (S. 28) auf die Wünsche der Historiker gegenüber den
Archiwerwaltungen aufmerksam gemacht worden war, wurde in Inns-
bruck aufs neue darüber beraten, wo Hans Prutz von allgemeinen
Gedanken ausgehend die Wünsche des näheren formulierte (S. 18 u. 19)
und im allgemeinen den Beifall der Fachgenossen fand. — Nicht aufscr
Zusammenhang hiermit standen die weiteren Besprechungen über die
Grundsätze, welche bei der Herausgabe von Aktenstücken
zur neueren Geschichte zu befolgen sind, worüber in Leipzig
und Frankfurt Stieve ausfuhrlich berichtete. Die Frucht dieser Aus-
einandersetzung sind die von Stieve formulierten „Grundsätze" (Frank-
furter Bericht S. 18 — 30), welche seither bei der Veröflfentlichung
von Akten schon mannigfach berücksichtigt worden sind.
Ein dritter die Interessen gerade dieser Zeitschrift nahe be-
rührender Gegenstand kam zuerst in Leipzig auf besondere Anregung
Lamprechts zur Verhandlung, nämlich Stand und Bedeutung der
landesgeschichtlichen Studien insbesondere über die
Arbeitsgebiete der landesgeschichtlichen Publikations«
gesellschaften. Es wurden zunächst einige der Gesellschaften be-
züglich ihrer Organisation, namentlich bezüglich der Beschaffung von
Mitteln, näher beschrieben, so die „Historische Landeskommission für
Steiermark" von v. Zwiedineck (Graz), die „Badische historische
Kommission" von v. Weech (Karlsruhe), die „Gesellschaft für rhemi-
sche Geschichtskunde" von Hansen (Köln), der „Verein für Geschichte
— 143 —
und Altertum Schlesiens*' von Markgraf (Breslau), der „Verein für
die Geschichte der Provinzen Ost- und Westpreufeen" von Pmtz
(Königsbei^), sowie die „Historische Kommission der Provinz Sachsen '*
von Jacobs (Wernigerode). Das Endei^ebnis der überaus anregenden
Mitteilungen war der Beschlufs, im Zusammenhang mit den künftigen
Historikertagen Konferenzen von Vertretern der landes-
geschichtlichen Publikationsinstitute zur Beratung gemein-
samer Angel^enheiten einzuberufen. Dies ist in der That geschehen,
imd in Frankfurt, Innsbruck und Nümbeig haben drei dieser Kon-
ferenzen stattgefunden, deren Ergebnisse in den Berichten aus Inns-
bruck (S. 55) und Nürnberg (S. 57) mitgeteilt sind. Für die landes-
geschichtlichen Studien wichtig waren femer die in Leipzig von
Sieglin gegebenen Anregungen zur wissenschaftlichen Unterstützung
des Spruner -Menkeschen Historischen Atlasses, der unterdessen, wie
die historische Geographie überhaupt, durch die systematische
Herstellung von Grundkarten wesentliche Förderung erfahren hat,
die in Innsbruck gegebenen Berichte über das Institut für öster-
reichische Geschichtsforschung in Wien (Osw. Redlich) und über die
Anlage eines historischen Atlas der Alpenländer (Prof. Richter-
Graz) % femer die Ausfühmngen über die Entstehung der Landstände
(Prof. Luschin v. Ebengreuth - Graz) ebenfalls in Innsbmck, welche
eine Paralleldarstellung dieser Verhältnisse in verschiedenen Territorien
nahe legten. In dieses Kapitel gehören auch die Dinge, welche
von He^el in Innsbmck auf die Frage: „Welche geschichtliche Auf-
g'aben verdienen von Akademien gemeinsam gefordert zu werden"
{S. 46 — 55) aufzählte; sie sämtlich würden der landesgeschichtlichen
Forschung zugute kommen, sind aber, wie das historische Ortslexikon
für Deutschland, wegen der riesenhaften Aufgabe nur unter groiser
einheitlicher Leitung und mit bedeutendem Aufwand an Geldmitteln
möglich, so dais wohl am ersten von den Akademieen, die bereits für
sprach- imd naturwissenschaftliche Unternehmungen Summen zur Ver-
fügung gestellt haben, ein Eingreifen zu erhoffen ist. Ganz besondere
Aufmerksamkeit widmete Heigel einer eventuell gemeinsamen Arbeit
•der deutschen Akademieen im Vatikanischen Archiv, um dieses
s3nBtematisch auszubeuten, während jetzt eine grolse Zahl von Gelehrten
daselbst thätig sind, von denen jeder für sich und seinen Auftraggeber
arbeitet, wobei natürlich viel Zeit und Geld verschwendet wird. Auf
1) über die seitdem wesentlich fortgeschrittenen Arbeiten an diesem Werke hat
«lerselbe in dieser Zeitschrift, Heft i. S. 28, berichtet
— 144 —
diesen letzten Punkt kam dann in Nümbeig Hansen (Köln) zu sprechen,
dessen Korreferent v. Weech (Karlsruhe) sogar mit bestimmten Vor-
schlägen über die Art der Arbeit hervortrat, aber leider ist es in dieser
für die Forschung so wichtigen Angelegenheit noch zu keiner end-
giltigen Vereinbarung unter den beteiligten Instituten gekommen. In
ähnlicher Weise ist einem Antrage von Kalte nbrunn er (Innsbruck),
den dieser in Frankfurt stellte, nicht nur nicht entsprochen worden,
sondern die darin gegebene Anregung scheint sogar wieder verflogen
zu sein: es handelte sich dabei um die Frage, wie die älteren
Zeitungen der Forschung zugänglich gemacht werden könnten, und
es wurde angeregt die Herausgabe eines Katalogs zu veranlassen,
welcher die Fundorte ganzer Serien der periodischen Presse erkennen
lä&t, und zu diesem Zwecke bei den Bibliotheken anzufragen, von
welchen älteren 2^itungen und 2^itschriften sie Exemplare besitzen
(S. 29). Ohne einen praktischen Erfolg ist bisher auch die auf Grund
eines Referates von Stein hausen (Jena) in Nümbeig gefafste Entschliels-
ung geblieben, welche eine unter dem Namen Denkmäler deutscher
Kulturgeschichte vorzunehmende umfassende Publikation der wich-
tigsten Quellen der deutschen Kulturgeschichte für ein wirkliches
Bedürfnis erklärt und die in dieser Richtung bereits eingeleiteten
Schritte mit gröfster Sympathie begrüfet.
Auch wissenschaftliche Fragen, die eine gewisse Aktualität erhalten
hatten, sind auf den Historikertagen zur Verhandlung gekommen: in
Innsbruck wurde auf Grund eines Vortrags von v. Scala (Innsbruck)
über Individualismus und Sozialismus in der Geschichtsschreibung^
(S. 38 — ^46) diese methodologische und geschieh tsphilosophische Frage
lebhaft erörtert, und die Ausfuhrungen der Vertreter verschiedener
Richtung, die dort gegeben wurden, sind schon deshalb so wichtig,
weil sie in unmittelbarer Aussprache auf einander gefolgt sind und
jeder Redner das darin niedergelegt haben wird, was ihm infolge eignen
Nachdenkens als das wichtigste dabei erschienen ist. Ganz ähnlicher
Art waren die Aussprachen über die Entstehung der Grundherrschaft
in Deutschland, worüber Gothein (Bonn) zehn Thesen angestellt
hatte (S. 55 — 56) und worüber Kötzschke (Leipzig) in Vertretung^
Gotheins näher referierte. Hierbei handelte es sich im Grunde um
eine Ablehnung der von I£ldebrand und Wittich vertretenen Ideen,
welche die Grundherrschaft als al^ermanische Einrichtung zu erweisen
suchen.
Seit Leipzig sind die Verhandlungen auch durch Vorträge (ohne
Diskussion) eigänzt worden, welche sämtlich von den Rednern ander-
— 146 —
weitig veröffentlicht worden sind und Forschungsergebnisse bündig zu-
sammenfassen. Diese Vorträge sind wiederum zu trennen in allgemeine
und örtliche, mit Bezug auf den Versammlungsort gewählte. Zu den
ersteren gehören die Vorträge von Schmoller Über den deutschen
Beamtenstaat vom i6. bis i8. Jahrhundert (Leipzig), Eduard
Meyer über Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums (Frank-
furt), Knapp über Die Grundherrschaft im Nordwesten Deutsch^
lands (Innsbruck), Georg Kaufmann über Die Lehrfreiheit an den
deutschen Universitäten im ig. Jahrhundert (Nürnberg), Lamprecht
über Die Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung vor^
nehmlich seit Herder {Hümheig), zu den letzteren der von Seidlitz
über Die spätgotische Kunst im Königreich Sachsen (Leipzig), von
Bücher Über den Haushalt der Stadt Frankfurt im Mittelalter
(Frankfurt), von Hirn Über Innsbrucks historischen Boden (Innsbruck)
und der von Mummenhoff über Die Geschichte Nürnbergs
(Nürnberg).
Alles in allem ist es eine ganz erstaunliche Arbeit, welche in fünf
Versammlungen zu je drei Tagen, also in zusammen fünfzehn Tagen
geleistet worden ist, zumal wenn man bedenkt, wie zahlreiche gesellige
Zusammenkünfte nebst Ausflügen und Festmählern Abwechslung in
die Verhandlungen gebracht haben. Es ist aber auch ganz unzweifel-
haft, dafs die Erörterungen imd Mitteilungen auf recht viele Zuhörer
von nachhaltigem Einfluls gewesen sind und sie in ihren eigenen Ar-
beiten gefördert haben. Dies ist ja neben persönlicher Berührung der
Hauptzweck aller solcher Versammlungen von Fachgenossen, und wir
können deshalb nur wünschen, dals auch die künftigen Historikertage
gleich ihren Vorgängern in diesem Sinne anregend und ermunternd
wirken!
Studien zur Gesehiehte der deutseh^romani^N^
sehen Spraehgrenze
Von
Hans Witte (Schwerin)
Im Jahre 1888 hat H. Suchier in seinem Auüsatze: Die fran-
zösische und provemalische Sprache und ihre Mundarten auch
die Sprachgrenze in Gegenwart und Vergangenheit *) behandelt. Den
i) In Groben Gmndiiff der roman. Phil. I, 561 — 571.
— 146 —
kurzen ^) Abschnitt über die Sprachgrenze der Vergangenheit b^rinnt
er mit folgenden Worten : „Die so beschriebene Sprachgrenze gilt für
die Gegenwart, ist aber im Laufe der Jahrhunderte keineswegs immer
konstant geblieben; doch harrt die Geschichte der Sprachgrenze un-
geachtet der Wichtigkeit des Problems noch einer genaueren und zu-
sammenhängenderen Behandlung, daher wir uns hier mit einigen An-
deutungen begnügen müssen/'
Wenn ich jetzt, zwölf Jahre seit obiger Äulserung, in der Lage
bin, für die einstmalige Gestaltung der deutsch -romanischen Sprach-
grenze nahezu in ihrem gesamten Verlaufe auf gesicherte Eigebnisse
quellenmäfsiger Forschungen hinzuweisen, so kann wohl nichts den
Fortschritt auf einem vor kurzem noch fast imbekannten wissenschaft-
lichen Arbeitsgebiete in treffenderer Weise kennzeichnen als diese
Gegenüberstellung. Aus ihr ergiebt sich, dafs die Kenntnis, die wir
heute von dem ehemaligen Verlauf der deutsch-romanischen Sprach-
grenze haben, im groCsen und ganzen erst nach 1888 begründet wor-
den ist.
Eine Ausnahme von diesem allgemeinen Satze kann nur hinsicht-
lich gewisser Striche des östlichsten Teiles der deutsch-romanischen
Abgrenzung, vom Monte Rosa an, eingeräumt werden. Diese Strecke
fiel nicht in den Bereich der Suchierschen Arbeit, die sich auf die
deutsch -französische Sprachgrenze beschränkte.
Insbesondere hat sich in Tirol schon früh die Aufmerksamkeit
auf die schier endlosen Nationalitätskämpfe gerichtet. Seitdem der
Dominikaner Felix Faber von Ulm in seinem viel benutzten Reise-
bericht*) aus dem Jahre 1483 uns neben manchem anderen geschil-
dert hat, wie in jener Zeit Trient, heute Hauptstadt von Welsch-Tirol
und Hochburg der Italianissimi , eine halb deutsche Stadt gewesen
sei, hat der Flufs der Nachrichten über die besonders interessanten
Nationalitätsverhältnisse dieses Landes niemals gänzlich gestockt.
Die gesamte Litteratur über die Nationalitätsverhältnisse Tirols ist
zusammengestellt und unter Heranziehung neuer archivalischer Materialien
bearbeitet von Bidermann'), der uns ein anschauliches Bild ge-
zeichnet hat von dem unablässigen Vordringen italienischer Elemente
das Etschthal hinauf über Bozen, Meran, Brixen, ja im XVI. Jahrhundert
1) Ehendorty S. 567—569.
2) Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 1843, Band 11 — IV.
3) H. J. Bidermann, Die Nationalitäten in Tirol und die wechselnden Schick-
sale ihrer Verbreitung. In den Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. I,
Heft 7, Stuttgart 1886.
— 147 —
bis nach Innsbruck. Nördlich Neumarkt und Kurtinig ist diese roma-
nische Überflutung zwar bis jetzt noch durch die starke Assimilations-
kraft des Tiroler Deutschtums unschädUch gemacht; aber weiter süd-
lich hat das Deutschtum doch im Laufe der Jahrhunderte schwere
Verluste erlitten. Zahlreiche Spuren seines ehemaligen Vorhanden-
seins weist Bidermann sowohl in den östlichen Seitenthälem wie im
imtercn Etschthal über Trient hinaus bis nach Ala hinab nach.
Patigler *) konnte auf Grund neuer Archivalien diese Nachweise noch
verstärken und vermehren, insbesondere auch für den Nonsberg eine
ehemals (bis ins XVI. Jahrhundert) gröfsere Verbreitung der deutschen
Sprache nachweisen.
Eine genauere Scheidung dessen, was in Welsch-Tirol einst deutsch
war, von dem, was seine romanische Nationalität auch nach den
Stürmen der Völkerwanderung bewahrt hat, steht noch aus.
Auf der anderen Seite bedarf auch die Frage, welche Teile
Deutsch -Tirols ihre ursprüngliche Nationalität noch jahrhundertelang
nach der Völkerwanderung aufrecht zu erhalten vermochten, einer zu-
sammenfassenden Bearbeitung. Bidermann hat diese Frage nur ge-
streift, indem er bei einzelnen Gemeinden des Vintschgaues bis in die
Nähe von Meran eine Dauer der rhätischen Sprache bis in die neueste
Zeit hinein feststellt. Die sogar im Norden des Landes an einzelnen
Orten in auffallender Menge vorkommenden romanischen Flurnamen
sind für ihn kein Beweis neuerer romanischer Einwandertmg ; aber ob
sie nicht für längere Dauer des Romanentums sprechen und somit
dazu benutzt werden können, das Gebiet späterer Ausdehnung des
Deutschtums über die durch die Bayemeinwanderung besiedelten
Landesteile hinaus und damit die älteste Bayemsiedelung selber ge-
nauer festzustellen, die Frage wird von Bidermann nicht gestellt.
Die Nationalitätsfrage des Vintschgaues ist neuerdings zusammen-
fassend von Tille') behandelt worden mit dem Ei^ebnis, dafs hier
erst im XVIII. Jahrhundert das Romanentum völlig dem Deutschtum
unterlegen ist. Entsprechende Eigebnisse, wenn auch nicht mit so
langer Dauer des Romanentums, würden sich auch (lir andere jetzt
deutsch redende Gebirgsthäler erreichen lassen. Die in Tirol seit lange
in Blüte stehende Ortsnamenforschung hat dieser Aufgabe rüstig vor-
1) J. Patigler, Die deaUchen Sprachinseln in Welsch-Tirol einst und jetzt. Progr.
Bndweis 1886.
2) Armin Tille, Die bänerliche Wirtschaf tsverfassung des Vintschgaues vornehmlich
in der zweiten Hälfte des Mittelalters. Innsbruck 1895, S. 16 — 32.
— 148 —
gearbeitet durch die Untersuchungen Steubs *), Unterforchers *) und
Tarne Hers'). Egger*) ist auf Grund einer eingehenden Betrach-
tung der eigentümlichen Teiibezeichnungen der Tiroler Gemeinden,
wie z. B. Malgrei, Oblei, Regula (Rigel), Decania (Zechend) etc., zu
dem Schlüsse gelangt, dais die Bayernwanderung, der Zahl nach un-
bedeutend, dichtere Siedelungen wohl nur „im unteren Innthale östlich
vom Ziller, in der Gegend zwischen Zirl und Telfs, im Rienzthale bei
Bruneck, vielleicht auch im unteren Lechthale und in Zwischenthoren**
schuf.
Das Bild der deutschen Besiedelung Tirols zeigt in allgemeinen
Umrissen etwa folgende Züge: die ältesten aus der Völkerwanderung
hervorgegangenen germanischen Siedelungen beschränken sich auf den
Süden des Landes. Die hier niedergeschlagenen versprengten Reste
der Goten imd Langobarden wurden durch die im VIII. und IX. Jahr-
hundert von Norden her einwandernden Bayern verstärkt; durch letztere
wurden vor allem auch Teile des bis dahin ausschliefelich roma-
nischen Nordens besiedelt. Alles Übrige blieb zunächst noch roma-
nisch; und während die romanischen Thäler des Nordens bis zum
Vintschgau einschliefelich im Laufe der Jahrhunderte germanisiert
wurden, verlor das Deutschtum des Südens allmählich Boden an das
dort niemals völlig verdrängte Romanentum.
Bei der auiserordentlichen Rührigkeit der Tiroler Provinzial-
forschung darf man wohl hoffen, dafs es durch eine sachgemäße Ge-
staltung der Untersuchungen über Orts- und besonders Flurnamen ge-
lingen wird, die einzelnen Züge des eben gezeichneten BUdes wenigstens
einigermafsen nach Ort und Zeit genauer festzulegen.
Von den zerstreuten deutschen Sprachinseln Südtirols greift die
unter dem Namen der „VII Communi" bekannte weit ins Gebiet
Venetiens hinüber, wo sie in ihrer ehemaligen Ausdehnung bis an
i) Lndwig Steab, Über die Ureinwohner Rhätiens nnd ihren Zusammenhang mit
den Etmskera. München 1843. Zur rhäüschen Ethnologie. Stuttgart 1854. Herbst-
tage in TiroL München 1867 n. a. m.
2) Ang. Unterforcher, Rhätoromanische Ortsnamen ans Pflanzennamen (Ferdi-
nandenm Heft 36 [1892], S. 373 ff). — Die Namen des Kalserthales (Ferdinandeam
Heft 43 [»899]. S. 19—68).
3) Josef Tarneller, Die Hofnamen des Bnrggrafenamtes in Tirol. Progr. des
Gymn. zxk Meran 1892 — 95.
4) Josef Egger, Die alten Benennmigen der Dörfer, Gemeinden und ihrer Unter«^
abteilangen sowie die gleichlautenden Namen von Gerichttbezirken and Gerichtitetlen in
Tirol (Ferdinandeam Heft 41 [1897], S. 216—277).
— 149 —
muni'S von denen heute nur noch la Giazza und Campo Fontana deutsch
reden, erstreckte sich von der äufsersten Südgrenze Welsch-Tlrols
bis in die Nähe von Verona. Schneller^) hat den Nachweis ge-
führt, da(s die einstmalige Verbreitung der deutschen Sprache in
Venetien keineswegs auf die hiermit angedeutete ehemalige Ausdeh-
nung dieser beiden Sprachinsehi beschränkt war. Aus dem Umstände,
dals die Mutterkirchen dieser Berggemeinden sämtlich in der südlich
angrenzenden venetianischen Ebene liegen, folgert er im Verein mit
anderen Momenten, dals auch südlichere Gegenden einst deutscher
Sprache waren. So ergiebt sich ihm ein ehemaliges Deutschtum des
ganzen die beiden Sprachinseln heute trennenden Gebietes mit dem
Hauptort Schio. Noch südlich von Vicenza imd nahe bei Padua
werden in Orten wie Fimon, Pianezze, Barbano u. a. bis ins XV. Jahr-
hundert hinein deutsche Pfarrer gehalten ; bei Fimon kommen deutsche
Flurnamen vor. Vicenza selber wird bei alten Dichtem und Schrift-
stellern vielfach „Cimbria** genannt und noch für das XTV. Jahrhundert
ist das Vorhandensein der deutschen Sprache dort bezeugt. Sogar in
Treviso scheint es nach einer Urkunde des Jahres 1341 einheimische
Deutsche gegeben zu haben.
Hiermit bringt Schneller einen Brief des italienischen Gelehrten
Antonio Loschi, nach dem das „cimbrische'' Gebiet als von der Etsch
bis zur Adria gehend bezeichnet wird, und die Nachricht Procops *) in
Zusammenhang, nach welcher der „ager Venetus" schon zur Goten-
zeit von Germanen bewohnt war und Narses dort zahlreiche Franken
vorfand. Damit scheint ihm das einstmalige Vorhandensein eines weiten
deutschen Sprachgebietes zwischen Etsch und Adria, dessen Ur-
sprünge bis in die Gotenzeit zurückreichen, erwiesen.
Mag nun auch diese Schlulsfolgerung übereilt sein und die Wirk-
lichkeit erheblich hinter sich lassen, so sind ohne Frage die deutlichen
Anzeichen einstmaliger deutscher Bevölkertmg, wie sie sich in manchen
Ortschaften tief in Italien bis zum Ausgang des Mittelalters feststellen
lassen, von solcher Wichtigkeit, dals eine strenge Prüfung unter Bei-
bringung neuer archivalischer Materialien unerläßlich erscheint. Bei
dem Vorkommen der Anzeichen bis zum Ende des Mittelalters darf
man wohl hoffen, dafs eine eingehende tmd sachgemäße Ausbeute der
1) Christian Schneller, Dentsche und Romanen in Südürol und Venetien
(Petermanns Mitteflangen Bd. XXm [1877], S. 365—385 mit Karte).
2) Procopitts (Corpus scriptor. hist. Bysant. Pars II, Bonn 1833 — 38) II, 80 a.
417; m, 108.
— 150 —
Archive hinreichende Materialien zu Tage fördern wird, aus denen
die Thore von Bassano reichte. Die Schwesterinsel der „XIII G>m*
sich nachstehende Fragen mit einiger Sicherheit beantworten lassen
würden: i) Innerhalb welcher Grenzen ist einstmalige deutsche Be*
völkerung in Venetien nachweisbar? 2) Hat es eine 21eit gegeben, zu
der das abgegrenzte Gebiet eine ausschlielslich oder doch überwiegend
deutsche Bevölkerung hatte? 2a) Bejahenden Falles: Wann setzte die
Romanisierung ein, welches sind die Hauptetappen ihres Fortschreitens
nach Ort, Zeit und Ursachen, welches die 21eit ihrer Vollendung?
2b) Verneinenden Falles: Welche Orte innerhalb des abgegrenzten
Gebietes sind immer romanisch gewesen und wie vexhielten sie sich
zu den deutschen Siedelungsgruppen ? Gang der Romanisierung von
ihnen und von der Peripherie aus nach den unter 2a gegebenen Ge*
Sichtspunkten. 3) Kann die Entstehung der deutschen Siedelungen
Venetiens nach den Quellen bis in die Grotenzeit zurückverlegt werden?
4) Haben spätere deutsche Nachschübe stattgefunden?
Die Nationalitätsverhältnisse der östlichen Kantone der Schweiz
stimmen mit denjenigen West -Tirols überein. Es ist bekannt, da&
in der Gegend des Bodensees und St. Gallens die romanische Sprache
bis zum X. Jahrhundert fortlebte ^), wie auch in Vorarlberg noch im
DC. Jahrhundert romanisch geredet wurde '). Nach den Privaturkunden
des Klosters Pfavers, die seit Mitte des XIII. Jahrhunderts zahlreicher
werden, scheint die hörige Bevölkerung dieser Gegend noch romani-
scher Nationalität gewesen zu sein '). In Teilen des Kantons St. Gallen
giebt es bis 49 Prozent und darüber an romanischen Ortsnamen *).
Wann in diesen Gegenden die romanische Sprache erlosch, wie sie
vor dem jetzt noch in Graubünden rüstig vordringenden Deutschtum
Schritt für Schritt zurückweichen mufete, ist zusammenfassend und er-
schöpfend noch nicht behandelt worden.
In dem durch die Kantone Tessin und Wallis gebUdeten Winkel
und südlich vom Monte Rosa überschreitet das Deutschtum abermals
die Grenze Italiens. Die wenigen, zum TeU bereits romanisierten ehe-
mals deutschen Gemeinden, als deren vorgeschobenster Ausläufer das
i) Adolf Holtzmanii, Kelten and Germanen. Stattgart 1855.
a) Groben „Gnindrif8<< I, 423.
3) Herrn. Wartmaan, Das Kloster Pfävers (Neajahrsblatt des St GaUer histor.
Vereins 1883).
4) Wilh« Götzinger, Die romanischen Ortsnamen de» Kantons St. Gallen.
St Gallen 1891.
— 161 —
westlich des Lago Maggiore gel^ene Ornavasco hier genannt sein
mag, sind spätmittelalterliche Gründungen Walliser Herkunft ^).
Im Kanton Wallis selber zeigen gegenwärtig die dem französi-
schen Sprachgebiet angehörigen Orte Sitten (Sion) und Bremis (Bramois)
starke deutsche Minderheiten. Beide Orte haben nach Zemmrich')
einst eine deutsche Sprachinsel gebildet Ob diese deutschen Minder-
heiten nicht auch hier, wie an so vielen anderen Orten der französi-
schen Schweiz, vielmehr auf neuerer Zuwanderung beruhen, darüber
vermag ich kein Urteil abzugeben.
Für den weiteren Verlauf der ehemaligen Sprachgrenze in den
sich nördlich anschUeisenden Tdlen der Schweiz sind wir vor allem
auf die Untersuchungen Zimmeriis') angewiesen. Wenn in ihnen
auch die Erforschung der g^enwärtigen Sprachgrenze im Vorder-
gründe steht, so sind doch besonders im zweiten Teile bei vielen
Orten sehr eingehende Mitteilungen über die früheren Sprachverhältnisse
gemacht Auf diese mit Sicherheit eine Feststellung der ältesten
Sprachgrenze der Westschweiz zu begründen, dürfte indessen schon
wegen der nur zum Teil durchgeführten historischen Behandlung der
Ortschaften seine Schwierigkeiten haben. Indessen ergiebt sich so viel
mit Sicherheit, dals groüse Veränderungen der Sprachgrenze in der
Westschweiz nicht stattgefunden haben. Von einigen rückläufigen Be-
wqrungen abgesehen, ist hier die deutsche Sprache langsam vor-
1) Albert Schott, Die Dentadien am Monte Rosa mit ihren Stammgenossen im
Wallis und Üchtland. Zürich 1840. Derselbe, Die deutschen Kolonieen in Piemont, ihr
Land, ihre Mondart und Herkunft Stuttgart und Tübingen 1842. — Harry Bresslau,
Die Deutschen am Monte Rosa (Sitzungsberichte der bist Gesellschaft. Berlin 1881).
Derselbe, Zur Gesch. der deutschen Gemeinden am Monte Rosa und im Ossolathale
(2Seit8cfar. d. Gesellscb. f. Erdkunde. Berlin 1881). — Ludwig Nenmann, Die deutsche
Sprachgrenze in den Alpen. Heidelberg 1885. Derselbe, Die deutschen Gemeinden
in Piemont. Freibnrg 1891.
2) J. Zemmrich, Verbreitung und Bewegung der Deutschen in der französ. Schweiz
(Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde VIII, Heft 5, S. 35 n. 38). —
Hoppeler, Die deutsch-romanische Sprachgrenze im XUT. u. XIV. Jahrh. (Blätter ans der
Walliser Gesch., Jahrg. 5, 1895) konnte ich leider weder von der Schweriner Regierungs-
bibliothek noch von der Strafsburger Universitäts- und Landesbibliothek, für deren Ent-
gegenkommen ich hiermit meinen verbindlichsten Dank ausspreche, erhalten.
3)J. Zimmerli, Die deatsch-französische Sprachgrenze in der Schweiz L Die Sprach-
grense im Scliweizeriadien Jura. Dannstadt 1891. II. Die Sprachgrenze im Mittellande,
in den Freibarger, Waadtländer und Bemer Alpen. Basel and Genf 1895. VgL dazu:
Wilb. Streitberg, Zur Gesch. d. Deutschtums in der Westscbweiz (AOg. Zeitg., Bei-
Mge 1893, ^r- 7> «• 7>)- — Alb. Bttchi, Die Ust. Sprachgrenze im Kanton Freibnrg
(Freibwger GesdiichUblktter m, 1896, S. 33^53).
— 154 —
sich niemand wundem, dafs er bei der Ausbeutung der zahlreichen
zu benutzenden Archive im allgemeinen nur die mehr an der Ober-
fläche liegenden Materialien wie Zinsregister, Grundbücher heranzog
und in Ortschaften, wo diese Materialien versagten, sich mit modernen
Katastern begnügte. Für eine ganze Reihe von Ortschaften längs der
Sprachgrenze hat Kurth daher kein historisches Namenmaterial zu Ge-
bote gestanden.
Was er als einzelner bei der grofsen Ausdehnung seines Arbeits-
gebietes nicht zu leisten vermochte, wird von der Provinzial- imd
Lokalforschung nachgeholt werden müssen: eine systematische Ver-
arbeitimg des gesamten Schatzes der Privaturkunden hinsichtlich der
in ihnen enthaltenen Flur- und Familiennamen des ganzen belgisch-
französischen Grenzgebietes. Wenn dadurch auch der Rückgang des
Deutschtums in Belgien, dessen Breite nach Kurth nur selten die Aus-
dehnung einer Gemeinde überschreitet, vielleicht nicht wesentlich
gröfeer erscheinen würde, so wäre doch mit Bestimmtheit ein sicheres
Ergebnis hinsichtlich derjenigen Ortschaften zu hoffen, deren frühere
Nationalität Kurth nicht zu bestimmen vermag.
Den geringen Verlusten des Deutschtums in Belgien steht ein
außerordentlich grofser Rückgang unserer Sprache in Nordfrankreich
gegenüber. Wenn bei sonst gleichen Verhältnissen die Nationalitäts-
entwicklung so verschiedene Bahnen einschlug, so ist darin wohl vor
allen Dingen die Wirkimg der Fremdherrschaft zu erkennen.
In Übereinstimmung mit anderen Forschern, vor allem mit
J. Winkler*), kommt Kurth zu dem Ergebnis, dafe in dem ganzen
durch die Städte Dünkirchen, St. Omer und Boulogne-sur-Mer gebU-
deten Dreieck die Volkssprache bis tief in die Neuzeit hinein die deutsche
gewesen ist. Indem aber Kurth als deutsch-französische Sprachgrenze
in dem jetzt rein französischen Teile Nordfrankreichs für das XIII. Jahr-
hundert eine Linie von St. Omer nach Boulogne annimmt, sieht er sich
selber genötigt, auf die grofse Zahl südlich dieser Linie vor-
handener deutscher Ortsnamen aufmerksam zu machen: sie ziehen
sich von Aire die Lys aufwärts bis Lisbourg und in einer zweiten
Gruppe von Fauquembergue über Coyecque, Audinctun, Reclinghem,
Danebroeuk, Radinghem, Matringhem, Wiquinghem, Verlingtun, Ha-
linghem, Widehem, Tubersen nach der Küste hin, die sie südlich
Etaple (halbwegs zwischen Boulogne und Abbeville) mit Berg-sur-Mer
I) VgL über seine Werke die Aufsätze Andre es and Seelmanns im Globus,
Bd. LXV (1894), S. 330 u. LXIX (1896), S. 329—332.
— 165 —
erreichen '). Ohne die Meinung zu teilen, dafe das deutsche Sprach-
gebiet sich ehemals bis über die Gegend von Arras, Th^rouanne und
Bapaume ausgebreitet habe, kann man doch angesichts so zahlreicher
weit nach Süden vorgeschobener deutscher Ortsnamen sich kaum der
Meinung verschliefeen, dafs es einst eine gröfeere Ausdehnung gehabt
haben müsse als die durch das Dreieck Dünkirchen, St. Omer und Bou-
logne bestimmte. Hier bleibt derProvinzialforschung noch die interessante
Aufgabe zu lösen, welche von den genannten vorgeschobenen deutsch-
namigen Orten einst dem geschlossenen deutschen Sprachgebiete an-
gehörten, welche dessen früheste Grenze bildeten und welche von
ihnen stets nur ein insulares Dasein inmitten romanischer Nachbarn
geführt haben. Hinsichtlich aller wird der Zeitpunkt des Erlöschens
der deutschen Sprache, soweit mögUch, festzustellen sein.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dafs dieser nunmehr im Fran-
zosentum untergegangene westlichste Ausläufer des Deutschtums sowohl
von Winkler wie von Kurth für ein Ergebnis sächsischer Kolonisation
gehalten wird. Das häufige Vorkommen von Ortsnamen auf -tun, die
in Flandern gänzlich fehlen, dagegen in England (-ton -town) sehr zahl-
reich vertreten sind, bietet dafür den hauptsächlichsten Beweispunkt
Überhaupt sind von Kurth die Ortsnamen seines ganzen Forschungs-
gebietes in der dankenswertesten Weise nach den verschiedensten
Gesichtspunkten zusammengestellt. Die an die Ortsnamenlisten ge-
knüpften sehr interessanten Erörterungen sind hier und da leider
noch vom Amoldschen System beeinflufet.
Wenn ich jetzt am Ende meiner Ausführungen auf die anfangs
citierte Äuiserung Suchiers ziurückkommen darf, so hat sich gezeigt,
dals seit dem Jahre 1888 in allen von der deutsch-romanischen Sprach-
grenze durchschnittenen Gebieten die damals kaum vorhandene histo-
rische Behandlung dieser Linie grofse Fortschritte gemacht hat. Arbeit
ist trotzdem noch in allen Gebieten in überreichem Mafse zu leisten;
auch da, wo ich im Vorstehenden der Lösung harrende Au%aben aus-
drücklich nicht bezeichnet habe und wo die erzielten Ergebnisse be-
reits das Ansehen eines endgültig feststehenden Abschlusses haben,
ist für ei^^änzende und berichtigende örtliche Untersuchungen noch ge-
nügend Raum und Gelegenheit vorhanden.
Die bei solchen Forschungen anzuwendende Methode habe ich
oben schon, bei Behandlung der einzelnen Landschaften, berührt. Zu^
sammenfassend und ergänzend möchte ich hier noch betonen, dafs
1} Vgl. die Homannsche Karte Yon Artois.
12»
— 166 —
je nach der in Frage kommenden Zeit zwei verschiedene Methoden
möglich sind: i) Will man für das frühe Mittelalter, bei noch nicht
vollendeter Scheidung geschlossener Sprachgebiete, über die Ver-
teilung bezw. Mischung zweier Nationen Nachforschungen anstellen,
so wird man sich in erster Linie wohl immer auf die bis dahin nach-
weisbar vorhandenen Ortsnamen stützen. Deutsch benannte Orte in-
mitten romanischer Umgebung können aber bald nach ihrer Gründung
romanisiert worden sein; aus ihren Namen lälst sich daher auf den
nationalen Charakter mit Sicherheit nur schlielisen für die Gründungszeit.
Darum, und weil auch in nicht deutsch benannten Orten Deutsche
gewohnt haben können, bedarf es weiterer Materialien. Man hat diese
vielfach in den Personennamen zu finden geglaubt. Da aber nach-
weislich germanische Personennamen schon im frühen Mittelalter
massenhaft von Romanen gefuhrt werden, kann man auf sie nicht den
Beweis germanischer Nationalität begründen. Eine sichere Möglichkeit
der Nationalitätsbestimmung ergiebt sich dag^en aus der im frühen
Mittelalter herrschenden Persönlichkeit des Rechts. Aus der Angabe,
dais jemand nach salischem, langobardischem, bayerischem Recht lebe,
kann man mit Sicherheit auf Nationalität bezw. Stammesangehörigkeit
der betreffenden Person schliefsen. Aber diese Angaben sind nicht so
häufig wie man wünschen möchte, verschwinden auch früh aus den
Quellen ; so wird im günstigsten Fall immer nur eine annähernde Ab-
schätzung nationaler Mischungsverhältnisse des frühen Mittelalters zu
erreichen sein *).
2) Anders im späteren Mittelalter; die nationalen Mischungsgebiete
haben sich allmählich in geschlossene Sprachgebiete gesondert, deren
scharfe Sprachgrenze von Ort zu Ort genau festgestellt werden kann.
Zwar haben die Ortsnamen längst ihre nationale Beweiskraft eingebüfst.
Aber dafür ist inzwischen anderes Beweismaterial in grofser Massen-
haftigkeit empoigewachsen. Die FamUiennamen sind in der BUdung
begriffen und spiegeln den sprachlichen Charakter der einzelnen Orte
deutlich wieder. In noch höherem Grade gilt dies von den Flur-
namen, da sie im Gegensatz zu jenen an die Scholle gebunden sind.
Da direkte Zeugnisse über die ehemaligen Sprachverhältnisse nur
in seltenen Ausnahmefallen vorliegen — in ganz Lothringen sind mir
nur zwei solche (bei Marsal und Chicourt) begegnet, von allen hier
behandelten Landschaften fliefsen sie nur in Tirol etwas reichlicher —
I) Und auch diese wohl aar mit Zohilfenthme von RttckschlOssen auf Gmnd der
unter 2) angegebenen Methode.
— 157 —
so kann die Nationalität der einzelnen Ortschaften in der Regel nur
durch Schlufsfolgerung bestimmt werden. Wer sich aber die Mühe
nicht verdriefsen lä(st, die alten Flur- und FamUiennamen eines
nationalen Grenzgebietes aus alten Grundbüchern, Zinsregistem , Ur-
baren, vor allem aber aus dem unerschöpflichen Born der bis jetzt
so stiefmütterlich behandelten Privaturkunden zusammen- zutragen,
der wird den ehemaligen Verlauf der Sprachgrenze bald deutlich
vor Augen haben. Charakteristische Ausdrücke der Volkssprache,
wie sie sich neben den oben genannten Quellen besonders in
den Weistümem sogar bei fremdsprachiger Aufzeichnung erhalten
Ilaben, können ebenfalls mit Erfolg bei der Nationalitätsbestimmung
verwandt werden. Jedoch ist bei ihnen eine gröfsere Vorsicht geboten
als bei den Namen wegen der Möglichkeit sprachlicher Entlehnung,
die in unmittelbarer Nähe der Sprachgrenze niemals aus dem Auge
gelassen werden darf. Vor der Benutzung modemer Kataster mufs
dsigegen gewarnt werden. Diese können der Forschung wohl Finger-
zeige geben, ermöglichen aber für längst verflossene Jahrhunderte keine
gesicherten chronologisch festlegbaren Ergebnisse.
Ebenso kann auch die Urkundensprache nur mit grölister Vorsicht
zur Ermittelung der alten Sprachgrenze herangezogen werden. Die
Thatsache, daCs im deutschen Sprachgebiet Belgiens, Nordfrankreichs,
Luxemburgs und Lothringens nach dem Aufhören der lateinischen
Urkundensprache zunächst die französische vorherrscht, redet deutlich
genug. Darüber hinaus wirkt die Urkundensprache oft geradezu
hinderlich, indem sowohl Familien- wie Flurnamen übersetzt werden.
Solche störende Einflüsse der Urkundensprache können nur durch eine
unerbittliche Kritik aus dem Wege geräumt werden ^).
Die Verwertung der Kitclietibüeher
Von
Pfarrer Julius Gmelin (Grossaltdorf).
Zu den wertvollsten, aber auch noch am wenigsten verwerteten
Quellen einer eingehenden Geschichtsforschung gehören die Kirchen-
bücher. Mit wenigen verschwindenden Ausnahmen ist die Geschichts-
i) Eingehendere Ausführungen ttber die hier nur angedeuteten methodischen Grund-
sfttxe finden sich in meinen oben genauer citierten Schriften „Deutsche und Kelto-
romanen'* Kap. I und „Das deutsche Sprachgebiet Lothringens" Kap. I.
— 168 —
Schreibung des in Bezug auf Quellenforschung und Kritik doch so
epochemachenden XIX. Jahrhunderts ihren Weg gegangen, ohne sich
um die Existenz dieses umfangreichen Materials zu kümmern, das doch
schon im XVIII. Jahrhundert durch die Anregung, die es einem Süfis-
milch tmd anderen Männern gab, eine neue in unserem Jahrhundert
zum Rang einer wissenschaftlichen Grofsmacht herangewachsene Dis-
ziplin ins Leben gerufen hat: die Statistik. Aber merkwürdiger-
weise hat sich diese Tochter, kaum dafs sie sich auf eigene Füfee gestellt
sah, ihrer Mutter kaum mehr erinnert, weil diese ihr den „modernen"
Ansprüchen nicht zu genügen schien, und so lieber mit anderen neu-
modischen Mitteln ihre Lebensfähigkeit darzulegen gesucht, als jene
anfängUchen Stützen erst ordentlich zu vertragen und auszubeuten *).
Kein Wunder, dafs dann die älteren Schwesterwissenschaften sich
vollends zu vornehm dünkten, mit einem von der eigenen Zunft so
rasch zur Seite geworfenen Handwerkszeuge weiter zu arbeiten. Zu-
dem lag dieses trotz seiner allgemeinen Verbreitung doch eben den
wissenschaftlichen Arbeitern zu wenig zur Hand, während diejenigen,
denen dasselbe beruflich in die Hand gegeben war, die Geistlichen,
durch den Charakter ihres Amts mehr davon abgehalten als dazu hin-
geführt waren, diesem „trockensten** Stück ihrer Ausrüstung ernst-
lichere Beachtung zu schenken. Erst im letzten Jahrzehnt hat sich nach
mancherlei Einzelanregungen, unter denen Jastrows Untersuchung
Ueber die Volkszahl deutscher Städte am Ende des Mittelalters
und zu Beginn der Neuzeit (1886) *) eine besondere Stelle gebührt,
der Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine auch
der Kirchenbücher -Frage angenommen und im Verein mit einer An-
zahl historischer Kommissionen sich zunächst bemüht, den thatsäch-
lichen Bestand dieser Quellen festzustellen. So ist für einen geraumen
i) Eine primitive fUr die Geschichte der Statistik nicht uninteressante Zosammen-
steUnng über die Bevölkerungsbewegung in Gera in der Zeit von 1700 bis 1800
findet sich in der „Beschreibung der Herrschaft und Stadt Gera" von Joh. Christoph
Klotz (Schleiz 1816}, S. 95.
2) Vgl. auch Karl Bücher, Zur mittelalterlichen Bevölkerungsstatistik mil besonderer
Rücksicht auf Frankfurt a. M. in „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschafi'S
XXXVU. Bd. (1881), S. 535—580 und XXXYIU. Bd. (1882), S. 28— 117. Gerade fttr
eine der wichtigsten Fragen mittelalterlicher BevÖlkemngsstaüstik, nämlich für die Ge-
winnung wenigstens im XVL Jahrhundert gültiger Reduktionszahlen (wie viel Personen
kommen im Durchschnitt etwa auf den Haushalt eines steuerzahlenden Bürgers?) bieten
die Kirchenbücher die einzige Unterlage. Vgl. „ZeiUchrift für Sozial- und WirUchaftt-
geschichte", V. Bd. (1897), S. 414.
— 159 —
Teil von Deutschland, namentlich den Norden *), das betreffende Ma-
terial konstatiert worden, für andere Teile, so besonders den Süden,
harren die diesbezüglichen Arbeiten noch der allgemeinen Bekannt-
machung. In einigen Landesteilen aber, so namentlich im Osten,
scheint die Arbeit noch kaum in Angriff genommen zu sein. Vielleicht
dürfte die Sache ein rascheres Tempo gewinnen, wenn einmal die
Einsicht, oder doch nur die Ahnung allgemeiner verbreitet wäre, um
was für ein aufeerordentlich wichtiges Material es sich bei den Kirchen-
büchern handelt, was für reichhaltige Schätze hier noch ungehoben
Megen und wie mancherlei Zweige der Wissenschaft aus der Beach-
tung dieser Materialien einen neuen Impuls oder doch weitreichende
Förderung erfahren können. Diesem Zwecke, wie überhaupt der
planvollen Ausbeutung dieser Schätze, möchte die hier gebotene
Skizze über die Verwertung der Kirchenbücher dienen. Detailergeb-
nisse, die nur auf einen bestimmten Schauplatz sich beziehen , müssen
wir ausschlieisen und können nur erwähnen, was allgemein als Resultat
diesbezüglicher Forschungen sich ergeben dürfte bezw. was geeignet
ist , andere zur Forschung in gleicher Richtung anzuregen. Denn
natürlich wäre mit allgemein theoretischer Konstruktion
des etwa möglichen Resultats nicht gedient, es handelt
sich vielmehr um Resultate wirklicher, eingehender Unter-
suchungen.
Die Grundlage fiir den Verfasser haben hierbei die Kirchenbücher
der ehemaligen Reichsstadt Hall und ihres Gebiets geboten, soweit
€8 in den Grenzen des heutigen Amts Hall gelegen war, also in
i) Den Stand der Arbeit bis 1895, wonach die Sache in der Mitte von Deutschland,
Königreich nnd Provinz Sachsen und den kleineren Staaten, am weitesten gefördert war,
bat R. Krieg im „Korrespondensblatt des Gesamtsvereins der deutschen Geschichts- und
Altertomsvereine <* 43. Jahrgang (1895), S. 129 ff. zusammenfassend beschrieben nnd im
45. Jahrgang (1897), S. 38 ff. sowie im 47. Jahrgang (1899), S. 56 ff. seine Angaben
vervollständigt. — Auf Arbeiten über die Kirchenbücher in Siebenbürgen nnd Salz-
burg weist hin Armin Tille in den „Annalen des historischen Vereins für den Nieder-
rhein««, 63. Heft (1896), S. 178. — Über mährische Pfarrmatriken Welzl in der
,, Zeitschrift des Yereines ftir die Geschichte Mährens und Schlesiens", 3. Jahrgang
(Brttnn 1899), S. 225—230, über die Frankftirter Kirchenbücher v. NathusSus im
«»Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst", 3. Folge, Bd. VI, S. 161— 186. — Die
„Kirchenbücher im katholischen Deutschland" bespricht Sägmüller in der „Theo-
logischen Quartalschrift", 81. Jahrgang (1899), über Verwertung der Kirchenbücher vgl.
auch V. d. Horst in der „Vicrteljahrsschrift ftlr Wappen-, Siegel- und Familienkunde",
XXVIL Bd., S. 185—202, S. 225—244 sowie im „DeuUchen Herold", Jahrgang 1899,
S. 132—135.
— 160 —
der Hauptsache der evangelische Teil dieses Amts, d. h. etwa 94 %
desselben. Wohl ist das ein räumlich imd zahlenmäüsig beschränkter
Kreis, denn nach der letzten Volkszählung wohnen noch keine
30000 Seelen in diesem Gebiete, wovon */, auf das Land, V'j auf die
Stadt entfallen. Aber einmal erinnere ich daran, dafs, worauf schon
vor Jahren der Statistiker G. v. Mayr hingewiesen hat, der Fortschritt
der wissenschaftlichen Erkenntnis nur von der genaueren Untersuchung
kleinerer, räumlich beschränkterer Einheiten ausgehen kann, und dann
habe ich dieses, mein Gebiet, dafür auch um so genauer untersucht
So gar wenig ist es übrigens noch nicht einmal, indem es sich um
(wenn man die alte Einteilimg zu Grunde legt) immerhin 25 Pfarreien
handelt. Diese 25 Pfarreien haben zudem von der Ausgangszeit her
bis zum heutigen Tag ein einheitliches, im wesentlichen durchaus
gleichartig gebliebenes Gebiet gebildet, insbesondere aber ist — die
Hauptsache in diesem Fall — die Zeit lang genug, um jenen etwaigen
Mangel räumlicher Ausdehnung überreich zu ersetzen, und länger als
sie kaum je statistisch gründlich untersucht worden ist. Denn von
i559f wo die Hällischen Kirchenbücher einsetzen, bis 1895, mit welchem
Jahre ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe, sind es nicht
weniger als 336 Jahre oder zehn Generationen, und wenn in jenem Jahr
auch nur die Tauf- und Eheregister einsetzen, während]sich die Toten-
register mit einer Ausnahme erst ein Menschenalter später, 1594fr., nach
und nach zugesellen, die meisten sogar erst aus dem XVII. Jahrhundert
datieren, so stellen sich dafür jene, zumal die Taufregister, bei näherer
Untersuchung doch als die ungleich wichtigeren heraus. Natürlich sind^
wie jeder Sachkundige sich denken mag, nicht alle Register für diesen
ganzen Zeitraum mehr vorhanden, sondern hat auch hier der böse
drcissigjährige Krieg einen namhaften Ausfall veranlafst, andere Lücken hat
die Nachlässigkeit oder Unfähigkeit mancher Registerfuhrer, der Pfarrer,
verschuldet. Aber im ganzen fallt, auch wenn die Handschrift oft
genug zu schaffen macht, doch eher die Pünktlichkeit und Genauigkeit
dieser Buchführung als das Gegenteil auf, so dafs man den Eindruck
bekommt, dafs es jedenfalls die zuverlässigsten Persönlichkeiten waren,
die tmter den betreffenden Umständen für die Buchführung gefunden
werden konnten. Das Beste aber ist, dafs, so viel auch älteres Material
verloren gegangen ist, das Gerettete doch namhaft genug ist, um unsere
Betrachtungen nicht erst von 1650, sondern eben schon von 1559
an datieren zu können. Im ganzen handelt es sich um ca. 330000
oder ca. Va Million Nummern, die von mir (mit Unterstützung einiger
jüngeren Kollegen) in jahrelanger Arbeit aus den Hällischen Kirchen-
— 161 —
büchem gewonnen und auf ihre Bedeutung hin näher untersucht wor-
den sind : doch wohl eine genügende Grundlage, um wenigstens nicht
mehr den Einwand zu groiser Beschränktheit des Materials fürchten zu
müssen.
Welches sind nun die Ergebnisse allgemeiner Art auf Grund dieser
Untersuchungen? Die beste Übersicht darüber giebt vielleicht eine
Unterscheidung nach den verschiedenen daraus Gewinn ziehenden
Zweigen der Wissenschaft.
Da ist zunächst die Geschichte im allgemeinen, für welche eine
Fülle einzelner historischer Notizen abfallt, sei es über einzelne wich-
tige Persönlichkeiten, oder über Zustände, rechts- und verfassungs-
geschichtliche Beziehungen, Berufsarten u. dergl. , kurz Dinge , die als
Belege für die Geschichtsschreibung zumal in kulturgeschichtlicher
Hinsicht von Belang sind. Im besonderen aber ist es die lange Zeit
als wichtigster Teü der Geschichte behandelte Kriegsgeschichte,
die aus diesen Quellen eine treffliche Illustration erfahrt. So würde
allein die Ausbeute, die über den folgenschwersten Krieg, den unser
Vaterland durchzumachen gehabt hat, zu gewinnen wäre, eine allge-
meine Durcharbeitung der ältesten Kirchenbücher reichlich lohnen
und eine genauere Geschichte desselben vielleicht erst möglich
machen. Wenn wir auch absehen von dem wertvollsten Ergebnis,
den genaueren Zahlen über die durch diesen Krieg veranlafste Be-
völkrungsbewegung bezw. -vermindnmg, welche Menge von Notizen
über Märsche und Einquartierungen, das Verhältnis der einquartier-
ten Soldaten zu ihren Quartiergebem, Ausschreitungen, aber auch ge-
mütliche Züge, wie z. B. Gevatterschaften, ergeben nicht allein die
Hällischen Register! Das Wichtigste bleibt freilich immer der ge-
nauere Nachweis der Wirkungen wie des ganzen Krieges so auch der
einzelner Kriegsjahre, namentlich der besonderen Pestjahre, auf die Be-
völkrungszahl der einzelnen Ortschaften, den wir so, trotz aller Lücken
in manchen Pfarreien, gewinnen. Beiläufig sei bemerkt, dals für unsere
Gegend, wie wohl auch für manche andere, die Durchforschung dieses
Materials dazu zwingt, eine Reduktion der in den allgemeinen Beschreib-
ungen üblichen ungeheuerlichen Vermindrungszahlen vorzunehmen. Für
das Hällische z. B. kann es sich bei dem ganzen Krieg um höchstens eine
Verminderung von etwa ein Drittel, nur in einzelnen Pfarreien um 40 %
oder gar mehr handeln, in der Hauptsache ist dies aber die Wirkung
der Pest, die im Spätjahr 1634 im Gefolge der Nördlinger Schlacht
zehn Wochen lang in unsrer Gegend (von Ende September bis An-
fang Dezember) wütete, ob auch in ziemlich ungleicher Verteilung
— 162 —
über die einzelnen Ortschaften. Ganze Ortschaften dageg'en, die in-
folg'e dieses Krieges abgegang'en wären, wie in so mancher anderen
Landschaft, sind bei uns überhaupt nicht namhaft zu machen. Natürlich
trifft das, was vom dreissigjährigen Kriege gesagt ist, in vermindertem
Grad auch auf die andern Kriege zu, die in neurer Zeit unser Land
heimgesucht haben. Für das Hällische kommen da in erheblicherem
Grade freilich nur die Raubkriege Ludwigs XIV., zumal 1675 f. und
1693 f., durch Nachrichten über Durchzüge, Flüchtlinge und Seuchen
in Betracht, weniger die Revolutions- und napoleonischen Kriege, über
die auch sonst Material genug vorliegt. An den siebenjährigen Krieg,
der für Nord- und Mitteldeutschland besonders ins Gewicht fallen mufe,
erinnern bei uns nur vereinzelte Spuren. Am meisten von Bedeutung
wäre natürlich, was wir über die Wirkungen der Kriege noch früherer
Zeiten, so namentlich des Schmalkaldischen im XVL Jahrhundert, auf
diesem Wege aufzutreiben vermöchten. Doch reichen, abgesehen von
einzelnen Städten, nur in den allerwenigsten Territorien die Register
so weit zurück, m. W. nur in der brandenburgischen Markgrafschaft
Ansbach und Baireuth, wo die Register zugleich mit der Reformation
eingeführt und seit 1533 vorhanden sind. In diesem Jahre ist auch im
hällischen Gebiet ein einzelner Pfarrer, der verdiente Chronist Herolt
in Reinsberg, wohl eben durch die brandenburgische Nachbarschaft zur
privaten Anlegung solcher Register veranlafet worden, hat dann aber
1546 mit Rücksicht auf den ausbrechenden Krieg seine Thätigkeit
vorläufig eingestellt.
Unter den Hilfiswissenschaften der Geschichte dürfte auf den
ersten Blick am besten wegkommen die Genealogie. Was für ein
unentbehrliches Material für sie in unseren Kirchenbüchern vorhanden
ist, bedarf kaum für jemand noch einer besonderen Darlegung. Es ist
aber diesem Material eine von Jahr zu Jahr sich steigernde genea-
logische Bedeutimg schon damit gesichert, dafe nach dem im Gesetze
des natürUchen Wechsels gelegenen Niedergange der alten aristokratisch-
patrizischen Familien, in deren Kreisen für die Pflege der Familien-
zusammenhänge und der Stammbaum-Nachweise noch durch besondere
Veranstaltungen gesorgt wurde, schon in der Gegenwart und in ver-
mehrtem Grad in der Zukunft immer mehr neue Namen auf den
Schauplatz zu treten berufen sind, die oft genug über ihre Herkunft
selber kaum über das dritte oder vierte Glied hinaus im klaren sind.
Ist auch hier dann allemal zunächst der Einzelne an der weiteren
Rückwärtsverfolgung seines Familienzusammenhangs interessiert , so
ist doch auch die Allgemeinheit an der Feststellung solcher genea-
— 163 —
logischer Zusammenhänge um so mehr interessiert, je weniger der
einzelne von sich aus oft die richtige Spur zu treffen im stände
ist und je mehr durch die Kenntnis zahlreicher Stammbäume für
die verschiedensten Bevölkerungsklassen und Gegenden mannigfache
Probleme der Genealogie, die auf die Ergründung praktischer biolo-
gischer Gesetze überhaupt hinauslaufen, ihre Lösung finden. Nach
meinen Beobachtungen z. B. scheint es als ein ziemlich allgemeines
biologisches Gesetz gelten zu können, dafe eine Familie nicht leicht
länger als über drei Jahrhimderte auf einem und demselben Boden
sich dauernd in der Höhe zu behaupten vermag, und zwar triffl
dies kaum viel weniger auf dem Lande als für die Stadt zu.
Thatsache ist, dafs im allgemeinen diejenigen Familien, die uns beim
Beginn der Kirchenbücher in den untersten Regionen ihrer Gemeinde
oder Gegend begegnen, im XIX. Jahrhimdert meist in die oberen
Reihen des Besitzes und Ranges eingerückt sind, während umgekehrt
<lie damals tonangebenden Namen entweder ausgestorben oder der
Degeneration verfallen sind, soweit sie nicht durch Verpflanzung auf
einen andern Boden wieder neue Wurzeln geschlagen haben.
Mündet so auch diese genealogische Ausbeute in das Kapitel der
Bevölkrungsbewegung ein, so darf hier auch darauf noch be-
sonders aufmerksam gemacht werden, was für eine unvergleichliche
Grundlage für die Kenntnis der Herkunft unserer verschiedenen Be-
völkerungsteUe und damit unsrer Bevölkerungszusammensetzung und
-mischung überhaupt mit einer umfassenden Zusammenstellung der
älteren Geschlechts- oder Familien- (und wohl auch der in manchen
Gegenden auf dem Lande gebräuchlichen besonderen Haus-)Namen in
jeder Gemeinde gewonnen würde ; schon deshalb, weil im allgemeinen
die Anfange unsrer Tauf- und Eheregister zum Glück noch in jene
Zeh hinaufragen, wo die im Mittelalter so viel gebundeneren Verhält-
nisse der Landbewohner sich noch tmgleich mehr als später geltend
machten. Wenn im XVL und XVII. Jahrhundert die einzelnen Ort-
schaften oder Pfarreien meist noch ungleich weniger Familien -Namen
aufweisen als im XIX., und dafür einzelne Namen um so zahlreicher
an einem und demselben Ort oder in dessen Nachbarschaft anzutreffen
sind, so darf mit ziemlicher Sicherheit diese Gegend als Ursprungs-
heimat des betreffenden Namens angesehen werden, wie wir die Heimat
unserer Haustiere und Kulturpflanzen dadurch herausbekommen, dafs
wir fragen, wo kommen sie wild vor? In wie mannigfacher Beziehung
aber auch praktisch eine erweiterte Kenntnis der ursprünglichen
Standorte so mancher unserer auffalligsten, vielleicht auch be-
— 164 —
kanntesten Namen , und überhaupt ein gröfeeres genealogisch - bio-
logisches Verständnis unserer heutigen Gesellschaft nutzbringend zu
verwerten wäre, ergiebt sich aus dem Gesagten von selbst.
Was die Geschlechtsnamen für die Genealogie, das bedeuten im
allgemeinen die Vor- oder Taufnamen ^) für die speziellere^Kultur-
geschichte, die Geschichte der geistigen Entwicklung unseres Volkes»
Handelt es sich auch hier keineswegs um eine neue Entdeckung, son-
dern eine schon hundertmal von Einzelnen gemachte Beobachtung, was
fiir ein bestimmtes Gesetz auch auf diesem scheinbar am meisten der
Einzelwillkür preisgegebenen Gebiet herrscht, so gewährt es doch
immer wieder neuen Reiz, einen bestimmten Bezirk auf die Entwick-
lung der Vornamen über ein paar Jahrhunderte hin zu verfolgen
und darin die geistige Stimmung der betreffenden Landschaft während
dieser verschiedenen Perioden niedergelegt, gewissermafeen photo-
graphiert zu sehen. Wie interessant gestaltet sich mar z. B. die Be-
obachtung des Übergangs von der alten katholischen Zeit mit der
Mannigfaltigkeit ihrer HeUigennamen , unter denen aber schon in un-
serer Ausgangszeit Johannes oder Hans der verbreitetste ist, zum
evangelisch-protestantischen Volkstum, für welches die biblischen zu-
sammen mit den traditionell - bäuerlichen Namen (in der Stadt z. T.
in eigentümlicher Auswahl, so dals z. B. die Hällischen Sieder vom
XVI. Jahrhundert an in auffallender Weise den Namen David bevor-
zugen und davon den bleibenden Spitznamen „Dovelich** davontragen)
zur vorherrschenden Stellung gelangen. Im allgemeinen läfst sich frei-
lich, wenigstens in unserem Gebiet, mit der zunehmenden Protestan-
tisierung eine gewisse Verödung nicht verkennen, so dafe das XVI. Jahr-
hundert über eine reichere Auswahl von Vornamen verfugt als das
XVIII. , das fast in stereotyper Weise sich mit ein paar traditionell
geheiligten Vorzugsnamen, nur in reichlicherer Zusammensetzung, be-
hUft So erobern sich neben Hans, der den Primat behauptet, der
gleichfalls schon vorher reichlich vertretene Georg oder Jörg zusammen
mit Michael auf dem Lande überall die erste Stelle, um diese durch
das ganze XVII. Jahrhundert in Gestalt von Doppelnamen, unter denen
i) Es giebt bereits eine ganze Litteratnr über diesen Gegenstand. Die ältere ver-
zeicbnnt Georg Steinhaasen in seinem Aufsatze „Vomamenstadien'* in der „Zeit-
schrift (Ur den deutschen Unterricht", 7. Jahrgang (1893), S. 616—626, wo besonders
die Namenarmut des ausgehenden Mittelalters und die Häufigkeit des Namens Johaane^
bebandelt wird. — Vgl. ferner Armin Tille, Weibliche Vornamen im Mittelalter io
„Zeitschrift für Kulturgeschichte", V. Bd., S. 173 — 177, auch „Zur Geschichte der deut-
schen Personennamen" in der „Archiralischen Zeitschrift"; Bd. VII (1897), S. 243—252
— 165 —
Johann Georg und Geoi^ Michael voranstehen, in erhöhtem Ma&e zu
behaupten, während das XVIII. Jahrhundert getrea seiner wachsenden
Weitschweifigkeit (die vielleicht in den Kirchenbüchern sich am eklatan-
testen verfolgen und diese auf das Doppelte und Dreifache des früheren
Umfanges, ohne sachliche Bereicherung, anschwellen läist) sich damit
begnügt, die Zweiheit zur Dreiheit der Vornamen, mit so ziemlich
demselben Material, auszugestalten, bis dann das XIX. Jahrhundert
auch hier den nötigen Rückschlag in der Vereinfachung und zugleich
Erneuerung durch Patriotisierung der Vornamen (Friedrich, Wilhelm,
Karl etc.) bringt. Auf die entsprechende weibliche Parallele, welche
sich etwas weniger einfach gestaltet, verzichte ich hier des Raumes
wegen. Dann wie nett wieder, in diesem XIX. Jahrhtmdert schon
in den Vornamen die verschiedenen politischen Schattierungen oder
Stimmungen der einzelnen Orte bezw. Landschaften fixiert zu fin-
den wie darunter den EinfluCs bestimmter Persönlichkeiten, so mancher
Pfarrer, in einzelnen Namens-Neuerungen wiederzuerkennen! Natürlich
ist es, dafs auf diesem Felde die Stadt, hier Hall, wie sie ein reicher
entwickeltes Leben und eine grölsere Mannigfaltigkeit der Namen zeigt,
so auch die führende Stellung bei Neuerungen einnimmt, übrigens um
dann doch auch wieder durch die starke Einwanderung vom Lande her
auch in ihrer Namensphysiognomie nicht wenig beeinfluist zu werden.
Für die Städte, zumal die alten Reichsstädte, lassen sich dann die Vor-
namen in ziemlicher Vollständigkeit meist noch ein paar Jahrhunderte
weiter zurückverfolgen auf Grund der Beetbücher oder etwaiger anderer,
den Kirchenbüchern zunächst kommenden Register, wie z. B. die
Untersuchung der ältesten Grolstotengeläutbücher in Nürnberg (durch
Dr. Alfred Bauch) *) von 1439 bezw. 1454 hübsche Winke für
das andringen des Humanismus in dieser Stadt Ende des XV. tmd
Anfangs des XVI. Jahrhunderts ergeben hat. Näheres über meine
eigenen Beobachtungen die Vornamen betreffend darf ich vielleicht
einmal in einem besonderen Aufsatze mitteilen.
Den sichersten Gewinn für die Kulturgeschichte auch aus der
Untersuchung dieses Materials erlangen wir wieder erst aus einer mög-
lichst umfassenden statistisch -tabellarischen Darstellung dieser Ergeb-
nisse. Und so bleibt überhaupt die Statistik im weitesten Sinne bei
der Ausbeutung der Kirchenbücher die meistgewinnende Partei, wie
mit ihrer Hilfe diese Ausbeute für die übrigen Wissenschaften sich
erst recht fruchtbringend gestalten läfst. Freilich ist diese statistische
1) Iq der ArchivaL Zdtschr. N. F. YIII. (1899) p. 119— 149.
— 166 —
Ausbeute der Kirchenbücher im engeren Sinne auch nur auf dem be-
schränkten, von mir genauer untersuchten Gebiete, dem Hällischen,
eine so überaus reiche, dafs ich für das Nähere hierüber auf meine
betr. Spezialarbeit über Bevölkerungsbewegung im Hällischen *) ver-
weisen mufs.
Unter den Spezialgebieten der immer zahlreichere Zweige der
Wissenschaft sich unterwerfenden grofsen Herrscherin Statistik kommt
wohl der zuletzt besprochenen Kulturgeschichte am nächsten die Moral-
statistik. Hier bietet natürlich schon die Rubrik „Uneheliche" *) in den
Taufregistem der Untersuchung ein Material, das, was man auch über
dessen Unzulänglichkeit für eine ideale Sittlichkeitsmessung sagen mag,
doch eben von keinem anderen Hilüsmittel überboten wird. In unserem
Gebiet läuft die Ausbeute der Kirchenbücher in dieser Hinsicht auf den
Eindruck von der strengen sittlichen Zucht hinaus, die im Gefolge der
Reformation durch die auf Brenz zurückgehenden harten Maisregeln
der Obrigkeit gegenüber einer keineswegs zu besondrer Tugendhaftig-
keit veranlagten Bevölkerung in den nächstfolgenden Jahrhunderten
eingehalten wurde. Selbst der dreissigjährige Krieg hat hier viel
weniger, als man gemeiniglich denkt, einztureifsen vermocht, viel-
mehr ist offenbar die relativ rasche Überwindung der Verluste dieses
Krieges nicht am wenigsten auf die geltende straffe Zucht in diesem
Punkte, welche bis zum XVIII. Jahrhundert die unehelichen Geburten
noch keine 2 % ausmachen liefs, zurückzuführen. Anders dann frei-
lich im XVIII. Jahrhundert, in dessen zweitem Drittel der von Frank-
reich herüberdringende Ton sich zumal auch auf dem Lande in einem
verblüffenden Anwachsen der Demoralisation, welche die unehelichen
Geburtenziffern rasch auf 5 ^/^ (und darüber) bringt, bemerklich macht,
um dann mit der Annexion durch Württemberg anfangs des XIX. Jahr-
hunderts infolge des Wegfalls der besonderen Strafmafsregeln der
hällischen Obrigkeit, denen man sich früher gern durch Flucht über
die Grenzen des Gebietes entzog, erst recht zu steigen und ihren Höhe-
punkt vor der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung zu erreichen.
Diese Veränderungen der imehelichen Geburtenziffern bilden zu-
gleich wieder eine Seite desjenigen Kapitels, das bei der Frage nach
i) Soll, nachdem sie im vorigen Jahr wegen Raummangels zurückgestellt werden
mnfste, nach der Zusage des Heransgebers im ersten Halbband des laufenden Jahrgangs
(Band VI, 1900) des „Allg. Statistischen Archivs" von G. t. Ma3n: erscheinen.
2) Die anehelich Geborenen sind häufig abgesondert von den ehelich Ge-
borenen gebucht; die Behörden haben gerade auf diesen Punkt ihr ernstes Augenmerk
gerichtet. VgL Tille, Tauf-, Trau- und Sterberegister am Niederrhein in „Annalen des
historischen Vereins f. d. Niederrhein", 63. Heft (1896), S. 190 und 192.
— 167 —
dem Resultat unserer Untersuchungen immer das Hauptkapitel bleiben
wird: die Ausbeute der Kirchenbücher für die Statistik der Be-
völkerungsbewegung" im engeren Sinne. Hier handelt es sich in
erster Linie um einen genaueren Einblick in die Bevölkerungs-
verschiebung, die während der letzten Jahrhunderte eingetreten ist,
Zahlen, die wir in einigermaisen zuverlässiger Weise überhaupt aus keiner
andern Quelle als aus den Kirchenbüchern zu gewinnen vermögen. Der
ganze wechselnde politische Umschwung während dieser letzten Jahrhun-
derte der Geschichte läfst sich ja, worauf erst neulich wieder Schmoller
hingewiesen hat, durch nichts so anschaulich illustrieren und fixieren,
da es sich hier auch um die eigentliche^ Ursachen dieses Umschwunges
handelt, als durch die wechselnden Bevölkerungsziffern für die ver-
schiedenen Hauptstaaten der europäischen Menschheit in den einzelnen
Abschnitten dieser Periode. Aber wie ungeheuer viel da noch zu thun
ist, bedarf für die Kreise der Geschichtskenner keiner näheren Er-
läuterung. Die ganze historische Geographie des Mittelalters hängt ja
in der Luft, so lange wir über den Status der Bevölkerungsziffern am
Ende des Mittelalters in den einzelnen Territorien noch so wenig
sichere Angaben besitzen, als dermalen der Fall ist. Nicht als ob es
an Quellenmaterial für diese Zahlen gebräche, dieses ist da und
Uegt in umfassender Weise eben in unseren Kirchenbüchern vor.
Aber wie wenig hat man bis heute an die Verwertung dieses Materials
gedacht ! Wie instruktive Ergebnisse aber hier zu gewinnen sind, mag
wieder ein Blick auf das Hällische deutlich machen. Hier lieis sich
durch Vergleichung der Geburtenzahlen von den Anfangsjahren (1559)
mit der späteren Zeit die durch sonstige Beobachtungen vorher nur wahr-
scheinliche Thalsache feststellen, dafs unser Hällisches, das für die Ver-
hältnisse unseres sonstigen fränkischen Württemberg in allem Wesent-
lichen typisch ist, in den letzten 350 Jahren sich weit konstanter ge-
blieben ist als der schwäbische HauptteÜ unseres Landes, indem gegen-
über einem Anwachsen auf das etwa Dreifache der Bevölkerungsziffer
im alten Herzogtum Württemberg, in unserem fiänkischen Landesteil
kaum eine Vermehrung auf das Anderthalbfache zu konstatieren ist,
d. h. unser Gebiet hat seinen relativen Schwerpunkt im
Verhältnis zum Ganzen durchweg in der Vergangenheit,
im Mittelalter, nicht in der neueren Zeit. Ein kunsthisto-
risch geübtes Auge bedarf dafür freilich keines besonderen Nach-
weises. Nur gestattet die kunsthistorische Betrachtung hier höchstens
Vermutungen, nichts weiter. Auf Grund der Kirchenbücher lassen sich
aber nicht blofe für das XVI. oder doch das angehende XVII. Jahr-^
— 168 —
hundert gar wohl die betreffenden Zahlen wenigstens annäherungsweise
mit einiger Sicherheit gewinnen, sondern, ist erst einmal das Ergebnis
für diese letzten 300 — 350 Jahre einigermaisen umÜEu^ender fest-
gestellt, so sind wir auch in den Stand gesetzt, von da aus nach rück-
wärts wesentlich sicherere Schlüsse zu ziehen, so dafs sich der Rat,
die Geschichte nach rückwärts zu lehren und zu lernen, wenigstens
auf diesem statistischen, wie überhaupt auf kulturgeschichtlichem Ge-
biet als durchaus berechtigt erweist.
Es ei^ebt sich nämlich, sobald man die Bevölkerungs-, d. h. in
erster Linie die Geburtenbewegung zumal auf dem Lande (das in
viel höherem Grade als die von dem wirtschaftlichen Faktor be-
herrschten Städte ^) dem Einflufs des natürlichsten Faktors , d. h.
des Wetters, untersteht) näher untersucht, eine merkwürdige Regel-
mäfsigkeit in der Auf- und Abwärtsbewegung der Ge-
burtenzunahme, in der Weise, dafis im allgemeinen jedes Jahrhun-
dert drei ziemlich genau in dieselben Jahrzehnte (allende Hebungen
und ebensoviel Senkungen der Geburtenziffern aufweist. Erstere ent-
fallen etwa auf das Jahrzehnt 5 bis 15, 40 bis 50 und 75 bis 85, letztere
in etwas weniger deutlich ausgeprägter Weise je auf etwa zehn Jahre spä-
ter, so da(s als Jahre relativ auffälligster Maxima etwa 1875, 1841, 1804
(1775?), 1745, 171 1, 1679, (1647?), 1608 und endlich 1579, als Minimal-
jahre umgekehrt 1894 (od. 1889?), 1855, 1818, 1795, 1758, 1727,
1694, 1657, 1616 imd 1587 sich herausheben. Die Zahlen des XVL
Jahrhunderts sind natürlich durch ein weniger reiches Meterial gesichert
als die späteren. Für den Verlauf des XIX. Jahrhtmderts sind diese
Schwankungen, die je etwa einer Generation entsprechen, von der Stati-
stik längst erkannt und auf bestimmte historische Ereignisse — bei der
letzten Hebung natürlich auf die Kriege von 1866 und 1870 — zurück-
gelührt worden. Aber schon für die auffallige Hebung in den vierziger
Jahren trifft das nicht zu, denn das Jahr 1848 hat damit nichts zu thun,
oder Lst höchstens indirekt, als selbst dadturch beeinflufst, in Betracht zu
ziehen. Für die früheren Jahrhunderte ist diese Regelmäfeigkeit aber über-
haupt sonst noch nirgends beobachtet worden, weil die Statistik ja über-
haupt noch kaum über ein Jahrhundert alt ist, und auch wo die statisti-
schen Untersuchungen weiter zurückreichen, sich meist auf die Städte be-
schränken, wo die Bewegung mehr indirekt und also in abgeschwächtem
1) Eben deshalb ergiebt auch die Uotersachung jeder beliebigen gröfseren Landpfarrei
wohl mehr sichere AUgemeinresoltate (weil der das Land beherrschende natürliche Faktor,
das Wetter, weit allgemeinere gleiche Resultate ergiebt) als dies bei der Untersuchnng der
Städte der Fall ist, deren jede ihre besonderen wiitschaftlichen Faktoren besitzt.
— 169 —
Ma6e — jedenfalls nicht so auffällig wie auf dem Lande — wiederkehrt;
vielleicht auch, weil allerdings gerade in der zweiten Hälfte des XVIH
Jahrhunderts die Erscheinung weniger ausgeprägt sich geltend macht und
so der Beobachtung leicht en^eht, wenn man nicht zugleich das vorher-
gehende und das nachfolgende Jahrhundert damit zusammen betrachtet.
Sobald man das thut, wird niemand, der mit der Sache sich beschäf-
tigt und vom XVI. bis herab zum XIX. Jahrhundert überall diese Linien
in ziemlich gleichem Abstand wiederkehren sieht, sich dem verblüffen-
den Eindruck dieser Regelmäßigkeit entziehen können noch leugnen
wollen, dafs hier ein Naturgesetz von der allergröfsten Bedeutung vor-
liegen mufs. Denn welch aufserordentliche Tragweite diese Beobach-
tung besitzt, sobald sie, worüber für mich auf Grund meiner sonstigen,
2ur Vergleichung weiter angestellten Untersuchungen kein Zweifel be-
steht, auch sonst als allgemein zutreffend nachgewiesen ist, und zwar
nicht blofe für das Gebiet der historischen Statistik imd der Geschichte
fiondem auch für die ganze Soziologie, Biologie und Naturwissen-
schaft im allgemeinen — das wird jeder Verständige ermessen, zu-
mal wenn ich daran erinnere, dafe diese Perioden der Bevölkerungs-
bewegung im grofsen und ganzen den Brücknerschen Klimaschwan-
kungen aufs prächtigste entsprechen *) und ich so auch wie jener mir
im letzen Grunde als Erklärung nichts andres als siderische Ursachen
•denken kann. Aber um so mehr wird man es dem, der auf be-
schränktem Gebiet auf diese Thatsachen gestofsen ist, zugute halten,
wenn er sich keine einen grofeartigeren Ertrag in Aussicht stellende
wissenschaftliche Untersuchung zu denken vermag als eine solche um-
fassende Ausbeutung der Kirchenbücher, die freilich, bei dem z. T.
ungenügenden Zustande der Grundmaterialien, planmäfsigund nach
einheitlichen Grundsätzen, auch unter einer einheitlichen
Leitung, in die Wege geleitet sein müfste, um ihren sicheren
Dienst zu thun. In welcher Weise ich mir eine solche einheitliche
Ausbeutung veranstaltet denke, darüber habe ich auf der General-
versammlung der Geschichtsvereine in Blankenbuig im Jahre 1896 *)
meine Ansicht näher entwickeln dürfen und darf sie vielleicht, ge-
nauer ausgedacht, ein andermal hier wiederholen. Hier möchte ich.
i) Ich dBif hier gestchen, da(s mir dieses klimatologische Naturgesetz, schon ehe idi
<len Brttdcoerschen Aufsatz kannte, auf Grund der eigenen Beobachtung wahrscheinlich
geworden war und dafs diese Beobachtung jene zeitraubenden Untersuchungen zum Teil
mit Teranlaist hat.
2) Vgl. darüber das Referat im „Korrespondenzblatt des Gesamtvereins '' 45. Jahr-
gang (1897), S. 15,
13
— 170 —
tim anzudeuten, auf welche Reichhaltigkeit der Ergebnisse zu rechne»
ist, nur noch bemerken , dafs mit jenem Auf- und Abwärtsschwankea
der Geburtenzunahmen überhaupt auch die Ziffern für das Verhältnis
der männlichen zu den weiblichen Geburten, das gleichfalls interes-
sante Schwankungen zeigt, in einem korrespondierenden Verhältnis
zu stehen scheinen, so dafs, kurz gesagt, ein verschiedener Einflufe
der nassen und trockenen Perioden herauszukommen scheint, wenn
auch daneben wieder besondere Gesetze für dieses Verhältnis be-
stehen, zumal der Einflufs der Inzucht deutlich bemerkbar ist. la
gewissem Sinne erhalten so die Beobachtungen des Professors Schenk
hier eine weitere Bestätigung, doch mit ziemlichen Modifikationen,.
indem in der Hauptsache unsere Ergebnisse eine allgemeinere Er-
klärung fordern und liefern. Von selbst versteht sich, dafs mit diesem
Wechsel der Geburtenziffern auch die Schwankungen der Toten-
register m einem kausalen Nexus, dem Verhältnis der Wirkung zur
Ursache, stehen, dafe so namentlich die höchst interessanten Linien
der Seuchenjahre, wo wir wieder höchst auffällige Wiederholungen der-
selben Zahl innerhalb eines Jahrhunderts treffen (so heben sich nament-
lich die Jahre 1634, ^734» 1834 höchst merkwürdig heraus), ihre na-
türliche Erklärung einerseits als Reaktionen gegen „Übervölkerung", an-
drerseits als Folge jenes klimatologischen Grundgesetzes finden. Na-
türlich entfällt daneben auch für einzelne sonstige Probleme ,^ wie die
Frage nach der Kindersterblichkeit in den verschiedenen Jahrhunderten^ "
sodann die Vitalität überhaupt, die Frage nach der durchschnittlichen
Lebensdauer früher und jetzt, nicht am wenigsten eine Menge ein-
zelner Krankheiten, eine Fülle von Material, soweit solche Fragen
nicht geradezu ihre Lösung auf Grund desselben finden.
Auf Spezielleres darf ich hier nicht mehr eingehen, sondern ver-
weise dafür auf den Aufsatz in v. Mayrs Statistischem Archiv.
Vielleicht aber genügt das Gesagte zusammen mit den dort gegebenen
weitren Ausführungen, um auch andere wissenschaftliche Interessenten
deren Macht und Einflufs weiter reicht, als der eines simplen Land-
pfarrers, die Bedeutung derartiger Untersuchungen in ihrem vollen
Gewicht erkennen zu lassen und so dasjenige anzuregen, um was es
mir auf Grund vieljähriger und mühevoller Arbeiten hier zu thun ist:
die nachdrückliche und planmäfsige Ausnutzung dieser
einzigartigen Materialien, der Kirchenbücher, zur Be-
reicherung unserer vaterländischen Wissenschaft und da-
mit des Vaterlandes.
m
m
D2
— 171 -
Mitteilungen
^ ArchiTe. — Bereits auf S. 86 haben wir atif das Erscheiaen der
^ Mitteüungeii der KgL Preußischen ÄrchiwerwaUung hingewiesen. Nunmehr
liegen die beiden ersten Hefte (Leipzig, Hirzel, 1900) vor und eröffiien
die Publikationen, welche von allen Geschichtsforschern, auch von den
aiifserpreufsischen , freudig begrüfst werden müssen. Im ersten Hefte (40
Seiten) berichtet der Generaldirektor der Staatsarchive, Reinhold Koser,
«• über den gegenwäfiigen Stand der archivaliscJien Forschung in Preußen und
[:i verzeichnet zunächst die von den Staatsarchiven tmd der Berliner Akademie der
^ Wissenschaften besorgten Aktenpublikationen, um dann eingehend im Sinne
dieser Zeitschrift über die archivcUischen Publikationen uHssenschafllicher Ver-
^ einigungen in den Provinzen und die Erscidießung der nichtstaatlichen Archive
zu berichten. Die hier gegebenen Zusammenstellungen beweisen recht deutlich,
1 wie in den letzten Jahrzehnten die landesgeschichtliche Forschtmg sich aus-
gedehnt und wissenschaftlich vertieft hat, sie geben aber auch — und das
ist vielleicht das wichtigste — für Gegenden, wo bisher weniger geschehen
ist, ein Vorbild und einen Ansporn, den anderen nicht nachzustehen. Dies
gilt besonders fUr die systematische Sammlung der im Lande verstreuten
Archivalien. Auch recht wichtige statistische Angaben über die Archivbe-
nutzung durch Behörden tmd Forscher, die ein stetiges Anwachsen der
Benutzungen von 1880 bis 1899 beweisen (1880: 1044, 1899: 2485),
über die Thätigkeit der Staatsarchive speziell im Jahre 1899 und über
den Personalbestand der Archivverwaltung am i. März 1900 schliefsen das
Heft ab. Besonders lehrreich dabei ist die Vermehrung der wissenschaftlich
vorgebildeten Beamten der Staatsarchive, die 1854 nur 21 betrug, aber
1875 ^^ 43 • 1S96 ^^ 59 UQ^ 1900 auf 71 gestiegen ist Dement-
sprechend ist auch der Ausgabeetat der Archiwerwaltung von 45,375 Mk.
(1852) auf 487,667 Mk. (1900} gestiegen. — Das zweite Heft der „Mit-
teilungen" enthält eine Geschichte des Königlidien Staatsarchivs zu Hannover
aus der Feder des Osnabrücker Staatsarchivars Max Bär. Das Studium
der Geschichte einzelner Archive, die Beantwortung der Fragen: wie bt
das Archiv entstanden, wie und von welchen Personen wurde es früher
verwaltet? u. a. m. ist geeignet, bei manchem Forscher ein tieferes Ver-
ständnis für den gegenwärtigen Zustand eines Archivs zu erwecken, aber
ihm nicht minder einen Einblick in die innere Verwaltung früherer Zeit zu
gewähren, wie dies z. B. die Archivgeschichte des Hauses Leiningen
von Richard Krebs (Mitteilungen des historischen Vereins der Pfalz
XXII, 1898) in hervorragendem Maise thut Aber darüber hinaus ist die
Geschichte eines Archivs das einzige Mittel, in lesbarer Form dem Forscher
darüber Aufklärung zu verschaffen, aus welcher Zeit und über welche Dinge
er im Archiv Nachrichten suchen darf. Das Erwachsen des KurfUrstlichen
und Königlichen Archivs in Hannover aus dem Calenbergischen und Cellischen
Archive und die Vermehrung durch eine Menge kleiner gesonderter Archive
ist gerade unter diesem Gesichtspunkte höchst lehrreich, denn jetzt ist es
jedem, der das Hannoverische Staatsarchiv zu benutzen beabsichtigt, möglich
sich vorher zu unterrichten, ob das, was er sucht, sich in Hannover befinden
13*
— 174 —
druckten Materials erhöhte Bedeutung. Diesem Bestand sind die ursprünglich,
in andere Abteilungen verteilt gewesenen Papierurkunden nachträglich ein«
gefügt worden (23 , 2230*.; 27 , 2 2 2 fF.) Sie waren zum Teil bereits auf-
geführt in einer von H. Diemar bearbeiteten Regestensammlung Köki und
das Eeicti (24, poflf. ; 25, 2i3flf.), welche, mit dem Beginn der Regierung
Kaiser Karls IV. (1346) einsetzend, in möglichst umfassender Weise die
bedeutungsvollen Beziehungen der Stadt Köln zum Reiche anschaulich zu
machen sucht Anfangs vomehmhch auf dem bereits registrierten Material
der Urkunden und Briefe beruhend, bietet diese Sanmilung, die der Auf-
merksamkeit der Forschung besonders empfohlen zu werden verdient, in
ihrem zweiten Teile (1452 — 1474) durchgängig selbständig verarbeiteten
Stoff. — Vom Aktenbestand der städtischen Verwaltung sind die Ratsedikte
von 1493 bis 18 19 durch ein im neusten Hefl (29, 159 ff.) erschienenes
Inhaltsverzeichnis erschlossen; Schreinskarten und mittelalterliche Stadtrech-
nungen, über die gleichfalls zuerst in den „Mitteilungen" (i, 3 5 ff. und 23,
187 ff.) referiert wurde, sind unterdessen in den Publikationen der GeseU-
schaft für rheinische Geschichtskunde der Allgemeinheit zugänglich geworden,
die Rechntmgsbücher von 1351 bis 1798 sind Heft 21, i ff. verzeichnet.
Der reiche Besitz des Archivs an Akten zur Geschichte derHansa
umfaist im Wesentlichen den Bestand des Kölner hansischen Drittels, sowie
eine Gruppe, die Hefl i, 17 ff. der „Mitteilungen" bis zum Jahre 1400
verzeichnet ist, das Archiv des deutschen Kaufmanns aus dem Kontor von
Brügge, das 1553 nach Antwerpen verlegt wurde. Seit dem Ende des
XVI. Jahrhunderts werden diese Akten als Depositum der gemeinen Hansa-
städte in Köln aufbewahrt; obwohl sie ein Stück Hansischer Geschichte
repräsentieren, das nicht unter Kölns direkter Leitung verlaufen ist, hat sich
ihre Trennung von den übrigen Hansa -Sachen nicht als durchführbar er-
wiesen ; noch unter Höhlbaum sind sie mit dem Archiv des kölnischen Drittels,
der hansischen Korrespondenz Kölns und dem im Auftrag der Hanse-
städte von Köln übernommenen Nachlafs des Syndikus der Hansa Dr.
Heinrich Sudermann ("j* 1591)*) vereinigt worden.
Von zahlreichen kleineren Gruppen, die in den „Mitteüungen" registriert
sind, mögen nur zwei hervorgehoben werden, die Kölner Archivalien aus
A. Fahne s Nachlafs (20, 8 7 ff.), der erfreulicherweise kürzlich vollständig
in den Besitz des Stadtarchivs übergegangen ist, und die Urkunden und
Akten der Cistercienser- Abtei Lond an der Warthe (2, 71 ff.), einer Pflanzung
des Klosters Altenberg bei Köln gleich ihren Schwesterklöstem Lekno (später
Wongrowitz) und Obra. Die deutschen Mönche, die sich fast vierhundert
Jahre lang in diesen Klöstern behaupteten, unterhielten in ihrer nationalen
Bedrängnis lebhafte Beziehungen zu Köln, mufsten aber 1553 gleichwohl
dem polnischen Ansturm weichen.
Die Stammtafeln des Kölner Patriziats bis zum Jahre 1325, die Lau
(24, 65ff. ; 25, 338 ff.; 26, 103 ff.) mit grofsem Fleifse zusammengestellt
hat, führen uns zu einer Reihe von kürzeren Aufsätzen hinüber, in denen
Einzelheiten aus der kölnischen Geschichte, immer im Hinblick auf den
Zusammenhang mit dem Verlauf der allgemeinen Entwicklung behandelt sind.
') VgL über ihn Keofsen in der AUg. deutschen Biographie 37, 121 flf.
— 176 —
Von ihDeo hat namentlich Frensdorffs Untersuchung über das Recht der
Dienstmannen von Köbi (2, i fT.) verdiente Beachtung gefunden.
Jedem Hefte, seit 1893 je zwei zu einem Bande vereinigten Heften,
ist ein Namenregister beigefügt, das eine rasche Übersicht über das gebotene
Material ermöglicht. Dafs die so eingerichteten Mitteilungen aus dem
Stadtarchiv von Köln ihren Zweck erfüllen imd der Forschung wertvolle
imd zuverlässige Dienste leisten, wird niemandem entgehen, der in den his-
torischen Arbeiten der letzten Jahre ihre Spiu-en verfolgt.
Nachdem das Staatsarchiv zu Hamburg 1899 in neue Räume
übergeführt worden ist (vgl. darüber Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 47. Jahrgang, 1899, S. 78), sind
die bereits längere Zeit daselbst thätigen Herren Dr. Nirrnheim, Dr. Joachim
und Dr. Becker seit AnfiEuig 1900 zu Archivassistenten befördert tmd damit
dauernd angestellt worden. Eine Hauptaufgabe ist die Ausscheidung wert-
losen Materials, die noch auf längere Zeit die Kräfte der Archivbeamten in
Anspruch nehmen dürfte.
Das Grofsherzogliche Generallandesarchiv zu Karlsruhe
veröffentlicht seinen Bericht über das Jahr 1899. Der Personalbestand des
Archivs hat sich dadurch verändert, dafs der bisherige Hilfsarbeiter Dr. Karl
Brunner zum Archivassessor befördert wurde, während Dr. Albert Eggers
als Volontär eintrat Die Archivalien haben durch Ankauf, Abschriftnahme,
Schenkung und Einlieferung seitens der Behörden einen Zuwachs von 59
Nummern erfahren, die Repertorisierungsarbeiten wurden lebhaft fortgesetzt
und ein erster Band Archivinventare (s. oben) druckfertig gestellt Die Be-
nutzung durch Einzelpersonen tmd Behörden war eine sehr lebhafte, doch
überwiegt die für wissenschaftliche Zwecke bei weitem; denn während für
geschäftliche Zwecke seitens 39 Behörden tmd 16 Privatpersonen nur in
105 Fällen Archivalien eingesehen wurden, fanden zu wissenschaftlichen
Zwecken durch 176 Personen 327 Benutzungen statt.
Nachdem für eine gröfsere Zahl jetziger tmd ehemaliger deutscher
Universitäten ztu- Aufhelltmg ihrer Vergangenheit Matrikeln tmd Urktmden
ireröffentlicht tmd Geschichten bearbeitet worden sind, z. B. für Dillingen
^Specht), Erfurt (Kampschulte, Weifsenbom), Frankfurt a. O. (Friedländer,
Reh), Greifswald (Friedländer), Heidelberg (Winkelmann, Hautz, Toepke,
ThoÄecke, Fischer), Köln (v. Bianco, Keussen), Kulm (Herne), Leipzig
(Zamcke, Erler), Prag (Tomek), Rostock (Hofmeister, Krabbe), Strafsburg
{Knod), Wien (Kink, Aschbach), hat neuerdings auch die Universität Frei-
barg i. B. eine Ordnung, Verzeichnung tmd Neuaufstellung ihres Archivs
beschlossen, um dadurch eine Publikation aus ihrem Archiv zu ermöglichen
bezw. vorzubereiten.
Vei^ine. — Die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dafs die an einem Orte
oder in einer Gegend vorhandenen Altertümer nicht zerstört tmd verschleppt
werden, hat in neuerer Zeit auch in kleineren Städten eine erfreuliche Bewegtmg
liervorgerufen, die nach der Begründtmg von Ortsmuseen hinstrebt (vgl. S. 87).
— 176 —
Städtische Museen sind als Ausfiufs dieser Bestrebungen neuerdings in
Münden, wo die Staatsregierung geeignete Räume im alten Schlosse zur
Verfügung gestellt hat, und in Jena entstanden, wo das Museum am 17»
August 1899 — fast gleichzeitig mit dem in Eisenach begründeten Mu*
seum thüringischer Altertümer — eröffiiet wurde. In anderen Orten,,
wo seitens der Stadtverwaltungen wohl weniger Interesse gezeigt wurde, sind
lokale Vereine entstanden, die sich die Begründung und Ausgestaltung von
Ortsmuseen zur Aufgabe gestellt haben. Im Anfang des Jahres 1898 ent-
stand vornehmlich zu diesem Zwecke in Prenzlau der „Uckermärkische
Museums- und Geschichtsverein'S im Oktober desselben Jahres wurde
in Alsfeld (Oberhessen) das Museum des „Geschichts- und Altertums-
vereins" eröffnet, und im Jahre 1899 ist in Delitzsch ein „Altertums-
und Museumsverein", in Bad Reichenhall ein „Historischer Verein"
imd in Harburg ein „Museumsverein" entstanden. Der letztere zählt
bereits 318 Mitglieder, und seine Mittel sind durch einen namhaften Jahres-
beitrag der Lüneburger Ritterschaft vermehrt worden. Auch für das Fürsten-
tum Lippe-Detmold wird die Begründung eines Vereins und zwar in Ge-
stalt einer „Historischen Sektion des Naturwissenschaftlichen Vereins" ge-
plant Aber seit Beginn des laufenden Jahres besitzt die lippische Landes-
geschichtsforschung bereits ein Organ, indem die Lippische Landes-Zeitung
eine monatlich erscheinende Beilage mit dem Titel Blätter für lippischc Hei-
matkunde erscheinen läfst
Haohtrag von Hermann Forst in seinem Aoftatse Der Itcichshieg tjeyen
die Türken im Jahre 1664 (vgl S. 76 ff*.). Die mir erst nachträglich bekannt
gewordene Schrift von B. Bauer, Die Braufischweig-Lündmrger in den
Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts (Hannover, A. Weichelt 1885) behandelt
die Schlacht bei St Gotthard nur kurz und im engsten Anschlüsse au die
Darstellungen, welche v. d. Decken und v. Sichart gegeben haben. Bauer
hebt dabei die Thaten der hannoverschen Reiterei so einseitig hervor, dafs
der Leser von dem Gange der Schlacht kein richtiges Bild gewinnt
Eine wirkliche Bereicherung unserer Kenntnis von dem Kriege ver-
danken wir dagegen G. Sello, der die Schicksale des oldenburgischen Kon*
tiogents in einem Feuilleton geschildert hat (Die Oldenburger im Türkenkriege
1664 in Nr. 146 bis 150 der „Nachrichten für Stadt und Land'V
Oldenburg 1896). Die Auszüge aus den Berichten des oldenburgischen
Rittmeisters, welche Sello mitteilt, verbreiten neues Licht über die Leistungen
der Reichstrui^en. Eine vollständige Veröffentlichung dieser
Berichte würde daher sehr erwüpscht sein.
Personalien. — in Basel starb, 59 Jahre alt, der dortige Professor
der Kirchengeschichte Rudolf Stähelin, in Posen, 82 Jahre alt, der Kgl.
Preufs. Archivrat Josef v. Lekszycki, in Budapest, 60 Jahre alt, der
Professor der Geschichte Julius Schwarz, der Verfasser der Oe^chichte
der Demokratie, in Bern der Professor der Kirchengeschichte und Ober-
t>ibUothekar der Stadtbibliothek E. Bloesch. — In Tübingen wiurde der
4)ishenge aufserordendiche Professor der Kirchengeschichte Alfred Heglex
zum Ordinarius, in Wien Alfons Dopsch an Stelle von Max Büdinger
— 177 —
zom Ordinarius der allgemeinen österreichischen Geschichte ernannt — Der
bisherige Professor der Kunstgeschichte an der deutschen Universität in Prag,
Josef Neuwirt h, wurde in gleicher Eigenschaft an die technische Hoch-
schule in Wien versetzt — Der Privatdozent der Geschichte Ernst Sackur
in Strafsburg i. £. und der Privatdozent der Kunstgeschichte Franz Fried-
rich Leitschuh ebendort wurden zu aufserordentlichen Professoren er-
nannt — Die in Berlin neu gegründete aufserordentliche Professur fUr
Ethnologie, Völkerpsychologie imd Kulturgeschichte wurde Karl von den
Steinen übertragen. — In Bonn habilitierte sich Hans Lietzmann für
Kirchengeschichte, in Wien wurden Kurt Käser als Privatdozent für die^
Geschichte des Mittelalters und der neueren Zeit und Hans von Volte-
lini, dessen Südtiroler Notariats - Imhreviaturefn des XIIL Jahrhundert^^
von der Wiener Akademie der Wissenschaften mit einem Preise von
2000 Mark aus der Savigny-Stiftung ausgezeichnet worden sind, als Pri-
vatdozent für deutsches Recht und österreichische Reichsgeschichte be-
stätigt — In Wien wurde der Archivar im Archiv des Ministeriums des
Innern Richard Schuster zum Archivdirektor II. Klasse und der Archiv-
konzipist an demselben Archiv und gleichzeitige Privatdozent der Geschichte^
Heinrich Kretschmayr zum Archivar ernannt Am Kgl. Preufs. Staats-
archiv in Wiesbaden wurde Dr. Schaus zum Archivassistenten ernannt.
Der Archivar am Staatsarchiv zu Coblenz Hermann Forst hat seinen
Abschied aus dem preufsischen Archivdienst erbeten und erhalten. — Der
verdiente Bibliothekar des Chorherrenstiftes St Florian bei Linz Alb in
Czerny, welcher eine Reihe Arbeiten über die Geschichte St Florians
und Oberösterreichs veröffentlicht hat, feierte am 19. Februar seinen 80,
Geburtstag. — Am 24. März feierte der Professor des Kirchen- imd Staats-
rechts an der Universität Bonn Hermann Hüffer, der Vorsitzende des
„Historischen Vereins für den Niederrhein** (seit 1881), dessen geschicht-
liche Werke namentlich die Zustände am Rhein während der französischen
Revolution aufzuhellen suchen, seinen 70. Geburtstag.
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[Sonderabdnick aus den Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Ge-
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Walter, Friedrich: Geschichte der Frankenthaler Porzellanfabrik. Mann-
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Wen dt, Heinrich: Die Breslauer Stadt- und Hospitallandgtiter. Erster Teil:
Amt Ransem. Breslau, Morgenstern, 1899. 276 S. 8®. [Mitteilungen
aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau. Viertes Heft}
H«ratMgeber Dr. Armin Tille in Leipcif. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthee in Godia.
Deutsche Geschichtshlätter
Monatsschrift
«ir
F^rderong der landesgescMchtliclieii Forschung
I i
I. Band Mai xgoo 8. Heft
Arehivbenutzungsofdnungen
Von
Pius \A^ttinann (München)
Mit Erfindung der Schrift entstand auch sofort die Urkunde, d. h.
«die kurzgeüafete Darstellung vom Abschluß eines Rechtsgeschäftes
2wischen Privaten und juristischen Personen, als Körperschaften, Ge-
meinden und Staaten. Um diese meist auf Bast, Papyrus oder Per-
^fament, in besonderen Fällen auf Leder, Stein oder Erz geschriebenen
Aufzeichnungen nach Möglichkeit vor den schädigenden Einflüssen der
iZeit, wie der Ereignisse zu sichern, pflegte man sie verschlossen im
Inneren des Hauses (sanctuarium), Dokumente von gröfeerer Bedeutung
aber in Staatsgebäuden (z. B. in Rom auf dem Kapitol, Palaün), oder
in Göttertempeln unterzubringen. Alle Völker des klassischen Alter-
tums besaisen solche Urkundensammlungen {yQafifiiXToqn)Xdyua , ta-
bularia, chartaria, archiva) und übertrugen öflentlichen Beamten {ygofi^
^(n<Hpii4xx£gf htia%6%ai^ archivistae) deren Obhut und Überwachung.
Man darf wohl annehn^ , dais auch in den Kulturstaaten Ostasiens,
in Indien, China und Japan die Verhältnisse sich in ähnlicher Weise
entwickelt haben.
Beim ersten Zusammentreflen unserer germanischen Vorfahren mit
<lem römischen Weltreich waren dieselben noch derbe Naturmenschen
und entbehrten jeder höheren CivUisation. Durch fortlaufenden Verkehr
mit gebildeten Nachbarn und Unterthanen trat jedoch hierin bald ein
Umschwung ein. Die Kultur der Besiegten überwältigte den Sieger
tmd die Annahme des christlichen Glaubens ermöglichte die rasche
Verschmelzung der disparaten Elemente zu einem Gefuge.
Zahlreiche neue, bisweilen sehr verwickelte Rechtsverhältnisse, in
welche sich die christianisierten, teilweise romanisierten deutschen
Stämme hineinzufinden hatten, erheischten natürlich dauernde Fest-
legung durch das geschriebene Wort; der Klerus aber, welcher nach
<lem totalen Zusammenbruch der weltlichen Gewalten während eines
14
— 182 —
halben Jahrtausends fast alleinigrer Träger und Erhalter antiker Kultur-
elemente blieb, gewann — insbesondere in Westeuropa — auf Ent-
Wickelung des Archivwesens den gröfsten, man darf wohl sagen, zu-
gleich segensreichsten Einflufs. Vor allem wachten Stifte und Klöster
mit ängstlicher Sorgfalt darüber, dafs ihr Besitz und ihre Gerechtsame
durch beweiskräftige Dokumente vor Beeinträchtigung geschützt waren
imd, da ihre Insassen bei hoch und nieder sich des gröfsten Ansehens
erfreuten, kann es nicht Wunder nehmen, wenn ihr gutes Beispiel
auch anderweitig, namentlich bei mächtigen Fürsten wie blühenden
Städten vielfach Nachahmung fand.
Das allmähliche Anwachsen der landesfursÜichen Gewalt, die Bil-
dung grofser, homogener Staaten, Humanismus und Reformation, —
air diese Momente vereint drängten die Geistlichkeit teils langsam,
aber stetig, teUs auch in stürmischem Anprall von ihrer lange be-
haupteten Ausnahmsstellung zurück. Mehr und mehr wiurde die Laien-
welt Trägerin der fortschreitenden Entwickelung. Gleichzeitig erwachte
auch das Interesse an der nationalen Vergangenheit und erzeugte die
ersten, freilich noch ebenso schüchternen als unbeholfenen Versuche
von „Geschichtschreibung**.
Die nach Form und Inhalt mangelhaften, vielfach geradezu irre-
leitenden Annalen und Chroniken des Mittelalters vermochten bald
den gesteigerten Ansprüchen nicht mehr zu genügen. Man erkannte
die Notwendigkeit, den Thatsachen an der Hand unbedingt glaub-
würdiger Quellen nachzuspüren, sie auf Grund vollkommen gesicherter
Resultate darzustellen. Es ergab sich hieraus ganz von selbst, daf&
man den „Urkunden", denen sich seit Rezeption des römischen Rechts
auch „Akten*' (d. h. den Abschlufs eines Rechtsgeschäfts vorbe-
reitende Schriftstücke), Litteralien (Aufzeichnungen über Besitz, Rechte
und Pflichten u. s. w.) und Korrespondenzen in steigendem Umfang
beigesellten, immer gröfeere Aufmerksamkeit zu widmen begann. Doch
traten noch geraume Zeit der zielbewufsten Forschung schwer über-
windbare Hindemisse entgegen. Die Zahl der Archive war Legion,
die Benutzungsmöglichkeit nicht nur durch räumliche Entfernung und
hierdurch verursachte Unzugänglichkeit behindert, sondern auch durch
Ängstlichkeit oder Bosheit der Eigentümer vielfach unmöglich gemacht.
Die Stürme der Revolution, Säkularisation und Mediatisation haben
einen bedeutenden Teil jener Hindemisse beseitigt, indem sie mit
brataler Gewalt den bisherigen Besitzem ihre Urkundenschätze ent-
rissen und letztere in mehr oder minder umfassenden Staatsarchiven
anhäuften. Millionen von Urkunden, Hunderttausende von Akten-
— 183 —
Produkten sind auf diesem Wege örtlich vereinigt und Dank den
modernen Verkehrseinrichtungen ohne allzu viel Aufwand von Zeit und
Geld zu erreichen.
Doch es ist keineswegs die historische Wissenschaft
allein, welcher die Archive dienen müssen, sie sollen
nicht minder Arsenale für rechtsuchende Parteien biU
den, den Justiz- und Verwaltungsbehörden die histo-
rische Basis ihrer Urteile und Verordnungen bieten.
Die häufig ausgesprochene Ansicht, dafs alle Landesarchive ohne
Ausnahme öffentliche Staatsanstalten seien und zu allgemeinem Gebrauche
bestimmtes Staatsgut enthielten — wie sie insbesondere auf Historiker-
tagen laut wurde — erscheint freilich sofort als unhaltbar, wenn man
Ursprung und Bestimmung der einzelnen Archive objektiv betrachtet
Der Staatsregierung als berufener Hüterin der Rechte des Staates
darf nimmermehr die Befugnis bestritten werden, die Benutzung der
Landesarchive durch Verordnungen zu regeln und, wo es im Interesse
der Gesamtheit etwa nötig scheint, sie zu beschränken. Von dieser
Befugnis machten nun die verschiedenen Verwaltungen freilich sehr
verschiedenen Gebrauch, und es steht fest, dafs Unverstand wie Bureau-
kratismus bisweilen allzu enge Schranken gezogen hat.
Erfreulicherweise können wir in dieser Beziehung von unserem
engeren Vaterlande Bayern sagen, dafs es augenblicklich an
der Spitze der Zivilisation marschiert. Seine neue Archiv-
benutzungsordnung vom 28. Februar 1899, publiziert mit
Gesetz- imd Verordnungsblatt Nr. 9 vom 2. März gl. Js. , ist nicht
nur die freisinnigste unter allen deutschen Bundesstaaten,
sondern wird überhaupt nur von wenigen europäischen Ländern er-
reicht, von keinem übertroffen.
Durch diese neue Archivbenutzungsordnung wird den Interessen
wissenschaftlicher Forscher wie der Rechtsuchenden weitestgehende
Förderung zu teil. Alle bisher in Geltung gewesenen Kautelen und
Chikanen sind mit einem Schlage beseitigt (S 24). Die Einsicht von
Archivalien vor dem Jahre 1801 hat nur dann zu unterbleiben (S 13),
„wenn mit Grund zu besorgen, dafs die Veröffentlichung des Ergeb-
nisses das Staatswohl oder den religiösen Frieden gefährden, oder die
gute Sitte verletzen würde**, Voraussetzungen, die bei „vertrauens-
würdigen** Personen kaum jemals gegeben sein dürften. Man kann
somit sagen, dafs für ruhig denkende, ehrenhafte Staatsbürger der
Zugang zu den Archiven hinfort frei ist, da die durch S 4 und 6 vor-
gesehene Eingabe an den „Amtsvorstand** lediglich als eine im Inter-
— 184 —
esse der Ordnung nötige Formalität erscheint, auch fiii die Zeit nach
1800 der Umstand keinen Grund zu ablehnendem Bescheide bildet,
„dafe aus der Einsichtnahme von Akten Rechtsansprüche gegen den
königl. Fiskus oder prozessuale Nachteile für denselben erwachsen
können" (S 14), ja sogar Deposita vorgelegt werden dürfen, „wenn
nicht vertragsmäfeige Bestimmungen entgegenstehen öder eine Schä-
digung des Deponenten zu befürchten ist'* (S 17). Fügen wir hinzu;
dafs den Archiven zur Pflicht gemacht wird, „bei Ermittelung zweck-
dienlichen Materials thunlichst an die Hand zu gehen" ($ 7), „Ver-
sendung von Archivalien an Behörden oder wissenschaftliche An*-
stalten", desgleichen „Repertorienvorlage gestattet" ist (S 18 und i^
und „bei ablehnenden Bescheiden Beschwerden möglich" sind ($20),
so wird man gestehen müssen, dafs die bayerische Staatsregierung
mit ihrer neuen Archivbenutzungsordnung eine wahrhaft liberale That
vollbracht und anderen Ländern ein nachahmungswürdiges Beispiel
gegeben hat *).
Behufis Vergleich und zum Beweise des eben Gesagten zugleich
als Leitfaden für Interessenten gestatten wir uns in Folgendem die
Bestimmungen der übrigen deutschen Bundesstaaten wie der sonstig^h
Reiche Europas in Kürze vorzuführen.
Was Preufsen anlangt, so mufs dort Genehmigung zur Archiv-
benutzung in manchen Fällen vom Präsidenten des Staatsministeriums
erbeten werden. Die Vorstände der Provinzialarchive können nur vor
dem Jahre 1700 datierende Stücke ohne weiteres vorlegen, im übrigen
entscheidet der Direktor der Staatsarchive oder der Oberpräsident der
Provinz. Archivalien nach 1800 sind von Benutzung ausgeschlossen,
sofern nicht das Staatsoberhaupt von Fall zu Fall letztere gestatten
wUl. Über alle Gesuche von „Ausländem" (d. h. „ Nicht- Reichs-
angehörigen") entscheidet der Präsident des Staatsministeriums. In
Bezug auf Repertorienvorlage decken sich die preufsischen und baye-
rischen Normen, bezüglich Versendung gehen erstere sogar weiter
— wir sind der Ansicht „zu weit" — , indem sie „Ausleihe an Pri-
vate" gestatten. Dagegen ist Benutzung von Akten zu prozessualen
Zwecken nur auf ein Editionsansinnen des zuständigen Gerichts mög-
*) Die Bestimmuogen für Archivbenntsang am K. Geheimen Staatsarchiv habeo
in Bayern ebenfalls eine Änderung zum Guten erfahren. Der Vorstand kann aas eigenem
Ermessen alle Archivalien vor dem Jahre 1800 zar Benatzang vorlegen. Kommen Stücke
aus späterer Zeit in Frage, so mnfs Genehmigung des Ministeriums erholt werden. Zar
Benutzung des Geheimen Haasarchivs ist Erlaubnis der Krone (z. Zt. des Reichs-
verwesers) erforderlich.
— 185 —
Uch, und Benutzung der Archive bleibt ausgeschlossen, sobald eine
Schädigung der Rechte, Ansprüche und Interessen des Königs, de»
königl. Hauses oder des Staates zu besorgen steht.
Weit rückständiger erscheinen die Vorschriften des königl. preurs.
Hausarchives. Hier gilt die Regel (S 7), dafs „ Abschriften und Aus-
züge vor erteilter Ministerialgenehmigung weder aus dem Archive mit^
genommen, noch wissenschaftlich verwertet werden** dürfen; Reper-
torieneinsicht ist ausgeschlossen.
In Sachsen bilden die „Interessen des Fiskus** nicht minder
einen Hinderungsgrund bei Archivbenutzung. Auch ist die Direktion
des Hauptstaatsarchivs vom Ministerium weit abhängiger als in Bayern.
Auf blofse Anfragen nach Vorhandensein von Archivalien über einen
bestimmten Gegenstand „sind keine eingehenden Nachforschungen zu
pflegen**, sondern nur „kurze Auskünfte in bejahendem oder ver-
neinendem Sinne** zu geben. Wie in Preufsen kann auch hier „Vor-
lage der Auszüge** verlangt werden. Bezüglich der Versendung
herrscht weniger Liberalität als in Bayern.
Die Archivbenutzungsordnung Württembergs krankt an Unbe-
ßtimmtheit, ja sogar an scheinbaren Widersprüchen. Feste Grenzen,
inwiefern der Direktor allein oder mit Zuziehimg seiner Beamten oder
nach Erholung ministerieller Genehmigung zu entscheiden hat, giebt
es nicht Die einzelnen Vorschriften räumen dem subjektiven Er-
messen der Direktion, welche sich hinter Kautelen und Klauseln aller
Art zu decken vermag, unseres Erachtens viel zu weiten Spielraum
ein. Bezüglich Aktenversendung beobachtet man mit Bayern gleich-
heitliches Verfahren. Die Einsicht von Repertorien kann „in beson-
deren Fällen** gestattet werden, doch sind diese Fälle ziemlich vereinzelt
Die in Baden gegenwärtig geltende Archivbenutzungsordnung ist
erst am 20. November 1899 erlassen, und ein Auszug daraus, der
alles für die Benutzer wichtige enthält, liegt im Druck vor. Danach
sind die Gesuche um Benutzungserlaubnis schriftlich an die Direktion
des Generallandesarchivs zu richten. Eine Bestimmung darüber, bis
zu welchem Jahre alles vorgelegt werden darf, existiert nicht „Reper-
toiren dürfen den Benutzern nur mit ausdrücklicher Genehmigung des
Archivdirektors oder seines Stellvertreters vorgelegt werden** (S 13).
Zur Entnahme vollständiger und wörtlicher Abschriften seitens der zur
B^utzung des Archivs zugelassenen Personen ist noch eine besondere
Genehmigung der Archivdirektion erforderlich; die Überweisung eines
Exemplars jeder ^us den vorgelegten Archivalien bearbeiteten Druck-
schrift wird erwartet
— 186 —
la Hessen-Darmstadt sind Private, welche das gfrolsherzogliche
Haus- und Staatsarchiv benutzen wollen, gehalten, mit schriftlichem
Gesuche beim Ministerium einzukommen. Im all^^em einen liberal
verlangen die Bestimmungen hier gleichwohl Einholung höchster Ge-
nehmigung fiir Fertigung von Urkundenabschriften und Auszügen, ja
sie stipulieren sogar, dafe unter Umständen diese oder die benutzten
Archivalien selbst nachträglicher Prüfung durch das Ministerium zu
unterstellen sind. Auch zur Repertorieneinsicht bedarf man höherer
Genehmigung.
Im grofeherzoglich Mecklenburgschen Geheimen und Haupt-
Archiv zu Schwerin ist die Benutzung durch Private, wissenschaft-
liche Institute, ja sogar durch Behörden — Ministerien, Kabinett und
Oberkirchen rat ausgenommen — an direkt oder durch Eingabe der
,, Amtsleitung" zu erholende Erlaubnis des Ministeriums des Innern
gebunden. Für einzelne, bestimmte Fälle, namentlich Gesuche von
Ausschufsmitgliedern des , .Vereins für Mecklenbui^ische Geschichte"
wie bei wissenschaftlichen Arbeiten und Veröffentlichungen der Archiv-
beamten entscheidet das Archiv aus eigener Kompetenz. Es ist je-
doch Ministerialgenehmigung nötig, wenn es sich um Verbältnisse des
grofeherzoglichen Hauses, um Beziehungen zum Deutschen Reiche oder
zu anderen Staaten (seit 1800) handelt, oder, „falls den Archivbeamten
die Entscheidung bedenklich erscheint". Zeit und Müheaufwand kann
nach bestimmten Sätzen in Preisanschlag kommen und zwar lautet die
Fordenmg pro Stunde 2 Mark. Bei Benutzung von gröfserer Aus-
dehnung und längerer Dauer setzt das Ministerium nach Vorschlag'
des Archivs eine Pauschalsumme fest.
Für das grofsherzoglich Mecklenburgsche Hauptarchiv in Neu-
strelitz existieren keine festen Bestimmungen. Ausländer bedürfen der
Minis terialgenehmigung. Im übr^en behandelt man die Benutzer in
ziemlich loyaler Weise.
In Weimar gelten ähnliche Gesichtspunkte wie in Bayem. Doch
findet sich hier die Regel, dals alle Abschriften und Auszüge dem
Archivdirektor vorzulegen sind und nur mit dessen Genehmigung ver-
'-' werden können. Wo staatliche Interessen berührt erscheinen,
villigung der Aktenvorlage von Genehmigung des Ministeriums
riff gemacht.
ine eigenartige Sitte hat sich am grolsherzoglichen Haus- und
larchiv zu Oldenburg erhalten. Hier giebt es noch Bestim-
a, zu deren Einhaltung die Benutzer durch „Handschlag" zu
labten sind, so insbesondere S 19, wodurch Vorlage der Ab-
— 187 —
Schriften u. s. w. und Schweigen über allenfalls fiir Bekanntgabe un-
geeignete Stücke gefordert wird. Doch dürfen im ganzen genommen
<lie geltenden Normen als leidlich liberal bezeichnet werden und decken
sich der Hauptsache nach mit den früher in Bayern maisgebenden
Bestimmtmgen.
In hohem Grade beschränkend und nicht mehr zeitgemäfs erweist
sich aber S 5 , der die Erlaubnis zur Benutzung von Akten noch
blühender Familien nur Angehörigen oder Mandataren der betreffenden
Geschlechter erteilt. Repertorieneinsicht erfolgt ,, ausnahmsweise** ($ 6);
auch kann Vorlage der Excerpte gefordert werden. Laut S 28 wird
„auf Anfragen auswärtiger Benutzer" über bestimmte historische Fragen
oder über das Vorhandensein von Archivalien in betreff eines be-
stimmten, näher bezeichneten Gegenstandes schriftliche Auskunft er-
teilt, „sofern es ohne Durcharbeitung gröfeeren Materials**, d. h. ohne
eigentliche Recherche möglich ist, eine Praxis, welche, wenngleich
nicht gesetzlich fixiert, doch auch an anderen Archiven geübt zu
werden pflegt, während in Bayern nach gegenteiliger Richtung sogar
des Guten wohl zu viel geschieht.
^ Unter den deutschen Herzogtümern besitzt Braunschweig keine
festen Normen. In jedem einzelnen Benutzungsfalle bedarf man Er-
laubnis des Ministeriums, das auch bezüglich allenfallsiger Versendung
entscheidet. Doch ist uns glaublich versichert worden, dafs hierbei
<ltu:chaus nicht rigoros verfahren werde.
Für das Anhaltische „Haus- und Staatsarchiv '< in Zerbst ist
die Geschäftsinstruktion von 1876 mafsgebend. Private sind gehalten,
sich an das Staatsministerium in Dessau zu wenden. Die Archiv-
verwaltung begutachtet Genehmigung oder Abweisung einlaufender
Gesuche. Einzelne Gruppen, namentlich die Akten über Privatissima
des regierenden Hauses (Eheverträge, Testamente u. s. w.), sind der Be-
nutzung ganz entzogen. Wie in Oldenburg geloben auch hier die Be-
nutzer mit „Handschlag**, eine Menge Dinge beobachten oder unter-
lassen zu wollen. Versendung wie in Bayern. Auszüge u. s. w. können
ohne weiteres verwertet werden. Dabei gilt jedoch der Grundsatz,
dafs fiir Abfassung der Geschichte noch blühender Geschlechter Ge-
nehmigung und Auftrag des Familienoberhauptes erforderlich ist. „Un-
bekannte Bewerber, auswärts lebende Beamte, Studenten und Kandi-
daten müssen sich über Konfession (!) und Bildungsgang (!) ausweisen
und überdies sich darüber erklären, von wem etwa die Anr^[img zu
der geplanten Arbeit ausging.'*
In Sachsen -Altenburg hängt die Erlaubnis zur Archivbenutzung
— 188 —
vom Justizministerium ab, das bei seinen Bescheiden freiem Ermessen
folgt.
Was das Sachsen -Coburgscbe Archiv betrifft, so wird daselbst
nach Weimarischem Muster verfahren. In Gotha bestehen überhaupt
keine, in Meiningen keine gedruckten Statuten. Es ist hier alles dem
Ermessen der Ministerien anheimgestellt, die auf Grund gutachtlicher
Berichte der Archiwerwaltungen entscheiden. Benutzung von Akten
für prozessuale Zwecke findet statt, sofern nicht fiskale Interessen be-
rührt erscheinen. $ 6 der „Amtsinstruktion*' besagt hierüber bezüg-
lich des Hennebergschen gemeinschaftlichen Archives : „Der Archivar
hat über alle zu seiner Kenntnis kommenden Geheimnisse, aus deren
OfTenbarung für die bei dem Archiv beteiligten hohen Souveräne Nachteil
erwachsen könnte, unverbrüchliches Stillschweigen zu beobachten."
Belangend die Archive der regierenden deutschen Fürsten, sa
entbehren Rudolstadt, Schaumburg-Lippe und Waldock fester Be-
stimmungen. Es entscheidet hier überall das Machtwort der Minister.
Das Schwarzburg -Sondershausensche Archiv ist der Justizabteilung^
des Staatsministeriums unterstellt, an welches auch die Archiv-
benutzungsgesuche direkt zu richten sind. Abschriften und Excerpte
müssen vorgezeigt werden. Eine Pflicht zur Auskunfterteilung liegt
für die Archivbehörde nicht vor. In Schleiz werden Gesuche durch
die fürstliche Kammer beschieden. Der Archivar prüft Kopieen und
sonstige Aufzeichnungen. Versendung findet nicht statt. Eine sehr
paragraphenreiche Instruktion regelt die Verhältnisse des fürstlich
Lrippeschen Haus- und Landesarchivs zu Detmold. Es steht hier
zwar die Benutzung jeder Behörde und jedem Interessenten frei, doch
bleiben von Vorlage ausgeschlossen alle das Regentenhaus betreffen-
den Familiendokumente, diplomatischen Aktenstücke, Dokumente, die
sich auf Rechte von Privatpersonen beziehen, Produkte, „deren Be-
kanntsein der öfTentlichen Sittlichkeit zuwiderlaufen oder konfessionelles
Ärgernis geben könnte", endlich Aufzeichnungen, welche vermögens-
rechtliche Verhältnisse des Staates betrefTen, sofern sie nicht von $ 39
als „gemeinsames Gut** im Prozefsverfahren erklärt sind (Amts-, Sal-
und Grundbücher, Lehenbriefe, verjährte Akten u. s. w.). Repertorien-
einsieht und Benutzung deponierter Akten gilt als zulässig. Durch
S 47 wird der Archivar nicht allein ausdrücklich verpflichtet, den For-
schem „in jeder Weise an die Hand zu gehen**, sondern sogar (freilichi
gegen Honorar !) für dieselben Übersetzungen und Abschriften zu fertigen^
Von den drei freien Städten besitzt, soviel uns bekannt geworden^
Lübe^ keine besondere Ordnung für Benutzung seines wertvollea
— 189 —
Arcbives. In Hamburg ist, um das höchst * bedeutende Staatsarchiv
für die historische Forschung in weitestem Umfange nutzbar zu machen^
dem Vorstande des Archivs die Befugnis erteilt worden, Archivalien
vor 1847 ^ach seinem Ermessen im Lesezimmer, das täglich von la
bis 4 Uhr geöffnet ist, zur Vorlage zu bringen. Zur Offenlegung
jüngerer Bestände bedarf es der Genehmigung des Senats. Die Ver-
sendung von Archivalien an auswärtige Archive und Bibliotheken er«
folgt unter den üblichen Bedingungen. Für die Benutzung des Staats-
archivs zu prozessualen Zwecken hat der Gesuchsteller sein Interesse
an der Offenlegung der gewünschten Akten darzuthun, insbesondere
wird die Einsichtnahme der im Staatsarchiv aufbewahrten Akten der
vormaligen Hamburgischen Gerichte (bis 1879) nur den Beteiligten
oder deren Vertretern gestattet. In Bremen gilt es als Regel „wissen-
schaftliche Forschung** in jeder Weise zu fördern. Die Benutzung für
prozessuale Zwecke wird, wenn es sich um Ansprüche an den Staat
oder unter staatlicher Aufsicht stehende Anstalten handelt, regelmäfsig
verweigert. Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten ist sie nicht
gerade ausgeschlossen, aber selten. Gleiches Verfahren wird vom
Archiv der Reichshauptstadt Berlin und dem Magistrat der Stadt
Breslau beobachtet.
Auch in Danzig, Nürnberg, Augsburg und Köln scheint man am
fiskalischen Standpunkte mehr oder minder festhalten zu wollen, da
die Bescheidung der nicht wissenschaftUchen Gesuche den Magistraten
vorbehalten bleibt. Wissenschaftliche Forschung aber findet hier überall
freundlichstes Entgegenkommen. Ein Paar Bestimmungen der ehrwür-
digen Rheinmetropole sollten wohl allenthalben Nachahmung finden. Sie
besagen, da(s „der Inhalt der Archive der wissenschaftlichen Benutzung
zugänglich gemacht** (d. h. repertorisiert) und „die Repertorien thun-
lichst schnell dem Druck übergeben** werden müssen, andrerseits setzen
sie fest, dafs gröbere Untersuchungen und Nachforschungen im Interesse
der Benutzer nur unternommen werden dürfen, soweit hierdurch „die
Hauptaufgaben** (Ordnung und Verzeichnung der Bestände) keine Be-
einträchtigimg erleiden.
Unsere g^ofsen Adelsgeschlechter haben ihren Familien-Archiven
bisher leider nur zum TeU die nötige Aufmerksamkeit und Sorgfalt
zugewandt. Doch macht sich namentlich seit Entstehung des neuen
deutschen Reiches hierin ein erfreulicher Umschwung bemerkbar. So
lie&en nnd lassen beispielsweise die Fürsten von Fürstenberg, Stolberg,
Schwarzenberg, Ottingen, Hohenlohe n. s. w., die Grafen von Gistell,
Giech, Seinsheim u. a. ihre Urkundenschätze von kundiger Hand sichten
— 190 —
und teilweise publizieren. Selbstredend ist zur Einsicht derartiger
Privatarchive Genehmigung des Familienoberhaupts oder Seniorats
nötig. Einzelne Domanialverwaltungen (z. B. die Fürstenbergsche in
Donaueschingen) erheben von den Benutzem Gebühren. Bisweilen (so
in den fürstlich Schwarzenbergschen Archiven) wird, ähnlich wie
bei vielen Staats- und Stadtarchiven (Schleiz, Sondershausen, Coburg,
Weimar, Zerbst, Charlottenburg, Oldenburg, Schwerin, Köln) Abgabe
von Gratisexemplaren solcher Schriften verlangt, die auf archivalischem
Material beruhen.
Von den deutschen Archiven aufserhalb des Reichs zeichnet
sich das k. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien durch ver-
nünftige Grundsätze aus. Gedruckte Bestimmungen existieren nicht,
vielmehr entscheidet der Direktor nach freiem Ermessen. Wohl aber
steht gegen dessen Verfügungen Rekurs zum Staatsministerium (des
Äufseren) offen. Repertorienvorlage findet nicht statt; nur feste Codices
gelangen zum Versandt.
Das Wiener Stadtarchiv geht hierin weiter, indem es auch Ur-
kunden und AJcten — freilich nur an Archive und Bibliotheken hin-
ausgiebt.
In der freien Schweiz weichen die Benutzungsordnungen der
einzelnen Kantone von einander oft wesentlich ab. Hin und wieder
verursachen „fiskale Interessen" erhebliche Schwierigkeiten. So gilt
z. B. im Staatsarchiv Bern der Grundsatz, dafe „jenen Anwälten, welche
die Gegenpartei des Kantons vertreten, in Bezug auf das Streitobjekt
jede Auskunft zu verweigern sei" und „Dokumente privatrechtlicher
Natur an Private niur dann ausgehändigt werden dürfen, wenn hierdurch
Interessen des Staates nicht verletzt sind". In den Satzungen der
Kantone Genf und Chur dagegen herrscht ein besserer Geist und sucht
man vergeblich nach derartigen beschränkenden Kautelen.
Sehr loyal sind die im Grofsherzogtum lAixemburg geltenden
Gesetze. Sie besagen, dafs „Jedermann" Mitteilung der geschicht-
lichen Dokumente des Archivs verlangen kann, lassen Versendung an
Archive wie Bibliotheken zu und enthalten lediglich die Reservation,
dafe „Verwaltungsakten nur solchen Persönlichkeiten mitgeteilt werden
dürfen, welche den Beweis erbringen, dafe sie ein legales Interesse an
deren Einsicht haben".
Belangend die aufeerdeutschen Staaten, so besitzt Griechenland
überhaupt kein Archiv, weil hier von den Osmanen alle Denkmäler
der Vorzeit nach Möglichkeit zerstört worden sind. Von der Türkei
gilt selbstredend das Gleiche. Über das rumänische Archiv zu Buka-
— 191 —
Test, das portugiesische zu Lissabon, ferner etwaige ähnliche Anstalten
zu Sophia und Belgrad vermochten wir nichts zu erfahren , da wieder-
holte Anfragebriefe unbeantwortet geblieben sind. In Spanien soll
man namentlich ,, [fremden Forschem gegenüber sehr koulant" ver-
fahren (Mayr-Deisinger).
In Rufsland existieren zu Moskau, Petersburg, Warschau und in
anderen Städten reiche, wertvolle Archive. Allgemein giltige Be-
nutzungsnormen giebt es nicht. Zur Vorlage gewünschten Materials sind
die jeweiligen Direktoren befugt. In Zweifelsfällen aber mufs Genehmi-
gung des einschlägigen Ministeriums und, wo es sich um Urkunden des
„Geheimen Archives** dreht, jene des Kaisers selbst erholt werden.
Von den skandinavischen Staaten gewährt Dänemark der Forschung
weitesten Spielraum. Die Benutzung der Archive zu wissenschaftlichen
"wie zu Rechtszwecken steht hier bereits seit lo. März 1891 „Jedermann"
frei. Doch ist der Archivar berechtigt, in öffentlichem oder privatem
Interesse bisweilen einen Akt zurückzubehalten oder dessen Vorlage
nur unter gewissen Kautelen zu gestatten. Kirchenbücher dürfen nie-
mals vor Ablauf von 30 Jahren eingesehen werden. Dagegen bildet
der Umstand, dafe Aufklärungen zum Gebrauche im Prozefe gegen
den Staat gewünscht werden, kein Hindernis der Aktenvorlage.
In Schweden schärft die Instruktion vom 26. Oktober 1877 den
Beamten die Pflicht ein, „dem Benutzer nach Möglichkeit an die Hand
zu gehen** ($ 6.) Leider läfst dagegen $ 13 doch unter Umständen
gewisse Chikanen des Publikums zu. Denn der viel zu allgemein ge-
haltene Satz: „Aktenvorlage erfolgt, falls nicht Gründe zur Geheim-
haltung vorhanden sind,** öffnet unter Umständen der Willkür Thür
und Thor. Unbedingt von Benutzung ausgeschlossen bleiben Proto-
kolle des Staatsrats und Reichstagsausschusses, sowie diplomatische
Aktenstücke, welche jünger als fünfzig Jahre sind; endlich deponierte
Dokumente und Mobilisierungspläne.
Auch in Norwegen wird der historischen Forschung weitgehendste
Unterstützung zu Teil. Doch spielen hier die „Interessen des Fiskus**
bei ablehnenden Bescheiden noch immer eine viel zu bedeutende Rolle.
In England gilt für das „Public record office** zu London das
Statut vom 25. März 1895. Die Reflektanten tragen sich in ein „atten-
•dance book** ein und präzisieren auf einem Blatt („a separate ticket**),
das sie dem dienstthuenden Beamten einhändigen, ihre Wünsche.
Mehr als drei Urkunden- oder Aktenprodukte gelangen nie auf einmal
2ur Vorlage. Über die vorhandenen Repcrtorien und Inventarc liegen
jedermann zugängliche Listen auf. Darin nicht verzeichnete Reper*
— 192 —
torien können nur mit Genehmigung des „deputy keeper** unterbreitet
werden. Gerichtsdokumente nach 1760 sind im Allgemeinen von Be-
nutzung ausgeschlossen. Ältere Stücke stehen der historischen
Forschung offen. Für jede archivalische Thätigkeit, wie für jedea
einem Benutzer erwiesenen Dienst werden Taxen erhoben, die sich bis
zu 2 Pfund Sterling und höher belaufen können.
Für das „Reichsarchiv'' des Königreichs der Niederlande besagt
eine Verordnung vom 26. Juni 1856: Jeder vertrauenswürdige Mann —
gleichviel ob einheimisch oder fremd — hat ein Recht zur Archiv-
benutzung. Im Falle die Archivvorstände sich nicht getrauen, auf ihr
eigenes Risiko Zulassung zu gewähren, holen sie höheren Ortes Be-
scheid ein. Die Beamten sollen den Benutzem mit Rat und Erklärung^
zur Seite stehen, ihnen Register und Inventare unterbreiten. Versen-
dung ist imter Kautelen zulässig. Um archivalische Ausbeute litterarischi
verwerten zu dürfen, bedarf der Autor die Genehmigung der den Archiven
vorgesetzten Stellen und mufs vor Beginn der Benutzung einen darauf
lautenden Revers unterzeichnen. Gewisse Stücke sind von Einsicht
ausgeschlossen, sofern nicht Nachweis der „Berechtigung zur Sache **^
beigebracht werden kann.
Was die belgischen Archive (archives g^n^rales du royaume)
belangt, so kann nach Mitteilung des „archiviste adjoint" Herrn
A. Gaillard ein Jeder „Akten von historischer oder Privatbedeutung**"
kostenlos benutzen, sofern er sein Interesse daran darzuthun im Stande ist.
Im Königreich Ungarn ist der Modus der Archivbenutzung durch
höchste Reskripte aus verschiedenen Jahren (besonders 1875, 1879 und
1880) geregelt. Behörden wird auf Grund von Requisitionen, Privaten,
nach Unterbreitung eines spezifizierten Gesuches die Einsicht möglichst
genau zu bezeichnender Produkte — jedoch nie mehr als 25 auf ein-
mal — zugestanden. Bei Recherchen für wissenschaftliche Zwecke
kann von Eingaben Umgang genommen werden und genügt proto-
kollarische Niederlegung der Wünsche. Gegen ablehnende Bescheide
des Archiworstandes steht Rekurs zum königl. Staatsministertum des
Innern frei.
Von besonders wichtigen Aktenstücken werden nur Abschriften-
mitgeteilt, für welche überdiefs ziemlich hohe Gebuhren in Ansatz:
kommen. Versendung von Archivalien ist ausgeschliossen^ ebenso-
Vorlage solcher Stücke, welche vermögensrechtliche odfer delikate*
politische Verhältnisse des Staates betreffen. Repertcrieo>,. deren Ein-^
träge sich auf die 2^it nach 1740 beziehen, können nux mit Ministerial-
genehmigui^ eingesehen werden.
i
— 193 —
Für Frankreich sind die D^crets oig^ques et r^lement
I^apoleons III. vom November 1856 durch D^cret et arr6t6 relatifs
Ä r Organisation des archives nationales (Paris, Mai 1887) teilweise
abgeändert worden. Wir erwähnen hier als besonders relevant folgende
Benutzungsnormen : „Dokumente, die jünger als 50 Jahre sind, können
nur mit Ministerialgenehmigung eingesehen werden. Die Benutzung
-diplomatischer Aktenstücke nach 1790 ist von der Erlaubnis des
Ministeriums des Äufeeren abhängig. Erst nach Ableben der BeteUigten
•dürfen darauf bezügliche Produkte unterbreitet werden. Familienpapiere
privaten Charakters bleiben von Benutzung ausgeschlossen, sofern nicht
von Seite der Angehörigen hierfür Zustimmung erteilt wird. Die In-
teressenten haben schriftliche Eingaben zu unterbreiten, in denen der
Zweck der Benutzung klargelegt wird. Sollte ein Amtsvorstand Zweifel
darüber haben, ob er einer Bitte entsprechen darf oder nicht, so erholt er
Ministerialbescheid. Die Einsicht geschriebener Repertorien ist unerlaubt.
Italiens zahlreiche und weit hinaufreichende Staats- Archive
werden erfreulicherweise nach recht freisinnigen Grundsätzen verwaltet.
Eine noch heute in Kraft befindliche Verordnung vom 27. Mai 1875
bestimmt u. a. : Alle Akten exkl. solche rein persönlicher Natur sind
als öffentliches Gut zu betrachten und jedermann zugänglich. Politische
Akten vor dem Jahre 181 5 stehen unbeschränkter Einsicht frei; Straf-
^dcten können vorgel^ werden, wenn seit der UrteUsfallung 70 Jahre
verflossen sind. Die Präklusivfrist iiir Administrationsakten beträgt nur
30 Jahre. Für Archivalien rein geschichtlichen Charakters besteht
kein Normaljahr. Von jenen Akten, die sich nicht in ihrem Gesamt-
nmfange zur Vortage eignen, können mit höherer Genehmigung
^, Notizen" geliefert werden. Die Benutzer sind gehalten in einer Ein-
übe die Ziele ihrer Arbeit zu präzisieren und sich den Benutzungs-
normen zu fügen.
Was endlich die Benutzung des fast für alle Nationen der Erde
bedeutsamen Vatikanischen Archivs zu Rom betrifft, so existiert
«in Regoiamento per la bibliotheca vom Jahre 1885 , das, wie schon
sein Name besagt, ursprünglich nur für die päpstliche Bücherei
bestimmt war, aber jedenfalls zeitweilig auch auf die Dokumenten-
sammhing Anwendung gefunden hat. Die 50 Seiten in 4^ umfassende
Broschüre erschien nicht im Handel und wurde nur an wenige Persön-
lichkeiten verteilt. Publikation von anderer Seite ist ausgeschlossen.
Thatsächlich haben die Bestimmtmgen des Regoiamento im Laufe
der Zeit ihre Bedeutung grölstenteUs verloren. Die strengen Statuten
desselben, die insbesondere scharfe Kontrolle über genommene Kopien
— 194 —
vorsehen und selbst mit den Strafen der Exkommunikation drohen,
sind wohl niemala in Kraft getreten. Der Geschäftsgang ist vielmehr
seit dem R^icrungsantritt Papst Leo XIII. ein völlig veränderter ge-
worden. Er spielt sich in folgender Weise ab:
Mit einer Bittschrift an den Pontifex versehen (dabei empfohlen
durch eine bereits bekannte Persönlichkeit!) stellt sich der Forscher
dem Unterarchivar vor. Sofort wird ihm ein Platz im Benutzersaale
angewiesen und die Durchsicht der zahlreichen Repertorien und In-
ventare gestattet. Hat man Einschlägiges entdeckt, so bemerkt man
auf einem Bestellzettel die Signatur des Archivale und übei^iebt das
Blatt einem der Diener. Wenn das Gewünschte nicht gerade ander-
weitig benutzt wird, kann man es schon binnen wenigen Minuten er-
halten. Mehr als zwei Bände oder Faszikel sollen dabei auf einmal
nicht aui^eliehen werden. Die Einsicht der Dokumente erfolgt im
Amtslokal und zwar in Gegenwart päpstlicher Archivare. Au^eschlosscn
von Archivbenutzung ist niemand; auch wird dem Interessenten hin-
reichend 2^tt zur Durchführung seiner Forschung gewährt Ob aber
nicht manche Akten u. s. w. der Benutzung von vornherein
entzogen sind, erscheint fraglich. Will man nicht selbst seine Aus-
züge machen, so mufs man sich hierzu „ admittierter Kopisten" be-
dienen. Von Büchern, welche der Hauptsache nach auf vatikanischem
Material beruhen, soll ein Freiexemplar dediziert werden, was auch in
den meisten Fällen geschieht. Die Benutzungszeit dauert täglich (mit
Ausnahme der Sonn- und Feiertage) von */i9 bis I2 Uhr. An Ostern
und Weihnachten ist das „Vatikanische Archiv" mehrere Tage lang
geschlossen. Das Gleiche gilt zur Zeit der ,,gro(sen Ferien", welche
am I. Juli beginnen und mit dem 30. September endigen. —
Mit dem Gesagten glauben wir die am Ebgang dieses Aufsatzes
au^esprochene Behauptung, dals kein europäischer Staat dem Archiv-
benutzer gröfeeres Entgegenkommen und förderlichere Unterstützui^
angedeihen läfet, als der bayerische, zur Genüge erhärtet zu haben.
Hoffen wir, dafs unsere freisinnigen Institutionen in Bälde
Nachahmung finden und nicht nur den deutschen Reichs-
angehörigen allein, sondern dem deutschen Volke in
""- ^"--»mtheit zu Ehr' und Nutzen gereichen mögen!
— 196 —
Iiitnes^Forsehung in Österreieh
Von
S. Frankfurter (Wien)
Die durch den Altmeister der römischen Geschichtsforschung'
Theodor Mommsen trefflich oi^anisierten und mit schönsten Erfolgen
durchgeführten Arbeiten der deutschen Reichs-Limeskommission muisten
den Gedanken nahe legen, auch in dem Deutschland benachbarten
und mit ihm durch so viel geistige Interessen nahe verbundenen Öster-
reich die Arbeit auEzunehmen tmd die teils zu Tage liegenden, teils
erst durch Grabungen zu erhebenden Reste der römischen Grenz-
verteidigung an der Donau zu untersuchen. Bereits anfangs 1896 wies
Schreiber dieser Zeilen in zwei Vorträgen, in der Wiener philologisch-
archäologischen Gesellschaft „Eranos Vindobonensis** imd im Wiener
„Wissenschaftlichen Klub 'S auf die Notwendigkeit hin, diese Arbeiten
in Österreich fortzusetzen und zu ergänzen (vgl. seinen Aufsatz „Der
römische Grenzpfahl in Deutschland'' in der Wiener Wochenschrift
„Die Zeit", Nr. 84 u. 85, vom 9. imd 16. Mai 1896), und sprach den
Wunsch aus, dais, da der Hauptteil der durchzuführenden Arbeiten in
Ungarn läge, eine einheitliche staatliche Aktion Österreich -Ungarns
unternommen werde. Bald sollte der Gedanke, wenn auch in anderer
Form, seine Verwirklichung finden. Im Jahre 1896 fiel nämlich der
Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien durch das Testament
eines schlichten Wiener Bürgers, Joseph Treitl, ein Vermögen von
etwa 1 200 CXX) ü. zu. Da der edle Spender nur im allgemeinen die
Frag'en bezeichnete, die ihn besonders interessierten imd die durch
jene Widmimg gefördert werden sollten, im übrigen jedoch in hoch-
herziger Weise der Akademie die nähere Bestimmung über die Ver-
wendung ganz überlieis, war es möglich, auch für andere als jene
Zwecke das Erträgnis jener Stiftung nutzbar zu machen. Es wurde
nun beschlossen, etwa ein Drittel der Gelder der philosophisch-histo-
rischen Klasse für die Durchführung notwendiger Arbeiten zu über-
weisen, und zu den ins Auge gefa&ten Aufgaben gehörte auch die
Erforschung des römischen Limes in Österreich, und zwar zunächst in
Nieder- und Oberösterreich. Es wurde von der Kaiserl. Akademie
eine Limeskommission eingesetzt, an deren Spitze als Antrag-
steller der damalige Direktor der Münzen-, MedaUlen- und Antiken-
sammlung, Friedrich Kenner (seither in den Ruhestand getreten)^
— 196 —
«teht und der die Herren Professor Dr. Eugen Bormann, der Direktor
des österreichischen archäologischen Instituts Hofrat Dr. Otto Benn-
dorf, Professor Dr. Wilhelm Tomas chek, der k. u, k. Oberst, jetzt
ordentlicher Universitätsprofessor (für Geodäsie) Heinrich Hartl als
Mitglieder angehören. Die Ausführung der Arbeiten übernahm der
k. u. k. Oberst des Ruhestandes Maximilian Groller von Wildensee,
der bereits seit Sommer 1897 die Ausgrabungen in Camuntum geleitet
und sich als durchaus geeignete Kraft bewährt hatte. Um die Ergeb-
nisse der Arbeiten der deutschen Reichs-Limeskommission an Ort und
Stelle kennen zu lernen, machte Oberst v. Groller vorerst eine Reise
dahin und hatte Gelegenheit, an den wichtigsten und interessantesten
Stellen eingehende Studien anzustellen.
Über die Arbeiten der österreichischen Limeskommission er-
scheinen jeweilig kurze Berichte im Anzeiger der philosophisch-histo-
rischen Klasse der Akademie, es sollen aber im Laufe der Zeit diese
Berichte in einer Sonderausgabe vereinigt werden. Überdies sollen
eingehende fachwissenschaftliche, mit Plänen und Abbildungen aus-
gestattete Darstellungen den Inhalt einer selbständigen, in zwanglosen
Heften erscheinenden Publikation der Limeskommission bilden. Das
erste Heft dieser Limespublikation (unter dem Titel: Der römische
lAtnes in Österreich) liegt nun seit kurzem vor. Bevor wir auf seinen
Inhalt näher eingehen, wollen wir einige Mitteilungen über die römische
<jrenzwehr an der Donau, soweit ihre Spuren in Österreich-Ungarn bekannt
sind, vorausschicken, um die hier zu lösende Angabe zu kennzeichnen.
In Österreich -Ungarn ist kein dem rätisch -germanischen Litoes,
-dessen Erforschung die reichsdeutsche Limeskommission unternommen
hat, ganz entsprechendes Werk vorhanden, aber der Grenzschutz war
längs der ganzen Donau von ihrem Eintritt in die Monarchie bis zu
ihrem Austritt aus ihr in analoger Weise, wie etwa an der Strecke am
Main, durch Kastelle und Wachttürme organisiert. Die Hauptaufjg^abe
wird somit in Ungarn zu thun sein, aber auch in Österreich ist bis
zur ungarischen Grenze noch manches Stück Arbeit zu erledigen.
Wenn man von den Grabungen in Camuntum absieht, die wertvolle Er-
gebnisse gerade für diese Frage ergeben haben, so wissen wir von den
oberhalb von Vindobona, zwischen Vindobona und Camuntum und
unterhalb von Camuntum gelegenen, zum Teil bekannten Kastellen
noch viel zu wenig. Die Untersuchung mit dem Spaten ist noch nicht
gefuhrt worden und wird gewifs manch wertvolles Resultat zu Tage
fordern. Noch reicheren Gewinn kann man sich in Ungarn versprechen:
auf der Strecke zwischen 0-Szöny (dem antiken Brigetio) bis Belgrad
— 197 —
(Singidunum) sind bis jetzt im ganzen 29 Donaukastelle, von meist an-
sehnlicher Gröfse, nachgewiesen, die jedoch nicht die Gesamtzahl der
einst vorhandenen darstellen können, denn es finden sich Lücken von
etwa 40 km. Es finden sich auch brückenkopfartige Anlagen auf dem
linken Stromufer, so Kastelle gegenüber den beiden Legionslagem in
Brigetio und Aquincum (Altofen), ebenso gegenüber von zwei Kastellen
(Koralöd und Banostor). Auf der Strecke von Gran bis Budapest ist
die Anlage von Burgi (aus ein oder zwei Türmen bestehend) be-
merkenswert; es sind bis jetzt zwölf bekannt, von welchen neun am
rechten, drei am linken Ufer hart am Strome liegen. Diese Anlage
hängt mit dem Donaufeldzug des Kaisers Valentinian vom Jahre 375
zusammen, der, wie eine Inschrift lehrt, die Anlage solcher Burgi zur
Sicherung seiner Operationsbasis angeordnet hat. Dazu kommt noch
die Erforschung der gröfseren Legionslager und des Strafeennetzes.
Vorläufig ist freilich von der Organisation dieser grofsen Aufgabe noch
wenig zu melden. *
Die Limeskommission beschlofs vielmehr, ihre ersten Arbeiten
auf die Erforschung von Carnuntum ^), dem Hauptlager der Römer in
Pannonia superior, zu beschränken, weil so an die bereits durch die er-
folgreiche Thätigkeit des seit 1885 bestehenden Vereins „Carnuntum**
erzielten Ergebnisse angeknüpft werden konnte. So wurden denn in
den Jahren 1897 "^^ 1898 Grabungen in und um Carnuntum ver-
anstaltet, die einerseits bereits früher durchgeführte Untersuchungen
durch Nachgrabungen ergänzten und berichtigten, anderseits durch
Neugrabungen die Kenntnis der alten Lagerstadt erweiterten. Da somit
die Limeskommission mit dem Verein „Carnuntum** zusammen ar-
beitete — die Verbindung wird insbesondere durch die Person des
Ausgrabungsleiters, des genannten Obersten v. Groller, verkörpert — ,
deckt sich auch der jüngst ausgegebene Bericht des Vereins „Carnun-
tum** sachlich zumeist mit dem ersten Hefte der Limeskommission.
Dieses Heft hat folgenden Inhalt: In einer allgemeinen Einleitung
bespricht zunächst Oberst v. Groller die besonderen Aufgaben der
österreichischen Limesforschung (natürlich mit Beschränkung auf
das Gebiet bis zur ungarischen Grenze) ; es folgt die Topographie der
Umgebung von Carnuntum, eine die früheren Resultate und die Er-
1) Gelegen zwei Stunden donanabwärts von Wien in der Gegend der heaticren Orte
Dentsch-Altenborg und Petronell, das Lager von Camontum aaf dem sogen. „Bargfelde"
an der von Wien nach Prefsborg führenden Strafse zwischen Petronell nnd Deatsch-
Altenbnrg. Zar näheren Orientierang mag aaf den „Führer durch Camantum" von
Kubitschek and Frankfurter (4. Aufl., Wien 1894) verwiesen werden.
15
— 198 —
gebnisse der letzten Grabungen zusammenfassende Besprechung des
Standlagers, die Darstellung der Limesstation und Tempelanlage auf
dem Pfaffenberge (der 327 m hoch ist und im Rücken von Deutsch-
Altenburg liegt). Untersuchungen der „Ödes Schlofs" genannten
Ruine am Nordufer etwas unterhalb von Deutsch -Altenburg, welche
man seit jeher geneigt war, als Rest eines römischen Brückenkopfes
anzusehen, der Ruine Rötheistein (Rottenstein), donauabwärts, die man
gemeinhin gleichfalls für römisch hielt, endlich die Gräberstrafse von
Carnuntum. In einem Anhang behandelt Professor Eugen Bor mann
die zu Tage geförderten Inschriften, und zwar jene auf dem Pfaffen-
berge und jene an der Gräberstrafse.
Da es lediglich Aufgabe dieser Zeilen ist, einen kurzen Bericht
über den derzeitigen Stand der Forschung zu geben, kann hier weder
auf den mehrfach interessanten Inhalt näher eingegangen, noch auch
eine Erörterung strittiger Fragen oder eine Kritik des Limesheftes ver-
sucht werden.
Es mag hier genügen, hervorzuheben, dafs durch die Grabungen
am Lager, insbesondere an der Umfassungsmauer und in dem früher
nur wenig untersuchten nördlichen Teile derselben, eine Reihe wich-
tiger Punkte, wie Führung der Mauern und Türme, Anlage der Thore
u. s. w., genauer festgestellt und dafs namentlich durch die Grabungen
auf dem Pfaffenberge wichtige und äufserst interessante Baulichkeiten
aufgedeckt worden sind ^). Die Berichte selbst sind in technischer
Hinsicht durchaus zu loben, und es ist nicht genug anzuerkennen, mit
welcher hingebungsvollen Liebe sich Oberst v. Groller seiner Aufgabe
widmet. Anderseits ist es jedoch den Berichten nicht zu gute ge-
kommen, dafs, wenn man vom epigraphischen Anhang absieht, aus-
schliefslich der Militärtechniker zum Wort kommt — es fehlt daher
nicht an Verstöfeen in vielen Details — , sowie dafs Oberst v. Groller,
statt sich auf Mitteilung der thatsächlichen Ergebnisse zu beschränken,
es nicht unterlassen hat, auch sofort aus ihnen Schlüsse zu ziehen, die
erst eingehender Untersuchung bedürfen. Auch kann nicht verschwiegen
werden, dafe hier und da an gesicherten Thatsachen früherer Grabungen
ohne ausreichenden Grund gerüttelt wird. So begegnen wir Hypo-
thesen, die vor der Kritik nicht Stand halten können; dahin gehören
*) Vorweg mag hier erwähnt werden, dafs bei den Ausgrabungen im Jahre 1899 im
Lager ein Magazin aafgedeckt wurde, in welchem sich grofse Waffenvorräte fanden. Es
ergaben sich in statüicher Anzahl mehr oder weniger gut erhaltene Stücke, von deren
genauerer Untersuchung wertvolle Aufschlüsse über das römische Waffenwesen zu er-
warten sind.
— 199 —
z. B. die Bemerkungen über die Limestürme auf der Höhe des Pfaffen-
berges u. a.
Gleichwohl ist ein erfreulicher Anfang gemacht, und man darf
von der Weiterführung der Arbeiten wertvolle Resultate für die öster-
reichische Limesforschung erhoffen. Die Fehler des ersten Heftes
werden künftig gewifs vermieden werden. Zu wünschen wäre aller-
dings, dafs die Wiener Akademie sich mit der ungarischen verbände,
damit nach einem einheitlichen Plane in der ganzen Monarchie die
Arbeit in Angriff genommen und durchgeführt werde.
Mitteilungen
Ycrsamnillingei]« — Die sechste Versammlung deutscher
Historiker hat in den Tagen vom 4. bis 7. April 1900 in Halle a. S.
stattgefunden und hatte die über Erwarten grofse Zahl von 186 Teilnehmern
angelockt, wobei noch zu beachten ist, dafs die verschiedene Lage der
Ferien an den höheren Lehranstalten viele Herren aus Thüringen und dem
Königreiche Sachsen femgehalten hat. Das Programm, welches bereits
S. 133 mitgeteüt wurde, ist pünktlich eingehalten worden, aber es war doch
nicht zu verkennen, dafs die ganze Anlage der Versammlung in wesentlichen
Punkten von der früherer Tagungen, wie wir sie S. 137 — 145 charakteri-
siert haben, abwich. Es lag nicht niu* an der immer drängenden Zeit, wenn
ebe Debatte sich nicht recht entwickeln wollte, sondern vor allem daran,
dafs die Vorträge im wesentlichen Forschungsergebnisse der Redner boten,
über welche zu debattieren nur die wenigsten Teilnehmer in der Lage ge-
wesen wären, während aUgemeine Fragen, die durchaus nicht immer metho-
dologischer Art sein müssen, nicht angeschnitten wurden. Wenn die Leit-
sätze und Belegstellen zu dem Vortrage von Prof. Heck über Stadtbürger
und Stadtgericht im Sachsenspiegel bereits mit dem Programm verbreitet
worden wären und in ähnlicher Weise die übrigen Redner durch Bekannt-
gabe einzelner Thesen zur Diskussion einzelner Fragen angeregt hätten, so
hätten auch den behandelten Themen allgemeinere Gesichtsptmkte abgewonnen
werden können. Vermifst mufste schliefslich auch ein ortsgeschichtiicher
Vortrag werden, der dem Fremden das rechte historische Ortskolorit hätte
vermitteln helfen, wie es bei früheren Tagungen geschehen ist (s. S. 145). —
Da die Redner ihre Vorträge voraussichtlich sämtlich bald anderweitig ver-
öffentlichen werden — wahrscheinlich so, dafs der offizielle Bericht über die
Versammlung bereits die genaueren Angaben enthalten wird — so werden
wir hier von einem Referat über die einzelnen Vorträge absehen können und
verweisen auf den kurzen Bericht, den der Herausgeber dieser Zeitschrift in
der Wissenschafllichefi Beilage der Leipziger Zeitung Nr. 43 (Dienstag, den
10. April 1900) veröffentlicht hat, sowie auf einigie Bemerkungen, welche sich
m Helmolts Aufsatze In der Tulpe in Nr. 30 der „Zukunft" vom 28. April
finden. Nur zwei Punkte, welche der landesgeschichtlichen For-
schung Aufgaben stellen, seien hier kurz berührt Der Vortrag von Fried-
15*
— 200 —
jung (Wien) über das Angebot der deutschen Kaiserkro7ie an Österreich im
Jahre 1814, in welchem der Redner wiederholt auf die Fundstellen der
von ihm erwähnten Aktenstücke zu sprechen kam, zeigte, welche Bedeutung
auch für die neuere politische Geschichte der Durchforschung aller der
Archive zukommt, in welchen Staatsakte aus jener Zeit niedergelegt sind.
Da es aber, um nur eins zu erwähnen, 27 Fürsten und 4 Städte sind,
die dem Kaiser Franz die deutsche Kaiserkrone antrugen, so würden
behufs gründlicher Erforschung dieser Vorgänge zum wenigsten die in Frage
kommenden 31 Archive, natürlich aber auch die der unbeteiligten Staaten,
nach einschlägigen Akten zu durchsuchen sein. Dafs ein einzelner Be-
arbeiter dies nicht in vollem Mafse thun kann, ist ohne weiteres klar; hier
mulis, nachdem die Fragestellung gegeben ist, die Lokalforschung zur
Ergänzung des Gesamtbildes einsetzen, die andrerseits auch Flugschriften,
Spottbilder, Zeitungsmeinungen u. dgl. viel eher auszugraben vermag als der
Forscher, der von der übermäfsigen Masse der Akten, welche die wichtigsten
Archive — in diesem Falle die Wiener — bieten, fast erdrückt wird. —
Eine weitere Anregung zur orts- und landesgeschichtlichen Forschung giebt
der Antrag von Paul Kalkoff (Breslau), der später in seinem vollen Wortlaute
mitgeteilt werden wird und eine Veröffentlichung der politischen Korre-
spondenz Karls V. erstrebt Es ist ohne weiteres klar, dafs sämtliche Archive
vormaliger Reichsfürsten imd vormaliger Reichsstädte Material für eine derartige
Veröffentlichung enthalten, dafs aber gerade die kleineren und abgelegenen
dieser Archive bisher am wenigsten für derartige Gesamtpublikationen zu Rate
gezogen worden sind. Wenn beispielsweise aus den Archiven der vormaligen
Reichsstädte im Sinne eines Inventars Regesten bearbeitet und in der Lokal-
zeitschrift veröffentlicht würden, die etwa dem entsprächen, was für Köln in
Diemars Arbeit Köln und das Reich wenigstens bis 1474 geleistet ist
(vgl. oben S. 174), so würde einem Unternehmen, wie es Kalkoff anregt,
ganz unschätzbarer Vorteil erwachsen. Die Historikerversammlung hat sich
dahin ausgesprochen, dafs die Veröffentlichung der politischen
Korrespondenz Karls V. ein überaus dringendes Bedürfnis
der deutschen Geschichtsforschung sei, und darüber hinaus hat
der „Verband deutscher Historiker** beschlossen eine Kommission zu er-
nennen, welche der Frage näher treten und einen Arbeitsplan aufstellen soll ; zu
diesem Zwecke ist aus der Verbandskasse ein verhältnismäfsig erheblicher Bei-
trag zur Bestreitung der Kosten bewilligt worden. Aufserdem hat die „Kom-
mission zur Herausgabe von Akten und Korrespondenzen zur
neueren Geschichte Österreichs** (vgl. oben S. 27) sich bereit er-
klärt, ihrerseits den in ihr Gebiet fallenden Teil der Arbeit zu übernehmen.
Nach der Seite der Organisation des Historikerverbandes ist wesent-
liches nicht zu berichten. Aus dem Verbandsausschufs sind durch Tod
ausgeschieden Stieve und Hub er, aufserdem durch Niederlegung ihres
Mandats v. Heigel, Gothein imd Kaltenbrunner. Ausgelost wurden
Meyer von Knonau und Prutz, ordnungsgemäfs schieden aus Bachmann,
V. Below, Meinecke und Oswald Redlich, und neu gewählt wurden
V. Below, Meyer von Knonau, Prutz, Oswald Redlich und Dietrich
Schäfer. Als Ort Rir die siebente Historikerversammlung wurde Heidel-
berg in Aussicht genommen und zwar für Ostern oder Herbst 1902.
— 201 —
Gleichzeitig mit dem sechsten Historikertage fand die Vierte Kon-
ferenz von Vertretern deutscher landesgeschichtlicher Pu-
blikationsinstitute (Vgl. S. 134) statt und zwar hielt dieselbe zwei
Sitzungen ab, die erste am 4. April im historisch-geographischen Institute
der Universität Leipzig, wo über die Grundkarten frage sowie über die
Thätigkeit auf dem Gebiet der historisch-kirchlichen Geographie
Deutschlands verhandelt wurde, und die zweite am 5. April in der Universität
Halle, wo über die Unterstützung der von Steinhausen (Jena) heraus-
gegebenen Denhnäler der deutschen Kulturgeschichte beraten wurde. Es
waren dabei vertreten die Kgl. Württembergische Kommission für Landes-
geschichte durch Prof. Busch (Tübingen), die Grofsherzogl. Badischc
Historische Kommission durch Archivrat Krieger (Karlsruhe), die Gesell-
schaft für Rheinische Geschichtskimde durch Archivdirektor Prof. Hansen
(Köln), die Commission royale d'histoire de Belgique durch Prof. Pirenne
(Gent), die Thüringische Historische Kommission durch Bibliothekar Stein-
hausen (Jena), die Historische Kommission für die Provinz Sachsen
durch Prof. Gröfsler (Eisleben) und Oberlehrer Reischel (Aschersleben),
die Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte durch Regierungsrat
Ermisch (Dresden) und Prof. Lamprecht (Leipzig), der Verein für die
Geschichte der Mark Brandenburg durch Archivar und Privat -Dozent
Meinecke (Berlin), der Westpreufsische Geschichtsverein durch Dr. Sim-
son (Danzig), der Verein für Geschichte Ost- undWestpreufsens durch
Prof. Prutz (Königsberg), die Historische Landeskommission für Steier-
mark durch Prof. v. Zwiedineck-Südenhorst (Graz). Zur ersten
Sitzung waren femer als Sachverständige hinzugezogen Prof. Baldamus
(Leipzig), Ingenieur Ehnert (Dresden), Privatdozent Kötzschke (Leipzig),
Prof. Mogk (Leipzig) und Prof. Seeliger (Leipzig). Des weiteren nahm
Prof. Kaufmann (Breslau) als Vorsitzender der Historikerversammlung an
der Sitzung teil. Unter dem Vorsitz von Prof. Lamprecht, der zunächst
den Stand der Grundkartenanfertigung in den einzelnen I^andesteilen kurz
besprach und für die Behandlung drei Gebiete, Mutterland, Kolonialgebiet
und Peripherische Länder, unterschieden wissen wollte, wurde zur Verhandlung
geschritten und dabei im wesentlichen die Berechtigung der modernen Ge-
markungsgrenzeii erörtert in regem Anschlufs an die Ausfühnmgen von
Kötzschke in dieser Zeitschrift S. 113 — 131 und den gegen die Gemarkungs-
grenzen gerichteten Aufsatz von Seeliger (Beilage zur Allgemeinen Zeitung
Nr. 52 und 53: Die historischen Orundkarten ; Kritische Betrachtungen*)).
An der Hand eines eingehenden Berichtes von Fabricius, welcher seit
einem Jahrzehnt mit der Bearbeitung des geschichtlichen Atlasses der Rhein-
provinz beschäftigt ist, erwies zunächst Prof. Hansen (Köln) die Berechtigung
der modernen Gemarkungsgrenzen in dem fraglichen Gebiete auch für die
historischen Karten, und zu demselben Ergebnis kam Regierungsrat Ermisch
(Dresden) in Bezug auf das Königreich Sachsen. Ingenieur Ehnert (Dresden)
behandelte eine Reihe Fragen der Technik und der Grenzen unvermeidlicher
Fehler imter Hervorhebung der Thatsache, dafs alte Karten oh grofse
♦) Eine Entgegnung darauf von Thudichum (Tllbingen) ist in Nr. 74 der „Beilage
zor Allgemeinen Zeitung" vom 30. März 1900 erschienen.
— 202 —
zeichnerische Fehler aufweisen, dafs sogar Flufsläufe oft um mehrere Kilo-
meter falsch ebgetragen sind. Prof. Baldamus zeigte seinerseits an konkreten
Beispielen, wie sich Fehler auf fertigen Karten in verschiedenem Malsstabe
ausnehmen, und stellte dadurch fest, wie unbedeutend selbst ein Irrtum um
IG ooo Hektar sich in der Praxis der Kartenzeichnung gestaltet. Prof.
Seeliger präzisierte im Gegensatz zu den anderen Rednern wiederholt
semen Standpunkt und verwarf die Grundkarten mit modernen Gemarkungs-
grenzen überhaupt für die historische Geographie, da in jedem einzelnen
Falle die Berechtigung dieser Grenze für frühere Jahrhunderte erst erwiesen
werden müsse. Das Ergebnis der Beratungen wurde in folgenden Sätzen
zusammengefafst :
1. Die anwesenden Mitglieder der Konferenz erklären es für wünschens-
wert, dafs die Herstellung von Grundkarten energisch weiter gefördert werde
und dafs insbesondere Untersuchungen über die Entstehimg, das Alter und
die Veränderung der Gemarkungsgrenzen innerhalb der einzelnen Gebiete
angestellt werden.
2. Die Konferenz erklärt es für wünschenswert, dafs, sobald einiger-
mafsen zahlreiche Erfahrungen in konkreten Arbeiten niedergelegt sind, aus-
führliche Bestimmungen ausgearbeitet werden, welche die einzelnen Forscher
anweisen, wie sie Eintragungen in die Grundkarten zu bewirken haben.
3. Die Konferenz spricht der Kgl. Sachs. Regierung ihren Dank für
die Einrichtung der „Zentralstelle für Grundkarten** aus und bittet sämtliche
Institute, welche Grundkarten hergestellt haben, womöglich je eine Kopie von
Grundkarten mit Einträgen sowie eine Anzahl von Exemplaren jedes Blattes
daselbst zu deponieren, damit der einzelne Forscher in der Lage ist, jede
beliebige Karte von der Zentralstelle aus zu beziehen.
4. Die Konferenz erklärt es für wünschenswert, auch die Herstellung
von Gnmdkarten im Mafsstabe i : 500 000 nach einem für ganz Deutschland
einheitlichen Netze möglichst in Angriff zu nehmen.
5. Die Konferenz beauftragt die „Zentralstelle für Grundkarten**, die
Vorarbeit für eine künftige Verständigung über die Einzeichnung in Grund-
karten, soweit überhaupt ein gemeinsames Vorgehen in dieser Hinsicht ge-
boten erscheint, thunlichst zu fördern.
Diese Sätze wurden von den Anwesenden einstimmig genehmigt. Nur
bei Satz i ergab sich eine abweichende Stimme. Aufserdem bemerkte zu
Satz I der Vertreter der Historischen Landeskommission für Steiermark, dafs
das Verhältnis der Gerichts- und Gemarkungsgrenzen in dem von ihm ver-
tretenen Gebiet noch nicht genügend geklärt erscheine, und der Vertreter
der kgl. württembergischen Kommission, dafs man in Württemberg sehr
brauchbare Gemarkungskarten in etwas kleinerem Mafsstab als dem der Grund-
karten besitze und daher die Bearbeitung von Gemarkungskarten im Mafsstab
der Grundkarten (i : 100 000) anstehen lasse. Femer wurde von der Kon-
ferenz beschlossen, das von Fabricius ausgearbeitete Gutachten behufs
gröfserer Verbreitung drucken zu lassen. Der Vorsitzende konnte femer
noch mitteilen, dafs auch Vertreter von Bayern, Lothringen und Holland
sich schriftlich etwa in demselben Sinne geäufsert haben, wie er in den
obigen Sätzen zimi Ausdmck kommt.
Die von der dritten Konferenz (Nürnberg 1898) eingesetzte Kommission
— 203 —
zur Durchf^ihniDg ebes allgemeinen Plans für die Bearbeitung der historisch-
kirchlichen Geographie Deutschlands hat bisher, wie Archivar
Mein ecke berichtete, von der Aufstellung eines Schemas abgesehen, um
vielmehr erst das Erscheinen der Bearbeitung einiger Diözesen abzuwarten.
Unterdessen ist das im Menkeschen Nachlasse vorgefundene Material von
mehreren Instituten für ihr Gebiet nachgeprüft worden, und es hat sich
dabei ergeben, dafs selbst das gedruckte Material nicht vollständig benutzt
ist, dafs aber bei einer gründlichen Arbeit auch eine Menge archivalisches
Material herangezogen werden mufs. Die engere Anlehnung an das Menkesche
Material scheint damit für viele Gebiete weiter keinen Vorteü zu gewähren,
aber die systematische Untersuchtmg der kirchlichen Geographie nach einheit-
lichem Plane erscheint nichtsdestoweniger als Bedürfnis der Geschichtsforschung.
Demgemäfs wurde folgende Entschliefsung gefafst: Die Konferenz nimmt
mit Interesse Kenntnis von dem Fortgange und den bis-
herigen Erfolgen des Unternehmens und giebt der in Nürn-
berg eingesetzten Kommission Vollmacht, die Arbeit im Sinne
der Nürnberger Beschlüsse unter möglichster Einheitlich-
keit in der Durchführung weiter zu fördern.
Für seine Denkmäler der deutschen, Kulturgeschichte , die als grofse
Quellenpublikation gedacht sind, hat Bibliothekar G. Steinhausen (Jena)
bereits im fünften Bande der Zeitschrift für Ktäturgeschickte einen ausführ-
Uchen Plan entworfen. Eine gröfsere Anzahl von Quellengruppen sind dort
namhaft gemacht, die zu einer Publikation geeignet wären. Nachdem aber
gröfsere Mittel für das Unternehmen vorläufig nicht zu gewinnen gewesen
sind, scheint es zweckmäfsig sich vorläufig auf einzelne Gruppen zu beschränken,
und zwar sind als solche die Reiseberichte und Tagebücher als her-
vorragend wichtige Quellen herauszuheben. Um eine Übersicht darüber zu
gewinnen, was in dieser Hinsicht bereits publiziert tmd was bekannt, aber
noch nicht publiziert ist, beschliefst die Konferenz für eine künftige
Publikation Verzeichnisse des vorhandenen Materials an Reise-
berichten und Tagebüchern in Deutschland herbeizuführen
und verleiht damit der von Steinhausen ausgehenden Umfrage bei Archiven
und Bibliotheken ihre Unterstützung. Da die Reiseberichte, wo sie sich
auch finden mögen, für viele Landschaften von Wichtigkeit sind, gleichgütig
wo der Reisende beheimatet war, so ist zu hoffen, dafs sich in aUen Teüen
Deutschlands die Lokalforschung diese Aufgabe angelegen sein läfst und für
Zusanmienstellung des gedruckten und ungedruckten Materials sorgt.
Auch die Frage, ob eine Fortsetzung des Walther-Konerschen
Repertoriums der historischen Zeitschriftenlitteratur anzu-
streben sei, wurde berührt und eine Verständigung mit dem „Gesamtverein
der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine*' in dieser Hinsicht als
wünschenswert bezeichnet, aber ein endgültiger Beschlufs darüber nicht
ge^st
Die Konferenz als Einrichtung, die eine Vereinigung der verstreuten
Arbeitskräfte zu gemeinsamem Wirken erstrebt, hat sich auch durch diese
vierte Tagung bewährt, und der Wunsch, sich jährlich einmal zu versammeln,
der aus der Versammlung heraus laut wurde, scheint am meisten dafür zu
sprechen. Die Zahl derjenigen Institute, die sich bisher an der Konferenz
j
— 204 —
beteiligt haben, ist übrigens 22, so dafs von den namhaften nur noch wenige
fehlen, deren Beitritt hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit ebenfalls erfolgen wird.
Die diesjährige Jahresversammlung des Hansischen Geschichts-
vereins wird in Gemeinschaft mit der Jahresversammlung des Vereines
für niederdeutsche Sprachforschung wie üblich zu Pfingsten statt-
finden, und zwar in Göttingen. Am Abend des Pfingstmontags (4. Juni)
wird die Begrüfsungsfeier die Tagimg eröffnen und ein Ausflug nach Münden
am Donnerstag wird sie beschliefsen. Das wissenschafüiche Programm ist
bis jetzt noch nicht bekannt gegeben worden.
Eingegangene Bücher.
Armstedt, Richard : Geschichte der Kgl. Haupt- und Residenzstadt Königs-
berg in Preufsen. Stuttgart, Hobbing und Büchle, 1899. 354 S. 8®.
M 9,50.
Borkowsky, Ernst: Geschichte der Stadt Naumburg an der Saale. Stutt-
gart, Hobbing und Büchle, 1897. 188 S. 8 0. Geb. M 5.
Beriet, Erich: Die sächsich-böhmische Grenze im Erzgebirge. Ein Beitrag
zur politischen Geographie. 84 S. 8 ® [Beilage zum Jahresbericht der
Städtischen Realschule mit Progymnasium zu Oschatz, 1898/ 1899].
Danneil, Friedrich: Geschichte des magdeburgischen Bauernstandes in
seinen Beziehungen zu den andern Ständen bis zum Ende des Erzstifts
im Jahre 1680. Halle a. S., Kaemmerer & Co., 1898. 542 S. 8®.
^ 9.
Dietterle, Johannes A. : Burkhardswalde (Ephorie Pirna), Geschichte der
Kirchfahrt und der vier zu ihr gehörendeh Dörfer Burkhardswalde, Biens-
dorf, Grofsröhrsdorf, Nenntmansdorf. Dresden, Druck der Druckerei
Glöfs, 1900. 244 S. 16 <*.
Ellissen, O. A. : Chronologischer Abrifs der Geschichte Einbecks. Ein-
beck, in Kommission bei H. Ehlers, 1898. 28 S. 8^. [Den zu ihrer
27. Jahresversanmilung am 31. Mai imd i. Juni 1898 in Einbeck
weilenden Mitgliedern des Hansischen Geschichtsvereins gewidmet von
dem Verein für Geschichte und Altertümer der Stadt Einbeck und
Umgegend.]
G^ny, Joseph: Die Reichsstadt Schlettstadt und ihr Anteil an den sozial-
politischen und religiösen Bewegungen der Jahre 1490 — 1536. Frei-
burg i. B., Herder, 1900. 223 S. 8 <^. [= Erläuterungen imd Er-
gänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, herausgegeben
von Ludwig Pastor, I. Band, 5. und 6. Heft.] Ji 3.
Giannoni, Karl: Die Privilegien und das Archiv des Marktes Gumpolds-
kirchen. [Separatabdruck aus den Blättern des Vereins für Landeskimde
von Niederösterreich, 1899.]
Keuffer, Max: Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften der Stadt-
bibliothek zu Trier. Trier, Kommissionsverlag der Fr. Lintzschen Buch-
handlung. Erstes Heft: Bibel-Texte und Kommentare (1888. 77 S.).
Zweites Heft: Kirchenväter (189 1. 148 S.). Drittes Heft: Predigten
(1894. 166 S.). Viertes Heft: Liturgische Handschriften (1897.
108 S.). Fünftes Heft: Ascetische Schriften I. (1900. 112 S.).
Herautgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Förderung der landesgescMchtliclien Forschung
I. Band Juni xgoo 9. Heft
Wer lArar um 1430 der reichste Bürger in
SehiArabeti und in der Sehiweiz?
Von
Aloys Schulte (Breslau)
Es ist gewUs keine mülsige Frage, die ich in der Überschrift
gestellt habe, denn sie dient ja viel weniger lokalen Interessen, als
sie uns dazu zwingt, einmal festzustellen, wie weit in dieser Periode
die Kapitals- und Vermögensbildung auf Grund des Handels in einer
Gegend bereits gekommen war, die loo Jahre später das Land der
Bankiers und der geldkräftigsten Handelshäuser der damal^en Welt
war. Die Frage der Überschrift würde vermutlich von den Kennern
der Geschichte jener Landschaften sofort mit einem Namen aus Augs-
burg beantwortet werden, andere würden an Strasburg, Ulm, vielleicht
auch an Basel denken.
Strafsburg muis ich mit einigen anderen Städten hier ausscheiden,
denn von Stralsburg wie von Lindau und Freiburg i. Br. haben sich
keine Steuerlisten ^) erhalten. Aber ich furchte auch nicht, da(s uns
damit der reichste Schwabe entgeht; die Strafsburger Kaufherren der
Blütezeit der Stadt hatten sich längst zu Landadligen umgewandelt,
die Straüsburger Geschäftsleute begnügten sich mit dem Handel mit
ihren elsälsischen Weinen und dem Getreide und mit der Versorgung
des außerordentlich reichen Hinteriandes, das die Stadt umgiebt, aber
nur im Welthandel waren grofse Reichtümer zu gewinnen; doch von
dem hielten sich die Strafsbui^er fem. Aber vielleicht war Basel
damals schon das, was es heute ist, die Stadt mit der relativ gröfsten
Zahl von Millionären. Für Basel haben wir nicht allein vorzügliche
Quellen, sondern auch das Muster einer Bearbeitung von Steuerlisten.
t) Diese QiieIleQg»ttiing geliört anch ta dem Material, deifen Bedeutang S. 65/66
charakterisiert wurde, nnd manches von dem, was dort von der statistischen Aosbeatoo^
der Redmmigen gesagt wurde, gilt auch von den StetterUtten.
16
— 206 —
Die Baseler Listen von 1446 sind nicht ganz vollständig, doch bieten
die anderen Listen aus anderen Jahren nicht das Bild, dafe diese
Lücken für uns entscheidend wären *). Die reichsten mit ihrem Kapital
Genannten sind zwei Mitglieder der hohen Stube mit je 14 000 fl., es^
folgt ein Schmied mit 130000., dann wieder einer aus der hohen
Stube, der bekannte Chronist, Spekulant und Vertraute König Siegmunds
Henmann Offenburg, dann bis zu loooofl. herab noch vier weitere
Personen. Zu den reichsten Leuten in Basel gehörte auch Heinrich
Halbisen, dessen Steuer von 3 fiJL 2 ^^ io,J ein Vermögen von 12 5608.
entsprechen würde. Die Halbisen waren ein tüchtiges Geschlecht und
haben sich durch die Einführung der Papierfabrikation in Basel ver-
dient gemacht.
Gehen wir auf den Boden über, der damals schon zur Eidgenossen-
schaft gehörte, so kommen da die vier Städte Bern, Luzern, Zürich und
St. Gallen in Frage. Von allen vier haben wir Steuerlisten, wenn sie
auch nicht genau in dieses Jahrzehnt passen. Der reichste Bürger
Berns versteuerte 1389 nur 8000 U. ^ *), der Schultheifs Hasfurter von
Luzern 1461 : i2 0oofl., in Zürich betrug 1467 das gröfste Steuer-
vermögen 19 igg a. (^ oder hl.?). Von St Gallen endlich kenne ich
die Steuersumme eines Mannes, dessen Familie zu dem Sprichworte
Anlafs gab: reich wie ein Mötteli! Lütfried Mötteli versteuerte 1480 :
13 300 Ä «Jt*). Und das war ein Kaufmann, dessen Geschäfte nach
der Provence und Spanien hin ihren Schwerpunkt hatten, die auf-
strebende Leinwandindustrie von St. Gallen ward vor allem gefördert
von den Mötteli, freilich war dieser Lütfried ein imehelicher, aber die
echten sind in Steuerlisten nicht zu ertappen, sie gingen früh zum
Landadel über.
Versuchen wir nun unser Glück mit Augsburg, dessen Archiv
als einen Schatz eine lückenlose Reihe von Steuerbüchern darbietet,
freilich haben sie den Mangel, dafs sie nur die Steuersumme angeben,
nicht aber das Vermögen selbst *). Nun wäre auch das noch kein
Nachteil, wenn das Steuerkapital zur Steuer in einem einfachen Ver-
hältnisse gestanden hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Wie in
i) Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt Basel, Tübingen 1879 S* ^37»
s. 575-584.
2) Welti, Du TelJhücher der Stadt Bern aus dem Jahre 1389, Archiv des
historischen Vereins Bern 14, 700.
3) Die letzten drei Angaben nach Dürr er im Geschichtsfreund der fünf Orte
48, 140.
4) Die im folgenden erwähnten Steuerlisten habe ich selbst durchgearbeitet
— 207 —
Ulm und Konstanz wurde auch in Augsburg das mobile und immobile
Besitztum verschieden getroffen. Von dem immobilen Besitze war nur
die Hälfte dessen zu zahlen, was eine gleich grofse Summe von Fahr-
habe zu tragen hatte *). Dieselbe Steuersumme entsprach also einem
sehr erheblichen Immobiliarbesitz und einem halb so grofsen Mobiliar-
besitz. Wer loooofl. Immobilien hatte, zahlte ebenso viel, wie der,
der 5CX)0 fl. in Mobilien besafs. Der Steuersatz war auch nicht fest, von
1424 bis mindestens 1440 war er der normale, nachdem 1422 und
1423 der doppelte Betrag erhoben war. In der Steuerliste von 1428
steht an der Spitze der Steuerzahler Peter Jung Egen mit 62 fl. i Ort.
Der spätere normale Satz der Steuer war i 0/0 vom beweglichen,
>/a ®/o vom unbeweglichen Vermögen, also sehr hoch. Peter Jung Egen
hätte nach ihm 6200 fl. mobilen Kapitals oder i2 40ofl. Grundbesitz
haben können; wahrscheinlich überwog der Mobilbesitz und so mag
er iocxx>fl. besessen haben.
Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der Ulmer Steuer, wo eine
Liste von 1427 sich erhalten hat. Auch da kennen wir nicht die
Angaben des Vermögens, sondern nur die Steuersumme und an der
Spitze der Steuerzahler marschierten damals die nichtzu den Geschlechtern
gehörigen Peter Stöbenhaber und die Witwe Hansen Stöbenhabers, die
^msammen 102 it, hl. zu entrichten hatten. Wir kennen aber hier den
Satz, es wurde vom i6 hl. Wert der Immobilien ein Heller, von dem
von Mobilien aber zwei, vielleicht jedoch von beiden nur die Hälfte
erhoben *).
Wer weifs, welch' grofee Rolle die von Wilhelm von Heyd näher
untersuchte « magna societas Alamannorum > im Welthandel des XV. Jahr-
hunderts gespielt hat, wird mit hohen Erwartungen sein Augenmerk auf
die kleine Reichsstadt Ravensburg lenken. Und da haben wir die
älteste Steuerliste von 1473, die uns auch die Vermögen vorführt, und
da steht richtig an der Spitze der Steuerzahler das damalige Haupt
der grofeen Ravensburger Gesellschaft Jos Humpis alt, er versteuerte
3000 ÄJ ^ liegend, 7500 Ä5 ^ fahrend, also zusammen 10500^ und
zahlte 37W 11/9 61} Steuer. Über 4cxx> i6 besitzen aufserdem noch
7 Personen, von denen 6 derselben Familie oder deren Zweige von
Ankenreute angehören.
l) VgL y. Härtung, Die Augshurgische Vermögenssteuer und die Entwicklung
der Besitaverhältnisse im 16, Jahr hundert in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung u. x. w,
19, 868, vgL 19, io3f.
a) Kölle, Ursprung und Entwicklung der Vermögenssteuer in Ulm, in
Württemb, Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, Nene Folge 7, 16 f.
16*
— 208 —
Wenn ich an einer Stelle die Grenzen Schwabens und der Schwetx
überschreiten darf, so wendet sich das Interesse einer Stadt zti, die
beute der Sitz vieler grofsen Vermögen ist, Frankfurt Wer dabei der
Bücherschen Untersuchungen gedenkt, die einen so hervorragend
starken Anteil des Ackerbaus am Leben der Mainstadt erwiesen haben«,
wird freilich (ur damals keine sehr gro&en Vermögen erwarten. Der
Höchstbesteuerte von 1484 ist Bechtolt Heller. Rechnet man in seiner
Steuererklärung das, was in Geldeswert angegeben ist oder in Geld sich
ohne Mühe umrechnen läfst, so erhält man rund 6300 ü. Daneben hatte
er noch 527 Morgen Land, 9 Stück Rindvieh, 35 Schweine, 560 Schafe
und einige Häuser in der Stadt. Immerhin ein recht reicher Mann,
aber nicht einmal ein mittelalterlicher Krösus ^).
Wenden wir uns nun nach Konstanx, dessen Sammlung von Steuer«
listen mit denen von Augsburg sehr wohl den Vergleich aushält; freilich
hat Konstanz auch in seiner Blütezeit die kulturgeschichtliche Bedeutung
von Augsburg nicht besessen. Die Konstanzer Listen gehen nicht so
weit zurüclf, wie die Augsburger, und ich selbst habe die ältesten
Jahrgänge, die man früher für die Zeiten vor dem Konzil benutzte,
dem Anfang der Serie nehmen müssen. Wie ich diese Listen benutzte,
entdeckte ich bald, dafs diese Listen nicht in den Anfang des XV.,
sondern in die entsprechenden Jahre des XVI. Jahrhunderts gdiörten.
Die Serie, wie ich sie seiner Zeit festgestellt habe, b^^innt eist mit
dem Jahre 1418. Den Augsbuiger Listen sind aber die Konstanzer
deshalb überlegen, weil sie auch die Vermögensangabe nach Fahrfaabe
und ImmobUiarbesitz enthalten, so dafe wir hier einen vorzüglichen Über-
blick über die Vermögensverteilung gewinnen. Und in diesen Listen be-
gegnen uns nun Glieder eines enorm reichen Geschlechtes. 1418 zahlte
Lütfried Mun^>rat und sein Bruder Steuer von 7500 H liegendem
und 37 500 it Fahrhabe. Bis zum Jahre 1433 blieb dieses Vermögen
ungeteilt und stieg auf 16 000 -f 79 000 = 95 000 €8 an. Nach der
TeUung vermehrte sich die Summe der beiden Vermögen bis 1447
auf 132 464 ft Liutfrid, der 1447 starb, hinterliefs ein Verm<^n von
7140011$ (davon 61 740 A Fahrhabe). Wie die Berechnung siäher
ergiebt, handelt es sich hier um it 4> nicht um A hl. In Konstanz betrug
der Steuersatz vom beweglichen Eigentum: 0,277 •/o, vom unbeweg-
i) Bücher, Zwet ' mätekUUrUcke Steturordnungen in KUme BHträge zur Gt-
schichte von Docenten der Leipttger Hochschule, Festschrift nm deotschea HisiorikerU^
in Leipzig S. 159^. und 140. — Die Frankfurter Bedeordnoiig tob 1475 "^d dift
Speyerer von 13S1 xeigen, wie im einzelnen die Stener nncfa dem Einkommen und
Vermögen berechnet wurde.
-^ 209 —
lieben 0,138 %, in Ulm 0,416 und 0,208 «/o, vielleicht aber 0,833 ^J^d
0^16 <^/o, in Augsburg endlich ifi^jo und 0,5 «/o. In diesen Städten
hätte also Muntprat viel erheblichere Steuern bezahlen müssen. Die
Berechnung stellt sich für Ulm:
beweglicher Betitz: 9660 M ^ » 19330 ü hL Steser: 80,5 oder 40,95,
oDbeweglicber Besitz: 61 740 i( ^ mm 133480 ff hL „ 1029,0 oder 5i4»5o
zosammen ü hL 1109,5 oder 555,75.
Die beiden Stöbenhaber zahlten also entweder nur den zehnten oder
doch nur den fünften Teil. Für die Berechnung von At^burg lege
ich den aus der Konstanzer Rechnimg gewonnenen Satz i fl. rh. =» 15 /$
^ zu Grunde. Das ergäbe von 12 880 + 82 320 fl. =» 64,4 -{- 823,2
zusammen 887,6 fl., Peter Jung Egen zahlte nur 62^ fl.! Die Fugger
überschritten diesen Steuerbetrag erst im Jähre 1504!
Es bedarf keiner weiteren Rechnungen, Lütfried Muntprat war«
soweit sich das irgend erkennen läfst, damals der weitaus
reichste Bürger Schwabens und der Schweiz, er war ein Vor-
läufer der Fugger. Wie kam er zu dem Vermögen? ^) Auch darauf
können wir ziemlich viel Antwort geben. Die gro(se Ravensbui^ger
Gesellschaft nennt sich in der Urkunde über die Gründung ihrer Ka*
pelle (1461) die Gesellschaft der Hundbiis, Muntprat und Mötteli, und
wenn wir nun auch nicht sicher feststellen können, wann die Familien
sich zusammenthaten , ob vielleicht die groise Gesellschaft geradezu
die Fortsetzung der alten Muntpratschen Handlung ist, so können wir
doch den Charakter der jüngeren Gesellschaft auf die ältere vber*
tn^en. Und thatsächlich findet sich auch bei den ältesten Muntprats
schon die Bevorzugung des spanischen Handels. Lütfried, der von
König* Ruprecht zu seinem Familiären gemacht worden war, wurde
1408 mit seinem Bruder Johann und dem Frankfurter Paul Fetzbrei
von korsikanischen Seeräubern gefangen genommen. Aber auch in
Venedig und Flandern lassen sich die Muntprats um und bald nach
1400 nachweisen.
Wie man weife, sind die Fugger nicht aus den Augsburger Ge*
schlechtem hervorgegangen, ebenso wenig gehörten die Muntprats
von vornherein zur Konstanzer Patriziergesellschaft, zur „Katze**. Frei-
lich Lütfried und sein Bruder Johann hielten sich schon zu den Ge-
schlechtem, aber neben ihnen erscheinen andere Glieder des Hauses
im Rate noch als Vertreter von Zünften, und in den Zunftrevolutionen
i) Im folgenden verzichte ich snf QüeUenrnngaben , da ja dieser selbe Gegenstand
in dem demnächst erscheinenden Werke : Geschichte des Handels und Verkehrs woischtn
Westdeutschland und Italien näher behandelt werden wird.
— 210 —
werden die Muntprats von den Zünften reklamiert. Sehr weit kann
man das Geschlecht nicht zurückverfolgen. Es taucht zuerst 1354 auf,
und in dieser Urktmde hat der gründliche Kenner der Geschichte
seiner Vaterstadt, Privatdozent Dr. Beyerle in Freiburg, eine halb ra-
dierte Stelle von grofeer Bedeutung entdeckt. Hinter dem Namen
Heinrich Muntbrats stand und steht das Wörtlein kawerze. Ga-
wersche, caorsinus u. s. w. ist aber der Name, mit denen man die-
jenigen christlichen Kaufleute bezeichnete, welche sich um das Zins-
verbot der Kirche nicht kümmerten, sondern kleine Pfandleihbanken
hielten, wo sie vor allem das Lombardgeschäft betrieben.
Der Name Muntprat hatte schon längst unsere Aufmerksamkeit
nach Italien gelenkt, aber bisher war es weder gelungen, den Namen
noch das Wappen (Schild geteilt, oben zwei silberne Lilien in schwarzem
Felde, unten eine schwarze Lilie in silbernem Felde) in Italien nach-
zuweisen. Jetzt wird das Feld, wo man zu suchen hat, erheblich ein-
geschränkt; denn alle in Deutschland angesiedelten Gawerschen
stammten, wie ich nachweisen werde, so gut wie ausnahmslos aus
Asti, wenige aus dem benachbarten Chieri, und auch über die An-
siedelung von Astigianen als Geldhändlern in Konstanz haben wir
Zeugnisse. Freilich ist es mir bisher nicht gelungen, die Familie oder
das Wappen in Asti oder den Familiennamen als Ortsnamen in der
Gegend von Asti oder überhaupt nachzuweisen.
Dafs noch Lütfried oder sonst einer der Muntprats seiner Zeit die
Geschäfte des Pfandleihers betrieb, ist nicht bekannt, auch sehr un-
wahrscheinlich, aber es ist doch wohl ein solches Wucherergeschlecht,
das sich entnationalisierte und vom Geld- zum Warcnhandel überging,
ursprünglich gewesen. Die vornehmsten Geschlechter von Asti und
Chieri hatten das Gewerbe getrieben, die Ahnherren des Dichters
Grafen Alfieri wie die der Herzöge von Broglie. Auch die Muntprats
gingen den Weg, den die reich gewordenen Kaufmannsfamilien nicht
allein des Mittelalters einschlugen. Schon im XV. Jahrhundert entstand
eine ganze Reihe von Linien des Landadels, in Konstanz selbst blieben
nur Glieder der ärmeren Zweige zurück. Im Jahre 1653 starb der
letzte seines Stammes.
Wie stand es mit dem Vermögen der reichen han-
sischen Kaufherren?
— 211 —
Zur landesgesehiehtliehen Forsehung in
Sehlesinrig ^ Holstein
Von
R. Hansen (Oldesloe)
In der Provinz Schleswig -Holstein herrschte in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ein recht bedeutendes Interesse für die landes-
geschichtliche Forschung; der Gegensatz der beiden Nationen, der
nach den Wirren der napoleonischen 2^it wieder auflebte und durch
die Politik der dänischen Könige, die das Aussterben der männlichen
Linie mit Besorgnis drohen sah, noch gesteigert wurde, veranlagte
eine allgemeinere Beschäftigung mit der älteren Geschichte des Landes,
Mehrere Zeitschriften, um deren Leitung sich vor allem die Professoren
Falck, Dahlmann, Michelsen verdient machten, erschienen fast gleich-
zeitig nebeneinander, alle mit wertvollem Inhalte: Kieler Blätter
(1815 — 1819), Sammlungen zur Kunde des Vaterlandes {iSig — 1825),
Kieler Betträge (1820 — 1821), Staatsbürgerliches Magazin (1821 bis
1841), Archiv für Staats- und Kirchengeschichte (1833 ff.), daneben
die 1787 gegründeten und von verschiedenen Herausgebern und unter
etwas wechselndem Titel bis 1834 veröffentlichten Pravinzialberichte.
Als die politischen Kämpfe endlich mit der Trennung der Herzog-
tümer von Dänemark und der Verbindung mit Preufeen ihr Ende fan-
den, nahm das Interesse für Landesgeschichte entschieden etwas ab.
Es lag das teils daran, dafs viele Landeskinder nicht mehr wie früher
im Lande blieben, sondern in den anderen Teilen des gröfseren Vater-
landes angestellt wurden, teils daran, dafs viele Leute der gebildeten
Stände, d. h. besonders der Beamten, nicht mehr der Provinz der
Geburt nach angehörten und der Geschichte des Landes nicht das-
selbe Interesse zuwandten wie die Eingebomen.
In neuester Zeit ist die Thätigkeit auf dem Gebiete der Landes-
kunde aber viel regsamer geworden, und darüber will ich hier kurz
berichten.
Als Fortsetzung des alten Archivs für Staats- und Kirchen-
geschickte ist die Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Hol-
stein- Lauenburgische Geschichte anzusehen, die seit 1870 unter
diesem Titel in 29 Jahrg^gen erschienen ist und zahlreiche wertvolle
Beiträge enthält. Die Gesellschaft hat aufser der Zeitschrift auch eine
neue Ausgabe der Urkunden vorgenommen; davon sind drei Bände
— 212 —
(786 — 1250, 125 1 — 1300, I30I — 1340)» bearbeitet von Dr. P. Hasse,
1886, 18S8 und 1896 fertig geworden. Nachdem Hasse nach Lübeck
gegangen war» begann die Arbeit zu stocken; der dafür gewonnene
Prof. Schum in Kiel starb leider zu früh; seit 1898 hat aber Professor
Volquardsen, der aus Göttingen nach Kiel zurückgekehrt ist, die Fort»
führung übernommen, und es ist hoffentlich in nicht zu langer Frist
ein weiteres Heft der Sammlung zu erwarten. — Leider ist die Zahl der
Mitglieder der Gesellschaft verhältnismäßig klein, und auch die von
der Provmz ihr zugewandten Mittel sind nicht allzu reichlich bemessen*
Verhältnismäßig sehr rührig sind die dänisch Gesinnten Nord-
schleswigs in der landeskundlichen Forschung. Seit 1889 sind von
ihnen fünf Bände der Sönderjydske Aarböger herausgegeben, die
zwar den Zweck im Auge haben, die dänisch redende Bevölkerui^
Nordschleswigs bei ihrer Anhänglichkeit an das „alte Vaterland*'-
Dänemark zu erhalten, aber doch eine Reihe von tüchtigen wissen*
schaftlichen Abhandlungen über frühere Verhältnisse Schleswigs und
von interessanten Mitteilungen enthalten. Viele wissenschaftlich sehr wert-
volle Artikel finden sich auch in den historischen Zeitschriften Dänemarks^
Aufser jener dänisch geschriebenen Zeitschrift sind im letzten
Jahrzehnte noch zwei andere landeskundliche gegründet. Seit 1891
erscheint die Monatsschrift des Vereins zur Pflege der Natur- und
Landeskunde in Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck tmter dem
Titel Die Heimai, bis jetzt 10 Jahj^änge von etwa je 240 Seiten.
Die Heimat wird von Volksschullehrem redigiert und findet ihre
Mftarbeiter und Leser besonders in demselben Kreise. Die Arbeiten
betreffen aufser der Naturkunde vor allem die Geschichte; sie sind
meist populär gehalten, tragen aber zur Förderung des Interesses ohne
Frage viel bei und werden manche Leser zu eingehenderen Forschungen
anregen.
Der neueste Verein fiir landeskundliche Forschung ist der für
schleswig-holsteinische Kirchengeschichte. Findet sich auch in man-
chen Bänden der historischen Zeitschrift eine Reihe von Arbeiten auf
dem Gebiete der Kirchengeschichte, so zeigt doch die Zahl der Mit-
glieder, die seit der Gründung (1897) dem Vereine beigetreten sind
(im Februar 1900 waren es 389), dafe das Bedürfuis vorlag. Dies war
zum Teil auch dadurch geschaffen, dafs die Geistlichen der Provinz
fiir ihre Gememden Kirchspielschroniken abfassen sollen, also zu histo-
rischen Studien genötigt werden.
Der Verein giebt zwei Reihen von Schriften heraus. Von der
zweiten Reihe, die Kleine Schriften umfafst, liegen vier Hefte vor.
— 213 —
die Mitteilungeii über die verschiedensten Jahrhunderte enthalten. Von
längeren Au&ätzen nenne ich: C. Rolfe: Zur dithmarsischen Refor-
mationsgeschichte ; Ad. Matthaei: Zum Studium der miitelalterlichen
Schnitzaliäre; Chr. Harms : Clat^ Harms' akademische Vorlesungen
über den Kirchen* und Schulstaat der Herzogtümer; Weiland und
Michelsen : Geistlichkeit und Landeskirche in den Jahren der Er--
kehung 1848 — 18^0; E. Jacobs : A. H. Wallbaum und die pietistische
Bewegung in Schlestoig'Holstein.
Von der ersten Reihe, den gröfseren Schriften, ist bis jetzt niur
ein Heft erschienen, das aber für alle, die sich mit dem Studium der
Geschichte der Heizc^ümer befassen wollen, von hervorragender
Wichtigkeit ist : F. Witt, Quellen und Bearbeitungen der Schleswig--
holsteinischen Kirchengeschichte, 255 Seiten, Kiel 1899. — Wie
grofs auch der Wert der zahlreichen in Zeitschriften veröffentlichten
Auüsätze sein mag, sie werden oft nicht beachtet, weil sie nicht immer
von späteren Bearbeitern des gleichen Stoffes sofort zu ermitteln sind;
daher hat die Gesellschaft für die Geschichte Schleswig-Holsteins für alle
Zeitschriften von 1787 — 1870 ein 1874 erschienenes Register durch
Eduard Alberti ausarbeiten lassen, und für die Jahrgänge I — XX der
neuen Zeitschrift (1871 — 1890) ist kürzlich ebenfalls ein Register er-
schienen, bearbeitet von Karl Friese. Ein Verzeichnis der sonstigen
Publikationen, eine Quellenkunde, fehlte; in diese Lücke tritt Witts
Arbeit. Witt beschränkt sich nicht auf das rein kirchengeschichtliche
Gebiet, sondern giebt auch die Hilfsmittel ftir politische und Kultur-
geschichte fast vollständig. Die Rubriken sind : I. Hilfsmittel ; II. Zeit-
schriften ; in. Gesammelte Abhandlungen ; IV. Quellen- und Urkunden-
sammlungen; V. Sammlungen von Gesetzen und Verordnungen;
VI. Politische Geschichte; VII. Geschichte und Beschreibung i) ein-
zelner Distrikte, 2) einzelner Kirchspiele und Ortschaften; VIII. Dar-
stellungen der Kirchengeschichte Schleswig - Holsteins , zusammen
103 Seiten umfassend; dann IX. (von S. 103 — 227) Quellen und Be-
arbeitungen der Kirchengeschichte nach der Reihenfolge der Er-
eignisse.
Von einem solchen Quellenbuch kann nicht erwartet werden, dads es
jeden Artikel in Zeitschriften namhaft macht; das Albertische R^ister
wird also nicht überflüssig. Witt hat aber eine grolse Zahl mit Recht
aufgenommen, so dafs derjenige, welcher sich mit einem Zweig der
Landesgeschichte erst bekannt machen will, Auskunft in Hülle und
Fülle erhält. Eine besondere Schwierigkeit liegt in der Heranziehung
der dänischen Litteratur, die ftir Schleswig, aber auch ftir Holstein
— 214 —
nicht vernachlässigt werden darf. Soweit ich sehe, hat Witt hier Aus-
reichendes gegeben; etwaige Ergänzungen bieten die auch von ihm
aufgezählten dänischen Repertorien. Schwieriger ist die Verwertung
des handschriftlichen Materials. Witt giebt einige besonders wichtige
aus den Kopenhagener Bibliotheken. Die Schleswig-Holstein betreffen-
den Handschriften der Kieler Universitätsbibliothek sind von H. Ratjen
in drei Bänden 1858 — 1866 verzeichnet, sie hat Witt nicht mit be-
rücksichtigt. Manches liegt in den Propstei- und anderen Archiven,
Wertvolles und Wertloses; dessen Siehtung steht noch aus. Wenn
man daher auch einzelnes vielleicht vermissen wird (z. B. v. Seelen,
Athenae Lublicenses), so darf doch Witt als ein vorzügliches Hilfsmittel
zum Studium nicht nur der schleswig-holsteinischen Kirchengeschichte,
sondern auch der politischen Geschichte allen Forschern empfohlen
werden.
Der Verein beabsichtigt, auch ein Verzeichnis aller in den Ar-
chiven liegenden Aktenstücke von geschichtlichem Werte zusammen-
zustellen; dadurch wird er sich ein neues Verdienst um die Landes-
geschichte erwerben.
Mitteilungen
Historische Museen deutscher StKdte. — Auf die Wichtigkeit der
Altertümersammlungen für die Geschichtsforschung, die leider vielfach noch
nicht genügend erkannt zu sein scheint — es fehlt vor allem daran, dafs die
von den Museumsleitern an der Hand ihrer Schätze gewonnenen geschicht-
lichen Thatsachen in Worte gefafst und damit allgemein zugänglich gemacht
werden — , haben wir schon wiederholt für kleinere Städte hingewiesen (vgl.
S. 87 und 176). Um zu zeigen, wie es mit den bekanntesten städtischen
Museen gegenwärtig steht, und um an anderen Orten einerseits zur Nach-
eiferung anzuspornen andrerseits aber auch um auf Mängel aufmerksam zu
machen, die sich leicht vermeiden lassen, mögen hier einige Mitteilungen
über die Historischen Museen einiger Grofsstädte folgen:
Frankfiirt a. M. Im Juni 1878 wurde das städtische historische
Museum in Frankfurt a. M. in dem nach Plänen des Dombaumeisters Den-
zinger errichteten Neubaue des Archivgebäudes auf dem Weckmarkt unter
Leitung des städtischen Konservators Direktor O. Coraill eröffnet und damit
der Bestand an städtischen Kunst- und Altertumsgegenständen, welche bis
dahin in verschiedenen Lokalen verstreut waren, zu einer besonderen Sanmi-
lung vereinigt. Durch das eifrige Wirken der städtischen „Kommission für
Kunst- und Altertumsgegenstände" und des „Vereins für das historische
Museum", sowie durch häufige Geschenke und Vermächtnisse seitens der
Bürgerschafl vergröfserte sich die Sammlung im Laufe des darauf folgenden
Dezenniums derartig, dafs das Erdgeschofs des Archivgebäudes nicht mehr
— 215 —
ausreichte; im Jahre 1893 wurde das westlich daran stofsende Leinwandhaus,
ein prächtiger Profanbau der Spätgotik, damit verbunden, nachdem dieses
wiederhergestellt und zu Museumszwecken ausgebaut worden war. Seitdem
ist das Wachstum der Sammlung in so erfreulicher Weise fortgeschritten, dafs
nunmehr auch diese stattlichen Räume überfüllt sind, und zur dringend not-
wendigen Erweiterung soeben der westliche Hof des Leinwandhauses mit einer
Halle, die unmittelbar an dessen Unterstock anschliefst, überbaut wird. Die
Summe, welche jetzt jährlich für Ankäufe und Ausgrabungen dem Museum
durch regelmässige Beiträge der Stadt und des oben genannten Vereins,
femer durch gelegentliche private Zuwendungen zu Gebote steht, erreicht
durchschnittlich einen Höchstbetrag von insgesamt 20000 Mark.
Das Museum bewahrt nicht blofs Gegenstände, welche aus Frankfurt
und dessen Umgebung stammen, sondern auch im allgemeinen reiches, aus-
erlesenes Material aus den Gebieten der Kulturgeschichte, des Kimstgewerbes
und der bildenden Künste. Der Bestand an Archivalien ist indessen nur
gering, da bekanntlich die reichen Schätze an Urkunden dem Stadtarchive
angehören; von diesem wurden depositarisch nur die berühmte Frankfurter
Ausfertigung der „ Goldenen Bulle " und eine Reihe von Handwerker-Büchern,
meist aus dem XVHI. Jahrhundert überlassen.
Aus der Zeit der Reichsstadt imd der freien Stadt findet sich eine reiche
Auswahl von Waffen und Uniformen, zum Teil in plastischen Figuren. Die
in der Rüstkammer aufgestellte Fellnersche Satnmlung besitzt wertvolle
Rüstungen des XV. bis XVII. Jahrhunderts, Jagdwaffen und Dekorationswaffen.
Bürgerliche Trachten aus dem XVIII. und dem Anfange des XIX. Jahrhunderts,
Amtstrachten und Würdezeichen, Kinderspielsachen aus dem XVIII. Jahrhun-
dert, Volkstrachten der benachbarten Gebirgsbewohner, eine Bauernstube aus
Oberhessen bilden eine besondere , sehr anziehende Abteilung. Die Völker-
kunde ist durch die Erzeugnisse von Natur- und Kulturvölkern bestens ver-
treten : von ersteren namentlich Australien und die Südsee-Inseln, von letzteren
Alt-Amerika, China und Japan. Die Abteilung der ältesten Völker enthält
Werke der äg)T)tischen Kleinkunst und Mumiensarkophage, Thongefäfse und
Bronzegegenstände der griechisch-italischen Epoche, und zahlreiche Funde aus
der europäischen Stein-, Bronze-, Eisenzeit, zum Teil solche aus Frankfurts
Umgebung. Von hervorragendem archäologischen Interesse ist die Sammlung
«der Römerfunde, welcher das benachbarte Hauptfundgebiet bei Heddemheim
und Praimheim fortwährend wertvolle Ergänzungen liefert. Besonders seien
hier envähnt die fast 5| m hohe Gigantensäule aus Heddernheim und das
grofsc Mithrasrelief mit den beiden Altären. Die frühgermanischen Grab-
funde stammen ebenfalls aus Frankfurt selbst oder dessen Umgebung, des-
gleichen eine Reihe von Thongefäfsen des X. bis XVI. Jahrhunderts. Eine
lokalgeschichtliche Bedeutung haben die Gegenstände aus den ehemaligen
Frankfurter Innungen, die zumeist vortreffliche künstlerische Ausführung
zeigen; beachtenswert ist das grofse Herbergsschild der Metzger -Innung in
meisterhafter Schmiedearbeit und deren reichbemalte eiserne Lade, und die
Erinnerungen von den Kaiserkrönungen, darunter der Krönungsbaldachin mit
aufgestickten grofsen Reichsadlern. Ein Teil der kirchlichen Gerätschaften
ist zur Einrichtung einer Kapelle benutzt, welche sich in dem mit einem
Kreuzgewölbe überdeckten Räume im Erdgeschosse des I^inwandhauses be-
— 216 —
findet und mit rortrefnichen Glasgemälden des XIII. Jahrhunderts ans dem
Dom ausgestattet ist Beachtenswert ist auch eine Sammhing von israeliti*
sehen Ritualgegenständen des XVII. bis XIX. Jahrhunderts.
Die zahhreichen wertvollen Gemälde des XV. bis XVn. Jahrhunderts aus
Frankfurter Kirchen und Klöstern, femer diejenigen des XVIII. und XIX. Jahr-
hunderts sind in zwei Gemäldesälen imtergebracht , in deren einzelnen Ab-
teilungen gleichzeitiges Mobiliar aufgestellt ist Neben einem aus elf Tafeln
bestehenden Altarwerke von Hans Holbein dem Älteren finden wir die Portraits
Luthers und Melanchthons von Lukas Cranach dem Älteren, eine Taufe
Christi von Hans Baidung Grün, zwei grau in grau gemalte Altarfiügel von
Matthias Grünewald, und als Hauptstücke die beiden Flügel und die Kopie
des durch Brand zugrunde gegangenen Mittelbildes aus dem berühmten Altar-
werke, welches Albrecht Dürer für den Frankfiirter Ratsherrn Jakob Hetter
gemalt hatte. Unter den Gemälden des i8. Jahrhunderts ist Chr. Gg. Schütr,
Joh. Conrad Seekatz und Joh. Ludwig Ernst Morgenstern gut vertreten. Die
Sammlung von Frankofurtensienblättem ist jetzt auf ca. 20000 Stück ange-
wachsen, darunter die kostbare Reiffensteinsche Aquarellsammlung, die Ger-
ningsche Sammlung, die Krönungsdiarien etc. Hierher gehört auch eine
grofse Anzahl von Siegeln, Münzen, MedaiUen, Portraits und Freimaurer-
gegenständen.
Es würde hier zu weit führen, die Fülle von kunstgewerblichen Erzeug-
nissen, welche das Museum besitzt, eingehender zu behandeln ; wir erwähnen
daher nur folgende Gruppen : Möbel ; grofse Schränke, teilweise mit Schnitzerei
und Elfenbeinanlagen, Tische, Stühle, holländische Lackmöbel, Prunkmöbel;
musikalische Instrumente; Gläser; Porzellan, Majoliken, Fayencen, Steinzeug;
Buchbeschläge und Einbände; Kassetten; Silbersachen; Arbeiten in Zinn
und Kupfer; moderne Medaillen; Schlosserarbeiten; kleinere Gebrauchs-
gegenstände etc.
Einen wesentlichen Bestandteil des Museums bilden zahlreiche einzelne
Gebäudeteile aus Stein, Holz und Schmiedeeisen, welche als Überreste von
Frankfurter Baudenkmälern demselben überwiesen wurden. Umfangreichere
Stücke davon, sowie Statuen und römische Steinsärge sind in dem Musetmis-
hofe zur Aufstelltmg gelangt
Der Aufschwung, welchen das Museum in den letzten Jahren nahm^
hat demselben eine beträchtliche Besucherzahl zugeführt, zugleich aber den
Mangel eines gedruckten Führers fühlbar gemacht. Die rasche Ausdehnung
der Sammlung in beschränkten Räumlichkeiten, wobei die Stücke einer Gruppe
oft in verschiedenen Sälen untergebracht werden mufsten und eine einheitliche
Aufstellung unmöglich war, boten der Abfassung eines Führers nicht zu
unterschätzende Schwierigkeiten. Mit freudiger Anerkennung mufs es daher
von Seiten aller beteiligten Kreise begrüfst werden, dafis Herr Dr. F. QuiDing,
der wissenschaftliche Assistent des Museums, sich der mühevollen Herausgabe
eines solchen unterzogen und eine vortreffliche Lösung dieser schwierigen
Aufgabe dadurch gefunden hat, dafs er keine katalogartige Aufisählung
der Gegenstände bietet, sondern dem Besucher die betrefienden Kunst-
und Kulturgebiete in übersichtlicher Weise erläutert und dabei die aus*
gestellten Stücke als praktische Beispiele heranzieht Durch diese Dar-
stellungsform bleibt auch der Führer aufserhalb des Museums kein toter Be-
— 817 —
sitz, da er eine aarqjeade, erfolgreiche Lektüre vor wie nach der Besichttgiing
ermöglicht Bb jetzt HßgL die Besprediung der Abteilung für Völkerkunde,
▼ei6dst Ton dem Herausgeber, vor; die demnächst erscheinenden Bearbeitungen
der folgenden Gruppen hat eine gr^sere Anzahl bewährter Fachgdehrter
tibemommen.
Auiser dieser grölseren Veröffentlichung ist vor kurzem ein kleiner Führer,
^er&ist von Dr. Quilhng, erschienen, welcher in knapper Form über die
wesentlichsten Bestände orientiert ; er führt in den einzelnen, sehr übersichtlich
l)ehandelten Gruppen nur die hervorragendsten Stücke an imd gidH
dabei in klar geschriebenen Anmerkungen eine geschickte Erklänmg aller
Toricommenden technischen Bezeichnungen. Auch die Lösung dieser von
<kn neuzeidichen Betrebungen auf dem Gebiete der allgemeinen Volksbildung
geforderten Au%abe darf als w(^ilgelungen bezdchnet werden ; das wohlfeile
Heftchen ist recht geeignet, in allen Schichten der Bevölkerung ein lebendiges,
segensreiches Verständnis für das städtische historische Museum selbst und
für die Vergangenheit in Kunst und Kultur zu erwecken und geht den
übrigen Sammlungen Frankfurts als nachahmenswertes Beispiel voran.
XUm. Im Sommer 1888 wurde in Köln angeregt, fUr die in den
städtischen Samminngen und bei Privaten zerstreuten historischen Eriimerungen
eine gemeinsame Stätte zu schaffen. In ihrer Sitzung vom 13. Juli beschlofs
daraufhin die Stadtverordnetenversammlung, in der Hahnenthorburg ein histo-
risches Museum für Köln und seine Umgebung zu errichten imd zu dem
Zwecke die auf die Geschichte von Köln bezüglichen Gegenstände aus dem
Musetun Wallraf-Richartz, dem Kimstgewerbe-Museum, dem Archiv und der
Bibliothek nach Auswahl dorthin zu überweisen. Die Eröffnung des Museiuns
koimte bereits am 4. August erfolgen; es ist seitdem, seit 1891 der Leitung des
städtischen Archivdirektors unterstellt, in der erfreulichsten Entwicklung begriffen.
Das Museum pflegt in erster Linie die stadtkölnische, weiterhin aber
auch die erzbischöfliche Geschichte. Nur die Sammlung der rheinischen
Pläne imd Ansichten greift über diesen Rahmen hinaus (vgl unten). Gegen-
liber den beiden groisen städtischen Museen, dem Museum Wallraf-Richartz
und dem Kunstgewerbe-Museum, ist die Abgrenztmg in der Weise durch»
geführt, dals diejenigen Gegenstände kölnischer Provenienz, welche ein be-
sonderes künstlerisches oder kimstgewerbliches Interesse besitzen, in diesen
beiden Sammhingen, nicht im liistorischen Museum, aufbewahrt werden.
Das Jahresbudget beträgt 7023 M., davon 2000 M. fUr die regelmäfsigen
Anschaffungen, doch sind die auiserordendichen Aufwendungen wesentUdi
gröfser (1897 z. B. 30000 M.).
Der rdche Besbz des Museums an Kunstblättern, lUustnUionen und
Drucksachen enthält Stad4)läse und Ansichten von Köb, darunter einen
interessanten Hdzschnitt von Hans Weigel (ca. 1580) und einen grofsen
Kupferstich von Wenzel HoUar (1656), sowie NachbilduBgen des Prospektes
von Anton Woensam von Worms (153 1) und der Pläne des Arnold Mer-
cator (157 1) und des Cornelius von Egmont (164a), ferner Pläne und An-
sichten einzc^er Stadtteile und Gebäude (u. a. die Entwürfe für den 1556
zum Wettbewerb ausgeschriebenen Rathausneubau}, eine Sammlung rheinischer
Pläne und Ansichten von ca. 1000 Nummern, (die nach der Absicht ihres ur-
— 218 —
sprüDglichen Besitzers J. J. Merlo die gesamten Rheinlande umfassen sollte
und in diesem Sinne auch fortgeführt wird), weiterhin etwa 2000 Portraits
aller hervorragenden Persönlichkeiten der Kölner Geschichte, darunter auch
eine Anzahl Ölgemälde (Bildnis des Johann Brinckmann von Barthel Bruyn
und des Goswin Calenius von Augustin Braun). Unter den historischen
und kulturhistorischen, legendarischen und satirischen Darstellungen sind sechs
Zeichntmgen desselben Augustin Braun, die denkwürdige Momente der Kölner
Geschichte schildern, hervorzuheben, sowie eine interessante Sanmüung von
Erzeugnissen des Kölner Karnevals und zahlreiche Dombauerinnerungen.
Einer sehr wertvollen und reichhaltigen Sammlung kölnischer Münzen
(erzbischöflicher und städtischer) erfreut sich das Museum, seit zu einem
älteren Bestand 1897 die stattliche Sammlung von Karl Farina hinzuge-
kommen ist. Unter den Medaillen nennen wir die auf Andreas Imhoflf (1536),
Matthias Vorsbach (1542), Andreas Gail (1582), Maria von Medici (von
George Dupr^, 1624) und Eberhard Jabach (1665). Aufser den städtischen
Münzstempeln des XV. bis XVIII. Jahrhunderts bewahrt das Museum auch die
der erzbischöflichen Münzstätte Riehl, die vermudich nach Zerstönmg dieser
Burg am Ende des XIV. Jahrhunderts nach Köln überführt worden smd,
femer die Siegelstempel der Stadt und die zahlreicher Kölner Behörden,
Kirchen und Korporationen (u. a. das lun 1270 verfertigte grofse Stadtsiegel,
das Universitätssiegel von ca. 1390, das Silbersiegel der Zunft Eisenmarkt
aus dem XIV. Jahrhundert), sowie die aufser Gebrauch gesetzten städtischen
Normalmafse und -Gewichte.
Aus der u. a. zehn Rüstungen (XVI. Jahrhimdert und ff.) enthaltenden
Waffensammlung sind eine Sturmhaube mit Halsberge und Brünne in edler
geätzter Renaissance - Omamentation und zwei Fasanenflinten mit reich in
Elfenbein eingelegtem Schaft (XVII. Jahrhundert), unter den Stücken speziell
kölnischer Herkunft drei mächtige Zweihänder (XVI. Jahrhundert) imd fünf
Sturmhauben der Kölner Fafsbinderztmft hervorzuheben. Seltene Prachtstücke
sind die vier Stadtbanner von ca. 1400 bezw. 1500; aus dieser Zeit sind
nach einige Standarten und eine Spottfahne vorhanden.
Zum interessantesten Besitz des Museums gehören eine Anzahl Gegen-
stände aus dem Nachlafs des 1398 enthaupteten Kölner Bankiers imd Siegel-
bewahrers Hermann von Goch (zwei silberne Siegel an silberner Kette, ein
Prüfstein für Goldmünzen in Lederfutteral u. s. w.), drei kölnische Richt-
schwerter, deren ältestes, mit dem emaillierten Stadtwappen im Knauf, aus
dem XIV. Jahrhimdert stammt, und zwei Geld- und Aktentruhen der Sams-
tagsrentkammer aus dem XV. Jahrhundert.
Als Deposita beherbergt das Museum die vom Kölner Männergesang-
verein errungenen Preise, tmter denen sich gegenwärtig der Kasseler Kaiser-
preis von 1899 befindet, femer das Schützensilber der Kölner Schützen-
gesellschaft imd die Schützenschilder der St Sebastiansgilde zu Deutz.
Da der Raum der Hahnenthorburg für die Sammlungen nicht mehr
ausreicht, wird demnächst auch die Eigelsteinthorburg für die Zwecke des
Historischen Museums eingerichtet werden.
Leipsdg. Die Sammlungen, welche das „Städtische Museum" zu Leipdg
beherbergt, sind nicht geschichtlicher Art, sondern es sind Kunstgegenstände,
— 219 —
namendich Gemälde, die in dem stjUdichen Bane am Aiig!istiiq>latz unter-
gebracht sind. Es ist die Sammhmg, welche in ihren Anfiingen vom Leipziger
Kunstverein 1837 ins Leben geiufen wurde und welche, seit 1848 in den
Besitz der Stadt übergegangen, sich seitdem immer weiter entwidcelt hat
Das städtische Kunstgewerbemuseum, welches ebenso wie das Museum für
Völkerkunde im Grassimuseum würdig unteigd>racht ist, enthält schon viel
mehr im engeren Sinne geschichtliche Gegenstände, aber die Sorge für ein
geschichtliches Museum hat man in der praktischen Mefsstadt dem
„Vereine für die Geschichte Leipzigs'* überiassen, dessen Sammlungen im
alten Johannishospital (Johannisplatz 8) im zweiten Stock untergebracht sind.
Der Verein besteht seit 1867; die Sammlung aller für die Geschichte
Leipzigs und seiner Umgebung wichtigen Gegenstände ist von Anfsmg an
seine Hauptaufgabe gewesen, aber die beschränkten Vereinsmittel — gegen-
wärtig sind etwa 400 Mit^eder mit einem Jahresbeitrag von 5 Mk. vor-
handen — haben natürlich Ankäufe nur in beschränktem Maise gestattet
so dafs die Sammlungen im wesendichen durch Geschenke vermehrt und die
mühsamen Ordnungs- und Aufstellungsarbeiten von freiwilligen Pflegern besorgt
worden sind. Die Museumsräume, die an Umfang längst nicht mehr genügen,
so dafs eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Stücken noch nicht hat aufgestellt
werden können, sind Eigentum der Stadt und vom Vereine für 900 Mk.
gemietet Die Stadt vergütet jedoch denselben Betrag aus Stiftungsmitteln,
so dafs in der That die Aufbewahrungsräume dem Vereine unen^eltlich zur
Verfügung stehen. Aufserdem sind dem Vereine in einzelnen Fällen zum
Ankaufe besonders wichtiger Stücke, zur Anbringung von Gedenktafeln, Er-
richttmg eines Kriegerdenkmals, Aufstellung von Skulpturen, auch zur Reno-
vation der Sammlungsräume u. s. w. mehrmals Unterstützungen seitens der
Stadt zu teU geworden.
Die Sammlung, mit der eine statdiche Vereinsbibliothek nebst Repertorium
über die Sammelbände, sowie ein Archiv verbunden ist, in welchem die
scheinbar imwichtigsten geschriebenen imd gedruckten Eintagsfliegen sorgsam ver-
wahrt werden, zeigt in höherem Maise als es in der Regel der Fall sein mag, ge-
schichtlichen Charakter. In wesentlich zeitlicher Folge vom Boden Leipzigs an-
fangend — Proben jeder einzelnen Erdschicht nebst kartographischer Erläuterung
liegen vor — über vorgeschichtliche Funde, Steingeräte, Urnen, Pleifsenpfahlbau-
reste führt die Sammlung zu romanischen Bauwerken Sachsens, die im Bilde vor-
geführt sind. Die sächsischen Regententafeln ziehen sich dann der Zeit,
welcher die Ausstellungsstücke angehören, entsprechend bis in die neuste
2^t durch die Gegenstände hindurch. Eine aus Gegenständen, die zum Teil
Leipziger Kirchen entstammen, gebüdete spät mittelalterliche Kapelle schliefst
die ältere Zeit ab. Der rechte Reichtum setzt aber erst mit dem XVL Jahr-
hundert ein, wo sich ja überhaupt die Stadt erst so recht wirtschafllich zu
entwickeln beginnt: kirchliche und weltliche Geräte, kunstvolle Erzeugnisse
des Handwerks, Möbel, Uhren, Waffen, Kleidungsstücke, Stadtpläne und Ab-
bildungen, gedruckte Ratsverordnungen und Fahnen führen zum XVIII. Jahr-
hundert hin, wo dem geistigen Leben in Theater und Litteratur verschiedene
Gruppen, die sich an einzelne Personen anlehnen, gewidmet sind. Eine
plansche NachbUdimg der Stadt aus der Vogelperspektive, die Leipzig im
Jahre 181 7 darstellt, gehört in der folgenden Gruppe zu den besonderen
— 220 —
Sehenswürdigkeiten. Die Erinnerungen aus den Tagen der Völkerschlacht
in ganz aufserordentlicher Mannigüüti^eit schliefsen aber bereits im Wesent-
lichen die Ausstellung ab, da weiterer Raum nicht zur Verfi^fang steht, um
alles das unterzubringen, was den Verlauf des XIX. Jahrhunderts geschichtlich
zu illustrieren vermag.
Die Wichtigkeit der Sammlung ist weithin bekannt, tmd es ergehen
wie bei anderen Museen eine Menge Anfragen an den Vereinsvorstand, die
um Auskünfte über dies oder jenes Ereignis oder Ausstellungsstück bitten.
Unter den Fragenden sind Behörden aUer Art, Ministerien, Militärbehörden,
Stadträte vertreten, aber auch Korporationen und Private von nah und fem
fehlen nicht Gelehrte und Künstler betreiben hier ihre Studien, und speziell
der Buchhandel eriimert sich der Sammlung gern, wenn er geeignete Ab-
bildungen als Vorlagen zu illustrierten Werken aller Art sucht Als Unter-
richtsmittel in der heimadichen Geschichte spielt das Museum bereits jetzt
«ine gewisse Rolle, indem gern ganze Klassen durch die Ausstellung geftthrt
werden. Kurz es fehlt gerade in Leipzig am wenigsten an dem, woran
andere Museen vielfach leiden, an Besuchern und Benutzem; nur das eine
ist dabei auffällig, dafs sowohl einheimische Bürger als auch die einheimischen
Behörden dem Museum recht geringes Interesse entg^enbringen. Die be-
schränkten Mittel imd die nicht immer zur Verfügung stehende Zeit machen
es natüriich oft nicht möglich, die Fragen, die der eine oder der andere
gern beantwortet haben möchte, so gründlich zu untersuchen wie es an sich
wünschenswert wäre. Denn dafür wäre nicht nur eine gute Ordnung tmd
Aufstellung der Sammlung sowie ein wissenschaftlich bearbeiteter Katalog
unerläfslich, sondern auch die Thätigkeit eines geschulten Musealbeamten
unbedingt nötig. Ein solcher ist nie darin beschäftigt gewesen, auch im
besoldeten Nebenamte hat sich niemand bisher dem Museum widmen können,
die Sammlung ist vielmehr, wie sie durch Vereinsthätigkeit entstanden ist,
auch nur durch freiwillige Arbeit verschiedener Pfleger geordnet und auf
ihren gegenwärtigen Stand gebracht worden. Im Hinblick auf diese Verhält-
nisse bietet das Museum einen über Erwarten grofsen Reichtum, aber gerade
in neuster Zeit madit es sich recht fühlbar, dafs auf die Dauer der jetzige
Zustand nicht fortbestehen kann imd darf. Es ist höchste Zeit, dafs an die
Ausarbeitung eines Katalogs gegangen wird, aber bei der jetzigen gedrängten
Art der AufsteUung ist eine solche Arbeit fast immö^ch, ganz abgesehen
davon, dafis niemand da ist, der sie ausftihren könnte. Zudem sind die
Räume, in welchen der Verein sein Eigentum aufbewahrt, nichts weniger
als feuersicher, eine Benutzung der Räume im Winter ist deshalb völlig aus-
geschlossen, da auch in keinem der kleineren Arbeitszimmer geheizt werden
darf, denn bei Ausbrach eines an sich vielleicht imbedeutendeu Brandes
würde im Laufe einer Stunde vom ganzen Museum wohl nichts mehr übrig
sein! Der Verein seinerseits hat natüiüch nicht die Mittel, um fttr bessere
Unterkunft zu sorgen, und so wird alles bleiben, wie es ist, wenn sidi nicht
die Stacb auf ihre Ehrenpflicht besinnt und dauernd und nachhaltig für das
städtisdie Geschichtsmuseum sorgt Am besten würde dies geschehen können,
wenn nach Vollendung des neuen Rathauses in dem statdichen Baue des
aken Radiauses am Markte würdige und auch für die Zukunft bemessene
Räume zur Verfügung gestellt würden. Damit wäre allerdings noch nicht
genug geschehen, denn eine Vereinsorganisation kann bei einer so reich-
haltigen Sammlung, die sich mit Leichtigkeit vergrölsem lälst, wenn sie
ofl&zieQen Charakter ammnmt, eben so wenig dauernd genügen wie sie bei
Begiündui^ einer Sammlung oder in kleinen Verhfiltnissai ab hervorragend
zweckentsprechend zu bezeichnen ist Wenn die Stadt Leipzig das Museum
(^ die Geschichte Leipzigs Tom Vereine als Geschenk annähme und f&r
würdige Unterinmfisräume sowie för Bestellung eines geeigneten wissenschaft-
lichen Beamten soigte — nur dann scheint es möglich dem Museum die
EntwicklungsfiLhig^eit zu geben, die es mit Hinsicht auf die Bedeutung der
Stadt und ihr gdstiges und wiitschaMches Leben verdient Nur dann könnte
das Museum ein wirklicher Sammelpunkt werden f&r alle jetzt an so vielen
Orten innerhalb der Stadt zerstreuten G^enstände, die gegenwärtig dem
gröiseren Publikum unzugäng^ch sind. Im Rathaus, in der Stadtbibliodiek, im
Kunstgeweibemuseum finden sich bereits in städtischem Besitze viele Dinge
von hohem geschichtlichen Weit, der aber erst im Zusammenhang mit anderem
voll erkannt werden kann. Einem Stadtmuseum würden auch Vereine, wie
die „Deutsche Gesellschaft** oder sonstige Korporationen die in ihrem Be-
sitze befindlichen geeigneten Gegenstände willig ab Depositum gegen Revers
zur Aufbewahrung überweisen und manches vielleicht auch schenken, was
sie mit gutem Grunde einem Privat vereine vorenthalten. Zweifellos würde
das Interesse weiter Kreise damit aufs neue geweckt, die Sammlung in höherem
Malse, ab es jetzt der Fall ist, zugänglich gemadit und auch vielleicht die
OpferwilU^eit einzelner Bürger angeregt werden, so dafs binnen kurzer Zeit
nach solch einer Reorganisation das Geschichtsmuseum der Stadt
Leipzig, namentlich ftir die neuere Zeit, zu den besten in Deutschland
würde zählen dürfen. Der „Verein für die Geschichte Leipzigs** würde
unter solchen Verhältnissen seine Bedeutung nicht im geringsten verlieren,
deim erstlich könnten seine Mittel dann teilweise zur Lösung anderer nicht
minder wichtiger Aufgaben verwendet werden, teilweise aber noch immer
dem städtischen Museum zu gute kommen. Um eine Sammlung dauernd
zu vermehren und ihren Leiter auf wichtige Funde und sonstige Erschei-
nungen aufinerksam zu machen, dazu ist eine gröfsere Anzahl interessierter
Personen in allen Berufskreisen unerläfslich^ und in dieser Hinsicht kann keine
Organisation besser wirken ab ein Verein, dessen Mitglieder, jedes an seiner
Stelle, einem einzigen Ziele zustreben, nämlich dem, die Altertümer und
Denkwürdigkeiten der Heimatstadt zu bewahren und zu sanmieln.
BreilaiL Die AnftUige des Schlesischen Museums für Kunst*
gewerbe und Altertümer reichen bis ins XVI. Jahrhundert zurück.
Derselbe Thomas Rhediger, der seine Vaterstadt Breslau zur Erbin
seiner Bücher- und Handschriftenschätze, der berühmten Rhedigerana, ein-
setzte, vermachte ihr auch die auf seinen Reisen in Italien, Frankreich und
Deutschland gesammelten Kunstsachen und Münzen. Sie und die gleich-
artigen Sammlungen der Magdalenen- und Bemhardinbibliothek, des Rats-
archivs und verschiedener städtischer Körperschaften bilden den ältesten und
historisch wertvollsten Bestandteil des Museums. Em zweiter entstammt den
i8xo saecularisierten schlesischen Klöstern und Stiftern. Damab wurde in
Verbindung mit der Universität die Gründung eines Königlichen Museums
17
— ä22 —
fiir Kunst und Altertum beschlossen und zu seinem Organisator und Leiter
der Archivar Joh. Gustav Büsching berufen. Allein die finanzieUe Not-
lage des Staates und Mangel an Verständnis in den malsgebenden Kreisen
bewirkten, dafs diese Schöpfung nicht über die ersten Anfange hinausgedieh.
Nur die urgeschichtliche Sanmüung erlangte durch Büschings unermüdliche
Thätigkeit bald eine hohe Bedeutung, die er durch zahlreiche Veröffent-
lichungen und durch Dublettenaustausch mit anderen Museen noch zu steigern
wufste. Nach Büschings frühem Tode (1829) kümmerte sich niemand mehr
um die Sammlimgen, bis im Jahre 1858 durch Hermann Luchs der
Verein für das Museum schlesischer Altertümer ins Leben gerufen
wurde. Diesem Verein gelang es in vierzigjähriger Sammelthätigkeit eines der
bedeutendsten Provinzialmuseen Deutschlands zu schaffen. Die Behörden be-
teiligten sich daran anfangs nur durch Zuwendungen und Beiträge sowie durch Ge-
währung von Räumlichkeiten für die Sammlungen, die sich jedoch jedesmal
schon nach kurzer Zeit als zu klein erwiesen. Von I862 bis 1879 ^^
das Museum in der Universitätsbibliothek, von 1880 an in dem neu erbauten
Provinzial- Museum der bildenden Künste untergebracht. Erst 1895 über-
nahm die Provinz die Sorge für die Verwaltung des Museums. Bald darauf
schenkte der Stadtälteste Heinrich von Korn der Stadt Breslau ein Kapital
von 500000 Mark zum Ankauf des alten Landeshauses mit der Bedingung,
dasselbe als Museum auszubauen, die Altertumssammlungen darin au&unehmen
und zum Kunstgewerbemuseum zu erweitem. Weitere 100 000 Mark spendete
zu diesem Zweck der Schlesische Centralgewerbeverein, während die Provin-
zialverwaltimg und der Minister für Handel und Gewerbe dauernde Beihilfen
zusicherten. Unter diesen Bedingungen übernahm die Stadt Breslau die
Einrichtung imd Erhaltung des Schlesischen Museums für Kunstge-
werbe und Altertümer, wie es nunmehr genannt wurde. Zum ersten
Direktor wurde Dr. Carl Masner aus Wien, zum zweiten Direktor und Vor-
steher der Alterttunsabteilung der bisherige Kustos des Museums Dr. Seger
gewählt. Die Eröffiiung erfolgte am 27. November 1899.
Seinem Namen entsprechend ist das Museum gleichzeitig der Vergangen-
heit und der Gegenwart zugewandt Das Kellergeschofs enthält die vor-
geschichtliche Abteilung. Der Besucher hat hier Gelegenheit, den ungeheuren
Formenreichtum der schlesischen Umenfriedhöfe und die verhältnismäfsig hohe
Entwicklung des Kunstsinns der gleichzeitigen Bevölkrung kennen zu lernen.
Auch die Steinzeit und Bronzezeit sind durch Ansiedelungs- , Schatz- imd
Grabfunde gut vertreten. Aus den späteren Perioden sind die aus dem Ende
des III. Jahrhunderts v. Chr. stammenden Funde von Sackrau bei Breslau
hervorzuheben, die durch ihren Reichtum an römischen Importwaren und
barbarischem Goldschmuck im östlichen Deutschland einzig dastehen. Die
Zeit der slavischen Besiedlung ist durch Burgwall-, Hacksilber- und Reihen-
gräberfunde charakterisiert — Im Erdgeschofs sind die kulturgeschichtlichen
Sammlungen des Mittelalters tmd der neueren Zeit untergebracht Für die
Geschichte des Innungswesens, die Trachtenkunde, die Rechtsaltertümer etc.
ist hier manches schätzbare Material zu finden. Hervorragende Stücke bietet
die Waffensammlung dar. Auch ist der Volkskunde durch Einrichtung einer
hübsch ausgestatteten schlesischen Bauernstube Rechnung getragen. — Im
ersten Stock begegnen sich Kulturgeschichte und Kunstgewerbe. . Den Inhalt
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der weiträumigen Säle und Galerieen bilden durchweg Gegenstände vergangener
Jährhunderte. Doch ist hier die Beschränkung auf Schlesien nicht fest-
gehalten. Nur bei den Werken der kirchlichen Kunst überwiegt naturgemäfs
der provinzial- geschichtliche Gesichtspunkt Der vom Westen kommende
Besucher wird durch eine Fülle auserlesener Kunstwerke überrascht und ge-
winnt den Eindruck, dafs hier im fernen Osten eme Kultur geherrscht hat,
die den Vergleich mit glücklicher gelegenen Gegenden unsres Vaterlandes
nicht zu scheuen braucht — Das zweite Stockwerk dient der Bibliothek
und zu Ausstellungszwecken. — Die sehr bedeutende Münzsammlung,
vielleicht die vollständigste Territorialsammlung überhaupt, imd die Siegel-
sammlimg werden in den Arbeitsräumen des Erdgeschosses aufbewahrt —
Arcbitekturteilc und Steinskulpturen sind teils im Lichthofe, teüs im Garten
aufgestellt
Das Museum kann auf eine stattliche Reihe von Veröflfentlichungen zurück-
blicken. Seit 1859 giebt der „Verein für das Museum schlesischer
Altertümer" die Zeitschrift Schlesiens Vorzeit in Büd und Schrift heraus,
von der bis jetzt 7 Bände ausgegeben sind. In Vorbereitung ist der 8. Band,
zugleich das erste Jahrbuch des neuen Museums. Aufserdem sind eine Reihe
Sonderpublikationen erschienen, so von G remple r über Die Funde von
Sackrau, von Zimmer über Die bemalten Thongefäße Schlesiens, von Frhrn.
V. Saurma über Die Wappen der schlesischen Städte und Über Schlesische
Münzen und Medaillen, von v. Czihak über Schlesische Gläser, von Luchs
über Die schlesischen Fürstenbilder u. s. w. Ein Führer durch die Samm-
lungen ist als Ersatz für die älteren Ausgaben in Arbeit. Sämtliche Ver-
öffentlichungen sind direkt von der Museumsverwaltung zu beziehen.
Heinrich Theodor Flathe und seine Stellnng In der sächsischen
C^SChlchtSSChrelbnng. — Die sächsische Geschichtsforschimg hat durch den
Tod Flathes am 26. März dieses Jahres einen schmerzlichen Verlust erlitten;
es erscheint daher angemessen, dafs die Deutschen Geschichtsblätter, die sich
mit zur Aufgabe gemacht haben, der Territorialgeschichte besondere Berück-
sichtigung zu schenken, eine kurze Skizze seines schlichten Lebensganges imd
seiner Bedeutung für die sächsische Geschichte geben.
Als Sohn des Pastors Heinrich Jakob Flathe wurde Heinrich Theodor
Flathe am i. Juni 1827 zu Tanneberg (jetzt Alt-Tanneberg) bei Nossen ge-
boren, erhielt nach vorausgegangenem Besuch der Leipziger Thomasschule
seine Ausbildung von Ostern 1840 bis Michaelis 1845 ^^ ^^^ Fürstenschule
zu St Afra in Meifsen, studierte bis 1849 Phüologie und Geschichte auf
der Universität Leipzig, wo er auch promovierte, und erhielt 1850 seine erste
Anstellung am Gymnasium mit Realschule zu Plauen i. V. Vom Adjunkten
stieg er hier allmählich zu höheren Oberlehrerstellen empor, verwaltete zugleich
die Schulbibliothek und war im Jahre 1866 Ordinarius der zweiten Real-
klasse, als er einem Rufe des Kgl. Kultusministeriums .vom 13. Dezember 1866
Folge leistete und die sechste Professur zu St. Afra annahm. Am 9. Januar
1867 wurde er in das neue Amt eingeführt und rückte in rascher Folge
durch die nächsten Professuren hindurch bis zur Stellung des zweiten Pro-
fessors (der des Konrektors an andern Gymnasien entsprechend), die er bis
zu seinem Weggange inne hatte. Seit 1875 ^^^ er Mitglied der Realschul-
17*
— 224 —
kommission der Stadt Meifsen, deren Stadtverordnetenkollegium er als Vor-
steher auch angehörte ; von äufseren Auszeichnungen wurde ihm am 7. März 1 880
nach dreüsigjähriger Dienstzeit das Ritterkreuz I. KL des K. S. Albrechtsordens
und anläfslich sebes bevorstehenden Rücktrittes am 7. Januar 1895 der Hof-
ratstitel verliehen. Am 3. April 1895 nahm er von der Schule Abschied,
um die letzten Lebensjahre in stiller Zurückgezogenheit, aber trotz mancher
Leiden, wie Abnahme des Gehörs und des Augenlichtes, geistig regsam und
ständig weiterarbeitend, in Loschwitz bei Dresden zu verbringen. Hier ver-
schied er am 26. März 1900 imd fiand in Meifisen seine Ruhestätte.
Flathe war kein ausschliefslicher Spezialist im gewöhnlichen Sinne. Schon
seine Thätigkeit auf dem Gebiete der sächsischen Geschichte haftete, wie im
Folgenden noch ausgeführt wird, nicht an einer Periode oder an einem
Zweige dieses Stoffes; doch er gri£f auch über dieses Arbeitsfeld hinaus in
das der allgemeinen Geschichte. Sem ZeüaUer der Restauration und Revo-
lution 1815 — 1851 (Berlin 1883 in Onckens Allgem. Geschichte in Einzel-
darstellungen), sowie seine drei Bände Geschichte der neuesten Zeit (Berlin,
Grote, 1887 — 1892, als Teil 10 — 12 der Allgemeinen Weltgeschichte von
Flathe, Hertzberg, Justi, Pflu^-Harttung, Philippson) zeigen ihn als liberalen
Mann ruhigen, besonnenen Urteils, voll ehrlichen Gerechtigkeitssinnes und Un-
parteilichkeit gegenüber den berechtigten imd unberechtigten Handlungen
beider Seiten, der Beherrschenden wie der Beherrschten, in jener Zeit der
Unklarheit und Gährung. Mit der Ruhe seiner Denkweise verbindet sich die
schlichte Klarheit seines Ausdrucks; Flathe ist, um ein naheliegendes Ver-
gleichsobjekt herbeizuziehen, kein so glänzender Stilist wie Treitschke, aber
seine Schreibweise ist formgewandt imd trotz der Gedrängtheit, zu der ihn
die Stofl&nenge nötigte, übersichtlich, verständlich und nach Bedarf auch energisch
imd ausdrucksvoll. Neben diese darstellenden Werke trat als letztes Werk
eine Art von Quellensammlung, seine zwei Bände Deutsche Reden, Denkmäler
xur vaterländischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, I 1808 — 1865, II
1867 — 1893 (Leipzig, F. W. v. Biedermann, 1893, 1894), worin er dem
Leser „ Meisterstücke deutscher Beredsamkeit bieten, zugleich aber auch die
Abwandlung der Anschauungen über unsere nationalen Verhältnisse, wie sie
sich unter den Eindrücken wechselnder Zeitumstände gebildet haben, und
damit auch die Kämpfe unserer Väter imd Vorgänger um die Güter des
öffentlichen Lebens wie in einem Spiegel zur Erscheinung bringen will"
Doch so brauchbar auch diese Werke sind, seinen Ruf verdankt Flathe
ihnen weder zeitlich (denn sie gehören in den Schlufs seines Lebens) noch
sachlich ; dieser beruht vielmehr auf seinen Arbeiten zur sächsischen Geschichte.
Nicht ein bestimmter zeitlicher oder stofiflicher Abschnitt fesselte ihn hierbei,
er war nicht Spezialist des XIV. oder XVI. Jahrhunderts, oder fUr sächsische
Kirchen- oder Wirtschaftsgeschichte , sondern der sächsischen Geschichte in
ihrer Gesamtheit galt seine Thätigkeit Schon seine erste Arbeit ist all-
gemeinen Charakters, Die Vorzeit des sächsischen Volkes in Schilderungen
aus den Queüenschriftstellem (Leipzig, Tauchnitz, 1860), ein Buch, das in
geschickter Auswahl von Abschnitten der alten, möglichst zeitgenössbchen
Quellen des 10. — 16. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung ein getreues
Bild der damaligen Zeit, besonders zur Belebung des Unterrichts in der säch-
sischen Geschichte bieten soll Populären Zwecken dient auch die nächste
— 225 —
Schrift, die Bearbeitung von Karl August EngethardU Vaterlandskunde für
Schule und Baus im Königreich Sachsen, von der Flathe die neunte bis elfte
Auflage (Leipzig, J. A. Barth, 1866, 1869, 1877) besorgte, jedesmal be-
strebt, durch weitere Ausfeilung und Zuziehtmg neuen statistischen Materials
das nützliche Handbuch zu verbessern. Auch C. A. F. Mohrs kleine für
Volksschulen bestimmte Geschichte von Sachsen hat er neubearbeitet (Leipzig
1864 und f.). Gleichzeitig mit diesen kleineren Büchern arbeitete er an dem
Hauptwerk seines Lebens, seiner Geschichte des Kurstaates und Königreiches
Sachsen (Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1867, 1870, 1873). ^^^ ^^
Werk auch mit unter dem Namen K. W. Böttigers (des Sohnes des bekannten
Archäologen KL. A. Böttiger), der über dreifsig Jahre früher die erste Auf-
lage in zwei Bänden besorgt hatte, waren Flathe auch durch den Anschluis
an die alte Auflage die Hände teilweise gebunden, so ist das Werk doch
so gut wie ganz ein neues geworden, das eigene Erzeugnis Flathes. Hatte
Böttiger sich im wesentlichen begnügt, aus Quellen zweiter Hand zu schöpfen,
so ging Flathe, so weit das bei einer solchen Gesamtdarstellung möglich ist,
auf die ersten Quellen zurück. Am wenigsten befriedigt noch der erste
Band (bis 1553); hierin ist Flathes Abhängigkeit von der Vorlage stärker,
auch war sein persönliches Interesse für die früheren Jahrhunderte geringer.
Der veröffentlichte Quellenstofif war damals noch nicht entfernt so umfang-
reich wie heute: bedenken wir nur, dafs in den ersten sechziger Jahren,
als Flathe an die Arbeit ging, die Monumenta Germaniae noch nicht die
Hälfte der Bändezahl aufwiesen, wie heute, dafs das Hauptquellenwerk für
Sachsens und Thüringens Mittelalter, der Codex diplomaticus Saxoniae regiae,
erst kurz vor dem Arbeitsbeginn Flathes ins Leben gerufen wurde und er
für seinen ersten Band nur die ersten beiden Bände über das Hochstift
Meifsen benutzen konnte, dafs femer von brauchbaren, den modernen wissen-
schaftlichen Anforderungen genügenden Monographien herzlich wenig vor-
handen war (vgl. darüber den Aufsatz Wachsmuths, der einst in Leipzig
Flathes Lehrer gewesen war, in Webers Archiv für die Sächsische Geschichte
I, 1863, imd Ermischs Aufsatz im Neuen Archiv für Sächsische Geschichte
XV, 1894) tmd dafs auch von den jetzigen 57 Bänden der wichtigsten
Landeszeitschriften (Webers Archiv, Ermischs Neuem Archiv und der Thü-
ringischen Zeitschrift) mit ihrer Unmenge von Einzelforschungen kaum 10
Bände, von der langen Bändereihe der zahlreichen lokalen Geschichtsvereine
(Dresden, Freiberg, Meifsen, Chemnitz, Plauen u. s. w.) nur wenige Hefte
erschienen waren! Doch trotz aller, heute stark empfindbaren Mängel be-
deutete auch der erste Band einen wesentlichen Fortschritt, und Flathe hatte
eigene um&ssende Einzeluntersuchimgen hierfür nicht gescheut, so über
Wiprecht von Oroitzsch in Webers Archiv Band III (1865). Wesentlich
höher steht der zweite Band (1553 — 1806), in dessen kiiappen Umfang eine
fast überreiche StofiSUUe hineingearbeitet ist Während Flathe für den ersten
Band aber beim Zurückgehen auf die Quellen sich auf die gedruckt vor-
liegenden beschränkte, hat er fUr den zweiten, aufser umfiftssender Benutzung
der gedruckten Litteratur, für mehrere Perioden selbst archivalische Studien
gemacht und einzelne Abschnitte in Sonderabhandlungen ausführlicher erörtert,
so Die Verhandlungen über die dem Kurfürsten Friedrich August III, von
Sachsen angebotene Thronfolge in Polen und der sächsische Oeh. Legations^
— 226 —
rat V. Essen Qahresbericht der Landesschule Meifsen 1870), ferner Dtß
Verhandlungen Über Sachsens Neutralität im Jahre 1790 (Webers Archiv
IX, 187 1) und Der sächsische Landtag 1681 — 82 (Mitteilungen des Kgl.
Sächsischen Altertumsveieins, Heft 28, 1878). Schon der zweite Band ent-
fernte sich so weit von Böttigers Arbeit, dafs er kaum mehr als Neubearbeitung
gelten kann, der dritte Band (1806 — 1866) aber ist ein durchaus neues,
selbständiges Werk, in dem sich Flathes Eigenart aufii deutlichste aus-
spricht. Er war ein entschiedener Gegner partikularistischer Gesinnung und
trug dieser Auffassung bei seiner Verurteilung der sächsischen Politik der
napoleonischen Zeit und besonders der letzten Jahrzehnte offen Rechnung.
Dafs eine solche Stellungnahme vielfach verstimmte, liegt auf der Hand, und
der Minister Richard v. Friesen nimmt in seinen „Erinnerungen aus meinem
Leben" 1880 deshalb wiederholt Gelegenheit, nachdrücklich gegen Flathes
sächsische Geschichte zu polemisieren, was diesen wieder zu einem scharfen
kritischen Aufsatz Die Memoiren des Herrn v. Friesen (Historische Zeitschrift
46, 1881) veranlafste. Uns Sachsen mufs es ja peinlich sein, den sächsischen
Standpunkt in einer (und zwar der umfassendsten und besten) Geschichte
unseres Landes so wenig vertreten zu sehen, zumal seitens eines geborenen
Sachsen tmd sächsischen Schulmannes, der berufen ist, die sächsische Jugend
in die Geschichtskenntnis einzuftihren, dem Historiker Flathe aber kann und
darf andererseits das Recht und die Pflicht nicht verkümmert werden, seiner
ehrlich gewonnenen Überzeugung auch ehrlichen Ausdruck zu verleihen, selbst
wenn sie dem heimischen Ohre nicht stets wohlgefällig klingt. Auf das
Entschiedenste ist dabei auch zu betonen, dafs Flathe trotz aller absprechenden
Urteile über das, was er nicht billigt, das wärmste Herz für sein Vaterland
und alles, was damit zusammenhängt, beweist; seine Schrift „Die Vorzeit
des sächsischen Volkes", seine Bearbeitung von Engelhardts Vaterlandskunde
legen dafür beredtes, rührendes Zeugnis ab, und selbst der vielangcfochtene
dritte Band der sächsischen Geschichte zeigt diu-chgängig die treuste An-
hänglichkeit und Liebe für seine sächsische Heimat.
Die Teilnahme am Heimischen, das Interesse an der engeren Um-
gebung kam auch zum Ausdruck in seinen Studien zur Geschichte von
St. Afra. Seit Müller vor 90 Jahren seinen „Versuch einer vollständigen
Geschichte der Kursächsischen Fürsten- und Landesschule zu Meifsen " ver-
öffentlicht hatte, war St. Afras Geschichte nicht wieder umfassend bearbeitet
worden; Flathe wurde auch deren Geschichtsschreiber in seinem Werke:
St, Afra. Geschichte der Kgh Sächsischen Fürstenschule zu Meißen 1543
bis 1879 (Leipzig, Tauchnitz, 1879). ^^ Buch, dessen Wert weit über den
einer blofsen Schulgeschichte hinausgeht, liefert zugleich einen wichtigen Bei-
trag zur Kenntnis der Entwickelung des sächsischen Unterrichtswesens und
geistigen Lebens überhaupt Als Schüler wie als Lehrer kannte Flatiie die
afranischen Schulverhältnisse mit ihren Abweichungen von den Einrichtungen
anderer höherer Schulen Sachsens, ihren hochgespannten Anforderungen an die
streng klassische Ausbildung, die heute leider vielen als Anachronismus er-
scheinen mag, aus eigener Erfahrung auf das Genaueste, und vertrat deren
Berechtigung gegenüber den sich mehr und mehr breit machenden Anfor-
derungen der mathematisch-naturwissenschafUichen Richtung. Dafs das Werk
durchaus auf dem weitschichtigen Aktenmaterial aufgebaut wurde, ist selbst-
--» 22t —
verständlich ; wie tunfassend Flathe bei seiner Vorbereitung verfuhr, erkennt man
auch daraus, dafs er das alte Chorherrenstift St Afra, dessen Rechtsnachfolger
die Fürstenschule wurde, in den Kreis seiner Studien hineinzog, vgl. seinen
Aufsatz Das Kloster der Augustvier Chorherren zu St. Afra in Meifsen
(Webers Archiv, N. F. II, 1876). Auch die von Flathe herausgegebenen
Epistolae aliquot rectorum Afranorum im Schulprogramm von St Afra (1880),
und die Specimina eruditionis Afratiae Georgio Fabricio redore scripta (1879)
kommen der Schulgeschichte zugute und bieten Veröflfentlichimgen von
Schriftstücken der ersten Jahrzehnte.
Die letzten zwei Jahrzehnte hindurch galt der Geschichte der neueren
Zeit Flathes Hauptthätigkeit, deren Ergebnisse zu Beginn dieses Aufsatzes
erwähnt sind, obwohl er keineswegs dem alten Arbeitsgebiete ganz den Rücken
kehrtie, sondern als Vorsitzender des Meifsner Geschichtsvereins in ständigem
Zusammenhang mit der heimischen Geschichte blieb, Vorträge im Vereins-
kreise (wie früher auch im Königl. Sachs. Altertumsverein zu Dresden) hielt,
auch einige kleinere Aufsätze in den Mitteilungen dieses Vereins veröffent-
lichte, so Der Überfall Meißens durch die Schweden 1627 und Die älteste
erkennbare Geschichte des Meißner Landes (I. Heft i und 4, 1882, 1884).
Ein zweites Band, das ihn ständig mit der Geschichte Sachsens verknüpfte,
war die Allgemeine Deutsche Biographie^ flir welche er der hauptsächlichste
Bearbeiter der Artikel über sächsische Persönlichkeiten vom i. bis zum jetzt
vorliegenden 45. Bande wurde. Freilich sind diese Biographieen oft etwas
dürftig ausgefallen, doch ist dabei zu berücksichtigen, dafs Flathe als ein
von Anfang an Mitarbeitender sich strenger an den ursprünglichen Arbeits-
grundsatz möglichster Knappheit hielt, der mit dem Fortschreiten des Werkes
besonders von den neu hinzukonunenden Mitarbeitern mehr und mehr imter
stillschweigender Zustinmiung der Leitung aufgegeben worden ist Aufserdem
war er auch als Kritiker fUr das Literarische Centralblatt imd die Historische
Zeitschrift thätig.
Flathes Leben war ein Leben voll ununterbrochener, stiller Gelehrten-
arbeit, die nicht nach äufseren Ehren und Erfolgen strebt, „ von Gunst und
Ungunst unbeirrt 'S wie er selbst in seiner sächsischen Geschichte sagt Er
war frei von jeder Effekthascherei, und breitere Schichten selbst des säch-
sischen Volkes werden ihn kaiun oder nur als Herausgeber der oben mit
erwähnten populären Handbücher gekannt haben ; imvergessen aber wird sein
Name in der sächsischen Geschichtsforschung und -Schreibung bleiben, denn
seine Arbeiten, besonders sein Hauptwerk, sichern ihm ein ehrenvolles An-
denken und gebührende Berücksichtigung, die auch noch geraume Zeit vor-
halten wird. Und selbst wenn dereinst auf Grund des seitdem neu hinzu-
gekommenen reichen Quellenstoffs imd der schier imübersehbaren Spezial-
litteratur eine neue sächsische Geschichte vorliegen sollte, wird Flathes Werk
ständig in der Geschichte unserer vaterländischen Historiographie als ein
Markstein betrachtet werden.
Dresden. Woldemar Lippert.
ArclÜTe« — Die Errichtung eines Staatsarchivs in Westpreufsen
hatte man an mafsgebender Stelle bereits seit längerer Zeit ins Auge gefafst
und dabei vornehmlich an die alte Ordensstadt Marienburg als Sitz dieses
— 228 —
Instituts gedacht Neuerdings ist man von diesem Orte abgekommen und
hat sich aus Gründen, die wohl überall Billigung finden werden, vielmehr für
die Errichtung eines Staatsarchivs in der Provinzialhauptstadt Danzig ent-
schieden. Die Stadt Danzig hat der Regierung einen Bauplatz zur Verfügung
gestellt, die Pläne für die hier zu errichtenden Gebäude sbd bereits ent-
worfen, und in den Staatshaushalts-Etat für 1900 ist bereits eine erste Rate
für den Bau eingestellt.
Der Inhalt des neuen Archivs wird sich zusammensetzen aus den re-
ponierten Akten der königlichen Regierungen zu Danzig und Marienwerder,
der Landratsämter imd Gerichte der Provinz, vermutlich auch aus den ein-
schlägigen Beständen der Staatsarchive zu Königsberg und Posen, sowie — imd
dies dürfte wohl der Hauptschatz des neuen Staatsarchivs werden — aus
dem bisherigen Danziger Stadtarchiv, das mit seinem reichen Material an
Urkunden, Akten imd Handschriften bekanntlich weit über den Rahmen eines
gewöhnlichen Kommunalarchivs hinausgeht Nach einem zwischen der Re-
gierung und der Stadt Danzig vereinbarten Vertrage, welchem im wesentlichen
der seiner Zeit zwischen der Regierung und der Stadtgemeinde Posen ab-
geschlossene Vertrag als Vorbild gedient hat, übergiebt die Stadt ihr Archiv
unter Vorbehalt des Eigentumsrechts und der Möglichkeit jederzeitiger Zurück-
nahme an die Staatsregierung, die sich verpflichtet, die ganze Sammlung als
unteilbares Ganzes imter der Bezeichnung „Archiv der Stadt Danzig" aufini-
bewahren, für die unversehrte Erhaltung des Übergebenen einzustehen und für
die Urkunden und Handschriften ausführliche Repertorien und Register an-
zufertigen. Das Archiv der Stadt Danzig wird also nicht aufhören zu be-
stehen, sondern nur in die Verwaltung des Staates übergehen.
Für die Wissenschaft kann dieser Wechsel der Verwaltung nur erfreulich
sein. Denn wenn das Danziger Stadtarchiv in seinen Hauptbeständen auch
schon geordnet bt, so bewahrt es daneben doch noch gewaltige Mengen
ungeordneter Akten und Urkunden, deren Ordnung weit über die Kräfte
eines Einzelnen hinausgeht, zumal wenn dieser, wie es bisher der Fall war,
auch noch die Verwaltung der recht bedeutenden Danziger Stadtbibliothek
zu leiten hat Mit der staatlichen Verwaltung werden hoffentlich genügende
Arbeitskräfte kommen und das erschliefsen, was noch unbekannt war.
G.
Eingegangene Bfleher.
Ludwigsburger Geschichtsblätter, herausgegeben vom Historischen Verein
für Ludwigsburg und Umgegend. Erstes Heft, Ludwigsburg, Ungeheuer
und Ulmer, 1900. 87 S. 8^
Seidel, E. A. : Grünhain seit der Reformation. Ein Beitrag zur Geschichte
von Grünhain. Zwönitz, Bernhard Ott, 1900. i. Lieferung, 32 S. 8<^.
Tschamber, Karl: Friedlingen und Hiltelingen. Ein Beitrag zur Geschichte
der Ödungen im badischen Lande. Lörrach, Kommissionsverlag von
Poltier- Weeber, 1900. 165 S. 8 ^ v4 3,20.
Henuugeber Dr. Annin Tille in Leipsig. — Druck und Verlas roa FVtedrich Andreas Perthes in Godia,
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgescbichtliclien Forschung
I. Bsmd Juli 1900 10. Heft
Fünfzig Jahre oberrheiniseher Qesehiehts^
forsehung
Von
Karl Brunner (Karlsruhe)
Vor fünfzig Jahren hat Franz Josef Mone die Zeitschrift för
die Geschichte des Oberrheins begründet *). Ihr Erscheinen war ein
Ereignis in der Geschichtswissenschaft, dessen Bedeutung und Einfluls
über den Rahmen eines blos territorialen Interesses weit hinausgeht.
Rasch hat sich die vortrefflich geleitete Zeitschrift in der periodischen
Geschichtslitteratur Deutschlands eine angesehene Stellung erworben»
die sie unter mannigfach wechselnden äufseren Schicksalen durch fünfzig
Jahre wohl zu wahren und zu festigen verstanden hat. Nach einem
so bedeutenden Zeitabschnitt erscheint ein Rückblick auf die Geschichte
des Unternehmens, eine Würdigung seiner Leistungen um so mehr
angebracht, als der vielseitige Inhalt der mehr als fünfzig Bände um-
fassenden Sammlung bei weitem nicht in dem Mafse bekannt und ge-
schätzt ist, wie es wünschenswert, ja notwendig wäre, soll nicht manche
wertvolle Frucht mühsamer und gewissenhafter Forschung verloren
gehen, manche bereits gethane Arbeit unnütze Wiederholung finden.
Als Hüter der reichen Schätze des Karlsruher Generallandesarchivs,
die zum weitaus gröfsten Teil noch ungehoben lagen, hat Mone in
seinem tiefen Forschungsdrang, der vornehmlich auf Erschliefsung des
urkundlichen Quellenmaterials gerichtet war, das Bedürfnis
empftmden, diese Schätze nach Kräften ans Tageslicht zu fördern. Im
Interesse einer möglichst vielseitigen und zugleich rasch fortschreitenden
i) Im Febraar 1850 erschien das erste Heft des eisten Bandes bei der Braunseben
Hofbochhandlnng zn Karlsruhe. In diesem Verlag blieb die Zsr. bis zum 39. Bd. (1885).
Vom 40. Bd. (= I. Bd. der Neuen Folge, 1886) bis zum 46. (VII.) Bd. (1892) war sie
bei Mohr in Freiburg i. B. verlegt; seit dem 47. (VIII.) Bd. (1893) erscheint sie bei
Bielefeld in Karlsruhe. Jährlich werden vier Hefte ausgegeben.
18
— 230 —
Ausbeutung des Archivs schien ihm die Veröffentlichung in periodisch
erscheinenden Heften am meisten zweckentsprechend. „Eine geschicht-
liche Zeitschrift", so leitet er selbst das Unternehmen ein, ,, welche
vorzüglich zur Quellenmitteilung bestimmt ist, wird bei der jetzigen
Richtung zum Quellenstudium wohl keiner Rechtfertigtmg bedürfen,
um so weniger, wenn sie von einem Archive ausgeht, das seiner Natur
nach ungedruckte Schätze verwahrt. Freunde der Geschichte möchte
es vielmehr freuen, dafs noch so viel Vertrauen imd Liebe zur Arbeit
vorhanden ist, um diese Zeitschrift am Oberrhein herauszugeben. Wenn
in den letzten Erschütterungen dieser Länder die drohende Gefahr der
Zerstörung uns ernst gemahnt hat, das noch vorhandene zu retten,
so mag die Erfüllung dieser Pflicht auch vom Publikum gewürdigt
werden *)."
Besonders erfreulich, bei dem wissenschaftlichen Standpunkt des
Herausgebers übrigens gar nicht anders zu erwarten, ist der weitaus-
schauende Plan, der von Anfang an Umfang und Richtimg der Zsr.
in einen freieren und gröfseren Gesichtskreis gerückt hat, als
dies blos das Bedürfnis einer beschränkten lokalen oder territorialen
Geschichtsschreibung erfordert hätte. Geographisch umfafst der
Arbeitsbereich der Zsr. das gesamte Gebiet der oberrhei-
nischen Lande, die in ihrem reichen geschichtlichen Leben in
mehr als einer Hinsicht ein geschlossenes Ganzes darstellen: Die im
Stromgebiet des Rheins liegenden Schweizerkantone, Württem-
berg,Baden, dasElsafs, dieRheinpfalz, das Grofsherzogtum
Hessen bis an Main und Nahe. Dafs dabei auch für manches
weitere Grenzgebiet nicht selten Mitteilungen abfallen, ist selbst
verständlich. Schon deshalb, meint der Herausgeber in bezeich-
nender Weise, werde man diese Ausdehnung angemessen finden,
weU dadurch Gelegenheit gegeben werde, mehr Quellen bekannt zu
machen, als bei der Beschränkung auf Baden; und dementsprechend
sollen auch aufser dem Karlsruher Archiv weitere einschlägige Archive
und Bibliotheken zur Ergänzung und Bereicherung herangezogen wer-
den. Umgekehrt wiederum sind die im badischen Generallandesarchiv
beruhenden Materialien zur Geschichte femer liegender, selbst aulser-
deutscher Länder von der Veröffentlichung nicht ausgeschlossen, weil
eben die Zsr. vorzugsweise das Organ dieses Archivs in seinem ganzen
i) Ich gebe hier and im folgenden einige Zitate wörtlich ans den Vorreden Mones
tu den ersten Bänden seiner Zsr., weil ich darin vorzügliche Beiträge znr Charakteristik
der Persönlichkeit and der wissenschaftlichen SteUang des hochverdienteo und merk-
würdigen Mannes sehe.
— 231 —
Umfang sein soll. Die allgemeinere und die örtlich beschränkte Ge-
schichte tritt in richtige, von gröfseren Gesichtspunkten geleitete Wechsel-
wirkung. In dieser Hinsicht lautet Mones Programm: „Der Stoff soll
entweder in Abhandlungen niedergelegt werden, die sich über mehrere
Länder zugleich erstrecken und dadurch allgemeine Verhältnisse er-
klären, oder soll urkundlich nachweisen, wie die allgemeinen Verhält-
nisse sich in einzelnen Orten gestaltet haben. Nach dieser Rücksicht
wird die Auswahl der örtlichen Urkunden stattfinden, wodurch sie auch
aufserhalb ihrer Ortsbeschränktheit brauchbar werden."
In erster Linie Quellenschrift, will die Zsr. entweder unmittelbare
Quellen geben oder, wenn die Texte selbst zu umfangreich sind, Aus-
züge, Regesten oder Verzeichnisse derselben mitteilen — alles durch
sorgfältige, eindringliche Litteratumachweise , Citate und Ergänzungen
verschiedener Art erläutert; gleichzeitig sollen Abhandlungen mehr
zusammenfassender Art, die auf quellenmäfsigen Studien beruhen, Auf-
nahme finden« Der Schwerpunkt der ganzen Thätigkeit
Mones liegt wie in seinen übrigen Publikationen so auch
ganz besonders in dieser Zsr. durchgeh ends im Mittelalter,
ohne dafe jedoch die Berücksichtigung der neueren Geschichte irgend-
wie grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Verhältnismäfsig selten wird
das XVL Jahrhundert erreicht oder überschritten.
Durch bereitwilliges Entgegenkommen der badischen Staatsregierung,
die einen namhaftenZuschufe gewährte, war das Unternehmen von
vorneherein auf sichere finanzielle Grundlage gestellt und eine völlig
unabhängige, nur auf streng wissenschaftliche Forschung gerichtete
Wirksamkeit desselben ermöglicht
Die Zsr. trat denn auch gleich zu Anfang recht lebenskräftig imd
vielversprechend vor die Öffentlichkeit und fand weit über Baden hin-
aus im übrigen Deutschland eine unerwartete Verbreitung, in allen
Kreisen ernster geschichtlicher Arbeit eingehende Beachtung, zumeist
freudige Anerkennung und Aufmunterung, vereinzelt nur tadelnde Kritik.
Dem gegenüber hat der rührige Herausgeber stets lebhafte Fühlung
behalten mit seinen Leserkreisen in unmittelbarer Aussprache (in den
Vorreden zu den ersten Bänden) über Ziele imd Absichten seines
Werkes, über Kritik und Krittelei derer, die den Wert anscheinend
geringfügigerer oder entlegenerer Quellenstücke nicht zu schätzen wissen
und so ihre „Beschränktheit und Unfähigkeit an den Tag legen.** Sie
sollten bei ihren gröfseren Anforderungen erst selbst einmal GröCseres
und Besseres leisten. „Wir haben kein Muster einer geschichtlichen
Zeitschrift**, fügt er rechtfertigend hinzu, „die von einem Archive
18*
— 932 —
ausgeht, unsere Wahl und Behandlung der Gegenstände richtet
sich also nach den Quellen, die uns zu Gebote stehen, und nach dem
Interesse, das sie für die Landesgeschichte haben." Es sind vortreiF-
liche Auslassungen über die Berechtigung solch begrenzter Geschichts-
forschung gegenüber allgemeineren Zielen: „Die kleinen Verhältnisse
der landschaftlichen und örtlichen Geschichte dürfen nicht nach dem
Mafsstabe der Reichsgeschichte beurteilt werden, ihre Würdigfung liegt
vielmehr in der eigentümlichen Wirksamkeit, die sie in ihrem Kreise
auf das Leben und den Charakter der Personen ausgeübt haben. Denn
jeder Mensch wird durch seine Umgebung gebildet, weil sie unmittel-
bar auf ihn einwirkt; es gehört deswegen auch zur geschichtlichen
Selbstkenntnis eines Volkes, dafs es seine landschaftliche Entwicklung
nicht aufser Acht lasse. Die Länder am Oberrhein waren im Mittel-
alter von Bedeutung, es mag daher sein, dafs die Bekanntmachung
ihrer Geschichtsquellen selbst für die allgemeine Geschichte unseres
Volkes einigen Wert hat." Wie aufrichtig es übrigens Mone darum
zu thun war, einen soliden geschichtlichen Sinn in weiteren Kreisen
des Volkes durch seine Publikationen zu pflanzen, lassen die ernstlichen
Mahnungen erkennen, die er in folgende, auch heute noch beherzigens-
werte Worte kleidet: „Die allgemeine Geschichtsbetrachtung artet oft
in leeres, unpraktisches Räsonnieren aus, weil es angenehmer und
leichter ist, sich die Begebenheiten nach einer beliebten Ansicht zu-
sammen zu stellen und zu beurteilen, als ihre speziellen Entstehungs-
gründe zu erforschen." Gleichzeitig aber sieht er neben den rein
wissenschaftlichen Zielen, die ihm bei aller seiner Arbeit obenan stehen,
als echter Sohn seiner Zeit die Aufgabe des Historikers auch in der
Belehrung imd Erziehung des Volkes zu wahrer Vaterlandsliebe und
gesunder politischer Anschauimg auf Grund positiver geschichtlicher
Erkenntnis. Die Erfahrung, die ein Volk in seiner Geschichte gemacht
hat, erscheint Mone für dasselbe ebenso wichtig, wie die Lebens-
erfahrung des Einzelnen für sein reiferes Alter. Der organische Ver-
lauf des Volkslebens gestatte allerdings keine Wiederherstellung früherer
Zustände, wohl aber die weise Benutzung früherer VorbUder und Er-
fahrungen; in diesem Zusammenhange behalte die Geschichte stets
ihren Wert und ihre Brauchbarkeit. „Erfahrungen", meint er
wiederum zur Rechtfertigung der Spezialgeschichte, „aus vielen Einzel-
heiten sind nicht nur lehrreicher, sondern auch für das Leben brauch-
barer als Ansichten, die aus dem allgemeinen und oberflächlichen
Anschein gebUdet werden. Wer daher die Geschichte seiner Heimat
erforscht, kann für sich und seine Nachbarn nützliche Resultate ge-
— 238 —
winneD, wenn sie auch anfangs vereinzelt stehen und nicht jeder gleich
einsieht, wozu die Erfahrungen, die in solchen E^ebnissen liegen,
dienlich sind. Wir wünschen durch diese Äufserungen den Standpunkt
unserer Arbeiten genau zu bezeichnen, damit sie darnach gewürdigt
werden mögen.*' Und später (im 7. Band) äufsert er sich nochmals:
„Die Erläuterungen der alten Zustände leitet direkt auf die praktische
Bedeutung der Geschichte, und wenn manche daraus -nichts lernen,
weil sie in der Geschichte nur Zeitvertreib sehen oder suchen, so ist
es für sie und ihre Wirksamkeit zu bedauern."
Hinsichtlich des Inhalts — darauf komme ich später noch zurück —
legt Mone bei allen seinen QuellenecUtionen den Hauptnachdruck auf
die „soziale Geschichte**, der er gegenüber einer einseitigen Pflege
der politischen Geschichte gröfeere Geltung verschafien möchte. Ihm
scheint „die Aufgabe der teutschen Geschichtsforschung unleugbar
diese, die Entwicklung der sozialen Verhältnisse in allen
Beziehungen historisch zu ergründen und darzustellen.*'
Eine „Geschichte des Volkslebens** schwebt ihm als Ideal vor, zu
dessen Verwirklichung seine Zsr. ein Scherflein beisteuern will. „Die
Einseitigkeit der Staatsgeschichte, an welcher das Volksleben oft so
wenig teilnimmt, kann dem vollständigen Begriflfe der Geschichte nicht
genügen, ja es lassen sich die Wirkungen der politischen Geschichte
auf das Volksleben nicht ermessen und beurteilen, wenn man dieses
nicht gründlich kennt.** Wir sind gewohnt, derartige Forderungen als
dem Geschichtsbetrieb unserer Zeit besonders eigentümlich anzusehen :
Mone — einer der ersten entschiedenen und zielbewufsten Vertreter
dieser AufTassm^, unstreitig einer der Mitbegründer wissenschaftlicher
Kulturgeschichtsschreibung — hat diese Forderungen bereits vor fiinfeig
Jahren aufgestellt und an ihrer Erfüllung ernstlich gearbeitet. Gerade
auf diesem Gebiet liegt eine besondere Eigenart der Zsr. t d. Gresch.
d. Oberrh., die dann eine beachtenswerte Stellung in der Entwicklung
unserer vaterländischen Geschichtsforschung einnimmt. Mones Ver*
dienst nach dieser Seite hin ist leider nicht genügend bekannt und
anerkannt : Neben dem praktischen Nutzen, den diese seine heute noch
keineswegs veraltete, vielmehr höchst schätzbar gebliebene Quellen-
stoffsammlung zur Kulturgeschichte bietet, ist vielleicht noch
bedeutsamer und nachhaltiger geworden die Fülle von Anregungen, die
aus solch ungewohnter Auffassung und Bethätigung des archivalischen
Berufe hervorgegangen sind.
Bis zum 21. Bande einschliefslich hat Mone seine Zsr, geleitet
und zum g^roüsen Teil selbst auch bearbeitet. Neben ihm waren die
— 234 —
Arcbivräte Dambacher und Bader dafür thätig. Im Januar des Jahres
1868 trat der langjährige Direktor des Generallandesarchivs in den
wohlverdienten Ruhestand und gab damit auch die Leitung und Mit-
arbeit an der Zsr. f. d. Gesch. d. Oberrh. auf. Die Redaktionsgeschäfte
übernahm Mones Amtsnachfolger Freiherr Roth von Schrecken-
stein in Gemeinschaft mit den Archivräten Bader und v. Weech.
Als Neuerung der im übrigen wesentlich unverändert weitergeführten
Zsr. wurde jetzt im Hinblick darauf, dafs diese mit der Zeit eine
systematische Bearbeitung der gesamten Karlsruher Archivalien dar-
stellen sollte, die Veröffentlichimg ganzer geschlossener Archivsektionen,
soweit ihr Inhalt wissenschaftlichen Wert besitzt, ins Auge gefalst.
Damit war nichts Geringeres eingeleitet als die Herausgabe von Archiv-
Inventaren, die bei dem Reichtum imd der Vielseitigkeit des badi-
schen Generallandesarchivs wie bei dem wissenschaftlichen Ruf der
Bearbeiter hochgespannte Erwartungen wecken mufeten. Leider ist
der Plan nur zu teilweiser Ausführung gelangt. Wohl wurden mehrere
derartige PubUkationen gegeben und allseitig mit Dank und Anerken-
nimg aufgenommen; allein es war doch recht wenig im Verhältnis zu
dem Gesamtumfang des Archivs, auch nur seiner Urkundenabteilungen.
Unter der neuen Redaktion erschienen häufiger Abhandlungen und
Untersuchungen, wie auch der Kreis der Mitarbeiter allmählich sich
erweiterte.
Als mit dem 39. Band 1885 ^^^ Publikation in ihrer bisherigen
Weise abschlofs und die Badischc Historische Kommission
einem Beschlufs ihrer dritten Plenarsitzung gemäfs die Herausgabe der
Zsr. in „Neuer Folge" übernahm, erfuhr, abgesehen von einer beträcht-
lichen Erweiterung des Umfangs, der Plan des Unternehmens selbst
eine Umgestaltung in mehreren wesentlichen Punkten. Von jetzt ab
sollen Forschungen und Darstellungen mit QuellenpubUkationen mög-
lichst gleichmäfsig wechseln ; ganze Urkundenserien, gröCsere Regesten-
sammlungen, wie überhaupt umfangreichere Quellen sollen grundsätz-
lich von der Aufnahme in die Zsr. ausgeschlossen sein. Neben der
bis dahin fast ausschliefslich berücksichtigten mittelalterlichen Geschichte
sollte auch die neuere Geschichte zu ihrem Rechte kommen.
Weiter wurde in jedem der vierteljährig erscheinenden Hefte ein be-
sonderer Raum für Zeitschriftenschau und Litteraturnotizen (Referate
und Kritiken), die Mone ganz fem gehalten hatte, gewährt. Indem
so die Zsr. aufhörte, Organ des Karlsruher Generallandesarchivs zu
sein — wodurch bedauerlicherweise die so erfolgreich begonnene
Hebung der reichen Schätze desselben abgebrochen wurde — , so
— 236 —
hatte doch andrerseits die Änderung und Erweiterung des Programms
die erfreuliche Folge, dafe nunmehr für die von der Historischen Kom*
mission geweckte frische Thätigkeit auf dem Gebiete landesgeschicht-
licher Forschung am Oberrhein ein Mittelpunkt und eine Sammelstelle
geschaffen war, die lückenlos den jeweiligen Stand der Forschung
repräsentiert, sei es in eigenen Arbeiten, sei es in den sorgfältig ge-
führten Litteraturnach weisen. Die geographischen Grenzen konnten
jetzt auch ohne Nachteil, vielmehr zum Zweck gröfserer Konzentration,
etwas enger gesteckt werden, zumal ja seit Mones Zeiten allenthalben
eigene Vereine und Zeitschriften für die einzelnen Landschaften ent-
standen waren. Neben Baden findet das Elsafis und die bayerische
Pfalz Berücksichtigung. Die Berührung anderer angrenzender Terri-
torien, besonders Württembergs und der Schweiz, ist selbstverständ-
lich nicht prinzipiell ausgeschlossen. Als ständige BeUage sind der
Zsr. die vorher eigens ausgegebenen „Mitteilungen der Badischen
Historischen Kommission" beigefügt Diese sind in erster Linie dazu
bestimmt, die Ergebnisse der Thätigkeit der Pfleger zu veröffentlichen,
welche im Auftrag und unter Leitung der Kommission die Ordnung
und Verzeichnimg der kleineren Archive im Lande, der Pfarreien, Ge-
meinden , Grundherrschaften etc. , vornehmen. Aufserdem sollen die
„Mitteilungen**, soweit Raum vorhanden ist, nach dem Vorbild der
alten Serie der Zsr, Quellen, insbesondere aus dem Generallandesarchiv,
darbieten. Neuerdings, da die Verzeichnung jener Archive fast zu
Ende geführt ist, treten derartige Quellenpublikationen mehr in den
Vordergrund. Die Redaktion wurde unter Beirat eines aus Mitgliedern
der Kommission bestehenden Redaktionsausschusses mit Beginn der
„Neuen Folge** (1886) dem Archivrat (seit 1893 Geschichtsprofessor
in Freiburg) Aloys Schulte übertragen, der sie bis zu seiner Be-
rufung nach Breslau 1896 führte und mit dem XI. Band der N. F.,
der ganzen Reihe 50. Band) abschlofs. An seine Stelle berief die
Komnüssion zu Redakteuren Archivrat Obs er in Karlsruhe für den
badischen (und pfälzischen), Archivdirektor Professor Wiegand in
Strafebuig für den elsässischen Teil. Dem Elsafs war bereits vorher
ein erweiterter Raum zugewiesen worden, nachdem seitens des kaiser-
lichen Statthalters ein besonderer Zuschufs gewährt worden ist. Hal-
tung und äufsere Form der Zsr. wurden davon nicht berührt. Die
Zahl der Mitarbeiter wuchs mit der Zeit beträchtlich und brachte eine
erfreuliche Fülle und Mannigfaltigkeit des Inhalts mit sich.
Die ein halbes Jahrhundert umfassende Würksamkeit der Zsr. f.
4. Gesch. d. Oberrh., deren Leistimgen in der stattlichen Reihe von
— 236 —
53 Bänden vorliegen, bat für die Geschichtswissenschaft dauernde Be-
deutung.
Zu ihrer Würdigung aber erscheint ein kurzer Hinweis auf den
Hauptinhalt, zunächst der alten Serie, geboten.
Als die hervorragendsten Bestandteile der Publikation kommen
wohl diegrofsen, zusammenhängenden Urkunden-, bezw. Reges te n-
reihen in Betracht, die mehr oder minder vollständig den zugäng-
lichen Stoff zur älteren Geschichte einzelner Orte, Klöster, Geschlechter
oder Landschaften darstellen. Die Aufzählung der Namen allein mag
schon ein Bild geben von dem Inhalt und Um£ang der Zsr. in dieser
Richtung; die Zeitgrenzen habe ich w^gelassen, sie liegen meist im
späteren Mittelalter; ihre Bezeichnung würde hier auch zu weit führen.
Von einzelnen Orten sind behandelt^): Burg Bosenstein (23)»
Breisach (13), Bruchsal (7), Gutenburg (3), Heidelberg, Hofapotheke
(82), Krotzingen (21), Loftenau (12), Schiefe Mägdeberg im Hegau (25)»
Meersburg (27), PftiUendorf (31), Radolfzell (37), Rottweil (30), Bur;g
Schneebuig bei Ebringen (18), Thengen-Hinterburg (25), Überlingen
(22. 23. 25. 26), Villingen (8. 9), Waldshut (24. 36), Worms (9); von
Klöstern: Alpirsbach (21), Bebenhausen (3. 4. 13 — 21), Bronnbach
(2. 34), Engelthal (15— 18), Frauenalb (23— 27), Gengenbach (31— 33),
Gutnau (38), Habsthal (11), Herrenalb (1—3. 5—9. 12. 13. 31), Himmels-
pforten (26), Komburg (11), Königsbronn (10), Lichtenstem (ii),
Lichtenthai (6 — 9), Mariahof bei Neidingen (25. 26), Mariathal in
Frauenzimmern und Kirchbach (4), Minderau (13), Murthard (11), ver-
schiedene nassauische Klöster (8)', Rechenshofen (4. 5), Salem (i — 3.
4. 31* 35- 37 — 39) > St. Blasien (6. 7), St. Geoigen im Schwarzwald
(9), St. Trudpert (21. 30), Schönau bei Heidelberg (7. 18), Urspring
(23), Villingen-Bickenkloster (32), Wald (10. 11), Weingarten (13),
Weifsenau (29), Wonnenthal (8); von Geschlechtern: Freiburg,
Grafen von (9—13. 16—21), HohenzoUem (6)> Klingen (i. 2), Küssa-
beig (3), Neuenbürg (i. 34. 36), Sponheim (3), Vatz (2); „Zur G^ch.
fränkischer Dynasten" (9); Veröflfentlichungen aus dem Lehen- und
Adelsarchivs des G L.-Archiv« (38); von Landschaften: Baden-
Baden (24. 27. 30), Basel, Hochfitift (4), Beuggen, Deutschordens-
kommende (28 — 31), Bodenseelandschaft (27. 28), Breisgau (36), Elsafe
(4. 7. 8. 13. Ober-E. 11. Unter-E. 14 — 16. Deutschordensballei E.-
Burgund 23. 2^^, Glotterthal (20. 21), Hauenstein (10—12), Hessen
(2. 6), Kletgau (13. 14. 22), Konstanz, Hochstift (28 — 30), Kraichgau
1) Die Zahlen bezeichnen die betr. Binde der Z«r.
— 237 —
(i3 — 15), Lichtenstein (1$), Lothringen (7. 8, 13. 14), Maingegend
Yon Wüizburg bis Mainz (4), von Kastei bis Wertheim (15. 16), Mainr^
Hochstift (10. 19), Nassau (11. 20), Neckarthal von Heidelberg bis
Wimpfen (i i), Ortenau (4. 21. 37 — 39), Pfalz (19—24. 26. 32), Schüengen,
Landvogtei (15 — 19), Schweiz (3. 5. 7. 11 — 13. 19. 20), Taubergrund
(iS), Thüringen (10), Tirol (10), Überlingen, Johanniterkommende (29.
32), Voralberg (10. 15). Femer sei hier noch erwähnt die in Bd. 31
und 32 veröfTentlichte Auswahl aus dem Selekt der ältesten Urkunden.
Treffen wir eine ähnliche Auslese nach den Sachrubriken *) , so
werden wir nicht weniger überrascht von der Reichhaltigkeit des Ge*
botenen. Obenan steht, wie bereits erwähnt wurde, die Kultur-
geschichte nach den verschiedensten Seiten hin. Neben der Sitten-
geschichte im weitesten Umfang (Bücherwesen, Kirchen- und Schul-
verhältnisse, Kriegsgeschichte, Kunstgeschichte, Medizmalwesen, Bade-
verhältnisse, Kranken- und Armenpflege, häusliches und öffentliches
Leben, Sitten und Bräuche, Vereinswesen, Rechtsleben privater und
öffentlicher Art, wofür besonders zahlreiche Quellen als Weistümer,
Verordnungen etc. vorliegen) wird die Wirtschaftsgeschichte ein-
gehender Behandlung unterzogen. Hierin liegt nun ein ganz besonderer
Vorzug der Moneschen Zeitschrift.
Eine geradezu erstaunliche Menge kostbarsten Materials ist hier
aufgespeichert, von dessen Vorhandensein in solch reicher Mannig-
faltigkeit und müheloser Zugänglichkeit wohl nur wenige unserer
Nationalökonomen eine Ahnung haben. Die bekanntermafisen äu&erst
schwierigen, heute noch keineswegs befriedigend gelösten Fragen nach
den Münz- und Mafisverhältnissen, dem Geldverkehr, den Preisen von
Lebensmitteln, Gütern, Rohprodukten und Industrieerzeugnissen, den
Arbeitslöhnen, dem Wirtschaftsbetrieb in Landbau, Gewerbe und In-
dustrie (Handwerkerordnungen, Zunftwesen), den Vermögensverhält-
nissen u. a. *) werden alle mit eindringlichem Scharfsinn und gewissen-
haftem Forscherfleifs unter Berücksichtigung zahlreicher in handschrift-
lichen und litterarischen Quellen verstreuter Einzelstellen erörtert. Weitere
wirtschafts- und sozialgeschichtliche Gegenstände in mehr oder minder
ausführlicher Behandlung sind: Bergbau, Finanz-, Steuer- und Zollwesen,.
i) Hier sind die CiUte nach Bänden weggelassen, weil der Stoff nicht so einheit-
lich geschlossen wie vorhin bei der topographischen Aufzählung vorliegt, sondern meist
ttber verschiedene Bände nngleichmäfsig verteilt ist
2) Hierüber handelt besonders gründlich der 10. Band, dessen volkswirtschaftliche
AbachniUe auch separat erschienen sind unter dem Titel: Beiträge t. Gesch. d. Volks-
wiftschaft ans Urkunden von F. J. Mone. Karlsrabe, Braun, 1859. IX. 219 S. 8 ^
— 238 —
Fischerei, Flöfeerei und SchiflFahrt, Forst- und Jagdwesen, Garten-, Obst-
und Weinbau, Handel und Verkehr, Gesindewesen und Leibeigenschaft.
Einen verhältnifemäfeig geringen Raum hat Mone, seinem oben be-
rührten Grundsatz entsprechend, der äufseren politischen Geschichte zu-
gemessen, etwas mehr der Geschichte der staatlichen imd besonders der
städtischen Verwaltung. Auch auf vor- und frühgeschichtliche Erörte-
rungen, namentlich über römische und keltische Überreste, hat er sich
mehrfach eingelassen; hier ist freilich Vorsicht geboten, und nicht
überall wird man seiner Führung folgen dürfen, die bekanntlich —
allerdings mehr in anderen Werken als gerade in seiner Zsr. — oft
auf recht bedenkliche Irrwege leitet; dasselbe gilt auch von seinen
Untersuchungen zur Etymologie von Ortsnamen. Die geschichtlichen
Hilüswissenschaften endlich, Chronologie, Diplomatik, Heraldik, Sphra-
gistik kommen gleichfalls, wenn auch nur in bescheidenem Mafse, zur
Geltung.
Hinsichtlich der Neuen Folge dürfen wir uns wohl kürzer fassen ;
denn es kann hier unmöglich auf die Menge von Publikationen, Auf-
sätzen und kritischen Untersuchungen, von Mitteüungen und Miszellen
näher eingegangen werden. Die veränderte Tendenz der Zsr. ist bereits
oben charakterisiert worden. Gegenüber der alten Serie, die ohne
Zweifel eine eigenartige Stellung in der zeitgenössischen Litteratur
einnimmt, weshalb wohl die eingehendere Rücksichtnahme gerecht-
fertigt erscheint, ist die Neue Folge auf eine Stufe zu stellen mit den
grofsen neueren geschichtlichen Zeitschriften, unter denen sie nicht
sowohl durch besondere Art ihrer Darbietungen wie durch gute, ziel*
bewufste Leitung einen Ehrenplatz einnimmt. Aufeer verschiedenen
Quellenpublikationen, von denen nur auf die in Bd. I — III gegebene
formale und inhaltliche Beschreibung der im Generallandesarchiv ver-
wahrten Kaiserurkunden von 1200 — 1437 verwiesen sei, werden historio-
graphische und quellenkritische Untersuchimgen , besonders über Ur-
kundenfälschungen, Beiträge zur neueren Gelehrtengeschichte (u. a. zur
Geschichte der Universitäten Heidelberg und Strafsburg), politische
Korrespondenzen und Aktenstücke (u. a. Beziehungen des Elsafs zu
Frankreich), statistische Arbeiten, kirchengeschichtliche, kunstgeschicht-
liehe, rechtsgeschichtliche, genealogische Forschungen u. a. mehr ge-
boten. Über die laufenden Neuerscheinungen der einschlägigen Lit-
teratur orientieren die regelmäfsigen Litteratumotizen , während jeder
Jahrgang je ein sorgfältig bearbeitetes, zusammenfassendes Referat über
die gesamten Veröffentlichungen des Vorjahres auf dem Gebiet der
Geschichte Badens und des Elsasses bringt.
— 239 —
So ist allen Anforderung'en, die man billigerweise an ein Zentral-
organ für landesgeschichtliche Forschung stellen kann, Rechnung ge-
tragen. Einen Mangel nur wird jeder beklagen, der dieser Zsr. sich
bedienen will, das Fehlen eines systematischen Registers
über ihren Gesamtinhalt. Zwar liegen einige immerhin brauch«»
bare summarische Teilregister vor (in Bd. 21 für i — 21 ; in Bd. 31
für I— 30; in Bd. 39 für 31—39; in Bd. X für I— X der N. F.), doch
ist darum das Bedürfnis nach einem Gesamtregister nicht weniger
fühlbar. Mit ihm würde die Historische Kommission eine
würdige Jubiläumsgabe darbieten!
Mitteilungen
Yersannitlailgeil. — Am 5. und 6. Juni hielt der Hansische
Geschichtsverein zu Göttingen seine 29. Jahresversammlung ab, und
gleichzeitig fand in gewohnter Weise die 25. Jahresversammlimg des Vereins
für niederdeutsche Sprachforschung statt. Die Reihe der Vorträge
eröfihete Prof. Kaufmann-Breslau mit einer Darlegimg über die englische
Verfassung in Deutschland. Die Berührung beider Völker mit einander
vermittelte anfänglich der Handel, imd dabei war bis in XVI. Jahrhundert
Deutschland der überlegene Teü, aber später hat sich das Verhältnis um-
gekehrt. Ähnlich ist es mit den geistigen Beziehungen gegangen, denn in
den vorreformatorischen imd reformatorischen Bewegungen läfst sich ein ab-
wechselndes Geben und Nehmen konstatieren. Die Reformation schuf aber
^ie englische Verfassung, indem sie dem Königtum ein Parlament und eine
Verwaltung zur Seite stellte, die in den Händen einer einflufsteichen Aristo-
kratie lag. Die gleichzeitig sich entfaltende Litteratur wirkte mächtig auf
Deutschland, welches in der klassischen Periode dann wieder reichlich zurück-
gab. Ähnlich sind die Beziehungen auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts :
bis etwa 1850 fand die englische Verfassung in Deutschland fast durch-
gehends günstige Beurteüung, ja sie wurde als vorbUdlich betrachtet, dann
aber kam der Rückschlag, der am schärfsten in Lothar Buchers Schrift
Der Parlamentarimnus , une er ist, seinen Ausdrack fand. Man sah auf
einmal den Druck der Aristokratie auf das Volk, man bemerkte, dafs mit
der Verfassung Mifsbrauch getrieben wurde, man sah die Lage Irlands imd
Indiens, und dazu kamen in England selbst seit den zwanziger Jahren tief
einschneidende Reformen, so tiefe, dafs es fraglich erscheinen konnte, ob
die alte englische Verfassung überhaupt noch bestand. Denn die wesent-
lichen Einrichtungen, das den Emflufs des Adels bedingende Selfgovemment
\
— 240 —
und die Stelhing der anglikanischen Kirche, wurden beseitigt. Noch immer
steht England in Bezug auf die Verfassüngsentwicklung inmitten der Krisis,
Deutschland wird bei der Schafiung des Beamtentums und Heeres die Rolle
des Gebers übernehmen. Aber auch Deutschland hat englischen Geist noch
dringend nötig, namentUch den echten Bürgersinn, denn nur bei freier Ent-
faltung der Kräfte des Volkes lassen sich kühne Gedanken, wie Weltpolitik
und Seeherrschaft, in Wirklichkeit umsetzen. — Prof. Richard Schröder-
Heidelberg erläuterte in einem Vortrage den Plan eines Wörterbuches
der älteren deutschen Rechtssprache, welches auf Veranlassung
der philosophisch-historischen Klasse der Kgl. Preufsischen Akademie der
Wissenschaften unter der Leittmg Schröders bearbeitet wird. Seit vier Jahren
sind gegen 70 Mitarbeiter mit der Sammlung des Stofifes beschäftigt, aber
noch etwa zwölf Jahre werden bis zum Abschluls des Werkes vergehen. An
dem Beispiele des Wortes Hand erläuterte der Redner, was das Wörterbuch
bieten soÜ, und forderte zur aUgemeinen Unterstützung durch Sprachgelehrte
und Geschichtsforscher auf. Wie die einzelnen Artikel gedacht sind, das er-
läutert bereits der wichtigste Satz des zu Anfang aufgestellten Programms, welcher
lautet: „Dafs ein Wortartikel zur rechtsgeschichtlichen oder
rechts antiquarischen Monographie auswachse, ist schlechter-
dings zu vermeiden. Rechtssätze dürfen nicht um ihrer
selbst willen angeführt werden (sondem nur, um den Rechtsbegriff
des Wortes definieren zu helfen). Das Wörterbuch soll weder ein
Reallexikon noch ein antiquarisches Glossar werden.'' —
Weiter sprach Dr. Borchling- Göttingen über die in der Universitätsbibliothek
ausgestellten niederdeutschen Handschriften und Drucke, Dr. Langenberg-
Osnabrück über „ Kulturgeschichdiches aus der Laienregel des Dietrich Engel-
husen", Prof. S c h ä fe r - Heidelberg über die Ausgrabungen bei Falsterbo
und über die Sundzoll -Listen tmd Prof. Frensdor ff- Göttingen endlich
führte die Versammltmg durch die Veigangenheit des Tagungsortes, indem
er Stadt und Universität in früheren Zeiten behandelte. Die städtische Alter*
tümersammlung und das städtische Archiv wurde von der Versammlung be*
sichtigt, und ein Ausflug nach Münden schlofs die Tagung ab. — Über
die Thätigkeit des Hansischen Geschichtsvereins im letzten Jahre ist dem
Berichte folgendes zu entnehmen : Vom Hansischen Urkundenbuche sind zwei
neue Bände (V. und VIIL) erschienen. Der erstere, von Karl Kunze be-
arbeitet, umfafst die Zeit von 1392 bis 1414, der zweite, von Walther Stein
bearbeitet, die Urkunden von 145 1 bis Mitte des Jahres 1463. Beide
Herren setzen ihre Arbeit fort Prof. Höhlbaum- Giefisen hat einen zweiten
Band des Inventars des Kölner Hanse-Archivs, welcher die Urkunden von
1572 bis 1591 umfafst, bearbeitet und reichen Erläuterungsstoff aus nieder-
ländischen und englischen QueUen, besonders aus den Acts of ihe IVity
Council of England K S,, beigegeben. Das Werk wird im Herbste gedruckt
vorliegen, imd gleichzeitig wird das von Dr. Mack- Braunschweig bearbeitete
Braunschweiger Inventar erscheinen. Von den Hansischen Ge-
schichtsquellen ist ein neuer Band, Die Bergenfahrer und ihre Chro-
nistik, bearbeitet von Dr. Bruns, ausgegeben worden. Demnächst wird
auch ein neues Heft der Hansischen Geschichtsblatter erscheinen. Als Ver-
sammlungsort für 1901 wurde Dortmund gewählt
— 241 —
Denksehrift ron Paul Kalkoff (Breslau) Aber die Bearbeitang
der politischen Korrespondenz Karls Y.*): Die Veröfifentlichung
der politischen Korrespondenz Karls V. ist das nächste und drin-
gendiste Bedürfiiis der deutschen Geschichtsforschung im Bereiche des XVI. Jahr-
hunderts, wie dies schon von Hermann Baumgarten im Vorwort zum i. und
3. Bande seines Werkes über Karl V. (vom ai. Januar 1885 und März 1892)
ganz zweifellos nachgewiesen wurde.
Die beiden ersten Bände hatte Baumgarten noch geschrieben unter
wesentlicher Beschränkung auf das gedruckte Material, doch gleichzeitig ge-
fordert, dafs die „umfassenden Quellenpublikationen, welche einer Darstellung
dieser Zeit allein eine zuverlässige Grundlage bieten könnten 'S baldigst in
Angriff genommen werden müfsten. Dann unterzog er sich doch noch der
Mühe einer umfassenden archivalischen Nachforschung tmd brachte dieser
Notwendigkeit „der Geschichte der Reformationszeit eine sehr viel solidere
Grundlage zu geben '* sogar seine Lehrthätigkeit zum Opfer. Bei der für
den Einzelnen ganz unübersehbaren Reichhaltigkeit der Fundstellen konnte
er nur mit erneutem Nachdruck auf die „Herausgabe der vollständigen
Korrespondenz Karls V. als auf das AUerwichtigste '* dringen, das eben nur
mit bedeutenden Mitteln und mit vereinten Kräften zu leisten sei.
Heutzutage läfst sich die Aufgabe erheblich leichter lösen, denn:
I. es hat sich eine Methode herausgebildet, die es ermöglicht das Ziel
mit einer erheblich kleineren Zahl von Bänden zu erreichen. Unter
Verweisung auf die von Lanz, Gachard, Weiss und vielen andern
gelieferten Teilpublikationen und unter Verzicht auf den „vollständigen
Abdruck aller Schrifbtücke**, so dafs, wie schon Baumgarten forderte,
jede Verschwendung von Kräften der Herausgeber und Leser ver-
mieden würde, liefse sich alles in irgend einer Hinsicht Belangreiche
notieren. Besonders für das neben der politischen Korrespondenz
im engeren Sinne nicht zu vernachlässigende Gebiet der Verwaltung,
des Kriegswesens, der Finanzen, der Personalien in Diplomatie und
Verwaltung würde die Form des Regests zu wählen sein, wie sie in
mustergütiger Weise, d. h. bei aller Knappheit doch reichhaltig und
übersichtlich, im „Jahrbuche der Kunstsammlungen des Allerhöchsten
Kaiserhauses '' zur Bewältigung eines gewaltigen Quellenmaterials aus
allen Archiven des Gesamthauses Habsburg gedient hat. Für diese
Gebiete würde das Werk den Charakter eines Repertoriums erhalten,
das für die verschiedensten Forschimgsinteressen die Möglichkeit
schneller und ausgiebiger Orientierung böte.
Der leitende Gesichtspunkt müfste sein : das überaus wichtige Forschungs-
material in rascher Folge der Bände der gelehrten Welt zur Verfügung
zu steUen.
n. die Inangriffiiahme des Werkes ist femer erleichtert — gleichzeitig
aber auch die bestehende Lücke um so empfindlicher fühlbar geworden,
weU gegenwärtig fast aUe die andern grofsen PubUkationen, die Baum-
garten als unerläfslich bezeichnete, zum Teü der Vollendung nicht mehr
fem, ztun Teü in ihrer Fortfühmng ausreichend gesichert sind.
•) Vgl. Heft 8, Seite 200.
— 242 —
Was Baumgarten in erster Linie neben der Korrespondenz Karls V.
forderte, die Reichstagsakten der Reformationszeit, wurde in die Wege
geleitet, indem wesentlich auf seinen Betrieb die Münchener Historische
Kommission die „Jüngere Reihe der Reichstagsakten** einrichtete, die soeben
den dritten Band ausgehen läfst.
Wenn Baiungarten femer beklagte, dafs das Streben der bedeutendsten
katholischen Fürsten, der Herzöge Georg von Sachsen tmd Heinrich
von Braunschweig im Dunkel liege, so ist seitdem durch den grofsartigen
Arbeitsplan der „Kgl. Sächsischen Kommission für Geschichte" eine der
vornehmsten Quellen aus dem Kreise reichsständischer Berichterstattung, die
Briefe des Hans von der Planitz, schon zugänglich gemacht worden und dann
sind die „Akten und Briefe des Herzogs Georg des Bärtigen (1500— 1539)**
schon in Angriff genommen, die „Akten und Briefe des KurÄirsten Moritz
(1541 — 1553)** sind der berufensten Hand anvertraut imd im Erscheinen
begriffen.
Die „Politische Korrespondenz der Stadt Strafsburg" giebt den Schwester-
städten ein glänzendes Beispiel; die reiche Serie der „Städtechroniken"
entschädigt einstweilen fUr mangelnde Nachahmung desselben.
Aus dem Kreise der kleineren Reichsstände wird jetzt von der
„Historischen Kommission für Nassau" eine Reihe von Bänden der „Nassau-
Öranischen Korrespondenzen" geliefert werden, deren erster für die Jahre
15 13 — 1538 bereits vorliegt
Das „weitaus wichtigste", was wir von Italien, von Rom zu er-
warten hatten, die Korrespondenz der Kurie mit ihren Nimtien, ist durch
die aufserordentlich erfolgreiche Thädgkeit der Historischen Institute Preufsens
und Österreichs in Rom bereits zum guten Teil zugänglich gemacht worden;
der Abschlufis dieser Publikationen für die Zeit der Reformation wie der
Gegenreformation ist in absehbarer Zeit zu erwarten. Aber die grofse Lücke,
die hier gerade für das politisch bedeutsamste Jahrzehnt zwischen den
Depeschen Aleanders vom Wormser Reichstage (152 1) imd den Nuntiatur-
berichten (i. Abteilung: 1533 — 1559) klafft, macht die Erschliefsung der
andern Hauptquelle, der kaiserlichen Korrespondenz, für die zwanziger Jähre
doppelt notwendig. Das ,tgrofs angelegte Regestenwerk des Kardinals Hergen-
röther über Leo X." ist in den ersten Tausenden seiner unübersichtlichen
Regeste nnunmiem stecken geblieben. Wenn es auch neues Material eigentlich
nur für das Gebiet der Pfründenverleihimg brachte, das in den Einzelheiten
von lokalem und biographischem Interesse ist, so ist doch die weitere Er-
schliefsung desselben durch das Repertoriiun Germanicum gesichert ; mit den zwan-
ziger Jahren verliert es übrigens für Deutschland sehr an Bedeutung und Umfang.
Der historische Nachlafs der übrigen für die weltumspannende Politik
Karb V. in Betracht kommenden Länder wird ja von diesen mit sehr ver-
schiedenem Eifer imd Erfolg bearbeitet. Es sei nur hervorgehoben, dafs
der Abdruck der Diarien des Marino Sanuto, so bedeutend trotz mancher
Mängel ihr QueUenwert ist, nicht genügen kann. Schon Baumgarten stellte
fest, dafs selbst die Originalberichte der venetianischen Botschafter, denen
die Wiener Akademie einen so grofsartigen Aufwand an Kräften widmet,
„neben der Korrespondenz des Kaisers, seiner Geschwister, Räte und
Gesandten" nur eine Quelle zweiten Ranges darsteUen.
— 243 —
Ein bedeutender Schritt zur Erreichung des Hauptzieles ist nun aber neuer-
dings erfolgt, indem im Jahre 1898 in Wien die Bildung einer provisorischen
Kommission erfolgt ist behufs systematischer Veröffentlichung von „Akten und
Korrespondenzen zur neueren Geschichte Österreichs", die in vier Serien Korre-
spondenzen der Herrscher, der Staatsmänner, Berichte fremder Gesandten imd
Staatsverträge, kiurz „ Quellen zur äufseren Geschichte und Politik des Hauses
Österreich" bringen sollen, freilich erst „vom Jahre 1526 an imd mit Aus-
schlufs der spanischen Linie ". Somit scheint die Kommission vielleicht den Brief.
Wechsel zwischen Karl V. und Ferdinand I. in ihren Plan einbeziehen zu wollen.
Es käme also darauf an, dieses Unternehmen zu ergänzen
I. durch die Veröffentlichung der gesamten politischen Korres-
pondenz Karls V. und
II. nach dem Vorbilde der Kgl. Sächsischen Kommission durch die
Sammlung und Bearbeittmg von Material zur Geschichte der kaiser-
lichen Finanzen, tpd der übrigen Verwaltungsthätigkeit Karls V.
ArchlYe. — In dem Aufsatze Archii^)€mUiiümg8ordnungen von P. Witt-
mann sind S. 184 — 185 bei Bes|)rechung der Preufeischen Archivbenutzimgs-
Ordnung einige Fehler untergelaufen, welche der Verfasser zu berichtigen
bittet. In dem Satze: „Archivalien nach i 800 sind von Benutzung
ausgeschlossen, sofern nicht das Staatsoberhaupt von Fall
zu Fall letztere gestatten will" ist statt 1800 das Jahr 1840 zu
setzen, statt „Staatsoberhaupt" sind die Worte „Präsidium des Staats-
ministeriums" zu lesen und der ganze Satz gilt nur für das Geheime
Staatsarchiv zu Berlin, nicht aber für aUe Staatsarchive des König-
reichs. Vgl. Heft I der Mitteilungen der K, Preussischen ArchiwerwaUung
(1900), S. 29. — Die Bemerkung, dafs Ausleihe von Archivalien an „Pri-
vate " gestattet sei, hat in beteiligten Kreisen Befremden erregt, es mag wohl
auch bisher eine solche Ausleihe nicht oder ganz selten geübt worden sein,
aber dafs sie möglich ist, ergiebt sich aus den Bestimmimgen , welche die
Preufsische Archiwerwaltung dem Verfasser des Aufsatzes selbst zugänglich
gemacht hat, wo es wörtlich heifst: „Zur Enüeihung von Archivalien in eine
Privatwohnung bedarf es ministerieller Genehmigung."
Bereits S. 175 wurde über die Anstellung dreier wissenschafUicher
Assistenten am Staatsarchiv zu Hamburg berichtet, S. 189 wurde
auf die Bedeutung dieses Archivs kurz hingewiesen, aber die jüngste Ent-
wicklung desselben verlangt noch eine ausführlichere Besprechung. Während
eines halben Jahrhunderts ist die Entwicklung des Archives der freien
und Hansestadt Hamburg, welches zugleich Staats- und Stadtarchiv ist,
dadurch gehemmt worden, dafs es auf durchaus ungenügende Räume im
alten Rathaus angewiesen war, welche für die trotz der durch den grofsen
Brand im Jahre 1842 verursachten Schäden ganz aufserordentHch reichen
Bestände an Archivalien nicht entfernt zureichten, zumal in Hamburg viel
jüngere Akten, als sonst üblich ist, aus den Registraturen des Senats und
der Behörden an das Archiv abgegeben werden. Aufserdem ist im Laufe
der Zeit eine ganze Anzahl von älteren Archiven dem Staatsarchiv ein-
— 244 —
verleibt worden, so die Archive des ehemaligen DomkaiHteb und anderer
Hamburger Kirchen, femer die Archive aufgehobener Behörden und Ge-
richte, der Zünfte, Ämter und Brüderschaften, einiger Deichverbände sowie
die älteren Teile des Amtsarchivs RitzebQttd und die an Hamburg aus-
gelieferten Teile der Archive des Reichskammergerichts und des Reichshof-
rats. Die Archivleitung hat durch diesen Zuwachs an Archivalien und durcb
die dauernd sich steigernde Inanspruchnahme für Zwecke 6tr VerwaHang
eine sich immer vermehrende Arbeitslast zu bewältigen gehabt, aber bisher
haben dem Archivar festangestellte wissenschaftlich gebildete Archivbeamte
nicht zur Verftigung gestanden. Der Urkundenbestand ist nach dem greisen
Brande inventarisiert worden, aber die damalige Verzeichnung der Urkunden
weist manche Mängel auf; überdies bedarf das Urkundenarchiv der Er-
gänzung durch die in den Akten verstreuten Urkunden, eine Arbeit, die von
Wichtigkeit ist für die längst geplante Wiederauftiahme und Fortsetzung des
mit staatlicher Unterstützung begonnenen Hamburger Urkundenlmt^ (Bd. i,
herausgegeben von Lappenberg 1843, reicht bis zum Jahre 1300), neben
welchem auch die Publikation anderer Quellen ins Auge zu &ssen ist Ganze
Teile des Archivs müssen femer umgestaltet und dabei die älteren historisch
wichtigen Archivalien von den neueren der Verwaltung dienenden Akten ge-
trennt werden, eine Handschriftensammlung und für die an Hamburgensien
reiche Archivbibliothek ein neuer Realkatalog (ein Zettelkatalog ist neuer-
dings hergestellt worden) mufs angelegt werden. — Unter Hinweis auf diese
Verhältnisse stellte der derzeitige Vorstand des Archivs, Senatssekretär
Dr. Hagedorn, am 2. Aprü 1899 bei dem Senate den Antrag, nachdem
die Verl^ung des Archivs in das neue Rathaus zur Ausftihrung gekommen
sei, nunmehr eine Anzahl fester Beamtenstellen für wissen-
schaftliche Assistenten am Staatsarchiv zu schaffen, schon
deshalb, weü ein häufiger Wechsel der gar nicht zu entbehrenden und bereits
seit längerer Zeit herangezogenen wissenschafdichen HÜfekräfte für die Archiv-
arbeit selbst nichts weniger als forderlich sein köime. Dem durch eine
ausfuhriiche Denkschrift begründeten Antrage zufolge waren vier Beamte in
Aussicht genommen, welche von dem Leiter der Archiwerwaltung thunHchst
gleichmäfsig zur Vorbereitung der vom Staatsarchiv abzugebenden Berichte
und Gutachten herangezogen werden sollten. Aufserdem aber sollte einem
jeden von ihnen ein besonderes Arbeitsgebiet angewiesen werden, und zwar
sollte einer für die Urkundenabteilung, einer für das Aktenarchiv, einer für
die an das Archiv gelangenden wissenschaftlichen Anfragen und den Verkehr
mit dem das Lesenmmer benutzenden Publikum und schlieislich einer für die
Bibliothek und die Plankammer Verwendung finden. Überdies wurde die
NeuansteUung zweier oberen Bureaubeamten empfohlen. Am 21. Juni 1899
beantragte darauf der Senat unter Mitteüung der vorerwähnten Denkschrift,
welche auch bereits die künftig geplante Organisation des Archivs in den
Grundzügen erkennen läfst, und unter dem Hinzufugen, dafs ein fernerer
Antrag des Vorstandes der Archiwerwaltung auf Herausgabe eines Ham-
burgischen Urkundenbuches vorliege, die Zustimmung der Bürgerschaft
zu der Beamtenvermehrung. Im November 1899 ist danü die Angdegenheit,
nachdem ein Ausschufs der Bürgerschaft sie einer Prüfung unterzogen hatte,
dadurch zum Abschlufs gekommen, dals die Bürgerschaft aufser der Neu-
— 245 —
anstellung von zwei Bureaubeamten die Einfügung von drei wissenschaftlichen
Assistenten in den Beamtenetat des Staatsarchivs genehmigte.
Bereits S. 171 fif. wurde an der Hand der „Mitteilungen der k. Preu-
isischen Archiwerwaltung'* auf die Entwicklimg und den gegenwärtigen Zu-
stand des preufsischen Archivwesens hingewiesen. Wenn wir heute über die
bezüglichen Verhältnisse des zweitgröfsten deutschen Bundesstaates etwas ein-
gehender Bericht erstatten, so wird dies ebenÜEÜls manchem Leser willkommen
sein. Vor allem sei bemerkt, dafs in keinem Lande Europas betreffe Offen-
legung der Archive für prozessuale wie wissenschaftliche
Zwecke gröisere Liberalität bewiesen wird, als gerade in Bayern, (vergl.
S. i8i ff. den Artikel: „Archivbenutzimgsordnungen") und dafs für Heran-
bildung eines tüchtigen Beamtenstandes wohl nirgends in aus-
gedehnterem Mafse Vorsorge getroffen ist, als gerade hier; (vergl. die Ver-
ordnung vom 3. März 1882 betr. „Vorbedingtmgen für Anstellung im k.
Archivdienste" und „Ges.- und Verordn.- Blatt für das Königreich Bayern"
Nr. 10 vom 9. gl. Mts. u. Js.). — Wenn trotzdem amtliche Publika-
tionen vermifst werden — die in den Jahren 1822 bis 1854 edirten Regesta
swe rerum boiearum autographa haben keine Fortsetzung erfahren und die
bei Th. Ackermann erscheinende „Archivalische Zeitschrift" verdient kaum
diesen Namen -^ so berührt das eigentümlich genug. Wenigstens fehlt es
nicht an Kräften zur Hebung des in den bayerischen Archiven au%estapelten
&st unerschöpflichen Materials. Der Ausdruck ist wohl nicht zu kühn.
Besitzt doch das Allgemeine Reichsarchiv in München allein gegen eine
halbe Million vom Jahre 776 bis in die Neuzeit reichender Pergamenturkunden,
7000 Kodices (Traditions-, Kopial-, Sal-, Zins-, Gilt-, Steuer- etc. -Bücher)
und in dreifsig Sälen eine Fülle solcher Akten, wie sie im Laufe der Jahr-
hunderte bei hohen Justiz- und Verwaltungsstellen erwachsen sind. In jeder
der acht bayerischen Provinzen befindet sich femer ein sogenanntes „Kreis-
archiv". Unter ihnen müssen diejenigen von Oberbayem (München),
Niederbayem (Landshut), Oberpfalz (Amberg) und Schwaben (Neuburg) im
wesentlichen als „Antiquarregistraturen" betrachtet werden, weil sie die Haupt-
masse der Urkunden, (besonders aUe Stücke vor dem Jahre 1400) und die Hand-
schriften des Mittelalters an das allgemeine Reichsarchiv abgegeben haben.
Immerhin aber verwahren sie noch neben zahllosen Aktenprodukten etwa
15000 Dokumente und gegen 2000 Bände verschiedensten Inhalts. Wenn
das Kreisarchiv der Rheinpfalz zu Speyer nur 7000 Urkunden und 70 Kodices
besitzt, so tragen in erster Linie die Raubkriege Ludwigs XTV. von Frank-
reich die Schuld daran. Die Archive der drei fränkischen Kreise zu Würz-
burg, Bamberg und Nürnberg sind überaus reich, da sie durchschnittlich
60000 Stück Urkunden nach 1400 imd über 2000 Kodices in ihren Räumen
bergen. — Enthalten die bisher genannten, dem Staatsministerium des Innern
subordinierten „Landesarchive" in der Hauptsache Materialien, welche
über Vermögens- und Rechtsverhältnisse des Staates in seiner gegenwärtigen
Zusammensetzung Aufschlufs geben und vorzüglich Verwaltungszwecken dienen,
so verwahren zwei, der Respizierung des k. Staatsministeriums des Äufseren
untergeordnete Archive nämlich das „Geheime Haus-" und das „Ge-
heime Staatsarchiv" solche Dokumente, welche Personen wie Besitzstand
19
— 346 —
des k. Hauses und dessen diplomatische Beziehungen zum Auslande be-
handeln. — Wie fkst überall läfst auch in Bayern die Repertorisierung
der Archive viel zu wünschen übrig, zumal die Zahl der Arbeiter zur
Bewältigung der Riesenaufgabe noch immer in keinem Verhältnis steht.
Ob die seit jüngster Zeit emgefUhrte Vermehrung der Dienst-
stunden den Mangel an Köpfen und Händen ausgleichen wird, bleibt
abzuwarten.
Die Beamten der Landesarchive zerfallen wie die bayerischen
Staatsdiener überhaupt in zwei Kategorien: pragmatische (sämtlich mit aka-
demischer Fachbildung) tmd nich^ragmatische. Zu den ersteren gehört
vor allen der den Rang eines Regierungsdirektors bekleidende Vorstand des
Allgemeinen Reichsarchives. Die Vorstandschaft des Geh. Haus- und
Staatsarchives ist einem Rat im Staatsministerium des Äufsem als Neben-
amt zugewiesen. Vier Reichsarchivräte sowie der Geheime Haus- und Staats-
archivar rangieren mit den Oberlandesgerichts- bezw. Regierungsräten. Die
Geheimen Sekretäre des Haus- und Staatsarchives, sodaim die drei Reichs-
archivassessoren tmd acht Kreisarchivare sind untereinander im Range £^eich
(sss Oberamtsrichter). Sekretäre (= Amtsrichter^ giebt es im Ganzen dreizehn,
und zwar am Reichsarchiv wie am Haus- und Staatsarchiv je einen; von
den Kreisarchiven haben drei (München, Nürnberg, Würzburg) je zwei, die
übrigen nur einen aufzuweisen. Im ganzen sind 32 „pragmatische** Archiv-
beamte vorhanden. Was das Subalternpersonal betrifit, so scheidet es sich
in Funktionäre und Diener. Letztere rekrutieren sich ausschlielslich ans
Militäranwärtem. Von den Funktionären, worunter sogar einzelne sich aka-
demischer Bildung rühmen können, wird mindestens Kenntnis der lateinischen
Sprache gefordert
Bezüglich der Gehaltsverhältnisse steht Bayern ebenso hinter den
übrigen gröfseren Bundesstaaten, vor allem Preufsen zurück, wie es diese
nach anderer Richtung übertrifft. Das Anfangsgehalt eines Sekretärs be-
ziffert sich auf 2460 M., steigt nach drei Jahren auf 2820 M. tmd be-
trägt im zweiten Quinquennium 3180 M. Die Kreisarchivare beginnen mit
4x40 M., erreichen nach fünf Jahren 4500, nach einem Decennium
4860 M. Die Reichsarchivassessoren und Geheimsekretäre beziehen um
x8o M. mehr. Reichsarchivräte und der Geheime Haus- und Staatsarchivar
fangen mit 5460 M. an und erhalten Quinquennialzulagen von 360 M.
Ein Mittelposten zwischen Rat und Direktor, sonst bei aUen
Zweigen der bayerischen Verwaltung vorhanden, fehlt beim Archivwes^i.
Der Vorstand des Reichsarchivs empfängt 7020 M. Gehalt und 720 M. Zu-
lage. Auch ist ihm ein Diätenbetrag von 800 M. zur freien Disposition an-
gewiesen. Der Sprung vom Rats- zum Direktorialgehalt beträgt somit
3000 M. — Sind die Lohnsätze an sich etwas niedrig gehalten, so er-
scheinen namentlich jene der höheren Beamten, die zum Aufenthalt in
der so teuer gewordenen Hauptstadt des Landes (München) gezwungen sind,
als absolut unzureichend, ganz besonders dann, wenn Söhne und
Töchter Universitäten oder Pensionate besuchen. Da sich auch zu Neben-
verdiensten (Diäten) nur selten, dabei in beschränktestem Mafse, Gelegenheit
bietet, — die Respizierung der Kommunialarchive ist leider den hiefÜr we-
niger geeigneten Verwaltungsbehörden überlasseil — so kann sich die öko
— Ul —
nomische Lage der Assessoren und Räte unter Umständen sehr prekär ge-
stalten. Revision des Gehaltsregulativs und Bewilligung von
Servisgeldern ist unbedingt nötig, auch von Seite der Staatsregie-
rung bereits in Aussicht gestellt. — Was die finanziellen Leistungen
für die Landesarchive betrifft, so erreichen dieselben nahezu die Hälfte
der von Preufsen ausgeworfenen Summe. Für die laufende Finanzperiode
betragen sie 188,418 M. Auch die amtlichen Leistungen der
bayerischen Archive können mit jenen der deutschen Vormacht einen
Vergleich aushalten. So sind z. B. im Jahre 1898 am allgemeinen Reichs-
archive 390, bei den Kreisarchiven 1373, teilweise sehr umfassende imd
zeitraubende Recherchen gepflogen worden. Trotzdem finden manche Be-
amte noch die nötige Mufse zu litterarischer Bethätigung. So haben z. B.
die Reichsarchivräte Dr. Batunann und Dr. Wittmann sowie Archivsekretär
Dr. J. Weife (vergL Kürschner, Litt. Kalender 1900 Sp. 60, 1581 und 1526)
auf dem Gebiet der Geschichte, Länder- und Völkerkunde, Reichsarchiv-
assessor Dr. Hansen auf jenem der Nationalökonomie, Archivsekretär Dr. Sperl
auf jenem der Belletristik einen geachteten Namen erworben. Die Publi-
kationen des früheren Reichsarchivdirektors Dr. v. Rockinger (insbes. zur Ge-
schichte des Schwabenspiegeb) wie seines Nachfolgers Edmimd Freiherr v. Oefde
(Grafen von Andechs etc.) zeichnen sich durch Scharfeinn und Gründlichkeit
aus; ersterer war auch lange Jahre hindurch als akademischer Lehrer er-
folgreich thätig. — Der Nachwuchs an geprüften und ungeprüften Prakti-
kanten endlich berechtigt zu den besten Hoffnungen für die Zukunft
Die bereits S. 109 als in Aussicht stehend erwähnte Beständige
archivalische Ausstellung im Stadtarchiv Mühlhausen ist am
3 3. Mai eröffnet worden. Im ersten Stock des Rathauses sind historische
Denkmäler der Stadt aufgestellt und werktäglich jedem Besucher während
der Bureaustunden unentgeltlich zugänglich. Urkunden, Siegel und Siegel-
stempel, Münzen Mühlhäuser Prägung sind ausgestellt, sodann eine stattliche
Reihe grofser mit feinstem Kunstverständnis angefertigter Photographieen alter-
tümlicher Bauten sowie eine Reihe vorgeschichtlicher Altertümer.
Der Thüringer Archivtag (vgl. S. 35) hat diesesmal seine Ver-
sammlung unter dem Vorsitz von Prof. Bangert-Rudolstadt am 17. Juni
in Rudolstadt abgehalten. Vertreten waren die Staatsarchive von Arnstadt,
Coburg, Gotha, Rudobtadt und Weimar, sowie die Stadtarchive von
Langensalza (Stadtarchivar Gutbier) und Mühlhausen. Die Verhandlungen
unterrichteten an erster Stelle über das Zaponverfahren zur Erhaltung alter
Handschriften (vgL S. 56 — 60), Prof. Georg es- Gotha berichtete über die
Dresdner Koi^erenz, Prof. Bangert tmd Archivdirektor Burkhardt-
Weimar ergänzten seine Mitteilungen. Es wurde auch hier festgestellt, dais
die 2^ponierung nicht in Anwendung zu bringen sei bei Archivalien, die
mit Reagenzien behandelt worden sind. An zweiter Stelle berichtete Archivrat
Mitzschke über den ersten Archivtag und an dritter sprach Prof. Heyden-
r eich- Mühlhausen über Wesen, Zweck tmd Nutzen von Archivausstellungen
im allgemeinen und über die in Mühlhausen eingerichtete ständige Archiv-
ausstellung im besondem. Die Thätigkeit des Archivtags im verflossenen
19 ♦
— 248 —
Jahre war vor allem der Herstellung des jetzt fertig vorliegenden Wegweisers
durch die historischen Archive Thüringens, bearbeitet von Archivrat Mitzschke^
gewidmet, aber auch eine bessere Organisation und Durchforschung der Thü-
ringischen Stadtarchive wurde mit Nachdruck angestrebt. Als nächstjähriger
Versanmüimgsort wurde Mühlhausen bestimmt, zum Vorsitzenden an Stelle
des aus Gesimdheitsrücksichten zurücktretenden Archivrats Mitzschke wurde
Prof. Heydenreich gewählt.
Behufs Ordnung der lunfassenden , geschichtlich nicht unbedeutsamen,
Aktenbestände des Fürstl. Landesarchivs zu Sondershausen wurde seitens der
Regierung daselbst Dr. Hans v. Wurmb, früher am Geh. Staatsarchive zu
Berlin, berufen. Die Aufstellung eingehender Verzeichnisse der dortigen
Urkundensanmilung besorgte bereits früher der ehemalige, jetzt verstorbene,
Fürstl. Archivar Pfarrer em. Th. Apfelstedt.
Mnseen« — Der Verein für Geschichte und Altertümer der
Herzogtümer Bremen und Verden und des Landes Hadeln mit
dem Sitz in Stade besitzt eine Sammlung, welche reich ist an vorgeschicht-
lichen Fimdstücken, vaterländischen Münzen und Gebrauchsgegenständen
neuerer Zeit; auch eine gute Bibliothek ist damit verbunden. Diese Sanmi-
lung war bisher imd ist noch in Räumen tmtergebracht, welche von der
Stadtverwaltung früher gegen Entgelt jetzt aber unentgelüich zur Verfügung
gestellt waren tmd noch sind. Doch sind diese Räume zu klein, ungünstig
gelegen und schlecht beleuchtet, so dafs sie in keiner Hinsicht genügen.
Der Vereinsvorstand ist daher etwa seit einem Jahre der Frage näher ge-
treten, wie geeignete Räume für das Museum gewonnen werden können,
imd hat jetzt beschlossen, auf einem von der Stadtverwaltung unentgeltlich
zur Verfügung gestellten Bauplatze ein eigenes Vereinshaus zu bauen. Die
Baukosten werden sich auf etwa 40000 Mk. belaufen. Dank der Bemühungen
des Vereinsvorsitzenden, Regierungspräsidenten Hi ml y, sind durch freiwillige
Beiträge 15000 Mk. aufgebracht worden, 5000 Mk. kann der Verein aus
eigenen Mitteln zur Verfügung stellen, 5000 Mk. hat die Hannoversche
Provinzialverwaltung zugesagt und ein städtischer Verein, dessen Aufgabe es ist,
wohlthädge Unternehmungen zu unterstützen, hat ein Kapital von 5000 Mk.
unverzinslich gegeben, sodafs an die Ausführung des Baues nach einem
fertiggestellten Plane im Jahre 1901 gegangen werden wird. Im Neubau
werden Bibliothek und Sanmilung in groisen hellen Räumen untergebracht
werden, es sollen aber auch zwei Bauernstuben, eine nach dem Muster eines
Marschbauemhauses und eine nach der Art eines Geest bauemhauses eine
Stelle finden; die dazu notwendigen Zimmergeräte sind dem Verein bereits
von seinen Mitgliedern in genügender Menge zur Verfügung gestellt worden.
Es ist ein erfreuliches imd nachahmenswertes Beispiel thadullftiger Vereins-
thätigkeit worüber wir berichten können.
Die Sammlungen der Museumsgesellschaft in Arnstadt wurden
im Jahre 1899 aus den ebenfalls ungenügenden Räumen im alten Rektorate
nach dem Rathause überführt und dabei einer Neuordnung und Sichtung
untei zogen. Aber auch eine beträchüiche 2kuiahme der Sammhmgsgegen-
— 249 —
stände ist zu verzeichnen, nämlich von 1147 auf 1297 Nummern, darunter
auch recht Wertvolles, wie einige alte Schwarzburgische Militäruniformstücke.
Für die nächste Zeit ist die Veröffentlichung eines Museumskataloges in Aus-
sicht genommen, der auch Abbildungen der wertvollsten Stücke enthalten soll.
Das Museum des Vereins „Camtmtum*' (vgl. oben S. 197) in Deutsch-
Altenburg ist der Zielpunkt zahlreicher Studienausflüge geworden. Da aber
die Menge des zu Tage geförderten Materials die Bergung der gewonnenen
Schätze immer schwieriger macht imd da das jüngst entdeckte Waflfenmagazin
antike Rüstungen im Gewichte vieler Zentner enthält, so wurde die Erbauung
eines Museums zur dringenden Notwendigkeit Der Verein hat die Erbauimg
eines solchen beschlossen und hat sich, mn das Vorhaben ausführen zu
können, an den niederösterreichischen Landtag mit der Bitte tun Unterstützung
gewandt Die Kosten des Baues werden auf 70000, die der Einrichtung
auf 10 000 Kronen angeschlagen. Der Verein bat mm, der Landtag möge
durch die vier Jahre 1901 bis 1904 je 8000 Kronen zu diesem Zwecke
bewilligen, im ganzen also 32000 Kronen gewähren. Der Verein erhofit
vom k. k. Unterrichtsministerium 1 6 000 Kronen und will eine gleiche Summe
aus eigenen Mitteln aufbringen, auch von der Stadt Wien steht ein Zuschufs
von 8 000 Kronen , auf vier Jahre verteilt, zu erwarten , sodafs die nötigen
Mittel fast beschafft wären. Der Landtag hat nunmehr dem Vereine „Car-
nuntum" eine Unterstütztmg von 20000 Kronen zugesagt, aber unter der
Bedingung, dafs das Reich den gleichen Beitrag leistet, und zwar soll die
Summe in fünf Jahren (1900 bis 1904) zu je 4 000 Kronen zur Auszahlung
gelangen. Sollte das Reich weniger als 20000 Kronen bewilligen, so werden
die Raten der späteren Jahre entsprechend gekürzt werden. Sollte der Staat
gar nichts geben tmd der Bau des Musemns imterbleiben , so unterbleibt
auch die Unterstützung seitens des niederösterreichischen Landtages. Die
im Voranschlag des Landesfonds für 1900 schon eingestellte, bisher ge-
währte jährliche Unterstützung von 1000 Kronen wird durch diese aufser-
ordenüiche Bewilligung nicht berührt.
PersonaUen. — Der Professor der alten Geschichte an der Universität
Breslau Ulrich Wilcken wurde nach Würzburg berufen. — In Irmsbruck
wurde der Privatdozent Michael Mayr zum aufserordcnüichen Professor
für Neuere Geschichte imd zugleich zum Archivdirektor erster Klasse er-
nannt, ebendort der bisherige Privatdozent in Wien Johann v. Voltelini
zmn aufserordentlichen Professor der österreichischen Geschichte als Nach-
folger von Joseph Hirn. — Der Privatdozent der Kunstgeschichte in Königs-
berg Hermann Ehrenberg wurde zum aufserordentlichen Professor er-
nannt — Für Geschichte habilitierte sich in Freiburg i. B. Dr. Wahl, für
Kunstgeschichte in Erlangen Dr. Friedrich Haak und in München
Dr. Karl Voll. — Der bisherige Bibliothekar und Privatdozent der mittelalter-
lichen Geschiohte Wilhelm Altmann in Greifswald wurde ab Oberbibliothekar
nach Berlin versetzt. — Mit der Direktion des Archivs und der Bibliothek des
k. k.FinanzministeriumsinWienwurdeDr. Victor Hofmann von Wellenhof
an Stelle des kürdich verstorbenen Alexander Budinszky betraut. — Von
wissenschafUichen Beamten an den preußischen Staatsarchiven wurden ver-
— 250 —
setzt: Archivar Merx von Magdeburg nach Osnabrück, Archivar Granier
von Berlin nach Breslau, Archivassistent v. Domarus von Hannover nadi
Wiesbaden, Hilüsarbeiter Spangenberg von Osnabrück nach Berlin, Hilfe-
arbeiter Müsebeck von Breslau nach Schleswig und der bisher an der
Kgl. Bibliothek in Berlin thätige Dr. Paczkowskials Archivar nach Posen. —
In Österreich wurde der Landeshistoriograph und CSncipist am Landesarchiv
in Brunn Dr. Bretholz zum Landesarcbivar daselbst, Michael Mayr
zum Archivdirektor I. Klasse in Innsbruck, A. Starzer zum Archivdirektor
II. Klasse in Wien und R. Schuster zum Archivdirektor n. Klasse am
Regierungsarchiv in Salzburg ernannt — Der bisherige Privatdozent der Ge-
schichte in Giefsen Julius Dieter ich wurde zum Haus- und Staatsarchivar
in Dannstadt ernannt — In Wien starb im Alter von 35 Jahren der Gustos
an der GemäldegaUerie des Ho6nusetmis und Universitätsprivatdozent der
Kunstgeschichte Dr. Hermann Dollmayr.
Eingegangene Bfieher.
Arbeiten des Uckermärkischen Museums- uud Geschichts-
vereins. Heft I: Schmeisser, Georg, Die Eiszeit und die Uckermark.
(26 S. 8 <>. 1898, Druck von A. Minck in Prenzlau). Heft II: Sendke-
Bagemühl, Uckermärkisches Volkstum und lebendes Altertum (24 S. 8 ^.
1898). Heftni: Schumann-Loeknitz, Vorgeschichüiche Beziehungen der
Uckermark während der Stein- und Bronzezeit (21 S. 8^. 1899).
Heft IV: Leonhard, Otto, Fossile Reste und was sie uns lehren ül>er
die Entwickelimgsgeschichte unserer Fauna und Flora (18 S. 8 ^, 1899).
Heft V: Schlippenbach, Albert, Graf von, Die Entstehung und Ent*
Wickelung des deutschen Adels mit besonderer Berücksichtigimg der in
der Uckermark angesessenen Geschlechter (31 S. 8<*. 1900).
Bruiningk, H. v.: Die älteren Kirchenbücher Livlands. [Abdruck aus
den Sitzimgsberichten der Gesellschaft fUr Geschichte und ^tertumskunde
der Ostseeprovinzen Rufslands für das Jahr 1897.]
Gramer, Franz: Inschriften auf Gläsern des römischen Rheinlandes [Ab-
druck aus dem Jahrbuch XTV des Düsseldorfer Geschichtsvereins].
Dietrich, F.: BibHographie der deutschen Zeitschriften -Litteratur mit Ein-
schlufs von Sammelwerken und Zeitungen. Band V (= Juli bis De-
zember 1899) Leipzig, Felix Dietrich, 1900. 353 S. 4 ®. •^18.
Döhmann, Karl Georg: Beiträge zur Geschichte der Stadt und Grafschaft
Steinfurt. I. Die Burgmannen von Steinfiirt 32 S. 8 <>. [Beilage zum
Osterprogramm des Gymnasium Amoldinum in Burgsteinfurt 1900.]
Donaubauer, Stephan: Gustav Adolf und Wallenstein vor Nürnberg im
Sommer des Jahres 1632 [Mitteilungen des Vereins für Geschichte der
Stadt Nürnberg 13. Heft (1899), S. 53—78].
Eubel, Konrad: In commendam verliehene Abteien während der Jahre 1431
bis 1503. [Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und Gister-
cienser-Orden, XXI. Jahrgang (1900), S. i — 15.]
Förtsch, O.: Mitteilungen aus dem Provinzialmuseum der Provinz Sachsen
zu Halle a. S. Mit 80 AbbUdungen im Text, Plänen und Tafeln.
104 S. 8 <>. HaUe a. S., Otto Hendel 1900.
Frensdorff, Ferd.: Aus dem mittelalterlichen Göttingen. [Festschrift dem
— 251 —
Hansischen Geschichtsverein und dem Verein für niederdeutsche Sprach«
forschung dargebracht zu ihrer Jahresversammhing in Göttingen, Pfingsten
1900. S. 34 — 60.]
Friesen, Ernst Freiherr von: Geschichte der reichsfreiherrUchen FamiUe von
Friesen. 2 Bände, Dresden, C. Heinrich, 1899. Jt 20. i. Band:
Geschichte der FamiUe — Geschichte der Güter und Häuser in Dresden,
welche die Familie besessen hat und noch besitzt 2. Band: Urkunden-
buch — Synchronistische Zusammenstellung von Regesten der Familie —
Verzeichnis von MitgUedem derjenigen Familien, mit denen Mitglieder
der Familie von Friesen verheiratet gewesen tmd noch sind — Register —
Wappen — Stammbäume — Karte.
Guericke, H.: Das Postwesen vor 200 Jahren in einer kleinen deutschen
Stadt (nach Uiinmden des Stadtarchivs zu Hehnstedt). Helmstedt,
Richter & Wolter, 1900. 32 S. 4®.
Heinrich, Arthur: Geschichtliche Nachrichten über Naumburg a. B., Frei-
waldau tmd Haibau. Sagan, Druck von A. Menzel, 1900. 127 S. 8<^.
Hampe, Theodor: Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg von der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts bis 1806. [Mitteilungen des Vereins
für Geschichte der Stadt Nürnberg xa. Heft (1896) und 13. Heft (1899).]
Hedinger, August: Die Urheimat der Germanen. [Neue Jahrbüdier ftir
das Klassische Altertum, Geschichte und deutsche litteratur und für
Pädagogik 3. Band, S. 562 --57a.]
Hellmann, Oskar: Jauer, ein geschichtlicher Rückblick« 15 S. 16 ^'^
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[Sonderabdruck aus der Festschrift der Latina ztir zweihundertjährigen
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Karlsruhe, J. Lang. 1900. 46 S. 8 <>.
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Dr. Heinrich Nentwig (112 S. 16 0. Warmbrtmn 1896). II. Schaff-
gotsch'sche Gotteshäuser tmd Denkmäler im Riesen- tmd Isergebirge von
Dr. Heinrich Nentwig (188 S. 16 0. Warmbrunn 1898).
^ 252 —
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Osten, Gustav von der: Aus einer kleinen Landstadt, Festschrift zum fUnf-
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Schmidt, Friedrich: Sammlung Äir die Geschichte von Sangerhausen und
Umgegend. Sangerhausen, Druck von Aug. Schneider. Heft I bis VI,
je 48 S. i6 0.
Schöppe, Karl: Zur Geschichte der Reformation in Naumburg. [Fest-
schrift des Thüringisch-Sächsischen Geschichts- und Altertumsvereins zur
sechsten Versammlung deutscher Historiker zu Halle a. S. im April 1900,
S. I — 136.]
Schubert, H. v. : Die Entstehung der Schleswig - Holsteinischen Landes-
kirche. Kiel, Universitätsbuchhandlimg, 1895, 44 ^* ^ ^*
Sello, Georg: Historische Wanderung durch die Stadt Oldenburg. [Fest-
schrift für die Tagung des Hanisischen Geschichtsvereins zu Oldenburg
im Mai 1896.]
Vancsa, Max: Bibliographische Beiträge zur Landeskunde von Nieder-
österreich im Jahre 1899. [Sonderabdruck aus den Blättern des Ver-
eines für Landeskunde von Niederösterreich 1900.]
Veröffentlichungen aus dem Archive der Stadt Freiburg im
Breisgau. IIL Teil: Die Urkunden des Heiliggeistspitals zu Freiburg
i. Br. n. Band 1401 — 1662. Freiburg, Wagner 1900. 640 S. 8 <>. ^ 6.
Verzeichnis der Jeverland betreffenden Handschriften und
Drucke des Mariengymnasiums in Jever. Jever, Mettcker
& Söhne, 1900. 35 S. 8«.
Volk, Georg: Der Odenwald und seine Nachbargebiete, eine Landes- und
Volkskunde. Stuttgart, Hobbing & Büchle 1900. 439 S. 8 ^. geb. .^12.
Weller, Karl: Württemberg in der deutschen Geschichte. Stuttgart, Kohl-
hammer 1900. 65 S. 8 ^. «^ I.
Win te 1er, J. : Über einen römischen Landweg am Walensee. III. Richtig-
stellungen und Ergänzungen. Aarau, Sauerländer & Co. 1900. 49 S. 4 ^.
Zfbrt, Öenck: Bibliografie Cesk^ Historie. Praze 1900. 674 S. 8®.
Zweck, Albert: Litauen, eine Landes- und Volkskunde. Suttgart, Hobbing
& Büchle 1898. 452 S. 8 0. Jl 9.50.
Bemerkung. — Das Augustheft der „Deutschen Geschichtsblätter'*
(Nr. ii) wird gemeinsam mit dem für September (Nr. 12) als Doppelheft
in der ersten Hälfte des August ausgegeben werden, und dieses
wird zugleich das Titelblatt und Inhaltsverzeichnis zum ersten Jahrgang ent-
halten, den es abschlieist.
H«nusgtb«r Dr. Aniim Tille ia Leiptif . — Druck und Verlag tob Friedrich Andreas Perthes in Godia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Fördenmg der landesgeschichtlichen Forschung
I. Band August/September 1900 11./12. Heft
Orts.natnenfor sehung
Von
Hermann Wäschke (Dessau)
Als Kaiser Wilhelm I., auf der Heimfahrt aus Gastein begrifTen,
am 12. August 1886 in Güterglück, dem Knotenpunkt der Magde-
burg-Leipziger und Berlin-Nordhäuser Bahn, sich der seiner Ankunft
harrenden Menge zeigte, da ruhte sein sinnender Blick nicht niu: auf
dem Menschenschwarme, der ihm fröhlich zujubelte, sondern auch auf
dem Orte, der einen so eigentümlichen und doch anziehenden Namen
hat. Inmitten des regen Verkehrs, der sich damals entspann, inmitten
der vielen wichtigen und unwichtigen Dinge, die an ihn herantraten,
veigafs er den Klang dieses Namens nicht, und manche der damals
ihm vorgestellten Persönlichkeiten überraschte er mit der Frage, was
der Name dieses Ortes bedeute*).
Dies eine Beispiel mag* genügen, die Thatsache zu bestätigen,
dals im Bewu&tsein der Menschen die Ansicht lebt, die Namen seien
nicht rein Zufälliges, nicht eine Summe gleichgültiger Laute, sondern
bedeutungsvoll und in inniger Beziehung zu dem bezeichneten Gegen-
stande zu denken. Niemals wird das mehr empfunden, als wenn Glück
oder Schmerz den Blick auf die Persönlichkeit selbst zu lenken zwingen;
dann steigt in voller Kraft die an Gewifeheit grenzende Erkenntnis
auf, dafs ein ideeller Zusammenhang zwischen dem Namen und dem
bezeichneten Gegenstande bestehe, dafs notnen et omen sei *).
Versuche, Ortsnamen in diesem Sinne zu deuten, finden sich
zahlreich im Alten Testamente, das älteste Beispiel dafür ist wohl die
Erklärung des Namens Morijäh ^).
i) Progr. des HercogL Francisceams ia Zerbst v. J. 1887. S. 17.
3) So sieht Sophokles (Ajax 430) im Namen des Telamoniers den Schmerz aus-
geprägt, den Träger des Namens eben durch diesen schon zum Schmerzdnlden prädestiniert.
Ähnlich im Nalaliede (Kellner, Das Lied vom Könige Nala^ Leipzig 1885, S. 2i),
3) Genesis 22, 14.
20
— 254 —
Wenn nun die denkenden Menschen aller Zeiten durch das Pro-
blem der Namensdeutung" angeregt wurden ^) , wie vielmehr müssen
wir ein Interesse daran bei den Männern voraussetzen, die sich mit
der Geographie und der Geschichte irgend eines gröfeeren oder
kleineren Territoriums beschäftigen. Ihr Interesse ist zwar zunächst
nur auf eine Klasse der Namen, die Ortsnamen, beschränkt, aber da
die Ortsnamen noch individuelleren Charakter haben als die Personen-
namen, so wird auch die Wahrscheinlichkeit eine gröfeere, dafe der
Name irgend welche Beziehungen zum bezeichneten Gegenstande in
sich berge. Diese Beziehungen darzulegen, sie aus der Qualität bloiser
Ahnungen imd Vermutungen hinüber zu fuhren in die unanfechtbaren
Wissens und damit einzureihen in das System historischer, geographischer,,
sprachlicher Wissenschaft, das ist das Ziel derjenigen Forschung, die
seit der Begründung der Sprachwissenschaft eine gesichertere Gnmd-
läge, seit der Ausdehnung historischer Studien auf die Territorial- und
Lokalforschung eine besondere Förderung imd seit der gröfseren
Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Fragen eine erhöhte Bedeutung^
gewonnen hat.
So viel steht ja von vornherein fest und ist auch durch die bis-
herige Forschung bestätigt, dafe, wenn wü-klich ein Zusammenhang
zwischen dem Ortsnamen und der bezeichneten Ortlichkeit besteht,^
wir die Aussicht haben, in dessen Deutung entweder etwas über die
Beschaffenheit derselben, oder über Beziehungen zu ihrer Umgebung,,
über Bewohner und Anwohner, über Gründer oder besondere Art der
Gründung zu erfahren *). Eine neue Erkenntnis nach dieser oder jener
Richtung bereichert unser Wissen über eine Zeit, zu der uns andere
Mittel der Forschung meist nicht zu führen vermögen. Darum sind
derartige Forschungen notwendig.
Die richtige Würdigung dieser Verhältnisse hat in neuerer Zeit
vielfach zur Erforschung der Ortsnamen*) geführt, und man hat auf
i) Vgl. O. Schell, Etymologisches Wörterbuch der Geographie Rheinlands,.
(Bielefeld 1891). Im Vorwort
2) Heilig, Die Ortsnamen des Kaiserstuhls, S. i. (Vgl. S. 83 dieser ZeiUchrift)
3) Der Begründer der wissenschaftlichen Ortsnamenforschang ist Wilhelm Arnold,
der in seinem Bache Ansiedelungen und Wanderungen deutscher Stämme. Zumeist
nach hessischen Ortsnamen (Marburg 1875) eine ganz gewaltige Menge von Namen-
material verarbeitet hat Seine Theorie, wonach gewisse Endangen fUr Siedelang. durch
Angehörige gewisser Stämme sprechen, z. B. die Orte auf -heim als fränkisch, die anf
• weiler und -ingen als alemannisch in Anspruch genommen werden, ist jedoch in
neuerer Zeit als anrichtig erkannt worden, indem namentlich durch die Arbeiten von
Hans Witte nnd Adolf Schiber (vgl. S. 153 dieser Zeitschrift, Anm. 2) erwiesen
— 255 —
Grund des so gewonnenen Materials alle möglichen Folgerungen ge-
zogen, namentlich die Besiedelungsgeschichte aufzuhellen versucht.
Aber so sehr sich auch die Forschung des nunmehr recht regen
Lebens auf diesem Felde freuen darf, demjenigen, der sich eingehen-
der mit den betreflfenden Arbeiten imd ihren Ergebnissen vertraut
macht, kann es nicht entgehen, dafs trotz der staunenswerten Fülle
von Einzeluntersuchungen, recht oft deren Ergebnisse, nicht minder
aber die Methoden, mit deren Hilfe sie gewonnen wurden, anfechtbar
erscheinen.
Der gute Wille allein genügt für derartige Untersuchungen nicht
es ist vielmehr eine umfassende wissenschaftliche Ausrüstung erforder*
lieh. Da nämlich , wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe *) , die
Deutung der Ortsnamen eine Arbeit ist, die auf der Grenzscheide
verschiedener Wissenschaften liegt, so setzt sie die Hilfe dieser Wissen-
schaften voraus, neben der Kenntnis von Geschichte und Geographie
und deren Arbeitsmethoden kommt vor allem die Sprachwissenschaft
mit allen einschlägigen Disziplinen in Betracht. Die Deutung der
Eigennamen *) ist in allen Sprachen das schwierigste Problem , weil
aufser der gegebenen Lautform meist alle anderen Beziehungs- und
folglich auch Deutungs-Elemente fehlen, und diese Schwierigkeit des
Problems mufs sich in dem Grade steigern, wie die übrigen Sprach-
worde, dafs vielmehr zeitliche Unterschiede in den verschiedenen Endnngen zum Ausdruck
kommen. Anch Karl Weller, Die Besudelung des Alamannenlandes [Wttrttembergische
Vierteljahrshefle für Landesgeschichte. N. F. VII (1898)] kritisiert S. 27 £ Arnolds
Theorie. Derselbe bringt in seiner Ansiedelungsgeschichte des württembergischen Ftan"
kens rechts vom Neckar [ebenda III (1894)] S. 8, 31 — 37, 44, 52, 74 — 77 viel ein-
schlägiges Material bei. Abgesehen von sahireichen Arbeiten über die Ortsnamen be-
stimmter Landschaften ist aber bereits eine kleine Litteratnr — auch schon vor Arnold —
über dieses Forschungsgebiet entstanden. Es seien hier erwähnt:
Bender, Die deutschen Ortsnamen in geographischer y historischer ^ besonders in
sprachlicher Hinsicht mit stäter BerOcksichtigung der fremden Ortsbenennungen,
Siegen 1846.
Alois Hrnschka, Deutsche Ortsnamen, (Sammlung gemeinnütziger Vorträge
Nr. 56). i88a
Julius Wisnar, Zu Brandts Erklärung topographischer Namen [Programm des
k. k. G3rmnasinms in Znaim 1890]. Brandls Arbeit ist in böhmischer Sprache 1885 in
der Zeitschrift „Obzor^' erschienen.
Georg Pfahler, HandimchdeuUcher Altertümer (^xzs^ba\.%.^, 1865) S. 697—728.
Friedrich Günther, Die Bedeutung der Ortsnamen für die Kulturgeschichte,
[Pädagogische Abhandlungen. Neue Folge III. Bd. Heft 2. Bielefeld, Helmich 1898].
Haselmeyer, J. E., Über Ortsnamenkunde, Wttrzburg, Kellner 1898.
1) Mitteilungen d, Vereins für Anhalt, Geschichte, 7. Bd. (1895—98) 607 f.
2) VgL oben S. 61.
20»
— 256 —
denkmäler des betreffenden Volkes oder Stammes an Zahl oder Um-
fang abnehmen, sie hat ihren Höhepunkt erreicht, wo von dem Vor-
handensein eines Volkes und seiner Kultur nichts weiter übrig g-eblieben
ist als eben diese Namen, die von jener Zeit als letzte Überbleibsel
haften geblieben sind an Wald und Weide, Berg und Burg, an Flufe,
Flur und Feld.
Der wissenschaftliche Charakter der neueren Ortsnamenforschung
läfst sich nicht verkennen, aber fast jeder Forscher ist bisher seinen
eignen Weg gegangen, es existiert in der That gegenwärtig keine all-
gemein anerkannte Forschungsmethode, seitdem die Arnoldschen An-
sichten wesentlich erschüttert worden sind. Zwar haben sich nebenher
Forscher über ihre Arbeitsweise geäufsert und die Forderungen, die
sie an einen wissenschaftlichen Betrieb der Ortsnamenforschung stellen,
klar ausgesprochen *), aber dringend notwendig ist gerade jetzt eine
gegenseitige Verständigung, wenn nicht noch länger mühsame Unter-
suchungen zum grofeen Teil vergeblich sein sollen.
Unter diesem Gesichtspunkte will ich meinerseits das aussprechen,
was ich in Bezug auf Methodik der Ortsnamenforschung für
notwendig erachte, und dabei teils das darlegen, was ich an den bisher
erhobenen Forderungen für richtig halte, teils eigene Beobachtungen
zur Prüfung vorzulegen.
Ich gehe zum Zweck näherer Begründung von dem oben be-
schriebenen Ereignisse aus. Es wäre uns gewifs nicht uninteressant,
zu erfahren, was eigentlich damals Kaiser Wilhelm I., als er nach der
Bedeutung des Ortsnamens Güterglück fragte, für eine Antwort er-
halten habe; aber es ist mir leider unbekannt geblieben. Nur unter
denen, die gleich mir, draufsen harrend standen und von dieser wissen-
schaftlichen Frage hörten , war des Rätsels Lösung bald gefunden :
Güterglück bedeute den Ort, an dem man mit seinen Gütern Glück
habe. Efe ist möglich, dafs auch in der Umgebung des Kaisers jemand
mit dieser sinnigen Deutung sein Glück versucht hat; aber sie ist
nichts weiter als das Werk des reinen Dilettantismus.
Dieser Düettantismus hat sich namentlich in früherer Zeit behag-
lich breit gemacht; doch dafe er in den Untersuchungen der jüngsten
i) Weller, Die Besudelung des Alamannenlandes (Sonderabdrack ans den
Württembergischen Vierteljahrsheften fUr Landesgeschichte, Neue Folge, VIL Stutt-
gart 1898), S. 27. — Rohde in Verhandlungen des 5. Deutschen Geographentages
zu Hamburg (Berlin 1885) und im Jahresbericht der Männer vom Morgenstern^ Heft 2,
Bremerhafen 1899. — Armin Tille in Verhandlungen der 4$, Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner^ Bremen tSgg^ S. 96 ff.
— 257 —
Vergangenheit auch noch hie und da vergnüglich hervorluge, wage
ich nicht zu bestreiten. Ich möchte, um ihn recht zu würdigen, zwei
Arten desselben unterscheiden: den naiven und den pseudo-
wissenschaftlichen.
Der erstere, der naive Dilettantismus, folgt der Eingebung des
Augenblicks, sein Hilfsmittel ist die Phantasie, seine Handhabe der
im Namen gegebene Anklang an sprachliche Formen der Gegenwart.
Wie er Güterglück deutet als den Ort, an dem man mit Gütern
Glück hat, so wird er es als eine besondere Erleuchtung betrachten,
Gütersee als den See zu deuten, in dem Güter verborgen liegen.
So verfuhr man zumeist in alter Zeit, und als geradezu erhabenes
Beispiel dieser Methode will ich die Deutung hier verzeichnen, die
man für den Namen Dessau gefunden hat; man deutet Dessau =
diese Au, und ziu: Bestätigung derselben kann man in Würdigs
Chronik der Stadt Dessau *) wörtlich lesen : „Die andere (Deutung
des Ortsnamens) kleidet sich in die hübsche Fabel, wonach es seine
Gründung und seinen Namen Kaiser Karl dem Grofsen (geb. 742,
gest. 814), zu verdanken haben soll. Genannter Kaiser soll nämlich
auf seinem Siegeszug im Jahre 785 auch an die untere Mulde ge-
kommen sein und hier in den Kreuzbergen (zwischen Dessau und
Torten) die heidnischen Sachsen geschlagen haben. Und weiter heilst
es in der Sage, dafe dieser grofee Kaiser — vielleicht an einem
schönen Sommerabend, als die Gegend von den letzten Strahlen der
untergehenden Sonne piurpum beleuchtet gewesen und über dem nahen
Muldeflufs ein leichter Nebel gewallt, oder gar der silberne Mond aus
dem üppigen Grün der Waldungen gegen Osten aufgestiegen — ent-
zückt von der lieblichen Gegend die Worte ausgerufen habe: Diese
Au ! '* Erhaben nenne ich diese Probe des naiven Dilettantismus, denn
schwerlich wird sich anderwärts eine auch nur annähernd so groß-
artig mit allen Mängeln des Dilettantismus ausgestattete Deutung eines
Ortsnamens finden!
Der pseudowissenschaftliche Dilettantismus tritt auf
mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, sein Hilfsmittel ist Sprach-
kenntnis, seine Handhabe der zufällige Anklang im Lautgehalt eines
Ortsnamens an bestimmte Wörter einer fremden Sprache. Auch in
ihm lassen sich verschiedene Arten je nach der gröfseren oder ge-
ringem sprachlichen und historischen Bildung des Forschers unter*
scheiden, doch gemeinsam ist allen der Dogmatismus, mit dem man
i) Dessau 1876.
— 258 —
an das historische Problem herantritt. Oder wie soll man anders dies
Deuteln nach vorgefafster Meinung bezeichnen, der Meinung", dafs in
allen Ortsnamen ein Element aus fremden, nicht einheimischen
Sprachen nachzuweisen sei? Als Übergangsstufe vom naiven Dilet-
tantismus zum pseudowissenschaftlichen möchte ich das bezeichnen,
was mein Lehrer über Anhaltische Ortsnamen vortrug. Er deutete
Paschleben = Osterode, d. h. aus Pascha = Ostern und leben =
rode zusammengesetzt. Neben der erheiternden Naivetät in Be-
urteilung sprachlicher und historischer Thatsachen herrscht in solchen
Erklärungen der Dogmatismus als Methode.
Der strengere Dogmatismus gliedert sich wieder in den theo-
logischen und den philologischen. Der erstere gehört im
grofsen und ganzen der Zeit des Humanismus und der Reformation
an. Die dogmatische Voraussetzung ist die in der Bibel gegebene
Einheit des Menschengeschlechts und dessen Zerstreuung durch den
Turmbau zu Babel, ferner der sprachliche Dogmatismus, dafs das
Hebräische die älteste, wenn nicht gar Ursprache des Menschen-
geschlechts sei. Unter dieser Annahme und Voraussetzung wird ver-
ständlich, wie die Zeit der Humanisten die Deutung der Ortsnamen
mit Hilfe des Hebräischen unternehmen konnte. Als Beispiel für
diesen jetzt wohl vollständig überwundenen Standpunkt führe ich
wieder an, was nach dieser Richtung hin Beckmann *) über den Orts-
namen Dessau mitteilt. Er fragt, ob Dessau nicht ,,eine Verwandt-
schaft mit dem in Maccab. 14, 16 erwähnten Flecken Dessa
habe, und (erwähnt) dafe Dr. Luther nicht abgeneigt gewesen, die um
Wittenberg gelegenen Örter dem Namen nach aus dem gelobten
Lande abzuleiten, so Jefsnitz von Jesse, Pratau von Ephrata,
Seida von Zidon, Düben von Dibon u. s.w." Was Luther nur
zweifelnd und als nur möglich hinstellte, das drückte Melanchthon *)
in einem am 23. Nov. 1546 von Dessau an Camerarius gesendeten
Briefe ganz bestimmt aus: Ex oppido, quod Xei/Aiiv est appellatione
geatis Hebreae; er leitet also Dessau vom Hebräischen »tt5"!i ab.
Der philologische Dogmatismus gehört der neueren Zeit an.
Seine Vertreter haben vor dem ebengenannten die gröfsere Exaktheit
sprachlicher Kenntnis voraus, auch insgesamt eine anerkennenswerte
historische Bildung, aber infolge der Vorliebe für irgend eine Sprache,
i) Chronik ä. Fürstenthums Anhalt 1710; auch mitgeteilt in JVÜrdigs Chronik
d, Stadt Dessau, S. 4.
2) Corp. Ref. VI, 287 und Krause, Melanthoniana, Zerbst 1885.
— 269 —
für irgend eine Theorie lassen sie ihre Forschungen leicht der Einseitig-
keit anheim fallen. Für das Gebiet der deutschen Ortsnamenforschung
lassen sich daraufhin leicht zwei Kategorieen aufstellen: die Kelto-
manen und die Slawophilen.
Die Keltomanie ist auf dem Gebiete der Ortsnamenforschung
wohl im Rückgange, sie hat hier allmählich diejenige Beschränkung
erfahren, die ihr gebührt, doch hat sie hier und da doch noch ganz
wunderliche Blüten aufzuweisen. Wenigstens will ich in diesem Zu-
sammenhange auf den an sich interessanten Fund von Biere aufmerk-
sam machen, der von dem glücklichen Finder wiederholt besprochen
ist, ohne dafe er die gebührende Beachtung gefunden hätte. Es sind
vom Lehrer Rabe in Biere auf dem Dahlsberge bei diesem Orte nach
Welsleben zu etwa 1200 Steine mit Zeichnungen und Schriftzeichen
gefunden worden, der gröfste Teil derselben ist in das Museum nach
Quedlinburg gekommen, ein kleiner Teil wohl noch im Besitz des
Herrn Rabe selbst. Herr Rabe spricht die Steine als keltisch an und
hat darauf die Erklärung mehrerer Steine versucht und veröffentlicht *).
Diese Erklärung trägt, so weit ich es beurteilen kann, den Stempel
dilettantischer Arbeit an sich, vielleicht genügt aber dieser Hinweis,
um einen wirklichen Kenner keltischer Sprachen zum Studium dieser
Steininschriften anzuregen. Erst durch solche Untersuchung kann auch
die von dem Finder aufgebaute ethnologische These auf ihre Berech-
tigung und ihren wahren Wert hin geprüft werden. Die von ihm
gegebene Deutung der Ortsnamen z. B. „Dahlsberg = irisch da
{gut, fest); irisch ail (Waffe) und irisch ais (Burg) wurde zu ,Dahls* =
gute (feste) WafTenburg. An keltisch ,Dahls* hängten die den Kelten
folgenden Deutschen ihr ,berg*, so entstand für den Hügel der Name
, Dahlsberg* — ** erwecken allerdings nicht gerade gute Hoffnungen
für die Richtigkeit der übrigen Untersuchungen.
Die Slawophilen haben besonders da den ausgebreitetsten
Schauplatz ihrer Thätigkeit, wo, wie bei uns im Lande, das Grenz-
gebiet slavischer und deutscher Siedelung liegt *). Es ist fast unglaub-
1) Antiquitäten-Zeitung. 7. Jahrg., Nr. 51. (20. Dez. 1899).
2) Es gicbt eine recht grofse Littcratur über slaviscbe Ortsnamen im östlichen
Deutschland, aas der hier nur einiges angeföhrt werden kann:
M. May, Sind die fremdartigen Ortsnamen in der Provinz Brandenburg und
in Ostdeutschland slavisck oder germanisch ? (Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung
Nr. 30 vom 30. Juli 1899).
Mucke, Die slavischen Ortsnamen der Neumark (Schriften des Vereins f. Ge-
schichte der Neumark, 7. Heft, 1898, S. 51^189).
— 260 —
lieh, was alles als slavisch angesproehen wird, jeder halbwegs unver-
ständliche Ortsname verfällt seinem Schicksale, für slavische Sprache
und slavische Siedelung* annektiert zu werden. Ich habe an einem
Beispiele gelegentlich nachgewiesen, wie unzulänglich dieser philo-
logische Dogmatismus in seinen Ergebnissen erscheinen mufs *). Der
Weise, Oskar, Slavische Siedelungen in Sachsen- Altenburg. Eisenberg, Pro-
gramm 1883.
Hey, Die slavischen Ortsnamen des Königreichs Sachsen. Döbelu 1883. — Der-
selbe, Die slavischen Siedelungen des Königreichs Sachsen, Dresden 1893. — Der-
selbe, Dte slavischen Ortsnamen der Meissner Gegend (Mitteilungen des Vereins für
Geschichte der Stadt Meifsen, i. Bd. 1884). — Derselbe, Slavische Ortsnamen in
deutschem Gewände (Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, 1887, Nr. 20).
Schottin, Reinh., Die Slaven in Thüringen (Programm des Gymnasiums vi
Bautzen, 1884).
Kühnel, Die slawischen Orts- und Flurnamen der Oberlausitz (Neues Lausitz.
Magazin. Bd. 66 (1890), 67, 69—71, 73).
Schmaler, Die slavischen Ortsnamen in der Oberlausitz und ihre Bedeutung»
Festschrift, Bautzen 1867. 4^
Ewald Müller, Dcu Wendentum in der Nieder lausitz. Cottbus, Dissert 1893.
Kühnel, Die slavischen Ortsnatnen in Mecklenburg. Jahrbücher des Vereins för
Mecklenburgische Geschichte 1880. Programm Neubrandenburg 1881 und 1882.
Hey, Die slavischen Ortsnamen von Lauenburg. 1888.
Immisch, Die slavischen Ortsnamen im Erzgebirge. Programm Annaberg 1866.
Miklosich, Die Bildung der Ortsnamen aus Personennamen im Slavischen.
Wien 1865. — Derselbe, Die slavischen Ortsnamen aus Appellativen. Zwei Teile,
Wien 1872 und 1874.
Neue Arbeiten über die slavischen Ortsnamen in Deutschland, Globus XlX, S. 39 — 59-
Frank el. Zum Namen Dessau (Mitt d. Vereins f. Anhalt Gesch. u. Altertums-
kunde I, 563).
F ranke 1, Slavische Ortsnamen in Anhalt. Mitt 5, 265 — 269, 329—336.
Schulze, Bedeutung der Namen u. s. w. Mitt. 3, 598 — 603.
Schulze, Erklärung der Namen der Städte u. s. w, Mitt 6, 56 — 89.
Fränkel, Noch einmal zum Namen Dessau. Mitt 6, 195 f.
Schulze, Der Name Dessau, Mitt 6, 438—441.
Seelmann, Slaventum in Anhalt, Mitt 6, 469—503.
Schulze, Bemerkungen u, s. w. Mitt. 7, 31 — 71.
Kindscher, Bodowytz. Mitt. 7, 72.
Seelmann, Erwiderung, Mitt 7, 169 — 176.
Schulze, Berungberg, Mitt 7, 177.
Wasch ke, Berungberg. Eine Frage etymologischer Methodik. Mitt 7, 243 — 246.
Schulze, Noch einmal der Name Berungberg, Mitt 7, 448 f.
WSschke, Beiträge zur Gesch, d. wendischen Dialektes in Anhalt. I. Teil.
Mitt 7, 603—629.
Wäschke, Güsten. Mitt 8, 339 f.
i) Vgl. Lütt ich, Über deutsche Volksetymologie: Ortsnamen. Programm, Naum-
burg 1882.
— 261 —
Ortsname Güsten wird von einigen anhaltischen Forschem seinem
Lautgehalt nach für slavisch angesehen, daher auch der Ort als eine
ursprünglich slavische Siedelung angesetzt, aber dennoch ist sowohl
der Name als auch die Siedelung ursprünglich deutsch, wovon später
noch die Rede sein wird. So mag es wohl noch mit einem grofsen
Teile der Ortsnamen und Siedelungen stehen, die mit grofser Energie
für das Slaventum in Anspruch genommen werden.
Hiermit glaube ich die hauptsächlichsten Irrtümer charakterisiert
zu haben, denen die Ortsnamenforschung bisher zum Teil verfallen
war. Jetzt müssen wir versuchen, den Weg darzulegen, den
die Forschung einschlagen mufs, um zu gesicherten und
wissenschaftlich wertvollen un^d verwendbaren Ergeb-
nissen zu gelangen.
Alle Wissenschaft beginnt da, wo man das einzelne Gegebene
nicht in seiner Vereinzelung, sondern in einem Zusammenhang gleich-
artiger Erscheinungen zu begreifen sucht. Die dabei zuerst und natür-
lich gegebene Reihe bieten die bekanntgewordenen Entwickelungs-
phasen des betreffenden Einzelnen. Diese erste und natürliche Reihe,
in der wir den einzelnen Oitsnamen zu begreifen suchen, ist die historisch
nachweisbare Entwickelung der Namensform selbst. Wer bei
dem wiederholt genannten Ortsnamen Güterglück nur auf die nächst-
älteren Namensformen zurückgeht, ixndQi Jutercltc, — klik, — kltck, —
klyck, d. h. einen ganz anderen Anlaut der einzelnen Bestandteile,
nämlich beim erstem J, beim letztem k, beziehungsweise das nur ortho-
graphisch unterschiedene c. Schon aus dieser Betrachtung ergiebt sich,
dais die moderne Namensform jenes Ortes ihren Ursprung genommen hat
in einem dem sprachlich ausreichend geschulten Forscher zur Genüge be-
kannten sprachlichen Triebe : der sogenannten Volksetymologie *).
Doch wird dieses Ergebnis noch bedeutend klarer hervortreten,
wenn man denselben Vorgang an einer Reihe ähnlicher Ortsnamen
feststellt, z. B. wenn man die Ortsnamen ähnlichen Lautgehaltes prüft,
nämlich Jütrichau, Jüterbogk, Gütersee. Das letztere Güter-
see, eine Ortlichkeit bei Cöthen in Anhalt, konnte ich aus Urkunden
vor dem Jahre 1400 nicht nachweisen, doch bieten die beiden ersteren
schon in der modernen Form den Anlaut J und noch deutlicher und
ohne jede Abweichung in den Urkunden: Juterchow, Juiherchaw,
futerkow, Juterchowe ; Juterhoch, — buch, — bück *).
i) MitU d, Vereins f. Anhalt, Gesch, 8, 339.
2) Ccd, dipl. AnhalHnus im Index. Bd. VI.
— 262 —
Innerhalb dieser Reihe gilt es die mutmafslich älteste Form zu
erkennen, denn nur sie kann die Grundlage der sprachlichen Deutungs-
versuche bilden *). Es ist nicht immer zu entarten, dafs die zeitlich
älteste Überlieferung auch die älteste sprachliche Form des Stammes
bietet; so findet sich z. B. 12 14 Jtitherchow und 1273 Juterchowe,
obwohl das letztere die sprachlich ältere Form ist. Aber im all-
gemeinen darf man annehmen, wie es fast selbstverständlich ist, dafe
die älteren sprachlichen Formen sich auch in den älteren Dokumenten
finden. Hat man aus der Überlieferung diese älteste Form gefunden,
so gelingt es dem geschulten Blick wieder sehr häufig, durch blofse
Vergleichung mit verwandten Erscheinungen eine noch ältere Form
zu erschliefsen , z. B. für Juterchowe die Form Juterchowa, so dafe
wir die gesamte Entwicklung des Namens in geschlossener Reihe vor
uns haben: Juterchowa, Juterchowe, Juter chow, Juter chau, Jütrichau.
Liegt diese Reihe klar vor unsern Augen, so ist die Grundlage für
die sprachliche Untersuchung gesichert. Die Herstellung dieser Reihe
ist oft mit Schwierigkeiten verbunden, oft ist sie sofort klar, wie in
Juterclic, das ofifenbar zwei zu einem Tatpurusha, d. h. Determinativ-
Kompositum , verknüpfte Substantive enthält wie rajaputra = Königs-
sohn. Seine Deutung hat Direktor Stier in dem genannten Programm
dahin gegeben: „dais ,Jüterclick* (vgl. Jüterbog, Jütrichau) Stein-
haufen = Denkmal oder Altar zu Ehren des altwendischen Gottes der
Morgenröte bedeuten dürfte."
Aus dem Gesagten ergiebt sich das erste Gesetz wissenschaftlicher
Ortsnamenforschung: Es ist notwendig, die gesamten erreich-
baren Formen eines Ortsnamens festzustellen, in der
historischen Überlieferung die ältesteForm zu erkennen
und auf dieser Form in stetem Hinblick auf die Reihe
der Überlieferung und die Überlieferung und Bildung
gleichartiger Namensformen die sprachliche Deutung
aufzubauen.
Nicht alle Forscher haben dieses Gesetz als für sich verbindlich
angesehen ; so notwendig es ist, bei Deutungsversuchen auf die älteste
Form des Namens zurückzugehen, so oft ist dies in der Praxis ver-
säumt worden, wenn auch grundsätzlich wohl niemand ernstlich da-
gegen Einspruch erheben dürfte *).
i) Vgl. die folgende Anmerkung.
2) Heilig, a. a. O. S. i: „Nur solche etymologische Versuche scheinen uns näm-
lich Bercchügung su haben, die in kritischer Weise an der Hand der Sprache und nicht
— 263 —
Gewichtiger ist der Einwurf, mit dem ich mich an einer anderen
Stelle bereits beschäftigt habe ^) : die Überlieferung gäbe kein absolut
zuverlässiges Bild der Namensform. Ich kann dabei nur wiederholen,
was ich an jener Stelle bereits ausgeführt habe, dafe namentlich in
Urkunden, mögen sie nun in Deutschland oder Italien oder sonstwo
ausgestellt sein, die sprachliche Form des geschriebenen Ortsnamens
immer ein möglichst adäquater Ausdruck des wirklichen Lautgehaltes
sein mufs, weil ja damit die Sicherheit des betreffenden, rechtlichen
Aktes, etwa eines Kaufes oder einer Tradition, im engsten Zusammen-
hange steht.
Doch glaube ich, in diesem Zusammenhange auf einen Fehler
aufmerksam machen zu müssen, welcher die Richtigkeit der Ergebnisse
unsrer Forschung einigermafsen beeinträchtigen kann: es ist die kritik-
lose Benutzung der Überlieferung. Selbst die besten Publikationen
sind nicht immer frei von Irrtümern in der Lesung der Eigennamen.
Ich verweise statt vieler nur auf ein Beispiel hin. Im Codex Diplo-
maticus Anhaltinus I, 70 findet sich von v. Heinemann gelesen der
Name einer Mark Gimuete. Dazu bemerkt der Herausgeber selbst
im Index „vielleicht = Gnez", ein Zusammenhang, der allerdings
lautlich unmöglich erscheint. Nun hat aber Sickel in den Monumenta
Germaniae, Diplomata II, 307 dieselbe Urkunde publiziert und statt
des Gimuete vielmehr Gumiete herausgelesen, ja er hält es ebenfalls
für möglich, dafe Gunnete zu lesen sei. Dafs diese letztere Vermutung
das Richtige trifft, ist nach v. Heinemanns oben angeführter Gleich-
setzung sehr wahrscheinlich, für uns aber wird daraus ersichtlich, dafs
die Forschung im Zweifel selbst auf die Originalurkunde zurückgehen
mufs. Ja, wir werden noch weiter fordern müssen, dafs zur Sicherung
<ier historischen Reihe der Namensformen eines Ortes auf die diplo-
matische Kritik Rücksicht genommen werde. Wenn nämlich, wie ich
an einer anderen Stelle nachgewiesen habe *), die historische Formen-
reihe: Popowiki — Popowizi — Popowize — Popowiz als Typus der
Ortsnamen auf — owiz anzusetzen ist, wovon Popowiki etwa dem IX.,
Popowizi dem X., Popowize dem XI. und XII., Popowiz dem XIII.
und XIV. Jahrhundert angehört, so mufs die aus dem Jahre 964 über-
lieferte Ortsnamenform Burgewtz berechtigte Bedenken hervorrufen;
ledigUch auf Grund der ältesten erhaltenen Form gemacht werden" unterscheidet sich
mit dieser Behauptung von meiner Darlegung wohl nur in der Formulierung des Ausdrucks.
i) Mitteilungen d, Vereins f. Anhalt. Gesch,, 7, 609. Vgl. dazu den oben citierten
"Vortrag von Rohde (S. 93).
2) Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte, VII, S. 621.
— 264 —
und ein Eingehen auf die diplomatische Kritik wird den Verdacht, den
wir gegen die Echtheit der Datierung jener Urkunde, vielleicht der
Urkunde selbst, hegen, nur verstärken. Von der Urkunde ^), die hier-
bei in Betracht kommt, urteilt v. Heinemann selbst, dafe sie gar nicht
dem X. Jahrhundert angehöre, und wir werden auf Grund des Ge-
sagten als weiteres belastendes Moment diese Namensform hinzufügen,
die als Zeit der Abfassung jener unechten Urkunde etwa das XII. Jahr-
hundert erweist.
Es fehlt nicht an Vorarbeiten, die für ein bestimmtes Gebiet die
überlieferten sprachlichen Formen der Ortsnamen in chronologischer
Folge zusammengetragen haben *). So dankenswert sie an sich sind,
so viel Zeit und Mühe sie der sprachlichen Forschung ersparen, so viel
brauchbarer und dankenswerter würden sie noch erscheinen, wenn bei
ihrer Zusammenstellung die ebenbezeichnete doppelte Art der Kritik
angewendet worden wäre. Als zweites Gesetz ergiebt sich danach
für uns: Die Überlieferung der Ortsnamensform bedarf zu
ihrer Sicherung des Zurückgreifens auf die ersten und
besten Quellen und dabei der steten Berücksichtigung
der diplomatischen und philologisch-historischen Kritik.
Ist nun in der angegebenen Weise der Lautgehalt einer Ortsnamen-
form hinreichend sicher festgestellt, so handelt es sich um die Ent-
scheidung über die sprachliche Zugehörung. Es wird dies etwas
Leichtes sein bei solchen Ortsnamen, die in der unverkennbar ursprüng-
lichen Lautform erschlossen sind: z.B. Köln = colonia als ursprüng-
lich lateinisch, oder Burg = bürg als ursprünglich deutsch und Most
(Dorf bei Dessau) = most als slavisch, altsl. mostü = Brücke, selbst
bei Kompositis wie Aschersleben (Askegeresliha) imd Güterglück
(Juterclic) ist die Entscheidung für die eine oder die andere Sprache
1) Cod. dipl. Anhalt, I, 38.
2) Stenzel, Th., Die frühesten urkundlichen Erwähnungen von Ortschaften
Anhalts, Mitt. d. V. f. Anh. Gesch. 2, 223 — 230, 271—281. — Marjan, Keltische
[und lateinische] Ortsnamen in der Rheinprovinz (vier Programme 1880—1883 der
Realschule erster Ordnung za Aachen) giebt immer das Jahr an, in dem eine bestimmte
Namensform erscheint. — Auch Förstemann, Altdeutsches Namenbuch^ 2. Bd.: Orts^
namen (2. Bearbeitung, Nordhansen 1872) giebt Jahreszahlen sa den Namensformen, aber
da die Namensform, die als Stichwort dient, nicht die moderne ist, so ist der praktische
Nutzen fUr den Forscher nicht allzugroft , wenn er wissen will . wie dieser oder jener
Name urkundlich überliefert ist. — Besser dient diesem Zwecke Oesterley, Historisch-
geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters (Gotha 1883). Es wäre davon
nur eine zweite Auflage erwünscht, in welcher fiir jede Landschaft ein Sachkenner den
Namensschatz prüfen und vervollständigen sollte.
— 265 —
unmittelbar klar. Schwieriger wird sie jedoch bei all den Bildungen,
wo die Volksetymologie verändernd eingewirkt hat, wie bei Jütrichau
und Gütersee. Wenn in einem solchen Falle, wie bei Jütrichau, die
historische Reihe der Namensformen übersichtlich vorliegt, so mag
man etwa an Jutrichowa ihre sprachliche Zugehörigkeit erkennen, wo
das nicht der Fall ist, wie bei Gütersee, mufe, wegen der Zusammen-
setzung mit dem slavischen Jutr die Analogie dazu führen, das ge-
samte Kompositum für das slavische in Anspruch zu nehmen, wenn
auch das zweite Glied des Kompositums so vollständig deutsche
Form angenommen hat, dafs seine slavische Grundform ganz verwischt
und unkenntlich geworden ist. Es giebt ja zwar Forscher, die solche
hybriden Bildungen als zu Recht bestehend annehmen, aber nach
meiner Überzeugung wird sich die Zahl derselben sehr vermindern
lassen, indem man die Formen sorgfältiger prüft, speziell in , Güter-
see', ob das letzte Glied des Kompositums nicht auf eine .slavische
Form zurückzuführen sei, und wenn das nicht, ob dann nicht vielmehr
in dem ersten Gliede eine lautliche Veränderung etwa aus Gude — ,
wie z. B. in dem oberfränkischen Gudebiegen vorliege *).
Als ein besonders charakteristisches Beispiel möchte ich in dieser
Hinsicht die Etymologie des Ortsnamens Güsten (St. in Anhalt) er-
wähnen, über die ich bereits an einer anderen Stelle gehandelt habe.
Als slavisch haben diesen Ortsnamen verschiedene Forscher bezeich-
net. Schulze ') erklärt es mit Hilfe des polnischen tajnu und wen-
dischen guz = versteckter Hügel ; Seelmann ^) setzt es in Beziehung
zu oberserbischem hose, altslavischem gosti, erwähnt aber als möglich
die Ableitung von oberserbischem husty = dicht, huscina = Dickicht,
altslavischem gost. In der Replik *) erklärt dann Schulze die An-
nahme Seelmanns für falsch, weil sich dadurch die Endung — ein
nicht erklären lasse, und führt dann den Ortsnamen zurück auf Gostinja,
tsch. Form für Hostyne = Ort des Gostyn (Gast, Fremdling). Wer
aber nun die überlieferten Formen des Namens prüft, wie wir es ge-
fordert haben, der findet *) : Guczstein, Gucstein, Gutstein, Gustein,
Gusten, Guzsten , Gozstetn, Guzten, Ghusteyn, Goztene, Gozene,
Gozzene, Gozzeve, Guesten, Gozsten. Die Kritik ergiebt in dieser
reichhaltigen Formentabelle alles übereinstimmende BUdungen bis auf
i) Für vollständig slavisch erldärt Gtttersee Fr, Günther im oben zitierten Bache S. 21.
%) Mtttetlungen d, Vereins für Anhalt, Gesch, 6, 72.
3) Ebendas. 6, 488.
4) Ebendas. 7» 45.
5) Cod, dipl, AnhaU, VI, 106.
— 266 —
Gozzeve , dieses mufs durch Zurückgreifen auf die Originalurkunde in
seinem Lautbestand gesichert werden ; die Kritik wird es dann entweder
als zu dem Ortsnamen Goztwa = Goschzschen im Kreise Lübben oder
zu Gozeuua, Gozuua^ Gozewa = Jetschko im Kreise Guben oder zu
einem andern Ortsnamen ähnlicher Bildtmg verweisen müssen, oder
aber die genauere Lesung des Textes wird ein Verlesen für Gozzene
hier ergeben. Wie dem nun auch sein mag, die Reihe der Über-
lieferung über die Namensformen des Ortes ist gesichert einheitlich,
die älteste Form Guczstein erweist den Ortsnamen als deutsch, von
dem die Endung in einer Reihe als — stein, in der andern als — sten
und in deren Zertrümmerungen vorliegt. Was wir durch sprachliche
Beobachtungen gefunden haben, lälst sich dann sogar noch durch
historisch- wirtschaftliche Erwägungen sichern, wofür ich kurz nur die
Darlegungen von Kraaz ^) anführe. Die weitere Arbeit wird dann
durch analoge Bildungen wie Gudsberg, Gudesberg, Gudenesberg er-
leichtert, denn wie in dem G dieses Ortsnamens nur die Latinisierung
des deutschen W vorliegt, also ergiebt sich auch die Reihe Güsten —
Gudssten — Godsstein — Godesstein — Godenesstein — Wodenes-
stein, d. h. Stein des Wotan *). Wir entnehmen aus dieser Darstellung
das weitere Gesetz unserer Forschung: Die Entscheidung über
sprachliche Zugehörigkeit der einzelnen Ortsnamen mufs
ohne jedes Vorurteil sich rein auf die durch die Kritik
gesicherte historische Reihe der überlieferten Formen
gründen; im Zweifel müssen die sprachlichen Thatsachen
ihre Sicherung durch die Analogie sowie durch die son-
stige geschichtliche Überlieferung suchen.
Nachdem die Entscheidung über die sprachliche Zugehörigkeit
des Ortsnamens getroflfen ist, mufs sich die weitere Forschung auf die
Deutung, die Etymologie desselben erstrecken. Es genügt dabei nicht
die Art und Weise, die ich oben in dem Ortsnamen Güsten bereits
angedeutet habe, dafs man nur Wörter aufsucht, die etwa mit dem zu
deutenden Ortsnamen in Beziehung stehn könnten, eine Thätigkeit, die
nur guten Willen und ein Wörterbuch voraussetzt, eine Thätigkeit, die
i) Kraaz, Bauerngut und Frondienste in Anhalt, Jena 1898, S. 8 f.
2) Gelegentlich kann eine so sichere Erklärung, wie sie für Godenesberg (Godesberg
am Rhein) gefanden ist, doch falsch sein. Im nicht allzu weit davon entfernten Sinzig
fmdet sich ein Godenhaos bezeugt, was natürlich sofort als zum Ortsnamen Godesberg
in Parallele stehend betrachtet wird. Hier ist es aber das Hans, welches König Adolf
1297 dem Ritter Heinrich, genannt der Gute, zu Lehen giebt. Annalen des historischem
Vereins für den Niederrhein, 19. Heft, S. 47.
— 267 —
Seelmann mit dem sehr treflfenden Namen , Wurzelfinden* bezeichnet
hat *) , nein , die Forschung mufe in Deutung des gesamten Laut-
bestandes eines Ortsnamens eintreten So lange in dem Ortsnamen
nicht alle Lautbestandteile erklärt sind, kann die Erklärung nicht als
vollständig angesehen werden. Wenn z. B. Schulze *) den Namen
Berungberg als perunova gora oder Perunova seil, gora = Berg des
Perun deutet, so ist die zweite Annahme unrichtig, denn dadurch whrd
der Lautgehalt von Berung nicht erschöpft, die erstere ebenfalls,
denn sie geht von einer Zertrümmerung des Lautgehaltes aus, die
deshalb unmöglich erscheint, weil sie gerade die betonte Silbe des^
zweiten Wortes gorä betroffen hätte, und außerdem schafft sie in
Berun-g-berg = Perunova- gorä -berg eine durch nichts zu recht-
fertigende Tautologie. Aus dieser Betrachtung leiten wir femer die
Forderung ab: Die Deutung des Ortsnamens mufs eine voll-
ständige, d. h. den gesamten Lautgehalt desselben durch-
aus erschöpfende sein.
Dais eine solche vollständige Erklärung durch ein unwissenschaft-
liches Raten oder Wurzelfinden nicht erreicht wird, ist klar, es gehört
dazu eine sichere Sprachkenntnis, namentlich aber, wie das die Natur
der Ortsnamen mit sich bringt, eine ausreichend sichere Kenntnis der
indogermanischen Wortbildungslehre. Einige Forscher glauben zur
Bekräftigung ihrer etymologischen Untersuchungen eine Menge von
sprachlichem Material beibringen zu müssen, so z. B. der oben-
genannte Schulze bei der Etymologie von Berungberg: „Berung =^
ein Überbleibsel von slav. perunova gora, oder perunova seil, gora =»
Berg des Perun, des Donnerers oder des Sonnengottes (von asl. perunu,
tsch. perun, poln. piorun, ow pjerun Donner, Donnerer, Donnergott,
der Gewitter und Regen bringende Sonnengott), litauisch Perkunas;
sanskr, Parjänya. Vergl. Beroun bei Pilsen, Prohn auf Rügen, urk.
Perun, Peron, Piorunow Pol., Perunova gora Bulg., Perunovyj dub =
Donnereiche Galiz." Nach meiner Ansicht ist das gelehrter Wust,,
keine Wissenschaft, wenigstens dient das Angeführte nicht dem Zwecke,
den wir oben als nächsten hingestellt haben. Wir müssen deshalb
auch verlangen: Alle sprachliche Gelehrsamkeit steht im
Dienst der Aufgabe, so dafs alle sprachlichen Thatsachen,
die zur erschöpfenden Aufklärung des Lautgehaltes un-
bedingt notwendig sind, auch vollständig beigebracht
1) MitteiloDgen VII, 607.
2) Mitteilungen des Vereins für Anhalt, GescK, 7, 177.
— 268 —
werden müssen, alles andere, was diesem Zwecke nicht
unmittelbar dient, als unnützer Ballast beiseite zu
lassen ist.
Selbst unter diesen Voraussetzungen wird es nicht immer möglich
sein, befriedigende Etymologieen und dadturch Deutungen der Orts-
namen zu geben. Das liegt in der Natur des Eigennamens, von der
ich oben geredet habe. Wir müssen uns aber eins vergegenwärtigen,
was von den einzelnen Forschem nicht immer genügend beobachtet
worden ist, dafe nach der Natur der Komposita deren erstes Glied viel
individueller, und daher der Deutung unzugänglicher ist als das zweite,
die Endung. Die Endung ist das vielen Gemeinsame, das durch das
erste Glied des Kompositums näher bestimmt wird, es liegt eine Art
Subsumption vor, oder eine charakteristische Determination. Wer nun
die ganze Unsicherheit früherer Methodik kennt, wird nicht von dem
mehr individuellen determinierenden ersten Bestandteile ausgehen,
sondern von dem zweiten. Das ist auch bei deutschen Ortsnamen
geschehen, wie bei slavischen. Ich selbst habe in dieser Weise die
slavischen Ortsnamen auf — owa, — owiz, — lizi, — nizi und — izko
in Anhalt einer Untersuchung unterzogen. Derartige Untersuchungen
ergeben relativ sichre Thatsachen, die nach ihrer Feststellung all-
mählich zur gesicherten Kenntnis auch der singulären Formen ver-
wendet werden könne. Auf Grund dieser Erfahrungen ist es methodisch
notwendig, die Deutung zusammengesetzter Ortsnamen
vom zweiten Gliede der Komposition (oder der Endung),
aus ausgehend vorzunehmen, weil diese gegenüber dem
ersteren Gliede das allgemeinere, darum der Forschung
im allgemeinen zugänglichere Element enthält.
Ist nun in dieser Weise die Etymologie eines Ortsnamens ge-
funden, so kann sie trotzdem noch eine unrichtige sein. Das liegt in
der gefundenen Deutung dann selbst, indem darin Beziehungen sich
ergeben haben oder angesetzt sind, die teils aus lokalen, teils aus
historischen Verhältnissen sich als unrichtig erweisen. So ist es mir
ergangen mit der Deutung des Ortsnamens Rieder *) , den ich von
dem ahd. riuten, mhd. roden ableitete; diese Etymologie wurde von
Schulze *) mit Recht zurückgewiesen , da die Lage des Ortes eine
Rodung vollständig ausschliefst, er meint, dafs vielmehr an ein Ried
i) Wäschke, Über Anhaltüche VolksmundarUn, Mitt. d. V. f. Anhalt Gesch.
2, 480.
2) Schulze, Dr. K., Zur Geschichte des Dorfes Rieder. Mitt 3, 440.
— 269 —
zu denken und deshalb das Wort von hrtod =^ carectum herzuleiten
sei. Noch merkvrürdiger und für unsere Forderung bezeichnender ist
der Irrtum Gröfelers *), der die Lösewitzer Laube in Beziehung' setfct
zu slav. hlubio: „So ist ja allerdings möglich, dals das Wort Laube
im Sinne von Busch steht; doch ebenso gut ist möglich, daä darin
das slav. hlubio, hlaub mit der Bedeutung , Tiefe* steckt, dafs also
weniger eine bebuschte Insel, als eine Wassertiefe des benachbarten
Flusses bezeichnet werden soll.'* Jeder nämlich, der die Lösewitzer
Laube kennt, wird über diese sprachliche Deutung staunen, denn dort
ist in der That eine mächtige aus einem gewaltigen Baume gebildete
Laube, zu der zur Sommerszeit von den umliegenden Ortschaften
Ausflüge veranstaltet werden, und in deren Schatten sich mehrere
Hundert Menschen ausruhen und vergnügen können. Bei der
Etymologie des Wortes Güsten konnte ich g^enüber den sla-
vischen Etymologieen meine Ansicht, dafs der Ortsname deutsch
sei und Wodansstein bedeute, au&er mit den sprachlichen Thatsachen
noch dadurch sicher stellen, da(s noch heutigen Tags unmittelbar am
Eingänge der Stadt ein gewaltiger erratischer Block sich findet, den
die Einwohner heute mit dem Namen , Speckseite* bezeichnen. Zur
Sicherung der durch sprachliche Untersuchung gefun-
denen Deutung des Ortsnamens ist es daher wichtig, das
Ergebnis an den geographischen und historischen Ver-
hältnissen des betreffenden Ortes zu prüfen.
So nach Kräften möglichst allseitig gesicherte Ei^ebnisse der
Ortsnamenforschung haben dann auch eine sichere Beweiskraft für
verschiedene Wissenschaften, und das ist der grofse Gewinn, der in
ihnen liegt. Sie werden nämlich der Sprachwissenschaft zunächst
zu gute kommen. Das ist besonders bedeutungsvoll in solchen Ge-
bieten, wo von der früheren Bevölkerung nichts übrig geblieben ist
als diese Namen, die an den Orten haften geblieben sind. Ich habe
den bescheidenen Versuch gemacht, auf Grund der Chronologie der
anhaltl<;chen Ortsnamen auf — owa und — owiz eine Geschichte des
ausgestorbenen wendischen Dialektes in Anhalt aufzubauen ^) , ebenso
haben andere Forscher die Geschichte bestimmter Sprachen und
I) H. Gröfsler, Urkundliche Nachweise über den Lauf der Saale zwischen
Halle und der Wippermündung und die an demselben gelegenen Wüstungen, (MiU.
<J. Ver. f. Erdk. HaUc 1897. S. 19).
a) Wäschke, Beiträge zur Gesch, des wendischen Dialektes in Anhalt, Mitt. d.
y, f. Anhalt Gesch. 7, 603 f.
21
— 270 —
Dialekte durch solche Untersuchungen aufgehellt '). In zweiter Linie
werden diese Ergebnisse wichtig für die deutsche Siedelungs- und
Wirtschaftsgeschichte, und von diesem Gesichtspunkte aus sind die
meisten Untersuchungen der Ortsnamen vorgenommen worden *). Frei-
lich bedarf es auch in der hier geschilderten Verwertung der Ergebnisse
unsrer Forschung der gröfsten Sorgfalt und Vorsicht. Nicht immer
steht ja den einzelnen Ortsnamen eine Charakteristik ihrer Siedelungs-
Verhältnisse beigegeben wie im Cod. dipl. Anhalt, i, 71: castellum
quoddam sclavonice dictum Budizco, theutonice Grimmerslove.
Das sind meine Ansichten über Methodik der Ortsnamenforschung
imd ihre Gesetze. Wenn ich sie auf Wunsch des Herausgebers dieser
Zeitschrift hier geäuCsert habe, so geschah es in der Absicht, damit
die Diskussion über diesen Gegenstand anzuregen, nicht aber in dem
Bewufstsein, nach irgend einer Seite etwas AbschlieCsendes beigebracht
zu haben. Dais ich dabei wiederholt auf eigene kleine Arbeiten hin-
gewiesen habe, möge der Leser damit entschuldigen, dafe Selbst-
erfahrenes näher in der Erinnerung zu liegen pflegt als von anderen
Erlesenes.
Die Denkmäler ^ In ventarisation in
Deutschland
Von
Ernst Polaczek (Straisburg)
Denkmälerstatistik, Denkmäler -Inventarisation — das sind auch
heute noch für einen grofsen Teil der Gebildeten unbekannte Begriffe,^
trotzdem man nun schon drei Jahrzehnte an der Arbeit ist , die Bau-
und Kunstdenkmäler bestimmter geographischer Gebiete zu inventari-
sieren d. h. sie systematisch zu verzeichnen und zu beschreiben.
Der Gedanke selbst ist noch viel älter. Schon Schinkel hatte 1815
und 1816 auf die Notwendigkeit hingewiesen, ein Inventar der Kunst-^
denkmäler, insbesondere der beweglichen, aufzustellen, und seine
i) Vgl. unter anderen: Müllenhoff, Etnleitung zu den Denkmälern deutscher
Poesie und Prosa aus dem VIIL — XII, Jahrhundert,
a) Arnold, W., Ansiedelungen und Wanderungen deutscher Stämme. — B a c -
me ister. Ad., Alemannische Wanderungen. I. — Weller, K., Die Ansiede lungs-
geschichte d, württembergischen Frankens rechts vom Neckar. — Weller, K., Die
Besiedelung des Alamannenlandes. — Armin Tille, Die bäuerliche Wirtschafts^
Verfassung des Vintschgaues. (Innsbruck 1895), ^* I7> 2^*
— 271 —
Anregung hatte an den mafsgebenden Stellen, vor allem beim König
Friedrich Wilhelm III. günstige Aufnahme gefunden; die thatsäch-
lichen Erfolge waren zunächst jedoch sehr gering, hauptsächlich wohl
deshalb, weil es an Männern fehlte, die derartige Arbeiten hätten
ausführen können. Auch als 1843 ^^ ^^^ Person des Baurats Ferdi-
nand von Quast ein Konservator fiir das ganze Gebiet des preußischen
Staates ernannt worden war, ging die Herstellung von Denkmäler-
Verzeichnissen nur sehr langsam vorwärts; bis 1859 lagen im ganzen
für vier Kreise brauchbare Arbeiten vor. So hatte es sich also er-
wiesen, dals auf dem bisher eingeschlagenen Wege in absehbarer Zeit
nicht an das ins Auge gefafste Ziel zu gelangen war. Die Kunst'
topographte Deutschlands, die Wilhelm Lotz herausgab, ein an
sich ganz ausgezeichnetes Werk *) , konnte doch nach der ganzen
Sachlage bei der geringen Zahl brauchbarer Vorarbeiten nur in sehr
beschränktem Mafse das leisten, was man von einer systematisch
durchgeführten Inventarisation hoffen durfte.
Der Wunsch, die Denkmäler der Vergangenheit systematisch
zu verzeichnen und zu beschreiben, war aus der Erkenntnis ihres
künstlerischen und geschichtlichen Werkes hervorgegangen.
Die ganz groisen und bedeutenden Werke, insbesondere die kirchlichen
Bauten ersten Ranges, hatte man von jeher geschätzt, wenn man ihnen
auch zuweilen, ihre Art mifsverstehend, übel genug mitgespielt hatte.
Nun aber sah man ein, von welch hoher Bedeutung auch die an sich
unbedeutenderen Werke für einen begrenzteren Kreis sein konnten.
Der weitverbreiteten Neigung, an dem Nächstliegenden achtlos vor-
überzugehen, mufste entgegengearbeitet werden; eine künstlerische und
kunstgeschichtliche Heimatkunde mufste man dem Volke bieten. In-
dem man auf die Werke der Altvorderen hinwies, durfte man hoffen,
den geschichtlichen Sinn zu erwecken oder, wo er vorhanden war,
zu stärken. Indem man sie systematisch verzeichnete und beschrieb,
bot man gleichzeitig den Verwaltungsbehörden ein Hilfsmittel, das ihnen
bei den mit wachsender Bevölkerungsziffer immer häufiger werdenden
Restaurationen und Erweiterungen von Kirchen von grofsem Nutzen
sein kann. Manches, was abseits der grofsen Strafsen versteckt gelegen
hatte, wurde erst durch die Denkmälerstatistik als existierend festgestellt.
Vieles, was in Gefahr schwebte, durch fahrende Händler seiner Heimat,
für die allein es ein wirklich wertvoller Besitz sein konnte, entfremdet
i) Kunst-Topographie Deutschlands. Ein Hans- tind Reisehandbuch von
Wilhelm Lotz. 2 Bde. Kassel, Theodor Fischer, I862/63.
21*
— 272 —
zu werden, wurde — auch wo es an gesetzlichen Mitteln, die Ver-
schleppung zu hindern , fehlte — durch das blofs moralische Mittel
der Feststellung seiner Existenz der Heimat erhalten. Der Kunst-
wissenschaft endlich erschlofs sich ein reichhaltiges neues Material.
Dinge, die bisher unbekannt geblieben waren, wurden in den Be-
trachtungskreis einbezogen und halfen zur Aufhellung bisher dunkel
gebliebener Zusammenhänge mit. War man bis dahin nur mit den
Höhen der künstlerischen Thätigkeit vertraut gewesen, so lernte man
nun auch den durchschnittlichen Charakter des Kunstbetriebes
in den verschiedenen Epochen kennen.
Was Kataloge für Gemälde-Galerieen, das sollen In-
ventare für den gesamten Kunstbesitz eines Landes sein.
Das erste Werk, das als Denkmäler -Verzeichnis in diesem Sinne
gelten kann — es behandelt die Baudenkmäler im Regierungsbezirk
Kassel — erschien im Jahre 1870. Etwa 130 Hefte und Bände sind
seither jenem ersten gefolgt, aber nur ein einziges trägt gleich ihm
den Obertitel Inventarium der Baudenkmäler im Königreich
Preu/sen, nur ein einziges hat sich ihm nach Arbeitsplan und Aus-
führung vollkommen angeschlossen. Seither haben fast alle Bundes-
staaten, alle preufsischen Provinzen die Inventarisation ihrer Kunst-
denkmäler in Angriff genommen, ein nicht geringer Teil hat sie bereits
beendigt. Überall war die Absicht, wenigstens in der Hauptsache,
die gleiche, in der Ausführung jedoch ist man die verschiedensten
Wege gegangen. Soll man das beklagen, soll man sich darüber
freuen? Kurz nach der Begründung des Reiches war — wenn wir
nicht irren — im Reichstage ein gleich mäfeiges Vorgehen in der Frage
der Denkmäler- Verzeichnung angeregt worden ; praktische Folgen aber
hatte diese Anregung nicht. Die Sache blieb den Einzelstaaten über-
lassen, und der preufsische Staat seinerseits übertrug die Durchfuhrung
wiederum den Provinzen. Man ging dabei von der Ansicht aus, dafe
hier eine gute Gelegenheit sei, den geschichtlichen Besonderheiten der
Provinzen gerecht zu werden. Wäre es aber trotzdem nicht sehr wohl
möglich gewesen, gewisse gemeinsame, für das gesamte Reichsgebiet oder
wenigstens für den preufsischen Staat gültige Grundsätze aufzustellen?
Die folgenden Zeilen geben über den augenblicklichen Stand der
Inventarisation Auskunft; gleichzeitig versuchen sie, die einzelnen
Arbeiten — jedoch lediglich nach der prinzipiellen Seite der Anlage
und Durchführung hin — kritisch gegeneinander abzuwägen. Auf
Einzelheiten einzugehen, wäre unangebracht, da eine Überprüfung an
Ort und Stelle nur in wenigen Fällen stattgefunden hat.
— 273 —
In Preufsea wies eine Zirkularverfiigung vom 30. Juni 1875 die
Oberpräsidenten unter Hinweis auf die Inventare des Regierungsbezirkes
Kassel und der Provinz Hannover an, bei den Provinzialverbänden die
Herstellung ähnlicher Denkmäler- Verzeichnisse anzuregen. Das Ergebnis
ist bis heute folgendes:
Ostpreufsen. Das ostpreufeische Inventar, ein Werk des Provinzial-
Konservators Adolf Boetticher liegt seit 1899 in neun stattlichen Heften *)
abgeschlossen vor. Es folgt in seiner Einteilung nicht, wie die meisten
anderen Inventare, der gegenwärtigen administrativen Gliederung; viel-
mehr behandelt jedes der ersten sechs Hefte eine der historischen
Landschaften Samland, Natangen, Oberland, Ermland, Litauen, Masuren;
innerhalb der Hefte folgen einander die Kirchspiele in alphabetischer
Reihe. Das siebente Heft ist ganz der Stadt Königsberg gewidmet,
während das achte aufser Nachträgen noch geschichtliche und kunst-
gcschichtliche Zusammenfassungen des Stoffes bringt; das neunte Heft
enthält die Register. Das Arbeitsprogramm war einerseits durch „die
Gräber der Vorfahren und Grabfunde**, andererseits „durch den Beginn
der klassizierenden Reaktion** begrenzt, wobei freilich nicht einzusehen
ist, warum eine der spärlichen Tafeln des siebenten Heftes das 1894
errichtete Denkmal Kaiser Wilhelms zeigt. Die Benutzung des histo-
rischen Materials scheint ausreichend, die Behandlung des kunst-
geschichtlichen Materials ist exakt, nur die Zeitangaben sind zu all-
gemein. Die Illustrationen sind zahlreich, aber nicht ganz gleichwertig,
namentlich insoweit sie auf photographischer Grundlage beruhen.
Westpreufsen. Das Inventar ^) ist vom Landesbau - Inspektor
Johann Heise bearbeitet. Nach dessen kürzlich erfolgtem Tode hat
Adolf Boetticher, der Verfasser des ostpreufeischen Inventars, die
fortführung des Weikes übernommen. Die Beschreibung der Denk-
mäler folgt der Kreiseinteilung der Provinz. Erschienen sind seit 1884
elf Hefte, die achtzehn von den siebenundzwanzig Kreisen der Provinz
behandeln. Für die Stadt Danzig wie für die Marienburg sind besondere
monographische Darstellungen beabsichtigt Der Plan des Werkes
schliefst die vorgeschichtlichen Denkmäler wie die nach 1750 ent-
standenen von der Beschreibung aus. Die Darstellung ist nach der
1) Die Bau- nnd Knustdenkinäler <fer Provinz Ostpreufsen. Im Auftrage
des Ostpreuisischen Froviozial-Landt^es bearbeitet von Adolf Boetticher. 9 Hefte. Königs*
berg, Bernhard Teiohert, 1891 — 1899. ^^^^ i — 3 ist 1898 in zweiter Auflage erschienen.
2) Die Bau- und Kunstdenkroäler der Provinz Westpreufsen. Be-
arbeitet im Auftrage des westpreofsischen Provinzial- Landtages von Landesbau- Inspektor
Johann Heise. 11 Hefte. Danzig, Theodor Bertling 1884- 1^97*
— 274 —
geschichtlichen wie nach der technischen Seite hin sehr sorgfältig.
Die Illustration ist reich und gut.
Brandenburg. Das Denkmäler- Verzeichnis liegt bereits seit 1885
in einem stattlichen, reich, aber nicht hervorragend gut illustrierten
Bande vor '). Das Werk macht von vornherein keinen Anspruch auf
Vollständigkeit, die wenig ausführlichen Beschreibungen sind nicht
durchweg auf Autopsie begründet, doch scheinen sie im allgemeinen
exakt und verläfslich zu sein. Die Illustration beruht durchaus auf
der Grundlage von Zeichnungen. Dem eigentlichen Inventar geht eine
geschichtliche und eine kunstgeschichtliche Einleitung voraus. Ein
schwerer Mangel ist die Zusammenfassung der ganzen Provinz in einen
Band. Die Verwirklichung der volkserzieherischen Absichten, die
solche Inventare haben sollen, wird infolge dessen durch Umfang und
Preis des Werkes unmöglich gemacht.
Die Stadt Berlin hat als besondere Verwaltungseinheit auch ein
besonderes Denkmäler -Verzeichnis herausgegeben *). Die in jeder Be-
ziehung vortreffliche, auch mit geschichtlichen und kunstgeschichtlichen
Einleitungen versehene Arbeit behandelt die Denkmäler bis in den
Beginn des XIX. Jahrhunderts.
Pommern. Hier ist das Unternehmen von der Gesellschaft für
pommersche Geschichte und Altertumskunde in Angriff genommen
worden, zunächst jedoch ohne ausreichende Mittel und ohne die nötige
Einheitlichkeit. Erst in neuester Zeit geht die Veröffentlichung des
ziemlich dürftigen Denkmälerbestandes etwas rascher vor sich. Das Vor-
geschichtliche blieb ausgeschlossen. Der Regierungsbezirk Stralsund
ist in einem der Kreiseinteilung entsprechend aus vier Heften zusammen
gesetzten Band behandelt ') ; der geschichtliche Teil dürftig , der be-
schreibende etwas knapp, aber gut, der illustrative armselig. Dem-
gegenüber stellt die Beschreibung der Denkmäler des Regierungs-
bezirks Köslin*), von der der erste Band in drei Heften, femer das
1) Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler in de» Provint Branden^
bürg. Im Auftrage des brandenburgischen Provinzial-Landtages bearbeitet von R. Bergau.
I Bd. BcrUn, Vossische Buchhandlung (Strikker), 1885.
2) Die Bau- und Kunstd enkmäler von Berlin. Im Auftrage des Magistrates
der Stedt Berlin bearbeitet von R. Borrmann. x Bd. Berlin, Julius Springer 1893.
3) Die Baudenkmäler des Regierungsbezi rks Stralsund, herausgegeben
von der Gesellschaft fiir pommersche Geschichte und Altertumskunde, bearbeitet von
Stedtbaumeister E. v. Haselberg, i Bd. Stettin, Uon Saunier, 1881—1897.
4) Die Bau- und Kunstdenkmäler des Rcgierungs'betirks Köslin,
herausgegeben von der GeseUschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde,
bearbeitet von Regierungs- und Baurat Ludwig Böttger. i. Bd. 1889— 1892, 2. Bd.,
I. Heft 1894 (ebenda).
— 275 —
erste Heft des zweiten Bandes vorli^, nur im letzten Punkte einen
kleinen Fortschritt dar; der geschichtliche Teil hingegen ist noch
dürftiger, der beschreibende entbehrt durchaus der notwendigen Präcision.
Angaben über Entstehungszeit und Stil fehlen oft ganz (Kusserow : Das
Gebäude ist nicht mittelalterlich oder vollständig umgebaut). Die
Beschreibung des Regierungsbezirks Stettin, von der drei Hefte des
ersten Bandes erschienen sind *) , hingegen entspricht textlich allen
Forderungen und überragt auch in der bildlichen Darstellung die beiden
anderen TeUe des Werkes weitaus.
Posen. Das Inventar dieser Provinz liegt in vier Bänden ab-
geschlossen vor*); als Herausgeber zeichnet Julius Kohte. Der
erste Band enthält Übersichten über die politische, kultur- und kunst-
geschichtUche Entwicklung des Landes und eine Denkmalskarte,
der zweite behandelt die Denkmäler des Stadtkreises Posen, der
dritte die der posenschen Landkreise, der vierte die des Regierungs-
bezirks Bromberg. Die vorgeschichtlichen Denkmäler sind nicht be-
schrieben. Von dem Besuch entlegener Orte, wo nach glaubwürdiger
Mitteilung kein Erfolg zu erwarten war, wurde abgesehen. Auch
bei diesem Inventar wäre — im Interesse seiner gröfeeren Ver-
breitung — die Teilung nach Kreisen oder kleinen Kreisgruppen der
nach Regierungsbezirken vorzuziehen gewesen. Im übrigen aber sind
sowohl die Beschreibungen wie auch die bUdlichen Darstellungen der
Denkmäler eine vortreffliche Leistung.
Schlesien. Das Inventar, eine Arbeit des Provinzialkonservators
Hans Lutsch, liegt seit 1894 in vier Bänden abgeschlossen vor*).
Im ersten werden die Denkmäler der Stadt Breslau beschrieben, jeder
der anderen &fst einen ganzen Regierungsbezirk zusammen. Die zeit-
lichen Grenzen sind auch hier etwas enge gezogen, weder das Vor-
geschichtliche, noch das XIX. Jahrhundert ist berücksichtigt. Die
sachliche Darstellung ist sehr exakt, im ganzen aber doch wohl etwas
zu knapp gehalten; vielleicht hätte sich — zum Vorteil des Laien-
i) Die Baa- and Kanstdenkmäler des Regierungsbezirks Stettin,
herausgegeben von der Gesellschaft ftlr pommersche Geschichte und Altertomskonde,
bearbeitet von ProTinzialkonsenrator Hugo Lemcke (unter Benutzung ausgedehnter Vor-
arbeiten von Hans Lutsch), i. Bd., Heft i — 3. 1898— 1900 (ebenda).
2) Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Posen, im Auftrage
des Provinzialverbandes bearbeitet von Julius Kohte, Regierungsbaumeister. 4 Bde. Berlin,
Julius Springer, 1896 — 1898.
3) Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien. In amt-
lichem Auftrage bearbeitet von Hans Latsch. 4 Bde. Breslau, Wilhelm Gottlieb Korn,
1886^1894.
— 276 —
Publikums, auf das doch, auch nach des Verfassers Absicht, gewirkt
werden soll — der Gebrauch von Fachausdrücken erheblich ein-
schränken lassen. Aus dem selben Grunde halten wir auch die Zu-
sammenfassung' des Stoffes nach Regierungsbezirken für einen wesent-
lichen Fehler der Anlage; desgleichen den übrigens nicht dem Verfasser
zur Last zu schreibenden Verzicht auf Abbildungen, ein Mangel, dem
nachträglich noch durch ein ausgiebiges Bilderwerk abgeholfen werdeo
wird. Ein Nachtragsband wird neben Registern und Denkmalskarten
noch zahlreiche Ergänzungen bringen.
Provinz Sachsen. Von dieser 1879 in AngrifT genommenen
Publikation sind bisher 21 zum Teil sehr stattliche Hefte, deren jedes
die Denkmäler eines Kreises verzeichnet, und der erste, die Stadt
Halle und den Saalkreis behandelnde Band einer neuen F*olge er-
schienen '). Den vorgeschichtlichen Denkmälern ist eine besondere
VeröflFentlichung gewidmet *). Das im ersten Hefte enthaltene Programm
beschränkt den Stoff auf „Frühmittelalter bis ins XVII. Jahrhundert*'.
Je nach der Vorbildung und Berufszugehörigkeit der Bearbeiter, unter
denen alle Stände vertreten sind, ist auch die Behandlungsweise in
den einzelnen Heften sehr verschieden und verschiedenwertig. Im
allgemeinen nehmen insbesondere in den neueren Heften die historischen
Einleitungen im Verhältnis zu den eigentlichen Denkmalsbeschreibungen
einen ungebührlich breiten Raum ein; die kleineren Monumente, für
die den kunst- und architekturgeschichtlich offenbar teUweise völlig
ungeschulten Verfassern keine fachmännische Vorarbeit zur Verfügung
stand, sind ganz ungenügend, zuweilen überhaupt nicht beschrieben.
Die Zeitangaben sind häufig sehr unbestimmt, manchmal fehlen sie
ganz (Kusay: Die Küche ist in Fachwerk erbaut und hat kein
hohes Alter), Die Illustrationen sind grofsenteils nicht ausreichend.
Eine rühmliche Ausnahme bildet neben Heft 17 der ersten Serie
(Kreis Schweinitz) und dem ersten Bande der neuen Folge (Stadt Halle
und der Saalkreis), die beide von Gustav Schönermark herrühren^
insbesondere das zuletzt erschienene Heft, in dem Ernst Wernicke
den Kreis Jerichow beschrieben hat.
Schleswigs Holstein. Das Inventar dieser Provinz, das Ricfiard
i) Beschreibende Darstelliing der älteren Bau- und Kanstdenkmftler
der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete. Herausgegeben von der
historischen Kommission der Provinz Sachsen. 2 1 He/te und Neue Folge i Bd. Halle a. d. S.,
Otto Hendel, 18798.
2) Vorgeschichtliche Altertümer der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete.
— 277 —
Haupt bearbeitet hat, liegt seit 1889 vollendet vor *). Auch hier ist
die Gelegenheit, durch Teilung in kleine billige Hefte auf breitere
Schichten zu wirken, nicht ergriffen worden. Der erste Band behandelt
ohne Rücksicht auf administrative oder geographische Zusammengehörig-
keit die Kreise A — K, der zweite die Kreise L — Z, der dritte enthält
Nachträge und Register von fast übertriebener Ausführlichkeit. Der
beschreibende Teil ist zwar breit angelet, aber von etwas zu sub-
jektiver Färbung, die Abbildungen sind teilweise unzureichend ; beides —
Text wie Illustration — ist im zweiten Bande wesentlich besser als im ersten.
Der Kreis Herzogtum Lauenburg ist nach den gleichen Grund-
sätzen in einem besonderen Werke behandelt*).
Hannover. Das erste Denkmäl.er -Verzeichnis dieser Provinz ist
— als eines der ältesten des preufeischen Staates — in den Jahren
1871 bis 1881 von H. JV. Mtthoff m sieben stattlichen Quartbänden
herausgegeben worden *). In der Einteilung folgt es der historischen
Gliederung des Landes. Dafiir lassen sich ja gewifs gute Gründe an-
führen, aber die Verwendbarkeit des Ganzen wird dadurch sicher nicht
erhöht. Ausgeschlossen von der Betrachtung blieben die vorchrist-
lichen und die nach der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts ent-
standenen Denkmäler. Das Werk ist an sich eine bedeutende Leistung,
die Beschreibung der Baudenkmäler ist zwar nicht sehr ausführlich, aber
das Wesentliche ist immer erfafst. Hingegen sind die beweglichen
Denkmäler nicht genügend berücksichtigt Das Abbildungsmaterial
ist sehr bescheiden.
Da das Mithoffsche Werk seit langem vergriffen ist, so bewilligte
der hannoversche Provinziallandtag im Jahre 1897 ^^^ Mittel zur
Herausgabe eines neuen Inventars, von dem bisher der erste, die Land-
kreise Hannover und Linden behandelnde Band erschienen ist ^). Heraus-
i) Die Baa- und Kanstdenkmäler der Provinz Schleswig-Holstein
mit Ausnahme des Kreises Herzogtum Lauenbnrg. Im Auflrage der provinzialständischen Ver-
waltung bearbeitet von Prof. Dr. Richard Haupt 3 Bde. Kiel, Ernst Homann, 1887 — 1889.
2) Die Bau- und Knnstdenkmäler im Kreise Herzogtum Lauenbnrg.
Herausgegeben im Auftrage der Kreisstände, daigesteUt von Richard Haupt und Friedrich
Wcysser. 2 Hefte, Ratzeburg 1890.
3) Kunstdenkmale und Altertümer im Hannoverschen. DargesteUt von
H. Wilh. H. MithoE 7 Bde. Hannover, Helwingsche Hofbuchhandlung, 1871 -1881.
4) Die Knnstdenkmäler der Provinz Hannover. Herausgegeben im Auf-
trage der Ptovindalkonuniision zur Erforschung und Erhaltung der Denkmäler in der
Provinz Hannover von Dr. phil. Carl Wolff, Landesbaurat I. Regierungsbezirk Hannover.
1. Landkreise Hannover und Linden. Hannover, Selbstverlag der Provinzialverwaltnng
C. Theodor Sclinlzes Buchhandlung, 1899.
— 278 —
geber ist Karl Wolff, Das neue Verzeichnis folg-t der modernen
administrativen Teilung der Provinz, innerhalb der Kreise reihen sich
die Orte nach dem Alphabete aneinander. In der Anordnung- und
Behandlungsweise schliefet es sich ganz eng an das rheinländische
Werk an. Das Geschichtliche ist ausreichend berücksichtigt, die Be-
schreibungen, die sich auch auf die Werke aus dem Beginne des
XIX. Jahrhunderts erstrecken, sind sehr exakt, die Abbildungen grofeen-
teils vorzüglich.
Westfalen. Bedauerlicherweise ist der erste Inventarisations-
versuch, den J. B, Nordhoff im Auftrage des Westfälischen Provinzial-
vereins für Wissenschaft und Kunst im Jahre 1881 ff. unternommen
hatte, in den Anfängen stecken geblieben *). Es sind im ganzen zwei
Hefte erschienen, deren jedes einen Kreis behandelt. Die vorchrist-
lichen Altertümer jedes Kreises sind in chronologischer Folge zusammen-
gefafst und vorausgestellt, die christlichen sind, wie üblich, nach Orten
gesondert besprochen. Die Orte selbst sind nicht alphabetisch, sondern
nach ihrer geographischen Lage geordnet. Von diesem Mangel an
Übersichtlichkeit abgesehen, darf das Werk in textlicher wie in illu-
strativer Hinsicht als sehr gut bezeichnet werden. Im Jahre 1893 nahm
dann der Provinzialverband die Sache auf, und in rascher Folge sind
seither sieben, je einen Stadt- oder Landkreis behandelnde Hefte er-
schienen *). In Bezug auf die bildliche Darstellung ist dieses Inventar
unter allen deutschen Inventaren weitaus das reichste ; freilich sind auch
häufig sehr uninteressante Dinge, meist aus Privatbesitz, abgebildet. Der
geschichtliche Teü ist in manchen Heften mafslos breit angelegt, wo-
gegen sich der beschreibende Text meist auf die allerdürftigsten An-
deutungen beschränkt. Im Interesse der Verbreitung ist die Billigkeit
des Werkes sehr erfreulich.
Hessen - Nassau. Das Denkmäler- Verzeichnis des Regierungs-
bezirkes Kassel ist das älteste unter allen deutschen Inventaren *) ; es
i) Kunst- und Geschichtsdenkmäler der Provinz Westfalen, heraas-
gegeben vom Westfälischen Provinzialverein fUr Wissenschaft und Kunst, bearbeitet von
J. B. Nordhoff. 2 He'te. I. Leipzig, E A. Seemann i88x. IL Münster, Coppenrath 1886.
a) Die Bau- und Knnstdenkmäler von Westfalen, herausgegeben vom
Provinzialverband der Provinz Westfalen, bearbeitet von A. Lndorff, Provinrialbauinspektor
and Konservator. 7 Hefte. Mtinster 1893 ff.
3) Inventarium der Baudenkmäler im Königreich Preafsen. i. Die
Baudenkmäler im Regierungsbezirk Kassel, beschrieben von Heinrich von Dehn-Rothfelser
und Wilhelm Lotz. Im Auftrage des KgL Ministeriums für geistliche etc. Angelegenheiten
herausgegeben durch den Verein für hessische Geschichts- und Landeskunde. Kassel
1870. — 2. Die Baudenkmäler im Regierungsbezirk Wiesbaden, im Auftrage des Kgl.
— 279 —
erschien 1870 als Teil eines g^esamtpreufsischen Inventars und war eine
bahnbrechende That. Es will vollständig' sein nur in Bezug auf die
Bau- und Kunstwerke, die vor dem Ende des XVI. Jahrhunderts ent-
standen sind; von den Werken des XVII. und XVIII. Jahrhunderts
nennt es nur die bedeutenderen. Die historischen Grundlagen sind
berücksichtigt, die Denkmäler - Beschreibungen sind exakt, aber nicht
ausfuhrlich genug; in Bezug auf die beweglichen Kunstwerke scheint
den Anforderungen an Vollständigkeit auch nicht entfernt genügt
zu sein. Auf Abbildungen ist gänzlich verzichtet. Wie hier, so ist
auch in dem nach gleichen Grundsätzen bearbeiteten Inventar des
Regierungsbezirkes Wiesbaden keine Unterteilung nach Kreisen vor-
g'enommen; die Orte des ganzen Gebietes folgen einander in alpha-
betischer Reihe. Der Text ist in diesem zweiten Bande des gesamt-
preufsischen Inventars weit ausfuhrlicher als im ersten. Für Frankfurt
bietet ein im Erscheinen begrifTenes, in jeder Beziehung vorzügliches
Spezialwerk eine sehr wünschenswerte Ergänzung *). Auch für Hanau
liegt der erste Teil einer ähnlichen Publikation vor ^).
Rheinprovinz. Der erste, den ganzen Regierungsbezirk Koblenz
umfassende Band des rheinischen Denkmäler -Verzeichnisses ist im
Jahre 1886 erschienen •). Herausgeber war Paul Lehfeldt, Die Kreise
folgen einander in alphabetischer Reihe, desgleichen innerhalb der
Kreise die Orte. Die Beschreibungen sind gut, aber viel zu summa-
risch, auf die Beigabe von Abbildungen ist gänzlich verzichtet. Der
ursprüngliche, sich dem hessischen Beispiel anschliefsende Arbeitsplan
wurde nach Erscheinen des ersten Bandes verlassen; an die Stelle
Lehfeldts trat als Herausgeber Paul Giemen. Das neue Denkmäler-
Verzeichnis *) erscheint in Heften ; jedes Heft beschreibt einen oder,
wo der Denkmälerbestand geringer ist, mehrere geographisch zusammen-
MinUteriiuns fUr geisüiche etc. Angelegenheiten bearbeitet von Wilhelm Lotz und heraus-
gegeben durch Friedrich Schneider. Berlin, Ernst und Korn, 1880.
I) Die Baudenkmäler in Frankfurt a/M., von Karl Wolff und Rudolf Jung.
2 Bde. Frankfurt a/M. 1896 — 1898. Ein dritter Band steht noch aus.
a) Die Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Hanau, bearbeitet und her-
«tosgegeben von A. Winkler und J. Mittelsdorf. i. TeiL Hanau, G. M. Alberti, 1897.
3) Die Bau- und Knnstdenkmäler der Rheinprovine. i. Die Ba^- und
Konstdenkraäler des Regierungsbezirkes Koblenz, beschrieben und zusammengestellt im
Auftrage und mit Unterstützung des Provinzialverbandes der Rheinprovinz vr>n Faul Lehfeldt.
I Bd. Dflsseidorf, L. Voss & Co., 1886.
4) Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz. Im Auftrage des Provinzial-
verbandes herausgegeben von Paul Giemen. 17 Hefte = 4 Bänden. Vom 5. Bande ist
Heft I erschienen. Düsseldorf, L. Schwann, 189t ff.
— 280 —
hängende Kreise. Die Darstellung ist nach der geschichtlichen Seite
durch allgemeine Einleitungen und durch ausführliche Quellen- und
Littcraturnachweise fundiert. Vorgeschichtliche und römische Denk-
mäler werden im allgemeinen — besonders bedeutende Werke aus-
genommen — nur registriert, die christlichen Bau- und Bildwerke bis
1800 hingegen ausführlich beschrieben und durch Abbildungen erläutert.
Der Beschreibung der Denkmäler geht ihre Geschichte voraus. Er-
schienen ist bisher die Beschreibung des Regierungsbezirks Düsseldorf
in 13 Heften und die der Kreise Köln Land, Rheinbach, Bergheim,
Euskirchen, Gummersbach, Wipperfürth und Waldbroel des Regierungs-
bezirkes Köln in 5 Heften. Aufser dem Herausgeber haben an den
letzten fünf Heften Ernst Polaczck und Edmund Renard mitgearbeitet.
Hohenzollem. Das Denkmäler -Verzeichnis liegt seit 1896 in
einem ansehnlichen , reich und gut illustrierten Bande vor *). Die
Oberämter und innerhalb der Oberämter die Orte folgen einander in
cüphabetischer Reihe. Der an sich gute Text läfst namentlich in
den Baubeschreibungen einiges an Ausführlichkeit vermissen. Dankens-
wert ist die Beigabe einer archäologischen Karte, auf der die vor-
geschichtlichen und römischen Funde sorgfältig verzeichnet sind.
Bayern. Mit den Vorarbeiten für das bayrische Denkmäler -Ver-
zeichnis wurde bereits 1887 begonnen, die Veröffentlichung nahm
jedoch erst 1892 ihren Anfang, und sie schreitet seither nur sehr lang-
sam fort *). Für den Regierungsbezirk Gberbayern wurde die Arbeit
in der Weise geteilt, dafs der Architekt und damalige Privatdozent
Gustav V. Bezold die Architektur, der Professor der Kunstgeschichte
Berthold Riehl Plastik, Malerei und Kunstgewerbe übernahm. Jedem
von ihnen wurden eine Reihe von Mitarbeitern beigegeben. Die Dar-
stellung beschränkt sich auf die Denkmäler vom XI. bis zum XVIII. Jahr-
hundert, schliefst also von vornherein alles Vorgeschichtliche und
Römische, ferner alles dem XIX. Jahrhundert Angehörige aus. Das
geschichtliche Quellenmaterial ist nur in sehr beschränktem Mafse notiert
i) DieBau und Kunstdeukmäler in den HohensoUerntcben Landen.
Im Auftrage des HohenzoUernschen Landes-Ausschosses bearbeitet von Karl Theodor Zingeler
und Wilhelm Friedrich Laut. Stuttgart, Paul Neff, 1896.
2) Die Kunstdenkmale des Königreiches Bayern vom XI. bis eum Ende
d«s XVUL Jahrhunderts, beschrieben und aufgenommen im AufU-age des KgL Staats*
ministennm des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten, i. Band. Die Kunst-
denkmale des Regierungsbezirkes Oberbayern, bearbeitet von Gustav v. Bezold und
Berthold Riehl. i. Teü. Mit einem AÜas von 130 Lichtdruck- und Photogravurc-Tafeln.
Verlag von Jos. Albert, München, 1895. - Vom 3. Teile des 1. Bande« sind 7 Lieferungen
erschienen.
— 281 —
und benutzt worden; denn das bayrische Inventar will „ein kunst-
geschichtliches Quellenwerk nach der gegenständlichen, nicht nach
der urkundlich litterarischen Seite hin" sein. Es setzt sich von vorn-
herein auch in Bezug auf die Vollständigkeit bestimmte Grenzen;
Voraussetzung für die Erwähnung war eine gewisse künstlerische oder
historische Bedeutung des Objektes. So sind beispielsweise ganz
kunstlose oder in hohem Grade entstellte romanische Bauten aus-
geschlossen geblieben; je jünger die Epoche, desto stärker wurde ge-
siebt Bauernhäuser fehlen beispielsweise ganz. In der Anordnung
folgt das Werk der Einteilung des Königreiches in Regierungsbezirke ;
innerhalb dieser sind die Bezirksämter lokal gruppiert, innerhalb der
Bezirksämter folgen einander die Orte nach dem Alphabet. Der be-
deutende Umfang der Textbände steht einer weiten Verbreitung des
Werkes hindernd im Wege. Die Beschreibungen sind knapp, aber
sehr exakt. Prinzipiell unterscheidet sich das bayrische Werk von
allen bisher besprochenen preußischen dadurch, dafs Text und Ab-
bildungen voneinander getrennt sind; letztere sind in e'mem Folio -Atlas
vereinigt. Alle irgendwie hervorragenden Werke sind in grofsenteils vor-
züglichen Abbildungen wiedergegeben, fast durchweg — mit Ausnahme
der architektonischen Aufnahmen — auf Grund von Photographieen.
Das grofee Format gestattet grofsen Mafsstab.
Eine seit mehreren Jahren in zwanglosen Heften erscheinende
Publikation pfälzischer Baudenkmäler ') ist in ihren verschiedenen Teilen
zwar naturgemäfs verschiedenwertig; sie kann aber immerhin als wert-
volle Vorarbeit für die amiliche Inventarisation bezeichnet werden.
Königreich Sachsen. Das sächsische Denkmäler -Verzeichnis •),
das R. Steche begonnen hat und Cornelius Gurlitt fortfuhrt, folgt
m seiner Anordnung der administrativen Gliederung des Landes.
Jedes Heft umfafst eine Amtshauptmannschaft; innerhalb der Hefte
folgen sich die Orte in alphabetischer Reihe. Auf die Ausbreitung
einer historischen Grundlage ist verzichtet, auch Litteratur ist nicht
namhaft gemacht. Die Denkmalsbeschreibungen sind gut und aus-
fuhrlich, zu vermissen ist jedoch zuweilen präcise Angabe von Zeit und
Stil. Das Abbildungsmaterial ist in den älteren Heften qualitativ und
t) Die BaadenkmSler in der Pfalz. Herausgegeben von der Pfalzischen
Kreisgesellschftft des Bayrischen Architekten- und Ingeniear-Yereins. 5 Bde. 1884*- 1899.
3) Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler
des Königreichs Sachsen. Auf Kosten der Kgl. Staatsregierong herausgegeben Tom
KgL Sächsischen Altertumsyerein. Heft i~ 18, bearbeitet von Dr. R. Steche und C. Gurlitt
Dresden, C. C. Meinhold & Söhne, 1882 ff.
quantitativ bescheiden, in den jüngeren reichlicher bemessen und gut.
In diesen zeigt auch der Ausdruck die erwünschte Schärfe.
Württemberg. Das württembergische Denkmäler -Verzeichnis ')
weicht in sehr vielen Punkten von den anderen deutschen Inventaren
ab. Es ist die Arbeit eines Poeten. In feiuiger, schwungvoller Sprache,
immerhin noch in Prosa, schildert er die Denkmäler seiner Heimat
und nicht nur diese, auch den Boden, auf dem sie stehen, die Berge
mit ihren Burgen, den Himmel, der sich darüber wölbt. Freilich gleitet
er dabei sehr häufig rasch über Dinge hinweg, die man aus einem
Inventar zu erfahren das Recht hat. Zweifellos hat das württembergischc
Werk gerade durch die temperamentvolle Art, mit der hier die Aufgabe
angefafst ist, vor vielen anderen den Vorzug, dafs es auf weitere Kreise
anregend zu wirken vermag, aber ebenso zweifellos ist es, dafs dieser
Vorzug durch das Fehlen aller wissenschaftlichen Tugenden erkauft ist.
Das ganze Unternehmen scheint ohne rechten Plan in Angriff genommen
worden zu sein. Der sehr hübsche Abbildungen enthaltende , nicht
paginierte Atlas liegt seit 1893 vollendet vor, während von dem auf
vier Bände berechneten Text erst zwei Bände und die Anfangslieferung
eines dritten (diese 1897!) erschienen sind. Zwischen Atlas und Text
bestehen keinerlei Beziehungen, es fehlt häufig an Verweisen vom
einen auf den andern; zudem ist — trotz Atlas — eine grofse Zahl
von Abbildungen über den Text verstreut. Warum ? Doch wohl nur,
weil man sich, als der Atlas erschien, noch nicht klar gemacht hatte,
was an Illustrationen erforderlich sein würde. Jeder Band umfafst einen
Kreis, innerhalb der Kreise sind die Oberämter, innerhalb der Ober-
ämter die Orte alphabetisch geordnet.
Baden. Das Inventar*), dessen 1887 begonnene Veröffentlichung
leider nur langsam vorwärtsschreitet, folgt in seiner äufseren Anordnung
der Einteilung des Landes in Kreise und Amtsbezirke. Jeder der
drei ersten Bände enthält die Beschreibung eines ganzen Kreises, der
i) Die Kunst- und Altertams-Denkmale im Königreich Württem-
berg. Im Auftrage des Kgl. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens bearbeitet von
Eduard Paulus. Stuttgart, Paul Neff. i. Band: Neckarkreis 1889. 2. Band: Schwarzwald-
kreis 1897. 3. Band: Donaukreis im Erscheinen. Dazu zwei Bände Tafeln, i. Band:
Neckarkreis 1889. 2. Band: Schwarzwald-, Donau- und Jagstkreis 1893.
2) Die Kunstdenkmäler des Grofsherzogturos Baden. Beschreibende
Statistik, im Auftrage des Grofsherzoglichen Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unter-
richts und in Verbindung mit Joseph Durm, A. v. Oechelhäuser, Karl Schäfer und £. Wagner,
herausgegeben von Franz Xaver Kraus. 4 Bde. Freibnrg, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
18876. Konstanz, Villingen, Waldshut von Kraus, Mosbach von Oechelhäuser, das Vor-
geschichtliche von Wagner.
— 283 —
vierte ist in zwei je einen Amtsbezirk behandelnden Hälften erschienen.
Eine weitgehende Arbeitsteilung hat insofern stattgefunden, als in allen
Bänden die Verzeichnung der vorgeschichtlichen und römischen Alter-
tümer, in den drei ersten auch die der wichtigeren Denkmäler des
Burgenbaues, besonderen Bearbeitern überlassen blid). Als Herausgeber
zeichnet Franz Xaver Kraus, Die historische Grundlegung scheint
überall mit Sorgfalt und der erwünschten Ausführlichkeit vorgenommen
zu sein, die Beschreibung der Denkmäler, insbesondere der jüngeren,,
ist doch wohl etwas zu summarisch. Die büdliche Darstellung ist
quantitativ und qualitativ gut. Jedem Bande ist eine Denkmalskarte
beigegeben.
Grofsherzogtum Hessen. Von diesem Inventar ^), das 1885 ^u
erscheinen begonnen hat und dessen allgemeine Anordnung sich der
modernen Verwaltungseinteilung des Landes anschlielst, sind bisher
sechs Bände erschienen, von denen fünf je einen Kreis behandeln,,
während der sechste in monographischer Form den ehemaligen Kreis
Wimpfen beschreibt. Die Beschreibung erstreckt sich auf die Denk-
mäler von der Römerzeit bis zum Beginn der klassizierenden Reaktion.
Der geschichtliche 1 eil ist sorgfältig, der beschreibende zeigt in einigen
Bänden bei grofser Ausführlichkeit einen Mangel an Präcision im Aus-
druck; der illustrative Teil ist sehr gut.
Mecklenburg-Schwerin. Die 27 Amtsgerichtsbezirke des Grofs-
herzogtums sind nach ihrer lokalen Gruppierung auf drei dicke Bände
verteilt, und auch innerhalb der Amtsgerichtsbezirke ^) sind die Orte
nicht alphabetisch, sondern geographisch geordnet. Die ,, vorgeschicht-
lichen Stellen'* jedes Bezirkes sind besonders für sich zusammengefafst ;
die übliche Ausschliefsung des XIX. Jahrhunderts von der Beschreibung
schien dem Herausgeber für Mecklenburg -Schwerin keinen Sinn zu
haben. Der Text ist nach der geschichtlichen wie nach der be-
schreibenden Seite hin sehr sorgfältig, nur fehlt es leider an Registern.
Der illustrative Teil ist nicht besonders reich, aber gut.
i) Kunstdenkmäler im Grofsherzogtum Hessen. Inventarisiemng und
beschreibende Darstellung der Werke der Architektur, Plastik, Malerei und des Kunst-
gewerbes bis zum Schlufs des i8. Jahrhunderts. Herausgegeben durch eine im Auftrage
Seiner Königlichen Hoheit des Grofsherzogs zu diesem Zwecke besteUte Kommission.
Darmstadt, Bergsträfser, 1885 ff. Offenbach, Erbach, Wimpfen von Georg Schaefer, Worms
von Ernst Woerner, Büdingen von Heinrich Wagner. Friedberg von Rudolf Adamy.
2) Die Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Grofsherzogtums
Mecklenburg-Schwerin. Im Auftrage des Grolsberzoglichen Ministeriums des Innern
herausgegeben von der Kommission zur Erhaltung der Denkmale, bearbeitet von Friedrich
Schlie. Bärensprungsche Hofbuchdruckerei 1896—1899.
— 284 —
Thüringen. Die thüringischen Staaten, Sachsen -Weimar-Eisenach,
Sachsen-Meiningen-Hildbuighausen,Sachsen-Altenburg,Sachsen-Coburg-
Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt und die beiden Reuis, haben sich zur
Herausgabe eines gemeinsamen Inventars vereinigt'). Es ist von
Paul Lehfeldt bearbeitet. Jeder Band umfaist — nach topographischen
Gesichtspunkten gruppiert — je nach dem Umfang des Staatsgebietes
zwei oder mehrere Verwaltungsbezirke bezw. Kreise oder Landrats-
ämter, innerhalb deren die Orte sich in alphabetischer Reihe folgen.
Geschichtliche und topographische Einleitungen sind vorausgeschickt; die
eigentlichen Denkmalsbeschreibungen sind sehr ausfuhrlich und sorg-
faltig, auch das Illustrationsmaterial ist, wenn auch nicht gerade reich-
lich, so doch gut gewählt und gut ausgeführt. Nur fehlen grofsenteils
architektonische Mafsaufnahmen ; die schematisch gezeichneten Grund-
risse gewähren dafür keinen ausreichenden Ersatz. Die Inventare von
Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt,
wie die der beiden Reufs liegen fertig vor. Von dem auf vier Bände
berechneten meiningischen Verzeichnis ist bisher nur der vierte Band
und ein Heft des dritten erschienen; von dem coburgischen Teil liegt
-der erste und dritte Band und die erste Lieferung des zweiten vor.
Schwarzburg-Sondershausen. Das seit 1887 abgeschlossen vor-
liegende Inventar ist die Arbeit eines kindlichen Dilettanten *). Die
Beschreibung der Kirchen beschränkt sich, wo sie nicht ganz fehlt,
meist auf die Schilderung der Aussicht, die man von ihnen aus hat,
das Innere wird in der Regel mit den Worten „freundlich und hell**
abgethan. Für ihre Entstehungszeit werden, wo keine Jahreszahl an-
geschrieben ist, in der Regel die Bezeichnungen alt oder sehr alt
x) Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens. Im Auftrage der Regierungen
von Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen und Hildburghausen, Sachsen-Altenburg,
^achsen-Coburg und Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Reufs ä. L. und Reufs j. L. bearbeitet
von Paul Lehfeldt. Jena, Gustav Fischer.
Sachsen-Weimar-Eisenach 3 Bde. 1892. 1888. 1897.
Sachsen-Meiningen 4. Bd. 1892 und erste Lieferung des dritten.
Sachsen-Altenburg 2 Bde. 1895. ^S^^*
Sachsen-Coburg-Gotha i. Bd. 1897. 3. Bd. 1891 und erste Lieferung des zweiten.
Schwarzburg-Rudolstadt 2 Bde. 1894.
ReuiJs ä. L. I Bd. 1891.
Reuls j. L. 2 Bde. 1898. 1891.
2) Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler
-des Fürstentums Schwarzburg-Sondershmusen. Unter den Anspicien der
Fürstlichen Staatsregieruog heransgegeben vom Fürstlichen Schwarzbnrgischen Altertums-
^erein, bearbeitet von F. Apfelst^dt, Ffr. em. 2 Hefte. Sondershausen, Friedrich Bertram,
1886— 1887.
— 285 —
angewandt. Ein Beispiel für viele: „Die Kirche ist zwar schon sehr
alt, aber durch mehrmalige Reparatur in noch gutem Zustande und
im Innern sehr freundlich." Dies die ganze Beschreibung der Kirche
von Görbitzhausen. Die Illustrationen entsprechen dem Texte.
Schaumburg -Lippe. Das einen Quartband umfassende Inventar
ist eine sehr sorgfaltige und gewissenhafte Arbeit. Der geschichtliche,
wie der beschreibende und der illustrative Teil sind als gleich gut
zu bezeichnen ').
Oldenburg. Bei der Anfertig^g des Denkmäler -Verzeichnisses '),
von dem gegenwärtig zwei Hefte vorliegen, hat eine Arbeitsteilung in
dem Sinne stattgefunden, dafs die Verzeichnung der vorchristlichen
Altertümer, die der Bau- und Kunstdenkmäler aus christlicher 2^it,
endlich die Abfassung des geschichtlichen Teils drei verschiedenen
Bearbeitern übertragen wurde. Der geschichtliche Teil des Textes
tritt vor dem beschreibenden ganz ungebührlich in den Vordergrund ;
er nimmt im ersten Hefte 8i von 135 Seiten ein. Die Beschreibungen
^bet sind gut, die Abbildungen desgleichen. In der Anordnung folgt
das Werk der Einteilung des Grofeherzogtums in Ämter.
Braunschweig. Hier ist mit der Veröffentlichung des Denkmäler-
Inventars erst 1896 begonnen worden'). Jeder Band soll euien Kreis
umfassen, innerhalb der Amtsbezirke sind die Orte alphabetisch ge-
ordnet : die Darstellung erstreckt sich auch auf die vorgeschichtlichen,
wie auf die untergegangenen Denkmäler. Der Text ist nach der ge-
schichtlichen, wie nach der beschreibenden Seite hin vorzüglich, fiir
<lie Abbildungen ist vielleicht ein zu kleines Format gewählt. Eine
willkommene Ergänzung bietet eine kleine photographische Publikation
braunschweigischer Bauten *).
Anhalt. Das Inventar ist eine Privatarbeit, freUich eine sehr ver-
<iienstliche. In dem stattlichen, reich und gut illustrierten Bande folgen
i) Beschreibende Darstellang der älteren Bma- and Kaastdenkmäler
des Fttrstentams Schaambnrg-Lippe, im Auftrage der fllrstlichen Hofkammer
beafbeitet von GusUt Schönermark, i Bd. Berlin, Wilhelm Ernst & Sohn, 1897.
2) Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Oldenburg. Be-
arbeitet im Auftrage des Grofsherzoglichen Staatsministeriums. 2 Hefte. Oldenburg,
Gerhard StaUing 1896—1900.
3) Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Braunschweig. Im
Auftrage des herzoglichen Staatsministeriums herausgegeben von der herzoglichen braun-
«chweigischen Baudirektion. i. Band: Kreis Helmstedt, bearbeitet von P. J. Meier. Wolfen-
bauel, Julius Z^rissler 1896.
4) Braunschweigs Baudenkmäler. Herausgegeben vom Verein von Freunden
-^ler Photographie. 3 Serien 1892 — 1896.
22
— 286 —
einander die Kreise, innerhalb der Kreise die Orte in alphabetischer
Reihe. Die Darstellung ist nicht nur ausführlich, sie scheint auch so-
wohl in ihrem geschichtlichen wie im beschreibenden Teile zuverlässig
zu sein *).
Hansestädte. Mit der Inventarisierung der Denkmäler des ham-
burgischen Staates ist das Museum für Kunst und Gewerbe in Ham-
burg betraut worden. Die Arbeit soll auch die vorgeschichtliche Zeit
und die Gegenwart umfassen. Zunächst werden von den Denkmälern
ausführliche Beschreibungen und photographische beziehungsweise
architektonische Aufnahmen hergestellt. Ob dieses Inventar ganz oder
auszugsweise oder gar nicht veröffentlicht wird, ist noch nicht ent-
schieden ^). In Lübeck wird gleichfalls an der Denkmäler-Inventari-
sation gearbeitet *). Eine ältere Publikation bremischer Denkmäler
ist in diesem Zusammenhange nur als vorbereitende Arbeit zu nennen ^).
Der erste Band behandelt das Rathaus von Bremen, der zweite ent-
hält kunst- und kulturgeschichtliche Skizzen.
Elsafs-Lothringen. Das elsässisch-lothringische Inventar % unter
den schwierigsten Verhältnissen unmittelbar nach dem Kriege in einem
eroberten und naturgemäfs von feindseliger Gesinnung gegen den
Eroberer eriullten Lande von eines Mannes Hand geschaffen, steht als
Arbeitsleistung unter allen Inventaren mit an erster Stelle. Es umfalst
in je einem Bande je einen Bezirk, ein vierter Band enthält Nachträge
und Register; innerhalb der Bände reihen sich die Orte in alphabetischer
Folge aneinander. Das Werk wächst von Band zu Band an Aus-
führlichkeit und Verläfslichkeit der Darstellung, und auch der Bilder-
schmuck, der in den ersten Lieferungen dürftig war, hat sich im dritten
Bande qualitativ wie quantitativ zu ansehnlicher Höhe erhoben. Die
i) Anhalts Bau- und Kunstdenkmäler, herausgegeben und bearbeitet von
Dr. Büttner Pfönner zu Thal, i Bd. Dessau • Leipxig , Richard Kahle (Hermann Oster-
witx), 1892.
2) Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Bericht fUr das Jahr
1898 von Direktor Professor Dr. Justus Brinckmann. Hamburg 1899. S. 76.
3) Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine 1900. S. X17.
4) Denkmale der Geschichte und Kunst der freien Hansestadt
Stadt Bremen. 2 Bde. Bremen, C. Ed. Müller. 1862. 1870.
5) Kunst und Altertum in Elsafs-Lothringen. Beschreibende Statistik
im Auftrage des Kaiserlichen Ministeriums für EHsafs - Lothringen herausgegeben von
Franz Xaver Kraus. 4 Bde. Strafsburg, C F. Schmidts Universitätsbuchhandlnng (Friedrieb
BuU), 1876— 1892.
— 287 —
erste Auflage ist teilweise vergriffen. Für die dringend notwendige
Neubearbeitung wird die Einteilung nach Kreisen geplant.
Ob sich wohl theoretisch noch mehr Lösungen der im Grunde
doch ganz gleichen Aufgabe finden lieCsen, als praktisch gefunden
worden sind? Wir glauben nicht. Sieht man von der thüringischen
Gruppe ab, so gleichen sich auch nicht zwei von den 26 deutschen
Inventarisationswerken vollständig. Fürwahr, eine sonderbare Blüte am
Baume der deutschen Einheit! Schon äufserlich sind die Unterschiede
sehr grois. Vom dünnen löschpapiemen Heft bis zum schweren un-
handlichen Folio sind alle Nuancen vertreten. Hier keine Illustrationen,
dort Bilderbücher mit knappsten Notizen. In den meisten Fällen ist
der Text mit den Abbildungen vereinigt; Bayern und Württemberg,
zu denen sich auch Schlesien gesellen wird, geben besondere BUder-
werke. Viel gröfser noch als diese äufseren sind die inneren Unter-
schiede. Bald ward die Arbeit Architekten, bald Kunsthistorikern
übertragen; hier Baubeamten, dort Gymnasiallehrern und dann wieder
Geistlichen oder Museumsleuten ; bald Männern der Wissenschaft, bald
Männern der Praxis, bald harmlosen Dilettanten ohne eine Ahnung
von den Dingen, auf die es ankommt. An vielen Stellen hielt man
es — wie mir scheint, mit Recht — für notwendig, eine breite
historische Grundlage zu geben; anderwärts wurde die historische
Grundlage zur Hauptsache, hinter der die Denkmäler weitaus zurück-
treten. Bisweilen begnügt man sich mit Hinweisen auf Quellen und Lit-
teratur, dann läfet man wieder die Denkmäler ganz allein reden. Hier
ganze Regierungsbezirke in Bänden — das brandenburgische Werk
fafst sogar die ganze Provinz in einem Bande zusammen — dort
einzelne Kreise oder kleine Kreisgruppen — in Ostpreufsen die alten
Landschaften — in Heften, die natürlich billiger sind und unvergleich-
lich leichter Verbreitung finden. Hier topographische, dort ganz
mechanisch alphabetische Anordnung, wie etwa in Schleswig-Holstein,
wo sämtliche Kreise dem Alphabet nach auf zwei Bände aufjgeteUt
sind; dann wieder eine Verbindung von beiden. Und gar die Begren-
zung des zu bearbeitenden Stoffes ! In Mecklenburg beginnt man mit
den vorgeschichtlichen Denkmälern und findet, es habe keinen Sinn, die
Produktion der Gegenwart von der Betrachtung auszuschließen. Anders-
wo geht man bis 1820; die meisten Bearbeiter schlieisen mit 1800, einer
mit 1750, ein anderer mit der ersten Hälfte des XVII. Jahrhimderts.
Hier wünscht man bis zum Ausgange des XVI. Jahrhunderts voll-
ständig zu sein, in Bayern siebt man sogar schon unter den Denk-
22»
— 288 —
malern des romanischen Stils. Der eine deutet nur ganz knapp an,
der andere schildert mit breitester Behaglichkeit Hier wird auch
Privatbesitz inventarisiert, dort nur dann, wenn er Beziehungen zum
Lande hat, an dritter Stelle gar nicht. In einigen Werken erstreckt
sich die Verzeichnung in gleicher Weise auf die bestehenden wie auf
die untergegangenen Denkmäler. Zuweilen werden die vorchristlichen
Werke in Denkmalskarten verzeichnet, zuweilen die christlichen ; meist
ist ganz auf kartographische Darstellung verzichtet.
Kurz, was nur an Nuancen denkbar ist, findet sich in Wirklichkeit
vor. Nun aber treten noch zu diesen gewollten, planmäfsigcn Ver-
schiedenheiten die ungewollten teils in der Individualität der Bearbeiter,
teils in allgemeinen Verhältnissen begründeten Verschiedenheiten hinzu,
Verschiedenheiten der Vorbildung, des Temperaments, der Aufnahme-
fähigkeit. Besonders korrekturbedürftig sind natürlich die Arbeiten
der lediglich mit ihrer Stadt oder ihrem Kreise vertrauten Nichtfach-
leute. Wer viel gesehen hat, wird weniger zu übertriebenen Wert-
urteUen geneigt sein als der Dilettant und der Neuling. Einem erzählt
jeder moosbewachsene Stein Geschichten, dem zweiten ist die malerische
Ruine nichts als Objekt. Diesem erlischt nach zweistündiger Arbeit
die Fähigkeit, innerlich aufzunehmen, er sieht nur mechanisch und
übersieht wohl auch leicht ; jenem vermag Hunger und Durst, Sonnen-
glut und Regen nichts von seiner Gründlichkeit im Arbeiten zu nehmen.
Einer interessiert sich mehr für Architektur, der andere für Plastik, der
dritte für Malerei. Diesem ist jedes gotische Figürchen ein Heüigtum,
für jenen beginnt die wahre Kunst erst mit dem Rokoko. Man sieht
anders am frühen Moig-en und anders, wenn man um sieben Uhr abends
nach vielstündigem Marsche auf sonniger Landstralse in die achte
Kirche kommt. Dutzende solcher Möglichkelten lieisen sich noch
aufzählen, tmd man wäre noch immer weit vom Ende. Es versteht
sich, dafs unter diesen Umständen, bei so viel gewollten und so viel
nicht gewollten Verschiedenheiten in Anlage und Ausführung, auch der
wissenschaftliche Wert der einzelnen Inventare ein sehr ungleicher ist.
Und dennoch ! Alles in allem genommen, ist die deutsche Denk-
mäler-Inventarisation eine ganz gewaltige Arbeitsleistung. In allen
detitschen Bundesstaaten — mit Ausnahme von Mecklenburg -Strelitz,
Waldeck-Pyrmont, Lippe-Detmold und den Hansestädten — , in allen
preufsischen Provinzen ist die VeröfTentlichung der Denkmäler -Ver-
zeichnisse bereits ins Werk gesetzt. In neun Bundesstaaten (Mecklen-
burg-Schwerin, Sachsen^Weimar und Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-
Sondershausen tmd Rudolstadt, Reufs j. L., Schaumburg-Lippe, Eisais-
— 289 —
Lothringen) und in acht preußischen Provinzen (Ostpreufeen, Branden-
burg, Posen, Schlesien, Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau,
Hohenzollem) liegen die Inventare fertig vor. Mehrere sind ganz
oder teilweise vergriffen, einzelne Hefte des ostpreufsischen Werkes
sind bereits zum zweitenmale aufgelegt worden. In Hannover ist eine
Neubearbeitung des Stoffes im Gange, im Elsafs wird sie vorbereitet.
Anderswo — in Bayern beispielsweise — ist man vergleichsweise noch
sehr im Rückstande; hier sind für den Abschlufe der laufenden Ver-
öffentlichung, wenn man das bisherige Tempo beibehält, noch wenigstens
fünfzig Jahre erforderlich.
Immer wieder aber wird man auf den Gedanken einer einheitlichen
deutschen Kunsttopographie zurückkommen. Es gab eine solche, ehe
es ein Reich gab, wenn auch in beschränkter Weise; und es wird
wieder eine geben, jetzt, da es ein Reich giebt. Vorläufig aber wäre
schon viel gewonnen, wenn man sich — was sicher nicht außerhalb
des Bereiches der Möglichkeit liegt — für die allgemach notwendig
werdenden zweiten Auflagen über gewisse, sich aus der bisherigen
Praxis ergebende allgemeine Grundsätze einigen könnte.
Als solche wären etwa anzuführen:
1. Die Darstellung erstreckt sich auf den ganzen Zeit-
raum von den frühesten vorgeschichtlichen Anfängen bis
zum Ausgange des XVIII. Jahrhunderts. Es wird zu er-
wägen sein, ob die vorchristlichen Denkmäler nur kurz
registriert oder ob sie in gleicher Weise behandelt werden
sollen wie die Werke christlicher Zeit.
2. Die Bearbeitung soll durch historisch geschulte
Kunsthistoriker oder Architekten, eventuell unter Zu-
ziehung historischer Hilfsarbeiter erfolgen. Die Dar-
stellung soll nach der historischen Seite — auch durch
Hinweis auf archivalische Quellen und durch Anführung
der lokalen Litteratur — ausreichend fundiert sein; die
Beschreibung der Denkmäler durch Wort und Bild aber
mufs dabei die Hauptsache bleiben.
3. Der Denkmälerbestand wird nach genau zu regelnden
Grundsätzen kartographisch verzeichnet.
4. Die Anordnung erfolgt auf Grund der modernen
Verwaltungseinteilung d. h. in Preufsen nach Kreisen
eventuell kleinen Kreisgruppen, aufserhalb Preufsens nach
den entsprechenden Verwaltungsbezirken. Damit wäre
eine gröfsere Verbreitung und zugleich eine tiefergehende
— 290 —
Wirkung gewährleistet. Jeder Bürgermeister, jeder Lehrer,
jeder Pfarrer müfste das Buch haben.
Zweifellos wäre schon viel gewonnen, wenn sich in diesen Punkten
Einheitlichkeit erzielen liefee. Noch zwei andere Dinge aber scheinen
mir notwendig zu sein. Der sehr bedeutende Umfang der deutschen
Denkmäler-Inventare macht die Herstellung eines ausführlichen Gesamt-
registers, eines Auszuges aus allen, in der Art wie es die Kunsttopo-
graphie von Wilhelm Lotz war, zum unabweisbaren Bedürfnis. Georg
Dehio hat in der Strafeburger Generalversammlung (1899) des Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereinc eine Anregimg
in diesem Sinne gegeben, und es ist dringend zu wünschen, dafs die
Idee verwirklicht werde. Über die Einzelheiten, über die Auswahl
des Aufztmehmenden, über die Frage, ob nur die unbeweglichen oder
auch die beweglichen Denkmäler in diesem Extrakt verzeichnet werden
sollen, werden Vereinbarungen unschwer zu erzielen sein. Vielleicht
wäre eine Teilung in drei Bände angezeigt. Der erste, mit dem die
Arbeit beginnen müfste, würde Norddeutschland umfassen, wo die
Inventarisation am weitesten vorgeschritten ist; der zweite den Westen,
der dritte den Süden. Hier wäre vielleicht die Schweiz einzubeziehen.
Österreich, wo man kaum mit der Publikation von Inventaren an-
gefangen hat, würde bedauerlicher Weise wohl ausgeschlossen bleiben
müssen.
Und die zweite Notwendigkeit wäre dann eine Denkmäler-Karte.
Was vor Jahrzehnten schon, als man eigentlich noch ohne Material-
kenntnis war, für das ganze deutsche Sprachgebiet, was dann in neuester
Zeit bei Gelegenheit der Inventarisation für kleinere Gebiete versucht
worden ist, das müfete im grofsen für ganz Deutschland in Ang^ff
genommen werden. Man scheide Prähistorisches und Römisches aus
und schaffe dann — was bei der ungeheuren Zahl der Denkmäler
unerläfelich wäre — getrennte kartographische Darstellungen der ver-
schiedenen Baustile auf deutschem Boden. Auch dieses Unternehmen
würde der Forschung gute Dienste leisten. Die Aufgabe ist heute,
wo es für viele Gebiete schon Grundkarten giebt und wo in allen
Deutschlands an deren Herstellung gearbeitet wird *), verhältnismäfsig
leicht zu lösen.
i) Vgl. S. 33 ff. und 201/202.
— 291 —
Mitteilungen
Versailllllllingeil« — In der Zeit vom 24. bis 27. September wird
in Dresden die diesjährige Hauptversammlung des Gesamtvereins der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine') stattfinden. Der
Gesamtverein folgt damit einer Einladung des Königl. Sächsischen Altertums-
vereins, der gleichzeitig sein fünfundsiebzigjähriges Bestehen feiert. Das Fest-
programm ist bis jetzt noch nicht in allen Einzelheiten festgestellt, doch wird
der Begrüfsimg am Abend des 24. September am nächsten Tage die erste
Hauptversammlung in der Aula der Technischen Hochschule folgen, wo Pro-
fessor Gefs über ein noch bekaimt zu gebendes Thema sprechen wird. Am
Nachmittag wird die Versammlung einer Einladung Sr. Königl. Hoheit des
Prinzen Georg zu einem Parkfeste im Felsenschlosse Wesenstein folgen. Der
26. September bringt vormittags Sektionssitzungen imd danach eine Fahrt
nach Meifsen, wo in der Albrechtsburg die Jubelfeier des Königl. Sachs.
Altertumsvereins stattfindet. Hier wird Regierungsrat Er misch einen Vor-
trag über Die Weitiner und die Ixindesgeschichte und Hofrat Prof. Gurlitt
einen solchen über die Albrechtsburg halten. Am 27. September finden
vormittags wieder Sektionssitzungen statt, und mittags folgt die letzte Haupt-
versanmilung. — Die Abgeordneten der verbimdenen Vereine versammeln
sich am 25. September vormittags 11 Uhr und haben über eine wichtige
Satzungsänderung des Gesamtvereins zu beschliefsen. Eis handelt sich dabei
um die Neuorganisation der Geschäftsführung des Gesamtvereins (vgl. diese
Zeitschrift S. 85), und es wäre recht erfreulich, wenn die Vereine mög-
lichst vollzählig vertreten wären; gerade in dieser Richtung hat die
jüngste Zeit einen Fortschritt gebracht, denn während 1898 nur 31 Vereine
durch Abgeordnete vertreten waren, ist deren 2^hl 1899 ^^^ 55 gestiegen,
und vielleicht wird es möglich, dafs sich in Dresden mehr als hundert
Vereinsvertreter zusammen finden!
Am Tage vor der Versammlungseröffiiung , am 24. September (Mon-
tag), werden femer der Erste Tag für Denkmalspflege und der
Zweite deutsche Archivtag (vgl. oben S. 56 — 61) abgehalten, imd es
steht zu erwarten, dafs alle, welche zur Teilnahme an den Verhandlungen
einer dieser Sonderversammlungen nach Dresden eilen, auch den Veranstal-
tungen der nächsten Tage nicht fem bleiben.
Arehlre. — Für die Erschliefsung der Archive ist seit langem die
Veröffentlichung von Inventaren als zweckdienliches Mittel erkannt worden.
Aber ebenso einleuchtend war es fUr jeden Sachkenner, dafs ganz unmög-
lich die für den Gebrauch der Archivbeamten bestimmten Repertorien ganz
oder auch nur im Auszuge zum Dmcke gebracht werden können, dafs viel-
mehr in systematischer Weise Gmppen von Archivalien bearbeitet und in
einer Form, die dem Forscher Fingerzeige ftlr die Benutzung giebt, ver-
öffentiicht werden müssen. Diesem Ziele hat man allerorts nachgestrebt: Mrie
i) Über die Versammlang zu MüiHter (1898) und Sirafsburg (1899) vgl. oben S. 22 ff.
und S. 81 ff.
— 292 —
die Aufgabe seitens der Preufsischen Staatsarchive gelöst werden wird, wurde
bereits S. 1 71/172 an einem Beispiele kurz gezeigt. Ebendort wurden die
Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln in ihrer Anlage imd I^istung
besprochen. Um das Bild, welches die Inventarisation der gröfseren
Archive behufs Drucklegung gegenwärtig gewährt, etwas zu vervollständigen
mögen hier eine Reihe solcher Veröffentlichungen, die natürlich nicht voll-
ständig von den Archiven selbst zu trennen sind, charakterisiert werden.
Dabei wir den Wunsch hegen, dafs die Forscher noch in viel höherem Mafse,
als es bisher zu geschehen pflegt, diese gedruckten Inventare bei ihren Ar-
beiten zu Rate ziehen: namentlich demjenigen, der einzelne Kulturerschei-
nungen darzustellen bemüht ist, werden sie zu einer unerschöpflichen Fund-
grube werden!
Die Mitteilungen aus dern Stadtarchiv und der Siadthihlioihek xu
üreslaUf von dem Direktor beider Institute Prof. Hermann Markgraf
begründet und herausgegeben, erscheinen seit 1894 in zwanglosen Heften
auf Kosten der Stadtgemeinde Breslau. Sie sollen in erster Reihe nicht
Archivrepertorien und Bibliothekskataloge bringen, sondern darstellende
Arbeiten, die vornehmlich auf den Beständen der genannten Institute be-
ruhen. Soweit die Bibliothek als Quelle dient, werden die Mitteilungen
Gegenstände aus den verschiedensten Gebieten behandeln können. Beispiels-
weise dürften die Bestände an schöner Litteratur, an politischen Flugschriften
und an theologischer Litteratur des XVI. und XVII. Jahrhunderts für eine ganze
Reihe von Arbeiten reiches Material liefern. Eine Probe hiervon wird das
in einigen Monaten erscheinende Heft V: Lehen und Gedichte Christoph
Kölers (1602 — 58) von Bibliothekar M. Hippe geben, das einem bisher
wenig bekannten Mitgliede der ersten schlesischcn Dichterschule die ge-
bührende Stellung in der Litteraturgeschichte anweisen wird.
Die auf den Archivbeständen beruhenden stadtgeschichtlichen Arbeiten
sollen vorwiegend einzelne Zweige des städtischen Lebens von dem Beginne
der geschichdichen Kenntnis bis zur Gegenwart verfolgen. Mit ihren rein
wissenschaftlichen Aufgaben suchen sie den Zweck zu verbinden, weiteren
Kreisen der gegenwärtigen Stadtbevölkenmg an naheliegenden, leichtver-
ständlichen Beispielen das Wurzeln der Gegenwart in der Vergangenheit zu
verdeutlichen. Femer sollen die Mitteilungen in geeigneten Fällen den
jetzigen Stadtbehörden Material an die Hand geben zur Entscheidung solcher
Rechts- und Verwaltungsfragen, die ohne geschichtliche Kenntnis nicht zu
lösen sind.
Zur Eröffnung der Sammlung vorzüglich geeignet waren die beiden
ersten, von H. Markgraf bearbeiteten Hefte, welche die Vergangenheit
der Stadt im Spiegel der Geschichte ihrer Strafsen und Plätze darstellen.
Heft i: Der Breslauer Ring (1894) behandelt den mächtigen Marktplatz,
der durch seinen Namen auf die Kolonistenstadt im slavischen Osten, durch
seinen imgewöhnlich grofsen Umfang auf die bedeutende Handelsmetropole
hinweist Die hier entwickelte Baugeschichte des Rathauses enthält einen
beträchtlichen Teü der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte im Kleinen.
In der Entwicklung der öffentlichen Verkaufsstätten imd der Märkte auf dem
Ringe spiegelt sich die gesamte Wirtschafbgeschichte wieder. In wie vielen
— 29 J —
Hinsichten das mittelalterliche Städteleben erst mit dem ersten Jahrzehnt
des XIX. Jahrhunderts sein Binde erreicht hat, zeigt schon ein Vergleich
der baulichen Beschaffenheit des Mittelpunktes der Stadt vor hundert Jahren
und heute auch dem Laienauge aufs allerdeutlichste.
Dasselbe Bild in weiterem Rahmen bietet das 2. Heft: Die Slra/scn
Breslaus (1896). Die alten Straisen des Stadtkernes sind in ihrer Anlage
und Benennung, in ihren öffentlichen und Privatgebäuden vorwiegend Denk-
mäler vergangener Formen des staatlichen, wirtschafdichen und geistigen
Lebens, die sich in einem halben Jahrtausend nur langsam wandelten.
Ihnen tritt in den neuen Stadtteilen das Produkt der ganz modernen»
binnen wenigen Jahrzehnten alles verwandelnden und nivellierenden groils-
städdschen Entwicklung gegenüber. Wie bezeichnend ist schon der Unter-
schied der Strafsennamen: Die alten Benennungen, unter denen die mit
Gewerbenamen zusammengesetzten überwiegen, sind historisch geworden.
Die neuen Namen sind Kunstprodukte ungleichen Wertes; unter den Tauf-
paten unsrer Grofsstadtstrafsen wechseln flirsüiche Personen und zweifellose
Berühmtheiten mit kleinen Lokalgröfsen oder gar eigennützigen Bauspeku-
lanten in buntem Gemisch.
In engem Zusammenhange mit den besprochenen Arbeiten steht das
von Heinrich Wendt bearbeitete 4. Heft, das als ersten Teil der
OeschicJite der Stadt- und Uospiiaüandgüter den wichtigsten der Kämmerei-
güterkomplexe, das „Amt Ransem'^ behandelt Dieses Amt umfafst aufser
einigen noch heute läudlichen Ortschaften auch diejeuigen jetzt eingemeindeten
Vorstädte und Vororte, die früher zu den Stadtlandgütem gehörten. Es
wird also hier dargestellt, wie auf den der Stadt von ihren Landesherren zu-
gewiesenen Viehweiden allmählich Siedlungen entstanden, die rechdich und
wirtschaftlich eine eigenartige Zwischenstellung zwischen Stadt und Land ein-
nahmen, bis sie, teils schon auf Grund der Städteordnung von 1808, teib
erst infolge der modernen grofsstädtischen Entwicklung, 1868, mit der Stadt
vereinigt ^vurden. Aufserdem schildert das Heft an dem Beispiele des
Ranserner Amtes die allgemeinen Grundzüge der Landgüterverwaltung, end-
lich auch die Veränderungen des Oderlaufes bei Breslau.
Die dem i., 2. und 4. Hefte gemeinsame topographische Grundlage
fehlt dem von Erich Fink bearbeiteten 3. Hefte. Dasselbe giebt an der
Hand einer GeschicJäe der landesherrlicJien Besuche in Breslau einen Abrifs
der Beziehungen der Stadt zu ihren Landesherren. Daneben wird in der
Schilderung der Einzugsfeierlichkeiten, Huldigungen, Ehrengaben und Festlich-
keiten der Wandel des Zeitgeschmacks durch last sechs Jahrhunderte verfolgt.
Die Veiöffentiichungen über die Bestände des Historischen Archivs der
Stadt Frankfurt a. M. sind vom Magistrate der Stadt durch Beschluls
vom 20. November 1885 dem Verein ftir Geschichte und Altertumskunde
übertragen worden, welchem zu diesem Zwecke jährlich 1000 Mark aus
städtischen Mitteln zur VeHligung gestellt wurden. Sie sollten in zwei Teile
zerfielen: i) in eine „ übersichtiiche Inhaltsangabe ** des Archivs, 2) in „ge-
nauere Inventarien der ftir Geschichte, Kulturgeschichte, Verfassung und Ver-
waltung wichtigeren Urkunden- und Aktenbestände".
Die Übersicht über den ganzen Inhalt des Archivs ist 1896
— 294 —
^Frankfurt, Völcker) erschienen; sie führt den Titel: Da,^ historisclie Amhiv
der Stadt Frankfurt a. M,, seine Ihstände und acine Geschichte *) und ist das
Werk des derzeitigen Stadtarchivars R. Jung. Der erste Teil giebt die Über-
sicht über die gesamten Bestände in 19 Hauptabteilungen (Entstehung, Recht
und Verfassung — Rat und Schöffen — Bürgerliche Vertretungen — Ge-
heime Deputationen — Auswärtige Politik — Finanzen — Städtischer
Grundbesitz — Bauwesen — Öffentliche Sicherheit und Wohlfahrt —
Militärwesen — Verkehr, Handel, Gewerbe — Kirchen- und Schulwesen —
Milde Stiftungen — Gerichtswesen — Dörfer, Höfe etc. — Teile der Be-
völkerung — Öffentliche Veranstaltungen etc. — Geschichtliche Handschriften
— Einverleibte und hinterlegte Archive). Jede Hauptabteilung zählt je 3 bis
24 Unterabteilungen, im ganzen sind es deren 192. Auf diesem System
beruht lediglich diese Übersicht, nicht etwa die archivalische Ordnung der
Akten; für letztere ist von jeher das koordinierende Provenienzsystem mafe-
gebend gewesen.
Den einzelnen Unterabteilungen gehen knappgefafste Übersichten über
Geschichte und Geschäftskreis der betreffenden Amter, Stifhmgen etc., über
die Zusammensetzung der Akten, ihre Repertorisienmg, die Jahre, welche sie
umfiEissen, die hauptsächliche Litteratur, in der sie benutzt sind, voraus, so
dafs der Benutzer des Buches erkennen kann, ob die Einsicht in die Akten
für seine Zwecke wünschenswert, nötig oder unnötig ist. Die Angabe des
Repertoriums , in dem die Akten einzeln verzeichnet sind, ist nicht nur für
die Archivbeamten, sondern auch für die Benutzer von Wert, da die Reper-
torien vorgelegt werden.
Die beigefügte Geschichte des Archivs bietet einen interessanten Ein-
blick in die Geschichte des reichsstädtischen Archivs, seine Verwaltung und
Ordnimg (die freistädtische Zeit ist nur ganz kurz behandelt) und damit einen
Beitrag zur Geschichte des deutschen Archivwesens; es ist erfreulich, dafs
die Frankfurter ihr Archiv von je her nicht nur als wertxolle Rüstkammer
für die Stadtverwaltung, sondern auch als die richtige Quelle für die Stadt-
geschichte hochgeschätzt und den Nachkommen im grofsen und ganzen voll-
ständig imd unversehrt überliefert haben.
Die eingehenden Verzeichnisse der einzelnen Bestände
liegen bis jetzt in vier Bänden vor imd führen den Titel: Inveniare des
Frankfurier Stadiardiirs (Frankfurt, Völcker, 1888 — 1894); der i. Band
ist von G r o t e f e n d, die anderen sind von Jung bearbeitet Sie erstrecken sich
auf eine kleine, aber in sich geschlossene Gruppe des Archivs: die Archi-
valien über die auswärtige Politik der Stadt vor dem Jahre 1500 (Reichs-
sachen mit Nachträgen — Rachtungen, Urfehden, Verbund- und Verzicht-
briefe — Dienstbriefe der Reisigen, Hauptleute, Burggrafen etc. auf den
Dörfern — Privilegien — Kaiserschreiben — Kopialbücher — Wahltags-
akten — Reichstagsakten — Münzwesen — Acht und Aberacht — Nachträge).
Das Register im 4. Bande erstreckt sich über die Verzeichnisse aller dieser
Archivalien. Alle Urkunden und Aktenstücke, welche zu diesen Beständen
zählen, sind einzehi mit Angabe des Jahres- und Tagesdatums verzeichnet;
1) Eine sacbgemäfse und die Verhältnisse andrer SUdte «m Vei^leich heimnxiehende
Besprechung ist die von Wie gand in der DcuUchen ZeiUchnft für GeschichUwissen-
Schaft. N. F. II. Jahrg. (1898) Monatsblätter S. 149-
— 295 —
die Inhaltsangaben sind öfter bis zu vollständigen Regesten erweitert. Nur
bei den sogen. Reichssachen mufste summarischer verfahren werden; die
einzelnen Nummern dieser Unterabteilung zählen oft hundert und mehr Akten-
stücke, so dafs an eine Einzelverzeichnung (wie z. B. in den Mitteilungen aus
dem Kölner Stadtarchiv) gar nicht gedacht werden konnte ; daher neben den
Inhaltsangaben einzelner^ eine Nummer für sich allein bildender Stücke die
zusanmien fassenden Angaben wie : „ Fehde Frankfurts mit denen von Cronberg
1397 — 1400" und ähnliche. Das gedruckte Verzeichnis sollte auch bei
den ausführlicher vermerkten Stücken kein genaues Regest mit Stückbeschrei-
bung geben, es sollte lediglich auf den Inhalt des Stückes in knapper Form
aufmerksam machen und niemab die Einsichtnahme in das Stück ersetzen.
Da die Inventare aus den von verschiedenen Archivaren und Gelehrten zu
verschiedenen Zeiten angefertigten Verzeichnissen bestehen, so war eine ge-
wisse Ungleichmäisigkeit nicht zu vermeiden , aber das sorgfaltig gearbeitete
Register macht hier vieles wieder gut.
Die Übersicht wie die Einzelinventare haben die wissenschaftliche Be-
nutzung des so reichhaltigen Archivs wesenüich erleichtert imd auch gestei-
gert Die Fortsetzimg der Inventare mufs bei den geringen, für die Reper-
torisierungsarbeiten verfügbaren Kräften einstweilen ruhen ; die Übersicht wird
vielleicht schon in den nächsten Jahren eine zweite Auflage erleben, da in-
zwischen viele wichtige Bestände* dem Archive zugewachsen sind oder dem-
nächst hinzuwachsen werden.
Knappe Übersichten über die Archivbestände, die etwa der für das
Frankfurter Stadtarchiv vorliegenden gleichkommen und die gerade ihrer Voll-
ständigkeit wegen so verdienstlich sind, haben in neuerer Zeit eine ganze
Reihe von Archivbesitzem bearbeiten lassen, imd eigentlich sollte bei jedem
Archive für die Drucklegung eines solchen Inventars gesorgt werden. Hier
wollen wir einige dieser Inventare, die uns zur Besprechung zugegangen sind,
aufführen und ihren Inhalt näher charakterisieren.
Schon iS^6 erschienötT Katalog des Hevaler Stadtarchivs, herausgegeben
vom Stadtarchivar Gotthard v. Hansen (8**. 398 S.). Das reichste der
baltischen Stadtarchive steht seit 1883 tmter fachmännischer Leitung, es ist
seitdem wie auch schon früher viel von Forschem auf den verschiedensten
Gebieten benutzt worden, denn die Zugehörigkeit der Stadt zu Dänemark, dem
Ördensstaat, Schweden und Rufsland sowie die Beziehimg zur Hanse und
namendich zu Lübeck als Oberhof bringen es mit sich, dafs aufserordentlich
verschiedenartige Quellen im Revaler Archive ruhen. Der Archivkatalog zer-
fallt in eine Einleitung, welche kurz über die Geschichte des Archivs be-
richtet, und fünf Abteilungen, bezeichnet A bis E. Aber die ersten vier
Abteilungen bilden eine gröfsere Einheit, da sie in knappster Form über die
gesamten Bestände orientieren *), während die Abteilung E auf S. 236 — 398
die Regesten von 1245 Urkunden enthält, welche das Urkundenarchiv im
i) A. Die Codices manascripti und gedrockte Bücher mit 10 Unterabteilangen
S. 1 bis 65. — B. Aktenkalalog mit 44 Unterabteilangen S. 67 bis 224. — C. Akten und
Bücher im dritten Archivraum S. 225 bis 230. — D. Kurze Inhaltsangabe über Urkunden
in 40 Blechkästen, über die noch kein genaues Inventar existiert, S. 231 bis 255.
engeren Sinne darstellen. Natürlich sind Urkunden in viel gröfserer Zahl
vorhanden, aber sie sind (abgesehen von den unter D genannten) mit den
Akten vereinigt, imd die Zahl wird auf 300000 einzelne Stücke angegeben.
Unter den 15 10 Handschriften verdienen neben den Kämmereirech-
nungen 1352 fif. die Kaufmannsbücher besondere Beachtung. £ls sind
davon bis 1500 24 Stück vorhanden, und bis zum Elnde des XVII. Jahr-
hunderts ist das Material so reichlich, dafs sich kaum in einem anderen
Archive annähernd reichhaltige Quellen zur Geschichte der kaufinäimischen
Buchführung und des kaufmännischen Geschäilsbetriebes überhaupt vor-
finden werden. Ergänzimgen hierzu bieten in Menge die Akten in der
Unterabteilung Handel (B. h. S. 97 — 102), u. a. Akten des Schwedischen
Kommerz-Kollegiums 1656fr., und von gröfster Wichtigkeit nament-
lich für die eigentlich handelspolitische Thätigkeit der Hanse müssen die
unter B. £. S. 1 7 5 — 177 verzeichneten Hanseakten sein. Es ist ganz aufser Frage,
dafs eine dickleibige Publikation aus dem Archive für die Forschung nicht
entfernt so vorteÜhaft gewesen wäre wie die Veröffentlichung des Katalogs,
der eine Gesamt Übersicht über die Bestände giebt, es möglich macht,
sachlich zusammengehöriges an verschiedenen Stellen ruhendes Material auf-
zufinden und überhaupt, ohne Rücksicht auf einen besonderen Zweck, das
Archiv für jeden Forscher nutzbar werden läfst. Noch mehr würde dies der
Fall sein, wenn ein alphabetisches Sachregister beigegeben wäre.
Von noch geringerem Umfange als der Revaler Katalog ist das Jnvetitar
des Staatsarchivs des Kantons Zur ich, bearbeitet von Prof. Dr. P. Schweizer
(Separatabdruck aus dem Anx^iga' für Schweixerisclie OeschicJäe, Bern 1897),
denn es giebt neben einer kurzen Geschichte des Archivs — ausführlich ist
sie dargestellt im Neujahr shlatt des Waise7ihanses Zürich für 1894 — und
den Benutzungsvorschriften die Beschreibung der Bestände auf 112 Seiten.
Die jetzige Einteilung besteht seit 1882 und unterscheidet das ältere Haupt-
archiv (bis 1798), ältere Nebenarchive, das neuere Archiv (seit 1798), fremde
Archive, Bibliothek und Register. Sachlich ist aus den Angaben des In-
ventars nicht entfernt so viel direkt zu ge\sinnen wie bei dem Revaler, aber
immerhin wird es manchem Forscher lieb sein zu erfahren, dafs unter den
Gerichtsakten solche über Hexerei aus den Jahren 1605 ^^^ 1701 und
unter den „Akten der inneren Verwaltung** solche über Baumwollen-
fabriken 1717 bis 1787 vorhanden sind. Wichtiger noch sind die kurzen
Merkworte der Abteilimgen unter „Beziehungen zum Ausland", denn da
findet sich: Reislaufen 1480 bis 1734, Reichssachen 1370 bis 1702, Kaiser
1 4 1 5 bis 1797 u. V. a. m. Die sechs älteren Nebenarchive sind das Archiv
des kaufmännischen Direktoriums, Kirchenarchiv, Finanzarchiv, Archiv des
Stiftes Grofsmünster, Spitalarchv, Archiv des Klosters Rheinau. In der Auf-
stellung des letzteren ist die um 1750 vorgenommene Ordnung beibehalten
worden. Dieses Züricher Inventar liefert den Beweis, dafs es wohl möglich
ist, auch den Bestand eines grofsen Archivs — neben 5274 Mappen finden
sich 33 758 Bände vor — in übersichtlicher Form zur allgemeinen Kenntnis
zu bringen; natürlich werden genauere Inventare über einzelne wichtige Ab-
teilungen dadurch nicht unnötig, sondern sie sind gerade, nachdem dem
Forscher eine allgemeine Orientiemng möglich ist, erst recht nötig.
— 297 --
Das Archiv der Stadt Pforzheim ist gegenwärtig nicht mehr gerade za reich
an älteren Stücken, um so erfreulicher iät es, dafs die Stadt eine Veröffent-
lichung aus den Archivbeständen angeregt hat: Urkunden des Stadtarchivs
XU Pforzheim^ im Auftrage der städtischen Archivkommission herausgegeben
von Leonard Korth (Pforzheim 1899. 8®. 128 S.). Dieses Buch bietet
weniger und mehr als ein Archivinventar, denn nicht alle Archivalien im
Besitze der Stadt sind verzeichnet, wenn auch in der Vorbemerkung S. V eine
Reihe Akten kurz aufgezählt sind, sondern nur die Urkunden, diese aber
— 50 an Zahl 1480 bis 1782 — wiederum sind nicht nur in knappen Re-
gesten ihrem Inhalt nach charakterisiert, sondern zum gröfsten Teil in vollem
Umfange abgedruckt, während bei den jüngeren und weniger wichtigeren
ein ausführliches Regest gegeben ist. In einem Anhang sind dann noch
einige andere auf Pforzheim bezügliche Urkunden (1342 ff.) abgedruckt, die
in Stuttgart und Karlsruhe liegen. Es liegt hiermit also ein kleines Pforz-
heimer Urkundenbuch vor, dem die Urkunde von 1342 (die älteste des Anhangs)
im Faksimile beigegeben ist und welches durch ein alphabetisches Verzeichnis
der vorkom menden Eigennamen für die Lokalforschung besonders brauchbar
gemacht ist. Von gröfserem allgemeinen Interesse ist das Testament, welches
der Kanoniker Dietrich Wyler etwa 1530 errichtet hat (S. 36 — 44), da es
ein anschauliches Bild von seiner Hauseinrichtung giebt. Auch die 16 16
abgeänderte Handwerksordnung der Weifsgerberzunft von 1576 verdient Be-
achtung. Die Pforzheimer Veröffentlichung lehrt, wie aus einem bescheidenen
Archiv zur Erweckung geschichtlichen Interesses bei der nächstbeteiligten
Bevölkerung und behufs Erschliefsung immer neuen Quellenmaterials für die
Forschung überhaupt durch so ein Zwischending von Inventar und Urkunden-
buch Nützliches geleistet werden kann *).
In mehr als einer Beziehung darf als Muster für ähnliche Veröffendichungen
das Inventar des Stadtarchivs zu Eger gelten, welches im Verlage der Stadt-
gemeinde Eger 1900 mit dem Titel Die Kataloge des Egerer Stadtarchivs y an-
gelegt von Dr. Karl Siegl (388 S.), erschienen ist. Vor allem zeichnet sich
dieses Buch durch ein treffliches Register aus, welches auch ein viel weniger
übersichtlich angelegtes und gedrucktes Werk brauchbar machen würde. Auf
die knappe Einleitung, die eine Archivgeschichte giebt, folgt das Verzeichnis der
Archivalien: A. Urkunden, B. Akten, C. Archivsbücher (d. h. Handschriften).
In A und B sind die Unterabteilungen : Eger und Egerland im allgemeinen,
Eger und Egerland im besonderen, die Beziehungen der Stadt Eger und des
Egerlandes nach auswärts. Den gröfseren Teil des Bandes (bis S. 135)
füllen die Urkundenregesten, denen ein chronologisches Verzeichnis bei-
gegeben ist, während die Anordnung sachlich ist, so dafs z. B. S. 32 bis 35
Urfehden und Bürgebriefe 1386 — 1580 aufgeführt sind. Der wert-
vollere Teil des Archivs ist aber unzweifelhaft der, welcher die Akten ent-
hält, welcher natürlich unvergleichlich schwieriger zu inventarisieren ist.
Gerade hier giebt der Text, bei übersichtlichem Druck imd genauer Angabe
i) Aach die von der Historischen Kommission der Provinz Westfalen heraasgegebnen
Iirventare der mchtstaailühen Archive der Provinz Westfalen (Münster, Aschendorf!)
geben zweckmäfsigerweise wichtigere noch nicht veröffentlichte Urkunden sofort im
vollen Wortlaut wieder.
— 298 ~
der Faszikel, eine Menge Einzelheiten, die bereits so, wie sie der Leser
findet, brauchbares Material darstellen: da lesen wir von Ladungen vor das
Westfälische Gericht 1447 — 1509 und Korrespondenzen in Fehmesachen
1454 — 1492 (S. 201), von Papiermachem 1572 (S. 214). Wichtig sind
auch die Beziehungen Egers nach auswärts, nach Ländern und innerhalb dieser
nach Orten geordnet, so finden sich Beziehungen zu Berlin schon 1438
(S. 345)» zu Halberstadt 1499. ^^^ Anordnung des Stoffes und das Re-
gister dienen dazu, für eine aufserordentiich grofse Menge von Orten und
Personen (hier namendich von sächsischen und bayerischen Adeligen) Material
beizubringen und zwar in jedem einzelnen Falle mit der Jahreszahl. Überall,
wo man daran geht, ein Archivinventar zum Drucke zu bearbeiten, sollte
das Egerer vorher geprüft werden : wie es scheinen will, wird jeder Benutzer
wesentliche Anhaltspunkte für seine Arbeit daraus gewinnen können.
Kominissioiieil. — Am 12. Mai hielt die „Historische Kom-
mission für Hessen und Wal deck" (vgl. S. 26) in Marburg ihre
dritte Jahresversammlung ab. Im Berichtsjahre ist die erste Lieferung des
Hessischen Trachtenbuches, bearbeitet von Prof. Jusri, ausgegeben
worden; aufserdem erhielten die Stifter und Patrone die aus den Vor-
arbeiten zur Ausgabe der Landtagsakten hervorgegangene Schrift von Hans
Glagau: Eine Vorkümpferin landesherrlicher Macht, Anna von Hessen, die
Mutier Phüij)ps des Orofsrnüiigen (1485 — 1525). Marburg, Elwert, 1899.
Von den Landtagsakten selbst ist der erste Band zum Druck befördert
worden. Im laufenden Jahre sollen bestimmt der erste Band des Fuldaer
Urkunde nbuches, bearbeitet von Prof. Tangl, und ein Band der Chro-
niken von Hessen und Wal deck, enthaltend die beiden von Die-
mar bearbeiteten Chroniken von Gerstenberg, druckfertig werden. Die Land-
grafenregesten, welche die 2^it von 1247 — 1509 umfassen sollen, wurden
von Geb. Archivrat Könnecke im verflossenen Jahre, erheblich gefoidert,
aber über den Abschlufs läfst sich noch nichts bestimmen. Die Arbeit am
Ortslexikon wurde mit Rücksicht darauf, dafs eine Kommission gelegent-
lich der Dresdener Versammlung des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine über die Aufstellung eines Programms für
Ortsverzeichnisse beraten wird, nur auf die Sammlimg von weiterem Material
beschränkt Das Material für das Urkundenbuch der Stadt Fried-
berg, welches Dr. Foltz bearbeitet, ist beträchtlich vermehrt worden, und
gleichzeitig ist auch die Arbeit an den Urkundenbüchem der anderen wetter-
auischen Reichsstädte mit m Angriff genommen worden. Als neues Unter-
nehmen wurde schliefslich die Herausgabe eines Münzwerkes bis zum
Tode Philipps des Grofsmütigen beschlossen, dessen Bearbeitung Dr. Bu-
chenau (Weimar) übemoomien hat. — Nach der finanziellen Seite hin ist
die Lage der Kommission ebenso günstig, denn einer Einnahme von 14 7 14 Mk.
steht nur eine Ausgabe von 5003 Mk. gegenüber. In den Vorstand sind
neu eingetreten v. Baumbach (Cassel), J. Boehlau (Cassel), Küch (Mar-
burg) und E. Zimmermann (Hanau).
Die „Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde" tagte
in diesem Jahre am 19. Mai und benutzte diese Tagimg zu einer Ge-
— 299 —
dächtaisfeier für Gustav v. Mevissen (vergl. S. 31). Den üblichen
öffentlichen Vortrag hielt Professor Gothein (Bonn) über Die Entstehung
des modernen Verkehrs (Dampfschiffe mid EisetibaJinenJ im Rheinland, Aus-
gegeben wurde seit der letzten Versammlung der erste Band der Über-
sietii über den InMlt der kleineren Archive der Khtinprovinx ^ bearbeitet
von Armin Tille (Bonn, Behrendt, 1899) und der erste Band der
Weistümer der Rheinprovinx (Oberamt Boppard, Stadt und Amt Coblenz,
Amt Bergpflege des Kurfürstentums Trier), herausgegeben von Hugo
Loersch (Bonn, Behrendt, 1900). Der erste Band der Rheinischen
Urbare, welcher die Urbare von St. Pantaleon umfafst und von Benno
Hilliger bearbeitet wird, ist soeben mit dem 38. Bogen im Druck
vollendet worden, Einleitung und Register stehen noch aus. Die Werdener
Urbare wird R. Kötzschke im Herbst druckfertig vorlegen. Bis zur
nächsten Versammlung hofft Prof. v. Below (Marburg) das Manuskript fUr
einen neuen Band der Landtagsakten von Jülich-Berg I. Reihe
einliefern zu können. H. Keussen denkt bis ebendahin einen zweiten Band
der älteren Matrikeln der Universität Köln fertig stellen zu können.
Die zweite Abteilung der erzbichöflich-kölnischen Regesten (iioa
bis 1304), welcher R. Knipping bearbeitet, ist im Druck bis zum 25. Bogen
gediehen, so dafs der zweite Band (bis 1205) noch im Laufe des Sommers
erscheinen wird. Das Manuskript der mittelalterlichen Zunfturkun-
den der Stadt Köln hat H. v. Loesch eingeliefert, und der Druck
wird alsbald beginnen. Beim Geschichtlichen Atlas der Rhein-
provinz ist das Material für eine Karte der alten kirchlichen Einteilung
gesanmielt, so dafs die Ausarbeitung beginnen kann, die schnell voranschreiten
wird, zumal die Beamten der Staatsarchive zu Düsseldorf und Coblenz sich an den
Arbeiten von Amts wegen beteiligen. Während das Ende der Arbeiten an der
Jülich-Clevischen Politik Kurbrandenburgs 1610 — 1640 (Be-
arbeiter: Hugo Löwe) und am Buchdruck Kölns im Jahrhundert
seiner Erfindung (Bearbeiter: Voulli^me) noch m'cht abzusehen ist, hat
Prof. Aldenhoven den erläuternden Text zur Geschichte der Kölner
Malerschule eingereicht. Dr. Sauerland hat im Vatikanischen Archive Re-
gesten zur Geschichte der Rheinlande 1 2 94 — 1 43 1 gesammelt und zwar bis 1342
über 2000 Urkundenabschriflen bzw. Regesten gewonnen, die bis zum Herbst
druckfertig nebst Einleitung vorliegen sollen. Die Veröffentlichung der Ro-
manischen Wandmalereien der Rheinlande, die Prof. Giemen
besorgt, ist bereits energisch in Angriff* genommen. Mit der Herstelltmg der
Tafeln, zu denen die Provinzialverwaltung die Vorlagen an Zeichnungen und
Aquarellkopieen stellt, ist bereits begonnen worden. — Das Vermögen der
Gesellschaft beziffert sich gegenwärtig auf 9 1 1 5 1 Mk., der Einnahme von
23906 Mk. (1899) stand eine Ausgabe von nur 13583 Mk. gegenüber.
Die Zahl der Stifter ist gegenwärtig 6, die der Patrone 121 (letztere zahlen
einen Jahresbeitrag von mindestens 100 Mk.). Mi^lieder zählt die Gesell-
schaft gegenwärtig 174.
Sammlung Yon BeiBeberlchten und Tagebfichem. — In Aus-
führung des S. 203 mitgeteilten Beschlusses der „Vierten Konferenz
von Vertretern deutscher landesgeschichtlicher Publikations-
— 300 —
Institute*^ ist ein Schreiben folgenden Wortlauts an sämtliche beteiligte
Publikationsinstitute ergangen :
Auf einen der Konferenz vom Universitätsbibliothekar Dr. Stein-
hausen in Jena vorgelegten Antrag, der eine Unterstützung der als
Quellenpublikationen geplanten „Denkmäler der Deutschen Kultur-
geschichte^* nach Seite der Materialsammlung hin bezweckt, hat die
Konferenz deutscher Publikationsinstitute in ihrer am 5. April 1900 in
der Universität zu Halle gehaltenen Sitzung folgenden Beschlufs gefafst:
Die Konferenz beschließt^ als Vorarbeit für eine künftige PublikcUüm
die Herstellung vmi Verzeichnissen des vorhandenen Materials an Reise-
bericJUen und Tagebüchern in Deutsehland herbeizuführen. Im Interesse
der Durchführbarkeit seines Antrages hat der Antragsteller selbst auf die
an sich wünschenswerte Verzeichnung des archivalischen Materials für die
sonst vorgesehenen Abteilungen der „Denkmäler" (Briefe, Ordnungen,
Inventare, Handelsbücher etc.) zunächst verzichtet und so den obigen
Beschlufs ermöglicht. Es erschebt in der That als eine nicht zu grofse
Inanspruchnahme der einzelnen Institute, wenn sie die kurze Verzeichnung
des in ihrem Bezirk vorhandenen, verhältnismäfsig leicht zu eruierenden
archivalischen Materials an Reiseberichten und Tagebüchern, soweit sie
Deutschland betreffen, übernehmen. Die Konferenz war der Ansicht, dafs
auch die gröfseren Archive auf Anregung des betreffenden
landesgeschichtlichen Publikationsinstituts ohne Schwierig-
keiten für die Übernahme der Verzeichnung des in ihnen beruhenden
Materials an Reiseberichten und Tagebüchern zu gewinnen sein würden,
um so eher, als dasselbe nach und nach verzeichnet werden kann und
keinerlei Beschleunigung erforderlich ist Ew. p. p. wollen sich daher
geneigtest in erster Linie mit dem Hauptarchive Ihres Bezirks, bezw. den
gröfseren Archiven desselben, in Verbindung setzen und auf die Über-
nahme der Herstellung eines solchen Verzeichnisses hinwirken. Die
Autorität Ihres Institutes vermag da mehr auszurichten als ein privates
Gesuch. Weiterhin würde die Eruierung des sonst in Ihrem Bezirk vor-
handenen bezüglichen archivalischen Materials (z. B. in Privatarchiven)
anzustreben sein. Unter anderem würde sich die Versendung eines Cir-
kulars an etwa vorhandene Pfleger oder sonstige Organe des Instituts
empfehlen. Dem Verzeichnis des unedierten archivalischen Materials
würde endlich, auf Anregung aus der Mitte der Konferenz heraus, ein
solches des seitens des einzelnen Instituts bereits veröffentlichten und in
seinen Publikationen gedruckten Materials an Reiseberichten und Tage-
büchern beizufügen sein. Die Verzeichnisse, deren Fertigstellung, wie be-
tont, ohne besondere Beschleunigung erfolgen kann, würden an den von
der Konferenz mit der Sammlung derselben beauftragten Universitäts-
bibliothekar Dr. G. Steinhausen in Jena gefälligst einzusenden sein.
Die Art der Verzeichnung kann ganz kurz sein, z. B. : Beschreibung der
Reise des Grafen N. N. durch Westdeutschland (die Niederlande und
Frankreich) in den Jahren 16 10 und 161 1 verfertigt durch dessen Hof-
meister N. N. — Ort der Aufbewahrung, eventuell Archivsignatur. Tage-
buch des Rathsherm N. N. zu N. N. 1568 — 1580 (kurze Notizen). —
Ort der Aufbewahrung, eventuell Archivsignatur. Mit der Bitte, mir eine
— 301 —
baldige Mitteiluog darüber ziikommen zu lassen, ob Ew. p. p. bereit sind,
dem Beschlüsse der Konferenz gemäfs an der Herstellung von Verzeich*
nissen des vorhandenen Materials an Reiseberichten und Tagebüchern in
Deutschland mitzuwirken, bin ich
In ausgezeichneter Hochachtung
Konferenz deutscher PnblikationBinstitata
Das geschäflsfUhrende Mitglied.
Der Zweck dieses Schreibens ist, in allen Gegenden Deutschlands
darauf hinzuwirken, dafs festgestellt wird, welches handschriftliche Material
an Reiseberichten und Tagebüchern vorhanden ist, damit das inhaltlich be-
deutendere davon veröffentlicht werden kann. Wie erfreulich es wäre, wenn
durch die Mitwirkung der historischen Gesellschaften in allen Provinzen eine
derartige Publikation ermöglicht würde, bedarf weiter keiner Erläuterung, aber
vielleicht ist es doch angezeigt, einige Bemerkungen beizufügen, die dem
Unternehmen von Nutzen sein könnten.
Jener Konferenzbeschlufs spricht zunächst von Beiseberichien und Tage-
büchern in Deutschland. Wenn damit gesagt sein soll, dafs nur Beschrei-
bungen Deutschlands — wir sprechen im weiteren nur von den Reise-
berichten und lassen die Tagebücher als mehr lokale Quellen aufser Be-
tracht — in Frage kommen sollen, so wäre dies sehr zu bedauern, denn
jedes litterarische Werk ist ein unzerreifsbares Ganzes, und es ist nicht gut
angängig, aus diesem Ganzen Stücke auszulassen, dies müfste aber in vielen
Fällen geschehen, wenn nur die über Deutschland handelnden Teüe der
Reiseerzählung veröffentlicht werden sollen. Die vielen Erzählungen vom
Besuche des Morgenlandes aus dem XIV. bis XV. Jahrhundert enthalten zum
grofsen Teile auch Reiseschildenmgen aus Deutschland, die nach dem Wort-
laute des obigen Beschlusses natürhch für eine Sammlung in Betracht kämen.
Aber ihr eigentlicher Wert Hegt gerade in der Beschreibung der Erlebnisse
in der Fremde, und diese sind von der allergröfsten Wichtigkeit für die
deutsche Kulturgeschichte im weitesten Sinne. Wer sich von der Richtig-
keit des Gesagten überzeugen will, der lese z. B. die ganz allerliebst ge-
schriebene Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Earff, aus den Jahren 1496
bis 1499, hggb. V. E. v. Groote (Köln, Lempertz, 1860). Wenn dieses
Gebiet der Litteratur einigermafsen erschöpft und der Geschichtsforschung
wesentlich neues Quellenmaterial zugänghch gemacht werden soll, dann
müssen nicht nur die Reisebeschreibungen Deutscher, wohin sie den Leser
auch führen mögen, sondern auch die von Ausländem, die Deutschland und
die Nachbarländer beschreiben, in die Erörterung gezogen werden. Neben
eigentlichen Reiseschüderungen würden aber auch Reiserechnungen, ¥ne die
über die Jerusalemfahrt des Kurfürsten Friedrich von Sachsen 1493/94, die
im 4. Bande (1883) des „Neuen Archivs für Sächsische Geschichte und
Altertumskunde " veröffentlicht ist, in Frage kommen, femer bis zu einer ge-
wissen Zeitgrenze auch einfache Reiseerwähnungen, damit eine annähemde
Vorstellung über die wachsende Häufigkeit der Reisen gewonnen wird. Die
Sammlung des Materials, wie sie eben jetzt von Steinhausen angestrebt wird,
ist nur eine Vorarbeit und kann nur als solche betrachtet werden. Ihr
Zweck ist zunächst, eine Übersicht zu gewinnen über ungedrackte und z. T.
tmbekannte Reisebeschreibungen, um dieselben, falls sie inhaltlich bedeutend
23
— 302 -
genug sind, zu veröffentlichen. Die letztere Bedingung erscheint als etwas
überaus Wichtiges, denn es dürfte kaum nützlich sein, inhaltlich unselb-
ständige Berichte zu veröffentlichen, zumal ja bekannt ist, dafs ein grofser
Teil der Erzählungen — wie in modernen Reisefeuilletons — nicht selbst
Beobachtetes, sondern aus Büchern Gewonnenes enthält. Wenn aber eine
wirkliche Übersicht über die relative Bedeutung jedes einzelnen Reiseberichts
gewonnen werden soll, so ist dazu eine vollständige Bibliographie
der Reiselitteratur, der deutsch geschriebenen sowohl wie
der über Deutschland in zeitlicher Anordnung nötig, denn nur unter
genauer Abwägung des Wertes der einzelnen Beschreibungen untereinander
und im Verhältnis zu den Zeitumständen ist es möglich, diejenigen Stücke
ausfindig zu machen, die fUr eine gröfsere Publikation von bleibendem Werte
geeignet sind, während etwa andere von nur lokalem Interesse im Rahmen
einer geschichüichen Zeitschrift zu veröffentlichen wären und bei wieder
anderen der eingehe Hinweis auf ihr Vorhandensein nebst einem knappen
Auszuge genügen dürfte. Für die gröfsere Publikation würden höchstwahr-
scheinlich auch bereits gedruckte Berichte mit in Frage kommen, teils weil
die vorhandene Edition den jetzigen Anforderungen nicht genügt, teils weil
die Ausgabe schwer zugänglich ist *). Daraus ergiebt sich die weitere Not-
wendigkeit, dafs 'die gedruckte Reiselitteratur auch in die Bibliographie auf-
genommen werden mufs, und (um dieselbe noch brauchbarer zu machen)
fügen wir hinzu: auch die alsbald nach dem Ende der Reise gedruckten
Reiseberichte aus dem XVin. Jahrhundert, ja vielleicht bis in die ersten
Jahrzehnte des XDC., denn diese haben, wenn auch in ganz andrer Rich-
tung, zum guten Teil als Tendenzschriften, bedeutenden geschichtlichen Wert,
und durch die Aufttihnmg in einer Bibliographie werden diese z. T. als
Quellen vergessener Schriften wieder zu Ehren kommen können.
Dies möge genügen, mn die Bedeutung einer Bibliographie der
Reiselitteratur über Deutschland, auf deren Notwendigkeit übrigens
Steinhausen gelegentlich (Zeitschrift für Kulturgeschichte VII, S. 154) auch
hingewiesen hat, zu würdigen. JedenMs wäre es recht wünschenswert, wenn
in den nächsten Heften der geschichtlichen Lokal- imd Territorialzeitschriften
recht viele Aufsätze etwa mit dem Titel „Reisende aus N. N." *) erschienen,
in welchen in zeitlicher Folge diejenigen Personen, die gröfsere Reisen
unternommen haben, — mit Anllihrung der Quelle, auf der die Nachricht
beruht — aufgeführt würden, und namenüich diejenigen, welche ihre Reise
selbst beschrieben haben. Das wäre der beste Unterbau für die künftige
Bibliographie der Reiselitteratur! A. T.
Personalien. — Der Professor der Nationalökonomie in Greifswald
Biermer wird einem Rufe nach Giefsen Folge leisten, der Professor des
l^ Vielleicht wird sich auch finden, wenn wir die Handschriften in gröfserer Zahl
kennen lernen, dafs, wie so oft gerade die schlechteste der iütcren Edition tu Grunde
gelegt ist « . j j
2) Viktor Hantzsch, der durch sein Buch DeuUche Retsmde des setihtehnten
Jahrhunderts (Leiprig, Duncker & Humblot 1895 « Leipziger Stufen aw dem Gebiet
der Geschichte, i. Bd. 4. Heft) eine Grundlage geschaffen hat, veröflfenüichte einen der-
arUgen Aufsatz in Atn Dresdner GeschkhtshlätUm 1896, S. 274 mit dem Titel:
Dresdner Reisende im XVL und XVIL Jahrhundert,
— 303 —
gleichen Fachs in Marburg Rathgen einen solchen nach Heidelberg. —
Von Beamten an preufsischen Staatsarchiven wurden versetzt: Archivar
Kr u seh von Hannover nach Breslau, Kaufmann, bisher Assistent am
KgL Preu&ischen Historischen Institut in Rom, als Archivar nach Magde-
burg, Archivrat Meinardus von Wiesbaden an das neu zu begründende
(v^. S. 227) Staatsarchiv in Danzig, der Hilfearbeiter Viktor Löwe von
Magdeburg nach Hannover. — Der neu ernannte Haus- und Staatsarchivar
Julius Dieterich in Darmstadt wird auch fernerhin seine akademische
Lehrthätigkeit in Gießen fortsetzen. — Im Stift St Florian bei Linz (Ober-
österreich) starb am 7. Juli der hochbetagte Chorherr und um die Stifts-
bibliothek verdiente Bibliothekar Albin Czerny, der namentlich durch
seine Arbeiten über die Bauemauüstände in Oberösterreich 1524 bis 1648
bekannt geworden ist.
Etngregangene Bfleher.
Bernheim, Ernst: Lokalgeschichte und Heimatkunde in ihrer Bedeutung
für Wissenschaft und Unterricht [Sonderabdruck aus den „Pommer-
schen Jahrbüchern", herausgegeben vom Rügisch - Pommemschen Ge-
schichtsverein zu Greifiswald und Stralsund. Greifswald, Julius Abel],
32 S.
Curschmann, Fritz: Hungersnöte im Mittelalter. £in Beitrag zur deut-
schen Wirtschaftsgeschichte des VUI. bis XIII. Jahrhunderts. Leipzig,
B. G. Teubner, 1900.* 217 S. 8®. [= Leipziger Studien aus dem Ge-
biet der Geschichte VI, i.]
Historische Untersuchungen, Ernst Förstemann zum fUnfisigjährigen
Doktoijubiläum gewidmet von der Historischen Gesellschaft zu Dresd^.
Leipzig, B. G. Teubner, 1894. 142 S.
Hotz seh, Otto: Die wirtschaftliche und soziale Gliederung vornehmlich
der ländlichen Bevölkerung im meifsnisch-erzgebirgischen Kreise Kur-
sachsens. Auf Grund eines Landsteuerregbters aus der zweiten Hälfte
des XVI. Jahrhtmderts dargestellt. Leipziger Dissertation 1900. 48 S. 8<^.
Lothar, Rudolph: Das Wiener Burgtheater. Leipzig - Berlin - Wien , C. A.
Seemann, 1899. 212 S. 8^ [= Dichter und Darsteller, herausgegeben
von Dr. Rudolph Lothar, II.]
Oberländische Geschichtsblätter, un Auftrage des Oberländischen
Geschichtsvereins herausgegeben von Georg Conrad, Amtsrichter in
Mühlhausen (Ostpreuisen). Heft U. Königsberg, in Kommission bei
Ferd. Beyer, 1900. 162 S. 8®.
Oppert, Gustav: Über die Entstehung der Aera Dionysiana und den Ur-
sprung der Null. [Sonderabdruck aus den Verhandlungen der Berliner
Gesellschaft ftlr Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1900. =s
32. Jahrgang.] Berlin, Gebr. Unger, 1900. 37 S. 8®.
Otto, F.: Das älteste Gerichtsbuch der Stadt Wiesbaden, herausgegeben
von * . . . Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1900. 116 S. 8®. [= Ver-
öffentlichungen der historischen Kommission ftir Nassau II., Quellen-
schriften zur Naussauischen Rechts- und Verfassungsgeschichte I.].
23*
— 304
Peiske r, J. : Forschungen zur Social- und Wirtschaftsgeschichte der Slawen 3,
die serbische Zadruga. [Sonderabdruck aus der 2^itschrift für Social-
und Wirtschaflsg^chichte, 7. Bd. S. 211 — 326.]
Rüstringer Heimathbund (Oldenburg): Erstes Jahresheft Nordenham,
W. ßöning, 1894. 70 S. S^. — Fünf Vorträge, gehalten im Rüstringer
Heimathsbund. Varel; AUmers, 1898. 78 S. 8<>.
Sartorius, A. Freiherr v. Waltershausen: Die Germanisierung der Räto-
romanen in der Schweiz. VolkswirtschafUiche und nationalpolitische Studien.
Stuttgart, Engelhom, 1900. iio S. 8<>. Jt 5.20, [= Forschungen zur
deutschen Landes- und Volkskunde, herausgegeben von A. Kirchhoff.
12. Band, Heft V.]
Schweizer, Prof. Dr. P. : Inventar des Staatsarchivs des Elantons Zürich.
Bern, K. J. Wyfs, 1897. 112 S. 8<>. [= Separatabdnick aus dem An-
zeiger für schweizerische Geschichte.]
Siebert, Richard: Das älteste Schöffenbuch der Stadt Zerbst. [Sonderab-
druck aus den Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und
Altertumskunde, Bd. VII und VIII.]
Das zweite (1399 ff.) Schöffenbuch der Stadt Zerbst [ebendort
Band VIII].
Sie gl, Karl: Die Kataloge des Egerer Stadtarchivs. Eger, Verlag der
Stadtgemeinde E., 1900. 388 S. 8<>.
Trierisches Archiv Heft IV: Die Benediktinerabtei St. Martin bei Trier
von Dr. Armin Tille. Anhang: Verzeichnis der Handschriften des
historischen Archivs der Stadt Trier, Bogen 3 (Nr. 74 — 91). Trier,
Friedr. Val. Lintz, 1900.
Verzeichnis von und über Zeitungen und Zeitschriften (Perio-
dische Litteratur). Antiquariatskatalog Nr. 81 der Buchhandlung von
Max Harrwitz, Berlin W. 32 S. 8^
Walter, Friedrich: Geschichte des Theaters und der Musik am kurpfälzi-
schen Hofe. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1898. [= Forschungen zur
Geschichte Mannheims und der Pfalz, herausgegeben vom Mannheimer
Altertumsverein I.J
Yerlag Ton Friedrich Andreas Perthes In Gotha.
Unter der Presse befindet sich und erscheint demnächst:
Alte Zeiten - alte Freunde*
Lebenserinnerungen
von
P. Max MflUer,
FrofeMor der vergleichenden Sprach wUscnschaft zu Oxford.
J^utorisierte Übersetzune von XX. ChcosplllB«. — Mit Portrfit.
Preis Jl 8; gebunden Jl 10.
Hermusgeber Dr. Annin Tille in Leipzig. Druck und Verlag von Friedrich Andre« Perthet in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
zur
fövderong üt landesgesehieUliehen f ovsobung
unter Mitwirkung von
Prot. Baehmum-Png, Prof. BrejsiK-Berlin, Prof. Erler-Königiberg,
Prof. Pinke-Freibnrg i. B., Ardiivdireklor Prof. HaoBea-Köln, Prof. v. HeiEBt-MüDchen,
Prof. Hayck-MibicIieD, Sectionschcf t. Inamm^temB^-Wien, Prof. O. Jigar-BoDO,
GTmnMJalrektor O. Kimmel-Leipiig, Bibliotliekar FroC Koaainna-BerliD,
Prot LMiaprecht-Lcipue, Archivrat W. Lippert-Dreiden, ArchiTar Men-OioabiUck,
Prof. BIBhlbkchei-Wien, Prof. t. Ottenthkl-Inaabnick, Prof. Oaw. Redllcb-Wieu,
ProL Y. cL Ropp-Marbnig, Prof. A. ScbultB-BrciUo, ArcbiTrat Sello-OIdenbnrg,
Geh. ArchiTnit Stilln-Statteul, GTmnMialrektor Vogt-NUrabcTS,
Archmat Wlachke-Zerbst, Prof. Wsher-Prig, Prof. Wenck-Marbore,
Archirrat Wlnter-StetUn, Arcbirar Witta-Schverio, Prof. t. Zwiedlneck-SDdvnbotat-Graz
herausgegeben TOn
Dr. Armin TiUe
n. Baoid
Gotha
Friedrieb Andreas Perthes
190 1
I n li. a 1 1«
Aufsätze : s<rfte
Albert, Peter P. (Freibarg L B.): Zur PortiaUKirchengeschichte .... 203 — aio
Anthes, B. (DannsUdt) : Der erste Verhandstag der wesU und süddeutschen
Vereine für römisch^germetnische Altertumsforschung . . . 228^234
Clemeiii Otto (Zwickma): Pärtiat-Ktrchengeuhichte 33— 40
Qa^de, Christian (Dresden): Theatergeschühte 145 — 164
Hey, Qustav (DÖbelD): Zur Ortsnamenforschung . . - I2I— 131
Kapper, Anton (Graz) : Der Werdegang des historischen Atlasses der öster*
reichischen Alpenländer 217 — 227
Klans» Bmno (Schw.-Gmünd) : Die Juden im deutschen Mittelalter 241 — 248 o. 273—292
Köberiin, Alfred (Neustadt a. H.): Deutsche Wirtschaf U- und Munt"
geschichte 12 — 17
Lippert, Woldemar (Dresden): Das Verfahren bei AJktenkassationen ih
Sachsen 249 — 264
Lorensen, A. (Kiel) : Litter atur zur Geschichte Schleswig-Holsteins 108— 1 14 u. 134 — 137
Roth, W. (Wiesbaden): Geschichtliche Forschung in Stadt und Bistum
Worms im XV und XVL Jahrhundert 174—181
Schnltse, Walther (Halle a. S.) : Der auswärtige Leihverkehr der preufsischen
Bibliotheken 164 — 174 u. 239 — 240
Sello, Q. (Oldenburg): Zur Litteratur der Roland-Bildsäulen i — 12, 40—57 a. 65—89
Tille, Armin (Leipzig): Nachwort (za dem Aufsätze voß( Roth) . . . . 182 — 184
„ „ „ Verkehrsgeschichte 193 — 202
Voltelini, Hans v. (Innsbruck): Die österreichische Reichsgeschichte y ihre
Aufgaben und Ziele 97—108
Wischke, Hermann (Dessaa): Nachwort (za dem Aufsätze von Hey) . . 131 — 133
Wehrmann, Martin (Stettin): Landes- und Heimatsgeschichte im Unter-
richte der höheren Schulen 265 — 273
Mitteilttngen :
Archlologische Reise durch Teile Norddeutschlands (Kossinna) ... 23—26
Atchive: ArdHfwesen im Königrctdi Sachsen 27 — 29; Archivwesen in
Württemberg 29 — 32; Zweiter Archivtag 60 — 61; Stadtarchiv
Freibnrg i. B. 61 — 64; Stadtarchiv Mannheim 90; Archtvwesen
in Baden 90 — 91 ; Archivwesen in Brannschweig 138 — 139;
Stadtarchiv Saalfeld 139—140; Stadtarchiv Speier 184^185
Mitteilungen der K. Preufs. Archiwerwaltung 185 — 186; Herzog-
lich kurländisches Archiv in Mitau (H. Diederichs) a 10—213
Stadtarchiv Rosenheim 213; Archivwesen in Anhalt 235 — 236
Wegweiser durch die historischen Archive Thüringens 295 — 297;
Seite
Die Bedeutung der Stadtarchive, ihre Einrichtang und Ver-
waltung 297 — 298; Thüringer Archivtag 298.
Ausgrabungen 114
Berichtigungen 96, 144
Bibliographie der historischen Zeitschriltenlitteratur 17—23, 58—59
Denkmalspflege, Tag für 59—^ 295
Eingegangene BQcher 32, 64, 96, 120, 191 — 192, 216, 240, 310—312
Gesamtverein der deutschen Geschiohts- und Altertumsvereine 57—59, 294 — 295
Hansischer Geschichtsverein 292 — 294
Historisches Institut in Rom 306 — 310
Historische Kommissionen: K. zur Herausgabe lothringischer Geschichts-
quellen 142 — 143 ; K. fUr die Herausgabe von Akten und Korre-
spondenzen zur neueren Geschichte Österreichs 143 — 144;
Württembergische K. für Landesgeschichte 190; (L K. bei der
Kgl. bayerischen Akademie der Wissenschaften 190 — 191 ;
H. K. für Sachsen-Anhalt 213—214; KgL Sächsische K. für
Geschichte 236—237; Badische H. K. 237 — 238; Thüringische
H. K. 238; H. K. für Hessen und Waldeck 301—302; H, K.
für Nassau 302 — 303; Gesellschaft für Rheinische Geschichts*
künde 303—305.
Klostergeschichte 115 — 117
Museen: Guben 114 — 115; Lübbenau 115; Historisches Museum der Pfalz
in Speier 186 — 187; Böhmisch-Leipa 187.
Ortschaftsverseichnisse, Geschichtliche 91—94
Personalien 94—96, 214—216
Sprachatlas des deutsches Reichs 292—293
Vereine : Donauwörth 264 ; Schwabach 305 ; Braunschweig 305 ; Verein für
hessische Kircheogeschichte 305 — 306; Barmen 306; Stade 306.
Versammlung deutscher Philologen und Schulminner 295
Wachstafisln 299 — 301
Zeitschriften: Pommersche Jahrbücher 118 — 119; Mühlhäuser Geschtchts*
hläiter 119; Ludwtgsburger GtschichtshUUter 140; Jahrhuch
des Vereins für die evangelische Kirchengeschichte der Graf»
Schaft Mark 141— 142; Mannheimer GeschichtsUätter 188;
Mitteilungen des historischen Vereins der Mediamatriker für
du Westpfalt 188—189; Blätter für Uppüche Heimatkunde
189—190.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
II. Band Oktober xgoo i. Heft
Zur Iiitter atuf der t^oland^Bildsäulen
Von
G. Sello (Oldenburg)
Die ehrwürdigen Denkmale altertümlich-monumentaler Kunstübung,
welche als „Rolande" den Marktplätzen norddeutscher Städte ihr cha«
xakteristisches Gepräge verleihen, bilden eines der merkwürdigsten ge-
schichtlichen Probleme, welche die Vorzeit auf uns vererbt hat.
Mitten in das Getreibe modernen Lebens hinein stellen sich stumm
imd regungslos diese riesenhaften steinernen Gesellen, und zwingen
einzig durch ihre Erscheinung jeden, der sie schaut, sei es Laie oder
Gelehrter, zu der staunenden Frage nach ihrem Zwecke, ihrer Be-
<leutung, ihrer Entstehung. So war es schon seit fast 300 Jahren.
Doch eine allseitig befriedigende Antwort ist noch nicht erfolgt.
Die sichere Lösung, welche Uhlirz *) von ausreichender archäologischer
Grundlage aus erwartet, wage ich kaum zu erhoffen — aber die Schaffung
•dieser Grundlage ist jedenfalls das zunächst und ausschliefslich zu erstre*
bende Ziel. Dafe wir noch recht weit von demselben entfernt sind, zeigen
-die neuesten bezüglichen Veröffentlichungen, deren Verfasser sich von
-der Unerlälislichkeit dieser Forderung nicht haben überzeugen wollen.
Die Litteratur über die Roland -Statuen ist ziemlich umfangreich
und recht verschieden geartet. Ehe ich einer Aufforderung des Herrn
Herausgebers folgend es versuche, dieselbe zu klassifizieren und zu
charakterisieren (wobei ich darauf verzichten muls, jedes mir bekannte
Zeugnis mit bibliographischer Vollständigkeit zu verzeichnen, und
andererseits die Gefahr besteht, dafs mir in meinem Weltwinkel viel-
leicht Belangreiches entgangen wäre) möchte ich es nicht unterlassen,
einleitungsweise meinen eigenen Standpunkt in der Frage mit thunlich-
ster Kürze darzul^en , um dem Leser sonst unvermeidliche Wieder-
holungen zu ersparen.
i) Mitteflnngen d. Inst f. Österreich. Ge8cb.-Forsch. XV, 1894, S. 680.
1
— 2 —
Betrachtet man die geographische Verteilung der durch Gestalt
und Geschichte als die ältesten der erhaltenen Statuen sich ausweisen-
den Rolande, so ergiebt sich, dafs dieselben sämtlich der sächsisch-
engerischen Grenzzone Deutschlands angehören, in welche König Hein-
rich L den Schwerpunkt des Reiches verlegte, und wo unter den
sächsischen Kaisem ein reges, geistiges sowohl wie wirtschaftliches
Leben sich entwickelte *).
Die von diesen Kaisem ausgehende Gründung städtisch organisierter
Handelsniederlassungen an hervorragenden Sitzen geistlicher Würden-
träger — Magdeburg 965, Bremen 966, Halberstadt 989, Quedlinburg
994 — und das kräftige Erblühen dieser bisher dem Sachsenlande
unbekannten Stadtgemeinden war wohl dazu angethan, den auf das
Monumentale gerichteten Kunstsinn des Sachsenvolkes *) zur Be-
thätigung anzuregen. Formalen Anstofe, wenn nicht gar direktes Vor-
bild dazu gaben die über gewöhnliches Mafs hinausragenden Bild-
säulen, welche man bei den durch regen Handelsverkehr mit den
neuerrichteten sächsischen Kaufmannsstädten eng verbundenen benach-
barten Völkerschaften, Wenden und stammverwandten Skandina-
viem oder Angelsachsen, auf Marktplätzen und Kultusstätten sah.
Indem man ähnliche Bildwerke im eigenen Lande errichtete, gab maa
nicht nur der volkstümlichen Freude an monumentaler Plastik charak-
teristischen Ausdruck, sondern man rief auch in der Seele des frem-
den Handelsfreundes behagliche Erinnemng an die ferne Heimat wach.
Dafs man nicht blasse Allegorien schaffen wollte, sondern Abbilder
einer konkreten Persönlichkeit, des Königs, der die trefflichen neuen
Einrichtungen geschaffen hatte, und der sie sorgsam schützte, indem
er seinen machtvollen Königsbann dem Stadtherm anvertraute, scheint
selbstverständlich*). Solche Königsbilder waren, wie ich meine, die
Ahnherren unserer „Rolande".
Aus rein lokalen und persönlichen Anschauungen und Bedürf-
nissen entstanden, gewannen diese anfangs nur seltenen Bilder bald
1) VgL S. Rietschel, Markt and Sudt, S. 50. *
2) Abgesehen von den Rolanden selbst sei an die Jodate-Bildsänle am Welfesholr
(II 15, xnerst von Heinrich von Hervord, cd. Potthast, S. 141 — nach einer alteren sachs.
Chronik? — genannt, von IL Lnther beschrieben „gleichwie ein grofser Riese gehanen oder
gesdmitzet«« (vgL Chr. Petersen, Forsch, r, D. Gesch. VI, 234), die Otto-Statne (Ende des
XnL Jahrh.) vnd den Hirsch in Magdeburg, die Karl4lelieis in Bremen und Libeck (Bütte
XV. Jahrh.), die ReittrsUtue in Ncnhaldensleben (Anfang XVL Jahrh.) erinnert.
3) Ein verwandter Gedanke gelangte in den Königs- and Kaiserbildcm vomehmlidv
mittel- and s&ddeatscher SUdisi^el tarn Aosdmck.
— 8 —
eine gleichmäfeig' anerkannte, bestimmte sachliche stadtrechtliche Be-
dentung*, ohne dafs sie der, ich möchte sagen gemeinrechtlichen Auf-
gabe des Kreuzes, als Markt- und Stadtzeichen zu figurieren, Abbruch
thaten. Einen letzten Schimmer davon hätte man vielleicht in der Bremer
Sage des XIV. /XV. Jahrh. zu erblicken, dafe der dortige „Roland" bis
zum Anfange des XII. Jahrh. im Schilde das Stadtwappen geführt
habe. So wurde es möglich, bei der späteren Neueinrichtung deutscher
Städte, deren Entstehungsart mit derjenigen der ältesten Rolandstädte
nichts gemein hat, solche ursprünglichen Königsbilder als monumentale
Urkundszeugen städtischer Organisation zu errichten. Der Berliner
Roland, dessen Vorfahren in aufsteigender Linie die Standbilder zu
Neustadt-Brandenburg und Magdeburg waren, mufs mit dieser Bedeutung
im zweiten Viertel des XIII. Jahrh. entstanden sein ; ungefähr derselben
Zeit gehört der Hallenser Roland an ; sollte Hamburg schon in früherer
Zeit ein Königsbild besessen haben, so wurde der historisch bekannte
„Roland** dort (ein Spröfeling des Bremischen?) wohl erst nach der
letzten gründlichen Zerstörung der Stadt 1072, und etwa vor 1189,
spätestens jedenfalls vor der Mitte des XIII. Jahrh. errichtet.
Im Laufe des letzteren und im XIV. Jahrh. geriet die bisherige
Bedeutung der Standbilder in Vergessenheit. Allein um ihrer selbst
willen pietätvoll geehrt, ähnlich den Stadtwahrzeichen, welche noch
heut für bestimmte Kreise des Volkes eine gewisse Bedeutung bewahrt
haben, standen sie steif und hölzern auf ihren Plätzen, umrankt von
der Sage, deren Weben sich recht- deutlich an dem Bremer Bilde
verfolgen läfet, wie Bremen überhaupt für die Rolandgeschichte typisch
ist. Noch Adam von Bremen (IL c. 2; Ende des XI. Jahrh.) hatte
auf Grund des Privilegs von 966 berichtet, dafs durch König Otto der
Stadt immunttas stmulque libertas verliehen worden sei. Die Bremer
Sage übertrug dies auf Karl d. Gr. , dem man schon zu Ende des
XII. Jahrh. (1186, Brem. ÜB. I, no. 65) die Verleihung wichtiger Pri-
vil^en an die Stadt traditionell zuschrieb. Die Veranlassung dazu
lag in den beliebten und weitverbreiteten Erzählungen vom Friedens-
schlüsse Karls mit den Sachsen zu Salz 803, und der dabei geschehenen
Rückgabe der antiqua libertas an die letzteren^). Die Karls -Sage
i) VgL die angebliche Stiitangsorkwide Karls d. Gr. für das Bistum Bremen bei
Adam. Brem. I, 13, welche ktinlich G. Hfiffer (Corveier Studien 1898, S. 154;
vgl. daza W. Erben in Histor. Vierteljahrschr. HL 1900, S. 259 ff.), in der Weise sa
retteo bemülit gewesen ist, dafs er ihre Znsammensetzong ans drei echten Diplomen, den
StiftBogsurkanden von 780 und 787 und einer Circumskriptionsurkunde von 803, nachzuweisen
suchte. Auch fUr die Thatsächlichkeit des Friedens ist Httffer (1. c. S. 72 ff.) mit Leb-
— 4 —
wurde mit dem Standbild in Beziehung gebracht, seitdem man diesem
den Roland-Namen beizulegen sich gewöhnt hatte. Wann dies ge-
schehen ist mit ziemlicher Sicherheit zu ermitteln. Wer auch von
den Verfassern der ältesten Bremer Stadtchronik, Rhynesberch, Schene
Hemeling, den Passus über die 1366 erfolgte Zerstörung der Bremer
Rolandstatue niederschrieb, jedenfalls sah er in derselben ein Bild des
Paladins Roland, welches seiner Ansicht nach seit unvordenklicher
Zeit den Marktplatz zierte.
Der Name mufe also zum mindesten im Anfang des XTV. Jahrh.
in dieser Verbindung gebräuchlich gewesen sein. Andererseits war er in
Norddeutschland populär geworden erst durch das allmähliche Bekannt-
werden der sogen. Chronik Turpins *), des Rolandsliedes vom Pfaffen Con-
rad *), vor allem aber durch Sagen von der Teilnahme Rolands an der Be-
siegung der Sachsen, welche nach der Chanson de Roland das „Ruo-
landes liet" bereits andeutet (v. 7539) und welche aus verlorenen fran-
zösischen Dichtungen nicht nur in die isländische Karlamagnus - Sag'a
(G. Paris, Histoire po^tique de Charlemagne 1865, S. 286 ff.), son-
dern auch in den deutschen Sagenschatz aufgenommen wurden *). Man
mag dafür die Mitte des XIII. Jahrh. ansetzen. Die Übertragung des
Roland-Namen auf die Statuen wurde formell vermittelt durch die Er-
zählungen von alten Rolandbildem in Italien (z. B. am Dom zu Verona),
welche Geistliche und Kaufleute auf ihren Reisen kennen gelernt
hatten; sie fanden willige Aufnahme auf einem durch die Karls- und
die Rolands-Sage vorbereiteten Boden.
So wurden die alten Königsbilder zu Rolandbildem; die Motive
aber, welche einst zur Errichtung jener geführt hatten, waren doch
haftigkeit eiDgetreteo. Es ist interessant , za sehen , welche Gestalt diese Dinge im
XVII. Jahrh. in der Vorstellung der mafsgebenden Bremer Kreise gewonnen hatten. Im
„Prodromos** (1641 , widerholt in Assertio libertatis etc. 1646, S. 549) heilst es: Als
auch I. K. M. (Karl d. Gr.) anno 803 einen grofsen Landtag bei Magdeburg an der Elbe
(charakteristische Verwechselang des Salz an der fränkischen Saale mit dem Magdeburg
benachbarten [Gr.] Salze) gehalten, haben sie daselbst einen neaen ewigen Frieden auf-
gerichtet, worinnen die sächsischen Lande und Städte in den Schutz des Reiches aber-
malen genommen, und verabscheidet, dafs sie bei ihren alten Freiheiten gelassen
werden, ihnen auch in specie an das Reich zu appellieren frei sein sollte,
i) Von Papst Kalixt II. 1132 für authentisch erklärt.
2) 1131 in Regensburg entstanden, vgL E. Schroeder in Zeitschr. f. D. Altert.
XX VU, 1883, S. 81.
3) Eine Andeutung davon wohl schon bei Dietrich Engelhausen, ed. Mader,
S. 155; vgl die Bemerkung Melanchthons unten S. 7; Brotuff, Merseburg. Chron.
1556, c. 21; Kuhn und Seh war tz, Nordd« Sag., n. 253.
— 5 —
nicht ganz verklungen. Das zeigt sich darin, dafs man nun hier und
da neben den Rolanden neue Königs- oder Kaiserbilder schuf:
in Magdeburg, in Bremen; auch Lübeck besitzt ein entsprechendes
Bildwerk ^) , aber keinen Roland. Die allmählich erwachsene volks-
tümliche Anschauung von der Entstehung und Bedeutung der Roland-
bilder gewann seit dem Beginn des XV. Jahrh., in dem Ringen der
Städte mit den Territorialherren, eine staatsrechtliche Bedeutung. Die
Sage wurde zur historischen Thatsache, die Statue zum Beweise für
dieselbe. Es galt als feststehend, dafs Kaiser Karl die Errichtung von
Bildsäulen seines Lieblingshelden Roland mit dem kaiserlichen Wappen
den sächsischen Städten zum Zeichen gewisser „libertates" gestattet
habe; zur Spezifikation dieser „Freiheiten" griff man dann wohl, wie
in Bremen, zur Urkundenfälschung. An die Stelle einzelne r Freiheiten
rat bald der Kollektivbegriff der „Freiheit", der Privilegierung im
allgemeinen, und daraus folgte, wo die Verhältnisse entsprechend
lagen, der Begriff der „Kaiserfreiheit". Dies ist so klar wie möglich
ausgesprochen von Dietrich Engelhausen *) : Rolandus^ cuius tmaginem
omat Saxonia in civitatibtis imperialibus. Wie ernsthaft man aller-
seits die Sache nahm, ergiebt sich aus den Nachrichten zeitgenössischer
Schriftsteller über die thatsächliche oder angebliche Beseitigung von
Rolandbildem dort, wo die Landesherrschaft im Streite mit der Stadt
obsiegte (Bremen, nur vorübergehend; Hamburg; Quedlinburg; auch
Halle gehört gewissermafsen hierher). Das Beispiel, das, wie es scheint,
zuerst in Bremen gegeben, fand vielfache Nachahmung. Während die
erzählenden Quellen bis dahin nichts von Rolandbildern berichten,
geben sie nun häufig Kunde von der Umwandelung hölzerner Statuen
in dauerhafte von Stein, von deren sorgfaltiger Ausstaffierung und fiir-
sorglicher Erneuerung; die städtischen Rechnungen bestätigen die
Angaben der Chronisten. Die Umwandlung des Rolandnamen aber
zu einer Gattungsbezeichnung ftir alles Riesenhafte, ebenfalls unter dem
Einflufs der Sage schon seit dem XIU. Jahrh. in romanischen imd
deutschen Landen allmählich vollendet, bot zugleich bei Neuerrichtung
solcher Bildsäulen willkommene Gelegenheit, ihren politischen Wert
durch immer kolossalere Formengebung augenfällig ins Licht zu setzen.
i) Abb. aaf dem Umschlag bei P. Hasse, Kaiser Friedrich I. Freibrief für LU«
beck. 1893.
2) f 1434; oder etwa später? TgL L. v. Heinemann im Neuen Arch. f. alt. D.
Gesch. Xm, 173 Anm. — Die citierte Stdle steht in Maders Aasgabe von Engelhaasens
Chronik (1671) S. 155; in Script, rer. Bnmsvic. II, 1063.
— 6 --
Wie dann nach und nach die Persönlichkeit Karls wieder zurück-
trat, der Rolandname zu einem terminus technicus, das Rolande
bild zu einer monumentalen Formel für den Besitz mannig^facher,
nach Ort und Zeit verschieden normierter kommunaler Privilegien
wurde, wie in Folge davon die Rolande auch in den Gebieten aufeer-
halb des ursprünglichen Rolandbezirks , deren Städte zur Klientel der
alten Rolandorte gehörten, ja selbst in Flecken und Dörfern, sich
mehrten, wie Nachahmungstrieb, Repräsentationsbedürfnis, Mode das
Ihrige zu dieser Vermehrung beitrugen, wie schliefslich im Volks-
bewufstsein vom einstigen Rolandbegriff nur die Vorstellung des
Kolossalen haften blieb, und der Name nun irgendwelchen auffälligen
Bildwerken willkürlich beigelegt wurde, das zu ermitteln und reinlich
darzustellen ist unleugbar von grofsem kulturhistorischem und lokal-
historischem Interesse.
Aber alle Erscheinungsformen dieser sekundären, in den Bremer
Urkundenfälschungen zu Anfang des XV. Jahrh. zuerst uns erkennbar
werdenden Entwicklungsperiode haben nur für die Zeit Geltung, in
der sie konstatiert werden; Rückschlüsse daraus auf die ur-
sprüngliche Bedeutung der Rolandbilder oder gar auf
die Entstehung derselben sind, um einen von Richard Schröder
gern gebrauchten Ausdruck anzuwenden, mit den Grundsätzen
einer gesunden historischen Kritik unvereinbar.
Die erste Erwähnung eines „Roland" in der Litteratur ist bekannt-
lich die des Bremer in dem Teile der ältesten Bremer Stadtchronik,
welcher, im wesentlichen von Herbord Scheue allein herrührend, noch
dem Ende des XTV. Jahrh. angehört *). Andere das Standbild be-
handelnde Stellen derselben Chronik sind Einschiebsel aus dem An-
fange des XV. Jahrh.*). Der Hamburger Roland wird von dem,
durch Bremische Anschauungen beeinfiufsten Verfasser des Chronicon
Holsatiae(i448) ^) erwähnt. Aus dem Ende des XV. Jahrh. wäre dann noch
Hartmann Schedels Chronicon mundi (Nürnberg, Anton Koberger,
1493) zu nennen, wo es fol. 180 der lateinischen Ausgabe von der
Stadt Magdeburg heifst: ex tat in ea ymago perpulcra Rolandi,
1) Gesch.-QuclL d. Erzst. u. d. Stadt Bremen, heraosg. von J. M. Lappenberg,
1841, S. 114; vgL V. Bippen in Brem. JB. XII, 1883, S. 129; XOI, 1886, S. 33.
2) Gcsch.-QueU, etc., S. 60. 76; vgL v. Bippen L c XJII, S. 32.
3) Chronicon Holtzatiae aactore prcsbjrtcro Bremensi, herausg. von J. M. Lappen-
borg, QaeUensammlang der Schlcsw. Holst. Laaenb. Gcsellsch. f. vaterl. Gesch. I,
1862, S. 83.
— 7 —
qut Caroli ex sorore nepos fuit Die zugehörige Stadtansicht in
Doppelblattgröfse läfst dieses Rolandbild erkennen: auf einer hohen
Säule mit Blätterkapitell steht die Figur eines Mannes in Helm und
Plattenhamisch, das in der Scheide steckende Schwert umgegürtet, in
der rechten Hand eine Fahne haltend *). Die Zahl der eine Fahne
tragenden Rolande, welche in der neuesten Litteratur eine so ungerecht-
fertigte Rolle gespielt haben, hätte durch dieses Bild willkommenen
Succurs erhalten, und die Vorfechter des Erfurter Roland insbesondere
hätten in ihm eine Stütze für ihre Ansicht finden können. Es ist in-
dessen ein Phantasiegebilde. Die richtige Gestalt des zuletzt 1459
von Meister Kunz von Erfurt aus Stein gefertigten Magdeburger Ro-
land zeigt des Joh. Pomarius Chronica der Sachsen (1588, p. 457;
danach in Matth. Dressers Sachs. Chronik, 1596), wo beachtenswert
ist, dafe der Verfasser auch von Rolanden „zu Ross" spricht.
Aus dem zwischen Schedel und Pomarius liegenden Zeitraum des
XVI. Jahrh.wäre aufser gelegentlichen allgemeinen und besonderen Erwäh-
nungen kaum etwas Bedeutsames zu verzeichnen. Die spätere Litteratur
nimmt häufig Bezug auf E. Brotu ffs Chronica . . . der römischen Burg
und Stadt Marsburg an der Sala, 1556, cap. 21 (Sign. O ii ^o ff.).
Einer Gerichtssitzung vor dem „geöffneten Ruhlandt" zu Halle
gedenkt 1545 M. Luther*), und von derselben Statue berichtet Joh.
Manlius ®) nach Vorlesimgen Ph. Melanchthons (1540 — 1560):
quando Carolus M. dotnuit Germanos stve Saxones, tbi Rolandus
/uit capüaneus Caroli , et tnde posuit tpse stcam statuam in illis
urbibus, ut significaretur esse eas in tutela imperatoria, Halae
etiam ialis stattia est, quae est inclusa, ut significetur, illam übet'
tatem esse amissam. Gegen Ende des Jahrhunderts wird die Litteratur
zahlreicher. Georg Torquatus schenkt den Rolanden in den Diö-
cesen Magdeburg und Halberstadt seine Aufmerksamkeit und
nennt insbesondere einen rätselhaften zu Berge*). G. Brauns Ur^
bium praecipuarutn mundi theatrum quintum no. 41 (das Werk erschien
zuerst unter dem Titel Civitates orbis terrarum seit ca. 1576 in 6 Voll.)
i) Klein und angeschickt wiederholt in dem Nachdruck der deutschen Ausgabe
Schedels von Hans Schönsperger, Augsburg 1496, Fol. 102.
2) Lutheri coUoquia ed. Bindseil HI, 1866, S. $.
3) Locomm communium coUectanea, 1590, S. 559 (erste Ausgabe 1562); dieses und
das vorhergehende Citat verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Professor Dr.
Wilh. Meyer in Göttingen.
4) Bergae; Annales Magdeburg, et Halberstad. dioeces. i$74) bei Fr. E. Boysen,
Monom, inedita rer. Germanic. I, 1761, S. 164.
— 8 —
erwähnt den Roland zu Bremen ohne Namensnennung mit den kurzen
merkwürdigen Worten : In media (fori) imperatoria et regalis erecta
est statua, strictum iustitiae gladium manu tenens (der zugehörige
prächtige Stadtplan ist von 1587/1590).
Die erste gröfeere Zeichnung des Bremer Roland mit seiner archi-
tektonischen Umgebung wurde 1596 gefertigt, aber erst 1602 als
Kupferstich in der seltenen zierlichen Sedez- Ausgabe von des hessi-
schen Historiographen W. Di lieh Urbis Bremae typus et chronicon
veröffentlicht. Die völlig umgearbeiteten und vermehrten, ihrem Texte
nach wesentlich aus der Feder des Bremer Bürgermeisters Heinr. Kreff-
ting stammenden, unter sich gleichen Quart -Ausgaben dieses Werkes
von 1603 und 1604*) roit dem Titel: Urbis Bremae et pra^/ectu-
ramm qtcas habet typus et chronicon bringen eine neue Aufnahme
des Marktes mit dem Roland in Kupferstich (Taf. 17) und eine gröfsere
Abbildung des Roland allein in Holzschnitt (S. 38); aus Taf. 20 das.
ist die ursprüngliche Aufstellung des apokryphen Roland zu Be-
derkesa auf einem Brunnengehäuse deutlich erkennbar.
An den oben genannten Pomarius schliefsen sich unmittelbar die
Annales Marchiae Brandenburgicae von Andreas Angelus (1598),
dessen Abbildung des Brandenburger Roland (S. 26), obwohl sie
nur ein Nachschnitt des Magdeburger Holzschnittes ist, dennoch der
Wahrheit entspricht, wie ich in einer Spezialuntersuchung beider
Statuen dargethan zu haben glaube *).
Schon etwas früher hatte P. Albinus, der in seinem Chronicon
terrae Misnensis (1580) nur die Rolande zu Beigem und Halle kannte,
in der zur Met/snischen Land- und Berg-Chronica [i^^o) erweiterten
zweiten Ausgabe seines Buches einen Roland in einem Dorfe bei
Oschatz in Meilsen ') und die rätselhaften niederlausitzischen
Rolande in die Litteratur eingeführt. Ungefähr um dieselbe Zeit (i 587 ff.)
i) Über die verschiedenen Aasgaben Dilichs vgl. Brem. JB. VI, 1872, S. LXUI;
Y. Bippen, Gesch. d. Stadt Bremen II, 1898, S. 2640.; G. Pauli, Das Rathaus vol
Bremen (1898) S. 12 spricht irrig von Dilichs „handschriftlicher Qironik*' und einer
„mangelhaften Zeichnung" des Rathauses darin.
2) Blätter f. Handel, Gewerbe n. social. Leben, BeibL z. Magdeb. Zeit 1885^
Nr. 22 — 24.
3) Knauth, in einer Anmerkung zu seiner Ausgabe von Casp. Schneiders Saxonia
vetus (Dresden 1727, S. 278), nennt das Dorf Seerhausen bei Oschatz. Es ist dies
wahrscheinlich das Seehansen in Sachsen bei Zoepfl, S. 309, welches Götze, S. 308^
Anm., bei Leipzig sucht. Die lausitzischen Rolandorte des Albinus sind: das Dorf
Reichwalde (Kr. Luckan), die Städte Wahrenbrück (Kr. Liebenwerda), Finster-
walde (Kr. Luckan), Ruhland (Kr. Hoyerswerda).
— 9 —
verfaiste der unermüdliche märkische Wanderer Nicolaus Leuthinger
seine beiden Topographiae Marchiae regionuntque vicinarum und
seine Commentarii de Marchta Brandenburgensi, in welchen Werken
er den Roland-Katalog" mit einigen verdächtigen Exemplaren bereicherte.
1597 beschrieb Henr. Ranzow die Rolande zu Wedel und Bram-
stedt*); jenen bildet, nach der Aufnahme eines Hamburger Malers,
zuerst ab, um dies gleich hier hinzuzufügen, Joh. Dan. Maior,
Bevölkertes Cimbrien (Ploen 1692, Tab. IV zu S. 143); die Abbildung
ist wiederholt in der ausführlichen Anzeige von Maiors Buch bei
(W. E. Tentzel) Monatliche Unterredungen . . . von allerhand
Büchern 1695 , S. 904/905 , wo S. 984 eine kurze Beschreibung der
Bildsäule steht. Den Wedeischen Roland sowohl wie den Bramstedter
beschreibt alsdann, unter Nachbildung von Maiors Stich, Trogillus
Arn kiel, Ausführliche Eröffnung etc., 1703 (Vierter Teil : Cimbrische
Heidenbekehrung, 1702, S. 140 ff.).
Die Schriften Joh. Gryphianders, eines tagen -barenen, imd
Joh. Just. Winkelmanns, eines naturalisierten Oldenburgers,
welche die Zahl der bekannten Rolande wieder vermehrten, werden
weiterhin zu besprechen sein. Zu erwähnen sind des P. Bertius
Commentarii rerum Germanicarum (Amsterdam 1632), M. Zeilers
Itinerarium Germaniae (zuerst 1632) und M. Merians Topographien,
von denen die Niedersachsen behandelnde (1653) eine grofee Ansicht
des Bremer Marktes mit dem Roland und eine gute Abbildung des
später beseitigten Kaiser-Reliefs (Mitte XV. Jahrh.) am westlichen Rat-
haus-Beischlag daselbst bringt; der Text der Beschreibimg von Bremen
ist vom dortigen Bürgermeister Heinrich Meyer (vgl. Buchenau im
Bremer JB. XII, 154), der wohl auch die Bilder besorgte. In eine
Kategorie mit diesen Schriften gehören P. L. Berckenmeyers
Curieuser Antiquarius (Erste Ausg. 1709) und des Thüringers Me-
lissantes (Joh. Gottfr. Gregorius) Geographia novissima {ßxsi't Au^g.
1708), welch letztere den Roland zu Nordhausen gehamischt nennt.
Als Kuriosum sei die Abhandlung von M(arcus) T(etzlaff):
Anmerkung über die Statuen des Rolands in den Pommerschen
Städten (J. C. Dähnerts Pommersche Bibliothek II, 1751, S. 148 — 150)
genannt. Der Verfasser geht darin von der Grundansicht aus, da(s
die Rolandbildsäulen einen zu Pferde sitzenden gehamischten
Mann darstellen, und bespricht dann ganz oberflächlich den Roland zu
i) Cimbricae chenonesi ... descript nova, bei E.J. v. Westphalen, Monom, ined.
rer. Gennanic. I, 1789, Sp. 6. 16.
— 10 —
Polzin (Kreis Belgard). Dafs dieser thatsächlich beritten gewesen
sei, wie seitdem in der Roland -Litteratur angenommen worden ist,
ergiebt sich aus den späteren Erwähnungen bei L. W. Brüggemann,
Beschreibung von Vor- und Htnterpommem (II, 1784, S. 625) und
Chr. F. Wuttstrack, Beschreibung von Pommern (I, 1793, S. 619)
nicht.
Für die Rolande der AI tmark Brandenburg und der Prieg-
n i t z liefert Johann Christoph Bekmanns Historische Beschreibung der
Chur tind Mark Brandenburg (herausg. von Bemh. Ludw. Beckmann,
II» 1753) ^äs statistische Material, und für den Zerbster Roland ist
noch heute der grofse Kupferstich in desselben Verfassers Historia des
Fürstentums Anhalt, 17 10 (Teil III, Buch II, Kap. I, $ 15, Taf. i)
nnentbehrlich ; sie zeigt erstens das Detail der Rüstung viel deutlicher
als die Schwartzsche Photographie bei Bdringuicr, und stellt aufeerdem
die alte im Barockstil ausgeführte Nische dar, in welcher bis zu dem
gothischen Neubau die Bildsäule stand. Dieses Gehäuse wurde von
einem den städtischen Wappenschild haltenden Fahnenträger gekrönt,
welcher beachtenswerte Ähnlichkeit mit dem Erfurter sog. Roland zeigte.
Das XVIII. Jahrh. scheint sonst auf unserm Gebiete ziemlich un-
thätig gewesen zu sein. Erst zu Ende desselben machte der Kieler
Professor und spätere Lübecker Syndikus J. C. H. Dreyer ("f 1802)
den Versuch einer wissenschaftlichen Roland - Statistik , welche ver-
ständigerweise vor allem Gewicht auf die monumentale Seite derselben
legte. Das Ergebnis hat er im VIII. Abschnitt seines grofeen
handschriftlichen Sammelbandes : Jurisprudentia Germanorum ptctu-
irata s, collectio picturarum in usum illustrationis iuris Germanic
publici, privatiy criminalis, feodalis etc, praecipue antiquitatum
iuris Germanici, notulis et adversariis subitaneis instructa, den
er um 1800 der Universitätsbibliothek zu Göttingen *) schenkte, nieder-
gelegt. Die notulae, welche die Nebensache sind, hat E. Spangenberg
(Beiträge zur Kunde d. teutsch. Rechtsaltertümer, 1824, S. 13 ff.) in
mehrfach veränderter Ordnung vielfach unvollständig und unrichtig
veröffentlicht. Der „vielen alten raren Zeichnungen und Holzschnitte",
die „vielleicht durch den Steindruck zu vervielfältigen und nützlich zu
machen", gedenkt er kurz in „Beiträge zu den teutschen Rechten
des Mittelalters" 1822, S. 167. Es finden sich 13 Handzeichnungen,
l) „Cod. ms. jurid. 383, papyr. fol. pcrmaxim. vide Manuale A. 1803 p. 1." —
Herr Professor Dr. Wilh. Meyer - Göttingen hatte 1891 die Liebenswürdigkeit, mich auf
die Hschr. aufmerksam zu machen.
— 11 —
teilweise koloriert, ziemlich unvollkommener Technik, darunter Original-
aufhahmen: Bramstedt, Halle (3 Bl.), Neu -Haldensleben (2 Bl.); die
übrigen (Buch, Gardelegen, Magdeburg, Perleberg, Stendal) Kopien
bekannter Stiche (nach Eggeling, Bekmann, Pomarius); die Abbildung
•des längst verlorenen Hamburger Roland ist eine Nachahmung des
Bremer Bildes; aufserdem 7 Stiche und i Holzschnitt aus älteren
Publikationen : Bremen (2 Bl., Dilich, Eggeling), Brandenburg (Bercken-
meyer), Wedel (3 Bl., Dan. Maior, Tentzel, Arnkiel), Würzen (Quelle
mir unbekannt), Zerbst (Antiquar, d. Eibstroms). Dazu kommt noch
die wieder herausgenommene, aber in ihren Konturen wohl erkennbare
Zeichnung eines Rolandreitens zu Lübeck '). Die ganze Sammlung
besitzt nur litterarhistorischen Wert.
Das gleiche Ziel wie Dreyers Sammlung, nur auf breiterer Grund-
lage und mit reicheren litterarischen Mitteln, verfolgt der statistische
Teil von Zoepfls Buche ,,Die Rulands-Säule" (Altertümer des
deutschen Reichs und Rechts 3. Bd., 1861, S. 175 — 316). Bei der
naiven Kritiklosigkeit Zoepfls in archäologischen und historischen
Fragen ist der wissenschaftliche Gewinn seines bewundernswerten
Sammelfleifses nur gering anzuschlagen. Die Abbildungen sind meistens
-wertlos. Dennoch ist das Buch, auf welches noch einmal zurückzu-
kommen sein wird, auch heute noch wegen des in ihm aufgespeicherten,
allerdings mit Vorsicht zu gebrauchenden Materials im ganzen unent-
behrlich. Hinsichtlich der Bilder wird es teüweise ersetzt durch die
im Auftrage des Vereins für die Geschichte Berlins von R. Beringuier
herausgegebene Festschrift „Die Rolande Deutschlands", Heft
XXVII der Schriften des Vereins f. d. Gesch. Berlins (1890), obwohl
wir auch hier wieder erkennen, dafs die moderne Photographie durch-
aus nicht für alle Fälle das ideale Vervielfältigungsmittel ist.
Wir dürfen dieses Buch, so weit die Thätigkeit des Jubelvereins
dabei in Frage kommt , hier übergehen , da diese anderweitig *) hin-
reichend gekennzeichnet worden ist; nur auf die interessante Re-
klame, welche den Vereinsmitgliedern gegenüber in dem XXVIII. Hefte
der Vereinsschriften Ausführliche Beschreibung der Feierlichkeiten
aus Anla/s des 2 jährigen Bestehens des Vereins für die Geschichte
Berlins, 1890, S. 178 ff. dafür gemacht wird, sei hingewiesen.
1) Eine kurze aber hinreichend charakteristische Beschreibung dieses Spiels giebt
nach den Quellen C. Wehrmann, Das Lübeckische Patriziat, in Hansische Gesch.-Bl.
1872, S. 128.
2) G. Sello, in Forschungen z. Brandenb. Preufs. Gesch. HI, 1890, S. 399 ff. —
K. Uhlirz, in Mitteilungen des Instituts f. Österreich. Gesch. Forsch. XV, 1894, S. 681 ff
— 12 —
Über einige der wenig gekannten Rolande in der Neumark Bran-
denburg hat V. N(iefsen) in den Mitteilungen, herausg. von dem
Verein f. d, Gesch, d. Neumark 1891, no. 3 beachtenswerte Nach-
richten zu geben vermocht.
Einen Versuch kritischer Behandlung der wissenschaftlichen Ro-
land-Statistik habe ich vor zehn Jahren gemacht ^) ; die Arbeit bedarf
selbstverständlich vielfach der Berichtigung, Erweiterung und Ver-
tiefung; als Grundlage für weiteres Studium ist sie mir nicht unnützlicb
gewesen. (Fortseteung folgt)
Üeutsehe Wit'tsehaf ts^ und Münzgesehiehte
Von
Alfred Köberlin (Neustadt a. H.)
Eine gründliche und eingehende Darstellung der wirtschaftlichen
Entwicklung einzelner Gebiete ist nur möglich, wenn die genaueste
Untersuchimg des Münz- und Geldwesens vorausgegangen ist Kein
Forscher auf dem Gebiete der Wirtschaftsgeschichte darf Studien, wie
sie von Böckh*), Mommsen*) und Hultsch*) über die antike^
oder Untersuchungen, wie sie von Soetbeer *), Grote^), Hegel'),
Lamprecht*) über die deutsche mittelalterliche Münzgeschichte be-
trieben und angestellt wurden, wegen ihrer Schwierigkeit und schein-
baren Trockenheit aus dem Wege gehen. Die Münzgeschichte, besser
gesagt die Geschichte des Geldwesens ist eine der wichtigsten Hilfs-
wissenschaften, eine unentbehrliche Stütze und Grundlage der
Wirtschaftsgeschichte. Was verlangt nun der Wirtschaftshistoriker, in-
sonderheit der deutsche Wirtschaftshistoriker von der Münzgeschichte»
dies Wort im weitesten Sinn genommen?
Er sucht eine kurze und bündige Aufzählung der in den einzelnen
Territorien jeweilig geprägten Münzsorten. Er wünscht zu erfahren,.
i) Blätter f. Handel, Gewerbe tu social. Leben, BeiL u Magdeb. Zeit 1890, Nr. 9— 19..
2) Böckh, Staatshaashalt der Athener. 3. Aufl. 1886.
3) Mommsen, Geschichte des römischen Münzweseos. Berlin 1860.
4) Hnltsch, Griechische und römische Metrologie. Berlin. 2. Aufl. 1882.
5) Soetbeer, Beiträge zur Geschichte des Geld- nnd Münzwesens in Deutschland,
in den Forschungen zur deutschen Geschichte Bd. i, 2, 4, 6. Göttingen 1862 — 1866.
6) Grote, Münzstudien, 9 Bde. Leipzig 1855—77.
7) Hegel, Chroniken der deutschen Städte Bd. I n. Bd. XVIIL Leipzig 1862 f.
8) Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 1886. Bd. II. 351—481.
— 13 —
nach welchem Normalgewicht gemünzt wurde. Er stellt ferner die
Fragen: In welchem Metall wurde geprägt? Warum gab man die
Prägung aus dem einen Metall zu gunsten des andern auf? Wie wurde
das nötige Edelmetall beschafft? Lassen sich sichere Daten gewinnen
über das gegenseitige Wertverhältnis der Edelmetalle? Lassen sich
<iie Ursachen des Schwankens in diesem Wertverhältnis erkennen?
Die einzelnen Münzsorten sollen nach Gewicht und Feingehalt unter-
sucht werden. Die Gründe, welche zur Bevorzugung einzelner Münz-
sorten, zur raschen Verdrängung anderer führten, sollen daigelegt
werden. Die Geschichte des Münzregals und seiner Zersplitterung,
die Geschichte der Münzergenossenschaften, die Geschichte der Münz-
entwertung und der Münzgebrechen giebt weitere wichtige Probleme
auf. Aber noch nicht genug, die Wirtschaftsgeschichte möchte auch
unterrichtet sein über die Umlaufsmengen der einzelnen Geldsorten,
über den Wechsel in der Berechnungs weise , über den Geldhandel,
über die Menge und Art des in einem Territorium zirkulierenden
fremden Geldes. Besonders interessant endlich erscheint die Ver-
folgung der wechselnden Ansichten über Geld und Geldumlauf, die
Aufhellung der Münzpolitik einzelner Landesherren, die Entwicklung des
Kredit- und Bankwesens.
Hat nun bis jetzt die Geldgeschichte diese Fülle von Ansprüchen
der Wirtschaftsgeschichte zu befriedigen vermocht?
Nichts wäre irriger und anmafsender, als diese Frage zu bejahen.
Wir teilen die deutsche Münzgeschichte in vier Zeitalter: Das Früh-
mittelalter, Franken- und Karolingerzeit; das Hochmittelalter, die Zeit
der sächsischen, fränkischen, schwäbischen Kaiser; das Spätmittelalter
bis ca. 1500, endlich die Neuzeit und wollen versuchen, in ganz kurzen
Zügen anzugeben, was die Münzgeschichte für die Wirtschaftsgeschichte
der einzelnen Zeiträume bisher geleistet hat.
Aus der ersten Epoche ist einiges über die letzten Zeiten und
Nachahmungen der römischen Goldwährung im Frankenreich bekannt.
Wir entnehmen den Volksrechten Münzbenennungen und Berechnungs-
weise. Ganz zerstreute Preisnotizen liegen vor, namentlich in Quellen
von westfränkischer Herkunft. Die Silberwährung der Karolingerzeit
ist etwas besser bezeugt. Das karolingische Münznormalgewicht, und
der karolingische Münzfuis ist wenigstens annähernd festgestellt ^). An
Münzresten von zweifelloser Echtheit ist sehr wenig vorhanden. Die
schriftlichen Quellen, in Kapitularien, Verordnungen, Strafbestimmungen
I) Vgl. Soetbeer, m. a. O.
— 14 —
und chronikalischen Notizen zerstreut, sind augenblicklich noch für
eine zusammenhängende Geschichte des deutschkarolingischen Münz-
wesens recht dürftig zu nennen.
Die hochmittelalterliche Münzkunde von den Sachsenkaisem bis
zum Untergang der Hohenstaufer ist das mit Liebe und Fleife an-
gebaute Arbeitsfeld vieler deutschen Forscher, vor allen Dannen-
bergs*). Währungsgeschichtlich steht fest die Fortdauer der karo-
lingischen Reichssilberwährung bis zu den ersten Saliern, sodann die
Einführung territorialer Münzfufse, die noch eine gewisse Verwandtschaft
mit dem alten karolingischen System zeigen. Die karolingische Be-
rechnungsweise nach Zählpfunden bleibt bestehen. Eine allmähliche
Verschlechterung der Silberdenare tritt fast überall ein. Es fehlt aber
viel, dafs die münzgeschichtliche Entwicklung auch nur in den wichtig-
sten Gebieten Deutschlands in sicherem Zusammenhang nachgewiesen
wäre. Nur einzelne Ausschnitte sind gegeben, einzelne Richtpunkte
bezeichnet. Die monumentalen Quellen, die Münzen selbst, sind zwar
nicht mehr so ganz selten, aber schon ihre sichere Bestimmung und
Zuweisung kämpft mit den gröfsten Schwierigkeiten. Die litterarischen
Quellen sind immer noch dürftig und ihre Interpretation durchaus nicht
leicht. Die Voraussetzungen für eine zusammenhängende Preis-
geschichte fehlen noch fast vollständig. Doch dürfen wir hier noch
Fortschritte und bestimmtere Ergebnisse erhoffen.
Das sinkende Mittelalter von den letzten Hohenstaufem an bis
zum Anbruch der neuen Zeit um die Wende des XV. und XVI. Jahr-
hunderts bringt tiefeinschneidende und lang fortwirkende Neuerungen
im deutschen Geldwesen: Die Hellerprägung, das Aufkommen, Er-
starken und Abflauen der Goldwährung, die rapide Verschlechterung
des Silbergelds, Reformversuche aller Art. Die Schwierigkeit, die er-
haltenen Münzen mit Sicherheit zu bestimmen, bleibt nach wie vor
eine grofee. Die litterarischen Quellen sind für das XIII. und die
erste Hälfte des XIV. Jahrhunderts noch recht spärlich, von da ab
jedoch fliefsen sie immer reichlicher. Eine ganz neue Gruppe des
wertvollsten Materials tritt auf, ausführliche Rechnungen, die eine
ganz andere Behandlung münzkundlicher Fragen aller Art gestatten *).
i) Dannenberg, Die deatschea Münzen der sächsischen und fröBkischen Kaiser*
zeit. Berlin 1876*
2) Man vgL mein Programm „Fränkische Münzverhältnisse zu Ausgang des Mittel-
alters", Bamberg 1899. Dort ist der Versuch gemacht, durch eingehende Vergleichung
der Münzreste, der Münzurkunden und der Rechnungsangaben eine Anzahl schwieriger
Fragen zu lösen und die Ergebnisse in den Dienst der Wirtschaftsgeschichte zu stellen.
— 15 —
Österreichische ^) und deutsche *) Forscher haben für diese Zeiten,
namentlich für die Geschichte der Goldwährung in zusammenfassenden
Darstellungen und gründlichen Monographieen Schönes und bleibend
Wertvolles geleistet Aber wie weit sind wir noch entfernt davon,
auch nur alle Grundzüge der Entwicklung zu überblicken! Nicht ein-
mal die wichtigsten Beziehungen des Geldwesens für diesen Zeitraum
sind au%'edeckt, aber auch über viele und wichtige Fragen der Me-
thodik ist noch keine Einigung erzielt Wertvolle Münzurkunden
liegen neben instruktiven Rechnungen, Vergleichungstab eilen, Testa-
menten, Inventarien, Münzgutachten und anderen wUlkommenen Be-
helfen der Münzkunde noch vielfach in den Archiven begraben.
Vieles ist nur in ganz unzulänglicher Weise zur Veröffentlichung ge-
langt : wie lange wird es noch dauern, bis ein Corpus rei nummartae
Germaniae aufhört ein frommer Wunsch zu sein? Hier ist noch
Arbeit für viele Kräfte und auf lange Jahre. Hier dürfen
wir aber auch reichen Gewinn erhoffen!
Das eben Gesagte gilt in noch erhöhtem Mafs von der neu-
zeitlichen Münzgeschichte. Die Münzakten der Archive schwellen
für das XVI. — ^XVUI. Jahrhundert zu gewaltigen Beständen an. Die
unendlich reichgestaltige Entwicklung des deutschen Münzwesens läfst
an gar keinen anderen Weg der Bewältigimg denken als an den
monographischer Bearbeitung. Der Forscher braucht sich hier
nicht mehr mit der Erklärung einiger weniger Dokumente abzumühen ;
es gilt vielmehr, eine Methode zu schaffen, die aus der verwirrenden
Masse das Wesentliche heraushebt und die leitenden Fäden in die
Hand giebt Jetzt reichen die Quellen aus, um viele Fragen, die in
der mittelalterlichen Münzgeschichte schlechterdings nicht gelöst werden
können, gründlicher Behandlung zu unterziehen und einer befriedigen-
den Lösung wenigstens entg^enzuführen, dies gilt namentlich für alles,
was mit exakter Statistik, mit Umlaufsmengen, mit Bank- und Kredit-
wesen zusammenhängt Nach einer genaueren Kenntnis des im XVI. Jahr-
hundert herrschenden Geldwesens wird auch ganz sicher manche
bisher unverständliche und deshalb unbenutzte Stelle in der Über-
i) Laschin Yon Ebengreath, Das Wertrerhältnis der EdelmeUlle in Deatsch-
Und während des MitteUlters, Brüssel 1892. — Nagl, Die Goldwährung nnd die handeis*
mSisige Geldrechnung im Mittelalter. Wiener Numismatische Zeitschrift 1895. —
Y. Jnama-Sternegg, Die Goldwährung im Deutschen Reiche während des Mittelalters.
Zeitschrift ftir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3. Bd. 1895.
2) Grote u. Hegel a. a. O. — Joseph, Die Münzen von Frankftirt a. M. Frank-
furt 1896.
— 18 —
herxogium Hessen bearbeitet von A. F. WcUther (Darmstadt 1845, '• Band).
Hier wird versucht, das Werk, welches Reufs begonnen hatte, in selbständiger
Weise fortzusetzen, und zwar giebt W. zuerst ein sachliches Verzeichnis,
welches heute noch für recht viele Gebiete ältere Zeit-
schriftenaufsätze zugänglich macht, dann Auüsätze zur Geschichte
der einzelnen Länder und Landesteile nebst Sach- und Autorenregister.
Die Vereinsschriften sind aber nicht entfernt vollständig ausgezogen, die
Schweiz ist vollständig ausgeschlossen, viele Schriften waren nicht zugäng-
lich. Nur die Zeitschriften von 59 Vereinen sind verwertet, und im ganzen
nicht ganz 7000 Aufsätze notiert — eine anerkennenswerte Leistung, aber
ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. — Nur wenige Jahre später er-
schien W. Kon er, Eepertorium über die vom Jahre 1800 bis zum Jahre
1850 in akademischen Abhandlungen, Oesellschaßsschriften und unssensehaft^
Uchen Journalen auf dem Gebiete der GescJiichte und ihrer Eilfstvissen-
Schäften erschienenen Aufsätze, 2 Bände, Berlin 1852 — 56. K. schliefst
sich nicht an Walther an, eher noch an Reufs, ist wiederum durchaus
selbständig, fafst die Litteratur viel weiter, indem er sich nicht auf historische
2^itschriften beschränkt, sondern geschichtliche Aufsätze auch aus allgemeinen
Zeitschriften heranzieht, das Ausland berücksichtigt und mithin sein Unter-
nehmen auf eine durchaus andere Grundlage stellt. Aber die Anordnimg
lehnt sich nur an die Staateneinteilung an, sie ist nicht zugleich stofflich.
Das Verzeichnis der Schriften, aus denen Aufsätze aufgenonunen sind, um-
fefst 553 Nummern; wieviel davon im engem Sinne geschichtliche Zeit-
schriften sind, habe ich nicht ausgezählt. Jedenfalls ist aber auch hier eine
Vollständigkeit nicht entfernt erreicht, wenn auch andrerseits die scharfe zeit-
liche Begrenzimg ein grofser Vorteil ist. In beiden Bänden sind zusammen
die Titel von 25825 Aufsätzen namhaft gemacht, die noch mit gutem Nutzen
nachgeschlagen werden können.
Für ihre Zeit sind alle drei Werke von hoher Bedeutung gewesen, imd
soweit die Litteratur der älteren Zeit in Frage kommt, sind sie noch heute
unentbehrlich. Aber wie bei jeder Bibliographie wird als Mangel empfunden,
dafs eben nur der Aufsatztitel angegeben ist, welch letzterer sich recht oft
durchaus nicht mit dem Inhalte voll deckt; es ist femer nicht erkennbar^
welche Aufsätze quellenmäfsige Arbeiten sind und welche lediglich reprodu-
zieren, ohne die Wissenschaft weiter zu führen: die letztere Art von Auf-
sätzen nimmt — allerdings in neuester Zeit wohl mehr als früher — einen
recht grofsen Raum in den Zeitschriften (abgesehen von den wenigen streng
wissenschaftlichen) ein imd sollte überhaupt bei allgemeineren Bibliographieen,
welche sie ganz unnötig belasten, aufser acht gelassen werden. Dies setzt
aber eine sachliche Prüfung jeder einzelnen Arbeit voraus, ohne
die heute eine wirklich brauchbare Litteraturübersicht nicht mehr zu stände
kommen kann. Eine solche ist nun heute bei Büchern infolge der gut organi-
sierten wissenschaftlichen Kritik verhältnismäfsig leicht zu gewinnen, aber bei
Zeitschriftenaufsätzen ist dies um so schwieriger, je mehr deren zu verzeich-
nen sind.
Neuerdings ist mm der Plan aufgetaucht, die Arbeit, welche Reufs^
Walther und Koner begonnen haben, fortzusetzen, jedoch unter Beschränkung
auf die Veröffentlichungen der geschichtsforschenden Vereine deutscher Zunge
— 19 —
und zwar so, dafs jeder Verein nach einem bestimmten Plane für die Be-
arbeitung seiner Zeitschrift sorgt und das Material einer Sammelstelle zur
Verfügung stellt, welche die Bearbeitung des stofflich anzuordnenden Gesamt-
registers tibernimmt imd den Druck besorgt. Auf Anregimg von Professor
Köcher (Hannover) hat sich die Konferenz von Vertretern landesgeschicht-
licher Publikationsinstitute bereits bei ihrem ersten Zusammentritt (Frankfurt
Ostern 1895) mit diesem Plane beschäftigt, in Innsbruck (September 1896)
wurde weiter darüber beraten, aber in Nürnberg (Ostern 1898) die Beratung
darüber „wegen der sich ergebenden Schwierigkeiten" vertagt'). Aber die
jüngste Konferenz^) hat sich dieser Frage wieder zugewandt und eine Ver-
ständigung mit dem Gesamtverein in dieser Frage anzustreben beschlossen.
Damit ist die Angelegenheit wieder aktuell geworden und verdient allgemeinere
Berücksichtigung.
Dafs ein Werk bezeichneter Art für die Forschung von recht hohem
Werte sein imd die in den Zeitschriften geborgenen Schätze heben helfen
könnte, kann keinen Augenblick zweifelhaft sein. Es fragt sich jedoch, ob
die Schwierigkeiten der Bearbeitung — ganz abgesehen von der sehr teuren
Drucklegung — nicht doch zu grofs sind, als dafs sie mit Leichtigkeit über-
wunden werden könnten. Unerläfslich wäre die Vollständigkeit der
lokalgeschichtlichen Zeitschriften, und zwar dürften auch die nicht von
Vereinen herausgegebenen nicht vergessen werden: es ist mit ganz unglaub-
lichen Schwierigkeiten verbunden, allein vollständige Exemplare von einer grö-
fseren Anzahl solcher Zeitschriften zusammenzubringen, und das eine ist ganz
sicher, dafs viele Vereine *) dem an sie gestellten Ansinnen, die Bearbeitung
ihrer Veröffentlichung selbst zu übernehmen, nicht entsprechen würden. Vom
Standpunkte des Forschers, der die weit verzweigte Litteratur über einen
bestimmten Gegenstand zusammenbringen will, hat es aber sogar eine be-
denkliche Seite, die Zahl derartiger Nachschlagebücher zu vermehren.
Es kommen als solche heute in erster Linie die Jahresberichte der Oe-
schichistvissenscJiafl *) in Betracht, die gewöhnlich im zweiten Jahre nach Ablauf
des behandelten Jahres erscheinen — der Band für 1898 ist 1900 aus-
gegeben worden — , dann die so rasch als möglich erscheinende Biblio-
1) Vgl. die Berichte über die dritte, vierte und fUnfie Versammlung deutscher
Historiker (Leipzig, Duncker & Humblot, 1895. 1897. 1898).
2) Vgl diese Zeitschrift Bd. I, S. 203.
3) Zur Orientierung über die Zahl der bestehenden Vereine und die Titel ihrer
Schriften schlage man den stattlichen Band : Wissenschaftliche Vereine und Gesellschaften
Deutschlands von Johannes Müller (1883 bis 1887) nach, der in gröfseren Vereins-
bibliotheken nicht fehlen sollte. Seit Abschlufs des Baches sind noch recht viele neue
Vereine gegründet worden.
4) Der erste Jahrgang, m Auftrage der Historischen Gesellschaft zu
Berlin herausgegeben von F. Abraham, J. Hermann und Edm. Meyer
(1878), erschien 663 Seiten stark 1880 bei Mittler & Sohn, Berlin. Seitdem ist das
Werk bis zum 21. Jahrgang (1898), jedesmal mehr anschwellend, fortgeschritten, so dafs
der letzte Band 1397 Seiten zählt Herausgeber ist jetzt E. Bern er, der Verleger
gegenwärtig (seit dem 6. Jahrgangs» 1883) Heyfelder. Die Anordnung des ganzen Werke»
ist leicht verständlich, überdies ist 1891 ein Handbuch zu Litteratur berichten im An-
uhlufs an die Jahresberichte der Geschichtswissenschaft^ bearbeitet von J. Jastrow,
erschienen, in dessen Händen anfangs (1881 — 1883) neben anderen, später (bis 17. Jahr-
gang BB 1894) allein die Leitung gelegen hat.
2»
— 20 —
graphie der deutschen OeachichU, bearbeitet von OscarMafslow, die als ßei^
läge zur Historischen Vierteljahr Schrift, Fortsetzung der Deutschen
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, zweimal im Jahre die ganze
geschichüiche litteratur durchmustert Aber auch die seit 1885/86 er-
scheinenden Jahresverzeichnisse der an deutschen Universitäten erschienenen
Schriften (Berlin, Asher & Co.) und das Systematische Verzeichnis der Ab*
handlungen, weiche in den Schulschriften sämtlicher an dem Programmen-
tausehe teilnehmender LehranstaÜen erschienen sind (der erste Band, enthaltend
die Jahre 1876 — 1885, wurde 1889 veröflfentlicht), wird der gewissenhafte
Arbeiter benutzen müssen. Dazu kommen nun noch landesgeschichtliche
^bliographieen sowie solche für wissenschaftliche Spezialgebiete, die Register
von Fachzeitschriften, systematische Bibliothekskataloge u. s. w.
Die Hilfsmittel also sind an sich schon mannigfaltig genug. Indes der
fühlbarste Mangel bei allen ist, dafs lediglich der Aufsatz- bezw. Buchtitel
mitgeteilt wird, dafs die übliche Beschreibung am Äufserlichen haften bleibt
und nicht versucht, die Spreu von dem Weizen zu sondern. Auch die
Jahresberichte der Geschichtswissenschaft smd, von einigen wenigen Ab-
schnitten abgesehen, von diesem Vorwurf nicht freizusprechen, obwohl hier
von Rechts wegen eine ktuse lobende oder tadelnde Kritik und vor allem der
Ausschlufs gar zu unbedeutender und lediglich reproduzierender
Arbeiten zu verlangen wäre. Aber freilich gehört dazu bei Büchern wenig-
stens die Durchsicht der Kritiken, bei Aufsätzen meist eine wenigstens mäfsige
Orientierung über den Inhalt Dem sachlich Suchenden wird heute seine
Thätigkeit durch die allzu grofse bibliographische Sorgfalt recht erschwert
Wenn hier gründlich Wandel geschaffen würde, könnte die Wissenschaft
jubeln; es ist an sich schwer, aber verhältnismäisig leicht, weil jeder ein-
zelne unbekümmert um den andern und eine Organisation mitwirken
kann. In dieser Richtung müssen eine Reihe Forderungen angestellt werden,
die sowoM den einzelnen geschichtlichen Arbeiter, insbesondere den auf
engerem Gebiete thätigen, als auch die geschichtlichen Vereine angehen.
Wir möchten als solche Forderungen bezeichnen:
I. Jede geschichtliche Arbeit, auch die bescheidenste, mufs litterarische
Nachweise der benutzten Litteratur und Quellen enthalten, imd zwar so genau,
dafs jeder Leser daraufhin diese Litteratur in einer Bibliothek bestellen kann;
den Vornamen des Ver&ssers (namentlich bei Müller und Schmidt) ist die neben
Jahreszahl des Erscheinens unerläislich. Bei Zeitschriften ist der genaue
Titel und nicht der vielfach im Verkehr gebräuchliche gekürzte anzugeben,
dem betrefienden Bande oder Jahrgange ist stets in Klammer das Jahr des
Erscheinens beizufügen. Ein Zeitschriftenaufsatz mtifs stets als solcher be-
zeichnet sein. Wenn ein Litteraturverzeichnis beigegeben ist, dann mufs an
Stellen, wo der Raumersparnis wegen der Titel sehr gekürzt gegeben wird,
auf dieses verwiesen werden. Auf diese Weise könnte nach einem Jahr-
zehnt eine ganz andere Utteraturkenntnis herrschen, und die Bibliothekszettel
würden nicht so oft die Bemerkung tragen, ohne den richtigen Titel sei das
Buch nicht zu identifizieren.
a. Für seine Einzeluntersuchungen mufs jeder Forscher eine gewisse
Litteratur durcharbeiten, sich über das Verhältnis der einzdnen Werke zu
einander und den Fortschritt der Erkenntnis selbst Klarheit verschaffen, um
— 21 —
dann die eigne Arbeit darauf aufzubauen. Leider wird aber nur zu ofl die
inhalüiche Charakteristik der älteren Litteratur, obwohl sie dem Bearbeiter
selbst gegenwärtig ist, nicht gegeben oder niur verstreut in einzelnen Be-
merkungen, sie sollte jedoch einen nie zu vergessenden Teil jeder Arbeit
bilden, denn nur so kann allmählich eine erschöpfende kritische Litteratur-
übersicht zunächst für engere Gebiete gewonnen werden. Es ist aber auch
weiterhin notwendig bei einer Spezialuntersuchung über irgend «inen Gegen-
stand, soweit es dem Verfasser möglich ist, nach räumlicher und zeitlicher Ent-
fernung verwandte Arbeiten zmn Vergleiche heranzuziehen, entweder imter
kurzer Bemerkung, dafs es hier oder dort gerade so oder anders sei, oder
wenigstens durch einfaches Zitat Nur so bietet jeder Aufsatz dem Leser,
den er interessiert, die Möglichkeit, den Stoff weiter zu verfolgen und eigne
Arbeiten anzuschliefsen.
3. Leider sorgen recht viele Vereine nur schlecht für ihre eignen Ver-
öfifenüichungen, sie meinen genug gethan zu haben, wenn jährlich ein Band
erscheint. Nach höchstens etwa zwanzig Bänden sollte stets ein Register-
band bearbeitet werden, der bestrebt sein mufs, ein sachliches Ganzes aus
den vielen einzelnen Beiträgen herzustellen. Erst durch ein gutes Register,
welches Personen, Orte und Sachen in einer einzigen alphabetischen Reihe
bieten mufs, wird eine Zeitschrift für die näher wie femer Stehenden recht
benutzbar. Den Redakteuren der Zeitschriften Uegt es aber aufserdem ob,
bei jeder Arbeit, die zum Abdrucke gelangt, Berührungspunkte zu älteren
Aufsätzen zu suchen und darauf hinzuweisen: so wird die Zeitschrift geistig
ein Ganzes, hört auf eine Mehrheit von Teilen zu sein, imd zugleich wird
das Interesse der Leser für die ganze Serie der Zeitschrift dauernd wach-
gehalten.
4. Grofse Schwierigkeit bereitet es oft, eine Zeitschrift nach Titel und
Zahl der erschienenen Bände genau zu bestimmen, wodurch wiederum oft
eine gesuchte Arbeit, die nicht gefunden Mrird, unbenutzt bleibt. Um dieses
zu verhüten, sollte jeder Verein seine Veröffentlichungen im Buchhandel
erscheinen lassen, damit sie ihrem Titel nach in die buchhändlerischen
Kataloge gelangen tmd damit erst dem kaufenden Publiktun wirklich zugäng-
lich werden. Ein Buch, welches nur im Selbstverlag eines Vereins erscheint,
ist für die weitere Öfifentlichkeit, namentlich nach mehreren Jahren, überhaupt
nicht vorhanden.
Wenn diesen scheinbar selbst verständlichen Forderungen von einzelnen
Personen und Vereinen einigermafsen entsprochen würde, so wäre allen Beteiligten
recht viel gedient. Das Wichtigste bleibt aber für neue Erscheinungen der
Litteratur — bei Zeitschriften natürlich dieeinzelnenBeiträge selbst — , dals
sie in die Bibliographie eingeführt werden. Das ist aber heute leicht möglich,
wenn die Vereine ihre Zeitschriften sofort nach Erscheinen dem Verlage der
Bibliographie der deutschen Zeitschriflenliiteratur '), Felix Dietrich in Leipzig
(Glockenstrafse ix), zugänglich machen wollten. Dieses Werk ist jetzt bis
i) B. d. d. ZL mit Einschlnfs von Sammelwerken nnd Zeitungen. Band V. Alpha-
betisches nach Schlagworten sachlich geordnetes Verzeichnis von Aufsätzen, die während
der Monate Juli bis Dezember 1899 in über 1000 zumeist wissenschaftlichen Zeitschriften,
Sammelwerken nnd Zeitungen deutscher Zunge erschienen sind, mit Antorenregister heraus-
gegeben Yon F. Dietrich. Preis 18 Mk.
— 22 —
zum fünften Bande gediehen: die ersten drei umfassen die Aufsätze je eines
Jahres (1896. 1897. 1898), während das Jahr 1899 in zwei Halbjahrsbändc
(Bd. IV und V) geteilt worden ist Das Verzeichnis der Zeitschriften, deren
Aufsätze verzeichnet sind, umfafste im ersten Bande 277 Nummern, im
zweiten stieg die Zahl auf 399, und im fünften ist sie auf mehr als 1150
angewachsen. Das Hauptregister ist sachlich angeordnet, so dafs sich jeder
überzeugen kann, was im betreffenden Zeitraum die periodische Presse etwa
über „Hausindustrie", „Raffael" oder die „Waldenser" veröffentlicht hat.
Das alphabetische Autorenregister, welches zugleich eine gewisse Ergänzung
zvaa Deutschen Litteratur-Kalender von Joseph Kürschner (1900 ist der
22. Jahrgang) darstellt, verweist auf die Stichworte des Hauptregisters: wie
man also auch suchen mag, immer ist Aussicht da, das Gesuchte zu finden.
Die Bibliographie der Zeitschriftenlitteratur bewältigt ein ganz gewaltiges
Material, wichtig ist aber vor allem die Schnelligkeit in der Be-
arbeitung: der fünfte Band (zweites Halbjahr 1899) lag schon im Mai
1900 fertig vor, und sicher vor Ablauf des Jahres werden wir im Besitze
des sechsten Bandes sein, der das erste Halbjahr 1900 umfassen wird. Es
ist ganz selbstverständlich, dafs der Bibliograph irgend eines Litteraturgebictes
gegenwärtig in erster Linie das Dietrichsche Werk benutzen wird '): was
darin steht, wird also ganz von selbst weiterverbreitet. Andrerseits mufs
die Bibliographie aber auch fleifsig benutzt werden, wenn sie ihren Zweck
voll erreichen soll. Der Preis der Bände richtet sich nach dem UmCuig
(Bd. I = 184 Seiten: 7,50 Mk.; Bd. II mit Namenregister = 232 Seiten:
13,60 Mk.; Bd. V = 353 Seiten: 18 Mk), er ist aber doch zu hoch, als
dafs sich viele Privatleute die Serie anschaffen könnten — und nur ein voll-
ständiges Exemplar hat ja rechten Wert — , um so wünschenswerter bt es
aber, dafs die Bibliotheken, namentlich aber die kleineren und in abgelegeneren
Orten befindlichen, sämtlich ihren Benutzem die Möglichkeit bieten, sich
über die Zeitschriftenlitteratur auf gewissen Gebieten schnell zu unterrichten.
Die Bibliotheken sind aber dazu um so eher in der Lage, als dieses Buch
nicht nur einem Wissenszweige dient, sondern in ganz gleicher Weise
allen Bibliotheksbenutzern zugute kommt, dem Historiker gerade so wie
den Vertretern der Naturwissenschaft, Technik oder Litteraturgeschichte I
Wir haben hier die bekanntesten litterarischen Hilfsmittel, die allgemeinen
sowohl wie im besonderen die geschichtlichen, kurz charakterisiert. Wenn
wir alles übersehen, so mufs unumwunden zugestanden werden, dafs eigent-
lich in recht reichem Mafse dafür gesorgt ist, die litterarischen Erscheinungen
den interessierten Kreisen bekannt zu machen ; wo dies nicht in wünschens-
werter Weise geschieht, da liegt es an den Verlegern und Verfassern. Aber,
um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, angesichts der Schwierigkeiten,
welche eine Fortsetzung des Koner sehen Repertoriums für die Zeit
von 1850 bis 1900 bereitet, wird es wohl besset sein, dieselbe auf sich
beruhen zu lassen. Noch einmal sei jedoch wiederholt, dafs in Bezug
auf Genauigkeit der Zitate und Aufnahme kritischer Litteraturübersichten in
die geschichtlichen Einzeluntersuchungen viel mehr geschehen mufs als bisher.
i) Die BUchcr sind ja ihrem Titel nach im Hinrichs'schcn Katalog steU leicht
zu finden.
— 23 —
wenn anders die ältere wie die jüngste Litteratur über jedes einzelne Gebiet
gekannt und ausgiebig benutzt werden solL
Eine archSologiselie Belse durcli Teile Norddeutsehlands.
Von Gustaf Kossinna (Berlin). — Als ich im Spätsommer des Jahres
1899 mich mit Unterstützung der KönigL Preufsischen Akademie der Wissen-
schaften auf eine dreimonatige Reise zum Studium der archäologischen
Landesmuseen Norddeutschlands begab, hatte ich die Absicht, vor allem die
gesamte Hinterlassenschaft der Lat^nekultur, d. h. des letzten halben Jahr-
tausends vor Christus, dieser Gegenden so genau als möglich aufzunehmen,
denn ich versprach mir von einer Darstellung gerade dieser Zeit die beste
Wirkung tmd Verbreitung meiner Anschauungen über den ausschlaggebenden Wert
der noch erhaltenen Altertumsmale fUr die Beurteilung der Stammes- wie der
meisten andern Kulturverhältnisse der Germanen, in erster Linie bei unseren
Historikern, da ja diese Periode mit der auch durch schriftliche Überliefe-
rungen bekannten Kaiserzeit auf engste verbunden ist. In zweiter Linie be-
vorzugte ich jene Gegenden, die sich mir bereits seit einer Reihe von Jahren
als jahrhundertelange, je nach den Perioden der Vorgeschichte wechselnde
Grenzgebiete innerhalb des zweitausendjährigen 2^itraumes vorrömischer
Metallzeit des Nordens herausgestellt hatten ^). Ich konnte also die von
Anbeginn der Besiedelung stets germanischen Mittelgebiete: Schleswig -Hol-
stein tmd Mecklenburg vorläufig beiseite lassen, ebenso die während der
Bronzezeit nur zum kleinsten Teile germanische Mark Brandenburg, deren
Museen von mir ohnehin längst aufs genaueste aufgenommen worden waren,
und wandte mich einerseits dem Gebiete jenseits der Elbe nach Westen hin,
andererseits dem Gebiete der unteren Oder und Weichsel zu.
Ich begann mit der Osttour: erledigt wurden dabei die Museen von
Stralsund, Greifswald, Neubrandenburg, Stettin, Danzig, Marienburg, Grau-
denz, Thorn, Bromberg.
War Stralsund, unerreicht in Deutschland durch den Reichtum an
Feuersteingeräten und im Besitz des kostbaren Hiddensöer Wikingergold-
schatzes, für mich durch seine reichen Funde der älteren Bronzezeit tmd
die eigenartigen Schmucksachen der westpommerisch - mecklenburgischen La-
t^ekultur von Wichtigkeit, hierin sehr verwandt der wertvollen Sammlung zu
Neubrandenburg, so bot die zum Stillstand verurteilte kleine Greifs-
wald er Sammlung den Anblick des Verfalls dar. Stettin dagegen entwickelt
sich, wie Stralsund, dabei aber mit reicheren Mitteln und gröfserem, sehr ergiebi-
gem Fimdgebiet ausgestattet, immer mehr zu einem Museum von hervorragendster
Bedeutung, die noch klarer zur Erscheinung kommen wird, wenn die Stadt
aus den längst dafür vorhandenen Mitteln einer hochherzigen Schenktmg
der Sammlung ein geeignetes Heim verschafft haben wird. Sowohl die ältere
Bronzezeit, als namentlich die jüngere (im nordischen Sinne, also parallel der
älteren und mittleren Hallstattzeit des Südens) sind in überwältigendem Reich-
tum hier vertreten; leider sind die auch nicht geringen, einst wertvollen
Lat^ne-Eisenfunde, die glücklicherweise längst in guten Abbildtmgen publiziert
worden, zum gröfsten Teile bis zur Unkenntlichkeit vergangen. Das schöne,
I) VgL meinen Casseler Vortrag von 1895 • ^itschr. d. Ver. f. Volksk. 1896, i — 16.
— 24 —
mit reichen Mitteln ausgestattete und bestverwaltete Danziger Museum
zeigt aufs klarste die Ablösung der westgermanischen jüngeren Bronzezeit
durch die spezifisch os^ermanische Kultur, wie sie aus den kleinen Stein-
kisten mit Gesichtsumen und ihren Begleiterscheinungen zutage tritt Alle
anderen Kulturen und Perioden verschwinden in diesem Museum neben der
Fülle der von mir auf die Jahre 800 — 400 v. Chr. festgelegten Zeit der
ersten Besitznahme des Gebietes zwischen Weichsel tmd mittlerer Oder durch
die Ostgermanen imd zwar die Wandalen (nicht Goten, wie voreilig bisher
stets als zweifellos hingestellt worden ist). Das Schlofs Marienburg be-
herbergt die namentlich für die ostpreufsische Vorgeschichte wertvolle Samm-
lung des Herrn Bkü-Tüngen (jetzt Gr. Lichterfelde), während das kleine, aber
schöne Graudenzer Museum ausschliefslich der Lat^e- imd sogen, römi-
schen Kultur der Ostgermanen des Weichsellandes gewidmet ist, jener Kul-
tur, die westwärts nicht ganz an die untere Oder reicht, südwärts aber noch
fast die ganze Niederlausitz, Posen, das nördliche Sachsen tmd Nord- und
Mittelschlesien gewonnen hat und in Galizien bis an den Dniester zu ver-
folgen ist In eine ganz andere Welt kommen wir dagegen in Thorn
(i. städtisches, 2. polnisches Museum) imd Bromberg: neben der schon
spärlicher werdenden Gesichtsumenkultur zeigt sich sehr auffallend ihr un-
germanischer Vorgänger, die karpo-dakische Bevölkenmg der posensch-schle-
sisch-lausitzisch-sächsisch-nordböhmischen Umenfelder (Buckelumen tmd ihre
Weiterentwicklimgen neben eigenartigen Bronzesachen), die über Galizien
nach Ungarn (Dakien) die Bruderhand ausstreckt, ihre Nordgrenze an den
stmipfigen Niederungen findet, die die Netze begleiten tmd nur an den
^etzequellen vorbei bis an die Weichsel dringt und drüber hinaus das Cul-
mer Land besetzt Unter ihrem Einflüsse hat sich im östlichen Ostpreufsen in
der älteren Bronzezeit ein selbständiger, allerdings nicht kräftiger Ableger wohl ai-
stischer Kultur mit wenigen germanischen Nebenbeeinflussimgen herausgebildet,
während die noch spärlichere Ausbreitung und Stärke zeigende westpreulsi-
sche ältere Bronzekultur (links der Weichsel) vor der westgermanischen
(11 00 — 800 V. Chr.) Invasion ein ganz charakterloses Gemisch teils genna-
nischer, teils karpodakischer Herkunft aufweist
Ein ganz anderes Bild boten die archäologischen Verhältnisse westlich
der Elbe, wo ich die Museen zu Magdeburg, Braunschweig, Hildesheim,
-Hannover, Bremen, Oldenburg, Emden, Clemenswerth, Osnabrück, Münster,
Dortmimd, Duisburg, Düsseldorf, Bonn, Trier, Oberlahnstein, Wiesbaden,
Mainz studierte. Wie im westlichen Brandenburg, so ist auch in der ganzen
Provinz Sachsen, in Braunschweig, im östlichen und nördlichen Hannover,
wie in Oldenburg, bis an die nordwestliche Grenze Westfalens die Früh-
lat^ezeit tmd die ihr voraufgehende Eisenzeit (etwa 600 — 300 v, Chr.) in
zusammenhängenden Gräberfeldern geradezu massenhaft vertreten, zaiüreich tmd
auch in sich zusammenhängend die drei Lat^neperioden (400 bis Christus).
Die überaus reiche Bronzekultur des östlichen Hannovers und des nördlichen
Teiles der Provinz Sachsen zeigt echt nordisch - germanischen Charakter,
doch mit einer merklichen Schattierung süd- tmd westdeutschen Einflusses,
der teilweise von Südwesten durch Hessen, mehr noch aber über Thüringen
den prähistorischen Kulturflufs der Germanen, die Saale, herabgekommen ist
Denn längs der Saale, d. h. auf ihrem linken Ufergebiet, und nicht längs
— 25 —
mittlerer und oberer Elbe, wie die Archäologen, namentlich die Erforscher
des urzeitlichen Bemsteinhandels einschliefslich Undset,Montelius und 01s-
hausen, immer von neuem behaupten, ist während der Bronzezeit der Weg
von dem germanischen untern Elblande nach dem Süden über Franken,
Oberpfalz nach der Donau zu gewesen, da die Gegenden des südlichen
Brandenburgs und der südöstlichen Provinz Sachsen sowie das Königreich
Sachsen verhältnismäfsig spät und zwar von Schlesien aus besiedelt wurden
und hierhin, nach Südosten, nicht aber nach Norden, auch fernerhin ihre
Beziehungen behalten. Böhmen aber hat seine Verbindungen in der älteren
Bronzezeit nach dem Süden und nach Westen, und erst in der jungem Bronze-
zeit wurde sein nördliches Gebiet, wie erwähnt, der karpodakischen Kultur
Schlesiens-Sachsens angegliedert
In Braunschweig kommen hoffentlich bald die Mittel zusammen, um
das bei mehreren dortigen Sanunlungen verstreute Material in dem geplanten
Landesmuseum zu einheitlicher Aufteilung zu vereinen. Das prachtvolle natur-
historische Römermuseum zu Hildesheim bietet für die Prähistorie mehr
nur eine Lehrsanunlung imd ist arm selbst an geschlossenen Funden aus
der Umgebung der Stadt; ähnlich steht es in Bremen, wo man eine An-
zahl Sachen ohne Kenntnis der Fundumstände, ja des Ursprungslandes von
Händlern zusammengekauft hat Dagegen bieten die vorgeschichtlichen Schätze
des Provinzialmuseums zu Hannover für alle Perioden reichste Belehrung, allein
durch teilweise ungenaue, ja unrichtige Etiquettienmg, durch die ungeordnete
Aufstellung, durch die völlig willkürliche, ja unbegreifliche Zerreifsimg grofser ge-
schlossener Funde, die zuweilen soweit geht, dafs ein Teil eines zerbrochenen wert-
vollen Stückes im Schauschrank ausgestellt ist, ein anderer im Magazin verborgen
liegt, entstehen hier dem Forscher ungemeine Studienhindemisse und grolser
2^itverlust Hoffentlich entschliefst sich die Verwaltung in dem jetzt wohl
schon bezogenen geräumigeren Neubau zu einer durchgreifenden wissen-
schaftlichen Umordnung des unschätzbaren, ihrer Obhut anvertrauten vor-
geschichtlichen Materiales! Auch Oldenburg besitzt ein verhältnismäfsig
reiches, in der Anordnung des Materiales aber auch nicht ganz einwand-
freies Museum. Im Emsgebiet befinden sich die kleinen Sammlungen des
Em den er Museums und des Fürsten Arnsberg auf Schlofs Clemenswerth,
Kreis Hümling, beide trotzdem fUr diese schon magereren Grenzgebiete ger-
manischer Ausdehnung nicht ohne Wichtigkeit. In Osnabrück, wo wir
die Grenze der Germanen der jüngeren Bronzezeit bereits überschritten haben,
bietet das äufserlich saubere und inhaltlich kostbare Museum an Vorgeschicht-
lichem nur einzelne Prachtfunde, sonst unerhebliches, während in Münster
die besten Sachen aus hannoverschem Emsgebiet, dem ehemaligen Niederstifi
Münster stanmien, so die steinzeitlichen Thongefafse aus Megalithgräbem und
einige wertvolle nordische Bronzen. Dem jungen schmucken Dortmunder
Museum (vgL darüber diese Zeitschrift S. 23), das als vorläufiges
Unikum die ersten Lat^ne-Funde der an vorgeschichtlichen Denkmalen so
armen Provinz Westfalen beherbergt, wären vor allem Mittel zur Publikation
der mit grofsem technischem Geschick vollführten Baumschen Ausgrabungen
der meist ungermanischen Hügelgräber des Lippegebietes zu wünschen. Von
den rheinischen Museen will ich kurz noch bemerken, dafs ihr Studium mir
vor allem das Material an die Hand geben sollte, um den ungermanischen
— 26 —
Charakter der dortigen Funde sicherer beurteilen zu können. Auch links
des Rheins mufs neben übermächtiger Pflege des römischen Altertums die
Prähistorie des Landes entschieden mehr zur Geltung kommen. Diesen
Mangel empfindet man recht stark namentlich in Bonn, weniger neuerdings
in Trier, und vom Mainzer Centralmuseum mufs gesagt werden, dafs es
offenbar noch immer nicht hinreichend erkannt hat, wie wenig „Germani-
sches'* es in seinen Mauern birgt und wie klaffend in dieser Hinsicht seine
Lücken sind, wenn man an den riesigen Reichtum Norddeutschlands denkt.
Doch spielen hierbei wohl noch andere schwer zu überwindende Schwierig-
keiten mit.
Archf T6« — Bereits im ersten Bande dieser Zeitschrift wurde mit einer
Charakteristik des Archivwesens in den einzelnen deutschen Bundesstaaten
begonnen, und zwar wurden P r e u fs e n (S. 171 — 172) tmd Baiern (S. 245
bis 247) behandelt. Es besteht die Absicht über das Archivwesen in sämt-
lichen Staaten deutscher Zunge in ähnlicher Weise zu berichten, und zwar,
so weit möglich, in der Weise, dafs die einzelnen Charakteristiken wenigstens
in den wichtigsten Punkten unter sich vergleichbar werden. Hier folgen
zunächst die entsprechenden Mitteilungen für die beiden Königreiche Sachsen
und Württemberg.
Das Archivwesen des Königreichs Sachsen hat seinen Mittelpunkt in
dem Königlich Sächsischen Hauptstaatsarchiv zu Dresden, das sich seit 1888
in dem Albertinum hinter der Brühischen Terrasse befindet und sich mit der
Königlichen Skulpturensammlung in die Räume dieses früher als Zeughaus
benutzten, aber vollständig umgebauten Gebäudes teilt Selbständig bestehen
aufser dem Hauptstaatsarchiv nur noch das Kriegsarchiv, das 1897 sein
eigenes, allen Forderungen der Neuzeit entsprechendes Gebäude erhalten hat,
das Archiv des Dresdener Lehnhofes im Amtsgerichte Dresden- Neustadt
(Abt IV**), einige Kloster- (Marienthal, Marienstern), Stifts- (St Peter in
JBautzen) und Schlofsarchive. Dagegen übt der Staat eine gewisse Aufsicht
über die Pfarr- und Stadtarchive aus, über erstere durch das evangelisch-
lutherische Landeskonsistorium, über letztere durch das Hauptstaatsarchiv.
Jährlich besichtigt emer der Archivräte als Königlicher Kommissar eine An-
zahl städtischer Archive, überzeugt sich von der zweckmäfsigen Aufbewahrung
und Ordnung der Akten, erteilt, wo es nötig erscheint, Ratschläge wegen
Einrichtung der Archive und berichtet über seine gemachten Erfahmngen an
das Ministerium. Städten und Pfarrämtern, die eine sichere Unterbringung
ihrer Archivalien nicht gewährleisten können, wird Überführung der Akten-
bestände in das Hauptstaatsarchiv nahe gelegt Von diesem Anerbieten
haben bisher Bärenstein, Crimmitzschau , Döbeln, Frauenstein, das Bergamt
Freiberg, Geithain, Leisnig, Lommatzsch, Löbau, Löfsnitz, Marienberg, Mitt-
weida, Ölsnitz, Oschatz, Pegau, Pulsnitz, Zwickau und verschiedene Pfarren
Gebrauch gemacht. Ebenso hat das Domkapitel zu Meifsen sein tmifang-
reiches Archivtun magnum und eine Anzahl adliger Geschlechter ihre Fa-
milienarchive zur depositarischen Verwahrung dem Hauptstaatsarchiv anver-
traut
Zeigt sich bereits in diesen Bemühungen um Stadt-, Pfarr- und Adels-
archive sowie femer in dem Bestreben, Urkunden und Aktenstücke von
— 27 —
Belang, die sich im Handel beBnden, flir das Hauptstaatsarchiv käuflich zu
erwerben, die weitgehende Fürsorge des Staates für Erhaltung aller wichtigen
Archivalien im ganzen Lande, so andererseits auch ganz besonders in den
Bestimmungen über die Vernichtung der bei den staatlichen Behörden auf-
laufenden Akten. Wanderte früher zusammen mit ganz belangloser Makulatur
auch viel wichtiges Aktenmaterial in die Papiermühle, so ist dies nicht mehr
möglich, seitdem das Gesamtministerium auf Anregung des Hauptstaatsarchivs
1877 ^>c Verordnung erliefe, dafs sämtliche Unterbehörden Verzeichnisse
der zur Vernichtung ausersehenen Akten vor ihrer Kassation zu weiterer Be-
schlufsfassung an ihre vorgesetzten Ministerien einzusenden haben. Von hier
werden diese Verzeichnisse bei den einzelnen Ministerien sowie dem Landes-
konsistorium in Umlauf gesetzt und gelangen schliefslich an das Hauptstaats-
archiv, das alle zur weiteren Verwahrung geeigneten Akten auswählt und seinen
Beständen einverleibt.
Da aber aufser den Unterbehörden auch die Ministerien selbst beständig
nicht mehr kurrente Akten in grofser Menge abgeben, so hat sich das Haupt-
staatsarchiv seit seiner 1834 erfolgten Begründung stark erweitert. Bis zu
dem genannten Jahre gab es in Sachsen eine beträchtliche 2^hl von Sonder-
archiven und Aktensammlungen. So bestanden u. a. Archive des Geheimen Rats
{Geheimen Konsiliums), der Landesregierung und des Geheimen Kabinetts;
femer solche des Schöppenstuhls und des Oberhofgerichts in Leipzig, des
Leipziger Konsistoriums, Kirchenrats und Oberkonsistoriums, des Obersteuer-
kollegiums, der Oberrechnungskammer, der Kommerziendeputation , der Al-
bertinischen Nebenlinien, der Ostfriesischen und vieler anderer Kommissionen,
der Geheimen Kriegskanzlei und des Generalfeldmarschallamts, einzelner em-
gegangener Gesandtschaften u. s. w. Alle diese einzelnen Archive wurden
mit den beiden ältesten im Lande, dem Wittenberger Archive, d. h. dem
Teile des alten Wettiner Archivs, der bei der Teilung 1802 an die Albcr-
tinische Linie gefallen und nicht nach Weimar gekommen war, und mit dem
Geheimen Archive, worunter die ältesten, seiner Zeit bei dem Geheimen Kon-
silium und der Landesregierung verwahrten Bestände zu verstehen sind, zu
dem Königlich Sächsischen Hauptstaatsarchive vereinigt Auch zahlreiche
Korrespondenzen von Mitgliedern des Königlichen Hauses wurden in das-
selbe aufgenommen, da ein besonderes Königliches Hausarchiv nicht besteht
Berechnete v. Weber 1864 in seinem Aufsatze über das Hauptstaatsarchiv
zu Dresden (Arch. f. d. Sachs. Gesch. U, i — 26) den Umfang desselben
auf 17000 Originalurkunden und 300000 Akten, so beträgt dieser heute
infolge der oben angegebenen Erweiterungen und namentlich seit Einverleibimg
des gesamten Finanzarchivs (1873) gewifs das Doppelte. Die Zahl der mit
dem 30. März 947 beginnenden Originalurkunden, die in über 1000 Kästen
aufbewahrt werden, beläuft sich auf etwa 40 000, während in den bisher be-
legten 50000 Lokaten, d. h. Regalßlchem von 42 cm Höhe, 39 cm Tiefe
und 26 cm Breite, vielleicht 6 — 700000 Aktenbände und -bündel ruhen.
In den Lokaten liegen die Hauptabteilungen, aus denen das Haupt-
staatsarchiv, wie oben erwähnt, gebildet wurde, möglichst geschlossen bei
einander. Die erste umfefst die Originalurkunden, die zweite das Witten-
berger, die dritte das Geheim-Archiv, die vierte und fünfte das des Geheimen
Kabinetts, die siebente die Akten des Geheimen Rats (Konsiliums), die achte
— 28 —
die der Landesregierung. Das Finanzarchiv bildet die grofse achtzehnte Ab-
teilung, während die elfte handschriftliche Karten und Risse, die vierzehnte
und fünfzehnte Abschriften enthält Die nicht genannten Abteilungen sind
im Laufe der 2^it weggefallen.
Den Abteilimgen entsprechen die im Arbeitssaale aufgestellten Registranden,
indem man die Repertorien der gröfseren Sonderarchive von ehedem be-
stehen imd nicht in ein Gesamtregister hat zusammentragen lassen. Sie sind
alle im wesentlichen nach denselben Grundsätzen angelegt. Der urkundliche
Stoff ist nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet worden, diese aber sind
unter sich nach dem Alphabet aufgeführt. So beginnen die verschiedenen
Repertorien alle mit „Absterben 'S gehen mit „ Accissachen " u. s. w. fort
und enden mit „ Zusanmienkünften 'S Jeder dieser Bände weist wieder seine
besondere, zweckentsprechende Einteilung auf. Neben diesen Sachverzeich-
nissen besitzt das Archiv noch eine Reihe brauchbarer Hilfsmittel, die von
den Beamten stetig vervollständigt werden, so Nachschlagewerke über die in
Originalurkunden und Kopialen vorkommenden Ortsnamen, über adlige Ge-
schlechter, über Gelehrte, Künstler, Techniker u. dergl mehr. Endlich steht
den Beamten und Archivbenutzem eine reichhaltige Fachbibliothek zu Gebote.
Zu ihrer Vervollständigung werden jährlich etwa 2000 Ji von den fiir das
Archiv bewilligten Staatsmitteln verwendet.
Diese Staatsmittel betrugen nach dem Etat von 1 900/1 69410^. Da-
von entfallen 5 1 880 ^ auf Besoldungen der Beamtenschaft des Archivs, die
sich aus dem Direktor, drei Staatsarchivaren und einem Archivsekretär als
Oberbeamten, vier Expeditionsbeamten, zu denen drei Sekretäre imd ein
Bureauassistent gehören, drei Dienern und einem Hausmeister zusammensetzt.
Der Direktor rangiert unter den Zivilbeamten der dritten Klasse der Hof-
rangordnung zwischen den Landgerichtspräsidenten uqd dem Polizeidirektor
zu Dresden, den Direktoren der Bergakademie zu Freiberg und Forstakademie
zu Tharandt und den Amtshauptleuten. Die Staatsarchivare, die ihrer Stel-
lung nach den Amtsrichtern und Gerichtsräten gleichzusetzen sein dürften,
sind als solche merkwürdigerweise nicht in der Hofrangordnung verzeichnet,
gehören aber als Archivräte, so weit ihnen kein mit höherem Range ver-
bundener Titel verliehen ist, in die vierte Klasse derselben.
Die Gehaltsverhältnisse sind 1898 entsprechend den Gehaltserhöhungen
der Archivbeamten anderer Bundesstaaten, namentlich Preufsens und Bayerns,
neu geregelt worden. Der Direktor erhält 7500 — 9300, durchschnittlich
8 400 v^, die Staatsarchivare 4 500 — 6 300, durchschnittlich 5 400 Jit^ der
Archivsekretär 3 600—4 200, durchschnittlich 3 900 Ji. Aufserdem erhalten
zwei von den Staatsarchivaren jährlich i 500, bezw. i 200 Ji^ die, da sie
bei der Pensionsbemessimg voll mit in Anrechnung gebracht werden, dem
Gehalte zuzurechnen sind, fUr Herausgabe einer vom Staate veranstalteten
Quellensammlung der älteren sächsischen Geschichte, des Cbefer diphmaticus
Saxoniae regiae, von dem seit seiner Begründung im Jahre 1860 eintmd-
zwanzig, gröfstenteils von Archivbeamten bearbeitete Bände erschienen sind.
Eine Aufbessenmg der Gehaltsverhältnissc steht durch Bewilligung von Woh-
nimgsgeldzuschüssen seitens des nächsten Landtags in Aussicht
In der Benutzung des Archivs hat sich eine Steigerung während der
letzten Jahre geltend gemacht. Während 1890 nur 16 und bis 1895 nie
— 29 —
über 30 amtliche Erhebungen anzustellen waren, betrug ihre Zahl in den
letzten Jahren 40 bis 50 (1899: 48). Ähnlich mehrten sich die an Privat-
personen erteilten Auskünfte. In dem Jahresberichte von 1890 sind deren
nur 63 verzeichnet, seit 1894 überschritten sie dagegen meist die Zahl 100
(1899: 148). Endlich nimmt auch die Reihe der Besucher, die 1890 noch
95 betrug, jährlich zu. 1895 benutzten 123, 1896: 134, 1897: 156,
1898: 160 und 1899: 213 Personen, von denen viele wochen-, ja monate-
lang einen beständigen Benutzerkreis bildeten, den Arbeitssaal des Archivs.
Während früher jede Archivbenutzung von der allerdings mit gröfster
Bereitwilligkeit erteilten Genehmigung des Gesamtministeriums abhängig war,
erteilt seit mehreren Jahren die Direktion des Hauptstaatsarchivs selbst fUr
alle Archivstudien bis zum Jahre 1831, dem Erlasse der Konstitution, die
Exlaubnis. Die Zeitgrenze ist also wesentlich weiter hinauf gerückt, als in
Preufsen, wo das Jahr 1700, oder in Bayern, wo das Jahr 1801 malsgebend
ist Nur in besonderen Fällen, in denen Interessen des Königlichen Hauses
oder des Staates in Frage kommen, ist die ministerielle Genehmigung er-
forderlich, die im übrigen bei Benutzung von Akten der neuesten Zeit ein-
geholt werden mufs. Dals jedem Benutzer des Lesesaab die Einsicht aller
Registranden bereitwilligst zugestanden wird, ist allezeit mit gröfstem Danke
von Seiten des Publikums anerkannt worden. In dieser Beziehung zeichnet
sich das Dresdener Hauptstaatsarchiv wesentlich vor den meisten anderen
deutschen Archiven aus. Da auch Archivalien, so weit es nur irgend ihre
Sicherheit gestattet, nach auswärts versendet werden, ist wohl die Behaup-
tung gerechtfertigt, dafs die im Königlich Sächsischen Hauptstaatsarchiv
ruhenden Urkunden- und Aktenschätze der wissenschaftlichen Forschung in
weitgehendster Weise zugänglich gemacht sind.
Württemberg« Der Direktion des König^ Geheimen Haus- und
Staatsarchives (Archivdirektion), welche dem Ministerium des KönigL Hauses
und der Auswärtigen Angelegenheiten untergeordnet ist, sind unterstellt: das
K. Geheime Haus- und Staatsarchiv in Stuttgart, das K. Staats-
filialarchiv in Ludwigsburg imd das dem Staate und der Stadt
Hall gemeinschaftliche Archiv in HalL Das Staatsfilialarchiv büdet
übrigens nur einen räumlich getrennt aufbewahrten nicht selbständig verwal-
teten Bestandteil des erstgenannten Archives; es sind ihm vorzugsweise die
umfieissenderen und neueren Aktenmassen zugewiesen, während namentlich die
Urkunden und die wichtigeren Dokumente überhaupt im Haus- tmd Staats-
archive aufbewahrt werden. In beiden zusammen finden sich somit die Ur-
lomden und Akten über die Familienangelegenheiten des Königl. Hauses ; die
Originale der Königl. Gesetze und Verordnungen; Geheime Kabinettsakten
der wüittembergischen Regenten vom XVL Jahrhundert an; femer Akten
des obersten RegierungskoUegiums in Altwürttemberg, des „Geheimen Rats";
Urkunden und Akten über die Beziehungen Württembergs zum alten tmd
zum jetzigen deutschen Reich, sowie zu anderen deutschen und auiserdeut-
sdien Staaten: so die Staatsverträge; Dokumente von hervorragendem histo-
rischem Werte aus verschiedenen altwürttembergischen Verwaltungszweigen
und den einzelnen Ämtern; Archivalien früherer Reichsstädte und sonstiger
octtwüittembergiacher Laadesteile (z. B. Fürstentum EUwangen, Vorderöster-
— 30 —
reich, verschiedene Klöster und Stifter); Dokumente über den wtirttembergi-
schen Adel, insbesondere die ältere Lehenratsregistratur und Teile der Ar-
chive der einstigen Ritterkantone, insbesondere soweit sich dieselben auf
nunmehr württembergische ritterschaftliche Familien und Orte beziehen; Be-
standteile des einstigen Deutschordensarchivs in Mergentheim, soweit dasselbe
nicht an andere Staaten oder an das Centralarchiv des deutschen Ritterordens
in Wien ausgefolgt worden ist; die an Württemberg abgegebenen Akten des
ehemaligen Reichskammergerichts zu Wetzlar in betreff württembergischer Orte
und Familien ; das Archiv des vormaligen Schwäbischen Kreises ; Akten des
einstigen Hofgerichts zu Rottweil; die noch in württembergischem Besitze
befindlichen Bestandteile des Archivs der Grafschaft Mömpelgard u. s. w.
Weiterhin besitzen übrigens sowohl das KönigL Ministerium des Innern
als das Königl. Finanzministerium besondere Archive, welche mit der
Königl. Archivdirektion in keiner Verbindung stehen: das Archiv des
Innern und das Finanzarchiv, beide zu Ludwigsburg. Von ihnen um-
fafst das erstere die sämtlichen älteren Registraturen der in den Jahren 1 806
und 1 8 1 7 aufgehobenen Kollegien, Deputationen, Kommissionen u. s. w., deren
Geschäftsführungen nach ihrem verschiedenen Gehalt und Umfang nunmehr in
dem Departement des Innern vereinigt sind, sowie die dem Ministerium
und seinen Kollegien entbehrlich gewordenen älteren Akten. Das letztere
enthält die Registratur aufgehobener Finanzkollegien-Kommissionen und -De-
putationen, z. B. des herzoglichen Kirchenrats von 1550 an und der her-
zoglichen Rentkammer von 1650 an, sowie ältere Finanzministerialakten.
Die dermaligen acht Beamten der Archivdirektion sind sämtlich
akademisch gebildet.
Archivdirektor ist derzeit der frühere erste Archivrat, welcher neben der
höchsten Kollegialratsbesoldung als solcher ein (pensionsberechtigtes) Neben-
einkommen von 1050 Mk. und 90 Mk. Wohnungsgeld bezieht
Zwei Beamte — Archivräte — stehen normalmäfsig in der Beamten-
klasse der Räte der Verwaltungskollegien (Gehalte von 4700, 5100 und
5500 Mk. ; Vorrückung nach je vier Jahren) ; ein Beamter — Archivassessor —
in der Beamtenklasse der Assessoren der Kollegien (Gehalt von 3000, 3400
und 3800 Mk. ; Vorrückung nach je zwei Jahren); vier Beamte — Archiv-
sekretäre — in der Be^imtenklasse der Expeditoren (Gehalte von 2 600, 2 800,
3000, 3300, 3600 und 3900 M. ; Vorrückung nach zwei, dreimal je drei
und vier Jahren); je mit dem tarifmäfsigen Wohnungsgeld dieser drei Be-
amtenklassen von 400, bzw. 300, bzw. 250 Mk. (200 Mk. in Ortsklasse
Ludwigsburg) in Ortsklasse Stuttgart
Ein Expeditor besorgt die Verwaltung des Staatsfilialarchivs zu Ludwigs-
biu-g am Orte selbst.
Der Verwalter des gemeinschaftlichen Archivs zu Hall ist ein im sonstigen
Dienste verwandter städtischer Beamter, welcher von der Stadt Hall aus-
schliefslich bezahlt wird.
Zur Zeit ist, je fiir ihre Person, dem Archivdirektor der Rang in der
dritten Rangklasse (der Staatsräte, Präsidenten), dem etatmäfsigen zweiten
Rate der Titel und Rang eines Geheimen Archivrats (in der Beamtenklasse
der Oberräte), dem normalmäfsigen Assessor die Stellung und der Gehalt
sowie der Titel eines Archivrats, dem ältesten Expeditor die Stellung und
— 31 —
der Gehalt eines Archivassessors, sowie der Titel eines Archivrats, den beiden
Expeditoren in Stuttgart der Titel und Rang von Archivassessoren, dem £x-
peditor in Ludwigsburg der Titel und Rang eines Hofrats verliehen.
Zu den eigentlichen Beamten kommt noch je ein Kanzleiaufwärter in
Stuttgart und in Ludwigsburg.
Insgesamt war im Etat von 1900 fUr die Archivdirektion, d. h. die
Besoldungen mit Wohnungsgeld (33650 Mk.), sodann Kanzleikosten (2850 Mk.),
Urkundensammlung (Druck des Urkundenbuchs und Erwerbung von Urkunden :
1400 Mk.) der Betrag von 37900 Mk. angesetzt.
Erlaubnis zur Benutzung des Staats- tmd Staatsfilialarchives — des
Haller Archivs in Verbindung mit der Stadt Hall — erteilt oder vermittelt
bei dem vorgesetzten Ministerium die Archivdirektion, die es sich angelegen
sein läfst, wissenschaftliche Aufgaben möglichst zu imterstützen. Die Erlaubnis
zur Benutzung des Geheimen Hausarchivs erteilt das Königl. Ministerium.
Das Königl. Haus- und Staatsarchiv veröffentlicht seit 1849 ^*Q Wirtem-
bergisckes Urkundenbuch, welches sämtliche Urkunden, in denen sich in Be-
ziehung auf irgend einen Bestandteil des Landes in seinem heutigen Umfang
eine Bestimmung 6ndet, von den ältesten Zeiten an zunächst bis zum Jahre
13 13 in sich begreifen soll. Von ihm sind bis jetzt sieben Bände erschie-
nen, die bis zum Jahr 1276 herabgehen, Bd. I bis UI redigiert von E. Kaus-
1er, Bd. IV bis VII von P. Stalin. Im Jahr 1893 hat übrigens die würt-
tembergische Kommission flir Landesgeschichte, in der Absicht, eine raschere
Herausgabe der älteren württembergischen Urkunden zu ermöglichen, be-
schlossen, der Archivdirektion einen Gelehrten zur Mitarbeit an der Fort-
setzung des Werkes für die 2^it nach 1268 zu stellen und gleichzeitig Ur-
kundenbücher für die neuwürttembergischen Gebiete von 1268 ab in Angriff
zu nehmen, wobei dann, so lange solche sogen. Territorialurkundenbücher
nicht in Angriff genommen sind, das Staatsarchiv mit dem von der Kom-
mission gestellten Hilfsarbeiter das Wiriembcrgüche Urkundenbnch in dem-
selben Umfiemg wie bisher ganz selbständig fortsetzen soll. Beim obigen
VU. Band hat die Mitwirkung der genannten Kommission bereits stattgefunden ;
selbständig hat dieselbe bis jetzt je einen Band eines Rottweiler und Efs-
Ünger Urkundenbuches herausgegeben.
Ausführungen „Zur Geschichte des württembergischen Staatsarchivs'*
hat K Schneider in der Archivalischen Zeitschrift H, F. Jahrg. IL 1891.
S. 54 — 78 veröffentlicht
Infolge von Anträgen der Archivdirektion sind die Verwaltungs- und
Finanzbehörden angewiesen, die in ihren Registraturen befindlichen, für den
laufenden Dienst jedoch entbehrlichen älteren, insbesondere Pergamenturkun-
den, alte Chroniken, Kopialbücher und Akten, welche in politischer oder
knlturgescfaichtlicher Beziehung von allgemeinem Interesse für die Geschichte
des Landes sein könnten, an die Archivdirektion einzusenden. Auch werden
bei Aktenausscheidungen der genannten sowie der Justiz- und Militärbehörden
die betreffenden Veneichnisse an diese Direktion eingesandt oder wird ihr
in zweifdhaften Fällen von der beabsichtigten Ausscheidung unter kurzer
Angabe des Inhalts der fraglichen Akten rechtzeitige Mitteilung gemacht.
Namentlidi durch die Ausscheidung bei den Justizbehörden ist dem Archi e
schon manches wertvolle Material zugeführt worden.
— 32 —
In neuerer Zeit hat die im Jahre 1891 gegründete württembergische
Kommission für Landesgeschichte nach dem Vorgang der badischen historischen
Kommission gemeinschaMich mit der K^ Archivdirektion die Durchforschung,
Ordnung und Verzeichnung der Archive und Registraturen der Gemeinden,
Pfarreien, Stiftungen, Korporationen, Gnmdherren und Privaten des ganzen
Landes durch sogen. Pfleger, welche unter der Leitung und Überwachung
von sechs Kreispflegem stehen, in Angrifif genommen. Schon ist eine
beträchtliche Anzahl solcher Lokalarchive durchforscht imd sind die Auf-
zeichntmgen der Pfleger bis auf weiteres mit Vorbehalt der Rechte der Kom-
mission und mit Kündigungsrecht für die Archivdirektion in der Weise im
Staatsarchiv niedergelegt worden, dafs Gesuche um Benutzung dieser Papiere
an die Archivdirektion zu richten sind, welche den Ansuchenden thunlichst
en^egenkommen, in Anstandsfallen jedoch mit dem geschäfbfUhrenden Mit-
^ed der Kommission sich ins Benehmen setzen soll. Standesherrliche Ar-
chive sind bis jetzt wenigstens von den Pflegern fast keine durchforscht
worden ; wohl aber haben einige Pfleger auch die Registraturen der Bezirks-
ämter in den Bereich ihrer Thätigkeit gezogen. Über die Drucklegung der
Pflegerberichte sind bis jetzt noch keine Beschlüsse gefafst worden.
Eingegangene Bficlier.
Buchwald, Georg: Reformationsgeschichte der Stadt Leipzig. Leipzig,
Bernhard Richter, 1900. 212 S. 8^
Kleinpaul, Rudolf: Der Mord von Konitz und der Blutaberglaube des
Mittelalters. Leipzig, H. Schmidt & C. Günther, 1900. 32 S. 8<^ mit
14 niustrationen.
Lennarz, Albert: Der Territorialstaat des Erzbischofs von Trier um 1220
nach dem Liber annalium iurium archiepiscopi et ecdesie Trevirensis.
Erster TeiL Bonner Dissertation 1900. 90 S. 8®.
Mehler, J. B.: Das fürstliche Haus Thum und Taxis in Regensburg. Zum
150 jährigen Residenz -Jubiläum. Regensburg,. Kommissionsveriag von
J. Habbel. 299 S. 8«.
Wenk: Das Ratsarchiv zu Borna bis 1600. [Beilage zu den Jahresberichten
des städtischen Realgymnasiums zu Borna 1897 und 1898.] 83 S. 4^
Werner, Lorenz: Geschichte der Stadt Augsburg von der Zeit ihrer Grün-
dung bis zur Wiederaufrichtung des deutschen Reichs. Augsburg, Math.
Rieger (A. Hinmier), 1900. 428 S. 8^
Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes In ftotha>
Unter der Presse befindet sich und erscheint demnächst:
Alte Zeiten - alte Freunde.
Lebenserinnerungen
von
F. Max Müller,
ProfMSor der Yerglekhuiden SpracbwiMenschaft sn Ozfbcd.
AJt%€4fMevim 'Übersetvone von ZZ. GhrosolilB«. — KUt Fortrfiti
Preis «A 9» gebunden «AH*
Hcnnsfibar Dr. Anain Tille In Leipiiff. — Druck usd Verlag tob Friedrich Andrea« Perdies ia Goduu
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
II. Band November 1900 2. Heft
Particd ^ Kirehengesehiehte
Von
Otto Giemen (Zwickau)
Die Partial-Kirchengeschichte bat stets Hand in Hand mit der all-
gemeinen Kirchengeschichte zu arbeiten und in der Förderung der-
selben ihr letztes Ziel zu sehen. Freilich scheint es fast unvermeidlich,
dafe immer wieder Arbeiten mit unterlaufen, deren Verfasser den ma-
kroskopischen Gesichtspunkt nicht kennen, sondern in überspanntem
Lokalpatriotismus oder Ahnenkultus sich auf irgendeine sterile Einzel-
heit stürzen tmd meinen, alles, was zufällig oder aus beachtenswerter
Absicht ungedruckt geblieben ist, müsse publiziert, jeder Pastor und
Kantor müsse registriert werden, wenn er auch zu den grofsen Be-
strebungen und Ereignissen und Menschen seiner Zeit in keinerlei Be-
ziehung gestanden, sondern eben nur im Dreifsigjährigen Kriege oder
im Zeitalter der Aufklärung in irgendeinem Erdenwinkel gepredigt oder
geschulmeistert hat. Auf keinem Gebiete der Geschichtswissenschaft
ist der kritische Spezialismus mehr ausgeartet als auf dem der
Kirchengeschichte. — Höchstens die Waschzettellitteratur über Goethe
wäre etwa zum Vergleich heranzuziehen. Sollen solche Arbeiten
wenigstens brauchbaren Rohstoff liefern, so bedarf es unbedingt der
Organisation und Fesstellung der leitenden Gesichtspunkte. Sonst wird
nur Zeit, Geld und Papier vergeudet.
Die Grenzen der Gebiete der Partial- Kirchengeschichte können
bestimmt werden entweder nach einem innerkirchlichen oder nach einem
aufserkirchlichen Gegensatz. Im ersteren Falle erhält man Darstellungen
der Schicksale einer besonderen Konfession oder Sekte, im anderen
National-, Provinzial- oder Landes-Kirchcngcschichte *).
Als Beispiel für Unternehmungen der ersten Art seien hier die
i) Kayser in der Zeitschrift für niedersächsische Kirchengeschichte III, S. 2.
3
— 34 —
Geschichtsblätter des detitscben Hugenottenvereins ^)
genannt. Das Doppelheft 4/5 des 9. Zehnts liegt mir vor, das die Ge-
schichte der iranzösich-deutschen reformierten Gemeinde zu Bützow in
Mecklenburg-Schwerin behandelt Es ist interessant zu lesen, wie die
Herzöge in den Jahren 1699 — 1704 durch Ansiedelung von R6fugi6s
— lauter Industriellen — dem während des Drei&igjähr^en Krieges schwci
geschädigten Städtchen, diesem „wehrlosen und in den letzten Zügen
liegenden Ort", wie es in einer Eingabe des Rats von Bützow vom
24. Juli 1683 heifst, aufzuhelfen suchten, wie die eingerichteten Fabriken
jedoch nur mühsam vegetierten, die Gemeinde überhaupt durch viele
Widrigkeiten sich hindurch zu kämpfen hatte. Die vorausgegangenen
Hefte bieten die Geschichte der Waldensergemeinde Schönenberg in
Würtembei^ und der französischen Kolonie und Stadt Neu-Isenburg.
Von den zur Pflege der Landes- und Provinzial-Kirchengeschichte
bestehenden Vereinen ist der älteste die „Gesellschaft für säch-
sische Kirchengeschichte**, deren Organ die in Jahresheften
erscheinenden Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte
sind, herausgegeben von D. Dibelius, Superintendent in Dresden,
und Theodor Brieger, der seit dem 5. Hefte an D. Lechlers
Stelle getreten ist. Das erste, 1882 erschienene Heft wurde cmgeleitet
durch einen Aufsatz Lechlers, in dem er auf die der Durchforschung
in besonderem Mause bedürftigen Perioden der sächsischen Kirchen-
geschichte hinwies und eine ganze Anzahl Erfolg versprechender Einzel-
aufgaben stellte. Mehrere von diesen Aufgaben sind im Laufe der
Zeit gelöst worden, natürlich bleibt noch viel zu thun übrig. In die
erste Periode der sächsischen Kirchengeschichte, die L. bis in die Mitte
des XII. Jahrhunderts rechnet, ist überhaupt keiner der Mitarbeiter
hinabgestiegen. Auch fiir die zweite Periode — bis zuf Reformation —
liegen nur ein paar Beiträge zur Ordens-, Verfassungs-, Kultus- und,
Kunstgeschichte vor. Im Vordergrunde des Interesses steht die*
Reformationsgeschichte. Das gUt von der kirchengeschichtlichen
Forschung der Gegenwart überhaupt. Die Zeit bringt es mit sich.
Denn wenn auch „die Hochflut der ultramontanen Entstellung der
Reformationsgeschichte sichtlich im Rückgang begriffen" ist, so
giebt es doch immer noch genug Arbeit zu leisten. Das letate
(14.) Heft (1899) enthält die fleifsige Monographie von O. Germann
über Sebastian Fröschel, den langjährigen Wittenberger Diakonus und
i) Gegründet am 29. September 1890. Sitz Magdeburg, Vorsitzender Prediger Toll in.
daselbst.
— So —
treuen Mitarbeiter der RefcMtnatoren, der, während der Leiprig^r Dis-
putation für Luthers Sache gewonnen, erst in Leipzig das Evangelium
predigte, bis ihn Herzog Georg als eine „in der Wittenberger Ketzer-
grube voll Gift gesehene Kröte*' des Landes verwies. In Witten-
bei^ lebte er dann bis an sein Ende (20. Dezember 15 70) als un-
ermüdlicher, auch in Pest- und Kri^^ot auf seinem Posten ausharren-
der Seelsoiger und glaubensstarker, volkstümlicher Pred^r, den Re-
formatoren in rührender Liebe ergeben. Von sonstigen gröfseren Auf-
sätzen aus den letzen Heften erwähne ich Buchwalds Beiträgfe zur
Kenntnis der sächsischen Geistlichkeit aus dem Wittenberger Ordi-
ntertenbuch 1 537 — 1 560, in der eine Fülle von Rohstoff geboten wird, und
als Fortsetzung dazu das von Buchwald zusammen mit H. J. Scheu ff 1er
angefertige Verzeichnis der in Wittenberg ordinierten Geistlichen der
I^ochien des jetzigen Königreichs Sadisen, femer O. Meusels Ab-
handlui^ über die reu&ische oder reufsisch-schönbuigtsche Konfession
von 1567, die mit der Lüneburger von 1561 und der Mansfelder von
1565 die Konkordienformel vorbereitet, und meine Ldtterarischen
Nachspieie zur Leipziger Disputation, In die neueste Zeit gehört das
weihevolle Gedenkblatt, das Bernhard Kühn dem verstorbenen
Oberhofjprediger D. Meier gewidmet bat. Endlich sei erwähnt der
geistreidie und überzeugende Artikel von Otto Lyon, in dem er für
die Betonung „evangelisch-lutherisch'* eintritt
Von den Beiträgen zur bayerischen Kirchengeschichte,
faerau^fegeben von Theodor Kolde, erschien der erste Band 1895.
Da& die 2^it8chrtft sich eines besonders grofsen Kreises rühriger Mit-
arbeiter erfreut, ist wohl — abgesehen von den weitverzweigten Be-
ziehungen des ftir seine Zeitschrift selbst sehr fldfsig thätigen Heraus-
gebers — besonders dem Umstand zuzuschreiben, da& sie nicht in
Jahresheften, sondern in jährlich sechs Heften zu je drei Bogen
(Abomie^nent^nreis dabei nur 4 A) herauskommt, so dafs die Mit-
aibeiter nicht urtter dem Übelstand zu leiden haben, dafs ihre Artikel
erst lange im Redaktionqmlt modern. Während zu den anderen hier
gemnsterten Vereinszeitschnften meist nur die Herausgeber und etliche
Lokalhistoriker, Geistliche, Lehr^ u. s. w. beisteuern, finden wir hier
wertvolle Beiträge von G. Bessert, L. Enders, W. Friedens-
burg, 5. Haufsleiter, G. Kawerau, C. Mirbt, F. Stieve,
G. Wolf u. a. Hier seien nur hervorgehoben der Aufisatz Koldes
über Andreas Althamer, der G. Kaweraus über Johannes Draconites
aus Carlstadt, die von Enders mit bewährter Sorgfalt besorgte und mit
einem reichen Kommentar versebene Ausgabe der an Kaspar Löner
8*
— 36 —
gerichteten Briefe, die zum gröfsten Teile in die Zeit fallen, in der
dieser Superintendent von Nördlingen war (Januar 1544 bis zu seinem
am 6. Januar 1546 erfolgten Tode) und daher in erster Linie für die
Kirchengeschichte Nördlingens wichtig sind, aber auch sonstige inter-
essante Nachrichten enthalten, endlich die Publikation Friedensburgs
Dr. Johann Ecks Denkschriften zur deutschen Ktrchenreformation
i52ß, Sie gründen sich gröfstenteils auf Besprechungen Ecks mit Ha-
drian VI., jenem ernsten, sittenstrengen Papste, dem es wirklich Ernst
gewesen zu sein scheint mit einer Reformation der Kurie und Hierarchie,
und mit Aleander; die letzten Stücke fallen in die ZeitKlemens* VII. An
Bedeutung kommen diese (freilich noch nicht genügend erläuterten)
Dokumente den Aleanderdepeschen nahe. Einem wirklichen Bedürfnis
kommt entgegen der sorgfaltige Aufsatz Fr. Brauns über Leben und
Schriften des vielgenannten Memminger Polyhistors und Bibliophilen
J. G. Schelhom. Jedes Heft schliefst mit einem Verzeichnis der neu-
erschienenen in die Kirchengeschichte einschlägigen Bavarica — über
die wichtigeren Sachen referiert Kolde mit bekannter Meisterschaft
und Zuverlässigkeit. Sehr dankenswert ist auch die stehende Beigabe :
„Kirchengeschichtliches in den Zeitschriften der historischen Vereine
in Bayern **, zusammengestellt von Reichsarchivrat Rieder in München,
durch welche allmählich ein vollständiges Repertorium der in so vielen
und teilweise recht schwer zugänglichen Zeitschriften und Zeitschriftchen
zerstreuten Artikel zur bayerischen Kirchengeschichte zustande kommt.
Einer der eifrigsten Mitarbeiter, Pfarrer O. Erhard in Hohenalt-
heim, hat 1898 in seinem anziehenden Schriftchen Die Reformation der
Kirche in Bamberg unter Bischof Weigand 1^22-- i^ßö (Erlangen,
Fr. Junge, i. 85 Jt) auf Grund eingehender archivalischer Forschungen
in knapper, pointierter Darstellung ein klares Bild des VerlauCs der
Reformation im Bambergischen gegeben *).
Dem Studium der Kirchengeschichte Nordwestdeutschlands ist seit
Gründung der „Gesellschaft für niedersächsische Kirchen-
geschichte** intensive Pflege zuteU geworden. Ein von Abt D. Uhl-
horn zu Loccum, Professor D. Tschackert und Superintendent
Kays er in Göttingen unterzeichneter Aufruf vom 19. Mai 1895 for-
derte zum Beitritt auf, worauf sich die Gesellschaft am 11. Juni in
Hannover konstituierte. Die Absicht, ein eigenes Organ herauszugeben,
stiefs zuerst auf Bedenken, zumal da der Sekretär des historischen
i) Vor kurzem erschien von demselben Verfasserund in dessen Selbstverlag : „Anna, Gräfin
von öttingen, geborene Landgräfin von Leuchtenberg. Ein Beitrag zur Geschichte des Rieses/'
— 37 —
Vereins für Niedersachsen, Professor Köcher in Hannover, „im Interesse
des Zusammenschlusses der Kräfte und mit Rücksicht auf die voraus-
sichtlichen erheblichen Schwierigkeiten und Kosten" dringend abriet
und vielmehr die Angliederung an den genannten Verein empfahl, der
bereit sei, gegen einen gewissen Jahresbeitrag 5 — 6 Bogen seiner Zeit-
schrift der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. In der richtigen
Einsicht, dafs das selbständige Gedeihen derselben dadurch gefährdet
werden würde, lehnte der Vorstand ab. Der erste Jahrgang der Vereins-
zeitschrift erschien 1896, eingeleitet durch einen vortreflflichen orien-
tierenden Aufsatz von Tschackert über die Epochen der niedersäch-
sischen Kirchengeschichte, in der er die Losung (die nicht oft genug
wiederholt werden kann) ausgab: „Keine Detailarbeit ohne stete Be-
ziehung zum Ganzen!" Von Tschackert und Kayser stammen nun
auch die bei weitem meisten Beiträge. Von ersterem brachte der
zweite Jahrgang eine Biographie des Reformators von Göttingen,
Schweinfurt und Northeim, Johann Sutel, eines der vielen Reformatoren
zweiten Ranges, zwar nicht mit Urbanus Rhegius und Antonius Cor-
vinus vergleichbar, aber besonders als Organisator und Gemeindeleiter
Vortreßliches leistend, als Prediger von edler Einfachheit und un-
gekünstelter Beredsamkeit, als Kirchenpolitiker von melanchthonischer
Friedfertigkeit und Geschicklichkeit. Man kann die kleine Abhandlung
geradezu als Muster für derartige Arbeiten hinstellen : sie ist durchaus
erschöpfend innerhalb der gebotenen Grenzen — man merkt: wo der
Verfasser für seinen Zweck gesucht hat, da wächst kein Gras mehr —
zuverlässig, und (ein nicht zu unterschätzender Vorteil) von wohl-
thuendem Lokalpatriotismus durchweht, der der Darstellung ein lebens-
frisches Kolorit giebt. Möchte die von Tschackert in Aussicht ge-
stellte Biographie des Corvinus nicht lange auf sich warten lassen!
Eine Anzahl kleiner Beiträge zur Aufhellung seiner Lebensgeschichte
hat Tschackert in der hier besprochenen Zeitschrift schon gegeben
(vgl. auch Briegers Zeitschrift für Kirchengeschichte XIX, 3290".). —
Von Kayser stammt ein Abrife der hannover-braunschweigischen Kir-
chengeschichte (auf Grund von überraschend reichem Quellenmaterial),
das erste Stück bis 864 im III. Jahrgang, S. i — 197, die Fortsetzung
bis 1121 den IV. (letzten) Jahrgang füllend.
Über die Thätigkeit des am 6. Juli 1896 gegründeten Vereins für
schleswig-holsteinische Kirchcngeschichte hat R. Hansen
vor kurzem in diesen Blättern *) Bericht erstattet.
i) Vgl. Band.1, S. 211.
— 38 —
An Stelle der früher dem „Evangelischen Kirchenblatt für Wür-
temberg" beigegebenen Blätter für würtembergische Kir-
chengeschichte erscheint seit 1897 selbständig in jährlich vier
Heften (Abonnementspreis nur 2 Jt — infolge dessen recht geringe
Ausstattung) eine neue Folge derselben, herausgegeben von Pfarrer
Keidel in D^erloch. Der letzte (III.) mir vorliegende Jahrgang
(1899) steht unter dem Zeichen des Brenz-Jubilänms ^). Dekan Gün-
ther hebt in seinem Aufsatz Zur kirchlichen und theologischen
Charakteristik des Johannes Brenz zunächst hervor, dals Brenz nicht
eigentlich als der Reformator, sondern als der Restaurator der würtem-
bergischen Kirche zu gelten hat und dals wir über ihn die Männer,
die den Grund gelegt, Ambrosius Blarer insbesondere, nicht vergessen
dürfen, und behandelt dann die Gottesdienstordnungen von Brenz,
ze^end, wie verschieden sie von einander sind und wie Brenz über-
haupt Akkommodationstalent besessen hat. Gmelin hat die Wechsel-
wirkung, die zwischen Brenz und seiner Wirkui^^tätte Hall besteht»
darzulegen gesucht; der Accent fallt auf die zweite Hälfte, der Nach-
weis nämlich, wie das konservative Milieu, in dem Brenz in der alten
Adelsstadt Hall sich befand, allmählich immer mehr dämpfend und
mäfisigend auf ihn eingewirkt hat. Endlich hat Bessert eine ge-
lungene Charakteristik von Brenz gegeben und dabei besonders seine
edlen persönlichen Eigenschaften ins rechte Licht gestellt. Damit ist
der Inhalt der letzten Hefte indes nicht erschöpft. Hingewiesen sei nur
noch auf die sehr interessanten Auszüge C. Hoffmanns aus einer
altpietistischen Zirkularkorrespondenz würtembergiscber Geistlicher (und
Lehrer) aus den Jahren 1760 — 18 10, die übrigens die Richtigkeit von
Ritschis UrteU über diese eigentümliche Frömmigkeitsrichtung durch-
aus bestätigen, und die MitteUungen Kolbs zur kirchUchen Geschichte
Stuttgarts im XVIII. Jahrhundert — ein Vorbild, wie man mit Gewinn
Kirchenakten lesen soll.
Sehr wertvolle Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte
hat W. Diehl geliefert in seiner Schrift Zur Geschtchie des Gottes-
dienstes und der gottesdienstlichen Handlungen in Hessen (Gie&en,
J. Rickersche Verlagsbuchhandlung, 1899). Wie der Titel schon besagt,
erhebt der Verfasser nicht den Anspruch, eine Geschichte des Gottes-
dienstes in Hessen darzubieten ; er ist sich bewufst, nichts Abschliefsen-
des geleistet, wohl aber fiir künftige Darsteller solide Fundamente und
i) Vgl. J. Gmelin, Die Brent-Litteratar von 1899, Theologische Rnndschao fV,
165— 181.
— SS —
Bausteine herbeigeschafft zu h^en. In der That ist er über Vot-
arbeiten nicht recht htnau^^ommeft, er steckt noch tm Stoff dfitt,
ttmi die zahlreichen langatmigen Quellenbelege, die er teils in extenso,
teils auszugsweise einfficht, und die nicht selten sich einstellende»
Wiederholungen in der Darstellung und lahmenden Weitschweifigkeitai
erschweren die Lektüre des Buches erheblich. Aber andrerseits ver>
dient die Unverdrossenheit, mit der der Verfgisser z. B. über 200 Fas-
zikel des gro&herzoglicb- hessischen Haus- und Staatsarchivs durch-
gesehen und über 50 exzerpiert hat, gröfete Anerkennung, in noch
höherem Grade die Sicherheit der Methode, mit der er sich voc ua-
g^erechtem Generalisieren, Tor tmvorsichtigen Schht&folgentngen und
luftigen Konstruktionen hütet. Es kommt ihm darauf an, ein möglichst
klares und vollständiges Bikl von dem gottesdienstlichen Leben io
Hessen zu geben, wie es sich unter Einwirkung der hessischen Kirchen-
ordnungen von 1532, 1539, 1560, ferner der Agende von 1574 tak-
tisch entwickelt hat. Er verfällt demzufolge nicht in den Fehler, aus
den Gottesdienstordnungen und sonstigen Gesetzesbestimmungen ein
Idealbild zu konstruieren, das möglicherweise der Wirklichkeit recht
wenig entspräche, — denn aus dieser Quelle wäre ja eben nur das
den Gesetzgebern vorschwebende Bild zu entnehmen, das erhofft und an-
gestrebt wurde — sondern der Verfasser erweist aus den Akten, besonders
denen der Generalkirchenvisitation von 1628, wie sich die einzelnen Ge-
meinden zu den Kirchenordnungen und Reglements stellten, wie sie die
einzelnen Paragraphen auffalsten, weiterbildeten, oft auch umänderten.
Am Schlüsse sei noch auf zwei katholische Unternehmungen —
andre sind uns nicht zugänglich geworden — hingewiesen.
Von der Geschichte der Pfarreien der Erzdiöcese Köln,
herausgegeben von dem (j^^iTs^ verstorbenen) Domkapitular Dr. Du-
mont, li^ mir der 24. ^) Band vor, der das Dekanat Hersei umfalst
und von Pfarrer Maafsen bearbeitet ist.
Wie jeder Band des grolsen Werkes ein Ganzes für sich ist, so
wieder innerhalb eines jeden die Geschichte jeder einzelnen PCeurei.
Wie uns die Vorrede belehrt, ist das aus praktischen Gründen ge-
schehen, „aus Rücksicht auf die grofiie Zahl der am meisten inter-
essierten Leser des Dekanates , welche alles und jedes auf ihre Pfarre
am fiebsten übersichtlich zusammengestellt sehen werden*^
1) In des vo» Damoot mi^muIUm Affitilflin tio4 Am 4$ UtUmii» tei dpk^
lictiKhcr EeÜMolblse «tTfcAÜift tm Hui4» trH«s 4m Hmmtm, «Us dM l>«(f. lft\mmm
ia diettr htJtMwng ttbrt Vmmf Um4 Oif, 14} Mi hmt^tMmßfmä 4«f i6/*«li«to«flfflslis
nach der twttU (i$H$*,
— 40 —
In der That hat das Meiste, was wir zu lesen bekommen, nur lokales
Interesse; gerade damit hängt aber die Popularität des Unternehmens
zusammen. Zum Nachschlagen und zu schneller Orientierung scheinen
die Bände sehr brauchbar zu sein, zumal da ihnen gute Register bei-
gegeben sind. — Ein gleicher Plan liegt zu Grunde der von Karl
Will oh, Seelsorger an den Strafanstalten zu Vechta, besorgten Ge-
schichte der katholischen Pfarreien im Herzogtum Olden-
burg. Der erste Band, der die Pfarren Bakum, Damme, Dinklage,
Goldenstedt, Holdorf des Dekanats Vechta -Neuenkirchen behandelt,
erschien 1898 (ebenfalls bei Bachern in Köln). Auch hier ist die Ge-
schichte jeder Pfarrei für sich nach einem immer wiederkehrenden
Schema gearbeitet, trotzdem ist die Lektüre nicht langweilig; im
Gegenteil, man ist erstaunt, was fiir aufregende Kämpfe sich da oft
auf kleinem Schauplatz abspielen und was für spannende Episoden die
Biographien der „Pastöre" und Schulmeister enthalten.
Zur liitteratur der t^oland^Bildsäulen
Von
G. Seile (Oldenburg)
(Fortsetzung ')
Seit den Tagen Nicolaus Leuthingers {f 1612) hat besonders
die Reise-Feuilletonistik den Roland - Katalog mit apokryphen
Bildern gefüllt, mit den Rolanden zu Salzwedel '), Braunschweig,
Hildesheim, Wittenberg (den Cornelius Gurlitt entdeckt hat).
1) Vgl. S. I— 12.
2) Nor erwähnt bei Leuthinger, Comment lib. XIV, { 5, 1593, edit. Krause,
S. 484. Bekmann weifs von ihm nichts; die inhaltlosen Notizen Zöpfls (S. 271) rühren
Ton dem verstorbenen Bürgermeister Zechlin zu. Salzwedel her. Vielleicht liegt eine
Verwechselung mit den von Bekmann (Churmark, II, Abt Neast.-Salzwedel , Sp. 113) er-
wähnten beiden lebensgrofsen wappenhaltenden Steinbildern am Turm gegenüber dem
Neostädter Rathaas zu Grande. Auf den mehr als zweifelhaften Salzwedeler Roland mid
den zu Wedel (s. oben S. 9 ; derselbe wird jedoch nicht erst aus dem Anfang des XVIL Jahrh.
bezeugt, sondern schon 1597 beschrieben und ist dem Karlsbilde zu Bremen, Mitte de»
XV. Jahrh., nachgebildet) stützt Chr. Petersen (Forsch, z. D. Gesch. VI, 316} seine Ausführungen
über Weda als andern Namen für Ziu. — Es möchte am Ende nicht bedeutungslos sein,
und ist mit der zu Eingang vorgetragenen Mutmafsung über die Entstehung der Rolande
wohl verträglich, dafs das thatsächlich rolandlose Salzwedel lübisches Recht hatte,
während die altmärkischen Rolandorte Stendal und Gardelegen mit Magdeburger
Recht bewidmet waren.
— 41 —
den vier Trinius*schen Rolanden zu Erfurt. Besonders erfolgreiche
Streifzüge hat die Leipziger Illustrierte Zeitung (1858. 1892. 1896)
in Süddeuts^chland unternommen.
Hier, aber auch ab und zu in Norddeutschland, sind es vor-
wiegend Brunnenfiguren und Prangersäulen mit der sie krönenden
Stadtknechtsfigur (der bei Gelegenheit von Exekutionen die Rute wohl
in natura in die Hand gegeben wurde), welche willkürliche Namens-
übertragungen veranlafeten.
Doch auch wissenschaftliche Kreise sind von diesem Entdecker-
fieber erg^ffen worden. In österreichischen Landen haben insbesondere
Mitarbeiter der K. K, Ccntralkommission zur Erforschung und Er^
Haltung der Baudenkmäler eine grofse Findigkeit gezeigt. Ahnliches
geht seit einiger Zeit in Norddeutschland bei der Inventarisation der
Bau* und Kunstdenkmäler vor. Bergan (Provinz Brandenburg) nennt
einen aus Alt-Friesack (bei Ruppin) stammenden Fseudo-Roland^
das Inventar der Provinz Sachsen (Kreis Sangerhausen, S. 87) einen zu
Sangerhausen, das für Schleswig-Holstein einen zu Eckern forde
(I, 162), der dann freilich weiterhin (III, 5) zum „Kaak" degradiert
wird, dem Herausgeber Haupt aber zu der Bemerkung Veranlassung
giebt, dafe wahrscheinlich zwischen den Rolanden und den gerüsteten
Kaak-Statuen kein Unterschied zu machen sei; oder, wie das dem
Werke beigegebene „Wörterbuch" sich ausdrückt (ibid. S. 209): die
gerüsteten Kaak-Statuen seien als eine Verdunkelung des durch die
Rolande ursprünglich zum Ausdruck gebrachten Gedankens anzusehen.
Zum Schlufs dieser Liste sei noch der Bau- und Kunstdenkmäler des
Herzogtums Oldenburg (I, 1896) gedacht, wo (S. 117), anknüpfend
an die „sagenhafte Erinnerung" an eine „Irminsul" auf dem Markt-
platze der Widukindstadt Wildeshausen *) , vermutet wird , dafs man
dabei vielleicht „an einen mittelalterlichen Roland zu denken" habe.
Wir wenden uns nun von der allgemeinen Statistik der speziellen
zu, d. h. der Litteratur, welche nicht die ganze Schaar der Rolande oder
territoriale Gruppen derselben verzeichnet und beschreibt, sondern von
i) Diese Sage ist aas einer Zeichnung entstanden , welche dem ungewöhnliclv
weitschweifigen Titel von des Superintendenten Balth. Voigtländer (1733/38) handschr.
Geschichte der S. Alexanderskirche zu Wildeshausen (mit Bezug auf die dort erwähnte
Zerstörung der Irminsul durch Karl d. Gr. zu Widukinds Zeiten) gegenübergesteUt ist und
io roher Technik den ans Conr. Bothes Sachsenchronik bekannten Typus des angeblich
in Corvey vorhanden gewesenen Irminsul-Gemäldes reproduziert.
— 42 —
"rorwiegend ortsgeschichtlichem Standpunkt aus einzelne bestimmte
Denkmale zum Gegenstand ausiuhrlicherer Betrachtung macht Den Vor-
tritt hat Bremen. Der ersten Abbildungen der dortigen Statue haben
wir bereits gedacht *) ; die ersten Nachrichten über die Art ihrer
farbigen Bemalung geben die gegen die Stadt Bremen gerichtete
Streitschrift Fürstlich Erzbischößick Bremischer Nachtrabe 164.1
{die Stelle ist wiederholt in der städtischen, vom Bürgermeister Heinrich
Meyer verfafsten Gegenschrift Assertio libertatis rei puhlicae Bre-
mensis, 1646, S. 535) und ein Pasquill des 1654 hingerichteten Bremer
Bürgermeisters Burchard Lösekanne (Brem. Jahrb. XII, 50); die erste
ausfuhrliche Beschreibung findet sich in des Bremers Nicol. Mejrer
Baseler Dissertation de statuis et colossis Rolandinis, 1675 (oeue
Ausgabe 1739, S. 57/58). Reiche Auskunft über wiederholte Restau-
rierung und erneuerte Bemaltmg bieten J. Fock es Bremische Werh^
meist er oms älterer Zeit (1890; die Ordnung ist alphabetisch; chrono-
logisch reiben äch die Daten so aneinander: S. 62. 142. 217. 152.
133. 44. 27. 18). Die erste monographische Bearbeitung versuche
der Senator A. G. Deneken 1803*). Daran schlössen sich mehr
oder weniger ausfuhrliche Erörterungen in den zusammen&issenden
Darstellungen der Bremischen Stadtgeschichte (Carsten Misegaes»
Chron. d. freien Hansestadt Bremen I, 1828, S. 259 ff. Joh. Herrn.
Duntze, Gesch. d. freien Stadt Bremen I, 1845, S. 277 ff.). Recht
verständige Ansichten trug Ferd. Donandt vor (Versuch einer Gesch.
des Bremischen Stadtrechts I, 1830, S. 2 16 ff.). Ex profcsso aber im-
selbständig wird die Statue behandelt in Denkmale der Geschichte
und Kunst der freien Hansestadt Bremen I (1862 resp. 1864,
S. 22 — 32, mit farbiger Abb. der Bildsäule und ihres Wappenschilder
i) Oben S. 8. — Die Abbildungen des Bremer Roland in den beiden Abschriften von Joh.
Rennen Brem. Chron. auf der Göttinger Universitätsbibliothek (Hist no. 400 Anf. XVIL Jahriu,
BL 9a — später eingeklebt—, und Hist no. 401 v. J. 1632, VoL I, Bl. 10) scheinen freie
Bearbeitungen der damals bekannten Stiche (Dilich, Gryphiander) zu sein; erstere fügt
den bei Dilich fehlenden ,, Zwerg" zwischen den Füfsen der Statue hinzu, und letztere
zeigt ein die ganze Bildsäule umfassendes Gitter, wie Dilichs Ausgabe von 1603. Die
Originalhschr. der Renner-Chronik (Stadtbibliothek zu Bremen) hat keine entsprechende Abb.
2) Die Rolands-Säule in Bremen, Berlin 1803, 8^ 23 S.; mit Veränderungen wieder-
holt in Hannoverseh. Magazin, 18 15, 30. Stück, Sp. 465 — 476; neue vermehrte und um-
gearbeitete Auflage, BreiAen 1828, 35 S., m. Uthograph. Abb.; hier findel sich zuenl
(S. 7) die wichtige Nachricht der Rathausbaurechnang über die Neuerrichtong cbr
Statue 1404; die dort als Bauherren genannten beiden Ratsherren CUas SdscUäger und
Jacob Olde hat G. Paati, Das Rathans zu Bremen (Die Baukunst, berausg. voo R. Borr-
mann u. R. Graul, 6. Heft, 1898, S. 1 Anm., fUr die ausfahrenden Bildhauer gehaltea.
— 4a —
Wrditige kritische Beitn^e zur Geschichte des Denkmals verdankea
wir W. T. Sippen (Bremer JB. XIII, 1886, S. 33 ff. und Geschiebte
der Stadt Bremen I, 1892, S. 258 ff.). Recht charakteristisch fUr da»
Schwanken der opinio doctorum hinsichtlich der Roland-Bcdeutunff
sind die Angfaben, welche Fr. Buchenau in den verschiedenen Aus-
gaben seines trefflichen Buches „Die Freie Hansestadt Bremen und
ihr Gebiet'' gemacht hat (vgl. 2. Ausg. 1882, S. 103 mit der 3. Ausgf.
I9CX>» S. i6i). In die Spuren der Mytholi^en ist E. Dünzclmann
getreten, indem er den Roland als ,, Überrest althetdnischen GlaubcAA'*
hinsteUt (Brem. JB. XIII, 1886, S. 40).
Sachlich reiht sich hier der schon vorhin (S. 8) als apokryph
bezeichnete Roland von Bederkesa an. Wie Fr. Buchenau aus
den am Sockel angebrachten Wappenschilden von Bremer Ratshorren
ermittelt hat (Weserzeitung 1882, Okt. 3. 4.), wurde die Statue in der
Zeit von 1589 — 1603 errichtet; als „Roland** ist sie m. W. zuerst in
(Pratje) Altes und Neues aus den Herzogtümern Bremen und Verden
(X, 1778, S. 12) angesprochen worden. Nach Buchenau (1. c.) be-
zeichnet die Tradition die Bildsäule als ein Symbol der von der Stadt
Bremen geübten Gerichtsbarkeit. Sie war in Gestalt einer freien Nach-
bildung des Bremer Roland Besitz- und Herrschaftszeichen der Stadt
Bremen, die ftir ihre Privilegien hier wie dort „under des rikes schilde'*
Dednmg suchte.
Für die Geschichte des verschwundenen Hsmbtirger Roland
geben die Notizen aus den Stadterbebüchern und aus den von K. Kopp-
mann hennisg^ebenen Kämmereirechnungen bei C. F. Gaedechens,
Hisior, Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg (zoeist
1880, S. 29) wichtige Fingerzeige, welche weiter zu verfolgen sind \
Es mag bemerkt werden, dafe die Statue zu historischer ZciX. nicht
in der Nähe der Petrikirche und des „Berges*^ stand, sondern im
ältesten Kanftnamwviertel, an der Nordseite der Rikenstrate, bei einem
der beklen Eckhäuser an der von hier zur Altstadt im engeren Shme
fönenden Robndsbrücke ^.
Dem „Rcrfaud von Berlin " (s. oben S. 3) ist Tafel 4 der vom Verein
1> Im Tinlikhiw ist, w» J. M. Lappeaberf m Hambarp*cW RecklMlleftS»«v I
iDie SkaUmStaA^, SekiM- and hamdrttMe Hanbvgs, Hmaimrz 1^45, Emlekaa|^ S,VI>
bcBCffct. I>M laufe Citat, w«ick» ZocpO S. 195 anachänetkii wörUkk aaa Lap^aabarg
miueik, mt nit anderes Cttaten aaa Drejer (nacb Spaagenberg) mmiMf Tigewofto ; aaa
l-appcttber};: stammen aar «fie 2§ erstca Zeilen <fea Citatj; in Anm, 5 Lc nennt (lersea>e
«> cm« wiOfairiidle MuaiptaBg, <la£s der Roland erst 1264 aaf|i;:erichtet ^et.
2) 5adk ge&S^gam Sfineäangea dt% Seaalaarclm» za fUmtbnrf;,
— 44 —
f. d. Gesch. Berlins herausgegebenen „Berliner Denkmäler** (foL, 1875,
ein Vortrag L. Schneiders aus dem Jahre 1873) gewidmet. Der Ver-
fasser verfügt nur über das dürftige Material, welches die Notizen des
Stadtbuches bieten; er läfet sich daher breiter über einige märkische
und andere Rolande aus, unter Mitteilung hübsch anzusehender Holz-
schnittabbildungen. Angehängt ist eine Untersuchung des Direk-
tors der Waffensammlung des Prinzen Karl von Preufeen, Hofschau-
spieler G. Hiltl, über die ritterliche Tracht der bedeutenderen Rolande
(Vortrag aus dem Jahre 1874). Eine solche fachmännische Prüfung^
ist iiir die wissenschaftliche Roland-Ikonographie unentbehrlich; leider
schwebt aber Hiltls Kritik in der Luft, da er nur Abbildungen (welche
in diesem Punkte alle mehr oder weniger unzuverlässig sind) und nicht
die Originale prüfen konnte.
L. Schneiders Bemühungen waren auf die Neuerrichtung einer
Roland -Statue in Berlin gerichtet. Bei der Feier seines asjährigen
Bestehens, 1890, nahm der Berliner Verein diesen Plan wieder awf
(Schriften dess. Heft XXVIII, 1890, S. 10), den gleich danach der
verstorbene treffliche Bremer Jurist und Historiker H. A. Schumacher
in der Weserzeitung (1890, Nr. 15586^87) milde genug als „archäo-
logische Liebhaberei ** bezeichnete. Inzwischen ist der Verein Anfang
1900 dem Projekte abermals näher getreten (Mitteilungen dess. 1900,.
Nr. 5, S. 58. 63); ansprechend ist der Vorschlag Professor Wallfe^
die Erinnerung nicht durch Erneuerung der Statue, sondern durch
einen monumentalen Rolandbrunnen wachzuhalten.
Für die ältere Geschichte des Hallenser Roland kann nur des
Superintendenten Gott fr. Olearius Halygraphia topo - chronologica
(Leipzig 1667) in Betracht kommen; v. Dreyhaupts Beschreibung des
. . . Saal'Creyses (Halle 1755, die Vorreden von 1749 resp. 1750),
die gewöhnlich citiert wird, hat den Olearius ausgeschrieben und zum
Teil mifsverstanden ; eigentümlich sind Dreyhaupt nur die etwas un-
klare Notiz über den Untergang der alten und die Errichtung der
neuen Statue 17 18 ff., sowie die viel verwertete Schilderung des hoch-
notpeinlichen Halsgerichts vor derselben im XVIII. Jahrh. Den von
Zoepfl als „sehr sachkundig** gepriesenen Bericht S. W. Schäfers in
der Leipziger Illustrierten Zeitung 1858, S. 82 reproduziert Grässe,
Sagenb. d. Preufs. Staates I, 1868, S. 3 10 ff. Über die Schicksale der
Bildsäule im XIX. Jahrh. bringt mancherlei v. Hagen, Die Stadt Halle
(I, 1867); G. Per d. Hertzbergs Geschichte der Stadt Halle (I, 1889)
wiederholt nur die bekannte Litteratur. Beiläufig sei erwähnt, dafe das
Hallenser Standbild nicht zu 1341 zuerst genannt wird; da(s es ein
— 45 —
Rosenkränzlein auf dem Haupte trägt, welches vielleicht den Mytho-
log-en allerlei zu denken geben möchte, und dafs das hölzerne bemalte
Bild, welches es nachahmt, Kopie einer überlebensgrofsen Statue Hein-
richs des Löwen im Dom zu Braunschweig (Anf. XIII. Jahrh.) war.
Hertzberg (1 , 305) läfet den Kurfürsten Friedrich von Sachsen am
22. Januar 1426 bei der Einweisung in das Hallesche Burggrafenamt
um den freistehenden Roland reiten und beruft sich dafür auf HUlbc
in Magdeb. G.-Bl. XXII, 125; dieser bietet aber nichts als einen Rück-
scbluls aus einem „späteren Vorgange", nämlich der von Drcyhaupt
<II, 506) berichteten Zeremonie dieser Art am i. Januar 1547, von
welcher Olearius (S. 259) nur weife, dafe Kurfürst Johann Friedrich an
diesem Tage vor den Roland geritten sei.
Den Nordhausener Roland (s. oben S. 9) hat Karl Meyer in einem
Feuilleton der Nordhäuser Zeitung *) von seiner bisher bekannten frühe-
sten Erwähnung 1441 bis in das Jahr 141 1 urkundlich hinaufzurücken
vermocht Wenn er aber noch weiter geht und in der 1322 vorkommen-
den Hausbezeichnung curia contra truncutn in diesem „truncus
oder Baumstumpf (Holzsäule) die älteste Rolandssäule** der Stallt Nord-
hausen sieht, die „damals möglicherweise noch nicht die Gestalt einen
Königs hatte '* ') , so irrt er gewaltig. Truncus ist selbstverständlich
hier nichts anderes als der zweiteilige, mit Aasschnitten versehene
„Stock" oder „Block**, in welchen die Beine öffentlich ausgestellter
Delinquenten geschlossen wurden.
Seit dem Anfang des XIV. Jahrh. bLs zürn Jahre 1830 i^tand in
der Unterstadt Nordhausen welche bis 1365 ein von der Ob'^rr- <f*\^x
Altstadt gesondertes GemeL'iwescn biMete aU „AbzeicJicn <\t:i[ kai »ver-
liehen Freiheiten** Von 1220?^ auf hölzerner SauIc ein V.upU:rt»er
(Reichs-) Adler; als Symbol der Vere:n.';;uri$f beider Sta/iv; %o\l er
dann den Ring in den Schnabel erhalten Laben*. Ijie Krrichvjn;^
des Roland in der Ali&ta-it wird man einer erhehlirh fr i/.erci* Z<rit zm-
s<^ireiben müssen; sch-^n 9O2 wurden hi^iTkx, M-nze »j:-d 7/^/A zu Nvrd-
hansen dem Heiliger^krc-az-KIo* ler divrlbst verV.'.h'rn \j:A'^ ;i-* d ';
— 48 —
ein Marktflecken, verkaufte der Tradition nach im XVII. Jahrh. Markt-
gerechtigkeit und Gerichtsbarkeit an das ehemalige Dorf, jetzige Städt-
chen Kelbra, behielt sich aber die Führung des , Rolandssiegels' vor.**
Das ist alles.
Die Zuverlässigkeit der Mitteilungen Joh. Just. Winkelmanns über
den Roland zu Obermarsberg ^), auf die ich 1890 als bedeutsam hin-
gewiesen habe, ist mir je mehr und mehr zweifelhaft geworden. Was
der ihn führende Benediktinermönch von dem Asylrecht der kleinen
steinernen Säule erzählte, wollte mir wie ein Gemisch aus Meiboms
Abhandlung über die Irmensäule (161 2) und Krantzs Deutung dieser
Säule (IrmensueUIdermansuel, quasi commune refugium et asylum
omntum, Saxon. II, c. gj erscheinen; und wenn er 18 Jahre nach
seinem Besuche an Ort und Stelle, hochbetagt, berichtete (1684), diese
„kleine Säule" sei „vom gemeinen Mann vor ein Rolandsbild" ge-
halten worden, so konnte das auf eine Verwechselung mit der BUd-
säule des Kirchengründers am Eingang des Kirchhofes hinauslaufen.
Dafs Winkelmann thatsächlich unrichtige Angaben gemacht hat, er-
giebt sich aus dem mir erst jüngst bekannt gewordenen interessanten
Bericht von Martene und Durand *). Die beiden gelehrten Benedik-
tiner besuchten 17 18 Obermarsberg und fanden dort derritre Vägltse
une colonne dans le Heu mime oü ort crott, qu*^tatt Vtdole Irmen-
sul, aufserdem aber une autre figure dans le cimeiüre, . . . celle de
Roland, gdn^tal des armöes de Charlemagne , dont an fait un
Saint ^); eile sert d'asyle ä tous les criminels etc. Man hatte also
eine, wohl erst nach 161 2 in gelehrter Reminiscenz an die Irmensul
i) Der von Leu b er, Disqaisitio planaria stapolae Saxonicae, Banzen 1658, no. 1258,
unter den „Rolanden in etzlichen geringeren örtern" aafgeführte rätselhafte Roland zu
Neustadt im Stifte Köln möchte der zu Obermarsberg sein. In der Note zu Casp.
Schneiders Saxon. vet., S. 85 werden unterschieden: Eresburg — Stadtberg (das heutige
Obermarsberg) — am Fufsc des Berges „die Altstadt-Bergen" (d. h. Alt-Stadtbergen, das
jetzige Niedermarsberg, die einstige villa Horhusen). Obermarsberg, zu Anfang des
XIII. Jahrh. von den BUrgern Horhusens neu besiedelt (Seibertz, Landes- u. Recbtsgesch.
von Westfalen I, 183 Anm. 27), mtlfste danach fUglich = Neustadt-Bergen (Neu-Stadtbergen)
sein; es gehörte thatsächlich zu Kur-Köln. Wäre diese Vermutung richtig, so hätten wir
hier bis auf weiteres die früheste Bezeichnung der Obermarsberger Donatorstatue als Ro-
land, falls nicht etwa auch der oben (S. 7) erwähnte Rolandsort Berge bei Torquatus
(1574), den man eigentlich innerhalb der Provinz Sachsen suchen mUfste, mit Obermars-
berg identisch ist Seibertz L c. citiert aus einer dortigen Urkunde von 1325: Bürger-
meister, Rat und gemeine Bürger von dem Berghe.
2) Voyage litt6raire de deux r61igienx B6n6dictins. II. Paris 1724. S. 248 ff.
3) H. F. Mafsmann, Kaiserchron. III, 1028 bemerkt, dafs Andreas Sanssaeus, Mar-
tyrolog. GaUorum, Paris 1637, Roland unter dem 3. Mai geradezu zu den Heiligen rechne.
— 49 —
eiricbtete Säule und daneben eine Asyl g'ewährende Bildsäule, welche
man damals den hl. Roland nannte, wie dies noch jetzt in der 1^3/
renovierten Inschrift geschieht Der „wohlgereisete Historieus und
Topographus", den J. C. Knauth in einer Anmerkung zu seiner Aus-
grabe von Caspar Schneiders Saxonia vetus (Dresden 1727, S. 83 ff.)
ausführlich benutzt hat, spricht zwar von der Irminsul, erwähnt aber
die an sie erinnernde Säule nicht mehr ') , sondern bemerkt nur :
,,Am Eingange des Kirchhofes stehet auch noch ein altes Rolands-
bild.** Dab diese von Knauth und den Benediktinern genannte Statue
einerseits mit der von Meibom 161 3 ') beschriebenen viva fundatoris
tmago saxo insculpta in aditu coemttern, anderseits mit der noch
heut vortiandenen, als s, Rolandus bezeichneten, den Stifter der Ober-
marsbei^r Kirche in der Kriegertracht des XVII. Jahrb., aber mit
•einem Mantel darstellenden Bildsäule identisch ist, unterliegt keinem
Zweifel. Nach Knauths Angabe besaüs Obermarsberg das ius mone-
iandt, (iggraiiandt , gladii, exetniionis , immunitatis ; es wäre also
ganz wohl denkbar, dafs irgendein Antiquar die Bildsäule mit einem
Roland verglichen habe ') , dafs dieser Name haften geblieben , aber,
i) An ihrer SteUe steht jetzt eine Mattergottes-Statue, Kuhlmann, Eresbarg, S. 24.
a) Irmeosola Saxonica, Helmstedt 16 12, S. 34; auch in Script, rer. Germao., Helm-
stedt 16S8, m, 22.
3) Die formelle Vergleichoog auffallender Bildwerke heimischer Kunst mit den, allen
Norddeutschen Tertrauten Rolanden lag so nahe. Thomas Kantzow (f 1542) wniste
die statua mira magnitudine in Julin, welche Joh. Bugenhagen (Pomerania, herausgeg.
von J. Balthasar, 1728, S. 83) beschreibt, nicht besser als durch die Worte zu verdeut-
schen : „ ein grot bilde, dat alse ein Rolant np dem markede stund *' (Chron. v. Pom-
mern, niederd. Text, herausgeg. von W. Böhmer, 1835, S* ^^\ hochd. Text, herausgeg.
von Fr. L. B. v. Medem, 1841, S. 58). So spricht auch Andr. Moller (Chron. Frei-
berg., 1653, Abt I, c. IV, S. 31) von dem „steinernen uralten Mannsbild (mit dem däni-
schen? Wappen auf dem Schild und der Jahreszahl 1557!), welches „wie ein Roland *<
am Petersthore zu Preiberg in Meifsen stand. Wenn er hinzufügt: „dafür es auch ge-
achtet worden", so zeigt das deutlich, wie der an einen volkstümlichen Gegenstand an-
knüpfende antiquarisch -gelehrte Vergleich im Volksmunde direkt zur Benennung fUr ein
bisher namenloses Bildwerk führte. Ein weiteres Beispiel fUr diesen interessanten Vor-
gang ist der (im XVIII. Jahrh. noch nicht?) als Legder Roland bekannte Relief-Denkstein
des 1595 erschlagenen Dietrich v. Quitzow (Goetze, S. 308 Anm.). Ähnlich mag die
Entwickelung in Wedel gewesen sein. Nach H. Rantzow (1597, v. Westfalen, Monum.
ined. I, Sp. 9) war das Wappenbild des Ortes : stalua instar viri armati . . . quem nostrates
»ppellant „den Roland". Insignia antem originem, ut ego existimo, snmserunt a colosso
lUo lapideo, qui ibidem conspicitur, von der geharnischten Kaiserfigur mit Krone, Schwert,
Reichsapfel und Mantel, welche jetzt dort den Rolandnamen führt. Das Bild im Wappen
glich einem Roland; also wurde die Kaiserstatue, in welcher man die Veranlassung zu
dem Wappenbilde vermutete, im Volksmunde selbst zu einem Rolande. Jonas v. Elver-
4
— 50 —
da allgemeines sachliches Verständnis dafür dort fehlte, w^en der
Heiligkeit des Standortes volkstümlich als der eines Heiligen aufgefafst
worden sei.
Der Bericht des Bürgermeisters Witkop zu Brakel vom Jahre
1873» welcher die Geschichte der dortigen sogen. Rolandsäule in so
dankenswerter Weise aufklärt, ist nicht im Berliner Rolandbuch, son-
dern von C. Mertens in (Westfälische) Zeitschr, f, Vaterland, Gesch^
u. Altertumsk, XLI, 2, 1883, S. 205 zuerst veröffentlicht worden. Zu
besserem Verständnis der formalen Bedeutung der ursprünglich vor
dem Gerichtshause stehenden, mit Schliefeeisen versehenen Brakeler
Säule sei Caspar Schneiders Beschreibung des Bremer Kak in
der Mitte des XVII. Jahrh. (Saxon. vetus, ed. Knauth, S. 275) mit-
geteilt: „ist eine steinerne Narrensäule, auf dero Capitell ein klein
Männlein in Gestalt eines Pickelherings oder carnificis mit dem
Staupbesen stehet". Demselben Schneider zufolge (S. 100) wurde
Brakel „weiland unter die Reichsstädte gezählt**; wenn es an einem
andern monumentalen Symbol dafür fehlte, mochte man ja wohl die
vor dem Hause des Richters stehende Gerichtssäule als solches gelten
lassen, etwa nach dem von J. H. Eggeling *) gegebenen Rezept.
Dieser sagt, er habe an vielen Orten in Österreich, Mähren, Böhmen,
und auch im benachbarten Verden den Rolanden ähnliche, nur kleinere,
hölzerne, auf Säulen oder anderen Erhabenheiten am Markt stehende
Bilder gesehen, welche durch ein emporgehaltenes oder an Markt-
tagen angestecktes Schwert die Ruhe und Sicherheit des Ortes be-
zeichneten ; es könne daher ein jedes derartiges friedehegendes Schreck-
zeichen, sei es Kreuz, Spiefs, Stange, Fahne, ein Ruh-Land — so
erklärt er den Rolandnamen — genannt werden.
Wir wenden uns jetzt der älteren juristischen, durch aktuelle Rechts-
fragen ins Leben gerufenen Roland-Litteratur zu. Die beiden bedeu-
tendsten Rolandstädte, Bremen und Magdeburg, waren im XVII. Jahrh.
in tiefgreifende staatsrechtliche Differenzen mit den eigenen und mit
benachbarten Landesherren geraten. Beide berühmten sich eines auf
velt. De Holtsalia etc., 1592, Signal. T, 2, vo, nennt den Rolandnamen nicht, sondern
sagt nur von der Stadt: Grandia belügen decorant te membra colossi; Grypbiander
(1625, S. 198) spricht vom dortigen horridalas Rulandus sive potias saxum colossi instar.
l) De miscellan. German. anüquitaübus exercit. V., quae est de statais Ruh-Landicis,
1700, S. 18; desgl. bei Pratje, Altes und Neues ans d. Herzogtum. Bremen und Verden
VIII, 1774, S. 166.
— 61 —
mythischen Karls-Privilegien beruhenden gefälschten, kaiserlichen Frei-
heitsbriefes, und als volkstümliches Wahrzeichen der so dokumentierten
Rechte galt in beiden das Rolandbild. Hier fanden nun die zeit-
g-enössischen Rechtsgelehrten Gelegenheit, im Interesse der einen oder
anderen Partei ihren Scharfsinn zu entwickeln. In der Magdeburger
Angelegenheit wird ein Gutachten des merkwürdigen Melchior Goldast
(i* 1635) mehrfach citiert, dessen Formulierung des Rolandbegriffes
als g^ndlegend für die Folgezeit angesehen werden darf. Er erklärt
die Behauptung, dafs die Statuen Karls d. Gr. Neffen Roland darstellen
sollten, für „ein lieblich Gedicht, Fabel und Tandmäre", dieselben
»eien vielmehr wahrscheinlich Bilder Kaiser Karls selbst. Ganz ab-
g-esehen davon sei der Name nicht als nomen proprium, sondern als
appellativurn zu fassen, und bedeute „Ruge-Land", von „rügen". Ro-
landsbild sei nichts anderes als Weichbild , d, i. statua, per quam
notatur, ibi esse forum publicum caussarum, iurisdictionem, locum
itistitiae, districtum territorium, oder, wie es die alten Deutschen
eigentlich genennet haben, mallum publicum, ein Malstatt, da man
frei-kaiserlich Gericht hält *). Auch der Helmstedter Professor J o -
hannBorcholt (*}• 1594) war auf die Seite Magdeburgs getreten, und
gegen ihn besonders schrieb der kursächsische Kammerprokurator der
Oberlausitz BenjaminLeuber 1658 seine umfangreiche Abhandlung
Disquisitio planaria stapulae saxonicae, in welcher (SS 1256 — 1263)
er lediglich zu dem Ergebnis kommt, dafs die angebliche Bedeutung
der Rolandbilder als Zeichen „grofser Freiheit" eine „pur lautere,
vom gemeinen Manne hochgehaltene doch schädliche Fabel, welche
demselben viel Vergebliches einbildet und zu aller Widersetzlichkeit
und Verachtung Fürsten und Herren inflammieret und anreizet", und
dafs ,, niemand zu sagen weifs, was solche Bilder bedeuten sollen".
In diesen Schriften wird die Rolandfrage nur in Verbindung mit
anderen, für den konkreten Rechtsfall ebenso erheblichen behandelt;
selbständige litterarische Position erhielt sie im Streite Bremens mit
dem Grafen von Oldenburg über den Weserzoll und mit ihrem Erz-
bischof über die Immedietät der Stadt. Auch hier war Goldast für
das Interesse des Rats thätig^), der berühmte Hermann Conring
dagegen ^) auf oldenburgischer, resp. erzbischöflicher Seite. In Olden-
i) Ich gebe das Citat nach Grjphiander, De Weichbild. Saxon. c. 71.
2) Yindiciae diplomaticae Bremenses, bei v. Westphalen, Monum. ined.
lU, 1743, Sp. 1971 ff.
3) Vgl. O. Stobbc, Hermann Conring, 1870, S. 17 ff. 34. — Dubia de pri-
rilegio Hinrici V eiasqne expeditione Romana anno im, 1. c Sp. 20i5ff.,
4*
— 52 —
bui^ erschien auch die bedeutendste Arbeit auf diesem Gebiet, das
noch heute nicht ohne Nutzen zu lesende Buch von Johann Gry-
phiander: De Weichbildts Saxonicis s. C^lossis Rulandinis urbium
quarundam Saxonicarum commentarius histortco-juridicus, in quo
vetustiis iudiciorum Saxonicorum rttus, leges, magtstratus, fnares,
habitus, lingua aliaeqtce antiquitates Saxonüae explicantur et ülu-
strantur, simulque fabulosa CaroU Magnt Caesaris et Rulandi
mtlitis historia ad libram veritatts expenditur *). Jede Bezugnahme
auf die Bremer Streitigkeiten ist sorgfaltig vermieden; um so wirk-
samer versprach die Arbeit zu sein, wenn sie auf dem W^e objektiv
methodischer Untersuchung zu Resultaten gelangte, welche den Bremer
Ansprüchen den Boden entzogen. Sie ist denn auch nachmals von
den Gegnern Bremens als eine unerschöpfliche Rüstkammer von An-
griffswaffen benutzt worden. Gryphiander behandelt zunächst den
historischen und den sagenhaften Roland, versucht eine Kritik der
Gründungsurkunde Karls d. Gr. für Bremen (welche den Keim der
seit dem XV. Jahrh. recipierten Roland- Theorie in sich trägt), weist
ausführlich die innere Unmöglichkeit des Zusammenhanges der Roland-
statuen mit Karl d. Gr. und dem karoHngischen Roland nach und ge-
langt zu folgendem Ergebnis : Ursprünglich habe man in den sächsischen
Städten als signa iudicii et iuris die tionis Kreuze errichtet (S. 234);
daneben seien hier und da Kaisem und anderen Fürsten zu Ehren
kolossale Statuen aufgestellt worden (S. 245); an diese habe sich,
nescio qua superstitione vulgi, nach und nach die Vorstellung ge-
knüpft, sie seien Wahrzeichen gewisser Rechte und Privilegien (S. 247).
Infolge dessen seien diese Statuen an die Stelle jener Kreuze getreten
(S. 236); man habe sie Weichbild genannt (S. 253), d. i. opfndi
den Vindiciae Goldasts angehängt. Der Titel rührt wohl vom Heransg. her; ausdrück-
lich wird Conring im Text nur als Verfasser des ersten Dubiam genannt — Grttnd'
licher Bericht von der landesfürstl. erzbischöfL Hoch- and Gerech-
tigkeit über d. Stadt Bremen (ohne Namen des Verf. u. o. O.) 1652. Wenn et
in letzterer Schrift heifst (Sign. B 11 fol. vo^, man finde „von einem dergleichen auf-
gerichtetem Rolands - Bilde fUr anno 1200 gar keine Nachrichtang , und also ehesten
450 Jahre nach des Caroli sächsischen Kriegen <', so darf daraas nicht gefolgert werden,
dafs Conring aas so früher Zeit einen Roland gekannt habe. Er-fafst lediglich auf
Gryphianders Konstatierung (S. 255), dafs im Sachsenspiegel and der älteren Glosse
der Begriff „Weichbild" nicht vorkomme, also erst nach 1200 gebräudilich geworden
sei; der Begriff der Rolande sei aber noch jünger als der des Weichbildes, and reiche
wahrscheinlich nicht über die Zeiten Karls IV. hinauf.
i) Frankfurt a. M. 1625. — Eine zweite, im Text unveränderte, aber dnrch ein um-
fängliches Register bereicherte Ausgabe erschien Strafsburg 1666.
— 63 —
€£figi€m sw€ s/ahtam, fuasi düas „Stadibüd*' (S. 257) '). Die im-
wiBseadc Blenge habe die Kolosse swe a wtagnüudine ei pr^ceriiaie,
sive fuod WcichHUi vocakulum duriuscuium esset prolaiu, ge-
meinhm Rolande genannt (S. ^i). Da der Sachsenspiegel veder
Weichbild noch Roland kenne, sei die Errichtong der letxteren erheb-
lich nach 1200 anzusetzen (S. 255). Die Bedeutung von Weichbild
»ve C0I068Q8 Rolandinus sei: i) ius fori; 2) hannum regium; i) fQX
publica; 4) ius wtunicifaie. In den kleineren Orten der Marie ond
an anderen Orten zeigen die Rolande an, dals dort Magdeburger
Recht gelte (S. 286).
Lediglich auf den Ausführungen Gr)rphianders beruht das, was
der ans Hessen gebürtige Oldenburgische Historiograph und politische
Agent J. J. Winckelmann in seiner NoHtia hisiorico-pohtica
veUfis Saxo-WestphaHae fimümarusmqme regianmm (Oldenburg
1667), hb. IV, c. 3 , de Statms Rulandims; de imre Weicküldico
ei de specmio Saxonico (S. 541 ff.) schreibt. Auch hier fehlt es noch
an ericennbarer anti-bremischer Tendenz; um so deutlicher tritt diese
hervor in desselben Ver£ttsers Deduktion: Exsequiae Rulandi Bre-
mensis. A. e. de CaroUno, Henriciano aäisque Brewtensi$tm prtvitegiis
Ubelius kistarico'juridicns^). Winckelmann steht hier wiederum
wesentlich auf den Schultern Gryphianders , benutzt aber au&erdem
die Arbeiten anderer Bremen feindlicher Forscher zur Kritik des (that-
sachlich gefälschten) Privilegs Heinrichs V. vom Jahre im.
Auf diesem Boden ist eine ziemlich umfangreiche juristisch-aka-
demische Dissertationen-Litteratur erwachsen. Ich begnüge mich, die
Titel der mir davon bekannt gewordenen Schriften herzusetzen ') :
Dieser tatio iuridica de iure Weichbildorum, quam . . . praeside
dn. A. B. Carpzow . . . publico eruditorum examini subjicit Joh.
1) J. H. Eggeling, De mi^crH. Germao. antiqaiUt dissertatio IV, qaae e«t de
Wicbiletho, 1700 (bei Pratje, Altes a. Neues etc. VIII, 1774, S. 130) vergleicht diese
Erklanmg „den fabolensen Sodomitlschen Äpfeln", welche die Augen der Anschaaer be«
hutigen, aber statt angenehmer Speise inwendig Staub und Asche bieten. Er selbst er-
kürt das Wort als: wü-bi-Uthe ^ vici ms prohibendi (S. 137).
. a) E. Joach. ▼. Westphalen hat die Abhandlung in seinen Monnm. inedita rer.
Germaoic. m, 1743 nach des Verfassers Antograph abdrucken lassen. Eine Datienng
fehlt; auch in den Oldenburg. Weserzollakten habe ich bisher keine Spur von ihr ge-
fonden.
3) Von den bei Spangenberg, Beiträge s. Kunde d. teutsch. RechtsaltertUmer u.
Rechtsqn. S. 13 Anm. i angeführten Spezialschriften sind mir nicht xugfinglich gewesen:
G. OttthoTius, De statnis Rolandinis et weichbildis Saxonicis; J. Reiche, De colossis
et iure colosionuD, Halle 1699.
— 54 —
Joach. Rothe, 1673 (öfter unter Carpzows Namen citiert); er erklärt
es (S 19) für unerheblich, dafs in einigen Städten, z. B. in Halle, die
Gerichte beim Roland gehegt würden; pari enint facilitate dixer'o,
quod butyropolia saepe ad eiusmodi locutn restricta reperitnus,
eins quoque rei gratia isias constitutas /uisse. — Nicol. Meyer,
Bremensis Saxo , Dissert. inaug. de staiuis et Colossis Rolandinis,
Basel 167 s (neue Ausgabe 1739) ; seiner Beschreibung des Bremer Rolands
ist bereits gedacht worden (S. 42); für die ursprüngliche Bedeutung:
der Statuen als Königsbilder ist es belangreich, dafs ihm zufolge die
Figur zu den Füfsen der Bremer Bildsäule eine Krone trug. — Curt
Erentreich de Mörner, nobilis Marchicus, de Statuis Rolandinis,
iurium quorundatn indicibas [pisputationes iuris publici undecifn
. . . quas dirigente J. Fr, Rheiio . . . Studiosi iuvenes aliqui
. . . in electorali Viadrina ante annos non ntultos elaborarunt.
Francof. ad Viadr. 1678. 4**); häufig unter dem Namen vonRhetius
citiert; m. W. wird hier zuerst auf die Meifenischen und Lausitzschen
Rolande bei Albinus aufmerksam gemacht (S. 16, col. i). — Heinr.
Vagedes, prof. Rintel., Tlevtäg quaestionum historicarutn. Quaest. IT
(An staiuae Rulandi in nonnullis Saxoniae urbibus a Carolo Jtf,
in Signum libertatis erectae sint?)^ nach Chr. Petersen: Rinteln 1688 ;
wiederholt in Opera academica, neu herausg. von Ph. L. Pastoir, Rin-
teln 1703, S. 289 ff.); ganz unerheblich. — Rolandunt ntagnunt. Von
dem grofsen Rolande, variis fabularutn involucris explicatutn, veri-
tatique restitutum . . . praeses M, Godofr Schuntannus Belgra-
Misnicus, et respondens D. Bluntenröder Numb. . .. disqui-
sitioni sistent. Leipz. 1694. 4° (wird auch unter dem Namen Blu-
menröders citiert); dem Verfasser hatte der Roland in seiner Vater-
stadt Beigem den Anstofs zu seiner sonst bedeutungslosen Abhand-
lung gegeben. — Carl Türk, de statuis Rolandinis. Rostocker
Habilitationsschrift, 1824, 4** (29 S); die Arbeit wurde, ohne dafs sie
es sachlich verdient, früher viel citiert.
An diese Publikationen knüpfen sich einige „ historisch-kritische "
Untersuchungen, welche die Forschung ebenso wenig wie jene geför-
dert haben.
Auch der berühmteste norddeutsche Historiker jener Tage, G. W.
Leibniz, hat sich auf diesem Gebiete mit nicht glücklicherem Er-
folge versucht. FreUich ist der grofse Torso seines Annalen Werkes,
in welchem er bei der Darstellung der spanischen Kriege Karls d. Gr.
— 55 —
auch auf Roland und die Rolandstatuen zu sprechen kommt, erst in
unseren Tagen durch den Druck bekannt geworden ') , wir dürfen es
aber trotzdem nicht unterlassen, seine Theorie, die einige eigentüm>-
iiche Züge aufweist, an der ihrer Enstehungszeit entsprechenden Stelle
kurz zu skizzieren. Nach einer im wesentlichen auf Gryphiander be-
ruhenden, von Ungenauigkeiten nicht freien statistischen Übersicht der
Standbilder (c. 19) fährt er fort : die Erzählungen von der Herkunft und der
Gröfee Rolands seien Fabeln (c. 20) ; schon früh sei die Meinung ver-
breitet gewesen, dafe Karl d. Gr. die Bilder als Signa libertatis in
Sachsen errichtet habe; dies gehe aus einer Äufeerung Papst Gregors VII.
im XI. Jahrh. hervor, welche außerdem zeige, dafs schon damals
sächsische Schriftsteller, deren Werke jetzt verloren, derartige Fabeln
verbreitet hätten (c. 21).
Ahnliche Darstellungen wie die Rolandbilder erblicke man auf
den Siegeln und Münzen der Markgrafen in den Ost- und Nordmarken.
Es sei wohl denkbar, dafs solche MarkgrafenstandbUder an den Ding-
stätten errichtet gewesen seien. Habe man diese überlebensgrols,
zu wirksamerer Abschreckung, gebildet, so sei dem Volke dabei Ro-
land mit seiner sagenhaften Riesengröfse in den Sinn gekommen, auch
sei zu erwägen, dafs Ruhland, a quiete regionis, defensor terrae
bedeute (c. 22).
Mit der Veränderung der alten Gerichtsverfassung sei die ursprüng-
liche Bedeutung dieser nun Roland benannten Statuen in Vergessen-
heit geraten; dunkele Erinnenmgen seien an den Biertischen zu Er-
zählungen von lualten Rechten und Freiheiten aufgebauscht worden.
Weitere Förderung dieser Auffassung habe die Volksetymologie des
im XIII. Jahrh. in Übung gekommenen WeichbUdrechtes gebracht.
Wiebild sei WicTvill^ d. h. placitum vici vel oppidi; irrtümlich habe
man es als vici statua gefafst: tandem. ingens Rolandus privu
Ugiorum indubitatus asserior exivit (c. 23).
Die weiteren Ausführungen über das Wachsen der Bedeutung der
Statuen im XIV. und XV. Jahrh., die Rolle, welche sie in Hamburg;
in Göttingen, in Quedlinburg gespielt, über ihre Verbreitung durch
das Magdeburgische Recht bis nach Polen (Prenzlau !) — Privilegium^
iuris Wicbildae Magdeburgicae statim erectus Rolandus obsignor
bat — über ihr Fehlen im Gebiete des Lübischen Rechts (c. 24 — 26),
die Richtiges mit Irrigem mengen, können hier übergangen werden;
auf die Behauptung, dafs nach Papst Gregors Äufeerung schon im
l) Annales imperii occidentis Bransvicenses, ed. G. H. PerU I, 1843, S. 78, c 198,
— 56 —
XI. Jafarfa. im SacbMBkmde cKe Exzihliuiig^ im Schwange gawciu
Haai d. Gr. habe die RoJamiakden als Wählzeichen der Freiheit
ädäat, Künes wir noch «iiimal mrachkoouBea ^).
Die Stelle steht am SrhJHiT eines knnen SchzeäicnB iram
i<a6i aa äke papaüichea Jjtgsijea in FxaBhzeich, in wekhesi dkadben
aflgewieaea woden^ <fie doittge Berölkerong^ xar Zahhmg eine» Petei»^
fiuBUigs sa vcn&ögent tmtor Hanreis darsaf, dafa Kaci d> Gc an ifect
Oiteft i^Aqu^rrani^ :qnHi Podnm 9» Manae, apad imirtam Egk&na)
jphrürh, abgcsshem vtm den freiwilligen Speadcn, 1200 Pfiani fnr den
niiii ttlii hc 11 Stahl T!MMima**'*«peltMrBcht habe. Unnnltelbsr dano. kimoft
ach der Schhife: läam wtro wmgims mt^tratmr Smxamuam atimäi
^ äbertaüs: siaU ipsi Saxones kabent scr^tmtm tt
Es liegt nBiarh,nt aat der Hand, daüi der Pafist in dieaens Im-
Btcht vcHi ctQCwi> den uaLciworfenen Saidncn
-« « I I «i« i t ■*' -^
herronagesden Akt der Freigehigheit Karls gegen den pipitichi
Stahl hia^ ^^ncht auch aar vcn einem sigmmm^ and noch dazn
«IfMaan pi^t^tis #/ iümrtmiis^ von weichem steh im
schriftliche Kunde ände. Die Vemmtnng van Wllmans^ wini
tnfiand äctn, d^ Gregor ai^ die geäUschte Baiie Pafist Leoa IH ^
24. Dez. TQQ Bezag nahm, in w<dcher es heüst: Igiimr ktmm
Eramkmrg^ f»tfMi ^xpngmmtmm^ cmim tota Saxomim
D^^ obtMiisti et p0r mos ^. PetKtf ^ansecrmsti, libe
Der Faiacher Tädkaerte die Hbmrtas ai <mgm poimitmim
toim Siiwaiii aaagehead. bezog^ dieaeifae
befaaaptete: Kad schenkte Sarhwmlind dem h. Petcoa and
Deaimai miaar Fnimmigkeit and lagicich der Iliinang des
Kirchangalea von jedem weltlichen Hexrenrecht;
[Fni— t j Malier, oaaäiüdL mc^ xmttst <im Nmhs RaiMd'% wd
^är 1— irtrlnggchrit, Oais m 3nctstcile ^scfion von Lmbnk vaak
hait osf tue Roiaadnaien jetogen worden^.
z) Jaife. MiUiufcw i. eiu» GcmanicaniBi II, i8<»5,, S. 4fl8w
l\ V6mr TraiMiiiiliiiiiiiin oer Piu^rm Wcat£aiea U li^ö?, S^ C3tiL
bcfaei Beweis dafür ist die im Sachscolando inv l^ii^iiitttl tvt
Obennaisberg-, im Transsamt za Cor\-ey M — aufbcwiihrt«" HhUc \''a\<*\
Leos. iKMiwtiui« K'luU
Mitteilungen
Tersammlnilgen. — Vom 34. bis 17. September f«ntl in Diradcii
die General Versammlung des GesamtvereiuR der lUu tuclitn
Geschichts- und Altertumsvereine *] statt, und KWtr wai iimil dipi-
mal der Einladung nach Dresden gefolgt, um die Jubelfeier <le'i K<h)i||ll('h
Sächsischen Altertumsvereins, der auf eine ninflnulNicbiilitlllbtiiir
Thätigkeit zurückblicken kann , mit itu begehen. AI* <lrr (iritumtvFrcIn
1S52 in Dresden ins Leben trat, gehörten ihm 17 Vereint- Uli, llllil
heute sind 137 in ihm vereinigt, von denen 64 in der 'l'liut dunh Mi-
geordnete vertreten waren, d. h. mehr als bei irgend einer filllicjt-n 'I'bkuiiKi
Versammlungsteihiehmer wurden 330 gezählt In den allgcmciiirii VrtKitiiiin
langen wurden drei Vorträge geboten : Dk Hlellung l^ipxiyH utilrr am
deulac/ien Univeraüäten im Laufe der Jahrhunderte (I'rof, (icft- Dirtulcit),
Die Wettiner und die LatuU^gencliichte ( Regie rungsrat Krmiiti;h-l)iGji(lcri)
wid Der Dom und die AibrechUburg xu Meifien (Prof, Giirlitt-I'tcadcii),
Die beiden letzten Vorträge landen im Festsaale der Albrc'.htolnirg m Mnifitrii
statt, wo die zweite allgemeine Versammlung, die zugIci'Ji Ffrnti>il/U tig fW
K.^ Sächsischen Akeitumsvereins war, abgehahen wurde.
Die Versammhmg der L und II. Sektion begann mit der KikUriinfc
einer Tacitnsstdk (Amuleo I, 56) an der Hand dn neiterra Ati*(;riJfii(ig<»
am Limes. FioC Anthes ^Datmstadt) ^aubt >Lu auUUum in mimU '{'irunu
in Hofheim wiedergefunden zu haben, da die dortigen F iriric 'y.'ieiJuUi iitt
angustetscbe Zeitaker gehören. — Prof. Dcirhntiller (fnrfl^uf \^i.»iiil*lt»
die Steinzdtfiicdc SachKm und erl;i:itertc an c/n it.m tt.',mf>tUi>rti KMUtt
die Vetfatcign^ (fet Band- and Schnarknack irA 'Ux JJ4(it '1^ <fff.,
ao denen Steisgeräre gefi^den cr.d L'rnenfeMtr fA^ ^tJui^-iU-inte^ 'yp'W
aii%eflcckt wor'Jeii iczd: «s n-^.^aen »i<-ii dara.» i>rrt^;f>^.fle (si^f^.'.'JivJ*
wicfabge .Ac-axu^cnka- fcr 4« *'^.rg*v.h:-'r.r:.'r.s i>u.vit.-.:.f( ■.vf.-j^:t x>t *t-
geben. — Prot Wr.l:{ T:aE*5::t a. IL, ltr>-.-j«M -'.«r <S«« V^'-,ar.rf wo,««.
und söddesto-ier 'jey.h.^^^.'J^-T»irL« i-ih-^ä Ot^ar^Iii-.'.ri ri'.! f.*!. f/,«-
getBasii^lf X f -.rr- ?,^- jf, Ij-.«« '/•riar.'i iar ''.^•^u (t.i J^-".*» fiß^
bettz, hat ai--i ^aosmfm i^^j^er,.«! irA tesix T/j"-"—' -— '----^ -■■- •—
so DOOmröi^ xc, aü ^ie ri» rv;n>-i'..i,>M>;ae Ä
sckrifc, 5- »r 31WUI mmer au-lu e m an; m f.r.-ry.-ytir
GexT^tl 'tri 131 n iir ■*. *i ''.'•laji'ii-i.i
— 56 —
XI. Jahrh. im Sachsenlande die Enähltm^ im Schwangt gewesen,
Kaii d. Gr. habe die Rolandaäuleii als Wahrzeicheo der Freiheit er-
richtet, müflsea wir noch einmal 2arückkommen ^).
Die Stelle steht am Schlosse eines kurzen Schreibens vom Man
1061 an <Ue päpstlichen Legaten in Frankreich, in welchem dieselben
angewiesen werden, die dortige Bevölkemi^ ztaa Zahlung eines Ptteis*
Pfennigs zu vennög^i, unter Hinweis darauf, dafii Karl d. Gr. an drei
Orten (Aquisgrani, apud Podium s* Mariae, apud sanctum Egidiura)
jährlich, abgesehen von den freiwilligen Spenden, t200 Pfund für den
päpstlichen Stuhl zusammengebracht habe. Unmittelbar daran knüpft
sich der Schluß: Idem vero magnms imperator Saxaniäm abiuM
i. Petro, cuius eam äevicit udiuiorio, et posnii stgnmn devoHonis
et libertaiis; sicui ipsi Saxones habent scriptum, et pmdentes
iUormm satis sctunt^).
Es liegt zunächst auf der Hand, dafe der Papst in diesem Zu*
sammenhange nicht von einem, den unterworfenen Sachsen verliehenen
Freiheitssymbol reden kann; er weist vielmehr auf einen besonders
hervorragenden Akt der Freigebigkeit Karls gegen den päpstUchen
Stuhl hin, spricht auch nur von einem sigmmm, und noch dazu einem
eigm$tm pietutis et lihertatis, von welchem sich im Sacl»enlande
schriftliche Kunde finde. Die Vermutung von Wilmans*) wird zu-
treffend sein , dafe Gr^or auf die gefölschte Bulle Pi^t Leos III. ^)
vom 24. Dez. 799 Bezug nahm, in welcher es heiist: IgUur hmnc
i9€&fUem Eresburg, quem expugnatum cum tota Saxoni^i
De<f obtulisti et per nos b, Petro afusecretsti, liberum
ab omni petestate humana esse . . . aeusemus.
Der Fäkcher vindizierte die libertas ab omni potesiate humami
der Kirche zu Eresburg; Gregor, von dem Ausdmdc: Ereshurgum
^mm toia Sax^nia ausgehend , bezog dieselbe auf ganz Sachsen ; er
behauptete: Karl schenkte Sacbsenland dem h. Petros imd setzte da^
mit ein Denkmal seiner Frömmigkeit und zi^leich der Befreiung des
dortigen Kirchengutes von jedem weltlichen Herreürecht; «chrift-
1) P. Plmten la: Die Denlamlpfi^i^t 11, ifoo, S. SS, M«kt ilario ^^txat direkte Br-
wilioaDg der {Rolamd-] Bilder, MUüilicb nicht luUer dem Namen Roland**, «nd hak e»
anscheinend für ausschlaggebend, dals die Briefstelle „schon von Leibniz mit Bestimmt-
heit anf die Rolandsäulen besogen worden'*.
2) Jalf^, ÖibliDtheta remm Germanicanmi U, 1865, S. 4^8.
3) Die Kaiserurkandcn der Provinz Westfalen I, 1867, S. 136.
4) Wilmans, L c S. ijü; vgL H. Finke, P^p^w^hnideii WeMlsleos, «o. j. '
— 67 —
Itcher Beweis dafür ist die im Sachsenlande — im Original zu
Obermarsbe^, im Transsumt zu Corvey *) — aufbewahrte Bulle Papst
Leos. (FortseUang folgt)
Mittellungen
Tersamilllllllgeil. — Vom 24. bis 27. September £and in Dresden
Ae Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine ^) statt, und zwar war man die»-
mal der Einladung nach Dresden gefolgt, um die Jubelfeier des Königlich
Sächsischen Altertumsvereins, der auf eine fünfundsiebzigjährige
Thädgkeit zurückblicken kann, mit zu begehen. Als der Gesamtvereia
1852 in Dresden ins Leben trat, gehörten ihm 17 Vereine an, imd
heute sind 137 in ihm vereinigt, von denen 64 in der That durch Ab-
geordnete vertreten waren, d. h. mehr als bei irgend einer früheren Tagung.
Versanunlungsteilnehmer wurden 330 gezählt In den allgemeinen Versanun-
hmgen wurden drei Vorträge geboten: Die Stellung Leipzigs unter den
deutschen Universitäten im Laufe der Jahrhunderte (Prof. Gefs- Dresden)»
Die Wetiiner und die Landesgeschichie (Regierungsrat Ermisch -Dresden)
und Der Dom und die ÄJbrechishurg xu Meißen (Prof. Gurlitt- Dresden).
Die beiden letzten Vorträge fanden im Festsaale der Albrechtsburg zu Meifsen
Statt, wo die zweite allgemeine Versammlung, die zugleich Festsitzung des
K^ Sächsischen Altertumsvereins war, abgehalten wurde.
Die Versammlung der I. und II. Sektion begann mit der Erklärung
einer Tacitusstelle (Annalen I, 56) an der Hand der neueren Ausgrabungen
am Limes. Prof. Anthes (Darmstadt) glaubt das casteüum in monte Tauno
in Hofheim wiedergefunden zu haben, da die dortigen Funde jedenfalls ins
augusteische Zeitalter gehören. — Prof. Deich müller (Dresden) behandelte
die Steinzeitfiinde Sachsens und erläuterte an von ihm entworfenen Karten
die Verbreitung der Band- und Schnurkeramik imd die Lage der Orte,
an denen Steingeräte gefunden und Urnen felder von Niederlausitzer Typus
au^edeckt worden sind: es scheinen sich daraus bedeutende methodisch
wichtige Anhaltspunkte für die vorgeschichtliche Besiedelung Sachsens zu er-
geben. — Prof. Wol ff (Frankfurt a. M,) berichtete über den Verband west-
und süddeutscher Geschichtsvereine behufs Organisation der römisch»
germanischen Forschung. Dieser Verband ist bereits ins Leben ge*
treten, hat sich Satzungen gegeben und seine Thätigkeit begonnen, die um
so notwendiger ist, als die 1899 beschlossene Reichskommission für
römisch-germanische Altertumsforschung (vgl. Bd. I dieser Zeit-
schrift, S. 27) noch immer nicht zusammengetreten ist. Die von Prof. Treu
pDresden) vorgeschlagene Resolution wurde angenommen, sie lautet: Die
Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine richtet an den Reichskanzler
r) Wilmans l. c. S. 131.
2) Über die VersMnmlangen 1898 in Münster i. W. and 1899 in Strafsburg v;>:U
BiDd I dieser Zeksctinft, S. 22-24 md 81—85.
I
— 58 —
das Gesuch, dafs die zu organisierende Reichskommission
für römisch-germanische Altertumsforschung an das deutsch-
archäologische Institut angegliedert werde und die Ge-
schichtsvereine unter voller Wahrung ihrer Selbständigkeit
in dieser Kommission durch eine Anzahl von ihnen selbst
gewählter Mitglieder vertreten sein mögen.
In der III. und IV. Sektion berichtete Pastor Blankmeister (Dresden)
über Alter und Bestand der Kirchenbücher im Königreich Sachsen,
woran sich verschiedene Mitteilungen über das Alter der Tauf-, Trau- und
Sterberegister überhaupt anschlössen. Sie können nicht als Frucht der Re-
formation angesehen werden, da sie in Italien schon seit dem XIV. Jahr-
hundert vorhanden sind und in Deutschland auch vereinzelt früher auftreten.
Die Reformation hat die Führung der Register nur in Deutschland allgemein
üblich gemacht. Wegen vorgerückter Zeit war es leider nicht möglich, über
einen von Walther Gräbner (Charlottenburg) vorbereiteten Antrag zu be-
raten, der eine sozialstatistische Ausbeute der Kirchen register in grofsem
Stile bezweckt, etwa in dem Sinne, wie Gmelin es für das Gebiet der
Tormaligen Reichsstadt Hall gethan hat. Vgl. seinen Aufsatz Die Verwertung
der KirchenbücJier in dieser Zeitschrift Bd. I, S. 157 bis 170. — Auf die not-
wendige Verbindung der Geschichtsvereine mit den Vereinen für Volkskunde
machte Generalmajor z. D. v. Friesen aufmerksam, während zur Vermehrung
der Kenntnis der in den Vereinszeitschriften niedergelegten Aufsätze die Vereine
aufgefordert wurden, den im Tauschverkehr verbreiteten Exemplaren ihrer
Veröffentlichung je ein zweites Exemplar des Inhaltsverzeich-
nisses beizufügen.
Vor den vereinigten Sektionen erstattete Prof. v. Thudichum (Tübingen)
den Bericht über den Fortgang der Grundkartenarbeit, worauf Dr. Kötzschke
(Leipzig) das Wesen und die Aufgabe der Leipziger Centralstelle für Grund-
karten erläuterte und Prof. La mp recht (Leipzig) nochmals die ganze Wich-
tigkeit der Herstellung von Grundkarten und die dringendsten Aufgaben kenn-
zeichnete. Vor allem kommt hier die Einzeichnungstechnik in Frage, für
welche R. Kötzschke bereits in dieser Zeitschrift Bd. I, S. 125 — 131 einzelne
Vorschläge gemacht hat. Um auf Grund dieser Ausführungen das System
weiter auszubilden und der nächsten Versammlung bestimmte Vorschläge
Torzulegen, wurde eine Kommission eingesetzt, bestehend aus Ermisch,
Kötzschke, Thudichum und Wolfram. — In Strafsburg war eine
Kommission (Bloch, Reimer, Wolfram) ernannt worden, um ein Programm
für die Ausarbeitung historischer Ortsverzeichnisse der einzelnen
Landesgebiete aufzustellen. Als Frucht der Beratungen legte Archivdirektor
Wolfram gedruckte „Vorschläge" vor, die im einzelnen durchberaten und
mit wenigen Änderungen angenommen wurden. Der ganze Wortlaut dieses
fein durchdachten Programmes wird später in dieser Zeitschrift mitgeteilt
werden. — Über den Plan und die Möglichkeit einer Fortsetzung des
Walther-Koner'schen Repertoriums der historischen Zeitschriften-
litteratur (vgl. oben S. 17—23) berichtete Prof. v. Zwiedineck-Süden-
horst (Graz), der sich die Schwierigkeit des Unternehmens kemeswegs ver-
hehlte, aber einen Versuch dennoch empfahl. Ehe m eme nähere Ver-
handlung mit den einzelnen Vereinen eingetreten worden ist und sich heraus-
— 59 —
gestellt hat, in welchem UmfaDge sie sich zu beteiligen beabsichtigen, ist es
tinmöglich mit praktischen Vorschlägen hervorzutreten. Zu ihrer Förderung
und zur Einleitung von Vorverhandlungen mit den Vereinen wurde eine
Kommission eingesetzt, bestehend aus Prof. K ö c h e r (Hannover), Dr. Tille
(Leipzig) und Prof. v. Zwiedineck (Graz), denen die Zu wähl geeigneter
Persönlichkeiten freigestellt wurde. — Bezüglich der Inventarisation nicht-
staatlicher Archive konnten wegen vorgerückter Zeit keine Beschlüsse
gefafst werden, aber der Bericht von Archivrat Bai Heu liefs bereits zwei
beachtenswerte Gesichtspunkte erkennen: erstens sei eine unberechtigte Be-
vorzugung der Urkunden gegenüber allzu summarischer Behandlung der
Akten in den Inventaren zu beobachten imd darin müsse Wandel geschaffen
werden, und zweitens sei das Pflegersystem weiter auszubilden und zu
verbreiten.
In der Versammlung der Vereinsdeligierten wurden nach der Erstattung
des Geschäftsberichts die im Entwurf gedruckt vorgelegten Satzungen, das
Werk der 1899 eingesetzten Siebenerkömmission, durchberaten und mit un-
wesentlichen Änderungen angenommen. Die wichtigste Ändertmg ist die, dafs
fortan nicht mehr wie bisher einer der verbundenen Vereine die Geschäfts-
führung hat, sondern dafs ein neungliedriger Verwaltungsausschufs an die
Spitze tritt, dem aller zwei Jahre durch Neuwahl einiger Mitglieder neues
Blut zugeftihrt wird und der aus dem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und
dem Schatzmeister, sowie sechs Beisitzern besteht. Gewählt wurden als Vor-
sitzender Bai Heu (Charlottenburg), als dessen Stellvertreter v. Pfister
(Stuttgart), als Schatzmeister Zimmermann (Wolfenbüttel) und als Beisitzer
Anthes (Darmstadt), v. Bezold (Nürnberg), Ermisch (Dresden), Prümers
(Posen), Wolff (Frankfurt a. M.) und Wolfram (Mete). Für die Tagung
im Jahre 1901 wurde vorläufig Freiburg i. B. in Aussicht genommen.
Am 24. September, am Tage vor Eröffnung der Generalversammlung
des Gesamtvereins wurde ebenfalls in Dresden der erste Tag für Denkmals-
pflege abgehalten. Noch im Jahre 1899 wurde über die Fragen des
Denkmabchutees innerhalb des Gesamtvereins verhandelt, es wurde damals
eine Eingabe an die verbündeten Regierungen bezüglich gröfseren gesetelichen
Schutees für historische Denkmäler gerichtet (vgl. diese Zeitschrift Bd. I,
S. 109 — iio), aber zugleich die Einberufung eines gesonderten, vom Gesamt-
verein getrennten Denkmalstages beschlossen. In Dresden hatten sich 90 Teil-
nehmer eingefunden, teils Kunsthistoriker, teils Bausachverständige, um ge-
meinsam über die wichtige Frage des Denkmalschutees zu beraten. Prof.
Giemen (Düsseldorf) baute seine Ausftihrungen über die Gesetzgebung
zum Schutze der Denkmäler auf den schon 1899 unter allgemeiner
Zustimmimg festgestellten Säteen auf tmd schilderte das bisher in dieser Hin-
sicht geltende Recht. Der Vertreter der hessischen Staatsregierung, Re-
gierungsrat Freiherr v. Biegeleben, legte darauf einen Geseteentwurf zum
Schutee der Denkmäler vor, der von einer Kommission noch im einzelnen
durchberaten wurde und den wir später im vollen Wortlaut wiedergeben
werden. — Prof. Gurlitt (Dresden) umschrieb des näheren die Forderungen,
die er glaubt billigerweise an die Denkmale rinventarisation stellen zu
können. Vgl. hierzu den Aufsate von E. Polaczek in Bd. I dieser Zeitschrift,
— 60 —
S. 270 bis 290. — Prof. Dehio (Strafsburg), der selbst nicht erscfaieDen war,
l^e gedruckt ein Programm zu einem Handbuche der deutschen
Denkmäler vor, und es wurde eine Kommission, bestehend aus Geh. Rat
Loersch (Bonn), Prof. Giemen (Düsseldorf) und Hofrat Gurlitt (Dresden),
eingesetzt, welche für die Herstellung dieses Handbuches sorgen solL —
Nach einem Berichte des Baurates T o r n o w (Metz) wurde endlich über die
Grundsätze beraten, nach denen bei der Wiederherstellung von Baudenk-
mälern verfahren werden soll.
Arohiy^* — Der zweite allgemeine deutsche Archivtag ümd
ebenfaUs am 24. September in Dresden statt (über den ersten vgL Bd. I
dieser Zeitschrift, S. 56->6i) und war von 60 Teilnehmern besucht Unter
dem Vorsitze des Geh. Rat Hassel, Direktors des Hauptstaatsarchivs in
Dresden, und dem Ehrenvorsitze des k. k. Hofrates Winter, Direktors des
k. k. Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien, wurde in die V exiiandlungen
eingetreten. Der erste Gegenstand der Besprechung, die Publikationvon
Archivinventaren, mufste vertagt werden, da der Berichterstatter Geh.
Rat von W e e c h (Karlsruhe) krankheitshalber nicht erschienen war. — Geh.
Archivrat Hille (Schleswig) eröffnete daher die Beratungen mit seinem Vor-
trage über Aktenkassation, er beschränkte sich dabei auf die seit drcifsig
Jahren in dem seiner Leitung anvertrauten Archive gemachten Er&hnmgen
und vermied es, irgend welche aus theoretischen Erwägungen abgeleitete all-
gemeine Grundsätze über die Vernichtung von Akten aufzustellen. Im einzefaien
kam er zu mehr negativen Elrgebnissen, insofern er verschiedene Aktengruppen
bezeichnete, die nicht kassiert werden dürfen. Als allgemein anerkannt können
etwa nur die zwei folgenden Sätze gelten : i) AUe Akten ans allen Instanzen
sind aufzubewahren, als deren Produkt ein Gesetz, eine Verordnung oder ein
Statut vorliegt. 2) Die Archive dürfen sich auf die Dauer nicht mit solchen
Akten belasten, die nur deshalb Bedeutung haben, weü sie als Beweismaterial
fUr Ansprüche oder Forderungen von Privatpersonen dienen können. Im
übrigen schwanken die Anschauungen zwischen höchstem Konservativismus,
der alles aufheben will, und denkbar gröfstem Radikalismus, dem es zu
danken ist, wenn oft schon wenige Jahrzehnte nach der Vernichtung gewisse
Akten schmerzlich vermifst werden. Es ist gegenwärtig jeden&lls noch nidit
die Zeit, eigentliche Grundsätze über die Aktenvemichtung aufzustellen, und
HiUe's Ausführungen können und sollen nur als Ausgangspunkt für eine
weitere Erörterung dienen. Dies zeigte namentlich die Diskussion, wo u. a.
eine gewisse Zeitgrenze gefordert wurde, nach der überhaupt erst Vernich-
tungen von Akten möglich sein dürfen — etwa ein Jahrhundert — , denn
was einst für die Forschung wichtig sein wird, kann heute noch gar nicht
geahnt werden. In Verbindung mit diesem Vortrag wurde zugleich die andere
Frage behandelt: Sollen die Volks Zählungszettel von den Archiven
aufgenommen und aufbewahrt werden? (Berichterstatter Arcfaiv-
direktor Wolfram -Metz), und wiederum standen die Meinungen einander
schroff gegenüber. Doch wurde fUr diese Sonderfrage eine Kommission
(Grotefend, Hille, Wolfram) ernannt, welche der nächsten Versammlung Vor-
schläge unterbreiten soU. — In vieler Beziehung lehrreich war der erzählende
|| Vortrag von Stadtarchivar Jung (Frankfurt a. M.) über das Archiv des
I
— 61 —
deutschen Parlaments von 1849, <lessen Restbestände die Frankfnrter
Stadtbibliothek als Depositum aufbewahrt. Die politischen Ereignisse, die
der Auflösung des Parlaments folgten, haben zur Zerstreuung vieler Akten
geführt, und diese sollten allmählich wieder mit der Haupt-
mas^se vereinigt oder, wenn dies unmöglich ist, wenigstens
bezüglich ihres Aufbewahrungsortes und Inhalts bekannt ge-
macht werden! — Auch einige Erfahrungen, die seit der letzten Ver-
sammlung mit dem Archivuniversalmittel Zapon gemacht worden sind und
die seinen Gebrauchswert immer erhöhen, wurden ausgetauscht, und unter
Führung des Direktors, Oberstleutnant Exner, wurde das Kgl. Sächsische
Kriegsarchiv besichtigt
Über die Zukunft des Archivtags wurde beschlossen, dafs er alle Jahre
in Verbindung mit der Hauptversanunlung des Gesamt Vereins abzuhalten sei.
Die Leitung wurde in die Hände eines dreigliedrigen Ausschusses gelegt, in
dem der Vorsitzende des Gesamtvereins vertreten sein mufs. Als die beiden
anderen Mitglieder des Ausschusses wurde Archivdirektor Wiegand (Strafs-
burg) und Geh. Archivrat Grotefend (Schwerin) gewählt. Da der Gesamt-
verein Archivrat Bai Heu wiederum zu seinem Vorsitzenden erkoren hat, so
ruht also die Einberufung des dritten Archivtages, der vermutlich
in Freiburg i. B. stattfinden wird, in den Händen von Bailleu, Grote-
fend und Wiegand.
Von der Aufbewahrung oder einer besonderen Fürsorge für Schriftwerice
archivalischer Natur zu Frelblirg I« Br* ist erstmals im Jahre 14 14 die
Rede. In den vorausgehenden drei Jahrhunderten der Stadt war einerseits
ihr Kanzleiwesen noch wenig ausgebildet, andrerseits waren die Zeitläufe jeder
Entwicklung in dieser Hinsicht meist so ungünstig, dafs es leicht war, den
geringen Vorrat an Dokumenten in einem mäfsigen Behälter tmterzubringen
und in einer der zahlreichen Kirchen oder Klöster zu bergen. Ob dies
auch thatsächlich der Fall war, läfst sich nicht mit Sicherheit entscheiden;
der Umstand, dafs gerade die älteste und wichtigste Urkimde, die auf dem
Recht der Stadt Köln fufsende Verfassungsurktmde von 1120, die 1275
zwar als beschädigt, aber doch als noch vorhanden erwähnt wird, in der
Folge verloren gehen konnte, scheint fast dagegen zu sprechen. Selbst seit
dem Vorhandensein eines Rathauses (1303) verlautet noch nichts von einem
städtischen Archiv weder hinsichtlich des Inhalts noch des etwaigen Auf-
bewahrungsortes, während das der Grafen in einer gleSinen kameren auf
der Burg urkundlich bezeugt ist (1347). Erst mit dem Übergange der Stadt
an das Haus Österreich (1368) und dem damit erfolgten Eintritt friedlicherer
Zustände nach innen wie nach aufsen hören wir von einem Kanzlei -
archiv im Rathaus, in welchem neben den wertvolleren Urkunden die mit
1378 beginnenden Ämterbücher oder „Ratsbesatzungen** und die mit 1386
in Foim von Weistümem und Ratserkenntnissen einsetzenden Ratsprotokolle ver-
wahrt wurden. Gleichzeitig ist ein die wichtigsten Urteilsbriefe und Fertigungs-
protokolle enthaltendes Gerichtsarchiv, sowie für die Obligationen, Gült- und
Leibrentenbriefe, Zinsrodel und dergleichen ein Kaufhaus archiv nachweisbar.
Die kostbarsten aller städtischen Dokumente : eine Auswahl von kaiserlichen
und herzoglichen Gnadenbriefen, den verschiedenen Verfiassungsurkunden,
— G2 —
Bundbriefen mit Städten und Herreu, Sühneverträgen mit den Grafen, Über-
gabsverträgen mit Östei reich, Urfehden des breisgauischen Adels, päpstlichen
Bullen, bischöflichen Erlassen imd derartigem erscheint von 14 14 in den
diebes- und feuerfesten Hahnen türmen des Münsters wohlverwahrt,
während die täglich gebrauchten Urkunden (Kopialbücher) und Aktenstücke
als: ältere Ratsentscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten, Zunft-, Zoll-,
Bau-, Münz-, Steuer- und Zehntsachen, Verträge imd andres in der grofsen
Kanzleistube des Rathauses aufgehoben waren. Ein der zweiten
Hälfte des XV. Jahrhunderts angehöriges Repertorium bildet einen besonderen
und ausführlichen Katalog sowohl über die Urkunden im Münster als über
die Kanzlei im Rathause.
Dieser Zustand währte bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, wo in
den Jahren 1551/52 im Zusammenhang mit dem neuerbauten Ratssaal
nebst Gerichtslaube im Hofe des Rathauses ein in zwei Stockwerken über-
einander liegendes spätgotisches Ratshofarchiv geschaffen wurde, das in
seinem Obergeschosse mit der gesamten Inneneinrichtung vom Jahre 1553 heute
noch unverändert erhalten und in Gebrauch befindlich ist, gleichwie das
Münsterarchiv im südlichen Hahnenturm, während das Kaufhausarchiv in den
1 860er Jahren aufgelöst wurde.
Gleichzeitig mit der Erbauung des Ratshofarchivs wurde das Reper-
torium des Münsterarchivs erneuert (1554), 1560 auch ein solches
über (las K a u f h a u s a r c h i v aufgestellt , das von der Sorgfalt der
cloinaligcn Stadtvcrwaltimg nach dieser Richtung ehrendes Zeugnis giebt. Es
bietet fincn interessanten Überblick über das ganze Finanzwesen mit den
vielen Registern über Steuer *), Schätzung, Kriegskosten, über die liegenden
(Jründc, Kapitalien und über Schuldenvogtei, über Stiftungen, Kirchen-, Zxmft-,
Tlialvogtci- und Kassenrechnungen der Stadt, Zoll und Ungeld, über die
Rechnungsablagcn des Stadtwechsels oder städtischen Bankinstituts sowie über
die Runs- oder Bewässerungsurkunden. Ähnlichen Erneuerungen der Reper-
torien begegnen wir 1602, wobei wir zugleich von einer ziemlich ausftjhrlichen
Registraturordnung Kenntnis erhalten, dann 1606 und 1627 imd in den
Jahren 1652 — 1660. Eine feste und gediegene Grundlage zur Reper-
torisierung des gesamten Stadtarchivs im modernen Geiste gab dann hundert
Jahre später der vorderösterreichische Registrator und nachmals bischöflich
baselische Kammerrat und Archivar Leonhard Leopold Maldoner
(1748). Die von ihm eingeführte, in der Folgezeit aber wieder vernach-
lässigte und teilweise umgestofsene Archivordnung bildet den Grundstock der
in neuester Zeit in Angriff genommenen fachmännichen Ordnung und Ver-
zeichnung, die von den bis dahin mit der Verwaltung des Archivs betrauten
Persönlichkeiten nicht einmal versucht worden ist. Nachdem seit den 20 er
Jahren des XIX. Jahrhunderts der bekannte Professor Heinrich Schreiber
seinen offenen Zutritt zum Archiv zur Veröffentlichung eines Urkimdenbuchs
(1828/29 und 1863 — 1866), zur Erforschung imd Darstellung zahlreicher
Einzelheiten sowie einer zusammenfassenden Geschichte der Stadt (1857 8)
benutzt hatte, konzentrierte sich in den 60 er Jahren die Hauptthätigkeit des
l) Das älteste Zinsbuch des XIV. Jahrhunderts ist das 4. Grundsteuer- oder Herr-
schaftsrechtbuch vom Jahre 1388. (1389?)
— 63 —
Archivars (C. Jäger) aofe Sammeln von Altertümern aller Art, bis in den 80 er
Jahren unter G. A. Po in sign on das Publizieren wieder begann. Von seinen
sahkeichen litterarischen Arbeiten zur Geschichte der Stadt Freiburg und des
Breisgaus sind an erster Stelle die im Jahre 1890 von ihm unternommene
Herausgabe der durch ihr seltsames Schicksal*) bekannten Heiliggeist-
spitalurkunden und die im folgenden Jahr gefertigte geschichtliche
Ortsbeschreibung der Stadt zu nennen. Jenes, Regesten der Spital-
Urkunden von 1255— 1400 enthaltend, ist ein durch seine Einleitimg, sein
sorgfaltig gearbeitetes Register, Wort- und Sacherklärungen ein auch für
weitere Kreise leicht benutzbares Buch *) , das neben seinen reichen rein
örtiichen Interessen besonders für die Rechts- und Wirtschafbgeschichte
imd Statistik, für die Entwicklung der öflfendichen Wohlthätigkeit und des
Armenwesens, für Kirchengeschichte, Genealogie und Sprachforschung noch
ingehobene Schätze birgt. Nicht minder wertvoll, wenn auch mehr in
lokaler imd praktischer Hinsicht, ist der erste Teil der geschichtiichen
Ortsbeschreibung'), der die Baugeschichte der Stadt, die Entwicklung von
Bann imd Gemarkung, die Wasserversorgung, Friedhöfe, Strafsen imd öffent-
fichen Platze behandelt, „um, so von der Gesamtheit ausgehend, alle Ört-
lichkeiten der Stadt bis in die Einzelheiten herab in ihren historischen Et-
innerungen beleuchten zu können**. Die reichste Fülle eines nur durch den
Archivar in jahrelanger liebevoller Forschung zu gewinnenden Wissens spricht
aas jedem Abschnitte dieser Arbeit
Um diese beiden Publikationen zu Ende zu fuhren und andere ähnliche
au ermöglichen und unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zusammenzu-
Cassen , beschlofs man vor einigen Jahren , ohne sich vor dem Abschlüsse
der Repertorisierung des Archivs die Anfechtbarkeit und Schwierigkeiten eines
solchen Unternehmens zu verhehlen, mit den beiden Arbeiten Poinsignons eine
zwanglose Folge von „Veröffentlichungen aus dem Archiv der
Stadt Freiburg i. Br.** zu beginnen. Auf diesem Wege ist denn auch
im laufenden Jahre der Schlufsband der Heiliggeistspitalurkun-
den*) erschienen, der in der von Poinsignon begonnenen Anlage die Spital-
urkunden von 1401 — 1662 verzeichnet und gleichzeitig damit auch diejenigen
des ebenfalls dem Heiligen Geist geweihten sogen. Gudeuthauses (1251
bis 1767) zum Abdruck bringt. Die Fortsetzung und Beendigung der ge-
schichtlichen Ortsbeschreibung, die Häusertopographie, befindet sich in
Arbeit und soll im nächsten Jahre zur Ausgabe gelangen. Ihnen sollen
später sowohl weitere Quellenpublikationen folgen, die das künftige neue
Urkundenbuch der Stadt zu entlasten geeignet sind, als auch solche Einzel-
darstellungen, die jetzt schon von weiteren Kreisen der Einwohnerschaft als
1) Vgl. L. Riegel, Über das Schicksal gewisser Breisgauer Archivalien (Zeitschr.
der Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Altertums- und Volkskunde von Frei-
biirg. Vn. [1888], 103).
2) Die Urkunden des Heiliggeistspitals zu. Freiburg i. Br., Bd. I. 1255 — 1400.
Bearb. von Ad. Poinsignon. Fieib. i. Br. 1890. 8°. XXll u. 372 S. Mk. 4.
3) Geschichtliche Ortsbeschreibung der Stadt Freiburg i. Br. Bearb. von Ad. Poin-
signon. I. H. mit 2 Plänen. Freib. i. Br. 1891. 8*». VIU u. 170 S. Mk. 2.
4) Die Urkunden des Heiliggeistspitals zn Freibnrg i. Br. 2. Bd. 1401 1662. Bearb.
fon Leonard Korth und Peter P. Albert. Freib. i. B. 1890. 8* VII u. 640 S. Mk. 6.
^= Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau. III. Teil).
— 66 —
Altmark stets des Rechtes entbehrte, mit dem Schwerte zu richten,
trage der Roland dort diese Waffe nicht; — er hatte sie nämlich im
Laufe der Zeiten verloren. Dem vielseitig kundigen J. G. Th. Grässe
{Die grofsen Sagenkreise des Mittelalters, 1842, S. 295) zufolge war
die Verehrung, welche man im Mittelalter gegen Roland hegte, so-
groCs, dafs ihn die romantischen Dichter des XIII. Jahrh. bereits in
das Paradies versetzten; „dies ist der Grund, warum man in Italien
und Spanien, sogar in Deutschland mehreren Plätzen seinen Namen
gegeben, und ihn selbst oft gar häufig in Stein, wie irgend einen alten
berühmten Heiligen, abgebildet hat".
Wir gelangen nunmehr wiederum zu Zöpfl, und zwar zu dem
dogmatischen Teil seines Werkes *), dessen Roland-Statistik wir bereits
(S. 11) besprochen haben.
Zöpfl sieht in den Rolanden das Bild eines als Richter dar-
gestellten Kaisers oder Königs (S. 83), und zwar ursprünglich Kaiser
Ottos IL (S. 146), des Roten, des Blutigen, des strengen Richters;
daher auch der Name der Statuen : Rot-Land, Rotlands-Säule, auf der
Blutgerichtsstätte aufgestellte BUdsäule (S. 119). Als dreifache, stets
ungetrennt erscheinende allgemeine Bedeutung erkennt er das Recht,,
ein Gericht in der Stadt zu haben, das Marktrecht und die Freiung
von der Gerichtsbarbeit der auswärts tagenden Land-, 2fent- und Vehm-
gerichte (S. 83) ; die Rolandbilder sind Gerichts-, Markt- und Mundats-
schon früher ein RoUnd „als Zeichen des SUdtrechts und der hohen Gerichtsbarkeit **-
gestanden, „so lag es dem Kloster Boch sehr nahe, einen solchen als Zeichen der
ihm nnn zustehenden Gerichtsherrlichkeit aufrichten zn lassen; im Punkte der Sjrmbolik
pflegten ohnehin die Kirchen nicht leicht etwas zu remachlässigen, was zur Beurkundung
ihrer Gerechtsame dienen konnte <*. Das klingt alles recht schön und überzeugend. Aber
das Kloster Buch, in dessen Besitz Beigem 1309 gelangte, lag bei Altcella inMeifsen,
führte den geistlichen Namen Vallis s. Egidii, gehörte dem Cistercienserorden an (Fr..
Winter, Die Cistercienser d. nordöstL Deutschlands n, 294), heifst heute Klosterbuch,
und hatte keinen Roland; das altmärkisclie Dorf Buch, welches in diesem Zn-
sammenhange kaum jemand in den Sinn kommen kann, hatte zwar einen Roland, aber
kein Kloster. Ein fihnlicher Mifsgriff ist Zöpfl gelegentlich des Rolands zu Bram-
stedt begegnet (S. 212 if.). Ans einer Urkunde ron angeblich 1258, nach welcher die
Vogtei zu Bramstedt erzbischöflich bremisches Lehn im Besitz Gerberts y. Stotel war,
folgert er, dafs die Verpflanzung der Rolandbilder von Bremen und Hamburg nach Hol-
stein wohl in der 2. Hälfte des XIL oder XUI. Jahrh. stattgefunden habe, wenn dies
nicht etwa schon in der Ottonischen Zeit geschehen sei. Die fragliche Urkunde ist vom
13. Dez. 1248 und betrifft nicht Bramstedt in Holstein (Kr. Segeberg), sondern Bram-
stedt in der jetzigen Provinz Hannover, Kr. Geestemflnde (Ehrentraut,
Fries. Arch. II, 1854, S. 418).
i) Altertümer des deutschen Reichs und Rechts, III. Bd. Die Ruiands-Säule. Eine,
rechts- u. kunstgeschichtl. Untersuchung, 1861, S. I — 171.
— 67 —
sänlen, zuweilen in lokaler Bedeutung* noch Wahrzeichen der Reichs-
unmittelbarkeit (S. 95). Hervorgegangen sind sie aus dem uralten
Schild- oder SchwertpCahl (S. 149), der Irmensäule (S. 151), welche
dem Schwertgotte Tyr, dem Schildgotte Wuotan, dem Gotte der
Fruchtbarkeit, Fro, und dem Spezialgotte der Sachsen und angrenzen-
den Wenden, Hruodo (S. 156) geweiht war.
Die mit groiser dialektischer Gewandtheit geschriebene Unter-
suchung zeigt dieselben Vorzüge und Mängel, wie der statistische Teil,
erstaunliche Fülle von Einzelkenntnissen und merkwürdige Schwäche
der Kritik. Für ims bleibt in ihr nur der Satz bestehen, daüs die Ro-
lande ursprünglich Königsbilder waren; imd das hatte schon mehr als
225 Jahre vorher Gryphiander erkannt.
Nicht die überzeugende Kraft der Argumentation, sondern die
Massenhafdgkeit des zusammengetragenen Materials hat dem Buche
Zöpfls seine unbestreitbar markante Stellung in der litteratur ver-
liehen. Nur schüchtern und in Nebenfragen wagte sich die Kritik an
dasselbe heran ; eine Kontrolle der durch ausgebreitete Korrespondenz
zusammengehäuften Stoffsammlimg erschien ungemein schwer und so
beruhigt man sich auch heute wohl noch in Laien- wie in Fachkreisen
bei dem im Jahre 1867 ausgesprochenen Urteil von Friedr. Jul.
Kuhns, Zöpfl habe dem Gegenstande in neuester Zeit die ein-
gehendsten imd umfassendsten Studien gewidmet, und seine dankens-
werte Zusammenstellung des zersprengten und schwer zugänglichen
Materials erleichtere den Überblick über die Lage der quellenmälsigen
Überlieferung. Derselbe Kuhns hat übrigens über die märkischen
Rolande ein Votum abgegeben, welches sich vielfach von Zöpfl frei
macht imd durch besonnene Objektivität erfreut ^).
Zum TeU in Polemik gegen Zöpfl streifte Chr. Petersen in
seiner umfangreichen Abhandlung Zioter-, Zeter-- oder Tiodute-Jodute,
der Gott des Krieges und des Rechts bei den Deutschen; eine
rechtsgeschichtl. u. tnythol. Untersuchung^) die Rolandfrage: „Eigent-
licher Schützer des Rechts imd Vorsitzender der Grerichte ist nur Zio,
der im Kriege wie im Grerichte den Beinamen Roland führte, der ab-
gelöst vom Gott und verschmolzen mit dem historischen Roland zum
Heros der Sage geworden ist". . . . „Die Gerichte aber waren in
ältester Zeit vorzugsweise Blut- oder Kriminalgerichte, und daher haben
sich die ältesten Gebräuche bei diesen am längsten in ursprünglicher
i) Gesdiichte der GerichUrerfauiing and des Prosestes in der Blark Brandenburg
n, 1867, S. 203—213.
2) Forsch, s. D. Gesch. VI, 1866, S. 225 — 342.
6»
\
— 68 —
Gestalt erhalten" (S. 322). Auch er ging also von der irrigen Voraus^
Setzung aus, dafs die ursprüngliche Bedeutung d<er Rolandbilder die
von Wahrzeichen des Blutgerichts sei.
Nach der KrafUeistung Zöpfls trat zunächst eine längere Pause
ein, in welcher die Forschung Atem schöpfen zu wollen schien. Nur
die Mythologen, welche schon seit geraumer Zeit auf die Frage auf-
merksam geworden waren — auch Zöpfl und Petersen schweiften
ja auf ihr Gebiet hinüber — begannen sich kräftiger zu regen. Von
ihnen wird zum Schlufs die Rede sein.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Zöpfls Buch
versuchte wiederum ein Heidelberger Rechtshistoriker eine neue Be-
antworttmg der immer noch nicht befriedigend gelösten Frage« In
seiner Abhandlung Wetchbtld^) kommt Richard Schröder zum
Schlufs auch auf die Rolande zu sprechen. Nachdem er die einzelnen
Wahrzeichen der Marktfreiheit und des Marktfriedens, die Entwickelung
des „Stadtkreuzes" und die Identität des letzteren mit dem „Weich-
bild", welches sprachlich als „Orts- oder Stadtbild" zu deuten sei,
erörtert, schliefst er folgendermafsen : Mit der Befestigung der „ Leib-
zeichen " des Herrn, Handschuh, Schwert u. s. w. an dem Markt- oder
Freiheitskreuz gleichbedeutend war es, wenn man am Beaumont-Kreuz
zu Frouard das Bild eines gehamischten Ritters mit geschlossenem Visier
anbrachte (S. 322). Hier sei mit Sicherheit der Übergang vom Markt-
kreuz zur Rolandsäule zu erkennen. Diese seien mehr oder weniger rohe
Kaiserbilder; zu ihren Attributen seien das nie fehlende Schwert, häufig
auch Schild und Fahne, sonst selbständige Symbole der Stadtfreiheit,
geworden. Die Rolandsäulen fanden sich im Wesentlichen nur in der
Heimat des „Weichbilds "; sie seien die moderne Form desselben und
frühestens in der 2. Hälfte des XIII. Jahrhunderts an die Stelle der
alten „Weichbilder", der roheren Stadtkreuze, getreten (S. 323).
Ich beschränke mich hier darauf, das Thatsächliche über das
Kreuz zu Frouard festzustellen, welches für Schröder den monu-
mentalen Ausgangspunkt seiner Theorie bedeutet, wie insbesondere
aus seiner vorgreifend zu erwähnenden zweiten Abhandlung {Die
Stellung der Rolandsäulen etc., S. 25) hervorgeht, wo es heilst:
„Der Ritter an dem Kreuze zu Frouard ist nichts anderes als ein in
der Entwickelung vom Marktkreuze zum selbständigen Rolandbilde
stecken gebliebener Träger des Marktschildes mit dem Wappen des
i) Historisclie Aufsätze, dem Andenken an Georg Waits gewidmet Hannorer,
18S6, S. 306 ff.
— 69 —
Landesherrn." Das ursprünglich 8 m hohe Bteinerne Kreuz stand
bis gegen 1880 auf dem Markte zu Fionard, dann, erheblich ver-
kürzt, auf dem dortigen Kirchhof, und befindet sich jetzt seit ca.
10 Jahren im Lothringischen Museum in Nancy. Seiner Vorderseite
aufgelegt ist ein einfaches Balkenkreuz mit dem gekreuzigten Heiland ')■
Auf seiner Rückseite befindet sich in dem Querarm das sehr be-
schädigte Reliefbild eines gehamischten, sich von der linken Seite
zeigenden Reiters •) ; der mit einem Topfhelm {den ein stark verstüm-
melter Adler schmückt) be-
deckte Kopf ragt in den oberen
Arm des Kreuzes hinein; der
ganze übrige Körper ist durch
einen grolsen Dreiecksschild
bedeckt, welcher bei genauer
Betrachtung das lothtiogische
Wappen in der Form zeigt, wie
es Herzog Ferri als Bischof von
Orleans (1296/99) führte *)j un-
ter dem hinteren Rande des
Schildes ragt die Schwertscheide
hervor; von der rechten Hand
und ihrer Bewehrung ist nichts
zu erblicken, M. E. zeigt ein
Blick auf die nebenstehende
Abbildung, dals die ganze Kom-
positton auch nicht das Min-
deste mit der Vorstellung ge-
mein hat, welche den deutschen
Rolanden zugrunde Uegt.
t) M. LJOD Germaio, L« croix d'iSranchiueineDt d« Frouard, in: MfmoiTei de
1> taciUi d'irchfologi« lorraise, 111. ttile, X. vol. Nancy, iSSa, S. 358—400, mit
3 T>f. — Herr ArchiTdircklor Dr. PfanDcoicbmidt-Colsiw und Herr Departementt-
trcbtTar B. Darerno^-Nuicy babea mich bei der EnniUelnng der Littetatnr auf dai
UebezuwUi-digite uitersliltit.
s) Dieie Verbindnng tod Ereni ond Reiter, an *icb kttutlemch mucbön, findet ibre
Analogie in einem KreuM — Hordkrenz — ta Erfart, TOn dem GcäTie, Sacenb. d.
TreaT*. St I, no, 396 berichtet; aa( der einea Seite deiaelben war ein Reiter, auf der
uderti eine kni sende Jungfraa dargestellt,
3) Anf der Abbildung, welche ich «egeo der Ton Schröder der Skulptur beige-
meuenen Bcdeatong mitzuteilen ftir notwendig halle, iit nur der pfabiweise anf den
Schild gelegte Bischofitab, nicht aber der mit 2 (ilatt 3) Adlern belegte SchrÜgbalken
— 70 —
Vier Jahre später hat Schröder die programmatischen Schiais-
Sätze seiner Weichbildabhandlung' zu einer Monographie : Die Stellung
der Rolandssäulen in der Rechtsgeschichte ^) zusammengefaist und
erweitert, deren eindringlich überzengongsvoUe Darstellung, unter-
stützt durch die wissenschaftliche Bedeutung des Verfassers, ganz i
dazu angethan scheint, in dieser Frage für längere Zeit der Rechts-
historie die Richtung anzugeben, obwohl sie an demselben Grund-
irrtum leidet, wie alle anderen rechtsgeschichtlichen Erklärungsversuche^
dafs sie nämlich von einer Bedeutung, welche gewisse Rolandbilder
zum Teil sehr fraglicher Beglaubigung in der sekundären Entwicke-
lungsperiode hier und da besessen zu haben scheinen, auf ihre
primäre allgemeine Bedeutung zurückschliefst
Da sich, so folgert Schröder, die räumliche Verbreitung der
Rolandsäulen „fast vollständig" mit derjenigen des Wortes „Weich-
bild** deckt (S. 3), und „Weichbild** gleichbedeutend mit „Stadtbild**
oder „Ortsbild** ist, da femer aus den Umständen sich ergiebt, dals
die Rolande weder den Besitz des Blutbannes, noch die Dingstätte
eines mit dem Blutbanne ausgestatteten Gerichtes, noch die Reichs-
freiheit, noch die städtische Freiheit schlechthin, das Stadtrecht, be-
zeichnet haben können, und da erweislich sieben von ihnen in Markt-
flecken oder ehemaligen Märkten sich befinden, „so bleibt nichts übrig,
als die Rolandsäulen in ihrer ursprünglichen Anlage und Bedeutung für
Marktzeichen zu erklären, und die denselben zum Teil beigelegte weitere
Bedeutung auf spätere Sonderbildung zurückzufuhren** (S. 23). Die
Rolandsäulen sind als „monumentale Träger der üblichen Marktzeichen **
(S. 24) „aus einer Umformung der alten Stadt- und Marktkreuze*'
hervorgegangen, welche sich frühestens seit Ende des XIII. Jahr-
hunderts oder Anfang des XIV. Jahrhunderts vollzog (S. 25). Diese
Umformung sei unverkennbar in Erfurt, wo der Roland erst 1591 an
die Stelle des Marktkreuzes getreten (S. 5. 25). Die von den Ro-
landen getragenen besonderen Marktzeichen, Schwert, Schild, bisweilen
Kreuz (an dem sogen. Roland in Brakel, S. 25) oder Fahne (am an-
geblichen früheren Roland in Obermarsberg, S. 24) seien die Insignien
des Königs, d. h. natürlich Karls des Grofsen; ihre Träger, die Ro-
landbilder, stellten dessen Waffenträger vor, da sie „von vornherein
10 erkennen, welcher nach Germaini Beschreibung nur bei genaaester Betrachtmg dea.
Originals bemerkbar ist.
1) Sie bildet das einleitende Kapitel in der von R. B6ringaier 1890 heran»*
gegebenen Festschrift des Berliner Geschichtsvereins: Die Rolande D<i.tachlanda
(Heft XlVn der „Schriften d. Vereins f. d. Getch^ Berlins^, S. 1—36).
— 71 —
, Roland' genannt wurden*' (S. 26), nach dem Namen des Paladins,
welcher „ in den Liedern als bevorzugter Waffenträger Karls " *) ge-
schildert werde (S. 28).
Dies ist der Kern von Schröders Roland -Theorie; auf den wei-
teren, sehr lehrreichen Inhalt seiner Schrift einzugehen ist hier nicht
der Ort. Von der Kritik mehrfach angefochten, ist der unermüdliche
Heidelberger Forscher zum dritten Male auf den Gegenstand zurück-
gekommen in der Abhandlung Marktkreuz und Rolandsbild (in der
Festschrift zur $ojährigen Doktorjuhelfeier Karl Weinholds
Strafsburg, 1896, S. 118 — 133). Er will in derselben „ frühere Studien
wieder aufnehmen, sie teils zu berichtigen und zu ergänzen, teils g^en
unberechtigte Angriffe zu verteidigen **. Was die Rolande *) anlangt,
so erklärt er, seinen früheren Ausfuhrungen über ihre Entwickelung
nichts hinzuzufügen und nichts davon zurückzunehmen zu haben (S. 132);
indessen ist es doch eigentlich nur ein Rückzugsgefecht, welches er
fuhrt. Die Hauptstützen seiner Theorie mufs er anheben : die Gleichung
„Weichbüd" = „Ortsbild" (S. 131, Anm. i), den fahnentragenden
Roland zu Obermarsberg (S. 119, Anm. 5)*), die sogen. Rolandsäule
zu Brakel mit Fahne und Marktkreuz (ibid.), den 1591 angeblich aus
i) Diese unzutreffende Auffassung des epischen Roland habe ich in Forsch, zur
Brandenb.-Preuis. Gesch. m, 1890, S. 415 ff., wie ich glaube, widerlegt Wie man sich
gegen Ende des XIL Jahrh. in Deutschland einen Waffenträger Karls vorstellte, zeigen
die von W. Grimm veröffentlichten Bilder der Heidelberger Handschr. des Rolandsliedes,
insbes. no. 14, wo der bärtige Roland das Fahnlehn Spanien vom Kaiser empfängt, hinter
welchem im kurzen Dienergewande dessen Schwertträger steht.
2) Das „Stadtkreuz*' im Coblenzer Stadtsiegel, welches Schröder bei M. Bär
gefunden hat (S. 124, Anm. 5), beruht auf einem heraldischen Irrtum des letzteren; es
Ist das in das Stadtwappen übertragene landesherrliche Wappenbild.
3) Die Marktfahne am Bremer Roland, welche Schröder (S. 127, Anm. 3) nach
meinem Vorgange aus Brem. Denkm. entnommen hat, mag, wie Rietschel vermutet
(Markt u. Stadt, S. 230, Anm. 2), auf einem Mifsverständnis des Verfassers des bezüg-
lichen Abschnitts in jenem Werke beruhen; ich habe wenigstens vergebens in Bremen
nach einer Quelle Itir diese Angabe gesucht. An sich unwahrscheinlich ist sie indessen
nicht. Man fafste in Bremen zum mindesten seit Ende des XV. Jahrhunderts (vgL v. Lilien-
cron, Histor. Volkslieder II, no. 161) den Roland ausdrücklich als den „eigentlichen
Bannerträger der Republik**, und brachte bei festlichen Gelegenheiten bis in die Neuzeit
„an seiner starken Seite" das Stadtbanner an, vgL J. H. W. Smidt in Brem. J.-B.
IV, 1869, S. 431. Rietschels Forderung, dafs die Statuen, um als Träger der Markt-
fahne zu dienen, mit halboffener Hand, oder Zwischenraum zwischen Arm und Körper
hätten gebildet werden müssen^ ist künstlerisch unschön, wenn er sich dafür auch auf
die Standbilder berufen könnte, welche das Maximilians-Grabmal in Innsbruck umgeben.
Eine ästhetisch befriedigende Lösung bot der Roland in Ragusa.
— 72 —
dem Marktkreuz hervorgegangenen Pseudo-Roland zu Erfurt (ibid.) ^).
Nichtsdestoweniger läist er seine Abwehr mit der beredten Schilderung
ausklingen, wie man höchst wahrscheinlich zuerst in Magdeburg, unter
dem Einflüsse der französischen Heldendichtung stehend, zu Ende des
XIIL Jahrhunderts auf den Gedanken kam, das mit Kaiser Karls Hand-
schuh, Schild und Schwert geschmückte Weichbildkreuz, dessen Be-
deutung man nicht mehr verstand, durch den sagenberühmten Schwert-
träger des Kaisers zu ersetzen.
Gegen die Schrödersche Theorie nahm K. Uhlirz entschieden
Stellung tmd verurteilte zugleich mit scharfem aber wohlverdientem
Tadel den litterarischen Unftig der Berliner Festschrift^). Zur Sache
selbst meint er (S. 680, vgl. auch seinen zweiten Aufsatz), dafs die
Rolande die meiste innere Berührung mit der croix de Beaumont zu
haben schienen, und dafs möglicherweise ihre Bedeutung durch ein
Moment zu erfassen sein werde, welches weder Schröder noch ich
hervorgehoben, das aber gerade durch die geographische Verbreitung
an die Hand gelegt werde, die Ansiedlung nach Weichbild-
recht, wobei eine Beziehung zum Gericht nicht ausgeschlossen wäre.
Ich habe indessen schon in meiner Besprechung des Schröder-B6rin-
guierschen Buches in den Forschungen zur Brandenburg, und
Preu/stschen Geschichte (III, 1890, S. 409) darauf aufmerksam ge-
macht, dafs einem bedeutenden TeUe des Gebiets, welches den Beg^riff
des Weichbildrechts kennt, Westfalen, Lübeck, Mecklenburg, die Ro-
i) Diesen sucht er freilich in einer Note (S. X19, Anm. 4) gewissermafsen ra retten:
der Rat habe bei der Errichtung des Standbildes, das übrigens auch noch als Giebel-
krönnng zweier am Markte stehender Häuser wiederkehre (!), jedenfalls dem Vorgange
der mit Rolandbildem versehenen Städte nacheifern wollen, „so dafs man die Statue
immer noch zu den Rolanden zu zählen hat" (!). Das Gegenteü dieser willkürlichen
Snpposition wird durch den Wortlaut der Stadtrechnungen erwiesen, welche nur von Er-
richtung des „Römers" oder des „steinernen Mannes" sprechen, und dadurch, dafs
Grjphiander, der mit den Lokalitäten und den Rechtsverhältnissen Erfurts durchaus ver-
traut war, in seiner Roland-Monographie bei der Erörterung von Erfurter Zuständen
einen dortigen Roland nicht erwähnt Ich glaube, dafs der Rolandname für die Erfurter
Statue auf eine böswillige Bemerkung von J. M. Gudenns (Historia Erfurtensis. 1675,
bei G. Chr. Joannis, Scriptor. histor. Moguntinensi cum maidme inservientinm vol. IIL
1727, S. 129) zurückzuführen ist. Im Register zu Joannis heifst es dem entsprechend
mit vollster Bestimmtheit : Rolandi statua erigitnr Erfordiae. E^ verdient nachgelesen zu
werden, wie Platen (S. 35, Anm. 5) seiner Petersberg-Theorie zu Liebe um die Rettung
des Erfurter Roland sich bemüht Ein hierher gehöriges Produkt modemer SagenbUdung
verzeichnet GrSsse, Sagenb. d. Preufs. Staates I, no. 403.
2) Mitteilungen d. Instit f. österr. Gesch.-Forsch. XV. 1894, S. 676 ff. und ibid.
XIX I. 1898, S. 182.
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lande onbekannt sind. Auf diesem W^e ist also auch nicht weiter zu
kommen.
Ehe Schröder seine dritte Abhandlung veröffentlichte, hatte R. Soh m
die Roland-Theorie desselben mit Lebhaftigkeit begrülst und mit einigen
raschen Strichen etwas anders pointiert ^). Ihm ist „Weichbild*' =,3iii?^
recht'* (S. 26); die Rolandsäule, aus dem „Stadtkreuz" umgewandelt,
ist das Zeichen der „Stadtfreiheit** (S. 29). „Roland, der berühmte
Waffenträger Karls des Grofsen, ist auf dem Marktplatz der Träger
des Kaiserschwertes und des Kaiserschildes ').**
Auch für J. E. Kuntze*) ist die Rolandsäule aus dem mit dem
Schwerte verbundenen Kreuze hervorgegangen; sie repräsentiert den
legendarisch berühmten Waffenträger Karls des Grofsen im Kampfe
des Christentums wider Islam und Heidentum (S. 44) und ist, wie das
Stadtkreuz, in erster Linie nicht Markt- sondern Stadtsymbol; beide
„drücken, im Gegensatz zum Heidentum, christliche Kultur, christ-
liche Bewohnerschaft, christliche Rechtspflege aus; jede andere Be-
deutungsannahme ist willkürlich und unerklärbar**.
Im Gegensatz zu Schröder weist S. RietscheP) „die Theorie,
welche in den Rolanden Wahrzeichen des Marktes zu erblicken glaubt,
als unbegründet zurück** (S. 232) und sieht selbst in ihnen „Wahr-
zeichen der Blutgerichtsbarkeit** (S. 230), „der hohen Gerichtsbar-
keit** (S. 231); ihr Schwert ist das „Richtschwert** (ibid.). Des Ver-
fassers Beweise dafür beruhen lediglich auf Umständen, welche aus-
schliefslich der zweiten Elntwickelungsperiode der Rolande angehören
und herkömmlicherweise vielfach in der Weise mifsverstanden werden,
dafs in einem durch örtliche Verhältnisse bedingten, im übrigen ganz
zufalligen räumlichen Nebeneinander von Bildsäule und Rechtshand-
lung ^) ein tiefer innerer Zusammenhang gesucht und gefunden wird.
i) Die Entstehung des deatschen Städtewesens. Leipzig 1890; Tgl. Uhlirz, 1. c
XV, 508.
2) Popolärer Niederschlag der Untersachungen Schröders und Sohms ist ein AaCuUs
des Kunstkritikers Fritz Stahl (Siegfried Lilienthal) „Die Rolandssäulen", Daheim
XXXIV. 1898, S. 416 ff. Die Abbildung 3 daselbst soll die „Rolandssäule in Bremen«^
nach einer Photographie vom Hofjphotographen F. Albert Schwartz-Berlin darsteUen, sie
giebt aber den 1880 gefertigten Abguls derselben im „Reichshof" des Germanischen
Museums zu Nürnberg wieder.
3) Die deutschen Städtegründungen, oder Römerstädte und deutsche Städte im M.-A.
Leipzig 1891 ; vgl. Uhlirz 1. c, S. 515.
4} Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis. Leipzig 1897.
5) Auch die Rolandtänze (Halle, Bramstedt, Neuhaldensleben ; Langenberg bei
Gera, wo ein Roland nur in der Phantasie der Sagensammler existiert hat, wird eben-
— 74 —
G. V. Below^) hat sich der Auffassung Rietschels angeschlossen und
durch Zusammenfassung derselben in wenige lapidarisch- kurze Sätze
die Linien des ohnehin imrichtigen Bildes noch mehr verzogen.
Überblickt man die juristisch-historisch-kritische Roland-Litteratur
in ihrer Gesamtheit, so ei^ebt sich, dafs dieselbe trotz der Erschliefsimg
neuer Quellen und trotz der Vorteile modemer Forschimgsmethodik
in Beantwortung der Frage nach der Entstehung und ursprünglichen
Bedeutung der Rolandbilder nicht über das hinausgekommen ist , was
Gryphiander bereits vor 275 Jahren aufgestellt hat.
Dasselbe könnte man beinahe von den Mythologen behaupten.
Denn wiederum Gryphiander ist es, der, wenn auch ironisch, auf die
Möglichkeit eines Zusammenhanges des Weichbilds, d. h. der Roland-
statue, mit der Irmensul hindeutet^); imd die Irmensul ist die Axe
geworden, um welche sich noch heute die Rolandtheorien der deut-
schen Mythologen drehen.
Den Anstofs zu dieser Bewegung gab J. Grimm, zuerst in seiner
1815 erschienenen, aber schon „vor einigen Jahren (181 1) bereiten"
Monographie Irmenstra/se und Irmensäule, wo ausgeführt wird, dais
die Götterbilder und ihre Säulen — die Irmensäule — f,auf dem
falls genannt) stehen nar in äafserlicher Beziehung ra den Bildsäulen. Volkstanze
auf öffentlichen Plätzen, sogar gewissermafsen von Amts wegen durch Gilden ausgeHihrt,
kannte ganz Deutschland; vgL im allgemeinen W. Angerstein, Volkstänze im deutschen
M.-A. 1868; fUr Sttddeutschland A. Bierlinger, Ans Schwaben II, 1874. S. 2098.
Wo ein Roland auf dem Platze stand, wurde natürlich um diesen der Reigen geschlungen.
Über den feierlichen Markttanz der Gewandschneidergilde im rolandlosen Salzwedel zum
Johannisfeste während des XVL Jahrh. TgL Götze, Gesch. ▼. Stendal, S. 113.
1) Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum. Bielefeld und Leipzig 1898,
S. 63. — Weiteren Kreisen ist die anachronistische Auffassung Rietschels und v. Belows
durch einen anonymen AuÜMitz „ Rolande <* in „ Der Bär. Qlustr. Wochenschr. f. Gesch. u.
modernes Leben '*, Berlin 1899, S. 134 ff. übermittelt worden. Die beigegebenen flotten,
den Eindruck Ton Originalzeichnungen machenden Abbildungen daselbst sind nur Kopien
nach den Abb. bei L. Schneider, Der Roland von Berlin, 1875; infolge dessen er-
scheint z. B. der Roland zu Zerbst noch in seinem schon 1849 beseitigten Barockgehäuse.
Zur Erläuterung der undeutlichen Abb. letzterer Statue im Berliner Rolandbuche bemerke
ich aus eigener Anschauung, dafs der Roland den rechten Fufs auf einen Hund gesetzt
hat, dem jetzt Kopf, Hals und oberer Teil der Brust fehlen; die Abb. bei Bekmann
(s. S. 81.) zeigt das mit noch vorhandenen eisernen Dübeln befestigt gewesene, später
verloren gegangene Stück. Der Schild mit einköpfigem Adler scheint ergänzt Die Bildsäule
mit ihrem Baldachin steht frei auf dem Marktplatze i südöstlich von ihr auf unverhältnismäfsig
hoher, sie weit überragender, hölzerner Säule die merkwürdige kleine „Butterjungfrau«*.
2) Kap. 7a, { 3, ed. 1625, S. 257.
— 75 —
Hauptplatze des Ortes, von dem aus die Stra&en und Thore giengen,
an der W^[scheide und den W^^ selbst'* standen; sie wurden da-
durch zu gleicher Zeit ,,W^esaulen"; ,,die altdeutschen Weichbilder
der Städte, die Rolandsaulen am Gerichtsplatz, woran sich wiederum
die Sage eines berühmten kerlingischen Helden geknüpft, scheinen
derselben Idee zu folgen" (S. 45). Deutlicher, aber ebenso wenig
begründet ist der Gedanke ausgesprochen in seiner Deutschen Myth<h
logie ^), wo näherer Zusammenhang zwischen Irmensäulen und Roland-
säulen vermutet ist, resp. die Irmensuli als den Rolandsäulen ver-
gleichbar bezeichnet werden. Um dieselbe Zeit äuiserte Fr. H. v. d.
Hagen denselben Gedanken*): „Wie, wenn das (dem Irmensulbilde
in C. Bothes Chronik) ähnliche, in seinem Ursprünge dunkele, mit
Karl dem Greisen verwandte, nur in Sachsen (wie die Vehme in West-
falen) vorhandene, mit politischer Bedeutung verbundene Rolandsbild,
das annoch oft auch nur durch eine Säule vorgestellt wird, mit der
Irminsul auf ähnliche Weise zusammenhinge, wie die S. Jacobsstralse
mit der Irminstraise?"
Auf demselben Boden stehen, aufser Zöpfl (wie wir S. 78 ge-
sehen haben) dem Rechtshistoriker, die Germanisten K. Simrock
(Handbuch der D. Myth., 2. Aufl., 1864, S. 288. 529) und A. Holtz-
mann [Deutsche Myth.j 1874, S. 229). Objektivere Forscher auf
diesem Gebiete: W. Müller {Gesch. u. System d. altdeutschen
Religion, 1844) E. Mogk (Mythologie, in: Grundr. d, germ. PhiloL,
herausg. von H. Paul, I, 1891, S. 9820*.), W. Golther [Handb. d.
german. Myth., 1895), haben sich von der Anknüpfung solcher trü-
gerischen Beziehtmgen zwischen Mythus und Kultus des Heidentums
i) Erst in der 2. Ausg., 1844, S. 366 ; die i. Ausg., 1835, enthält auf S. 69a als Nachtrag
zn S. 83 nur die Bemerkong: „mit den Irmenseulen vgL man die Rolandseolen und ags.
ÄthelstAnsseolen (Lappenberg 1,3 76)*'. J. Grimm hat in seiner Ansicht über die Irmen-
sänle uid die Rolande mehrfach geschwankt 1843 meinte er (KL Sehr, n, 57) : an dem Heilig-
tnm der Irmensül hat sich noch nichts sicheres ansdenten lassen; am wahrscheinlichsten
ist es, dals sie eine „heidnische WeltsSale'* war. 1849 spncht er von einer „auf
dem Grabhügel am offnen Weg, wohin die heidnischen Gräber gelegt za werden ptfegten,
errichteten Heersäule oder Irmensäule'* (Kl. Sehr. II, 256). Von den Rolandsäulen
heüst es 185 1 ßbid. 359), dafs sie sich etwa den Artoshöfen des XIV. mid XV. Jahrh.
in norddeutschen Städten an die Seite setzen lassen uid nicht älteren Urspnmges
scheinen. — W. Grimm, Ruolaodes liet, 1838. EinL S. CXXI, scheint der Irmensol-
theorie zweifelnd gegenüberzustehen ; ebenso erscheint ihm ungewifs, dals der karlingische
Held auf die Benennung der Rolandsäule Einfluls gehabt habe.
2) Irmin, seine Säule, seine Strafse und sein Wagen. Breslau, 1817
(die Vorrede ist von 1816, die Abhandlung selbst ist Ausführung eines im Herbst 1815
gehaltenen Vortrages).
— 76 —
und monumentaler Plastik des Mittelalters ferngehalten. Eine ausführ-
liche Untersuchung der von J. Grimm so nachhaltig angeregten
Frage mit dem ganzen Rüstzeug modern-mythologischer Technik hat
zuerst Dr. Hugo Meyer (er zeichnet später Elard Hugo Meyer) in
der häufig citierten aber wenig gekannten Abhandlung Roland im
Programm der Hauptschule zu Bremen 1868 unternommen. Ich muis
hier darauf verzichten, das üppige Dickicht mythischer, sagenhafter,
historischer Vermutungen, Beziehungen und Kombinationen, die zu-
gleich gro&artige Gelehrsamkeit ^) tmd Gestaltungsgabe wie kritische
Harmlosigkeit^) bekunden, zu durchforsten, und beschränke mich
auf das Facit seiner Untersuchung, welches er selbst dankenswerter-
weise am Schlüsse (S. 22) gezogen hat: Ziu oder Tiu, der lichte
Himmelsgott, im besondem der Sonnengott, führte bei den verschie-
denen Stämmen Deutschlands verschiedene Beinamen oder spaltete
sich später in mehrere Göttergestalten: Ziu bei den Sueven, Tiu imd
Hrodo bei Franken und Sachsen, Irmin bei den Irminonen. „Da der
Sonnenball aus einem gewaltigen Wolkenbaum hervorzusteigen schien,
war ihm ein ungeheurer säulenförmiger Baumstamm heilig, auf dem
eine Kugel ruhte." „Diese Säulenbilder heilsen Ziu-tar oder Tio-dute,
Irminsäule, Schildbäume oder (durch Kontamination des Hrodo-Mythus
mit der um den historischen Roland gesponnenen karolingischen Ro-
i) Ihr verdanke ich die Bekanntschaft mit dem Rolandrelief in Verona (s. oben
S. 4); auf die Nachweise in Regis' Ausg. von Bojardos Orlando inamorato (1840, S. 423)
und bei H. F. Mafsmann, Kaiserchronik HI, 1854, S. 1028, bin ich erst später ge»
stoisen. Aas den Worten des letzteren könnte man folgern, dafs das Bild (samt dem
seines Gefährten Olivier) nicht mehr vorhanden sei; nach freundlichen Mitteilungen der
Herren Buchhlndler Drucker in Padoa und meines lieben Freundes ProL O. Schröder-
Berlin stehen indessen beide Bildwerke noch unversehrt an ihrem Platze. Das 1,77 m
hohe Rolandbild wird durch die Schwertinschrift Durindarda gekennzeichnet.
2) Nur ein Beispiel hierfür. S. 17 spricht er von den phallischen Eigenschalten
des Buxtehuder Roland. Diesen , noch dazu mit solchen Fakultäten, hat es nie ge-
geben. Meyers Gewährsmann Lappenberg citiert ein sehr phallisches Carmen auf die
Hochzeit des jungen Hamburgers Dr. M. J. Ruland mit einer reichen Witwe, in welchem
von einem „grofsen Rulandsbild mit einer starken Rute'* die Rede ist, das nicht nötig
hat, beim Schmied von Buxtehude Hilfe zu suchen, welcher es verstand, „alte<< Ehe-
männer neu zu „verstählen'*. — Der an zahlreiche Bildsäulen verschiedenster Art, und so
auch an einige Rolande geknüpfte Volkswitz, dafs sie auf kurze Zeit lebendig werden,
sich umdrehen, das Schwert schwenken, den Markt umwandeln etc., wenn sie eine be«
stimmte Stunde, gewöhnlich Mittemacht, schlagen hören, wird unter Verleugnung der
allerdings banalen Pointe mythisch gedeutet „ Dasselbe erzählt man nun auch vom Irmina
wagen (Sternbild des groisen Bären), dafs er sich um Mittemacht mit grofsem Geräusch
umdrehe'' (ibid.).
— 77 —
landsage, S. 7) Rolandssäulen." Die „ Rulandssäule *' zu Brakel zeigt
„die alte Form der Irminsäule, die sich zugleich schon durch ihren
jetzigen Namen als den Urtypus der Rolandssäule verrät" (S. 18). „Die
rohe Form von Baumstämmen und Balken . . . ging allmählich in die
edlere Menschengestalt über, wie ja die Wunder dör griechischen
Götterplastik aus Balken, Brettern und Pfeilern erwachsen sind."
„Diese Säulen dauerten in Niedersachsen ... bis auf unsere Tage,
weil hier das Heidentum am längsten sich erhielt, und tauschten mit
der Zeit immer mehr gegen ihren mythischen Gehalt eine grolse ju-
ristische und politische Bedeutung ein, weil der Sonnengott schon in
der Heidenzeit als allsehender, schwertführender Gott später auch das
Blutgericht hütete und dem Heer in der Schlacht voranschritt." Die
von Meyer in Bezug genommene Gestalt der Brakeler sogen. Roland-
säule ist eine willkürliche moderne Schöpfung, und die Voraussetzung,
auf welcher die Anknüpfung seines Mythensystems an die RolandbUd-
säulen beruht, dafe diese nämlich allgemein und ursprünglich Sym-
bole der Blutgerichtsbarkeit gewesen seien, ist thatsächlich falsch.
A. Kuhns anerkennende Rezension der Abhandlung Meyers iaZeüschr.
f, Deutsche Philologie I, 1869, S. 491, bewegt sich ausschliefslich
auf mythologischem und sprachlichem Gebiet; indem sie aber als
richtig anerkennt, dafe Roland, Irmin und Ziu nur verschiedene Namen
des Sonnengottes seien, zeigt sie, dafs der berühmte Mythenforscher
sich Meyers Auffassung von den Rolandbildsäulen angeschlossen hat.
Eine zweite Abhandlung E. H. Meyers „Über Gerhard von
Vienne, ein Beitrag zur Rolandssage" % gehört, abgesehen davon,
dafe sie gelegentlich die Gleichung Rolandsäule = Irminsäule streift,
nur insofern hierher, als sie das Rolandreiten, insbesondere das
von dem Verfasser infolge Mifeverstehens historischer Nachrichten ganz
mythisch verbrämte Magdeburger Ritterspiel dieses Namens *) für einen
Niederschlag der Frühlingsepisode des Rolandmythus, für eine plas-
i) ZdUchr. för deatsche Pbüol. HI, 187I, S. 422.
2) Dis Magdeburger Rolandspiel war etwa im 2. Jahrzehnt der 2. Hälfte des
XnL Jahrh. so unmodern geworden, dafs die ritterliche Jagend nach Abwechselung rer-
langte. — Es ist beachtenswert, dafs sich in der Magdeburger Einflofssphäre, in der
Umgegend Ton Wettin an der Saale, nw. Ton HaUe, bis in neuere Zeit ein bäuerliches
Reiterspiel erhalten hatte, welches nel mehr an die alte Form des Rolandreitens resp. die
Quintana erinnerte, als die moderne Form des Spiels in Mflnster und in Schleswig«Hol-
stein (H. Handelmann, Volks- und Kinderspiele in Schleswig^Holstein. 2. Ausg. 1874,
S. 107). Dafs dem angreifenden Reiter dabei die Augen yerbunden wurden, wird den
Mjthologen gewifs an den Mythus ron Balder und Hödur erinnern, TgL Meyer, „Ro«
land«, S. 13.
— 78 —
tische Darstellung des sieghaften Kampfes erklärt, den der kühne
Sommergott Roland oder Rodo mit dem Wintergotte Olivier (Oller)
führt (S. 442), ohne dabei die Vertauschung der Rollen durch die
agierenden Personen in Erwägung zu ziehen. Das Spiel an sich,
welches in französischen Quellen und im deutschen Kunstepos Quin-
tana hiefs^), mag man als Dramatisierung eines Naturmythus gelten
lassen, den Rolandnamen aber entlehnte die steife Figur, in welche
sich der auf einen Pfahl gepflanzte Harnisch, nach welchem man ur-
sprünglich stach, verwandelt hatte, sicher erst in Norddeutschland von
den starren Rolandbildsäulen auf den Marktplätzen.
Als wesentlich auf Meyers Abhandlung von 1868 fufsend mögen
L. Götze s Erörterungen über Entstehung und Bedeutung der Roland-
statuen in Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal (1873, S. 313 ff.)
hier nur registriert werden.
Wir wenden uns nun zu der jüngsten Rolandpublikation, zu
P. Platens Programmabhandlung Zur Frage nach dem Ursprung
der Rolandssäulen ').
Der „Dresdener Anzeiger" (1899, Mai 3) brachte über dieselbe
ein geschicktes Referat ^) , aus dessen Einleitung und Schlufs wir er-
fahren, dafs es sich um eine „wertvolle, auf tiefen Studien und me-
thodischer Forschung beruhende Abhandlung" handelt, welche „das
Rolandsrätsel seiner Lösung erheblich näher gebracht" und, obwohl
„hier tmd da, wie es der Sachlage nach nicht anders sein kann, trotz
grofeer innerer Wahrscheinlichkeit zwingende Beweise fehlen", „bei
Mythologen und Historikern, insbesondere den namhaftesten Roland-
forschem selbst, Anerkennung und günstige Beurteilung erfahfen hat".
Ich befinde mich also stark in der Minorität, wenn ich diesem Lobe
nur insoweit beizupflichten vermag, als ich den mühseligen Sammel-
fleüs des Verfassers auf seinem eigensten Gebiete, dem der mytho-
logischen Topographie, gern anerkenne.
i) Vgl. die Stellen bei A. Schttlts, Das höfische Leben s. Z. der Minnesinger,
1879, 1880, I. 130. 146, n, 3.
2) 38. Jahresbericht des Visthnmschen Gymnasiums. Dresden, 1899.
3) Gefälliger Mitteilung des Herrn Platen rerdanke ich die Kenntnis desselben.
Andere Anseigen Ton E. Jacobs in Zeitschr. d. Harsrereins XXXII, S. 649—651 (mir
anbekannt geblieben); K. Zenmer in Forsch, z. Brandenb. o. Prenis. Gesch. Xm, 1900,
S. 381 ff.; C. Rodenberg, ZeiUchr. d. GeselUch. f. Schlesw.-Holst Gesch. XXIX.
1899, S. 347. A(asfeld), MontagsbL d. Magdeb. Ztg. 1900, no. 36. Eine kurze Besprechong
Ton mir in „Die Denkmalspflege'* II, 1900, S. 10; eine Entgegnung darauf ron Platen,
ibid. S. 87, mit angehängter Bemerkung Ton mir, S. 88.
— 79 —
Platen will, nachdem er die Nicht -Mythologen der letzten zeha
Jahre durch eine, dem einzelnen Opfer gegenüber in artigen Formen
sich bewegende, im übrigen mehr durch Dialektik als durch Be-
herrschung des Materials ^) glänzende Kritik abgethan, die Rolandfrage
„aus der Tretmühle*' der rechtsgeschichtlichen Litteratur erlösen, „die
sogar bei demselben Forscher bald die eine bald die andere der her«
kömmlichen Ansichten zu oberst bringt" (S. 12), sie von der Kritik
befreien, „die von sich selbst lebt, deren Schnitte auf sie selbst zu-
rückfahren, weil sie den Gegenstand verfehlen oder nur halb treffen,
auf den sie gerichtet sind ** (ibid.), sie „ für eine Weile aus der Stick-
luft der teilweise doch recht schwülstigen Rechtssymbolik *' hinaus-
fuhren (ibid.) *). Die Rolandfrage ist ihm zwar „völlig fremd gewesen",
bis er „auf die Vermutung von J. Grimm und die Ortsnamen" stiefs,
„welche dieselbe zu bestätigen schienen" (S. 36). „In oder bei der
Mehrzahl der Rolandsorte des Stammlandes " fand er nämlich aus dem
Donar geweihten Donnersbergen entstandene „ Petersberge oder nach-
weislich alte Peterskirchen, von denen zum TeU sicher ist, dafs sie
bestimmt waren, der heidnischen Verehrung die Wurzel abzugraben".
i) Platen (S. 25, Anm. 3) beruft sich s. B. anf mieh dafür, dafs den ziemlich
modernen Rolandbildem in Nordhaosen, Neustadt nnterm Hohnstein und Qaestenberg'
„alte beglaubigte Statuen vorangegangen seien**. Er hat die fraglicht Stelle
(Montagsblatt der Magdeb. Zeitg. 1890, S. 82) nnr halb gelesen. Ich stellte dort die
These auf, dafs fUr die antiquarische Seite der Rolandfirage o. a. diejenigen Bilder ans«
snscbeiden hätten, „welche, nachdem sie im XYL, XVIL oder XYIIL Jahrh. serstört, in
einer Weise wieder erneuert wurden, welche, Ton dem Typus der alten beglau-
bigten Statuen abweichend, keine Gewahr dafür bietet, dafs sie auch nur
annähernd getreue Kopieen ihrer Vorgänger seien: die Rolande zu Halle,
Nordhausen, Neustadt u. H., Questenberg, Wedel*'. — Die Statuen in Neustadt und
Qnestenberg gehören übrigens*, wie PL sich ans den weiteren Aosfiihnmgen der dtierten
Abhandlung hätte überzeugen können, nur als Nachahmungen des Nordhausener hierher;
ob sie Vorgänger gehabt, weifs ich bis jetzt nicht Nach mündlicher Sage bei Kuhn
und Schwartz, Nordd. Sag., no. 250, hiefs Qnestenberg früher Finsterberg, war eino
Stadt und „hat noch einen Roland**. Es wäre zu untersuchen, ob nicht etwa die Sage
im Anfange des XIX. Jahrh. einen Patrioten zur Errichtung des grottesken Bildwerkes
bewogen habe. Die Rolande zu Halle und Wedel^ obwohl sie „Tom Tjrpns der alten be-
glaubigten Statuen abweichen**, sind getreue Kopieen ihrer Vorgänger; nur der Namo
des letzteren scheint mir mangelhaft beglaubigt Hier hätte PL sachliche Kritik üben
können.
2) Seine oben citierte Entg^nung in „Denkmalspflege** schliefst er mit folgendem
Satze : „ Die Rolandforschung mnfste und mufs wieder in die zum Ziele weisenden Bahnen
einlenken, die ihr der so hart beurteilte Zöpfl In mühseliger und höchst dankenswerter
Arbeit gebrochen hat, um nicht in der Sackgasse sich zwecklos abzumühen, in welche si«
SeUo und Schröder . . . geleitet haben.**
— 80 —
Dieser Umstand ha tzu seiner Uatersuchung denAnlafs g^e-
geben (S. 19), als deren „Hauptaufgabe" er es bezeichnet, „der
von Grimm ausgesprochenen Vermutung bestätigendes Material zuzu-
führen" (S. 8). Die Entwickelung der Irmensäule zur Rolandbild-
säule ging nach Platen folgenden Weg. Das 772 von Karl d. Gr.
zerstörte sächsische Heiligtum Irmensul lag auf der Spitze des heute
das Städtchen Obermarsberg tragenden Berges, gedeckt durch die 20
bis 30 Minuten entfernt an dem Abhang des Berges errichtete Eres-
burg (S. 22) *). Dies wird vornehmlich durch Caspari's Geschichte der
Stadt Niedermarsberg (1884) für erwiesen angesehen, es wird aber noch be-
sonders auf das „ unzweifelhafte Zeugnis Thietmars " Bezug genommen
(S. 23), wonach die Peterskirche zu Obermarsberg an der Stelle ge-
gründet wurde, wo die umgestürzte Irmensäule gestanden hatte. An
dieser Stätte habe sich „unzweifelhaft ein geweihter Mittelpunkt des
engerischen Stammes befunden". Gobelinus Persona deute dies
an, wenn er Eresburg für gleichbedeutend mit Mons venerationis
halte, qiMd illuc e tota gente Saxonica quotidie sacrißcandt, oracula
petendi, votaque solvendi causa multi confluerent *) ; Bestätigung er-
i) Diese Annahme widerspricht durchaus dem von C. Schuchardt (Röm.-Genn.
Forschungen in West-Deutschland, 1900, S. 22) festgesteUten Typus der sächsischen
Volksburgen. Die Ortsbeseichnung „in der Burg", auf welche Platen L c. so gro(ses
Gewicht legt, kann sich (liglich nicht auf die zerstörte sächsische, sondern nur auf die
von Karl d. Gr. angelegte fränkische, oder vielmehr auf die mittelalterliche Burg be-
ziehen; innerhalb des 785 erbauten castellum lag, der Urkunde von 826 zufolge, die
mit jenem zugleich errichtete capella, die spätere Stiftskirche S. Petri zu Obermarsberg
(Wilmans, Kaiserurknnden I, 26). Im XIV. Jahrh. hiels der Berg, auf welchem Eres-
bui^ lag, gelegentlich Konincberg, die Feste selbst Koningesborch (Wilmans,
S. 27); Knauth (in C Schneiders Saxon. vetus, S. 81) erwähnt bei der Eresburg, von
dem Bullerbom unterschieden, den Königsborn, welchen das Rofs Karls d. Gr. auf
dessen Gebet während der Belagerung „ entdeckt '^ hätte. — VgL übrigens die Lokal-
beschreibung bei Kuhlmann, Eresburg. S. 24. 27; danach besteht die eine halbe Stunde
im Umkreis betragende Oberfläche des Berges aus zwei, durch eine kleine Einsenkong
voneinander getrennten Kuppen, von denen die nordöstliche, steil abfallende innerhalb
einer UmwaUung die Irminsnl mit ihrem Haine, die südwestliche die zum Schutze vor-
gelagerte Eresburg getragen hätte. Nach Schuchardt 1. c S. 23 würde es sich hier
um Haupt- und Vorburg handeln. Wegen des Königbrunnens vgL Kuhlmann, S. 33.
2) S. 21 Anm. 4« Platen entlehnt sein Citat aus Caspar!. Gobelinus (f 1420; Cosmo-
^om. VI, c 38. Meibom, Scr. rer. Germ. I, 235) geht davon aus, dafs in Eresburg die
Irmenseul, i. e. statua Hermis, gestanden habe; daraus folgert er, dafs in loco praedicto
concursus pro sacrificüs ipsi idolo faciendis es omni regione fiebat, und darum sei a
veneratione locus iUe Eresburg, L e. mons venerationis genannt worden. Es ist dies
nur die eine der von Gobelinus vorgeschlagenen Etymologien; die andere ist: mons
Herae i. e. Junonis.
— 81 —
bringe der um die Mitte des XII. Jahrh. schreibende Seh oliast der
Corveier Annalen^), welcher auf Grund „seiner sachlichen Be-
obachtung" und seiner „Kenntnis der örtlichkeit und der Verhältnisse'*
berichte, dafs an der Mauer der Burg Eresburg ein Bild des Kriegs-
gottes Tiu (Em, Er) stand und dafe die unmittelbar benachbarte Irmin-
43äule (auiiser anderen Bedeutungen) auch die eines Wahrzeichens
des Verkehrs hatte" (S. 23)*). Nach Widukinds Bericht „er-
innerte das Bild der Scheidunger Irmensäule durch seine Erscheinung
an Herkules-Donar"; für das „Götterbild der Irmensäule" bei der
Eresburg werde man dasselbe annehmen dürfen ; die Kombination der
Angaben Widukinds und des Scholiasten ergebe, „dafs dielrmen-
«äulen überhaupt ein riesenhaftes Bild des Donar trugen
-und eine Beziehung zum Verkehrsleben hatten" (S. 40/41).
Donar, der Donnergott, ist „ Schützer aller menschlichen Kultur über-
haupt", aber auch „ der höchsten Äuüserung der wirtschaftlichen Kultur,
<ics Verkehrs" (S. 16/17). »»Die christliche Mission leitete die Ver-
mehrung des Donar mit besonderer Vorliebe hinüber auf den heiligen
Petrus" (S. 19). Aus dem Vorkommen von Petersbergen, Peters-
kirchen und -kapeilen, prähistorischen Funden, Sagen, insbesondere
solchen, welche auf kultusverwandte Gottheiten weisen, aus der geo-
i) MGH. Scr. V. 8. Ja ff 6, BibUoth. rer. Germ. I, 1864, S. 44; TgL Fisti Cor-
bdenses, in Arch. f. Gesch. a. Altert K. Westfalens, herausg. tod Wigand, V, 1832,
S. 24. 25. Der den unteren leeren Rand des fragmentarischen Mscr. benatzende Fort-
:setzer der Annales (von Jaff6 als ^„ Chronographas Corbeiensis" uiterschieden) berichtet
z. J. 1145 von der dritten Zerstörung Eresburgs; über letzterem Wort steht Ton einer
Hand des XU. Jahrh. (Jaffö : manus eadem) : hec est Arisburg ; dazu giebt dieselbe Hand
auf dem oberen Seitenrande folgende Erläuterung : Hec eadem Eresburg est cormpto roca-
tmlo dicta, quam et Julius Cesar Romano inperio subegit, quando et Arispolis nomon
liabuit ab eo, qui Aris greca designatione, ac Mars ipse dictus est latino famine. Duobos
liquidem idolis cmtas hec dedita luit, culture id est Aris, qui urbis meniis insertns quasi
dominator dominantium, et Ermis, qui et Mercurius mercimonüs insistentibus colebatur in
forensilibus. — Durch freundliche Vermittelung des Herrn Archivdirektor Dr. Ugen habe
ich eine stark vergrösserte Photographie obiger SteUe erhalten, welche jeden etwa mög-
lichen Zweifel an der richtigen Lesung der „ganz eng zusammengezogenen** Schrift der
wunderlichen Notiz ausschliefst.
2) Chr. Petersen (a. a. O. S. 323, Anm. 3) „möchte vermuten, dafs der Scholiast
schon den Roland in seiner späteren Beziehung auf Markt und Handel — Zöpfl, S. 64 — ,
sowie dessen Bild in Eresburg gekannt habe*^ Wilmans (Die Kaiserurk. d. Prov. West-
falen I, 269) scheint dem beizupflichten und meint, die Nachricht des Scholiasten beziehe
sich unzweifelhaft auf die urkundlich früh nachzuweisende Blüte des Handels in Marsberg.
Die von ihm dafür angeführten Nachrichten betreffen aber nicht Eresburg (Obermarsberg),
sondern das am Fuise des Berges belegene Dorf Horhnsen (jetzt Niedermarsberg). Das Markt-
reeht in letzterem wurde dem Kloster Corvey im J. 900 verliehen (Wilmans L c. S. 265).
6
— 82 —
graphischen Lage der Ortschaften und der Anziehungskraft, die sie
infolge dessen schon in ältester Zeit auf den Verkehr gehabt haben
müssen (S. 19), hat Platen von „einer ins Gewicht fallenden Anzahl
der Rolandsorte** die Überzeugung gewonnen, dafs sie mit grofser
Wahrscheinlichkeit „Verehnmgsstätten des Donar gewesen**, dafs in
ihnen „in heidnischen 2^iten das dem Donar heilige Zeichen, eine
Irmensäule oder Hauptsäule mit einem riesenhaften Bilde des Gottes
gestanden (wovon die Annalisten nur zufallig keine Nachricht über-
hefert haben), dafe also die Irmensäule sich zur Rolandsäule weiter
entwickelte (S. 41). In Sachsen und Thüringen, die am spätesten
dem Christentume sich fügten, schonte die christliche Mission klug
und mafevoll „nach Möglichkeit die Lebensformen des Volkes**. „Zu
diesen gehörte ein gewisser Verkehr, die Zusammenkünfte zum Zwecke
der Beratung, der Festesfreude und des Güteraustausches.** „Dieser
Verkehr haftete vorzugsweise an den Donarsäulen.** Unter den neuen
Verhältnissen verloren diese aber ihre Beziehung zum Opfer und zum
Kultus und wurden ein blofses Wahrzeichen der Niederlassung als alt-
herkömmlicher Stätte des Verkehrs.** „Indem die Niederlassung, die
heilige Statt, sich zur Stadt auswuchs oder als solche privilegiert wurde,,
fand das alte Bild seine Aufstellung in dem neuen Mittelpunkte des
Verkehrs, auf dem Marktplatze. Die alte Bedeutung eines Wahrzeichens,
von dessen Vorhandensein das Ansehen und die Wohlfahrt des Ortes
abhängt, blieb zunächst** (S. 41). Als diese verblafste und im XIII.
Jahrh. die in Deutschland populär werde/ide französische Sage die
wunderbarsten Dinge über die Gröfee und Stärke des Helden Roland
berichtete, wurde die Riesenhaftigkeit der alten Wahrzeichen Ver-
anlassung, dafs man auf sie zunächst den Namen Roland übertrug.
Später erblickte man in ihnen Standbilder des Helden Roland und
verlieh ihnen statt Keule oder Hammer, die sie bisher geführt, ein
Schwert, zunächst ohne Scheide. Das blofse Schwert führte zu Deu-
tungen auf den Blutbann, diese zu solchen auf den König. Diese
Deutung wirkte wieder auf die Formengebung zurück, und so sehen
wir die Bilder unter abwechselnder gegenseitiger Beeinflussung von
Deutung und Formengebung in die Entwickelung einlenken, die sich
im Lichte der Geschichte vollzieht** (S. 42).
Eine Prüfung der Platenschen Argumente im einzelnen ist hier
unmöglich, aber auch nicht erforderlich, um die Unhaltbarkeit seiner
Theorie darzulegen. Es genügt, die Hauptpunkte herauszuheben.
Verführerisches Analogisieren und Generalisieren *), verbunden mit
i) Für jenes ist ein Beispiel Platen s Rückschlafs aas der von ihm, aof Grand.
— 83 —
Gleichgültigkeit gegen ernste Quellenkritik, die uns die Freude an
sagenkundlichen Arbeiten oft trüben*), wirken verhängnisvoll, wenn
historische Fragen in den Kreis derartiger Untersuchungen hinein-
reichen. Wir sehen das wieder an Platens stofflich so fleifeiger
Arbeit
Von vornherein hat es Platen unterlassen, die Rolandbilder selbst
und ihre historische Beglaubigung zu untersuchen; er hat sich als
Grundlage seiner Untersuchung „nur an die herkömmlichen Verzeich-
nisse gehalten" (S. 13); einige, der von anderer Seite geübten Kritik
nachträglich gemachte Zugeständnisse sind belanglos. Gerade seine
Aufgabe wäre es gewesen, vor allen Dingen bei den nur durch den
sogen. „Volksmund" beglaubigten Bildsäulen zunächst die Art, das
Alter und die Glaubwürdigkeit der Überlieferung kritisch zu prüfen.
Die Erklärung der Irmensul (Säule mit einer Statue darauf) als
Idol Donars und dessen Übergehen in den h. Petrus einer-, die vor-
zugsweise aus letzterem Umstände gefolgerte Existenz zahlreicher, mit
den Rolandsorten der sächsischen Stammlande zusammenfallender
Donar-Kultusstätten anderseits, sind Hypothesen, die in einem mytho-
logischen Essay sich recht wohl ausnehmen würden, als historische
Beweise indessen nicht passieren können. Die Bildung jener Donar-
Idole als kolossale gewaffnete Statuen, und ihre kulturelle Beziehung
auf das Verkehrsleben, ihre Fortdauer in christlicher Zeit als Wahr-
zeichen der Niederlassung, als Glückssymbole, ihre Verpflanzung von
den Kultusstätten auf die Marktplätze '), das alles sind fein säuberlich
einer mifsverstandenen QaellensteUe , voraasgesetzten Gestalt der nach dem Siege rasch
errichteten Scheidanger Irmensänle auf die Form des an altheiliger Stätte ständig ver-
ehrten Idols, dem er seinen Platz auf der Eresbnrg anweist Für den Hang zun Gene-
ralisieren sind charakteristisch zwei von ihm ans Bramstedt und Wedel beigebrachte
Sagen. Wenn an jenem Orte von auswärts hineinheiratende Bräute dreimal am den
Roland gefahren werden, so ist das eine in die möglichst weite Öffentlichkeit, d. h. auf
den Marktplatz mit seinem monamentalen Mittelpunkt , verlegte , bei einheimischen
Bräuten überflüssige symbolische Zeremonie der Aufnahme in die Ortsgemeinschaft,
kein allgemeiner „Hochz6itsbraach'', hinter welchem Beziehungen zu Donar-Thor
als Gott der Hochzeit und Ehe zu vermuten sind (S. 34). Und die Wedeler Sage be-
kundet nicht, dais „man vor einer Reise um den Roland herumfuhr** (S. 35), sondern
erzählt nur, dafs einmal ein abergläubischer auswärtiger Kutscher den zu einer
Kranken entbotenen Pastor Rist nachts um den Roland gefahren habe.
i) Man lese z. B. alle die hübschen Dinge, welche über Jodute, Irmensäule und
die von König Heinrich L aaf (iem Hausberge bei Langenberg (Gera) errichtete Roland-
säule (s. auch Platen S. 29) bei R. Ei sei, Sagenbuch des Voigtlandes, 187 1, Nr. 1019.
1021 — 1023. 1030 zusammengetragen sind.
2) Um diese, für seine Theorie ganz unentbehrliche, die endgültige Verknüpfung
6*
— 84 —
auf die Theorie zugeschnittene ideelle Konstruktionen, welche durch
die Drapierung mit einigen Quellenstellen an Thatsächlichkeit nicht
gewonnen haben. Denn dieses historische Beweismaterial ist ohne
erneute Wertprüfung lediglich in der konventionell gewordenen Auf-
fassung verwendet worden, in welcher zuerst die ältere mythologische
Litteratur es sich für ihre Zwecke zurecht gelegt hat.
Der Corveier Scholiast, auf den Platen seine Ansicht von
der Irmensäule als Wahrzeichen des Verkehrslebens historisch stützt,
mag mit örtlichkeit imd Verhältnissen des Obermarsberg seiner Zeit
(Mitte XII. Jahrh.) ausreichend vertraut gewesen sein ; die heidnischen
Zustände des Ortes aber, der inzwischen dreimal zerstört war, kannte
er höchstens aus der Tradition seines Klosters. Er verwendet (wie
nach ihm Gobelinus Persona, Cosmodrom. ed. Meibom S. 236) die
Worte Widukinds (I, 12) von der Scheidunger Irmensäule rein
äufserlich zur Erklärung des Namens Eresburg, Arisburg *), und verball-
hornt sie nach Mafisgabe seines Halbwissens und Mifsverstehens *), in-
dem er aus dem einen Heiligtum des Mars | Irmin bei Widukind
zwei Idole, des Ares | Mars und des Hermes (Irmin) | Mercurius,
macht, derselbe Irrtum, welcher nachmals die drei Bildnisse an der-
selben Irminsul bei Heinrich von Hervord (S. 6) oder ihrer vier bei
der pntaüven Donarbildsänlen mit den positiven Rolandstatnen bedeutende Behauptung
wenigstens scheinbar unter Beweis zu stellen, sagt Platen S. 19, Anm. i: Verände*
rungen des Standortes sind auch noch später ein gewöhnliches Vorkommnis. Vgl. Sello,
2. Abh. 1890, S. 73; Rietschel S. 228. Das erste Citat, eine gegen die Situations«
bilder des Berliner Rolandsbuches gerichtete allgemeine Bemerkung, beweist hier gar
nichts ; im zweiten Citat sind aus meiner Abhandlung einige Fälle von Flatzveränderungen
angeführt, mit dem Zusatz: „wie viele der uns erhaltenen Rolande mögen ursprünglich
einen anderen Standort gehabt haben I *^ Alle uns bekannten derartigen Platzverände«
nmgen bestehen aber nur in Verschiebungen innerhalb des ursprünglichen Aufstellnngs«
bezirkes, welche aus Zweckmälsigkeitsgründen in neuerer und neuester Zeit geschahen.
Wer aus ihnen — und ihre Zahl könnte erheblich vermehrt werden — Rückschlüsse
auf die Frühzeit und von solcher Tragweite zieht, wie Platen, täuscht sich und den Leser.
i) Um dies zu erkennen, mufs man den ganzen Text des Scholion vor sich haben
(s. oben S. 81 Anm. i) und nicht, wie Platen (S. 23), nur Riegers Auszug in Ztschr.
f. D. Altertum.
2} Jaff6 nennt ihn im Vergleich mit dem älteren Corveier Annalisten: paulo rudior
et tnmidior (vgl. Wattenbach, Gesch. Q. <• II, 270: in gesuchter Schreibart und un-
grammatisch, nicht immer verständlich). Dais Ares meniis insertus gewesen sei, ist aus
der Angabe Widukinds, dafs die Scheidunger ara Martis ad orientalem portam errichtet
wurde, heransgedeatelt. Bei dem, was in wirrem Latein von Ermes, qui et Mercurius,
gesagt wird, kann man zunächst an Kaiserchronik, ed. Diemer S. 5, 7 (ed. E. Schroeder,
MGH. Deutsche Chron. I, i, V. 1290.) denken.
— 85 —
W. Rolevink *) ins Dasein gerufen hat. Denn Widukind sagt nicht,
dafs „Mars auf griechisch Hermis** heifse oder übersetzt gar, wie
Platen ihm unterstellt (S. 40), „Hermin -Hermes ins Griechische mit
Mars**, sondern setzt lautlich deutsch „Hirmin** = griechisch „Her-
mes** (vgl. J. Grimm, Irmenstrafse S. 46; Myth. • S. 328), um da-
mit die Abkunft der Sachsen von den Griechen wahrscheinlich zn
machen, indem er erläuternd nachholt, dafe der von ihm vorher er-
wähnte „Mars**, nach welchem semes Erachtens das Idol benannt
wurde, im Deutschen „Hirmin** sei: quia Hirmin, vel Hermis graece,
Mars dicitur. Widukind weife femer nichts von einem „ an Herkules-
Donar erinnernden Bild der Scheidunger Irmensäule** *), sondern ver-
gleicht deren Form, sei es auf Grund einer Tradition, sei es lediglich
auf Gnmd des Namens, mit der rein architektonischen Gestalt
der Herkulessäulen (efßgie columpnarum imitantes Herculem), wie
sie z. B. noch die Kunst des XVI. Jahrh. formulierte, kommt also
mit der ältesten, füglich noch auf direkten, am Königshofe empfan-
genen Berichten von Augenzeugen beruhenden Beschreibung der
Irmensul bei Rudolf von Fulda, dem bewährten Fortsetzer der
vortrefflichen Ann. Fuld. (839 — 863), überein •).
l) De laadibns Westphaliae, Scr. rer. Bninsvic. Ol, 621. Herrn. Hamelmann,
Delineatio arbinm et oppidomm Westphaliae, praefat (opp. geneal. bist edit. Wasser-
bach S. 65) citiert dieselbe Schrift Rolevinks, doch in folgender Form; faerant aatem
circa istnd castrom quatuor statnae scolptae, Martis, Mercnrii, Hercolis et ApoUonis;
a Marte tarnen, quasi praecipno patrono, nomen sortitum est castmm.
3) J. Grimm hatte schon Irmenstr. S. 40 gegen „die nüchterne Auslegung der
Neueren'* geeifert, „die ans dem Heiligenbild gern einen blofsen Klotz gemacht hätten,
▼or dem sich unsere plumpen, rohen Vorfahren niedergeworfen". Ihm bedeutete „der
sfichsische Hirmin bei Widukind dem Bilde nach den Herkules, weil er heldenmäisig ge-
rüstet erscheint" (Handausg. des Widukind von G. H. Pertz, S. 16, Anm. i). Im „ge-
wöhnlichen Heldenkostüm " stellt nur „ die älteste Kunst" den Herakles dar (K.O. Müller,
Handb. d. ArchäoL d. Kunst, 3. Aufl. 1878, S. 675, } 6); davon hatte Widukind schwer-
lich eine Ahnung. Wenn man in Hochdeutschland vom VIII. bis ins XIII. Jahrh. mit
Irminsul die Vorstellung eines heidnischen, auf einer Säule errichteten Bildes verband
(J. Grimm, D. Myth. 8, S. 107), so beweist dies nicht die Existenz so geformter heid-
nischer Götterbilder in Norddeutschland, sondern nur den frühen Einflufs römischer Kunst-
gebilde auf die Vorstellungen süddeutscher Litteraten.
3) Rudolf, t 865 ; TransL s. Alezandri c. 3 ; MGH. Scr. II, 676 : truncus ligni non
parvae magnitudinis in altum erectus. Dazu fügt sich der etwas jüngere, dem Ende des
IX. Jahrh. angehörige Bericht des aus Sachsen stammenden Poeta Saxo (MGH. I, 328,
V. 45 ff.) :
Gens eadem coluit simulacrum, quod vocitabant
Irminsul, cuius similis factura columne
Non operis parvi fuerat pariterque decoris.
— 86 —
Thietmar von Merseburg (II, i, MGH. Scr. III, 744), der 240
Jahre nach der Zerstörung" der Irmensäule schrieb, kann nach Heimat,
Charakter und Entstehungszeit seines Werkes für die Errichtung der
Peterskirche an Stelle des gestürzten Idols zu Obermarsberg kein
„unzweifelhaftes Zeugnis" abgeben, um so weniger, als er die bezüg-
liche Stelle von der Tötung Thankmars sachlich aus Widukind (II, 1 1)
entnimmt, und selbst nur aus der Tradition die Nachricht von der
Irmcnsul hinzufügt. Diese Tradition kann damals schon sehr wohl
aus einseitiger Berücksichtigimg der Nachricht in den sogen. Ann.
Einh. ad a. 772 (MGH. I, 151 : Aeresburgunt casirum coepit, ido-
lufH, quod Irminsul a Saxonibus vocabatur, evertit) entstanden
gewesen sein, deren richtiges Verständnis sich erst aus ihrer Verglei-
chung mit den älteren und ausführlicheren Berichten ergiebt (Ann.
Petav. MGH. I, 16: conquisivit Erisburgo et pervenit ad locutn
qui dicitur Emtensuly Ann. Lauriss. maj. ibid. 150: Aeresburgunt
castrum coepit, ad Erntensul usque pervenit) ^).
Was den christlichen Ersatz Donars durch s. Peter anlangt *), für
welchen Platen nicht weniger als fünf mythologische Autoritäten an-
ruft (S. 19 Anm. 4), so kann zugegeben werden, dafe einzelne Züge
Donars auf Petrus übergegangen sein werden, nämlich dort, wo that-
sächlich an einer Donar- Kultusstätte eine Peterskirche errichtet
wurde *). Man kann daher wohl aus dem lokalen Auftreten gewisser
Petrussagen vermutungsweise auf ehemaligen Donar-Kultus an solcher
konkreten Stelle schliefsen; aber es ist unzulässige Verallgemeinerung,
mit der Bestimmtheit, welche Platen für seine Theorie bedarf, regel-
i) Die Annahme Hüffers (Con% Stud. S. 11), dafs der Verfasser der Ann. Eanh.
(und die ihm vorliegenden Ann. Fuld. MGG. I, 348: Eresborgnm castmm cepit et ido-
Inm Saxonum, q uod vocabatur Irminsule destnudt) an dieser Stelle nicht dasselbe sagen
will, wie die von ihm überarbeiteten Reichsannalen , sondern dafs er letztere mit Hilfe
seiner genauen Ortskenntnis berichtigt, halte ich für unzutreffend. Der Bericht des Poeta
Saxo (s. die vorhergehende Anm.) scheint ebenfalls gegen Hüffers Interpretation zu
zeugen. Caspari's, von Platen (S. 22, vgL S. 25) verwerteter Versuch, die Ann. Petav.
auszulegen, charakterisiert den eifrigen Lokalforscher, welcher bestrebt ist, der Stadt
Obermarsberg um jeden Preis den Besitz der Irminsul zu erhalten. Dasselbe gilt för die
fleifMge Sammelarbeit B. Kuhlmanns, Eresburg u. Irminsul (Programm des Gymnas.
Theodorian. zu Paderborn, i$99'l.
a) Über Herkules als angeblichen Typus $. Peters, vgL F. Piper, Mythol. d.
christL Kunst I, S. 130 ff., 1847-
3) Im friesischen Blexen (Grolsh. Oldenburg), wo wir eine Kultusstätte des Thaner
tu vermuten haben, trat an dessen Stelle s. Hippolytus; vgL meine Studien z, Gesch. r.
Ostringen o. Rvistringen, 1S98, S. 66.
— 87 —
mäfsig dem Kirchenheilig'en den Heidengott zu substituieren. Sollte
in Sachsen die Petrusverehrung wirklich eine besonders häufige ge-
wesen sein — es fehlt mir an einer vergleichenden Statistik atis an-
deren deutschen Gegenden — so würde sich dieselbe einfach historisch
<iadurch erklären, dais Karl d. Gr. das zu erobernde Land dem
hl. Petrus weihte und nach gewonnenem Siege sein Gelübde erfüllte ^).
Auch hinsichtlich der Peterskirchen selbst ist das statistisch-histo-
rische Material Platens nicht zuverlässig. Von den drei ältesten Ro-
landstätten z. B.: Magdeburg, Hamburg, Bremen*), war in den
beiden ersteren mit Sicherheit, in letzterer mit grofser Wahrscheinlich-
keit die Peterskirche nicht die erste und älteste am Ort, wie sie es
füglich sein mufste, wenn sie dazu bestimmt war, der Donar- Verehnmg
die Wurzeln abzugraben.
Bedenklicher als diese historischen rationes dubitandi, über die
sich zur Not diskutieren läfst, ist die, ich möchte sagen agitatorische
Tendenz, welche Platen in die Frage hineinträgt. Auf Grund seiner
Theorie erschliefst er nicht nur Rolande in Orten, für welche jede
historische oder nur volkstümliche Beglaubigung fehlt — Eisenach
und Goslar (S. 38) — , sondern er stellt sogar den Grundsatz auf,
dafs „für alle rolandlosen Donarstätten (die sehr vagen Erkennungs-
zeichen derselben hat er S. 19 gegeben, s. oben S. 81) im Rolands-
gebiet" zu gelten habe, „dafs schon die Donarsäule oder auch das
Rolandsbild, welches dort einst gestanden hat, untergegangen ist"
(s. 39).
i) Mag man diese Erzählung für Thatsache oder Sage erklären, jedenfalls war sie
mindestens vor der Mitte des IX. Jahrh. schon im Schwange; vgl. Wilmans, Kaiser-
Urkunden I, 135 ff.; G. Hü ff er, Corveier Studien S. 114 ff.
2) Vgl. Platen S. 30. 20. 19. Die Magdeburger Petrildrche ist eine Grün-
dung des Xin. Jahrh., an deren Stelle die Lokalhistoriker vorher die Karolingerburg,
das spätere Burggrafenschlofs, suchen, vgl. F. Hülfse in Festschr. d. Magdeb. Gesch.-
Yer. 1891, S. 51 ; der Berg ist natürlich erst nach der Kirche benannt worden. — Die
älteste Kirche in Hamburg war der Mariendom, nicht die Pfarrkirche s. Petri (Adam.
Brem. n c. 68; vgl übrigens oben S. 15); darüber dafs der Bremer S. Petersdom ur-
sprünglich wahrscheinlich erst der Jungfrau Maria geweiht war, vgl. J. M. Kohlmann,
Beitr. z. Brem. Kirch.-Gesch. I, 1844, S. 96, s. Brem. ÜB. I, Nr. 31. 33; dazu H. A.
Schumacher in Brem. JB. I, 1864, S. 287. 295. 305. — Auch in Nordhausen
scheint die Sache nicht so einfach, wie Platen (S. 27) annimmt; die s. Petri-Parrochie,
von der Altstadt durch ein Thal getrennt, welchem noch Mitte des XV. Jahrh. die Stadt-
mauer entlang lief, gehörte ursprünglich nicht zur Altstadt, deren älteste Pfarr- und Markt-
kirche dem h. Nikolaus geweiht ist; in der Altstadt, der Nikolaikirche benachbart, steht
4er Roland.
— 88 —
Durch die Freundlichkeit des Herrn Grafen Hugo von Walderdorff
bin ich in der Lage, nachträglich auf einen interessanten Beitrag zunt
Kapitel von den süddeutschen Rolanden (S. 41) hinweisen zu können.
Der in Vorbereitung befindliche LH. Band der Verhandlungen des
histor. Vereins von Oberpfalz und R^ensburg(i90o) wird aus der Feder
von Fr. Drexel nach einem im Januar 1899 von demselben gehal-
tenen Vortrage eine (mir im Sonderabdruck vorliegende) Abhandlung
Der Brunnen auf dem Fischmarkte zu Regensburg (sogenannter
Rolandsbrunnen) bringen. Danach trägt die 1551 gefertigte zierliche
Brunnenfigur, welche den Fufs auf einen Delphin stützt, antike Rüstung^
in dem Phantasiestile ihrer Entstehungszeit; der Rolandname für sie
hat sich in der Bevölkerung niemals eingebürgert (Sonderabdruck
S. 17), sondern ist mindestens seit Anfang des XVIII. Jahrh. nur
im Munde der Gelehrten imd Gebildeten gewesen (s. Regensbui^ in
seiner Vergangenheit und Gegenwart, herausg. v. d. histor. Verein C
Oberpfalz und Regensburg, 1869, S. 145), seit Karl Paricius,.
Allerneueste und bewährte Nachricht von der . . . Stadt Regens-
bürg u. s. w.y Regensburg, zuerst 1724, sie emen „Roland oder
geharnischten Mann" genannt hat (1. c. S. i). Die von Pariciua
dem Namen hinzugefügte Definition ist lehrreich; sie zeigt dea
Rolandsbegriff so verblafst, dafs er zum Kunstausdruck für eine
freistehende gehamischte Dekorativfigur werden konnte, analog dea
Atlanten, Telamonen, Karyatiden der Architektur. In Verbindung mit
der schon früher (S. 6. 49, Anm. 3) konstatierten Thatsache, dafs
anderwärts die Kolossalität einer Figur Veranlassung zur Übertragung
des Rolandnamens wurde, erhalten wir hier ein wichtiges kritische»
Hilfsmittel zur Beurteilung solcher Statuen, deren Herkunft aus dem
Mittelalter weder urkundlich noch stilistisch nachgewiesen ist, und
welche dennoch in der Litteratur — so wollen wir vorläufig vorsich-
tigerweise statt „Volksmund" sagen — als Rolande bezeichnet werden^
eine Erscheinung, die mir deutlich erkennbar zuerst g^en Ende des
XVI. Jahrh. entgegengetreten ist.
Die Lehre, welche wir aus unserer Übersicht über die Litteratur
der Rolandstatuen zu ziehen haben, ist einfach genug, und kommt
mit dem überein, was zu Elingang gesagt wurde. Soll in der Roland^
frage, deren kultur- und kunsthistorisches Interesse nicht bestritten
werden wird, methodische Forschung an Stelle uferlosen Hypothesen-
sports endlich zu ihrem vollen Rechte kommen, so ist xonächst, wie
— 89 —
Uhlirz es so präcise formuliert bat, eine ausreichende archäologische
Grundlage zu schaffen, welche alle nur irgendwie in Betracht kom-
menden Bildwerke , die vorhandenen und untergegangenen , auch die
aufserdeutschen , zu umfassen hat. Manches ist in dieser Richtung
gethan; vieles bleibt noch übrig. Längst nicht von allen Rolandorten
haben wir die Überzeugung, dafe ihre Geschichtsquellen im weitesten
Sinne für unser Thema ausgebeutet seien. Da bei den meisten hier
in Frage kommenden Fällen es sich um handschriftliches Material
intimster Art und um Erzeugnisse der Lokalpresse handeln wird, welche
für den Auswärtigen kaum erreichbar sind, genügen die Kräfte eines
Einzelnen für die Bearbeitung des ganzen Gebietes nicht; sie ist von
Ort zu Ort die Aufgabe der Lokal forschung, die sich von lockenden
aber voreiligen Spekulationen allgemeiner Natur vorsichtig fem zu
halten hat Die Ergebnisse ihrer gewissenhaften Arbeit, auch .wenn
sie nur negativer Art sind, dürfen nicht in Vereinsschriften und Zei-
tungsfeuilletons vergraben, sondern müssen an allgemein zugänglicher
Stelle vereinigt werden ; sachkundige Aufnahmen, am besten in einem
gemeinsam zu vereinbarenden Mafsstabe, dürfen nicht fehlen. Ist
diese Arbeit gethan, so wird die Wissenschaft schon die Wege zu
finden wissen, welche weitere Forschung zu verfolgen hat.
Alphabetische Übersicht über die besprochenen Rolandsorte.
Arebrück, s. Wahrenbrück. — Bederkesa, S. 8. 43. — Beigem, S. 8. 54. 65 Anm. i. —
Berge, S. 7. 48 Anm. i. — Berlin, S. 3. 43. — Brakel, S. 50. 70. 71. 77. — Bram-
stedt, S. 9. II. 65 Anm. i a. E. 82 Anm. i. — Brandenburg, S. 3. 8. ii. 46. 65. —
Braimschweig , S. 40. — Bremen, S. 3. 5. 6. 8. 9. 42 ff. 50 £f. 54. 7I Anm. 3.
73 Anm. 2. 87. — Buch, S. 11. 65. — Buxtehude, S. 76 Anm. 2. — Eckemförde, S. 41. -
Eisenach, S. 87. — Erfurt, S. 7. 10. 41. 70. 72. — Finsterwalde, S. 8 Anm. 3. —
Freiberg in Meifeen, S. 49 Anm. 3. — Friesack, Alt-, S. 41. — Frouard, S. 68. —
Gardelegen, S. 11. 40 Anm. 2. — Göttingen, S. 47 Anm. i. 55. — Goslar, S. 47
Anm. I. 87. — Halberstadt, S. 46. — Halle, S. 3. 5. 7. 8. Ii. 44ff. 54. 79 Anm. i.—
Hamburg, S. 3. 5. 6. 11. 43. 55. 87. — Hildesheim, S. 40. — Langenberg, S. 75
Anm. 5. 83 Anm. i. — Legde, S. 49, Anm. 3. — Lübeck, S. 5. ii. — Magdeburg,
S. 3. 5. 6. II. 46. 50 ff. 72. 87. — Neuhaldensleben , S. 2 Anm. 2. 11. — Neustadt
im Stiüe Köln, S. 48 Anm. i. — Neustadt unterm Hohnstein, S. 79 Anm. i. — Nord-
hansen, S. 9. 45. 79 Anm. i. 87 Anm. 2. — Obermarsberg, S. 48. 70. 71. 81 Anm. 2. —
Oschatz, S. 8. 47 Anm. i. — Perleberg, S. 11. — Polrin, S. 10. — Potrlow, S. 46. —
Prenzlau, S. 55. — Quedlinburg, S. 5. 47. 55. — Questenberg, S. 79 Anm. i. — Ra-
gusa, S. 71 Anm. 3. — Regensburg, S. 88. — Reichwalde, S. 8 Anm. 3. — Rnhland,
S. 8 Anm. 3. — Salzwedel, S. 40. 73. Anm. 5. a. E. — Sangerhausen, S. 41. — Sec-
hansen, Seerhausen, S. 8 Anm. 3. — Stadtberge s. Obermarsberg. — Stendal, S. ii. 40
Anm. 2. — Tilleda, S. 47. — Verden, S. 50. — Verona, S. 4. 76 Anm. i. — Wahren«
brück, S. 8 Anm. 3. — Wedel, S. 9. 11. 40 Anm. 2. 49 Anm. 3. 79 Anm. i. 82 Anm. i. —
Wildeshausen, S. 41. — Wittenberg, S. 40. — Würzen, S. li. — Zerbst, S. 10. ii.
74 Anm. I.
— 90 —
Mitteilungen
Archive. — In Mannheim wurde die Instandsetzung des Stadtarchivs
T^eschlossen , imd zwar wurde zur Lösung dieser Aufgabe der verdienstvolle
Herausgeber der Mannlieimer Geschichtsblälter, die seit Januar 1900 monat-
lich erscheinen, Dr. Friedrich Walter, berufen, welcher sich durch seine
Geschichte des Theaters und der Musik am kurpfähischen Hofe (= Forschungen
zur Geschichte Mannheims und der Pfalz, herausgegeben vom Mannheimer
Altertumsverein I, Leipzig 1898) und durch das Archiv und Bibliothek des
Mannheimev Hof- und NaimialtJieaters (Leipzig, Hirzel, 2 Bände 1898 und
1899) auch in weiteren Kreisen bekannt gemacht hat.
Im grofsherzoglich badischen General-Landesarchiv in Karlsruhe ') sind
die alten Archive und Registraturen der Markgrafschaften Baden-Durlach und
Baden-Baden, die Archive der infolge der politischen Umwälzungen im An-
fange des 19. Jahrhunderts an Baden gefallenen Gebiete, sowie die Urkunden
und Akten der Staatsbehörden und Hofömter im Grofsherzogtum, soweit die-
selben für den laufenden Dienst nicht mehr erforderlich und zu dauernder
Aufbewahrung geeignet sind, vereinigt. Das Archiv besteht aus drei Ab-
teilungen, dem grofsherzogUchen Familienarchiv, dem Haus- und Staatsarchiv
und dem Landesarchiv. Das Familienarchiv enthält die auf die persönlichen
Verhältnisse der Mitglieder der Durlacher Linie des grofsherzogUchen Hauses
bezüglichen Akten, Urkunden und Korrespondenzen von dem regierenden
Markgrafen Karl Wilhelm (1709 — 1738) und seinen Geschwistern an, das
Haus- und Staatsarchiv die Archivalien, welche auf das grofsherzogliche Ge-
samthaus, auf alle Mitglieder der im Jahre 17 71 im Mannesstamme aus-
gestorbenen baden-badischen Linie des Fürstenhauses und auf die Mitglieder
der Durlacher Linie bis auf Karl Wilhelm herab sich beziehen, endlich alle
•die politischen Angelegenheiten der badischen Lande (der beiden Markgraf-
schaften, des Kurfürstentums und des Grofsherzogtums) betreffenden Akten
imd Urkunden. Das Landesarchiv umfafst in 17 Abteilungen alle übrigen
Bestände : die Urkunden (ca. 150 000 Stück, darunter die Selekte der ältesten
Urkunden bis zum Jahre 1200, der Kaiser- und Königsurkunden bis 15 18
und der Papsturkunden bis 1302), das Lehen- imd Adelsarchiv (ca. 1 1 000 Ur-
Itimden und 7800 Aktenfaszikel), die umfangreichen Akten (ca. 190000 Fas-
zikel), die Kopialbücher (1530 Bände), die Anniversarien und Nekrologien
{56 Bände), die Beraine, Urbare, Lagerbücher imd Renovationen (10776 Bände),
die Sanmilung der Kompetenzbücher, Schul- imd Stifhingstabellen (233 Nummern),
die Handschriften (1375 Bände), die Pläne, Gemarkungskarten und Landkarten,
die alten Rechnungen (6188 Bände), die Sammlung der alten Protokolle
(2858 Bände), die Stempelsammlung (997 Stück), die Sammlung der alten
und neuen Repertorien (1904 Bände), die von Behörden, Gemeinden und
Privatpersonen imter Vorbehalt des Eigentumsrechts hinterlegten Archivalien
und die Manuahegistratur. — Als Organ für die wissenschaftliche Verwertung
•der überreichen Schätze des Archivs diente ehemals die Zeitschrift für die
Geschichte des Oberrheins, welche in den Jahren 1850 bis 1885 von dem
i) Über das Archivwesen in anderen deutschen Staaten vgl. die Mitteilungen im i. Band,
S. 171 — 172 (Preulsen), S. 245 — 247 (Baiern) sowie ob. S. 26 — 32 (Sachsen u. Württemberg).
— 91 —
General-Landesarchiv herausgegeben wurde *). Seit dem Übergange dieser Zeit-
schrift nach Abschlufs des 39. Bandes an die badische historische Kommission
ist das Archiv mit irgendwelcher offiziellen Veröffentlichung nicht mehr hervor-
getreten. Doch wird neuerdings von demselben die Herausgabe von Archiv-
inventaren vorbereitet, deren erster Band demnächst erscheinen wird.
An der Spitze des Archivs steht der Archivdirektor. Von weiteren
akademisch gebildeten Beamten sind vorhanden zwei Archivräte tmd ein
etatsmäfsiger Hilfsarbeiter (Archivassessor). Das Kanzleipersonal besteht aus
zwei Registraturen und einem Registraturassistenten. Was die wissenschaft-
liche Vorbildung der akademisch gebildeten Beamten anbelangt, so ist durch
landesherrliche Verordnung vom 26. November 1891 bestimmt, dafs Amts-
stellen im höheren Archivdienst nur solchen Personen übertragen werden
sollen, welche entweder die erste Prüfung der Rechtskandidaten oder die für
die wissenschaftlich gebildeten Lehrer an den Mittelschulen vorgeschriebene
philologisch-historische Prüfung, bezw. die in anderen deutschen Staaten vor-
geschriebene Oberlehrerprüfung bestanden, oder endlich die Befähigung ziun
Dozieren in der juristischen oder (für philologisch-historische Fächer) in der
philosophischen Fakultät einer deutschen Hochschule erlangt haben. Die
Gehaltsverhältnisse sind durch die allgemeine Gehaltsordnung vom 9. Juli 1894
geregelt. Nach derselben steigt das Gehalt des Direktors bis 6800 Mark,
dasjenige der Räte bis 5000 Mark und dasjenige des Hilfsarbeiters bis
4500 Mark; dazu kommt der ordnungsgemäfse Wohntmgsgeldzuschufs von
760 Mark für den Direktor und 620 Mark für die Räte imd den Hilfs-
arbeiter.
Die Benützung des Archivs ist seit einer Reihe von Jahren eine aufser-
ordentlich rege. Im Jahre 1899 betrug die Zahl der Benutzer 221. Unter
denselben waren 29 Staats-, Hof-, Militär-, Kirchen- und Gemeindebehörden
und 16 Privatpersonen, welche das Archiv für geschäftliche, und 176 Privat-
personen, welche es für wissenschaftliche Zwecke in Anspruch nahmen. Die
2^hl der Benützungen belief sich insgesamt auf 432. — Der staatliche Auf-
wand für das Archiv ist für die Budgetperiode 1 900/1 901 auf 75420 Mark
im ordentlichen imd 2000 Mark im aufserordendichen Etat festgesetzt.
Oeschtchtltche Ortschaftsyerzeichnlsse. — Bereits S. 58 wurde
auf die in Dresden aufgestellten Vorsciääge für die Ausarbeitung histori-
scher Ortschaftsverxeichnisse hingewiesen. Für alle Landschaften Deutschlands
ist die Herstellung solcher von gröfster Wichtigkeit, da sie nicht nur einen
Niederschlag der gesamten geschichtlichen Arbeitsleistung darstellen imd zmi
raschen Orientierung auch des femer Stehenden dienen, sondern auch für
viele Zweige der Verwaltung von hohem Werte sind. Nur wenn eine gröfsere
Reihe von Sonderarbeiten vorliegt, wie sie neuerdings der Forschung in dem
Topographischen Wörterbuch des Oroßherxogtunis Baden ^) beschert worden
i) Vgl. den Aufsatz von R ranner, Fünfzig Jahre oberrheinischer Geschichts«
forschang im i. Bande dieser Zeitschrift, S. 229 — 239.
2) Herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission 1898, bearbeitet
von Archivrat Krieger, welcher in einem Aufsätze (Korrespondenzblatt des Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, 48. Jahrg. [1900], S. 145 — 148)
eingehend über Entstehung und Anlage des Werkes berichtet.
— 92 —
ist, von dem sich bereits eine zweite Auflage notwendig macht, wird es
möglich sein, in einer Neubearbeitung von Oesterley, Historisch-geogra-
phisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters (Gotha 1883), ^^ wirklich
brauchbares imd doch nicht zu lunfangreiches geographisch - geschichtliches
Handbuch zu liefern. Um ihnen eine möglichst grofse Beachtung zu sichern,
lassen wir die oben erwähnten „Vorschläge " hier in vollem Wortlaut folgen :
Ein geschichtliches Ortschaftsverzeichnis hat die Aufgabe, in kürzester
lexikographischer Form von den Wohnplätzen des behandelten Gebietes
diejenigen Nachrichten zu geben, welche die Entwickelung des Namens
sowie die Lage, Entstehimg und jeweilige Zugehörigkeit zu politischen oder
kirchlichen Verbänden klarstellen. Auch Berge, Flüsse, Seen und Wälder
sollen entsprechende Berücksichtigung finden.
I. Aufgenommen werden in alphabetischer Reihenfolge:
1. Die selbständigen Ortschaften.
2. Eingemeindete oder angegliederte Ortschaften, die früher selbständig
waren.
3. Burgen und Schlösser, soweit sie nicht unter den Ortschaftsnamen ge-
nannt werden.
4. Einzelliegende Gutsbezirke, Höfe und Mühlen.
5. Kapellen, Kirchen imd Klöster, die nicht innerhalb einer Gemeinde
liegen (diejem'gen iimerhalb der Gemeinde erscheinen imter dem Ge-
meindenamen).
6. Wüstungen. Als Wüstungen sind auch die quellenmäfsig nicht als
Wohnorte nachzuweisenden Flurnamen anzusehen, die Ortsnamenform
haben.
7. Die Namen der Staaten, Provinzen, Kreise, Ämter etc., die von dem
bearbeiteten Gebiete ganz oder teilweise umschlossen werden oder früher
als politische Gebilde innerhalb dieses Gebietes vorhanden waren.
8. Die Namen der Bistümer, Archidiakonate, Archipresbyterate (Dekanate),
Superintendenturen etc.
9. Berge, Wasserläufe, Seen, grofse Wälder, soweit sie eigene Namen haben
und urkundlich genannt werden.
IG. Die in den einzebien Artikebi aufgeführten älteren Namensformen werden,
soweit sie nicht ohne weiteres mit den modernen Namen identifiziert
werden können, mit Hinweis auf das Schlagwort in das Namensver-
zeichnis aufgenommen.
II. In den einzebien Artikeln ist anzugeben:
1. Der moderne Name in der Schreibung des amtlichen Ortschafts-
verzeichnisses mit Hinzufügung des Amtsgerichtsbezirks. Falls der Ort
an einem Flusse liegt, ist auch diese Lagebestimmung hinzuzufügen.
Ist von Wüstungen kein modemer Name bekannt, so tritt an seine
Stelle die letzte urkimdlich überlieferte Form. Die Lage der Wüstung
wird näher bestimmt durch die Gemarkung, in welcher sie liegt, und
wenn möglich durch die Himmelsrichtung zum Gemarkungsdorfe.
2. Die historische Namensentwickelung.
Es werden nicht sämtliche nachweisbare Namensformen gegeben,
sondern nur diejenigen, welche einen merkbaren Fortschritt in der
Namensentwickelung bezeichnen. Ein Erklärungsversuch des Namens
— 93 —
soll nicht gegeben werden. Die Quelle, welcher die Namensform ent-
nommen ist, wird in stark abgekürzter Form in Klammem beigesetzt.
(Eine Auflösung dieser Abkürzungen wird dem alphabetischen Ver-
zeichnis [s. III. 4.] vorgesetzt. Ausfuhrliche Quellennachweise sind
mit dem gesamten handschriftlichen Material bei demjenigen Staats-
oder Stadtarchive zu hinterlegen, das hauptsächlich die Urkunden
und Akten des bearbeiteten Gebietsteils enthält.)
Falls die Quelle, welcher die Namensform entnommen wurde, niu*
in späterer Abschrift vorhanden ist, so mufs zwischen Urkunden- und
Kopialdatum in der Weise unterschieden werden, dafs das Kopial-
datum in eckiger Klammer hinter dem Urkundendatum gegeben wird.
Als Kopialdatum wird im allgemeinen das Jahrhundert genügen, z. B.
13 16 [XVI]. Bei Nachrichten, die aus darstellenden Quellen ent-
nommen sind, ist — falls diese nicht in originaler Überlieferung vor-
liegen — die Zeit der ältesten erhaltenen und für die Namensform
mafsgebenden Abschrift anzugeben. Bei gefälschten Urkunden ist wie
bei Abschriften das Jahrhundert der Eutstehung anzugeben.
3. Geschichtliche Nachrichten über die Entstehung, Zusammen-
setzung und topographische Entwickelung.
a) Gründung, Erhebung zur Stadt, Wüstwerden. (Ausgeschlossen sind
Ereignisse von vorübergehender Bedeutung, z. B. Schlachten, Plün-
derungen, Belagerungen etc.)
b) Die Eingemeindungen (seit wann).
c) Die im Orte liegenden Burgen oder Schlösser.
d) Die adeligen Familien, welche nach dem Orte ihren Namen führen
(erste Erwähnung und Erlöschen).
e) Die Kirchen imd Klöster mit ihrem Schutzheiligen und mit dem
Gründungsjahr (hierzu die Filialkirchen oder Kapellen). Das Kirchen-
patronat. Einführung der Reformation imd Gegenreformation.
0 Wünschenswert sind Angaben über die am Orte bestehenden Münz-,
Zoll-, Gerichtsstätten imd über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten
Rechtsgebiete
4. Die Entwickelung der politischen Zugehörigkeit Anzu-
geben ist die Zugehörigkeit zu den vor der Bildung der Landesherr-
schaften bestehenden politischen Verbänden (Gau, Grafschaft, Terra)
soweit dies urkundlich feststeht
Gestattet es der Stand der Forschung, auch über die Zugehörigkeit
zu den Landesherrschaften und den Wechsel in dieser Zugehörigkeit
zuverlässige Angaben zu machen, so ist dies dringend erwünscht In
allen Fällen ist auch unter dem Schlagworte der politischen Verbände,
Herrschaften etc. deren Einteilung und Umfang durch Grenzangabe
oder namentliche Aufzählung der Unterbezirke bezw. Ortschaften zu
verzeichnen. Die Berücksichtigung der heutigen politischen Einteilung
ist hierbei nicht erforderlich.
5. Die kirchliche Zugehörigkeit (Archipresbyterat, Archidiakonat,
Bistum), ^bei protestantischen Orten Superintendentur. Zu bearbeiten
wie 4.
6. Unter den Schlagworten: Reichsstädte, Reichsdörfer, Reichsbuigen,
— 94 —
Pfalzen, Freigerichte, Freistühle, Gerichtsstätten, Oberhöfe, Münz-
Stätten etc. sind die im Verzeichnis vorkommenden Namen derselben
zusammenzustellen.
7. Von Litteratur über die einzelnen Ortschaften etc. werden nur die-
jenigen Einzelschriften oder Zeitschriftenaufsätze genannt, welche nicht
Spezialuntersuchungen bringen, sondern die geschichtliche Entwickelung
ftir möglichst lange Zeiträume umfassen und wissenschaftlich zuver-
lässig sind,
in. Jedem Ortschaftsverzeichnis wird eine Einleitung vorausgeschickt,
die enthalten mufs:
1. Eine systematische Übersicht der politischen Zusammensetzung des
Gebiets in ihrem historischen Wechsel bis zur Gegenwart.
2. Eine systematische Übersicht der kirchlichen Einteilung in ihrem histo-
rischen Wechsel bis zur Gegenwart.
3. Ein Verzeichnis der benutzten Handschriften, Druckwerke imd Karten.
4. Eine Übersicht der im Ortschaftsverzeichnis gebrauchten Abkürzungen.
Angenommen in der Sitzimg der vereinigten vier Sektionen der General-
versammlung des Gesamtvereins zu Dresden, 27. September 1900.
Personalien. — In Prag (deutsche Universität) wurde Ottokar
Weber zum ordentlichen Professor ftir allgemeine neuere Geschichte, in
Wien Alfred Francis Pribram ziun ordentlichen Professor ftir mittlere
und neuere Geschichte ernannt. In Berlin wurde der a. o. Prof. Tangl
als Nachfolger Wattenbachs zum Ordinarius befördert, Conrad Cichorius,
bisher a. o. Prof. in Leipzig, wurde als Ordinarius für alte Geschichte nach
Breslau berufen. In Czemowitz trat der ord. Professor ftir österreichische
Geschichte Ferdinand Zieglauer v. Blumenthal nach zweiimdvierzig-
jähriger Lehrthätigkeit in den Ruhestand. Dem verdienten Direktor des K.
Friedrich- Wilhelmsgynmasiums zu Köln, Oskar jäger, ist ftir i. April 1901
die von ihm nachgesuchte Versetzung in den Ruhestand bewilligt worden, und
zwar in der Form, dafs er zum ordentlichen Honorarprofessor der Geschichte
in Bonn ernannt wurde. An der Akademie Münster wurde Archivrat Philippi
zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. — Es habilitierten sich ftir Ge-
schichte in Bonn Otto Waltz, bisher ord. Prof. in Dorpat, und Friedrich
Karl Luckwald, in Breslau Walter Stein, an der Technischen Hoch-
schule in Stuttgart Dr. Marx, ftir Kirchengeschichte in Giefsen W. Köhler.
Der bisherige Direktor des Kgl. Staatsarchivs in Düsseldorf, Wolde-
mar Ha rief s, trat am i. Okt. in den Ruhestand. Er ist 1828 als Sohn
des Bonner Professors der Medizin geboren, promovierte 1853, war dann
kurze Zeit an dem vom Freiherm von Aufsefs geleiteten Germanischen Mu-
seum thätig, wurde aber bereits 1855 als Assistent an das Provinzialarchiv
zu Düsseldorf berufen und ist seitdem, abgesehen von einer anderthalbjährigen
(1873 — 75) Unterbrechung, diesem Archive treu geblieben, dessen Leitung
er im Sommer i866 als Nachfolger Lacomblets übernahm. H. besitzt ein
reiches Wissen auf dem Gebiete der Rheinischen Geschichte, er war ein
allzeit entgegenkommender Förderer aller wissenschaftlichen archivalischen
Arbeit und seit ihrer Gründung Vorstandsmitglied der „Gesellschaft ftir
Rheinische Geschichtskunde". Besonderen Dank schuldet ihm der „Bergische
— 95 —
GcschichtsTcrem", dem er seit seiner Entstehung (1863^ angehörte« dessen
Zeitschrift er durcb rührige Mitarbeit nnterstütrte und ünge Zeit redigierte*
Der Verein hat ihn in Dankbarkeit zum Ehrenpräsidenten ernannt Seine
wissenschaftlichen Arbeiten sind zum gröfsten Teüe in den Proviniialzeit-
schriftoi zerstreut: neben der „Zeitschrift des Bergischen Geschichts\*ereins**
kommen das „ Archiv för die Geschichte des Xiederrheins ", welches er fort-
setzte, die „Annalen des historischen Vereins für den Xiederrhein *% die
Zeitschrift für Preufsische Geschichte", die „Bonner Jahrbücher", die
Jahrbücher des Düsseldorfer Geschichtsvereins ** sowie die „Allgemeine
Datsche Biographie" in Betracht Von grofser vorbildlicher Bedeutung für
ähnliche Arbeiten ist seine Geschichte von Amt und Freiheit Ifitckestcagen
(1890). — Zinn Direktor des, Düsseldorfer Staatsarchi\*s an Harlefs* Stelle
wurde Archivrat II gen, bisher am Staatsarchiv Münster, ernannt — An
Preufeischen Staatsarchiven wurden versetzt die Hilfsarbeiter Friedrich Lau
von Berlin nach Stettin, Rudolf M artin y von Königsberg nach Koblenz,
Dr. Rosen feld, bisher am Kgl. Preufsischen Historischen Institut in Rom,
nach Magdeburg. — Zum Nachfolger des am i. Januar 1901 in den Ruhe-
stand tretenden Direktors des Staatsarchivs in Stettin, v. Bülow, wurde
Archivrat Becker in Koblenz emaimt Die Leitung des Koblenzer Archivs
wird von diesem Zeitpunkt an Archivrat Joachim in Königsberg übernehmen.
An Stelle Baracks wurde zum Direktor der Universitäts- und Laudes-
bibliothek in Strafsburg Oberbibliothekar Euting ernaimt — In Wien trat
der Kustos an der Universitätsbibliothek Josef Meyer in den Ruhestand. —
Der bisherige Konservator am römisch -germanischen Museum in Mainz
L. Lindenschmit wurde zum ersten, Prof. Schumacher (Karlsruhe) zum
zweiten Direktor des neu gegründeten Reichs-Limes-Museums auf der Saal-
burg ernannt
Zu Konservatoren der Zentralkommission für Erforschung
und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale in Wien
wurden ernannt der Archivar des Stiftes Zwettl, P. Benedict Hammerl,
der Archivar des niederösterreichischen Statthaltereiarchivs Dr. Albert
Starzer, der Archivskoncipist des Ministeriums ftir Kultus imd Unterricht
Franz Staub, der aufserord. Universitätsprofessor imd Kustosadjunkt am
naturbistorischen Hofinuseum in Wien Dr. Moriz Hoernes, der Assistent
an der Hofbibliothek in Wien und Universitätsprivatdocent ph. et iur. Dr.
Anton Ritter v. Premerstein, der Kustos am naturhistorischen Hof-
museum in Wien Josef Szombathy, der Professor und Direktor des
Konviktes Seitenstetten , Benediktiner- Ordenspriester Otto Fehringer und
der Archivar in Eger Dr. Karl Siegl.
In Erfurt starb am 17. Juli der dortige Stadtarchivar Karl Beyer, der
sich um die Autbellung der Geschichte Erftirts verdient gemacht hat, 5 a Jahre alt;
in Berlin am 19. September der durch seine Schriften über die Geschichte des.
Kriegswesens bekannte Oberstleutnant a. D. Dr. Max Jahns, 6a Jahre alt;
in Wien am la. Okt. der vor einem Jahre in den Ruhestand getretene
Vicedirektor der k. k. Hofbibliothek Eduard Chmelarz, 54 Jahre alt;
in Jena, wo er Heilung suchte, am 30. Oktober Archivrat Hermann
Schmidt, Vorstand des Regierungsarchivs in Arnstadt, fast 7a Jahre alt;
in Strafsburg am la. Juli Karl August Barack, Direktor der Universität«-
— 96 —
und Landesbibliothek, bekannt als Herausgeber der Zimmerischen Chronik,
72 Jahre alt; in Halle a. S. am 6. August Alfred Boretius, der Heraus-
geber der fränkischen Kapitularien, 64 Jahre alt; in Wien am i. November
<ier um die Gründung des „Vereins für historische Waffenkunde" (vgl. Bd. I,
S. 134 — 135) verdiente frühere Direktor der kimsthistorischen Sammlungen
des Kaiserhauses Wendelin Boeheim; in Reval am 19. November der
verdiente Stadtarchivar Gotthard von Hansen, 71 Jahre alt
Eingegangene Bficher.
Knebel, Conrad: Die Mal- imd Zeichenkunst in Freiberg. [= Mitteilungen
vom Freiberger Altertumsverein Heft 36 (1899) S. 7 — 114.]
Landeskunde, Neue, des Herzogtums Sachsen-Meiningen, im Auftrag des
Verems ftir Meiningische Geschichte imd Landeskunde herausgegeben vom
Vorstand. Heft i. [:=: Schriften des Vereins ftir Sachsen-Meiningische
Geschichte und Landeskunde, Heft 36.] Hildburghausen, Kesselring,
1900. 82 S. 80.
Lehmann, Oskar: Kavaliertour eines jungen Dresdners im 17. Jahrhundert
[= Dresdner Geschichtsblätter 1900 Nr. 3, S. 260 — 270.]
Loserth, J. : Die Gegenreformation in Innerösterreich, gleichzeitig Zusammen-
stellung des Aktenmaterials. [= Jahrbuch der Gesellschaft ftir die Ge-
schichte des Protestantismus in Österreich, 21. Jahrgang (1900), S. 52 — 84.]
Marcks, Erich: Deutschland und England in den großen europäischen Krisen
seit der Reformation. 2. Aufl. Stuttgart, J. G. Cotta, 1900. 43 S. 8^
Ji I.
Meli, Anton: Der Comitatus Liupoldi und dessen Aufteilung in die Land-
gerichte des XDC Jahrhunderts, Text- und Kartenprobe zum historischen
Atlas der österreichischen Alpenländer. [= Mitteilungen des Instituts ftir
österreichische Geschichtsforschung. XXI. Band, S. 385 — 444.]
Pfau, Clemens: Topographische Forschungen über die ältesten Siedlungen
der Rochlitzer Pflege. [= Mitteilungen des Vereins ftir Rochlitzer Ge-
schichte, Heft 3.] Rochlitz, M. Bode, 1900. 105 S. 4<>.
Pommersche Jahrbücher, herausgegeben vom Rügisch -Pommerschen
Geschichtsverein zu Greifswald und Stralsund, i. Band. Greiüswald,
J. Abel, 1900. 179 S. 80.
Richter, Otto: Geschichte der Stadt Dresden. Erster Teil: Dresden im
Mittelalter. Dresden, W. Baensch, 1900. 276 S. 8^
Schölten, Robert: Das Cistercienserinnen-Kloster Grafenthal oder Vallis
comitis zu Asperden im Kreise Cleve. Clevc, Fr. Bofe Wwe., 1899.
298 und 297 S. 80.
Beriehtiguni^« Herr Dr. E. Polaczek bittet ans, einige in seinem Aufsätze über „Die
Denkmäler-lnventarisation in Deutschland'' enthaltene irrige Angaben über das mecldenborg-
■schwerinsche Denkmälerverzeichnis (Bd. I, S. 283) zu berichtigen. Von den 44 Amts-
j^erichtsbezirken des Groisherzogtams sind in den drei erschienenen Bänden 27 bdiandelt.
Der vierte , zehn Amtsgerichtsbezirke umfassende Band wird demnächst erscheinen , so
<lafs dann noch sieben Amtsgerichtsbezirke erübrigen. Die Register, deren Fehlen
— also irrtümlicherweise — tadelnd vermerkt worden war, erscheinen zum Schlüsse.
Die ganze erste Auflage ist vergriffen, eine zweite bereits erschienen.
H«nuugeber Dr. Annin TUl« in Le^nig. — Drude und VerUg von Friodrich Andreas Perdies in Gotln.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Fördeniug der landesgeschichtlichen Forschung
II. Band Januar xgox 4. Heft
Die österreiehisehe l^eiehsgesehiehte» ihre
Aufgaben und Ziele
Von
Hans V. Voltelini (Innsbruck)
Durch das Gesetz vom 20. April 1893 ') ^bcr die Reform der
juridischen Studienordnung ist für die Juristen an den österreichischen
Universitäten österreichische Reichsgeschichte als obligates und Prü-
fungsfach eingeführt worden. Damit wurde das Kolleg über öster-
reichische Geschichte aus dem Lehrplane ausgeschieden. Die Än-
derung stand im Zusammenhange mit der erhöhten Bedeutung, welche
das österreichische Staatsrecht infolge der seit dem Erlasse der Studien-
ordnung von 1855 eingetretenen Veränderungen des politischen und
Verfassungslebens gewonnen hat. Sciion die Gutachten der rechts-
und staatswissenschaftlichen Fakultäten, die in dieser Angelegenheit
im Jahre 1886 erstattet wurden ^), hatten fast einstimmig auf die Not-
wendigkeit hingewiesen, durch Einführung eines Kollegs vcrfassungs-
gcschichtlichen Inhalts das nötige Verständnis für das österreichische
Staatsrecht zu schaffen, welches die österreichische Geschichte in der
Art, wie sie bisher gelehrt wurde, nicht bilden konnte. „Für den
Juristen**, sagt Luschin in seinem gründlichen Gutachten, „ist die
Kenntnis vom jeweiligen Stande der landesherrlichen Macht wichtiger
als das Aufdecken diplomatischer Verhandluni^-en ; wichtiger als eine
Schilderung wechselvollcr Kricgscreignisse eine Darstellung der Heeres-
einrichtungen der früheren Zeit, eine Geschichte der Verwaltung, eine
Übersicht über die heimischen Rechtsqucllcn, die ältere Rcchtslitte-
ratur.** Wenn das neue P'ach auch auf den philosophischen Fakultäten
i) Reichsgesetzblatt vom i. Mai 1893, Nr. 68.
2) Mit gütiger Erlaubnis des Ministeriums fr Kultus und Unterricht in Wien war
«9 mir gestattet, die in seinem Archive liegenden gtdrucktcn Gutachten einzusehen.
7
— 98 —
sich einbüi^erte, geschah dies in dem Bewufstsein, dafs es auch für
die Jünger der Historie von der gröfsten Bedeutung sei.
Was ist der Inhalt und die Aufgabe der österreichischen Reichs-
geschichte ? War nicht auch die österreichische Geschichte, wie sie vor
dem Jahre 1893 gelehrt wurde und wie sie in den bekannten Hand-
büchern der österreichischen Geschichte und zuletzt in dem grofeea
Werke von Alfons Huber dargestellt wurde, eine Geschichte des
österreichischen Reiches, der österreichischen Monarchie? Das Gesetz
vom Jahre 1893 definiert die Reichsgeschichte als eine Geschichte der
Staatsbildung und des öffentlichen Rechtes. Damit ergiebt sich, dafe
die österreichische Reichsgeschichte wissenschaftlich als Tochter der
deutschen Reichs- und Staatsgeschichte gedacht ist, geradeso wie das
österreichische Staatsrecht bis zum Jahre 1866 nur eines der vielen
Territorialrechte des römischen Reiches deutscher Nation und später
des deutschen Bundes bildete. Seitdem das deutsche Staatsrecht
wissenschaftlich dargestellt und nicht zum mindesten durch das Ver-
dienst des grofsen Naturrechtslehrers Samuel Pufendorf mit kritisch-
historischen Augen betrachtet wurde, ist es gebräuchlich geworden,
die Darstellung des öffentlichen Rechtes mit einer Reichsgeschichte
zu verbinden. Nicht von historischen Gesichtspunkten aus sind die
Reichspublizisten dazu gelangt. Die Verfassung des Deutschen Reiches
war ohne historische Beleuchtung und Auseinandersetzung unverständlich.
Quod in ceteris iuris disciplinis ratio praestat, id in iure publica
Germaniae histotia, meinte Heinrich Coccejus '). Das deutsche Staats-
recht bot für Konstruktionen der naturrechtlichen Methode keinen
Boden, die monströse Reichsverfassung war nur aus den positiven
historischen Quellen, den Reichsgesetzen, den Reichsabschieden n. s. w.
zu erkennen. Daher haben schon die ersten Bearbeiter des deutschen
Staatsrechts, Rein k in g und namentlich Limnäus, historische Er-
örterungen ihren publizistischen Arbeiten einverleibt. Die Hallenser
Publizisten und Rivalen Ludewig und Gundling haben zuerst die
deutsche Reichshistorie, die geschichtliche Darstellung der staatlichen
Entwickelung des Reiches als selbständige Wissenschaft neben die
Darstellung des Staatsrechts gestellt*). Unter Reichshistorie ver-
steht Gundling „eine pragmatische Erzählung dessen, was sich
in Deutschland bisher zugetragen: i. quoad iura caesaris, 2. quoad
inra statuum •)."
i) Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, S. 114.
2) a. a. O., S. 1 18. 123 ; W eg el e , Geschichte der deutschen Historiographie, S. 614.,
3) Landsberg, S. 123.
— 99 —
Dem gegebenen Beispiele folgte eine Reihe anderer Staatsrechts-
lehrer, unter denen Struv, Spener, Häberlin, und vor allem der
bedeutendste der Reichspublizisten Johann Stephan Pütter'),
hervorragten. Auch das territoriale Staatsrecht wurde in ähnlichem
Sinne bearbeitet. Für Österreich unternahm dies Franz Ferdinand
Schrötter in seinem 1771 erschienenen Versuch einer Österreichs
sehen Siaaisgeschichte , der allerdings nur bis 1156 reichte. An die
Publizisten hat Eichhorn angeknüpft, als er in genialer Weise aus
den Quellen seine Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte aufbaute,
nur dafe er sein Ziel weiter fafste und neben der Verfassungsgeschichte
auch die Entwickelung der übrigen Zweige des Rechtes und nament-
Uch auch die Geschichte des Privatrechtes in den Umkreis seiner Dar-
stellung zog. Nichts anderes beabsichtigte August Chabert, der
Begründer der österreichischen Rechtsgeschichte, beschränkt auf den
Umkreis der deutsch-österreichischen Länder *). Auch andere Forscher,
namentlich Röfsler und Luschin, verstanden unter österreichischer
Reichs- und Rechtsgeschichte die Geschichte des gesammten öster-
reichischen Rechtes, einschliefslich des Privat-, Straf- und Prozefe-
rechtes \ Das Gesetz vom Jahre 1893 hat den Umkreis des Lehr-
gegenstandes auf die Geschichte der Staatsbildung tmd des öffent-
lichen Rechtes beschränkt , daher spricht es in dem Sinne der Publi-
zisten des vorigen Jahrhunderts von Reichsgeschichte.
Die Ausscheidung der Geschichte des Privatrechtes ist nur zu
billigen. So wünschenswert die Aufhellung seiner Entwickelung auch
wäre, die namentlich von der Zeit der Rezeption bis zur Kodifikation
noch sehr im Dunkel liegt, ein Bedürfnis nach akademischer Dar-
i) Seine Leistungen auf diesem Gebiete bei Landsberg, S. 338 f. Aas der Reichs-
historie erwachs bekanntlich darch Mascou and Leibniz die politische deutsche Ge-
schichte mit Beseitigung des staatsrechtlichen Gesichtspunktes.
2) In dem posthum veröfifentlichten Fragmente der Staats- und Rechtsgeschichte der
deutsch-österreichischen Länder in „ Denlcschriften der Wiener Akademie ", III, S. 3 und 4.
3} Der erste in seinem Buche: „Über die Bedeutung und Behandlung der Ge-
schichte des Rechts in Osterreich**, Prag 1847, dieser besonders in der Vorrede zur
,, Geschichte des älteren Gerichtswesens in Osterreich*'. Dasselbe Ziel hat sich in neuerer
Zeit Werunskj in seiner „Osterr. Reichs- und Rechtsgeschichte**, Wien 1894 f.. Ein!.
S. V, gesetzt; auch er will das Privat-, ProzeDs- und Strafrecht in den Umkreis seiner
Darstellung ziehen, wenn sie auch hinter dem Verfassungs- und Verwaltungsrechte zurück*
treten sollen. Ähnliches vindiziert Hanel als Aufgabe der österr. Rechtsgeschichte in
seinem Aufsatze: „Über Begriff, Aufgabe und Darstellung der österr. Rechtsgeschichte**,
in Grttnhuts „Zeitschrift (Ur das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart**, Bd. XX
(1893), S. 365f.
— 100 —
stclluiii»" lic^t nicht vor. Nicht nur, dafs eine solche mit den gröisten
Schwierigkeiten zu käm[)fcn hätte und höchstens für Niederösterreich
annähernd möuflich wäre, der Partikularismus ist auf dem Gebiete des
Privat rech es in Österreich noch ungleich gfröfser und zäher g^ewesen
als auf (lern Gebiete des Staat«?rechtes. Kaum ist seit der Rezeption
eine t^^cuissc Annäherung^ erfolgt, von einer g^emeinsamen und einheit-
lichen lintwickehmg' kann erst seit der Kodifikation die Rede sein.
Sehen wir ab von den slavischen Rechtselementen in Böhmen, Polen
und im Süden der Monarchie, vom italienischen Rechte in Südtirol,
im Küstcnlande und Dalmatien, auch im Gebiete des deutschen Rechtes
finden wir keine Einheit. In den österreichischen Donauländern herrscht
bayrisches Recht vor, die deutsch-böhmischen und mährischen Rechte
aber sind dem fränkischen und sächsischen Rechtsg-ebiete zuzuzählen.
Gerade cntg-eg^cng^esetzte Prinzipien sehen wir da vertreten. Während
in Niederösterreich die Vogtci des Khemannes über die Ehefrau früh
verschwindet'), ist sie in den tiroler Landesordnungen des XVI. Jahr-
hunderts noch zähe festgehalten *). Betrachten wir Tirol , so finden
wir eine wahre Musterkarte von Privatrechten ^). Im Süden treffen
wir römisches Vulgärrecht zum Teil in vorjustinianischer Form und
langobardisches Recht, beide seit dem XIII. Jahrhundert zu einem
einheitlichen, dem oberitalicnischen verwandten Statutarrechte ver-
schmolzen Im Unter-Innthal bis zur Ziller herrscht rein bayrisches
Recht, seit dem XIV. Jahrhundert als Landrechtsbuch Kaiser Ludwigs.
Im Vintschgau lassen die älteren Urkunden auf Anwendung der lex
Romana Curiensis schliefsen, später treffen wir hier und im obersten
Innthale den jüngeren rätischen Statuten verwandte Bestimmungen.
Jenseits des Fern finden sich wieder Gebiete rein alamannischen Rechtes
mit Instituten, wie der vollkommenen ehelichen Gütergemeinschaft und
der rechten Gewere, die sonst in Tirol fehlen. Im gröfeten Teile
Deutschtirols herrscht ein Mischrecht von bayrischem und einem
altern, von F ick er als ostgermanisch bezeichneten Rechte*).
Das öffentliche Recht zeigt bei allem Partikularismus eine viel
weiter gehende Einheitlichkeit. In den deutschösterreichischen Län-
i) Otjonowsky, österreichisches Ehegüterrecht I, 91. 100.
2) „Festgaben für Büdinijer**, Innsbruck 1898. S. 353.
31 Vgl Ficker, ünter>uchungen zur Erbenfolge IV, 469 f.
4.) Wenn man unter diesen Umständen bei einer Gesamtdarstellung, wie Röfsler
a. a. O. S. 32 wollte, nur das Gemciisame herausheben würde, käme allerdings ein Bild
mitielcuropiiischer Rechuges altung, wie er richtig betonte, zu stände, aber wir fürchten,
ein sehr verblafstes oder sehr verworrenes Bild.
— 101 —
dem hat sich das öffentliche Leben überall auf denselben, durch die
deutsche Reichsverfassun^ gegebenen Elementen aufj^ebaut. Die Ein-
heit der Dynastie hat dann nicht wenig zur Annäherung und Aus-
gleichung beigetragen. Seit dem Jahre 1527 hat die Dynastie dann
durch ihre Behördenorganisation allen österreichischen und ungarischen
Landen gemeinsame Institute geschaffen, und haben dieselben politischen
Schicksale die Verfassungsentwickelung in paralleler Weise beeinflufst.
Politische und wirtschaftliche Einflüsse machen sich aber im öffentlichen
Rechte schnell geltend, das Privatrecht berühren sie spät oder gar nicht.
Trotz alles Partikularismusses aber sind die Institute des heutigen
österreichischen Privatrechtes, soweit sie nicht fremdrechtlich sind, die-
selben, wie die des deutschen, und hat das österreichische Privatrecht
keine andere Entwickelung genommen, wie das deutsche. Es ist ver-
fehlt, wenn Ogonowsky eine weitgehende Rezeption slavischer
Rechtselemente in das österreichische eheliche Güterrecht annimmt '),
vielmehr sind deutschrechtliche Sätze in slavische Rechtsquellen auf-
genommen worden, woraus sich dann allerdings die Verwandtschaft
dieser Institute in den deutschen und slavischen Territorien Österreichs
erklärt. Auch der böhmische Odporprozefs *), der durch die Land-
tafelgesetze einen gewissen Einflufe auf die Ausbildung einiger Rechts-
sätze namentlich des Tabularwesens und der Klagenverjährung erlangt
hat, ist nichts anderes als der deutschrechtliche Widerspruch, der
binnen Jahr und Tag erhoben, die Entstehung der rechten Gewere
stört'). Anders das öffentliche Recht Das österreichische Staats-
recht hat, wenn auch auf Grund der deutschen Reichs Verfassung er-
wachsen, doch schon frühzeitig eine eigenartige Entwickelung ein-
geschlagen. Die Stellung Österreichs zum Reiche ist infolge der
österreichischen Privilegien und später infolge der politischen Stel-
lung des Hauses Habsburg und der Vereinigung Österreichs mit
1) Ogonowsky, 8. 314 f. Vgl. dagegen Czyhlarz, Zur Geschichte des ehelichen
Güterrechtes im böhmisch-mährischen Landrecht, S. 40 f.
2) Krainz, System des österreichischen Privatrechtes I, { 129, n. 15; II, 2,
{ 223, n. 5 u. J 225, n. II; Unger in der „Österreich. Gerichtszeitung" 1861, Nr. 141.
562, n. 2.
3) Krainz a. a. O., } 225, n. 11. Die Frist, in der der Odpor verjährt, 3 Jahre
«nd 18 Wochen, ist die dreifache von Jahr und Tag. Die Verdreifachung der Frist für
Güter auf dem Lande ist auch sonst häufig, vgl. Stobbe, Deutsches Privatrecht* II, i.
J15, n. 4. Schon das Prager Rechtsbuch art. 146 kennt sie; Röfsler, Deutsche
Rechtsdenkmäler ans Böhmen und Mähren I, 143. (Die Frist beträgt hier allerdings nur
3 Jahre und 6 Wochen.) Über die Fristen des Verschweigens vgl. auch Immer wahr.
Die Verschweigung im deutschen Rechte, in Gierkes „Untersuchungen" 48, 22 f.
— 102 —
Ungarn und Böhmen eine ganz exzeptionelle gewesen. Wenn da-
her die Kenntnis der Geschichte des deutschen Privatrechtes zum
Verständnisse der deutschrechtlichen Bestandteile des österreichischen
Privatrechtes hinreicht, gilt ein gleiches keineswegs von der deut-
schen Reichs- und Rechtsgeschichte für das österreichische Staats-
recht. Indem diese zudem vorwiegend die Reichsverfassung zum
Gegenstande ihrer Darstellung hat, vermag sie der Entwickelung eines
Territorialrechtes nicht in genügendem Mafse zu folgen.
Die österreichische Reichsgeschichte hat also die Bildung des
Staates und die Entwickelung des öffentlichen Rechtes, richtiger ge-
sagt der Verfassung und Verwaltung darzustellen. Sie schildert die
Besiedelung und Entstehung der einzelnen Territorien, ihre Vereinigung
in der Hand einer Dynastie und endlich ihre Verschmelzung zu einem
Staatswesen. Sie weist die Rechtstitel und völkerrechtlichen Akte
nach, in Kraft deren die einzelnen Territorien von der Dynastie er-
worben worden sind. Nachdem so die territoriale Grundlage ge-
schaffen ist, hat sie eine Übersicht über die einzelnen Rechtsquellen
zu geben. Sie schildert dann die Entstehung und Ausbildung der
landesherrlichen Gewalt und ihre jeweüige Rechtsstellung; sie zeigt,
wie der österreichische Staat langsam aus einem Territorium des deut-
schen Reiches zu einem selbständigen und souveränen Gebilde er-
wachsen ist. Sic weist ferner die ständische Gliederung mit ihren
Verschiebungen nach und zeigt, wie einzelne soziale Klassen zu einer
hervorragenden Beteiligung am politischen Leben in den Landständen
gelangt sind, wie dann die Landstände, die sich ihren eigenen Ver-
waltungsapparat schaffen, mit den Landesherren um wichtige politische
Hoheitsrechte ringen. Sie gicbt die Geschichte der Behördenorgani-
sation, der gerichtlichen, politischen, finanziellen und militärischen Ver-
waltung. Sie hat dann die Verfassung der Kirche in Österreich zu
schildern und ihre Beziehungen zum Staate, die Geschichte des Staats-
kirchenrechtes, ebenso die Entwickelung der anderen öffentlichen auto-
nomen Verbände, der Markgenossenschaften, Städte, Gemeinden. Sie
sucht namentlich die Entstehung und das Heranwachsen der Staats-
idee zu verfolgen und wird den Widerstreit dieser Idee mit den centri-
fugalen Kräften autonomer Tendenzen der Länder verfolgen. Sie wird
aber noch tiefer dringen und versuchen, die politischen und wirt-
schaftlichen Motive blofszulegen , die den Erscheinungen des Staats-
lebens zu Grunde liegen, und damit die Kräfte aufdecken, welche die
Bildung und das Heranwachsen des österreichischen Staates bewirkt
haben. Sie bietet die Geschichte des inneren politischen Staatslebens
— 103 —
im Gegensätze zur äufeeren Staatsgeschichte, der die Darstellung der
friediichen und kriegerischen Beziehungen des Staates zu den aus-
wärtigen Mächten überlassen bleibt.
Noch eine Frage erhebt sich, die nach der örtlichen und zeit-
lichen Begrenzung der österreichischen Reichsgeschichte. Es liegt auf
der Hand, dafs die Reichsgeschichte nicht jedes öffentlich-rechtliche
Institut besprechen kann, das einmal auf dem Boden der Monarchie
bestanden hat. Sie ist eben Reichsgeschichte und nicht eine Summe
von Landesgeschichten. Sie wird nur jene Länder und ihre Institu-
tionen zum Objekte ihrer Darstellung wählen, die zur Bildung des
heutigen österreichischen Staatsrechtes ihren Teil beigetragen haben *).
Sie darf daher mit Fug und Recht die ältere galizische und dalma-
tinische Rechtsgeschichte ignorieren *). Denn höchstens lokale Spuren
sind von den älteren Verfassungszuständen dieser Länder übrig ge-
blieben, die für den Gesamtstaat ohne Bedeutung waren ; vielmehr hat
dieser den genannten Territorien seine eigenen politischen Institute in
weitem Umfange aufgedrängt. Ebenso darf sie sich bei Darstellung
der Einrichtungen der römischen Zeit kurz fassen, denn sie sind unter
den Stürmen der Völkerwanderung fast spurlos zu Grunde gegangen.
Nur den Ursprung der kirchlichen Verfassung wird man zu beachten
haben; denn diese allein hat sich in den südlichen Teilen der Mon-
archie aus der Römerzeit her erhalten. Schwieriger gestaltet sich die
Frage, ob die österreichische Reichsgeschichte eine Geschichte der
Gesammtmonarchie und der beiden Staaten, aus denen dieselbe besteht,
sein soll, wie von mancher Seite betont worden ist ') , oder ob sie
i) Anderes scheint Balzer Oswald, Historya ustroju Anstryi W rarysic (österr.
Reichsgeschichte im Grandrisse), Lemberg 1899, wenigstens nach der Besprechung Hel-
fcrts im „Allgemeinen Litteraturblatt " VIII, 501 f., zu bezwecken, indem dort auch auf
polnisches Recht eingegangen wird.
2) Hanel dagegen will in die Rechtsgeschichte Österreichs nicht nur Polen, son-
dern auch Dalmatien einziehen, a. a. O., 369 f. Nach ihm wäre es namentlich Aufgabe
der österr. Rechtsgeschichte, das gegenseitige Aufeinanderwirken von deutschem, slavischem
und italienischem Rechte zu verfolgen, für die Geschichte des Privat- und wohl auch des
Straf- und Prozefsrechtes gewifs mit vollem Rechte; fiir das Staatsrecht ist eine Ein-
wirkung polnischen und dalmatinischen Rechtes zu leugnen. Sic sind daher nicht Gegen-
stand der Reichsgeschichte, woraus natürlich nicht folgt, dafs sich der österreichische
Rechtshistoriker nicht mit ihnen befassen solle.
3) H eifert a. a. O. und „Litteraturblatt", VI, 7 f. H eifert wendet sich na-
mentlich gegen die überwiegende Betonung der niederösterreichischen und deutschöster-
reichischen Geschichte, die keineswegs die des Kernlandes der Monarchie darstelle; wie
ich glaube, mit Unrecht. Denn allerdings sind in gewissem Sinne Böhmen und Ungarn
an Österreich angegliedert worden. Von DcuUchösterreich aus sind auch beide den
— 104 —
neben der Gesamtmonarchie nur die staatsrechtliche Entwickelung- der
im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder bieten soll. Meine»
Erachtens kann diese Frage nur vom Standpunkte der heutigen staats-
rechtlichen Entwickelung, nicht aber nach politischen Tendenzen und
Wünschen gelöst werden. Ungarn ist nach den Ausgleichgesetzen
von 1867 ein in seinen inneren Angelegenheiten selbständiger und
unabhängiger Staat. Die Geschichte seiner Verfassung und Verwaltung
kann daher nur insoweit für die österreichische Reichsgeschichte von
Belang sein, als die mit Österreich gemeinsamen Institutionen in Be-
tracht kommen, und als die ungarischen Verhältnisse auf die Entwicke-
lung des österreichischen Staatsrechtes zurückgewirkt haben ').
Habsburgern zeitweise fast ganz verlorenen Königreiche wieder erobert worden. Wena
die Habsburger, die nicht die Kaiserkrone trugen, sich zuerst Könige von Ungarn und
Böhmen und erst an dritter Stelle Erzherzoge von Österreich nannten, war es nur, weil
ihnen jene Länder die Königskrone verschafften. Eben deshalb gehen auch die böh*
mischen Beamten als königliche den österreichischen vor. Die Habsburger selber haben sich
immer als casa d'Austria, nicht di Boemia oder d'Ungheria bezeichnet. Das Herz der
Monarchie war seit Ferdinand L unzweifelhaft Wien und nicht Prag, die Zentralbehörden
haben in der Regel in Wien, nur ausnahmsweise unter Rudolf II., und auch da nicht
vollständig, in Prag ihre Sitze gehabt. (Kretschmayr, Reichsvicekanzlerarot, „A>rchiv
für österr. Gesch.^^ 84, 421.) Die deutschösterreichischen Institutionen sind es überwie-
gend gewesen, welche die österreichische Verfassungsentwickelung bestimmten; man
denke z. B. an die Behördenorganisation Maximilians I., welche das Vorbild der Ferdi-
nandeischen Einrichtungen bildete. Das Verhältnis Böhmens zu Österreich ist in dieser
Beziehung nicht unähnlich dem des preufsischen Ordenslandes zu Brandenburg. Von
Brandenburg aus ist der preufsische Staat erwachsen, und doch nannten sich die Kur-
fürsten von Brandenburg nach Erhebung Preufsens zum Königreiche in erster Linie Könige
in Preufsen. Ebenso lagen die Verhältnisse beim ehemaligen Königreiche Sardinien
zwischen Savoyen-Piemont und Sardinien.
i) Schon Röfsler a. a O., S. 29, woUte Ungarn „bei nachweislich verschiedenen
Grundlagen in Vergangenheit und Gegenwart'* ausgeschieden wissen. Denselben Stand*
punkt nahm das Unterrichtsministerium bei einer Konkursaus>chreibung für eine öster-
reichische Rechtsgeschichte ein, vgL Lemayer, Die Verwaltung der österr. Universi-
täten, S. ao8. Es sollte das ungarische Recht nur berücksichtigt werden insofern, „aU
CS zur DarsteUung der Geschichte der Monarchie als solcher (also insbesondere zur Ge-
schichte des Reiches und des öffentlichen Rechtes) erforderlich ist". Anders Hanel
a. a. O., S. 396 f., doch ohne durchsclilagende Gründe; denn es ist kein solcher, daf»
die Rechtsentwickelung Ungarns eine gewisse Ähnlichkeit mit der böhmischen und pol-
nischen aufweist. Auch die Rezeption deutschen und österreichisch n Rechtes in Ungarn
kann lediglich für die ungarische Rechtsgeschichte in Betracht kommen. Eine Rezeption
ungarischen Rechtes in Österreich hat aufser etwa in staatsrechtlicher Beziehung nie
stattgefunden. Das Entscheidende ist, dafs sich die Rechte der beiden Teile der Mon-
archie, das gemeinsame Staatsrecht ausgenommen, formell wenigstens und zum guten Teil
auch materieU, gerade so selbständig gegenüberstehen, wie die Rechte fremder Staaten«
dais die Rechtsbildung und Weiterentwickelung nicht eine gemeinsame, sondern eine
— 105 —
Wie wichtige die Kenntnis der österreichischen Reichsgeschichte
für den Juristen ist, liegt auf der Hand. In allen Zweigen seiner
Thätigkeit wird er in die Lage kommen, älteren Rechtsverhältnissen
zu begegnen, denen er ohne historische Kenntnis ratlos gegenüber-
steht. Vor allem aber ist ein tieferes Verständnis des österreichischen
Staatsrechtes ohne Kenntnis seiner geschichtlichen Entwicklung un-
möglich. Aber auch dem österreichischen Historiker ist das Studium
der Reichsgeschichte nicht weniger unentbehrlich. Ohne Kenntnis
der inneren politischen Geschichte wird ihm die äufsere unverständlick
bleiben. Das Mittelalter zerfällt dem, der seinen verfassungsrechtlichen
und sozialen Zuständen fremd gegenübersteht, in eine wirre Reihe
öder Fehden und Kriege. Die Bildung der Länder, durch deren Ver-
einigung Österreich erwachsen ist, ihre Stellung zum Reiche, die Ent-
wickelung der Landeshoheit, die eigentümlichen nationalen Verhält-
nisse, alle diese Probleme vermag nur die Reichsgeschichte zu lösen.
Die Länderteilungen des späteren Mittelalters sind nicht Produkte dy-
nastischer Willkür, sondern Ergebnisse ganz konkreter rechtlicher
Anschauungen. Die Ereignisse des österreichischen Interregnums, die
Unruhen der ersten Habsburgerzeit, die Vormundschaftsstreitigkeiten
des XV. Jahrhunderts, die gewaltige hussitische Bewegung, sie alle
sind beeinflufst und beherrscht von den ständischen Verhältnissen der
Zeit. Wie interessant ist beispielsweise das Problem der Ausbildung
der Landeshoheit in Tirol, wo bekanntlich Vögte und Lehensgrafea
der Landesbischöfe in stetem Kampfe mit ihren Lehensherren die
Landeshoheit erringen. Welche Bedeutung kommt auch hier den
ständischen Verhältnissen z. B. unter Margareta Maultasch und Fried-
rich mit der leeren Tasche zu, der sich gegen den übermächtigen^
nach Reichsunmittelbarkeit lüsternen Adel auf die Bauern zu stützen
vermag, die allein in den österreichischen Landen sich in gröfserer
Zahl die Freiheit bewahrt haben. Die Urkunden, bekanntlich die
wicljtigsten Quellen der mittelalterlichen Geschichte zumal in Öster-
reich, das nur wenige mittelalterliche Geschichtsschreiber ersten Ranges
aufzuweisen vermag, bleiben dem stumm, der ohne genügende Kenntnis
des Rechtes und der Verwaltung an sie herantritt. Ohne diese
Kenntnis bleibt der in seinen Zwecken, seiner Struktur und seinen
Funktionen vom modernen so sehr verschiedene mittelalterliche Staat
unverständlich.
dnrchaus unabhängige ist. Damit entfUllt für den österreichischen Rechtshistoriker die
Nötigung, sich mit ungarischem Privat-, Prozefs-, Straf-, Verwaltnngsrecht u. s. w. tu be»
schäftigen, Dingen, die er ganz ruhig seinen Kollegen jenseits der Leitha überlassen dvrL
— 106 —
Und nicht anders in der Neuzeit. Der Aufschwung* Österreichs
unter Kaiser Maximilian I. ist nur die Folge einer genial erdachten
Verwaltungsreform gewesen, durch die der Kaiser zuerst eine gewisse
staatsrcchtlichfi Annäherung unter den deutschösterreichischen Ländern
angebahnt und zugleich in den Landständen das Gefühl der Zusammen-
gehörigkeit wachzurufen vermocht hat. Die Strömungen und Kata-
strophen der Reformation und Gegenreformation zeigen uns nicht nur
den Kampf zweier Weltanschauungen, es ist ein Ringen zugleich
zwischen dem Landesherren und den Landständen um die höchste
Gewalt im Staate. In der Schlacht am Weifsen Berge wird nicht nur
über den Glauben gewürfelt, sie bedeutet den Sieg zugleich des
monarchisch-absolutistischen Prinzipes gegenüber der ständischen Adels-
oligarchie. Die Zeit des Niederganges unter Ferdinand III. und Leo-
pold I. war zugleich auch eine Zeit der Versumpfung des inneren
Staatslebens. Die glänzenden Erfolge des spanischen Erbfolgekrieges
können nicht behauptet werden, weil trotz mancher tastenden Ver-
suche der äufeeren Machtentfaltung keine innere Konsolidation des
Staates entspricht; dieser mit seiner morschen Verwaltung ist daher
aufs tiefste erschüttert beim Anpralle mit dem um so viel kleineren,
aber stramm verwalteten Preufsen. Maria Theresias genialem Geiste
gelingt es, den Staat durch Reformen der Verwaltung zu verjüngen
und mit neuer Kraft zu beleben. Erst jetzt eigentlich wird der Buch-
stabe der pragmatischen Sanktion erfüllt und aus den Ländern ein
einheitliches Staatswesen auferbaut. Kaiser Josephs II. ungestümer Re-
formeifer mit seinen nüchternen rationalistischen Tendenzen und seinen
Ideen der staatlichen Omnipotenz und der Einigung aller von ihm
beherrschten Länder unter ein einheitliches absolutes Regiment er-
schüttert den Staat in seinen Grundfesten, hat aber gleichzeitig die
unzerstörbaren Bausteine zum Aufbaue eines modernen Staatswesens
geliefert, die Leopold II. mit seinen gemäfsigten, konstitutionellen
Anschauungen festhält und wohl zu wahren weifs. Dem Absolutismus
des franziszeischen Polizeistaates entspricht ein langsamer, aber tiefer
Verfall des Staatswesens, das beim Hereinbrechen der Revolution des
Jahres 1848 in seinen Grundfesten wankt. Und die neueste Ent-
wickelung, ist sie nicht bestimmt worden durch den Ansturm des
nationalen Prinzipes gegen den national gemischten Staat, durch die
Frage um die Neuordnung der deutschen Verfassung, die durch Blut
und Eisen ihre Lösung gefunden hat, endlich durch das Widerstreben
der Magyaren gegen die vollständige Angliederung Ungarns an Öster-
reich? Und auch heute leben wir mitten in dem Kampfe des zen-
— 107 —
tralistiscben Prinzips mit den Ideen der Länderautonomie und sprach-
licher und nationaler Gleichberechtigung, ein Kampf, der von dem
Streben des vierten Standes nach politischer Geltung* durchkreuzt wird.
So sind es immer wieder die innerpolitischen Verhältnisse, die
den Gang" der äufeeren Geschichte bedingen und beeinflussen, wie
umgekehrt ja auch die äufseren Schicksale für die innere Entwickelung*
von der gröfsten Bedeutung g'ewesen sind. Innere und äufeere Ent-
wickelung bedingen und erklären sich gegenseitig, beide zusammen-
genommen erst geben ein volles Bild der historischen Entwickelung^
des Staates.
Wenn auch in neuerer Zeit unter dem Einflüsse der naturwissen-
schaftlich - materialistischen Geschichtsauffassung eines Buckle und
du Bois-Reymond und dem der kulturgeschichtlichen Schule
Lamprechts die kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Methode in
den Vordergrund getreten ist, bleibt doch der Staat als die hervor-
ragendste Schöpfung des menschlichen Geistes, in dessen Rahmen
sich alle kulturelle und wirtschaftliche Entwickelung" vollzieht, in erster
Linie das Objekt historischer Betrachtung '). Und wenigstens die öster-
reichische Geschichte wird immer eine Staatsg-eschichte bleiben müssen.
Die Nationen, welche den Kaiserstaat bewohnen, gehörten verschie-
denen nationalen Kulturkreisen und gehören solchen noch heute an,
sofern nicht die allgemeine westeuropäische Kultur die Besonderheiten
verwischt hat. Es giebt keine österreichische Litteratur, sondern nur
eine deutsch-österreichische, eine tschechische, polnische, magyarische,
die einander weit fremder gegenüberstehen als z. B. die deutsche und
französische oder englische. In dem österreichischen Staate allein
finden sich die einzelnen Nationen zusammen , an seinem Wachstum
und seiner Entwickelung haben sie alle auf ihre Art Anteil genommen,
in ihm allein können sie ein gemeinsames Geistesprodukt erkennen.
Die wirtschaftlichen Momente werden in ihrer Bedeutung für die innere
Entwickelung auch dann genügend berücksichtigt werden können,
wenn die Reichsgeschichte von staatsrechtlichen Gesichtspunkten aus
wird aufgebaut werden.
In diesem Sinne vermag die Reichsgeschichte noch einen weiteren
Zweck zu erfüllen. Der Historiker bedarf so gut als der Jurist eines
gewissen Mafses politischer und staatsrechtlicher Kenntnisse. Die be-
i) Es gilt meines Eracbtens noch immer von der Staatsgeschichte, was Fonrnier
in „Zeitschrift für ösierr. Gymnasien" XXVI, 413 f., von ihr mit Rücksicht auf die Koltor«
geschichte gesagt hat.
— 108 —
deutcndsten deutschen Historiker seit Pufendorf haben sich alle
mehr oder minder mit der Wivssenschaft der Politik, der Wissenschaft
vom Staate und seinem Leben beschäftiget, indem sie im Zusammen-
hang^e der historischen Darstellung" die Entwickelungsgesetze der Staatea
berühren, oder das Verhältnis zwischen der Historie und der Politik
erörtern, wie Ranke*), oder auch in eigenen Werken ihre Gedanken
über Politik niedergelegt haben, wie Dahlmann, Georg" Waitr
und Heinrich v. Treitschke. In Österreich sind staatsrecht-
liche Vorlesungen an den philosophischen Fakultäten erst in jüng-
ster Zeit in Übung gekommen. Indem nun die Reichsgeschichte
das Werden und Wachsen des österreichischen Staates lehrt, eröffnet
sie das Verständnis für politische und staatsrechtliche Probleme und
wird somit ein gewisses Mafs politischer Bildung vermitteln, die heute
jedem nötig ist, seitdem die Änderungen unseres politischen Lebens
dem Einzelnen das Recht und die Pflicht auferlegt haben, sich am
öffentlichen Leben zu beteiligen. Denn: „erst die Geschichte lehrt
uns**, wie Adolf Exner in seiner unvergefslichen Wiener Rektorats-
rede von 1891 sagt, „aus welchen Kräften eine heutige politische
Thatsache entsprungen, welche Natur und Macht ihr daher eigen und
welcher Verlauf von ihr zu gewärtigen ist. Darum ist die Geschichte
die grofse Lehrmeisterin in politischen Dingen, indem sie im Gegen-
satze zu einer blofscn äufserlichen Vergangenheitskunde das Gewesene
nicht blofs verzeichnet, sondern aus dem Vorgewesenen erklärt und
somit die Natur, Stärke und Richtung vorhandener politischer Kräfte
enthüllt**
liitteratur zur Geschichte Schlesv/ig^
Holsteins '')
Von
A. Lorenzen (Kiel)
Wenn auch zur Zeit noch eine eigentliche Bibliographie der Lit-
teratur zur schleswig-holsteinischen Geschichtsforschung fehlt, so haben
doch die letzten Jahre zwei nicht zu unterschätzende Hilfsmittel gebracht.
Der Katalog der Provinztal- Bibliothek (jetzt Landes-Bibliothek) für
1) In der Oratio de historiae et politices cognatione atque discrimine ^ gehaltea
beim AntriUe der ordentlichen Professur in üerlin 1856, „Gesammelte Werke " XXIV, 629 f.
2) VgL diese Zeitschrift Bd. I, S. 211 214.
— 109 —
Schleswig-Holstein (Schleswig, 1896—98), von R. v. Fischer-Benzoa
abgeschlossen, umfafet nicht nur in Abteilung 11 (Schleswig-Holstein),
sondern auch in den übrigen Abteilungen (Zeitungen, Zeitschriften,
Erdkunde und Reisen [Bibliothek von F. Gcerz], Historische Hilfs-
wissenschaften, Biographie, Geschichte, Skandinavien etc.) schon einen
wesentlichen Teil der hierher gehörenden Litteratur, deren Ergänzung
und Vervollständigung namentlich auch hinsichtlich der nordischen Lit-
teratur der Bibliothekar sich angelegen sein läfst, so dafs die in Kiel
(Landesdirektorat) befindliche Bibliothek mit der Zeit eine Hilfsquelle
auch für die Geschichtsforschung aufserhalb Schleswig-Holsteins werden
kann, und ein zweiter Band des Katalogs bald zu erwarten sein wird ;
dann ist aber die Beifügung eines Registers erwünscht. — Die Quellen
und Bearbeitungen der schleswig-holsteinischen Kirchengeschichte
(Kiel, 1899) hat F. Witt in den Publikationen des Vereins für
schleswig-holsteinische Kirchengeschichte {Schriften, I. Reihe, i. Heft)
systematisch - chronologisch zusammengestellt. Inhalt und Gliederung
sind durch den ausgesprochenen Zweck bedingt. Ergänzungen werden
in den Schriften IL Reihe geliefert (4. Heft: Die neueste Litteratur
über schleswig-holsteinische Kirchengeschichte), — In beiden Ver-
öffentlichungen vermfst man die an dieser Stelle besonders erwünschten
Angaben über den Umfang der Bücher. — Die neuere Litteratur für
1897 — 1900 verzeichnet der Landes-Bibliothekar R. von Fischer-
Ben zon (Zeitschr. d. Ges. f. S.-H. Gesch., Bd. 30) und fügt einzelnen
Erscheinungen auch Recensionen, bezw. Referate bei. — Ein sehr
wichtiges Hilfsmittel lieferte Georg Hille in der Übersicht über die
Bestände des K. Staats-Archivs zu Schleswig (Mitteilungen d. K.
Pr. Archivverwaltung, Heft 4. Leipzig 1900).
Eine auf Originaluntersuchungen beruhende, umfassende und ein-
heitlich durchgeführte Darstellung der schleswig-holsteinischen Ge-
schichte existiert nicht. Von G. Waitz* Schleswig- Holsteins Ge-
schichte in drei Büchern sind nur Band I und II (Göttingen, 1851 bis
1852) erschienen, in denen die Darstellung bis zum Jahre 1660 fort-
geführt ist. Einfacheren Bedürfnissen genügt seine Kurze Schleswig-
Holsteinische Landesgeschichte (Kiel, 1864, 2. [Titel-] Ausgabe, 1898).
Die Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Nach hinterlassenen
Handschriften von H. N. A. Jensen überarbeitet und herausg. von
A. L. J. Mich eisen (Bd. I— IV. Kiel, 1873 — 1879) bietet auch für
die politische und Kulturgeschichte manche wertvollen Aufschlüsse.
Sehr gute Dienste leistet auch F. C. Dahlmanns Geschichte von
Dänemark, Band I— III (Hamburg, 1840 — 1843), namentlich bezüglich
— 110 —
der Kulturzustände in Schleswig und der Beziehungen zu Dänemark;
in noch gröfserem Ma(se ist dies mit dem von Dietrich Schäfer
bearbeiteten Band IV (Gotha, 1893) der Fall, in dem die Darstel-
lung bis 1559 fortgeführt ist.
Der Vorgeschichte dienen die Mitteilungen des AnthropoUh-
gischen Vereins in Schleswig- Holstein (Kiel, i888flf.). Aufserdem
hatj. Mestorf, Vorgeschichtliche A Itertümer aus Schleswig-Holstein
(Hamburg, 1885) und Urnenfriedhöfe in Schleswig-Holstein (Ham-
burg, 1886) beschrieben. Eine Untersuchung Über vorgeschichtlcihe
Altertümer Schleswig - Holsteins mit besonderer Berücksichtigung
ihrer Beziehung zu der Geologie des Landes und ihrer minera-
logischen Eigenschaften lieferte W. Splieth (Archiv fiir Anthropo-
logie und Geologie Schleswig-Holsteins. Bd. II, Heft 2. Kiel, 1896).
Die schleswigschen Runensteine beschrieb Rochus v. Liliencron,
daneben L. F. A. Wimmer, Senderfyllands historiske Runemindes-
w<^r>4r^r (Kopenhagen, 1892). Inventarien der erhaltenen vorgeschicht-
lichen Altertümer in Schleswig gab AugustSach in Das Herzogtum
Schleswig in seiner ethnographischen und nationalen Entwicklung
(Heft I. u. 2. Halle a. S., 1895 u. 1899) und zog aus ihnen wichtige
Resultate über „Die Besicdelung vor der Wanderzeit" (p. 1 — 64),
„Die Angeln und ihre Wohnsitze** (p. 65 — 133), „Utland und
seine Bewohner** (p. 134 — 279) und „Die drei friesischen Syssel-
oder Geestharden als Grenzen der Friesen und Juten** (p. 280 — 336).
Ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel zur Feststellung der Natio-
nalitätsverhältnisse Schleswigs auf Grund der Personennamen, wenn
auch für einen späteren Zeitabschnitt, bieten die vom Reichsarchiv in
Kopenhagen publizierten Senderjydske Skatte-og Jordebeger fra Re-
formationstiden, Udgivne ved F. Falkenstjerne & Anna Hude
af Rigsarkivet (Kopenhagen, 1895 — 99); man darf sich jedoch nicht,
wie C. F. Bricka in dem Vorwort sehr richtig bemerkt, durch die
Neigung deutscher Schreiber, rein dänischen Namen einen deutschen
Zuschnitt zu geben, irreführen lassen. Eine ältere Quelle für die geo-
graphischen Namen und die Einteilung Schleswigs (ca. 1231) bildet
Liber census Danice. Kong Valdemar den andens Jordebog, udg.
og. oplyst of O. Nielsen (Kopenhagen, 1873), wobei aber Johannes
C. H. R. Steenstrups Studier over Kong Valdemars Jordebog
(Kopenhagen, 1874) heranzuziehen sind.
Für die schleswigschen Verhältnisse ist die Berücksichtigung der
zahlreichen und umfassenden dänischen Untersuchungen imerläislich.
In Danmarks Sydgrcense og Herredemmet over Holsten ved den
— 111 —
historiske Ttds Begyndelse (800 — 1000), als Einladungsschrift der
Kopenhagener Universität zur Feier des Geburtstages S. M. des Königs
am 8. April 1900 (Kopenhagen, 1900) erschienen, übt Johannes
C H. R. Stecnstrup eine zum grofsen Teil wohlberechtigte Kritik an
der Behandlung dieses Punktes am Anfang der historischen Zeit in
den deutschen Geschichtswerken, deren wichtigste Ergebnisse, soweit
sie von der lokalen Geschichtsforschung bestätigt werden, hier kurz
registriert werden mögen: Waitz* Norder-Eider hat in historischer Zeit
nicht existiert; eine marca Danica Karls des Grofsen wird nirgends
genannt; eine Mark nördlich der Eider hat weder zur Zeit der Karo-
linger noch unter Heinrich I. und Otto I. bestanden. Der Bericht
Adams von Bremen ist nach A. Sach, Die Entstehung des Herzoge
tums Schleswig (Das Herzogtum Schleswig I) auf eine Verwechse-
lung mit den Ereignissen unter Otto II. zurückzuführen.
Für die Einfuhrung des Christentums und die dieselbe begleiten-
den Ereignisse sind A d a m i , Gesta Hammaburgensis ecclesiae ponti--
ficum. Ed. J. M. Lappenberg [Mon. Germ. SS, VII, 267 — 389)»
und die Vita Sancti Anskarii dMcL Rimberto, ed. Dahlmann
[Mon, Germ, SS. II, 683 — 725) im ganzen zuverlässige Quellen, was
sich weniger von Helmoldi presbyteri Chronica Slavorum, ed. J. M.
Lappenberg {Mon. Germ. SS. XXI, i — 99) sagen läfst, wenn auch
die von C. Schirren gegen ihn gerichteten Angriffe [Beiträge zur
Kritik älterer Holsteinischer Geschichtsquellen. Leipzig, 1876) sich
als haltlos erwiesen haben. An dänischen Publikationen ist namentlich
A. D. j0rgensen. Den nordiske Kirkes Grundlceggelse og ferste
Udvikling (Kopenhagen, 1874 — 78) zu berücksichtigen. R. Usingers
Deutsch-dänische Geschichte von ii8g — i22y (Berlin, 1863) beleuchtet
einen sehr wichtigen Abschnitt der schleswig-holsteinischen Geschichte.
Der niedersächsisch-dänische Krieg von J. O. Opel (Bd. II u. III,
Magdeburg, 1873 u. 1894) bietet zwar ein reiches Material zur Ge-
schichte des Dreifeigjährigen Krieges für Schleswig -Holstein, zeigt
aber, dafs der Verfasser keine Fühlung mit den Ergebnissen der lo-
kalen Geschichtsforschung gehabt hat. Dagegen ist Danmarks ydre
politiske Historie i Tiden fra Freden i Lybek til Freden i Kjeben^
havn (1629 — 1660) von J. A. Fridericia (Kopenhagen, 1881) eine
nach allen Richtungen gediegene Darstellung, als deren dritter Band
das selbständige Werk desselben Verfassers Adelsvceldens sidste
Dage 1648 — 1660 (Kopenhagen, 1894) anzusehen ist, in dem aber
sowohl die äufsere als die innere Geschichte Dänemarks von 1648 bis
1660 zur Darstellung gelangen. Geheimrat Detlev v. Ahle/eldts-
— 112 —
Memoiren aus den Jahren i6iy — /^Jp. hcrausg. von Louis Bob 6
(Kopenhagen, 1896), P. Dörings Abhandlung über die Eroberung
Alsrns durch den gro/sen Kurfürsten (Progr. d. höheren Bürger-
schule Sonderburg 1873) und die Beschrethung der Kriegsthaten
des General'Feldmarsehalls Ernst Albrecht von Eberstein (2. Aus-
gabe. Berlin, 1892) bilden wertvolle Quellenschriften für die Ge-
schichte der Schwedenkriege Kars X. Gustav. Detlev v. Ahle-
feld t verteidigte schon bei dem Einfalle Torstens«?ons 1644 seine
Güter und die Ufer der Elbe mit zwei von ihm i^eworbenen Compagn een
und wurde beim Vordringen Karl Gustavs im Oktober 1657 nach Berlin
gesandt, um den Abschlufs eines Bündnisses mit seinem Könige zu
beschleunigen. Er führte die Unterhandlungen mit Brandenburg, Polen
und den Kaiserlichen und hatte nach dem Einmarsch der Verbündeten
als Gcneralkriegskommissar die schwierige Aufgabe, zwischen den
Forderungen der Hilfstiuppen und den verarmten Einwohnern zu ver-
mitteln, vor der Entscheidungsschlacht bei Nyborg die beiden eifer-
süchtigen Feldherren Schack und Eberstein zu versöhnen.
Der Verfassungsstreit in Schleswig-Holstein wird durch zwei Bro-
schüren eingeleitet: Worte eines Holstriners im Jahre 1814 (Ger-
manien [d. i. : Hamburg], 18 14) und Patriotische Gedanken über
Landstände in den Herzogtümern Schleswig und Holstein (o. O.,
1815), gewinnt aber erst an Bedeutung, nachdem U. J. Lornsen
seine Schrift Über das Verfassu7tgsiverk in Schleswig-Holstein (Kiel,
1830) ') veröffentlicht hat. Über die hierdurch hervorgerufene Flut
von Streitschriften vgl. Katalog der Provinzial-Bibliothek , p. 542 ff. !
Die Union SV erjassung Dänemarks und Schleswig- Holsteins von
U. J. Lornsen wurde nach seinem Tode von G. Beseler (Jena,
1841) herausgegeben, der Die historisch rti Landes-Rechte in Schles-
wig und Holstein -urkundlich. Mit einem Vorwort des Etatsraths
N. Falck (Kiel, 1842) folgten. Joh. Gust. Droysen & K. Sam wer
gaben in Die Herzfgthftwer Schleswig- Holstein und das Königreich
Dänemark (Hamburg, 1850) eine akteiimäfsige Geschichte der auf
Schleswig-Ho stein bezüglichen dänischen Politik seit dem Jahre 1806,
der C. F. Wegen er Aktenmäjsige Bf i träge zur Geschichte Däne-
marks im neunzehnten Jahr hu7i der t (Kopenhagen, 1851) gegenüber-
stellte. Ein hervorragendes IliHsmiitel zur Beurteilung der dänischen
Politik hat Julius Clausen in seiner auf einem gründlichen Studium
l) Es sind 7.wci Au^gahen vorhanden, die eine gedruckt bei C. F. Mobr, die andere
gedrockt in der Königl. Sclmlbuclidruckcrci, beide 1830.
— 118 —
der ihm durch kgl. Resolution freigegebenen „neueren Papiere des
Königshauses" im dänischen Reichsarchiv beruhenden Biographie über
Frederik Christian Hertvg of Augusfenborg (Kopenhagen, 1896)
geliefert, die in fast allen umstrittenen Pimkten die Haltlosigkeit der
W^cnerschen Behauptungen dargethan hat, bezüglich des gewundenen
Patentes vom 9. September 1806, durch welches die staatsrechtliche
Stellung Holsteins nach der Auflösung des Deutschen Reiches fest-
gestellt werden sollte, allerdings auch die Droysen & Samwersche
Elrklärung derselben umstöfst, indem CK zeigt, dafs die Fassung des
Patents von dem Staatsministcr Mösting herrührt und das umstrittene
„ungetrennt*' nach dessen Auffassung gegenüber „unzertrennlich"
eine festere Verbindung zwischen Holstein und Dänemark andeuten
sollte.
Das Erbfolgerecht der Augustenburger ist zum erstenmal in der
(vom Herzog Christian August vcrfafsten sogenannten Hallischen)
Schrift Die Erbfolge in Schleswig-Holstein (Halle, 1837) dargestellt;
betreffs Abweichungen für die verschiedenen Landesteile sind die
beiden Schriften von A. L. J. Michelsen, Über die ehemaligen
Landesteilungen in Schleswig-Holstein unter dem Oldenburgischen
Hause (Kiel, 1839) ^^^ Über Schleswig-Holsteinische Staatserb/olge
(Gotha, 1864] zu berücksichtigen. Das preufsische Erbfolgerecht ist
in Die Erb -Ansprüche des Königlich- Preußischen Hauses an die
Herzogthümer Schleswig-Holstein von EiVLBt Helwing (Lemgo und
Detmold, 1846) und den Rechtsgutachten bezüglich der Herzoge
thümer Schleswig- Holstein und Lauenburg, erstattet auf Grund
des Allerhöchsten Erlasses vom 14, Dezember 1864 vom Krön*
Syndikat (Berlin, 1866), dargestellt. Die Oldenburger und Branden-
burger Erbansprüche auf die Herzogthümer Schleswig-Holstein be-
leuchtete A. V. Warnstedt (Hannover, 1865) auf Grund der Urkunden.
Die Vorgeschichte der Erhebung der Herzogthümer Schleswig-
Holstein gegen Dänemark und der Krieg 1848 bis zum Waffen-
stillstände von Malmoe schrieb V, v. Lcwetzow (Aus den Erinne-
rungen eines schleswig-holsteinischen Offiziers, Schleswig. 1891).
Wertvolle Aufschlüsse liefern auch die Aufzeichnungen des Prinzen
Friedrich von Schleswig-Holstein-Noer aus den Jahren 1848 bis 18^0
(Zürich, 1861). Die ausführlichste und gründlichste Kricf{s;^^cschichte
enthalt das dänische Generalstabswerk Den dansk- tydske Krig i
Aarene 1848—18^0. i, — j. Del (Kopenhagen, 1867— 1887); da^
neben kommt vor allem in Betracht Geschichte des Krieges gegen
Dänemark 184849 ^Moltkes Militärische Werke HL Kriegs-
— 114 —
geschichtliche Arbeiten, i, Teil, Berlin, 1893). Darstellungen der
einzelnen Gefechte und Kriegsabschnitte sind auch in den Beiheften
zum Militär -Wochenblatt erschienen. Die diplomatischen Verhand-
lungen bis 1850 beleuchtet Rudolph Schieiden in den Erinne-
rungen eines Schleswig-Holstetners^ Bd. III u. IV (Wiesbaden, 1891
bis 1894). Als Fortsetzung derselben kann Schleswig-Holsteins Be-
freiung, herausg. aus dem Nachlafs des Professors Karl Jansen
und ergänzt von Karl Samwer (Wiesbaden, 1897), dienen, das sich
auf das Urkundenmaterial aus dem Nachlasse Karl Samwers, des
Vaters des Herausgebers, stützt. (Schlafs folgt)
r'i^<^i^*^'>^S^S^<>^^*^>^>i^^<>^<>^»^>^^
Mitteilungen
All$igrablllli?eil. — Die durch den Obersten v. Groller vorgenommenen
Ausgrabungen bei Kamuntum (vgl. Band I, S. 197 und 249) haben zu einem
überraschenden Fimde geführt In der Nähe des im vorigen Jahre auf-
gedeckten Waffenmagazins ist ebe Bäckerei zum Vorscheb gekonmien.
Sie enthält zwei Backöfen, und neben Bruchstücken fanden sich ebe Reihe
zwar verkohlter, sonst aber vollständig erhaltener Brote. Dieselben haben
eben Durchmesser von 29 bis 32 Centimeter, was einem römischen Fufs
entspricht Bisher war antikes Brot nur aus Pompeji bekannt
Maseen. — In Guben, wo seit 1884 die „Niederlausitzer Gesell-
schaft für Anthropologie und Altertumskunde" ihre erspriefsliche Thätigkeit
entfaltet, sind bereits seit geraumer Zeit geschichtliche Altertümer gesammelt
worden, welche seit Juli 1900 in einem städtischen Gebäude aufgesteUt und
allsonntäglich dem Publikum zugänglich sbd. Dieses neue Gubener Stadt-
museum ist bereits recht reichhaltig, es wird seit i. April 1900 aus
städtischen Mitteb unterhalten und hat den Zweck alles das zu sammeln,
was sich auf die Vergangenheit von Stadt- und Landkreis Guben bezieht,
doch so, dafs jeder Gegenstand thunlichst in seinen geschichtlichen tmd
räumlichen Zusammenhang gerückt wird. Die einzelnen Stücke sind nicht
planlos zusammengebracht worden, sondern von Anfang an hat zur Richt-
schnur gedient, dafs nur dasjenige aufzunehmen sei, was ein Büd vom Zu-
stand der Stadt und vom Leben der Bewohner ihres Gebietes bis b die
fernste Vorzeit zurück geben oder das durch hiesige Niederschläge gewonnene
Bild vervolbtändigen und erläutern kann. An dem schnellen Anwachsen des
Bestandes vom gegenwärtigen Zeitpunkte an ist nach den bisherigen Erfahrungen
nicht zu zweifeb. Die Verwaltung liegt in den Händen eines viergliederigen
Ausschusses, dessen Vorsitz ein Stadtrat führt; für etwaige wissenschaftlich
zu entscheidende Fragen ist ein Beirat gebildet, der sich aus einigen wenigen
Autoritäten in den einzeben Fächern zusammensetzt.
— 115 —
Die Ausstellungsgegenstände gliedern sich in drei Gruppen, nämlich in
vorgeschichtliche, d. h. solche aus vorslavischer Zeit, wendische
(600 bis 1200 n. Chr.) und mittelalterlich-neuzeitliche. Die vor-
geschichtlichen Funde sind nicht in dem engen Gebiete des Kreises Guben
ans Licht gefördert worden, sondern hier sind verständiger Weise die Grenzen
des Markgrafentums überschritten und manche wichtige Fundstücke aus der
Neumark, Posen, Schlesien und Sachsen den aus Gubens Umgegend
stammenden zur Seite gestellt worden. Die ThongefUfse des Niederlausitzer
Typus sind in seltener Fülle vertreten '). Aus der wendischen Periode sind
Töpfe mit maniglialtigen Ornamenten und vor allem ein silberplattiertes Eisen-
beil, eins der seltenen Prachtgeräte, zu erwähnen, während der Epoche, wo
die Deutschen wieder im Lande einzogen, eine bemerkenswerte gravierte
Bronzeschale des XU. Jahrhunderts angehört Die Gegenstände aus späterer
Zeit sind nach ihrem Zwecke und ihrer geschichtlichen Beziehung in mehrere
Unterabteilungen geschieden : neben Geräten zu den verschiedensten Arbeiten
finden sich Bekleidungsstücke, Erinnerungen an Feldzüge seit dem XV. Jahr-
hundert, alle möglichen Zimmergeräte, Handschriften und Drucke. Angegliedert
sind schliefslich auch einige ethnologische Fundstücke aus Ägypten, Mykenä,
Pompeji, Amerika und China, die neben den ortsgeschichten belehrend zu
wirken vermögen.
In Lübbenau (Lausitz) besteht seit Sommer 1899 ein Museumsverein,
welcher unter der rührigen Leitung des Oberpfarrers Pfannschmidt an
die Einrichtung eines städtischen Museums gegangen ist. So, wie man
es in Stade beabsichtigt (vgl. I. Band, S. 248), will man auch hier an die
Einrichtung ganzer Stuben gehen, welche naturgemäüs die Einbildungskraft
des Besuchers ganz anders anregen als einzelne Zimmergeräte aus verschiedenen
Zeiten und Gegenden: es soU eine wendische Stube, eine Schankstube
und eine Innungsstube eingerichtet werden, während zwei andere Gruppen
kirchliche Gegenstände *) und Gegenstände aus der heidnischen Totenbestattung
zusammenfassen sollen.
Klostergesehlchte. — In neuster Zeit sind auffiülend viele Mono-
graphieen über einzelne Klöster erschienen '), und fast ausschliefslich der
i) Über ihre Verbreiiang YgL S. 57 die Fandkarten von DeichroüUer.
2) Im Museum des Vereins fUr die Geschichte Leipzigs ist der Versuch gemacht
worden mit den verschiedenen vorhandenen kirchlichen Gegenständen eine Kapelle «m-
znricbten. Vgl. L Band, S. 219.
3) Ei seien hier nur folgende uns zur Besprechung zugegangenen Schriften erwähnt:
Albrecht Thoma, GeschtchU des Klosters Frauenaih (Freiburg i. B., P. Waetzel,
1898. 104 S. 8**. M. 1,60) schildert in ganz vorzüglicher Weise auf knappen Räume
im engen Anschlufs an die Quellen, ohne sein Schrifichen mit dem Quellenballast zu
beladen, die Entwicklung seines Klosters, geht in gleicher Weise auf Wirtschaft, inneres
Leben und Herrschaftsrechte ein und weifs Überall das Charakteristische hervorzuheben. —
Vom inneren Klost erleben erzählt wenigstens in bescheidenem Mafse auch Robert
Schölten, Das Cistercunserinnenkloster Grafenthal oder Vallis Comttis xu Asperden
im Kreise Cleve (Cleve, Bofs, 1899^ wenn sich auch das durch seine umfangreiche Ur-
kundenbeilage sich auszeichnende Buch im gröfsten Teile mit der Klosterwirtschaft beschäftiget.
Eine ähnliche Arbeit desselben Verfassers. Das Karthäuserkloster Insuln Regtnae Caeli
auf der Grave bei Wesel ^ erschien bereits 1891 im 52. Hefte der „Annalen des his-
8*
— 116 -
Klostergeschichte dienen die von P. Maurus Kinter, Stiftsarchivar zu
Raigem bei Brunn, herausgegebenen Studien und Mitteilungen au^ dem Bene-
diktiner- und Cisiereienserorden (1900 ist der 21. Jahrgang). Aber wie
auf anderen Gebieten, so ist es auch hier: es fehlt an Zusammenfassung
und schärferer Beobachtung und Herauskehrung des grofsen und allgemeinen
Zusammenhangs in den Monographieen. Es ist deshalb aufserordentlich zu
begrüfsen, dafs die genannten „Studien und Mitteilungen** einen Anfang
machen und die Gesamtheit der Forscher zur Mitarbeit an einer künftigen
deutschen Klostergeschichte einladen. Es geschieht dies in einem „Aufruf*,
der sich auf der Innenseite des Vorderumschlags von Heft II bis III des
21. Jahrgangs findet und folgendermafsen lautet:
Wie auf allen Gebieten der Geschichtsforschung so hat sich auch
auf dem Felde der Klostergeschichte in neuerer Zeit ein reges Leben
entfaltet. Aber wie überall so ist auch hier nur allzu oft über dem Ein-
zelnen das grofse Ganze vernachlässigt worden, und doch ist nicht zu
leugnen, dafs das grofse gemeinsame Ziel aller einschlagigen Arbeiten eine
grofse umfassende vom Einzelfall absehende Klostergeschichte
sein mufs. Wie flir das frühe Mittelalter das Klosterwesen nicht nur
Westeuropas als Einheit wird dargestellt werden müssen , ebenso sicher
wird eine geschichtliche Darstellung in den spätem Jahrhunderten die
Nationen, vielleicht sogar die Landschaften trennen müssen : mit Rücksicht
auf die Frühzeit und späteren Verhältnisse werden wir deshalb eine
deutsche Klostergeschichte ab das Buch bezeichnen dürfen, welches
die deutsche Geschichtswissenschaft dringend nötig hat.
Heute weifs jeder in der Technik der Geschichtsforschung Bewanderte,
dafs einem Manne, und wäre er der genialste und fleifsigste, die Lösung
dieser Aufgabe auf Grund der ersten Quellen unmöglich ist, denn dazu
sind diese zu massenhaft und allzu sehr verstreut. Wenn die Wissenschaft
in diesem Punkte vorwärts konunen soll, so ist wie auf allen anderen
Gebieten eine Zusanmienfassung , eine Organisation nötig, welche allein
eine Nutzbarmachung jeder Teilarbeit, und mag sie noch so klein sein,
flir das grofse Endziel ermöglicht Jede materielle Arbeitsorganisation,
die grofse meist nicht vorhandene Mittel erfordert, hat aber den Nachteil,
dafs alles aufserhalb Stehende nicht berücksichtigt werden kann, und da-
durch wird der Zweck allzu leicht vereitelt. Es mufs deshalb eine
toriseben Vereins für den Niederrhein", S. 61 — 136. — In derselben Zeitschrift,
44. Heft [1885], S. I 122 erschien eine Stndie von Leonard Korth über Das
Kloster Dünwald^ die eine Menge feine Bemerkungen über die Klosterwirtschaft enthält und
eine Reihe inhaltlich allgemein wichtige Urkunden im vollen Wortlaut veröffentlicht. — Aus
Mangel an anderem Material mufs sich auch Armin Tille, Die Benediktinerabtei
St, Martin bei Trier (■• Trierisches Archiv, 4. Heft. Trier, Lin«, 1900. M. 3,50.) auf
die Darstellung der Klosterverwaltung, des Güterbesitzes und der Verwaltung beschränken. —
Ihrem ganzen Wesen nach behandelt die wirtschaftliche Seite des Klosterlebens die Arbeit
von RndolfKötzschke, Studien zur Verwaltungsgesckichte der Grossgrundherrschajt
Werden an der Ruhr (Leipzig, ß. G. Teubner, 1901. M. 6.). K. beschränkt sich auf
die Reichsabtei Werden, zieht aber doch die Zustände der Abtei Prüm vergleichsweise
heran und gewinnt fUr Werden Ergebnisse, die nicht nur unser Wissen von der früh-
mittelalterlichen Frohnhofsverfassung und deren Verfall wesentlich vermehren, sondern
für jeden von besonderem Werte sind, der sich bei unzureichendem Quellenmaterial eine
Vorstellung von der Wirtschait grofser Klöster machen will.
— 117 —
lediglich geistige Organisation geschaffen werden, welche die
oben bezeichneten Ziele fördern hilft, d. h. eine solche, welche der Geschichts-
schreibung im weitesten Sinne eine grosse Zahl unter sich vergleich-
barer Einzelforschungen zur Verfügung stellt, die jede für sich bemüht
sein müssen durch vergleichweise Heranziehung anderen Materials wenigstens
für ein engeres Gebiet allgemeinere Ergebnisse zu gewinnen. Ein Arbeits-
schema in diesem Sinne liefse sich wohl aufstellen, es würde aber von
nur geringem Nutzen sein, wenig Beachtung finden und sich gerade für
die besten Arbeiter als unbrauchbar erweisen. Am besten lehrt das Bei-
spiel. Deshalb gilt es, aus der schier unübersehbaren Flut von Mono-
graphieen über einzelne Klöster einige wenige herauszugreifen, die jede in
ihrer Art, als Muster für künftige Arbeiten empfohlen werden können.
Es wären dabei natüriich sowohl die noch heute bestehenden als auch
die früher eingegangenen und seit dem XVI. Jahrhundert aufgehobenen
Klöster zu berücksichtigen.
Unter diesem Gesichtspunkte stellen wir an alle Geschichtsforscher
die Frage: I. Wer ist in der Lage einzelne Klostergeschichten als
mustergültig für künftige Arbeit, namentlich mit Rücksicht auf eine
allgemeine Klostergeschichte, namhaft zu machen?
2. Wer ist dazu bereit, eine grössere Anzahl von derartigen
Monographien (namentlich wieder diejenigen, welche auf die erste
Frage als empfehlenswert bezeichnet worden sind) in einem kritischen
zusammenfassenden Aufsatze zu behandeln?
Wir schliefsen mit der dringenden Bitte, diese Zeilen nicht nur zu
lesen und ihnen vielleicht im Stillen zuzustimmen, sondern sie auch wirklich
zu beantworten auf Grund der zufälligen Litte raturkenntnis und Bekannt-
schaft mit den Zuständen eines engeren Gebietes. Einsendungen sind zu
richten an:
Die Redaktion der „Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und
Cistercienserorden" in Stift Raigern bei Brunn. Österreich.
Diese wohl unanfechtbaren Ausführungen empfehlen wir der allgemeinen
Beachtung!
Der Oberhessische Geschichtsverein in Giefsen hat bereits
1899 und dann nochmals im Juli 1900 für Bearbeitung einer Geschichte
des Schiffenbergs als Kloster und Deutschordensniederlassung
von der Stiftung (1129) bis zumAusgangdes XIV. Jahrhunderts
einen Preis von 500 Mark ausgeschrieben, aber, wie es scheinen will, ist
die Arbeit bisher noch nicht mit Glück in Angriff genommen worden. Und
doch ist nicht zu leugnen, dafs Schiffenberg seiner Bedeutung nach ein
würdiges Objekt für eine Klostergeschichte darstellt und auch eine ausreichende
urkundliche Überlieferung besitzt.
Zeitschrfften. — Das Heer der ortsgeschichtlichen Zeitschriften hat
sich im Laufe des Jahres 1900 wieder um einige vermehrt, die allgemeine
Aufmerksamkeit verdienen *).
1) Von den Ober ländischen GtschichUhlätUrn^ deren erstes Heft wir im L Bande,
S. 135 anzeigten, ist 1900 bereits ein zweites inhaltreiches Heft erschienen.
— 118 —
Der neu gegründete Rügisch-Pommersche Geschichtsverein
(vgl. I. Band, S. 87), welcher Greifswald und Stralsund als Stützpunkte hat,
giebt die Pommersdien Jahrbücher heraus. Die Redaktion derselben (I. Band,
Greifswald, Julius Abel, 1900. 179 S. 8®. M. 4) ruht in den Händen
eines Ausschusses, dem die Professoren Bernheim, Frommhold, Ulmann
und Dr. Karl Kunze angehören. Letzterer ist mit der eigentlichen Re-
daktionsarbeit betraut und verwaltet das Amt des Schriftführers beim Rügisch-
Pommerschen Geschichtsverein, welchem nach dem vorliegenden Mitglieder-
verzeichnis bei Ausgabe des ersten Bandes der Zeitschrift 227 Mitglieder
angehörten. In einem Geleitwort schildert Prof. Frommhold in kurzen
Zügen die Entwicklung der GesellscJiaß für Patnmersche Oeschichie und
Altertumskunde, die seit 1825 besteht: sie hatte von Anfang an zwei Ab-
teUungen und demgemäfs zwei Sitze, Stettin und Greifswald. Aber während
sich an ersterem Orte eine erspriefsliche Thätigkeit entfaltete, war das gleiche
von Greifswald nicht zu rühmen, bis sich endlich die dortige Abteilung 1899
selbständig machte und einen eigenen Verein ins Leben rief. — Prof.
Bern heim bietet in seinem Aufsatze Lokalgeschichte und Heimatkunde in
ihrer Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht im knappsten Rahmen ein
Bild der lokalgeschichtlichen Studien in den letzten Jahrzehnten, welches
allgemeinste Beachtung verdient. Die Spitze dieser Ausftihrungen
ist die Formulierung eines kurzen Arbeitsprogramms ftir den neuen Verein,
welches getrost jeder andere Geschichtsverein zu dem seinen machen kann.
Der Schlufs behandelt die Stellung der Landes- und Ortsgeschichte im
Unterricht, und darin ist das ausgesprochen und innerlich begründet, was
von vielen und zwar in gleicher Weise von Lehrenden und Lernenden vielfach
als Mangel des gegenwärtigen Geschichtsunterrichts empftinden wird, nämlich
dafs die Berührungspunkte der Geschichte mit der jeweiligen engeren Heimat
so gering erscheinen und dafs hier nur eine fleifsige Lokalforschung helfen
kann, indem sie zeigt, wo die Fäden der allgemeinen Geschichte mit denen
der heimatlichen zusammen laufen, und indem sie lehrt, die nächst liegenden
konkreten Erscheinungen als Beispiel ftir gewisse Allgemeinerscheinungen der
Vergangenheit zu verwerten. — Martin Wehrmann, gegenwärtig wohl
der beste Kenner der Pommerschen Geschichte, dem wir die Übersicht über
die neuere geschichtliche Litteratur Pommerns verdanken (vgl. I. Band,
S. 98 — 104 und 132 — 133), berichtet über die kulturgeschichtlich bedeutsame
Reise des Herzogs Bogislaw von Ponmiem ins heilige Land (1497) und
charakterisiert dabei trefflich die Stellung des Herzogtums Pommern zum
Reiche. Aus dem, was über die Reise selbst gesagt ist, sei nur auf den
wichtigen Kontrakt hingewiesen, den der inkognito reisende Herzog mit dem
Venediger Schiffsherrn Alexisi Zorzi wegen der Überfahrt*) abschlofs. —
Bruchstücke einer Stralsundischen Chronik 1254 — 1476 veröffentlicht Rudolf
Bai er und erschliefst damit eine bisher für die Stadtgeschichte unbenutzte
Quelle unter gleichzeitiger Orientierung über die sonstigen Stralsunder Stadt-
chroniken. — Die Baugeschichte der Greifswalder Marienkirche behandelt
Ernst Krönig und giebt damit, ganz abgesehen von den ortsgeschichtlich
i) Er ist gedruckt bei R. Klempin, Diplomatische Beiträge tur Geschichte
Pommerns (Berlin 1859), S. 542 - 546.
— 119 —
interessanten Einzelheiten ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die im
engeren Sinne kimstgeschichtiiche Forschung mit der sonstigen ortsgeschicht-
lichen verbunden beide in gleichem Mafse zu fördern vermag : die unanfecht-
baren steinernen Urkunden ergänzen nur zu oft die lückenhaften und sonst
unverständlichen auf Papier und Pergament ! — Als ersten Teil einer gröfseren
Veröffentlichung: Die äUeren Zunfturkunden der Stadt Oreifatvald bieten
schliefslich Oskar Krause und Karl Kunze gemeinsam die ältesten
Urkunden von sechzehn gewerblichen Genossenschaften aus der Zeit von
1397 bis ins XVI. Jahrhundert und unterrichten zugleich in einem kurzen
Vorwort über das Zunftwesen in Greifswald überhaupt. — Eine stattliche
Leistung mufs dieser erste Band der neuen Zeitschrift genannt werden. Ein
besonderes Verdienst hat sich die Redaktion dadurch erworben, dafs die
einzelnen Beiträge nicht zu umfangreich sind, dafs es damit möglich geworden
ist, eine grofse Reihe verschiedener Gebiete zu behandehi und dadurch
jedem Vereinsmitgliede wenigstens einen Aufsatz zu bieten, der ihn be-
sonders fesselt, denn bekanntlich ist ja nicht jeder Gegenstand für jeden
Leser in demselben Mafse interessant.
Der Mühlhäuser Altertumsverein (vgl. L Band, S. 135) hat mit
Heft I und 2 des I. Jahrgangs der Mühlhäuser Oeschichtsblätier (52 S. 4®.
Mühlhausen, Karl Albrecht 1900) seine Veröffentlichungen begonnen. Der
junge Verem, die Schöpfung des rührigen Stadtarchivars Prof. Heydenreich,
zählte im Oktober 1900 bereits 278 Mitglieder und wird durch die städtischen
Behörden von Mühlhausen in jeder Weise gefordert. Nur so ist es möglich,
dafs die Zeitschrift jedem Mitgliede bei einem Jahresbeiträge von nur i Mark
geliefert werden kann. Die Beiträge, welche das vorliegende Heft bringt,
sind recht vielgestaltig, aber vielleicht doch etwas zu kurz ausgefallen, so
dafs bei einer Fortsetzung dieser Methode der Stoff allzusehr zerrissen wird.
Heydenreich selbst bietet drei Beiträge, er charakterisiert zur Einleitung
die Anregungen zu lokalgeschichtlicher Forschung in neuester Zeit und ent-
wickelt die Aufgaben des Mühlhäuser wie jedes anderen Vereins, er führt,
auch dem Laien verständlich, die ältesten urkundlichen Nachrichten über
Mühlhausen 7 7 5 bis 900 vor und bespricht endlich die im Mühlhäuser Stadtarchive
vorhandenen tünf Urkunden mit französischer Malerei, deren zwei in Licht-
druckreproduktion beigegeben sind. — Den neuesten prähistorischen Funden
aus Mühlhausens Umgebung widmet Karl Sellmanu eine eingehende Be-
sprechung und glaubt die der Bronzezeit angehörigen Schmuckstücke spätestens
600 V. Chr. ansetzen zu sollen. — Die Münzsammlung des Magistrats, in
der sich über 300 Brakteaten finden, charakterisiert Zenker, vom Schützen-
feste zu M. im Jahre 1400 erzählt Heinrich Spiethoff, aus einer mit
Reimen durchsetzten Stadtchronik, die von erster Hand bis 15 14 und von
einem Fortsetzer bis 1523 geführt worden ist, giebt Prof. Kettner einige
Proben. Schliefslich widmet W. Röttscher den baulichen Emeuerungs-
arbeiten an der in ihren ältesten Teilen dem Ende des XIL Jahrhunderts
entstammenden Marienkirche seine Aufmerksamkeit. Eine gröfsere Zahl kleinerer
Mitteilungen und Bücherbesprechungen, unter denen die sehr ausführlich
gehaltene über R. Wuttke, Sächsische Volkskunde, besonders erwähnt sei,
schliefsen das erste Doppelheft ab.
— 120 —
ElDgregangene Bficher.
Bibliographe Moderne, courrier international des archives et des biblioth^ues,
public sous la direction de M. Henri Stein. Quatri^me ann^ (1900)
Janvier- AvriL 2 Hefte. 168 S. 8®.
Boehmer, F.: Geschichte der Stadt Rügen^ralde bis zur Aufhebung der
alten Stadtverfassung (1720). Stettin, Paul Niekammer, 1900. 446 S.
80. M 9.
Er et holz, Berthold: Mocran et Mocran, Zur Kritik der goldenen Bulle
K. Friedrichs II. für Mähren vom Jahre 12 12 [= Sonderabdruck aus
den Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung,
Ergänzungsband VIJ.
Köcher, Adolf: Die Landregister und Dorfannalen der Bauermeister von
Edesheim im Leinethale [^=^ Sonderabdruck aus der Zeitschrift des
Historischen Vereins für Niedersachsen, Jahrgang 1900].
Lamprecht, Karl: Die Königlich Sächsische Kommission für Geschichte
[= Abdruck aus den Beuchten der philologisch-historischen Klasse der
Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Öffent-
liche Gesamtsitzung beider Klassen am 23. April 1900].
Derselbe: Le mdthode historique en Allemagne [= Revue de synth^e
historique, directeur: Henri Berr, aoüt 1900 pag. 21 — 27].
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Henuaceher Dr. Armia HUe in Leipsig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
n. Band Februar zgoz 5. Heft
Zur Ortsnatnenfor sehung
Von
Gustav Hey (Döbeln)
Wenn auf dem weiten und schwierigen Gebiete der Ortsnamen-
forschung ein neuer Streifzug unternommen worden ist und mancherlei
bedeutsame Ergebnisse gebracht hat, so darf dies immer mit Freuden
begrüfst werden; denn vieler Kräfte und Einzelforschungen bedarf es,
um diese wichtige geschichtliche Hilfswissenschaft zu einem grofsen,
wohlgegründeten Ganzen auszubauen. Dankenswert ist es daher auch,
dafe kürzlich in dieser Zeitschrift *) Herr Prof. Wäschke vom Gymnasium
in Dessau das Wort ergriffen hat, um sich als kundiger Fachmann
über die junge Wissenschaft auszusprechen. Indessen eine gewisse
Einschränkung muis dieser Dank doch erleiden, da unterschiedslos
alle bisher auf diesem Gebiete thätig gewesenen Forscher, selbst die
gewissenhaftesten, dort bedeutet werden, daCs sie noch nicht die rechten
Wege gewandelt sind. Auch ich bin wenig davon erbaut, wenn ich
mir nun sagen mufs, dais meine seit einem Menschenalter mit redlichem
Bemühen gepflegten Namenstudien gleichfalls vor der Kritik W.'s nicht
bestehen sollen, sintemal es bisher überhaupt an der rechten Methodik
auf diesem Gebiete noch gefehlt habe. Da ich mir der schweren
Schuld unwissenschaftlichen Verfahrens eigentlich nicht bewuist bin,
so bitte ich mir eine Gegenäufserung zu gestatten, die ruhig und rein
sachlich sein soll, und dies um so mehr, als es die gleiche Anstalt
ist, an der ich einst als Schüler die Liebe zur Sprachforschung ge-
wonnen habe, und an der heute W. als Lehrer wirkt.
In der löblichen Absicht, die Verständigung unter den Namen-
forschem und die notwendige Einheitlichkeit des wissenschaftlichen Ver-
fahrens zu fördern, hat W. es unternommen, feste Grundlagen zu schaffen
und eine Methodik der Ortsnamenforschung aufzustellen; er
will die rechten Bahnen weisen, damit man endlich zu gesicherten,
1) L Band, S. 353—370.
— 122 —
wissenschaftlich wertvollen und verwendbaren Ergebnissen gelange.
Wie notwendig es sei, in der bisherigen Behandlung der Namenkunde
Wandel zu schaffen, ergiebt sich für ihn aus einem Überblick über
das bisher darin Geleistete. Nachdem er die Naivität früherer unwissen-
schaftlicher Namendeuterei mit Recht gekennzeichnet, und indem er
sich der neueren Forschung zuwendet, findet er, dafs auch hier bei
aller sprachlichen Kenntnis und historischen Bildung doch philologischer
Dogmatismus und infolge der Vorliebe für irgend eine Sprache oder
Theorie Einseitigkeit, also noch immer Unwissenschaftlichkeit herrsche.
Zwei Kategorien von Forschern werden hier unterschieden, Kelto-
manen und Slavophilen, beide werden gleichermafsen verurteilt.
Wenn das den ersteren gegenüber im allgemeinen mit Recht geschieht,
so kann das Urteil bezüglich der zweiten, mit jener ganz gleichwertig
gesetzten Kategorie doch in seiner Allgemeinheit nun und nimmer als
zu Recht bestehend anerkannt werden. Schon die auf Einseitigkeit
deutende Bezeichnung Slavophilen ist für die Mehrzahl der angeführten
Namenforscher nicht zutreffend, da es sich hinsichtlich der Osthälfte
Deutschlands um die selbstverständliche Notwendigkeit handelt, nicht
nur die Tausende ersichtlich slavischer Namen natürlicherweise aus
dem Slavischen zu erklären , sondern ebenso auch auf Grund der ur-
kundlichen Formen die sehr grofse Zahl derer, welchen man bei dem
deutschen Gewände, das sie tragen, nicht ohne weiteres die fremde
Herkunft anmerkt: ich meine zahlreiche Namen auf — bürg, — bach^
— thal, — feld, — hain, — rode, — leben, — hausen u. s. w. *), bei denen
die kräftige Volksetymologie ihr oft wunderliches Spiel getrieben hat.
Es kann doch nicht von einer Vorliebe oder Voreingenommenheit die
Rede sein, wenn auch solche Ortsbezeichnungen auf das Slavische
zurückgeführt werden. Und selbst wenn von den „Slavophilen** hier
und da ein seinem Ursprünge nach nicht ganz durchsichtiger Name
mit Unrecht aus der fremden Sprache zu erklären gesucht wird, so
begründet auch dies noch nicht den bezeichneten Vorwurf. Ich
habe in meinem Buche : Die Slavischen Siedelungen im Königreich
Sachsen *) einen ganzen Abschnitt fremdklingenden Namen ') gewidmet^
i) Z. B. Loburg, Lofsbarg, Kaseburg, Ratzebarg — Bodenbach, Laubach, Garsebach,.
Starrbach — Rofsthal, Mockethal — Ticfenau — Zenchfeld — Geithain, Zeithain, Zöthaio,
Löthain, Otteuhain, Weitschenhain, Pappertshain, Komhain, Bomshain, Borgishain, Stünz-
hain — Golberode, Matzscherode, Wiederoda — Blattersleben, Paschleben, Gorsieben,.
Safsleben, Wafslebcn — Goldhausen, Zackelhaasen n. a.
2) Dresden 1893.
3) Z. B. Bahra, Dröda, Lausche, Rodewisch, Otterwisch, Otterschütz, Spechtritz,.
Denkeritz u. a.
— 123 —
die leicht als wendische gelten könnten, und die doch auf Grund ihrer
ehemaligen oder analoger Formen als deutsche zu erklären sind.
Aufeerdem habe ich, wie aus anderem hervorgeht, auch die ganze Schar
der deutschen ON. in Sachsen mit dem gleichen Eifer durchforscht.
Angesichts solcher rein sachlichen Behandlung, die dem Deutschen
wie dem Slavischen in gleicher Weise gerecht wird, ist es ungerecht-
fertigt, von einseitiger Slavophilie zu sprechen. Das gleiche gilt auch
für etliche andere der von W. genannten Forscher. Aufser dieser
Unparteilichkeit erlaube ich mir aber auch noch anderes für mich in
Anspruch zu nehmen.
Wenn W., um dem Unwesen im Etymologisieren zu steuern, eine
Reihe von Grundsätzen aufstellt und damit etwas Neues zu bieten
scheint, so ist dem entgegenzuhalten, dafs diese Sätze nicht nur that-
sächlich schon befolgt , sondern auch ausdrücklich von mir *) bereits
früher festgestellt worden sind.
W. sagt: i) ,,Es ist notwendig, die gesamten erreichbaren Formen
eines Ortsnamens festzustellen, in der historischen Überlieferung die
älteste Form zu erkennen und auf dieser Form in stetem Hinblick auf
die Reihe der Überlieferung und die Überlieferung und Bildung gleich-
artiger Namensformen die sprachliche Deutung aufzubauen." In meinen
„Siedelungen" S. 29 ist zu lesen: „So ergiebt sich als erstes Haupt-
erfordemis für die Namendeutung die Notwendigkeit, die ältesten uns
überlieferten Namensformen, welche möglichst nahe an den Ursprung
heranreichen, aus den Urkunden herbeizuziehen und darauf die Erklärung
zu gründen." W. fügt seinem ersten Grundsatze hinzu, es sei zu warnen
vor der kritiklosen Benutzung der Überlieferung, und stellt als 2. Gesetz
auf: „Die Überlieferung der Ortsnamen bedarf zu ihrer Sicherung des
Zurückgreifens auf die ersten und besten Quellen und dabei der steten
Berücksichtigung der diplomatischen und philologisch-historischen Kri-
tik." Dieser Punkt hat in den „Siedelungen" schon vielfach thatsäch-
liche Berücksichtigung erfahren, z. B. bei Blastnwicz, Meuckewicz,
Komerant, Mutitsctn, Kolschowe, Lostaua, Limmriiz u, s. w.
Das 3. Gesetz lautet: „Die Entscheidung über sprachliche Zu-
gehörigkeit der einzelnen Ortsnamen mufs ohne jedes Vorurteil sich
rein auf die durch die Kritik gesicherte historische Reihe der über-
lieferten Formen gründen; im Zweifel müssen die sprachlichen That-
sachen ihre Sicherung durch die Analogie sowie durch die Sonstige
1) Die Slaviscfun Ortsnamen des Königsreichs Sachsen, Prognmin, Döbeln 1883,
S. 4ff. und Slavische Stedelungen (1893), S. 39 ff.
9 ♦
— 124 —
geschichtliche Überlieferung suchen." Auch dieser Grundsatz ist von
mir bereits praktisch befolgt worden *).
Als 4. Forderung wird geltend gemacht: „Die Deutung des Orts-
namens mufs eine vollständige, d. h. den gesamten Lautgehalt desselben
durchaus erschöpfende sein." Das deckt sich mit dem, was von mir
in den „Siedelungen** S. 31 als 7. Punkt verlangt wird, dafe in slavischen
Namen die mannigfaltigen und so wesentlichen Suffixe eine besondere
Rücksichtnahme erfordern, da es mit dem Auffinden des Stammwortes,
dem „Wurzelfinden** nimmermehr abgethan sein kann. Hiermit steht
W.'s 5. Satz in engstem Zusammenhange, nämlich „die Deutung
zusammengesetzter Ortsnamen vom zweiten Gliede der Komposition
(oder der Endung) ausgehend vorzunehmen, weil diese gegenüber
dem ersten Gliede das allgemeinere, darum der Forschung im all-
gemeinen zugänglichere Element enthalte.** In dieser Hinsicht heifst
es in meinen „Siedelungen**, dafs, obschon die Suffixe oft sehr ver-
wittert und verwischt seien, doch oft erst nach ihrer richtigen Erkennung
das rechte Stammwort hervortrete. Damit ist zugleich auf einen von
W. nicht berührten Übelstand hingewiesen, dafs nämlich gerade am
Schlüsse oft die stärkste Entstelltmg eines Namens eingetreten ist und
verschiedene Suffixe in den gegenwärtigen und urkimdlichen deutschen
Formen nicht selten zusammenfallen, weil man die feinere lautliche
Unterscheidung nicht immer festzuhalten im stände war. Ist doch das
zahllose Namen schliefsende -iiz f-ütz) hervorgegangen aus -ica, -icy,
•4ca, -^cy, -tl^tS, -uM, sogar aus -m; ja, es finden sich Fälle, wo es
einem Wurzelworte entspringt. Wie schwierig gestaltet sich so die
richtige Erkenntnis und Wiederherstellung der ursprünglichen Endung,
des eigentlichen Wortausganges! Mufs man da nicht zunächst den
ersten Namensteil feststellen? Hier hilft zu allermeist aus der Not,
was W. ebenfalls aulser acht gelassen hat : Bei allen Deutungen slavisch-
dcutscher Namen sind, und das ist von mir unter 6. mit besonderer
Betonung gefordert, unbedingt die Namen des ganzen weiteren heutigen
wie auch ehemaligen Slavengebietes aufs sorgfältigste mit heranzuziehen.
Denn verhältnismäßig selten ist es, dafs ein altwendischer Ortsname
in deutschem Gebiete nicht mit dem entsprechenden aus der gegen-
wärtigen Slavenwelt belegt werden könnte. Die Ermittelung solcher
Analogien ist von der alleigrölsten Wichtigkeit
i) S. z. B. Wei8chlitz(Die sl. Siedelongtn im alten Vogtland in Dohlen Zeitschrift „Unser
Vogtland '< III, S. 158), Sohland (Die sL S. im Königreich Sachsen, 315), Schirgiswalde,
(314), besonders Brandis and verwandtes (48, 49), sowie die oben genannten Bahra,
Rodewisch n. s. w.
— 125 —
Wenn endlich (6.) W. auf die sogenannte Realprobe zu sprechen
kommt und meint, da(s zur Sicherung der durch sprachliche Unter-
suchtmg gefundenen Deutung des Ortsnamens das Ergebnis an den
geographischen und historischen Verhältnissen des betreffenden Ortes
geprüft werden mufs, so ist auch dessen von mir gedacht worden:
unter Nr. 3 (S. 30) ist für gewisse Fälle die Berücksichtigung der Ver-
hältnisse des Ortes und seiner Umgebung besonders verlangt.
Aus diesen Darlegungen erhellt, dafs die von W. zur Methodik
der Ortsnamenforschung aufjg^estellten Gesetze nicht eigentlich Neues
bieten, dafs sie bereits zum Ausdruck gebracht, auch bereits gewissen-
haft beobachtet und die von ihm gewiesenen Wege schon achtsam
begangen worden sind. Wäre es nicht am Platze gewesen, da ja W.
meine „Siedelungen'* nebst den kleineren Abhandlungen^) namhaft
macht, auch auf die darin aufgestellten Grundsätze Bezug zu nehmen?
Jedenfalls hätte S. 256 Anm. auf meine Arbeiten besonders hingewiesen
werden sollen.
Im Vorhergehenden sind den Forderungen W.'s bereits ein paar
wesentliche Punkte hinzuzufügen gewesen, doch zu einer methodischen
Behandlung unseres Gegenstandes ist noch einiges Weitere erforderlich.
Die altwendischen Namen sind bei ihrem Übertritt in die deutsche
Form und ihrer Weiterentwickelung durchaus nicht völliger Willkür
unterworfen gewesen, vielmehr hat sich der Wandel der Laute mit
einer leidlichen Regelmäfsigkeit und im Anschlufs an die deutsche
Lautlehre vollzogen, so dafs gewisse mehr oder minder feste Lautgesetze
sich aufisteilen lassen, welchen ebenso wie den slavischen Rechnung
getragen werden mufs *). Ferner mufs eine besondere Sitte der Slaven
berücksichtigt werden , nach der auf Grund des natürlichen Sippen-
verhältnisses den Ortschaften wenigstens der ältesten Zeit eine patro-
nymische Bozeichnimg — im weiteren Sinne — g^eben wurde, so dafs
wir in den weitaus meisten Fällen in den Ortsnamen solche personaler
Art zu erwarten haben. Im Königreich Sachsen sind zwei Drittel der
altwendischen Ortsbezeichnungen von Personennamen abgeleitet,
ein Drittel von Appellativen ; auf Rügen sind die Geschlechtssitze und
Besitzdörfer sogar in noch weit stärkerem Mafse überwiegend. Bei
Ermittelung der Personennamen hat man aber wiederum auf den grofisen
Unterschied Bedacht zu nehmen, welcher zwischen slavischer und
deutscher Personenbenennung besteht, insofern jene zum weitaus gröfsten
1) S. 259—260 Anm.
2) S. SiedeL 30. Es sei hier nur des deotschen UmlantgeseUes gedacht, welches
auch für die slarisch-dentschen Namen gilt
i
— 126 —
Teile mit Suffixen der mannigfaltigsten Art — etwa loo — , sogar
Doppelsuffixen, diese dagegen, wie bekannt, vorzugsweise durch Zu-
sammenfügung zweier Nomina gebildet sind *). Bei den fremden
personalen Ortsnamen ist es sehr häufig notwendig, zweierlei Nominal-
bildungssilben genau zu ermitteln *). Endlich ist es wohl nicht über-
flüssig, darauf hinzuweisen, dafe dem Namenforscher ein sehr weiter
Umblick auf seinem Gebiete eigen sein und ein sehr umfangreiches
Material zur Verfügung stehen mufs. Er hat sich in stiller, mühevoller
Arbeit Sammlungen von Namen anzulegen, und zwar erstens nach
Landschaften (mit möglichst zahlreichen urkundhchen Belegen),
zweitens nach ihrer Bildungsform, und drittens mit Rücksicht auf
den Wandel der lautlichen Verhältnisse, um nach jeder Richtung
hin seine Erklärungen sicher zu gründen. Hat er sich mit solchem
Handwerks- und Rüstzeug versehen, und wird er den dargelegten ver-
schiedenartigen Forderungen gerecht, dann wird es ihm wohl zu aller-
meist gelingen, zutreffende, überzeugungskräftige Deutimgen zu erzielen
und mit der genauen Wiederherstellung der alten Namensformen das
Bild der ehemaligen Wirklichkeit getreu oder wenigstens mit annähernder
Treue zu erneuern.
Nachdem so das Methodische in W.*s Ausführungen erörtert ist,
dürfte es von Interesse sein, an den von ihm gegebenen Deutungs-
beispielcn die Probe zu machen, ob und inwieweit er selbst den von
ihm aufgestellten Forderungen entsprochen hat.
Das wunderliche Güterglück diente W. als Ausgangspunkt, ein
Name, der in seiner gegenwärtigen Gestalt eine so ansprechende Volks-
etymologie darstellt, aber mit seinen älteren urkundlichen Formen
Jutercltc, 'kltk, -klick» -klyck uns sofort fremdartig erscheint. Über
seine slavische Abkunft ist W. nicht im Zweifel, liegt doch auch der
Ort inmitten altwendischer Landschaft. Wenn aber die Erklänmg des
Namens — entsprechend der Ansicht Stiers — dahin versucht wird,
es liege hier ein Determinativkompositum vor yind/uter-kltk bedeute
„Steinhaufen, Denkmal, Altar des altwendischen Gottes der Morgen-
röte**, so muls man doch fragen: seit wann ist Jutro, das einfach
„Morgen** bedeutet, der Gott der Morgenröte, der doch. Jutrobog
i
1) VgL diese Zeitschrift I. Band, S. 61 — 62.
2) Als Beispiel diene Lobfjün, 961 Ltubuhun, 1125 Lohechune und Liubeguni^
II 56 Luhechunty 1201 Lubechun, 1204 Livbicune = Ljüb-och-yn + ja (Femin.),
Ljubochyru^ wie Lih(o)chynli in Böhmen = Heim des Ljubockyn^ d. i. Liebermann
(Tgl. anch Malochytus Böhm). Der Fall gehört zwar mit unter das oben genannte
4. Gesetz, ist indes doch in seiner Besonderheit eigens herrorznheben.
— 127 —
heifst, d. i. Morgen — gott? Und weiter, wo findet sich ein Wort klik
im Sinne von Steinhaufen oder Denkmal? Die Deutung des zweiten
Wortbestandteiles ist rein aus der Luft gegriffen, und damit fehlt W.
gegen sein viertes Gesetz, welches eine den gesamtenLautgehalt
erschöpfende Erklärung verlangt, sowie gegen das sechste, welches
fordert , die Deutung zusammengesetzter Ortsnamen habe vom zweiten
Gliede auszugehen. Ihm wie Stier stand fest: das erste Glied be-
zeichnet den Gott der Morgenröte, also mufe das zweite wohl einen
Steinaltar bezeichnen. Die Sache liegt ganz anders. Wenn man
— nach meiner Forderung — die Namen des weiteren Slavengebietes
mit heranzieht, so findet man z. B. in Böhmen Schaboglück, tschech.
iahokliky. Der Name ist eine leicht erkennbare Zusammensetzung
aus Mba Frosch und klik', der Nebenform von krik- *), asl. klikxk =
krtku, tsch. krtk Geschrei, asl. klikati = tsch. krikati, dial. klikatt
schreien, quäken; das ergab einen Kindemamen iaboklik = der wie
ein Frosch schreit und quäkt; der Kindemame verblieb als Spitzname,
wie es häufig der Fall war, auch dem Manne, und von diesem iaboklik
stammt in pluralischer Form Familie und Dorf iabokliky. Aus guten
Gründen erkläre ich so, und nicht: „die Froschquaker". Der Name
deckt sich vollständig mit iabov'resky in Böhmen, wobei tsch. vreskati,
vHskati schreien, kreischen, vresk Geschrei, Geplärre, Quäken zu
Grunde liegt. Und zur weiteren Sicherung sei auch noch iabokry^
und iabokry^ka in Rufsl. hinzugefügt. Von selbst ergiebt sich nun,
da asl. jutro früh, morgens, tsch. jitro, alttsch. jutro, ohwend. julro,
jitro Morgen bedeutet: Güterglück — Juter klik = Viva, /utrokliky =
Familie und Dorf des Jutroklik, des Mannes, der als Kind ein Früh-
quäker, ein Frühmoigenschreier war. Bei einer Kombination der in
Schulzes Ortschaften des Herzogtums Anhalt (S. 20, 21) einander
gegenüberstehenden Namen Jütrichau und Klieken wäre der Fund auch
für andere leicht zu machen gewesen. Das klingt nun freilich recht
nüchtern-prosaisch gegenüber der sinnigen Deutung „Altar des Gottes
der Morgenröte"; dieses ist Dichtung, jenes Wahrheit. Wollte man
zu ihrer weiteren Erhärtung die zahkeichen slavischen Ortsnamen noch
heranziehen, in denen sich ein solcher Kinder- oder Neckname verbirgt,
die uns also Wohnorte des Schreiers, Kreischers, Quäkers, Brüllers,
Blökers , Heulers , Heulmeiers, Schreihalses u. s. w., darstellen *) , so
1) Miklosicb, Etym. WB. 140.
2) SUr. Kvtl, Kvilci, Kntk, Krtk, PokHk, KHc, KHcen, Skrck, Brek, Breh, Sek,
Bec, Hrejk, Ryk, kik, Zak, Buk, Bukol, Bukact, Fh'Sek, Skuhra, Styskal, Sipan,
Wujer — mit einem halben Hundert hiervon gebildeter Ortsnamen liefse sich aufwarten.
— 128 —
dürfte niemand gegen die gegebene Deutung von Güterglück etwas
noch einzuwenden haben.
Von dem erwähnten jutro, jitro stammen auch, und zwar aus den
daher rührenden Personennamen Jutrich, Jutroä, Jitroä, fem. JitroSa =
Frühauf gebildet *), die Ortsnamen Jütirichau b. 2^rbst = Juirichov,
Gittersee oder Güttersee b. Dresden, urk. Gittersin, JeÜrstn, Gitterfse,
Gitttrsch^ = Adj. JutroÜn, Jüröiin = Besitz eines Jutroi, Jitrol^
genau so Gütersee b. Köthen und gleichwertig damit das eingegangene
Jüterssow bei Bergen auf Rügen = Jutroiov *). Damit wird wohl
W/s Vermutung, es möchte sich in dem Gütersee ein Gude wie in
Gudebiegen verbergen, hinfallig. Leider mu(s ich auch noch an der
Deutung vovl Güsten rütteln, dem W. mit vollster Überzeugimg das
Deutschtum gerettet zu haben meint, indem er es als Wodansstein
erklärt. Um zunächst vom Sprachlichen ganz abzusehen: meint W.
wirklich, es habe sich als ein Unikum in Anhalt eine Ansiedelung aus
heidnischer Germanenzeit erhalten? Denn in der nachslavischen,
deutschen, christlichen Zeit Anhalts ist doch wohl die Gründung eines
Ortes mit dem Namen Wodansstein imdenkbar. Nun wird freilich
Bezug genommen auf das Charakteristische der örtlichkeit und auf
den gewaltigen erratischen Block, die „Speckseite**, hingewiesen.
Schön; indes trotz seiner erdrückenden Wucht vermag der Felsblock
doch nicht die Deutung, wie behauptet wird, sicher zu stellen. So
bedeutsam und charakteristisch dürfte er doch nicht sein, da(s der
ganze Ort danach benannt worden wäre, und vielleicht ist er auch
nur ein Findling der Art, wie ich einen solchen als Knabe bei Dessau
unweit der Rodebille gesehen habe, und wie es so viele in Nord-
deutschland giebt, ohne dais man davon eine Ortsbenennung entlehnt
hätte. Vom Standpunkte der Sprachwissenschaft aber fallt es recht
schwer, an eine Entwickelungsreihe zu glauben, die von Wotanesstetn
über Gutstein zu Güsten führt. Vor allem fehlt es hier an der Be-
gründung des Umlautes ü, und geradezu unglaublich ist es, dafs ein
ursprüngliches Wotanesstetn bereits 1228 zu Guzten und Gozene
verunstaltet gewesen sein sollte ^).
1) Wohlbezengt, s. Miklosich, Die Bildang der slav. Personennamen Nr. 475.
2) Vgl. meine Siedeltingen (1893) S. 97. Günther in Pädag. AbbandL Neue Folge
m, 2 (1898).
3) Die echten Wodansorte sind entschieden weit weniger entstellt: der Wodans«
berg 1277 in der Gegend von Artem, Wodenesberg — Godesberg, Wodeneswege— Gutens-
wegen, Wotaneshnsen — 1261 Gatenshnsen, jetzt Gntmannshansen. VgL aoch die Wamiing
Förstemanns, Die deutschen Ortsnamen S. 171!., bezüglich ungerechtfertigter Deatimgea
aus Gdttemamen, sowie W.'s eigene Bemerkung bezüglich Godenham S, 266 Anmerkung«
— 129 —
Betrachten wir unbefangnen die alten Namensformen von Güsten^
das in Urkmiden des XIII. und XIV. Jahrhunderts im Codex dipL
Anhalt. 25 mal uns begegnet, und zwar in zeitlicher Folge von 1224 —
1300 als Gutstetn (statt Guzsteinf), Guzten, Gozene (= Goztene\
Guczstetn, Gozzeve {-ene^), Gozzene, Guzsten (2 mal), Goztene,
Gozstein, sodann von 1301 — 1393 als Gozstein, Gozsten, Guzten,
Gozsten, Guesten, Guzsten (2), Gozsten, Güsten, Ghozsten, Gusten,
Ghusteyn, Ghüsten, Gusten, Gtistem — erinnern diese nicht eher
an das Slavische als an das Deutsche? Sie lassen sich kaum trennen
von den ganz ähnlichen Namensformen eines eingegangenen Dorfes
im Kreise Salzwedel, das 1420 Gusttn heifst, 1492 Godstetn (!),
1514 Crtestynn, 1557 Gutstin (!), 1676 Güttstten (!), zu Anfang des
XVIII. Jahrhunderts Gutstetn (!) *). Sollten wir denn auch hier einen
Wodansstein vor uns haben? Es kann kein Zweifel sein, die Namen
sind von derselben Sippe, zu der auch die folgenden gehören : Gestien
im Kr. Osterburg, 1253 vüla slauicalts que Gutzin (= Guztiri)
vocatur, später Gusttn und Gustyn — , Gottschdorf i. Sachsen, 1225
Goztin, im XV. Jahrhundert Gotczil/s, Gottschs-, Goczsch-, Gotsdorff — ,
Gastewitz b. Mutzschen i. S., 1282 Goztanewizt — , Kofswig b. Kalau,
1004 Goztewissi — , Gestewitz b. Camburg, 1225 Gustiz — , Gofswitz
b. Löbau, wend. Hosöinecy, 1420 Gustilwicz u. s. w. — Gustelwitz
i. Brandenburg — , Güstelitz auf Rügen, urk. Ghtistelitz — , Güster
auf Rügen, urk. Gtcsteraditze — , Gostritz b. Dresden, 1453 Gustir^
ticz u. s. w. — sowie Gostyü Pos., Hostyn, Hostync u. s. w. in Böhmen,
die alle von asl. gostt, altwend. gost, tsch. host (= Gast, Fremder)
abzuleiten sind. Da die Namensformen von Güsten 6 mal mit dem
Ausgange -ein (eyn), 4 mal mit ^ene (bez. eve\ 1 5 mal mit -^«, aber
keinmal mit -in auftreten, so wird man davon abzusehen haben, den
Personennamen G ostin oder Gostyn zu Grunde zu legen, und ebenso
kann natürlich auch altw. gt^stina, tschech. hustina (= Dickicht) nicht
in Betracht kommen. Man muis annehmen, dais die neben -ein in
den ältesten Formen auftretenden -en und -ene als an und me zu
gelten haben und ei wie a das slavische i (= je, i* ) darstellen sollen.
So kommt man zu dem Ergebnis, dafe Güsten ebenso wie Hostenice
in Mähren auf den Personennamen Gosten, bulg. Gosten^ tsch.
Hosten ') zurückzuführen sein wird. In einem ursprünglichen Gosten^yü,
1) So nach gütiger Mitteilung des Herrn SUdUrchivars Dr. Siebcrt in Zerbst.
3) S. Brückner, Die sl. Ansiedelangen in der Altmark S. 34.
3) Fem. Hofttena, urk. Gosten, Gostena. Miklosich. Sl. Fers. Namen S. 224. 265.
— 130 —
Gosie'n^ pol. Goscten, oder im Plural Gosteny finden alle urkundlichen
Formen des Ortsnamens ihre einfache Begründung- und Erklärung*.
Dieser Etymologie steht weder der dem Stammvokal folgende Dental-
laut der ältesten Form hindernd entgegen, denn er erscheint ja nicht
weniger als viermal auch in den urk. Formen von Gusttn, und ist
dient wie zst, czst lediglich ziu: Darstellung des scharfen slav. st\ noch
spricht das so häufig hier erscheinende z dagegen, denn z ist nur
Stellvertreter des scharfen s in Konsonantengruppen wie 2/, zk, zl,
zm, zn, zw und ist gerade bei den ältesten Namensformen so belegt,
dafs daran kein Anstofs genommen werden kann.
Wogegen hat nun W. bei der Deutung von Güsten verstofeen?
Er hat die historischen Verhältnisse des Ortes, deren Prüfung er aus-
drücklich verlangt, nicht in der gehörigen Weise beachtet, indem er
den Ursprung des Ortes in altgermanische Zeit hinaufrückte; ebenso
hat er bei der Entscheidung über die sprachliche Zugehörigkeit des
Namens durch den zufällig sechsmal auftretenden Wortausgang -stein
sich beirren lassen und so seinem dritten Gesetze gegenüber gefehlt.
Man verstehe mich indessen recht: diese Ansichtsäufeerungen
sollen keineswegs einen Vorwurf ausdrücken! Irrungen solcher Art
sind auf dem Felde der Namenforschung möglich, und es soll nur
nachgewiesen sein, mit welchen Schwierigkeiten der Forscher auf seinem
Wege oft zu kämpfen hat, wie er manchmal, in gutem Glauben und Ver-
trauen seinen Pfad verfolgend, von einem Irrlicht getäuscht werden kann.
Am Schlüsse seiner Ausführungen weist W. mit Recht auf den
grofsen Gewinn hin, der aus einer wissenschaftlichen Behand-
lung der Ortsnamen erwächst. Sie sind eine kräftige Quelle, aus
der die Erkenntnis der alten Siedelungs- und Wirtschaftsverhältnisse, wie
auch der natürlichen Verhältnisse des Bodens, der Pflanzen- und
Tierwelt geschöpft werden kann. Sie bilden eine reiche Fundgrube für
die Sprachwissenschaft, insofern sie viel altes, teilweise ganz abhanden
gekommenes Sprachgut übermitteln und, was die altwendischen Orts-
namen anbelangt, in den ältesten Formen uns den Wortschatz eben
dieser Sprache in seiner besondem Gestaltung überliefern. Recht
gewagt aber, ja verfehlt erscheint der Versuch, aus den urkundlichen
Formen, die uns aus den letzten Jahrhunderten des ehemaligen Wenden-
tums überliefert sind , den Prozefs der allmählichen Verwitterung und
Verderbnis der altwendischen Sprache in den deutsch gewordenen
Landschaften erschliefsen und feststellen zu wollen : haben wir doch
in den urkundlichen Formen dieser Zeit die bei den Deutschen
landläufig gewordenen, so oft nur mangelhaft darstellbaren Benennungen
— 131 —
zu erkennen, und eine Nebeneinanderstellung urkundlich überlieferter
Ortsnamen des heutigen Wendenlandes mit den jetzt dort noch üblichen
echt wendischen Formen würde deutlich beweisen, dafe die Wenden
ihr Sprachgut doch besser erhalten haben, als es in den überlieferten
Namensformen erscheint.
Noch eins ist als besonderes Ergebnis hinzuzufügen : Die altwendischen
personalen Ortsnamen sind zugleich ein Spiegel der Volksart und
insonderheit des Kinderlebens bei den einstigen Bewohnern unseres
Landes. Wie giebt sich darin die ganze nackte Natürlichkeit kund, die
ausgesprochenste Naivität, aber auch ein scharf ausgeprägter Frohmut,
eine harmlose Neck- und Spottlust und eine eigentümliche Zärtlichkeit
im Schofee der Familie. In der That, wer sich die Mühe nehmen
will, auch darauf hin die Namen zu untersuchen, wird ein ganz eigen-
artiges Bild von den Familien- und Volksverhältnissen der alten Wenden
empfangen, ein Bild, zu dem in rein deutscher Landschaft wegen des
völlig anders gearteten Volkscharakters unserer Nation sich nicht die
Spur eines Gegenstückes finden lassen dürfte.
Das Thema der Methodik der Ortsnamenforschung ist von Pro-
fessor Wäschke zur Diskussion gestellt worden, und er schliefet damit,
er habe nicht in dem Bewufstsein geschrieben, nach irgend einer Seite
etwas Abschliefeendes beigebracht zu haben, während doch der Ton
seiner Erörterungen — wenigstens nach meinem Gefühl — eigentlich
einen andern Eindruck hervorzurufen geeignet ist. Nun, ich habe zur
Feder gegriffen , um mich zur Sache zu äufsern , den Altersvorzug
meiner Ansichten geltend zu machen, sowie meiner leidlichen Erfahrung
und meiner Überzeugung auf diesem Gebiete Ausdruck zu geben.
Möge man sich versichert halten, dafs auch ich weit entfernt davon
bin, den Anspruch zu erheben, dafs ich allen einschlägigen Fragen
Abschlufs und Lösung gegeben hätte.
Jiachwort
Von
Hermann Wäschke (Dessau)
Eine Diskussion über die Methodik der Ortsnamenforschung ein-
zuleiten, war meines Aufsatzes ausgesprochener Zweck ; dafs ein Forscher
von solcher Bedeutung wie G. Hey das Wort ergreift, um die Diskussion
fortzuführen, kann allen, denen diese Studien am Herzen liegen, nur
erfreulich sein. Als „dankenswert" bezeichnet der verehrte Gelehrte
— 132 —
mein Beginnen, und das ist mir in Rücksicht auf den, der dies Urteil
fällte, gewifs sehr schmeichelhaft, und selbst wenn er nachträglich
sagt, dieser Dank müsse eine gewisse Einschränkung erleiden, so soli
mir das den Mut nicht kränken, denn wie weit jemand in einer an
sich dankenswerten Sache den Dank selbst bemessen will, das steht
ganz in seinem Belieben.
Wundersam berührt mich nur der Umstand, dafe der betreffende
Forscher seine „Gegenäufeerung" mit der Versicherung einführt, sie-
solle „ruhig und rein sachlich sein, und dies um so mehr, als es die
gleiche Anstalt ist, an der er einst als Schüler die Liebe zur Sprach-
forschung gewonnen habe, und an der heute W. als Lehrer wirkt**.
Wozu? — so frage ich mich — wozu die angedeutete Rücksicht-
nahme? Eine rein sachliche Behandlung scheint mir doch darin za
bestehen, dafs man erörtert:
1. Sind die aufgestellten Forderungen in sich berechtigt?
2. Sind sie ausreichend und richtig begründet?
Und das Ziel der Erörterung ist: der Wahrheit näher zu
kommen. Das alles läfst dem Einwirken rein zufälliger persönlicher
Beziehungen nicht den geringsten Spielraum.
Wozu also hielt G. Hey die Erwähnung derselben, und noch dazu
in diesem Zusammenhange, für notwendig? Offenbar, weil er irgend
etwas in meinen Ausführungen persönlich aufjgefafst hat, und zwar^
wie ich vermute, die Bezeichnung „Slavophilen** und die Unterlassung
eines Hinweises darauf, dafs die Leitsätze zum Teil von ihm schon
ähnlich formuliert waren. Aber das erstere müfete dann, wie jeder
unbefangene Leser zugeben wird, ein Mifsverständnis Heys sein, und
das letztere hätte ein Zurückführen der Forderungen und Urteile auf
ihre erste Quelle weit über Heys Forschungen zurück und damit eine
historische Arbeit nötig gemacht, die unmöglich im Bereich meiner
Angabe liegen konnte. Ich meinte, das von mir erstrebte Ziel dadurch
zu erreichen, dafs ich das positive Ergebnis der bisherigen Erörterung in
den Thesen zusammenfafste und das, was mir fehlerhaft erschien,
durch einige Beispiele erläuterte; war damit aber so weit entfernt von
der Anmafsung, etwas Neues bieten zu wollen, dafs ich ausdrücklich
das Gegenteil ausgesprochen habe.
Was aber nun die Besprechung der Kernfrage, der von mir auf-
gestellten Thesen anbetrifld — und ich wollte, ich hätte mich darauf
allein in diesem Nachwort beziehen können — so erklärt sich G. Hey
mit der i. und 2. These einverstanden, wenigstens wendet er nichts
dagegen ein, ebenso wenig gegen die 3. und 4. Bei der 5. These
— 133 —
meint er, ich hätte nicht die Möglichkeit starker Zertrümmerung' des
Lautbestandes der Endung berücksichtigt, doch ffabe ich ausdrücklich
geschrieben „im allgemeinen zugänglichere". Auch habe ich
nicht die Vergleichung ähnlicher Namen als methodisches Hü£smittel
zu nennen imterlassen , sondern S. 266 deutlich geschrieben: „im
Zweifel müssen die sprachlichen Thatsachen . . . ihre Sicherung durch
die Analogie... suchen." Ich kann demnach, selbst beim besten
Willen, nicht finden, dafe Hey, wie er sagt, meinen Forderungen ein
paar wesentliche Punkte hinzugefugt habe.
Was dann Hey zur methodischen Behandlung des Gegenstandes
weiter noch beibringt, bedarf einer ausführlicheren Besprechung, ebenso
die Kritik einzelner der von mir angeführten Etymologieen , wozu an
einer anderen Stelle als in diesem mir gütigst gestatteten „kurzen"
Nachwort zu handeln Gelegenheit sein wird. Hier will ich nur kurz
mich dagegen verwahren, dafe ich vermutet hätte, „es möchte sich
in dem Gütersee ein Gude wie in Gudebiegen verbergen", und dafs
ich meinen könnte, „es habe sich als ein Unikum in Anhalt eine
Ansiedelung aus heidnischer Germanenzeit erhalten"; habe ich denn
S. 265 nicht ausdrücklich geschrieben, dafs die Analogie dazu führe,
das gesamte Kompositum (Gütersec) für das Slavischc in
Anspruch zu nehmen, und femer, wo habe ich denn behauptet,
dafs Güsten eine Ansiedelung aus heidnischer Germanenzeit sei? —
Nirgends ! — Ich habe nur gesagt, der Stein habe seinen Namen vom
Wodan. Mufe diese Benennung aus heidnischer Germanenzeit
stammen? — Durfte mir darum G. Hey vorhalten, ich hätte den
Ursprung des Ortes (Güsten) in altgermanische Zeit hinaufgerückt?
Doch eine solche Annahme kann auf einem Mifsverständnis meiner
Worte beruhen, obwohl ich glaubte, deutlich geschrieben zu haben;
Befremdlicher aber sind die Worte, die Hey am Schlufs seiner „Gegen-
äufeerung" niederschreibt: „(Wäschke) . . . schliefst damit, er habe
nicht in dem Bewufstsein geschrieben, nach irgend einer Seite etwas
Abschliefsendes beigebracht zu haben, während doch der Ton seiner
Erörterungen — wenigstens nach meinem Gefühl — eigentlich einen
anderen Eindruck hervorzurufen geeignet ist." Nun kann man über
Gefühle nicht streiten und einen Ton nicht vor Gericht ziehen, — aber
dennoch glaube ich, niemand, auch G. Hey nicht, Veranlassung gegeben
zu haben, einen Widerspruch zu vermuten zwischen meinen Worten
und meiner Gesinnung.
w^^'^'^^^^^^S^^.^^^s^^^^^^^
134 —
Iiitteratur^zur Gesehiehte Sehlesw^ig^
Holsteins
Von
A. Lrorenzen (Kiel)
(Schlnis 1)
Über den Krieg von 1864 besitzen wir zwei kriegswissenschaft-
liche Bearbeitungen: Der Deutsch -dänische Krieg 1864, herausg.
vom Grofeen Generalstabe, Abt. f. Kriegsgeschichte (Berlm, 1886— 1887)
und Den dansk-tyske Krig 1864, üdgivet af Generalstaben. (Kopen-
hagen, 1892). Daneben kommt in Betracht Moltkes Militärische
Korrespondenz. — Krieg 1864. — (Moltkes Militärische Werke. I.
Elrster Teil. Berlin, 1892).
Eine gegenwärtigen Ansprüchen genügende Landeskunde von
Schleswig-Holstein existiert nicht. Ein zuverlässiger Führer durch die
ältere Kartenlitteratur ist dagegen die Geschichte der geographischen
Vermessungen und der Landkarten Nordalbingiens vom Ende des
1$. Jahrhunderts bis zum Jahre i8^g (Berlin, 1859); nur bezüglich
der J. Mejerschen Karten zu C. D anckwerths Newe Landesbeschrei-
bung der zwey Herzogthümer Schleswig und Holstein (Husum, 1652)
hat P. Lauridsen, Kartografen Johannes Mejer (Historisk Tid-
skrift 6. R. Bd. I.) nachgewiesen, dafs dieselben zum gröfeeren Teile nicht
auf neuen Vermessungen beruhen , und die historischen Karten von
Helgoland reine Phantasiegebilde sind.
Für die Geschichte der schleswig-holsteinischen Landwirtschaft
wertvoll sind die Festgaben für die 11. Versammlung deutscher Land-
und Forstwirte zu Kiel 1847, nämlich Nikolaus Falcks Beiträge
zur Geschichte d. S.-H. Landwirthscha/t (Kiel, 1847), J* J* H.
Lütgens' Kurzgeja/ste Charakteristik der Bauernwirthschaften . . ,
(Hamburg, 1847), Ernst Reventlow und H. A. v. Warnstedts
Beiträge zur land- und forstwirthschajtlichen Statistik . . . (Altena,
1847), welche mit vielen Tafeln versehen sind. Die Aufhebung der
Leibeigenschaft und die Umgestaltung der gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältnisse überhaupt in den Herzogthümern Schleswig und Hol-
stein beschrieb Georg Haussen in der von der Kais. Ak. d. Wiss.
1830 gekr. Preisschrift (St. Petersburg, 1861), während Wilhelm
Seelig Die innere Colonisation in Schleswig 'Holstein vor hun-
dert Jahren in seiner Rektorats-Rede (Kiel, 1895) schilderte. Das
I) Vgl S. 108— 114.
— 135 —
Bauernhaus im Herzogtum Schleswig und das Leben des schles-^
wigischen Bauernstandes i?n i6., ly. und iS, Jahrhundert von
R. Meiborg, erschien in deutscher Ausgabe, besorgt von Richard
Haupt (Schleswig, 1896), und giebt in Wort und Bild eine Darstel-
lung des Bauernhauses und Bauernlebens, daneben eingehende Schil-
derungen der Verarmung des Bauernstandes infolge der Kriege und
der Viehseuchen; für letztere ist es die bedeutendste Quelle. Ein
besonderer Anhang giebt Verzeichnisse der gedruckten und der un-
gedruckten Quellen, Quellennachweise für jeden Abschnitt und Bei-
lagen über die ländlichen Besitz- und Abgabenverhältnisse.
Eine Untersuchung über den Einflufe der natürlichen Verhältnisse
auf den Vexkehr und die gröfseren Siedelungen lieferte Karl Jansen
in der Poleographie der Cimbrischen Halbinsel (Forschungen zur dt.
Landes- und Volkskunde, Bd. IL Stuttgart, 1892). Material Zur
Geschichte des Schleswig-Holsteinischen Kanals gab [P. C h r. H a n s e n]
in der Festgabe der Stadt Rendsburg zur Feier des 100 jähr. Bestehens
des S.-H.-Kanals (Kiel, 1884). Die Geschichte des Nord - Ostsee-
Kanals schrieb Carl Loewe in der Festschrift zur Eröffnung des-
selben im amtlichen Auftrage und unter Benutzung amtlicher Quellen
(Berlin, 1895), so dafe er auch über die Vorverhandlungen, wie über
die Baugeschichte, wertvolle Aufschlüsse geben konnte.
Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Schleswig-Holstein
mit Ausnahme des Herzogtums Lauenburg bearbeitete Richard
Haupt (3 Bde., Kiel, 1887 — 1889), Die Bau- und Kunstdenkmäler
im Kreise Lauenburg Richard Haupt und Weysser (2 Bde.,
Ratzeburg und Leipzig, 1890) *). Das Dunkel um Hans Brüggemann
ist durch die Untersuchung von August Sach über Hans Brügge-
mann und seine Werke (2. Aufl., Schleswig, 1895) noch nicht völlig
geklärt. Unter den zahlreichen Untersuchungen, welche Adalbert
Matthaei in jüngster Zeit über die mittelalterliche Architektonik
(Holzschnitzkunst) in Schleswig - Holstein veröffentlicht hat, kann hier
nur Zur Kenntnis der mittelalterlichen Schnitzaltäre Schleswig-
Holsteins (Kiel, 1898) genannt werden.
Nur für wenige Landschaften und Städte sind spezielle geschicht-
liche Darstellungen erschienen, welche hier Anspruch auf Erwäh-
nung erheben können. Für Altena sind hier in erster Linie die
Werke von Richard Ehrenberg zu berücksichtigen, so Altona
unter Schauenburgischer Herrschaft (Altona, 1891 — 1893) und AU
l) Vgl. diese Zeitschrift I. Bd., S. 2j6^2TJ.
— 136 —
Sofias Topographische Entwickelung von R. E. und B. Stahl (Altona,
1894), deren letzteres die Entwickelung Altenas und seiner topo-
graphischen Darstellung an 17 reproduzierten Karten und Plänen von
Melchior Lorichs Eibkarte aus dem Jahre 1568 an zeigt; femer R. E. Aus
der Vorzeit von Blankenese und den benachbarten Ortschaften
Wedel. . . (Hamburg, 1897). ^^^ Ehrenbergschen Schriften sind reich an
kulturgeschichtlichem und speziell wirtschaftsgeschichtlichem Material.
Die Geschichte der holsteinischen Eibmarschen von D. Detlefs en
(2 Bde. Glückstadt, 1891 — 1892), eine ebenso umfassende als zuverlässige
Darstellung, ist aufserdem eine gediegene Quelle für die Deichver-
fassungen. Johann Adolfis, genannt Neocorus, Chronik des Landes
Dithmarschen^ wurde aus der Urschrift von F. C. D ahlmann (2 Bde.,-
Kiel, 1827) herausgegeben. Unter den neueren Bearbeitungen der
<leschichte Dithmarschens verdient die Geschichte Dithmarschens
bis zur Eroberung des Landes im Jahre i^^g von R. Chalybaeus
(Kiel u. Leipzig, 1888) den Vorzug. Die Lage der Schanze in der
Schlacht bei Hemmingstedt haben R. Hansen, Zur Topographie
und Geschichte Dithmarschens, (Zeitschr. der Ges. f. S.-H.-L. Gesch.
XXVII) und [Hans] Härder, Die Schlacht bei Hemmingstedt. Wo
hat die Schanze gestanden? (Heide, 1899) untersucht und sind auf
Grund einer bisher unbenutzten zeitgenössischen Chronik in Linden-
brog, Varia ad historiam Germaniae in/erioris et Scandin. zu
dem Resultat gekommen, dafs die Schanze nicht bei der Dehling,
sondern am Ende des Schweinemoorweges gelegen hat.
Unter den älteren Schilderungen Helgolands bietet Friedrich
Oetker, Helgoland (Berlin, 1855), eine wahre Fundgrube auf dem
Gebiete der Volkskunde. Die Nordseeinsel Helgoland in topo-
graphischer, geschichtlicher, sanitärer Beziehung wonKmW Linde-
mann (2. Aufl., Berlin, 1890) zeigt kartographisch den Abbruch der
Insel seit der Aufnahme durch K. Wie bei (Abhandlungen aus dem
Gebiete der Naturwissensch., herausgeg. v. Naturw. Verein in Hamburg.
Bd. 2 . 1 848) Die im Texte ausgeführten Berechnungen hat C.Gottsche
(Peterm. Mitt. 1890, Litteraturbericht Nr. 1841) korrigiert. Die natür-
lichen Veränderungen Helgolands und die Quellen über dieselben,
von ErnstTittel (Leipzig, 1 894), übt gute Kritik an den geschichtlichen
•Quellen, bezüglich der natürlichen Verhältnisse ist aber Die Nordsee-
insel Helgoland von P. Schwahn (Berlin, 1894) vorzuziehen. Eine
umfassende Untersuchung über die geschichtlichen Quellen bezüglich
Helgolands gab H. H. von Schwerin, Helgoland, historisk^geo-
grafisk undersökning (Acta Univ. Lund., tom. XXXII).
— i3l —
Die Veränderungen an der Westküste Schleswig -Holsteins zeigen
Fr. Geerz, Historische Karte von Dithmarschen , Eider stedt,
Helgoland, Nagelholm, der Wilster-Marsch etc., red. för die Zeit
von 164 j — 1648 . . . (Berlin, 1886), und Historische Karte von den
Nord/riesischen Inseln Nordstrand, Pellworm , Amrum, Fähr,
Sylt etc, . . . red. für d. Zeit von 1643 — 1648 . . . (Berlin, 1888), beide
in physikalischen und politischen Ausgaben. An denselben haben
R. Hansen und P. Lauridsen recht eingehende Kritik geübt. Die
Nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum und die Halligen
vormals und jetzt beschrieb Christian Jensen mit besonderer
Berücksichtigung der Sitten und Gebräuche (Hamburg, 1891, 2. [Titel-]
Auflage, 1899), Die Halligen der Nordsee Eugen Träger (Forsch,
z. deutsch. Landes- u. Volkskunde VI, 3, Stuttgart, 1892), der über die
seinen Anregungen zu dankenden Schutzmafenahmen in Die Rettung
der Halligen und die Zukunft der sckl. - holst, Nordseewatten
(Stuttgart, 1900) berichtete.
In der Festschrift zur öcxDjährigen Jubelfeier der Stadt Haders-
leben gab August Sach eine Untersuchung über den Ursprung
der Stadt Hadersleben und das Stadtrecht Waidemars IV. vom
Jahre 12g 2 (Haderslebcn , 1892). August Sach schrieb auch eine
Geschichte der Stadt Schleswig nach urkundlichen Quellen (Schles-
wig, 1875).
Das vorzüglichste Material zur Geschichte der Stadt Kiel ist in
den Mittheilungen der Gesellschaft für kieler Stadtgeschichte
(Heft I — 17, Kiel, 1877 — 1899) enthalten. In Heft 13 gab H. Eckardt
eine kritische Bibliographie über Kiels bildliche und kartographische
Darstellung in den letzten dreihundert Jahren (Kiel, 1895). Das
Kieler Stadtbuch aus den Jahren 1264 — 128p hat Paul Hasse
(Kiel, 187s), Das älteste Kieler Rentebuch (1300— 1487) hat Chri-
stian Reuter (Mitth. d. Ges f. k. Stadtg., Heft 9— lou. 11, 1891 — 1892
u. 1893), Dc^ Kieler Erbebuch (1411 — 1604) hat ebenfalls Christian
Reuter (ebd., Heft 14 — 15, Kiel, 1896) herausgegeben. Die beiden
jüngsten Stadtbücher (Das Pandbok oder zweite Rentebuch 1487 — 1586
und das Denkelbok 1465 — 1588) sind noch nicht publiziert. Die
Lübecker Briefe des Kieler Stadtarchivs 1422—1^34 sind von
August Wetzcl (Mitth. d. Ges. f. k. Stadtg., Heft 5, Kiel, 1883)
herausgegeben. Die Geschichte der Stadt Kiel bis zur Erhebung
des Jahres 1848 schrieb H. Eckardt in Alt-Kiel in Wort und
Bild (Kiel, 1899).
r--^ '■j-^ ^
10
— 138 —
Mitteilungen
ArehiTe« — Den Mittelpunkt des Archivwesens im Herzogtume Braun-
schweig bildet das Herzogliche Landeshauptarchiy zu Wolfenbüttel, das von
dem späteren Geheimrate G. S. A. v. Praun im Jahre 1746, wo er den
Auftrag erhielt, für die sämtlichen im Lande zerstreuten Archive und Registra-
turen eine grundlegende Ordnung zu schaffen, zuerst eingerichtet worden
ist Auf dem von ihm gelegten Grunde ist dann von den Nachfolgern trotz
gewaltiger Vermehrung der Bestände weitergebaut worden. Das Archiv nahm
anfangs nur einen Teil des alten fürstlichen Kanzleigebäudes ein, das es jetzt
fiast ganz allein ausfüllt Es umfafst die Urkunden und Akten des fürstlichen
Hauses (dabei auch das bis 1830 im St Blasienstifte zu Braunschweig auf-
bewahrte weifische Kommunionarchiv), die der Landesregierung und der
anderen Landesbehörden, wie der Justizkanzlei , des Hofgerichtes und der
übrigen Gerichtsbehörden, der Lehcüs- und Grenzkommission, der Kanmier,
der Finanzdirektion, der fürstlichen Ämter, der Militärverwaltung, die der
Stifter und Klöster, der 18 10 aufgehobenen Universität Helmstedt u. s. w.
Die Auswahl der im Archive aufzubewahrenden Akten geschieht nach ihrer
praktischen imd wissenschafUichen Verwendbarkeit im Einverständnis mit den
betreffenden Behörden von den Archivbeamten. Die Ordnung imd Ver-
zeichnung der Papiere findet im Archive statt, das den abliefernden Behörden
Abschriften der betreftbnden Repertorien zustellt, um so den natürlichen Zu-
sammenhang der älteren Bestände mit den neuanwachsenden an den be-
treffenden Orten zu erhalten. Durch gesetzliche Verordnung ist diese Ab-
lieferungsweise der Archivalien zwar nicht festgelegt, aber sie hat sich zu
allseitiger Befriedigung so eingebürgert, dafs man in den letzten Jahrzehnten
kaum je von ihr abgewichen ist. Auch die Archive von kleineren Städten,
wie Gandersheim, Holzminden u. a., von Flecken, Gemeinden und Kirchen
sind in gleicher Weise in das Landeshauptarchiv aufgenommen. Ebenso hat
eine Anzahl adeliger Familien des Landes ihre Urkunden in ihm niedergelegt
Das Archiv ist nach Möglichkeit bestrebt, das noch in Privatbesitz befindliche
wertvolle geschichtliche Material an das Archiv heranzuziehen oder in anderer
Weise Sicherheit dafür zu schaffen. Auch werden Handschriften jeder Art,
die auf die Geschichte des Herzogtums im weitesten Sinne sich beziehen,
für das Archiv zu erwerben gesucht Nicht minder auch Druckwerke. Das
Archiv besitzt eine Handbibliothek, über 10 000 Bände stark, in der ins-
besondere die geschichtlichen Hilfswissenschaften und die Geschichte der
Braunschweig-Lüneburgischen Lande und ihrer Nachbargebiete berücksichtigt
werden, aber auch die ältere juristische Litteratur gut vertreten ist. Dabei
werden auch die wichtigsten Zeitungen des Landes, die gebunden werden,
wie Flugblätter, Gelegenheitsdrucke u. s. w. aufbewahrt. Eine besondere
Sammlung besteht im Archive von Siegelstempeln des fürstlichen Hauses,
der adeligen Familien, der Stifhingen tmd Klöster, Behörden, Städte und
Gilden des Landes, die zur Zeit etwa 11 50 Nummern umfafst. Ein be-
sonderer Raum enthält die Karten und Pläne.
Die Zahl der im Archive beruhenden Originalurkunden, die mit dem
Jahre 853 beginnen, beläuft sich auf etwas über 20000. Die Zahl der
— 139 —
Aktenstücke, die wie die Urkunden im Anschlufs an die 1746 getroffenen
Einrichtungen zumeist in Schiebladen verwahrt werden, entzieht sich zur
Zeit einer auch nur oberflächlichen Schätzung. Die Erlaubnis zur Benutzung
des Landeshauptarchivs *) giebt das Herzogliche Staatsministerium , das auch
zu der allmählich häufiger gewordenen Versendung von Archivalien seine Zu-
stimmung erteilen mufs. Die Benutzung des Archivs ist eme stetig wachsende,
insbesondere nimmt die Zahl der schriftlichen Anfragen, die eine bedeutende
Korrespondenz erfordern, inmier mehr zu. Im Allgemeinen finden wissenschaft-
liche Arbeiten nach Möglichkeit gröfstes Entgegenkommen, wenn auch die
Wünsche der Familienforscher bei der Zahl der Beamten und der Menge der
Dienstaufgaben nicht immer in vollem Umfange befriedigt werden können.
Das Archiv steht direkt unter dem Herzoglichen Staatsministerium und
zwar ist es zur Zeit dem Minister der Justiz und des Kultus unterstellt
Das Personal besteht aus zwei akademisch gebildeten Beamten, einem Re-
gistrator, der Primareife besitzt, und einem Pedell (Militäranwärter), der den
gröfsten Teil der Copialarbeiten besorgt und zu Ordnungsarbeiten mit heran-
gezogen wird. Der erste Beamte steht nach den mit der Landesversammlung
1 900 vereinbarten Festsetzungen, wie die Vorstände der Herzoglichen Biblio-
thek und des Herzoglichen Museums im Gehalt den Gymnasialdirektoren gleich
(4800—7000 Mark; Höchstgehalt nach 12 Jahren). Der zweite Beamte
hat zur Zeit keinen festen Etat; doch steht zu hoffen, dafs er, wenn die
Stelle mit einem wirklichen Fachmanne besetzt wird, den zweiten Beamten
der Bibliothek und des Museiuns, die mit den Oberlehrern rangieren
(2700 — 6300 Mark), gleichgestellt werde. Der Registrator (bezw. Sekretär)
ist den Registratoren (bez. Sekretären) der Verwaltungsbehörden gleichgestellt
(1500 — 3600 Mark). Die Bureauausgaben des Archivs belaufen sich für
ein Jahr etwa auf 3000 Mark, der Gesamtetat für 1900 auf ca. 15000 Mark,
für 1901 auf 16 — 17000 Mark. Die Herausgabe eines Braunschweigischen
Urkundenbuches , das bis jetzt nur die Stadt Braunschweig begonnen hat,
wird vonseiten des Archivs geplant, doch kann die Aufgabe bei den be-
deutenden Zugängen von Archivalien, den noch erforderlichen Ordnungs-
arbeiten und den vielen Auskunfterteilungen mit Aussicht auf Erfolg nicht
ohne eine weitere wissenschaftliche Hilfskraft in Angriff genommen werden,
die hoffentlich bald der Anstalt sutei/ werden wird. Das Interesse für das
Archiv und die Kenntnis seines Inhalts und Zwecks auch in weiteren Kreisen
zu verbreiten, dient eine ständige Archivausstellung, in der unter anderem ein
reiche Übersicht von Kaiser-, Herzogs-, Papst- und anderen Urkunden, von
Schreiben hervorragender Fürsten, Staatsmänner, Feldherren, Gelehrter und
Künstler in zweckmäfsig eingerichteten Glaskasten vereinigt ist.
Aufser in Wolfenbüttel befindet sich em bedeutendes, unter fachkundiger
Leitung stehendes Archiv zu Braunschweig, ein kleineres in Helmstedt; beide
sind im wesentlichen aus den Registraturen der Stadtverwaltung, der städtischen
Stiftungen und Anstalten erwachsen.
Die Stadt*Saalfeld hat fiir Ordnung ihres Archivs 2 600 Mark bewilligt
und mit Ausführung der Ordnungsarbeiten Herrn Dr. Ernst Devrient
I) Vgl. diese ZeiUchrift I. Bd., S. 187.
— 140 —
aus Jena betraut Über die Bestände, die bis etwa 1300 zurückgehen, aber
erst seit dem XVI. Jahrhundert zahlreicher werden, unterrichten bereits einige
alte Inventare (XVIII. Jahrhunderts). Da aber die alte Ordnung umgeworfen
worden ist, so gilt es gegenwärtig eine vollständig neue Aufstellung der
Archivalien und deren Inventarisation ins Werk zu setzen, was voraus-
sichtlich ein volles Jahr in Anspruch nehmen wird. Ob eine Drucklegung
des Inventars möglich sein wird, ist zur Zeit noch unbestimmt, aber vielleicht
übernimmt die Thüringische Historische Kommission diese Aufgabe. Die
Mittel zu einer sachentsprechenden baulichen Umgestaltung der im ersten
und zweiten Geschofs des Rathauses gelegenen Archivräume sind ebenfalls
bewilligt, so dafs eine in jeder Hinsicht würdige Versorgung des Saalfelder
Stadtarchivs zu erhoffen ist.
Zeitsehrllteil. — ^) In Württemberg ist der seit 1897 bestehende
Historische Verein für Ludwigsburg und Umgegend mit einem
ersten Hefte der Ludwigshurger Oeschichtsblätter auf den Plan getreten
(Ludwigsburg, Druck von Ungeheuer & Ulmer 1900 — ein Kommissions-
verlag ist nicht namhaft gemacht — 87 S. 8®). Die Schriftleitung ruht
in den Händen von C. Belschner, welcher selbst drei Beiträge zum vor-
liegenden Hefte beisteuert: von höchstem Interesse ist der Bericht über die
Entstehung von Ludwigsburg (S. 48 — 54), welches 1704 als Herzogliches
Jagdschlol^ entstand und bereits 17 18 dritte Hauptstadt und Residenz wurde.
Der Entwicklung der Schulen in der jungen Stadt ist ein weiterer Aufsatz
gewidmet (S, 55 — 67) und der dritte dem Reichsgrafen Johann Karl
von Zeppelin (geb. 1767, gest. 1801), dessen Grabmal in Ludwigsburg steht,
und welcher von 1797 bis zu seinem Tode Leiter der württembergischen
Staatsgeschäfte war. Der eigentliche Zweck dieses Aufsatzes ist, eine ent-
sprechende Wiederherstellung des Grabmals, welches als erhabenes Kunst-
werk beschrieben wird, zu veranlassen. Karl Weller, welcher als Kenner der
württembergischen Geschichte bekannt ist (vgl. seinen Aufsatz im I. Bande dieser
Zeitschrift, S. 47 — 55), verbreitet sich über die wirtschaftliche Entwicklung
der Landschaft, wo Ludwigsburg entstand (S. i — 18). Albert v. Pfister be-
schreibt Festliche Tage in Ludwigsburg au>s xwei Jahrhunderten, charakte-
risiert ganz treflflich das höfische Leben des XVIII. Jahrhunderts und die
Art der damaligen Feste und thut dabei manchen geschichdichen Ausblick.
Vielleicht von der gröfsten allgemeinen Bedeutung ist der Aufsatz von
Friedrich Haafs Einiges über das Strafsenwesen im Herzogtum Wirtem-
berg (S. 31 — 47), denn hiermit wird eine Frage angeschnitten, die eine ein-
gehende allseitige Behandlung verdient. Der Bau der Landstrafse ist die
Vorbedingung ftir die Ausgestaltung des modernen Verkehrs, an der Häufigkeit
der Strafsenbauten ist mithin das Verkehrsbedürfhis wirklich zu messen.
H, behandelt die erste Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, namentlich den Bau
der Landstrafse Stuttgart-Ludwigsburg. Eine eigene „ Strafsendebutation '*
entstand 1737, beim Neubau wird namentlich auf gerade Verbindungen Wert
gelegt Ein beim Strafsenbau in Frankreich thätig gewesener Hauptmann
i) Hiermit wird der S. 117 begonnene Bericht Über neue orts- und landesgeschicht-
liehe Zeitschriften fortgeiettt.
— 141 —
V. Vahlen wirkt dabei als Ingenieur; ganz charakteristisch ist vor allem die
Heranziehung der Dorfbewohner zum Strafsenbau, zu welchem Zwecke die
ganze Strecke in „Toisen" (= 6 Württemberg. Schuhe) eingeteilt wurde,
so dafs z. B. Markgröningen 525 und Asperg 347 Toisen zu bauen hatte.
In der Grafschaft Mark besteht mit dem thatsächlichen Sitze in Soest —
Pfarrer Ro t h e rt daselbst ist als Schriftführer des Vereins sein erster Beamter —
seit September 1897 der Verein für die evangelische Kirchen-
geschichte der Grafschaft Mark, der ein Jahrbuch*) herausgiebt.
Den Mitgliedern, die 3 Mark Jahresbeitrag zahlen, — bei Ausgabe des
ersten Jahrbuchs waren es 192, gegenwärtig sind es 250 — wird diese
Veröffentlichung unentgeltlich geliefert. Da diese neue kirchengeschichtliche
Zeitschrift, welche bereits oben S. 33 — 40 in dem Aufsatze Partiat-Kirchen-
geschickte hätte charakterisiert werden müssen, der Redaktion erst neuerdings
bekaimt geworden ist, sollen die Forscher hiermit noch nachträglich auf die-
selbe aufmerksam gemacht werden. Ein fünfgliedriger Redaktionsausschufs,
in welchem Archivrat Philippi (Münster) vertreten ist, leitet das Jahrbuch,
welches mit einer Biographie des westfälischen Reformators Hermann Hamel-
mann {1525 — 1595) aus der Feder des Studiendirektors K Knodt (Herbom)
würdig beginnt. Dieser bedeutende Mann war in Osnabrück geboren, wurde
1549 an der Universität Köln immatrikuliert, studierte gegen den Willen
seines Vaters, der ihn zum Juristen machen wollte, Theologie und wirkte
als Mefspriester in Münster. Noch 1552, wo er eine Schrift über die
Priesterehe verfafste, ist er guter Katholik, aber seit Trinitatis 1553 aus
eigener Überzeugung und ohne äufsere Anregung wird er zum Protestanten.
Wir haben es also hier mit einem Manne der jüngeren Reformatorengeneration
zu thun, der sich vollständig in den Katholizismus bereits eingelebt hatte
und doch zum Anhänger der neuen Lehre wurde. Die Wirksamkeit Hamel-
manns, der ein aufserordentlich fruchtbarer Schriftsteller war, in Bielefeld,
Lemgo, Gandersheim und Oldenburg liefert die mannigfachsten Beiträge zur
Kirchengeschichte dieser Orte, aber zugleich ein Bild des iimerkirchlichen
Lebens in jener Zeit, wie es nur ausnahmsweise zu gewinnen sein wird, wenn
ein Mann im Mittelpunkte stehen soll. Knodts Arbeit ist mithin in mehr-
facher Hinsicht für die weitesten Kreise von Interesse. — Superintendent
Nelle (Hamm) beschäftigt sich mit den westfälischen Kirchenliederdichtern,
besonders mit H. Meier (f 1658) und L. B. Gesenius (f 1753), aber es
finden sich in der tiefgehenden Darstellung (S. 94 — 144) eine Menge all-
gemein beachtenswerte Charakteristiken, welche die eigenartige Litteratur-
gattung des Kirchenliedes dem Litterarhistorikcr im besonderen näher bringen
und dem geschichtlich Zuschauenden am konkreten Beispiele zeigen, welche
Unterschiede die kirchliche Dichtung — und sie ist der Ausflufs des kirch-
lichen I^ebens — 1650 und 1750 aufweist: wir haben hiermit einen recht
wesentlichen Beitrag zur Geschichte der geistlichen Dichtung der Protestanten
und ihrer Gesangbücher in den beiden ersten Jahrhunderten nach der Re-
formation. — Die Miszellen bringen eine ganz beachtenswerte Urkunde Über
l) Jiuhrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft
Mark, Erster Jahrgang 1899. Gütersloh, C. Bertelsmann. 186 S. 8**. Zweiter Jahr-
gang 1900 ebenda. 184 S. 8^
— 142 —
das Schulwesen in Kamen von 1586, lebendige Skizzen aus einem Soester
Synodalprotokollbuch von 1725 und einen Bericht über die von Finke ent-
deckte Aufzeichnung des Dominikaners Jakob von Soest, betreffend das
Pariser Nationalkonzil von 1290, während am Schlüsse als „Litterarische
Mitteilungen " einige Bücher angezeigt sind. Jeder Leser wird gestehen müssen,
dafs der junge Verein sich mit seinem ersten Jahrbuch trefflich eingeführt
hat. Auch der zweite Band rechtfertigt dieses Urteü. Hier findet sich eine
Reihe wichtiger Nachträge zur westfälischen Liederdichtung, dann aber neben
einem Aufsatze Knodts über den Anfang der Christianisierung Westfalens
(S. I — 26) eine aufserordentlich lehrreiche Studie über die Glocken der
Grafschaft Mark von Pfarrer Niemöller in Lippstadt (S. 27 — 62),
die recht gut als vorbildliches Beispiel dafür zu betrachten ist, wie sich die
Glocken mit ihren Inschriften für die verschiedensten Zweige der Geschichts-
forschung nutzbringend verwerten lassen; hier kann sich jeder davon über-
zeugen, dafs die Denkmälerinventarisationen ') die kurze Beschreibung der
Glocken nicht aufseracht lassen dürfen. Auch der buchstabengetreue Ab-
druck (S. 112 — 138) der Kirchenordnung flir Neuenrade (von Hermann
Wilcken 1564 verfafst) nebst einer gründlichen Einleitung von Superintendent
Nelle ist eine höchst willkommene Gabe, während einige andere kleinere
Beiträge zum wenigsten auf eine landesgeschichtliche Bedeutung Anspruch
haben. Nachahmung verdient es, dafs jedem Bande ein alphabetisches Re-
gister beigegeben ist, welches jedem Benutzer willkommen sein mufs und
später einmal die Ausarbeitung eines Gesamtregisters sehr erleichtem wird.
Koiainissioncn« — Nachdem vom Landesausschufs, dem Bezirkstag,
der Stadt Metz und von hochherzigen Förderern der Landesgeschichte die
Mittel zu gröfseren Publikationen zur Verftigung gestellt sind, hat die Ge-
sellschaft für lothringische Geschichte aus ihren Mitgliedern eine
Kommission bestellt, welche das Unternehmen organisieren und leiten soll:
sie führt den Namen: „Kommission zur Herausgabe lothringischer
Geschichtsquellen". Gewählt wurden die Herren Bezirkspräsident Frei-
herr von Hammerstein als Vorsitzender, Archivdirektor Dr. Wolfram als Sekretär,
Professor Dr. Wichmann, Oberlehrer Dr. Grimme, Bibhotheksdirektor Abbd
Paulus, Direktor des Priesterseminars Abb^ Dorvaux, Oberst a. D. Dr. Kauf-
mann, Archivdirektor Professor Dr. Wiegand-Strafsburg und Stadtarchivar
Dr. Winkelmann-Strafsburg. — In der ersten Sitzung, die am 8. Dezember 1900
im Archiv stattfand und der aufser den Genannten auf Einladung noch die
Herren Professor Dr. Follmann und Archivassistent Dr. Müsebeck beiwohnten,
wurde über die bereits in Angriff genonmienen Arbeiten berichtet und der
Arbeitsplan festgestellt. Für die Publikation werden in Aussicht genommen:
I. Die lothringischen und Metzer Chroniken. 2. Die Regesten der Bischöfe
von Metz. 3. Die Metzer Schreinsrollen. 4. Vatikanische Regesten zur Geschichte
der 3 Bistümer. 5. Ein Wörterbuch des deutsch-lothringischen Dialekts.
L Chroniken. Archivdirektor Wolfram, der im Herbst die Biblio-
theken und Archive in Brüssel, London, Paris, Spinal und Nancy besucht
haty berichtete eingehend über die in Betracht kommenden Handschriften
I) Vgl I. Bd., S. 270 ff.
— Us —
und über das Verhältnis der lothringischen Chroniken zu einander. Auf
Grund seiner Ausführungen wurde beschlossen, dafs die Chroniken in
folgender Reihe herausgegeben werden sollen: i. Chronik der Kaiser aus dem
luxemburgischen Hause. 2. Bischofschronik. 3. Schöfifenmeisterchronik (mit
Einschlufs der Chronik des Pfarrers von S. Eucaire). 4. Chronik des Philipp
von Vigneulles. 5. Chronik des Praillon. 6. Kleine Cölestinerchronik. Die
Herausgabe der 6 Chroniken wird dem Berichterstatter übertragen.
II. Die Regesteü der Bischöfe hat Bibliotheksdirektor Abbd Paulus
zur Bearbeitung übernommen. Als Endtermin wird das Episkopat Johanns von
Lothringen (1260) festgesetzt Vorläufig soll nur das gedruckte Material durch-
gearbeitet werden. Endgiltige Beschlufsfassung erfolgt erst, wenn der Bearbeiter
die Durchsicht des gedruckten Materials beendet und die Kommission sich auf
Grund der von ihm angefertigten Regesten über deren Fassung geeinigt hat
III. Über die Schreinsrollen berichtet Professor Dr. Wichmann. Die
Herausgabe soll sich vorläufig auf die dem 13. Jahrhundert angehörigen
Stellen beschränken, so dafs von den insgesamt vorhandenen 60 Stück nur
16 in Betracht kommen. Professor Wichmann, der die Herausgabe über-
nimmt, wird die Abschrift binnen Jahresfrist beendet haben.
IV. Für die Herausgabe der Vatikanischen Regesten ist Dr.
H. V. Sauerland schon seit 3 Wintern in Rom thätig gewesen. Vom ersten
Bande, der bis 1342 reichen soll, liegen 20 Bogen gedruckt vor. Nachdem
Dr. Grimme die Bearbeitung des Index übernommen hat, wird Band I voraus-
sichtlich um Ostern 1901 erscheinen können.
V. Die Bearbeitung des Wörterbuchs ist Professor Dr. FoUmann
übertragen. Nachdem eine von ihm verfafste Anleitung zur Stoffsammlung
an sämtliche Lehrer im deutschen Sprachgebiete Lothringens versandt worden
ist, haben sich zahlreiche Herren zur Mitarbeit bereit erklärt und die Samm-
lung der eingegangenen brauchbaren Zettel ist bereits gut vorangeschritten.
In Österreich hat die „Kommission für die Herausgabe von
Akten und Korrespondenzen zur neueren Geschichte Öster-
reichs**, welche in diesen Blättern schon wiederholt*) erwähnt worden ist,
ihre endgiltige Ausgestaltung und Organisation erhalten. Nach den am
17. November 1900 amtlich veröfientlichten Satzungen gestaltet sich die
Thätigkeit der Kommission etwa wie folgt. Ihre Aufgabe ist durch den
Namen gegeben, sie ist dem Ministerium für Kultus imd Unterricht un-
mittelbar untergeordnet und besteht aus mindestens zwölf Mitgliedern, unter
denen sich der Vorstand des Instituts für österreichische Geschichtsforschung
und je ein Vertreter des Ministeriums für Kultus und Unterricht und der
Kaiserlichen Akademie in Wien befinden müssen. Die Bestellung der einzelnen
Mitglieder erfolgt auf die Dauer von fünf Jahren durch das Ministerium.
Jedes Jahr findet eine Vollversammlung statt und im Bedarfsfalle können
eine oder mehrere aufserordentliche Versammlungen einberufen werden. Die
Veröffentlichungen sollen folgende Abteilungen umfassen : i . Die Korrespondenzen
österreichischer Herrscher und Mitglieder des Kaiserlichen Hauses. 2. Die
Instruktionen und Korrespondenzen österreichischer Staatsmänner. 3. Die öster-
I) Vgl. I. Band, S. 27 und S. 200.
— 144 —
reichischen Staatsverträge. 4. Die Berichte fremder, beim österreichischen Hofe
beglaubigter Gesandten. 5. Mitteihmgen über besonders interessante MateriaUen
aus einzehien Archiven.
Die wörtliche Wiedergabe von Urkunden und Aktenstücken wird
auf das historisch Bedeutungsvolle beschränkt.
Die Geldmittel der Kommission bestehen aus der Jahresdotation des
Ministeriums flir Kultus und Unterricht, aus Dotationen und Spenden von
Körperschaften und Interessenten und aus dem etwaigen Ertrage der Ver-
öffentlichimgen.
Die Geschäftsführung besorgt der Vorstand des Instituts f. österr. Ge-
schichtsforschung.
Die Kommission veraulafst und leitet die archivalischen Arbeiten durch ihre
Mitglieder, zur Ausführung derselben können auch andere Mitarbeiter, welche
die Kommission wählt, und Hilfsarbeiter, die den Kommissionsmitgliedern
beigegeben werden, zur Verwendung kommen. Die gesammelten Materialien
sind Eigentum der Kommission; ihre Benutzung durch andere Personen als
Mitglieder und Mitarbeiter ist an die Zustimmung der Kommission gebunden.
Gegenwärtig sind vom Minister für Kultus und Unterricht zu Mitgliedern
der Kommission für das Jahrfünft bis Ende 1905 bestellt: AdolphBeer,
Ministerialrat in Wien; Alphons Dopsch, ord. Prof. (der allgem. und
Österreich. Geschichte) an der Universität in Wien; Thomas Fellner, Direktor
des Archivs des Ministeriums des Innern und Privatdozent an der Uni-
versität in Wien; August Fournier, ord. Prof. (der allgem. und Österreich.
Geschichte) an der technischen Hochschule in Wien; JaroslavGoll, ord.
Prof. (der allgem. (jeschichte) an der böhmischen Universität in Prag;
Josef Hirn, ord. Prof. (der Österreich. Geschichte) an der Universität in
Wien, Vertreter des bezeichneten Ministeriums; Josef Konstantin Jirecek,
ord. Prof. (der slavischen Philologie und Altertumskunde) an der Universität
in Wien; Engelbert Mühlbacher, ord. Prof. (der Geschichte des Mittel-
alters und der histor. Hilfswissenschaften) an der Universität in Wien und Vor-
stand des Institutes für österreichische Geschichtsforschung daselbst; Emil
V. Ottenthai, ord. Prof. (der allgem. Geschichte und der histor. Hilfswissen-
schaften) an der Universität Innsbruck; AlfredFrancisPribram, ord. Prof.
(der mittleren und neueren Geschichte) an der Universität in Wien; Oswald
Redlich, ord. Prof. (der Geschichte und histor. Hilfswissenschaften) an der
Universität in Wien ; Minister Anton Rezek; OttokarWeber, ord. Prof.
(der allgem. neueren Geschichte) an der deutschen Universität in Prag; Feld-
marschall-Leutnant Leander v. Wetzer, Direktor des k. und k. Kriegs-
archivs; Gustav Winter, Direktor des k. und k. geheimen Haus-, Hof-
und Staatsarchivs, und Hans v. Zwiedineck-Südenhorst, ord. Prof.
(der allgem. neueren und neuesten Geschichte) an . der Universität in Graz.
Bcrichtig'niig'. S, 116, Anm. Z. 9 von unten mufs es heifsen: „DarsteUung der
Kloster Verfassung, des Güterbesitzes und dessen Verwaltung beschränken".
Bemerk Ull$r. — l^'>s Märzheft der „Deutschen Geschichtsblätter" (Nr. 6) wird ge-
meinsam mit dem für April (Nr. 7) als Doppelheft um Mitte März ausgegeben werden.
Herausgeber Dr. Armiu Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Frit^drich Andrea« Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nir
Förderung der landesgeschichtiichen Forschung
II. Band März/April xgoi 6./;. Heft
Theatergesehiehte
Von
Christian Gaehde (Dresden)
Das Theater ist ein Kulturträger allerersten Ranges. Haben wir
auch Schillers Jugendansicht von der Schaubühne als moralischer An-
stalt glücklicherweise lange überwunden, so mu(s doch dem Theater
als ethischem Moment bei aller Kulturarbeit eine führende Rolle zu-
erkannt werden. Wo das Theater fehlt, ist die allgemein menschliche
Bildung wohl kaum besonders entwickelt. Das lehren uns nicht nur
die halbwUden Völker des Orients, sondern auch ein Blick in die Ge-
schichte unsrer eignen Entwickelung mu(s uns davon überzeugen. Nicht
von den Kanzeln allein, aus dem Munde beredter Missionare hat das neue
Evangelium von der Menschenliebe seinen Einzug in das Herz der Ger-
manen gehalten , erst als Christus im Misterium , als die Heiligen in
den Mirakelspielen zum Volke sprachen und dieses ihr Wesen und
Wollen verstehen gelernt hatte, ist dem Christentum der wahre Boden
bereitet worden. Nun war es nicht mehr fremde Lehre, von Fremden
gebracht, nun hatte es die Fesseln starrer Dogmatik abgestreift, und
war Eigentum der Gesamtheit geworden. Und bald wufste der naive
Sinn des Volkes dem ernsten Stoffe heitere Seiten abzugewinnen, so
die Entwickelung des späteren Lustspieles vorbereitend. Aus religiösem
Boden sind so alle Gattungen des Dramas erwachsen, ohne dais sich
der darstellerische Trieb des Volkes später dessen noch bewufist ge-
wesen wäre.
Allein die Darstellung von geistlichen und später weltlichen Schau-
spielen hatte aufser dieser ideellen Seite auch eine sehr materielle,
sie kostete Geld und war daher an Orte gebunden, wo entweder zu
gewissen Zeiten — bei Messen und Märkten — eine grofse Menge zu-
sammenströmte, oder wo ein frommer und kunstsinniger Fürst, ein
vornehmer Privatmann imstande war, die entstehenden Kosten zu über-
nehmen. So kommt es, dafs frühzeitig das Theater in eine oft hcil-
U
/'
— 146 —
bringende, oft aber auch schädliche Abhängigkeit von Städten ') und
grofsen Herren gerät. Vor der Reformation, zur Zeit der grofeen Misterien
war dies noch nicht allzusehr der Fall, da hier ja immer die Kirche
als Leiterin im Hintergrunde stand, für Hilfsmittel und Geldquellen reich-
lich sorgend. Als aber nach der Reformation einmal das Theater sich
in die dogmatischen Streitigkeiten hineinmischte und in dem pro-
testantischen Schuldrama und dem katholischen Jesuitendrama zwei wich-
tige religiöse und allgemein kultiurelle Faktoren erstanden, anderseits
aber die englischen Komödianten und seit 1631 ihre Nachfolger, die
hochdeutschen Komödianten, neue Stoffe und Darstellungsmittel auf-
brachten, war ein solches Abhängigkeitsverhältnis nicht mehr zu um-
gehen. Von dieser Zeit an datiert die Privilegienwirtschaft, unter der
unsere Bühne jahrhundertelang unendlich gelitten hat. Die Beschränkung,
in die viele Gesellschaften durch das Gebundensein an einzelne Orte
und Provinzen gerieten, wurde nicht vermindert durch die eigentüm-
liche Lage, in der sich das Schauspiel als solches der Buchlitteratur
gegenüber befindet. Bücher konnten überall hin dringen, wurden aller-
orten gelesen, dem Schauspieler war es versagt, sein Werk freizügig
wirken lassen zu können, er war gebunden an seine Truppe und an
sein Privileg. So kommt es, dafs wir über die Theaterverhältnisse
mancher Gegenden Deutschlands noch so ungenau unterrichtet sind,
während ihre litterarische Bethätigung meist klar vor uns liegt. Das
schnell vergängliche Werk des Schauspielers geriet leicht in Vergessen-
heit, die Titel der aufgeführten Stücke, die Petitionen der einzelnen
Truppen vermoderten in den Ratsprotokollen und Steuertabellen der
Städte und Höfe. Daher ist es um so dankenswerter, dafe in den
letzten Jahrzehnten ein neu aufstrebender Zweig der Geschichte, die
von Robert Prutz begründete Theatergeschichte, hier Wandel geschafft
und auch das scheinbar Unbedeutendste nicht aufser acht gelassen hat.
In <icn grofeen Centren dramatischer Thätigkeit begann man eifrig
nach theatergeschichtlichen Notizen zu suchen; archivalische Forschungen
wurden angestellt, um zu einzelnen gröfseren Monographien zu führen,
aber noch immer fehlt uns eine Menge von Material für eine
künftige grofse deutsche Theatergeschichte. Überall,
wo ein Theater besteht oder bestanden hat, müssen die
i) In Köln wird bereits im Jahre 1201 die Lage eines Grundstückes bestimmt retro
teatrum, hoc est spilhus (vgl. Annalen des bist. Vereins für den Niederrhein, 23. Hefl,
S. 1 58). Ob wir uns darunter einen Vorläufer der modernen Schauspielhäuser, etwa zur Auf*
führung von geistlichen Schauspielen zu denken haben oder irgend ein anderes Gebäude»
mufs freilich dahingestellt bleiben.
— 147 —
noch erreichbaren Thatsachen zu Einzelschriften zu-
sammengestellt, bereits veröffentlichte Untersuchungen
registriert werden, um so den Grundstein für den spä-
teren grofsen Bau zu legen. Jede Stadtgeschichte sollte ein
Kapitel über das Theater enthalten. Wenn die folgenden Zeilen es
versuchen, über den heutigen Stand der allgemeinen und örtlichen
Theatergeschichte zu unterrichten, so ist von vornherein eine Voll-
ständigkeit in den Litteraturangaben ausgeschlossen, aber immerhin
dürfte mancher Leser willkommene Fingerzeige finden.
Von allgemeinen, das ganze Gebiet behandelnden Werken ist
immer noch Eduard Devrient, Geschichte der deutschen Schatte
spielkunst (1848 — 74, 5 Bde.), zuerst zu nennen. Ihr stellt sich neben
Robert Prutz' Dramaturgischen Blättern (1846) und seinen Vor-
lesungen über die Geschichte des deutschen Theaters (1847) nament-
lich noch Karl Heines Buch Dcts Theater in Deutschland, seine
geschichtliche Entwickelung und kulturelle Bedeutung bis zur
Gegenwart (Einbeck, Lesser 1894) würdig zur Seite. Das letzt-
genannte Werk unterrichtet in vier grofsen Abschnitten (i. Die Un-
behausten, 2. Das Heim an den Höfen, 3. Das Heim in den
Städten, 4. Im neuen Deutschen Reich) über die gesamte Entwicke-
lungsgeschichte , ohne sich allzusehr in Einzelheiten zu verlieren.
Schauspiel und Oper gemeinsam behandeln die für die Theater-
geschichte überaus wichtigen Kataloge der Wiener Musik- und
Theater au SS tellung. Ihnen kommen die jahrelangen Quellen-
studien Glossy's zugute, der in dem Fachkatalog der Abteilung
für dcLS deutsche Drama und Theater *) aufser über einzelne theater-
i) Wien, AossteUangs-Kommission XIH. Ans der filteren und neueren all-
gemeinen theatergeschichtlichen Litteratur seien hier noch genannt: Löwen: Geschichte
des deutschen Theaters, 1766. — Heinrich Laube: Dcis norddeutsche TheaUr,
Leipzig 1872. — R. Gen6e: Lehr- und Wanderjahre des deutschen Schauspiels,
Berlin 1882. — D. Cook, On the stage^ studies of theairical history and the actor's
ort, 2 Bde. London 1883. — J. Brüning: Le th/ätre en Allemagney son origine et
ses lüttes, Paris 1887. — W. Creizenach: Geschichte des neueren Dramas, \,
HaUe 1893. — Derselbe: Studien zur Geschichte der dramatischen Poesie im
17. Jahrhundert (Berichte d. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften 38, S. 39 ff. und 39,
S. iff.). — Hans Oberländer: Die Theorie der deutschen Schausfielkunst im
iB. Jahrhundert, Rostock 1896. — Rudolf Lothar: Zur Geschichte des Theater-
kostüms. Neue Freie Presse, Wien, Nr. 100 16. — E. O. Lindner: Die erste stehende
deutsche Oper, Berlin 1855. — H. M. Schletterer: Das deutsche Singspiel von
seinen ersten Anfängen bis auf die neueste Zeit, Augsburg 1863. — Derselbe: Die
Entstehung der Oper, Nördlingen 1873. — F. Zelle: /. W, Francky ein Beitrag
zur Geschichte der ältesten deutschen Oper, Berlin 1889.
— 148 —
geschichtlich interessante Privatsammlungen auch über das Aus-
stellungsmaterial der verschiedenen Staaten und Städte, natürlich nicht
immer ganz gleichmäfeig genau berichtet, während er in dem Hefte
Theatergeschichtliche Aufstellung der Stadt Wien (Wien, Biblio-
thek d. Stadt Wien) besonders Einzelheiten über Wiener Lokalverhält-
nisse, so über das Bandenwesen, die Balihäuser und die Theaterunter-
nehmen früherer Zeit giebt. Theaterzeitungen *) und statistische Werke ^
vervollständigen unsere Kenntnis von dem früheren und heutigen Stande
der Bühne immer mehr; die Theateralmanache *) und Lexika*) geben
aufser statistischen Angaben auch ganz genauen Aufschlufs über das
Personal des deutschen Theaters und arbeiten so der Litteratur, die über
einzelne Schauspielgröfsen *) im Wachsen begriffen ist, tüchtig vor.
i) Theaterjoumal für Deutschland IJJJ bis 1784. — Theaterfigaro^ Orgctn der
Theateragentur E. Drenker dt Co. Berlin, Jahrg. i — 32 (1899). — Deutsche Bühnen-
genossenschaft, Jahrg. I — 29 (1900). — Dramaturgische Blätter^ Organ des deutschen
Bühnenvereins. (Beiblatt zum Mag. f. Litteratur i und 2. 1898 und 1899.) — Bühne
und Welt. Jahrg. I. und 2. (1900).
2) V. Küstner: Taschen- und Handbuch für Theaterstatistik. Leipzig 1855.
2. Aufl. 1857. — A. Wechslung: Statist. Übersicht über die Aufführ. Shakespeare-
scher Werke a. d. deutschen u. einigen ausländ. Bühnen. (Jahrb. d. Sh. - Gesellsch.
27, 315—320.) — Victor von Woiko wsky-Biedau: Die Theater in Preussen,
(Sehr zuverlässiges Nachschlagewerk.)
3) Schmidt: Chronologie des deutschen Theaters. 1775. — Reichard s
Theater- Kalender. Jahrg. 1775 — 1800 (mit genauen Personal Verzeichnissen einzelner
Gesellschaften). — R. Biesendahl: Deutsches Theater-fahrbuch. Berlin, Cassirer &
Danziger. — Th. Entsch: Deutscher Bühnen - Almanach. Seit 1837 jährlich. —
A. Hin rieh: Almanach für Freunde der Schauspielkunst. Seit 1837 jährlich. —
K Ersehn tri fahrbuch für das deutsche Theater. Leipzig. Jahrg. i — 20, seit 1879. —
Neuer Theater - Almanach ^ herausgegeben von der Genossenschaft deutscher Bühnen-
angehöriger. Jahrg. I~i2 (1901). (Entschieden am zuverlässigsten und reichhaltigsten.) —
Bei den meisten Hoftheatem erscheinen mit Jahresschlufs Rückblicke oder Tagebücher, so
z. B. Statistischer Rückblick auf die Königl. Theater zu Berlin, Hannover, Kassel
und Wüsbaden für 1896, Berlin, MitÜer & Sohn. 1897. — Tagebuch der Königl. Sachs.
Hoftheater v. fahre 1900. Dresden , Wamatz & Lehmann.
4) Gallerie von Teutschen Schauspielern und Schauspielerinnen der älteren und
neueren Zeit. Wien 1783. — O. G. Flüggen: Biographisches Bühnenlexikon der
deutschen Theater. München, Bruckmann 1892. — Adolph Oppenheim & Ernst
Gettke: Deutsches Theater lexikon. Leipzig 1889. — Pougin: Dictionnaire historique
et pittoresque du the'dtre. Paris 1884. — Wichtige bibliographische Nachweise enthalten
die seit 1890 erscheinenden Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte ;
einzelne Schauspieler behandelt die Allgemeine Deutsche Biographie.
5) Manche gröfsere Arbeit führt Devrient an: III, 431 und V, 324. Von Mono-
graphien über ältere Bühnenhelden seien erwähnt Reden-Esbeck: Karoline Neuber,
und Martersteig: Pius Alexander Wolff. Leipzig 1879.
— 149 —
Das lebhafteste Interesse von allen Schauspielermonographien
kann jedenfalls die grofs angelegte Biographie F. L. Schröders
(-j- 1816) von Berthold Litzmann *) beanspruchen, die eine prächtige,
auf den Quellen beruhende Schilderung vom Leben und Wirken eines
Schauspielers und Schauspieldirektors vergangener Zeit giebt. Die
stete Bezugnahme auf die allgemeinen kulturellen und litterarischen
Zeitverhältnisse, die eingehende Benutzung der Quellen machen das
Buch zu einer wahren Fundgrube theatergeschichtlichen Wissens und
können einem jeden, der an der Biographie eines Theatermannes
arbeitet, als Muster dienen. Auch der Schattenseiten des Theater-
lebens, die nicht nur in Repertoireschwierigkeiten *) und Zensurverboten *)
bestehen, wird in der neueren Litteratur mehr und mehr gedacht. Mit
der Theatergesetzgebung*), die gerade in unseren Tagen infolge der
Streitigkeiten zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Genossen-
schaft Deutscher Bühnenangehöriger an aktuellem Interesse gewinnt,
beschäftigen sich eine Reihe von Arbeiten. Wichtig und interessant
sind Schriften neueren Datums über das Bühnentechnische *) und
die Theaterreform *) , denn gerade hier ist der Laie , der nicht
selbst in dem Getriebe eines grofsen Theaters steht und die Schwierig-
keiten, die seine Leitung verursachen, nicht kennt, geneigt, allzu-
rasch den Stab über Menschen und Dinge zu brechen, deren
Wollen und Wirken er nicht verstehen kann. Theaterdemonstra-
i) F, L. SchrödiTy ein Beitrag zur deutschen Litteratur- und J'heater geschickte,
Bd. I und II. Hamburg, Vofs, 1890 und 1894.
2) VgL die Untersuchungen Über einzelne Theaterzettel z. B. Beilage zur Allgem. Ztg.
1896, Nr. 97; Bühne und Leben III, 388; Beilage zur Leipziger Ztg. 1899, Nr. 103;
R. Thiele: Die Theaterzettel der sogenannten Hamburgischen Entreprise 1767 j 6g,
Erfurt (1895). — Rudolf Schlösser: Vom Hamburger Nationaltheater zur Gothaer
Hofbühne. 1895. — Zwei Theaterzettel einer ungenannten Puppea«pielergesellschaft in
Aachen 1779 in Zs. d. Aachener Geschichtsvereins XIX (1897), S. 142.
3) K. Th. Heigel: Die Theatercensur unter Kurfürst Karl Theodor (Forschungen
zur Kultur- und Litteraturgeschichte Bayerns 111(1895), i?^ — ^^S)* — Karl Glossy: Zur
Geschichte der Wiener Censur (Jahrbuch der Grillparzer- Gesellschaft. 7. Jahrgang 1897).
4) Otto Opet: Deutsches TheaUr recht. Berlin, Calvary & Co. — M. E. Burk-
hard: Recht der Schauspieler. Stuttgart 1896.
5) Birch: Dramatik oder Darstellung der Bühnenkunst. Stuttgart 185 6*. —
K, ▼. Reinhardstöttner: Eine Münchner Dramaturgie vor 100 fahren (Forschungen
zur Kultur- und Litteraturgeschichte Bayerns. 5. Buch, 1898. — H. Bischoff: Ludwig
Tieck als Dramaturg, Brüssel 1898. — Hans Landsberg: Immermann als Drama-
turg (Bühne und Welt I, 831).
6) K. V. Per fall: Ein Beitrag zur Geschichte der Kgl. Theater in München.
München, 1894.
— 150 —
tionen *) sind ja glück-licherweise nicht allzuhäufig , und eine gesunde
Kritik wird ihnen immer in genügendem Mafse vorzubeugen wissen. Ein
wichtiger Faktor für das Zustandekommen eines einheitlichen Theater-
stiles ist die Bühnensprache *). Ihr wandte sich daher eine aus Theater-
fachmännem und Germanisten bestehende Kommission zu, die vor
einigen Jahren über eine Reform der Bühnensprache beriet und gewisse
Normen aufstellte '). Hier wird in einer auch dem Laien verständlichen
Weise alles bisher Strittige, so die Aussprache der einzelnen Vokale
und Konsonanten, zu regeln und durch Beigabe eines Aussprache-
verzeichnisses eine einheitliche Bühnensprache zu begründen versucht.
Die Geschichte des deutschen Schauspielerständes beginnt mit
dem Auftreten der englischen Komödianten. Wenn auch in Deutsch-
land schon vorher, namentlich seit dem Erwachen des Humanismus,
eine reiche dramatische, zum Teil lateinisch geschriebene Litteratur
erstanden war, wenn auch in Schulen und Spielhäusem einzelner
Städte manches gelehrte Stück, manch lustiges Fastnachtspiel auf-
geführt worden sein mag, für die Schauspielkunst bedeutet dies wenig
oder nichts, weil diese Aufführungen nicht zum Gesamtgute der Nation
werden konnten. Das verdanken wir erst den englischen Komödianten *).
1) Th<aterdetnonstrationen 183g — i8gs (Österreichische Volkszeitang 1895, Nr. 156.)—
H. Sternberg: Denkwürdige TheaterskandaU (Deutsche Bühnengenossenschafl 22, S. 89
bis 91). — Derselbe: Betahlte Bei/alisspenden (ebenda 1892, S. 31/32). — E. Mayer:
Theaterprozesse (Festschrift zum 50jährigen Doktorjubiläum von J. v. Held. Würz-
burg i888).
2) AUgemeiner Deutscher Sprachverein. Verdentschungsbttcher Bd. IX: B. De-
necke: Tonkunst y Bühnenwesen und Tanz. Berlin 1899.
3) Theodor Siebs hat den Kommissionsbericht verfafst, der unter dem Titel:
Deutsche Bühnenaussprache (Köln, Albert Ahn, 1898) erschienen ist
4) Die Litteratur über diese ist recht umfangreich, aber es liefsen sich gewifs noch
viele Nachträge liefern, wenn die örtliche Geschichtsforschung sich noch mehr wie bisher
auf diesem Gebiete bethätigen wollte. Hier seien erwähnt: Tittroann: Die SchaU'
spiele der englischen Komödianten, Leipzig 1880. — J. Bolte: Die Singspiele der
englischen Komödianten und ihrer Nachfolger in Deutschiandy Holland und Skandinavien
(Theatergeschichtliche Forschungen, 7. Heft, 1893), welcher neben Creizenach wohl am
besten unterrichtet. — C o h n , Shcdtespeare in Germany in the sixteenth and seventeenth
Century t Berlin 1865. — W. Cloetta: Beiträge zur Litteraturgeschichte des Mittelalters
und der Renaissance, Halle 1 892. — W. Creizenach: Die Schauspiele der engl, Comödianten
in Deutschland, Leipzig 1880. — Derselbe: John Spencer (Allg. Deutsche Biographie). —
R. Gen6e: Geschichte der Shakespeareschen Dramen in Deutschland, Leipzig 1870. —
O. v. H e i n e m a n n : Herzog Heinrich Julius und die Anfänge des deutschen Theaters,
Aus der Vergangenheit des weifischen Hauses. 1881.) — R. Trautmann: Engl, Komödianten
in Rothenburg oh der Tauber (Zeitschr. für vergl. Litteraturgesch., 7, 60 — 67; enthält wert-
volle Nachrichten Über Anfang des 17. Jahrh. umherziehende Komödiantenbanden). —
— 151 —
Von ihrem ersten Auftreten an durchziehen sie, ein auf die geschäft-
liche Seite rege bedachtes Völkchen, unablässig die deutschen Gaue
und bereiten so die deutsche Wanderbühne, die dann Jahrhunderte
lang den Bedarf der Städte und Provinzen an theatralischen Auffüh-
rungen decken sollte, vor. Aber nicht nur einen eigenen Schauspieler-
stand schufen sie, sondern auch die alte eingewurzelte Schulkomödie
erhält durch sie neue Anregung; die Studenten und Schüler nehmen
Teil an der schauspielerischen Durchbildung. So ist es von nun an
nichts Seltenes, dafe Theologen und Mediziner, denen ihr Studium
nicht den rechten Erfolg gebracht, ja da{s sogar ausgediente, im Felde
ergraute Soldaten sich zur Wanderbühne ^) schlagen. Bis auf den
heutigen Tag hat sich die Wanderbühne erhalten, denn was ist es
R. V. L i 1 i e n c r o D : D<xs deutsche Drama im i6, Jahrh, und Prinz Hamlet aus Däne^
mark, (Deutsche Randschao, 17, 242 — 264,} — Georg Witkowski: Die Anfänge
des deutschen Theaters. (Hochschulvortr. fUr Jedermann. Leipzig, Seele 1898.) — J. Meiss-
ner: Die englischen Komödianten zur Zeit Shakespeares in Österreich, Wien 1884. —
J. Sittard: Die englischen Komödianten in Hamburg, (Hamb. Correspondent 1890.
141/42.) — E. F. Gaedechens: Eine Einlassmarke zum engl, Theater in Hamburg,
(Mitteilungen des Vereins für Hamb. Geschichte. Bd. 13, pag. 61, 71 — 75.
i) Über die Wanderbühne unterrichtet am besten zusammenfassend Karl Heine:
Das Schauspiel der deutschen Wänderbühne vor Gottsched, 1889. — Einzelne Beiträge
liefern folgende Schriften. A. Dessoff: Über spanische^ ital, u, /ranz, Dramen in
den Spielverzeichnissen der Wandertruppen, (2^itschr. für vergleichende Litteraturg.
Neue Folge 4, i — 14.) — H. Devrient: J, F, Schönemann und seine Schauspieler"
gesellschaft (Theaterg. Forschungen 1 1) bietet sorgflilüge Besprechung der Wanderungen
und des Repertoires. — F. Heitmüller: /. A, G, Uhlieh, //. Holland, Komödianten
in Hamb, 1740 — 41 (Th. Forsch. 8). — O. Hohnstein: Braunschweig in d, Zeit vor
dem dreissigfährigen Krieg, (Darin novellistische Schilderung einer Aufführung des
Vincentio Laodislao.) — K. Koppmann: Zur Geschichte der dramat, Darstellungen
i, Rostock im JÖ, u, 17, Jahrh, (Beiträge zur Geschichte Rostocks. 1890, 37 — 62), ent-
hält Nachrichten über Studentenaufführungen und Darbietungen wandernder Schauspieler«
Bericht über Angriflfe der Geistlichen gegen das Theater. — H. A. Lier: /. Veiten,
(Allg. Deutsche Biographie.) — A. Niggli: Die Ackermannschen Komödianten in der
Schweiz, 1757—60, (Neue Zürcher Zeitung. 1890, 37—42.) — J. Paludan: Deutsche
Wandertruppen in Dänemark, (Zeitschr. für deutsche Philologie 25, 313—343' Mehrere
ausführliche Theaterzettel 8|ad abgedruckt) — J. Schwering: Zur Gesch, des nieder^
länd, und span, Dramas in Deutschland, (Neue Forschungen. München, Coppenrath.
Untersucht genau das Repertoire der Wandertruppen.) — Über schlesische Wander-
truppen liegt umfangreiches Material im kgL Staatsarchiv zu Breslau. — S. Winda-
kiewicz: Die älUsten Schauspielertruppen in Polen, — O. Zimmermann: Ein
Theater in Bevem, (Braunschweiger Anzeiger 1893. 76—81.) Ferdinand Albrecht, der
Bruder Anton Ulrichs, beherbergt Andreas Elenson und Johann Veiten mit ihren Truppen
bei sich. Seine Tagebuchnotizen (im Archiv zu Wolfenbüttel) enthalten die Titel und
Inhaltsangaben der aufgeführten Stücke.
— 152 —
anders, wenn fahrende Leute noch heute in den Dörfern ihr Puppen-
theater aufschlagen, ihre Marionetten tanzen lassen und bekannte
Sagenstoffe dem Volke in oft grober Verzerrung darbieten *)? Aber
noch in anderer Gestalt besitzen wir die deutsche Wanderbühne, in
einer verjüngten, veredelten. Als mit dem schnellen Emporblühen
zahlreicher Theater das Risiko der Theateruntemehmer , namentlich
wenn sie darauf bedacht waren^ ein wirklich vornehmes künstlerisches
Ensemble und ein zugkräftiges Repertoire zu haben, immer mehr wuchs,
das Interesse des Publikums aber nicht in gleichem Maase Schritt
hielt, da begann man das Publikum selbst aufzusuchen. Die bekanntesten
tmd künstlerisch wertvollsten dieser Wanderaufführungen sind die der
Meininger geworden, über die schon eine ganze Litteratur entstanden
ist *). Andrerseits wieder vereinigte man eine aus allen deutschen Gauen
zusammengerufene auserlesene Schauspielergesellschaft zu Mustervor-
stellungen in gröfeeren deutschen Städten, eine Art des künstlerischen Be-
triebes, die gerade in unseren Tagen wieder stark in Aufnahme kommt.
Neben der englischen und deutschen Wanderbühne haben in der
Frühzeit des deutschen Schauspiels das protestantische Schul-
drama ') und das katholische Jesuitendrama ^), trotz ihrer örtlichen Ge-
i) Das dent5che Kasperle-Theater behandelt Lemercier de Neuville: Histoire
anecdotique des marionetUs modernes, Paris , Levy. W. S p o h r : Vom Kasperle
und vom Marionettentheater (Dramaturgische Blätter I, 8). — Tony Kellen: Das
Kölner Hänneschen Theater (ebend. I, 2.). — Alexander Tille: Fahrende Leute
(Norddeutsche Allgemeine Ztg. Ig95, 450 und 4.54) berichtet über sächsische Puppen»
Spielertruppen, das Leben der Puppenspieler und ihr Verhältnis su den Behörden.
2) Eine zusammenfassende Geschichte dieser gröfsten modernen Wanderbühne fehlt
noch, aber Karl Zeifs bereitet eine solche, durchaus aus den ersten QueUen schöpfend^
TOr. Die wichtigsten bisher erschienen Schriften sind: R. Proelss: Das herzogL
meiningensche Hoftheater und die Bühnenreform, Erfurt 1882. — Derselbe: Führer
durch das Repertoire der Meininger, Leipzig 1887. — Richard: Chronik sämtlicher
Gastspiele des herzogt, Sachsen-Meiningenschen Hof theaters 1874 — j8go, Leipzig 1890.
3) Die Litteratur ist verhältnismäüsig reich — Zusammenfassendes giebt Riedel: Schul-
drama und Theater, Hamburg 1885; viel ist in den Monographien über einzelne Gymnasien
enthalten. Besondere Arbeiten über Schultheater liegen z. B. vor aus Glatz (P. Prohasel)^
Schwarzburg-Rudolstadt (AnemüUer), Rothenburg a. d. Tauber (Th. Hampe), Weimar
(Heiland), Strafsburg (Jundt), Zeitz (Rothe), Chemnitz (Straumer u. Uhle), Bern (Tobler), Salz-
burg (Wagner). Das Inventar der zu den Schulkomödien in Wertheim 1622 benötigten G^en-
stände ist gedruckt Archiv d. hist Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 19, 70. —
Eine der jüngsten Litteraturen , die eine Dramatik entwickelt hat, die Neu- Islän-
dische, führt ihre Entstehung auch auf die Aufführungen der Schüler am Gymnasium zu
Reykjavik zurück. Vgl. Schwert und Krummstab von IndridiEinarsson, Übers, aus
dem Neu-Isländischen von M. phil. CarlKüchler. Berlin, E. Ebering, 1900. Vorwort.
4) Auch über das Jesuitendrama liegen zahlreiche Einzelarbeiten vor, besonders von
— 163 —
bundenheit, einen wesentlichen Einfluis auf die Weiterentwicklung der
Bühne gewonnen. Die Teilnahme an den religiösen Streitfragen,
welche die Welt bewegten, hob das Schuldrama weit über seinen
unmittelbaren Zweck, die Schüler im Lateinischsprechen zu üben, hin-
aus, und nicht selten wurden die Schüleraufführungen eine fühlbare
Konkurrenz für die Vorstellungen der Berufsschauspieler. Die Jesuiten-
komödie mit ihren prunkvollen Auffuhrungen behauptete sich neben
den einfacheren Darbietungen der Wanderbühne eine ganze Zeit
lang, aber nach dem dreifsigjährigen Kriege steuerte auch sie ihrem
Untergange zu. Der letzte Dichter des Schuldramas ist Christian
Weise (-j- 1703) gewesen; nach ihm ist es wieder geworden, was es
seinem Wesen nach sein sollte, eine Schülerübung ohne allgemeines
oder gar künstlerisches Interesse.
Die Wanderbühne war dem Aufkommen stehender Theater
nicht allzu förderlich. Zwar mufste jede Gesellschaft ein festes Dach
über dem Kopfe bei ihren Aufführungen dem Zelte vorziehen, aber
den Städten lag, der ganzen Zeitrichtung entsprechend, nicht viel daran,
für ein derartiges dauerndes Unterkommen zu sorgen. Viel eher nahmen
ktmstsinnige Fürsten die wandernden Truppen in ihren Schutz, er-
richteten ihnen Wirkungsstätten und wachten eifersüchtig darüber, dais
die „Künstler" von ihren Fahrten stets zu rechter Zeit an den Hof
zurückkehrten. Die Errichtung von Hoftheatern war so nur eine Frage
der Zeit. Dann zögerten aber auch die Städte bald nicht mehr, der
dramatischen Kunst durch den Bau eigener Theater in ihren Mauern eine
Heimstätte zu bereiten: in Breslau besteht ein „Komödienhaus** seit
1677, in der Reichsstadt Aachen wurde es 1748 bis 175 1 erbaut^).
Das Wirken der gröfiseren Hoftheater hat natürlich schon eine
Reihe Einzeluntersuchungen über ihre Geschichte ins Leben gerufen.
Die meisten Arbeiten stellen dabei Berlin, München und Wien ins
Feld. Unter der Menge Berliner Schriften heben wir namentlich
Weddigen, Geschichte der Berliner Theater 1899 hervor, weil
diese Arbeit zeig^, wie eine Theatergeschichte nicht gemacht werden
soll, und so gewissermafsen als abschreckendes Beispiel gelten kann. Der
Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Berliner Bühnen zu
behandeln. So kommt es, dafs die ersten Kapitel seines 78 Seiten
P. Bahlmann und J. Zeidler. G. Müller, Zur Geschichte der Jesuitenkomödie in
Sachsen. N. Archiv f. Sachs. Geschichte 14 (1893), S. 140. Im engeren Zusammenhange
damit stehen die geistlichen Schauspiele des Mittelalters, die ihre eigene Litteratur haben.
I) R. Pick, Das Aachener Theater in reichsstädtischer Zeit (Aus Aachens Ver-
gangenheit — gesammelte Aufsätze — S. 450, 461}.
A
— 154 —
starken Werkes, der die Hofbübnen behandelnde Teil, aus einer ziem-
lich kritiklosen Zusammenstellung von Notizen aus Devrients und Karl
Heines Arbeiten bestehen. Was er über die Berliner Privattheater zu
sagen hat, ist ebenfalls nicht viel besser, ja enthählt sogar eine ganze
Reihe positiver Fehler. Von Josef Kainz' Wirken unter L'Arronge
scheint ihm nichts bekannt zu sein, auch hat Brahm nach seiner Mei-
nung bereits 1884 die Leitung des Deutschen Theaters übernommen.
Das sind Mängel, die in einer sorgfaltigen Theatergeschichte nicht
vorkommen dürfen. Stilblüten wie: „Der Zuschauerraum . . . fafst
nunmehr über 1044 Personen** (S. 50) oder „Friedrich Wilhelm IV.,
von hohen Kunstinteressen beseelt und Romantiker von Geist** (S. 45),
tragen ebenfalls nicht zur Erhöhung des Genusses bei. Aber vielleicht
wäre dem Buche nicht eine so gründliche Ablehnung von allen Seiten
widerfahren, wenn sein Verfasser nicht selbst „von dessen Nutzen für
die allgemeine Theatergeschichte** so felsenfest überzeugt gewesen
wäre.
Eine ganz andere Arbeit ist dagegen Friedrich Walte r's Ge-
schichte des Theaters und der Musik am kurpfälzischen Hofe, die
das Kunstleben am Heidelberger Hofe von der Zeit der Minnesänger an,
dann die sich um den Hof der Neuburger in Düsseldorf gruppierende
Kunstbethätigung, welche bis zur Begründung einer grofsen Oper da-
selbst führte (1687), und die künstlerischen Bestrebungen Karl PhUipps
in einem einleitenden Kapitel gründlich behandelt, um weiter eingehend
auf die Blütezeit unter Herzog Karl Theodor überzugehen. Holzbauers
(i" 1 783) Einfluls auf die Mannheimer Hofoper, ihr grofsartiges Reper-
toire, das Personal, Wechselwirkungen zwischen Oper und Schauspiel,
fremde Elemente und ihre Einbürgerung auf deutschem Boden, alles
das wird geschmackvoll und überzeugend vorgetragen. Von der
tüchtigen Forschung des Verfassers zeugen die im Anhang teilweise
veröflfentlichten Quellennachweise, so Holzbauers Selbstbiographie, ein
chronologisches Verzeichnis der in Heidelberg, Düsseldorf, Mannheim
und Schwetzingen aufgeführten Opern, Oratorien und Ballets. Dals
mit dem Wegzuge des Hofes von Mannheim 1778 auch das Buch
schliefst, finden wir bei der Menge von Darstellungen, die Mannheims
spätere Glanzzeit unter Dalberg gefunden hat, ganz begreiflich. Be-
sonders hervorzuheben ist noch, dafs der Verfasser in seinem Werke
viele bisher gänzlich dunkle Punkte erhellt und durch mühsame Arbeit
aus Opern textbüchern , zeitgenössischen Beurteilungen, Briefen und
Memoiren ein Material gewonnen hat, das für seine warme Beurteilung
des künstlerischen Strebens der Kurpfälzer beredtes Zeugnis ablegt
— 165 —
»
München ist mit zwei Jubiläumsschriften würdig vertreten. Otto
Julius Bierbaum h^\izsi^f\t\vi\ Fünfundzwanzig Jahre Münchener
Hoftheater -Geschichte die Zeit der Perfallschen Intendanz, würdigt
dessen Verdienste um die Aufführung Ibsens und hebt die Schöpfung
der Münchner Oper hervor. Er erzählt, wie die Bühnen Süddeutsch-
lands sich von Paris und Berlin befreiten ; seine statistischen Angaben
sind zuverlässig, so dafs das Ganze eine voll ihren Zweck erfüllende
Arbeit zu nennen ist; nur die wenig gelungenen Porträts hätten anders
ausfallen sollen. Die zweite Jubiläumsschrift ist Ein Beitrag zur
Geschichte der königlichen Theater in München von Karl von
Per fall, die in zwei Teilen alles aus der Zeit von 1867 bis 1892
für die Münchner Hofbühne Erwähnenswerte — und das ist recht
viel — zusammenstellt. P. berichtet über sein Programm als Intendant,
über das Personal, die Aufführungen, Festvorstellungen und sonstige
Veranstaltungen unter VeröfTentlichung eines aufserordentlich reichen
Materials für eine künftige Geschichte des Münchner Theaterlebens.
Zeitungsberichte, wichtige Schreiben der vorgesetzten Behörden und
nicht zum wenigsten die genauen statistischen Angaben verleihen dem
Buche einen bleibenden Wert, namentlich auch weil die Schriften über
die Shakespearebühne gut benutzt und verarbeitet sind.
Unter den Wiener Einzeldarstellungen ist an erster Stelle Ru-
dolphLothar: Das Wiener Burgtheater [i^gg) zu nennen. Dieses
Buch ist in der Sammlung „Dichter und Darsteller" erschienen, ist reich
mit Abbildungen geschmückt, ohne dadurch zum Bilderbuch zu wer-
den. Es enthält die vollständige Entwickelungsgeschichte des Burg-
theaters und versucht vor allen Dingen den psychologischen Momenten
bei der Ausgestaltung dieser einzigartigen Bühne nachzukommen. So
bietet es nicht nur feinsinnige Betrachtungen über das künstlerische
Wesen und die künstlerische Aufnahmefähigkeit der Wiener, es giebt
eine vollständige Geistesgeschichte Wiens seit dem Auftreten Ber-
nardons* und Prehäuser's bis auf den heutigen Tag. Das einzige
Störende in dem so genufsreichen Werke ist vielleicht die etwas allzu-
absichtlich hervorgekehrte Unzufriedenheit des Verfassers mit Schien-
thers Bühnenleitung. Als Geistesgeschichte des Burgtheaters giebt es
sich nicht mit statistischen Angaben ab. Diese sind in geradezu muster-
hafter Weise für die Hofoper enthalten in dem Buche : Das kaiserlich-
königliche Ho/opem- Theater in Wien, herausgegeben von A. Josef
Weltner, Alois Przistaupinsky und Ferd. Graf, Wien 1894. Dieses be-
schäftigt sich mit den Personalverhältnissen und der künstlerischen
Thätigkeit der Hofoper vom 25. Mai 1869 bis zum 30. April 1894.
/
>
— 156 —
Mit minutiöser Genauigkeit ist hier alles zusammengetragen, was über
Theaterleitung, künstlerisches und technisches Personal zu sagen ist.
Genaue Übersichten über die in den einzelnen Jahren stattgefundenen
Erstaufführungen, sowie über alle künstlerischen Veranstaltungen in der
angegebenen Zeit bcschliefeen das Werk, das als statistische Muster-
leistung angeführt werden kann. Eine gleiche Genauigkeit und Reich-
haltigkeit weist auch Weltners Arbeit: Mozarts Werke und die
Wiener Hof-Theater (Wien 1896) auf.
Dem Theater der Grafen Schaffgotsch zu Warmbrunn ist die kleine
Schrift von Heinrich Nentwig: Geschichte des Reichsgräflichen
Theaters zu Warmbrunn gewidmet, die recht ausführlich eine Dar-
stellung der Theaterverhältnisse dieses Badeortes giebt. Liebhaber-
bühnen wechselten daselbst im Anfang mit wandernden Schauspieler-
gesellschaften ab, bis nach Erbauung eines gräflichen Schauspielhauses
(1836) eine regelmäfsigereKunstbethätigung eintreten konnte. Aufeerüber
die Verhältnisse der Schauspieler und den technischen Teil des Theater-
betriebes plaudert Nentwig ganz interessant über den Spielplan, den
er von 1817 bis 1853 genau abdruckt, und verleiht so seinem Buche
einen gewissen ernsten litterarischen Hintergrund, der ihm recht wohl
ansteht.
Den Reigen der Stadttheater mag das grofs angelegte Buch
Schlesingers, Geschichte des Breslauer Theaters, eröffnen. Auf
Grund der eingehendsten archivalischen Forschungen, in klarer und über-
sichtlicher, oft vielleicht etwas zu annalistischer Weise behandelt Seh. das
Drama des Mittelalters und der Reformation, die Schulkomödie, das Auf-
treten der englischen Komödianten, und das Wirken der Wanderbühnen
in dem seit 1677 bestehenden Komödienhaus, das fünfzig Jahre später
in den Besitz der Stadt überging. Die Reformen der Ncuberin, die
Errichtung der „kalten Asche** 1754, Lcssings dramaturgisches Wirken,
die Begründung des neuen Theaters, alles dies giebt dem Verfasser
Gelegenheit, sein reiches theatergeschichtliches Wissen, in ein an-
genehmes Gewand gekleidet, vor uns zu entwickeln. Der in Aussicht
stehende zweite Band kann des Interesses der Theaterfreunde gewifs sein.
Für Nürnberg haben wir eingehende Forschungen in der Arbeit
von Theodor Hampe: Die Entwicklung des Theaterwesens in
Nürnberg von der zweiten Hälfte des XV, Jahrhunderts bis 1806.
Von 1449 an sind alle auf das Theater bezüglichen nur irgend auf-
findbaren Notizen in chronologischer Reihenfolge abgedruckt, und so
konnten selbst zur Hans Sachs -Forschung, für die doch die Rats-
verlässe schon so vielfach durchgesehen worden sind, ein paar neue
— 157 —
Notizen beigebracht werden. Einige weitere der jetzt erst hinzugefun-
denen einschlägigen Verlässe ergänzen die bisherigen Nachrichten über
die theatralische oder dichterische Thätigkeit des Veit Fesselmann,
Michel Vogel, Jörg Frölich und anderer Genossen des Hans Sachs
aus dem Kreise der Meistersinger.
Eine treffliche Arbeit über die Theaterverhältnisse in Stralsund
ist das Buch von F. Struck: Die ältesten Zeiten des Theaters zu
Stralsund, iSpjr — iSj^. Mit genauer Benutzung des im Ratsarchiv
enthaltenen Materials und der Tageslitteratur giebt es ein gutes BUd
vom ersten beglaubigten Auftreten der Berufsschauspieler und dem
Schicksal der Wandertruppen bis zur Begründung einer stehenden
Bühne (1766). Ein vollständiges Namen- und Sachregister erleichtert
die Gebrauchsfähigkeit des Werkchens, das unter die besten seiner
Art gezählt werden darf.
Vorstehende Ausführungen sollen das weite Gebiet der Theater-
geschichte, die ja eine eigentümliche Mittelstellung zwischen Litteratur-
geschichte und Geschichte einnimmt und lange Zeit von beiden vernach-
lässigt worden ist, dem Kreise der Lokalgeschichtsforscher näher bringen
und sie zu thätiger Mitarbeit auf diesem wichtigen Gebiete der Geistes-
geschichte anregen. Nur in ganz allgemeinen Zügen konnte die Ent-
wickelung des deutschen Schauspielwesens selbst geschildert werden,
der Hauptzweck sollte vielmehr der sein, die Forscher mit der wich-
tigsten Litteratur bekannt zu machen. Was eine Theatergeschichte
enthalten mufs, läfst sich theoretisch wohl sagen : es genügt nicht eine
Feststellung der Daten, innerhalb deren sich das Wirken der Bühne
vollzogen hat, es darf sich die Arbeit auch nicht auf eine Zusammen-
fassung d|^s rein äuferlichen Materials — so unumgänglich notwendig
eine solche ist — beschränken, d. h. etwa Verzeichnung des Reper-
toires, der mitwirkenden Künstler, der für das Haus geltenden gesetz-
lichen Bestimmungen, sondern sie mufs die Bühne aus der gesamten
Umwelt, aus dem kulturell und individuell Bedingten herauswachsen
lassen, ja sie mufs in der geistigen Luft emporgediehen sein, die jeder
künstlerischen und wissenschaftlichen Bethätigung erst ihre eigenste
Färbung verleiht. Freilich zu einem festen Arbeitsschema lassen sich
diese Forderungen nicht gestalten, das Beispiel lehrt hier viel besser,
und unter den oben behandelten Monographien wird sich wohl für
jeden, der etwa einschlägiges Material verarbeiten will, eine finden,
die ihm den allgemeinen Verhältnissen nach als Muster dienen kann.
Auch für den in geschichtlicher Arbeit Bewanderten sind gerade auf
— 158 —
diesem Felde, wenn er es zuerst betritt, Muster notwendig, denn
zur Anlage einer Sammlung statistischer Art oder zur rechten Ein-
ordnung aller die Theatergeschichte berührenden Punkte bedarf er
eines Vorbildes, wenn er sich nicht unnötige Mühe machen will. Wenn
man jedem, der eine geschichtliche Monographie verfassen will, den
Rat geben mufs, nach der ersten oberflächlichen Kenntnisnahme von
seinem Material eine verwandte Studie zu lesen und zu verarbeiten,
um nach der hierbei gewonnenen Fragestellung das spezielle Material
im einzelnen zu diu*chsuchen — , so mufs dies in ganz besonderem
Mafse für den Verfasser einer Theatergeschichte gelten, da hier
die Wege im ganzen noch wenig begangen sind und der Stoff den
Verfasser, wenn er nicht gerade selbst unmittelbar thätiger Theater-
mann ist, auf Gebiete fuhrt, die ihm bereits in der Gegenwart fem
liegen. Zudem erfordert es die Eigenart des Stoffes, dafs auch Elr-
eignisse der jüngsten Vergangenheit mit berührt werden müssen. Der
persönliche Standpunkt des Verfassers zu den zeitgenössischen Kunst-
fragen wird dabei stets zum Ausdruck kommen und auch auf die Be-
urteilung der ferneren Vergangenheit nicht ohne Einflufs sein. Ein
fleifsiges Studium der Theatergeschichte , so weit sie bereits bearbeitet
vorliegt, und namentlich der Kunstkritik des XVIII. Jahrh. wird unter
diesen Verhältnissen manches Urteil klären, und deshalb kann die Pflege
der Theatergeschichte im besonderen auch den ausübenden Künstlern
und Kunstkritikern sowie allen Theaterfreunden nicht genug empfohlen
werden.
Ein irgendwie abschliefsendes Werk auch etwa nur bis zum Ende
des XVIII. Jahrh. besitzen wir noch nicht, die Zeit dafür ist auch noch
nicht gekommen: ein solches wird erst möglich sein, wenn
noch viel intensiver als bisher die Bausteine zusammen-
getragen und zu kleineren Teilbauten zusammengefügt
worden sind! Gerade die anspruchslose, durch deutliche Erfassung
der allgemeinen Ziele ausgezeichnete Kleinarbeit für ältere und neuere
Zeit ist aufserordentlich notwendig, und nicht etwa nur dort, wo grofse
und künstlerisch bedeutende Bühnen bestanden haben und bestehen,
nein auch dort, wo die „Schmiere" ihre Thätigkeit entfaltet hat,
müssen der äufsere Verlauf, die künstlerische Leistung und die je-
weUige Wirkung auf einzelne und das grofse Publikum untersucht
werden. Selbst das glänzendste Werk, welches nur Hofbühnen in
Betracht ziehen wollte, wäre noch längst keine Theatergeschichte!
Wie die wandernden Truppen der Puppenspieler, so müssen auch die
neuerdings wieder aufblühenden Volksbühnen — die Passionsspiele,
— 159 —
Bauemkomödien und was sonst hierher gehört, haben wir bei obiger
Übersicht absichtlich unberücksichtigt gelassen — mit in das Reich
der Betrachtung gezogen werden ').
Um denjenigen, die sich unterrichten und weiter forschen wollen,
eine Übersicht darüber zu ermöglichen, was auf dem Felde der ört-
lichen Theatergeschichte bereits geleistet worden ist, soll im folgenden
ein nach den Orten alphabetisch angelegtes Verzeichnis derartiger
Werke folgen: natürlich ist dabei an Vollständigkeit nicht gedacht,
es sind nur solche Bücher und Aufsätze aus Zeitschriften und Zeitungea
aufgeführt, die der Zufall dem Verfasser bekannt gemacht hat.
Aachen* Alfons Fritz: Zar Baogeschichte des Aachener Stadttbeaters. Zeitschr. des
Aachener Geschichtsvereins 22, 9—120.
Anul« B. Väli: Geschichte des Theaters in Arad. Ungar. Rev. X, 496/8.
Bambergr. F. Leist: Geschichte des Theaters in Bamberg bis z. J. 1862. Berichte
d. Histor. Vereins Bamb. Nr. 55.
Baatzen. Zum hundertjährigen Jabiläum der Erbaaong und Eröffnung des Stadttheaters
tu Bautzen. Wöchentl. Beilage z. d. Bautzener Nachrichten. 1896, Nr. 43.
Bayreath« W. Brunco: Verteidigung Wilhelm NoUes gegen d. Dr. phil. M. Bendiner.
Archiv f. Gesch. Oberfrankens. 19; 25. — A. v. Schlofsb erger: Ein Ba3n'euther
Theater vor 100 Jahren. Besond. Beilage des Staatsanzeigers itir Württemberg. 1892»
97 — 106. — C. Heckel: Die Btthnenfestspiele in Bayreuth. Authent. Beiträge zur
Geschichte ihrer Entstehung und Entwickelung.
Berlin« KarlFrenzel: Die Berliner Theater. Deutsche Rundschau 23; 7. — L. Geiger:
Berliner Studien II, Königs Geburtstag auf d. Berliner Theater 1776. Voss.
Ztg. 1894, Beil. Nr. 4. — Berliner Theater 181 5— 4a Allg. Ztg. Beil. 1894,
Nr. 280 bis 282. — Über Berliner Theatergeschichte (Referat in der Deutschen
Litteratur-zeitung 1894» S. 23} mit archivalischen Notizen.) — Berliner Dramaturgie
1797—98. Voss. Ztg. 1891, 325. — Julius Hart: Das Berliner Theater (Dichter und
DarsteUer, Seemann, Leipzig), i. Druck. — A. d e N. : Ein Theaterzettel aus der Ztit
Friedrich Wilhelms I. Bär 17, 278/9. — R. Rost: Berliner Theaterverhältnisse im
vorigen Jahrh. Leipziger Ztg. 1894, Beil. Nr. 3I. — Berliner Theater vor 150 Jahren.
Berl. Tageblatt 1895, Nr. 249. — E. Zabel: Theatralische Rückblicke. National-Ztg.
1^94* 376/37^' — Brachvogel: Geschichte des Kgl. Theaters zu Berlin. 2 Bde. 1877
i) Um einmal den heutigen Stand des Wissens festzul^en, so weit das Aller-
äniserlichste in Frage kommt, wäre es recht wichtig, ein Verzeichnis zu veröffentlichen,
welches sämtliche heute im deutschen Sprachgebiete bestehenden Bühnen, ihre genauen
jetzigen und früheren Namen, das Gründungsjahr u. s. w. aufführt. Auch die Orte, deren
Bühnen wieder eingegangen sind, müfsten berücksichtigt werden, ferner wann und von
welchen Wandertruppen vor der Errichtung stehender Bühnen Vorstellungen gegeben
worden sind. Eine solche historisch -statistische Nachweisung, die sich für Berthold
Litzmannt TheaUrgeschichtltcfie Forschungen eignen würde, müfste für die geo-
graphische Verteilung einzelner bühnengeschichtlicher Erscheinungen sofort ganz über-
raschende Thatsachen ergeben, die sich eben nur so feststellen lassen! Anm. d. R.
— 160 —
u 1878. — G e n ^ e : Hundert Jahre des Kgl. Schauspiels in Berlin. 1886. — A. R S d e r :
Kroll. Ein Beitrag zur Berliner Kultur- und Theatergeschichte. Denkschrift z. d. 5QJahr.
Bestehen des Hauses. 1844 — 1894. Berlin. Steinitz. 1894. — L. Schneider: Ge-
schichte der Berliner Oper. 1846. — Die Regulative des Kgl. Schauspielhauses. Kritik :
1, 335/6. — G. Schmiedchen: Mutter Gräbert uud die Vorstadt. Theater. Freie
Bühne IB. jg^ — Zur Geschichte des Friedr. Wilhelmstädt. Theaters in Berlin.
Ebd. 1894, 213/6. — Zur Geschichte des Woltersdorff-Theaters in Berlin. Ebd. 206.
107, — Herrm. Schreyer: Das Schillertheater in Berlin. D. Dramaturgie II, ao.
Breslau* v. R. : Zum 25Jährig. Jubiläum des Lobe>Theaters. Schlesische Ztg. 1894:
612/618.
Crcfeld* H. Keussen: Aus Crefelds Theatergeschichte. Annal. d. histor. Vereins für
den Niederrhein. 1898. 65. Heft, 132—35.
DanzilT* J« Bolte: Das Danziger Theater im 16. u. 17. Jahrh. Theatergesch. For-
schungen 12. — O. Rub: D. dramatische Kunst in Danzig ▼. 1615-1893. V^
dazu Litzmann: Anzeiger der Zeitschr. f. d. deutsche Altertum, 21, 150/1.
Darmstadt« H. K n i s p e 1 : D. Grofsherzogl. Hoftheater zu Darmstadt. 1810— 1890. 1892. —
Schillers Dramen auf d. Grofsherzogl. Hoftheater zu Darmstadt. Geschichtl. Rück-
blick. Darmstadt 1894.
Dessau* Hosaens: Die Anfänge des Dessauer Theaters. Mitteil, des Vereins für
Anhaltische Geschichte und Altertumskunde. DI. — M. t. Prosky: Das Herzogl.
Hoftheater zu Dessau. In seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Dessau. (Referat
J>eutsche Bühnengenossenschaftszeitung, 24, 153/4.)
Dresden* H. v. Brescius: Fünfzig Jahre aus der Geschichte des Dresdner Hoftheaters.
Dr. Anzeiger 1896, Nr. 330. 341. 345. 351. 354. 358. 359. — R. Proelss: Gesch. des
Hoftheaters zu Dresden. Dr. 1877. — Beiträge zur Geschichte des Hoftheaters zu
Dresden in aktenmäfsiger Darstellung. Erfurt, Bartholomäus, 1879. — 1777 — 1793
auf dem Kurfürstl. Theater in Dresden aufgeführte Italienische Opern. Dresdner
Geschichtsblätter 1896» 250. — Dresdner Liebhaberbühne vor 100 Jahren. Ebd.
1895, S. 187. — Stücke, welche 1784 in Dresden gespielt worden sind. Magazin
der sächsischen Geschichte. i.Teil, S. 92. 518/519. 2. Teil, S. 57. — Anna Lohn-
Siegel: Aus meinem Tagebuche vom Dresdner Hoftheater. Leipziger Ztg., Beilage
1896 Nr. 31/2. 116. 120. 138. 141. 159. — Richter: Der älteste Theaterzettel der
kurfürstlich sächsischen Hofkomödianten. Leipziger Ztg., Beilage 1899 , Nr. 103. —
G. Müller: Ein Dresdner Komödienverbot vom Jahre 1662. N. Archiv f. Sachs.
Geschichte. 12. Bd. (1891), S. 298—309. — A. Kohut: Das Dresdner Hoftheater
i. d. Gegenwart. Dresden 1888.
Düsseldorf* Fellner: Immermanns Theaterleitung in Düsseldorf. 1888. — Chr.
Dietr. Grabbe: Das Theater zu Düsseldorf. Bd. 4 der Gesamtausgabe von
O. Blumenthal. 1874. — K. L. Immerraann: Düsseldorfer Anf&nge, ebenda. —
R. Hassenkamp: Karl Immermann, Beiträge zur Geschichte d. Niederrheins, 11. Bd.
£ger* Akten über das Theater in Eger 1610— 1870, erwähnt bei Karl Siegl: Die
Kataloge des Egerer Stadtarchivs. Eger 1900, S. 207.
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Würzburg. Über die Errichtung eines Residenztheaters durch Fürstbischof Friedrich
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bürg. II, 1 S. 200.
Zirlekau* — ch: Die Bühne Zwickaus, in „Saxonia**, V. Jahrg. 1879.
Der auswärtige Lieihverkehr der
preussisehen Bibliotheken
Von
Walther Schultze (Halle a. S.)
Viel mehr als bei anderer wissenschaftlicher Thätigkeit ist die
Beschäftigung mit Lokal- und Territorialgeschichte an den Ort. ge-
bunden: diese Dinge können — von Ausnahmen abgesehen — wirk-
lich fruchtbar nur von solchen betrieben werden, die mit den Stätten,
deren Vergangenheit sie schildern oder aufhellen wollen, durch per-
sönliche Anschauung vertraut sind , die sich während ihrer Arbeit mit
Land, Leuten, Verhältnissen in stetem persönlichen Konnex befinden.
Unleugbar geben diese persönlichen Beziehungen zwischen dem Lokal-
historiker und seinem Gegenstand jenem einen wesentlichen Vorteil
gegenüber dem Geschichtschreiber, der bei Behandlung eines Themas
der allgemeinen Geschichte fast regelmäfsig lediglich auf die Akten
und die Bücher angewiesen ist; aber ebenso unleugbar hat die Sache
auch ihre bittere Kehrseite. Was bei dem Forscher, der sich mit
der allgemeinen Geschichte beschäftigt, die Regel ist, da(s er an einem
der Centren wissenschaftlichen Verkehrs arbeitet, wo ihm die Litterattur
wenigstens in der Hauptsache ohne weiteres zur Verfügung steht, das
ist bei seinem Kollegen von der Lokalhistorie die Ausnahme: dieser
— 165 —
arbeitet meistens an Orten, die von jenen wissenschaftlichen Knoten-
punkten mehr oder weniger weit abliegen; jedes Buch, das er nicht
selbst besitzt, mu(s er sich erst von auswärts schicken lassen, einerlei
ob er es ganz durchzusehen hat, oder nur eine kurze Notiz nach-
schlagen will, was an Ort und Stelle in vielleicht noch nicht einer
Viertelstunde bewerkstelligt wäre. Es liegt auf der Hand, dafs
dies für den betreffenden ebenso umständlich und zeitraubend wie
auch kostspielig ist. Aber damit ist noch ein weiterer Übelstand ver-
bunden: indem sich der Lokalforscher jedes Buch, das er braucht,
erst zusenden lassen mufs, ist er in weit höherem Mafse als jener, der
die Litteratur an Ort und Stelle nachsehen kann, auf das Wohlwollen
und die Liberalität der Bibliotheksverwaltungen angewiesen. Es ist
noch gar nicht so lange her, dafs bei diesen manchmal, wenn
auch nicht das Wohlwollen, so doch die Liberalität zu wünschen übrig
liefe : man konnte früher bei mehr als einer Bibliothek darüber klagen,
dafs sie der Versendung ihrer Schätze an auswärtige Benutzer keines-
wegs besondere Sympathien entgegenbrachte. Man würde Unrecht
thun, wenn man den Grund hierfür lediglich in Engherzigkeit und
Bureaukratismus der Verwaltungen suchen wollte; vielmehr war für
diese der Gesichtspunkt maßgebend, dafs ihre Bestände vor allem
stets an Ort und Stelle zur Benutzung zugänglich sein müfeten: nur
dafe dieses an sich gewifs vollberechtigte Moment auf Kosten anderer
nicht minder berechtigter allzu sehr in den Vordergrund gestellt
wurde. Man mufs indes konstatieren, dafs die Beschwerden, die in
dieser Beziehung die auswärtigen Benutzer früher mit mehr oder we-
niger Recht gegen die Leitungen unserer grofsen wissenschaftlichen
Büchersammlungen erheben konnten, gegenwärtig nicht mehr zutreffen :
in dem Mafse, wie die Verwaltung dieser Institute von Professoren,
die sie im Nebenamt ausübten und dann naturgemäfs die Bibliothek
lediglich als Hilfsmittel und Organ ihrer Universität betrachteten, in
die Hand von technisch ausgebildeten Fachmännern übergegangen ist,
die in ihrem Bibliothekaramte ihren Haupt- und Lebensberuf erblicken,
ist man zielbewufst bestrebt gewesen, die in den Bibliotheken auf-
gespeicherten Schätze nicht nur den stets ja das Hauptkontingent
stellenden am Ort wohnenden Benutzem, sondern dem gesamten Kreise
der wissenschaftlichen Interessenten möglichst bequem und mit mög-
lichst geringen Kosten zugänglich zu machen. Es dürfte heute in
Deutschland, soweit die grofsen staatlichen Bibliotheken in Betracht
kommen, keine Stelle geben, wo nicht auch der auswärtige Benutzer
sicher darauf rechnen dürfte, dafs seinen Wünschen volles Verständnis
— 166 —
entgegengebracht wird, und dafs sie, soweit es mit Rücksicht auf
anderweitige berechtigte Interessen irgend vereinbar ist, vollauf be-
friedigt werden. Aber die Verwaltungen haben sich nicht damit be-
gnügt, durch weitgehende Liberalität die eigenen Bestände einem
gröfseren Kreise als früher zugänglich zu machen, sondern smd auch
darauf bedacht gewesen, Fürsorge zu treffen, dafs da, wo diese eigenen
Bestände für das wissenschaftliche Bedürfnis nicht ausreichen, die
Schätze einer anderen besser dotierten Bibliothek ergänzend eintreten.
Es liefs sich dies nicht durch die Thätigkeit und die Mafsnahmen
einer einzelnen Bibliotheksverwaltung erreichen; es war dazu ein ziel-
bewulstes Vorgehen einer Mehrzahl von Bibliotheken erforderlich, und
um ein solches herbeizuführen, war wieder die Hilfe der Centralbehörden
unentbehrlich. Man mufs es diesen Centralbehörden, d. h. den
beteiligten Ministerialinstanzen nachrühmen, dafs die von den Biblio-
theksverwaltungen ausgehenden Impulse , Oi^anisationen zu schaffen
derart, dafs die einzelnen Bibliotheken sich mit ihren Schätzen gegen-
seitig systematisch aushelfen, stets bei jenen volles Verständnis ge-
funden haben : vor allem darf hier ein Name nicht ungenannt bleiben,
der des jetzigen Ministerialdirektors Dr. Althoff, der als langjähriger
Referent für Bibliothekssachen im preufsischen Kultusministerium nicht
nur allen derartigen aus den Fachkreisen an ihn herantretenden An-
regungen warmes Interesse und werkthätige Teilnahme entgegenbrachte,
sondern auch aus eigener Initiative stetig darauf bedacht war, die in
den Bibliotheken angesammelten Schätze besser zugänglich zu machen
und so nationalökonomisch nutzbringender zu verwerten. Es ist so
durch das Zusammenwirken der Staatsbehörden und der Bibliotheks-
verwaltungen eine Organisation geschaffen, die teils sich vorerst auf
Preufeen beschränkend, teils schon jetzt auf andere deutsche und auch
ausländische Bibliotheken sich erstreckend, die Benutzung gerade der
durch ihre sei es absolute, sei es relative Seltenheit wertvolleren Be-
stände nicht mehr auf den Ort, wo sie aufbewahrt werden, beschränkt,
sondern diese Benutzung in weitgehendem Mafee auch auswärtigen
Forschern ermöglicht.
Leider scheinen bisher die getroffenen Einrichtungen in den be-
teiligten Kreisen nicht in dem Grade bekannt geworden zu sein, wie
es im Interesse der Sache wünschenswert wäre, und es ist deshalb
vielleicht nicht überflüssig, wenn, einer Aufforderung des Herausgebers
dieser Zeitschrift entsprechend, im F*olgenden einmal in Kürze dar-
gelegt wird, in welcher Weise gegenwärtig an den preufeischen Biblio-
theken die auswärtige Benutzung von Büchern und Handschriften ge-
— 167 —
regelt und — so dürfen wir mit gutem Gewissen hinzufügen — gegen
früher erleichtert ist.
Um eine unnötige Inanspruchnahme der Bibliotheken zu vermeiden,
mehr aber noch, um zu verhüten, da(s ein Werk der Benutztmg an
Ort und Stelle länger und öfter entzogen wird, als es im Interesse der
wissenschaftlichen Forschung unbedingt nötig ist, gilt der Grundsatz,
da(s jemand, der ein Buch benötigt, sich zunächst an die Universitäts-
bibliothek seiner Provinz zu wenden hat. Ist das Werk dort vor-
handen, so wird es, so weit es nicht gerade anderweitig benutzt wird,
dem Ansuchenden auf bestimmte Frist — bei den meisten Bibliotheken
vier Wochen — zugesandt. Die Versendung erfolgt an Personen, die
durch Amt oder Stellung die nötige Gewähr bieten — also insbesondere
festangestellte Reichs-, Staats- und Kommunalbeamte — ohne weiteres;
andere haben eine Bürgschaftserklärung einer Person jener ersteren
Kategorie beizubringen. Von der Versendimg nach auswärts aus-
geschlossen sind nur wenige Klassen, bei denen sich eine Be-
schränkung aus der Natur der Sache ergiebt: so sehr seltene (In-
kunabeln und dergl.) oder besonders kostbare (Tafelwerke) Bücher,
die nur unter denselben Kautelen wie Handschriften verschickt werden
können, oder Nachschlagewerke (Lexika, Bibliographieen u. ä.), die,
weil, sei es für die Bibliotheksverwaltung, sei es für die Besucher des
Lesesaales unentbehrlich, überhaupt nicht oder nur ganz ausnahms-
weise auf kürzeste Frist nach auswärts versandt werden.
Erhält jemand von der Bibliothek seiner Provinz den Bescheid,
dafs das vom ihm gewünschte Werk dort nicht vorhanden ist, so wird
er sich unter Beziehung auf diese Thatsache an eine andere grö&ere
Bibliothek — in Preufeen wohl in den meisten Fällen nach Berlin
oder Göttingen — wenden, und empfangt dann, wenn vorhanden, von dort
unter denselben Bedingungen wie eben angegeben das verlangte Buch.
Dies Verfahren, jedesmal, wenn er ein Buch braucht, direkt mit
der betreffenden Bibliotheksverwaltung verkehren zu müssen, bringt
für den Benutzer, wenn ihm auch die beteiligte Verwaltung mit gröfet-
möglicher Liberalität entgegenkommt, doch einen unvermeidlichen
wesentlichen Nachteil mit sich : unverhältnismäfsig hohe Kosten — mufe
er doch in jedem Einzelfalle das Porto für Hin- und Rücksendung»
dazu noch die Kosten der Verpackung tragen. Es kommt dadurch
jedes einzelne Buch, das sich jemand senden läfst, ziemlich teuer zu
stehen, ein Umstand, der bei Arbeiten, wo es sich um Verwertung
einer ausgedehnten Litteratur handelt, eine keineswegs imwichtige Rolle
spielt. Um diesem unleugbaren Übelstande nach Möglichkeit ab-
— 168 —
zuhelfen — nebenbei auch um die bei einem direkten Verkehr des
Einzelnen mit der Bibliotheksverwaltung unvermeidlichen Formalitäten
thunlichst zu beschränken — wurde die Institution des Leihverkehrs ge-
schaffen. Durch Ministerialerlafe vom 27. Januar 1893 wurde ein regel-
mäfsiger Leihverkehr zwischen der Königlichen Bibliothek in Berlin
einerseits, den Universitätsbibliotheken andrerseits ins Leben gerufen *).
Damach hat sich, wer ein gewünschtes Buch in seiner Provinzial-
bibliothek nicht findet, um dieses Buch aus Berlin zu erhalten, nicht
mehr direkt an die dortige Königliche Bibliothek zu wenden, sondern
er thut dies durch Vermittelung seiner Provinzialbibliothek ; letztere
sammelt die dergestalt bei ihr eingehenden Bestellungen auf Berliner
Bücher an und sendet sie wöchentlich ein- bis zweimal (Dienstags, im
Bedarfsfalle auch Freitags) ab. In Berlm werden diese Bestellungen
spätestens am Tage nach dem Einlauf erledigt; die Werke werden,
soweit sie vorhanden und nicht verliehen sind, der Universitätsbibliothek
zugesandt, die sie dann ihrerseits den einzelnen Benutzem zugänglich
macht. Die Benutzungsfrist für solche im Leihverkehr bezogene Werke
beträgt 3 Wochen bei selbständigen Büchem, i Woche bei Zeit-
schriften ; an Unkosten sind für jeden erhaltenen Band 20 Pfennige zu
bezahlen. Die Vorzüge dieser Einrichtung für den Benutzer gegen-
über der direkten Zusendung aus Berlm liegen auf der Hand: er er-
hält das gewünschte Buch ohne lästige Formalien ganz ebenso wie
jedes Werk der Universitätsbibliothek, mit der er doch schon in Ver-
kehr steht; er hat unter Wegfall der Kosten für Hin- und Rücksendung
und für Verpackung lediglich eine Gebühr von 20 Pfennig pro Band
zu entrichten, gleichviel ob es auch ein dicker Foliant ist; er hat
nach stattgefundener Benutzung das Buch einfach bei der Universitäts-
bibliothek abzugeben, hat sich um die Rücksendung nach Berlin nicht
zu kümmern. Leider beschränkt sich einstweUen aus technischen Rück-
sichten diese bequeme Einrichtung des Leihverkehrs mit Berlin auf
die am Ort ansässigen Benutzer der Universitätsbibliotheken, während
die an anderen Orten der Provinz wohnenden Benutzer, um Bücher, die
in ihrer Provinzialbibliothek nicht vorhanden sind, aus Berlin zu er-
halten, sich nach wie vor selbst an die dortige Bibliothek wenden
müssen, nicht diese Bücher im Wege des Leihverkehrs durch Ver-
mittelung ihrer Universitätsbibliothek beziehen können.
Sehen sich derart, soweit es sich um den Bezug seltener, an der
i) Ein analoger, den gleichen Vorschriften unterliegender Leihverkehr besteht
«nfserdem noch zwischen Göttingen und Marburg sowie zwischen Bonn und Münster.
— 169 —
zunächst in Betracht kommenden Stelle nicht vorhandener Werke
handelt, die nicht am Ort einer Universitätsbibliothek ansässigen Forscher
von den Vorteilen des Leihverkehrs vorerst noch ausgeschlossen, so
ist durch eine ganz analoge Institution dem gröfsten Teil von ihnen
gerade hinsichtlich der von ihnen am meisten benötigten, d. h. der
in der Bibliothek ihrer Provinz vorhandenen Literatur eine ähnliche
Erleichterung gewährt. Es ist nämlich durch Ministerialerlafe vom
31. Oktober 1897 ein gleicher Leihverkehr, wie er zwischen den Uni-
versitätsbibliotheken und der Berliner Königlichen Bibliothek besteht,
auch zwischen der Universitätsbibliothek einerseits, den höheren
Lehranstalten ihrer Provinz andererseits geschaffen worden. Die Gym-
nasien — der Kürze wegen sei es erlaubt, von diesen zu sprechen und
dabei dann sämtliche andere höhere Lehranstalten stillschweigend mit
einzuschließen — sammeln die Bestellungen ihrer Angehörigen und
geben sie an einem bestimmten Tage an die Universitätsbibliothek
ihrer Provinz weiter ; diese läfet ihnen am Tage darauf die gewünschten
Sachen zugehen ; auch hier hat der Einzelbenutzer für jeden erhaltenen
Band 20 Pfennige zu entrichten. Die Mafsregel erstreckt sich zunächst
nur auf die staatlichen Lehranstalten, doch können auf ihren Wunsch
auch nichtstaatliche Lehranstalten sich an diesem Provinzialleihverkehr
beteiligen, sofern sie sich unter Genehmigung ihres Patrons bereit er-
klären, die aus der Institution ihnen erwachsenden Verpflichtungen
tmd Portokosten auf sich zu nehmen. Man wird nicht fehl gehen,
wenn man annimmt, dafs zu der Zahl der an mittleren und kleinen
Orten wissenschaftlich Thätigen die höheren Lehranstalten das weitaus
gröfete Kontingent stellen: allen Angehörigen dieser aber ist es auf
die geschilderte Weise ermöglicht, wenigstens jedes in der Bibliothek
ihrer Provinz vorhandene Buch auf bequeme Weise und für die billige
Gebühr von 20 Pfennigen zu erhalten.
Unleugbar stellt der Leihverkehr, wie er so in doppelter Art ge-
schaffen ist, einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der früheren um-
ständlicheren und teureren Praxis der Bücherversendungen an aus-
wärtige Benutzer dar ; ebenso unleugbar ist es freilich, dafs er in seiner
gegenwärtigen Gestalt noch keineswegs alle berechtigten Wünsche
befriedigt, noch keine ideale Lösung der Frage bedeutet, wie man am
besten die Schätze der Bibliotheken auch dem auswärtigen Interessenten
zugänglich macht. Man darf indes zu den beteiligten Verwaltungen
das Zutrauen haben, dafs sie die Einrichtung, die sie aus eigener Ini-
tiative ins Leben gerufen, auch zielbewufet weiter ausbauen werden,
bis sie in der That allen billigen Anforderungen genügt. In doppelter
/
Ä
— 170 —
Weise würde ein solcher weiterer Ausbau anzustreben sein. Einerseits
wäre zu wünschen, dafe es ermöglicht würde, die Vorteile des Leih-
verkehrs mit der grofsen Berliner Bibliothek, deren sich gegenwärtig
nur die am Ort einer Universitätsbibliothek Wohnenden erfreuen, auch
anderwo ansässigen Forschem zugute kommen zu lassen. Sodann wäre
darnach zu trachten, diesen gegenseitigen regelmäCsigen Leihverkehr, der
sich zur Zeit auf die preufsischen staatlichen Bibliotheken beschränkt,
auch auf die übrigen wissenschaftlichen Büchersammlungen Deutsch-
lands auszudehnen, wenn möglich mit der Zeit auch auf solche des
Auslandes — freilich darf man sich nicht verhehlen, dafe wenigstens
die Erfüllung des letztgenannten Postulates in der Praxis sehr grofeen
Schwierigkeiten begegnen wird, die aber doch, wie die gleich zu
besprechenden internationalen Vereinbarungen über Handschriften-
versendung zeigen, schliefslich nicht unüberwindlich sein dürften.
Das — freilich sehr schwer zu erreichende — Ideal wäre, wenn durch
konsequente weitere Ausgestaltung des Leihverkehrs es dahin käme,
dafs jeder Forscher, gleichviel wo er wohnt, ausschliefs-
lich mit der Bibliothek seiner Provinz verkehrt, von ihr
jedes Werk, das sie besitzt, und durch ihre Vermittlung
jedes ihr fehlende Werk von jeder beliebigen Biblio-
thek, wo es vorhanden ist, in bequemer Weise ohne
lästige Formalitäten und zu einer billig bemessenen nied-
rigen Einheitsgebühr pro Band ohne weitere Kosten für
Porto und Verpackung erhalten könnte. Es wird das Bemühen
der Bibliotheks Verwaltungen sein müssen, sich diesem idealen Postulat
in der Praxis wenigstens nach Möglichkeit anzimähem.
Hatte es früher für den einzelnen schon oft genug Schwierigkeiten,
sich ein Buch, das er brauchte, von auswärts zu beschaffen, so wuchsen
diese Schwierigkeiten ganz gewaltig, sobald es sich um handschrift-
liches Material handelte. Man kann es den Bibliotheksverwaltungen
nicht verargen, wenn sie, solange die Verkehrseinrichtungen noch weit
von ihrer jetzigen Vollkommenheit entfernt waren, Bedenken trugen,
die ihrer Obhut anvertrauten handschriftlichen Schätze aus dem Hause
zu geben und deshalb der Versendung von Handschriften mehr oder
weniger ablehnend gegenüberstanden. Gegenwärtig indes kann in den
Kulturländern bei der Versendung durch die Post — natürlich unter
angemessener Wertversicherung — das Risiko des Verlustes und auch
der Beschädigung so ziemlich als ausgeschlossen gelten; damit aber
ist der einzig durchschlagende Gnmd, der gegen die Versendung von
Handschriften sprach, fortgefallen. Es ist rühmend anzuerkennen, dals
— 171 —
die bcteilig'ten Verwaltungen von selbst die sich hieraus ergebende
Folgerung gezogen haben, indem sie allmählich in immer gröfeerer
Zahl auch ihre handschriftlichen Schätze der auswärtigen Benutzung
geöffnet haben ; es giebt gegenwärtig nur noch sehr wenige Bibliotheken,
die grundsätzlich keine Handschriften nach auswärts versenden; leidei:
gehört zu diesen Instituten, in denen noch der alte engherzige Geist
waltet, auch eine der gröfsten und reichsten Sammlungen der Welt,
das British Museum in London. Aber auch dort, wo man prinzipiell
zur Versendung von Handschriften bereit war, war es im Einzelfalle
keineswegs so leicht, eine gewünschte Handschrift zu bekommen; die
Bibliotheksverwaltungen sahen sich da, wo sie selbst gern liberal sein
wollten, noch durch Bestimmungen gebunden, die aus älterer Zeit
stammend und für jetzt nicht mehr zutreffende Verhältnisse bestimmt,
ihre eigene Initiative unnötig beschränkten: der Benutzer, der eine
Handschrift einer Bibliothek zugesandt haben wollte, mufste in der
Regel sich erst die Erlaubnis der dieser vorgesetzten Aufsichtsbehörde
verschaffen ; die Versendung erfolgte, sofern der Benutzer und die ge-
wünschte Handschrift verschiedenen Staaten angehörten, auf diplo-
matischem Wege durch Vermittelung der Gesandtschaften. Es ist das
Verdienst der preufeischen Regierung, die Initiative ergriffen zu haben,
um diesem schwerfälligen, wenig zeitgemäfsen Verfahren ein Ende zu
machen. Ein Ministerialerlafs vom 8. Januar 1890 ermächtigte die
preufsischen Bibliotheken, Handschriften direkt an jede staatliche oder
unter staatlicher Aufsicht stehende Bibliothek des In- und Auslandes
zu versenden, sofern sich die entleihende Bibliothek zur Gegenseitig-
keit bereit erklärte. Diese verlangte Gegenseitigkeit gestanden allmählich
immer mehr Bibliotheken zu, und es ist dadurch allmählich erreicht
worden, daüs jetzt weitaus die meisten europäischen Bibliotheken ihre
handschriftlichen Schätze ohne zeitraubende und lästige Zwischen-
instanzen auf Ansuchen direkt von Bibliothek zu Bibliothek verschicken.
Das Prinzip der direkten Versendung von Handschriften üben gegenwärtig
sämtliche staatliche Bibliotheken Deutschlands, Österreich-Ungarns,
Hollands, Belgiens, der Schweiz, Dänemarks, Schwedens, Norwegens,
außerdem noch einige englische Universitätsbibliotheken, sowie die
St. Petersburger Bibliothek. Dagegen haben sich diesem System der
direkten Versendung bisher noch nicht angeschlossen die Bibliotheken
Frankreichs, Italiens und Spaniens; um aus letzteren Handschriften zu
erhalten, ist deshalb nach wie vor diplomatische Vermittelung nötig.
Die gegenwärtige Praxis ist demnach die, dafe in den weitaus
meisten Fällen, wer eine Handschrift zu haben wünscht, sein dies-
— 172 —
bezügliches Gesuch — worin er, wenn irgend möglich, Katalognummer,
Titel, Inhalt und Sprache der Handschrift anzugeben hat — direkt an
die Bibliothek richtet, die die Handschrift besitzt; nur wenn es sich
um französische, spanische, italienische Handschriften handelt, wird er
mit seinem Gesuch sich an die Ministerialbehörde seines Heimatstaates
zu wenden haben, um diese zu bitten, ihm auf diplomatischem Wege
die Handschrift zu verschaffen. Eine Handschrift unterliegt natürlich,
weil in ihrer Art ein Unikum und als solches unersetzbar, in der Be-
handlung anderen Bestimmungen, als ein beliebiges gedrucktes Buch :
es ist wohl ausnahmslos verboten, sie dem Benutzer in das Haus und
die Wohnung mitzugeben oder hinzusenden, sie wird vielmehr diesem
nur in den Räumen eines öffentlichen Institutes zugänglich gemacht.
Es ist ratsam, das Gesuch um Benutzung einer Handschrift, ehe man
es absendet, vorher dem Vorstand des Instituts vorzulegen, in dem
die Handschrift benutzt werden soll, einerseits schon, weil es den Regeln
des Anstandes entspricht, diesen hiervon zu verständigen, anderer-
seits aber auch , damit er durch eine diesbezügliche Notiz auf dem
Gesuch gleich seinerseits gegenüber der um Versendung angegangenen
Bibliothek Garantie für sichere und ordnungsgemäfse Aufbewahrung
der Handschrift übernehmen kann. Der oben angezogene preufsische
Ministerialerlafs gestattet die Versendung von Handschriften nur an
staatliche oder unter staatlicher Aufsicht stehende Bibliotheken zur
Benutzung in deren Räumen; doch ist die Anwendung dieser Be-
stimmungen seitens der deutschen Bibliotheksverwaltungen — und
dasselbe gilt auch von den meisten Archivverwaltungen *) — eine
durchaus liberale: sofern sie nur Gewähr haben, dafs die von
ihnen versandten Handschriften lediglich in den feuersicheren Räumen
einer öffentlichen Behörde benutzt und aufbewahrt werden, werden
sie dem Forscher gegenüber, der an einem kleineren Orte wohnt,
an dem sich keine gröfsere Bibliothek befindet, sicher dem Begriff
,, staatliche oder unter staatlicher Aufsicht stehende Bibliothek" keine
allzu engherzige Begrenzung geben. Ob auch ausländische Biblio-
theken zu einer ähnlichen liberalen Praxis bereit sein werden, läfet
sich nicht im Voraus sagen, wird man vielmehr im Einzelfalle
erst erproben müssen; jedenfalls darf der Forscher nicht mit Sicher-
heit darauf rechnen, ausländische, zumal wertvolle Handschriften
anderswo benutzen zu können, als in den Räumen einer gröfseren
i) Vgl. den Anfsatz über Archivbenatziingsordnungen im I. Bande dieser Zeitschrift
S. 181 — 194.
— 173 —
staatlichen Bibliothek, d. h. also in den meisten Fällen in der
Universitätsbibliothek seiner Provinz. Als Benutzungsdauer für Hand-
schriften ist für Preufsen die Frist von drei Monaten bestimmt ; für die
meisten übrigen deutschen Bibliotheken gilt der gleiche Termin ; doch
wird der Forscher, wenn er um Verlängerung dieser Frist nachsucht,
vorausgesetzt, dals die Handschrift nicht anderweitig verlangt wird,
kaum jemals auf Schwierigkeiten stofsen. Doch sollte der Benutzer
von Handschriften sich stets gegenwärtig halten, dafe es immerhin
seitens der beteiligten Verwaltungen ein grofees Entgegenkommen
darstellt, ihm diese unersetzbaren Sachen zuzusenden, statt zu ver-
langen, dafs er zu ihnen kommt, und er sollte es deshalb als ein Gebot
des Anstandes und der Billigkeit ansehen, als Ausdruck seines Dankes
für dieses Entgegenkommen stets — auch da, wo dies nicht, wie das
mehrfach der Fall, durch die Bedingungen, unter denen die Versendung
erfolgt ist, ausdrücklich gefordert wird — ein Exemplar jener Publi-
kation, in der er die Handschrift verwertet, der Bibliothek, von wo er
jene Handschrift erhalten hat, zu überweisen.
In höherem Ma(se noch, als es bei Drucksachen einstweilen der
Fall, werden durch die geschilderte gegenwärtige Praxis der Biblio-
theken bezüglich der Handschriften alle berechtigten Ansprüche des
Forschers befriedigt. Es ist ihm möglich, von geringen Ausnahmen
(British Museum !) abgesehen, sich jede Handschrift des In- und Auslandes
zugänglich zu machen, soweit sie nicht, als ungewöhnlich kostbar, mit
Fug unds. Recht überhaupt von einer Versendung ausgeschlossen ist;
er braucht, um sie zugeschickt zu erhalten, in den weitaus meisten
Fällen nicht erst lästige und zeitraubende Formalitäten zu erfüllen ; oft
genug wird ihm die Handschrift zur Benutzung an seinem Wohnort
zugänglich gemacht werden, zum mindesten aber in der nächsten
gxöiseren Bibliothek, die aufzusuchen ihm immerhin ohne allzu er-
hebliche Opfer an Zeit und Geld möglich sein dürfte. Welch ein
Unterschied zwischen diesen Verhältnissen und jenen früheren, wo
jemand, der Handschriften benötigte, sich unabweislich gezwungen
sah, langdauemde Reisen von Ort zu Ort zu unternehmen. Die Biblio-
theksverwaltungen haben hier durch die That bewiesen, dafs sie
vom Geist des Fortschrittes und der Liberalität erfüllt sind, und der
Forscher darf daher zu ihnen das Zutrauen haben, da(s sie diesen
Geist auch ferner walten lassen und es verstehen werden, die Mängel,
die den gegenwärtigen Einrichtungen noch anhaften, durch zielbewußtes
Weiterbauen auf der glücklich geschaffenen Grundlage allmählich zu
beseitigen.
— 174 —
Anhang^sweise sei noch darauf hing^ewiesen , dafs ähnliche Ein-
richtung-en, wie sie in Preufeen durch den Leihverkehr geschaffen sind,
auch in Süddeutschland bestehen. Die Universitätsbibliotheken
Würzburg und Erlangen vermitteln für ihre Benutzer Bestellungen
auf ihnen selbst fehlende Bücher an die Hof- und Staatsbibliothek
München, und zwar Würzburg regelmäfsig an jedem Dienstag, Erlangen
je nach Bedarf; dem Vernehmen nach werden in Würzburg sämtliche
erwachsenden Kosten von der Bibliotheksverwaltung getragen. Doch
ist es den Interessenten in Würzburg und Erlangen auch unbenommen,
sich ohne die Vermittelung ihrer Universitätsbibliothek direkt an die
Münchener Bibliothek zu wenden. Ebenso entleihen bei einer grofeen
Anzahl der höheren Lehranstalten Bayerns deren Angehörige teils
direkt, teils von anstaltswegen aus der Hof- und Staatsbibliothek. —
In Württemberg besteht ein regelmäfsiger, gegenseitiger Leihverkehr
zwischen der Kgl. Bibliothek in Stuttgart und der Universitätsbibliothek
in Tübingen; einlaufende Bestellungen werden, ohne erst einen be-
stimmten Termin abzuwarten, sofort an die andere Bibliothek weiter
gegeben ; die Benutzer sind dadurch noch besser daran als in Preufeen,
dafe ihnen dabei irgendwelche Kosten, sei es für Porto, sei es für Ver-
packung, überhaupt nicht erwachsen. — In Österreich gut für die
K. K. Hofbibliothek in Wien die Vorschrift, dafs Bücher nach aus-
wärts nur auf ein durch eine öffentliche Bibliothek, eine höhere Lehr-
anstalt, eine öffentliche Behörde vermitteltes Ansuchen verliehen werden :
doch bedeutet dies etwas wesentlich anderes als der preufeische Leih-
verkehr, dürfte anstatt wie dieser eine Erleichterung, eher eine Er-
schwerung für den auswärtigen Benutzer darstellen.
Gesehiehtliehe Forschung
in Stadt und Bistum Worms im XV. und
XVL Jahrhundert
Von
W. Roth (Wiesbaden)
Im Gefolge innerer Parteikämpfe wegen der städtischen Verfassung
und der Rechte des Klerus in der Stadt, sowie dem daraus entstehen-
den Klassenhader war entsprechend dem Vorgang anderer Städte zu
— 175 —
Worms die eigentliche Blüte der Geschichtschreibung mit dem letzten
Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts im grofsen Ganzen vorüber.
Genau läfet sich das Verhältnis ja nicht ermessen, da die Wormser
Kloster- imd Stiftsbüchereien unwiederbringliche Verluste erlitten haben,
und manches auch dem Geschichtschreiber des Bistums, Schannat,
entgangen sein kann. Gerade der Parteihader erzeugte aber zu Worms
die historisch-juristische Geschichtschreibung, während die allgemeine
Darstellung der Ereignisse vollständig zurücktrat. In dem Worms
benachbarten Augustinerkloster Kirschgarten schrieb der ungenannte
Mönch seine kompilatorische Chronik *). Bescheidenheit hinderte den
Verfasser, offen aufzutreten und mehr als dürftige Angaben über
seine Persönlichkeit zu machen. Er war 1472 nach Worms ge-
kommen, ohne dafs seine Herkunft festzustellen wäre; jedenfalls war
er aber nicht aus Worms oder Umgegend. Eigentlich blieb er gegen
seinen Willen in der Bischofsstadt hängen. Vom Bischof Reinhard
empfing er die Weihen. Er mufe ein belesener Mann von ungewöhn-
lichem Wissen gewesen sein, da er aufeer seiner Geschichtskompilation
ein Buch über berühmte Männer des Augustinerordens sowie die
Gesta canonicorumregularium, beides verschollene Arbeiten *), schrieb.
Ob sie Wert besaisen und, durch des Trithemius gleichgeartete Ar-
beiten anger^t, diese überboten und ergänzten, steht dahin.
Rein lokales Interesse hat ein historisch anspielendes Gedicht des be-
kannten Theoderich Grefsmund des Jüngeren. Derselbe weilte öfter
zu Worms bei dem Domherrn Johannes Wacker oder Vigilius aus
Sinsheim '), dessen Haus sein Absteigequartier war. Grefsmund verfafste
über einen sonst nicht näher bekannten und jedenfalls auch nicht be-
deutenden Brand zu Worms 1495 ein lateinisches Gedicht: Theodorici
i) Der Kirschgartener Mönch benutzte die jüngere Wormser Bistumschronik, eine
handschrifüich vorhanden gewesene Sammlung von Notizen und Auszügen ans Trithemius,
Nauclems etc. Sie ist nur bruchstückweise auf uns gekommen und eine Arbeit des an»
hebenden XVI. Jahrhunderts, bis Bischof Reinhard von Worms reichend. B o o s , Quellen
Eor Gesch. d. Stadt Worms III, S. XXII und XXIV. Hegel, Mainzer Chroniken II,
S. 131 f. Westdeutsche Zeitschr. III, S. 46 f. Der Kirscfagartener Mönch hörte zwischen
150X und 1503 zu schreiben auf oder starb um diese Zeit Vgl. Boos III, S. XXIL
Über den Kirschgartener Mönch und dessen Chronik vgl. Forschungen z. d. Gesch. XIII,
S. 584. CorrespondenzbL d. Westd. Zeitschr. I, S. 72. Correspondenzblatt d. Gesamtver.
1874, S. 3. Lorenz, Gesch. -Q. III. Aufl. I, S. 133. Gedruckt ward die Arbeit in
Ladewig, reliquiae manuscript II, S. i — 175 und neuerdings in Boos, Quellen III,
s. 3-95.
2) Boos III, S. XX.
3) Ober Vigilius vgl. Morneweg, Johann von Dalberg. S. 156.
— 176 —
Gre/sviundi Carmen elegtacum super tncendio Vormaciensi IUI.
KaL Mali anno salutis M. cccc. XCV in concubta nocte etc. *), ein
humanistisches Produkt reicher an Worten als an historischen Angaben.
Sebastian Brant schrieb gelegentlich einer Mifsgeburt bei Worms
1495 eine lateinische, an den Kanzler Konrad Stürzel gerichtete Schrift:
De monstroso partu apud Wormattam 14p ^ *) und gab dieselbe
auch deutsch mit Widmung an Kaiser Max im gleichen Jahre heraus ').
Zu dieser Gelegenheitsschriftstellerei auch historischen Inhalts gehört
noch die Einreitung römisch königlicher Majestät in Worms 14g $ %
die wohl mit Recht einer Wormser Feder zuzuschreiben sein dürfte.
Den Zeitgenossen waren diese Schriften Befriedigung gelegentlicher
Wifsbegierde , uns dienen sie als sparsam fließende Geschichtsquellen
zweiten Ranges.
Beim Beginn des XVI. Jahrhunderts erfuhren zu Worms die Ver-
hältnisse einschneidende Veränderungen, denen sich auch die Art und
Weise der Geschichtschreibung anpaiste. Die Zeiten des Frühhuma-
nismus waren vorbei. Aus den stillen Räumen der Klöster und Stifte
hatte sich die Wissenschaft den bürgerlichen Kreisen mitgeteilt und dort
freudige Aufnahme gefunden, aber auch eine Anpassung an deren
Verhältnisse erfahren. Diese Kreise halsten den Klerus als Gegner
ihrer Rechte und griffen zur Feder, um dessen Ansprüche zu be-
kämpfen. Auch die Vorströmungen der Kirchenspaltung zogen stets
weitere Umkreise. So bildete sich die klerusfeindliche Publizistik
im historischen Gewände als Tochter der Geschichte auch zu Worms
heran. Es entstanden die Schriften über Franz von Sickingen gegen
Worms *). Worms ist zudem die berühmte Hegestätte der Sache
Luthers. Auch hieraus entstand seit dem Wormser Reichstag 1521
eine Art historischer Litteratur, darunter: Des heyligen römischen
i) Am Eode von Theoderichs Oratio ad sanetam synodum Moguntinam elegantissima,
O. O. u. J. (Speier, Hist, 1499). Quarto. Vgl. Roth, Speyerer Druckereien ü, S. 45.
Hain, rep. 8050, Centralbl. f. Bibl. IV, (1887), S. 403.
2) Quarto, 4 Blätter. Hain 3760. Diese Ausgabe befindet sich im Paulusmuseum
zu Worms. Zorn, Wormser Chronik S. 198 (zu 1491 angesetzt). Die Abbildung der
Kinder enthält cod. lat Monac. 24, 163. Über die Sache vgl. Boos, Quellen III,
S. 397. Chroniken d. d. Städte XIV, S. 892.
3) Hain 3759. Auf dem Titel dieser Ausgabe eine Ansicht der Stadt Worms und
der Milsgeburt.
4) O. O. u. J. u. F., Hain 6556. Erwähnt ist diese Schrift in NolUens Tagebuch,
vgL Boos, Quellen III, S. 395, 13—17.
5) Vgl. Boos, Franz von Sickingen und die Stadt Worms in Zeitschr. f. G. d.
Oberrh. N. F. ffl (1888), S. 385.
— 177 —
Reichs Stend, müsampt allen Churfürsten und Fürsten etc. so zu
Worms etc, versamlet und erschynen seyndt *) , ferner : Römischer
Kais, Majestät verhörung , rede und Widerrede Doctor Martini
Luthers^) sowie die: Ordenung^), alle dem Jahre 1521 angehörig-.
Diese Art Geschichtschreibung war wahre Volksgeschichte, aber auch
künftigen Geschlechtern Geschichtsquelle mitten aus der Bewegung
heraus.
Der aus Worms selbst stammende Johann Bockenrhod ver-
fafste eine Anzahl lateinischer Dichtungen, reich an Angaben historischer
Art über Wormser Verhältnisse *). Er war Anhänger der Katholiken
tmd stellt sich nebst Michael Gassen und dem Verfasser eines Volks-
liedes auf Franz von Sickmgen *) als Vertreter der bischöflichen Ge-
schichtschreibung zu Worms um diese Zeit dar. Über Michael Gassen
ist nichts bekannt und seine Arbeit ist bis auf wenige Reste verloren %
Wir sehen, dafe auch auf dem Gebiet der historischen 'Darstellung
<ier Wormser Klerus zurückging und gegen die bürgerlichen Kreise
zurückstand.
Das volkstümliche Element war zu Worms nicht allein sozial-
politisch, sondern auch religiös in der Übermacht. Aus diesen Kreisen
stammte das Volkslied auf Franz von Sickingen in protestantischem
Sinn ') , die Schrift gegen Franz von Sickingen : Der Statt IVormbs
x) Roth, Wormser Druckereien S. 28 n. i. Weller, rep. n. 1948. Lather-
'bibliothek zu Worms, S. 3 (aber mit der falschen Angabe: 4 Blätter statt 30).
2) Roth, a. a. O. S. 30 n. 3.
3) Ebenda S. 66 n. 4. Weller, rep. n. 1618. Soldan, der Reichstag zu Worms
1521 (Neaabdmck der Ordnung), S. 1x3.
4) Über Bockenrhod und dessen Schriften vgl. meinen Aufsatz in Koch, Zeitschr.
f. vcrgl. Lit.-G. N. F. (1895), S. 480. Falk, GeschichUblätter II (1885), S. 254.
5) Das Lied ist nach einer Wolfenbütteler Handschr. abgedruckt in Westd. Zeitschr.
XIV (1895), S. 293.
6) Gassen starb 1530. Schannat kannte dessen Arbeit noch. Stellen derselben
jn dessen hist. episc. Wormat. I, S. 415 (X445), 416, 418, 419 abgedruckt. Was
.Schannat verwendete, reichte von 1445 bis 1494 und ist inhaltlich unbedeutend. VgL
B o o s , Quellen III, S. XII. Gassen schrieb auch einen catalogus abbatum Laurishamen'-
stum, den Hei wich noch in seiner Arbeit über die Abtei Lorsch verwendete. Wenn
A. Köster, die Wormser Annalen, Leipzig (1887), S. 22 behauptet, Gassens Arbeit be-
weise grofse Ausführlichkeit der Angaben als Augenzeuge und Zeitgenosse, so läfst sich
dies aus den vorhandenen Resten nicht erweisen. Vgl. Boos III, S. XII.
7) Das Lied ist gedichtet im Juli 1515, abgedruckt in Liliencron, hist. Volkslieder III,
S. 153 (angeblich aus 15 13 und als Wormser Druck bezeichnet), sowie als schlechter
Text in Forschungen z. d. G. X, S. 656. Ein besserer Text in Boos, Quellen HI,
S. XVI — XVII. Der Verfasser war jedenfalls ein Wormser, der zur Ratspartei gehörte»
Über die Sache vgl. Boos in Zeitschr. f. G. d. Oberrh. N. F. III, S. 385 f.
13
— 178 —
Warhaffttg beruht etc. *), der aus Sickingens Kreisen die Gegen-
schrift : Warhafftiger Bericht Francisci von Sickingen vff das un-
gegrundt Ussschreiben deren von Worms wyder inen bescheen.
Anno MDXV*), folgte. Auch die bekannten Wormscr Chronisten
Reinhard Noltzius und Friedrich Zorn gehörten dieser Richtung
an. Beide setzten, gut städtisch gesinnt, dem Klerus mit ihren Arbeiten
zu. Noltz hatte zu Heidelberg den Studien obgelegen und war dort am
26. August 147 1 als Reinhardus Nolcz de Wormatia eingeschrieben
worden *). Als Magister ward er 1489 Sechzehner der Stadt Worms.
Er stand stets auf seiten des Stadtrats gegen den Klerus und zeigt
diesen Geist in seinem Extract chronici Wormatiensis sive diarii
Reinhard Noltzens Ratsverwandten der Stadt Wormbs, Die Arbeit
reicht von 1493 bis 1 509 *) und hatte vorzugsweise eine historisch-juris-
tische Tendenz, indem sie gegen die Übergriffe des Klerus die Verhand-
lungen über die Rechte der Stadt künftigen Geschlechtem in deduktions-
artiger Fassung überlieferte. So war die Schrift Abwehr und Bedürfnis
zugleich, und ihr Verfasser hat seine Aufgabe wahrhaft mustergültig
gelöst. Wenn dabei sein Parteistandpunkt da und dort die Verhältnisse
etwas gefärbt schildert, können wir ihm als Menschen das nicht zu
sehr verübeln. Während bei Noltz der gebildete Jurist aller Ecken
und Enden durchblickt, ist Friedrich Zorn, von Haus aus lateinischer
Schulmeister der Stadt, mehr Philolog und Geschichtsforscher. Auch
er Heferte in seiner Chronik von Worms eine vorzügliche Arbeit und
damit die erste Wormser Stadtgeschichte.
Eine andre Art der Geschichtsschreibung von Worms ist die kombi-
nierte: hier ist die Darstellung wieder Bischofsgeschichte und dem geist-
lichen Verhältnis entsprechend — Worms war Suffraganat von Mainz —
bildet sie einen Teil eines gröfseren Ganzen. Ihrer Stellung nach ist sie
nicht frei von Tendenz und Willkür, klerikal dem roten Faden nach geht
sie nicht oder doch kaum auf Einzelheiten lokaler Färbung ein. Sie
erscheint eher als ein Schritt rückwärts in den mittelalterlichen Chro-
nikenstil und ähnelt der früheren bischöflichen Annalistik, sie ist in jeder
Beziehung davon entfernt, eine brauchbare Geschichtsquelle zu sein.
Und trotzdem mufs man diese Art Litteratur gern gelesen haben, da sie
für Worms in dreierlei Fassung vorliegt und jede in mehreren Hand-
i) Rothy Wormser Druckereien S. 65, woselbst weitere Litteraturangaben.
2) Senckenberg, selecta juris, IV, S. 595. 15 15. Dorstags nechst nach dem
Sondag Exaudi.
3) Toepke, Heidelberger Matrikel I, S. 334.
4) Boos UI (Abdruck).
— 179 —
Schriften bekannt ist, wobei sich die Unabhängigkeit der Verfasser von
einander nachweisen läfet *). Wilhelm Werner, Graf von Zimmern,
Herr zu Möskirch, am 31. Oktober 1506 Rektor der Freiburger Hoch-
schule geworden*), trat am 21. Januar 1529 seine Assessorcnstelle
am Reichskammergericht zu Speier an, kommt als solcher 1534
zum zweiten Male vor und bekam 1548 eine Richterstelle an diesem
Gerichtshof. Dieser Mann beschäftigte sich mit Geschichte von Mainz
und der demselben imterstellten Bistümer. Seine Darstellung reicht
bis 1555, die Sprache ist deutsch'*). Die Originalhandschrift Werners
befindet sich zu Weimar, Abschriften des Ganzen oder einzelner Teile
zu Pommersfelden, Mainz (zwei), Wolfenbüttel, München *) und Giefeen *).
Ein stattliches Exemplar mit gemalten Wappen der Bischöfe, bewahrt
die Fürstenbergsche Bibliothek zu Donaueschingen ®). Auch in dem
Münchener Exemplar findet sich der Wormser Teil vor. Freilich eine
Geschichtsquelle dürfen wir in diesem Werke nicht suchen : das Ganze
bildet eine mehr oder weniger wertlose Kompilation, wobei schon die
Unmasse des zu bewältigenden Stoffes, dessen Zerstreutheit und Viel-
artigkeit eine Rolle spielen mufste. Abgesehen von manchen nicht
anderwärts vorkommenden Nachrichten, die der Lebenszeit Werners
näher liegen, ist die Arbeit bei allem littcrargeschichtlichen Interesse
ohne historische Bedeutung und als Geschichtsquelle entbehrlich. Aus
diesen Gründen blieb die Arbeit ungedruckt und selbst die handschrift-
liche Verbreitung ist nicht allzu bedeutend, die historische Ausbeutung
durch Zeitgenossen und Geschichtschreiber sehr gering.
Eine ähnliche Arbeit verfafete Lorenz Müller, der jedenfalls mit
dem am 20. Mai 1561 zu Heidelberg immatrikulierten Laurentius
Molitoris Heidelbergensis^ — am 28. Juni 1568 Baccalar. Art. ge-
worden ®) — identisch ist und demnach aus Heidelberg stammte. Er
i) Der Vortritt scheint Brasch 1551 zu gebühren, Zimmern erweiterte den
Plan des Themas 1555, und ihm folgte Müller.
2) (Riegger) amoenitates litterariae Fribargenses I, S. 6.
3) Über Werner vgl. Cr am er, Wetilarische Nebenstunden XI, S. 98. Brief-
wechsel des Beatus Rhenanas ed. Hartfelder, S. 546
4) Eine der beiden Hss. ans Bodmanns Besitz (Habeische Sammlung).
5) Centralbl. f. Bibl. V, S. 311. Kapp, Gesch. d. d. Buchhandels I, S. 812,
Anm. 32. Roth, Bachdrtickerfamilie Schoeffer S. 229, Anm. i. Nassauer Annalen XI,
S. 385. Über die Giefsener Hs. vgl. Zcitechr. f. G. d. Oberrh. N. F. XII, S. 245.
Adrian, catal. codic. mss. Giessensium S. 147 n. CDLXIX.
6) Folio. Ob die Hs. Selbstschrift Werners ist, kann ich mich nicht mehr erinnern.
7) Toepke, Heidelberger Matrikel II, S. 24.
8) Ebenda n, S. 24.
13*
— 180 —
lebte als Rechtsgelehrter und Notar zu Mainz und schrieb eine lateinische
Geschichte des Erzbistums Mainz und von dessen Suffragfanbistümem
in drei Foliobänden. Auch Worms ist behandelt. Dafe die Arbeit
selbständig" und von der Werners von Zimmern verschieden ist, lehrt
schon die lateinische Sprache. Sonst ist über die Natur der MüUerschen
Arbeit, da sie verschollen ist, jede Angabe unmöglich.
Das dritte Werk dieser Art schrieb Caspar Brusch unter dem
Titel Chronick oder kurtz Geschichtbuch aller Ertzbtschoven zu
Mayntz, Auch der zwölfften Bisthumben, welche dem Bisthumb
Maintz als Suffragamen zugethan vnd angehörig, Mit kurtzer
anzeygung der fürnembsten vnd namhafftigsten dinge, die sich zu
jedis Bischoffs zeitten verlatiffen haben. Auch was herkomens, vnd
geschlechts ein yeder Bischoff gewesen sei, Findstdu grundtlichen
Bericht. Item wie das Bisthumb Bamberg von allem Ertzbischo/-
lichem joch befreyet worden. Alles nützlich vnd lustig zu lesen.
Durch den fürtreßich gelerten Caspar Bruschen etc. Frankfurt a. M.
(Cyriacus Jacob zum Bart) 1551. Folio. Eigentümlicherweise fallt die
Entstehungszeit dieser drei Arbeiten in ein Jahrzehnt.
Mehr Materialiensammlung ohne ausgesprochenen Charakter ist
des Hanau-Lichtenbergischen Rats und Amtmanns zu Wörth Bernhard
Hertz og, bekannt als Verfasser der Elsasser Chronik \ Sammelband
über den Wasgau und Speiergau, die Wormser Bischöfe, die Grab-
inschriften der Wormser Kirchen, Stift Neuhausen, den Adel im Worms-
gau mit besonderer Beziehung auf die Dalberger. Das Ganze ist diu-ch
eine Menge Angaben aus verlorenen Quellen sehr schätzbar, aber,
ohne alle Kritik abgefafst, entbehrt es der ordnenden Hand. Die
Abfassungszeit ist 1596. Die Originalhandschrift des ungedruckt ge-
bliebenen Werkes gehörte dem Frankfurter Patrizier Maximilian zum
Jungen und kam mit dessen Bücherschätzen an den Frankfurter Rat
und in die Stadtbücherei zu Frankfurt a. M.
Eine noch ununtersuchte historische Quellenschrift über Wormser
Bischöfe bewahrt als Chronicus liber antistitum Wormatiensium, bis
1530 reichend, die Würzburger Universitätsbibliothek in der Handschrift
des Mainzer Stiftsherrn Hebelin von Heimbach*). Die Sprache ist
1) Ms. II, 10. Folio. Vgl. Der deutsche Herold, 1891, Nr. 7—8. Hahn in Viertel-
jahrscbr. f. Wappen-, Siegel- und Familienk. XXXIV. Bereits Bodmann, Rheingauer
Alterth. S. 3 kannte die Hs., hielt aber wenig von ihr.
2) Hs. 187, Folio. Die Arbeit beginnt: Inter varias diver sas chronicas hystorüas,
Ihre Stellung ist folgende : Auf des Hebelin Materialiensammlung über Mainz folgt diese
Wormser Chronik, dann eine Chronik der Bischöfe von Speier, Verschiedenes über
— 181 —
lateinisch, der Verfasser ist nicht mit Namen genannt. Er scheint
aber den Kirschgartener Mönch benutzt zu haben, und dann wäre seine
Arbeit ziemlich entbehrlich. Von dem Mainzer Domprediger Friedrich
Nausea besitzen wir Annales eptscoporum Wormattensium usque
ad a. IS09 in einer Münchener Handschrift als ungedruckt gebliebene
Arbeit *). Was dagegen Schannat als Flersheimer Chronik aus der
Feder des Berthold von Flersheim stammend kannte und benutzte,
ist eine Arbeit des Chronisten P^riedrich Zorn*).
Dem Kriegswesen widmete ein Ungenannter um 1500 eine historische
Schrift, das Memortale, Es ist von einem des Kriegswesens überhaupt
und des Wormser insbesondere sehr kundigen Nichtwormser verfafst,
der sich als dem Klerus abhold erweist und das Verteidigungswesen und
die Kriegszüge seiner Zeit besprechend auch das Historische streift ').
Johann von Stuttgart, Mönch zu Kirschgarten, schrieb eine latei-
nische Erzählung über die Beschlagnahme und Zerstörung des Klosters
Kirschgarten 1525 durch die Wormser, die sich als Teil eines histo-
rischen Sammelbandes über Worms oder Kloster Kirschgarten darstellt *),
während der Rest verloren sein dürfte.
Aus Stift Zell bei Worms besitzen wir: Decastichon tn peregri-
nattonem ad sanctum Phütppum Confessorem ecclesie collegiate Cellen-
sts patronum et plantatorem prtmogenttum, Oppenheim, 15 16. Quarto.
Das Büchlein hat auch Historisches. Ob es aber im XVI. Jahrh\mdert
entstanden ist oder etwa nur damals aus älteren Teilen zusammengesetzt
ward, läfst sich nicht nachweisen. Ein Exemplar der überaus seltenen
Schrift besitzt die Mainzer Stadtbücherei.
Diese Zusammenstellung der territorialen Geschichtslitteratur der
Stadt und des Bistums Worms wird sich im Laufe der Zeit durch neue
Funde ergänzen lassen, sie wird aber auch erweisen, dafs zu Worms,
welches als das ärmste rheinische Bistum galt, es weder an vielseitigem
noch erspriefelichem Bestreben, der Geschichte gerecht zu werden,
fehlte, dafe aber die von auswärts in die Stadt und das Bistum ge-
langten Kräfte die einheimische Produktion weitaus überwogen.
Spciercr Gottesdienst und Privilegien und dann Chroniken der Bischöfe von Wiri-
bnrg und Strafsburg. Vgl. Roth, Geschichtsquellen aus Nassau I, 2, S. XI. Anm. Ge-
schichtsblätter ed. Falk \\ (1885), S. 252 (eine Stelle von Blatt 39 lu 1521 und BlaU 46 zu
1522 aus der Wormser Chronik abgedruckt),
i) Cod. lat. Monac. 24, 162 Folio.
2) Boos, Quellen III, S. XIV, Becker, Beiträge S. 62—63.
3) Abdruck in Boos lU, S. 351 f., vgl. S. XXXIV— XXXV.
4) Geschichtsblätter f. d. miUelrh. Bistümer I (1884), S. 65.
— 182 —
HachvsTort
Von
Armin Tille (Leipzig)
Die Teilnahme, welche diese Ausführungen beanspruchen dürfen,
wird sich zunächst auf die Kreise beschränken, die sich mit ober-
rheinischer Geschichte befassen, aber darüber hinaus haben sie doch
eine allgemeine Bedeutung. Sie können als Probe dafür dienen,
wie neben dem Inhalt auch die litterarische Seite der Geschichtsquellen
berücksichtigt werden mufs. Für das frühe Mittelalter hat W. Watten-
bach ') die Ergebnisse der Forschung zusammengefafet, und an-
schliefsend an ihn hat O. Lorenz Deutschlands Geschichtsquellen
seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts (2 Bde., 3. Aufl.,
1886/87) bearbeitet, aber damit ist das wünschenswerte Ziel noch
längst nicht erreicht. Namentlich für das ausgehende Mittelalter und
das XVL Jahrhundert brauchen wir noch unendlich viel quellenkritische
Forschung, wenn wir in diesen Zeiten auch nur so genau sehen wollen
wie im frühen Mittelalter. Bei der Massenhaftigkeit der Chroniken und
ihren vielen Handschriften kann aber in der That nur ein engeres
Gebiet auf einmal übersehen und durchgearbeitet werden: hier mufe
also die L o k a 1 forschung einsetzen, um für ihr Gebiet eine Quellen-
übersicht zu ermöglichen und zugleich aus ihrer genaueren Kenntnis
der Verhältnisse heraus die inhaltlich und formell wichtigsten Schriften
als solche zu bezeichnen. Nur wenn Dutzende solcher Vorarbeiten
geschaffen sind, kann eine allgemeine Quellenkunde jener Zeit be-
arbeitet werden, und diese ist dringend notwendig. Aber über das
engere Gebiet der Nachrichtenüberlieferung hinaus hat die Erforschung
der Litteraturerzeugnisse des ausgehenden Mittelalters noch eine andere
Bedeutung, nämlich eine litterargeschichtliche. Das elendeste
schriftstellerische Machwerk wird als Kind seiner Zeit an sich zur
Geschichtsquelle, gerade so wie ein altes Bauwerk zu uns spricht.
Es ist deshalb nicht müfsige Arbeit, wenn auch bei solchen Schriften
der Inhalt, die Quellen, aus denen er entlehnt ist, und was etwa der
Verfasser hinzugethan hat, untersucht wird. Wenn die Geschichte des
Geisteslebens wirklich durch die Litteraturgeschichte aufgehellt werden
soll, dann darf sie sich nicht auf die dichterischen Werke und
womöglich auf die in deutscher Sprache beschränken, sondern mufs
i) Deutschlands GcschichisqiulUn im Mittelalter bis zur Mitte des dreitehnten
Jahrhunderts^ 2 Bde Berlin, 6. Aufl. 1893.
— 183 —
das litterarische Gesamtschaffen einschliefslich der Bibelkommentare,
Predigten, Arzneibücher und dgl. in Betracht ziehen, gleichgiltig , in
welcher Sprache sie geschrieben sind. Zahl und Alter der erhaltenen
Handschriften des betreffenden Werkes müssen, da sie ein Mafsstab der
für uns wichtigen Verbreitung sind, eingehend berücksichtigt werden;
denn nur so ist festzustellen, was für geistige Nahrung die grofse Masse
des lesenden Volkes wirklich gehabt hat. Für das frühste Mittel-
alter hat diese Art einer Litteraturgeschichte meisterlich A. Ebert in
seiner Allgemeinen Geschichte der Litteratur des Mittelalters int
Abendlande (3 Bde., 2. Aufl., 1889) versucht, aber leider reicht sein
Werk nur bis zum Beginn des XI. Jahrhunderts. Eine weitere För-
derung haben diese Forschungen durch die Einzelgeschichten der
verschiedenen Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Neuzeit er-
fahren, in denen grofse Stoffmengen aufgespeichert liegen, ohne
dafs sie bisher einer allgemeinen Geistesgeschichte des deutschen
Volkes dienstbar gemacht worden wären. Namentlich die Naturwissen-
schaften haben hier zum Teil ganz treffliches geleistet. Eine aus-
gezeichnete Bibliographie dieser Gruppe giebt J. Ferguson in seinen
Books 0/ Secrets and Inventions (9 Teile in den Transactions of
the Glasgow Archaeological Society 1885 — 1899) *). Auch die ge-
schichtliche Volkskunde hat einzelne Bausteine herzugetragen, während
die theologische Forschung immer noch an der Geschichte des Dogmas
klebt, wie sie durch die Beschlüsse von Kirchenversammlungen und
päpstliche Erlasse geschaffen wird, statt sich mit der Entwickelung der
Anschauungen der Massen zu beschäftigen. Hier ist die jüngste der
geschichtlichen Wissenschaften, die Weltanschauungsgcschichte,
in die Lücke eingetreten. In ^^n Jahresberichten fUr netiere deutsche
Literaturgeschichte (herausgeg. von Julius Elias, seit 1890 jährlich
ein Band. Der letzte erschienene Band ist zur Zeit 1897) erscheint
seit 1896 ein eigener Abschnitt Weltanschauungsgcschichte, bearbeitet
von Alexander Tille, der die wichtigsten Erscheinungen dieses Feldes
zusammenstellt und kritisch behandelt und namentlich für das spätere
Mittelalter ganz aufeerordentlich viel bietet.
Vom XI. Jahrhundert an steigt die Fülle der erhaltenen Schriften
immer stärker, um sich im XIV. in eine überschwellende Flut zu ver-
wandeln. Darunter sind Tausende von Handschriften, die die voll-
i) Auch die seit 1864 erscheinende Geschichte der Wissenschaften in Deutschland,
herausgegeben von der Historischen Kommission bei der K. Akademie der Wissenschaften
XU München, gehört hierher. Mit einer Geschichte der Physik wird diese Serie bald
abgeschlossen vorliegen, die allerdings die neuere Entwickelung vorzugsweise berücksichtigt.
— 184 —
ständige Herausgabe niemals lohnen würden. Aber gelesen und aus-
gezogen müssen sie werden, wenn sie nicht unbenutzt bleiben sollen»
Heute ist für einen einzelnen die Fortsetzung von Eberts Buch ein Ding
der Unmöglichkeit. Nur eine Teilarbeit, die allerdings von einer
Stelle, etwa einer Akademie, aus geleitet werden müfste, kann hier
helfend eingreifen. Sie ist aber heute leichter als vor einem Jahrzehnt,
da die Handschriftenkataloge unserer Bibliotheken sich immer mehr ver-
vollständigen und somit die Nachweisung einzelner Handschriften immer
leichter wird. Vorerst aber mufs sich jeder Forscher, der für irgend-
welche Arbeiten Gruppen von Handschriften imd Drucken verschiedensten
Inhalts durcharbeitet, dieses allgemeine Ziel vor Augen halten und
seine gelegentlichen Arbeitsergebnisse , die seinen Sonderabsichten
vielleicht fem liegen, trotzdem in geeigneter Weise der Öffentlichkeit
übergeben. Nur so wird es möglich werden, dafs einst eine Geschichte
der Litteratur (sei diese lateinisch oder sei sie deutsch) im mittelalter-
lichen Deutschland entsteht, die wirklich ein Spiegelbild der geistigen
Thätigkeit jener Zeit giebt.
Mitteilungen
ArchlTC. — Erfreulicherweise ist auch das Archiv der vormaligen
Reichsstadt Speier wie das so mancher anderen in neuerer Zeit imter fach-
männische Verwaltung gestellt worden. Der derzeitige Verwalter, der Kgl.
Bayer. Kreisarchivar Dr. Glasschröder, hat bereits 1893 in der Palatina
(Belletristisches Beiblatt der Pfälzer Zeitung) — Nr. 25 vom 28. Januar —
über den Bestand und die Geschicke des Archivs berichtet, imd wir ent-
nehmen seinen Ausführungen das Folgende: Angesichts der Verheerungen,
welche französischer Vandalismus am Ende des XVII. imd XVIII. Jahr-
hunderts über die sonnige rebenbekränzte Pfalz am Rhein gebracht hat, ist
es geradezu erstaunlich, welche Fülle schriftlicher Denkmäler ihrer an Ereig-
nissen so reichen Vergangenheit sich bis auf unsere Tage erhalten hat und
in den staatlichen Archiven zu Karlsruhe, München, Speier, Darmstadt und
Koblenz aufgespeichert ist. Diese örtliche Zersplitterung der pfalzischen Archi-
valien hat ihren Grund in der durch den Reichsdeputationshauptschlnfs von
1803 und den Wiener Kongrefs (18 15) vorgenommenen Verteilung der ehe-
maligen pfälzischen Territorien an die vier Staaten Baden, Bayern, Hessen und
Preufsen, welche die Zerreifsung der Archive der ehemaligen Tcrritorialherren
und ihre nach territorialem Prinzip bethätigte Zuweisung an die neuen Landes-
herren zur natürlichen Folge hatte. Während somit die erwähnten staatlichen
Archive leider lauter Bruchstücke enthalten, die zusammengefügt allerdings
— 186 —
ein beinahe lückenloses Ganzes ergeben, hat sich die alte Reichs- und jetzige
bayerische Kreishauptstadt Spei er trotz Verwüstung und Brand ihr Stadt-
archiv infolge eines glücklichen Zufalls *) in einer Vollständigkeit bewahrt,
wie sie nicht allzu viele Städte in deutschen Landen aufzuweisen vermögen.
Gerade ob seiner Vollständigkeit zählt das Speierer Stadtarchiv neben dem
ehrwürdigen Kaiserdome und dem ob seines hervorragenden Wertes eines
würdigen und feuersicheren Heims so bedürftigen pfälzischen Kreismuseum
zu den Sehenswürdigkeiten der alten Nemeterstadt. In den hier verwahrten
nach Tausenden zählenden Urkunden und Aktenfaszikeln erblicken wir wie in
einem Spiegel die äufsere imd innere Entwickelung , die Blütezeit und den
Verfall einer freien deutschen Reichsstadt, wie nicht minder die Gründe und
Ursachen, welche ihr Wachsen, Gedeihen und das schliefeliche Verwelken
herbeigeführt haben. Die Privilegien von Friedrich I. bis herab zu Rudolf II.
waren die Stütze der Speierer Bürgerschaft in ihrem langen Freiheitskampfe
gegen die landesherrliche Gewalt des Fürstbischofs. Die Kämpfe zwischen
Patriziat und Zünften um das Stadtregiment, zwischen Rat und Klerus über
die beiderseitigen Machtgrenzen sind gut durch urkundliche Zeugnisse illu-
striert — Beweis dafür ist die Schildenmg des Aufstandes von 15 12 bei
Kurt Käser, Politische und soziale Betvegungen im deutsclien Bürgertum
zu Beginn de^ XVL Jahrhunderts (Stut^art, Kohlhammer, 1899). ^^ bietet
sich wie in diese Dinge, so auch in alle Zweige der städtischen Verwaltung,
in das Justiz-, Kirchen- und Schulwesen, wie nicht minder in Handel und Wandel
der Bürgerschaft ein überraschender Emblick. Ebenso reich sind die Be-
stände des Archivs für die Geschichte der auswärtigen Beziehimgen, für die
Stellung der Stadt zum Reiche, zu den Nachbarterritorien und anderen Reichs-
städten, zur Reformation und zu den grofsen Kriegen des XVII. und XVIII.
Jahrhunderts. Für die Reichsgeschichte im besonderen hat sich in den
Akten über Landfriedenseinungen, oberrheinische Kreisangelegenheiten, Kriegs-
und Wehrsachen manches erhalten , wonach man in anderen deutschen Ar-
chiven vergeblich suchen würde.
Aufbewahrt wird das Archiv gegenwärtig im Erdgeschosse des Stadt-
hauses. Eine Benutzung ist nur an Ort und Stelle gestattet; Archivalien-
versendung ist grundsätzlich ausgeschlossen, die Benutzungsgesuche sind an
das Bürgermeisteramt der Kreishauptstadt Speier zu richten.
Zweck und Wesen der Mitteilungen der K. PreufsiscJien Archiwerwal-
tung wurde schon gelegentlich der Anzeige von Heft i und 2 *) erörtert.
Gegenwärtig liegen zwei neue Hefte (3 und 4) vor, die in demselben Sinne
die dankenswerte Veröffentlichung fortsetzen. Das dritte Heft: Max Bär,
Übersicfit über die Bestände des Königlichen Staatsarchivs Xu Hannover
(Leipzig, S. Hirzel, 1900. 129 S. 8^'. Ji 3), schliefst unmittelbar an die
im zweiten Hefte enthaltene Geschichte des Staatsarchivs zu Hannover an.
Der Verfasser charakterisiert kurz die Landesteile, welche zum derzeitigen
i) Da» Stadtarchiv war am 14. Märe 1689, also gut zwei Monate vor dem grofsen
Stadtbrandc (31 Mai 1689) auf Befehl Ludwigs XIV. über Landau nach Slrafsburg ge-
bracht worden. Vgl „Feierstunde" (Unterhaltungsblait zur „Pfälzischen Presse") 1893,
Nr. 70.
2) Vgl. l. Band, S. 171— 172.
— 186 —
hannoverischen Archivsprengel gehören, und die Behörden des vormaligen
Kurfürstentums und Königreichs Hannover, aus deren Organisation sich allein
die Anordnung der Archivalien verstehen läfst, denn, wie Generaldirektor
R. Koser in seinem Vorwort überzeugend ausfuhrt, kann heute allein das
Provenienzprinzip für die Aufstellung eines Archivs geeignet erscheinen.
Eine nähere Verzeichnung dessen, was in den vier Abteilungen des Urkunden-
archivs (Calenberg, Celle, Bremen - Verden , Hildesheim) und den drei des
Akten archivs (Calenberg, Celle, Hannover) enthalten ist, würde geradezu
ein Abdruck des gesamten Textes werden und mufs deshalb unterbleiben.
Die sorgfaltige Durchsicht dieser Archivübersicht — sie entspricht durchaus
dem, was oben (Bd. I, S. 295) als für jedes Archiv wünschenswert be-
zeichnet würde — kann nicht eindringlich genug empfohlen werden, auch
denen, die nicht irgend etwas Bestimmtes suchen. Wer die Ordnung eines
auch nur bescheidenen Archivs zu besorgen hat, wird hier sehen, wie sich
der Ordner dem Stoffe anzupassen vermag, ohne auch nur einem Akten-
stücke Gewalt anzuthun; wer für die Geschichte eines Ortes oder einer Land-
schaft Interesse hat, die im Archivsprengel liegt, wird erstaunt sein, in wel-
cher Menge und in welcher ungeahnten Verbindung er einschlägige Archi-
valien findet, und schliefslich auch der aufserhalb Stehende wird staunen, in
welcher Fülle auswärtige Beziehungen (z. B. unter Reichs- und Kreissachen,
S. 34. 36. 39 u. s. w.) behandelt sind, die natürlich fiir die betreffenden
Länder und Städte das höchste Interesse bieten. Formell und materiell
sind jedenfalls diese Übersichtsinventare der preufsischen
Archive so wichtig, dafs es innerhalb wie aufserhalb Preufsens
keine irgendwie nennenswerte Archivverwaltung geben sollte,
welche sie in ihrer Handbibliothek entbehren mufs.
Im vierten Hefte (53 S. 8®. Ji 1.40) veröffentlicht Georg Hille die
Übersicht über die Bestände des Königliehen Staatsar chit^s xu Sclües^mg. Da
das Schleswiger Archiv erst eine Gründung des Jahres 1869 ist, konnte von
einer Geschichte wie bei dem Hannoverschen nicht die Rede sein, es wer-
den deshalb nur die bei der Einrichtung befolgten Grundsätze geschildert
und dann bei jeder Unterabteilung die geschichtlich wissenswerten Notizen,
namentlich über das Alter und die Aufgaben der Behörden, denen die Archi-
valien entstammen, mitgeteilt. Die Beziehungen nach auswärts sind hier we-
niger zahlreich, aber dafür bietet in Schleswig-Holstein die Archivgeschichte
zugleich die wichtigsten Beiträge zur politischen: es sei hier nur an die
Akten der Königlichen Statthalterschaft (S. 13) oder die der Königlichen
Deutschen Kanzlei zu Kopenhagen (S. 23) erinnert. Das allgemeine Urteil
ist durchaus dasselbe wie bei dem Hannoverschen Inventar, aber vom archiv-
technischen Standpunkte aus hat das Schleswiger noch besonderes In^^eresse.
Sein Verfasser entwickelte auf dem Dresdener Archivtage (vgl. oben S. 60 — 61)
seine Ansichten über Aktenkassation, die eben aus der Praxis seines Archivs
gewonnen waren: hier ist nun für den aufmerksamen Leser erkennbar, wie
in der Praxis die Aktenvernichtung gehandhabt worden ist, z. B. S. 13
unten, S. 23 oben.
Museen. — Der seit 1827 bestehende Historische Verein der
Pfalz zu Speier besitzt eine grofse Sammlung geschichtlicher Gegenstände
— 187 —
(aamcntlich vor- und frlihgeschichtliche Fuadstücke und viel Frankenthaler
Porzellan), die unter dem Namen „Historisches Museum der Pfalz"
im Realschulgebäude zu Spei er ein Obdach gefunden hat und daselbst
zwanzig Säle fUllt. Diese Räume hat die Stadt Speier zur VerTügUDg gestellt
und daneben den Verein noch mit namhaften Summen zur Erwerbung kost-
barer Sammlungsstücke unterstützt, aber der Raum genügt scfaon längst nicht
mehr, so dafs neu Hinzukommendes nur mit Schwierigkeiten untei^ebracht
werden kann, auch die Sicherung gegen Feuersgefahr genügt längst nicht.
Deshalb ist der Entschlufs gefaist wotdea, diese Sammlung in einem ihrem
inneren Werte entsprechenden Monumentalbau unterzubringen, au dessen
Zustandekommen die ganze Pfalz — denn das Museum betrachtet man
dort als ein allen Pfälzern gemeinsames Gut — mitarbeitet, wie schon bisher
die Kreishauptstadt, der Historische Verein und der Landrat der Pfalz fUr das
Museum sorgten. Um diesen Gedanken seiner Verwirklichung näher zu bringen,
wurde zu Anfang des Jahres 1899 ein Verein ins Leben gerufen, dessen aus-
schliefshcher Zweck es ist, für die Erbauung eines Pfälzischen Museums in Speier
zu sorgen: Der kgl. Regierungspräsident, Freiherr von Weiser, ist der
Vorsitzende. Der Verein ist nunmehr schon erfolgreich thätig gewesen; es sind
ihm namhafte Beträge zugeflossen, so dafs einschhefslich von looooo Mark, die
der Landtag des Königreichs bewilligt hat, rSooco Mark und ein geeigneter
Bauplatz zur Verfügung stehen. Aber an die Ausführung des Baues wird
noch nicht gedacht, es werden noch Jahre vergehen, ehe an die Ausarbeitung
bestimmter Pläne gedacht werden kann, denn nur die Schaffung eines wirk-
lich monumentalen mit allen Vervollkommnungen der Neuzeit ausgestatteten
und auch für die weiteste Zukunft berechneten Baues ist beabsichtigt. —
Die Umsicht und Thatkraft, mit der hier ans Werk gegangen wird, verdient
die vollste Aulmerksamkeit der weitesten geschichtlich interessierten Kreise,
denn ein solches Vorgehen ist geeignet, auf manche Provinzen und Staaten
sowie auf manche Grofsstadt {z. B. Leipzig, vgl. L Band, S, 218— zzit)
vorbildlich zu wirken.
In Böhmisch Leipa hat der Nordböhmische Exkursionsklub
ein Leipaer Museum ins I-eben genifen , welches Dauk der Opfer Willigkeit
der Stad^emeinde im zweiten Stocke des Rathauses untergebracht ist Durch
Gegenstände, die Eigentum der Stadt sind, sowie durch Zunftldeinode wird
sich die Sammlung alsbald vergröfsem. Um aber eine Grundlage (Ür dauern-
des Gedeihen des Museums zu haben und ».ugleich den Nord böhmischen
ExkursioDsklub, dessen Aufgaben recht vielseitig sind, zu entlasten, ist
die Gründung eines Leipaer Museumsvereins in
worden: er soll die Ausgestaltung des Museums für dii
stellen. Die Mitglieder zahlen einen Jahresbeitrag von 1:
Stifter einmal 50 Kronen, Förderer einmal ao Krone:
zwei Kronen; alle Beitragleistenden haben freien Eintritt in
Die Gründung des besonderen Vereins vermehrt hier ofl
bedeutend, denn viele Personen werden jetzt dem Exkursio
Museumsverein ange- hören, und der ausgesprochene Zwi
wird ihm auch erhebliche Unterstützung von Korporatione
sichern.
— 188 —
Zeitschriften« — *) Der seit 1859 bestehende MannheimerAlter-
tumsverein (vgl. I. Band, S. 135) hat den ersten Jahrgang seiner monatlich
erscheinenden Mannheimer Oeschichtsblätter j Monatschrift für die Ge-
schichte, Altertums- und Volkskunde Mannheims und der Pfal^
(Mannheim, Verlag des Mannheimer Altertumsvereins 1 900. 272 Spalten 4^)
zu Ende geführt. Es geben ja andere Vereine — z. B. die Gesellschaft für
die Provinz Posen die Historischen Monatsblätter für die Provinz Posen
seit 1894 — auch monatliche Veröflfentltchungen heraus, die sich trefflich
dazu eignen, das Interesse der Vereinsmitglieder dauernd wach zu halten,
aber in dem UmfiEmge, wie es bei der vorliegenden Zeitschrift der Fall ist,,
hat unseres Wissens bisher kein Verein monatliche Veröffentlichungen gewagt
Die Früchte sind nicht ausgeblieben, denn fast in jeder Nummer konnten
zahlreiche neu aufgenommene Vereinsmitglieder namhaft gemacht werden:
zusammen 136, denen gegenüber der Abgang durch Austritt und Tod kaum
zu erwähnen ist, so dafs der Verein etwa 660 Mitglieder zählt Der Abonnements-
preis der Zeitschrift ist naturgemäfs gleich dem Vereinsbeitrag 3 Mark. Der
Inhalt erstreckt sich auf geschäftliche Mitteüungen, die für den Vorstand
jedes Vereins wertvoll sind und an manchem Orte zur Nacheiferung Ver-
anlassung geben können, gröfsere Aufsätze, Miscellanea, Zeitschriften- und
Bücherschau; auch ein Briefkasten und einige Abbildungen werden geboten.
Der Redaktionsausschufs, bestehend aus Prof. Claasen, Geh. Hofrat Hang
und Friedrich Walter (vgl. oben S. 90), hat mit entschiedener Umsicht
seines Amtes gewaltet und es verstanden, nicht weniger als 27 verschiedene
Mitarbeiter heranzuziehen ; was das heifsen will, werden am besten die übrigen
Herausgeber landes- und gar ortsgeschichtlicher Zeitschriften zu beurteilen
wissen. Die geschichtlichen Mitteilungen sind aufserordentlich mannigfacher
Art und natürlich in erster Linie dazu bestinmit, das Interesse weiterer Kreise
an der heimischen Geschichte zu erhöhen, aber es finden sich z. B. auch
recht allgemein beachtenswerte Nachrichten, so über das Frankenthaler Por-
zellan (Sp. 194, 266), und Aufsätze über den Kurfürsten Karl Theodor (t 1799)
von Hauck (Sp. 3, 27) sowie über W. H. v. Dalberg von F. Walter
(Sp. 53, 112), die wegen ihres Lokalkolorits für jeden Forscher, welcher
sich mit diesen Personen beschäftigen mufs, von Wert sind. Als allgemeine
Warnung für diejenigen, welche gern alte Handschriften kaufen, ist es nützlich,
sich über die moderne Fälschung des angeblichen Heidelberger Turnier-
buches von i486 (Sp. 184) zu unterrichten. Von hohem Interesse für den
Erforscher der Stadtgeschichte überhaupt sind N ü f s 1 e s Bilder aus dem alten
Mannheim auf Gnmd der Ratsprotokolle von 1652 — 1689, eine Zeit, die
bei einer so jungen Stadt, wie es Mannheim ist, ganz anders beurteilt sein will,
ab in einer Stadt, die damals bereits auf eine Geschichte von Jahrhunderten
zurückzublicken vermochte.
Der Historische Verein der Mediomatriker für die West-
pfalz in Zweibrücken, welcher seit vier Jahren bereits Wcstpfähische Oe-
Schichtsblätter zugleich als Beilage zur „Zweibrücker Zeitung** monatlich heraus-
giebt, ist nunmehr auch dazu übergegangen, Mitteilungen des Historischen
1) Vgl. eben S. 117 und 140.
— 189 —
Vereins der Mediomatriker für die Wesipfalx m Zweibrücken erscheinen zu
lassen. Das erste Heft (Zweibrücken, August Kranzbühler, 1900. 96 S. 8<>)
liegt gegenwärtig vor und enthält wichtige QuellenveröfFentlichungen , die
Rudolf Buttmann besorgt hat, nämlich eine genaue Landesbeschreibung
des Herzogtums Zweibrücken von 1677 nebst zwei Ergänzungen von 1693
und 1704. Auf die Ausgabe und den Inhalt dieser wichtigen Stücke wird
näher einzugehen sein, wenn in diesen Blättern einmal die Landes- und Amts-
beschreibungen des XVIL und XVIII. Jahrhunderts zur Behandlung kommen.
Der erste Jahrgang der bereits früher *) erwähnten Blätter für lippische
Heimatkunde (Monatliche Beilage der Lippischen LandesZeitung. Detmold,
Verlag der Meyerschen Hof buchdruckerei, 96 S. Lexikonoktav, auf besserem
Papier Ji 2.40 jährUch) liegt gegenwärtig abgeschlossen vor und zeigt,
wie auch ohne besonderen Aufwand ein Organ zur Erweckung und Er-
haltung geschichtlichen Sinnes für die weitesten Kreise der Bevölkerung
geschafifen werden kann. Ein wenn auch in bescheidenem Umfange monat-
lich erscheinendes Blatt wird inamer viel nachhaltiger wirken als der statt-
lichste Band, der nur einmal im Jahre erscheint, und deshalb mufs dieses
neue Organ allerwärts zum wenigsten als Probe dankbar begrüfst werden.
Recht verständigerweise ist das Wort „Heimatkunde" in seinem weitesten
Sinne genonmien worden, so dafs auch die beschreibenden Naturwissen-
schaften einbezogen worden sind, wenn auch das Geschichtliche an Umfang
bei weitem überwiegt. Über die Zusammensetzung des Fürstentums Lippe
unterrichten zwei Beiträge von Prof. Weerth (Detmold), die zeigen wie die
Grafschaften Stemberg und Schwalenberg an Lippe kamen und eine Probe
davon geben, wie die kleinen Territorien Deutschlands entstanden sind. Eine
für die Geschichte des Dreifsigjährigen Krieges zum wenigsten beachtenswerte
Quelle wird in der Relatio historica (162 1 — 1627) des Johann Pidcrit
erschlossen, die ein Bild der Kriegsereignisse im Lippischen giebt. Von
Nr. 2 an ist in jedem Monatsheft ein Stück derselben buchstabengetreu ab-
gedruckt und zwar bis November 1623; der zweite Jahrgang wird diese zeit-
genössische Chronik hoffentlich zu Ende führen. Der Ratsapotheke zu Lemgo,
dem Lippischen Schützenwesen, dem Namen Lippe, dem Lippischen Kon-
tingent (15 16 — 1867) werden Aufsätze gewidmet, so dafs jeder Zweig der
Geschichtsforschung daraus Nutzen zu ziehen vermag. Kleinere Nachrichten,
auch Auszüge aus gröfseren Arbeiten, dialektisch-belletristische Beiträge run-
den das Ganze ab. In die neuere Zeit führt eine Beschreibung des optischen
Telegraphen zwischen Berlin und Koblenz (1834 — 1848), die zwar nichts
Neues bietet, aber dennoch gern gesehen wird, da sie von der Befriedigimg
des Verkehrsbedürfnisses vor dem elektrischen Telegraphen erzählt Inter-
essant ist ein Bericht Bismarcks von 1858 über das Lippische Bundes-
kontingent, für die Geschichte der Auswandertmg nach Nordamerika ent-
schieden von hoher Bedeutung ist ein Brief eines David Topp aus Lemgo
vom 5. Januar 17 11 (jetzt im Staatsarchiv zu Virginia) an einen Unbekannten,
in welchem der Schreiber über die Herabdrückung der Freiheit im Lande
klagt und sich im Interesse der Auswanderungslustigen nach den Verhält-
I) VgL L Band, S. 176.
— 190 —
nissen in Nordamerika erkundigt. Die Vielseitigkeit des Inhalts in einer
gefälligen populären Form wird sicher diesem neuen heimatkundlichen Organ
viele Freunde erwerben, aber auch aufserhalb der engeren Heimat sollte es
nicht vergessen werden, denn es bietet manches allgemein Interessante.
Kommissionen. — Die Württembergische Kommission für
Landesgeschichte hielt am 17. Mai 1900 ihre neunte Sitzung zu Stutt-
gart ab, in welcher über die Thätigkeit im Jahre 1899 berichtet wurde.
Vom Wirtemhergisdien Urkundenbuch *) ist der siebente Band ausgegeben
worden, vom achten sind auch bereits mehrere Bogen gedruckt, das Manu-
skript ist im ganzen bis 1282 druckfertig. Dieses Werk, von dem von 1849
bis 1889 fünf Bände erschienen sind, wird von der Kgl. Archivdirektion
herausgegeben *), aber die Kommission stellt dafür einen Mitarbeiter, um den
Fortgang der Arbeit zu beschleunigen. — Von der Korrespondenz des Her-
xogs Christoph (1550 — 1568) hat Privatdozent Ernst den zweiten Band
fertig gestellt, dessen Dnicklegung im Gange ist. Der erste Band, die Jahre
1550 — 1552 umfassend, erschien 1899. — ^^ UrkujuienbucJi der Stadt
Heilbronn, zu dessen Bearbeitung cand. phil. Knüpf er berufen worden ist,
hat so weit gefördert werden können, dafs mit dem Drucke des ersten
Bandes begonnen wurde. Für einen zweiten Band steht die Unterstützung
des Historischen Vereins zu Heilbronn in Aussicht Prof. St ei ff hat eine
zweite Lieferung der Geschichllidien Lieder und SprücJie Württembergs druck-
fertig gestellt. — Die Bearbeitung der Akten und Urkunden des Schwübisctien
Bundes wird Privatdozent Kurt Käser auch nach seiner Übersiedelimg
nach Wien weiter fördern, während Archivassessor Wintterlin dauernd Ma-
terial für eine Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg sam-
melt. — Für die Ordnung und Registrierung der kleineren Archive des
Landes ^), die sich im Besitze von Gemeinden und Korporationen befinden,
sind Pfleger gewonnen worden, die sich unter der Leitung von fünf fach-
männischen Kreispflegern je für ihren Bezirk den entsprechenden Arbeiten
widmen. Auch diese Inventarisierung schreitet rüstig fort; vollständig sind
die Bezirke Mergentheim, Brackenheim, Göppingen, Ehingen, Laupheim, Leut-
kirch, Ravensburg, Riedlingen, Waldsee und Wangen erledigt
Zum aufserordentlichen Mitgliede der Kommission wurde Privatdozent Ernst
(Tübingen) gewählt; die Einnahmen und Ausgaben balancieren mit 12496 Mark.
Die Historische Kommission bei der kgl. bayerischen
Akademie der Wissenschaften^) konnte in ihrer 41. Plenarversamm-
lung (Juni 1900) über folgende Fortschritte ihrer Arbeiten berichten. Ab-
geschlossen wurde mit dem 45. Bande die Allgemeine deutsche Biographie,
die seit ihrer Inangriflhahme 1868 von v. Liliencron geleitet worden ist
Nunmehr werden sofort Nachträge in Angriff genommen, und nach einer
Pause, die zunächst eintreten mufs, sollen dann wieder jährlich zwei Bände
erscheinen. — Von den Reichstagsakten älterer Serie ist die erste
1) Vgl. I. Band, S. 49-
2) Vgl. oben S. 31.
3) VgL oben S. 32 sowie L Band, S. 26.
4) Über die 40. Plenarversammluog vgL I. Band, S. 104 — 105.
— 191 —
Abteilung des zehnten Bandes, bearbeitet von H e r r e , erschienen : bis Herbst
1432 liegen die Akten damit vor. Der Druck des zwölften Bandes (1435
bis 1437), den G. Beckmann bearbeitet, hat begonnen. Der elfte Band
war schon 1899 ausgegeben worden, und die zweite Abteilung des zehnten
(1432 — 1433) wird bald folgen. Die Reichstagsakten aus der Zeit Kaiser
Sigmunds sind also damit im wesentlichen abgeschlossen; Beckmann
wird die Regierung Albrechts II. (1438 — 1439) bearbeiten und Herre die
Anfange Friedrichs III., zunächst 1440 bis zum Frankfurter Reichstage 1442.
Für die Regierungszeiten König Wenzels, Ruprechts und Sigmunds macht
sich ein Nachtragsband notwendig, den L. Quid de übernimmt — Von
der jüngeren Serie der Reichstagsakten ist der dritte Band (Febr. 1522
bis Mai 1523) im Drucke vollenJet und seitdem (1901) ausgegeben worden;
als neuer Hilfsarbeiter ftir diese Arbeit wurde E. Fueter aus Basel ge-
wonnen. — Die C/troniken der deutsciien Städte haben durch den zweiten
Band Lübeck, herausgegeben von Koppmann 1899 (den 2 6. Band der
ganzen Reihe) und den zweiten Band Magdeburg, herausgegeben von
Hertel 1899 (den 27. Band) einen neuen Zuwachs erfahren: Magdeburg
ist damit abgeschlossen, ftir Lübeck soll noch ein dritter Band folgen. —
Die IVittelsbacher Korrespondenz älterer und jüngerer Serie ist wesentlich ge-
fördert worden, so dafs der Druck des siebenten Bandes bald beginnen kann,
dem der achte und neunte bald folgen werden. Betreffs der Fortsetzimg der
Ausgabe über 1630 hinaus legt Prof. Ritter (Bonn) eine Denkschrift vor,
aber die Beschlufsfassung darüber wird bis zur nächsten Sitzung verschoben. —
Die Bearbeitung der süddeutschen Humanistenbriefe hat überraschende Fort-
schritte gemacht: den Kreis um Konrad Celtis bearbeitet Prof. G. Bauch
(Breslau), den um Pirkheimer Emil Reicke (Nürnberg) und den um
Peutinger, der bisher am wenigsten Aussichten hat, E. Tölpe. Die Heraus-
gabe eines vierten Bandes, der Jakob Wimpfeling und sebem Kreise ge-
widmet sein soll, wurde beschlossen. — In den Quellen und ErMerungen
zur bayerischen und deutschen GeschiciUe^ die seit 1863 nicht mehr erschienen
sind, deren Fortsetzung aber 1899 beschlossen wurde, sollen in der ersten
Abteilung (Urkunden) zimächst die Freisinger Traditionsbücher *) (Bearbeiter
Th. Bitterauf) veröffentlicht werden, für die zweite Abteilung ((Chroniken)
werden ztmächst die Schriftendes Andreas von Regensburg (G. L e i d i n g e r) ,
Ulrich Fueterer (R. Spiller) und die des Hans Ebran von Wildenberg
(Friedrich Roth) vorbereitet
Eingegangene Bfleher.
Ho ff mann, Ernst: Naumburg a. S. im Zeitalter der Reformation, ein Bei-
trag zur Geschichte der Stadt und des Bisttmis. Leipzig, B. G. Teubner^
1901. 175 S. 8*^ [= Leipziger Studien aus dem Gebiet der Ge-
schichte VII,i]. M. 6.
Herzberg-Fränkel: Die Bruderschafts- und Wappenbücher von St Christoph
auf dem Arlberg [== Sonderabdruck aus den Mitteilungen des Instituts
für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband VI, S. 355 — 412].
I) VgL den AoCiatx von Oswald Redlich, Ober Tradüionsbücher im ersten
Bande dieser Zeitschrift, S. 89-- 98.
— 192 —
iDventare des Grofsherzoglich Badischen General-Landesarchivs, heraus-
gegeben von der Grofsherzoglichen Archivdirektion. Erster Band. Kaiis-
ruhe, Chr. Fr. Müller, 1901. 320 S. 8®.
Keune, I. B. : Metz in römischer Zeit [= Sonderabdruck aus dem
XXII. Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Metz].
KnoU, Philipp: Beiträge zur heimischen Zeitgeschichte, herausgegeben von
der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur
in Böhmen. Prag, I. G. Calve, 1900. 593 S. S^,
Krieg, R. : Chronik der Stadt Schlieben, ein Beitrag zur Heimatkunde.
Schlieben, M. Urban, 1897. 150 S. 8®. M. 1,50.
M a n g o 1 d , Fr. : Die Basler Mittwoch- und Samstagzeitung 1682 — 1796, ein Bei-
trag zur Geschichte des Nachrichtenverkehrs und dessen Organisation im XVII,
und XVIII. Jahrhundert. Basel, Franz Wittmer, 1900. 162 S. 8®. M. 2,50.
MoUwo, Carl: Das Handlungsbuch von Hermann und Johann Wittenborg.
Leipzig, Dyk, 1901. 103 S. 8®. M. 4.
Nübling, Eugen: Ulms Handel im Mittelalter, ein Beitrag zur deutschen
Städte- und Wirtschaftsgeschichte. Ulm, Gebr. Mübling, 1900. 606 S. 8®.
Osten, G. v. d. : Geschichte des Landes Wursten. Erster Teil: Bis zu
den Eroberungskriegen. Herausgegeben im Aufbnge des Bundes der
Männer vom Morgenstern. Bremerhaven, Georg Schipper 1900. 99 S. 8®.
Pflugk-Harttung, Julius v. : Napoleon L, Revolution und Kaiserreich.
Berlin, L M. Spaeth. 558 S. 40.
Pi renne, Henri: Le soul^vement de la Flandre maritime de 1323 — 1328,
documents in^dits publit^s avec une introduction. Bruxelles, Kiessling
et Cie., 1900. 241 S. 8®.
Redlich, Paul: Kardinal Albrecht von Brandenburg und das Neue Stift
zu Halle 1520 — 1541, eine kirchen- und kunstgeschichtliche Studie.
Mainz, Franz Kirchheim, 1900. 361 und 263 S. 8<*. M. 12.
Schneider: Das Kloster Weingarten und die Landvogtei [= Sonderabdruck
aus den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landesgeschichte. Neue
Folge IX, 1900. S. 421 — 437].
Schulte, Aloys : Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden und der Reichskrieg
gegen Frankreich 1693 — 1^97» herausgegeben von der Badischen Histo-
rischen Kommission. I. Band : Darstellung. 566 S. 8®. II. Band : Quellen.
374 S. 8®. Heidelberg, Karl Winter, Zweite Ausgabe, 1901. Zusammen M. 12.
Stieve, Richard: Zabem im Elsafs oder Elsafs-Zabem, Geschichte der Stadt
seit Julius Cäsar bis zu Bismarcks Tod. Zabern i. K, A. Fuchs, 1900.
259 S. 8«. M. 5.
W e i f s , Reinhard : Neue Erklärungen der Namen von einigen wichtigen Orten
in Niedersachsen [= Sonderabdruck aus der Zeitschrift des Historischen
Vereins für Niedersachsen 1900].
Witt, F.: Der Katholizismus in Schleswig-Holstein seit der Reformation.
[= Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte.
IL Reihe. 5. Heft, S. i — 30.]
W u 1 1 k e , Robert : Die Freibergcr Schofsordnung von 1 305. [== Festschrift zum
7 5 jährigen Jubiläum des Königlich Sächsischen Altertumsvereins, herausge-
geben im Auftrage desVorstandes. Dresden, W. Baensch, 1 900. S. 2 10 — 2 17.]
Hentugeber Dr. Aimin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
zur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
IL Band Mai 190z 8. Heft
Vefkehfsgesehiehte
Von
Armin Tille (Leipzig)
Obwohl die Behauptung, die Gegenwart sei das „Zeitalter des
Verkehrs", nicht als besonders geistreich gelten kann, ist sie doch oft
genug wiederholt worden, und so viel Wahres der Satz in sich birgt,
zu so viel geschichtlich unhaltbaren Anschauungen vermag er zu ver-
leiten. Die höhere Intensität und die sich rasch verbreitenden neuen
Formen des Verkehrs sind es vielmehr, welche die Gegenwart vor
der Vergangenheit — diese etwa bis zum ersten Drittel des XIX. Jahr-
hunderts gerechnet — auszeichnen, als der Verkehr an sich, denn
dieser ist, um nur von Deutschland zu reden, viel älter, und wenn
man schon irgendeine Periode der deutschen Geschichte ganz all-
gemein als die Zeit des Verkehrs charakterisieren will, so dürfte
dieses charakteristische Merkmal wohl am ersten in den letzten Jahr-
hunderten des Mittelalters zu entdecken sein: jene Zeiten zeichnen
sich in der That vor den früher liegenden mehr oder weniger ver-
kehrslosen Zeiten dadurch aus, dafs auf allen Gebieten die engen
Fesseln gesprengt werden, dafs eine rege Verbindung unter den zahl-
reichen bisher für sich bestehenden Wirtschaften entsteht, dafs die
Ortsveränderung von Personen und Gütern, ihr Übergang aus einer
Wirtschaft in die andere mittels des Verkaufs und die Übermittelimg
von Nachrichten nicht mehr als etwas Aufserordentliches, sondern als
etwas Regelmäfeiges und Selbstverständliches erscheinen.
Diese Überlegung allein mufs eine Geschichte des Verkehrs
in Deutschland und des Verkehrs Deutschlands mit den übrigen
Ländern Europas und der Welt gerade vom Standpunkte moderner
Weltbetrachtung als würdige Aufgabe der Geschichtschreibung er-
scheinen lassen, und es mufs deshalb wundernehmen, dafe sich mit
diesen Problemen verhältnismäfsig noch wenig Forscher beschäftigt
haben, obwohl es eine Menge Beiträge zur Geschichte einzelner Ver-
U
— 194 —
kehrseinrichtungen und Verkehrsmittel — Strafeen, Schiffahrt, Handel,
Post, Zeitungen ') — giebt. Zum weitaus gröfeten Teile verlieren sich
diese so in die Einzelheiten und ermangeln zugleich der unbedingt
notwendigen bestimmten wirtschaftlichen Anschauungen, dafe die
gröfeeren Entwickelungszüge, die wohl gelegentlich knapp gezeichnet
worden sind, dadurch kaum eine wesentliche Ausgestaltung erfahren
haben und auch ihrerseits ohne wesentlichen Einflufe auf die Einzel-
darstellungen geblieben sind*). Es mag dies bedauerlich sein, aber
die Thatsache läfet sich erklären, wenn man bedenkt, dafs zu einem
grofeen Teile Liebhaber, denen der wissenschaftliche Arbeitsbetrieb
weniger geläufig ist, und nicht fachmännisch gebildete Geschichts-
forscher sich mit diesen Dingen beschäftigt haben und mithin Er-
wägungen allgemein geschichtlicher Art, die jederzeit auch für die
unscheinbarste Monographie mafsgebend sein sollten, recht oft zu
vermissen sind. Aber selbst wenn diesen Anforderungen allseitig ent-
sprochen würde, so könnte doch auch für ein verhältnismäfeig eng
begrenztes Gebiet eine abschliefsende Arbeit nur zu stände kommen,
wenn viele Finzeluntersuchungen mit wesentlich gleichen Voraus-
setzungen auf wesentlich gleiche Ziele hinarbeiten. Als nachahmens-
wertes Muster soll im folgenden ein neues monumentales verkehrs-
geschichtliches Werk ') besprochen und damit zugleich die Aufgabe
der Verkehrsgeschichte umschrieben werden.
Aus verhältnismäfsig bescheidenen Anfangen ist das Buch hervor-
1) Die Geschichte der Post and der Zeitung wird in diesen Blättern hoffentlich bald
in besonderen Aufsätzen behandelt werden können.
2) Eine rühmliche Ausnahme macht T. Geering, Handel und Industrie der Stadt
Basel (B. 1886), welcher S. 137 — 216 die Grundlagen des mittelalterlichen Verkehrs und
S. 398 — 440 den Handel selbst aus dem ganzen Wirtschaftsleben heraus darsteUt.
S. 428 — 43 1 werden die regelmäfsigen Verkehrseinrichtungen (Boten , Posten , Fahr-
gelegenheiten) charakterisiert. — Für die Geschichte des Zeitungswesens, die durch eine
grofse Menge Geschichten einzelner Zeitungen in neuerer Zeit bereichert worden ist,
arbeitet nach diesem höheren Gesichtspunkte Fr. Mangold, Die Basler Mittwoch- und
Samstag' Zeitung 1682^17 g6 (Basel, L. Janke 1900. 162 S. 8°. M. 2,50), nachdem
Karl Bücher in dem Aufsatze Die Anfänge des Zeitungswes^ns (Die Entstehung der
Volkswirtschaft I. Aufl. [1893], S. 170 — 208 und 2. Aufl [1898], S. 199 — 232) die
Zeitung als Glied in dem System der Verkehrswirtschaft gekennzeichnet hatte. — Zur
Entstehung des deutschen Postwesens liefert Schulte selbst wichtige Beiträge in der Bei-
lage zur Allgem. Ztg. 1900, Nr. 85.
3) Aloys Schulte: Geschieh 'e des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen
Westdeutschland und Italien mit Ausschlufs von Venedig. 2 Bände (Darstellung und Ur-
kunden). Leipzig, Duncker und Humblot 1900. M. 30. — Ein Renzensionsexemplar
hat der Verlag nicht zur Verfügung gestellt.
— 195 —
gegangen: einige im Archiv der Handelskammer zu Mailand auf-
gefundene Urkunden, die für den Verkehr und Handel zwischen Ober-
deutschland und Italien von Bedeutung waren, sollten herausgegeben
und durch Nachforschungen in anderen Archiven Oberitaliens womög-
lich ergänzt werden. Die Badische Historische Kommission beauftragte
damit 1890 A. Schulte, damals noch am Generallandesarchiv in Karls-
ruhe, der sich seit Übernahme des akademischen Lehramts in Frei-
burg i. B. und dann in Breslau mit Erfolg dieser Editionsarbeit gewidmet
hat. Auf mehreren Forschungsreisen hat er in den Archiven Italiens,
der Schweiz und Deutschlands viel einschlägiges neues Material ent-
deckt , welches im zweiten Bande in mustergiltiger Bearbeitung *)
mitgeteilt worden ist. Aber da die zu berührenden Punkte viel zu
mannigfacher Art waren, da nur die eingehendste Interpretation die
Bedeutung jedes Aktenstücks ins rechte Licht zu setzen vermochte,
wäre mit einer blofsen Edition nur wenig geholfen gewesen, und die
Erläuterungen der Urkunden, die unter Heranziehung einer ganz ge-
waltigen und zum Teil recht schwer zugänglichen deutschen und ita-
lienischen Litteratur ins Werk gesetzt wurden, haben sich zu einer
umfassenden Darstellung des deutsch -italienischen Verkehrs ausge-
wachsen, die mehr als den doppelten Umfang der Urkundenedition
erreicht hat.
Von vom herein war die Handelsgeschichte der Arbeitsgegen-
stand, aber so dankenswerte neue Aufschlüsse auf diesem Gebiete auch ge-
wonnen worden sind, die methodische Bedeutung des Buchs liegt auf an-
derem F*elde, nämlich in der dauernden Verbindung der verschiedensten
Probleme der mittelalterlichen Geschichte — wohl keine geschichtliche
Sonderdisziplin wird es fortan unberücksichtigt lassen können — und im
besondem in der Verbindung zwischen Handel und Verkehr bezw. in
der Auffassung des Handels als einer bestimmten Art des Verkehrs.
Es wird ein überraschend klares Bild davon gegeben, wie von Jahr-
hundert zu Jahrhundert an Zahl steigend Deutsche in Italien und Ita-
liener in Deutschland zu finden sind, wie erst die deutschen Kirchen-
fiirsten bei den Florentiner Bankiers Schulden machen *) und gegen
i) Dies gilt namentlich für die zweckmäfsige Verwendung des aosfUhrlichen Regests
in dem nur die wichtige Stelle im Wortlaut wiedergegeben ist, neben dem vollständigen
Abdruck von Urkunden und Aktenstücken.
2) So wie es sonst nur in einer Monographie zu geschehen pflegt, wird hier verfolgt,
wie die westdeuUchen Bisdiöfe zur Bezahlung ihrer Palliengelder u. s. w. sich in Schulden
stürzen und wie diese allmählich abgetragen werden. Am ausführlichsten ist, dem Reich-
tum der Quellen entsprechend, die Schuldenlast der Kölner Erzbischöfe behandelt, S.
14*
— 196 —
das Ende des geschilderten Zeitraums die Päpste mit den deutschen
Geldleuten, vor allen den Fuggem, in Geschäftsverbindung stehen.
Andrerseits erfahren die seit etwa 1225 in Deutschland auftretenden
Lombarden ^) — meist Leute aus Asti — , die als „Kawerschen** das
Wuchergeschäft neben den Juden betreiben und die kirchlichen Strafen
dafür willig auf sich nehmen^ eine so knappe und doch umfassend-
erschöpfende Behandlung , wie sie bisher vergebens zu suchen war *).
Wichtig wird hier vor allem die Feststellung des Warenhandels der
Stadt Asti (S. 312), denn darüber ist ja kein Zweifel, dafs alle Geld-
geschäfte und das sich aus ihnen entwickelnde Bankwesen sich nicht
plötzlich fertig vorfinden, sondern einen Waren handel zur Voraussetzung
haben. Der Warenhandel steht wiederum mit der Produktion in enger
Verbindung : die Einbürgerung der Wollenkleidung , welche die leinene
ablöst, wird für den Handel von so unendlicher Bedeutung, weil hier
die Schwierigkeit des Betriebs früh eine Loslösung von der Hauswirt-
schaft notwendig macht und das Risiko beim Wolleneinkauf schon früh
235 — 243, aber auch Mainz (S. 244 — 245), Trier (S. 24$ — 247) sind nicht vergessen, und
dann folgen viele andere westdeutsche Prälaten, deren Gläubiger nach ihrer Herkunft
geordnet sind : die meisten dieser Bankiers stellt Florenz , und daneben haben Siena,
Rom und Pisa eine gröfsere Zahl aufzuweisen.
i) Als Mttnzmeister, Zollpächter und Steuereinheber sind Italiener seit dem XHL
Jahrhundert massenhaft in Deutschland. In Prag wurde 1360 die erste Apotheke
von einem Italiener, Angelt di Florenita ^ eingerichtet. Vgl. Hübsch: Versuch einer
Geschichte des böhmischen Handels (1849), S. 243.
2) Die in den QueUen zugänglichen Namen von Lombarden werden nach Städten
und Landschaften angeordnet von der Schweiz bis nach Mecheln (S. 290 — 307) vorgeführt.
Hierzu kann ich einige Nachträge liefern: In Siegburg, wo S. den ersten Lombarden 1308
kennt, wird bereits 1303 einer erwähnt, Bertrammus Lomhardtis de Syhergy welcher
famulus des Grafen Wilhelm von Berg genannt wird (Annalen d. hist. Vereins f. d.
Niederrhein 55 [1892,] S. 31). In Erkelenz, welches bei S. fehlt, werden 1370 Odyno de
Montefya und Wilhelm Abellonio als Lombarden erwähnt (Ebenda, S. 134). In einer
der nördlichsten Städte der heutigen Rheinprovinz, etwa in Kleve oder Goch,^müssen um
1330 Lombarden gewesen sein: Heinrich von Gennep entschädigt in diesem Jahre einen
Johann Veren, der sich ftir ihn aen Palmerine den lomharde end sine gheselscap verbürgt
hatte. (Vgl. R. Schölten, Kloster Grafenthal 1899, Urk. Nr. 160 S. 131). In Zülpich
ist 1475 der Lumparter huis Eigentum des Kölner Erzstiftes (Tille, Übersicht über den
Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz I, S. 233 Nr. 14}. Bei Köln oder in
der Nähe ist 1332 ein Georgitis Garreti Lumbardus civis Astensis nebst Gesellschaftern
nachzutragen, der vor dem Offizialatgericht des Kölner Erzbischofs erscheint (Annalen d.
hist. Ver. f. d. Niederrhein 55. Heft, S. 42.) Am Niederrhein ist auch seit 1479 ein
Bürger von Mors, Johannes von Heeshtisen mit dem Beinamen Lumbard^ als Amtmann
der Abtei Werden für die dort gelegenen Werdenschen Besitzungen thädg. (R. Kötzschke,
Studien zur Verwaltungsgeschichte der Grofsgrundherrschaft Werden. Leipzig 1900, S. 45.)
— 197 —
einen kapitalistischen Betrieb als zweckmäfsig erscheinen läfst ^). Um
der englischen Wolle willen besuchen die Italiener die Messen der
Champagne, welche bis etwa 1300 die internationale Warenaustauschs-
stelle sind. Textilwaren bilden seitdem das wichtigste Handelsgut, um
ihretwillen werden die Messen aufgesucht, aber natumotwendig mufs
die, je nach dem der Betreffende Käufer oder Verkäufer ist, leere
Hin- oder Rückfahrt vermieden werden — imd allerlei andere Waren
treten damit in den Grofsverkehr ein. Vor allem die Gewürze erwerben
sich in Deutschland Bürgerrecht : Pfeffer, Safran, Zimmet u. a. Waren
werden von Italien dahin gebracht. Aber für diese Dinge war Vene-
dig (dessen Handelsgeschichte Seh. nur in grofsen Zügen schildert, da
wir über den deutsch -venetianischen Handelsverkehr durch die Schriften
von Heyd und Simons feld gut unterrichtet sind) viel wichtigerer
Übergangsplatz als etwa Genua,' welches nach dem Niedergang von
Amalfi und Pisa einzig als Konkurrent Venedigs in Betracht kommt.
Mit grofser handelspolitischer Klugheit war in Venedig das streng ge-
handhabte Gesetz eingeführt worden, dafs keiner, der seine Produkte
zum Verkauf brachte, bares Geld mit nach Hause nehmen durfte, son-
dern Waren des Orients dafür eintauschen mufste, so dafs ein Nürn-
berger, der etwa Metallwaren verkauft hatte, notgedrungen Pfeffer und
Safran, Seide oder anderes mit in die Heimat nehmen mufste. Der-
artiger Zwang, der nach unseren Begriffen die intimsten Privatangelegen-
heiten des einzelnen berührt, ist dem Mittelalter selbstverständlich und
zur Sicherung des Verkehrs vielfach notwendig, er mufs aber stets
sorgfaltig berücksichtigt werden, wenn man wirtschaftspolitische Hand-
lungen der Zeit psychologisch zu verstehen suchen wül, wie er andrerseits
in vielen Fällen dazu führt, dafs Einrichtungen, die sich längst überlebt
haben, auch nach dem Wegfall der Voraussetzung noch bestehen
bleiben und sorgsam gepflegt werden.
Bei diesen Gedankengängen kann Seh. vielfach schon betretene
Pfade verfolgen, wenn er auch bei der Übersicht über ein ganz
gewaltiges Material die Hauptpunkte viel klarer erkennt als seine
i) Für die Technik der Wollindustrie ist die Einfuhrung der Walkmühlen, die
erst von Deutschland nach Italien kamen (S. 130), von grofser Wichügkeit. Die Seh. be-
kannte früheste ist 1246 in Trier nachgewiesen (S. Ii8). — An einer etwas versteckten
Stelle der Litteratur werden fulleria fannorum 1266 zu Chalons-sur- Marne er-
wähnt. Die Urkunde neben vielen anderen auf die Tuchfabrikation dieses Orts und den
Absatz der Tuche auf der Messe zu Bar-sur-Aube bezüglichen (1230 ff.) ist herausgegeben
von E. G. Gersdorf in den „Mitteilungen der deutschen Gesellschaft zu Leipzig" I (1856)
S. 132 ff.
— 198 —
Vorgänger und, ohne zu schematisieren, immer streng nach den
Quellen längere Entwickelungsreihen vorführt. Aber thatsächlich neue
in dieser Weise u. W. vorher noch nicht entwickelte Gedanken sind
die über die Verkehrswege in ihrer Wirkung auf den Handel.
Mit einer ganz überraschenden Sicherheit in der Beweisführung werden
wir belehrt, dafe die schon längst beobachteten Verschiebungen
im mittelalterlichen Verkehr von der Champagne nach dem Rhein
und von da nach Oberdeutschland (Ulm, Augsburg, Nürnberg) zu
einem recht wesentlichen Teile auf eine Veränderung der Wege
über die Alpen zurückzuführen sind. Der von der Römerzeit *)
her am meisten benutzte Pafe über den Grofsen St. Bernhard
führte von Italien ins Rhonethal, und über diesen alt bekannten Pafe
bewegte sich bis ins XIII. Jahrhundert zum weitaus gröfeten Teile der
Verkehr, der die englische Wolle imd flandrischen Tuche gegen die
Güter des Orients austauschte; dieser Strafee verdanken die Messen
der Champagne zum grofeen Teil ihre Blüte. Da wurde kurz vor
1225 der bis dahin vollständig unwegsame St. Gotthard gangbar
gemacht (S. 178) und ein direkter Weg von Mailand nach Basel ge-
bahnt, der den Rhein für den internationalen Warenverkehr öffnet.
Die Zeitgenossen haben diese Veränderung wohl erkannt : Kaiser Fried-
richs IL Kampf um Bellinzona, der der Habsburger mit den Schweizern,
ja die Gründung der Schweiz erscheinen nach diesen Erörteiungen in
ganz anderem Lichte. Das Aufblühen Brügges nach 1300, wo nun
der Hansische Handel mit dem orientalisch -italischen sich berührt, wird
ebenfalls besser begründet. Hatten die Anwohner des St. Gotthard,
die örtliche Verbindungswege schaffen wollten, deren weltgeschichtliche
Bedeutung anfangs sicher nicht geahnt, so wurde gegen Ende des
XIV. Jahrhunderts diesem Passe mit Bewufstsein ein Konkurrent ge-
schaffen, indem der seit alter Zeit begangene Saumpfad über den Sep-
timer um 1387 in eine fahrbare Strafse umgebaut wurde (S. 361), so dafe
nunmehr hier der Wagen gröfeere Gütermengen ohne Umladung auf Saum-
tiere ^) befördern konnte , wie es auf den anderen Pässen geschehen
mufete *). Dieser Strafsenbau öffnete ganz anders als vorher den Städten
am Bodensee und dahinter, Ravensbiu-g, Ulm, Augsburg und Nürnberg,
i) Für die Kenntnis der Alpen in römischer Zeit ist neben Nissens Italienischer
Landeskunde (1883) auch desselben Verfasser» Anfsatf Die Alpen in römischer Zett im
„Vierten Jahresbericht des Metzer Vereins fdr Erdkunde" (1882) von Belang.
2) Der Name einer Saumtierlast, die in den Zolltarifen oft als Einheit erscheint,
ist fardel,
3) Die gute Fahrstrafse über den St. Gotthard entstand erst 1830.
— 199 —
die Alpen: über Chur und Chiavenna ging nun der Weg direkt auf
Mailand und Genua, dessen Bedeutung für den Handel nach Deutsch-
land wesentlich wächst, so dafe um 1425 ernstlich der Gedanke auf-
tauchte, dort einen Fondaco zu gründen, der freilich etwas anderes sein
sollte als der Venetianische (S. 535). Und noch eine weitere Neuerung
wurde auf der Septimerstrafse eingeführt, nämlich eine Traasportorgani-
sation seitens der Gemeinden, so dafs dem Kaufmanne die oft drückende
Sorge für das Fortkommen seiner Güter z. T. abgenommen wurde : in
mehrfacher Hinsicht bedeutete also die Erbauung der Septimerstrafse für
den Handel Deutschlands einen wesentlichen Fortschritt, der nicht ver-
gessen werden darf, wenn der Handelsgesellschaften des XIV. Jahrhunderts
gedacht wird. Die Verschiebung der Wege im Kleinen verdient volle Be-
achtung im Vergleich mit der grofeen Verkehrsumwälzung, die die Ent-
deckung des Seewegs nach Indien brachte. Und selbst dieses grofse Er-
eignis wird allmählich angebahnt, indem der Seeweg gegenüber dem Land-
wege stetig mehr bevorzugt wird: schon 13 17 fahren die Venetianer zu
Schiffe nach Brügge und selbst Hansische Schiflfe besuchen 1409 Venedig.
Alle diese Einzelheiten konnten hier nur flüchtig herausgehoben
werden, um allen denen, die wirtschaftsgeschichtlichen Studien obliegen,
zu zeigen, welche Fülle von Anregung, leitenden Gesichtspunkten, ja
selbst Litteraturnachweisen sie hier finden können. Seh. bietet aber dem
Forscher noch viel mehr: er zeigt an den Beispielen, wie man es
machen mufs, um Ergebnisse aus den Quellen herauszufinden; denn
das, was uns heute interessiert, steht ja nicht mit dürren Worten in
den Urkunden, mufs vielmehr erst durch vergleichende Interpretation ge-
wonnen werden. Es ist eine grofee Ausnahme, dafs, wie es bei der
Septimerstrafse der Fall ist, der Vertrag vorliegt, dem zufolge die
Strafse hergestellt werden soll (S. 361). Viel häufiger ist es, dafe
nur durch indirekte Angaben eine solche Veränderung erschlossen
werden kann : aus solchen Folgeerscheinungen (Neuanlage von Zollstätten,
plötzliches Interesse eines Dynasten an einem ihm bisher gleichgiltigen
Besitze) müssen dann Zeit und nähere Umstände erschlossen werden,
und das hat Seh. mit grofser Überzeugung gethan beim St. Gotthard,
dessen Öffnung er als sicher zwischen 12 18 und 1225 erfolgt fest-
zustellen vermag. So überzeugend wirkt er aber nur, weil er die
Quellenstellen, soweit es nötig ist, stets selbst sprechen lä(st und selbst
dem zweifelnden Leser somit eine sofortige Kontrolle ermöglicht ^).
1} Im Vergleich daza ist es recht bedauerlich, dafs Engen Nübling, der
in Ulms Handel im Mittelalter (Ulm, Gebr. Nttbling 1900) eine Entwickelangsgeschichte
— 200 —
Seh. stellt auch der landsehaftliehen Geschichtsforsehung direkte Auf-
gaben, die nur von ihr ausgeführt zu werden brauchen, aber auch nur
für ein räumlich enger begrenztes Gebiet von einem Arbeiter ausge-
führt werden können. Die Aufforderung, die Geldgeschichte sorg-
fältiger zu pflegen durch engere Verbindung von Wirtschaftsgeschichte
und Numismatik^), wird jeder zeitgemäfs finden, der sich mit Ver-
gleichung mittelalterlicher Münz werte abgequält hat. Origineller und
darum wichtiger ist aber die aus der Praxis der Alpenverkehrswege
heraus gewonnene Forderung, die Verkehrswege d. h. also zunächst
die Strafsen in ihrem Verlaufe mehr zu beachten imd, wo es möglich
ist, kartographisch festzulegen, also Strafsenkarten herzustellen.
Die Schwierigkeiten, die sich der Bearbeitung solcher Karten für frühere
Zeiten entgegenstellen, sind keinen Augenblick zu verkennen, aber bei
vernünftiger Trennung der feststehenden und mutmafelichen Angaben
nicht unüberwindbar. In den weitaus meisten Fällen kommt es ja gar
nicht auf die topographisch genaue Bezeichnung des Weges an, son-
dern vielmehr darauf, welche Orte, also vornehmlich Städte und Flecken,
berührt werden: die geradlinige Verbindung kann also auf der Karte
schon genügen, wenn nur kein Zweifel darüber ist, dafs der regel-
rechte Weg nicht etwa auf den Katheten zu der gezeichneten Hypo-
tenuse lief und somit noch einen anderen seitwärts liegenden Ort durch
einen Umweg mit berührte ^). Das wichtigste Mittel für die Fest-
stellung mittelalterlicher Verkehrswege ist die Angabe der Zol Is tätten:
die Voraussetzung einer Strafsenkarte würde also zunächst eine Karte
der Zollstätten sein mit bestimmten Angaben der Zeit, in der der Zoll
wirklich erhoben worden ist, am besten in der Form, dafs jedem Zoll-
ort eine knappe Geschichte des Zolls in einem Textband beigefügt wird.
Wie notwendig dies ist, läfst sich daraus ermessen, dafe es trotz der
vielen Schriften, die sich mit den Rheinzöllen beschäftigen, kein Hilfe-
der Wclthandelswege im Mittelalter (S. I — 352!!) giebt, von Quellen- und Litteratur-
nachweisen voUständig absieht : fiir den Forsclier ist somit ein grofser Teil der unermiid'
liehen Sammelarbeit Nüblings unfruchtbar ge\Torden, denn nur durch Berichügung im
einzelnen auf Grund besserer QueUen und Ausgestaltung einzelner nur im Umrifs gezeich-
neter Vorgänge kann die Forschung dauernd gewinnen.
i) Vgl. den Aufsatz von Alfred Köb erlin oben S. 12—17.
2) Was Seh. im Texte festgesleUt hat, das ist alles übersichtlich auf zwei Karten
graphisch dargestellt. Die erste (1:3 500 000) giebt eine Übersicht über die Verkehrs-
wege zwischen Paris, Frankfurt, Nürnberg, Salzburg und im Süden bis Genua und Bo-
logna, die zweite (i : 1000000) die Alpenstrafsen mit ihren Zugängen nebst den Snsten,
Zollstätten u. s. w. Die Zeichen für die letzteren berühren sich nahe mit den von
KÖtzschke in dieser Zeitschrift (I. Bd., S. 125 — 126) vorgeschlagenen.
— 201 —
mittel giebt, um aus einer Karte oder Tabelle abzulesen, welche Zoll-
stätten etwa ein Schiff in einem bestimmten Jahre auf der Fahrt von
Strafsburg" bis Coblenz zu passieren hatte. An eine solche Karte der
Zollstätten in ganz Deutschland mit erläuterndem Texte liefse sich frei-
lich nur denken, wenn für jede Landschaft nach einem bestimmten
Plane gearbeitet würde : dann wäre es aber auch eine verhältnismäfeig
leichte Arbeit. Neben der Kenntnis der Zollstätten verdient aber auch
die Sammlung der Zolltarife die Aufmerksamkeit der Forschung. In
Urkundenbüchern und sonst in der Litteratur sind eine Menge davon
veröffentlicht, aber nicht nur sind sie in gröfserer Zahl dem einzelnen Ar-
beiter bei der zerstreuten Veröffentlichung unzugänglich, sondern sie sind
auch längst nicht so ediert, wie es für eine grolsangelegte handels-
und verkehrsgeschichtliche Forschung wünschenswert ist. Am besten
uürde dieser Anforderung entsprochen werden, wenn etwa von der
Historischen Kommission bei der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissen-
schaften, die ihrem Arbeitsprogramm nach wohl am ehesten diese Auf-
gabe übernehmen könnte, eine Sammlung und einheitliche Bearbeitung
der deutschen Zolltarife ins Werk gesetzt würde — vielleicht in Ver-
bindung mit einem Nachweise erhaltener Zollrechnungen. Längst nicht von
jeder Zollstätte des Mittelalters sind ja Tarife erhalten, aber dafür von der-
selben Stelle oft mehrere, die um ein Jahrhundert oder mehr aus einander
liegen. Wie aufeerordentlich lehrreich derartige Stücke sind und in wie
verschiedener Weise sie benutzt werden können, zeigen vielleicht am
besten die beiden Koblenzer Tarife von 1 104 und 1209 ^). Durch eine ver-
gleichende Behandlung würde es in vielen bisher zweifelhaften Fällen gewifs
auch möglich werden genauer zu bestimmen, welche Waren unter den
einzelnen Positionen gemeint sind und wann neue Waren zuerst erscheinen.
Zur Feststellung der Verkehrswege läfst sich aber auch noch aus
anderen Quellen Material gewinnen, so vor allem aus der Unmasse
von Reisebeschreibungen *) und Reiseführern, die, auch wenn sie sonst
nichts Merkwürdiges bieten, unter diesem Gesichtspunkte aufs sorg-
fältigste beachtet werden müssen, und wer gelegentlich ein solches
Werk in die Hände bekommt, sollte nie versäumen, die berührten Orte
und die eventuelle Benutzung des Schiffes, Wagens oder Reittieres an-
zugeben: je mehr Belege dann für einen Weg gefunden werden, um
so sicherer wird er als viel begangen und bevorzugt bezeichnet werden
i) Vgl. Beyer, Urkundenbuch tUr mütelrheinischen Terrüorün, I. Bd. (Kohlen
1860), S. 467, Nr. 409 und II. Bd. (1865) S. 280, Nr. 242.
2) Vgl. diese ZeiUchrift I. Bd., S. 299—302.
— 202 —
können. Nicht nur der Weg, der zurückgelegt wird, sondern auch
die Zeit, in der es geschieht, mufs beachtet werden : sie ist der beste
Gradmesser für die Verkehrshöhe. Seh. hat (S. 387) die höchst
wichtige Thatsache festgestellt, dafs zu Anfang des XVI. Jahrhunderts
ein Geschäftsbrief von Nürnberg nach Mailand — einschliefelich des
Abgangs- und Ankunfstages — in einem Falle in 10 Tagen befördert
wurde, und zwar im Winter, sowie dafs unter normalen Verhältnissen
sicher am 15. Tage auf den Empfang gerechnet werden konnte ').
Bei der Herausgabe von Korrespondenzen sollten die Angaben, wann
ein Schreiben dem Empfanger präsentiert worden ist — gegenüber dem
Ausfertigungsdatum ist dies natürlich nur der äufeerste Termin, der
also die Maximalbeförderungszeit angiebt, — niemals vergessen werden :
recht oft werden sich durch Beachtung dieser Dinge auch inhaltlich
wichtige Aufschlüsse gewinnen lassen, und für politische Korrespondenzen
des XVIII. Jahrhunderts ergeben sich auf diese Weise ganz unglaub-
liche Schnelligkeiten, die nur mit Hufe ausgezeichnet organisierter
Relaisposten erzielt werden konnten.
Um auf Schuhes Buch zurückzukommen, so sei nur noch erwähnt,
dafs neben dem Register der Eigennamen auch ein Sachregister höchst
erwünscht gewesen wäre: es finden sich z. B. an ganz verschiedenen
Stellen Bemerkungen über den Gebrauch des Wechsels, die nur durch
einen Hinweis in einem Register sich zu einem Ganzen zusammen-
fügen liefsen. Wie verlautet, ist die Auflage nur klein, was im Inter-
esse des Inhalts sehr zu bedauern wäre; aber vielleicht wird dadurch
eine zweite Auflage um so eher nötig, bei der es sich vielleicht auch
einrichten liefse, dafs der Preis dem entspricht, was in der Regel ein
Privatmann für ein ihm lieb gewordenes Buch aufzuwenden vermag:
solche Privatleute, dessen kann der Verlag sicher sein, würden sich in
stattlicher Zahl einstellen!
1) Andere Angaben über die Zeit, welche Briefe unterwegs sind (Brügge -Venedig
zu Wasser and zu Lande) giebt z. B. Stieda, Hansüch'Venetianüche Handelsbeziehungen
(Rostock 1894) S. 90. Nach der Postordnung von 1616 sollte ein Brief von Leipzig
bis Nürnberg 5 und bis Venedig 12 Tage unterwegs sein. (Gustav Schäfer, Ge-
schichte des Sächsischen Postwesens, Dresden 1879, S. 83). Hierbei handelt es sich
aber um eine richtige Post mit wiederholtem Botenwechsel, während jene Nürnberger
und Hanseatischen Kaufleute einen Boten absandten, der die ganze Strecke von Anfang
bis Ende durchlaufen mufste.
— 203 —
Zur Partial^Kifohengesehiehte
Von
Peter P. Albert (Freiburg i. Br.)
Unter dieser mehr der Kürze, als der Gediegenheit und Reinheit
des Ausdrucks entsprechenden Benennung hat O. Giemen (Zwickau) in
Heft 2 des laufenden Jahrgangs dieser Zeitschrift Seite 33 — 40 sich
über die Aufgaben und Leistungen der einzelnen Landschaften, Volks-
stämme und Bekenntnisse auf dem Gebiete der Kirchengeschichte ver-
breitet und namentlich die zu ihrer Pflege bestehenden Vereine und ihre
jüngsten Veröffentlichungen zum Gegenstande seiner Betrachtung ge-
macht. Der Aufsatz ist zeitgemäfs und geeignet, anregend zu wirken,
bedarf aber in mehr als einer Hinsicht der Berichtigung und Er-
gänzung.
Um die von Giemen begonnene verdienstliche Arbeit nach dem
Ziele der Vollständigkeit hin zu fördern, wollen wir im folgenden einige
Beiträge aus dem südlichen und südwestlichen Deutschland liefern, in-
dem wir eine ganze Anzahl von Unternehmungen, die ihm entgangen
sind , und ihre Thätigkeit kurz charakterisieren. Wir hoffen dadurch
nicht nur zu zeigen, mit welchem Eifer und Erfolg schon seit viel
längerer Zeit, als Giemen annimmt, die kirchliche Vergangenheit un-
serer Heimat erforscht wird, sondern auch dem einen und andern Leser
dieser Blätter einen Fingerzeig zu geben, wo etwa eine einschlägige
Arbeit unterzubringen ist oder wo sich Belehrung über die Geschichte
und Entwickelung der kirchlichen Verhältnisse einer Gegend holen läfet.
Dafs hierbei fast ausschliefslich katholische Bestrebungen und Werke
zur Sprache kommen, ist durch das von Giemen Gebotene bedingt,
der im wesentlichen nur protestantische Vereine und ihre Organe be-
rücksichtigt hat. In dem weniger unterrichteten Leser konnte dadurch
der Anschein erweckt werden, als ob katholischerseits der deutschen
„Partial-Kirchengeschichte" auch gegenwärtig noch kaum irgendwelche
Aufmerksamkeit zugewendet würde. In Wirklichkeit liegt jedoch der
Fall so , dafe katholische Vereine und «Veröffentlichungen zur Pflege
der Kirchengeschichte schon zu einer Zeit ins Leben getreten sind, in
welcher man auf protestantischer Seite kaum ein derartiges Bedürfnis
gefühlt hat. Wie dann seit den 80 er Jahren des verflossenen Jahr-
hunderts auf beiden Seiten ein ganz namhafter Aufschwung erfolgt ist,
geht schon aus Glemens Artikel hervor und wird auch durch das
Nachstehende bestätigt. Von der Erörterung der übrigens von Giemen
— 204 —
in einigen Punkten schon gestreiften theoretischen Seite der Partial-
Kirchengeschichte absehend, wollen wir — ohne Anspruch auf Voll-
ständigkeit zu erheben — die von ihm begonnene Aufzählung der
hierher gehörigen Unternehmungen fortzuführen versuchen. Wir halten
dabei an der von ihm eingeschlagenen Trennung nach inner- und aufeer-
kirchlichen Grundsätzen fest, machen zunächst die katholischen und
Schliefelich noch einige protestantische Organe namhaft, welche Giemen
unbekannt geblieben sind.
Da verdienen nun zuerst die Studien und Mitteilungen aus de7n
Benediktiner- und dem Cisterzienserorden mit besonderer Berück-
sichtigung der Ordensgeschichte und Statistik Erwähnung, die unter
der Redaktion des Stiftsarchivars zu Raigem, P. Maurus Kinter (Druck
der Raigemer päpstlichen Benediktiner-Buchdruckerei in Brunn, jährlich
4 Hefte zu 10—12 Bogen in gr. 8®), mit 1900 ihren 21. Jahrgang ab-
geschlossen haben. Ohne irgend ein Gebiet der Wissenschaft von
seinen Forschungen auszuschliefsen , wendet dieses Central - Organ
des Benediktinerordens sein Augenmerk doch vornehmlich der Ge-
schichte und zwar der .Geschichte des Ordens zu. Es hat sich die
Pflege der allgemeinen geschichtlichen Entwickelung des Ordens zur
besonderen Aufgabe gesetzt und sucht dieses Ziel zu erreichen durch
die Darstellung der Ordensgeschichte in den einzelnen Ländern, Kon-
gregationen und Häusern, und zwar nicht blofs der Geschichte allein und
ihrer Hilfswissenschaften, sondern auch der Ordenslitteratur, der Mis-
sions- und Wirtschaftsthätigkeit , des Unterrichts, der Kunst imd aller
anderen Gebiete, auf denen der Orden Leistungen aufzuweisen hat.
Dafs dabei die Geschichte der deutschen Benediktinerklöster, der
noch bestehenden wie der untergegangenen, in erster Linie in Be-
tracht kommt, ist aus jedem der bisher erschienenen Jahrgänge er-
sichtlich, aus dem ersten so gut wie aus dem vorliegenden 21., aus
welch letzterem einige der hauptsächlichsten derartigen Arbeiten her-
vorgehoben seien. Konrad Eubel behandelt die in commendam
verliehenen Abteien während der Jahre 143 1 bis 1503 S. 3 — 15,
244 — 59; Chr. Lager die ehemalige Benediktinerabtei Tholey bei
Trier, S. 15—35, 268 — 277^ Fr. Lauchert die Briefe des (als Dog-
matiker bekannten Cisterziensers) Stephan Wiest (•}• 1797) an (den
Chorherm von Polling) Gerhoh Steigenberger (f 1787) S. 127 — 135,
205 — 306, 535 — 553; J. Linneborn die Reformation der westfä-
lischen Benediktinerklöster im XV. Jahrhundert durch die Bursfelder
Kongregation S. 53—68, 315 — 332, 554 — 578; A. Naegele die Ge-
schichte des Klosters Wiblingen bei Ulm S. 277 — 285, 529 — 534.
— 205 —
Daneben stehen zahlreiche kleinere Mitteilungen historischen Inhalts
und alljährlich eine genaue Zusammenstellung der neuesten Benedik-
tiner- und Cisterzienserlitteratur (S. 144—156; 430—446; 650 — 664),
nicht blofs der Bücher, sondern aller von Ordensmitgliedem verfafsten
und auf die beiden Orden sich beziehenden Zeitschriftenartikel, der
Schulprogramme u. dgl. mehr. Ein Blick in die „Studien" wie in
diese Litteraturübersicht offenbart ein ungemein reges wissenschaft-
liches Leben und Streben.
Nebbn den „Studien" ist seit 1888 mit der gleichen Einrichtung
für die Pflege der Geschichte im Orden des heil. Robert allein die
Cisterztens er- Chronik thätig, im Stifl Mehrerau bei Bregenz unter
der Leitung P. Gregor Müllers jährlich in 12 Nummern zu je 2 Bogen
erscheinend. In wie hohem Mafse auch diese Zeitschrift ihrer Aufgabe
gerecht wird, beweisen die in jedem Jahrgange enthaltenen zahlreichen
gediegenen Abhandlungen, von denen sehr viele auf das Gebiet des
heutigen Deutschen Reiches entfallen. Der vorliegende 12. Band (1900)
bietet in dieser Hinsicht folgende gröfsere Aufsätze: Abbatia Ebra-
censia oeconomica von J. Jäger; Nachweisungen über das vormalige
Cisterzienserinnenkloster Nauendorf bei Allstett in Sachsen -Weimar
von P. Mietschke; Kloster Kreuzthal in Marburghausen von M.
Wieland; Drei Jahre aus der Geschichte der Abtei Waldsassen (1792
bis 1795) von Fr. Binhack.
Der uns hier zu Gebote stehende Raum verstattet weder bei diesem
noch bei den folgenden Abschnitten die einzelnen der zumeist aus urkund-
lichem Material aufgebauten Artikel ihrem Inhalte und ihrer Bedeu-
tung nach zu erläutern, um den Umfang und die Gediegenheit darzu-
thun, womit auf diese Weise schon zu einer neuen, den heutigen An-
forderungen entsprechenden Germania sacra regularis et saecularis
der Grund gelegt ist. ')
Von den zur Pflege der Landes- und Provinzial-Kirchengeschichte
bestehenden Vereinen ist der älteste nicht die Gesellschaft für
sächsische Kirchengeschichte von 1882, sondern der Kirchenge-
schichtliche Verein für das Erzbistum Freiburg, gegründet
1862 zur Erforschung der Geschichte und Kunstgeschichte, der Alter-
tums- und Litteraturkunde des Erzbistums Freiburg und der angren-
zenden Bistümer. Sein Organ, das durch seine Reichhaltigkeit weithin
i) Der durch die Bearbeitung der Serüs epücoporum (Ratisb. 1873. 4®) bekannte
Benediktiner Pias Garns hat bereits 1879 ^^^ Germania sacra der Görresgesellschaft
als würdige Arbeit empfohlen, aber leider ist seine Anregung nicht zur AnsfUhmng ge-
kommen. Vgl. H. Cardanns, Die Görresgesellschaft 1876 ^rgoi {Köln, Bachern 1901)8. 32.
— 206 —
bekannte Freiburger Dwcesan- Archiv (Freiburg i. Br., Herder'sche
Verlagshandlung), hat 1900 seinen 28. Band erreicht. Es ist eine
unerschöpfliche Fundgrube für die oberrheinische Kirchengeschichte,
vornehmlich durch seine wertvollen Quellenpublikationen, die der
Begründer des Vereins, der 1872 verstorbene Dekan Wende lin
Haid, begonnen hat mit dem Liber decimationis clert Constan-
tt'ensis pro papa de anno 12^^ (Bd. i, S. i — 303), dem Liber
quartarum et hannalium in diocesi Constantiensi de anno 1324
(Bd. 4, S. 42 — 62) und dem Liber taxationis in diocesi Con-
stantiensi de anno /jjj (Bd. 5, S. i — 118), denen im Lauf der Jahre
zahlreiche weitere gefolgt sind, wie namentlich die erste, von Fr. von
Weech nach dem Original gemachte Ausgabe des Rotulus San-Pe-
trinus, einer der wichtigsten Quellen fiir die Geschichte und Geogra-
phie Schwabens in der Zeit von 1095 — 1203 (Bd. 15, S. 133—184)
und das von Fr. Zell zum Druck beförderte Registrum subsidii
charitativi im Bistum Konstanz am Ende des XV, und Anfang
des XVL Jahrhunderts (Bd. 24, S. 183 — 238; Bd. 25, S. 71 — 150,
Bd. 26, S. I — 133 und Bd. 27, S. 17 — 142). Von den darstellenden
Arbeiten der älteren Jahrgänge sei ganz abgesehen und nur auf einige
des neuesten hingewiesen wie auf die treffliche Abhandlung L. Baurs
über die Ausbreitung der Bettelorden in der Diöcese Konstanz (S.
I — loi), die des P. M. Str aganz zur Geschichte der Minderbrüder
im Gebiete des Oberrheins (S. 319—395), die Chronik des Cister-
zienserinnenklosters Wonnenthal von J. Mayer (S. 131 — 221), das
ehemalige Kapuzinerkloster zu Baden-Baden von K. Reinfried (S.
307 — 318), besonders aber das die gleiche Arbeit des früheren Re-
dakteurs Prof. J. König (Bd. 16, S. 273 — 344; Bd. 17, S. i — in
und Bd. 20, S. 1—44) fortsetzende Necrologium Friburgense von
J. Mayer (S. 222 — 306). Dieses Necrologium der Freiburger Geist-
lichkeit von 1827 — 1899 enthält nicht blofs dürre Namen und trockene
Angaben über Geburt, Weihe, Anstellung und Tod der in dieser Zeit
verstorbenen Priester des Erzbistums, sondern bietet zugleich eine
Übersicht über ihr litterarisches sowie eine Statistik ihres charitativen
und sozialen Wirkens durch Zusammenstellung ihrer Schriften und
ihrer Vermächtnisse zu Stiftungen und den verschiedensten kirchlichen
und weltlichen Zwecken ; es ist also ein wertvoller Beitrag zur neuesten
Geschichte der oberrheinischen Kirchenprovinz. Der Kirchengeschicht-
liche Verein für das Erzbistum Freiburg zählt über 800 Mitglieder und
hat sich im Laufe des Jahres 1900 neu organisiert. Die ersten 27
stattlichen Bände seiner Zeitschrift wird er mit einem im Druck be-
r
— 207 —
Endlich en Register (von etwa 25 Druckbogen) als alte Folge ab-
schliefsend krönen.
Auf dem Arbeitsgebiet des Freiburger Diöcesan- Archivs ist ab
und zu noch ein zweites Organ thätig: das seit 1857 (ursprünglich bei
Herder, seit 1859 bei J. Dilger) erscheinende, anfänglich von dem
Kirchenhistoriker Alzog redigierte, 1899 ^ Oberrheinisches Pastoral-
blait umgewandelte Freiburger Katholische Kirchenblatt , das in
früheren Jahren auch viele geschichtliche und (von 1862 an) einige
Jahre hindurch a's Beigabe die Christlichen Kunstblätter als Organ
des christlichen Kunstvereins der Erzdiöcese Freiburg brachte, sonst
aber vorwiegend die praktische Theologie pflegt.
In Württemberg erscheint seit dem i. Oktober 1884 das Diöcesan-
Archiv von Schwaben (Stuttgart, in Kommission des Deutschen Volks-
blattes), Organ für Geschichte, Altertumskunde, Kunst und Kultur der
Diöcese Rottenburg und der angrenzenden Gebiete, jährlich in 12
Nummern. Es ist aus periodischen Beilagen des Rottenburger Pastoral-
blattes erwachsen , zieht die gesamte sog. Suevia sacra et sancta in
sein Bereich und enthält meist kleinere quellenmäfeige Arbeiten zur
schwäbischen Kirchen- und Profangeschichte. Gründer und langjähriger
Schriftleiter desselben ist der Pfarrer E. Ho feie, gegenwärtiger Heraus-
geber der Amtsrichter a. D. P. Beck in Ravensburg. Aus dem vor-
liegenden neuesten (18.) Jahrgange (1900) verzeichnen wir: Altertümer
und Kunstdenkmale des ehemaligen Wengenklosters in Ulm von M.
Bach; Bemerkungen zur christlichen Ikonographie von Fr. Mone;
Denkwürdiges aus der Geschichte des Klosters Wiblingen; Eulogius
Schneider und Schubart in Stuttgart, em Hofprediger und Hofpoet, von
P. Beck; L. Härbcr, Doppelpropst von Waldsee und Neustift, von
demselben ; die Klosterschule zu Schussenricd von demselben ; Kloster
Neresheim; Abtei Ochsenhausen; die Reichsabtei Weingarten im fran-
zösischen Überfall; Prämonstratenserkloster Roth; Schulordnung des
Reichsgotteshauses Weingarten vonP. Beck ; Kunststickerei im Kloster
Zwief alten u. s. w.
In Strasburg wurde im Jahre 1882 durch den gelehrten Dom-
kapitular P. Mury, den Verfasser einer Histoire de France, das Bulletin
eccUsiastique de Strasbourg in 12 Jahresheften ins Leben gerufen, dessen
Titel 1888 in Ecclesiasticum Argentinense mit deutscher Sprache imd
feiner archivalischen Beilage und 1899 in Stra/sburger Diöcesanblatt um-
gewandelt wurde (Strafburg, Druck von F. H. Le Roux & Co.). Die Re-
daktion ging 1888 von dem alternden Mury an den Domkapitular
J. Chr. Joder über, der sie noch inne hat und mit dem 18. Jahrgang
— 208 —
(1899) ci^ß neue Folge begann. Zum Hauptinhalte des Strafeburger
Diöccsanblattes gehören Abhandlungen aus dem Gebiete der allgemeinen
und vaterländischen Kirchengeschichte, Miszellen, gediegene Rezensionen
und periodische Litteraturberichte über die neuesten Erscheinungen,
um in zuverlässiger. Weise die Leser über den jeweiligen Stand der
kirchlichen Wissenschaft auf dem Laufenden zu erhalten. Aus dem
mit 1900 abgeschlossenen 19. Jahrgang seien hervorgehoben die Auf-
sätze: von P. Reinhold über das verschollene Kloster Marienbrunn,
von A. Adam zur Geschichte des Stifts Neuweiler, von N. Paulus
über den Polemiker Weislinger, von J. Seh midiin über St. Columban
im Sundgau, von A.Hoch über Abt Waldo von Metz und Erzbischof
Manasses von Reims, J. Le vys Regesten der Pfarrei St. Lorenzen u. s. w.
In Mainz begannen — neben dem Katholik, Zeitschrift für
katholische Wissenschaft und kirchliches Leben, hrsg. von J. M. Raich
(Mainz, Kirchheim, 80. Jahrg. 1900, jährl. 12 Hefte zu 6 Bogen 8®),
der auch das Gebiet der einheimischen Kirchengeschichte vielfach
berücksichtigt — am i. Oktober 1883 ^^^ Geschichtshlätter für die
mittelrheinischen Bistümer (vierteljährlich, bei Fr. Kirchheim) zu er-
scheinen, die, wie es in der Ankündigung hiefs, „ alles, was zur kirchen-
geschichtlichen Vergangenheit der Bistümer Limburg, Mainz und Trier
nebst angrenzenden Gebieten gehört", in das Reich der Betrachtung
ziehen wollten. Die Redaktion lag in den Händen des um die Mainzer
Kirchengeschichte hochverdienten Pfarrers Fr. Falk und schien sich die
Bestrebungen eines Gudenus, Helwich, Würdtwein u. a. zum Muster
genommen zu haben. Die Zeitschrift ist mir nicht zur Hand, so dafe
ich keine näheren Mitteilungen über sie zu machen vermag.
In Fulda besteht seit 1896 unter dem Vorsitze des Seminar-
professors Leimbach ein Historischer Verein der Diöcese
Fulda, der seit 1897 Mitteilungen (Fuldaer Aktiendruckerei, jähr-
lich 2 — 3 Bogen) herausgiebt. Von den letzt erschienenen Auf-
sätzen nenne ich die über den gegenwärtigen Stand der Rhabanus-
forschung, Beiträge zur Geschichte der klösterlichen Niederlassungen
zu Eisenach im Mittelalter, die Hessen und die Reformation, Akten-
stücke zur Säkularisation des Klosters Fulda, Beiträge zum Leben der
heil. Elisabeth, die Pfarrer von Grofsschlüder. Im Auftrage des Ver-
eins hat auch Hermann von Roques unlängst den i. Band eines
Urkundenbuches des Klosters Kaufungen in Hessen (Kassel, Drewfs &
Schönhoven, 19CX5) mit grofser Sorgfalt bearbeitet und herausgegeben.
Auch in den übrigen deutschen Bistümern bestehen wohl derartige
und ähnliche Vereine und Unternehmungen, worüber ich bei den be-
r
— 209 —
schränkten hiesigen bibliographischen Hülfsmitteln im Augenblicke
nicht berichten kann. Dagegen möchte ich noch auf drei sehr be-
kannte Seitenstücke und ältere Vorgänger der von Giemen genannten
Pfarrgeschichten des Erzbistums Köln und Herzogtums Oldenburg hin-
weisen, nämlich auf die musterhafte, von dem nachmaligen Münchener
Erzbischof A. von Steichele 1861 begonnene und von A. Schröder
bis zum 6. Bande fortgeführte Historisch-statistische Beschreibung des
Bistums Augsburg (Augsb., B. Schmid) und auf An t. Mayers Sta--
tistische Beschreibung des Erzbistums München-Freising, fortgesetzt
von A. Westermayer (3 Bände; München, Manz, 1874— 1884).
Ihnen folgte der Würzburger Universitäts- Bibliothekar J. B. Stam-
min ger im Jahre 1889 mit seiner Franconia sacra, Geschichte und
Beschreibung des Bistums Würzburg, in Verbindung mit dem Diöcesan-
Klerus herausgegeben (Würzburg, Bucher) und nach des Begründers
Tode fortgesetzt von Aug. Amrhein.
Aber auch protestantischerseits kommen für die Zwecke der Partial-
Kirchengeschichte aufser den von Giemen behandelten noch einige
ältere Werke in Betracht, wie beispielsweise die im Jahre 1875 von
Emil Zittel in Karlsruhe begründeten und in Gemeinschaft mit
Fr. Bechtel, K. W. Doli und Fr. W. Schmidt herausgegebenen
Studien der evangelisch-protestantischen Geistlichen des Gro/zherzog-
tums Baden (Karlsruhe, Braun), von denen ich allerdings nicht eu sagen
weifs, ob sie noch bestehen und welchen Zweigen der theologischen
Wissenschaft sie hauptsächlich gedient haben. Das Gleiche gilt von den
in den Jahren 1881 — 1887 von Wilh. Horning herausgegebenen
Beiträgen zur Kirchengeschichte des Elsasses vom XVL — XIX. Jahr-
hundert (Strafsburg, in Kommission bei N. Vomhoflf). Vielfach kirchen-
geschichtliche Abhandlungen enthalten auch die Theologischen Arbeiten
aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger -Verein (seit 1872
bei Friderichs in Elberfeld, seit 1897 in Neuer Folge bei J. G. B. Mohr
[P. Siebert] zu Freiburg i. Br. erscheinend). Endlich gehört ganz be-
sonders noch hierher der im Herbst 1897 gegründete Verein für die
evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark, der
seit zwei Jahren das oben S. 141 f. näher charakterisierte ybArie^^A des
Vereins filr die evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark
herausgiebt.
Auf alle Fälle ist aus der stattlichen Zahl der hier aufgeführten
Unternehmungen ersichtlich, dafs auf dem Gebiete der deutschen Partial-
Kirchengeschichte in beiden Lagern ein recht sehr reges Leben herrscht,
das zwar an das von den profangeschichtlichen Vereinen entwickelte
15
— 210 —
nicht heranreicht, aber, was seine Mittel wie seine Leistungen betrifft,
sich mit Ehren sehen lassen kann. Auf beiden Seiten mangelt es
allerdings auch nicht an Dilettantismus, doch ist es meist jener gesunde,
der, wie der bekannte württembergische Kirchenhistoriker G. Bossert
in seiner Schrift: Die historischen Vereine vor dem Tribunal der
Wissenschaft (Heilbronn 1883) so einleuchtend dargethan hat, ein
notwendiger und fruchtbringender Faktor der Geschichtsforschung ist.
Mitteilungen
Archiye» — Das herzoglich kurländische Archiv in Mitau. Von
H. Diederichs (Mitau). Als sich der Deutsche Orden in Livland auf-
löste, nahm der letzte Ordensmeister Gotthard Kettler, der unter pol-
nischer Oberhoheit säktilarisierter Herzog von Kurland und Semgallen ge-
worden war, 1562 das Ordensarchiv aus Wenden (Livland) mit sich nach
Mitau, wo er seine Residenz aufschlug. An die Urkunden und Schriftstücke
aus der Ordenszeit schlössen sich dann die Aktenstücke Gotthards und seines
Sohnes Friedrich an. Gustav Adolf eroberte 162 1 Schloüs und Stadt Mitau
und brachte das gesamte herzogliche Archiv nach Schweden. Die Archivalien
aus herzoglicher Zeit wurden später zurückgeliefert, dagegen blieb das gesamte
Ordensarchiv dort und befindet sich gegenwärtig im Reichsarchiv zu Stock-
holm ^). Im Jahre 1658 wurde das herzogliche Archiv abermals von den
Schweden nach Riga abgeführt und erst nach dem Frieden von Oliva 1660
zurückgegeben. Gleich beim Beginn des nordischen Krieges besetzten die
Schweden 1701 Mitau und fUhrten die Bibliothek und das Archiv des Herzogs
nach Riga, wo das letzte 20 Jahre geblieben ist, bis es endlich von Peter
dem Grofsen zurückgeliefert wurde. Dafs das Archiv durch diese häufigen
WegfUhrungen manchen Verlust erlitten hat, kann man sich leicht vorstellen.
Nachdem Kurland 1795 eine russische Provinz geworden war, eiÜtt
das herzogliche Archiv die schwerste Schädigung seines bisherigen Bestandes.
Weil die Archivräume zu anderen Zwecken verwendet werden sollten, wurde
1797 eine Kommission eingesetzt, die in kürzester Frist eine Teilung des
Archivs in drei Gruppen vorzunehmen beauftragt war: alle auf die herzog-
i) Hierzu schreibt der Redaktion Reichsarchivar Sam. Clason in Stockholm:
Nicht das gesamte Ordensarchiv ist in Stockholm. Wohl liegt ein Verzeichnis (gedruckt
bei Schirren, Verzeichnis livldndischer Geschichtsquellen in schwedischen Archiven
und Bibliotheken^ Dorpat 1867 — 1868) der 1621 in Mitan genommenen Aktenkon volnte
vor — 1098 Nnmmem — , aber von diesen selbst ist nur noch ein kleiner Teil vor-
handen. Unter den sonstigen Archivalien, die sich anf Estland, Livland and Kurland be-
ziehen, befinden sich viele, die von dort an die Schwedische Regierang gerichtet sind.
Aas der Ordenszeit (vor 1561) liegen an Akten nar etwa 20 Konvolnte vor, die meisten
gehören dem XVII. Jahrhandert an, aber allerdings sind über 900 Pergamentarkanden
(1224 — 1567) vorhanden. — Karländische Archivalien scheinen aas dem Schwedischen
Reichsarchive 1686 nach Kurland ausgeliefert worden zu sein.
— an —
liehen Gäter und <fie Finanzangekgenbcken skh benehenden Schnftstöcke
Würden dem Kamenlhof, d. h. der VeiwailtQng der Dominen lugewiesen;
alles, was sich anf Rechtsangdegcnbeitcn und Rechtsstreitigkeiten bezog,
wurde dem Obcrbo^ericht, dem höchsten Gerichtshofe des Landes, üb^
geben; der Rest, und das war allerdings die Hauptmasse, kam an die
Gonremementsregienn^. Die Teihmg wurde in gr^ster Hast durchgefilhrt,
<he Papiere durcheinander geworfen, die ganze bisherige Ordnung zerstört.
Das nm die Abtefltmgen i und 2 rerminderte herzogÜche Archir wurde in
einem Nebenraum der Gouremementsregierung im Schlosse zu Mitau untere
gebracht, die Papiere lagen hoch an%eschichtet auf der Diele, ohne Aul^
sieht und ohne Schutz. In diesem Zustande befimd sich das Archiv &st
60 Jahre, und es läfst sich denken, da& es in dieser langen Zeit durch
Fahrlässigkeit, Verschleppung und direkte Beraubung schwere Einbufse erlitten
hat Ein noch schlinaimeres Schicksal hatten die dem Kameralhof tlber^
wiesenen Archirstficke; sie wurden vor ungefiihr 30 Jahren ak »,alte unnütze
Papiere^ meisdnetend verkauft Endlich 1857 wurde das Archiv durch die
Bemühungen des damaligen Regierungsassessors Baron Alfons v. Heyking
sichergestellt Auf Kosten der kurländischen Ritterschaft wurden grofsc
verschliefsbare Schränke hergestellt und in diesen die Papiere untergebracht
Baron v. Heyking begann selbst auch eine Ordnung der Aktenstücke vor^
zunehmen und führte sie für die Zeit des gröfsten Herzogs von Kurland,
Jacob (1642 — 1681) einigermafsen durch; doch an der Fortsetzung der
Arbeit wurde er durch veränderte Berufsstellung verhindert Die kuriändische
Gesellschaft für Litteratur und Kunst in Mitau erhielt darauf vom
Minister des Inneren die Genehmigung, ihrerseits das Archiv zu ordnen und
zu benutzen. Sie betraute mit der Ordnung den damals in Mitau weilenden
Dr. Theodor Schiemann, jetzt Professor an der Universität Berlin, der
1875 ^^ Arbeit bis zum Jahre 1681 ausgeführt hat Da die Mittel der
Gesellschaft erschöpft waren, so übernahm die kuriändische Ritterschaft die
Kosten für die Weiterführung der Ordnung, die Schiemann 1881 zu Fjade
führte. Selbstverständlich handelte es sich dabei nur um eine Sichtung
der Archivalien im grofsen und ganzen, im einzelnen blieb noch sehr viel
zu thun übrig. Aber man hatte nun doch eine Übersicht, und der von
Schiemann angefertigte Katalog bot eine Handhabe zur Benutzung des Archivs.
In dem folgenden Jahrzehnt ist es denn auch mehrfach von polnischen und
schwedischen wie von einheimischen Historikern benutzt worden.
Über die Geschichte des Archivs hat eingehend H. Diederichs in
einem Aufsatz in den Sitzungsherichtm der Gesellschaft für Liiteraiur und
Kunst 1896, Seite 3 9 ff. gehandelt Über seine Ordnungsarbeiten und den Be-
stand des Archivs hat Schiemann bereits genaue Berichte in den Sitzungsberichten
derselben Gesellschaft von 1875 und 1881 abgestattet und sie dann zusammen-
gefafst in semem Buche Historische Darstellungen ttnd archiralische Studien
(Mitau 1886) von neuem veröffentlicht Aus der Ordenszeit enthält das
Archiv nur vereinzelte Pergamenturktmden, sein eigentlicher Wert beginnt mit
der Regierung Herzog Gotthards imd sebe gröfste Bedeutung hat es in der
Mt des Herzogs Jacob. Dieser, der eine Kolonie auf Tabago, einer der
kleinen Antillen, und Niederlassungen in Westafrika besafs, hatte Gesandte
an fi&st allen Höfen Europas und stand mit den meisten grofsen Mächten
15*
— 212 —
in Verbindung; die Berichte seiner Abgesandten und Agenten aus Paris, dem
Haag, Stockholm, Warschau, vom Regensburger Reichstag und aus Berlin
bieten vielfach historisch wertvolle Nachrichten. Die wichtigsten Beziehungen
waren für die kurländischen Herzöge stets die zu Polen, Brandenburg und
Schweden; für die Geschichte dieser Staaten enthält daher auch das Archiv
bedeutendes Material. Es versteht sich von selbst, dafs Schriftstücke, welche
die Verwaltung des Landes und die inneren Angelegenheiten Kurlands be-
treffen, ebenfalls in grofser Zahl vertreten sind. Für die Geschichte des
nordischen Krieges enthält das Archiv viel wichtige Akten, indem das ge-
samte Kriegsarchiv des Grafen Adam Lewenhaupt, der bis 1709 der oberste
schwedische Befehlshaber in Kurland war, sich hier vorfindet Aus der ersten
Regierungsperiode des Herzogs Ernst Johann Biron (von 1737 bis 1740),
in der er die Politik Rufslands leitete, finden sich z^üreiche auf die euro-
päischen Verhältnisse bezügliche Aktenstücke vor. Dagegen ist das Archiv
sehr arm an diplomatischen imd politischen Schriftstücken aus der letzten
Zeit des Herzogtums von 1762 — 1795, da Herzog Peter, als er Kurland
für immer verliefs, alle die Staatsangelegenheiten betreffenden Papiere mit sich
fortgenommen hat; sie befinden sich jetzt in Sagan ^).
Schon aus diesen kurzen Andeutungen und weit mehr noch aus Schie«
manns ausführlichen Mitteilungen am angeführten Orte ist ersichtlich, dafs
das kurländisch herzogliche Archiv, trotz aller Einbufsen, die es im Laufe
der Zeiten erlitten hat, eme weit über die Geschichte Kurlands hinausgehende
Bedeutimg besitzt Die Benutzung desselben war aber auch nach der Ordnung
wesentlich erschwert durch seine Aufstellung im Vorraum der Gouvernements-
regierung, wodurch ein ungestörtes Arbeiten unmöglich wurde, ziunal auch
Tische und sonstige Arbeitshilfsmittel vollständig mangelten. Um diesen un-
würdigen Zustand zu beseitigen, haben sich sowohl die Gesellschaft für
Litteratur und Kunst als auch die Ritterschaft wiederholt bemüht, das
Archiv, welches doch nur historisches Interesse hat, ihrer Obhut und Ver*
waltung anvertraut zu erhalten. Seit 1888 war es ganz tmzugänglich,
auch die Mitglieder der Gesellschaft für Litteratur und Kunst hatten keinen
Zutritt, ja es tauchte in Petersburg der Plan auf, die Bestände dem Reichs-
archiv in Moskau einzuverleiben, wodurch es für die einheimische Geschichte
so gut wie unbenutzbar geworden wäre. Da wurde 1898 auf allerhöchsten
Befehl vom Minister des Inneren eine besondere Kommission eingesetzt, be-
stehend aus je einem Vertreter der Ministerien des Inneren, des Krieges und
der Justiz, sowie aus einem von der kurländischen Ritterschaft und einem
von der Gesellschaft für Litteratur und Kirnst gewählten Mitgliede. Diese
Kommission erhielt den Auftrag, den Inhalt und Wert des Archivs zu imter-
suchen und darüber dem Minister Bericht zu erstatten. Sie hat mehrere
Sitzungen abgehalten und beschlossen, sämtliche Aktenstücke, um
weitere Verluste zu verhüten, abzustempeln, an Stelle des
auf seltsame Weise verlorengegangenen Schiemannschen Kata-
i) Auf eine Anfrage bei Herrn Pfarrer Heinrich in Sagan, der das Herzogl. Archiv
gut kennt, geht der Redaktion die Mitteilung zu, dafs das allerdings nicht fachmännisch
bearbeitete Repertorinm die bezeichneten Akten nicht kennt. H. hat bei seinen Arbeiten
nie etwas von kurländischen Archivalien entdeckt, and wenn wirklich etwas da sein
sollte, kann nach seiner Ansicht die Masse jedenfalls nicht allzu grofs sein.
— 213 —
logs einen ceces ia r;issischer Spraiche aiaiuferttgett und
durch den Dr:ick la Tcröffcntlichea, vor aiilem »ber an den
GouTcrnear das Ersuchen xa richten, das Archiv in einen
andern, für die Arbeiten eceisrneten Ranm äheriufuhreiu FUr
die Anscha&mg des cödzcn Inrentars an Tbchen und Srahlen« tur Be«
leochtnng nnd Hi4m«g Bedienai^ Papier o. s^ t. wurden roa der Regtemo^
500 Rnbd eibeten. Die Ordnong übercahmen die gelehiten Mi^^iÜeder der
Kommisaon, d. h. die Vertreter der Ritterschaft und der GeseUschatt tur
IJtteialur and Knnsc nnter ihrer Leitung und Ansicht solhe cüe e)^^^ntHohe
Arbeit ron einem jungen Historiker, Oberlehrer H. Lichtenstein» axts-
geführt werden. Die erbetene Samme ist von der Staatsregterung bewiUigt
worden, das Archir ist in einen heflen, hiftigen Raum des Schloi^ses über-
gefühlt, wo sich aDes zum Arbeiten Eiforderhche vorfindet; die Abstempehing
ist bei dem größeren Teil der ArchivaHen bereits ausgeführt und durch
die eifrige Thatigkeit des Präsidenten der Kommission, des Herrn Barons
A. T. Meyendorff, und des Oberlehrers Lichtenstein ist die Inventarisierung
der Archivalien ebenfiJb bereits gröfstenteils durchgeführt. Leider hat Ober^
khrer Lichtenstein, der für seine Arbeit von der kuriändischen Ritterschaft
honoriert worden ist, infolge seiner Berufung zum Stadtarchi>'ar in l>>rpat
die Inventarisienmg nicht beenden können, an seine Stelle ist jetzt Ober-
lehrer O. Stavenhagen getreten. Somit steht zu hoffen, dafs das hcnv>g-
Kche Archiv, wenn auch wie bisher Eigentum der Regierung, doch in Mitau
bleiben und künftig von einem historisch geschulten Archi\*ar« der von der
kurländischen Ritterschaft bezahlt werden soll, verwaltet werden wird* l>ann
wird es auch der wissenschaftiichen Benutzung allgemein zugiinglich sein!
In Rosenheim (Oberbayem) hat der Magistrat ein Stadtarchiv er-
richtet: auf Grund einstimmiger Berufung seitens der beiden städtischen
Kollegien wurde der dortige Präparandenlehrer Ludwig Eid als Stadt-
archivar diensteidUch verpflichtet.
Eommissioiien. — Die seit 1876 bestehende Historische Kom-
mission für die Provinz Sachsen, wie sie bisher hiefs, hat seit ihrer
26. Sitzung (zu Weifsenfeis 30. Juni und i. JuU 1900) den Namen Historische
Kommission für Sachsen-Anhalt angenommen: es ist somit auch
das Herzogtum Anhalt erfreulicherweise in die Zahl der Staaten
bezw. Provinzen eingetreten, welche für die Erschliefsung
ihrer Geschichtsquellen eine Organisation besitzen. Die Be-
teiligung Anhalts an den Arbeiten ist so geregelt worden, dafs die Anhal-
tische Staatsregierung jederzeit em Zehntel derjenigen Summe zu den Kosten
der Kommission beiträgt, die der Landtag der Provinz Sachsen fllr dieselbe
aussetzt, doch abzüglich des fUr die Zwecke des Provinzialmuseums be-
stimmten Beitrags. Dafür treten ein Abgeordneter des Hcrzgl. Stantsmiui-
steriums (Geh. Bergrat Lehmer-Dessau), der Herzgl. Staatsarchivar (Geh.
Archivrat Kindscher-Zerbst) und ein Vertreter des Vereins (\Jr Anhaltisrhc
Geschichte und Altertumskunde (Prof. Wäschke- Dessau) in die Kommission
ein. Ihr Aufwand belief sich im Jahre 1 899/1 900 auf 37105 Mark. Die
wissenschaftlichen Veröffentlichungen gliedern sich in vier Abteilungen : i . dC'
— 214 —
sdiiditsqueUen der Provint Sachsen und angrenzender Gebiete, 2. Besehreibende
Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen und
angrenzender Gebiete unter Zugrundelegung der Einteilung der Provinz in land-
rätliche Kreise, 3. VorgeschicJitlidie Altertümer der Provinz Sachsen und an-
grenzender Gebiete. 4. Verzeichnis der Wüstungen und wüsten Ortschaften in
der Provinz Sachseti und den angrenzenden Gebieten, Aufserdem erscheint seit
1877 jährlich ein Heft der für weitere Kreise bestimmten Xeujahrsblätter *), und
aus besonderer Veranlasstmg werden Gelegenheitsschriften veröffentlicht Im
Jahre 1 899/1 900 wurde der dritte Band des Urkundenbuchs der Stadt Goslar
(1301 — 1335) im Drucke fertig gestellt, auch der Druck der Chronik des
Konrad Stolle sieht dem Ende entgegen. Mehr oder weniger gefördert wurde
die Arbeit an den Urkimdenbüchem des Klosters Unser lieben Frauen zu
Halberstadt, der Stadt Halle, des Domkapitek Naumburg-Zeitz, des Hoch-
stifts Zeitz und des Klosters Pforte, sowie an dem Erfurter vca-ietaium varv-
loquus. Als neue Unternehmungen smd geplant die Kopialbücher der Stadt
Mühlhausen 1382— 1803, die politische Korrespondenz des Kardinal-Erzbischofs
Albrecht von Brandenburg, sowie Nefie Beiträge zum Briefwechsel von Luther,
Justus Jonas, Bugenhagen, Brenz und verwandte SchriftstUcke , welche letz-
teren bereits fast druckfertig bearbeitet von Nikolaus Müller vorliegen. —
Von der Beschreibung der Bau- imd Kunstdenkmäler') ist der 22. Band
(Stadt- und Landkreis Halberstadt) im Drucke £äst vollendet, ein weiterer Band
(Kreis Wittenberg) ist im Manuskript fertig gestellt, während die Arbeit in den
Kreisen Aschersleben, Zeitz, Schleusingen, Ziegenrück und Stendal bereits rüstig
fortgeschritten ist. — Mit grofsem Eifer wird die Erforschung der vorgeschicht-
lichen Altertümer verfolgt ; die Vorgeschichtliche Wandtafel ist in einer Auflage
von 6000 Exemplaren hergestellt worden, tmd in mehreren Kreisen sind Be-
schreibungen aller vorgeschichtlichen Funde in Angriff genommen worden. Auch
Wüstungsverzeichnisse, Flurkarten , Grundkarten ') und geschichtliche Karten
werden hergestellt: für letztere hat die Kommission bereits im August 1898 eine
Liste der Zeichen aufgestellt, die fUr bestimmte oft wiederkehrende Eintragungen
zu verwenden sind (Vgl. dazu Bd. I dieser Zeitschrift, S. 125 — 130). —
Auf Antrag des Archivdirektors Ausfeld (Magdeburg) wird beschlossen, die
kleinen Archive in Sachsen-Anhalt inventarisieren zu lassen und zu diesem
Zwecke jährlich 1500 Mark in den Haushalt einzustellen.
Personalien. — Der a. o. Professor der Geschichte an der Technischen
Hochschule zu München Richard Graf du Moulin-Eckart wurde zum
Ordinarius befördert Gymnasialrektor Gottlob Egelhaaf in Stuttgart er-
hielt einen Lehrauftrag für Geschichte imd Kulturgeschichte an der Tech«
i) Als 24. Heft erschien Hermann Lorenz: Alt • Quedlinburg ^ seine Einrick*
tungen und Bürgersiiten während der kursächsischen Schuixherrschaft (1477 — t6g7j,
geschildert nach seinen Paurgedingen und Rathsrechnungen (Halle 1900. 71 S. 8*.
M i). — Derselben löblichen Gewohnheit huldigt „Die Badische Historisdie Kom-
mission <*: 1891 bis 1897 erschienen sieben Hefte der Badischen Neujahrsblätter ^ seit
1898 aber — 1901 ist das vierte Heft — Neujahrsblätter der Badischen Historischen
Kommission, Neue Folge (Heidelberg, Winter).
2) Vgl. den ersten Band dieser Zeitschrift, S. 276.
3) Vgl. L Band, S 33flL
— 215 —
nischen Hochschule daselbst. Der Ordinarius für alte Geschichte in Erlangen
Robert Pöhlmann wurde in gleicher Eigenschaft nach München berufen,
sein Nachfolger in Erlangen wurde der bisherige a. o Professor in Czemowitz
Walther Judeich. Der Direktor des österreichischen historischen Instituts
in Rom« Sektionschef Th. t. Sickel, 1857 — 1890 Prof. an der Universität
Wien, trat 74 Jahre alt in den Ruhestand. Zu seinem Nachfolger wurde
Ludwig Pastor, Prof. der allgemeinen Geschichte in Innsbruck, ernannt.
Der bisherige Privatdozent in Berlin Martin Spahn wurde als a. o. Professor
für neuere deutsche Geschichte nach Bonn berufen, Samuel Steinherz,
bisher Privatdozent in Wien, als a. o. Professor für geschichtliche Hilfswissen-
schaften an die deutsche Universität Prag. — Der bisherige Privatdozent an
der Universität Leipzig Walter Götz trat in gleicher Eigenschaft in den
Lehrkörper der Universität München em. Ebendort habilitierte sich Paul
Darmstädter, desgleichen in Königsberg der dortige Stadtbibliothekar
August Seraphim. In den Ruhestand traten in Tübingen der Rechts-
historiker Friedrich v. Thudichum, 69 Jahre alt, und in Bonn der
Kunsthistoriker Karl Justi, 68 Jahre alt
Es starben am 25. November 1900 der Oberbibliothekar Wilhelm
Müldener in Greifswald, 70 Jahre adt; in Reval am 9. Dezember 1900
der um die Lokalforschung daselbst verdiente Staatsrat Eugen v. Nott-
beck, 58 Jahre alt; am 11. Dezember 1900 zu Bern der dortige Universitäts-
bibliothekar Emil Kurz; am 20. Dezember 1900 der Oberbibliothekar an
der Leipziger Universitätsbibliothek JosephFörstemann, der Herausgeber
des Urkimdenbuchs der Stadt Leipzig, Bd. III, 60 Jahre alt; am ? Januar
in Frankfurt a. M. der frühere Haus- und Staatsarchivar zu Darmstadt Arthur
Wyfs, 48 Jahre alt; am 10. Februar in Meran der um die ethnographische
Erforschung Schleswig-Holsteins verdiente erste Kustos am Museum vater-
ländischer Altertümer mKielWilhelm Splieth, 37 Jahre alt; am 23. Februar
in Tübingen Prof. Lothar v. Heinemann, 42 Jahre alt; am i. März in
Heidelberg Prof. Bernhard Erdmannsdörffer, 67 Jahre alt; am 6. März
in Leipzig Prof. Karl Biedermann, 88 Jahre alt.
Der Direktor des Kgl. Staatsarchivs zu Breslau Colmar Grünhagen
trat 72 Jahre alt in den Ruhestand. An seine Stelle trat Meinardus,
bisher in Danzig. Jean Lulv^s, bisher Mitglied des Preufsischen Histo-
rischen Instituts in Rom, wurde als Archivar an das Staatsarchiv Han-
nover versetzt; der bisherige Assistent daselbst Erich Fink an das Staats-
archiv Düsseldorf. — An Stelle des am 16. August 1900 verstorbenen
Kgl. Bayer. Kreisarchivars M a y e r h o fe r in Speier wurde der bisherige Sekretär
am Kreisarchiv daselbst FranzGlasschröder zum Kreisarchivar ernannt.
Auch als Redakteur der Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz ist
der neue Kreisarchivar seinem Amtsvorgänger gefolgt, unter dessen Leitung
Band XV — XXIV dieser Zeitschrift erschienen sind. — Der Direktor des
Kgl. Württembergischen Haus- tmd Staatsarchivs in Stuttgart Staatsrat August
v. Schlofs berger wurde unter Ernennung zimi Ehrenmitglied der Kgl.
Archivdirektion in den bleibenden Ruhestand versetzt. An seiner Stelle wurde
Geh. Archivrat v. Stalin zum Direktor ernannt. Die dadurch frei werdende
Stelle eines Archivrates erhielt Archivassessor tit Archivrat EugenSchneider,
während Archivrat Ottov. Alberti zimi Geh. Archivrat befördert wurde. —
— 216 —
In Österreich wurden die Archivare Karl SchornbÖck und Sebastian
Böttner zu Archivdirektoren zweiter Klasse extra statiun, der Offizial im
Ministerium des Innern Franz Müller zum Archivar ernannt — In Reval
wurde am i . März 1 900 Otto Greif fenhagen ziun Stadtarchivar bestellt, in
Dorpat Hugo Lichtenstein. Die Stadt Erfurt übertrug das Amt des Stadt-
archivars dem bisher am Staatsarchiv in Münster thätigen Dr. Overmann.
Zum Direktor der Herzogl. Bibliothek zu Dessau wurde Professor Arthur
Kleinschmidt, bisher in Heidelberg, ernannt Theodor Laengin,
Hilfsarbeiter an der Universitätsbibliothek in Freiburg i. B., wurde ab Universitäts-
bibliothekar nach Bern berufen. In Graz trat Prof. Hans v. Zwiedineck-
Südenhorst ab Landesbibliothekar in den Ruhestand, zu seinem Nach-
folger wurde der bisherige Skriptor Wilhelm Fischer bestellt Zum
Oberbibliothekar an der Universitäts- und Landesbibliothek in Strafsburg wurde
der bisherige Bibliothekar Prof. Oskar Meyer ernannt
Zu Konservatoren der Centralkommission zur Erforschung
und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale in Wien
wurden ernannt der Architekt und Prof. an der Akademie der bildenden Künste
in Wien Victor Luntz, der Landesarchivar in Linz Ferdinand Kracko-
wizer und der Oberst a. D. Victor Freiherr v. Handel-Mazzetti.
Elngregangene Bfieher.
Albert, Peter P. : Baden zwischen Neckar und Main in den Jahren 1803 — 6-
Heidelberg, Carl Winter, 1901. 91 S. 8<> [= Neujahrsblätter der
Badischen Historischen Kommission. Neue Folge 4. 1901].
Buttmann, Rudolf: David Königs Beschreibung der Konstitution des
Herzogtums Zweibrücken (1677) mit amtlichen Ergänzungen aus dem
Jahre 1693 und Otto Heinrich Webek Bericht an die kgl. schwedische
Regierung über die Verhältnisse des Fürstentums Zweibrücken 1704.
Zweibrücken, August Kranzbühler, 1900. 96 S. 8<> [= Mitteilungen des
Historischen Vereins der Mediomatriker fiir die Westpfsdz in Zweibrücken I].
Dietz, Alexander: Die Handelsbeziehungen zwischen Lothringen und
Frankfurt a. M. [= Sonderabdruck aus der Frankfurter Zeitimg vom
7. Januar 1901].
Erben, Wilhelm: Zur Deutung der Klingeninschrift Fringia [= Sonder-
abdruck aus der Zeitschrift für historische Waffenkunde. Band I, Heft 5].
Erben, Wilhelm: Ursprung und Entwicklung der deutschen Kriegsartikel
[= Sonderabdruck aus den Mitteilungen des Instituts für österreichische
Geschichtsforschung, Ergänzungsband VI]. 57 S. 8<>.
Er misch, Hubert: Die Wettiner und die Landesgeschichte. Festrede zur
7 5 jährigen Stiftungsfeier des Königlich Sächsischen Altertumsvereins, ge-
halten auf der Albrechtsburg zu Meifsen am 26. September 1900. Leipzig,
B. G. Teubner, 1900. 33 S. 8^ M. 0,80.
Eschbach, P. : Die Universität Duisburg unter französischer Verwaltung
[= Sonderabdruck aus dem Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvercins,
15. Band, 1900].
G e f f c k e n , Heinrich : Zur Geschichte des Deutschen Wasserrechts [= Sonder-
abdruck aus der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte,
Germanist Abt 1900, S. 173 — 217].
Hermusgeher Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Goduu
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Förderung der landesgescMchtlicben Forschung
II. Band Juni 1901 9. Heft
Der W^i'degang des historischen Atlasses
der östeffeiehisehen Alpenländer
Von
Anton Kapper (Graz)
Wo das Interesse an den Problemen der historischen Geographie
rege ist, mufe der Aufsatz von Anton Meli: Der camitatus Liupoldt
^nd dessen Auftheüung in die Landgerichte des i^, Jahrhunderts.
Text- und Kartenprobe zum historischen Atlas der österreichischen
Alpenländer (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung XXI. Bd., S. 385 — 444. Auch S. A.) Beachtung finden und
■die Beurteilung der Fachgenossen herausfordern. Bevor wu* in die
Besprechung des Aufsatzes selbst eingehen, sei kurz der Werdegang
-des historischen Atlasses skizziert.
Bereits Josef Chmel erkannte die Notwendigkeit, die Thatsachen
des geschichtlichen Lebens durch Karten zu fixieren, sie gewisser-
malsen zu illustrieren, um dadurch das Verständnis des Gelesenen zu er-
leichtem und eine rasche Orientierung zu ermöglichen. Seit Gründung
-der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien (1847) hatte er
auch Gelegenheit, seine Lieblingsidee, die Schaffung eines historischen
Atlasses, zu vertreten. Er hoffte durch dieses Institut das schwierige
Werk ausgeführt zu sehen, das die Kräfte eines Einzelnen bei weitem
überstieg und auch heute noch übersteigt trotz des grofsen Fort-
schrittes, den die Quellenforschung indessen gemacht hat. Gelegent-
lich eines Vortrages*) (24. Nov. 1847) über die Angaben, die sich
-die Akademie zu stellen habe, warf er zuerst das Problem des histo-
rischen Atlasses auf. Er machte auf den auffallenden Mangel an guten
Karten, die ein vorzügliches Hilfsmittel für das Verständnis der Ge-
schichte seien, aufmerksam, und wünschte zunächst einen historischen
Atlas für das Mittelalter. „Für die Vergangenheit ist ein histo-
l) Sitznngsberichte der Kais. Akademie der Wissenschaften, 1848, I. Heft, S. ö2.
16
— 218 —
rischer Atlas, der die allmähliche Kolonisierung, die Besitzverän-
derungen, die verschiedenen Arten des Besitzes, die Grenze
der Gerichtsbarkeiten nachweist, besonders erwünscht Eine der
schwierigsten, mühsamsten und zeitraubendsten Arbeiten, — wozu das
genaueste Studium aller Dokumente, Urbare u. s. w. nötig ist." Mit
dem Atlas müsse natürlich auch ein genügender Text verbunden
sein, der das Graphische rechtfertigt. Die Akademie möge die An-
fertigung solcher historischer Karten (nach Provinzen) veranlassen, und
zu diesem Zwecke Terrainkarten herstellen lassen, in denen die
nachweisbaren Bezeichnungen, Grenzen, Orte u. s. w. eingeschrieben
werden sollen.
Die Akademie ging auf seinen Vorschlag ein und liefe durch das
militärgeographische Institut Karten herstellen, wovon er Palacky in
einem Briefe von 1850 *) freudig MitteUung machte. Gleichzeitig ent-
wickelte er ihm auch sein Programm, wie er sich eigentlich den
historischen Atlas denkt. Die Terrainkarten sollen in sechs Blättern
im Malsstabe der Generalkarte des General-Quartiermeisterstabes aus-
geführt werden und das Gebiet Regensburg — Prefeburg und Budweis —
Venedig umfassen. Dadurch deckt sich das Programm Chmels um-
fänglich fast vollständig mit dem des historischen Atlasses der öster-
reichischen Alpenländer, nur mit Ausschlufs von Westtirol. Die Karten
sollen mit einer zweckmäfsigen Instruktion an Geschichtsforscher und
Kenner der Geographie und Topographie des Mittelalters behu£s Ein-
tragung hinausgegeben werden, diese ihre Eintragungen nach den
von ihm vorgeschlagenen Zeiträumen machen, und zwar für I. die
Zeit Karls d. Gr. c. 800, II. die Zeit nach dem Beginne der Baben-
berger c. 1000, III. die Zeit der Erhebung der Markgrafschaft zum
Herzogtume 11 56, IV. die Zeit des Erlöschens der Babenberger 1246
und V. die Zeit des Königs Ottokar II. 1278. Dadurch soll nach und
nach aus fünf verschiedenen Zeittäumen ein Bild der politischen und
kirchlichen Gestaltung der auf diesem Terrain liegenden Länder geliefert
und in einem eigenen Textblatte die Nach Weisung und B^ründung
der Eintragungen gemacht werden.
Wir sehen da also einen Vorläufer der Thudichumschen
Grundkarten'), aber auf der für Osterreich allein zweckmäßigen
Basis: keine Rücksichtnahme auf die Gemeindegrenzen,,
1) Desgl. Jhrg. 1850, L Abth., S. 55—64.
2) Über dieselben vgl. Band I dieser Zeitschrift S. 33—41 aod S. 113 — 131, S. 13s
(Pommern) S. 301 — 203 sowie Band 11, S. 58.
— 219 —
während andrerseits die Aufgabe so bezeichnet ist, wie sie der Ge--
schichtliche Ailas der Rheinprovinz für dieses Gebiet zum Teil bereits
verwirklicht hat.
Chmels Bestrebungen fielen aber auf wenig fruchtbaren Boden,
auch bei den interessierten Kreisen scheint er kein rechtes Verständnis
für die historische Topographie gefunden zu haben, und er läfst sich
über die allgemeine Teilnahmslosigkeit seinem Probleme gegenüber
185 1 ') recht bitter aus. „Unter allen akademischen Unternehmungen
hat bisher noch am wenigsten Teilnahme und Unterstützung der von
der historischen Kommission beantragte Historische Atlas für Alt'
Österreich gefunden. Das darf nicht befremden. Der kritischen und
gewissenhaften Geschichtsforscher sind überhaupt nicht viele in unserem
Vaterlande, und dann gehören topographische und geographische Studien
des Mittelalters zu jenen Partien, welche ganz besondere Mühe und
Sorgfalt erfordern und noch dazu Kenntnis des Terrains und der
Lokalitäten.** Da Chmel das Problem angeregt hatte, so fühlte er
dafür auch eine gewisse Verantwortung und ist nicht wenig beunruhigt
über den Mangel der Teilnahme und Berücksichtigung seitens der
Fachgenossen '). Ein so weit ausschauendes Unternehmen sei bedingt
durch die regste Teilnahme vieler und tüchtiger Geschichts-
forscher. Deren Mangel sowie die moralische Verpflichtung, die
von ihm ausg^angene Idee nicht fallen zu lassen, zwangen ihn wenigstens
den grölsem Teil der dazu nötigen Vorarbeiten selbst zu übernehmen.
Er hatte deshalb im Notizenblatte 185 1 (Beilage zum Archiv für Kunde
österreichischer Geschichtsquellen) eine eigene Abteilung : Historischer
Atlas für Alt' Österreich, seit 1853 Historischer Atkts und Statistik
des Mittelalters eröffnet, woran sich aulser ihm nur wenige Mitarbeiter,
wie Meiller, Stülz, Bielsky, Zahn und Wirmsberger be-
teiligten, denn der grölste Teil der Abhandlungen während des ganzen
Bestandes des Notizenblattes (es hörte ein Jahr nach Chmels Tode 1858
zu erscheinen auf und sein Inhalt erschien in dem von 2 auf 3 Bände
erweiterten Archiv) ist aus seiner Feder geflossen.
Schon 1854 scheint Chmel sein Thema zu den verlorenen gezählt
zu haben, denn er sagt in einem Aufsatze über die Pflege der Ge-
schichte und Statistik in Osterreich seit dem Jahre 1848 % was geleistet
werden könnte und sollte, dafs die Pflege der Geographie, Ethno-
i) Noüzenblatt I, 268 f.
2) Sitznngsb. 10, S. 207.
3) Desgl 13, S. 4.
16*
— 220 —
graphie, Topographie und Statistik eine einer Akademie würdige
Aufgabe sei, die auch die Initiative ergreifen soll, alle im Staate lebenden
Gelehrten für ein solches Unternehmen zu gewinnen. Dazu mü(sten
allerdings grolsartige Mittel gefunden werden, da insbesondere viel-
faltige Reisen und Untersuchungen an Ort und Stelle notwendig seien.
Von da ab trat der historische Atlas mehr in den Hintergrund,
obwohl speziell in Steiermark bis zum Auftreten E. Richters, der
1885 das Problem in seinen Unterstuhungen zur historischen Geo-
graphie des ehemaligen Hochstiftes Sakburg und seiner Nachbar-
gebiete (Mit einer Karte) *) wiederum aufgriff, an wertvollen Vorarbeiten
im steten, wenn auch gewisserma&en unbewufsten Hinblicke auf dieses
Thema nicht Unwesentliches geleistet wurde ').
E. Richter, damals Professor am k. k. Staatsgymnasium in
Salzburg, war in achtjähriger Beschäftigung mit der Sache zur Ansicht
gekommen, dafs nicht durch die Ansammlung einer grofsen Menge
topographischer Details die Probleme der historischen Geographie ge-
löst werden könnten, sondern nur durch die Aufsuchung der admini-
strativen und gerichtlichen Abgrenzung. Dadurch war
Chmels Standpunkt bereits überholt und Richters Problem ist an Um-
fang und Methode ein anderes. Der Grundsatz, den er in spezieller
Anwendung auf die Salzburger Verhältnisse, die dort infolge der
1) I. Ergb. d. Mitt. d. lostitats f. österr. Gesch. S. 590—738.
2) Anfser den älteren Werken Ton C. Schmutz: Histor^-Topograph, Lexikon von
Steiermark, 4 Bde., 1821 — 1823 und G. Göth: Das Herzogtum Stetermark geogrmph.-
itatist.-topogr. dargestellt n. s. w., 3 Bde., 1840 — 1843, (nur fUr das Oberland. Für
Untersteiermark als Mskr. im steiermärkischen Landesarchire) seien hier erwähnt: t. Feli-
cettis Topographische Studien II: Steiermark im Zeiträume vom VIII. bis XILJhrh,
a. s. w. Mit Karten. (Beitr. z. K. steierm. Gesch. 9. n. 10. Heft, Jhrg. 1872 n. 1873);
die Ton der k. Akad. d. W. heransg^ebenen Österreich. Weistttmer (die steir. kämt,
Taidinge t. Bischoff-Schönbach, 1881); t. Zahn: Steiermark, Urkundenbuch,
2 Bde., 1875 — 1879. Der 3. im Erscheinen begriffen; Derselbe: Ortsnamenbuch der
Steiermark im Mittelalter (1893) ^^^ dessen verschiedene histor.-topograph. AoMtze;
A. Meli: Die mitUlalterlichen Urbare n. s. w. Beitr. etc. 25. Heft, Jhrg. 1893; Der-
selbe: Das Landgericht Limburg, Archiv. Mitt, d. k. k. Central-Komm. f. K. n. h.
Denkm., IIL Bd. (1894) sowie dessen zerstreute wirtschaftsgeschichtliche Studien;
J. A. Janisch: Topogr, ^Statist. Lexikon v, Steiermark, 3 Bde., 1878; Bidermann:
Die Grenze rwischen Ungarn und Steiermark. (Beitr. z. K. steierm. Gesch., li. Heft,
Jhrg. 1874); Le Maire: Das Landgericht der Herrschaft Burgau. Mitt. d. histor. V.
f. Steierm., 14. Heft, Jhrg. 1865. Die weiteren Litteraturangaben für Steiermark
siehe bei A. Schlossar: Die Litteratur der Steiermark, wo S. 41—46 die bis l886
erschienenen Druckwerke und Karten zusammengestellt sind. Ober die Kartenwerke spezidl
vgl. „Grazer Tagespost'' 1879 «d Nr. 165.
— 221 —
bairischcn Nachbarschaft etwas glücklicher liegen als z. B. in Steier-
mark, aussprach, dais mit der Landgerichtskarte vor 1849 be-
gonnen und der Atlas rückläufig gemacht werden müsse, ist für
die gesamten österreichischen Alpenländer gültig.
Es war H. v. Jireöeks Schrift: Unser Reich vor 2000 Jahren.
Eine Studie zum historischen Atlas der Österreich -ungarischen
Monarchie, worin der Verfasser 1893 iur die Schafiimg eines histo-
rischen Schulatlasses bis zum X. Jahrhundert für die ganze Monarchie
eintrat, die Richter Veranlassung gab, das Problem des geschichtlichen
Atlasses neuerdings au&uwerfen und dasselbe näher zu umschreiben in
seinem Aufsatze: Über einen historischen Atlas der österreichischen
Alpenländer ^). Da aber diese Gelegenheitsschrift nicht allgemein zu-
gänglich war, brachte er die Sache 1896 nochmals vor als Vortrag auf
der vierten Versammlung deutscher Historiker zu Innsbruck, der dann
im Wesentlichen gedruckt erschien unter dem Titel: Nochmals der
geschichtliche Atlas der österreichischen Alpenländer*). Der Ge-
dankengang in den zwei Schriften ist kurz folgender.
Nicht die in den Quellen vorkommenden Ortsnamen seien das
Wesentliche, das die Karte bieten soll, sondern die Darstellung
der Flächenverteilung, der politischen wie der administra-
tivenAbgrenzungen. Diese sind für unsere Tjcü leicht darzustellen,
nicht aber für den mittelalterlichen Lehensstaat, in dem die Summe
der persönlichen Einzelberechtigungen und nicht der Besitz eines Reichs-
amtes das thatsächliche Machtverhältnis ergiebt, in dem die zahlreichen
Reichs- und Kirchengüter und der Lehensbesitz der grolsen Adels-
geschlechter mit ihren Rechten den Begriff eines geschlossenen
herzoglichen Territoriums aufheben. Es können aber doch
diese Besitzverhältnisse kartographisch festgestellt werden, wenn man
die Abgrenzungen der Herrschaften und Gerichte von jener Zeit an,
wo wir ausführliche Nachrichten über sie haben, zurückverfolgen. D a
die Landgerichtsgrenzen durch Jahrhundertc hindurch
sich nicht änderten, die alten Grafschaften also aus mehreren
Landgerichten bestehen, so muis man die mittelalterlichen Zustände,
bezw. ihre Reste, in ihrem End Stadium fixieren, und sodann rück-
läufig den historischen Atlas arbeiten. Zunächst seien die
i) lo der FesUchrift anläftlich des 60. GeborUUges Fr. t. Kroaes, 1895.
2) V. Ergb. d. Mitt d. Inst. f. österr. Gesch. S. 62—75. Vgl. auch seinen AnfssU Neue
Erörterungen Mum historischen Atlas der österreichischen Alpenländcr im VL Ergb. d
Inst. f. österr. Gesch. (Sickd-Festschri(t) und den Bericht Ober Fortgang der Arbeit im
L Bd. dieser Zeitschrift, S. 28.
— 222 —
Landgerichtsgrenzen zu ermitteln, wie sie vor der Neuordnung Öster-
reichs bestanden, die mit dem Jahre 1849 begann. Die Land-
gerichtskarte für das Jahr 1848 müsse das ersteBIatt des
historischen Atlasses sein.
Durch den Vortrag auf dem Innsbrucker Historikertage waren
auch die Fachgenossen aus dem Reiche mit dem Atlas-Problem in
der Anwendbarkeit auf österreichische Verhältnisse bekannt gemacht
worden, und es entspann sich eine anregende Debatte über diesen
Gegenstand. Die Erörterung beschäftigte sich namentlich mit den in
Anwendung zu bringenden Mafsstäben, wobei v. Thudichum die
Gleichheit des Mafsstabes womöglich für ganz Westeuropa (i : 500000)
forderte, während Gothein und Richter den örtlichen Verhältnissen
entsprechende abweichende Malsstäbe befürworteten *). Für Österreich
empfiehlt sich nach übereinstimmender Ansicht der Fachleute die An-
nahme der Gemeindegrenzen als Grundlage nicht, die Landgerichts-
grenzen sind hier das wichtige, auf ihre Feststellung kommt es an, und
wo sie mit den Gemeindegrenzen zusammenfallen, geschieht dies mehr
zufallig. Was in Deutschland die Grundkarten leisten sollen, diese Auf-
gaben erfüllt bereits in Steiermark die Übersichtskarte der Steuer-
bezirke und Katastralgetneinden von 1826, neu aufgelegt und er-
weitert 1892, im Mafsstabe i : 115 200, die aber als Arbeitskarte fiir
Zwecke des historischen Atlasses nicht verwendbar ist.
Seitdem der Geschichtliche AtUis der Rheinprovinz zu erscheinen
begonnen hat *), ist die historische Topographie immer mehr und mehr
als geschichtliche Hilfswissenschaft anerkannt worden ; auch für Öster-
reich war damit der rechte Augenblick zur Erneuerung der Arbeit
gekommen. Es ist das Verdienst Richters, den richtigen Moment
erkannt zu haben, der für das Zustandekommen des Atlasses am
günstigsten war. Seinen Bemühimgen gelang es, die mafsgebenden
Persönlichkeiten der k. Akademie der Wissenschaften von der
Ausführbarkeit des Problems zu überzeugen und deren Bedenken zu
i) Bericht über die vierte Versammlang deutscher Historiker. Leipzig, Dancker &
Hnmblot, S. 29 — 31.
2) Es ist die Xu. Publikation der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, und
es liegen bisher vor (Bonn, Behrendt 1894—1898): z. Rheinprovinz unter französ. Herr-
Schaft 18 13, I : 500000. 2. Politische und administrative Einteilung v. 1789, 7 Blätter,
I : 160000 und Übersicht i : 500000. 3. Übersicht der Kreiseinteilung 1789, i : 50000a
4. Preufsische Verwaltung i8i8, i 1500000. 5. Erläuterungen zum Geschichtlichen Atlas
d. Rheinprov. (Textbände). L Die Karten von 1813 und 18 18 von Konstantin Schulteis.
" ""'^ Karte von 1789 von W. Fabricius.
/
— 223 —
zerstreuen: so hatte denn Richter erreicht, was Chmel, den wir wohl
mit Recht den Vater des historischen Atlasses nennen können, verg-ebens
erstrebte. Sein sehnlicher Wunsch, die k. Akademie mög^e sich der
grolsen Aufgabe bewufst werden, ist der Verwirklichung nun nicht
mehr fem!
Das Unternehmen wurde nun in grofeem Stile in Scene gesetzt,
und ein ungemein frischer Zug weht aus dem Ganzen heraus. Eine
eigene Kommission wurde im Frühjahre 1899 eingesetzt und Richtet
mit der Oberleitung betraut. In den bezüglichen Kronländern ent«*«
standen Lokalkommissionen, in Graz, dem geistigen Mittelpunkte des
Unternehmens, für Innerösterreich (Steiermark, Kärnten und Krain). Die
Textbearbeitung für Steiermark wurde A. Meli übertragen. Da dieser
schon durch längere Zeit hindurch im Hinblicke auf dieses Problem
archivalische Forschungen angestellt und einen grofsen Teil der Land-
gerichtsbeschreibungen gesammelt hatte, die notwendigste Vorarbeit,
die Quellenforschung also bereits weit vorgeschritten war, konnte so-
fort mit der Herstellung der Landgerichtskarte von 1849, welche die
erste Lieferung des Atlasses sein soll, begonnen werden, und ist der
Abschlufs der Arbeit binnen Jahresfrist zu erwarten.
Die Landgerichtskarte erscheint im Mafsstabe i : 200 ooo (Greneral-
karte der österreichisch-ungarischen Monarchie) mit Beigabe des
Terrains. Dieses ist für die feste Orientierung unerläßlich, denn
dadurch wird erst die Vorstellung der natürlich begrenzten Landschaft er-
zeugt. Dafür giebt die vorliegende Kartenprobe einen trefflichen Beweis.
Der comttatus Ltupoldt ist einfach der grofse Thalkessel, der
sich um die Ebene des Eichfeldes herumzieht. Die eigentliche Arbeits-
karte ist die Generalstabskarte i : 75000. In diese werden die einzelnen
Landgerichte, nachdem die Reduktion der Ortsnamen und Gemarkungs
punkte vorausgegangen, der Reihe nach einzuzeichnen versucht. Da-
bei zeigt es sich, dafs mit der 75er bei weitem nicht auszukommen
ist, indem es eine Fülle von Namen giebt, die auf ihr nicht eingetragen
erscheinen. Dadurch war die Reduktion oft sehr schwierig, und es
mufsten dann umfassende Spezialstudien angestellt, namentlich auch
die älteren Kartenwerke (bis Vischer 1678 zurück), die Spezial-(Lokal-)
Karten, Spezialuntersuchungen, Monographien, Ortschroniken u. s. w.
herangezogen werden. Obwohl die Steiermark an litterarischen Behelfen
für diesen Zweck anderen Kronländern überlegen ist, genügten auch
diese Mittel in vielen Fällen nicht, und es mufsten Grenzbegehungen
vorgenommen werden. Auch wurden Fragebogen an Ortskundige aus*
gesandt, meist an die Opferfreudigkeit unserer tüchtigen Lehrerschaft
— 224 —
appelliert, wodurch manche schwierige Reduktion gelang. Nachdem
sämtliche Gemarknngspunkte markiert waren, die Landgerichtsgrenzen,,
sichere und zweifelhafte, ausgezogen, die Orte und Dominien in Bezug'
auf die Zahl der Unterthanen mit den entsprechenden 2^ichen ver-
sehen, die Buigfiriede und zwar die gröfseren reduziert und ausgezogen,,
die kleineren Umfanges rot unterstrichen waren, wurde mit der Über-
tragung in die 200000 er begonnen und die Beschriftung vorgenommen»
In den Kartentext werden auch die Steuergemeinden — nicht
Ortschaften — au^'enommen und die Namen in der Richtung der
Ausdehnung der Gemeinden eingeschrieben. Anfangs hatte man auch
die Gemeind^frenzen ausgezogen. Es entsprang dies einer Über-
schätztmg ihrer Bedeutung, weil man aus ihnen Anhaltspunkte für die
Ermittelung namentlich zweifelhafter Landgerichtsgrenzen, ja ein Zu-
sammentreffen mit denselben zu finden glaubte. Göth hat auf diese
Weise seine Landgerichtsgrenzen konstruiert. Im Oberlande, wo die Be*
grenzung meist natürlichen Gemarkungslinien folgt, kann ein Zusammen-
treffen vorkommen, im Mittel- und Unterlande aber ist dies rein zufallig,
da die Gemeindegrenzen nicht ein auf judiziellen, sondern finanziellen und
administrativen Gesichtspunkten beruhendes Elaborat aus späterer 2^i t sind.
Die Aufnahme der Steuergemeinden in das Kartenbild erscheint
auch gegenüber den Ortschaften deshalb von Vorteil, weil dadurch
das Kartenbild einheitlicher gestaltet wird, es bleiben keine leeren
Flecken, die bei Aufnahme der Ortschaften unvermeidlich wären, da
sich diese in den Thälem zusammendrängen. Eine weitere Schwierig-
keit läge in der Auswahl der Orte. Alle brächte man nicht unter,
wohl aber alle Steuergemeinden und dadurch wird eine Vollkommen-
heit erreicht, die unter allen Umständen anzustreben ist Da femer
auch auf die Arbeiten Göths vielfach Bezug genommen werden muis,
so ist gleichzeitig eine bezügliche Kontrolle gegeben.
Die Erfahrungen, die im Laufe der einjährigen Arbeit gemacht
wurden, die Grundsätze, die für Steiermark erprobt sind, wurden in
der vorli^enden Schrift niedeigel^^ Nach dieser Probe liegt der
Schwerpunkt der Arbeit nicht in der Karte, sondern im Texte.
Dieser ist nicht mehr eine Erläuterung der Karte, sondern um-
gekehrt, die Karte illustriert den Text Es wird uns da eine
ausführiiche Geschichte der Landgerichte geboten, und von da aus
auf die alten Grafischaften zurückgehend giebt der Verfasser eine Ge-
schichte dieser, also die eingehendste Territorialgeschichte der
Steiermark vom 8. Jahrhundert bis 1849 ^^^ zugleich die
^ "hichte des Landesfürstentums auf diesem Boden.
— M5 —
Mells Anfratz» in dem seine durch langjähr^ und eingehende
Beschäftigung mit dem Problem g^ewonnenen Gesichtspunkte dem
wissenschaftlichen Publikum behufe Bq^tachtung und Erprobung für
die bezüglichen Kronländer vo^^el^ werden, lä&t die Gröise des zu
schaffenden Werices bereits überblicken« Die Arbeit ist in Bezug auf
Methode und gewissenhafte Verarbeitui^ des gebotenen Quellenmaterials
eine Leistung» die sich würdig der Studie E. Richters über die
historische Topogn^hie Salzburgs an die Seite stellt Für ein vor-
zügliches Mittel zur raschen Orientierung halten wir die beigegebene
Stammtafel. Wir übersehen mit einem Blicke, wie aus dem comi-
tatus Liupoldi von 895, der sich im selben Umfange als Land-
gerichte zu Liechtenstein und Frauenburg bis 1437 erhalten hat»
im Laufe der Zeiten durch fortgesetzte TeUung der judiziellen Gewalt
auf diesem Boden die neun Landgerichte vor 1849 sich heraus-
bildeten. Auch in Steiermark sind diese aus der Zersplitterung der
Grafschaftsgebiete hervorgegangen. „Die Übertragung der Land-
(Blut)gerichtsbarkeit über gewisse geschlossene Bezirke, also die Auf-
teihmg der alten Grafen- und später landesftirstlichen Gerichte hat in
einzelnen Fallen bereits im XIV.» in grölserer Ausdehnung aber erst
im XV. Jahrhundert b^onnen, um sich von da ab bis in den Anfang
des XVin. Jahrhunderts fortzusetzen. Die Gemarkungen dieser Teil*
Landgerichte, deren Übergabe an geistliche wie weltliche Dominien
in Form landesfürstlicher Lehen, oder zu Besitz, Bestand und Pfl^rc
erfolgte, erhielten sich, abgesehen von wenig bedeutsamen Grenz-
rektifikationen, bis 1849. Beweis hierfür sind die vorhandenen gleich-
lautenden Grenzbeschreibungen aus verschiedenen Zeiträumen für em
und denselben Landgerichtsbezü'k (für Murau z. B. von 1414 und 1772).
Die Karte der 122 Landgerichte Steiermarks für das Jahr 1848 giebt
somit zugleich ein BUd von der erwähnten Aufteilung, und damit auch
ein solches von der gerichtlichen EinteUung des Landes im XV. Jahr-
hundert und früher, und schlielslich auch ein Bild der ehemaligen
Grafschaften als begrenzter Territorien, aus denen sich im Laufe der
2Mten zunächst die landesfUrstlichen (judicia pravinciaUa) und durch
Zersplitterung dieser die patrimonialen Landgerichte entwickelten'* ^).
Diese Erkenntnis beeinflutste Meli bei der EinteUung des Stoffes
und brachte es mit sich, dals er die 122 Landgerichte der Steiermark
im Rahmen der früheren Mark- und Grafischaftsgebiete , welche die
Grundlage der Territorialhoheit sind, darstellt Auch die Grenzen der
I) Meli: Der comiutiu etc. S. 361.
l
— 226 —
\mter Maria Theresia geschaffenen fünf Kreise (Judenburger , Brucker,
Grazer, Marburger und Cillier), wobei man natürlichen Gemarkungslinien
folgte, fallen gröfstenteils mit den Landgerichtsgrenzen und damit alten
Grafschaften zusammen. So deckt sich der Judenburger Kreis mit
seinen 19 Landgerichten mit den drei Grafschaften, der im Ennsthal,
Friesach (steirischer Anteil) und Liupolds.
Dafs die administrative Gliederung der theresianischen und jose-
finischen Periode (politische und Konskriptionsbezirke und
Steuergemeinden) in ihrer Begrenzung in der Kartenprobe nicht
zur Darstellung kam, hatte seinen Grund darin, dafs das Bild nicht
überfüllt werden durfte und dafs die Landgerichtsabgrenzungen als das
durch die Reihe der Jahrhunderte durchgreifende Element
ungestört zum Ausdrucke gebracht werden mufsten. Femer war ja
diese Gliederung nicht auf judiziellen Gnmdsätzen au%ebaut , sondern
teilweise zum Schutze der Unterthanen gegenüber den Gnmdherren,
teilweise zu rein administrativen und mUitärischen Zwecken. Von diesen
soll später eine eigene Karte angefertigt werden.
Meli hat seine Erläuterungen zur Karte zu wissenschaftlicher Unter-
suchung ausgedehnt, und das kommt der Arbeit nur zu statten. Eine
Erläuterung hätte sich blois mit den in der Karte darstellbaren oder
nicht darstellbaren Angaben, ob freies oder unfreies Landgericht, der
Ausdehnimg, der Einkünfte und Abgaben, der Verwaltungspersönlich-
keiten, Jagd-, Wald- und Fischereigerechtsame und Vogteirechte zu
befassen. Da der Verfasser auch dem Wechsel in der Namen-
gebung für ein und dasselbe Gericht trotz der durch Jahrhunderte
sich gleichbleibenden Gemarkung nach Grund und Ursache nachging,
wurde auch die Frage, wann die Lostrennung vom Grafen- resp. landes-
fiirstlichen Gerichte erfolgte, gelöst.
Neben dem Texte zur Karte mufs aber auch der Abdruck der
Grenzbeschreibungen und Bereitungen nebenherlaufen, um
einen Beleg für die richtige Eintragung der Gemarkungen und gewissen-
hafte Reduktion der Ortsnamen, die vielleicht im Texte etwa als Fufs-
noten am geeignetsten wäre, zu bieten. Jedermann mufs in der Lage
sein, die Karte ohne viel Mühe nachprüfen zu können.
Aufgabe des historischen Atlasses der österreichischen Alpenländer
wäre es also, die politische, rechtliche und kirchliche Zu*
gehörigkeit der Alpenländer vom VIII. Jahrhundert bis
1849 — ^^^^ Karte für die Römerzeit ist ein weiterer Wunsch —
darzustellen. Die Darstellung wäre sachgemäfs nach Provinzen vor-
zunehmen, denn nach der vorliegenden Probe sollen die Landgerichte
— 227 —
auf der Basis der alten Grafschaften, also natürlich beg^renzt er-
scheinen. Da auch femer die Vorarbeiten in dev einzelnen Ländern
ungleich vorgeschritten sind, in Steiermark z. B. die Arbeiten in Bälde
abgeschlossen sein werden, so erscheint es auch von diesem Gesichts-
punkte aus von Vorteil, nach Kronländem vorzugehen.
Bezüglich der Karte werden sich verschiedene Stimmen der Be-
urteilimg laut machen; die des Lobes aber dürfte bei weitem über-
wiegen. Sie bietet genau das, was sie bieten soll, nicht mehr und
nicht weniger, denn alle im Texte vorkommenden Gemarkungspunkte
sind auf ihr verzeichnet. Das Bild ist ein einheitliches, die Verteilung
der Beschreibung eine gleichmäfsige , so dafe keine Partie zu stark
heraustritt. Die Ausführung ist eine des k. und k. militär-geographischen
Institutes würdige. Wenn wir aber doch auf Einiges, das der subjek-
tiven Anschauung entspringt, aufmerksam machen, was vielleicht für
die fernere Arbeit von Belang sein könnte, so soll der Wert der Karte
durchaus nicht herabgesetzt werden. Die kleineren Flufsläufe springen
etwas stark hervor, und es wäre vielleicht eine Abdämpfung des
blauen Steines erwünscht. Auch hätte die Farbengebung der Comitats-
gemarkungen etwas stärker sein können. Bezüglich der Grenzen
möchten wir vorschlagen, die für die Landgerichte etwas kräftiger zu
ziehen, sie dort, wo sie Flufsläufen folgen, zu unterbrechen und ganz
nahe diesen zu zeichnen, denn sonst könnten doch irrige Vorstellungen
über den Verlauf derselben erweckt werden. Würde dann auch die
Schrift für die Landgerichte etwas kräftiger gewählt, so springen diese
ungemein lebhaft heraus; hingegen vertrüge die für die Burgfriede
eine kleine Abschwächung. Auch die roten Striche treten etwas stark
hervor. In der Beschriftung dürften sich überhaupt einige Änderungen
empfehlen, dadurch würde der Chrakter der Karte etwas ruhiger. Zur
Übersichtlichkeit dürfte es auch beitragen, die Stammtafel kartographisch
darzustellen und in einem Kärtchen seitwärts anzubringen oder solche
Kärtchen überhaupt in Schwarzdruck in den Text zu stellen. Damit
wäre das Anzustrebende wohl vollkommen erreicht.
Ein historischer Atlas war lange Zeit hindurch ein frommer Wunsch
aller Geschichtsforscher. Sein Zustandekommen scheint nun, für einige
Anteile wenigstens, gesichert. Mögen sich auch in den anderen Kron-
ländern die richtigen Leute finden, damit das Werk nicht, wie so
manch anderes grofs angelegtes, ein Torso bleibe!
— 228 —
Der erste Verbandstag der iwest«^ und süd^
deutsehen Vereine für römiseh^germanisehe
Altertumsforsehung
Von
E. Anthes (Darmstadt)
Es ist nicht zu leugnen, dais in dem Leben der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine seit ein paar Jahren ein erfreulicher Auf-
schwung eingetreten ist. Persönliche wie sachliche Gründe haben ihr
Teil dazu beigetragen, und es darf wohl gesagt werden, dais die
letzten Hauptversammlungen des Gesamtvereins zu Münster, Stras-
burg und Dresden den Beweis geliefert haben, nicht nur dafs in den
Vereinen, die ganz Deutschland in dichtem Netz überziehen, wirklich
gearbeitet wird, sondern dafs auch in Kreisen, die seither den Ar-
beiten der Vereine gleichgültig oder ablehnend gegenüberstanden, die
Überzeugung erwacht ist, dais auch durch die Kleinarbeit, wie sie
naturgemäis von den Vereinen in erster Linie betrieben wird , Ergeb-
nisse erzielt werden, die der deutschen Forschung zur Ehre gereichen.
Das hat sich ganz besonders erfreulich bei der Tagung des Gesamt-
vereins in Strafsburg gezeigt
Bei dem intensiven Betrieb der historischen Studien im allgemeinen
haben sich innerhalb der Vereine selbst vielfach gewisse Gegensätze
gebildet, und zwar Gegensätze leicht erklärlicher Art zwischen den An-
tiquaren und den Archivaren, um durch diese Gattungsbegriffe die Sache
allgemein auszudrücken. Die ersten waren dabei vielfach im Nachteil;
denn die Historiker, die Fragen aus der mittelalterlichen Geschichte
und aus dem Archivwesen behandeln, haben über ganz Deutschland
hin eine gemeinsame Grundlage für ihre Forschung, die den Antiquaren
fehlt So ist es in Südwestdeutschland die römische Kultur, die in
engstem Zusammenhang mit dem Vorhergehenden und Nachfolgenden
in den Vordergrund des Interesses tritt, — es ist das eine Kultur-
epoche, die weiten Teilen des Gesamtvaterlandes fehlt, wo zwischen
der sogen. Prähistorie im weitesten Sinn und dem Auftreten der ger-
manischen Kultur eine weite Lücke klafft *). Es wäre nun sicherlich eine
schwere Verfehlung der Vereine, wollten sie auf die Erkundung dieser
Zeit verzichten, und thatsächlich haben sie bis vor kurzem ganz allein
l) Wie in diesen Gebieten neuerdings die Erforschung fortschreitet, zeigt z, B.
Kossinnas Bericht über seine Reise in Norddeutschland in dieser Zeitschrift IL Bd., S. 23
26. (Red.).
— 2W —
die Aibdt geldstet Der mittdalteriiche Ifistoriker nim kommt jedes
Jahr anf der Generalversammlimg des Gesamtrereins mm Wort; übeiall
giebt es da gemeinsame Interessen zn veitieteii, Tom Bodensee zur Ost*
und Nordsee, von der Mosel bis zom Memd. Die Archäologen dnd
nicht so glnddich; ein grofeer Teil sehr that^er Vereine , die gerade
sdt vielen Jahrzehnten neben einer allgemein historischen Thatigkeit
auch die archäologische Erfoischnng ihres engeren Gebiets betreiben,
sind sdbstverstandfich anf den Versammlmigen spärlich vertreten, die
weit entfernt von ihrem Wiikong^rebiet stattfinden. Das hat sich schon
in Dresden g^ezeigt. Und doch giebf s gerade auf diesem Forschungs-
gebiet so viel des Gemeinsamen, da6 eine Zusammenfassung gewisser
Vereinsgruppen geboten schien, zumal für Südwestdeutschland, wofür
die genannten Bedingungen in erster Linie zutreffen. Dazu kam ein
weiterer Umstand, nämlich die Frage der Organisation der römisch*
germanischen Altertumsforschung durch das Reich ^). Die glücklichen
Ergebnisse der Limesfbrschung gaben dem Gedanken das Leben, die
Thatigkeit des Archäolc^ischen Instituts nicht nur auf Italien und
Griechenland, sondern auch auf Deutschland selbst zu erstrecken, und
nach manchem Hin und Her ist's denn so weit gekommen, dafs, dank
dem Entgegenkommen der Zentraldirektion des Instituts, auch die Ver-
eine in der neuen Kommission vertreten sdn werden, nachdem sie seit
vielen Jahrzehnten ganz allein das überrdche Gebiet der römisch-
germanischen Forschung bearbeitet hatten. Vielfach wurde an-
genommen , dals gewisse Unterströmungen bestanden , die darauf hin-
ausliefen, über die Vereine hinweg eine solche Organisation zu schaffen ;
hat man ja doch auch den Gesamtverein der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine einfach beiseite geschoben, als die Neuordnung
des römisch-germanischen Zentralmuseums in Mainz durchgeführt wurde,
trotzdem niemand bestreiten kann, dafs das Museum eine Gründung
eben des Gesamtvereins ist. Ähnliche Erfahnmgen, die die mittel-
deutschen Vereine bei der Gründung der Reichs -Limeskommission
machen mulsten, zwangen die in erster Linie bedrohten südwestdeut-
schen Vereine, sich zusammenzuthun und unter berechtigtem Hinweis
auf ihre Vergangenhdt den Nachweis zu erbringen , da(s sie imstande
und willens seien, nach festen Gesichtspunkten ihre seitherige Aufgabe
im Bund mit den neu zu der gleichen Arbeit berufenen staatiichen
Organen weiterzuführen.
Wie sich nun seit einigen Jahren die Archivare Deutschlands zu
l) VgL Bd. I dieser Zeitschrift, S. 27.
— 230 —
gemeinsamer Tagung innerhalb des Gesamtvereins und im Anschlufe
an dessen Hauptversammlung zusammengethan haben, so geschah im
April 1900 in Frankfurt die Gründung des Verbands süd- und west-
deutscher Vereine für römisch-germanische Altertumsforschung, eben-
falls in engem Anschlufs an den Gesamtverein. Es wäre durchaus
verkehrt, wollte man darin ein Abdrängen vom Gesamtverein er-
blicken; von dem derzeitigen Vorstand des Gesamtvereins gehören
nicht weniger als drei zu den Begründern des Verbands, und es mag
auch hier nochmals nachdrücklich betont werden, dafe der Bestand
des Gesamtvereins durch die neue Organisation in keiner Weise be-
droht werden soll. Es wird sich, wie zu hoffen ist, auch für den Ge-
samtverein nur Nutzen daraus ergeben, in erster Linie für die Ver-
handlungen von Abteilung I und II. Denn bis zur Tagung in Strafsburg
sah es, das braucht nicht verschwiegen zu werden, seit Jahren bei den
Verhandlungen dieser beiden Sektionen oft recht leer aus, und die
behandelten Dinge liefsen häufig weder allgemeines noch spezielles
Interesse erkennen. Es ist nicht ganz leicht, die eigentlichen Ur-
sachen dieser Erscheinung nachzuweisen; ein Hauptgrund lag aber
sicherlich darin, imd das wurde von den Antiquaren, die an den
Generalversammlungen regelmäfsig teUnahmen, stets schmerzlich em-
pfunden, dafs sich die archäologisch thätigen Mitglieder der Vereine
auf diesen Versammlimgen meist nur in ganz geringer Anzahl sehen
liefsen. Nun, das ist ja in den letzten Jahren wesentlich besser ge-
worden, und seit der Strafsburger Versammlung haben sich in erfreu-
lichster Weise auch auf diesem Gebiete akademische Kreise an den
Arbeiten der Vereine beteiligt. So darf auch aus der gemeinsamen
Tagung des Gesamtvereins und des Verbands, die Ende September
in Freiburg stattfinden wird, ein erfreuliches Ergebnis gemeinsamer
Arbeit erwartet werden, ein Ergebnis, auf das schon jetzt aus dem
überaus erfolgreichen Verlauf der Trierer Verhandlungen geschlossen
werden darf. Denn hier hat es sich gezeigt, dafs die Gründung des
Verbands thatsächlich ein Bedürfnis war, das nicht nur von vielen,
ja, man darf sagen, den meisten mitteldeutschen Vereinen, sondern
auch von nicht reichsdeutschen auf demselben Gebiet ^) arbeitenden Ge-
sellschaften empfunden wurde; so waren Abgeordnete von Vereinen
aus der Schweiz, Luxemburg und Belgien teils eigens zum Verbands-
tage erschienen, teils blieben sie nach dem Jubiläum der Trierer Ge-
i) In Österreich ist bekanntlich die Erforschung des Limes aach ins Werk gesetzt
-"•"«^n. Vgl. den Aufsatz im I. Band dieser ZeiUchrift, S. 195—199. (R«d.)
1
— Ml —
Seilschaft für oätzliche Forscbimgen ak willkommene Gäste bei dea
Verbandliingen der verbmidenen Vereine. Ja, es haben sich» wohl
nnter dem Eindnick der Einladung zn dem Tag in Trier, noch in
den letzten Wochen vor Ostern mehrere mitteldeutsche Vereine an*
geschlossen, so trat in Trier die luxemburgische ,,Heemecht** bei, und
vielleicht fuhrt das Ergebnis der Verhandlungen dazu, dais auch Ver-
eine der deutschen Schweiz, soweit sie gleiche Ziele verfolgen, dem
Verband beitreten. Im Ganzen sind es bis jetzt i8 Voräie. Leider
fehlen auf deutschem Gebiet noch zwei Gruppen von Vereinen, —
die bayerischen mit einer Ausnahme, und die meisten Gesellschaftea
ans dem Nordwesten, wo doch gerade fiir die nächste Zeit — ich
erinnere nur an Haltern — speziell in der Romerforschung wichtigere
Ergebnisse zu erwarten sind als am Mittelrhein. Nun, es steht zu
hoffen, dafs man auch in diesen Kreisen erkennen lernt, wie wertvoll
eine gemeinsame Arbeit ist; läist es sich ermöglichen, daCs der
übernächste Verbandsta^ in Nordwestdeutschland, etwa in Hannover
oder in Münster, abgehalten wird, so dürfte auch dort manches Vor*
urteil schwinden, das bisher den Anschluis der Vereine an den Ver*
band verhindert hat Freilich kommt es dabei vor allem auch auf
die Fortentwickelung des Verbandes selbst an ; die Leitung der jungen
Organisation für die ersten Jahre seines Bestehens ist keine ganz,
leichte Sache; der Vorstand des Frankfurter Vereins, in erster Linie
die Herren Jung und Wolff, haben sich um die Sache aufserordent-
liehe Verdienste erwort>en, nicht nur bei der Gründung des Verbands^
sondern auch bei der Leitung nach seiner Gründung und jetzt wieder
bei der Vorbereitung zu dem ersten Verbandstag in Trier, bei der sie
allerdings in der nachhaltigsten und trefflichsten Weise durch den ersten
Sekretär der Trierer Gesellschaft, Prof. Hettner, unterstützt worden
sind. Mit besonderem Dank ist es zu b^^rüfsen, dafs der Frankfurter
Vereinsvorstand sich bereit finden liels, die Geschäfte auch noch bis
zum Herbst, bis zur zweiten Tagung in Freiburg, fortzufuhren. Es darf
wohl behauptet werden, dais das künftige Gedeihen des Verbands nicht
zum wenigsten von den Männern abhängt, denen in Freiburg die Leitung
übertragen wird. Das sind keine curae posteriores, sondern Dinge, die
schon vorher reiflich überlegt sein wollen, damit die ganze Angeläc-
helt im Geist und Sinn der Vereine fortgeführt werde, die sich durch
Gründung des Verbands, um das Studium des Altertums in Südwest-
deutschland verdient gemacht haben.
Ich gehe kurz auf den Trierer Tag selbst ein. Die Leitung der
Verhandlungen, über die ein genauer Bericht im Verlag von Lintz in
— 2S2 —
Trier erscheinen wird, lag in den Abgeordnetenversammlungen in den
Händen von Prof. Georg Wolff, in den öffentlichen Sitzungen präsi-
dierte Prof. Hettner (Trier). Mit Recht wird vom Vorstand das giö&te
Gewicht darauf gelegt, dafs alljährlich nicht etwa nur gedruckte Jahres-
berichte der Einzelvereine, sondern schriftliche Übersichten der Vereins-
vorstände eingesandt werden, die nicht nur rein objektiv den Gang der
Einzeluntersuchungen schildern, sondern neben den Resultaten auch
die Aufjg-aben für die Zukunft andeuten, so da(s danach ein bestimmter
Arbeitsplan festgestellt werden kann, nach dem gemeinsame Unter-
suchungen auf gewissen Gebieten angeregt werden könnten. So wies
Wo If f in ausftihrlicher Darlegung auf Grund der eingegangenen Berichte»
die sich diesmal leider nur auf das mittelrheinische Gebiet im engeren
Sinne bezogen, als solche lohnende, ja notwendige Angaben nach die
Publikation der Nauheimer La T6ne-Funde in den Museen
zu Frankfurt und Darmstadt, die nach bestimmten Grundsätzen
vorzunehmende weitere Erforschung des römischen Friedberg,
sowie die einheitliche Untersuchung der Ringwälle, die zwar in
der letzten Zeit besonders durch Chr. Thomas (Frankfurt) sehr ge-
fordert, aber noch lange nicht zum Abschlufs gebracht ist. Gerade
diese Aufgabe der Ringwallforschung verdient die nachhaltigste Unter-
stützung, zumal auf H. Lehners (Bonn) Anregung die gesamten
prähistorischen Befestigungen mit in den Rahmen der Untersuchung
gezogen werden sollen. Über die ganze Frage wird in Freiburg ein
eingehendes Referat erstattet werden, ebenso über die mehr praktische,
aber nicht unwichtige Frage nach der einheitlichen Gestaltung
der Zeichen fiir neu herauszugebende archäologische Karten,
eine Frage, die durch den Generalsekretär des Archäologischen In-
stituts, Prof. Conze (Berlin) und Dir. Ohlenschlager (München)
angeregt worden ist. An Stoff für gemeinsame Beratung auch anderer
Dinge wird es in Freiburg nicht fehlen.
Vorträge und Führungen wechselten in Trier ab; beides ergänzte
sich in schönster Weise, und alle Teilnehmer wissen die vortrefTliche
Art zu würdigen, in der Hettner, der beste Kenner des alten Trier,
den Führer machte ; wer unter solcher Leitung die einzige Stadt durch-
wandert, der hat erst den rechten Genufs davon. — Die beiden Tage
brachten je einen Hauptvortrag : K. Schuchhar dt (Hannover) sprach
über das erste mit Sicherheit als römisch nachgewiesene Kastell an
der Lippe, über Aliso, wie er die von ihm in Gemeinschaft mit
anderen Archäologen bei Haltern entdeckte tmd ausgegrabene Anlage
aus der ersten Kaiserzeit ohne Zweifel mit Recht nennt. Am zweiten
r
— 233 —
Tage sprach W. Sold an (Darmstadt) über seine wichtigen Ent-
deckungen bei Neuhäusel im Westerwald, wo es ihm gelungen ist,
im Anschlufs an Limesgrabungen eine groise Niederlassung aus
derHallstattzeit und der daran anschliefsenden La T^ne-Periode zu
finden und teilweise auszugraben. G. Wolfram (Metz) teilte unter Vor-
lage von Abbildungen und Plänen mit, da(s es ihm gelungen sei, den
Abschlufs der römischen Stadt Metz nach Süden beim Nieder-
legen der Befestigungen zu finden, nachdem schon früher seine archi-
valischen Studien in wichtigen Punkten die seitherigen Annahmen über
den Gegenstand berichtigt hatten. Aus den Inschriften der Medio matriker,
zumal aus den eigentümlichen Namensformen, wies J. B. Kenne
(Metz) nach, dafs Metz durchaus keltisch war, da(s aber nicht,
wie immer wieder behauptet wird, dort eine römische Garnison ge-
legen hat. Eine Sammlung der sehr zerstreuten und oft fiir wissen-
schaftliche Benutzung schwer zugänglichen römischenSkulpturen
in Deutschland regte der Verfasser dieser Zeilen an, und es wurde
auf Hettners Vorschlag beschlossen, den Vereinen, in deren Gebiet
noch keine solche Sammlung bestehe, sie nahezulegen, besonders
aber darauf hinzuwirken, dals die in einem Vereinsgebiet zum Vor-
schein gekommenen Denkmäler in guten verkäuflichen Photographieen
zugänglich gemacht werden möchten. Lehn er besprach eine Frage,
in der die Ansichten zeitweise sehr auseinandergingen. Man glaubte
bekanntlich schon, in dem groCsen Erdlager bei Urmitz am Rhein
das berühmte Cäsarlager gefunden zu haben, als es sich beim Fort-
schreiten der Untersuchungen herausstellte, dafs die Anlage viel älter
ist tmd prähistorischer Zeit angehört; neuere Grabungen haben dies
mit aller Sicherheit erwiesen, zugleich wiurden noch zwei kleinere
regelmäfsig geformte Erdschanzen entdeckt, deren Untersuchung zur
Zeit noch nicht abgeschlossen ist. Eine Gruppe kleiner eigenartiger
Kunstwerke machte G. Löschcke (Bonn) zum Gegenstand feinsinniger
Ausführungen. Es handelt sich um ein paar meist im Limesgebiet ge-
fundene Bronzen, die wohl als SchlüsselgrifTe erklärt werden dürfen.
Als Schmuck weisen sie zwei in der Art der Janusköpfe gestellte
Köpfe auf, von denen einer bärtig und bejahrt, der andere unbärtig
und jung ist Aus den Köpfen wächst ein Eberkopf heraus. Bisher
war man zu einer allgemein befriedigenden Erklärung nicht gekommen,
und Löschcke stellte unter interessanter Ausführung über Veränderung
innerhalb einzelner Göttertypen die ansprechende Erklärung auf, dafs
es sich bei dem bärtigen Kopf um eine Darstellung des Wotan
handle. Über eine Frage, die gleichfalls gegenwärtig im Mittelpunkte
17
— 234 —
des archäologischen Interesses steht, nämlich die Frage nach den
Gigantensäulen, machte G. Sixt (Stuttgart) aus dem württem-
bergischen Verbreitungsgebiet der Darstellung eine Reihe von Mit-
teilungen; er bringt sie lediglich mit dem Leben bürgerlicher Kreise
in Verbindung und hält einen Bezug auf militärische Verhältnisse für
ausgeschlossen. In der nächsten Zeit wird wohl diese Angelegen-
heit öfter behandelt werden, da in der Festschrift des Lothringer
Vereins zum Trierer Jubiläum *) A. Riese (Frankfurt) eine ganz neue,
von den seitherigen Ansichten vollständig abweichende Erklärung
veröffentlicht hat, und da kürzlich bei Hanau ein neues Exemplar
mit merkwürdigen Einzelheiten in der Darstellung gefunden worden
ist. K. Kohl (Worms) sprach über neue Funde aus seinem eigensten
Arbeitsgebiet; er konnte mitteilen, dafs ihm in der letzten Zeit die
Entdeckung neuer neolithischer Grabfelder bei ,Worms ge-
glückt sei; an der Hand einer Reihe von vorgelegten Funden erklärte
er die Besonderheiten dieser Gräber und ihre Stellung zu den bisher
entdeckten Kulturresten aus der jüngeren Steinzeit.
Wie dieser kurze Bericht zeigt, liefs die Mannigfaltigkeit des Ge-
botenen wohl keinen Wunsch unbefriedigt; alle Arbeitsgebiete der
verbundenen Vereine wurden behandelt, und es sprachen Männer der
antiquarischen Wissenschaft aus allen Teilen des Verbandsgebiets über
Gegenstände, die des allgemeinen Interesses sicher sein konnten ; dies
beweist auch der überaus lebhafte Besuch der Sitzungen, und wie
fleifsig wir in Trier waren, geht daraus hervor, dafis wir sogar abends
von 8 bis lo Uhr verhandelten, allerdings „bei einem Glas Wein", —
eine Neuerung , die wohl bisher noch bei keiner derartigen Versamm-
lung versucht wurde, die sich aber, zumal bei den Weinverhältnissen
im Trierer Kasino, dem wir überhaupt freundliche Gastfreundschaft
verdanken, naturgemäfs des gröfsten Beifalls erfreute und sich zur
Nachachtung empfiehlt. So wird jeder, der die Trierer Tage mit-
gemacht hat, mit Genufs daran zurückdenken ; der Verband hat — und
das ist die Hauptsache! — erwiesen, da(s er Lebenskraft besitzt, und
wir können nur wünschen und hoffen, dafs der Fortgang dem schönen
und vielverheifsenden Anfang entsprechen möge.
i) Jahrbuch der GeseUschafl für Lothringische Geschichte and Altertumskunde.
XII (1900), S. 325«.
— 235 —
Mitteilungen
ArclÜTe« — Das Herzog^ch Anhaltische Haus- und Staatsarchiv zu
Zerbst, welches unter der Oberaufsicht des Herzoglichen Staatsminbteriums
zu Dessau steht, ist 1872 durch Vereinigung der bis dahin in den Spezial-
archiven sowie bei den Landesbehörden verwahrten Urkunden- und Akten-
bestände als Zentralarchiv für das ganze Herzogtum Anhalt eingerichtet, und
seine Bestände sind seitdem durch Rückerwerb früher entfremdeter Archi-
valien, sowie durch die zu verwahrlicher Niederlegung seitens der Herzoglichen
Behörden abgegebenen Verwaltungs- und Gerichtsakten, Staatsverträge, Doku-
mente u. s. w. ständig vermehrt worden. Justiz- und Verwaltungsakten vom
Jahre 1603 ab, die dem Herzoglichen Archiv zugedacht sind, werden vor-
läufig noch von den betreffenden Behörden in den früheren fünf Haupt-
städten des Landes aufbewahrt Das Archiv besteht gegenwärtig aus den
folgenden sechs Abteilungen:
a) Das Fürstliche Gesamtarchiv, früher im Herzoglichen Schlosse
zu Dessau, enthält einen reichen Schatz von Urkunden der Kaiser, Päpste
und Bischöfe für Gemrode, Nienburg a. S. und andere geistliche Stiftungen,
auch den Briefwechsel mit den Reformatoren; das älteste Stück dieser Ab-
teilung ist von 941, und die Bestände reichen bis 1603.
b) Das Fürstliche und Herzog^che Senioratsarchiv bildet die Fort-
setzung des Gesamtarchivs, von 1603 — 1863.
c) Das Fürstliche Zerbster Hausarchiv reicht von 1603 — 1793.
d) Das Fürstliche und Herzogliche KöthenerHausarchiv(i6o3 — 1847)
bietet reichhaltiges Material für die Geschichte des 30jährigen Krieges; mit
ihm verbunden sind die Archive der fürstlichen Nebenlinien, der Augusteischen
in Plötzkau 161 1 — 1692, der Linie Köthen-Warmsdorf 1721 — 1725 und
der Linie Köthcn-Plefs 1731 — 1847.
e) Das Fürsdiche und Herzogliche Bernburger Hausarchiv
(1603 — 1863) enthält auch viel Stoff für die Geschichte des 30jährigen
Krieges; ihm sind angegliedert die Archive der fürstlichen Nebenlinien Harz-
gerode 1635 — 1709 und Hoym-Schaumburg 17 18 — 181 2.
f) Das Fürstliche und Herzogliche Dessauer Hausarchiv (seit 1603)
ist von Bedeutung wegen seines umfrmgreichen Materials fUr die branden-
burgisch-preufsbche Geschichte 1640 — 1760.
Die Benutzung des Archivs durch Privatpersonen zu wissenschafüichen
oder processualen Zwecken ist von der Genehmigung des Herzoglichen Staats-
ministeriums abhängig und erfolgt in der Regel im Archivbureau zu Zerbst
selbst Eine geringe Anzahl von Akten über Privatissima des herzoglichen
Hauses sind der Benutzung von Privaten ganz entzogen. Nur in unumgäng-
lichen FäUen findet Versendung von einzelnen Archivalien an amtliche Stellen
mit feuersicherem Lokale statt, im Inlande nur an Oberbehörden. Eine be-
stinmite Zeitgrenze ist für die Benutzung nicht aufgestellt Der Jahreshaus-
haushalt 1901/ 1902 beläuft sich auf 9450 Mark.
Vorstand des Herzoglichen Haus- imd Staatsarchivs ist gegenwärtig
Geh. Archivrat Prof. F. Kindscher, dem als wissenschaftlicher Hilfs-
arbeiter Dr. R. Siebert zur Seite steht Am i. Juli tritt ersterer in den
17*
— 236 —
dauernden Ruhestand, zu seinem Nachfolger ist bereits Prof. Hermann
Wäschke in Dessau ernannt.
Kommissloiieil« — Am 12. Dezember 1900 wurde in Leipzig die fünfte
Jahresversanmilung der königl. sächsischen Kommission für Geschichte ') unter
dem Vorsitz des Kultusministers v. Seydewitzin den Räumen der königl. Ge-
sellschaft der Wissenschaften abgehalten. Alle Mitglieder aufser Prof. Knothe
(Dresden) waren anwesend, darunter auch zwei neuemannte Mitglieder der Kom-
mission: Geh. Hofrat Prof. Woermann, Direktor der königl. Gemäldegalerie
(Dresden), und Prof. Schmarsow (Leipzig). Über den Stand der Unternehmungen
der Kommission wurde das Folgende mitgeteilt Im Druck befinden sich
zur Zeit das Lehnsbuch Friedrichs des Strengen von 1349, herausgegeben
von Archivrat Lippert und Archivsekretär Beschorner, und die Akten
und Briefe des Herzogs Georg, herausgegeben von Prof. Gefs (Dresden).
Von der Grundkarte des Königreichs Sachsen ist inzwischen die Doppelsektion
468/493 (Zwickau -Johanngeorgenstadt) erschienen, bis Ende 1901 sollen
alle noch nicht veröffentlichten Sektionen aufser 369/394 (Spremberg-Nieski)
fertig gestellt werden. Die Ablieferung des Manuskriptes imd somit der Be-
ginn des Druckes steht für folgende Veröffentlichungen in Aussicht: die Akten
zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, herausgegeben von
Archivar Merx (Osnabrück); die Politische Korrespondenz des Kurfürsten
Moritz, Band II , herausgegeben von Prof. Brandenburg (Leipzig); den
Briefwechsel der Kurfürstin Maria Antonia mit der Kaiserin Maria Theresia,
herausgegeben von Archivrat Lippert (Dresden), imd die Akten zur Ge-
schichte des Heübronner Bimdes von 1632/33, herausgegeben von Staats-
archivar Kretzschmar (Hannover). EndÜch wird die Faksimilereproduktion
der Dresdner BUderhandschrift des Sachsenspiegels im nächsten Jahre vor-
genommen werden. Die Abfassimg der rechtsgeschichtlichen Erläuterungen dazu
hat Prof. V. Amira (München), die der kunstgeschichtlichen Prof. v. Oechel-
häuser (Karlsruhe) übernommen. Die übrigen Arbeiten der Kommission
sind in gutem Fortgang begriffen. Doch hat der nach St Gallen berufene
Prof. Dr. E. O. Schulze die Bearbeitung des Flurkartenatlasses aufgeben
müssen. In dem mehrbändigen geplanten Werke über die Geschichte des
geistigen Lebens der Stadt Leipzig wird Privatdozent Böhmer (Leipzig) die
Kirchengeschichte behandeln, während die als Ergänzung zur Geschichte des
geistigen Lebens gedachte Leipziger Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungs-
geschichte Armin Tille zur Bearbeitung übernommen hat Endlich sind
Bewilligungen für mehrere neue Unternehmungen beschlossen worden. Die
eigenhändigen Entwürfe imd Briefe Augusts des Starken sollen durch
P. Haake (Berlin) herausgegeben werden. Zur Förderung der historischen
Geographie Sachsens wird das Folgende geschehen: Vorarbeiten zu einem
historischen Ortsverzeichnis Sachsens wird Archivsekretär Bes chorner aus-
führen *). Privatdozent Kötzschke (Leipzig) wird die Territorial- imd Ämtcr-
i) Vgl I. Band, S. 107.
2) Derselbe hat sich bereits in dem Aufsätze : Stand und Au/gaben der historischen
Topographie in Sachsen (Neues Archiv für Sächische Geschichte, 21. Bd., 1900. S. 138
bis 159) eingehend über die dafür za Gebote stehenden Hilfsmittel verbreitet. Für jede
Landschaft, wo die Anlage von OrtsYerzeichnissen geplant wird — vgl. oben S. 91 bis 94
~ 237 —
grenzen Sachsens in Angriff nehmen; zugleich soll die Veröffentlichung des
Eegistrum dominarum marchionum Misnensium vom Jahre 1378 (im wesent-
lichen Ämterverzeichnis der Meifsnischen Markgrafen) vorbereitet werden.
Die Badische Historische Kommission*) hielt ihre 19. Plenar-
sitzung am 19. und 20. Oktober 1900 in Karlsruhe ab. Den Vorsitz führte
der inzwischen verstorbene Prof. Erdmannsdörffer. Die meisten der
unternommenen Arbeiten sind wesentlich gefordert worden. Neben den Re-
gesten zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz, die Alexander Car-
te llieri imter Mitwirkung von Dr. Eggers bearbeitet und die bis 1383
druckfertig vorliegen, sowie den Regesten der Pfalzgrafen bei Rhein, die
nach neuerem Beschlufs nicht bis 1508, sondern nur bis 1436 geführt werden
sollen — Bearbeiter: Bibliothekskustos Sillib (Heidelberg) — , sind auch die
Regesten der Markgrafen von Baden — Bearbeiter: Prof. Witte — so weit
gefördert, dafs der Anfang des zweiten Bandes druckfertig vorliegt. Von
den Oberrheinischen Sta/itrechten hat Dr. Köhne an der fränkischen Ab-
teilung weiter gearbeitet, in der schwäbischen besorgt die Herausgabe des
Überlinger Stadtrechts Dr. Hoppeler, die des Konstanzer Prof. Beyerle.
Von den elsässischen Stadtrechten, die einen Bestandteil dieser Sammlung
bilden und mit Unterstützung des Landesausschusses für Elsafs- Lothringen
bearbeitet werden, ist das Schlettstadter, herausgegeben von Dr. G^ny, im
Drucke vollendet. Von der Politischen Korrespondenz Karl Friedrichs von
Baden (1783 — 1806) ist der von Archivrat Obser bearbeitete 5. Band im
Druck. Die Arbeiten für ein zweites» Heft der Siegel der badischen Städte, das
die Kreise Baden, Offenburg, Freiburg und Lörrach umfassen wird, ist eben-
faUs fortgeschritten: es wurden 1374 Siegel aus den Urkundenbeständen des
Generallandesarchivs aufgezeichnet. Die Inventarisation der klemeren Archive
ist unter Leitung der fünf Oberpfleger durch die Pfleger fast zu Ende ge-
führt worden. Die Vorarbeiten für die Herstellung von Grundkarten, die
das Grofsh. Statistische Landesamt ausführt, gehen bereits ihrem Abschlufs
en^egen. Beschlossen wurde die Herausgabe einer zweiten Auflage des
Topographischen Wörterbuchs des Grofsherzogtums Baden, da die erste
1898 erschienene Auflage vergriffen ist, die Fortsetzung der Badischen Bio-
graphieen, die bis zum 4. Bande (1891) gediehen sind, sowie die Bearbeitung
eines Gesamtregisters zu den ersten 39 Bänden der Zeitschrift für die Geschichte
des Oberrheins ^). Ausgegeben wurden im Berichtsjahre folgende Bände :
Beyerle, Konstanz im dreipsigjökngen Krieg, (Badische Neujahrsblätter,
Neue Folge, Nr. 3); Kindler von Knobloch, Oberbadisches Oeschlechter-
buch. II. Band, 2, Lieferung; Köhne, Oberrheinische Stadirechte. I. Ab-
teilung, Heft 5 (Heidelberg, Mosbach, Neckargemünd, Adelsheim); Fest er-
Witte, Eegesten der Markgrafen von Baden und Hachberg, Schlufs des
I. Bandes (bis 1431 bezw. 1428); Aloys Schulte, Geschichte des mittel-
alterlichen Handels und Verkehrs xioischen Westdeutschland und Italien mit
das Programm für ein solches Werk — , sollten derartige Übersichten den Anfang machen.
Neben Baden hat bis jetzt Elsafs die Heraasgabe eines geschichtlichen Ortsverzeichnisses
begonnen, in Hessen ist es in Vorbereitung.
1) Vgl L Band, S. 106.
2) Vgl L Band, S. 339.
— 238 —
Ausschluß von Venedig. 2 Bände. — Ernannt wurden Prof. Ulrich Stutz
in Freiburg zum ordentlichen, Archivassessor Karl Brunner in Karbruhe
und Prof. Konrad Beyerle in Freiburg zu aulserordentlichen MitgUedem
der Kommission.
Die Thüringische Historische Kommission *) tagte am 18. No-
vember 1900 zu Saalfeld unter dem Vorsitz von Dr. Dobenecker (Jena).
Der erste Band der Landtagsakten ist im Drucke £ast vollendet und soll
vom Herausgeber Geh. Hofrat Burkhardt mit Einleitung und Qossar aus-
gestattet werden. Er wird unter dem Titel : Sachseti-Emestinfsehe Landtags^
akten Band I (1487 — 1532) im Verlag von S. Fischer in Jena erscheinen.
Der zweite Band (1533 — 1547) wird bald folgen. Von den Stadtrechten
sind Saalfeld , Pöfsneck , Eisenach tmd Gotha in Bearbeitung, aber vorläufig
ist noch keins abgeschlossen. Ab erster Band der Veröffentlichung von
Archivalien zur neueren Geschichte ist eine Publikation von Akten zur Ge-
schichte Johann Casimirs (1586 — 1633) ^^^ ^^^ Koburger Archiv in Aussicht
genommen. Auch an Akten zur Geschichte Wilhelms IV. von Weimar
(1626 — 1662) wird gedacht Die Inventarisation der kleineren Archive durch
die Pfleger schreitet in allen Teilen des Gebietes fort, und die Drucklegung
in der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde
soll bald beginnen. Die Bearbeitung der Grundkarten für Thüringen wird
dadurch erleichtert, dafs die Provinz Sachsen und das Königreich Sachsen
die in Betracht kommenden Grenzkarten volbtändig herstellen, so dais nur
das rein thüringbche Gebiet übrig bleibt Doch smd die Mittd dafür zur
Zeit noch nicht flüssig, sie werden bislang von den Regierui^n nur erhofft
Als neue Publikation wird die Ausgabe der Matrikel der Universität Jena
und eventuell die Bearbeitung einer Geschichte der Universität in Aussicht
genommen. Auf Antrag des Vorsitzenden wurde beschlossen, die Haupt-
pfleger darum zu bitten, dafs sie von den ältesten Stadtplänen der in ihren
Bezirken gelegenen Städte eine Kopie im Mafsstabe i : 2000 tmd, wo ältere
Pläne nicht erhalten sind, aus dem heutigen Stadtplan einen solchen für
den alten einst von den Ringmauern eingeschlossenen Kern der Stadt in
gleichem Mafsstabe anfertigen lassen und der Kommission übersenden.
Drei weitere Anträge von Archivrat Mit zschke wurden dem Vorstande der
Kommission zur weiteren Erwägung überwiesen, nämlich a) die Kommission
möge die Mainzer Ingrossaturbücher im Kreisarchiv zu Würzburg für die
thüringische Geschichte ausziehen lassen, b) Die Kommission möge ein Ver-
zeichnis der Thüringer Postakten aus dem fÜrstL Thum- und Taxbschen
Archiv zu Regensburg anlegen lassen, c) Es möge in Erwägung gezogen
werden, ob nicht die wissenschaftliche Abteilung des Thüringer Waldvereins
in die Kommission hineinzuziehen sei. — Die Organisation der Kommission
wurde weiter ausgestaltet durch Bestellung des Dr. Kötschau auf der
Veste Koburg zum Hauptpfleger für das Herzogtum Koburg, welches bereits
in Pflegschaften eingeteilt ist In Arnstadt wurde Schulrat F ritsch, in Sonne-
berg Dr. Heiland zum Hauptpfleger empfohlen.
i) Vgl. I. Band, S. 105.
Zum mnswliilgen LeiliTerkeliT der Bibliotheken. Von Her-
man Haupt (GidseD). — Waker Schahze hat in dieser Zeitschrift Bd. II,
S. 164 — 174 auf die bedeutenden Fortschritte hingewiesen, welche der aus-
wärtige Leihverkehr der preufsischen Bibliotheken gegenüber der früheren
umständlicheren Praxis der Bücherversendungen an auswärtige Benutzer im
vergangenen Jahrzehnt gemacht hat Der Verfasser bezeichnet es femer als
eine Aufgabe der Zukunft, jenen gegenseitigen regelmäfsigen Leihverkehr, der
sich zur Zeit auf die preufsischen staatlichen Bibliotheken beschränkt, auch
auf die übrigen wissenschaftlichen Büchersammlungen Deutschlands aus-
zudehnen. Anhangsweise werden akdann Mitteilungen über ähnliche Ein-
richtungen in den süddeutschen Staaten gemacht, dabei wird jedoch des
auswärtigen Leihverkehrs der Giefsener Universitätsbibliothek
nicht gedacht. Da nun die fUr Giefsen getroffenen Bestimmungen jene
Zukunftswünsche des Verfassers für den Kreis ihrer Benutzer bereits guten-
teib verwirklichen, so glaube ich hier mit einigen Worten auf sie hinweisen
zu sollen.
In Giefsen nicht vorhandene Bücher, auf deren Empfang die Besteller
Wert legen, werden in der Regel zunächst aus der Hofbibliothek in Darm-
stadt erbeten, an welche die betreffenden Bestellzettel jeden Mittwoch, nach
Bedarf auch öfter in der Woche gesandt werden. Da die in Darmstadt vor-
handenen Bücher von dort umgehend durch die Post oder als Eilgut versendet
werden, sind die Besteller in der Regel am zweiten Tage nach Abgang der
Bestellung im Besitz der Bücher oder über deren Fehlen in Darmstadt unter-
richtet Am folgenden Tage, gewöhnlich Sonnabend jeder Woche, nach
Bedarf aber auch öfter, werden nun die Bestellungen auf dringend gewünschte
Bücher, die hier und in Darmstadt fehlen, an eine der gröfseren auswärtigen
Bibliotheken (in der Regel Strafsburg, Göttingen, Berlin oder München) ab-
geschickt. Soweit die bestellten Werke in der zuerst angegangenen Bibliothek
fehlen, werden auf Wunsch der Besteller die Verlangscheine bei den folgenden
Bestellungen an andere Bibliotheken weitergesandt. Die Entscheidung über
die Wahl der anzugehenden Bibliothek trifft von Fall zu Fall der Bibliotheks-
vorstand. Die Deckung der durch diesen regelmäfsigen Leihverkehr entstehenden
Kosten übernimmt die Universitätsbibliothek, die von den Bestellern nur
eine Gebühr von 15 Pfennigen für den entliehenen Band erhebt Durch
den Bezug von Büchern aus Darmstadt erwachsen den Entleihern überhaupt
keine Kosten. — Im ganzen hat die Einrichtung, die allerdings ein nicht
geringes Mafs von Zeitaufwand seitens der Beamten und Diener beansprucht,
sich bisher gut bewährt. In der Sonderung zwischen den berechtigten und
den über das Mafs des Zulässigen und Möglichen hinausgehenden Wünschen
der Besteller liegen allerdings manche Schwierigkeiten. Doch ist zu hoffen,
dafs diese, je fester sich die Einrichtung mit der Zeit einlebt, desto mehr
zurücktreten werden.
Im „Centralblatt für Bibliothekswesen" XVIII, S. 231 (Mai-
heft 1901) wird über unseren Aufsatz berichtet. Es wird bei dieser Gelegen^
heit festgestellt, dafs leider in Sachsen eine Verkehrserleichtertmg , wie sie
zwischen Tübingen und Stuttgart und Giefsen und Darmstadt besteht , noch
— 240 —
ein frommer Wunsch ist, obwohl eine ständige Verbindung zwischen den
Bibliotheken von Leipzig und Dresden recht nahe liegt
Die auf Seite 174 auf Grund einer kurzen privaten Mitteilung gegebene
Notiz über die Verhältnisse in Österreich ist dahin zu ergänzen, dafs nach
der inzwischen ergangenen neuen Benutzungsordnung fUr die K. K« Hof-
bibliothek alle Hof-, Staats- und Kommunalbeamten, alle Lehrer an Universitäten,
höheren, mittleren und Volksschulen, alle an Bibliotheken, Archiven, Museen,
kirchlichen Anstalten angestellten Beamten das Recht haben, aus der
Bibliothek Bücher zu entleihen; bei gewissen Kategorieen mufs das Gesuch
aufser der Unterschrift des Bestellers noch mit dem Amtsstempel oder der
Unterschrift des Amtsvorstandes versehen sein. Im übrigen erfolgt der Be-
zug von Handschriften und Druckwerken nach auswärts durch Vermittelung
einer Bezirkshauptmannschaft, eines Bezirksgerichts, eines Pfarramts, einer
Gemeindevorstandschaft, einer Schulleittmg, einer Militärbehörde. Es ist wohl
sicher zu erwarten, dafs auch für die österreichischen Universitätsbibliotheken,
für die einstweilen noch die älteren weniger liberalen Ausleiheordnungen in
Kraft sind, bald neue Bestimmungen erlassen werden, die sich im wesent-
lichen dem neuen, einen wesentlichen Fortschritt bedeutenden Reglement der
Hofbibliothek anschliefsen dürften.
Eingegangene Bficher«
Arens, Franz: Der Liber Ordinarius der Essener Stifbkirche und seine
Bedeutung fUr die Liturgie, Geschichte und Topographie des ehemaligen
Stiftes Essen. [:=: Beiträge «zur Geschichte von Stadt und Stift Essen,
21. Heft.] Essen, G. D. Baedeker 1901. 156 S. S^.
Arnold, C. Fr.: Die Ausrottung des Protestantismus in Salzburg unter Erz-
bischof Firmian und seinen Nachfolgern, ein Beitrag zur Kirchengeschichte
des achtzehnten Jahrhunderts. Erste Hälfte [= Schriften des Vereins
fiir Reformationsgeschichte Nr. 67.] Halle, Max Niemeyer, 1900.
102 S. 8^ M. 1.20.
Bericht des Provinzial-Cons^rvators der Kunstdenkmäler der Provinz
Schlesien über seine Thätigkeit vom i. April 1898 bis 31. Dezember
1899 an die Provinzial-Kommission zur Erhaltung und Erforschung der
Kimstdenkmäler Schlesiens. 43 S. 8^.
Beyer, Otto: Schuldenwesen der Stadt Breslau im 14. und 15. Jahrhundert
mit besonderer Berücksichtigung der Verschuldung durch Rentenverkaut.
[= Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens,
Bd. XXXV, 1901. S. 68—143.]
Bleibtreu, Carl: Die Wahrheit über 1870. München, Verlag der deutsch-
französischen Rundschau 1901. 76 S. 8^.
Bronisch, Paul: Die slavischen Ortsnamen in Holstein und im Fürsten-
tum Lübeck I. [= Jahresbericht des Kgl. Realschule zu Sonderburg
1 900/1901.] 14 S. 4^
Borchers, Gebrüder: Zum 150jährigen Jubiläum der Lübeckischen An-
zeigen. 1751 — 1901. 64 S. fol.
Cardauns, Hermann: Die Görres - Gesellschaft 1876 — 1901, Denkschrift
zur Feier ihres 25 jährigen Bestehens nebst Jahresbericht für 1900.
KöUi, J. P. Bachem, 1901. iio S. 8«. M. 1.80.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha,
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
IL Band Juli xgox lo. Heft
Die Juden im deutschen JAittelalter
Von
Bruno Klaus (Schw.-Gmünd)
Eines der merkwürdigsten Völker ist gewifs das der Juden. Während
Griechen und Römer längst vom Schauplatz der Welt abgetreten sind,
giebt es bis auf den heutigen Tag Juden. Darum erweckt ihre Ge-
schichte besonderes Interesse, und darum ist die Litteratur darüber
so ungemein reichhaltig. Was die Geschichte der Juden im allgemeinen
anlangt, so ist als monumentales Werk vor allem zu nennen : Heinrich
Graetz, Geschichte der Juden, ii Bde., 1857-- 76 0» wenn auch nicht
zu leugnen ist, dafs dasselbe manchmal eine etwas parteiische Färbimg
zu Gunsten der Juden und zu Ungunsten der Christen verrät. Ebenso
hat die Geschichte der Juden in einzelnen Ländern und Orten, sowie in
gewissen Zeitabschnitten, desgleichen die Darstellung der verschiedenen
Verhältnisse dieses Volkes treflfliche Bearbeitungen gefunden *).
i) Leipzig, Oskar Leiner. Teilweise liegen die Bände schon in neuen Auflagen vor :
Bd. I (1873) ^<i U (1875) nur in erster, Bd. ll (1900) in zweiter, Bd. lY (1893),
V(i895), VI und VU (1894), VIII (1890), IX (189 1), X (1897) in dritter und Bd.m(i888)
in vierter Auflage. Seit Graetz's Tode (1891) haben Guttmann, F. Rosenthal
nnd M. Brann die Neubearbeitung besorgt. In demselben Verlage erschien 1888 eine
VolkstümUehe QeackickU der Juden von H. Graetz in 3 Bänden.
2) Als Quellenwerke für die Geschichte der Juden hauptsächlich in Deutschland
kommen in Betracht: Aronius und Dresdner, Regesten xw Geschichte der Juden
im fränkischen und deutschen Reiche bis xum Jahre 1273. Berlin 1887 ff ; Wiener,
Regesten %iir Qeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Hannover
1862 ; Moritz Stern, König Ruprecht von der Pfalx in seinen Bexdehungen xu den
Juden. Kiel 1898; Deutsche Reichstagsakten I. Bd. (1867), mit 1376 beginnend, der
XL Bd. (1898) führt bis 1435. Siehe in dem Register jeden Bandes das Stichwort „Juden*' ;
M. Stern, Urkundliche Beiträge über die Stellung der Päpste xu den Juden. Kiel
1893 ff. Viel Material enthalten die Zeitschriften: Monatsschrift für Qeschichte und
Wissenschaft des Judentums^ begründet 1852 von ZachariasFrankel, später heraus-
gegeben von Heinrich Graetz (Jahrg. 18 — 36), von Kaufmann und M. Brann
O^^S* 37 bis 43), seit 44. Jahrg. von letzterem aUein. (Früher, bis 41. Jahrg. (1896),
18
— 242 —
Wir wollen nun versuchen in möglichst kurzen Zügen ein Bild
von der Lage der Juden im Mittelalter, hauptsächlich in Deutschland,
zu geben und dabei die Punkte hervorheben, welche, unseres Erachtens
der Forscher bei Untersuchungen über einzelne Judengemeinden vor-
nehmlich zu berücksichtigen hat.
Nach dem Untergang des weströmischen Reiches scheint der
Mittelpunkt des Judentums das südliche Gallien gewesen zu sein. Bei
Aronius finden sich viele Beispiele, welche auf die steigende Macht
desselben hinweisen. Verschiedene KonzUe suchen ihm deshalb
entgegenzuwirken. Das von Agde (506) verbietet Geistlichen und
Laien die Teilnahme an den Mahlzeiten der Juden; das zweite Konzil
von Orleans (538) bestimmt, wenn ein Jude einem christlichen Leib-
eigenen etwas von der Kirche Verbotenes befehle, solle letzterer,
wenn er aus dem Hause des Juden in eine Kirche fliehe, diesem nicht
ausgeliefert werden; das von Narbonne (589) verbietet den Juden, ihre
Toten unter Absingung von Psalmen zu bestatten; 614 bestimmt das
fünfte Pariser Konzil, kein Jude solle künftighin eine Richter- oder
Stadtratsstelle bekleiden dürfen, wenn er sich nicht vorher taufen lasse ;
624 setzt das Konzil von Reims fest, dalis kein Jude zu einem öffent-
lichen Amt zugelassen werden solle. Die Juden nahmen also vorher am
öffentlichen Leben unbeschränkten Anteil. Auch bei den fränkischen
Königen wu(sten sich dieselben eine günstige Stellung zu erringen.
Dagobert schenkt 633 der Abtei von St. Denis den Ertrag der Zölle,
welche der jüdische Kaufmann Salomon an einem Thore in Paris im
BretUm, S. Schottländer, seit 1898 bei S. Calvary & Co. in Berlin. 44. Jahrg. (1900)
^ Nene Folge, 8 Jahrg. Gegenwärtiger Verlag Wilhelm Köbner (Barasch «nd
Riesenfeld) in Breslau). Magaxin für die Wissenschaft des Judentums ^ hggb. von
A. Berliner und D. Hoff mann (20 Jahrgänge 1874 — 1893, i*~i6. Jahrg. Berlin,
Mampe, 17.-- ao. Jahrg. B. Rosenstein). Zeitschrift für die Oeschiekte der Juden in
Deutschland, hggb. von Ludwig Geiger (Braonschweig, Schwetschke n. Sohn. 18870.
5 Jahigänge). Alles weitere bei M. Stern, Quellenkunde xMtr Oesehiehte der deutschen
Juden L Kiel 1892.
Von Bearbeitungen sind henrorzuheben: Depping, Die Juden im Mittel-
alter, Stuttgart 1834; J. M. Jott, OesehiMe des Judentums und seiner Sekten, 2 Bde.
Leipxig 1857; Otto Stobbe, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters.
Braunschweig 1866; M. Güdemann, Oesehiehte des ErTiiehungsteesens und der Kultur
der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit. 3 Bde.
Wien 1880 bis 1888; Nttbling, Die Jiidengemeinden des Mittelalters, insbesondere
die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm. Ulm 1896; A. Berliner, Aus dem Leben
der deutschen Juden im Mittelalter, Berlin 1900. Seit 1895 erscheint im Verlage Ton
J. Kanffmann in Frankfurt a. M. eine Serie Beiträge xur Oesehiehte der Juden «p»
Deutschland (bis jetzt zwei Bände, 1895 und 1898).
— 243 —
Namen des Reichs erhebt. Papst Stephan III. (678 — 772) klagt in
einem Schreiben an den Eizbischof Heibert von Narbonne, wie er
bei der Nachricht erschrocken sei, dafs man in Frankreich den Juden
sogar erlaubt habe, auf dem Lande und in den Vorstädten erblichen
Grundbesitz zu erwerben, und daCs Christen die Weinberge und Äcker
von Juden bestellen. Judith, die Gremahlin Ludwigs des Frommen,
nimmt die Juden besonders in Schutz, 839 tritt sogar ein gelehrter
Diakon Erdo, der am Hofe Ludwigs des Frommen lebte, zum Juden-
tum über.
Doch schon Karl der Grofse und Ludwig der Fromme beginnen
mit Beschränkung der Juden: so soll kein Jude Wein und Getreide
verkaufen oder ein Schultheilsenamt übernehmen. Aber erst im An-
fang des XI. Jahrhunderts werden sie durch die zunehmende Erbitte-
rung des Volkes bedroht. Den äuiseren Anla& dazu gab der Umstand,
dafs im Jahre 1009 ^^^ Kalif von Persien die Grabeskirche in Jeru-
salem zerstörte. Es verbreitete sich darauf das Gerücht, die Juden
von Orleans hätten ihn dazu veranlafst, und nunmehr wurden die Juden
in den christlichen Reichen teils vertrieben, teils getötet.
In Deutschland war die Zahl der Juden im X. und XI. Jahrhundert
jedenfalls noch nicht grofs, nur vereinzelt werden sie erwähnt. Otto I.
verordnete 965, da(s die Juden und die übrigen Kaufleute in Magde-
burg nur der Gewalt des Erzbischofis unterstehen sollten, und 973
und 979 wurde bestimmt, dafe der Vogt des Erzbischofs von Magde-
burg auch über die in der Stadt oder Vorstadt wohnenden Juden
die Gerichtsbarkeit ausüben solle. Die Merseburger Juden werden
vom Kaiser 973 dem Bischöfe Giseler unterstellt, 1012 finden sie sich
in Magdeburg bei dem Tode des Erzbischofs Baldhart unter den Leid-
tragenden *). In Köln erwerben die Juden 1012 eine Synagoge und
einen Friedhof, und aus dem Jahre 1032 ist ein von dort stammender
Leichenstein erhalten ').
In Regensburg überläfst um die Jahre 1006 bis 1008 nach
Aronius der Bürger Rizmann dem Kloster St. Emmeran daselbst drei
Höfe bei dem Judenviertel der Stadt: es ist dies die älteste urkund-
liche Erwähnung eines solchen in einer deutschen Stadt.
Die ersten Niederlassungen der Juden finden wir also in alten Handels-
städten, die zugleich Bischofssitze sind. Dafs sie Handelsstädte auf-
1) Siehe Aronius zu den betreffenden Jahren.
2) Er ist nebst anderen dem Kölner Jadenfriedhof entstammenden Grabsteinen in
die Barg Lechenich verbaat VgL Annalen des historischen Vereins fUr den Niederrhein,
21./22. Heft (1870), S. 130.
18 •
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suchen, bringt ihre Hauptbeschäftigung* mit sich, dafs sie Bischofssitze
wählen, wird auch nicht ohne Bedeutung sein, ohne Zweifel, weil sie
unter dem Krummstab den besten Schutz zu finden hofften. Als
kapitalkräftige Leute waren sie aber für die Bischöfe auch eine ergiebige
Steuerquelle und als solche höchst willkommen ^).
Bald finden wir Juden in weiteren Handelsstädten, so in Augs-
burg 1266, Nürnberg 1156 bezw. 1288, Frankfurt 1251 *). In Strafs-
burg schenkte die Frau eines Rabbiners fiinf Goldgulden für den Bau
einer Synagoge '). Sonst aber treflfen wir die Juden meist erst im
XIII. Jahrhundert an, so in der Pfalz unter Ludwig I. (1214 — 1228)*),
inÜberlingen, wo 1226 ein jüdischer Friedhof erwähnt wird*).
Die erste Kunde von dem Vorhandensein einer Judengemeinde
in Ulm geben uns dort gefundene Judengrabsteine. Der älteste der-
selben stammt aus dem Jahre 1243 und meldet den Tod einer Tochter
des Rabbi Salomon Halevy *). Ulrich Herr v. Wahrberg verleiht 1260
dem Juden Jakob die Nutzniefeung seines Dorfes Elpersheim auf drei
Jahre ^). Nach der Meilsnischen Judenordnung von 1265 (Heinrich
der Erlauchte) finden sich in allen sächsischen Städten Juden, vor 1350
selbst in Leipzig ^), wo später aufserhalb der Messen keine zu finden
i) Unter diesem Gesichtspunkte zieht Bischof Rüdiger 1084 nach Aronios die Jaden nach
Sp e i er : er verpflanzt Juden dorthin in der Hoffnung, den Glanz des Ortes zu vertausendfachen«
Sie bekommen einen eigenen Bezirk, der durch eine Mauer geschützt wird, sowie einen
Begräbnisplatz. Als Miete für ihr Quartier bezahlen sie dem Kapitel jährlich 3^1 Pfand
Speirisch. Sie dürfen innerhalb ihres Bezirks und in der Stadt Gold und Silber um-
wechseln und alles kaufen und verkaufen, was sie wollen. Fremde Juden zahlen keinen
Zoll. Der Vorsteher des Judenviertels darf Streitigkeiten der Juden untereinander ent-
scheiden, nur wenn er mit einem Gegenstand nicht fertig wird, hat er ihn vor den Bischof
oder Kämmerer zu bringen. Die Juden dürfen christliche Ammen und Mietsknechte
haben, sowie geschlachtetes Fleisch, das zu essen ihnen verboten ist, an die Christen
verkaufen. Im Jahre 1090 nimmt dann Kaiser Heinrich IV. mehrere Juden in Speier in
seinen Schutz. Der hierüber gefertigte Vertrag enthält gleichfalls fUr die Juden aufser-
ordentlich günstige Bedingungen. Die Juden waren also damals gesucht,
2) Vgl Stobbe, a. a. O. S. 84, 50, 96.
3) C. Th. Weifs, Geschichte tmd rechtliche Stellung der Juden im Fürstbistum
Straßburg. Die Schenkung ist auf einem Inschriftstein überliefert
4) Löwenstein, Geschichte der Juden in der Kurpfalx, (Frankfurt a. M. 1890), S. i.
5) M. Stern, Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte, i. Heft Kiel
1894. — Auch in den meisten Städten des Erzbistums Trier sind im XIU. Jahriiundert
Juden nachweisbar. Vgl. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben I, S. 1449.
6) Nübling, Die Judengemeinden* S. 2.
7) Wirtemberg. Urkundenbuch Bd. V. S. 357.
8) Mitteilungen der deutschen Gesellschaft zu Leipzig I (1856), S. 116. Die Juden-
schule (scola Judaeorum) giebt Markgraf Friedrich 1352 zu Lehen (vgL Urkundenbuch
— 245 —
sind, für Meifsen selbst stammt die älteste Urkunde, welche das
Vorhandensein von Juden dort bezeugt, aus dem Jahre 1286 *). Nach
einer Urkunde von 1266 bestätigt König Konrad dem Bürger Vendo
von Efslingen die demselben von seinem Vater zu teil gewordene
Schenkung des Hauses des Juden Säildmann für Verluste, die Vendo
in einer Fehde Konrads mit Graf Ulrich von Württemberg erlitten
hat *). Das älteste Privilegium der Juden in Friedberg ist von Kaiser
Rudolf von Habsburg 1275 verliehen*). Zu Münster i. W. kam es
1287 2U einer g^o&en Judenverfolgung*) und in demselben Jahre zu
Siegburg. Aus Weifeenburg teilt Rockinger *) zwei Urkunden aus den
Jahren 1288 und 13 12 über Rechtsgeschäfte zwischen Christen und
Juden mit. Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in Nördlingen
findet sich im Martyrologium der Nürnberger Gemeinde, wo die Juden
au%'ezählt werden, welche bei der Bewegung gegen die Juden, die im
Jahre 1298 von dem Edelmann Rindfleisch in dem fränkischen Städtchen
Rötungen ausging, zu Nördlingen erschlagen oder verbrannt wurden ^).
König Albrecht fordert am 2. Dez. 1299 Rückrufiing der Juden nach
Dortmund'). Nach Zehnter®) würde die älteste Nachricht über die
Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden aus dem Jahre 1267 stammen.
In demselben Bande dieser Zeitschrift widerlegt aber Fester diese An-
sicht mit guten Gründen und weist nach, dafs erst 1382 Markgraf
Bernhard I. von König Wenzel mit den Juden seines Territoriums be-
lehnt werde: für dieses Jahr sind natürlich Judengemeinden als seit
gewisser 2^it bestehend anzimehmen. Erst im XIV. Jahrhundert treflfen
der Stmdt Leipzig I (1868), S. 29, Nr. 44), also sind die Juden offenbar auch hier
1349 vertrieben worden.
i) Alphonse Levy, Geschichte der Juden in Sachsen, Berlin 1901. S. 15/16.
2) Wirtembergisches Urkundenbuch, Bd. VI, S. 278.
3) Dieffenbach, (beschichte der Stadt und Burg Friedberg in der Wetterau.
(Dannstadt 1857), S. 307.
4) Bahlmann, Zur Geschichte der Juden im Münsterland, in der Zeitschr. ftir
Knltnrgesch. II. Bd. (1895) S, 381 nach dem alten Mainzer Memorialbach.
5) Archivalische Zeitschr. N. F. 1894, Bd. V. S. 93 — loi.
6) L. Müller, Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen
Gemeinden im Rieß, in der Zeitschr. des historischen Vereins für Schwaben and Nea-
bnrg, 25. Jahrgang (1898) S. 8.
7) Annalen des historischen Vereins fUr den Niederrhein, 41. Heft (1884), S. 90.
8) Zur Geschichte der Juden in der Markgrafsehafl Baden-Baden, in der Zeitschr.
Dir die Geschichte des Oberrheins, Nene Folge, Bd. XI (1896), S. 337— 44i>
— 246 —
wir Juden in Görlitz *), Worms *), Heidelberg '), Schwäb.-Gmünd *), viel
später erst im Norden, so in Riga ^) 1560, in Hamburg ^ nicht vor dem
letzten Viertel des XVI. Jahrhunderts, in Kiel ^) erst im XVII. Jahrhundert.
Die skandinavischen Reiche und Grofebritannien *) waren den Juden noch
bis in dieselbe 2^it fast verschlossen ; daher richteten sie ihre Handels-
fahrten nicht in die deutschen Nordseeländer, wo ja bekanntlich die
Hansen ihren Handel gegen jede Konkurrenz zu schützen wu(sten. Dieses
ungefähre Bild der Verbreitung der Juden wird sich natürlich aus der
LokalUtteratur noch mannigfach vervollständigen lassen, aber dazu ist
als Grundlage unerläfelich, für jeden Ort genau die Zeit festzustellen,
wo zuerst Juden urkundlich belegt sind, und es ist streng zu unter-
scheiden, ob es einzelne Familien oder organisierte Gemeinden sind,
welche wir antreffen.
Von einzelnen Judenverfolgungen (1009, 1287) haben wir schon
gehört Solche brachten in früherer Zeit die Kreuzzüge '): schon 1096
fallen die Kreuzfahrer raubend, plündernd und mordend über die Juden
in den rheinischen Städten her, ebenso beim zweiten Kreuzzug 1 146 ^®).
Die Juden nehmen ihre Zuflucht zu Papst Alexander III. (11 59 — 1181),
der sie wie Calfact IL {1119— 1124) und Eugen HI. (1145 — 1153) in
seinen Schutz nimmt. „Kein Christ**, heilst es in einer dieser Ur-
kunden"), „soll die Juden wider ihren Willen zwingen zur Taufe
zu kommen, aber wenn einer des Glaubens wegen zu den Christen
seine Zuflucht nimmt und seinen Willen kundgethan hat, soll er zum
i) Levy, Geschichte der Juden in Sachsen. (Berlin 1901), S. 28.
2) G. Wolf, Zur Geschickte der Juden in Worms, (Breslau 1862), S. 4.
3) Löwenstein, Geschickte der Juden in der Kurpfalx. (Beiträge zur Geschichte
der Jaden in Deutschland I) Frankfurt a. M. 1895, S- 2-
4) Klaus, Beilage zur ÄUgem. Ztg. 1900, Nr. 66.
5) Anton Buchholtz, Geschichte der Juden in Riga. (Riga 1899) S- i.
6) Feilchen feld in der Zeitschr. fUr Geschichte der Juden in Deutschland I.
(1887), S. 271.
7) M. Stern, Die israelitische Bevölkerung der deutsehen Städte.
8) Es gab natürlich auch hier einzelne Juden, aber ihre Zahl und soziale Bedeutung
war gering. VgL Salomon Goldschmidt, Geschichte der Juden in England im
XI. und XIL Jahrhundert. Leipzig. Diss. 1886.
9) Es liegen jetzt ediert Yon A. Neubauer und M. Stern und ins Deutsche über-
setzt von S. Baer vor Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der
EreuxsUige. (Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland. IL Bd. Berlin, Leon-
hard Simion, 1892).
10) Bernhard von Clairrauz tadelt 1146 den Mönch Rudolf in Mainz wegen seiner
Judenverfolgung, Niederrheinische Annalen, 41. Heft (1884), S. 154.
11) M. Stern, Urkundliche Beiträge. 2. Lieferung (Kiel 1895), S. i, Nr. 171.
— 247 —
Christen gemacht werden, ohne da(s er von den Juden Schmähungen
erleidet. Kein Christ soll ohne ein Urteil der weltlichen Gewalt einen
Juden verwunden, töten, oder sein Geld nehmen. Bei der Feier ihrer
Feste soll niemand die Juden mit Prügeln oder Steinen stören. Nie*
mand soll es wagen einen Judenkirchhof zu schänden, dort einzudringen
und Leichen auszugraben.*'
Wenn so die Päpste die Juden gegen Vergewaltigungen zu schützen
suchen, so will die Kirche andererseits die Christen vor Auswucherung
durch die Juden bewahren. Dieser Gesichtspunkt tritt zum ersten
Male beim vierten Laterankonzil (12 15) hervor, wo den Christen der
Verkehr mit wucherischen Juden untersagt wird, da das Vermögen
derselben durch letztere in kurzer Zeit aufgesogen werde. Auch wird
damals den Juden eine besondere Kleidung, die sie von den Christen
unterscheidet, anbefohlen, damit nicht infolge von Irrtum eine geschlecht-
liche Vermischung stattfinde. In dieser Weise bekämpft die Kirche
die Ausschreitungen der Juden, schützt sie aber zugleich gegen Ver-
gewaltigung durch die Christen, so Gregor DC. (1227 — ^41), Innocenz IV.
(1243 — 54) *), Gregor X. (1271 — 76). „Da die Juden", sagt letzterer,
„fälschlich beschuldigt werden, christliche Kinder zu rauben, um deren
Herz und Blut bei ihrem Ritus zu verwenden, so soll das Zeugnis von
Christen in solchen Fällen keine Gültigkeit haben." Die Judenpolitik
einzelner Bischöfe darf im allgemeinen nicht als Ausfluls der Kirche be-
trachtet werden, sondern, was sie auch anordnen mögen, ihre Eigenschaft
als Landesherren ist daiür in erster Linie maßgebend *)• Auch von
der niederen Geistlichkeit erfahren wir wenig, wie sie sich zu den Juden
stellt. Nur in Nördlingen haben wir unter den uns vorliegenden Mono-
graphieen über diesen Punkt etwas gefunden. Die Geistlichkeit agitiert
dort gegen die Juden und verlangt deren Ausschafiung '). Der Rat
wendet sich an den kaiserlichen Hof, wo der Erzbischof Adolf von
Mainz die Beschwerde vermittelt. Nun wird der Bischof Johann von
i) Die Schntzbnlle des Papstes Jnnoenz IV. fttr die Jaden Yom 9. Juni 1247 ist mit*
geteilt in den Annalen des historischen Vereins fUr den Niederrhein, 41. Heft (1884),
S. 84/85. Vgl. Stern, Urkundl. Beitr. Nr. 208.
2) So klagt der Enbischof Baldoin gegen die Stadt Trier 135 1, man habe die Jaden
erschlagen, ihre Briefe genommen, die Jadenhfioser aasgeraabt and ihren Kirchhof ter-
stört (Westd. Zeitschr., Ergänzangsbd. I (1884), S. 154). Im Jahre 1388 TertrSgt sich die
Stadt Oberwesel mit Erzbischof Baldain wegen geschehener Jadenonrahen (Westd. Z.
Korrspbl. V (1886), S. 231). Es ist derselbe Interessenstandpankt, von welchem aas der
Rat Yon Köln 1349 die Jaden schützt (Annalen des hist Vereins fUr den Niederrhein,
41. Heft (1884), S. io6_io7).
3) L. Müller, a. a. O. S. 66.
— 248 —
Augsburg 1473 ersucht, er solle die Nördlinger Geistlichkeit zur Milde
mahnen, was auch durch den Generalvikar Johannes Gossolt geschehen
ist. Letzterer schreibt 1478 übrigens an den Nördlinger Bürgermeister,
er habe gehört, dais man den Juden immer noch den Wucher gestatte ;
man solle die, welche wuchern, nicht länger dulden. Doch in der
That blieben die Juden unbehelligt Es ist wohl anzunehmen, dafs
auch anderwärts die Geistlichkeit sich gegen den jüdischen Wucher
wandte, und positive Nachrichten darüber wären recht er-
wünscht.
Die Juden treten uns schon im frühesten Mittelalter als kapital-
kräftige Leute, die im wesentlichen gegen Faustpfand Leihgeschäfte
betreiben, entgegen. Aus der 2^it um 1250 wird berichtet: abbas
et convenhis de Alba (Herrenalb) omatum ecclesie sue aput ludaeos
loco pignoris pro qtiatuor marcis et dimidio exposuerunt *). Am
8. Mai 127s verschreiben sich zu Weissenau Äbtissin Thutecha und
Konvent von Baindt dem Juden Isaak, Sohn des Leo, ftir eine Schuld
von 200 Mark Silber, die sie vom Kloster Weissenau aus dem Kauf
des Hofes in Sulpach übernommen haben *). Der Betrieb des Wuchers
ist es vor allen Dingen, was den Hafs des Volkes gegen die Juden
wachruft und zu blutiger Verfolgung treibt. Solche Verfolgungen in
grödserem Stil brachen aus im Jahre 1298 unter Anführung des frän-
kischen Edelmanns Rindfleisch und 1336 unter Anftihrung von Arm-
leder. Die allgemeinste aber war die des Jahres 1348. Die nächste
Veranlassung dazu geht von verschiedenen Vorkommnissen aus, von
wirklicher oder angeblicher Verhöhnung der christlichen Religion,
Hostienschändung, gewöhnlichen oder Ritual-Morden. Der unmittel-
bare Anlafe zu der grofeen Verfolgung der Jahre 1348 und 1349 ist der
Ausbruch der Pest, die — so glaubte man — durch Brunnenvergiftung
seitens der Juden entstanden sei '). (Schkls folgt.)
i) Wirtembergisches Urkundenbach IV. Bd., S. 203.
2) Ebenda VIL Bd. S. 366.
3) Dieses Bmnnenvergiften wird oft mit allem möglichen Detail aosgeschmückL So
wird berichtet (Sembritzki, Oeschichie der k, preußischen See- tmd Handelsstadt
Memelf Memel 1900, S. 34), der Rat zu Lübeck habe 1350 an den Herzog von Lüne-
burg geschrieben, in Gothland sei ein gewisser Tidericos verbrannt worden, welcher be-
kannt habe, dafs ihm in der Stadt Dassel (in Hannover) von einem Juden Aaron mit
einem Lohne von 30 Mark reinen Silbers 300 Beutelchen mit Giften eingehändigt worden
seien, um damit die Christenheit zu vernichten. Damit sei er umhergezogen und habe
überall die Brunnen und Quellen vergiftet, in Fraoenburg habe er ca. 40 Menschen ge>
tötet und ebenso viele in Memel.
— 249 —
Das Verfahren bei Aktenkassationen in
Von
«
Woldemar Läppert (Dresden)
Eine Angelegenheit, welche für das Archivwesen und die Ge-
schichtswissenschaft von gleich hoher Bedeutung ist, ist die Kassa-
tion der älteren Akten, die bei den modernen Geschäftsstellen
des öffentlichen Lebens, bei Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden, für
die praktischen Bedürfnisse des Dienstbetriebs entbehrlich geworden
sind. Was aber entbehrUch geworden ist, „was man nicht nützt, ist
eine schwere Last*' ; es liegt daher auf der Hand , dals die Behörden
sich dieser alten Aktenmassen thunlichst zu entledigen suchen. Seit
es aber ein Archivwesen giebt, das nicht mehr ledigb'ch, wie in
früheren 2^iten, eine Art zusammenfassender Reg^traturbehörde für
alle übrigen staatlichen Behörden bildet, sondern das auch der Wissen-
schaft dienen will und soll, seit die Archivbeamten fachmännisch ge-
bUdete Historiker sind, die ihre Amtsführung in Einklang mit den An-
forderungen ihrer Wissenschaft bringen, ist die Frage, was mit den
alten Beständen werden soll, ein Gegenstand ständiger Sorge und Für-
sorge der beteiligten Kreise gewesen. Auch gerade in der neuesten
2^t ist dieser Angelegenheit die gebührende Aufmerksamkeit in er-
höhtem Maise geschenkt worden : bUdete sie doch im Jahre 1900 beim
zweiten deutschen Archivartag in Dresden ^) einen Hauptberatungs-
gegenstand , und auch im laufenden Jahre stand sie mit auf dem Pro-
gramm der Versammlimg thüringischer Archivare. Bei dieser Sach-
lage wirkt eine MitteUung in den Nachrichten und Notizen II des
ersten Heftes der Historischen Vierteljahrsschrift, ipoi, S. 152, 153
um so beunruhigender, als hier ein in der That schwerer Mifsstand,
ein höchst bedenklicher Mangel staatlicher Fürsorge für ältere Akten
aufgedeckt zu werden scheint. Das Kgl. Sachs. Amtsgericht zu Leipzig
hatte durch eine Bekanntmachung diejenigen, die. sich für Erhaltung
alter, zur Ausscheidung und Kassation bestimmter Akten interessieren,
zur Einsichtnahme in die Verzeichnisse und Anbringung ihrer even-
tuellen Auslieferungswünsche aufgefordert. Daran werden nun a. a. O.
scharfe Beschwerden geknüpft, von denen hier nur die Hauptsätze
I) VgL den Bericht darüber im „ Korrespondenzblatt des Gesammtvereins der deut-
schen Geschichts- und AUerthiimsvereine'% 1901 (Febr./MSrz) Nr. 2/3, S. 36 f.
— 260 —
herausgehoben werden sollen: „Wir halten es für geboten, die Auf-
merksamkeit der gelehrten Kreise auf diesen Vorgang zu richten, weil
er bereits typisch geworden ist für die Art und Weise, wie
man mit dem historischen Quellenmaterial der letzten
Jahrhunderte verfährt. Die Bestimmungen, welche die Ver-
nichtung von Akten regeln, entsprechen einer Zeit, wo man
noch wenig Sinn für die wirtschaftliche und soziale Entwickelung be-
safs, und wo man besonders die Zeit nach dem Dreifsig-
jährigen Kriege nicht für historisch merkwürdig hielt. .. .
Solange sie auf den Gerichten liegen, sind diese Akten für den For-
scher unzugänglich, dann aber wandern sie sofort den Weg in
die Papiermühle. Allerdings sollen nach den gesetzlichen Be-
stimmungen alle Stücke, welche historischen oder kulturgeschichtlichen
Wert besitzen, von der Vernichtung ausgeschlossen bleiben. Wie
aber kann man erwarten, dafs Leute, die selbst nicht Ge-
schichte schreiben oder geschichtliche Forschungen
pflegen, zu entscheiden vermögen, was für den Histo-
riker von Fach von hervorragendem Werte ist? ... Hier
müfste meines Erachtens gründlich Wandel geschafft werden
tmd zwar schnell, denn das Zerstörungswerk schreitet, was
wenigstens die Leipziger Verhältnisse betrifft, rüstig voran. Ich
halte das für eine Aufgabe, wichtig genug, einen der künftigen Histo-
rikertage zu beschäftigen. ... Wie wenig sich aber der jetzige
Zustand mit den Bedürfnissen der Wissenschaft verträgt,
zeigt ganz schlagend der vorliegende Fall. In dem Augenblicke,
wo die Königl. Sächsische Historische Kommission beschlossen hat,
eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Leipzig aus-
arbeiten zu lassen, läfst man das Material, auf das sich für
einen langen wichtigen Zeitraum eine solche Darstellung in erster Linie
mit zu stützen hätte, noch ehe es das Auge eines Forschers
erblickt hat, einstampfen." Es ist eine alte, aber leider stets
sich wiederholende Thatsache, dafs solche Anklagen gern weiter ver-
breitet und dann bei irgendwelchen Anlässen, wie Historikertagen, be-
nutzt werden, um energische Resolutionen gegen Staatsregierungen
und Archivverwaltungen hervorzurufen. Da die Historikertage aber
mit BeratungsstofTen meist schon überreich versehen sind, werden die
Fachgenossen, denen eine nützlichere Verwendung der Sitzungszeiten
am Herzen liegt, eine kurze Darlegung des Verfahrens, wel-
ches offiziell in Sachsen bei Aktenkassationen angewandt
wird, willkommen heilsen.
— »1 —
Die ganze Eatwidcdm^ der Gnmdsätze, die sich allmählich durch
die Praxis hei ausgebildet haben, hier vornifuhxen und zugleich zu zet*
gen, wie die Archivverwaltnng ') seit 1849 fortgesetzt bei der
Regierung eine sachgemäfse Ausführung nnd Überwachung
der Aktenkassation anger^t und durch eingehende Denkschriften
gefördert hat, wäre eine nicht unnütze Au%abe, da dann jeder I&to-
riker sofort in Kürze ach überzeugen könnte, wie sor^ich diese An-
gd^^enheit von jeher behandelt worden ist; doch in der Erwägung,
da& bereits an zwei Stellen, von denen wen^stens die zweite stets
leicht zuganglich ist, über die früheren Verhaltnisse und Grundsatze
ausführlich gehandelt worden ist, möge es hier genügen, auf d^be
zwei früheren AuCsatze hinzuweiseiL H. Ermisch hat in seinem Auf-
satz Bcüräge zur Kenntnis des sächsischen Archivwesens (in der
Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung Nr. 20 und 21 vom
9. und 13. März 1879 S. 117 — 119, 125 — 128) die einschlägigen Be-
stimmungen, die damit gemachten Erfahrungen, die verschiedenen Ver-
suche der Abhilfe und die allmähliche Au^^taltung der Kassations-
vorgänge und ihrer Kontrolle vorgeführt, und wesentlich nach ihm hat
C D. von Witzleben 1880 in seinem Au&atz über K. von Weber
pm Archiv für die Sachs. Gesch., Neue Folge VI, 369—376) denselben
G^enstand behandelt.
Der Verlauf einer Aktenkassation ist heute folgender: Sobald eine
Behörde (eine Amtshauptmannschaft, ein Land- oder Amtsgericht u. a.)
ihre Aktenbestände zu dchten genötigt ist (wozu häufig Raummangel
oder Umzug in ein anderes Dienstgebäude den äufseren Anlafs bieten),
hat sie ein handschriftliches, genaues Verzeichnis der Titel
der sämtlichen einzelnen Akten aufzustellen, die sie nicht
mehr für ihren Dienstbetrieb braucht und deshalb unbedenklich ma-
kulieren zu können glaubt Es ist ihr dabei freigestellt, aus dieser
Makulationsmasse einzelne Akten, die sie für fernere Aufbewahrung
im Hauptstaatsarchiv geeignet hält, selbst gleich auszusondern
und direkt an das Archiv zu schicken; doch hat diese vor-
herige Ausmusterung wenig Wert, da eine ordentliche Auswahl doch
nur seitens des Archivs selbst besorgt werden kaim *). Gleichzeitig
1) In erster Linie der Terdienstrolle und allgemeiQ in Forscberkreisen durch seine
damals vielen anderen ArchiTleitiingen yoranstehende Liberalitfit hochgesch&tzte ArduT«
direkter Karl ?on Weber, f 1879.
2) Die ganze Voraasmastening könnte sogar ohne Schaden w^allen, da unter den
▼on der betreflfenden Behörde selbst nach Snfserlichen Indizien als historisch beachtlich
ausgesuchten Stücken oft welche sind, die dieses Prädikat bei der Durchsicht durch einen
— 252 —
hat die Behörde (wie es in der Verordnung" der Ministerien des Innern
und der Justiz vom 27. März 1876 heifst) „das Verzeichnis der
zu makulierenden Akten in ihren Amtsräumen öffentlich
auszulegen und durch eine im Amtsblatte, nach Befinden auch,
dafem ein Interesse weiterer Kreise an der Erhaltung solcher Akten
angenommen werden kann, in der Leipziger Zeitung und in dem
Dresdner Journale zu veröffentlichende Bekanntmachung
denjenigen Gemeinden, Korporationen oder Privatper-
sonen, welche an der Erhaltung einzelner dieser Akten-
stücke ein Interesse zu haben vermeinen, unter Emräumung
eiäer angemessenen Frist freizustellen, von dem Verzeichnisse
der Akten an behördlicher Stelle Einsicht zu nehmen und
diejenigen Akten, welche sie von der Vernichtung aus-
geschlossen zu sehen wünschen, zu bezeichnen und be-
ziehentlich zur Aushändigung zu erbitten. Nach Ablauf obiger
Frist ist das Verzeichnis der zur Kassation bestimmten Akten
nebst den etwa eingegangenen Anträgen auf fernere Auf-
bewahrung einzelner Aktenstücke oder auf Auslieferung der-
selben an den Antragsteller nebst gutachtlicher Auslassung über diese
Anträge in der bisher üblichen Weise von den Amtshauptmann-
schaften an das Ministerium des Innern, von den Bezirks-
gerichten und Gerichtsämtern an das Ministerium der
Justiz einzureichen; das eingereichte Aktenverzeichnis
wird der betreflfenden Behörde mit der Entschliefsung darüber
zurückgegeben werden, welche der in dem Verzeichnisse aufge-
führten Aktenstücke ferner noch aufzubewahren oder an andere
Archive abzugeben oder in Berücksichtigung eines deshalb er-
gangenen Ansuchens an Gemeinden, Korporationen oder
historisch geschalten Archivar gar nicht verdienen und deshalb nachträglich noch nhig
mit kassiert werden können, and weil andererseits diese vorherige Aaslese vielfach gerade
die Stticke, auf die aas wissenschaftlichen Gründen besonderer Wert gelegt werden mofii,
nicht mit enthält Das Verfahren ist oft blofs lästig and sogar sachlich störend ; denn der
Beamte des Haaptstaatsarchivs hat erst die vorher aasgemosterten, oft aas dem Zasammen«
hang gerissenen Sachen dorchzosehen and dann noch besonders das eigentliche Kassations-
Verzeichnis, wahrend er andernfalls blofs dieses eine Haaptverzeichnis vor sich hätte, das
die ganze Makalaüonsmasse beisammen enthielte. Doch ist das nor eine Frage dienst-
licher Vereinfachang , die fUr die Kassation oder Erhaltang selbst belanglos ist; die
Haaptsache ist doch, dafs das Haaptstaatsarchiv nicht nar diese Akten erhält, die das
Gericht ihm aaszasachen and zazaschicken für gat findet, sondern selbst prüfen und.
aaswählen kann (s. oben im Folg.).
— 253 —
Privatpersonen gegen Erlegung des Makulaturwertes auszuant-
worten sind."
Eine solche Bekanntmachung ist es, die jetzt die Beunruhigung
erregt hat. Diese Aufforderung ist aber nur der erste Teil des
Verfahrens und zwar — fügen wir aus jahrelanger praktischer Er-
fahrung bei — ein nur geringwertiger Teil desselben. Denn
so trefflich und wohlgemeint diese ministerielle Anordnung auch ist,
so wenig wird sie leider von seiten der Beteiligten gewürdigt. Selbst
Städte und Gemeinden, die, weil sie selbst Besitzer von Archiven sind,
besonderes Interesse daran haben müfsten, ihre Bestände durch die
entsprechenden Akten der staatlichen Verwaltungs- oder Gerichts-
behörden zu ergänzen, machen davon nur ab und zu Gebrauch; ge-
legentlich bittet sich, wo ein rühriges Mitglied da ist, ein lokaler Ge-
schichtsverein einiges aus; Privatleute, besonders auch alteingesessene
AdelsfamUien, geben sich, trotzdem manche ihr nicht unbeträchtliches
Familienarchiv haben, selten die Mühe, das für sie in Betracht kom-
mende Material ausztisuchen imd zu erbitten, — ein sonderbarer Kon-
trast zu den so üppig gedeihenden genealogischen Studien, deren Be-
flissene einen grofsen Prozentsatz aller Archivbenutzer büden. Die
akademischen Vertreter der historischen Wissenschaft haben sich (ich
spreche nur von sächsischen Verhältnissen) meines Wissens überhaupt
noch nicht um diese Bekanntmachungen der verschiedenen Amtsgerichte
gekümmert, woraus ihnen keineswegs ein Vorwurf gemacht werden
soll, da ihre Mitwirkung ja doch meist nur eine theoretische und pro-
blematische sein könnte; denn in diesen Fällen kommt es weniger
darauf an, ein grofser Geschichtsforscher oder -schreiber selbst von
Weltruf zu sein, als auf die viel bescheidenere, hierfür aber allein
ausschlaggebende Fähigkeit, die betreffende spezielle Landes- oder
Provinzialgeschichte gründlich zu kennen. Da nun aber die eigenen
Studiengebiete der Universitätshistoriker vielfach nur geringe, oft
gar keine Berührung mit der Landesgeschichte haben, ja selbst-
verständlich bei dem öfteren Ortswechsel akademischer Kreise
gar nicht haben können, so scheidet diese Gruppe von Fach-
genossen von selbst und zwar ohne ihre Schuld aus dem engeren
Kreise der fiir landesgeschichtliche Einzelheiten kompetenten Beur^
teiler aus.
Ist die öffentliche Auslegungsfrist vorüber, so gehen die Ver-
zeichnisse an das betreffende Ressortministerium, wo sie
durchmustert und eventuell Stücke zur ferneren Aufbewahrung
bei der bisherigen Behörde oder bei einer anderen Dienststelle
— 254 —
bezeichnet werden. Dann werden sie bei den anderen Mini-
sterien, seitens des Kultusministeriums auch beim Landes-
konsistorium, in Umlauf gfesetzt und auch hier oft noch man-
ches Stück (besonders vom Landeskonsistorium, sowie auch
vom Kriegsarchiv) von der Kassation ausgeschlossen und
zur Hinterlegung an geeigneter Stelle (z. B. in den betreffenden Pfarr-
archiven u. a.) bestimmt. Natürlich richten die Ministerien ihr Augen-
merk dabei auf Akten, die in ihren speziellen Geschäftsbereich
fallen, doch wird auch dadurch immerhin eine Anzahl Akten vor der
Vernichtung bewahrt; für das Kriegsarchiv aber gelten nicht nur
Rücksichten auf den praktischen Dienst, sondern dasselbe
nimmt besonders auch solche Akten mit auf, die auf die Kriegs-
geschichte, die Heeresverwaltung und Organisation, die
Leistungen des Landes zu militärischen Zwecken und ähn-
liches sich beziehen. Schliefslich gelangen die Verzeich-
nisse an die Stelle, die unter allen Kontrollinstanzen die eingehendste
Prüfung vorzunehmen beauftragt und thatsächlich auch bestrebt ist,
an das Hauptstaatsarchiv.
Wenn in der Beschwerdenotiz gesagt ist, dafs aus den Verzeich-
nissen nichts über den Wert der Akten zu ersehen sei, so trifft
dies nur zum Teil zu. In den Hunderten von Fällen, wo es sich
um die bei jedem Amtsgericht in Unzahl vorhandenen Bagatell-
sachen der Strafrechtspflege, sowie um die Handlungen
der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Eigentumsvergehen, Forst-
frevel, Schwängerungs- und Alimentationsklagen, Beleidigungen, Kon-
kurse, Schuldklagen, Nachlafs - und Depositensachen u. s. w.) handelt,
genügt vollständig der Name des Klägers, des Beklagten bez. des
Beteiligten und das Stichwort des Sachbetreffs. Bei anderen
Aktengruppen, wie bei Akten über Verwaltungsfragen, Stcuer-
sachen, Gemeindeangelegenheiten, Grenzsachen, Hu-
tungsstreitigkeiten, Gerechtsamen, Frohnden und an-
deren Dienstverpflichtungen, Ablösungen u. dergl. sind die
Aktentitel für gewöhnlich keineswegs so dürftig, sondern aus-
führlich genug, bei älteren Akten sogar oft weitschweifig ge-
fafst, so dafs sie in vielen Fällen einen Schlufs auf den Inhalt wohl
zulassen^). Akten der letztgenannten Art werden auch ganz oder
l) In dea meisten FaUeo pflegen die mit der schrifUichen HersteUong des Ver-
leichnisses beauftragten Unterbeamten der Behörden die bemerkenswerten Titel auch ge-
nügend deutlich bez. vollständig wiederzngeben ; sollte ein Kansleibeamter sich aber im
— 255 —
gröfstenteils aufbewahrt. Da(s von den Akten strafrecht-
lichen Charakters gleichfalls die sachlich wertvollen nicht
kassiert werden '), versteht sich wohl ohne besondere Erklärung von
selbst, sie bUden aber einen nicht groisen Teil ihrer Gattung; denn
bei der Mehrzahl der Einzelakten dieser umfänglichen Aktenkategorieen
ist der sachliche Gehalt meist nicht aufhebenswürdig. Die Htmderte
von Diebstählen, Unzuchtsvergehen, Konkursen etc., die auf ein be-
stimmtes Gebiet fallen, haben nicht als Einzelfälle Wert, sondern
nurstatistisch; dafür aber braucht man nicht die einzelnen Partei- oder
Personalakten aufzuheben; denn hierüber werden anderweit besondere
statistische Ausweise geführt, welche die 2^hl und Verteilung von Ver-
brechen und sonstigen Erscheinungen des sozialen Lebens in den ver-
schiedenen LandesteUen genugsam erkennen lassen.
Femer ist bei den Verzeichnissen zu beachten, wer sie
durchmustert. Ein Leser, der mit diesem Material und seinen im
Vorstehenden kurz skizzierten typischen Eigenschaften nicht ver-
traut ist, ersieht aus der blofsen Liste der Aktentitel vielfach
nichts; wem aber Hunderte oder Tausende von Akten derselben
Gattung durch die Hände gegangen sind, wer in jedem Amts- oder
Landgericht — von gewissen örtlichen, durch Lage, Erwerbsverhält-
nisse u. a. bedingten und zu beachtenden Verschiedenheiten ab-
gesehen — bei der Hauptmasse des Stoffes immer wieder
dieselben Vorgänge, Zustände u. s. w. findet, der erlangt zwar
nicht die Fähigkeit, den Inhalt und Wert jedes Aktenstückes aus dem
KassatioDsverxeichms eine allzu weitgehende, onTentandlich werdende Kttraong der Titel
erlauben, so ist das ein Übelstand, der durch eine einfache Anweisung abzustellen ist^
sobald an und von zuständiger Stelle darauf hingewiesen wird.
i) Soweit die speziellen Gerichtsakten geschichtlich wichtige Per-
sonen selbst oder wenigstens Mitglieder historisch beachtlicher Familien
betreffen, werden sie so wie so ohne Rücksicht auf den Sachbetreff gleichfalls auf-
gehoben; in der reichhaltigen AbteUung „Genealogica" des Hauptstaatsarchivs, die
seit zwei Menschenaltem grölstenteils aus den von der Vernichtung ausgeschlossenen
Teilen makulierter Bestände gebildet ist und wertvollstes Material zur Familiengeschichte
(besonders des sächsischen Adels, doch auch bürgerlicher Familien) enthält, finden sich,
auch von diesen Kategorieen (desgleichen auch in der AbteUung „Malefiz-
sachen'*) grofse Mengen, so dafs es einem künftigen Kulturhistoriker an
zahllosen Beispielen für Rechtspflege, sittliche Zustände, Vermögens-
verhältnisse, wirtschaftliche Lage der verschiedenen Stände und Be-
völkerungsschichten nicht fehlen wird. Er mufs sich nur die Mühe geben, es
xa suchen und sich durch den Wust, der drum und dran hängt, durchzuarbeiten; der
Wust wäre aber noch viel gewaltiger, wenn von jedem Amtsgericht auch nur die Hälfte
der auszuscheidenden Bestände aufbewahrt würde I
— 258 —
Geschichtswissenschaft urteilen ^ welche Forderungen an Bearbeiter
und Material man dann stellen wird. Was erhaltungswürdig ist,
wird fast in jedem Jahrhundert anders erklärt werden '). Alles
aber aufzuheben (die Forderung ist wiederholt, z. B. beim letzten
Archivartag in Dresden im September 1900, thatsächlich von nicht
archivarischer Seite erhoben worden) *) , ist ein Ding der Unmög-
lichkeit, solange der Begriff Geld im Staatsbudget eine Rolle
spielt; denn das ungemessene Anwachsen der Aktenbestände würde
zunächst immer wieder Archivneubauten, besonders aber auch die
fortgesetzte Erhöhung der Beamtenzahl erfordern, um die zuströmen-
den Massen nur einigermafsen zu sichten, einzuordnen und (lir die
Repertorien durchzuarbeiten. Von diesem Idealzustand sind wir aber
noch weit entfernt und werden es wohl auch bleiben, vielleicht zum
Segen der andernfalls im unermefslichen Stoflfmeere ertrinkenden Zu-
kunftshistoriker selbst.
Unumwunden würde ja jeder Archivar seine freudige Zustimmung
geben, wenn sich — ohne Vollpfropfung und Belastung der Archive —
Kassationen auf ein geringeres Mafs beschränken lie(sen. Die Archive
sind nicht blofs wissenschaftliche Sammlungen, sondern in
erster Linie staatliche Behörden, und ihre Beamten sind sich
der auf ihnen als Staatsbeamten liegenden Verantwortlichkeit voll be-
wußt. P'ür sie würde es eine Verringerung dieser Verantwortung be-
deuten, wenn sie die beruhigende Gewifsheit hätten, dafe ein Akten-
stück, das sie nicht aufheben können, dennoch nicht der Vernichtung
anheimfällt , sondern anderweit aufbewahrt wird '). Auch die dienst-
liche Arbeit selbst würde verringert, denn jedes Hundert neuer Zu-
gänge bedingt aufser der Durchsicht und Einordnung mindestens hun-
dert neue Einträge in den Registranden und ebenso viele Verweisungen
in den Repertorien über Orte, Personen u. s. w. ; und bei dem raschen
Anwachsen der Bestände des Hauptstaatsarchivs in den letzten zwölf
i) Deshalb haben ja aacb detaillierte Regulative und Systematisierungen Über das,
was kassiert und was aufbewahrt werden soll, keinen Wert; wie^ Überall im Leben bt
die Theorie wertlos oder geringwertig, nur die Praxis entscheidet.
2) VgL auch Hilles Rede, Korrespondenzblatt 1901, S. 26, 27, 31.
3) VgL hierzu die Anregung von Jacobs (Korrespondenzblatt 1901, S. 30), wonach
Akten, deren Aafbewahrung die Staatsarchive ablehnen müssen, an andere Archive, z. B.
Kirchenarchive, Stadtarchive, Archive heraldischer Gesellschaften u. s. w. abgegeben
werden sollen. In Sachsen ist diese Frage ja insofern bereits geregelt, als es diesen
and anderen Interessenten freisteht, Akten sich ausliefern zu lassen; wie relativ wenig
sich aber diese Archive geneigt zeigen, die dargebotene Hand des Staates zu ergreifen,
ist oben erwähnt.
— 259 —
Jahren ^) , während deren die Beamtenzahl die gleiche geblieben ist,
wäre eine Beschränkung des Zuflusses ohne Gefährdung der histo-
rischen Pflichten des Archivs gewifs wünschenswert Der Staat kann
doch auch nicht fiir alles eintreten. Er läfst jetzt schon durch seine
Oi^ne sichten und prüfen tmd aufbewahren ; er ludst die bevorstehen-
den Kassationen öflentlich in den Tagesblättem bekannt machen und
giebt anderen Interessenten die Möglichkeit, sich weiteren Stoßes an-
zunehmen. Dafs von dieser Möglichkeit kein so ausgiebiger Gebrauch
gemacht wird, wie im Interesse der Wissenschaft zu wünschen wäre,
ist zweifellos bedauerlich; soll aber deshalb, weil andere ihren even-
tuellen Pflichten nicht nachkommen, der Staat wieder einspringen
und die Gemeinden und die Pfarreien, die historischen Vereine
und die Lokalmuseen, die historischen oder nationalökonomischen
oder sonstweiche Seminare der Universitäten und die Bibliotheken,
die Adelsfamilien, Gutsbesitzer und so fort, mit Strafmandaten
zwingen, d i e auf ihren Ort, ihre Kirche, ihren Bezirk, ihr Geschlecht,
ihr Gut bezüglichen Akten, die er selbst nicht alle aufheben will
und auch nicht kann, an sich zu nehmen und dauernd gut auf-
zubewahren?
Er erstreckt ja auch in Sachsen seine Fürsorge schon lange nicht
mehr blofs auf die staatlichen Archive, sondern auch auf die Stadt-
archive. Ein Fernstehender kennt gar nicht die Schwierigkeiten,
die bei solchen Fragen vom verwaltungsrechtlichen Standpunkt
aus auftauchen; denn der Staat hat kein Recht, beliebig in
die den Städten verfassungsmäfsig zustehende Freiheit
innerer Selbstverwaltung einzugreifen. Nur insofern die Ar-
chive auch mit zum Stammvermögen derStädte gehören, läfst
sich eine staatliche Kontrolle der städtischen Archive er-
mögUchen «).
i) Obwohl erst vor zwölf Jahren die jeUigen Diensträume bezogen worden sind,
läfst die infolge des aaiserordentlich starken Anwachsens allmählich drohende ÜberfüUung
die wenig erfreuliche Aussicht eines abermaligen Umzags mit seiner unvermeidlichen, vor
allem für die wissenschaiUiche Benutzung empfindlichen Störung des geordneten Dienst-
betriebes gar nicht mehr allzu fem erscheinen.
2) VgL die obenerwähnten Aufsätze Er misch s und Witzlebens a. a. O. und
dazu auch Ermisch, Ober Staats^ und Stadtarchive^ Protokoll über die Verhand-
lungen des sächsischen Gemeindetages zu Freiberg, 1882. Die sächsische Städte-
ordnung von 1832 erkennt in den \\ 32, 33, 34 dem Staate das Recht und die
Pflicht der Oberaufsicht fiber das Stadtvermögen zu mit der Befugnis zum Einschreiten
betreffs Abstellung wahrgenommener Mängel (vgL besonders den Schlnfsabschnitt von
\ 34). Dafs aber die städtischen Archivalien zum Stadtvermögen in diesem Sinne ge-
19»
— 260 —
Über die anderen Archive besitzt der Staat keine Kon-
trolle, Familienarchive, Gutsarchive sind dem wohlwollenden Interesse
oder der gleichgültigen Verwahrlosung ihrer jeweiligen Besitzer völUg
ausgesetzt; die Gesetzgebung und Landesverfassung bieten kei^e Hand-
habe zum Einschreiten, so wertvoll manche von diesen nichtstaatlichen
bez. Privatarchiven auch sind ^). Um Abhilfe zu schaffen , nützt es
hören, zeigt das der Städteordnong anhangsweise beigegebene Regulativ für die Anlage
eines Verzeichnisses des Stadtvermögens; denn darin sind als Abteilang IX des Aktiv-
vermögens die Bestände an Büchern, Urkanden and anderen Schriften aafgefUhrt, wobei
eine gebfihrende Ordnung der Archivalien als selbstverständlich vorausgesetzt ist, denn
es heiist daselbst weiter: „Die Aktenrepertorien und die etwa vorhandenen Verzeichnisse
der fehlenden Akten sind hierbei spezieU anzuführen/' In der revidierten Städte-
ordnung von 1873 ^^ ^*^ Oberanfsichtsrecht des Staates in H 131, 133, 134 noch
schärfer betont und in } 135 ausdrücklich jede Verminderung des Stammvermögens (so
ist 1873 £cs>S^ statt des 1832 gebrauchten Ausdruckes Stadtvermögen), somit also auch
jede Verringerung des Archivbestandes, an die Genehmigung der Aufsichtsbehörde geknüpft
VgL auch die Städteordnung für mittlere und kleine Städte von 1873, ArUk. VI,
und die revidierte Landgemeindeordnung von 1873, 2 93^
1) Wie not eine Abhilfe thäte, zeigt z. B. die dem Archive der Leipziger
Kreisstände drohende Gefahr. In dem „Bericht Über den allgemeinen und ritter-
schafllichen Kreistag" (Leipziger Zeitung Nr. 88 vom 17. April 1901) wird in Abschnitt 4
es oflfen ausgesprochen, dafs man früher die Absicht gehabt habe, das Archiv zu ver-
nichten. In den letzten zwei Jahren hat aber ein Lehrer, der sich mehrfach mit Lokal-
geschichte der Leipziger Gegend beschäftigt hat (Dr. C Krebs), das Archiv durchmustert
und auf seinen Wert, besonders seit Beginn des 18. Jahrhunderts, hingewiesen. Nachdem
von einer Seite eine Abgabe an das Hauptstaatsarchiv vorgeschlagen, von anderer eine
Überlassung an das historische Seminar der Universität als Lehrmittel angeregt worden
war, ist jetzt sein Schicksal in befriedigendster Weise geregelt: auf Befürwortung des
Leipziger Stadtarchivdirektors Wustmann hat der Rat der Stadt Leipzig sich bereit er-
klärt, das kreisständische Archiv im Stadtarchiv unterzubringen und auch den erforder-
lichen Platz für Zuwachs kfinflig zu gewähren. Der Kreistag hat daraufhin auch zu-
stimmenden Beschlufs gefafst Zu dieser Lösung ist allen Teilen Glück zu vrünschen;
denn dadurch ist hoffentlich eine Ausscheidung und Kassation vermieden, das Archiv bleibt
in seiner Ganzheit und auch am Mittelpunkt des Gebiets, auf das es sich bezieht, erhalten,
ein Umstand, der von Wichtigkeit ist, weil der Hanptwert dieses Archives auf dem Felde
der Ortsgeschichte liegt und dessen Benutzung dadurch erleichtert wird. — Minder glück-
lich ist vor 16 Jahren das Archiv der Meifsnischen Kreisstände gewesen; denn da das
Hauptstaatsarchiv nur einen Teil übernahm, sind mancherlei für die Lokalgeschichte
immerhin beachtliche Faszikel zum Einstampfen verkauft worden. Eine ziemliche Anzahl
scheint aUerdings diesem Schicksale entgangen zu sein, da in den letzten Jahren wieder-
holt in Antiquariatskatalogen Aktenbände und Hefte auftauchten, die augenscheinlich den
ausgeschiedenen Beständen des kreisständischen Archivs angehört hatten; manche davon
sind nachträglich noch dem Hanptstaatsarchive einverleibt worden. Hoffentlich sind für
die Zukunft Kassationen auch bei diesem kreisständischen Archive thunlichst zu ver-
meiden, da seine Mitnnterbringung im neuen, grofsen Ständehaus an der Brühlschen
Terrasse wohl auch ihm für lange Zeiten eine genügende Heimstätte bietet
— 261 —
aber schwerlich, die Gelehrten zum Einschreiten aufzurufen; denn hier
handelt es sich um Privatbesitz von Körperschaften und Einzelnen.
Da läist sich durch Aufrufe, Resolutionen u. dergl. nichts ausrichten;
die eigentliche Fachwissenschaft und ihre Vertreter haben zu dem
Volke selbst zu wenig direkte Beziehungen, um aufklärend und er-
zieherisch auf das oft gering entwickelte historische Verständnis von
Gutsherrschaften und anderen Privatbesitzern von Archivalien zu wirken.
Die einzige Möglichkeit einer Mithilfe bestände für die wissenschaft-
lichen Kreise vielleicht in einer Einwirkung auf die Kammern behufs
Ergänzung der Gesetzgebung. Bieten die jetzigen Gesetze dem Staate,
der die Interessen der Allgemeinheit verkörpert und vertritt, kein
Mittel, bei dieser Art von Privateigentum, dessen Erhaltung oder Ver-
nichtung allgemeine Interessen mitberührt oder wenigstens berühren
kann, eine gewisse Kontrolle zu üben, so würde es gelten, ihm dazu
die gesetzlichen Handhaben durch Anwendung einer Art von Expro-
priation (wie zum allgememen Besten, z. B. bei Strafsen-, Bahnbauten
u. dergl. zu geschehen pflegt) zu verschaffen, wodurch der fahrlässige,
böswillige oder sonstwie ungeeignete Besitzer von Akten, die von all-
gemeinem Werte sind, in seinem freien Verfügungsrechte beschränkt
oder ihm dasselbe nötigenfalls ganz entzogen würde. Da es dabei
sich um Eingriffe in die Freiheit und Rechte des Einzelnen handelt,
empföhle es sich, die Anregung nicht von staatlicher Seite, sondern
von der Volksvertretung selbst ausgehen zu lassen, die also zuerst für
diese Ideen zu gewinnen wäre '). Dafs solche Ideen nichts Unerhörtes
sind, dals ähnliche staatliche Eingriffe in die Verfügungsfreiheit über
Privateigentum auch dem modernen StaatsbegrifT nicht prinzipiell zu-
widerlaufen, lehren z. B. die fast der allgemeinen Zustimmung der
Gebildeten sich erfreuenden Bestrebungen der Kunsthistoriker, nach
italienischem Vorbild (Gesetz Pacca) auch in Deutschland staatliche
Schutzmafsregeln für die Werke der älteren heimischen Kunst zu er-
wirken; und was für Denkmäler in Stein und Erz, für Gebäude und
I) Ob freilich allseitig das gewünschte Verständnis für Nützlichkeit und Nötigkeit
ausgiebigerer Aktenkonserviemng vorbanden ist, erscheint zam mindesten zweifelhaft
nach dem Wunsche des einen Vertreters der Universitätsstadt in der letzten Tagung der
Stände 1899/ 1900, Teile des Hauptstaatsarchivs — um das Albertinnm für die Sammlung
der Skulpturen und Gipsabgüsse frei zu bekommen — in die Kellerr&ume der Knnst-
akademiegebäude auf der Brtihlschen Terrasse zu verlegen, ein Gedanke, den der Be-
treflfende nur deshalb aufgab, weil „das doch ein bifschen weit sei und ein unterirdischer
Gang unter der Terrasse dahin seine grofsen Unbequemlichkeiten haben würde."
— 262 —
Kunstwerke gilt , gilt ebenso auch für die Denkmäler der Vej^angen-
heit auf Pergament und Papier, fiir Urkunden und Akten, die von all-
gemeinem Werte und deshalb aufbewahrungswürdig sind. Freilich
geht dies nicht ohne die Bereitstellung von Geldern, die für die zu-
erst erforderliche Bereisung des ganzen Landes, die Feststellung des
überhaupt Vorhandenen, die Ordnung der Bestände durch einen archi-
valisch genügend geschulten Historiker und schlieislich auch noch für
ihre eventuelle Unterbringung in einer direkt staatlichen oder doch
staatlicher Kontrolle unterstehenden Anstalt nötig sind, femer von
Geldern für die dann an die Eigentümer zu zahlenden, nicht un-
beträchtlichen Entschädigungen, falls Expropriationen nötig würden, —
und dies ist der Punkt, dessen Schwierigkeit die Durchführung eines
solchen Planes, nicht nur erschweren, sondern wohl ganz verhindern
würde ^) , denn die Kosten würden hierbei noch beträchtlich gröiser
sein, als sie es sein müfsten, wenn der Staat auch nur die staatlichen
Bestände alle aufheben wollte *).
Die letzten Erörterungen haben uns auf eine Frage geführt, deren
Lösung gleichfalls ein dringendes Bedürfnis bei der Regelung der
Kassationsangelegenheiten bildet, die aber mit der Frage nach
dem Schicksal der staatlichen Aktenbestände nur in-
direkt zusammenhängt. Doch zum Schlufs sei bezüglich der
letzteren auf einen von den Gegnern der Kassation nicht berührten
Spezialpunkt eingegangen, der ernster Natur und rechtlich von ziem-
licher Tragweite ist. Es ist dies die Frage: welchen Schutz
schuldet der Staat als Inhaber gewisser Aktengruppen dem
Privatinteresse, das eventuell durch Hinausgabe der Akten
an nichtbehördliche Stellen arg geschädigt werden
i) Vgl. über solche Pläne anch die Darlegung Bailleas in den Protokollen der
Generalversammlnng des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- and Altertnmsvereine
za Dresden 1900 (Berlin 1901, Sonderdruck), S. 42, 62. Über die Inventarisierung nicht-
staatlicher Archive, welche ja deren Beständen wenigstens einen gewissen Schutz gewährt,
indem sie festlegt, was überhaupt da ist, und dadurch dessen spurloses Verschwinden er-
schwert, auch überhaupt diese Dinge der allgemeinen Kenntnis und damit zugleich der
Berücksichtigung und Bewahrung näher bringt, s. femer, um nur die neueste Litteratur
anzuführen, die lehrreichen Zusammenstellungen des Generaldirektors der preufsischen
Staatsarchive, R. Koser, im L Hefte der Mitteilungen der KgL Preufsischen Archiv-
verwaltun^ (Leipzig 1900), S. 21 — 26, und C Grünhagens Bemerkungen im Bericht
über die Vereinsthätigkeit 1899/1900 in der Zeitschrift der Ver. fUr Geschichte und
Altertum Schlesiens XXXY (Breslau 1901), S. 379f.
2) VgL das oben Gesagte.
— 263 —
könnte? Man kann sehr wohl der Forderung an den Staat zur
Aktenaufbewahrung und Zugänglichmachung auch die Frage
gegenüberstellen: giebt es nicht Fälle, wo der Staat, sobald er die
Akten nicht mehr selbst dienstlich aufbewahrt, zurAktenvernich-
tung verpflichtet sein kann? Es handelt sich hierbei um Akten
der Kriminalgerichtsbarkeit. Jedes Gericht hat das Recht und
die Pflicht, ohne Ansehung der Person jedes Veilchen oder Verbrechen
zu untersuchen und zu bestrafen und selbstverständlich über diese Vor*
gänge die nötigen Spezialakten anzulegen. Solange diese Akten in
der Verwahrung des Gerichts bleiben, sind sie vor mifsbräuchlicher
Benutzung sicher; kommen sie dann in ein staatliches oder städtisches
Archiv oder sonst eine amtliche Stelle, so bieten diese Orte auch
hinreichende Bürgschaft hierfür. Wie aber, wenn sie in andere Hände
kommen? Wohl ist anzunehmen, dafs das Gericht sie nicht jedem
Beliebigen aushändigt, der sie bei der Kassation sich ausbittet, son-
dern nur direkt Beteiligten, wie Familiengliedern, die sie um der
eigenen Ehre willen vor unbefugten Blicken schützen werden. Doch
leicht kann der Fall eintreten, dafs ein Forscher über Landes- oder
Ortsgeschichte oder über eine bestimmte Zeitperiode, ein Kultur-
historiker, ein Nationalökonom oder SozialpoUtiker sie zu fach wissen-
schaftlichen Zwecken mit ausgeliefert erhält Er selbst wird als Mann
von Takt hoffentlich nur insoweit davon Gebrauch machen, dafs das
rein Persönliche wegfällt und der Name einer sonst achtbaren Familie
wegen der rechtlich längst gesühnten That eines ihrer Mitglieder nicht
nachträgUch nochmals einer Schändung ausgesetzt wird. Doch nach
dem Tode des Gelehrten wird sein litterarischer Nachlafs, seine Samm-
lungen, seine Bibliothek, wie meist üblich, an einen Antiquar in Bausch
und Bogen verkauft. Der Antiquar wird aus finanziellen Gründen sehr
gern den betreffenden Aktenstücken in seinem Katalog einen bezeich-
nenden Vermerk, wie man sie ja auch bei Büchern nicht selten findet
(z. B. ,^ittengeschichtlich interessant!" oder „Pikant!" u. dergl.),
beifügen, und schon dadurch wird der Name aufs neue blofsgestellt.
Schlimmer aber noch ist es, dafs solche Schriftstücke dann leicht in
unlautere Hände kommen können; denn der Händler giebt sie jedem,
der ihm seinen Preis zahlt, und hat gar kein Recht, nach Zweck tmd
Absicht des Käufers zu fragen. Erpressungsversuchen, wie sie
ja von gescheiterten Existenzen oft gewerbsmäfsig betrieben werden,
ist dann Thür und Thor geöffnet. Die unschuldigen Angehörigen
eines Verurteilten aber haben doch mindestens ein ebenso
grofses Anrecht, wie die Wissenschaft es für die Erhaltung der
— 264 —
Akten geltend macht, umgekehrt vom Staat zu fordern, daüs er,
wenn die Akten nicht mehr dienstlich gebraucht und infolge Platz-
mangels aus dem Gerichtsarchiv entfernt werden müssen, gebührend
Sorge trägt, dafs sie thatsächlich unschädlich gemacht,
wirklich vernichtet werden*). Diese Forderung ist so nahe-
liegend, vom allgemein menschlichen Standpunkte aus so selbst-
verständlich, dafs kein Historiker dagegen etwas einwenden kann. Dais
für rein historische Bedürfnisse auch betreffs solcher krimineller Akten
im Hauptstaatsarchiv gesorgt ist, ist oben bemerkt*); im letzteren
Falle handelt es sich um die grofse Masse dieser Kriminalakten.
Mitteilungen
Yerelne« — Die Gründung eines Historischen Vereins für
Donauwörth ist am i. Februar 1901 im Anschlufs an einen Vortrag des
Bibliothekars am Kassianeum, J. Traber, über „Die Schlacht am Schellen-
berge (1704)" beschlossen worden. Am 2. Mai fand die Gründungs-
versammlung statt, in welcher Pfarrer Dr. Thalhofe r zum ersten Vorstande
gewählt wurde. Der Jahresbeitrag ist „mindestens i Mark", die Mitgliederzahl
beläuft sich auf 45. Der junge Verein erhielt sofort als Grundstock für seine
Sammlung eine Reihe von wertvollen Gaben. — In der Oberpfalz, dem Arbeits-
gebiete des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, hat die örtliche
Geschichtsforschung im letzten halben Jahrhundert durch die Thätigkeit des
Lehrers Joseph Plafs eine wesentliche Förderung erfahren. Er redigierte
die von Ludwig Auer 1880 ins Leben gerufene geschichtliche 2^itschrift fUr
Baiem Ehrenpreis ßir Oott, König und Vaterland, von der jedoch ntur
ein Jahrgang erschienen ist. Sein Hauptwerk, die Historisch-topographische
Bes6hreib%mg der Oherpfalx, ist nur handschrifüich in 27 Foliobänden vor-
handen und im Besitze des Kassianeums in Donauwörth '). Aber die Ver-
öffentlichung ist in Anregung gebracht, und im Januar 1900 hat die Königl.
Bayerische Akademie der Wissenschaften in einem Gutachten dem KönigU
Ministerium fUr Kirchen- und Schulangelegenheiten die Unterstützung der
Herausgabe aus öffentlichen Mitteln empfohlen.
i) Dafs selbst bei der Einstampfung rein äuiserliche Schwierigkeiten entstehen, hat
Hille in seinem Vortrag schon betont; die Behörden hängen dabei immer noch von der
Gewissenhaftigkeit des Fabrikanten ab.
2) S. oben Anmerkung i S. 255.
3) VgL die kleine Schrift: J. Traber, Lehrer Joseph Plass, der Geschichtsschreiber
der Ober Pf alt. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens. Donauwörth, L. Auer. 20 S. 16°.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Godia.
Hierzu als Beilage: Prospekt der Cigarran- Fabrik Gebrüder Blum in
Oooh, Rheinland.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
fur
Förderung der landesgescbicbtlichen Forscbung
II. Band August/September 1901 11./ 12. Heft
liandes^ und H^imdt;s9esehiehte im Untere
richte der höheren Schulen
Von
Martin Wehrmann (Stettin)
Das wachsende Interesse und die stärkere Förderung der landes-
geschichtlichen Forschung, der diese Blätter in erster Linie dienen
wollen, müssen notwendig auf den Geschichtsunterricht namentlich der
höheren Schulen einwirken, tmd es ist auch deutlich zu erkennen, dafe
sie sich dem Einflüsse und der Einwirkung dieser Bewegung nicht ent-
ziehen. Wiederholt ist die Bedeutung der Heimatsgeschichte für den
Unterricht hervorgehoben, und mancherlei Forderungen sind für die
höheren Schulen aufgestellt, oft mit dem Ansprüche auf Neuheit der
Gedanken, obgleich diese alt sind und wohl fast als selbstverständlich
gelten können. Oft kommt auch hier eine Systematisierung zum Aus-
druck, wie sie heute in der Pädagogik nur zu sehr herrscht. Immerhin
ist es für alle Freunde landesgeschichtlicher Forschung von Interesse
zu betrachten, welche Stellung die Landes- oder Heimatsgeschichte
im Unterrichte einnimmt, und auch für die wissenschaftliche Forschung
■selbst ist es von grofser Bedeutung, zu erkennen, wie die von ihr ge-
wonnenen Resultate in der Schule verwertet werden können.
Zur Einführung in die frühere Zeit ist ein kurzer Rückblick not-
wendig; eine ausfuhrlichere Darstellung würde über den zur Verfügung
stehenden Raum hinausgehen. Die Forderungen eines AmosComenius,
<ler für die sechste Klasse namentlich auch die Geschichte des Vaterlandes
verlangte {Didactica magna cap. 30, S 16), haben die gelehrten Schulen
•des 17. Jahrhunderts vollständig abgelehnt. Unabhängig von ihm hat
•der Stettiner Rektor Johannes Micraelius (f 1658) in das von ihm
1627 veröflTentlichte Schulbuch, Syntagma histortarum mundi omnium,
einen Abschnitt res Pomeranicae aufgenommen und damit vielleicht das
«erste Beispiel einer Behandlung der Landesgeschichte für den Unter-
ao
— 266 —
rieht gegeben *). Auch den Bestrebungen der Philanthropinisten^
die den Geschichtsimterricht an die Geschichte der engeren Heimat
anknüpften, und Pestalozzis, der systematisch die unterrichtliche Be-
deutung der Heimatskunde betonte, standen die höheren Schulen, in
denen das Altertum vollkommen und allein herrschte, fremd gegenüber.
Nur bisweilen wird in der Zeit der Aufklärung wenigstens etwas ge-
nauere Behandlung der neueren Zeit gefordert. Hier und da be-
handelte man auch speziell vaterländische Geschichte, allerdings dann
im engsten Sinne, so dafs z. B. in der Mark nur märkische, in Ost-
preufsen nur ostpreufeische Angelegenheiten ins Auge gefafst wurden *).
In Preufsen betonte der Staatsminister v. Zedlitz, der unter der Re-
gierung Friedrichs d. Gr. sich besonders um die Verbesserung der
Lehrverfassung verdient machte, auch die Wichtigkeit der vaterländi-
schen Geschichte und verlangte für die oberste Stufe besondere Be-
rücksichtigung der brandenburgisch - märkischen, wobei bemerkt wird,,
dafs diese auf den märkischen Gymnasien genauer durchzunehmen
^ei, als anderwärts. Das damals viel gebrauchte Lehrbuch der all-
gemeinen Weltgeschichte von J. M. Schröckh (1774) enthielt in einem
Anhange die sächsische und brandenburgische Geschichte •). In Öster-
reich wurde 1774 in der vom Abte J. J. v. Fellinger erlassenen
„allgemeinen Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und
Trivialschulen" bestimmt, dafs „etwas aus der Geschichte besonders
in Absicht auf das Vaterland" gelehrt werde, und in dem Methoden-
buche von 1775 wird geradezu „eine kurze Geschichte von der Pro-
vinz des Staates, zu dem man gehört, für notwendig" erklärt*).
Trotzdem herrschte damals noch in allen gelehrten Schulen die
alte Geschichte fast ausschliefslich vor. In Bayern lagen nach dem Or-
ganisationsplane von 1808 die drei bis vier Geschichtsstunden in der
Hand des Lehrers der alten Sprachen, und auch nach dem Schulplan
von 1829 schlols sich die Geschichte aufs engste an die klassische
Lektüre an. Der Lehrplan für Pforta von 1801 führt Geschichte über-
haupt als eigenes Lehrfach nicht auf, erst 1812 fand sie Aufnahme.
In dieser Zeit liegt der Anfang allgemeiner Lehrpläne in ver-^
schiedenen deutschen Staaten, die zunächst ohne allgemein bindende-
Verpflichtung nur als Normen der neuen Gelehrtenschule veröffentlicht
1) Vgl. K. Krickeberg, Johann Micraelius, Gdtünger Dissert. 1897. S. 19 f.
2) C Retbwisch, Der Staatsminister Freiherr v, Zedlitz und Prett/sens höheres.
Schulwesen, i88i. S. 60 f^
3) Reth wisch a. a. O., S. 126.
4) MiUeiL der GeseUsch. ftir deatscbe Erziehangs- a. Scbalgescb. I, S. 34.
— 267 —
wurden. In Bayern gab F. W. Thiersch auch der bayerischen Ge-
schichte eine Stelle in seinem Schulplan, wenn er auch den Tod
Ludwigs XIV. überhaupt als Grenze des geschichtlichen Unterrichts
festsetzen wollte*). In den Lehrplänen, die 1836 und 1845 ^^" ^^^
Fürstenschule in Grimma festgesetzt wurden, hob man die Besprechung
der sächsischen Geschichte ausdrücklich hervor *).
Wie unsicher man in Preufsen noch über die Behandlung der
preufsischen Geschichte war, zeigt die Verhandlung der ersten Di-
rektorenversammlung der Provinz Sachsen (1833) über die Frage: In
welcher Klasse des Gymnasiums und m welcher Verbindung mit dem
allgemeinen historischen Unterrichte ist die Geschichte des preufsischen
Staates vorzutragen? Das Reglement für die Abiturientenprüfung von
1834 verlangt nur im allgemeinen u. a. genauere Kenntnis auch der
deutschen und preufsischen Geschichte; von einer Erwähnung der
unterrichtlichen Bedeutung der Heimatsgeschichte findet sich in dieser
Zeit in den amtlichen Erlassen, die allerdings noch erheblich seltener
waren als heute, keine Spur. Freilich wurde den Lehrern auch eine ganz
andere Freiheit gelassen als jetzt; enthält doch selbst noch der Lehr-
plan von 1856 nicht detaillierte Vorschriften, sondern nur allgemeine
Bestimmungen. Erst eine Verfügung vom 26. April 1857 betont „für
den Unterricht der Geschichte in den mittleren Klassen den Vortrag
und die Einprägung der vaterländischen Geschichte im weiteren und
engeren Sinne**. Recht bedeutsam ist für längere Zeit geworden die
ausführliche und immer noch beachtenswerte Instruktion für den ge-
schichtlichen und geographischen Unterricht, die 1859 für die Gym-
nasien und Realschulen der Provinz Westfalen erlassen wurde. Doch
auch hier vermissen wir unter den mannigfachen angeführten Mitteln,
die der Erweiterung und Vertiefung des historischen Wissens dienen
sollen, die Heimatsgeschichte. Das ist um so merkwürdiger, als in
derselben Zeit in der Unterrichts- und Prüfungsordnung der Real- und
höheren Schulen (6. Okt 1859) ^^^ ersten Male amtlich bestimmt
wird: „Mit dem provinziell und lokalgeschichtlich Denkwürdigen die
Schüler bei geeigneter Gelegenheit bekannt "zu machen, wird auch
das pädagogische Interesse des Geschichtslehres nicht versäumen, und
einzelne Partieen werden danach eine umfassendere Berücksichtigung
finden z. B. in der Provinz Preufeen die Geschichte des Deutschen
Ordens.**
i) Thiersch, Über gelehrte Schulen III, S. 450.
2) Köfsler, Gesch. der Fürstenschale Grimma. S. 204 f.
20
— 268 —
Seitdem ist die Bedeutung der Heimatsgeschichte wiederholt
hervoi^ehoben. So behandelte die sechste Direktorenversammlung* in
Pommern (1876) die Frage: Wie weit und wie ist bei dem Unterricht
in der Weltgeschichte die Provinzialgeschichte zu berücksichtigen?
Auch enthält der Lehrplan eines Gymnasiums, der als ausführendes
Beispiel der allgemeinen Lehrordnung den Königl. Provinzial - Schul-
kollegien 1867 mitgeteilt wurde, in dem Pensum der Untertertia aus-
drücklich die Bestimmung, dafs „die Spezialgeschichte der betreffen-
den Provinz oder einzelne Teile derselben, sofern sie in früheren
Zeiten eine historische Bedeutung gehabt haben, berücksichtigt wer-
den sollen" *).
Trotzdem findet auffallenderweise in den preufsischen Lehr-
plänen von 1882, 1892 und 1901 die engere Landesgeschichte gar keine
Erwähnung. Es wird zwar 1882 betont, „dafs für die mittlere und
neuere Zeit die Geschichte des Vaterlandes, Deutschlands und Preufsens,
den Mittelpunkt bildet", und 1892 bei der Lehraufgabe der Geschichte
in Sexta (!) bestimmt , dafs dort von Gegenwart und Heimat auszu-
gehen ist, sonst wird, wie hinreichend bekannt ist, nur die branden-
burgisch-preufsische Geschichte in den Mittelpunkt der imterrichtlichen
Behandlung gestellt, wie es bereits in dem kaiserlichen Erlasse vom
13. Februar 1890 hervorgehoben ist.
Nicht in gleicher Weise wird in dem Lehrplane imd den In-
struktionen für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich vom
26. Mai 1884 die österreichische Geschichte in den Vordergrund
gedrängt, wenn natürlich auch im Lehrziele des Geschichtsunter-
richtes eine besondere Berücksichtigung der österreichisch - ungari-
schen Monarchie gefordert wird. Dabei weisen die Instruktionen aus-
drücklich darauf hin *), dafs in jedem Kronlande die wichtigsten Mo-
mente seiner speziellen Geschichte unter steter Rücksicht auf das
grofse Ganze der Betrachtung unterzogen werden. „Ähnliche Für-
sorge mag in billigem Mafse auch den Schicksalen der Stadt zu teil
werden, welche der Sitz der Schule ist, besonders wenn sie zu
•
den historisch bedeutsamen des Landes und Staates gehört. Durch
solche Verknüpfung der allgemeinen Vaterlandsgeschichte mit der des
Kronlandes oder der Stadt wird jene lebendig und anschaulich und
diese gehoben; von der Gesamtgeschichte empßLngt die der beson-
deren Landschaften erst das rechte Licht und Leben." So wird in
i) Wiese» Verordnungen und Gesetze. 2. Aufl. Bd. I, S. 334.
2) Instruktionen S. 228 f.
der obersten Klasse eine förmliche östeireich- ungarische Vaterlands-
kunde betrieben '}.
Die Schulordnung iiir Bayern vom 30. Juli 1891 setzt als Lehr-
aufgabc für die vierte und fünfte Klasse besondere Berücksichtigung der
bayerischen Geschichte bei der Behandlung der mittelalterlichen und
neueren Geschichte fest. In der Lehrordnung für die Säcbsiacheo Gym-
nasien vom 28. Januar 1893 wird allgemein Behandlung der vater-
ländischen Geschichte vorgeschrieben, daneben nur für Quarta aus-
drücklich Berücksichtigung Sachsens gefordert. In der Lehr- und
PrüfungBOrdoung für die Realgymnasien wird sächsische Geschichte
oder Heimatsgeschicbte überhaupt nicht erwähnt. Der Lehrplan für
die Gymnasien und Lyceen Württembergs von 1891 setzt für Klasse VI
neben der neueren deutschen Geschichte von 1517 bis 1871 auch
eine Übersicht über die wüittembergiBche Geschichte fest. Im Grofs-
herzogtum Hesaen wird in Oberprima die Neuzeit bis zur Gegenwart
mit besonderer Rücksicht auf Deutschland und Hessen behandelt. In
Baden scheint nach den Angaben in A. Baumeisters Handbuche der
Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schuten *) ebenso wenig
wie in Hecklenborg die Geschichte des Heimatslandes im offiziellen
Lehrplan vertreten zu sein '), und in den kleineren Staaten wird es
kaum anders sein.
So steht CS nach den amtlichen Lehrplänen der höheren Schulen
Deutschlands mit der Behandlung der Landes- und Heimatsgeschicbte
gar übel, und es wäre sehr zu bedauern, wenn thatsächlich der Bil-
dungswert derselben so niedrig geschätzt würde. Das ist aber keines-
w^s der Fall. Wohl überall , wo Geschichte in rechtem Sinne ge-
lehrt wird, wird es sich der Lehrer nicht entgehen lassen, an das
Interesse der Schüler für die Heimat und ihre Veigangenheit anzu-
knüpfen, und nichts, was ihm dort zur Belebung und Erläuterung ge-
boten wird, unbenutzt lassen. Es sind das alte pädagogische Forde-
rungen, deren Wert oft hervorgehoben, namentlich aber in den letzten
Jahrzehnten auch für die höheren Schuten betont worden ist. Wir
können hier unmöglich auf die Heimatskunde im allgemeinen eingehen,
für die eine überaus reiche und zum Teil recht beachtenswerte Utte-
ratur vorliegt, sondern müssen uns begnügen, einige wenige Art
über den geschichtlichen Zweig derselben kurz hervorzuheben
1) Die InstrnktioDCD von) 13. Februar 1900 liad mir noch nichl ingäneli
a) I, 2. S. 178.
3] Vel. Kraacr, Prognmm Ton DoberaD 1S97. S. 4.
— 270 —
wird daraas deutlich hervorgfehen , dafe es im Kreise der Pädagogen
keineswegs an Interesse an der Benutzung der Ergebnisse Landes- oder
heimatsgeschichtlicher Forschungen gefehlt hat und fehlt.
Eine von Herbart und seiner Schule wieder aufgestellte Forde-
rung ist Benutzung der eigenen Erfahrung des Zöglings für den Unter-
richt. Mit Recht gilt diese, wenn es sich wirklich um eigene, nicht
von fern herzugetragene Kenntnis oder Erfahrung handelt, als eine der
festesten Apperzeptionsstützen. Es ist aber falsch, wenn die Geschichte
der Heimat von vornherein als solche Stütze angesehen wird; sie ist
an und für sich dem Schüler ebenso unbekannt wie die Geschichte
eines fremden Landes, doch erhält sie ganz besondere Unterstützung
durch etwa vorhandene Reste der Vergangenheit, welche lebendiger
in dieselbe einzuführen vermögen als es etwa Abbildungen im stände
sind. Auch das persönliche Interesse wird hier nicht wenig mithelfen.
So wird ein förmlicher Unterricht in der Heimatsgeschichte, wie er
nicht selten gefordert wurde und auch noch betrieben wird, von
den bedeutendsten Vertretern der Herbartschen Richtung abgelehnt.
O. Will mann*) erklärt es für unrichtig, die Geschichte der Heimat-
stadt als Material der geschichtlichen Heimatskunde aufzufassen, da
sie zu viel und zu wenig biete. „Unserer Auffassung nach muis die
geschichtliche Heimatskunde von vornherein so angelegt sein, dafs sie
späterhin dem Unterrichte in der Geschichte Fufspunktc aller Art
bietet." O. Fr ick, der sich um die Einführung der Herbartschen
Pädagogik in den Unterricht der höheren Schulen ganz besonders
verdient gemacht hat, erklärt in seinen Bemerkungen über das Wesen
und die unterrichtliche Pflege des Hetmatsgefühles *) noch deut-
licher: „ Die Heimatskunde besteht nicht in einem ausführlichen Lehr-
kursus, in Provinz-, Heimats- oder gar Stadtkunde im Stile einer stoif-
reichen Landes-, Staats- oder Ortskunde der engeren Heimat; sie ist
keine selbständige Disziplin und insofern auch nicht Selbstzweck, son-
dern mehr ein Unterrichtsprinzip in dem Sinne, dafs jeder Anlafs in
allen Lehrgegenständen und auf allen Unterrichtsstufen benutzt wird,
das Verständnis für das heimatliche Leben nach Natur und Geschichte
zu erschliefsen und zu vertiefen.** Dieser Grundsatz hat auch im all-
gemeinen Anerkennung gefunden und wird auf den Geschichtsunter-
richt in der Weise angewandt, dafs die Geschichte der Heimat in
engste Beziehung zur allgemeinen gestellt wird und diese durch jene
1) Pädagogische Vorträge. 2. Aufl. S. 64.
2) Lehrproben und Lehrgänge Heft 29, S. 18.
— 271 —
dem Verständnisse der Schüler näher gebracht wird. Es kann daher
sowohl von irgend einer Thatsache oder Elrscheinung, die in der Heimat
bekannt ist, ausgegangen werden, um das Allgemeine zu erklären,
oder umgekehrt dies an dem heimatlichen Beispiele erläutert werden.
Auf jeden Fall mufe der Lehrer seinen Schülern bei solcher Gelegen-
heit immer einen gewissen Stoff aus der Heimatsgeschichte bieten, um
etwas Abstraktes begreiflich zu machen. So hat die sechste Direk-
torenversammlung der Provinz Schleswig-Holstein, welche die Frage
nach den Anregungen des Heimatsortes im Unterrichte sehr dankens-
werterweise behandelt hat^), den Leitsatz angenommen: „Die Ge-
schichte des Heimatlandes und Heimatortes ist fiir das Verständnis
der allgemeinen Geschichte möglichst zu ver^'erten, doch nur im Zu-
sammenhange dieser und nicht in einem längeren abgesonderten Unter-
richte.** Wird allgemein eine Benutzung der Heimatsgeschichte em-
pfohlen, so ist es zu verwundem, dafs O. Jäger in Baumeisters Hand-
buch der Erziehungs- und Unterrichtslehre (Band III) gar nicht von
ihr spricht. Andererseits hat es auch in Bezug auf den Stoff nicht
an sehr übertriebenen Forderungen gefehlt. Es läfst sich hierfür eine
allgemeine Regel kaum aufstellen. Ganz natürlich ist es, da(s in jedem
deutschen Bundesstaate die spezielle Geschichte desselben mehr Be-
achtung findet, als etwa in den einzelnen preußischen Provinzen die
Landesgeschichte derselben. Ein bayerischer, sächsischer, württem-
bergischer Schüler mu(s von der Vergangenheit seiner Heimat ebenso
gut bestimmte Kenntnisse haben, wie sie ein preufsischer erhält von
der Geschichte Preufeens. Hier ist der Unterricht in der Heimats-
gescbichte auch Selbstzweck. Dagegen wird niemand von einem Schüler
Schlesiens, Pommerns oder der Rheinprovinz irgendweich umfassen-
deres oder zusammenhängendes Wissen von der Provinzialgeschichtc
verlangen; hier kann diese nur zur Belebung und Erläuterung der
allgemeinen Geschichte benutzt werden, wobei selbstverständlich einige
besonders wichtige Ereignisse gedächtnismäfsig festzuhalten sind.
Solche gelegentliche Erwähnungen und Hinweisungen auf Heimat-
liches dürfen nicht zu weit hergeholt sein, sondern müssen sich ge-
wissermaßen von selbst ergeben. Was an geschichtlichem Stoffe in
der Heimat liegt, ist an verschiedenen Orten gezeigt. Für das Grofe-
herzogtum Hessen hat es F. Schmidt gethan *) , für Mecklenburg
Kr an er*) und in besonders gründlicher Weise, die allerdings etwas
l) Verhandlungen der Direktorenvenammliingen Bd. 46, S. 1^104.
a) Programm. Bensheim 1896.
3) Programm. Doberan 1897.
— 272 —
zu weit zu gehen scheint, J. Lübbert für Halle a. S. *). Seine Zu-
sammenstellung ist äuiserst verdienstvoll und wohl dazu geeignet, dafe
sie dem Schüler als Lesebuch , nicht als. Lehrbuch , in die Hand ge-
geben werden kann.
Einen systematischen Versuch zur „ organischen Eingliederung der
Heimats- und Stammesgeschichte'' hat A. Tecklenburg *) versucht;
er giebt eine methodische Anweisung, die allerdings zunächst auf die
Volksschule zugeschnitten ist Es wird dort versucht, systematisch
lokale Erscheinungen zur Veranschaulichung allgemeiner und imi-
gekehrt zu verwerten. So neu ist diese Art der Benutzung der Heimats-
geschichte aber nicht, wie es den Anschein hat, die Forderung ist
schon früher gestellt und sehr oft angewandt Auch werden nicht
alle Einzelheiten überall Beifall finden. Ganz etwas Neues sollen die
Stammes- und heimatsgeschichtlichen Ergänzungshefte bieten, die
Weigand und Tecklenburg erscheinen lassen. Sie sollen das Material
für die Heimatskunde der preuCsischen Provinzen, einzelner Orte und
Kreise enthalten, so dais die Abschnitte in den Heften zu der all-
gemeinen Geschichte in Beziehung gesetzt werden. Nur einige der
bisher erschienenen sind mir bekannt geworden. Sie unterscheiden
sich nicht wesentlich von älteren geschichtlichen Heimatskunden,
welche einzelne Lesestücke aus der Geschichte enthalten. Die stän-
dige Beziehung auf die allgemeine Geschichte ist nur ganz äufserlich
durchgeführt. Inhaltlich sind sie nicht ohne Fehler und bieten im
Stoffe so viel, dafs sie wieder zu einem eigenen Unterrichtsgegen-
stande fuhren. Für die höheren Schulen sind sie als Lehrbücher nicht
zu gebrauchen.
An solchen kleinen Heimatsgeschichten mangelt es wahrlich nicht;
was uns fehlt, sind geschichtliche Lesebücher und allgemein verständ-
liche Darstellungen aus der Heimatsgeschichte. Deshalb ist der Re-
solution, die auf der Generalversammlung des Gesamtvereins der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 1896 (Blankenburg) gefafet
wurde, besonders in ihrem zweiten TeUe beizustimmen : „Es ist eine
gröfsere Pflege der Heimatskunde in geschichtlicher Be-
ziehung zu empfehlen, weil die Kenntnis der Geschichte
derHeimatdie Voraussetzung für das Gefühl der Zugehörig*
keit zum Staatsganzen bildet; Aufgabe der Geschichts-
vereine ist es, für die wissenschaftlichen Grundlagen
i) Programm der Lat HanpUchnle za HaUe 1900.
2) HanooTer und Berlin 1899.
— 273 —
einer zuverlässigen Heimatskunde zu sorgen" *). Nicht
kleine, von Dilettanten abgefafste Heimatskunden also, wie sie sich in
fast allen Volksschullesebüchem finden, können der Heimatsgeschichte
wirksam dienen, sondern auf wissenschaftlicher Grundlage gearbeitete
Darstellungen, die z. B. den Schülern an geeigneter Stelle des Unter-
richts in die Hand gegeben werden können mit der Aufgabe, nach
denselben kurze Berichte oder Vorträge zu verfassen. Versuche hier-
mit scheitern bisher zumeist an dem Fehlen geeigneter Hilfsmittel.
Sie bieten auch den Lehrern, von denen nicht jeder Zeit und Neigung
zu speziellen Studien in der Heimatsgeschichte hat, das Material, das
er in seinem Unterrichte verwenden soll tmd mu(s. Hierbei handelt
es sich, wie Bernheim*) treffend .bemerkt, vornehmlich auch um
Fragen, die an die kulturgeschichtliche, zuständliche Geschichtsforschung
gestellt werden.
Es knüpfen sich an die Verwertung der Landesgeschichte im Ge-
schichtsunterrichte der höheren Schulen zahlreiche pädagogische Fragen
und Forderungen, die hier nur kurz angedeutet sind. Eine ausführ-
liche Behandlung würde hier nicht an der Stelle sein. Die eine
J'orderung dagegen gehört recht eigentlich in diese Blätter, und es
ist die, dafs die wissenschaftliche Durchforschung der
Territorial- und Lokalgeschichte die Bedürfnisse des
Geschichtsunterrichtes mehr ins Auge fafst und dem
Dilettantismus auf dem Gebiete der betreffenden Unter-
richtslitteratur entgegentritt. Daraus wird der Geschichts-
wissenschaft durch das bei der jüngeren Generation erweckte Interesse
und den für den Geschichtsunterricht im allgemeinen erzielten Nutzen
nicht unbedeutender Vorteil erwachsen.
Die Juden im deutsehen Mittelalter
Von
Bruno Klaus (Schw.-Gmünd)
(Schluft s).
Nach Beendigung der Judenkrawalle finden wir die Judengemeinden
der einzelnen Reichsstädte nicht mehr als reichsunmittelbare Körper-
i) Korrespondenzblatt 1897. S. 16.
2) Pomm. Jahrbächer I, S. 31.
3) Vgl. S. 241—248.
— 274 —
Schäften im Königsschutze, sondern als Hintersassen oder Pfahlbürg-er
der einzelnen Reichsbürgergemeinden. Aber auch in dieser Stellung-
kommen sie wieder zu Geld imd wissen die Christen in wirtschaftliche
Abhängigkeit zu bringen. Daher vereinbart der schwäbische Städte-
bund 1385 zu Ulm eine Judenscbuldentilgung '). Alle Kapitalien,
welche die Juden seit Jahresfrist ausgeliehen haben, w^erden zwar in
vollem Betrag heimbezahlt, aber nicht verzinst. Die Zinsen derjenig-en
Kapitalien , welche länger als ein Jahr ausgeliehen sind , werden den
Kapitalien zugerechnet, und dann sind vom Ganzen 75 Prozent heim-
zuzahlen. Dieselben sind den Städten, in denen die Gläubig-er
-wohnen, bis 24. August 1385 durch Pfander sicher zu stellen. Die
Frist der Heimzahlung mit 10 Prozent Zinsen wird für die Schuldner
bis 2. Februar 1388 verlängert. Bis zu diesem Termin überläist
das Reich den Städten sein Recht auf den Ertrag der Judensteuer
gegen die Summe von 40000 fl., welche die Reichskammer dazni
verwendet, um die seitherigen Pfandherren der Judengefalle der
Reichsstädte für das Aufgeben ihrer Forderungsrechte abzufinden,
während vom 2. Februar 1388 an die Hälfte des Ertrags der Juden-
steuer der Reichskammer gehört. Die Städte haben auch femer
das Recht Juden aufzunehmen. Da aber nicht alle Schuldner in der
Lage waren, für die restierenden 75 Prozent Bürgschaft zu leisten, so
ordnete auch das Reich im Jahre 1390 eine Judenschuldentilgung an.
Die Fürsten, Grafen, Freiherren, Städte, Ritter, Knechte und andere
Personen, die durch das „unmäfsige Gesuch" der Juden d. h. die
hohen an sie zu zahlenden Zinsen so schwer geschädigt seien, und die,
wenn sie die Judenforderungen ganz bezahlen müfsten, landflüchtig
und dadurch dem Dienst des Reichs entfremdet würden, sollen aller
Verpflichtungen an Juden für Hauptgut, Gesuch (= Zins) und Schaden
(= Zinseszins) los und ledig sein. Die Reichskammer übernahm die
Auslösung dieser Schulden den Juden gegenüber, und die Schuldner
sollten dem Reich einen Teil, meist 30 Prozent bar bezahlen, für den
Rest aber „einen redlichen Dienst thun** (besonders Kriegsdienste
leisten), wenn sie dazu aufgefordert würden. Die Juden sollten nach
der Abmachung vom Jahre 1385 vom Reiche 75 Prozent ihrer Forde-
rungen erhalten und ihre Pfandbriefe herausgeben *). Zum Schutz gegen
i) Nübling, Jadengemeinden, S. 375.
2) Ganz aasfUhrlich handelt Über die bei dieser Gelegenheit aufgedeckte Verschuldung
des Adels u. s. w. Karl Bücher, Die Berölkertmg von Frankfurt a. M im XIV. tmä
XV. Jahrhundert, L Bd. (1886), S. 5 74 ff. Es wäre höchst dankenswert, wean die ent-
sprechenden Akten aus anderen Städten auch veröffentlicht würden!! Für Nürnberg
— 275 —
fernere Auswucherung durch die Juden gründete später, im XV. Jahr-
hundert, der Bariiiisennönch Bamabas Interamnensis die Leihhäuser
{montes pietatis), Darlehenskassen, bei welchen hauptsächlich kleinere
Leute Geld zu möglichst niederem Zinsfufs bekamen. Ein Haupt-
förderer derselben war der Barfuisermönch Bemhardin Thomitano.
Im XV. Jahrhundert wird allgemein in den deutschen Städten die
räumliche Abgrenzung der Judenviertel durchgeführt. Man sucht die
Juden mit Gewalt zum Christentum zu bekehren, indem man sie zwingt,
christliche Predigten anzuhören, auch häufig den Eltern Kinder weg-
nimmt, um sie zu taufen. Unter Kaiser Max I. werden die Juden
vielfach aus den Städten vertrieben, ihr noch schärferer Gegner ist
Karl V. Der Hauptgrund für diese Veränderung in der Volks-
anschauung ist der reichlichere Zuflufs von Edelmetallen : bei billigerem
Zinsfufs und höheren Warenpreisen konnte das Volk jetzt die bisher
privilegierten Gelddarleiher leichter entbehren.
Als Beschäftigung der Juden kommt seit den Kreuzzügen
nur in bescheidenem Mafse der Warenhandel in Betracht *) , und erst
seit dem XVL Jahrhundert wird er allgemeiner*). Unter den Waren
finden sich merkwürdigerweise bis tief ins Mittelalter Sklaven: noch
1085 kauft Judith, Gemahlin des Herzogs Wladislaus von Polen, viele
Christen aus der Sklaverei bei den Juden los •). Die Kirche trat dem
^iebt z\x dieser Frage neanenswertes Material Hegel in Chroniken der deutschen
Städte I (1862) S. III — 129, (Ur Ulm und Schwaben Nübling in Judengemeinden,
S. 374 — 435. Für Regensburg vgl. Lindner in den Forschungen zur deutschen Ge-
schichte XIX (1879), S. 53. Urkunden zur Frage der Judenschuldentilgung sind auch
Yeröffentlicht in den „Neuen Beyträgen von alten und neuen Theologischen Sachen auf
•das Jahr 1754 'S S. 5 — 16, sowie in der „ Archivalischcn Zeitschrift 6. Bd. (1881)
S. 195 — 205, bes. S. 203/204 (Sept, 1384/
i) Im XIII. und XIV. Jahrhundert treiben Juden und Lombarden wesentlichen Waren-
handel nicht mehr (Schulte, Mittelalterlicher Verkehr zwischen Westdeutschland und Italien I,
S. 325). Über den Handel der Juden vergl. femer Schulte I, S. 78; Heyd, Levante-
handel, I, 138fr; Dahn, Könige der Germanen, 8. Bd., 2. Abt (1899) S. 243 — 250;
Boos, Städtekultur, i, 370; Liebe, Die wirtschaftliche Bedeutung der Juden in der
•deutschen Vergangenheit (Jahrb. der K. Akademie der Wissensch. in Erfurt, Bd. 26 (1900).
2) Vgl. Bücher, Bevölkerung von Frankfurt a. M. im XIV. und XV. Jahrhundert,
be^. 587—591.
3) Über den Sklavenhandel der Juden vgl. Aloys Schulte a. a. O. I, S. 74 und
151. Der Sklavenhandel kam überhaupt im Mittelalter da und dort noch vereinzelt vor
Roth, Geschichte des Nürnberger Handels I, S. 49, berichtet, dafs 1332 ein Türke in
Nürnberg als Sklave verkauft worden sei, v. Reumont (Historisches Jahrbuch VII (1886)
S. 51), daft orientalische Sklaven im XIV. und XV. Jahrhundert zu Florenz auf den
Markt gekommen seien. In Italien ist wohl in allen Hafenstädten Sklaverei und Sklaven-
handel vorgekommen. Um 900 wird für eine böhmische Zollstätte verordnet: Judei
— 276 —
Sklavenhandel der Juden entgegen und ergriff auch Mafsregeln gegen
das Halten von christlichen Dienstboten durch die Juden.
Ungemein grofs ist die Zahl der jüdischen Ärzte im Mittelalter ^).
Sogar jüdische Frauen finden wir in diesem Berufe thätig. Erzbischof
Johann II. von Würzburg erteilt der Juden -Ärztin Sara die Erlaubnis^
zur Ausübung ihrer Kunst in seinem Bistum gegen eine jährliche-
S teuer von lo fl. und gegen Zahlung von 2 fl. statt des goldeneir
Opferpfennigs, und Rcinhart von Malspach, Domherr zu Würzbui^^
erklärt, dafs die genannte Ärztin in den Besitz gewisser Güter eingesetzt
worden sei *).
Fast das ausschlieisliche Monopol der Juden war bekanntlich das-
Gelddarleihgeschäft Der Jude allein hat das Recht, „Schaden"-
d. h. Zinseszins zu nehmen '). Als Pfander dienten nur ausnahmsweise-
Liegenschaften, in der Regel aber fahrende Habe. Verboten war
das Darleihen auf Kirchengut, kirchliche Gewänder, Gerätschaften^
Reliquien, das wissentliche Leihen auf gestohlenes Gut, auf blutige-
und nasse Gewänder, auf goldene und sUbeme Gegenstände, weni^
dieselben zusammengeschlagen waren, auf Wehr und Waffen. Ais-
Konkurrenten der Juden auf diesem Gebiete erscheinen die Lombarden
oder Kawertschen *) , christliche Zinsleiher , usurarn publtct, welche
die kirchlichen Strafen für den gottlosen Wucher willig auf sich nehmen,,
mitunter auch auf dem Totenbette Reue empfinden. Dieses kleine
Pfandleihgeschäft ist der eigentliche wirtschaftliche
Untergrund für das Dasein der mittelalterlichen Juden.
Für die Auffafsung dieses jüdischen Pfandgeschäftes ist ein Ein-
gehen auf die Höhe des Zinsfufises unerläfslich. Die Sammlung der
zerstreuten Notizen war namentlich von Neumann*) schon sehr weit ge-
führt, der Zusammenhang des Zinsfufses mit dem Münzsystem ist dann
neuerdings von AI. Schulte •) klargelegt worden, das Pfand wurde g^en
Wochenzins beliehen und dieser so bemessen, dafs er nicht ein
et ceteri mereaiores sollen den Zoll zahlen tarn de maneipiis quam de cUiis rebus^
Erben, Regesta diplomatica Bohemiae I, S. 26. («■ Abh. der KönigL Böhm. Ges. d.
Wiss. 5. Folge, 8. Bd. 1854.)
i) Landau, Geschichte der jüdischen Ärxte, Berlin 1895; Horowitz, Jüdische
Ärxte in Frankfurt a. M., Frankfurt, 1886.
2) Wiener, Regesten, S. 182.
3) VgL Funk, Zins und Wucher (Tübingen 1868), S. 217. Denteronom. 23,21
wird ja dem Juden ausdrücklich gestattet, vom Ausländer Zins zu nehmen.
4) Der Name „Kawertschen" wird gewöhnlich von der französchen Stadt Cahors abgeleitet.
5)MaxNettmann: Oeschiehiedes Wuchers in Deutschland. Halle 1865, S. 3 19— 345»
6) Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs. I, S. 318.
— 277 —
Bruchteil der Münze war, sondern ein thatsächlich vorhandenes Geld-
:stück. Die Regel war, dafs wer i Pfand Pfennige lieh, dafür pro Woche
2 Pfennige zu zahlen hatte. Wurde das Pfand also während eines
ganzen Jahres beliehen, so betrug der Zins von 52 Wochen 104
Pfennige oder 8 Groschen 8 Pfennige d. h. also 43,33^0- Die Be-
rechnung von 1 Pfennig pro Pfund und Woche ist selten. Wo von
Winsen bei Juden oder Kawerschen ohne nähere Angabe die Rede ist,
kann man deshalb den Satz von 43,33^/0 ohne Weiteres annehmen.
•Das gilt jedoch nicht für den Bereich der Kölner Münze. Dort wird
von einer Mark ein Pfennig genommen, da die Mark 144 Pfennige
wählte, betrug also der normale Zinsfufe in Köln 36,1^/0. Der Zinsfuß
schliefet sich möglichst eng an die Münzeinteilung an, beide TeUe
:suchen eine möglichst einfache Rechnung zu behalten und vermeiden
•es möglichst „in die Brüche zu kommen**.
Die Landwirtschaft und das Handwerk ist bei den Juden fast gar
nicht vertreten, und es wurde ihnen im Laufe der Zeit auch immer mehr
irerboten Feldbesitz *) zu erwerben, während die Handwerkerzünfte ihnen
grundsätzlich keinen Zutritt gewährten *). Eine Ausnahme finden wir u. a.
auf Sicüien: als Kaiser Friedrich II. die Insel Gerbi im Golfe von
•Cabes den Sarazenen abgenommen hatte, siedelten die dortigen Juden
nach Sicilien über. Er nahm das Anerbieten derselben, neben seinem
Lustschlofe bei Palermo einen Dattelpalmengarten anzulegen, gerne an.
£r liefs ihnen auch Ländereien anweisen zum Anbau von Henna und
Indigo, sowie anderer Gewächse, die in Gerbi heimisch waren, aber auf
Sicilien noch nicht gebaut wurden. Als dann die Juden unter Ferdi-
nand dem Katholischen (1476 — 1516) aus Sicilien vertrieben werden
sollten, überreichten die höchsten Beamten dem König eine Vor-
stellung, in welcher es heifst, dafs eine solche Austreibung mit
-vielen Schwierigkeiten verbunden sei, da in diesem Reiche fast
alle Handwerker Juden seien. Wenn diese auf einmal abziehen, so
-werde sich ein Mangel an Arbeitern herausstellen, die gegenwärtig
-den Bedarf an mechanischen Gegenständen, besonders Eisenarbeiten
i) Es ist eine Ansnahme, wenn in der Meifsner Vorstadt Nenmarkt bis zam Ende
des XIII. Jahrhunderts Juden Gmndstflcke besessen and sich mit Feld- and Gartenbau
beschäftigt haben sollten. Lery, Öesehiehte der Juden in Sachsen , S. 16 — 17. Die
Jadenordnang von 1265 (Heinrich der Erlaachte) gestattet ihnen nämlich den Erwerb von
i^rundstücken.
2) Bücher a. a. O. L Bd., S. 572 weifs fiir Frankfurt a M. nur einen jüdischen Hand-
werker Schwarzförber) kara vor 1500 namhaft zu machen. Aus früherer Zeit (1326) werden
in Köln jüdische Bäcker, Brauer, Fleischer und Geflügelhändler genannt (Annalen des
historischen Vereins für den Niederrhein, 41. Heft (1884), S. 90).
— tlH —
x.:u fctvh.ij^tt. Otz VitzCe^ i'si Ex<iaibeftcr- A:isrüsr=2^ rz'H Schiern
\z.'i i^dereti Fiirziirjf^cti lieiero. A-scii sc: es nicht asög-Iich. cafg in
Jcrarz«T Zeit ei::e geiiu^oidc Anzahl roa 0:ii5*jcii für die HerstcII^ri^
J>;c Tr;dtn %Vj;.e::. ;ni Dcaucbco Reiche seh dem Landfriedens-
jfcvrtz« H^nn^/n's IV- von 1103 o^^-cr dem Schatze Ton Kaiser nini
Kc-v.h und beulen deshalb Rclchskammcriaiechte * . Als selche haben
tt;c Alr;fa}>cn an da» Reich zu entrichten. An Stelle des Kaisers
handhaJ^t der Vazkj'xschol von Mainz als Reichserzkanzler den Juden-
mMuXz^ weshalb er t\cn Zehnten von ailen ans ganz Deutschland ein-
jfehcnd<rn Jadcn«tcucrn erhält Von den Reichssteucm ist in erster
fjriie rjcr ^oldenc'Opferpfennig zu nennen. Nach der Zerstöroag^ des
'I"cTnf>cU in Jeru«alem mufeten die Juden die Kopfsteuer, welche sie
früher an den Tempel hatten bezahlen müsseu, den römischen Kaisem
entrichten. Die deutschen Könige, als deren Rechtsnachfolg^er , be-
anspruchten deshalb diese Steuer auch. Jede 13 Jahre und darüber
alte, nicht von Almosen lebende jüdische Person (Mann und Weib)
muifitc den goldenen Opferpfennig, d. h. jährüch einen Gulden Pfennige
bezahlen *). Dazu kommen noch außerordentliche Steuern, sog. Schät-
zungen, z, B, Kriegs- und Krönungssteuem und gewisse Naturalabgaben :
»o die Hctten, wenn der König kam, Pfeffer und Ingwer für den Hof,
r>dcr das entsprechende Geld dafür. Auch von den Städten wurden
ihnen derartige Verpflichtungen auferlegt. Nach dem ums Jahr I2CX>
aufge;:cichneten zweiten Strafebtirger Stadtrecht bekam die Judenschaft
in Strafsburg die Verpflichtung, die Stadtfahne zu stellen. In Schwäb.-
GmUnd mubte sie den Richtern jährlich Gänse geben. In Prag mufste
Hie um 1652 aufiier den Steuern auch für die acht englischen Hunde
de« Reitmeisters Haldtmayer Sorge tragen •). Die Juden zu Peine (Be-
zirk Ilildeshcim) hatten 1621 die Verpflichtimg, für die Unterhaltung
zweier Windhunde jährlich sechs Malter Roggen zu liefern *).
Mit der Verschleuderung der Reichseinkünfte im späteren Mittel-
I) Vgl. Richard Schröder, Ijchrbuch der deutschen BeelUsgeschichte (i. Aufl.
1889), S. 45«.
a) Nach Stern (KJ^nig Ruprecht von der I*fah> in seinen Beziehungen -ku den
Juden f S. XXI) iit darunter ein rheinischer Golden xn verstehen, nicht ein Goldgulden^
wie NUbling meint«
3) Wolf, Zur Oeschichte der Juden in Ostreich (ZeiUchr. fiir die Geschichte der
Juden in Deat«chUnd I, S. 31 7).
4) Lewintki in Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Jude^Uums,
1889, S. 57a.
— 279 —
alter ist auch das grundsätzlich dem Könige allein zustehende Recht
der Judenbesteuening vielfach auf die Landesherren (Fürsten und Stadt-
obrigkeiten) übergegangen, so dafs schliefslich diese als die Schutzherren
der Juden erscheinen. Ohne eigentliche Übertragung seitens des
Königs haben sich nach den für die Juden rechtlosen Zeiten von 1349
einzelne Landesherren zur Vermehrung ihrer Einkünfte der Bedrängten
angenommen. Pfalzgraf Ruprecht nimmt z. B. die aus Worms und
Speier geflüchteten Juden gegen ein bestimmtes jährliches Schutzgeld
in Heidelberg und anderen Orten auf. Nach Ablauf des mit den Juden
in Heidelberg 1360 auf sechs Jahre getroffenen Übereinkommens wird
1366 ein neuer Schutzbrief ausgefertigt, wonach dieselben auf weitere
sechs Jahre jährlich 100 fl. zu geben haben. Der Schutz, den der
Pfalzgraf den Juden gewährte, erstreckte sich sogar auf „feltsieche'*^
(aussätzige) Juden, die er 1367 auf drei Jahre aufnimmt und ihnen die
Rechte der gesunden Juden verleiht; nur dürfen sie mit den übrigen
Einwohnern keinen Verkehr haben. Der erste aussätzige Jude, der
sich in Heidelberg niederläfst, soll in den nächsten drei Jahren jährlich
200 fl. geben, von den anderen, die zuziehen, zahlt jeder 25 fl. Im
Jahre 1381 wird einer Genossenschaft von Gemeinden, einer Art Be-
zirksverband, eine gemeinschaftliche Steuer auferlegt, indem Ruprecht
verspricht, die Juden von Heidelberg, Weinheim, Lindenfels, Eberbach,.
Mosbach, Sinsheim, Wiesloch, Eppingen, Bretten und Ladenburg für
die nächsten drei Jahre nicht höher als mit 600 fl. zu besteuern.
Schon Rudolf von Habsburg legt 1275 in dem Privileg für Fried-
berg den dortigen Juden eine jährliche Abgabe von 130 Mark köl-
nischer Denare zu Gunsten des Burggrafen und der Burgmannen auf.
Kaiser Ludwig tritt 1337 ^^^ Gewalt über seine und des Reiches Juden
in der Stadt und dem Bistum zu Münster an den Grafen Heinrich
von Waldeck ab, so dafs jetzt dieser das Besteuerungsrecht erwirbt.
Zur Zeit König Ludwigs des Baiem safsen die Juden in Nördlingen
noch auf Grund und Boden des Reiches und waren dem Vertreter
der Reichsgewalt, dem ReichsschultheiCs oder Reichsammann, unter-
geben. Sie standen noch nicht im Gemeindeverband, wenn sie auch
zu einzelnen städtischen Umlagen herangezogen wurden. Nach 1349
übertrug Karl IV. das Schutz- und Besteuerungsrecht der Juden dem
Rat Die Reichssteuer und der goldene Opferpfennig blieben aber
davon unberührt, so dafs die Judenschaft nunmehr vom Reich und der
Stadt besteuert wurde '). König Wenzel tritt 1392 der Stadt Ulm
1) über die in verschiedenen Zeiten verschiedene, aber immer ganz beträchtliche
Höhe der städtischen Lasten vgl. L. Müller, S. 17, 31—43.
— 280 —
gegen die Hälfte der Judensteuer den Judenschutz ab *). 1449 schreibt
der Amtmann in Lauda an den .Pfalzgrafen Otto, da(s die unter seinem
Schutz stehenden Juden Jakob und Moses von Mergentheim ihr Schutz-
geld nicht mehr an den Kellner in Lauda zahlen wollen, da dieser
Ort demnächst in die Gewalt des Herrn v. Reineck kommen soll,
und sie begehren doch nü anders denn euer Gnaden zu sein *).
Nach der Schlacht bei Seckenheim (1463) erreichte es die Ge-
mahlin des Markgrafen Karl von Baden, eine Schwester des Kaisers,
von diesem, dafs der Markg^f, als Entschädigung für die grofsen
Verluste während des Krieges, das Recht erhielt, die Judensteuer in
gewissen bezeichneten Orten in Alemannien für sich einzuziehen ').
In Schwab. - Gmünd wird 1469 der Jude Salomon von Schaffhausen
auf zehn Jahre angenommen und bezahlt ein jährliches Schutzgeld
von sieben rheinischen Gulden an die Stadt. Ohne Zustimmung Salo-
mons soll die Stadt in diesen zehn Jahren keinen anderen Juden auf-
nehmen. Dafür bezahlt er als einmalige Summe 500 fl. Von seinem
Getränke mufs er das Umgeld entrichten. Will er mit fremden Juden
das Laubhüttenfest halten, so mufs er für jeden V« A- geben *).
Über das gewöhnliche Mafs hinaus werden aber die Juden noch bei
jeder Gelegenheit belastet. Wenn sie Reisen unternehmen, müssen sie
erhöhtes Geleit oder Zoll bezahlen. So wird um 1464 in Kurpfalz ver-
fügt, dafs ein Jude für jede MeUe Wegs, die er zurücklegt, einen Gulden
Geleitgeld zu entrichten hat, während er bisher wie ein Christ nur
einen Weifspfennig bezahlte. Das Gleiche ist der Fall, wenn einer
fremdes Gebiet betritt. Ein Zoll wurde auch erhoben, wenn man eine
Judenleiche zur Bestattung von auswärts einführte. Auch eine Kleider-
steuer gab es, wenn ihnen gestattet wurde, ohne das vorgeschriebene
Judenabzeichen öfTentlich zu erscheinen.
Die Umlage der Judensteuem besorgte die Judengemeinde selbst.
Ihre Eintreibung übertrug der Kaiser meist einem eigenen Bevoll-
mächtigten , König Ruprecht z. B. den beiden Juden Elias von Wein-
heim tmd Isak von Oppenheim. Karl IV. hatte 1348 auch einen Juden,
Samuel von Trier, damit beauftragt, aber mit der Eintreibung der
Steuern von 1348 — 1349 wurde wohl w^en der Judenverfolgting gar
nicht begonnen % Die beiden Juden Elias und Isak hatten neben
i) Niibling, a. a. O., S. 430.
2) Löwenstein, a. a. O.» S. 23.
3) Zehnter in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. XI (1896), S. 345*
4) Klans in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1900, Nr. 56.
5) Stern, König Ruprecht in seinen Beziehungen zu den Juden, S. XXVIL
— 281 —
dem Opferpfennig und der halben Judensteuer auch die fälligen Bufs-
gelder zu erheben. Diese Bufegelder finden wir zum erstenmal unter
König Ludwig, der die Steuer des goldenen Opferpfennigs einführte
und den Satz aussprach, dafs ihm die Juden des Reichs mit ihrem
Leib und Gut zugehören. Derselbe erklärt 1338 sich mit den Juden
in Worms ihrer „Bruch und Schuld wegen** geeinigt zu haben.
Welcher Art diese „Bruch und Schuld" waren, erfahren wir aus einer
Urkunde Karls IV. vom 9. September 1348, durch die der König
neben anderen Steuern die Erhebung der „Bufsen und Besserungen"
von den Juden des Reichs an Erzbischof Baldewin von Trier übertrug.
Seinen Anspruch auf die „Brüche und Schuld" oder, was dasselbe ist,
die „Bufsen und Besserungen" machte Karl IV. in folgenden Fällen
geltend : Mit Leib und Gut sei ihm auf Anzeige der Judenmeister
verfallen: i) wer länger als 30 Tage im jüdischen Bann bleibe, 2) wer
böswillig seinen Gegner vor das christliche anstatt vor das jüdische
Grericht ziehe. Strafgelder haben zu zahlen : 3) wer den andern fälsch-
lich bei dem König oder dessen Beamten denunziere, 4) wer den
andern in der Synagoge oder sonst widerrechtlich schmähe , steche
oder schlage, 5) wer sich gegen den König oder dessen Beamte un-
gehorsam imd widerspenstig erweise. Aufser diesen „Bufsen und Besse-
rungen" gab es noch Strafgelder , die von den Juden nicht an den
König, sondern an die Herren und Städte zu zahlen waren, wenn sich
Juden durch Übertretung städtischer Vorschriften, durch Steuerverweige-
rung, Körperverletzung, Betrug und andere Delikte gegen Christen
vergingen.
Neben Elias und Isak blieben aber mit der Einkassierung von Bufs-
geldem nach wie vor die königlichen Amtleute, Landvögte und sonstigen
JBeamten betraut Diese Beamten hatten die Bufsgelder allein zu er-
heben, als Elias und Isak durch Meyer von Cronberg ersetzt wurden,
und dieser nur die halben Judensteuern, die jährlichen Zinsen — nach
Stern sind danmter die ganzen Judensteuem im Gegensatz zu den
halben zu verstehen — und den goldenen Opferpfennig einsammelte.
Dieser von Ruprecht gewählte Modus der Bufsgeldererhebung führte
zu Klagen der Juden über Bedrückung durch die Amtleute und manche
Rabbiner, welche aus der Ausübung des Bannrechts ein gewinnreiches
<jeschäft machten. Deswegen wanderten manche reiche Juden aus,
^nd dies verminderte wiederum die Einkünfte des Reichs, der Herren
und Städte. Der König fühlte sich namentlich auch in den Fällen
geschädigt, wo sich Juden gegen ihren Glauben vergingen und in
Ermanglung eines Rabbiners überhaupt keine Bestrafung und Bann-
2L
f
— 282 —
verhängung erfolgte, dem König also das etwaige Bufsgeld entgingf.
Um diese Schmälerung der königlichen Einkünfte zu verhindern,
bestellte Ruprecht 1407 den Judenmeister Israel zu des Könige
und des Reichs „jüdischem Hochmeister über alle jüdischen Hoch-
meister, sowie Juden und Jüdinnen in deutschen Landen** mit
der Vollmacht, alle Juden Deutschlands vor sich zu laden, nacli
jüdischem Recht zu richten und mit dem jüdischen Banne zu bestrafen^
Zugleich erhielt der königliche Reichsjudenmeister den Auftrag, die
Bufsgelder im Namen des Königs einzuziehen und bei ausbleibender
Zahlung des Opferpfennigs, der gewöhnlichen Judensteuer und der
sonstigen Gelder durch Handhabung des Bannes die Säumigen zur
Leistung anzuhalten. Er allein sollte in Deutschland das Bannrecht
ausüben, nur er sollte in denjenigen Strafsachen, aus denen dem Könige
eine Bufee zufiel, das Urteil fällen, nur er die Bufsgelder einziehen.
Grätz hat diesen Israel mit dem Rabbiner Israel von Krems inden-
tifiziert und als seinen Wohnsitz Nürnberg vermutet. Beides ist nach.
Stern unrichtig, der ihn vielmehr in Rothenburg a. Tauber wohnen
läfst. Aber Ruprecht hatte bei Einsetzung Israels die Eigenart der
jüdischen Verhältnisse nicht berücksichtigt. Der Widerstand, den
derselbe bei seinen Glaubensgenossen fand, scheint den König im;
Oktober 1408 veranlafst zu haben, seinen Judenmeister zu entlassen
und für die Einziehung der Bufsgelder sich wie früher der Amtleute
zu bedienen *).
Wie die Angehörigen der einzelnen Gewerbe sich zusammen-^
schlössen und gerne eigene Strafsen bewohnten, so dafs es Gerber-,
Weber-, Schnued- u. s. w. Gassen gab, so wohnten auch die Juden
in ihrer Judengasse. Schon frühzeitig wurden die Juden viertel mit.
einer Mauer umgeben, mit Türmen und Thoren versehen, und zwar
i) Dafs man auch in späterer Zeit es verstand, die Steuerschraube bei den Jaden
anzuziehen, beweist ein Ausschreiben, das „Uiro KönigL Herr Xaverius, Königl. Prinz in
Polen und Litthauen u. s. w. , Herzog von Sachsen" als Administrator von Kursachsen
unter dem 21. März 1767 erliefs. Es wird darin angegeben, wie viel jeder Einwohner
des Landes auf das Jahr 1767 an allgemeiner Personalsteuer zu entrichten habe. Da
heifst es u. a. : Ein Jude, der sich wesentlich in Dresden oder Leipzig mit kurfürstlichen
Pässen aufhält, hat an Personensteuer für sich jährlich zu bezahlen 70 Thaler, fUr seine
Frau 30, für jedes Kind ohne Rücksicht auf das Alter 5, Oir jeden Knecht 4 Thaler
12 Groschen und f^ jede Magd 3 Thaler. — Auch fttr den Besuch der Leipziger Messe
waren sie einer hohen Accise unterworfen. Trotzdem war ihr Anteil am Me&handel be-
deutend. Die Zahl der jüdischen Mefsfieranten betrug innerhalb der Jahre 1675 — i^^o
durchschnittlich 415. Im nächsten Jahrzehnt stieg sie um 17 Prozent und in den Jahren
1691 — 1700 um 70 Prozent. (WissenschaftL BeiL der Leipz. Ztg. 1899, Nr. loi, „Die::
Juden auf den Messen zu Leipzig in frtlherer Zeit'' von Markgraf).
— 283 —
anfangs nur zum Zweck des Schutzes. Jede Judengemeinde hat ihren
Vorsteher, der verschiedene Namen führt. In Köln, Trier, Worms,
Mainz und Nürnberg heilst er Judenbischof, in Bamberg, Frankfurt a. M.
und Regensburg Judenmeister, in Speicr Archisynagog, in Mainz Hof-
meister und Korrektor, in München Oberpamese (ein chaldäisches Wort)
Die Stelle des Richters der Judengemeinde hat der Hauptrabbiner und
er unterschreibt in dieser Eigenschaft mit den zwei ihm beigegebenen
Monatspamesen , Ratsälteren , Konsuln , Einungern oder Bürgermeistern
der Gemeinde alle beglaubigten Urkunden. Zwei Juden werden vom
Rat als Rechner und Kassierer bestellt. Der Judenrat besteht meist
aus zwölf Mitgliedern. •
In Köln, wo wir die Verhältnisse genauer kennen, erscheinen für
die freiwillige Gerichtsbarkeit von der Zeit an, wo wir über die dies-
bezüglichen Verhältnisse genauer unterrichtet sind, die bürgerlichen
Behörden zuständig *). Namentlich das Grundbuchwesen war sorgföltig
geordnet. Alles , was sich auf dasselbe bezog , wurde vor den Amt-
leutekollcgien abgeschlossen und in den Schreinsakten verzeichnet.
Die Hauptmasse der Juden zu Köln scheint von alters her in der Lau-
renzpfarre eingesessen gewesen zu sein. Während aber vor der Mitte
des XIII. Jahrhunderts eine gesetzliche Beschränkung und räumliche
Abgeschlossenheit des Judenviertels nicht nachweisbar ist, tritt von
dieser Zeit an das Bestreben auf, das jüdische Element von der Bürger-
schaft abzusondern. Während bis dahin in der Laurenzpfarre die ver-
mögensrechtlichen Akte von Christen und Juden unterschiedslos neben-
einander gestellt wurden , werden jetzt die auf jüdischen Grundbesitz
bezüglichen Rechtstitel gesondert notiert. Seit Anfang der sechziger
Jahre des XIII. Jahrhunderts beginnt zunächst vereinzelt der Vollzujg
der Rechtsgeschäfte vor der Synagoge, ohne dafis die Schreinseintragung
auf die jüdische Urkunde Bezug nimmt. Im Jahre 1266 wird der
Vollzug eines Verkaufsgeschäfts durch Judenbischof und Judenrat vor
dem Schreinsamt bezeugt. An der Spitze des Judenrats steht der von
der Gemeinde gewählte Judenbischof. Nach einer Urkunde von 1252
soll er nur ein Jahr im Amt bleiben, in Wirklichkeit aber amtiert oft
ein und derselbe Jahre lang hhatereinander. Da der Erzbischof von
Köln bei der Wahl eines Judenbischofs jedesmal fünf Mark erhielt,
verlangte derselbe wohl die jährliche Wahl, hatte aber nichts dagegen,
wenn der alte wiedergewählt wurde. Neben dem Bischof amtieren
ein, zwei oder drei Rabbiner. Der Bischof kann, wenn er die nötige
i) Honig er, Das Judefiaehreinsbueh der Lauren/xpfarre xu Köln. [= Quellen
zur Geschichte der Jaden I.] Berlin 1888, S. II.
21*
— 284 —
Gelehrsamkeit besitzt, auch zugleich das Amt eines Rabbiners bekleiden .
Ist er blofs Bischof, so unterzeichnet er die Urkunden nicht, sondern
für ihn tritt der erste Rabbiner ein. Seit dem Ende der achtziger
Jahre wird im lateinischen Text regelmäfeig auf die hebräischen Ur-
kunden Bezug genommen. Nur wenn der Verkäufer ein christlicher
Büi^er ist, findet Verhandlung und Beurkundung in der Regel aus-
schliefelich vor dem Schreinsamt statt. Das hebräische Zeugnis fehlt
in solchen Fällen und die Eintragung erfolgt nicht im Judenschrein,
sondern in den für christliche Rechtsgeschäfte bestimmten Schreins-
büchem.
In Worms wird nach einem Vertrage, den die Juden mit Bischof
Emerich 13 12 abschliefsen, für die Folgezeit festgesetzt, dafe der Juden-
rat wie bisher aus zwölf Personen bestehen und nach jüdischem Rechte
richten soll ^). Aus diesen zwölf wählt der Bischof von Worms den
Vorsitzenden, welcher den Titel „Judenbischof" führt. Wenn einer
der Räte stirbt, so wählen die andern einen neuen. Den Judenbischof
ernennt stets der Bischof. Sämtliche Ratsmänner haben in die Hand
des Bischofs einen Eid abzulegen und nach geschehener Wahl ge-
meinsam dem Bischof sechzig Pfund Heller zu zahlen. — Das Ulmer
Stadtrecht von 1300 sagt: Itern sciendum est, quod ludeus in foro
civüi convincendus est cum uno Christiano et ludeo. Et si quos
excessus fecerit seu tniurias alicui, pro his emendart debet poena
pecuntaria utpote Christtanus *). — In Nördlingen übte das Strafrecht
über die jüdischen Insassen der Rat aus, während der Stadtammann über
die zwischen Juden und Christen entstandenen Civilrechtshändel zu
Gericht safe. Die Schlichtung von Differenzen zwischen Gliedern der
Judengemeinde blieb dieser selbst überlassen. Dabei führte den Vor-
sitz ein Hochmeister oder Rabbiner, dessen Wahl den Parteien frei-
stand, da es in Nördlingen nicht immer einen Rabbiner gab. Zu den
Strafen, für welche der Rat und der Ammann zuständig waren, konnte
von Seiten der Gemeinde der Bann treten.
Während die Juden in Betreff der niederen Gerichtsbarkeit bei
Streitigkeiten unter sich ihrer Gemeindegenossenschaft unterstehen,
stehen sie bezügUch der höheren Gerichtsbarkeit und in Streitigkeiten
mit NichtJuden in der Regel unter dem landesherrlichen Gericht.
Die rechtliche Stellung der Juden war nicht durch einen Akt der
Reichsgesetzgebung für ganz Deutschland geregelt, sondern die Könige
1) G. Wolf, Zur Oeschie/Ue der Juden in Worms. S. 4.
2) Wirtb. Urkundcnbuch Bd. VIL S. 303.
— 285 —
griffen nur durch Privilegien in den Recbtszustand ein und fixierten
durch dieselben die Stellung der Juden in dieser oder jener Stadt.
Ebenso haben auch nur wenige Landesherren allgemeine Gesetze für
die in ihren Territorien wohnenden Juden erlassen. Unter den Privi-
legien, welche für ein grö&eres Gebiet von Bedeutung waren, sind
diejenigen hervorzuheben, welche Herzog Friedrich 1244 den Juden
in Österreich verlieh *). Im wesentlichen dieselben Freiheiten er-
teilte dann König Ottokar von Böhmen 1254 den Juden seines
Reiches. An das böhmische Privileg schliefst sich das polnische Statut
an, welches Boleslaus am 16. August 1264 zu Kaiisch für die Juden
Grofspolens erliefe.
Mit dem polnischen Statut decken sich beinahe vollständig die
schlesischen Schutzbriefe, mit denen Herzog Bolko I. 1295 und
Heinrich Herzog von Glogau 1299 ihre Juden bedenken*).
Jede gröfeere Judengemeinde hat eine Synagoge, einzelne auch
eine Judenhochschule •), hauptsächlich um junge Leute im Talmud zu
unterrichten, einen eigenen Friedhof, ein Spital, ein Bad*), da die
Juden nicht die öffentlichen Bäder benutzen durften, häufig auch ein
Tanzhaus zum Abhalten von Hochzeiten, Festmahlen u. s. w., ein
Schlachthaus, da für den Fleischhandel der Juden besondere Vor-
schriften bestanden, und öfters ein eigenes Backhaus.
Das Verhalten der Territorialherrschaften gegen die Juden seit
Ende des XV. Jahrhunderts war meist recht wenig freundlich. Nur
selten finden sie einen Fürsprecher, wie z.B. in Worms, als der 1557
zwischen Stadt und Judenschaft auf vier Jahre abgeschlossene Vertrag
abgelaufen war. Damals wollte die Bürgerschaft die Juden nicht länger
in den Mauern dulden, aber Bischof Dietrich appellierte dagegen an
1) Stobbe, a. a, O., S. 297.
2) Bloch, Die Oeneralprivilegien der pciniechen Judefischaft, in der Zeitschr.
der histor. Gesellschaft für die Provinz Posen 1891.
3) So Frankfurt sicher im XIV. Jahrhundert, vielleicht auch schon früher. Vgl. Bücher,
Bevölkerung I, S. 531.
4) Es giebt an manchen Orten sogenannte „Judenbäder'' z. B. im Rathaus zu Ander-
nach. (Vgl. Niederrhein. Annalen 62. Heft, S. 218, Jahrbücher des Vereins von Altcr-
tumsfrennden im Rheinland 18 (1852), S. 217 und Niederrheinischer Geschichtsfreund 1883,
Nr 9, 10, 12, 16) oder in Friedberg in H. (vgl. Dieffenbach, a. a. O., S. 308.
L. Goldmann im Jüdischen Volksblatt. 4. J*hrg, (i^S?)» Nr. 34 und Westermanns Monats-
hefte 1877. Oktober). Im besonderen siehe Nübling, Judengemeinden, S. 46. Auch
Köln (Ennen in der Kölnischen Zeitung 1861, Nr. 195), Frankfurt a. M. (Archiv für
Frankfurter Geschichte und Kunst I (1860), S. 292) und Spei er (Centralblatt der Bau-
verwaltung. 5. Jahrg. (1885) Nr. 2) haben Judenbäder.
— 286 —
den Kaiser, und fand bei ihm Hilfe, so dais die Juden bleiben durften ^).
Die Stadt Überlingen erhielt 1547 von Karl V. ein Privil^ über die
wucherischen Kontrakte mit den Juden, das 1566 durch Kaiser Maxi-
milian II. erneuert und erweitert wurde. Wenn denmach ein Jude
einem Überlinger Einwohner etwas lieh oder von ihm ein Pfand, eine
Verschreibung oder einen Schuldschein nahm, so sollte jede daraus
entstehende Klage und rechtliche Handlung nichtig sein! Und diese
Bestimmung wurde 1607 durch den Rat von Überlingen noch dahin
verschärft, dais kein Bürger sich einem Juden mit oder ohne Pfand
verschreiben dürfe. — Ein kaiserlicher Erlais von 151 5 befahl die
AusschafTung der Juden aus Straisburg. Da die Juden aber immer
wieder mit den Unterthanen des Bistums Geschäfte machten, erwirkte
Bischof Erasmus von Limburg (1541 — 1568) von Karl V. 1545 ein
neues Patent, welches alle Schuldverschreibungen der Juden über
Immobilien, die ohne Mitwissen oder Einwilligung des Bischofs und
seiner Beamten abgefaist seien, für ungültig erklärt. — Kurfürst Philipp
von der Pfalz (1476 — 1508) wollte keine Juden mehr in der Pfalz
haben. Auch unter seinem Sohne Ludwig V. (1508 — 1544) treffen wir
nur einzelne Juden an den Orten, wo die Judengemeinden schon vor-
her in kurpialzischem Schutze standen. Im Jahre 1550 wohnten etwa
155 Juden in der Kurpfalz, welche jährlich ungefähr 650 Goldgulden
Scbutzgeld zu bezahlen hatten. Kurfürst Friedrich III. verordnete in
seinem Testamente vom Jahre 1575, dais hinfüro zu ewigen Zeiten kein
Jude mehr in der Pfalz aufgenommen oder ihm daselbst zu wohnen
gestattet werde. Einige Monate vor seinem Tode (1576) erliefs er ein
Reskript des Inhalts, dais dieses gotteslästerliche und wucherliche Volk
in den Landen gänzlich geübrigt sein möcht; da sie aber hin und
wieder in den Reichsstädten und sonst hinter andern Herrschaften
gesessen und auch zum kaiserlichen Kammergericht müssen, so habe
er beschlossen, es dürfe fernerhin kein Jude ohne besonderen schrift-
lichen Befehl oder Geheifs in seinem Gebiet sich häuslich niederlassen
und auch nicht von einem Ort zum andern passieren noch geleitet
werden. — Als Riga 1561 wegen der Unterwerfung unter Polen in
Verhandlungen stand, wurde der Wunsch geäufsert, es möge vom
König feste Kaution genommen werden, dafs dieser Orten, wie in
andern Ländern des Königs eingerissen, nicht die Juden gelitten
würden, damit sie nicht mit ihrem unchristlichen Wucher und Handel
die Bürgerschaft beschmutzen oder beschädigen, Zölle und andere
i) G. Wolf, ^r Geschichte der Juden m Worms, S. 8.
287 —
Beschwerungen einfuhren sollen. — In Friedberg" wird 1534 den Juden
der Handel mit verschiedenen Artikeln verboten, damit die Kaufleute
und Handwerker nicht geschädigt werden, und 1556 wurde gegen die
Juden inquiriert wegen des grofsen Wuchers, den sie trieben. — Auch
in Ulm werden gegen Ende des XV. Jahrhunderts Klagen über den
Wucher der Juden laut, weshalb sich der Rat an Kaiser Max wandte,
der der Stadt das Recht gab, die Juden zu vertreiben. Dafür mufste die
Stadt an jedem Quatember in allen Mannsklöstem für den Kaiser eine
Messe lesen lassen ^). Die Liegenschaften der Juden sollte die Stadt
dem Vogt von Geislingen übergeben. Da aber die Juden im Gebiet
der Stadt Ulm doch wieder Gelegenheit finden, mit Bürgern der Stadt
wie auf dem Land Geschäfte zu machen, so bestimmte Karl V. 1541,
dafs künftig kein Jude den Büigem von Stadt und Land Ulm auf äin
fahrendes oder liegendes Gut ohne die Einwilligung von Bürgermeister
und Rat oder deren Amtleuten bei Verlust des Hauptguts etwas leihen
dürfe. Ferner solle kein Jude die Bürger und Unterthanen von Ulm
bei einem Hof-, Land-, oder sonstigen fremden Gericht verklagen
dürfen, sondern nur vor dem Stadtgericht in Ulm. Am 7. Dezem-
ber 1548 wird den Juden auch in der Ulmer Herrschaft alle Hantierung
auf dem Lande verboten. — Der Rat von Nördlingen wandte sich
1502 vertraulich an König Max bei dessen dortigem Aufenthalt am
28. und 29. November wegen Vertreibung der Juden und zwar ver-
mittels des königlichen Sekretärs Kaspar Ziegler, der der Sohn eines
Nördlinger Bürgers war. Ziegler äufserte, es habe die von Nürnberg
12000 fl., die von Ulm 5000 fl. und die von Gmünd 1200 fl. gekostet,
dafs man „ihnen der Juden abgeholfen *'. Er wolle aber in der Sache
mit dem König unterhandeln, und wenn der Rat furchte, dafs die
Grafen von öttingen die vertriebenen Juden aufnehmen, so wolle er
ein Mandat auswirken, das ihnen das untersage. Der Rat wünschte,
das Mandat möchte den Juden den Aufenthalt innerhalb zweier Meilen
um die Stadt untersagen. Erst 1 506 traf das gewünschte Mandat ein,
wofür der Rat 700 fl. bezahlen mufste. Die Häuser der Juden und
die Synagoge fielen dafür dem Rat zu. Mit den Grafen von öttingen
aber gab es lange Verhandlungen wegen des Aufenthalts der Juden
in ihrem Gebiet. In einem vertraulichen Schreiben am 24. Januar 15 16
an den Rat von Frankfurt über die Wirkungen der Judenaustreibung
äufserte sich der Nördlinger Rat dahin, dafs er mit grofser Befriedigung
auf drei Punkte hinweisen könne, in denen es besser geworden sei.
i) Das Gleiche war in Schwäb.-Gmünd der Fall.
— 288 —
der Rat sei der Unruh des täg^Hchen Anlaufens der Juden und derer,
so mit ihnen hantieren, entladen, sodann bemerke er eine ziemliche
Aufnahme (Auüschwung) an der Nahrung, dag^egen Minderung- lüder-
licher, unlöblicher und verderblicher Handlungen in der armen Bürger-
schaft.
Die Monographieen über die Geschichte der Juden in einzelnen
Ländern und Orten sind aufeerordentlich zahlreich, und wir wollen im
Anhang den Versuch machen, eine nach Landschaften und Orten ge-
gliederte Bibliographie, die natürlich bei weitem nicht vollständig sein
kann, zusammenzustellen. Die darin aufjgeführten Monographieen
sind natürlich ihrem Wert nach sehr verschieden. Das hat seinen
Grund vor allem in der gröfeeren oder kleineren Ergiebigkeit der
Quellen. Denn nicht überall flieisen sie so reichlich wie über die
Judengemeinde der Stadt Rom, deren Geschichte in neuester Zeit zwei
eingehende Darstellungen gefunden hat, die eine durch Vogelstein und
Rieger*), die andere durch Berliner*). Unter den Monographieen,
welche sich auf ein reichlicheres Quellenmaterial stützen, ist als
eine der besten wohl die wiederholt angeführte über Nördlingen von
L. Müller, zu bezeichnen. Müller zeigt sich vor allem als zuverlässig
in seinen Angaben, indem er fast durchweg auf die ersten Quellen
zurückgeht. Er behandelt fast alle die Punkte, die wir als wichtig
hervorgehoben haben. Wir erhalten Aufschlufe über das erstmalige
Auftreten der Juden in Nördlingen, über ihre Stellung zum Gemeinde-
verband, ihre Heranziehung zu den Steuern, über die Verfolgungen,
welche über sie hereinbrachen, ihre Stellung zu Kaiser und Reich,
ihre Rechtsverhältnisse, ihre Beschäftigung und ihren Geschäftsbetrieb,
ihre soziale Lage, das Verhalten der verschiedenen in Betracht kommen-
den Faktoren gegen sie. Gerne folgen wir dem kundigen Führer, der
uns durch das ganze Mittelalter bis in die neueste Zeit an sicherer
Hand geleitet. Wir können die Schrift Müllers allen Lokalforschem
als Muster empfehlen und wünschen nur, dafs in der gleichen Weise
die Judengemeinden noch recht vieler Städte in ihrer Entwickelung
dargestellt werden.
i) Oesehiehte der Juden in Rom, Berlin, Mayer & Müller, i. Bd. 1896. 2. Bd.
1895.
2) Qesehiehte der Juden in Rom von den ältesten Zeiten bis xtir Oegenwart,
2 Bde. Frankfurt a. M., J. Kanflfmann, 1893.
— 289 —
liitteraturübersicht ^)
I. Landschaften
Ansblicll« Hänle: Geschichte der Jnden im ehemaligen Fürstentum Ansbach. 1867.
Baideil. J. A. Zehnter in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. XI
(1896), S. 337—441 und XII (1897), S. 385—436 und 636-690.
Bamll^rgr« ^* Eckstein: Geschichte der Jnden im ehemaHgen Fttrstbistnm Bamberg.
Bamberg, Handelsdrnckerei 1898. M. 5.
Bay6ni. v. Aretin: Geschichte der Juden in Baiern. Landshut 1803.
Böhmen. Moriz Grttnwald: Geschichte der Juden in Böhmen. 1886.
BnrgriUid* A> Gerson: E^ai sur les juifs de la Bourgogne au XUe— XIV« siecle.
Dijon 1894.
Franken« He ff n er: Die Juden in Franken. Nürnberg 1855. — Himmelslein im
Archiv des historischen Vereins von Unterfranken. 12. Bd., Heft 2/3, S. 125—188.
Meeklenbnrir» L. Donath: Geschichte der Juden in Mecklenburg von den ältesten
Zeiten bb auf die Gegenwart. Leipzig 1874.
Mttnsterland* Paul Bahlmann in der Zeitschrift für Kulturgeschichte, 4. Folge^
II. Bd. (1895) S. 380—409.
Obcrlansitz. Knothe im Neuen Archiv fUr Sächsische Geschichte und Altertumskunde.
2. Bd. (1881), S. 50—67.
Pfalz« Löwenstein: Geschichte der Juden in der Kurpfalz. Frankfurt a. M. 1895.
[:= Beiträge zur Geschichte der Juden. Bd. I].
Polen« Bensemer: Beiträge zu einer Geschichte des Blühens und des Niederganges
der Juden im Königreich Polen. Berlin 1898. — Philipp Bloch: Die General-
_privilegien der polnischen Jadenschaft in der Zeitschrift der historischen Gesellschaft
für die Provinz Posen. Bd. VI (1891), S. 69—105, 139—174, 387—416.
Pommern. Der Orient, Berichte, Studien und Kritiken fUr jüdische Geschichte und
Litteratur. 1840. Nr. 30 f.
Portngal. Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Portugal. 1867.
Sachsen« Alphonse Levy: Geschichte der Jnden in Sachsen. Berlin, S. Calvary & Co.
1901. M. 2,40. — A. Human in den Schriften des Vereins fUr Sachsen-Meiningische
Geschichte und Landeskunde. 30. Heft (1898). — R. Needon in der Wissenschaft*
liehen Beilage der Leipziger Zeitung. 1890, Nr. 68.
8ehlesien« O. Wolff in den Schlesischen Provinzialblättern Bd. 116 (1842) und Bd.
117 (1843). — ^' Brann: Geschichte der Juden in Schlesien, i. Bd. 1896*
1) Von der schon oben genannten QuelUnkumU zur Geschichte der deutschen Juden
von Moritz Stern ist 1892 bei H. Fiencke in Kiel der erste Band erschienen, der die
Zeitschriftenlitteratur behandelt (104 S. 8^). Ein zweiter Band soll die selbständigen
Werke und ein dritter die „kritische Würdigung der Litteratur und eine Übersicht über
das handschriftliche Material der Bibliotheken und Archive*' bieten. Der i. Band der
Qaellenkonde behandelt die Zeitschriftenlitteratur bis 1886 und ist nach Staaten an-
geordnet, ein Ortsregister erleichtert die Übersicht. In folgendem ist nun versucht, die
uns bekannten Monographieen und umfassenden Aufsätze zu verzeichnen, nicht aber die-
jenigen, welche nur Beiträge und Einzelheiten bringen. Da die Titel der Aufsätze oft
beinahe gleich lauten, so glaubten wir, von deren Wiedergabe absehen zu können und
geben neben dem Verfassernamen nur die Fundstelle an.
— 290 —
Sehle8Wl|^HoLlteill, Allgemeine Zeitung des Judentums. 1872, Nr. 3.
Spanien« Meyer Kayserling: Geschichte der Jaden in Spanien. 1861.
Strafsbnrir» C. Th. Weifs: Geschichte und rechtliche Stellung der Juden im Fürst-
bistum Strafsburg.
Trier* G. Liebe: Die rechtlichen und xTirtschafUichen Zustände "der Juden im Erz-
stift Trier in der Westdeutschen Zeitschrift fUr Geschichte und Kunst 12. Bd. (1893).
S. 311-374.
Terarlbery« Populärwissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum
(Frankfurt, Anfrath). 1899, S. 171, 107.
Westfalen» Gierse*. Die Juden in Westfalen. Naumburg 1878. — Horwitz: Die
Israeliten unter dem Königreich Westfalen. Berlin, S. Calvary & Co. 1900.
Wttrttemberf. G. Wale her: Geschichte der Juden in Württemberg in ihrem Ver-
hältnis zum Staat bis 1806. Tübingen 1851. — K. Pf äff in den Württembergischen
Jahrbüchern. 1857, S. 157 — 198.
Wftnlinrir) Hochstift. Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffen*
bürg. XI. Bd., S. 358.
n. Orte
Aaelien« O. Dresemann: Die Juden in Aachen. Aachen, Jacobi, 1887.
Bajrentk« Heinritz im Archiv fUr Geschichte und Altertum von Oberfranken. 3. Bd.
(1845), S. 1—23.
Berlin» S. Stern im „Volkskalender fUr Israeliten^* von Klein. 1845.
Benthen. Litteraturblatt des Orients. 1848, Nr. i.
Bonn« J o e s t e n : Zur Geschichte der Hexen und Juden in Bonn. Bonn 1900. —
Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein. 42. Heft (1884)» S. 87. Anm. 2.
BrandenbWY« ^ Schillmann im 4. — 6. Jahresbericht des historischen Vereins zu
Brandenburg a. H. 1871 und 1872.
Bredav* L. Landsberger in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des
Judentums. 1883, S. 543 ff. (bis 1349).
Banzlg« Bram im Volkskalender fUr Israeliten von Klein. 1849. — Monatsschrift fUr
Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 1857, S. 205, 241, 3219 401.
IHffhonhefrn ■ Löwenstein: Geschichte der Juden am Bodensee und Umgebung. 1879.
Bybrentet* M. Grünwald in Liebermanns Jahrbuch fUr Israeliten. 1882 (Brieg), S. 57.
Elberfeld* W. Crecelius in der Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins. 6. Bd.
(1869), S. 181.
•£rf^irt« A. Jaraczewsky: Die Geschichte der Juden in Erfurt. Erfurt 1868.
Frelbnrir 1« B« A. Lewin: Die Juden in Freiburg i. B. 1890.
FtrtM« S. Nürnberg.
Olegan» Allgemeine Zeitung des Judentums. 1853 Nr. 37 und 1854 Nr. 2-3.
Halberstadt« Böhme im Litteraturblatt des Orients. 1844, Nr. 7 und 9.
Hambnrg« Lappenberg in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte.
I. Bd. (1841), S. 281. — Feilchenfeld in der Zeitschrift für die Geschichte der
Juden in Deutschland, i. Bd. (1887), S 271 und Monatsschrift für Geschichte und
Wissenschaft des Judentums. 43. Jahrg. (1899), ^* ^7'> 3^^ 37^
Inowraadaw« Lew in in der Zeitschrift der historischen Gesellschaft für die Provinz
Posen. 15 Jahrg. (1900).
KieL M. Stern: Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte. II. Band. Kiel 1892-
XQln, Ernst Weyden: Geschichte der Juden in Köln a. Rh. von den Römerzeiten
r
— 291 —
bis zur Gegenwart. Köln 1867. — C. Brisch: Geschichte der Juden in Köln und
Umgebung ans ältester Zeit bis auf die Gegenwart. 2 Bde. Köln 1879 — 1882. —
Fr. Stolle: Aus der Geschichte der Juden in Köln. 1888.
Konstanz« Löwenstein wie unter ,^iefsenhofen**.
Kremsler» Ad. Frankl-Grün: Geschichte der Juden in Kremsier mit Rücksicht auf
die Nachbargemeinden. Frankfurt a. M., Kauffmann. 1901. M. 4.
L^iptHg» R. Markgraf: Zur Geschichte der Juden auf den Messen in Leipzig von
1664 bis 1839. Rostocker Diss. 1894.
Jfagdebvrir* M. Güdemann in der Monatsschrift fUr Geschichte und Wissenschaft des
Judentums. 1865.
Mainz» Sc ha ab: Diplomatische Geschichte der Juden zu Mainz und dessen Umgebung.
Mainz 1855.
Meifsen* Leicht in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Meifsen.
2. Bd., 4. Heft (1890).
Mergentheim» H. Bauer in der Zeitschrift des historischen Vereins fUr das Wttrttem-
bergische Franken. 8. Bd. (1868), S. 61—69.
Naumburg a« 8« K. v. Heister im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. 1866,
Nr. 3—5.
Nordhausen« Förstemann in den Neuen Mitteilungen aus dem Gebiete historisch-
antiquarischer Forschung. Bd. XI (1867), S. 272—281.
NQrdlIngen« L. Müller in der Zeitschrift des historischen Vereins fUr Schwaben und
Neuburg. 25. Heft (1898).
Nirnber;» Andreas Würfel: Historische Nachrichten von der Juden • Gemeinde,
welche ehehin in der Reichsstadt Nürnberg angerichtet gewesen, aber anno 1499 aus-
geschaffet worden. Nürnberg. 1755. 4^ — Hugo Barbeck: Geschichte der Juden
in Nürnberg und Fürth. Nürnberg. 1878. — M. Stern: Die israelitische Bevölkerung
der deutschen Städte. IIL Band. Kiel 1894.
4)snablilek« Stüve in den Mitteilungen des historischen Vereins zu Osnabrück. 6. Bd.
(1860), S. 137 und 141.
Paderborn. B. Greve in den Blättern zur näheren Kunde Westfalens. 1868 (Meschede),
S. 8a
Posen« J. Perle s in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums.
1864 und 1865.
Beekendorf« S. Pfeifer: Kulturgeschichtliche Bilder aus dem jüdischen Gemeindeleben
zu Reckendorf. Bamberg 1897.
Begensbur^» J. K. v. Train in der Zeitschrift fUr die historische Theologie. 7. Bd.,
3. Heft (1837), S. 39-138.
BIga« A. Buchholtz: Geschichte der Juden in Riga. Riga 1899.
8ebaff hausen« W. Härder in den Beiträgen zur vaterländischen Geschichte, heraus-
gegeben vom historisch-antiquarischen Verein des Kantons Schaffhausen, l. Bd. (1863).
Scbw« Gmllnd« Bruno Klaus in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München)*
1900. Nr. 56.
Sebweinftirt« S. Stein: Geschichte der Juden in Scbweinfurt. Frankfurt a. M. 1898.
Speyer« Wiener in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums.
1863, S. 161, 255, 297, 417, 454.
Stendal« J. Landsberger ebenda. 1882, S. 34 und 172.
Strasburg« Alfred Glaser: Geschichte der Juden in Strafsburg von der Zeit Karb
des Grofsen bis auf die Gegenwart. Strafsburg, Noiriel 1894.
— 292 —
StraaUng« Jahresbericht des historischen Vereins fiir Straubing and Umgegend^
2. Jahrg. (1899), S. 49flF.
Überlingen« Löwenstein wie unter „ Diefsenbofen ^*. M. Stern: Die israelitische-
Bevölkerung der deutschen Stade. I. Band. Frankfurt a. M. 1890.
Ulm« Press el: Geschichte der Juden in Ulm. Ulm 1873. — Nübling: Die Juden-
gemeinden des Mittelalters, insbesondere die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm^
Ulm 1896.
Tillingen« Chr. Roder in den Schriften des Vereins fUr Geschichte und Natur-
geschichte der Baar und der angrenzenden Landesteile in Donaueschingen. 5. Hefl
(1885), S. 96—107.
ToUmarlngen» Beiter im Diöcesanarchiv von Schwaben. 15. Bd. (1897), S. 175.
Wernigerode« Zeitschrift des Harzvereins. 1879, S. 341.
Worms« G. Wolf: Zur Geschichte der Juden in Worms. Breslau 1862.
Wllrzbnrg« Archiv des historischen Vereins fUr Unterfranken und Aschaffenburg. I, i, S. 136^
^ S. 358; Xn, S. 125.
Mitteilungen
Yersammlmigeil« — Am 28. und 29. Mai hielt der Hansische
Geschichtsverein in Dortmund seine 30. Jahresversammlung ab und gleich-
zeitig tagte in gewohnter Weise der Verein für niederdeutsche Sprach*
forschung zum 26. Male '). Der Jahresbericht, den der Vorsitzende des
hansischen Vereins, Bürgermeister Dr. Brehm er- Lübeck, erstattete, ge-
dachte mit Befriedigung der in den abgelaufenen sechs Lustren vom Verein
veranlafsten und ausgeführten wissenschaftlichen Arbeiten und stellte für das
nächste Jahr in Aussicht die Drucklegung bezw. das Erscheinen eines
7. Bandes der Hanserecesse von Prof. Schäfer -Heidelberg (15 17 ff), des
5. und des 9. Bandes vom Hansischen Urkundenbuche, bearbeitet von
Dr. K. Kunze- Greifswald (14 14 ff.) und Dr. W. Stein- Breslau (14630!),.
sowie des 2. (Schlufs-) Bandes des Inventars des Kölner Hanse- Archivs von
Prof. Höhlbaum-Giefsen (1572 — 1591). — Im Anschlufs hieran ver-
kündete Archivar Dr. von Bippen -Bremen, dafs die auf Grund des 1896
von der historischen Gesellschaft in Bremen erlassenen Preisausschreibens
eingegangene Arbeit über die Geschichte der Hanse von 1376 — 1476 mit
dem Preise gekrönt worden sei, und die Öffnung der verschlossenen Couverts
den Privatdozenten Dr. Daen eil -Kiel als Verfasser ergeben habe.
Die Reihe der Vorträge eröffnete Prof. W rede -Marburg mit einer
Darlegung des Verhältnisses zwischen Ethnographie und Dialektwissenschaft.
Er führte im wesentlichen folgendes aus: Wenkers Sprachatlas des Deutschen
Reichs *) verneint immer deutlicher die Frage, ob die lebenden Mundarten alte
i) Über die vorjährige Versammlung in Göttingen vgl. I. Bd. dieser Zeitschrift, S. 239.
2) Mit dem Titel Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland erschien 1881 bei
Trübner in Strafsburg die erste Lieferang der i. Abteilung, die 6 Karten enthielt. Seit-
dem ist von dem Unternehmen, dafs auf 13 Abteilangen za je 6 Lieferangen berechnet
— 293 —
Stammesverhältnisse wiederspiegeln, im Gegensatz zu der allgemeinen Ansicht,
•wie sie zuletzt wieder durch B r e m e r in seiner Ethnographie der germanischefn
Stämme (= Grundrifs der germanischen Philologie, 2. Aufl. III (1898),
S. 735 — 950) vertreten wird, dafs alte Stammesgrenzen vielfach bis auf die
•Gegenwart als Mundartengrenzen bewahrt seien. Dieser Theorie gegenüber
macht schon die Isoliertheit stutzig, in der die Dialekte solche stammes-
geschichtliche Rolle spielen : denn dafs die Grenzlinien, die von der Anthro-
pologie und Prähistorie, von der Ortsnamenforschung und allen Einzelzweigen
^er Volkskunde gezeichnet werden, nicht ebenso ethnologischen Wert be-
anspruchen können, wird ziemlich allgemein zugegeben. Redner zeigt sodann
an Beispielen aus älterer und jüngerer Zeit, dafs jene allgemeine Anschauung
auf Vorurteil beruht. Lehrreich sind besonders die Beispiele aus dem jung-
deutschen Kolonistenlande jenseits Elbe und Saale: die dortigen Dialekte
sind nicht in erster Linie alte Erbstücke des Westens, sondern neue Gröfsen,
entstanden durch Ausgleich aus ursprünglicher Mischung, in ihrer Scheidung
deutlich beeinflufst durch politische Grenzen. Analog flihrt für den alten
Westen die Forschung immer klarer zu dem Bilde ursprünglicher Buntheit
nnd erst allmählicher Nivellierung innerhalb politischer, kirchlicher, admi-
nistrativer Begrenzung. Mit den zahllosen Veränderungen der letzeren während
der anderthalb Jahrtausende deutscher Geschichte verändern und verschieben
sich ebenso oft imd gründlich die Dialektgebilde, so dafs wir ihre heutigen
<}renzen nicht über eine beschränkte Zahl von Jahrhunderten hinaus bewerten
•dürfen. Also nicht alte Ethnographie, wohl aber Lokal- und Territorial-
geschichte der letzten Jahrhunderte scheint durch die jetzigen Mundarten
hindurch, und Wenkers Sprachatlas wird immer deutlicher eine wertvolle Fund-
grube auch flir den Historiker, vorweg den Territorialhistoriker. In aller
Offenheit wird also zugestanden, dafs die letzten ethnologischen Keime durch
-die heutigen Dialekte ebenso wenig klargelegt werden können, wie durch
Anthropologie und Prähistorie, durch Ortsnamenforschung und Volkskunde.
Die heutigen Dialektgrenzcn stellen sich vielmehr gleichwertig neben die
Grenzen aller dieser Forschungsgebiete: sie alle sind einzelwissenschaftliche
Querschnitte, durch den Jahrhunderte alten nationalen und territorialen Lebens-
baum gelegt, Querschnitte, die sehr begreiflich nicht zu einander passen
wollen, weil sie ganz verschiedene, mn Jahrhunderte und Jahrtausende ge-
trennte Zeitalter der Volks- und Landesgeschichte wiederspiegeln. — Weiter
sprachen Prof. Keutgen-Jena über den Grofshandel im Mittelalter, Prof.
Rubel- Dortmund, der Verfasser der wertvollen Festschrift Rekhshöfe im
war, nichts weiter gedruckt worden, denn bald darauf wurde die Weiterführuiig des
Werkes vom Deutschen Reiche übernommen, damit auch Süddeutschland einbezogen, und
die Reichsregierung behielt sich eine Publikation nach Vollendung des ganzen Werkes
vor. Die erste Lieferung wurde auch aus dem Buchhandel zurüchgezogen. Die fertig ge-
stellten handschriftlichen Blätter werden jetzt aller halben Jahre an die Kartenabteüung
•der Kgl. Bibliothek in Berlin abgegeben, und gegenwärtig sind bereits 571 Karten in
-Grofsfolioformat dort vorhanden : je 3 Karten gehören immer zusammen, und es ist jedes-
mal ein Wort mit allen seinen dialektischen Einzelheiten in Nordwest-, Nordost- und
Sudwestdeutschland dargestellt. Im Anzeiger für deutsches Altertum erscheinen regel-
mäfsig von Wrede bearbeitete Berichte über G. IVenkers Sprachatlas des Deutschen
Reiches: der erste findet sich Bd. XVm (1892) S. 300 ff., der letzte — 18. Bericht —
Bd. XXVI (1900), S. 336 — 344. Eine kurze Notiz enthält auch halbjährlich 62A Litterarische
-Centralblatt,
— 294 —
Lippe-, Ruhr- und Dienielr Gebiete und am Hellwege (= Bcitr. z. Gesch. Dort-
munds u. d. Grafschaft Mark, Heft X), über Dortmunder Handelswege in
alter und neuer Zeit, Dr. S t e i n - Breslau über die Burgunderherzöge und
die Hanse. Im niederdeutschen Verein behandelte Dr. Maurmann- Marburg
die Dialektverhältnisse im südlichen West^en, und Dr. Tümpel- Bielefeld
die Herkunft der Besiedler des Deutsch -Ordenslandes. Daneben gelangte
auch die Dortmunder Mundart zu ihrem Recht, und Prof. Reifferscheid-
Greifswald besprach insbesondere eine von Prof. Bücher-Leipzig zu Anfang
der siebziger Jahre, während seiner Thätigkeit am Dortmunder Gymnasium,,
zusammengestellte Sammlung von Dortmunder Kinderliedem.
Die Versammlung tagte in dem unter Leitung des Baurats KuUrich
mit ebenso grofsem Geschick wie Geschmack und Verständnis restaurierten
alten Rathause, welches auch das wertvolle städtische Museum beherbergt.
Der darunter befindliche Ratskeller nahm sie schÜefslich gasüich auf, nach-
dem die Teilnehmer den Dortmund-Emskanal bis zu dem gewaltigen Hebe-
werk bei Henrichenburg befahren und dieses Meisterstück der Technik mit
ungeteilter Bewimderung besichtigt hatten. Als nächster Versammlungsort
wurde Emden gewählt.
Die diesjährige Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine ^) wird vom 24. bis 26. September
in Fr ei bürg i. B. stattfinden. An der Spitze des Ortsausschusses stehen
Prof. Finke imd Stadtarchivar P. Albert, die Verhandlungen finden in
den Räumen der Universität statt Ein Fest der Stadt Freiburg und ein
Ausflug nach Donaueschingen, am 26. Sept, sind in Aussicht genommen.
Von Vorträgen sind bis jetzt für die allgemeinen Versammlungen angemeldet:
Prof. Stutz über die Rechtsgeschichte des Freiburger M ünsters,
Stadtarchivar Albert über die historischen Vereine Badens und
ihre Wirksamkeit, Prof. Dieffenbacher über Beiträge zur Ba-
dischen Volkskunde aus Grimmeishausens Simplizissimus. In
den Abteilimgssitzungen , deren Programm im einzelnen noch nicht feststeht,
wird über die Grundkarten, besonders die zur Verwendung kommenden
Signaturen, über die Kirchenbuchverzeichnung, !die Fortsetzung des Walther-
Konerschen Zeitschriftenrepertoriums u. a. beraten werden. Die Versammlungen
der vereinigten ersten und zweiten Abteilung werden sich zugleich zu Sitzungen
des Verbandes west- imd süddeutscher Vereine für römisch-germanische Alter-
tumsforschung gestalten *).
Die Abgeordneten der verbundenen Vereine versammeln sich; wie üblich,
zur Beratung der Angelegenheiten des Gesamtvereins, und es wäre recht er-
freulich, wenn Freiburg wiederum eine Vermehrung der vertretenen Vereine
bringen würde: nur wenn die Vereine immer mehr und mehr ihre Abge-
ordneten zu den Versammlungen entsenden imd sich von diesen später darüber
i^ Über die letzte Versammlung (Dresden) vgL oben S. 57 — 60.
2) Vgl. den Bericht über die erste Tagung des Verbandes in Trier oben S. 228 —234. —
Soeben ist anch als X. Ergänzongsheft der Westdeatschen Zeitschrift fUr Geschichte nnd
Kunst (Trier, Jacob Lintz 1901. 66 S. 8*) der offizielle Beruht über den ersten Ver-
handstag der West' und süddeutschen Vereine für römisch 'germanische Altertums--
Jorschung zu Trier am ij. und 12. April igoi erschienen.
— 2^5 —
berichten lassen, werden sie in die Lage kommen, neben den örtlichen
Bestrebungen, in denen sie wurzeln, auch die allgemeineren zu pflegen, die
so unendlich viele Anregungen geben und die geistige Arbeit erst recht
fruchtbar zu machen vermögen. Erfreulicherweise hat sich die Zahl der
Vereinsvertreter stetig vermehrt, in Münster 1898 waren es nur 31, 1899
in Strafsburg stieg die Zahl auf 55 und 1900 in Dresden auf 64; hoffen
wir, dafs es diesmal wenigstens 75 werden mögen!
Am 23. und 24. September wird ebenÜEÜls in Freiburg der zweite Tag
für Denkmalspflege stattfinden, während von der Abhaltungeines Archiv-
tages (vgl. oben S. 60 — 61) diesmal abgesehen wird.
Die 46. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner ^)
tagt vom I. bis 4. Oktober zu Strafsburg i. £., und zwar im allgemeinen
Kollegiengebäude der Kaiser Wilhelms-Universität Von den in Aussicht ge-
stellten Vorträgen sind viele auch von höchstem geschichtlichen Interesse.
So wird Prof. Fabricius (Freiburg) über die Ergebnisse der Erforschung
des obergermanisch-rätischen Limes sprechen, Profi Bormann (Wien) über
den römischen Limes in Österreich*) und Prof. Euting (Strafeburg) über
den römischen Limes in der Provincia Arabia. Über deutsche und griechische
Personennamen handelt Prof. Schröder (Marburg), über die civitas Medio-
matriconun Kenne (Metz), über die Chronologie der römischen Befestigungs-
anlagen in der Wetterau und im Maingebiet Prof. Wolff (Frankfurt a. M.),
über den Sprachatlas des deutschen Reiches und die elsäfsische Dialekt-
forschimg Prof. Wrede (Marburg)*) imd über prähistorischen Getreidebau
in Nordeuropa Prof. Hoops (Heidelberg). Von ganz besonderer geschicht-^
lieber Bedeutung dürfte der Vortrag von F. Eichler (Graz) über eine
Quellensammlung zur Geschichte des deutschen Bibliotheks-
wesens werden, welche die bibliothekarische Sektion bietet: die Erforschung^
der mittelalterlichen Bibliotheken, die Verfolgung ihrer Schicksale imd die
Drucklegung ihrer Kataloge wird ja für die Geschichte des Geisteslebens von
immer gröfserem Werte, und ohne diese Grundlage ist eine Geschichte des
gesamten litterarischen Schaffens im Mittelalter ^) kaum möglich.
Archiye« — Die neuere Entwickelung der Geschichtsforschung hat eine
überaus enge Verbihdimg zwischen ihr und den Archiven notwendig gemacht
und hergestellt, so dafs heute die Mehrzahl aller Archivbenutzungen zu wissen-
schaftlichen Zwecken stattfindet ^). Im Interesse der Geschichtsforschung liegt
es deshalb heute in erster Linie, nähere Kenntnis von dem Inhalte der Ar-
chive zu gewinnen, damit der einzelne im Falle des Bedarfs weiüs, wohin er
sich zu wenden, was er in einem Archive vermuten kann. Es war deshalb-
i) Über die 45. Versammlang (Bremen 1899) vgL diese Zeitschrift L Bd., S. 61 — 63..
2) Vgl. den Aufsatz von S. Frankfurter in dieser Zeitschrift I. Bd., S. 195 — 199.
3) Vgl. darüber diese Zeitschrift L Bd., S. 82 und oben S. 292 — 93.
4) Vgl. dazu oben S. 182 — 184.
5) Beim GrofsherzogL Badischen Genenülandesarchiv standen im Jahre 1900 den-
92 Benutzungen zu geschäftlichen Zwecken 297 wissenschaftliche Benutzungen gegenäber»
Bei preuiftischen Staatsarchiven haben im Jahre 1900 amtliche Benutzungen 962 stattge-
funden, aber 2407 aufseramtliche. Im Jahre 1899 waren es 893 und 2485.
— 296 —
ein grofses Ereignis, als das Hand- und Adrefsbueh der deutschen ÄrctUve
im Gebiete des Deutschen Reichs, Luxemburgs, Östeireich -Ungarns , der
russischen Ostseeprovinzen und der deutschest Schweiz von C. A. H. Burk-
hard t erschien, dessen zweite stark vermehrte Auflage (Leipzig, F. W. Gru-
now, 1887) ^^ heute allein dem Frager in Archivangelegenheiten Auskunft
zu geben vermag. Überall hat aber die archivalische Ordnungs- und For-
schungsarbeit an Tiefe gewonnen; viele namentlich städtische Archive haben
einen sachkundigen Vorstand gefunden, der das Amt eines Archivars im
Nebenamte versieht, ja an manchen Orten sind Archive erst entdeckt worden.
Dafs eine Neubearbeitung und Vervollständigimg des Hand- und Adrefsbuchs
bereits jetzt erforderlich wäre, dürfte kaum in Abrede zu stellen sein, aber
ebenso tmleugbar ist es, dafs diese mühevolle Arbeit nur zu leisten ist, wenn
auf allen Seiten mitgearbeitet wird. Das Ideal wäre wohl, dafs ftir jeden
Staat bzw. jede Provinz oder Landschaft ein in dieser Gegend nach allen
Eichtungen hin bewanderter Archivkenner die Bearbeitung übernähme. Bei
Preufsen müfste jede Provinz als besonderes Gebiet, bei Bayern wenigstens
die Pfalz getrennt vom rechtsrheinischen Bayern behandelt werden.
Obwohl schon manche Veröffentlichung des letzten Jahrzehnts wesent-
liche Ergänzungen zum Hand- und Adrefsbueh gebracht hat, über die in
diesen Blättern zur Zeit berichtet worden ist, so verdient doch ein Werk-
chen Beachtung, welches flir ein Gebiet, dessen Bearbeitung mit besonderen
Schwierigkeiten verknüpft ist, nämlich Thüringen, eine Neubearbeitung des
ersteren darstellt Dies ist der Wegweiser durch die Historisdien Archive
Thüringens], im Namen und Auftrag des „Thüringer Archivtages " bearbeitet
und herausgegeben von Paul Mitzschke (Gotha, Friedrich Andreas Perthes,
1900. 86 S. 8^). In alphabetischer Ordnung sind 41 Orte aufgeführt, in
den sich 67 Archive finden, und zwar verteilen sich diese auf die vier
sächsischen Staaten (S. -Weimar 13, S. -Meiningen 8, S.- Coburg -Gotha 4,
S.-Altenburg 8), die beiden Schwarzburg (Rudolstadt 3, Sondershausen 4),
die beiden Reufs (ä. L. i, j. L. 5) und Preufsen (21). Von Preufsen mufste
zum Zwecke der geographischen Abrundung der Kreis Schmalkalden , der
ganze Regierungsbezirk Erfurt und die westliche Hälfte des Regierungsbezirks
Merseburg einbezogen werden. Die Zahl der Archive beweist schon, dafs
nur diejenigen aufgeführt sind, welche eine eigene Verwaltung oder doch
eine gewisse Organisation haben. Und dieses Verfahren verdient durchaus
Billigung, denn dafs schliefslich die Mehrzahl der Stadt- und Dor%emeinden
sowie die Pfarrämter, Gerichte u. s. w. über mehr oder weniger alte Ar-
chivalien verfügen, die gelegentlich von hoher Bedeutung sein können, bt
ohne weiteres klar. Aber derartige Dinge können unmöglich in ein all-
gemeines Register aufgenommen werden, dazu ist vielmehr die Inventarisation
der kleinen Archive da, die wie in Rheinland ') und Westfalen^, so auch
in Thüringen *) in die Wege geleitet worden ist. Bei Burkhardt führt es
i) Vgl. diese Zettschrift I. Band, S. 26.
2) Ebenda, S. 85—86.
3) Ein fUr die Pfleger bestimmtes Master fUr die Inventarisation kleiner thüringischer
Archive, bearbeitet von Kentgen nnd Mentz ist bereits im X. Band (1897) der „Zeit-
schrift des Vereins för Thüringische Geschichte und Altertumskunde, Nene Folge" ver-
dffentlichL Demnächst steht die Drucklegung der ersten Inventarisationsberichte in der
— 297 —
ofTenbar zu einer recht grofsen Ungleichheit in der Behandlung, dafs er fUr
das Rheinland die im i. Bande der „Westdeutschen Zeitschrift'* gegebenen,
oft irreführenden Hinweise auf kleine Pfarrarchive und deren zum Teil einzeln
bemerkte Stücke seinem Werke einfügt, während in anderen Provinzen ähn-
liche Übersichten fehlen. — Mitzschke hatte für seine Arbeit den Vorteil,
den Thüringischen Archivtag ') als Auftraggeber hinter sich zu haben, aber
trotzdem hat er von sieben Städten irgendeine Auskunft überhaupt nicht
erwirken können: es ist dies ein Beweis dafür, wie wenig Wert doch noch
vielfach den Archiven beigemessen wird! Nach einem bestimmten Schema
wird über jedes Archiv Auskunft erteilt. Dem Namen folgt die Angabe über
die Unterbringung des Archivs imd eventuell der Dienststunden, und dann
werden die vorgesetzte Behörde, die Benutzungsbestinmiungen, die Geschichte
•(namentlich die Entstehung des Archivs), die Einrichtung und die Inhalts-
übersicht nacheinander behandelt Litteraturangaben schliefsen jeden Artikel
ab. Als Anhang finden wir eine kurze Geschichte des Thüringer Archiv-
tages imd dessen Satzungen. Ein Verzeichnis der Archiworstände und
"wissenschaftlichen Beamten mit Angabe ihrer Privatwohnung wird allgemein
willkommen sein, nicht weniger interessant sind die genau beschriebenen
gegenwärtig im Gebrauch befindlichen Amtssiegel. Der „Wegweiser" kann
jedenfalls weit über die Grenzen Thüringens hinaus auf Wertschätzung rechnen,
er bietet ein recht gutes Muster dafür, wie derartige Zusammenstellungen zu
machen sind, und kann somit für andere Landschaften vorbildlich werden.
Ebenfalls aus Thüringen dringt ein recht zeitgemäfser Ruf in die Lande:
^, Stadtverwaltungen , sorgt für euere Archive!** Nicht eindringlich genug
kann diese Aufforderung wiederholt imd begründet werden, denn oft ist Ge-
fahr im Verzuge. Der städtische Archivar zu Mühlhausen i. Th., Eduard
Heydenreich, läfst einen Vortrag im Druck erscheinen , den er auf der
Hauptversammlung des Thüringer Städteverbandes in Weimar am 30. Juni
1900 gehalten hat Der Titel lautet: Die Bedeutung der Stadtarchive, ihre
Einrichtung und Verwaltung (Erfurt, Keyser, 1901. 70 S. 16®), imd hier
wird auf Grund eines ganz gewaltigen Materials gezeigt, wie in neuerer Zeit
Stadtarchive eingerichtet worden sind, welche hohe Bedeutung oft die Archive
für die moderne Verwaltung und stets für die Geschichtsforschung haben.
Im weiteren werden dann die Forderungen aufgezählt, welche zum Wohle
der Archive an die Stadtverwaltungen gestellt werden müssen, namentlich
entsprechende Aufbewahrung in feuersicheren, hellen, gut ventilierten Räumen,
Bestellung entsprechend vorgebildeter imd bezahlter Archivare, Trennung von
Archiv und Registratur, Erwerbung solcher Urkunden und Akten, die im
Privatbesitz sind, wenn nicht als Eigentum, so doch als Depositum oder
wenigstens in Abschrift Auch für die Ordnungsarbeiten an einem bisher
vöUig unberührten Archive und dessen Repertorisienmg werden beherzigens-
werte Winke gegeben. Ein recht dankenswertes Verzeichnis der Zeitschriften
sowohl als der Monographieen und Aufsätze über Fragen des ArchivwesoM
^eoanntea Zeitschrift za erwarten, und zwar soll nach freondlicher Mitteilung de«
«O. Dobenecker (Jena) der Amtsgerichtsbezirk Jena den Anfai^
i) VgL diese ZeiUchrift L Band, S. 2$, 247^348.
— 298 —
schliefst die kleine Schrift Ihre Bedeutung liegt neben dem vielseitigen In-
halte, den jeder Archivar gern imterschreiben wird und der sich überall da
verwerten läfet, wo gern öffentliche Mittel für ein Archiv in Anspruch ge-
nommen werden möchten, in der Versammlung, vor der der Vortrag gehalten
worden ist Überall finden ja gelegentlich Versammlungen von Stadtoberhäuptem
statt, imd derartige Zusammenkünfte bieten jedenfalls die günstigste Gelegen-
heit, um diesen in erster Linie interessierten Personen die berechtigten Forde-
rungen der Archivwissenschaft vorzutragen. Wenn dies wiederholt geschieht»
so werden die günstigen Folgen nicht ausbleiben, denn in recht vielen Städten
sind in neuester Zeit schon Archive eingerichtet und Archivare bestellt worden,,
und andere werden folgen. — Wie gerade in Thüringen das Interesse für
die Archive stetig wächst, zeigt neben Mühlhausen, was einen eigenen
Stadtarchivar bestellt hat, Saalfeld, wo die fachmännische Ordnung des
Archivs ins Werk gesetzt ist (vgl. oben S. 139/140). In Pöfsneck hat schon
früher Prof. Koch-Meiningen die Arbeit erledigt, und auch für das städtische
Archiv in Rudol Stadt ist die Ordnung in bestimmte Aussicht genommen.
Der 12. Mai sah die diesjährige Hauptversammlung des Thüringer
Archivtags*) in Mühlhausen. Nach einigen Gedächtnisworten für zwei im
letzten Jahre verstorbene Mitglieder, Archivrat Schmidt -Arnstadt und Prof.
Beyer- Erfurt, wurde in die Verhandlungen eingetreten. Geh. Hofrat B u r k -
har dt- Weimar war leider durch Unwohbein am Erscheinen verhindert, sein
Vortrag über Aktenkassation fiel deshalb weg, aber Archivrat S c hm i d t- Schleiz.
entschädigte durch einen Bericht über den ersten Archivartag in Strafsburg,
und Prof Bühring behandelte im besonderen die auf dem zweiten Archivar-
tage in Dresden 1 900 lebhaft besprochene Frage *) der Aktenvemichtung. Der
Handschriflenerhaltung durch Zapon widmete Prof. Bangert -Rudolstadt
erneute Aufmerksamkeit: namentiich koimte er feststellen, dafs bei seinen
Versuchen Zapon auf Pergament, dessen Schrift mit Reagenzien behandelt
worden war, zur Erhöhung der DeuUichkeit beigetragen hat Pastor Oergel-
Erfurt erzählte von den Schicksalen des Erfurter Stadtarchivs und dessen Neu-
einrichtung durch Beyer, Vater und Sohn *). Nach Heydenreichs Vortrag
über das Mühlhäuser Stadtarchiv, dessen Geschichte und Beschreibung eine
vom Altertumsverein dem Archivtag gewidmete Festschrift enthält, wurde das
Archiv und namentlich die ständige Archivausstellung besichtigt. Die Thätig-
keit des Thüringer Archivtags ist darauf gerichtet, die archivalischen Schätze
zu sichern und zu heben. Zu diesem Behufe schien es zweckmäfsig, eine
Verbindung der im Westen der Provinz Sachsen gelegenen Archive mit der
Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt herbeizuführen. Im Emverständ-
nis mit dem Vorsitzenden der Kommission wird deshalb der Archivtag bei
dem dafür zuständigen Provinzialausschufs den Antrag stellen, dafs ein Archiv
im westiichen Teile der Provinz dauernd in der Kommission vertreten sein^
möge. — Zum Obmann für das kommende Jahr wurde Archivar T reff tz-
i) Vgl. daiüber diese Zeitschrift I. Bd., S. 25 nnd 247.
2) VgL den Aufsatz von W. Lippert oben S. 249—264.
3) Eine genaue Inhaltsangabe der für Erfurt sehr wichtigen Zusammenfassung findet
•ich im Korrespondenzblatt des Gesamtrereins 1901, S. 95 — 97.
— 299 —
Weimar erwählt, dem Prof. Georges -Gotha und Stadtarchivar Gutbier-
Langensalza als Beisitzer zugesellt wurden. Versammlungsort im Jahre 1902
soll Weimar sein.
Wachstafeln« — Wie die stilistische Form einer geschichtlichen Auf-
zeichnung, die angewandte Rechtschreibung u. a. oft für die sachliche Ver-
wertung von Wichtigkeit ist, so sind es nicht minder die Seh reib Stoffe.
Haben diese schon an sich für die Geschichte des Schreibwesens und damit
für einen recht wichtigen Teil der Kulturgeschichte im engeren Sinne eine
nicht zu verkennende Bedeutimg als tmmittelbare Quellen, so ist aus ihnen nicht
selten auch zu erkennen, welcher Wert einem Schriftstück in der Kanzlei,
wo es entstand, beigemessen wurde. Das Pergament als gewöhnlichster
Schreibstoff für Urkunden im Mittelalter wurde seiner Dauerhaftigkeit wegen
bevorzugt. Wenn eine Urkunde in Stein gehauen imd dieses Denkmal an
einem allgemein zugänglichen Orte — etwa am Rathause oder in einer
Kirche — aufgestellt wird, so ist es sicher, dafs der Urheber den Wunsch
hegte, den Inhalt allgemein und dauernd bekannt zu machen. Im Gegensatz
dazu war im Altertum für vorübergende Aufzeichnimgen , z. B. auch für
Schülerschreibübungen, die Verwendung der Wachstafeln aUgemein und
auch aus dem frühen Mittelalter sind noch recht zahlreiche Exemplare er-
halten ') , obwohl ja bei der Eigenschaft des Wachses imd dem von vorn-
herein vorübergehenden Zwecke im ganzen die erhaltenen Stücke nicht allzu
zahlreich sein können. Wattenbach hat aus der Litteratur und aus Ab-
bildungen eine Menge Belege zusammengebracht, welche beweisen, in welchem
Umfange die Wachstafel im Mittelalter beim Schreiben Verwendung fjwd^
aber er hat auch die verschiedenen Mitteilungen zusammengestellt, welche
über Aufzeichnungen meist des XIV. und XV. Jahrhunderts, die auf Wachs-
tafeln überliefert sind — es sind meist Rechnungen, Steuerlisten, Konzepte
u. dgl. — , in der Litteratur zu finden sind *). Die Dresdener auf Wachs-
tafeln verzeichneten Hauptergebnisse der Jahresrechnung, die nach O. Ri ch ter :
Verfassungs- und Verwaliungsgeschichte der Stadt Dresden, I. Bd. (1885),
S. 155, aus den Jahren 1437 — 1456 vorhanden sind, hat Wattenbach über-
sehen, ebenso die Danziger ^), aber gewifs läfst sich noch mancher
andere Nachtrag zu seiner Liste beibringen. Doch dazu ist es
erforderlich, dafs überall, wo sich solche Wachstafeln finden, eine Be-
schreibung mit genauer Verzeichnung des Inhalts gegeben wird. Erst wenn
eine solche möglichst vollständige Zusammenstellung erfolgt ist, wird sich zeigen,
i) Vgl. W. Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter, Dritte vermehrte
Auflage. Leipzig, S. Hinel, 1896. S. 51 ff.
2) £5 sind folgende Städte als Ursprungsstellen genannt: Arnstadt, Brandenburg,
Delitzsch, Dortmund, Erfurt, St. Gallen, Goslar, Götweih, Hamburg, Hannover, Jauer,
Königsberg, Lauenburg in Hinterpommem , Leipzig, Liegnitz, Nordhausen, Nürnberg,
Fölling, Regensburg, Rottenbnrg, Strafsbnrg, Umstadt und Unterlinden bei Colmar.
3) Vgl. deren Beschreibung von Bertling in der „Zeitschrift des Westpreufsischen
Geschichtsvereins'' ii. Bd. (1884), S. i — 61, der sich schon 1881 mit den Kopenhagener
Wachstafeln beschäftigt hatte. Ebenda 4. Bd., Seite 34 ff. In Kopenhagen werden Proto-
Uber JH^tsverhandlnngen 1373 — 14 19 ans 2 Verwaltungsbezirken der Deutsch-
ranzig, auf Wachstafeln verzeichnet, aufbewahrt. Die Danziger Tafeln
irichtsprotokoUe 1368 — 14 16 aus der Stadt Danzig.
22»
In beschatugt
r tt^tsver
>— ^^^^^anzi
— 300 —
bis zu welcher Zeit und in welcher G^end sich die Wachstafeln am längsten
im Gebrauch erhalten haben. Als Kuriosum ist wohl nur zu erwähnen, dals
die Saline in Halle a. S. bis 1783 und die zu Schwäbisch-Hall sogar bis 18 12
sich ihrer bedient hat, während im allgemeinen wohl nach 1500 ihr Gebrauch
niu* vereinzelt anzutreffen sein wird. In Leipzig verlangt die undatierte,
aber ganz sicher um 1500 anzusetzende Ratsordntmg ^), dais der Stadtschreiber
in jeder Ratssitzung eine weehsene tafel für vorübergehende Au&eichnungen
zur Hand hat Nach den von Wattenbach erwähnten Städten zu schliefsen,
könnten sie in Norddeutschland länger im Gebrauch gewesen sein als im
Süden. Da durch ihren Wegfall der Papierverbrauch entschieden gewachsen
ist, so lassen sich die entsprechenden Beobachtungen auch in dieser
Richtung verwerten, insofern sich ergiebt, wie allmähUch das überall
erzeugte Wachs von dem nur an verhältnismäfsig wenig Orten fabrizierten
Papier, das der Handel verbreitet, verdrängt wird. Nach Wattenbach
erscheinen Papiermühlen in Deutschland zuerst in der Nähe von Maiiu
1320, in Nürnberg*) 1390, in Ravensburg, das als Fabrikort fUr Papier
später bei weitem am bekanntesten war, 1407, in Basel 1440 u. s. w.
In Kempten, welches später eine bedeutende Papier£äbtikation hatte, wurde
seit 1477 dieser Gewerbszweig betrieben'). In Sachsen ist die erste Papier-
mühle, die das Papier fUr die herzogliche Kanzlei Uefern sollte, vor 1500
an der Weiseritz angelegt worden, imd später ist diese in den Besitz der
Familie Schathirt übergegangen. Näheres ist leider unbekannt, da diese That-
Sachen erst aus Akten des Jahres 1577 erschlossen werden müssen ^). Bereits
1398 hatte das Benediktinerkloster zu Chemnitz ein Privileg zur Anlage einer
Papiermühle erhalten, ob aber wirklich eine solche entstanden ist, bleibt
ungewifs. Nach 1500 ist dann bald eine Papierfabrik in Zittau (15 10) und
eine in Zwickau (1523) bezeugt^), und die Familie Schafhirt gründete
eine zweite 1540 zu Freiberg, sodafs also in jener Zeit die Fabrikation zu-
sehends wachsen mußte. Gründer der Zwickauer Fabrik war bezeichnender
Weise ein Augsburger namens Hans Schönsperger. In einem Leipziger Kauf-
mannsladen *) gab es im Jahre 1503 vier Sorten Papier, nämlich Baffelspurger
(Ravensburger), muten schlenglein (mit dem Wasserzeichen des Schlängleins ^),
i) G. Wostmann: Quellen zur Geschichte Leipzigs, IL Bd. S. 145, 146.
2) Der bekannte Nürnberger Patrizier Ulmann Stromer (f 1407) hinterläst
anter anderem auch eine 1390 gegründete Papierfabrik: GUissmül^ do man papier
machety Chroniken der deatschen Städte L (1862), S. 206. S. 77, 80, 474.
3) Vgl. die erst neaerdings erschienene, recht lehrreiche Geschichte der alten
Papiermühlen im ehemaligen Stift Kempten und in der Reichsstadt Kempten von
Friedrich von Höfsle. (Kempten, Kösel 1901.) S. 16.
4) Vgl. Archiv fUr die Sächische Geschichte, i. Bd. (1863), S. 330 ff.
5) Ebenda. 2. Bd. (1864), S. 22a. — Eine Papierfabrik in Hermsdorf war bereits
vor 1557 entstanden, and 1574 warde die Errichtung einer solchen in Lohmen geplant.
VgL Nenes Archiv für Sächsische Geschichte. 15. Bd. (1894), S. 109.
6) Anzeiger für Kande der deutschen Vorzeit N. F., 28. Jahrg. (1881), Spalte 302
Im Grolshandel kam Papier schon im Anfang des XV. Jahrhonderts nach Leipzig and
zwar war die kleinste Menge, welche der Grofshändler dem Kleinverkäofer abgeben durfte,
zwei Ries. So verordnet es die „Tafel in der Wage". VgL Siegfried Moltke:
Die Leipaiger Kramerinnung im XV, und XVI, Jahrhundert, Leipzig 190I. S. 177.
Über die Verbreitung des Papieres im XIV. Jahrhundert stehe H. Bresslan, Handbuch
der Urkundenlehre I (1889) S. 895.
7) Aus dem genannten Buche über die Kemptener Papierindustrie ist zu ersehen.
— 301 —
papir krön (wohl Wasserzeichen der Krone) und papir regal. Unter letzterem
(realis, regalis) ist nach Wattenbach S. 142, Anm. i, die beste Qualität
zu verstehen, und erst allmählich dürfte das bei dieser Qualität zufallig
oft vorhandene grofse Format (Royal - Folio) damit bezeichnet worden sein.
Die vollständige Ablösung des Wachses durch das Papier dürfte auch
der um 1500 eingetretene Umschwung in der Bienenzucht begünstigt haben;
denn während der Honig vorher das vorherrschende Süfsimgsmittel war,
begann nunmehr der zwar auch vorher nicht völlig imbekannte Zucker ^)
ihn als solches mehr tmd mehr zu verdrängen. Dies mufste die Bienen-
zucht in der Rentabilität herabdrücken und damit auch die Wachsgewinnimg
mindern.
Die Leipziger Wachstafeln sind jetzt bearbeitet und z. T. herausgegeben
von Hermann Freytag im Neuen Archiv ftlr sächsische Geschichte,
Bd. 20 (1899), S. 206 — 245. Die Amstädter Wachstafeln von 1457 hat
die dortige Museumsgesellschaft herauszugeben beschlossen. Sie sind bereits
von Archivrat Schmidt (f) und Prof. Bühring vollständig entziffert,
bestehen (wie letzterer in der Jahreshauptversammlung der Gesellschaft Ende
Januar mitteilte) aus 1 1 grofsen Buchenbrettem mit 1 9 beschriebenen Seiten,
die durch eine Zwischenleiste aus Holz in Halbseiten eingeteilt und 2 bis
5 mm tief mit schwärzlichem Wachs ausgeftillt sind. Den Inhalt bilden
Geschofs-, d. h. Steuerlisten, welche die von der städtischen Kämmerei zu
erhebenden Einnahmen aus Häusern, Grundstücken und Gewerben verzeichnen.
Hinter dem Namen des Steuerzahlers steht das Steuersoll. Die Stadt zählte
danach 673 Haushaltungen, darunter 63 mit weiblichem Haushaltungsvorstand.
Dazu kommen 69 auswärtige Steuerzahler. Das gesamte Steuersoll bezifferte
sich auf 2092 Schock Groschen. Die Gruppierung der Bewohner nach
ihrem Vermögen verspricht wesentlich neue Aufschlüsse. A. T.
Kominlssloneil* — Am n.Mai hielt die Historische Kommission
für Hessen und Waldeck *) in Marburg ihre vierte Jahresversammlung ab.
Im Berichtsjahre ist der erste Band der Hessische» Landtagsakten, bearbeitet
von Hans Glagau, (Marburg, Elwert 1901. M. 14) und F. Herrmann:
Das Interim in Hessen, ein Beitrag zur Refannaiiansgeschichte , (Marburg,
Elwert 1901. M. 4), und vom Hessisctien TraclUenhitcJi die zweite Lieferung
ausgegeben worden. Die übrigen im Vorjahre besprochenen Veröffentlichungen
sind sämtlich mehr oder weniger gefördert worden, im besonderen hat mit
dem Drucke des Fuldaer Urhindenbuches, welches Prof. Tan gl bearbeitet,
nunmehr bereits begonnen werden können. Für das Ortslexikon sind die
wieviel „Schlangenpapier' gemacht wnrde, z. B. in Memmingen ist es 1529 — 1568
nachweisbar.
i) VgL Handbach der StaaUwissenschaften (i. Aufl.) VI. Bd. S. 865. Aaf den
Kanarischen Inseln wurde £u Ausgang des Mittelalters Zuckerrohr gebaut. Bereits 15 15
kam amerikanischer Zucker nach Spanien. 1502 wurde in Frankfurt a. M. ein Zentner
Hutzucker mit 201,6 Gramm Silber bezahlt, d. h. mit 40,3 Reichsmark, wobei natürlich
die viel gröfser« Kaufkraft dieser Summe gegentiber dem heutigen Gelde zu berück-
sichtigen ist Vgl. Alfred Köberlin: Der Oöermm'n als Hanäelsstrafse (1899) S. 65.
Doch verdienen aUe Angaben über das Auftreten des Zuckers im XV. und XVI. Jahr-
hundert sorgfaltigste Beachtung.
2) VgL diese Zeitschrift 1. Bd., S. 298.
— 302 —
Arbeiten gemäfs der mitgeteilten „Vorschläge für die Ausarbeitung historischer
Ortschaftsverzeichnisse " ^) bereits wesentlich gefördert worden, aber ein Termin
für die mutmaisliche Vollendung des Werkes lälst sich nicht angeben. Auf
die Herstellung eines Historischen Kartenwerkes über Hessen - Nassau^
Waldeck, Groisherzogtum Hessen und Aschaffenburg, welches das Ortslexikon
ergänzen soll, zielt eine vom Verein für Geschichte und Altertumskunde zu
Frankfurt a« M. ausgehende Anregung ab. Nach einer gemeinsamen Be-
ratung des Planes haben am 31. Januar 1901 die Historische Kommission ftir
Hessen und Waldeck, die Historische Kommission von Nassau, der Historische
Verein für Unterfranken und Aschaffenburg und der genannte Frankfurter
Verein den Behörden der betrefienden Gebiete eine Denkschrift eingereicht,
um die für dieses notwendige aber grofsartige Werk erforderlichen Mittel zu
beschaffen: die auf zehn Jahre zu verteilenden Kosten werden auf 50000
Mark veranschlagt Als neues Unternehmen wurde die Herausgabe von Urkund-
lichen Quellen zur Geschiclite Landgraf Philipps des Großmütigen beschlossen,
deren Bearbeitung Prof. Brandi und Archivar Küch übernommen haben:
bis 1904 hoffen sie den ersten Band fertigzustellen. — Die Jahresrechnung
zeigt eine Einnahme von 17 133 M., der nur eine Ausgabe von 5679 M.
gegenübersteht. In den Vorstand ist neu eingetreten Oberbürgermeister
Müller in Kassel und Generalmajor z. D. Eisentraut als Vorsitzender
des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Gegenwärtig hat
die Kommission 4 Stifter, 43 Patrone und 76 Mitglieder.
Die Historische Kommission für Nassau, über welche in dieser
2^itschnft bisher noch nicht berichtet wurde, hat ihren dritten und vierten
Jahresbericht Ende März 1901 ausgegeben. Bestimmend für diese Zusammen-
fassung war die Absicht, das Geschäfts- und Rechnungsjahr mit dem i . April
zu beginnen, während der zweite Bericht bis Mitte August 1900 geführt hatte.
Die Arbeiten, welche sich die Kommission vorgenommen hat, sind die Ver-
vollständigung des Nassauischen Urkundenbuchs durch Archivassistent
Schaus, die Herausgabe der Nassauischen Weistümer, die Archiv-
direktor Wagner besorgt, die Herausgabe des Eppsteinschen Lehn-
buchs aus dem Ende des XIII. Jahrhunderts, dessen Bearbeitung durch
Archivdirektor Wagner bereits so weit gefördert ist, dafs der Abschlufs 1 902 sicher
erfolgen kann, während die Herstellung einer Nassauischen Bibliographie
Bibliothekar Zedier vorbereitet. Auch die Inventarisation der kleineren Archive
wird geplant, aber bisher hat dieses Unternehmen noch nicht greifbare Ge-
stalt gewonnen. Als erster Band der „Nassau-Oranischen Korrespondenzen**
ist bereits 1899 (Wiesbaden, I. F. Bergmann) Der Kalzenelnbogische Bh-b folge-
streit von O. Meinardus erschienen, die erste Abteilung (176 S.) bietet die
geschichtliche Darstellung bis zum Tode des Grafen Heinrich von Nassau
('53^)» <^>e zweite (431 S.) Briefe und Urkunden 1518 — 1538. Ein zweiter
Band dieser Serie ist im Druck. Von den „ Quellenschriften zur nassauischen
Rechts- und Verfassimgsgeschichte " ist bis jetzt als erster Band Das älteste
Oerichtsbucli der Stadt Wie^sbaden, herausgegeben F. Otto (Wesbaden,
I) Vgl dieie Zeitschrift IL Bd., S. 91—94.
— 303 —
I. F. Bergmann 1900. 116 S. S\ M. 3), erschienen, als zweiter ist, heraus-
gegeben von demselben. Das Necrologium des Klosters Klarenthai bei Wies-
baden (ebenda 1901. 120 S. 8*. M. 3) gefolgt — Wichtiger noch als
die wissenschaftlichen Leistmigen ist für die Kommission ihre im Jahre 1 900
gesicherte finanzielle Grundlage: 1 899/1 900 hatten die Einnahmen nur
661 M. betragen, 1 900/1 901 sind sie auf 4257 M. gestiegen, deim es ge-
währen das Direktoritmi der KgL Preufsisdien Staatsarchive 1000 M, der
Kommunallandtag des Reg.-Bez. Wiesbaden 1500 M., die Kreise 290 M. die
Städte 695 M. Zuschufs, wozu sich die eigenen Einnahmen der Kommission
von ihren Gönnern, aus dem Erlös der Schriften u. s. w. gesellen. Im
letzten Rechnungsjahre steht den Einnahmen von 9 1 1 2 M. nur eine Ausgabe
von 2000 M. gegenüber, so dafs über einen Kassenbestand von 7 112 M.
verfügt wird. Vorsitzender ist nach dem Weggange des Archivdirektors
Meinardus Professor Otto geworden, Gönner werden 3, Mitglieder 76
gezählt. Da das Necrologiiun des Klosters Klarenthai in anderem Zusammen-
hange besprochen werden wird, sei hier nur das Wiesbadener Gerichtsbuch
kurz erwähnt
Dieses Gerichtsbuch gehört in die Jahre 1554 bis 1560, ist abo ver-
hältnismäfsig jung, es kamen in dieser Zeit 196 Verhandlungen an 26 Ge-
richtstagen vor. Dem Texte des Buches (S. 51 — 108) geht eine historische
und rechtsgeschichtliche Einleitimg mit zwei Anhängen (die Gerichtstage,
die Schöffen) voraus, S. i — 48, während ein Register der Namen (S. 109
bis 116) und ein kurzes Verzeichnis einiger Worte der Rechtssprache die
Veröffentlichung abschUefsen. Der Inhalt eines derartigen Gerichtsprotokoll-
buchs ist an sich einförmig tmd wenig reizvoll, aber er zeigt auf der andern
Seite, wie die Masse des Volkes lebte und in welchen Fällen sie mit dem
Gericht in Berührung kam, nämlich zum Schutze des Eigentums an Grund
und Boden oder Renten. Der Nachdruck bei der Veröffentlichung liegt fUr
den Forscher, den mehr als das rein örtliche Interesse zu einer Durchsicht
reizt, in der Einleitung, denn hier ist der ganze Stoff übersichtlich zu einer
Darstellung verarbeitet. O. verbreitet sich über Gerichtsbücher im allge-
meinen, das vorliegende im besonderen, die in Wiesbaden bestehenden Ge-
richte und ihre Kompetenzen, die Verfassung des Schöffengerichts, den
Schultheifs und Büttel. Klagen kann jeder vor dem Gericht, aber der Be-
klagte mufs im Bezirke angesessen sein, im übrigen ist jedoch Stand und Ge-
schlecht ohne Emflufs (S. 19). Oft treten Anwälte auf, Gerichtstage giebt es
nicht über fünf im Jahre, der Gerichtsort ist das Stadthaus. Dem Ver-
fiüiren liegt die „ Gerichtsordnung " zu Grunde, die leider nicht erhalten ist,
aber um 1500 entstanden sein mufs. Das römische Gerichtsverfahren
beeinflufst das deutsche recht wesentlich, insonderheit zeigen sich Anfänge
des schriftlichen Verfahrens (S. 31). Alle diese Einzelheiten lassen Blicke in
das Rechtsleben der Zeit thun imd zwar auf Gnmd von Einzelfällen, nicht
aus den abstrakten Ordnungen heraus, die natürlich viel leichter zugänglich
sind. Es handelt sich also bei den Gerichtsbüchem um eine bisher wenig
berücksichtigte Gattung von Rechtsquellen, die der allgemeinen Aufmerksam-
keit empfohlen werden mufs. Und zwar sind gerade hier die jüngeren
QueUen besonders wichtig, da wir bekanntlich im einzelnen über die Be-
einflussung des deutschen Rechtes durch römisch-rechtliche Anschauungen
— 304 —
noch wenig unterrichtet sind und die Gerichtsverfassung, wie sie sich in den
einzelnen Territorien im XVI. Jahrhundert ausgebildet hat, für die Folgezeit
bis ins XIX. Jahrhundert von entscheidendem Einflufs gewesen ist Mögen
also bald ähnliche Gerichtsbücher veröffentlicht und in gleich übersichtlicher
und umfassender Weise bearbeitet werden, wie es von Otto geschehen ist!
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde hat ihren Bericht
über das Jahr 1900 etwas verspätet ausgehen lassen, da sich der Druck
einer Beigabe länger, als angenonmien wurde, hinzog. Diese setzt die Inhalts-
tibersicht über die kleineren Archive der Rheinprovinz *) fort und bietet in
der Bearbeitung von Armin Tille diesmal (II. Bandes erstes Heft) die
Kreise Jülich und Mayen auf gerade 100 Druckseiten. Im übrigen sind die
Arbeiten an den Rheinischen Weistümem, den Landtagsakten von Jülich-Berg
erster und zweiter Reihe, den Kölner Universitätsmatrikeln, den erzbischöflich-
kölnischen Regesten, der Jülich'schen Politik Kur-Brandenburgs 1610 — 1614
und der Geschichte des Kölner Buchdrucks in stetem Fortgang begriffen.
Von den Rheinischen Urbaren ist der von B. Hilliger bearbeitete
erste Band, S. Pantaleon in Köln, im Druck vollendet, Namensverzeich-
nis und Glossar sowie die Einleitung abgeschlossen. Die Fertigstellung des
Textes der Werdener Urbare durch R. Kötzschke steht unmittelbar be-
vor. Die Einleitung dazu ist wesentlich entlastet, da sich der Bearbeiter in
einer eigenen Schrift: SiuMen zw VerwaUungsgcschidiie der Großgrurid^
herrschaft Werden an der liuhr (Leipzig, B. G. Teubner 1901. M. 6) über
die wichtigsten Fragen verbreitet hat, die in die Einleitung gehören würden.
Die mittelalterlichen Zunfturkunden der Stadt Köln, die
H. v. Loesch herausgiebt, befinden sich im Druck und gehen ihrem Ab-
schlufs entgegen. Der geschichtliche Atlas schreitet rüstig fort: die
kirchlichen Karten vor und nach der Reformation sowie die Territorialkarten
des Mittelalters hat W. Fabricius in Arbeit, während an den Staatsarchiven
zu Düsseldorf und Koblenz das QueUenmaterial systematisch fUr die Zwecke
des Atlasses durchforscht wird. Der erläuternde Text zur Geschichte
der Kölner Malerschule von Prof. Aldenhoven ist unter der Presse,
die vierte Lieferung des Tafelwerkes vollendet Die Regesten zur Ge-
schichte der Rheinlande aus dem Vatikanischen Ar chiv 1294
bis I 43 I sind von Dr. Sauerland ^) fertiggestellt und schon zum Teil ge-
druckt, und endlich die Romanischen Wandmalereien der Rhein-
lande, die P. Giemen herausgiebt, werden voraussichtlich, Tafeln wie Text,
noch im Laufe des Jahres erscheinen können. Als neue Publikation hat
sich die Gesellschaft entschlossen, die ältesten Konsistorialakten der
deutsch -reformierten Gemeinde zu Köln 1572 — 1596 erscheinen
zu lassen: die Bearbeitimg hat Prof. Simons in Bonn übernommen. —
1) Vgl. diese. ZciUchrift I. Bd , S. 26.
2) Derselbe hat fUr die von der „ Gesellschaft für lothringische Geschichte und Alter-
tumskunde'' herausgegebenen Quellen zur lothringischen Geschichte als deren ersten
Band Vatikanische Urkunden und Regesten tur Geschichte Lothringens bearbeitet Die
erste Abteilung 1294 — 1342 liegt seit kurzem gedruckt vor (Metz, G. Scriba. 1901.
441 S. 4"). Es bedeutet eine grofse Arbeitserspamis, wenn ein Gelehrter für mehrere
Landschaften diese unbedingt notwendige Arbeit besorgt, da immer wieder dieselben Re-
gisterbände durchzusehen sind.
— 305 —
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 7, Patrone 124, Mitglieder 177.
Die Gesamteinnahme belief sich 1900 auf 33421 M., die Ausgabe nur
auf II 424 M., das Vermögen aber beziffert sich auf 105790 M.
Aus der Mevissen-Stiftung setzt die Gesellschaft fiir Rheinische
Geschichtskunde einen Preis von je 2000 Mark auf die Lösung folgender
Preisaufgaben :
1. Organisation und Thätigkeit der Brandenburgischen Landesverwaltung
in Jülich-Kleve vom Ausgange des Jahres 16 10 bis zum Xantener Ver-
trag (1614).
2. Die Entstehung des mittelalterlichen Bürgertums in den Rheinlanden
bis zur Ausbildung der Ratsverfassung (c. 1300). Verlangt wird eine
systematische Darstellung der Wandlungen auf politischem, rechtlichem und
wirtschaftlichem Gebiet, welche die bürgerliche Kultur in den Rheinlanden
seit dem 10. Jahrhundert heraufgeftihrt haben. Besondere Aufmerksamkeit
ist dabei der Verteilung und den Rechtsverhältnissen des Grundbesitzes so-
wie den Wechselbeziehungen der Rheinlande mit den Nachbargebieten, vor
aUem mit der kommunalen Bewegung in Nordfrankreich und den Nieder-
landen zuzuwenden.
3. Konrad von Heresbach und seine Freunde am Klevischen Hofe,
mit besonderer Berücksichtigung ihres Einflusses auf die Regierung der
Herzöge Johann imd Wilhelm.
Bewerbungsschriften sind ftir i und 2 bis zum 31. Januar 1904, ftir
3 bis zum 31. Januar 1905 an den Vorsitzenden, Archivdirektor Professor
Dr. Hansen in Köln einzusenden.
Vereine. — Ein Historischer Verein für Schwabach und
Umgegend ist neuerdings (1901) entstanden, er zählt schon 58 Mitglieder,
die I Mark Mitgliedsbeitrag entrichten. Erster Vorsitzender ist Dekan
Dr. Herold.
Der Harzverein für Geschichte und Altertumskunde, der
mit dem Sitze in Wernigerode seit 1868 besteht, besitzt in einer grofsen An-
zahl von Orten „Ortsvereine", und so auch seit 1873 in Braunschweig
und WolfenbtitteP). Dieser letztere hat nun in seiner Sitzung vom
6. Mai 1901 beschlossen, sich selbständig zu machen tmd einen Geschichts-
verein für das Herzogtum Braunschweig zu gründen. Das Ver-
mögen des Ortsvereins wird Ende 1901 dem neuen Vereine tiberwiesen werden,
der Vorstand bleibt in seiner bisherigen Zusammensetzung bestehen, Vor-
sitzender ist Archivrat Zimmermann. Im Braunschweigischen Magazin
(Braunschweig, Julius Zwifsler, erster Jahrgang 1895) besafs der Ortsverein
bereits bisher neben der Zeitsehrift des Harzvereins für OeschiMe und
AUertumskunde ein, wenn auch nicht rein geschichtliches, eigenes Organ,
obwohl es äufserlich nicht als solches bezeichnet war. Mit der Neugestaltung
des Vereins zu Braunschweig tritt mm auch dieses Herzogtum in die Reihe
i) Einen Überblick über die Geschichte des Vereins während der ersten 25 Jahre
seines Bestehens giebt Zimmermann im Braonschweigischen Magazin 4. Bd. (1898),
S. 185—192.
— 306 —
der Staaten em^ die eine das ganze Land tunspannende geschichtsforschende
Vereinsorganisation besitzen.
Der Historische Verein für das Grofsherzogtum Hessen,
der schon seit 1834 besteht, hat auf eine Anregung von kirchlicher Seite
hin eine Abteilung für hessische Kirchengeschichte ins Leben
gerufen. Zum Vorsitzenden derselben ist Pfarrer Lic. Dr. Die hl in Hirsch-
hom gewählt worden. Es ist dies eine glückliche Lösung des auch in diesen
Blättern wiederholt ^) ausgesprochenen Gedankens, die kirchengeschichtliche
Forschung in beschränkten Gebieten intensiv zu betreiben, glücklich vor allem
deswegen, weil die alte und angesehene Organisation, ihre Erfiüirung imd
hire Mittel für das neue Unternehmen so viel besser nutzbar gemacht werden
können, als wenn ein ganz selbständiger Verein ins Leben tritt In der
Grafschaft Mark, wo seit 1897 ein Verein für die evangelische Kirchengeschichte
blüht , mochte sich dieses Verfahren allerdings mehr empfehlen , weil dort
eine AngUederung an den Historischen Verein für Dortmund und
die Grafschaft Mark, der seit 1872 besteht, wohl Schwierigkeiten ge-
habt haben würde.
Der Bergische Geschichtsverein, der seit 1863 mit dem Sitze
in Elberfeld besteht, verfügt über 1869 einen Zweigverein in Barmen.
Letzterer verfügt über Bibliothek, Archiv und beträchtliche Sammlungen, aber
erst im Jahre 1900 hat er in der „Ruhmeshalle" eine eigene sichere und
dauernde Heimstätte gefunden und sich seitdem zusehends weiter entwickelt,
namentlich haben sich seine Sammlungen durch Geschenke reichlich vermehrt
Die Stiftung eines Privatmannes (A. Molineus) gewährte dem Verein die
Mittel, tun das zur Unterbringtmg seines Besitzes notwendige Mobiliar in
genügender und würdiger Weise zu beschaffen, zu den Kosten gewährte im
Jahre 1900 die Stadt Barmen ein Zuschufs von iioo M., so dafs die Zu-
kunft des Vereins nicht nur gesichert ist, sondern dafs auch gröfsere Atif-
wendtmgen gemacht werden köimen.
Über den Plan des Vereins für Geschichte und Altertümer
der Herzogtümer Bremen und Verden und des Landes Hadeln,
in Stade ein Musetmi zu errichten, wurde schon früher berichtet*). Ntm-
mehr sind bereits die Entwürfe zu dem Bau, der 36000 bis 38000 Mark
kosten dürfte, vorgelegt und genehmigt worden. Somit scheint die Zeit für
den Beginn des Baues selbst ntm bald gekommen, voratisgesetzt, dafs die
Untersuchung des Batigrundes genügend erfretiliche Ergebnisse liefert
Prenf sisehes Historisches Institut In Rom. — Nachdem P. Leo XIII.
die vatikanischen Archive der gelehrten Forschtmg freigegeben hatte, wurde 1888
vornehmlich atif das Betreiben Heinrichs von Sybel vom pretifsischen Kultus-
ministerium eine „historische Station" in Rom errichtet Sie erhielt 1890
1) VgL oben S. 33—40 den Aufsatt Ton O. Clcmcn Parttal - Kirchengeschichte
and die ErgänzoogeD dazu S. 141 and S. 203 — 210.
2) VgL I. Band, S. 248.
— 307 —
«ine festere Organisation und den Namen eines KgL preufsischen historischen
Instituts (Via della Dogana Vecchia 29, Palazzo Giustiniani) und wurde
1898 auf den Etat der preufsischen Arcfaiwerwaltung übertragen. Man ging
«dabei lursprünglich in Berlin wie auch anderwärts von der Vorstellung aus,
<lafs die Öf&ung der päpstlichen Archive mit dem Pontifikat Leos XUI. ihr
£nde erreichen würde, und teilte die damals ganz allgemein gehegten über-
triebenen Erwartungen von der Bedeutung der zu hebenden Schätze. Dem-
-entsprechend wurde deren Ausbeutung die vornehmste Au%abe der Instituts-
beamten und sie haben darin, zumal bei der beschränkten Arbeitszeit in Rom,
durchaus anerkennenswertes geleistet. Je deutlicher es sich indessen alsbald
herausstellte, dafs eine Schliefsung der Archive nicht mehr zu befürchten sei,
um so mehr drängten gar viele Geschichtsforscher auf eine Erweiterung der
Aufgaben des Instituts und bereits 1896 erklärte K. 'fh. v. Hei gel auf dem
4. deutschen Historikertage zu Innsbrudc, dafs „dies am leichtesten zu erreichen
wäre, wenn das preufssche Institut in Rom in ein ... . deutsches verwandelt
würde." Auch der nächste Historikertag (Nürnberg, 1898) beschäftigte sich
mit dieser Frage, mufste aber angesichts der damsüs bestehenden Verhältnisse
jedes umfassendere Programm als z. Z. unerreichbares Ideal bezeichnen. Erst
seitdem im Jahre 1 900 die Meldung von einem Wechsel in der Leitung des
Instituts durch die Tageszeitungen ging und mehrfach dementiert und erneuert
wurde, wandte sich die Aufmerksamkeit der Fachgenossen aufs neue den
Verhältnissen des römischen Instituts zu imd tauchte der Plan, das preufsische
Institut in ein reichsdeutsches zu verwandeln, wieder auf. Bereits am
II. Januar 1901 erschien in der Beilage der Allgemeinen Zeitung (München)
ein Aufsatz, der diese Forderung stellte, und sie schien gewissermafsen in
der Luft zu liegen, da, wie nachträglich bekannt geworden ist, auch bei der
Münchener Akademie der Wissenschaften eine ähnliche Anregimg von anderer
Seite erfolgt war. Praktische Gestalt gewann jedoch der Vorschlag erst, als
die Marburger Professoren G. v, Below, K. Brandi und G. Frhr. v. d. Ropp
eine Eingabe an den Reichskanzler ausarbeiteten und unter dem 5. März
den reichsdeutschen Historikern in den verschiedensten Stellungen zur Unter-
zeichnung vorlegten ^). Sie fand im grofsen und ganzen in kaum 14 Tagen
eine rückhaltlose Zustimmimg von seltener Einmütigkeit, und so konnte unter
Berücksichtigung einiger Berichtigungen bereits am 20. März folgende Eingabe
an den Reichskanzler gerichtet werden:
Hochgebietender Herr Reichskanzler!
Euer Excellenz beehren sich die unterzeichneten deutschen Historiker
die Bitte um Errichtung eines Historischen Reichsinstituts in Rom mit
folgender Begründung zu unterbreiten.
Das Eingehen der Abteilung des Repertorium Germanicum und die
. Ankündigung eines Wechsels in der Leitung bei dem preufsischen historischen
Institut in Rom haben seit Monaten einen lebhaften privaten und publi-
cistischen Gedankenaustausch in der gelehrten Welt hervorgerufen. Die
öffentliche Revision der Einrichtungen dieses Instituts hat bei aller An-
erkennung seiner bisherigen Leistungen doch zu der allgemeinen Ep^*'^
i) Vgl. die Bemerkungen in der „Hbtorischen Zeitschrift*' 86. Bd.,
BeUage zar „Allgemeinen Zeitang*' Nr. 77 vom 3. April 1901.
— 308 —
nis seiner Reformbedürftigkeit geführt, und zwar sowohl im Hinblick auf
nationale wie auf wissenschaftliche Erwägimgen. Wir beabsichtigen an
dieser Stelle keine Kritik der inneren Arbeit des Instituts. Wohl aber
glauben wir als Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft zu einem
Urteil berufen zu sein über die bisherige Bedeutung des Instituts für das
Gesamtleben unserer Wissenschaft, wie über seine Stellung gegenüber der
gelehrten Welt des Auslands. Dafs uns für beides der Vergleich mit
anderen deutschen und ausländischen Instituten zu Gebote steht, giebt
imserer Beurteilung einen Mafsstab und unseren Wünschen die Gewähr
der Durchführbarkeit •
Die Idee des Historischen Instituts in Rom stand zunächst in un-
mittelbarer Beziehung zur Ofihung des Vatikanischen Archivs durch Papst
Leo XIII. Als die Arbeiten des Instituts begonnen wurden, erschien all-
gemein als die lohnendste Aufgabe die Publikation der Berichte päpstlicher
Nuntien aus Deutschland während des XVI. und XVII. Jahrhunderts.
Man nalun sie alsbald in Angriff und seitdem ist das Institut vorwiegend
ein Publikationsinstitut geblieben; mit Stolz blickt es auf die stattliche
Reihe der von ihm herausgegebenen Bände der Nuntiaturberichte, auf den
Anfang des Repertorium Germanicum und auf die ersten Jahrgänge der
„Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.**"
Niemand verkennt die Bedeutung der Herausgabe vor allem jener Nuntiatur-
berichte für die Geschichte des Reformationszeitalters, doch sind darüber
Arbeit und Mittel derartig in Anspruch genommen worden, dafs das In-
stitut zu einer umfassenderen Wirksamkeit niciht gelangen konnte und auch
nur in beschränktem Mafse in der Lage war, die Arbeiten der Einzelnen
wie der deutschen gelehrten Gesellschaften durch Beiträge und Auskunfts-
erteilung zu unterstützen.
Inzwischen haben wir den Ruhm, die seit Jahrhunderten umstrittenen
Urkunden für die mittelalterlichen Beziehungen zwischen den Päpsten und
den Kaisern aufzuspüren, die bis dahin völlig vernachlässigte Diplomatik.
der Papsturkunden zu begründen, und die ersten sicheren Kenntnisse von
der päpstlichen Verwaltungs- und Finanzwirtschaft des späteren Mittelalters-
zu gewinnen, dem Vorstande des österreichischen Instituts und seinem.
Kreise überlassen. Auch das grofse Göttinger Unternehmen der Edition
aller älteren Papsturkunden und die damit zusammenhängende umfassende
Durchforschung italienischer Archive und Bibliotheken hat sich ohne jeden
Zusammenhang mit dem preufsischen Institut entwickeln müssen. Während
das historische Institut der Görresgesellschafl uns mit den originalen Quellen
zur Geschichte des Konzils von Trient beschenkt, haben die französische
£cole de Rome und das Istituto Austriaco unter Leitung der hervor-
ragendsten Forscher ihrer Länder und unter Heranziehung häufig wechseln-
der jüngerer Kräfte der Wissenschaft im Grofsen und im Kleinen die be-
deutendsten Anregungen gegeben. Das preufsische Institut dagegen hat
sich durch die Festlegung auf seine Publikationen und die damit zusanunen-
hängende Wertschätzung dauernder Mitarbeiter der stets frischen Initiative
des Leiters und der Jahr für Jahr auf eine Elite junger Leute ausströmen-
den Anregungen bis zu einem gelassen Grade begeben. Gerade durch
das Fehlen jeglicher Beziehung auf die Fortbildung des Nachwuchses in
— 309 —
Wissenschaft und Schtüe unterscheidet sich das preufsische historische
Institut unseres Erachtens zu seinem Nachteil sowohl von dem deutschen
archäologischen Institute, wie von den historischen Instituten des Aus-
landes. Kann man auch das Studium des Historikers mit demjenigen
<ler Archäologen nicht auf der ganzen Linie vergleichen, so wird man
doch darauf hinweben dürfen, dafs die Mitglieder jener Institute seit
Jahren den unvergleichlich bildenden Einflufs eines Aufenthalts in der
ewigen Stadt imd des Gedankenaustausches über die verschiedensten
individuellen Arbeiten mit Nutzen und Freude an sich erfahren haben.
Ist also auf Grund der bisherigen Beobachtungen die Notwendigkeit
einer Reorganisation des Instituts gegeben, so würde der leitende Gedanke,
neben der Ausbeutung des vatikanischen Archivs, die möglichst umfassende
Erschliefsung aller italienischen Archive und Bibliotheken fUr unsere Ge-
rschichte , sowie die Anregimg tmd Weiterbildung ' einer Auslese jtmger
Historiker ohne Rücksicht auf deren spätere Verwendung sein müssen.
Daraus würde sich von selbst ergeben die allgemeinste, einheitliche Hilfe-
leistung für die Arbeiten einzelner deutscher Gelehrter wie für die grofsen
Unternehmungen in der Heimat. Für beides aber wäre die erste und
wichtigste Voraussetzung, dafs auch bei unserem historischen Institut die
Leitung einer bedeutenden und anregenden Persönlichkeit von begründetem
wissenschaftlichem Rufe übertragen würde, deren persönliche Autorität zu-
gleich die erwünschte nachdrückliche Unterstützung deutscher Forschung
durch das ganze Land hin allein ermöglicht.
Einer solchen Reorganisation des Instituts steht aber vor allem seine
aus etatstechnischen Gründen erfolgte Angliederung an die preufsische
Archivverwaltung im Wege, Denn in der kleinen Zahl älterer Archivare
wird es stets sehr schwer, oft ganz immöglich sein, eine für den römischen
Posten geeignete Persönlichheit ausfindig zu machen. Überhaupt erscheint
die Besetzung sämtlicher Stellen durch Angehörige der Archivverwaltung
weder für die Wissenschaft noch für die Archivverwaltung von grofsem
Nutzen. Endlich bedeutet die gegenwärtige Organisation die thatsächliche
Ausschliefsung der weit überwiegenden Menge deutscher Historiker, die
dem Lehrberuf an Hoch- und Mittelschulen dienen, von dem römischen
Institut, so dafs die bedeutenden Anregungen „römischer Lehrjahre'* der
Wissenschaft und der Nation nur in beschränktestem Mafse zugute kommen.
An sich wäre eine erspriefsliche Neuordnung schon im Rahmen eines
preufsischen Instituts ohne nennenswerte Steigerung des bisherigen Etats
durchführbar und dankbar zu begrüfsen. AUein angesichts der Thatsache,
dafs es sich bei den Arbeiten in Rom und in Italien durchaus um gesamt-
deutsche Interessen handelt, kann eine würdige Vertretung und zweckmäfsige
Förderung der deutschen Geschichtsforschung in Italien auf die Dauer
nur durch ein Reichsinstitut geschehen. Der bisherige Zustand brachte
«s mit sich, dafs neben einander tmd ohne nähere Fühlung preufsische
tmd bayerische, württembergische, sächsische, badische imd elsässische
Archivare imd Historiker die römischen Archive je im Auftrage ihrer
Landesregierungen für ihre landschaftlichen Publikationen ausbeuteten.
Begreiflicherweise arbeiteten sie alle mit unverhältnismäfsigem Aufwand an
Kräften und an Mitteln, ganz zu schweigen von dem unerfreulichen Ein-
— 310 —
druck, den die Zersplitterung der deutschen Arbeit dem Auslande hinter-
liefs. Dagegen würde durch die Vereinigung der bisher für einzehie Auf-
träge aufgewandten Mittel dem Reichsinstitut eine durchaus zureichende
Grundlage gegeben werden können, durch das Zusammenarbeiten und den
Wetteifer von Stipendiaten aus allen deutschen Landschaften der Wissen-
schaft wie dem Reiche gedient werden. Nicht zuletzt aber würde ei»
nach dem Vorbild des archäologischen Instituts und der Monumenta
Germaniae der Reichsregierung unterstelltes und mit Reichsstipendien aus-
gestattetes Historisches Institut sich erst des ganzen wünschenswerten An-
sehens im In- und Auslande erfreuen und damit ein lebensfähiges uud
lebenspendendes Organ der grofsen deutschen Wissenschaft wie unserer
internationalen Beziehungen sein;
Indem wir diese Darlegungen Euer Excellenz unterbreiten, geben wir
uns der Hof&ung hin, dafs es Euer Excellenz gefallen möge, Ihren Namen
auf immer zu verknüpfen mit der Schöpfung einer Institution, die nicht
nur der strengen Wissenschaft, sondern auch dem gegenseitigen Verständ-
nis der beiden durch alte Bande der Kultur verbundenen Nationen zu
dienen benifen sein würde. Euer Excellenz gehorsamste (folgen Unter-
schriften).
Eingegangene Bücher.
Dittrich: Böttichers Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler Ermlands
[= Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Jahr-
gang 1895. II. Bd., S. 261 — 327.)
Dufour Feronce, Albert : Hundertfünfzig Jahre einer deutschen Drogen-
handlung, 1750 — 1900. Ein Beitrag zur Geschichte ihrer Firma, heraus-
gegeben am 7. Februar 1900 von Brückner, Lampe & Co., Leipzig,.
Berlin, Hamburg. 36 S. grofs 8®.
Eschbach, P. : Herzog Gerhard von Jtilich-Berg und sein Marschali Johann
vom Haus, ein Beitrag zur Finanz- und Rechtsgeschichte des Herzogtums
Berg im 15. Jahrhundert [Sonderabdruck aus Jahrbuch XIV. des
Düsseldorfer Geschichtsvereins.] 23 S. 8*.
Feyerabend, Ludwig und Virchow, Rudolf: Der arabische Hack-
silberfund von Meschwitz bei Bautzen. [= Jahreshefte der GeseUschaft
für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz. 4. Heft. 1894,
S. 220 — 228.]
Finck, Emil: Die Versorgung einer Stadt mit Fleisch und Brot vor 400
Jahren. [= Mitteilungen des Vereins fiir Geschichte von Annaberg und
Umgegend Vü. Jahrbuch 1898 — 1900, S. 93 — 146.]
Foltz, Max: Beiträge zur Geschichte des Patriziats in den deutschen Städten
vor dem Ausbruch der Zunftkämpfe (Strafsburg, Basel, Wonns, Frei-
burg L B.). Marburg, Elwert, 1899. 91 S. 8^
Giannoni, Carl: Die Privilegien und das Archiv des Marktes Gumpolds-
kirchen [Separatabdruck aus den Blättern des Vereins für Landeskunde
von Niederösterreich 1899.] 16 S. S^,
G o 1 d m a n n , Salka : Danziger Verfassungskämpfe unter polnischer Herrschaft.
— 311 —
[= Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte, VII, 2.] Leipzigs
B. G. Teubner 1901. 121 S. 8*. M. 4.
GumplowicZy L. : Die Studien Max Gumplowicz's über Balduin Gallus^
den ersten Chronisten Polens. [= Historische Monatsblätter für die
Provinz Posen. Jahrgang II (1901) Heft 2.J
Haupt, Herman: Renatus Karl Frhr. v. Senckenberg (1751 — 1800), Fest-
schrift der Grofsherzoglichen Ludwigsimiversität zu Giefsen. Giefsen,.
Otto Kindt, 1900. 60 S. 8«.
Die Heimat, Monatsschrift des Vereins zur Pflege der Natur- imd Landes-
kunde in Schleswig - Holstein , Hamburg, Lübeck tmd dem Fürstentunk
Lübeck. II. Jahrgang (1901). Nr. 6 (Juni), S. 105 — 124.
Henner, Theodor: Der Historische Verein von Unterfranken imd Aschaffen-
burg in seinem 60 jährigen Wirken. Würzburg, Verlag des Historischen
Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg, 1893. 106 S. 8^^.
Derselbe : Eine Doppelwahl fiir den Würzburger Bischofsstuhl im Jahre 1 3 1 4»
[Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken tmd Aschaffenburg»
42 Bd., 1900. S. 57 — 74.]
Heydenreich, Eduard: Das Archiv der Stadt Mühlhausen in Thüringen,
Mühlhausen, Karl Albrecht, 1901. 66 S. 40.
Hipler, Franz: Zur Geschichte des Weinhandels in Ermland. [= Zeit-
schrift ftir die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Jahrgang 1895..
II. Bd., S. 327 — 331.]
Höfsle, Friedrich von: Geschichte der alten Papiermühlen im ehemaligen
Stift Kempten und in der Reichsstadt Kempten. Kempten, Jos. Kösel^
1901. 109 S. 4^. M. 4.
Ilwolf, Franz: Der provisorische Landtag des Herzogtums Steiermark im
Jahre 1848. [= Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
der Steiermark. IV. Bd., 2. Heft.] Graz, Styria, 1901. 153 S. 8^.
Jaeger: Geschichte der Stadt Alsfeld. Alsfeld, Friedrich Ehrenklau, 1898.
19 S. 8«.
Jentsch, Hugo: Kirchliche Erinnenmgen aus der vorreformatorischen Zeit
Gubens, das Todtenbuch des St. Michaels- oder Schusteraltars der Stadt-
kirche. Guben, Albert Koenig, 1901. 63 S. 8<>.
Kolb: Des Haller Chronisten Georg Widman Leben (f 1560) und die
Handschriften der Widman*schen Chronik. [= Würtembergisch Franken^
Neue Folge VL Schw. Hall 1897. S. 21— 77].
K ob erlin, Alfred: Ein Bamberger Echtbuch (Über proscriptorum) von '
14 14 — 1444. [Sonderabdruck aus dem 60. Berichte des Historischen
Vereins Bamberg, 1899.]
Liermann, Otto: Henricus Petreus Herdesianus und die Frankfurter Lehr-
pläne nebst Schulordnungen von 1579 und 1599. [Programm des
Goethe-Gymnasiums in Frankfurt a. M., 1901.] 63 S. 4^.
Der Römische Limes in Österreich. Heft i mit 14 Tafeln und 35 Figuren
im Text. Wien, Alfred Holder, 1900. 144 Sp. 4^.
Lippert, Friedrich: Geschichte der Gegenreformation in Staat, Kirche und
Sitte der Oberfalz -Kurpfalz zur Zeit des dreifsigjährigen Krieges. Frei-
bürg i. B., Paul Waetzel, 1901. 265 S. 8®.
L o e s c h e , Georg : Bibliographie über die den Protestantismus in Österreich
— 312 —
betreffenden Erscheinungen des Jahres 1899. [Jahrbuch der Gesellschaft
für die Geschichte des Protestantismus in Österreich. 21. Jahrgang, 1900.
S. 243—254.]
Lorenz, Hermann: Die EinfUhnmg der Brandenburg- Preufsischen Landes-
hoheit in die Stadt Quedlinburg imd die Feier des Krönungstages da-
selbst am 17. imd 18. Januar 1701. Quedlinburg, Chr. Friedr. Vieweg,
1901. 32 S. 8®.
Lutze, G: Die Chronikenschreiber der Stadt Sondershausen. [Jahresbericht
der Fürstlichen Realschule zu Sondershausen 1 900/1 901.] 19 S. 4^.
Mentz, F.: BiUiographie der deutschen Mundartenforschung für die Jahre
1898 und 1899 nebst Nachträgen aus früherer Zeit 27 S. 8^
Mestorf, J. : Die Hacksilberfimde im Museum vaterländischer Altertümer
zu Kiel. [= Mitteilungen des Anthropologischen Vereins in Schleswig-
Holstein. 8. Heft Kiel 1895. S. 3 — 12.]
Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums. Dritter Band: Das Perserreich
und die Griechen, erste Hälfte: Bis zu den Friedensschlüssen von 448
und 446 V. Chr. Stuttgart, J. G. Cotta, 1901. 691 S. 8®.
Meyer, M. : Die Säkularisation der Klöster im Regierungsbezirk Bromberg.
[Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen. 15. Jahr-
gang, S. 161 — 202.]
Morf, Heinrich: Deutsche imd Romanen in der Schweiz. Zürich, Fäsi
und Beer, 1901. 61 S. 8®, M. 1,20.
Mummenhoff, £.: Das Komhaus bei St. Klara, die Maut imd die übrigen
Komhäuser der Reichsstadt Nürnberg. [Amtsblatt der Stadt Nürnberg.
3. Jahrgang (1899), Nr. 5, 8, 11, 14.]
Nelle: Die evangelischen Gesangbücher der Städte Dortmund, Essen, Soest,
Lippstadt und der Grafschaft Mark. [= Jahrbuch des Vereins für die
evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark. 3. Jahig. 1901.
S. 86 — 201.
Nuglisch, Adolf: Das Finanzwesen des deutschen Reiches unter Kaiser
Sigmund. [Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. III. Folge,
Bd. 20, S. 145 — 167.]
Obst, Emil: Muldenstein bei Bitterfeld imd das ehemalige Kloster Stein-
Lausigk. Ein Stück Kultur- und Reformationsgeschichte. Bitterfeld 1895.
36 S. 80. M. 0.75.
Pape, Richard: Hans von Sagan, eine monographische Studie zur Geschichte
des deutschen Handwerks. Königsberg i. Pr., Schubert und Seidel,
1900. 57 S. 8^
Penn rieh, Alfred: Die Urkundenfälschungen des Reichskanzlers Caspar
Schlick nebst Beiträgen zu seinem Leben. Gotha, Friedrich Andreas
Perthes, 1901. 87 S. 8^ M. 1.20.
Platen, Paul: Der Ursprung der Rolande. [40. Jahresbericht des Vitz-
thumschen Gymnasiums in Dresden 1901.] 34 S. 4^^.
Publications de la socidt^ historique et archdologique dans le duch^ de
Limbourg. Tome XXXVI. Nouvelle sdrie tome XVI. Macstricht,
Lciter-Nypcls, 1900. 499 S. 8^
Herausgeher Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Vering von Friedrieh Andren« Perthes in Gothn.
Deutsche GescWchtsblätter
Monatsschrift
unter Mitwirkung von
Prof. Bachmum-Frag, Prof. Brejraig-Berlin, Prof. Brler-Königiberg,
Prof. Plnke-Freiburg i. B., Arcbivdirektor Prof. Hansen-Küla, Prof. v. Hefgel-MliDchen,
Prof. Henner-Wilnbarg, Sectiontcher v. Inama-Stemegg^-WicD, Prof. Kolde-Erlangen,
Prof. KosalnDK-Berlio, Arcbivrat Krieger-KarlsrnhE, Prof. Lamprecbt'Leipzij;,
Archivral W. Lippert-Dresden, Archivar Merx-Osaabrilck, Prof. MQhlb>cher-Wieii,
Prof. V. Ottentbal-InnsbrDck, Prof. Osw. Sedlicli-Wien, Prof. v. d. Ropp-Marbnrg,
Prof. A. Schulte- Breslau, Archivrat Sello-Oldenburg, Geh. Arcbivrat Stälin-SlDttKarl,
Archivrat WüBchke-Zerbsl, Prof. Weber-Prag, Prot. Wenck-Marbnrg,
Archivrat Winter-OsnabrUck, Archivar Wine-Schnerin,
Prof. V. Zwi•djlMck•aadenbon^G^aI
heiausgegebcD von
Dr. Armin Tille
XXI. Band
Gotha
Friedrich Andreae
1902
Atif Sätze : s«tte
Albert, Peter P. (Freiburg L B.): Ortsgeschichte 193 — ao8
Caro» Qeorg (Zürich): Zur Grundbesittverteilung in der Karolingerteit . 65 — 76
Hoemes» Moris (Wien): Deutschlands neoUthische Altertümer .... 145 — 152
Käser, Kurt (Wien): Zur politischen und soMiälen Bewegung im deutschen
Bürgertum des XV, und XVL Jahrhunderts . . i — 18 und 49—60
K5ts8chke, Rudolf (Leipzig) : Ortsflur ^ politischer Gemeindehezirk und Kirch-
spiel 273—295
Lippert, Woldexnar (Dresden) : Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissen-
schaften und ihr Neues Lausitzisches Magazin 18 — 22
Bfütebeck, Ernst (Metz) : Zur Geschichte der landesgeschichtlichen Forschung
in Lothringen 121 — 129 und 192
Polacsek» Ernst (Strafsburg): Der Fortgang der deutschen Denkmäler-
inventarisation 137 — 144
Schnapper- Arndt 9 O. (Frankfurt a. M.): Aus dem Budget zweier Schuh-
machergesellen des XVIL Jahrhunderts 77 — 85
Sello» O. (Oldenburg) : Nachträgliches und Neues zur Literatur der Roland-
Bildsäulen 33—48
Tille, Armin (Leipzig): Das Xxermanische Museum 261 — 271
Väncsa, Max (Wien): Historische Topographie mit besonderer Berück-
sichtigung Niederösterreichs 97 — 109 und 129 — 137
Weber, Ottocar (Prag): Der Verein für Geschichte der Deutschen in
Böhmen 167— 172
Wehrmann, Martin (Stettin): Landesgeschichtliche Lehr- und Lesebücher , 225 — 235
Winter, Georg (Osnabrück): Aus pommerschen Stadtarchiven 249 — 261 und 295 — 306
Witte, Hans (Schwerin): Ortsnamenforschung und Wirtschaftsgeschichte , 153 — 166
und 209 — 217
Mitteilungen:
Archive : Inventare des Grofsherzoglich Badischen Landesarchivs 23 ; Urkunden
des Heiliggeistspitals in Freiburg i. B. 23 — 25; Stadtarchiv
Wien 91—94; Vereeniging van archivarisien in Nederland
109— 112; Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen
Nation 112 — 113 und 172 — 173; Stadtarchive in der Provinz
Posen 173 — 174; Archiv des fürstlichen Hauses Castell 174;
Inventare Kölner Pfarrarchive 217 — 220 ; Stadtarchiv Alten-
burg 220 — 221; Stadtarchiv Borna 221; Archivpflege in der
Pfalz 235—237; Dritter Archivtag 307 — 308.
Berichtigungen 192, 223—224, 248, 320
Seite
Denkmalpflege: Zweiter Tag für D. in Freibarg 1901 61 — 63; Dritter in
Düsseldorf 1902 308
Deutsch als Urkundensprache (Max Vancsa) 117 — 120
Eingegangene BOcher 31—32» 64, 95—96, 120, 144, 191— 192, 223,
246—248, 271—272, 320
Pamilienforschung (Armin Tille) 182 — 185
Pranxosenkrankheit (Armin Tille) 314 — 320
Pundseichen (Anthes) 91, 237—242
Oesamtverein der deutschen Oeschichts- und Altertumsvereine: Ver-
sammlang in Freibarg 1901, 85— 91; in Düsseldorf 1902. . 306 — 307
Historische Kommissionen: Daisburg 25; Heidelberg 26 — 27; Württem-
berg 185—186; Bayern 186; Baden 186—187; Königreich
Sachsen 187; Westfalen 221—223; Lothringen 242; Gesell-
schaft fUr Rheinische Geschichtskande 243 ; Sachsen - Anhalt
312 — 313; Hessen and Waldeck 313; Thüringen 313 — 314.
Landesgeschichte im Unterrichte 113 — 117
Landesgeschichtliche Bibliographie (Armin Tille) 178 — 182
Merian 223 — 224
Nekrologe: Ludwig Leiner (Konrad Beyerle) 27 — 30; Gustav Veesenmeyer
94; Josef Edmand Jörg 95 und 192; Heinrich Gengier (Th.
Kolde) 187—188; Karl von Hegel (Th. Kolde) 188—189;
Alfred Köberlin 243-246.
Personalien 30—3 *> 189—191
Vereine: Verein für die Gcschiclite Leipzigs 174 175; Verein für Roch-
litzer Geschichte 175—178; Verein für Thüringische Geschichte
und Altertumskunde 308 — 31 1 ; Deutsch-Amerikanische Historische
Gesellschaft von Illinois 311 — 312.
Versammlung deutscher Philologen und SchulmSnner 1901 .... 63 — 64
Zeiller 224, 320
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Forderung der landesgescMcbtlicben Forscbung
III. Band Oktober 1901 i. Heft
Zur politisehen und sozialen fiewregung
im deutsehen Bürgertum des XV. und XVL
Jahrhunderts
Von
Kurt Käser (Wien)
Vorliegende Abhandlung soll ein Nachwort sein zu meinem 1899
erschienenen Buche: Politische und soziale Bewegungen im deut-
sehen Bürgertum zu Beginn des XVL Jahrhunderts, (Stuttgart,
W. Kohlhammer.] Ich verbinde damit den dreifachen Zweck, erstens
den im Buche gebotenen Stoff nach manchen Richtungen hin zu er-
gänzen, zweitens die allerdings nur sehr wenigen neueren Arbeiten
über denselben Gegenstand in Kürze zu besprechen imd endlich —
dies ist für mich das Wichtigste — die Forschimg und zwar namentlich
die orts- und landesgeschichtliche Forschung hinzuweisen auf das, was
noch zu thun bleibt.
In der Einleitung meines Buches habe ich auch die städtischen
Bewegungen des XV. Jahrhunderts gestreift und in politische und
soziale geschieden. Über erstere Gruppe seien mir noch zwei
Bemerkungen gestattet. Die zünftig- demokratische Bewegung, die
schon in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts auch den deutschen
Norden berührt *), regt sich dort mit erneuter Energie zu Beginn des
XV. Jahrhunderts. Dauernde Erfolge bleiben ihr indes ebenso ver-
sagt, wie später zur Zeit Jürgen Wullenwevers. Der Boden der Hansa
erweist sich einer demokratischen Stadtherrschaft weit weniger zu-
gänglich als der deutsche Süden und Westen. Manche der politischen
Bewegungen des XV. Jahrhunderts bilden eine direkte Fortsetzung
früherer: sie zielen ab auf die Vernichtung der noch bestehenden
i) K. W. Nitzsch, GeschtchU des deutschen Volkes^ III. 298.
1
— 2 —
Rechte patrizischer Herrschaft, auf die Vollendung der Demokratie,
z. B. in Braunschweig, Mainz und Halle ').
Eine genauere Betrachtung dieser politischen Kämpfe *) gehört
jedoch in einen anderen Zusammenhang. Wichtiger ist es fiir die
künftige Forschung, den sozialen Bewegungen des XV. Jahrhunderts
weiter nachzugehen, die ich einstweilen nur für Magdeburg, Braun-
schweig, Rostock und Hamburg feststellen konnte. Es Heise sich
vielleicht auch der Streik der Hallenser Salzwirker von 1474 heran-
ziehen, eine Episode in dem mehrjährigen Kampfe der Handwerker
und der Gemeinde gegen die Trümmer des pfannerschafUichen R^-
ments '). Lohnstreitigkeiten mit den Bommeistern und den Schöffen
im „Thal" veranlagten die Wirker und Jahrknechte zur Einstellung
der Arbeit. Markus Spittendorf, der uns diese Dinge erzählt, giebt
unverhohlen der Meinung Ausdruck, der Streik sei von der demo-
kratischen Partei zur Schwächung der Pfanner angezettelt worden.
Auch der Konflikt zwischen Augsburger Webern und Kaufleuten
von 1491 , der uns nur durch eine kurze Notiz Stettens überliefert
ist, gehört in die Reihe der Sozialrevolutionären Erscheinungen des
XV. Jahrhunderts und verdiente eine gründliche Untersuchung *).
Vielleicht viel mehr noch als für das XV. Jahrhundert bleibt zu
thun für die städtischen Unruhen innerhalb der zwei ersten Dezennien
des XVI. Jahrhunderts. Peter Albinus und nach ihm der Zwickauer
Chronist Schmidt erzählen von einem gefahrlichen Aufruhr des
Zwickauer Pöbels, den der gelehrte Jurist Dr. Kilian König, von
1498 — 1505 Mitglied des Stadtrats, durch seine Beredsamkeit gedämpft
habe. Sonst soll nichts darüber bekannt sein; vielleicht liefsen sich aber
doch noch archivalische Nachrichten über dieses Ereignis ermitteln ^).
Nicht erwähnt habe ich den KonflUct zwischen Rat und Bürger-
schaft , besonders den Handwerkern in Kamenz ^). In den Städten
1) Städtechroniken 16, 332—335; LII— LIV, 86, 87. Mein Buch S. 19. Hertzberg,.
Geschichte von Halle I, 314. 327. 468.
2) Ober Reibungen zwischen Rat and Gemeinde zu Torgaa (1456 and 1481), ofifenbar der
Finanzgebarong des ersteren wegen s. Knabe, Urkunden der Stadt T. bis zar Reformation, S. 5 2 fif.
3) Denkwürdigkeiten des Ratsmeisters Markus Spittendorf in „ GeschichtsqueUen der
Provinz Sachsen", Bd. 11 (1880), S. 26—29. Über Bürgerunruhen in Naomhurg 1450 £t.
vgl. Ernst Hoffmann, Naumburg a. S., im Zeitalter der Reformation, ein Beitrag zur Geschichte
der Stadt u. des Bistums. [^ Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte VII. i.}
Leipzig, L. G. Teubner, 1901. Die Arbeit ist mir leider im Augenblick nicht zugänglich»
4) V. Stetten, Geschichte Augsburgs I, 232. 233.
5) Archiv f. sächs. Gesch. Bd. ii. (1873), S* 2^*
6) Knothe, Geschichte des Tuchmacherhandwerks in der Oberlausitz, Niederlau*
sitzisches Magazin, 58. Bd. (1882), S. 331. 332.
— 3 —
der Oberlausitz waren die Unterschiede des Besitzes scharf ausgeprägt,
auch hier streben die Handwerker, in erster Linie die Tuchmacher,
trotz ihres geringeren Wohlstandes im Vertrauen auf ihre Zahl und
Bedeutung schon seit dem XIV. Jahrhundert nach einem gesicherten
Anteil am Stadtr^ment ^). Diese Bestrebungen dauern zum Teil bis
ins XVI. Jahrhundert fort. In Kamenz erhob sich am i8. Dezember
1508 ein heftiger Aufstand der Handwerker gegen den Rat, der sich
durch inkorrekte Finanz Wirtschaft, durch Willkür und Parteilichkeit
verha&t gemacht hatte. Nach einer Zeit völliger Anarchie kam es
zur Auflichtung eines unfähigen, sich rein auf den Pöbel stützenden
demokratischen Regiments, das 15 11 auf Betreiben der gestürzten
Partei von König Wladislaw wieder beseitigt wurde.
Von den Aufständen der Jahre 1509 bis 15 14, die ich in meine
Darstellung einbezogen habe, sollten einige noch zum G^enstand
einer tiefer eindringenden Forschung gemacht werden. So der Auf-
stand zu Gdttingen (15 13), von dem wir bis jetzt nur durch einen
einzigen, noch dazu unvollständigen Bericht Kunde erhalten, dann die
bürgerlichen Zwistigkeiten in Höxter » von denen tms einstweilen nur
das Ergebnis, nämlich der durch den Abt Franz von Corvey zwischen
Rat und Gemeinde aufgerichtete Vertrag überliefert ist. Sehr dankens-
wert wäre auch eine gründlichere Erforschung der interessanten Vor-
gänge in Lüttich um die Wende der Jahre 15 12 und 15 13, die wir
vor der Hand nur aus chronikalischen Berichten kennen. Auch fiir den
Schweinfurter Aufstand (15 13) liefse sich das Material vielleicht noch
vervollständigen, das einstweilen nur aus zwei Volksliedern bei Liliencron
imd dürftigen urkundlichen Nachweisen in den Monumenta StUiu
furtensia besteht. Endlich liefse sich der Hinweis Müllers ') auf die
in jenen Jahren zwischen Rat und Gemeinde von Nördlingen statt-
findenden Reibungen vielleicht noch weiter verfolgen. Vor allem aber
möchte ich die Aufmerksamkeit der Forschung lenken auf den
Regensburger Aufstand von 15 12 und 15 13, in dessen Verlauf sich,
wie es scheint, eine sozialistische Partei der Führung bemächtigt hat.
Wir kennen die Bewegung nur aus dem verschwommenen, abgerissenen
Bericht des R^ensburger Chronisten Leonhard Widmann und aus
der zwar aktenmäfsigen , aber gleichfalls wirren und ungeordneten
Darstellung Gemeiners. Eine Untersuchung auf Grund der Akten selbst
wäre hier dringend notwendig •).
i) Knothe a. a. O. S. 310—312.
2) Zeitschrift des Vereins f. Gesch. v. Schwaben n. Nenburg, Bd. XVII, S. 12.
3) Die genaueren QaeUennachweise s. in meinem Bache S. 157 — 163. 165. 175— -i*'^
— 4 —
Ganz unaufgeklärt sind auch noch die Ereignisse in Nordhausen,
die nach einer Notiz des Vigneulles zu blutigem Ausgang gefuhrt
haben *). Aufeer den von mir behandelten Aufständen berichtet
Trithemius*) für die Jahre 15 12 und 15 13 von Unruhen in Deventer,
Andernach, Lübeck. Hier bieten sich also der Forschung noch ganz
unberührte Aufgaben, denn vor allem wäre die Richtigkeit der An-
gaben zu untersuchen.
Der Andernacher Aufstand hat durch den Herausgeber dieser
Zeitschrift auf Grund des archivalischen Materials eine erschöpfende
Behandlung erfahren *). Die Datierung des Tritheraius erweist sich als
falsch, denn in Wahrheit ist der Aufstand ohne Zweifel in den Sommer
15 II zu setzen, wiewohl Spuren aufrührerischer Gesinnung sich noch
weiter zurückverfolgen lassen. Schon im Mai 1496 findet eine un-
gesetzliche Versammlung der Gemeinde statt, doch wissen wir nicht,
welche Ereignisse und Klagen die Bürger zu diesem hochverräterischen
Schritte getrieben haben. Eine erneute Versammlimg der Gemeinde
ohne Erlaubnis des Rats erfolgt 1506, wobei ein gewisser „Grofe-
Johann** als Rädelsführer bezeichnet wird. Erst am 5. November 1510
werden die Beschwerden der Bürger laut. „Sie berühren das Stadt-
regiment in finanzieller Hinsicht und zielen darauf ab, der Gemeinde
eine Kontrolle über die Finanzgebahrung des Rates zu verschaffen."
Ähnliche Klagen und Forderungen werden auch bei den früheren,
rechtswidrig abgehaltenen Versammlungen zur Sprache gebracht worden
sein. Im folgenden Jahre gestaltete sich die Lage wieder kritisch,
doch wurde auch jetzt das Schlimmste, ein blutiger Aufruhr, ver-
mieden, denn am 7. November 15 11 wurde durch den Kölner Era-
bischof Philipp ein Ausgleich getroffen, der indes die Bürger nicht
befriedigen konnte. Die Versammlung der Bürger blieb verboten,
nur ein Beschwerderecht beim Landesherm wurde den Bürgern ein-
geräumt, der wichtigste Punkt aber, das städtische Finanzwesen, blieb
unberührt. Erst 1522 kommt es zu neuen Unruhen. Die Gemeinde
führt jetzt Klage über die Verkümmerung des Beschwerderechts, über
das Fehlen eines Organs, das die Gemeinde dem Rat gegenüber ver-
trete, und über den Mangel einer Finanzkontrolle seitens der Bürger.
Erzbischof Philipp greift wieder als Schiedsrichter ein und befriedigt
i) Tagebach des Vigneulles S. 231.
2) Annales Hirsaugienses II, 689.
3) Armin Tille, Bürgerunruhen in Andernach am Ende des XV, und Anfang
des XVL Jahrhunderts^ in den Annalen des historischen Vereins für den Ntederrhein,
70. Heft (1900), S. 31—42.
— 5 —
die Wünsche der Bürger durch Einsetzung eines Achterkollegiums,
das die Interessen der Gemeinde gegenüber dem Rate wahren, ins-
besondere der jährlichen Rechnungslegung beiwohnen sollte.
Diese Bürgerunruhen zu Andernach zeigen den typischen Charakter
der städtischen Bewegungen am Anfang des XVI. Jahrhunderts. Sie
sind hervorgerufen durch die Unzufriedenheit der Gemeinde mit der
Finanzverwaltung des Rates und führen — in Andernach etwas später
als an manchen anderen Orten — zur Schaffung einer eigenen Ge-
meindevertretung, eines Organs der Kontrolle über die städtischen
Finanzen. „Den wesentlichsten VorteU aus den Veränderungen hatte
aber der Landesherr gezogen, der jetzt auf die Verwaltung seiner
Landstadt einen ganz anderen Einflufs üben konnte, als ehedem. "^
Ein Antrieb zu weiterer Forschimg liegt auch in der Bemerkung
Trithems, es habe sich aufser den von ihm namhaft gemachten
Städten die Bewegung auch noch auf andere Orte erstreckt, quarum
vocahula memoriae non occurrunL Eine ähnliche Äufeerung knüpft
das Chronicon Brunwilrense an die Schilderung des Kölner Auf-
standes von 15 13: Circa idem iempus in muliis regionibiis et
civitatibtis disseniio facta fuit et volgus se contra consulatum erexit
et alias ordinationes exacta prius computatione constituit, *)
Diese Angaben klingen sehr wahrscheinlich. Wir besitzen An-
haltspunkte dafür, dafs der unruhige Geist in den deutschen Bürger-
schaften damals weiter verbreitet war, als man bisher annehmen konnte.
Einen Beleg dafür bringt G6ny in seinen Untersuchungen über Schlett-
stadt'). Dort kamen im Frühjahr 15 10 Ruhestörungen vor. Etliche
Bürger wurden „wegen unziemlicher Handlung" ins Gefängnis gelegt.
Da trat einer Namens Konrad Rosenmeyer auf öffentlichem Markte
vor vielen Menschen auf und rief unter Flüchen und Verwünschungen
aus : Es thut nymer gut, wir schlagen dann einest die Riehen zu
Tode, und halt ich meine Gesellen^ die ich vorjaren gewisset habe,
so wollen wir die Gefangnen wider ufs dem Thurn nehmen.
Und dann gegen Himmel blickend: O wo ist der Schuhmacher,
der den Bundschuh gemacht hat, und ich dürfte wol für Rat
gehen und dem Rat dise Worte selbs sagen. Er wurde mitten im
Volksauflauf festgenommen imd vor Gericht gestellt. Auf die Bitten
1) Niederrhein. Annal. Bd. XDL (1868), S. 258.
2) Joseph G^ny, Die Reichsstadt SchUttstadt und ihr Anteil an den sozial-
politischen und religiösen Bewegungen der Jahre J4g0'-1536 (Erläuterungen und Er-
gänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, herausg. v. Ludwig Pastor,
I. Band, 5. u. 6. Heft). Vgl. S. 85.
— 6 —
seiner Frau strafte ihn der Rat nicht an Leib und Leben, sondern
wies ihn mit Weib und Kindern für immer aus der Stadt und über
den Rhein.
Auch in Leipzig gewahren wir allerdings nur schwache Spuren
einer Gärung. -Schon im Jahre 1492 hatte Herzog Greorg es miß-
billigt, dals etliche Bürger sich ungehorsam g^en den Rat gezeigt,
und das „Falsbrennen^ (?) als einen Anlafs zu Ruhestörungen untersagt.
Anfiang März 15 14 fand man auf der Trinkstube einen Zettel, auf dem
die Namen eines neuen Rates, eines neuen Stadtschreibers und Bau-
meisters verzeichnet standen, und der offenbar von etlichen losen,
leichtfertigen leuten den rethen zu schimpf dahin gelegt worden
war^). Ebenso berichten uns die Kämmereirechnungen aus Pirna
für die Jahre 15 12 und 15 19 von conspirationes der Gemeinde, von
Irrungen und Zwistigkeiten zwischen dem Rat, den Handwerkern und
dem gemeinen Mann und von einem Eingreifen des Herzogs ').
Weit ernsteren Charakter trug der Aufistand zu Schweidnttz von
1520, die sogen. „Pölerei"*), welche die auch hier bestehenden
sozialen Gegensätze blofslegte. Den Anlafe bot ein königliches Münz-
edikt von 15 19 und 1520, das einen gemeinsamen Münzftifs für das
ganze Land festsetzte und ältere Münzrechte der Stadt Schweidnitz
beseitigte. Das Kleinbürgertum, das sich durch diese Verordnungen
besonders in seinem Braugewerbe geschädigt fühlte, lehnte sich da-
gegen auf, während die grofsen Kaufleute die VorteUe einheitlicher
Münzverhältnisse zu würdigen wufsten. Das war Grund genug, alle
anderen alten Gegensätze wieder wachzurufen. Und als eine Anzahl
Ratsherren sich auf Weisung des Landeshauptmanns nach Liegnitz be-
gab, da kannte die erregte Leidenschaft keine Grenzen mehr. Der
Pöbel vergriff sich an den Häusern der Entwichenen, die er plünderte
und demolierte, nicht einmal das königliche Schlofs wurde verschont.
Die Bewegung, durch vorhandene politisch-nationale Gegensätze noch
genährt, entwickelte sich zu einem formlichen Krieg gegen die Ver-
treter der königlichen Gewalt und kostete der Stadt schliefslich das
Recht der freien Ratswahl.
Wü: wenden uns jetzt den Bewegungen im eigentlichen Refor-
mationszeitalter zu, tmd es erscheint mir als zweckmäfsig für die Be-
dürfnisse der Lokalforschung, meine Darstellung nach den einzelnen
deutschen Landschaften zu gliedern.
i) Wostmann, Quellen zur Geschichte Leipzigs II, 133. 134. 157.
2) Neues Arch. f. sächs. Gesch., Bd. V, S. 34.
3) Über Namen u. Verlauf der Bewegung s. Grünhagen, Gesch. Schlesiens, Bd. I, 382.
— 7 —
Im Aiisgang-sgebiet der Bewegung, in Oberschwaben, kämen die
Reichsstädte Memmingen, Kempten, Kaufbeuren, Wangen, Leutkirch,
Isny, Ravensburg und Überlingen in Betracht. Für diese Orte hat
schon Baumann den auüEallenden Mangel an Material in den städtischen
Archiven festgestellt, insbesondere auf das bezeichnende Schweigen
der noch erhaltenen Ratsprotokolle hingewiesen.^). Hier dürfte sich
also der Forschtmg zunächst kaum mehr eine ergiebige Ausbeute dar*
bieten. Nur der Zufall könnte hier noch zu weiteren Ergebnissen
fuhren, wenn es gelänge, von den zum Teil verschleuderten reichs-»
städtischen Archiven, z. B. Kemptens und Überlingens, hier und dort
Bruchstücke aufzufinden.
Für die Bewegung in Württemberg ^) ist charakteristisch , dais
hier die radikale Minderheit die gemäfsigte Mehrheit vergewaltigt, weU
diese an der schwachen Regierung keinen Rückhalt findet. Besonne-
nere Männer wie Götz von Berlichingen , Mattem Feuerbacher, der
Stuttgarter Hauptmann Theus Gerber, werden zur Führerschaft ge-
zwimgen. Die Bewegung richtet sich nicht sowohl g^en die Obrig-
keit — in den württembergischen Städten wird der Eid gegen das
R^ment immer ausgenommen — als gegen Adel tmd Geistlichkeit.
In Württemberg war die grofse Mehrzahl der Ausgezogenen, namentlich
der aus den Städten, bereit, sich dem Bundesheer zu unterwerfen, so-
bald dieses nahe genug war, um sie gegen die Radikalen zu schützen.
Nur die Hinneigung zu Herzog Ulrich machte die Furcht rege, dafs
die vom Bauemjörg verlangte Übergabe auf Gnade und Ungnade eine
Bestrafung nicht wegen Teilnahme am Bauernkrieg, sondern wegen
jener Hinneigung nach sich ziehen könne. Das war der Grund, wes-
halb der Haufe nicht schon vor der Schlacht bei Böblingen sich
auflöste.
Von den Bewegungen in den innerhalb des Herzogtums gelegenen
Reichsstädten haben die zu Hall und Gmünd schon ihre Darstellung
gefunden '). Sehr notwendig wäre es, dals nun auch der Aufstand in
Heflbromi, für den wir bis jetzt im wesentlichen noch auf Zimmer-
i) Baomann, Die oberschwäbischen Bauern im März 1525, Kempten 187 1 (l. Auflage),
S, 80—82.
2) Das Folgende nach freundlicher Mitteilung des Herrn Archivrat EugenSchneider
in Stuttgart, der über diese Dinge nächstens eine besondere Abhandlung veröffent-
liehen wird.
3) öchsle, Beiträge zur Geschichte des Bauernkriegs in den schwäbisch-fränkischen
Grendanden, S. 388 S. Wagner in den „Forschungen zur deutschen Geschichte" i^ 2"*^
bis 248, u. in den „Vierteljahrsheften zur württemb. Landesgeschichte** 1879, ^^
— 8 —
mann angewiesen sind, auf Grundlage der im Stuttgarter Staatsarchiv
verwahrten Bundesakten einer speziellen Behandlung unterzogen würde.
Gerade in Heilbronn sind ja die revolutionären Tendenzen mit gröfse-
rer Heftigkeit aufgetreten als vielleicht in irgend einer anderen Stadt
jener Gegend: es wäre besonders die interessante Vorgeschichte
des Aufstandes, das Walten des revolutionären Klubs, die Propaganda
einzelner Heilbronner auf dem platten Lande, dann auch die Fühlung-
nahme des Proletariats, besonders der Weingärtner mit den Bauern
eingehend zu beleuchten.
Für die wichtigeren Städte der dem Herzogtum Württembei^ be-
nachbarten Gebiete, namentlich im Ries — Nördlingen, Dinkels-
bühl, Bopfingen, Ellwangen — ist das vorhandene gedruckte und
tmgedruckte Material wohl schon von Müller erschöpfend ausgenützt ')•
Erwähnt sei hier noch, dafe Oettingen von seinen Herren abfiel, mit
Hufe des Markgrafen Kasimir von Brandenburg aber wieder zum Ge-
horsam gebracht wurde, ein Ereignis, das auch auf die Zerstreuung des
Deininger Haufens einen gewissen Einflufs geübt haben mag ^).
Die Unruhen in den Städten der brandenburgischen Markgraf-
schaft hat Jäger bereits behandelt '). Die Gemeinde von Wasser-
trüdingen trug lebhaftes Verlangen, den Bauern bei der Plünderung
der nahen Klöster Heidenheim und Auhausen zuvorzukommen. Sogar
die kommunistischen Ideen der Zeit hatten in dem Städtchen Boden
gefafst *).
Auch für die Bewegimgen in den gröfseren Städten Ostfirankens
bleibt dem Forscher wohl wenig mehr zu thun, da das Material in
stattlicher Fülle gedruckt und zum TeU schon verarbeitet vorliegt.
Gerade für diese Gegenden steht uns ja eine reiche chronikalische
Überlieferung zu Gebote. Die Vorgänge in Nürnberg, wo der Rat
durch gewandte Diplomatie die Bauern hinzuhalten und einem Aus-
bruch des VolksunwUlens in seinen eigenen Mauern durch rechtzeitige
Zugeständnisse zu begegnen wufste, hat Kamann in einer eigenen
Monographie dargestellt *). Über die Bewegungen in Würxburg werden
wir unterrichtet durch die Aufzeichnungen des Stadtschreibers Martin
Cronthal und des bischöflichen Sekretärs Lorenz Fries, über die in
i) Zeitschrift des Vereins f. Geschichte von Schwaben a. Neabnrg, Bd. XVI a. XVU^
1889 a. 1890. Vgl. besonders Bd. XVI, S. 76. 94—95. 96 ff.
2) Jäger, Markgraf Kasimir n. der Baoemkrieg im stidlichen Ries S. 17.
3) ^Si* Jäger a. a. O. über Crailsheim xu Wassertrttdingen , z. B. S. 33. 34. 77.
4) Jäger a. a. O. S. 46.
5) Kamann , Nürnberg im Banemkrieg , 1889.
— 9 —
Rothenburg a. T. durch die Chroniken des Stadtschreibers Thomas
Zweifels und des Mönches Eysenhardt. Doch könnte eine Nachlese in
den Archiven dieser Städte vielleicht noch manche Ergänzung liefern.
Sehr wünschenswert wäre eine Darstellung der Revolution in Stadt und
Hochstift Bamberg. Das Material dazu hat W. Stolze 1898 gesammelt,
doch ist die Veröffentlichung, wie es scheint, bisher noch unterblieben.
Endlich hat Schweinfurt ein Bündnis mit den Bauern abgeschlossen,
dessen Entstehungsgeschichte noch aufzuklären wäre. ^).
In der Landgrafschaft Hessen sind städtische Bewegungen von
gröfeerer Bedeutung, wie es scheint, unterblieben. Die rebellischen
Bauern der Rhöngegend suchten zwar von Hersfeld aus die hessischen
Städte Kassel, Alsfeld, Homburg u. a. brieflich zum Abfall zu be-
wegen. Doch hatten ihre Schreiben keine Wirkung *).
In den gröfseren Städten Thüringens harren noch wichtige Auf-
gaben der Lösung. Vor allem wäre erwünscht, dafs die von Merx
begonnene Biographie Münzers und Pfeifers zum Abschlufs geführt
würde. Erst nach Vollendung dieser Arbeit würden wir wohl auch
von den revolutionären Ereignissen in Mühlhausen ein vollständiges
und richtiges Bild erhalten '). Auch die Bewegungen in Nordhausen,
für die wir bis jetzt nur die ältere Arbeit Förstemanns besitzen, wären
einer neuen Untersuchung wert*).
1} VgL mein Buch S. 246.
2) Falkenhainer , Philipp d. Grofsmütige im Banenikrieg. Marburg 1887.
3) O. Merx, Thomas Mtinzer und Heinrich Pfeifer, Göttingen 1889. Ober die
SteUnng Herzog Georgs, der Ernestiner u. Philipps v. Hessen zu den revolutionären Er-
eignissen in M. vgl. W. Karstens, Sächsisch-hessische Beziehungen in den Jahren 1524,
1525 n. 1526. (Zeitechr. d. Ver. f. thilring. Gesch., N. F., Bd. ^«», 18^3, S. 338—45)*^
Aus den Verhandlungen zu Naumburg n. Trefiurt zwischen den Räten der oben genannten
Fürsten im Februar u. April 1525 ergiebt sich insbesondere die Interessengemeinschaft
Herzog Georgs mit dem vertriebenen Rat von M., eine Haltung, die nach der Einnahme
der Stadt dieser lebhaft zu gute kam.
4) Förstemann, Kleine Schriften S. 86. In Prankenhausen liefsen sich auch wohl-
habende Bürger, wie Pfänner u. Grundbesitzer, zur Teilnahme am Aufruhr verleiten, vgl.
Zeitschr. d. Ver. f. thür. Gesch., N. F., Bd. VIII, 1893, S. 14. Auch die kleineren
thüringischen Städte wurden von der Bewegung fortgerissen. In Sondershausen und
Arnstadt beteiligte sich der Pöbel an den Ausschreitungen der eingedrungenen Bauern
(a. a. O. S. 14. 15). In Um kam es zu einem Aufruhr, dessen Wiederholung nur die
Beredsamkeit des vom Bürgermeister berufenen Eberlin v. Günzburg verhüten konnte.
Vgl. Radlkofer, Jakob Wehe n. Eberlin v. Günzburg S. 521. Biaenach gehörte dem
von Th. Münzer gestifteten Bunde an, vgL Münzers Schreiben vom 7. Mai 1425,7 * ^^"^
f. hessische Geschichte Bd. IX, Urkunde XII. Auch wurden, wie es scheint, M'
Priester von dort vertrieben, vgl. Holzwart in Baumanns „QneUen z. ^
kriegs in Oberschwaben" S. 712.
— 10 —
In Erfurt verfolg-t die Bewegung in der Stadt wie im Landgebiete
übereinstimmend ein politisches Ziel. Die städtischen Unruhen hatten
mit dem „Pfaffenstürmen" von 1522 begonnen. Zugleich aber wurde
durch die Wiederaufhebung der von der demokratischen Partei in der
Stadt durchgesetzten Regimentsverbesserung der Kampf um die
politische Gleichberechtigung aufs neue heraufbeschworen. Ebenso
ist die Empörung der Erfurter Bauern nicht aus wirtschaftlichen, sondern
aus politischen Ursachen hervorgegangen. Die Bauern waren empört
über die jährlich wachsenden direkten und indirekten Steuern, über
den Mangel an staatlichem Schutz und über ihre politische Recht-
losigkeit. Die in den Artikeln vom 10. Mai 1525 geforderte Unter-
stellung der Besteuerung unter den Willen der ganzen Gemeine und
Landschaft , die nach anderen Akten erweisliche gleichzeitige Er-
hebung eines „ewigen Rates" durch die „Verordneten der ganzen Ge-
meine und ganzen Landschaft" und dessen zukünftige Kontrolle durch
Vormünder der „Gemeine und des ganzen Landvolks" zeigen deutlich
genug, da(s der Bauernaufstand im Gebiet von Erfurt mehr den
Charakter einer politischen als einer sozialen Revolution trug *).
W. Schum hat versprochen, in einer besonderen Abhandlung Zu-
sammenhang und Zusammenflufs des städtischen Verfassungskampfes mit
der Bewegung der ländlichen Bevölkerung zu erweisen, ist uns aber,
soweit ich sehe, die Erfüllung dieses Versprechens einstweilen schuldig
geblieben.
Auch in Gotha gewannen die Verhältnisse dank den im geist-
lichen und weltlichen Regimente herrschenden Übelständen eine äuiserst
bedrohliche Gestalt. Wirtschaftliche Beschwerden über die Insassen
des Stifts und der Groll der Bürger über das unsittliche Treiben der
Kanoniker führten auch in dieser Stadt um Pfingsten 1524 zu einem
heftigen, von der Obrigkeit geduldeten „Pfaffenstürmen". Die Häuser
der Domherren wurden verwüstet, ihre Dirnen davongejagt. Kurfürst
Johann Friederich verurteilte die Bürger für diese Ausschreitungen zu
einem Schadenersatz von 300 Gulden *).
Auch die weltliche Obrigkeit hatte, wenigstens nach den Angaben
des Myconius *) , schwere Verschuldungen auf sich geladen. Der Rat
habe sich selbst ergänzt, der Gemeinde jeden Einblick in seine Finanz-
i) W. Scham, Über bäaerliche Verbältnisse u. Verfassang der Landgemeinden im
Erfurter Gebiet zur Zeit der Reformation, Zeitschr. des Ver. f. thür. Gesch., N. F 1,
1879, S. loi — 102.
2) Beck, Geschichte des GothaischeD Landes, Bd. II, 305.
3) Myconius bei Beck S. 112. 113. 114. 117.
— 11 —
gebahrung" verweigert, gegen jede Kontrolle gesichert am Stadtgut
gröbliche Veruntreuung geübt, die Mauern verfallen, das Wasser aus
den Stadtgräben austreten und die Keller überschwemmen lassen, den
Frechheiten der städtischen „jeunesse dor6e" ruhig zugesehen, jeden
Einspruch gegen diese Mifsverhältnisse gewaltsam unterdrückt. Auch
das wiederholte landesherrliche Eingreifen habe nur wenig geholfen.
Trotzdem ist 1525 eine Bewegung in Gotha unterblieben. Es
blieb diese Stadt und Amt sitzen. Denn es war das neulich ge*
stäupte Kind witzig wurden. Wu aber Gottes Wort und das täg-
liche Vermahnen nicht auch da gewest, und der Rat nicht die
Bürger fleißig verwarnt, hätte es doch nicht geholfen, man hätte
sich der Aufruhr teilhaftig gemacht. Die unmittelbare Folge des
„Pfiaffenstürmens" war die Berufung des Myconius und die Durchführung
der Reformation. Es wäre gut, wenn diese uns vor der Hand nur
durch Myconius überlieferten Verhältnisse noch eine tiefere, akten-
mäfsige Begründung erhielten.
An den beiden Hauptstädten des Herzogtums Sachsen, Dresden
und Leipzig, ist der Sturm ohne gröfeeres Unheil vorübergezogen.
Wenn der Stadtklerus in Dresden im Jahre 1525 einem Bürgerauüstande
entging, so hatte er dies wohl nur seiner etliche Jahre zuvor geübten
Nachgiebigkeit zu verdanken. Unter Herzog Geoi^ war das Verhältm's
der Bürger zum Klerus immer schlechter geworden, ja 1520 fand die
allgemeine Unzufriedenheit Ausdruck in einer von Rat und Gemeinde
an den Herzog gerichteten Beschwerdeschrift. Es wurde darin Klage
erhoben über die drückenden Unschlittzinsen, welche die Fleischhauer
alljährlich an einzelne Kirchen zu entrichten hatten, besonders aber
über den Wucher, den die Bruderschaften ^) mit ihren aufgehäuften
Kapitalien zum Verderben der Bürger und Landsassen trieben, endlich
über die Weigenmg der Geistlichen, die Ablösung der auf liegenden
Gütern ruhenden Zinsen zu gestatten. Der Grund dieser Weigerung lag
darin, dais die Geistlichen solche Güter als ihr volles Eigentum be-
handelten und dem weltlichen Gerichtszwang entzogen. Die Beschwerden
der Bürger müssen berechtigt gewesen sein, da durch einen gemein-
samen Schiedsspruch des Herzogs Georg und des Bischofs von Meifsen
den meisten Forderungen Genüge geleistet wurde *).
In Leipzig gingen 1525 etliche Bürger, angeblich auf Anstiften
Thomas Münzers, mit dem Plane um, den Rat, die Priesterschaft und |
1) Man bezeichnete die Bruderschaften geradeso als ein verborgen ewige S
des lands und der leuihe^ und is% ein schwerty das seinen ursacher verle*-*
2) Richter, Verfassongs- u. Verwaltnngsgeschichte von Dresden "*
— 12 —
die „Führnehmsten auf der Universität" umzubringen und den auf-
rührerischen Bauern die Thore zu öffnen. Als diese Konspiration dem aus
dem Bauernkrieg zurückgekehrten Herzog Georg berichtet wurde, liefs er
nach eingehender Untersuchung am 15. Juni acht Bürger mit dem
Schwerte richten, fünfzehn stäupen und des Landes verweisen. Am
nächsten Tage wurde die Bürgerschaft aufs Schlots geladen und ihr
mitgeteilt, dafs aufser denen, die zur gebührenden Strafe gezogen
worden, noch 300 im Verzeichnis ständen, so es mit der aufrürischen
rotte gehalten. Auf Bitten der Bürger wurde diesen auch das Ge-
fängnis geschenkt. Auch ein Geistlicher und ein magister artium be-
fanden sich unter den Aufruhrern; diese wurden dem Bischof von
Merseburg zur Bestrafung ausgeliefert ^).
In Chemnitz kam es 1524 zu einer Bewegung, deren äufseren
Anlafs die von den Bürgern vermutete Einfuhr fremden Bieres durch
die Geistlichkeit bUdete. Das einmütige, energische Auftreten der
Gemeinde aber und die Schwere der von Herzog Georg verhängten
Strafe legen uns die Vermutung nahe, dafs die Bewegung mehr ge-
wesen sei, als ein blofiser Bierkrawall, dafs ihr eine bedeutendere Ur-
sache, der allgemeine Hafs gegen den Klerus, zu Grunde gelegen
habe «).
Auch die sächsischen Bergstädte wurden von der Bewegung in
Mitleidenschaft gezogen. Zwar blieb Freiberg imberührt *) , aber in
den erzgebirgischen Orten zeigten sich allerlei revolutionäre Er-
scheinungen.
In Annaberg besonders, dem Mittelpunkte des Bergwerkverkehrs,
herrschte eine starke Gärung unter einem Teil der Knappschaften
und im Proletariat. Eine Anzahl ungesessener lediger Gesellen, ver-
schiedene Fremde und solche, die wahrscheinlich nichts zu verlieren
hatten, flöfisten dem Rate Besorgnis ein. Fünfzig Gesellen, die dem
Herzog Georg Kriegsdienste gegen die Bauern zugesagt hatten, zogen
ihre Meldung am nächsten Tage wieder ziniick. Gegen einzelne
Beamte fielen schwere Drohungen. Die Sympathieen fiir die revolu-
tionären Bewegungen in der Nachbarschaft waren unter dem gemeinen
Manne stark verbreitet. Jeden Augenblick befürchtete man den Aus-
bruch einer Empörung. Aber dennoch sind keine Nachrichten von
1) Johann Jakob Vogel, Leipzigisches Geschichtsbuch oder Annales (Leipzig
1714), fol. S. lU. 112 zum Jahre 1525.
2) Mitteilunj^en des Vereins f. Gesch. v. Chemnitz II (1876 — 78), S. 13 — 15.
3) Ermisch, Archivalische Beiträge zur Reformaiionsgesch, der Stadt F. (15*5
bis 1528), im Neuen Archiv f. sächs. Gesch. Bd. VUI (1887), S. 129.
— 13 —
einer Erhebung in der Stadt oder von einem Anschluis der unruhigen
Elemente an die Aufruhrer der Umgegend zu uns gelangt. Bürger
und Bergleute begnügten sich, die Bedrängnis des Rates auszunützen
und von ihm die Erfüllung längst gehegter Wünsche zu verlangen.
Die Forderungen der ersteren zielten auf eine Reform der Stadtver-
waltung. Auch in Annaberg hatte die Gemeinde gegen den Rat
allerlei Klagen und verlangte ein besonderes Organ zur Vertretung
ihrer Interessen. Sie wollte das Recht haben, aus jedem Viertel vier
Personen zu erwählen , die neben den Viertelmeistem die Gebrechen
und Bedürfnisse der Gemeinde ohne alle Scheu vortragen könnten.
Die wichtigste Forderung aber lautete: „Rat, Bürgermeister und alle
Rats verwandten, sollten sich aufs Freundlichste gegen die Bürger
gemeiner Stadt halten, auch mit Knechten und Mägden so viel ver-
schaffen, dafs über sie keine fernere Klage sei." *) Die Forderungen
der Bergleute berührten zum TeU das Gebiet des Arbeiterschutzes.
Vor allem aber kam es ihnen auf die Befriedigung ihrer religiösen
Bedürfnisse an. Einhellig erklärten die Knappschaften^ sie wollten
keinen Pfaffen mehr haben, der ihnen nicht das Wort Gottes auch
Nachmittags an Sonn- und Feiertagen predige.
Die gefahrliche Bewegung in Joachimsthal, welche das ganze
Erzgebirge in Aufruhr zu versetzen drohte, wurde von Annabei^ aus
gestillt '). In Schneeberg wurde die Gemeinde durch die schwarm-
geistigen Predigten des Georgius Amandus in lebhafte Aufregung ge-
gebracht. Dieser Prädikant äufserte im März 1524 auf der Kanzel,
es solle nicht der Rat die Gemeinde, sondern die Gemeinde den Rat
regieren. Deshalb zur Rede gestellt verbesserte er am Abend darauf,
statt seinem Versprechen gemäfs „bescheiden tlich davon zu sagen*,
es müsse nicht ein Fürst das Land, sondern das Land den Fürsten
regieren. Vier Gewerbe sollen sich mit den Bergleuten vereinigt
haben, um den Prediger, dem der Magistrat die Besoldung gekündigt
hatte, aus eigenen Mitteln zu besolden — so grofs war die Begeisterung
für ihn. Auch hier fürchteten die Regenten des Herzogs jede Stunde
Aufruhr und Empörung. Die Absetzung des Predigers genügte indes,
wie es scheint, um die Ruhe wiederherzustellen*).
1) B. Wolf, Obererxgebirgische Bauernbewegung im Jahre 1525 im „Glückauf",
Organ de« Engebirgvereins, Jg. 1887, S. 66 — 68.
2) Wolf a. a. O. S. 68.
3) S. Karstens a. a. O. S. 324. 327—328. 330. 334. Auch in den kleineren ^
des Erzgebirges gab es Unruhen. Etliche hundert Leute aus Marienberg nf>^
der Plünderung der Pfarre Mildenan. In Zöblitz hatten die Bürger, r
<
— 14 —
' Noch früher als im Erzgebirg-e hatte sich der Aufruhr im Vogt-
lande erhoben, und es wäre zu untersuchen, welchen Anteil daran
die dortigen Städte, z. B. Reichenbach und Plauen, gehabt
haben *).
Noch weiter, als ich bisher angenommen, hat die Bewegung auch
in den norddeutschen Städten um sich gegriffen. Nur kommt sie
dort an manchen Orten erst dann zum Ausbruch, als sie in Süd-
deutschland schon erloschen war. Mancherorts sehen wir eine Ver-
bindung des religiösen mit dem politischen Moment, wozu sich hier
uüd dort auch sozialistische Tendenzen gesellen. Die demokratischen
Ideen, die in der eigentlichen Periode städtischer Verfiassungskonfiikte
nur schwer im Norden Eingang gefunden haben, erfahren jetzt eine
'Wiederbelebung. Man könnte diese städtischen Bewegungen in Nord-
deutschland ein Nachspiel zu den süd- und westdeutschen Zunflkämpfen
des XIV. und XV. Jahrhimderts nennen.
Das Zusammentreffen religiöser und politischer Motive finden wir
schon in dem auf der Grenze zwischen Mittel- imd Norddeutschland
gelegenen Halle *). Im Gegensatz zum Rate war die Mehrheit der
Bürger der lutherischen Lehre geneigt Aufserdem herrschte in der
Gemeinde eine starke Verstimmung gegen eine Gruppe von Ratsherren,
die der allgemeinen Ansicht nach ein unberechtigtes Übergewicht im
Stadtregimente besais und dieses zu eigenem Vorteil mifsbrauchte.
Dazu kam noch der Unmut der Bürger über die ausgiebigen finanziellen
Forderungen des Erzbischofs Albrecht, welche der Rat wahrscheinlich
nur durch eine Vermehrung der wachsenden städtischen Schuldenlast
zu befriedigen vermochte. Albrecht, dem die Mifstimmung der
Hallenser nicht entging, übertrug seinem Kanzler, Dr. Goch, die Ver-
mittlung. Bei letzterem brachten Innungen imd Gemeinde ihre For-
derungen an, die das Stadtregiment und die religiöse Frage betrafen.
Die Bürger verlangten die Entfernung jener vier besonders verhafsten
Ratsherren aus dem Stadtregiment , was Albrecht sofort bewilligte.
Die zweite Forderung lautete knapp und klar, „dafs uns unser gnädiger
Herr das Wort Gottes lauter und klar predigen lasse und uns das
hochwürdigste Sakrament nach Einsetzung Jesu Christi reichen und
geben lassen wolle". Auch dieser Artikel wurde von Albrecht ge-
zwei Häuer in MarieDber;^, die Absicht, die Pfarre zu plündern. Auch in Geyer woUte
man die Pfarre stürmen und setzte man die deutsche Rindertaufe durch, vgl. Wolf a. a. O.
S. 69. 80. 81.
1) Wolf S. 55.
2) Hertzberg a. a. O. II, 53. 57. 150.
— 15 —
nehmig^. Die Gemeinde, damit zufriedengestellt, trat jetzt eifrig unter
die Waffen und handhabte nachdrücklich den Schutz der Stadt.
Albrecht hat sein Zugeständnis in der kirchlichen Frage übrigens rasch
vergessen. Erst 1541 ertrotzte die Gemeinde die Durchfuhrung der
Reformation vom Rate.
Ein halb politisches, halb religiös-sozialistisches Gepräge trugen
die Unruhen in Magdeburg^). Schon 1524 verübte dort das niedere
Volk — besonders die Handwerksburschen — aufgereizt durch den
sozialistischen Prediger Johann Grauert, Ausschreitungen gegen Kirchen
und Klöster. Im Jahre 1525 zeigte sich unter den Bürgern eine
lebhafte Erregung gegen den Rat und die vornehme Klasse, eine Er-
scheinung, die wieder auf die Wühlereien Münzerisch gesinnter Prä-
dikanten zurückzuführen ist. Am 24. Februar kam es zu einer Em-
pörung der „Gemeinheit"*) gegen den Rat. Sie verlangte, dafs ihre
beiden Vertreter im Rat künftig von ihr selbst und aus ihrer Mitte
gewählt werden sollten, nicht mehr von den Ratsmitgliedem aus den
Innungen. Die „Gemeinheit" beruhigte sich nicht eher, als bis ihr
Wunsch wenigstens teilweise erfüllt worden war. Dieses Ergebnis bildet
eine Ergänzimg der demokratischen Errungenschaften von 1330.
Neben diesen auf Änderung des Stadtregiments gerichteten Be-
strebungen finden wir auch Spuren der damals in Mittel- und Süd-
deutschland verbreiteten radikalen Lehren. Auch in Magdeburg wurden
Stimmen laut, die Gütergemeinschaft und politische Gleichheit forderten.
Führer dieser Partei war jener Theologe Grauert oder Grauhart,
der schon längst das Volk zu Mord und Gewaltthat gereizt hatte,
neben ihm wirkten manche Fremde, die sich zu jener Zeit in Magde-
buig zusammengefunden hatten. Eben damals hörte man, dafs Hand-
werker sich zum Predigtstuhl drängten oder auf der Gasse die Menge
um sich versammelten, um das Wort Gottes zu verkündigen. Der
Pöbel aus der Alt- und Neustadt drang ohne Scheu in den zwischen
beiden Eiben gelegenen Werder des Agnetenklosters und des Dom-
propstes Busch bei Rothensee und stahl dort Holz nach Lust und
Belieben. Sie beriefen sich darauf, dafs den Christen alles gemeinsam
sei. Bewohner der Neustadt und des ihr inkorporierten Dorfes Frose
verweigerten auch dem Dompropst das ihm zu zahlende Weidegeld
und den Rauhpfennig. Trotzdem weckte der Bauernkrieg, der bis an
i) Hoflfmann, Geschichte der Stadt Magdeburg, neu bearbeitet von Hertel a. Hülfse^
1885, U, 385. 387. 389. 390. 421.
2) d. h. der nicht la den Innongsverbänden gehörigen Bürgerschaf
— 16 —
die Grenzen des Erzstifts drang, keine bedeutenderen Unruhen. Nur
das Kloster Berge, dessen Schutz der Rat einer Abteilung von Bürgern
anvertraut hatte, wurde von der beutegierigen Menge geplündert.
Nach der Niederlage der Bauern trat in Magdeburg wieder Ruhe ein.
Die Führer des erregten Volkes verlieCsen die Stadt. — Noch einmal
erschien der Friede bedroht, als 1529 wiedertäuferische Sendlinge in
Magdeburg und an anderen Orten des Erzstifts eine überaus r^e
Agitation entfalteten. Man befürchtete eine Wiederholung der Auf-
stände von 1525, und der Kardinalerzbischof Albrecht liefe Vorsichts-
maferegeln treffen. In der That bekannten einige Wiedertäufer in
Erfurt vor ihrer Hinrichtung, dafs sie mit Gesinnungsgenossen in
Magdeburg einverstanden gewesen seien, sich durch einen Aufstand
der Stadt zu bemächtigen und die Gütergemeinschaft einzuführen.
In Stralsund kamen schon 1522 Bewegungen zum Ausbruch, die
gleichfalls politischen und religiösen Charakter trugen. Ein gewisser
Roloff Moller, ein noch junger Mann, wufste bei der Bürgerschaft den
Rat wegen seiner Finanzwirtschaft zu verdächtigen. Es bildete sich
ein Ausschufe vdn 48 Bürgern, denen der Rat durch einen beschworenen
und besiegelten Rezefs Unterwerfung geloben mufste, und die sich
jetzt aller Gewalt bemächtigten: Des rades rat mtisie nicht gelden:
ere donnt und regement wa/s baven de/s rades; wat se reden, deden,
beschloten, dat wa/s gedan. In der Folgezeit traten die religiösen
Motive immer stärker hervor. Der Prädikant Karsten Ketelhodt, dem
der Rat auf Verlangen der Klerisei das Predigen untersagt hatte,
wurde von den neuen Regenten und der ganzen Bürgerschaft nach
Stralsund zurückgeführt und ihm die Kanzel zu St. Nikolaus einge-
räumt, fn der Karwoche des Jahres 1523 kam es durch einen un-
glücklichen Zufall zu einem Bildersturm, bei dem fremde Handwerks-
burschen imd anderes loses Gesindel Kirchen und Klöster verheerten
und die Insassen der letzteren zu eüiger Flucht nötigten. Der Rat
mufste diese Ausschreitungen ungeahndet lassen, wollte er nicht von
der evangelisch gesinnten Mehrheit der Bürger das Schlimmste ge-
wärtigen. Das Verlangen der Bürgerschaft nach dem Fortgang der
Reformation, dem sich der Rat schon aus Rücksicht auf die beiden
katholischen Landesherren widersetzte, liefs die demokratische Be-
wegung noch stärker anschwellen. Im Sommer 1524 setzte Roloff
Moller durch, dafe er selbst und sein Gesinnungsgenosse Christ Lorber
zu Bürgermeistern erhoben und acht aus der Bürgerschaft in den Rat
gewählt wurden. Der Bürgermeister Nikolaus Smiterlow, der die un-
dankbare Rolle des Vermittlers gespielt hatte, entwich nach Greifswald.
— 17 —
Die beiden jungten Herzög^e Barnim und Jörg von Pommern sahen
dem unruhigen Treiben in Stralsund thatlos zu in der Hofinung, wenn
beide Parteien sich genügend abgemüdet hätten, „würden sie in der
Stadt besser nach ihrem Willen thun können **. Sie wagten um so
weniger einzuschreiten, als wiedertäuferische Agitatoren im Lande er-
schienen, ihre Hörer zum Bildersturm aufreizten tmd von der Kanzel
herab lehrten, dafe man die Fürsten mit Lumpen werfen und aus dem
Lande jagen solle. Die Herzöge, welche Wiedertäufer und Evangelische
zusammenwarfen, fürchteten, durch ein Vorgehen gegen die letzteren
einen allgemeinen Sturm g^en sich heraufzubeschwören. Das demo-
kratische Regiment in Stralsimd kam erst 1537 wieder zu Fall, während
die Reformation schliefslich im Einverständnis mit dem Rat durch-
geführt wurde. Die Kenntnis dieser Dinge verdanken wir einstweilen
nur nicht ganz sicheren chronikalischen Berichten, deren Zuverlässigkeit
erst an etwa noch vorhandenem archivalischcm Material zu prüfen
wäre ^).
Auch die Persönlichkeiten, denen in diesen Bewegungen eine
leitende Rolle zufiel, verdienten wohl eine sorgsamere Beleuchtung.
Den Fähigkeiten Roloflf Mollers, des Führers der evangelisch-demo-
kratischen Partei, können selbst die ihm feindlich gesinnten Chronisten
ihre Achtung nicht versagen. Sie schildern ihn als wohlgestaltet,
klug und beredt, wie geschaffen zum Amt des Bürgermeisters, aber
leider überstürzt in seinem Handeln. Er war zu prächtig und ho/-
färtig, meint Sastrow, und verföhrte ihn auch nicht wenig, dafs er
im Werk spürte , da/s der gemeine Pöbel, Herr Omnes deswegen
ihm anhieng, da/s er dem Rat ohne einige Scheu so weldiglich ins
Maul greifen dur/te. Wollte also fliegen, ehe ihm die rechten
Flügel gewachsen waren, und stürzte sich, auch andere, ja gemeine
Stadt in gro/se Verlegenheit, Schaden und Nachteil, so sie bei
Menschengedenken nicht verwinden wird.
Dem hitzigen Roloff Moller suchte Bürgermeister Claus Smiterlow
vermittelnd zu begegnen. Er hatte in Nürnberg und anderen Städten
die neue Lehre kennen gelernt, in Wittenberg Luther selbst predigen
hören und wurde so im Rate zu Stralsund der erste Bekenner des
Evangeliums. Er warnte den Rat, den gerechten Wünschen der
Bürger nicht allzuschroff zu begegnen, und suchte andererseits das
Ungestüm Mollers imd seiner Rotte, die gar zu geschwind und
1) Berckmaan, Stralsundische Chronik S. 33flF.; Selbstbiographie des Bartholomäus
Sastrow, herausg. v. Mohnike, Bd. I, S. 3oflf.
2
— 18 —
eifrig evangelisch oder eigenwillig waren, nur mit dem Kopf hin--
durch wollten, zu mäfisigen. Er richtete aber bei dem einen so
wenig aus, als bei den andern. Herr Omnes drang durch, und der
Rat, so vormals des rechten Vaters, ihres alten Bürgermeisters
getreuen Vermahnungen nicht folgen wollten, mufsten den Stief-
vater, Herrn Omnes hören . . . Vielleicht versucht die Lokal-
forschung eine genauere Charakteristik dieser Männer.
Politisch-religiöser Natur war auch, wie längst bekannt, die Be-
wegung, die 1529 in Lübeck ausbrach und sich einige Jahre später
ebenso wie in den anderen wendischen Städten mit den grofsen Fragen
der hansischen Ostseepolitik verknüpfte.
(Schlafs folgt.)
Die Oberlausitzisehe Gesellschaft der
Wissenschaften und ihr fleues Lausitzisches
Von
Woldemar Lippert (Dresden)
Eine der ältesten wissenschaftlichen Vereinigungen Deutschlands
überhaupt, die älteste wohl mit vorwiegend historischem Charakter^
ist die Oberlausitzisehe Gesellschaft der Wissenschaften
zu Görlitz. Mit universalen Zielen, wie die gelehrten Gesellschaften
und Akademien an den Universitäten, doch ohne Zusammenhang mit
einer solchen, ohne staatliche Unterstützung erwuchs sie aus dem
patriotischen Eifer hochgebildeter Landeseingesessener zur Hebung'
des geistigen Lebens der Heimatprovinz. Mit berechtigtem Stolz
durfte bei dem hundertjährigen Jubiläum 1879 der Sprecher der Fest-
rede es betonen: „Die Lausitz hat nie ein einheimisches Fürsten-
geschlecht gehabt, welches dem Bildungsdrange des Volkes zu Hilfe
gekommen wäre; keine Universität, keine Kunstakademie haben den
Sinn für Wissenschaft und Kunst gepflegt . . . Ein freier Provinzial-
verein von wissenschaftlich gebUdeten Männern . . . trat 1779 zu-
sammen/* Ohne jede stoffliche oder lokale Beschränkung, nicht blols
für die Geschichtswissenschaft, nicht blofs für die engere Heimat
sollte der neue Verein wirken, sondern allen Disziplinen des geistigen
Lebens sollte er dienen, und so sehen wir denn unter den Gebieten,.
— 19 —
die die Gesellschaft in den Kreis ihrer Interessen zog und die sie
durch ihre Zeitschriften, die LatLsikische Monatsschrift und das
Neue Lausitzische Magazin (s. darüber im Folgenden), förderte,
neben der Geschichte auch die Prähistorie, die Litteratur-
geschichte, Sprachwissenschaft, Pädagogik, Theologie,
Philosophie, die Naturwissenschaften, Medizin u. s. w.
vertreten. Zwar wurden in allen diesen Gebieten selbstredend Lusatica
besonders betont, doch zahlreich sind im Vereinsorgan Stoffe von
dem allerverschiedensten Charakter. Wir hören da von Metrik und
Musik im Alten Testament wie von mittelhochdeutschen Minnesängern,
von Muhammed und seinem Koran wie von Lucrez und Epikur, von
Dantes göttlicher Komödie wie von Galileis Jubiläum, von der Münz-
geschichte des Bistums Konstanz wie von dem Atmen der Erde,
von dem deutschen und dem italienischen Werther wie von der voll-
kommensten Art des Schachspiels, von Schutzpockenimpfung und
Milzbrand wie von der ästhetischen Analyse der Epistola ad Pisones,
von Leibniz' ägyptischem Projekt wie von den ältesten Druckereien
der Pyrenäischen Halbinsel. Nicht einmal der rein wissenschaftliche
Charakter der Zeitschrift wurde streng durchgeführt, sondern sie fand
zugleich Verwendung für die praktischen Bedürfnisse der G^enwart,
brachte MitteUungen über Personalveränderungen besonders litterarischer
Kreise (der Geistlichkeit, des Lehrerstandes und der Beamtenschaft
der Lausitzen).
Allmählich bahnte sich eine Wandlung an, ohne dais eine grund-
legende Änderung in der Gesellschaftsverfassung vorgenommen ward,
denn noch die 1864 revidierten Statuten bezeichnen als Zweck im all-
gemeinen : vereinigte Pflege des gesamten Gebietes der Wissenschaften
sowie Anregung und Förderung wissenschaftlichen Lebens und Strebens;
im besonderen aber: Erforschung und Bearbeitung der Ge-
schichte, Altertümer und Landeskunde der Ober- und
Niederlausitz. Dieser letztere TeU der Angabe trat mehr und
mehr in den Vordergrund. Zweierlei Umstände wirkten hierbei mit,
sachliche und persönliche. Erstens sachliche Umstände: die Ver-
tiefung der historischen Studien, für die die Monumenta Germaniae
den Ausgangspunkt bUdeten, und die dafür und dadurch erworbene
AusbUdung wissenschaftlicher Kritik besonders auf dem Gebiete der
Quellenbearbeitung und des Urkunden wesens; femer die tmgeahnte
Ausbreitung des historischen Interesses auf weiteste Schichten des
Volkes, das in jedem Lande, jedem LandesteU, ja fast jeder Stadt
mit halbwegs beachtenswerter Vergangenheit historische Vereine er-
2»
A
— 20 —
stehen lieis. Die Lausitzen besalsen keinen besonderen Gescbichts-
verein, auch keine Lokalvereine ; das Verlang'en danach trat nicht zu
Tage, weil die historischen Wünsche und Bedürfnisse von Anbeginn
an in der Gesellschaft der Wissenschaften und im Magazin stets be-
reitwilligste Förderung gefunden hatten. Je stärker aber der historische
Sinn erwuchs, um so gebieterischer machte sich die Landes-
geschichte neben tmd schließlich vor und über den anderen
Disziplinen geltend. Das Arbeitsgebiet der Geschichte hatte sich in-
zwischen auch wesentlich ausgedehnt; sie wurde einerseits immer um-
£assender und bezog weitere neue Aufgaben herein, andererseits wurde
sie immer spezieller, schuf sich eigene kritische Grundsätze u. s. w.
Infolgedessen verlangte auch die territoriale Geschichtsforschung —
wenn sie erspriefslich gepflegt werden sollte — mehr ab bisher als
Selbstzweck getrieben zu werden tmd beanspruchte deshalb auch eine
eigene Vertretung ihrer Interessen. Der andere Umstand war persön-
licher Natur. Früher waren es vom besten Willen beseelte Männer
mit allgemeiner, litterarischer BQdung, die als „wissenschaftliche Ge-
schäftsfiihrer der Gesellschaft" (so in den Statuten) und Herausgeber
des Magazins fungierten; fast alle waren keine fachmännisch aus-
gebildeten Historiker, sondern Theologen, klassische Philologen u. a.,
also Dilettanten der Geschichte, wenn auch im guten, ursprünglichen
Sinne dieses Wortes. Seit aber in dem jetzigen Sekretär R. Je cht
ein fachwissenschaftlich gebildeter, selbst auf dem Gebiete der Landes-
geschichte eifrig und verdienstlich thätiger Historiker Herausgeber des
Magazins ist, ist dessen Charakter als der einer Zeitschrift für
lausitzische (d. h. besonders oberlausitzische) Landes-
geschichte noch schärfer betont worden, und, dank Jecht's Be-
streben, Arbeiten dilettantischer Art fernzuhalten, darf sich dasselbe
heute den besten provinzialgeschichtlichen Oiganen Deutschlands bei-
zählen. Ich sagte zuletzt „oberlausitzische" Geschichte. Auch in
dieser Hinsicht ist eine gewisse Verschiebung eingetreten. Früher
besafs die Niederlausitz kein eigenes Organ für ihre Landes-
geschichte *) , sondern dafür diente das Magazin auch mit , das in
seinen Bänden viel wertvolles Material zur niederlausitzischen Ge-
schichte in gröCseren und kleineren Aufsätzen, Urkundenveröffent-
lichungen u. s. w. enthält. Seit 15 Jahren aber ist ihr eine eigene
Pfleg- und Heimstätte in der Niederlausitzischen Gesellschaft
i) VgL hierüber die einleitenden Bemerkungen S. III und IV meines 1894 er-
schienenen Buches „Wettiner und Witteisbacher sowie die Niederlausitz im XIV. Jahr-
hundert".
— 21 — •
für Anthropologie und Altertumskunde und deren Organ,
den Niederlatisitzer Mitteilungen (herausgegeben von Professor
Hugo Jentsch in Guben) erstanden, und dadurch ist das Neue
Lausitzische Magazin von seinen niederlausitzer Verpflichtungen zum
Teil entlastet worden , ohne indes für künftig die Aufnahme auch
niederlausitzischer Gegenstände auszuschlieisen; jedenfalls aber ist da-
durch der Charakter des Magazins als des Organs oberlausitzischer
Geschichtsforschung noch stärker hervoi^etreten , nur zu deren Vor-
teil selbst, denn dadurch ist ihr eine viel intensivere Bethätigung
ermöglicht.
Das älteste Organ der Gesellschaft waren die von den Stiftern
K. G. von Anton und A. T. von Gersdorf 1782 in sechs Stücken
herausgegebenen Provinzialblätter und dann seit 1793 die
Latisitzische Monatsschrift (die 1790—92 Dr. Pescheckals eigenes
Unternehmen veröffentlicht hatte und jetzt vertragsweise an die Ge-
sellschaft abtrat), bis 1799 unter dem alten Titel, i8<X) — 1808 als
Neue Lausitzische Monatsschrift, Als diese 1808 einging, blieb
nicht nur die Gesellschaft der Wissenschaften ohne eigenes Organ,
sondern die Lausitzen überhaupt ohne eine regelmäfsige Publikations-
stätte. Zunächst war es wieder privates wissenschaftliches Interesse,
das nach langer Pause J. G. Neumann, einen Görlitzer Geistlichen,
bewog, der Heimat eine entsprechende Zeitschrift zu schenken : er gab
1821 den ersten Band seines Neuen Lausitzischen Magazins^) her-
aus. Bis an seinen Tod 1831 leitete er dieses Unternehmen, von
dem damals neun Bände vorlagen; dem drohenden Eingehen der
allgemein als nützlich anerkannten Zeitschrift beugte die Gesellschaft
vor, indem sie deren Fortftihrung als ihres Organs imter Übertragung
der Redaktion an Ch. A. Pescheck übernahm. Auf letzteren folgten
im Laufe von fast sieben Jahrzehnten J. L. Haupt, E. Tillich,
O. Janke, C. G. Th. Neumann, G. Köhler, G. T. L. Hirche,
T.Wilde, E. E. Struve, K. F. Schönwälder, R. Jecht. Seit*
dem gehören die Namen des Neuen Lausitzischen Magazins und der
Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften als zwei untrennbare
Begriffe zusammen.
Eine lange Reihe von 75 Bänden des Magazins lag vor, als.
i) Neues Magazin naimte er es in äofserer Anlehnung an die im XVIII. Jahrhundert
von dem Laubaner Geistlichen G. Dietmann herausgegebene Zeitschrift, das „Lau-
sitzische Magazin oder Sammlung verschiedener Abhandlungen und ~* ^ ' "*n zum
Behuf der Natur-, Kunst-, Welt- und Vaterlandsgeschichte, 4m^^ "^
Wissenschaften" in 4**, das 1768— 1792 in Görlitz erschien'"'
— 22 —
einem längst und vielfach empfundenen Bedürfnis entgegenkommend,
die Gesellschaft in Dr. W. von Bötticher, der ihr in den letzten
Jahren schon manchen Beitrag zur oberlausitzischen Geschichte ge-
liefert hat, den geeigneten Bearbeiter eines Generalregisters über
den Inhalt aller bisherigen Bände fand. Dasselbe wurde uns im
76. Bande (1900) beschert. Erst diese mühevolle, höchst verdienstliche
Arbeit erschliefst die Fülle des in den 75 Bänden aufgehäuften
Materials und macht dadurch das Neue Lausitzische Magazin richtig
brauchbar, macht also aus einem blofsen Magazin, aus einem grofsen
historischen Stoffspeicher, in welchem in zufalliger Schichtung eines
neben dem andern, das Wichtige neben dem Unbedeutenden, auf-
gestapelt liegt, eine überhaupt erst benutzbare und dadurch nutz-
bringende Fundstätte und HUfsquelle historischer Forschung.
Mitteilungen
Archive. — Wiederholt ist im Laufe des letzten Jahrzehnts seitens
der Historiker die Forderung aufgesteUt worden, die Archive sollten
ihre Inventare veröffentlichen. Aber nur wenige von denen, die
derartiges verlangten, werden sich die Schwierigkeiten einer solchen Ver-
öffentlichung voll vorgestellt haben; denn darüber kann fUr den Sachkenner
kein Zweifel sein, dafs die vorhandenen Repertorien, die dem täglichen Ge-
brauche der Archivbeamten dienen, immöglich so, wie sie sind, gedruckt
werden können. Bei einer Drucklegung gewisser Teüe aus den Repertorien
kann es sich um zweierlei handeln: erstens kann die ganze Einteüung
eines Archivs zum Gebrauche für die Benutzer knapp und übersichtlich dar-
gestellt werden , wie es bei vielen Archiven geschehen ist ^) und zuletzt in
mustergiltiger Weise bei den preufsischen Staatsarchiven Hannover und
Schleswig*), oder es können zweitens gewisse Teüe eines Archivs einer
Quellenedition ähnlich für den Druck bearbeitet werden. Diese letztere
Thätigkeit, an welche man in den Kreisen der Historiker wohl meist ge-
dacht hat, erfordert aber eine ganz gewaltige Arbeitsleistung, wenn anders in
knappster Form das Wichtigste geboten werden soll. Zuerst hat derartiges
Höhlbaum in den Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln verwirklicht •),
1) Es wurde schon über eine Reihe derartiger Übersichtsinventare in dieser Zeit-
schrift berichtet, nämlich Lüneburg I, S. 108; Frankfurt a. M. I, S. 293/94;
Zürich I, S. 296; Eger I, S. 297. Eine systematische Übersicht der Bestände des
Kreisarchivs Würzburg enthält das „Archiv des historischen Vereins von Unterfranken
und Aschaffenburg" XXIV, Heft 2/3, S. 329 ff. Die Übersicht über das Dortmunder
Archiv von Rubel ist enthalten im VIII. Bande der „ Beiträge zur Geschichte Dortmunds
und der Grafschaft Mark". Von demselben erschien 1897 bei Koppen in Dortmund als
selbständij^e Schrift: Kurzes Inventar des Dortmunder historischen Stadtarchivs,
2) Vgl. diese ZciUchrift U. Bd., S. 185-186.
3) Vgl. diese Zeitechrift I. Bd., S. 1 72 — 1 75. Ähnlich in Frankfurt. Ebenda S. 293—295.
— 23 —
als erstes unter den staatlichen Archiven ist aber das Grolsherzoglich
Badische Generallandesarchiv ^) zu einer derartigen Veröffentlichung geschritten.
Der Titel der Publikation lautet: Inventare des Oro (^herzoglich Badischen
Oenercd^Landesarchivs. Herausgegeben von der Gro/^herxoglu^^enArchivdirektion.
Erster Band. Karlsruhe, Chr. Fr. Müller, 1901 (320 S. 8<>). Die kurze
Einleitung unterrichtet über die drei Archive (Grofsh. Familienarchiv , Haus-
und Staatsarchiv, Landesarchiv), aus denen das GeneraUandesarchiv besteht,
und beschreibt deren Einteilung mit jeweiliger Angabe der Bände, Akten-
üeiszikel u. s. w., die sich unter einer Rubrik vorfinden. Dann folgen im
Hauptteile des Bandes die ältesten Urkunden (bis 1200) und zwar von
Kaisem und Königen, Päpsten und Privaten, femer Kaber- imd Königs-
urkunden 1200 — 15 18 und Papsturkunden 11 98 — 1302. Dann werden
die Kopialbücher , Anniversarien und Nekrologien sowie die Handschriften
verzeichnet Ebige Nachträge finden sich zu den Urkunden S. 74, zu den
Kopialbüchern S. 291 — 292. Den Schlufs bildet das alphabetische Register,
durch welches der Band erst das wird, was er ist, eine nie versiegende
Quelle für die oberrheinische Geschichte. Die Urktmden sind
nicht etwa in richtigen Regesten ihrem Inhalte nach mitgeteilt, sondem nur
ganz kurz ist Datum, Aussteller und Betreff angegeben, vielfach mit Litteratur-
verweis. Dadurch wird besonders fiir die Königsurkimden eine Übersicht
gegeben, wie wir sie so gedrängt sonst nicht besitzen, denn wir werden so
auch für das spätere Mittelalter darüber belehrt, welche Königsurkunden in
Karlsmhe zu finden sind. Umgekehrt ergiebt das Register dann wiederum
z. B. unter dem Stichworte „Kloster Reichenau", welche Archivalien mit
Bezug auf dasselbe in Karlsmhe vorhanden sind. Die Kopialbücher sind
nach den Orten und Anstalten, auf die sie sich beziehen, verzeichnet, und
ebenso ist es bei den Handschriften, bei denen am Schlufs der Einzelhand-
schriften auch einige Sachbetreffe als Stichworte gewählt sind, wie Hexen-
prozesse, Postwesen u. s. w. Bei der Art der Angaben ist es natürlich,
dafs sachliche Hinweise verhältnismäfsig selten sind. Die Kenntnis der Topo-
graphie des Oberrheins und besonders Badens ist deshalb die Vorbedingung
für jeden Benutzer, wem aber ein Ortsname — vielfach gilt dasselbe auch
für Personennamen — mehr ist als eine Mehrheit von Buchstaben, für den
ist das Inventar das Mittel, um das scheinbar entlegenste auf einen Gegen-
stand bezügliche Material zusammenzubringen. Wenn erst das versprochene
Register zu den 50 Bänden der Zeitschrift für die Geschichte des Ober-
rheins und noch einige Bände derartiger Inventare, wie der eben besprochene
Band einer ist, vorliegen werden, dann dürfte in der That in keiner deutschen
Landschaft das historische QueUenmaterial so leicht zugänglich sein wie in Baden,
wo ja bekanntlich auch die kleinen Archive bereits vollständig durchmustert sind.
Ganz anderen Charakter besitzt eine andere Badische Archiweröffent-
lichtmg, nämlich Die Urkunden des HeüiggeistspiUüs xu Freiburg im Breisgau.
l. Band: 1255 — 1400 (Freiburg i. B., Fr. Wagner 1890. 372 S. 8<>);
n. Band: 1401 — 1662 (Ebenda 1900. 640 S. S». M. 6). Die beiden
1) Vgl. diese Zeitschrift II. Bd., S. 90-91.
— 24 —
Bände bilden Teil I und HI der Veröffentlichungen aus dem Archw der
Stadt Freiburg im Breisgau *) , der erste ist mit Vorwort und Register von
Ad. Poinsignon, der zweite von Leonard Korth und Peter F.
Albert bearbeitet, während Eduard Intlekofer einen umfangreichen
Anhang tmd ein Register dem zweiten Bande angefügt hat Sachlich haben
wir es hier nicht mehr mit einem Archivinventar, sondern mit einer Qu eilen -
Veröffentlichung grofsen Stils zu thun, da sorgfältig gearbeitete, teilweise
recht ausführlich gestaltete Regesten im wesentlichen eine Veröffentlichung
der Urkunden im vollen Wortlaute — nur einzelne sind ganz abgedruckt —
ersetzen tmd somit für die Masse der Benutzer dasselbe bieten, was ein
dickleibiges Urktmdenbuch enthalten würde. Der Leser ist vor allem da-
durch entlastet, dafs er das Formelhafte in den Urkunden nicht mitzulesen
braucht imd den wesentlichen Inhalt herausgearbeitet vorfindet Über die Be-
deutung eines solchen Regestenwerkes für die Freiburgische Geschichtsforschung
braucht bei der grofsen Sorgfialt, mit der die Register bearbeitet sind, kein
Wort gesagt zu werden, aber auch ganz davon abgesehen, wohnt ihm ein
allgemeiner Wert inne, auf den hier besonders hingewiesen werden soll. Da
schliefst schon die Einleitung ztmx ersten Bande mit einer höchst dankens-
werten Zusammenstellung über die „ Schwankimgen des Zinsfufses im XIV. Jahr-
hundert". Die für andere Gegenden angestellten Untersuchungen *) werden
dadurch in höchst wiUkonmiener Weise ergänzt, und wer es noch inmier nicht
glaubte, wird jetzt zugeben müssen, dafs von einem festen Zinsfufs im
XIV. Jahrhimdert nicht die Rede sein kann. Lediglich die mehrmals vor-
kommende untere Grenze von 5<>/o steht fest, während bis zu lo^jo alle
denkbaren Werte vorkommen, einzelne sich auch darüber erheben bis zu
14^/0 (1374). In dieser Weise liefsen sich diese Urkundenregesten noch
mannigfach statistisch bearbeiten. Sachregister zu den Namenregistern würden
entschieden zu weit geführt haben, aber man vermüst sie dennoch, wenn
z. B. 1360 (I, S. 184, auch 1467 II, S. 234) von der Männerbadstube
und der Frauenbadstube, die Zinslehen des Spitals sind, die Rede ist, oder
wenn 1343 (I, S. 128, auch I, S. 64 imd I, S. 236) „edler weifser Wein**
neben „hunnischem Wein** genannt wird: die Begriffsbestimmung des letzteren
hat ja bekanntlich schon vielen Forschem Schwierigkeiten bereitet Freibuig
hatte 1305 den Jahresanfang mit Weihnachten (I, S. 23); die im Alpen-
handel als Einheit bekannte Saumlast ist in Freiburg zu einem Hohlmais
für Wein geworden, welches einen Inhalt von 115^/1 Liter besitzt (I, S. XX) ;
1337 kommt eine Walkmühle vor (I, S. iio, auch 131 7 schon U, S. 482);
1382 giebt es eine Pergamentmachergasse (I, S. 235); die Fahrhabe des im
i) Vgl. darüber diese Zeitschrift U. Bd., S. 63. Ähnlich ist die Verdfientlichung
aas dem Archiv tu Pforzheim. Ebenda I, S. 297.
2) Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter II, S. 608 ff. G. W i n t e r ,
Zur Geschichte des Zinsfufses im Mittelalter in „Zeitschrift ftir Sozial- and Wirtschafts-
geschichte", IV. Bd. (1896), S. 161 — 175. Jastinian Ladurner im „Archiv ftir
Geschichte und Altertomskunde Tirols'«, V. Bd. (1869), S. 85. H. v. Eicken, Zur Ge-
schichte des Zinsfufses in den niederrheinisch-westfälischen Territorien in der „West-
deuUchen ZeiUchrift ftir Geschichte und Kunst«, II. Bd. (1883), S. 52—56. Über den Zins-
fufs und namentlich das Sinken desselben in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts vgl.
Felix Priebatsch: Der märkische Handel am Ausgange des Mittelalters [■■ Schriften
des Vereins für die Geschichte Berlins, 36. Heft (1899), S. 52].
— 25 —
Spital Verstorbenen verfallt dem Spital (145 1, II, S. 176); 1434 ist ein
Safranacker bezeugt (II, S. 96]; Safran ist 1456 zehntpflichtiges Gewächs
(II, S. 206); Safran wird an Stelle des Weins angebaut 1469 (II, S. 346);
1476 wird ein Spitalschreiber angestellt und sein Pensionsverhältnis geregelt
(II, S. 282); 1478 steht der Guldenkurs auf 11^/9 Schilling, der Goldgulden
gilt i2^/s Schilling (II, S. 299); 1466 (II, S. 231) ist ein Patätis Lam-
parter, 1479 (H» S. 307) ein Conrat Lamparter bezeugt. Dies sind nur
einige Beispiele dafür, wieviel namentlich wirtschaftsgeschichtliche Ebzelheiten
sich in jeder solcher Urkundensammlung finden lassen. Von ganz allgemeiner
Bedeutung ist die Spitalsordnung von 13 18, die zwar schon im Urkimden-
buch der Stadt Freiburg gedruckt ist, aber dennoch mit Recht hier (I, S. 5 7 — 62)
nochmals eine Stelle findet. Dasselbe gilt von der vom Rate 1480 erlassenen
Ordnung für das Haus der Sondersiechen d. i. Aussätzigen (II, S. 535 — 539).
Für jeden, der sich mit ähnlichen Dingen in anderer Gegend beschäftigt,
liegt in solchen verwandten Stücken ein Schatz vergraben, der, einmal ge-
hoben, das Verständnis des eigenen Materials in höchstem Mafse fordern
hilft — Diese allgemeine Bedeutung örtlicher Urkundensammlungen als vor-
nehmlich kulturgeschichtlicher Quellen darf nie vergessen werden, aber frei-
lich ist es immer gut, wenn der dargebotene Stoff auch zu Darstellimgen
verarbeitet wird, imd für solche sind ja in den Organen der deutschen Ge-
schichtsvereine stets liebevolle Abnehmer vorhanden!
Kominlssloiieil. — Die historischen Kommissionen, meist aus staat-
lichen oder in Preufsen provinziellen Mitteln imtersttitzt , haben gröfsere Ge-
biete, Länder und Provinzen, zum Felde der Thätigkeit erkoren und widmen
sich vorwiegend der Quellenveröffenüichimg, während die kleine Thätigkeit,
namentlich die Herausgabe orts- und landesgeschichtlicher Zeitschriften in der
Regel den Vereinen überlassen bleibt. Aber wo eine Stadt gemeinde sich
entschliefst, gröfsere Mittel für geschichtliche Forschimgen aufzuwenden und
nicht, wie es meist der Fall ist, ein unterstützungsbedürftiger Verein —
jeder Verein hat diese Eigenschaft — sich beizeiten tun die städtischen
Mittel bewirbt, da ist wohl Platz auch für städtische historische
Kommissionen. Ein Versuch zur Gründung einer solchen ist einmal in
Duisburg gemacht worden: Zufolge eines Vortrages des Gerichtsrats
Stiefel im Wissenschaftlichen Verein über Duisburgs Nachbarschaften wurde
ein Fonds zur Herausgabe Duisburger Geschichtsquellen gesammelt imd eine
Kommission zur Verwaltung desselben eingesetzt Als Mitglied dieser Kom-
mission gab L. Stiefel die Duisburger Stadtrechnung von 14 17 (Duisburg
1883, Druck tmd Kommissionsverlag von Joh. Ewich) heraus und bezeichnete
sie als Beiträge zur Geschichte der Stadt Duisburg , veröffentlicht durch die
historische Kommission der Stadt. Heft 2, Ein erstes Heft ist nicht er-
schienen, als solches dachte sich Stiefel wohl das 1881 erschienene Gym-
nasialprogramm Duisburger AÜerthümer von Gent he. Bei diesen Anfängen
ist es geblieben. Als 1896 der Ingenieur A. Bonnet die Stadt Duisburg
verlassen woUte, bot er auf Veranlassung von Prof. AverdnikL seine be-
deutende Umensammlung, die aus Duisburger keltischen ur ''hen
Gräbern stammte, der Stadt an, welche das Geschenk r^'
annahm, den Gegenständen denmächst eine würdf
— 26 —
schaffen. Bald darauf wurde auch der von Averdunk gestellte Antrag an-
genommen, eine „Städtische Kommission zur Sammlung Duisburger Alter-
tümer** zu bilden. Das gesammelte Material hat bereits in einem Teile des
neuen Rathauses Unterkunft gefunden, dessen förmliche Einweihung im Mai
1902 stattfinden soll.
Mit grofsem Erfolge ist hingegen die zur Pflege der Ortsgeschichte in
Heidelberg seit 1876 bestehende „Kommission für Geschichte der
Stadt Heidelberg'' thätig, die zunächst die Aufgabe hat, die „Städtische
Kunst- und Altertümersammlung** zu verwalten. Neben dem durch seinen Namen
genügend charakterisierten „Heidelberger Schlofsverein** sucht die Kommission
die Stelle eines Geschichtsvereins fUr Heidelberg und Umgebung zu ersetzen,
und ihr Beginnen hat die besten Früchte getragen. Seit ihrer Gründung
stand sie unter Leitung von Albert Mays (f 1893), ^^^ ^^^^^ dessen
Tode haben der Oberbürgermeister der Stadt Dr. Wilckens, als Vorsitzender,
und ab dessen Stellvertreter Schuldirektor Thorbecke die Führung der
Geschäfte übernommen. Besondere Aufgaben erwuchsen der Konmiission,
als 1879 ^^ Stadt auf Anregung von Albert Mays, der ihr auch seine
wertvolle Pfälzische Sammlung von Münzen, Gemälden, Stöcken u. s. w. ver-
machte, die Graimbergische Sammlung, welche sich auf die ganze Pfalz er-
streckt, auf dem Schlosse erwarb. Deren Leitung und Vermehrung ist ihre
vornehmste Aufgabe, aber auch fUr die Erhaltung geschichtlicher Reste an
Baulichkeiten sorgt die Kommission, wie sie auch das leider nur bis in den
Anfang des XVIIL Jahrhunderts zurückreichende Stadtarchiv und eine Bibliothek
verwaltet und aufser dem regelmäfsigen Erscheinen einer „Chronik der Stadt**
(von 1865 — 75 handschriftlich bearbeitet von Dekan Wirth, 1885 — 1892
von Professor Gom, 1893 — 1896 herausgegeben von Prof. Waag, seitdem
von Thorbecke) auch Studien zur pfalzischen Geschichte veranlafst In letzterer
Hinsicht griff Mays den bereits 1868 bis 1870 von Dekan Wirth (Eppingen)
verwirklichten Plan einer Zeitschrift für Heidelberg imd die Pfalz wieder auif
und begann, besonders unterstützt von Karl Christ, 1890 die Heraus-
gabe des Neuen Archivs für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der
rheinischen Pfcdx, wovon 1892 der erste, 1894 der zweite imd 1898 der
dritte Band erschienen sind (Kommissionsverlag von Gustav Koester in Heidel-
berg). Eben wird der vierte Band (1901) abgeschlossen, aber es steht zu
hoffen, dafs allmählig jedes Jahr ein Band erscheinen kann. Dieses „Neue
Archiv** kann den besten ortsgeschichtlichen Zeitschriften zur Seite treten:
es bietet gleich im ersten Bande (durch Mays und Christ) eine ortsgeschicht-
liche Quelle ersten Ranges, das Verzeichnis der Heidelberger Einwohner-
schaft von 1588, im zweiten Bande tritt ein Bruchstück einer ähnlichen Liste
von 1600 hinzu. Aus dem dritten Bande, der mehrere kleinere Aufsätze
bringt, sei nur auf den von Karl Christ Das Steuerwesen von KurpfcUx
im Mittelalter (S. 200 — 264) hingewiesen, im vierten Bande veröffentlicht
Sillib Urkunden und Akten zur Geschichte des Heidelberger Augustiner-
klosters (1279 ff.). Die Stadt Heidelberg wendet für ihre Sammlung imd
die verschiedenen Arbeiten der Kommission im ganzen jährlich gegen
13000 Mk. auf, wovon über 5000 Mk. die Eintrittsgelder, die in der
auf dem Schlosse aufgestellten Sammlung erhoben werden, decken. Aus-
grabungen vorgeschichtlicher, römischer und germanischer Ansiedlungen auf
- 27 -
beiden Ufern des Neckar hat die Stadtverwaltung unter Leitung von
Prof. Karl Pf äff mit sehr bedeutenden Ergebnissen vornehmen lassen,
für die Zukunft ist die Herausgabe eines städtischen Urkundenbuches und
einer darstellenden Stadtgeschichte beschlossen, die wissenschaftliche
Bearbeitung der Pfälzischen Münzentwicklung (durch Carl Joseph in
Frankfurt) ist bereits in bestem Gange — kurz, es wird in Heidelberg
mit städtischen Mitteln dasselbe erreicht, wie anderwärts durch einen Verein,
aber eine gröfsere Konzentrierung der Arbeit wird durch diese Organi-
sation ermöglicht, und auch besonders kostspielige Unternehmungen werden
sich in diesem Falle, wo die Bürgerschaft die verlangten Mittel gern be-
willigt, jederzeit leichter ausführen lassen als dort, wo ein Verein erst jahre-
lang sparen mufs und wo die verschiedensten Interessen gleichzeitig berück-
sichtigt werden müssen.
Personalien. — Am 2. April 1901 entschlief zu Konstanz a. 6.
ein Mann, dessen ganzes Leben der Geschichte seiner Vaterstadt gewidmet
war: Ludwig Leiner, der Schöpfer des Konstanzer Rosgartenmuseums.
Von Hause aus Apotheker tmd Stadtrat, trat der schlichte Forscher auf
historischem Gebiet weniger an die Öffentlichkeit, wenn auch die Westdeutsche
Zeitschrift (zuletzt Bd. XIX, S. 364) sowie anthropologische Organe regel-
mäfsige museographische Berichte aus seiner Feder enthielten. Wer aber
einmal das Rosgartenmuseum in Konstanz durchwandert hat, der wurde von
Bewunderung erfüllt über den Bienenfleifs des Sammlers, wie über die künst-
lerische Hand des Ordners. Den breitrandigen schwarzen Hut auf dem
silberumlockten Kopfe, zwei mild leuchtende dunkle Augen hinter einer gol-
denen Brille, stets im schwarzen Rocke, ein kleines Kistchen voll neu ein-
zureihender Funde in der Hand, so schritt bis zuletzt der rüstige Greis
von seiner Wohnung, dem Malhaus in Konstanz, nach dem unweit gelegenen
Rosgartenmuseum. Wer ihn aber zu Hause aufsuchte, fand ihn am Schreib-
tische, wie er mit einer für unsere nervöse Zeit bewundernswerten Schön-
schrift seine Museumssachen etikettierte.
Ab Sohn einer alten Konstanzer Familie, die seit Jahrhunderten der
Vaterstadt im Rate ihre besten Söhne lieh, wurde L. Leiner am 22. Februar
1830 geboren. Sein Geburtshaus, die Stätte seines segensreichens Wirkens,
der Ort seines Hinscheidens, fallen zusammen. Am Obermarkt zu Konstanz,
jenem denkwürdigen Platze, wo 141 7 der Burggraf von Nürnberg mit der
Markgrafschaft Brandenburg beliehen wurde, ragt das Patrizierhaus, die
Leinersche Apotheke zum Malhaus, seit dem Mittelalter empor. L. Leiner
war es bestimmt, die äufseren Lebensschicksale seines Vaters, des Apothekers
und Stadtrates Fr. Xav. Leiner, zu teilen. Nach fünfjährigem Besuch des
Konstanzer Lyceums trat der Vierzehnjährige als Lehrling in die väterliche
Apotheke. Nach Umlauf der Lehrzeit versah der junge Mann mehrfach Ge-
hilfenstellen in auswärtigen Apotheken und besuchte sodann 1851 — 1852
die Universität in München, wo er seine pharmazeutischen Studien am 19. Mai
1852 mit der Note „Vorzüglich" zum Abschlufs brachte. Noch im gleichen
Jahre übernahm L. Leiner nach dem Tode seines Vaters das elterliche Ge-
schäft. Die Stunden seiner Mufse widmete er zunächst der Botanik, besonders
der Kryptogamie, und war hier auch litterarisch thätig. Seit Ende der sech-
— 28 —
ziger Jahre wandte er sich, von den Naturwissenschaften herkommend, prä-
historischen Sammlungen zu. Bald aber zog er die gesamten Altertümer in
den Kreis seines Interesses. Äufsere Impulse dazu boten ihm die immer
häufiger werdenden Pfahlbautenfunde der Bodenseestationen. Auch die För-
derung der heimatlichen lokalen Geschichtsstudien, die der 1868 gegründete
Verein für Geschichte des Bodensees imd seiner Umgebung sich zur Aufgabe
stellte — Leiner war seit der Gründung eifriges Mitglied des Vereins —
blieb auf seine Sanmielthätigkeit nicht ohne Einflufs. So gelang es ihm, im
Jahre 1870 durch Übernahme einzelner kleinerer vorher in Konstanz be-
stehender Sammlungen, unter finanzieller Mitwirkung der Stadtbehörde, ein
der gothischen Zeit entstammendes ZunfUiaus „Zum Rosgarten'' zu einer
städtischen Altertümersammlung umzuwandeln. Kein Opfer scheute Leiner,
lun diese seine Lieblingsschöpfung zu einem würdigen Denkmale der reichen
Geschichte seiner Vaterstadt auszugestalten. Von vornherein lag der Samm-
lung die Doppelteilung einer naturwissenschaftlichen und prähistorischen,
sowie einer historischen Gruppe zu Gnmde. Seitdem Leiner 1881 die Apo-
theke zum Malhaus seinem einzigen Sohne übergeben konnte, widmete er
seine volle Zeit der Konservatorthätigkeit. Der wirtschaftliche AuCschwung
der Stadt Konstanz machte es möglich, im letzten Jahrzehnt die Geldmittel
zu zwei Erweiterungsbauten des Sammlungsgebäudes flüssig zu machen. Da-
durch war es Leiner beschieden, die Erfüllung seines alten Lieblingsgedankens
noch zu erleben, nach dem Vorbilde der grofsen Staatssammlungen kultur-
geschichtliche Einzelgemächer einzurichten und so die Sammlung, die vorher
in den beschränkten Räumen an erheblicher Überladung gelitten hatte, sach-
gemäfs zu verteilen.
Ein Tag höchster Anerkennung war für Leiner der Besuch der General-
versammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, denen er im
September 1895 die Früchte seines arbeitsreichen Lebens vor Augen führte.
Leiner war ein Antiquar im besten Sinne des Wortes. In nimmer müder
Sanmielthätigkeit erschöpfte er sich. Ein feines kunstsinniges Gefühl gewährte
ihm die Möglichkeit, sich auch in der Anordnung der Sanmilung als Kon-
servator zu bewähren.
Dagegen ist er litterarisch auf historischem Gebiete nie sehr hervor-
getreten ; aufser einigen Aufsätzen in den genannten Zeitschriften sowie namentlich
in den Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees, hat er nach
dieser Richtung gröfisere Arbeiten nicht hinterlassen. Um die Erforschung
der eigentlichen Stadtgeschichte und namentlich um die Ordnung und Aus-
beutung des Stadtarchives Konstanz hat sich sein Zeitgenosse, der verstorbene
praktische Arzt Marmor weit gröfsere Verdienste als Leiner erworben, wenn auch
die stille Thätigkeit des Archivars in ihren Repertorien und Regestenbänden
nur dem wissenschaftlichen Benutzer des Archives in ihrem vollen Werte vor
die Augen treten, während Leiners Lebenswerk jedermann erfreut und be-
lehrt Trotzdem hatten jene Zeitungsstimmen ganz recht, welche Leiner in
ihren Nachrufen als das „historische Gewissen*' in Konstanz bezeichneten.
Denn was er an Veränderungen und Zerstörung des alten Stadtbildes nicht
verhindern konnte, das schützte er wenigstens vor dem Untergänge, indem
er ihm im Rosgartenmuseiun eine zweite gastlichere Heimat bot Überall, wo
bei Strafsenveränderungcn oder Neubauten Ausgrabungen stattfanden, war er
— 29 —
alsbald zur Stelle, um die historischen Zeugen, die der Boden barg, für
sein Museum zu sammeln.
Freilich gehörte Leiner auch als Konservator der älteren Schule an,
die mehr sammelte als das Gesammelte beschrieb. Man muiste Leiner mit
vollem Rechte als den gründlichsten Kenner der Pfahlbautenfunde des Boden-
sees bezeichnen. Auf die geologische Bestimmung vieler Tausende von
Steinwerkzeugen verwandte Leiner die gröfste Mühe. Gleichwohl besitzen wir
von ihm keine umfassende Darstellung der Pfahlbautenkultur des Bodensees.
Aber hochwichtige Fragen, wie die ethnologische Bestimmung der Stein-
zeitmenschen, wie namentlich genaue Vermessungen von Umfang, Art und
Technik der Anlage der Pfahlbauten, fanden in Leiner keine nennenswerte
Förderung. Es war etwas seiner Eigenart Fremdes, wenn im Frühjahr 1898
bei dem damaligen niederen Wasserstande des Bodensees auf Veranlassimg
des Verfassers Professor Dr. Schumacher an den Bodensee entsandt wurde,
um derartige topographische Aufnahmen zu machen, wobei sich dann heraus-
stellte, dafs in den Pfahlbaustationen durch jahrzehntelanges planloses Auf-
wühlen nach Pfahlbaufunden seitens einzelner Seeanwohner, die daraus einen
Handel betrieben, die wissenschaftliche Untersuchung der Pfahlbaustationen
überall erschwert wurde. Es liegt uns völlig fem, für diese Dinge Leiner
verantwortlich zu machen. Sein unvergängliches Verdienst besteht darin, den
besten Teil der gemachten Ausbeute für das Konstanzer Museum und damit
für die Heimat gerettet zu haben, der sonst in alle Welt verschleudert worden
wäre. Für jene tieferen Fragen fehlte es bis vor kurzem eben überhaupt
an der richtigen Fragestellung. Leiner vermochte es nicht, eine Ausgrabung
lediglich um ihrer selbst willen, etwa zur Feststellung der topographischen
Situation zu unternehmen; sie erschien ihm vielmehr immer unter dem Ge-
sichtspunkte des Erträgnisses, das sie für den Sammlungsbestand des Ros-
gartens abwarf. Freilich ist auch hier daran zu erinnern, dafs Leiner nur
überaus beschränkte städtische Mittel für derartige Untersuchungen zur Ver-
fügung hatte und dafs er vieles in Ermangelimg derselben aus der eigenen
Tasche bestreiten mufste.
Die Geschichte der Stadt Konstanz wird die Verdienste eines ihrer
besten Bürger dahin zusammenfiaissen müssen, dafs er zu einer Zeit, wo noch
viel zu retten war und es anderwärts vielfach an dem erforderlichen anti-
quarischen Interesse fehlte, durch nimmer müden Sammelfleifs seiner Vaterstadt
im Rosgartenmuseum ein getreues, bis ins Kleinste vollständiges Bild ihrer
Vergangenheit geschaffen hat. Die deutsche Altertumswissenschaft verehrt
in ihm einen der bedeutendsten Erforscher und Kenner der Prähistorie.
Noch ist zum Schlüsse der Verdienste des Heimgegangenen zu ge-
denken, die dieser sich auf anderem Gebiete des öffentlichen Wohles erworben
hat. Seit 1864 gehörte Leiner dem Konstanzer Stadtrat an, in welcher
Stellung er sich namentlich der Verschönerung der Stadt durch Anlagen,
der öffenüichen Armenpflege und des Schulwesens in erfolgreicher Thätigkeit
annahm. Neben vielem Segensreichen, das ihm auf diesen Gebieten seine
Entstehung verdankt, ist ihm allerdings auch der eine oder andere Mifsgriff
unterlaufen, so bietet es namentlich in der Lebensgeschichte dieses so hervor-
ragend antiquarisch veranlagten Mannes einen Mifston, dafs er in den sieb-
ziger Jahren des XIX. Jahrhunderts seine Hand zu einer Neubenennung der
— 30 —
Konstanzer Strafsen bieten konnte, welche einen guten Teil altehrwürdiger
Strafsennamen aus der Welt schaffte und farblose Gottheiten wie „ Boden *^
oder eine übertriebene Verherrlichung der tschechischen Reformatoren Johannes
Hus und Hieronymus von Prag an Stelle alter, wurzelständiger Namen setzte.
Die ganze Sache findet nur einigermafsen ihre Erklärung in dem politisch-
religiösen Kampfe der siebziger Jahre, in welchem sich Leiner mit den
führenden Persönlichkeiten der Konstanzer Stadtverwaltung auf die Seite der alt-
katholischen Bewegung gestellt hatte. Viele der verhängnisvollen Strafsen-
„ umtaufungen** gingen auf das Bestreben zurück, die Erinnerung an die
kirchliche imd klösterliche Vergangenheit der Stadt Konstanz aus der Gegen-
wart zu tilgen.
Ludwig Leiner war das Glück in vollem Mafse beschieden, für sein
selbstloses Schaffen die reichste Anerkennung von allen Seiten zu finden.
Der Verein für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung zählte Leiner
zu seinen Veteranen, verehrte in ihm den langjährigen stellvertretenden Sekretär
und ernannte ihn im Jahre 1893 zu seinem Ehrenmitglied. Weiter war
Leiner Ehrenmitglied des Münchener Anthropologischen Vereins (seit 1890},
der anthropologischen Gesellschaft für Württemberg (seit 1897), des historischen
Vereins des Kantons St. Gallen.
Badens Grofsherzog verlieh ihm 1873 das Ritterkreuz des Zähringer
Löwenordens II. Klasse; 1887 den gleichen Orden I. Klasse; 1888 das
Eichenlaub zu letzterem; 1893 die goldene Medaille für Kunst und Wissen-
schaft und ernannte ihn am Weihnachtsabend 1899, wenige Wochen vor Leiners
70. Geburtstage, ziun Hofrat. Die Stadt Konstanz ehrte Leiners selbstlose
Heimatliebe durch steigende materielle Unterstützungen seiner Bestrebungen;
sie feierte seinen 70. Geburtstag in aufsergewöhnlicher Ehnmg und erwies
ihm nach dem Tode ein öfientliches Leichenbegängnis auf städtische Kosten,
das sich zu einer gewaltigen Trauerkimdgebung aller seiner Mitbürger ge-
staltete.
Möge ihm die heimatliche Erde, die er so sehr geliebt, leicht sein!
Konrad Beyerle (Freiburg i. B.).
Der ordentliche Professor der Geschichte in Leipzig, ErichMarcks,
wurde in gleicher Eigenschaft an die Universität Heidelberg berufen; Fried-
rich V. Bezold in Bonn hat den an ihn ergangenen Ruf nach Leipzig ab-
gelehnt Als Nachfolger v. Heinemanns in Tübingen wurde Georg v. Below
aus Marburg berufen. An seine Stelle tritt Konrad Varrentrapp, bisher
in Strafsburg. An der Universität Czemowitz wurde Raimund Kaindl
zum a. o. Prof. für österreichische Geschichte ernannt, in Leipzig Felix
Salomon zum a. o. Prof.
In ^\1en habilitierte sich der Konservator am k. u. k. Heeresmuseum
Wilhelm Erben für österreichische Geschichte an der Universität; in Stutt-
gart an der Technischen Hochschule E. Marx aus Mannheim für neuere
Geschichte; in Berlin an der Universität Arthur Haseloff für Geschichte;
in Bern an der Universität der kantonale Staatsarchivar Heinrich Turler
für historische Hil&wissenschaften ; in Wien an der Universität Wilhelm
Hein für allgemeine Ethnographie.
— 31 —
Es starben am 5. April der a..o. Prof. der Geschichte in Strafeburg
Ernst Sackur 38 Jahre alt; am 9. April in Düsseldorf Archivrat Wilhelm
Sauer 58 Jahre alt; am 6. Mai der Bayerische Reichsarchivrat Georg
Hansen in München 49 Jahre alt; am 15. Mai in Leipzig der frühere
Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek Ludolf Kr e hl 76 Jahre alt;
am 17. Mai in Marburg der a. o. Prof. der germanischen Philologie Eugen
Joseph 46 Jahre alt; am ? Mai der Bibliothekar an der LAndesbibliothek
in Wiesbaden Henneberg 38 Jahre alt; am 31. Mai der pensionierte
Universitätsbibliothekar in Graz Alois Müller 65 Jahre alt; am 9. Juni
in Danzig der Provinzialkonservator Adolf Bötticher 59 Jahre alt; am
16. Juni der Prof. der Kunstgeschichte in Berlin Hermann Grimm 73 Jahre
alt; am 17. Juli in Bern der frühere Prof. der Geschichte Hidler 83 Jahre
alt; am 20. Juli in Posen der Vorsteher des Provinzialmuseums und der
LAndesbibliothek und zugleich Konservator der Kunstdenkmäler für die Provinz
Posen Franz Schwarz 37 Jahre alt
Im Bereiche der Kgl. Preufsischen Staatsarchive wurde ernannt der
bisherige erste Sekretär am Kgl Preufs. historischen Institut in Rom Prof.
Walter Friedensburg zum Direktor des Staatsarchivs in Stettin; der
bisherige Leiter des Staatsarchivs in Osnabrück Max Bär wurde in gleicher
Eigenschaft nach Danzig versetzt; in Düsseldorf wurde der Archivassistent
Richard Knipping zum Archivar ernannt; Georg Kupke, bisher
Assistent am historischen Institut in Rom, wurde als Archivar an das Staats-
archiv in Posen berufen. In Bayern wurde der Kreisarchivar in Neuburg
a. D. Franz Schneider wirth zum Assessor am k. allgemeinen Reichs-
archiv in München, der Kreisarchivsekretär Franz Joseph Riedler in
Bamberg zum Kreisarchivar in Neuburg a. D. tmd der geprüfte Reichsarchiv-
^praktikant Alfred Altmann zum Kreisarchivsekretär in Bamberg ernannt.
Der Direktor der Universitätsbibliothek in Berlin Wilhelm Ermann
wurde in gleicher Eigenschaft nach Breslau versetzt an Stelle von Joseph
Staender, der die Direktion der Bonner Universitätsbibliothek übernimmt
Der seitherige Direktor der letzteren, Karl Max Wilhelm Sc haar Schmidt,
ist in den Ruhestand getreten.
Am Germanischen Museum m Nürnberg trat der Archivar Rudolf
Scheidt in den Ruhestand, zum Assistenten daselbst wurde FritzTrau-
gott aus Dahlhausen in WestfSUen ernannt Als Direktor des neu errichteten
Museiuns f^ir Völkerkunde in Köln wurde Dr. Foy berufen.
Eingegangene Bfleher.
Rechenschafbbericht der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der
Ostseeprovinzen Rufslands, Abteilung für den Dombau zu Riga 1898,
1899 und 1900. Riga, W. F. Hacker, 1901. 76 S. 8^.
Reuter, Fr.: Drei Wanderjahre Platens in Italien 1826 — 1829 mit zehn
ungedruckten Briefen Platens an Kopisch. [47. Jahresbericht des
Historischen Verems für Mittelfranken. Ansbach 1900. S. i — 65.] 4®.
Richter, E.: Neue Erörtenmgen zum Historischen Atlas der österreichischen
Alpenländer. [Sonderabdruck aus den „Mitteilungen des Instituts für
österreichische Geschichtsforschung ". Ergänzungsband VI. S. 85 8 — 870.]
— 32 —
Riemann, Fr. W.: Das frühere Werdumer Archiv [= Jahrbuch der Ge-
sellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden.
Bd. XIU (1899), S. 70 — 91.]
Roth, F. : Leonhard Kaiser, ein evangelischer Märtyrer aus dem InnvierteL
[Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 66.] Halle, Max
Niemeyer, 1900. 51 S. 8^ M. 1.20.
Seh 00p, Aug.: Geschichte der Stadt Düren bis zum Jahre 1544. Erste
Lieferung. Düren, Kommissionsverlag von W. Solinus, 1901. 95 S. 8^.
Schulte, Aloys: Über Staatenbildung in der Alpenwelt. [= Historisches
Jahrbuch, 22. Bd., S. i — 22.]
Spangenberg, Hans: Beiträge zur älteren Verfassungs- und Verwaltuogs-
geschichte des Fürstentums Osnabrück. [Sonderabdruck aus Band XXV
der Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskimde zu Osnabrück,
1900.] 143 S. 8^
Stein: Das markgräfliche Haus von Schweinfurt. [= Archiv des Historischen
Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg, 42. Bd. (1900). S. 11 — 56].
Therstappen, Paul: Köln und die niederrheinischen Städte in ihrem
Verhältnis zur Hansa in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Marburger
Dissert. 1901. 120 S. 8®.
Tille, Armin: Getreide ab Geld. [= Jahrbücher für Nationalökonomie
und Statistik. 3. Folge, Bd. 20 (1900). S. 721 — 754.]
Vancsa, Max: Politische Geschichte der Stadt Wien von 1283 bis 1522.
[Sonderabdruck aus „Geschichte der Stadt Wien", herausgegeben vom
Altertumsverein in Wien, II. Bd. 2. Hälfte.] Wien 1901. 93 S. 4®.
Vancsa, Max: Bibliographische Beiträge zur Landeskunde von Nieder-
österreich im Jahre 1900. [Blätter des Vereins für Landeskunde von
Niederösterreich 1 90 1 .]
Derselbe : Die ältesten Steuerbekenntnisse der Stände in Österreich unter der
Enns. [= Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung.
Ergänzungsband VI, S. 459 — 472.]
Derselbe: Die älteste Erwähnung von Melk und nochmals der Grunzwitigau.
[= Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich, 1900.]
19 S. 8^
Voretzsch, Max: Regesten der Originalurkunden des Altenburger Rats-
archivs vom Jahre 1256 bis zum Schlüsse des 14. Jahrhimderts.
[Sonderabdruck aus der Festschrift zur 25 jährigen Jubelfeier des HerzogL
Ernst-Realgymnasiums zu Altenburg am 21. April 1898]. 36 S. 8^.
Wehrmann, Martin: Der Streit der Pommemherzoge mit den Witteis-
bachern um die Lehnsabhängigkeit ihres Landes. [= Baltische Studien.
Neue Folge. Bd. IV, 1900. S. 17 — 64.]
Zeller-Werdmüller, H.: Die Züricher Stadtbücher des XIV. und
XV. Jahrhunderts, II. Band. Leipzig, S. Hirzel, 1901. 422 S. 8^.
M. 12.
Zimmermann, Franz: Zur siebenbürgisch - deutschen Geschichtschreibung,
besonders über die Besiedlungsfrage. [= Mitteilungen des Instituts für
österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband VI. S. 705 — 738.]
iTerausgeher Dr. Armin Tille in Leipfig. — Druck und Verlag ron Friedrich Andreas Perthes in Gotha,
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
III. Band November 1901 2. Heft
flaGhträgliGhes und fleues zur Iiitteratur
der t^oland^Bildsäulen
Von
G. SeUo (Oldenburg)
Auf Veranlassung des Herausgebers soll hier eine Nachlese zu
meiner vor Jahresfrist veröflfentlichten Studie ^) über die Litteratur der
Roland -Bildsäulen gegeben werden. Diese kritische Rundschau hat
mir teils direkt, teils durch gefällige Vermittelung der Redaktion manche
Zuschrift eingetragen, die, als Beweise freundlichen Interesses an der
Sache, ich dankbar entgegengenommen habe. Und wo ich, unter
Berufung auf sie anpochend, um ergänzende Auskünfte bat, hat man
mir überall bereitwillig Rede und Antwort gestanden ; nur wenige, um
der Sache willen zu bedauernde Ausnahmen sind zu verzeichnen
gewesen.
Eine vollständige Bibliographie, und damit ein erschöpfendes
Repertorium aller unter dem Namen Roland in der Litteratur auf-
getauchten Bildwerke, war damals nicht von mir beabsichtigt, und ist
es auch jetzt nicht. Eine solche Arbeit würde schon ihres Umfanges
wegen sich nicht in den Rahmen der Deutschen Geschichtsblätter
fügen ^) ; auch ist das Material noch längst nicht in erwünschter
i) Vgl. Deutsche GeschichUblätter, IL Bd., Heft 1^3.
2) Um einen Begriff von dem Umfange za geben, welchen eine solche Bibliographie
beansprnchen würde, stelle ich hier die Tor-Zöpflsche Litteratur des Magdeburger Roland,
soweit sie mir bekannt ist, zusammen, zugleich auf das verweisend, was weiter unten bei
•den Rolanden von Berlin und Brandenburg verzeichnet ist. Magdeburger Schöffen-
chronik, hrsg. V. K. Janicke (Gironiken d. deutschen Städte VII, 1869), S. 168, 13;
347, 10 und Lesarten dazu; 404, 10. — Hartmann Seh edel, Chronicon mundi,
berg 1493, foL 180. — Volkslied aus der Zeit der Belagerung Magdebni^
bei Uhland, Volkslieder I, S. 556, v. Liliencron, D. histor. Volkslieder, IV^ ^ '
— 34 —
Vollständigkeit beisammen, und wichtige Vorfragen sind vorerst zu
erledigen. Ich erinnere z. B. nur daran, dafe für das plötzliche Er-
scheinen der Lausitzer Rolande in der Litteratur bis jetzt jeder
sachliche Erklärungsgrund fehlt, abgesehen von dem zu Ruh 1 and,
welcher ein dem Ortsnamen entstiegenes Phantom ist. Auch über
die „Brunswick-Säule'* zu Prag, welche im Rolands-Katalog figuriert,
mangelt m. W. jede nähere Nachricht. In dieser Richtung hat der
an die Lokalforscher gerichtete Appell in den Deutschen Geschickis^
blättern II, 89 noch keine Früchte getragen.
Zu einem Urteil freilich über die von je in erster Linie und auch jetzt
wieder so lebhaft erörterte Hauptfrage nach der Entstehung und
ursprünglichen Bedeutung der Standbilderreicht der vorhandene
historische und archäologische Stoff vollkommen aus; denn hierfür
ist es gleichgültig, ob wir einen Roland oder ein Paar mehr oder
weniger kennen, die eigener Geschichte entbehren.
Damit ist die Roland frage aber nicht erledigt. Seit dem
Anfange des XV. Jahrhunderts gewinnen die Standbilder für das
städtische Leben Norddeutschlands eine so völlig neue, umfassende,
auf- und absteigende Bedeutung, dafs es wünschenswert ist, das ganze
Material zu beherrschen, um den kulturhistorischen Gemein-
wert der monumental- symbolistischen Strömung, welche durch ver-
borgene Kanäle bis weit über die Grenzen Sachsenlands hinausdrang,
richtig einschätzen zu können.
vgl. „Die Magdeb. Presse z. Z. der Reichsacht n. s. w.*', MoDtagsbeibl. d. Magdeb. Z^^t.
1876, nr. 22, S. 173. — G. Torqaatns, AnnaL Magdeb. et Halberstad. 1574 (bei
Boyten, Monam. ined. S. 164 ff.). — Joh. Fomarius, Sammar. Begriff d. Magdeburg.
Stadtchron. 1587, Sign. SiiaTiij»Xih, — Ders., Chronica der Sachsen, 1588,
S. 457. — Karl V. Zierotins Reisebericht 1588, s. Magdeb. Gesch.-Bl. U, 242. —
Nath. Chytraeus (f 1598), Variomm in Europa itinemm deliciae et inscriptionnm
moniimenta (3. Ausg. 1606, S. 352, s. Magdeb. Gesch.- Bl. III, 215). — Joh. Gry-
phiander. De weichbildis Saxonicis etc. 1625, S. 245—247. — M. Zeil 1er, Itinera-
rium Germaniae 1632 (1674, S. 127; Reisebericht von 1612); Continnaüo I, 1639, S. 72. —
P. Bertius, Commentar. res. German. 1632, S. 601. — Benj. Leuber, Disquisitio
plenaria stapulae Saxonicae 1658, { I256ff. — Gottfr. Gengenbach, Die Stadt
Magdeburg, d. i. Knrtze Beschreibung der Stadt M. 1678, S. 4. — Joh. Vulpius,
Magnificentia Parthenopolitana 1702, S. 114. 251. — Calvisius, Das zerstörte und
wiederaufgerichtete Magdeburg 1727, S. 107. — Joach. Christ Westphal, De
insignibns Magdeburgi 1729, S. 21. — (J. H. Dielhelm) Antiquarius des Elbstroms
1741, Vorrede, Bl. 2. — W. H einzelmann. Über die Rolandssäulen etc., in (Kruses)
Deutsche Alterttlmer u. s. w. III, 1829, 374. Heft, S. 125. — v. Quast, Die Statue
Kaiser Ottos d. Gr. zu Magdeburg, in Ztschr. f. christl. Bauk. d. MA. I, 1858, wieder-
holt Magdeb. Gesch.-Bl. VII, 202.
— 35 —
Aus diesem Grunde wäre es vielleicht richtig gewesen, schon
in jener Rundschau des verflossenen Jahres die Rolande des Deutsch-
ordensgebietes an der Ostsee zu erwähnen, obwohl dieselben
keine eigentliche Litteratur besitzen. Denn den von Elbing (1404)
erwähnt nur Zöpfl, den von Königsberg (o. J.) Götze, und über
den von Riga (1412/13, 1473/74) liegt allein ein kurzer Vortrag von
H. Hildebrand vor*).
Das kulturhistorische Gesamtbild läfst sich leicht in eine Anzahl
inhaltlich anziehender Einzelgruppen zerlegen, deren gesonderte Be-
trachtung wohl der Mühe lohnt.
Da wäre zunächst etwa zu beobachten, wie der Doyen aller Ro-
lande, der Bremer y im Verfassungs- und Volksleben der Stadt eine
ganz einzige Rolle spielte, ja zum Teil noch heute spielt, und darum
in der Dichtung (Rückert, Hauff, Fitger u. a. m.) seinen gebührenden
Platz erhalten hat.
Der Berliner Roland versucht mit dem Bremer in dieser Hin-
sicht zu rivalisieren. Einiges aus diesem Kapitel hat Richard George
zusammengestellt (Willibald Alexis, Joseph Lauff, Ruggiero Leon-
cavallo) *). Doch wäre zunächst die Geschichte der Statue festzulegen.
So kurz und fragmentarisch dieselbe, so lehrreich ist sie doch, be-
sonders für die Geschichte der Rolande überhaupt. Auf ihre Ent-
stehung und die daraus zu ziehenden Folgerungen einzugehen, mufe
ich mir hier versagen *) ; rücksichtlich ihrer weiteren Schicksale hat
die Kritik vornehmlich die unerfreuliche Aufgabe, üppige Wucherungen
lokaler Geschichtsklitterung zurückzuschneiden.
Die Kunde von der früheren Existenz eines Roland in Berlin war
völlig geschwunden; sie wurde erst wiedererweckt, als E. Fidicin
i) „Die Rolandfsäalen und der Ruland von Riga'*, Sitzungsberichte d. Gesellsch. f.
Gesch.- n. Altert.-K. d. Ostseeprovinzen Rufslands, Riga 1875, S. 69 — 77; fiilst in seinem
allgemeinen Teil lediglich auf Zöpfl, der mehrfach mifsverstanden wird. Über den höl-
zernen Roland zu Riga bringt der Verfasser S. 76 zwei kurze Notizen aus dem städtischen
Ansgabebuche fttr 1405/74, und meint, die Stadt habe schon in viel früherer 2^it vor
14 12 infolge des stets regen hambni^isch • bremischen Einflusses einen hölzernen Roland
besessen.
2) „Hie gut Brandenburg alleweg!" Geschichts- und Kulturbilder aus der Vergangen-
heit der Mark und aus Alt-Berlin bis zum Tode d. Gr. KurfUrsten. Berlin 1900, S. 265 ff. —
Vgl. auch O. Tschirch, Wilibald Alexis als vaterländischer Dichter und Patriot, Forsch,
z. Brandenb. u. Preufs. Gesch. XII, 1899, S* 509^*; insbes. über den Roman „Der
Roland von Berlin" S. 529 ff.
3) Ich beziehe mich deswegen auf meine unten zu erwähnende Monographie t^'
den Bremer Roland, welche sich z. Z. im Druck befindet.
3*
— 36 —
i837 das Berliner Stadtbuch (dessen Manuskript im Jahre vorher
durch Schenkung des Bremer Senats in den Besitz der Stadt Berlin
zurückgekehrt war) veröffentlichte ^). Es giebt keine ältere „Sage**
von dem Standplatze des Roland vor dem Hause „Zur Rippe** am
Molkenmarkt; Fidicin ^) hat die von A. Cos mar*) mitgeteilte ätio-
logische Sage von dem Riesen, dem Eroberer Berlins und Bewohner
dieses Hauses, an welchem, nachdem er von einigen Bürgern erschlagen,
des Getöteten Rippe und Schulterblatt *) zum Wahrzeichen befestigt
wurden, euhemeristisch auf den von ihm wiederentdeckten Roland
übertragen; das brachte Oskar Schwebel**) auf die groteske Ver-
mutung, die beiden Knochen seien ein spöttisches Erinnerungszeichen
an die Zerstörung des Roland. Es giebt keine „dunkle, sagenhafte
Kunde", dafe diese Zerstörung infolge der Unterwerfung Berlins durch
Kurfürst Friedrich IL im Jahre 1448 erfolgt*), und keine „Sage**,
dafe das Standbild im Berliner Schlosse vergraben wieder aufgefunden
worden sei '). Jenes ist historische Hypothese, und dieses willkürliche
Umformung der Sage von dem schwertbewaffneten, automatisch rich-
tenden, steinernen Jungirauenbilde im Schlosse ®).
Einige allgemeine Roland -Notizen giebt Fidicin aufeerdem •).
K. F. v. Kl öden läfst die Errichtung der Bildsäule unmittelbare Folge
i) Histor. diplomat. Beiträge z. Gesch. d. Stadt Berlin I, 1837.
2) 1. c. n, 555.
3) Sagen und Miscellen aus Berlins Vorzeit 1831, S. 114. Einfacher bei A. Kuhn
und W. Seh war tz, Nordd. Sagen u. s. w. 1848, nr. 80 (mündl.; vgl. Anm. dazu S. 479);
danach in den verschiedenen Ausgaben von W. Schwartz, Sagen o. alte Geschichten
aas der Mark Brandenburg (i. Ausg. 1871, S. 57).
4) Sie sind von Holz and mögen als Wirtshauszeichen gedient haben; verwandt ist
die Bezeichnung des Hauses „Zum blutigen Knochen** in Brandenburg.
5) Kulturhistor. Bilder aus der deutschen Reichshauptstadt 1882, S. 188.
6) O. Schwebel, Aus Alt-Berlin 1891, S. 17.
7) L. Schneider, Der Roland von Berlin 1875, S. 2. O. Schwebel,
1. c. S. 18.
8) A. Kuhn, Mark. Sagen und Märchen 1843, Nr. 122 (mttndl.). Diese „steinerne**
Jungfrau ist wieder eine wunderliche Metastase des berufenen Folter- und Richtinstmraents
der „eisernen" Jungfrau, deren Vorhandensein im Berliner Schlosse W. Schwartz,
Sagen u. alte Gesch., i. Ausg., S. 57, erzählt VgL M. F. Rabe, Die eiserne Jangfraa
und das heimliche Gericht im Kgl. Schlosse zu Berlin 1847; K. F. v. Klöden, Andreas
Schlüter 1861, S. 56. 57.
9) L c. I, 31; n, 555; vgL auch Sello, Die Gerichtsverfassung u. d. Schd£fenrecht
Berlins bis z. Mitte des 15. Jh., in Mark. Forsch. XVI, 1880, S. 11. Die Jabilfioms-
ausgabe des Berliner Stadtbuches 1883, besorgt vom Stadtarchivar Dr. Clauswiiz,
^t den Roland gar nicht in ihr Register aufgenommen.
dei Verleihung des Blutbannes an die Stadt i. J. 1391 sein »). Eine
phantastische Abbildung vom „Moikenmarkt vor 500 Jahren" mit
dem Roland findet sich in dem Prachtwerke M. Rings, Die deutsche
Kaiserstadt Berlin (1883, S, l). Wundersame Dinge hat Schwebel
über das Aussehen der Berliner Statue verbreitet. Er beschreibt ')
„des Rates gehamischten Mann" als „ein riesenhaftes Bildwerk, auf
dessen uraltem Haupte dunkelgrünes Moos gewachsen war, dessen
scharfes Schwert indes vom Rate spiegelblank und ßchartenlos ge-
halten ward, damit dasselbe jeden Friedebrecher schreckte. Den Roland
zu Stendal (von 1525) verwendet er als Modell für den Berliner
(XIU./XIV. Jh.) '); indem er den wulstigen Rand der federgeschmückten
Harnischkappe des ersteren milsverstebt und des Hauslauch-Käppchens
des Brandenburger Roland sich erinnert, verfällt er schliefsüch auf
das „Laubkränzlein", welches dem Berliner Recken „gar keck auf
dem lockigen, lang herabwallenden Haar" gesessen habe *).
Die schaurigen Hinrichtungen vor dem Roland, welche Richard
George mit Schwcbels Worten schildert'), haben an dieser Stelle nie
stattgefunden.
Wie weit das 1886 bb zum Entwurf eines Titelblattes und Arbeits-
planes gediehene ,, Verzeichnis der geschichtlichen und kunstgeschicht-
lichen Denkmäler Berlins" inzwischen gefördert, fiir welches E. Friedel
die Bearbeitung des „Roland von Berlin" und die kurze Behandlung
der „Rolandfrage, soweit Berlin in Frage kommt", übernommen hat,
weifs ich nicht.
Archäologischen Spiritismus möchte man das Bestreben nennen,
dem längst verschollenen Bilde neues körperliches Dasein zu verleihen.
Von dem Plane des Berliner Geschichtsvereins, die Statue wieder auf
ihrem alten Standplatze , dem Molkcnmarkte , zu errichten, ist bereits
früher die Rede gewesen ") ; inzwischen ist der Recke in plumper Nach-
ahmung seines Brandenburger Bildes als Statist eines Lauffschen Dramas
auf der Hoibühne zu Wiesbaden aufgetreten, u '
in der Woche abkonterfeit worden; demnächs
Tiergarten, am Ende der Siegesalice, auf einem
nachdem, wie es heifst, der Magistrat die Aul
l) Erläuterung eiaiger AbschniUe des alten Berliaiscben
3) KoltDrliiitor. BUder etc. S. 1S7.
3) Ans Alt-Berlin S. 6.
4) 1. c S. 6. 17.
5) I. c S. 464; ich vermag die SteUe in ScbwebeU Seh
6) Deatsche GescbichtsbL II, 44.
— 38 —
Werks vor dem Rathause abgelehnt hat. Ist das, was die Tageszeitungen
über die Gestaltung der in Höhe von 3^^ m geplanten Figur zu be-
richten wissen, richtig, so wird dieselbe zu mancherlei erheblichen Be-
denken Anlafe geben. Und doch ist es gerade hier so leicht, das
historisch-richtige zu treffen.
Harmloser als diese gekünstelten Berolinismen mutet uns die Hul-
digung an, welche der verstorbene Kreisgerichtssekretär Seligo dem
Brandenburger Roland ^) am 400. Jahrestage der Errichtung seiner
dort noch, wenn auch nicht unverändert, stehenden Statue in dem
kleinen scherzhaften Epos: „Die Schwertweihe des neuen steinernen
Ruland den 2. Dezember 1474 n. Chr. Geburt", darbrachte *). Gar
sinnig aber war die Ehrung, welche der Brandenburger Geschichts-
verein einige Jahre früher (1871) durch Überreichung einer künstlerisch
in Ebenholz und Silber ausgeführten Nachbildung des Roland seinem
um die Geschichte von Stadt und Mark Brandenburg wohlverdienten
Ehrenpräsidenten, dem Professor Heffler, zum achtzigsten Geburtstage
erwiesen hatte ').
Dafs die erste Erwähnung der Bildsäule im Brandenburger Stadt-
buche und die Deutung der dort eteostichich verzeichneten Jahreszahl
(1402), sowie die älteste Jahreszahl an dem jetzigen Stützpfeüer der
i) Ich verzeichne folgende ältere Litterator über denselben: G. Sabinns, de Brande-
burgo, 1552 u. öfter, von Z. Garcäns (f 1585/86) bis auf seine Zeit fortgeführt und
mit Anm. versehen im 3. Buche seiner Snccessiones familiarum etc., edit J. Gottl. Krause,
1729, 2. Teil, S. 342 und Anm. auf S. 344. — N. Leuthinger, Topogr. prior
Marchiae 1597 (edit. Krause 1. c. S. 8). — Andr. Angelus, Annales Marchiae Bran-
denburg. 1598 (S. 26: Vom grofsen Ruland zu Brandenburg, mit Holzschn.). —
M. Zeiller, Itinerarium Germaniae 1674 (zuerst 1632), S. 382. 383. Continuatio I,
1639, S. 205. — Joach. Fromm, Nomenclatura rerum, quae Brandeburgi sunt etc.
1679, neu hrsg. von Casp. Gottschling 1727, S. 40, Gottschlings Anm. S. 158. (Platz-
veränderung des Roland 17 16, Okt. 27; nach den gleichzeitigen Aufzeichnungen des Pastor
Loesecke zu Plane dagegen, XIII.— XVL Jahresber. d. Brandenb. Gesch.- Ver., S. 11 im
Jahre 1719.) — P. L. Berckenmeyer, Curieuser Antiquarius 1712 (i. Aug. 1709),
S. 577» — Nath. Reinh. Schaff er, Kurzer Bericht von einigen z. Kirchen-Historie
der Stadt Brandenburg u. s. w. dienlichen Nachrichten 1737, S. 3. — v. Rochow,
Geschichtl. Nachrichten von Brandenburg 1821 (lithogr. ; 2. Ausgabe von M. \V. Hefifter
1840, S. 78). — W. Heinzelmann, Über die Rolandssäulen etc., in (Kruses) Deutsche
Altertümer etc., Halle III, 1829, 3./4. Heft, S. 119.
2) Anonym, doch mit dem Wahlspruch des Verfassers: „Quod placet seligo" be-
zeichnet, Brandenburg 1874, bei J. Wiesike; vgl. übrigens VII.— XII. Jahresber. d, histor.
Vereins z. Brandenburg a. H. 1881, S. 5. — Die dem Epos beigegebene, von C. St(imming)
gezeichnete Doppelansicht des Rolands (von vorn und hinten) ist nichts wert.
3) II./m. Jahresber. pp. 1872, S. XXXI.
— 39 —
Statue (1474) ein kleines bellum diplomaticum hervorgerufen ^), sowie
dafs die vom Brandenburger Stadtarchivar ausgeführte Roland-Escalade
diesen bezüglich des hypothetischen Schildes der Statue zu anderen
Ergebnissen geführt, als Wernickes frühere Untersuchung ergeben
hatte '), mag der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
Auf dem Haupte trägt der Brandenburger Roland ein Käppchen
von grünendem Donnerbart (Hauslauch, Sempervivum tectorum), welche
Pflanze dem Donnergott heilig ist'); sinnige Verwertung dieses Mo-
ments in der Donar-Roland-Theorie ist bis jetzt zu vermissen.
Die angebliche Darstellung unserer Statue auf städtischen Mün-
zen, insbesondere aber auf den Siegeln der Neustadt-Brandenburg,
wie sie etwa seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts üblich sein soll
(worüber viel Ungereimtes geschrieben ist) *), führt in ein neues Ka-
pitel der Rolands-Archäologic ein.
Es würde an und für sich nicht Wunder nehmen, wenn die so
volkstümlichen Bildwerke als besonders repräsentative Stadtwahrzeichen
auf Münzen — ich verweise auf die Bremer Denkmünzen des XVII. Jahr-
hunderts — , Siegeln und Wappen häufiger Verwendung gefunden hätten.
Dennoch wird nur verhältnismäfeig wenig darüber berichtet, und dieses
Wenige beruht zum grofeen Teile auf Einbildung. Besonders ist hier
das von Zöpfl wieder ausgegrabene Gerichtssiegel Kurfürst Siegmunds
für die Ukermark zu nennen, auf welchem Chr. Grundtmann^)
die Figur des Landesherm als die „eigentliche Vorstellung einer sogen.
Rolandssäule" erklärt. Produkt modernen heraldischen Sports dürfte
i) Vgl. E. Friedländer in Ztschr. f. Preufs. Gesch. u. Landesk. V, 1868, S. 453;
G. Sello, Brandenburgische Stadtrechtsquellen, in Mark. Forsch. XVIII, 1884, 8. 5.
64. 108.
2) XXI. — XXV. Jahresber. pp. 1894, S. XIV flf., nebst „Berichtigungen" dazu. —
E. Wernicke bei R. Berg au, Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz
Brandenburg 1885, 8. 278. — Die Ansf&bmngen von Berg au selbst (1. c. S. 128. 129)
über die Rolande im allgemeinen und die märkischen im besonderen sind unerheblich.
3) Chr. Petersen, Der Donnerbesen, Kiel 1862, 8. 19; A. v. Perger, Deutsche
Pflanzensagen 1864, S. 167.
4) J. F. Weidhas, Die Brandenburger Denare 1855, S. 4. 21. — E. Bahrfeldt,
Das Münzwesen der Mark Brandenburg, 1889, S. 125 fif. 178. — Dan. Fink, Auszug
aus einem Manuskr. desselben bei A. Fr. Büsching, Beschreibung seiner Reise von
Berlin ... nach Rekahn 1775, 8. 258. — M. W. Heffter, Gesch. d. Kur- und Haupt-
stadt Brandenburg 1840, S. 163. 385. — R. Schillmann, Gesch. d. Stadt Branden-
burg a. H. 1882, 8. 549. 5 50 ff. — Vgl. dazu Sello, Siegel der Alt- u. Neustadt
Brandenburg 1886, S. 16 ff.
5) Versuch einer Ucker-Märckischen Adels-Histone, Prenzlau 1744, fol., S. 134,
mit Abb.
— 40 —
der Roland im Stadtwappen von Bramstedt, und im „Wappen" des
Dorfes Buch sein *).
Infolge Mifsverstehens seiner Quelle behauptet Zöpfl (S. 296),
der 1404 errichtete hölzerne Roland zu Elbing habe die einzige Be-
stimmung gehabt, als Schandpfahl und Pranger zu dienen. Die Stadt-
rechnung von diesem Jahre bucht zwar die Kosten für Halseisen und
Krampen unmittelbar hinter denen für Roland, allein ohne jede Be-
ziehung auf dieses ; Schliefezeug zur öffentlichen Ausstellung von Delin-
quenten fand sich wohl hier und da in der Nähe des Roland, oder
am Gitter desselben — ich habe diese Pietätlosigkeit blofe bei einigen
jüngeren Rolanden, nie bei einem der alten gefunden — doch nur,
weil der Platz ein recht in die Augen fallender war. Die gehamischten
Figuren aber, welche die reicher ausgebildeten Prangerbauten ver-
mögender Städte *) krönten, sind nicht nur öfter irrig zu Rolandbildern
i) G. G. Winkel, Die Wappen und Siegel der ... Altmark und Priegnitz, io
XXIV. Jahresber. d. Altmärk. Vereins f. vaterländ. Gesch. u. Industrie zu Salzwedel, Abt.
f. Gesch., Heft i, 1894, S. 18, mit farbiger Abb. Taf. i. — Über den Roland zu Buch
mögen hier noch zwei Notizen folgen, welche hoffentlich den Rolands-Mythologen und
vielleicht auch diesem oder jenem Rechtsbistoriker Freude machen werden. Aus Be>
richten, welche die Prediger der Altmark der Gesellsch. f. ThUring.-Sächs. Gesch. zu Halle
über „wüste Dörfer, geschichtliche und sonstige Merkwürdigkeiten" erstatteten, teilt
G. W. V. Räume r in v. Ledeburs Allgem. Arch. f. d. Gesch.-K. d. Preufs. Staates XIV,
1834, S. 289 mit, dafs die Statue zu Buch am Pfingstfeste von den jungen Leuten be-
kränzt werde. Von der verwitterten Inschrift am Piedestal sei nur noch der Name
Johann v. Buch zu lesen. Das Standbild hänge mit der Sage zusammen, dafs Buch
früher Stadtgerechtigkeit gehabt habe, und dafs in der noch jetzt Komstrafse genannten
Gasse Kommarkt gehalten sei. Verwiesen wird auf Thamms Vaterlandskunde 8. 5. Der
Kupferstich bei Beckmann, Churmark II, Taf. III, zeigt freilich ganz andere Namen.
2) Über den Pranger zu Bremen vgl. Casp. Schneider, Saxonia vetus, ed. J. C. Knauth
1727, S. 275; über den zu Magdeburg Gottfr. Gengenbach, Stadt Magdeburg 1678, S. 24,
vgl. G. Hertel, Strafsen- und Häusernamen von Magdeburg, Magdeb. Gesch.-BL XIV, 1879,
S. 251 ff. Dafs auch Hamburg ein solches Gebäude besessen, lälst die Miniatur des
Hamburger Stadtrechts von 1497 vermuten (Abb. bei Fr. Heinemann, Richter und Rechts-
pflege in der deutschen Vergangenheit, zu S. 56; desgl. bei G. v. Below, Das ältere
deutsche Städtewesen und Bürgertum 1898, Abb. 47 zu S. 50). Der Gehamischte auf
der gothischen (der Hamburger ähnlichen) „Staupsäule*' von 1492 zu Breslau ist auf der
Abb. bei v. Below 1. c. S. 83 nicht zu erkennen; ein süddeutscher gothischer Pranger
(zu Schwäbisch-HaU) ist ebenda S. 46 in sehr kleinem Mafsstabe abgebildet Wunderlich
ist V. Belows Bemerkung (S. 63]: „Häufig wurde dem zum Prangerstehen verurteilten
Delinquenten zugleich ein Halseisen angelegt. Daher wird Halseisen gelegent-
lich auch im Sinne von Pranger gebraucht.*' Das Halseisen war keine Zugabe, keine
Strafschärfung, sondern mittels desselben wurde der Delinquent überall da an die Schand-
säule angeschlossen, wo kein Käflg (wie die Hamburger Miniatur zeigt) vorhanden war,
um ihn einzusperren.
— 41 —
gemacht worden, sondern haben auch, wie wir II S. 41 gesehen haben,
zu der Behauptung gefuhrt, dals Roland und Prangerfigur sachlich das-
selbe bedeuten. Auf Grund dieser Behauptung hat man denn auch
in Schleswig einen Roland ge^den ^). Da(s Rolandstatuen und
Prangerbilder nicht dasselbe bedeuten sollen, ergiebt schon ihr Typus.
Letztere sind gehamischte Stadtdiener, welche den Strafvollzug an-
drohen. In Magdeburg und Bremen standen umfangreiche Pranger-
bauten mit solchen Bütteln neben dem Roland auf dem Markte.
Immerhin wäre es wünschenswert, wenn die Spezialforschimg sich ein-
mal mit der architektonischen und skulpturellen Gestaltung dieser mo-
numentalen Requisite mittelalterlicher Justiz näher befassen wollte.
Das direktionslose Buch F. Heine man ns, Richter und Rechtspflege
in der deutschen Vergangenheit, (Monographieen z. deutsch. Kultur-
gesch., hsg. von G. Steinhausen, IV. Bd., o. J.), welches Veranlassimg
gehabt hätte, darauf einzugehen, hat sich diese Mühe gespart.
In neuester Zeit hat S. Rietschel (S. 228) wieder darauf hin-
gewiesen, dafs „sich wiederholt noch im MA. Quellenstellen finden,
welche für eine Deutung der Rolande als Wahrzeichen der Blut-
gerichtsbarkeit sprechen**: in Zerbst wie in Halberstadt seien am
Ende des XIV. bezw. am Anfange des XV. Jahrhunderts Hinrichtimgen vor
dem Rolande vollzogen; dieselbe Sitte werde in Prenzlau erwähnt:
in Burg, Stendal, Halle sei das Halsgericht vor dem Rolande ab-
gehalten worden. Wer zu so erheblichen Schlufsfolgerungen solche
Argumente ins Feld fuhrt, thut gut, dieselben vorher auf ihre Stich-
haltigkeit zu prüfen und sie nicht blofs aus Zöpfl zu entnehmen.
Für beide Thatsachen könnte ich noch weit mehr Beispiele nennen,
imd doch würde dadurch ebenso wenig bewiesen, wie durch die von
Rietschel gewählten.
Auf den Marktplätzen fanden sich mehr oder weniger vollständig
zusammen: Dingstätte, Roland, Kaiserbild, Pranger (mit Büttelfigur),
Brunnen (mit Stadtknechtsfigur), in späterer Zeit der Soldatengalgen
und andere Strafwerkzeuge der militärischen Strafrechtspflege, lediglich
weil hier der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens war. Der gewöhn-
liche Richtplatz lag aufserhalb der Stadt; ausnahmsweise wurde in be-
sonders sensationellen Fällen das Schaffot ebenfalls auf dem Markte
errichtet So war es 1385 in Zerbst, wo ein vom Botding heim-
kehrender Schöffe auf offener Strafse in der Nähe des Rathauses
i) A. Sach, Gesch. d. Stadt Schleswig 1875, S. 169. 170; geföllige Mitteilnng des
Herrn Geheimen Archivrat Dr. HiUe in Schleswig.
— 42 —
meuchlings erstochen worden war*), so in Halberstadt, wo, wie es
heilst, 1423 die Aufständischen vier Ratsherren beim Roland enthaupten
liefsen. Dieses Ereignis wird in keiner mittelalterlichen Quelle be-
richtet, sondern in der erst 15 12 zusammengestellten, wenn auch zum
Teil auf älteren Lokalquellen beruhenden Historia sedüionts Hai-
berstadensis *) ; der Halberstädter Roland könnte danach sehr wohl
erst 1433 errichtet sein (Jahreszahl am Gürtelschlofs ; ältere Nachrichten
fehlen), der Verfasser der „Historia" aber die spätere Staffage des
Marktplatzes in eine frühere Zeit hinaufgerückt haben. Die auf
Frenz lau bezügliche Angabe bei Bekmann entbehrt in ihrer Un-
bestimmtheit der Beweiskraft. Was aber den behaupteten inneren Zu-
sammenhang von Dingstätte und Roland anlangt, so wird der beste
Beweis dafür, dafs dem Mittelalter ein solcher unbekannt war, dadurch
erbracht, dafs in Berlin und Hamburg während des XIV. Jahr-
hunderts beide mehrere Strafsen weit entfernt von einander lagen.
Dafs seit der Mitte des XV. Jahrhunderts der Hall es che Roland mit
der dortigen Schöffenbank „auf dem Beige" in engere Beziehung
gebracht wird, ist nichts als eine Folge der neuen, zuerst in Bremen
offiziell angenommenen Auffassung der Roland-Standbilder als Urkunds-
zeugen kaiserlicher Privilegierung, sei es mit der Freiheit vom Stadt-
herm, oder, wo von einer solchen nicht die Rede sein konnte, mit
anderen Grundrechten, wie es für Halle der Besitz des Kollegiums der
Bergschöffen zweifellos war.
Um diese merkwürdige geistige Strömung des XV. Jahrhunderts
nach allen Richtungen hin ganz ermessen zu können, wäre es er-
wünscht, dafs die Entwickelung der Sage von der Begnadung
der Sachsen mit ihrer „alten Freiheit** durch Karl d. Gr.
und von der Teilnahme des Paladins Roland daran bei den
populären norddeutschen Geschichtschreibern des XIV. bis XVI. Jahr-
hunderts methodisch untersucht würde. Die Litteratur über die Karl-
und die Roland-Sage, soweit sie mir bekannt ist '), reicht nicht in so
späte Zeit herunter oder befafst sich mit dieser Spezialfrage nicht.
i) Petcr Beckers Zcrbster Chronik, S. 6.
2) Bei H. Chr de Scnckenberg, Selecta iuris et historiarum 1734 ff.» VI, 200 ff.
3) Ich nenne: G. Storm, Sagnkredsene om Karl den störe og Didrik af Bern hos
de nordiske folk; Kristiania 1874. — Th. Eicke, Z. neueren Litteratargeschichte der
Rolandsage in Deutschland und Frankreich. Eine litterarhistorische Studie, Leipzig 1891.
Nicht zugänglich waren mir A. M. Weifs, Studien über die Rolandsage, Hist. Jahrbuch I
— 43 —
Zur Klärung der Begriffe würde es voraussichtlich beitragen, wenn
man einmal den Rolanden, die ziemlich zahlreich auf deutschem Boden,
vornehmlich im Süden, vereinzelt aber auch in Sachsen und bis Lübeck
hinauf sich findenden eigentlichen Kaiser- und Königsbilder in mög-
lichst vollständiger und ikonographisch zuverlässiger Sammlung gegen-
überstellte. Beide treffen in dem sogen. Roland von Wedel zu-
sammen, welcher, den Typus des neueren Königsbildes mit der Statur
der Rolande vereinigend, m. E. nur ein Beispiel für die Thatsache ist,
dafe man in späterer Zeit, ohne Rücksicht auf den historischen Cha-
rakter der Rolandbilder, den Rolandnamen zunächst wohl auf
andere Bildwerke kolossaler Art, dann aber als Gattungsname auf
alles Übergrofse in der Natur, Belebtes und Unbelebtes, übertrug. Von
dieser Thatsache ausgehend wäre zu untersuchen, wie die Sage von
der Riesengröfse Rolands entstand und sich weiter entwickelte.
Bei Turpin und im Ruolandes-liet finden sich wohl ausreichende Zeug-
nisse für seine riesenmäfeige Stärke, aber, soweit ich sehe, nicht für
seine riesenhafte Gröfse. Dafs der deutsche Dichter sich nicht aus
ästhetischen Gründen der Schilderung letzterer enthielt, zeigt seine
Beschreibung von Rolands Stiefvater Genelun (v. 165 1):
er was thrier eilen breit
eneben siner ahsel.
lanc was er gewahsen,
gröz sin gebeine.
Auch die Heidelberger Bilder zum Ruolandes-liet deuten keine
besondere Körpergröfee des Helden an. Einen Zug riesenhafter Un-
geschlachtheit finde ich erst bei Stricker (hrg. v. K. Baitsch, v. 3935 ff.),
wo Roland seinen Speerschaft so hart auf den Felsen setzt, dafs er
anderthalb Fufs in denselben eindringt. Die beliebten riesigen S. Christo-
phorus-Wandgemälde scheint man gern mit dem Gattungsnamen Ro-
land belegt zu haben. Aus einem solchen mag der angebliche Roland
zu Braunschweig entstanden sein. Der in diesem Punkte wenig
zuverlässige Leu thinger *) erwähnt allerdings eine Statue Rolands
daselbst, und Gryphiander (1625, S. 246) folgt ihm. Wir erfahren
dann nichts weiteres, bis 1847 ^^^ Kreisgerich tsregistrator Sack sich
der Sache annahm*). Ihm zufolge „befand sich auf dem Burghofe
(1880), S. 107 — 140 (Mitteilung von Dr. Armin Tille); Fofs, Zur Carlssage; II. Programm
der Victoriaschule in Berlin 1869 (Mitteilung von Dr. Ludw. Fränkel in AschaflFenburg).
i) Comment. d. March. Brandenb. lib. XIV (1593, edit. Krause S. 484).
2) „Die Befestigung der Stadt Braunschweig** in Arch. d. hist. Vereins f. Nieder-
sachsen, Neue Folge, Jahrg. 1847, S. 224.
— 44 —
das Gerichtsbild, der sogen. Roland, Ruland oder Rugeland, wie solches
in einer Beschreibung des Planes der Stadt, welche 1569 am Hof-
gericht zu Speier produziert wurde, genau enthalten ist Dieser Ro-
land . . . kann wegen mangelnder Nachrichten nicht näher beschrieben
werden. Nach den mir zur Hand gekommenen Dokumenten hat der
von Heinrich d. L. 11 66 errichtete Löwenstein jedoch späterhin hier
als Gerichtsbild oder Roland gedient". In einer Anmerkung heilst es:
„Der Roland stand auf der Stelle, wo die v. Bartenslebensche Be-
sitzung lag, welche damit beliehen, deshalb auch ,der Ruland*, ,am
Ruland* oder , Roland* genannt wurde**. In den KoUektaneenbänden
Sacks ^) im Braunschweiger Stadtarchiv findet sich nun ein „Extract*'
der „Beschreibung etc.**, woraus sich ergiebt, dafe der ,, Stadtplan**
zunächst nicht „von 1569**, sondern von „etwa 1569** (d. h. aus der
Regierungszeit Herzogs Julius 1568 — 1589) gewesen, imd dafe es hin-
sichtlich des angeblichen Roland daselbst hiefs: in dem bezirk des
beslossenen burg-orts nacher dem Sacke werts . . . auf der . . .
seilen des einen burgtores zur rechten der v. Bartensieben sitz,
Ruhlandt genandt. 1577 wird dieses Haus als „inderburgk, des
Rulandes, auf der freiheit**, d. h. der vom Stadtrecht und der Juris-
diktion des Rates eximierten Burgfreiheit, bezeichnet. Der Name, wel-
cher vor der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts nicht vorzukommen
scheint, wurde auch auf den ganzen Platz übertragen, wie folgende
Ortsbezeichnimgen bekunden: auf dem Rulande, 15 70; up dem Rut-
lande, up dem Rollande, 1594; Haus an dem Ruelande, 1640; der
Ruhlandt, 1622; der sogenanle Rolandsplatz, 1681 ; aufm Rulande,
1752.
Trotzdem werden die Donar-Verehrer unter den Rolandforschem
an der Braunschweiger Statue festhalten, denn abgesehen von der
schon bei Platen (I, S. 32) erwähnten Petrikirche (nicht diese, resp.
eine ältere Petrikapelle, sondern die Marktkirche wiurde wahrscheinlich
861 geweiht), stand an Stelle des Doms S. Blasii, Chr. Bothes Sachsen-
chronik zufolge*), also dicht bei dem „Rolandsplatz**, eine Peters-
und Pauls-Kirche, und Sack hat auf alle Fälle noch einen zweiten
Roland bei der Hand, eine bemalte Königsfigur mit kupfernem Scepter
an dem 1460/70 erbauten, als Schuldgefängnis dienenden, „Gieseler**
genannten Mauerturm der Altstadt, welche „das Bild des Erbauers**
1) Das Folgende nach den liebenswürdigen ausführlichen Mitteilungen des Herrn
Stadtarchivar Professor Dr. Hänselmann in Braonschweig aas dem Jahre 1894.
2) Script, rer. Brunsvic. III, 348.
— 45 —
oder, der früheren Bestimmung des Turmes nach zu schHefsen, ein
Ruland- oder Gerichtsbild vorstellen konnte*).
Eine wichtige Quelle für Roland-Statistik und Roland-Ikonographie
bilden die Reisebeschreibungen. Aus den Schriften von Leuthinger,
Zeiller, Berckenmeycr, die gewissermafsen hierher gehören , ist schon
früher manches entnommen worden. Die Itinerarien C. v. Uffenbachs,
A. v. Hallers und andere aus dem XVIII. und XIX Jahrhundert haben
mir neuerdings erhebliche Nachrichten gespendet. Eine methodische
Bearbeitung dieser eigenartigen Litteratur wäre wohl nicht unnütz;
vielleicht erhielten wir durch sie eine authentische Schilderung des
alten Hallenser Roland vor seiner Beseitigung 171 8.
Mancherlei litterarisches und antiquarisches Material über die im
vorhergehenden angeregten Fragen wird die auf Veranlassung der
Historischen Gesellschaft zu Bremen von mir bearbeitete, im Druck
befindliche Monographie über den dortigen Roland bringen *).
An Novitäten auf dem Gebiete der Rolandforschung, welche das
verflossene Jahr gezeitigt hat, vermag ich nur drei zu nennen: einen
neuen, oder richtiger neu aufgefundenen Roland, eine neue Roland-
Deutung und eine neue Arbeit von P. Platen.
Auf die neue, dem linken Rheinufer, also einem Gebiete, welches
bisher noch ganz Roland -frei war'), angehörige Statue hat Herr
Dr. Armin Tille mich aufmerksam zu machen die Liebenswürdigkeit
gehabt. W. Brüll *) berichtet: „ Im Jahre 1000 erkannte Otto III. . . .
i) 1. c. S. 246.
2) BremeD, Verlag von Max Nässler.
3) Der Roland am Dom zu Xanten, welchen ein mir befreundeter Architekt ent-
deckt haben will, seinem Standplatz nach schon verdächtig, ist nach der mir mitgeteilten
Skizze nur die Bildsäule des geharnischten Kirchenheiligen S. Victor. — Roland hat es
anch den Norddeutschen von heute noch angcthan; immer wieder regt sich der Trieb,
neue Bilder von ihm zu entdecken; ritterliche Heilige besonders sind von dieser Seite
unaufhörlichen Anfechtungen ausgesetzt Ein neues Beispiel dafür aus Westfalen. Dieser
Teil des alten Sachsenlandes kennt, wie wir wissen, zwar das Rolandreiten, aber keine
Rolandstatuen. Doch scheint man in Dortmund geneigt, den Stadtheiligen S. Reinoldns,
weil sein ältester Bildtypus in der Haltung des Schwertes Ähnlichkeiten mit dem Roland-
tjpus zeige, weil die Sage ihn in Verbindung mit der Eroberung Sachsens durch Karl d. Gr.
bringe, und weil die Ähnlichkeit des Namens dafUr spreche, für den Substituten eines
älteren Rolandbildes anzusehen (Mitteilung des Herrn Stadtarchivar Professor Dr. Rttbel
in Dortmund).
4) Chronik der Stadt Düren. 2. Aufl. Düren 1901 (1. Aufl. 1895), S. 16.
— 46 —
Düren als Reichsstadt mit eigenem Schöffengericht an. Vor dem
Rathause stand eine steinerne Rolandstatue mit Schild und Schwert
als Wahrzeichen reichsstädtischer Freiheit auf dem öffentlichen Markte."
Über den Unwert der Otto III. betreffenden , aus Endrulat, Städtesiegel
der Rheinprovinz, entlehnten Angaben verweise ich auf A. Schoop ');
die Rolandnotiz entstammt den Vtndiciae antiquttatum Marcodurt,
urbts tmperuilts in Menapiis^) des 1656 gestorbenen Franziskaners
Jacob Polius. Dieser sagt*): Karolus Magnus . . . Marcoduro
regratiando libertatem cum statuta Rulandica donasse praesumitur,
quae in praesentiarum (?) lapidea, stricto ense et clypeo vestita . . .
visitur. Die Statue stehe auf dem Kornmarkt vor dem Rathause,
welches, weil in ihm auch die Schöffengerichtssitzungen abgehalten
würden, vulgo „ensis" nomine („zum Schwert**) indigitatur. Das
Bild ist heute nicht mehr vorhanden, und über seine Gestaltung sind
keine Nachrichten erhalten. Düren war Königspfalz, erwuchs zur Stadt,
verlor aber durch Verpfändung an die Grafen von Jülich 1242 „schritt-
weise die alten reichsstädtischen Freiheiten***). Diese Thatsache, und
die damals in der Litteratur verbreitete Roland-Doktrin, welche Polius
schwerlich unbekannt war, vermochten den fleifsigen, gelehrten, aber
leichtgläubigen Mönch, eine auf dem Markt stehende Pranger- oder
Brunnenfigur für eines der so viel erörterten Rolandbilder zu erklären.
Den Donar-Mythologen diene zur Nachricht, dafs die Stadt keine
Peterskirche hat, wohl aber eine Martinikirche (seit 1501 gewöhnlich
nach der heiligen Anna benannt).
Neuhaldensleben, welches den merkwürdigen reitenden Roland
besitzt, dessen Vorgeschichte noch immer nicht genügend aufgeklärt
ist, hat auch den Vorzug, die wunderlichste Roland-Erklärung hervor-
gebracht zu haben. Meine Kenntnis davon beruht freilich nur auf
einem Zeitungsreferat *) aus zweiter Hand , welches ich im Wortlaut
folgen lasse. „Am 11. Januar 1901 hielt in der Sitzung des AUer-
Vereins zu Neuhaldensleben Rentner Lonitz einen Vortrag über Rolands-
bilder. Er führte, dem ,St.- u. L.-B.* zufolge, die Rolande aufStand-
i) Geschichte der Stadt Düren bis £. J. 1544 (1901), S. 47, Anm. 3. Die folgen-
den Mitteilungen verdanke ich der Liebenswürdigkeit meines verehrten Freondes, Herrn
Gymnasialdirektor Dr. Becker und des Herrn Stadtarchivar Oberlehrer Dr. Schoop in
Düren.
2) Mannskript des Stadtarchivs za Düren.
3) 1. c. S. 79.
4) Schoop, 1. c. S. 51.
5) Ich verdanke dasselbe der Liebenswürdigkeit des Herrn Amtsrichter Krieg in
Schlieben.
— 47 —
bilder des wendischen Gottes Swatowitt zurück, vor denen auf der
Malstatt (Gerichtsstätte) alle Flur- und sonstigen Streitigkeiten ge-
schlichtet wurden. Für diese Annahme spreche das Schwert ohne
Scheide, das Trinkhorn und die merkwürdige Kopfbedeckung mancher
Rolande. Die meisten jetzigen Rolandssäulen seien nichts anderes als
Nachbildungen der alten Swatowittstandbilder, die dem XIII. oder
XIV. Jahrhundert entstammen. Auf ihren jetzigen Stand als Wahr-
zeichen der Markt- und Stadtgerechtsamkeit sind sie von der Malstätte
erst später versetzt worden. Der Name Rolandssäule wird volks-
ethymologisch hergeleitet von dem wendischen ,Rolio*, Flur oder
F*eld, da Swatowitt den Inbegriff aller Flui^erechtsame bildete. Die
Darlegungen fanden vielfache Zustimmung in der Versammlung; nur
sprach die ethymologische Erklärung des Namens nicht so ganz an."
Die archäologische Beweisführung ist lustig. In Wahrheit führte
das Standbild des vierköpfigen Svantovit im Tempel auf Arkona in
der rechten Hand ein Trinkhorn; in seiner Nähe hing ein mächtiges
Schwert mit künstlich gearbeiteter silberner Scheide ^) ; die Statue des
sieben-gesichtigen Rugievit ^) in Kaienza trug am Gürtel sieben Schwerter
in der Scheide und ein blankes Schwert in der rechten Faust •). Andrer-
seits hatte von allen bekannten Roland-Statuen allein die erst 1610 aus
Stein gefertigte zu Beigern ein Hörn, welches, wie des Paladins
„Olivant", zum Blasen, nicht zum Trinken bestimmt war; ein Mifever-
ständnis Berckenmeyers legt dem Brandenburger Roland dieses Attribut
bei; wenn die Zeitungen gut unterrichtet sind, soll auch der neue
Berliner Brunnen-Roland dasselbe erhalten. Kopfbedeckungen, d. h.
Helme und Kronen, am reitenden Roland zu Neuhaldensleben ein Feder-
barett (welches Herr Lonitz wohl im Sinne hat) finden sich einzig bei
Statuen jüngerer und jüngster Bildung. Mit der slavischen Mythologie
ist Roland auch sonst schon in Verbindung gebracht worden *).
Solche Phantastereien sind ganz scherzhaft zu lesen; aber sie
haben die Rolandfrage seit langem in Mifskredit gebracht; Historiker
i) Saxo Grammaticus cd. Holder S. 565.
2) Dafs Rugievit 7 mit einem Hute bedeckte Köpfe gehabt habe, meint auch Bart-
hold, Gesch. von Rügen u. Pommern I, 1839, S. 558. Die Worte des Saxo: preterea
in eins capite Septem humane simiUiudinis fades consedere , que omnes unt'us verticis
superficie claudehaniur^ d. h. an seinem Haupte safsen 7 menschliche Gesichter unter
dem Schutze eines einzigen Scheitels, lassen keinen Zweifel, dafs Rugievit keinen
Hut hatte. Richtig hat L. Giesebrecht, Wendische Geschichten I (1843), S. 66, die
Worte verstanden.
3) Saxo S. 577.
4) Vgl. R. Eisel, Sagenbuch des Voigtlandes 1871, S. 399, nr. 1030.
— 48 —
und Archäologen vom Fach, die zunächst zum Urteil berufen, wandten
sich ab von einem Gebiete, auf welchem von jeher emsige Dilettanten
bequeme Lorbem gewinnen zu können meinten.
So der sicheren Stütze sachgemäßer Kritik beraubt, haben Rechts-
historiker und Mylhologen, indem sie auf eigene Hand den verworrenen
Stoff in ihre fertigen Systeme einzuspannen sich abmühten, das Wirr-
sal nur vergröfeert.
Auch die neueste Schrift von P. Platen^) ändert daran nichts.
Da sie die gegen seine Theorie erhobenen Bedenken unberücksichtigt
iäfet, sich vielmehr damit begnügt, dieselbe wegen ihrer Geschlossen-
heit und inneren Wahrscheinlichkeit aufs neue zu empfehlen und sich
auf den Beifall einiger Zeitschriften zu berufen, so ist es zwecklos, ihre
weiteren Ausfühnmgen zu prüfen, welche dazu bestimmt sind, die Ent-
Wickelung der Rolandbilder als Zeichen des Gerichts und Verkehrs
aus den in das Christentum hinübergeretteten Donarbildem glaubhafter
zu machen. Auch auf Platens Polemik einzugehen verzichte ich, da
ich in dem Fortspinnen derselben keinen sachlichen Gewinn erblicke.
Nur eines sei bemerkt. Platen tadelt, dafe ich Papst Gregor von
einem Signum pietatis statt einem signum devotionis reden lasse ').
Auf derselben Seite aber, acht Zeilen vorher, bringe ich das wört-
liche Citat der ganzen Briefstelle in richtiger Form. Mifever-
ständnisse oder Verdunkelung des Thatbestandes durch den immerhin
bedauerlichen, der Korrektur entschlüpften lapsus memoriae sind damit
für den aufmerksamen Leser ausgeschlossen. Die Berichtigung war
daher kaum nötig, oder, wenn der Censor dennoch sachliches Gewicht
auf sie legte, leicht mit einem Worte abgethan. Dafs eine andere,
Mifsdeutungen nicht ausschliefsende Form gewählt wurde, ist zu be-
dauern.
Alphabetische Übersicht der besprochenen Rolandsorte:
Beigem S. 47, Berlin S. 35. 42, Bramstcdt S. 40, Brandenbarg S. 38. 47, Braan-
schweig S. 43, Bremen S. 35, Buch S. 40, BnrgS. 41, Dortmund S. 45 Anm. 3, Düren
S. 45, Elbing S. 35. 40, HalbersUdt S. 41, Halle S. 41. 42, Hamburg S. 42, Königs-
berg i. Pr. S. 35 , Lausitz S. 34, Magdeburg S. 33 Anm. 2, Neuhaldensleben S. 46. 47,
Frag S. 34, Prenzlau S. 41. 42, Riga S. 35, Ruhland S. 34, Schleswig S. 41 , Stendal
S. 37. 41, Ukermark S. 39, Wedel S. 43, Xanten S. 45 Anm. 3, Zerbst S. 41.
i) Der Ursprung der Rolande, 40. Jahresbericht d. Vitzthumschen G3rmnasiums in
Dresden 1901, 34 S. 4^; <ler Schlafs der Abhandlung steht noch aus.
2) Deutsche Geschichtsbl. II, 56, Z. 20 v. o.
— 49 —
Zur politisehen und sozialen Bewegung
im deutsehen Bürgertum des XV. und XVL
Jahrhunderts
Von
Kurt Käser (Wien)
(Schlufs ♦).
In Hannover *) wiederholt sich dasselbe Spiel. Auch hier treffea
religiöse Motive mit den politisch-sozialen zusammen. Die Bürgerschaft
war gegen den Rat angebracht, weil er der neuen Lehre widerstrebte,
zugleich aber, weil sie sich von ihm ausgebeutet glaubte und ihm un-
ehrlicher Verwaltung des städtischen Vermögens zu Gunsten der Patrizier
Schuld gab. Schon 1532 erhob sich die Forderung der Predigt des gött-
lichen Wortes. Im nächsten Jahre gewann die Bewegung gesteigerte
Heftigkeit, die Mehrheit der Bürger erklärte sich für das Evangelium und
wollte den Rat unter tumultuarischen Scenen zur Anerkennung ihres Willens
zwingen. Am 14. September 1533 entwich der Rat aus der Stadt.
,, Jetzt rührte sich der soziale Kommunismus mit dem religiösen
Schwärmergeist. Der erste kam nüt einem Sacke zum Reichen und
forderte einen Scheffel Korn. Der andere wollte weder geistliche
noch weltliche Obrigkeit mehr haben, sondern frei imter dem Worte
Gottes sein. Vor der Kämmerei sammelten sich Haufen, die nach
Äxten zu Einbruch und Plünderung verlangten. Doch behütete der
Sinn für Recht und gesetzliche Ordnung, der bei den meisten Bürgern
im Gegensatz zu den Umsturzlustigen überwog, die Stadt Hannover
vor dem Geschick, das dem wiedertäuferischen Münster wiederfuhr."
Dafür wurde imter Leitung des Syndikus Sander die Verfassung
geändert, die Zahl der Ratsherren auf 12 festgesetzt. Davon wählten
•) Vgl. oben S. i— 18.
i) Hartmano, Geschichte der Residenzstadt Hannover, S. 124 ff. Ober gleichartige
Bewegungen in Danzig vgL mein Bach S. 194 n. 202 and Kaweraa, der Danziger Auf-
stand 1525, Ztschr. des westpreafsischen Geschichtsvereins XL (1884) S. 65 — 77. Die
Bewegung führt hier zur Begründung einer bleibenden, für Danzigs Verfassungsgeschichte
üttfserst wichtigen Institution, der IIL Ordnung, d. h. eines Bttrgerausschnsses , den der
Rat in wichtigen Fällen nach freier Auswahl berufen sollte. Nach der Art ihrer Berufung
und den Vorschriften über ihr Verhalten konnte die in. Ordnung übrigens vor der Hand
nichts anderes sein, als ein gefügiges Werkzeug des Rates. Vgl. auch Salka Goldmann ,
Dantiger Verfassungskämpfe unter polnischer Herrschaf t in „Leipziger Studien aus dem
Gebiet der Geschichte" VII, 2, (1901), bes. S. lO und S. 4z ff.
4
— 50 —
die Kaufmannsmnungen zwei, jedes der vier groCsen Amter eineii, die
kleinen Ämter zusammen zwei mid vier die Gemeinde. Die alte Be-
stimmung' gegen nahe Verwandte im Rat wurde erneut Der Rat
mu(ste geloben, das Evangelium zu ehren und dabei zu verharren.
Die Ruhe wurde dadurch hergestellt, dals der entflohene alte Rat die
neue Ordnung der Dinge anerkannte.
In Bremen fanden Anfang der dreifsiger Jahre die Parteikämpfe
des XIV. und XV. Jahrhunderts ihre Fortsetzung. Noch einmal wird
der Versuch gemacht, die Grundlagen der Verfassung zu erschüttern.
Mit der demokratischen Tendenz verbündeten sich aber die antiklerikale
und die antikapitalische Richtung der Zeit '). Gleich im ersten Stadium
der Bewegung (Anfang 1531) wurde der Komtur des Deutschordens»
dem man Schuld gab, die Gemeinde in ihren Weiderechten verkürzt
zu haben, von der wütenden Menge erschlagen, das Ordenshaus ge-
plündert Auch forderte man die Teilnahme der Pfaffheit an den
bürgerUchen Lasten. Dieser Konflikt mit der Geistlichkeit trat aber
zurück gegen die Forderung einer Verfassungsreform, die damals in
Bremen so gut wie in anderen niederdeutschen Städten erhoben wurde.
Insbesondere sollte der Rat die Verwaltimg des städtischen Vermögens
mit den Vertretern der Bürger teilen. Zu diesem Zwecke bildete sich
auf Grund allgemeiner Wahlen ein 104 Mann starker Bürgerausschuis
zur Beratschlagung in allen städtischen Angelegenheiten und *zur Teil-
nahme an der Verwaltung des gemeinen Gutes. Dem Rate wurde
die Bestätigung dieses revolutionären Kollegiums abgerungen, das seine
Autorität fiir die nächste Zeit fast völlig lahm legte. Es gelang dem
Ausschuß auch, das einflufsreiche Kollegium der Elterleute des Kauf-
manns zu beseitigen und damit dem Rat eine wesentliche Stütze zu
rauben. Die 104 benutzten ihre Macht femer zu einem sinnlosen
Schlage gegen das Lebenselement der Stadt, Handel und Seefahrt
Die Bewegung, die sich gegen das süddeutsche Großkapital damals
entwickelt hatte , zeitigte in Bremen einen Ablegen Um Komaufkäufe
durch die Grofehändler zu verhüten, verordnete der Ausschufs, kein
Bürger solle mehr als 10 Last Korns im Jahr verschiffen, durch den
Kanal aber und nach Lissabon nur die Hälfte dieser Menge. Kein
Gast dürfe an der Ausfuhr von Korn und Holzwerk zu Wasser und zu
Lande teilhaben. Nur auf bremischen Schiffen dürfe die Verschiffung
erfolgen. Zu solchen und anderen die Freiheit des Handels und der
Schifffahrt fesselnden Bestimmungen mulste der Rat seine Zustimmung^
z) Bippeo, GeschichU der Stadt Bremen I. bc8. S. 2i3ff., sSsff., IL S. 55—90..
— 51 —
geben. „Man hat berechnet, dafe dieses thörichte Mandat, mit dem
die Volksfiihrer vergeblich die soziale Not der Masse lindem wollten,
trotz der kurzen Dauer seiner Wirksamkeit dem Kaufmann und in-
direkt also der Stadt mehr als 20000 Gulden (etwa eine halbe Million
Reichsmark) Schaden gebracht habe ')."
Ende At^ust 1532 brach das Regiment der 104 zusammen, nach-
dem es längst schon bei der Masse den Boden verloren hatte. Die
„VoUmäcfatigkeit'' des Rates wurde wiederhe^estellt , die politische
Bew^uDgsfreiheit der Büi^er möglichst in Fesseln geschlagen.
Das demokratische Prinzip hatte also tm XVI. Jahrhundert in den
niederdeutschen Städten kaum gröfseie Erfolge zu veneichnen als
früher. In den meisten Orten wird das revolutionäre Regiment nach
kürzerer oder längerer Dauer beseitigt, die alte Ordnung wiederher-
gestellt. Immer wieder drii^ die Erkenatnis durch, dals die Interessen
der grofsen Handelsstädte unter der Vorherrschaft des kaufmännischen
Elements am besten gewahrt seien.
Eine neue GeaeraUon von Demagogen tritt in diesen Kämpfen
auf den Schauplatz. Auf Ludeke Holland, Hinrik von Loh und
Hinrik Runge, die städtischen Volksftihrer des ausgehenden XV. Jahr-
hunderts, folgen jetzt Jürgen Wullenwever in Lübedc, RolofT Moller in
Stralsund, Johann Dove in Bremen. Auch ihre Charakterbilder sind
uns fast nur von g^^erischer Seite überliefert *). Ist die Zeicbnui^
richtig, dann lassen diese Parteiführer auch in der späteren Zeit moralische
Lauterkeit ebenso vermissen als poliüsche B^abung, aufser vielleicht
Wullenwever: er hat wenigstens ein grolses Ziel, das freilich für seine
Kräfte unerreichbar war. Das Bü^ertum der Reformationszeit bat
geniale Kaufleute, hervorragende Gelehrte, achtungswerte Theologen
hervoigebracht, ist aber arm an politischen Talenten.
Es ist noch zn erwägen, was für die städtischen Bew^ungen im
Südwesten und Südosten des Reiches zu thun bleibt. Zunächst sei
darauf hingewiesen, dals die zum vorderösterteichische
hörige Stadt Waldshut nicht, wie man vielfach glaubte
des Bauernkrieges war , sondern dafs ihr Konfiikt mi
reicfaischen R^emng zu Ensisheim im Jahre 1524 nur
Frage zum Inhalt hatte *). Die Waldshuter verlangten 1
Freiheit des Evangeliums, als dessen Apostel Balthasar I
I) Bippen n. 73.
3) S. meio Bach S. 3a.
3) Vgl. LoieTth im Archt* f. äilerr. Geicb. Bd. LXXTU, S. 34 S.
— 52 —
getreten war, und dessen Verkündigung die österreichische R^enmg-
nicht gestatten wollte. Im übrigen aber waren sie bereit, allen ihren
Pflichten gegen das Haus Habsburg aufs getreulichste nachzukommen.
In einem Schreiben an Basel betonen die Waldshuter einmal, dals sie
sich nicht etwa materieller Leistungen wegen beschweren: „Leib und
Gut, und was man ihnen sonst noch auferlegt, all* das wollen sie
gern tragen und leisten. Nur lasse man uns bei dem Worte Gottes
bleiben".
In den südwestdeutschen Gebieten rechts vom Rhein, in der oberen
und unteren Markgrafschaft Baden, im rechtsrheinischen Teil des Bis-
tums Speyer imd in der Pfalz lagen damals wenig Städte von gröfserer
Bedeutung. Soweit solche vorhanden waren und von der Bewegung"
berührt wurden, wie Bruchsal, Durlach, Freiburg i./B. und Breisach,
hat Hartfelder sie schon berücksichtigt ^). Den Arbeiten dieses For-
schers verdanken wir auch hinlängliche Aufschlüsse über die Bezie-
himgen der elsässischen Städte zur Revolution *).
Für Schlettstadt allerdings hat G^ny in seinen früher erwähnten
Untersuchungen unsere Kenntnis beträchtlich erweitert ^. Sein Buch
bringt insbesondere für die Vorgeschichte der Unruhen von 1525 neue
Belehrung. Es zeig^, wie seit der Zeit des „Bundschuhs**, der ja na-
mentlich den Südwesten Deutschlands seit dem Ende des XV. Jahr-
hunderts unsicher gemacht hatte, revolutionäre Keime unverwüstlich
fortwirkten und durch die lutherische Bewegung noch verstärkt wurden.
Seit der miisglückten Verschwörung Ulmanns im Jahre 1493 war
unter den Bürgern Schlettstadts eine gewisse Aufregung zurücl^eblieben,
die von aufsen her durch die Umtriebe der Bundschuher noch genährt
wurde. Im Frühjahr 15 10 kam es zu neuen Ruhestörungen. Auch später
war an unzufriedenen Elementen kein Mangel. Die Lage gestaltete sich
von Jahr zu Jahr bedrohlicher, da die Ausgaben für das Reich wie für
städtische Bedürfnisse sich stets vermehrten, während die Einkünfte
mit ihnen nicht gleichen Schritt hielten. Für die unaufhörlichen Geld-
forderungen von Seiten des Reiches hatten die Bürger noch weniger
Verständnis als für die ihrer Stadt. Namentlich seit 1523 häuften sich
die Anzeichen einer Gärung, die sichtlich auch von der lutherischen
i) Hartfelder, Beiträge zur Geschichte des Banemkriegs in SödwestdeutschUnd,
S. 209. 212. 213. 305. 314. 317.
2) Hartf eider a. a. O. S. 63—117; über Strafsbarg siehe „ForschnngeD lur
denUchen Gesch." XXm, 221—285.
3) Siehe oben S. 5.
— 6» —
Bewegung- bednflurst war '). Alle früheren sozial-religiösen Aiisscbrei-
timgen crschcioen indes unbedeutend neben der Gefahr, in die das
Regiment zu Schlettstadt im Jahre 1324 durch die aufs schlaueste ein-
gefädelte Verschwörung des Jöi^ Schütz von Traubacb gebracht wurde •).
Jöi^ Schütz, ein verschmitzter, verwegener Abenteurer, verfolgte keinen
geringeren Plan, als den regierenden Rat zu stürzen und die neue Lehre
in Schlettstadt eiozuiiibren. Mit fast bewunderungswürdiger Gerieben-
heit ging er dabei zu Werke, Durch gefälschte, mit treuer Zeich-
nung der lokalen Verhältnisse und Persönlichkeiten abgefaßte Briefe
suchte er bei den Bü^em den Glauben zu erwecken, der Rat, be-
sonders der Schultheils Ergersheim, und die österreichische Regierung
zu Ensisheim hätten sich dahin verständigt, die Stadt der Regierung
zu öffnen und ihr die lutherisch Gesinnten, die zum Teil mit Namen
genannt waren, zur Bestrafung auszuliefern. Schütz rechnete darauf,
dals die in den erdichteten Briefen als Lutheraner Bezeichneten kein
Mittel unversucht lassen würden, um die bestehende Regierung zu
stürzen, und dafs der stolze Freiheitssinn der Bürger sich gegen die
drohende Kränkung — die angebliche Auslieferung der Stadt an Öster-
reich — aufbäumen werde. Und doch erwies sich seine Rechnung
als falsch. Nicht einmal die in seinen Briefen namhaft gemachten
Persönlichkeiten zelten sich seinen Plänen geneigt, und als sein ge-
fäbilicbes Treiben dem Rate enthüllt wurde, mufste er nacli Strafs-
bu^ entweichen, wo er sogar Wol^ang Capito für sich einzunehmen
wnfste. Der Rat von Schlettstadt strengte gegen Jörg Schütz einen
Prozets an, der im November 1524 mit seiner Verurteilung endigte.
Hatte die Bewegung unter den Bü^em Schlettstadts in den Vor-
jahren des Bauernkrieges sich hauptsächlich gegen
so wurde im Sturmjahrc 1525 selbst in erster Lin
von ihr bedroht. Die Unruhen begannen mit eine
das Piedigerkloster und dem Einbruch ins Frauenli
dem Druck der Zünfte, die wiederholt unter Beruf
gelium die Einziehung der Kloste^üter forderten,
den Klöstern ihre Besitztitel und die Verzeichnisse
Kleinodien ab und stellte die Verwaltung ihres Ve
Aufsicht städtischer Pfleger. Ohne die Niederlag
Scherweiler wäre es wohl zur gänzlichen Säkular
1) G*ny «. •. O. S. 84«.
2) ■. B. O, S. 113-141.
— 64 —
Mit den Bauern hat man sympathisiert, sich aber doch gehütet, mit
ihnen gemeinsame Sache zu machen ^).
Auf die soziale Bewegung in Schlettstadt folgte die kirchliche
Reaktion. Der Rat liefe es sich angelegen sein, die der Kirche zu-
gefügten Schäden zu heilen, die Ordnungen des alten Glaubens in
voller Reinheit erhalten, feindliche Elemente zu züchtigen oder zu
entfernen. Die Mönche wurden, soweit sie es selbst verlangten, in
ihre Klöster zurücl^efuhrt, die Stützen der evangelischen Sache, der
Pfarrer Phrygio und der Schulmeister Sapidus verliefeen die Stadt, der
Rat erliefe eine Reihe kirchlicher Verordnungen, deren Übertreter er
strenge bestrafte. Im September 1530 erhielt er sogar vom Kaiser
einen Dankbrief für seine Beständigkeit im alten Glauben ').
Er erlangte auch einen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Er-
folg, der in jener bewegten Zeit von so vielen Bürgerschaften an-
gestrebt wurde, die Befreiung von den drückenden Zinsen und Gülten,
deren Ablösung der Kaiser im Jahre 1526 gestattete. Die Bürger
haben von dieser Erlaubnis ausgiebigen Gebrauch gemacht Im ganzen
hat Schlettstadt die sozialen und religiösen Wirren der Reformations-
zeit glücklich überstanden •).
Die Bewegungen in den Bischofstädten des Rhein- und Mosel-
landes, wo sich der revolutionäre Geist der Bürger fast ganz in anti-
klerikalen Tendenzen auswbkt, bieten der Forschung noch manche
ungelöste Aufgabe. Für die Unruhen in Speyer und das Verhältnis
der Stadt zu den Bauern dürfte allerdings das Material schon durch
Hartfelder und Geissei genügend ausgebeutet sein *). Auch fiir Mainz
werden sich, nachdem der Bericht über die Bewegung von 1525 in
den Städtechroniken veröffentlicht wurde, kaum neue Quellen von Be-
deutung erschliefeen lassen *). Über die Vorgänge in Trier •) jedoch
sind wir einstweilen nur durch das von Kraus in den Nassauischen
Annalen mitgeteilte Material unterrichtet, das sich gewife — auch für
die anderen Städte des Erzstifts, z. B. Boppard — noch vermehren liefee.
Besonders aber fehlt uns für die antiklerikale Bewegung in Worms
eme zusammenfassende Darstellung, der wohl gleichfalls noch eine
i) a. a. O. S. isSff.
2) a. a. O. S. 186 ff.
3) a. a. O. S. 201 u. 20a.
4) Hart fei der S. 245 — 256. Geissei, Kaiserdom zu Speier, S. 281 ff. Aach
fUr Frankfurt am Main bietet das „ Anfrahrbuch " and Königsteins Tagebuch ein Ma-
terial, das einer wesentlichen Ergänxang wohl nicht mehr bedarf.
5) Städtechroniken Bd. XVIII, S. 103 ff.
6) Nassanische Annalen XU, 79 — 80.
— 65 —
Ergänzung des Materials vorbeigehen müfste. Damit hätte sich ohne
Zweifel eine Übersicht über die in die Bewegung hereinspielenden
Kämpfe zwischen Bischof und Stadt zu verbinden *).
Besondere Beachtung verdienen die Vorgänge in Köln im Jahre
1525. Sie können geradezu als Typus der damaligen städtischen Be-
wegungen gelten, weil in Köhi deren drei Grundtendenzen, die anti-
klerikale, die gemäisigt reformatorische und die sozialistische in deut-
licher Ausprägung zusammentreffen. Wir sind vor der Hand im we-
sentlichen noch angewiesen auf die Darstellung des keineswegs zu-
verlässigen Ennen. Eine monographische Bearbeitung des Gegenstandes
auf Grund des veröffentlichten oder noch der Veröffentlichung harren-
den Materiales wäre äusserst verdienstlich *).
Auch in Essen spielten sich Ereignisse ab, die wenigstens für die
frühere Zeit noch der Aufhellung harren. Seit 1410 — 1419 tritt dort
neben dem Rat ein aus den Zünften hervoi^ehendes Kollegium der
Vierundzwanzig auf, dessen Hauptaufgabe die Kontrolle der Rechnungs-
führung des Rates ist Seit derselben Zeit findet sich auch ein be-
sonderer Rentmeister, der aus dem Schoise des Rates gewählt wird,
während bis dahin einer der Bürgermeister nebenher die Geschäfte
1) Es käme zunächst in Betracht Schannat, Historia episcopatas Wormatiensis,
z. B. I, 418 ff.; n, 359. 360; dann der Bericht über die Plündernng des Klosters Kirsch«
garten in den „ Geschichtsblättem fUr die mittelrheinischen Bistilmer'' I, i, S. 66 ff. und
Boos, Quellen zm- Geschichte der Stadt Worms III, 621 ff. Die hier abgedruckten Be«
schwerden zeigen die oben erwähnte doppelte Richtung. Sie gehen zum Teil an die
Adresse der Pfaffheit, der man kirchliche und wirtschaftliche Zugeständnisse abzunötigen
sucht, teils betreffen sie das Verhältnis der Stadt zum Bischof. Man verlangte die Pre-
digt des lauteren Gottesworts, Abstellung der Hurerei, Beseitigung der dem göttlichen
Worte zuwiderlaufenden Ceremonien und der frommen Stiftungen, Wahl der Pfarrer durch
die Gemeinde, Auflösung der Klöster, Regelung der geistlichen Zinsen und Renten, zu-
gleich aber Auslieferung des jüngst dem Rate abgedrungenen Vertrags mit Bischof und
Domkapitel, der auch nachher wirklich vernichtet wurde, und Verzicht von Bischof und
Kapitel auf alle Gnaden und Freiheiten, die der städtischen Obrigkeit und Herrlichkeit
zuwider seien. Die Geistlichkeit nahm laut Verschreibung vom 3. Mai diese Artikel an
und verpflichtete sich auch, btLrgerliche Beschwerde zu tragen und in ihren Rechtshändeln
sich dem Spruche des Rates oder des Stadtgerichts zu unterwerfen. Nach der Schlacht
bei Pfeddersheim mufste die Bürgerschaft die empfangene Verschreibung wieder aus-
liefern und die Geistlichkeit in ihre früheren Rechte wiedereinsetzen. — Einen Weg-
weiser durch die Wormser Geschichtsquellen des XVL Jahrhunderts giebt Roth in dieser
Zeitschrift IL Bd., S. 174—181.
2) Ennen, Gesch. der Stadt Köln IV, 223 ff. Ober sonstige Köln betreffende Bla-
terialangaben vgl. mein Buch S. 198, Anm. 2. Zu berücksichtigen ist noch eine kleine
von W. Schmitz besorgte Quellenveröffientlichung in der Westdeutschen Zeitschrift
4. Bd. (1885), S. 310—312.
— 56 —
der Rechnungsführung besorgte *). Im XVI. Jahrhundert verbindet
sich dann, doch nicht vor 1531, die populäre Bewegung mit der
Reformation, zieht sich durch das ganze Jahrhundert hin imd findet
erst 1604 ihren Abschlufs *).
Über die sozial-religiösen Ereignisse in den ^bestialischen Städten
geben die Werke von Cornelius und Keller über die wiedertäuferische
Bewegimg wohl genügende Kunde.
An der östlichen Peripherie des Reiches blieben die alten deut-
schen Kolonialstädte in der oberen Lausitz, die im XIV. und XV.
Jahrhundert der Schauplatz heftiger Parteiungen gewesen waren, in der
Reformationszeit ruhig. Nur in Görlitz ') , dem Hauptsitz des Tuch-
handels, erneuten sich in den zwanziger Jahren des XVI. Jahrhtmderts
mit zum Teü verändertem Charakter die früheren Streitigkeiten. Hatten
dort die Handwerker vormals mit dem Patriziat um politische und
wirtschaftliche Gerechtsame gerungen, so verflocht sich jetzt in ihren
Kampf auch ein sozial-religiöses Motiv. Die Predigten des Pfarrers
Rothbart, der die „Freiheit eines Christenmenschen" wohl nicht nur
in religiösem, sondern auch in sozialpolitischem Sinne auslegte, fanden
lebhaften Beifall beim gemeinen Mann und bei einer Gruppe jüngerer
Ratsherren. Die konservative Partei im Rat setzte aber die Entfernung
des Predigers durch, der jetzt in den Augen seiner Anhänger sofort
zum Märtyrer des neuen Glaubens wurde. Um der drohenden Em-
pörung zuvorzukommen, forderte der Rat die Zünfte zur Kundmachung
ihrer Beschwerden auf. Die Tuchmacher, die — wie stets in den Städten
der Lausitz — an der Spitze der Unzufriedenen standen, verlangten vom
Rat die Freigebung der lutherischen Lehre und erzwangen die Zurück-
berufung des Pfarrers, der fortfuhr, in der früheren Weise zu predigen,
namentlich das Recht der Gemeinde gegenüber der Obrigkeit betonte.
Zugleich aber übergaben die Tuchmacher dem Rate auch eine Anzahl
politischer Beschwerden. Sie beschuldigten den Rat, dafs er seine
Stra%ewalt müsbrauche und bei den Wahlen einzelnen Persönlich-
keiten zu grofsen Einflufs verstatte. Femer verlangten sie, dafs der
Rat Rechnung lege über die Verwaltung des Gemeindevermögens und
— als Radikalmittel — dafs die Zahl der ratsfähigen Handwerker ver-
mehrt werde.
i) Nach gütiger Mitteilung des Herro Dr. K. Ribbeck in Esten.
2) Hierüber vgl. „Beiträge zur Geschichte von Stadt and Stift Essen", Heft Xin^
99fif.; Xn, 96 ff.; XIV, 77ff.; XVI, 30«. u, 44«.; XIX, 14—16. 34f. 40-43-
3) Knothe a. a. O. S. 322 ff. i. bes. 327—330.
— 67 —
Die Lage der Obrigkeit erschien äu&erst gefahrvoll, da die Tuch-
macher auch die übrigen Zünfte für ihre Absichten zu gewinnen
suchten. Die ruhige Festigkeit aber, womit der Rat diesen Umtrieben
entgegentrat, vereitelte den Ausbruch der Empörung.
Werfen wü- zum Schlufs noch einen Blick auf die südostdeutsche
Ländergruppe. In Bayern, dem einzigen süddeutschen Territorium, das
von Empörungen verschont blieb, hören wir — abgesehen von den
vom Bauernkrieg berührten Bischofsstädten Regensburg und Eich«
Stadt — nichts von bürgerlichen Aufständen. Ebenso habe ich schon in
meinem Buche gezeigt, dafs es in den habsburgischen Erblanden 1525
zu stärkeren städtischen Bewegungen fast nirgends gekommen ist.
Insbesondere haben die Städte in Tyrol, wo der Bauernaufruhr am
heftigsten wütete, eine wertvolle Zurückhaltung bewahrt *). Dafs aber
auch sie mit den Tendenzen der Bewegung einverstanden waren und
Freunde der letzteren zum Landtag nach Innsbruck schickten, bezeugt
wohl am besten die Thatsache, dafs der Bürgermeister dieser Stadt den
Überbringer der Meraner Artikel machte und dem Erzherzog gegen-
über das Wort führte *).
Einen wirklich revolutionären Anstrich gewannen die städtischen
Verhältnisse eigentlich nur in Trient *). Dort bUdete sich eine Partei,
welche die bischöfliche Herrschaft zerstören, der Stadt und dem Lande
die alte Freiheit wiedergewinnen wollte. Diese „liberale" Partei grub
sich selbst das Grab, indem sie sich mit den aufständischen Bauern
der Umgegend verbündete und diese in grofeer Zahl in die Stadt
liefe. Die grofse Masse der Bürger, die vor der Brutalität des Land-
volks zitterte, fiel von der Sache der Freiheit ab und beugte sich
wieder unter die geistliche Herrschaft.
War das Jahr 1525 insbesondere in Niederösterreich ohne heftigere
Stürme vorübergezogen, so drohte dort dafür im folgenden Jahre eine
Erhebtmg des gemeinen Mannes in den Städten. Auf dem gemeinen
Landtage der Elrblande zu Augsburg 1526 klagten die Vertreter der
niederösterreichischen Städte und Märkte heftig über den Weinschank
der Geistlichen. Nach ihrer Aussage hatte der Klerus an vielen Orten
fast ein Drittel aller Häuser inne und schenkte, ohne die Lasten der
Bürger zu teUen, öfTentlich Wein aus. Bisher hatte man wegen der
Bauernaufstände, die hauptsächlich gegen die Geistlichen gerichtet
i) Hirn, Die TTroler Landtage zar Zeit der grofsen Bauernbewegung , im Jahrb.
der Leo-Gesellschaft II (1893), S. 116.
2) a. a. O. S. 117.
3) Monimenti storici del Tridentino S. 23. (Einleitung).
— 68 —
waren, dies stillschweigend geduldet, um die Bauern nicht noch mehr
zu reizen. Jetzt aber wollten die Bürger die Last geistlicher Schenken
nicht länger ertragen, „zumal es unziemlich, wider das geschriebene
Recht und jüngste Regensbui^er Reformation sei, und deshalb ein
neuer Aufstand des gemeinenMannes zubesorgenstehe *)".
Die sonstigen Eingaben der Stände lassen uns übrigens vermuten,
dafe der geistliche Weinschank nicht die einzige Ursache wirtschaft-
licher Mifeverhältnisse und der gereizten Stimmung des Bürgerstandes
gewesen sei. Man fordert auch die Aufhebung oder wenigstens die
amtliche Regulierung der grofeen Handelsgesellschaften, „die durch
lange Jahre nur auf ihren Vorteil bedacht die deutsche Nation und
die Erbländer, wo sie insbesonder entstanden und
emporgekommen sind, ausgesaugt haben!" Femer wird Be-
schwerde geführt über den Fürkauf und den sonstigen, den städtischen
Freiheiten zuwiderlaufenden Gewerbebetrieb der Prälaten und des Adels.
Besonders klagt die Stadt Steyr, da(s ihre einst hochberühmte, blühende
Industrie durch die Ansiedelung zahlreicher und billiger arbeitender
Handwerker auf den geistlichen Gütern der Umgegend stark
in Abnahme geraten sei *).
Der Gmndcharakter der städtischen Bewegungen, den ich in
meinem Buche zu zeichnen versucht habe, wird durch diese neuen
Beobachtungen im allgemeinen bestätigt Wir finden wiederum ein
Verlangen nach politischer und religiöser Reform, so im Anfang des
XVI. Jahrhunderts in Andernach und Leipzig, später besonders in den
niederdeutschen Städten, aber auch in Halle, Annaberg, Görlitz; wir
finden wieder die Opposition gegen die wirtschaftlich dominierende
Stellung des Klerus in Chemnitz, Dresden, Bremen ; und wieder treten
uns wenigstens vereinzelt und zum Teil durch die wiedertäuferische
Bewegung veranlafst sozialistische Regungen entgegen in Leipzig,
Hannover, Magdeburg, Stralsund. Wieder spielen in sozialistischer
Schwärmerei befangene Prädikanten die Rolle der Aufwiegler.
Wie das Bild des Bauernkriegs in den einzelnen Gebieten Deutsch-
lands verschieden nuanciert ist, so ist auch der Grundton der städtischen
Bewegung je nach den Landesteilen, in denen sie auftritt, ein anderer.
In den Städten des Elsafs, des Rheinlands und Westfalens überwi^
die antiklerikale Tendenz; in Niederdeutschland empfangen die
städtischen Aufstände ihr Gepräge durch das demokratische Element,
1) ZeiUchria des Ferdinandeums, 3. Folge, Bd. XXXVIII (1894), S. 10 1 — 102.
2) a. a. O. S. 80. loi. 107. 108 — HO.
mit dem sich gewöhnlich die Forderung einer radikalen Kirchenreform
verbindet, während die sozialistische Strömung in Süd- und Mittel-
deutschland, wie mir scheint, kräftiger auftritt, als im Norden.
Sehr verschieden gestalten sich auch die Folgen der sozialen Be-
wegung lür die Reformation. An einzelnen Orten, wie Kolmar und
Schlettstadt , werden nach Beendigung der Unruhen die lutherischen
Neigungen zurückgedrängt. In Rothenbu^ und Memmingen wird
wenigstens der Fortschritt der neuen Lehre durch die Revolution ge-
hemmt *). Dagegen hat in Gotha der aus wirtschaftlichen Ursachen unter-
nommene Sturm gegen die PfafTheit der kirchlichen Neuerung freie Bahn
gemacht, und in den westfälischen Städten, auch in Lübeckund Hannover,
vollzog sich die Bildung des evangelischen Kirchenwesens unter revolutio-
nären Wehen. In anderen Städten, z B, Stralsund, Halle, Annaberg,
Görlitz, haben bei der Bewegung wenigstens religiöseMotive mitgewirkt.
Auch in der politischen Verfassung der Städte haben die damaligen
Unruhen manche Spuren hinterlassen. Einzelne von ihnen , so Halle,
Andernach, Schweidnitz, AschafTenburg *) , bülsten die Revolution mit
dem Verlust oder der Minderung ihrer Autonomie.
Erst wenn man die in diesen Zeilen gebotenen Eigänzungen
meines Buches berücksichtigt, und wenn die Lokalforschung an den
von mir bezeichneten Punkten weiterarbeitet, wird es mißlich sein,
vom Umfang und von den Tendenzen der Bewegung ein klares, voU-
sUindiges und richtiges Bild zu erhalten.
Damit aber ist die Aufgabe noch keinesw^s gelöst. Noch bleibt
viel zu thun für die Erkenntnis der Ursachen der Bewegung. Noch
liegt die soziale Gestaltung, aus der jene Tendenzen sich entwickelt
haben, nicht völlig klar vor uns. Wie oft sind uns im Laufe dieser
Untersuchungen die Klagen der Gemeinden über Willkür und Kor-
ruption der städtischen Regierungen begegnet, wie oft
Streben nach Veränderung des Regiments ! Die F
städtischen Obrigkeiten ihre Pflichten erfiillt haben, wii
dem Druck allgemeiner Verhältnisse oder einer in
herrschenden Korruption handelten, welcher Wert den
Bürger beizumessen sei, ist noch schärfer als bisher zu
Vor allem aber muls es den Forscher reizen, (
der in den Städten damals so weit verbreiteten soz
strebungen kennen zu lernen. Zu erklären sind sie,
I) Vgl. Friedcnsbnrg, Dtr Reichstag m Speyer 1526, S. 15
3) Mar, Albrecht IL laa Bnaienhnig H, Dcäagt U, S. 153.
3) Vgl. mein Buch 5. tSl—lSl.
— 60 —
aus der Verschiebung der Besitzverhältnisse, die in den Städten seit
dem Ende des XV. Jahrhunderts vor sich gegangen ist. Im Mittel-
alter war die soziale Lage in den Städten charakterisiert durch das
Vorhandensein eines zahlreichen, wirtschaftlich kräftigen Mittelstandes,
der für die Leistungsfähigkeit der Städte gegenüber der niederen Be-
völkenmgszahl ein ausgleichendes Moment bildete. Es scheint nun,
dafs diese günstige Vermögensverteilung seit dem späteren XV. Jahr-
hundert einer starken Differenzierung des Besitzes, der Entwickelung*
einer breiten Schicht Besitzloser und Besitzarmer gewichen ist. Aber
noch mufs diese Erscheinung durch die Forschung stärker fundamentiert
werden; die Arbeiten von Schönberg, Härtung, Schmoller, Eulenburg
u. a. für Basel, Augsburg, Frankfurt, Heidelberg und andere Orte
der Pfalz sollten auf eine möglichst grofse Zahl von Städten ausgedehnt
werden *). Dann würde man die kommunistischen Gelüste , die be-
sonders 1525 fast in allen süd- und mitteldeutschen Städten sich
äufeem, erst recht verstehen. Derartige Untersuchungen würden uns
auch Einblick gewähren in die Zusammensetzung und die numerische
Stärke des städtischen Proletariats, gewife des Hauptträgers der radi-
kalen Beweg^g. Man mü(ste sich darüber verständigen, welche
sozialen Kategorieen unter den Begriff des Proletariates zu bringen
wären, man mü(ste auf ihre Entstehimg eingehen und prüfen, welchen
Prozentsatz der Bevölkerung an den einzelnen Orten sie ausmachen.
Auch wäre noch genauer zu untersuchen, inwiefern der kaufmännische
Kapitalismus jener Zeit, Gesellschafts- und Monopolienwesen mit den
Interessen des gemeinen Mannes in Widerspruch traten.
Niu: einige Hauptaufgaben habe ich genannt, auf welche die
Forschimg hinzuweisen mir ein Bedürfnis war. Möge die nächste 2^it
uns der Lösung dieser Fragen näher führen und reiche Aufklärung
bringen über die revolutionären Erscheinungen in den Städten und
über die soziale Entwickelung unseres Bürgertums am Ausgange des
Mittelalters überhaupt. Hat auch die städtische Bewegung keine tiefen,
umgestaltenden Wirkungen hinterlassen, die Entwickelung unseres Bürger-
wesens kaum nachhaltig beeinflufst, so würde doch ohne ihre Kenntnis
das Bild jener wunderbaren, die ganze Nation in ihren Tiefen auf-
rüttelnden Zeit ewig unvollständig bleiben.
i) Schönberg, Finanzwirtschaft der Stadt Basel; Härtung, Die Augsbnrger
Zuschlagsteuer von 1475 ^ Jahrbuch für Gesetzgebung etc. 1895, S. 114, rgL ebenda
Schmoller S. 1084 und Eulenburg in „Zeitschr. für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte",
Bd. m (1895), S. 424—467.
— 61 —
Mitteilungen
Tersammlnngen. — Der zweite Tag für Denkmalpflege, der am
23. und 24. September zu Freiburg im Breisgau versammelt war, zählte fast
100 Teilnehmer, ebensoviel wie im vorigen Jahre der erste, Dresdener *),
Tag aufweisen konnte. Unter den Teilnehmern waren 23 anwesend als amtliche
Vertreter des deutschen Reiches, der deutschen Bundesstaaten, der österreichi-
schen Regierungund des schweizerischen Bundesrates auf Grund der Einladung,
welche die badische Regierung hatte ergehen lassen. Der Tag hat in vier langen
Sitzungen seine umfangreiche Tagesordnung erledigt. Vorträge und Beratungen
betrafen drei Hauptgegenstände : die Fortschritte der Gesetzgebung, die prak-
tische Denkmalpflege, die Herausgabe eines die Inventarisationsarbeiten
zusammenfassenden Handbuches der deutschen Denkmäler.
Über neuere Gesetzentwürfe berichteten die Herren v. Bremen (Preufsen),
Freih. v. Biegeleben (Hessen), Loersch (Bern). Allseitig wurde mit
freudiger Zustimmung begrtifst der hessische Entwurf, dessen Annahme durch
die zweite Kammer auf Grund des bereits vorliegenden Berichtes ihres Aus-
schusses nicht zweifelhaft ist. Hessen hat sich damit das grofse Verdienst
erworben, als erster unter allen deutschen Staaten Denkmalpflege und Denk-
malschutz durch ein Spezialgesetz eingehend zu regeln, welches in mafsvollster
Weise alle in Betracht kommenden Interessen ausgleichend schützt Die Mit-
teilungen des preufsischen Vertreters, welche durch die einleitenden Bemer-
kungen über die jetzt im Werk befindlichen italienischen und spanischen Ge-
setze über Denkmalpflege noch besonders interessant waren, stellten baldige
eingehende gesetzliche Regelung der Materie in dem gröfsten deutschen Bundes-
staate in Aussicht Aus den Verhandlungen ergab sich, dafs nach überein-
stimmender Meinung der Versammlung die zu erlassenden Gesetze besondere
Bestimmungen über die Enteigntmgen zu Gunsten der Denkmalpflege zu treffen
haben werden, weil die in den einzelnen Staaten bestehenden Enteignungs-
Yorschriften nicht ausreichen, namentlich auch das Verfahren meist ein zu
schwieriges und weitläufiges ist, insbesondere auch den Gemeinden imd den
Kommunalverbänden nicht die nötigen Handhaben bietet
Als eine Überieitung von den gesetzgeberischen Fragen zur praktischen
Denkmalpflege nahm die Versammlimg mit grofsem Beiflül den Vortrag des
Herrn Konservators Wolff aus Strafsburg entgegen, der eingehend über die
auf Gnmd der französischen Gesetzgebimg noch in den Reichslanden geltende
Einwertung fclassement) der Denkmäler imd ihre praktische Wirkung berich-
tete. Die Versammlung dürfte die Überzeugung gewonnen haben, dafs dieses
Hilfsmittel nur in beschränktem Mafse Dienste leistet und ein ausreichender
Schutz der Denkmäler lediglich aiif der dadurch gebotenen Grundlage nicht
zu erzielen ist. Die von den Herren Konservator Haupt aus Eutin und
Museumsdirektor Meier aus Braunschweig erstatteten Berichte über Denk-
mälerarchive und verwandte Sammlungen ab Klfsmittel der Denkmalkunde
boten eine Fülle von lehrreichen Einzelheiten und liefsen keinen Zweifel über
die hohe Bedeutung derartiger Einrichtungen. Eine eingehendere Verhandlung,
i) Vgl darüber diese Zeitschrift, IL Bd., S. 59>-6o.
— 62 —
als die Kürze der Zeit sie zuliefs, hätte unzweifelhaft noch manche Frage zur
Erörterung gebracht, die in diesem Zusammenhang aufzuwerfen ist; Zentrali-
sation oder Dezentralisation solcher Sammlungen in gröiseren Staaten, regel-
mäfsige Herstellung von Duplikaten aller Aufnahmen, Notwendigkeit oder Über-
flüssigkeit eines ganz genauen und peinlichen Verzeichnisses aller, auch der
unbedeutendsten an einer Stelle aufbewahrten Stücke. Ein späterer Tag dürfte
wohl mit Erfolg deren Beantwortung auf seine Tagesordnung setzen.
Drei grofse im Vordergrund des Interesses und der Diskussion stehende
Denkmäler boten der Versammlung Anlafs zu einem Eingehen auf die Aus-
übung und Handhabung ihrer Pflege. Den von Herrn Dombaumeister Arntz
erstatteten Bericht über das Strafsburger Münster, dessen Zustand rasche
Hilfe tmd einen Kostenaufwand von zwei und einer halben Million Mark blofs
fiir unerläfsliche Erhaltungsarbeiten erheischt, konnte die Versammlung nur
durch den Hinweis auf die dringende Notwendigkeit der Gründung eines
Dombauvereins beantworten, der allein die Grundlage für Beschaftung von
gröfsern Stunmen und Erlangung von Hilfen aus öffentlichen Mitteln bieten
kann. Die Mitteilungen über die Hohkönigsburg, die Herr Architekt Ebhar d t
in seinem Vortrag machte, und mehr noch die Aussprache, zu der die darauf
folgende Diskussion ihm und anderen Mitgliedern der Versammlimg Gelegen-
heit bot, haben unzweifelhaft zur Klärung der mit der Erhaltung dieses ge-
waltigen Denkmals zusammenhängenden Fragen, zur Richtigstellung mancher
irrtümlichen Annahme imd zur Beseitigung nicht weniger Zweifd geführt. Der
durch reiche zeichnerische Beläge gestützte Vortrag des Herrn Baurats Torno w
über die Beseitigung des bisherigen Hauptportals am Dome zu Metz und
dessen Ersetzung durch ein vom Redner entworfenes, dem Stile der Kirche
angepafstes, das aber dem ursprünglichen Zustand keineswegs entspricht, legte
klar und anschauÜch die Gründe dar, welche gerade zu dieser Lösung einer
der schwierigsten Fragen des Restaurationsverfahrens geführt haben. Eine
Erörterung der in diesem Falle befolgten Grundsätze wurde leider durch den
notwendigen Schlufs der bis in den Abend sich hinziehenden Sitzung ver-
eitelt. Sie wird unzweifelhaft auf einem folgenden Tage unter Herbeiziehung
weiterer Beispiele aus der Praxis erfolgen.
Die an das Reich gerichtete Eingabe um Unterstützung eines Hand-
buches der deutschen Denkmäler ist mit Rücksicht auf die gegen-
wärtige Finanzlage und auf sachliche Bedenken abschlägig beschieden worden.
Die Versammlung hat nach sehr eingehender Beratung daran festgehalten,
dafs dieses Handbuch so bald als möglich hergestellt werden mufs imd dafs
seine Abfassung auch bei dem augenblicklichen Stand der Inventarisations-
arbeiten *) sehr wohl möglich ist Da der Vertreter der Reichsverwaltung,
Herr Geheimrat Lewald, einen Zuschufs des Reiches zu einem buchhändle-
rischen Unternehmen als künftig möglich und wahrscheinlich bezeichnen konnte,
so soll zunächst der Versuch gemacht werden, einen Verleger für das Werk
zu gewinnen.
Der Verlauf des Freiburger Tages hat gezeigt, dafs sowohl auf dem Ge-
biete der Gesetzgebung wie auf dem der praktischen Durchführung von Denk-
i) VgL den in dieser Zeitschrift, L Bd., S. 270 — 290 gegebenen Überblick über
den Stand der Arbeiten. Demnächst soll ein Nachtrag daza folgen.
— 63 —
malschutz und Denkmalpflege, dank der Initiative der Regierungen, der Thätig-
keit der Konservatoren und Pfleger, der Teilnahme aller gebildeten Kreise ein
stetiger und erfreulicher Fortschritt stattfindet. Gesetze und Verordnimgen
gehen mehr imd mehr von richtigen Gesichtspunkten aus, die Organisation
zur Erhalttmg der Denkmäler wird in den einzelnen Staaten immer vollkom-
mener ausgestaltet und findet ihre notwendige Ergänzung tmd Unterstützung
in den zahlreichen Vereinen, die sich überall der Pflege der örtlichen Über-
lieferungen widmen. Die Grundsätze endlich, welche fiir die Erhaltung der
Denkmäler mafsgebend sein sollen, werden in eingehender Erörterung, im
Kampf der Meinungen schärfer herausgearbeitet und vertieft. In allen Schichten
der Bevölkerung wächst die Erkenntnis, dafs die stummen Zeugen der Ver-
gangenheit zu schützen und zu erhalten sind gegenüber roher Zerstörungslust,
philisterhafter Nichtachtung, übertriebener Rücksicht auf die Anforderungen
der so oft über das Ziel hinausschiefsenden angeblichen Verkehrs- und ^um-
bedürfnisse der Gegenwart
Der nächste Tag für Denkmalpflege wird 1902 in Düsseldorf zu-
sanmientreten, wo eine grofsartige kunstgeschicht^che Ausstellung neue An-
regungen bieten wird. Dort soll auch eine Anzahl von Fragen beantwortet
werden, die noch in den letzten Augenblicken des Freiburger Zusammenseins
aufgeworfen worden sind. Loersch (Bonn).
Bereits bei der Mitteilung des Programms der 46. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner (II. Bd., S. 295) lenkten wir
die Aufmerksamkeit auf den Vortrag von F. Eichler (Graz), welcher den
Zweck verfolgte, den Plan einer Quellensammlung zur Geschichte
des deutschen Bibliothekswesens den Fachgenossen zu unterbreiten.
Unter „Quellensammlung" versteht der Vortragende im vorliegenden Falle
erstens eine Sanunlung in literarischer Form niedergelegter Zeugnisse, die
das Vorhandensein einer Büchersammlung erweisen oder zu erweisen geeignet
sind, besonders Veröffentlichung von Verzeichnissen, die jeweils an einem
Orte vorhandene Bücher aufführen, zweitens die nach einheitlichen Gesichts-
punkten organisierte Thätigkeit, die zur Schaffung eines derartigen literarischen
Sanunelwerkes führen soll. Der Zweck der Quellensammlung ist, neue
Kulturwerte, die auf dem Gebiete der Büchersammelthätigkeit gewonnen
werden, zu wissenschaftlicher Ausnutzung zurechtzulegen. Es werden dadurch,
dafs das Vorhandensein bestimmter literarischer Denkmäler an bestimmten
Orten zu einer bestimmten Zeit nachgewiesen wird, zuverlässige Quellen zur
Erkenntnis des geistigen Lebens erschlossen. Der Weg, der von der daran
anknüpfenden Forschung eingeschlagen wird, ftihrt in der Richtung, dafs
nicht von den die literarischen BUdungsmittel erzeugenden Schriftstellern
ausgegangen wird, sondern von jenen, die diese Bildungsmittel suchten,
mag man dann nun einzelne Stände, Korporationen, Landschaften oder
welche geschlossene Einheit immer im Auge haben. Die Quellensammlung
soll — starke Beschränkungen im einzelnen natürlich vorausgesetzt — die
Zeit von Karl dem Grossen bis zur Auflösung des alten deutschen Reiches,
zunächst aber wenigstens bis zimi Jahre 1600 umÜBissen. Sie hat sich auf
deutschen Boden zu beschränken, wenn überhaupt in absehbarer Zeit etwas
— 64 —
Abgeschlossenes erreicht werden soU, ihr Zweck ist nicht Material zur Er-
forschung der gesamten mittel- imd westeuropäischen Kultur zu liefern ').
Eine solche Quellensammlung kann natürlich nur mit kräftiger Beihilfe hierzu
berufener Körperschaften hergestellt werden. Der Vortragende schlägt daher
vor, die Unterstützung des geplanten Unternehmens seitens der Akademien
imd Gesellschaften der Wissenschaften in Berlin, Göttingen, München und
Wien anzustreben.
Eingegangene Biieher:
Albert, Peter P.: Die Geschichtschreibung der Stadt Freiburg in alter
und neuer Zeit [== Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Neue
Folge, Bd. XVI, Heft 4.]
Amrhein, A. : Die kurmainzische Glashütte Emmerichsthal bei Buigjossa,
Beitrag zur Geschichte der Handelspolitik des Kurstaates Mainz. [= Archiv
des historischen Vereins für Unterfranken imd Aschaffenburg. Bd. 42,
S. 143—243.] M. 1.20.
Bangert, Friedrich: Das älteste Oldesloer Kirchenbuch. [«= Schriften des
Vereins fUr schleswig-holsteinische Kirchengeschichte, U. Reihe. 2. Bd.,
S. 1—86.]
Berg, A. : Georg Torquatus als ältester Halberstädter Topograph (1574}.
a=s Mitteilungen des Vereins für Erdkunde, Halle a. S., 1901. S. 17 — 45.]
Bilfinger, Gustav: Untersuchungen über die Zeitrechnung der alten
Germanen. II. Das germanische Julfest Stuttgart, Kommissionsveriag
von W, Kohlhammer. 132 S, 40.
Brunner, Georg: Geschichte der Reformation des Klosters tmd Stiftlandes
Waldsassen. Erlangen, Fritz Junge, 1901. 212 S. 8<>. M. 2.60.
Brunn er, Karl: Die Pflege der Heimatgeschichte in Baden, Wegweiser fUr
Freunde der badischen Geschichte. Karlsruhe, J. J. Reiff, 1901.
153 S. 80.
Busch, Nikolaus : Die Wachstafeln des Rigaschen Dommuseiuns. [= Sitzungs-
berichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumsktmde der Ostsee-
provinzen Rufslands 1896.]
/ Devrient, Ernst: Angeln imd Warnen, die Entstehung des Thüringischen
Stammes. [=: Neue Jahrbücher für das klassische Altertiun, Geschichte
und deutsche Litteratur und für Pädagogik. (Leipzig, B. G. Teubner.)
Jahrgang 1900, S. 517 — 534» Jahrgang 1901, S. 51—62 und 418— 432.
Glagau, Hans: Hessische Landtagsakten. Erster Band: 1508 — 1521.
Marburg, N. G. Elwert, 1901. 593 S. 8^ M. 14. [= Veröflfent-
lichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck.]
i) Die beiden Werke deutscher Gelehrten, die der Erkenntnis älterer Bibliotheken
dienen, die Catalogi hibliothecarum antiqui von Gustav Becker (Bonn, 1885) and dafs
auf eingehenden Quellenstudien beruhende Werk von Theodor Gottlieb Über
mütelaUerliche Bibliotheken (Leipzig, 1890) haben sich nicht an die nationale Begrenzung
gehalten. Auch Edward Edwards hat in den Werken, die ihrem literarischen Charakter
nach hier Beachtung verdienen (Memoirs 0/ libr<irieSf 2 vol., London, 1859, Libraries
and Founders of Libraries y London, 1865, Free Town Libraries ^ London 1869)
mehrere Kulturvölker berücksichtigt und namentlich in den Memoirs einen sehr uoi-
verseilen Standpunkt eingenommen.
Heniusgeher Dr. Annio Tille in Leipstg. — Druck und VerUg von Friedrich Andreas Perthes fai Gotha,
Deutsche Geschichtsblätter
Mooatsec&rift
Fardenug der läB^s§escla(Mck6H Forscbuflif
' ■■■■■ ■ ■■
III. Band Dezembor igox 3. Heft
Zur Grundbesitzi/erteilung in der
i^arolitigerziut
Von
•Georg Ouro (Züricb)
Gegen <Kc herrschenden Ansichten über Probleme von grund-
legender Bedeutung fttr die Erkenntnis der älteren deutsdien Wirt-
schaftsverfassung ist von verschiedenen Seiten her ein Widerspruch
erhoben worden, der zwar bereits mehrfache Zurückweisttng erfahren
hat, flber doch wohl berechtigt, die Fragen aufs neue in Erörterung
zu neben. Die folgenden Ausführungen woHen darauf hinweisen, daft
-durch spezielles Eingehen auf die Privaturkunden der Karolingerzeit
noch mann^fache Aufschlüsse zu gewinnen sind; für die Einzelheiten
darf ich auf -meine bereits teilweise erschienenen Spezialarbeiten *)
Bezug nahmen.
EHe gangbaren Anschauungen lassen sich kurz skizzieren. Man
"betrachtet die Germanen nacli ihrer iesten Ansiedlung als ein Volk
von Bauern. Der freie Mann safs auf eigener Scholle, die er mit
eigener Hand oder hö<ihstens mit Hilfe weniger Unfreien bestellte.
Auf der Masse der kldnen freien Grundeigentümer beruhte Heer- und
Gerichtsverfassung, nur wenige Adelsgeschlechter höben sich durch
Besitz von gröfserem Gütern und mehr Unfreien oder Hadbfreien
•über die Gemeinfreien empor, unter denen namhaftere Ungleichheiten
des Besitzes nicht bestanden. In den primitiven Verhältnissen traten
üefgreifeade Umwälzungen ein, als das Frankenreich sich 4ie deut-
schen Stämme eingegliedert hatte. Der Gröfegrundbesitz breitete sich
aus durch Verleihungen von "Königsgut und Rodungen in den jge-
t) Über die Grandbesiteverteilnng m «kr Nordostsohweiz «. i. w. tn Conradf Jahr-
bttchem für NatioDalökoDomie und Statistik, 3. Folge, Bd. XXI ((901), ^. 474 ft und
Stadien zu den älteren St. GaUer Urkunden, L Teil , im Jahrbach fUr ScbweiMrisdhc Ge-
schichte, Bd. 26 (1901), S. 205 ff.
5
— 66 —
meinen Marken» Bistümer und Klöster erwarben umfangreiche Be-
sitzungen. Dabei verarmten die freien Bauern, auf denen der ganze
Druck der Reichsverfassung lastete. Um der Willkür der Beamten zu
entgehen, flüchteten sie in den Schutz der Grundherrschaften, geist-
licher und weltlicher. Am Ende der Karolingerzeit war die Umwand-
lung abgeschlossen, die Masse der Freien in einen an Höri^ett
grenzenden Zustand herabgedrückt.
Einig über die Grundzüge haben Rechts- und Wirtschaflshistoriker
auf verschiedene Seiten des Entwickeltmgsganges besonderes Gewicht
gelegt Waitz geht von dem Begriff der Hufe aus, die alles umfaist
haben soll, was der einzelne im Dorfe besafs, Hofstätte, Ackerland
und Recht an der gemeinen Mark. Den Wert der Hufe setzt er gleich
dem Wehrgeld des Freien. Innerhalb der nach Hufen verteilten Dorf-
gemarkung vollzogen sich die Veränderungen dergestalt, dals mehrere
Hufen in emer Hand vereinigt und dann vom Eigentümer an ab-
hängige Leute freien oder unfreien Standes zur Bewirtschaftung über-
lassen wurden*). Inama-Sternegg verweilt mit Vorliebe bei der
Ausbildung der grofsen Grundherrschaften, die er als einen bedeut-
samen Fortschritt des wirtschaftlichen Lebens ansieht In den Herrcn-
höfen und deren Anhang von dienenden Hufen habe eine Konzen-
tration und Organisation der Arbeit stattgefunden, die sich gegenüber
der Vereinzelung der volkswirtschaftlichen Kräfte in älterer Zeit als
höhere Elntwickelungsstufe darstelle *). Mehr auf die betriebstechnische
Seite der Agrarverfassung richtet Meitzen') sein Augenmerk. Er
will die Zustände der Urzeit und ersten Ansiedelung ermitteln durch
Rückschlüsse aus der heutigen Grundstücksverteilung innerhalb der
Dorfischaften. Die in den Flurkarten ersichtliche Lage und Gestaltung
der Gewanne bildet den Ausgangspunkt der umfassenden Unter*
suchungen. Gleiche Gröfse der Hufen, wenigstens in derselben Ge-
markung, wird vorausgesetzt *), und ihre Einrichtung auf die Ursprung*
liehe Anlage der Dörfer durch freie, gleichberechtigte Besiedler zurück«
geführt^), die dann ab Markgenossen das unkultivierte Land in
i) Waitz, D. V. G. i', 126; 2. i', 277, 284, 394; vgL auch die Abhandlung fiber
die altdeatsche Hofe, Abb. d. GeseUsch. d. Wissensch. sn Göttingen 6, 179 ff.
2) S. Inama-Sternegg, D. W. G. i, 278 ff., and „die Aasbildang der grolsen Gmnd-
herrschaften in Deutschland während der Karolingerzeit " (Leipzig 1878).
3) Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Europas nördlich der Alpen«
4. Bd. Berlin 1895.
4) Ebenda i, 75.
5) Ebenda i, 156.
— 67 —
Gemeinbesitz behielten. Dabei finden die Unterschiede der Ansiede-
lung nach Dörfern oder Einzelhöfen Berücksichtigung, ebenso wie die
jüngeren Weiler grundherrlicher Gründung.
Die Übereinstimmung in der Beantwortung der Einzelfh^en ist
auch bei den Vertretern der geltenden Anschauungen nichts weniger
als vollständig, selbst wenn man absieht von der vielumstrittenen Ent-
stehung des Privateigentums am Grund und Boden. Ungleichheit des
Besitztums nimmt Inama-Sternegg *) schon für die ältesten Zeiten an.
Lamprecht') stellt in Abrede, dafs jede Hufe an jedem Gewann der
Dorfmark beteUigt gewesen sei, beziehungsweise dais alle Gewanne in
die gleiche Anzahl Morgen zerfallen wären. Bei allen Abweichungen
im einzelnen und trotz der gewaltigen Fortschritte, welche die Er-
kenntnis der älteren Zeiten auf jedem Gebiet gemacht hat, sind in
•den geltenden Ansichten immer noch die Anschautmgen Mosers er-
kennbar'). Seine erste „goldene" Periode der deutschen Geschichte,
in der jeder Ackerhof mit einem Eigentümer oder „Wehren" besetzt
war, ist unschwer in der Zeit vor Ausbildung der Grundherrschaft
wiederzufinden. Den Verfall lä(st Moser allerdings ziemlich spät be-
ginnen, erst Ludwig der Fromme habe „aus Einfalt, Andacht, Not
und falscher Politik seine Gemeinen den Geistlichen, Bedienten und
Reichsvoigten" aufgeopfert*). Indessen die chronologischen Ansätze
betreffs des Unterganges der Gemeinfreien sind doch recht unsichere
geblieben. Wenn der Beginn des Prozesses in die Merovingerzeit
hinaufgerückt wird ^) , noch im XIII. Jahrhundert kann derselbe nicht
vollendet gewesen sein*); nur darin herrscht Einigkeit, dafs die ent-
scheidende Wendung im Laufe der Karolingerzeit eintrat.
Der tiefjg^eifende Einschnitt in die Entwickelung, den das Ver-
sinken der Freibauern in Abhängigkeit bedeutet, würde verschwinden,
wenn man davon ausgeht, dafs die Bodenbestelltmg bereits in den
Urzeiten nicht von den Freien vorgenommen worden ist. Die gesamte
Agrargeschichte gewänne ein verändertes Aussehen durch die Voraus-
setzung, da(s den alten Deutschen „Erwerb durch Schweifs und Arbeit
feig und unedel zu sein** dünkte, und dafs demnach die eigentlichen
I) D. W. G. I, 112.
%) D. Wirtschaftsl. i. Mittelalter i, 337.
3) Jastas Moser, Osnabrückuche Geschichte, in Mömts sftmtliehen Wericen herans-
geg, r. B. K, Abeken, Teil VI (Berlin 1843).
4) EbcDd. S. XI.
5) Waitz, D. V. G. 2. I, 380 ff.
6) Vgl. Schröder, D. R. G.« 444«.
6*
— 68 —
jtoocoft hlMi^e Ixxktt wiaren, «die, den »t^miscbefn Koldnea ^^cspgfek^
Mu-, dem Herrn einen Teil ihpes £>^v«rbes äbKeflbiten % l^e^e Anftioht
ist neuerdings von Witticli wieder Mfg<endmmeii vropäen, 'di^
^eimttien ^mtr Zelt de6 Tadtufi ^ie tmch die Sadheetti vor der
i»±eii Gfdberungf äte Grundbcritsfo %etradhtfe^, denen die tm^ien Adkcfr-
-bMer Abgaben ^ntfticMetefi. Il>ie vontoien Völksgetiosden Mtten
Axdamg ^sn ^fe Grundberrn und Krieger"^ -g&dtit, ^em 8enif , äem
^zma gräfsten Teil ditrch d)k Wandlungen der Zeiten ^tmu e>efelfcAys&
^efen. Der «ädfasisdbe Bs^nemät&nd liabe in den älteren Zeiten ittid
«^esenltlich anch fipät^ ^aus Sktaven, IH^rigen tmd Mindei^ien sldh ^et-
'ifäOfiM^ng'e^tzt *). Eine äbnlicbe Auffassung vertritt Seebohm^ der
von den Agrarverbält^issren Englands tiu^eht. Er betrachtet das ang«9-
sädh^cbe Herrscbidtsgvt gteicAi detn sp€Lteren nornoanniscben Lebnsgfot
-siB *einen Edcföiof , »uf ^m unter ^tsherrlidher Gerichtsbarkeit eine
hörige Dörfgfctneinde wohnte, imd rückschlie&end leugnet er, dafe öber-
"haupt deutsche Ansiedelungen auff 'römischem Boden in der Fom
freier Doffgfeweinden au geschehen pflegten; schon vor der Völfcer-
tranderung hätten skh in der ■Urheimat grundherrliche Zustände ent-
wickelt, die den gleichzeitig im Römerrdch sich ausbildenden ent-
"spfödien •).
Nodh ^radikaler widerspricht Fustel de Conlanges den gelten-
den Anschauungen. Atich «er leugnet die Existenz freier Dörfer, aUcr-
dings zunächst fSr die Merovingerzeit und gailo-römische Gebiete, iber
eine andere Gedtaltui^ der Agrarverfassung will ^er für die deutschen
Kfaeinlande nicht zugeben, und durch tlie Auffassung der villa als eines
Komplexes von Herrenlatid und dienenden Hufen nebst Zubehör an
Wald tmd Weide siebt er sich bewogen, das Bestehen von bäuerlichem
Gemeinbedttz an den Maiken zu verneinen. Nacli seiner Erklärung ge-
liörte das imkultkricrte Land so gilt wie der Acker dem Grundherren,
der jenes den Hiritersassen zu gemeinsawier Nutzung überlidls *).
Zu ähnlfcfhen Annahmen ist Hildebrand gelangt in einer XJnler-
sochnng, die "freilicli vielfach auf andere als rein lii^orische "Erwägungen
l) So schon Anton, Gesch. d. deutsch. Landwirtschaft, Bd. I (Görlitz 1799), S. 22.
a) W. Wittich, Die Grandherrschaft in Nordwestdeutschland (Leipzig fSgß), im An-
hang S. io8ff. 135.
31) SeebohA, ^ie ^gUiehe l)oH^emeinde, Übers, t. Bnnsen, fleidelbei^g^ 18S5, S. 73.
98. 235. 250.
4)FntteldeCoalanges, Hütoire des insiiiuiions foUtiques Se Pancünne Prance^
L'alleu ei le domaine rural pendant l'/pcque miroroingienm (Paris 1689), 5. 198 ff. 206.
360 ff. 424 ff. 435 ff.; s. aach Reme des qnestions hitt 45, 349 ff.
-^ et _
siich gi?ündet. Er betrachtet die Mark ^^als das zu einem Gute ge«>
bömge, noch unkultivierte Land oder auch das gaaze Gebiet eiacs
Guts oder einer Herrschaft*' und will ,^memala ia der fränkischen Zeit
aoif den Fall gesto&en sein, dafs eine Mark Gemeineigentum wäse odei
sich im Eigentum einer Dor%emeinde befände". Die rorbandenea
Erwähnungen gemeinschaftlich benutzten Bodens sucht er in vier Weiseo
zu erklären. Bei dem angeblichen Gemeineigentum handle es sich um
Land, das niemandem gehörte, oder solches, das im Miteigentum
mehrerer Personen stand, oder um Nutzungsrechte von Bauern au£
grundherrlichem Boden ; oder aber die Eigentumsrechte der Gemeinden
seien mit administrativen Befugnissen^ die ihnen zukamen, verwechselt
worden *). An der Ursprünglichkeit der Hufenver&söung scheint Hilde-
brand zu zweifeln ') , dagegen hält er das Herabsinken der anfanglich
vorhandenen freien Bauern zu Kolonen für eine überall wiederkehrendeEr-»
scheinung, die er freilich der Zeit nach für Deutschland nicht näher fixiert ').
Der diametrale Gegensatz in den Anschauungen über die ältere
deutsche Wirtschaftsgeschichte, der neuerdings wieder zu Ta^e ge-
treten ist ^), aber den Grundzügen nach sehr hoch hinaufreicht ^\, mub
auf die Unzulänglichkeit des Quellenmaterials und <£e Schwierigkeit
sdner Interpretation zurückgeführt werden. Die Berichte von Cäsar
und besonders von Tacitus sind vielerlei Deutung fihig. Bis zur
Völkerwanderung fehlt es dann fast völlig an Nachrichten; aber auch
aus der Merovingerzeit ist vom rechtsrheinischen Deutschland nur
wenig bekannt; was sich aus den Volksrechten entnehmen lälst, ent-
behrt guten Teils der Bestätigung durch anderw^tige Kunde. Erst ki die
Verhältnisse des VIII. und DC. Jahrhunderts kann ein tieferer Einblick ge-
wonnen werden. Hier fugen sich die Quellen verschiedenster Art, Schrift-
steller, Gesetze, Urkunden und Verwaltungsakten (Urbare) ergänzend inein-
ander und bieten den geeignetsten Ausgangspunkt für Untersuchungen, die
nicht hypothetische Konstruktionen, sondern reale Erkentnis zumZielhabexL
i) R. Hildebrand, Recht and Sitte aif den verschiedenen wirtschaftlichea Knltnr-
stnfen (Jena 1896), S. 176 f. 189.
2) Ebenda S. 146, n. i.
3) Ebenda S. 144 ff.
4) Gegen Wittich und Hildebrand t. BnuiQtr, Ztschi. d. Saarisaf-Skft. t RecAtAf escb,
19, ^6(L; Köcher,. ZtMUr. 4 hiüt. Ver. f. Nvedemacl»c% Jahrgi 1897« a 10.; KMaachW,
Deatselfte Ztacbr. U Geschichjtewias.» N. F. a, 2690.; Rachfahl, Zur GMchichte des Graad-
sigentums, in Conrads Jahrb. f. Nationalökonomie und StaüstÜE, 3. Folgt, Bd. XDC, S» i fll
164 fk ; Ph. Heck, l^eitri^e «ar Geicbicbt» d«r SUM% m MiHtlallor^ die GcmeinfireiMi der
karoliogischen Volksrcchte, Halle 1900;
5) ^Sl- schon Moser a. a. O. S. 12 n. a.
— 70 —
Ich wollte nun, wie bereits eingangs bemerkt, darauf hinweisen,
daft durch intensivere Verwertung der einen Quellengattung der Lö-
sung euier Frage näher getreten werden kann, die schliefslich doch
den Kern der strittigen Probleme in sich birgt. In der Karolingerzeit
soll die Aufsaugung des kleinen Grundeigentums vor sich gegangen
feein und die Verwandlung der freien Bauern in abhängige stattgefun-
den haben. Eine Änderung in der Verteilung des Grundbesitzes mülste
eingetreten sein, und mit diesem rein wirtschaftlichen Vorgang hätte
sich ein Prozefs sozialer Natur aufs engste verknüpft. Wenn am An-
fang der Periode und bis tief in dieselbe hinein kleine, freie Gnmd-
eigentümcr in grofser Anzahl vorhanden waren, so müssen sie aus
den Zeugnissen, welche über die Veränderung des Besitzes an Grund-
eigentum vorliegen, erkennbar sein, also aus den in überreicher Masse
erhaltenen Privaturkunden der Karolingerzeit. Nun bieten freilich die
vorhandenen Privaturkunden kein vollständiges Bild der Veränderungen,
die in der Grundbesitzverteilung vor sich gingen; sie enthalten der
überwiegenden Mehrzahl nach Schenkungen an die Kirche. Dieser
Umstand hat es wohl verursacht, da(s sie vorwiegend unter dem Ge-
sichtspunkte, das Wachstum des Kirchengutes zu ermitteln, be-
trachtet worden sind *), Die Fragestellung läfst sich umkehren. Die
Traditionsurkunden legen auch Zeugnis ab von der Grölse des den
Tradenten gehörigen Besitztums *) und den Veränderungen, die in ihrer
sozialen Stellung sich vollzogen.
Den eben angestellten Erwägungen entsprechend hatte ich zu-
nächst eine der Gruppen karolingischer Privaturkunden ins Auge ge-
fafst, die St. Galler Traditionen'). Aus ihnen liefsen sich allerdings
nur in wenigen Fällen bestimmte Maisangaben für die Gröfse der tra-
dierten Güter entnehmen. Wohl wurden ganze Hufen dem Kloster
geschenkt oder auch einzelne Morgen; sehr häufig aber ist nur ge-
sagt, dafs der Tradent all seinen Besitz an einem oder mehreren
Orten hingiebt, und es wird — in der Pertinenzformel — das Zubehör
aufgezählt, Baulichkeiten, Äcker, Wiesen, Wald, Wasserläufe, auch
Weinberge, Obstgärten, Unfreie u. dgl. m. Dazu kommt, dals nicht
1) So die Specialnntereuchangen zu den Traditiones fossessionesqtte Wizenburgtnses
(ed. Z^sQM^ Speyer 1843): F. WoUf, Erwerb and Verwaltung des Klostervermögens in den
Trmd. Wiz., Berl. Diss. 1883; W. Harster, Der Gttterbesitz des Klosters Weifsenburg iE.
I. Teil, Speier. G7mn.-Progr. 1893.
2) Vgl. sdion Inama-Stemegg, Gmndherrschaflen S. 25 fit., auch D. W. G. i, 116 ff.
3) Ediert von H. Wartmann, Urknndenbuch der Abtei St Gallen Bd. I und II, ZOrich
1863, 66.
— 71 —
häufig in den Urkunden ausdrücklich hervorgehoben wird, der Tradent
habe all sein Besitztum dem Kloster tradiert Meist bleibt das für
die Rechtsgültigkeit der Tradition unerhebliche Verhältnis des Tra-
dierten zum gesamten Besitz des Tradenten ganz tmbestimmt; nur ge-
legentlich wird gesagt, dals es sich um etwas von seiner Habe handle.
Gleichwohl darf der Versuch, die Grundbesitzverteilung aus den
St. Galler Traditionen zu ermitteln, nicht als aussichtslose Mühe er-
scheinen. Scheidet man die Urkunden aus, in denen für Güter klei-
neren Umfangs bestimmte Mafsangaben sich finden, so lassen sich die
Übrigen in zwei Gruppen sondern, solche, in denen der Tradent all
seinen Besitz an einem Orte hingiebt, und solche, in denen Besitz
an mehreren Orten geschenkt wird. Innerhalb dieser Gruppen ist
wieder zu unterscheiden, ob zu dem tradierten Objekt Unfreie gehörten
oder nicht. Nun ist wenigstens in einzelnen Fällen mit ausreichender
Sicherheit erweisbar, dafs aller Besitz eines Tradenten an einem Orte
lag und Unfreie nicht umfafste ^). Es müssen also kleine Freie vor-
handen gewesen sein, die mit eigener Hand ihren Acker bestellten;
aber es erscheint überhaupt undenkbar, dafs grö&ere Güter, zumal
wenn sie über mehrere Orte verteUt waren, ohne Hufe von Unfreien be-
baut werden konnten. Auch diejenigen Tradenten, die nicht ausdrück-
lich versichern, dafs all ihr Grundbesitz an einem Orte ihre gesamte
Habe darstelle, dürfen guten Teils als freie Bauern angesehen werden.
Die Zahl dieser Gattung von Traditionen ist weitaus die überwiegende.
Somit erscheint die Annahme gerechtfertigt, dais bäuerliches Grund-
eigentum stark verbreitet war. Daneben muis freilich ein nicht un-
beträchtlicher TeU des Bodens gröfseren und kleineren Grundherren
gehört haben, die Hufen an freie oder unfreie Hintersassen vergabten
und das Salland im Eigenbetrieb bewirtschafteten. Gefehlt hat die
Eigenwirtschaft nirgends. Grundherren, die ausschlieislich von den
Abgaben ihrer Hörigen lebten, kann es nicht gegeben haben*). Die
Dienste der Hintersassen fanden bei der Bestellung des Sallands Ver-
wendung neben denen der servi domestici. Vom Umfange des Grund-
besitzes mufste es abhängen, ob der Herr selbst arbeitete, oder sich
mit Beaufsichtigung begnügte, oder gar — in den Grofegrundherrschaftcn —
besondere Beamte mit Leitung der einzelnen Frohnhöfe betraute.
Die aus der schematischen Zerlegung der urkundlichen Angaben
zu gewinnenden Ergebnisse lassen sich auf einem anderen Wege
bekräftigen. In einer ganzen Anzahl Ortschaften haben mehrere Grund-
i) Ebendort nr. 77. 96.
2) Wie du Heck a. a. O. S. 39a E lUr Sachsen nachweist
• 72 —
eig«Btüm«r ihrcft Bfesitar tradiert. Stellt man die jeweäs auf etnes Ort
btfzüglichett Urkoaden zusammen, so erhält man ein ungfefahres B3d
vöft def Gnindbesitzverteilung' innerhalb der Dor^emarinmg'. Es
bteibeii^ zw^ begreifHcherweise diejenigen Anteile am Gmndbesitr fest
g2xiz unbekannt, die dem Kloster nieht tradiert wurden, für manche
Orte liegft gleichwohl genug Material vor, zunächst schon um erkennen
zu lassen, dafs eine Gliederung nach Hufen nicht durchgeführt ge-
wesen sein kann. Einzelne Hufen, als Bestandteile grundherrHchen
Eigentums, finden sich allerwärls. Gerade der Besitz der kleineren,
freien Eigentlkner wird nicht nach Hufen gemessen. Durch das Ein-
gehen auf örtliche Verhältnisse tritt femer zu Tage, wie grundherr-
Uches und bäuerliches Eigentum sich in Gemengls^e befanden. Da&
ganze Ottschaften einem Herrn gehörten, kommt kaum vor; gnind-
herrfiches Eigentam liegt regelmäfeig über mehrere Orte zerstreut
Die Abstufungen in der Grö&e des Besitzes sind übr^ens so mann^-
^tig und wechselnd, dafe eine schroffe Scheidewand zwischen Grund-
herren und freien Bauern nicht bestanden haben kann.
Als die wesentlichste Veränderung in der Grundbesitzverteilung,
die während der Karolingerzeit vor sich ging, erscheint die Entstehung
und das Wachstum des Kirchengutes. Dafür legen die zahlreichen
Traditionen unwidersprechliches Zeugfnis ab; aber die Bedeutung der
Konzentration des Grundeigentums darf doch nicht überschätzt wer-
den. Nur ein geringer Teil der tradierten Güter ging unmittelbar in
den Besitz des Klosters über, bei vielen sollte der Heimfall erst nach
dem Ableben des Tradenten oder anderer, bestimmter Personen statt-
finden, bei einem grofsen Teil wurde aber auch die Nutzniefeung für
den Tradenten und dessen gesamte, legitime Nachkommenschaft gegen
Entrichtung eines Knses vorbehalten, und das so entstandene Ab-
hängigkeitsverhältnis ist nicht immer auf Dauer berechnet; häufig er-
scheint die Ablösung des Zinses durch Zahlung einer vorher be-
stimmten Rückkaufsumme als erlaubt. Das Standesverhältnis der
Tradenten kann durch die Tradition und das daran geknüpfte Präkarien-
geschäft mcht berührt worden sein. Ausdrückliche Ergebungen in
den Schutz der Knrche sind äulserst selten. Die Annahme, dafe die
Tradenten, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, den Schutz der
kirchlichen Immunität aufisiuchten, hat wenig Wahrscheinfichkeit für sich.
Der Betrag der Präkarienzinsen weist ein konstsmtes Sinken auf und
erreicht gerade am Ende der Periode, in den friedlosen Zeiten der letzten
Karolinger, ein Minimum, das nicht mehr als reale Gegenleistung für die
Gewährung erheblicher Vorteile weltlichen Charakters zu betrachten ist
— 3» —
Eine gemase Verarmung der kleineren Grundeig^tämcr mag eiiH
getreten sein. Der natürliche Rückgang in der Zahl der nicbtangesie-
dehen Unfreien war wohl mehr Ursache als Folge dieser Elrscbeinftng.
Der Mangel an Arbeitskräften hinderte die Kleinen, in der Ansdebming
ihres Besitztums durch Rodung gleichen Scritt zu halten mit de&
Grofsen, denen es an abhängigen Leuten zur Besetzung neuer Hufen
nicht fehlte, aber von einem Versinken der freien Bauern in Hörig-'
keit kann nicht die Rede sein. Eine Aufisang^ng des kleinen Grund-
besitzes durch den gro(sen hat nur in sehr beschränktem Mafee statt-
gefunden. Die ländlichen Zustände des späteren Mittelalters beruhen
auf der Übertragung obrigkeitlicher Befugnisse an die Grundherren.
Verfassungsänderungen, wie die Ausdehnung der vc^teilichen Gewalt,
mc^en durch den politischen Einflufs herbeigeführt sein, den die grofsen
Gnmdherren ihrer sozialen Stellung verdankten; in der Karolingerzeit
zeigten sich jedoch kaum erst die Anfimge einer für die Folge gund-
l^fenden Ejitwicklung.
Die St. Galler Urktmden geben nur über ein räumlich recht be«
schränktes Gebiet Aufschluß. Mancherlei Anzeichen sprechen dafür,
dab selbst dort die Grundbesitzverteilung nicht durchweg den gleichen
Charakter trug. Im Hügelland der Nordostschweiz, im alten Thur-
und Zürichgau, müssen die freien Bauern stark vertreten gewesen sein ;
sie safsen nebeneinander in den Dörfern, und sie beteiligten sich an
der Gründung der WeUer, von denen keineswegs alle grundherrliche
Anlagen waren. Vielleicht dafs die besondere Eignung des Landes
zur Viehzucht die gröfseren und kleineren Eigentümer zu stärkerer
Beibehaltung des Eigenbetriebes veranlafste. Für die eigentümliche
Oiganisation der Alpwirtschafl findet sich ein sicheres Zeugnis nur auf
rhäto-romanischem Boden*). Nicht viel anders als südlich vom Boden-
see stand es in Oberschwaben; aber schon in der oberrheinischen
Tiefebene alamannischen Anteils scheint der grundherrlicbe Besitz
äbe];wogen zu haben, so im Breisgau, für den auiser den St Galler
auch Lorscher Traditionen vorliegen, und im Ebafe, wo vornehm-
lich die Weifsenburger Traditionen in Betracht kommen.
i) S. die von Wartmaoii im Anhang zu Bd. IV des St. Galler UrknndenbacheSf
S. 953 f. nro. 3, nach dem Original nen edierte Aofzeiclinang betreffs der Übertragung
der Anteile an der Alp campui Mauri an eine Kirche. Neaes Material für die eigen-
tümlichen rhätischen Zostäode Terspricht das Fragment eines Qinrer Kopialbachs ans
der Karolingerzeit zxl liefern, über welches der Entdecker, Dr. Darr er ^ aof der Versamm-
Inng der allgemeinen geschichisforschenden Gesellschaft der Schweiz za Chor im Herbste
190 1 Mitteilungen gemacht hat. Möge dasselbe bald veröffentlicht werden !
— 74 —
Auf dem für Ackerbau vorzugsweise geeigneten Boden bot wohl die
Anlegung von vestierten Hufen die vorteilhaftere Nutzungsfomi.
Es liegt auf der Hand, wie die Erkenntnis der Ansiedelungsgcschichte ^)
sowohl als die Erklärung späterer Zustände gefördert werden kann
durch die Ermittelung der örtlichen und landschaftlichen Unterschiede
in der Grundbesitzverteilung zur Karolingerzeit Das Verschwinden der
freien Bauern darf nicht auffallen in Gegenden, die zur Zeit Karls des
Grofsen von unfreien und freien Hintersassen kleinerer und gröfserer
Grundherren besiedelt waren ; und wo die bäuerlichen Grundeigentümer
dichter gedrängt beisammen saisen, sind sie auch im Wandel der
Zeiten nicht untergegangen.
Die Betrachtung der karolingischen Privaturkunden nach den oben be-
rührten Gesichtspunkten, dürfte wohl noch recht merkwürdige Ergebnisse
zu Tage fördern. Für eine Reihe deutscher Landschaften liegt dieses
wichtige Quellenmaterial in erdrückender Fülle vor; birgt doch der Lor-
scher Traditionscodex ') allein die Auszüge von drei und ein halbtausend
Urkunden aus dem westlichen Mitteldeutschland '), und wenn die späteren
Exzerpte in mancher Hinsicht weniger verwendbar erscheinen mc^en *), für
den rheinfränkischen Wormsgau bieten die Fuldaer Urkunden *) ein vor-
zügliches Kontrollmaterial ^). Fuldaer Urkunden liegen auch für die ost&än-
1) Vgl. W el 1 e r , Die Besiedlangdes Alamanncnlandes in den Wilrttembergischen Viertel-
jahrsheiten für Landesgeschichte, N. F., Jahrg. 7 (1898) S. 301 fi.
2) Codex principis olim Laureshamensis abbatiae dtplomaticus, ed. Academia Pala-
tlna, 3 Tom., Mannheim 1768.
3) Da die Sammlang der Traditionen im Lorscher Codex nach geographischen Ge-
lichtspfunkten angelegt ist, tritt besonders deutlich henror, dals vielfach eine recht be>
trächtliche Anzahl Grundeigentümer in einem Dorfe vorhanden war. So besiehen sich
anf Bensheim (Rheinhessen) die Traditionen nr. 231—265, auf Handschnchsheim (bei
Heidelberg) n. 279—383, auf Morsch (am Rhein, sttdlich von Worms) nr. 824 — 837 etc.;
vgL Wait£, D. V. 0. 2. i', 280, nr. 4; Maarer, Gesch. d. Dorfverf. i, 7. Mit Seebohm
a. a. O. 223 ff. die Tradenten als freie Hintersassen eines Frohnhofes m betrachten, geht
schon deswegen nicht, weil in den Dörfern neben den bäaerlichen Eigentttmeni anch
Grandherren vorhanden gewesen sein müssen, die an mehreren Orten Besitz hatten, to
in Handschochsheim : Erkanfrit nr. 315; Dietlind nr. 324; Engilbert a. Wiebert nr. 377;
8. aach nr. 356 etc.
4) Über den Lorscher Codex vgL Bossert, Württemberg. Geschichtsqaellen 2, 3 ff.
5) Ediert von Dronke, Codex dipL Faldensis, Cassel 1850; vgl. E. Heydenreich, D<u
älteste Fuldaer Kartular im Staatsarchive zu Marburg, Leipzig 1899.
6) So beziehen sich auf Dienheim die Urkk. Dronke nr. 12. 17. 55. 56. 113. 137.
15*. 153. 155. i^. 175. 198. 203. 204. 209. 213. 216. 228. 250. 251. 252. 281 etc.;
auf Saolheim nr. 27. 39. 45. 62. 161. 227. 364. 535. Beachtenswert sind auch die Auf*
Schlüsse Über die Grandbesitzverteilang in der Stadt Mainz; vgL Rietschel, Die civitas
auf deutschem Boden bis tum Ausgang der KaroUngerzeit S. 78 ff.
— 76 —
•
kischen Mainlande ') vor, und wenn sonst die zahllosen Schenkungfen, die
das Kloster des h. Bonifazius in allen deutschen Stammesgebieten empfing,
nur in den Auszügen des Eberhard bekannt sind •), für Untersuchungen
wie die in Frage stehenden sind auch die ungenauen Exzerpte nicht ganz
unbrauchbar *). Sehr reichhaltiges Material vermag Bayern aufzuweisen.
Der Urkundenschatz des Bistums Freising ist wohl in fast lücken-
loser Vollständigkeit erhalten ^), auch aus Passau und Regensburg
liegen nicht wenige Urkunden vor *) , dazu kommen die Traditionen
des Klosters Mondsee^ und andere, die nicht urkundliche Form
tragen ^. Dürftiger ist das Material für den Niederrhein und Sachsen;
immerhin sind auch hier im Werdener Kartular®) und den Kor-
v e y c r Traditionen •) wichtige Quellen vorhanden. Für die Mosellande er-
scheinen die Urbare besonders beachtenswert'^); die Privaturkimden von
Prüm und Echt er nach sind verhältnismäfeig nicht sehr zahlreich ").
Im ersten Bande dieser Zeitschrift S. 89 — 98 hat Oswald Redlich auf
die Bedeutung der Traditionsbücher hingewiesen und die Notwendigkeit
kritischer Editionen betont für eine Quellengruppe, die im DC. Jahr-
hundert b^innend bis ins XIII. Jahrhundert hinein gniten Teils die
Stelle der Privaturkunden vertritt. Die Traditionsbücher schliefsen sich
aufs engste an die Kopialbücher an, in denen die meisten Privat-
urkunden der Karolingerzeit überliefert sind; auch diese liegen bisher
vielfach nur in ungenügenden oder doch den modernen Anforderungen
nicht entsprechenden Ausgaben vor. Dadurch wird ihre Benutzung
i) Vgl. Stein, Die ostfrünkischen Gane im Ar eh. d. bist Vereins yon Unterfranken and
Aschäffenbnrg 28, 327 ff; auch ebend. 21, loff. 233 ff.; 22, iSgtL
2) Ediert yon D r o nk e, Tradtiionts et antiquitates Fuldenses^ Fulda 1844; vgL beson-
ders Bogsert, Wtirttembergische Geschichtsquellen 2, 219 ff.
3) Vgl. Dobenecker, Regesta Thnriogiae, S. XVII f.
4) Ediert grofsen Teils bei Meicbelbeck, Hist. Frisiogensis , Ergänzungen und Er-
Hiutenmgen von Hundt, Abh. d. Mttnch. Akad., Bd. 12 f.. Manchen 1874 und 1877.
5) Mon. Boica Bd. 28, T. 2; Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus, Bd. I, T. 3;
vgl. Bretholz, M. J. Ö. G. 12, i ff.
6) Ediert im Urknndenb. des Landes ob der Enns l , i ff. ; vgl. Hanthaler, M. J. 0. G. 7, 223 ff.
7) Ans Salzburg der Indiculus Amonis und die Breves notitiae Salzburgenses (ed.
F. Keinz, Mflnchen 1869, und Hauthaler im Salzbnrger Urkundenbuch) ; aus Nieder-Altaich
Traditionen, Mon. Boica 11, 13 ff. etc.
8) Ediert bei Lacomblet, Urkundenbach f. d. Gesch. d. Niederrheins, Bd. i., Tgl.
R. Kdtzschke, Stadien zur Verwaltungsgeschichte der Grofsgrundherrschafl Werden an der
Rohr, Leipzig 1899. (War mir leider nicht vollständig zugänglich.)
9) IVaditiones Corbejenses, herausgeg. v. P. Wigand; vgl, Schröder, M.J.Ö-<G. 18, 27^^
10) S. Lamprechty D. Wirtschaftsleben 2, 57 E; über Urbare vgL audi Sotta, Sitzong»-
bericht d. Wiener Akad., Bd. 138 (Wien 1898).
II) Mittelrhein. Urkundenbuch Bd. i und 2.
— 7^ —
erheblich erschwert. Erst die in Aussicht stehendea Neu-Editioiien der
Fuldaer und Freisinger Traditionen lassen eine bequemere Zugäng^licli-
keit des so wichtigen Materials erhoffen. Eine Reihe von Vorfragen muik
erledigt sein, ehe der Versuch, die Grundbesitzverteilung zu ermitteln«
unternommen werden kann. Anwachsen und Vermindenmg in der y^^X
der Schenkungen findet durch die speziellen Schicksale des geistUchjea
Stiftes, dem sie zufielen, ebensowohl Erklärung als durch die allgemeinen
Zeitumstände. Die bei den Traditionen gestellten Bedingungen weisen
örtlich und zeitlich wesentliche Unterschiede auf. Zuverlässige Er-
klärung der Ortsnamen bildet eine unentbehrliche Voraussetzung- für
die Benutzung der Urkunden. Ehe nicht die Vorarbeiten für jede eia-
zelne Urkundengruppe und Landschaft gemacht sind, ist an haltbare
Ergebnisse nicht zu denken. Es scheint, dafis in Bayern der gnuid-
herrliche Besitz ungleich verbreiteter war als in Alamannien *) , auch
in Ostfranken bestand schwerlich die Masse der landarbeitenden Be-
völkerung aus freien Bauern *), während z. B. im Wormsgau der Grund-
besitz imter sehr viele Eigentümer zerstückelt gewesen sein muis ^
Ob aber solche Annahmen nicht auf einer, durch zufällige Umstände
hervorgerufenen Täuschung beruhen, wäre erst noch nachzuprüfen *).
i) So findet sich ant«r den i8 Traditionen an Kloster Mondsee aus der Zeit de»
Uenog Tassilo keine einzige, die nicht Unfreie nmfafst hätte. Ein^e (nr. 83« 748; 31,
749; 74, 749; 29, 767) beziehen sich auf ganze Dörfer mit Hafen, unfreien and anck
freien Hintersassen. In nr. 70, 759 schenkt Ihho all seine Habe aufser den im Hause dienenden
Unfreien ; der Besitz umfafst Salland, Hufen, Wiesen, Weiden, Wald etc., dazu eine Kirche.
2) So haben zu NUdlingen (bei Kissingen) im (fränkischen) Saalgai an Falda tradiert:
Dronke nr. 37, Burgarad presbjrter, i Hufe; nr. 129, Nand^vig, all seinen Besitz mit
4 Unfreien; nr. 192, Leidrat, desgleichen mit 3 Unfreien; nr. 196, Boto» die Hälfre der
Erbschaft seiner Grolsmutter väterlicherseits; nr. 211, Altmann and seine 8chwester Re-
ginhilt, all ihr Eigentum aufser einer Hufe, dazu 8 Unfreie etc. Za Euerdorf im selben
CUn tradieren unter anderem: nr. 289, Engilberaht, 2 Hufen, 3 Ho&tättten (ariale) mit
Zubehör uod 12 Unfreien; nr. 267, derselbe, 2 Hufen, i Hofstätte and Anteil an 7 Un*
freien ; nr. 392, Reifing und seine Gattin Vodillind, aU ihr Eigentum dort und an zwei an»
deren Orten mit 7 Unfreien; nr. 547, Vuigbald und seine Gattin Perahttalp dort und tm
NüdUngen all ihr Eigentum auiser Gold und Silber, dazu 28 Unfreie etc.
3) So tradieren an Lorsch zu Wintersheim, Cod. Laoresh. nr. ^57, Wolter, l vmea;
nr. 958, Willifried, 1 mansuSt i vinea; nr. 959, Adaiger, Anteil an l manstts/ nr. 960^
Theudo, i viniola; nr. 961, Berthrad, 7. jurnales : nr. 962, Criecholf and seine Gattin
Rotburg, 7 jurnales etc.
4) Fuldenser Traditionen ans dem Wormigaa weisen auf gröfseren Besitz hin; so
tradieren zu Drommersheim : nr. 9, Eggioltus, i Kirche, Hafen mit freien Hintersaiae»
(accole) und Znbehör, i Weinberg und 13 Unfreie sind von der Tradition aufgenommen;
nr. 389 Hrodolt, all seinen Besitz dort and an zwei anderen Orten mit ßccole and
6 Unfreien; nr. 40, Hartmunt, Hufen mit Unfreien etc.; nr. «29, Megingos» 2 eoktue
mit Weinbergen ond i servus nebit dessen Sohn etc.
— 7T —
gesellen des XVIL Jahrhunderts
Na»k jdten VoiBumdscbaftsredteuBgen mitgeteilt
▼an
Q. Scboapper-Arndt (Fradduit a. M.)
Im Jahre 1671 wurde — wie die Standesbücher melden — ai
Bornheim, dem Frankfurtischen Dorfe, getraut der Bender und Bier-
brauer Johann Konrad Jäckel, weiland Johann Friedrich Jäckels
gewesenen Bürgers und Metiers zu Frankfort, auch Nachbars
und Gasiwirths zum fröhlichen Mann alhie ehelicher Sohn *).
Marie Werner hiefe die Braut, eheleibliche Tochter eines Nachbarn
aus dem sehr nahen Eckenheim in dem Reiche Hanau. Zwei 1672
geborene Knäblein werden, wie sie zusammen das Licht der Welt er-
blickt, auch wiederum zusammen in ein frühes Grab gelegt. Am
16. Oktober 1673 wird ein lebensfesterer Sohn Johann Jakob ge-
tauft, dem Johann Jakob Ewaldt, Nachbar des Gerichts und Gastwirt
zum „Güldenen Adler" zu Gevatter steht. (Im „Güldenen Adler"
tanzt man, wenn wir nicht irren, heute noch.) Die Ehe Johann Kon-
rad Jäckels ist, wie so viele Ehen jener Zeit — was sich „statistisch be-
legen" liefee — von gar kurzer Dauer. Nachdem sie nämlich 4^ Jahre
gewährt, starb der Mann, die Frau aber gebar zwei Monate danach
•am 20. Februar 1676 einen Posthumus, der nach seinem Gevatter,
dem Schneidersohne Mausz aus Frankfurt, Johann Adam benannt
wurde. Sechs Monate nach dem Tode ihres Gatten heiratet die Witwe
den Bierbrauer Nikolaus Dürr und stirbt ihrerseits Ende Juni 1688
45 Jahre alt Jetzt sind Johann Jakob und Johann Adam ohne leib-
liche Eltern. Ein Abteilungsv^rgleich wird zunächst geschlossen, nach
welchem die Jungen ihren Anteil abtreten an Wohn- und Brauhaus,
Scheuer, Stall, Garten, Bargeld, Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen,
Federvieh, Fahrgeschirr, Frucht, Zinn, Messing, Weilszeug, Rübsamen,
Fässern, Bütten, Holz, Hausrat, Kesseln und Kupfer. Dafür werden
i) Bornheim, heute <der Stadt Frankfurt eiaverleibt, zählte nach einem Landamt-
manns-Inventar von 1726 150 Gemeindslente (meist „Nachbarn" genannt), 10 Beisassen
(4 Männer n. 6 Weiber), 143 Hofraithen. Siehe Schalin, Die Frankfurter Landgemein-
den, herausgegeben von R. Jung, Frankfurt a. M. 1895.
— 78 —
ihnen 479 Gulden und 54 Kreuzer gut geschrieben. Vier Jahre später,
am 18. Juni 1692 wird Stiefvater Dürr, zusammen mit einem Dortel-
weiler Bürger, zu ihrem Vormund eingesetzt. Die Vormundschaüts-
rechnung, welche Dürr gefuhrt, hat zufiLllig den Jahrhunderten Trotz
geboten, sie ist durch Güte des Herrn Amtsgerichtssekretärs zu meiner
Einsicht gelangt, ich darf es darum wohl unternehmen aus ihr einige
MitteUungen zusammenzustellen. Notgedrungen imvoUkommene Mit-
teilungen allerdings! Die Rechnung ist durchaus nicht nach modernen
budget- theoretischen Erwägungen geführt, sie ist ofTenbar überhaupt
erst am Ende der Vormundschaft nach Notizen zusammengestellt
Darauf deutet auch die Schrift und der Posten : dem Notario . . . vor
diese Rechnung zu stellen, 2 mal zu decopiren vnd Bemühungen
heraus deshalben zu kommen ß. j. Indes die Gelegenheiten,
in den Ausgabeetat von Handwerksburschen, die schon vor mehr
als 200 Jahren Lehr- und Wanderzeit durchgemacht haben, einen
auch nur verstohlenen Einblick thun zu können, sind wohl so häufig
nicht!
Die Rechnung endet mit dem 22. Februar 1698; bei ihrem Be-
ginne war also Johann Jakob 18 J, bei ihrem Schlüsse 24 J Jahre alt,
Johann Adam beim Beginne 16 J, beim Schlüsse 22 J Jahre. Beide
haben sich der Schuhmacherei gewidmet, Hans Jakob ist Juni 1692
noch Lehrling, wird aber im gleichen Jahre von seinen Lehrjahren
losgesprochen. Er hat im Hause des Meisters gewohnt. Es folgt eine
meistcrlose Zeit, anscheinend von kurzer Dauer, da der Vormund nur
35 Kreuzer Barsubvention verzeichnet, davon 15 Kreuzer auf der
Gassen in Franckfurth ihme gehen müssen, 1693 begibt er sich
auf die Wanderschaft nach Anspach, wo er bereits vor dem 23. Juni
gewesen sein mufs. Im Februar 1696, also nach etwa drei Jahren
kommt er mit der Landkutsche zurück, geht wie es scheint Elnde
1696 wieder fort und kommt 1697 wiederum von der Reise nach
Hause.
Auch Hans Adam finden wir mit dem Beginn der Rechnung als
Lehrling in des Meisters Haus. 1694 wird er losgesprochen, damals
also, wie seinerzeit der Bruder, 18^ Jahre alt Seine Wanderung geht
gleichfalls nach Anspach.
Folgendes sind nun die Auslagen, welche der Vormund für den
Komsumtivbedarf seiner Mündel gemacht hat. Die Ausgaben, welche
sich als Verwaltungsspesen, sowie diejenigen, welche Vermögenstrans-
aktionen darstellen, lasse ich bei Seite.
Speiiriitertc Analagen
für
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Für »eineo HntecD n wenden, m Eio-
kaafsDK eliru Tnchei and Scbneiderlohn,
All er in FrankTiirt TOD leine Lebrjüira
Für 1 Hembder
B='»m
AI* er meitterloi und obne Arbeit ge-
weMD ihme eeben
Zahlte fUr ihn lUr ein Pur Strumpf . .
Auf der Guun in Fruikfari ihme geben
FUr Leder in Mnen Schuh ilune geben .
•ehrcpfen gangen geben mUiseo , . , ,
IMS.
16. Juni. Dem Barbierer Hirsch wegen der
Flir »ein FeUeisen tablt
dem Kutscher geben
Ihroe baar anf die Reiie mitgegeben .
Herbstmeii. Dem Joden Dand la Anipacli
Flir dreimalige Briefporto 10 er an mich
abgehen lauen per posta
IM4.
Hcrbttmeas. Ibme eine Fekkappe nacber
Anipach Winden müssen, dafBr tahlt. . .
-
l) Golden k 60 Kreuer. Siehe nolen.
3) El ist lediglich die Spracbbrm , nicht aber die Oithogr^ie der Vorlage bci-
bdialten worden.
— «0 —
Spezifizierte Auslagen
für
a
M
iE
Kleidung
und
Zubehör
fl. kr.
das Haad-
wetk
fl. kr.
DivcTM
fl. kr.
5 .5 s
^3 *- <
fl. kr.
Der Ranin fUr ein Hembd, Hals- und
Sehnaptach zahlt
3
4
1
5
j
20
48
34
1
— I
36
t
13
I
21
2
2
4
22
1«M.
rt. Februar. Als er mit der Laodkutsche
wieder anhero gekommen, ihme za Absah-
long des Reisegeldes ^ond Weiteres zahlt .
19. Februar. Hat er selbsten an den da-
mals verfallenen Zinsen eingenommen . .
Demselben zum bhraen Fatterhembd zahlt
für 3 Ehlen Tuch ad i Gulden 20 Krenzer
Fftr Futtertuch
22
l6f
Fär silberne Knöpfe
Für Seideogam und Schächter ....
Dem Scimeider Macherlohn
Ihme selbst an Geld geben
Demselben bei Friedrieh Simon geben .
O-stermes« geben
3«
In meinem Hause geben
25. D«cember. Quae zi^t
Itf7.
12. Juli. Als er von der Reise wieder nach
Hause gekommen, ihme geben ....
13. Juli. Wieder geben
In der Herbstmess ihme geben ....
5. December. Ihme baar
30
Zusammen: 198 fl. 59^ kr.
23
32
9
24
31 36
134 2^^
U. }iaLti» Adam ^äekel.
Ostermess. Ihme zu Schuhmacherwerkzeng
Oc tober. Ihme geben
Wie sein Bruder auf die Wanderschaft ge-
zogen, Jhme geben
Für ein Brustlappen und Schlafhaub . . .
December. Ihme geben
Noch zu zwei Mal
Für ein Hembd zahlt
108.
Ihflse Tor ein HemM gebtn • • . • .
6. Januar. Ihme geben
1
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—
n
8
8
— 81 —
Spezifizierte Auslagen
ftr
^ «i et
■
Kleiduag
und
Zubehör
(L- kr.
das Hsnd-
weric
1 fl. kr.
fl. kr.
2 •* •
t> ^ <
fl. kr.
3. ApriL Auf swei Mal
Ofttermess. Zu anterschiedenen Maien. .
Uff Pfingsten .
Für ein Felleisen zahlt
Für Schohmacherwerkseng
Für ein Hembd, so er seinem Nebenknecht
abgekauft
—
40
1 1 1 1 1 1 0. 1 1 % 1 1 1 1 1 1
40
30
8
—
2
I
6
24
42
12
Sein Lehrgeld und andere specifizirte Posten
zahlt
Den Sonntag vor dem neaen Jahr ihme
geben
1U4.
9. Merz. Ihme geben
Ostermess. Ihme geben
Wie er von seinen Lehrjahren losgesprochen
worden, die Unkosten zahlt mit . . .
Für einen Stecken vor ihm
Zu becahlen seinem Meister ihme geben
mttssea
20. Mai. Ihme auf die Wanderschaft geben
Bei seinem Abschied zu Bomheim zahlen
müssen
Tor einen empfangenen Brief das Porto beaahlt
Herbstmess. Dem Jod Darid von Anspach
lUft.
31. Merz. Dem Kutscher Walporger lant
dessen anhero mir überlieferten Schein d.
d. 13. Oct 1694
—
15
8
44
18
6
Zusammen: 93 fl. 47 kr.
4
5
6a
I7i
—
«MIMM
27
24i
Bei der Liquidation der Vormundschaft sind zu liefern:
Ein Kapital auf dem Hause „zum fröhlichen Mann"
in Bomheim — welches Haus einst im Besitze
des leiblichen Vaters war — im Betrage von 275 fl.
Wird zu 5 ®/o verzinst.
Ein bei einem sichern Herrn zu Frankfurt vor-
handenes Kapital im Betrage von .... 450 fl
Noch 139 fl. ST
6
n
— 82 —
An liegenden Gütern:
9 Morgen Acker, welches vormals des verstorbenen
Vaters Brautgabe gewesen 1,82 hektar
3i Viertel Weingarten 0,17
2 Viertel Wüstenau 0,10
6 Morgen eingelöstes oder gekauftes Gut, wes-
halben dann Herr Pfarrer Claudi die 160 Gulden
vorgeschossen 1,21 ^
3,30 hektar
10 Achtel Pfocht Korn, welche ich Vormünder Dürr entweder
in natura zu liefern oder dafür dessen Werth zu zahlen er-
bietig.
Der Vormund hatte jährlich 5 Achtel (i Achtel oder Malter =»
1,147 Hektoliter) Pacht den Kindern zu zahlen, es wurde ihm jedoch
angerechnet, dafe er „die Kriegsbeschwerde die zeither habe tragen
und Schätzung bezahlen müssen** und ihm deswegen der Pachtzins nur für
die Jahre 1696 und 1697 zur Last gelegt. In der That waren die
Dorfschaften um jene Zeit durch Einquartierung schwer heimgesucht;
u. a. lagen sächsische, gothaische, neuburgische Soldaten in der
Gegend.
Man wird zunächst wissen wollen, was die Gulden jener Epoche
seien. Die fraglichen Jahre 1692 — 1698 liegen geldgeschichtlich
klarer als die unmittelbar vorhergehenden und die nachfolgenden mit
ihrer Batzenüberschwemmung; man kann annehmen, da(s auch im
Kleinverkehr der herrschende Fufs sich ziemlich mit dem offiziellen
deckte, dafs also die vollwertigen im 18 fl.-Fufse geprägten Silber-
münzen kein oder kein nennenswertes Agio bedangen und dafs der
Dukaten thatsächlich meist zu 4 fl. zu haben war ^). Noch 1695
prägte die Stadt, wie aus den Münzakten hervorgeht, auch die kleine
Scheidemünze der Kreuzer nicht geringer als nach einem 20 fl. 36-
kr.-Fufse, die Albus (2 kr.-Stücke) nach einem 19 fl. 33 kr.-Fufs *).
Es kursierten — wie seit Jahrhunderten — zahlreiche fremde Münzen,
aber wenn der besonders gangbare französische Louis blanc 2 Gulden
galt, so repräsentiert dies, denselben zu 25,08 Gramm fein gerechnet»
noch keinen schlechteren als einen i8| fl.-Fu(ß. Man kann also sagen,
dafs der Silbergulden sich vom 18. auf den i8|-FuCs hin bewegte,.
1) Um 1702 bereits A^o.
2) Nmch dem Rezesse der fünf Stände vom 6./ 16. April 1693 sollte der Krenser
itt 20 fl., der Albas zu 19 fl. 20^ kr. gemünzt sein.
— 83 —
also zwischen 12^99 Gramm Silber tmd 12,54 Gramm Silber lag^,
der in Gold gezahlte Gulden ca. 0,86 Gramm Gold war. Da heute
12,99 b^ ^^fS4 Gramm Silber nicht entfernt =» 0,86 Gramm Gold
sind, so ist klar, dafs man den Inbegriff „Gulden" von da-
mals so wenig wie den aus irgend einer anderen Zeit mit
anderer Proportion als der heutigen mit einem einzigen
Ausdruck in „jetziges Geld*' übersetzen kann '). Ein in Gold
gezahlter Gulden enthielt nach dem obigen ungefähr soviel Gold als
in 2,40 Reichsgoldmark enthalten ist, ein Kreuzer soviel wie 4 Reichs^
goldpfennige. Es ist selbstverständlich ganz gleich, wenn man eine Ge-
schichte der Lebenshaltung und nicht eine Preisgeschichte der Edelmetalle
schreibt, ob man nach der „Gold-" oder der „Silberrechnung" rechnet
Zweck und Bedeutung der in der Tabelle en^'ähnten Gebrauchs-
dinge werden meist von selbst erhellen. Unter Muk verstand man
ein Oberkleid; im XVIII. Jahrhimdert hauptsächlich ein Frauen-, im
XVn. aber auch ein Männerkleid. „Dieser fremde Herr im sammeten
Mutzen", heiist es im Simplicissimus'). „Einen sammeten Mutzen wie
auch seidene Kleider vnd Mäntel" sollen nach der Frankfurtischen
Kleiderordnung von 1671 die vom ersten Stande tragen dürfen, i fl.
20 kr. als Preis der Elle für das blaue Futterhemd entspricht einem
Preise von 2 fl. 27 kr. pro Meter. Schechter — in anderen Gegen-
den z. B. Franken gleichzeitig Scheiter genannt — bezeichnet die
geleimte oder gesteifte Leinwand, welche zum Steifen der Kleider, zum
Unterlegen unter die Knopflöcher, in die Taschen u. dergl. gebraucht
wurde. Unter silbernen und gültenen Knöpfen verstand man
nicht immer echte, sondern öfters lediglich silber- oder goldartige,
solche kamen mir in Rechnungen zu 36 kr. pro Dutzend vor. Es
scheint, als ob die Hemden der Gebrüder Jäckel, wenn auch nicht
fertig gekauft, so doch fertig bestellt worden seien, wenigstens wird kein
gesonderter Einkaufspreis für Leinwand verzeichnet. Leinwand gab es
natürlich zu den verschiedensten Preisen. Leinwand für starke Arbeiter-
hemden kam mü: in gleichzeitigen (Nürnberger) Rechnimgen zu 15 kr. pro
Elle, das ist 22,8 kr. pro Meter, vor. Den Macherlohn für ein ein-
faches Manneshemd kann man zu 6 kr. annehmen, er kam also dem
Preise eines Pfundes Rind- oder Schweinefleisches in den damaligen
— teuren — 2^iten gleich. Die vorkommenden Strümpfe sind ohne
i) VgL anch meine „Wanderjahre des Johann Philipps Münch als Kaufmannsjunge
and Handlnngsdiener 1680 — 1696" im Archiv für Frankfiirts Geschichte, 3. Folge, Bd. V
(1896), S. 142 ff.
2) I, 125 Kurr. (cit. Grimm VI, pg. 2837).
6»
— 84 —
Zweifel wollene; geringere Beine als solche von Adligen und Rats-
berrn der ersten und zweiten Bank, von Doktoren und von namhaften
Kaufleuten, die nicht „nach der Elle und dem Lot*^ handeln, soUteo
sich überhaupt nicht in Seide hüllen: also schon fiir Notaren-, Pro-
kuratoren- und Künstlerbeine war der WoUenstnimpf bezw. Bauan-
wolle- und Leinenstrumpf obligatorisch. Der verzeichnete Prete ist
nicht auffallend hoch; reiche Leute gaben leicht 3 — 4 fl. für wollene
Strümpfe aus, die man so wohl fertig kaufte, als auch stricken liefe.
Das Tragen von Pelzkappen war bei Vornehm und Gering üblich. —
Ergänzend seien noch die Preise der wichtigsten Nahrungsmittel aus
der fraglichen Epoche angegeben. Dieselben schwankten infolge ein-
fallender Not- und Kriegsjahre bedeutend, Getreide insbesondere. Eis
variierte Rindfleisch und Schweinefleisch zwischen 5 — 6 kr. pro Pfiind,
das ist 10,36 — 12,43 ^- pro Kilogramm ; Roggenmehl zwischen fl. 3,71
bis fl. 14,10 pro 100 Kilogramm; Butter^) schwankte 1686 — 1695
zwischen 6 — 13 kr. pro Pfund, das ist 12,43 — 26,93 kr. pro Kik>-
gramm, stieg aber vorübergehend (1693) bis 37,29 kr. pro Kilogramm
und höher. Das Roggenbrot endlich kostete in Frankfurt nach sehr
genauen von mir vorgenommenen Ermittelungen
pro Kilogramm
1692:
3.56 kr.
1693
S.32 „
1694;
5.57 »
1695;
2,77 „
1696:
2,16 „
1697;
2,29 „
1698:
3.35 ..
durchschnittlich 3,58 kr.
Es kosteten also 100 Kilogramm 75,59 Gramm gemünztes Silber
oder 5,117 Gramm gemünztes Gold, das ist so viel wie in 12,28 Gold-
reichsmark enthalten ist, oder ein KUogramm = 12,28 Pfennige. —
Der Jahreslohn eines besseren Knechtes zu häuslichen Verrichtungen
stellte sich — ohne die Nebengeschenke — auf 21 fl. jährlich.
Es war nicht meine Absicht den Lebenslauf unserer jungen Schuster
weiter hinaus als bis zum Schlüsse der über sie geführten Vormund-
i) Du PfiiDd Batter sowie du Pfond Fleisch waren am ^/^ schwerer als du
Pfand Brot
— 86 —
Schaftsrechnungen zu verfolgen, dennoch blieb nach dem Abschlüsse
des Obigen ein Residuum unbefriedigten menschlichen Interesses
bei mir für jene Schatten übrig, welche mir im Orkus der Vergangen-
heit Notizen über ihre Jugendzeit g^eben haben. Ich konnte darum
gelegentlich nicht umhin, auf dem Frankfurter Standesamte noch ein
wenig über sie nachzublättern. Es ergab sich, dais die beiden kurz
nach der Liquidation in Frankfurt Bürger und Schuhmachermeister ge-
worden sein müssen. Johann Jakob heiratete 26 Jahre alt die Tochter
eines Secklermeisters, Johann Adam im gleichen Alter die Tochter
eines Schuhmachers und Bürgers zu Frankfurt a. M. Am 11. Sep-
tember 1728 starb Johann Jakob 55 Jahre alt, er wohnte in der Neu-
gasse, welche noch heute eine Schustergassp ist. Der jüngere Bruder,
Johann Adam, verarmte. In dem „Verzeichnis der Kranken bürger-
lichen Hausz-Armen, welche von E. löbl. Gasten Amt in hieszig gleich-
falls löbl. Hospital Amt zu bequemer Pfl^ und Besorgung gethan
und von jedem wöchentlich ein Gulden zu entrichten verglichen wor-
den", liest man, dafs am 19. März dem hiesigen Schuhmacher Johann
Adam Jäckel vergünstigt wurde, auf 14 Tage bis zu seiner Rekon-
valeszenz in das Spital zu gehen; „wegen Baufälligkeit" heilst es in
einem anderen Buche des Almosenkastens. Er genas nicht von der
Baufalligkeit, sondern starb im Hospital am 15. Juni 1727, 51 Jahre alt.
Mitteilungen
Yersammlangen. — Vom 23. bis 26. September fand in Freiburg
i. B. die Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine statt ') und zwar an Stelle des durch
Krankheit verhmderten Geh. Archivrat Dr. Bailleu (Charfottenburg) geleitet
von Generalmajor Dr. v. Pf ist er (Stuttgart). Die Feier des 75 jährigen
Bestehens der von Karl Rotteck gegründeten ,, Gesellschaft für Be-
förderung der Geschiebes-, Altertums- und Volkskunde von
Freiburg, dem Breisgau und den angrenzenden Landschaften*'')
hatte diesmal die Vertreter der Landes- und Ortsgeschichte nach der Uni-
versitätsstadt im Breisgau gerufen: 159 auswärtige Teilnehmer wurden neben
376 einheimischen gezählt Von den jetzt dem Gesamtverein angehörigen
1) über die Tagung zu Dresden im Jahre 1900 vgL Bd. II, S. 57 — 60.
2) Daneben bestehen in Freiburg noch zwei andere Geschichtsvereine, nämlich der
i86a gegründete „Kirchlich-historische Verein fUr die Erzdiözese Freiborg^' (vgL darüber
diese Zeitschrift Bd. II, S. 205 — 206) und der y^reisganvercin Schaa-ins-Land".
i
— 86 —
142 Vereinen hatten leider nur 43 eigne Vertreter abgeordnet, was gegen-
über Dresden, wo von 137 Vereinen 64 vertreten waren, einen recht be-
dauerlichen Rückschritt bedeutet: es wäre dringend zu wünschen, dais
jeder einzelne der verbundenen Vereine die Bedeutung dieser
Jahresversammlungen mehr und mehr würdigte und die doch recht
bescheidenen Kosten zur Abordnung eines Vertreters, der dann
über das Geschehene und Gehörte daheim berichtet, aufwendet,
um so in dauerndem Zusammenhange mit den Forschungs-
ergebnissen zu bleiben und neue Aufgaben kennen zu lernen.
Erfreulicher Weise waren wieder eine Reihe Landesregierungen (Baden,
Braunschweig, Hamburg, Hessen, Elsafs-Lothringen, Mecklenburg-Schwerin,
Preufsen, Sachsen, Schweizerische Bundesregierung) sowie das Germanische
Museum offiziell vertreten, aber auch — so zahlreich wie wohl noch nie — ein-
zelne Städte (Dresden, Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, München),
ein Beweis, wie überall das Interesse für die heimische Geschichte zunimmt
Nach der organisatorischen Seite hin ist von Wichtigkeit der Beschlufs, eine
eigene (fünfte) Abteilung für Volkskunde zu gründen, die tmter der
Leitung des Generalmajors z. D. Freiherrn v. Friesen, Vorsitzenden des
Vereins für Sächsische Volkskimde, steht. Das Korrespondenzblatt des
Gesamtvereins, welches seinem 50. Jahrgange entgegengeht, soll ein Haupt-
register über die ganze Reihe erhalten, um so den darin niedergelegten Stoff
allgemeiner zugänglich zu machen, ein Beschlufs, der die allgemeinste Zu-
stimmung finden dürfte. Zur Vermehrung der Mittel des Gesamtvereins wurde
die Frage erörtert, ob nicht die Beiträge der Vereine oder der Versanmüungs-
teilnehmer erhöht werden sollten, aber ein bestimmter Beschlufs konnte in
diesem Punkte nicht gefafst werden, wenn auch allgemein anerkannt wurde,
dafs eine Vermehrung der Vereinsmittel dringend notwendig sei, wenn der
Gesamtverein als solcher auch nur in bescheidenen Grenzen selbst Arbeiten
ausführen wolle. Zu Hoffnungen in dieser Hinsicht herechtigt die Thatsache,
dafs zum ersten Male in der Person des Geh. Oberregierungsrates Lewald
ein Vertreter der Reichsverwaltung zugegen war: Zuschüsse für bestimmte
Arbeiten seitens des Reiches dürften, wenn diese Vertretung und die dadurch
ermöglichte persönliche Kenntnisnahme der im Gesamtverein verkörperten
Bestrebungen regelmäfsig stattfindet, viel leichter zu erhalten sein als bisher.
Erfreulich für beide TeUe war auch die zu Tage tretende engere Berührung
der Universitätslehrer mit dem Gesamtverein, die das frühere oft recht kühle,
ja bisweUen feindliche Verhältnis abzulösen beginnt: ein entschiedenes Ver-
dienst in dieser Riehtung hat sich Prof. Finke erworben, der sich vor
drei Jahren in Münster und jetzt wiederum in Freiburg um das Gelingen
der Versammlung bemüht hat, nicht minder aber die übrigen Herren der
Freiburger Universität (Beyerle, Dieffenbacher, Kluge, Michael, Stutz, Wahl),
die sich als Redner zur Verfügung gestellt hatten. — Eine ganze Last ge-
druckter Festgaben zur bleibenden Erinnerung konnten die Teilnehmer mit
nach Hause nehmen. Ein Ausflug nach dem Fürstlich Fürstenbergischen
Schlosse Donaueschingen mit semen geschichtlichen Sehenswürdigkeiten nebst
Fahrt durch das prächtige Höllenthal nahm den dritten Tag in Anspruch,
ein Fest der Stadt Freiburg nebst Beleuchtung der Münstertürme füllte den
zweiten Abend, sodafs unter wissenschaftlicher Arbeit und geselligen Freuden
_J
— 87 —
die Tage — in beiden ßichtuDgea aostrengeDd genug — rasch vergangen
sind. Im Jahre 1903 wird der Gesamtrerein einer Einladung der Stadt
Düsseldorf folgen.
Da ein ausführlicher Bericht über die Verhandlangen vom Vorstande
des Gesamtvereins herausgegeben wird, begnügen wir uns hier mit einigen
kurzen kritischen Bemerkungen: Die in den Hauptversammlungen gehaltenen
Vorträge boten sämtlich Forschungsergebnisse von allgemeinstem Interesse.
FioE. Stutz (Rechiageaehichie des Freiburger Münsters) führte mit der Ge-
schichte des Münsters die der ganzen Stadt in grofsen Zügen vor; Prof.
G o t h e i n (Bonn) behandelte unter dem Thema der Hofverfaasung auf dem
SckwarxtDoid ein grotses Stück Besiedlungsgeschichte, Profi Dieffenbachei
(Beiträgt zur Badischen Volkskunde aus Grimmelskausens SimpUzissimxu)
zeigte, dafs der Verfasser jenes berühmten Romanes, obwohl in Gelnhausen
geboren, dennoch ganz im alemaimischen Volksleben aufgeht und, wo er
Thatsächliches berichtet, nichts anderes als alemannische Zustände beschreibt
Stadtarchivar Albert endlich schilderte die Thätigkeü der historischen Vereine
•n Baden seit fast einem Jahrhundert — Roth v. Schreckenstein gründete
1805 den Verein für die Geschichte der Baar — bis zur Gegenwart und zeigte
so an dem Beispiel Badens, was zur Erforschung der heimatlichen Vergangenheit
geschehen ist, geschehen kann und überall geschehen sollte.
Reges Leben herrschte in den vortrefflich besuchten gemeinsamen
Sitzungen der ersten und zweiten Abteilung, die zugleich die Sitzung des
Verbands Süd- und westdeutscher Vereine für römisch-germanische
Forschung darstellte. Nach den Aussagen von Teilnehmern an beiden Versamm-
lungen sind die Freiburger Vorträge viel besser besucht gewesen, als die der etwa
entsprechenden Sektionen auf der Strafsburger Philologenversammlung. Was
in diesen Blättern als Hofbung ausgesprochen wurde '), das hat sich also
.erfüllt: es ist in die arcbäologisch-kunstgeschichthche Abteilung des Gesamt-
vereius ein andrer Geist eingezogen. Das zeigte sich auch diesmal in der
Person der Vortragenden wie in den behandelten Themen, deim gerade
die brennendsten Fragen aus dem Gebiete der südwestdeutschea Altertums-
kunde* wurden besprochen. Dafs es sich bei den Studien am deutschen
Limes nicht blos um die alten abgedroschenen Fragen nach Markierung,
Grenzgräbchen, Begleithügeln u. s. v. handelt, sondern dafs sich thatsächlibh
wichtige historische Probleme daran anknüpfen lassen, zeigte Fabricius
(Freiburg) in seinen Ausführungen über die Chronolc
anlagen in Baden und Württemberg, nicht mir
(Darmstadt), der die von ihm kürzlich gemachte Entdecli
Vereinzelung sehr wichtigen Erdkastells im Odenw.
deutung fUr die chronologische Fesüegung einzelner Limef
Über ein die römische Altertumskunde wenigstens stre
Prorektor Kluge (Freiburg) vor; er besprach die Aus
nischei Eigennamen in lateinischen Texten im all
Ableitung des Wortes Pfablgraben von einem deutscl
besonderen. — Wie grofse Fortschritte die Ringwallfc
mit das Studium der vorrömischen Altertümer in Südwc
i) Vgl. Bd. H, 8. 334.
— 88 —
haupt gerade in den letzten Jahren gemacht hat, bewiesen die Ausführungen
von Thomas (Frankfurt) Über den Stand seiner eigenen Arbeiten. An
einem besonders lehrreichen Objekt, an dem ausgedehnten Ringwallsjstem
der Goldgrube im Taunus, hat er eingehende Studien gemacht; die n&it-
geteilte Fülle von interessanten und wichtigen Beobachtungen muls fördertun
bei aüen derartigen Untersuchungen berücksichtigt werden. £s ergab sich
aus den Funden an dieser mächtigen Anlage, dafs sie nicht nur ab Refngiiim
gedient haben kann, sondern dafs an tmd in ihr eine ausgedehnte Ansiedhing
bestand, deren umfangreiche Reste festgestellt wurden. Gerade auf diesem
Gebiete regt es sich jetzt überall; eingehende Untersuchung und nachhaltige
Förderung verdanken wir Lehn er in Urmitz, Soldan in Neuhäusel, Schliz
in Neckargartach tmd Bodewig in Braubach, und da sich in der letzten
Zeit wieder fast überall neue Anhaltspunkte ergeben haben, so darf an-
genommen werden, dafs thatsächlich die Ringwallforschung und die damit
in engster Verbindung stehende Aufklärung der vorrömischen Besiedehing in
Mitteldeutschland von jetzt ab in einem rascheren Tempo als seither voran-
schreiten wird. Man hat eben gelernt, Wälle, Margellen, Hügelgräber mid
Hochäcker nicht mehr als Dinge für sich anzusehen, sondern sie in einen
gröfseren Zusammenhang zu bringen; und so werden sich bald überall, des
sind wir sicher, ebenso schöne Bilder aus der Besiedelungsgeschichte der
Prähistorie zeichnen lassen, wie sie bereits Miller in der Oberamts-
beschreibung Ehingen 1893 entworfen hat. — Einen höchst interessanten
Beitrag zu diesem Forschungsgebiet gaben die Herren Hang (Mannheim)
und Fabricius (Freiburg) mit ihren Mitteilungen über die Keltenstadt
Tarodunum, die im Dreisamthal bei dem Dorf Zarten gesucht wurde und
jetzt durch Ausgrabungen festgestellt worden ist. Die von Fabricius ge-
leiteten Arbeiten werden auf Kosten der Stadt Freiburg fortgesetzt und ver-
sprechen reichen Ertrag für die Wissenschaft. — Auf das Gebiet vor-
geschichtlichen Gewerbebetriebs führte Kenne (Metz) mit seiner Schilderung
der bis vor kurzem rätselhaften und auch jetzt noch nicht vollständig auf-
geklärten prähistorischen Ziegelsalinen im Seillethal in Lothringen, des
sog. Briqtietage.
Wie es eine einsichtige Stadtverwaltung fertig bringt, allerdings das nötige
Interesse vorausgesetzt, in verhältnismäfsig kurzer Zeit sich ein überraschend
reichhaltiges Büd von der einstigen Besiedelung des Stadtgebiets und seiner
nächsten Umgebung zu schafifen, das vermochte Pf äff (Heidelberg) zu zeigen
in seinem Vortrag über die städtischen Ausgrabungen in und um
Heidelberg'); er selbst hat die Arbeiten geleitet und bei gelegentlichen
Terrainumgestaltungen die Aufsicht geführt Seiner Sorgfalt sowie dem Um-
stand, dafs die Beamten wie die Arbeiter im Auftrag der Stadtverwaltung
eingehend instruiert werden, verdankt man die überaus reichen Ergebnisse
aus allen Zeiten, die Pfaff der wissenschaftlichen Welt vorzulegen hat Von
besonderem Wert ist auch hier in Heidelberg der Nachweis imausgesctztcr
Besiedelung von der Steinzeit bis in die Gegenwart.
Leider war die Zeit für die Abteilungssitzungen wieder gar zu knapp
1) Vgl oben S. 26 — 27.
^
— 89 —
bemessen; es ist dringend zu hoffen, dafs das in Zukunft anders wird;
denn man kommt doch zum Arbeiten zusammen! Diesmal konnte gerade
noch die Zahl der Vorträge bewältigt werden, die Besprechung dagegen
kam entschieden zu kurz, und gar mancher hätte sich gewifs gern an der
Diskussion beteiligt, die z. B. Frhr. Schenk zu Schweinsberg über die
alten Namen der Ringwälle eröfihete; doch man scheute sich, die Zeit zu
sehr in Anspruch zu nehmen.
Wir erwähnen noch, dafs der geschäftsfiihrende Vorstand des südwest-
deutschen Verbands jetzt aus den Herren Soldan, Anthes und Müller
in Darmstadt besteht
Reiche Belehrung und Anregung boten auch die Vorträge in der ver-
einigten dritten und vierten Abteilung. Prof. Martin (Strafsburg) beschäftigte
sich mit der Heimat Hartmanns von Au *) und suchte aus guten
Gründen die gewöhnlich gegen Lachmanns Ansicht, dafs Au bei Freiburg
in Frage kommt, vorgebrachten Einwände zu widerlegen. Der fürstliche
Stand des „Armen Heinrich" in der Legende ist kein Grund, um dem
Dichter notwendigerweise auch fürstliche Herkunft zuzuschreiben. Die Ver-
suche, Hartmann an andern Orten Schwabens anzusiedeln , erscheiuen durch
seine Sprache ausgeschlossen, aber notwendig mufs er an einem grofen
modernen tmd französisch gebildeten Fürstenhofe gelebt haben, und dazu
pafst trefflich der Hof des Zähringers Berthold V., der zwei französische
Gemahlinnen hatte. — Prof. Michael (Freiburg) besprach WaUensteins Vertrag
mit dem Kaiser im JaJire 1632 y der aktenmäfsig nicht überliefert ist.
Redner ist der Ansicht, dafs der darüber im Theatrum Europäum enthaltene
Bericht der Wahrheit über die Abmachungen am nächsten kommt, dafs
dieser jedenfalls besser sei als der bei Khevenhüller gebotene und macht
es in hohem Grade wahrscheinlich, dafs unter dem „höchsten Regal im
Reiche", welches der Kaiser verspricht, nichts anderes als eine Kurwürde
gemeint sei. — Privatdozent Wahl (Freiburg) verbreitete sich über den
Wechsel der AnscJiauungen über die Politik der deutscJien Mächte im ersten
Koalitionskriege und zeigte im einzelnen, wie die politische Zugehörigkeit
der Verfasser in diesem Punkte dafiir entscheidend gewesen ist, ob sie
Preufsen oder Österreich für das Mifslingen des Feldzugs verantwortlich
machen. — Prof. Konrad Beyerle (Freiburg) berichtete über die im
Herbst 1900 von ihm und Prof. Künstle in der frühromanischeu Pfarrkirche
S. Peter und Paul in Niederzeil auf der Insel Reichenau entdeckten Wand-
gemälde, über die eine Publikation bei Herder in Freiburg erscheinen wird.
In der Hauptapsis findet sich eine Majestas Domini, flankiert von den
evangelischen Zeichen, den zwei Patronen der Kirche und zwei Seraphen auf
geflügelten Rädern. Das gut erhaltene Bild ist jünger als das in St. Georg
zu Oberzell, und der Fund gewährt damit einen neuen Einblick in die Ent-
wickelung der Reichenauer Malerschule. — Über den Fortgang der Kirchen-
bücherforschung konnte Archivrat Jacobs (Wernigerode) wesentlich neues
nicht mitteilen, seine Ausfühnmgen vervollständigten vielmehr vor allem die
Nachrichten über das Auftreten der kirchlichen Register in Italien ^^
I) Der Vortrag wird vollständig in der Zeitschrift AUmannia, hgr<
scheinen.
— 90 —
während des XIV. Jahrhunderts, und Redner stützte damit seine Anschautuig,
die in den Registern nicht eine Frucht der Reformation, sondern ganz all-
gemein der Renaissancekultur erblicken will. — Prof. Mehlis (Neustadt a. H.)
glaubt in einer Ausgrabung, die er in der Nähe von Neustadt vorgenommen
hat, eine Merovingerpfalz entdeckt zu haben und hat die Ergebnisse seiner
Forschung unter dem Titel : Walahstede^ eine rheinische Burganlage aus der
Merovingerzeit (Kaiserslautem, H. Kayser, 31 S. 8®. M. i) bereits der
Öffentlichkeit übergeben. Seine Beschreibung der Fundstücke sowohl wie der
Anlage selbst scheinen seine Ansicht nicht voll zu rechtfertigen: den Zu-
hörern hat er wohl nur zu beweisen vermocht, dafs die Anlage einerseits
nicht römisch und andrerseits nicht nach 1200 entstanden ist. Und wenn
sie selbst als merovingisch in Anspruch genommen werden kann, so bleibt
ihre Eigenschaft als Pfalz jedenfalls erst noch zu beweisen.
Auch bei diesen Vorträgen machte sich der Zeitmangel unangenehm
geltend. Viele Zuhörer mufsten sich eher, als es ihnen lieb war, zurück-
ziehen, um anderes nicht zu versäumen, und zu einer irgendwie nennens-
werten Aussprache über die Darbietungen kam es nicht, obwohl sich manche
Gelegenheit dazu bot: man darf nicht vergessen, dafs erst durch
eine Aussprache der Meinungen der rechte Nutzen erzielt
werden kann. Hoffen wir also, dafs statt sechs verschiedener
Materien beim nächsten Male nur über drei verhandelt und da-
bei für die Debatte genügende Zeit gelassen wird!
Die vereinigten Abteilungen endlich hatten ein kurzes Programm zu er-
ledigen, denn der eine Gegenstand, Pflege und Inventarisierung nicht-
staatlicher Archive, mufste abgesetzt werden, da der erste Bericht-
erstatter Geh. Rat Bai Heu nicht zugegen war. Ganz kurz erstattete Armin
Tille Bericht über die von der im vorigen Jahre eingesetzten Kommission
(Köcher, Tille, v. Zwiedineck) entwickelten Vorschläge behufs Fortsetzung
des Walther-Konerschen Repertoriums. Der Bericht wird im Korre-
spondenzblatt des Gesamtvereins demnächst gedruckt werden, seine wesent-
lichen Gedanken smd: es gilt die Lücke von 1850 bis 1900 auszuAillen ;
am besten wäre Jahrzehntweise vorzugehen und zunächst 1891 bis 1900 zu
bearbeiten; ausführen kann die Arbeit nur eine wissenschaftlich befähigte
Person, die auch die ersten Auszüge fertigen mufs ; die Kosten dafür müssen
von den Vereinen, deren Zeitschritten bearbeitet werden, nach Mafsgabe des
Umfangs ihrer Publikation aufgebracht werden. — Ausführlich sprachen Archiv-
direktor Wolfram (Metz) und Prof. Anthes (Darmstadt) über den Fort-
gang der Grundkartenarbeit: in Utrecht ist Ende 1900 ein Zcntral-
bureau für die Niederlande eingerichtet, von den meisten Beteiligten sind neue
Kartenblätter ausgegeben worden. Notwendig ist vor allem noch eine Verstän-
digung in Fällen, wo ein Blatt zwei verschiedene Staaten trifft : dort vor allem
müfste die Leipziger Zentralstelle eine gedeihliche gemeinsame Arbeit herbei-
führen. Neue Untersuchungen über das Alter der Flurgrenzen liegen aus Lothringen
vor, wo die Gemarkungen der Orte auf -ingen , -weiler und -heim in ver-
schiedenen Farben eingetragen worden sind: es haben sich vielfach alte
Römerstrafsen als Grenzen erwiesen, und in Westfalen hat Nord hoff ganz
ähnliches fes^esteUt Bezüglich der Verwendung einheitlicher Zeichen bei
ntragungen in die fertigen Grundkarten ist die im Vorjahre eingesetzte
T?l
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r>^
— 91 —
Kommission (Ermisch, Kötzschke, Thudichum, Wolfram) zu der Ansicht ge-
langt, dafs es für die Feststellung solcher Zeichen für die mittelalterliche
Geschichte noch zu früh sei, dagegen hat sie sich unter dem sachkundigen
Beirat von Prof. Friedrich Ohlenschlager (München) über Zeichen
für vorgeschichtliche und römische Funde geeinigt, die von der
Versammlung freudig angenommen wurden und auch demnächst in dieser
Zeitschrift mitgeteilt werden sollen. Allgemein ist man übereingekommen
Vorrömisches mit blau, Römisches mit rot zu bezeichnen, doch dies
ist ein Notbehelf in Fällen wo man sich mit zwei Farben aus technischen
Gründen begnügen mufs, im übrigen gilt für die Steinzeit — braun, Bronze-
zeit — gelb, Hallstadtfunde — gelb mit blau, Lat^e — blau und gelb,
Völkerwandenmgszeit — k arm in. Nachdem diese vollkommene Einigung er-
zielt ist, werden voraussichtlich auch diejenigen Stellen, die bereits früher
in einigen Punkten abweichende Zeichen eingeführt haben, sich diesen Vor-
schlägen anschliefsen.
Archlre. — Das Archiv der Stadt Wien vereinigt zwei grofse
Bestände, das städtische Archiv im eigentlichen Sinne und das des ßürger-
spitals. Während das letztere (iioo Originalurkunden vom Jahre 1364 an,
94 Aktenfaszikel und 1008 Bände) einen durchaus einheitlichen Charakter
aufweist und mit dem Jahre 1833 abgeschlossen ist, setzt sich das erstere
aus verschiedenen Beständen zusammen und nimmt fortwährend die von der
Stadt abgeschlossenen Verträge dauernder Geltung auf. Die Verwaltungsakten
vom November 1783 an fallen der sehr mnfangreichen Registratur zu, neben
der seit neuester Zeit selbständige Registraturen einzelner Abteilungen und
Ämter bestehen.
Den Kern der archivalischen Sammlung bildeten die der Stadt erteilten
Urkunden, deren älteste allerdings im Jahre 1288 von dem ersten habs-
burgischen Landesfürsten vernichtet worden waren, die an den Rat ein-
langenden Schreiben, die aus den Bedürfnissen der städtischen Verwaltung
hervorgegangenen Stadtbücher und Akten. Damit wurden Jm Laufe der Zeit
Familienarchive angesehener Bürger- und Adelsgeschlechter, welche infolge
von Nachlafsabhandlungen an die Stadt kamen, die Archive einzelner Kirchen,
Klöster und Kapellen, unter denen namentlich das des St. Niklasklosters vor
dem Stubenthore tmd das der Rathauskapelle durch Alter und Reichtum
ihrer Urkimden hervorragen, endlich die bei einzelnen städtischen Ämtern,
wie der Kanzlei, dem Kammeramte und dem Grundbuche befindlichen Ur-
kunden vereinigt, während die Grundbücher selbst im Jahre 1850 an die
staatliche Gerichtsbehörde ausgeliefert werden mufsten. Dazu kamen in
letzter Zeit Akten der von Ksdser Josef IL aufgehobenen Wiener Klöster,
die von mehreren Genossenschaften tibergebenen Zunfturkunden und Bücher,
gröfsere Reihen von Steuerbüchern und Marktprotokollen, endlich zahlreiche
durch Kauf oder als Geschenk erworbene Archivalien.
Zeugnisse besonderer Fürsorge für den schon von Anfang an wertvollen
Urkimdenvorrat besitzen wir aus den beiden ersten Jahrhunderten städtischer
Selbständigkeit nicht. Doch läfst der Umstand, dafs fast sämdiche landes-
fürstlichen Rechtsbriefe vom Jahre 1281 an unversehrt erhalten sind, auf
stete Sorgfalt bei ihrer Aufbewahrung schliefsen. Ihren Platz hatten die
— 92 —
städtischen Urkunden wohl schon vor der Mitte des XIV. Jahrhunderts in
einem Gewölbe des Rathausturmes gefunden, in dem sie bis zum Jahre 1865
verblieben. Durch zwanzig Jahre war ihoen dann ein anderes Gemach zu-
gewiesen, bis sie im Jahre 1885 in das neue Rathaus gebracht wurden.
Leider hatte sich der in dem Bauplane für das Archiv vorgesehene Raum
als ganz unzureichend erwiesen, so dafs es in Räumlichkeiten untergebracht
werden mufste, welche, nicht für archivalische Zwecke berechnet, schwere
Übelstände für die Aufbewahrung und Benutzung der Archivalien unvermeidlich
erscheinen lassen.
Auch der Bearbeitung des archivalischen Stoffes hat man in früherer
Zeit nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Die erwähnte Vernichtung der
ältesten Stadtrechtsurkunden gab Anlafs, einzelne vorher abschreiben zu lassen
(Gesch. Wiens, hrsgg. vom Wiener Altertumsvereine II, 55). Energischer
wurde der Versuch, die wichtigeren Urkunden durch Abschriften zu sichern
und bequemer benutzbar zu machen, aufgenommen, als Herzog Friedrich im
Jahre 1320 den Wienern die Anlage eines Stadtbuches gestattete, das dann
unter dem Namen des Eisenbuches bekannt geworden ist (a. a. O. S. 93).
Doch stockte auch dieses Beginnen nach kurzer Zeit. Im Jahre 1434
ordnete der Bürgermeister Hanns Steger die Nachtragung der wichtigeren
landesfUrstlichen Urkimden in diesem Stadtbuche an, eine Arbeit, welche
unter Leitung des Stadtschreibers Ulrich Hirssauer durchgeführt wurde, dem
wir auch die Anlage der grofsen, von Kollar und Zeibig veröffentlichten
Aktensammlung und des Handwerksordntmgsbuches verdanken (a. a. O.
S. 78). Mit seinem Austritte aus dem Amte nahm aber auch diese
Thätigkeit ein Ende. Erst im Jahre 1534 unterzogen sich mehrere Rats-
herren der Mühe, der stat freihciten und ander brieflich urchunt in am
registrainr zu ordinieren. Das ist für lange Zeit die letzte Kunde, die wir
von dem Archive erhalten. Erst um die Mitte des XVII. Jahrhunderts tritt
es wieder aus dem Dunkel hervor, diesmal schon in der Verbindung mit
der inzwischen entstandenen Registratur, in welcher es bis zum Jahre 1863
verbleiben sollte. Eine Zeit des Stillstandes und Niederganges für das Archiv.
Allerdings haben sich immer wieder einzelne Registraturbeamte gefunden,
welche auch dem Archive ihre Teilnahme schenkten; was es an älteren
Repertorien besitzt, verdankt es ihrer Bemühung, und einmal schien sogar
die Bestellung eines eigenen Archiworstandes in greifbarer Nähe, aber im
allgemeinen darf diese Periode als eine wahre Leidensgeschichte des Archives
betrachtet werden, deren Folgen sich bald in trauriger Weise bemerkbar
machten. Der wissenschafdichen Benutzung fast ganz verschlossen, was einen
recht niederen Stand stadtgeschichtlicher Arbeiten bedingte, wurde es wie
jedes abgesperrte Archiv durch schwere Verluste heimgesucht, war es aufser
Stande, die bei einzelnen Ämtern befindlichen Bücher imd Akten aufzunehmen.
Auf diesem Wege gingen jene grofse Aktensammlung des XV. Jahrhunderts,
die Steueranschläge des XV. und XVI. Jahrhunderts, die Ratsprotokolle, die
Totenbeschaubücher vor dem Jahre 1648, wichtige Urkunden, viele Kämmerei-
rechnungen sowie die meisten Rechnungen des Unterkammeramtes und des
Kirchmeisteramtes von St. Stephan verloren, Materialien von unersetzlichem
Werte gerade für jene Richtungen, in denen sich die städtegeschichtliche
Forschung der Gegenwart bewegt. So war es eine rettende Tbat, als das
— 93 —
Archiv im Jahre 1S63 von der R^stratur getrenDt, merst mit der Giblioäiek
Tcreinigt, im Jahre 1889 aber auch von dieser abgelöst und als selbständiges
Amt organisiert wurde.
Dieser Geschichte des Archivs enspiicht auch die seiner Nutzbarmachung
für Wissens cbafUiche Zwecke. Vereinzelt fand eine Benutzung durch Gelehrte
schon im XVIII. Jahrhundert statt, häufiger wurde sie aber erst seit den
zwanziger Jahren des XIX., als Hormayr die Urkunden fUr seine Geschichte
Wiens verwertete und im Jahre i8a6 Franz Tschischka die Leitung der
Registratur und des Archives übernahm. Wurden durch sie und andere
Forscher Urkunden in gröfserer Zahl bekannt gemacht, SteUen aus Rechnungen
und Stadtbüchem mitgeteilt, so fehlte es doch ua einer planmäfsigen, dem ge-
steigerten Bedttr&isse entsprechenden Mitteilung des archtvalischen Stoffes.
Dazu sollte es erst im Jahre 1879 kommen, in welchem der Gemeinderat
auf Vorschiff des damaligen Archivdirektora Karl Weifs die Mittel zu
einer grofs angelegten Publikation bewilligte. Mufs anerkannt werden, dafs
mit diesem Plane das Wiener Stadtarchiv den anderen österreichischen
Archiven den Rang ablief, so ist um so mehr zu bedauern, dafs die erste
Abteilung, deren Bearbeitung dem bekannten Rechtshistoiiker J. A. Toma-
schek anvertraut wurde, weit hinter den eintächsten Anforderungen lurück-
blieb, welche man an derartige Veräffendichungen hinsichtlich der Auswahl
der besten Vodagen und der Genauigkeit ihrer Wiedeigabe zu stellen be-
rechtigt ist. Dieser Mifserfo^ begründete die Notwendigkeit, vorerst über
den gesamten Urkundeobestand genauen Überblick zu gewinnen, und dem-
entsprechend wurden nach der Ablösung des Archives von der Bibliothek
die darauf abzielenden Arbeiten eingeleitet, als deren Ergebnis zunächst ein
VemeitAnie der Origwalurkutulen in Form ausführlicher, zeidich geordneter
Resten veröffentlicht wurde, von dem bisher zwei Bände, enthaltend
393» Regesten aus den Jahren 1239 — r457, erschienen sind.
Darf also hinsichtlich der Bearbeitung und Nutzbarmachung des archi-
valischen Stoffes von einem Fortschritte gesprochen werden, so bleiben doch
zwei Fragen offen, welche ungelöst eine schwere Hemmung für die gedeih-
liche Entwickelung des städtischen Archives bedeuten, die Ixtkal- und die
Personalfrage. Als sehr wünschenswert mufs auch die Herannahe von Archiv-
mitteilnngen beieichnet werden, für die es an reichem Stoffe nicht fehlen
wUrde. Es darf der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dafs in diesen
und anderen Fr^en durch die stets in hochherziger Weise bethätigte Anteil-
nahme der Gemeindeverwaltung an allen die Geschichte der Stadt betreffenden
Angelegenheiten eine zweckentsprechende Lösung erzielt werden wird.
Von neueren Publikationen des archivalischen Materials sind aniußlhren ;
Die Rechte und Freiheilen der Stadt Wien. Bearbeitet von J. A. Toma-
Bchek. 2 Bde. Wien, r877, 1879 {Oe»ehi<AtsqveUen der Stadt Wien,
hrsgg. im Auftrage des Gemeindeiates von Karl WeiJs. I. Abteilung) und
Urkunden und Begeeten aus dem Arekive der k. k. I&ickekaupt- und Reaidensi-
Btadt Wien. Hrsgg. von Karl Ublirz. I, II, (taSg — 1619), im Jahr-
buche der Kunstsammlungen des Ah. Kaiserhauses XVI (1895) bis XVIII
(1897} berücksichtigt vornehmlich die auf die Geschiebte der Kunst und
des Kunstgewerbes bezliglicben Stellen. — Verxeiehnis der Or'~' — ' — ' — ■*-"
dee stildtiMhei* Amhivea. Bearbeitet von Karl Ublirz. Bd. I
— 94 —
Wien 1898; Bd. II (1412 — 1457)1 1900. (= Quellen zur OesMMe der
Stadt Wien, Hrsgg. mit UnterstützuDg des Gemeinderates vom Alterttims-
vereine zu Wien. IL Abteilung.) Die Rechnungen des Kirchmeisieramles
von SL Stephan, Auf Kosten der Gemeinde hrsgg. von Karl Uhlirz. L Ab-
teilung, Wien 1901. Die älteren Handschriften sind in der Einleitung zu den
vorerwähnten Urkunden und Regesten (Jahrbuch der kais. Kunstsamml. XVL
und XVII. Bd.) beschrieben. Zahlreiche Faksimile aus Handschriften und
Urkunden des städtischen Archives finden sich in der von dem Altertums-
vereine herausgegebenen Geschichte Wiens (I. Bd. 1897. IL Bd. EIrste
Hälfte 1900).
Die vorläufig nachweisbaren Belege zur Geschichte des Stadtarchives
sind in der Einleitung zu dem ersten Bande des Verzeichnisses der Original-
urkunden zusammengestellt Eine Übet sieht über die Bestände wurde in
dem städtischen Verwaltungsberichte für die Jahre 1889 — 1893, S. 629 fif.
beigebracht. Hier wie in den folgenden Verwaltungsberichten, welche seit
dem Jahre 1897 alljährlich ausgegeben werden, sind Übersichten über den
Fortgang der Ordnungsarbeiten und die Benutzung sowie Verzeichnisse der
neu erworbenen Archivalien zu finden.
Personallen. — Am 22. Oktober d. J. starb zu Ulm, 86 Jahre alt,
Gustav Veesenmeyer, ein merkwürdiger Mensch und eifriger Geschichts-
und Altertumsforscher. Er war ein Mann von staunenswerter Vielseitigkeit
des Wissens und Strebens: er hat in Tübingen, Halle und Heidelberg das
Studium der Theologie und der Medizin mit sehr gutem Erfolge absolviert,
ist einige Zeit im württ. Kirchendienst gestanden, hat dann in England und
Irland und später als Hausarzt des russischen Fürsten Chowanski in
dessen Familie und bei den Kirgisen am kaspischen Meere die ärztliche
Praxis ausgeübt und ist schliefslich in seine Vaterstadt Ulm zurückgekehrt,
um als Lehrer an der Realschule seine ausgebreiteten naturwissenschaftlichen
imd sprachlichen Keimtnisse zu verwerten. Recht eigentlich zu Hause fühlte
er sich aber auf dem Boden der Geschichte Ulms. Obwohl 18 14 als
württemb. Unterthan geboren, war er doch, wie sein Vater, der im Jahre
1833 verstorbene, den Kirchenhistorikem als Kenner der Ulmer Reformations-
geschichte wohl bekannte Dr. theol. Georg V., im Grunde seines Herzens
ein Reichsstädter und versenkte sich, zumal in seinen späteren Jahren, ganz
in die grofse Zeit der altberühmten Reichsstadt, die er nach allen Richtungen
durchforschte. Aus seiner vielseitigen — auch naturwissenschaftlichen imd
pädagogischen — litterarischen Thätigkeit sei hier nur die Herausgabe des
tractaius de civiiale Ulmensi des Felix Fabri*) (Stuttg. litt Verein,
Bd. 186, Tüb. 1889), die der Chronik des Sebastian Fischer*) (Mit-
i) Frater Felix Fabri, Predigerordens, geb. 1441 , gesL 1502, schrieb am 1490 als
eine Art Anhang tu seinem Evagatorium in terram sanctam (Stattgart Litt. Verein,
Bd. I, 2 and 12, 1843 and 1849) den Tractaius de dvüaie Ulmensi^ de eius origine^
regimine^ de civihus eius et statu^ also eine Beschreibang der Stadt Ulm am Ende des
XV. Jahrhunderts.
2) Sebastian Fischer, ein Schuhmacher, geb. 1513, zeichnete allerhand Merkwürdiges,
das ihm bei seiner aasgebreiteten Lektüre aufstiefs, sowie eigene Erlebnisse auf; seine
Chronik ist für Ulms Geschichte im XVL Jahrh. von Wert and erfreut durch naiven Homer,
läist sich also in mancher Hinsicht mit dem Kölner Buch Weinsherg vergleichen.
— 95 —
teüungen des Ulmer Altertumsvereins, Heft 5/8, Ulm 1896) und des Ul-
mischen Urkundenbuchs zweiter Band (Ulm, G. Kerler 1898 und 1900) hervor-
gehoben.
Am 18. November 1901 starb in Landshut der kgl. bairische Kreis-
arcbivar Josef Edmund Jörg» fast 82 Jahre alt (geb. 23. Dezember
1819). Als Herausgeber der Historisch- politischen Blälier (seit 1852)
und auch sonst als Schriftsteller hat er sich viel mit der Gegenwarts-
geschichte beschäftigt: 1857 erschien sebe zweibändige Oeschichte des
Protestantismus, 1860 folgte DU neue Ära in Preufsen, 1867 die
Oeschichte der soxieUpolitischen Parteien in Deutschland, Anfangs hatte er
Theologie studiert, diese aber bald mit der Geschichte vertauscht; als Hilfsr
arbeiter DöUingers hat er an dessen historischen Arbeiten einen gewissen
Anteil. Seit 1852 stand Jörg im kgl. bairischen Archivdienst, zuerst in
München und Neuburg a. D. (1858 bis 1866), bis er im September 1866
zum Vorstand des Kreisarchivs für Niederbaiem in Landshut imd Kustos
des Schlosses Trausnitz berufen wurde. Seine geschichtlichen Arbeiten, die
nicht wie die schon genannten ab Früchte seiner politischen Wirksamkeit zu
betrachten sind — er war als Politiker einer der Vorkämpfer für ßaiems
Selbständigkeit vor und nach der Reichsgründung, als Landtagsabgeordneter
(seit 1865 und blieb es bis 1881) Führer der bairischen „Patriotenpartei**,
1871 bis 1878 gehörte er auch der Zentrumsfraktion des Reichstags an — ,
beschäftigen sich mit der sozialen Revolution des XVI. Jahrhunderts : schon
1850 erschien seine Oeschichte des Bauernkriegs, 185 1 folgte Deutschland
in der Revolutionsperiode 1522 bis 1526 und gerade ein halbes Jahrhundert
nach der ersten Studie gab er 1900 eine Neubearbeitung heraus, die Oeschichte
des Bauernkriegs 1522 bis 1526, In seinem Urteil über die soziale Revo-
lution des XVI. Jahrhunderts nimmt er im ganzen denselben Standpunkt ein,
wie später Janssen. Die soziale Bewegung erscheint ihm wesentlich als die
verhängnisvolle Frucht der religiösen. Er geht soweit, die Revolution geradezu
als das Werk der Reformatoren zu bezeichnen, eine Ansicht, die, wenn auch
nicht ohne berechtigten Kern, in dieser Form doch stark übertrieben ist.
Wird aber auch das historische Urteil Jörgs durch eine gewisse Einseitigkeit
getrübt, so werden seine Werke doch des reichen, darin verarbeiteten
Materials wegen für den Forscher stets eine tmentbehrliche Fundgrube bleiben.
Eingegangene BUeher.
Analecta ßoUandiana tomus XX. Fase. III. Bruxelles 1901. 288 S. 8«.
Ausfeld, E. : Die Anfange des Klosters Fraulautem bei Saarlouis. [= Jahr-
buch der Gesellschaft für lothringische Geschichte imd Altertumskunde.
12. Jahrgang (1900), Metz, S. i — 60.]
Bericht über den ersten Verbandstag der west- und süddeutschen Vereine
für römisch-germanische Altertumsforschung zu Trier am 11. und 12. April
1901. Trier, Jacob Lintz, 1901. 66 S. 8^
Bon dam, A. C.: Jaarverslag met verslag der aanwinsten, en verdere bijlagen
betreffende *s rijksoud-en nieuwprovinciaal archief te VHertogenbosch in
1900. 52 S. 8^
— 96 —
Derselbe: Verslag omtrent de oude gemeente-eii waterschaps-archieven in
Noordbrabant, iii^ebracht aan de gedeputeerde staten dier provinae«
's-Hertogenbosch april 1901. 29 S. 8®.
Cahn, Julius: Der Rappenmünzbund, eine Studie zur Münz- und Geld-
geschichte des oberen Rheintbales. Heidelberg, Carl Winter, 1901,
218 S. 8». M. 7.
Duncker, Ludwig: Fürst Rudolf der Tapfere von Anhalt und der Krieg
gegen Herzog Karl von Geldern (1507 — 8). [= Mitteilungen des
Vereins dir Anhaltische Geschichte und Altertumskunde, 9. Bd., (Dessau,
1901), S. 97 — 182.]
Egli, £. : Laurenz Bofshart, der Winterdiurer Chronist [= Zwingliana,
Mitteilungen zur Geschichte Zwingiis und der Reformation, herausgegeben
von der Vereinigung fiir das Zwinglimuseum in Zürich, 1897, Nr. 3,
S. 35—37-]
Erben, Wilhelm: Noch einige Worte über Fringia, Genoa und Sichel-
marke. [= Zeitschrift für historische Waffenkimde, 11, Bd., Heft 7,
S. 270 — 276.]
Feldmann, Wilhelm: Theater in Saarbrücken. [== Mitteihmgen det
Historischen Vereins für die Saargegend, Heft 8 (1901). S. 57 — 63.].
Festgabe des Kirchengeschichtlichen Vereins fiir das Erzbistiun Freiburg
zur Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine zu Freiburg i. B. 1901. [= Freiburger Diöcesan*
Archiv, Neue Folge 2. Bd., der ganzen Reihe 29. Bd.] Freiburg, Herder,
1901. 255 S. 8<>.
Giannoni, C. : Der historische Atlas der österreichischen Alpenländer und
die Grundkarten. [= Vierteljahrshefte fiir den geographischen Untei^
rieht, 1901, S. 17-^30.]
Grimme, F.: Die reichsumnittelbaren Herren im Gebiete des heutigen
Lothringen und ihre Schicksale in den Jahren 1789 — 1815. [= Jahr-
buch der Gesellschaft fiir lothringische Geschichte und Altertumskunde.
12. Jahrgang (1900), S. 242—323.]
Hansen, Joseph: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexen-
wahns und der Hexenvcrfolgung im Mittelalter. Bonn, Karl Georgi,
1901. 703 S. 8^
Haag, Karl: Über Mundartengeographie. [= Zeitschrift der Gesellschaft für
Beförderung der Geschichts-, Altertums- und Volkskunde von Frciburg^
dem Breisgau und den angrenzenden Landschaften, herausgegeben von
Friedrich Pf äff, 17. Band. (== Alemannia N. F. 2J. Freiburg i. B.,
Ernst Fehsenfeid, 1901. S. 228 — 246.]
Heigel, K. Th. von: Graf Otto von Bray-Steinburg, Denkwürdigkeiten aus
seinem Leben. Leipzig, S. Hirzel, 1901. 208 S. 8^ M. 4.
Heimatkunde fiir das Gymnasium Augustum der Stadt Görlitz. Erster
Teil: Allgemeines. Görlitz 1901. 135 S. 8®.
H e n s c h e 1 , Adolf: Dr. Johannes Hefs, der Breslauer Reformator. [= Schriften
fiir das deutsche Volk, herausgegeben vom Verein fiir Reformations*
geschichte XXX VU.] Halle a. S., Max Niemeyer, 1901. 26 S. lö».
H«fmiugeb«r Dr. Anma Tille in Leipslg. — Druck und Verlng von Friedrich Andreu Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatssclirift
mr
Förderung der landesgescMchtlichen Forschung
in. Band Januar 1902 4. Heft
Historische Topographie mit besonderer
Berücksichtigung Hioderösterreiehs ')
Von
Max Vancsa (Wien)
In der epochemachenden Germanistenversammlung zu Frankfurt am
Main im Jahre 1846 wurde unter den zahlreichen anderen fruchtbaren
Anregungen auch ein Antrag des bekannten Hamburger Stadtarchivars
Lappenberg auf Herstellung eines historischen Ortsverzeichnisses
Deutschlands angenommen. Es sollte sich nicht nur auf die besie-
delten örtlichkeiten, sondern auch auf ödungen, sowie auf Berge,
Wälder, Flüsse u. s. w. erstrecken, die älteste und alle davon wesent-
lich abweichenden Namensformen bis etwa zum Jahre 1500 enthalten
und aufserdem Angaben über Ortsaltertümer, über die Errichtung der
Pfarren, Erteilung des Markt- oder Stadtrechtes u. dgl. und über dort
ansässige hervorragende Familien bieten. Lokalgeschichte und Orts-
namensetymologie sollten jedoch wegfallen. Schon damals war man
{Landau) davon überzeugt, dafs die Arbeit zunächst territorial getrennt
gelöst werden müsse, und es wurde in diesem Sinne ein Aufruf an die
historischen Vereine Deutschlands erlassen. Nach Auflösung des allge-
meinen Geschichtsvereins war jedoch die ganze Angel^enheit völlig
ins Stocken geraten. Man mufste froh sein, im Jahre 1883 in öster-
leys „Historisch -geographischen Wörterbuch des deutschen Mittel-
alters'* durch den Fleifs eines Einzelforschers ein kleines Handbuch
zu erhalten, welches, obwohl mit wenigen Angaben und nur einen ver-
schwindenden Bruchteil von Ortsnamen verzeichnend, für jeden Histo-
riker unentbehrlich geworden ist.
Erst auf dem Historikertag des Jahres 1896 zu Innsbruck hat
i) Dieser Aufsatz hat lediglich zusammenfassende Werke im Auge, nicht aber topo*
graphische Einxelarbeiten.
7
— 98 —
Prof. Heigel aus München unter anderen Desiderien auch Lappen-
bergs Antrag wieder in Anregung gebracht *) und nunmehr wiurde die
Sache von dem Gesamtvereine der deutschen Geschichts- und Alter-
tumsvereine kräftig in die Hand genommen. In der Generalveisamm-
lung zu Strafsburg Ende September 1899 wurde auf Antrag des Archiv-
direktors Wolfram (Metz) eine diesbezügliche Resolution angenommen
und eine Kommission, bestehend aus den Herren Dr. Bloch (Strais-
burg), Reimer (Marburg) und dem Antragsteller, zur Ausarbeitung
eines einheitlichen Schemas eingesetzt *) , welche sodann bereits auf
der nächsten Generalversammltmg zu Dresden jenen Plan vorlegte,
der im dritten Hefte des zweiten Bandes dieser Zeitschrift (S. 92) mit-
geteilt wurde.
Übrigens hatte man bis dahin keineswegs vollständig und aller-
orten dieses wichtigen Hilfsmittels eines topographischen Wörterbuches
entbehrt. Vor allem konnte Württemberg auf die 64 Bände seiner
Oberamtsbeschreibimgen, welche vom Jahre 1824 bis 1886 erschienen
sind, hinweisen. Es sind dies umfangreiche mit topographischen Ab-
bildungen, Karten und Plänen ausgestattete Monographieen der poli-
tischen Bezirke (Oberämter), von denen jede in einem allgemeinen
Teil über „Lage und Umfang, natürliche Beschaffenheit, Einwohner,
Wohnorte, Nahrungszustände (Wirtschaftsbetriebe), gesellschaftliche Zu-
stände (auch Behördenwesen u. dgl.), über die Geschichte imd die
Altertümer" des Oberamtes Aufschlufs giebt, woran sich eine spe-
zielle alphabetische Ortskunde angliedert, bei welcher nur die Weiler
und Einzelgehöfte zusammen mit der betreifenden Gemeinde behandelt
sind. Nach Beendigung des Gesamtwerkes wurde mit der Ausgabe
einer Neubearbeitung begonnen, von welcher bisher (bis 1900) fünf
Bände erschienen sind. Die Einteilung ist geblieben, nur lauten die Ab-
schnitte jetzt etwas klarer und modernisierter : „ Natürliche Verhältnisse,
Bevölkerung, Erwerbs- und Wirtschaftsverhältnisse, öffentliche Ver-
hältnisse, Geschichte und Altertümer.** — Dieses Werk ist das um-
fangreichste und detaillierteste unter allen derartigen Unternehmungen
in Deutschland. Die meisten anderen und auch die vom Gesamt-
verein angeregten wollen nur knappgefafste Handbücher bieten.
Vorbildlich wurde Frankreich mit seinem Dictionaire topo-
graphtque de la France , welcher einerseits nach einzelnen Departe-
i) Bericht über die vierte Versammlung deaUcher Historiker zu Innsbruck 1896
(Leipzig 1897), S. 4g, Bericht über die vierte Sitzung.
2) Korrespondenzbl. des Gesarotvereines der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine, 48. Jahrg. (1900), S. 78.
— 99 —
ments geordnet die Örtlichkeiten mit ihren urkundlich nachweisbaren
Namensformen, andrerseits diese Namensformen mit Rückverweis auf die
ihnen heute entsprechenden Örtlichkeiten verzeichnet. Einen Band dieses
Werkes bildet auch das Topographische Wörterbuch des Ober^Elsa/s
von G.Stoffel (2. Aufl., Mühlhausen 1876), welches wieder die Badische
historische Kommission im November 1885 zur Herausgabe eines Topo^
graphischen Wörterbuches des Gro/sherzogtums Baden anregte, mit
dessen Ausarbeitung Albert Krieger beauftragt wurde. Dieser er-
weiterte während der Arbeit den ursprünglichen Plan durch Aufnahme
von Angaben über adelige Geschlechter, Burgen, Kirchen und Klöster
mit urkundlichen Belegstellen ganz wesentlich ^). Das Werk gelangte
im Jahre 1898 in einem stattlichen Bande zur Ausgabe.
Im Jahre 1895 wurde mit der Veröffentlichung eines Historisch--
tapographischen Wörterbuches des Elsafs, bearbeitet von Josef
Clauss, begonnen, von welchem bisher acht Lieferungen vorliegen.
Es kommt den Forderungen des Gesamtvereines der Geschichtsvereine
sehr nahe. Die Artikel sind in deutlich hervorgehobene Abschnitte
zerlegt, innerhalb welcher die Darstellung eine zusammenhängende ist.
Die Herausgabe einer Historisch - topographischen Beschreibung der
Oberpüalz von Josef Plass, welche in 27 Foliobänden im Kassia-
neum zu Donauwörth handschriftlich aufbewahrt ist, soll bevorstehen *).
Nach den Beschlüssen des Gesamtvereines der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine wurden sodann von der historischen
Kommission fiir Hessen und Waldeck Vorarbeiten zu einem historisch-
topographischen Wörterbuch für Hessen in Angriff genommen, mit
welchen Archivrat Reimer betraut ist ') , und auch in Sachsen
bereitet sich Ahnliches vor*).
Das allen diesen bisherigen Publikationen und den weiteren Be-
strebungen in Deutschland Gemeinsame ist, da(s man den Cha-
rakter eines lexikalischen Handbuches für den Historiker oder Ge-
schichtsfreund von möglichst geringem Umfang wahren wül. Eine
eigentliche Darstellung ist meistens ausgeschlossen; die Daten sind
i) Krieger gab darüber ausführlich Bericht im „ KorrespoDdenzbl. des Gesamtvereines
der deutschen Geschichls- und Altertunsvereine", 48. Jahrg. (1900), Nr. 9.
2) So nach der Mitteilung in dieser Zeitsclirift II, 264.
3) Vgl. 3. und 4. Jahresbericht der hist. Kommission f. Hessen und Waldeck vom
Mai 1901 (S. 5 1. 6) und Mai 1901 (S. 5).
4) Beschorner: Stand und Aufgaben der historischen Topographie in Sachsen (Neues
Archiv für sächsische Geschichten. Altertumskunde XXI (1900), S. 138 bis 159, welcher Auf-
satz zugleich über den gesamten Stand der topographischen Forschung in Deutschland
orientiert.
7»
— 100 —
knapp und übersichtlich aneinander gereiht. Auch ist die Bearbeitung
in den überwiegenden Fällen einem einzigen Forscher übertragen, was
gewife für die einheitliche Durchfuhrung manchen Vorteil bietet *).
Auffallend ist es, dafs man das, was bisher in Österreich auf
diesem Gebiete geschaffen wurde , gänzlich aufser acht liefs , wie ich
es denn überhaupt für sehr bedauerlich halte, dafs der mehrfach ge-
nannte Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine
bisher unter den entsprechenden Vereinen Österreichs nur wenig An-
hänger gefunden hat *). Gerade in Österreich ist auf dem Gebiete
der historischen Topographie seit Generationen so Bedeutendes ge-
leistet worden, dafs ich glaube, einem allgemeinen Interesse zu be-
gegnen, wenn ich die Aufmerksamkeit auch der Gelehrtenwelt Deutsch-
lands darauf lenke. Wenn ich mich speziell eingehender mit Nieder-
österreich befasse, so geschieht es nicht nur deshalb, weil ich hier
den besten Einblick gewonnen habe und an den topographischen Ar-
beiten selbst hervorragend beteiligt bin, sondern weil gewifs das alte
Stammland der Monarchie die meiste Beachtung beanspruchen darf und
weil gerade hier sich eine ganz eigenartige weit zurückgehende Ent-
wickelung zeigt *).
Da hier die Tradition niemals ganz abgebrochen ist, kann man
getrost auf die ersten Anfange des topographischen Interesses im
XVII. Jahrhundert zurückgreifen, wo der Reiseschriftsteller Martin
Zeiller ^) ein fast ganz Mitteleuropa umfassendes grofses Bilderwerk
herausgab, zu welchem er die kurzen meist historischen Bildertexte,
Matthäus Merian der Ältere jedoch die schönen Kupferstiche
lieferte und allein als Herausgeber auf dem Titelblatte genannt ist,
weshalb es auch meist unter dem Namen des letzteren geht. Es
führte bereits den Titel Topographia tmd will die hervorragendsten
i) Nur die „Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern" (Miincheo
1860 — 1868) ist eine systematische Topographie, bestehend ans einer Reihe landeskund-
licher Monographieen, wobei die spezielle Ortskunde nur in zweiter Linie berücksichtigt ist
2) Es sind gegenwärtig nur 5 österreichische Vereine darin vertreten, nämlich der
Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen und der Verein fUr Siebenbürgische
Landeskunde (beide seit längerer Zeit), der heraldische Verein „Rother Adler" in Wien
(seit 1896), der Steiermarkische Geschichtsverein (seit 1899) und der Verein für Eger-
länder Volkskunde (seit 1901). Hoffentlich folgen recht viele andere bald nach.!!
3) Einen Oberblick über die älteren topographischen Arbeiten in Niederösterreich
gab zuerst Becker (Mitteilungen der k. k. geographischen Gesellschaft in Wien VII
[1863], 6. Abh., S. 63), dann Anton Mayer in dem Abschnitt über die geistige Kultur
im ersten Band der Topographie von Niederösterreich, S. 555, und wesentlich erweitert
in seiner Gesch. der geistigen Kultur in Niederösterreich I (Wien 1878), S. 279.
4) Er stammt aus Obersteiermark, geboren am 17. April 1589 zu Räuthen bei Murau.
— 101 —
Städte und Burgen zur Anschauung' bringen. Der auf Österreich be*
zügliche Teil erschien 1649 (in zweiter Auflage 1656) als Topographia
provinctaruM Austriacarum Atistriae, Illyriae, Carinthtae, Car^-
niolae, Tyrolts etc. (mit deutschem Untertitel) *).
Die damals noch mächtigen und wohlhabenden Landstände der
österreichischen Länder brachten den topographischen Landaufnahmen
das gröfste Interesse entgegen, und die Anregung, welche das Zeiller*
Meriansche Werk bot, begegpiete sich mit ihren langjährigen karte«
graphischen Bestrebungen. Man hatte auch das seltene Glück in dem
Pfarrer von Leonstein in Oberösterreich, Georg Matthäus Vischer,
einem gebürtigen Tirolq|r; den richtigen Mann für eine solche Arbeit
zu finden '). Zuerst im Auftrag und mit Unterstützung der oberöster»
reichischen, dann der niederösterreichischen und steierischen Stände
schuf er drei groise Kartenwerke und gewissermafsen als Ergänzungen
dazu drei Sammlungen von Abbildungen der Städte, Klöster und
Schlösser, welche ebenfalls den Titel Topographia führten (und zwar
Austriae inferioris 1672, supertoris 1674, Styriae 1681), jedoch im
Gegensatz zu Merian ohne Text.
Ähnlichkeit mit den Zeillerschen Ortsbeschreibungen und ihrer
Anlage, jedoch ohne AbbUdungen, im wesentlichen nur als Erläute-
rungen zu beigegebenen Karten gedacht , haben die Werke von
Reiffenstuel, Germania Austriaca seu Topographia Austriae,
Styriae etc. (Wien 1701) und Granelli, Germania Austriaca (Wien
1752, zweite Auflage von Brabeck 1759), sowie Insprugger, Austria
mappis geographicis distincta (Wien 1727), welche auch schon im
Titel die Anlehnung zeigen. Sie enthalten übrigens von jedem Lande,
ebenso wie Zeiller-Merian, nur einige hervorragende Orte. Auch ver-
hinderte der Umstand, dafis sie in lateinischer Sprache verfafst waren,
ihre weitere Verbreitung und allgemeinere praktische Benutzung.
Vollzähliger, aber mit Ausnahme einiger ganz weniger gelegent-
licher Daten ohne weitere Angaben, also im wesentlichen nur einem
1) Die beiden raerkwärdigen MSnner haben noch keine eingehende biographische
WttrdigQDg gefunden. V^. ttber sie die Artikel in der Allg. deutsch. Biographie XXI
(Wessdj) und XLIV (Waldberg). Über Merian auch noch Reichenspergers Einleitung xa
Stets, Mittelalter!. Bauwerke nach Merian (Köln 1856).
2) Eine gründliche Monographie über Vischer lieferte Feil (Ber. u. Mitteilungen des
Altertnmsfereins in Wien II [1857], & 7 ff.). Siehe auch Pamer im 13. Programm des
Staatsg]rmnasinms zu Mitterburg 1886; Zahn, Visdier und sein Wirken in SteiermaAc
(Mitt d. hist. Ver. f. Steiermaric, 34., 29., 30. Hit.). Altinge r, Über Vischert letzte
Lebensjahre (Mitt. d. geogr. Gesellsch. XLI [1898], S. 380).
— 102 —
Ortsverzeichnis gleichkommend sind die topographischen Abschnitte
in Fuhrmanns Alt- und Neuösterreich 17 ZA (I» 264) und in
de Lucas' Geographischem Handbuch I (1790).
Sie wurden weit überholt durch den im Jahre 1795 in zwei Bänden
erschienenen Topographischen Landschematismus, welcher möglichste
Vollständigkeit anstrebte, Angaben über die Grundherrschaften, Land-
gerichte, Poststationenen u. dgl. enthielt, aber rein praktische, keinerlei
wissenschaftliche Zwecke verfolgte. Er fand eine Fortsetzung in dem
Schematismus von Steinius 1822, von Gochnat 1838 und 1847,
sowie überhaupt in den modernen Ortsrepertorien , welche die sta-
tistische Centralkommission herausgiebt, oder in dem Amtskalender,
welcher (seit 1866) gleichfalls ein Ortschaftenverzeichnis mit Angaben
über die Gemeindevertretungen und Behörden enthält. Auch Crusius'
grosses Topographisches Postlexikon aller Ortschaften der k. k.
Erbländer, welches in seinem zweiten Teile in vier Bänden auch
Niederösterreich behandelt (Wien 1798 — 18 11), wäre mit seiner
stattlichen Reihe von Nachfolgern hierher zu zählen.
Doch zurück nach dieser Abschweifung zu den wissenschaftlichen,
den historischen Topographieen. Als ihr Vater in Niederösterreich gilt
wohl mit Recht Friedrich Wilhelm Weifskern (1711— -1768),
nebenbei gesagt Schauspieler (Humoristische Väter !) des Wiener Hof-
theaters, von dem in den Jahren 1767 — 1770 eine Topographie von
Niederösterreich in drei Bänden erschien, welche bereits in vielfacher
Hinsicht modernen Anforderungen entspricht. Sie strebt möglichste
Vollständigkeit an, ist rein alphabetisch geordnet, sehr handlich und
giebt au&er der administrativen und kirchlichen Zugehörigkeit des
Ortes auch noch historische Daten. In der That hat dieses Werk
grofee Verbreitung gefunden und wird noch bis auf den heutigen Tag
allenthalben benützt, obwohl es selbstverständlich veraltet ist
Noch seien die Statistisch-geographische Beschreibung des Erz-
herzogtums Osterreich unter der Enns (= i. Band der „Beiträge zur
genauen Kenntnis d. öst. Staaten "), Leipzig und Wien 1791, von dem
tüchtigen Geographen Marx Josef von Liechtenstern und die
Neueste Landeskunde von Niederösterreich von Wenzel Karl
Blumenbach (eigentlich Wabruschek), in einem Bande 18 16, er-
weitert in zwei Bände 1834, erwähnt, obwohl sie mit der Anlage als
Ortslexikon wieder brachen und eine systematische Beschreibung des
Landes bieten wollten. Vielleicht war aber gerade dies der Grund,
warum das fleifsig gearbeitete Buch Blumenbachs wenig Verbreitung
gefunden hat.
— 103 —
Sehr wichtig- wurde es jedoch, dafs Weifekems Werk für die
niederösterreichischen Stände den Anstofe gab, ihre alten Bemühungen
um die wissenschaftliche Landaufnahme wieder zu erwecken. Aucb
diesmal sollte cGe beschreibende und die kartographische Landaufnabme
Hand in Hand gehen *), und der Staat bewilligte eine ansehnliche Unter-
stützung. Nach dem prinzipiellen Ständebeschlufs des Jahres 1791
wurde dann ein Plan für die Topographie ausgearbeitet, den ich wegen
seines allgemeinen Interesses und weil er lange wirksam blieb, in
Kürze mitteile.
Das Werk sollte in zwei Teile zerfallen, in einen allgemeinen
(Statistik) und einen speziellen (Ortskunde). Der erstere sollte
enthalten: i. Litteratur, 2. Namen, 3. Lage, Grenze, Flächeninhalt,
4. Luft- und Witterungsverhältnisse, 5. Berge, Flüsse und Wälder,
6. Mineralien, Pflanzen und Tiere, 7. Politische Einteilung, Anzahl der
Städte, Märkte, Dörfer, Schlösser, Domänen, Dekanate, Pfarren und
Lokalien, 8. Volksmenge und deren Verteilung, Nahrungsquellen,
Ackerbau, Viehzucht, Industrie, 9. Charakter des Volkes, Sprache,
10. Regierungsform, Verwaltung, 11. Staatsrecht, 12. Religionen,
13. Künste und Wissenschaften, Erziehungs- und Lehranstalten, Censur,
Bibliotheken, Sammlungen und Sternwarten, 14. Behörden, Gesetze,
Versorgungsanstalten, 15. Justiz wesen, 16. Fabriks- und Handelswesen,
17. Finanzwesen, 18. Münzwesen, 19. Kriegswesen.
Das Material sollte durch eine Landbereisung gesammelt werden,
womit zuerst Abbe Pilgram, da aber dieser noch vor Inangriffnahme
der Arbeit starb, der durch seine historischen Werke bekannte Piarist
P. Adrian Rauch betraut wurde. Doch die Aufgabe überstieg die
Kräfte eines Einzelnen. Durch fünf Jahre hindurch reiste Rauch im
Lande umher, seine Reiserechnungen verschlangen 1 1 500 fl., aber als
er im Jahre 1802 starb, war die Aufnahme noch keineswegs vollendet,
sondern nur ein Wust von buntem Material angesammelt '). Mit seinem
Tode kam jedoch das ganze Unternehmen ins Stocken, denn die 2^it
der Napoleonischen Kri^e war für ein solches nichts weniger als
günstig.
i) Über diese ganze Aktion der niederötterreicliischen Stftnde giebt in grttndlicher
Weise nach den Akten des niederösterreichiscben Landesarchivs Anfschlnfs Anton
Mayer: Die historisch'topographischen Bestrebungen der niederösterreichischen Stände
in den Jahren 1791^1834 (BIL d. Ver. t Landesk. Ton Niedcrösterr. XXIV [1890],
S. iff.), welche Arbeit meiner karten Übersicht zn Grunde liegt.
2) Die bente fast ganz wertlos gewordenen Materialien sind noch im niederöster-
reichischen Landesarchiv deponiert.
A
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Erst 1814 wurde von den Ständen der alte Plan, Herau^;abe
einer Topographie, wieder angenommen, dagegen von der Herstellung
einer Karte endgültig abgesehen, nachdem inzwischen in den Jahren
1807 bis 1809 und i8iibisi8i3 jene militärischen Landaufhahmen statt-
gefunden hatten, deren Ergebnis die grolse Generalstabskarte war.
Trotzdem vergingen abermals sieben Jahre, bis das StändemitgUed
Josef Freiherr von Penkler mit dem ihm übertragenen Gutachten
hervortrat. Es war die Zeit, da sich in Deutschland allenthalben der
historische Sinn regte, die Zeit der Gründungen zahlreicher histo-
rischer Vereine.
Auf Penklers Vorschlag wurde am 14. April 1822 eine „Kom-
mission ztu: Verfassung einer Topographie des Erzherzogtums Oster-
reich unter der Enns'* eingesetzt, welche sich zunächst an alle Ge-
lehrten, hauptsächlich an alle Archivare und Bibliothekare des Landes
um Gutachten wendete. Unter den zahlreichen ausfuhrlichen Ant-
worten ragen besonders diejenigen der beiden verdienstvollen vater-
ländischen Historiker Ignaz Keiblinger, Stiftsarchivars von Melk»
und Friedrich Blumbergers, Stiftsarchivars von Göttweig, hervor»
Sie halten im Sinne der Zeitströmungen die Begründung eines Ver-
eines und die Herausgabe einer Zeitschrift für notwendig, welche Frage
in der Kommission auch beraten wurde.
Aber die Kommission und ihre Arbeiten hatten kein günstiges
Geschick. Der mangelhafte Zustand der österreichischen Archive, be-
ziehungsweise ihre Unzugänglichkeit und die daraus entspringende Un-
möglichkeit, das historische Material zu gewinnen, nicht minder der
Mangel an entsprechenden Mitarbeitern gaben den langwierigen
Beratungen keinen rechten Fortgang. Auch durch ein Konkurrenz-
unternehmen, das besonders aus geistlichen Kreisen ^) hervorging»
fühlte man sich stark gedrückt. Es war dies die Historisch'topih
graphische Darstellung der Pfarren, Stifter und Klöster, be-
katmter unter dem Namen Kirchliche Topographie, welche in Nach-
folgerschaft eines älteren Werkes Austria Sacra oder Geschichte der
österreichischen Klerisey von Marian (Fiedler) (Wien 1780 — 1788
in neun Bänden) eine Geschichte der einzelnen Pfarren und Klöster
nach Dekanaten geordnet bieten wollte« Es ist übrigens auch dieses
Werk ein Torso geblieben. In den Jahren 1824 bis 1840 erschienen
i) Der Hofkaplan Schakmann von Mansegg, der Professor der Kircheo-
geschickte an der Wiener UniTersitäi Vincens Darnant, denen sich nodi der alt
•ifriger Samnler und Bibliograph bekannte niederösterreichische Landsyndikos Alois
Bergenstamm hinxugesellte, waren die Hanptarheber.
— 106 —
i8 ziemlich ärmlich (auch mit schlechten Lithographieen) ausgestattete
Bände, von denen der Hauptteil, nämlich 13, auf Niederösterreich
entfielen.
Als im April 1830 der verdiente Freiherr von Penkler starb,
ging auch alsbald die ganze Kommission, deren Vorsitzender er war,
mit ihm zu Grabe. An ihre Stelle trat nun doch ein Verein für
vaterländische Geschichte, Statistik und Topographie,
der auch 1832 bis 1834 in den Beiträgen zur Landeskunde von
Niederösierreüh eine Art Vereinsorgan besafs, in welchen einige Auf-
sätze allgemeinerer Natur (über die Flora, über die Landesgrenzen,
über den Dialekt u. dgl.) erschienen. Von der Herausgabe einer
Topographie war nicht weiter die Rede, und als Verein und Vereins-
publikation nach kurzer Lebensdauer wieder eingingen, machten sich
die Stände weiter kein Gewissen, das gesammelte Material einem Unter-
nehmer zweifelhafter Sorte zu überlassen, welcher es kritiklos für
eine Art Kolportagewerk ausschrotete. Es war ein gewisser Franz
Schweickhardt^), von dessen näheren Lebensumständen man nichts
Rechtes weifs, wie es scheint, seines Zeichens akademischer Maler,
der am besten dadurch charakterisiert wird, da(s er sich fälschlicher-
weise das Adelsprädikat „von Sickingen'* beilegte. Aus der Ma-
teraliensammlung der Stände und aus allerlei Auskünften kompilierte
er kritiklos die 37 Bände seiner Darstellung des Erzherzogtums
Osterreich unter der Enns (Wien 1837 — 1840), von denen drei Wien
umfassen, die anderen nach den vier Vierteln des Landes geteilt sind,
und zwar ist im Viertel unter Wiener Wald und unter Manhartsberg*
das alphabetische Prinzip beibehalten, während in den beiden anderen
Vierteln die Grundherrschaften die Reihenfolge bestimmen. Das Viertel
ober Manhartsberg' ist unvollendet geblieben. Die dem Werke
beigegebenen Kupferstiche sind zumeist nach älteren Bildern an-
gefertigt. Die Ortsbeschreibung enthält Angaben über kirchliche, po-
litische und administrative Zugehörigkeit, über die materielle Kultur
der Bewohner, Bevölkerungs- und Viehstatistik, Beschreibung und Ge-
schichte des Ortes, der Pfarre und Herrschaft, würde also den billigen
Anforderungen genügen, wenn nicht, wie gesagt, die Angaben von
höchst ungleichmä&igem Werte und grö&ter Unzuverlässigkeit wären.
Trotz der Mängel fand das Werk groüse Verbreitung und erfreut
1) über Schweickhardt anfter bei Majer a. a. O. S. 285, öftterreichiscbe Nalional-
Encyklopidie IV, 623, Ber. n. Mitieil d. Altertamsvereins I, 40 und Warzbach, Biogr.
Lexikon XXXII, 348.
— 106 —
sich noch heute vielfacher Beliebtheit. Auch verhinderte es lange
Zeit, da£s man ein neues Unternehmen derart gewagt hätte. Übrigens
waren auch die Zeiten, die jetzt heraufkamen, das Jahr 1848 mit der
folgenden Reaktion und der gründlichen Umgestaltung aller staatlichen
Verhältnisse für ein solches Werk wenig günstig.
Als 1863 die Landtage ins Leben traten und nunmehr das Land
Niederösterreich seine selbständige Vertretung für alle seine speziellen
Interessen erhielt, verwirklichte sich (1864) der Gedanke, den einst in
den zwanziger Jahren bereits das ständische Komitee erwogen hatte : die
Gründung eines Vereines für Landeskunde von Niederöster-
reich, der von der Landesvertretung namhafte Unterstützungen em-
pfing. Dieser Verein betrachtete die Herausgabe einer Topographie
als eine seiner hervorragendsten Aufgaben, aber er schritt nicht sofort
direkt ans Werk, sondern suchte zunächst ebenfalls, wie einst der
ständische Ausschufs, eine möglichst umfassende Materialiensammlung
anzulegen, beziehungsweise kleinere Vorarbeiten zu veröffentlichen.
Gedruckte und ungedruckte Quellen wurden exzerpiert und in den
verschiedenen Sektionen, in welche der Verein ursprünglich gegliedert
war, arbeitete man „Fragen zur Förderung der Ortskunde" aus, die
überallhin im Lande verschickt wurden, um direkte Nachrichten aus
den einzelnen Orten zu gewinnen '). Diese Fragebogen sind nur
etwas zu umfangreich und zu spezialisiert ausgefallen, auch war den
naturwissenschaftlichen Punkten, in Bezug auf welche sich die Orte
gerade nicht so streng sondern lassen, ein allzu breiter Raum zuge-
wiesen. Der Erfolg derselben scheint auch weit hinter den Erwar-
tungen zurückgeblieben zu sein.
Endlich entschlofs man sich aber doch, das grofse Werk in An-
griff zu nehmen*). Im Jahre 1871 begann die heftweise Ausgabe,
erst im Jahre 1876 lag der erste Band vollendet vor. Man stand
dabei vielleicht allzu ängstlich im Banne der Tradition, denn sowie
der Entwurf des Jahres 1792 es in Aussicht genommen, und es auch
einige ältere topographische Werke anderer Provinzen durchgeführt
(siehe unten), wurde mit einem allgemeinen Teil begonnen, welcher
Monographieen über Geographie, Naturkunde, Bevölkerung, über Land-
und Forstwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr, geistige Kultur,
Geschichte, Verfassung und Verwaltung, Kunst und Altertümer um-
i) Abgedruckt in Blätter d. Ver. f. Landeskunde 1865, S. 164 ff.
2) Siehe den Vorbericht, den Hofrat Becker bei der Sommenrersammlmig des Ver-
eins in Waidhofen im Jahre 1870 gab (Bl. d. Ver. 1870, S. 236).
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fafste. Abgesehen von ihrem ungleich mäfeig-en Wert erschöpften sie
aber keineswegs alle in Betracht kommenden Fragen. So fehlt ein
Abschnitt über die Rechtsgeschichte, über die Wirtschaftsgeschichte,
über die Litteratur u. a. m. Auch hätte dieser allgemeine Teil nicht
so sehr die Einleitung, als vielmehr die Krönung des Werkes, welche
die Summe der im speziellen Teile niedergelegten Einzelheiten ge-
zogen haben würde, sein sollen.
Auch im speziellen Teil des Werkes, dem eigentlichen topo-
graphischen Wörterbuch, wurde der schwierigste, also am längsten
vorzubereitende Artikel, nämlich „Wien", verfafst von dem durch
seine Geschichte der Stadt Wien bekannten Archivar Karl Weiss,
an die Spitze gestellt. Die Bearbeitung der speziellen Ortskunde
wurde dem Hofrate und Direktor der k. Familien-Fideikommifs-Bibliothek,
Moriz Alois Becker, übertragen, welcher schon Anfang der sech-
ziger Jahre ein mustergültiges topographisches Spezialwerk Der
Ötscher und sein Gebiet (2 Bände) veröffentlicht hatte und überhaupt
die Seele des Vereins und der topographischen Arbeiten war. Ihm
schwebte anfangs nur ein Haus- und Handbuch von höchstens zwei
Bänden Umfang vor. Das Programm entwarf er dahin *) , dafs die
einzelnen Artikel Aufschlug geben sollten über i. die geographische
Lage in Verbindung mit den klimatischen Verhältnissen, den geolo-
gischen Formationen, der Pflanzen- und Tierwelt; 2. die administrative
Position; 3. die Häuser- und Einwohnerzahl; 4. die Beschäftigung der
Bewohner; 5. die Ortsgeschichte. Über den letzteren Punkt glaubte
Becker eine längere Rechtfertigung geben zu müssen. Was aber in
diesen TeU alles einbezogen werden sollte, ist nicht weiter klargelegt,
nur der Wert der Namensforschung und der Quellennachweise bereits
betont. Aber im Laufe der Arbeit mu&te er alsbald erkennen, da(s
dieselbe weit über den ursprüi^lich zugemessenen Raum hinauswachse,
dafe sie auch die Kräfte eines Einzelnen übersteige. Als er im Jahre
1885, also acht Jahre nach dem ersten, den zweiten Band im Umfang
von 100 Druckbogen abschlofs, stand er erst beim Buchstaben F und
dabei waren die Artikel sehr ungleichmäßig ausgefallen, die ersten in
gedrängter Kürze, mancher nicht unbedeutende Ort sehr dürftig be-
handelt, andere und spätere, insbesondere solche, bei denen Becker
einem Lieblingsthema, der Genealogie, nachgehen konnte, in unver-
I) Zuerst dargelegt auf der Sommerversaromlung des Vereins in Scheibbs im Jahre
1878 (Bl. d. Ver. 1878, S. 260), dann als Vorwort des zweiten Bandes der „Topo-
graphie" 1885.
— 108 —
hältnismäCsiger Breite. Ich will damit den Verdiensten Beckers in
keiner Weise zu nahe treten, sie bleiben auiserordentliche, aber es ist
ja immer das Geschick desjenigen, der zu einem gro&en und in seiner
Art einzigen Unternehmen als der erste berufen wird, erst durch eine
Reihe von Irrtümern und Fehlem die mangelnden Erfahrungen ge-
winnen zu müssen.
Als Becker am 22. August 1887 starb, war das Werk erst bis
zum Artikel „Freydegg" gediehen und bei dem Umstände, dafe es
bisher nur auf zwei Augen gestanden, schien die Fortführung ernst-
lich gefährdet. Nach emem kurzen Interim, während dessen Franz
Schnürer die Arbeiten fortsetzte, wurde es von dem Vereine in die
Hände des Sekretärs Anton Mayer (gegenwärtig niederösterreichischer
Landesarchivar) gelegt, der einen entscheidenden, für die Fortführung
geradezu unerläislichen Schritt that, indem er eine ArbeitsteUung unter
einer Reihe von Mitarbeitern vornahm, und er hatte, abgesehen von
seiner eigenen bewährten Kraft, das Glück, die hervorragendsten Ver-
treter der heimischen Geschichtsforschtmg, Friefs, Kerschbaumer,
Dungl, Lampel u. v. a. , für das Werk zu gewinnen. Im Jahre
1897 übernahm dann Albert Starzer, der Direktor des niederöster-
reichischen Statthaltereiarchivs, die Redaktion und führte sie auf der
einmal eingeschlagenen Bahn weiter.
In der Anlage des Werkes hatte sich manches aus inneren und
äuCseren Gründen im Laufe der Jahre geändert. Abgekommene Orte
und Flurnamen waren von Anbeginn nicht angenommen worden,
wohl aber hatte Becker Berge und Flüsse, sowie Römerorte in die
Reihe gestellt. Nun wurden auch diese ausgeschieden und der Stoff
nur auf die Siedlungen — von Städten und Märkten bis zum Einzel-
haus — beschränkt, auch die alphabetische Reihenfolge strenger ein-
gehalten, während Becker ztmi Teil zusammengesetzte Ortsnamen unter
dem gleichen Grundwort behandelt hatte. Auch wurde später weit
mehr das archivalische Material benutzt, während man sich ursprüng-
lich auf das gedruckte beschränkt hatte. Jeder Artikel der „Topo-
graphie** zerfallt im wesentlichen in drei Teile: i. einen statistischen,
2. einen anthropo- geographischen, 3. einen historischen. So lange
bewährte und erfahrene Heimatsforscher die Hauptarbeit leisteten, gab
es gründliche und erschöpfende Beiträge, die nur zuweilen zu sehr
über den Rahmen des Werkes hinaus zu selbständigen Monographieen
anschwollen. Als aber dann notwendigerweise auch jüngere Kräfte
herangezogen werden mufsten, machte sich der Mangel eines einheit-
lichen Planes immer mehr fühlbar, die Ungleichmäfsigkeit wurde immer
— 109 —
stärker und störender. Nicht nur, dals die Anordnung des Stoffes
eine willkürliche war, nicht nur dais überflüssige Wiederholungen all-
gemeiner historischer Thatsachen einrissen, auch hinsichtlich der ein-
zelnen Punkte, welche ein Artikel enthalten sollte, herrschte Unklar-
heit und Eigenmächtigkeit. (Schlufs folgt.)
Mitteilungen
Archlye. — Erst recht spät haben sich in Deutschland die Archivare
beruflich organisiert; es geschah erst mit der Gründung des sogenannten
Archivtages, der zum ersten Mal 1899 in Strafsburg, tmd zum zweiten
Male 1900 in Dresden stattgefunden hat *). Anders steht es in einem Nach-
barlande, das ernst zum Deutschen Reiche gehörte, das in einer deutschen
Geschichte nie unberücksichtigt bleiben darf und das bis in die Gegenwart in
allen Bethätigungen des geistigen Lebens eng mit Deutschland verbunden ist,
nämlich in den Niederlanden. Bereits seit 1891 besteht dort die Vereeniging
van archivarissen in Nederland, welche es sich von Anfang an unter anderem
zu ihrer Aufgabe gemacht hat, eine gesetzliche Regelung des gesamsten Archiv-
wesens herbeizuführen. Und wenn sich thatsächlich in den Niederlanden seit
einem Jahrzehnt eine rege Thätigkeit auf diesem Felde entfaltet hat, so ist dies nicht
zuletzt das Verdienst dieser Vereinigung der archivalischen Berufsgenossen:
in keinem Lande dürfte die Veröffentlichung von Archivinventaren so weit
vorgeschritten sein wie hier; zum wenigsten im Vergleich mit Deutschland
ist die Zahl der freüich auch nicht glänzend bezahlten *) Archivare recht
grofs, denn neben dem allgemeinen Reichsarchive im Haag giebt es zehn
Staatsarchive in den Provinzen, und die Städte haben ebenfalls in recht
grofser Zahl Archivare angestellt. Diese Thatsache sicherte von vom herein
die Lebensfähigkeit des Vereins, dessen ordentliche Mitglieder wissenschaft-
liche Beamte an Archiven des Staates, der Gemeinden oder öffentlich-recht-
licher Körperschaften sein müssen. Am i. September 1900 waren von den
52 ordentlichen Mitgliedern 4 beim Allgemeinen Reichsarchiv, 17 bei den
Staatsarchiven in den Provinzen, i beim Königlichen Hausarchiv, 29 bei
22 verschiedenen Städten und i bei einer Körperschaft als Archivar an-
gestellt. Die gegenwärtigen Satzungen sind seit dem 17. Juni 189 1 in
(jeltung, der Sitz des Vereins ist 's Gravenhage, gegenwärtiger secretaris
A. Telting, adjunct rijksarchivaris daselbst; von den 5 Vorstandsmitgliedern
haben 4 als Vorsitzender, Sekretär, Schatzmeister imd Redakteur der Zeit-
schrift besondere Obliegenheiten.
1) Vgl. darüber die Berichte in dieser 2:eitscbrift I. Bd. S. 59/61 und II. Bd. S. 60/61.
Der dritte Arcbivtag findet im September 1903 in Düsseldorf statt.
2) Vgl. Nederlandsch Archüvenblad 1899/1900, S. 74/75 oder S. 113: Der Stadt-
archivar von Dordrecht erhält looo fl. Gehalt. Vgl. auch 1900/1901, S. 75, 167 und
8. 170.
— 110 —
Dasjenige, wodurch die Vereinigung die Aufmerksamkeit vor allem der
deutschen Archivare und Geschichtsforscher verdient hat, ist die jetzt im
neunten Jahrgange stehende Zeitschrift, das Nedcrlandsch Archievenblady
(rrgaan van de Verecniging van archivarissen in Nederland (Groningen, Erven
B. van der Kamp), welche jährlich in vier Heften erscheint Während in
Deutschland wiederholt der Versuch, eine ausschliefslich dem Archivwesen
gewidmete Zeitschrift zu gründen, gescheitert ist, hat sich in den Nieder-
landen dieses Organ als das eines Vereins erfreulicherweise lebensfähig
erwiesen ^). Da das Archivblatt wie von anderen aufsemiederländischen das
Archivwesen betreffenden Vorgängen imd Fragen, so auch von den deutschen
gern Notiz nimmt, so sollte es auch seitens der deutschen Archivare noch
mehr beachtet werden. Dies scheint noch wenig der Fall zu sein, denn
unter den korrespondierenden Mitgliedern figuriert aus Deutschland nur der
Kölner Stadtarchivar Dr. Hermann Keussen, während erst neuerdings auch
eine Verbindung mit dem Thüringer Archiv tag angebahnt worden ist; dies
ist aber auch alles. Um in Deutschland das Interesse wieder einmal auf
das Niederländische Archivblatt, wie es schon früher von andrer Seite ge-
schehen ist ^) , hinzulenken , soll hier das Wichtigste aus dem Inhalt der
beiden Jahrgänge 1 899/1 900 und 1 900/1 901 kurz vermerkt werden. Im
voraus sei jedoch bemerkt, dafs man das Fehlen einer Band Zählung sehr
vermifst: das Zitieren wird dadurch sehr erschwert, aber zugleich bleibt un-
erkennbar, seit welcher Zeit das Archieienblad erscheint, und dies dürfte,
je älter es wird, desto imangenehmer empfunden werden.
Jedes einzelne Heft pflegen Mitteilungen über Personalveränderungen und
sonstige archivalische Vorgänge zu eröffnen und eingehende Buchbesprech-
ungen zu beschliefsen , unter denen die Veröffentlichungen der niederländi-
schen Geschichtsvereine einen breiten Ratun einnehmen, sodafs man deren
Inhalt wohl nirgends so zusanmien verzeichnet findet wie hier. Im Hauptteile
werden alle nur denkbaren praktischen und theoretischen Fragen des Archivwesens
erörtert, auch neu aufgefundene und neu erschlossene Archivalien verzeichnet
(1899/1900, S. 13, 42, 120, 133). In erster Linie sind natürlich die Auf-
sätze den holländischen Archiven gewidmet: so werden aus den 1898er
Jahresberichten einer grofsen Reihe von Städten — 1 899/1 900 sind es 40 —
die auf die Archive bezüglichen Stellen mitgeteilt S. 43 — 56, wozu 8. 102
ein Nachtrag (Zaandam) konmit. Von allgemeinen Fragen wird z. B. über
das Zapon und die Dresdner Konferenz von 1899 ^) ausführlich berichtet
(S. 85 — 87) oder unter dem nicht üblen Titel Archives exiension durch
O V er voor de die Veranstaltimg von Archivausstellungen empfohlen (S. 42/43):
er fordert vor allem den Besuch derartiger zu dem besonderen Zwecke aus-
gestellter Archivalien seitens der Schüler höherer Klassen zur Vertiefimg des
geschichtlichen Verständnisses. Auf das Feld der verwaltungstechnisch und
geschichtlich gleich wichtigen Archivgeschichte ftihren Aufsätze von
Wildeman, „Ein löbliches Vorbild von 1648", das Archiv von Delfland
betreffend, (S. 88 — 90) und die Mitteüung über das Gesetz von 1800, be-
treffend die Unterbringung der von den aufgehobenen richterlichen Behörden
i) Auch im BuchhaDdel zu beziehen, Preis fUr den Jahrgang 3 Golden.
2) Z. B. in der Archivalischm Zeitschrift N. F, VI. Bd. (1896), S. 303.
3) Vgl. darüber diese Zeitschrift I. Bd, S. 56 bis 59.
— 111 —
herrührenden Archivalien (S. 34 — 41). Aufser Landes und zwar nach
Deutschland führte schon die erwähnte Zaponkonferenz , aber auch die Be-
sprechung von Wiegands Buch über die wissenschaftliche Vorbildung des
Archivars (S. 136 — 138); aus Frankreich erfahren wir den vollen Wortlaut
des Gesetzes vom 12. Januar 1898, betreffend die Ablieferung reponierter
Akten der Verwaltungsbehörden an das Nationalarchiv (S. 2021), und über
das Archivwesen Rumäniens berichtet nach den Mitteilungen des Bukarester
Prof. Jorga ausführlich Th. Morren (S. T27 — 132). In der Jahres-
versammlung, die jährlich im Sommer an einem anderen Orte stattfindet
— 1899 in Herzogenbusch, 1900 in Rotterdam -*- wird neben wissen-
schaftlichen Vorträgen vor allem eine Übersicht über die Ereignisse des
letzten Jahres auf dem Gebiete des Archivwesens geboten, und es ist ge-
radezu erstaunlich, von wieviel Archivneubauten da berichtet werden kann.
In Deutschland wird gerade jetzt interessieren, dafs man die Aufmerksamkeit
auf die holländischen Kolonialarchive richtet, insbesondere auf das der
Westindischen Kompagnie: im April 1899 wurde A. Telting vom
Reichsarchiv zur Erforschung des letzteren nach Paramaribo entsandt, von wo
aus er auch Cura^ao aufsuchen sollte (S. i). In der jetzt englischen Kolonie
Ceylon ist ein einheimischer Archivar, R. G. Anthonisz, von der Regierung
mit der Inventarisierung beauftragt worden. Schon die Thatsache solcher Für-
sorge ist interessant, noch mehr aber dürften es die Ergebnisse sein, die für die
europäische Handelsgeschichte sowie für die Kenntnis der holländischen
Kolonieen und ihrer Verwaltimg gleich wichtige Aufschlüsse geben werden.
Der Inhalt des Jahrgangs 1 900/1 901 bewegt sich durchaus in den-
selben Bahnen, übersteigt aber mit 241 Seiten den vorhergehenden (162 S.)
an Umfang wesentlich. Der Neubau des Rotterdamer Stadtarchivs (S. 35 mit
Abbildung) sowie der des Justizarchivs ebenda (S. 63—66 u. 127 — 132)
verdienen Erwähnung. Die eingehenden Erörterungen über die Thätigkeit
des Gemeindearchivars (S. 67 — 83 u. 125 — 127) sind auch für DeutscUand
von Belang; nicht weniger die Besprechung der Frage, ob nicht die kirch-
lichen Archive bei den Staatsarchiven deponiert werden sollen *) (S. 206 — 209),
worüber die Ansichten sehr auseinander gehen. Die Auszüge aus den 1899er
Jahresberichten von 41 Städten, soweit diese die Archive betreffen (S. 83 — 95),
ergänzt diesmal ein Bericht über die Verhandlungen, betreffend die Fürsorge
für die Archive der niederländisch-reformierten Kirche, die 1899 und 1900
gepflogen worden sind (S. 135—144). Nach Deutschland führen die Be-
sprechungen des ersten Heftes der Miiteüungen der k. preufsiscken ArcJuv-
vefrwaltung (S. 31/32 und S. 213 — 216) und der Schrift Wiegands über
Bezirks- und Gemeindearchive im Elsafs (S. 216 — 219). Italien ist bedacht
durch die Besprechung der Schrift vonLuigi Mulinaris (Udine 1896), in der
er Vorschläge für die Ordnung von Gemeindearchiven entwickelt (S. 151 — 155)»
vor allem aber liegt über die Schwedischen, Norwegischen und Dänischen
Archive eine Arbeit von Kernkamp vor (S. 181 — 200), die in jeder
Hinsicht auch in Deutschland interessieren mufs: es ist z. B. auch S. 185
das Budget des Stockholmer Reichsarchivs für 1900 mitgeteüt, das mit
1) In der Rheinprovinz hat das evangelische Konsistoriam den einzelnen Pf«"
gemeinden nahegelegt, ihre älteren Archivalien im Archive des Konsistoriums zu depop*
— 112 —
53700 Kronen (= 35572,50 hoU. Gld.) abschliefst. Von allgemeineren
Fragen interessiert Krämers Bericht über das Wesen der historisch-statisti-
schen Gnmdkarten (S. 122 — 125), sowie der Fruins über die Ab&ssung
von Regesten (S. 132 — 135). Beide bieten nichts wesentiich neues, aber
sie belehren die Leser in Kürze über Vorgänge, die für sie von Wert sind.
Fruin kritisiert kurz die Anweisung der „Historischen Kommission der Pro-
vinz Westfalen" für die Abfassung von Urkundenregesten ') und vermag ihr
nicht in allen Punkten zuzustimmen, Krämer stellt sich auf die Seite derer,
die lieber keine Grundkarten wollen als solche mit modernen Gemaricungs-
grenzen ; in den holländischen Karten sind ja auch anerkannt zweckmäfsiger-
weise die alten Gerichtsgrenzen eingetragen.
Schon im Jahre 1887 erschien ein Führer durch das Archiv der Stadt
Hermannstadt und der sächsischen Nation, und gegenwärtig liegt eine
Neubearbeitung desselben vor : Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der
sächsischen Nation, em Führer durch dasselbe von Franz Zimmermann,
Archivar. Zweite Auflage, Hermannstadt 1901, Verlag des Archives,
201 S. 8<>. Der Anlage nach tmterscheidet sich die zweite Auflage von der
ersten wesentlich dadurch, dafs für die Anordnung nicht mehr die Auf-
stellung, sondern durchweg die Herkunft der Archivalien mafsgebend ge-
wesen ist. Wenn der jetzt viel zu beschränkte Raum, was erhofit wird, eine
Erweiterung erfahrt, dsum soll auch in der Aufstellung die „Heiicunft der
Schriften aus den verschiedenen Amtsregistraturen'* zu Gnmde gelegt werden.
Dafs auch die seit 1887 neu zugegangenen Bestände mitverzeichnet sind,
ist selbstverständlich.
Es handelt sich hier um eins der Inventare, die wir mit Übersichts-
inventarien zu bezeichnen pflegen ^), im Gegensatze zu solchen, die durch
Regestenveröffentlichung materielle Mitteilungen bringen, um ein Inventar,
welches die Gesamtheit der Archivbestände vorführt, wie sie vor allem der-
jenige braucht, der das Archiv zu benutzen wünscht und im voraus seine
Aussichten abschätzen und dem Archivar seine Wünsche mitteüen möchte.
Zugleich können versprengte Archivalien nicht besser aus ihrer Einsamkeit
den Interessenten bekannt gemacht werden als auf diesem Wege. — Das
vorliegende Buch eröffnet die schematische Darstellung der politischen Ein-
teilungen, die Siebenbürgen erfahren hat, und daran schliefst sich das für
den Archivdienst unentbehrliche Ortschafbverzeichnis nach der alten poli-
tischen Einteilung, die 1876 aufgehoben wurde, (S. i — 47). Die Archivalien
selbst zerfallen in Urkunden (1290 bis 1526 und 1527 bis 1700, also zwei
Hauptabteilungen), Akten des Magistrats der Stadt und des Stuhles Hermann-
stadt, Akten der Gespannschaft Hermannstadt 1784 bis 1790 (S. 145 — 146),
Akten der sächsischen Nationaluniversität, d. h. der Gesamtvertretung der
sächsischen Nation, 1544 bis 1849 (^* ^47 — <55) ^^^ Handschriften
{S. 156 — 168). Angegliedert sind die Repertorien, Gesetzbücher, Hand-
i) Enthalten in dem ersten Hefte der von der Kommission veröffentlichten Inven-
tare der nühtstaatlichen Archive der Provinz Westfalen (Münster i. W. , Aschendorff,
1899), 8. VUI.
a) Vgl. oben, S. 22,
— 113 —
bibliothek und die Bestimmungen über Benutzung des Archivs. J-»etztere er-
gänzen die Mitteilungen im ersten Bande dieser Zeitschrift, S. 192, in will-
kommener Weise: leider ersehen wir daraus, dafs Versendung von Ar-
cbivalien nach auswärts unzeitgemäfs ausgeschlossen und die Benutzung
am Ort nur fünf Stunden am Tage gestattet ist, eine allerdings wenig tröst-
liche Aussicht, wenn jemand behufs archivaHscher Studien nach Hermann-
stadt reisen mufs. Die Beschreibung der Bestände in aller Ktirze sucht das
allgemein Wichtige mit grofsem Geschick herauszuheben: so erüahren
wir, dafs eine Urkunde des Königs Ludwig V. von Ungarn von 1359 auf
Papier^) vorliegt (S. 49), dafs von demselben Könige Handelsprivilegien er-
halten sind, aus denen sich Venedig und Polen, Wien und Prag als Handels-
ziele der siebenbürgischen Sachsen ergeben (S. 50). Das älteste deutsch
abgefafste siebenbürgische Stück des Archivs ist eine Urkunde des Rates zu
Kronstadt von 1429 (S. 56), päpstliche Urkunden in Betreff der Kreuzzüge
gegen die Türken liegen seit 1453 vor (S. 58). Schon aus dem XIV. Jahr-
hundert ist das Bruchstück einer deutsch-lateinischen Stadtrechntmg erhalten
(S. 59). Schriftstücke, deren Aussteller im heutigen Deutschen Reiche zu
suchen sind, erscheinen naturgemäfs nicht zu zahlreich (S. 57 u. 70); als
erste derartige kommt eine baierische Urkunde von 1499 (Rat zu Erding) in Be-
tracht Von den Zünften beginnen die Schneider ihre Akten am frühesten
(1449), 1484 folgen die Schuster und 1494 die Goldschmiede (S. 105 — 107).
Rechnimgen über die städtische Alaun siederei liegen aus den Jahren 1773
bis 1776 vor (S. 121), solche über den städtischen Kupferhammer 1690
bis 1726 (S. 132). Die erste Inventarisierung der Urkunden des Archivs
ist 1463, eine zweite 1546 erfolgt (S. 169).
Landesgeschlchte im Unterrichte. — Wie wenig in den amt-
lichen Lehrplänen der höheren Schulen Deutschlands der Landes- und
Heimatsgeschichte gedacht wird, habe ich in dem Aufsatze im U. Bande dieser
Blätter (S. 265 — 273) gezeigt Dafs aber thatsächlich auch in den höheren
Schulen die Landesgeschichte im Unterrichte nicht unberücksichtigt bleibt,
ist dort gleichfalls in Kürze nachgewiesen. Bestätigt wird diese Behauptung
durch manigfache Zuschriften und Bemerkungen, die an den genannten
Aufsatz anknüpfen. Es mag aber noch einmal hervorgehoben werden, dafs
es nicht Zweck desselben war, irgendwie pädagogische Ratschläge für den
Unterricht zu geben, sondern nur die Stellung zu schildern, welche die
Landesgeschichte im Unterrichte einnimmt
Zunächst ist nachzutragen, dafs zu den deutschen Bundesstaaten, welche
sich die Pflege der Heimatsgeschichte in den Schulen besonders angelegen
sein lassen, vor allem Hamburg gehört Herr Senatssekretär Dr. Hage-
dorn teilt in dankenswerterweise folgendes mit: „Bereits im Februar 1888
ist, nachdem auf Veranlassung der Oberschulbehörde von dem Oberlehrer
Dr. W. K ollhoff ein Grundriß der Geschichte Hamburgs (Hamburg,
Heroldsche Buchhandlung) verfiäfst und damit für den Unterricht in der
hamburgischen Geschichte eine geeignete Grundlage geboten war, die Be-
stimmung getroffen worden, vom Beginn des nächsten Schuljahres an hätten
1) Im Archiv der vormaligen Reichsstadt Kaufbeoren finden sich zwei Pap
?on 1318. Vgl. Allgäuer Geschichtsfreund, 13. Jahrg. (1900), S. 12^
— 114 —
die höheren Lehranstalten die vaterstädtische Geschichte in den Bereich
ihres Unterrichtes zu ziehen. Dabei sei von der Ansetzung eigener Lebr-
stunden für die hamburgische Geschichte abzusehen, ihre Hauptthatsachen seien
viehnehr bei dem Unterrichte in der deutschen Geschichte an passenden
Stellen den Schülern darzulegen und die wichtigsten Jahreszahlen aus der-
selben ihnen einzuprägen. Das genannte Buch sei in derjenigen Klasse,
in welcher zuerst deutsche Geschichte behandelt werde, und in sämtlichen
höheren Klassen als Schulbuch einzuführen und vom Lehrer bei den ge-
gebenen Gelegenheiten dem Unterrichte und den Repetitionen zu Grunde
zu legen. Bei den Abgangsprüfungen seien regelmäfsig auch einige Fragen
aus der hamburgisohen Geschichte zu stellen, deren Hauptthatsachen der
Prüfling kennen mufs. Um das Verständnis für die hamburgische Geschichte
noch weiter zu fördern, wurde dann 1889 auf Veranlassung der Oberschul-
behörde von dem Haupdehrer E. H. Wichmann ein Atlas zur ham-
burgischen Geschichte (Hamburg, Heroldsche Buchhandlung) herausgegeben,
welcher gleichfalls als Schulbuch zur Einführung gelangte.*'
Es ist sehr erfreulich, dafs in Hamburg in so trefflicher Weise für die
unterrichtliche Behandlung der Heimatsgeschichte gesorgt ist. Über die
Pflege derselben an den höheren Schulen Steiermarks macht F. Ilwof
(Graz) eingehende Mitteilungen, die unten folgen. Für eine malsvolle Be-
rücksichtigung tritt auch die Historische Zeitschrift (N. F., Band 52,
S. 155) ein, mahnt aber „bei aller Sympathie für landesgeschichtliche
Forschungen zu grofser Vorsicht in dieser Hinsicht". Beachtenswerte An-
regungen giebt in Bezug auf Landesgeschichte und Oeschichtsunierricht
O. Jäger im „Humanistischen Gymnasium" (12. Jahrgang, 1901,
S. 234 — 236). Er stellt die Frage, wie sich die Landesgeschichte zu dem
auf unseren Gymnasien und Realschulen erteilten Geschichtsimterricht stellt
und verhallt. Mit Recht wird hervorgehoben, dafs seit 1871 die ganze
Angelegenheit auf eine völlig andere Grundlage gestellt ist. Die Landes-
und Ortsgeschichte mufs, wie auch in meinem Aufsatze angedeutet ist, im
engsten Zusammenhange mit der allgemeinen deutschen oder europäischen
bleiben. Daneben hebt Jäger auch die Schwierigkeiten, die dieser Aufgabe
entgegenstehen, sachgemäfs hervor. Dazu gehört auch der Umstand, der
gleichfalls von mir erwähnt ist, dafs das Lehrbuch dem Lehrer imd
Schüler für das landesgeschichtliche Element wenig oder keine Hilfe leistet
Dieser Mangel hat ja zur Abfassung mancher Lehr- imd Lesebücher
geführt, auf die in einem späteren Aufsatze etwas näher eingegangen werden
soll. Hier mag nur noch darauf hingewiesen sein, dafs das Lehrer-
kollegium des Görlitzer Gymnasiums eine Heimatkunde für dasselbe
verfafst hat, deren erster Teil 1901 (Görlitz, Druck von Hoffinann & Reiber)
erschienen ist. In dieser Arbeit sind in 4 Abschnitten die Erdoberfläche,
Klima, Tiere und Pflanzen, Bewohner behandelt. Ein Anhang enthält
allerlei Übersichten, Zeittafel u. s. w. Es ist also das Büchlein nicht nur
ein Leitfaden für die Heimatsgeschichte, sondern für die Heimatskunde
im weiteren Sinne. Das, was geboten wird, ist sehr reichhaltig und sorg-
fältig behandelt, ob aber alles wirklich im Unterrichte behandelt werden
kann, erscheint doch zweifelhaft. Es ist hier des Guten wohl zu viel ge-
geben.
— 115 —
Auch für den Unterricht in der Heimatsgeschichte können dem Lehrer
von Wert sein die Veröffentlichungen des Zentralausschusses für deutsche
Landeskunde, vor allem der 1901 erschienene Bericht über die neuere Lüterattir
zur deutschen Landeskunde, der von A. Kirchhoff und K. Hassert
herausgegeben ist (Band I, 1896 — 1899, Berlin, Verlag A. SchalL)
M. Wehrmann (Stettin).
Über die Pflege der Heimatsgeschichte in den höheren Schulen Steier-
marks schreibt Franz Ilwof (Graz): Ohne hervorzuheben, worin ich etwa
anderer Ansicht bin als Wehrmann, möchte ich nur kurz darstellen, wie und
in welcher Weise schon seit fast einem Jahrhundert für die Pflege der Heimats-
kunde, speziell der steiermärkischen Geschichte an den höheren (in Öster-
reich Mittel-) Schulen — Gymnasien und Realschulen -— der Steiermark Sorge
getragen ist, wie dieser Unterricht in der genannten Provinz gegründet, weiter-
gebildet tmd vervollkommnet wurde.
In der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts wirkte in Steiermark der
hochverdiente Archivar, Geschichtsforscher und Historiograph Josef War-
tinge r (geb. 1773, gest. 1861). Als 181 1 Erzherzog Johann in Verein
mit den opferwilligen und einsichtsvollen Ständen des Landes das Landes-
museum „Joanneum** gründete, bemühte sich Wartinger um die erste An-
lage des an demselben beantragten Archives, Münzen- imd Antikenkabinettes
und verfafste stuf Veranlassung der Regierung eine Kurzgefaßte Gesdiichie
der Steiermark, welche 18 15 in erster, 1827 in zweiter, 1853 in dritter
vermehrter Auflage erschien tmd zuerst am Gymnasium zu Graz und seit
1816 an allen derartigen Lehranstalten des Landes als Lehrbuch verwendet
wurde.
Schon 1778 hatte die kaiserliche Hofkanzlei das Studium der steier-
märkischen Geschichte als Nebengegenstand ausdrücklich als erwünscht er-
klärt; die Einführung dieses Lehrgegenstandes war jedoch an dem Mangel
eines geeigneten Lehrbuches gescheitert Nim lag ein solches vor; Wartinger
that aber noch mehr. Er widmete das ihm von dem Verleger seiner „Kurz-
ge&fsten Geschichte" gezahlte Honorar, sowie das Supplentengehalt für Vor-
träge aus der allgemeinen Geschichte am Lyceum zu Graz, im ganzen einen
Betrag von 800 Gulden zur Stifhmg einer Preismedaille für jenen Schüler am
Gymnasium zu Graz, welcher nach Absolvierung des Kurses aus der steier-
miärkischen Geschichte bei einer öffentUchen feierlichen Prüfung aus diesem
Lehrfache sich am meisten auszeichnen würde. Der steiermärkisch-ständische
Verordnete und vaterländische Schriftsteller JohannRitterv. Kalchberg
vermehrte diese Stiftung durch einen Betrag von 200 Gulden und schon
18 16 konnte sie ins Leben treten. So wurde von 1816 bis 1819 steier-
märkische Geschichte in der IV., von 181 9 bis 1844 in der II. Klasse des
Gymnasiim:is zu Graz gelehrt, und 1844 wieder in die IV. Klasse, durchaus
als Freigegenstand, verlegt. Mit regem Eifer und sichtlichem Erfolge wurde
dieses Lehrfach betrieben, auch die Prüfungen fanden regelmäfsig statt.
Als infolge der politischen Verändenmgen die einzelnen Provinzen der
österreichischen Monarchie (1860) wieder ihre Autonomie erhielten und als
1861 die jetzt noch geltenden Landesordnungen und Landeswahlordnungen
8*
— 116 —
erschienen, infolge deren der freigewählte Landtag zusammentrat, dem das
Recht der Gesetzgebung in Landesangelegenheiten zusteht und dessen aus-
führendes Organ der von dem Landtage und aus seiner Mitte gewählte Landes-
ausschufs ist, sorgte dieser für die Pflege der steiermärkischen Geschichte an
den Mittelschulen des Landes. Er führte durch, dafs an allen Gymnasien,
Reabchulen imd Lehrerbildungsanstalten der Steiermark die Geschichte der-
selben als Nebengegenstand gelehrt werde, bewilligte Renumerationen für die
Lehrer dieses Faches, sowie für jede Anstalt durch die Wartingerstiftung
mit ausgiebigem Zuschufs von Seiten des Landes beigestellte Medaillen fUr
die besten Schüler. Die Kurse in der steiermärkischen Geschichte sind den
Schülern der IV. Klasse der betreffenden Mittelschule zugänglich, flnden von
Oktober bis Juni zwei Stunden wöchentlich statt und die öffentlichen feier-
lichen Prüfungen werden meist in Gegenwart von Mitgliedern des Landes-
schulrates und des Landesausschusses in Graz, in den kleineren Städten imter
Anteilnahme der Bürgermeister und anderer Honoratioren abgehalten. Aulser
den schon erwähnten EhrenmedaiUen werden für tüchtige Leistungen meistens
auch wertvoUe Bücher verteÜt, deren Inhalt die Heimatskunde im weitesten
Sinne büdet, imd die von Schulfreunden gespendet werden.
Wesentlich diese Institution hat auch eine kleine Litteratur hervorgerufen.
Wartingers „ Kurzgefafster Geschichte der Steiermark" folgten die Oeschichie
des Herxogthtmis Steiermark von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage
von Wilhelm V. Gebier (Graz 1862), die Heimaiskunde des Herxogthums
Steiermark von Karl Hirsch (Wien 1879), der Abriß der steirischn
Landesgeschichte, Für die Schüler höherer Lehranstalten und für Freunde
der Geschichte von Rudolf Reichel (Marburg 1869; 2. Aufl. Graz 1884)
imd vor allem die Oeschichte der Steiermark mit besonderer Rücksieht auf
das Kulturleben von Franz Martin Mayer (Graz 1898). Diese Lehr-
bücher wurden, eines nach dem andern, bei dem Unterrichte in der steiri-
schen Geschichte an den Mittelschulen des Landes zu Grunde gelegt.
Der geistige Zusammenhang des Unterrichts in der steiermärkischen Ge-
schichte mit dem obligaten Geographie- und Geschichtsunterricht ist da-
durch gegeben, dafs in derselben IV. Klasse, in welcher jene als Frei-
gegenstand gelehrt wird, die Vaterlandskunde (Geographie und Geschichte
des österreichischen Kaiserstaats) den obligaten Lehrstoff büdet Dafs diese
Verbindung zwischen der Provinzialgeschichte und der aUgemeinen (d. h.
österreichischen) Geschichte aufrechterhalten wird, ist Sache der betreffenden
Lehrer und wird gewifs auch stets im Auge behalten und durchgeführt wer-
den. Wenn auf der Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine zu Blankenburg 1896 die Resolution ge-
fafst wurde, dafs eine gröfsere Pflege der Heimatskunde in geschichtlicher
Beziehimg zu empfehlen sei, weil die Kenntnis der Geschichte der Heimat
die Voraussetzung für das Gefühl der Zugehörigkeit zum Staatsganzen büdet,
so ist dieser Forderung an den Mittelschulen der Steiermark schon seit langem
entsprochen worden. Und wenn es weiter heifst, dafs es Aufgabe der Ge-
schichtsvereine ist, für die wissenschaftUchen Grundlagen einer zuverlässigen
Heimatskimde zu sorgen, so möge bemerkt werden, dafs auch dem in be-
friedigender Weise durch den „Historischen Verein für Steiermark" Rech-
nung getragen wurde, der im Dezember 1900 das 50jährige Jubiläum seines
— 117 —
Bestandes in wahrhaft glänzender Weise feierte und in diesem halben Jahr-
hundert in 48 Bänden seiner Mitteilungen, in 31 Jahrgängen seiner Beiträge
zur Kunde stetermärkischer Geschichtsquellenj in den 2 Bänden des von ihm
herausgegebenen ürkundenbuches und in dem Steiermärkwcken Landrechte
auf wissenschaftlicher Gnmdlage gearbeitete Darstellungen und Publikationen
geliefert hat, ohne welche F. M. Mayer — wie er im Vorworte seines oben
erwähnten Buches sagt — dieses kaum hätte schreiben können. Die wissen-
schaftliche Durchforschung der Landesgeschichte hat vollauf den Bedürftiissen
des Geschichtsunterrichts entsprochen und dem Dilettantismus auf dem Ge-
biete dieser Unterrichtslitteratur entgegengearbeitet.
Vielleicht ergiebt sich später einmal Gelegenheit, in diesen Blättern über
die Leistungen des „Historischen Vereins ftir Steiermark" und der mit ihm
Hand in Hand gehenden, 1892 gegründeten „Historischen Landeskommission
für Steiermark" *) eingehender zu sprechen.
Deutsch als Urkandensprache. — Im Jahre 1893 schrieb die f
ilirstlich Jablonowskische Gesellschaft als Preisaufgabe das Thema aus : „ All-
mähliche Einftihrung der deutschen Sprache in öffentlichen und privaten Ur-
kunden bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts." Der Preis wurde meiner Ar-
beit Dcis erste Auftreten der deutschen Sprcwhe in Urkunden ^ welche dann
als XXX. Band der Preisschriften der Gesellschaft zu Leipzig (S. Hirzel) 1895
erschien, zuerkannt, obwohl ihr als einer wissenschafdichen Erstlingsarbeit
manche Mängel anhafteten und obwohl sie die Frage nur nach einer Richtung
hin, nach der historisch-diplomatischen, zu lösen versuchte. Die Ergebnisse
meiner Forschungen waren in Kürze etwa folgende:
Im Zusammenhang mit dem Aufblühen der Städte und dem Erstarken
des niederen Adels dringt seit den dreifsiger Jahren des XIII. Jahrhunderts
die Volkssprache in die Rechtsaufzeichnungen ein. Den Ausgangspunkt
bildet der Sachsenspiegel, er beeinflufst nicht nur, wie bekannt, inhaltlich,
sondern auch sprachlich den Mainzer Landfrieden von 1235 imd dieser wie-
der das österreichische Landrecht mit allen ihren zahlreichen Nachfolgern.
Um die Mitte des Jahrhunderts reihen sich die Stadtrechte in deutscher
Sprache an und endUch gelangt diese als Sprache des Gerichts von den
Weistümem der niedem Gerichtsbarkeit bis in das Reichshofgericht, wo
sich, was besonders wichtig ist, bereits unter Rudolf von Habsburg ein
eigenes deutsches Formular ausbildete.
Bald nach den ersten Rechtsaufzeichnungen begannen auch die Rechts-
instrumente, die Urkunden, in deutscher Sprache ausgefertigt zu werden.
Das älteste Beispiel ist der Vertrag zwischen den Grafen Albrecht und Ru-
dolf von Habsburg, zwischen 1238 imd 1239, während eine Schweizer Ur-
kimde vom Jahre 122 1, welche ich noch auf Treu und Glauben als ältestes
deutsches Stück angenommen hatte, nach den Untersuchungen Seemüllers
(Mitt. d. Inst. f. österr. Gesch. XVII, 310) erheblich später anzusetzen ist.
Von dem Momente an tritt dann ziemlich gleichzeitig die deutsche Sprache
in Urkunden von den Niederlanden den Rhein aufwärts bis in die Schweiz
und in Süddeutschland die Donau abwärts bis Niederösterreich auf, doch
i) Vgl. diese Zeitschrift, I. Bd., S. 27.
— 118 —
unterscheidet sich die weitere Entwickelung dadurch, dafs am Rhein nach
vereinzelten Anfängen ein Stillstand eintritt, während in der Schweiz und in
Süddeutschland die Neuerung rasch festen Fufs fafst, so dafs in Mitteldeutsch-
land sich erst in den Siebziger, in Norddeutschland erst in den Neunziger
Jahren des XIII. Jahrhunderts die deutschen- Urkunden mehren. Zum Siege
ist die deutsche Urkundensprache in Süddeutschland um 1300, in Mittel-
deutschland um 1330, in Norddeutschland um 1350 gelangt. — Sie fand
dort leichter Eingang, wo keine feste Kanzleitradition ausgebildet war, also
vor allem in den Urkunden der kleineren Adelsgeschlechter, aber auch merk-
würdigerweise in den Königsurkunden, da das Zwischenreich und das Auf-
kommen neuer Königsfamilien für die Kanzleiorganisation ^) nicht günstig und
es auch hier Regel war, die Urkimden vom Empfanger ausfertigen zu lassen.
Konservativer waren die Städte *), am meisten aber natürlich die Hochstifte
und Klöster, in denen sich eine Jahrhunderte alte Überlieferung fand. In
ihren Urkunden erhält sich die lateinische Sprache trotz der mächtigen Ent-
wickelung in den weltlichen Urkimden, die nur seit der Mitte des XIV. Jahr-
hunderts durch das Eindringen des römischen Rechtes und durch die von
den Universitäten ausgehenden gelehrten Strömungen einigermafsen beeinträch-
tigt wird. Um die Mitte des XIV. Jahrhunderts beginnnt auch bereits die
Ausbildung von eigenen Kanzleisprachen, so in Trier, Mainz und Magde-
burg, zuletzt auch in der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. Wie wichtig dann
diese letzte Phase der Entwickeltmg, speziell die kursächsische Kanzleisprache
für die Ausbildimg der neuhochdeutschen Schriftsprache geworden, ist all-
gemein bekannt').
Die in den letzten Jahren erschienenen Urkundenpublikationen haben
meine Ergebnisse nahezu gar nicht beeinflufst, obwohl ich überzeugt bin.
i) Herzberg- Fränkel, Gesch. d. deutschen Reichskanzlei 1246 — 1308 1 (MitU
d. Inst, t Ost. Gesch., L Eg., • Bd. 254 f.) und Einleitung zur 8. Lief. d. Kaiserurkunden
in Abbildungen (hgg. von Sickel und Sybel). Über die Urkunden Ludwigs des Bayern t
Pfeiffer, Die Kanzleisprache König Ludwigs des Bayern (Germania IX, 170]; Grane rt
in der Einleitung z. 9. L. der Kaiserurk. in Abb.; L i p p e r t , Zur Gesch. K. Ludwigs
des Bayern. III. Bern. z. Urkundenwesen (Mitt. d. Inst. f. öst. Gesch. XIII, 602]; Seh ans,
Zur Diploroatik Ludwigs des Bayern (München 1894). Über Friedrich den Schönen:
Uhlirz in der 11. L. d. Kaiserurk. in Abb. Ober Karl IV.: Hubers Einleitung zu
se iner Neubearbeitung von Böhmers Regesten ; L i n d n e r , Das Urkundenwesen Karls IV.
und seiner Nachfolger (Stuttgart 1882); Zimmermann, Die Datiemngsformel in Ur-
kunden K. Karls IV. (Berl. Dissert. , Helmstadt 1889); Tadra, Kancelafe a pisaH
zemich öeskych za kralü z rodu lucemburskeho Jan, Karlo IV. a Vaclava IV. (Prag 1892);
Bnrdach, Vom Mittelalter zur Reformation (Halle 1893). VergL aufserdem Bresslau^
Handbuch der Urkundenlehre I, 603. Hier auch die von späteren Schriftstellern über-
lieferte Fabel von einer offiziellen Einführung der deutschen Sprache durch Rudolf von
Habsburg abgewiesen.
2) In Basel ist die erste deutsche Urkunde von 1261. Basler Urkundenbuch I»
S. 263 Nr. 480. In Köln von 1251, aber als Geschäftssprache bei den Grundbüchern
wird das Deutsche hier erst 1395 durch den Stadtschreiber Ger lach vom Hausse durch-
geführt Vgl. Keussen in den Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 15. Heft,.
s. 45—48.
3) Wülcker, Die Entstehung der kursächsischen Kanzleisprache (Zeitschr. f. thttr.
Gesch. N.F. L 351); Rückert, Gesch. d. neuhochdeutschen Schriftsprache (Leipzig 1875];
So ein, Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit
(Heilbronn 1888). Vergl. über die ganze Frage noch Paul, Grundrifs der germanischen
Philologie, L Bd , 2. Aufl. (190 1), S. 281 u. 658 ff.
— 119 —
dafs nähere Forschungen namentlich in den Grenzgebieten im Osten und
Westen manches Interessante zu Tage fördern würden. Auch gäbe es noch
manche Einzelheiten, in Bezug auf welche eine spezielle Ausgestaltung meiner
Untersuchungen erwünscht wäre. Das Auftreten deutscher Elemente in latei-
nischen Urktmden, zunächst von nicht latinisierten Namen, dann auch ein-
zelner schwer übersetzbarer Termini läfst sich wohl noch weiter bis ins XL,
ja sogar X. Jahrhtmdert, zurückverfolgen ^). Interessant wäre auch eine
systematische Untersuchtmg der sprachlichen Seite der urbarialen Aufzeich-
nungen, der Stadtbücher imd verwandter Erscheinungen. Endlich könnte
man von den Urkunden auch noch auf die Siegel, in deren Umschriften
die deutsche Sprache auch bereits im Xni. Jahrhundert auftritt'), und von
diesen auf die Münzen ^) hinübergreifen.
Die Hauptaufgabe, welche noch zu lösen ist, liegt jedoch in der sprach-
lichen Seite der ganzen Frage. Ich habe bereits im Vorworte meiner Ar-
beit ohne falsche Bescheidenheit ausdrücklich betoüt, dafs ich nur ein Fun-
dament ftir umfassende germanistische Untersuchungen liefern wollte. Ich selbst
habe bereits nachgewiesen, wie die Formeln der deutschen Urkunden sich
von ursprünglich sklavischen und unbeholfenen Übersetzungen zu einem inuner
freieren und selbständigeren Urkundenstil entwickeln*). Besonders wichtig ist
es aber, den Dialekt zu untersuchen, und wie sich in den einzelnen Gegenden
und Kanzleien aus dem Dialekt der Umgangssprache ein Schriftdialekt heraus-
bildet, aUenfalls wieder dessen Verhältnis zur Sprache der Poesie in der be-
treffenden Gegend ^). Hier eröflSiet sich gerade dem Territorialforscher ein
sehr dankbares Feld, denn ehe an allgemeine Abstraktion gedacht werden
kann, müssen an der Hand eines möglichst lückenlosen Materials die sprach-
lichen Merkmale ftir die einzelnen Gebiete oder einzelnen Kanzleien fest-
gestellt werden ^). Dabei ist es unerläfslich, dafs man sich nur auf Original-
i) Z. B. schon in einer Urkunde K. Ottos I. von 944, Nov. 26 (MG.DD I, 144,
Nr. 62).
2) Die Hofrichter Berthold von Truchberg und Hermann von Bonstetten führen zw.
1276 und 1290 bereits Siegel mit deutschen Umschriften (Zeitschr. f. Gesch. d. Ober-
rheins N.F. IV, 393 und Onckens Allg. Gesch. in Einzeldarst. II. Th. 6, II, 137). — Im
XIV. Jahrh. werden deutsche Siegelumschriften häufiger, auch Mischungen kommen vor
z. B. S.Johannis Stadtschreiber (Hartmann v. Franzenshuld, Katal. d. hist. Ausstellung d. St.
Wien 1873, 154) oder S, Ulrici von Walsee de Drosendorf (Qu. z. Gesch. d. St Wien II,
I, Nr. 14 16). Seit dem XV. Jahrh. ist der Gebrauch schon sehr allgemein, besonders
bei den Siegeln von Adeligen und Bürgern.
3) Dannenberg, Deutsche Inschriften auf Mittelalter-Münzen (Anz. f. Kunde d.
deutschen Vorz. 1862, 236; Numismatische Zeitschr. II (1870) 517, dazu Nachträge
XVn, 1885, 125 und XXXII, 1900, 202). Älteste Beispiele: Markgraf Otto von Branden-
burg (1170 — 84), Otto I., Graf von Geldern (1182 — 1207), steirischer Denar c. 1250
bis 1270.
4) Noch im XTV. Jahrh. zeigen sich wörtliche Übersetzungen lateinischer Urkunden
im Ausdruck weit unbeholfener als deutsch konzipierte Stücke. Vergl. Goswin, Chronik
des Stiftes Marienberg (Tiroler Geschichtsqu. II, 1880) die S. 214 — 15 abgedruckte
Übersetzung einer Urkunde von 1192 (lat. S. 55 — 57) und daneben die deutsche Urkunde
von 1332 (S. 133)- ..
5) Vgl. H. M. Jellinek, Über die notwendigen Vorarbeiten zu einer Geschichte
der mittelhochdeutschen Schriftdialekte (Verhandlungen der 42. Versamml. deutsch
logen u. Schulmänner zu Wien 1893, ^* 3^4)
6) In der That liegen bereits einige vortreffliche Spezialuntersuchung^-
vor, von welchen ich hier besonders nenne: Brandstetter, Prolepr
— 120 —
Urkunden stützt, daher Grundbedingung entweder archivalische Forschung
oder als Vorarbeit sorgfältige Urkundenpublikation, denn die älteren Ur-
kundenausgaben haben sich meist so willkürliche Umformungen der deutschen
Stücke, insbesondere ihrer Schreibweise, erlaubt, dafs sie für eine sprach-
liche Untersuchung unbrauchbar sind. Auch . auf das von mir betonte Mo-
ment der Ausfertigung der Urkunden durch den Empfanger mufs geachtet
werden. — Die sprachliche Urkundenforschimg ist nicht Selbstzweck, aber
ihre Bedeutung liegt auf zwei ganz verschiedenen Gebieten: es ist ein An-
fang, um allmählich die übrigen Erzeugnisse des Schriftwerks neben den
Dichtungen sprachgeschichtlich mehr zu würdigen, und es wird dadurch eine
sichere Grundlage für die geschichtliche Quellenkritik '), namenüich für die
Erkenntnis der Fälschimgen und Verunechtungen geschaffen.
Max Vancsa (Wien).
Eingegangene Bttcher.
Hetzenecker, Joseph: Studien zur Reichs- und Kirchenpolitik des Würz-
burger Hochstifts in den Zeiten Kaiser Ludwigs des Bayern (1333 — 1347)«
Würzburger Inauguraldissertataion. Augsburg, Math. Riegersche Buch-
handlung (A. Hinmier), 1901. 88 S. 8^ M. 1.50.
Klaje, Hermann: Der Einfall des kaiserlichen General- Wachtmeisters Joachim
Ernst V. Krokow in Hinterponamem vom Jahre 1643. ["== Pommersche
Jahrbücher. Ergänzungsband I.] Greifswald, Julius Abel, 1901. 167 S.
80. M. 4.
Kolde, Th. : Das religiöse Leben in Erfurt beim Ausgange des Mittelalters.
[= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 63.] EWlc,
Max Niemeyer, 1898. 68 S. 8®. M. 1.20.
Krön es, Franz von: Landesfürst, Behörden und Stände des Herzogtums
Steier, 1283 — 1411. [= Forschungen zur Verfassimgs- imd Verwaltungs-
geschichte der Steiermark, IV. Bd., i. Heft] Graz, Styria, 1900.
270 S. 8«. M. 3.60.
Laubert, Manfred: Die Schlacht bei Kunersdorf am 12. August 1759.
Mit drei Karten. Berlin, Mittler imd Sohn, 1900. 131 S. 8^. M. 3.
Linsenmayer, Anton: Die protestantische Bewegung in der Fürstpropstei
Berchtesgaden bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. [= Historisches
Jahrbuch der Görresgesellschaft. 12. Bd. (1901), S. 37 — 84.]
knndlichen Gescliichte der Lozerner Schriftsprache (Der Geschichtsfreund 45. Bd. 1890,
201) and Die Lozerner Kanzleisprache 1250 — 1600 (ebendas. 7. Bd. 1892, 225); Dam-
köhler, Mnndart der Urkunden des Klosters Ilsenbarg und der Stadt Halberstadt und
die heutige Mundart (Germania XXXV, 129); Nebert, Zur Geschichte der Spe3rrer
Kanzleisprache (Hallenser Dissert. 189 1); Haeudcke, Die mundartlichen Elemente in
den elsässischen Urkunden des Strafsburger Urkundenbuches (Alsatische Studien 5. H. 1894);
Scholz, Geschichte der deutschen Schriftsprache in Augsburg (Berliner Dissert. 1895);
Willy Scheel, Jaspar v. Gennep und die Entwicklung der neuhochdeutschen Schrift-
sprache in Köln (Westdeutsche Zeitschr., Ergänzungsheft VIII, 1893); Bruno Arndt,
Der Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen in der Sprache der
Breslauer Kanzlei. Breslau 1898 [«» Germanistische Abhandlungen XV].
i) Für die Urkunden K. Rudolfs von Habsburg hat Pischek, Zur Fragt nach
der Existenz einer mittelhochdeutschen Schriftsprache im ausgehenden XU I. Jahrhundert
(Te«chener Realschulprogr. 1892) bereits wichtige Fingerzeige gegeben.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Lreipdg. — Druck und Verlag von Friedrich Andrem« Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
Förderung der landesgeschichtlicben Forscbung
III. Band Februar 1902 5. Heft
Zur Gesehiehte der landesgesehiehtliehen
Forsehung in Iiothringeti*)
Von
Ernst MOsebeck (Metz)
Im Jahre 1635 war durch ein königliches Patent die Acadimie
franfaise zu Paris beg-ründet worden. Erst über ein Jahrhundert später
dachte man in Metz daran, eine ähnliche Gesellschaft ins Leben zu
rufen, die die gelehrten Kreise der alten Reichs- und Bischoüsstadt in
sich vereinigte ^). Ihren Ursprung nahm sie gleich der Acad^mie
franfaise in privaten Zusammenkünften, die etwa seit 1750 in der
Bibliothek des magistrat de Lan^on stattfanden. Der Steuerempianger,
später avocat am Parlement de Metz, Dupr^ de Geneste, war der Ur«
heber des Gedankens, eine wirkliche Gesellschaft daraus zu bilden«
Am 22. April 1757 wurde ihre Begründung in dem Bibliothekssaale
des College Saint-Louis im Moselfort von 14 Teilnehmern b^chlossen;
sie waren die Begründer der „ societ^ d'^tudes des sciences et beaux-
arts ", zu denen sich bereits im folgenden Jahr zehn weitere Mitglieder
gesellten. Ihre Vereinigung trug einen rein privaten Charakter. Erst
der Fürsprache des Herzogs von Belleisle, gouvemeur des Trois-
Evech^, in Paris verdankte sie es, wexm sie im Juli 1760 den Titel
einer acad^mie royale erhielt. Seine Thätigkeit für die Akademie
erschöpfte sich damit nicht; im folgenden Jahr bewilligte er ihr ein
Geschenk von 60000 Lires und schenkte für ihren Sitzungssaal im
Stadthaus sein BUdnis; Gunstbezeugungen, für die sie ihm den Titel
eines protecteur*fondateur verlieh.
*) In diesem Aufsatze wird nur die periodische Litteratur behandelt, ein späterer
soll der Buch litteratur gewidmet sein.
l) Bei diesem Oberblick konnte mit Rücksicht auf den Raum in der Hauptsache nur
auf die Forschungen in dem heutigen Deutsch • Lothringen Bezug genommen werden. —
Vgl. zur Geschichte der Metzer Akademie C. Abel: Histoire des anciennes socü'tü sa*
vantes du pays messtn in den M^moires de la soci^t^ d'arch^ologie et d'histoire de la
Moselle, Jahrgang 1860, S. 690.
9
— 122 —
Neben dieser, von königlicher und staatlicher Huld getragenen
Akademie konnte eine andere Gesdlschaft SociiU Ittteraire de Metz»
bekannter unter dem Namen Soct^U des Philathlnes, die 1759 von
Emmery» avocat am Pärlement de Metz, gegründet war, nicht auf*
)commen, um so mehr als sie auf staatliche Unterstützungen keinen
Anspruch erhoben zu haben scheint
An der Spitze des geistigen Lebens des Landes stand die Aka-
demie. Ihre hauptsächlichste Bedeutung lag Qfellich nicht in der Lö-
sung historischer Fragen; unter den 24 ersten Mitgliedern befanden
sich nur vier Historiker. Weit mehr als die Geschichte zog sie die
direkt praktischen Wissenschaften, Physik, Chemie, Botanik in den
Bereich ihrer Thätigkeit, suchte sie zur Förderung der Kultur des
Landes zu verwerten und so ein Bindeglied zwischen reiner Wissen-
schaft und praktischem Leben zu bilden. Die Preisaufgaben, die sie stellte,
beschäftigten sich in erster Linie mit der Ausdehnung eines rattonelien
Acker- und Weinbaues, der Kanalisierung der Mosel und der Ver-
besserung der Lebensbedingungen der Bewohner. Das eine Verdienst
jedoch bleibt ihr ungeschmälert, dafe sie als erste Vereinigung von
Laien die Behandlung landesgeschicbtlicher Forschungen in ihr Pro-
gramm mit aufgenommen und damit bezeugt hat, da& sie die Bedeu-
tung dieser Fragen ßir die Zukunft eines Landes wohl erkannte.
Noch im Jahre 1792 wurde sie bei der Aufhebung der Klöster
damit beauftragt, über die Erhaltung ihrer Bibliotheken zu wachen;
bereits ein Jahr später, 1793, erlag sie selbst dem Ansturm der Re-
volution als dem Prinzipe der Gleichheit widersprechend.
Ejst nach der Restauration des Königtums kam es im Jahre 1819
zur Nettbegründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft in Metz, der
Sociale des lettres, sciences et arts de Metz '), die sich von
Anfang an der Unterstützung der staatlichen und städtischen Behörden
erfreute und durch Ernennung der fünf noch lebenden Mitglieder der
alten Akademie zu Ehrenmitgliedern sich als ihre Fortsetzung be-
zeichnete. Ihr Wirkungskreis erstreckte sich, nachdem sie 1898 zur
acad^mie royale erhoben war, auf dieselben Gebiete unter stärkstei
Hervorhebung der Förderung der Industrie durch alle fünf Jahre sich
wiederholende Ausstellungen und durch r^elmä&ige Unterrichtskurse
flir die Handwerker. Ihr Ziel war das gleiche: le btU 4taii d'iHre
i) Vgl über die Akademie, ihre Begründung and ihre Thätigkeit die «inzclner^
Jaliresberichte in ihren Memoiren (s. S. ia3 Anm. l), and Didion: Notice sur l'aca^
tUmie royale de Metn^ in Memoiren 1838/39, S 381 ff., und B. Faivre: Comid/raiionx
g^närales sur FensembU des travaux de l'ücadimie^ Memoiren 1836/37 It, S. 198 ff.
— 123 —
et eile le formula en prenant le mot l' Utile pour devtse. Von
Wichtigkeit war es, dafs sich die Geseilschaft gfleich im Anfang' ihxts
Entstehens ein eigenes Organ zu Mitteilungen über ihre Sitzungen und
zu wissenschaftlichen Arbeiten schuft). Die meisten geschichtlichen
Aoisätze haben freilich heute nur noch historiogr£q>hischen W^ weil
sie nicht auf die Quellen selbst zunickgehen; damals boten sie die
einzige Möglichkeit, das Interesse für historische Stndien auch in wei-
teren Kreisen zu fördern. Von Bedeutimg sind dag^en heute noch
die Fundberichte, die in den Memoiren veröffenüicfat wWden.
Beinahe 40 Jahre bildete die Akademie mit ihrer 2^itschrift fiir
die Geschichtschreibung des Landes das einrige C^gan. Erst mit der
Ausbreitung historischer Studien in den vierziger Jahren in Frankreich,
die dann von der kaiserlichen R^erung kräftig unterstützt wurde, be^
gann auch hier eine Änderung sich vorzubereiten. In allen Provinzen
Frankreichs bildeten sich Vereine zur Förderung landesgeschichtlicher
Forschung, die durch die congrte sdentifiques et arch^ologiques zu-*
sammengehalten vnirden. Diese Versammlungen fanden in den Jahren
1837, 184^ UQ^ 1854 ^^ Metz statt und scheinen hier einen nach-
haltigen Eindruck hervorgerufen zu haben.
Wenige Jahre darauf, am 26. März 1858, wurde die sod^td d'ar«
ch^ologie et d'histoire de la Moselle begründet und damit die erste
Gesellschaft in Metz geschaffen, die ihr Arbeit^[ebiet auf ein be*
stimmtes Gebiet, auf die historischen Wissenschaften, beschränkte. Ab
ihr Ziel bezeichnete sie „la recherche, la c^nserpatwn des monu*
ments et documents kistoriques, Ofrchiohgiques concemetnt la frth
vince, l'impression de documents importanis paur Vhütaire du pays
et la räimpresston de Uvres devenus trop rares relaÜ/s ä ceit^jneme
histoire** *). Diese Veröffentlichungen sollten in unbestimmten Zwischen^
räumen erfolgen. Daneben diente die Heransgabe von Sitzungsberichten
(Bulletins) und Abhandlungen (M€nmres) der Gesellschaft zur Er«
reichung ihrer Ziele ^). Ihr Eigentum an Fundstücken und an Kunst-*
gegenständen deponierte sie im städtischen Museum zu Metz.
Dieser Verein, mit denselben Mitteln und nach den gleichen
I) Zncnt bb Bd. 92 Mimoirm dr la socUU de» kttres^ wktwn^ tt mrU de MM^
Bd. 10/26. Mimoirts de Vaeadimm reyaie deJIetä^ Bd. 39/331 ÄUmeüwe da Ifücndimk
uatünmU, Bd. 34^51: de Vmeadimie imp4rmie, ton Bd. 52 ad bii jittlt (Bd. 79): JtfS^
meiret de Pmcademit de Mete.
%) BmUfttin . . . dt la Mci^t^ (vgl. Aam. 3) I» S^ 3.
3) M^moiree de- U t^cUU d?mrek6eiögie et- mtHsMre de Im JUeeeUe Md AeUeUm
jene 1861— 1885 und 1888, diese 1858^1873; RegiftterimJahrbMh(?#rf8k ij^^Am.
9»
— 124 —
Zielen wie unsere deutschen Altertumsvereine arbeitend, bildete fortan
den Mittelpunkt der historischen Forschungen fiir das Moseldeparte^
ment. Ihre Schriften bieten ein wertvolles Material zur Geschichte
des Landes; seine vornehmsten Forscher: Abel, A« und L. Benoit,
de Bouteiller, Ledain, Migette, A. Prost zählten zu ihren
Mitgliedern.
Schon fast ein Jahrzehnt früher, im Jahre 1849, ^^^ ^^ Soddt^
d'arch^ologie lorraine zu Nancy begründet worden, die in ihr Arbeits-
gebiet das ganze Meurthedepartement, also auch die jetzt zu Deutsch-
land gehörigen Teile, gezogen hatte ^). Damit waren für den Umfang
des heutigen Deutschlothringens die äuiseren Bedingungen g^eben,
für die Erhaltung seiner historischen Denkmäler und ihre Verwertung
fiir die Geschichtschreibung Sorge zu tragen.
Die Oigane beider Gesellschaften bieten reiches Material und ein-
gehende Forschungen zur lothringischen Geschichte. Ihr Arbeitsgebiet
erstreckte sich vor allem auf die politischen Gebiete, denen ihr Haupt-
sitz seine geistige und wirtschaftliche Blüte verdankte. Beschäftigte
sich die Gesellschaft zu Nancy hauptsächlich mit dem Herzogtum Lo-
thringen ') , so zog die sociöt^ d'arch^ologie et d'histoire de la Mo-
selle in erster Linie die Geschichte des Bistums und der Stadt Metz
sowie des pays messin und der in ihnen gelegenen Stiftungen und
Dörfer in ihr Forschung^ebiet. Das alte Herzogtum und Metz * und
mit Metz die Trois-EvSch^ überhaupt, fanden in jenen beiden Gesell-
schaften Mittelpunkte, die ihre Geschichte zum Gegenstand ihres Stu-
diums machten; eine dritte Gruppe von Territorien, deren Vergangen-
heit notwendig zur richtigen Charakterisieruug des alten Lothringens
bis zur Revolution gehört, blieb dagegen von den Forschungen fast
unberührt : die kleinen Territorien und Herrschaften, die im Gebiet des
burgundischen und oberrheinischen Kreises lagen und zum Teil noch
dem deutschen Sprachgebiete angehörten. So gelang es der socidt^
1) Sie giebt die Zeitschrift hermus: Memoires de la sociiti d*archiologu lorraine
bis 1899, 49 Bände, Register bis 1874.
2) Die f on ihr heraosgegebenen Documents sur Vhistoire de Lorraine beschäftigen
sich ausnahmslos mit dem Herzogtum, aas den 18 Bänden seien folgende henroigehoben :
Henri Lepagc: Documents inidits sur la guerre des Rusiauds, Nancj 1861; Ders.:
Lettres et Instructions de Charles lU. duc de Lorraine relatives aux ajfaires de la
Ugue^ NancjT 1^64; F. A. Schmit: La guerre de trente aux en Lorraine fusqu'ä
la destruction de la Moihe 1632—164$, 3 Bände, Nanqr 1866/68; Ch. Gujrot: R^
cueil d'inventaires des ducs de Lorraine (l 530'-- 1 606), Naacj 1891; Le Mercier de
Mori^re: Cataloguedes acter da MaMeu IL duc de Lorraine iS2o/Si (besorgt von
Ch. Pfiiter), Naaqr 1893.
— 125 —
zu Metz auch nicht, jemals in diesen Gebieten eine nennenswerte Zahl
von Mitgiiedem zu gewinnen. Ihrer Zusammensetzung nach blieb sie
immer eine rein lokale, weil sich auch ihr Forschungsgebiet durch
allzu enge lokale Grenzen bestimmte ').
Hemmend auf die Entwickelung der Gesellschaft wirkten natur«
gemäis der Krieg von 1870/71 und seine Folgen; der Aufschwung,
der sich in Ffankreich bald darauf in den historischen Studien be-
merkbar machte» gewann für jene keine Bedeutung mehr. Anderseits
war ihre Zusammensetzung nicht danach angethan, ihr die Sympathieen
der Eingewanderten zu gewinnen. Zeitweilig verlegte sie ihre Sitzungen
in das benachbarte französische Städtchen Briey, wo eine Ortsgruppe
begründet wurde; die Zahl der Mitglieder sank von Jahr zu Jahr;
viele von ihnen wanderten nach Frankreich aus, und neue wurden
nicht mehr aufgenommen. So war es kein Wunder, wenn sie ihren
Aufgaben sich nicht mehr gewachsen zeigte tmd seit den achtziger
Jahren nur noch ein nominelles Dasein führte.
Es war das Verdienst des Bezirkspräsidenten Freiherm v. Hammer-
stein, jetzigen preufsischen Ministers des Innern, in Vereinigung mit
dem Archivdirektor Dr. Wolfram auf dem Gebiete der lothringischen
Geschichtsforschung eine völlige Neugestaltung herbeigeführt zu haben«
Beide erliefsen am 20. September 1888 ein Rundschreiben an alle
interessierten Kreise unter den Eingeborenen und Eingewanderten, in
dem der Plan der Errichtung einer Gesellschaft für lothrin-
gische Geschichte und Altertumskunde unter dankbarstejr
Anerkennung der Leistungen der soci^t^ ihnen vorgelegt wurde •) ;
bereits am 13. Oktober 1888 konnte eine konstituierende Versamm-
lung berufen werden, und am 5. November erfolgte die Bestätigung
der Regierung. Von Anfang an erwies es sich, da(s hier ein Boden
gemeinsamer Arbeit iiir Einheimische und Eingewanderte ohne Rück-
sicht auf religiöse oder politische Stellung gefunden sei. In wenigen
Jahren dehnte sich die Mitgliederzahl auf ganz Deutschlothringen aus *).
Der enge Zusammenhang mit der Regierung des Landes wurde da-
i) Am I. Januar 1860 zählte sie etwa 180 Mitglieder, darunter 5 in Lothringen
aniserhalb Metz und der nächsten Umgebung, nnd etwa 15 aas dem tlbrigen Frankreich;
1866 etwa 180 Mi^Ueder, darunter 33 in Lothringen anfterhalb Metz und der nächsten
Umgebmig; im deutschen Sprachgebiet etwa 5.
2) Vgl. Jahrbuch I, S. 4ff. (s. S. 126 Anm. x).
3) Schon 1889 befanden sich unter den m Mitgliedern der Gesellschaft 41 aufser-
halb Metz und der nächsten Umgebung; 1896 unter 290 Mitgiiedem etwa 180 aufserhalb dieses
; am I. April 1901 zählte die Gesellschaft 362, am x. Januar 1902 bereits 402 Mitglied^
— I8C —
durch ioBi^ebalfeen , dafe der jed»malt|^e Bezidcspräsident von Rechts
wtgen der Präsident der GeseUscbaft sein solle. Ihr Zwedc, wie er
sich in den Statuten ausgfcsprochen findet, deckt sich mit den Zielen
der alten soci^t^, das Interesse an der Geschichte und Altertumskunde
Lothringens su fördern, insbesondere durch Studien, gemeinsame Be*
sprechungen, Vorträge, Herausgabe eines Jahrbuchs und historischer
Denkmäler, Sanunlungen. Im Jahre 1891 wurde der Gesellschaft vom
kaiserlicfaen Ministetiitm eine jährliche Unterstützung von 1000 Mk«,
von der Stadt Metz eine solche von 500 Mk. bewilligt. In demselben
Jahre traf sie auch ein Abkommen mit dieser über das Eigentums-
recht und die Au&tellung der von der Gesellschaft erworbenen Alt^-
tümer und Kunstgegenstände im städtischen Museum. Förderung hatte
sie sicherlich auch durch die 1889 in Metz abgehaltene General-
versammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine erfahren.
Ihr Jahrbuch war bald zu einer reichhaltigen Sammelstelle der Ar-
beiten aller einheimischen Forscher auf allen Gebieten historischen
Wissens geworden *).
Der Fortschritt, den die Thätigkeit der Gesellschaft gegenüber
der der alten soci^t^ bedeutete, lag zunächst in ihrer Ausdehnung auf
ganz Lothringen. Das Interesse erwies sich als hinreichend stark
genug, dals bereits 1893 der Plan zur Bildung von Ortsgruppen ge-
iafst werden und die erste in Saargemünd sich bildoi konnte. Zu
gleicher Zeit trat sie imch der Au^'abe näher, die lokalgeschichtlichen
Quellen zur Geschichte Lothringens zu veröfTentlichen. Schon 189S
wurde über die Gründung einer Kommission zur Herausgabe elsaCi-
lothringischer Gesohichtsquellen verhandelt; die Besorgnis, dais Lo-
thringen nicht als gleichwertiger Faktor dem Eisais zur Seite treten
werde, liefe die Gesellschaft von der Verwirklichung dieses Planes ab-
stehen und vielmehr darauf hinarbeiten, aus sich selbst heraus mit
Unterstützung staatlicher und kommtmaler Behörden und privater Bei-
hilfe eine eigene Kommission &i Lothringen zu bilden. Das Ziel ist
erreicht und der erste Band der Quellen konnte bereits der OiTent-
lichkeit übergeben werden '). Die Grundkarten für ganz Deutsch-
i) Jührbach 4«r GcffUichaft Ittr lothrinstsche Gesduchte nnd AUeftmiukniidfi , iSSS
bif 1900, IS Binde, in 4«m Mok M»adtflielie Jakresbcriehte, sowie im lelctcr Zeit e«ck
Berichte über die Erwerbungen des Moseoms Teröffeiitliclit werdes. Der Inbalt der eio*
seinen Bände kann hier nicht angegeben werden; vgl. Jahresberidite der Geschtchts«
Wissenschaft die einseben Btfode, besonders XIV, 1891, U, 336; XVI, 1893, ^» ^3^;
XIX, 1896, n, S33.
2) Qtdko i«r loihrii^scben Geschichte, heransgegeben toa der CreseUschaft iHr
— 127 —
Lotfanogen mit eiaigeB aagrenzcndea fraBzösiscfami Gebielen ivMirden
im Laufe dieses Jahres gkichiiiüls fertig' gestellt So wurde das that^
säcbUclie Arbeitsgebiet ein umfasseaderes als das der sodöt^. Dafür
legen auch c£e Aufsätze des Jahrbucbes Zeagius ab. Folgende Prägen
sind es, die durch sie besondere Förderung erfahren haben: die ptfL*
historische Forschung nebst der römischen Zeit, die Bestimmung der
nationalen Grenzen zwischen Romanen und Germanen und ihre Ver*
Schiebung; die Erforschung der Dialekte auf lothringischem Boden,
die Geschichte des Bistums in verschiedenen Perioden, die Temtorial-
geschichte der kleinen lothringischen HeiTsohaften und die Geschichte
der Reunionskammer zu Mets.
Das Jahrbuch bildet somit das wichtigste Organ für die landea-
geschichtliche Forschung Lothringens. Elrwähnenswert sind noch von
den in Metz erscheinenden Zeitschriften die in französischer Sprache
geschriebenen Memoires de Vacademie de Metz ^) und die Revue
eccUs$asiigi4€ *), die beide auch historische Aufsätze bringen. Für die
Arbeiten zur Restaurierung der Kathedrale von Metz hat sich der
Dombauverein ein eigenes Blatt das Meher DambaublaU in deutscher
und französischer Sprache geschaffen.
Von gleicher Bedeutung wie das Jahrbuch für den ganzen Um^
fang landesgeschtchtlicher Studien verspricht für die Kunstgeschichte
und ihre Einwirkung auf weite Kreise das Unternehmen zu werden,
das die lothriAgiscben Kuastdenkmäler zu reproduzieren bezweckt*)»
Ihm zur Seite tritt eine andere Schöpfung, dte der Initiative der Re*
gierung verdankt wird und sich in erster Linie die praktische Angabe
gestellt hat, auf die zukünftige Entwickelung des Kunstgewerbes ift
Elsaä-Lothringen einzuwirken; doch wurd ihr für Lothrii^fen auch sicher*
lieh eine grofse kunstgeschichtliche Bedeutung beigemessen werden
müssen %
lolhringiscbe Gcscbicbte nad Altertomtkimde , Bd. I: H. V. SmerWod, Vatikanisohe Ur-
knoden und Regesten zur Geschichte Lothringens, erste Abteilang 1294 — 1342» Mets
1901. _ Vgl. Jahrbuch Vü, S. 312 und Deutsche Geschichtsblätter U, S. 142 und
S. 304 Anm.
I) Vgl S. 123 Anm. i.
3) Erschcant seit 1890 in Mete, bis 1900 in inoMiflifdien Heften, Bd. I-^XL
3) Eisästucht und lothringische Kmukknhmäkr^ hcrattsgegebeo toa Dr. Sw HMi«
mann unter Mitwirkung fon anderen Gelehrten. IL Lothringiiche XMnstdemhmäkTf
Strafsbuig, Text, deutsch und franxösisch, von ArdMfdIrtktor Dr. Wolfram uad 60 Tafeln
(StadlbMral Wahn). VgL DMtechc Gesrhirhtirf>mwr I, S. a86.
4) Das Kunstgewerbe in Elsrnfs^Lothringen, HeransfHeben mit Unl«nlitzisg '^
Elsais-Lothringischen Landesregierung von Praf. AAloa Seder, Dkdctor der
— 128 —
Von weit gröiserer Wichtigkeit für die landesgeschicbtliche For*
schling in Lothringen als die Zeitschriften der benachbarten deutschen
Gebiete sind die historischen Zeitschriften des östlichen Frankreichs.
Der historische Zusammenhang in allen seinen Einzelbeziehungen zwi*
sehen dem jetzigen Deutsch*Lothringen und den benachbarten fran-
zösischen Gebieten war jahrhundertelang zu eng, als dafs ihn eine so
kurze Spanne Zeit von 30 Jahren hätte trennen kränen. Hier bildet
besonders die Universität Nancy den Mittelpunkt historischer For-
schungen. Die französische Zeitschrift, die wohl für die bedeutendste
des ganzen französischen Ostens gelten kann, sind die Annales de
l'Est ^), die in allen ihren Bänden mit der deutsch-lothringischen For-
schung sich berühren. Erwähnt wurden schon die Mimatres de la
soctöU d'archäologte lorraine, die in Gemeinschaft mit dem Museum
zu Nancy auch noch ein jähriiches Journal erscheinen lälst '). An
dritter Stelle sind endUch noch die gleichfalls in Nancy erscheinenden
MAnaires de Pacadimie de Stanislas^) anzuführen. Zerstreute Auf-
sätze und Nachrichten zur Geschichte Lothringens brmgen schlielslich
auch noch das Bulletin de la socidU fyhilomatique vosgienne und
die M&moires de la sociiti des lettres , sciences et arts de Bar"
le-Duc.
Von bereits eingegangenen Zeitschriften verdienen Erwähnung die
in Metz erschienenen Revuen, die gleichsam als die Vo^änger der
Annales de VEst angesehen werden können, nämlich : Revue d*Au'
Strasse 1837 — 1842, Revue de Metz 1844 — 1845, I^Austrasie, Revue
de Metz et de Lorraine 1853 — 1863, die schlielslich unter dem Namen
Revue de l'Est (l'Austrasie) bis 1867 weiterg^fiihrt wurde. Auch
die in Stra&burg und Metz von 1881 — 1889 erschienene La Revue
nouvelle d* Alsace-Lorraine brachte Au&ätze historischen Inhalts.
Bedeutsame Förderung hat die Geschichte Lothringens durch die
fortschreitende Inventarisierung der Archive und die Katalogisierung
der in den Bibliotheken aufbewahrten Handschriften gefunden; einige
der wichtigsten seien hier noch zum Schlufs dieses ersten Abschnittes
erwähnt Nach dem Muster aller französischen Archivinventare wurde
fchnle in Stnfsbarg, und Dr. Friedrich Leittcfancb, Professor an der Kaiser Wilbelms-
UnirerBität) Strafsborg; für Lothringen aufterdem wichtig: La Lorrmne^Artiste^ Nancy,
bis 1899 17 Jahrg&Qge.
i) Paris-Nanqr, bis 1900 14 Binde.
3) Vgl. S. 124 Anm. x. — Journal de la soeOiS t^archeologU lorraine et du co*
miU du mus6e Icrratny Nanqr 1857 — 1899, 48 Binde.
3) Bis 1900 150 Jahrginge; Register bis 1866.
— 12Ä —
bearbeitet E. Sauer: Inventaire sommaire des archives d^parte^
mentales de la Lorraine aut&rieures ä 1790^ Metz 1879 (Serie G),
1890 (Serie A — E), 1895 (Serie H); daran schliefet sich ein dankens«
wertes Verzeichnis der Lehnsstücke, Inventaire des aveux et dinombre^
ments deposes aux archives dipartementales de Metz, pricSde d*une
notice sur la creation de la chambre royale, Metz 1894, desselben
Verfassers, ehemaligen Archivdirektors des Bezirks Lothringen. In
gleicher Weise müssen natürlich auch die Inventare des Archivs zu
Nancy herangezogen werden. Aus Bibliotheken verdienen besonders
zwei jüngst veröffentlichte Erwähnung: L. Germain: Manuscrits de
la bibliothhque de Luxembourg und P. Marichal: Catalogue des
manuscrits conserves ä la bibliothhque nationale sous les nos i ä
72^ de la collection de Lorraine (Documents sur Thistoire de Lor-
laine XVTII; vgl. S. 124 Anm. 2). Ein Catalogue des manuscrits
relati/s ä l'histoire de Metz et de la Lorraine, r^dig^ par M. Clercx,
conservateur (Metz 1856) giebt uns einen vorläufigen Aufschluß über
den Reichtum an Manuskripten, den die Metzer Stadtbibliothek zur
lothringischen Geschichte besitzt. Es wäre eine der wichtigsten Auf-
gaben ihrer Verwaltung, den Druck eines vollständigen beschreibenden
Katalogs der Manuskripte ins Werk zu setzen.
Historisehe Topographie mit besonderer
Berüeksiehtigung fli^derösterreiehs
Von
Max Vancsa (Wien)
(Schlafs •)
Als nun ich im April 1901 von der Leitung des Vereins für
Landeskunde den ehrenvollen Antrag zur Fortführung der Redaktion
der „Topographie*^ vom sechsten Bande an erhielt, nahm ich unter
der Bedingung an, da& man mir gestatte, die notwendig gewordenen
Reformen durchzuführen.
Selbstverständlich konnte es sich dabei nicht um eine völlige
Umgestaltung des nun einmal bereits bis zur Hälfte gediehenen Werkes
handeln, sondern nur um eine praktische und zeitgemä&e Ausgestal-
•) VgL S. 97— «09.
— 130 —
tung. Sie sollte das bisher geschaffene Gute möglichst bewahren, die
gewonnenen Erfahrungen aber verwerten. Veraltetes abstoßen, Neuet
organisch einfugen, die zugänglichen Quellen mc^ichst voUstäa(%
imd nach allen Richtungen hin ausnützen und endlich die Einheitlt<^
keit und dadurch die Benutzbarkeit des Werkes erhöhen.
Das erste und wichtigste Erfordernis war die Ausarbeitung eines
einheitlichen, allen Artikeln zu Grunde zu legenden Planes, welclier
als „Instruktion'' jedem Mitarbeiter an die Hand gegeben werden
kann. Mit Berücksichtigung der bisherigen Anlage des Werkes, der
modernen Anforderungen an ein derartiges Unternehmen, welche sich
ja seit dessen Beginn vielfach verschoben haben (während z. B. ältere
Topographen der Genealogie einen breiten Raum zuweisen, treten jetit
siedlungs- und wirtschaftsgeschichtiiche Fragen in den Vorder-
gnmd des Interesses), sowie der — im Eingang dieses Auf-
satzes gewürdigten — gleichzeitigen wissenschaftlichen Bestrebungen
in Deutschland entwarf ich folgendes Idealschema für den histo*
rischen Teil ').
I. Ortsname (Zusammenstellung der überlieferten Namensformen
mit Zeit- und Quellenangabe; Namenerklärung).
II. Prähistorische und römische Funde.
III. Ortsgeschichte (aufser den historischen Ereignissen, insbesondere
die Gründung, beziehungsweise Feststellung der ältesten Erwähnung;
femer womöglich der ältesten Besiedlungsform [der Dorf- und Flur-
anlage, des Hausbaues]; zuletzt auch Wappen und Siegel).
IV. Verfassung und Verwaltung (in historischer Entwickelung ;
insbesondere Gerichtsbarkeit, bezw. Gcrichtszugehörigkeit, Finanz-
verwaltung, Wohlfahrtswesen ; Angaben über die Privil^^, Gemeinde-
protokolle und sonstigen Archivalien).
V. Geschichte der staatlichen und Landesbehörden; allenfalls der
Garnison.
VI. Herrschaft (Art der Herrschaft; Besitzerreihe; Herrschafts-
besitz; Baugeschichte und Beschreibung des Schlosses; Herrschafls-
archiv).
VII. Kirchengeschichte (Gründung der Kirche [Kapelle], Pfarre»
des Klosters, bezw. älteste Erwähnung; Patrocinium, Patronat; Reihe
der Pfarrer oder Klostervorstände; Baugeschichte der kirchlichen Ge-
i) Für den anthropo-geographischen Teil arbeitete auf meine Einladung hin Herr
Prof. Robert Sieger (Wien) gleichfaUs einen neuen Plan aiu, Ton dem ich aber hier,
wo hanptfächlich „Historische Topographieen** besprochen werden soUen, leider ab*
sehen mnfs.
— 181 —
bäude; ocreo Kunstschätze und Arcliivalien; Friedhof; DotatioB der
Pianre; Benehzien und Stiftungen; Bruderschaften; Besttzverfaältnitse;
aulsesdeiu Aa^aben über die evangelische Gemeinde und die Juden).
VII. Scnulgeschichtc.
IX. Geschichte der Vereine.
X. Historisches über die landwirtschaftlichen Betriebe (Feld- und
Wtesenbau, Obstkultur; Viehzucht u. s. w.; Art des Betriebes).
XI. ueschichte der Gewerbe und Industrieen (Handwerks- und Ge-
werbeordnungen; abgekommene Betriebe).
XII. Geschichte und Beschreibung hervorragender Baulichkeiten
(Befestigungen ; Rathaus u. a. Bauten ; Wahrzeichen ; historische Haus-
schilder; Denk- und Betsäulen; künstlerische Brunnen).
XIII. Historische Notizen über gemeinnützige Einrichtungen und
sonstige Merkwürdigkeiten des Ortes.
XIV. Berühmte Männer und Frauen (entweder im Ort geboren
oder durch längere Zeit ansässig; dazu: Reichsrats- und Landtags-
abgeordnete).
XV. Lokalsagen.
Die einzelnen Angaben müssen quellenmäisig belegt sein, wobei
nicht nur die gedruckte Litteratur vollständig, sondern auch das archi-
valische Material nach Möglichkeit und Zugänglichkeit herangezogen
werden soll '). Auffallende Lücken müssen begründet werden. Der
Übersichtlichkeit und bequemeren Benutzbarkeit halber soll die ge-
gebene Reihenfolge möglichst eingehalten werden, sofern nicht ge-
wichtige innere Gründe eine Verschiebung notwendig machen. Hin-
sichtlich der Darstellung wird an der bisherigen Form der zusammen-
hängenden Ausarbeitung festgehalten, doch jeder Mitarbeiter darauf
hingewiesen, da(s der Charakter des Werkes der eines praktischen
Nachschlagebuchcs sein und nicht eine Sammlung von Monographieen
geboten werden soll. Es ist demnach möglichste Knappheit der Dar-
stellung erwünscht, phrasenhafte Reflexionen, allgemeine Erörterungen
über die Landes- und Kulturgeschichte, Polemiken, Wiederholungen
aus früheren Artikeln sind gänzlich zu vermeiden. Nach dem Prin-
zipe der Arbeitsteilung werden gewisse Detailfragen einer eigenen fach-
männischen Bearbeitung unterzogen werden. Z. B. ist für den orts-
i) Znr Erleichterung der Arbeit habe ich mit spezieller Rücksichtnahme auf die
Zwecke der „ Topographie*' eine bibliographische ZosammensteUang der gedmckten
Quellen und der rilgemetnen Litterator (bes. Handbücher n. dgl.) zur Landeskunde, sowie
eine Übersicht ttber die hauptsächlich fttr Niederösterreich in Betracht kommenden Bf
•lande der Wiener Archire verfafst, welche im Verlag des Vereins im Dmck erschienen
— 132 —
etymologischeo Teil in Richard Müller ein anf diesem Gebiete
bereits geschulter und erfahrener Germanist gewonnen worden ; ebeiKo
werden von Fall zu Fall Archäologen und Kunsthistoriker heran-
gezogen werden. Jeder Artikel, bezw. jeder Teil eines Artikels, wird
von nun an mit dem Namen des Verfassers gezeichnet sein, der für
Form und Richtigkeit der Angaben verantwortlich ist
Gleichzeitig mit der Aufstellung dieser Grundsätze war ich be-
strebt, den Kreis der Mitarbeiter durch tüchtige jüngere Kräfte zu er-
weitem. Ihre Zahl beläuft sich gegenwärtig auf 25, also mehr als das
Doppelte der bisherigen Anzahl. Aber auch die VerteUimg der Arbeit
soll nicht mehr nach Zufälligkeiten und dem momentanen Bedarf vor-
genommen werden. Bei dem fortgeschrittenen Stand des Werkes
liefs sich freUich der einzig richtige historische Gesichtspunkt nicht
mehr durchfuhren, aber den meisten der Mitarbeiter wurde ein
gröfseres Gebiet, ein oder mehrw'e Gerichtsbezirke zur Bearbeitung
übertragen. Dadurch wird sich nicht nur allmählich das Tempo im
Erscheinen des Werkes beschleunigen, sondern der Mitarbeiter hat
die Möglichkeit, sich in ein doch immerhin mehr oder minder zu-
sammenhängendes und aus den gleichen Entwickelungsphasen
hen^orgegangenes Gebiet, zu dessen einzelnen Orten zumeist dieselben
Quellen aufgesucht und durchforscht werden müssen, einzuarbeiten.
Dadurch wird namentlich fiir die kleineren Orte gar mancher Auf-
schlufe sich e^eben, aber auch die Gesamtarbeit an Einheitlichkeit
tmd Tiefe gewinnen.
Natürlich verhehle ich mir nicht, dafs dem Unternehmen auch
femer manche Mängel anhaften werden. Die Vielheit der Mitarbeiter
birgt trotz der genauen Instruktion Gefahren für den einheitlichen Cha-
rakter, dem Unternehmen stehen nicht genügende Mittel zur Ver-
fügung, um eine Erschliefsung sämtlicher lokaler Quellen oder eine
Autopsie der Mitarbeiter zu ermöglichen, abgesehen davon, dafs manche
wichtige Archive leider noch immer unzugänglich sind. Die Redaktion
wird daher immer wieder auf die Opferwilligkeit der Mitarbeiter und
auf die nicht immer verläfslichen schriftlichen Auskünfte ortsansässiger
Persönlichkeiten (Pfarrer, Lehrer u. s. w.) angewiesen sein. Auch
bleiben noch immer einige Fragen, welche man an eine Topographie
stellen könnte und auch bei ähnlichen Unternehmungen anderwärts
schon zu beantworten gesucht hat (z. B. Flurnamen, Bodenerhebungen,
Wasserläufe u. s. w.), unberücksichtigt. Doch ist es für ein so ge-
waltiges Unternehmen schon genug, das Beste gewollt und angestrebt
zu haben. Manches wird sich dann dem Ideale und Muster immerhin
— 133 —
nähern können, und was stärker zurückbleibt, soll wenigstens nicht
unter einer gewissen Grenze des Möglichen stehen.
Noch will ich übrigens mit einem Worte auf das zurückkommen,
was ich oben als unberücksichtigt geblieben hervorgehoben habe.
Auch da steht es in Niederösterreich nicht so schlimm, wie dies, so«
weit ich aus Beschomers oben erwähnten Aufsatz ersehen habe, in vielen
Provinzen Deutschlands noch der Fall ist Freilich die Flumamenforschui^
liegt noch gänzlich im Argen, dagegen sind die verschollenen Ortschaften
seiner Zeit von N e i 1 1 zusammenfassend bearbeitet worden (Blätter des Ver-
eins für Landesk. XV — XVII) und Maurer, Schranzhofer, Ham-
merl, Wick, 2ak und Plesser haben zahlreiche Nachträge ge-
liefert (ebenda XV, XX, XXI, XXV— XXVII, XXXIII, XXXIV). Zur
Ortsnamensforschung hat Richard Müller namhafte Vorarbeiten
(a. a. O. XVIII— XXVII und XXXIV) geliefert, wozu aUerdings die
Ergänzungen und Verbesserungen von Grienberger (Mitt d. Inst,
f. österr. Gesch. XIX, 520) und Willibald Nagl (verstreut in Zei-
tungen und Zeitschriften) heranzuziehen sind, und bereitet gegenwärtig
ein umfassendes „Altösterreichisches Namenbuch '* vor. Eine Kunst-
topographie plant die Centralkommission für Kunst- und historische
Denkmale. Allerdings ist bisher nur Böhmen bearbeitet worden.
Doch giebt es auch für einzelne TeUe Niederösterreichs mehr oder
minder umfassende Vorarbeiten. Ich erinnere nur an den „Archäo-
logischen Wegweiser durch das Viertel unter und ober Wiener Wald von
Sacken (Wien 1866 und 1878) u. a. m. Der Wunsch nach einer
kartographischen Landaufhahme , welcher früher mit dem nach einer
,, Topographie'* Hand in Hand ging und auch in Deutschland vielfach
damit verquickt ist, ist hier nicht nur durch die Generalstabskarte,
sondern auch durch die vom Verein für Landeskunde herausgegebene
Administrativkartc zum gröfsten Teil erfüllt. Aufserdem wird der von
der Akademie der Wissenschaften geplante „Historische Atlas der
Alpenländer ** ') auch die einzelnen Stadien der historischen Entwicke-
lung Niederösterreichs kartographisch zur Anschauung bringen. Es
sei auch noch erwähnt, dafs neben der das ganze Land umfassenden
„Topographie" eine Reihe recht tüchtiger Werke über einzelne
mehr oder weniger ausgedehnte Gebiete in ähnlicher lexikalischer An-
lage erschienen sind. Ich erinnere als Beispiel an Schwetters Heu
matskunde des politischen Bezirkes Amstetten (2. Aufl., Komeuburg
1884). Auch die seiner Zeit Torso gebliebene „Kirchliche Topo-
i) VgL darflber den Anfsatx Ton Kapper im II. Bande dieser Blatter, S. 217-^227«
— 184 —
giaphie'* fand Nachfolgeschaft in den seit 1878 erscheinenden Ge^
schichtlichen Beilagen zu den Konsistorial' Kurrenden der Diöcese
St. Polten, welche ausfuhrliche Geschichten der St Pöltener Püarren
enthalten und gegenwärtig bis zum siebenten Bande gediehen sind
(vom sechsten Bande an imter dem Titel: „. . . xum St. Pöltener
Diöcesanblatt''). Die Erzdiöcese Wien veröffentlicht im Wiener Diö-
cesanblatt Regesten zur Geschichte der Wiener Pfarren in alphabeti-
scher Reihe, (gegenwärtig bis ,,Drösing** reichend 1).
Es erübrigt mir zum Schlüsse meines Aufisatzes nun noch einen
kurzen Überblick über die in den anderen deutsch - österreichischen
Kronländem bisher erschienenen historischen Ortsverzeichnisse und
Tc^ographieen zu geben, welche ja gleichfalls zum Teil recht be-
achtenswerte Arbeiten sind. Doch muis ich mich dabei auf die her-
vorragendsten beschränken, da eine vollständige Aufzählung doch
zu weit fuhren würde. Was die älteren Werke betrifil^), so habe
ich schon oben hervorgehoben, da(s sie zumeist eine Auswahl aus
mehreren Provinzen brachten, so z. B. Merian, von dem übrigens
neben seiner Topographta provinciarum Auslriacarum auch
noch 1650 eine Topographia Bohemiae, Moraviae und Silesiae er-
schien. G. M. Vis eher verfa&te auiser seinem Bildwerke von Nieder-
österreich auch, wie gleichfalls schon erwähnt, ähnliche von Ober-
österreich und Steiermark. Für Salzburg, Kämthen und Krain ver-
treten sie die ganz ebenso angelegten Bildwerke Johann Weikhard
Valvassors. In Oberösterreich ist auiser zwei kleineren Werken von
Gi e 1 g e : Topographisch-historische Beschreibung cUler Städte, Märkte,
Schlösser, Pfarren u. s. w, des Landes Österreich ob der Enns bis
zum Wiener Friedensschlufs (3 Bände, Wels 1809 und 18 14), und
Topographisch'historische Beschreibung des lindes Österreich ob der
Ernis (3 Bände, Wels 1814 — 15), insbesondere Pillwein: Geschichte,
Geographie und Statistik des Erzherzogtums Österreich ob der Enns
und des Herzogtums Salzburg (6 Bände, Linz 1827 — 1839), <^ noch
heute in Ansehen stehende Handbuch Die einzelnen Bände behandeln
die Kreise des Landes und jeder Band enthält einen allgemeinen
historisch -geographisch -statistischen Teil und eine alphabetisch nach
1) Dteie beiden Werbe mm deo Diticetcn St. Polten und Wies geböreo sa den*
jeDigcn, die unter Partiaikirehän^tschichie im II. Buide dieser Blätter, S. 20^ hättca Er-
wähnoag finden sollen.
2) Was den Zosattimenliang dieser filteren topographischen Werke mit dem Aof-
leben der geographischen DarsteUtingen im Zeitalter der Reformation betrifll, dartiber
vgL Hantsstsh ia diewn BUUftwn I, iftC, 4< C
— 135 —
den Pflegegerichten nnd Distriktskommissariaten geordnete Ortskunde.
Die vielüach benutzte Historisch'topographische Matrikel des Landes
ob der Enns von J E. Lamprecht (Wien 1863) ist nur eine Be-
arbeitung der vom VIII. — ^XII. Jahrhundert nachweisbaren örtlichkeiten
und soll nur des Verfassers historische Karte von Oberösterreich er-
GLutem.
Mehr dem Begriff des Ortslexikons nähern sich die einschlägigen
Arbeiten in Steiermark, wo von älteren Werken noch die Topo-^
graphta Ducattcs Styriae von AntonErber (Graz 1727) zu nennen
wäre. Für die neuere Zeit wurde grundlegend Schmutz: Historisch'
topographisches Lexikon von Steiermark (4 Bände Graz 1822 — 23),
bei welchem allerdings das Statistische mehr betont ist, auch Flu(s-
laufe, Erhebungen u. s. w. einbezogen sind. Nach diesem Vorbilde
gab dann Janisch, Graz 1878 — 1885, ein Topographisch-statistisches
Lexikon von Steiermark mit historischen Notizen und Anmerkungen
(mit Ansichten) in drei Bänden heraus. Auch Schweickhardt hat
Steiermark ähnlich wie Niederösterreich zu bearbeiten unternommen,
doch ist nur ein Band (Wien 1839) erschienen.
Für Kärnthenist mir kein neueres topographisches Werk dieser
Gattung bekannt geworden. Aus dem XVIII. Jahrhundert stammen
Erber: Ducatuum Carinthiae et Carniolae topographia (Wien 1728)
undGranelli: Topographia Carinthiae (Wien 1752).
Dagegen besitzt Tirol und Vorarlberg in Stafflers Tirol und
Vorarlberg, statistisch-^topographisch mitgeschichtlichenBemerkungen
(2 Bände, Innsbruck 1839 — 1844), gleichfalls mit einer allgemeinen sta-
tistisch-geographischen Einleitung, auf der dann die alphabetische
Reihe der Gemeinden nach Kreisen folgt, Vorarlberg im besonderen
in Weizeneggers und Merkles Vorarlberg (3 Bände, Innsbruck
1Ä39) noch heute verwendbare treffliche ältere Werke. Zoll er s
Alphaietisch^topograpffisches Verzeichnissamtlicher Graf* und Herr »
Schäften, Landgerichte, Gerichte, Hofmarken ^ Städte, Marktflecken
und Dörfer und aller übrigen merkwürdigen Orte dergef. Grafschaft
Tirol und Vorarlberg fjwashrxic^i 1806) in zweiter Auf läge als Alpha-
betisch'topograpkisches Taschenbuch bezeichnet (Innsbruck 1827) trägt
mehr den Charakter eines kurzen Schematismus.
Auch för Salzburg giebt es aufser einer unvollendeten Arbeit
Schweickhardts (Wien 1839) ^^^ Pill wein (siehe oben) nur ein
Üteres topograpfaisdr-statisttscfaes Werk ohne historische Ausführungen
von Dippere (Ssdzbvrg 1836).
befar stattiich ist die Zahl zusaniuicnlasscnJer topographisch^
~ 140 —
die Beschreibung des Kreises Mülheim erschienen ^). Siegkreis und
Kreis Bonn sollen alsbald folgen. Auch die Aufnahme des Regierungs-
bezirkes Aachen ist bereits begonnen worden; zunächst werden aus
diesem Gebiete die Beschreibungen der Kreise Jülich und Erkelenz
veröffentlicht werden.
Außerhalb Preufsens sind die Inventarisationsarbeiten in Sachsen-
Weimar und Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen und Ru-
dels tadt, Reuis j. L., Schaumburg-Lippe und Elsals-Lothringen abge-
schlossen. In Bayern schreitet, wie wir bereits bedauernd hervor-
gehoben haben, die Veröffentlichung des Denkmälerwerks, obwohl
dem Vernehmen nach seit langem bedeutende TeUe druckfertig vorliegen,
nur sehr langsam vorwärts. Seit Juli 1900 ist ein einziges Textheft
— es behandelt Stadt imd Bezirksamt Traunstein — und eine Liefe-
rung des BUderatlas erschienen *). An Ausführlichkeit der Darstellung,
nach der geschichtlichen wie nach der beschreibenden Seite hin, gehen
die letzten Hefte über die älteren wesentlich hinaus; auch an Illu-
strationen wird dem Texte gegenwärtig erheblich mehr eingefügt als
früher. Von der Denkmäler-Beschreibung des Königreichs Sachsen,
die im Vorjahre mit der Amtshauptmannschaft Grimma bis zum 20.
(nicht, wie wir irrtümlich angegeben hatten, bis zum 18.) Hefte gelangt
war, ist seither als 21. und 22. Heft der Anfang der Beschreibung von
Dresden erschienen, eine besonders in textlicher Hinsicht vortreffliche
Arbeit Cornelius Gurlitts '). Mit der Fortsetzung des württembergischen
Werkes ist, nachdem der erste Bearbeiter, Dr. Eduard Paulus, von der Stelle
des Konservators zurückgetreten ist, sein Amtsnachfolger Dr. E. Gradmann
betraut worden. Die 1897 begonnene Veröffentlichung der Denkmäler des
Donaukreises soll, so scheint es, zunächst nicht fortgesetzt werden.
Das im Jahre 1900 erschienene Heft, das den Anfang des Jagstkreises
1) Die Knnstdenkmäler der RheinproTinz. Im Auftrage des Proviiuial-
Terbandes herausgegeben von Paul Clemeo. Kreis Mülheim am Rhein. In Verbindung
mit Dr. Edmund Renard bearbeitet von Paul Giemen. Düsseldorf, L. Schwann, 1901.
2) Die Kunstdenkmale des Königreichs Bayern vom XL bis zum XVIII.
Jahrhundert, i. Band. Die Kunstdenkmäler des Regierungsbezirkes Oberbayem, bearbeitet
von Gustav v. Bezold, Dr. Berthold Riehl und Dr. Georg Hager. Lieferung 20. Mün-
chen, Josef Albert, 1901.
3) Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler
des Königreichs Sachsen. Unter Mitwirkung des K. sächsischen Altertumsvereins,
herausgegeben von dem K. sächsischen Ministerium des Innern. So seit Heft 19,
Herausgeber von Heft 1 bis 18 war der Altertumsverein. Heft 2 1 und 22. Stadt Dresden,
I. u. II. Teil, bearbeitet von C. Gurlitt. Dresden 1901.
— 141 —
bringt, trägt bereits den Namen des neuen Bearbeiters ^). Der Geist
jedoch ist der alte geblieben. Statt wissenschaftlicher Beschreibung
gar oft nur die allerdürftigste Andeutung; nirgends System, überall
die subjektivste Willkür. Ein Ergänzungsatlas, von dem die beiden
ersten Lieferungen ausgegeben sind, soll die allerdings unzureichende
bildliche Darstellung, die Jagst- und Donaukreis in den ersten Bänden des
Bilderwerkes erhalten haben, ergänzen. Vom badischen Inventar liegen
zwei neue Teile vor *) : In der dritten Abteilung des vierten Bandes
beschreibt Adolf v. Oechelhauser in seiner sorgfältigen Weise die
Amtsbezirke Buchen und Adelsheim des Kreises Mosbach, im fünften
hat sich F. X. Kraus — der um die deutsche Denkmäler-Inventarisation
hochverdiente Mann starb, als diese Zeilen in die Presse gingen —
in der schon früher besprochenen Weise mit Josef Durm und
E. Wagner zur Behandlung des Amtsbezirkes Lörrach vereinigt.
Auch hier ist zur Beschleunigung der Publikation in Dr. Max
Wingenroth eine neue Kraft gewonnen worden. Das Inventar des
Groisherzogtums Hessen ist in der Berichtszeit nicht fortgeschritten.
Den in erster Auflage bereits vergriffenen drei ersten Bänden des
mecUenburg-schwerinschen Werkes, das wir irrtümlicherweise als ab-
geschlossen bezeichnet hatten (vgl. die Berichtigung in Bd. II, S. 96),
hat sich ein vierter hinzugesellt '). Mit dem Erscheinen des itinften
Bandes, das noch für das laufende Jahr bevorsteht, wird das Werk
vollendet sein. Vielleicht schöpft man dann hieraus in Mecklenburg-
Strelitz den Anlais zur Nacheiferung. Das thüringische Inventar end-
lieh, in dessen Erscheinen durch Krankheit und Tod Paul Lehfeldts
eine längere Unterbrechung eingetreten ist, wird von dem neuen Kon-
servator Professor Georg Voss zu Ende geführt werden. Die Ver-
öffentlichung des oldenburgischen und braunschweigischen Inventars
i) Die Knnst- nnd Altertamsdenkmale im Königreich Württemberg.
23. — 36. Liefemog. Jagstkreis (Anfang). Unter Mitwirkung von Dr. Eduard Paolos, be«
arbeitet Ton Dr. E. Gradmann. Stuttgart, Paul Neff Verlag, 1900. Dazo Ergäntongs*
atlas Liefemng i. 2,
2) Die Knnstdenkmäler des Grofsherzogtoms Baden, 4. Band, 3. Ab-
teilung. Die Kunstdenkmäler der Amtsbezirke Buchen ond Adelsheim (Kreis Mosbach),
bearbeitet von Adolf von Oechelhauser. 5. Band. Die Kunstdenkmäler des Kreises Lör^
räch in Verbindung mit Josef Durm und E. Wagner bearbeitet Ton Frans Xaver Kraus.
Tübingen nnd Leipzig, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck 1901).
3) Die Kunst- nnd Geschichtsdenkmäler des Grofshjerzogtnmt
Mecklenburg-Schwerin, bearbeitet von Friedrich 6chlie. IV. Band. Die Amts-
gerichtsbezirke Schwaan, Bützow, Sternberg, Güstrow, Krakow, Goldberg, Parchim, Lttbe
und Plan. Schwerin 1901.
— 142 —
ist in der Bericbtszeit nicht fortgesetzt worden. Auch die Hansestädte
schweigen einstweilen noch.
Sehr zu beklagen ist es, dals in Österreich die Inventarisatiofl
noch immer nicht von zentraler Stelle aus mit Energie in Angriff g^ i
nommen worden ist. Der älteste Versuch in dieser Richtung, die
Kunsttopographie von Kämthen, ist mit unzulänglichen Mittcb
unternommen worden *). Die Beschreibung der Denkmäler — die voige-
schichtlichen bilden die untere, die des i8. Jahrhunderts die obeie
Grenze — beruht nicht durchweg auf eigener Anschauung der Ver-
fasser, zuweilen nur auf schriftlichen Berichten anderer oder auf altera
Litteratur. An der geschichtlichen Grundlegung fehlt es in viel«
Fällen gänzlich, die bildliche Darstellung ist ziemlich dürftig, auf
Vollständigkeit der Verzeichnung ist verzichtet. In Vorbereitung sind
die salzburgische und mährische Kunsttopographie; ihr Erscheiiieii
wird jedoch längere 2^it auf sich warten lassen. Da die k. k. Zen-
tralkommission zur Erforschung und Erhalttmg der Kirnst- und historisches
Denkmale, die unseres Erachtens zur Durchfuhrung der Inventarisation
geeigneteste Behörde, oflfenbar nicht über Mittel und Kraft dazu verfügt,
hat die böhmische Kaiser Franz- Joseph-Akademie der Wissenschaften,
Litteratur und Kunst das Unternehmen für Böhmen selbst in die Hand
genommen. Von ihrer Publikation sind bisher dieizehn Hefte in
tschechischer Sprache , fünf in deutscher Übersetzung erschienen j.
Nach der dem Referenten vorli^enden Probe schliefst sich die Dar-
stellung in Wort und Bild den besten reichsdeutschen Mustern an, &^
Arbeit scheint durchaus sorgfältig zu sein. Zu wünschen wäre nur,
dafs die deutschen Übersetzungen den tschechischen Originalen in
recht kurzer Zeit folgen.
In der Schweiz hat die Verzeichnung und Beschreibung der Denk-
mäler Prof. J. R. Rahn in Zürich begonnen •). Der Inhalt der
1) Österreichische Kunsitopographie. I.Band: Herzogtum KärDthea
Herausgegeben von der k. k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung ^^o
Kunst- und historischen Denkmälern. Wien 1889.
2) Topographie der historischen und Kunstdenkmale im Königreicb
Böhmen, i. Band: Kolin. Vcrfafst von Karl B. Mddl. 2. Band: Laun. Verfafst von
Dr. Bohumil Matljka. 3. Band: Selöan. Vcrfafst von Dr. A. Podlaha und Edoard
äittler. 4. Band: Raudnitz. Vcrfafst von Dr. Bohumil Matgjka. 5. Band: Miihlhansen
Verfafst von Dr. A. Podlaha und Eduard Sittler. Die Übrigen nur in tschechischer Sprach«
erschienenen Bände beschreiben die Denkmäler der Bezirke Melnik, Klattau, Budweis,
Rokitzan, Trebnitz, Chrudim und Suschitz.
3) Die mittelalterlichen Kunstdenkmäler des Kantons Tessin. Von
J. R. Rahn. ZÜnch, im Verlage der Antiquarischen Gesellschaft, 1893.
Die mittelalterlichen Knnstdenkmäler des Kantons Solothurn. ^
-«f^
— 143 —
bisher vorliegenden drei Hefte geht über das, was die ungleichen
Titelblätter versprechen, weit hinaus. Es ist keineswegs nur von
mittelalterlichen Denkmälern die Rede, die zeitliche Abgrenzung
nach oben ist, wie in den meisten reichsdeutschen Werken, durch das
XVIII. Jahrhundert gegeben. Diesem Muster schliefst sich das Schweizer
Werk auch in der sonstigen Behandlungsweise an. Geschichte und
Beschreibung der Denkmäler sind ausführlich und sorgfältig, ohne je-
doch auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben. Die bildliche Dar-
stellung ist recht dürftig ausgefallen. Ein viertes Heft ist in lang-
samem Erscheinen begriffen.
* *
Aus dieser kurzen Übersicht ergiebt sich wohl mit voller Klar-
heit, dafs, so bedeutend im ganzen die Summe der geleisteten Arbeit
auch ist, doch noch sehr, sehr viel zu thun übrig bleibt. Selbst unter
der günstigen Voraussetzung, dafe im Tempo der Bearbeitung und
Veröffentlichung keine weitere Verlangsamung eintritt, ist an einen
Abschlufs der Inventarisationsarbeit vor dreifeig oder vierzig Jahren
nicht zu denken, wobei wir von Österreich noch ganz absehen wollen.
Um so bedauerlicher scheint es unter diesen Verhältnissen, dafs die
Reichsregicrung , wie aus den Verhandlungen des Freiburger Tages
für Denkmalspflege hervorgeht ') , sich gegenüber der beabsichtigten
Herausgabe eines allgemeinen Handbuches der deutschen Denkmäler
vorläufig ablehnend verhält. Weder formale verwaltungstechnische,
noch finanzielle Bedenken können ernsthaft in Frage kommen, wenn
man die Sache ernsthaft will. Da das Reich für eine Publikation der
schon hundertfältig publizierten Sixtinischen Kapelle, für die doch nur
ein sehr mäfsiges Bedürfnis vorlag, 75000 Mark bereit hatte, wird es
für die deutschen Denkmäler wohl gleichfalls 60000 Mark aufbringen
können. Man sage nicht dagegen, was bereits dagegen gesagt worden
Aaftrage der Eidgenössischen Landesmnseums •Kommission beschrieben von J. R. Rahn
onter Mitwirkung von cand. phil. Robert Dnirer, Dr. K. Meisterhans in Solothnrn mid
cand. phil. Joseph Zemp in Zürich. Zürich, im Veriage der Antiquarischen GcseH-
schaft, 1893.
Die mittelalterlichen Architek tar- und Kunstdenkmäler des Kan*
tons Thnrgan. Im Auftrage etc. beschrieben von J. R. Rahn unter Mitwirkung Ton
Dr. phil. Ernst Haffter. Mit historischem Text von Dr. Robert Dürrer. Frauenfeld,
Kommissionsverlag von J. Huber, 1899.
Die Kunst- und Architektur-Denkmäler Unterwaiden s. Im Auftrage
etc. beschrieben von Robert Durrer.
i) Vgl. oben S. 61 bis 63.
— 144 —
ist: Nämlich, dafs man mit der Herausgabe eines solchen Handbodu
bis zur Fertigstellung' sämtlicher Inventare warten solle. GewÜs wäre
die Herstellung des Werkes dann unvergleichlich bequemer und od-
facher, als jetzt, wo der Bearbeiter oft genug auf die Denknak
selbst wird zurückgehen müssen. Aber dann mülste man eben ood
dreifsig oder vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre warten , und es ist
wahrlich nicht einzusehen, warum das lebende Geschlecht auf ein der-
artiges Hilfsmittel verzichten soll. Nicht verfrüht, wie man gesagt bat,
wäre im gegenwärtigen Augenblicke die Herausgabe eines derartig»
Handbuches, im Gegenteil, es ist höchste Zeit, sie in Angriff zu nehmen
Es handelt sich gar nicht darum, wie wohl vielfach irrtümlich angenommes
wird, die Summe sämtlicher Inventare zu ziehen; die Aufgabe des
Handbuchs wäre es vielmehr, die ungeheuere Masse der Denkmäler
zu sichten, das, was für die allgemeine Entwickelung von Belang ist
von dem zu sondern, was lediglich für den Ort, für die Provinz ^
deutung hat, dieses abei als lokal, als provinziell bedeutungsvoll ber-
auszuheben. Der objektiven Betrachtungsweise der Inventare soll im
Handbuche die subjektive an die Seite treten , dem sachlichen B^
richte das persönlich wertende, gruppierende und zusammenfassende
UrteU folgen. Diese Arbeit könnte von drei oder vier Kräften mite
einheitlicher Leitung voraussichtlich in fünf bis sechs Jahren geleistet
werden. Sicherlich käme ein solches Kompendium dem Bedürfnisse
weiter Kreise der deutschen Kunst- und Altertumsforschung entg^cß
Wir hoffen, dafis die Reichsregierung dem einmütigen Wunsche der
Beteiligten im nächsten Jahre ein wUligeres Ohr leihe.
Mitteilungen
Eingegangene Bfieher.
Der Römische Limes in Österreich. Heft II mit 24 Tafeln und 50 Flgureo
im Text. Wien, Alfred Holder, 1901. 160 Sp. 4^.
Lohmeyer, Karl: Die Litteratur des Jahres 1900 zur Geschichte M*
preufsens. [= Historische Vierteljahrschrift 1901. S. 429 — 438.]
Lückerath, Wilh. : Die Herren von Heinsberg, vier Teile [= Beilagen iibd
Jahresbericht der höheren Stadtschule zu Heinsberg, 1888 — 1891]. 4*
Derselbe: Beiträge zur Geschichte von Heinsberg und Umgegend, Beilage
zur Heinsberger Volkszeitung. I. Jahrgang (1897), 90 S. 8®. II. Jahi'
gang (1898), 75 S. 80.
Mayer, Herai.: Zur Geschichte der Pest im 15. und 16. Jahrhundert
[= Schau ins Land. Freiburg i. B. 1901. 28. Jabrlauf. S. 13 — 33.]
Honuugeber Dr. Araun Till« in Ldpilf . — Drack aod V«rUg tob Friedrich Aadraas Perthes b Goth»
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
Förderung der landesgeschichtliclien Forschiing
II]. Band Marz/Aprü xgoa 6.//. Heft
Üeutsehlatids neolithisehe Altertümer
Von
Moriz Hoeraes (Wien)
Die jüngere Steinzeit, das eiste Stadinm der Seishaftigkeit, des
Ackerbaues und der Viehzucht, der rituellen Totenbestattung, der Ke-
ramik und vieler anderer Wahrzeichen rasch aufsteigender Kultur-
entwickelung, ist zugleich die Zeit, in der arische Stämme, wenn auch
noch nicht näher falsbar, sich in Europa festsetzten und hier die ersten
schwankenden Grundlagen zu ihrer späteren Herrschaft über den Welt-
teil schufen. Wie man sich das zu denken hat, wie jene nicht die
einzigen und kaum die ersten waren, denen der Kontinent seine Neu-
besiedelung nach dem Ende des Diluviums verdankt, wie man aber
auch seine für spätere Perioden mehr und mehr berechtigten Ansprüche
auf klare Erkenntnis historischer Thatsachen hier aufgeben muls, hat
unter Anwendung vergleichend-geographischer Gesichtspunkte auf das
archäologische Material F. Ratzel, Der Ursprung und die Wan-
derungen der Völker geographisch betrachtet, II *) gezeigt Wenn
der Historiker die ältere, diluviale Steinzeit, an die sich die Fragen
nach dem Alter der Menschheit, nach deren Herausbildung aus einer
niedrigeren Form u. a. naturwissenschaftliche Probleme knüpfen, ohne
Einbu&e für seinen eigenen geistigen Horizont der Anthropologie über-
lassen darf, hat er dagegen alle Ursache, sich um die neolithischen
Funde zu kümmern, denn sie sind die Trümmer des ältesten Funda-
mentes, auf dem sich aller späterer Kulturbau erhebt. Sie stehen
denn auch gegenwärtig sehr im Vordergrund prähistorischer Studien,
besonders in den germanischen, weniger in den romanischen und sla-
vischen Ländern, tmd namentlich aus Deutschland liegt eine stattliche
Reihe einzelner, wenn auch wenig umfangreicher Arbeiten vor, welche
i) Ber. plii|.-hist. KL sächs. Gesellsch. d.Wiss. 1900, S. 33 — 147. VgL «uchDers.»
Dtr Ursprung der Arier in geogr, Licht (UmschAU m, 1899, 8. 825, 840).
11
— 146 —
in den beideii letzten Jahnsebnten erschienen sind und die Tiefen des:
schwierigen Gegenstandes aa verschiedenen Punkten erhellen.
Von der Legion blofser Fundberichte, die fast jeder Tag vermehrt,.
mnU hier abgesehen werden; nur weiter zielende Mitteilvog^ könnea
uns beschäftigen. Der richtige Weg für solche wird immer folgende
Stationen berühren: Typologie — Topc^aphie — Chronologie —
Genealogie^ out anderen Worten: nach der Konstatierung der Formen^,
kreise oder Kulturgruppen und ihrer Ausdehnung wird die schwierigere
Feststellung ihrer gegenseitigen chronologischen und genetischen Be-
ziehungen in Angriff zu nehmen sein. Gelingt dies einmal, dann ist
alles erreicht, was billigerweise verlangt werden kann. Nichts darf
uns dabei weniger überraschen, sAb dafe die einzelnen Arbeiter diese
Et^^pen oft nicht gehörig auseinanderhalten, sondern ein mehr oder
minder abgekürztes Verfahren einschlagen und das chronologisch -ge*
nealog^che Ziel lange vor der Kritik für erreicht halten. Dagegen
lädst sich nichts einwenden, wofern man das, was naturgemäls heute
nur erst Hypothese sein kann, nicht anders betrachtet und behandelt.
Dieses vorausgeschickt, wenden wir ims zu den Ergebnissen der
einschlägigen Arbeiten. Zunächst finden wir, da(s die Konstatierung^
der Formenkreise jetzt überall von der Keramik ausgeht, wohl nicht
ohne Einäufs der Erfolge, welche die mykenische und frühklassische
Archäologie durch solches Vorgehen erzielte. Früher stellte man
lieber anderes voran: in Skandinavien und Frankreich (Montelius,,
Salmon) die Typen der Stein Werkzeuge und der Gräber, in der
Schweiz (Grofs) Material und Formen der ersteren, daneben in un-
genügender Weise Form und Verzierung der Thongefä&e, in Böhmea
(Woldfich) wieder nur Steinbeilförmen, in Italien (Pigorini) Siede»
lungstypen, wie Hüttei^ruben und Pfahlbauten. So kam man zur
Aufteilung zweier oder mehrerer Abschnitte der jüngeren Steinzeit,,
deren Verschiedenheiten entweder durch Entwickelung von Innen her-
aus oder durch äuisere Einflüsse und neue Einwanderungen erklärt
wurden. Diese problematischen Versuche beschränkten sich mehr oder
weniger auf kleinere Fundgebiete, wo das engere Nebeneinander der
verschiedenen Formen die Frage nach der gegenseitigen Zeitstellung^.
in den Vordergrund rückte.
Auch die jetzt herrschende Richtung ist von solchen lokal be-
grenzten Vorkommnissen ausgegangen und hat daher die Zeitbzge vor-
schnell aufgeworfen; aber sie bedeutet doch einen grofsen Fortschritt
g^enüber jenen älteren Anläufen. Tischler, Klopfieisch und
Götze inaugurierten das Studium der neoUthischen Keramik, sie imd
— 147 —
ifare Nachfolger zeigten die weite und eigentümliche Verbreitung ge^
wisser keramischer Gruppen, unter welchen die „Schnurlceramik*' und
die „Bandkeramik'* an Bedeutung voranstehen'). Diese Richtung der
neolithischen Studien ist fast ganz auf Deutschland und Österreich be-
schränkt, zieht aber natürlich auch die anderen europäischen Länder
nach Möglichkeit in Betracht. Ihr gehört offenbar die Zukunft, na-
mentlich dann, wenn auch die Prähistoriker der anderen Länder den-
selben Weg einschlagen, was kaum mehr lange ausbleiben dürfte, da
diese alle nachweislich an einer oder mehreren der in Deutschland
erkannten keramischen Gruppen Anteil haben.
Das mittlere und nordöstliche Deutschland lieferte die ersten Er-
folge; daran schlofs sich das westliche und südliche Deutschland, na-
mentlich das Rheingebiet, dessen neolithische Keramik Konen, Kohl,
Schliz, Reinecke u. a. teils systematisch, teils im Anschluis an
bestimmte neue Funde mehr oder weniger umfassend darzustellen
suchten'). Aus angrenzenden Auslandgebieten sind Arbeiten Heierlis
über die Schweiz, Plös und Buchtelas über Böhmen, Palliardis
über Mähren zu nennen •). Ein kleineres norddeutsches Gebiet be-
handelt Brunner^), während Götze*) mehrere neolithische Stu-
dien über Funde und Fundg^ppen mit einer zusammenCassenden
i) Tischler, Sehr, physilc-ökon. Gesch., Königsberg 18S2, S. 17; 1883 S. 89.
SiUber. ders. 1887 S. 7; 1888 S. 5; 1889 S. 26. — Klop fleisch, Vorgesck, Alterth,
Prav, Sacks, 1 IL, Halle 1883. — Götze, Die Gtfäfsformen und Ornamente der
schnurverzierten neoüth, Keramik im Plufsgebiet der Scusle^ Jena 1891. — Daza Ton
älterer Litterator über Schnnrkeramik : Vofs, Verh. BerL Anthr. Ges. 1877 S. 307; 1878
S. 166. — Virchow, ebda 1883 S. 430; 1884 S. 399.
a) Konen, Gefäfskunde der vorröm, u, s, w, Zeit in den Rhdnlandeny Bonn
1895. — Kohl, tyber die neolük, Keramik SUdwestdeutscklands (Korr.-BL d. Gesamtv.
d. d. Gesch.- n. Altert.- Ver. 1900, S. 17). — Das neuentdeckte Steinseit'Hockergrabfeld
V. Plomhom h, WormSy eine neue Phase d, neolith, Kultur (Korr.-Bl. d. deutsch. Anthr.
Gca. 1901, S. 91). Ans diesen beiden Arbeiten ist auch ein Überblick ilber die frfiberen
Stadien Kohls Zugewinnen. — Schliz, Das steinseitL Dorf Grefsgartach^ seine KuUur
u. s, w^ Stuttgart 1901. — Über neolith. Besiedlung in Sttdwestdeutschland (Korr.-Bl.
a. a, O. S. 108). — Reinecke, Zur jüngeren Steinzeit in West» u, Süddeutschland
(Westd. Zeitschr. XIX, 1900, S. 209).
3) Heierli, Die Chronologie in der Urgesch, d, Schweiz, Festschrift. Zürich
1B99. S* 45- ~* ^^^> StaroU'tncsti zenä ceski I. Ceehy prlrdhisioricki l. Prag
1899. — Buehtela, Vorgeschichte Böhmens, Beil. z. Vrstnik Slorensk^eh staroii-
tnosü m, 1899.
4) Die Steinzeit l, Keramik 1. d, Mark Brandenburg, Braunschw. 1898 (S. A.
f. Anthr. XXV, 3).
5) Beiträge zur Kenntnis der moüth, KeramA, Sonder-Abdrttd»^
— 148 —
Arbeit Über die Gliederung und Chronologie der jüngeren Stein^
zeit in dem unten genannten Hefte zu einer Darstellung seiner gegen«
wärtigen Ansichten über den Gegenstand vereinigte ^). Eine nicht ge-
ringe Zahl teils älterer, teils kleinerer Arbeiten, deren Inhalt in den
angeführten wieder aufgenommen ist, kann hier füglich übergangen
werden.
Überblickt man diese ganze Litteratur, so wird man der Fülle
ermittelter Thatsachen und greifbarer Resultate seine Anerkennung
nicht versagen. Allein wie weit reichen sie? Die Gruppen sind auf-
gestellt, ihre räumliche Verbreitung sehr weithin au^eklärt (obwohl
natürlich gerade hier noch sehr viel ausständig ist); allein darüber
hinaus, in der chronologischen und genetischen Auffassung der Gruppen
herrscht vollste Uneinigkeit. Da, in dem weitaus schwierigeren Teil
der Untersuchung, blüht die Hypothese und die Kontroverse. Einige
Beispiele sollen dies zeigen. Götze unterscheidet vier groise, sechs
mittlere und noch einige kleinere keramische Gruppen. Die groisen
sind: Schnurkeramik, Zonenbecher, Bandkeramik, nordische Keramik,
die mittleren: Bemburger Typus, Kugel-Amphoren, Rössener Typus,
Pfahlbau-Keramik, Schussenrieder Gruppe, Mondsee^Gruppe. Elr findet
nun fast in allen Gebieten Mitteleuropas zwei Hauptabschnitte, deren
erster von der Schnurkeramik imd den 2^nenbechem beherrscht wird,
während im zweiten Hauptabschnitt die Gruppierung mannigfaltiger
wird und die lokale Entwickelung in den Vordergrund tritt. Ein Haupt-
punkt ist ihm die zeitliche Koordination der beiden erstgenannten
Gruppen und ihre Priorität gegenüber allen übrigen (mit Ausnahme
der Pfahlbau-Keramik im Rheingebiet). Rein ecke verwahrt sich zwar
dagegen, dafe man jetzt schon Abschließendes sagen könne, spricht
sich aber sehr entschieden für nachstehende Zeitfolge aus: i) Pfahlbau-
keramik, 2) Schnurkeramik, 3) Glocken-(Zonen-)Becher, 4) Band-
keramik, 5) Rössener Typus. Beide stinmien also darin überein, dais
sie die drei erstgenannten Gruppen, wenn auch nicht in gleicher Weise,
der Bandkeramik vorausgehen lassen.
Prüft man die Gründe, auf welchen diese chronologischen Schei-
dungen beruhen sollen, so findet man, dafs ihnen nichts Zwingendes
ipne wohnt. An stratigraphischen Beweisen fehlt es so gut wie völlig,
und so darf es nicht Wunder nehmen, dafs eine Reihe anderer zu
nahezu entgegengesetzten Resultaten gelangt ist. Tischler, Konen,
i) In känerer Fassang entwickelte Götze seine Ideen in: Die Einttibtng der
neoläh, Periode in Jfiiieleurcpa ßioxr.'Bl d. dentsch. Anthr. Getellsch. 1900, S. 133).
— 149 —
Kohl, Schumacher, Heierli, Deichmüller, Buchtela, Pa1<^
liardi setzen gerade die Schnurkeramik und namentlich die Zonen<>>
foecher in einen jüngeren oder jüngsten Abschnitt der Steinzeit und
lassen ihnen insbesondere die Bandkeramik vorausgehen. Kohl unter*
scheidet für das Mittelrheingebiet sechs Stufen : i) ältere Winkelband-
keramik („I£nkelsteintypus") 2) Spiralkeramik 3) jüngere Winkelband-
keramik 4) rheinische Pfahlbau-Keramik 5) Schnurkeramik 6) 2^nen-
becher. Dagegen wendeten sich Rein ecke und Schliz, welche
chronolog^che Trennungen innerhalb der bandkeramischen Gruppe nicht
zugeben wollen (Götze unterscheidet in derselben eine ältere und eine
jüngere Phase und nennt die letztere Mondsee-Stufe). Doch anerkennt
jetzt Schliz, dais die lineare Spiralkeramik eine uralte Übung sei, und
dafe in der „Stich- und Strichreihen-Keramik" der „ Hmkelsteintypus **
eine ältere, der „ Grofsgartacher Typus" eine jüngere Phase vertrete.
Das Ende dieser bandkeramischen Entwickeluog bilde der Rössener
Typus. Auf den Grofsgartacher Typus habe die Schnurkeramik ein-
gewirkt Die Bodensee-Pfahlbau-Keramik setzt Schliz erst nach dem
Rössener Typus in eine auf die Periode der Landdörfer folgende
Pfiahlbauzeit, welcher als späte Nachblüte der Bandkeramik auch die
Typen von Schussenried und vom Mondsee angehören.
Das sind, in höchst flüchtigen Umrissen die wichtigsten in und
für Deutschland aufgestellten chronologischen Systeme, welche sich
auf die neolithische Keramik gründen. Citttis emergit verttas ex er»
rore quam e confusione / Irrtum mufs bei so entgegengesetzten Auf-
fassungen irgendwo vorhanden sein ; aber Verwirrung herrscht insofern
nicht, als mit bekannten Grö(sen operiert wird imd nur deren zeitliche
Aufstellung schwankt. Gefehlt hat man, nach unserer Meinung, von
Anfang an in der Form der Fragestellung, indem man voraussetzte,
dafs die grofeen Gruppen wie Band- und Schnurkeramik irgendwie
zeitlich aufeinander folgen müfeten, während sie vielleicht, richtig be-
urteilt, gar nicht der Zeit, sondern blois der Art und dem Orte nach
verschieden sind und, nebeneinander hergehend, an verschiedenen
Punkten in verschiedener Weise aufeinander treffen.
Die räumliche Verbreitung der beiden zuletzt genannten Gruppen
macht dies von vornherein sehr wahrscheinlich. Wie sind sie denn
gelagert? „Das Verbreitungsgebiet der schnurverzierten Gruppe",
sagt Rein ecke, „umfafst sowohl Mittel- als Osteuropa. Zur Zeit
lieferten ihr angehörende Funde folgende Länder: Nordru&land, Süd-
niisland (Ukraine), Ostgalizien, Wolhynien, Podolien, die Bukowina
und wohl auch die Moldau, das ganze Weichselgebiet (Westgalizien,
— 150 —
Polen, Westpreu&ea) und Ostprenlsen, Mähren, Böhmen, Schlesien»
Posen, Pommern, Brandenburg, das Königreich und die Provinz Sad^en«
das nördliche Thüringen, Mecklentnirg, Schleswig -Holstein, die dä-
nischen Inseln, Hannover, Holland, Knrhessen, das Rheingebiet von
der Schweiz bis zum Niederrhein und Süddeutschland." Es fehlen da,
wie man sieht, sehr wichtige Länder: die drei Südhalbinseln Europas,
Ungarn und ganz Österreich südlich der Donau ; auch Südmähren und
das angrenzende nördliche Niederösterreich sind frei von Schnurkeramik.
Diese Gruppe ist also (von SW-Deutschland abgesehen) g^en Süden
hin durch die obere Donau und den 2^g der Karpathen begrenzt,
d. h. eine ausgesprochen nördliche und nordöstliche. Fraglich bleibt
ihr Zusammenhang mit dem Auftreten schnurverzierter Thongefalse in
Frankreich, England, im Westen des Ural und in Sibirien.
In schlagendem Gegensatz hierzu steht, der Hauptsache nach, die
Verbreitung der BandkeramUc. „Aus Westeuropa'*, sagt Reinecke,
„kennen wir sie aus Portugal tmd Spanien, weiter aus der nördlichen
Hälfte Frankreichs ; femer tritt sie uns in Belgien, in den Rheinlanden
vom Bodensee bis zum Niederrhein, in Süddeutschland, in den Ost»
alpengebieten, in Hessen, Thüringen, Sachsen, Schlesien, Westgalizien
und an einzelnen Punkten der norddeutschen Tiefebene (z. B. in Bran-
denburg und Pommern) entgegen; in Böhmen, Mähren und Nieder-
österreich nördlich der Donau ist sie sehr reichlich vorhanden ; weiter
finden wir sie in Oberungam, im Alföld und Siebenbürgen, im Litorale,
in Dalmatien, Bosnien, Kroatien und Slavonien, Serbien, Rtunänien,
Bulgarien, sodann in der Troas, endlich selbst in Phrygien." Au&er Cy-
pern gehört nach den jüngsten Entdeckungen A. J. Evans* in Knossos
auch Kreta hierher. Mit anderen Worten: aufser gewissen Grenz-
gebieten in West- und Mitteldeutschland und einigen Fällen versprengten
Vorkommens weiter östlich schliefsen die Verbreitungsgebiete
der Schnur- und der Bandkeramik einander gegenseitig
aus, und das der letzteren ist ein evident südliches und
9üdöstliches, wie das der ersteren ein nördliches und
nordöstliches. Hätte man das vor 20 Jahren gewufist, so würde
die Altersfrage, zu welcher die Verhältnisse in einem jener Grenz-
gebiete, nämlich in Thüringen und der Provmz Sachsen, allerdings
aufforderten, nie so scharf gestellt worden sein, wie es thatsächlich und
in verhängnisvoller Weise geschehen ist.
Was fo^t nun, vorausgesetzt, dab nicht künftige Entdeckungen
die Grundlinien des Bildes total verrüdcen, aus jenem Lagetungs-
Verhältnis ? Doch gewife nicht, daJs die eine der beiden Gruppen zur
— 151
älter, die andene tm Gänze jfixger sei. Nimmt mam dies an«
«o wäre 2. fi. in gsaa öateiieicli * Ungarn südlich der oberen Donain
imd der Kaipathen nur eme (n^tdi Götze vnd Reiaedke jüngere, nadh
Kohl u. a. ältere) Stnfe der jüngeren Steinzeit vertreten. Zu solofafeii
Konsequenzen gelangt man durdi GeneraUsiervi^ cfaronoIogBcher Anr
aetaimgen, die anf eagbegrenztem Gebiet, in joner Grenzsone, iakmei^
liin berechtigt sein mögen. Blickt man aber auf das Grobe und Ganze,
«o zeigt sich klar, dafs Schnurkeramik und Bandkeramik
getrennte Entwickelungen darstellen, von wdchen die eine
den Norden und Nordosten, die andere den Süden und Südosten be-
herrscht. Sie müssen also, der Hauptsache nach, ungefähr in dieselbe
Zeit fallen, und chronologische Unterschiede müssen, wenn möglich,
vielmehr innerhalb jeder dieser beiden Gruppen, als zwischen denselben
ermittelt werden ^). Wdtere Frage : was ergiebt sich aus diesem Ver-
hältnis für die Genesis der neolithisc^n Kultur in Europa? Es wäre
überkühn, jetzt schon mehr zeigen zu wollen, als eine ferne, dämmer-
hafle Aussicht auf zwei grofse Kulturprovinzen getrennten Ursprunges
und vielleicht — vielleicht! — verschiedener rassenhafter Grundlage.
Klar und unbestritten ist der Zusammenhang der einen, der süd-
lichen oder bandkeramischen, mit überseeischen Gebieten Vorderasiens
und Nordafrikas. Bis in die Nagada-Kultnr Oberägyptens hinein, dte,
g^ng gerechnet, über 30OO Jahre vor Chr. Geb. angesetzt werden
muis, reicht dieser Zusammenhang. Spiraldekoration, Vasenmalerei,
Thonplastik bezeugen ihn für eine ganz bestimmte südöstliche Zone
Europas, wie ich in meiner Urgeschichte der bildenden Kunst in
Europa (Wien 1898] ausführlich dargestellt habe. Freilich: wie dieser
Zusanmienhang geschichtlich zu deuten ist, bleibt noch sehr fraglich.
Lag der Ausgangspunkt ganz tief im Südosten und führt eine einzige
breite Bahn von dort über Mittelmeer und Pontus hinweg nach Norden?
Oder lag der ursprüngliche Herd dieser Kultur nicht eher am östlichen
Mittelmeer, im Bereich der ägäischen Insel- und Küstenwelt und strahlte
jene von dort allseits ans : durdi das westliche Mittelmeer nach Spanten,
durch den Pontus nach Südnifeland, südwärts nach Libjren und ^i^yplen,
nordwärts bis zum Rhein, zur Donau und zu den Karpathen? Wir
möchten der letzteren Auffassung den Vorzug geben, aber, wohl-
gemerkt, nur als der momentan plausibelsten Hypothese zur Er-
i) Ich setze als bekannt yoraos, dafs — wie übrigens die oben genannten Dar«
steUnngen hinlänglich zeigen — die Knltorgrappen der Schnur- und der Bandkeramik
nicht nur in den Formen und Verzierungen der Thongeföfse, sondern auch in den Typen
der Steinwerkzenge und in vielen anderen Beziehungen sich voneinander unterscheiden.
— 152 —
Idämng vider frappierender Erscheinimgen. Solche Vermatungen, wie»
weit sie auch immer von sicheren Ergebnissen entfernt sind, machen
doch noch den Eindruck von Tageshelle g^enüber dem kimmerischen
Dunkel, das über der Entstehung der schnurkeramischen Gruppe und
anderer nördlicher Typen der neolithischen Keramik schwebt. Von
den letzteren soll hier gar nicht die Rede sein; sonst würden wir u. a.
zu zeigen suchen, wie die oben erwähnten Zonen- oder Glockenbecher
wahrscheinlich auf einem peripherischen Wege von Westen her in
Mitteleuropa eingedrungen sind. Darin imd in mancher Nebenfrs^e
lassen sich auch diskutable Vermutungen auüstellen; wie aber die Be-
gründung der so ausgedehnten schnurkeramischen Kultur vor sich ge-
gangen ist, entzieht sich derzeit jeder berechtigten Annahme. Sicher
scheint nur soviel, dafs sie auf einem W^e entstanden ist, der den
Süden und namentlich den Südosten Europas umging. Geschah dies
aber von Westen her, durch den Handel? Oder von Osten durch
Einwanderung? Für beides spricht das isolierte Vorkommen schnur-
keramischer Formen einerseits in Südengland, andrerseits im östlichen
Rufisland (Gouvernement Perm) und in Sibirien. Wer Lust hat, mit
archäologischen und kulturgeschichtlichen Problemen Rassenfragen zu
verknüpfen, mag in den Trägem der bandkeramischen Kultur die Ver-
treter von Sergis sttrpe mediterranea erblicken; es bleibt ihm dann
die erfreuliche Möglichkeit, die Besitzer der schnurkeramischen Kultur
mit den europäischen Ur-Indogermanen zu identifizieren ^).
I) Ober neolithische Keramik in Deatschland und Österreich-Ungarn mit besonderer
Rücksicht auf das Alter und die Stufen der sog. „Bandkenumk** werde ich ansführlidi
in einem demnächst erscheinenden Buche spredien« Hier sei nur nodi bemerkt, dals
gans kttrdicfa auch die französischen Präliistoriker angefangen haben, sich fUr die Sjsteme
und Kontroversen ihrer deutschen KoUegen n interessieren. Vgl. L' Anthropologie,
Paris Xn (1901), S. 456—465, 700 — 707. Allerdings gesteht der scharfsinnige S. Rei-
nach S. 707^ dafs es ihm, selbst mit Hilfe Schumachers, im Mainzer röm,-germ. Zentr.-
Mttseum nicht gelungen sei, Schnur- uud Bandkeramik sicher unterscheiden su lernen und
illgt hinzu : wr s'ü y a du ncoräi, rubantforme** et du „rubani cordtforme**, cela promei
etux archiologues non seulement du fil et du ruban, maü de ia corde ä reUtrdre,
^«^^M««AArf^^^«MM«^A^^#
— 153 —
Ortsnamenforsehung und Wirtsehatts^
gesehiehte
Von
Hans Witte (Schwerin)
Seit der Widerlq^ang i) der Arnold sehen Ortsnamentheorie herrscht
in unserer Ortsnamenforschnng ein Übergangsznstand. Einerseits finden
sich immer noch Autoren, die ganz und gar auf Arnold fuisen. Für
Julius Gramer^ z. B. sind immer noch die -ingcn alemannisch,
die -heim fränkisch« Kein Wunder daher, dafs er sich nicht erklären
kann, wie in dem nach Stamm und Sprache alemannisch gebliebenen
Elsals das „ fränkische " -heim so vorherrschend werden konnte ').
Und auch Franz Gramer hat noch in der Einleitung seiner trefflichen
Schrift über die rheinischen Ortsnamen von dem grundlegenden Ar-
nold sehen Werke gerühmt, dafs es „besonders die viel verschlungenen
Pfrule, auf denen Franken und Alemannen im Stromgebiete des Rheines
sich bewegt und miteinander gerungen, . . . zuerst aufgedeckt und in
helleres Licht gerückt" habe*). Ein Glück nur, dafs dieser gute»
heute nicht mehr berechtigte Glaube auf den Inhalt der Studie Frans
Gram er s nicht schädigend einwirken konnte, da diese sich auf die
vorgerinanischen Ortsnamen des Rheinlandes beschränkt.
Andrerseits ist aber auch unter denjenigen, die den von Arnold
aufgestellten Sätzen nicht mehr den Gharakter von blindlings zu be-
folgenden Dogmen zuerkennen wollen, das Prinzip der voraussetzungs-
losen und nicht durch Annahme imbewiesener Regeln von vornherein
in bestimmte Bahnen gedrängten Forschung noch nicht völlig durch-
gedrungen. Schon einer von denen, die bei der Bekämpfung der
i) VgL darttber im Jahrgang I dieser Zeitschrift S. 153, wo aach in Anm. 2 die
einschlägige LiUeratar zusammengestellt ist — Ich Ülge ergänzend hinzu: Karl Weiler»
Die Besiedehing des Alamannenlandes (Wtfrttembg. Vierteljahrshefte ftlr Landesgeschicfatt»
N. F. Vn, 1898), wo noch einige weitere in Betracht zu ziehende Schriften erwähnt wer-
den. Bei den neuesten Erscheinungen: Adolf Schiber, Zur Ortsnamenforschnng (Kor*
respondenzblatt des Gesamtvereins 1900, S. 134 — 128), Hans Witte, Zur Ortsnamen*
forscfanng (Korrespondenzblatt 1900, S. 148 [durch wiUkflrliche Redaktionsänderungen
entstellt] und Litter. Centralblatt 1900, Nr. 44) tiberwiegt persönliche Polemik.
3) Julius Cramer, Die Geschickte der Aitmumnen als Gaugtschichtt (in Gierket
Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Heft 57). Breslau, Marcus»
1899. S. 249 ff-
3) Ebend. S. 255.
4) Franz Cramer, Eheiniscke Ortsnamen aus vorrömischer und rlfmischer Zeit.
Düsseldorf, Ed. Untz, 1901. S. i.
— 154 —
Araoldschen Theorie beteiligt waren, hat den Grundfehler, an dem
diese krankte, das Systematisieren und Schabionisieren zwar in Bezug*
auf die Stammesverhältnisse widerlegen halfen, ihn aber dann selber
übernommen und unter Übertragung auf das wirtschaftliche Gebiet die
Entwickelung eines neuen Systems angebahnt.
Adolf Schiber hat in seinen „Siedlungen" noch nicht voll-
ständig mit der von Arnold überkommenen Zuweisung der einzelnen
Ortsnamentypen an bestimmte deutsche Volksstämme gebrochen; er
ist zwar im Gegensatz zu Arnold, der bekanntlich die Ortsnamen atif
-ingen für alemannisch erklärte, für deren gemeindeutschen Charakter
eingetreten , aber in Bezug auf die Ortsnamen auf -heim ist er von
Arnolds fränkischer Stammesbestimmung nicht abgewichen *).
i) Ich mnis dies beweisen, da Schiber es bestritten hat. Im Korrespondenzblatt
des Gesamtvereins von 1900, S. 125, Spalte 2 unten schreibt er: „Ich widersprach
Arnold auch hier insofern, als ich -heim aasdrücklich für pangermanisch erklärte
{a. a. O. S. 15), aber dieser Bezeichnung legte ich eine Bedentung bei, welche es mit
•ich brachte, dafs Siedkrogen solcher Art aaf alemannischem Boden nur von Franken
gegründet werden konnten, nämlich =s Dorf von Hörigen, vgl. Siedlangen S. 15 ff" —
Die Stelle aaf S. 15 der „Siedlangen", auf die sich Schiber beruft, laatet: „/^Vwr
(goth. haimSf nord. heimr^ agls. harn) ist nun ein Wort, das a n s ich allen germanischen Spra-
chen angehört." Wie jeder sieht, handelt es sich hier gar nicht um die mit -heim ge-
bildeten Ortsnamen, sondern um das Snbstantivum Heim, was durch die Hinzoilignng von
„ an sich " noch besonders hervorgehoben wird. Der gemeingermanische Charakter dieses
Substantivums ist bisher von niemandem in Zweifel gezogen worden. Die mitgeteilte
Stelle beweist also nicht, was Schiber mit ihr beweisen möchte. Wenn er dagegen in
seinen „Siedlungen" auf S. 13 sagt: „Natürlich kann keine Rede davon sein, dafs die
Verwendang der Silbe heim zur Ortsnamenbildung den Franken allein eigen sei", so
sieht das ja fast wie eine Wendung gegen den Arnold sehen Standpunkt aus. Aber der
unmittelbar folgende Nachsatz: „Dieses hat wohl niemals behauptet werden
wollen" verdirbt den ganzen Eindruck. Denn in der That bat auch Arnold dies nidit
behaupten wollen, sich vielmehr dagegen gewehrt, dafs der von ihm als Regel
ausgesprochene fränkische Qiarakter der •heim auf alle EUnzeUäUe autgedehnt werde (vgL
Arnold, Studien zur detUschen Knlturgeschicbte. Stuttgart i88a. S. 112, Mitte). Daft
auch diese Äufsemng Schibers keineswegs im Gegensatz zu Arnold gethao wurde, er-
h^t aufserdem noch ans seiner auf S. 18 gegebenen, jedes Müsverständnis ausschliefseil-
den Zusanunenfassang : „Es ergiebt sich daraus, dais bei diesen keim io Deutschland,
abgesehen von den sechs östlichen Provinzen Preufsens, kaum bei «inem die Mög-
lichkeit einer Grttndung durch Franken ausgeschlossen ist, während
sie fQr die ixngebeiiara Mehrkeit von vom herein als wahrscheinlich er-
scheinen mnfs." Entschiedener hat selbst Arnold den firänkiscben Charakter der
•heim nicht als Regel bezeichnet Die neuerliche Behaaptuiig Schibers, in seinen
„Siedlungen" im Gegensatz zu Arnold den pangermanischen Charakter der -^leiiii
hervorgehoben zu haben, findet weder auf der von ihm selbst zitierten Seite, noch sonst
in den „Siedlungen" eine Stütze; sie kann demnach nur als versehleierter Rückng von
einer als unhaltbar erkannten Stellung aufgefafst werclen.
— 155 —
Der Grundgedanke» von deoEi Schiber ausgeht, ist folgender: die
Orte auf -ingen sind Sippen-(Bauem-)6iedeIungen, diejenigen auf 'heim
dagegen Herrensiedelungen. Dergestalt setzt er den Gegensatz zwi«-
«chen -ingen und -heim, der mit der Überwindung des Amoldscbem
Systems sich hätte verflüchtigen oder doch wenigstens sehr an Stärke
verlieren müssen, von neuem in Wirksamkeit, indem er ihn nur
von dem Stammesgebiet in die Wirtschaflsverhältnisse überträgt. Dieser
wirtschaftliche Grundgedanke Schibers verbindet sich mit seiner soeben
dargestellten Stammesauifassung : die Sippensiedelungen auf -ingen sind
:fiidbt an einen bestimmten germanischen Stamm gebunden, dagegen
erscheinen die -heim in den „Siedlungen" durchaus als die Sitze frän-
kischer Herren. Da nun die Germanenstämme zur Zeit der Völker-
wanderung in ihrer überwiegenden Masse aus gemeinfreien Bauern
bestanden, wären überall da, wo sie sich in gröfseren Mengen
niedeigelassen haben, zahlreiche Ortsnamen auf -ingen zu erwarten.
Ihr Fehlen an solchen Stellen würde diese ganze Theorie über den
Haufen werfen, wenn sich nicht eine einleuchtende Erklärung dafür
finden liefee.
Thaisächlich sind nun in einem grofsen Teile des alemannischen
•Siedehmgsgebietes die Ortsnamenverhältnisse derart, da(s diese Schi-
l>erschen Aufstellungen völlig an ihnen scheitern zu müssen scheinen :
in der pfälzischen Ebene giebt es neben einer sehr grofsen Anzahl
von Orten auf -heim nur sehr wenige auf -ingen, und in der elsässi-
«schen Ebene sind die -heim nahezu alleinherrschend, in dem Mafse,
^ais in der unterelsässischen Ebene neben ihnen nur ein einziges -ingen
(Dümingen), in der oberelsässischen nur ein halbes Dutzend vorkommt.
Diese unbequemen Thatsachen werden von Schiber promptest auf
die Seite geschoben, indem er deduciert: Gewifs mufs die aleman-
nische Ansiedelung in den Ebenen der Pfalz und des Elsafis zahlreiche
Ortschaften auf -ingen hervorgerufen haben. Solche waren früher auch
in grofser ,Menge vorhanden. Aber als die Franken das obere Rhein-
thal erobert hatten, wurden die einstigen alemannischen Sippensiede-
lungen in fränkische Herrensiedelungen verwandelt; die ursprünglichen
^amen auf -ingen hatten daher keine Berechtigung mehr und muisten
„umgetauft'* werden in solche auf -heim!!
Da sonst, wo immer ein Volk sich über das Gebiet eines anderen
ausbreitet, die Übernahme einer grofsen Menge der vorgefundenen Orts-
namen beobachtet wird, wäre es doppelt erwünscht gewesen, wenn
der so einzig dastehende Vorgang einer radikalen Massenumtaufe der
Orte des westlichen Oberrheins auch wirklich erwiesen worden wäre.
— 156 —
Der gewöhnliche Verstand will es so leicht nicht begreifen, warum
die Franken die schon ans ihrer Heimat altvertrauten Namen auf -ingen,
die Lothringen und Luxemburg erfüllen und sich bis an das Nord-
meer hinziehen, hier nicht bestehen lassen konnten, während doch
sonst sogar die unverstandenen Namen einer fremden Sprache massen-
haft übernommen werden. Und hier — wenigstens im Elsafs — blieb
doch die alteingesessene alemannische Bevölkerung in so überwiegen-
der Stärke sitzen, dafe die eingewanderten Franken ihr gegenüber nur
eine kleine Minderheit ausmachen konnten. Wie sollte es dieser Min-
derheit, die so schwach war, dafe sie in kurzer Zeit völlig alemanni-
siert wurde, gelungen sein, die ansässig gebliebenen Alemannen zur
Preisgabe ihrer angestammten Ortsnamen zu veranlassen?
Genug, die angebliche Umnennung der linksrheinischen -ingen ia
-heim ist nicht bewiesen. Man kann auch billigerweise einen solchen
Beweis gar nicht verlangen, da dieser Vorgang zu einer Zeit statt-
gefunden haben soll, über die wir durch schriftliche Quellen nur mangel-
haft unterrichtet sind. Man mufs sich eben damit trösten, dals diese
Umnennung mit zwingender Notwendigkeit durch Schibers Grundidee
von dem bäuerlichen Charakter der -ingen und dem grund-
herrlich-fränkischen der -heim erfordert wird. Nur schade, dafs auch
die Richtigkeit dieser Grundidee noch nicht bewiesen ist.
Ich will hier nicht wiederholen, was ich an anderen Stellen bereits
gegen die Schibersche Auffassung vorgebracht habe, sondern nur
erwähnen, daCs ich zu beweisen versucht habe, dais die massen-
haften -heim der Pfalz und des Eisais nur der Niederschlag
einer von Osten gekommenen, also alemannischen Einwanderung gewesen
sein können ^). Für jeden , der diesen Beweis als erbracht anericennt^
ist damit die Widerlegung der Schiberschen Theorie implidte g^eben.
Die bis dahin allgemein anerkannten Grenzen der Ortsnamen-
forschung, die durch die Gesamtheit der wirklich vorhandenen und
quellenmäfsig nachweisbaren Ortsnamen von selber gegeben sind, wer-
den verschoben, ihre durch ein sicheres Material gefestigten Grund-
lagen werden erschüttert, wenn es fortan gestattet sein sollte, mit
Massen von Ortsnamen zu operieren, die aus den Quellen nicht nach-
gewiesen werden können. Wird auf diesem Wege, der von Schiber
durch die beweislose Annahme einst zahlreicher -ingen in der elsäs-
sisch-pfalzischen Ebene und ihre Umnennung in -heim eröffnet wurde,
weiter g^eschritten, so könnten wir allmählich dahin gelangen, dals in
i) Z. Gesch. d. Deatschtams im Elsafs S. 94 ff.
— 157 —
der Ortsnamenforscbttiig weniger von den wirklich vorhandenen und ur-
kundlich nachweisbaren Ortsnamen die Rede sein würde, als von denen, die
ein jeder seiner voigeialsten Meinung zuliebe iigendwozu sehen wünscht
Dem g^[enüber muis mit aller Entschiedenheit die Pflicht einer
strengen wissenschaftlichen Beweisführung in Erinnerung gebracht wer-
den, wo immer auch nur die Änderung des Namens eines einzigen
Ortes behauptet wird. Werden sogar, wie bei Schiber, massenhafte
Unmennungen von Orten angenommen und auf sie ein neues System
b^iründet, so schwebt dieses so lange in der Luft, bis ein unanfecht-
barer Nachweis der wirklich geschehenen Umnennungen geführt ist
Es ist nötig, diese selbstverständliche Pflicht der Beweisführung
scharf hervorzuheben, da auf Schibers unbewiesenen Grundlagen
weiter gebaut wird, wie eine Abhandlung Georg Heegers ^) zeigt
In ihr werden in übersichtlicher imd höchst dankenswerter Weise die
Ortsnamen der Vorderpfalz , nach den Grundworten geordnet, unter
Beibring^g der ältesten urkundlichen Formen zusammengestellt.
Neben den so entstehenden, zum TeU recht langen Ortsnamenlisten
tritt der eigentliche Text der Abhandlung in den Hintergrund.
In enger Anlehnung an Schiber bringt Heeger die -ingen in
einen „scharfen Gegensatz" (S. 5) zu den -heim, vor dessen Auf-
stellung noch neuerdhigs Karl Weller auf Grund seiner genauen
Kenntnis des württembergischen Namenbestandes so eindringlich ge-
warnt hatte '). Den als Sippensiedelungen betrachteten -ingen g^en-
über sind auch ihm die -heim durchaus Herrensiedelungen. Der hand-
greifliche Widerspruch, in dem die thatsäcbliche Ortsbenennung der
westlichen Ebenen des Oberrheins mit ihrem erdrückenden Überwiegen
der -heim sich dieser Theorie entg^enstellt, kommt auch ihm zum
Bewußtsein. Und auch er unterwirft sich nicht dieser entscheidenden
Thatsache, sondern übernimmt die ganze Seh ib ersehe Umnennungs-
theorie, obwohl er über deren Unbeweisbarkeit sich vollkommen klar
ist (S. 19, letzter Absatz). Nur in dem einen Punkte weicht Heeger
von Schiber ab, dafs er den gemeingermanischen Charakter der
-heim entschieden hervorhebt Das hat aber für ihn nur eine theore-
tische Bedeutung, da die dort behandelten -heim der Pfalz und des
Eisais durchaus als fränkische Siedelungen aufgefafst werden.
i) Die germanische Besiedlung der Vorderpfah an der Hand der Ortsnamen,
Mit einer Ortsoamenkarte. Programm des Kgl. Hamaoistiscben G^rmDasioms Landau
1 899/1900. Landau 1900.
a) Karl Well er, Die Besiedelang des Alamannenlandes. Sonderabdr. ans den
Wfirttembg. Vierteljahrsheflen f. Landesgesch. N. F. VU (1898), S. 31, Anm. 4-
— 158 —
Das von Schiber entlehnte wirtschaftliche Ortsnamensystem hat
nun durch Heeger noch eine wettere Au^estaltung* erfahren, indem
er es auf alle sonst in seinem Forschungsbereiche vorkommendea
Ortsnamentjrpe ausgedehnt hat: So erscheinen ihm die Ortsnamen
auf -Stadt als Wohnorte eines Grundherrn, hervorgegangen durch Neu-
gründung aus den -heim (S. 21); ebenso sind die -stein, weiter die
-hoben, -hofen, -hausen grundherrliche Siedelungen; die -bach, -ach,
-au „sind mit Personennamen gebildet und schliefsen sich direkt an
die echten (d. h. mit Personennamen gebildeten) ,heim* an", aus
denen sie nach Heegers Ansicht hervorgegangen sein sollen, durch
Ablösung „einzelner Familienglieder der Heim-Grundherren" (S. 26),
also auch durch grundherrliche Siedelung; dafs auch die -weiler als
Siedelungen von Grundherren in Anspruch genommen werden, ver-
steht sich nach Vorstehendem von selber. Diesem Schicksal entgehen
nur die -dorf, die nur viermal in der Vorderpfalz vorkommen und
auiser dem modernen Maxdorf nicht mit Personennamen gebildet sind.
So sehen wir wieder ein neues System fertig vor uns, das, wie
einst das Amoldsche die im deutschen Südwesten vorkommenden
Ortsnamentype unter die Franken und Alemannen verteilt hatte, sie
jetzt den wirtschaftUchen Formen der Siedelungen zuweist Wenn die
Amoldsche Idee, dafe dem gleichen Grundworte auch die gleiche
Stammeszugehörigkeit entspricht, von vornherein etwas Bestechendes
halte besonders hinsichtlich der Type, die eine so eigenartige Ver-
breitung haben wie die auf -ingen, -heim und -weiler, so läfst sich
andrerseits gar nicht erfinden, warum dasselbe Grundwort stets auch
dieselbe wirtschaftliche Form bedingen soll.
Dafs in dieser Hinsicht das Gnmdwort allein nicht befriedigen
kann, empfindet auch Heeger sehr bestimmt Und wenn er es auch
nicht unternimmt, für seine oben kurz mitgeteilten Ansichten einen
Beweis zu führen, so sucht er doch Stützen daiür zu gewinnen , dafs
die aufgezählten Grundworte gerade für Herrensiedelungen cha-
rakteristisch sein sollen. Denn aus den Grundworten -heim, -Stadt,
-stein, -hofen u. s. w. läist sich das doch gewifs nicht entnehmen.
Das Einzige, was sich ihm hier darbietet, ist die Thatsache, da(s
alle diese Grundwörter zumeist mit Personennamen im ersten Gliede
gebildet sind. Und diese genitivischen Personennamen fa(st er durch-
aus als besitzanzeigend auf. Daher läfst er auch die Frage offen, ob die
Orte auf -dorf als Herren- oder als Sippensiedelungen aufzufassen seien,
da die wenigen in der Vorderpfalz vorkommenden älteren Formen
dieses Typs nicht mit Personennamen gebildet sind. Ander¥rärts ist
— 159 —
übngenB die Verbindmig v<mi -dorf mit einem Personennamen sehr
häufig', wie überhaupt bei allen doppelstämmigen deutschen Ortsnamen-
bildungen die Personennamen im ersten Gliede so entschieden in den
Vordergrund treten, dafs schon dadurch die Annahme, der genitivische
Personenname sei stets besitzanzeigend und die durch ihn gekennzeich-
neten Orte grundherrliche Siedelungen, von vornherein wenig glaub-
würdig erscheint.
Da Heeger es unterlassen hat, für diese seine Annahme einen
Beweis zu erbringen, so kann er aus ihr ebensowenig eine Stütze für
den grundherrlichen Charakter der -heim, -stadt, -stein, -hofen, -hausen,
-bach, -weiler u. s. w. gewinnen wie aus diesen Grundwörtern selben
Seine daraufbezüglichen Ausführungen haben demnach nur den Wert einer
unbewiesenen persönlichen Meinung, die z. B. der entgegengesetzten
Au&erung Karl Wellers, dafe der als Bestimmungswort in den Orts-
namen auf -heim meist angewandte Personenname „ ebensogut das Haupt
einer Sippe wie sonst einen hervorragenden Mann bezeichnen kann" *),
keinen Eintrag zu thun vermag. Wellers Auffassung verdient sogar
den Vorzug, weil sie der Freiheit der frühmittelalterlichen Ortsnamen-
bildung im Volksmunde in vollem Mafse gerecht wird und sie nicht
einzwängt in schematische Regeln.
Nun sind ja aber auch die sowohl von Schiber wie von Heeger
als Beweis für Sippensiedelungen betrachteten Ortsnamen auf -ingen
durchaus mit Personennamen gebildet. Aber es findet hier in der
Regel nicht die genitivische Verbindung mit einem Grundwort statt;
-ingf(en) ist überhaupt kein Grundwort, sondern ein patronymisches
Suffix, das in der Vereinigung mit einem Personennamen die Zuge-
hörigkeit zur Familie, zum Geschlecht, ziu* Sippe des Genannten be-
zeichnet. Insofern hat Heeger wohl Recht, wenn er (S. 19) aus-
fuhrt: „Die , ingen* geben sich schon durch ihren Namen als Sied-
lungen von einer Mehrheit von Personen zu erkennen; in den Orts-
namen auf ,beim* dagegen tritt eine Einzelperson scharf in den
Vorderg^nd". Der Gegensatz ist aber doch nur ein scheinbarer;
denn die Sippe selber ist doch auch immer nach einer Einzelperson
benannt. Denn ob bei der Niederlassung einer Sippe der dadurch
entstehende Ort einfach den Namen der Sippe, also z. B. Huchilingen
erhält, oder ob er nach dem auch im ersten Falle namengebenden
Haupte der Sippe Huchilinheim, Heim des Hugo als Vertreters der ganzen
Sippe, benannt wird, ist in der Sache ganz gleichgültig. Und da(a
i) a. a. O. S. 32, Anm.
— 160 —
beide Fälle möglich sind, dals der an keine R^ein gebundene,
gleichermalsen aus der Phantasie wie aus den Thatsachen schöpfende
Voiksmund die Siedelung einer Sippe nach dem Namen ihres Ober-
hauptes als das Heim des Hugo bezeichnen kann, wird niemand,
der nicht auf das Schiber-Heegersche System eingeschworen
ist, von vornherein bestreiten. Die auch in der Prosa gangbare
Figur des pars pro toto dürfte doch der kindlich -naiven Auffassung
unserer Altvorderen, als sie erst im B^^fTe waren die Schwelle der
geschichtlichen Zeit zu überschreiten, nicht gar so fem gelten haben.
Wenn demnach eine Sippensiedelung den Namen der Sippe selber
(Huchilingen) fuhren oder aber in figürlicher Bedeutung als Heim des
Oberhauptes der Sippe (Huchilnheim) benannt sein konnte, so ist ander-
seits dem Sinne des Namens nach gar nicht einmal notwendig, dais
ein Huchilingen genannter Ort von vornherein als Sippensiedelung
angesprochen wird. Wohlgemerkt bestreite ich nicht die Möglich-
keit, da(s Orte auf -ingen Sippensiedelungen sein können, es vid-
leicht sogar der überwiegenden Mehrzahl nach sind, wie ich auch
weder jetzt noch früher die Möglichkeit bestritten habe, Orte auf -heim
als Herrensiedelungen anzusprechen ; desto entschiedener aber bestreite
ich die Notwendigkeit, die starre Regel. Dem Wortsinne nach
kann Huchilingen ebensowohl die Siedelung einer gleichnamigen Sippe
bedeuten wie die Siedelung eines edlen Huchilo mit Familie und Dienst-
leuten. Im zweiten Falle würde also grundherrlicher Charakter der
Siedelung vorli^en, der durch das -ingen demnach nicht von vorn-
herein ausgeschlossen werden kann ^). Um welche Siedelungsform es
i) Nach Vollendang dieser Arbeit kommt mir eine aeae Schrift Schibers zu Gesicht
(Germanische Siedlungen in Lothringen und in England, Sooderabzug ans dem Jahr-
bache der Gesellsch. f. lothr. Gesch. n. Altertumskunde Bd. XII, 1900). Auf S. 2 faist
Schiber die Ergebnisse seiner früheren Arbeiten in 3 Thesen zusammen, deren erste
die Orte auf -ingen als Sippensiedelungen, die auf genossenschaftticher Grundlage eot^
standen, bezeichnet. Auf S. 5 erfiihrt diese These bereits eine sehr bemerkenswerte Ein-
schränkung, indem nur noch „die alten Ortsnamen auf -ingen, welche durch die
Lage und den Umfang ihres Bannes, sowie durch ihre Flureiateilnng
als genossenschaftliche Gründung eines über die Bedeutung nur einer
Familie erheblich hinausgehenden Verbandes sich darstellen, ...ein-
stige Markgenossenschaften, Siedlungen einer Gemeinschaft von Haushaltungen, welche einer
Sippe angehören '*, darstellen; denn „nicht alle -ingen sind Markgenossenschaften *', wie
Schiber jetzt ausdrücklich hervorhebt. Damach scheint seine Haltung gegen die tob
mir bei Besprechung seines Erstlingswerkes gesteUte Frage „Warum soll in dem mit
-ingen verbundenen Personennamen nicht auch ein Grundherr genannt sein können ?**
(Zeitschr. f. Gesch. des Oberrheins, Jahrgang 1894, S. 338) nicht mehr so ganz ablefa
nend zu sein. Ich kann mich mit der wiedergegebenen Einschrinknng det
— 161 —
«ch in Wirklichkeit handelt , kann durch weiteres Tüfteln am
Ortsnamen nicht entschieden werden. Hier sind wir an der Grenxe
der eigentlichen Qrtsnamenforschnng angelangt; will man diese über^
schreiten, so bedarf man dazu thatsächlicher Unterlagen, die dem
Namen nicht mehr entnommen werden können; davon späten
Die Verteilung der beiden Hauptsiedelungsformen unter die durch
Sonderung nach den Grundwörtern entstehenden Ortsnamenabteilungen
lä&t sich demnach weder durch die Betrachtung dieser Grundwörter
noch durch die Thatsache ihrer häufigen Verbindung mit Personen*
namen rechtfertigen; noch mehr verliert sie an Wahrscheinlichkeit
durch die Erwägung der volkstümlichen Entstebungsart dieser früh-
mittelalterlichen Ortsbenennungen, die gewifs alles andere eher sind,
als der peinlich genaue Kataster der ländlichen Besitzverhältnisse, wie
er uns in der Heeg ersehen Auffassung der genitivischen Personen-
namen als Besitzemamen schlechthin entg^entritt. Wie die deutsche
Ortsbenennung im frühen AGttelalter vor sich gefangen ist, darüber
sind uns keine zuverlässigen Nachrichten überliefert. Aber um eine
Reihe von Jahrhunderten später sehen wir das deutsche Volk wiederum
vor eine groise Aufgabe der Namengebung gestellt; wir beobachten
deutlich, wie bei der vom XII. bis ins XIV. Jahrhundert bei uns in le-
bendigem Fluls befindlichen Entstehung der Familiennamen einerseits
wohl die nüchterne Prosa des Lebens zur Geltung kam, indem die
Namen dem Berufe, dem Herkunftsorte oder -lande der Personen
entnommen wurden, andrerseits aber der Volkshumor sich gerade-
zu erschöpfte in scherzhaften, launigen und phantasievollen Bil-
dmigen. Dasselbe Volk, das bei der Schöpfung der Familien-
oamen eine solche Fülle von Laune und Schalkhaftigkeit zu
erkennen gab, müfste ja diese seine Gabe mit wahrer Selbstüberwin*
düng verleugnet haben, wenn es bei der in weit früherem, kindlicherem
Alter stattgefundenen Benennung der grolsen Mehrzahl seiner Orte
nur in der allersachlich-nüchtemsten Weise die damaligen Besitzver-
hältnisse hätte zum Ausdruck bringen und nicht auch etwa Personen,
These i onr eiDventandeo erklären, da durch sie nicht mehr der Name aaf -ingen,
40Ddeni Umfang, Anlage, Flnreinteilong des Ortes Hir seine 2^weisang sa den
Sippensiedelangen als entscheidend anerkannt wird. Somit kommt ein scharfer prinsi*
pieUer Gegensatz zwischen der genannten These and ihrer Einschränkuig tnm Ausdruck,
«od wenn Schiber diesen neuen Gesichtspunkt mutaiü mutandis aach auf die «heim
angewandt hitte, so wflrde ihm sein altes Sjstem uiter den Händen senronnen teio«
Ober den weiteren Inhalt der nenen Schrift Schibers vgL meine kaue Besprechaog in
^er „Deutschen Erde**, Janinammer 1891, Nr. Si.
12
— ' M2 — •
* ', •
difcdärchGeburti Ansehen, Volkstümlichkeit oder mancherlei merkwür*--
dige'ßjfenschaften in die Angen fielen, verewigen wollen. So enthaltenr^
2. 'B. die znr Bezeichnung der Hagendörfer des deutschen Nordostens an-'
gewandten genitivischen Personennamen nur selten den Namen des^-
Grundherrn, weit häufiger den des Lokators, des bäuerlicheil^
Fahrers der neuen Ansiedler. Ohne Zweifel sind in den bei der Orts^
namenbildung angewandten Personennamen so manche Grundherren
überliefert j wer sie aber alle zu soldien stempeln will, thut der Be*
^glichkeit des naiven Volksgeistes Zwang an, indem er sie als ein-'
seitige Starrheit erscheinen läfet.
Wenn nun Schiber, um das schon in der Geburtsstunde dro*'
hende Scheitern seines Systems zu vermeiden, zur unbewiesenen An-
nahme massenhafter Ortsumnennungen seine Zuflucht nehmen mufste,.'
so geht Heeger als Ausbauer dieses Systems darin noch weiter/
Die von ihm anerkannte Unmöglichkeit, einen Beweis für die angeb-
liche Unmennung der oberrheinischen -heim aus ursprünglichen -ingea '
zu führen, stört ihn nur wenig, da dieser imaginäre Vorgang in einer*
Zeit stattgefunden haben mufs, aus der „uns leider gar keine der-
artigen NachrJchten übermittelt" (S. 19) sind, und da „eine Erschei-^
nung ... uns doch zu denken" giebt: Sobald nämlich „die ,heim*^'
nicht mehr in dichten Massen .. . auftreten, stofsen wir da, wo die"
,higeti* wieder aufzutauchen beginnen, auf Orte, deren Namen auf^
,ing4-heim*' (jetzt meist ,igheira*) endigen und die meiner Ansicht
nach durch Umnenntmg alter ,ingen* entstanden sind" (S. 19). Hierin'
glaubt Heeger „Spuren des fränkischen Umncnnungsverfahrens zu
eltennen ".
Wenn nun wirklich alle diese -ingheim , die übrigens keineswegs
auf das Grenzgebiet der -ingen und -heim beschränkt sind — maa
beachte nur die elsässischen Formen : Schiltigheim , Düppigheim^ *
Hürtigheim , Türkheim (Durinkeim) , deren Lage dieser Bedingung" '
dürdiaus nicht entspricht ^— , als hervorgegangen aus ümnennung^*
unsprünglich nur -ingen benannter Orte erwiesen werden könnten,^
so wäre damit für die einfachen -heim noch gar nichts gewonnen.
Sogar wenli für einige dieser letzteren der Nachweis einer solchen Um^
nennung gefuhrt werden könnte, so wäre deswegen noch niemand be-
rechtigt, auf Grund solcher Einzelfalle der Gesamtheit der massenhaftem
-beim des oberen Rheinthaies die Uraprünglicbkeit abzusprechen und '
sie «amt und soüdets aus^ ebeeialigen -ingen herzuleiten. Ein solchea
Generalisieren würde gar nicht zu rechtfertigen sein.
Nicht entfernt so günstig li^en aber die Dinge für die Anhänger *
— 163 — .
der Umnennungstheorie. Dem trägt Heeger Rechnung, indem er
sagt, dals die Namen auf -ingheim seiner Ansicht nach durch
Umneimung alter -ihgen entstanden seien. Beweisen kann er das
nämlich nur in einem einzigen Fallt das alte Gunzingen hat sich in
Gunzincheim und weiter in Gunzinheim, Ginsheim, Geinsheim gewandelt.
Sehen wir den Fall näher an, so zeigt sich, da(s der Ort in den
Jahren 774, 778 und 8(X) Gunzingen genannt ist; 790 tritt zuerst Gun-
zinheim auf (S. 7 und 16). Man wird gleich sagen: das ist doch etwas
zu spät, um als „Spur des fränkischen Umnennungsverfahrens " be-
zeichnet werden zu können, das sich doch im Anschluß an die frän-
kische Eroberung zu Anfang des VI. Jahrhunderts abgespielt haben mu(s.
NachSchiber, dem sichHeeger anschliefet, sind ja die -heim des
Oberrheins der Niederschlag einer fränkischen Herrenkolonisation, die
nach militärischen Gesichtspunkten zur Befestigung der fränkischen
Herrschaft im eroberten Lande vorgenommen wurde : gleich nach der
Eroberung rückten zahlreiche Franken in das Land ein tmd setzten
sich als Herren in die alten alemannischen Sippensiedelungen ; deren
alte Namen auf -ingen verschwanden, um neuen Platz zu machen, die
durch eine Verbindung des Namens der fränkischen Herren mit dem
besitzanzeigenden -heim die. veränderten Verhältnisse zu einem für
alle Zeiten sichtbaren Ausdruck brachten.
Wenn sich nun das alte Gunzingen nachweisbar bis zum Jahre
800 erhalten hat und Gunzinheim erst von 790 an neben ihm aufzu-
treten beginnt, so steht jedenfalls das fest, dafs die etwa um 500 statt-
gefundene Einwanderung der Franken an dieser Veränderung des Na-
mens nicht schuld sein kann. Aufserdem bestand die nach der Schi -
b ersehen Theorie angeblich im VI. Jahrhundert vorgenommene „Um-
taufe " der Namen auf -ingen keineswegs allein darin, dafs anstatt dieser
Endung ein -heim eingesetzt wurde; vielmehr wurde auch das erste
Glied (Bestimmungswort) des Ortsnamens verändert, indem als solches
jetzt anstatt des Namens des alten Sippenhauptes der des neuen
fränkischen Herrn eintrat. Auch dieser Gesichtspunkt kommt
bei Gunzingen — Gunzinheim durchaus nicht zum Ausdruck, und es
wäre doch unerhörte Schicksalstücke, wenn in dem einzigen Fall, in
dem Heeger einen „ zweifellosen Nachweis " führen zu können meint,
der fränkische Herr den gleichen Namen geführt hätte wie der längst
verstorbene alemannische Sippenahn.
Der Fall Gunzingen — Gunzinheim beweist demnach lediglich, dafs
unter gewissen Umständen stärkere Veränderungen der Ortsx^amen bis'
zum Tausch der Endung (Grundwort] stattfinden können« Aber d'^
12*
— 164 —
weife ohnehin jeder, der sich nur vorübeigehend mit der Entwickelung
der Ortsnamen beschäftigt hat
Unter welchen UmsüLnden im vorliegenden Falle die Veränderung
des Ortsnamens stattgefunden hat, das kann man bei Heeger selber
an einer anderen Stelle lesen: Auf S. 13 sagt er, es sei „leicht ver-
ständlich, da(s in Gegenden, wo die alten ,heim* zahlreich waren,
neue , heim' -Namen entstanden, die als blofse Analogiebil-
dungen aufzufassen sind.. . Man bildete die neuen Namen, indem
man an vorhandene Ortsnamen die Endung ,heim' anfügte, oder
indem man andere Endungen, wie z. B. , hausen', ,hofen' in ,heim*
umwandelte". Dies Verfahren habe „im 8. Jahrhundert bereits in
voller Blüte" gestanden. Auf S. 16 spricht er unter Beibringung von
Beispielen weiter von einer „besonders im 8. Jahrhundeit herrschen-
den Sucht, alte ,ingen' in ,heim' zu verwandeln."
Nun, die Umwandlung von Gunzingen in Gunzinhetm trat mit dem
ausgehenden VIII. Jahrhundert ein. Da sowohl durch die späte Zeit wie
durch die NichtVeränderung des ersten Gliedes eine Bezugnahme auf
die angeblich durch die Frankeneinwanderung hervorgerufene „Um-
taufe" der Ortsnamen hier vollständig ausgeschlossen ist, so kann es
sich nur um Analogiewirkung durch Assimilation an den herrschen-
den Ortsnamentyp handeln. Das ist aber ein Vorgang, der grund-
verschieden ist von der angeblich durch die Frankeneinwanderung be-
wirkten Einführung des neuen Ortsnamentyps -heim durch massenhafte
„Umtaufe" der damals herrschenden -ingen, und kann mit ihr
schlechterdings in keinen Zusammenhang gebracht werden. Oder ge-
nauer ausgedrückt: Wenn diese „Umtaufe" wirklich erwiesen worden
wäre, könnte man sagen, da(s ohne sie die Umwandlung von Gun-
zingen in Gunzenheim wohl nicht eingetreten wäre. Aber auch dann
gehörte diese Umwandlung nicht zum Akte der „Umtaufe" selber,
sondern wäre erst eine auf Grund der durch sie im Lande herrschend
gewordenen Ortsnamensform entstandene Analogiebildung. In ihr aber
einen Hinweis auf ein thatsächliches Statthaben dieser fränkischen
„Umtaufe" erblicken zu wollen, geht durchaus nicht an, denn selbst-
verständlich konnten die im Lande von der Alemanneneinwanderung
her herrschenden -heim ebenso gut solche Assimilation bewirken, wie
etwa erst mit den Franken durch Umnennung der -ingen ins Land ge-
kommene -heim.
Wie Heeger die -ingheim ftir Umnennungen ursprünglicher Orte
auf -ingen hält, so kann er sich auch nicht vorstellen, dals es Orte
gegeben haben könne, die von Anfang an Benennungen auf -inghofen
— 165 —
(jetzt in der Schweiz -ikon) führten. Auch hier müssen sdner Mdniittg
nach die ursprünglichen Namen der Orte -ingen gelautet haben und erst
später durch Umbildung in -inghofen übergegangen sein. Dabei muls
er aber selber einräumen, „dais im südlichen Baden eine Reihe von
, ingen' vorkommen , die in alten Urkunden [bis ins VII. Jahrhundert
zurück; z. B. Bodinchova ao. 670, heute Bottingen (S. 25)] als tnc^
kova ers(5heinen'* (S. 20). In diesen Fällen wäre es wohl richtiger ge-
wesen, die unanfechtbare urkundliche Überlieferung nicht zu meistern,
sondern einfach anzuerkennen, dafs hier die Form -inghofen zweifellos
die ältere, und das jetzt bestehende -ingen nur eine Schwächung der
ursprünglichen Form ist — Der Vollständigkeit wegen sei noch er-
wähnt, dafs Heeger einen Zusammenhang zwischen den -weiler und
-hausen annimmt und sie „nur als mundartlich verschiedene Ausdrücke'*
betrachten zu dürfen glaubt, die „den gleichen Siedelungsvorgang
wiederspiegeln: Anlegung von Bifängen und neuen Orten durch ein-
heimische Herren*' (S. 41). Weiter sollen die -hausen von Gemein-
freien, die -weiler dagegen von Adeligen gegründet worden sein. Letz-
tere hält er für spezifisch fränkische Siedelungen, in denen nicht nur
die Namengeber, sondern auch die Bevölkenmg deutsch gewesen sein
soll (S. 42). Ein Eingehen auf alle diese Einzelheiten verbietet der
Raum. Sie werden ohnehin durch die nachfolgende Beurteüung der
Heeger sehen Methode mit getroffen.
Indem Heeger so die zwischen einigen -ingen, -ingheim und
-inghofen vorkommenden Schwankungen und Übergänge verallgemeinert
und im Widerspruch mit urkundlich beglaubigten Thatsachen aUe -ing-
heim und -inghofen durch Umnennung ursprünglicher Orte auf -ingen
entstehen läfst, beraubt er sich selber des Mittels zur Erklärung der
wirklich und nachweisbar vorgegangenen Umnennungen durch das
Wirken der von ihm richtig erkannten, aber hier gänzlich aufser acht
gelassenen Analogie. Auf der Suche nach anderen Erklärungsgründen
greift er als Schüler Schibers naturgemäfs zu wirtschaftlichen Ge-
sichtsptmkten : die niederfränkischen -inghem gelten ihm den -ingen
gegenüber als der Niederschlag einer neuen Wirtschaftsperiode, wie
ihm die oberdeutschen -ingheim als bezeichnend für die Entwickelung
grundherrlicher Frankensiedelungen aus alten bäuerlichen auf -ingen
crsehienen waren; tmd in der Entwickelung der -inghofen aus den -ingen
möchte er „den allmählichen Übergang alemannischer Bauemsiede-
lungen in alemannische Herrensiedelungen erkennen" (S. 20). Als
wenn mit der Veränderung des Wirtschaftscharakters auch eine solche
des Ortsnamens stattfinden müfiste!
— 166 —
Namenswandlungen wie die vorstehenden werden in ein helles
Licht gerückt durch einige Beispiele aus Mecklenburg und Pommern:
Das heutige Sührkow hieis früher Surekendorp, Jahnkow in Ponimem
Janekendorp. Das urkundlich früher erwähnte deutsche Grundwort
ist also von einer wendischen Endsilbe verdrängt worden. Daraus
kann man nicht etwa nach Heegerschem Muster den Schluls ziehen,
dafs die -ow in Mecklenburg-Pommern durch Umnennung alter -dorf
entstanden seien, und dafs in dieser Umnennung die Slavisierung alt-
deutscher Ortschaften zum Ausdruck gekommen sei. Dazu sind diese
Namensschwankungen bezw. Umnennungen doch zu spät: Sührkow
wird 1297 zweimal erwähnt als Scurekendorp , 13 14 als Surekowe ^),
Jahnkow 1242^) als Janekendorp, ebenso 1370 und 141 1 in den
Schweriner Zehntregistem •) , 1583 in den Bützower Amtsregistem,
und noch auf der Schmettauschen Karte von 1794 lautet der Name
Janckendorf. Die wendische Endung kami sich hier also erst in aller-
neuester Zeit eingebürgert haben.
Diese Verdrängung eines deutschen durch ein slavisches Grund-
wort erfolgte also in dem Mecklenburgischen Beispiel, als die wendische
Sprache schon im Erlöschen war, im Pommerschen gar erst nach
jahrhundertelanger ausschliefslicher Herrschaft der deutschen Sprache.
Sie kann daher einzig und allein als Analogiewirkimg betrachtet werden.
Wenn also sogar die Endimgen einer bereits abgestorbenen Sprache
noch durch Analogie fortgepflanzt werden können, um wieviel mehr
muis das bei lebenden Sprachen geschehen! Nach allem ist die
Analogiebildung bei der Wandlung der Ortsnamen ein so starkes
und aller Orten wirksames Agens, dafs wo immer ein Ortsname
seine alte Endung gegen eine neue, im Lande verbreitete austauscht»
zur Erklärung dieses Vorganges die Analogie allein vollkommen
ausreicht und das Suchen nach weiteren Erklärungsgründen nicht nur
überflüssig, sondern sogar schädlich , weil irreführend ist. örtliche
Wirtschaftsveränderungen haben in der Regel keinen Einfluß auf die
Form der vorhandenen Ortsnamen. (Schluis folgt)
i) Mcckl. Urk.-Bach IV, Nr. 2431 a. 2432; VI, Nr. 372 1, S. Il6.
2) Ebendort I, Nr. 539.
3) Groiiih. Geh. a. Hauptftrchir zu Schwerin. Diese Fälle hat mir Herr Geh. Ar-
chifrmt Dr. Grotefend freundlichst mitgeteilt
^i«^^^^4^''^<^^.^#»» ^^^ ^ ^^
— Jißl —
«•» ««A I«**
rt>er Verein für Gesehiehte der Deutschen
in Böhmen
(zu seinem 40jährigen Jubijäpm). . .
Von * ' .
Ottocar Weber (Pra^
Der landesgeschichtlichen Forschung in Böhmen dienen folgende
4ieun deutsche Vereine mit Vereinsorganen:
I4 Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen, gegründet
1862 (MitteUungen. 4 Hefte jährUch. Prag)
2. Der Nordböhmische Exkursionsklub, gegründet 1878 (MitteUungen.
4 Hefte. B. Leipa)
3. Der Nordwestböhmische Gebirgsvereinsverband, gegründet 1880
(Erzgebiigszeitung. 12 Hefte. Teplitz)
4- Der deutsche und österreichische Riesengebirgsverein, gegründet
1881 (Der Wanderer im Riesengebirge. 12 Hefte. Hirschberg. —
Fortsetzung des Riesengebirges in Wort und Bild. Trautenau)
5. Der Museumsverein in Reichenberg, gegründet 1882 (Mitteilungen.
12 Hefte. Reichenberg)
- 6. Die Gebirgsvereine f. A böhmische Mittelgebirge, die böhm.
Schweiz und das nördlichste Böhmen, gegründet 1885 (Aus deut-
schen Bergen. 12 Hefte. Aussig)
7. Der Deutsche Gebirgsverein für das Jeschken- und Isergebirge,
gegründet 1891 (Jahrbuch. Reichenberg)
8. Die Museumsgesellschaft in Teplitz, gerundet 1894 (Jahres-
berichte. Teplitz)
9. Der Verein für E^erländer Volkskunde, gegründet 1897 (Unser
Egerland. 6 Hefte. Eger).
Unter diesen Vereinen nimmt unstreitig der Verein für Geschichte
der Deutschen in Böhmen ^) , was sein Alter und den Umfang der
Publikationen anbelangt, die erste Stelle ein. Seine Gründung ver-
dankt er der Initiative dreier deutscher Studenten in Prag: Lud|wig
Schlesinger, Julius Lippert, Alexander Wiechovskjr — alle drei später
bedeutende Schulmänner — die im Mai 186 1 diesen Gedanken faisten.
Sie fanden begeisterte Zustimmui^, besonders zunächst von Ajxton
i) Siehe daza: Festschrift zur Erinnerung an die Feier des 10. Grttndnngstages im
Jahre 1871; die Festfeier snm 25JXhrigen Bestände des Vereins am 11. Jsni 18S7 ¥on
OosUr C. Laube, Bütteilimgen XIVI, S. i; sowie den betreffenden Artikel toq ProC
Ljiabe in der im Mai d. J. erscheinenden Festschrift som 40JXhrigen Jnbilänm def Yertinf.
— 168 —
Kohl, Hermaim Uallwich, Karl Pickert, Wenzel Dressler, Anton Schmal-
fiils ^, dann von anderen Jüi^em der Wissenschaft. Auch Professoren
schlössen sich diesem werdenden Kreise an wie Höfler, Brinz, Esmarch,
Volkmann, Schulte. Über die ersten Vorbereitungen verging ein
volles Jahr, die feierliche Eröffnung konnte erst am 27. Mai 1862
stattfinden, welcher Tag sohin als Geburtstag des Vereins zu feiern
ist Seine Ziele sind im ersten Punkte der Satzungen festgel^^:
„Der Verein hat zum Zwecke die Aufhellung der Geschichte der
Deutschen in Böhmen, die Verbreitung der Kenntnis derselben, sowie
die Sammlung und Erhaltung der bezüglichen Quellen.'* Als Hilfis-
mittel dazu hat er in den vierzig Jahren seines Bestehens eine reiche
Bücherei (mit nahezu 25000 Banden), ein Antiquarium, ein Archiv mit
wertvollen Original-Urkunden, sowie mit Abschriften, eine schöne
Münzensammlung, endlich einen nicht unbedeutenden kunsthistorischen
Apparat zusammengetragen.
Zum Behufe intensiverer Heranziehung der Mitglieder an die Ar-
beiten des Vereins wurden Sektionen gegründet, die ihnen es ermc^-
lichten, nach spezieller Neigung mitzuthun. Besondere Thätigkeit
haben da entwickelt die Sektionen ftur allgemeine Landesgeschichte,
sowie ftir Sprache, Litteratur und Kunst Zu geringerer Bedeutung
gelangten die anderen: für Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, für
Geographie, Statistik, Handel und Gewerbe, für Anthropologie und
Ethnographie, die dann mit den beiden obgenannten verschmolzen
wurden. Bei diesen Zusammenkünften werden Vortrage über ein-
schlägige Themata gehalten, auch ist es Grundsatz geworden, dafi
alle in den „Mitteilungen** zu veröffentlichenden Aufisätze hier zuerst
besprochen werden. Die Thätigkeit dieser AbteUungen ist gegen-
wärtig nicht so lebhaft als sie sein könnte, da sich berufene Kreise
von ihr ferne halten und namentlich die Mittelschulkreise oft ganz ver-
sagen. Zu dieser „mündlichen'* Arbeit in Prag kamen in früheren
Jahren eine Reihe von öffentlichen Vorträgen, die in Deutsch-Böhmen
gelegentlich sogenannter Wanderversammlungen abgehalten worden
sind, von denen in die Jahre 1868 — 1881 neun fallen (in Leitmeritz,
Trautenau, B. Leipa, Teplitz, Carlsbad, Wamsdorf, Krummau, Eger»
Brüx), während nach langer Pause Ende der neunziger Jahre noch
zwei stattfanden in Saaz und Aussig. Die Verschlimmerung der po-
litischen Verhältnisse, namentlich der sich immer mehr zuspitzende
i) Von dicfcn ftdit Hetreo dnd mir noch am Leben: Jnlini lippert md Henuttm
HeSwidL
— 169 —
Kampf der beiden Böhmen bewohnenden Volksstämme, dann der Zwist
mnerhalb der deutschen Partei, haben dazu geführt, dafs, geleitet von
dem Wunsche, den Verein vor den Wechselfallen des politischen
Lebens sorgsam zu bewahren, diese auswärtigen Versammlungen ein-
gestellt worden sind. Die Archive von Eger, Budweis, Leitmeritz,
Schlaggenwald und Aussig sind- von berufenen Forschem durch-
gearbeitet und teilweise geordnet worden; die Berichte darüber wur-
den in das Vereinsarchiv hinterlegt.
Ungleich reichhaltiger konnte natürlich das litterarische Leben im
Vereine sein. Seinen Hauptausdruck findet es in der Vereinszeitschrift»
die gleichzeitig mit dem Vereine ins Leben gerufen wurde, die „Mit-
teilungen des Vereins etc.", von denen demnach in diesem Jahre der
vierzigste Band sein Ende erreicht. Gleich nach dem ersten Er-
scheinungsjahre wurde von dem Hauptbande eine „Litterarische Bei-
lage " abgetrennt , in die die Besprechungen , litterarischen Übersich-
ten etc. verwiesen wurden, und die vorübergehend auch unter selb-
ständiger Leitung stand. Die Männer, die sich um die Redaktion
dieser Zeitschrift verdient gemacht haben, sind: Schmalfufs, Höfler,
Grohmann, Werner, Renner, Laube, Pangerl, Schlesinger, Lohr, Hiecke^
Biermann, Horöiöka.
Nachdem sie in den ersten Jahren in verschiedenem Umfange
erschienen ist, blieb sie vom 14. Jahre an auf vier Hefte jährlich
beschränkt, die gegenwärtig m der Regel 36 Bogen umfassen. Ab-
gesehen von einem kurzen Inhaltsverzeichnisse über die ersten 20 Bände
von Otto Lohr, erschien ein wissenschaftlich allen Anforderungen ent-
sprechendes Register über Band i — 30 von Dr. A. Horöiöka; über
die weiteren 10 Bände wird eine Ergänzung von demselben Verfasser
vorbereitet.
Abgesehen von diesen periodischen Erscheinungen publiziert der
Verein eine Reihe von wissenschaftlichen Werken, die imter folgende
Haupttitel zu fassen sind. Deutsche Chroniken aus Böhmen, Her-
ausgeber Dr. L.Schlesinger. Drei Bände : i . Die Chronik der Stadt
Elbogen 1471 — 1504, bearbeitet von Schlesinger; 2. Simon Hütteis
Chronik der Stadt Trautenau 1484 — 1601, bearbeitet von demselben;
3. Die Chroniken der Stadt Eger bearbeitet von Heinrich Gradl. —
Deutsche Städte-- und Urkundenbücher aus Böhmen. Herausg^eben
von Dr. L. Schlesinger, jetzt von Dr. A. Horöiöka. Vier Bände:
1. Stadtbuch von Brüx bis zum Jahre 1526, bearbeitet von Schlesinger;
2. Urkundenbuch der Stadt Saaz, von demselben; 3. Urkundenbuch
der Stadt Aussig, begonnen von W. Hiecke, beendet von Dr. A. HorfiSka;
— 170 —
4- Urkundenbuch der Stadt Budweis in Böhmen, I. Band, i. Hälfte
,1251 — 1391 von Archivdirektor Karl Köpl (die Fortsetzung ist ira
Drucke). Sprachlichen und litterarischen Zwecken dienen: Bibliothek
4er mittelhochdeutschen Litteratur in Böhmen, begrüqdet von ProC
Ernst Martin, jetzt herausgegeben von Prof. H. Lambel. Vier Bände:
I. Wilhelm v. Wenden, ein Gedicht Ulrichs v. Eschenbach, ed. Wen-
delinToischer; 2. Der Ackermann aus Böhmen, herausgegeben und
mit dem tschechischen Gegenstück Tkadleöek verglichen von Joh.
]Knieschek;3. Das Leben des heiligen Hieronymus in der Übersetzung
des Bischofs Johannes VIIL von Olmütz, ed. Anton Benedikt; 4.
Willöhalm, ein Rittergedicht von Meister Ulrich von dem Türlin, cd.
S.Singer. Zwei weitere Bände, enthaltend den Meidekranz des Heinrich
v. Mügeln und die Werke Heinrichs v. Freiberg sind in Vorbereitung.
Beiträge zur Kenntnis deutschböhmischer Mundarten, geleitet von
Prof. H. Lambel. i. Der Satzbau der Egerländer Mundart. I. Teil von
Jos. Schicpek. Der zweite Teil ist in Vorbereitung. Der Kunst-
geschichte dienen die Studien zur Geschichte der Gothik in Böhmen,
herausgegeben von Prof. JosephNeuwirth. Fünf Hefte, sämtlich vom
Herausgeber verfafst. i. Der Bau der Stadtkirche in Brüx von 15 17
bis 1532; 2. Der Baubeginn der Frohnleichnams- und Barbarakirche
in Kuttenberg; 3. Die Junker von Prag; 4. Der verlorene Cyclus
böhmischer Herrscherbilder in der Prager Königsburg; 5. Die Wand-
gemälde in der Wenzelskapelle des Prager Doms und ihr Meister.
Von der Serie Studien zur Geschichte der Musik in Böhmen, her-
ausgegeben von Dr. Richard Batka ist erst ein Heft erschienen.
Frühzeitig hat man im Vereine die Wichtigkeit der Durchforschung
von Materialien für eine Geschichte von Handel und Industrie in Böh-
men erkannt. Schon 1865 wurde für eine derartige Arbeit ein Preis
ausgesetzt, diese Ausschreibung 1869 wiederholt, beide Male ohne Er-
folg. Dann ruhte die Sache, bis sie 1889 von Prof. August Fournier
mit Energie und Geschick wieder au^enommen wurde. Durch ihn
.wurden die Beiträge zur Geschichte der deutschen Industrie in Böh-
men ins Leben gerufen, die zunächst unter seiner Leitung, dann unter
der Prof. Ottocar Webers, erschienen, bisher 6 Bände: i. Litteratur
zur Geschichte der deutschen Industrie in Böhmen. Gesammelt von
W. Hiecke. 2. Firma Franz Leitenberger 1793 — 1893. Eine Denk-
schrift von H. Hall wich. 3. Die Elntstehung der Porzellan- und Steia-
gutindustrie in Böhmen, von Prof. O. Weber. 4. Firma Benedikt
Schrolls Sohn, von Dr. E. Langer. 5. Die Reichenberger Tuchindustrie
.in ihrer Entwicklung vom zünftigen Handwerk zur modernen Grois-
— 171 —
industrie, von Dr. J. Grnnzel. 6. Das böhmische Cpmmerzkollegium
und seine Thätigkeit von Prof. A. F. Pribram. Eine Arbeit über die
nordböhmische Kohlenlindustrie steht in Aussicht.
Abgesehen von diesen in grölseren Abständen erscheinenden
regelmälsigen Publikationen hat der Verein noch eine Reihe grölserer
und kleinerer Werke herausgegeben « die teils selbständig erschienene
Arbeiten sind, teils Sonderabdrücke aus der Vereinszeitschrift. Von
diesen seien in folgendem die wichtigsten hervorgehoben. Vor allem
verdient wohl die Geschichte Böhmens erwähnt zu werden, von
Dr. L. Schlesinger, i. Aufl. 1869, 2. Aufl. 1870. Trotz des grob
angel^^n eben erscheinenden Buches Prof. Bachmanns wird ein Hand-
buch der Geschichte Böhmens, auch für nicht wissenschaftliche Kreise
berechnet, stets ein dringendes Bedürfnis bleiben. Lippert, Ge-
schichte der K. Leibgedingstadt Trautenau. 2 Bde. 1863 — 1866.
Lippert, Geschichte der Stadt Leitmeritz, 1870. Lee der, Beiträge
:zur Geschichte der Stadt Aman, 1872, Laube, Aus Joachimsthals
Vergangenheit, 1875. Gradl, Zur Herkimft der Egerländer, 1879.
Kietsch, Stadtbuch von Falkenau, 1895. Siegl, Achtbuch des
Egerer Schöffengerichts von 1310 — 1390, 1901. Bachmann, Bei-
träge zur Kunde böhmischer Geschichtsquellen des XIV. u. XV. Jahr-
hunderts, 1898. Loserth, Das St. Pauler Formular. Briefe und Ur-
kunden aus der Zeit König Wenzels II., 1896. Höfler, Die Krönung
Kaiser Karls IV. nach Johannes dictus Porta de Avonniaco, 1864.
Höfler, Chronik des Heinrich von Diessenhoven, 1865. Horawitz,
Caspar Bruschius. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus und der
^Reformation, 1874. Schmidt, Val. , Das Urbar der Herrschaft Rosen-
berg von 1598, 1897. Schmidt, Val , Braubetrieb und Braustätten
in Südböhmen, 1900. Schmid, Georg, Die Wallensteinlitteratur
1626 — 1878, 1879. Erste Ergänzung 1619— 1681, 1883. Zweite Er-
gänzung 1 620 — 1 684, 1885. Dritte Ergänzung von Dr. VictorLoewe
1628 — 169s, 1896. Eine vierte Ergänzung von demselben erscheint
demnächst Weber, Die Occupation Prags durch die Franzosen und
Baiem 1741 — 1743, 1896. Weber, Eine Kaiserreise nach Böhmen
im Jahre 1723, 1898. Zeifsberg, Erzherzog Karl in Böhmen, 1898.
Ferner: Hecht, Das Homiliar des Bischofs von Prag, 1863. G roh-
mann, Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen und Mähren, 1864. —
J!>eutsche Volksaufiiihmngen. Beiträge aus dem Egerlande zur Ge-
schichte des Spiels und Theaters, 1895. Nassl, Die Laute der
Tepler Mundart, 1863. Petters, Andeutungen zur Stoffsammlung in
den deutschen Mundarten Böhmens, 1864. Grub er, Die Kaiserburg
— 172 —
zu Eger und die an dieses Bauwerk sich anscblieisenden Denkmale»
1864. Grub er, Die Hauptperioden der mittelalterlichen Kunstent-
wicklung in Böhmen^ 1870. Neuwirth, Das Braunschweiger Skizzen-
buch eines mittelalterlichen Malers, 1897. John, Die Vorschuß- und
Kreditvereine. Volksbanken in Böhmen. Ein Beitrag zur Vereins-
statistik Böhmens, 1867. In Vorbereitung ist das Urkundenbuch des
Clarissinnenklosters in Krummau, dem Abschlüsse nahe eine Biographie
Adalb. Stifters von Prof. Hein.
Eine reiche Thätigkeit auf dem Gebiete der landesgeschichtlichen
Forschung hat demnach der Verein in diesen 40 Jahren entwickelt
Durch längere Zeit glaubte er sein Augenmerk darauf richten zu müssen,
seinen Mitgliedern (er zählt gegenwärtig 1200) die reichen Schätze
der deutschen Vergangenheit in Böhmen in möglichst populärem Ge-
wände zu bieten, während er in den letzten Jahren zu streng wissen-
schaftlicher Forschtmg zurückgekehrt ist, da eine Reihe anderer 2Mt-
schriften ihn in dieser Beziehung entlastet haben.
Eben wird zur Feier des 40jährigen Bestandes eine Festschrift
vorbereitet, die ein BUd der umfassenden Thätigkeit des Vereins auf
allen Gebieten deutschen Lebens bieten soll und die bewährtesten Mit-
arbeiter der Vereinszeitschrift zu den ihren zählt Mit dem Bewuistsein
treu erfüllter wissenschaftlicher und nationaler Pflicht mag der Vor-
stand an die Feier des Jubiläums schreiten, voran Obmann und Obmann-
stellvertreter: Hofrat Prof. Dr. J. Schindler und Reg^erungsrat Prof.
Dr. H. Lambel, nicht weniger der unermüdliche Geschäftsleiter
Prof. Dr. G. C. Laube.
0k^^^^^^\m^^m^^»^^^^t0^^^^ßi,^
Mitteilungen
Archive. — Die Bestimmungen über die Benutzung des Archivs sa
Hennannstadt» die S. 113 nach dem Abdruck in dem Übersichtsinventar
(S. 202) kurz wiederholt wurden, beziehen sich, wie uns mitgeteüt wird,
nur auf die Benutzung seitens Ortsangesessener, was allerdings an der be«
zeichneten Stelle in keiner Weise gesagt oder auch nur angedeutet ist.
In der That wird für Archivbenutzer, die von auswärts zugereist kommen»
die Zahl der täglichen Benutzungsstunden bis auf zwölf erhöht, und ebenso
sind Aktenversendungen an auswärtige Archive und Bibliotheken zulässig.
Letzteres ist bereits in der Minerva, Jahrbuch der gelehrten WeU, 9. Jahr-
gang (1899 — 1900), S. 367 bemerkt — Diese Mitteüungen sind in hohem
— 173 —
Mafse erfreulich y und namentlich die Ermöglichung einer ausgedehnteren
Benutzungszeit für von auswärts zugereiste Gelehrte, die naturgemäfs ihre
Zeit möglichst ausnutzen wollen, verdient Anerkennung und Nachahmung.
Wenn auch ein persönliches Entgegenkommen des Archivars viel&ch den
einzelnen Fremden eine längere Arbeitszeit zugestehen mag, so ist doch, soviel
wir wissen, in den Benutzungsordnungen selbst dieser Punkt bisher völlig
auiser acht gelassen worden.
Die Mitteilungen der K, Preußischen ArchhxerwaUung ') erweitem mit
ihrem 5. Hefte das Gebiet ihrer Thätigkeit, denn dieses ist nicht einem
einzelnen Staatsarchive, sondern sämtlichen 124 Stadtarchiven einer
Provinz gewidmet Adolf Warschauer, Die städtischen Archive in der
Provinz Posen (Leipzig, S. Hirzd, 1901. XL und 323 S. 8^) behandelt
zunächst (S. I — XL) Geschichte, Bestandteile und bisherige litterarische Ver-
wertung der Stadtarchive, beschreibt dann in dem Hauptteile (S. i — 293)
die einzelnen Archive, die allerdmgs zum gröfsten Teile im Staatsarchive zu
Posen deponiert sind, in a^habetischer Ordnung und schliefst mit einem
aufserordentlich praktisch angelegten Sachregister. Die Provinz Posen zeichnet
sich hiermit vor allen anderen deutschen Landesteilen aus, wie es wohl
sonst in keinem anderen Punkte der Fall ist, denn ein einziger Bearbeiter
giebt die in sich vergleichbaren kurzen Berichte über die Archivbestände
jeder Stadt, ohne zu inventarisieren, während er doch in lesbarer
Form alles allgemein Wichtige heraushebt und damit zugänglich macht Es
sbd dabei nicht nur die in den betreffenden Stadtarchiven ruhenden, son-
dern alle auf die Stadt bezüglichen Bestände, soweit sie bekannt waren,
angeführt Dafs Nachträge kommen müssen, darüber ist sich der Verfasser
vollständig klar; es ist ja gerade ein wesentlicher Zweck der Arbeit, der
Lokalforschung bestimmte Aufgaben zu stellen und zu fleilsigem Nachspüren
anzuregen (S. XXXVni). Nur die Beschränkung auf die Städte ermöglichte
eine derartige Veröffentlichimg in absehbarer Zeit, und wir können nicht
dankbar genug sein, dafs zunächst darauf verzichtet wurde, Landgemeinden
und Privatbesitz, namentlich den des Adels, in gleicher Weise zu be-
bandeln, denn damit wäre die Veröffentlichung in weite Feme gerückt
worden. Während fUr die provinzielle Geschichtsforschung natürlich die
Beschreibung der für jede Stadt nachgewiesenen Archivalien den gröfsten
Wert besitzt, kann die Einleitung eine grofse allgemeine Bedeutung bean-
spruchen, da ihre zusammenfassenden Bemerkungen für jeden Archivar von
Belang sind und Vergleiche zwischen polnischen und deutschen Verhält-
nissen nahelegen. Interessante Einzelheiten liefsen sich in Menge heraus-
heben, aber das Hauptinteresse hafiet inmier an der Vielheit der Nationali-
täten. Für die deutsche Kolonisation in Polen, die mittelalterliche wie die
des XVU. und XVIÜ. Jahrhunderts (S. XnjXm\ die gerade in den Städte-
gründungen zum Ausdruck kommt, wird ein überraschend reiches und vor
allem zuverlässiges Material beigebracht, und der wegen der Ähnlichkeit mit
deutschen Verhältnissen beachtenswerte Unterschied zwischen königlichen
I) Vgl darüber Bd. n, S. 185—186.
— 174 —
und mittelbaren (gnindherrlichen) Städten wird mannigfaltig veranschaulicht
Für den Kampf der deutschen mit der polnischen Sprache im Verlaufe der
Zeit sind die Angaben S. XXXI/XXXÜ von höchstem Werte : im aUgemeined
wird das Deutsche in der Mitte des XVI. Jahrhimderts voUständig vom
Lateinischen verdrängt, während das Polnische (zuerst 1551 in Kol-
mar) dieses als Geschäftssprache gegen Ende des XVL Jahrhunderts immer
mehr ablöst (vgl. das Stichwort „ Deutsche Spräche " im Register, für Posetf
besonders S. 180). Die Handwerkerinnungen lassen sich noch spät deutsche
Innungsordnungen aus Breslau kommen: so formen die Pfefierküchler von
Rawitsch (S. 211) 1749 ihre Statuten nach denen der Breslauer Handwerks-
genossen. Die Akten über die Einwanderung der Böhmischen Brüder
— 1548 sind sie in Lissa zu finden (S. 122, 154)» im XVI. Jahrhundert
z. B. auch in Graetz (S. 77) — sowie über die Schlesischen Protestanten
— vor 1660 sind sie in Kempen anzutreffen (S. 86), während König Sigismund
1629 die Aufnahme flüchtiger Schlesier verboten hatte (S. 92) — ergänzen
in vollkommener Weise dasjenige, was sonst über die um des Glaubens
willen Vertriebenen bekannt ist. Überhaupt wird manchem die grofse Zahl
der evangelischen Gemeinden auflallen : in Birnbaum (S. 1 7) war die Kirche
vor 159 1 im Besitze der Protestanten, im XVni. Jahrhundert sind viele
neue Gemeinden entstanden. Unter den Gewerben wird namentlich imi
XVII. Jahrhundert die Tuchmacherei von immer gröfserer Wichtigkeit, wäh-
rend dem Tuchhandel auswärtiger Kaufleute schon im XV. Jahrhundert
eine hohe Bedeutung zukommt
Einen eigenen Archivar hat mit Beginn des Jahres 1902 das fürst-
liche (bis 12. März 1901 gräfliche) Haus Castell zu Castell (Unterfranken)
in der Person des bisherigen Kgl. Bayrischen Kreisarchivars in Nürnberg
Dr. August Sperl mit dem Titel eines fürstlichen Archivrates angestellt.
Neben der Sorge für das überraschend reichhaltige Archiv des anerkannter-
mafsen ältesten dynastischen Grafengeschlechtes in Bayern wird es seine Haupt-
aufgabe sein, die Geschichte des Geschlechtes zu schreiben. Abgesehen von
älteren Arbeilen hat Friedrich Stein in der Oesckichte der Herren und
Grafen xu Kastell (Schweinfurt 1892) die Geschichte der Grafschaft und ihrer
Herrscher bis 1528 dargestellt, und Pius Wittmann hat in den Monumenta
Gastellana, Urkundenbuch zur Geschichte des gräflichen Hauses Cbw^/ (München
1890) die Urkunden von 1057 bis 1546 herausgegeben. Es ist also hier bereits
mehr geschehen, als bei den meisten adligen Geschlechtem, aber gerade deshalb
darf die in Aussicht stehende abschliefsende Geschichte des Hauses Castell,
die für die fränkische Geschichte überhaupt höchst bedeutsam werden wird,
mit Spannung erwartet werden. Um den Stoff möglichst voUstängig zusammen-
zubringen, bittet der Archivar um Mitteilung jeder auch noch so kleinen Nach-
richt, namentlich über Akten und Briefe in fremden Archiven, die sich auf das
Haus Castell beziehen.
Yer^ine. — Die reiche Sammlung des Vereins für die Geschichte
Leipzigs (vgl I. Band, S. 218 bis 221) entstanden durch fleilsige Arbeit
eines Menschenalters, entbehrte bisher immer noch eines Katalogs. Es be-
1
— 175 —
staad ond besteht noch die Hoffnung, dafs die Stadt die ganze Sammlung
als Geschenk annehmen und zu einem Stadtmuseimi umgestalten möchte»
aber trotz häufiger Erörterungen über den Gegenstand ist bisher ein Beschlufs
noch nicht zustande gekommen. Als daher nach dem Rücktritt des bis-
herigen ersten Sammlungsvörstehers der Vorstand zur Neubesetzung der
Stelle schreiten mufste, hat er sich von dem Gedanken leiten lassen, dafs
die so oft als Mangel empfimdene Katalogisierung nicht länger hinaus-
geschoben werden dürfe und nach einer dafür geeigneten Person gesucht
In Dr. Albrecht Kurzwelly, Direktorialassistenten am Kunstgewerbe-
museum, ist diese gefunden worden. Durch Vertrag hat er sich zur Her-
stellung des Katalogs verpflichtet imd die übernommene Aufgabe schon
wesentlich gefördert, sodais die manigfaltigsten Aufschlüsse in Verhältnis«
mäfsig kurzer Zeit zu erwarten sind.
Der Verein für Rochlitzer Geschichte feierte im Februar dieses Jahres
den Tag seines zehnjährigen Bestehens. Das wäre an sich noch kein
Gnmd, in diesen Blättern auf ihn einzugehen; und es würde auch nicht
geschehen, wenn er nicht in dieser kurzen Spanne Zeit eine Thätigkeit ent-
faltet hätte, durch die er für Vereine gleichen Strebens vorbildlich sein kann;
wenn er nicht gezeigt hätte, was sich in kurzer Zeit auf einem Gebiete thun
lälst, auf dem — wie in dem i. Hefte der Mitteilungen des Vereins zu.
lesen ist — vorher so gut wie nichts geschehen war. — Rochlitz in
Sachsen,, an der Zwickauer Mulde gelegen, ein Städtchen von 6^ Tausend
Einwohnern, ist — das mufs zum Verständnis hier bemerkt werden — eine
sehr alte Siedelung. Die Gegend ist bereits in der Stein- imd Bronzezeit be^
siedelt gewesen ; als Bochelmxe wird der Ort schon in einer Urkunde Ottos I..
von 968 erwähnt Er war Reichsgut, wurde aber 1143 Lehen der Markgrafen^
von Meifsen, war später vorübergehender oder dauernder Sitz mehrerer Kur-
fürsten imd fürstlicher Witwen tmd wurde in allen Kriegen, deren Schauplatz
das jetzige Königreich Sachsen war, stark in Mitleidenschaft gezogen. Die
Stadt tritt deshalb in der politischen Geschichte des Landes verhältnismäfsig
stark hervor, aber auch kulturgeschichtlich hat sie manches Interessante auf-
zuweisen, namentlich wegen der Bedeutung, die der Rochlitzer PoiphyrtuflT
in der Baugeschichte Sachsens erlangt hat
An den wichtigsten Punkten hat nun der Verein, vor allem aber sein
überaus rühriger Vorsitzender, Realschuloberlehrer Dr. Clemens Pfau, ein-
gesetzt, imi auf Grund eingehender, planmäfsiger Forschungen Licht in
die Vergangenheit zu bringen. Die Thätigkeit eines Geschichtsvereins schlägt
sich nieder in seinen Sammlungen und in seinen Veröfientlichungen : Auf
beiden Gebieten hat nun wirklich der Rochlitzer Verein Erstaunliches ge-
leistet Sein Museum enthält nicht nur Raritäten und Kuriositäten der letzten
Jahrhunderte, wie das bei manchen anderen der Fall ist, sondern es birgt
Erzeugnisse menschlicher Thätigkeit von den ältesten Zeiten an; ja die vor^
geschichtliche Abteilung ist eine der wichtigsten der Sammlung und kann
in ihrer Reichhaltigkeit und Vollständigkeit getrost mit ähnlichen Sammlungen,
gröfserer Museen den Vergleich aushalten. Pfau hat, selbst Hacke und Spaten in, ,
die Hand nehmend, die Fluren von Rochlitz und etwa 50 Dörfern der Um-
— IIB —
IfM, tue ndt der Imüftutiön der ^«Sopaiie^^ iä der ZJät der Okkapatibn
des SotbedlaBdes durch dib Ohittdien iii Verbindmig za bHngen ist hk
den BOcbmäta äem Vbikskbm der EoMUz'MiÜwßidä^ Gegend im XVI. wnd
XVih Jahrhanäert, 1899 (VortVag, gehoHen im Ver. f; Sflchs; Vöiksktiode»
Sonderabdnick aus dem v^Rochlitzer Tageblatt'*) und Einxeiheiim oHs dem
Oebkt der BoMUxer Oesekichte, 1901 (Sondeiabdrubk aus dem v»^och-
litz^ Tageblatt '')^ ^rden besöiideii diis Forst- uüd JagÜwirtschaft, die
Fischerei und andidre kulturelle und volkswiHschaftlicfae Verhältnisse hx Sirer
Eoiwickelung seit der Refonhationszeit dargestellt.
£b wäre dem Verein filr Rochlitzer Geschichte nicht mögHch giewesto^
iKeseii au&erordendch reiche Material in Archir und Museum aiizuliäufenv
wenn er nur in Sitzungen und durch die Presse zu Beiträgen aufgefordert
hktte» I^. Pfau hat^ besonders in den ersten Jahren, alles selbst zusammen-
gl^tmgen, die Dachböden durchstdbierty die Leute bei der ArbHt und in den
Schenken ausgehorcht; und wienn er aubh die Hebe Eitelkeit der Leute»
äiren Namen als Schenkgeber im Tageblatt zu lesen ^ staric ausgenutzt hat>
86 hat er doch nach und nach der Bevölkerung einen gewi^en historischen
S&m eingeimpft, der siie alles Alte zu erhalten heifst und der dem unermüd-
lichen Gründer und Leiter des Vereins gestattet, ihre Äcker zu durchfühlen
mid ihre Behausungen zu durchsuchen, der sie sogar veraülafst, Blicke in
ikr Inäei^s thun zu lasseh, die eine Fülle von Sitten, Gebräuchen, Äufse-
ningen des Aberglaubens, Sagen u. s. w. zu Tage treten lassen.
Dr. Paul Zinck.
Lmd^i^s^lilehtllehe Blblioghi^hle ^). — Es ist bekannt« dafo
bei der ständigen Zunahme geschichdicher ArbeitJen in Buchform noch mehr
aber Wegen der in Zeitschriften erscheinenden Aufsätze die periodische Zu-
sammenstellux^ der Titel eine unabweisbare Notwendigkeit geworden bt In
der That haben schon seit langeih verschiedene Zeitschriften, namditiich solche»
die der Geschichtsforscimng eines gröfsereÄ Gebieteis ditaen, jährlich ein-
odet zweimal zusammengestellt, wa^ an Litteratur neu erschienen ist So
verfllhrt das Neue Ärthiv für SOchisehe Otsdtichte und AÜeriumshuhde (Dres-
den) iseit seinem ersten Bande (1880), und die Zeüechrift des Vereins ftir
Thäringisehe Geächidde und AUertumskunde (Jena) ist seit dem 13. Bä^de
(1887) mit einer regelmäfsigen Übersicht der neuerdings erschienenen Litte-
itttBr zur Thürmgischen Geschichte und Altertumskunde gefolgt Die An^
mden des kisiarischen Vereins für den Nüderrheih (Köln) gabeo ein Verzdchnis
dar ilkeuen niederrheinischen Litteratur bisher immer erst im zweiten Jahr
darauf — z. B. die Litteratur von 1897 im Jahre 1899 — > aber neuefdings
ist erfreulicher Weise 1901 das Verzeichnis für 1899 und 1900 zusa&ubeA
erschienen, und zweckmäfsiger Weise sind immer wichtigere Werke dabei so-
gleich kritisch gewürdigt worden. Die Badische Geschichtslitteratur Jedes Jahtes
wird in der Zeitschrift für die Geschickte des Oberrheins (Karlsruhe) inmier
im folgenden Jahrgange aufgeführt Die Altpreufsische Bibliographie erscheint
in gleicher WeÄe in der Attpreufsischen Möndtssdkrift *) (Königsberg) ^ und
i) Schon öfter wurde deren grofse Wichtigkeit in dieser Zeitschrift betont, TgU
L Bd., S. 136, nad II. Bd., S. 17—22.
2) Auch gesondert wird sie aasgegeben: Äitpreufsische Bibliographie für das Jahr
— 179 —
^eaerc&igs ist Potmaern gefolgt» mdaa die jungen Pommeredhen Mirbüeher ^)
^ei&wald) im zweiten Bande (t^ox) die geschichtiiGhe und landesktmdUcbe
litteratur Pommerns für 1S99 und 1900, bearbeitet von H. Runge» bieten.
hl anderen Provinzen und Ländern wird es Tiel&ch ebenso gehalten werden,
und wo es noch nicht geschieht, da ist die Nachahmung dringend zu em-
pfehlen. Es katm kaum zweifelhaft sein, dafs diese «Jahresübersichten in den
Zehsclttiflen» namentlich in der betreffenden Landschaft sdbst, viel wdterver*
breitet werden als die entsprechenden Abteilungen der Jakreeberiehie der Ot-
sehichtswiasmBohaft*)^ zumal da sie meist früher erscheinen und dort z. T.
schon benutzt weiden kdnnen. Mancher, der in die lÄtteratur einer bestimmten
Gegend Emblidc Üiun will, wird Heber lo oder 20 Jahrgänge der landschaft*
Kdien Zeitschrift, die er so wie so nachsdilagen mufe, einsehen als diesdben
Bände der Jahresberichte. Letztere können deshalb yie^icht schon unter den
heutigen Verhältnissen — in Anbetracht des immer wachsenden Umfiu^^es (der
Band 1899 zählt 1555 Seiten!) wird auf eine Kürzung wohl Bedacht genom-
men werden müssen — auf die Bibliographie nach landschaftlidien Gesichts-
punkten verzichten und dafür die sachliche Einteihmg nach Stoffgebieten
weiter ausbilden!
Die JsJiresübersicht ist nur der erste Schritt, um in das Chaos der Ver-
dfientHchimgen einigermafsen Ordnung zu bringen. Der Titel einer Arbeit
ist in der Regel entscheidend, imd nur ausnahmsweise finden Teile aus
gröfseren Werken, die oft von nicht geringer Bedeutung sind, Aufiiahme und
Würdigung. Deshalb bleibt es eine den berufenen Vertretern der landes-
geschichtlichen Forschung, den Historischen Kommissionen sowie Landes-
und Provinzialvereinen, nicht angelegentlich genug zu empfdiknde Aufgabe
zusammenfassende 1 an des geschichtliche Bibliographie be-
arbeiten zu lassen. Abgeschlossen sind derartige Werk« bereits für W^rttem«
berg ') tmd Baden *) , das entsprechende, auch für die deutsche Geschichte
recht wichtige Buch für Belgien, die BihUogretphk i/t nUsknre ek Bdgi'
que von H. Pirenne ist 1902 (Bruxelks et Gand) bereits in zweiter
Auflage erschienen. Die Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte hat
neuerdings die Beiu:beitnng einer Bibliographie der säeheiaohen (}es6h/ichte
beschlossen und Viktor Hantzsch mit Ott Ausführung beauftragt. Eine
Nassauische Bibliographie bearbeitet im Aultrage der Historischen Kommission
für Nassau Bibliothekar Zedier in Wiesbaden. Vielfach verrichten gednrtikte
Kataloge von Spezialbibliotheken gute Dienste: so würde der Katalog der
Abteilung „Geschichte und Landeskunde der Rhemprovinz** in der Kölner
jgoö nehst Nachträgen zu tUn früheren Jahren ^ im Auftrage des Vereins f&r die Ge»
schichte von Ost* und Westpreufsen^ zusammengestellt von Walter Reyer. 1C5nigt-
berg, F. Beyer, 1901. Ji 1^00. — Kritisch hat jdie Litteratar dea Jahres 1900 sar 06-
sehicbte Altpremfoens behandelt Karl Lohmeyer in der „Hiatoiitcheo Viettdjahnohrift''^
4. Bd. (1901)» S. 429—438.
1) Vgl n. Bd., S. u8.
2) Vgl. IL Bd., S. 19.
3) Wilhelm Heyd, BibUogri^kie der ^würtiemttrg^ehm OttdUdUg. • Me.
Siattgait, Kohlhammer, 1895 aad 1897. Pi« 1140 Seiten Itoslen aar 8 ^IQ
4) Badische Bibliothek, I. Abteilang: Staats- und Rechtskunde, 2 Bde. Karlinhe,
1B97/98, zusammen 432 Seiten. 2. Abteiluig: Litteratur der Landes* und Volkskunde
des Orofsh, Baden, t. Bd. Karlsruhe 1901. 715 Betten.
IS*
— 180 —
Stadtbibb'othek, dessen erster Band 1894 als Heft 5/6 der VeröffenÜkhimgen
d&r StadÜnblioihek m Köln erschien» gut zu gebrauchen sein» wenn die
Sammhmg vollständiger wäre und der zweite Teil, der auch das unbedingt
notwendige Register enthalten soll» bereits vorläge. Eine brauchbare Arbeit
dieser Art für Schlesien ist die kürzliche Veröffentlichung von Nentwig:
Siksiaca in der BeichsgrSfUch Schaffgotsch'schen Majoratsbibliothek zu Warm»
brurm, i. Heft, Leipzig, Haisrassowitz 1901. Manche Landschaft hat be-
reits seit längerer Zeit eine Abschlagszahlung erhalten: so hat die Histo-
rische Kommission der Provinz Sachsen Die OeachiehtsqueUen der Pro^
vinx Sachsen im Mittelalter und in der BefomuUiomxeit, bearbeitet von
Walther Schnitze, herausgegeben (Halle 1893), eine sehr verdienstliche
Arbeit, aus der sich jeder rasch über die für jeden Ort vorliegenden Qudlen
•^- einschlieislich der in den Zeitschriften veröffentlichten — unterrichten kann.
Während hier die Darstellungen einer ähnlichen Bearbeitung harren, stellt die
Litteratur der Landes- und Volkskunde des Königreichs Sachsen, bearbeitet
von Paul Emil Richter (Dresden, 1889. 308 Seiten), eine wissenschaft-
liche systematisch angeordnete Bibliographie in handlicher Fonn dar; aber
so nützlich dieses Werkchen ist, so dient es doch mehr den landesgeschicht-
lichen Hilfswissenschaften als der Landesgeschichte. Ähnlich ist das Buch
von Bachmann, Die landeskundliche Litteratttr über die Oro/iherzogtümer
Mecklenburg (Güstrow 1889, S" S- ^% dessen Entstehung direkt auf die
Anregung der vom deutschen Geographentag 1882 eingesetzten „Zentral-
kommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland** zurückzu-
führen ist
Alle genannten sind wissenschafUiche Arbeiten, die naturgemäfs umüang-
reich imd teuer sind und niemab gröfsere Verbreitung finden werden. Aber
andrerseits ist es unverkennbar, dais es vielleicht die wichtigste Aufgabe flir
die Gegenwart ist, die Kenntnis der vorhandenen geschichtlichen litteratur
im Lande zu verbreiten, damit der einzelne, der als Lehrer und Schriftsteller,
Natur- und Geschichtsfreund Blicke in die Vergangenheit seiner Heimat thun
muis und will, einen Wegweiser findet, imter dessen Leitung er auch tiefer
in den Stoff einzudringen vermag. So viel die landesgeschichtliche Forschung
auch noch Arbeit zu leisten hat, die wissenschaftliche Erkenntnis ist un-
zweifelhaft in jeder Landschaft wesentlich gröfser als die populäre Anschauung
zugeben möchte, da sie ihre Unkenntnis gern mit dem Verwände entschuldigt,
man wisse überhaupt von der Vergangenheit des Landes zu wenig. Nur an
der Erschliefsung der Forschungsergebnisse für weitere Kreise
fehlt es, und diese ist das notwendigste, wenn die heimatliche Geschichte
wirklich ein Bestandteil der Volksbildung werden solL Mit einem Buche,
welches die eben skizzierte Aufgabe mit Erfolg für eine Landschaft zu lösen
sucht, sind wir neuerdings beschenkt worden: es ist das im Aufhage des
Karlsruher Altertumsvereins herausgegebene, von Karl Brunner bearbeitete
Werkchen Die Pflege der Heimatgeschichte in Baden, ein Wegweiser fttr
Freunde der badischen Geschichte (Karlsruhe, J. J. Reif^ 1901. 153 S. 8^.
Das wesentlichste daran ist, dafs nicht eine trod^ene Bibliographie, sondern
ein fortlaufender lesbarer Text gegeben wird. Es werden behanddt
I. die öffentlichen Anstalten zur Pflege der Heimatsgeschichte (BiblioAeken,
Archive, Museen und Sammlungen), 2. die Badische Historische Kommission
— 181 —
und die Geschichtsvereine in Baden und 3. die Litteiatur zur Badischen Ge^
schichte (Gesamtbaden, einzehie Landesteile, einzekie Orte, Zeitschriften). Ein
Verzeichnis der wichtigsten Litteratur fiihit alle im Texte erwähnten Bücher
bibliographisch genau an, und das Namen* und Sachregister schliefst das
Ganze ab. Wie wichtig und zweckentsprechend es fUr jeden Bücherbe*
nutzer ist, der nicht an dem Sitze einer gröiseren Bibliothek wohnt,
den genauen Titel der benötigten Bücher zu kennen, darüber wird
kaum Meinungsverschiedenheit herrschen; dafs er auch die verschiedenen
Bibliotheken, wo er eventuell Bücher entleihen kann, mit ihrem vollen
Namen, wie auch hinsichtlich ihrer Einrichtungen und Benutzungsgd-
legenheiten, kennen mufs, wenn er sie benutzen will, ist selbstverständ-
lich ^). Wie die Bibliotheken, so werden auch die Archive und Samm-
lungen kurz ihrem wesentlichen Inhalte nach charakterisiert, aber der
Nachdruck liegt auf dem dritten Abschnitt (S. 22 — 71), der in aller Kürze
den Inhalt der ausgewählten Schriften mitzuteilen sucht, kritische und er-
läuternde Bemerkungen einfügt Natürlich wird man mit dem Bearbeiter im
einzelnen rechten können, warum er gerade dieses Buch aufführt tmd jenes
wegläfst, aber gerade die Masse der Benutzer in und aufser des Landes wird
sich in der Auswahl gern dem Urteil Bnmners unterordnen, der während
seiner mehrjährigen Thätigkeit am Generallandesarchiv in Karlsruhe manche
Probe seiner Sachkenntnis abgelegt hat Es sei hier nur an die in dieser
Zeitschrift, I. Bd., S. 229 — 239, unter dem Titel Fünfzig Jahre oberrhemu
scher Oeachiehtsforschung erschienene Charakteristik der Zeitschrift für die
Oeachichte des Oberrheins erinnert Schon ist, wie verlautet, eine zweite Auf-
lage der ganz trefflichen als Muster für andre Landschaften zu empfehlenden
Schrift in Vorbereitung — der beste Beweis, dafs sie einem Bedürftiis ent*
gegen gekommen ist. Befremden mufs es daher, wie die von der Badi-
schen Historischen Kommission, deren aufserordentliches Mitglied Bnmner
ist, herausgegebene Zeitschrift für die Geschichte des Oberrhems (N. F.,
17. Jahrg., S. 184 — 186) das Werkchen in ganz ungerechtfertigter Weise
wegen der bei einer Auswahl selbstverständlichen Unvollständi^eit —
Vollständiges bietet ja die oben genannte Badische Bibliothek! — angreift
Die Kritik hat offenbar die ganze Absicht des Büchleins nicht verstanden
oder nicht verstehen wollen. Unverständlich bleibt das besonders deshalb,
weil gerade die Arbeiten der Kommission und die Aufsätze der Zeitschrifb
es sind , auf die Brunner durch seine Zusammenstellung das Publikum hin-
weist Der geringe Umfang des Bändchens ist sein ganz besonderer Vorzug,
denn so schreckt es nicht ab, sondern ermuntert zum Nachlesen und jeder,
der tiefer eindringen will, findet den Weg gebahnt bis zu den ersten Quellen
geschichtlicher Erkenntnis.
Wir können nur wünschen, dafs andere Landschaften dem Beispiele
des Karlsruher Altertumsvereins folgen. Wo bereits, wie in Württemberg,
i) Die^Bücherbenntzong könnte noch viel erleichtert werden, wenn die, namentlich
in Prenfsen, aber auch in Osterreich getroffene Einrichtung des aoswärtigen Leihverkeh^i
der Bibliotheken (vgl. diese Zeitschrift, IT. Bd., S. 164—174 nnd 339 — 240) tonächst in
allen deutschen Staaten eingeführt nnd überall auf die freilich meist nur empfangenden
Bibliotheken der höheren Schulen aasgedehnt würde, damit sich scUiefslich alle öffent-
lichen Bibliotheken im Reiche anf diesem Wege gegenseitig ergänzen könnten.
— 182 —
eine grofte Bibliographie Torliegt, ist die Arbeit naturgemäls leichter, als
anderwäits. Aber in diesen letzten Fällen würde em Wegweiser wieder dea
Anfiuig, den ersten Versuch einer systematischen Bewältigung der Utteratur-
massen und den ersten Schritt zu der Bibliographie, die kommen mufr, dar*
stellen. Mögen die Kommissionen, Landes* und ProvinaaWereine, jeder fUr
sein Gebiet sich die Frage Yorlegen, ob sie nicht eben ähnlichen Wegweisar
bald schaffen können und müssen! A. T.
Familleiifarseluilig. — In neuerer Zeit hat sich die SrforscbuQg
der Familiengeschichte auch bei bürgerlichen Familien eingebürgert, und die
entschiedene Vertiefung, welche (fieser Forscbungssweig erfiihren hat, ist
nicht ohne Nutzen für viele andere Gebiete geblieben: vor allem die Sojaal*
geschichte im engeren Sirme kann der Stammbaumforschung nicht entraten.
Die technische Seite, wie mit Erfolg eine Ahnentafel hergestellt wird» bat
Walter Gräbner in dem Wegtoeiger xiyr BeniUxung der Ahneniafel {Cörl^
K* A. Starke, 1900) beleuchtet; Ottokar Lorenz hat in seinem Lehrbuch
4» gesamten wiasenechaftUchen Oenealogie (Berlin 1898) den Zusammenhang
dieser Forschungen mit derGesamIgeschichte hervorgehoben; im OenMlogisehen
Mimdbuch bürgerlieher Familien ^) ist schon viel Material cusammengetrageot
das der Benutzung durch die Geschichtsforschung — namentlich hinsichtlich
der Wanderung seitens der Familien — harrt Seit r. Juli 1900 besteht
auch eine Zeitschrift, die im besonderen der Familienforschung dient: sie trug
im ersten Jahrgang den Titel Der Wappeneammier, seit Beginn des zweites
Jahrgangs aber hei&t sie Weilers Archiv für Slamm^ und Wappenkunde
(Verlag von A. Weller in Kahla in Thüringen, monatlich i Heft in 4 ^, Preis
jährlich 4 Mk., bei direkter Zusendung 4,50 Mk.). BehuCs Gründung einer
Organisation, welche dem Familienforscher seine Arbeit erleichtem soll, er*
schien im Januarheft Z90J ein Aufruf^ von 20 Personen unterzeichnet, der
hier seinem vollen Wortlaute nach ftdgt, da er am besten zeigt, wie die Orgaai*
sation gedacht ist
Es ist ein erfreuliches Zeichen unserer Zeit, daft seit einigen Jahr«-
zehnten« etwa seit der Wiedenuifrichtung des I>eutschen Reichest in
weitecen Kreisen der Sinn ftir Famiüenforschung lebendig geworden ist
Von Jahr zu Jahr mehrt sich die Zahl derjenigen Familient die
Chronik und Stammbaum» diese von ahersber bewährten Einrichtungen
der Adelsgescfalechter und £estbegrüadeten Bürgerhäuser, oidit mehr eo^
behren wollen.
Es ist liier nicht der Ort« den wissenschaftlicbea, stttlichen und
prahrisrhen Wert der Stammkunde zu erörtern; nur auf den einen fae»
deutenden Vorteil möge hingewiesen werden, dals die Veinadhliswigagf
des Familienlebens, jene Schattenseite des Veranslebens« dessen wir in
uasereA Tagen nicht entiaten können, duKJi das Studiuin der XSesobichle
I) JeUt im Auftrage des Vereioi ,^erQld'S heraasgegeben von B. Körner. Die
a ertteo BSode, redigiert von'GustaT A. Seyl^er, erschien 1888 und 1889 bei F. Ifablir
in Charlottenbnrg. Seit dem 1IL Bande (1894) hat der Verein ^Herold'< sich des WedKS
angenommen, das seitdem W. T. Braer in Berlin verlegt Der IV. Band ist 1896^ dar
V. 1897, der VL 1898, der VIL 1900 nnd der VIIL 1901 erschienen.
— 181 —
des eigenen GfscMitrh^ , aind, was damit zuaaaimeniiäagt»' fliudi die
PflMfe der FflKP^ti^gnTianMii^gfhft^glfg't ausgegückea weide|i k^nn«
Wer aber je der Abfassung ' der GescUchte seiner Famifit nitiai
getreten ist, der vird, wenn er bei seinen. Machforsrtiingen nicHt «on
besondei^m Giücke begünstigt wurde, die £ifid|fung gemacht lieben, uäü
weldien Mühen imd Schwierigkeiten « oft aus gans äufeeijichen Gründen,
scdcb^ Arbeit rerbunfkn ist. Es gab Zeiten in der deutschen Gesc^chle,
wo die Sefshaftig^eit der Bevfilkenmg sidi verringerte, Auswanderung von
der urspiün^chen Heimat ^x Nacl^^rgebiete, besonders nach den Ko^pni^
ländem, stattfand; den Spuren eines solchen weitverstreuten GescUecfats
von dem Wohnort des Forschers 411s nachzugehen, ist, o)me fremde
Hilfe in Anspruch zu nehmen, oft ganz unmögtich, die Binatcht in
die Udumden der geistlichen und weldichep Behörden, in öiß Qt^
busts*, Trauungs- und Sterberegister der B&rrämter, in die Indioes der
AiduYe, in die Stadtbücher und Bürger^sten fremder Ortschaft^ iät
■ für den Suchenden mit eriie})lichem Zeit- und Kostenaufivande yerbna-
den, wenn ihm nicht von befreundeter Seite das Nachschlagen edeicbtert wird.
Die Hemmnisse bei solcher Nachschiagung können nnr
durch einen ^ngen Zusammenschlufs d/sr Genealogen Ter«
' ringert werden.
Mancher, der mit der Ab&ssung der Chronik seiner FamHie be*
schäftigt ist, findet z. B. bei Durchsicht der Kirchenbücher, die bekannt?
lidi in früheren Zeiten nicht ^-egistriert worden sind, Angaben über htbßot^
verfaältiiisse von Personen, ^ einem anderen Forscher von gcfifitw
Wichtigkeit sind; wenn er eine Liste der Adressen der Interessenten lUi
Hand hätte ,^ sq könnte er ^ sich it^a darbietende Material jn ei^
^rechender Weise verwerten; weifs er doch, daft die aufgewendete Müht
unter Umständen durch Gegenleistung vergolten wird.
Um Siedle gegenseitige Unterstützung heibetzuftihren, haben «dl
eine Reihe Forscher zu einer freien Vereinigung zusammengeschlossen.
- Alle Freunde der Familienforachung werden zum Beitzitt zu deisettm
fregni^ichst eingeladen und gebeten, ihre Adresse an Frofe^fpr Di* V^r
bescheid in Dresden, Lütdchaustr. 11, zu senden.
Das Organ för diese Vereinigung ist Waliers JbteUo für Stamme
und Wc^jpenkunde. in dieser Zeitschrift werdei| von ^eit zu ^eil die
Namen ^nd Adressen aller Interessenten veröffmliicfat
Der £r£61g ist nicht ausgegeben. Der Verein zur Förderung d^r
Stammkunde ist am x8. Januar z^z irixkUcfa gegründet worden, und
bereit^ x6d Namen kann die zweite Mitgbederiiste auffiifazien. DBß Aibeift&-
prognunm ist zwar im einzelnen nodi nicht festgeatdit, dMUMOwenig SaUHngm
imd Mitgliederbeiträge, dies sind aber in diesem Falle Nebendinge, da es in
erster Lmie für jeden Stammbaumforscher darauf ankommt, die Namen und
J^essen von Personen an m^g^chst viel viSTSchiedenen Orten k/tn^M m lernen,
die ihn bei seinen Arbeiten, so weit sie eben an einen fremden Ort iKihren,
|iQterst(|tzea kö^en. Was die geographische VerteSung der 100 j^t^eder
^ni^^Qgt, ^ J?,i^ geradezu t^t^^ui^k vi^ Qrtc FiJitre^ij, die 'j^ej ^(reijqyi J(ftf^9t^
nur mit einem Mitgliede, fodaft bei den geAöUicfaen Foitgasg vi liiaMT
Richtung ^atsächlicfa vid geleistet werden kann.
— 184 —
FreiUch darüber kann kein Zweifel walten: wir haben hier erst den An-
fang einer ersprielffichen Thäti^eit ! Das wichtigste bleibt immer die Forschung
selbst» die — so ein&ch sie dem Liebhaber zuerst auch erscheinen mag —
rolle Bekanntschaft mit der historischen Forschungsweise voraussetzt, damit
nicht Trugschlüsse die Ergebnisse illusorisch machen, und die vor allem die
verschiedenen Quellengattungen in ihrer Eigenart kennen und alle Hil£miittd
der geschichtlichen Wissenschaft nutzbar machen mufs, wenn sie Erfolge sehen
wilL Der Zufall spielt in der Regel bei Fesstellungen dieser Art eine viel
geringere Rolle, als es zuerst scheint; gute Ergebnisse sind meist die Frucht
besonders fleissiger systematischer Arbeit!
Naturgemäis erste Voraussetzung mufs es für jeden Familienforscher sein,
sich von Vorurteilen zu befreien d. h. bestimmte Thatsachen erweisen zu
wollen, z. R die Herleitung der eigenen Familie von einem berühmten Manne
gleichen oder ähnlichen Namens. Es gilt vielmehr, wie bei vielen Zweigen
kulturgeschichtlicher Forschung, schrittweise nach rüdswärts zu gehen imd sich
von vom herein klar zu machen, dafs bei bürgeriichen Familien eine Rückwärts-
verfolgung des Stammes nur ausnahmsweise bis ins XVL Jahrh. möglich ist —
Die wichtigsten Quellen für die Stammbäume bilden die Vorläufer der mo-
derneren Standesregister, die, weü meist — nicht immer *) — von der Kirche
geführt, kurz als „Kirchenbücher" bezeichnet werden. Diese Tauf-, Trau-
und Sterberegister entsprechen aber selbst im XVUL Jahrh. in Bezug auf ihr
Äufseres nicht den Anforderungen, die man heute an sie stellt Sie sind un-
genau in ihren Angaben tmd vielfach — noch ganz abgesehen von dem leidigen
vrillküiüchen Wechsel in der Namenschreibung — unzuverlässig, sodafs kritische
Untersuchungen meistens erst die Angaben erhärten müssen. Das aller-
wichtigste bleibt die erste Vorfrage : wo liegen gegenwärtig die Kirchenbücher
aus dem betreffenden Orte, wo ich meine Ahnen suche, und wie weit reichen
sie zurück? Für viele Teile Deutschlands läfst sich die Antwort leicht finden,
deim seit einem Jahrzehnt ist der Gesamtverein der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine bemüht, Zusammenstellungen dieser Art anzuregen, und
das Korrespondenzblatt des Gesamtvereins hat wiederholt — zuletzt im 47. Jahr-
gang (1899), S. 56 bis 58 — mitgeteüt, wo entsprechende Arbeiten ausgeführt
worden sind '). Wie sich die Kirchenbücher benutzen lassen, imd wie sie ausge-
beutet werden sollten, das zeigt deutlich der Aufsatz von Gmelin in diesen
Blättern, I. Band , S. 157 — 170: wer einmal jeden Emtrag eines R^^isters liest,
sollte immer auch noch auf andere Dinge mitachten als diejenigen, die er un-
mittelbar sucht Das Urteil über die Führung des Buches im allgemeinen
ist ja stets entscheidend, auch für den einzelnen Fall! — Aber namendich
für die Städte kommen neben den Kirchenbüchern noch viele andere Quellen
in Betracht, die Namen in Masse enthalten: Die Steuerlisten lassen meist zu-
1) In Leipzig z, B. find wohl die Tauf- und Tranr^itter von den Ffarrftmtern ge-
führt worden, Sterber^ster aber nicht; diese hat vielmehr der Rat in der Form von
Begiäbnislisten in der sogenannten „Leichenschreiberei*' gtBÜhrt,
2) Hier möchten wir nur erwähnen, dafs der „Verein für Geschichte der Nenmark'^
(Landsbeig a. W.) 1900 im IX. Hefte seiner Schriften mit der In?entarisienmg der in
der Marii Brandenbmtt vorhandenen ffirchenbflcher begonnen uid sanfichst die Kreist
Oststemberg, Weststemberg, ZflUichan-Sdiwiebiis nnd Krpssen behandelt hat.
— 186 —
l^dch die Vennögenslage erkennen, die listen neu aufgenommener Bürger die
Herkmift, Mi^^liederverzeichnisse der Zünfte die Zugehörigkeit zu diesen.
Wer solches Material benutzen will, muis zunächst wissen, wie das Archiv
der betreffenden Stadt aussieht, ob es reich ist und wie weit die entsprechenden
Akten zurückreichen. Auf diesem Gebiete wächst die Litteratur erfreulicher-
weise täglich, wird aber leider viel zu wenig benutzt; deshalb ist es Pflicht
des Forschers, zunächst die über den Ort, wo er sucht, vorhandene geschicht-
liche Sonderlitteratur und vor allem die Register zu den Urkundenbüchem und
Aktensammlungen sowie die zu den Zeitschriften ortsgeschichtlicher Vereine
anzusehen. Ganz ähnlich steht es mit den jetzt von den meisten Universitäten
veröffentlichten Matrikeln ^), die in neuester Zeit eine ganz überraschende
Menge Aufschlüsse gegeben haben.
Es ist bei Licht besehen ganz derselbe Quellenkreis, mit dem Stamm-
forscher und Ortsgeschichtsforscher zu thun haben, nur mit dem Unterschied,
dafs der erstere oft von dem einen in ein anderes Ortsgebiet überspringen
mufs. Wenn er ersprieüslich arbeiten will, wird er also suchen müssen mit
der Ortsgeschichtsforschung Fühlung zu gewinnen, sei es mit einer
geeigneten Person oder mit den veröffentlichten Arbeiten. Die Kenntnis der
für jede Landschaft und jeden Ort zur Verftigung stehenden Hilfsmittel ist das
erste, aber selbst wo sie vorhanden ist, besteht noch immer die Schwierigkeit,
sich hindurchzuwinden und von vornherein abzuschätzen, welchen Erfolg die
zeitraubende, genaue Durchsicht einer Quelle haben wird : hier kann nur die
persönliche Erfahrung entscheiden, und zur Verhütung von Zeitversäumnis ist
es gut, sich des Rates erfahrener Fachleute zu bedienen. Wie bei jeder
anderen geschichtlichen Arbeit läfst sich auch hier niemals mit Bestimmtheit
vorhersagen, ob überhaupt ein greifbarer Erfolg erzielt werden kann. Die
Wahrscheinlichkeit wächst mit dem Umfange des bearbeiteten Gebietes, des-
halb sollte gerade der Genealog, der naturgemäfs nur wenige für ihn unmittel-
bar verwendbare Notizen in umfiEuigreichen Akten finden kann, stets neben
den persönlichen — eventuell mehreren persönlichen — auch sachliche
Gesichtspunkte verfolgen. Seine Mühe könnte dann wenigstens nie ganz er-
folglos sein imd seine besondere Arbeit kann nur gewinnen, wenn er allgemeine
Er^cheintmgen mit ins Auge £afst — z. B. den Wechsel oder die Beibehaltung
desselben Berufes in einer Familie durch mehrere Geschlechter hindurch.
Wenn so die Genealogie sich der örtlichen Geschichtsforschung nähert, wenn
beide zusammenarbeiten, dann müssen Ergebnisse gewonnen werden, die für
beide Teile gleich wichtig sind: wer je die Stammbaumforschung in
Angriff genonunen hat, der wird erkannt haben, dafs er die Ortsgeschichte
kennen mufs und dafs er nur, versehen mit dem Rüstzeug der geschichtlichen
Forschungsmethode, den Kampf mit den Aktenmassen, besonders der letzten
Jahrhunderte, erfolgreich aufzunehmen vermag. A. T.
KoniHllssloiieil« — Die Wfirttembergische Kommission für
Landesgeschichte*) hielt am s. Mai 1901 zu Stuttgart ihre zehnte
Sitzung ab. Von der Korrespondenz des Herzogs Christoph ist im Dezember
1) VgL darttber diese ZdUcbrift L Bd., S. 175.
2) Vgl IL Bd., S. 190.
— 18a —
1900 der 2. Band erschieaen, der 3. wird hauptsäd^lich dem SLeichstage vap
1535 gewidmet seia, lü^er vom 4. Bande an soll die Veröfentlichung weniger
ausführlich gehalten werden, tttt Der i. Band des Heübponmer Vrkun4&i^
iuchea, beiu-beitet von £. Knupfer, wsu* im Druck bis zum 28. Bogen Tar?
geschritten, den 2. Band wird die Stadtgemeinde durch Dr. v. Rauch be^
aibeiten lassen. — Von den QeßcbicbtHeh&n Liedtm und Sprüchen WftrUea^
lergs ist das 2. Heft ifir. 42^—66), Herzog Ulrich und seiner Zeit gewidmelf
fertiggestellt; dem Herausgeber FtoL Steiff tritt nunmehr Dr. Mehriag
ak Helfer zur Seile, -rr- Von der QesduMe der BehärdenorgcmMoHon tu
Württemberg hat Archivassessor Winterlin einen i. Band, der bis zun
Dreifsigjährigen Kriege führt, druckfertig gesteUt; Privatdozent Käser (Wi^)
wurde auf seinen Wunsch seines Auftrags, die Akten des Schwäbischen
Bundes zu bearbeiten, enthoben. — Die Inventarisation der kleineren Archive
ist unter Oberieitung der fünf Kreispfleger wieder wesentlich fortgeschritten:
au&er den zehn bereits im Vorjahre als vollendet genannten Bezirken sind
jetzt auch in den Bezirken Marbach, Maulbronn und Vaihingen die Arbeiten
beendet. Selbstverständlich findet sich auch in den als erledigt be^eicb-r
neten Bezirken noch immer neue Arbeit : so wurden im Stadtarchiv zu Wangtii
nachträglich noch 2000 Urkunden aufgefunden, die sofort inventarisiert
wurden.
Ausgeschieden sind aus der Kommission durch Tod Bibliotheksdirektor
V. Wintterlin und Prof. v. Heine mann, zurückgetreten ist nach dena
Rücktritte vom Amte des Archivdirektors v. Schlossberge r. Die Geschäft«*
führung übernimmt für weitere 5 Jahre v. Hartmann. Die Einpahmea
und Ausgaben halten sich mit 11574 Mk. das Gleichgewicht.
Die Historische Komniission bei der kgl. Bftyeiisclico Aka-
demie der Wissenschaften^) hielt Ende Mai 1901 ihre 42. Plengr-
versammlimg ab. Für alle Arbeiten konnten erfreuliche Fortschritte verzeicboet
werden, neu ausgegeben wurden Meyer von Knonau, Jahrbücher dee
deutschen Beiches unter Hemrioh IV. und V., 3. Bd. (1077^1084), Deutet
fieiehsiageakten , jüngere Reihe 3. Bd. und ältere Reibe 12. Band sowif
Jügemeine deutsche Biographie, 46. Bd., Lieferung i^T-3. Der neue 6ir
die jüngere Reihe der Wittetsbo/dier Korrespondenz von M. Ritter au^esteUfte
Arbeitsplan wurde durcbberaten imd angenonunen, die Arbeit Privatdox^Qt
Oö^z übertragen, zunädist wird die Zeit von 1693 ^^^ i6^9 ioAngriff ger
Bonunen.
Ab neue ordendiche Mitglieder wurden Prof. Dove (Freiburg i. B«),
Prof. Grauert (München) und Archivdirektor Winter (Wien) gewählt.
I>ie 20. iHenarversaaunlnng der Badisßhea Historischen iCom-
■aissiont) £uid Mitte November 1901 in Karlsruhe 6t«tt. Neu «usgegebe»
wurden im Berichtsjahre fit^nde Veröffientüchungen : als Neujahrsbl^tt fyf
i) Über die 41. Plenanrersamm^yig vgl, dieie ZeiUchrift IL Bd., S. 19Q bis 191.
2) Vgl IL Bd., S. 237.
— 187 —
1901 P. Albert, Badern zunschen Neckar und Mann im de» Jahren 18B3
his 1806, vom Oberbadiaehen BeschMtterbueh eracbieii die 3. Litfening des
2. Bds., von der Polnischen Korreepondmx Karl Friedriehs wm Baden der
5. Bd., von den Btgesten der Markgrafen von Baden und Baebberg die ersten
bttden Lieferungen des 2. Bds., von den Btgeaün der Bischöfe van Rtmaianx
die 4. Lieferung des 2. Bds. Alle anderen Unternehmungen haben erfreu^
liehe Fortschritte gemacht; Erwähnung verdient vor allem, dafs bereits im
laufenden Jahre der Druck der 2. Auflage des Topographischen Wörkrbuchs
des Qro/^herxogtums Baden beginnen wird ; das ganze Werk im Umfang von
^o Bogen soll in 4 Halbbänden 1903 tmd 1904 erscheinen. Von allgemeinem
Interesse für den Archivar und Quellenherausgeber ist der als Beilage ge-
druckte ausführliche Bericht von H. Witte (Hagenau) über die Arbeit an den
Regesten der Markgrafen von Baden und Hachberg: Die neuerdings ge*
echaffenen Erleichterungen in der Archivbenutaung treten
darin recht deutlich hervor. — Als Vorstand der Kommission wurde
für 5 Jahre Prof. Dove (Freiburg) gewählt, als aufserordentliches Mi^ed
Friedrich Walter (Mannheim).
Am 14. Dezember 190X hielt in Leipzig die Königlich Sächsische
Kommission für Geschichte') ihre 6. Jahresversammlung ab. Die
grofse Zahl der Unternehmungen ist im Berichtsjahre sehr gefördert worden,
es steht die Ablieferung druckfertiger Manuskripte und die Vollendung des
Druckes mehrer Veröffentlichungen im Jahre 1902 bestinmit in Aussicht,
aber ausgegeben worden ist im Jahre 1901 nichts. Neu beschlossen wurden
folgende Unternehmungen: Bearbeitung einer Bibliographie der sächsischen
Geschichte, welche Viktor Hantzsch ausführen wird, eine Ausgabe von
Luthers Tischreden nach einer Leipziger Handschrift des Mathesius wird
Bibliodiekar Kroker besorgen, die Bearbeitung der Ständeakten hat
Woldemar Görlitz übernommen. Über die Anlage des historischen
Ortsverzeichnisses hat Beschorner eine ausführliche Denkschrift ein-
gereicht, die vor allem Verzeichnung der Flurnamen und der Wüstungen als
Vorarbeiten fordert. Behufs näherer Prüfung dieser Fragen und zur Förderung
der übrigen historisch*geographischen Unternehmungen wurde ein besonderer
Ausschuls eingesetzt
Zum Stellvertreter des geschäfbführenden Mitglieds der Kommission wurde
Prof. Seeliger gewählt Die Zahl der Subskribenten beMgt 227.
Personallen. — Am 28. Nov. 1901 starb in Erlangen, 84 Jahre
alt, der bekannte Deutschrechtler und Rechtshistoriker Professor Dr. Gott-
fried Heinrich Oengler. Geboren am 27. Juli 18 17 in Bamberg, habili-
tierte er sich im Okt 1843 an der Universität Eiiangen, wurde 1847 au&#r-
ordentlicher und am 18. Okt 1851 ordendicher Professor der Rechte aa
^eser Hochschule, der er somit, ein seltener Fall, aüein als Ordinariss
fünfzig Jahre angehört hat Nachdem er seine litterarische Thätigkeit mit
«iner Arbeit aus dem Strafrecht begonnen hatte, wandte er sich sehr bald
I) v^ IL B4., S. 234.
— 188 —
deutschrechtlichen Forschungen zu. Die erste grdfsere Arbeit auf diesem
Gebiete waren seine Dendsehen StatÜrechie des MiUelaUers , teüs verxeuJmei,
ieÜ8 voUständig, oder in Probeausxügen, Erlangen 1851, und neben der
deutschen Rechtsgeschichte überhaupt, hat er dieses Forschung^^biet bis
zu seinem Lebensende mit besonderer Vorliebe und unermüdlichem Fleifse
gepflegt Dahin gehören u. a. seine Arbeiten: Das Hofrecht des .Bisehofs
Burchard von Worms, Erlangen 1859. — Über Aeneas Syknus U9ui seine
Bedeutung für die deutsche Rechisgeschichte , Erlangen 1860. — Ckxiex
iuris munic^Mlis Oennaniae medii aevi, Begesten und Urkunden xwr
Verfassungs" und ReMsgeschiehte der deutschen Städte im MittekUier, Er-
langen 1863 bis 1867. — Oennanische Bechtsdenkmäier, Leges, aqniularia,
formulae. Erlangen 1875 , ^^ Buch, welches Auszüge, Proben mit Ein-
leitung tmd Kommentar enthaltend, als Hilfsmittel beim akademischen Unter-
richt dienen sollte. Weiter Ein Blick auf das Bechtsleben Bayerns, Kriapgen
1880. Dann das Resultat eines immensen Fleifses und einer ganz erstaun-
lichen Einzelforschung: Deutsche StaeUrechts-AÜeriümer^ Erlangen 1882, das
er der Würzburger Universität zu ihrem Jubiläum widmete. — Beitrüge xur
Bechtsgeschichte Bayerns, i. bis 4. Heft, Erlangen 1889 bis 94. — Die Quellen
des Stadtrechts von Begensburg aus dem 13. bis 15, Jahrh,, Leip»g 1893.
Aus den vielen kleineren Arbeiten verdienen an dieser Stelle noch
hervorgehoben zu werden: Über den Einfluß des Christentums auf das
altgermanische Bechtsleben, Erlangen 1854. — Becktsattertümer im Nibelunffen^
liede in Ztschr. f. deutsche Kulturgeschichte, 1858, S. 191 ff. — Über Sed^
bader ebendas. N. F. (1873), S* 57^^ ^^ ^<^h ^^ Kritik manches
an seiner Methode tadeln, hin und wieder nicht ohne Grund das abschlidsende
Urteil vermissen, so hat er doch in seinen Arbeiten eine solche Fülle
historischen Materials zusammengebracht, dafs man lange davon zehren und
sein Name stets in Ehren bleiben wird. Ein echter deutscher Professor
alten Schlages, der ohne Neigtmg viel in die Öffentlichkeit zu treten, von
£Eist übergroßer Bescheidenheit nie nach äufseren Erfolgen strebte imd nichts
Höheres kannte als die Arbeit, konnte er sich selbst nie genug thun. Die
letzte Angabe, die er sich stellte, war eme alphabetisch geordnete Geschichte
und Darstellung der mittelalterlichen Rechtsquellen aller deutschen Städte
von der gröisten bis zur kleinsten. Es ist ihm vergönnt gewesen, nach
zehnjähriger, tmtmterbrochener Arbeit das grofse Werk, das demnächst er-
scheinen soll, drei Wochen vor seinem Tode zu vollenden. Seine vielleicht
einzig dastehende, mit grofser Liebe gesammelte Bibliothek zur deutschen
Stadtgeschichte hat er der Erlanger Universität vermacht.
Genau acht Tage nach Gengier starb im 88. Lebensjahre am 5. Dez.
X90X der Nestor der Erlanger Universität und zugleich der Nestor da
deutschen Geschichtsforscher Karl von Hegel. Geboren am 7. Juni 18 13
zu Nürnberg als Sohn des Philosophen Hegel, des damaligen Gymnasial-
rektors, wurde er nach Beendigung seiner Studien tmd einem längeren
Aufenthalte in Italien im Herbst 1840 Hilfslehrer am Kölnischen Gymnasium
in Berlin. Wenn er schon im Mai 1841 als auiserordentlicher Professor
der Geschichte nach Rostock berufen wurde, so verdankte er dies wohl dem
— 189 —
guten Eindruck mehrerer Rezensionen über historische Werke, denn ftuiser
seiner Dissertation über Aristoteles und der neuen Ausgabe der Geschichts«
Philosophie seines Vaters war er litterarisch noch nicht hervorgetreten, und
erst im Jahre 1847 erschien sein erstes gröfseres Werk, das dann fUr die
gesamte Richtung seiner Arbeiten grundlegend wurde, seine Oesekichte der
Städieverfassung in Italien. Sein Resultat — so bestimmte er es selbst
in einem Briefe an seinen Bruder — „dafs das italienische Wesen in den
städtischen Republiken auf rein germanischen Grundlagen mit schwacher
Färbung römischer Traditionen beruhe'S bedeutete zugleich einen siegreichen
Angriff auf Savigny und seine Schule. Im Jahre 1848 zum ordentlichen
Professor ernannt, entfaltete er in diesem imd dem folgenden Jahre als
Redakteur der in Schwerin erscheinenden Mecklenburgischen Zeitung, wenn
auch auf kleinem Gebiete, eine nicht unbedeutende politische Thätigkeit,
die ihm auch einen Sitz im Erfurter Parlament von 1850 eintrug. Die
Schilderung dieser Zeit gehört zu dem Anziehendsten in seiner unter dem
Utel Karl Hßgel, Leben und Erinnerungen, 1900 (Lieipzig, S. Hirzel) heraus-
gekommenen Selbstbiographie. Im Jahre 1856 führte ihn ein Ruf an die
Erlanger Hochschule m die fränkische Heimat zurück, und hier entstand
dasjenige Werk, in welchem er der deutschen Wissenschaft und sich selbst
ein monumentum aere perennius gesetzt hat, die im Aufbrage der Münchner
historischen Kommission unternommene Herausgabe der Chroniken der
deutschen Städte, die von 1862 bis 1899 teils von ihm selbst, teils von durch
ihn gewählten Mitarbeitern bearbeitet, in 2 7 Bänden erschienen. Die damit
gegebene Kleinforschung entsprach so recht seiner Eigenart, aber dafs er da-
neben die grofisen und allgemeinen Gesichtspunkte nicht aufser acht lieis,
zeigte, um von anderem abzusehen, sein groises Werk Städte tmd, Gilden der
gemumisehen Völker im Mittelalter, 2 Bde., Leipzig 189 1, womit der 78 jährige
die gelehrte Welt überraschte und zum Teil auf ganz neuen Grundlagen von
neuem der historischen Rechtsschule den Fehdehandschuh hinwarf. Und
sieben Jahre später fiafste er seine Resultate noch eiimial in der knappsten
Form, die in nichts an das Greisenalter des Verfassers erinnert, zusammen
in seinem kleinen Buche : Über Entstehung des deutschen Slädtewesens 1898.
Seine Geistesfrische hatte etwas geradezu Phänomenales. Mit dem lebhaftesten
Interesse beteiligte er sich bis zuletzt an den Sitzungen und Verhandlungen
der historischen Kommission, der Kommission der Monumenta Germaniae
historica, des Vorstandes des germanischen Nationalmuseums. In einem Alter,
in dem sonst selbst bei den Hervorragendsten das allgemeine Interesse
schwindet, schien es bei ihm immer mehr zu wachsen, konnte er sich
neuen Problemen tmd Plänen zuwenden. Noch einige Wochen vor seinem
Tode besprach er mit dem Unterzeichneten den Plan, neue archivalische
Forschungen über die Geschichte der kaiserlichen FÜh in Forchheim zu
unternehmen. Ein sanfter Tod ohne eigentliche Krankheit endete dieses
harmonische Gelehrtenleben. Ein Verzeichnis seiner Schriften findet sich
in seiner oben erwähnten Selbstbiographie.
Erlangen. Th. Kolde.
Als Nachfolger Varrentrapps wurde der Berliner Privatdozent, Archivar
und Herausgeber der Historisdwn Zeitschrifl Friedrich Meinecke als
— 190 —
oitkadicheT Prof. der Geschichte nach Straisbuig bentfen; gleichzeitig wurde
der «ufserordentHche Prof» in Bonn Martin Spahn ebenfalls in Strafi^nng
tum Ordinarius ernannt Der Bre^uer Prof. Alois Schulte scheidet aus
sdnenl Amte aus, um als erster Sekretär des preuisischen historischen Instituts
nach Rom zu gehen. In Königsbeig legte Prof. Haas Prutz wegen eines,
sdiweren Augenleidens sem Lehramt nieder. 2>an ordentlichen Prof. der
Kunstgeschichte in Bonn wurde der bisher als Ordinarius an der Kunstakademie
zu Düsseldorf thääge Prof. Paul Giemen ernannt In Berün habiütierte sich
für Geschichte W. t. Sommerfeld. Der Archivar am Grdfsh. Haus- und
StaatsarditT zu Daimstadt Dr. Dieterich ist ans dem Ldirkörper der Uni«
▼ersität Giefsen endgiltig ausgeschieden.
Es starben: am 30. Jtmi 1901 der auf dem Gebiete der vorgescfaich^
liehen Forschung in Schwaben vielfach thätige Major Freiherr von Tröltscfa;
am II. August der fiüfacre Prof. der Geschichte in München, einst Mit*
glied des Frani^rter Pariaments, Nepomuk Sepp, 85 Jahre adt; am
14. August der Nürnberger Kreisarchivar Alfred Bauch, 40 Jahre alt;
am 50. August der Augsburger Stadtarchivar Adolf Buff^ 63 Jahre alt;
am 9. Sept der Profi der Geographie imd Völkerkunde in Wien Wilhelm
Tomaschek^ 60 Jahre alt; am 13. Okt der för die Geschichtsforschung
der Ostseeprovinzen tbätige Anton Buchholtz, 53 Jahre alt in Riga; am
so. Okt der Herausgeber der Heasiseken Kv/nstdenkmäler Bickell, 61 Jahre
alt in Marburg; am 15. Nov. der Münchner Kreisarchivar Eberhard Zira-
giebly 70 Jahre alt; am 21. Nov. der um die GrundkartenhersteUung ver-
diente Adolf Brecher, 65 Ji^re ak in Berlin; am 23. Nov. der Provinzial-
konservator für Brandenburg Gustav Bluth, 72 Jahre alt; am 2. Dez. der
Direktor der Hamburger Stadtbibltotbek Franz Rudolf Eyssenhardt,
63 Jahre alt; am 15. Dez. Oberkonsistoriahat Gerhard Uhlhorn, seit
1884 Präsident des Historischen Vereins für Niedersachsen, 75 Jahre alt;
am 29. Dez. der Freiblirger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus,
61 Jahre alt in San Remo; am 17, Januar 1902 der Berliner Prof. der
Geschichte Paul Scheffer-Boichorst, 59 Jahre alt; am 23. Februar
der frühere Wiener Prof. der Geschichte MaxBüdinger^ 73 Jahre ah.
Im Bereiche der KgL Preußischen Staatsarchive winde Archivar v. Petcra«
dorff von Koblenz nach Stettin, Archivrat Winter von Stettin nadi Osna*-
brück, Archivassistent Spangen berg von Berlin cach Münster^ Archiv*
assisteot Löwe von Hannover an das Geh. Staatsarchiv in Berlin versetzt
Geh. Archivrat J. Grofsmann, Kgl. Preu&ischer Hausarchivar, trat in den
Ruhestand, sein Nachfolger wurde Ardiivrat Prof« Bern-ei. Die Aiofalv^
assisteuten v. Domarus imd Schaufs in Wiesbaden wurden zu Archinorcn
ernannt — An Stelle des nach Elberfeld übergesiedelten Prof. Bü bring ist
die Verwaltung des Regierungsarchivs in Arnstadt Dr. Herthum übertiagen
worden. '^^ In Bayern wurde der Reichsarchivsekretär Franz Löher zum
Kreisarchivar in München (als Nachfolger Zimgiebls), der Kreisarchivsekretttr
in Würzburg Heinrich Sommerrock (als Nachfolger Jörgs) zum Kreis-
archivar in Ländshut, Dr. Knapp zum Kreisarchivar in Nürnberg ernannt
Zum Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Tübingen wurde Pfarrer
Dr. Gräbmanb, zum Vorstand der Murhardschen Bibliothek in Kassel der
Jenaer Universitätsbibliothekar Steinhausen ernannt Die Direktion, der
— 191 —
KAiser-Wilh^lm-Bibliodiek in Posen hat der bisherige Greifswakier Oberbiblio-
thdLar R. Focke übernommen; zum Direktor dtr Stadtbibtfodiek in Ham-
burg wurde R. M ü n ze 1 , ObetbiUiothekar im der Beriiner UniTirsitätsbiUiothek^
berufen.
Als Nachf(%er des Geh. Obaregienmgsntes Peilnus wurde Hanft
Lutsch unter Ernennung zum Geh. Regierungsrit zum Konservator der Kunst-
denkmäler in Preu&en berufen. Als Lutschs Nachfolger wurde zukn Proviilzial-
konservator für Schlesien Regierungsbaumeister Burgemeister bestellt In
Brandenburg übernahm das Amt des Provinzialkonservators Landbauinspektor
Büttner. Der Direktor der Ktmstsammlungen auf der Feste Koburg Dr.
Koetschau wurde als Direktor des Kgl. Historischen Museiuns und der
Gewehr-Galerie nach Dresden berufen. Sein Nachfolger in Kobiu-g wurde
Major a. D. J. Lofsnitzer.
Elngegansone Bfidi^t*
Lindner, Theodor: Geschichtsphilosophie , Einleitung zu emer Welt-
geschichte seit der Völkerwanderung. Stut^art, J. G. Cottasche Buch-
handlung, 1901. 206 S. 8®. M. 4.
Müller, R.: Übersicht der Grenzen im Saargebiet in den Jahren 1790,
18 14 und 18 15, Karte bearbeitet nach der von W. Fabricius (Geschicht-
licher Atlas der Rheinprovinz). Text^ S. 435 — 446. [Anlage zu Mit-
teilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, Heft 8. Saar-
brücken, Schmidtke, 1901.]
Nentwig, Heinrich: Silesiaca in der Reichsgräflich Schafigotsch'schen
Majoratsbibliothek zu Warmbnmn. i. HefL Leipzig, O. Harrassowitz,
1901. 232 S. S^,
Oidtmann, Heinrich : Im Zeichen des heiligen Sebastianus. [Sonderabdruck
aus der Linnicher Zeitung, Januar bis Juli 1901.]
O tto , F. : Das Necrologium des Klosters Ckrenthal bei Wiesbaden. [= Ver-
öffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau III.J Wiesbaden,
J. F. Bergmann, 1901. 120 S. S\ M. 3.
Overmann, A.: Die Stadtrechte der Grafischaft Mark i: Lippstadt.
[= Veröffentlichungen äer Historischen Kommission fUr Westfalen.
Rechtsquellen. Westfälische Stadtrechte L] Münster i. W., Aschen-
dorffi 1901. 147 S. 8^ M. 6.
Pallas, K.: Geschichte der Stadt Herzberg im Schwemitzer Kreise. Herz-
berg {Elster), Selbstverlag des Verfassers, 1901, erste imd zweite
Lieferung, je 50 Pfennige. 96 S. 8^.
Pirenne, Henri: Les comtes de la hanse de Saint-Omer. [= Buüetui
de Tacademie royale de Belgique nr. 6 (1899), S. 525—528.]
Raab, C. von: Die von Kaufiungen, eine historisch-genealogische Studie.
[=r 70. und 71. Jahresbericht des Vogtländischen Altertumsforschenden
Vereins zu Hohenleuben, 1901, S. i — 75.]
Redlich^ Otto: Register zu Band I bis XXX der Zeitschrift des Bergisohen
Geschichtsvereins. Elberfeld, B. Öartmann, 1900. 576 S. 8^
Roch oll, Heinrich: Anna Alexandria, Herrin zu Rappoltstein, eine ^evan-
gelische EdeUrau aus der Zeit der Reformation im Eisais. [= Schrift
— 192 —
für das deutsche Volk, herausgegeben vom Verein für Reformations-
gcschichte XXXVL] Halle a. S., Max Ifiemeyer, 1900. 48 S. i6».
Runge, H.: Geschichtliche und landeskundliche Litteratur Pommerns 1899
und 1900, [«— Pommersche Jahrbücher 2. Bd, (1901). S. 176-^185.]
Schnell, Otto: Salzburg-Führer, Geschichte und Beschreibung der alten
Kaiserpfalz Salzburg a. d. fränk. Saale. 3. vermehrte Aufl. Stahel*sche
Verlags- Anstalt in Würzburg, 1900. 108 S. 8^ M. i.
Berichtigungen
Unter den Personalien S. 30 imd 31 ist fälschlich S. 30, Z. 4 v. u.
Arthur Haseloff als Privatdozent der Geschichte angeführt, er hat sich
vielmehr für Kunstgeschichte habilitiert. S. 31, Z. 13 v. u. ist statt Rudolf
Seh ei dt zu lesen Rudolf Schmidt, und der Name des Assistenten am
Germanischen Museum ist Fritz Traugott Schulz; der Zuname war irrtümlich
ganz weggeblieben.
In dem Nekrolog für Edmund Jörg S. 95 ist angegeben, er habe
1900 eme Neubearbeitung seines 1851 erschienenen Buches über den
Bauernkrieg 1522 bis 1526 veröffentlicht E>ie auch anderweitig zu findende
Angabe ist falsch, eine Neubearbeitung ist nicht erfolgt Zurückzuführen ist
sie auf einen sehr ausführlichen und offenbar von sonst gut unterrichteter Seite
verfafsten Nekrolog in der Äugsburger Pöstxeüung Nr. 264 vom 20. Nov.
X901. Die Redaktion.
In meinem im Februarheft veröffentlichten Aufisatze 2kir Geschichte der
landesgeschichtlichen Forschung in Lothringen entspricht die DarsteUung der
Entstehung der Kommission S. 126 nicht ganz dem thatsächlichen Hergang
in seinen Einzelzügen. Der Irrtum entsprang der Nichtbeachtung einer im
Jahrbuch IV i' unter den Sitzungsberichten verüiffentlichten Notiz. Demnach
wies Archivdirektor Wolfram schon im Sept 1892 in einem Vortrage über
die Gesta episcoporum Metensium darauf hin, dafs es Aufgabe der Gesellschaft
sein werde, die lokalgeschichtlichen Quellen herauszugeben. Der Plan wurde
im Vorstande erwogen und fand durch den damaligen Vorsitzenden Freiherm
V. Hammerstein eifrige Fördemng. Ein offizieller Antrag auf Bewilligung
von Mitteln wurde im Okt. 1895 an das Ministerium gestellt. In demselben
Winter erfolgte dann von Strafsburg aus (vgl. Jarhrbuch VII«, S. 212) der
Antrag, eine Kommission zur Herausgabe elsafs -lothringischer Geschichts-
quellen zu begründen. Die Gesellschaft für lothrmgische Geschichte trat diesem
Plane bei. Als aber die Mittel fUr diese Kommission abgelehnt waren, nahm
die Gesellschaft ihren alten Plan wieder auf und erhielt auch vom Ministerium
undLandesausschufs die nötigen Mittel zur Herausgabe lothringischer Geschichts-
quellen, worauf eine Kommission aus der Gesellschaft heraus berufen wurde.
Metz. Müsebeck.
H«mug«b«r Dr. Amin TiU« ia Leipslff. ~ Druck und V«rlag von Friedrich Aadrvat PcrtbM in GoAa
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
Bur
Förderung der landesgescMchtlichen Forschung
III. Band Mai 1902 8. Heft
Ortsgesehiehte
Von
Peter P. Albert (Freiburg i. Br.)
Die Fortschritte und Errungenschaften der seit nahezu einem Jahr-
hundert in stetig aufsteigender Linie begriffenen Entwickelung der
historischen Methode sind nicht zuletzt auch der Lokalgeschicht-
schreibung zu gute gekommen ; namentlich hat die heute herrschende
wirtschaftliche Betrachtungsweise befruchtend auf sie eingewirkt und
sie in den letzten Jahren zu einer gewissen Blüte gebracht. Der Gang
dieses an Arbeit wie an Irrwegen so reichen, an Erfolgen aber bis zu-
letzt so armen, weil fast ausschliefslich von Dilettanten gepflegten
litterarischen Betriebes sowie die Verkettung der verschiedenen, dabei
in Betracht kommenden Ursachen bilden ein lehrreiches Stück in der
Geschichte der neueren deutschen Historiographie und einen warnen-
den und weisenden Führer zugleich für alle, welche dieser mühevollen,
wenig geachteten und wenig lohnenden Liebhaberei sich hmgeben
wollen.
Man hat schon im XVIII. Jahrh. Ortschroniken geschrieben und
versucht, nicht blo(s Heimatskunde und Vaterlandsliebe damit zu ver-
breiten, sondern auch die allgemeine Geschichte damit zu beleuchten.
Es geschah aber meist in einer ganz unzureichenden, oft so kindischen
Weise, dafs der beiisende Spott wohlverdient war, den G. W. Rabe-
ner in seiner Satire: Ein Auszug aus der Chronike des Dörßeins
Querlequttsch , an der Elbe gelegen (1742) über diese Gattung
der Geschichtschreibung ausgofe ^). Auch die Richtung, welche die
deutsche Geschichtswissenschaft mit dem Beginne des XIX. Jahrh. nahm,
war der lokalen Geschichtschreibung weder an sich noch ihren Be-
ziehungen zur allgemeinen besonders förderlich. Von der ganzen viel-
i) G. W. Rabener, Satiren, i. Teil Reutlingen 1788. S. 171— 191 ; roerst
1742 in J. Schwabei Belustigungen des Verstandes und Witzes veröffentlicht
14
— 194 —
gestaltigen, seit der Begründung der „Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde** (1819) erfolgten Entwickelung der vaterländischen
Geschichtschreibung, wie sie durch sorgsame Durchforschung der
handschriftlichen Bestände von Archiven und Bibliotheken, durch die
immer allgemeinere Anwendung kritischer Grundsätze, durch die Er-
gänzung der politischen Geschichte mittels kulturhistorischer Unter-
suchungen im weitesten Sinne, durch das Streben endlich nach einer,
des Gegenstands würdigen, künstlerisch abgerundeten Darstellung sich
offenbarte, von dieser ganzen vielgestaltigen Entwickelung blieb das
in Deutschland mit so viel Eifer angebaute Feld der Orts- und Landes-
geschichte noch lange Zeit hindurch so gut wie unberührt. Es waltete
hier ein, sicherlich zumeist sehr gut gemeinter Dilettantismus un-
entwegt fort, der als einzige Vorbedingung geschichtschreiberischer
Thätigkeit die Liebe zur Sache ansah und darüber Quellenforschung
wie Kritik vernachlässigen zu dürfen meinte. Den Erzeugnissen solcher
übelberatenen Liebhaberei gewährte zudem eine grofse Anzahl von
Vereinszeitschriften nachsichtige Aufnahme und Verbreitung, und so
konnte es nicht ausbleiben, dafs man in den Kreisen der „zünftigen**
Forscher von dem „Lokalhistoriker** mit groCser Geringschätzung sprach
und vielfach jetzt noch spricht.
Wie ungemein oft findet man auch in der That nicht blois in
älteren, sondern selbst in neueren und neuesten Ortsgeschichten eine
erschreckende Unbeholfenheit und Unkenntnis , wie äufserst selten nur
eine oberflächliche Vertrautheit mit den Grundregeln der historischen
Methode ^) ! Den Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte glaubte
man vollkommen dadurch zu wahren, dafs man die Beziehungen der
lokalen Vorgänge zu denen der grofsen Politik nachzuweisen und die
Geschichte des kleinsten Ortes dadurch interessant und lehrreich zu
machen suchte, dafs man mit aller Gewalt alles das genau verfolgte
und zusammenstellte, was von den Ereignissen der grolsen Welt
auf dem engen Schauplatze sich abgespielt und welchen AnteU hin-
wieder der Ort und seine Umgebung an den allgemeinpolitischen Be-
gebenheiten genommen hat, welche bedeutende Persönlichkeiten und
in welcher Rolle sie hier aufgetreten sind und dergleichen kleine und
kleinste Einzelheiten mehr. Auf diese Weise lernte man in jeder Orts-
geschichte fast die ganze Weltgeschichte kennen, was nicht blols auf
i) Vgl. z. B. im Vorwort zu der soeben erschienenen Geschichte der Stadt Ettlingen
das ergötzliche Bedauern des Verfassers, des Lehrers Benedikt Schwarz, dsSs ihm
bei Inangriffnahme seines Werkes nicht ein wertvoUes Archiv zn Gebote stehe, „woraua
eine Geschichte leicht zasammengestellt werden kann"!
— 195 —
den Gebildeten, sondern auch auf den ungebildeten Landbewohner ab-
stoßend wirken mufste. Hatte ein Verfasser in einem Anflug höheren
Strebens vielleicht noch abenteuerliche Streifzüge auf das Gebiet der
Rechts- und Verfassungsgeschichte gewagt und am Ende noch litterar-
und kunsthistorischen Merkwürdigkeiten des Ortes und dessen entfernter
und entferntester Nachbarschaft nachgespürt und sie ins Unglaubliche
aufgebauscht, so war sein Autorenruhm in seinen und seiner Zeit-
genossen Augen glänzend befestigt!
Es ist lehrreich zu verfolgen, wie trotz zahlloser Fehler und
Mängel die Keime einer wahren historischen Auffassung und Betrach-
tung von jeher in den Lokalgeschichten verborgen lagen, aber bei
der kleinkrämerischen und zusammenhangslosen dilettantischen Be-
handlungsweise nicht zum Ausdruck und zur Entfaltung gedeihen
konnten. Der von der romantischen Dichter- und der historischen
Rechtsschule seit dem Anfang des XIX. Jahrh. ausgeübte weckende Ein-
flufs war dem halben Auge der Ortsgeschichtsdilettanten unbemerkt ge-
blieben, erst die neueste Zeit mit ihrer Erfindungsgabe und ihrem Aus-
bildungstalent, womit sie die einzelnen Wissenschafts-Disziplinen in stau-
nenswerter Weise ausgestaltet, hat auch von der Lokalgeschichtschreibung
denUnsegen der Rückständigkeit hinweggenommen. Die Erkenntnis, dafs
die gemeindeutsche Geschichtswissenschaft auch auf die gesicherten Er-
gebnisse der orts- und landesgeschichtlichen Untersuchungen angewiesen
sei, wenn anders sie der hohen Aufgabe einer allseitigen und erschöpfen-
den Darstellung der vaterländischen Vergangenheit jemals gerecht wer-
den wolle, gewann immer mehr Raum in den Kreisen der fachmänni-
schen Gelehrsamkeit, der es nun als Pflicht erschien, hier helfend und
bessernd einzugreifen. Diesem Bestreben hatten einerseits die zur
Pflege der Lokal- und Territorialgeschichte bestehenden Vereine ihre
Neubelebung und Neugestaltung zu verdanken, andrerseits entstanden
in zahlreichen Staaten neue Vereinigungen, die, nach Art der Gelehrten-
akademieen eingerichtet, die Errungenschaften der historischen Methode
auf die Orts- und Landesgeschichte anzuwenden ausgingen. Neben
der Hauptaufgabe, die besonderen Quellen der Lokal- imd Territorial-
geschichte, nach bestimmten sachlichen Gesichtspunkten zusammen-
gefaßt, in möglichster Vollständigkeit der Forschung zugänglich zu
machen, nahmen sie auch Einzeldarstellungen gemeinverständlichen
Inhalts, wie sie z. B. die „Neujahrsblätter** *) bieten, in ihr Programm auf.
Die Thätigkeit dieser mit dem modernen Forschungsapparat ausgerüste-
i) Vergl. n. Bd., S. 214, Anm. i.
14
— 196 —
ten und mit reichen Mitteln arbeitenden Gesellschaften und Kommissionen
übte alsbald auch auf dem Gebiete der Lokalhistorie die beste Wirkung.
Auf diesem selbst hatte es schon früher an eigenen Versuchen
zur Vervollkommnung nicht gefehlt, wenn auch der Erfolg nicht durch-
schlagend und nachhaltig genug war. Hier war es, wo sich der um
die Erforschung imd Darstellung der badischen Landesgeschichte viel-
fach verdiente Archivrat Joseph Bader m Karlsruhe, obzwar nicht
Fachmann im strengen Sinne des Wortes, die grö&ten Verdienste er-
warb. Mit seiner 1839 begonnenen Badenia oder „Das badische Land
und Volk, eine Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Landes-
kunde mit Karten, Lithographieen imd kolorierten Abbildungen von
Landestrachten" \ die, durch die 48er Wirren unterbrochen, seit 1853
in seinen Fahrten und Wanderungen im Hetmatlande *) eine Art
Fortsetzung erfuhr und 1859 als Badenia ^^ erneuert wurde, hat er
aufserordentlich anregend auf die Lokalgeschichtschreibimg gewirkt.
Von warmer, sein ganzes Leben hindurch bis zu seiner letzten Stunde
treu gehegter und gepflegter Liebe zur heimatlichen Orts- und Landes-
geschichte erfüllt, erkannte er mit seltener Schärfe, wie not es thue, dafs
die so frühzeitig in Baden gemachten Quellenpublikationen „unter Be-
nutzimg anderweiter Urkunden und Akten wie örtlicher Forschungen
imd Erhebungen in einer Reihe von topographischen und kulturhistori-
schen Arbeiten zu gangbarer Landmünze zu verprägen** sei*), wenn
nicht der fortwährend zu Tage geförderte reiche Quellenstoff für die
weitaus überwiegende Mehrzahl der Landeskinder ein totes Kapital
bleiben sollte. Im ersten Bande seiner neuen „Badenia*' ^) hatte er
Grundsätze über die Abfasstmg vaterländischer Topographieen auf-
gestellt imd eine Anleitimg dazu gegeben, die, von gesunder Auf-
fassung getragen, wahrhaft läuternd und befreiend zu wirken geeignet
war. Er rügt die bisherige Gepflogenheit, „da(s die Bearbeiter von
Amts- und Ortsbeschreibungen gar zu viel Fremdartiges herbeiziehen
und das Einheimische darüber vernachlässigen. Sie beginnen ihre ge-
schichtlichen AbteUungen gewöhnlich mit Julius Cäsar, tragen aus
verschiedenen Werken allgemein Geschichtliches , Naturhistorisches,
i) 3 Bände. Karlsruhe und Freibai^g i. Br. 1839— 1844. — Aach nnter dem Titel:
„Das malerische and romantische Baden" ab Sapplement sn dem „Malerischen and
romantischen Deutschland in 10 Sektionen" aasgegeben.
2) 2 Bände. Freibarg i. Br. 1853— 1856.
3) 2 Bände. Heidelberg 1859— 1862.
4) Nene Badenia 3, Vorw. S. V.
5) S. 298—311.
— 197 —
Landwirtschaftliches und dergleichen zusammen und wenden es mit
freigebiger Phantasie auf ihre Gegend oder ihren Wohnort an. Dieses
Verfahren führt alsdann zu Darstellungen, die viele Mühe machen,
aber wenig Wert haben". Er rät deshalb, mit der Sammlung der
Einzelheiten zu beginnen, die Erhebtmgen und Nachforschungen über
Vergangenheit und Gegenwart an Ort und Stelle der Benutzung von
Druckwerken, Urkunden und Akten vorangehen zu lassen und mittels
umsichtiger Vergleichung das sicherste Licht zum Verständnis des
Materials, den rechten Weg für Forschung und Darstellimg zu suchen.
Als Hauptleitpunkte nennt seine Anleitung: Entstehung und Namen
des Ortes, politische und militärische Herrschaftsverhältnisse, politische
und bürgerliche Rechte, Kirchenwesen, Gerichtswesen, Besitzverhält-
nisse, Landwirtschaft und Gewerbe, Gemeindewesen, Sitten- und Geistes-
leben. Seine Erläuterungen zu diesen „Rubriken" lassen in Umrissen
und vielfach unbewuist so ziemlich das erkennen, was auch wir heute,
aber klar und unerläfslich, als Forderungen stellen. Zur befriedigen-
den Lösung der Aufgabe ist Bader selbst so wenig wie irgend einer
seiner Zeitgenossen durchgedrungen. Es war auch erfolglos, dafs er
sich mit anderen Freunden der Heimatsgeschichte im Jahre 1863 zu
einem Verein für badische Ortsbeschreibung zusammenthat,
der sich „quellenmäfeige Erhebungen und wissenschaftliche Forschungen"
in Bezug auf Ortsgeschichte zum Ziel setzte und Baders neue Badenia
als Zeitschrift des Vereines für badische Ortsbeschreibung zum Or-
gan seiner Veröffentlichungen machte. Es erschien ein erster und
einziger Band *) , womit das ganze Unternehmen im Sande verlaufen
war. Indessen war aber doch in Baden eine Reihe von Ortsgeschichten
erschienen, die sich sehen lassen konnten und auch heute noch trotz
des entscheidenden Fortschritts ihren Platz behaupten. Es seien nur
M ü h 1 i n g s Denkwürdigkeiten von Hantschuhsheim *), Herbsts
Chronik von Britzingen *) und Geschichte von Mundingen *), Rom-
b a c h s Geschichte und Beschreibung von Lenzkirch *) , Schaff-
ners Beiträge zur Geschichte Riegels ®), Schönhuths Krautheim ^)
i) Heidelberg 1864.
2) E. J. J. Mühliog, Historische and topographische Denkwürdigkeiten von Hant-
schnhsheim. Mannheim 1840.
3) Chr. Ph. Herbst, Chronik von Britzingen. Freiburg i. Br. 1841.
4) Geschichte des Dorfes Mnndingen im Breisgau. Karlsruhe 1856.
5) J. Rombacb, Geschichte und Beschreibung von Lenzkirch. Freiburg i. Br. 1843.
6) G. Schaffner, Beiträge zur Geschichte des Marktfleckens Riegel am Kaiserstahl.
Freiburg i. Br. 1843.
7) O. F. H. Schönhath, Krautheim samt Umgebungen. Mergentheira 1846.
— 198 —
und Boxberg^), Wirts Hasmerskeim ^) genannt, auf die man immer
noch mit Nutzen zurückgreifen kann. Sie alle hatten schon mehr oder
weniger entschieden den rechten Weg betreten, der, freier von der
übertriebenen Bevorzugung der politischen und militärischen Ge-
schichte, vor allem die örtliche Bodenständigkeit mit ihrem ureigenen
Inhalte darzulegen und zu beleuchten bemüht war. Aber die weite Kluft
zwischen der allgemeinen und speziellen Forschimg wurde damit nicht
überbrückt, konnte selbst durch die Niebuhr-Rankesche Methode nicht
überbrückt werden. Erst die letzten drei Jahrzehnte haben hierin
Wandel geschaffen: Rechts- und Wirtschafts-, Verfassungs- und Ver-
waltungsgeschichte wurden nicht blofe mit erneutem Eifer, sondern
vor allem mit ganz neuem Erfolge gepflegt und übten wie auf die
verwandten Disziplinen, so besonders auch auf die Geschichtswissen-
schaft einen ungeahnten EinfluCs aus. Und in dem Mafse, als diese
Studien der inneren Entwickelung sich zuwandten, wuchs die Elrkennt-
nis, dafs mit dem Klassifizieren und Schematisieren der Wissenschaft
nicht gedient, dafs vielmehr nur das Eindringen in die Eigenart
des Einzelnen auch für den Forscher im Grofsen fruchtbringend sei.
Waren schon diese Wahrnehmungen geeignet, die Beziehungen zwischen
der Territorial- und Lokalhistorie und der allgemeinen Geschichte her-
zustellen und die Forscher in dieser immer wieder auf jene hinzuweisen
und hinzuführen, so wurde die letzte Scheidewand hinweggeräumt durch
die verschiedenen im Laufe der letzten 25 Jahre aufgeblühten Zweige
vor allem der völlig verändert betriebenen Kulturgeschichte, der archäo-
logischen Ethnographie und Anthropogeographie und der vielverzweigten
Volkskunde. Sie vorzugsweise haben die Lokalforschung
neu belebt, vertieft und ihr eine, zuvor nie zukommende
Bedeutung und wissenschaftliches Ansehen verliehen.
Auch in den Kreisen der zünftigen Historiker zuckt man nicht mehr wie
früher die Achseln über die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte, son-
dern weifs ihren Wert • für die Beleuchtung und Veranschaulichung der
Allgemeingeschichte wie um ihrer selbst willen wohl zu schätzen. Und
schon fängt man an, ebenso wie für den Unterricht in der Erdkunde auch
für den in der Geschichte die Anknüpfiing an heimatskundliche Anschau-
ungen zur Belebung und Befestigung des allgemeinen Geschichtsunterrichts,
als ein vortreffliches Mittel zur Klärung geschichtlichen Sinnes zu verwen-
i) Boxberg und der Schöpfergrand bei Königshofen. Mergentheim 1856.
2) H. Wirth, Geschichte des Marktfleckens Hasmersheim am Neckar. Heidel-
berg 1862.
— 199 —
den. Als Heimat ist der Schulort mit seiner Umgebung anzusehen, aus
dessen Geschichte typische Züge und Ereignisse ausgewählt werden *).
Die Lokalforschung selbst begann die Schätze der Archive und
Bibliotheken und die ihnen alljährlich in grofeer Zahl entnommenen
Quellenwerke ganz anders zu würdigen als bisher, versuchte sie an der
Hand der neuen methodischen Technik durch die lokalen Erhebungen
und Forschungen in neues Licht zu setzen und sich selbst damit
wahren wissenschaftlichen Charakter zu geben. Nach dem Beispiel der
ein Jahrzehnt etwa nach der Gründung des Reiches durch die Gesell-
schaften und Kommissionen für Landesgeschichte begonnenen Ord-
nung und Verzeichnung der über das ganze Land zerstreuten Gemeinde-,
Pfarr- und Familienarchive wurden systematische Sammlungen sprach-
licher, kunst- und volksgeschichtlicher Überlieferungen aller Art an-
gelegt und damit der Klein- und Einzelforschung ein ungeahntes neues
Arbeitsfeld eröffnet. Dabei zeigte sich immer deutlicher, wie enge
die Interessengemeinschaft der allgemeinen Geschichtswissenschaft und
der Spezialforschung sich berühren, wie keine der anderen zu entraten
vermag, wenn sie erschöpfend, unparteiisch und lebenswahr sein will.
Der alten, fast aussschliefslich auf die politische Geschichte gerichteten
Auffassung trat, durch die Lebensverhältnisse der Gegenwart hervor-
gerufen, ein lebhafter Sinn für soziale und wirtschaftliche Fragen und
Zustände zur Seite, dem wieder durch die grofeen Errungenschaften
auf dem prähistorischen und volkskundlichen Gebiete Verstärkung und
Bereicherung erwuchs. Dadurch gewann die Verbindung der Orts-
geschichte mit der allgemeinen ungemein an Unmittelbarkeit und
Innigkeit, an Umfang und Bedeutung. In diesem Zusammenhange
sagt Bemheim *) sehr zutreffend: „Der rasche Schritt der Politik geht
ungleichmäCsig durch die Lande, der ruhige Gang der Kultur berührt
gleichmäfsig Volk und Land; denkwürdige Begebenheiten sind nicht
überall passiert, aber wissenswerte Zustände hat es stets überall ge-
geben." Man kann die politische und Kriegsgeschichte eines Landes
erforschen und darstellen, ohne tiefer in dessen innere Zustände ein-
dringen zu müssen; für die Darstellung der Wirtschafts- und Kultur-
i) Vgl. J. Lttbbert, Die Verwertung der Heimat im Geschichtsnnterricht Halle
a. S. 1900.
2) £. Bernheim, der in seinem „Lehrbach der historischen Methode'^ aach das
fdr den Lokalhistoriker anentbehrliche Rüstzeug liefert, hat sich neaestens in einem eigenen
Aafsaize: „Lokalgeschichte and Heimatskande in ihrer Bedeatung fUr Wissenschaft and
Unterricht" (Pommersche Jahrbücher I [1900], 15 — 32) über die heutigen Aufgaben und
Ziele der Lokalforschung verbreitet, auf die wir uns, wie hier, des öftem beziehen.
— 200 —
geschichte aber sind die lokalen Einzelheiten unentbehrlich, für sie kann
nicht genug Material gesammelt, können nicht genug Orte und Landesteile
durchforscht werden; denn sie bestehen hauptsächlich in der zusammen-
fassenden Kenntnis und Bearbeitung solchen Kleinmaterials von überall her.
Die Grundzüge für den wissenschaftlichen Betrieb der Lokal-
geschichte stehen somit heute ziemlich unverrückbar fest Sorgfaltig,
fein- und scharfsinnig sind Tradition und urktmdlicher und chronikali-
scher Stoff über alle Ereignisse und Persönlichkeiten zu erforschen,
die zur Kenntnis der Entwickeltmg des einzelnen Ortes an sich ebenso
notwendig wie zur Aufklärung der allgemeinen Verhältnisse des engeren
und weiteren Vaterlandes dienlich sind. Hieran reiht sich zunächst
der ganze Kreis der rechtlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen,
sodann der sozialen Kulturentwickelung und endlich die lokale
Zustandsgeschichte im weitesten Umfang, nach allen ihren heute ge-
pfiegten Beziehungen von dem Besiedelungswesen bis zu den intimsten
Äußerungen des Volkslebens in Sprache, Sitten tmd Gebräuchen.
Kirche und Schule sind in demselben Grade zu berücksichtigen wie
die äufseren Schicksale des Ortes in Krieg tmd Frieden; Lage und
Beschaffenheit der Gegend mit ihrem Einflüsse auf Gemüt, Verstand
tmd Charakter der Bewohner sind nicht zu vergessen. Es kann aber
nicht genügen, tmter Anfühnmg vieler Einzelheiten ein Bild der Wirt-
schafts-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte sowie weiterhin der ge-
samten Kulturgeschichte zu versuchen, wodurch die Einheit der Dar-
stellung infolge des oft sehr losen Nebeneinanders selbstverständlich
nicht gewinnt; der Verfasser mufs dem Ganzen eine gewisse social-
psychologische Grundlage zu geben verstehen, um die Reichhaltigkeit
seines Stoffes in einer gewissen Geschlossenheit vorzuführen. Allzeit
vom allgemeinen ausgehen und wieder zu ihm zurückkehren, das ist
das einzig richtige Ziel für Auffassung tmd Darstellung, und strenge
Wissenschaftlichkeit des Inhalts ist ebenso anzustreben wie möglichste
Popularität der Form. In diesem Geiste betrachtet ist die Beschäftigung
mit der Orts- tmd Landesgeschichte eine des Geschichtsforschers eben-
so würdige und verdienstvolle wie pflichtschuldige Aufgabe, zumal in
unseren Tagen des materiellen Erwerbs und der allgemeinen Verflachtmg.
Die Weltgeschichte, sagt man, sei das Weltgericht In demselben
Sinne ist die Geschichte eines jeden Ländchens und Dorfes ein Spiegel,
in dem sich Ortsvorstand und Gemeinde, in dem sich Fürst imd
Volk, das ganze Vaterland, beschauen können.
Der Lokalhistoriker befindet sich heute vor einer reich zu be-
setzenden Tafel, für deren Bereitung ihm von allen Seiten der Stoff
— 201 —
zufliefst, so dafs er Mühe hat, die rechte Auswahl zu treffen, um nicht
mit den Kernen die tauben und fast bitteren Schalen aufzutischen.
Die Erfordernisse der Darstellung zumal, die doch für die weitesten
Kreise des Volkes berechnet ist, sind nicht gering; denn jedes Ge-
schichtswerk soll gleichmäfsig gearbeitet und abgerundet, in gewissem
Sinne also immer auch ein Kunstwerk sein: nur harmonisch gebildet,
wird es auch harmonisch und bildend wirken, fesseln und überzeugen
und dem letzten Zwecke jeder Wissenschaft dienen. Zu diesem Ende
darf der Forscher nicht das ganze Mafs seiner Studien und Vorarbeiten
zum besten geben, sondern mufs sich auf das wirklich Wissenswerte
beschränken. Wenn irgendwo, so kommt hier das Dichterwort zur
Geltung: „In der Beschränkung erst zeigt sich der Meister." Es
scheint mir aus diesem Grunde auch ganz verfehlt, den Ortsgeschichten
umfangreiche Anhänge mit Urkundenabdrücken u. dergl. zu geben,
statt deren wesentlichen Inhalt, sei es selbst in der Sprache der Quellen,
der Darstellung einzuflechten. Es mag dies bei Ortsgeschichten angehen,
die in Zeitschriften zur Veröffentlichung gelangen, wie Joh. Essers
Dorf Kreuzau ^), das übrigens keine Geschichte, sondern nur Bei-
träge zur Geschichte von Kreuzau bietet. Auf jeden Fall bilden
solche Beilagen nutzlosen Ballast bei Büchern wie J. A. Zehnters
Messelhausen ^\ der seine 55 Seiten Urkunden nicht einmal mit auf-
gelösten Daten und Regesten versehen hat. Weitschweifigkeit und
kritiklose Oberflächlichkeit sind vor allem die gefährlichen Klippen,
die hier drohen, die der fachmännisch geschulte Forscher leicht zu
vermeiden versteht, die aber den Laien trotz aller Liebe zur Geschichte
in der Regel um alle die mühevoll und kostspielig gesammelten
Früchte seiner Thätigkeit bringen. Das war ja von jeher ver-
hängnisvoll für die Lokalhistorie, dafs sich ihr allzuviel Unberufene
gewidmet haben, die nicht das erforderliche Mafs fachmännischer
Schulung und Sachlichkeit besitzen und wohl zum Nachweis und
zur Sammlung des Materials nützlich und notwendig smd, für die
Darstellung aber mehr ein Hemmnis als eine Förderung der ge-
schichtlichen Wahrheit bedeuten. Die Zahl derer, die sich hierin
die gebotene Entsagung auferlegen, ist sehr gering; sie sind aber die
einzig wahren Geschichtsfreunde.
i) Annalen des historischen Vereins dir den Niederrhein. 62 (Köln 1896), S. 55
bis 157; enthält S. iii — 157 Urkundenbeilagen.
2) Geschichte des Ortes Messelhaasen. Ein Beitrag zar Staats-, Rechts-, Wif
und Sittengeschichte von Ostfranken. Heidelberg 190 1. XII und 355 S. G'
— 202 —
Diese Wahrnehmung macht man im Übermafe , wenn man die in
den letzten 25 Jahren erschienenen ortsgeschichtlichen Arbeiten über-
blickt. Die grofee Mehrheit der Lokalhistoriker hat sich nicht die
Fortschritte und Errungenschaften der Zeit zu eigen gemacht, sondern
geht unbekümmert um Schulung und Methode ihren unfruchtbaren
Weg; voll trügerischen Gefallens an denverkümmerten Kindern ihrer Muse
scheinen die wenigsten von Geschichtschreibung etwas gelernt zu
haben noch etwas lernen zu wollen. Es wäreSache besonders der histo-
rischen Vereine, in diesem Sinne einen klärenden und läuternden Einflufs
auf ihre Mitglieder auszuüben, aus denen sich ein grofser Teil der Lokal-
forscher rekrutiert Einzelne Vereine scheinen diese Pflicht auch schon
frühe erkannt zu haben wie der für Geschichte des Bodensees und seiner
Umgebung, der 1869 im ersten Hefte seiner Schriften *) aus der Feder
eines auf diesem Gebiete schon vielfach schriftstellerisch thätigen Mit-
gliedes, des Pfarrers J. B. Hafen zu Gattnau, einen kleinen Aufsatz über
Wert, Schwierigkeit und Grundsätze bei Anlegung von Ortschroniken
brachte. Die „Grundsätze**, wohlgemeint und nicht ungeschickt, bleiben
allerdings ziemlich weit hinter unseren Erwartungen zurück. Im Jahre
1886 schrieb der schwäbische Lehrer Aug. Holder in Erligheim eine
80 Seiten starke Broschüre über Die Ortschrontken , ihre kultur-
geschichtliche Bedeutung und pädagogische Verwertung *), die, be-
sonders in letzterer Hinsicht, viel Treffendes und Beherzigenswertes,
aber auch manches Unrichtige, Unreife und Abgeschmackte enthält
und vor allem des entscheidenden Verständnisses für Hauptsache und
Nebendinge ermangelt. Er bezeichnet die Ortsgeschichte „in for-
meller Hinsicht als eine individuelle Gestaltung, eine lokale Aus-
prägung der Landes- oder Volksgeschichte, gewissermafsen als eine
Widerspiegelung der , Geschichte im grofsen Stü*, insofern sie sich
nicht unabhängig von letzterer entwickelt, nicht ihre eigenen Wege
geht, sondern nur die Fortschritte derselben nach Bedürfnis, Einsicht
und Möglichkeit sich zu nutze macht. So erscheint sie uns als eine
durch die örtlichen Verhältnisse bedingte Oflfenbarungsform des in
der allgemeinen Geschichte ewig waltenden Geistes, gewissermafeen
(äufserlich) als die bekannte Physiognomie des geschichtlich richtig
Erkannten und praktisch wohl Bewährten, resp. unrichtig (überlebt
oder verbesserungsbedürftig) Befundenen.** Er giebt eine „Geschichte
i) Lindaa 1869. S. 119 — 122.
2) Stuttgart 1886. — Ein älteres Buch von Karl Preusker, dem Erforscher der
sächsischen Vorzeit, Stadt- und Dorf 'Jahrbücher (Ortschrontken) (Leipzig 1846), ist mir
trotz meiner Bemühungen unzugänglich geblieben.
— 203 —
der deutschen Ortsgeschichtsschreibung", wie letztere vonMeister
und Gesellen der ehrsamen Zunft der Gelegenheitshisto-
riker betrieben wurde, in vier Perioden", in denen Deutschlands
hauptsächlichste Geschichtsquellen von Thietmar von Merseburg bis
auf Berthold Auerbach (!) als „ortsgeschichtliche Bilder der ur-
sprünglichsten Art" abgewandelt werden. Er unterscheidet demgemäfs
„vier Entwicklungsstufen der Ortschronikographie, wie
aus folgender Zusammenstellung hervoi^ehen dürfte: i) Im XI. und
XII. Jahrh. verfafsten gelehrte Mönche in lateinischer Sprache die
Geschichte einzelner bevorzugten Städte — als Selbstzweck. 2) Vom
XIII. bis etwa zur Mitte des XVI. Jahrh. treten uns die reichs- und
hauptstädtischen Chroniken als Chroniken-Urkunden der Entwickelung
des politischen , kulturgeschichtlichen , religiösen , öffentlichen und
wirtschaftlichen Lebens der betreffenden Städte entgegen, in welchen
die Ratsherren auf alle Fälle eine sichere Handhabe hatten, ohne sich
viel plagen oder gar ein ,Weistum* einholen zu müssen. 3) Als
jedermann (!) schreiben konnte und jedermann lesen wollte, bot man
der Gemeinde in der Ortschronik ein Buch zur Unterhaltung als eine
, kleine (aber berechnende) Aufmerksamkeit*, was das Selbstgefühl
des gemeinen Mannes natürlich bedeutend stärkte. 4) Gegenwärtig
sieht der Gebildete, namentlich der Freund der Geschichte, im ehr-
lichen und unbefangenen Ortsgeschichtschreiber den Vorarbeiter des
wissenschaftlichen Historikers.** Auf diese Weise bringt es Holder
fertig, die Ortsgeschichte nahezu zum Mittelpunkt der Weltgeschichte
zu machen! In besonderen Abschnitten behandelt er dann ,,Die
Ortschronik in der Familie als Erziehungsfaktor** und „Die Orts-
chronik in der Schule als Unterrichtsgegenstand**, mengt auch hier
Richtiges und Schiefes durcheinander und bietet alles eher als eine
Methodik der Ortsgeschichte, die am meisten Not thäte. In treffender
Selbsterkenntnis sagt er einmal: ,,Zwar ist es nicht jedermanns
Sache (auch meinige so recht nicht), auf diesem Gebiete mit wirk-
lichem Erfolge thätig zu sein.**
Besser und praktischer ist eine im Mai 1900 im Landy
dem „Organ des Ausschusses für Wohlfahrtspflege auf dem
Lande** *), von Pfarrer G. Matthis zu Eyweiler im Elsafe erschienene
Anleitung zur Beschäftigung mit Ortskunde und zur Abfassung
von Ortsgeschichten, die den wissenschaftlicherseits gestellten An-
i) Herausgegeben von H. Sohnrcy. 8. Jahrgang. Berlin 1900. Nr. 15, 16 nn«*
17; vgl auch 1894 Nr. 5 und 1895 Nr. 23.
— 204 —
fordeningen in der Hauptsache gerecht wird. Indessen verfolgt das
„Land" nicht ganz den gleichen Zweck wie wir. Ihm ist wohl
„die Ortsgeschichte auch ein wichtiges Stück der alfgemeinen Landes-
geschichte, die durch sie Farbenfrische und Anschaulichkeit empfängt
oder doch empfangen sollte**; aber in diesem Sinne ist sie für ihn
nur Nebenzweck, er betrachtet sie „in erster Linie als ein Mittel
zur Heimatpflege**; sie ist ihm darum „die pragmatische Darstellung
aller Vorgänge, die zur äufseren und inneren Ausgestaltung der heimat-
lichen Gemeinde beigetragen haben**. Bei der Sammlung, Sich-
tung und Verwertung des Stoffes können wir wohl mit dem „Land**
zusammengehen, wie die von ihm geltend gemachten Gesichtspunkte
der Bearbeitung zeigen, nur werden wir in der Darstellung die vom
„Land** über alles betonte heimatkundliche Seite auf ihr Mais be-
schränken. Das „Land** kommt aber unseren Bestrebungen auch in-
sofern sehr entgegen, als es hauptsächlich auf GeistUche und Lehrer
einzuwirken sucht, welche die überwiegende Zahl aller Lokalhistoriker
ausmachen.
Von den mir bekannt gewordenen Ortsgeschichten der letzten
zwei Jahrzehnte sind verschwindend wenige, welche vollkommen dem
Mafsstab entsprechen, den wir nach den vorstehenden Darlegungen
heutzutage an derartige Arbeiten legen müssen. Selbst in den leichten
Fällen, wo es sich darum handelt, den ganzen Stoff in einer Abhand-
lung von einem oder höchstens zwei Druckbogen Umfang zu bewäl-
tigen, glückt es dem Verfasser selten genug, das Charakteristische und
Typische herauszustellen und eine Darstellung zu schaffen, die dauern-
den Wert hätte. Eine rühmenswerte Ausnahme macht ein Vortrag
A. Johns, des unermüdlichen Erforschers der Volkskimde Deutsch-
böhmens, über die Geschichte des Egerländer Dorfes Oberlohma
bei Franzensbad *), seiner Heimat, den man wirklich mit Interesse und
Nutzen liest.
Als vor vier Jahren ein Geistlicher mir seine Lust zur Bearbeitung
einer Geschichte meines Heimatdorfes äufeerte und mit der Frage nach
einem entsprechenden Muster an mich herantrat, habe ich mich ver-
geblich nach einem solchen umgesehen. Es blieb mir schliefslich
nichts anderes übrig als selbst Hand ans Werk zu legen. So habe
ich dann die Geschichte Steinbachs bei Mudau geschrieben ') und
i) Egcr 1898. Sonderattsgabe aus „Unser Egerland. Biälter für Egerländer Volks-
kunde" n (1898), Heft 6.
2) Steiobach bei Mudau. Geschichte eines fränkischen Dorfes. Mit 15 Abbildungen
und I Gemarkungskarte. Freiburg i. Br. 1899. Xu. 181 S. gr. 8.
— 205 —
mich dabei bemüht, die vorhin erörterten Bedingungen und Gesichts-
punkte im wesentlichen zu erfüllen; dafs mir dies gelungen sei, hat
die Kritik ^) einhellig anerkannt. Das gesamte aus Archiven , Druck-
schriften und mündlichen Erhebungen gewonnene Material über den
in der Zeit des fränkischen Markenausbaues entstandenen Ort teilte
ich in neun Abschnitte, deren Hauptinhalt folgendermafsen gruppiert ist:
I. Lage und Beschaffenheit (S. i — lo). Geographische und
natürliche Lage und Anlage des Dorfes. Höhe. Grölse. Grenzen.
Gewässer. Landschaftlicher Charakter. BodenbeschafTenheit. Witte-
rung. Mineralien. Tiere. Pflanzen. Bevölkerungsbewegui^. Politische
Einrichtung. 2) Zur Besiedelungsgeschichte (S. 11 — 23).
Älteste Bevölkerung (Stein- und Eisenzeit). Kelten, Helvetier, Marko-
mannen. Römer und deren Grenzbefestigung (Limes). Römischer Altar-
stein. Teutonen. Alamannen, Franken und deren Siedelungen. Grün-
dung des Klosters Amorbach und dessen Kulturmission. Zusammen-
setzung der Ortsbevölkerung. 3. Allgemeiner Zustand Stein-
bachs in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens (S. 24
bis 37). Denkmale der ersten geschichtlichen Zeit. Politische Organi-
sation Frankens unter den Merowingem und Karolingern. Gau- und
Gerichtsverfassung. Volksrecht. Wirtschaftliche und ständische Ver-
hältnisse. Grundhörigkeit. Gesetze. Steuern. Münzen. Einfühnmgdes
Christentums. Kirchliche Organisation. Politischer Zustand am Ende
des XIIL Jahrh. 4. Güterstand und wirtschaftliche Verhält-
nisse des Ortes vom XIV. bis zum XIX. Jahrh. (S. 38 — 74).
(Handschriftliche) Quellen. Eigentumsverhältnisse. Das mainzische Hof-
gut. Erbbestandsbriefe. Die Hubgüter und Ho£stätten. Wirtschaflsbetrieb
(Ackerbau imd Viehzucht, Waldwesen). 5. Abgaben und Dienste
(S. 75 — 107). Lage des Bauernstandes im Mittelalter. Bäuerliche Lasten:
Grundzins, Gült, Zehnte; Frondienst. Rechtszustand des Ortes im Jahre
1668. Ablösung der Abgaben und Berechtigungen. 6. Recht und
Gericht (S. 108 — 121). Altes Recht. Zehntgericht und dessen Ge-
rechtsame. Gerichtspersonal. Rüg- oder Untergericht. Untergerichts-
ordnung von 1534. Ortsbehörden. Schultheifsen und Bürgermeister.
i) So K. Branner in der „BeiL z, Allgem. ZeiU** 1900 Nr. 127; O. Heilig in
der „Bad. Schulzeit '^ 1899 Nr. 34; Ph. Kantsmann in den „Mannheimer Geschichts-
Blättem" i (1900), I97f.; L. Korth im „Bad. Beobachter*" 1899 Nr. 181; K. Obser
in der „Zeittchr. f. d. Gesch. d. Oberrheins« N. F. 15 (1900), 191 f.; I. San er im
„Oberrhein. Pastoralbl.^* i (1899), 32?; U. Stutz in der „Zeitschr. f. Rechtsgesch. XX
(1900). Germ. Abt S. 336f.; Fr. von Weech in der „Karlsruher Zeit" i*^ ^- -67
u. a. mehr.
— 206 —
Huldigung der Unterthanen. 7. Kirche und Schule (S. 122 — 148).
Gläubiger Sinn des Landvolkes. Stiftungsbrief der alten Kirche (1407).
Baubeschreibung. Verhältnis des Filials zur Mutterkirche. Einkommen
des Pfarrers. Vermögen des Kirchenfonds. Bemühungen um eine
eigene Pfarrei. Errichtung derselben 1871. Pfarrer. Neue Kirche. —
Anfänge und Entwickelimg der Volksschule. Lehrverhältnisse und
Lehrer. 8. Äufsere Schicksale Steinbachs von der ältesten
bis auf die neueste Zeit (S. 149—164). Anteil der Landbewohner
an den Weltbegebenheiten. Kämpfe zur Römerzeit. Raubzüge der
Ungarn. Kämpfe um die Reichs- und Kirchenverfassung. Ständische
Gegensätze. Bauernkrieg {1525). Dreifeigjähriger Krieg. Kriegsdrang-
sale des XVIII. Jahrh. Landsturm. Die Jahre 1802 und 1806. 48er
Bewegung. Das Jahr 1870/71 und seine Folgen. 9. Allerlei aus
dem häuslichen und öffentlichen Leben Steinbachs in
alter und neuer Zeit (S. 165 — 181). Allgemeiner Untergang der
alten Volksherrlichkeit in Sitten und Gebräuchen. Das Dorf und seine
Reize. Sein Ursprung und Name. Flurnamen. Tauf- und Familien-
namen. Stammeszugehörigkeit und Charaktereigenschaften. Hausbau.
Vererbung der Höfe. Lebensweise (Nahrung). Alte und neue Tracht.
Volksgebräuche. Mundart. Volkstümliche Personen. Gewerbe. —
Pfarrer, Lehrer und Ortsbewohner im Verhältnis ihrer gegenseitigen
Pflicht und Hingabe. — Dazu sei ausdrücklich bemerkt, dafe die aus
den Überschriften als rein allgemein erscheinenden Punkte und Partieen
stets nur in ihren Beziehungen und Berührungen mit der Ortsgeschichte
sich bewegen, das Allgemeine stets nur soweit Raum gewinnt, als es
zum Verständnis des Speziellen, Lokalen notwendig war. Einige
typische Bilder zu diesen Ausführungen durften natürlich in einer Zeit,
wo alles illustriert wird, nicht fehlen.
Wenn ich mein Büchlein mit einigen anderen in den letzten paar
Jahren erschienenen Ortsgeschichten, die mir gerade zur Hand sind, ver-
gleiche, so finde ich, dafs es nicht der Stoff, sondern die Unerfahren-
heit der Verfasser ist, was das Mifelingen der Arbeiten zur Folge hat.
So gab Pfarrer Brumme 1899 die Geschichte des Dorfes und
Kirchspiels Friedrichswerth in Sachsen-Gotha *) heraus, ein stattliches
Buch von nahezu 400 Seiten Umfang, dessen reicher Inhalt jedoch
lediglich zu einer Aneinanderreihung von merkwürdigen Begebenheiten
i) Fr. Bramme, Das Dorf and Kirchspiel Friedrichswerth (ehemaU Erffa genannt)
im Herzogtam Sachsen-Gotha. Mit besonderer Berücksichügang der freiherrlichen FamiUe
▼on Erffa. Eine thüringische Ortschronik. Gotha, Drack von Friedrich Andreas Perthes,
1899. Xn a. 394 S. gr. 8 mit 18 Abbildangen and 4 Plänen.
— 207 —
verwendet ist Es ist schade für die Vei^angenheit des als Sitz eines
alten Adelsgeschlechts ausgezeichneten Ortes, die bei wissenschaft-
licher Behandlung ein auch für weitere Kreise interessantes Geschichts-
bild ergeben haben würde. Hier aber ist alles unterschiedslos durch-
einandergemengt, das Wesentliche über dem Nebensächlichen ganz
unverhältnismälstg vernachlässigt; sobald man glaubt, jetzt kommt der
Verfasser auf das zu sprechen, was man eigentlich zu wissen wünscht,
macht man die Erfahrung, dafs seine sonst so sehr geläufige Feder
völlig versagt. Das ganze, zu drei Vierteilen Kalenderware, wird,
einige Friedricbswerther ausgenommen, schwerlich viele Leser finden,
sicherlich wen^ wahren Nutzen stiften, da es wohl die Neugier be-
friedigt und der Unterhaltung dient, aber wenig von jenen Vorz%en
aufweist, welche schon Cicero als die hervorragendsten Eigenschalten
der Geschichte rühmt.
Etwas besser ist Dietterles Geschichte der Kirch/ahrt Burk-
hardswalde *] bei Pirna in Sachsen geraten , wiewohl auch sie als
populärwissenschaftliche Darstellung in unserem Sinne nicht genügt.
Er hat seine Aufgabe tiefer aulgefafst, Sinn und Zusammenhang in
seine Darlegungen zu bringen gesucht und erfreulicherweise auch
die salbungsvoll-erbaulichen Betrachtungen und Nutzanwendungen „nach
dem Muster älterer Chroniken" vermieden.
Wieder weniger ist dies seinem Amtsbruder Schmidt mit seiner
Chronik von Gaiberg- Waldhilshach bei Heidelberg gelungen , der
allzubäufig in den gewohnten Predigerton verfällt, sich unnöt^ ao dem
„entsetzlichen" Latein der mittelalterlichen Urkunden stöfst, dabei aber
selbst oft in merkwürdig naiver Weise zu Werke geht. Auf die
„Christianisierung" seines Kirchenortes folgt bei ihm unmittelbar die
„Reformation und Gegenreformation"; mit drei weiteren Abschiutten:
„ Kirchengemeinde und Kirchengut", ,, Sehnigem ein de und Schulgut" (!)
und „Politische Gemeinde und Gemeindegut" ist sein Thema erschöpft
Das Überwiegen des Kirchengeschichtlichen wollte man ihm gerne
nachsehen, wenn er auch nur mit je ein paar Seiten die Geschichte
der rechtlichen und wirtschaftlichen, der sozialen,
individuellen Entwickelung seines Pfarrdorfes b
i) J. A. Dietterle, BarUiird*iTdd«. Gudiichte dei
ihr gehorenileo Dörfer Burkhardinalde, Biemdorf, Groüröhnt
1900. XII a. 144 S. kl. S mit 9 Abbildnogen.
3) JdU Schmidt, Otronik von Gaiberg -WaldhiUbBc
PfiUier Kircheag:«*c)iicbte. Heidelberg, ETingeliichet V
— 208 —
Nicht ungeschickt ist Fleischhauers Dorfbild von Oberspür
im Fürstentum Schwarzburg -Sondershausen *). Er hat im äuiseren
die chronologische Ordnung eingehalten, in die er reichlich kulturelle,
rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Züge und Betrachtungen verwebt.
Dabei sind ihm allerdings die Angaben über Lage, Ausdehnung, Ein-
wohnerzahl u. dergl. an den Schlufs statt an den Anfang geraten.
Seine Erzählung ist warm und lebendig. Im allgemeinen versteht er
auch das Bedeutende und Wesentliche hervorzuheben, aber allzusehr
in die Tiefe dringt er nicht, und der Unterhaltung scheint fast mehr
Rechnung getragen als der Belehrung.
Es ist kein Zweifel, dais alle diese Verfasser mehr oder weniger
die Fähigkeiten und den Eifer, mit einem Worte: den Beruf zum
Lokalgeschichtsforscher besitzen, dafs ihnen aber noch die Hauptsache,
die kritisch erlernte theoretische Methode fehlt. Mit dem guten Willen
und der Liebe zur heimatlichen Scholle allein ist es nicht gethan ; die
Erfassung des Wesens der Sache, das Durchdringen und Verarbeiten
des Stoffes macht den Geschichtschreiber, nicht allein das Zusammen-
tragen, Ausziehen und Aneinanderreihen der Begebenheiten und That-
sachen. Die Aufgabe der Lokalgeschichtschreibung ist noch nicht er-
füllt, wenn die Merkwürdigkeiten eines Ortes sachgemäfs und stilgerecht
beschrieben sind. Bei der neuesten Entwickelung der Geschichtswissen-
schaft ist ein treues Bild der Geschichte, sei es im grofsen, sei es im
einzelnen und kleinen, ohne den Hintergrund einer grofsen Weltan-
schauung undenkbar. Jede geschichtliche Erscheinung verlangt in ihrem
Zusammenhang mit der Weltgeschichte zur Darstellung gebracht zu
werden. Und nachdem der Ausbau der allgemeinen Geschichtswissen-
schlaft auch die Wege und Ziele der Lokalforschung so deutlich ab-
g^renzt und dargelegt hat, ist es einerseits eine Ehrensache, andrer-
seits ein Prüfstein für die Liebhaber dieses Faches, den Weg genau
einzuhalten und das Ziel unverrückt vor Augen zu haben; aber den
meisten scheint der Weg noch unbekannt, das Ziel fiii viele unerreich-
bar zu sein.
i) O. Fleischhaaer, O. Ein Dorfbild ans alter ood neuer Ztii, Sondershaiuen
1897. 121 S. 8 0 mit I Plane.
^^^>^^^»^^^^>^^^^i^»^^^i*
— 209 —
Ortsnamenforsehung und Wiftsehafts^^
gesehiehte
Von
Hans Witte (Schwerin)
(Schilfs*)
Fa(st man die oben wiedergegebenen wirtschaftlichen Ansichten
Heegers zusammen, so ergiebt sich, dafs er von allen in der Pfalz
und im Eisais vorkommenden Ortsnamentypen einzig und allein die
-ingen als Sippen- oder Bauernsiedelungen gelten läfst! Hinsichtlich
der wenigen -dorf enthält er sich des Urteils. Alle übrigen, die -weiler,
-heim, -stadt, -stein, -hofen, -hausen, -bach, -ach, -au sollen aus grund-
herrlicher Niederlassung hervorgegangen sein.
Und nun eriimere man sich an das, was oben (S. 155) über das
Vorherrschen der -heim in dem bezeichneten Gebiet gesagt worden
ist, und daran, da(s dort überall die -ingen diesem herrschenden Typ
gegenüber eine mehr als bescheidene Rolle spielen, wie sie durch
das Vorkommen nur eines einzigen -ingen in der ganzen tmterelsässi-
schen Ebene genügend gekennzeichnet ist. Das Oberelsafs unter-
scheidet sich davon nicht wesentlich, und nur in der Vorderpfalz giebt
es einige -ingen mehr, denen gegenüber jedoch die -heim immer noch
ein erdrückendes Übergewicht behaupten. Heeger zählt hier 18
-ingen (S. 5 ff.) gegen 104 -heim auf. Dazu kämen dann noch alle
die mit den andern oben aufgezählten Grundwörtern gebildeten Orts-
namen, um die Zahl der angeblichen Herrensiedelungen voll zu machen.
So führt die Ortsnamenforschung wirtschaftlicher Richtung, wie sie
von Schiber angebahnt und von Heeger weiter ausgebaut worden
ist, zu dem überraschenden Ergebnis, dafs sich in der Ebene des Ei-
sais und der Pfalz im VI. Jahrh. fast gar keine Bauemdörfer, da-
gegen aber eine überwältigende Masse grundherrlicher Siedelungen
befunden haben sollen. Überraschend nenne ich dies Ergebnis des-
wegen, weU die genannten Landschaften, in denen wir schon im Mittel-
alter, soweit die Quellen unseren Blick zurückdringen lassen, auf Schritt
und Tritt einem überwiegenden, kräftig entwickelten bäuerlichen Leben
mit der charakteristischen Hufenverfassung, mit der Gewanneinteilung
des Ackerlandes, mit der gemeinsamen Nutzung der Almenden be-
gegnen, sich bis auf den heutigen Tag als ganz spezifische
Bauernländer erhalten haben. Das wäre sicherlich nicht der Fall,
wenn im VI. Jahrh. nahezu jeder Ort ein Herrensitz gewesen wäre
^ Vgl. obeo S. 153 bis 166.
15
— 210 —
Eigentlich genügt schon diese einzige Thatsache, um die ganze
Schiber-Heeg ersehe Theorie über den Haufen zu werfen, denn in
einem ursprünglichen Bauemlande kann wohl im Laufe der Jahrhimderte
ein mächtiger Herrenstand emporwachsen ; aber auf Grund nahezu aus-
schliefslicher Herrensiedelung können sich niemals so vorherrschende
und den deutlichen Stempel volkstümlicher Entstehungsart tragende
bäuerUche Verhältnisse entwickeln , wie sie noch heute im Lande be-
stehen. Die jetzt noch das ganze ebene Land des Elsafe bedeckenden
volksmäfsigen Siedelungen mit ihren uralten Gerechtsamen der Hufen-
verfassung, der GewanneinteUung und Almendennutzung können nur
entstanden sein durch Niederlasstmg gleichberechtigter Genossen, deren
Gesamtheit über die Feldmark zu entscheiden hatte, niemals aber aus
Herrensiedelungen, in denen der Wüle eines Einzelnen malsgebend war.
Aber diese überwiegenden bäuerlichen Verhältnisse stammten, wie
mit Sicherheit angenommen werden darf, schon aus der Zeit vor dem
VI. Jahrh. Wäre dann wirklich aus der fränkischen Eroberung
nur die Menge von Herrensiedelungen hervorgegangen, die man nach
Schiber in den -heim sehen soll, so wäre schon dadurch das Bauern-
tum in der überwiegenden Masse der Ortschaften mit einem Schlage
in eine nur geduldete Stellung zurückgedrängt worden. Die örtlichen
Grundherrschaften, die überall, wo sie nicht von einer mächtigen Hand
niedergehalten werden, die Bauern vergewaltigen, würden hier als Ver-
treter auswärtiger Eroberer noch viel zerstörender gewirkt haben. Wäre
Schibers Theorie richtig, so hätten mindestens die Orte auf -heim
ihren überwiegend bäuerlichen Charakter schon in früher Zeit einbüfeen
müssen; dann könnten sie nicht heute noch die uralte volkstümliche
Gewanneinteilung und die für die Gleichberechtigung der Ortsgenossen
besonders bezeichnenden Almenden so ungestört bewahren *). Wäre
aber sogar Heegers Ausgestaltung der Seh ib ersehen Theorie richtig,
dann wären die wenigen im VI. Jahrh. noch vorhandenen bäuerlichen Ge-
rechtsame mit Stumpf und Stiel von dem überwältigenden Herrenstande
ausgerottet worden und keine Spur von ihnen auf uns gekommen.
i) Eine aaf meine Bitte rom Direktor des kaiserl. Beurksarchivs zn Strafsbarg, Herrn
Prof. Dr. Wiegan d „auf gnt Glück" Torgenommene Süchprobe ergab urkundlich er-
wähnte Almenden in Donzenheim 1550 — 1654, Hattraatt 1657, Ingenheim 1386, Kogen-
heim 1473, Marlenheim 1472, Meinolsheim 1601, Molsheim 1630, Mommenheim 1564,
Wolxheim 1350. Eine systematische Nachforschung würde natürlich eine ganz andere
Zasammenstellang gebracht haben, als diese Stichprobe, die aber alt solche fUr die
Zwecke dieser Untersachong vollständig genügt Wiegand glaubt, „dals fast in jedem
Dorf [des Unterelsafs] im Mittelalter Almenden Torbanden waren**.
— 211 —
Andrerseits, wenn wirklich im VI. Jahrh. die Ebene des Elsafe
und der Pfalz so beinahe ausschlielslich von Herrensiedelungen ein-
genommen war, wie man nach Schiber-Heeger anzunehmen ge-
zwungen ist; wenn dort wirklich in nahezu jedem Orte ein £ränkischer
Herr safs, so mulsten aus diesem Zustande so ungezählte Herren-
geschlcchter erblühen, dals auch in den späteren Jahrhunderten diese
Landschaften sich noch durch einen außergewöhnlich zahlreichen Adel
von der weniger mit Heimorten gesegneten Nachbarschaft abgehoben
haben müfsten. Die Wirklichkeit zeigt uns aber, sobald die Urkunden
nur reichlicher flielsen, ein ganz anderes Bild als die Theorie: anstatt
des zu erwartenden zahllosen Herrenstandes sehen wir fast allerorten
nur Bauernschaften; Adelige sind natürlich vorhanden, aber so spär-
lich über das Land (besonders das Elsafs) verteilt, dais ihre geringe
Anzahl sogar demjenigen auffallen mufs, dessen Seele von den Schi -
ber-Heegerschen Herrensiedelungen nichts ahnt. Und dieser an
Zahl geringe Adel, wie er im späteren Mittelalter zu erkennen ist, ent-
sprang noch gröfstenteUs aus der Ministerialität, ist also so späten Ur-
sprtmgs, dafs ein Zusammenhang mit den angeblich im VI. Jahrh.
angesiedelten Herrengeschlechtem ausgeschlossen ist. Zudem safs
dieser Adel überwiegend nicht in der durch Ortsnamen auf -heim
gekennzeichneten Ebene, sondern in den Vorbergen des Wasgau,
dort wo die Heimorte nur noch ganz spärlich oder gar nicht
mehr vertreten sind. Der durch das massenhafte Auftreten der -heim
nach Schiber schon vom VI. Jahrh. an für den Adel prädesti-
nierte Teü des Elsafs erhielt einen solchen grofsenteils erst dadurch,
dafs zahlreiche städtische Patrizierfamilien sich auf dem Lande an-
siedelten und bis dahin rein bäuerliche Dörfer mit neuen Herrensitzen
ausstatteten. Das sind aber erst Vorgänge des ausgehenden Mittel-
alters, Kraftäuiserungen des städtischen Kapitalismus, durch welchen
dem schwachen Landadel neues Blut zugeführt wurde.
Zieht man von dem elsässischen Adel die aus der Ministerialität
und aus dem städtischen Patriziat erwachsenen BestandteUe ab, so
bleibt äuiserst wenig übrig ^). Könnte man nun wirklich dies Wenige
als aus der angeblichen fränkischen Herreneinwanderung des VI. Jahrhs.
hervorgegangen nachweisen, so würde auch das noch ein nahezu
i) Sehr bezeichnend für die junge Herkunft des elsässischen Adels ist die mir eben-
falls Ton Herrn Prof. Wieg and mitgeteilte Thatsache, dais das Strafsbarger Domkapitel,
das für seine Angehörigen alten Adel verlangte, sich zum gröisten Teile aus den ttber-
rheinischen Landen, aus Oberschwaben, der Bar u. s. w. rekruüeren mufste. Offenbar
15*
— 212 —
völliges und spurloses Verschwinden der aus ihr hervorgegangenen
Herrengeschlechter bedeuten. Da man aber diesen Nachweis
nicht zu führen, ja nicht einmal eme entfernte Wahrscheinlichkeit zu
gewinnen vermag, so ist dies Verschwinden in der That ein völliges
und g^änzlich unerklärliches. Von einem Herabsinken in den Bauern-
stand kann keine Rede sein, da dieser Adel ja nach Schiber zur
Sicherung der fränkischen Eroberung eingesetzt worden war und um
diesen seinen militärischen und zugleich hochpolitischen Zweck zu er-
füllen, doch wohl hinreichend ausgestattet sein mufete, um sich längere
Zeit halten zu können. Und wenn schon mit seinem Erscheinen eine
so grofse Umwälzung der bestehenden Verhältnisse verbunden gewesen
sein soll, dafe fast sämtliche alte Alemannenorte mit neuen Namen
versehen wurden, so mu(s man wohl erwarten, dafs er auch sonst er-
kennbare Spuren im Lande hinterlassen hätte. Das ist nicht der Fall.
Im Gegenteil, fast überall, wo wir nach Schiber-Heeger Spuren
grundherrlicher Siedelung erwarten sollten, sogar inSchibers spezi-
fisch fränkischen Herrensiedelungen auf -heim, erkennen wir die bis
auf den heutigen Tag deutlich genug erhaltenen charakteristischen
Kennzeichen altbäuerlicher Siedelungsart ! Sollte das noch nicht hin-
reichen, um der Sc hib ersehen Theorie nebst ihrer Heeg er sehen
Ausgestaltung den Abschied zu geben?
Das jedenfalls glaube ich in obigen Ausführungen gezeigt zu haben,
dais die Theorie hier abermals in schroffem Widerspruch mit den that-
sächlichen Verhältnissen steht. Diesem Zwiespalt kann nicht ab-
geholfen werden, indem man die Thatsachen meistert, wie es Schiber
bei dem ersten ihm zum Bewufstsein gekommenen Widerspruch der
Thatsachen gegen sein System versucht hatte, indem er die Theorie
der Umnennung der wirklich vorhandenen elsässischen -heim aus ima-
ginären -ingen ersann. Die Thatsachen haben ein zäheres Leben ab
solche wissenschaftliche Kunststückchen.
Die Erkenntnis des Zwiespaltes zwischen Theorie und Wiiklichkeit
ist nur dann förderlich, wenn sie keinen Vertuschungsversuch zeitigt,
sondern die Veranlassung zu einem ernsten Forschen nach dem Fehler
der Theorie wird. Der Grundfehler, an dem dies Schiber-Hee-
g ersehe System krankt, beruht in der Methode, die zu seinem Auf-
war alter Adel im Elsafs fast gar nicht vorhanden. Dies trifft schon fUr das XU. und
XIII. Jahrh. za. Wie anders würde sich dies alles gestaltet haben , wenn in der That
im VI. Jahrhundert durch eine äofserst zahlreiche fränkische Herreneinwanderong der Gnmd
iUr eine Adelsentwickelang gel^ worden wäre, wie ihn keine andere deutsche Land«
Schaft aufzuweisen hatte!
— 213 —
bau gefuhrt hat. Nicht die Sonderung der Ortsnamen nach ihren
Grundworten (Endungen) in verschiedene Gruppen war fehlerhaft; ohne
dies Verfahren würde es überhaupt keine wissenschaftliche Ortsnamen-
forschung geben. Aber dafe man die so erhaltenen Gruppen von vom
herein als untrennbare Einheiten betrachtete, dafs man durch allgemeine
Erwägungen (Interpretation des Grundwortes, Vorhandensein oder Fehlen
von Personennamen im ersten Gliede) den wirtschaftlichen Charakter
der ganzen Gruppe feststellen zu können und ihn damit für jede unter
die Gruppe fallende einzelne Namensform ergründet zu haben meinte,
darin, in dieser rein deduktiven Methode, beruht die Fehlerquelle, der
Schiber sowohl wie Heeger zum Opfer gefallen ist.
Nicht Deduktion, sondern Induktion ist der einzige Weg,
der hier zum Ziele führen kann: Ausgehen vom einzelnen Orte der
Gruppe, urkundlich gesicherte Thatsachen sammeln, die über die ur-
sprüngliche Siedelungsform bestimmter Orte Licht verbreiten. Wenn
dies in ausgiebigem Mafse geschehen, wird sich die Beantwortung der
Frage, ob diese oder jene durch das gleiche Grundwort gekennzeich-
nete Ortsnamengruppe sich aus Ortschaften einheitlichen Wirtschafts-
charakters zusammensetzt, von selber ergeben. Aus den Grundworten
oder den Personennamen im ersten Gliede kann man das in der Regel
nicht ablesen. Sind dagegen aus der urkundlichen Überlieferung eines
Ortes alte bäuerliche Gerechtsame nachgewiesen worden, wie sie sich
nur in der Gemeinschaft gleichberechtigter Genossen entwickeln können,
so darf man sicher sein, es mit einer Bauemsiedelung zu thun zu
haben. Mag dann der Name auf -ingen oder -heim lauten, mag er
im ersten Gliede einen Personennamen oder irgend einen allgemeinen
Begriflf haben ; der urkundlich verbürgten, für das Wirtschaftsverhältnis
entscheidenden Thatsache gegenüber kommen solche Äufserlichkeiten
der Namensform gar nicht in Betracht.
Der oben erbrachte archivalische Nachweis des Vorkommens von
Almenden in Orten auf -heim ist eine Thatsache, die auf diesem induk-
tiven Forschungswege ihre Verwertung finden kann und mufis. Wenn diese
kurzer Hand gemachte Stichprobe auch den Gedanken nahelegt, dafs
sich noch für zahlreiche andere Orte auf -heim das Vorhandensein
von Almenden urkundlich feststellen lassen wird, und wenn besonders
die fast überall in der Ebene des Elsafs wahrnehmbare Erhaltung der
Almenden bis auf den heutigen Tag in diesem Sinne spricht, so denke
ich doch nicht daran, nunmehr zu behaupten, alle -heim müfsten Al^
menden gehabt haben und demgemäis aus bäuerlicher Siedelung er-
wachsen sein. Aber das kann schon jetzt auf Grund der obigen Aus-
— 214 —
fiihruDgen als bewiesen betrachtet werden, dafe die Seh ib ersehe
Theorie von dem grundherrlichen Charakter der -heim nicht mehr auf-
recht erhalten werden kann.
Einen weiteren Weg, durch induktives Verfahren den wirtschaft-
lichen Charakter der Ansiedelungen festzustellen, hat Meitzen gezeigt;
und es kann nicht genug bedauert werden, da(s die Meitzenschen Elr-
gcbnisse von Ortsnamenforschern mit so ausgesprochen wirtschafts-
geschichtlichen Neigungen wie Schi b er und He eg er so ganz aufser
acht gelassen worden sind. Nicht als ob ich Meitzen als einen Meister
der Ortsnamenforschung hinstellen wollte. Darüber würde er selber
wohl am meisten erstaunt sein, hat er doch mehrfach hervorgehoben,
dafe er in Sachen der Ortsnamenforschung auf Arnold und Lamp-
recht fufst. In welchem Malse Meitzen in der That noch auf diesem
Gebiete von veralteten Anschauungen beherrscht wird, dafür sei hier
nur ein bezeichnendes Beispiel angeführt: die im niederländischen
Hasbanien vorkommenden -ingen kann er sich nur durch die Annahme
erklären, dafs nach der Schlacht bei Zülpich sich flüchtige Alemannen
dort niedergelassen hätten ^). Ist denn des Unheils, das die Schlacht
bei Zülpich in der Ortsnamenforschung angerichtet hat, immer noch
nicht genug?
Weit wichtiger für die Ortsnamenforschung als solche lediglich
die Voreingenommenheit für einen veralteten Standpunkt kennzeich-
nende Äufserungen sind Meitzens Flurkartenforschungen. Sie ver-
dienen die weitestgehende Beachtung aller Ortsnamenforscher wirt-
schaftsgeschichtlicher Richtung. Die Flurkarten sind die Dokumente,
aus denen Meitzen den Wirtschaftsstand der Orte bis zu ihrem Ur-
sprung zurück erkennen will. Und wenn Meitzen darin vielleicht
etwas zu weit geht, dafe er die Entstehung der Hufenverfassung bis
in den Anfangspunkt des Sefshaftwerdens der germanischen Völker
zurückverlegt, die aus der Völkerwanderung hervorgegangene Massen-
kolonisation am westlichen Oberrhein, um die es sich hier einzig und
allein handelt, hat sicherlich die Hufenverfassung, die Gewanneinteilung,
das Almendenrecht schon fertig ins Land gebracht und gleichzeitig
mit der Ortsgründung angewandt.
Im Gegensatz zu dem nur lückenhaften Material der Urkunden
bieten die für jeden Ort vorhandenen Flurkarten eine Grundlage von
einer Vollständigkeit, die nichts zu wünschen übrig läfst. Wer dies
i) August Meitzen, Sicdclung und Agrarwcsen der Wcstgcrmaiien und Ostger-
manen. Berlin 1895. 3 Bände. I, S. 549.
— 215 —
Material zu handhaben weiis, kann die Form der ursprünglichen Sie-
delung für jeden Ort genau erschliefeen und so auf dem sicheren Wege
der Induktion feststellen, ob und welche gemeinsame Siedelungsform
eine jede Ortsnamengruppe hatte.
Indessen hatMeitzen selber auf diesem Gebiete schon so treflf-
lich vorgearbeitet, dafs wer nicht gerade eine Statistik über diese Dinge
aufstellen wUl, aus ihm schon genug entnehmen kann. Zu Tausenden
sind ihm die Flurkarten Deutschlands und mancher Nachbargebiete
durch die Hände gegangen; und wenn überhaupt jemand vorhanden
ist, der über die unter den verschiedenen Ortsnamentypen etwa be-
griffenen Siedelungsarten Aufischlufe zu geben vermag, so ist
er es.
Seine Ansicht über die -heim faist er folgendermaüsen zusammen :
„Seebohms*) Meinung, dafe alle Endimgen auf -heim auf den Frohn-
hof eines Gutes deuten, geht offenbar zu weit. Denn die Namen auf
heim, oder deren Verkürzungen um , em , en sind ... für die alten
volksmäfsigen Hufendörfer der Sachsen ebenso allgemein wie fiir die
der Franken . . . DaKs sie es bei der Eroberung Nordfrankreichs häufig
auch auf Herrenhöfe übertragen haben, liegt nicht im Wortsinn, son-
dern in der besonders grofeen Verbreitung der Herrenhöfe auf dem
Eroberungsgebiete." *)
Dafs Meitzen unter den Stämmen, die volksmäfsige Hufendörfer,
also Bauernsiedelungen auf -heim hervorgebracht haben, die Alemannen
nicht erwähnt, lieg^ wohl lediglich an seiner Voreingenommenheit für
das Arnold sehe System. Dafs er die -heim der Pfalz und des.Elsafs
in ihrer überwiegenden Masse bestimmt als Bauernsiedelungen erkannt
hat, davon kann sich jeder durch einen Blick auf die seinem oben
citierten Werke beigegebene Übersichtskarte überzeugen. Auf ihr er-
scheint eben dies Gebiet überwiegender -heim, die elsässische und
pfälzische Ebene, erfüllt von volksmäfsigen Gewanndörfern mit nur
wenigen versprengten Herrensiedelungen.
Bezeichnend genug ist auch folgende Thatsache: Meitzen zählt
einmal als Beispiele volksmäfsiger Gewannsiedelungen elf Ortsnamen
auf; unter ihnen lauten nicht weniger als sechs auf -heim, nämlich
Ober-Hilbersheim, Gau Böckelheim, Spiesheim, Armsheim, Odernheim
und Pfeddemheim *).
i) Frederic Seebohm hatte schon vor Schiber in setnem Werk „The Engliah
village Community << (London 1883) die -heim für Herrensiedelungen erklärt
2) a. a. O. II, S. 123.
3) a. a. O. I, S. 622, Anm. zu 422, Zeile 15.
— 216 —
Hinsichtlich der -ing(en) bbt M e i t z e n sein Urteil dahin zqsammi
„Bestimmter lafst sich daran denken, in der Endung ing die Bezeicli-
nung eines volkstümlichen Geschlechtsdorfes zu suchen *' ^). Das ist
sehr vorsichtig ausgedrückt; und dals hier in der That von einer Regel
nicht gesprochen werden kann, geht schon zur Genüge daraus hervor,
dais unter den von Meitzen angeführten Beispielen grundherr-
licher WeUer- oder Hofisiedelungen sich Namen wie Loifering, Haindl-
fing, Götting, Arleting, Schmiding *) befinden bei einer ebenfalls nur
geringen Gesamtzahl der Beispiele.
Die -weUer hält auch Meitzen der Regel nach für grundherr-
liche Siedelungen. Aber Ausnahmen giebt es auch hier; als eine
solche führt Meitzen das volksmäCsige Gewanndorf Reitweüer im
Eisais bei Brumath an ').
Wer diesen Dingen weiter nachgehen will, kann auf Grund der
von Meitzen entwickelten Methode der Flurkartenforschung und unter
Heranziehung des urkundlichen Materials zu genauen Einzelergebnissen
gelangen. Sichere allgemeine Schlüsse hinsichtlich des wirtschaftlichen
Charakters der uns besonders interessierenden gröliseren Ortsnamen-
gruppen des deutschen Südwestens ermöglicht indessen schon das vor-
stehend MitgeteUte. Es beweist, dafs die Auffassung der -heim als
Herrensiedelungen eine irrige ist, dafs insbesondere die -heim des
oberen Rheinthaies in ihrer überwiegenden Masse Bauemsiedelungen
gewesen sein müssen ; dafs die -ing(en) vielleicht überwiegend Bauem-
siedelungen waren, daneben aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl
Herrensiedelungen dieses Namens bestand; dalis -weUer wohl in der
Regel, aber nicht ausnahmslos, grundherrliche Siedelungen bezeichnet.
Möglich dalis diese oder jene Gruppe durch gemeinsames Grund-
wort gekennzeichneter Ortsnamen auch einheitlichen Wirtschaftscharakter
hat ^) ; das wird sich auf dem Wege der durch Urkunden unterstützten
Flurkartenforschung feststellen lassen, kaum aber durch Interpretation
der Namen.
Der Glaube an den grundherrUchen Charakter der -heim und den
1) A. a. O. II, S. 123.
2) a. a. O. I, S. 433» 437, 450.
3) a. m. O. I, S. 436«
4) Mit BezagDahme auf England bemerkt Meitzen (11, S. 124): „Am sichertteo
werden sich alte Volksdörfer an den Endungen by, low, mere, thorpe, field erkennen
lasten, alte gntsherrliche Sitze aber an borg, borongh, cester, hUl.'* Gerade in England
ergiebt die Flnrkartenforschnng wegen der schon in früher Zeit Torgekommenen Verkop-
pelugen nicht die sicheren Resultate wie in Deutschland.
— 217 —
ausschli^fslichen Sippencharakter der -ingen ist der Eckstein sowohl
des Schib ersehen Systems wie der Heeger sehen Weiterbildung.
Er ist die Voraussetzung, aus der sich die Theorie der Umnennung
der elsässischen -heim aus angeblich früher vorhandenen -ingen mit
Notwendigkeit ergeben mufste. Da diese Voraussetzung sich als fehl-
sam erwiesen hat, ist damit zugleich dieser Umnennungstheorie und
allen weiteren Folgerungen die einzige Grundlage, auf der sie ruhten,
entzogen.
Die Bemühungen der wirtschaftlich gerichteten Ortsnamenforschung
sind hierin von keinem bleibenden Gewinn gekrönt worden. Die Wirt-
schaftsgeschichte unterstützen zu wollen auf einem Forschungsgebiete,
auf dem diese selber mit eigener Methode zu sicheren Ergebnissen
gelangen kann und zum Teil schon gelangt ist, erscheint um so ver-
fehlter, als die Ortsnamenforschung hierin bis jetzt nicht über Hypo-
thesen hinausgekommen ist, deren Unbeweisbarkeit noch von Heeger
offen eingestanden wurde. In diesen Dingen wird die Ortsnamen-
forschung sich der Wirtschaftsgeschichte gegenüber mit der Rolle der
empfangenden begnügen müssen.
Was der Ortsnamenforschung not thut, ist nicht die Aufstellung
zahlloser in der Luft schwebender Hypothesen, sondern die Gewin-
nung einer festen Unterlage in Gestalt durch strenge Beweisführung
erhärteter Thatsachen, auf denen sich weiter bauen läfst.
Mitteilungen
•
Archive. — Die ÄnndUn des Historischen Vereins für den Niederrhetn
veröfifentlichen in ihrem 71. Hefte (Köln, ßoisserde, 1901), das im 59. Heft
(1894) begonnene und im 64. Heft (1897) fortgesetzte Werk weiterführend,
einige Inventare gröfserer Archive '), die eine eigene fachmännische Leitung
nicht haben, und zwar sind diesmal fünf Pfarrarchivare in der Stadt
Köln gewählt, während in den beiden früheren Heften Inventare nieder-
rheinischer Städte enthalten waren. Die Ausgabe besorgt imd die Regesten
zum gröfsten Teil angefertigt hat Heinrich Schäfer, Hüfsarbeiter am
i) Nach einer Abmachang zwischen der Gesellschaft für Rheinische Ge
schichtskande and dem Historischen Verein für den Niederrhein veröffent-
licht erstere du Obersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovint
(erster Bd. 1899, vom 2. Bde. bisher 2 Hefte), letzterer dagegen gröisere Inventare an«
seinem Arbeitsgebiete.
— 218 —
Kölner Stadtarchiv, wenn er auch bereits von andern gearbeitete Regesten,
namentlich beim Pfarrarchiv St. Severin, benutzen konnte. Es handelt sich auch
hier mehr um Erschliefsung neuer Quellen als um Inventare, die zum Zurecht-
finden in den betreffenden Archiven dienen, um einen Band Regesten —
nur dafs hier nicht ein sachliches Prinzip, sondern die zufällige Zusanmien-
setzung der Pfarrarchive St. Gereon, St Severin, St. Maria in Lys-
kirchen, St. Aposteln und St. Peter für die Veröffentlichung mafs-
gebend gewesen ist. In jedem FaUe sind Urkunden — auch die aus den
Kopiaren — und Akten getrennt aufgeführt, aber auf ersteren liegt ent-
schieden der Nachdruck. Für die stadtkölnische Geschichte wird darin ein
reiches Material erschlossen, das, wenn auch manches Stück schon gedruckt
oder sonst bekannt ist, doch recht viel neues bietet; ja selbst die Auf-
führung der längst bekannten Stücke ist — zumal in Anbetracht der Stelle,
wo die Veröffentlichung stattfindet, — von hohem Werte, da Zusammen-
gehöriges so im Zusammenhange erscheint und auch die von den Bibliotheken
entfernten Leser Nachweise über die Stellen erhalten, wo die Urkunden ge-
druckt sind. Auf einige Stellen, die allgemeines Interesse haben dürften, sei
hier im Vorbeigehen hingewiesen: wir lesen 1296 die Worterklärung thesau--
raria vulgariter triskamere (S. 46 Nr. 26), und 14 14 heifst es von den
Altaristen bei St. Gereon chorisocii beneficiati vulgariter huisgenoissen appelati
(S. 15 Nr. 68); der heilige Antonius wird 1428 als der hogelofde heilige
heilant bezeichnet (S. 189 Nr. 22). Wirtschaflsgeschichtlich ist die Gleich-
setzung von 5 Malter Roggen und 10 Mark Geld ab Durchschnittswert, unab-
hängig vom Marktpreis, 127 1 von Interesse (S. 81 Nr. 28); 1324 wird
ein bis dahin üblicher Pachtzahltermin von Andrea auf Maria Geburt ver-
legt (S. 85 Nr. 46); seitens des Stiftes Kerpen wird 1252 der Holzv er-
kauf vorgesehen (S. 80 Nr. 21); Römische Kaufleute als Gelddarleiher
erscheinen 1224 und 1225 (S. 79 — 80 Nr. 14 — 17), und die Messen von
Troyes und Provins sind die Erfüllungszeiten für die Schuldner; 1425 schul-
den ein Kölner und ein Lübecker Bürger gemeinsam dem Nürnberger Bür-
ger Christian Armbrucer eine Sunmie Geld in Gold (S. 10 1 Nr. 118).
Gegenüber einem unstreitigen Patronatsrecht, das dessen Inhaberin (die Äb-
tissin von St. Maria im Kapitel) ausübt, kommt 1299 die Wahl eines Pfarrers
durch offidati et parochiani zu stände, und der Streit zieht sich bis 1318
hin (S. 47 Nr. 28, 29, 34 und S. 52 Nr. 6). 1460 kann ein Nonnen-
kloster nach dem Empfang einer Rente von 40 Gulden die Zahl der Pfrün-
den van zwei erhöhen (S. 150 Nr. 94). Aus den Jahren 15 17 und 15 18
liegen zwei Register des vom Erzbischof erhobenen Zehnten vor (S. 61
Nr. 4); zwei Urkunden von 1474 sind direkt für die Belagerung der Stadt
Neufs von Belang (S. 153/54 Nr. 117 und 120), und die folgenden Ur-
kunden zeigen, in welchem Mafse die Stadt Köln die Lage des Erzstifts zu
ihren Gunsten auszunutzen weifs. Diese Proben mögen genügen; sie zeigen
zum wenigsten, dafs auch manches über das ortsgeschichtliche Interesse hin-
ausgehende Material in dieser Publikation zu finden ist — Wie die not-
wendig werdende Art des Zitierens bereits zeigt, sind die Regesten inner-
halb jeder Abteilung neu numeriert; wäre eine einzige durchgehende Zählung
gewählt wie bei grofsen Regestenwerken, so wäre das Zitieren viel einfacher!
Auch die den Vorlagen unmittelbar entnommenen dankenswerter Weise recht
— 219 —
zahlreichen Quellenstellen würden noch besser hervortreten, wenn sie durch
den Druck (Kursive) ausgezeichnet werden; zugleich würden dann viele An-
führungszeichen imd neuhochdeutsche Umgestaltungen einzelner Worte, die
auch in Anführungszeichen stehen (z. B. „Wedden** S. 155 Nr. 126), ent-
behrlich werden, die Bedeutung als Quellenpublikation aber würde wachsen,
denn unzweideutig wären dann die Worte des Regestenbearbeiters von den
der Vorlagen selbst geschieden. Die Einschaltung des n in lycham (S. 20
Nr. 99, 1454) ist fehlerhaft; interessant wäre es aber, wenn man sehen
könnte, ob 1488 (Nr. 129) und 1549 (Nr, 158) die Form genau so lautet
oder ob etwa wenigstens in der zweiten Stelle schon das n zu lesen ist:
da in diesen beiden Stellen die neuhochdeutsche Umschreibung gewählt wurde,
wird dies leider nicht klar. S. 150 Nr. 96 ist 1420 statt 1720 zu lesen;
S. 153/54 scheint in Nr. n8 und 119 auch 1473 durch 1474 ersetzt
werden zu müssen.
Der Zufall hat es gewollt, dafs eins der fünf Archive, das Pfarrarchiv
von St. Severin, dessen Bestände S. 77 bis 119 verzeichnet sind, gleich-
zeitig noch von anderer Seite bearbeitet worden ist und zwar so, dafs
keine der beiden Arbeiten in der anderen hat benutzt werden können. In splen-
didester Ausstattung, welche die Unterstützung eines früheren Vorstehers der Ge-
meindevertretung von St. Severin ermöglichte, ist erschienen : Die Urkunden des
Pfarrarchivs von St. Severin in Kölny bearbeitet und herausgegeben von
Johannes Hefs, Kaplan an St. Severin, (Köln, Heinrich Theissing, 1 90 1 .
470 S. 4 "). Auch Hefs beschränkt sich auf die im Pfarrarchiv selbst
ruhenden Urkunden, begnügt sich auch in manchen Fällen mit dem Regest
und giebt nur anhangsweise ein Verzeichnis der Akten des Archivs (S. 417
bis 424, 51 Nummern)*). Aber er will in einem zweiten Bande zusammen-
fassen, was sich über Kirche und Stift St. Severin im Staatsarchiv zu Düssel-
dorf, Stadtarchiv Köln und sonst verstreut vorfindet. So wird schliefslich
auch St. Severin sein Urkundenbuch erhalten, wie es St. Gereon schon
1893 erhalten hat ^). Zweckmäfsiger für die Benutzer wäre es natürlich ge-
wesen, wenn der gesamte Stoff sachlich in zwei Bände geteilt worden
wäre und nicht nach dem rein zufälligen Aufbewahrungsort, aber auch so
ist die Gabe dankbar zu begrüfsen, denn so vieles, was das Regest nicht
oder nur ungenügend anzudeuten vermag, wird in der vollständig gedruckten
Urkunde klar; an mancher Stelle werden nun die Regesten zu verbessern
sein, so z. B. S. 7 8 Nr. 6 — bei Hefs S. 1 4 Nr. 7 : Hanno wird Nanno
werden müssen, und Plettenberg, was als Zuname dieses neuen Wachszinsigen
erscheint, ist ganz unzweideutig der Wohnort aller 4 Männer, die sich
1143 oder II 44 in die Wachszinsigkeit ergeben^).. Diese immerhin erheb-
lichen und bedauerlichen Verstöfse sind jedoch nicht Schäfer anzurechnen,
da er gerade bei St Severin die von anderen angefertigten Regesten über-
i) Die Publikation in den Annalen fafst sich wesentlich kürzer: 10 Nammem
S. 118 -119.
2) UrkuncUnbuch des Stiftes St. Gereon zu Költiy herausgegeben von P. Joerres,
Bonn, P. Hanstein.
3) In dem Regest S. loi Nr. 118 (Annalen) ist zu lesen 121 Gulden g Schillinge y
wie sich aus Hefs Nr. 128 — vollständiger Druck der Urkunde — ergiebt. Ähnlich
schreibt Hefs im Regest zu Nr. 79 nur 87 Mark, während die Urkunde %i\ Mark hat.
— 220 —
nommen hat. Hefs hat im ganzen sorgfältig gearbeitet, und die vorzügliche
typographische Ausstattung ist ihm dabei sehr zu statten gekommen. £s ist
nicht von allzu grofsem Belang, wenn z. B. bei Nr. 210 (Hofweistum von
Mersburden bei Zülpich) die bereits zweimal erfolgte Veröffentlichung — bei
Grimm, Weistümer II, S. 715 — 719 und in den Bonner Jahrbüchern 44. bis
45. Heft (1868), S. 181 bis 184 — nicht erwähnt wird, obwohl das Verzeich-
nis der Rheinischen Weistümer von 1883 Aufechlufs gegeben und der Ver-
gleich mit diesen Drucken Gelegenheit zur Herstellung eines guten Textes ge-
boten hätte. Die oben erwähnten Schuldurkuuden zu Gtmsten römischer
Bürger sind als Nr. 14—17 vollständig abgedruckt. Nicht- suchen würde
man hier die Urkunden 78 und 79 (1342), die über den Erwerb von Stadt
und Burg Salza durch den Erzbischof Heinrich von Mainz handeln, imd worin
für 700 Mark Silber Hauptsumme eine Rente von 87^ Mark aus der Münze
des Erzbischofs zu Erfurt verschrieben wird, ebensowenig die Verfehmung
der Stadt Groningen 1489 (Nr. 153). Wegen verweigerter Zehnten (1328,
Nr. 57) und schuldiger Jahipacht (148 1, Nr. 149) wird gegen die Schul-
digen die Exkommunikation verhängt. Päpstliche Steuerkollektoren nennen
1385 Nr. 201, 1402 Nr. iii, 1405 Nr. 113, einen Subkollektor 1366 Nr. 94.
Im Jahre 15 10 wird ernstlich gegen eine geraume Zeit anhaltende Zehnt-
verweigerung Front gemacht (Nr. 176). Schliefslich sei eine Reihe von
Akten zur Reform des geistlichen Lebens im Stifte St. Severin seit Beginn
des XVI. Jahrhds. genannt: 1501 (Nr. 169), 1516 (Nr. 185), 1569 (Nr. 216,
Visitationsprotokoll), 16 15 und 1620 (Nr. 242 imd 245, Reft)rmdekrete
auf Grund stattgehabter Visitationen), 1663 (Nr. 261, Visitationsordnung)*und
1664 (Nr. 263, Auszug aus dem Reformdekret). — Gründlicher als das
von St. Severin ist wohl selten ein ebzelnes Pfarrarchiv durchgearbeitet und
erschlossen worden!
Nur wo die Bestände eines Archivs nicht zu umfangreich sind, wird es
möglich sein das Inventar sogleich zu einer erschöpfenden Publi-
kation zu erweitern, aber in solchen Fällen ist dieses Verehren sehr
praktisch. Angewendet hat es z. B. MaxVoretzsch, indem er 1898 die
Regesten der Originalurkunden des Altenburger Ratsarchivs vom Jahre
1256 bis zum Schlüsse des XIV, Jahrhunderts ') herausgab. Es sind im
ganzen 44 Nummern, denen eine kurze Einleitung über die älteren Inventare
und das Stadtarchiv im allgemeinen vorausgeht: die Regesten sind muster-
giltig klar gefafst und ausführlich gehalten, das Eschatokoll bt stets im vollen
Wortlaut wiedergegeben, und in Petitdruck folgen bei jedem Stück nähere
Angaben über Handschrift, Drucke und sonst Bemerkenswertes, namentlich
Richtigstellung einzelner fehlerhafter Angaben in der Litteratur. Es liegt also
in der That fast ein Urkundenbuch vor, denn nur 16 der verzeichneten Ur-
kunden sind noch nicht gedruckt. Inhaltlich ist vor allem die Privilegien-
bestätigung durch Markgraf Heinrich 1265 (Nr. i) von Belang; 1266 wird
in Zwickau die Gründung eines Hospitals geplant (Nr. 3); 1277 ist das
i) EHe VcrÖffenÜichung ist enthalten in der Festschrift zur 2$ jährigen Jubelfeier
des Herzogt. Ernst- Realgymnasiums zu Altenburg am 21, April i8gS.
— 221 —
Wort holziruxrke lateinisch mit virguÜum wiedergegeben; 1303 wird vom
Bischof die Einrichtung eines Kornspeichers in der Marien-Magdalenenkirche
gestattet (Nr. 8); 1347 erklären Bürgermeister und geschworene Bürger ein
Haus, welches zwei Brüdern, die Geistliche sind, gehört und dem Augustiner-
chorherrenstift zinst, als vom Schofs befreit, doch wird eine feste Jahres-
abgabe von 16 breiten Pfennigen festgestellt; 1397 pachtet der Rat das Schult-
heifsengericht in der Stadt
Noch weiter hat Adolf Wenck seine Aufgabe gefafst, der als Beilage
ziun Jahresbericht des städtischen Realgymnasiums zu Borna für 1897 und
1898 das Baisarchiv xu Borna (bis 1600) behandelt Im zweiten Teile
1898 druckt er die Originalurkimden und einige Kopieen älterer Urkunden
1327 bis 1553 ab, im ganzen 58 Stück, während im ersten 1897 erschiene-
nen Teile zuerst die Bestände des Archivs (S. 7 — 13) charakterisiert imd dann
die Zustände der Stadt (die Stadt, die Bewohner, den Besitz der Stadt, Stadt-
behörden, Städtische Beamte, Bewirtschaftung des städtischen Besitzes, Markt-
wesen, Gerichtsbarkeit, Kirche tmd Schule, Wohlfahrtseinrichtungen, Landes-
herrliche Beamte) im XV. imd XVI. Jahrhimdert kurz, aber stets in un-
mittelbarem Anschlufs an das Material des Stadtarchivs, beschreibt Anderes
Quelleimiaterial ist dafür, abgesehen von ganz einzelnen Bemerkungen, nicht
herangezogen, imd so haben wir denn hier ein Beispiel für umfassendste
Bearbeitung der Archivbestände, wenn auch nur bis 1600. Bedauerlicher
Weise sind den {vollständig mitgeteilten Urkunden keine Regesten voran-
gestellt, so dafs in jedem Falle der ganze Text gelesen werden mufs; die
Benutzung wird dadurch natürlich wesentlich erschwert Auch schliefst sich
die Schreibimg gar zu eng an die Vorlage an, selbst die grofsen Anfangs-
buchstaben finden sich nicht durchgängig bei Eigennamen: in Nr. 8 (141 7)
wird marcgraue xw missen , aber Sybenczenden jaren gelesen ; es fehlt eine
Interpunktion, auch die Abbreviaturen sind vielfach nicht aufgelöst, und es
entstehen doch manche Zweifel, ob überall richtig gelesen ist Die Identifi-
zierung der Ortsnamen wäre zum wenigsten zu wünschen gewesen. Trotz
alledem bedeutet die Publikation eine wesentliche Vermehrung des säch-
sischen Urkundenschatzes, die nicht dankbar genug anerkannt werden kann.
Es finden sich auch hier bemerkenswerte Stellen: so wird schon 141 7
das gewerbliche Verhältnis zu einem in der Bannmeile gelegenen Dorfe ge-
regelt, und zwar werden zwei Brauer- Wirte, ein Schmied, ein Schneider und
zwei Schuster zugestanden (Nr. 8), aber allgemein werden 1470 (Nr. 33)
die Rechte der Stadt wesentlich verschärft, nur Schmiede den Dörfern ge-
lassen; 1430 wird die Stadt wegen des im Hussitenkriege erlittenen Scha-
dens für sieben Jahre von einer dem Naumburger Bischof schuldigen Jahr-
rente befreit (Nr. 11); eine Kalandsbruderschaft wird zuerst 1442 (Nr. 14)
erwähnt.
EomniimlOIieil. — Die Gründung einer Historischen Kom-
mission und einer Altertumskommission ^) hat der Verein für Geschichte
und Altertumskunde Westfalens im Vereinsjahr 1895/96 beschlossen.
i) Vgl. darüber i. Band, S. 107 — 108.
1
— 222 —
Die erste Sitzung fand am 21. Mai 1896 statt'), und bereits bei dieser Ge-
legenheit wurde ein gröfseres Arbeitsprogramm entwickelt. Ihrer Organisation
nach ist die Westfälische Kommission etwas wesentlich anderes als die Kom-
missionen in anderen Provinzen imd Staaten, am ehesten wohl der Gesellschaft
für Rheinische Geschichtskunde zu vergleichen, denn sie ist eine Privatgrtindung
ohne offiziellen Charakter — - das Werk des Vereins für Geschichte imd Alter-
tumskunde Westfisdens — und erfreut sich beträchtlicher finanzieller Unterstützung
nur seitens der Provinz (3500 Mk.) und der Stadt Münster (500 Mk.).
Bei der Sitzung am 22. Mai 1897') wurden zu den bereits übemonmienen
Arbeiten (Westfälisches Urkundenbuch, Münsterische Landtagsakten, Register
zu den 50 ersten Bänden der Zeitschrift, Codex iraditionum, Papsturkunden
mit Bezug auf Westfalen) als neue Unternehmen die Herausgabe der Stadt-
rechte imd einiger Chroniken, die Inventarisation der nicht staatlichen Archive
und die Reform der Vereinszeitschrift beschlossen. Bei der Tagung des
Jahres 1898 (26. Mai) konnte abgeschlossen vorgelegt werden der von
H. Hoogeweg bearbeitete 6. Band des Westfälischen Urkundenbuches,
welcher die Urkunden des Bistums Minden i2or bis 1300 enthält, femer
der I. Band der vom Stadtarchivar Hellinghaus bearbeiteten Quellen und
Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster und der 2. Band der von
Detmer besorgten Kerssenbroch- Ausgabe. ') Als neue Arbeiten wurden die
Edition Westfälischer Rechtsdenkmäler, worunter die Stadtrechte nunmehr als
Teil fallen, und die Bearbeitung eines Urkundenbuches der westfälischen
Klosterreform vom XIV. bis XVII. Jahrh. (Linneborn) beschlossen, auch
die Publikation des Visitationsprotokolls von 15 71 durch Detmer in Aussicht
genommen. Zur Förderxmg der Inventarisation der nichtstaatlichen Archive
wurde eine besondere Archivkommission unter dem Vorsitze von Archivrat
Philip pi eingesetzt. In der Jahressitzung 1899 (24« März) wurde über den
guten Forlgang der begonnenen Arbeiten berichtet und die Herstellung einer
Grundkarte als Probe beschlossen. Im Jahre 1 900 (3 1 . Mai) konnte neben
dem den Kreis Ahaus enthaltenden i. Hefte des i. Bandes der Inventare der
nichtstaatlichen Archive der Provinz Westfalen*) als im Druck vollendet der
von Max jansen (Münster, Aschendorfi" 1 900) herausgegebene Cosmidromius
Gohelini Person und desselben Verfassers Processus translacionis et reformacionis
monasteri Budecensis yorgtiegt werden. Von den Grundkarten, die bei
Koppenrath in Münster zum Preise von 30 Pfennigen zu haben sind, waren
zwei Blätter (Dortmund-Iserlohn und Münster-Burgsteinfurt) fertig gestellt.
Neu wurde damals die Bearbeitung der Mündener Chroniken durch Blömeke
beschlossen. Im Jahre 1901 (24. Mai) wurde das dritte Grundkartenblatt
(Soest- Arnsberg) vorgelegt, ebenso das vom Erfurter Stadtarchivar heraus-
gegebene Stadtrecht von Lippstadt ^) imd das 2. Heft der Inventare der
i) VgL den Bericht in der Zeitschrift fUr vaterländische Geschichte and Altertums-
kunde, 54. Bd. (1896), S. 213—217.
2) Vgl. die genannte ZeiUchrift, 55. Bd. (1897), S. 269—272.
3) //ermannt a Kerssenhroch Anabaptistici furoris Monasiertum incliiam West-
phalicu metropolim everteniis historica narratio^ 2 Teile (XII, 4.62 and 997 Seiten).
Mtlnster, Theissing, 1900 [= die Geschichtsquellen des Bistums Münster, Bd. 5 und 6].
4) Vgl. diese Blätter, i. Bd., S. 85—86.
5) Der etwas umständliche Titel lautet nunmehr: Rechtsqu^lUn, Westfälische Stadtrechte,
Abteilung /: I>ie Stadtrechte der Grafschaft Mark, Heft i: Lippstadt, Münster 1901.
— 223 —
ntchtstaatlichen Archive Westfalens (Kreis Borken). Als erste Lieferung des
7. Bandes des Westfälisclien Urkundenbuches erschienen die Urkunden des
kölnischen Westfalens 1200 bis 1237, bearbeitet von Th. Ilgen. — Auch
die Westfälische Kommission hat, wie hieraus ersichtlich ist, eine reiche Thätig-
keit zur Erschliefsung von landesgeschichtlichen Quellen entfaltet. Es wäre
nur zu hoffen, dafs recht bald durch Schaffung neuer Kommissionen oder
Angliedenmg der Landesteile, die eine Kommission oder ein ähnliches Institut
noch nicht besitzen ') , an bestehende der Zustand geschaffen wird , dafs
jedes noch so kleine Gebiet deutschen Bodens eine zuständige Stelle hat,
die seine geschichtlichen Interessen vertritt und im besonderen die landes-
geschichtlichen Quellen veröffentlicht.
Eingegangene Bficher.
Sauerland, Heinrich Volbert: Vatikanische Urkunden imd Regesten zur Ge-
schichte Lothringens. Erste Abteilung : 1 2 94 — 1342. [= Quellen zur Loth-
ringischen Geschichte, herausgegeben von der Gesellschaft für Lothringische
Geschichte und Altertumskunde, Band L] Metz, G. Scriba, 1901. 441 S. 4^
Schiber, A. : Germanische Siedlungen in Lothringen und England. Mit
einer Karte. [= Jahrbuch der Gesellschaft für Lothringische Geschichte
imd Altertumskunde, 12. Jahrgang (1900), S. 148 — 187.]
Berichtigung und Nachtrag
In meinem Aufsatze Historische Topographie mit besonderer Berück-
sichtigung Niederösterreichs bitte ich folgendes zu berichtigen:
S. loi, Z. 3 V. o. heifst es nicht Atistriae, Illyriae, Carinthiae
sondern Atistriae, Styriae, Carinthiae, S. 133, Z. 20 v. o. ist statt
Böhmen zu lesen Kämthen. Femer teilt zu der Bemerkung S. 10 1,
Anm. I , welche sich auf die Allgemeine Deutsche Biographie stützend be-
dauert , dafs Monographieen über M e r i an imd Z e i 1 1 e r noch fehlen, Herr
Realschullehrer G. Lutze in Sondershausen mit, dafs wohl einschlägige
Schriften existieren, nämlich: H. Eckardt, Matthäus Marian, Skizze seines
Lebens und ausführliche Beschreibung seiner Topographta Oermaniae (Basel,
H. Georgs Verlag, 1887), während Joh. Georg Hagens Geographischer
Büchersaal (2 Bände, Chenmitz 1774) auch Zeiller ausführlich behandelt.
Wien. Max Vancsa.
Da nähere Angaben über die beiden genannten Männer vielleicht man-
chem Leser willkommen sind, mögen kurze Skizzen ihres Lebensganges, die
G. Lutze zur Verfügung gestellt hat, hier eine Stelle finden.
Die Meriane sind eine alte Baseler Patrizierfisunilie und heutzutage in
der Schweiz noch ansässig. Matth. Merian ist am 25. September 1593 als
Sohn des Ratsherrn Walter Merian in Basel geboren. Mit reicher Begabung
für künstlerisches Schaffen ausgerüstet widmete er sich frühzeitUL^r Malerei
und erhielt seine Ausbildung bei dem Maler und Kupferstecher ^Bwi^Meyer
in Zürich. Nach vierjähriger Lehrzeit wurde er nach Nancy
i) Wie es Anhalt gethan hat, das sich der Proriiu
— 224 —
mehrere Stiche auszuführen. Von hier ging er nach Paris, wo er mit dem be-
rühmten französischen Kupferstecher Jacques Callot in Verbindung trat. Nach
erfolgreichem Arbeiten in dieser Stadt kehrte er nach seiner Vaterstadt zurück,
um sich zu einer Studienreise nach Italien zu rüsten. Da aber daselbst die
Pest grassierte, wandte er sich nach Deutschland. Von Augsburg, wo er
begann deutsche Städte zu studieren, ging er 1616 nach Stuttgart tmd von
da nach den Niederlanden. In Frankfurt a. M. trat er in Beziehung zu
dem Buchhändler, Verleger und Kupferstecher Johann Theodor de Bry,
dessen Tochter Maria Magdalena er als Gattm heimführte. Er liefs sich in
Basel nieder und entwickelte da eine reiche künstlerische Thätigkeit Schon
hier unternahm er gröfsere und kleinere Ausflüge, um den Stoff zu land-
schaftlichen und Städtebildem zu sammeln, die seinen späteren Ruf mit be-
gründen sollten. Im Jahre 1624 siedelte er nach FrankÄirt a. M. über und
übernahm den Buch- und Kupferstichhandel seines verstorbenen Schwieger-
vaters. Ein äufserst fruchtbares Schaffen brachte das Geschäft zu hoher
Blüte. Merian starb am 19. Juni 1650 noch nicht 57 Jahre alt, hochbetrauert
als Mensch, wie als Künstler. Von seinen zehn Kindern führten die beiden
ältesten, Matthäus tmd Kaspar, das Geschäft im Sinne und Geiste des
Vaters weiter. 1727 ist die Firma „ Merians Erben " in Frankfurt erloschen.
Die Herausgabe des Merianschen Werkes umfafst einen Zeitraum von 46 Jahren,
1642 ist der erste, 1688 der letzte Band erschienen. Die Herstellung der
ersten 9 Bände hat er selbst, die nachfolgenden haben die Söhne besorgt
Martin Zeil 1er wurde den 17. April 1589 in Ränten in Obersteier-
mark geboren, wo sein Vater, ein Schüler Melanchthons, lutherischer Prediger
war. Wegen Verfolgung in Glaubenssachen siedelte er 1600 nach Regens-
burg, 1 602 nach Ulm über, wo er eine Zeit lang als Pestilenzprediger wirkte.
Hier ist er 1609 gestorben. Sein Sohn Martin besuchte nach Absolvierung
des Gymnasiums in Ulm die Universität Wittenberg imd wirkte von 1 6 1 2 ab in
Linz als Lehrer junger Adliger. 1615 trat er mit seinen Schülern eine
Reise durch Böhmen, Mähren und das Elsafs an und blieb mit ihnen zwei
Jahre an der Universität Strafsburg. 1620 — 1622 lebte er mit einem jungen
Grafen Tättenbach in Frankreich. Abermals zum Mentor zweier Grafen be-
rufen, besuchte er mit ihnen die Schule in Linz. Wegen seines Glaubens
angefeindet, wohnte er nacheinander zu Ulm, Tübingen und Strafsburg. Ais
Reisebegleiter zweier adliger Zöglinge bereiste er Italien und erwarb zu
Padua die Würde eines Syndicus Juristarum deutscher Nation. Des Rei-
sens müde erwarb er in Ulm das Bürgerrecht und verheiratete sich 1630
mit Magdalena Matthesius. Die Ehe blieb kinderlos. 1633 wurde er Ober-
aufseher am Gymnasium zu Ulm, 1641 Censor der historischen imd philo-
sophischen Schriften, 1643 Inspektor der deutschen Schulen in Ulm; er
war aufserdem kaiserlicher Notar. Sein Biograph sagt, dafs er diesen Ämtern
mit vielem Ruhme vorgestanden und seine übrige Zeit allein auf die Verab-
fassung seiner Schriften verwendet habe. Das auf Reisen gesammelte histo-
rische und geographische Material ordnete imd veröffentlichte er in 46 Schriften,
die von 1632 — 1688 erschienen sind. Seine Mitarbeiterschaft an Merians
Kupferwerke, für welches er den Text zu den meisten Topographieen lieferte,
ist nicht sein kleinstes Verdienst Zeiller starb am 4. Okt 1661.
Heraotceher Dr. Araiui Tille ia Leipdc. — Druck und Verlag tob Friedrich Andreai Perdies in Goduu
Deutsche Geschichtsblätter
Monatssclirift
zur
Förderung der landesgeschicMclien Forschung
III. Band Juni 1902 9. Heft
Liandesgesehiehtliehe lieht^ und licsebüeher
Von
Martin Wehrmann (Stettin)
Welche Stellung^ die Landes- und Heimatsgeschichte im Unterrichte
der höheren Schulen einnimmt, habe ich versucht, kurz in diesen
Blättern *) darzustellen. Es war keineswegs die Absicht, wie an einer
Stelle gesagt ist, für diesen Gegenstand gleichsam Reklame zu machen
oder eingehend zu schildern, in welcher Weise thatsächlich im Ge-
schichtsunterrichte wohl schon längst die spezielle Heimatsgeschichte
als Hilfe und Stütze verwandt wird, sondern nur darauf hinzuweisen,
wie sich die amtlichen Lehrpläne und Anordnungen zu diesem Gegen-
stande verhalten. Dabei hat sich ergeben, dais dort demselben zu-
meist nur geringe oder gar keine Beachtung geschenkt ist. Sonst aber
ist das stets wachsende Interesse an der Landesgeschichte, wie auch
hervorgehoben ist, nicht ohne Einflufs auf den Unterricht der höheren
Schulen geblieben. Es wäre ja auch wunderbar, wenn man sich dort
gegen die Bestrebungen der Volksschule, den heimatskundlichen Stoff
nutzbar zu machen, ganz ablehnend verhalten hätte. Die unendlich
reiche Literatur über die unterrichtliche Verwertung der Heimatskunde
im weiteren Sinne, die zahllosen Leitfaden, Bücher und Büchlein, in
denen für deutsche Staaten, Provinzen, Städte, Kreise oder einzelne
Gemeinden das Material gesammelt und gedruckt ist, sind auch von
den höheren Schulen durchaus nicht unbeachtet geblieben, nur sind
<iie meisten von diesen „Heimats- oder Landeskunden** für sie nicht
ohne weiteres zu verwerten. Sie bieten fast alle eine zu umfangreiche,
oft wenig planvoll zusammengestellte Sammlung von allerlei wissens-
wertem und wichtigem Stoff, dafs sie wohl als Realienbücher in der
Volksschule benutzt werden können und müssen, aber mit einexJlipnats-
kunde, wie sie nur als Hilfe beim Unterrichte ven^xndet
oft wenig zu thun haben. Auch liegt es nicht im Plane d*'
I) Bd. II, S. 265—273. H^^ ^
4
— 226 —
Schulen, in solchem Sinne Heimatskunde ausführlich und eingehend
zu behandeln, wenn es selbstverständlich beim erdkundlichen Unter-
richte auch wünschenswert ist, das Heimatsland etwas genauer zu be-
handeln. Wenn es gelingt, das Interesse in den Unter- und Mittel-
klassen anzuregen, auf geeignete Bücher, deren es ja manche giebt,
hinzuweisen und durch gelegentliche Benutzung des sich von selbst
bietenden Stoffes zur Erklärung fremder Verhältnisse zu verhelfen, so
hat der erdkundliche Unterricht in den höheren Schulen, der „ein
verständnisvolles Anschauen der umgebenden Natur und der Karten-
bilder, sowie Kenntnis der physischen Beschaffenheit der Erdoberfläche
und der räumlichen Verteilung der Menschen auf ihr" vermitteln soll,
in dieser Beziehung genug getan. Der Unterricht in Sexta soll wohl
von der Heimat ausgehen, aber nicht in ihr aufgehen.
Fehlt es für diese Heimatskunde im weiteren Sinne durchaus
nicht an Hilfsmitteln, die wohl auch den Schülern in die Hände ge-
geben werden können, so verhält es sich ganz anders mit der Landes^
oder Heimatsgeschichte. Es ist schon hervorgehoben, dafs hier wirk-
lich brauchbare Darstellungen fast ganz mangeln. Dadurch entsteht,
wie auch O. Jäger*) mit Recht betont, eine Schwierigkeit für
den Lehrer sowohl wie für den Lernenden. Jener hat nicht immer
die Zeit, sich wirklich wissenschaftlich in die Geschichte des Landes,
in das er durch seinen Beruf gekommen ist, einzuarbeiten, zumal wenn
er häufiger den Ort seiner Tätigkeit zu wechseln hat, und dem Schüler
bietet für diesen TeU des Geschichtsunterrichtes das Lehrbuch gar
keine oder nur geringe Hilfe. Dadurch wird unzweifelhaft das Heran-
ziehen der Lokal- oder Territorialgeschichte ungemein erschwert. Dieser
Mangel, der doch von verschiedenen Seiten empfunden zu sein scheint,
hat ja zu manchen Versuchen gefuhrt, von denen im folgenden einige
kiuz behandelt werden mögen. Es kann und soll sich dabei aber
keineswegs um eine auch nur einigermafsen erschöpfende Bibliographie
handeln. Dafür mag auf P. E. Richters Bibliotheca geographica
Germaniae, Literatur der Landes ^ und Volkskunde des Deut--
sehen Reichs (Dresden 1896) und auf die von A. Kirch hoff und
K. Hassert herausgegebenen Berichte über die neuere Literatur
zur deutschen Landeskunde, von denen bisher der erste Band (Berlin
1901) vorliegt, verwiesen werden *). Ebenso liegt es ganz fem für die
i) Humanist. Gymn. XII, S. 236.
2) Vgl. oben S. 178 — 182. Für Sachsen-Meiningen giebt das 36. Heft der Schriften
des Vereins fUr Sachsen -Meiningische Geschichte und Landeskunde (1900) QneUen und
Literatur an.
— 227 —
einzelnen Territorien, darzustellen, was dort in der eng-eren oder wei-
teren Heimatsgeschichte durch die Arbeiten der Vereine oder einzelner
Forscher geleistet ist. Es ist selbstverständlich, dais die Ergeb-
nisse auch für den Unterricht verwertet werden können und müssen,
aber an dieser Stelle können nur einige Arbeiten behandelt werden,
die recht eigentlich für die Schule bestimmt und in derselben als
Lehr- und Lesebücher benutzt werden sollen. Nicht ganz streng
läfst sich der zweite Begriff der Lesebücher bestimmen, da hierfür
manches sehr wohl in Frage kommen kann, was nicht speziell für die
Schule verfafst ist
Da(s die Heimatsgeschichte im Unterrichte benutzt und auch ge-
lehrt wird, ist die Voraussetzimg, von der hier ausg^angen ist *). Der
imterrichtliche Wert derselben für die Anschauung und das Verständ-
nis femer liegender Zustände oder Ereignisse ist nicht zu leugnen, und
das natürliche Interesse, das auch schon bei der Jugend durch An-
knüpfen an lokale Beziehungen erweckt wird, muis unzweifelhaft aus-
genutzt und gefördert werden. Nur glaube man nicht, dafs alles, was
in der Heimat vorhanden ist, den Schülern auch nur äufserlich be-
kannt und vertraut ist! Man hüte sich, ein Unbekanntes durch ein
anderes erklären zu wollen! Man belaste den schon reichen Stoff,
der im Geschichtsunterrichte behandelt werden soll, nicht noch weiter!
Es liegt also fem, etwa einen neuen Unterrichtsgegenstand einzuführen
oder die spezielle Heimatsgeschichte in das vorgeschriebene Penstmi
einzuschmuggeln. Vielmehr soll nur an geeigneten Punkten das Inter-
esse für dieselbe geweckt werden. Zunächst ist es doch wohl natür-
lich, die Stellen der deutschen Geschichte, an denen das Heimatsland
oder die Heimatsstadt eine besondere Rolle spielen, etwas eingehender
zu behandeln. Natürlich bietet sich in manchen Gegenden dazu häu-
figere Gelegenheit, als in anderen. Aber es wird nirgends ganz daran
fehlen. Für diese etwas ausführlicher darzustellenden Abschnitte oder
Episoden, denen die Schüler erfahrungsmäfsig lebhaftes Interesse ent-
g^enbringen, bietet das Lehrbuch natürlich nicht genügendes Material.
So ist z. B. in den meisten Leitfaden zur deutschen Geschichte, die
für die Mittelklassen bestimmt sind, das grofse Werk der deutschen
Kolonisation im XII. und XIII. Jahrhundert gar nicht oder ganz neben-
sächlich erwähnt. In den Ländem, die zum damaligen Kolonialgebiete
gehören, ist es aber ganz besonders geboten und von eigenartigem
i) Wie auch mit dem erdknndlichen Unterrichte Heimatsgeschichte verbanden werden
kann, zeigt R. Foss in seinem Büchlein „Z>Äf Mark Brandenburg" (Berlin 1873}.
Vorsicht ist aber hierbei nötig.
16*
— 228 —
Interesse näher darauf einzugehen und genauer zu betrachten, wie das
Heimatsland deutsch geworden ist. Für die Schüler im Westen und
Süden wird dagegen die ältere Zeit, so zu sagen, persönlich inter-
essanter sein. Aber nicht diese zufälligen Beziehungen erscheinen als
das wichtigste, sie dienen gewissermafsen nur zur Belebung des grofsen
Ganzen; systematischer kann die Heimatsgeschichte bei der Schilde-
rung von Zuständen verwertet werden. Dafür bieten sich überall An-
haltspunkte, dafür fehlt es nirgends an Material. Die Christianisierung
z. B. Deutschlands kann an einem der Heimat entnommenen Beispiele,
das Mönchswesen an einem heimatlichen Kloster oder der Erinnerung
daran besser erläutert werden als durch lange Auseinandersetzungen.
Für die Repetition des den Schülern neu gebotenen Stoffes mag
es bei einiger Bemühung des Lehrers ohne ein eigenes Lehrbuch gehen,
wenn auch eine kurze zusammenhängende Übersicht über die Heimats-
geschichte erwünscht ist, ähnlich der, welche in den Büchern, die in
den preufsischen höheren Lehranstalten in Gebrauch sind, für die ältere
brandenburgische Geschichte gegeben zu werden pflegt. In den deut-
schen Einzelstaaten dagegen ist für eine eingehendere Behandlimg ein
Leitfaden durchaus notwendig. Aber für weitere Lektüre, für die Vor-
bereitung zu kleineren Ausarbeitungen oder kurzen Vorträgen fehlt es
sehr oft an recht brauchbaren Werken, die der Lehrer dem Schüler
in die Hand geben kann, da die gröfeeren Territorial- oder Lokal-
geschichten sich selten dazu eignen. So ist das Bedürfnis nach Lehr-
und Lesebüchern, die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhen, sicher
oft empfunden worden *). Es braucht darum keineswegs ein neues
Schulbuch eingeführt zu werden, das nun peinlich dem Unterrichte
zu Grunde zu legen wäre ; nein, es genügt, wenn die Schüler auf solche
Bücher hingewiesen, wenn sie in der Schulbibliothek vorhanden und
ausgeliehen werden. Sie müssen aber vor allem dir diejenigen, fiir
die sie bestimmt sind, geeignet, d. h. anregend, verständlich, klar
und nicht langweilig sein, auch nicht alles mögliche enthalten, was
nur lose mit der Heimatsgeschichte zusammenhängt. Solche vortreff'-
lichen Werke, wie Th. Fontanes Wanderungen durch die Mark
Brandenburg, A. Trinius* Thüringische Skizzen, F. Reg eis Thü-
ringen, J. Partschs Schlesien, O. Lorenz' und W. Scherers
Geschichte des Elsasses u. a. m., haben auch unter der Jugend be-
geisterte Leser gefunden. Die im Verlage von F. A. Perthes er-
scheinenden Deutschen Landesgeschichten sind zwar zunächst nidit
I) Vgl. Bd. n, s. 272 f.
1
— 229 —
für die Schulen bestimmt, können aber sehr wohl auch als Lesebücher
für erwachsene Schüler verwertet werden. Auch sonst giebt es gewifs
in jeder deutschen Landschaft noch Werke, die zu diesem Zwecke
empfohlen werden können. Doch auch hier ist für die Heimats k u n d e im
weitesten Sinne viel besser als für die Heimatsges ch ich te gesorgt. Durch
wissenschaftliche imd zugleich im besten Sinne populäre Darstellungen
können sehr wohl in weiten Kreisen Interesse und Teilnahme erweckt
werden.
Wie bereits hervorgehoben ist, erscheinen eigentliche Lehr-
bücher nicht überall als durchaus notwendig, aber es ist wünschens-
wert, dafe solche vorhanden sind, damit sie gelegentlich den Schülern
empfohlen oder, falls ein Lehrer es versteht, das Interesse der Schüler
in dieser Hinsicht anzuregen, auch in preufsischen höheren Schulen
eingeführt werden können. Es ist sehr zu wünschen, dafe hier
wenigstens einige Freiheit erlaubt ist. Doch darf keine Über-
bürdung der Schüler eintreten. Solche Arbeiten dürfen deshalb
nicht zu umfangreich sein, andrerseits aber sind sie wenig brauchbar,
falls die Darstellung gar zu mager und dürftig ist. Auf jeden Fall
erscheint eine präzise, zusammenhängende Darstellung der Entwickelung
des Landes, in der die wichtigsten Momente scharf hervortreten,
brauchbarer, als eine Zusammenstellung einiger, zusammenhangsloser
Erzählungen aus der Geschichte. Dafs dabei auch die prähistorische
Forschung berücksichtigt wird, ist durchaus zu fordern. Eine Samm-
lung Deutsche Landes- und Provinzialgeschtchte hat R. Voigt-
länders Verlag (Leipzig 1892) als ein Handbuch für die
Heimatkunde im Geschichtsunterricht herausgegeben. Die
wissenschaftliche Leitung des Unternehmens hat C. Schmelzer ge-
führt, der für den Geschichtsunterricht das Entwerfen von möglichst
vielen kleinen Einzelbildern empfiehlt. Die Sammlung besteht aus
28 Heften, die von verschiedenen Verfassern hergestellt und, wie
rühmend hervorzuheben ist, mit kleinen Karten und Wappen aus-
gestattet sind. Die einzelnen Hefte, meist vom Umfange je eines
Druckbogens, sind gewöhnlich so angelegt, dafs einem kurzen, oft
tabellenmäfsig angelegten Abrisse der Landesgeschichte Erzählungen
aus der heimatlichen Geschichte folgen. Meist sind diese recht ge-
schickt und sachlich richtig gegeben, aber bei dem geringen Umfange,
den sie einnehmen, bleiben sie doch matt und farblos. Sie sind weder
als Lesestücke noch als Abschnitte zur Repetition recht zu gebrauchen.
Für den geschichtlichen Unterricht wäre, wie bereits gesagt, eine er-
weiterte Übersicht der Heimatsgeschichte wünschenswerter, bei der es
— 230 —
dem Lehrer überlassen bleibt, die für seinen Unterricht geeigneten
Teile weiter auszuführen. Trotzdem sind die kleinen Hefte immerhin
auch für die höheren Schulen wohl zu verwerten. Der billige Preis
(5 Pf. für jedes Hefl) empfiehlt sie nicht weniger. Nach einem ans-
führlichen, von A. Te ekle nburg *) dargelegtem Plane ist eine Reihe
von stammesgeschichtltchen Ergänzungsheften zu der von H. Weigand
und A. Tecklenburg bearbeiteten Deutschen Geschichte erschienen.
Es ist schon früher *) auf diesen systematischen Versuch hingewiesen
imd hervorgehoben worden, dafs diese Art der Benutzung der Heimats-
geschichte keineswegs so etwas ganz neues ist. Trotzdem enthält
die methodische Anweisung, die für die Volksschule gilt, auch für die
höheren Lehranstalten manches beachtenswerte. „Es eignen sich im
allgemeinen die kulturellen Zustände der Heimat als anschauliebe
Grundlage, auf welche der ganze Lernprozeß aufzubauen ist, während
die Ereignisse, die wir als politische Geschichte zu bezeichnen ge-
wohnt sind und die von aufsen her an die Heimat herantreten, natur-
gemäis in ihren Wirkungen in Stammland und Heimat zu verfolgen
sind, derart, dafs diese Wirkungen als Illustrationen, Vertiefungen und
Ergänzungen dienen." Dieser Satz Tecklenburgs mag im allgemeinen
gelten, obwohl er im einzelnen nicht ganz klar erscheint Oft kann
auch die Verwertung des heimatsgeschichtlichen Stoffes umgekehrt sein,
wenn anders man überhaupt so entschieden zwischen sogenannten
kulturellen Zuständen und politischen Ereignissen unterscheiden will.
Von den Ergänzungsheften liegen von verschiedenen Verfassern be-
arbeitet erstens stammesgeschichtliche vor für die Rheinprovinz,
Hannover,Prov.Sachsen,GrofsherzogtumHessen,Ost-und
Westpreufscn, Posen, Brandenburg, Schleswig-Holstein,
Schlesien, Pommern; zweitens heimat^eschichtliche für Göt-
tingen, Mainz, Erfurt, Alzey und Umgegend, Nordhausen
und die Grafschaft Hohenstein, den Kreis Pyritz, Offen-
bach a. M. und Umgegend. Diese letzteren Hefte, die für eine
engere Heimat abgefafst sind, enthalten in recht verschieden gelungener
Weise aufserordentlich reiches Material, ja so viel, dafs an eine wirk-
liche Durcharbeitung nicht zu denken ist. Als Lesebücher eignen sie
sich nicht, da die Darstellung meist zu nüchtern und langweUig ist.
Die ausführliche Darstellung des heutigen Zustandes der betreffenden
Bezirke mit Angaben über Organisation der Verwaltung gehören nicht
i) Die organische Eingliederung der Heimat- und Stammesgeschichte in die Reichs*
geschichte, Hannover und Berlin, Carl Meyer (Gustav Prior), 1899.
2) Bd. U, S. 272.
— 231 —
eigentlich in dieselben hinein. Für die höheren Schulen sind einzelne
von den Heften (z. B. Göttingen oder Nordhausen) wohl einmal ge-
legentlich zu benutzen, als Lehrbücher eignen sie sich aber nicht.
Überhaupt scheinen solche, für den Gebrauch in den Schulen bestimmte
Darstellungen kleinerer Bezirke, als es die Provinzen oder einzelnen
Staaten sind, überflüssig zu sein. Sie verleiten gar zu leicht zu einer
übertriebenen Behandlung der Heimatsgeschichte, unter der der Ge-
schichtsunterricht im allgemeinen dann zu leiden hat. Hier müssen
nur gelegentlich Stadt- oder Stammesgeschichten *) herangezogen werden.
Auch die erste Reihe der Hefte, in denen die Geschichte einer Provinz
oder eines Landes behandelt ist, kann für die höheren Schulen nur be-
dingungsweise empfohlen werden. Sie enthalten Lesestücke, die zu be-
stimmten Abschnitten der deutschen Geschichte benutzt werden sollen.
Die Auswahl und die Behandlung werden natiugemäfs leicht auf Wider-
spruch sto&en, da hierbei subjektives Empfinden immer sehr mitsprechen
wird. Aber die Beziehung zur allgemeinen Geschichte ist doch oft recht
äu&erlich, und manche Abschnitte sind angenommen, die wohl heimats-
geschichtlich von Interesse, für den Unterricht aber kaum zu verwerten
sind. Auch hier fehlt der Zusammenhang der einzelnen Abschnitte. Es ist
zu furchten, dafs bei Benutzung dieser Hefte die Absicht Tecklen-
burgs nicht immer erreicht, dafs vielmehr gar mancher Lehrer zu einer
Behandlung der Heimatsgeschichte als eines eigenen Unterrichtsg^en-
standes verleitet wird. Dazu verfuhrt vornehmlich die Zersplitterung
des Stoffes in zu viele kleine Abschnitte. Wozu ist es nötig für ein-
zelne Kreise und Gemeinden das Material immer wieder zu wiederholen
und bis ins kleinste auszuführen? Wir kommen da zu einer Speziali-
sierung, die für die Schule nur schädlich ist. In dem Sinne Heimats-
kunde zu treiben, dafs die Schüler alles Wissenswerte von ihrer Heimat
aus Vergangenheit und Gegenwart lernen sollen, ist für die höheren
Schulen wenigstens entschieden abzulehnen. Nur was Tvirklich unter-
richtlichen Wert für das allgemeii^re Verständnis hat, entnehmen wir
gerne der nächsten Umgegend der Lernenden.
Trotz ihres Anspruches, etwas Neues zu bringen, unterscheiden sich
die Hefte nicht zu sehr von den heimatskimdlichen Beigaben, wie sie
oft zu oder in deutschen Lesebüchern gegeben sind. Namentlich im
Verlage von F. Hirt inBreslauundLeipzig sind schon vor längerer
Zeit solche Ergänzungshefte in gröiserer Zahl erschienen und allmälich
i) So enthält z. B. G. v. d. Osten, Geschichte des Landes Wursten (Teil i, Bremer-
haven 1900) auch manches Material, das fUr den Unterricht verwendet werden kann.
— 232 —
durch Umarbeitungen, Ergänzungen immer mehr ausgestaltet worden. Sie
enthalten geographische und geschichtliche Lesestücke (Westfalen, Schle-
sien, Westpreufsen, Sachsen, Hannover, Hessen-Nassau, Ostpreufeen^
Brandenburg, Posen, Pommern), die aber zumeist nicht von den Bearbeitern
eigens zu diesem Zwecke hergestellt, sondern bekannten, gröfseren Werken
entnommen sind. So sind sie nicht eigentlich landesgeschichtliche Lehr-
bücher, aber wohl gelegentlich auch beim Unterrichte in den höheren
Schulen als Grundlagen für Vorträge zu benutzen. Ähnlich steht
es mit anderen solchen Anhängen, von denen hier als wohlgelungen
der von Supprian verfafete Anhang für Pommern zum „Deutschen
Lesebuche mit Bildern von Gabriel und Supprian" (Bielefeld und
Leipzig, Velhagen und Klasing) erwähnt werden mag. Auch die
Buchhandlung des Waisenhauses in Halle a. S. hat als Bei-
lagen zu dem ,, Norddeutschen Lesebuche** von Keck imd
Johansen Heimatskunden für Hannover, Sachsen, Reufs, Mecklen-
burg, Schleswig-Holstein, Posen, Hessen-Nassau u. a. m. herausgegeben.
Sie alle enthalten geschichtliche und geographische Bilder und sind
zum Teil ebenfalls gelegentlich für die höheren Schulen zu ge-
brauchen.
Nicht eigentlich landesgeschichtliche Lehrbücher sind die
LandeS'(Hetmats-) Kunden der Provinzen Preu/sen und der deut--
sehen Einzelstaaten, die zunächst zur Ergänzung der Schul-
geographie von E. von Seydlitz im Verlage von Ferd. Hirt
in Breslau erschienen sind. In den 23, meist sehr wohl gelungenen
Heften wird die Geschichte recht verschieden behandelt. In den
meisten ist ein ganz kurzer Abrife gegeben, und geschichtliche Nach-
richten sind gelegentlich mitgeteilt. In anderen ist die geschichtliche
Entwickelung etwas ausführlicher behandelt, auch wohl Literatur mit-
geteilt (Schleswig-Holstein, Hannover, Ost- und Westpreufsen, Pommern,
Bremen). Wo ein eigener Abschnitt für Geschichtliches fehlt (Branden-
burg, Hamburg), ist dies als ein Mangel zu bezeichnen. Wenn überall
eine zusammenhängende, lesbare, kurze Darstellung der Landesgeschichte
gegeben würde, so würde dadurch die Brauchbarkeit der hübschen
Büchlein für die höheren Schulen wesentlich erhöht werden.
Eine eingehendere Schilderung und auf gründlichen Studien be-
ruhende Darstellung erfahren die Provinzen Preufsens in der von
A. Beuermann herausgegebenen Landeskunde Preufsens (Berlin
und Stuttgart, W. Spemann). Die geschichtliche Entwickelung der
Provinzen aber wird nur sehr kurz und oberflächlich behandelt, eine
Erweiterung in dieser Beziehung wäre für die sonst vortreffliche Samm-
— 233 —
lung erwünscht. Noch umfangreicher sind die Bücher,, die von den
Pestalozzivereinen verschiedener deutscher Bezirke herausgegeben
sind oder bearbeitet werden. So viel bekannt ist, liegen vor Thü-
ringen in Wort und Bild und die Provinz Sachsen in Wort
und Bild (Berlin, Jul. Klinkhardt, 19CX)). Diese in gutem Sinne
volkstümlichen Werke enthalten Einzelschilderungen, die in die
Natur, das Volksleben und die Geschichte des betreffenden Terri-
toriums näher einführen. Dafe die von den verschiedensten Kreisen
gelieferten Beiträge nicht alle gleichwertig sind, ist erklärlich. Als
Lesebücher mögen sie hier und da auch für die Landesgeschichte
empfohlen werden.
Die im Verlage von Hobbing und Büchle in Stuttgart er-
scheinende grofee Sammlung Deutsches Land und Leben in Einzel-
schilderungen enthält eme Abteilung „Städtegeschichten**, in der
bisher die Geschichten von Naumburg und Königsberg i. Pr.
erschienen sind. Die gründlichen und sorgfältigen Arbeiten können
ähnlich anderen Stadtchroniken zur Lektüre wohl auch Schülern in die
Hand gegeben werden. Ahnlich ist es mit den Werken der anderen
Abteilung „Landschaftskunden**. Die ganz vortrefflichen Arbeiten
über Litauen, Masuren, den Odenwald, Bayrisch Schwa-
ben u. a. m. lassen sich auch mit Nutzen für den landesgeschicht-
lichen Unterricht heranziehen. Sie enthalten auch hierfür reiches
Material.
Auf die sonstigen zahllosen Heimatskunden, die immerfort in
allen Teilen des Deutschen Reiches erscheinen, kann hier nicht ein-
gegangen werden. In den meisten finden sich auch Nachrichten über
die Geschichte des betreffenden Gebietes , aber im allgemeinen sind
sie nach einer Schablone gearbeitet und kommen für den Unterricht
in den höheren Schulen nicht in Betracht. Neben diesen heimats-
kundlichen Heften giebt es nun aber auch eine grofse Zahl von kleinen
Veröffentlichungen geschichtlichen Inhalts, die für den Unterricht be-
stimmt sind. Es ist ganz unmöglich, hier auch nur eine Übersicht zu
geben, aber z. T. leisten sie ganz g^te Dienste und sind wohl brauch-
bar. .In dieser Beziehung ist für die deutschen Emzelstaaten besser
gesorgt als für die preufsischen Provinzen. Es ist das ganz erklärlich,
da dort der geschichtliche Zusammenhang gewahrt ist, auch die Landes-
geschichte eifriger im Unterrichte betrieben wird. Was z. B. hierfür
in Hamburg gethan ist, darauf wurde schon ^) hingewiesen. Ebenso ist
i) Vgl. oben S. 1131".
— 234 —
man jetzt in Mecklenburg' eifrig bemüht, der Landesgeschichte
den gebührenden Platz einzuräumen. Von C. Benjes in Rostock
sind verschiedene Leitfäden, Grundrisse und Zeittafeln zur mecklen-
burgischen Geschichte (Berlin, Wilh. Süsserott) erschienen. Für die
höheren Lehranstalten sind bestimmt die von R. Wagner bearbeiteten
Bilder aus der mecklenburgischen Geschichte und Sagenwelt (1900)
und die von A. Rudioff in Verbindung mit anderen Schulmännern
herausgegebenen Bilder aus der mecklenburgischen Geschichte. Alle
<liese Arbeiten eignen sich sehr wohl für den Unterricht auf ver-
schiedenen Stufen. Ergänzend und erweiternd treten dazu die bisher
erschienenen Bände der Mecklenburgischen Geschichte in Einzeln
darstellungen {Berlin, W. Süsserott, 1899 — 1901). In denselben werden
ausfuhrlich und gründlich die einzelnen Perioden dargestellt; als Lese-
bücher sind sie für reifere Schüler sehr zu empfehlen. (Vgl. über
diese Sammlung W. Salow im Programm von Friedland i. Mecklenb.
1902). In ähnlicher Weise ist für die Behandlung der Geschichte des
Grofsherzogtums Hessen gesorgt. Im Verlage von E. Roth
in Giefsen ist von P. Müller ein kurze Geschichte und eine Heimats-
kunde erschienen, treffliche Bücher, denen für die oberen Klassen der
höheren Schulen die Geschichte des Grofsherzogtums Hessen von
Fr. Soldan (Giefsen 1896) erweiternd zur Seite tritt. Auch K. Wag-
ners Abri/s der Geschichte des Hessenlandes (Cassel 1896) mag
hier erwähnt werden, ebenso wie F. Münschers Geschichten aus
dem Hessenlande oder Geschichte von Hessen (Marburg).
Wir müssen uns begnügen, an den beiden Staaten kurz gezeigt zu
haben, wie durch diese und zahlreiche andere Arbeiten der unterricht-
liche Betrieb der Heimatsgeschichte gefordert werden kann. In den
meisten anderen Bundesstaaten steht es nicht anders; es ist aber un-
möglich auch nur einen Teil der Litteratur anzugeben. Es mag Ver-
tretern der einzelnen Gebiete überlassen bleiben, solche Zusammen-
stellungen zu liefern; es wäre das sehr wünschenswert.
Trotz des Reichtums aber an den verschiedensten heimatskund-
lichen Lehr- und Lesebüchern fehlt es, wie wieder hervorgehoben
werden mufs, doch noch an vielen Stellen namentlich für die preulsi-
schen Provinzen an Arbeiten, die für die höheren Schulen recht zu
gebrauchen wären, sowohl an ausführlichen Lesebüchern, wie an
kürzeren zusammenfassenden Darstellungen. Es ist sehr zu wünschen,
dafs die landesgeschichtliche Forschung mit dazu beiträgt, diesem
Mangel allmählich abzuhelfen. Nicht allein die wissenschaftliche Er-
forschung der Vergangenheit, sondern auch die Verbreitung der ge-
— 236 —
wonnenen Resultate ^) in Schule und Haus ist eine wichtige Aufgabe
namentlich der verschiedenen territorialen Geschichtsvereine.
Mitteilungen
Archive« — Die staatliche Aufsicht über die Archive der Stadt- und
Landgemeinden sowie der öffentlichen Korporationenen wird in den ver-
schiedenen Bundesstaaten verschieden gehandhabt, aber überall hat sich die
Erkenntnis Bahn gebrochen, dafs es höchste Zeit ist, mit der alten Vemach-
läfsigung der Archive aufzuräumen. Noch in bei weitem den meisten Staaten
wird dies jedoch der Privatthätigkeit der geschichtlich interessierten Kreise,
wenn sie sich auch der empfehlenden Unterstützung der Behörden fast durch-
gängig zu erfreuen haben, überlassen. Einen wesentlichen Schritt weiter ist
die Königlich Bayerische Regierung der Pfalz (Kanmier des Innern) zu
Speyer gegangen, indem sie unter dem 30. August 1900 eine VerfÜgimg an
sämtliche Bezirksämter erlieis, die allgemeine Beachtung seitens der Geschichts-
forscher sowohl als auch aller staatlichen Aufsichtsbehörden verdient. Für
erstere ist es von besonderem Werte, dais das Bezirksamt die Inventare in
Abschrift erhält: es ist mithin jetzt möglich, dafs sich der einzelne Forscher
auf dem Bezirksamt verhältnismäfsig rasch und zuverlässig über den Inhalt
der Gemeindearchive im ganzen Bezirksamt unterrichtet!
Wir lassen hier zunächst den von der Königlichen Regierung gütigst
zur Verfügung gesteUten Erlafs in seinem vollen Wortlaut folgen:
„Nach den zum Vollzug der Regierungsentschliessung vom 7. April d. J.
^r* 7353 ^ ^on den Bezirksämtern erstatteten Berichten befinden sich zahl-
reiche Gemeinden des Regierungsbezirks im Besitze von alten Akten und
Urkunden, Ratsprotokollen, Beschlussbüchem, Rechnungen u. s. w. von teilweise
sehr hohem archivalischem Wert, für deren Sichtung und sichere Aufbewahnmg
nicht allerwärts die nötige Vorsorge getroffen zu sein scheint
Das Bezirksamt wird es sich daher angelegen sein lassen, der Sicherung
derartiger wertvoller Urkunden gegen Verlust und Verderb die grösste Auf-
med^samkeit zuzuwenden und jede Gelegenheit insbesondere bei den periodi-
schen Gemeindevisitationen zu benützen, die Gemeinden in dieser Beziehung
aufzuklären und zur Beseitigtmg bestehender Missstände — event im Wege
staatsaufsichdichen Einschreitens — anzuhalten. (Zu vergl. die Entschliessung
des kgl. Staatsministeriums des Innern vom 18. Mai 1888 — M. AbL S. 199.)
Sofeme sich die Gemeinden nicht entschliefsen können, ihre wertvoUen
Urkunden u. s. w. — unter Vorbehalt ihres vollen Eigentums- und VerfÜgimgs-
rechts (zu vergL die autogr. Regierungsentschliessung vom 16. Februar
1873, Nr. 2732 F.) — bei den Kreisarchiven zu hinterlegen und sie auf
diese Weise auch der archivalischen Benützung zugänglich zu machen, wozu
bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufzufordern ist, erwea^i^ als wirksames
Mittel gegen die Verschleppung und den Verlust sold^^^^l^yi^^s. w.
I. die gesonderte Aufbewahrung und
I) Vgl. oben S. 180. ^fr k^
1»
— 236 —
2. die RepertorisieruDg derselben, da hiedurch die jederzeitige rasche
Kontrole der Vollständigkeit der Bestände ermöglicht wird. Das Bezirksaxot
hat desshalb die Bürgermeisterämter seines Bezirks anzuweisen, binnen an-
gemessener Frist ein genaues und vollständiges Verzeichniss aller im
Besitz der Gemeinde, des Standesamts und der örtlichen Stiftungen befind-
lichen Akten und Urkunden unter Beifügung des Datums, des Betreffs und
einer kurzen Inhaltsangabe, sowie gegebenen Falles des Ausstellers der Ur-
kunde auf haltbarem Papier in duplo anfertigen zu lassen und ein Elxemplar
in der Gemeinderegistratur, das zweite beim Bezirksamt zu hinterlegen.
Das bezirksamtliche Exemplar ist alsbald dem kgl. Kreisarchiv zur Ein-
sichtnahme mitzuteilen.
In das Verzeichnis sind aufztmehmen:
1. alle Urkunden auf Pergament;
2. alle Urkimden, Befehls-, Protokoll- und Beschlussbücher, Flur- und
Bannbeschreibungen, Gemeinde- und Ortspläne, Bürgen'crzeichnisse,
Viktualienbeschauprotokolle undPreisnotirungen, Rechnungen und Vor-
anschläge, Steuer- und Umlagerollen u. s. w. aus der Zeit vor 1820,
welche entweder von allgemeiner geschichtlicher Bedeutung sind
oder als Zeugnisse über den Bestand und Umfang der Gemeinde,
den Gemeindehaushalt und das Gerichtswesen in früherer Zeit sowie
über die Herkunft noch bestehender oder historisch bedeutsamer
Familien das allgemeine Interesse beanspruchen können;
3. Akten über das Eigentum der Gemeinden und Stifhmgen, über
Rechtsstreitigkeiten derselben, über Privilegien- und wichtige Erb-
schaftsangelegenheiten, über Schenkungen und über Lehens-, guts-
und gerichtsherrliche Verhältnisse;
4. die Urteilsbücher und Polizeiakten;
5. die Ortschroniken;
6. die im Besitz der Gemeinden und Stifhmgen befindlichen älteren
Aktenbestände anderer Gemeinden, Stiftungen und Behörden sowie
der Zünfte und ähnlicher Vereinigungen;
7. alle sonstigen geschriebenen oder gedruckten Mitteilungen von allge-
meinem Interesse, wie Sammlungen von Zeitungen, Flugblättern u.ÄhnL
Soferne die Bestände an derartigen Akten nur imbedeutend sind, genügt
es, sie in eigenen Mappen getrennt von den übrigen gemeindlichen Akten
trocken und feuersicher aufzubewahren.
Für grössere Bestände sind besondere verschliessbare Schränke zu beschaffen.
Die auf diese Weise ausgeschiedenen Archivalien sind bei Amtsübergaben
dem neugewählten Bürgermeister besonders zu extradieren.
Ueber den Vollzug ist bis zum i. Juni 1901 Anzeige zu erstatten.
Hinsichtlich des Verkaufs oder des Einstampfs älterer Akten wird auf
die autographierte Regierungsentschliessung vom 31. Dezbr. 1894 Nr. 20981 B
mit dem Beifügen verwiesen, dass ein Verzeichniss solcher für den Stampf
bestimmter Akten stets durch Vermittelung des Bezirksamts dem kgl. Kreis-
archiv in Vorlage zu bringen und dessen Gutachten abzuwarten ist."
Schneller als zu erwarten war, hat die Verfügung auch Früchte ge-
tragen. Wenigstens die Stadtgemeinde Frankenthal hat 1901 das Ver-
zeichnis der im städtischen Archiv befindlichen Akten nnd Urkunden, das
— 237 —
Werk des ersten Adjunkten und Vorsitzenden des Altertumsvereins Johannes
Kraus , im Druck »scheinen lassen. AJs eigenüicber Katalog ftir ein kleineres
städtisches Archiv d. h. als Mittel, um sich darin zu rech tzu finden , kann
dieses Werkcheo aus Frankenthal vorbildlich genannt werden '). Die Ur-
kunden treten an Bedeutung weit hinter die Akten zurück, zahlreicher werden
die Bestände erst im XVH. Jahrhundert. Ervrähnung verdienen z. B. die
Akten über die Stadtbefestigung 1620 — 33 (Nr. 40), Beschreibung des Zu-
standes der Stadt nach dem 30 jährigen Kriege (Nr. 4r''], Statistische Er-
hebungen XVIII. Jahrhunderts (Nr. 45 — 46), Tabaksbau 1700 — 175a
(Nr. 430). Ergänzt wird das Verzeichnis der Bestände, das sich an die
Aufstellung anschliefst, durch ein zweites alphabetisches, welches auf die
Katalognummem verweist. Frankenthal hat als Ort allgemeines Interesse,
da hier unter Friedrich III. um ihres Glaubens willen verfolgte Niederländer
angesiedelt wurden und zwar zunächst 60 Familien auf dem Boden des
Klosters GrofsfraokenthaL Merkwürdigerweise ist aus dem Katalog nicht er-
sichtlich, ob Akten über die Porzellanmanufaktur vorhanden sind.
Fundzefchon. — Schon S. 91 dieses Bandes ist kurz darauf hin-
gewiesen worden, dafs auf der Freiburger Generalversammlung des Gesamt-
vereins in Gemeinsamkeit mit den süd westdeutschen Vereinen über einheit-
liche Bezeichnung von Funden auf archäologischen Karten beraten worden
ist. Bereits in Trier hatte die Frage auf dem ersten Verbandstag zur Dis-
kussion gestanden, konnte aber, weil in weiten Kreisen nicht vorher bekannt
geworden, damals nicht einer Erledigung zugefUhrt werden. Da der Gesamt-
verein sich schon lange mit der Sache befafst hatte, so erschien eine gemein-
same Behandlung der allmählich dringlich gewordenen Sache angezeigt, und
die Hoffnung, man weide zu einer Einigung kommen, hat denn auch nicht
getrogen. E^ ist dies eine um so erfreulichere Thatsache, als gerade in der
nächsten Zeit eine Anzahl von grölseren Publilcationea bevorsteht, auf denen
solche Eintragungen gemacht werden milssen, so die Abteilung A des grofsen
Limeswerks und die von Ohlenschlager vorbereitete Archäologische Karte
von Bayern, deren Herausgabe durch das Kaiser!. Archäologische Institut
gefördert und unterstützt wird *.] Es ist dankbar anzuerkennen, dafs der Herr
Generalsekretär des Instituts wie der Bearbeiter dieses grofsen Unternehmens
nicht auf eigene Faust vorgegangen sind , sondern dafs sie vorher ihre An-
sichten einem gröfseren Kreise von Fachleuten vorzulegen für gut fanden.
Dafs die Sache drängte, war klar; es war so viel über diese Dinre hin und
her geredet worden, dafs schliefslich eine thürir
1) Vgl. die BMprechang einiger äbnlicber Katalog
S. J9S-98.
i) Die Zahl der schon bearbeiteten oder in Aibei
nicht mehr eering, wenn anch Plan, Zweck nnd Anifillin
lind. El giebt lotche fiir Baden (bearbeitet von E. Wa
(bearb. von Friedr. OhlenichUger 1879?], HoMe
Blsala-Lotliring^n [bearb. von Fotrer, Strafibarg ic
inr Vorgeschichte von M. von Robert Bald, Berlin
PAJi (Mitteilangea des historiichen Vereins der V(a\i. 1 1.
<E. W ■ 1 1 e r , PrShisloriscbe Fände zwischen Oder nnd Re|
— 238 —
lehrten ein Schema entwarf und herausgab % ohne sich mehr um andere
zu kümmern; sie verzweifelten wohl am Zustandekommen einer einheitiicheii
Bezeichnung. Und doch ist eine solche recht wohl möglich, freilich auch
nur bei gegenseitigem Entgegenkommen im einzelnen. Von früheren Ar-
beiten mufsten besonders die Zeichen und Farben beachtet werden, die der
internationale Kongrefs in Stockholm ^) vorgeschlagen hatte, ohne dafs sie indes
bisher zu allgemeiner Geltung hätten durchdringen können. — Die jetzt ver-
einbarten Zeichen haben, um das sogleich vorwegzunehmen, folgende Gestah:
Römisch Vorrömisch
Römische Grenze (Pfahl)
^^■■■■^■^■* mit eingebautem Turm,
' * freistehendem Wachthaus
und Umgrabung.
* Festgestellte Strafse.
— — — •— ^.*» Vermutete Strafse.
D
■
i
1
M/
AA
0
Lager ohne gemauerte Umwallnng.
Lager mit gemauerter Umwallung.
Lager mit Gebäuderesten im Innern.
Römisches Gebäude (EinzelhoQ.
Römischer vicus.
Meilenstein.
Flachgrab mit Skelett.
Flachgrab mit Brand.
Einzelfund.
Münze.
Inschrift oder Denkmal.
j Wasserleitungen.
Brücken.
o
Ringwall.
o
Burgkegel.
))
Abschnittswall.
ts^
Hügelgrab mit Skelett.
a^
Hügelgrab mit Brand.
\±J
Flachgrab mit Skelett.
\w/
Flachgrab mit Brand.
KJ
Wohngrube.
m
Wohnstätte.
rm
Pfahlbau.
M
Münze.
e
Depotfund.
♦
Werkstätte.
A^VM%«
Landwehr.
des Kgl. Marienstifts-Gymnasiums zu Stettin, 1889), Provins Sachsen (unternommen Ton der
Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt), Thurgau (Thurgauische Beiträge zur vaterländi-
schen Geschichte 36. Bd., 1896), Westfalen (Erläuterungen zum Gebrauch der Tafel vor- ood
frtthgeschichtlicher Altertümer der Provinz Westfalen von E. Zimmmermann, Arnsberg
1901), Westpreufaen (Vorgeschichtliche Wandtafel, entworfen im westpreuis. Provincial-
Museum). — Im Königreich Sachsen ist eine Fundkarte ebenfalls geplant : im Sommer 1901
hat Prof. Deichmüller (Dresden) vom Ministerium des Innern den Auftrag erhalten, zu-
nächst die urgeschichtlichen Altertümer zu inventarisieren. Da neben sachlicher Beschrei-
bung und photographischer Abbildung jeder Gegenstand nach Möglichkeit, hinsichtlich des
Fundortes bestimmt wird, so ist damit gleich die wichtigste Vorarbeit für die Karte geleistet
Die Photographieen , im Kgl. Mineralogisch-Geologischen Museum zu Dresden (Zwinger)
aufbewahrt, stellen gewissermafsen einen illustrierten Katalog aller im Königreich Sachsen
gefundenen Altertümer dar. — Auch in Braunschweig wird eine Fundkarte geplant.
i) In Thüringen ist man unter der thätigen Leitung des Sanitätsrat Dr. Zschiesche
(Erfurt) seit 1895 ^^^ ^^^ Herstellung einer Archäologüchen Karte beschäftigt. Eine
gröfsere Zahl von Vereinen und Korporationen beteiligt sich an der Arheit durch finanzi-
elle Beihilfe und sachliche Leistung. Die jährlich im Juni stattfindenden Beratungen aller
Beteiligten, über die ein knapper Bericht verbreitet wird, geben trefflichen AuCichlafs
über die Fortschritte der Arbeit. Bei der 7. Beratung (1901) wurde auch über Farben
und Zeichen für die archäologische Karte von Thüringen beraten , und das Ergebnis
ist als Einzeldruckblatt veröffentlicht worden. Die Karte selbst ist noch in der Bearbei-
tung, aber 1903 hofft man auf Fertigstellung.
2) Sie sind u. a. abgedruckt im 10. Jahrg. (1898) der von Julius Nane in Mün-
chen herausgegebenen Prähistorischen Blätter^ Nr. 2 und 3.
— 289 —
An Stelle Ohienschlagers (München), der leider ebenso wie Lehner
(Bonn), der in Trier das Korreferat für Freiburg übernommen hatte, diensdich
am Kommen verhindert war, trat Anthes (Darmstadt) für die Sache einr
er legte die ausführlichen Vorschläge Ohienschlagers zu Grunde, die den Teil*
nehmem an den Beratungen hthographiert zugestellt worden waren; von Seiten
des Gesamtvereins hatte sich Wolfram (Metz) der Angelegenheit angenommen
und sich vorher mit Anthes und beide zusammen in der Verbandssitzung mit
den Abgeordneten der Vereine in Gegenwart auch des militärischen Dirigenten
der Reichs-Limes-Kommission £xc. v. S a r w e y auseinandergesetzt In knapper
Form enthalten Ohienschlagers einleitende Bemerkungen die wichtigsten Leit-
sätze für die Behandlung der nicht ganz einfachen Frage. Da sie allgemei-
nes Interesse haben, lassen wir das Wichtigste daraus folgen.
„Die Zeichen in einer Karte sind nur Andeutungen (Symbole, Weg-
weiser), sie können den begleitenden Bericht nicht ersetzen und dürfen ihn
auch nicht ersetzen wollen ; eine archäologische Karte bUdet zu den Berichten
nur ein gezeichnetes Register, das über die örtliche Verteilimg geschichtlicher
Reste Aufschlufs giebt, ohne begleitende Worte aber nicht völlig verständ-
lich ist
Die Zeichen müssen einfach sein, z. B. Dreieck, Viereck, Kreis, Halb-
kreis, die sich leicht erkennen und übersehen lassen ; das Anbringen kleiner
Striche, Sterne, Kreuze, Punkte an oder in den Zeichen, wie es manchmal
für prähistorische Karten vorgeschlagen wurde, ist für ELarten mit Höhen-
zeichnung (Schraffierung) nicht verwendbar, weil die Unterscheidungszeichen
nicht oder nur schwer sichtbar sind. Die Höhenzeichnung ist aber zum
Verständnis der Anlage von Wohnstätten, Straüsen und Befestigimgen un-
erläfslich.
Durch eine gröfsere oder geringere Dicke der Linien z. B. bei Strafsen
läfst sich gröfsere oder geringere Wichtigkeit derselben nur recht unsicher
andeuten (siehe Vetters Karte der römischen Befestigungswerke und Strafsen
in Baden), man wird daher am besten auf dieses Unterscheidungsmittel
verzichten.
Bis jetzt sind für römische Karten nur zwei Farben (rot und blau) ver-
wendet worden (Wagner, Paulus, Hammeran), denn jede neue Farb-
platte vermehrt die Kosten bdeutend; selbst wenn das Prähistorische auf
demselben Blatte zur Anschauung gebracht werden soll, genügt noch eine
dritte Farbe (gelb) zum Ausdruck aller nötigen Unterscheidungen, denn wir
besitzen jetzt mit Einschlufs des Schwarz vier Farben, die durch Zusammen-
stellung und Verdoppelung (rot-blau, blau-gelb, rot-rot) mindestens dreizehn
verschiedene Färbungen ergeben, eine Zahl, die, mit den oben genannten
einfachen Zeichen multipliziert, völlig ausreicht, um alle möglichen Erschei-
nungen zur Darstellung zu bringen imd auseinanderzuhalten.
Eine vierte Farbe, grün, empfiehlt sich nicht wegen der Kosten, und
weil grün und blau für viele Augen selbst bei Tage schwer unterscheidbar
ist, bei Licht aber auch gestmde Augen irre geführt werden können.
Die Namen der Fundorte noch mit der Farbe der Jäy^zeichen zu
unterstreichen, ist nicht ratsam; es überlastet die Karte nf^^^ing^ die
Deutlichkeit und Übersicht, wo viele Zeichen zu!
Archäologische Karte der Rheinpfal
— 240 —
Spei er); diese Unterstreichung kann dagegen sehr gut als eigenes Zeiohen
verwendet werden. Ebenso beeinträchtigt eine zu grofse Fülle von 2^ichen
die Deutlichkeit, welche doch ein Hauptzweck der Kartendarstellung ist. 'Wo
die Zeichen zu dicht beisammen stehen, mufs durch Nebenkarten in gröfserem
Mafsstab abgeholfen werden (vergl. Blatt lo, Ulm, der prähistorischen Karte
von Bayern.)
Eine Unterscheidung der Strafsenzeichen für viae consulares, viae vici-
nales, viae militares wurde nicht vorgeschlagen, i) weil die Strafsenforschung
bisher eine allseitige Unterscheidung der Strafsen noch nicht möglich macht,
2) weil die Bedeutung und Benennung der Strafsen schon im Altertum nicht
zu allen Zeiten gleich war, manche Strafsen im Lauf der Zeit an Bedeutung
gewannen, andere verloren, 3) weil der Kundige aus der Nachbarschaft der
Lager, Wohnstätten etc. die Bedeutung der Strafsen zu erkennen vermag,
<ler Unkundige durch Anwendimg eines technischen Ausdruckes häufig eine
falsche Vorstellung bekommt.
Funde von Waflfen, Gefäfsen, Inschriftsteinen und Bildwerken durch
eigene Zeichen auf der Karte unterschieden anzudeuten, ist nur bei Karten
in sehr grofsem Mafsstabe, etwa bis i : 25 000, empfehlenswert; für Über-
sichtskarten I : 400 000 bis 1:50 000 scheinen mir die beistehenden Zeichen
ausreichend, die sich, wenn es nötig oder zweckmäfsig scheint, leicht ent-
sprechend vermehren lassen."
Im allgemeinen erklärte sich Anthes mit den Vorschlägen einverstanden
und bezeichnete sie als eine Grundlage, auf der sich sehr wohl eine Ver-
ständigtmg herbeiführen lassen werde. Sie freilich als Ganzes anzunehmen,
was ja das Wünschenswerteste gewesen wäre, gehe aber leider nicht an, da,
wenn auch nur in Nebenpunkten, etwas mehr Rücksicht auf das bereits vor-
handene Material zu nehmen sei. Wichtig sind zunächst die Zeichen für
die Gebiete der Altertumswissenschaft, auf denen überhaupt schon solche
Fundkarten ausgearbeitet werden können, also für die Prähistorie im weitesten
Umfang, die römische Zeit und die Epoche der Völkerwanderung oder die
fränkisch-alamannische. Wie es Wolfram mit Recht vorschlug, sah man bei
der Besprechung von den Signaturen für das Mittelalter und dessen einzelne
Perioden zunächst ab, da hier für die meisten Gebiete noch keine ab-
geschlossenen Ergebnisse vorliegen. Man beschränkte sich auf das Zunächst-
liegende ; kommt Zeit, kommt Rat, — um die Signaturen für spätere Epochen
mag sich eine spätere Generation die Köpfe zerbrechen. — Die Beratungen
waren, besonders im engeren Kreise der Verbandssitzung, sehr eingehend.
Der Berichterstatter hob als wichtigste Abweichung Ohlenschlagers von den
Thüringern hervor, dafs jener die rote Farbe für die römische, diesp aber
sie für steinzeitliche Funde gewählt hätten. Ein Einverständnis läfst sich da-
durch erzielen, dafs die Thüringer Kommission gebeten wird, für die Stein-
zeit statt rot die auch in Stockholm gewählte braune Farbe für die Steinzeit
anzunehmen, wodurch dann die hervorstechende Farbe rot für das Römische
frei wird; die Farbenfolge würde dann sein: Steinzeit braun; Bronzezeit
gelb; Eisenzeit blau; römisch rot; Völkerwanderungszeit k arm in.
Aber können denn auch auf einer und derselben Karte wirklich alle
diese verschiedenen Perioden mit verschiedenen Farben und Farbenzusammen-
stellungen dargestellt werden ? Das ist vielleicht die allerwichtigste Frage. Auch
— 241 —
Ohlenschlager hebt diese Schwierigkeit hervor ; solche Karten in grofsem Mafs-
Stab, auf denen alle Perioden unterschieden werden können, dürften nur sehr
selten zur Ausführung gelangen, schon der hohen Kosten halber. Wünschens-
wert wäre dies Verfahren ja allerdings, aber es hat nicht allzu viel Zweck, über
Dinge zu beraten, die doch schliefslich nur auf dem Papier stehen und nicht
in die Praxis übergesetzt werden können. Es mufs mit dieser Thatsache ge-
rechnet werden; es kann nur das wirklich Erreichbare erstrebt werden, und
das sind Karten in kleinerem Mafsstab, die Ohlenschlager als Übersichts-
karten bezeichnet, also etwa von i : 400000 — i : 50000. GrÖfsere Karten,
besonders von i : 25000 abwärts, dürften aus den genannten Gründen nur
selten zur Verwendung kommen; auf ihnen kann aber alles eingetragen und
CS kann in Farben und Zeichen mehr dificrenziert werden, als es auf Dar-
stellungen in kleinerem Mafsstab möglich imd im Interesse der Deutlichkeit
rätlich ist. Was da von Ohlenschlager beantragt ist, entspricht durchaus den
Bedürfnissen.
Weitaus die meisten archäologischen Karten werden also in gröfserem Mafs-
stab erscheinen; für Mittel- und Norddeutschland konamen als Grundlagen
die Thudichumschen Grundkarten in Frage, für Bayern dagegen eine andere
Karte. Bei diesem Mafsstab verbietet sich die Anhäufung einer Menge von
einzelnen Zeichen von selbst, und die Kostspieligkeit der Herstellung macht
in den meisten Fällen eine Beschränkung auch der Farbplatten nötig. Ohlen-
schlager gründet hierauf seine Vorschläge für die Karten in gröfserem Mafs-
stab. Er braucht im ganzen nur zwei Farben: rot für römisch und blau
für vorrömisch, d. h. für die Funde aus allen Perioden der sogen. Prä-
historie. Nun wurde auf der Versammlung gewifs mit Recht hervorgehoben,
dafs eine wirklich im höchsten Sinne wissenschaftliche Eintragung der Funde
unbedingt alle Perioden unterscheiden müsse ; aber die Karten sind ja immer
nur schematische Hilfsmittel, die ohne eine sorgfältige Benutzung des bei-
gegebenen Textes mit Nutzen nicht gebraucht werden können. Was sich also
bei gröfserem Mafsstab allenfalls auch ohne Text erreichen läfst, das ist
allerdings bei kleinem Mafsstab ausgeschlossen, aber dieser nicht abzuleugnende
Übelstand wird durch die genauen Hinweise des Textes ersetzt, wo der richtige
Platz ist für die genaue Scheidung der einzelnen Zeiten der Prähistorie.
Im einzelnen wurden gegen die von Ohlenschlager gewählte Farbe blau
für das VorgeschichtÜche Einwendungen erhoben, da so auch die Flüsse
und Bäche bezeichnet würden; es erschien deshalb der Mehrheit der Ver-
sammlung wünschenswert, dafs daftir das ganz neutrale Schwarz gewählt werde,
da ja doch eine Scheidung dieser Perioden nicht beabsichtigt, diese vielmehr
dem begleitenden Text zugewiesen sei. Doch fand auch die andere Ansicht
Vertreter, dafs gegen blau ein Bedenken nicht bestünde.
Es wurde angeregt, dafs wegen der aufserordenüichen Wichtigkeit der
Sache statt der vorgeschlagenen einheitlichen Bezeichnung der Gräber zwischen
solchen mit Leichenbestattung und solchen mit Brand auch äufserlich unter-
schieden werden müsse; demgemäfs wurde beschlossen, die oben abgebildeten
Zeichen anzuwenden statt eines einheitlichen; ob sich dieser BescWufs als
praktisch erweisen wird, mufs zunächst dahingestellt bleiben. Bei den wenigsten
Gräbern ist bis jetzt bekannt, welcher Gruppe sie angehören, und die etwas
umständlichen Zeichen, die für einen gröfseren Mafsstab trefflich zu ver-
17
— 242 —
wenden sind, dürften bei geringerem Mafsstab zu viel Raum wegnehmen.
Möglicherweise dringt doch die einfachere Bezeichnung mit einem Kreuz (-|-)
durch. Die übrigen Zeichen, denke ich, sprechen für sich selbst; sie sind
einfach und lassen sich ohne Überladung überall anbringen. Allenfalls wäre
noch beizufügen als Zeichen für die jetzt überall massenhaft beobachteten
Hüttenplätze aus vorrömischer Zeit ein kleiner Dreiviertelkreis (O)-
Wie im archäologischen Anzeiger 1902, S. 21, mitgeteilt wird, erscheint
die Karte Ohlenschlagers mit diesen Zeichen ; das gleiche ist von dem grofsen
Limeswerk zu hoffen. Haben sich dann in zwei so bedeutenden Publikationen
Zeichen und Farben bewährt, so werden sie ohne Zweifel auch für andere
ähnliche Veröffentlichungen typisch werden. Zu wünschen ist eine solche
Einheitlichkeit in hohem Grade; hoffen wir, dafs ihr die Verhandlungen in
Freiburg dienlich waren! A. D.
Kommissionen. — Die „Kommission zur Herausgabe lothringisch
Geschichtsquellen" ') hielt am 26. April 1902 in Metz ihre zweite Sitzimg
ab, und dem vom Archivdirektor Wolfram erstatteten Berichte sind folgende
erfreuliche Mitteilungen über den Fortschritt der Arbeiten zu entnehmen.
Für die von Sauerland bearbeiteten Vatikanischen Urkunden und Regesten
zur Geschichte Lothringens ^) ist das Material zu einem zweiten Bande bis
1352 bereits gesammelt; bis Ende 1902 wird alles für diesen Notwendige
(bis 1362) vorliegen, damit aber wird vorläufig diese Veröffentlichung in
Anbetracht der zur Verfügung stehenden Mittel ihren Abschlufs finden. —
Die Abschrift der Schreinsrollen des XIII. Jahrhunderts ist vom Prof.
Wich mann bis auf zwei auswärtige vollendet, und nach Fertigstellung
des bereits in Arbeit genonmienen Registers wird der Druck beginnen. —
Von den Chroniken ist die Abschrift der des Philipp von Vigneulles schon
fast vollendet, die „Chronik der Kaiser aus dem luxemburgischen Hause '^
ist unter Heranziehung zweier Handschriften aus London und Paris in Be-
arbeitung genommen. — Das Wörterbuch der deutsch- lothringisdien Dialekie
hat unter der Leitung von Prof. Fo 11 mann und der thätigen Mitarbeit des
Direktor Kahl und seines Seminars zu P£alzburg eine überaus reiche För-
derung erfahren: 3300 Zettel mit 18000 mundartlichen Ausdrücken liegen
bereits vor. Im besonderen ist die von Follmann festgestellte Überein-
stimmung des siebenbürgischen mit dem lothringisch-luxemburgischen Dialekte
von Interesse. — Die Eegesten der Bischöfe von Metz bearbeitet Bibliotheks-
direktor Paulus, doch handelt es sich gegenwärtig nur um eine Material-
sammlung, da verschiedene Fragen der Regestentechnik noch nicht gelöst
sind, insbesondere noch nicht feststeht, ob die Regesten in modernem Deutsch
oder Französisch abgefafst werden sollen. Zur Erledigung der bisher noch
zweifelhaften Punkte wurde eine Kommission, bestehend aus Brefslau,
Paulus, Wiegand, Wolfram eingesetzt. — Als neue Mitglieder sind in
die Kommission eingetreten Bischof Benzler (Metz), Prof. Brefslau
(Strafsburg) und Bezirkspräsident Graf von Zeppelin (Aschhausen).
i) Vgl. darüber Q. Band^ S. 142 — 43, sowie III. Band, S. 126 und die Ergänzung
dazn S. 192.
2) Vgl. n. Bd., S. 304 Anm.
— 243 —
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde hat nach ihrem
vorliegeDden 21. Jahresbericht im Laufe des Jahres 1901 veröffentlicht: Das
Hochgerichi Rhaunen von WilhelmFabricius [= Erläuterungen zum Ge-
schichtlichen Atlas der Rheinprovinz III. Bd., Bonn, Behrendt, 1901]; Die
Regesten der Erxbischöfe von Köln im Mittelalter, bearbeitet von Richard
Knipping, II. Bd. 11 00 — r205 (Bonn, Hanstein, 1901); Rheinische Ur-
bare, Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur rheinischen Wirt-
sdiaftsgesdiichte. Erster Band : Die Urbare von S, Pantaleon in Köln, heraus-
gegeben von Benno Hilliger (Bonn, Behrendt, 1902) sowie Urkunden und
Regesten xur Qeschidiie der Rheinlande aus dem Vatikanischen Archiv,
Erster Band : 1294 — 1326, gesammelt und bearbeitet von H e i n r. V o 1 b.
Sauerland (Bonn, Hanstein, 1902). Die zahlreichen anderen Unternehmun-
gen *) sind sämtlich mehr oder weniger gefördert worden. Die Herausgabe
der ältesten rheinischen Urkunden (bis zum Jahre 1000), und die
erste Abteilung der erzbischöflich-kölnischen Regesten (bis iioo),
die seit Prof. Menzels Tode (1897) geruht hat, ist nunmehr Otto Opper-
mann, der bereits eingehende kritische Studien zur älteren Kölner Geschichte
gemacht hat, übertragen worden. Die Bereisung der kleineren Archive
hat im Herbste 1901 Armin Tille im gemeinsamen Auftrage der Kom-
mission für die Denkmälerstatistik und der Gesellschaft fortgesetzt, und seine
Ergebnisse sind in der Beilage zum Jahresbericht niedergelegt: das zweite
Heft (= Seite 10 1 — 214) des II. Bandes der Übersicht über den Inhalt der
kleineren Archive der Rheinprovinx umfafst die Kreise Erkelenz, Geilen-
kirchen und Heinsberg.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 7, von denen 3 verstorben sind,
Patrone 115, Mitglieder 179. Die Gesamteinnahme des Jahres 1901 belief
sich auf 37 592 M., die Ausgabe nur auf 14 936 M. ; das Vermögen der
Gesellschaft beziffert sich einschliefslich der Mevissen-Stiftung (40487 M.) auf
115 142 M., d. h. fast loooo M. mehr als im Vorjahre (105 790 M.).
Zwei der seitens der Gesellschaft gestellten Preisaufgaben, für welche aus
der Mevissen-Stiftung 3000 M. ausgesetzt waren, hatten beim Ablauf der
Frist (31. Januar 1901) Bearbeiter gefunden, aber beiden Bewerbungsschriften
(die Gau- imd Grafschaften im Umfang der heutigen Rheinprovinz und Auf-
nahme und Ausgestaltung des gotischen Baustils in der heutigen Rbeinprovinz
bis 1350) konnte ein Preis nicht zuerkannt werden. Die neu gestellten
drei Aufgaben, die bis Januar 1904 und 1905 bearbeitet sein sollen und
für die der Preis je 2000 M. beträgt, sind bereits im II. Bande dieser Zeit-
schrift, S. 305, mitgeteilt worden.
Personalien. — Am 6. Februar starb zu Neustadt (Pfalz) vierzig I
Jahre alt Gymnasialprofessor Dr. Alfred Köberlin, ein Geschichtsforscher,
der in weiteren Kreisen wohl kaum bekannt war, aber dessen kleine Arbeiten,
Vorstudien zu einem gröfseren Werke, eine glänzende Leistung erwarten
liefsen, um die nun der allzu frühe Tod die Wissenschaft betrogen hat
K. war am 31. Dez. 1861 als Sohn des Realschuldirektors zu Schweinfurt
1) Vgl. U. Band, S. 304.
17
— 244 —
geboren, besuchte dort das Gymnasium und studierte in Erlangen klassische
Philologie. Als Lehrer wirkte er an den Gymnasien zu Ansbach, Hof, Wun-
siedel, und Nürnberg bis er, 1892 an das neue Gymnasium zu Bamberg be-
rufen, dort fest mit der Stadt verwuchs. Seine geschichtlichen Studien be-
fassen sich vornehmlich mit Stadt und Bistum Bamberg, wenn sie sich auch
allmählich auf ganz Franken auszudehnen begannen. Mit Bienenfleifs hat
K. die Archive nach Material für eine Fränkische Wirtschaftsge-
schichte durchforscht, und nur ungern folgte er Sommer 1900, zum Pro-
fessor ernannt, dem Rufe an das Gymnasium zu Neustadt, den er mit Rück-
sicht auf sein Avancement annehmen zu müssen glaubte. Damit ward er
seiner fränkischen Heimat entzogen; auch hier beschäftigte ihn der lieb-
gewonnene Stoff noch immer, denn er hoffte auf eine Rückkehr. Aber doch
nahm ihn eine neue Arbeit in Anspruch, die Ordnung des städtischen
Archivs. Vermutlich in dessen Räumen hat er sich einen schweren Typhus
geholt, und diesem ist er erlegen. — Die erste Arbeit, mit der K. her-
vortrat, eine Programmabhandlung des neuen Gymnasiums in Bamberg von
1893, trs^ den für seine Arbeitsweise und geschichtliche Anschauung so
charakteristischen Titel Zur historischen Gestaltung des Landschaftsbiides um
Bamberg (129 S. 8**). Die Schrift, an der Grenze stehend zwischen To|>o-
graphie und Geschichte, zeigt an einem konkreten Beispiele, wie in verhältnis-
mäfsig kurzer Zeit auch das scheinbar Dauernde sich verändert: es wird die
Umgestaltung der Wasserläufe, die Waldrodung und der Anbau der vormaligen
Waldflächen sowie die Vegetationsveränderung durch Anbau bisher unbekann-
ter Feldfrüchte geschildert Der Leser hat hier so recht das Gefühl, dais
der Verfasser aus dem Vollen schöpft, dafs er längst nicht alles sagt, was
er weifs; auf einem bescheidenen Räume werden nicht nur weite geschicht-
liche Perspektiven eröffnet, sondern es wird auch an einem Bebpiele die
Aufgabe der geschichtlichen Heimatkunde gekennzeichnet ') — Die späteren
Arbeiten K.'s gehen, wie es bei dem immer tieferen Eindringen in das Ur-
material ganz natürlich ist, mehr auf das einzelne, und zwar erschienen als
Früchte jahrelanger Arbeit im Jahre 1899 ^^^ g^"^ verschiedene Veröffent-
lichungen, nämlich i. Fränkische Münzverhältnisse zu Ausgang des Mittel-
alters (Programm des königl. neuen Gymnasiums zu Bamberg, 52 S. 8 ®).
2. Ein Bamberger Echibuch (liber proscriptorum) 1414 —1444 (60. Bericht des
Historischen Vereins Bamberg, 146 S.) 3. Der Obemmin als Handelsstraße
im späteren Mittelalter (Wirtschafts- und Verwaltungsstudien mit besonderer
Berücksichtigtmg Bayerns, herausgegeben von Georg Schanz, IV. Erlangen
und Leipzig, A. Deichert, 70 S. 8 "). Die erste dieser drei Abhandlungen
i) Es sei hier gestattet anf eine neue verwandte Veröfientlichnng aus Österreich
hinzuweisen: Alfred Grund, Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde
und Wiener Becken [Geographische Abhandlangen hggb. von Prof. A. Pcnck, VIII Bd.
I. Heft], Leipzig, B. G. Teubner, 1901. 239 S. Lex. 8^ Diese Arbeit, viel umfang-
reicher als die Köberlins, ist ein Muster geschichtlich-geographischer Forschung, welches
jeder Darsteller einer Heimatskunde benutzen sollte. Die Besiedlung des Landes wird
durch das Mittelalter hindurch bis zur Gegenwart verfolgt mit allgemeinen Ausblicken,
die für die Kolonisationsgeschichte wertvolle Gesichtspunkte liefern. Ein Anhang be-
schäftigt sich mit der Wirtschaftsgeschichte des XIV. bb XVI. Jahrhunderts und vencich-
net die Preise lür Weizen, Korn, Hafer, Gerste, Mehl, Wein, sowie den Feingehalt der
Wiener Pfennige und das Verhältnis zum ungarischen Gulden.
— 245 —
stellt auf Gniud eines umfangreichen Materials — nameatlich Rechnimgen
sind geschickt au^ebeutet — den Feingehalt der fränkischeD MUnzeD dar,
charakterisiert Münzwesen und MUnzpoIitik und liefert damit die ucerläfsliche
Votarbeit Air alle wirtschaftsgescfaichüichen Studien in Franken, die leider in
so vielen Landschaften noch fehlt. Was in dieser Hinsicht geleistet werden
tnUfste, das hat K. selbst in grofsen Zügen in dieser Zeitschrift (II. Band,
S. 12 — 17) in seinem Aufsatze Devlachae Wtrlschaßs- und Miinzgesdiichle
dargestellt Das Ecktliuch ist zunächst mir mit kuner Einleitung vollständig
vetäffentlicht, aber aus den sachlichen und sprachlichen flrläutemngen geht
hervor, dafe die Veröffentlichung für K. nicht Selbstzweck war, sondern dafs
er eine recht wichtige wirtschafts- und sozialgeschichtliche Quelle erschliefsen
wollte, wie er ja auch S. 6 — 7 die Art der Verwertung andeutet. Der Ober-
main als Handelsstraße giebt in der That das beste Beispiel dafUr, wie die
spröden Einträge der Rechnungen (Zoll- und Forstrechnuogen) sich geschicht-
lich ausbeuten lassen. Neben diesem methodischen Werte stehen die ge-
schichtlichen Ergebnisse nicht zurück; sie sind eimnütig von der Kritik ge-
würdigt worden '), da sie thatsächlich für die Geschichte des binnenlän-
dischen Handels, der gegenüber dem internationalen arg vernachlässigt
worden ist, viele neue Gesichtspunkte eröffnen, aber auch die Geographen
haben die Bedeutung solcher Arbeit fUr ihre Wissenschafl anerkannt, wie die
besonders treffenden Bemerkungen von W. Götz im Oeographischen Literaivr-
berickt 1900, S. 94 Nr. 317, bezeugen. — Auch in kleineren Zeitschriftenver-
öfTentlichungen hat K, sein glänzendes Geschick, die sprödesten Quellen reden zu
lassen, öfier bewährt: so schildert EHne Heerfahrt vor vierhundert Jahren und
ihre Kosten (Forschungen zur Kultur- und Litte raturgeschichte Bayerns, 3. Buch
I 895, S I — 11) den Verlauf eines Kriegszuges des fürstbisch öSlich Bambergischen
„Heeres", bestehend aus zusammen 63 Mann ~ 55 Reisigen, 2 Verwaltungs-
beamtea (Zahl- und Futtermeister) und 6 Rittern — im Jahre 1492 ; ein
nicht minder lebendiges Lebensbild giebt Reiaerechnung und Oesandtachafta-
bericht Leonhards von Eijloffstrin aus dem Jahre 1499 (Zeitschrift für Kultur-
geschichte, 5. Bd. [1898], S. 30-42). I- "-— -■' — " -"~i---- *■■--
die Cbarakteristik des Hauabvches eines
Starck) 1426 — 1435, das im Bambergei
zur Allgemeinen Zeitung, München, 1901,
blick in die Lebensweise eines wohlhabent
seinen ausgedehnten Güterbesitz bewirtscha
in bedeutendem Urninge treibt, und gev
zur Kenntnis des spätmittelalterlicben Groß
überall das allgemein Wichtige zu erfa
das zeigt sich wie in den quellenmäfsigen
sprechungen, z. B. in der des 45. Bande!
Geschichtsquellen des Bistums Würzburg ge
Zeitung München, 1900, Nr, 46).
der Tod K.'s
forschung ,
len unersetzlichen Verlu
unermüdlichen tn
— 246 —
nicht geringeren Verlust für die landesgeschichtlicheForschuiig über-
haupt, für deren Methode er schon in den wenigen Arbeiten, die iiun z&
schaffen vergönnt war, Bedeutendes geleistet hat. Seit Frühjahr 1901 be-
reits hatte er versprochen in dieser Zeischrift das Thema Die Reckmtn^ aU
Geschichtsqtielle zu behandeln, und noch kurz vor seinem Tode hat ihn dieser
Gegenstand beschäftigt. Eine grofse Fülle von bereits erforschten aber un-
veröffentlichten Thatsachen sind jetzt für die Allgemeinheit verloren ; ein ab-
schliefsendes umfassendes Werk zu schreiben, eine Fränkische Wirtschaßs-
geschickte, wie er wohl plante, ist K. nicht vergönnt worden, imd trauenHi
müssen wir die wenigen trefflichen Cjaben, die er hinterläfst, würdigen und
der Wissenschaft nutzbar machen, indem wir auf den von ihm betretenen
Wegen weiter vorwärts dringen. A. T.
Eingegangene Bfleher.
Schulte, Wilhelm: Die Gründung des Bistums Prag. [== Historisches
Jahrbuch der Görresgesellschaft, 22. Bd. (1901), S. 285 — 297.]
Vogt, Ernst: Die Reichspolitik des Erzbischofs Balduin von Trier in den
Jahren 1328 — 1334, ein Beitrag zur Geschichte Kaiser Ludwigs des
Bayern. Gotha, F. A. Perthes, 1901. 112 S. 8®. M. 1.60.
Wo Hart, Karl: Die Augsburger Reformation in den Jahren 1533/34.
[== Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, herausgegeben
von N. Bonwetsch und R. Seeberg, VII. Bd., 2. Heft.] Leipzigs
Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung (Theodor Weicher), 1901. 156 S.
8». M. 3.50.
Zell, Th. : Polyphem ein Gorilla, eine naturwissenschaftliche imd Staats*
rechtliche Untersuchung von Homers Odyssee, Buch IX, V. 105 fl^
Berlin, W. Junk, 1901. 184 S. 8®. M. 2.50.
Zeller-Werdmüller, H. : Zwingiis Waffen. [= Zwingliana, Mitteilungen
zur Geschichte Zwingiis und der Reformation, herausgegeben von der
Vereinigung für das Zwinglimuseum in Zürich 1899. Nr. 2. S. 105
bis 108.]
Bosch (t) : Geschichte des Klosters Arolsen [= Geschichtsblätter fiir Waldeck
und Pyrmont, Mengeringhausen 1901. I. Bd., S. i — 114].
Giemen, Otto: Johannes Sylvius Egranus [= Mitteilungen des Altertums-
vereins fiir Zwickau und Umgegend, Heft VI (1899), S. i — 39 und
Heft VU (1902), S. 1—32].
Friedlaender, Ernst: Berliner geschriebene Zeitungen aus den Jahren 17 13
bis 171 7 und 1735, ^^" Beitrag zur Preufsischen Geschichte unter
König Friedrich Wilhehn I. [= Heft 38 der Schriften des Vereins für
die Geschichte Berlins]. Berlin, Mittler und Sohn, 1902. 720 S. 8". M 14.
Hansen, Reimer: Johannes Petreus* (f 1603) Schriften über Nordstrand
Mit einem Facsimile und einer Karte. [= Quellensammlung der Ge-
sellschaft ftir Schleswig-Holsteinische Geschichte, 5. Bd.] Kiel, Kom-
missionsverlag der Universitätsbuchhandlung 1901. 314 S. 8".
Hessische Blätter für Volkskunde, herausgegeben im Auftrage der
Vereinigung ftir hessische Volkskunde von Adolf Strack. i. Band,
I. Heft. Giefsen, Otto Kindt, 1902. 63 S. 8". M. 1,50.
— 247 —
H o u b e n , Heinrich Hub. : Entwurf zu einer Deutschen Bibliographie. 24 S. 8 ®.
Jahrzehntbuch, erstes, des Gebirgsvereins für das nördlichste Böhmen
1885— 1895. Schönlinde 1896. 82 S. 8^
Katalog der ortsgeschichtlichen Ausstellung, veranstaltet vom
Kruppschen Arbeiterbildungsverein, 22. Sept. bis 15. Okt. 1901 in
Essen. 56 S. 8".
Koischwitz, Otto: Jauer, ein Wegweiser durch die Heimat. Jauer, O. Hell-
mann, 139 S. 16®.
Mitzschke, P. : Rennsteigerwähnungen und Nichterwähnungen in der älteren
und neueren Litteratur [= Das Mareile, Bote des Rennsteigvereins.
Zweite Reihe Nr. 10. Hildburghausen 1901, i. September, S. 3 — 8].
Otto, Eduard: Das Butzbacher Wollwebergewerbe im 14., 15. und 16. Jahr-
hundert [= Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. Neue
Folge, 10. Bd. (Giefsen, J. Ricker, 1901), S. 86 — 118].
Pazaurek, Gustav £. : Die Anfange des böhmischen Porzellans. [= Mit-
teilungen des Nordböhmischen Gewerbemuseums, XDC. Jahrg. (Reichen-
berg 1901), S. 38 — 40].
Rothert: Die räumliche Entwickelung der Stadt Soest, ihre Hoven und
Kirchspiele [= Jahrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchen-
geschichte der Grafschaft Mark, vierter Jahrgang 1902. Gütersloh,
Bertelsmann. S. 16 — 28].
StoU, Otto : Die Erhebungen über „Volksmedizin" in der Schweiz [= Schwei-
zerisches Archiv für Volkskunde, 5. Jahrg. (Zürich 1901), S. 157 — 200].
Weinzierl, R. R. von: Die im Teplitzer Museum vertretenen urgeschicht-
lichen Fundorte [= Thätigkeitsbericht der Teplitzer Museums -Gesell-
schaft im Verwaltungsjahre 1899. (Teplitz 1900), S. 15 — 31].
Beck, Hermann: Kaspar Klee von Gerolzhofen, das Lebensbild eines
elsässischen evangelischen Pfarrers um die Wende des XVI. imd XVII.
Jahrhunderts [= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte
Nr. 71]. Halle, Max Niemeyer, 190T. 56 S. 8®.
Bossert, Gustav: Das Interim in Württemberg [= Schriften des Vereins
für Reformationsgeschichte Nr. 46/47]. Halle, Max Niemeyer, 1895.
204 S. 8". M. 2,40.
Brandenburg, Erich: Martin Luthers Anschauung vom Staate und der
Gesellschaft [= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 70].
Halle, Max Niemeyer, 1901.
D u h r , Bernhard : Die Jesuiten an den deutschen Fürstenhöfen des XVI. Jahr-
hunderts [= Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte
des deutschen Volkes, herausgegeben von Ludwig Pastor, II. Band,
4. Heft]. Freiburg i. B., Herder, 1901. M. 2,20.
Eberlein, Gerhard: Die schlesischen Grenzkirchen im XVII. Jahrhundert
[= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 70]. Halle,
Max Niemeyer, 1901.
Er d mann, Georg: Reformation und Gegenreformation im Fürstentum Hildes-
heim [= Veröffentlichungen zur niedersächsischen Geschichte, i. H-*^
Hannover, M. & H. Schaper, 1899. 34 S. 8*^. M. i, — .
Erhard, Otto: Die Reformation der Kirche in Bamberg unter ^'
gand 1522 — 1556. Erlangen, Fr. Junge, 1898. 99 ?
— 248 —
Herrmann, Fritz: Das Interim in Hessen, ein Beitrag zur Refornaadons*
geschichte. Marburg, N. G. Elwert, 1901. 221 S. 8^ M. 4,20.
Kalt, Hermann: Hamburgs Kampf um die Reformation 1517 — 1561
[= Beilagen zu den Jahresberichten 1896/97 und 1897/98 der Realschule
St. Pauli in Hamburg]. Hamburg 1897 und 1898. 34 und 32 S. 4".
Schmidt, Jakob: Die katholische Restauration in den ehemabgen Kur-
mainzer Herrschaften Königstein und Rieneck [= Erläuterungea und
Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, III. Band,
I. Heft]. Freiburg i. B., Herder, 1902. 124 S. 8®. M. 1,80.
Sperl, August: Der Pfalzgraf Philipp Ludwig von Neuburg, sein Sohn Wolf-
gang Wilhelm und die Jesuiten [= Schriften des Vereins für Re-
formationsgeschichte Nr. 48]. Halle, Max Niemeyer, 1895. B7 S. 8**.
Wiese, Hugo von : Der Kampf um Glatz, aus der Geschichte der Gegen-
reformation in der Grafschaft Glatz [= Schriften des Vereins für Re-
formationsgeschichte Nr. 54]. Halle, Max Niemeyer, 1896. 84 S. 8*.
Becker, Eugen: Beiträge zur Geschichte Bensbergs. Elberfeld, Baedeker,
1902. 68 S. 8«.
Bray-Steinburg, Graf Otto von: Denkwürdigkeiten aus seinem Leben.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. K. Th. von Heigel in München.
Leipzig, S. Hirzel, 1901. 208 S. 8®.
Brenner, O. : Die lautlichen imd geschichtlichen Grundlagen unserer Recht-
schreibung. Leipzig, B. G. Teubner, 1902. 68 S. 8**.
Erben, Wilhelm: Das Aufgebot Herzog Albrecht V. von Österreich gegen
die Husiten [=s Sonderabdruck aus den „Mitteilungen des Instituts fiir
österreichische Geschichtsforschung" 23. Baüd, S. 256 — 272].
Grund, Alfred: Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde
und Wiener Becken [= Geographische Abhandlungen, herausgegeben
von Prof. Albrecht Penck in Wien, Band VIII, Heft i]. Leipzig,
B. G. Teubner, 1901. 239 S. 8".
Heine, K. : Nordhausen imd Preufsen, Festbeitrag zur Jubelfeier der hundert-
jährigen Zugehörigkeit Nordhausens zu Preufsen am 6. Juni 1902.
Nordhausen, Homickel, 1902. 119 S. 8^ M. 1,25.
Heinemann, Otto: Die ältesten Stettiner Zeitungen. [= Baltische Studien^
herausgegeben von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und
Altertumskunde. N. F. Bd. V, S. 193 — 210].
Jellinek, Arthur: Internationale Bibliographie. Erster Jahrgang (1902).
I. Heft (April). Berlin W., B. Behr. 1902, 8«.
Berichtigung
Meine Angaben über die Entstehung des Vereins für Geschichte
der Deutschen in Böhmen S. 167 bedürfen einer Ergänzung. Neben
den drei von mir genannten Männern (Schlesinger, Lippert und Wlechowsky)
ist schon bei den ersten Vorbesprechungen auch Hermann Hallwich, der
bekannte Wallensteinforscher, eifrig thädg gewesen; er mufs also unter den
Gründern des Vereins genannt werden, dessen ältestes lebendes Mitglied er
gegenwärtig ist Ottocar Weber (Prag)
Heratugeher Dr, Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes b Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
III. Band Juli 1903 10. Heft
Aus potntnersehen Stadtarehiven
Von
Georg Winter (Osnabrück)
An einer früheren Stelle ') hat Martin Wehrmann einen in den
Haupt^nindliniea vortrefTtich untenicfatenden Überblick über den
gegenwärtigen Stand der landeskundlichen Forschung in Pommem ge-
geben, worin er mit Recht nicht nur das wirklich Geleistete hervor-
hebt, sondern auch auf die sehr erheblichen Lücken hinweist, die sich
auf archivalischem wie wissenschaftlichem Gebiete trotz reger Tätigkeit
im einzelnen noch empündÜch bemerklich machen. Insbesondere hat
er auch darauf aufmerksam gemacht, dafs man in der für die Förde-
rung lande^eschichtlicher Forschungen so überaus wichtigen Inven-
tarisierung der kleineren Archive, welche sowohl in anderen
Forschungsgebieten *) wie von der Gesamtorganisation der deutschen
lande^eschichtlichen Vereine bereits mit Eifer und Erfolg in Angriff
genommen ist, in Pommem über bescheidene, rein zufällige und ge-
legentliche Anfänge noch nicht hinan
dieses empfindlichen Mangels, der eii
Lande zerstreuten archivalischen Quelle
liehe Forschung einstweilen noch vöUi
hier nicht untersucht werden ; sie lieget
Forscherkreise, deren Umfang in unser
durch andere, für wichtiger gehaltene
genommen werden, z. T. auch in der
sitzer von archivalischen Schätzen liir i
uns dem gegenüber mit der Feststellm
1) Vgl I. Bd., S. 98-104 nnd S. 133—133
1) In DentschUnd iit sie ua weileiten foitgc
in der RheinproTiai und W e ■ t fa I e d und wn
ringen nnd Provini Sacbicn. Wartlembei
100 einer VeräScntticbong wird abgeiehen. In Ö<
fltrdcn in Tirol, begonnen in Steiermark, V
— 250 —
in der bezeichneten Richtung nur von einzelnen Privatforschem g'emacht
worden sind, während die Gesellschaft fUr Pommersche Geschiohte
und Altertumskunde dieser wichtigen Aufgabe in systematischer Weise
näher zu treten bisher nicht in der Lage gewesen ist.
Nur in bezug auf eine Gruppe der hier in Betracht kommeaden
archivalischen Quellen ist in jüngster Zeit ein sehr erheblicher Port-
schritt zu verzeichnen, der seinen Ursprung nicht der privaten, sondern
der Initiative der preufsischen Archivverwaltung zu verdanken hat.
Wehrmann hat schon darauf hingewiesen, dafe das königliche Staats-
archiv in Stettin seit einigen Jahren die Fortsetzung des zum Bedauern
der Forscherkreise seit längerer Zeit unterbrochenen Pommer-
sehen Urkundenbuches *) wieder in die Hand genommen hat;
zwei umfangreiche Bände ^ von denen der eine von Herrn Archiv-
assistenten Heine mann, der andere von dem Verfasser dieser Zeilen
bearbeitet wird, sind im Manuskript druckfertig. Für diese Pu-
blikation war es nun unumgänglich notwendig, die in den Archiven
der einzelnen pommerschen Städte erhaltenen Originalurkunden zu be-
nutzen und zu diesem Zwecke eine systematische Bereisung dieser
Städtearchive vorzunehmen, wie sie für die früheren Bände von ihrem
Herausgeber, dem jetzigen Archivdirektor in Posen, Archivrat Pr ü m e rs ,
unternommen und hinsichtlich der wichtigsten Ergebnisse wenigstens
in bezug auf die Städte links der Oder eingehend geschildert worden
ist *). Diese erneute Bereisung der pommerschen Städtearchive ist
aber über ihren eigentlichen Zweck hinaus auch jener allgemeineren
Aufgabe der Inventarisierung und zugleich der besseren und sach-
kundigeren Aufbewahrung der städtischen Archivalien überhaupt sehr
erheblich zu statten gekommen.
Bei der Durchsicht der städtischen Archive stellte sich nämlich
die auch in anderen Teilen unseres Vaterlandes bedauerlicherweise
fast überall beobachtete Tatsache heraus, dafs Aufbewahrung und
Ordnung der Archivalien nicht mehr und nicht weniger als alles zu
wünschen übrig liefe. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der
Städte verfugt überhaupt über keinen diesen Namen verdienenden
Archivraum, vielmehr waren die für die laufende Verwaltung nicht mehr in
Betracht kommenden Akten und zumeist auch die für die betreffenden
i) Die erste Abteilung des i. Bandes, bearbeitet von Robert Klemp in, enchien
Stettin 1868. Die zweite Abteilung (1877) ist schon Ton Radgero Prtfmers be-
arbeitet and ebenso die beiden Hälften des zweiten (1881 and 1885) and dritten Btsdes^
(1888 ond 1891).
2) Baltische Stadien, Jahrgang 32 (1882), S. 73—99.
— 261 —
städtischen Beamten nicht entzifferbaren Urkunden fast ausnahmslos in
Boden- und Dachkammern unteigfebracht, wo sie nicht allein weg'en des
mangelnden Lichts und der noch mehr mangelnden Ordnung völlig un-
benutzbar, sondern auch beständiger Feuersgefahr und den Einflüssen
von Wind und Wetter ausgesetzt waren. Da es nun in der preufsischen
Gesetzgebung ^) nicht an gesetzlichen Bestimmungen fehlt, durch welche
die Städte zu einer zweckentsprechenden Aufbewahrung und Ordnung
dieser nicht allein für die besitzenden Städte, sondern auch für den
Staat und für die wissenschaftliche Forschung wichtigen Archivalien
verpflichtet werden, so konnte man hier den Hebel ansetzen, um eine
dringend wünschenswerte Wandlung zum Besseren herbeizuführen.
Diese wurde dadurch erreicht, dafs es gelang, den bei weitem grö&ten
Teil der pommerschen Städte — ein anderer Teil hatte schon früher
dasselbe getan — zur Deponierung ihrer Archive im Stettiner Staats-
archiv zu bewegen *). Die Schwierigkeiten , die sich dieser Aufgabe
anfangs entgegengesetzt hatten, wurden von Jahr zu Jahr geringer, da
die städtischen Verwaltungen durch die Praxis sehr schnell merkten,
dafs ihre Archivalien durch diese Mafsregel auch für sie selbst weit
leichter benutzbar wurden, als wenn sie in ihrem bisherigen ungeord-
neten Zustande in ihrem Besitz geblieben wären. So sind im Laufe
der letzten Jahre eine grofee Reihe städtischer Archive Pommerns in
den, wenngleich jederzeit widerruflichen, Besitz des Staatsarchivs über-
gegangen, wo ihnen ein ganzer gro&er Aktensaal eingeräumt werden
mufste. Dadurch ist nicht allein für das Staatsarchiv, sondern für die
gesamte landesgeschichtliche Forschung ein Zuwachs an Quellenmaterial
erzielt worden, von dessen Umfang und Bedeutung bisher kaum irgend
jemand eine wirklich zutreflende Vorstellung gehabt hat, da es bei
der bisherigen Lage der Dinge wissenschaftlich so gut wie unbenutz-
bar war.
Über einen Teil der pommerschen Stadtarchive hatte bereits
der Aufsatz von Prümers einige Kunde verbreitet. Aber erstens er-
streckte sich diese Schilderung nur auf die vornehmsten Hauptsachen
und gab über Inhalt und Bedeutung der eigentlichen Aktenmassen
nur ganz oberflächliche, dem augenblicklichen Zwecke entsprechende
Mitteilungen; vor allem aber war dem Forscher nach wie vor die
i) U. a. auch in der die kommaoale SelbstverwaltnDg regelnden Städteordonng.
2) Auch in der Provinz Posen sind die meisten Stadtarchive im Kgl. Staats-
archiv deponiert (vgl. oben S. 173), und in andern Staaten and Provinzen wird ähn-
lich verfahren. Vgl. z. B. die in der Pfalz ergangene allgemeine Anregung, oben
S. 235/37.
18*
— 252 —
Durchsicht der Archive selbst unmöglich, während diese jetzt im Staats-
archive der Forschung zu nahezu unbeschränkter Verfügung* stehen.
Sie enthalten ein reiches, bisher so gut wie völlig unbenutztes Material
nicht nur für den Lokalforscher, sondern auch für Studien über die
typische Entwickelung des deutschen Städtewesens, für welche oft die
Kenntnis der Einrichtungen und Vorgänge auch in kleineren Städten,
namentlich wenn die betreffenden Quellen aus einer gröüseren Anzahl
in reicher Fülle vorhanden sind, von entscheidender Wichtigkeit werden
kann — ganz abgesehen von der Bedeutung so alter und hervor-
ragender gröfeerer Städte wie Stralsund, Anklam, Demmin, Stettin,
Kolbeig u. a.
Dem Staatsarchive ist durch diese umfangreiche Deponiening
städtischer Archive eine ebenso lohnende als zeitraubende neue Auf-
gabe gestellt worden, welche natürlich, da allein im Laufe der letzten
vier Jahre 13 Städte ihre Archive deponiert haben, noch nicht an-
nähernd vollständig neben den anderen amtlichen Aufgaben g-elöst
werden konnte. Immerhin sind wenigstens die Urkunden, deren sich
auch in mancher kleineren Stadt überraschend viele vorfanden, jetzt
sämtlich geordnet und nach den neueren wissenschaftlichen Grund-
sätzen regestierty so dafe ihrer Benutzung dturch die Forschung oichts
mehr im Wege steht, und auch mit der Ordnung der bei manchen
Städten sehr grofsen Aktenmassen ist ein sehr erheblicher Anfang-
gemacht : mehrere städtische Archive sind in bezug auf Urkunden und
Akten vollständig repertorisiert , und die gesamte Masse des neu er-
worbenen Stoffes läfst sich bereits in den Hauptgrundlinien genügend
übersehen, um wenigstens eine Vorstellung von ihrer wissenschaftlichen
Bedeutung zu gewinnen.
Es kann nun nicht meine Aufgabe sein, an dieser Stelle über den
Inhalt und die wissenschaftliche Bedeutung dieser städtischen Archive
ins einzelne gehende Mitteilungen zu veröffentlichen ; ich mufe mich viel-
mehr auf die Hauptsachen und auf einige wichtigere Städte beschränken,
um so die Forschung auf diejenigen Punkte aufmerksam zu machen,
an denen ein weiteres Eindringen ins einzelne angezeigt erscheinen
dürfte. Zugleich aber werden viele Fragen der örtlichen Geschichts-
forschung, die für jede Landschaft Bedeutung haben, berührt werden.
Verhältnismäßig am meisten bekannt von den pommerschen
Städtearchiven ist das der Stadt Stralsund, welche schon in den ersten
Stadien des Hansabundes eine hervorragende Stellung unter den
„wendischen Städten*' einnahm und daher in den umfassenden Quellen-
publikationen und Darstellungen ztu: Hansischen Geschichte eine nicht
— 253 —
unbedeutende Rolle spielt. Ein grofeer Teil der in ihrem Archive
erhaltenen Originalurkunden ist im Hansischen Urkundenbuche, bei
Fabricius u. a. gedruckt. Über den Gesamtinhalt des Archivs hat
schon im Jahre 1834 A. Brandenburg im ersten Bande der von Hoefer,
Erhard und von Medem herausgegebenen Zettschrift für Archiv künde,
Diplotnatik und Geschichte (S. 76—100) eine gut orientierende
Übersicht gegeben, der dann 50 Jahre später die Mitteilungen von
Prümers in dem bereits wiederholt angezogenen Aufsatze in den
Baltischen Studien gefolgt sind. Die Stadt selbst, welche in der
Gegenwart die wirtschaftliche Bedeutung, die sie im Mittelalter gehabt
hat, bei weitem nicht mehr besitzt, hält viel auf ihre geschichtliche
Überlieferung und hat zumeist einen eigenen Archivar, wenn auch
nur im Nebenamt. Das Archiv ist, wenn auch nicht mustergültig, so
doch immerhin in einer Weise aufbewahrt, gegen die ernste Bedenken
rücht zu erheben sind, so dafs hier auf dringende Mafsregeln, um die
bisher stets abgelehnte Deponierung des Archivs zu erreichen, ver-
zichtet werden konnte. Gleichwohl läfst die Ordnung des Archivs,
von dessen überraschendem Reichtum die erwähnten gedruckten Mit-
teilungen keineswegs eine auch nur annähernd erschöpfende Vorstellung
geben, noch sehr viel zu wünschen übrig. Ein eigentliches wissen-
schaftliches Repertorium existiert nicht einmal über die Original-Perga-
menturkunden, viel weniger über die Akten, so dafe jeder Forscher,
der das Archiv benutzen will, die Durchsicht der Bestände gleichsam
von neuem beginnen mufs. Und wie wenig man sich dabei auf die
bestehende Anordnung verlassen kann, ergibt sich am klarsten aus
der Tatsache, dafs sogar von den ältesten Urkunden selbst dem Forscher-
fleiiSse eines Fabricius eine ganze Reihe entgangen sind, so dafe von
den 125 Urkunden, die im 4. und 5. Bande des Pommerschen Ur-
kundenbuches jetzt nach Stralsunder Originalen gedruckt werden sollen,
sich immerhin mehrere Inedita befinden. In den späteren Jahrhunderten
wird die Sachlage sich noch wesentlich anders gestalten, da hier die
Urkunden noch nie einer ähnlich systematischen Durchsicht unterzogen
worden sind. Wie wichtig für die landesgeschichtliche Forschung
aber eine wirklich erschöpfende Ordnung und wissenschaftliche Rege-
stierung des Stralsunder Urkundenbestandes sein würde, ergibt sich schon
daraus, dafs derselbe nach den neuesten Schätzungen der Bearbeiter
des Pommerschen Urkundenbuches sich auf etwa 4000 Originale, ohne
die in Stadtbüchem, Kopiaren u. s. w. enthaltenen, beläuft. Für das
Aktenarchiv aber ist bisher in modern -archivalischem Sinne noch so
gut wie gar nichts geschehen. Wenn dieses überaus reiche Archiv
— 254 —
also wirklich erschöpfend von der landesg'eschichtlichen ForschuDf
ausgenutzt werden soll, so wird sich die auf ihre geschieh tliolie Ver-
gangenheit mit Recht stolze Stadt über kurz oder lang dooli noch
entschliefsen müssen, in Zukunft einen Archivar im Hauptaixite anra-
stellen, dessen einzige Lebensaufgabe in der Ordnung und Zugräng-licfc-
machung dieses überaus reichaltigen Archivs bestehen müfstiO.
Wenden wir uns jetzt von der Hauptstadt Neuvorpommcms zu
der jetzigen Hauptstadt der ganzen Provinz, Stettin, die, umg-ekehii
wie Stralsund, im Mittelalter bei weitem nicht eine so hervorrag-exidc
Bedeutung gehabt hat wie in unserer Zeit, so liegen dort die Verhält-
nisse in bezug auf den gegenwärtigen Zustand des Archivs i^ie am'
die Aussichten für die Zukunft erheblich günstiger. Stettin hat wenigstens
den sehr umfangreichen Aktenbestand seines Archivs im Staatsax-otiive
deponiert, wo ein stattlicher Folioband Repertorium erschöpfend g-e-
nauen Überblick über die Bestände ermöglicht und die Benutzuxig^ in
hohem Grade erleichtert. Das darin enthaltene reiche Mateiml zur
Handels-, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte der Stadt ist von
mehreren rührigen und kenntnisreichen Forschern, wie namentlich von
Blümcke, van Niessen u. a. bereits zu umfangreichen Forschungnen
verwendet worden, und wird auch zur Zeit noch eifrig benutzt. Da-
gegen steht es mit dem immerhin recht bedeutenden, noch im Besitz
der Stadt befindlichen Urkundenbestande, der einige tausend Originale
umfafst, zur Zeit noch recht mangelhaft, denn die Stadt ist bisher nicht
in der Lage gewesen, irgend etwas für die Zugänglichkeit und Benntz-
barkeit der Urkunden zu leisten, da naturgemäß keiner der städtischen
Beamten die älteren Urkunden zu entziffern vermag. Zwar ist in
früherer Zeit einmal von sachkundiger Seite ein Ansatz zur Ordnung
und Regestierung gemacht, aber nicht völlig durchgeführt worden, und
selbst die Ansätze der Ordnung sind im Laufe der Jahre wieder fast
völlig verloren gegangen, so dafs schon die AufBndung der Urkunden
zuweilen nicht unerhebliche Schwierigkeiten macht. Erfreulicherweise
ist aber eine völlige Neuorganisierung in Aussicht genommen. Bei
Gelegenheit der Gründung einer Stadtbibliothek, für welche am i. Januar
1902 ein Bibliothekar angestellt worden ist, wurde zugleich die Organi-
sierung eines eigenen städtischen Archivs in Aussicht genommen,
welches in der einen oder anderen Weise mit der Stadtbibliothek ver-
einigt werden soll, ähnlich wie das z. B. in Magdeburg schon früher
geschehen ist. Über die Frage, ob alsdann neben dem städtischen
Bibliothekar noch ein besonderer Archivar erforderlich sein wird, liegt
ein endgültiger Beschlufs der städtischen Behörden noch nicht vor.
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^.'—
rr:
U.''
FT
— 255 —
e ; Von den hinterpommerscben Städten rechts der Oder — in bezug*
auf die vorpommerschen Städte links der Oder darf ich im allgemeinen
auf Prümers verweisen — ist das inhaltlich und an Umfang bedeutendste
Archiv das der uralten Salinenstadt Kolberg, das ebenfalls noch nicht
zur Deponierung im Staatsarchive gelangt ist, vornehmlich gerade
deshalb, weil die Stadt viel Interesse für ihre Vergangenheit hat und
deren Zeugnisse deshalb nicht gern aus den Händen geben will. Wenn
nun aber die tatsächliche Durchführung der Ordnung und Repertori-
sierung des Archivs auch nur einigermaßen dem guten Willen, den die
Stadt dabei an den Tag legt, entspräche ! Unbedingt mufs zugegeben
werden, dais die Stadt alles getan hat, was sie mit den ihr zur Ver-
fügung stehenden Kräften und Mitteln zu tun vermochte : die Urkunden
sind in sehr zweckmäfsigen imd schön ausgestatteten Pappkästen in
einem feuersicheren Schrank aufbewahrt, allein die Ordnung und Ver-
zeichnung ist eine so mangelhafte, dafs es sich z. B. bisher als un-
möglich herausgestellt hat, die eine der für die Fortsetzung des
Pommerschen Urkundenbuches vom Staatsarchive erbetenen Urkunden
aufzufinden. Die 2^hl der Urkunden ist nicht so grofe wie in Stralsund
und Stettin, übertrifil aber doch noch immer die der alten Hansastädte
Anklam und Demmin bedeutend; sie beträgt etwa 5 — 600, darunter
viele, die für die Geschichte des Ostseehandels, der Ostseefischerei
und der Saline von sehr grofeer Wichtigkeit sind. Aber ein auch
nur einigerma(sen brauchbares Verzeichnis ist nicht vorhanden. Die Ur-
kunden sind ganz neuerdings im Staatsarchiv deponiert worden.
Ahnhch liegt es mit den Akten. Zwar sind auch sie so gut angestellt, wie
es bei den sehr beschränkten Raumverhältnissen nur irgend möglich
war, für die wissenschaftliche Benutzbarkeit ist fast nichts geschehen.
Wohl gibt es Verzeichnisse über diejenigen Akten, welche hier und
da für die praktische Verwaltung gebraucht werden, aber über die
eigentlich historischen Bestände, zu denen u. a. ein unschätzbarer,
reicher Vorrat an Stadtrechnungen bis hinauf zum Beginne des
XVI. Jahrhunderts gehört, liegen Repertorien überhaupt nicht vor.
Auch hier also bleibt für die wissenschaftliche Benutzbarkeit noch viel
zu wünschen übrig.
Ich habe bisher hauptsächlich einige der grö&ten pommerschen
Städte herausgegriffen, welche ihre Archive bisher gar nicht oder nur
zum Teil im Staatsarchive deponiert haben, um an ihnen, als bekann-
teren Beispielen, klarzulegen, dafs hier im wissenschaftliche
noch mancherlei geschehen kann und mufs. Ich wende tr
zu denjenigen, in der Hauptsache hinterpommerscben S
— 256 —
sich zu der iiir die wissenschaftliche Forschung sehr erwünschten Mafs-
regel der Deponierung entschlossen haben. Es handelt sich dabei
zumeist um kleinere Städte, von denen man bisher wohl oft angenommen
hat, dafe ihre Archive zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung-
so sehr erheblich nicht beitragen würden. In der Tat war ich selbst
zuweilen überrascht von der Fülle urkundlichen und sonstigen archi-
valischen Materials, welches sich in vielen dieser Städte erhalten hat,
während freilich in mancher anderen so gut wie alles durch Brände,
Unglücksfalle oder unverantwortliche Vernachlässigung zu gründe ge-
gangen ist. Freilich würde sich derjenige, der in diesen Archiven
Quellen über grofse weltbewegende Ereignisse suchen wollte, meist
sehr enttäuscht finden. Dazu haben die meisten dieser Städte zu sehr
weit ab von dem grofsen Weltverkehr und den Mittelpunkten des
staatlichen Lebens gestanden. Aber so unbedeutend waren und sind
sie doch keineswegs, da(s sich die Rück- und Femwirkungen des
grofsen geschichtlichen Lebens nicht auch in ihnen in zuweilen sehr
charakteristischer Weise geltend gemacht hätten. Und vor allem,
gerade weil sie durch die grofsen Umwälzungen der geschichtlichen
Ereignisse nur von ferne berührt wurden, treten in ihrer Entwickelung,
der verfassungsrechtlichen wie der wirtschaftlichen und allgemein
kulturellen, die typischen Züge der Zustände oft überraschend klar zu
Tage. Außerdem aber haben alle diese Städte, welche jetzt zum
grofsen TeU kleinere Landstädte sind, im Mittelalter aber doch zum
Teil wirtschaftliche Bedeutung genug hatten, um in den Hansabimd
aufgenommen zu werden, als Mittelpunkte des landschaftlichen Lebens
in Pommern ihre unzweifelhafte Bedeutung für die Landesgeschichte,
einige von ihnen, die in der Nähe der See gelegen sind und am Ost-
seehandel teilgenommen haben, auch für dessen Geschichte. Der
Kampf um das domintum maris baltict hat auch für sie seine Be-
deutung gehabt und hat in ihrer wirtschaftlichen wie politischen Ent-
wickelung seine deutlich erkennbaren Merkmale hinterlassen.
Von diesen hinterpommerschen Städten, deren Archive jetzt im
Staatsarchive vereinigt sind, darf fuglich den ersten Platz die alte
Bischofisstadt Camin beanspruchen, welche schon als Residenz des
einzigen pommerschen Bischofs, aufserdem aber durch ihre Lage an
dem nach ihr genannten Bodden für die geistige wie für die wirtschaft-
liche Geschichte Pommerns ihre unzweifelhaft erhebliche Bedeutung
hat. Dieser Bedeutung entspricht allerdings der erhaltene Bestand
ihres Archivs nicht in vollem Mafse; sie spiegelt sich zum Teil aber
auch in dem weit umfangreicheren Archive des Bistums und des Dom-
— 257 —
kapitels wieder, welches zu den alten Beständen des Stettiner Staats-
archivs gehört. An Urkunden sind im ganzen ^^ Originale vorhanden,
deren ältestes von 1308 ist; auiserdem entstammen noch 8 dem
XIV., 32 dem XV., die übrigen dem XVI. und XVII. Jahrhundert.
Die Urkunden sind jetzt genau regestiert und in einem Repertorium
verzeichnet, mit einem Orts- und Personenregister, in welchem nament-
lich auch die pommerschen Adelsfamilien zahlreich vertreten sind.
Unter den gleichfalls im Staatsarchive deponierten Akten, welche bis
zum XVI. Jahrhundert zurückreichen, sind von grofeem Wert nament-
lich die zum Teil sehr alten Zunft- und Gewerbesachen, die Finanz-,
Kirchen- und Schul-, Fischerei- und Jagdsachen. Aufserdem befindet
sich unter denselben noch ein Erbhuldigungs-Register von 1605 sowie
mehrere Kirchenmatrikeln und Visitationsprotokolle. Endlich sind
noch mehrere der in neuerer Zeit mit Recht so sehr geschätzten
älteren Stadt- und Bürgerbücher erhalten.
Ein wenig weiter landeinwärts von Camin liegt an der Divenow
die turalte, in ihrem Ursprünge noch in die sagenumwobene vorchrist-
liche Periode zurückreichende Wendenstadt Wollin (das alte Julin),
jetzt eine kleine, von dem eigentlichen Verkehrsleben seitab liegende
Landstadt, deren einzige Bedeutung noch in ihrer Lage an dem
schiffbaren Flusse beruht Leider sind von ihrem Archive nur
spärliche Reste vorhanden. An Urkunden, welche jetzt im Staats-
archive deponiert und in einem eingehenden Repertorium mit Orts-
und Personenregister verzeichnet sind, liegen im ganzen 35 vor, deren
ältestes Original — einige ältere sind in Transumpten erhalten — von
1301 stammt. Im ganzen sind 10 Urkunden aus dem XIV., 8 aus
dem XV., 11 aus dem XVI., 7 aus dem XVII. Jahrhundert vorhanden.
Eine willkommene Ergänzung und Vervollständigung erfahrt dieser
Urkundenbestand durch einige erhaltene und ebenfalls im Staatsarchiv
deponierte Kopialbücher.
Wenden wir uns weiter ostwärts an der Seeküste entlang, so ist
die nächste mit der See durch die Rega imd das Treptower Deep
in Berührung stehende wichtigere Stadt Treptow an der Rega, einst
Mitglied des Hansabundes und in einer engen Vereinigung mit
Greifenberg und Stargard eifersüchtig auf ihre städtischen Gerechtsame
bedacht, jetzt auch eine der kleineren, im wesentlichen in der Ent-
wickelung stillstehenden Landstädte, wie die Mehrzahl der hinter-
pommerschen. Ihr Archiv, welches jetzt im Staatsarchive deponiert
und eingehend repertorisiert ist, spiegelt diese frühere geschichtliche
Bedeutung der Stadt, wenngleich auch hier im Laufe der Jahrhunderte
— 268 —
vieles zu gründe gegangen ist, noch immer in seinen reichen Beständen
wieder. Insbesondere zeichnet es sich durch einen vergleichsweise
grofsen Vorrat von Originalurkunden aus. Das über dieselben auf-
gestellte Repertorium weist deren nicht weniger als 151 nach, darunter
4 aus dem XIII., 30 aus dem XIV., 74 aus dem XV., die übrigen
aus dem XVI. imd XVII. Jahrhundert. Die Akten reichen bis ins
XVI. Jahrhundert zurück und enthalten neben dem ziemlich reich-
haltigen Material zur städtischen Verfassungs- imd Verwaltungsgeschichte
auch wichtige Nachrichten über den Seehandel und die Seefischerei
sowie zur Geschichte des Schiffsbaues, über welchen im XVIII. Jahr-
hundert von der Stadt besondere, noch erhaltene Tabellen gefuhrt
wurden. Auch einige Hafenregister aus dem XVIII. Jahrhundert sind
noch erhalten. Bemerkenswert ist immerhin, daCs die Stadt sich im
XVIII. Jahrhundert auch bemühte, ihr Archiv einigermaßen wieder
in stand zu setzen. Die darüber im Jahre 1797 geführten Verhand-
lungen sind ebenfalls noch vorhanden. Interessant sind auch die von
Treptow und Greifenberg über die Regulierung der Rega gepflogenen
Beratungen aus dem XVII. Jahrhundert. Leider sind von den Kämmerei-
rechnungen und den das Finanz- und Rechnungswesen betreffenden
Akten nur spärliche Reste erhalten, die gerade genügen, um erkennen
zu lassen, wie interessante kulturgeschichtliche Auüschlüsse dieses
Material ergeben würde, wenn es in gröfeerer Vollständigkeit vorläge.
Mit Bezug auf Kolberg darf ich auf das bereits Gesagte ver-
weisen und mich nunmehr zu Cöslin, dem Sitz der jetzigen R^e-
rung des gleichnamigen Regierungsbezirks, wenden. Die Stadt liegt
nicht wie Camin und Kolberg direkt an der See oder einer Ausbuchtung
derselben, sondern gegen 20 Kilometer von der See entfernt ; sie hat
auch keinen eigentlichen Hafen, stand und steht aber durch den durch
ein Deep mit der offenen See zusammhängenden Jamunder See mit
dem Ostseeverkehr in Verbindung. Aufeerdem hat sie wie die meisten
an Einwohnerzahl nicht übermäfsig grofsen hinterpommerschen Städte
ihre Bedeutimg als Mittelpimkt eines weiten Gebietes des platten
Landes. Das Archiv der Stadt ist in den Hauptbeständen leid-
lich erhalten, wenngleich durch unbedachte Kassierungen manches
wichtige Aktenstück des XVI. und XVII. Jahrhunderts verloren ge-
gangen ist. Der Urkundenvorrat ist sehr viel gröfeer als in Camm.
Das älteste der 212 Originale, die Gründungsurkunde der Stadt durch
Bischof Hermann von Camin, ist von 1266; aufserdem sind aus dem
XIII. Jahrhundert noch 8, aus dem XIV. 37, aus dem XV. 121 Ur-
kunden vorhanden, die übrigen stammen aus dem XVI. bis XIX. Jahr-
— 269 —
hundert. Die Urkunden sind nach der Niederlegung im Staatsarchive
ebenso wie die Caminer genau regestiert, repertorisiert und mit einem
Namenregfister versehen, also der Benutzung leicht zugänglich. Das-
selbe gilt von den Akten. Um von dem reichen Inhalt des Akten-
archivs wenigstens eine ungefähre Vorstellung zu geben, seien aus dem
162 Folioseiten umfassenden Repertorium wenigstens die Titel der
grofeen, sich wohl auch für andere Stadtarchive empfehlenden Haupt-
abteilungen angegeben:
Abteilung I. Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsangelegen-
heiten (mit 7 Unterabteilungen).
Abteilung II. Behördenorganisation. Bestallungen und Personalia
(mit 13 Unterabteilungen).
Abteilung III. Das Eigentum der Stadt (mit 6 Unterabteilungen).
Abteilung IV. Finanzverwaltung (mit 26 Unterabteilungen).
Abteilung V. Verwaltung des Inneren und der Polizei (mit 23 Unter-
abteilungen).
Abteilung VI. Militärsachen (mit 23 Unterabteilungen).
Aufserdem sind noch 2 Kopiare mit Urkundenabschriften von 1266 bis
1742 und 3 andere Handschriften vorhanden, danmter ein Eidbuch
der Stadt.
Im Zusammenhange mit Cöslin mag noch die benachbarte Stadt
Cörlin erwähnt werden, welche zeitweise den Caminer Bischöfen zur
Residenz diente, die von hier aus den ihnen gehörenden Fürstentumer
Kreis verwalteten. Dadurch hat die ganz kleine Landstadt vorüber-
gehend eine nicht im erhebliche geschichtliche Bedeutung gehabt, die
ihren Niederschlag auch in den in ihr entstandenen Archivalien ge-
funden hat, welche zum Teil sehr wunderbare Schicksale durchgemacht
haben. Eben weil die Stadt längere Zeit Residenz der Bischöfe ge-
wesen ist, sind hier auch eine gröfsere Anzahl von bischöflichen Akten
entstanden, die dann von hier aus nach Cöslin gelangt sein müssen,
wo sie vor einigen Jahren in den Räumen einer ganz modernen Ver-
waltungsbehörde, des Bezirksausschusses, von Herrn Professor Hanncke
ganz unvermutet aufgefunden worden sind. Sie befinden sich jetzt im
Staatsarchive und enthalten die wichtigsten authentischen Nachrichten
über das Caminer Bistum für die entscheidende Periode der Einfuhrung
der Reformation in Pommern und der letzten katholischen Bischöfe.
Über Martin Weier und Erasmus ManteufTel, den in letzter Zeit von
evangelischer wie katholischer Seite wiederholt behandelten Caminer
Bischof, sind in diesen Akten die wichtigsten Quellen erhalten. Minder
— 260 —
bedeutend, aber doch gröfser als nach der Kleinheit der Stadt ver-
mutet werden konnte, ist das Archiv der Stadt selbst. Irgend ein
Verzeichnis über die älteren Akten existierte nicht, Urkunden waren
angeblich überhaupt nicht vorhanden. Die Aktenbestände lagen in
grofsen Bergen in gröfster Unordnung auf dem Fufsboden des Dach-
raumes umher. Die unter diesen Umständen einigermaßen schwierige
Durchsuchung ergab zunächst, dafs, wenn auch nicht viele, so
doch immerhin lo Original-Pergamenturkunden mitten unter zum Teil
völlig zerknüllten und zerfetzten Akten vorhanden waren. Diese Ur-
kunden, deren älteste allerdings erst von 1597 ^st, waren zum Teil an den
Rändern stark beschädigt und wären sicher zu gründe gegangen, wenn
sie noch länger in diesen chaotischen Aktenhaufen gelegen hätten.
Unter den Akten fanden sich eine Anzahl aus dem XVI. Jahrhimdert
über den städtischen Besitz und über Innungen und Zünfte, aufserdem
eine im XVII. Jahrhundert angelegte Privilegiensammlung, welche die
fehlenden Urkunden wenigstens in etwas ersetzt, ein Band Akten zur
Stadtgeschichte des XVII. Jahrhunderts, ein Band zur Geschichte der
Schützengilde von 1690 bis zur Gegenwart, femer zahlreiche Akten
des XVI. und XVII. Jahrhunderts über Zunftsachen, Kontributions- u. a.
Akten aus der Franzosenzeit u. s. w. Die sämtlichen Bestände sind jetzt
ebenfalls im Staatsarchive vereinigt.
Ganz dicht bei Cöslin nach Osten zu, von Cöslin nur durch den
bewaldeten Gollenberg geschieden, liegt das kleine Landstädtchen
Zanow, jetzt bekannt durch seine Fabrikation sogenannter schwedischer
Zündhölzer. Ihr Archiv besteht aus 11 Pergamenturkunden, die in
wenig zweckentsprechender Weise ohne jede Umhüllung in einem
Holzkasten aufbewahrt wurden, so dafs ein Teil der Siegel durch die
Reibung der Urkunden untereinander beschädigt war, und aus einer
immerhin nicht unerheblichen Anzahl von Akten zur Stadtgeschichte,
über Wahlen und Personalien der städtischen Beamten, Zunft- und
Gewerbe-, Kirchen- und Schulsachen bis ins XVII. Jahrhundert zurück,
die gleich den Urkunden im Stettiner Staatsarchive deponiert sind.
Von Köslin an der Seeküste weiter nach Osten vorschreitend,
gelangen wir zunächst nach dem jetzt ziemlich unbedeutenden Städt-
chen Schlawe, welches aber in früheren Jahrhunderten, namentlich
auch durch seine Verbindung mit dem benachbarten Hafen von
Rügenwalde, seine erhebliche Bedeutung gehabt und in Verbindung
mit Stolp die städtischen Interessen in den Kämpfen mit dem Land-
adel energisch verfochten hat. Dem entsprechend ist ihr Archiv
auch nicht unbedeutend, wenngleich es an die Archive von Köslin
UDd Stolp nicht heranreicht. Der Aufbewahrungsort aber war auch
hier sehr wenig zweckentsprechend. Die Urkunden, deren die Stadt
IIS besitzt, waren ohne jede Umhüllung in einem alten Kasten auf-
bewahrt, auf dessen Boden sich massenhafte Siegelbrocken befanden.
Das darüber vorhandene Verzeichnis war nicht erschöpfend und wenig
ausreichend. Die sehr umfangreiche deponierte Aktenregistratur ent-
hält aufser den in allen Stadtarchiven mindestbestehenden Akten über
Stadtverfassung, Handel und Gewerbe, Zünfte u. s. w. noch ziemlich
umfangreiche Bestände über die im Eigentum der Stadt befindlichen,
auf die Initiative Friedrichs des Grofsen zurückgehenden Kolonisten-
dörfer. Aufserdem ist noch ein Sammelband von Urkundenabschriften
des XVI. bis XIX. Jahrhunderts vorhanden. Die sämtlichen Bestände
sind jetzt im Staatsarchive deponiert. Über die zum Teil sehr interessan-
ten Urkunden, deren älteste, die Gründung durch Jasco von Schlawe,
Peter von Neuenbui^ und Lorenz von Rügenwalde betreffende von
1317 ist, sind regestiert und in einem mit Orts- und Personenregister
versehenen Repertorium verzeichnet. Das Gleiche gilt von den 76
Urkunden (älteste von 1312) der benachbarten Stadt Rügenwalde.
(Schlaf! folgt)
Das Germanisehe Museutn
Von
Armin Tille (Leip
Die politische Bedeutung Wissenschaft
niemals grofser und die politische Tätigki
Wissenschafl nie lebhafter gewesen als i
^nbeitsbestrebungen , in denen die Wissei
politischen Zug gehabt hat. Mit der Ver
dieses Verhältnis zeitgemäfse Wandelung«
bindung jener politisch -nationalen und v
bat manche Einrichtungen zur Förderung
gangenheit gerichteten Studien ins Lebe:
blühen und eigentlich erst in den letzten Ja
rein wissenschaftlicher Art recht fhichi
Gründung der Gesellschaft für alten
künde 1819 und die des Gesamtv
Gescbichts- und AI tertumsverein
aber nicht an letzter Stelle ist das Germi
— 262 —
zu nennen, welches, schon von den bei der Gründung der Gesellschaft
für ältere deutsche Geschichtskunde beteiligten Personen geplant, nach
einigen mi&glückten Versuchen von dem verdienstvollen Hans Frei-
herrn von und zu Aufsefs am 17. August 1852 als gegründet erklärt
wurde und am jüngst verflossenen 15. imd 16. Juni in würdiger Weise unter
der Anteilnahme des gesamten deutschen Volkes und in Gegenwart zahl-
reicher Fürsten das Jubelfest seines fünfzigjährigen Bestandes gefeiert hat.
FreUich im einzelnen hat in den mehr als siebzig Jahren, die ftir
die Entwickeltmg der Idee in Betracht kommen, der Plan, nach dem
man arbeiten wollte und gearbeitet hat, manche Wandelungen erfahren«
aber das grofse Ziel ist immer das gleiche geblieben, die Samm-
lung und wissenschaftliche Verarbeitung der Denkmäler
deutscher Vorzeit, welcher Art und welchen Ursprungs sie auch
sein mögen. Die Gedenkfeier lenkt gerade jetzt die allgemeine Auf-
merksamkeit auf diese Anstalt, welche, im wahrsten Sinne aus den
Beiträgen des Volkes entstanden, nicht nur in den weitesten Kreisen
gekannt und geschätzt wird, sondern auch für die geschichtliche
Forschung im weitesten Sinne unentbehrlich geworden ist. Die Teil-
nahme für das Museum kann gleichwohl noch eine bedeutende Stet-
gerimg erfahren, die Zahl der Pflegschaften und ihrer Mitglieder, die
Zahl der Beiträge beisteuernden Gemeinden und Korporationen — alle
Geschichtsvereine sollten es sich zur Ehre schätzen dazu zu gehören ! —
darf noch wesentlich wachsen, ehe Überflufs an Mitteln herrseben
wird, denn so viel auch geschehen ist, weit mehr ist noch zu tun, und
da nur durch geschulte Beamte die Arbeit geleistet werden kann, so
mufs die Vermehrung und Sicherung der Mittel auch nach der 1894
erfolgten Neuorganisation noch dauernd im Auge behalten werden.
Aber auch die wissenschaftliche Benutzung, namentlich seitens {}er
orts- und landesgeschichtlichen Forschung könnte noch viel r^er
werden, denn nicht nur finden sich aus allen Landschaften wertvolle
Zeugen deutscher Vergangenheit vor, die bei Betrachtung der heimischen
Kultur herangezogen werden müssen, sondern der hier sofort mögliche
Vergleich jedes Gerätes und jeder künstlerischen Schöpfung mit vielen
verwandten Stücken verbreitet auch ganz anderes Licht als eine isolierte
Betrachtung, auf die der Lokalforscher in der Regel angewiesen ist.
Namentlich die Vorstände der ortsgeschichtlichen Museen, die in
neuster Zeit erfreulicherweise auch an bescheidenen Orten *) cnt-
i) Wiederholt iit in diesen BiSttern aaf die Nengrfindang und Aasgestaltang solcher
ortsgeschichtlicher Museen hingewiesen worden, so Bd. I, S. 87, 175, 214 ff. » H^\
Bd. II, S. 114, 186. — Von nea gegründeten GeschichtsTereincn sind betriebt*
— 263 —
stehen, würden grofsen Gewinn aus einer derartigen Benutzung ziehen
können, und die Vereine oder Gemeinden, denen jene Sammlungen
gehören, sollten deshalb ihren Sammlungsleitem die Möglichkeit ge-
währen, einmal an der grofsen Sammelstelle ihre Beobachtungen und
Studien anzustellen, um sie daheim bei Aufstellung, Katalogisierung
und Beschreibung zu verwerten!
Die äuiseren Schicksale des Germanischen Museums sind, insofern
sie die allgemeine Entwickelung geschichtlicher Sammelarbeit wieder-
spiegeln, ebenso lehrreich wie die Sammlungen selbst. Die Wande-
lung der Ansichten über Zweck und Wesen eines Museums verdienen
deshalb wohl Beachtung, und wenn hier auch nur in aller Kürze das
gesagt werden kann, was abgerundeter und vollständiger die Fest-
schrift*) enthält, so werden diese MitteUungen doch, namentlich im
Vergleich mit verwandten Bestrebungen, auf allgemeine Teilnahme
rechnen dürfen.
Zuerst interessiert die Person des Freiherrn von Aufsefs
(1802 — 1872). Nach seines Vaters Tode verliefs er den Staatsjustiz-
dienst und übernahm die Verwaltung der Familiengüter, wohnte auf
Schlois Auüsels in Franken und beschäftigte sich im Anschlufs an daa
überreiche Familienarchiv mit antiquarischen Studien. Ihre Frucht
war die Gründung einer familiengeschichtlichen Sammlung, welche
später den Grundstock für das Germanische Museum abgegeben hat.
Der Plan, ein Museum zu gründen, in welches Privatleute unter Eigen-
tumsvorbchalt ihren Besitz abgeben sollten, wurde zuerst 1830 voa
König Ludwig I. voll Bayern in einem Briefe an Aufsefs ausgesprochen,
und letzterer ergänzte ihn sofort durch die weiteren Pläne, systematisch
Uchc Sammliingeo zu Donauwörth und Grimma ins Leben gemfen worden, die
beide noch eben aafgesteUt werden. In Stadtilm hat der dortige Bezirksphysilras
Dr. med. Sy eine am 8. Mai 1902 der Öffentlichkeit sugänglich gemachte Sammlong be-
gründet, die, falls die Stadt einen geeigneten Raum zur Verftigong steUt, in ihren Besite
übergehen solL In Jülich hat jüngst die Stadt selbst in einem alten Tortarm eine
reiche ortsgeschichtliche Sammlang angelegt InNordhaasen wurde kürzlich das 25 jährige
Bestehen des städtischen Moseoms festlich begangen, und der StadtardÜTar ond Maseams-
leiter Hermann Heineck hat daza eine Urkundliche Geschichte des städtischen
Museums 1876 — igoi (Nordhaasen, Haacke) Teröffentlicht
i) Das Germanische Nationalmuseum von 1832 bis 1902^ Festschrift zar Feier seines
fünfzigjährigen Bestehens im Auftrage des Direktoriums Terfafst Ton Dr. Theodor
Hampe. Druck von J. J. Weber in Leipzig. 150 S. 4^ Das reich iUustrierte wA
glänzend ausgestattete Werk gibt eine sehr lesenswerte Geschichte des Mntqjrotj d^'
lesen sollte, der sich eingehend mit dem Museum selbst beschäftigen
liehen Angaben im folgenden sind daraus entnommen.
— 264 —
so für die ganze deutsche Vergangenheit zu sammeln, wie er es für
sein Privatmuseum getan hatte, Kopieen von nicht zu erlangenden
Originalen anzufertigen, ein grofses Verzeichnis sämtlicher Denkmäler
deutscher Baukunst, Bildhauerei und Malerei, sowie ein Repertorium
sämtlicher in Archiven und Bibliotheken ruhender Gcschichts-
quellen^) anzulegen. Im Januar 1832 gründete Aufsefs die 2^itschrift
Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters, siedelte im Herbst nach
Nürnberg über, richtete hier im November mit Gesinnungsgenossen
regelmäfsige Zusammenkünfte zur Unterhaltung über geschichtliche
Gegenstände ein und ging im Januar 1833 ^^^ Gründung einer „Ge-
sellschaft für Erhaltung der Denkmäler älterer deutscher
Geschichte, Literatur und Kunst^. Schon war (iir September
eine grofse Versammlung in Nürnberg geplant, als Karl Heinrich
Ritter v. Lang, der 1830 den Historischen Verein des Rezatkreises
(jetzt Historischer Verein für Mittelfranken) zu Ansbach gegründet
hatte, auf das Bedenkliche einer solchen Zentralisation hinwies und
mit Berufung auf Jakob Grimm, wenn auch über das Ziel hinaus-
schiebend, zur provinziellen Beschränkung in der Altertumsforschung
ermahnte. Die Stellungnahme der damaligen Vertreter strenger Wissen-
schaft, welche die Folgezeit nicht als gerechtfertigt erwiesen hat und
die uns heute befremdlich anmutet, wenn auch die Aufsefsschen Pläne
manches Dilettantenhafte an sich hatten, brachten die Sache znm
Scheitern: nur sechzehn Auswärtige fanden sich in Nürnberg zu der
i) Das ist der Anfang zn dem noch oft za erwähnenden Generalrepertoriam,
welches Aufsefs als wichtigste Aufgabe erschien, und das bis 1650 alle schrifUichen und
körperlichen Denkmäler der Vergangenheit umfassen soUte. Die ungeheuren Schwierig-
keiten einer solchen Arbeit wufste er sich nicht entfernt vorzustellen und ebensowenig
hatte er wohl von dem Umfang einen klaren Begriff. Erst verfaältnismfifsig spit ist seine
Idee verwirklicht worden, und zwar zunächst fUr die Kunstdenkmäler, deren In-
ventarisation erfreuliche Fortschritte gemacht hat (vgL Polaczeks Berichte darüber in
dieser Zeitschrift Bd. I, S. 270—290 und Bd. III, S. 137—144), aber die trotzdem bis
zu ihrer VoUendung noch Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Wie sich aber hier gezeigt
hat, dafs eine solche Arbeit nur mit landschaftlicher Teilung und unmöglich von
einer Zentralstelle aus ins Werk gesetzt werden kann, so hat sich auch die Reperton-
sierung der Archive und die teilweise Drucklegung der Inventare nur ganz allmählich
in die W^e leiten lassen (vgl. diese Zeitschrift Bd. m, S. 22). Die Handschriften-
kataloge der Bibliotheken sind im Vergleich dazu schon verhältnismäfiiig weit fort-
geschritten. Wenn die Inventare von Denkmälern der Kunst und Schrift, soweit sie ge-
druckt voiüegen, sämtlich an einer SteUe gesammelt und der Benutzung zugänglich
wären, so würde dies die relativ grölste heute mögliche Annäherung an die einst Aufsefs
vorschwebende Idee bedeuten.
Versammlung^ ein, die auflauchenden Meinungsverschiedenbeiten liefsen
keine Beschlüsse zu stände kommen, und Au&efs selbst zog sich mit
seinen Sammlui^en zurück. Ja entmutigt gab er den kostspielig-en
aber doch allseitig anerkannten Anzeiger auf, indem er die Heraus-
gabe iSsü ganz an F. J. Mone, der bereits den Jah^ang 1834 mit-
heiausgegebeu hatte, überliefs: als Anzeiger für Kunde der ieutschen
Vorzeit sind 1835 bis 1839 noch fünf Jahrgänge dieser ersten zen-
tralisierenden Zeitschrift erschienen.
Den Bestrebungen, wie sie Aufseis vertrat, waren die nach 1840
gegen früher wesentlich veränderten Verhältnisse — die Verkehrs-
erleichterung durch die ^senbahnen, die Gründung der Geechichts-
vereine und ihre intensive Bearbeitung der Kulturgeschichte, sowie
die bereits 1846 angeregte Vereinigung der Geachichtsvereioe zu ge-
meinsamer Arbeit — entschieden günstig. Deshalb entwickelte er
1846 dem in Frankfurt zusammentretenden Germanistentage seine Pläne
aufs neue, die auf Zuziehung der Geschichtsvereine zu den Germaoisten-
versammlungen, Gründungeines allgemeinen deutschen Museums
für GeschichtB-, Sprach- und Rechtskunde und Schaffung
eines literarischen Zentralorgans für diese Wissenszweige abzielten.
Die wichtigsten Dienste sollten dabei die Geschichtsvereine leisten,
die Herstellung des Generalrepertoriums wurde als wesentlichste Auf-
gabe bezeichnet. Doch auch der Versuch, die Germanisten für seine
Pläne zu interessieren, mifsglücktb dem Freiherm, das Revolutionsjabr
war für solche Dinge völl^ ungee^et, aber als die dritte anders ge-
artete Versammlung, an den zweiten Lübecker Germanistentag von
1S47 anknüpfend, 1852 in Dresden zusammentrat, regte sich Aufsefe
— seit 1850 mit seinem Museum wieder in Nürnberg wohnhaft —
aufs neue, entwickelte abermals seine Pläne und erreichte am 17. August
den Beschlufe, dafs das Germanische Museum als gegründet
zu betrachten sei. Au&efs' weitere Bemühungen, den ebenfalls
in Dresden entstandenen Gesamtverein eng mit dem Museum zu ver-
binden, schlugen fehl, ebenso sein weiterer Plan, das Römisch-
germanische Zentralmuseum in Mainz mit dem Nürnberger zu
verschmelzen, gewissermafseo das erstere zu einer lediglich in Mainz
stationierten Abteilung des letzteren zu machen. Die V-*^^«""" '^'"'
Germanischen Museums gestaltete sich nun so, dafs aus 1
aufsichtsbehörde bildenden 24 Beisitzern ein Lokalaus
alle in Nürnberg wohnenden Mitglieder umfalste, zur
wichtigeren Angelegenheiten gebildet wurde; am 9. Novec
er zuerst zusammengetreten und waltet — durch die N«
— 266 —
des Jahres 1894 in seinen Befugnissen allerdings wesentlich beschränkt —
noch heutigen Tages seines Amtes. Als Vollziehungsorgan war der
Vorstand tätig und für die Erledigung weiterer Angelegenheiten gab
es einen G e 1 e h r t e n a u s s c h u fs , in welchem die bekanntesten deutschen
Geschichtsforscher anzutreffen sind. Aber für die eigentliche Arbeit
waren tüchtige Beamte erforderlich, die zwar leicht gefunden wurden,
aber bei den unzulänglichen Mitteln ') nicht dauernd an die Anstalt zu
fesseln waren. Manche heute bekannte Männer, die heute noch leben,
haben in jungen Jahren dort gewirkt, sind aber dann in andere Stel-
lungen übergegangen, z. B. der frühere Direktor des Düsseldorfer
Staatsarchivs WoldemarHarlefs, der Direktor des Grünen Gewölbes
in Dresden Julius Erbstein, der fürstlich Thum und Taxissche
Archivrat Cornelius Will in Regensbuig. Von den schon ver-
storbenen sind Jakob imd Johannes Falke, Karl Bartsch,
Reinhold Bechstein und Karl August Barack zu nennen.
Nur wenige haben ihre Arbeitskraft lange 2^it in den Dienst des
Museums gestellt: neben August v. Eye, der von 1853 bis 1875
tätiger Beamter war, kommt vor allem Georg Karl Frommann
(18 14 — 1887) in Betracht, der zur Ordnung von Archiv und Bibliothek
sowie zur Redaktion des neu begründeten Anzeigers für Kunde der
deutschen Vorzeit*) 1853 nach Nürnberg gerufen wurde und von
1865 bis zu seinem Tode zweiter Vorstand gewesen ist. Die Leitung
mit dem Namen erster Vorstand hatte Aufsefs selbst von vornherein
für zehn Jahre imentgeltlich übernommen, als zweiter Vorstand unter-
stützte ihn Rektor Beeg, welcher 1859 ^^^ Freiherm Roth von
Schreckenstein') abgelöst wurde. Als dieser 1863 die Leitung
des Fürstlich Fürstenbergischen Archivs in Donaueschingen übernahm
— später wurde er Direktor des Grofsherzoglich Badischen General-
landesarchivs — , war AufseCs selbst seinem Vorsatze getreu 1862
schon zurückgetreten. Sein Nachfolger wurde Ludwig Andreas
Jakob Michelsen, ein för seine Heimat begeisterter Schleswig-
i) Das AnfaDgsgehalt eines wissenschafUichen Beamten betrug 1853 4^^ Golden.
Die Mittel worden ja nor dorch freiwillige Beitrfige beschafft, für deren Zoflols „Agenten'',
seit 1860 „Pfleger*' genannt, in ond anfserhalb Deotschlands titig waren.
2) Bis 1883 sind dreifsig Jahrgänge dieser Terdienstlichen Zeitschrift in Qoart er^
schienen ; der letzte Band enthält aoch ein korzes Register über den Inhalt aller Bände.
Seit 1884 erscheinen zwei Veröffentlichongen in Oktav, nämlich der monatliche AnMeigtr
des germanischen Nationalmuseums ^ der die Verwaltongsnachrichten enthält, ond die
Mitteilungen des germanischen Nationalmuseums ^ welche mit goten Abbildungen aas«
gestattet, namentlich Arbeiten ttber Gegenstände des Moseoms Teröffentlichen.
3) Dessen Gesamtgehalt betrog 1000 Golden.
— 267 —
Holsteiner, der als Professor der Rechte in Jena wirkte; aber erst
Ende 1863 übernahm er sein Amt wirklich und legte es schon 1864
wieder nieder, als ihn die Ereignisse in seiner Heimat voll in Anspruch
nahmen. Der an seiner Stelle erwählte Eisenacher Gymnasialprofessor
Wilhelm Rein starb, ehe er noch sein Amt angetreten hatte, April
1865, und erst gegen Ende dieses Jahres wurde der als Architekt ge-
bildete Kunsthistoriker August Essenwein (1831 — 1892), zuletzt
Professor an der Technischen Hochschule in Graz, zum Direktor des
Museums bestellt, welches die Bedeutung, die es heute besitzt, seiner
unermüdlichen Tätigkeit verdankt.
Zur Festigung der Verhältnisse trug es wesentlich bei, dafs schon
1853 die Königlich Bayerische Regierung dem Museum die Rechte
einer juristischen Person verlieh. Der Bundestag empfahl es dem
Wohlwollen der einzelnen Regierungen; auf Zuwendungen für die
Bibliothek imd Beiträge für das Generalrepertorium folgten auch bald
Jahresbeiträge: so bewilligte 1855 der Kaiser von Österreich
jährlich 1000 Gulden, die Könige von Preufeen und Sachsen ebenso-
viel, der Bayerische Staatsbeitrag ward schon 1856 auf 2500 Gulden
erhöht, und Städte, Korporationen und Privatleute folgten dem ge-
gebenen Beispiele. Doch der Raum im „Tiergämter Torturm" und
im „Petersenschen Haus", wo das Museum untergebracht war, genügten
schon bald nicht mehr, 1854 und 1856 wurden zwei neue Gebäude
in Benutzung genommen, aber erst mit dem Erwerbe des alten Kar-
thäuserklosters 1857 f^^^ ^^^ Sammlung eine dauernde, zunächst
genügende und erweiterungsfähige Heimstätte. Dies war um so not-
wendiger, als bereits vom Herzog Ernst von Sachsen -Coburg -Gotha
die Feste Coburg und vom Grofisherzog von Sachsen -Weimar die
Wartburg nebst dem am Fufise des Burgbergs gelegenen St.
Georgenkloster unentgeltlich zur dauernden Unterbringung angeboten
worden waren. Die Sammlungen, deren Grundstock zunächst aller-
dings bis 1862 und dann bis 1873 nur geliehen *) war, hatten
grofse Vermehrung erfahren, wenn auch Aufsefs persönlich das Haupt-
gewicht auf das mehrfach erwähnte oben charakterisierte Genersd-
repertorium legte imd das Material durch den Anzeiger nach Mög-
lichkeit nutzbar zu machen suchte, der als kulturgeschichtliche Quellen-
sammlung noch heute viel zu wenig gewürdigt wird. Michelsen ver-
warf Aufsefe* Idee zu dessen gröfetem Ärgernis völlig, er wollte eine
i) Erst 1864 wurden sie Eigentum des Masenms, als König Ludwig 50000 Gulden
nnd andere Fürsten ebenfalls bedeutende Beiträge Air den Ankauf gespendet hatten.
19*
— 268 —
BUduogsanstalt für Archivare und Bibliothekare daraus machen, aber
den zu diesem Zwecke von ihm vorgeschlagenen Satzimgsänderungcn
versagte die Regierung ihre Genehmigung. Die vorstandslosen Jahre
1S64 und 1865 und ihre wenig erbaulichen Zwiste unter der Beamten-
schaft machten natürlich eine Weiterentwickelung oder selbst nur Be-
hauptung dessen, was errungen war, unmöglich; erst Essenwein er-
blickte, als er 1866 sein Amt antrat, sofort neben der hochnötig'en
Ordnung der Finanzen seine Hauptau%abe in der systematischen
Anlage der Sammlung, um sie zu einem Museum der deutschen
Kulturgeschichte zu machen. Systematische Anlage der Sammlungen
und Ordnung der Finanzen hing insofern eng miteinander zusammen,
als die tatsächlich zusammengebrachten und zum Beschauen ge-
eigneten Gegenstände beim grofsen Publikum allgemeinste Anerken-
nung gefunden hatten und durch ihre Vermehrung neben zunehmender
Teilnahme auch eine Mehrung der freiwilligen Gaben zu erhoffen war,
ganz davon abgesehen, dafs sich auCser Aufsefs alle Beteiligten von
der Unmöglichkeit, ein Generalrepertorium in seinem Sinne herzustellen,
überzeugt hatten. Die Entwickelung der politischen Verhältnisse nach
1866 war für das Museum recht günstig: König Ludwig IL, der
6. November 1867 das Protektorat angenommen hatte, gewährte 1867
bis 1869 wesentliche Unterstützungen, der Norddeutsche Bund be-
willigte jährlich 6000 Reichstaler, das Deutsche Reich erhöhte von 1872 ab
diese Summe auf 8000 und von 1873 ab auf 16000 Reichstaler. Die sach-
liche Neuorganisation begann Essenwein mit der Entlassung aller nicht fest
angestellten Beamten, von denen neben Frommann als zweitem Direktor
und Vorstand der Bibliothek nur v. Eye (Vorstand der Sammlungen),
Hektor als Gehilfe Frommanns, Alexander Flegler (Vorstand des
Archivs) und Stein brüchel (Zeichner) blieben. Neu als persönlicher
GehUfe Essen weins trat 1867 der dermalige zweite Direktor Hans
Boesch (geb. 1849) ^"i- Die durch die Vermmderung der Beamten
notwendige Arbeitsbeschränkung traf in erster Linie das Repertoriom:
solange diese nur als eine vorläufige durch die notwendige Finanz-
lage bedingte Malsregel erschien, war auch der „Ehrenvorstand'* Auf-
s^fs damit einverstanden, aber als Essenwein auch eine Statuten-
änderung — die neuen Satzungen traten i. Januar 1870 in Kraft —
in diesem Sinne anregte, entspann sich ein bitterer Kampf zwischen
ihm und Aufsefs.
Nach der Reichsgründung lag die Erwägung nahe, ob das Museum
nicht eineReichsanstalt, ein Deutsches Reichsmuseum werden
müsse, doch die darauf abzielenden Vorschläge wurden vom Ver-
— 269 —
wattungsausschuls abgelehot. Der Plan, aus der Kriegsentschädigung
dem Museum reichere Mittel zuzuführen, um die Schulden mit
einem Mate los zu werden, schlug fehl, aber die seit dem Zu-
schüsse des Reiches immer reichlicher flielsenden Mittel besserten all-
mählich die Verhältnisse. Schon der 1874 au^estellte Schulden-
tilgungsplan brachte grölsere Klarheit, aber noch mehr trug dazu
Essenweins Grundsatz bei, keine besondere Aufwendung zu
machen, ohne dafs ein besonderer Stifter da sei. In diesem
Sinne appellierte er an die verschiedenen Stande und Berufe, um
durch sie die angemessene Vertretung der auf sie bezüglichen Zeugen
der Vergangenheit systematisch anzubahnen und auf Grund der ein-
gehendsten Spezialkenntnisse sachgemäfs au&ustellen: seit 1883 be-
steht als Frucht dieser Tätigkeit das Historisch-pharmazeutische
Zentralmuseutn, der deutsche Handelsstand hat sich ebenfalls
eine besondere Abteilui^ im Museum geschaffen, und auch die Uhr-
macher und Brauer Deutschlands sind durch besondere Stiftungen
vertreten. In entsprechender Weise haben die deutschen Fürstenhäuser
tiii eine würdige Repräsentation gesorgt : Es gibt eine HohenzoUem- und
Witteisbacher Stiftung und ähnliche tiir Baden, Braunschweig, Mecklen-
burg, Nassau. Für die immer dringender werdenden Neubauten wulste
Essenwein seit 1872 durch Verlosung geschenkter Kunstgegenstände die
Mittel zusammenzubringen, und so hat für die Aufführung des Augustiner-
baues das Museum in der Tat nicht einen Pfennig aufzuwenden brauchen,
aus den 1877 bewilligten Reichsmitteln (120000 Mk.) ist der Ostbau
errichtet worden, und 1884 konnte ebenfalls mit dem 188Ö aus Reichs-
mitteln vollendeten Südbau begonnen werden. Die Aufwendungen
des Reiches regten auch wiederum die Privatleute zu Spenden an,
und so sank die 186Ö noch 230000 Mk. betragende Schuld bis 1885
auf 40000 Mk. Die 1889 für die günstige Erwerbui^ der giofsen
SulkowskischenWafTensammlni^ angenommene Anleihe von 200000 Mk.
war bereits 1896 getilgt.
Die innere Arbeit ruhte freilich im Verhältnis zu den Erwerbungen,
weil sie sich — so memte Essenwein — im Gegensatz zu den letzteren
nachholen läfst. Als v. Eye 1875 ausschied, erhielt er keinen Nach-
folger, auch Frommanns Stelle wurde 1887 nicht wieder besetzt. Erst
1890 wurde Boesch zum zweiten Direktor ernannt, da Essenwein im
Herbste 1889 erkrankt war und einer Vertretung bedurfte. Eine Neu-
ordnung der Arbeit war nur durch eine Neuorganisation der Beamten-
schaft, diese aber nur durch eine Neuregelung c '
Eine solche wieder erforderte entweder ein Stai
— 270 —
zwei Millionen Mark oder sichere Zuschüsse für die Zwecke der Ver-
waltung seitens des Reiches, des bayerischen Staates oder der Stadt
Nürnberg". Ein gemeinsames Wirken dieser drei leistungs^igen Fak-
toren war das Ziel, nach dem Essenwein strebte, aber noch ehe er
es erreichte, ereilte ihn 13. Oktober 1892 der Tod; erst 1894
— am 15. Jimi wurden die Satzungen vom Prinzregenten bestätigt —
kam die Neuorganisation zu stände, wobei als Vorsitzender im Lokal-
und Verwaltungsausschufs Justizrat Freiherr v. Krefs besonders be-
teiligt war, zumal da die Anstalt eines ersten Direktors entbehrte.
Ganz nach Essenweins Plane teilten sich Reich, Staat und Stadt da-
mals in die heute jährlich 105000 Mk. betragenden Kosten, wovon
das Reich 70000 Mk., Bayern 25876 Mk. und Nürnberg 9133 Mk.
aufbringt. Die Oberaufsicht führt im Auftrage des Reiches die König--
lich Bayerische Regierung; die beiden Direktoren ernennt auf Vor-
schlag des Verwaltungsausschusses die Krone, die übrigen Beamten
auf Vorschlag des Direktoriums das Königliche Ministerium des Inneren.
Im Verwaltungsausschufs ist jetzt das Reich und Bayern mit je drei
Bevollmächtigten vertreten, die Stadt Nürnberg mit einem, die Be-
deutung des Lokalausschusses ist bedeutend gemindert. Die Stelle
des ersten Direktors wurde noch im Sommer 1894 neu besetzt und
zwar mit Gustav v. Bezold (geb. 1848), dem damaligen Konser-
vator des Bayerischen Nationalmuseums und Privatdozenten am Poly-
technikum in München, einem Architekten imd Kunsthistoriker — gleich
Essenwein. Kraft der neuen Satztmgen wurden beide Direktoren
— V. Bezold und Boesch — 2. Oktober 1894 in ihr Amt eingeführt,
der Beamtenapparat wurde auf sieben wissenschaftliche Hilüskräfte
(2 Konservatoren, 3 Assistenten, 2 Praktikanten) vermehrt, denen zwei
Verwaltungsbeamte zur Seite stehen. Ein neues Gehaltsregulativ mit
Dienstalterszulagen ist 1898 in Kraft getreten. Die Räume haben bis
in neuere Zeit Vergröfeerungen erfahren, und mit der Jubelfeier des
fiinizigjährigen Bestehens war die Einweihung des jimgsten, ganz aus
Mitteln des Museums 1897 — 1902 aufgeführten Gebäudes verbunden.
Nur die äufsere Entwickelung des Museums haben wir hier in
Kürze vorgefiihrt. Über den Reichtum, den das Museum birgt, läfist
sich im allgemeinen nichts sagen, wenn man nicht mit Eingehen auf
die Einzelheiten viel ausfiihrlicher werden will. Der Zweck dieser
Ausführungen sollte es sein, wieder einmal die weiten Kreise der Ge-
schichtsforscher auf allen Gebieten darauf hinzuweisen, was das Ger-
manische Museum ist. Wenn es ihm heute noch an irgend etwas
fehlt, so ist dies die wissenschaftliche Durchdringung und
— 271 —
Verarbeitung des gesamten aufgespeicherten Stoffes.
Soviel in dieser Richtung der Beamtenschaft überlassen bleiben mufs,
so wird es ihr doch unmöglich sein alles zu leisten: die Pflege der
gesamten deutschen kulturgeschichtlichen Forschung, die ja neuerdings
so erfreulich an wissenschaftlichem Ansehen gewonnen hat, kann allein
den richtigen Untergrund und Mafsstab für die Wertung aller Gegen-
stände abgeben. Nirgends in der Welt ist auf einer Stelle mehr
Material für die Kenntnis der deutschen Vergangenheit aufgespeichert
als eben in der Nürnberger Karthause, aber gerade darum sollte die
Benutzung jener Schätze zu wissenschaftlichen Zwecken noch wesent-
lich reger werden, gerade deshalb müfsten die Vorsteher sämtlicher
geschichtlicher Museen Deutschlands — die der kleinen ebenso wie
die der grofsen — in einer gewissen Verbindung mit der gröfsten
Sammlung stehen, so dafs das Germanische Nationalmuseum, ohne es
äufserlich zu sein, zugleich als Bildungsanstalt für Musealbeamte — auch
für die, welche es im Nebenamte sind — wirkt. In den nächsten
fünfzig Jahren wird dem Museum, wenn anders seine Leitung auf der
einmal sicher vorgezeichneten Bahn fortschreitet, u. a. auch die Auf-
gabe zufallen, die Bewegung zu gunsten historischer Museen zu fordern,
in dem scheinbaren Interessenwiderstreit zwischen Lokal- und
Zentral museen, der noch manches scharfe Wort zeitigen wird, die
BeteUigten aufzuklären, die örtlichen Sammlungen in gewissen Grenzen
zu unterstützen und die Gegensätze zum HeUe einer vertieften Ge-
schichtsforschung zu versöhnen!
Mitteilungen
Eingegangene Bflcher:
Kaindl, Raimund Friedrich: Bericht über die Arbeiten zur Landeskunde
der Btikowina während des Jahres 1900. (Zehnter Jahrgang). Czemowitz,
H. Pardini, 1901, 8 S. 8^
Kapper, Anton: Mitteüungen aus dem k. k. Statthaltereiarchive zu Graz
[= Veröffentlichtmgen der Historischen Landes-Kommission für Steier-
mark XVI]. Graz, Selbstverlag der Hist Landes-Konunission, 1902.
108 S. 8^
Krone Sy Fr. v.: Ergebnisse einer archivalischen Reise nach Linz, Herbst
1899 [= Veröffentlichtmgen der Historischen Landes-Kommission
Steiermark Xm]. Graz, Selbstverlag der Historischen Landes-Komm'
1901. 67 S. 8**.
— 272 —
Loserth, J. : Briefe und Akten zur steiermärkischen Geschichte unter Erz-
herzog Karl U. [= Veröflfentlichungen der Historischen Landes - Kom-
mission für Steiermark X.] Graz 1899.
Loserth J. : Die Gegenreformation in Graz in den Jahren 1582 — 1585,
145 Aktenstücke aus zwei bisher unbekannten Aktensammlungen vom.
Jahre 1585 [= Veröffentlichuogen der Historischen Landes-Komxnission
für Steiermark XII]. Graz, Selbstverlag der Historischen Laodes-Kom-
mission, 1900. 62 S. 8^
Schmidt, Georg: Burgscheidungen. 2. Aufl. Halle, Max Niemeyer, 1900.
143 S. 8®.
Sembritzki, Johannes: Wedeke imd Hennig, zwei Schrifbteller im Obcr-
lande vor hundert Jahren [= Sonderabdruck aus den Oberiändischen
Geschichtsblättem, Heft 4].
Sie gl, Karl: Das Achtbuch des Egerer Schöffengerichtes aus der Zeit von
13 IG — 1390 [= Sonderabdruck aus den „Mitteilungen des Vereins
für Geschichte der Deutschen in Böhmen" Jahrg. 39, S. 227 — 271,
375 — 427]. Prag, J. G. Calve, 1901.
Sommerfeldt, Gustav: Oehlweiden und Grofs-Rominten in Urkunden und
Akten des 16. bis 19. Jahrhunderts. Braunsberg, E. Skowronski, 1902.
44 S. 80.
Wehrmann, Martin: Aus Pommerns Geschichte, sechs Vorträge im Stet-
tiner Frauenverein gehalten. Stettin, Leon Saunier, 1902. loi S. 8^.
Welti, Friedrich Emil: Die Rechtsquellen des Kantons Bern. Erster Teü:
Stadtrechte. Erster Band: Das Stadtrecht von Bern I (1218 — 1539)-
Aarau, H. R. Sauerländer & Co., 1902. 428 S. 8^. M. 14.
Wenck, Karl: Elisabeth von Thüringen (1306 — 1367), die Gemahlin Land-
graf Heinrichs 11. von Hessen, und die Beziehungen zwischen Thüringen
imd Hessen in den Jahren 1318 — 1335 [== Zeitschrift für Hessische
/ Geschichte. Neue Folge 25. Bd. (1901), S. 163 — 191].
Zimmermann, Ernst: Materiid zum Gebrauch der Tafel: Vor- imd früh-
geschichtliche Altertümer der Provinz WestfiUen. Arnsberg, J. Stahl,
1901. 10 S. 8^
Zwiedineck, Hans v. : Das gräflich Lambergsche Familienarchiv zu Schlofs
Feistritz bei Hz. UI. Teil: Urkunden, Aktenstücke und Briefe, die
freiherrliche und gräfliche Familie Lamberg betreffend, [= Veröffent-
lichungen der Historischen Landes-Kommission für Steiermark XI]. Graz,
Selbstverlag der Historischen Landes-Kommission, 1899. ^^^ ^* ^^*
Zub, Felix: Beiträge zur Genealogie und Geschichte der steirischen Liechten-
steine [= Veröffentlichungen der Historischen Landes-Kommission für
Steiermark XV]. Graz, Selbstverlag der Historischen Landes-Kommission,
1902. 64 S. 8^
Das bayerische Oberland am Inn, Blätter für Gebietsgeschichte, Hei-
mat- und Volkskunde, Organ des „Historischen Vereins Rosenheim",
hggb- von Ludwig Eid. i. Jahrgang, Heft i. Rosenheim 1902.
XXXU und 130 S. 8».
Gebauer, Joh. H. : Gustav Adolf in Brandenburg [= 32./33. Jahresbericht
des Historischen Vereins zu Brandenburg a. d. H. (1901) S. 63 — 84].
Herausfeher Dr. Annin Tille in Leipdg. — Druck und Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
tor
Förderung der landesgeschicbtlicben Forscbung
III. Band August/September xgoa 11./12. Heft
Ortsflur, politischer Gemeindebezirk und
Kifchspiel
Ein Beitrag zur Gemarkungsgrenzfrage
Von
Rudolf Kötzschke (Leipzig)
Einige Grundfragen der deutschen Verfassungsgeschichte, die zuvor
mehr nach ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Seite hin untersucht zu
werden pflegten, können durch Einführung geographischer Betrachtungs-
weise mancherlei Förderung erfahren, indem die räumliche Anordnung
der Erscheinungen, die Beschaffenheit des Bodenabschnitts, an dem
sie haften, in voller Anschaulichkeit klar erfafst wird. So ist die Ent-
stehung des deutschen Städtewesens durch das Studium der Siedelungs-
formen erfolgreich geklärt worden ; für das Problem der mittelalterlichen
Stadtwirtschaft verspricht eine Untersuchung von geographischen Ge-
sichtspunkten aus mannigfache Aufhellung. Auch für die Geschichte
der deutschen Landgemeinde hat eine lebhafte Erörterung über die
Fragen nach dem räumlichen Untergrund, auf dem die Gemeinde-
einrichtungen beruhen, nach dem Gemeindegebiet und seinen Grenzen,
begonnen, zumal da diese für die Lösung grolser Aufgaben der histo-
rischen Kartographie Deutschlands von grundlegender Bedeutung sind *) ;
und es ist in der Tat dringlich, mehr als früher üblich war, von einem
Standpunkte geographischer Betrachtung aus an diese Untersuchungen
heranzutreten.
. I.
Das Staatsgebiet ist heute überall im Deutschen Reiche in die
Bezirke der politischen Ortsgemeinden oder, wie namentlich im Osten
der preufsischen Monarchie, in die als Träger der örtlichen Verwaltung
auf dem platten Lande gleichberechtigten Gemeinde- und Gutsbezirke
aufgeteilt; entweder so gut wie restlos, wie z. B. im Rheinland, oder
i) Vgl. darüber die Bemerkungen am Schlüsse dieses Anfsatzes.
20
— 274 —
mit der Einschränkung, dafs daneben gewisse nicht eingememdetc
Bezirke, besonders die Staatswaidungen , gesondert belassen worden
sind ; wie z. B. in den Provinzen Sachsen und Brandenburg, im König-
reich Sachsen, in Oberbayem. Der Gemeindebezirk ist heute — mit
jenen Ausnahmen — nach dem Verwaitungsrecht der kleinste Gebiets-
abschnitt des Staates. Der politischen Geographie* aber ergeben sich
andere kleinste Bodenabschnitte als die für ihre Betrachtungsweise
zunächst wichtigen: sie sieht auf dem Boden des Staates eine Mengte
menschlicher Wohnplätze verteilt, die nach Raumgröise und Gestalt
unterscheidende Merkmale aufweisen, sie richtet auf diese Wohnorte
mit ihrem Zubehör an Boden zuerst ihr Augenmerk.
In mannigfaltigem Wechsel liegen Siedelungen über das Staats-
gebiet hin verstreut, wie Fr. Ratzel in seiner Anthropogeographie *) sie
scheidet : Einzelhäuser, d. h. blofee Räume zu Wohn- und Wirtschafts-
zwecken; Höfe, das sind Wohn- und Wirtschaftsgebäude nebst Hof-
raum — also z. B. auch abgesondert liegende herrschaftliche Güter — ;
kleine Gruppen von Häusern und Höfen, die einen „Weiler" bilden;
endlich „Dörfer", d. h. in geographischem Sinne grö&ere geschlossene
Ansammlungen ländlicher Wohn- und Wirtschaftsgebäude *). Neben
dem Begriffe des einfachen Wohnorts müssen wir nun aber auch
den der „Ortschaft" verwenden. Wir verstehen darunter die als topo-
graphische Einheit gefaxten, aus kleinsten Wohnungseinheiten zusammen-
gesetzten Ortsbildungen : Höfe- und Häusergruppen, Weiler und Dörfer
für sich oder mit anderen Wohnplätzen zusammengefafst.
Wie verhält sich nun zu diesen Siedelungen die Gemeindebildung ?
Welches ist die Struktur der Gemeinde in topographischer Hinsicht?
Wie sind Raumgröise und Raumgestalt der Gemeindebezirke beschaffen l
Was für Siedelungen sind zu einem Gemeindeverbande zusammen-
geschlossen? Das sind alles Gnmdfragen fiir jede Untersuchung über
Gemeindegebiet und Gemarkungsgrenzen.
Vergleicht man einmal die erschienenen Blätter der „Gnmdkarte
von Deutschland" *), so springen einem die topographischen Verschieden-
heiten der Gemeindebezirke förmlich in die Augen. Die winzigen Dorf-
bezirke des sächsischen Hügellandes zwischen Meifsen und Döbeln,
i) Anthropogeographie II, S. 405 E (i. Aufl. 1891).
2) In historischen Quellen werden die Wörter oft in anderem Sinne gebraucht: Hof
für eine Mehrheit ländlicher Anwesen ; Dorf auch (Ur die Ortschaft bei zerstreuter Wohn>
weise.
3) S. die Aufzählung in meinem Aufsatz: „Die Zentralstelle für Grundkarten zu Leipzig":
Korr. Bl. d. Ges. Vereins d. Geschichts- u. Altertumsvereine, 1902, nr. 7.
— 275 —
^ mittelgrofse Dorfgemarkungen, wie sie besonders rein z. B. in der
e Gegend von Wetzlar und Butzbach oder in der Rheinebene nw. von
: Strafsburg i. E. auftreten, die grofsräumigen Gemeindebezirke zwischen
2 Wesel und Dorsten mit ihrer Fülle zugehöriger Einzelsiedelungen er-
scheinen dem Geographen, wie immer ihre staatsrechtliche Natur sein
3 mag, als wesensverschiedene Gebilde. Charakteristische Unterschiede
r^ der deutschen Landschaften treten bei solcher Betrachtung hervor,
aber in einer jeden von ihnen, so in Sachsen, in Westfalen, in Württem-
berg, im Elsafs und in Lothringen, in Schleswig-Holstein, lassen sich
oft nahe beieinander Verschiedenheiten der angedeuteten Art beobachten.
Stellen wir die Hauptformen solch topographisch verschiedener
Gemeindebezirke fest. Zunächst treten uns da zwei Gruppen deutlich
entgegen: die Dorfgemeinden, d. h. die Gemeinden, die aus einer
gröfseren geschlossenen Siedelung nebst zugehöriger Gemarkung be-
stehen, und die Höfegemeinden oder die Hof- und Weiler-
, gemeinden, die aus einer Anzahl von Höfen oder aus Höfen und
einem oder mehreren Weilern nebst zugehörigen Bodenabschnitten
zusammengesetzt sind. Daneben fehlt es aber auch an der Mischform,
der Dorf- und Höfegemeinde, nicht. Es ist auch ohne weiteres
klar, dafs Einzelsiedelungen oder kleine Siedelungsgruppen an sich
auch selbständig, ohne Zugehörigkeit zu einem Gemeindeverband, d. h.
also unmittelbar unter der nächstübergeordneten Staatsbehörde, bestehen
können.
Ein paar Beispiele mögen das Verhältnis von Wohnorten und
Gemeinden in einigen Gegenden Deutschlands nach der statistischen
Seite erläutern. Im Königreich Württemberg*) gab es im Jahre
i88o 9820 Wohnplätze, aber in nur 191 1 politischen Gemeinden ge-
lten, nämlich aufeer 142 Städten : 1698 Dörfer, 3242 Weiler, 2587 Höfe
und 21 51 Häuser, und zwar besteht dabei ein Unterschied insofern,
als im Neckarlande die Dorfgemeinden weit vorherrschen, während in
Oberschwaben, besonders im südlichen Teil, auf den Plateaus imd
Walddistrikten des Jagstkreises und in den Waldämtem des Schwarz-
waldes sich die parzellierten Gemeinden besonders häufig finden. Im
Jahre 1822 — also in dem Jahre, in dem das Verwaltungsedikt vom
I. März erschien *), dessen $ i besagt: „Jede Stadt, jeder Marktflecken
und jedes Dorf bildet eine für sich bestehende Gemeinde. Einzelne
Weiler und Höfe haben sich an die Gemeinde des nächstgelegenen
i) Das Königreich Württemberg, heraosg. vom Kgl. statistisch-topographischen Borean
n, I, S. 351 ff. (1884).
2) J. Weiske, Sammlung der neueren teutschen Gemeindegesetze, S. 129 (1848^
20*
— 276 —
Ortes anzuschliefsen, oder, wo solches ihre Lage erheischt und gestattet,
unter sich zu einer eigenen Gemeinde zu verbinden" — wurden in
Württemberg auiser 132 Städten 175 Marktflecken und 1575 Dörfer,
dazu 1878 Weiler, 2333 Höfe und 3384 einzelne Häuser gezählt.
Freilich schwindet die Vorstellung eines völligen Umsturzes in den
Gemeindeverhältnissen, den diese Zahlen leicht erwecken könnten, so-
fort, wenn man sich klar macht, dals die Zahl der 191 1 Gemeinden
vom Jahre 1880 die der gleichzeitig vorhandenen Städte und Dörfer
nur um 71, die der Städte, Marktflecken und Dörfer von 1822 aber
nur um 29 übertriffl; d. h. also, da in Württemberg eine Gemeinde
nie mehr als ein Dorf haben kann'), es gab im Jahre 1880 nicht
mehr als 71 Gemeinden, die nur aus Höfen und Weilern ohne Dorf
bestanden. Im Jahre 1822 aber können noch nicht halb soviel Ge-
meinden blofs aus Höfen und Weilern neu gebildet worden sein.
Immerhin können die Veränderungen der Gemeindegebiete durch Ein-
gemeindung von Gruppen- und Einzelsiedelungen nicht unbeträchtlich
gewesen sein; die sonst vorzügUch brauchbare Markungskarte in
1 : 3 500000 ermöglicht keine Untersuchung der Frage; eine Vorstellung
davon kann man sich mit Hilfe der erschienenen Grundkartensektionen
bilden.
In Baden*) waren im Jahre 1875 7697 Wohnorte vorhanden,
und zwar aufser 114 Städten : 1609 Dörfer, 648 Weiler und 1085 Zinken,
die ähnlich wie die Weiler gestaltet, nur mehr zerstreut sind, dazu
642 Höfe- oder Häusergruppen und 3599 einzeln gelegene Höfe, Häuser
oder Mühlen; im Jahre 1884 aber gab es au(ser den 114 Stadt-
gemeinden nur 1469 Landgemeinden, unter denen sich 217 sogenannte
zusammengesetzte Gemeinden mit 217 Haupt- und 466 Nebenorten
befanden. In einer Anzahl dieser zusammengesetzten Gemeinden haben
nun wieder einzelne Ortsteile ihre besonderen „Ortsgemarkungen", und
da das Gemeindegesetz von 1831 •) die Eingemeindung von Waldungen,
einzelnen Höfen und anderen Gütern, die seither keinen Ortsgemarkungen
zugehört hatten, nur gestattete, aber nicht vorschrieb, so gibt es auch
noch „abgesonderte Gemarkungen", so dafs die Gesamtzahl der Ge-
markungen auf 2187 steigt. — Im Königreich Bayern*) waren 1890
aufser den 52 wichtigsten Städten 45 580 Orte in 7969 Gemeinden
vereinigt.
i) Das Königreich Württemberg, S. 352.
2) Das Grofsherzogtnm Baden (Karlsruhe 1885), S. 281 ff.
3) J. Weiske a. a. O., S. 201 ff.
4) W. Götz, Geographisch-Historisches Handbuch von Bayern I, 32 (München 1895).
— 277 —
Diese Zahlen sprechen deutlich. Gewife sind in anderen Teilen
Deutschlands, die mehr Geschlossenheit in der Siedelungsweise zeigen,
die Unterschiede zwischen Wohnplätzen und Gemeinden geringer; in
einzelnen Landstrichen schwinden sie fast ganz. So viel aber ist klar,
dals die Beachtung der topographischen Struktur der Landgemeinde
für die Auffassung des deutschen ländlichen Gemeindewesens von
gröfster Bedeutung ist.
Prüft man nun bei einer Durchsicht der Grundkarten mit Beihilfe
der Reichskarte in i : looooo (der sogen. Generalstabskarten) oder sonst
'geeigneter topographischer Karten die räumliche Gestalt und den
Siedelungscharakter der Gemeindebezirke, so läist sich zunächst deren
mannigfache Abhängigkeit vom Bodenbau und der Bewässerung des
Landes erkennen. Aber die Gemeindebezirke sind Menschenwerk. Das
Problem wird zum historisch-geographischen: wie hat sich im Ablauf
der Jahrhunderte die Gemeindebildung unter der Einwirkung natürlicher
und sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ursachen vollzogen?
Richtet man so sein Augenmerk auf die geschichtlich begründete
Vereinigung der Siedelungen zu Gemeindeverbänden, so ergibt sich
zuerst wieder die Notwendigkeit, von der neuesten Zeit auszugehen,
imd es erhebt sich die Frage: wie verhalten sich denn die Ortsfluren
im Sinne des gesamten Arealzubehörs der ländlichen Ortschaften zu
den verschiedenerlei Gemeindebezirken der Gegenwart?
Nach Durchführung der Gemeindegesetzgebung des XIX. Jahr-
hunderts gehört jede Siedelung einer politischen Ortsgemeinde oder,
wie in Preufsens östlichen Provinzen, einem Gutsbezirke zu. In dem
Gemeindebezirke übt die Gemeinde die ihr zugestandene Selbstverwaltung
sowie die vom Staate ihr übertragenen Funktionen staatlicher Verwaltung
aus. Der Bezirk der politischen Ortsgemeinde ist also Gemeindeselbst-
verwaltungsbezirk und Staatsverwaltungsbezirk, insbesondere für Aus-
übung niederer Polizeigewalt, auch Armenpflege und Schulwesen.
Zweitens aber gibt es kleinste Bezirke der Steuerverwaltung (Grund-
steuerbezirke) auf den Katasterkarten oder Flurkarten mit genauer Ein-
Zeichnung der einzelnen Grundstücke dargestellt. Diese Steuerfluren
pflegen nach den Ortsgemeinden benannt zu sein, zumal diesen häufig
die Steuereinhebung vom Staate übertragen ist ; tatsächlich decken sie
sich auch zumeist mit jenen Ortsgemeindebezirken ; aber sie können
sich doch auch von ihnen in charakteristischer Weise unterscheiden.
Weiterhin aber schliefet sich die Frage an, wie sich Siedelung
und Gemeindebildung, Ortsflur und Gemeindebezirk in den geschicht-
lichen Zeiten zueinander verhalten haben. Und dies Verhältnis ist um
— 278 —
so wichtiger für den Historiker, als er in seinen Quellen oft blofec
Ortschaftsbezeichnungen ohne Angabe der Gemeindezugehörigfkeit
findet ; die Aufgabe ist dann gerade die, die Ortslage womöglich inner-
halb eines heutigen Gemeindebezirks festzustellen.
In den Zeiten des patriarchalischen und absoluten Staatsregiments,
die für unsere Fragen zunächst mit der Gegenwart verglichen werden
müssen, finden wir nun, wie bekannt, eine Gemeinde von anderem
Charakter vor, die ich in Anlehnung an den älteren Sprachgebrauch
im Gegensatz zur politischen Ortsgemeinde der neuesten Zeit die
Nachbarschaftsgemeinde nennen möchte. Sie ist vor allem
Realgemeinde; ihr Gebiet besteht aus den Gehöften, den in der
Feldmark belegenen bäuerlichen Grundstücken sowie den zugehörigen
Gemeinheiten; in diesem Gebiete wird auch die vornehmlich wirt-
schaftlich gerichtete Gemeindeverwaltung ausgeübt. Aber die länd-
lichen Gemeinden sind doch schon seit dem späteren Mittelalter zur
Erfüllung von Aufgaben der landesfürstlichen Staatsverwaltung heran-
gezogen worden, z. B. für VerteUung der Steuern *) ; und in den Zeiten
des absoluten Staates lassen sich schon Anfange zur Bildung von
politischen Ortsgemeinden beobachten, indem z. B. in Preufsen unter
Friedrich Wilhelm I. das „Dorf" zum Schulkommunalverband, teil-
weise auch zum Armenkommunal verband umgearbeitet wurde *). Wie
verhalten sich nun die Bezirke solcher Staatsverwaltung mit Hilfe
ländlicher Gemeinden zu den Nachbarschaftsfluren? Decken sie sich
völlig? Oder gehören vielleicht zu jenem auch Bodenschnitte aufser-
halb des Flurbezirks der Nachbarschaft? Oder umgekehrt, sind etwa
einzelne Flurteile kein Zubehör der staatlichen Verwaltungsbezirke?
Und weiter, wie verhalten sich diese älteren Bezirke zu denen, die
nach Durchführung der modernen Gemeindegesetzgebung und Kataster-
aufnahmen in der Gegenwart vorhanden sind?
Die Tätigkeit der neueren Staatsgewalt, der patriarchalischen und
absoluten so gut wie der modernen konstitutionellen, zur Abgrenzung
der Gemeindebezirke, etwa vom XVI. Jahrhundert bis ins XIX., auf-
zuhellen, stellt sich so uns deutlich als die erste und dringendste Auf-
gabe dar, die zu lösen ist, bevor die Gemeindebildung der älteren Zeit
in räumlicher Hinsicht ausreichend klar erkannt zu werden vermag.
Neben solcher Betrachtung des Verhältnisses zwischen Ortsflur
und politischem Gemeindebezirk kommt nun aber noch ein weiteres
i) Vgl. z. B. G. V. Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg UIj
S. 36 ff., III, S. 83 f.
' 2) C. Bornhak, Geschichte des preufsischen Verwaltungsrechts U, S. 8 f.
— 279 —
in Betracht, das bisher in seiner vollen Tragweite für die Gemarkungs-
grenzfrage noch nicht gebührend gewürdigt worden ist *).
Die völlige Aufteilung der Staatsgebiete in räumliche Bezirke,
wie es, mit den oben dargelegten Einschränkungen die politischen
Gemeindebezirke sind, ist erst ein Werk der neueren Staatsgewalt und
nur aus ihren Bedürfnissen zu erklären ; einem Bedürfnis der Nachbar-
schaftsgemeinden älterer Art entspricht sie nicht. Aber schon von
altersher gibt es eine Macht in Deutschland, die ein Bedürfnis nach
Aufteüung des Landes, soweit es überhaupt angebaut und von Menschen
bewohnt war, für ihre Verwaltung empfunden hat. Schon im XII. und
XIII. Jahrhundert ist der Ausbau des Parochialsystems im mutter-
ländischen Deutschland so weit fortgeschritten, dafs auf lange hinaus
dem Bedürfnis genüge geschah *) ; und im Osten ist die Pfarreiorgani-
sation der völligen Christianisierung und Kolonisation rasch gefolgt.
Deutschland war mit einem Netze von Pfarreien bedeckt, in das auch
Einzelsiedelungen fernab von den geschlossenen gröfseren Ortschaften
einbezogen gewesen sind. Der Kirchengemeindeverband hat nun aber
von frühe her in engen Beziehungen zu ländlichen Gemeindeverbänden
gestanden ; ja das Kirchspiel hat , darin dem civil parish in England
vergleichbar, auch für die weltliche Gemeindeverwaltung Bedeutung ge-
habt. Das Verhältnis von Kirchspiel und ländlichem Gemeindebezirk
mufs also bei Untersuchungen über die Gemarkimgsgrenzfrage von vorn-
herein scharf ins Auge gefafst werden ; und es ist auch für die welt-
liche historische Kartographie um so wichtiger, als die Lageangaben
von Ortschaften in älteren Quellen, z. B. Urkunden, sehr oft nach der
Pfarrei gemacht werden und die Überlieferung der kirchlichen histo-
rischen Geographie zumal in alten Zeiten — man denke an die lihri
valoris bischöflicher Diözesen — besonders günstig zu sein pflegt. —
Die Geschichte des Gemeindegebiets, dies hat sich uns bisher
ergeben, ist die seiner Siedelungen mit ihrem Zubehör an Grund und
Boden. Das Gemeindegebiet aber ist aufsen umrahmt von seinen Grenzen :
auch die Geschichte der Gemarkungsgrenzen mufs von der Betrachtung
der zu Gemeinden zusammengeschlossenen Siedelungen und ihrer zugehöri-
gen Bodenabschnitte ausgehen ; auch sie ist auf das Studium der Siede-
lungsverhältnisse zu gründen. Politische wie kirchliche Gemeindeverbände
i) Schon Wolfram hat in seinem Freiburger Vortrage (Korr. Bl. d. Ges. Ver. 1902,
S. 25) darauf hingewiesen, dafs ein wesentlicher Faktor fUr die Erhaltung der Gemarkungs*
grenzen auch die Kirche sei. Freilich mit dem Hinweise auf das „ Interesse '* des Pfarrers,
sich seinen zehntpflichtigen Grundbesitz zu erhalten, ist die Sache nicht erklärt.
2) A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands IV, 20 ff.
— 280 —
sind dabei auf ihr gegenseitiges Verhalten hin zu prüfen: Ortsflur,
politischer Gemeindebezirk und Kirchspiel müssen mit Augen, die im
rechtsgeschichtlichen wie geographischen Sehen geübt sind, in ihrer
Übereinstimmung und Verschiedenheit klar anschaulich aufgefafst wer-
den. Die Gemarkungsgrenzfrage ist nicht so „einfach", wie dies wohl
geglaubt worden ist; sie ist vielmehr ein höchst kompliziertes Problem,
das einmal mit allen Mitteln der Wissenschaft gründlich untersucht
werden mufe, wenn man in der Geschichte der deutschen Landge-
meinde zu klarer räumlicher Anschauung kommen, und ebenso, wenn
man moderne Gemarkungsgrenzkarten für eine Reihe von Aufgaben
der historischen Kartographie, insbesondere auch für andere Zwecke
als die Herstellung territorialgeschichtlicher Spezialatlanten , einwand-
frei verwerten will.
IL
Untersuchungen über das Verhältnis der Ortsfluren zu den Ge-
meindeselbstverwaltungsbezirken und den kleinsten Bezirken staatlicher
Verwaltung sowie den Kirchspielen, wie sie hier gewünscht worden
sind, können nur Landschaft für Landschaft geführt werden ; sie können
nur das Werk mehrerer Gelehrten sein, die die landesgeschichtlichen
Quellen soi^sam durchforschen. Im folgenden soll daher nicht eine
Lösung der Fragen angestrebt, vielmehr soll, nach fremden Forschungs-
ergebnissen wie aus eigenen Studien, nur einiges beigebracht werden,
um das aufgeworfene Problem möglichst deutlich zu bezeichnen.
Wertvolle Aufschlüsse für die hier behandelten Fragen liegen
heute bereits über die österreichischen Alpenländer vor. Für die
Zeiten vor dem abschliefsenden Eingreifen des Staates seit dem letzten
Drittel des XVIII. Jahrhunderts erinnere ich zunächst an Armin Tilles
Ausfuhrungen über den Vintschgau in Tirol *) , wo auch die Grund-
züge der Gemeindebildung, vom Mittelalter bis in die neueren Jahr-
hunderte hinein, behandelt sind. Den Grundstock der Gemeinden er-
blickt er in den Dorfsiedelui^en der Täler, in denen die Sonderwirt-
schaften der Höfe zu einem Wirtschaftsverbande zusammengeschlossen
waren. Mancherlei wirtschafUiche Momente haben dann auf den An-
schlufs einzelner Höfe an den Dorfgemeindeverband hingewirkt. In-
des „die zerstreuten Höfe inmitten ihrer Fluren behalten noch spät
eine wirtschaftliche Selbständigkeit, die sie in rein agrarischer Ent-
wickelung ohne Eingriffe des Staates wohl nie aufgegeben hätten."
Für die Anfänge der Einverleibung scheint ihm „die Zuweisung ge-
I ) Tille, Die bäuerliche WirUchafUverfassang des VinUchfans (Innsbruck i S95), S. 24 1 flf..
— 281 —
wisser Höfe an Gemeinden durch die Landesherrschaft zum Zwecke
der Landessteuererhebung'* am wesentlichsten zu sein. Auch auf
die Einwirkung der Gerichtsverbände sowie des Kirchenverbandes wird
hingewiesen.
Die Entwickelung der jüngsten Zeit vor Festlegung der gegenwärtigen
Gemarkungsgrenzen ist nun im Zusammenhange mit den Vorarbeiten für
den historischen Atlas der österreichischen Alpenländer vor kurzem be-
leuchtet worden *). Entscheidend für die Abgrenzung der gegenwärtig
in Österreich bestehenden Gemeinden in ihrem heutigen Umfang sind
eine Reihe von Regierungsmafsnahmen von den Zeiten Maria There-
sias bis zum Jahre 1849. ^^^ ^^^ Grundlage dazu ist durch die
Konskription von 1770 geschaffen worden; es sollte nämlich zu
ihrem Zwecke eine Häusemumerierung durchgeführt werden. Man
hat dabei in den Dorfgegenden an die bestehenden Ortschäften an-
geknüpft; in Gr^enden aber, wo Einzelhäuser neben Dörfern vor-
kommen, sollten, wie eine besondere Anordnung der Hofkanzlei be-
ssigt, diese den nächsten Dörfern zugezählt werden, während in Gegen-
den des reinen Hofsystems nach den Kirchspielen zu numerieren
sei. In Niederösterreich hat man dann freilich diese Vorschrift nicht
befolgt, sondern sich an die Ortschaften im topographischen Sinn
von Wohnstätten gehalten; wie man in den Alpenländem verfahren
ist, ist noch nicht festgestellt. In den Zeiten Josephs sind nun weiter
Steuergemeinden gebildet worden, wobei jetzt wirklich die Einzel-
siedelungen angegliedert oder zusammengeschlossen wurden, aber
auch, wenigstens in einzelnen Landesteilen, erhebliche Einbezirkungen
vorher nicht eingemeindeten Waldbodens stattgefunden haben. An diese
Steueigemeinden, sei es an die Hauptgemeinden, sei es an die Unter-
gemeinden, ist dann bei Anlage des sogen, franziskischen oder stabilen
Katasters seit 18 17, bezw. 1824 angeknüpft worden; damit sind die
gegenwärtigen Katastralgemeinden geschaffen worden. Die heutigen
politischen Ortsgemeinden sind erst 1849 entstanden, nach den Ka-
tastralgrenzen reguliert, doch so, dafs z. B. in Niederösterreich 4062
Ortschaften zu 3183 Katastralgemeinden, aber nur zu 1591 Orts-
gemeinden vereinigt sind; in Oberösterreich ist der Unterschied noch
beträchtlicher, während in Tirol und Vorarlberg die Katastral- und
i) Vgl. £. Richter ,yNeae Erörterungen znm historischen Atlas der österreichischen
Alpenländer", Mitt. d. Inst. f. österr. Gesch. VI, 858 ff. and besonders C. Giannoni,
„Znm historischen Atlas der österreichischen Alpenländer'', Blätter d. Ver. f. Landeskunde
von Niederösterreich 1899 (33) 475 ff. ; den.: „Der historische Atlas der österreichischen
Alpenländer und die Gmndkartenfnige ", Vierteljahreshefte f. d. geograph. Unterricht I, 17 ff*
— 282 —
Ortsgemeinden ziemlich identisch sind. Fragt man also nach dem
Verhältnis der gegenwärtigen Gemeinden der österreichischen Alpen-
länder zu den Ortschaften (Wirtschaftsgemeinden) der alten Zeit, so
ergibt sich, dafe die Bezirke der heutigen politischen Ortsgemeinden
ganz wesentlich von den alten Ortsgemarkungen abweichen, während
die Steuergemeinden jenen in viel höherem Grade nahe kommen und
sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dafe wenigstens
in den Gegenden der Dorfsiedelung die Abweichungen von den alt-
überlieferten nicht allzu grofe sind. Ob nun diese Gemeinden, wie sie
vor Einführung der Josephinischen Steuergemeinden bestanden, in den
früheren Zeiten stärkeren Wandlungen unterworfen gewesen sind oder
nicht, mufe vorderhand noch zweifelhaft bleiben.
Diese bisherigen Ermittelungen der österreichischen Forscher sind
gewifs aufserordentlich lehrreich. Sie zeigen deuüich, dafe man sich die
Gemeindegrenzverhältnisse noch im XVIII. Jahrhundert nicht unwesent-
lich anders vorzustellen hat, als in der Gegenwart. Ob freilich danun
die heutigen Grenzlinien selbst für historische Zwecke unbrauchbar
sind, scheint mir damit noch keineswegs ausgemacht zu sein; ich bin
sogar der Meinung, dafe die jetzt gering geschätzte „ Übersichtskarte der
Steuerbezirke und Katastralgemeinden in i : 1 15 2CX)** für andere Zwecke,
als die zur Zeit in Österreich verfolgten , noch wird nützlich sein können.
Nach diesem Hinweis auf die Forschungsergebnisse der österrei-
chischen Fachgenossen wende ich mich der Besprechung dieser Ver-
hältnisse im Reichsgebiet zu. Was bisher an Aufklärung über diese
Fragen geboten worden ist, ist spärlich genug, ich begnüge mich
in diesem Aufsatze, das aufjg^eworfene Problem an zwei Beispielen zu
erläutern. Ich wähle sie beide aus eigenen, schon länger betriebenen
Studien heraus : das eine für eine Gegend der Dorfeiedelung, für Ober-
sachsen, das andere für das Gebiet der Hof- und Weilersiedelung am
Niederrhein,
In Sachsen sind zwei Siedelungsgebietc zu scheiden: das höhere
Gebirge des Südens und das im Norden vorgelagerte Hügel- und
wellige Flachland. In beiden herrscht Wohnweise nach Dörfern. Im
Norden aber liegen kleine, geschlossene Dörfer dicht gedrängt nahe
beieinander, meist Rundlinge oder Strafsenzeüendörfer; schon von
slavischer Zeit her ist das Land fest besiedelt, und mit der deutschen
Kolonisation des XII. bis XIV. Jahrhunderts ward der Landesausbau
so gut wie vollendet. Die Besiedelung des Südens ist erst ein Werk
der Kolonisationszeit, fortgesetzt in den Zeiten aufblühenden Bergbaus
und der neuzeitlichen Industrie: hier dehnen sich grofee Dörfer, in
— 283 —
aufgelöstem Anbau lang hingestreckt, in den Bodenmulden ; und manche
Einzelsiedelung liegt seitab im tiefen Talgrund oder waldverloren.
Will man nun die Frage, wie sich Ortsflur und Gemeindeverwaltungs-
bezirk nach ihrer historischen Bedeutung zueinander verhalten, für das
Königreich Sachsen untersuchen, so ist man zur Zeit darauf an-
gewiesen, die Grundkarte zu Hilfe zu ziehen; gedruckte Karten mit
Gemarkungsgrenzen gibt es nur für ganz kleine Stücke des Landes,
die Benutzung des ungedruckten Materials ist beschwerlich. Diese
Grundkarte des Königreichs Sachsen bietet nun aber, wie H. Ermisch
in seinen „Erläuterungen" angibt*), nicht die Bezirke der politischen
Ortsgemeinden, sondern die Grundsteuerbezirke. Ich will da zunächst
erwähnen, dafs mir bei eingezogenen Erkundigungen der technische
Leiter der Karte, Vermessungsingenieur Ehnert in Dresden, sehr lehr-
reich ausführte, dafs die politischen Gemeindebezirke, d. h. die Bezirke
der Gemeindeselbstverwaltung und niederen Polizeiverwaltung , aus
technischen Gründen auf einer Karte in i : looooo überhaupt öfter
gar nicht darstellbar seien. Die Sache hat natürlich ihren tieferen
Grund und, wie sogleich nachzuweisen sein wird, ihre historische
Tragweite.
Auch hier in Sachsen ist, etwa zwei Jahrzehnte nach dem öster-
reichischen, ein „stabiles Kataster" angelegt worden. Nach Erlafs der
Verfassung (183 1) ging man an die Ausarbeitung eines neuen Grund-
steuersystems, für welches seit 1834*) eine Katasteraufnahme des
ganzen Landes mit Herstellung von Flurkarten durchgeführt wurde,
übrigens in einer Zeit, wo die heute noch nicht beendeten Zusammen-
legungen und Gemeinheitsteilungen seit dem Gesetze von 1832 eben
erst begonnen hatten. Diese in der Zeit bis zum Erlafs des Grund-
steuergesetzes von 1843') geschaffenen, „in sich geschlossene, zu-
sammenhängende Komplexe" bildenden Flurbezirke sind dann im
wesentlichen stabil geblieben, obschon es an Ausflurungen, namentlich
bei den Zusammenlegungen und den Veränderungen der Staatsforsten
nicht gefehlt hat. Von diesen Steuerfluren weichen nun die Land-
gemeindebezirke ab; und zwar vornehmlich aus folgendem Grunde.
Jene Flurbezirke schliefeen nämlich die Rittergüter mit wenig Aus-
i) Erläatemngen zur historisch-statistischen Gnindkarte fUr DeutscUHd (Königreich
Sachsen), S. 12 (Leipzig 1899). ^^r
2) Sammlung der Gesetze und Verordnungen fUr das
S. 325 f.
3) Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich S
Inng) 1843, ^^* ^* 103 f.
IS Königcicy
— 284 —
nahmen in sich ein ; nur eine geringe Zahl von Rittergutsbezirken sind
selbständige Grundsteuerbezirke, bei denen natürlich ebenfalls seit der
Katasteraufnahme im wesentlichen Stabilität besteht. Anders verhält
es sich bei den Landgemeindebezirken. Im Jahre 1838 ist in Sachsen
eine Landgemeindeordnung *) ergangen, in der die moderne politisofae
Ortsgemeinde geschaffen worden ist, wenn auch zunächst noch jeweils
unter der Ortsobrigkeit, welcher die Erbgerichtsbarkeit über die Ge-
meinde zustand. Es ward dabei bestimmt, dals die vorhandenen L.aiici-
gemeinden „mit ihren Flurbezirken", wie es hier heifst — aber nicht
im Sinne des Gesetzes von 1843 — fortbestehen sollten; weiterhin
aber ward die Beseitigung von Ex- und Enklaven und die Eingemein«
düng von Landgrundstücken, die bisher zu keinem Gemeindeverbande
gehört hatten, vorgeschrieben; ausgenommen sind davon: die Staats-
waldungen, die königlichen Schlösser und Kammergüter; die Ritter-
güter. Damit sind also die Gutsbezirke als etwas räumlich Selbständiges
neben den ländlichen politischen Ortsgemeindebezirken konstituiert,
und es sind schliefislich, nachdem die aus der alten Zeit stammenden
engen Beziehungen zwischen Rittergut imd Landgemeinde, die Patri-
monialgerichtsbarkeit, die ortsobrigkeitlichen Rechte, die gutsherrliche
Polizei beseitigt waren, mit der revidierten Landgemeindeordnung von
1873 die beiderlei Bezirke zu gleichberechtigt nebeneinanderstehenden
politischen Ortsbezirken geworden. Um dies Verhältnis zu veranschau-
lichen, sei erwähnt, da(s im Jahre 1884 neben 3 118 Landgemeinden
920 Rittergüter vorhanden waren, von denen 901 selbständige Guts-
bezirke bildeten *) ; dieses Verhältnis hat sich im Laufe des XDC Jahr-
hunderts nicht erheblich verschoben. Die Zahl der ländlichen Flur-
bezirke beträgt 3225, ausschliefslich der Kammergüter *).
Wie steht es nun mit der historischen Bedeutung dieser Bezirke ^
Zunächst sei betont, dafe die Wandlungen in dem Verhältnis zwischen
Gutsherrschaft und Landgemeinde während des XIX. Jahrhunderts nur
die politischen Ortsgemeindebezirke, nicht aber die Flurbezirke berührt
haben. Ähnliches gilt indes, wenn natürlich auch nicht absolut, auch
für die Vergangenheit; die Generalverordnung vom 7. Januar 1835,
betreffend die Aufnahme von Flurverzeichnissen, besagt, dafs sämtliche
in der Ortsflur gelegenen einzelnen Grundstücke aufzuzeichnen seien,
i) a. O. 1838, bc». S. 434 f.
2) Alphabetisches Verzeichnis der im Königreich Sachsen belegenen Stadt- und Lind»
gemeinden, bearbeitet vom Statist. Bureau, Dresden 1884; vgL dazu die Alphabetische
Übersicht sämtlicher Ortschaften des Königreichs Sachsen, Statist Jahrbnch 1902, S. i ff.
3) O. Sieber, in d. Zeitschrift d. statist. Boreans, 42, S. 221 ff.; 47, BeiL S. 2 ff.
— 285 —
insbesondere auch RiCter^ts-, geistliche und solche Grundstücke, welche
zwar der Ortsflur, nicht aber dem Gemeindeverbande angehören. Hier
sehen wir also das Bestreben, die Ortsfluren, wie sie vorgefunden
wurden, zu erhalten ; Abweichungen sind in der Hauptsache nur durch
Zuweisung strittiger Grundstücke (so auch Koppelhutungen) voi^enommen
worden.
Was nun die alteren Zeiten betrifll, so bietet sich für Sachsen
die Möglichkeit, die Frage der Beständigkeit der Ortsflui^renzen für
einige Jahrhundertc rückwärts an ganz vorzüglichem Material nachzu-
prüfen. E^ liegt dies daran, dafs in Kursachsen in den Zeiten Kur-
fürst Augusts und seiner Nachfolger bis in die ersten Jahrzehnte des
XVII. Jahrhunderts hinein eine ausgezeichnete Landesaufnahme be-
wirkt worden ist, wie sie für kein anderes deutsches Territorium aus
den ersten zwei Jahrhunderten der heimischen Kartographie vor-
handen ist, ansgefiihrt insbesondere von Matthias Oeder '}. Es
ist das Verdienst Mörtzschs (Dresden), die Bedeutung dieser Karten
für die Gemarkungsgrenzfrage erkannt zu haben. Ich habe dann auch
andere Karten jenes Zeitraums im Dresdener Hauptstaatsarchiv einge-
sehen, besonders auch Karten Balthasar Zimmermanns um 1620,
und bin zu folgendem Ergebnis gekommen. Dargestellt sind auf
jenen Karten des XVI.pCVII. Jahrhunderts Grenzen der Guts- (Gerichts-)
bcrrschaften und landesherrlichen Waldungen. In den nördlichen Teilen
des Landes, wo Dorfstedelung mit ganz kleinen Gemarkungen herrscht,
sind diese Gerichtsgrenzen in den Steuerflurgrenzen des XIX. Jahrhunderts
oft mit staunenswerter Treue erhalten. Das Dasein der Rittei^üter ist
hier kein Grund für erhebliche Umgestaltung der Ortsflurgrenzen, weil
überhaupt seit den Konstitutionen Kurfürst Augusts von 1572 die
bäuerlichen Besitzrechte gut geschützt waren und Eigen tumsschiebungen
zwischen Rittergntsland und Bauemland nicht notwendig eine Änderung
der Ortsfluigrcnzen nach sich zc^, jedenfalls aber die Gerichtsherr-
schaftsgrenzen in diesem Zeitraum nicht zu stören pflegte. Rittergut
und Dorf erscheinen in den Quellen der älteren Zeit als Ortseinheit,
und CS konnte die Einziehung von Bauemland zum Rittergutsacker
bei der bestehenden Flurverfassung und der Streulage kleiner Gerichts-
herrschafteo und landesherrhchen Amt(
doch nur innerhalb der eigenen Ortsch
siedelungen waren fast nur die Mühlen ;
1) M. Oeder, Die erste Landcsvermesinng
S. Rnge (Dresden 1889).
— 286 —
büchern und Steuerregistern des XVI. Jahrhunderts trotz g-ewisser
Sonderstellung neben der Nachbarschaft zum Dorf, d. h. zum Bereiche
der Ortsflur gerechnet *). Etwas anders steht es in den südlichen
gebirgigen Landesteilen, wo die grofsen Staatswaldungen und zahl-
reichere Einzelsiedelungen, Mühlen, Hämmer und verstreute Häuser
sich finden. Wo hier die grofsen Dorfgemeinden der Kolonisations-
zeit, die oft selbständige Dingstuhlbezirke bilden, aneinandergrenzen,
gUt ähnliches, wie für das nördliche Flachland; es lassen sich auch
Beispiele finden, so bei Augustusburg und Frankenberg im mittieren
Zschopaugebiet, wo ein buntes Durcheinander von Staatsforst, Kammer-
gut und Dorfmark seit dem frühen XVII. Jahrhundert in seinen Grenz-
verhältnissen sehr gut erhalten ist *). Aber die Neubesiedelung hat in
den höchsten Gegenden des Landes auch in den letzten Jahrhunderten
noch manche neue Ortsflur geschaffen und andere erweitert, und
Schiebungen der Grenzen zwischen Staatswald und eingeflurtem Gebiet
sind , bisweüen nicht unbeträchtlich , nachweisbar *) , wenn schon im
ganzen Lande die Menge der vorhandenen Staatswaldkomplexe seit
dem XVI. Jahrhundert recht beständig geblieben ist.
Alles in allem darf für Sachsen eine ziemlich grofee Dauerhaftig-
keit der Ortsflurgrenzen angenommen werden; insbesondere soweit
sie mit Gerichtsgrenzen zusammenfielen, was bei der räumlichen Ver-
breitung der Gutsherrschaften im Lande für sehr beträchtliche Weg-
strecken des Grenzverlaufs gilt. Das höhere Mafe historischer Be-
deutung und Verwertbarkeit kommt aber unter den in der Gegenwart
kartographisch aufnehmbaren Bezirken unzweifelhaft den Steuerfluren
zu; damit wird für Sachsen das für die Alpenländer vorläufig ge-
wonnene Ergebnis bestätigt. Als Grund erweist sich nun hier in
Sachsen nicht die gröfsere Dauerhaftigkeit der Steuerbezirke an sich,
sondern der Umstand, da(s die Steuerflur des XIX. Jahrhunderts
Ortschaftsflur ist, also das steuerfreie Rittergutsareal imd die zuge-
hörige Nachbarschafts- (Dorf-)flur der alten Zeit in sich zusammenschlielst.
Die bisherigen Ausführungen gelten für ein Gebiet, wo Dorf-
siedelung herrscht. Wir steht es nun mit dem Verhältnis von po-
litischem Gemeindebezirk und Ortsflur und ihrer historischen Bedeu-
i) Vgl. die Tabellen bei O. Hötxsch, Die wirtschaftliche und soziale Gliederung
vornehmlich der ländlichen Bevölkerung im Meifsnisch-Erzgebirgischen Kreise Knrsachsens
(Leipzig 1900); Haan, Bauer und Gutsherr in Kursachsen, S. 120 f.
2) Diese Behauptung stützt sich auf die Durchsicht von Karten des Dresdener Haupt-
Staatsarchivs.
3) z. B. b^i Altenberg und in der Nähe des Fichtelberges.
— 287 —
tung in Gegenden, wo Höfe und Weiler für sich oder untermischt mit
Dörfern zu Gemeinden zusammengeschlossen sind?
Ich wähle als Beispiel dafür das Herzogtum Berg am Niederrhein,
für das wir unsere Frage mit Hilfe gedruckten Materials bis ins
XVI. Jahrhundert zurück untersuchen können.
Haufen- und Strafsendörfer, Höfegruppen, auch Einzelhöfe liegen
über das Land in reichem Wechsel gestreut. Nahe am Rhein in einem
Streifen nördlich und südlich von Deutz, ist die enger geschlossene Ort-
schaft die Charakterform des Wohnplatzes; im bergigen Gelände des
Ostens und gegen Westfalen hin ist die Siedelungsweise stark aufgelöst.
Die endgültige völlige Aufteilung des Staatsgebiets in die aus
zahlreichen solchen Siedelungen zusammengesetzten politischen Orts-
gemeinden, wie sie die moderne Gemeindegrenzkarte zeigt, ist auch
hier erst eine Folge der Gemeindegesetzgebung des XIX. Jahrhunderts.
In der Gemeindeordnung von 1845 *) wird bestimmt, dafe alle die-
jenigen Orte (Städte, Dörfer, Weiler, Bauerschaften, Honnschaften,
Kirchspiele u. s. w.), welche für ihre Kommunalbedürfnisse einen
eigenen Haushalt haben, fortan eine Gemeinde bilden sollen, und es
wird weiter festgesetzt, da(s zum Gemeindebezirke alle innerhalb seiner
Grenzen gelegenen Grundstücke und alle Einwohner gehören imd die
einzeln gelegenen Besitzungen mit einer angrenzenden Gemeinde zu
vereinigen sind. Eine völlige Neugestaltung hat aber diese rechtliche
Bestimmung nicht bewirkt. Schon zuvor finden wir *) die kleineren
Wohnorte, Landhäuser, Rittersitze, WeUer, Höfe in der Bedeutimg von
einzelnen oder auch kleinen Gruppen bäuerlicher Anwesen, Bauern-
güter und wie sie sonst heifsen, als Zubehör von Dörfern, Kirch-
spielen, Gemeinden oder wie die altüberlieferte Bezeichnung lautete.
Die Bimtheit der Namen ward verwaltungsrechtlich beseitigt, wenn sie
auch im Volksmtmd vielfach noch fortlebt; gewife ward auch manche
Eingemeindung ausgeführt; die Abgrenzung der politischen Ortsge-
meinden mit dem neuen Gemeinderechte aber war im wesentlichen
schon vorgebildet.
Indes noch bevor der Gnmdsatz völliger Aufteilimg des Landes
nach Gemeindebezirken gesetzlich ausgesprochen war, ist eine andere
Bezirksgliederung durchgeführt worden. Nachdem im Rheinland schon
unter dem französischen Regiment eine Katasteraufnahme zur Regu-
lienmg der Grundsteuer begonnen worden war, hat die prcufsische
i) J. Weiske, Sammlung d. GtuL ges. S. 39 f.
2) F. V. Restorff, Topographisch-Statistische Beschreiba^^^ '^
Provinzen (Berlin und Stettin 1830). ^^^
■*■
— 288 —
Verwaltung- seit 1820 *) dies Werk fortgesetzt und den Grundbesitz in
Flurbüchern und auf Flurkarten verzeichnet, und zwar nicht in wilUnir-
licher Zusammenfassung der einzelnen Siedelungen, sondern Ortschaft für
Ortschaft im Anschlufs an die bestehenden Gemeindeverbände unter Ein-
beziehung bisher steuerfreien Besitzes; 1839, kurz vor Erla(s der Ge-
meindeordnung, ist dann das erste Grundsteueig'esetz ergangen. Es
wäre nicht gleichgültig, zu wissen, wie sich die Grundsteuerbezirke zu
den Bezirken der politischen Ortsgemeinden verhalten. In den bis-
herigen Erläuterungen zur historischen Kartographie der Rheinlande
hat die Frage keine Beachtung gefimden. Nur so viel ist zu ersehen,
dafs für die rheinischen Grundkarten besonders die Gemeindeübersichts-
karten der Katasterämter als Unterlage gedient haben *) ; auch sie be-
ruhen also auf einer Darstellung der Steuerfluren. Die Verschiedenheiten
der beiderlei Bezirke im Rheinlande vermag ich bei dem mir zur Ver-
fügung stehenden Material nicht völlig festzustellen. Abweichungen, die
durch Exemtion von den politischen Gemeinden bedingt sind, wie bei
den Gutsbezirken Sachsens, kommen hier nicht in Betracht. Hingegen
finden sich Unterschiede anderer Art. Es bestehen nämlich bisweilen
politische Gemeinden aus mehreren Ortsfluren der Katastralaufiiahme ;
und es entsprechen also diese — ähnlich wie in Österreich — den „ Nach-
barschaftsgemeinden " der alten Zeit besser, als die Verbände im Sinne
der Landgemeindeordnung *).
Wie verhalten sich nun aber die Ortsgemarkungen aus der Zeit
vor den Revolutionskriegen zu den politischen Gemeindebezirken der
neuesten Zeit? Zwischen den Mafsnahmen von 1845 ^^^ ^^™ ^^^*
gehenden XVIII. Jahrhundert liegt das Eingreifen der französischen
Verwaltung von 1806*). Von ihr wurden als unterste staatliche Ver-
waltungsbezirke die Mairien, im Oberbergischen in Anlehnung an die
Kirchspiele, geschaffen, die dann später, in dieser Gegend fast ohne
Grenzänderung, von der preufsischen Verwaltung als Bürgermeistereien
beibehalten worden sind ^). Das Verfahren war imgleichmäfsig. Zu-
i) Bergius, Ergänzungen zar Gesetz-Sammlang der Kgl Preofs Staaten, S. 63.
2) Erläuterungen zum Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz I, 6 ; II, Einleitung 25 f.
3) Z, B. enthält die Gemeinde „ Sicbenhonnschaften " bei Werden a. d. R. die f&nf
alten Bauerschaften (oder HonnschaAen) Holsterhausen, Heidhaosen, iGeio-Umstand, Hamm
und Fischlaken, die je besondere Ortsfluren bilden; zwei der eiost mit jenen ver-
bundenen, Rodberg und Hinsbeck, sind inzwischen zur Gemeinde Kupferdreb geschlagen,
aber als besondere Steuerfluren ebenfalls erhalten. Vgl. die Gemeinden Eckenhagen, £i-
torf, Geistingen, Stieldorf u. a. ; auch die Stadtgemeinde Düsseldorf.
4) Erläuterungen zum Gesch. Atlas I (C. Schult eis) S. 87.
5) a. a. O. S. 117, 168 f.
— 289 —
meist aber wurden mehrere Honnschaften, Bauerschaften oder Dörfer
zu emer Maine zusammenbeißt '). Für den Bestand und Umfang^
späterer Gemeinden ist dies Vorgehen nicht folgenlos geblieben ; eine
Zerreilsung der alten Verbände, wie z. B. stellenweise im Klevischen,
ist hier nicht festgestellt worden.
Versuchen wir nun weiter in die Zeiten vor dem Eingreifen der
französischen Verwaltung zurückzudringen. Hier bietet 'sich uns aus-
reichender Stoff zur Beurteilung der aufgeworfenen Frage in der von
W. Fabricius bearbeiteten Karte der Rheinlande von 1789 nebst
Elrläuterungen *), sowie in der Gerichtserkundigung für das Herzogtum
Berg von 1555 ^). Wir finden in diesen Jahrhunderten die einzelnen
Wohnorte des Landes schon zu Ortsverbänden zusammengeschlossen;
sie begegnen vor allem unter dem Namen der Honnschaften^). Was
ist nun deren Siedelungscharakter? In manchen Fällen sind sie Dörfer
im geographischen Sinne *) ; zumeist ist die Vereinigung einer Mehrheit
gesonderter Wohnplätze mit eigenem Zubehör an Grund tmd Boden
und wirtschaftlicher Selbständigkeit ihr Merkmal ; sie sind in dem oben
bezeichneten Sinne Hof- und Weiler oder Dorf- und Höfegemeinden.
Was aber den rechtlichen Charakter und ihre Bedeutung für die Ver-
waltung betrifil, so dürfen wir für jene Zeit die meisten als Nachbar-
schaften, die ihre inneren Angelegenheiten besorgen, oder als Teile von
Landgemeinden ansehen; doch treten sie uns vor allem als kleinste
räumliche Abteilungen innerhalb der Landgerichte entg^en ; auch be-
<liente sich ihrer die landesfürstliche Steuerverwaltung schon seit dem
i) Es gibt eine Vorstellang, wie man in der von ans oben bezeichneten Gegend
vorging, wenn erwähnt wird (bei Scbnlteis a. O. S. 87), dafs die 13 13 Gemeinden alter
Art im Grofsherzogtnm Berg za 286 Mairien zusammengefafst worden.
2) Geschichtlicher Atlas der Rheinprovins U (Bonn 1898).
3) Heraosg. von W. Harlefs, Z. d. Bergischen Gesch. Ver. XX, 117 ff. VgL dazu:
Rentbnch der KeUnerei Angermand 1634, heraosg. voo H. Ferber in den Beiträgen zor
Geschichte des Niederrheins, heraosg. vom Düsseldorfer Geschichtsverein V, 112 ff.; d.
Steoerboch des Haoptgerichts Kreotzberg 1734, a. O. VIl, 120 ff.
4) Vgl. Herm. Schütze, Bezirk ond Organisation der niederrheinischen Orts-
gemeinde mit besonderer Rücksicht aof das alte Herzogtom Berg (Marborg 1900, in den
Beiträgen zor Geschichte des Niederrheins, XV 182 ff).
5) Schütze betont S. 5 (ond sonst), dafs die H. in den weitaos meisten Fällen mit
der Dorfschaft räomlich zosammenfiel. Die Behaoptong läfst sich insofern rechtfertigfisu
als Dorf ond Dorfschaft nach dem geschichtlichen wie volkstümlichen Sprachge^^
die zosammengesetzte Ortschaft bedeoten kann. Aber das Charakteristische kc
nicht zo deotlichem Aosdrock. Entscheidend sind die Angaben „Dorf ond'"^
die Zosammensetzong aos zwei „ Dörfern <<, aber aoch die Fälle, wo eio^
I mehrere Honnschaften zerfallt.
1
— 290 —
späteren Mittelalter ^). Jedenfalls vermag der Honnschaftsbezirk
Orte (und seiner Flur) benachbarte Einzelsiedelungen mit einzuschliefisezu
Aufser den Honnschaften begegnen unter den GemeindeverbäiKien
der älteren Zeit noch die Bauerschaften und die Kirchspiele. Ehe
Bauer schaften entsprechen den Honnschaften ; mehrfisu:h wechselt die
eine Bezeichnung mit der anderen. Kirchspiel aber beg^net in zwei-
fächern Sinne. £inmal fällst es eine Mehrzahl von Honnschaften zusammeii ;
es entspricht also späteren Samtgemeinden und deckt sich mit der
Pfarrei. Aber vielfach bezeichnet es auch die einfache Gemeinde,
gleich der Honnschaft oder Bauerschaft; freilich auch in diesem Falle
besteht es oft aus einer gröiseren Zahl einzelner Wohnplätze. Das
Kirchspiel erweist sich so als wirksam für den Zusammenschluis zer-
streuter Einzelsiedelungen zu Gemeindeverbänden; es ist auch für die
Geschichte der Gemeindebildung weltlicher Art von Wichtigkeit.
Was läfst sich nun über die Bezirke dieser ländlichen Gemeinden
feststellen? Von 1555 — 1789 haben sie sich, soweit sich die Angaben
genau vergleichen lassen, nach Zahl und Namen nicht erheblich ge-
ändert. Ein Vergleich mit den Bezirken, wie sie die Grundkarte auf-
weist, zeigt, dais sie zu einem grofisen Teile in diesen sich wieder-
finden *) ; oft sind mehrere Honnschaften in einen Bezirk zusammen-
geschlossen, so namentlich auch; wenn sie schon früher in einem
Kirchspiel miteinander verbunden waren *); selten sind sie in zwei geteilt ;
es fehlt auch gelegentlich nicht an einer anderen Art des Zusammen-
schlusses, als sie früher bestand. War aber schon damals überhaupt
das ganze Land in Landgemeindebezirke au^eteilt? Besonders zweierlei
Ausnahmefälle sind wichtig : die markgenossenschaftlichen Waldungen *)
und die Edelleuthäuser ^) mit ihrem Zubehör an Grund und Boden;
sie sind nicht Teile des Gebiets, in dem die Gemeindeverwaltung für
eigene oder staatliche Zwecke geübt wird; auch die Mühlen können
eine Sonderstellung einnehmen. Das Bil.d der Gemeindegrenzverhältnisse
weicht also von dem der neuesten Zeit nicht unerheblich ab. Verlaufen
aber darum die Grenzen selbst, die wir heute finden, anders? In einzelnen
Fällen allerdings. Grö&ere Marken sind unter benachbarte Gemeinden auf-
geteilt worden (so die Geistinger Mark bei Siegburg). Aber die Mehr-
i) Ob sich die Bezirke für beiderlei Verwaltimg völlig decken, ist mit Rücksicht anf
die Einbeziehnng aUer Einzelwohnplätze nicht untersucht worden.
2) So bes. im Amt Angermund (Honnschaften), im Amt Miselche (Kirchspiele).
3) So im Amt Bomefeld.
4) Vgl. Lacomblet, Archiv fUr die Geschichte des Niederrheins III, 283 ff.
5) s. Rentbuch f. Amt Angermund 1634; a a. O. ; vgL auch v. Below, Territoriam.
und SUdt, S. 98 &, S. Ii6ff.
— 291 —
zahl der Marken lag innerhalb der Honnschaftsg-renzen ; und erst
recht gilt dies von den Edelsitzen: noch 1634 werden sie im Amt Anger-
mund unmittelbar unter den Gerichten aufgeführt, 1734 aber unter den
Honnschaften. Auch Fabricius stellt sie für 1789 zu bestimmten Ort-
schaften. Die heutige Gemarkungsgrenzkarte darf uns also nicht zu einer
irrig-en Vorstellung der Gemeindegrenzverhältnisse des XVI. bis XVIII.
Jahrhunderts verführen : deutlich müssen wir uns alle die mannigfaltigen
Siedelungen vergegenwärtigen und die nicht zu den damaligen Gemeinde-
verbänden gehörigen auszuscheiden suchen. Aber die Umgrenzung,
zumal soweit sie Gerichtsgrenze ist *), ist durch die Eingemeindung oft
gar nicht gestört worden, hat selbst dann ihre historische Bedeutung
und durfte mit Recht bei der Bearbeitung des Rheinischen Geschichts-
atlas Verwertung finden.
Die oben berührte Bedeutung des Kirchspiels ist nun keineswegs
eine Eigentümlichkeit der niederrheinischen Lande. Es ist schon er-
wähnt worden, dafs die kaiserliche Hofkanzlei in Wien in den Hof-
siedelungsgegenden der Alpenländer die Konskription nach Kirchspielen
anordnete. Ähnliches wie für den Niederrhein gut für grofee Teile
Westfalens. Auch hier ist die volle Eingemeindung erst spät, 1841 *),
angeordnet worden; Dörfer, Bauerschaften und Kirchspiele werden
dabei als Orte genannt, die künftig eine Gemeinde mit den Rechten
einer öffentlichen Korporation bilden sollten ; für landtagsfahige Ritter-
güter aber bestand kein Zwang der Eingemeindung, und auch in der
Landgemeindeordnung von 1856 wurde diese nicht ausnahmslos ver-
fügt. Es ist mir nun wenigstens möglich gewesen, für den R^erungs-
bezirk Münster*), soweit Grundkarten erschienen sind, die politischen
Gemeinden mit den älteren Bauerschaften aus der 2^it nach dem
Anfall an Preufsen und für den Kreis Lüdinghausen auch bis ins
XVII. Jahrhundert zurück zu vergleichen*); dabei hat sich heraus-
gestellt, dafis sie je ein Kirchdorf mit zugehörigen Bauerschaflen
sowie den adligen Häusern einschliefsen. Die neuen politischen Ge-
meindebezirke beruhen also hier, wenn vielleicht auch unter einzelnen
Grenzänderungen, auf den alten Kirchspielbezirken. Auch hier stellt
also die Gemeindegrenzkarte der Gegenwart nicht die Gemeind^rrenz-
i) Anch (ttr HoUand haben sich die Gerichtsgrenzen als bes. dauerhaft gezeigt
2) J. Weiske, Sammlung der Gemeind^eaetze, S. 11.
3) Nach einer auf offiziellen Quellen beruhenden Privatarbeit des Königl. Prenfs.
Kriegsrats und Regierungssekretärs C O. Sigismund, Versuch einer topographisch-
ststisüschen Darstellung des Bezirks Münster (Hamm 18 19).
4) s. bes. Schwieters, Nachrichten über den östl. Teil des Kr. LttdinghanMA:
desgL über den westL die Bauernhöfe des östl. Teils (Münster 1886 ff.).
21*
^
— 292 —
Verhältnisse der alten Zeit dar ; diese sind sogar ganz erheblich andere ;
und dennoch haben die Grenzlinien ihre historische Bedeutung, sog-ar
bis in hohes Alter hinauf.
In Oldenburg, dies sei beiläufig erwähnt '), geht die gegenwärtig-e
Einteilung des platten Landes ebenfalls auf die alten Kirchspiele zurück,
die je eine Anzahl von Bauerschaften vereinigten. 1831 sind dort die
politischen Gemeinden geschaffen worden, indem man die Kirchspiels-
grenzen in der Hauptsache beibehielt; vorbereitet war diese Neu-
ordnung dadurch, da(s schon 1786 im Herzogtum die Verwaltung des
Armenwesens innerhalb der Kirchspielsbezirke organisiert worden war.
Auch in der holsteinischen Landschaft Ditmarschen ') sind als Ge-
meinden im Sinne der Landgemeindeordnung für Schleswig-Holstein
die alten, in ihrer Begrenzung belassenen Kirchspiele anerkannt, die,
aus mehreren Bauer- und Dorfschaften gebildet, schon seit dem
XVL Jahrhundert Gemeindeverwaltungsbezirke waren.
Die Geschichte der ländlichen Gemeindebildung im Hinblick auf
die einzelnen menschlichen Siedelungen, deren Zusammenschlufs zu
Gemeindeverbänden und die dabei wirksamen natürlichen und wirt-
schaftlichen , politischen und sozialen Ursachen aufzuhellen und dabei
das gegenseitige Verhältnis von Ortsflur, politischem Gemeindebezirk
und Kirchspiel nachzuprüfen ist, wie in dem Aufsatze dargetan wurde,
eine wichtige und noch ihrer Lösung harrende Aufgabe historischer
Untersuchung. Insbesondere aber gilt es, zunächst einmal die
Tätigkeit der Staatsgewalt des XVIIL und XIX. Jahrhun-
derts zur Entstehung der Gemeindebezirke der Gegenwart
und so deren Verhältnis zu denen der Nachbarschaftsge-
meinden älterer Zeit klarzulegen. Möge es an Beiträgen
landes- und heimatsgeschichtlicher Forscher zurFörde-
rung dieses Problems nicht fehlen!
Soweit die bisherigen Ermittelungen ein Urteil erlauben, lädst sich
etwa das Folgende sagen. Die Gemeindegrenzverhältnisse jener Zeiten,
bevor die neuere Staatsgewalt die volle Aufteilung des staatlichen
Bodens nach Gemeindebezirken bewirkte, weichen, soweit es sich um
Bezirke für die Ausübung von Gemeindeverwaltungstätigkeit handelt,
von denen der Gegenwart nicht unerheblich ab. Wir würden irren,
wollten wir jene uns nach einer modernen Gemarkungskarte mit dem
i) S. darüber P. Kollmann, StatUtitche Beschreibung der Gemeinden des Herzogtums
Oldenburg (Oldenburg 1897), S. 6 and 12 ff..
2) P. Schom, Das Recht der KommonaWerbftnde in Prenfsen, S. 359 (Leipzig 1897).
— 293 —
Vorbehalt einiger unerheblicher Grenzschiebungen vorstellen ; viel
mannigfaltiger sind sie gewesen, bisweilen so sehr, dafs dies bunte
Liniengewirr auf einer Karte in i : looooo gar nicht recht darstellbar
ist. Darum sind aber die Grenzlinien selbst, wie sie die modernen
Karten zeigen, noch nicht historisch bedeutungslos. Diese umrahmen
^geschlossene Bezirke ; sie schliefsen manche Siedelung ein, die vordem
der Gemeindeselbstverwaltung oder der staatlichen Venvaltimg mit
Hilfe der ländlichen Gemeinden noch nicht unterstand. Aber Grenz-
linien liefen doch dort, freilich nicht in allen Ausbiegungen, auch früher
schon annähernd so, wie heute ; zumal, wo sie mit Gerichtsgrenzen zu-
sammenfielen, scheinen sie gut erhalten geblieben zu sein. Insbesondere
erweisen sich in diesem Sinne die Grenzen der Flurbezirke, wie sie die
Katasterkarten des XIX. Jahrhunderts darstellen, in Gegenden der Hof-
siedelung aber die Kirchspielgrenzen als historisch bedeutsam. Die Unter-
scheidung verschiedenartiger Bezirke fuhrt so zu der Auffassung einer
relativ gröfseren Dauerhaftigkeit der richtig ausgewählten, gerade wie
die Untersuchung der Gemarkungsgrenzen für je eine Landschaft eine
Minderung der Grenzänderungsmöglichkeiten im Vergleich mit den
allgemein für Deutschland in Betracht kommenden eigibt.
Es ist eingangs darauf hingewiesen worden, dafs die Fragen nach der
Geschichte der Gemeindegebiete und ihrer Grenzen für die Lösung groüser
Aufgaben der historischen Kartographie Deutschlands von grundlegender
Bedeutung sind. Gerade in einem scharfen Meinungsstreit über diese ist die
„Gemarkungsgrenzfrage" aufgerollt worden.
Wie bekannt, hat bei der Ausbreitung des Unternehmens auf Herstellung
von Grundkarten im deutschen Reichsgebiet die Vorstellung mitgewirkt, dafs
eme relativ geringe Veränderlichkeit der Gemarkungsgrenzen seit den spät-
mittelalterlichen Jahrhunderten, d. h. seit Vollendung des Landesausbaus, an-
genommen werden dürfte. Kräftigen Widerspruch aber fand diese Auffassung,
als im März 1900 G. Seeliger seine „Kritischen Betrachtungen" über die
historischen Grundkarten ^) veröffentlichte und nachzuweisen suchte, dafs Vor-
gänge der verschiedensten Art, Wandelungen in dem örtlichen Verhältnis
bäuerlichen, herrschaftlichen und domanialen Grundeigentums, die Gemeinheits-
teilungen und Zusammenlegungen, Servitutablösungen, Mafsnahmen der Landes-
melioration tmd Kolonisation, die Forstpolitik und endlich die Eingemeindungen
des XIX. Jahrhunderts fortgesetzt und nachhaltig die Ortsfluren bis in die
neuesten Zeiten hinein verändert haben; mit aller Entschiedenheit glaubte
Seeliger dagegen Einspruch erheben zu sollen, dafs die historische Karto-
graphie durch moderne Vorstellungen in irrige Bahnen gelenkt würde. Es
hat natürlich an W^iderspmch gegen seine Ausführungen nicht gefehlt: von
i) Die bist Grandkarten, Beilage zur Münchener Allg. Zeitang 1900, Nr. 52—53;
dazu Nr. 123. — Zostimmnng fand S. besonders bei den österreichischen Forschem,
£ Richter and Giannoni; s. oben S. 281 Anm. 1.
— 2i*4 —
Thudichum'), der Schöpfer der Grundkaitenplans, und besonders entschietk
Wolfram auf der Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- ib
Altertiunsvereine zu Freiburg (1901)') haben sich gegen ihn gewandt; ^
auch Fabricius, der Bearbeiter der Karte von 1789 des Geschichdiches A:
las der Rheinprovinz, bei deren Ausführung Grundkarten verwendet wonk
sind, hat zwar das Vorkommen von Grenzveränderungen bestätigt, aber cb:
den Gemarkungsgrenzen der Gegenwart eine bedingte Verwendbarkeit t
die historische Kartographie zugeschrieben % Meines Erachtens haben r^
diese Gelehrten mit vollem Recht ausgeführt, dafs Seeliger den praktischt
Wert der Grundkarten unterschätzt hat. Aber in der Gemarkungsgrenzfea;
steht doch die Sache so, dafs die Annahme grofser Beständigkeit der Ge
markungsgrenzen ohne besonderen Beweis für die einzelnen deotscfec
Landschaften nicht mehr als zulässig anzusehen ist Hierin haben Sedige:
Darlegungen allerdings klärend gewirkt; wer künftighin die Gnindkaiten e:
wandfrei benutzen will, wird sich mit dem aufgeworfenen Problem grna^
lieber beschäftigen müssen, als dies früher notwendig zu sein schien, er
dieses Seeliger gebührende Verdienst soll und darf voll anerkannt werden« gerat-
auch wenn man den Schlufs auf Unbrauchbarkeit der Grundkarten nicht zkk
Was folgt nun aus den obigen Ausführungen für die Beurteilung dr
Grundkarten? Richtet man scharf sein Augenmerk auf das Verhältnis n
Siedelung tmd Gemeinde, strebt man danach, sich Ortsflur, politischeo Qt
meindebezirk und Kirchspiel in ihren gegenseitigen Beziehungen klar t
machen, so wird man davor bewahrt sein, allzu rasch anzunehmen, dais Gr
meindebezirke verschiedenen Charakters und verschiedener Zeiten sich decks
man wird dazu angeleitet, die wirkliche historische Bedeutung der Grenzet
die die Grundkarte bietet, zu imtersuchen, zu überlegen, wo GrenzrcrlDdf
Hingen möglich oder wahrscheinlich sind. Man gewinnt mit der in diese:
Aufsatz behandelten begrifflichen Scheidung eine Handhabe zu kritischer B^
nutzung der Grundkarten. Eine Minderung der Wertschätzung von Gnac-
karten an sich, der praktischen Dienste, die sie leisten können, darf abt
daraus nicht gefolgert werden. Das Grundkartenuntemehmen hat den Anstoß
zur Untersuchung all dieser Fragen nach dem räumlichen Untergrund dr
ländlichen Gemeindeeinrichtungen, den Gemeindebezirken und ihren Gremei. '
gegeben; die Grundkarten sind ein vorzügliches und unentbehrliches Hi& '
mittel für alle Untersuchungen dieser Art. Die Zeichnung eines Netzes der
älteren Gemeindegrenzen vor den kartographischen Landesaufnahmen d&
XDC. Jahrhunderts ist nach dem Quellenbefund eine Unmöglichkeit; 6g
Historiker sieht sich, wie nun einmal die Entwickelung der deutschen ELaito-
graphie verlaufen ist, zur Benutzung neuester Gemarkungsgrenzkarten gezwungen
Die Klärung der Gemarkungsgrenzfrage ist demnach wohl unerläfsliche Vorans-
setzung für die methodische Verwertung der Grundkarten ; deren Bauchbarkei:
für ausgewählte Zwecke aber bleibt bestehen.
Auch die Erfahrungen der österreichischen Forscher beweisen dagegen
nichts Durchschlagendes. Naturgrenzen sind in weiten TeUen des Reichs-
i) Beilage zur AUg. Zeitong 1900, Nr. 74.
2) Korr. Bl. d. Ges. Ver. 1902, Nr. 2 (Febr.).
3) Korr. Bl. der WestdeuUchen Zeitschrift XIX (1900), Nr. 77 (283 ff.) ; s. auch die
Bemerkungen H. Forsts, a. a. O. XX (1901), Nr. 84 (175 f.).
— 295 —
gebietes nicht von so markanter Bedeutung wie in den Alpenländem; genaue
Grenzbeschreibungen von Landgerichten und Ämtern, wie sie A. Meli für
seine Forschungen über Steiermark benutzt hat, stehen hier viel seltener zur
Verfügung, in Obersachsen z. B. fehlen sie so gut wie ganz; vor allem aber
stellt die Gemengelage politischer Bildungen tmd Gerichtsherrschaften den
historischen Kartographen im Reiche vor ganz andere Aufgaben , als den
österreichischen Fachgenossen. Die moderne Gemarkungsgrenze ist für die
historische Kartographie des Reiches von ungleich gröfserer Bedeutung, als
sie dies für die Alpenländer sein mag. Die Bearbeitung der geschichtlichen
Karten des Rheinlandes hat sich, wie Fabricius darlegt, bei dem Quellen-
befund zu einem Zusammensetzen der darzustellenden Bezirke aus den Dorf-
und Gutsgemarkungen gestaltet Der historische Atlas Kursachsens wird so
zu bearbeiten sein, daüs die Bezirke der Ämter imter Benutzung der noch
im Beginne des XIX. Jahrhunderts erhaltenen Amtsgrenzen aus den zu-
gehörigen landesherrlichen Wäldern und Ortsgemarkungen zusanunengesetzt
werden. Ähnliches gilt für die Mark Brandenburg und auch für andere
deutsche Territorien.
Die historische Kartographie Deutschlands bedarf möglichst kleiner, in
enger Beziehimg zu den Ortschaften stehender Bodenabschnitte, in die
das Staatsgebiet au%eteilt ist. Diese bieten sich in den „Ortsgemar-
kungen'' des XIX. Jahrhunderts, richtig ausgewählt und im geographischen
Sinne verstanden. So sind sie schon von älteren Gelehrten, von L. Ewald
für Hessen 1862, von Boeckh und Kiepert für Elsafs-Lothringen 1870, von
Rau und Ritter für die Pfalz 187 1 verwendet worden, so haben sie sich als
brauchbare Grundlage des „Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz'' er-
wiesen; so werden sie auch in der handlichen und bequemen Darbietung
auf Thudichums Grundkarten für mancherlei historische Aufgaben nützlich
sein. Es ist ein Stück vom Wesen historischer Kartographie, die Errungen-
schaften des jüngsten Zeitalters geodätischer Messungen und giaphischer
Reproduktionskunst für die bildliche Darstellung der Erdräume in geschicht-
lichen Zeiten fruchtbar zu machen; dafür, dafs dies wissenschaMich eio-
wandsfrei geschieht, mufs die Durchbildung der Methode sorgen.
Aus pommersehen Stadtarchiven
Von
Georg Winter (Osnabrück)
(Schlafs) »)
Weit hervorragender und g-egenwärtig eine der betriebsamsten
und verkehrsreichsten emporblühenden Städte des pommersehen Hmter-
landes ist Stolp und der mit ihr in Verbindung stehende Hafen Stolpmünde
(jetzt auch Seebad), Dafs die Stadt, welche auch für die älteste Ge-
schichte Hinterpommerns von grofser Bedeutung ist, ein sehr betraf»**^
i) Vgl. oben S. 249—261.
— 296 —
liebes Archiv besafs, war in Forscherkreisen ebenso bekannt wie dl^
Tatsache, dals dasselbe für die Forschungf so gut wie unbenutzbar war.
Von den Urkunden war ein grofser Teil der wichtigsten infolge
der Aufbewahrung in völlig ungenügenden und feuchten Räumen von
Moder so zerfressen und geschädigt, dafs ihre fernere Erhaltung- nur
mit Anwendung aller Mittel archivalischer und chemischer Technik ge-
lungen ist; bei einigen versagten auch diese. Noch schlimmer stand
es mit den Akten und der geradezu unschätzbaren Sammlung von
Ratsprotokollen und Stadtrechnungen, die hier in seltener Fülle und
Vollständigkeit vom XV. Jahrhundert bis zur Neuzeit erhalten sind.
Alle diese Schätze lagen in Bretterverschlägen auf dem Boden, ein
grofser Teil der Rechnungen war von Moder so zerfressen, dafe er bei
der Berührung sofort auseinanderfiel. Trotzdem stellt auch der Rest^
den es durch die Deponierung im Staatsarchive zu erhalten gelang,
eine der erfreulichsten Bereicherungen unseres landesgeschichtlichen
Quellenmaterials dar und wird als solche von den Forschem jetzt ge-
schätzt und vielfach benutzt.
In ihrem Vorrat an erhaltenen Originalurkunden zwar steht die
Stadt Stolp hinter ihrer kleineren Nachbarstadt Schlawe imd noch
mehr hinter Treptow a. R, zurück. Die Zahl derselben beträgt nur
89, deren älteste von 1277 ist; 14 Urkunden entstammen dem XIV.,
33 dem XV., die übrigen dem XVI. bis XVIII. Jahrhundert. Über
diese ist nunmehr im Staatsarchive ein eingehendes Repertorium auf-
gestellt. Weit reicher aber als in allen anderen hinterpommerschen
Städten rechts der Oder ist Stolp an Handschriften und Akten, so vor
allem auch an Stadt- und Bürgerbüchern. Das älteste erhaltene Stadt-
buch ist im XV. Jahrhundert angelegt und bis ins XVI. weitergeführt;
erhalten sind 16 Blätter Pergament in Folio, auf deren erstem eine
gleichzeitige historische Notiz über eine Reise steht, welche die Her-
zogin Sophie im Jahre 1476 mit ihrem Sohne Bogislaw X. nach Polen
und Preufsen gemacht hat und auf welcher Stolp berührt wurde; das
zweite erhaltene Bürgerbuch ist im XVIII. Jahrhundert angelegt und
bis ins XIX. fortgeführt. Aufserdem sind noch mehrere Ackerbürger-
Bücher, mehrere Verzeichnisse sämtlicher lebenden Bürger aus dem
XVIII. und XIX. Jahrhundert, ein Bürgerinnenbuch, ein Eidbuch, ein
Eid- und Zunftbuch der Brauergilde u. a. m. erhalten. Unter dem
sehr reichhaltigen Aktenarchive, welches gleich den Urkunden im
Staatsarchive deponiert und eingehend repertorisiert ist , stehen
namentlich zwei Gruppen in ihrer Fülle und Vollständigkeit in Pom-
mern nahezu unerreicht da: die Sammlung der Ratsprotokolle und
— 297 —
die Stadtrechnungen der mannigfachsten Art. Die Ratsprotokolle,
aus denen allein schon sich eine Geschichte der städtischen Verwal-
tung in allen wesentlichen Hauptsachen gewinnen läfst, beginnen mit
dem Jahre 1550 und reichen in mehr als 100 zum Teil sehr starken
Bänden in fast ununterbrochener Folge bis ins XIX. Jahrhundert
hinein ; von den Rechnungen aber, die mit dem XV. Jahrhundert be-
ginnen, sind an Kämmereirechnungen, Etats, Hospital-, Armenkasten
imd Kirchenrechnungen, Rechnungen über den Stolpmünder Hafen,
Listen über die ein- und ausgelaufenen Schiffe u. s. w. , mehrere
hundert Bände vorhanden, die ein geradezu unschätzbares kultur-
geschichtliches Material nicht allein für die Geschichte der Stadt,
sondern auch für die des umliegenden platten Landes und des auf
demselben begüterten Adels enthalten^ der in den mannigfachsten
freundlichen und* feindlichen Beziehungen zur Stadt gestanden hat.
Hier harrt in der Tat ein überaus reiches und noch völlig jungfräu-
liches Material der Hand des kundigen Forschers. Dazu kommen
dann noch tausende von Aktenstücken der inneren und der Finanz-
verwaltung, sowie von Akten aus der französischen Kriegszeit.
*
Damit ist die Zahl der hinterpommerschen Städte, welche ihre Be-
deutung ihrer Lage in der Nähe der See und ihrer mehr oder minder
groCsen Teilnahme am Seehandel und Verkehr verdanken, erschöpft.
Die übrigen mehr im Binnenlande liegenden Städte zeigen einen weit
mehr stationären Charakter und stehen zumeist in Vei^angenheit und
Gegenwart an Bedeutung hinter den bisher besprochenen zurück.
Immerhin haben mehrere von ihnen früher hin und wieder eine her-
vorragendere Rolle gespielt als gegenwärtig. Wir dürfen und müssen
uns in bezug auf sie noch mehr als bisher auf die Hervorhebung der
Hauptpunkte und auf kurze Angaben über ihre Archive beschränken.
Ich beginne diesen kurzen Überblick mit den beiden oberhalb
Stettins beinahe genau einander gegoiüberliegenden Oderstädten, welche
zwar stets durch Stettin stark in den Hintergrund gedrängt wurden,
aber doch für die Geschichte des Oderhandels nicht ohne Bedeutung
sind, aufserdem aber infolge ihrer die Oderstrafse beherrschen-
den Lage in den Grenzkriegen zwischen Brandenburg und Pommern
und später noch in den Kämpfen des Dreifsigjährigen Krieges strategisch
eine gewisse RoUe gespielt haben, Gartz und Greifenhagen. Beide ge-
hören zu den ältesten städtischen Gründungen und reichen daher au'
in ihren archivalischen Nachrichten ziemlich weit zurück. Da^
Städtchen Gartz mit seinen heute kaum 5000 Einwohnern bep
— 298 —
hin einen Urkundenvorrat von 20 Originalen, deren ältestes dem Jalire
1249 entstammt, und die dann noch durch eine sehr wertvolle Original-
matrikel ergänzt werden, welche, lange Zeit von der Forschimg'
schmerzlich vermifst, jetzt von mir in Gartz aufgefunden worden und
gleich den Urkunden im Staatsarchive deponiert ist. Ein genaues
Repertorium mit Orts- und Personenregister erleichtert dem Forscher
jetzt die Benutzung. Zur Deponierung der, übrigens recht gut auf-
bewahrten und geordneten Akten hat sich die Stadt bisher nicht zu
entschliefsen vermocht.
Sehr erheblich bedeutender ist das Archiv der benachbarten, auf
dem anderen (rechten) Oderufer belegenen Stadt Greifenhagen, welches,
da die Stadt, abweichend von allen anderen Städten, sich zur Errich-
tung eines feuersicheren Archivgewölbes entschlofs, an Ort und Stelle
belassen werden konnte, nachdem ich in den im wirrsten Chaos um-
herliegenden Akten wenigstens eioigermafsen Ordnung geschaffen hatte.
Die Stadt besitzt jetzt noch nicht weniger als 85 Original-Peig^ament-
urkunden; leider fehlt unter denselben gerade die älteste von 1254,
welche noch im Jahre 1879 vorhanden war. Die noch vorhandenen
sind jetzt leidlich aufbewahrt, einige sogar auch mit Regestenzetteln
versehen. Aufserdem besitzt die Stadt ein sehr interessantes und gut
erhaltenes Schöffenbuch, welches im Jahre 15 13 angelegt und dann
weitergeführt worden ist. Femer fand sich noch ein 1724 aufgenom-
menes Katastrum und, ein in den pommerschen Städten seltener Fall,
ein im Jahre 1753 hergestelltes Repertorium der Registratur, welches
über die älteren Aktenbestände des Archivs ganz gute Auskunft gibt,
zugleich freilich zeigt, wieviel seit der Anlegung des Repertoriums
verloren gegangen ist. Immerhin ist auch der erhaltene Bestand noch
reichhaltig genug, um die Geschichte der Stadt in den Hauptpunkten
erkennen zu lassen.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch kurz das noch ein
wenig weiter Oder aufwärts, dicht an der Grenze der Mark gel^ene,
schon im XII. Jahrhundert vorkommende Städtchen Piddichow, das
zeitweilig mit Brandenburg streitig war und vorübergehend zur Hälfte
diesem gehört hat. Die 1 1 hier noch vorhandenen Originalurkunden,
deren älteste von 1347 ist, sind im Staatsarchive deponiert, repertori-
siert und mit Orts- und Personenregister versehen.
Von dem Archiv der ebenfialls sehr alten, Stettin gegenüber auf
dem rechten Oderufer an dem nach ihr benannten See gelegenen
Stadt Altdamm haben sich leider nur sehr spärliche Reste erhalten,
da bei einem Brande, der die Stadt im Jahre 1592 heimsuchte, alle
— 299 —
älteren Archivalien, namentlich aber sämtliche Urkunden verbrannt
sind, so dals man in bezug auf die ältere urkundliche Geschichte der
Stadt im wesentlichen auf die Urkunden von Stettin, welches in nahem
geschichtlichem Zusammenhange mit Altdamm stand, angewiesen ist.
Über die seit jenem Brande entstandenen Akten war zwar im Jahre
1832 ein Repertorium aufgestellt worden, allein die Akten selbst waren
durch Vernachlässigung und zahlreiche Kassierungen so fragmentarisch
erhalten, dafs nur noch dürftige Reste zu der tmter diesen Umständen
dringend wünschenswerten Deponierung im Staatsarchive ausgewählt
werden konnten. Der wichtigste Bestand dürfte unter denselben in
den Kämmereirechnimgen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts zu
suchen sein.
Weit vollständiger erhalten ist das Archiv der benachbarten, an
dem Ihnailüfschen gelegenen Stadt GoUnow, welche ebenfalls im
Mittelalter zum Hansabunde gehörte. Im allgemeinen befand sich
hier das Archiv in leidlicher Ordnung. Die Urkunden waren vor-
trefflich in sauber und praktisch hergestellten Pappkästen untergebracht,
welche ihrerseits wieder in einem gut verschlossenen Kasten lagen.
Hier machte sich überall bemerkbar, dafs der verstorbene Staats-
archivar V. Medem sich des Archivs angenommen hatte: von ihm
stammen auch die Aufschriften der Urkunden. Ein Grund, auf De-
ponierung zu dringen, lag also hier nicht vor; mit um so gröiserer
Freude mufs es begrüfst werden, dafs sich die Stadt in richtiger Er-
kenntnis der dadurch ermöglichten leichteren Zugänglichkeit gleichwohl
zu dieser Ma®el entschlofs. Urkunden und Akten befinden sich
jetzt im Staatsarchive. Über die ersteren, 36 an Zahl, deren älteste,
die Gründungsurkunde der Stadt, von 1268 stammt, ist ein eingehendes
Repertorium nebst Register angestellt, welches aufser der Gründungs-
urkunde 10 Urkunden aus dem XIV., 6 aus dem XV., 9 aus dem
XVI., 8 aus dem XVII. und 2 aus dem XVIII. Jahrhundert aufweist.
Unter den Akten verdient ein Band Privil^enbestätigungen Hervor-
hebtmg, femer ein die St. Katharinenkirche betreffender Pappband
mit Urkundenabschriften von 1334 an, ein Kopialbuch von 1649, ver-
schiedene Stadt- und Bürgerbücher u. s. w. Daneben fanden sich die
überall vorhandenen Verwaltungs-, Finanz-, Schul- und Kirchen-, Jagd-
und Fischereiakten in ziemlich grofeer Menge, die ältestexx hiR ins
XVI. Jahrhundert zurückreichend.
Ein sehr umfangreicher Aktenbestand, der jetzt im ■
deponiert ist, hat sich in Beigard erhalten, während
dort gar nicht vorhanden, wohl aber eine Re*
— 300 —
abschriften in den älteren Akten enthalten sind. Über die ältexe^
Registratur bis 1809 existiert noch das alte, am Anfange des XIX. Jalir-
hunderts angelegte, recht gute Repertorium, nach welchem dieselbe
im Staatsarchive rekonstruiert werden konnte, wobei sich natürlich eine
grofee Zahl der im Repertorium enthaltenen Bestände als fehlend
herausstellte. Immerhin ist auch das Erhaltene noch umfangreich und
wichtig genug. Die Bestände (lillen mehrere Rcpositorien im Depo-
sitensaale des neuen Archivgebäudes. Unter den Generalia und
Miscellanea befinden sich mehrere Bände mit Abschriften von Pri-
vilegien und Statuten der Stadt; die Akten selbst reichen in vielen
Abteilungen bis ins XVI. Jahrhundert zurück. Auch eine Anzahl von
Ratsprotokollen, an Fülle freilich den Stolpern nicht entfernt vergleich-
bar, ist noch vorhanden. Von grofsem Interesse sind auch die über
die Kirchen und ihre Geistlichen erhaltenen Akten. Neben dieser
älteren Registratur, die, soweit sie noch vorhanden ist, in vollem Um-
fange an das Staatsarchiv gelangt ist, hat die Stadt auch die älteren
Akten der noch laufenden Registratur, welche für Verwaltungszwecke
nicht mehr gebraucht wird, deponiert. Sie sind als „Neue Registratur*'
aufgestellt und in einem 19 Titel umfassenden Repertorium verzeichnet
Sehr viel schlimmer steht es mit dem Archiv der Stadt Greifen-
berg. Hier liegt der leider oft beobachtete Fall vor, dafe ein grofeer
TeU des früher dort vorhandenen historischen Materials offenbar durch
die Fahrlässigkeit eines Lokalforschers verloren gegangen ist Fast
alle diejenigen Akten, welche Riemann in seiner Geschichte Greifen-
bergs in der Vorrede und in dem angehängten „wissenschaftlichen
Nachweis" als aus dem Stadtarchive stammend aufzählt, sind nicht
mehr vorhanden und nach den Versicherungen der städtischen Beamten
eben durch Riemann verloren worden. Leider haben sie sich auch
nach dessen Tode in seinem Nachlasse, in welchem die Stadt danach
suchen liefs, nicht gefunden. Die Originalurkunden sind gar schon
seit Mitte des vorigen Jahrhunderts sämtlich verschwunden. So konnten
hier nur dürftige Fragmente der reponierten Registratur, welche, übrigens
in leidlicher Ordnung, auf einer Dachkammer untergebracht war, ins
Staatsarchiv zur Deponierung übergeführt werden.
In Preienwalde fanden sich von den drei Originalurkunden, welche
dort 1879 noch vorhanden gewesen waren, nur noch zwei, eine von
1338 (die Gründungsurkunde) und eine von 1455 ^o^- Diese wie das
alte Stadtbuch und die wichtigsten Teile der reponierten Registratur
sind von mir ins Staatsarchiv übergeführt worden. Von der letzteren
verdienen namentlich eine Reihe bis ins XVI. Jahrhundert zurück-
— 301 —
reichender Akten über das Sankt-Georgs-Spital und eine grofse Anzahl
alter Kämmereirechnungen Erwähnung.
Ebenso dürftig war die Ausbeute in dem benachbarten kleinen
Städtchen Wangerin. Urkunden waren hier nicht vorhanden, dagegen
eine ziemlich grofse Anzahl von allerdings nicht sehr wichtigen Akten
aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert, welche in wirrem Chaos auf
einer Bodenkammer aufgestapelt waren und jetzt im Staatsarchive de-
poniert sind.
Etwas gröfser war das Ergebnis in Rummelsburg, wo sich unter
der von der Stadt für völlig wertlos erklärten und zur Vernichtung
bestimmten älteren Registratur bei systematischer Durchsicht immerhin
eine ziemlich grofse Menge historisch wichtiger Materialien fand, welche
zum Teil bis ins XVI. Jahrhundert zurückreichten. Von Interesse
sind darunter aufser den Rat und Stadtverordnete, Verwaltung, Finanzen,
Kirche und Schule betreflfenden namentlich die ziemlich zahlreichen
Akten über Gewerbe und Zünfte, welche u. a. auch ausführliche Nach-
richten über die Versuche, Maulbeerbäume anzupflanzen und den
Seidenbau zu fördern, enthalten. Aufserdem* fand sich ein gröfseres
Aktenstück mit vielen Urkundenabschriften zur Stadtgeschichte. Da-
gegen sind Originalurkunden nicht mehr vorhanden. Auch dieses
Archiv ist nunmehr im Staatsarchive deponiert.
Ähnlich war die Lage der Dinge in dem kleinen Städtchen Bär-
walde. Urkunden sind dort nicht mehr vorhanden. Dagegen fand
sich ein seit längerer Zeit vermifstes Bürgerbuch von 1694 vor. Die
reponierte Registratur war äufserlich leidlich aufgestellt, entbehrte aber
jeder inneren Ordnung. Es fanden sich darin interessante Akten des
XVIII. Jahrhunderts über die Streitigkeiten der Stadt mit den benach-
barten Adelsfamilien, femer Akten über die Verfassung der Stadt und
die Wahl der Magistrate, Innungsachen freilich erst aus dem XVIII. Jahr-
hundert, und u. a. eine nicht unerhebliche Zahl von Stadtrechnungen,
die indes gleichfalls nicht über den Anfang des XVIII. Jahrhunderts
zurückreichen. Auch hier ist die Deponierung im Staatsarchive erfolgt.
In PoUnow waren Urkunden ebenfalls nicht vorhanden. Von den
Akten der nicht sehr umfangreichen reponierten Registratur wurden
die wichtigsten zur Deponierung ausgewählt und in einem Repertorium
verzeichnet.
Die Stadt Schivelbein hat nur ihre Urkunden, 22 an Zahl, de-
poniert, deren älteste von 1386 ist; aufeerdem 6 aus dem XV., 8 aus
dem XVI., 7 aus dem XVII. Jahrhundert. Repertorium mit Regiit^'
ist im Staatsarchive aufgestellt.
— 502 —
Von Nörenberg sind 5 Originale, deren ältestes aus dem Jahre
1567 stammt, erhalten, jetzt ins Staatsarchiv übergeführt und re-
pertorisiert.
Von Massow sind 13 Urkunden, die älteste von 1310, aufserdcm
noch 6 aus dem XIV. Jahrhundert, deponiert und repertorisiert ; von
Leba 5 Originale aus der Zeit von 1499 — 1693, von Lassan 6, deren
ältestes von 13 18 ist, von Callies 12 Zunfturkunden aus der Zeit von
1635— 1772, von Lauenburg 15 Urkunden, deren älteste von 1507 ist.
In Dramburg sind Urkunden nicht mehr vorhanden, dagegen
hat sich ein Stadtbuch erhalten, welches, nach dem grofsen Brande
von 1620 aufgestellt, Eintragungen bis zum Jahre 1698 enthält. Das
Archiv ist hier sonst durch wiederholte Brände und andere Unglücks-
fälle bis auf dürftige, jetzt im Staatsarchive deponierte Reste der Ver-
nichtung anheimgefallen. Kleinere Aktenbestände sind aufeerdem de-
poniert von den Städten Bublitz, Bütow, Daber, Falkenburg, Labes,
Neu-Stettin, Plathe, Polzin, Pyritz, Ratzebuhr und Tempelbu^.
Von einer der wichtigsten Städte Hinterpommems, von Stargard,
sind bisher sichere Nachilchten über den archivalischen Bestand nicht
bekannt. Bis vor kurzem wurde auf Grund verschiedener Angaben
und Nachrichten angenommen, da(s auch hier durch Brände des
XVII. Jahrhunderts alle älteren Bestände zu gründe gegangen seien.
Nach Nachrichten aber, die das Staatsarchiv neuerdings durch die Güte
des Herrn Landgerichtsdirektors Böhmer in Stargard erhalten hat,
sollen doch einige nicht unerhebliche Bestände die Brände glücklich
überstanden haben, aufserdem aber in der dortigen Marienkirche noch
zahlreiche Archivalien, darunter auch Urktmden, vorhanden sein, die
dringend einer sachkundigen Prüfung bedürfen, welche bei nächster
Gelegenheit durch das Staatsarchiv erfolgen und demselben wahr-
scheinlich auch von dort eine erwünschte Bereicherung seiner Be-
stände zufuhren wird, welche mit um so gröiserer Freude zu begrüisen
sein wird, als Stargard bis zu der Zeit, in der Stettin in preuisischen
Besitz gelangte, Sitz der obersten Regienmgsbehörden und des Hof-
gerichts gewesen ist.
Während so von den hinterpommerschen Städten die bei weitem
überwiegende Mehrzahl sich, zumeist im Laufe der letzten Jahre, zur
Deponierung ihrer Archive im Staatsarchive entschlossen hat, ist bei
den vorpommerschen Städten links der Oder eben erst ein Anfang
dazu zu verzeichnen. Im allgemeinen darf hier auf den oben *) er-
1) S. 250, Anm. 2.
— 303 —
wähnten Prümersschen Aufsatz verwiesen werden, zu dem hier nur noch
einig'e Ergänzungen Raum finden mögen, welche sich auf die inzwischen
stattgrehabten Veränderungen und Anfänge von Deponienmgen be-
ziehen.
In hohem Grade erfreulich ist es da zunächst, dafs eine der beiden
wichtigen alten Hansastädte an der Peene, Demmin, wenigstens ihren
verhältnismäisig reichen Urkundenbestand im Staatsarchive deponiert hat;
er umfafst 172 Originale. Die älteste erhaltene Urkunde ist von 1264;
auiserdem stammen noch 9 aus dem XIII. Jahrhundert, 97 aus dem
XrV. , 41 aus dem XV., 16 aus dem XVI., der Rest aus dem XVII.
Jahrhundert. Aufserdem sind noch ältere Kopiare vorhanden, in
denen eine weitere nicht unerhebliche Zahl von Urkunden erhalten
ist. Aufserdem hat die Stadt Loitz ihre 22 erhaltenen Urkunden,
deren älteste von 1267 stammt, deponiert; von Neuwarp sind 4 Ur-
kunden, die älteste von 1442, von Usedom 9 Urkunden, die älteste
von 1342, im Staatsarchive deponiert und dort in eingehenden Re-
pertorien mit Orts- und Personenregistern verzeichnet. Akten sind von
allen diesen Städten bisher nicht deponiert worden.
Um auch hierin zu einem Anfange zu gelangen, habe ich auf
meiner letzten Dienstreise in städtische Archive wenigstens zwei der
vorpommerschen Städte mit besucht, Treptow a. d. Tollense und
Wolgast. In der ersteren Stadt sind Originalurkunden allerdings nicht
mehr vorhanden, die beiden ältesten von 1325 und 1476 liegen viel-
mehr nur noch in Abschriften vor. Dagegen ist die reponierte Re-
gistratur (vgl. Prümers a. a. O. S. 97) ziemlich umfangreich, geht
aber freilich zumeist nur bis ins XVIII., vereinzelt aber auch bis ins
XVII. und XVI. Jahrhundert zurück und enthält neben Verwaltungs-,
Finanz- und Personalsachen namentlich auch interessante Zunftakten^
Ein besonderes, offenbar einmal zu historischen Studienzwecken an-
geintes, mit Titel IV Sectio 2 bezeichnetes Aktenstück enthält neben
den erwähnten Urkundenabschriften noch eine ganze Reihe für die
Stadtgeschichte wichtiger Akten. Eine Deponierung des im allgemeinen
in leidlicher Ordnung befindlichen Archivs ist hier nicht erfolgt.
In Wolgast sind bei Überweisung des Aktenarchivs an das Staats*
archiv die 20 Pergamenturkunden, welche dort im glänzen die ver-
schiedenen Brände überdauert haben und noch vorhanden sind, auf
Wunsch der Stadt belassen werden, da ihre Aufbewahrungsart eine
zufriedenstellende war und keine Gefahr fUr die Erhaltung der Ur-
kunden in sich schlofs. Die reponierte Registratur, welche jetzt im
Staatsarchive deponiert ist und zur Zeit verzeichnet wird, stellte sich
— 304 —
als weit inhaltreicher dar, als nach den früher dem Staatsarchive zu*
gänzlichen Nachrichten darüber vermutet werden konnte. Eine grofse
Anzahl dieser Akten reicht bis ins XVI. Jahrhundert zurück und ist
historisch von erheblichem Werte. Sehr zahlreich sind namentlich
die noch erhaltenen Zunft- und Gewerbe-, Finanz- und Verwaltungs-
akten. Dagegen waren Rechnungen leider nur noch aus dem XIX. Jahr-
hundert vorhanden. Mitten unter den in ungeordneten Haufen umher-
liegenden Akten fanden sich aber u. a. noch ein sehr merkwürdiges
Acker- und Bürgerbuch der Stadt auf Pei^ament aus dem XV. und
XVI. Jahrhundert, femer Grundbücher und Kataster aus dem XVTI.
und XVIII. Jahrhundert und ein altes Repertorium der alten Registratur,
welches der Ordnung der freilich fragmentarisch erhaltenen Bestände
zn gründe gelegt werden kann.
Überblickt man die Gesamtheit der in diesem kurzen, auf die
Hauptsachen sich beschränkenden Überblicke aufgeführten Bestände
<ler städtischen Archive, so stellen dieselben eine sehr wesentliche
Bereicherung unserer historischen Kenntnis von der Landes- und Orts-
geschichte Pommerns dar, die nur des sachkundigen Forschers harrt,
um eine ganze Reihe neuer wissenschaftlicher E^ebnisse zu zeitigen.
Mit der Deponierung derselben im Staatsarchive, welche die bei weitem
überwiegende Mehrzahl der hinterpommerschen und einen immerhin
bedeutsamen Anfang der vorpommerschen Städte umfafst, und mit der
nach Mafsgabe der übrigen Amtsgeschäfte des Staatsarchivs allmäh-
lich fortschreitenden genauen Repertorisierung ist für die Inventarisie-
rung der nichtstaatlichen Archive der Provinz ein erster wichtiger
Schritt geschehen, der hoffentlich nun von selten der privaten For-
schung und namentlich von selten der Gesellschaft für pommersche
Geschichte und Altertumskunde Nachahmung in bezug auf die übrigen,
im Lande verstreuten Archivalien nichtstaatlichen Ursprungs finden
wird. Hierfür würden zunächst und vor allem die Archive der zum
TeU uralten Adels familien des Landes und die der einzelnen Kirchen
in Betracht kommen. Für eine Inventarisierung der ersteren ist trotz
der mächtigen Stellung, welche der pommersche Adel geschichtlich
und auch noch in der Gegenwart einnimmt, noch merkwürdig wenig
geschehen. Nur ganz vereinzelt haben pommersche Adelsfamilien
ihre Archive im Staatsarchive deponiert, und die Aufbewahrung der-
selben durch die Besitzer selbst lälst, abgesehta von den Familien,
welche ihr historisches Interesse durch die Veranlassung oder Ab-
fassung umfassenderer Geschichtsdarstellungen ihres Geschlechtes be-
stätigt haben, im allgemeinen noch recht viel zu wünschen übrig. Als
— 305 —
ein charakteristischer Beweis dafür darf angeführt werden, dafs das
Staatsarchiv in der Lage gewesen ist, eine ganze Reihe wichtiger
Familienpapiere eines der gröisten pommerschen Geschlechter von
einem Schneider in Hinterpommem zu kaufen, der sie käuflich er-
worben hatte. Soll einem allmählichen Verschwinden dieser wissen-
schaftlich wertvollen Bestände voi^ebeugt werden, so gilt es vor allem,
in den Kreisen des pommerschen Adels das Interesse an seiner stolzen
Vergangenheit zu erwecken und dafür zu sorgen, dafs dasselbe sich
vor allem in einer genauen Inventarisienmg der Familienarchive äufsere,
für die die geeigneten Kräfte gewils unschwer zu finden sein würden.
Ich zweifle nicht, dals, wenn die Sache erst einmal angeregt und in
Gang gebracht ist, die pommersche Gesellschaft diese wichtige Auf-
gabe mit demselben Eifer und Interesse durchführen würde, mit
welchem sie auf allen Gebieten historisch -antiquarischer Forschung
mit gröfstem Erfolgie tätig ist. ^
Fast noch schlimmer als mit den Adelsarchiven steht es mit
denen der Kirchengemeinden, obwohl dieselben zum TeU im Besitz
der allerwertvollsten Quellen zur Kirchen- und Reformationsgeschichte
sich befinden. Über die Verwahrlosung dieser Archivalien hat so
mancher Forscher schon die betrübendsten Erfahrungen gemacht. In
^ro£sem MaCsstabe ist das bei einer umfassenden Arbeit geschehen,
welche ein jüngst verstorbener tüchtiger kirchengeschichtlicher For-
scher unternommen hat, der sich von den Kirchenarchiven die noch
erhaltenen Akten, Kirchenvisitations-ProtokoUe u. s. w. der Reihe nach
erbat. Vorhanden war noch merkwürdig viel, aber oft in so desolatem
Zustande, dafs der gänzliche Untergang Vieler dieser unschätzbaren
Archivalien nur als eine Frage der Zeit betrachtet werden kann. Meist
sind keine auch nur irgendwie geeigneten Räume zur Aufbewahrung
vorhanden : die Akten und Urkunden, welche zum Teil von ihren Be-
sitzern naturgemäfs gar nicht gelesen werden können, sind auf Kirchen-
böden oder in Kellern untergebracht, wo sie der allmählichen Ver-
nichtung durch Moder anheimfallen. Aber obwohl so von den Ge-
meinden so gut wie nichts für die Erhaltung dieser archivalischen
Schätze getan wü-d, erwacht doch meist ein sehr lebhaftes Interesse
an denselben, wenn die Frage einer Abgabe derselben an eine zu-
ständigere und sachkundigere Stelle angeregt wird. Auch hier hat
das Staatsarchiv die Deponierung wiederholt und dringend angeregt
und bei der staatlichen Kirchenbehörde, dem Konsistorium, die freund-
lichste und verständnisvollste Unterstützung gefunden. Die dringend
^wünschenswerte, ja im Interesse der Erhaltung dieser Archivalien ab-
22
— 306 —
8olut notwendige Maisregel, ist bisher stets an dem Widerstände der-
selben lokalen kirchlichen Instanzen gescheitert, welche diese Archive
in der unverantwortlichsten Weise verwalten und zu gründe gehen
lassen. Hier ist in der Tat Abhilfe dringend geboten, für die es
schon ein wichtiger erster Schritt wäre, wenn es dem vereinigten
Streben des Staatsarchivs, der vorgesetzten Kirchenbehörden und der
organisierten wissenschaftlichen Forschung gelänge, durch eine syste-
matische Inventarisierung wenigstens festzustellen, was von diesem für
die pommersche Kirchengeschichte unschätzbar wichtigem Material
denn zur Zeit noch vorhanden ist. Die Ergebnisse würden über-
raschend reich sein: sind doch in sehr vielen pommerschen Gemein-
den trotz aller Vernachlässigung, deren sich meist erst die jüngste
Zeit schuldig gemacht hat, die Visitationsprotokolle noch bis ins
XVI. Jahrhundert zurück vorhanden, die eine kirchen- und kultur-
geschichtlich gleich reiche Fundgrube der wissenschaftlichen Forschung
bUden würden. Möge es den vereinigten staatlichen und privaten
Kräften gelingen, diese reichen Schätze in der einen oder anderen
Weise dem sicheren Verderben, dem sie sonst geweiht sind, zu ent-
reißen, wie es der Archiv Verwaltung gelungen ist, einen groisen Teil
der städtischen Archive für gegenwärtige und zukünftige Geschlechter
durch sichere und zweckentsprechende Aufbewahnmg und Ordnung^
zu retten!
Mitteilungen
Yersamnillingeil. — Die dieslährige Hauptversammlung des Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine ') wird in
den Tagen vom 22. bis 25. September in Düsseldorf, welches gerade
jetzt durch seine Ausstellung doppelte Anziehungskraft besitzt, stattfinden.
An der Spitze des Ortsausschusses steht Archivar Redlich, die Verhand-
lungen finden in den Räumen der städtischen Tonhalle statt. Am Abend
des 24. Sept wird die Stadt Düsseldorf den Versammlungsteilnehmern ein
Fest geben, am 25. Sept wird eine Sonderfahrt nach Aachen unternommen.
Für die Hauptversammlungen sind folgende Vorträge angemeldet: Prof. Del-
brück (Berlin) über Römerfeldzüge in Germanien, Museumsdirektor
Schuchhardt (Hannover) über Frühgeschichtliche Burgen und
Wohnsitze inNordwestdeutschlandundDr. Oppermann(Köln)über
i) Ober die Venammlnog za Freibnrg i. 6. 190X vgL oben S. 85 — 91.
— 307 —
die Entstehung des mittelalterlichen Bürgertums in den Rhein-
landen. In den Abteilungssitzungen werden u. a. folgende Gegenstände
zur Beratung gelangen: Beschlufsfassimg über die Fortsetzung des Walther-
Konerschen Repertoriums ; der gegenwärtige Stand der historischen Karto-
graphie Deutschlands (Kötzschke); Anregung zur Schaffung historischer
Karten, besonders fUr die Jahre 1789, 1654 imd 1525 durch die Vereine
imd Konmiissionen aller Landschaften (Thudichum); Erschliefsung und Aus-
beutung der kleineren Archive (Tille); Mittelalterliche Glasmalerei (Schnüt-
gen); Antike Gläser (Bone); die Ära Uhiorum und die Anfänge Kölns
(Klinkenberg); vorgeschichtliche und römische Anlagen bei Butzbach
(Sold an); Entstehimg der Ortsnamen, die zugleich Flufsnamen sind (F. von
und zu Gilsa); die Theorie vom Ureigentum (v. Below); die Kölner Erz-
bischöfe und das Stift Essen 1243—1288 (Ribbeck); Chronologie alter
Burganlagen in der Rheinpfalz (Mehlis); Schlofs Burg (Schell); Königin
Luise und die preufsische Politik im Jahre 18 10 (Bai Heu); die Aufgaben
der wissenschafÜichen Volkskunde (Brenner).
Diese Darbietungen sind gewifs verlockend genug, um die Geschichts-
forscher aus allen Gauen nach Düsseldorf zu rufen. Die 21ahl der aus-
wärtigen Versammlimgsteilnehmer wird sicher wesentlich über das in Frei-
burg erreichte Mafs (159) hinausgehen, aber so erfreulich dieses Interesse
der Einzelpersonen ist, die Hauptsache ist und bleibt die Mitwirkung
der Vereine, denn Glieder des Gesamtvereins sind eben diese. Nicht
eindringlich genug kann deshalb der bereits oben ') an die Vorstände der
verbundenen Vereine gerichtete Appell wiederholt werden: Entsendet be-
vollmächtigte Abgeordnete, die dann daheim über das Erlebte be-
richten und neue Anregungen zu gedeihlicher Arbeit im heimischen
Verein mitbringen mögen! 149 Vereine sind jetzt im Gesamtverein
vertreten, aber von diesen haben viele seit Jahren keinen Abgeordneten ge-
sandt, denn 1898 in Münster wurden nur 31 Vereinsvertreter gezählt, 1899 in
Strafsburg 55, 1900 in Dresden sogar 64, aber 1901 in Freiburg ist leider
die Zahl auf 43 herabgesunken. Es ist dringend notwendig, wenn der Ge-
samtverein seine Aufgabe voll erfüllen soll, dafs alle Glieder sich tätig be-
teiligen: mögen sich alle Vereinsvorstände ihrer Pflicht erinnem!
Die neu gegründete 5. Abteilung (für Volkskunde) wird bei dieser
Versammlung zum ersten Male in Tätigkeit treten; die vereinigte i. und 2.
Abteilung ist zugleich Versammlung des Verbandes west- und süddeut-
scher Vereine für römisch-germanische Altertumsforschung,
welcher seine geschäftlichen Angelegenheiten bereits am 22. Sept erledigt
In Verbindung mit dieser Zusammenkunft findet bereits am 22. Sep-
tember der dritte deutsche Archivtag ^ statt Bei dieser Gelegenheit soll
verhandelt werden über: Städtische Archivbauten (Heydenreich), Der Neu-
bau des Staatsarchivs Düsseldorf (Bongard), Die Bestände des Düsseldorfer
Staatsarchivs (Ilgen), Das Provenienzprinzip und dessen Anwendung im
Geh. Staatsarchive zu Berlin (Bai Heu), Zur Kassationsfrage (Grotefend),
Zapon in der Archivpraxis (Sello), Wert und Bedeutung der Archivgeschichte
i) S. 86.
2) Über den Zweiten ArchiTtag 1900 in Dresden vgL diese Zeitschrift 2. Bd., S. 60 — 61
22*
— 308 —
(Wieg and). Wenn diese Versammlungen den rechten Nutzen haben sollen,
dann ist es vor allem nötig, dafs alle Archiveigentümer, namentlich Standes-
herren und Städte, ihre Archiworsteher zu der Tagung entsenden. Es be-
finden sich ja auch unter den Vorstehern namentlich städtischer Archive
recht viele Autodidakten, die im Nebenamte oft recht grofse Archive ver-
walten : gerade diese werden durch die Teilnahme an Beratungen über arch i v -
technische Fragen für ihre eigene Anstalt recht viel lernen können, zumal
da sie hier Gelegenheit finden in zweifelhaften Punkten sich fachmännischen
Rat zu holen.
Nach Schlufs der Gesamtvereinstagung findet am 25. und 26. September
im Sitzungssaale des Provinziallandtages im Ständehaus der Dritte Tag für
Denkmalpflege *) statt. Es wird hier verhandelt werden über Mafsregeln
zur Erhaltung der Baudenkmäler (Cornelius Gurlitt), über Pflege und
Erhaltung plastischer Kunstwerke (Borrmann), über Bemalung von Bild-
hauerarbeiten (Haupt und Geiges). Über Denkmälerarchive werden
V. Bezold und Ehrenberg sprechen, die Aufgaben der Konmiunal-
verwaltungen auf dem Gebiete der praktischen Denkmalpflege werden Struck-
mann und Giemen behandeln, imd über die Angelegenheit des Handbuchs
der deutschen Kunstdenkmäler ^) wird Dehio berichten. Im Anschlufs an
die stattgehabte Beseitigung des bisherigen Westportals am Metzer Dom und
dessen Ersatz durch ein gotisches sollen einige grundsätzliche Fragen
der Denkmalpflege erörtert werden. Auch hier stehen also den Interessenten
wichtige Besprechungen in Aussicht, und da erfreulicherweise die geschichtlichen
Sonderwissenschaften sich immer mehr einander nähern, die Ergebnisse der
Nachbardisziplinen sich nutzbar machen und diese wieder befruchten, so ist
es ein doppelt glücklicher Gedanke, die Fachversammlungen, welche Ver-
treter der sich so nahe berührenden Gebiete aus allen Teilen des deutschen
Sprachgebietes zusammenführen, in engem zeitlichen Anschlufs in derselben
Stadt abzuhalten — ganz abgesehen davon, dafs diese Düsseldorf heifst.
Vereine. — Am 25. November 185 1 erliefsen die Jenaer Professoren
Droysen, Göttling, Michelsen, H. Rückert, Schwarz, B. Stark und Wegele
eine gedruckte Einladung zum Beitritt in einen zu gründenden Verein für
die Geschichte und Altertumskunde der thüringischen Lande. An dem für
die Konstituierung des Vereins anberaumten 2. Januar 1852 fand sich im
Saale des Bürgervereins zu Jena eine Versammlung von 60 — 70 Personen
ein, und der Vorsitzende konnte bereits den Beitritt von etwa 100 Mit-
gliedern feststellen. Der Verein fOr Thüringische Geschichte und
Altertumskunde mit dem Sitze in der Universitätsstadt Jena schlofs eine
lange von den Forschem und Freunden der Geschichte empfundene Lücke,
da der 18 19 in Naumburg begründete und 1823 nach Halle übergesiedelte
Thüringisch-Sächsische Verein für Erforschung des vaterländischen
Altertums und Erhaltung seiner Denkmale nur wenig in das eigentliche
Thüringen eingedrungen war, die seit 1838 bestehende Geschichts- und
i) Hierzu vgl. über den zweiten diese Zeitschrift, oben S. 61 — 63.
2) VgL dazu oben S. 143—144.
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altertumsforschende Gesellschaft zu Altenburg sich aufdasOster-
land beschränkte, und der 1832 gegründete Hennebergische alter-
tumsforschende Verein zu Meiningen vornehmlich die Geschichte
fränkischer Gebiete behandelte: es galt, jetzt das gesamte Gebiet des
thüringischen Stammes seiner historischen Stellung gemäfs in die ganz
Deutschland umfassenden historischen Studien aufzunehmen. In einer sehr
schönen Rede wies Prof. Rückert, ein Sohn des Dichters, auf die be-
sondere Bedeutung der thüringischen Landesgeschichte hin, die wie in einem
Mikrokosmos alle Gestaltungen des deutschen Lebens in engen Grenzen ent-
halte. Die von dem vorbereitenden Ausschufs entworfenen Statuten wurden
hierauf mit wenigen Änderungen von der Versammlung angenommen.
Mit grofsem Eifer ging der Verein sogleich an die Lösung der Auf-
gabe, die er sich gestellt hatte: „durch Sammlung und wissenschafUiche
Benutzung der heimischen Denkmäler die Geschichte Thüringens in allen
seinen früheren imd jetzigen Bestandteilen allseitig zu erforschen und zu
verwerten". Die Seele des Ganzen war der Holsteiner Mich eisen, emer
jener fleifsigen, genauen und dabei formgewandten norddeutschen Historiker
vom Schlage des Kaspar Sagittarius, die für die thüringische Wissenschaft
so fruchtbar geworden sind. Er leitete die Zeitschrift des Vereins, die so-
gleich mit wert>'ollen Beiträgen von Rückert, Schwarz, Joh. Voigt und
Michelsen selbst ins Leben trat Daneben hat er den Plan eines thüringischen
Urkundenbuches aufgestellt imd sofort mit Veröffentlichung der Urkunden
des Klosters Kapelle begonnen. ') Jahr für Jahr erschien eine Abhandlung
über wichtige Fragen der thüringischen Geschichte aus Michelsens Feder *).
Für die weitere Bearbeitung des Urkundenwerkes scheinen sich jedoch keine
Mitarbeiter gefunden zu haben, denn dieser Teil des Arbeitsplanes geriet
völlig in Vergessenheit. Dagegen konnte der Verein die Ausgabe der
Reinhardsbrunner Annalen von Wegele, der Rotheschen Chronik von
Freiherrn v. Lilienkron und der des Nikolaus von Siegen von Wegele
veröffentlichen. ^) An der Herausgabe der Eechtsdenkmäler , die namentlich
wertvolle Stadtrechte enthalten, war Michelsen 1853 — 1863 allein tätig.
Zum Unglück für den Verein gbg er im Jahre 1863 nach Nürnberg, um
die Leitung des Germanischen Museums zu übernehmen, und bald darauf
kehrte er in seine nordische Heimat zurück, an deren politischem Leben er
einen bedeutenden Anteil hatte. Er ist am 11. Februar 1881 zu Schleswig
gestorben.
Nach seinem Weggange erlahmte die Tätigkeit des Vereins und schlief
alhnählich ganz ein; 1871 hörte auch die Zeitschrift zu erscheinen auf.
Um die Mitte der siebziger Jahre begann dann ein neuer Aufschwimg der
landesgeschichtlichen Studien in Jena. Auf Einladung des alten Verlags-
buchhändlers Frommann versammelten sich am 12. Mai 1876 einige alte
i) Codex Thuringiae diplomaticus. Erste Liefening: Diplomatar des Klosters
Kapelle unter dem Arnsberge [bei FrankenbanseD]. Jena, Fr. Frommann, 1854.
3) Der Mainzer Hof za Erfurt 1853, Ehrensttickc mid Rantenkranx 1854, Die Rats-
Verfassung von Erfurt 1855, Urkundlicher Ausgang der Grafschaft OrlamUnde 1856, Die
ältesten Wappenschilde der Landgrafen v. Th. 1857, Joh. Friedrichs d. Gr. Stadtordnnng
fUr Jena 1858.
3) Unter dem Titel „Thüringische Geschichtsquellen", Bd. 1—3, Jena, Frommann,
1854— 1859.
— 310 —
und neue Mitglieder des Vereins und konstituierten den Vorstand von neuetn.
Der erste Vorsitzende des wiedererweckten Verebs war der Oberappellations-
gerichtsrat Mu the r , an dessen Stelle Ende des Jahres 1878 Kirchenrat L i p s i u s
trat. Der bekannte Theologe hat auf diesem, seinen eigentlichen Studien ziemlich
fem liegenden, Gebiete vornehmlich durch Aufrechterhaltung des Zusammen-
hanges der Mitglieder und Pflege der äufseren Beziehungen wertvolle Dienste
geleistet tmd in seinen Jahresberichten die Entwickelung des Vereins der
Nachwelt getreu überliefert. In die leitende Rolle, die einst Michelsen ge-
spielt hatte, teilten sich jetzt der Direktor des neugegründeten Gymnasiums
Gustav Richter und der Geschichtsprofessor Dietrich Schäfer. Jener
gab die Zeitschrift heraus, für die er selbst eine Reihe bedeutungsvoller
Aufsätze, vornehmlich zur Geschichte der Stadt Jena schrieb, dieser stand
an der Spitze des wieder aufgenommenen Urkundenwerkes, zu dessen
Durchführung der Verein eine jährliche Unterstützung von einigen der be-
teiligten Staaten erhielt. Seitdem kann eine gewisse Summe zur Honoriening
der Herausgeber verwendet werden, während Michelsen ohne Entgelt ge-
arbeitet hatte; die Mitarbeiter an der Zeitschrift erhalten auch heute noch
keinen klingenden Lohn, denn die Beiträge der Mitglieder (jährlich 3 Mk.,
wofür die Zeitschrift, oder 20 Mk., wofür sämdiche Publikationen geliefert
werden) decken nur die Druckkosten der Zeitschrift
Die Inventarisadon der thüringischen Kunstdenkmäler, wofür Friedrich
Klop fleisch im Auftrage des Vereins einen Plan ausgearbeitet hatte,
schied aus der Zdhl der Aufgaben wieder aus, nachdem die Regiemngen im
Jahre 1883 von sich aus eine Kommission für diesen Zweck eingesetzt hatten.
Von dem Urkundenwerk erschien im Jahre 1883 der i. Band, das Urkunden-
buch der Stadt Arnstadt von C. A. H. Burkhardt, im Jahre 1885
folgte der i. Teil des Urkundenbuches der Vögte von Weida, Gera und
Plauen von Bertold Schmidt, 1889 ^^^ i- Teil des Urkundenbuches
der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten von I. E. A. Martin und
das I. Heft des Urkundenbuches des Klosters Paulin zella von Ernst
AnemüUer, 1892 der 2. Teil des Schmidtschen Urkundenbuches der
Vögte von Weida. Seitdem ist auf diesem Gebiet eine gewisse Stockung ein-
getreten, namentlich mufste die lange geplante Herausgabe der Reinhardsbnmner
Urkunden ganz zurückgestellt werden. Auf mehrere Jahre wurden die Mittel
des Vereins in Beschlag genommen durch das grofse Werk der Repcr-
torisierung der bisher gedruckten Urkunden zur thüringischen Geschichte,
das Otto Dobenecker übertragen und von diesem in grofsem Stil auf-
genommen worden war. Die Ausführung hat in der Tat gehalten, was der
Vorstand in seinem Geschäftsbericht vom Jahre 1885 ausgesprochen hat:
Thüringen ist durch diese Leistung in die vorderste Reihe der deutschen
Landschaften zu stehen gekommen. Der erste Band der Regesta dtpUymatiea
j iiecnan epistoUma historiae Thuringiae (Jena, G. Fischer, 1896) umfafst den
Zeitraum 500 — 1151, der zweite (1900) reicht bis 12 10; der dritte, der die
Landgrafenzeit zum Abschlufs bringen soll, ist in Vorbereitung. Seit Schäfers
Weggang 1884 leitet Dobenecker das Urktmdenwerk und, nachdem an die
Stelle des im Jahre 1892 verstorbenen Geh. Kirchenrates Lipsius der
bisherige Herausgeber der Zeitschrift, Gustav Richter, erster Vorsitzender
geworden war, hat er auch die Redaktionsgeschäfte übernommen.
— 311 —
Die Mitgliederzahl des Vereins beträgt zur Zeit 541. Obgleich grund-
sätzlich alle Teile Thüringens bei den Arbeiten des Vereins berücksichtigt
werden, und namentlich das Regestenwerk allen am I.Ande beteiligten Staaten
zu gute kommt, so sind doch nicht alle Teile Thüringens gleichmäfsig an
den Leistungen für die Sache beteiligt Eine Reihe partikularistischer Vereine,
zum Teil erst in den letzten Jahrzehnten entstanden, nehmen viel Kräfte und
Mittel in Anspruch, die der gemeinsamen Sache verloren gehen. Zwar ist
im Jahre 1897 zur Zusammenfassung der Kräfte die Thüringische
historische Kommission *) gegründet worden; in Wahrheit ist da-
durch wohl die Arbeit des Vereins gewachsen, aber eine Unterstützung
seitens der kleinen Vereine ist ihm nicht zu teil geworden; die preufsische
Hälfte Thüringens ist zudem in der Kommission gar nicht vertreten. Die
Entwickelung wird künftig dahin geleitet werden müssen, dafs die Vereine
mit beschränktem Arbeitsgebiet sich zu Ortsgruppen des thüringischen Vereins
umbilden, und die historische Kommission der preufsischen Provinz Sachsen
für den thüringischen Teil sich beteiligt. Damit müfste wohl eine Um-
gestaltung der Zeitschrift zusammengehen.
Die wachsende Teilnahme der Behörden hat neuerdings die Fortführung
der „Geschichtsquellen" ermöglicht Im laufenden Jahre erschien der
I. Band der Emestinischen Landtagsakten (i486 — 1532), herausgegeben
von C. A. H. Burkhardt; das 2. Heft des Urkundenbuches von Paulin-
zella (Anemüller) wird demnächst erscheinen; der 2. Band des Jenaer
Urkundenbuches (1406— 1525), mit Benutzung von Martins NacÜafs be-
arbeitet von Devrient, ist im Druck. Mit Unterstützung der Kommission
erschien das Werk Stiedas, Die Anfänge der Parxeüanindtistrie auf dem
Thüringerwalde (Jena, Fischer 1902). Eine Geschichte der Universität Jena
nebst Urkundenbuch ist in Angriflf genommen worden. Den Vorsitz des
Vereins und der Kommission führt jetzt Prof. Ed. Rosenthal, die Geld-
geschäfte Verlagsbuchhändler Gust. Fischer in Jena.
Das 50jährige Bestehen des Vereins wurde am 22. Juni festlich be-
gangen; möge des zweite halbe Jahrhundert dem Vereine glückliches Ge-
deihen bringen! Ernst Devrient (Jena).
Die Deutsch-Amerikanische Historische Gesellschaft von Illinois
wurde am 6. April 1900 gegründet Der erste Aufruf zur Gründung war
auf Anregung E. Mannhardts, welcher Jahre lang dem Redaktionsstabe der
„Illinois Staatszeitung*' angehört hatte, von den Herren W. Vocke, Dr. G.
A. Zimmermann und Max Eberhardt am 27. Februar erlassen worden. Es
wurde die sofortige Konstituierung der Gesellschaft beschlossen und als ihr
besonderer Zweck bezeichnet „die Geschichte der Deutschen in
Illinois und im Nordwesten zu erforschen, zur Erforschung
derselben aufzumuntern und das von ihr gesammelte Material
sicher aufzubewahren, zu veröffentlichen und in sonst geeig-
neter Weise zu verwerten."
Der Verem, der nicht blos eine wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen
i) Vgl. dirübcr diese Zeitschrift i. Bd., S. 105, 2. Bd., S. 238 und 3. Bd., S. 313/14.
J
— ai2 —
darf, sondern auch für die Erlangung einer grofsen Machtstellung des Deutsch-
tums von praktischem Werte ist, hat von Anfang an eine lebhafte Tätigkeit
entfaltet. Der Jahresbeitrag der Mitglieder beträgt drei Dollars, Vereme
zahlen jährlich zehn Dollars tmd können sich durch drei Abgeordnete vertreten
lassen. lndeTyknt\}9hTsschnhI>eutsch'Afnerikanische Geschichtm^
blätter hat der Verein ein Organ geschaffen, worin die Ergebnisse seiner
Forschungen niedergelegt werden. Die Zeitschrift wurde sehr beiMig ange-
nommen imd den Bemühungen des Sekretärs gelang es, Mitarbeiter in vielen
Teilen des Landes zu gewinnen. Die erste Jahresversammlung der Gesellschaft
fand am 12. Februar 1901 statt, zugleich das erste Stiftungsfest, indem schon
bei der Gründung beschlossen wurde, dasselbe alljährlich am Geburtstage des
Sklavenbefreiers Lincoln zu begehen. Von den zur Feier geladenen, jedoch
an der Teilnahme verhinderten Herren Karl Schurz (New- York), Emil Precto-
rius (St Louis) und H. A. Rattermann (Cincinnati) waren Schreiben ein-
gelaufen, welche den Bestrebungen der Gesellschaft hohe Anerkennung zoll-
ten. Die Bamten des Vereins waren 1901 : W. Vocke, Präsident; Alex. Klappen*
bach, Schatzmeister; Max Eberhardt, i. Vizepräsident; Dr. G. A. Zimmer-
mann, 2. Vizepräsident; Emil Mannhardt, Sekretär. Letzterer ist auch
Redakteur der Geschichtsblätter. Das Direktorium hält seine Sitzungen am
I. jeden Monats. Die Versammlungen der Gesellschaft finden am ersten
Montag der Monate Mai, Oktober und Januar statt, die Jahresversammlung,
wie schon gesagt, am 12. Februar. Oscar H. Kraft.
Kommlssfoneil. — Aus den Berichten über die 27. und 28. Sitzung
(1901 imd 1902) in Dessau und Wernigerode der Historischen Kom-
mission für Sachsen- Anhalt *) ist über den Fortgang der wissenschaft-
lichen Unternehmungen folgendes mitzuteilen. Vom Urkundenbuche der Stadt
Goslar . ist der dritte, von Landgerichtsdirektor Bode bearbeitete Teil
(1301 — 1335) erschienen, der vierte Teil (1336 — 1364) soll bald vollendet
werden. Die erste Abteilung des Urkundenbuches des Klosters Pforta bis
i35<^9 bearbeitet von Prof. Böhme, befindet sich im Druck. Ausg^eben
wurde femer die von Gymnasialdirektor Thiele besorgte Neuausgabe der
Erfurter Chronik des Konrad Stolle und das vom Gewerbeverein in Langen-
salza mit Unterstützung der Kommission herausgegebene Werk Orabdenk-
mäler der Bergkirche xu LangenscUza, Eine grofse Reihe anderer Arbeiten,
die in den Geschichtsquellen veröffentlicht werden sollen, schreiten
rüstig fort; die Besorgung einer Ausgabe des Briefwechsels des Humanisten
Eoban Hesse und die Bearbeitung eines Eichsfeldischen Urkundenbuches
wurde aus der Liste der Arbeiten gestrichen, da von den Beauftragten seit
längerer Zeit Berichte nicht emgegangen sind. — Als Neujahrsblatt erschien
1901 Ausfeld, Die Hof- und Haushaltung der letzten Grafen von Henne-
berg imd 1902 Kawerau, Die Rückkehr Luihers von der Wartburg, —
Von der Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler sind die Kreise Ziegenrück
tmd Schleusingen erschienen, Stadtkreis Aschersleben tmd Stadt- und Land-
kreis Halberstadt sind druckfertig. — Behufs Sanmilung aUer vorgeschicht-
i) Vgl. darüber 2. Bd., S. 213—214.
— 313 —
liehen Veröffentlichungen im Arbeitsgebiete wurde 1901 die Umwandlung
der vom Provinzialmuseum in Halle herausgegebenen Mitteilungen in eine
von der Kommission unterstützte, regelmäfsig jährlich mindestens 15 Bogen
stark erscheinende Jahresschrift für die VorgeschicJite der sächsisch-thOringischenr
Länder, herausgegeben von dem Provimdalmuseum der Provinz Sachsen in
Halle a. S., beschlossen, wovon der erste Band bereits erschienen ist. — Die
Arbeit an den geschichtlichen und vorgeschichtlichen Karten ist rüstig fort-
geschritten, von den Grundkarten sind 5 Sektionen ganz fertig, 2 werden
es demnächst imd bei weiteren 10 Sektionen ist die Situation (Ortschaften
imd Fluüsläufe ohne Namen) vollendet — Das von Prof. Hertel bearbeitete
Wüstungsverxeichnis des Nordthüringgaues mit Karte von Oberlehrer R e i s c h e 1
ist erschienen, auch die entsprechenden Verzeichnisse für die Kreise Heiligen-
stadt, Worbis, Mühlhausen und Duderstadt, bearbeitet von Freiherm von Wint-
zingerode-Knorr, sind bis auf das Register im Drucke fertig gestellt —
Die nach dem westfälischen Vorbild auszuführende, von Archivdirektor A u s -
feld geleitete Verzeichnung der in der Provinz SacJisen und dein Herzog-
turne Anhalt vorhandenen nichtstaatlichen Archive und ihres Inhalts hat be-
gonnen; der Kreis Wolmirstedt ist fast vollendet — Im Jahre 1903 wird
die Versammlung in Erfurt stattfinden.
Dem fünften im Mai 1 902 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck ^) ist über den Fortgang der
Arbeiten folgendes zu entnehmen. Ausgegeben konnte im Berichtsjahre eine
Publikation nicht werden, aber der Druck des i. Bandes des Fuldaer Ur-
kimdenbuches , den Prof. Tan gl bearbeitet, und der des Friedberger ür-
ktmdenbuches hat begonnen. Die übrigen Arbeiten sind zwar sämtlich er-
heblich gefördert worden, aber es haben sich doch viele Schwierigkeiten er-
geben, welche längere Verzögerungen veranlafsten : Dr. Jürges, der die
Waldecker Chroniken bearbeitet, ist nach Wiesbaden übergesiedelt, Prof.
Brandi nach Göttingen, wodurch es unmöglich geworden ist, die Urkund-
lichen QueÜen zur Geschichte Landgraf Philipps des Orofsmütigeny wie ge-
plant, bis 1904, wo die vierte 2^ntenarfeier der Geburt Philipps stattfindet,
fertig zu stellen. Dagegen soll eine Schrift über die bildlichen Darstellungen
des Landgrafen zu dieser Feier erscheinen, deren Bearbeitung Prof. vonDrach
und Geh. Archivrat Könnecke übernommen haben. Für das Münzwerk
hat Dr. Buchenau im Winter 1901 — 1902 eine halbjährige Reise unter-
nommen. Für das Ortslexikon hat Archivrat Reimer einige Proben be-
arbeitet, die dem Jahresberichte beiliegen. — Der stattlichen Einnahme von
r 7 93 1 Mk. steht nur eine Ausgabe von 5 1 1 1 Mk. gegenüber, den Vorsitz
führt Prof. Freiherr G. von der Ropp.
Die Thüringische Historische Kommission^) hielt 1902 ihre
Jahressitzung am 21. Juni zu Jena ab. Der i. Band der Sachsen-Emesti-
nischen Landtagsakten ist im Berichtsjahre ausgegeben worden, ebenso das
mit Unterstützung der Kommission bearbeitete Werk von Stieda, ^^^ ^*»-
i) Vgl. 2. Bd., S. 301 — 302.
2) Vgl. 2. Bd., S. 238.
— 314 —
fange der Porzellanvidustrie auf dem Thüringerwalde. Die Stadtrechte
von Saalfeld und Eisenach, die Koch und Kühn bearbeiten, siad
noch nicht zum Drucke fertig, sollen es aber im laufenden Jahre werdeo
und werden als Einleitung eine Darstellung der verfassungsgeschichüicheo
Entwickelung der betreffenden Städte erhalten. Die Bearbeitung einer neuen
Biographie Ernsts des Frommen (1601 — 1675) wurde Stoy tibertragen, der
bis zum Universitätsjubiläum 1908 auf Grund des von Devrient begonnenen
Urkundenbuches der Universität Jena auch eme Geschichte der Universität
schreiben wird. Archivinventarisationsberichte sind seit der letzten Sitzung^
im November 1900 leider gar nicht eingegangen. Geldmangel verhindert
eine Herstellung der Grundkarten und der Matrikel der Universität Jena.
Das Verzeichnis der thüringischen Wüstungen hat keine Fortschritte gemacht —
Als neue Unternehmung beantragte Archivrat Mitzschke die Schafiimg einer
historischen Bibliographie Thüringens ; Dobenecker, der bisher nur einen
Stadtplan im Mafsstabe i : 2000 (Gera) erhalten hat, wies aufs neue auf die
Wichtigkeit der Sache hin. — Bezüglich der Organisation ist zu bemerken,
dafs an Stelle Dobeneckers Prof. Mentz die Stelle eines Sekretärs über-
nommen hat. Die wissenschaftliche Abteilung des Thtiringerwald- Vereins ist
der Kommission beigetreten imd wird durch Archivrat Mitzschke (Stell-
vertreter Sanitätsrat Zschiesche) vertreten. Hauptpfleger im Herzogtum Coburg
wurde Archivar Krieg. Für ausgeschiedene Pfleger hat bisher noch nicht
überall ein geeigneter Ersatz gefunden werden können.
Die Franzosenkrankheit. — Die Geschichte der Krankheiten und
der Arzeneikunst hat schon seit geraumer Zeit Bearbeitung durch tüchtige
medizinische Fachleute erfahren '), aber wie auf der einen Seite die Verfasser
nicht geschulte Geschichtsforscher waren, so hat auf der anderen die zünftige
Geschichtsforschung nur in recht bescheidenem Mafse von jenen Arbeiten
Gebrauch gemacht, obwohl darin viele Fragen berührt werden, die wie die
Geschichte der grofsen Epidemieen — Schwarzer Tod, Pest, Cholera —
grofses allgemeingeschichtliches Interesse beanspruchen und durch geschicht-
liche Behandlung seitens der Ärzte dem ärztlichen Laien vielfach in wich-
tigen Einzelfragen verständlicher erscheinen müssen. Trotzdem wird selbst
eine Arbeit wie Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters von Heck er
(gesammelt und in erweiterter Bearbeitung herausgegeben von AugustHirsch,
Berlin 1865), deren Titel bereits darauf schliefsen läfst, dafs sie ftir einen
gröfseren nichtärztUchen Leserkreis bestimmt ist, recht selten verwertet Die
Geschichte der Heilkunde im engeren Sinne, so interessant sie dem Arzte
sein mag, hat für den Historiker zunächst geringere Bedeutung; viel wich-
i) Es seien hier nur die grolsen zusammenfassenden Werke von Heinrich Haeser,
Lehrbtuh der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten (Dritte Be-
arbeitung, Jena 1882), J. K Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten (Bonn 1895)
und Th. Puschmann, Handbuch der Geschichte der Medizin (Von dreifsig verschie-
denen Forschern bearbeitet, beginnt Jena 1901 zu erscheinen) genannt, die ftir den
Historiker wichtiges Material enthalten, aber ihm auch viel Gelegenheit zur Kritik bieten,
sei es, dafs die Quelleninterpretation nicht sorgfaltig genug erscheint, sei es, da(s wichtige
soziale Einrichtungen, die aus dem Geiste der Zeit heraus beurteilt sein wollen, diese
Beleuchtung nicht erfahren.
— 315 —
tiger ist für ihn die Geschichte der Krankheiten selbst, namentlich wenn
sie weite Kreise ergriffen haben, wie der Aussatz, und sich mithin eine
Menge sozialer Folgeerscheinimgen daran anknüpfen. Andrerseits gibt die
Geschichte der Krankheiten imd ihrer Heilung auch manchen Aufschlufs
über den ärztlichen Beruf und Stand in seiner geschichtlichen Entwickelung,
und da von allen gelehrten Berufen der des Arztes im Abendlande am
frühesten einen weltlichen Charakter angenonmien hat, so bietet auch in
dieser Hinsicht die krankheitsgeschichtliche Spezialuntersuchung wichtige Bau-
steine für die Sozialgeschichte ^).
Aber neben diesen allgemeinen Ergebnissen der medizingeschichtlichen
Forschung sind auch die medizingeschichtlichen Probleme im besonderen von
Interesse; denn eine nicht unbeträchtliche Reihe von Krankheiten müssen
in jeder deutschen Geschichte Erwähnung finden : es sind dies zum wenigsten
der Aussatz und der Schwarze Tod im Mittelalter, an der Wende von Mittel-
alter imd Neuzeit Franzosenkrankheit, Englischer Schweifs und Pest, während
in der neuesten Zeit zum wenigsten Blattern und Cholera berührt werden
müssen. Von allen diesen ist wohl bisher die Franzosenkrankheit von der
Geschichtsforschung — höchstens die Pest könnte den Vergleich aushalten —
am au6nerksamsten verfolgt worden, war doch gerade bei ihr das Auftreten
um 1495 so plötzlich, die ganze Erscheinung so neu und unerhört und die
Wirkung so schrecklich, dafs selbst die zeitgenössischen Chronisten eine
solche Merkwürdigkeit nicht mit Schweigen übergehen koimten. Da zugleich
die Verbreitung in allen Gesellschaftsschichten auf den sittlichen Lebens-
wandel der Behafteten schliefsen läfst, so ist die Beobachtung dieser Dinge
von allgemeinstem Interesse für die noch so wenig bearbeitete Geschichte
der Sittlichkeit *) ; d. h. weniger die Tatsache der Erkrankung als die naive
Weise und Selbstverständlichkeit, mit der die Erkrankten selbst davon sprechen,
ist es, was geschichüich gewürdigt sein will. Wie unendlich reich die
Literatur über die Syphilis, wie gegenwärtig die Franzosenkrankheit wissen-
schaftlich heifst, geworden ist und wie zahlreich selbst unmittelbar nach ihrem
Bekanntwerden die Schriften darüber waren, das zeigt ein Blick in die Biblio-
graphie von Proksch'). Aber auch schon die zeitgenössischen Berichte
über ihr Auftreten sind 1843 ^^^ Fuchs ^) zusammengestellt worden, so
dafs es verhältnismäfsig einfach ist, davon Kenntnis zu nehmen.
Das Problem, welches die Mediziner seit langer Zeit beschäftigt hat,
i) Von diesem Standpunkte aus betrachtet den Gegenstand Hermann Peters, Der
Arzt und die Heilkunst in der deutschen Vergangenheit [:= Monographieen zar deutschen
Kaitargeschichte, herausgegeben von Steinhausen, Dritter Band]. Leipzig, Eugen
Diederichs 1900.
2) Im Zusammenhange bat meines Wissens bisher nur Wilhelm Rudeck, ein Arzt,
sich mit diesem Gegenstande beschäftigt, aber seine Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit
in Deutschland Qtnn, Costenoble 1897), so fleifsig das Material gesammelt ist, läfst doch
eine tiefere allgemeingeschichtliche Bildung rcrmissen und läfst sich, da der Verfasser
vielfach aus abgeleiteten Quellen schöpft, oft recht treffende Bemerkungen der Quellen
entgehen.
3) Die LiUratur Ober die venerischen Krankheiten (3 Bände, Bonn 1889^1891,
mit einem Autorenregister in einem besonderen Bande und einem starken Supplement-
band, 1900).
4) Die ältesten Schriftsteller über die Lustseuche in Deutschland von 14 gs *«
iSiO nebst mehreren Anecdotis späterer Zeit (Gdttingen 1843).
— 316 —
ist die Frage nach dem Ursprünge der Syphilis: die einen') meinten,
dafs die Seuche aus dem neu entdeckten Amerika von den ersten Besuchern
eingeschleppt worden sei, die anderen, besonders Prok seh, waren der An-
sicht und eiklärten mit Bestimmtheit, dafs sie bereits im Altertum und
Mittelalter vorhanden gewesen sei und sich nur gegen Ende des XV. Jahr-
himderts allgemeiner ausgebreitet habe. Soviel auch darüber debs^ert
worden ist, eine Entscheidung war bisher nicht gefallen; und es war von
vornherein klar, dafs sich die Frage nur von demjenigen würde gründlich
und überzeugend beantworten lassen, der mit den Grundsätzen der historischen
Kritik völlig vertraut ist und zugleich die älteren medizinischen Fachschrift-
steller als Arzt genügend zu würdigen versteht In viel höherem Mafse als
die früheren Bearbeiter des Gegenstandes genügt diesen Anforderungen Iwan
B 1 o c h ^) , der neuerdings den Ursprung der Syphilis wieder untersucht hat.
An seinen Ergebnissen darf auch der Geschichtsforscher nicht achtlos vorüber-
gehen, zumal da eine Reihe naheüegender Fragen, die von früheren un-
beantwortet gelassen waren, hier beleuchtet, nicht wenige neue Quellen zum
ersten Male herangezogen und angeblich zuverlässige geschichtliche Nachrichten
kritisch zerpflückt werden. Die Untersuchung hätte leicht etwas knapper ge-
halten und dadurch ein Drittel des Umfanges erspart werden können, aber
dafür sind dankenswerterweise die Quellenstellen sämüich im Wortlaut mit-
geteilt und der Verfasser war sicherlich der Ansicht, zunächst für Mediziner
zu schreiben und wollte deswegen seine kritischen Urteile bis ins einzelnste
begründen. Die Ergebnisse, soweit sie für die Geschichtsforschung von Belang
sind, lassen sich etwa folgendermafsen charakterisieren:
Die Tatsache, dafs die Verbreitung der Seuche durch Italien und femer
das übrige westliche Europa während und nach dem Zuge, den der fran-
zösische König Karl VIIL im Winter 1494 auf 1495 nach Italien unter-
nahm, stattgefunden hat, ist durch eine ganz aufserordentlich grofse Zahl
zeitgenössischer Zeugnisse erhärtet und ebenso, dafs die bei weitem ver-
breitetste unter den vielen ^) für die neue Krankheit verwendeten Bezeich-
nungen (morbus gallicus, mala franzosa, Franzosen) ihren Urspnmg eben
darauf zurückführt, dafs man in Italien die Soldaten des französischen
Heeres als die Einschlepper der Krankheit ansah. Weiter erweist Bloch,
der den Verlauf des französischen Kriegszuges mit Bezug auf die Zusanmien-
setzung und die Geschicke des Heeres bis ins einzelne verfolgt (S. 138 — 152),
dafs sich alle diejenigen Zeugnisse, welche ausdrücklich mit Neimung von
Jahreszahlen vor dieser Zeit von Syphilisfällen berichten, tatsächlich irren,
und zwar wird zu diesem Zwecke die innere Glaubwürdigkeit der Quelle
selbst imtersucht und der darin enthaltene Widerspruch festgestellt
Am wichtigsten ist der Nachweis, dafs die von Bodmann aufgedeckte
i) In neuerer Zeit vor allem der Bonner Pharmakolog Binz in der Deutschen Medi-
zinischen Wochenschrift 1893, Nr. 44, S. 1057 ff.
2) D^r Ursprung der Syphilis , eine medizinische und kulturgeschichtliche Unter-
suchung (Jena, Gustav Fischer, 1901. 313 S. Z% Eine zweite Abhandlung fiber die
angeblich schon im Altertum bezeugte Syphilis, die B. als nicht vorhanden ei weisen will,
soll folgen.
3) Eine Zusammenstellung aller ihm bekannt gewordenen Namen der Syphilis gibt
Bloch S. 297—305.
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Erwähnung in Mainz wohl an sich richtig, aber daTs die BeiEUgung der
Jahreszahl 147a seine willkürliche Beigabe ist (S. 47). Unter eingehendster
FeststeltuDg der Umstände, die mit des Kolumbus Entdeckungsfahrten im
Zusammenhaage stehen (S. 174 — 252), und unter genauester zeitlicher Fixierung
der Krankheitsfalle, wird ferner festgestellt, dafe sicher schon die von der
ersten im März 1493 becDdeten Seereise heimkehrenden Seelente die neue
Krankheit mitgebracht haben. Ihre Existenz in Amerika, besonders auf
Haiti, in Zentral- und Südamerika, vor dem Erscheinen des Kolumbus ist
ebensowenig zu widerlegen, und diese Tatsache erfährt eioe Stütze dadurch,
da& das den Eingeborenen als Heilmittel bekannte Guajakholz sehr bald
nach Europa gebracht wurde und sicher schon 1504 (S. 183) hier bekannt
war. Die Ausbreitung der Syphilis in Europa und ferner in Afrika, Asien und
Australien wird schliefslich im Überblick vorgeführt und somit über Ursprung
und erste Verbreitung wohl alles dasjenige beigebracht, was sich im wesent-
lichen auf Grund des heute vorliegenden Quellenmaterials überhaupt sagen läist.
Damit mögen die vom Standpunkte der Medizingeschichte interessantesten
Probleme gelost sein, aber für die AUgemeingcschichte ist doch erst eine
verhältnismäfsig untergeordnete Frage beantwortet, denn für diese ist mcht
nur die geographische Verbreitui^ im grofsen, sondern die Fortpflanzung
von Ort zu Ort und vor allem die soziale Ausbreitung, die Art, wie davon
Notiz genommen wird, die Form der sozialen Folgeerscheinungen — Ein-
wirkung auf die Organisation der Prostitution, Gründung von Anstalten zur
Isolierung und Heilung der Kranken — von Wichtigkeit. Alle diese Dinge
werden zwar von Bloch gestreift, aber sie sind noch längst nicht genügend
durch Örthch uod zeitlich beschränkte Einzeluntersuchungen beleuchtet als dafs
eine absch liefsende Zusammenfassung möglich wäre. Hier ist der Punkt, wo
zunächst die Lokalforschung einsetzen miifste : es wäre von grofsem Interesse,
wenn wir durch besondere Arbeiten über das Auftreten der Franzosenkrankheit
zum wenigsten in einem Dutzend Städten während des XVI. Jahrhunderts
unterrichtet würden! Jeder Ort wird in diesem Falle einiges Material liefern
können, die gröfseren Städte natürlich voraussichtlich das meiste, aber nur
auf einer so breiten Grundlage wird es möglich werden, die Wirkungen der
Seuche ganz zu würdigen. Neben den schon bezeichneten Punkten ist die
Frage nach der Sterblichkeit der Erkrankten von Wichtigkeit, denn Zeug-
nisse dafür, daTs recht viele daran gestorben seien, und solche, die das
Gegenteil feststellen, liegen vor. Für die Geschichte des ärztlichen Standes
würde die Ausbildung des Spezialistentums, die durch eine so besondere
Krankheit natürlich gefördert wird, von Interesse sein: in Deutschland gab
CS einen solchen Spezialarzt 15 16 in Ravensburg, er hiefs Mathias Ile und
war als weilberüetnpter doctor besonders wegen seiner Erfo^e bei Behandlung
der Franzosenkrankheit bekannt ').
Einige andere Notizen, die mir ge
hier im Zusammenhange aufgeführt wen
ahmnng anspornen, bei der Quellenlekt
zugänglich zu machen!
l) ZimiHeritelie Chronik, henuugegeben
S. 238, Z. 14. Bloch crvthot S. 349, 359,
bciondcren Wert d»r«nf.
— 318 —
Da Bodmann als Fälscher in Blochs Untersuchung eine bedeutende
Rolle spielt, wird es von Interesse sein, auf zwei urkundliche Mitteilungen
hinzuweisen , die aus seinem Nachlafs veröffentlicht worden sind ') : hier er-
wecken die Jahreszahlen 1522 und 1542 nicht das geringste Bedenken,
geben aber vielleicht selbst noch eine Handhabe zur Kritik der Zahl 1472
aus Bodmanns eigenem Material. Sachlich scheint mir darin von Belang
die Wendung ins höh legen lassen für die Behandlung mit Guajakholz. —
Zwei bildliche Darstellungen aus der frühesten Zeit der Franzosenkrankheit
teilt Peters ^) mit : das erste ist ein Holzschnitt mit einem Gebetstexte , an
St. Dionysius um Heilung von der mala franxos gerichtet, der lun 1500 an-
gesetzt wird, das zweite, äufserlich dem ersten verwandt, bittet St Minus
um Befreiung von den blättern in welsch genant mala frantxosa; aber bei
diesem wird Wolfgang Homer in Nürnberg als der Künstler genannt und
als Entstehungszeit 1470 — 80 angegeben, eine Angabe, die sich unmöglich
wird halten lassen, da vor 1495 eine derartige Darstellung in Deutschland
unmöglich sein dürfte. — Eine ganze Reihe wichtiger Angaben enthält die
schon oben erwähnte Zimmerische Chronik; von Schenk Erasmus von Erbach
wird (II, S. 200) erzählt, dafs er sich fünf bis sechs Jahre vor seinem
Tode — er starb 1503, Sept. i — vor den Franzosen geekelt habe;
Schenk Eberhard von Erbach, der sich die Krankheit in seiner Jugend als
Kriegsmann in Italien und Frankreich geholt hat und 15 16 den Ravens-
burger Spezialisten aufsucht, hat auch seine Gemahlin Maria geb. Gräfin
von Wertheim angesteckt (II, S. 212); Landgraf Wilhelm von Hessen ^), der
das tüildbad — also irgend ein Bad — dafür aiifisucht (II, S. 381), stirbt
schliefslich am 11. Juli 1509 daran (II, S. 213). — Die Erkrankung von
Geistlichen an der Lustseuche ist wiederholt — so von Bloch S. 27, 38,
118, 168, 260 — festgestellt worden, aber die naive Erzählung des Pforz-
heimer Kanonikus Dietrich Wyler in seinem tun 1530 ver^sdsten Testa-
mente verdient doch eine besondere Erwähnung; er schreibt nämlich: als
Margret min magt mir treulich gedient hat by dryssig fünf jaren und sie
vil geschmack und unreinigkeit von der frantzosen, die ich
gehapt han, ingenommen, ouch in minen krankheiien mein trüwlich ge^
uKirt,. ., so setz ich ir,,. *). — Eine geschichtliche Anekdote, die besser als aües
andere zeigt, in wie hohem Grade die Gemüter der Ärzte durch die Ratlosigkeit,
mit der man der Krankheit gegenüberstand, erregt wurden, berichtet, dais
im letzten Grunde der wissenschaftliche Streit zwischen zwei Leipziger Medi-
zinern über die Bekämpfimg der Franzosenkrankheit schliefslich zur Gründung
der Universitäten Wittenberg (1502) und Frankfurt a. d. Oder (1506) geführt
habe *). — In Leipzig ist 1530 ein Ziehkind mit den Franzosen behaftet
und steckt seine Pflegemutter an; im folgenden Jahre wird berichtet , dais
einer anderen Frau, weil sie die frantzosen überkommen, die überwiesenen
i) Afueiger für Kunde der deutschen Vorzeit^ 28. Bd. (1881), S. 334.
2) Der Arzt und die Heilkunst in der deutschen Vergangenheit^ 8. 10 luid 12.
3) Vgl. Hans Glagau, Anna von Hessen^ die Mutter Philipps des GrofsmOtigen
(Marburg, Elwert 1899), S. 5—9.
4) Korth, Urkunden des Stadtarchivs zu Pforzheim (Pforxheim 1899), S. 4I.
5) Gostav Bauch, Geschichte des Leipziger Prühkumanismus [ss Beihefte ram
Zentralblatt fiir Bibliothekswesen, 7. Bd. (1899)], S. 335.
— 319 —
Ziehkinder genommen werden*). — Von besonderen Syphilisspitälern
weife Bloch neben Sevilla (S. 233), wo 1501 ein solches entsteht, nachdem
schon seit 1497 ein anderes auch zur Aufnahme Syphilitischer verwendet
worden war, in Bamberg und Erfurt (beide 1497 errichtet, S. 269/70) sowie
in Prag 1500(8. 275) solche namhaft zu machen. In Augsburg hat Jakob
Fugger für 32 Kranke ein „Holz- oder Blattemhaus** errichtet'), in Ham-
burg wird das Hospital für Syphilitische St Hiob 1505 gegründet ^), in Würz-
b up; wird das längst bestehende franlxosenhaus 1542 zugleich mit dem
Armenhaus von einem Wohltäter mit einer Stifhmg von 70 Gulden bedacht *).
Schon T520 wird in Zwickau das ältere Franziskushospital, das in diesem
Jahre Franzosenhaus heifet, neu gebaut *). In Leipzig ist 1536 von einer
neu erbauten Kapelle für mit Aussatz und Franzosenkrankheit Behaftete beim
Hospital St. Johannis die Rede *^), in Dresden errichtete man das neue Spital
bei St. Bartholomäi als Franzosenhaus 1536^). In Chemnitz gab es im
XVI. Jahrhundert zwei Franzosenhäuser, die 1555 zwanzig Insassen auf-
wiesen, aber im Anfang des XVII. Jahrhunderts ist nur noch eins vorhanden ®).
Für die unbedingt notwendige Vervollständigung der bei Bloch S. 2690!
begonnenen Städtestatistik hinsichtlich des ersten Auftretens der Seuche würden
1495 Augsburg**) und Basel *^) in Betracht konmien, 1498 Dortmund,
wo es in einer die Jahre 1491 bis 1499 umspannenden Reimchronik heifet:
nigge stkede, die men heute morbi franzose^^). In Franken besagt eine zeit-
genössische Notiz ganz allgemein, dafe 1496 die mal francoss aufgetreten sei^^),
in Thüringen wird 1497 genannt*'). — Zum Schlufe sei noch auf eine
Stelle hingewiesen, die auf afrikanischen Boden, nach der Stadt Alkayr
I) SchriHen des Vereins ffir die Geschichte Leipzigs, 6. Bd. (1900), S. 243.
2)Aloys Geiger, /oMob Fugger (Regensbarg 1895), S. 71: dms Jahr ist nicht
ganz sicher.
3) Gustav Schönfeldt, Beiträge zur Geschichte des Pauperismus und der
Prostitution in Hamburg (Weimar 1897), S. 113. Die GrÜndungsurkunde ist Überliefert
und mitgeteilt bei Gernet, Mitteilungen aus der älteren Medinnalgeschichte Hamburgs
(Hamburg 1869), S. 82; leider war mir dieses Buch unzugänglich.
4) Archiv des historischen Vereins fiir Unterfranken und Aschaffenburg, 12. Bd.
(1852), S. 270.
5) Emil Herzog, Chronik der Kreisstadt Zwickau (Zwickau 1845), 2. Bd., S. 191..
6) Siegfried Moltke, Die Leipziger Kramerinnung im XV, und XVL Jahr-
hundert (Leipzig 1901), S. 37. Nach Karl Grosse, Geschichte der Stadt Leipzig
(Neudruck von 1897), i- Bd., S. 5 10/5 11 wird gegen Ende des XV. Jahrhunderts bereits
das St. Johannishospital „ Franzosenhospital *< genannt
7) Otto Richter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Dresden^
3. Bd. (Dresden 1891), S. 233.
8) C. W. Zöllner, Geschichte der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz (Chemnitz
1888), S. 258.
9) Aloys Geiger, Jakob Fugger a. a. O.
10) Traugott Geering, Handel und Industrie der Stadt Basel (Basel 1886)^
S. 354 Anro.
11) Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 10. Bd. (1874), S. 13. „Nur wenig
Leute starben daran«.
12) Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg, 6. Bd, i'
I. Heft, S. 165/66.
13) Archiv fUr die Sächsische Geschichte, 12. Bd. (1874), S. 86. ^
einige Quellenstellen verwiesen, die aber nicht nur vom Auftreten der
sondern von ihrem epidemischen Auftreten berichten.
— 320 —
am Nil (Kairo) führt: sie ist wichtig, weil da ein Mann am Ende des
XV. Jahrhunderts, und zwar ein Weltreisender, deutlich Aussatz, Hiobs-
krankheit und Pest voneinander unterscheidet. Der niederrheinische Ritter
Arnold von Harff ') unternahm seine Orientreise im Herbste 1496 imd kehrte
Ende 1499 zurück. Im Februar 1497 kam er nach Kairo (vgl. Einleitung
S. XIII) und über seinen dortigen ausgedehnten und ausführlich beschriebenen
Aufenthalt sagt er unter anderem: Rem ich hain ouch an ien gesiene vil
melaeizsehe lüde, darzoe dese nuewe krenkde, die man noempt
sijnt Jobs s nicht e; Hein darzo kumpt ouch oever 8 af 9 jaeren die
pestilende in dai lant^ hisonder gar hart in deser stat Alkayr.
Armin Tille.
i) Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff^ beraasgegebeo von E. von Grootc
(Köln 1860), S. 98.
Eingegangene Bfiehen
Blatter, A. : Quellen zu einer Geschichte des appenzellischen Landhandels
1732 — 35 [== Appenzellische Jahrbücher, hggb. im Auftrage der appen-
zellischen gemeinnützigen Gesellschaft, Dritte Folge, 14. Heft (Trogen
1902), S. 164 — 190].
-Gdny, Joseph: Schlettstadter Stadtrechte. Heidelberg, Karl Winter, 1902.
Erste Hälfte XXVUI und 403 S. (M. 13), Zweite Hälfte XIV und
II 72 S. (25 M). [= Oberrheinische Stadtrechte. Dritte Abteilung:
Elsässische Rechte, veröffentlicht von der Kommission zur Herausgabe
Elsässischer Geschichtsquellen].
Hill ig er, Benno: Die Urbare von S. Pantaleon in Köhi [== Publikationen
der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XX. Rheinische Ur-
bare, Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen
Wirtschafbgeschichte]. Bonn, Hermann Behrendt, 1902. CIV und
725 S. 8".
Nachtrag
Im Anschlufs an die Bemerkungen über Martin Zettler auf S. 10 1,
Anm. I und S. 224 teilt Dr. Franz Ilwolf in Graz mit, dafs eine aus-
führliche und gediegene Schilderung seines Lebens imd Wirkens enthalten
ist in Styriaca, Gedrucktes und Ungedrucktes zur steiermärkiseken GesMchte
und KuUurgescliichte, von Josef v. Zahn, Neue Folge (Graz 1896).
S. 186 bis 210. — Oberregienmgsrat Dr. Adam in Stut^art hatte die Güte
darauf hinzuweisen, dafs die Literatur über Martin 2^eiller in der in diesen
Blättern schon mehrfach rühmlichst genannten Bibliographie der Württem-
bergischen Geschichte von W. Heyd, 2. Bd. (Stuttgart 1897), S. 707 auf-
geführt ist. Danach ist die wichtigste ältere Schrift, die auch Zeillers sämtliche
Werke verzeichnet und rezensiert, Albr. Weyermann, Nachrichien von
Gelehrten, Künstlern und andern merkwürdigen Personen aus Ukn, Bd. i
(Ulm 1798), S. 555 — 563, während in neuerer Zeit der bereits oben genannte
Zahn sich auch in der Wiener Montagsrevue 1895 Nr. 24 — 26 über Zeillcr
geäufsert hat D. Red.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perdies ia Gotha.
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Stanford University Libraries
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